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In Gemeinschaft mit
S. Exner, E. Hering, J. v. Kries, Th. Lipps,
G. E. Müller, C. Pelman, C. Stumpf, Th. Ziehen
herausgegeben von
Herrn. Ebbinghans und Arthnr König.
ge. Band.
Leipzig, 1901.
Verlag von Johann AmbroBiuB Barth.
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Inhaltsverzeichnifs.
Abhandlungen. . seite
A. Mater und J. Orth. Zur qualitativen Untersachung der Association 1
W. V. TscHiscH. Der Schmerz 14
AiTTHUR Brückner. Die Raumschwelle bei Simultanreizung .... 33
Richard Hohsnemser. Zur Theorie der Tonbeziehungen 61
R Storch. Eine letzte Bemerkung zu Herrn Edinoer's Aufsatz „Hirn-
anatomie und Psychologie" 106
Karl Groop. Experimentelle Beiträge zur Psychologie des Erkennens 145
£. WiXRSMA. Untersuchungen über die sogenannten Aufmerksamkeits-
schwankungen 168
E. Storch, lieber die mechanischen Correlate von Raum und Zeit,
mit kritischen Betrachtungen über die E. HERiNo'sche Theorie
vom Ortsinne der Netzhaut. (Auf Grund eines Falles von mono-
culärem Doppeltsehen ohne physikalische Ursache) 201
Jcurs PiELER. Eine Consequenz aus der Lehre vom psychophysischen
Parallelismus 227
G. Heyxans. Untersuchungen über psychische Hemmung. II. . . . 306
F. K1E8OW und R. Hahn. Beobachtungen über die Empfindlichkeit
der hinteren Theile des Mundraumes für Tast-, Schmerz-, Tem-
peratur- und Geschmacksreize 383
Literaturbericht und Besprechungen.
I. Allgemeines.
GfiRARi>-VARBT. La psychologio objective 108
G. Villa. La question des möthodes en psychologie 247
Th. BiBOT. La Psychologie de 1889 — 1900. Discours d'ouverture du
IVe Ck>ngr^ international de psychologie 247
IV Inhaltiverzeichnifs,
Seite
Edm. König. Die Lehre vom psychophysischen Parallelismus und ihre
Gegner 109 u. 418
M. Wentsciier. Der psychophysische Parallelismus in der Gegenwart 418
E. Kretschmer. Die Ideale und die Seele. Ein psychologischer
Neuerungsversuch, nebst einem logischen Anbang: Zur Lehre
vom Urtheil 247
F. Thilly. The Theory of Interaction 249
L. Edinoer. Hirnanatomie und Psychologie 419
Th. Elsenhans. Ueber individuelle und Gattungsanlagen 249
Preyer. Die Seele des Kindes 420
Ferdinand Kemsies. Die häusliche Arbeitszeit meiner Schüler. Ein
statistischer Beitrag zur Ueberbürdungsfrage 111
— Die häusliche Arbeitszeit meiner Schüler 249
H. Koch. Die häusliche Arbeitszeit meiner Schüler 249
FoREL. Ueber Talent und Genie 112
F. LE Damtec. Homologie et analogie 107
G. E. Seashore. Some Psychological Statistics 113
Otto Wiener. Die Erweiterung unserer Sinne 420
V. Häcksr. Der Gesang der Vögel, seine anatomischen und biologischen
Grundlagen 116
B. ScHMiD. Aus dem Seelenleben der Insecten. Ein Beitrag zur Thier-
psychologie 250
IL Anatomie der nervösen Centralorgane.
Alex Hill. Considerations opposed to the „Neuron Theory" .... 2öl
S. Ramön y Cajal. Studien über die Hirnrinde des Menschen. Die
Bewegungsrinde 2dl
W. B. Warrington und J. E. Dütton. Observations on the Course of
the Optic Fibres in a Gase of Unilateral Optic Atrophy . . . 252
Karl Schaffer. Anatomisch klinische Vorlesungen aus dem Gebiete
der Nervenpathologie 252
in. Physiologie der nervösen Centralorgane.
R. DU Bois-Reymond. Ueber die Geschwindigkeit des Nervenprincips 117
Max Verworn. Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der nervösen
Centra des Rückenmarks. (Ein Beitrag zur Kenntnifs der
Lebensvorgänge in den Neuronen) 117
J. UsciiAKOFF. Das Localisationsgesetz. Eine psychophysiologische
Untersuchung 253
0. Kalischer. Ueber Grofshirnexstirpationen bei Papageien .... 421
— Weitere Mittheilungen zur Grofshimexstirpation bei Papageien . 421
A. Rollett. Die Localisation psychischer Vorgänge im Gehirne. Einige
historisch-kritische Bemerkungen 254
Ed. Hitzig. Hughlings Jackson und die motorischen Rindencentren im
Lichte physiologischer Forschung 261
InhaUwerzeichnifs, V
Seite
A. BicKBL and P. Jacob. Ueber neue Beziehungen zwischen Hirnrinde
und hinteren Rückenmarkswurzeln hinsichtlich der Bewegungs-
regulation beim Hunde 257
H. £. Hebino. Ueber Grofshirnreizung nach Durchschneidung der
Pyramiden oder anderer Theile des centralen Nervensystems mit
besonderer Berücksichtigung der Rindenepilepsie 422
Max Vbbwobn. Zur Physiologie der nervösen Hemmungserscheinungen 119
V. P. Ossipow^. Ueber die physiologische Bedeutung des Ammonshomes 118
E. Hitzig. Ueber das corticale Sehen des Hundes 269
— Ueber den Mechanismus gewisser corticaler Sehstörungen des
Hundes 259
W. V. Bechtebew. Ueber die Localisation der Geschmackscentra in
der Gehirnrinde 119
N. £. Wedensky. Die fundamentalen Eigenschaften des Nerven unter
Einwirkung einiger Gifte 256
Hbnbt Head und A. W. Campbell. The Pathology of Herpes Zoster
and its Bearing on Sensory Localisation 255
Ch. Binet-Sanol£. Action du Hachisch sur les neurones 255
Mattuaei. Die Erhöhung der Kriegstüchtigkeit eines Heeres durch
Enthaltung von Alkohol 262
V. Fhysiologisohe und psychologisohe Opük.
H. Magnus. Die Anatomie des Auges in ihrer geschichtlichen Ent-
wickelung 423
C. Hahbuboeb. Ueber die Quellen des Kammerwassers 263
F. HiMSTEDT u. W. A. Naoel. Ueber die Einwirkung der Becquerel-
und der Röntgenstrahlen auf das Auge 263
G. H, Pabkeb. The Photomechanical Change» in the Retinal Pigment
of Gammarus 121
F. Best. Ueber die Grenzen der Sehschärfe 424
— Ueber die Grenze der Erkennbarkeit von Lageunterschieden . . 424
G. M. Stbatton. A New Determination of the Minimum Visible and
its Bearing on Localization and Binocular Depth 123
F. HiMSTEDT u. W. A. Nagel. Die Vertheilung der Reizwerthe für die
Froschnetzhaut im Dispersionsspectrum des Gaslichtes, mittels
der Actionsströme untersucht ^ . . 264
A. TscHEBMAK. Beobachtungen über die relative Farbenblindheit im
indirecten Sehen 12L u. 304
A. Dbüault. Recherches sur la pathogönie de l'amaurose quinique 264
VI. Physiologische und psychologische Akustik.
M. Mkyeb. Die Tonpsychologie, ihre bisherige Entwickelung und ihre
Bedeutung für die musikalische Pädagogik 264
L^ON BouTBOux. La g^n^ration de la gamme diatonique 123
Felix Kbueobb. Beobachtungen an Zweiklängen 265
VI Inhaltsverzeichni/s.
Seite
W. Heinrich. Note pröliminaire sur la fonction accomodative de la
membrane tympanique 124
- De la constance de perception des tons purs ä la limite d'audibilitä 124
VII. Die übrigen specifischen Sinnesempfindungcn.
S. Albutz. Studien auf dem Gebiete der Temperatureinne. IL Die
Hitzeempfindung 231
G. Sommer, lieber die Zahl der Temperaturpunkte der äufseren Haut 267
Roy. W. Tallmann. Taste and Smell in Articles of Diet 425
G. W. Patrick. On the Analysis of the Perceptione of Taste .... 124
VUL Baum« Zeit. Bewegung und Veränderung. Zahl.
E..DE Cyon. L'orientation chez le pigeon voyageur 127
L. Heine. Sehschärfe und Tiefenwahrnehmung 268
— Ueber Orthoskopie oder über die Abhängigkeit relativer Entfernungs-
schätzungen von der Vorstellung absoluter Entfernung . . . 268
B. BocRDON. La perception des mouvements par le moyen des sen-
sations tactiles des yeux 128
IX« Bewußtsein und UnbewuTstes. Aufmerksamkeit. Schlaf.
Ermüdung.
M. LoBsiKN. Ueber die psychologisch-pädagogischen Methoden zur Er-
forschung der geistigen Ermüdung .... 270
GuiSEPPB Bellei. La stanchezza mentale nei bambini delle publiche
scuole 269
B. Blazek. Ermüdungsmessungen mit dem Federästhesiometer an
Schülern des Franz-Joseph-Gymnasiums zu Lemberg 270
Ragnar Vogt, üeber Ablenkbarkeit und Gewöhnungsfähigkeit . . . 425
X. Hebung, Association und Qedächtnifo.
Jacobo Finzi. Zur Untersuchung der Auffassungsfähigkeit und Merk-
fähigkeit 482
W. Fite. Contiguity and Similarity 271
H. Gale. On the Psychology of Advertising 270
F. Kemsies. Gedächtnifsuntersuchungen an Schülern 271
XI. Vorstellungen.
L£oN Brunschvicg. Introduction ä la vie de Tesprit 4.%
Ernst Mallt. Abstraction und Aehnlichkeits-Erkenntnifs 272
Eduard Zeij^er. Ueber den Einflufs des Gefühls auf die Thätigkeit der
Phantasie 278
S. Freud. Die Traumdeutung ; 130
lnhalt9verzeiehni/8, VII
Seite
J. M. VoLj>. Ueber Hallucinationen, vorzüglich Gesichts-Hallucinationen,
auf der Grandlage von cutan-motorischen Zuständen und auf
derjenigen von vergangenen Gesichts-EindrOcken 133
M. C. u. Hablow Gale. The Vocabularies of three Ghildren of one
Family to two and a half Years of Age 421
J. ZKrri.£B. Tachistoskopische Untersuchungen über das Lesen . . . 279
B. Erdmakk. Umrisse zur Psychologie des Denkens 275
A. Hüther. Die psychologischen Grundprincipien der Pädagogik . . 286
Hans Rasck. Der Begriff des Wirklichen. Eine psychologische Unter-
snchnng 134 u. 444
C. Bos. Les croyances implicites 134
C. M. GiEssLEB. Die Identificirung von Persönlichkeiten 273
Hasss Gross. Ein Zauberbuch aus einem modernen Procefs .... 135
Oef&hle.
Harrt Campell. The Feelings . 136
Tox Feldego. Beiträge zur Philosophie des Gefühls 436
Warner Fite. Art, Industry and Science 439
Havelock Ellis. Geschlechtstrieb ui^d Schamgefühl 286
Albert Haosn. Die sexuelle Osphresiologie. Die Beziehungen des
Geruchssinnes und der Gerüche zur menschlichen Geschlechts-
thätigkeit 258
H. Davies. Method of Aesthetics: a Note 286
E. Ritchie. The Essential in Religion 289
Xm. Bewegungen und Handlungen.
OäKAB VooT. Ueber den Einflufs einiger psychischer Zustände auf
Kniephänomen und Muskeltonus 138
E. W. ScEiPTüRE. Observations on Rhythmic Action 440
Fbank Thilly. Conscience 136
A. DiEHL. Ueber die Eigenschaft der Schrift bei Gesunden .... 441
Kit B.-R. Aars. Analyse de l'idöe de la morale 289
DiOAS. Fanatisme et charlatanisme : ^tude psychologique 137
XTV. Neuro- und Psychopathologie.
Obeestkixer. Functionelle und organische Nervenkrankheiten . . . 291
Windscheid. Die Prophylaxe in der Nervenheilkunde 290
Oskar Vogt. Ueber die Errichtung neurologischer Centralstationen . 138
Ceamer. Ueber die aufserhalb der Schule liegenden Ursachen der
Nervosität der Kinder 292
Sante de Sai7Ctis. Una Veggente 139
H, J. Berkley. The Pathological Findings in a Gase of General
Cntaneous and Sensory Anaesthesia without Psychical Impli-
cation 140
<
Vm InhaltiverzeichnifB,
Seite
LöwBNFELD. Somnambalismus und BpiritismuB 293
J. M. Bbamwell. Hypnotic and Post-Hypnotic Appreciation of Time;
Secondary and Multiplex Personalities 140
V. ScHB£NCK-NoTZiNO. Der Fall Sautkr. (Mordversuch und suggerirte
Anstiftung zu neunfachem Morde.) 294
Th. Ziehen. Ueber die Beziehungen der Psychologie zur Psychiatrie. 295
Walter Fuchs. Die Prophylaxe in der Psychiatrie 295
N. Vaschide e L. Marchaud. Ufficio che le condizioni mentali hanno
sulle modificazioni della respirazione e della circolazione periferica 299
Buchholz. Aufgaben bei Beurtheilung Imbeciller 297
L. Laqusr. Die Hülfsschulen für schwachbefähigte Kinder, ihre ärzt-
liche und sociale Bedeutung 141
Harlow Gale. A Gase of Alleged Lobs of Personal Identity .... 443
G. Obici. Osservazioni nosologiche e cliniche sul cosi detto „delirio
di negazione*' 299
M. Friedmann. Ueber Wahnideen im Völkerleben 296
XV. Sooialpsyohologie.
A. Bastian. Die Völkerkunde und der Völkerverkehr unter seiner
Rückwirkung auf die Volksgeschichte. Ein Beitrag zur Volks-
und Menschenkunde 303
Eduard Reich. Criminalitftt und Altruismus. Studien über abnorme
Entwickelung und normale Gestaltung des Lebens und Wirkens
der Gesellschaft 301
Wilhelm Rudeck. Syphilis und Gonorrhoe vor Cfericht 3(ö
K. Bonhoeffer. Ein Beitrag zur Kenntnifs des grofssUUltischen Bettel-
und Vagabondenthums 143
Samter. Alkoholismus und öffentliche Armenpflege 302
MöRius. Ueber Entartung 300
G. Anoiolella. Sulle tendenze suicide negli alienati e sulla psicologia
del suicidio 302
Bemerkung 144
Berichtigung (Arelsdorpp) 304
Erwiderung (Raeck) 444
•
NamenregiBter 445
l_ . _
— — i
(Aus dem Psychologischen Institut der Universität Wtirzburg.)
Zur qualitativen Untersuchung der Association.
Von
A. Mayee und J. Orth.
Schon von Marbe ^ und einem der Verfasser * wurde darauf
hingewiesen, dafs^die üblichen Eintheilungen der Association
alle mehr oder weniger an dem Fehler leiden, dafs sie ihre
Eintheilungsgründe nicht aus dem Wesen der Association,
sondern aus logischen Gesichtspunkten schöpfen. Die selbst-
verständliche Forderung, die Eintheilung der Associationen auf
ihre Eigenthümlichkeiten und nicht auf irgendwelche andere
Momente zu basiren, legt eine gründliche Untersuchung der
<jualitativen Verschiedenheiten der Associationen nahe.
Dabei mufs man sich natürlich darüber im klaren sein, dafs
sehr verschiedenartige Erlebnisse unter den Begriff der Association
fallen ^, und dafs Thatsachen und Eintheilungen, welche an einer
Gruppe von Associationen gewonnen worden sind, nicht ohne
Weiteres auf Andere übertragen werden dürfen. Qualitative
Untersuchungen imd neue Eintheilungsversuche der Associationen
müssen sich demnach zunächst auf eine bestimmte Classe der
associativen Vorgänge erstrecken, und erst später ist dann die
Frage auf zuwerfen, ob innerhalb anderer Classen dieselben 'That-
sachen vorhanden sind und dieselben Eintheilungen einen Sinn
haben.
^ Thxtub und Marbe. Experimentelle Untersuchungen über die psycho-
logischen Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung. Leipzig, W. Engel-
ruann, 1901. 8. 11 ff.
■ J. Obth. Kritik der Associationseintheilungen. Zeitschr. f. pädag.
FHychd. u. Pathol. 3. (1901.)
' Thcicb und Marbe a. a. O. S. 11 f.
Zeitschrift fär Psychologie U. 1
2 Ä. Mayer und J. Orth.
Auf Grund derartiger Erwägungen stellte uns Herr Dr. Mabbe
die Aufgabe, diejenigen Associationen zu untersuchen, bei welchen
die Versuchsperson auf ein zugerufenes Wort mit einem ge-
sprochenen Worte reagirt, und möglicherweise eine sachgemäfse
Eintheilung dieser Associationen zu gewinnen.
Diese Untersuchung konnte nur unter der Voraussetzung zu
einem Resultate führen, dafs wir die vom Beobachter während
des Experiments erlebten Vorgänge möglichst genau kennen
lernten.
Da es wahrscheinlich erschien, dafs die quaUtativen Ver-
schiedenheiten der zu untersuchenden Associationen in ihren
Associationszeiten zum Ausdrucke kommen, so verbanden wir
mit unseren Versuchen eine entsprechende Zeitmessung. Der
Verlauf unserer Experimente gestaltete sich demnach im Ein-
zelnen f olgendermaafsen :
Der Experimentator rief, nachdem er durch das Signal
„fertig" den Beobachter zur Sammlimg aufgefordert hatte, das
Reizwort zu und setzte beim Beginn des Sprechens eine Fünftel-
secundenuhr in Gang. Sobald die Versuchsperson das Reactions-
wort auszusprechen begonnen hatte, wurde die Uhr arretirt
Hierauf erfolgte seitens des Beobachters die Angabe aller jener
Bewufstseinsvorgänge, die von dem Augenblicke des Aussprechens
des Reizwortes an bis zum Schlüsse der Reaction in ihm ab-
gelaufen waren. Diese Aussagen wurden durch den Experimen-
tator notirt. Auch die Associationszeit, die sich aus dem Ablesen
der Fünftelsecundenuhr ergab, fand Aufnahme ins Protokoll
Diese verhältnifsmäfsig ungenaue Ablesung erwies sich für der-
artige Versuche als ausreichend und als durchaus zweckmäfsig.
Die angegebenen Zeiten sind allerdings etwas zu grofs; doch
spielt das hier keine Rolle, da es sich für uns nicht um eine
genaue Feststellimg der Associationszeiten handelte. Zudem ist
der Fehler, welcher sich in Folge der Anwendung der be-
schriebenen Methode ergiebt (abgesehen von dem Einflufs der ver-
schiedenen Längen der zugerufenen Worte), ein constanter, so dafs
also durch ihn die Brauchbarkeit imserer Resultate nicht wesentlich
beeinflufst wird. ^ Während des ganzen Versuchsverlaufes schlofs
der Beobachter die Augen, um eine Störung oder Beeinflussung
* Diese Methode wurde auch in der oben citirten Arbeit von Thumb
und Masbe mit gutem Erfolg benutzt.
Zur qualitativen Untersuchung der Association. 3
des Associationsablaufes durch Gesichtswahmehmungen zu ver-
meiden. Die Versuche wurden in zwei Gruppen ausgeführt:
Verfasser Mayeb entnahm 153 einsilbige Substantiva einer Arbeit
Trautscholdt's ^, während Verfasser Okth 255 Substantiva aus
dem ersten Theil von Aschatfenbübö's experimentellen Studien
über Associationen - verwendete. Reagenten für beide Ginippen
waren die Herren Privatdocent Dr. Kinkel aus Giefsen und
stud. phil. Kercheb. Verfasser Mayer war Beobachter für die
Reihe des Versuchsleiters Orth und umgekehrt, so dafs also im
Ganzen 3 X 408 = 1224 Associationen zu Stande kamen.
Bei der Betrachtimg des so gewonnenen Materials ergab sich
zunächst, dafs bei einer Reihe von Associationen das Reizwort
direct reactionsauslösend wirkt, d. h. ohne dafs sich irgend ein
Bewufstseinsvorgang als Zwischenglied zwischen Reiz- imd
Reaetionswort einschiebt. Wir wollen diese Reactionen als Re-
actionen ohne eingeschaltete Bewufstseinsvorgänge bezeichnen
im Gegensatz zu jenen, bei welchen sich psychische Thatsachen
zwischen Reiz- und Reaetionswort einschalten.
Wir stellten uns nun die Aufgabe, die verhältnifsmäfsige
Häufigkeit und Dauer dieser Associationen zu ermitteln. Um
den Werth für die verhältnifsmäfsige Häufigkeit- zu gewinnen,
wurde die absolute Anzahl dieser Associationen festgestellt und in
Procenten aller überhaupt erhaltenen Associationen ausgedrückt
Die mittlere Dauer ergab sich dadurch, dafs man aus allen hierher
gehörigen Associationszeiten das arithmetische Mittel zog. Ueber
die Resultate ertheilen die Tabellen la und Ib Aufschlufs.
Tab. la ist aus der Reihe des Versuchsleiters Mayer, Tab. Ib
dagegen aus der des Experimentators Okth gewonnen worden.
Jede Tabelle enthält drei durch senkrechte Doppelstriche ge-
schiedene Columnen. Die erste enthält die Gattung der Asso-
ciationen; Columne 2 enthält in Procenten die Angabe, wieviele
Associationen einer Gattung von jeder einzelnen Versuchsperson
geleistet wurden. In Columne 3 schliefslich finden wir die
mittlere Associationszeit für den einzelnen Beobachter verzeichnet.
Wir theilen zunächst die Tab. la mit:
> Fhüos. Studien 1, S. 213 ff. 1883.
• Kraepeli», Psychologische Arbeiten 1, S. 209 ff. 1896.
1*
A, Mayer und J, Orth,
Tabelle la.
Gattung
1 . Associationen ohne
eingeschaltete Bewufst-
seinsYorgänge
2. Associationen mit ein-
geschalteten Bewufst-
Seinsvorgängen
Häufigkeit in \
Kebcheb : 7,2
Obth : 19,6
Dr. Kinkel: 31,4
Kebcheb : 92,8
Obth : 80,4
Dr. Kinkel: 68,6
Mittlere Dauer in See.
Kebcheb: 1,27
Obth : 1,19
Dr. Kinkel : 1,62
Kebcheb : 1,68
Obth : 1,51
Dr. Kinkel: 2,55
Nach dieser Tabelle (Columne 2) vertheilen sieh die Associa-
tionen der einzelnen Versuchspersonen derart, dafs bei Beob-
achter Kerchee 7,2 %, bei Oeth 19,6 % und bei Dr. Kinkel 31,4 «/o
ohne eingeschobene Bewufstseinsvorgänge ablaufen. Dagegen
sind 92,8 "/« (Kerchee), 80,4 % (Obth) und 68,6 ^'o (Dr. Kinkel)
aller Fälle Associationen mit eingeschobenen Bewufstseinsvor-
gängen. Diese Tabelle scheint zu lehren, dafs die Associa-
tionen mit eingeschalteten Bewufstseinsvorgängen
im Allgemeinen weit häufiger auftreten als jene
ohne eingeschaltete Bewufstseinsvorgänge.
Die mittlere Dauer für die Associationen ohne eingeschobene
Bewufstseinsvorgänge beträgt für Keechee 1,27 See, für Oeth
1,19 See. und für Dr. Kinkel 1,62 See. Die Associationen mit
Bewufstseinsvorgängen weisen eine verhältnifsmäfsig viel längere
Dauer auf. Keechee reagirte in dieser Form mit 1,68 See.
Oeth mit 1,51 See. imd Dr. Kinkel mit 2,55 See. mittlerer
Dauer. Wenn auch diese Angaben grofse individuelle Differenzen
aufweisen, so scheint doch ohne Weiteres daraus zu erhellen,
dafs den Associationen mit eingeschalteten Be-
wufstseinsvorgängen eine relativ gröfsere Dauer
zukommt als jenen ohne eingeschaltete Bewufst-
seinsvorgänge. Dieselben Resultate ergeben sich aus der
vom Versuchsleiter Oeth gewonnenen
2!tcr qualitativen Ünter»uchung der Association.
o
Tabelle Ib.
Gattung
1. Associationen ohne
eingeschaltete Bewulst-
Seinsvorgänge
2. Associationen m i t ein-
geschalteten BewuTst-
seinsvorgftngen
Häufigkeit in ^.'^
Mayeb : 30,6
Kescher : 19,2
Dr. Kinkel: 35,7
Mayeb : 69,4
Kercher : 80,8
Dr.KiNBiEL: 64,3
Mittlere Dauer in See.
Mayer: 1,39
Kercher : 1,52
Dr. Kinkel: 1,79
Mayer : 1,83
Kercher : 1,85
Dr. Kinkel: 2,73
In dieser Tabelle tritt ein neuer Beobachter (Mater) auf.
Aber auch sie zeigt für alle Versuchspersonen, dafs bei aller
individuellen Verschiedenheit der Resultate die Associationen
mit eingeschalteten Bewufstseinsvorgängen häufiger auftreten und
langsamer verlaufen als die ohne eingeschobene Bewufstseins-
Vorgänge.
Die Tabellen IIa und üb beschäftigen sich mit einer ein-
gehenderen Classificirung der Associationen mit eingeschalteten
Bewufstseinsvorgängen.
Wir theilen hier die inneren psychischen Thatsachen, d. h.
die Bewufstseinsvorgänge excl. der Wahrnehmungen, ein in Vor-
stellungen, die ihrei-seits mehr oder weniger zusammengesetzt
und mehr oder weniger gefühlsbetont sein können und in
Willensacte, die gleichfalls mehr oder weniger zusammengesetzt
und mehr oder weniger gefühlsbetont sein können. Wir wollen
indessen mit dieser Eintheilung zur Frage nach der Möglichkeit,
ob die Willensacte sich auf Vorstellungen und Gefühle zurück-
führen lassen, durchaus nicht Stellung nehmen oder gar diese
Frage in negativem Sinne beantworten. Aufser diesen beiden
Classen von Bewufstseinsvorgängen müssen wir aber noch eine
dritte, in der bisherigen Psychologie nicht genügend betonte
Gruppe von Bewufstseinsthatsachen statuiren, auf deren Vor-
handensein wir im Laufe unserer Experimente immer und immer
wieder unwillkürlich hingewiesen wurden. Die Versuchspersonen
machten sehr häufig die Aussage, dafs sie gewisse Bewufstseins-
vorgänge erlebten, welche sie ganz offenbar weder als bestimmte
Vorstellungen, noch auch als Willensacte bezeichnen konnten.
6 Ä. Mayer und J, Orih,
So machte Versuchsperson Mayer die Beobachtung, dafs sich
im Anschlüsse an das gehörte Reizwort „Versmaafs" ein eigen-
thümlicher, nicht näher zu charakterisirender Bewufstseinsvorgang
einstellte, an welchen sich das laut gesprochene Wort „Trochäus"
anschlofs. In anderen Fällen gelang es der Versuchsperson,
diese psychischen Thatsachen näher zu bezeichnen. So beobachtete
Okth, dafs das Reizwort „Senf" einen solchen eigenthümlichen
Bewufstseinsvorgang auslöste, den er als „Erinnerung an eine
geläufige Redensart" charakterisiren zu können glaubte. Daran
schlofs sich die Reaction „Korn" an. In allen derartigen Fällen
konnte jedoch die Versuchsperson von dem Vorhandensein der
Vorstellungen im Bewufstsein, durch welche sie die psychische
Thatsache in ihren Aussagen näher bezeichnete, nicht das Min-
deste bemerken. Alle diese Bewufstseinsvorgänge fassen wir
trotz ihrer oflEenbaren, vielfach gänzlich verschiedenen QuaUtät
unter dem Namen der „Bewufstseinslagen" zusammen.
Die Antworten der Beobachter zeigen, dafs diese Bewufstseins-
lagen mitunter gefühlsbetont, mitunter aber auch ohne jeden
Gefühlston waren.
Unser Material zeigte nun, dafs sich des Oefteren nur eine
psychische Thatsache zwischen Reiz- und Reactionswort ein-
schaltet: So gab Versuchsperson Dr. Kinkel an, dafs sich an
das Reizwort „Stift" ein deutUches Gesichtsbild eines Freundes
gleichen Namens anschlofs, worauf sich die Reaction „Student"
einstellte. Femer läfst sich aus dem Protokoll ersehen, dafs
auch zwei Bewufstseinsvorgänge zwischen Reiz und Reaction
treten können : So löste bei der Versuchsperson Orth das Reiz-
wort „Blei" ein deutliches Gesichtsbild eines platt gedrückten,
weifsgrauen Bleistückchens aus ; darauf stellte sich die akustisch-
motorische Wortvorstellung „schwer" ein, welche ihrerseits die
Reaction „schwer" assocürte. Endlich zeigte unser Material, dafs
sich auch drei und mehr Bewufstseinsvorgänge zwischen Reiz-
und Reactionswort einschieben können.
In den beiden folgenden Tabellen IIa und IIb ist in
Columne 1 die Anzahl der sich zwischen Reiz- und Reactions-
wort einschiebenden Bewufstseinsthatsachen verzeichnet. Col. 2
giebt in Procent für die verschiedenen Versuchspersonen die zu-
gehörigen Anzahlen der Associationen an ; Col. 3 enthält die ent-
sprechenden mittleren Associationszeiten.
Zur q^alib^üveu ünttrauehung der Association.
Tabelle IIa.
Anzahl der eingesch.
BewnÜBteeinBthatsachen
1 Häufigkeit
1
in%
Mittlere Dauei
in See.
Kescher:
32,0
IlErgher:
1,54
Eine
Obth:
46,4
Orth:
1,34
Dr. ILiNKRL :
37,9
Dr. Kinkel :
2,60
Kercher:
40,6
Kercher:
1,69
Zwei
Orth:
25,5
Orth:
1,57
1
i
Dr. Kinkel :
20,3
Dr. Kinkel:
2,69
I
1
1
Kercher:
1
20,3
1
Kercher :
1,93
Drei und mehr
Orth:
8,5
Orth:
2,23
Dr. Kinkel :
10,5
Dr. EIinkel:
2,73
Tabelle
IIb.
Anzahl der eingesch.
Bewnfsteeinsthatsachen ;
Häufigkeit
1
in^
1
Mittlere Dauer
in See.
1
Mayer:
36,9
Mayer:
1,59
Eine
Kercher :
14,9
! Kercher:
1,65
1
Dr. Kinkel :
37,6
Dr. Kinkel :
2,47
1
!
Mayer:
19,6
Mayer :
1,68
1
Zwei
Kercher :
45,5
Kercher :
1,79
'
Dr. Kinkel :
18,4
1
Dr. Kinkel :
3,04
Mayer:
12,9
Mayer:
2,40
Drei und mehr
Kercher :
20,4
Kercher :
2,14
.
Dr. Kinkel :
8,2 ':
Dr. Kinkel :
3,20
Diese Tabellen weisen insofern Verschiedenheiten der Reac-
ionsweise der einzelnen Beobachter nach, als sie für 3 Versuchs-
»ersonen (Orth, Dr. Kinkel, Maye») zeigen, dafs dieselben am
äafigsten einen, seltener aber zwei, drei und mehrere Bewufst-
jinsvorgänge zwischen Reiz und Reaction einschieben, während
ch hingegen bei dem 4. Beobachter (Kercher) verhältnifsmäfsig
Jtener eine, am häufigsten aber zwei psychische Thatsachen
8 A. Mayer und J. Orth.
zwischen Reiz und Reaction einschalten. Doch ergeben die
Tabellen bei aller individuellen Verschiedenheit der einzelnen
Beobachter ganz ofiEenbar das Gresetz, dafs die mittlere
Associationszeit mit der Zahl der eingeschobenen
Bewufstseinsvorgänge zunimmt.
Weiter stellten wir uns die Aufgabe, die Reactionen, bei
welchen sich nm* ein Bewufstseinsvorgang zwischen Reiz und
Reaction einschiebt, näher ins Auge zu fassen.
Unser Material zeigt, dafs diese eine psychische Thatsache
nicht selten eine Wortvorstellimg ist. So löste bei der Versuchs-
person Mayer das Reizwort „Seele" die akustisch -motorische
Wortvorstellung „Körper" aus, welche alsdann die Reaction
„Geist" associirte. Femer war des Oefteren der eine eingeschobene
Bewufstseinsvorgang eine Sachvorstellung. So gab Beobachter
Kercher an, dafs sich bei ihm nach dem Zuruf des Reizwortes
„Schornstein" das Gesichtsbild eines Kaminkehrers einstellte, an
welches sich die Reaction „Kaminkehrer" anschlofs. Dafs auch
eine Bewufstseinslage den einzigen, zwischen Reiz- und Reactions-
wort ablaufenden seelischen Vorgang bilden kann, zeigen die
auf S. 6 angeführten Beispiele. SchUefsUch bezeichneten die
Beobachter nicht selten diese eine eingeschobene Bewufstseins-
thatsache als einen Willensact : So veranlafste bei der Versuchs-
person Dr. Kinkel das zugerufene Reizwort „Glanz" ein Suchen
nach Verbindung, wodurch alsdann die Reaction „Sonne" aus-
gelöst wurde. Wir legten uns nun die Frage vor, ob sich
häufiger eine Wortvorstellung, eine Sachvorstellung, eine Bewufst-
seinslage oder eine Willensbethätigung zwischen Reiz und
Reaction einschaltet; zugleich suchten wir das Problem zu lösen,
ob die eine oder andere Art der eingeschobenen Bewufstseins-
thatsachen den Reactionsvorgang verlangsamt oder beschleunigt.
Trotz der eingehenden Untersuchung des Materials fanden wir
jedoch wenig Gesetzmäfsigkeit nach dieser Richtung. Es zeigte
sich nur die von vornherein sehr nahe liegende Thatsache, d a f s
sich häufiger Vorstellungen einschieben als Be-
wufstseinseinlagen und Willensbethätigungen, und
das allerdings werthvoUere Ergebnifs, dafs die Willensbe-
thätigungen den Associationsablauf verlangsamen.
Die folgenden Tabellen Illa und III b zeigen in der ersten
Columne die Häutigkeit aller Reactionen mit eingeschalteten Be-
wufstseinsvorgängen exclusive derjenigen, bei welchen sich
Zur qualitativen Untersuchung der Association. 9
zwischen Reiz und Reaction Willensbethätigungen einschieben.
In der zweiten Columne enthalten diese Tabellen die zugehörigen
mittleren Ässociationszeiten , während die dritte Columne die
mittleren Zeiten für diejenigen Reactionen mittheilt, bei welchen
sich Willensvorgänge zwischen Reiz und Reaction einschalten;
in der letzten Columne schliefsUch finden wir die zugehörigen
Häufigkeiten.
Tabelle nia.
Beactionen mit eingesch.
Bewafstseinsvorgängen,
aber ohne Willens-
Beactionen mit eingesch.
Be wu Cstseins Vorgängen,
aber mit Willens-
Versachsperson
bethätigungen
bethätigungen
Häufigkeit
in Procent
Mittl. Dauer
in See.
Mittl. Dauer
in See.
Häufigkeit
in Procent
1
Kp.rcher :
1
81,7
1,63
2,11
11,1
Obth:
65,4
1,41
1,98
15,0
Dr. Kinkel:
30,1 ! 2,12
2,89
38,6
Tabelle Illb.
Beactionen mit eingesch.
Bewulstseinsvorgängen,
aber ohne Willens-
Beactionen mit eingesch.
Bewulstseins Vorgängen,
aber mit Willens-
Versuchsperson
bethäti
gungen
bethätigungen
Häufigkeit
in Procent
Mittl. Dauer
in See.
Mittl. Dauer
in See.
Häufigkeit
in Procent
Mater:
52,9
1,67
2,36
16,5
Eehcher :
\ 71,8
1,78
2,48
9,0
Dr. Kinkel:
29,4
2,45
2,96
34,9
Die beiden Tabellen lehren ganz offenbar, dafs die Willens-
vorgänge den Associationsablauf verlangsamen.
unser Material ergab ferner, dafs die Bewnfstseinsvorgänge,
welche sich zwischen Reiz und Reaction einschieben, entweder
gefühlsbetont sind oder nicht gefühlsbetont. Kercheb beobachtete
r.B., dais bei ihm das Reizwort „Wald" ein von einem positiven
Gefühle begleitetes Gesichtsbild eines Waldes auslöste, worauf
die Reaction „grün" erfolgte. Die nachstehenden Tabellen IV a
10
A. Mayer und J, Orth,
und IV b geben in Columne 2 die Häufigkeit der gefühlsbetonten
und der nicht gefühlsbetonten Associationen an, während die
3. Columne die zugehörigen mittleren Dauern enthält.
Tabelle IV a.
Gattung
AsBociationen mit ein-
gesch. gefühlsbetonten
Be wulstsei ns Vorgängen
Association, m. eingesch.
nicht gefühlsbetonten
Bewufstseinsvorgängen
Häufigkeit in ^jo
Mittlere Dauer in See.
Kerchbb : 21,6
Orth : 3,3
Dr. Kinkel: 0,7
Kercher : 78,4
Orth : 96,7
Dr. Kinkel : 99,3
Kercher: 1,96
Orth : 1,84
Dr. Kinkel: 3,20
Kercher : 1,54
Orth : 1,44
Dr. Kinkel: 2,32
Tabelle IVb.
Gattung
Associationen mit ein-
gesch. gefühlsbetonten
Bewulstseinsvorgängen
Association, m. eingesch.
nicht gefühlsbetonten
Bewufstseinsvorgängen
Häufigkeit in %
Mayer : 12,5
Kercher : 2,4
Dr. Kinkel : 3,1
Mayer : 87,5
Kercher : 97,6
Dr. Kinkel: 96,9
Mittlere Dauer in See.
Mayer : 2,26
Kercher: 2,27
Dr. Kinkel : 3,43
Mayer : 1,62
Kercher : 1,78
Dr. Kinkel: 2,36
Bei aller ofiEenbaren individuellen Verschiedenheit der Beob-
achter zeigen diese Tabellen deutlich, dafs die eingeschalteten
Erlebnisse in den meisten Fällen nicht gefühlsbetont sind;
aufserdem aber erkennen wir, dafs die mittlere Dauer der
Associationen mit eingeschalteten gefühlsbetonten
Bewufstseinsvorgängen erheblich länger ist als die
der übrigen.
Wir stellten uns nun die Frage, ob wohl die Richtung der
den Associationsvorgang begleitenden Gefühle die Associations-
dauer beeinflusse. Um dieses Problem zu lösen, haben wir die
Zwr qualitativen üntermichung der Asaoeiatiofi.
11
Tabellen Va und Vb zusammengestellt. Diese theilen in Co-
lunme 2 die Häufigkeiten der mit lust- und der mit unlust-
betonten Zwischengliedern verlaufenden Reactionen und in Co-
Inmne 3 die dazu gehörigen Dauern mit. Die Häufigkeiten sind
in beiden Tabellen bezogen auf die Anzahl der gefühlsbetonten
Associationen.
Tabelle Va.
Gattniig
Associationen mit lust*
betonten Zwischen-
gliedern
Häufigkeit in %
Kercher : 42,4
Orth : 40,0
Dr. Kinkel : —
Mittlere Dauer in See.
Kercher : 1,79
Orth: 1,40
Dr. Kinkel : —
Associationen mit unlust-
betonten Zwischen-
gliedern
Kercher : 57,6
Orth : 60,0
Dr. Kinkel : 100,0
Kercher : 2,06
Orth : 2,13
Dr. Kinkel: 3,20
Tabelle Vb.
Gattung
Aflsociationen mit unlust-
betonten Zwischen-
gliedern
Häufigkeit in %
Mittlere Dauer in See.
Associationen mit lust-
betonten Zwischen-
gliedern
Mayer: 15,6
Kercher : 66,7
Dr. Kinkel : 37,5
Mayer : 84,4
Kercher : 33,3
Dr. Kinkel: 62,5
Mayer : 1,64
Kercher : 2,25
Dr. Kinkel: 3,13
Mayer : 2,37
Kercher : 2,30
Dr. Kinkel: 3,60
Diese Tabellen zeigen deutlich, dafs der negative Ge-
fühlston der eingeschalteten Bewufstseinsvorgänge
die Geschwindigkeit der Association beeinträchtigt.
Schliefshch fanden wir noch bei der Betrachtung unseres
Materials, dafs sich sowohl parallel dem Reizworte, als auch
parallel dem Reactionsworte andere Bewufstseinsvorgänge (die
Gefühle eingeschlossen) einstellen können: So war bei der Yer-
SQchsperson Orth die unmittelbar auf das Reizwort „Band'*
12 A. Mayer und J, Orth,
folgende Reaction „Wurm" von dem Gesichtsbilde eines Band-
wurmes begleitet. In dem Beobachter Mayer entstand beim
Anhören des Reizwortes „Choral" ein Lustgefühl, worauf sich
sofort die Reaction „singen" einstellte. Die geringe Anzahl der
in unserem Material vorhandenen hierher gehörigen Fälle ge-
stattet uns jedoch nicht, irgend welche allgemein gültige weitere
Schlüsse von Bedeutung zu ziehen. Es müssen daher die Fragen,
ob die psychischen Parallelvorgänge häufiger das Reiz- oder das
Reactionswort begleiten, sowie femer die Fragen, ob irgend eine
Gruppe von psychischen Vorgängen besonders häufig begleitend
auftritt, ob und in welcher Richtung ein Einflufs dieser Parallel-
erscheinungen auf die Associationsdauer stattfindet, späteren
Untersuchungen zur Lösimg vorbehalten bleiben. Wir können
nur sagen, dafs bald mit dem Reiz-, bald mit dem Reactionswort
andere begleitende Erlebnisse (inclusive der Gefühle) parallel gehen
können; obgleich unser Material keine directe Stütze dafür
bietet, dürfen wir es als selbstverständUch betrachten, dafs auch
innerhalb eines Associationsvorganges sowohl mit dem Reizwort als
auch mit dem Reactionswort andere Erlebnisse einhergehen können.
Wir fassen jetzt die wesentUchsten Ergebnisse dieser Arbeit
in Folgendem zusammen:
Wenn der Versuchsperson die Aufgabe gegeben wird, auf
ein zugerufenes Wort mit einem laut gesprochenen Wort zu
reagiren, so können sich bei ihr verschiedene Bewufstseinsvor-
gänge einstellen. Erstens kann sich das Reactionswort an das
Reizwort unmittelbar anschliefsen, zweitens können sich zwischen
Reiz- und Reactionswort ein oder mehrere Bewufstseinsvorgänge
einschalten.
Dabei zeigt sich, dafs die Reactionen ohne eingeschobene
Bewufstseinsvorgänge schneller ablaufen als jene mit einge-
schobenen Bewufstseinsthatsachen und dafs die Reactionen mit
einem eingeschobenen Bewufstseinsvorgang von kürzerer Dauer
sind als jene, bei welchen sich mehrere psjxhische Thatsachen
zwischen Reiz- und Reactionswort einschalten.
Die Reactionen mit eingeschobenen Bewufstseinsvorgängen
treten im Allgemeinen weit häufiger auf als jene ohne einge-
schaltete Bewufstseinsthatsachen.
Finden sich unter den eingeschobenen Bewufstseinsvorgängen-
Willensbethätigimgen, so wird hierdurch der Reactionsvorgang
verlangsamt.
Zur qualitativen Untersuchung der Association, 13
Die an die zugerufenen Worte sich ansehliefsenden Bewufst-
seinsYorgänge sind in den wenigsten Fällen gefühlsbetont, in
den meisten Fällen nicht gefühlsbetont
Die Gefühlsbetonimg der eingeschalteten Bewufstseinsvor-
gänge verlangsamt den associativen Vorgang; die negative Ge-
fühlsbetonung verzögert ihn mehr als die positive.
Wenn man nun eine Eintheilung der Associationen zwischen
zugerufenen und laut gesprochenen Worten versuchen wollte,
welche auf der qualitativen Verschiedenheit dieser Associationen
beruht, so müfste dieselbe ungefähr folgendermaafsen lauten:
Die Associationen zerfallen entweder
a) in solche ohne eingeschobene Bewufstseinsvorgänge, und
b) in solche mit eingeschobenen Bewufstseinsvorgängen,
die sich ihrerseits wieder nach Zahl, Art und Gefühls-
betonung der eingeschalteten Bewufstseinsthatsachen
weiter gliedern lassen, oder
a) in solche ohne begleitende Bewufstseinsvorgänge und
b) in solche, bei welchen mit dem Reizworte begleitende
Bewufstseinsvorgänge ablaufen, und
c) in solche, bei welchen mit dem Reactionsworte begleitende
Bewufstseinsvorgänge ablaufen, und
d) in solche, bei welchen sowohl Reiz- als Reactionswort
durch andere Erlebnisse begleitet werden.
Eine umfängliche Vermehrung des Materials dürfte zeigen,
dafs auch diese zweite Eintheilung einer weiteren Gliederung
zugänglich ist.
Zum Schlüsse gestatten wir uns noch, Herrn Privatdocent
Dr. Mabbe für seine werthvollen Winke und Rathschläge, sowie
den Versuchspersonen Herrn Privatdocent Dr. Kinkel und
Herrn cand. phil. Kercher für ihre thatkräftige Unterstützung
dieser Arbeit unseren Dank auszusprechen.
(Eingegangen am 28, Januar 1901.)
^N/ Der Schmerz.
Von
Professor W. v. Tschisch.
„La doulenr est la morf
FouLLi^, La Psychologie des iddea
forces. (T. I, p. 74.)
I.
RiBOT hat Recht, wenn er sagt : ^ „Ueber den physischen
Schmerz ist nicht wenig gearbeitet worden und mufs in Zukunft
noch viel gearbeitet werden." Es liegt thatsächUch eine statt-
liche Anzahl von Untersuchungen über den Schmerz vor — man
denke nur an die werthvoUe Arbeit von Seegi „Dolore e Piacere"
— und dennoch ist die Lehre vom Schmerz bis heute lückenhaft,
und manche wichtige Frage völlig unaufgeklärt geblieben. So
ist noch lange nicht festgestellt, welche Reize eigentUch Schmerz
erzeugen, und auch die Psychologie des Schmerzes ist noch
keineswegs vollständig. — Wenden wir uns zunächst der Frage
zu, welche Reize Schmerz erzeugen, so begegnen wir in der
neuesten diesbezüglichen Arbeit, die von dem so verdienstvollen
Physiologen Charles Rick et auf dem III. internationalen psycho-
logischen Congrefs- veröffentlicht wurde, der Behauptimg, dafs
der Schmerz einerseits durch starke Reize (excitations fortes)
und andererseits durch alle abnormen Zustände (tout 6tat anormal)
hervorgerufen werde. Diese Behauptung entbehrt aber nicht nur
genügender Klarheit, sondern entspricht nicht einmal den That-
sachen. Schon Horwicz* ist gegen die WtnNDT'sche* Ansicht,
nach welcher starke Reize Schmerz erzeugen, aufgetreten, und
das wahrlich nicht ohne Grund. Ist es doch zur Genüge be-
^ La Psychologie des sentiments S. 42.
* Dritter Internationaler Congrefs für Psychologie 1896.
* HoBwicz, Psychologische Analysen, I. Bd., 6. Buch; IL Bd., 1. u. 2. Buch.
* WcNDT, Physiologische Psychologie, Bd. I, Cap. 10.
. Der Schmerz, 15
kannt, dafs starke Reize, wie z. B. länger andauernde intensive
Schallreize zwar unangenehm, aber keineswegs schmerzhaft sind,
und dafs andererseits schwache Reize, z. B. ein Tabaksstäubchen,
ins Auge gerathen, heftigen Schmerz verursacht. —
Es ißt leicht einzusehen, dafs der Schmerz nicht von der
Intensität des Reizes abhängt, wenn man sich vergegenwärtigt,
dafs z. B. der bis zur Weifsglühhitze erwärmte Paquelin nur
geringen Schmerz verursacht, während der Schmerz sehr heftig
ist, wenn der Apparat nicht genügend erhitzt ist — Manche
Reize erzeugen allerdings Schmerz, erst nachdem sie eine ge-
wisse Intensität erreicht haben, dafür giebt's aber andere, die
niemals Schmerz hervorrufen, und endlich auch solche, die
immer, vollständig unabhängig vom Grade ihrer Intensität, Schmerz
erzeugen. —
Nicht weniger unbestimmt und unklar ist die Behauptung
Richbt's, dafs jeder abnorme Zustand Schmerz bewirke. „Ab-
normer Zustand", was soll dieser Ausdruck besagen? Lungen-
cavemen sind zweifelsohne abnorme Zustände und bewirken oft
keinen Schmerz, und Mensehen, die dem Erhängungstode nah,
also in einem abnormen Zustande sich befunden haben, geben,
rechtzeitig von der Schlinge befreit, an, sich völlig wohl gefühlt
zü haben. Und wenn wir auch schhefsüch die Behauptung
Richet's als richtig und klar anerkennen wollten, wäre doch eine
weitere Bearbeitung seiner These unumgänglich, insofern, als
man sich nicht mit der Annahme zweier Ursachen begnügen
kann, ohne sich darüber klar zu sein, warum zwei verschiedene
Ursachen identische Wirkungen erzeugen, warum einerseits
^starke Reize" und andererseits „abnorme Zustände" ein und
dieselbe Wirkung, Schmerz, hervorrufen. —
Lichtreize können allerdings sehr unangenehme Gefühle be-
wirken, erzeugen aber beim gesunden Menschen nie thatsächUchen
Schmerz. Eine, wenn ich nicht irre, bei den Chinesen beliebte
Inquisitionsmethode soll, wie Richet erzählt, darin bestehen, dafs
den Verbrechern die AugenUder amputirt, und die Augen, so
des natürlichen Schutzes beraubt, der Sonne ausgesetzt werden.
Ein derartiger Zustand ist bestimmt qualvoll, nicht aber in Folge
der einwirkenden Lichtreize, sondern weil die Augen, so allen
schädlichen Einflüssen ausgesetzt, leicht der Entzündung ver-
hüllen und hyperästhetisch werden. Nur bei kranken Menschen
bewirken intensive Lichtreize Schmerz, Gesunden dagegen ist
16 W. von Tschisch.
intensives Licht angenehm. Zu bemerken wäre noch, dafs wir
nicht wissen und offenbar auch nicht wissen können, ob an-
dauernde und starke Lichtreize überhaupt Schmerz erzeugen, da
durch die Lider die Augen vor solchen Reizen geschützt werden.
Kranken, die an FaciaUsparalyse leiden, venu*sacht nach meinen
Beobachtimgen intensives Licht keinen Schmerz.
Dasselbe gilt auch von den Grehörsreizen, die an und für
sich keinen Schmerz verursachen. Ein Kanonenschufs im ge-
schlossenen Raum würde allerdings Schmerz erzeugen, aber nicht
als Gebörsreiz, als Schall, sondern als mechanischer Reiz. Eine
Ruptur des Trommelfells, mechanisch durch Einwirkung von
Luftschwingungen erzeugt, ist selbstverständlich schmerzhaft; in
diesem Falle darf aber nicht der Schall als Ursache des Schmerzes
aufgefafst werden. Schallreize als solche erzeugen bei Elranken
Schmerz, Gesunden sind sie aber nur mehr oder weniger un-
angenehm. —
Musik übt freiHch auf verschiedene Menschen verschiedene
Wirkungen aus; ein Musikstück, für welches der Chinese sich
begeistert, ist uns unangenehm. Wirkhcher Schmerz wird aber
bei allen Menschen und auch bei Thieren durch ein und die-
selben Reize hervorgerufen, wobei nur die Litensität des Schmerzes
verschieden sein kann; geglühtes Eisen verursacht dem Tiger
Schmerz, ebenso wie dem Menschen.
Geruchsreize bewirken an und für sich ebenfalls keinen
Schmerz, auch wenn sie noch so unangenehm sind. Solange das
chemische Agens nur auf das Geruchsorgan wirkt, erregt es nur
Unlustgefühle, aber keinen Schmerz. Letzterer könnte allerdings
bei Einwirkung des Reizes auf Schleimhäute eintreten, doch
wäre dann der Schmerz nicht als Folge eines Geruchsreizes auf-
zufassen. — Wie die Geruchsreize erzeugen auch diejenigen
chemischen Reize, welche Geschmacksempfindungen auslösen,
keinen Schmerz. Alle Geschmacksempfindimgen, wie süfs, sauer,
salzig und bitter können wohl unter Umständen unangenehm
und widerUch, niemals aber schmerzhaft sein. Dem könnte man
allerdings entgegenhalten, dafs z. B. Essig in entsprechender
Concentration ein unangenehmes schmerzhaftes Brennen im
Munde bewirkt, doch dieses schmerzhafte Brennen ist nur als
Einwirkung des chemischen Reizes auf die Mundschleimhaut
aufzufassen. Chemische Reize erzeugen nur dann Schmerz,
wenn sie keine Geschmacksempfindungen auszulösen vermögen,
Der Schmerz. yi
wie Jeder zugeben wird, der unvorsichtigerweise oder absichtlich
Königswasser oder Schwefelsäure geschluckt hat; man erinnert
sich in solchen Fällen wohl Schmerzen aber keine Geschmacks-
empfindungen gehabt zu haben. Sehr heftige Schmerzen be-
wirken chemische Agentien sowohl bei Menschen als auch bei
Thieren bei allgemeiner Einwirkung, wie z. B. Salpeter- oder
Schwefelsäure, subcutan oder per os applicirt — Chemische
Reize wirken schmerzerregend nicht vermöge ihrer Intensität,
sondern schon durch ihre Natur an und für sich, und das in-
sofern,' als diejenigen chemischen Reize, welche auf
unseren Organismus zerstörend wirken, Schmerz
erzeugen, diejenigen aber, welche nicht den Orga-
nismus zerstören, keinen Schmerz bedingen; erstere
rufen immer Schmerz hervor, letztere niemals. Der
Intensität chemischer Reize kommt nur insoweit Bedeutung zu,
als der Schmerz mit der Intensität des Reizes wächst; es ist
leicht einzusehen, dafs zwei Tropfen Essigsäure stärkeren Schmerz
erregen als ein Tropfen.
So wissen wir denn von den chemischen Reizen, dafs einige
von ihnen, wie, mn ein Beispiel Richet's zu gebrauchen, die
Essigsäure, Schmerz erzeugen, andere hingegen, z. B. das Wasser,
keinen Schmerz erregen. Näher läfst sich Richet über den
Unterschied der chemischen Körper, die schmerzerregend wirken,
und derjenigen, die keinen Schmerz erzeugen, nicht aus. Es
wäre ein Leichtes, die hauptsächlichsten schmerzerregenden
chemischen Körper aufzuzählen , . doch damit wäre noch nicht
ihre Definition gegeben. Um zu bestimmen, welche chemischen
Körper Schmerz erregen, gilt es zuerst, ein Kennzeichen zu finden,
das allen schmerzerregenden Körpern gemeinsam ist. Merk-
würdigerweise ist auf ein derartiges Kennzeichen noch nicht
hingewiesen worden; ich glaube es jedoch in Folgendem ge-
funden zu haben: Diejenigen chemischen Körper,
welche bei unmittelbarer Einwirkung Schmerz er-
zeugen, tödten lebendes Gewebe. Der Schmerz ist
selbstverständlich an die Existenz von Nerven gebunden imd
entsteht, ehe noch das Gewebe getödtet ist; er tritt deshalb bei
Einwirkimg geringer Dosen oder schwacher Lösungen auf,
während der Tod des Gewebes durch concentrirte Lösungen oder
grofse Dosen bedingt wird. —
Zeitschrift (^üt Psychologie 26. 2
18 W. von TschiscL
Die schmerzen'egenden Stoffe sind ihrer chemischen Structur
nach sehr verschieden, und ihre Anzahl ist Legion; es würde
auch zu nichts führen, wollten wir sie alle aufzählen, wichtig ist
nur, dafs ihnen allen die charakteristische Eigenschaft zukommt,
lebendes Gewebe in todtes zu verwandeln. Diejenigenchemi-
schen Körper, die keinen Schmerz erregen, tödten
eben kein lebendes Gewebe. Folglich sind die chemischen
Körper in zwei Gruppen zu sondern, in solche, die das Gewebe
tödten und Schmerz erregen, und in solche, die lebendes Gewebe
nicht angreifen und keinen Schmerz erregen. Fassen wir end-
Uch die schmerzerregenden Eigenschaften der chemischen Körper
in ein Gesetz zusammen, so würde es wie folgt lauten: Jedes
chemische Agens, welches lebendes Gewebe in
todtes verwandelt, erzeugt Schmerz.
Mechanische Reize, wie Hieb, Druck u. s. w. erzeugen
Schmerz, freilich erst nachdem sie eine gewisse Intensität er-
reicht haben, so dafs in dieser Beziehung die von Richet auf-
gestellte Regel zutrifft, wenngleich sie noch einer Ergänzung be-
darf. Von der Richtigkeit der von Richet^ und Naunien* in
Bezug auf die Summation schwacher mechanischer Reize ge-
zogenen Schlüsse überzeugt man sich leicht durch einen ein-
fachen Versuch. Reizt man durch auf einander folgende schwache
Schläge ein und dieselbe Stelle, so entsteht Schmerz; folglich
wird Schmerz nicht nur durch starke, sondern auch durch die
Summation schwacher mechanischer Reize erzeugt. —
Jeder noch so schwache mechanische Reiz erzeugt Schmerz,
wofern er die Integrität des Gewebes angreift. Schnitt, Stich,
Rifs u. s. w. sind deshalb stets schmerzhaft, vorausgesetzt, dafs
das verletzte Gewebe auch Nerven enthält, denn der Schmerz
ist natürhch an die Existenz von Nerven gebunden. — Wie die
mechanischen erzeugen auch die elektrischen Reize Schmerz erst
bei gewisser Intensität, und wie die Summation schwacher mecha-
nischer Reize wirkt auch die Summation schwacher elektrischer
Reize schmerzerregend. Elektrische Reize erregen bekannthch
bei ihrer Einwirkung auf die Sinnesorgane die entsprechenden
specifischen Empfindungen; so entstehen bei der Wirkung von
Elektricität aufs Auge Gresichtsempfindungen, bei der aufs Ohr
* Recherches sur le sensibilit^. 1877.
• Archiv für ea^rimentellc Pathologie und Pharmakologie 15.
Der Schmerz. 19
Gehörsempfindungen u. s. w. Interessant ist nun, dafs die elek-
trischen Reize keinen Schmerz erzeugen, solange sie specifische
Empfindungen hervorrufen, sind sie aber so stark, dafs sie
Schmerz erregen, so vermögen sie nicht specifische Empfindungen
hervorzurufen. Dieses Gesetz, auf welches meines Wissens in
der Literatur noch nicht hingewiesen ist, bestätigt vollkommen
die früher aufgestellte Behauptung, dafs die specifischen Empfin-
dungen der höheren Sinnesorgane niemals mit Schmerz ver-
gesellschaftet sind. — Der heftigste Schmerz entsteht durch
Temperaturreize, für welche die JRiCHET*sche Regel wohl kaum
Geltung findet. In Bezug auf diese Reize wäre die Regel rich-
tiger in folgender Weise zu formuhren: „Hitze und Kälte er-
zeugen Schmerz insoweit, als sie mit Nerven versehenes Gewebe
zerstören." Des Schmerzes, der durch den Paquehn erzeugt
wird, ist bereits vorhin Erwähnung gethan worden ; hinzuzufügen
wäre noch, dafs der Schmerz um so heftiger wird, je gröfser die
Fläche ist, auf welche die höhere oder niedere Temperatur wirkt.
Starke, plötzlich einwirkende Kälte erzeugt zuerst brennenden
Schmerz und dann Empfindungslosigkeit, weil die Kälte zuerst
oberflächUche Nekrose und dann Anästhesie bedingt. Mäfsige
Kälte imd Hitze bedingen keinen Gewebstod, folgUch auch keinen
Schmerz, sondern nur Unlustgefühle im ganzen Organismus;
starke Kälte und starke Hitze verursachen dagegen heftige
Schmerzen, wahrscheinlich nicht nur durch unmittelbare Zer-
störung der Gewebe, sondern auch durch Erzeugung von Gift-
stoffen. —
Nachdem wir so alle in der Aufsenwelt vor sich gehenden
Veränderungen, die in uns Empfindungen hervorrufen, aufge-
zählt, nachdem wir femer festgestellt, welche von diesen Ver-
änderungen oder, besser gesagt, Reizen, Schmerz erzeugen, und
unter welchen Bedingungen dieses geschieht, erübrigt's noch,
ein charakteristisches, allen schmerzerregenden Reizen gemein-
sames Kennzeichen ausfindig zu machen, durch welches sich
diese von allen übrigen Reizen unterscheiden, die nicht mit
Schmerzgefühlen associirte Empfindungen erzeugen. —
Vor Allem, wäre bei Erörterung dieser Frage darauf hinzu-
weisen, dafs die Empfindungen der höheren Sinnesorgane bei
gesunden Menschen nie mit Schmerzen einhergehen, doch dieser
Hinweis, der wohl für den Psychologen von einigem Werth ist,
kann weder den Physiologen, noch den Arzt befriedigen. —
2*
20 ^'^ ^on Tschisch.
Meines Wissens hat diese Frage bisher noch keine Beant-
wortimg erfahren; aus diesem Grunde will ich mich bemühen,
die Berechtigung meiner Auffassung von diesem Gegenstand
näher zu begründen. —
Beize, welche den Menschen nicht tödten können, wie grelles
Licht, lauter Schall, widerlicher Geruch, ekelerregende, aber nicht
zerstörend auf das Gewebe des Verdauungskanals wirkende Stoffe
erzeugen keinen Schmerz.
Im Gegensatz zu diesen erzeugen aber Schmerz diejenigen
Beize, welche den Menschen tödten können. So wirken schmerz-
erregende Giftstoffe, mechanische, elektrische Beize, Hitze und
Kälte. —
Es unterUegt keinem Zweifel, dafs die Inquisition bei so
reicher Erfahrimg sich der vollendetsten Mittel zu bedienen
wufste, um ihre Opfer zu martern und zu tödten. Mit den Ur-
sachen des Schmerzes besser vertraut, als mancher Gelehrte, be-
nutzten die Inquisitoren starke Licht-, Schall-, Geruchs- oder
Greschmacksreize nicht für ihre Zwecke, weil diese viel zu geringe
Qualen verursacht und den Opfern nie ein Geständnifs abge-
rungen hätten. Die Unglücklichen wurden freilich in dunkle
Kerker geworfen, weil andauernder Lichtmangel thatsächUch
Unlustgefühle und sogar Schmerz bedingt; diese Wirkung war
dann aber nicht direct, sondern vielmehr indirect bedmgt durch
Veränderungen, welche im ganzen Organismus hervorgerufen
wurden. — Unklar erscheint, freilich nur bei oberflächUcher Be-
trachtung, die Thatsache, dafs nicht alle chemischen Beize, welche
den Organismus tödten, Schmerz en^egen. Alkohol, Morphium
imd Cocain rufen in kleinen Dosen nicht nur keine Schmerzen
hervor, sondern erzeugen sogar eine angenehme Wirkung, wäh-
rend sie in grofsen Dosen tödten, ohne Schmerz zu erregen. —
Schmerzerregende Gifte unterscheiden sich lebhaft von Giften,
die tödtUch wirken, ohne Schmerz zu erzeugen. Solange dieser
Unterschied nicht aufgeklärt ist, ist auch die Behauptung ge
rechtfertigt, dafs der Schmerz nicht „die wachsame Schildwache"
des Organismus ist —
Dieser Unterschied besteht aber in Folgendem: „Beize,
welche dem Individuum schädlich sind, erregen Un-
lustgefühle; Beize, welche das Individuum tödten,
erregen ebenfalls Unlustgefühle, Beize aber, welche
lebendes Gewebe tödten, erregen Schmerz. In diesen
Der Schmerz, 21
Gesetzen liegt die Antwort auf alle gestellten Fragen, sie beant^
Worten die Frage, warmn nicht nur auf das Individuum schäd-
lich, sondern sogar tödtlich wirkende Reize keinen Schmerz er-
regen. —
Einige Gifte bewirken keinen Schmerz, und zwar gerade
diejenigen, welche nicht unmittelbar auf das lebende Gewebe,
sondern auf das Individuum tödtlich wirken. Im Gegensatz zu
diesen wirken schmerzerregend diejenigen, welche, wie z. B.
Sublimat, unmittelbar das Gewebe zerstören, lebendes Gewebe in
todtes verwandeln, oder Veränderungen im Organismus hervor-
rufen, welche auf mechanischem oder chemischem Wege den
Gewebstod herbeiführen. —
Der Schmerz erscheint zeitUch als erste Reaction des Orga-
nismus auf Reize, die lebendes Gewebe tödten, er ist gleichsam
der Wächter des Organismus, ein Eilbote, der die Meldung bringt,
daCs Gefahr im Anzüge ist, der Schmerz zeigt an, dafs bei
längerer und stärkerer Einwirkung des Reizes der Tod des Ge-
webes eintreten werde, und dafs letzterer zum Theil schon im
Emtreten begriffen ist. —
Reize, welche Unlustgefühle erregen, sind dem Individuum
schädUch, Reize dagegen, welche Schmerz erregen, zerstören einen
gröfseren oder kleineren Theil des den Organismus bildenden
Gewebes. —
Betrachten wir von diesem Standpunkte aus nochmals die
schmerzerregenden Reize, so sehen wir, dafs gerade diese Reize,
zum Unterschiede von allen übrigen, es sind, welche nicht nur
das Individuiun tödten, sondern das lebende Gewebe, das ihrer
unmittelbaren Einwirkung unterhegt. —
Hitze und Kälte tödten lebendes Gewebe, tödten jede lebende
Zelle, ebenso wie die schmerzerregenden Gifte. Es giebt keine
lebende Zelle, die diesen Reizen widerstände, und deshalb auch
kein Lebewesen, dem sie nicht schädhch wären, das ihnen nicht
gern fernbUebe. Mechanische Reize, wie Stich, Schlag oder
Druck, und ebenso elektrische Reize, tödten gleichfalls lebendes
Gewebe. Auf welche Weise Elektricität lebendes Gewebe tödtet,
ist allerdings noch völlig unbekannt, es imterliegt aber keinem
Zweifel, dafs derartige Reize schädlich sind, weshalb sie auch
nach Möglichkeit gemieden werden. —
Nach diesen Ueberlegungen ist auch unschwer einzusehen,
warum schmerzerregende Reize bei allen Lebewesen Schmerz
22 W' von Tschisch,
erzeugen, wofern letztere der Schmerzempfindung fähig sind.
Ein Tropfen Schwefelsäure ruft beim Menschen in gleicher Weise,
wie beim enthaupteten Frosch Abwehrbewegungen hervor, denn
Schwefelsäure wirkt sowohl auf das Gewebe des Menschen wie
auch auf das des enthaupteten Frosches tödtlich. Es giebt kein
der Schmerzempfindung fähiges Thier, das auf schmerzerregende
Reize nicht in derselben Weise reagirte, wie der Mensch. Der
Schmerz ist universell, insofern als ein imd dieselben
Reize auf alle Lebewesen identisch wirken; ein Unterschied gilt
nur in Bezug auf den Grad der Wirkung. Doch nur schmerz-
erregende Reize wirken auf alle Lebewesen in gleicher Weise,
während Reize, die nur Unlustgefühle erzeugen — imd darin
besteht der wesentUche Unterschied — nicht als universell be-
zeichnet werden können. Schmerzerregenden Reizen gegenüber
verhalten sich auch alle Lebewesen in gleicher Weise ; alle streben
ihnen, wenn irgend möglich, zu entgehen, denn schmerzerregende
Reize tödten alles Lebendige. — Der Schmerz wird also durch
Reize erregt, welche ohne Ausnahme alles Lebendige zerstören,
während Unlustgefühle erzeugt werden durch Reize, welche
keineswegs, wie jene, auf alle Lebewesen identisch wirken, son-
dern auf verschiedene Thierspecies, ja sogar auf verschiedene
Einzelindividuen verschieden.
Eine schwierigere Frage ist, wie die genannten Reize in den
inneren Organen wirken, was für Processe sie hier hervorrufen.
Bekannt ist nur, dafs einige innere Krankheiten mit mehr oder
weniger heftigen Schmerzen verlaufen, andere dagegen ohne die-
selben, und weiter beschränken sich unsere Kenntnisse ledigUch
darauf, dafs die Schmerzen in den inneren Organen durch mecha-
nische und chemische Reize erregt werden. —
Auf welche Weise mechanische Reize Schmerz erregen, ist
allerdings bekannt, unerforscht ist aber, ob in den einzelnen
Krankheitsfällen der Schmerz auf mechanische oder chemische
Reize zu beziehen sei, und wir sind auch nicht im Stande, alle
Krankheiten und krankhaften Processe aufzuzählen, die mit
Schmerzen einhergehen. So wissen wir, dafs Geschwülste, Gallen-
und Harnsteine auf mechanischem Wege Schmerz erzeugen, ob
aber bei Entzündungsprocessen mechanische oder chemische
Reize schmerzerregend wirken, ist unbekannt. Es liegt wohl
nahe, in vielen Fällen den Schmerz auf chemische Ursachen
zurückzuführen, einstweilen fehlen jedoch überzeugende Unter-
Der Schmerz. 23
suchungen. — Mechanische und ehemische Reize erzeugen in
den inneren Organen nicht nur bei starker Einwirkung Schmerz,
sondern auch bei schwacher. Nicht nur grofse, sondern auch
kleine Greschwülste verursachen Schmerz ; in manchen Fällen von
intracraniellen Tumoren bestehen die schreckKchsten Schmerzen
gerade nur, solange die Gesch\\^8t klein ist, und verschwinden,
sobald letztere gröfsere Dimensionen angenommen hat. Ein Glas
schlechten Weines verursacht andauernde heftige Kopfschmerzen,
obgleich doch in einem Glase wahrscheinUch nicht mehr als
wenige MiUigramme der giftigen Substanz enthalten sind. Die
Intensität des Schmerzes in den inneren Organen ist der Inten-
sität des entsprechenden Reizes nicht proportional und wird
durch einstweilen noch gänzUch unbekannte Ursachen bedingt
— Schon im Jahre 1880 hat Meynert die Vermuthung ausge-
sprochen, dafs die gedrückte Gemüthsstimmung, der psychische
Schmerz auf veränderte Stoffwechselvorgänge in den Zellen der
Hirnrinde zu beziehen sei, die in Folge ungenügender Zufuhr
arteriellen Blutes zu Stande kämen; er bezeichnete diesen Zu-
stand der Zellen als dyspnoische Emährimgsphase. Mit dieser
Hypothese stehen auch die genannten Gesetze von der Ent-
stehung des Schmerzes in gewissem Einklang. —
Wenn auch die Art und Weise, wie die schmerzerregenden
Gifte das Gewebe tödten, noch nicht in allen Fällen genügend
erforscht ist, so wissen wir doch, dafs einige von ihnen durch
Entziehung von Sauerstoff den Gewebstod bedingen, andere
wiederum dadurch, dafs sie die innere Structur des Gewebes zer-
stören, ohne dabei Bestandtheile zu entnehmen oder hinzuzufügen.
Jedenfalls wird die MEYNEBT'sche Hypothese durch die Thatsache,
dafs Gifte, welche durch Sauerstoffentziehung lebendes Gewebe
tödten, Schmerz erzeugen, in zutreffendster Weise bestätigt Der
Schmerz erscheint als erste Reaction bei Einwirkung von Giften,
welche Sauerstoff entziehen. Demgemäfs werden auch die func-
tionellen , neuralgischen Schmerzen wahrscheinhch durch im Blut
oder im Nervensystem selbst auftretende Gifte bedingt, die das
Gewebe tödten, indem sie ihm den Sauerstoff entziehen, oder
die Blutbeschaffenheit dahin ändern, dafs das Blut die Fähigkeit
einbüfst, den Nervenzellen die nöthige Quantität von Sauerstoff
abzugeben. Die Nervenzellen befinden sich eben dann in der
„dyspnoischen Ernährungsphase'', sie verfallen dem Sauerstoft*-
hunger. Den Sauerstoffmangel beantwortet das Bewufstsein mit
24 W, von Tsehisch,
der Schmerzerscheinung in derselben Weise, wie die Einwirkung
von Giften, die das Gewebe durch Entziehung von Sauerstoff
zerstören.
n.
Obgleich der Schmerz eine so bekannte Erscheinung und
schon oft Gegenstand der Forschung gewesen ist, sind die An-
schauungen vieler Gelehrten über denselben noch auffallend un-
klar. Schon ein einfacher Versuch jedoch, den ich oft an mir
und Anderen ausgeführt habe, genügt, um dem Wesen des
Schmerzes näher zu treten. Die einfache Berührung der Elek-
trode eines noch nicht geschlossenen, unwirksamen Stromes ruft
nur die Empfindung einer einfachen Berührung hervor; wird
aber der Strom geschlossen, so entsteht, solange er schwach ist,
eine eigenartige, mir persönlich angenehme, vielen Anderen un-
angenehme Empfindung, die bei fortschreitender Steigerung des
Stromes immer unangenehmer wü-d, bis endUch das Unlustgefühl
in Schmerz übergeht. Läfst man den Strom noch weiter an-
schwellen, so steigert sich auch der Schmerz; die Schmerz-
empfindung wird aber allmähhch weniger deutlich und dann
tritt schliefslich ein Moment ein, in welchem das Bewufstseiü
vollständig vom Schmerz absorbirt ist, ein Zeitpunkt, in welchem
trotz der Ueberzeugung, elektrisirt zu werden, nichts mehr em-
pfunden wird, in welchem eben das Bewufstsein vom Schmerz
absorbirt ist Der Versuch lehrt, dafs man bei schwachen Strömen
mit Leichtigkeit Empfindung und Schmerz zu unterscheiden ver-
mag, während bei starken der Schmerz so sehr hervortritt, dafs
es unmöglich wird, die Berührung der Elektrode und die durch
den Strom bedingte Empfindung getrennt wahrzunehmen. Wird
der Moment der Stromschliefsung auf dem Kymographen markirt^
und die Versuchsperson aufgefordert, den Zeitpunkt, in welchem
sie den Reiz des faradischen Stromes empfindet, durch ein auf
dem Kymographen zu vermerkendes Zeichen anzugeben, so zeigt
sich, dafs die Empfindung des elektrischen Stromes früher auf-
tritt, als der Schmerz, dafs die Berührung 0,1 — 0,2 See. nach der
Schhefsung des Stromes empfunden wird, der Schmerz dagegen
nach 0,3 bis 1,5 See. Markirt man auf dieselbe Weise den
Moment der Stromöffnung, so überzeugt man sich, dafs die
Empfindung des elektrischen Stromes sofort erlischt, nicht einmal
0,2 See. lang die Oeffnung des Stromes überdauert, während der
Der Schmerz, 25
Schmerz noch lange wahrgenommen wird, je nach der Stärke
des ihn erzeugenden Stromes. Nach schwachen Reizen erUscht
der Schmerz schon im Verlaufe von wenigen Secimden, nach
starken dagegen dauert er sogar einige Minuten an. Es ergiebt
sich also, dafs der Schmerz später ins BewuTstsem gelangt, als
die Empfindung des elektrischen Stromes, und dafs er nach
Entfernung des Reizes eine bestimmte Zeit andauert, während
die Empfindung gleichzeitig mit dem Reize erUscht —
Um das Verhältnifs zwischen Empfindimg und Schmerz
genau zu studiren, setzte ich mich selbst Reizen von verschie-
dener Stromstärke aus, nachdem ich zuvor Stickoxydul auf mich
hatte einwirken lassen. Nach leichter Vergiftung bUeben die
Empfindungen im verändert, während Schmerz erst durch sehr
starke Ströme ausgelöscht wurde und es zu heftigen Schmerzen
bei den mir zur Verfügung stehenden Strömen überhaupt nicht
kam; nach stärkerer Vergiftung konnten Gefühle, also Schmerz,
nicht mehr erzeugt werden, während Empfindungen deutlich
wahrgenommen wurden. Genau dasselbe habe ich auch nach
subcutanen Cocaininjectionen an mir beobachtet Während ge-
ringe Dosen die Empfindungen nicht rni Germgsten beemflussen
und Berührungen eines Messers z. B. deutlich wahrgenommen
wurden, entsteht Schmerz niemals durch Schnitte in die Haut,
welche unter solchen Umständen nur Unlustgefühl erzeugen.
Eine gröfsere Dosis des genannten Giftes bringt jegUches Gefühl
zum Erlöschen und läfst Empfindungen unbeeinflufst. —
Der Schmerz ist immer mit einer Empfindung vergesell-
schaftet Solange der Schmerz gering ist und sich noch nicht
ganz imseres Bewufstseins bemächtigt hat, vermögen wir noch
deuthch die dem Reiz entsprechende Empfindung, welche uns
über den erfolgten Reiz in Kenntnifs setzt, vom Schmerz zu
unterscheiden. Wird aber der Schmerz sehr heftig, so tritt die
Empfindung zurück, wird undeutlich und verschwommen; die
Empfindung erUscht jedoch keineswegs, und unter noch so
heftigen Schmerzen sind wir im Stande, genau anzugeben, wo
e« schmerzt Der Schmerz ist, ich wiederhole es, mit einer
Empfindimg immer vergesellschaftet, darf aber keineswegs mit
letzterer identificirt werden; es wäre unrichtig, über Schmerz-
empfindungen in demselben Sinne zu reden, wie über Geschmacks-
empfindungen ; denn es giebt auch Empfindungen, die nicht von
Schmerzgefühlen gefolgt sind. Empfindungen und Schmerz sind
26 ^. von Tschisch,
durchaus selbständige grundverschiedene Erscheinungen dea
psychischen Geschehens. —
Ein schmerzerregender Reiz ruft gleichzeitig die Empfindung
mit allen ihren Attributen, der Qualität und Intensität, hervor
und das lebhafte Schmerzgefühl. Meine Beobachtimgen, welche
nur noch emmal längst bekannte Thatsachen bestätigen, zeigen,
dafs das Gefühl als Begleiterscheinung der Empfindimg au&u-
fassen ist, und dafs das Gefühl auch nach dem Erlöschen der
Empfindung fortbestehen kann, während es andererseits schwin-
den kann bei noch bestehender Empfindung.
Wirkt ein Reiz störend auf den Organismus, so geUngt die
Kunde von der Zerstörung dadurch ins Bewufstsein, dafs zur
Empfindung das Schmerzgefühl hinzutritt Gleichzeitig gehen
im Organismus Veränderungen vor sich; einige von ihnen, wie
die Veränderungen des Pulses und der Pupillenweite, sind uns
zur Genüge bekannt, andere dagegen harren der Erforschung. —
So sind denn der Schmerz als elementarer psychischer Vor-
gang einerseits, imd die zum Theil erforschten Veränderungen des
Organismus andererseits Theile ein und desselben Vorgange&
Der Schmerz ist demnach nicht nur als psychologische sondern
auch als physiologische Erscheinung aufzufassen, und die von
Martius ^ für den Schmerz gegebene Definition entbehrt der Voll-
ständigkeit, wenn er ihn als rein subjective Erscheinimg be-
zeichnet.
In Bezug auf die Dauer des Schmerzes bemerkte ich schon
früher, dafs selbst nach schwachen Reizen der Schmerz noch
fortbesteht, nachdem der Reiz zu wirken aufgehört hat. Starke
Reize, wie eine bedeutende Verbrennung, ein Schlag mit dem
Stocke, erzeugen bekanntlich Schmerzen, die mehrere Minuten
andauern, und sehr starke Reize rufen oft Schmerzen von Tage,
Monate, ja Jahre langer Dauer hervor. Alte Wunden bedingen
Jahre imd Jahrzehnte hindurch die qualvollsten Schmerzen.
Nicht imbekannt ist auch die Thatsache, dafs geringe Reize an-
dauernde Pulsveränderungen hervorrufen, die sich noch nach
dem Erlöschen der Reize feststellen lassen. Entgegengesetzt der
Meinung Anderer mufs ich mich jedenfalls für eine kürzere oder
längere Dauer des Schmerzes aussprechen. Schon die Entstehung
des Schmerzes durch Reize, welche das Gewebe zerstören, weist
* Der Schmerz, S. 1.
Der Schmerz. 27
Äuf die Dauer desselben hin ; ist dem so, dann mufs der Sehmerz
auch fortbestehen, nachdem der Reiz, welcher ihn erzeugt hat,
geschwimden ist Ein Hieb, ein heifser Gegenstand, ein Tropfen
Schwefelsäure verursachen bei ihrer Einwirkung auf unseren
Organismus fraglos eine Reihe von Veränderungen, die auch
nach dem Schwinden des Reizes fortdauern. Sind denn Quetsch-
wunden oder Hyperämie und Blasen der Haut nicht deutlich
wahrnehmbare fortbestehende materielle Spuren eines Hiebes
oder einer erfolgten Verbrennung, deren Ursache längst entfernt,
zu wirken aufgehört hat? Ein Tropfen Schwefelsäure zerstört
nicht nur das Gebiet, auf welches derselbe unmittelbar eingewirkt
hat, sondern ruft auch in der Umgebung desselben andauernde
entzündliche Veränderungen hervor; ja sogar ein schwacher
faradischer Strom hinterläfst Veränderungen wie Gefäfserweite-
rung u. s. w. FreiHch, der Organismus sucht sich mit allen ihm
zu Gebote stehenden Mitteln zu vertheidigen vor Angriffen, die
Schmerz verursachen, doch sind seine Vertheidigungswaffen, wie
Regeneration des zerstörten Gewebes, die Demarcationsline Pro-
cesse, welche verhältnifsmäfsig langsam vor sich gehen. —
Ein wirkHcher Unterschied zwischen den schmerzerregenden
und allen übrigen Reizen wäre dann zu sehen, dafs die schmerz-
erregenden Reize in den Organismus eindringen, während die
anderen denselben, möchte ich sagen, nur streifen. —
Schmerz entsteht nur dann, wenn der Reiz in den Organis-
mus eingedrungen ist, materielle Spuren hinterlassen hat Bei
Berührung eines warmen Körpers entsteht nur eine Temperatur-
empfindung, gefolgt von einem Lust- oder Unlustgefühl, wird
aber ein heifser Körper berührt, so treten, abgesehen von der
der Berührung unmittelbar folgenden Schmerzempfindimg, Ver-
brennungserscheinungen ein, und solange diese dauern, dauert
auch der Schmerz. Es ist demnach leicht einzusehen, dafs
schmerzerregende Reize, schon ihrer Natur gemäfs, keinen kurz-
dauernden Bewufstseinszustand hervorrufen ; Schmerz erregen
nur solche Reize, welche materielle Spuren hinterlassen und da-
durch längere Zeit hindurch den Bewufstseinszustand verändern.
Der Schmerz ist im Vergleich mit allen anderen Bewufstseins-
zuständen eben von längerer Dauer, und diese schreckUche
Eigenschaft des Schmerzes ist uns Aerzten leider nur zu gut
bekannt —
Eine andere Frage ist, warum der Schmerz so schnell ver-
28 ^' von Tschisch.
gessen wird, vom Gedächtnifs nur so kurze Zeit festgehalten wird»
doch auch auf diese Frage giebt die Psychologie befriedigende
Antwort
Dafs das Gedächtnifs für Schmerzempfindungen sehr schwach
ist, imterliegt keinem Zweifel. Bain ^ sagt, dafs „Grefühle als solche
in sehr geringem Grade in der Erinnerimg bewahrt werden" und
auch James- behauptet, dafs das „Gedächtnifs die Gefühle nur
sehr kurze Zeit festzuhalten vermag". Ebenso konnte Ribot*
für die Richtigkeit dieser Anschauung eintreten auf Grund von
Antworten, die er auf seine Fragen von Aerzten und Leidenden
erhielt. —
Wie schon erwähnt, besteht der Schmerz aus Empfindung
und Grefühl; je stärker der Schmerz, desto geringer die Empfin-
dung. Ein erlebter Bewufstseinszustand wird aber nur als Ganzes
im Gedächtnifs erhalten, nur als Complex von Empfindung und
Gefühl. Nun ist der Schmerz immer mit den weniger deutlich
zum Bewufstsein gelangenden Empfindungen der niederen Sinnes-
organe vergesellschaftet, und diese letzteren, ich denke an die
Temperatur, die mechanischen und elektrischen Empfindungen,
werden in so geringem Grade vom Gedächtnifs festgehalten, dafs
sie nach dieser Richtung hin nicht einmal Gegenstand experi-
menteller Untersuchimg sein können. Noch weniger werden die
so imdeutlichen, von den inneren Organen herrührenden Em-
pfindungen in der Erinnerung bewahrt Wird aber die TheU-
erscheinung des Schmerzes, die Empfindung, so schnell ver^
gessen, dann kann auch nicht die Gesammterscheinung sich
lange im Gedächtnifs behaupten. Aus diesem Grunde erlischt
die Erinnerung an den Schmerz so schnell, aus diesem Grunde
kann der Schmerz auch nicht reproducirt werden. —
Ich berühre absichtlich nicht die Frage, wie sich das Gre-
dächtnifs zu den Gefühlen an und für sich verhält, denn wenn
es auch das Gefühl in genügendem Grade festhalten könnte,
wäre es doch unmöglich, sich des Schmerzes mit entsprechender
Deutlichkeit zu erinnern. Das Gedächtnifs vermag eben nicht
Gefühle, gesondert von der Empfindung, zu reproduciren, die Re-
production einer Empfindung aber ist unmöglich. Je heftiger
' Emotione and Will, 8. 262.
• The Principles of Psychology, Bd. II, S. 474.
•** La Psychologie des sentiments, Cap. XI.
Der ScJmerz, 29
der Schmerz, desto schwächer das Gedächtnifs für denselben,
und das aus dem Grunde, weil die mit heftigen Schmerzen ver-
geseUschafteten Empfindungen so undeutlich und schwach smd,
dafs sie schnell vergessen werden und jeglicher Reproduction
unfähig sind. Jede gesunde Mutter hat diese Erfahnmg gemacht
und der Satz: „Dieu a mesure la peine k nos forces en nous
donnant ToubU" ist unumstöfslich. —
Der Schmerz wird also schnell vergessen, um so treuer ist dafür
das Gedächtnifs für die Umstände, unter denen der Schmerz auf-
tritt — Durch Verknüpfung mit starken Unlustgefühlen werden
die Erlebnisse mit ganz besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen
und um so fester dem Gedächtnifs eingeprägt Von einem er-
zieherischen Werth des Schmerzes kann demgemäfs nur insofern
die Rede sein, als diejenigen Ereignisse, welche gleichzeitig mit
dem Schmerz erlebt werden, länger im Gedächtnifs bleiben,
während der Schmerz an und für sich schnell in Vergessenheit
geräth. — Diese Eigenschaft des Schmerzes, schnell vergessen zu
werden, ist auch nicht ohne Bedeutung ; sie bedingt fraglos zmn
Theil den Fortschritt des Menschen, der, immer von lebhafter
Schmerzvorstellung beeinflufst, in niedriger Angst stets nur um
sein Wohl bedacht, höherer Regungen kaum fähig wäre. — Es
ist geradezu ein Glück, dafs der Schmerz so schnell dem Gre-
dächtnifs entschwindet, während moraUsche Leiden viel schwerer
vergessen werden. Moralische Leiden sind immer mit so vielen
complicirten Eindrücken und Vorstellungen verknüpft, und weil
letztere lange im Gedächtnifs bleiben, können auch die mit ihnen
associirten Gefühle, die moralischen Leiden, einerseits nicht so
leicht vergessen und andererseits um so leichter reproducirt
werden. — Ausschliefslich dadurch, dafs man den Schmerz so
leicht, moraUsches Leid aber so schwer vergessen kann, beein-
flufst letzteres unser Handeln bei weitem mehr als der Schmerz.
Nur Pharisäer konnten behaupten, dafs der Schmerz mächtiger
wirke als moralisches Leid, und dafs es vorzuziehen sei, sich
Schmerzen auszusetzen, um moralischen Leiden zu entgehen.
Das ist aber nur darauf zurückzuführen, dafs moralische Leiden
länger im Gedächtnifs bleiben als Schmerzen, nicht aber auf die
mächtigere Wirkimg der moralischen Leiden im Vergleich zu
der des physischen Schmerzes. — Ein schon einmal im Zwei-
kampf schwer Verwundeter folgt rückhaltslos einer zweiten For-
derimg nur aus Angst, für einen Feigling gehalten zu werden;
30 ^. »0» Tachisch,
diese Vorstellung von der Kränkung und Verachtung, die
ihm von Seiten seiner Freunde widerfahren könnten, wenn er
sich vom Duell zurückziehen wollte, wird so lebhaft, dafs der
Schmerz der früher einmal erUttenen Wimde nicht mehr in Be-
tracht kommt. Dieser physische Schmerz ist eben längst ver-
gessen, der Geforderte hat keine Vorstellung mehr davon, wie
schwer die Wunde brannte, die Wunde, der er sich wieder aus-
setzt. Wie wäre es denn auch möglich, für Ideale zu kämpfen,
das Leben zu wagen, wenn uns die Erinnerang an physische
Schmerzen mit gleicher Lebhaftigkeit gefangen hielte, wie die
an erlebte moraUsche Leiden? Wer könnte dann mit solcher
Hingebung Kranke pflegen, mit solcher Opferfreudigkeit in den
Kampf ziehen, an gefahrdrohenden Expeditionen theilnehmen^
wenn der erhttene Schmerz mit ursprüngUcher Lebhaftigkeit in
der Erinnerung bewahrt würde?
Der physische Schmerz währt nur, solange der Reiz und
seine unmittelbaren Folgenerscheinungen dauern, derselbe kann
sich mit Vorstellungen, mit Erinnerungsbildern nicht associiren.
Granz anders moralische Leiden, die nicht nur durch Reize,
sondern auch durch Vorstellungen erzeugt werden. Wir empfin-
den Kmnmer nicht nur, solange wir die Leiche eines geliebten
Menschen vor Augen haben, sondern auch später bei der Er-
innerung an den Verlust Im Gregensatz zum physischen Schmerz
kann mit der Zeit ein solcher Kummer sich sogar steigern. Wer
das Unglück gehabt hat, handgreiflich beleidigt zu werden, der
weifs, wie schnell der physische Schmerz vergeht, und wie schwer
aber eine Beleidigung, eine moralische Kränkung zu vergessen ist
Moralische Leiden sind die mächtigsten Hebel imserer Hand-
lungen ; um ihnen zu entgehen, sind wir bereit Opfer zu bringen,
Genüssen zu entsagen, ja Gesundheit und Leben zu wagen. —
Wenn Schmerz imd moralisches Leid sich gleich lange im
Gedächtnifs behaupteten, würde allerdings der Schmerz als Be-
weggrund imserer Handlungen die moralischen Leiden verdrängen.
Unter dem Einflufs von physischen Schmerzen — ich denke dabei
natürlich nur an gewöhnliche SterbUche, nicht an Helden —
sind wir zu Allem bereit, um uns vor denselben zu retten.
Kranke sind bekanntlich die krassesten Egoisten \md, nur auf
Erleichterung ihres eigenen Zustandes bedacht, unglaublich an-
spruchsvoll und rücksichtslos gegen ihre Umgebung. Sobald
aber der Schmerz geschwunden ist, schämen sie sich, wie ich
Ihr Schmerz, 31
(^ beobachtet habe, ihrer egoistischen Rücksichtslosigkeit, und
sind, da die Schmerzen nun vollständig vergessen sind, wiederum
bereit, der Humanität oder ihrem Ehrgeiz die gröfsten Opfer zu
bringen. —
Zum Schlufs sei es mir gestattet, den Inhalt vorliegender
Abhandlung in Folgendem zusammenzufassen:
Schmerz wird nur durch solche mechanische, chemische,
Üiermische und elektrische Reize erzeugt, welche nicht nur
dis hidividuum, sondern auch das lebende Gewebe als solches
ti^en.
Derartige Reize erregen Schmerz nur insoweit, als sie
lebendes Grewebe tödten; bei schwacher oder zu kurzdauernder
Wirkung erzeugen sie, wenn sie das Gewebe nicht zerstören,
keinen Schmerz. — Schmerzerregende Reize wirken in gleicher
Weise auf alle Lebewesen und werden deshalb nach Möglichkeit
Ton allen Lebewesen gemieden.
Schmerzerregende Reize erzeugen undeutliche Empfindungen,
vergesellschaftet mit einem specifischen Gefühl, dem Schmerz;
die Empfindung tritt früher auf als der Schmerz. —
Je stärker das Gefühl — der Schmerz — desto undeutUcher
die zugehörige Empfindung.
Der Schmerz ist nicht nur ein psychologischer, sondern auch
ein physiologischer Zustand; die physiologische Seite ist noch
wenig erforscht
Der Schmerz kann nicht geschildert werden, weil die Empfin-
dungen, welche durch schmerzerregende Reize entstehen, undeut-
lich und unbestimmt sind, der Schmerz aber einfach ist und
sich nur durch seine Intensität unterscheidet.
Der Schmerz, als Reaction des Bewufstseins auf Reize, welche
lebendes Grewebe tödten, ist das stärkste Unlustgefühl ; alle übri-
gen Unlustgefühle , wie die Reactionen des Bewufstseins auf
Reize, welche den Organismus tödten, oder ihm schädUch sind,
sind nicht so qualvoll, wie der Schmerz.
Der Schmerz, wenn auch von noch so geringer Intensität,
hat immer eine bestimmte Dauer, denn die Veränderungen in
der AuTsenwelt, welche ihn erzeugen, hinterlassen materielle
Spuren im Organismus. Zum Unterschiede von allen übrigen
Beizen, verursachen schmerzerregende Reize stets mehr oder
weniger tiefgreifende Veränderungen im Organismus.
Der Schmerz bleibt nur kurze Zeit im Gedächtnifs, denn die
^'i
«:^ iiiwt^ai mmte Tni=«i« EamiLnzi^fHL ^"^gTc in 3ii«fi»is«Mi£iii zu
i*-^:nttiifls«i. Z»#ir S'nmt*r; tttl V^rhc micaiisc&is Leid aber
-u^nii iit*?»eai rTnjÄimie T»£riaiiikai üu 'nlhtfrsL Raecngeii den
fj'^r nihmers 'jsl ieomiicii j^ Sciä aar T-y^rrcr^ grausam
üiik/eyoi«^ im 1 J£frz y^fL.
Die Banmschwelle bei Simultanreizung.
Von
Abthub Bbückneb, Arzt in Jena.
In einer Mittheilung vom 9. November 1899^ hat v. Fbbt
gezeigt, dafs die verschiedene Raumschwelle, welche auf der
Haut je nach successiver oder simultaner Reizung zweier Stellen
zur Beobachtung kommt, im Wesentlichen darauf beruht, dafs
im ersteren Falle periphere, im zweiten centrale Abschnitte des
Sinnesapparates in Frage kommen. Obwohl nämlich die peri-
pheren Einrichtungen eine getrennte Wahrnehmung der beiden
simultan gereizten Orte erlauben würden, kommt es doch nicht
dazu, weil durch irgend einen mehr central gelegenen Vorgang
die beiden Erregungen wieder zusammenfliefsen. Aus diesem
Grunde ist die „Simultanschwelle" (v. Fbby 1. c.) stets um Vieles
gröfser als die „Successivschwelle" (ebendort).
Bei der geringen Zahl von Angriffspunkten, welche wir zum
Studium centraler Theile des Nervensystems besitzen, schien die
Aufgabe nicht uninteressant, zu untersuchen, von welchen Um-
ständen es abhängt, ob zwei simultan auf die Haut applicirte
Reize als zwei wahrgenommen werden oder nicht, d. h. wann
eine Verschmelzung beider Erregungen stattfindet und wann sie
unterbleibt.
Voraussetzung für diese Aufgabe ist eine Methode, welche
wirklich genau gleichzeitige Erregung zweier Hautpunkte ge-
stattet, da ja die geringste Ungleichzeitigkeit die Unterscheidung
der beiden Erregungen begünstigt Eine Unzulänglichkeit der
Methode in dieser Richtung wird das Resultat derart beeinflussen,
dafs alle anderen in Betracht kommenden Factoren dagegen ver-
schwinden. Es braucht nicht näher ausgeführt zu werden, dafs
weder der von Webeb benutzte Cirkel noch die verschiedenen
' M. VON Fbst. lieber den Ortsinn der Haut. Sitzungsberichte der
pkynkalisch-medieinischen Gesellschaft zu Würzburg.
Zeinehrift für Psychologie S6. 3
34
demselben nacfagebfldeten Aesthcsiometer dieser Anforderung
genügen. Es ist thatsacfaüdi unmöglich, mittels eines derartigen
mit der Hand geföhrten Instruments, das Zeitintervall zwischen,
den bttden Seilen auf irgend einem constanten Werth zu halten
Dies ist einer der Hauptgründe für das Unbefriedigende der
bisherigen Bestimmungen der Baumschwelle.
Die nadif olgend besduriebene nm Herrn Plrofessor tok Fbey
mir gütigst zur Verfügung gestellte Einrichtung gewfthrieistet
▼ollkommen simultane Reizung. Sie könnte daher als Simultan*
Aesthesiometer bezeichnet werden.
Beschreibung der Methode.
Der Apparat zur vollkommen simultanen Reizgebung setzt
sich zusammen aus zwei völlig gleich gebauten Hebeln von
folgender Construction (s. Fig.X Ein ca. 7 cm langer zweiarmiger
Holzhebel (H) von sehr geringem Trägheitsmoment mit dem
Drehpunkt in Z> ist an dem Ende des langen Armes mit einer
Nähnadel (N) armirt, deren stumpfes Ende nach abwärts sieht.
Am anderen Hebelarm ist ein kleines Eisenstückchen (E) be-
festigt, welches als Anker dient und sich dem Eisenkern eines
kleinen Elektromagneten gegenüber befindet Dieser läfst sich,
wenn die Nadel N auf die Haut aufgesetzt wird, durch einen
Stellhebel (S), der mit dem Elektromagneten fest verbunden ist, in
beliebige Entfernung von dem Anker bringen, durch Drehung um
eine mit der Hebelaxe zusammenfallende Axe. Dieselbe geschieht
mit genügender Reibung, um das Verharren des Elektromagneten
in jeder gewünschten Stellung zu sichern. Eine Gradtheilung (6r),
welche an dem Stellhebel angebracht ist, und auf der ein mit
Die BawMdiwdU M SimiMUanreisung. 35
dem Beizhebel H verbundener ZeSgßr J spielt, gestattet die Ent-
fernung zwischen Elektromagnet und Anker in Winkelgraden
abzulesen; bei Berührung der beiden spielt der Zeiger auf 0 ein.
Hierdurch ist ein willkürliches Haals gewonnen für die Ejaft,
mit welcher der Anker vom Elektromagneten angezogen wird,
and damit für die Keizstftrke, d h. für die Stftrke, mit welcher
die Nadel g^gen die Haut gedrückt wird Diese Form der Be-
stimmung und Einstellung der Beizstärke war für den vorliegen-
den Zweck nicht nur genau genug, sondern namentlich bei Be-
nutzung stärkerer magnetisirender Ströme, also gröfserem Ab-
stand zwischen Magnet und Anker, sogar von aufserordentlicher
Feinheit Die ganze beschriebene Einrichtung ist an einem
Stativ befestigt und kann durch einen Trieb in beUebige
Höhe eingestellt werden; aulserdem ist eine Drehung um
eine horizontale Axe durch eine einfache Ellemmvorriohtung er-
möglicht
Wie gesagt dienten zwei genau gleich gebaute Hebel von
der beschriebenen Construction zur Beizgebung. Der Widerstand
in den Spiralen der beiden Elektromagneten war ebenfalls genau
abgeglichen und betrug 0,92 Ohm. Diesem gleich war ein dritter
aus bifilar gewickeltem Draht bestehender Widerstand, welcher
an SteUe eines der Elektromagneten treten konnte. Es muTste
nämlich die Möglichkeit gegeben sein, bald nur den einen, bald
beide Hebel in Thätigkeit zu versetzen, ohne eine Vermin-
derung oder Vermehrung der Widerstände im Stromkreise zu
schaffen, denn daraus würde eine Verstärkimg resp. Ab-
schwächung der Stromstärke resultiren, in Folge deren die Anker
der Reizhebel nicht mit der gleichen Kraft angezogen werden
würden. Damit würde aber auch die Stärke des Reizes auf der
Haut für einen und denselben Hebel schwanken, und diese
mufste constant erhalten werden können. Die drei imter sich
gleichen Widerstände wurden nun in folgender Weise ange-
ordnet
12 8 4
• • • •
Die Punkte 1—4 stellen vier Quecksilbemäpfchen dar, deren
jedes mit einer doppelt durchbohrten Klemme verbunden ist
Zwischen 1 und 2, sowie zwischen 3 und 4 ist je ein Elektro-
magnet, zwischen 2 und 3 der „vicarürende^ Widerstand einge-
schaltet Durch Umlegen eines Metallbügels, welcher je zwei
3*
I
36 Arthuir Brüdmer.
benachbarte Quecksilbemäpfchen verbindet, ist es möglich, einen
oder beide Hebel einzuschalten, ohne daCs dabei eine Aende-
rüng in den Widerständen und damit in der Beizstärke ein-
tritt Verbindet der Bügel die Näpfchen 1 und 2, so wird
der Hebel zwischen 3 und 4 in Thätigkeit versetzt; wenn ein
Kurzschlufs zwischen 2 und 3 beigestellt wird, so geht der
Strom durch beide HebeL
Die ganze Versuchseinrichtung setzte sich nun folgendo^
maalsen zusammen. Als Stromquelle dienten vier DANiBi^L'sche
Elemente, welche wegen des sehr constanten Stroms, den sie
liefern, für den gegebenen Zweck sehr geeignet waren. In den
Stromkreis eingeschaltet waren folgende Apparate: ein Stöpsel-
rheostat, ein SiEicENs'sches Milli-Ampöremeter, dann der soeben
beschriebene Schlüssel mit den Beizhebeln und ein gewöhnlicher
QuecksilberschlüsseL
Diese Versuchsanordnung , speciell der eigentUche Beix-
apparat, erlaubte einmal vollkommene Simultanreizung zweier
Punkte der Haut, sowie, durch die äufserst kleinflächige Be-
rührung zwischen den Nähnadeln imd der Haut, eine Be-
schränkung der Erregung auf einzelne Tastpunkte. Aulserdem
gestattete sie, durch Aenderung der Entfernung zwischen
Anker und Elektromagnet des Beizhebels, die Möglichkeit einer
ganz genauen Dosirung der auf jeden Tastpunkt entfallenden
Beizstärke. —
Da zur Anstellung der Versuche stets zwei Personen — Be-
obachter und Beagent — erforderlich waren, hatte Herr Prof esse»
VON Fbey die grofse Liebenswürdigkeit die Versuche mit mir zu
machen. Es sei mir gestattet ihm an dieser Stelle dafür meinen
herzlichsten Dank auszusprechen.
Beide Versuchspersonen hatten bei guter Beleuchtung unter
der Lupe mit Beizhaaren ^ alle Tastpunkte aufzusuchen inner-
halb einer Fläche von ca. 15 qcm der Beugeseite des linken
Unterarmes, welche die Form eines Kreuzes hatte, dessen lange
Axe in die Längsrichtung, dessen kurze in die Querrichtung
des Unterarmes fiel. Da die Tastpunkte hier mit den Haar-
bälgen zusanmienf allen, war die Aufsuchung sehr erleichtert;
^ Siehe von Frbt, Untersuchungen über die Sinnesfunctionen der
menschlichen Haut, Abhandlungen der Kgl, Sachs, Oes. der Wiss.^ math.'phys,
Oam, Leipiig 1896, S. 206 ff.
Die Baums^tweüe bei SimuUanreizunff, 37
vorher wurden die Haare an der betreffenden Stelle kurz abge^
schnitten. Die gefundenen Pimkte wurden mit feinen Farb-
punkten markirt und dann, nachdem ihre Lage durch eine
eventuelle Correctur genau ermittelt war, mit kleinsten Tröpfchen
einer 10 7o Lösung von Silbemitrat fixirt Sodann wurde auf
einem Streifen Gelatihepapier, der über der Hautstelle befestigt
wurde, die Lage der Tastpunkte tmd der Haüptvenen eingeritzt
und darauf mittels eines in Glas geätzten MiUimetemetzes eine
Karte in 5fächer VergrÖfserung hergestellt^
Jede Versuchsperson hatte außerdem eine Hohlform seines
linken Unterarms in Gyps anzufertigen, welche die Beugeseite
frei liefs. Diese Hohtform liefs sich derart in ein Gerüst
einhängen, dais eine Drehung um ihre Längsaxe möglich war,
was die Einstelitmg der Nähnadeln auf bestimmte Punkte sehr
erieichterte.
Der Beagent hatte bei den Versuchen die Aufgabe seinen
Unterarm in der Hohlform zu fixireh, bei geschlossenen Augen
seine Aufmerksamkeit dem Versuch zuzuwenden und dami über
die Empfindungen, welche di^ Beizung verursachte, Aussagen
zu machen. Um möglichste Unbeweglichkeit imd langes Aus-
harren in der angegebenen Stellung zu gestatten, wurde für be-
quemen Sitz des Reagenten gesorgt Trotzdem waren zuweUen kleme
Bew^ungen nicht ganz zu vermeiden, wodurch Verschiebungen
der Nadeln auf der Haut eintraten, welche von Zeit zu Zeit eine
neue Einstellung derselben mitten in einer Versuchsreihe er-
förderten. Dem Reagenten war die Lage der gereizten Punkte
bekannt; er wurde, wie unten noch zu erwähnen sein wird,
durch ein verabredetes Wort von dem Eintritt der Reizimg
unterrichtet; im Uebrigen war das Verfahren ein völlig un-
wissentliches. '
Der Beobachter hatte die Angabe, zuerst die Nähnadeln
der beiden Reizhebel auf zwei vorher ausgewählte Punkte des
Versuchsfeldes genau aufzusetzen und dann durch Drehung der
Stellhebel an den Reizapparaten den Reiz in seiner Stärke je
nach Erfordemifs zu varüren, sowie, je nachdem der Versuch
es verlangte, durch Umlegen des Metallbügels bald einen, bald
beide Reizhebel in Thätigkeit zu versetzen. Er hatte femer den
^ Siehe M. von Fbst und F. Kissow, tJeber die Function der Tast-
körperchen, jSeitBchrift für Fsyckoloffie und Physiologie der Sinnesorgane 20, 132.
38 Arthur Brüdcner»
Reageuten durch einen Zuruf auf den Eintritt der Reizung auf-
merksam zu machen, welche durch SchlieJBen des Quecksilber-
schlüssels herbeigeführt wurde. Endlich hatte der Beobachter
die gemachten Aussagen mit der zugehörigen Reizung zu Proto-
koll zu bringen*
Der gröCste Theil der Versuche wurde derart ausgeführt,
dafs nach jeder einzelnen Reizung eine kleine Pause gemacht
wiu*de, welche der Beobachter zum Protokolliren benutzte. Eine
Aenderung in diesem Verfahren, welche für specielle Zwecke
nothwendig wurde, wird weiter unten beschrieben werden.
Nach einigen Vorversuchen, die am Tage gemacht wurden, er-
wies es sich als imbedingt erforderlich, die Versuche sp&t Abenda
vorzunehmen, da jede Störung die Resultate durch Ablenkung-
der Aufmerksamkeit stark beeinträchtigte. Es wurde daher aus**
nahmslos in den Stunden von 8 — 11 Uhr Abends experimentirt,
wodurch genügende Ruhe garantirt war. Femer mu&te der
Raum entsprechend temperirt sein, ebenso die Hohlform, weil
sonst sehr leicht störende Sensationen verursacht wurden. —
Es kann mm zur Schilderung der Versuchsergebnisse über-
gegangen werden.
Verschmelzung und Summation.
Die gesteüte Aufgabe, zu untersuchen, unter welchen
Umständen bei Simultanreizung zweier Punkte der Haut eine
Verschmelzung beider Eindrücke und wann eine getrennte
Wahrnehmung eintritt, führte darauf, zunächst Punkte mit
kleiner Entfernung von einander zu verwenden, um da die
Verhältnisse zu studiren. Es wurden Punkte gewählt, welche
nahe zusammen lagen oder unmittelbar benachbart waren, von
ziemlich hoher und unter sich möglichst gleicher Empfindlich-
keit Dabei zeigte es sich, dafs unmittelbar benachbarte Punkte
bei gleichzeitiger Reizimg niemals als zwei erkannt wurden, son-
dern man stets nur den Eindruck einer einfachen imischriebenen,
nicht in irgend welcher Richtung ausgedehnten Erregung hatte.
Dieselbe bot nur den Unterschied von der monostigmatischen
BeuEung, daCs sie stärker als diese erschien. Diese Thatsache
der- Verschmelzung ist besonders in dem Falle interessant, wenn
i4e Einzelreize imterschwellig sind, ihre Summe aber über-
>ir wird und daher vom Bewufstsein wahrgenommen
Es mögen einige Beispiele folgen.
Die BaumsehweUe bei SimüUanreizung, 39
Versuch vom 13. HI. 1900. Nr. IV,
Reftgent v. F. Punkte a and b, Abstand derselben 4,2 mm.^
a b
2. 13 nein
3. 10 nein
4. 13 10 ja schwach aber dentlich.
Versuch vom 13. HI. 1900. Nr. VL
Beagent B. Punkte f und h. Abstand 6 mm.
/ h
27. 13 nein
28. 11 nein
29. 13 11 ganz schwach und diffus.
Versuch vom 13. HI. 1900. Nr.VIL
Beagent v. F. Punkte p und d. Abstand 12,2 mm.
p d
a 13 14 ja
4. 14 nein
5. 13 nein
26.
11
nein
27.
11
13
ja
28. •
13
nein,
Versuch vom 17. in. 1900. Nr. IV.
Beagent B. Punkte m und q. Abstand 41 mm.
m
g
32.
13
nichts
33.
6
13
eine Spur gefühlt
34.
6
nichts
36.
6
13
eine Spur
36.
13
nichts.
Die Beispiele liefsen sich leicht noch mehren.^
Diese Thatsache beweist, dafs bei Schwellenbestimmungen
auf dem Gebiete des Tastsinns (Bestimmung der Feinheit des
' Hier wie in allen citirten Versuchen stehen in der ersten senkrechten
Beihe die Nummern der Einzelversuche, dann folgen die auf den einzelnen
Tastpunkt jedesmal entfallenden Beizstärken in Winkelgraden angegeben.
Zuletzt folgen die zugehörigen Aussagen des Beagenten.
' Ein ferneres Beispiel findet sich auf S. 49 Anmerkung (Versuch 6^9).
40 Arthur Brückner.
Tastsinns) die QTöf^e der Beizfläche in Betracht kommt nicht
nur bezüglich der auf den einzelnen Tastpunkt -entfallenden
Reizwirkung ^ sondern auch hinsichtlich der Zahl der durch sie
getroffenen Tastpimkte.*
Femer ist dadurch aber auch bewiesen, dafs es Reize geben
mufs, welche an sich zwar zu schwach sind, -um bewufst zu
werden, die aber doch eine Veränderung im Centralnervensystem
hervorrufen derart, dafs sie von einem gleichartigen, an sich
auch unterschweUigen imterstützt, zum Sewufstsein kommen
können. —
Offenbar ist diese Thatsache nur ein specieller Fall einer
allgemeineren Erscheinung, nämUch der, dafs zwei gleichartige
Eindrücke im Centralnervensystem irgendwie in Beziehung treten.
Der vorliegende .Fall, zeigt eine quantitative gegenseitige Beein-
flussung im Sinne einer Verstärkung. Man kann diesen speciellen
Fall der gegenseitigen Verstärkung alsSummation bezeichnen.
Es ist nun von grofsem Interesse zu untersuchen, welche ge-
naueren Verhältnisse bei dieser quantitativen Beeinflussimg zweier
Reize vorliegen ; zugleich könnte vielleicht dadurch die Möglich-
keit gegeben werden, daraus Folgerungen auf die Gröfse der
simultanen Raumschwelle zu ziehen.
Zunächst aber handelte es sich darum, ausgehend von der
gefundenen Thatsache, dafs eine Summation zweier gleichartiger
Reize stattfindet, dieser Erscheinung nachzugehen.
Das E^erimentiren mit untermerkUchen oder ebenmerk-
lichen Reizen zeigte sich aber als ungemein schwierig, denn
der Reagent wurde durch die Anspannung der Aufmerksamkeit
auf die immer um die Schwelle . sich bewegenden Reize derart
ermüdet, dafs darunter die Zuverlässigkeit . der Aussagen Utt
und längere Versuchsreihen nicht ausführbar waren. Es ist
aber augenscheinUch auch gar nicht nothwendig mit so
schwachen Reizen zu arbeiten, denn es genügt . offenbar zum
Nachweise der Summation, wenn die Empfindung, welche der
Doppelreiz auslöst, stärker erscheint, als die, welche jeden Einzel-
reiz begleitet. Es wurde daher mit überschwelligen Reizen ex-
perimentirt und die Resultate waren sofort an Zahl und Sicher-
* Siehe v. Prbt und Kisaow 1. c.
* Ueber fthnliehe Erscheinangen auf dem Gebiete des GesicIltssiniieB
8. E. A. FiCK in Pplüokb's An^iv 17, 162 und 4S, 441.
Die Baumsekwelle beißitHultanreizung, 4tt
heit ungleicli bessere. Bs inögen einige Beispiele folgen, um die-
Art und Weise zu zeigen, wie die Resultate gewonnen- wurden.«
...
Versuch vom la IIL 1900. :Nr,VI; j
Keagent B. Punkte v und p. Abstand 3,8 nun. , . ■
V p
39. 14 eine Spur gefühlt
40. 14 10 ja deutlich
41. 10 .eine Spur.
Versuch vom 20. III. 1900. Nr. II.
Reagent v. F. Punkte c und y. Abstand 5 mm.
y c
7. 8 ja ganz minimal
8. 10 8 ja deutlich stärker
9. 10 etwas schwächer.
Versuch vom 20. III. 1900. Nr. III.
Reagent B. Punkte c und q. Abstand 3,2 mm.
q c
42. 7 eine Spur " ;
43. 6 7 ja deutlich
44. 6 minimal.
Es wurde hier zwischen jedem Eihzelversuch eine kleine
Pause gemacht Dabei zeigte sich aber ein grofser Uebelstand:
die Vergleichung der Stärke der Empfindungen war durch dsiä
lange Zeitintervall, welches zwischen den Einzelversuchen lag,
sehr erschwert Daher ergaben sich zu viele unbestimmte Re-
sultate. Um dem abzuhelfen wurde die Beihenfolge der Reiz^
derart geändert, dafs immer zwei Reizungen unmittelbar hinter
einander gegeben wurden, zwischen denen zu vergleichen war-.
Das Intervall zwischen beiden betrug stets 1 — 2 See
Folgende Ueberlegung rechtfertigt diese Methode. Offenbar
ist nämlich auch dann Summation nachgewieisen, wenn der
Doppelreiz stärker imponirt, als der unmittelbar vorher oder
nachher gegebene Einzelreiz. Der Einwand, dafs die stärkere
Empfindung möglicherweise ja nur durch den beim Doppelreiz
gegebenen Reiz b ausgelöst werden könne, wenn dieser stärker
als a sei, der allein zur Vergleichung gegeben wurde, läTst sich
dadurch entkräften, dafs abwechselnd bald a, bald b allein, bei
Constanterhaltung der Reizstärke jedes Punktes, zur Vergleichung
42 Arthur Brückner.
gegeben wurden, und aufserdem für eine möglichste Abgleichong
der Einzebeize gesorgt wurde. Besonders wenn man dieser
zweiten Forderung genügte, war die Summation schlagend zu
beweisen, weil ja dann der Reizzuwachs beim Doppelreiz stets
gegenüber der monostigmatischen Reizung am gröCsten ist Zur
Erläuterung des Verfahrens diene folgendes Beispiel:
«
Versuch vom 19. X. 1900. Nr. HL
Beagent v. F. Punkte 17 und S« Abstand 2,1 mm.
1? S
38. 6 6
5
39. 5
5 5
40. 5
6 5
41. 5 5
der erste Beiz viel stärker
der zweite deutlich stärker
sind nahezu gleich
der erste ist stärker.
Das Beispiel zeigt drei zweif eUos für Summation sprechende Aus-
sagen (38, 39, 41). Dieselben sollen im Folgenden immer als r-Fftlle
(richtige Fälle) bezeichnet werden, im Gegensatz zu den falschen
Aussagen (f-Fälle), wo der Einzelreiz für starker erklärt wurde.
Versuch 40 scheint eine unbestimmte Aussage zu enthalten, und
doch kann auch sie unbedenkUch mit zu den r-FäUen gerechnet
werden. Es findet nämlich bei der schnellen ßeizfolge eine Er-
müdung im peripheren Endorgane statt^ Dadurch ist der Erfolg
der Reizung bei der unmittelbar folgenden zweiten Erregung des
Organs ein geringerer. Das Deficit wird durch den hinzu-
^ Siehe y. Frey, Untersuchungen flher die Sinnesfunctionen der Haut»
I. c S. 220.
Dals eine periphere Ermüdung stattfindet, l&Tst sich auch aus den vor-
liegenden Versuchen oeweisen, z. B. :
Versuch vom 21. in. 1900. Nr. lU.
Beagent v. F. Punkte a und 6. Abstand 4,2 mm.
b a
26. 8
^ suerst schwacher Reiz, dann eigentlich nichts.
g Q der erste ein bischen sUrker.
Die Baumsehweile bei Simultanr^izung,
43
kommenden zweiten Reiz gerade gedeckt, und daher erscheinen
die Empfindungen gleich. Deshalb kann man diese Aussagen
zu den r-FäUen rechnen.
Umgekehrt wurden die Versuche, wo Gleichheit zwischen
beiden Empfindungen ausgesagt wurde, den f-FäUen zugezählt,
bei denen zuerst der Doppelreiz und dann der Einzelreiz ge-
geben wurde, weil hier unter allen Umständen eine schwächere
Empfindung den Einzelreiz begleiten müüste. Direct positiv
lautende Aussagen bei dieser Reizfolge (wie z. B. in dem ange-
fahrten Beispiel in dem Versuch 38) wurden aber, obwohl wegen
der Ermüdung im peripheren Organ ja eigentlich nur die um^
gekehrte Reizfolge streng beweisend für Summation ist, doch den
r-FäUen zugerechnet, weil der Intensitätsunterschied fast stets
sehr bedeutend war.
Die folgende Tabelle giebt eine Uebersicht über die Resultate,
welche mit dieser Methode unter Anwendimg der eben ausge
sprochenen Kriterien für r- und f-Fälle sich ergeben haben.
Fort-
laufende
Nummer
Beagent
Funkte
AbsUnd
in mm
Eesulta
te
% der
r-FäUe
1
B.
r 9
2,0
36 r
6 f
85
2
V. F.
n 5
2,7
32 r
100
3
V. F.
l m
3,0
45 r
14 f
76
4
B.
c q
3,2
22 r
13 f
63
5
B.
V ß
3,6
38 r
6 f
86
6
V. F.
a b
4,2
31 r
7 f
82
7
V. F.
c d
10,0
58 r
21 f
73
8
B.
C V
12,0
17 r
4 f
81
9
B.
p ^
14,0
37 r
7f
84
10
B.
a ß
20,0
27 r
9 f
75
11
V. F.
c e
20,2
36 r
8f
82
12
V. F.
t y
29,0
42 r
7f
86
13
V. F.
a ß
30,0
13 r
2 f
87
Wie aus der Tabelle ersichtlich, sind nach dieser Methode
Versuche nicht nur bei geringem Abstände der Pimkte von
einander gemacht worden, sondern solche bis zu Distanzen von
30 mm. Die Versuche smd so geordnet, dafs diejenigen mit den
kleinsten Abständen zuerst angeführt sind. —
44 Arthur Brückner,
Grehen wir ziir Discüssion ^er Tabelle über. Zunächst ist
dadurch einwahdsfrei bewiesen, dafis eijle Summation; in diestit
Abständen überhaupt stattfindet, denn durchschnittlich sind 81,5 %
r-Fälle zu verzeichnen. PiiB au£falletidste Thatsache dabei ist
zweifeUos^ dafs, wie' der Stab mit den Procentzahlen der r-FäUe
zeigt, die Fälle von Summation bei allen Entfernungen innerr
halb der gegebeneil Abstände, d. h. von unmittelbar benadii-*
harten Pimkten bis ssu eineni Abstand von 30 mm, in ungefähr
gleicher Zahl vorhanden sind*
Bei den Versuchen, in denen eine starke Abnahme dir
r-Fälle vorliegt, lasseh sich jedesmal bestimmte Ursachen da{fl]>
nachweisen. Nr. 4 war der erste Verlsuch, der nach der nemon
Methode abgestellt wurde, wo weder Beobachter noch Reägent
darauf eingeübt waren; zudem wurde bei diesem Versuch nodi:
nidit das Commandb des Beobachters : - „jetzt — eins — zwei"
gegeben, welches. den zeitlichen Eintritt jedes Beides genau aa*
zeigte und damit dem Beagenten die Angäbe ' wesentlich ei^
leichterte. Versuch 7 war der erste nach einer Pause von über
einem halben Jahr, auTserdem fehlte eine genügende Ab-
gleichung der Stärke der Einzelreize, und in Folge unge-.
nügender Pausen zwischen den Einzelversuchen trat wahrschein-
lieh starke Ermüdung sowohl peripher, wie central ein. Bei
Versuch 3 ist das wenig günstige Resultat auf die imbequeme
Haltung des Reagenten und die Störung durch einen gleich-
zeitigen heftigen Sturm zurückzuführen, der allerlei störende
Geräusche verursachte. Bei Versuch 10 ist als der störende
Factor besonders das Interesse, welches der Reagent an der Er-
kennung der Doppelreizung nahm, anzusprechen, also eine
mangelnde Concentration der Aufmerksamkeit auf die Stärke
der Empfindung allein. Aufserdem giebt das Protokoll an, dafe
Reagent durch starke Parästhesien im Arme, an dem das Ver-
suchsfeld sich befand, belästigt wurde. — Sehr interessant ist
Versuch 2, wo 100 % richtige Aussagen gemacht wurden. Dieses
günstige Resultat ist zum Theil wohl auf gute Disposition des
Reagenten zu beziehen, vor Allem aber auf das Einhalten ge-
nügend langer Pausen zwischen den Einzelversuchen (ca. '30 See.
zmschen zwei Doppelreizungen).
Es lassen sich nun unter Heranziehung einiger früherer
Versuche, welche noch mit der weniger vollkommenen Methode
der Aufeinanderfolge der Reize gemacht wurden, folgende
Die Baum9chwdle bei Simultanreizung. 45
Factoren als einfluTsreich für das Zxistandekommein
von Summation bei einer Entfernung beider Tast-
pnnkte bis zu 30 mm, nachweisen.
Wie schon oben erwähnt, ist es günstig für das Zustande-
kommen der Summation, wenn eine möglichste Abgleichung in der
.Stärke der Einzelreize vorhanden ist Dann ist der Reizzuwachs
bei der Doppelreizung stets am größten, gleichgültig, welcher
Efaizelreiz zur Vergleichung gegeben wird. Ebenso ist eine
möglichst gleiche Empfindlichkeit beider Punkte von VortheiL
Die bestimmtesten Aussagen für Summation finden sich bei den
Versuchen, wo Empfindlichkeit und Beizstärke für beide Punkte
annähernd- gleich sind.
Neben diesen beiden Momenten, welche von dem Beagenten
unabhängig sind, zeigen sich auTserdem Factoren von ausschlag-
gebender Bedeutung, welche in hohem Maa&e der augenblick-
lichen Disposition der Versuchsperson unterworfen sind. In
erster Lönie ist hier die Aufmerksamkeit zu nennen. Ist die-
selbe nicht ausschUefslich auf den Versuch gerichtet, so sinkt
sofort die Zahl der richtigen Aussagen. Jede äu&ere Störung
wie Lärm oder abnorme Sensationen irgend welcher Art lenken
die Aufmerksamkeit ab, und damit treten fehlerhafte Aussagen
ein. Oben sind einige derartige Beispiele für ganze Ver-
suchsreihen angeführt; Einzelheiten zu erwähnen dürfte kaum
lohnend sein.
Neben diesen mehr äuiäeren Momenten, welche die Aufmerk-
samkeit abziehen, kommen mm auch noch „innere" Ursachen
in Frage. Die Aufmerksamkeit muTs nämlich derart gerichtet
sein, dafs ganz speciell nur auf die Stärke der Empfindungen
geachtet wird. Sobald der Beagent z. B. noch auf Localisation
oder auf Erkennung der Doppelreize als zwei Empfindungen sein
Interesse wendet, werden die Besultate für Summation schlechter.
Einige Beispiele mögen zum Belege des Gesagten dienen.
Im Versuch 11 vom 19. X. 1900^, Beagent B., Abstand der
Punkte 3,6 mm, findet sich im ersten Theile des Versuchs,
welcher 19 Einzelversuche über Summation enthält, nm: eine
falsche Aussage; in den folgenden 13 Versuchen richtete Beagent
auTserdem seine Aufmerksamkeit noch auf die Localisation der
Eänzelreize. Das Besultat ist, dafs 4 Fehler und nur 9 richtige
^ In der obigen Tabelle Versuch 5.
46 Arthur Brüdener,
Aussagen auftreten« Als dann zum Schlüsse des Versuchs die
Localisation wieder ganz vernachlässigt wurde, und die Auf-
merksamkeit sich nur der Stärke der Empfindungen zuwandte,
ergeben 12 Versuche nm: einen Fehler.
Zum Beweise, dafe das Bestreben Poppelreize zu erkennen
störend für die Summationsresultate ist , sei Folgendes ausgefOhrt.
Versuch vom 21. UI. 1900 \ Reagent B., Abstand der Punkte
3,2 mm. Der erste Theil des Versuchs ergiebt durchaus brauch-
bare Resultate. Da werden plötzlich zwei Reize empfunden
(s. darüber unten S. öOf. Anmerkung). Sofort wendet sich die
Aufmerksamkeit auch diesem Punkte zu, und es sind nun unter
den 16 nächsten Versuchen nur 8 richtige Aussagen.
Femer ist eine zu starke allgemeine Ermüdung der Versuchs-
person nicht günstig. Eine gewisse Ermüdung ist dagegen fast
von Vortheil, weil in völlig frischem Zustande die Aufmerksam-
keit des Reagenten gewissermaafsen zu „beweglich" ist, so dafis
leicht eine Ablenkung von dem einseitigen Interesse stattfindet
Der Reagent kommt dagegen bei einiger Ermüdung in einen
gewissen apathischen Zustand, welcher die Gleichmäfsigkeit der
Aussagen begünstigt
Im Gegensatz hierzu ist die periphere Ermüdung, d. h. die
Ermüdung des peripheren Sinnesapparates durch zu schnelle
Reizfolge von unbedingtem Nachtheil: dadurch leidet das Re-
sultat Der Versuch 2 der Tabelle, der 100 7o richtige Aussagen
enthält, verdankt das gute Resultat, wie bereits erwähnt, zum
gröfsten Theil der Einhaltung genügend langer Pausen zwischen
den einzelnen Versuchen.
Die bisher besprochenen Ergebnisse sind gewonnen worden
aus Versuchen, bei denen der Abstand der Punkte von einander
nicht mehr als 30 mm betrug. Es wäre nun interessant zu
untersuchen, ob auch noch in gröfserer Entfernung Summation
stattfindet, oder ob etwa von einer bestimmten Grenze an die-
selbe aufhört, und andere Beziehungen sich zwischen den beiden
Reizen geltend machen. Leider stehen mir speciell für diesen
Zweck nur wenige Versuche zur Verfügung, welche auch nicht
nach derselben Methode angestellt wurden, wie die eben mitge-
theilten Experimente. Bei denselben wurde jede Reizung einzeln
^ In der Tabelle Versuch 4.
DU Eaumsdiwdie hei Simultanreizung, 47
gegeben und dann eine Pause gemacht Daher war die Ver-
gleichung erschwert Gleichwohl gestatten die Versuche bestunmte
Schlüsse.
Es liegen vor ein Versuch mit einem Abstand der Punkte
von 62 mm (Beagent B.) imd zwei Versuche mit 84 mm (Reagent
y. F.). Die Resultate sind kurz folgende.
Sicher zu beweisen ist, dafs noch bis zu dieser Entfemimg
Verschmelzung der Beize zu einer Empfindung und deutliche
Summation stattfinden kann. Es findet sich sogar zweimal bei
der Entfernung von 84 mm eine merkliche Empfindung, während
jeder der Einzelreize untermerklich ist (S. die Anmerkung auf
S. 49.)^ Die Summation vollzieht sich anscheinend nicht mehr
mit der Sicherheit, wie bei kleineren Entfernungen, jedoch ist
an dem Vorkommen dieser Erscheinung bei so groüsen Abständen
nicht zu zweifeln. Sie scheint nach einigen anderen Versuchen,
welche freilich mit anderer Fragestellung gemacht wurden, sogar
noch bis zu einer Entfernung von 134 mm (Reagent y. F.) und
142 mm (Reagent B.) auftreten zu können. Eine sichere Behaup-
tung, dafs Summation in so grofsen Entfernungen noch stattfindet,
erlauben die wenigen yorUegenden Aussagen aber nicht
Leider kann auch für eine andere sehr interessante Er-
schemung der Beweis nicht mit Sicherheit erbracht werden, weü
dazu die Versuche nicht ausreichend sind. Mit Zimahme der
Distanz zwischen beiden Tastpunkten seheint nämlich die Zahl
derjenigen Fälle zuzunehmen, wo die Doppelreizung schwächer
imponirt, als die Einzelreizung. Bis zu 30 mm ist, wie aus der
Tabelle ersichtlich, ihr Vorkommen ein so spärliches, dafs sie
unbedenklich als Versuchsfehler angesprochen werden können.
In den drei soeben erwähnten Versuchen mit Entfernungen von
62 resp. 84 mm aber macht sich, obwohl dieselben ja eine Ver-
gleichung mit den nach anderer Methode gewonnenen Resultaten
nicht direct gestatten, doch eine derartige Erhöhung der Zahl dieser,
oben als f-Fälle bezeichneten, Aussagen geltend, dafs die Möglich-
keit einer „Subtraction" wohl nicht ausgeschlossen werden kann.
Einer analogen Erscheinung werden wir bei der Untersuehimg
der quantitativen Beziehungen zwischen beiden Reizen bei Er-
kennung der Doppelreizung begegnen, so dafs hier doch wohl
eine allgemeinere Erscheinung vorzuliegen scheint
^ Derartige Fälle sind bei kleineren Entfernungen noch öfters beob-
achtet worden, so z. B. bei 23 und 41 mm (vgl. S. 49).
I
48 Arihtir Brudmfr,
Disparation.
Die soeben mitgetheilten Resultate haben von neuem 'di6
längst bekannte Thatsache ergeben^ dafe swei gleichartige Beize,
wenn ihre getrennte Wahrnehmung nicht gelingt, yerschmolsen
werden. Aufserdem aber hat sich herausgestellt, dafs eine Wechsel-
beziehung zwischen beiden Reizen stattfindet, welche Ton Ein-
fluss ist auf die Intensität der wahrgenommenen Empfindung.
Damit ist ein neues Ejriterium gewonnen für das Studium der
Gröfse der Einflulssphären, welche den einzelnen Tastpunkten
im Gentralnervensystem zukommen, und damit nach den Eiil-
gangs gemachten Erörterungen, für die Gröfse der simultanen
Raumschwelle auf der Haut Die gewonnei^en Resultate legten
vor allem den Gredanken nahe, die Thatsache der Summation
zur Untersuchung dieser Frage zu verwenden.
Die einfachste Anwendung dieses Phänomens zur Lösung
der Frage, wie grofs die simultane Raumschwelle sei, scheint
diejenige zu sein, dafs man mitersucht bis zu welchem Abstand
der Tastpunkte von einander zwei untermerkliche Reize noch za
einer merklichen Empfindung verschmolzen werden. So lange
dieses noch stattfindet, muTs offenbar die simultane Raumschwelle
noch nicht erreicht sein.
Grelänge es diesen Gedanken experimentell durchzuführen,
so hätte man ein sehr scharfes Kriterium : so lange nämlich über-
haupt noch etwas gefühlt wird, ist die Raumschwelle noch nicht
erreicht Es wäre dieses eine ganz andere Art, die Gröfse de^
Raumschwelle zu bestimmen, als die von Weber angegebene
mittels des Tastercirkels, wo angegeben werden muTs, ob eine
oder zwei Empfindungen wahrgenommen werden.
So einleuchtend der eben ausgesprochene Gedanke auf den
ersten Blick erscheint, so stellen sich ihm doch gröfse Schwierig-
keiten entgegen. Geht man nämlich, wie wir es gethan haben,
von der Annahme aus, dafs bei Reizimg eines Tastpimktes
eine Diffusion der Erregimg im Gentralnervensystem stattfindet,
so muss die Gröfse dieses ,.Diffusionskreises^ offenbar abhängig
sein von der Stärke der Reize, welche das periphere Organ
trifft — es ist das ein allgemeiner Grundsatz in der Physiologie
des Centralnervensystems. Nun ist aber ein untermerklicher
Reiz noch lange keine constante Gröfse, sondern kann grofsen
Schwankungen unterworfen sein. Daher müfste beim Experi-
Die Baumschweüe hei SimuUanreizung. 49
mentieren die Voraussetzung gemacht werden, dass die untei^
merklichen Reize alle etwa denselben Abstand von dem Schwellen-
reiz für die betreffenden Tastpunkte haben. Nur dann könnten
brauchbare, untereinander vergleichbare Resultate erhalten werden.^
Dieser Forderung zu genügen ist aber kaum möglich, so dafe
schon aus diesem Grunde auf die Ausführung verzichtet wurde,
abgesehen davon, daib das Arbeiten mit derartig schwachen oder
unmerklichen Reizen aufserordentUch ermüdend für den Re-
agenten ist, selbst wenn zuweüen stärkere Reize „zur Erholung«
g^^eben werden (s. das Beispiel in der Anmerkung auf dieser
Seite, Versuch 7).
Man könnte nun auf den Gedanken kommen auch hier, wie
bei den Summationsversuchen, überschwellige Einzelreize zu be-
nützen, und die Raumschwelle so gross anzunehmen, als noch
Summation stattfindet Aber dabei läfst sich genau der gleiche
Einwand machen, wie bei Verwendung unterschwelliger Reize,
denn auch hier ist offenbar die Diffusion der Erregung im
Centralnervensystem d. h. die Gröfse der EinfluTssphäre eines
Tastpunktes abhängig von der Stärke der Reizung des peripheren
Sinnesapparates.
Es liess sich also die vorliegende Methode der vollkommen
simultanen Reizung zweier Punkte der Haut zur Bestinmiung
der simultanen Raumschwelle vorläufig nicht anders verwenden,
wie der alte WEBEB'sche Tastercirkel. Nur gestattete die voll-
kommen simultane Reizung und die Beschränkvmg derselben auf
zwei bestimmte Sinnesendapparate bei der Möglichkeit der ge-
nauen Dosierung der Einzelreize eine ungleich gröfsere Exakt-
^ Zum Beweise, dala unteimerkliche Beize sehr verschieden groDs sein
können, sei znm UeberfloTs folgendes Beispiel angeführt:
Versuch vom 15. III. 1900. Nr. I.
Beagent v. F. Punkte x und y. Abstand 84 mm.
y X
2.
ao
ja
3.
25
nein
4.
20
nein
5.
25
25
nein
6.
10
nein
7.
3,6
ja deutlich
8.
25
10
ja sehr schwach
9.
25
nein.
Zeitschrift fttr Psychologie 86.
50 Arthur Brückner,
heit. Es ist dadurch auch in der That gelungen, eine Anzahl
von Bedingungen festzustellen, von welchen es abhängt, ob zwei
Reize getrennt wahrgenommen oder zu emer Empfindung ver-
schmolzen werden.
Das Hauptresultat der Untersuchungen über Erkennung der
Doppelreize als zwei disparate Eindrücke möge vorangestellt
werden. Zwei Reize werden nämUch unter Umständen getrennt
wahrgenommen bei einer Entfemimg der Punkte von einander,
in der sonst in der Regel eine Verschmelzung und Summation
beider Einzelreize stattfindet Es können also sowohl Summation
mit Verschmelzung wie Disparation (Erkennimg von zwei Reizen)
bei derselben Entfemimg vorkommen. Damit ist gesagt, dafs
es für ein bestimmtes Individuum eine bestimmte
simultane Raumschwelle nicht giebt Eine allgemein-
gültige Zahl für die Gröfse derselben ist natürlich vollends nicht
anzugeben d. h. es ist nicht möglich zu sagen, dafs von einer be-
stimmten Entfernung der Einzelreize von einander an, stets die
Wahrnehmung zweier räumlich getrennter Eindrücke stattfindet
Die kleinste Entfernung, bei der in den vorliegenden Ver-
suchen dieses stattfand, betrug 20 mm. Hier wurden bei einer
Versuchsreihe, in der 36 Doppeheize gegeben wurden 5 mal zwei
Reize richtig erkannt. Es ist damit jedenfalls der Beweis er-
bracht, dafs beim Zusammentreffen gewisser Bedingungen eine
Disparation zweier Reize in dieser Entfemimg möglich ist Diese
Zahl ist bedeutend kleiner, als die ursprünglich von Weber für
diesen Theil des Körpers angegebene (Beugeseite des Unterarmes
18 Pariser Linien = 40,5 mm).
Es kann aber die simultane Raumschwelle auch bedeutend
gröfser werden, so wird z. B. bei einer Entfernung von 143 mm *
durchaus nicht immer der Doppelreiz als solcher erkannt*
^ Zur Anstellung der Versuche mit so grofsen Abständen wurde ein
Punkt des gewöhnlichen Versuchsfeldes am Unterarm und einer unmittelbar
proximal vom Handgelenk verwendet.
' Es hat sich auffallenderweise gezeigt, dafs bei 3,2 mm resp. 3,6 mm
Abstand der Einzelreize von einander einige Male die Doppelreizung erkannt
worden ist. Ich möchte das nicht unerwähnt lassen, obwohl ich dieser
Thatsache kaum eine Bedeutung beimessen kann, da gleichzeitig in den-
selben Versuchsreihen „Vexirversuche" vorliegen, d. h. Versuche, bei denen
der Einzelreiz für doppelt gehalten wird (bei 3,2 mm in einem Versuch
Tiermal zwei Reize richtig erkannt, bei sechs ^Vexirversuchen"^ ; in einer
anderen Versuchsreihe bei 3,2 mm dreimal zwei Reize richtig erkannt und
Die Baumsckweäe bei SimüUanreizung, ' 51
Während also die Erkennung der Doppelreizimg nur bis zu
einem gewissen Grade von dem Abstand der Einzelreize sich
abhängig zeigt, haben sich andere Faktoren von gröfserer Be^
deutimg für Erkennting der Disparation erwiesen.
Es hat sich auch bei den vorliegenden Versuchen, wie lange
bekannt, herausgestellt, dafs die Disparation leichter ist in der
Queraxe, als in der Längsaxe des Unterarms. Die Zahl der
richtigen Aussagen ist im ersten Falle bei gegebener Entfernung
eine gröfsere als im zweiten.
Auch der schon bekannte Einflufis der Eörpergrölse auf die
Gröfse der Raumschwelle schien sich bei den beiden Versuchs-
personen geltend zu machen: der kleinere Reagent B. erkannte
schon in geringerer Entfernung die Doppelreizung als der Re-
agent V. F.
Von Einflufs ist aber vor allem die Intensität der Reize.
Schwache Reize werden nicht so leicht getrennt wahrgenommen,
selbst bei gröfserer Entfernung der Einzelreize von einander, wie
stärkere. Zwei Beispiele mögen zur Illustration dienen :
Versuch vom 19. X. 1900. Nr. IV.
Re&gent B. Punkte p und r, querliegend zur Längsaxe des Unterarms.
Abstand 24 mm. p ulnar.
P
r
71.
11
ulnar
72.
11
10
sind wohl zwei
73.
5
5
zwei Reize! radial stärker.
Die unsichere Aussage in Versuch 72 verwandelt sich sofort
in eine absolut sichere, so wie die Reizstärke erhöht wird. Das-
selbe zeigt sich in folgendem Falle.
Versuch vom 23. X. 1900. Nr. U.
Keagent v. F. Punkte x und X (x vom am Handgelenk). Abstand 143 mm.
X X
20. 3 6 etwas gespürt, waren vielleicht zwei Reize, ganz unsicher
21. 2 ö jetzt deutlich zwei!
ein Vexirversuch ; bei 3,6 mm ein Doppelreiz erkannt und ein' Vexirversuch).
Aufserdem finden sich diese Aussagen nur bei der Versuchsperson B., welche
><tets ein lebhaftes Interesse an der Disparation hatte, so dafs leicht hier
der Zufall im Spiel sein kann. Es sei femer erwähnt, dafs das eine Mal
bei 3,2 mm zwei Reize erkannt wurden, nachdem der Reagent unmittelbar
vorher die Hebel betrachtet hatte.
4*
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V-. r4*.,/u^ju^g^\. r.-u- titt. >m
DU Baumsi^w^ hei SimtUtanreizung, 53
Es wirken offenbar auch hier andere Ursachen mit als rein
physiologische, nämlich psychische und von diesen speciell die
Aufmerksamkeit Dieselbe zeigt sich überhaupt von gröfster
Bedeutung, ebenso wie wir es bei der Verschmelzung und
Summation gefunden haben. Es gelten hier genau dieselben
Fordenmgen wie dort, welche an die Aufmerksamkeit gestellt
werden müssen, um gute Resultate zu erhalten. Sowohl Ab-
haltung äuTserer Störungen ist nöthig, wie völlige Concentration
der Aufmerksamkeit auf Erkennung der Doppelreizung. Es mufs
gewissermaafsen das BewuTstsein auf diesen Punkt „eingestellt^,
eine Disposition in dieser Richtung vorhanden sein.^ Dafs so
etwas wirklich stattfinden kann, beweist der Umstand, dafs bei
Versuchen, in denen ein Doppelreiz nach dem anderen sicher
erkannt wird, auch eine Häufung der „Vexirversuche" statthat.
Während nämlich im Allgemeinen niur ganz sporadisch ein Fall
auftritt, wo ein Einzelreiz für doppelt gehalten wird, kann unter
den genannten Verhältnissen eine Cumulation derartiger Aus-
sagen eintreten, z. B.:
Versuch vom 19. III. 1900. Nr. IV.
Reagent B. Punkte p und r, Abstand 24 mm.
P r
vielleicht zwei Reize, unsicher
vielleicht auch zwei Reize, stärker als vorher
wohl auch zwei
das waren zweil
Neben einer grofsen Zahl richtiger Aussagen finden sich im weite-
ren Verlauf des Versuchs noch viele „Vexirversuche" (von 30 Doppel-
reizen werden 18 richtig erkannt, daneben sind 7 „Vexirversuche" zu ver-
zeichnen).
Beachtenswerth ist in dem angeführten Beispiel, dafs doch
ein Unterschied zwischen den Empfindungen bei den „Vexir-
versuchen^ imd denen bei den richtig erkannten Doppelreizen
vorhanden ist: die sehr bestimmte Aussage bei Versuch 24
deutet daran!
Besonders bei schwachen Reizen und gröfseren Entfernungen
ist zur Erkennung der Doppelreize eine gewisse Uebimg noth-
21.
11
22.
9
11
23.
9
24.
9
11
^ Vgl. hierzu v. Kbies in der Zeitschrift für Psychologie \mi Physiologie
der Sinnesorgane 8, 14 f., wo von einer „dispositiven Einstellung'' gesprochen
wird.
54 Arthur Brütkner*
wendig. Es muTs nämlich bei jeder Versuchsreihe der Reagent
gewissermaaXsen die Empfindung, welche mit zwei Beizen einher-
geht, von neuem kennen lernen, tun sicher die Disparation aus-
sagen zu können. Dann kann für längere Zeit eine richtige
Aussage der anderen folgen. Es sei folgendes Beispiel angeführt :
Versuch vom 19. X. 1900.
Beagent v. F. Punkte z am Unterarm und ein Punkt {d) am Handgelenk.
Abstand 134 mm.
Es gehen mehrere ganz unsichere Aussagen über Wahrnehmung der
Doppelreizung voraus, dann folgt plötzlich, ohne dalis eine Verstärkung dar
Reize stattgefunden hatte, die erste sichere Aussage:
d z
o dss war ein Doppelschlag und dann distal.
Im weiteren Verlaufe des Versuchs werden nun die Doppelreize stets
sicher erkannt.
Es liefsen sich mehrere analoge Beispiele anführen.
Die wesentlichste Schwierigkeit, welche durch Uebung über-
wunden werden muTs, ist die, die Doppelreize dann zu erkennen,
wenn die Emzekeize sehr weit von einander entfernt sind. In
den drei Versuchen, welche mit sehr grofsen Abständen (134,
142, 143 mm) gemacht wurden, stellte es sich jedesmal im An-
fange des Versuchs als sehr schwer heraus, das ganze Versuchs-
feld gewissermaaXsen auf einmal zu übersehen d. 1^ die Auf-
merksamkeit auf beide weit von einander entfernten Punkte
gleichmäfsig zu concentriren. Sie fährt sozusagen „hin imd her"
zwischen beiden Punkten, imd die Aussagen sind so lange un-
sicher, als der Reagent nicht gelernt hat, beiden Pimkten gleich-
mäfsig seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Soll die Doppelreizimg als solche erkannt werden, so ist
endlich nothwendig, dafs der Keagent im Allgemeinen nicht zu
sehr ermüdet ist, sowie, dafs nicht durch zu schnelles Aufein-
anderfolgen der einzelnen Reizungen eine Ermüdung im peri-
pheren Sinnesapparat stattfindet. Es gelten hier im WesentUchen
dieselben Bedingungen, wie sie oben für das Zustandekommen
der Summation angegeben wurden.
Auch in den vorUegenden Versuchen sind natürUch Fälle
aufgetreten, in denen eine Disparation bestimmt zwar nicht aus-
Die BaumschtceUe bei SimtUtanreizung. 55
gesagt wird, wo aber die Angaben darauf schliefsen lassen, dals
doch etwas wahrgenommen wird, was in irgend welcher Weise
sich von der Empfindung, wie sie der Einzekeiz hervorruft,
unterscheidet Diese „Uebergänge zur Disparation" sind sehr
verschiedener Art
Mehrfach findet sich z. B. die Aussage, dafs der Eindruck
„ausgedehnt", „linienförmig" sei oder linienförmig imponire und
gleichzeitig an den Enden der Linie stärker erscheine, etwa so:
• •. Der Eindruck auf der Haut kann als „flächenhaft",
„diffus" oder „von ganz anderer QuaUtät" wahrgenommen werden,
als der Einzelreiz.
Während die eben genannten Empfindimgen schon lange
bekannt sind, ist eine andere Erscheinung früher noch nicht
beobachtet worden. Es findet sich nämlich eine grofse Zahl von
Aussagen, denen zufolge der Doppelreiz, wenn er nicht als solcher
erkannt wird, an eine andere Stelle localisirt wird, als jeder
Einzelreiz für sich. Voraussetzung ist dabei natürUch, dafs eine
genauere LocaUsation der Einzelreize möglich ist und auch aus-
gesagt wird (z. B. radial-ulnar, proximal-distal).
Bei etwas gröfserem Abstand der einzelnen Reize von ein-
ander finden sich nun folgende Aussagen über die Empfindung
bei der einfach empfundenen Doppelreizung hinsichtlich ihrer
LocaUsation.
Li einer ziemlich grofsen Zahl von Fällen wird der Eindruck
in die Mitte zwischen beiden Einzelreizen" localisirt, oder es wird
ausgesagt, wenn z. B. der ulnare Reiz allein vorausgegangen ist,
„nicht so ulnar wie vorher". Es kann auch vorkommen, dafs
der Reagent imsicher ist, wo er die Empfindung gehabt hat,
während die Einzelreize sofort richtig localisirt werden, so z. B.
in folgenden Aussagen.
Versuch
vom 17. TTT. 1900. Nr. I.
Reagent v. F.
Punkte X
und y. Abstand 84 mm. x proximal.
y
X
86.
7
10
ja deutlich, fraglich wo?
87.
7
10
auch deutlich, wo?
88.
7
ja distal
89.
10
proximal
90.
7
10
deutlich etwas, wo?
Oft wird nur ausgesagt, dafs der Eindruck sich „an anderer
SteUe" befinde.
56 Arthur Brüdener,
Genauer untersucht wurde diese interessante Erscheinung
nicht, welche einen Beitrag bildet für die Thatsache der räum-
lichen Localisation vermittelst des Tastsinnes.
Quantitative Beziehungen zwischen den Einzel-
reizen bei Erkennung der Doppelreizung.
Ausgehend von der Thatsache, dafs bei gegebener Entfernung
zweier Tastpunkte von einander bald eine Verschmelzung mit
gleichzeitiger Summation der Eindrücke stattfindet, bald , wenn
die Verhältnisse günstig liegen, eine Erkennung des disparaten
Charakters der Doppelreizung auftritt, drängt sich unwillkürhch
die Frage auf, wie sich die Intensitätsverhältnisse bei der Dis-
paration verhalten, d. h. ob etwa auch in diesem Falle noch eine
quantitative Beeinflussung beider Reize stattfindet oder nicht
Besonders auf diesen Punkt gerichtete Versuche wurden zwar
nicht angestellt, jedoch geben die vorliegenden Aussagen einen
genügenden Anhalt, um einige Schlüsse in dieser Richtung ziehen
zu können.
Es mufs als zweifellos erwiesen angenommen werden, dab
in solchen Entfernungen, bis zu denen noch Verschmelzung und
Summation mit Sicherheit nachzuweisen ist, auch eine Ver-
stärkung der Empfindimg bei Erkennung der Doppelreizung
stattfindet Es kann dabei entweder die Gresammtempfindung
stärker imponiren, wie diejenige eines Einzelreizes, oder es kann
jeder einzelne Reiz für sich in der Doppelempfindung stärker
erscheinen, als er empfunden wird, wenn er nur für sich gegeben
wird. Es mögen einige Aussagen derart angeführt sein.
Versuch vom 16. III. 1900. Nr. V.
Reagent v. F. Punkte x und y. Abstand 84 mm. x proximal.
X y
28. 14 ja sehr schwach, proximal
29. 8.5 auch so schwach, distal
30. 14 8.5 ja deutlich, sind zwei Reize.
Versuch vom 15. X. 1900. Nr. II.
Reagent B. Punkte a und ß, a distal. Abstand 20 mm.
18. 5
5
- zwei stärker, sind zwei Reize; eins distal
19. 7
. eins proximal, zwei sind zwei Reize, stärker
20 A 7
. eins sind zwei Reize, stärker; zwei eigentlich nichts.
Die Baumschtoeüe bei Simtdtanreizung, 57
Es kann also bei Erkennung der Doppelreizung die Gte-
sammtempfindung gegenüber der bei monostigmatischer Reizung
verstärkt sein. Als Beispiel, dafs die Einzelreize jeder für sich
in der Doppelreizung stärker imponiren, sei folgender Versuch
angeführt
Versuch vom 19. lU, 1900. Nr. IL
Beagent B. Punkte r und u querliegend, u ulnar, r radial. Abstand 60 mm.
tt r
51.
8
radial schwach
52.
6
ulnar schwach
53.
6 8
zwei Reize, jeder für sich viel stärker
als der Einzelreiz.
Es kann also nicht daran gezweifelt werden, dafs auch bei
Erkennung der Doppelreizung eine Summation in dem Sinne
stattfindet, dafs nicht nur der Gresammteindruck der Empfindung
ein stärkerer wie bei der Einzeheizung ist, sondern dafs auch
jeder Einzeheiz für sich in seiner Intensität durch den anderen
verstärkt wird. Es ist das ja auch durchaus begreiflich , denn
es ist nicht einzusehen, warum in Entfernungen, wo Summation
bei Verschmelzung der Reize stattfinden kann, dieselbe nicht
auch auftreten kann, wenn der Doppelreiz erkannt wird.
Diese Thatsache mufs, sofern sie allgemeine Geltung bean-
sprucht, auch festzustellen sein, wenil eine starke Ungleichheit
zwischen den Einzelreizen statthat, d. h. um einen extremen
Fall anzunehmen, wenn der eine Reiz merklich, der andere unter-
merklich ist In diesem Falle kann nämUch, wenn überhaupt
die Bedingungen zur Erkennung des Doppelreizes gegeben sind,
der imtermerkliche Reiz dadurch, dafs er von dem anderen Reiz
verstärkt wird, überschwellig werden, so dafs zwei Reize wahr-
genommen werden. Eine diesbezügliche Versuchsreihe sei hier
angeführt
Versuch vom 19. lU. 1900. Nr. II.
Beagent B. Punkte u und r querliegend, r radial, u ulnar. Ahstand 60 mm.
tc r
29. 8 radial
30. 8 8 radial, vielleicht auch ulnar
31. 8 nichts
59. ö 8 vielleicht zwei Reize
58 Arthur Brückner.
tt r
60. 8 eine Spur, radial
61. 5 8 zwei Reize deutlich
62. 5 nichts
63. 5 nichts
64. 5 8 ulnar (I) vielleicht auch radial
65. 5 8 zwei Reizet
66. 5 nichts
67. 8 ja radial.
Neben solch einem extremen Fall, wo der eine Reiz für sich
g€mz immerklich ist, finden sich mehrere Versuche, in denen der
eine für sich kaum merkliche oder sehr schwache Reiz bei der
Doppelreizung deutlich wahrgenommen wird.
So merkwürdig diese Thatsache, dafs ein untermerklicher
Reiz in dieser Art und Weise bewuTst werden kann, erscheint, so
erklärt sie sich doch ganz natürlich, wenn man berücksichtigt, daCs
überhaupt eine gegenseitige Verstärkung zweier Reize mögUch ist
Eine derartige Sunmiation bei Erkennung der Doppelreizung
scheint aber nur bis zu solchen Entfernungen stattzufinden, bei
denen auch sonst eine Summation mit Verschmelzung der Einzel-
reize vorkommt In gröfseren Entfernungen finden sich keine
Angaben mehr, welche für diese Erscheinung verwerthbar sind.
In den mehrfach bereits erwähnten Versuchen mit Abstand der
Punkte bis zu 143 mm findet sich vielmehr u. A. folgende Angabe.
Versuch vom 23. X. 1900.
Reagent B. Punkt q des Versuchsfeldes am Unterarm und ein Punkt am
Handgelenk ((f). Abstand 142 nmi.
d q
13. 5 distal, dann zwei Reize, alle drei schwach und ungefilhr
5 7 gleich stark.
Einige Male wird auch der Gesa^mteindruck, der durch die
Doppelreizung bei Erkennimg derselben hervorgebracht wird, als
schwächer bezeichnet, wie die Empfindung des Einzelreizes.
So in folgendem Beispiel.
Versuch vom 19. X. 1900.
Reagent v. F. Punkte z und d (am Handgelenk). Abstand 134 mm.
• d z
23. 5
2 . zuerst der proximale und dann ein Doppelreiz, schwächer.
30. 5
a . zuerst deutlich proximal, dann schwächer, Doppelreiz.
M o
Die Baumachtcdle bei Simultanreizung. 59
Bei Ungleichheit in der Stärke der Reize kann es vorkommen,
dafe in directem Gegensatz zum oben erwähnten Fall, wo der
schwächere Heiz verstärkt wird, dieser ganz unterdrückt wird
und gamicht zum Bewufstsein kommt. Es findet das offenbar
dann statt, wenn die Bedingungen zur Erkennung der Doppel-
reizung nicht gegeben sind ; es wird dann nur. der stärkere Reiz
wahrgenommen. Diese Erscheinung ist häufig beobachtet worden.
Unter den vielen Beispielen sei nur eins herausgegriffen.
Versach vom 17. in. 1900. Nr. in.
Beagent v. F. Punkte r und u, r radial, u ulnar. Abstand 68 mm.
1« r
45.
12
7
zwei Reize, radial etwas stärker als ulnar
46.
12
5
radial gefohlt, vielleicht auch ulnar
47.
14
5
radial
48.
5
12
ulnar stark
49.
12
nichts
ÖO.
10
nichts
51.
5
10
ulnar stark
52.
5
9
ulnar stark
53.
9
nichts
54.
8
radial deutlich
55.
5
8
glaube zwei Beize.
Eine Erläuterung hierzu dürfte kaum nöthig sein. Das
Beispiel dient zugleich dafür, zu zeigen, dafs die Bedingung,
welche oben als günstig für das Zustandekommen der Dispara-
tion angegeben wurde, nämlich die möglichste Abgleichung in
der Stärke der Emzehreize, richtig ist Sobald dieselbe nämlich
hier einigermaafsen erfüllt ist, werden auch zwei Reize erkannt
Die vorliegenden Untersuchungen haben die Thatsache sicher-
gestellt, dals eine gegenseitige Beeinflussung zweier Tasteindrücke
in quantitativer Hinsicht stattfindet. Dieselbe besteht fast aus-
nahmslos in einer gegenseitigen Verstärkung beider Eindrücke,
wobei es gleichgültig ist, ob der doppelte Sinnesreiz zu einer
Empfindung verschmolzen wird oder ob eine Erkennung seines
disparaten Charakters stattfindet. Wir haben es also offenbar
bei der Summation mit einer Erscheinimg von allgemeiner Be-
deutung zu thun, während die Disparation nur unter gewissen
Umständen vorkonunt Es müssen demnach wohl zwei gänzlich
verschiedene Ursachen für die Thatsache der Summation und
60 Arthur Brückner.
diejenige der Disparation herangezogen werden. Die erstere be*
ruht anscheinend auf dem allgemeinen physiologischen Gesetz,
dafs eine Erregung, welche die lebende Substanz trifft, durch
eine zweite gleichartige in ihrer Wirkung verstärkt wird. Daraus
erklärt sich die grofse Regelmäfsigkeit, mit der die Summation
in den angestellten Versuchen eingetreten ist.
Ob< die Disparation zu Stande kommt, wird offenbar von
Momenten beeinflufst, welche nicht solch eine Constanz zeigen,
wie sie emem physiologischen Vorgang von der genannten Art ^^
zukommt. Es müssen hier psychische Factoren in Frage kommen,
und in erster Linie muTs die Aufmerksamkeit herangezogen -.
werden. Warum erst von einer gewissen Entfernung an eine
Erkennung der Doppekeize überhaupt mögUch wird , läfet sich
zur Zeit meiner Ansicht nach nicht angeben; vielleicht sind hier
noch andere Einflüsse als die genannten betheüigt Für das
Schwanken in der Gröfse der simultanen Raumschwelle aber
oberhalb dieser imteren Grenze (welche etwa in 20 mm zu setzen
wäre) glaube ich, bieten die Schwankungen in der „Disposition'*,
wie man allgemein etwa sagen könnte, eine genügende Erklärung.
Die Erscheinung der „Subtraction" , welche zuweilen auf
grofse Entfernung vorzukommen scheint und gerade den ent-
gegengesetzten Vorgang wie die Summation bedeutet, glaube
ich ebenfalls nur auf psychische Ursachen beziehen zu können,
etwa so, dafs man eine Theilimg der Aufmerksamkeit annimmt
Jedoch kann ich diese Erklärung nicht anders als eine Ver-
muthung bezeichnen, zmnal überhaupt die Subtraction selbst
nicht viel mehr als eine Annahme ist, zu der ich mich durch
die wenigen Aussagen in dieser Richtung berechtigt glaubte. —
Zum Schlufs ist es mir BedürfniTs, meinem hochverehrten
Lehrer Herrn Professor M. von Frey meinen herzlichsten Dank
auszusprechen, sowohl für die Anregung zu der vorliegenden
Arbeit, wie für die grofse Liebenswürdigkeit, mit der er mich
bei derselben nach jeder Richtung unterstützt hat Aulserdem
bin ich ihm zu Dank verpflichtet dafür, dafs mir die Hülf smittel
des physiologischen Instituts zu Würzburg zur Verfügung ge*
stellt wurden.
(Eingegangen am 24, Februar 1901,)
u^
Zur Theorie der Tonbeziehungen.
Von
Dr. RiCHABD HOHEKEM8EB.
Hinsichtlich der Theorie der Tonbeziehungen, d. h. der Art,
in welcher man die Beziehungen, die erfahrungsgemäfs zwischen
Tönen vorhanden sind, auffafst und zu erklären sucht, stehen
sich gegenwärtig im WesentUchen zwei Anschauungen gegen-
über, die eine von Th. Lipps, die andere von C. Stumpf ver-
treten. ^ Allgemein einig ist man darüber, dafs die Töne, nach
ihrer Höhe angeordnet, eine eindimensionale Reihe bilden,
innerhalb welcher sie einander in verschiedenen Graden ähnlich
sind. Der Streit beginnt da, wo es sich um die Beziehimgen
handelt, in welchen Töne, abgesehen von dem blofsen Höhen-
verhältnifs, zu einander stehen können, also bei den sogenannten
harmonischen Beziehungen. Die HBLMHOLTz'sche Ansicht, wo-
nach diese Beziehimgen bei gleichzeitigem Erklingen von Tönen
auf dem Fehlen oder Vorhandensein von Schwebungen, bei
successivem Erklingen auf einer Verwandtschaft beruhen, die
durch gemeinsame Obertöne gegeben sein soll, haben Lipps und
Stumpf mit fast den gleichen Gründen widerlegt, und sie darf
für die heutige Psychologie wohl als abgethan gelten, wenn auch
die Physiker noch immer an ihr festhalten. Danach mufste
man auch die Anschauung Wundt's verwerfen, da dieselbe mit
der Gremeinsamkeit von Obertönen nicht niur die bei successivem,
sondern auch die bei gleichzeitigem Erklingen auftretenden Be-
ziehungen erklären wilL Ausdrücklich wurde sie von Lipps
^ Vergl. besonders: Lipps, Gmndthatsachen des Seelenlebens, 1883;
Psychologische Studien, 1885; Stuupf, Tonpsychologie, 2. Band, 1890; Con-
sonanz und Dissonanz, 1898.
60 Arthur Brückner,
diejenige der Disparation herangezogen werden. Die erstere be-
ruht anscheinend auf dem allgemeinen physiologischen Gresetz,
dafs eine Erregimg, welche die lebende Substanz trifft, durch
eine zweite gleichartige in ihrer Wirkung verstärkt wird. Daraus
erklärt sich die grofse Regelmäfsigkeit, mit der die Summation
in den angestellten Versuchen eingetreten ist.
Ob die Disparation zu Stande kommt, wird offenbar von
Momenten beeinflufst, welche nicht solch eine Gonstanz zeigen«
wie sie einem physiologischen Vorgang von der genannten Art «
zukommt. Es müssen hier psychische Factoren in Frage kommen, .
und in erster Linie mufs die Aufmerksamkeit herangezogen 1
werden. Warum erst von einer gewissen Entfernung an eine
Erkennung der Doppebeize überhaupt mögUch wird, läfet sich
zur Zeit meiner Ansicht nach nicht angeben; vielleicht sind hier
noch andere Einflüsse als die genannten betheiligt Für das
Schwanken in der Gröfse der simultanen Raumschwelle aber
oberhalb dieser imteren Grenze (welche etwa in 20 mm zu setzen
wäre) glaube ich, bieten die Schwankungen in der „Disposition'',
wie man allgemein etwa sagen könnte, eine genügende Erklärang.
Die Erscheinvmg der „Subtraction" , welche zuweilen auf
grofse Entfernung vorzukommen scheint und gerade den ent-
gegengesetzten Vorgang wie die Summation bedeutet, glaube
ich ebenfalls nur auf psychische Ursachen beziehen zu können,
etwa so, dafs man eine Theilimg der Aufmerksamkeit annimmt
Jedoch kann ich diese Erklärung nicht anders als eine Ver-
muthung bezeichnen, zumal überhaupt die Subtraction selbst
nicht viel mehr als eine Annahme ist, zu der ich mich durch
die wenigen Aussagen in dieser Richtung berechtigt glaubte. —
Zmn SchluTs ist es mir Bedürfnifs, meinem hochverehrten
Lehrer Herrn Professor M. von Frey meinen herzUchsten Dank
auszusprechen, sowohl für die Anregung zu der vorliegenden
Arbeit, wie für die grofse Liebenswürdigkeit, mit der er mich
bei derselben nach jeder Richtung unterstützt hat AuTserdem
bin ich ihm zu Dank verpflichtet dafür, dafs mir die Hülfsmittol
des physiologischen Listituts zu Würzburg zur Verfügung g^
stellt wurden.
{Eingegangen am 24. Februar 190L)
L^
Zur Theorie der Tonbeziehungen.
Von
Dr. Richard Hohenemseb.
Hinsichtlich der Theorie der Tonbeziehungen, d. h. der Art,
in welcher man die Beziehungen, die erfahrungsgemäfs zwischen
Tönen vorhanden sind, auffa&t und zu erklären sucht, stehen
sich gegenwärtig im Wesentlichen zwei Anschauungen gegen-
über, die eine von Th. Lipps, die andere von C. Stumpf ver-
treten.^ Allgemein einig ist man darüber, dafs die Töne, nach
ihrer Höhe angeordnet, eine eindimensionale Reihe bilden,
innerhalb welcher sie einander in verschiedenen Graden ähnlich
sind. Der Streit beginnt da, wo es sich um die Beziehimgen
handelt, in welchen Töne, abgesehen von dem blofsen Höhen-
verhältnifs, zu einander stehen können, also bei den sogenannten
harmonischen Beziehimgen. Die HELMHOLTz'sche Ansicht, wo-
nach diese Beziehungen bei gleichzeitigem Erklingen von Tönen
auf dem Fehlen oder Vorhandensein von Schwebungen, bei
successivem Erklingen auf einer Verwandtschaft beruhen, die
durch gemeinsame Obertöne gegeben sein soll, haben Lipps und
Stumpf mit fast den gleichen Gründen widerlegt, und sie darf
für die heutige Psychologie wohl als abgethan gelten, wenn auch
die Physiker noch immer an ihr festhalten. Danach mufste
man auch die Anschauimg Wundt's verwerfen, da dieselbe mit
der Gemeinsamkeit von Obertönen nicht nur die bei successivem,
sondern auch die bei gleichzeitigem Erklingen auftretenden Be-
ziehungen erklären wilL Ausdrücklich wurde sie von Lipps
^ Vergl. besonders: Lipps, Grundthatsachen des Seelenlebens, 1883;
Psychologische Stadien, 1885; Stubipf, Tonpsychologie, 2. Band, 1890; Con-
sonanz und Dissonanz, 1898.
62 Richard Hohenemser.
bekämpft^; aber auch bei Stumpf kommt die Verwandtschaft
durch gemeinsame Obertöne nur secimdär und aushülfsweise in
Betracht Eine andere Theorie, die RiEMANN'sche Klang»
Vertretungslehre, hat Stumpf so schlagend zurückgewiesen \ dab
sie wohl jedem wirklichen Psychologen unannehmbar erscheinen
wird. Ein solcher hat sich heute also nur noch mit Lipps und
Stumpf abzufinden.
Ich möchte im Folgenden an zwei Punkten eine kleine
Weiterführung der Lipps'schen Theorie versuchen; zuvor aber
erwächst mir die Verpflichtung, meine Stellimg zu den An-
schauungen Stumpf's und zu den Gründen, die er gegen Lipps
vorbringt, zu kennzeichnen.
Zur Erklärvmg oder, besser gesagt, zur Begreiflichmachung
der zwischen Tönen möglichen harmonischen Beziehungen führt
Stumpf den Begriff der Verschmelzung ein:
„Es scheint überhaupt nicht, dafs wir im Stande sein
werden, den Verschmelzungsbegriff tiefer oder verständ-
licher zu fassen, als indem wir die Verschmelzung als
das Verknüpftsein zweier Empfindimgsinhalte zu einem
Ganzen oder als Einheitlichkeit, als Annäherung des
Zweiklangs an den Einklang beschreiben.'' ^ Mit diesen
Worten giebt Stumpf eine Definition seines Verschmelzungs-
begriffs und spricht zugleich die Ueberzeugung aus, dals die
Thatsache, welche diesem Begriff zu Grunde liegt, eine letzte,
nicht weiter erklärbare sei Allerdings sucht er an anderen
Stellen*, da man psychologische Ursachen nicht finden könne,
nach einer Erklärung aus einem physiologischen Thatbestande.
Da sich aber dieser Thatbestand allmählich entwickelt haben
soll und daher nothwendigerweise ein psychologisches Correlat
haben müfste, das wir jedoch nach Stumpfes eigener Meinung
nicht kennen, imd da wir über die in Betracht kommenden Vor-
gänge im Gehirn durchaus nichts wissen, so ist diesen Aus-
führimgen nur geringe Bedeutung beizulegen.
Die Thatsache der Verschmelzung selbst wird Niemand
leugnen. Zwei Töne, welche zu einander im Verhältnifs der
* Siehe: Psychologische Studien, S. 112 ff.
' Consonanz und Dissonanz, S. 84 ff.
' Consonanz und Dissonanz, S. 44.
* Vergl. z. B. Consonanz und Dissonanz, S. öOff.
Zur Theorie der Taiibeziehungefi. gg
Octave stehen, fallen, wenn sie gleichzeitig erkUngen, für unsere
Wahrnehmung zu einer Einheit zusammen, welche dem Ein-
klänge so nahe steht, dafs es ims unter Umständen unmöglich
ist, die beiden Bestandtheile noch zu unterscheiden. Beim Zu*
sammenklang der Quinte ist die Einheit weniger eng und die
UnterscheidungsmögUchkeit nimmt zu. So geht es fort, bis
endlich bei den scharfen Dissonanzen die beiden Bestandtheile
für unsere Wahmehmimg deuthch auseinanderfallen, freilich
nicht unter Verlust jedes Zusammenhanges ; denn stets empfinden
wir die Verwandtschaft, die sie als Töne an sich besitzen, so
dafs Stumpf berechtigt ist, auch auf die scharfen Dissonanzen
den VerschmelzungsbegrifE anzuwenden.
Es liegt auf der Hand, dafs er diesen Begriff nicht so nach-
drücklich herausgearbeitet hätte, wie er es in der „Tonpsycho-
logie" that^, wenn ihm derselbe nur zur Benennimg einer
letzten, nicht weiter zurückführbaren Thatsache und nicht auch
zur Erklärung anderer Thatsachen hätte dienen sollen. Worum
es sich ihm in erster Linie handelte und naturgemäfs handeln
mufste, war die Lösimg des Problems der Consonanz und Disso-
nanz, welche er in der in Anmerkung 3 S. 62 und früher er-
wähnten Schrift anstrebt Er stellt fünf Verschmelzungsstufen
auf, welche nach der abnehmenden Schwierigkeit, die beiden
Bestandtheile des Zusammenklangs zu unterscheiden, angeordnet
sind. Die Intervalle der vier ersten Stufen nennt er, mit dem
allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmend, consonirend, die
der fünften Stufe dissonirend. Was heifst aber consoniren und
dissoniren? Nach Stumpf nichts weiter als mehr oder weniger
eng verschmelzen; bei gewissen Graden der Verschmelzung
sprechen wir noch von Consonanz, bei dem oder den darunter
liegenden von Dissonanz.
Der VerschmelzungsbegrifE hat also für die Lösung des
Problems nichts gethan; denn wir erfahren nicht, warum die
Oktave stärker verschmilzt als die Quinte u. s. w. Da sich aber
Consonanz und Dissonanz, wir wir sahen, nach Stumpf's Ansicht
nicht als etwas durchaus verschiedenes gegenüberstehen, viel-
mehr ein allmählicher Uebergang stattfindet, so wissen wir über
das Wesen beider nichts, solange diese Frage nicht beant-
wortet ist.
^ Vergl. n. Bd., S, 127 ff.
64 Richard Hohenemser,
Die Zahlenverhältnisse, welche den die Intervalle bildenden
Tönen physikalisch zu Grunde liegen und welche bekanntlidi
um so rompücirter sind, je mehr em Zusammenkl^ig dissonirk.
•und um so einfacher, je mehr einer consonirt, setzt Stumpf in
keine directe Beziehung zum Wesen der Consonanz und Disso-
nanz, weil uns beim gleichzeitigen Erklingen zweier Töne im
Bewufstsein zwar die Empfindungsqualitäten der bestimmten
Höhen, Stärken imd Färbungen gegeben seien, welchen auf
physikaUscher Seite die Schwmgungsgeschwindigkeiten, Schwill-
gungsampUtuden und Schwingungsformen entsprächen, aber
keine Empfindungsqualität, welche dem geometrischen VerhältnÜii
der Schwingungszahlen entspreche ; die Empfindungen hätten nur
die MögUchkeit, sich mehr oder weniger einer einheitlichen
Empfindung, dem Einklang, anzunähern.
Während die Worte „consoniren" imd „dissoniren^, d. h.
„zusammenklingen^^ und „auseinanderklingen" unmittelbar auf die
Thatsache der Verschmelzung hinweisen, bekunden die deutschen
Ausdrücke „wohl''- und „übelklingen'' eine andere Auffassmig^
welche bei den modernen Musikern durchaus die herrschende
ist, nämlich die, dafs mit Consonanzen Lustgefühle, mit Disso*
nanzen Unlustgefühle verbimden seien. Dafs dieser Auffassniy
etwas Richtiges zu Grunde liegt, weifs jeder aus Erfahrung;
aber freiUch ist sie, so aUgemein ausgesprochen, für psycho-
logische Zwecke imbrauchbar. Stumpf nun verkennt nicht, dab
Zusammenklänge mit Lust- oder Unlustgefühlen verbunden sein
können, aber er vermag auch hier keine directe Beziehung,
keine Gesetzmäfsigkeit zu finden. Mit Recht bekämpft er die
Anschauung, welche Consonanz imd Dissonanz aus den Losi-
und Unlustgefühlen erklären will. Irgend eine psychische Eir-
scheinung durch ein Gefühl erklären wollen, hiefse die Wirkung
zur Ursache machen; denn das Grefühl ist die uns zum BewuDst-
sein kommende Reaction des Seelenganzen, des Subjects, auf
einen bestimmten psychischen Vorgang oder auf eine Oom-
bination solcher Vorgänge. Daher kann z. B. das Gefühl niemals
Ursache der Verschmelzung, sondern nur umgekehrt ein be-
stimmter Grad der Verschmelzimg Ursache eines bestimmten
Gefühls sein. Aber auch dies sucht Stumpf nicht nachzuweisen,
weil ihm die Urtheile über den Gefühlswerth der Consonancen
und Dissonanzen äufserst schwankend erscheinen. Genau genommen
wäre ihm freilich der Versuch, einen Zusammenhang zwischen
Zur Theorie der Tonbezichungen. 65
den verschiedenen Verschmelzungsgraden und ihrem Gefühls-
chaxakter herzustellen, unmöglich gewesen; denn der Ver-
schmelzungsbegriff, wie ihn Stumpf fafst, pafst einzig auf das
Gebiet der Töne und hat im gesammten übrigen Seelenleben
keine Analogien, ist also auch in einer allgemeinen Gefühls-
lehre, wie sie durch die Natur des Gefühls gefordert ist, nicht
zu verwenden. Stumpf hätte also diesem einzelnen Begriff zu
Liebe eine eigene allgemeine Gefühlslehre aufstellen müssen,
was nicht anging, oder es bUeb ihm nichts übrig als die Ver-
schmelzung und den Gefühlscharakter der Zusammenklänge fast
unabhängig neben einander hergehen zu lassen. Also auch über
die zweifellos bestehenden innigen Beziehungen zwischen den
Znsammenklängen und den Gefühlen giebt der Verschmelzungs-
begriff keinen Aufschlufs.
Es stellen sich seiner Formulirung aber auch positive
Schwierigkeiten entgegen, die Stumpf nicht übersehen hat, die
er aber beseitigen zu können glaubt. Die Thatsache, dafs die
Einstimmigkeit der Mehrstimmigkeit zeitlich vorausging oder
wenigstens lange Zeiten hindurch, im classischen Alterthum imd
im frühen Mittelalter, fast alleinherrschend war, scheint der Ver-
schmelzung zu widersprechen, da ja diese und somit auch die
Unterscheidung der verschiedenen Intervalle nur beim gleich-
zeitigen Erklingen von Tönen zu Stande konunen kann. Stumpf
meint zimächst, die Auffindung der Octave sei durch die enge
Obertonverwandtschaft der sie bildenden Töne begünstigt worden.
Er stützt sich darauf, dafs die Octave, übrigens auch jedes
andere Intervall, wenn sie aus einfachen Tönen gebildet ist,
schwerer imterschieden wird, als wenn sie aus den einzig in der
Musik gebrauchten Klängen besteht. Aber bei Aufeinanderfolge
von Klängen kann die Auffindung der Octave doch nur dann
gefördert werden, wenn der zweite Klang schon zugleich mit
dem ersten gehört wird (wenn auch nur als einfacher Ton), weil
nur dann eine Veranlassung gegeben sein kann, auf den zweiten
Klang überzugehen imd somit das Intervall der Octave zu bilden.
Nun werden aber Obertöne fast niemals gehört, wenn wir imsere
Aufmerksamkeit nicht in besonderem Mafse auf sie richten oder
sie uns durch besondere Vorkehrungen (z. B. Resonatoren) zu-
gänglich machen, also von ihrer Existenz bereits wissen. Daher
ist ihre imterstützende Mitwirkung bei der ursprünglichen
Zeitschrift für Psychologie %. 5
66 Bichard Hoheiieniser.
Bildung des Octayenintervalles im höchsten Grade unwafar-
scheinlich.
Aber sehen wir hiervon ab, da ja Stumpf die Verwandt-
schaft durch Obertöne nur als Hülfsmittel und nur für die
Octave in Anspruch nimmt Jedenfalls, meint er, mufste man
jedes IntervaU, bevor man es in der Aufeinanderfolge verwenden
konnte, durch Wahrnehmung des betreffenden Zusammenklanges
an einem Instrumente kennen lernen. Wir müssen fragen, was
dazu veranlassen konnte, den Zusammenklang in ein Nachein-
ander zu verwandeln. Stumpf sagt hierüber nichts. Nehmen
wir einmal an, die Wohlgefälligkeit eines Zusammenklanges,
zimächst natürlich eines Zweiklanges, führe dazu, seine Bestanji-
theile auch nacheinander erklingen zu lassen und so die
Wirkimgen dieser Tonfolge zu erproben. Dann ist zunächst
nicht einzusehen, wie man überhaupt jemals zu einer stufen-
weisen Führung der Melodie gelangen konnte; denn, für sich
angegeben, sind die Zusammenklänge der grofsen und kleinen
Secimde mifstönend. Vielleicht sagt man, die Zusammenkl&nge
der grofsen und kleinen Secunde seien nicht schlechthin h&fsUch,
sondern enthielten, da ihre Bestandtheile doch Töne seien und
somit in gewisser Weise [übereinstimmten, einen gewissen Grad
der Wohlgefälhgkeit Auf Grund dieses habe man, nachdem
man alle consonirenden Zusammenklänge in Intervallschritte
aufgelöst habe, das Gleiche mit der grofsen und kleinen Secimde
gethan. Die Vorherrschaft der stufenweisen Fortschreitung im
Gresang, der fast die einzige Art der einstimmigen Musik ist, er-
kläre sich aus dem Umstand, dafs diese Fortschreitung für die
menschlichen Stimmorgane die angemessenste sei. Danach
müfsten sich die ursprünglichen Melodien ausschliefslich in
Octaven-, Quinten-, Quarten-, Terzen- und Sextensprüngen bewegt
haben. Aber gerade für das Gegentheil haben wir Anhalts-
pimkte; denn sowohl in den ältesten Melodien, die wir kennen^
den altgriechischen, als auch in den Gesängen derjenigen heute
lebenden Völker, welche wir für die primitivsten halten, herrscht
die stufenweise Fortschreitung durchaus vor. Demgegenüber
bliebe nur die Annahme übrig, dafs die Ueberlieferung nicht in
die Zeit des ursprünglichen Stadiums der Melodik zurückreiche
und dafs auch die heutigen primitiven Völker diese Zeit bereits
hinter sich hätten. Aber es ist sehr die Frage, ob alle primi-
tiven Völker, welche stufenweise singen, auch Instrumente be-
Zur Theorie der Tonbeziehungen, g7
sitzen, auf welchen sich die Zusammenklänge der grofsen imd
kleinen Secunde hervorbringen lassen, ja ob es nicht Völker
giebt, welche zwar den Gesang, aber keine klangerzeugenden,
sondern nur schallerzeugende Instrumente kennen.
Noch gröfser wird die Schwierigkeit, wenn man auch die-
jenigen Melodien in Betracht zieht, in welchen kleinere Inter-
valle als Halbtonschritte vorkommen. Solche Melodien sind
sowohl bei orientalischen Culturvölkem, so bei den Chinesen,
Indem und Arabern, als auch bei vielen Naturvölkern etwas
ganz GrewöhnUches. ^ Zwar meint Stumpf eine Musik, die sich
nicht in festen Tonstofen bewege, sei noch keine eigentUche
Musik. Aber einmal ist nicht gesagt, dafs Intervalle, welche
kleiner sind als die bei ims gebräuchUchen, darum auch imbe-
stimmt imd schwankend sein müssen ^, imd femer darf man die
Anwendung der engen Tonstufen, mögen dieselben mm fest-
stehend sem oder nicht, wenn man ihr auch allen ästhetischen
Werth absprechen wollte, doch als psychologisches Phänomen
nicht auTser Acht lassen. Nun ist bei so kleinen IntervaUen die
Wohlgefälligkeit des Zusammenklanges noch problematischer
als beim Ganz- oder Halbton, imd auTserdem unterliegt es wohl
keinem Zweifel, dafs in dem reich verzierten Gesang vieler
Orientalen feinere Abstufungen gemacht werden, als es auf den
Instrumenten geschieht. Soweit keine Nebengeräusche in Betracht
kommen, sind auch diese feinsten Abstufungen nichts Anderes
als Intervalle im Nacheinander und müssen daher ebenso wie
die übrigen Intervalle entstanden sein. Man müfste sich also
denken, dals sie zuerst beim unbeabsichtigten Zusammenklange
etwa zweier Saiten oder zweier Flöten, die zufälUg eine so
geringe Differenz ergaben, gehört worden seien.
In ähnhche Schwierigkeiten verwickelt man sich, wenn man
an Stelle unserer bisherigen Hypothese die Annahme setzt, es
sei ein natürlicher Trieb des Menschen, jeden Zusammenklang
auch in die Aufeinanderfolge seiner Bestandtheile zu verwandeln.
Freihch wäre damit nicht viel gesagt, aber die Annahme läfst
sich immerhin machen. Dann wären zwar auch ursprüngliche
* Vergl. L. RiEicANN, Ueber eigenthümliche , bei Natur- und orientali-
schen Culturvölkem vorkommende Tonreihen und ihre Beziehungen zu den
Gesetzen der Harmonie. Essen 1899.
" So nimmt Riemann bei den Indern die Verwendung von feststehen-
den kleinen Intervallen an.
i)*
68 Richard Hohenemser.
Melodien in stufenweiser Fortschreitung denkbar, wenn man
nämlich das Vorhandensein der erforderlichen Instrumente vor-
aussetzt, aber die übrigen Schwierigkeiten wären nicht ge-
hoben.
Wie man sich auch die IntervaUschritte aus den Zusammen-
klängen hervorgegangen denken möge, jedenfalls dringt Stumpf
darauf, dafs auch bei der Aufeinanderfolge Tonverschmelzung
stattfinde, da ja nach seiner Meinung ohne dieselbe kein Be-
wuTstsein von Intervallverhältnissen möghch wäre. In diesem
Punkte erblickt er mit Recht eine andere Schwierigkeit, die sich
der Formulirung des Verschmelzimgsbegriffs entgegenstellt Zu
ihrer Beseitigung führt er aus, dafs die Tonvorstellung, welche
die Tonempfindung in uns zurücklasse, mit der folgenden Ton-
empfindung verschmelzen könne, und dafs wir auf diese Weise
auch bei der Succession von Tönen dazu gelangten, die ver-
schiedenen Intervalle wahrzunehmen. Dagegen hat Lipps ge-
zeigt^, dafs bei der Aufeinanderfolge von Tönen für unser Be-
wufstsein durchaus kein Zusammenfiiefsen, keine Annäherang
an den Einklang gegeben ist. Auch läfst sich leicht nachweieen,
dafs zwischen einem vorgestellten und einem empfundenen Tone
zwar Verschmelzung stattfinden kann, dafs dieselbe aber zur
Wahmehmimg der Intervalle durchaus nicht erforderlich ist
Wir können einen Ton, nachdem wir ihn empfunden haben,
absichtlich in der Vorstellung festhalten, d. h. innerUch weiter-
klingen lassen, und während dieser Zeit eine zweite Tonempfin-
dimg erzeugen ; dann haben wir das deutUche Bewufstsein eines
Zusammenklanges, während uns dasselbe beim Auffassen einer
Melodie, deren Intervalle wir doch deutlich erkennen, völlig
fehlt — Wir müssen also die Behauptung, dafs beim Wahr-
nehmen einer Melodie jeder Ton eine Zeit lang als Vorstellung
im Bewufstsein fortbestehe, zurückweisen, da uns sonst zweis
oder mehrere Töne als Zusammenklang und nicht als Aufein-
anderfolge erscheinen würden. Aber etwas mufs die Tonempfin-
dung doch in imserem Bewufstsein zurücklassen, da uns in der
Melodie nicht ein zusammenhangloses Nebeneinander von Tönen,
sondern ein Bezogensein der Töne aufeinander gegeben ist
Die schwierige Frage, worin dieses „etwas" besteht, imd wie
demnach die Einheit, die wir Melodie nennen, zu Stande kommt,
* Diese ZeiUchr. 19, 10 ff.
Zur Theorie der Tofibeziehungen, 69
haben wir hier nicht zu erörtern. Uns genügt die Erkenntnifs,
dafs bei der Aufeinanderfolge von Tönen die Verschmelzung
nicht möglich ist, dafs also der Verschmelzungsbegriff im
STüMPF*schen Sinne auf die Melodie keine Anwendimg finden
kann.
Ueberbhcken wir das bisher Gresagte, so ergiebt sich, dafs
der Verschmelzimgsbegriff uns trotz der Aufstellimg der ver-
schiedenen Verschmelzimgsstufen über das Wesen von Consonanz
und Dissonanz nicht aufklärt, dafs er femer in seiner Anwendung
auf das Nacheinander von Tönen, auf die Melodie, versagt und
endUch, dafs er zwar auf einer unleugbaren Thatsache beruht,
dafs diese Thatsache aber eine letzte sein soll imd weder mit der
physikalischen Gesetzmäfsigkeit, die sich in den eigenthümlichen
Schwingungsverhältnissen der Intervalle ausspricht, noch mit
dem gesammten Seelenleben in Zusammenhang gebracht ist
Stumpf selbst weifs sehr wohl, dafs namentUch seine Beiträge
zur li^sung des Problems der Consonanz und Dissonanz lücken-
haft sind; aber er glaubt, bei dem Verschmelzungsbegriff stehen
bleiben zu müssen. In der That bliebe auch uns nichts Anderes
übrig, wenn sich ims nicht eine Anschauungsweise darböte,
welche nicht nur alle Schwierigkeiten zu heben, sondern auch
die Thatsache der Verschmelzung selbst auf allgemein psychische
Gesetze zurückzuführen scheint
Diese Anschauung geht davon aus, dafs zwei gleichzeitig
erklingende Töne lun so consonirender sind, in je einfacheren
Zahlenverhältnissen die ihnen zu Grunde hegenden Schwingungen
zu einander stehen, und um so dissonirender, je compUcirter
diese Verhältnisse sind.
Ein derartiger ParalleUsmus zweier Reihen von Erscheinungen
macht einen inneren Zusammenhang zwischen diesen Reihen in
hohem Grade wahrscheinUch, ohne ihn freiüch zwingend zu be-
weisen. In imserem Falle wächst die Wahrscheinüchkeit, wenn
man bedenkt, dafs die Tonhöhe von der Geschwindigkeit der
Schwingungen oder, was dasselbe ist, von der Zahl der Schwin-
gungen in der Zeiteinheit abhängt Sollte da nicht auch, zum
mindesten bei gleichzeitig erklingenden Tönen, das Verhältnifs
der verschiedenen Schwingimgsgeschwindigkeiten oder kurz : das
Verhältnifs der Schwingungszahlen einen Einflufs ausüben?
Der nahe hegende Einwand, dafs bei den Farben, welchen doch
auch Schwingungen zu Grunde lägen, von einem solchen Ein-
70 Richard ßohenetnier,
flufs nichts zu bemerken sei, ist, wie Lipps gezeigt hat^, nicht
stichhaltig; denn die Farben ergeben, nach ihren Schwingimgs-
geschwindigkeiten angeordnet, nicht eine Reihe von Empfindungen,
welche sich von ihrem Ausgangspunkt immer weiter entfernt,
sondern eine solche, welche schliefsUch wieder zu ihm zurfick-
kehrt. Es fehlt also die Analogie zu den Tonhöhen, die als ein-
dimensionale Reihe im geraden Verhältnifs zu den Schwingongs-
geschwindigkeiten stehen; folgUch darf man auf diesem Gebiete
auch keine weiteren Analogien erwarten.
Sieht man näher zu, wie das Verhältnifs der Schwingung»-
zahlen zweier Töne auf uns wirken kann, so wird man nator-
gemäfs auf den Rhythmus geführt; denn in dem Schwingongs-
verhältnifs eines Zusammenklanges ist ausgesprochen, dals in
einer Zeiteinheit zwei Reihen regelmäfsiger Anstöfse gleichzeitig
ablaufen, dafs aber die Zahl der Anstöfse in jeder Reihe eine
andere ist, und dafs somit nur beim Beginn einer neuen SSeit-
einheit ein Anstofs der einen Reihe mit einem solchen der
anderen Reihe zusammentrifft. Die Anstöfse entstehen zwar zu-
nächst in dem schallerzeugenden Körper, pflanzen sich aber
durch die Luft auf imser Trommelfell fort Nun wäre es doch
seltsam, wenn sie nicht auch in imserer Empfindung auf irgend
welche Weise zur Geltung kämen. Die Theorie, welche dies be-*
hauptet, ist bekanntUch schon alt ^, erhielt aber erst durch Lipps
eine psychologische Begründung und theilweise Anwendung auf
Einzelprobleme der Musik, vor Allem auf das der Consonank
imd Dissonanz.
Die Hauptschwierigkeit für diese Theorie liegt darin, dab
uns, aufser vielleicht bei den tiefsten Tönen, keine Quahtät der
Tonempfindung bewufst wird, welche dem durch die einzelnen
Anstöfse gegebenen Rhythmus entspräche. Da auch die Ton-
höhe von den Schwingungszahlen abhängt, könnte man meinen,
dieselbe Schwierigkeit bestehe auch hier. Aber dies ist nicht der
Fall; denn die Zu- oder Abnahme der Schwingungszahl ergiebt
einfach eine qualitativ andersartige Empfindung, zu deren Er-
klärung man an sich nicht auf die Wirkung der einzelnen Elr-
regungsanstöfse zurückzugehen braucht. Vielmehr wird dies
erst nöthig, wenn das Verhältnifs zweier Schwingungszahlen füi^
' Vergl. FhiloBophische ManaUtliefU 28, 580.
* Vergl. Stumpf, Consonanz und Dissonanz, S. 19 ff.
Zur Theorie der Tonbeziehungen. 71
das VerhältnÜB der entsprechenden Tonempfindungen maafs-
gebend sein soll; denn „Verhältnifs zweier Schwingungszahlen^
besagt eben, dals zwei Schwingungsreihen in Verschiedenen
Rhythmen verlaufen. Entspricht also diesen Rhythmen in
unserem BewuTstsein nichts, so muis ihre Wirkung, wenn sie
dennoch vorhanden sein soll, eine uns unbewufste sein. Dies
nimmt Lipps in der That an.
Die rhythmischen Anstöfse sind die Grimdlage, aus welcher
die qualitativ durchaus eigenartige, nur durch Höhe und Stärke
charakterisirte Tonempfindung resultirt Nur diese kommt uns
zum BewuTstsein, nicht aber die Art ihres Zustandekommens.
So ist überhaupt jeder Bewufstseinsinhalt für uns nur ein Re-
sultat, ein gegebenes, das wir hinnehmen müssen, ohne seine
Entstehung bewuTst miterlebt zu haben. Selbst wenn eine Vor-
stellung imgezwuugen und gleichsam von selbst zur anderen,
ein Gedanke zum anderen führt, erleben wir doch nur, dafs es
geschieht, aber niemals, wie es geschieht. Was den Bewulst-
seinsinhalten, uns imbewuist, zu Grunde hegt, können wir nur
zu erschliefsen versuchen.
Nun ist anzunehmen, dafs die rhythmischen Anstöfse, ob-
gleich weder sie noch ihre Wirkungen ims zum Bewufstsein
kommen, doch ebenso wirken wie bewufst wahrgenommene
rhythmische Schläge. Jeder Rhythmus zwingt, je nachdem er
langsamer oder schneller, einfacher oder compUcirter ist, die
Seele gleichsam in eine bestimmte Richtung. Dies erkennen
wir an der Art, wie er uns anmuthet, ob er das Gefühl leichter,
spielender, ungehemmter oder schwieriger, gehemmter Thätigkeit
in uns erweckt.^ Hören wir einen tiefen Ton, so haben wir
das Gefühl des Schweren, Lastenden, Langsamen ; ein hoher Ton
dagegen erweckt in uns das Grefühl der Leichtigkeit, der raschen
Beweglichkeit, der Ungehemmtheit. Jedenfalls ist dieser Unter-
schied in der Verschiedenheit der Schwingungsrhythmen be-
gründet, obgleich vms weder rhythmische Schläge noch Wir-
kungen, wie sie dieselben, bewufst wahrgenommen, haben würden,
zum Bewufstsein kommen. Hören wir gleichzeitig zwei Töne,
so wird die Seele von beiden Schwingungsrhythmen gleichsam
' Es bedarf kaum der Erwähnung, dafs die Sprache nicht ausreicht,
am die Arten, in welchen uns die unendlich vielen möglichen Rhythmen
anmuthen können, zu beschreiben. Sie kann immer nur andeuten.
72 Richard Hohaietnaer.
nach zwei verschiedenen Richtungen gezogen. Da sie eine Ein-
heit ist, mufs sich hieraus sozusagen ein bestimmtes Spannungs-
verhältnifs ergeben, und dieses kommt uns in dem VerhältniCs
der beiden Tonempfindungen zu einander zum Bewufstsein.
Wenn wir oben sagten, die Wirkung der einzehien AnstöHse
werde uns nicht bewufst, so müssen wir jetzt diesen Ausdruck
richtig stellen. Ihre unmittelbare Wirkung wird uns allerdings
nicht bewufst, wohl aber die Art, in welcher die Rhythmen, in
welchen sie verlaufen, uns anmuthen, und somit beim gleichzeitigen
Auftreten mehrerer Tonempfindungen auch das Verhältnifs dieser
Arten zu einander. Je weniger die Schwingungsrhythmen zweier
gleichzeitiger Töne die Seele in verschiedene Richtungen zu
zwingen, ihr verschiedene Bethätigungsweisen abzunöthigen
suchen, um so verwandter, um so ähnlicher erscheinen uns natur-
gemäfs die beiden Töne, und umgekehrt.
Die verschiedenen Verwandtschaftsgrade drängen sich uns
bei gleichzeitigem ErkUngen der Töne unmittelbar auf und ent-
sprechen genau den Verschmelzungsstufen Stümpf's. Die gröbere
oder geringere Schwierigkeit, die Bestandtheile des Zusammen-
klanges zu unterscheiden, rührt also von der gröfseren oder
geringereu Aehnlichkeit dieser Bestandtheile her. Damit wäre
die Verschmelzung auf die allgemeinere Thatsache zurückgeführt,
dafs gleichzeitig gegebene Bewufstseinsinhalte um so schwerer
von einander unterschieden werden können, je ähnlicher sie
einander sind, und umgekehrt Nur besteht in unserem Falle
die AehnUchkeit nicht in einer beiden Tonempfindungen gemein-
samen Qualität, sondern darin, dafs uns beide in ähnlicher Weise
anmuthen, dafs sie die Seele in ähnliche Thätigkeiten versetzen,
und zwar thun sie dies auf Grund der beiden unbe^nifsten,
einander ähnhchen Schwingungsrhythmen.
Nunmehr haben wir auch den Schlüssel zur Lösung des
Problems der Consonanz und Dissonanz gefunden; denn je ver-
wandter zwei Töne sind, um so consonirender, angenehmer ist
der aus ihnen gebildete Zusammenklang, je weniger verwandt,
um so dissonirender, unangenehmer.^ Dies beruht auf einem
* Mit Recht weist Lipps darauf hin {diese Zeifschr. 19, 22), dafs sich die
Schwankungen in den Urtheilen über den Geftihlswerth der Zusammen-
klänge daraus erklären, dafs nicht der Grad, sondern die Art der An-
nehmlichkeit oder Unannehmlichkeit beurtlieilt wird und dafs die Beur-
Zur Theorie der Totibeziehungen. 73
allgemeinen Gresetz, das man mit Lipps das psychische Be-
harrungs- oder Trägheitsgesetz nennen kann und welches besagt,
dafs sich das psychische Geschehen am leichtesten imd unge-
hemmtesten zwischen gleichen oder ähnlichen Elementen voll-
zieht und dafs in Folge dieses leichten Vollzuges Lustgefühl ent-
steht, dafs dagegen, wenn die Elemente, zwischen welchen es
sich vollziehen soll, einander unähnlich sind, Schwierigkeiten,
Hemmungen überwimden werden müssen imd daher Unlust-
gefühl erzeugt wird. Man kann dieses Gesetz auf den ver-
schiedensten Grebieten des Seelenlebens nachweisen ; doch dürfen
wir hier diesen Nachweis als geführt betrachten. — Welche Zu-
sammenklänge consoniren, welche dissoniren, kann uns nur die
Erfahrung lehren. Es ist aber klar, dafs wir es mit einer nur
in einer Richtung laufenden Reihe zu thun haben imd dals
diejenigen Zusammenklänge, welche man gewöhnUch als Con-
sonanzen und Dissonanzen bezeichnet, nur nach den Bedürfnissen
der Musikpraxis aus einer grofsen Menge möglicher JPälle heraus-
gegriffen sind.,
Dafs der Zusammenklang z. B. der grofsen Secunde : 8 : 9,
für sich allein gehört, Unlustgefühl erweckt, dagegen der der
grofsen Terz : 4 : 5 Lustgefühl, darüber ist man allgemein einig.
Aber man hat mit Recht gefragt, ob nicht die Octave weniger
Lustgefühl erwecke, uns gleichgiltiger lasse als z. B. die grofse
Terz. Lipps hat diese Schwierigkeit, welche sich seiner Theorie
entgegenstellt, gesehen. Zu ihrer Lösimg weist er darauf hin,
dafs auch sonst die Seele nicht das absolut oder annähernd
absolut gleiche will, sondern Mannigfaltigkeit in der Einheit.^
Sie will die MögUchkeit des leichten Uebergangs von einem
Element zum andern, aber doch so, dafs jedes dem andern
gegenüber etwas neues enthält. Daher mufs in einer Reihe, in
w^elcher je zwei Elemente allmählich einander unähnlicher werden,
das Lustgefühl bis zu einem gewissen Punkte zunehmen können ;
bis zu welchem, entscheidet auf allen Gebieten nur die Erfahrung.
So ist auf dem GebiÄe der Töne der Zusammenklang der Octave
theiler je nach ihrer Individualität theils eine einfachere theils eine com-
plicirtere Befriedigung bevorzugen. Beurtheilt man die Zusammenklänge
nur nach dem Annehmlichkeits- oder Unannehmlichkeits grade und aufser
allem musikalischen Zusammenhange, so wird es stets dabei bleiben, dafs
Consonanzen Lustgefühl, Dissonanzen Unlustgefühl erwecken.
* Vergl. z. B. diese Zeitszhr, 10, 19.
74 Richard Hohencmser.
zwar der einheitlichste, denn wir kennen; aber er erscheint uns
z. B. der Terz gegenüber gerade wegen seiner Einheitlichkeit
leer, nichtssagend. Die Terz versetzt die Seele sozusagen in eine
gegliedertere Thätigkeit und erzeugt daher höhere Befriedigung. —
Der Unterschied beider Zusammenklänge läfst sich am Schlufe-
accord eines Musikstückes deutUch erkennen. Hier ist die Octave
als vollkommenste Einheit, die am Schlufs ihren naturgem&ÜBen
Platz hat, kaum zu entbehren, die Terz dagegen sehr wohl; ja,
sie hebt, in die oberste Stimme verlegt, den Schlufscharakter
sogar bis zu einem gewissen Grade auf, so sehr mangelt ihr
schon die EinheitUchkeit Und doch ist sie an sich, d. h. auiser
allem Zusammenhang angegeben, befriedigender als die Octave.
Wir wissen jetzt, warum die Verschmelzungsstufen und die
Gonsonanzgrade der Zusammenklänge im Allgemeinen parallel
laufen. Beide beruhen eben auf einer gleichen AehnUchkeit
auf der AehnUchkeit der gleichzeitig gegebenen Schwingongs-
rhythmen; nur fällt die vollkommenste Verschmelzung nicht mit
der Erzeugung des höchsten Lustgefühls zusammen. Da wir im
Bisherigen stets die Abhängigkeit des Consonanzgrades vom
Gefühlscharakter des Zusammenklanges betonten, müTsten wir
consequenter Weise die grofse Terz, die wohl das lebhafteste
Lustgefühl erweckt, als den consonirendsten Zusammenklang be-
zeichnen. Dies zu thun hindert ims der Sprachgebrauch, dem
entgegenzutreten wir nicht beabsichtigen. Wir müssen uns daher,
um keinem MiTsverständnisse Raum zu geben, über seine hier
zu Tage tretende Eigenthümlichkeit klar zu werden suchen. Bei
der am weitesten verbreiteten Eintheilung der sogen. Gonsonanzen,
nach welcher Octave, Quinte und Quarte die vollkommenen
Gonsonanzen bilden, während die unvollkommenen mit der
grofsen Terz beginnen,^ ist offenbar nur der Einheitlichkeits-
^ Dafs die meisten Theoretiker des Mittelalters die giofse Terz zu den
Dissonanzen rechneten, lasse ich hier aufser Acht ; denn dies beruht jeden*
falls darauf, dafs sie das Verhältnifs der grofsen Terz nicht, wie wir, mit
4 : 5, sondern, nach pythagoräischer Berechnung, mit 64 : 81 ansetzten. Sie
meinten also ein anderes Intervall wie wir, dessen Dissonanzcharakter
schon aus dem complicirten Zahlenverhältnifs zu vermuthen war und von
dessen widriger Wirkung sie sich z. B. am zweisaitigen Monochord über-
zeugen konnten. Dafs in der Volksmusik Terzen in unserm Sinne zur An-
wendung kamen, aber bei den Theoretikern keine Berücksichtigung fanden,
ist sehr wahrscheinlich.
Zur Theorit der TonbezieJiungen. 75
grad, die Yerschmelzungsstufe des Zusammenklanges berück-
sichtigt Andererseits versteht aber jeder unter Dissonanz einen
Zusammenklang, der an sich Unlustgefühl erweckt, und im
Oegensatz dazu unter Consonanz einen Zusammenklang, der
Lustgefühl erweckt. Der Sprachgebrauch vermischt also die
Verschmelzungsgrade und den Gefühlscharakter der Zusammen-
klänge. Dies ist bei dem oben betonten Parallelismus beider
Erscheinungen durchaus nicht zu verwimdern. Auch wird man,
um nicht von den Gepflogenheiten der praktischen Musik abzu-
weichen, gut thun, den Sprachgebrauch beizubehalten. Nur mufs
man sich darüber klar sein, dafs Verschmelzungsgrad und Ge-
fühlscharakter der Zusammenklänge trotz des Parallelismus ver-
schiedene Dinge sind.
Beruht das im Zusammenklang gegebene VerhältniTs wirk-
lich auf einer AehnUchkeit der Töne, so bedarf es keiner weiteren
Erklärung mehr, dafs wir das VerhältniTs auch bei der Succession
wahrnehmen ' ; denn dafs wir die Aehnlichkeitsgrade einander
folgender BewuCstseinsinhalte zu erkennen vermögen, steht fest.
Wie dies die Seele leistet, haben wir hier nicht zu imtersuchen.
Auch Stumpf erkennt an, dafs, wenn die Verschmelzimg wirk-
lich auf der Aehnlichkeit der Töne beruhe, die Schwierigkeit der
Melodiebildung und der früheren Vorherrschaft der Einstimmig-
keit gehoben sei Ebenso wird er wohl auch anerkennen, dafs
sich die ganze Theorie imgezwungen mit allgemeineren That-
sachen in Verbindung bringen und in Anschauungen über den
allgemeinen Verlauf des psychischen Geschehens einordnen läfst.
Aber gerade die Gnmdlage, dafs es eine Aehnlichkeit der Töne
geben soll, die nicht eine Aehnlichkeit der Empfindimgsqualitäten
ist, sondern auf der zunächst unbewufsten Wirkung einander
ähnlicher Schwingungsrhythmen beruht, erscheint ihm unan-
nehmbar. LiFPs dagegen meint, zwei Bewufstseinsinhalte seien
nicht nur einander ähnlich, wenn beide eine gleiche oder ähn-
liche Qualität besäfsen, wie z. B. zwei Töne von ähnlicher Stärke
oder Höhe, sondern auch dann, wenn beide die Seele in ähnlicher
Weise anmutheten, sie in ähnliche Thätigkeiten versetzten. Mit
^ Freilich tritt in diesem Falle der Consonanz- und Dissonanzcharakter
nicht 80 scharf hervor, und aufserdem scheint die durch die Tonhöhen ge-
gebene Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit stärker mitzuwirken als beim Zu-
sammenklang.
76 Ricliard Hohetieniscr,
Recht zieht er den Schlufs : Da zwei oder mehrere BewuTstseins-
inhalte, welche hinsichthch ihrer QuaUtäten unvergleichbar sind,
dennoch sowohl die gleichen Gefühle in uns erwecken, als auch
einander reproduciren können, so müssen die ihnen zu Grunde
liegenden unbewufsten Vorgänge einander ähnhch sein. Ver-
schiedene Beispiele solcher Aehnlichkeiten hat Deffner in einem
Aufsatz über „Aehnlichkeitsassociationen" beigebracht^; aber er
hat nicht festzustellen gesucht, wie wir dazu kommen, Ton-
empfindungen zu Raumempfindungen in Analogie zu setzen,
indem wir von tiefen und hohen Tönen sprechen.
Erfahrungsassociationen, an welche man in solchen Fällen
gewöhnlich zunächst denkt, sind hier wohl ausgeschlossen ; denn
ein aus der Tiefe heraufgerufener Ton kann hoch, ein aus der
Höhe herabgerufener tief sein. — Eine andere Erklärung suchte
man darin, dafs Hücbald, jener Theoretiker des 9. «Jahrhunderts,
der zuerst die verschiedenen Tonhöhen durch verschiedene
Stellung von Zeichen (Textsilben) im Raum wiedergab, den
untersten Zwischenraum seines Liniensystems dem Ton mit der
kleinsten Schwingungszahl anwies und von da aus aufwärts
ging. Aber diese Erklärung ist aus mehreren Gründen unhalt-
bar: Einmal könnte es eine tiefer liegende allgemein-psycho-
logische Ursache haben, dafs Hücbald die Anordnung gerade
so und nicht umgekehrt wählte. Ferner lag auf der itaUenischen
Laute des Mittelalters die Saite, welche den tiefsten Ton gab,
oben, die welche den höchsten gab, unten, und demgemäfe waren
auch in der Lauten-Notation, in welcher die Linien als Symbole
der Saiten dienten, die Töne angeordnet Aber man hat niemals
gehört, dafs die italienischen Lautenspieler deshalb die hohen
Töne als tief und die tiefen als hoch bezeichnet hätten. Endlich,
und das ist das Wichtigste, war die Anwendung der Worte
„hoch" und „tief" auf die Töne schon lange vor Hücbald in
den verschiedensten Sprachen verbreitet, imd schon in der
ersten christlichen Zeit machte der Dirigent des Kirchenchores,
wenn dieser mit der Stimme steigen sollte, eine Handbewegung
nach aufwärts, wenn er fallen sollte, eine solche nach abwärts.
Später wurden diese Bewegungen in der sogen. Neumenschrift
fixirt Ganz ähnlich verhielt es sich bei den Indem, Armeniern
und Griechen.*
» Vergl. diese ZeiUchr. 18, 235 ff.
• Vergl. O. Fleischer, Neumenstudien, 1. Theil, 1895.
Zur Theorie der Tatibeziehungen. 77
Man könnte noch meinen, die Bezeichnungen „tief" und
„hoch" rührten von den Empfindungen her, welche man beim
Singen der betreffenden Töne hat Zur Erzeugung der tiefen
Töne scheinen die tiefer im Brustkasten hegenden Theile der
Stimmwerkzeuge in hervorragendem Maafse erforderlich zu sein,
zur Erzeugung der hohen Töne dagegen die der Mimdhöhle
näher hegenden. Mir fehlen die physiologischen Kenntnisse, um
entscheiden zu können, ob es sich wirkUch so verhält Es kommt
hier aber nur auf die Empfindungen an, und diese haben wir
in der That, wie ja die Ausdrücke „Brust-" und „Kopfstimme"
beweisen. Freilich müTste danach z. B. die Sopranistin den
gleichen Ton tief nennen, welchen der Tenorist hoch nennt
Dies geschieht in der That, solange jeder nur die in seiner
Stimmlage vorhandenen Töne beurtheilt Da aber „tief" und
„hoch" stets relative Begriffe sind und da man sich auch beim
Hören solcher Töne, welche die eigene Stimme nicht hervorzu-
bringen vermag, mindestens eine ungefähre Vorstellung von den
Empfindungsunterschieden machen kann, welche zwischen den
äuTsersten der Stimme erreichbaren Tönen und dem gehörten
Ton, wenn er gesungen würde, beständen, so könnte man diese
Begriffe auf die Töne jedes beliebigen Zusammenklanges und
jeder behebigen Aufeinanderfolge, sowie auch auf jeden beliebigen
Ton eines in Gedanken vorausgesetzten Tonsystems übertragen.
Trotzdem dürfte auch diese Ableitung aus einer Erfahrungs-
association unhaltbar sein ; denn beim Singen kleiner Intervalle,
also namentlich bei Ganz- und Halbtonfortschreitungen, sind die
Empfindungsunterschiede noch unmerklich oder kaum merkhch,
jedenfalls so gering, dafs nicht anzunehmen ist, dafs sie zu einer
so festen Association hätten Anlafs geben können, wie sie schon
im Alterthum und in den ersten christhchen Zeiten bestanden
haben müfste, da sich damals der Gesang fast ausschhefshch
stufenweise bewegte und trotzdem, wie wir sahen, die Analogie
zu den Raumempfindungen schon ausgebildet war.
Es wird uns also nichts übrig bleiben als für diese Analogie
einen rein psychologischen Grund zu suchen, d. h. es mufs
zwischen der Empfindung eines tiefen Tones und der räum-
lichen Empfindung der Tiefe und ebenso zwischen der Empfin-
dung eines hohen Tones und der räumhchen Empfindimg der
Höhe eine Aehnlichkeit bestehen. Dafs eine Tonempfindung
und eine Raumempfindimg keine QuaUtät gemein haben, ist
78 Ridiard Hohenemser,
klar. Also kann die Aehnlichkeit nur darin bestehen» dafe uns
beide in gleicher Weise anmuthen, in gleicher Weise auf dM
Seelenganze wirken, und dies kann seine Ursache nur in der
Aehnlichkeit der zu Grunde liegenden unbewuTsten Vorg&nge
haben. ^
Sind wir also gezwungen, AehnUchkeiten anzunehmen,
welche nicht auf der Gemeinsamkeit einer Empfindongs-
qualität, sondern darauf beruhen, dafs den betreffenden un-
bewuTsten Vorgängen etwas Gemeinsames anhaftet, so dürfen
wir solche AehnUchkeiten auch den Tonempfindungen, zu-
schreiben.
Abgesehen davon, dafs Stumpf die allgemeinen Grundlagen
der Theorie bekämpft, führt er auch noch speciellere Gtegen-
gründe an-:
Weder die physikalische noch die physiologische Discon-
tinuität der die Tonempfindung erzeugenden Vorgänge, so meint
Stumpf, sei von vornherein einleuchtend. Nim sind uns in den
tiefsten Tönen zunächst discontinuirliche Empfindungen gegeben ;
demnach wäre es das Natürlichste, wenigstens soweit es diese
Töne betrifft, im physikalischen oder physiologischen Beiz
irgendwo eine Discontinuität anzunehmen. Stumpf aber sieht in
der empfindirngsmäfsigen Discontinuität der tiefsten Töne . nur
eine Begleiterscheinung. Nähere man eine sehr langsam
schwingende Stimmgabel dem Ohre, so habe man intermittirende
Tastempfindungen, und auTserdem entständen intermittirende
Nebengeräusche. Auch könnten die Schwebimgen der Obertöne
zum Eindruck der Discontinuität beitragen. Sobald es aber ge-
linge, die Aufmerksamkeit ausschliefslich auf den Ton selbst zu
concentriren, laufe dieser ebenso glatt und fliefsend ab wie irgend
ein hoher Ton.
* Anders verhält es sich möglicherweise mit der Aehnlichkeit, welche
sich in den Ausdrücken: „hohle" und „scharfe Töne" zu erkennen giebt
Im ersten Fall kann eine Erfahrungsassociation vorliegen, da der durch in
einem Hohlräume schwingende Luft erzeugte Ton eine bestimmte Art der
Klangfarbe hat, an welche uns auch durch frei schwingende Luft erzeugte
Töne erinnern können. Im zweiten Falle handelt es sich vielleicht wirk-
lich um eine gemeinsame Empfindungsqualität; denn es scheint fast, als
habe die Tastempfindung des Scharfen eine gleiche Wirkung auf unsere
Nerven wie ein scharfer Ton oder ein scharfes Gewürz.
" „Consonanz und Dissonanz", S. 23 ff.
Zur TJieorie der Tonbeziehunffen. 79
Näher wurde diese Ansicht von Max Meyer ausgeführt^
Er läfst die intermittirenden Tastempfindungen aufser Acht und
legt auch den Schwebungen keine grofse Bedeutung bei, da nach
seiner Ansicht auch noch solche Töne discontinuirlich sind,
deren Obertöne keine hörbaren Schwebungen mehr ergeben.
Zur Erklärung der Discontinuität als Begleiterscheinung läfst er
zwei Wege offen: Zunächst führt er aus, bei sehr langsamen
Schwingungen einer Stimmgabel höre man nur ein intermittiren-
des Geräusch, das demjenigen ähnUch sei, welches entsteht,
wenn man mit einem Stocke rasch durch die Luft fährt Bei
schneller werdenden Schwingungen trete der Ton auf, aber
noch fast vöUig von dem Greräusch gedeckt Je schneller die
Schwingungen würden, um so deutlicher werde der Ton und
um so schwächer das Geräusch. Diese Erklärung erscheint mir
unhaltbar; denn ich vermag nicht einzusehen, wie eine be-
stimmte Luftmasse, welche auf bestimmte Organe einwirkt,
gleichzeitig ein Geräusch, das aus unregelmäfsigen Schwingungen
besteht und einen Ton, der aus regelmäfsigen Schwingungen be-
steht, veranlassen soll. Noch dazu soll das Geräusch inter-
mittirend, der Ton continuirlich sein, und die Deutlichkeit des
Greräusches soll in demselben Verhältnifs abnehmen, in welchem
die des Tones zimimmt Dafs für Geräusch und Ton wirklich
die gleiche Luftmasse und die gleichen Organe in Anspruch ge-
nommen werden, beweist der zweite Erklärungsversuch, welcher
sagt, möglicherweise entständen bei sehr langsamen Schwip-
gungen im Ohre irgend welche intermittirende Nebengeräusche.
Gegen diese Erklärung ist bei imserer geringen Kenntnifs
des inneren Ohres an sich nichts einzuwenden, ebenso wenig
gegen die durch Schwebungen der Obertöne, wo solche hörbar
sind. Auch dafs wir Tastempfindungen unter Umständen für
Gehörseindrücke halten, ist wohl nicht unmöglich. Aber es ist
die Frage, ob der tiefe Ton für unsere Empfindung wirklich
glatt abläuft, oder ob er nicht auch bei schärfster Concentration
unserer Aufmerksamkeit discontinuirlich bleibt Die tiefen Töne
sind so schwierig wahrzunehmen *-, dafs sich hierüber auf Grund
einfacher Beobachtungen derselben vielleicht niemals eine Eini-
» Diese Zeitschr. 18, 75 ff.
' Man denke nur an die verschiedenen Bestimmungen der Wahrnehm-
barkeitsgrenze I
80 Richard Hohenemser.
gung erzielen lassen wird. Vorläufig jedenfalls stehen die An-
sichten einander diametral gegenüber. Man wird daher gut
thnn, zu prüfen, ob sich nicht auf Grund theoretischer Er-
w*ägungen die Continuität oder Discontinuität der tiefsten Töne
wahrscheinlich macheu läfst Einen Anhaltspunkt liefern uns
die intermittirenden Geräusche. Dieselben bestehen aus Stöfsen,
welche wir, wenn sie einander langsam genug folgen, deutUch
als einzelne Stöfse wahrnehmen, ohne sie freilich zählen zu
können.^ Wird die Aufeinanderfolge schneller, so verwischt sidi
die Unterscheidung der einzelnen Stöfse immer mehr und schlieüi-
lich empfinden wir das Geräusch nur noch als rauh. Es wäie
sogar denkbar, dafs wir bei sehr schneller Aufeinanderfolge eine
durchaus continuirUche Empfindung hätten. Nun ist anzunehmen,
dafs es sich mit den durch regelmäfsige Schwingungen gegebenen
Anstöfsen ebenso verhält wie mit denjenigen, welche die Ge-
räusche hervorrufen. Daher ist es das Nächstliegende, die bei
den tiefsten Tönen doch unbestreitbar vorhandene Discontinuität,
solange sie nicht durch Beobachtung unzweifelhaft als Begleit-
erscheinung nachgewiesen ist, nicht auf Nebengeräusche zurfick-
zuführen, sondern darauf, dafs die Aufeinanderfolge der Anstölse
noch nicht schnell genug ist, um eine durchaus continuirUche
Empfindung zu erzeugen.
Wenn wir demnach an der Discontinuität der tiefsten Töne
festhalten, so müssen wir auch discontinuirUche Reize an-
nehmen. Lassen sich solche nicht in der Bewegung der
schwingenden Körper nachweisen, weil beispielsweise die
schwingende Saite, wenn sie sich am weitesten aus der Gleich-
gewichtslage entfernt hat, nicht erst einen Moment ruht, bevor
sie den Rückweg antritt, weil also die Bewegung selbst, von der
Richtungsänderung abgesehen, eine continuirliche ist, so müssen
sie auf physiologischem Gebiete gesucht werden. Nun sind wir
über den physiologischen Theil des Hörprocesses durchaus nicht
im Klaren ; denn angenommen selbst, die HELMHOLTz'sche Hypo-
^ Zählen können wir etwa noch acht Stöfse in der Becunde; doch
werden wir eine solche Gruppe noch kaum als intermittirendes Geräusch,
sondern eben als acht einzelne Geräusche bezeichnen. Das intermittirende
€toräusch unterscheidet sich von ihr objectiv nur durch die schnellere Auf-
einanderfolge der einzelnen Glieder und subjectiv, d. h. für unser Empfinden,
dadurch, dals wir diese Aufeinanderfolge schon als Einheit, wenn auch als
eine aus Theilen bestehende Einheit, empfinden.
Zur TheoiHe der Tonhezietiungen, 81
these über die Beschaffenheit und Wirksamkeit des inneren
Ohres sei vollkommen richtig, was heute yielfaw^h angezweifelt
wird ^, so wissen wir doch nichts über die Vorgänge im Hör-
nerven und im Centralorgan. Soviel aber läfst sich, wie mir
scheint, aus der Beschaffenheit der physikalischen Anstöfse und
des äuTseren Ohres schliefsen, dafs eine physiologische Discon-
tinuität des Reizes sehr wohl mögUch, ja sogar für alle Ton-
empfindungen in hohem Grade wahrscheinlich ist. Denn beim
Schwingen verdichtet und verdünnt sich die Luft in regel-
mäfsigem Wechsel; jede Verdichtung drückt das Trommelfell
etwas nach innen, worauf es bei der Verdünnung in seine ur-
sprüngHche Lage zurückkehrt. Warum sollte sich nun dieses
Hinundher nicht in irgend einer Weise bis in den Hörnerven
und ins Centralorgan fortsetzen? Die Fortsetzung braucht nicht
nothwendig* in Bewegungen zu bestehen. Aber auch dies wäre
denkbar; denn bei der Bewegung im Organismus kommt es
nicht mehr auf ihre mathematische Continuität an, sondern
darauf, ob sie eine continuirliche oder eine discontinuirUche
Wirkung ausübt. Nun ist bei einer bewufst wahrgenommenen
Bewegung im Organismus mit jeder Richtungsänderung auch
eine Empfindungsänderung, also offenbar eine Aenderung der
Wirkung auf den Organismus, verbunden. Daher müssen wir
annehmen, dafs auch eine nicht wahrgenommene Bewegung mit
der Richtung auch die Wirkung ändert und daher eine Discon-
tinuität der Empfindung zur Folge haben kann. Uebrigens be-
tont Lipps ausdrückUch -, dafs es nicht darauf ankomme, ob sich
der Reiz in Form von rhythmischen Schlägen, also etwa als
regelmäfsige Bewegung fortpflanze, sondern nur darauf, dafs in
ihm nach Maafsgabe der Schwingungszahl in irgend welcher
Weise ein regelmäfsiger Wechsel vorhanden sei.
Wie sich die Annahme discontinuirlicher Reize für alle Ton-
empfindungen mit der Thatsache vereinigen läfst, dafs wir doch
die weitaus meisten Töne als continuirlich empfinden, ergiebt
sich aus dem, was oben über die interraittirenden Geräusche und
die tiefsten Töne gesagt wurde. Auch findet der Satz, dafs eine
* Vergl. z. B. Max Meyer, Zur Theorie der Differenztöne etc.
in ^Beiträge z%ir Akustik und Mimkictssenschaft*^^ hrsg. von C. Stumpf, Heft II,
S. 25 ff.
* Vergl. z. B. Philosophische Monatshefte 28, 579 ff.
Zweitschrift für Psychologie 2C. ß
82 Richard Hohetieniser,
Reihe gleicher Empfindungen, welcher also eine Reihe discoa-
tinuirlicher Reize zu Grunde liegt, zu einer continuirlichen Ein-
heit verschmelzen könne, auf anderen Sinnesgebieten eine Be-
stätigimg. Hält man z. B. den Finger an eine Fläche, die sich
mit gröfster Geschwindigkeit bewegt, so glaubt man, fortwährend
nur einen Punkt zu berühren, d. h. die discontinuirUchen Tast-
reize sind zu einer einheitlichen Empfindung verschmolzen.
Ferner meint Stumpf, auch die Voraussetzung, dafs der uns
unbewufste Rhythmus angenehm wirke, weil es der bewulst
wahrgenommene thue, habe nichts Ueberzeugendes. Wer den
oben angedeuteten Standpunkt einnimmt, dafs alles BewuTstsein
imbewufste Vorgänge zur unerläfslichen Grundlage hat, daDs
jedes bewufste Erlebnifs nur einen Theil eines unbewufsten Vor-
ganges oder, wie es meist der Fall sein wird, einer Combination
unbewufster Vorgänge, gleichsam nur die oberste Spitze des
psychischen Geschehens darstellt, der wird anderer Ansicht sein.
Er wird sich sagen, dafs wenn das Bewufstwerden und das Im-
Bewufstsein-Beharren eines Inhaltes mit unbewufsten Vorgängen
eine untrennbare Einheit bildet, ein bewufster Vorgang und ein
ihm gleicher unbewufster im Wesentlichen auch eine gleiche
Wirkung ausüben werden. Es giebt eben keinen Wesensunter-
schied zwischen bewufsten und unbewufsten Vorgängen, sondern
psychische Vorgänge unterscheiden sich ihrem Wesen nach nur
durch ihre qualitative Beschaffenheit. Ohne die Annahme, dals
es unbewufste Vorgänge giebt, welche bewufeten Vorgängen
gleich sind und daher ebenso wie diese wirken, wäre z. B. die
ganze Associationspsychologie unmöglich; jal wir würden uns
von der einheitlichen Bethätigung der Seele überhaupt keine
Vorstellung machen können ; denn mit den bewufsten Erlebnissen
wären uns nur Bruchstücke gegeben, deren Zusammenhang
uns unerklärlich bliebe. Aber wir haben es nicht etwa mit einer
willkürlichen Annahme zu thun, welche nur gemacht wurde, tun
psychologische Theorien aufstellen zu können, sondern die That-
sachen drängen zu ihr hin : Man denke z. B. nur an die durch
Uebung herbeigeführten sogenannten secundären Reflexbe-
wegungen und an andere gewohnheitsmäfsig gewordene Thätig-
keiten, die man häufig, ohne etwas davon zu wissen, genau so
ausführt, als geschähe es mit bewufstem Willen. Hier wirken
also die unbewufsten Vorgänge so, als wären sie bewufst. Es ist
also kein Grimd vorhanden, weshalb unbewufste Rhythmen,
Zur Thearie der Tmibeziehungen. 83
wenn es solche überhaupt giebt, nicht ebenso wh-ken sollten wie
bewufste.
Freilich möchte Stumpf, wenn er überhaupt einen Schlufs
auf unbewufste Rhythmen für zulässig hielte, aus dem Um-
stände, dafs ein bewufst wahrgenommener Rhythmus, welcher
sich aber aus irgend einem Gnmde der Unwahrnehmbarkeit
nähere, nicht mehr angenehm wirke, die Folgerung ziehen, dafs
auch der unbewufste Rhythmus nicht angenehm wirken könne.
Wir dürfen nicht bei dem „aus irgend einem Grunde" stehen
bleiben, sondern müssen die Gründe, aus welchen sich ein
Rhythmus der Unwahmehmbarkeit nähern kann, genauer ins
Auge fassen:
Ein rhythmisches Grebilde, wozu auch das gleichzeitige Auf-
treten zweier oder mehrerer Rhythmen zu rechnen ist, kann so
complicirt sein, dafs wir es nur mit Mühe zu verstehen vermögen.
Hier kann die unangenehme Wirkung, die sich jedenfalls ein-
stellen wird, entweder eine Folge der grofsen Anstrengung sein,
die wir aufwenden müssen; oder sehr comphcirte Rhythmen
sind der Natur der Seele überhaupt nicht angemessen. Doch ist
selbstverständlich dieser ganze Fall auszuscheiden, da es ja auch
im Unbewufsten einerseits einfachere und angenehm wirkende,
andererseits compHcirtere und an sich unangenehm wirkende
Rhythmen geben soll.
Femer kann sich ein Rhythmus der Grenze der Wahrnehm-
barkeit nähern, wenn die Intensität der ihn markirenden Schläge
zu grofs oder zu gering ist Nehmen wir in beiden Fällen die
äufsersten Extreme an, so werden uns im ersten Sie einzelnen
Schläge so einnehmen, so betäuben, dafs wir sie kaum noch von
einander unterscheiden und daher ihre rhythmische Anordnung
kaum noch erkennen werden. Im zweiten Falle müssen wir mit
gespanntester Aufmerksamkeit hinhorchen, um die einzelnen
Schläge noch wahrzunehmen; und selbst wenn uns dieses ge-
lingt, wird es, eben weil die Aufmerksamkeit von den einzelnen
Schlägen so sehr absorbirt wird, schwierig sem, den Rhythmus
zu verfolgen. Dafs in beiden Fällen die Wirkung eine unange-
nehme sein wird, ist nicht zu bestreiten. Aber dies hat seinen
Grund darin, dafs die Seele, wenn auch jedes Mal in anderer
Weise, durch die Schläge selbst bis an die Grenze ihrer Leistungs-
fähigkeit in Anspruch genommen wird. Dazu kommt vielleicht
noch die Unbefriedigung, welche entsteht, wenn wir etwas er-
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Zur Theorie der Tonbezielinvgeti. 85
nicht angenehmer klingen als Dissonanzen, leicht beantworten.
Berücksichtigt man femer, dafs die Anstöfse (gemeint sind selbst-
verständlich unbewufste psychische Vorgänge als Correlate der
physikalischen Schwingungen und der physiologischen Reize)
nur Theilvorgänge der gesammten Tonempfindung sind unti
daher, sowohl was das Bedürfnifs der Seele, bei der einmal be-
gonnenen Thätigkeit zu beharren, als auch was die Hemmungen
betrifft, von geringerer Wirkung sein müssen als die Tonempfin-
düngen selbst, so versteht man, dafs beispielsweise die kleine
Terz, mit dem Schwingungsverhältnifs 5 : 6, noch entschieden
consonirend, wohlklingend wirkt, während zwei bewufst wahrge-
nommene, gleichzeitig ablaufende Reihen von dem gleichen Ver^
hältnifs wohl nicht mehr in ihrer rhythmischen Anordnung er-
fafst werden könnten und zweifellos eine unangehme Wirkung
ausüben würden. In dieser Verschiedenheit hat Stumpf einen
Widerspruch gegen die Theorie zu finden geglaubt.
Auf Stumpf's letzten Einwand hat Lipps mit Hülfe der
„mikropsychischen Betrachtungsweise", wenigstens zum Theil,
widerlegt Stumpf meint, die Thatsache, dafs wir geringe Ver-
stimmungen eines Intervalles nicht bemerken, sei mit einer
Theorie, welche die Consonanz- und Dissonanzgrade von den
Verhältnissen der Schwingungsrhjlihmen abhängig macht, nicht
vereinbar. Dem gegenüber stellt Lipps fest, dafs z. B. bei dem
Schwingungsverhältnifs 100 : 201 zwar nicht , wie bei dem Ver-
hältnifs 100 : 200 jeder 3. Anstofs der einen Reihe mit jedem
2. der anderen* zusammentrifft, dafs aber dies jedes Mal an-
nähernd der Fall ist und dafs sich auch die übrigen Anstöfse
annähernd so verhalten wie beim Zusammenklang der reinen
Octave. Da nun auf allen Gebieten des Seelenlebens bis zu einer
gewissen Grenze annähernde Gleichheit wie völlige Gleichheit
wirkt, so ist in der von Stumpf angeführten Thatsache kein
Widerspruch gegen die Theorie zu erblicken. Aber er geht noch
weiter, indem er meint, auch die bei reinen Intervallen möglichen
Phasenunterschiede müfsten gemäfs der Schwingungsrhythmen-
theorie in irgend welcher Weise von uns wahrgenommen werden,
während sie bekanntlich für unsere Tonempfindung nicht vor-
handen sind. Zwei gleichzeitige rhythmische Reihen stehen bei-
setzung, dafs die Reize discontinuirlich seien, kann also in diesem Zu-
sammenhange übergangen werden.
36 BicJiard HoJienemaer.
spielsweise im Verhältnisse von 2 : 4, wenn auf je 1 Schlag der
einen Reihe 2 Schläge der anderen fallen ; das VerhältnÜB bleibt
aber das gleiche, wenn der 1. Schlag der 2. Reihe erst eintritt,
nachdem ^/^ der Zeit, die zwischen dem 1. und 2. Schlag der
1. Reihe hegt, verflossen ist. Dann geschieht nicht mehr, wie
vorher, der 1. und 3. Schlag der 2. Reihe gleichzeitig mit dem
1. und 2. Schlag der 1. Reihe, sondern um V4 des bezeichneten
Zeitabstandes später; die 2. Reihe besteht dann, nach musik-
technischer Termmologie gesprochen, aus SjTikopen. Führte nun
Lipps, wie Stumpf glaubt, die Uebereinstimmung der beina Zu-
sammenklange entstehenden unbewuTsten rhythmischen Reihen
auf eine in regelmäfsigen Zeitabständen erfolgende Colincidenz
der Schwingungsmaxima zurück, so müfste allerdmgs, sobald ein
Phasenunterschied (dessen Natur wir uns soeben an bewuTst
wahrgenommenen Rhythmen klar gemacht haben) eintritt, die
Wirkung eine andere und zwar eine complicirtere werden. Aber
soviel ich sehe, braucht weder die Theorie auf die Coincidenz
der Schwingimgsmaxima Werth zu legen, noch thut es Lipps.
Zwar spricht er davon, dafs es leichter sei, zu einem %-Tact der
Musik 2 Tanzschritte auszuführen als zu einem -/4-Tact 3, und
dabei ist als selbstverständlich vorausgesetzt, dafs jedes Mal
der Anfang eines neuen Tactes mit dem Anfang einer neuen
Schrittgruppe zusammenfällt. Aber auf dieses Zusammenfallen,
das der Coincidenz der Schwingungsmaxima entsprechen würde,
kommt es hier durchaus nicht an, sondern das Ganze soll nur
als Beispiel dafür dienen, dafs uns Rhythmen wie 2 : 3 auch im
Bewufstsein gegeben sein können und dafs die Zweitheilung der
Seele naturgemäfser ist als die Dreitheilung.^ Wenn also für
das Zustandekommen beispielsweise der Empfindung der Octave
nur erforderlich ist, dafs gleichzeitig in der einen Reihe ein An-
stofs erfolgt und in der anderen zwei Anstöfse stattfinden (und
zwar sowohl auf physikalischem als auch auf physiologischem
Gebiet), so ist es kein Widerspruch, dafs sich die Phasenunter-
schiede unserer Tonwahrnehmung nicht zu erkennen geben.
* Die Beantwortung der von Stumpf aufgeworfenen Frage, ob der Tanz
auch dann noch möglich sei, wenn die Anfänge der Schrittgruppen und
der Tacte nicht zusammentreffen, hat also, wie sie auch ausfallen mag, für
uns keine Bedeutung, einmal weil es nicht auf die Phasenunterschiede
ankommt, sodann weil es sich auf dem Gebiete des unbewuß3ten Bhythmua
anders verhalten könnte als auf dem des bewufsten.
Zwr Thtorit der Tanbeziehungen, 87
Warum sie es nicht thiin, ist damit freilich nicht erklärt; aber
es kam uns hier nicht auf eine Erklärung an, die vorläufig wohl
überhaupt unmögUch ist, sondern nur darauf, zu zeigen, dafs
die Thatsache unserer Theorie nicht widerspricht.
Wir haben im Vorstehenden zu zeigen versucht, weshalb
die Schwingungsrhythmentheorie vor der Verschmelzungstheorie
den Vorzug verdient, imd Tvde sie allen gegen sie erhobenen An-
griffen standgehalten hat. Nunmehr können wir dazu übergehen,
auf der durch sie gewonnenen Grundlage die Erklärung zweier
speciellerer, mit einander eng zusammenhängender Thatsachen
anzustreben.
Ueberall da, wo man die Consonanz- und Dissonanzgrade
zu den Verhältnissen der Schwingungszahlen in Parallele setzt,
nimmt man als selbstverständlich an, dafs die Reihe dieser Ver-
hältnisse vom Einfachsten schrittweise, d. h. ohne die MögHch-
keit weiterer Zwischenglieder, zu immer Complicirterem aufsteige.
Nun ist allerdings das denkbar einfachste Zahlenverhältnifs, ab-
gesehen von 1:1, das naturgemäfs kein Intervall ergiebt, das Ver-
hältnifs von l : 2, welches der Octave, dem einheitlichsten Inter-
vall, zu Grunde liegt. Es fragt sich aber, ob die allgemein an-
genommene Reihe : 1 : 2, 2 : 3, 3 : 4, 4 : 5, 5 : 6, der die Octave,
Quinte, Quarte, grofse und kleine Terz, also eine nach dem Con-
sonanzgrade abnehmende Reihe von Intervallen entspricht, wirk-
lich stufenweise fortschreitet. Setzen wir die Reihe der Zahlen-
verhältnisse in derselben Weise fort, so tritt gleich nach 5 : 6
eine Unterbrechung ein ; denn 6 : 7 und 7 : 8 ergeben keine in
der Musik vorkommenden Intervalle. Ein solches ist erst wieder
8:9, nun eine ausgesprochene Dissonanz , nämlich die grofse
Secunde ; dann folgt 9 : 10 , der kleine Ganzton, der in dem so-
genannten natürlichen Tonartsystem seine Stelle hat; hierauf
treffen wir erst wieder bei 15 : 16 auf ein gebräuchliches Inter-
vall, auf die kleine Secunde. Wenn es richtig ist, dafs das Halb-
tonintervall schärfer dissonirt als das des kleinen Ganztones, und
dieses schärfer als das des grofsen Ganztones, wie schon Haupt-
mann glaubt S so nimmt allerdings in der ganzen Reihe der
Dissonanzgrad zu oder, was dasselbe ist, der Consonanzgrad
* Natur der Harmonik und Metrik, 1853, S. 137.
88 Bichard Hohenemser,
nimmt ab. Aber es finden sich auch Glieder, welchen kein
Intervall entspricht Auf den Grund hierfür sowohl in Bezog
auf die soeben angeführten als auch auf andere Zahlenverh<»
nisse werden wir später zurückkommen; jetzt wollen wir uns
nochmals dem Anfang der Reihe zuwenden.
In diesem ist zwar äuTserlich keine Lücke zu entdecken«
Aber mufs auf 1 : 2 wirklich 2 : 3 folgen ? Könnte nicht auch
1 : 3, 1 : 4, 1:5 etc. folgen , und sind diese Verhältnisse nicht
vielleicht einfacher als die anderen ? Diese Fragen wären nicht
von so grofser Bedeutung, wenn den genannten Verhältnissen
nicht thatsächlich Intervalle entsprächen. 1 : 3 liegt der Duo-
decime, 1 : 4 der Doppeloctave, 1 : 5 einer grofsen Terz zu Grunde,
deren einer Ton um zwei Octaven versetzt ist, etc. Wie lassen
sich diese Intervalle mit der allgemein angenommenen Verhält-
nifsreihe in Verbindung bringen? Hierauf mufs jede Theorie
der harmonischen Tonbeziehungen, die erschöpfend sein will,
eine Antwort finden ; und, wie mir scheint, wird dies der Theorie
der Schwingimgsrhythmen nicht schwer.
Jedes der in Rede stehenden Intervalle kann man sich als
Erweiterung eines Intervalles der gewöhnlichen Verhältnifsreihe
denken, indem der tiefere Ton um eine oder mehrere Octaven
abwärts oder der höhere um ebenso viel aufwärts versetzt wird.
So entsteht aus der Octave die Doppeloctave, aus der Quinte die
Duodecime, aus der grofsen Terz die um 2 Octaven erweiterte
grofse Terz. Ueberall liegt der Unterschied, den wir zwischen
dem ursprünglichen und dem erweiterten Intervall empfinden,
nur in der verschiedenen Distanz der beiden Bestandtheile des
Intervalles; sein Charakter aber, seine specifische Eigenart, wird
sowohl in der Gleichzeitigkeit als auch in der Succession durch
die Erweiterung nicht verändert. 1 : 4 hat so gut Octavcharakter
wie 1 : 2 ; 1 : 3 so gut Quintcharakter wie 4 : 5. Auch bei fort-
gesetzter Erweiterung tritt keine Aenderung des Intervall-
charakters ein, so dafs 1:8, 1 : 16 etc. gleichfalls Octavcharakter,
1 : 6, 1 : 12 etc. Quintcharakter, 1 : 10, 1 : 20 etc. Terzcharakter
besitzen. Hinsichtlich des Terzintervalles ist noch zu bemerken,
dafs auch 2 : 5 als Erweiterung von 4 : 5 betrachtet werden kann
und seinem Charakter nach gleichfalls mit diesem übereinstimmt
Für die Charaktergleichheit der ursprünglichen und der er-
weiterten Intervalle, die jedem Musiker als selbstverständlich
erscheint und mit welcher der Componist mehrstimmiger Musik
Zur Theorie der Tonbeziehungen. gg
fortwährend rechnet, fehlt es der Verschmelzungstheorie, welche
die Aehnlichkeit der die Octave bildenden Töne leugnet, an jeder
Erklärung. Vielleicht ist man versucht zu sagen, der Zusammen-
klang C — c stehe auf derselben Verschmelzungsstufe wie c — c^;
daher nehme auch C — c^ diese Stufe ein. Von der Falschheit
dieses Schlusses kann man sich leicht überzeugen, indem man
die Anwendung auf die Quinte macht: C — G und G — d bilden
Quinten, stehen also auf gleicher und zwar auf der zweiten Ver-
schmelzungsstufe; und doch ist C — d nicht gleichfalls eine Quinte
sondern eine None, also eine scharfe Dissonanz, die in die unterste
Verschmelzungsstufe gehört. Aber auch wenn der Schlufs theo-
retisch richtig wäre, hätte man doch nur die Charaktergleichheit
der Octave und ihrer Erweiterungen erklärt ; denn es wäre nicht
einzusehen, warum C — G und C — g der gleichen Verschmelzungs-
5tufe angehören, da doch C — G und G — g auf verschiedenen
Verschmelzungsstufen stehen. Uebrigens hat Stumpf keine eigent-
bche Erklärung versucht, sondern nur ein Gesetz der Erweite-
rung formulirt.^ Aber auch wenn man den Tönen des Octaven-
intervalles die gröfste Aehnlichkeit zuschreibt, genügt es nicht,
zu sagen, in Folge dieser Aehnlichkeit, die ja auch in der Gleich-
heit der Benennung ihren Ausdruck finde, sei es nur natürhch,
dafs der Charakter eines Intervalles durch die Versetzung eines
seiner Töne in eine andere Octave nicht alterirt werde. Für
das musikahsche Gefühl ist dies allerdings natürlich; aber theo-
retisch folgt auch hier daraus, dafs C und c einander ebenso
ähnlich sind wie c und c\ nicht die gleiche Aehnlichkeit von
C und r* , und ebenso wenig folgt aus der grofsen Aehnlichkeit
von G und g, dafs C und G einander ebenso ähnlich sind wie
C und g. Vielmehr mufs, wenn die Verhältnisse der Schwingungs-
rhvthmen den Charakter der Intervalle bedingen sollen, auch
die Charaktergleichheit der ursprünglichen und der erweiterten
Intervalle in diesen Verhältnissen begründet sein.
Unter denjenigen Verhältnissen, welche den Intervallen mit
Octavcharakter zu Grunde liegen, ist offenbar das einfachste das
von 1:2. Es ist also anzunehmen , dafs sich dieses in allen
Octavintervallen in irgend welcher Weise geltend machen und
dadurch ihren gemeinsamen Charakter bestimmen wird. Das
Wesentliche des Verhältnisses 1 : 2 ist offenbar das , dafs zwei
^ Vergl. : Consonanz und Dissonanz, S. 78.
90 Richard Hohenemser,
Einheiten der einen Reihe unter einer Einheit der anderen zu-
saramengefafst werden. Nun ergiebt die erste Erweiterung aller-
dings das Schwingungsverhältnifs 1:4, d. h. auf 1 Schwingung
des tieferen fallen 4 Schwingungen des höheren Tones. Abw
es ist bekannt, dafs wir, wenn wir eine Reihe gleich starker,
einander in gleichen Zeitabständen folgender Schläge hören, die^
selben in der Regel zu Gruppen von zwei zusammenfassen, in-
dem wir jedes Mal dem dritten Schlage in Gedanken eine
stärkere Betonung zukommen lassen, obgleich ihm objectiv eine
solche fehlt Eine Gnippirung zu je 3 oder 5 Schlägen wird
nur dann eintreten, wenn man die bestimmte Absicht hat, nur
so und nicht anders zu gruppiren, und dabei wird man ein deut
liches Gefühl der Anstrengung haben. Ergiebt sie sich aber
einmal von selbst, so werden besondere, die augenblickliche Dis-
position der Versuchsperson bedingende Umstände mitwirken.
Die Gruppirung zu je 2 Schlägen dagegen vollziehen wir mit dem
Gefühl der Leichtigkeit, der Selbstverständlichkeit. Sie wird
stets eintreten, wenn ihr nichts hindernd im Wege steht. Viel-
leicht glaubt man zuweilen, eine Gruppirung zu je 4 Schlägen
vorzunehmen, aber bei genauerer Beobachtmig wird man stets
finden, dafs man auch auf den 3. Schlag eine Betonung, wenn
auch nur eine schwächere, legt und somit 2 Gruppen von je
2 Schlägen zu einer neuen Gruppe zusammenfafst. Nach alle-
dem ist die Annahme nicht zu umgehen, dafs auch auf dem
Gebiete des unbewufsten Rhythmus die Seele, wo es immer
möglich ist, Gruppen von je 2 Schlägen bildet, dafs sie also in
unserem Falle die 4 Schläge des höheren Tones in 2 X 2 und
bei fortgesetzter Erweiterung des Octavintervalles 8 Schläge in
4x2, 16 in 8x2 zerlegt etc. Wie uns nun ein in gleich-
mäfsiger Stärke andauernder Schall, gleichviel ob er Geräusch
oder Ton ist, wenn wir zu gleicher Zeit eine Reihe regelmäfsiger
Schläge vernehmen, aus ebenso vielen Einheiten zu bestehen
scheint, als wir Gruppen von Schlägen bilden, obschon uns die
Continuität des Schalles deutlich bewufst bleibt, so werden
auch beim Zusammenklang eines erweiterten Octavintervalles je
2 Schläge des höheren Tones einen entsprechenden Theil des
tieferen Tones, der, solange er eine Schwingung ausführt, als
gleichmäfsig abfliefsend zu denken ist, als Einheit absondern, so
dafs immer 2 Einheiten des höheren auf 1 Einheit des tieferen
Tones fallen. Es verschlägt nichts, dafs bei dem Schwingungs-
Zur Theorie der Toiibeziüehungen, 91
TOrhältnifs 1 : 4 je 2 Schläge des höheren Tones auf die Hälfte
der Schwingung des tieferen, bei dem Verhältnifs 1 : 8 dagegen
aaf ^4 dieser Schwingung fallen etc., sondern es kommt nur
darauf an, dafs diese Theile als Einheiten markirt werden, und
dies geschieht jedes Mal durch den Beginn einer neuen Gruppe
in den Schlägen des höheren Tones. Das Gemeinsame und
Charakteristische aller Octavintervalle ist also nicht das Schwin-
gungsverhältnifs 1:2, wohl aber das rhythmische Verhältnifs
1:2, d. h. es sind uns, natürlich unbewufst , stets Einheiten in
diesem Verhältnis gegeben, im Zusammenklang gleichzeitig, in
der Aufeinanderfolge successive, aber, wie wir wissen, darum
doch vergleichbar.
Wenden wir uns nun zu den Intervallen mit Quintcharakter,
so begegnen wir den Schwingungsverhältnissen 1:3, 1:6, 1 : 12
etc. und dem Verhältnifs 2 : 3, das der eigentlichen Quinte zu
Grunde liegt Aber offenbar ist nicht dieses, sondern 1 : 3 das
einfachste; auf dessen Wesen, also darauf, dafs je 3 Einheiten
des höheren auf 1 Einheit des tieferen Tones fallen, werden
alle übrigen Verhältnisse zurückgeführt werden müssen und
damit werden wir das gemeinsame Charakteristicum der Quint-
intervalle erhalten. Das Verhältnifs 1 : 3 ist, ebenso wie 1 : 2,
ein Grundverhältnifs, d. h. es kann nicht, wie z. B. 1 : 4, durch
einen psychischen Vorgang auf ein anderes Verhältnifs zurück-
geführt werden ; denn wenn die Seele beispielsweise beim Wahr-
nehmen des Zusammenklanges der Duodecime, in welchem die
Schwingungen beider Töne den zur Wirkung gelangenden Ein-
heiten entsprechen, versuchen sollte, je zwei Schläge des höheren
Tones zu einer Gruppe zusammenzufassen, so müfste sie, sobald
der zweite Schlag des tieferen Tones eintritt und damit un-
zweifelhaft eine neue Gruppe des gesammten rhythmischen Ge-
bildes eröffnet, gewahr werden, dafs ihr dieser Versuch unmög-
lich gelingen kann, dafs sie vielmehr bei der gegebenen Gruppi-
rung, d. h. bei der Zusammenfassung von 3 Einheiten des
höheren unter 1 Einheit des tieferen Tones, stehen bleiben
mufs. Da der Seele, wie wir wissen, solange sie sich selbst
überlassen ist, die Gruppirung zu je 2 Schlägen am nächsten
liegt, so werden wir zu der Annahme gedrängt, dafs der Cha-
rakter der Duodecime erst nach Vollendung des 2. Schlages
des tieferen oder, was dasselbe ist, des 6. Schlages des höheren
Tones erkannt ist. Diese Annahme hat nichts Verwunderliches,
I
1
92 Richard Hohenemser.
i
wenn wir die grofse Geschwindigkeit der Schwingungen in Be- '"^^
tracht ziehen. Machen wir die ganz unwahrscheinliche Voraus-
setzung, dafs schon 2 Töne von 24 und 72 Schwingungen iii.p'
der Secunde im Zusammenklange eine deutlich charakteriBirte
Duodecime ergeben, so haben wir dieselbe bereits nach Vn ^
cunde erkannt. Da uns aber beim Wahrnehmen der IntervaUe [-
Obertöne unterstützen können und da der Intervallcharakter \-
jedenfalls erst in höherer Tonlage, also bei gröfserer Schwingongs- \
gesch windigkeit, deutlich hervortritt, so wird in Wahrheit die 1
Zeit, die wir zum Erkennen der Duodecime brauchen, eine nodi ^
kürzere sein.
In ähnlicher Weise wie bei der Duodecime wird auch bd
ihrer ersten Erweiterung, also bei dem Zusammenklange mit den
Schwingungsverhältnisse 1 : 6, die Seele an der Gruppenbildung
zu je 2 Schlägen gehindert werden; denn jede Gruppe bildet :-
selbstverständlich eine neue Einheit (darin besteht ja gerade das
Wesen der Zusammenfassung einzelner Schläge), und solcher
Einheiten würden 3 auf jeden Schlag des tieferen Tonee
fallen. Da aber die Seele die Zusammenfassung dreier Einheiten
nicht ohne bestimmte Veranlassung vollzieht und eine solche
hier nicht vorliegt, so wird sie zur Zweitheilung übergehen, in-
dem sie die 6 Schläge zu 2 X 3 Schlägen gruppirt und hier-
durch ganz in der Weise, wie wir es z. B. bei dem Schwingungs-
verhältnifs 1 : 4 kennen gelernt haben, ^/a Schlag des tieferen
Tones als Einheit absondert. Nunmehr fallen 3 Einheiten des
höheren auf 1 Einheit des tieferen Tones, und daraus ergiebt
sich der Quintcharakter oder, wie wir vorläufig besser sagen
würden, der Duodecimcharakter des Intervalles. Freilich sind
nun doch 3 Einheiten, nämlich 3 Schläge des höheren Tones,
zu einer Gruppe zusammengefafst. Aber das, was zunächst
theilungsbedürftig war, waren die Haupteinheiten, d. h. die
gröfsten Einheiten des ganzen rhythmischen Gebildes, also die,
welche von je 2 Schlägen des tieferen Tones begrenzt und
aufserdem noch dadurch markirt werden, dafs mit jedem Schlag
des tieferen ein Schlag des höheren Tones zusammentrifft. Sie
waren theilungsbedürftig, weil die Seele eine Aufeinanderfolge
von 6 gleichmäfsigen Schlägen nicht ungruppirt lassen kann,
und weil sich die Gruppirung, d. h. die Bildung von Unter-
einheiten, auch auf den tieferen Ton überträgt. Da kein
Hinderungsgrund vorlag, wurde die Zweitheilung in 2 X 3 Schläge
Zur Tiieorit der Tonbeziehungeti, 93
vollzogen, und damit war für die auf diese Weise entstandeneu
Untereinheiten^ da sich 3 Schläge nicht weiter eintheilen lassen,
die Zusammenfassung von je 3 Schlägen zwingend gegeben.
Wie hier 3 Schläge des höheren auf ^4 Schlag des tieferen
Tones fallen, so fallen sie bei dem Schwingungsverhältnifs 1 : 12
auf V* Schlag etc.; denn die Zweitheilung setzt sich so weit wie
möglich fort, also bei allen Verhältnissen von 1 zu einem Pro-
duct aus 3 und einer Potenz von 2 bis zu dem Punkt, wo 3 Ein-
heiten auf 1 Einheit fallen, ebenso wie bei den Verhältnissen
von 1 zu einem Product aus 2 und einer Potenz von 2 oder,
wie man hier kurz sagen kann, zu einer Potenz von 2 bis zu
dem Punkt, wo 2 Einheiten auf 1 fallen.
Es fragt sich nun, ob und wie wir in der eigentlichen
Quinte, also in dem Schwingungsverhältnisse 2 : 3, das Einheiten-
verhältnifs 1 : 3 aufzufinden vermögen. Wenn auf 2 Schläge
des tieferen Tones 3 des höheren fallen, so fallen auf 1 Schlag
3 halbe. Gelingt es uns zu beweisen, dafs diese 3 halben
Schläge als 3 Einheiten aufgefafst werden, so ist damit das ge-
suchte Verhältnifs aufgezeigt Der 2. Schlag des tieferen Tones
feilt genau in die Mitte des 2. Schlages des höheren Tones,
theilt ihn also in zwei Hälften. Wie bisher, so müssen wir auch
hier annehmen, dafs durch je 2 Schläge des tieferen Tones eine
Einheit abgegrenzt wird, d. h. dafs Alles, was von Schlägen des
höheren Tones auf einen Schlag des tieferen fällt, zu einer
Gruppe zusammengefafst wird; folglich bilden die 3 halben
Schläge, die durch den 1. Schlag des tieferen Tones von dem,
was ihnen folgt, gleichsam abgeschnitten sind, eine Gruppe.
Dieselbe besteht weder aus 2 noch aus 3 Schlägen, wie wir es
bisher gesehen hatten, sondern aus einem und einem halben
Schlag. Sobald der 2. Schlag des tieferen Tones eintritt, wissen
wir, dafs der 2. Schlag des höheren halbirt ist; denn gemäfs der
Thatsache, die man als psychisches Trägheitsgesetz formulirt
hat, erwarteten wir für den 2. Schlag des höheren Tones, da zu
einer anderen Erwartung kein Grund vorlag, genau die Dauer
des 1. Schlages und können daher, wenn er getheilt wird, er-
keiuien, welche Theilung mit ihm vorgenommen wurde. Indem
wir aber wahrnehmen, dafs er halbirt ist, wissen wir zugleich,
dafs der halbe Schlag ein Drittel des ganzen, im höheren Tone
bisher abgelaufenen rhythmischen Gebildes ist, dafs dieses in 3
gleiche Theile von der Dauer eines halben Schlages zerfällt.
94 RicJuird Hohenemser.
Diese zu bilden und als solche zu empfinden, hat uns der
2. Schlag des tieferen Tones veranlafst. Er seinerseits fafst die
2. Hälfte des 2. Schlages und die beiden Hälften des 3. gleich-
falls zu 3 halben zusammen, sodafs auf jeden Schlag des tieferen
Tones 3 Einheiten des höheren fallen. Es bedarf wohl kaum
der Erwähnung, dafs, da sich dies Alles im Unbewufsten voll-
zieht, die Ausdrücke: wissen, erwarten, erkennen, wahrnehmen,
empfinden nicht wörtlich zu nehmen sind, sondern nur dazu
dienen, die Wirkung der unbewufsten Vorgänge auf die Seele
klarzulegen. — Man könnte noch meinen, bei dem Schwingungs-
verhältnifs 2 : 3 werde die Haupteinheit nicht von dem 1. und 2.,
sondern von dem 1. und 3. Schlag des tieferen Tones abgegrenzt,
da ja, wie das Verhältnifs angiebt, nur hier Schläge des tieferen
und des höheren Tones zusammentreffen, und daher müsse diese
Einheit für den Quintcharakter maafsgebend sein. Aber wir
haben gesehen, dafs auch sonst der Quintcharakter (und ebenso
der Octavcharakter) nicht von der jeweiligen gröfsten Einheit
abhängt, sondern stets von dem Umstand, dafs 3 Einheiten des
höheren Tones unter einer Einheit des tieferen zusammengefaßt
werden, dafs es also z. B. bei dem Schwingungsverhältnifs 1 : 6
nicht darauf ankommt, dafs jedes Mal der 7. Schlag des höheren
mit dem 2. des tieferen Tones zusammentrifft, sondern darauf,
dafs 3 Schläge des höheren Tones auf einen halben des tieferen
fallen. Wie also die für den Quintcharakter maafsgebende Ein-
heit aus ^/n, V41 ^/s ®tc. Schlage bestehen kann, wenn nur auf
diesen Theil 3 Schläge des höheren Tones fallen, so yrird sie
auch im eigenthchen Quintintervall trotz des Schwingungsver-
hältnisses 2 : 3 aus einem Schlag des tieferen Tones, auf welchen
% Schläge des höheren fallen, bestehen können und müssen.
Dadurch, dafs ^'^ Schläge des höheren auf 1 Schlag des tieferen
Tones oder dafs 3 Schläge auf 1, V2» V* ^^^' Schlag fallen, be-
stimmt sich nur der Erweiterungsgrad des Quintintervalles,
d. h. ob seine beiden Bestandtheile innerhalb der gleichen Octave
liegen, oder um wieviele Octaven einer derselben versetzt ist
Wie unter den Verhältnissen der Quintintervalle nicht das
von 2 : 3, sondern das von 1 : 3 das einfachste und daher das
charakterisirende war, auf das sich alle anderen zurückführen
liefsen, so ist unter den Verhältnissen der Terzintervalle nicht
das von 4 : 5, sondern das von 1 : 5 das einfachste. Auch dieses
ist ein Grundverhältnifs ; denn sowohl der Gruppirung zu je 2,
Zur Theorie der Tonbeziehungen. 95
als auch derjenigen zu je 3 Schlägen des höheren Tones würde
der 2. Schlag des tieferen ein Ende setzen. Die Seele muTs also
dabei stehen bleiben, 5 Einheiten des höheren unter einer Ein-
heit des tieferen Tones zusammenzufassen. Die Erweiterungen
erfolgen genau so wie diejenigen der Octave und Duodecime,
sodafs also bei dem Schwingungsverhältnifs 1 : 10 5 Schläge des
höheren Tones auf Vi> l>©i d^i^ Verhältnifs 1 : 20 auf V4 Schlag
des tieferen Tones fallen etc. Analog der eigentlichen Quinte
fallen in dem Verhältnifs 2 : 5 %, in dem Verhältnifs 4:5 ^4
Schläge des höheren auf 1 Schlag des tieferen Tones. Die halben
und Viertelschläge werden ganz in derselben Weise wie bei der
Quinte als Einheiten kenntlich gemacht.
Suchen wir in der begonnenen Reihe weitere Grundverhält-
nisse auf, so stofsen wir zunächst auf 1 : 7. Dieses Verhältnifs,
als Einheitenverhältnifs gefafst, hegt naturgemäfs sowohl den
Intervallen mit den Schwingungsverhältnissen 1:7, 1 : 14 etc.
als auch denjenigen mit den Verhältnissen 2 : 7 und 4:7 zu
Grunde. Letzteres Intervall ist unter dem Namen der natür-
lichen Septime bekannt, aber ebenso w^enig wie seine Er-
weiterungen in das Intervallsystem der Musik aufgenommen,
obgleich es vielleicht doch in gewissen Fällen zur Verwendung
kommt ^ Dagegen treffen wir in dem nächstfolgenden Grund-
verhältuifs, 1 : 9, wie der ein solches an, das für eine in der
Musik gebräuchliche Intervallgruppe charakteristisch ist, nämlich
für die grofse Secunde mit dem Schwingungsverhältnifs 8 : 9
und für ihre Erweiterungen. Rein mathematisch betrachtet^
liefsen sich in dem Verhältnifs 1 : 9 die Schläge des höheren
Tones zu je 3 gruppiren; aber hierzu wäre eine Dreitheilung
erforderhch, und eine solche vollzieht die Seele nur, wenn sie
dazu gezwungen wird. Hier bleibt ihr jedoch der Ausw^eg, die
9 Schläge überhaupt nicht in Gruppen zu theilen, sondern sie
nur unter jedem Schlag des tieferen Tones zu einer Gruppe
zusammenzufassen.
Die Grundverhältnisse 1 : 11 und 1 : 13 entsprechen keinen
in der Musik vorkommenden Intervallen. Dagegen liegt das
* „^^atOriiche Septime" heifßt das Intervall, weil sein Grundintervall^
mit dem Schwingangsverhältnifs 1:7, in der harmonischen Obertonreihe,
nämlich als Verhältnifs des Grundtons zu dem 7. Theilton vorkommt. Es
wird durch diese Bezeichnung von der kleinen Septime unterschieden, die
in das Intervallsystem der Musik aufgenommen, aber in der harmonischen
Obertonreihe nicht unmittelbar gegeben ist.
i.
96 Richard Hohenemser. '
I
Verhältnifs 1 : 15 der grofsen Septime zu Grunde, da dieselbe ]
das Schwingungsverhältnifs 8 : 15 aufweist Ebenso wenig wie i
vorher die 9 Schläge werden hier die 15 Schläge des höheren 1
Tones zu je 3 gruppirt, da die Fünftheilung ebenso wenig ohne }
Zwang vollzogen wird wie die Dreitheilung.
Hier wollen wir die Reihe abbrechen, da die bisher ge-
fundenen Etnheitenverhältnisse auch noch anderen Intervallen
zu Grunde liegen. Ein der Erweiterung ähnUches Verfahren
ist nämlich das der Umkehrung des Intervalles, welches darin
besteht, den tieferen Ton eines ursprünglichen Intervalles um
eine Octave aufwärts oder den höheren um eine Octave abwärts
zu versetzen. Das Intervall der Octave läfst sich naturgemäß
nicht umkehren, da der Versuch, es zu thun, zum Einklang
führen würde. Aus der Quinte wird durch Umkehrung bekannt-
lich die Quarte, aus der grofsen Terz die kleine Sexte, aus der
grofsen Secunde die kleine Septime, aus der grofsen Septime die
kleine Secunde. Lassen wir gleichzeitig zwei Töne, die eines
der genannten ursprünglichen Intervalle bilden, z.B. C — (?, und
die Octave des Grundtones: c erklingen, so ist naturgemäfs in
dem Zusammenklang auch die Umkehrung G — c gegeben. Doch
wird uns das A^erhältnifs klarer, wenn wir die Zusammenklänge
C — G und G — c einander folgen lassen. Noch deutlicher können
wir es uns machen, wenn wir auch diese Zusammenklänge in
Succession auflösen, also nach einander die Töne CGGc an-
geben; dann haben wir das deutliche Gefühl, dafs die Tonfolge
von G aus in gewisser Weise in ihren Ausgangspunkt zurück-
gekehrt ist, aber doch nicht in den ursprünglichen (wir werden
sie niemals mit der Folge C 6? (?C verwechseln), sondern in einen,
wie jeder Unbefangene zugeben wird, ihm ähnlichen.
Es ist klar, dafs auch hier die Verschmelzungstheorie völlig
versagt, und Stuäipf hat sich auch hier mit der Formulirung
eines Gesetzes begnügt.^ Aber auch der Hinweis auf die Aehn-
lichkeit der Octavtöne genügt nicht; dem Tone C sind auch
andere Töne ähnUch, z. B. e, und doch empfinden wir die Folge
CGGe durchaus nicht als Umkehrung der Quinte CG. Freilich
könnte man sagen, die Aehnlichkeit der Octavtöne sei so be-
schaffen, dafs uns dieselben bis zu einem gewissen Grade als
identisch erschienen, und soweit dies der Fall sei, empfänden
wir die Umkehrung eines Intervalles als Rückkehr in den Aus-
* Vergl. : Consonauz und DisBouauz S. 81.
Z%ir Theorie der Tonheziehunge^i. 97
gangspunkt. Aber damit wäre wenig gesagt, und der specifische
Unterschied zwischen einem Intervall und seiner Umkehrung,
der zwischen Intervallen, welche nicht in diesem Verhältnifs zu
einander stehen, niemals auftritt, wäre nicht erklärt. Auch hier wird
eine Elrklärung nur in den rhythmischen Verhältnissen zu finden sein.
In den Schwingungsverhältnissen der Quinte und Quarte,
2 : 3 und 3 : 4, ist zunächst nichts von Umkehrung zu bemerken.
Aber wir wissen bereits, dafs der Charakter und somit auch der
Oharakterunterschied der Intervalle nicht unmittelbar durch die
Verhältnisse der Schwingungszahlen, sondern durch die Verhält-
nisse der zur Wirkung gelangenden Einheiten bestimmt wird.
Bei dem Schwingungsverhältnifs 3 : 4 fallen auf 1 Schlag des
tieferen % Schläge des höheren Tones. Würden diese ^/g als
Einheiten gefafst imd käme diese ganze Theilung zur Wirkung,
so hätten wir das Einheitenverhältnifs 1 : 4. Damit wäre unsere
ganze Theorie von den in Einheitenverhältnissen bestimmbaren
charakteristischen Merkmalen der Intervalle hinfällig; denn da
hier noch eine Zweitheilung möglich ist, müfste die Zusammen-
fassung von 2 Schlägen des höheren Tones unter '/.> Schlag des
tieferen das charakterisirende Merkmal bilden. Aber das Ver-
hältnifs 1 : 2 sollte ja der Octave zu Grunde liegen und aufser-
dem ist nicht einzusehen, wie es dem Verhältnifs 1 : 3 gegenüber
eine Umkehrung bewirken sollte. Nun nahmen wir aber bisher,
weim wir Einheitenverhältnisse aufsuchten, als den bestimmenden
Theil des Verhältnisses, d. h. als den, unter welchem so viele
Schläge, wie die andere Verhältnifszahl angiebt, zusammengefafst
werden, stets denjenigen an, welcher sich aus Zweitheilung ergab.
Wir sagten nicht : bei der Quinte, 2 : 3, fallen auf 1 Schlag des
höheren % Schläge des tieferen Tones, sondern auf 1 Schlag
des tieferen fallen \ Schläge des höheren Tones. Wir setzten
also stillschweigend voraus, dafs die erstgenannte Theilung, die
mathematisch allerdings möglich ist, thatsächlich nicht vollzogen
wird. Die Berechtigung zu dieser Voraussetzung lag darin, dafs
die Seele, wenn sie nicht unter Zwang steht, wohl die Zwei-
theilung, niemals aber die Drei- oder Fünftheilung vornimmt.
Man könnte meinen, die Zweitheilung erreiche mit der Gruppirung
zu je 2 Schlägen ihr Ende ; eine Gruppe von 2 Schlägen zerfalle
ebenso nur noch in einzelne Schläge wie eine Gruppe von 3
oder 5; daher sei es für den einzelnen Schlag gleichgültig, in
welcher Gruppirung er stehe. Aber wenn man auch nicht sagen
Zeitflchrift für Psycboloi^Je 26. 7
98 Richard Hohenemscr,
kann, dafs eine Gruppe von 2 Schlägen in derselben Weise
weiter zerlegt wird wie 8 Schläge in 2 x 4 imd je 4 in 2 x 2
zerlegt werden, nämlich so, dafs jede der durch Zweitheilung
entstandenen Unterabtheilungen zu einer Einheit zusam menge*
fafst wird, so mufs doch der einzelne Schlag, der einer Gruppe
von 2 Schlägen angehört, eine stärkere Wirkung ausüben, mehr
Gewicht besitzen als jeder andere; denn jede rhythmische An-
ordnung hat zur Folge, dafs jedes der rhythmisch geordneten
Elemente stärker, eindringlicher wirkt, als wenn es uns in einer
unrhythmischen Reihe gegeben wäre, und selbstverständlich ist
die Wirkung in derjenigen Anordnung am stärksten, welche der
Seele am naturgemäfsesten ist, also in der Gruppirung zu je 2
Elementen, zu je 2 Schlägen. Demnach wird sich bei der Quarte,
3 : 4, die Theilung nicht so vollziehen, dafs auf einen Schlag
des tieferen */« Schläge des höheren Tones fallen, sondern so,
dafs auf einen Schlag des höheren ^j^ Schläge des tieferen fallen.
Mit dem Eintritt des 2. Schlages des höheren Tones ist von dem
1. Schlage des tieferen Tones ein Theil abgeschnitten. Dafe
dieser Theil ein Viertel ist, wissen wir, sobald der 2. Schlag des
tieferen Tones einsetzt. Von ihm wird durch den 3. Schlag des
höheren Tones die Hälfte abgeschnitten, welche sich naturgemfife
mit dem vorangegangenen Viertel unter dem 2. Schlage des
höheren Tones zu einer Gruppe von 3 Einheiten vereinigt Die
2. Hälfte wird mit dem 1. Viertel des folgenden Schlages unter
dem 3. Schlag des höheren Tones wieder zu einer Gruppe von
3 Einheiten zusammengefafst u. s. f., so dafs stets auf 1 Einheit
des höheren 3 Einheiten des tieferen Tones fallen. Hierdurch
ist die Quarte deutlich als ümkehrung der Quinte charakterisirt;
denn beide Intervalle beruhen darauf, dafs 3 Einheiten des
einen unter 1 Einheit des anderen Tones zusammengefafst werden^
Aber die zusammenfassende Einheit ist bei der Quint und ihren
Erweiterungen in dem tieferen, also dem langsamer verlaufenden
Tone gegeben, bei der Quarte und ihren Erweiterungen dagegen
in dem höheren, also dem schneller verlaufenden. Daher mufs
dasjenige, was zusammengefafst wird, bei den Quintintervallen
stets aus mehr als einem Schlage bestehen, bei den Quart-
intervallen dagegen aus mehreren Theilon eines Schlages.
Die Quarte läfst sich natürlich in derselben Weise erweitem
wie die Quinte. In der ersten Erweiterung, mit dem Schwingungs-
verhältnifs 3 : 8, fallen auf 1 Schlag des höheren % Schläge des
Zur Theorie der Tonbeziehungeti. 99
tieferen Tones, in der zweiten, mit dem Schwingungsverhältnifs
3 : 16, %« IL 8. w. Während aber in den Erweiterungen der
Quinte (1:3, 1:6 etc.) mit 1 jedes Mal dieselbe Einheit, d. h.
jedes Mal eine Einheit von gleicher Dauer bezeichnet wird, ist
bei den Erweiterungen der Quarte die mit 1 bezeichnete Einheit
jedes Mal eine andere, da der Ton, in welchem sie gegeben ist,
jedes Mal in einer anderen Octave liegt. Während daher bei
den Erweiterungen der Quinte der Quintcharakter festgestellt
ist, sobald die Seele die einzige unter der mit 1 bezeichneten,
jedes Mal gleichen Einheit des tieferen Tones mögliche Gruppirung
der Einheiten des höheren Tones vorgenommen hat, also, wie
wir früher sahen, nach dem 2. Schlag des tieferen Tones, hängt
bei den Erweiterungen der Quarte der Zeitpunkt, in welchem
der Quartcharakter bestimmt ist, von der jedes Mal verschiedenen
Dauer der mit 1 bezeichneten Einheit des höheren Tones ab,
da diese als die bestimmende, um im tieferen Tone eine Gruppen-
bilduBg zu ermöglichen, erst von einem Schlage desselben einen
Theil abschneiden mufs. Zugleich kommt es auf die Gröfse
dieses Theiles an, da sich hierdurch bestimmt, wie grofs der
Theil des folgenden Schlages sein mufs, der noch benöthigt
wird, damit eine Gruppe zu Stande kommt. So schneidet in
dem Schwingungsverhältnifs 3 : 8 der 3. Schlag des höheren
Tones von dem 1. Schlag des tieferen -/s s-b. Damit eine Gruppe
entstehen kann, mufs zu diesen noch Vs ^^s folgenden Schlages
hinzukommen, welches der 4. Schlag des höheren Tones ab-
schneidet Sobald dieser eintritt oder, mit anderen Worten,
nachdem von dem 2. Schlag des tieferen Tones Vs verflossen
ist, ist also der Charakter des Intervalles festgestellt, während
er sich bei der eigentlichen Quarte erst nach Ablauf der Hälfte
des 2. Schlages des tieferen Tones offenbart. Bei dem Verhält-
nis 3 : 16 wird er sich nicht früher zu erkennen geben, als bei
dem Verhältnifs 3:8; denn der 6. Schlag des höheren Tones
schneidet von dem I.Schlag des tieferen nur ^/,ß ab, sodafszur
Gruppenbildung noch '-/je oder ^/g des folgenden Schlages er-
forderlich ist. Dagegen wird bei den Schwinguiigsverhältnissen
3 : 32 und 3 : 64 der Intervallcharakter schon festgestellt sein,
wenn von dem 2. Schlag des tieferen Tones 7a2 verflossen
ist, etc. Wie wir aber schon früher sahen, ist es in Folge der
grofeen Geschwindigkeit der Schwingungen sehr begreiflich, dafs
tUe diese unterschiede für unsere Empfindung nicht existiren.
7*
■ i\
100 RicJiard Hohenemser.
Da wir bei der Quarte und dementsprechend auch bei ihren
Erweiterungen die Bildung einer Gruppe innerhalb des 1. Schlagira
des tieferen Tones für unmöglich hielten, könnte man fragen,
ob demnach nicht jedes Mal da, wo ein Schlag des tieferen mit
einem Schlag des höheren Tones zusammentrifft, also da, wo
sich das gesammte rhythmische Gebilde zu wiederholen beginnt,
z. B. bei der Quarte mit dem 5. Schlag des höheren und dem
4. des tieferen Tones, eine Unterbrechung eintreten müsse, von
der doch in unserer Empfindung nichts zu bemerken sei. Wir
müssen aber annehmen, dafs die Seele, da sie, sobald sie eine
bestimmte Theilung und Gruppirung öfter hinter einander (ja
auch nur ein Mal) vollzogen hat, die Wiederholung dieser
Theilung und Gruppirung erwartet, den Schlag des tieferen
Tones auch dann in 3 Theile zerlegt und diese unter einem
Schlage des höheren Tones zu einer Gruppe zusammenfafst,
wenn hierzu in dem unmittelbaren Verhalten der Schläge zu
einander keine Veranlassung gegeben ist. Möglich ist der Seele
diese Fortsetzung des vorher dagewesenen, weil sich ja die mit
den Tönen gegebenen Vorgänge thatsächhch nicht ändern. So-
bald sie es thun, sobald also ein neues Intervall eintritt, ist die
Seele natürlich gezwungen, eine neue Theilung und Gruppirung
vorzunehmen.
Genau wie die Quarte zur Quinte verhalten sich die Um-
kehrungen der übrigen bisher betrachteten ursprünglichen Inter-
valle zu diesen. Aus der grofsen Terz, mit dem Schwingungs-
verhältnifs 4 : 5 und dem Einheitenverhältnifs 1 : 5, ergiebt sich
durch Umkehrung die kleine Sexte, mit dem Schwingimgsver-
hältnifs 5:8, in welcher also auf 1 Schlag des höheren */ß
Schläge des tieferen, auf 1 Einheit des höheren 5 Einheiten des
tieferen Tones fallen. Ebenso ergiebt sich aus der grofsen
Secunde, mit dem Schwingungsverhältnifs 8 : 9 und dem Ein-
heitenverhältnifs 1 : 9, die kleine Septime, mit dem Schwingungs-
verhältnifs 9 : 16 und also mit dem Einheitenverhältnifs 1 : 9 in
umgekehrter Verwendung, wie genau in derselben Weise der
kleinen Secunde als der Umkehrung der grofsen Septime das
Einheitenverhältnifs 1 : 15 in umgekehrter Verwendung zu Grunde
liegt. Auch die Erweiterungen dieser Umkehrungen vollziehen
sich genau so wie diejenigen der Quarte.
Uebersehen wir die Intervalle, die wir bis jetzt auf Ein-
heitenverhältnisse zurückgeführt haben, so fällt sofort auf, dals
Zur Theorie der Tonbeziehtingen. 101
die kleine Terz und die grofse Sexte noch fehlen. Die kleine
Terz giebt sich durch ihr Schwingungsverhältnifs 5 : 6 als eine
Umkehrung zu erkennen; denn da eine Zweitheilung nur im
höheren, nicht im tieferen Tone möglich ist, kann die bestimmende
Einheit nur in jenem gegeben sein. Das ursprüngliche Intervall
hat demnach das Schwingungsverhältnifs 3 : 5 und ist bekannt-
lich die grofse Sexte. Wollten wir annehmen, dafs hier auf
1 Schlag des tieferen ^/g Schläge des höheren Tones fallen, so
erhielten wir das Einheitenverhältnifs 1 : 5, welches wir jedoch
bereits der grofsen Terz zugeschrieben haben. Es liegt aber zu
dieser Annahme durchaus kein Grund vor, denn es ist uns hin-
länglich bekannt, dafs die Seele ohne Zwang weder eine Drei-
noch eine Fünftheilung vollzieht. Dadurch, dafs jeder 4. Schlag
des tieferen mit jedem 6. des höheren Tones zusammentrifft, ist
sie zwar gezwungen, je 3 Schläge des tieferen und je 5 Schläge
des höheren Tones zu einer Gruppe zusammenzufassen. Aber
innerhalb dieser Gruppen wird sie keine weitere Theilung mehr
vornehmen, d. h. in keinem der beiden Töne werden die einzelnen
Schläge ein Uebergewicht an Wirkung gewinnen. Sie werden
also nicht zu bestimmenden und bestimmten Einheiten, sondern
3 : 5 ist selbst ein Einheitenverhältnifs, in welchem sich selbst-
verständlich, wie bei 1:3, 1:5 etc., der complicirtere Theil dem
einfacheren unterordnet; die Seele bleibt also dabei stehen, 5
Einheiten des höheren unter 3 Einheiten des tieferen Tones zu-
sammenzufassen. Demnach sind auch die Erweiterungen, 3 : 10,
3 : 20 etc., auf dieses Verhältnifs zurückzuführen, indem 5 Schläge
des höheren auf %, '% etc. Schläge des tieferen Tones fallen.
Bei der Umkehrung, der kleinen Terz mit dem Schwingungs-
verhältnifs 5 : 6, werden die 6 Schläge des höheren Tones selbst-
verständlich in 2 Gruppen von je 3 Schlägen zerlegt, und wie
bei der Quarte auf 1 Schlag des höheren '"^'^ Schläge des tieferen
Tones fallen, so fallen hier auf jede der aus 3 Schlägen be-
stehenden Einheiten des höheren ^'o Schlage des tieferen Tones,
so dafs also das Einheitenverhältnifs 3 : 5 in umgekehrter Ver-
wendung erscheint. Dafs wir soeben das Wort „Einheit" in
doppelter Bedeutung gebrauchten, ist kein Widerspruch; denn
in der grofsen Sexte und kleinen Terz ist nicht der einzelne
Schlag, sondern die Gruppe von 3 Schlägen die zusammen-
fassende, bestimmende Einheit. Darum aber gehen die einzelnen
Schläge als solche doch nicht verloren, so dafs wir das charak-
102 Richard Hohejiemser.
teristische Merkmal der genannten Intervalle doch darin er-
blicken müssen, dafs 5 Einheiten des einen unter 3 Einheiten
(hier gleichbedeutend mit Schlägen) des anderen Tones zusammen-
gefafst werden. Wie sich das Verhältnifs in den Erweiterungen
der kleinen Terz zu erkennen giebt, wird man sich ohne Weiteres
klarmachen können.
Da wir neben dem Einheitenverhältnifs von 1 : 5 auch das-
jenige von 3 : 5 gefunden haben, wird neben 1 : 9 auch 5 : 9
ein musikalisches Intervall ergeben. Der Umkehrung desselben
sind wir bereits begegnet und zwar in dem Schwingungsverhält-
nifs 9 : 10, das dem kleinen Ganzton zu Grunde liegt Wie bei
der grofsen Sexte und kleinen Terz eine Gruppe von 3 Schlägen,
so bildet bei dem kleinen Ganzton und der zugehörigen Septime,
die als ursprüiigliches Intervall zu betrachten ist, eine Gruppe
von 5 Schlägen die bestimmende Einheit, unter welcher also
9 Einheiten des anderen Tones zusammengefafst werden. In
welcher Weise dies in der ganzen Intervallgruppe geschieht,
brauchen wir nicht mehr näher aus einander zu setzen.
Wenn wir die doppelte Anwendungsmöglichkeit der Ein-
heitenverhältnisse vor Augen haben, und wenn wir mit jeder
Intervallbenennung auch die Erweiterungen des betr. Intervalles
einbegreifen wollen, so können wir nunmehr folgende Reihe auf-
stellen : 1 : 2 entspricht der Octave, 1 : 3 der Quinte und Quarte,
1 : 5 der grofsen Terz und kleinen Sexte, 3 : 5 der grofsen Sexte
und kleinen Terz, 1 : 9 der grofsen Secunde (dem grofsen Ganz-
ton) und kleinen Septime, 5 : 9 der Intervallgruppe des kleinen
Ganztones, 1 : 15 der grofsen Septime und kleinen Secunde. In
dieser ganzen Reihe nimmt also der Consonanzgrad ab. Auch
lernen wir aus ihr, dafs nicht etwa alle die Verhältnisse, in
welchen eine Anzahl von Einheiten unter einer Einheit zu-
sammengefafst wird, einfacher sind als die übrigen, dafs viel-
mehr, was die Einfachheit betrifft ,3:5 vor 1 : 9 und ebenso
5 : 9 vor 1 : 15 zu stehen kommt. Alle Intervalle, welche aufser
den bisher besprochenen noch vorkommen, liegen in der Fort-
setzung der Reihe, aber an den verschiedensten Stellen. So ent-
spricht 1 : 25 der übermäfsigen Quinte und verminderten Quarte
(Schwingungsverhältnifs 16 : 25 und 25 : 32) , 1 : 27 einer über-
mäfsigen Sexte und verminderten Terz (Schwingungsverhältnifs
16 : 27 und 27 : 32), 5 : 27 einer unreinen Quarte und der zu-
gehörigen Quinte (Schwingungsverhältnifs 20 : 27 und 27 : 40),
Zur Theorie der Tonbeziehungen, 103
1 : 45 der tibermäfsigen Quarte und venuinderten Quinte
(Schwingungsverhältnifs 32 : 45 und 45 : 64) , 1 : 75 der über-
mäfsigen Secunde und venuinderten Septime (Schwingungsver-
hältnifs 64 : 75 und 75 : 128).
Die Thatsache, der wir ja auch schon früher begegnet sind,
dafs sich die in der Musik gebrauchten Intervalle nicht auf eine
ununterbrochen fortlaufende Reihe von Einheitenverhältnissen
vertheilen, dafs vielmehr gewisse an sich mögliche Verhältnisse
übersprungen werden, hat ihren Grund jedenfalls nicht in der
Natur dieser Verhältnisse, also nicht in der Natur der ihnen ent-
sprechenden Intervalle, welche man bekanntlich auf künstUchem
Wege bilden kann. Zu dieser Annahme führen uns zwei Er-
wägungen : Einmal ergiebt das Einheitenverhältnifs 1 : 7, das
erste, welches übersprungen wird, eine Intervallgruppe, aus deren
Natur sich ihre Unverwendbarkeit schwerlich ableiten lassen dürfte.
Eher könnte man versucht sein, auf ihre besondere Brauchbar-
keit zu schliefen; denn das Intervall mit dem Schwingungsver-
hältnifs 4 : 7, die natürUche Septime, ist eine Dissonanz, welche
der kleinen Septime nahesteht, aber, wie wir uns leicht an der
harmonischen Obertonreihe überzeugen können, weicher klingt
als diese, überhaupt weicher als alle gebräuchlichen sogenannten
Dissonanzen, welche aber doch entschiedenen Dissonanzcharakter
besitzt. Sie wäre also in die Musik eingeführt, die mildeste Disso-
nanz Auch ist ihr Vorkommen in primitiver Hornmusik kaum
zu bezweifeln ; denn auf den Naturhörnern, auf welchen sich nur
die harmonische Obertonreihe hervorbringen läfst, ist gerade die
Gruppe etwa vom 4. bis zum 10. Oberton besonders leicht zu erzeugen. ^
Wenn die natürliche Septime trotzdem in der modernen Musik
keine Stelle hat, so wird der Grund hierfür wohl nicht in dieser
Septime selbst zu suchen sein. — Ferner ist es auffallend, dafs sich
unter den gebräuchlichen Intervallen auch solche finden, welche
anderen gebräuchlichen Intervallen so nahe stehen, dafs sie sehr
leicht mit ihnen verwechselt werden, z. B. die unreine Quinte
(Schwingungsverhältnifs 27 : 40) mit der reinen (27 : 40,5), die
verminderte Terz (27 : 32) mit der kleinen (27 : 32,05). Solche
Intervalle werden doch schwerlich um ihrer selbst willen Ver-
wendung finden. Wir müssen vielmehr annehmen, dafs sich das
jeweilig herrschende Tonsystem aus bestimmten Grundintervallen
aufbaut und dafs aus der unendlich grofsen Zahl der übrigen
* Vergl. „Sammelbäude der Internationalen MusUcyesellschaft" 1, 18.
104 Bichard Hohentmser.
möglichen Intervalle nur diejenigen zur Verwendung kommen,
welche die Beschaffenheit des Systemes zuläfst So sind in den
von Hauptmann angenommenen Systemen der Dur- und Moll-
Tonart, welche ausschliefslich auf der reinen Quinte und der
grofsen Terz aufgebaut sind, d. h. in welchen alle Töne nach
dem Quint- oder Terzverhältnisse berechnet werden, nur die bis-
her als gebräuchlich angeführten Intervalle möglich. Erst bei
der Combination der Systeme, also bei Einführung der Chromatik,
entstehen wieder neue Intervalle. Berechnet man die Töne nur
nach dem C^uintverhältnifs, wie es die griechischen Theoretiker
thaten, so ergiebt sich u. A, ein Intervall mit dem Schwingungs-
verhältnifs 64 : 81, die sogenannte pythagoräische Terz,* welche
in den Systemen Hauptmann's unmöglich ist Das Vorhanden-
sein oder Fehlen bestimmter Intervalle mufs also in der Natur
der Tonsysteme seinen Grund haben. Aber die Tonsysteme
selbst entbehren noch fast völlig der psychologischen Begründung;
ja es ist sogar nicht unmöglich, dafs das HAUPTMANN'sche System,
welches jetzt allgemein als die Grundlage der modernen Musik
anerkannt wird, ebenso wie das der Griechen, wenigstens zum
Theil nur eine theoretische Speculation ist, welche mit der Wirk-
lichkeit, d. h. mit der Intervallauswahl, die unser natürliches
Tonbewufstsein vornimmt, nicht übereinstimmt.
Die verschiedenen Tonsysteme zu constatiren und zu er-
klären, ist eine der wichtigsten Aufgaben desjenigen Theiles der
Psychologie, welcher sich mit der Tonkunst beschäftigt. Wenn
ihre Lösung, die selbstverständlich in engem Anschlufs an die
geschichtlich gegebenen Thatsachen angestrebt werden mufs, mit
Hülfe der Rhythmentheorie gelingen sollte, was bestimmt zu er-
warten ist, so hätte man in diesem Erfolge eine wichtige Stütze
dieser Theorie zu erblicken. Unsere Aufgabe aber bestand nur
darin, die Thatsache, dafs die Intervalle sich erweitern und um-
kehren lassen, aus der Theorie der Schwingungsrhythmen heraus
zu erklären und damit verständlich zu machen. Soweit uns dies
gelungen ist, ist damit gleichzeitig eine Bestätigung der Theorie
geliefert, einer Theorie, welche nicht nur an sich von höchstem
psychologischem Interesse ist, sondern welche auch berufen zu
sein scheint, für alle weiteren musikpsychologischen Forschungen
die Grundlage abzugeben.
{Eingetjangen am 6. März 1901.)
Eine letzte Bemerkung zu Herrn EdingeR's Aufsatz
„Himanatomie und Psychologie".
Von
Dr. E. Storch.
Herr Edinüek hat meine kleine Arbeit „Hö-l^^n die niederen
Thiere ein Bewufstsein ?" einer Entgegnung gewürdigt.^ Eine
Kritik seiner Anschauungen war allerdings nicht eigentlich der
Hauptzweck meiner Ausführungen. Ich hätte mich ebenso gut
an die Ameisenarbeit Bethe's oder an die Vergleichende Gehirn-
anatomie und Gehirnpsj''chologie von Jax:ques Loeb halten können.
Die Absicht meines Aufsatzes war eine allgemeinere, nämlich:
darzulegen, dafs es für die Welt des Bewegten nur eine Auf-
fassung giebt, den Mechanismus, und dafs die Naturwissenschaft
in dem Momente, wo sie in dieser Welt aufser einer Transforma-
tion der Bewegungsgröfsen nach dem Gesetze von der Erhaltung
der Kraft noch etwas anderes als Ursache wirken läfst, sich selbst
aufgiebt. Diejenige Weltanschauung, welche diesem Mechanismus
ebenso gerecht wird wie dem Psychischen ist allein der psycho-
physische Parallelismus, und die klare Aufgabe, welche er der
Psychologie stellt, ist die Entdeckung der mechanischen Correlate
psychischer Vorgänge. Dabei habe ich mich nicht im Geringsten
über das Verhältnifs beider Reihen geäufsert, wie es Mach und
AvENAuius thun, abgesehen davon, dafs ich die Relation der
Causalität ausschlofs.
Der Vorwurf, den ich gegen Edinger erhob, war einfach
— sine ira et studio — dafs er gerade diese Beziehung zwischen
beiden Reihen annimmt, und wer auf diesem Standpunkte steht,
ist eben entweder naiver Materialist oder Spiritualist.
Jeder der beiden Standpunkte hat eine gewisse Berechtigung,
nicht aber eine Verquickuug beider. Entweder ist die Materie
1 Diese Zeitschrift 24, 445.
106 E. Storch,
eine Folge des Denkens, oder sie ist seine Ursache; beides auf
einmal ist nicht möglich.
Ich habe aus Herrn Edinger's Arbeit nachgewiesen, dafs bei
ihm diese Verquickung der zwei entgegengesetzten Anschauungen
besteht. Herr E. macht mir den Vorwurf, dafs ich seine Arbeit
nicht aufmerksam gelesen habe ; das ist ein sehr harter Vorwurf,
auch w^enn er in höfliche Worte eingekleidet wird.
Herr Edinoer hat es mir aber nicht schwer gemacht diesen
Vorwurf zurückzuweisen. S. 446 des 24. Bandes dieser Zeitschrift^
der 2. Seite seiner Entgegnung schreibt er : „Herr v. Uexküll u. A.
haben neuerdings behauptet, dafs es ganz aufser dem Bereiche
wissenschaftlicher Arbeit liege, zu untersuchen, ob ein Thier bei
Ausübung irgend einer Handlung Bewufstsein habe. So weit
möchte ich nicht gehen, denn es erscheint keineswegs aussichts-
los, an die Frage heranzutreten, ob, wenn einmal der Mechanis-
mus genügend bekannt ist, sich nicht Leistungen zeigen, die
über das hinausgehen, was die bekannte Maschine fertig bringen
könnte." Diese sich zeigenden Leistungen können doch nur Be-
wegungen sein, Bewegungen, die durch den Mechanismus nicht
erklärt werden können, die also — das ist der Kernpunkt —
ihre Ursache nicht in einer Bewegungsgröfse sondern in etwas
anderem haben müssen, und zwar, wie Herr Edinger bemerkt,
im Bewufstsein. Unmittelbar anschliefsend an obiges Citat ist
nämlich zu lesen: „Ich habe, ganz ohne zu präjudiciren, ge-
schlossen : Wir werden auch auf dem vorgeschlagenen Wege an
einen Punkt kommen, wo die Annahme eines Bewufstseins noth-
wendig wird" u. s. w\ Das ist es ja eben, zu diesem Punkte
kann ja die Erforschung der Bewegungsgröfsen nicht führen und
ich möchte Herrn E. bitten nochmals mein Citat aus Schopen-
HAUEU vorzunehmen.
Wer aber diese Grundlage aller Psychologie, die causale
Unabhängigkeit zwischen Psyche und Materie nicht erkannt hat,
ist nicht berufen, uns eine vergleichende Psychologie zu schenken.
Herr E, hat auf dem Gebiete der Hirnanatomie so grofse und
bleibende Errungenschaften zu verzeichnen, dafs es bedauerlich
ist, ihm auf Irrwegen zu begegnen.
Literaturbericht.
F. LE Dantbc. Homologie et analogie. Rei\ phüos. 49 (5), 449—491. 1900.
Verf. sucht zunächst auf Grund einer Anzahl von Beispielen den Satz
abzuleiten : Findet man einen Charakter, welcher zwei verschiedenen Wesen
gemeinsam ist, so mufs man zwischen zwei Alternativen schwanken. Ent-
weder rflhrt der gemeinsame Charakter durch directe Descendenz von
einem gemeinsamen Vorfahren, welcher den besagten Charakter besafs,
z. B. die Zahnbildung bei Hatte und Maus. In diesem Falle besteht Homo-
phylie (lifiotoi, ^iXrj), Oder dieser Charakter ist von den Vorfahren beider
Werten erworben, unabhängig von jeder Vaterschaft, einfach durch Con-
vergenz, in Folge von einfacher Anpassung an gemeinsame Existenz-
bedingungen z. B. die Zahnbildung der Hatte, des Wombat, des Aye-aye.
In diesem Falle besteht Homomorphie [ouotoi, fioofij). Letztere hat viele
Irrthümer in der Classification hervorgerufen. Die neueste Correctur in
dieser Beziehung ist bei der Classification der Rippenquallen erfolgt, welche
man bisher ihrer Durchsichtigkeit wegen zu den Quallen rechnete, welche
aber in Wirklichkeit zu den Turbellarien gehören.
Zwei verschiedene Thiere führen verschiedene Acte aus. Man kann
eigentlich das Wort ..leben" gar nicht im Allgemeinen anwenden, sondern
man kann nur sagen, dafs der Fuchs fuchst, die Taube täubt, der Hecht
hechtet, die Eidechse eidechst. Leben bedeutet: das innere Medium des
Wesens, welches aus einer grofsen Zahl von Piastiden besteht, erneuern,
und zwar in der Weise, dafs diese Piastiden ihr elementares Leben fort-
setzen können. Die synergetische Activität aller Piastiden bestimmt diese
Erneuerung. Jedoch mufs man nicht annehmen, dafs bei den Wesen,
welche dieselben Functionen zeigen, auch die Apparate Teinander ent-
sprechen. Dies erkennt man z. B., wenn man die Nahrungsaufnahme beim
Menschen mit der des Bandwurms vergleicht. Die Definition von Organen
ist rein physiologisch, auch die Analogie zwischen den Organen zweier.
Individuen. Im Gegensatz hierzu ist die Homologie eine rein morpho-
logische Begriffsfassung. Alle Säugethiere z. B. sind nach demselben Plane
construirt, mit nur quantitativen Differenzen. Die Homologie wird vererbt.
Durch Anpassung homologer Theilo un verschiedene Functionen kann die
Homologie bestehen bleiben, während die Analogie verschwindet. Die
Homologie kommt der Homophylie gleich, die Analogie der Organe schafft
Homomorphien.
1 08 Literaturberich t
Nach Fritz Müller durchschreitet jedes lebende Wesen im Lanf» T
t
seiner individuellen Eutwickelung morphologische Zustände, welche dea }
morphologischen Zuständen seiner Art im Laufe ihrer Entwickelung ähneln, |
mit anderen Worten: Die Genealogie eines Thieres -wird durch seine i
Embryogenio dargestellt. Um den gemeinsamen Vorfahren zweier Wesen v
zu finden, brauchen wir also nicht mehr die unbekannte Keihe der Vo^ )
fahren zu durchsuchen, sondern nur die Larvenstadien, bis wir ein ge- \
meinsames finden. Je höher dieses Larvenstadium liegt, um so näher '
werden die beiden Wesen einander bezüglich ihrer genealogischen Ab* :
stammung stehen. Dies ist wichtig beim Aufsuchen der Verwandtschaft •
So z. B. rechnete man früher die Ascidien zu den Mollusken, jetzt zu den
Vertebraten, seitdem man aus der Entwickelung ihrer Larvenformen ge-
wisse Aehnlichkeiten herausgefunden hat. Durch F. M. angeregt, sucht
Verf. nun auch seine eigene biochemische Theorie zu vervollständigen.
Verf. hatte unter Piastiden derselben Art solche verstanden, welche ans
denselben plastischen Substanzen bestehen. Nunmehr definirt er auch
morphologisch verwandte Piastiden, was vom rein biochemischen Stand-
punkte unmöglich war: Zwei Arten von Piastiden sind verwandt, falls sie
unter denselben Bedingungen zu embryonären Entwickelungen Veran-
lassung geben, welche lange Zeit parallel bleiben. Je rascher dagegen die
Divergenzen hervortreten, um so verschiedener sind sie.
GiEssLER (Erfurt).
Gärard-Varet. La Psychologie 0bjecti?e. Bev. philos. 4» (5), 492—514. 190QL
Die objective Psychologie hat ihre eigene Methode. Sie mufs vor
Allem Thatsachen sammeln, in derselben Weise wie die Naturwissen-
schaften, und sie mufs ihren Stoff classiliciren als Psychologie der Er-
wachsenen, Kinder und (Jreise, als Psychologie der Professionen, der
gebildeten und wilden Völker u. s. w. Die erste Arbeit der objectiven
Psychologie ist also monographisch. Es handelt sich darum, eine Reihe
von psychischen Typen zu sammeln, ihre Structuren und Umrisse zu be-
stimmen. Von der Beschreibung mufs dann weiter zur Vergleichung Ober-
gegangen werden. Jedoch ist die Vergleichung im Grunde auch nur eine
Beobachtung, die Ursprünge entgehen ihr. Sie findet nur ein Zusammen-
gesetztes von Neigungen, welche sich gegenseitig unterstützen und be-
schränken. Das Grundgesetz des Bewufstseins wie des Lebens ist ein
Gesetz des Gleichgewichts. Hält man sich an die Daten der Erfahrung, so
ignorirt man den wahren Zusammenhang, es entgehen Einem die Anfänge
und Ursachen. Dies wird vermieden durch die psychologische Analyse.
Man mufs die Erscheinungen isoliren, um die Action einer Kraft zu er-
kennen, weh^he sich selbst überlassen ist. Die Analyse dringt viel tiefer
in den Zusammenhang als die Vergleichung.
Es fragt sich, welchen Platz die objective Psychologie in der allge-
meinen Psychologie einnimmt. Man unterscheidet beim Geistigen: die
Empfindung, den spontanen Gedanken und die Reflexion. Der Instinct ist
das Reich der präsenten Empfindung. „Der Instinct ist eine automatische
Folge von Bildern vermittelst einer automatischen Folge von Bewegungen."
Bisweilen gehorcht die Bewegung nicht mehr dem Bilde oder die statt
Literaturbericht. 109
gefundene Bewegung bringt ihren Effect nicht hervor. Da jedoch das
Bedürfnifs bleibt, so stellt das Individuum Versuche an, um zum Ziel zu
gelangen. Die Intelligenz hat also ihren Ursprung nicht in der Empfindung,
sondern in der gefühlten Mangelhaftigkeit der Empfindung. Der Mangel
also regt die spontane Intelligenz an, sie arbeitet unter dem Drucke der
Ereignisse, unter äufseren Impulsen. Die Refiexion dagegen legt sich
selbst Fragen vor. Die spontane Intelligenz handelt ohne vorherige
Prüfung, die Reflexion dagegen prüft vorher. Für die spontane Intelligenz
ordnen sich die Dinge, wie sich deren Phänomene ordnen. Die mit ein-
ander verbundenen Dinge werden zusammengefafst, die anderen bleiben
isolirt. Anders verhält sich die überlegende Vernunft. Die primitive
Intelligenz zieht aus den spärlichen Daten des primitiven Automatismus
allmählich eine ganze Welt von Bildern und Vorstellungen. Sie schafft
den Wunsch und die Kunst. — Die Empfindung mit dem Instinct ist die
Domäne der eigentlichen experimentellen Psychologie, der spontane Ge-
danke ist die Domäne der objectiven Psychologie, endlich die Reflexion
d. h. die Gesammtheit der höheren Formen des Geistes ist die Domäne
der subjectiven Psychologie. —
Verf. hat in der vorliegenden Abhandlung die Bedeutung der drei
Zweige der Psychologie ins rechte Licht gerückt. Es wäre zu wünschen,
dafs die beobachtende Psychologie, die gegenwärtig gegenüber der experi-
mentellen Psychologie etwas in den Hintergrund getreten ist, die ihr ge-
bührende Werthschätzung bei den Psychologen wiedergewönne.
GiESSLER (Erfurt).
Edm. Köniü. Die Lehre ?om psycbopbysiscben Parallelismns und ihre Gegner.
Zeitschrift für Philosophie und philosophische. Kritik 115 (2), 161—192. 1900.
In den letzten Jahren ist eine ganze Anzahl von Schriften und Ab-
handlungen erschienen, die das Princip des psychophysischen Parallelismus
scharf angreifen und die Seele als ein mit den physischen Ursachen con-
currirendes Agens darzustellen versuchen.
Der Verf. selbst theilt den Standpunkt Wuxdt'h, der mit der Annahme
eines Parallelismus ein empirisches Forschungsprincip geben will, keines-
wegs aber eine metaphysische Hypothese über das Verhältnifs des Physi-
schen zum Psychischen. Auf der Gegenseite wird jedoch mit den Requi-
siten der alten Metaphysik gekämpft; Rehmke gelangt zur Annahme einer
Wechselwirkung, indem er die anderen Vorstellungsweisen über das Ver-
hältnifs von Leib und Seele („Solipsismus", „Materialismus", „Spinozismus")
•verwerfen zu dürfen glaubt. Statt nachzusehen, welche Anhaltspunkte die
Resultate der empirischen Forschung für die Entscheidung der Frage
bieten, setzt er sich mit empirischen Verhältnissen in Widerspruch und
gelangt auf diese Weise dazu, die Allgemeingültigkeit des Gesetzes von
der Erhaltung der Energie in Zweifel zu ziehen.
Wird das Seelenleben in seinem ganzen Umfang und in allen seinen
Einzelheiten als eine Begleiterscheinung physiologischer Processe aufge-
fafst, so erweitert man das Princip des psychophysischen Parallelismus
zum psychophysischen Materialismus, der zwar von vielen Autoren als
letzte Gonsequenz der parallelistischen Anschauungsweise erklärt wird,
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' ' '" " ''••'" ''" AiiiMihnH- finiT pMyf'hi.Hflicn Verureachung physischer
• rM»,|.i imII ihn |.ti/il,ii)Hf!iii iiml iilli(i-nicincn <irundsfttzen der causnlcn
Literaturbericht ]11
Interpretation der äufseren Erfahrung durchaus vereinbar sei. Er kommt
schliefslich zu dem Resultat, dafs das Princip der geschlossenen Natur-
cansalität nichts Anderes sei als die Hypothese von der vermeintlichen
Notb wendigkeit einer physikalisch-chemischen Naturerklärung. Der Verf.
entgegnet, dafs E. Unrecht thue, wenn er diese Forderung als „Hypothese"
bezeichne, die „a priori" den Erscheinungen entgegengebracht werde, während
sie doch in Wirklichkeit eine wohlbegründete Folgerung aus der Erfahrung
ist, deren Allgemeingültigkeit wir keinerlei Grund haben zu bezweifeln.
Die Frage, ob physische Ursachen psychische Wirkungen haben können,
ist von Anhängern und Gegnern des Parallelismus weniger discutirt worden
als die umgekehrte. Kann man es als einen durch die Erfahrung be-
stätigten Satz aussprechen, dafs keine physische Causalreihe abbricht, so
ist die Hypothese, dafs psychische Wirkungen aus physischen Ursachen
hervorgehen können, offenbar unhaltbar. In der Entscheidung der Frage,
ob Parallelismus oder Wechselwirkung, spielt zumeist auch das Gesetz der
Erhaltung der Energie eine grofse Rolle, obzwar man aus demselben, wie
WüNDT dargelegt hat, weder für die eine noch für die andere Auffassung
etwas folgern kann. In dieser Hinsicht wird angenommen, dafs die Seele
die Fähigkeit habe, Energieumsetzungen auszulösen und hierdurch in den
Verlauf der physischen Vorgänge mitbestimmend einzugreifen (Wentscher).
Erhardt nimmt an, dafs neben den allgemeinen Naturkräften ^specifische
Kräfte" ihren Sitz im Gehirn haben, auf deren Bedeutung hier nicht
näher eingegangen werden kann, und glaubt, durch ihre Einführung
dem Energieprincip zu genügen. Siowart, Rbhmke und Busse ziehen
einfach die Allgemeingültigkeit des Energiegesetzes in Frage. Busse
glaubt Thatsachen anführen zu können, welche die Realität psychischer
Einwirkungen auf den Körper und damit die nur bedingungsweise Gültig-
keit des Satzes von der Erhaltung der Energie beweisen (z. B. die durch
das Lesen eines Telegramms hervorgebrachten verschiedenen psychischen
Wirkungen). Hier handelt es sich jedoch zweifellos um einen Auslösungs-
procefs, bezüglich dessen die Erfahrung lehrt, dafs, je complicirter ein
System ist, desto weiter sich auch die quantitative Beziehung zwischen
Reiz und Reaction von der einfachen Proportionalität entfernt.
So beweist der Verf. mit anerkennenswerther Gründlickeit die Hin-
fälligkeit aller Einwände, welche von den Anhängern der Wechselwirkungs-
theorie gegen den psychophysischen Parallelismus vorgebracht wurden.
Th. Heller (Wien).
Febdinand Kemsies. Die häusliche Arbeitszeit meiner Schfiler. Ein statistischer
Beitrag znr Ueberbfirdnngsfrage. Zeitschrift für pädagogische Psychologie 1
(2), 89-95. 1899.
Die Zeitschrift nSpiel und Sport^ brachte unter dem Titel : „Die Arbeits-
last der Berliner Schuljugend" Mittheilungen über die Dauer der häuslichen
Arbeiten der 0 HI einer Berliner Lehranstalt, nach welchen 8 - 5, sogar bis
ß Stunden täglich auf die Anfertigung der Schularbeiten entfielen; aus
diesen Angaben ist jedoch nicht zu ersehen, ob hier die berechnete
(Soll-) Zeit oder die wahre (Ist-) Zeit angegeben ist.
Der Verf. hat auf Grund möglichst zuverlässiger Angaben der Schüler
112 Litern turberich t
der Untertertia zunächst deren durchschnittliche Arbeitszeit ermittelt»
welche pro Woche 7 Stunden 46,3 Minuten oder pro Tag ca. 1 Stunde
6 Minuten für den einzelnen Schüler betrug. Diese Zahlen schliefsen woU
jeden Verdacht einer üeberbtirdnng aus.
Ganz anders gestalten sich die Verhältnisse, wenn man die Arbeifti-
zeiten der einzelnen Schüler von demselben Tage mit einander und mit
dem Durchschnitt vergleicht. Hier ergeben sich ungeheure Gegens&tw;
so braucht z. B. ein Schüler 7 mal, an einem anderen Tage 4 mal soviel
Arbeitszeit als sein begabter und strebsamer Mitschüler, der ihn trotzdem
ganz bedeutend an Qualität und Quantität der Leistungen übertrifft.
Nebst dem Schulunterricht und der Schularbeit kommen für manche
Schüler die Schulwege in Betracht, welche keineswegs als Erholung angesehen
werden können. Die Schulwege sind bei manchen Schülern so anstrengend
und zeitraubend, dafs schon bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von
1 Stunde pro Tag eine starke Belastung eintreten kann.
«
An Schüler, welche zu Hause durch den Privatlehrer Wiederholungs-
Unterricht empfangen, und solchen, die nicht zu arbeiten verstehen, konnte
Verf. an einer anderen Realanstalt sogar Ueberbürdung feststellen. Ueber-
lastung kommt übrigens in folgenden Fällen vor: 1. bei Versetzungs-, Ab-
schlufs- und Reifeprüfungen; 2. bei Ausarbeitung der periodischen schrift-
lichen Arbeiten am letzten Tage vor dem Abgabetermin ; 3. bei durch Schul-
versäumnisse zurückgebliebenen Schüler, welche die Lücken ihres Wissens
auszufüllen bestrebt sind; 4. bei zu hohen Anforderungen an die Schüler.
Für den Praktiker ergiebt sich aus den Angaben des Verf.*s die
Mahnung, „bei normativen Bestimmungen über die Arbeitsdauer erst die
individuellen Arbeitsverhältnisse der Schüler kennen zu lernen".
Heller (Wien).
FoREL. Ueber Talent und Genie. Zeitachr. f. Hypn. 10, 159—170. 1900.
Wie in der pathologischen, so fliefsen auch in der normalen Psychologie
alle Begriffe ineinander. Grenzen giebt es nicht. Dasselbe gilt für die
erblichen constitutionellen Psychopathien, deren Wesen liegt in Gleichge-
wichtsstörungen. in abnormer Functionirung des Neurocyms, bedingt durch
ererbte Abnormitäten des molecularen Baues der Neurone. Nur das Proto-
plasma des Eikernes und des Spermakernes lebt im Nachkommen fort und
verleiht ihm sein ererbtes Gepräge. Es überträgt allein die erblichen
Eigenschaften auf das Embryo. Beide Kerne sind ziemlich gleich grofs.
Die elterlichen Keimzellen bestehen wieder aus Potenzen der grofselter-
liehen Keime u. s. f. Daher der Atavismus. Dies kann man interne Ver-
erbung nennen im Gegensatz zur externen, wo gewisse Einflüsse (Wärme»
Kälte, Nutrition etc.) die Keime vor der Conjunction oder den conjungirten
Keim von seiner Bildung (Conjunction) an bis zu seinem Tode treffen und
ev. die Entwickelung des Einzelwesens modificiren. Eigenschaften, die
dann weiter vererbt werden, müssen aber die Keimzelle, das Nucleoplasma,
selbst treffen. Forel tritt dann Möbiüs entgegen, der behauptet, dals jede
tüchtige Talentleistung etwas Neues enthält, dafs jedes Talent im gewissen
Grade genial ist, und dafs das Talent nichts als eine Steigerung einer allen
Menschen zukommenden Fähigkeiten und das Genie nichts als ein hoher
Litera iurberich t. 113
Grad des Talentes ist. Das steht in Widerspruch mit den herkömmlichen
Begriffen and mit den Thatsachen. Eine qualitative Identität von Talent
nnd Genie zu construiren ist ein logischer Fehler. Es gehört nicht zu den
Eigenschaften der Talente Neues zu leisten, d. h. neue geistige Combinationen
zu schaffen. Es giebt talentlose Genies und genielose Talente, viel- und
veitumfassende Genies, aber auch vielseitige Talente, einseitige Genies
and einseitige Talente. Das Talent ist receptiv, assimilirt die Leistungen
Anderer, wobei die plastische Combi nationsfähigkeit, die Phantasie oft ge-
hemmt wird. Das Grenie geht dagegen plastische, eigene Wege. Gäbe es
nar Talente, so würde die Kultur bald dogmatisch, chinesisch, erstarren
und zurückgehen. Dem genialen Trieb allein, mag er im üebrigen auch
oft defect sein, verdankt die Kultur alle ihre Fortschritte. Der Trieb zur
Schaffung neuer Bahnen beruht auf der plastischen Fähigkeit der Phantasie ;
<»hne Phantasie kein Genie, kein Schaffen, kein Fortschritt. Zwischen
Normal und Pathologisch giebt es keine scharfe Grenze. Alles Pathologische
besteht aus mehr oder minder erheblichen Abweichungen einer ideal ge-
dachten, jedoch in der Natur nie absolut vorhandenen Norm. Lombboso
fibertreibt. Viele Genies haben einen entschieden pathologischen Zug, der
sie bis zur Geistesstörung führen kann. Doch darf man nicht verallge-
meinern. Grobe pathogene Factoren des Hinilebens produciren keine
Genies! Doch kommt die Anlage zu geistigen Gleichgewichtsstörungen
beim Genie ernst in Betracht. Sie führen oft zum Ruin ; oft enthalten sie
siQch eine gewaltige Entwickelung des Phantasievermögens. Auf die Stärke
der Defecte kommt es an, ob das Minus und das Pathologische oder das
Plüi« und das Physiologische überwiegen. Das geniale Schaffen strengt das
Gehirn mehr an als die receptiv-productive Thätigkeit. Dazu kommen
hÄüfige Gemüthserschütterungen, Mifserfolge, Excesse u. A. Günstige und
ungünstige Factoren können sich summiren und subtrahiren, auch neutrali-
siren, — davon hängt vielfach der Schlufserfolg ab. ümpfenbach.
O. £. Seashore. Some Psychological Statistics. Univeraity of Jowa. Studie»
in Pftychology 2, 1 — 84. 1899. Bulletin of the University of Jowa , New
Series, 1 (5).
Die Arbeit enthält auf 84 Seiten die Beschreibung folgender Einzel-
untersuchungen :
I. Visual Perception of Interrupted Linear Distances,
IL The Material-Weight Illusions,
m. Localization of Sound in the Median Plane,
IV. Hearing-Ability and Discriminative Sensibility
for Pitch,
V. Motor Ability, Reaction-Time, Rhythm and Time
Sense.
In einer Einleitung wird hervorgehoben, dafs die einzelnen Unter-
mchungen den behandelnden Gegenstand nicht erschöpfen, dafs aber die
anfgestellten Probleme solcher Natur sind, dafs, wie z. B. bei den
Täuschungen, die besten Resultate bei dem ersten Versuch erhalten werden.
Die Versuche wurden zunächst an Studenten und Studentinnen ausgeführt
nnd in einzelnen Teilen auch auf Schulkinder ausgedehnt.
ZeiUchrift f&r Psychologie 26. 8
114 Literaturbericht
I. Visual Perception etc. In dieser Untersuch ang ist ein Ver-
such gemacht, die MüLLER-LYER'sche Täuschung in verschiedenen Abfinde-
rangen an Personen zu beobachten, denen die Erscheinung nicht bekannt
war. Der Verf. benutzte für seine Versuche Münzen verschiedener GrOlse^
verschiedenartige Diagramme etc. Er untersuchte ferner den Einfloüs der
Winkelgröfse und der Seitenlänge seiner Versuchsgegenstände, die Elasticitftt
der scheinbaren Entfernung durch einen offenen Rauiü, und endlich wie
weit die Täuschungen von der geistigen Entwickelung abhängen. Zeich-
nungen der verwandten Versuchsobjecte sind der Beschreibung beigegeben.
Aus den Resultaten sei Folgendes hervorgehoben: Wo Münzen gebraucht
werden, nimmt die Täuschung mit der Verkleinerung des Gegenstandes
ab. Durch das Belief der Münze wird die Illusion gesteigert. Deutlichkeil
der Umrisse vermehrt die Täuschung nicht, diese wird dagegen grOfiser^
wenn, wie bei Tapetenmustern, die Umrandung der verwandten Figur com-
plicirter ist. Zieht man unter die Figur eine Linie, so wird die Täuschung
verringert. Die Täuschung ist am gröfsten für Kreise, am geringsten fflr
Vierecke. Die Versuche über den Einflufs der Winkelgröfse und der Seiten*
länge ergaben eine Uebereinstimmung mit den Ergebnissen Heyman's (diät
Zeitschr. 1895, 9, 221). Die verschiedenen Grade der geistigen Entwickelung
scheinen auf die Täuschung keinen Einflufs auszuüben.
IL The material-Weight Illusions. Der Verf. constatirt beim
Heben von Gewichten eine weitere Täuschung, die nicht von der GröCse
der Gegenstände, sondern von dem Material abhängig ist, aus dem sie ge*
fertigt sind. Von drei gleich schweren Cy lindern (55 g), die aus Kork, Hole
und Eisen hergestellt waren, die aber alle die gleiche Länge und ebenso^
den gleichen Querschnitt besafsen, wurde beim Heben der Kork-, wie der
Hohlcylinder überschätzt, der eiserne unterschätzt. Diese Versuche wurden
vielfach variirt, die genaueren Angaben sind in Tabellen zusammengefafst»
III. Localization of Sound in the Median Plane. Die Ver-
suchsanordnung dieser Untersuchung war so getroffen, dafs durch eine in
einem entfernten Zimmer befindliche elektrische Stimmgabel der primäre-
Stromkreis eines Inductionsapparates unterbrochen wurde, in dessen secun-
därem Kreis 3 Telephone eingeschaltet waren. Von diesen war das eine
7 Fufs vom rechten Ohr, das zweite ebensoweit vom linken Ohr der Ver-
suchsperson entfernt angebracht, während das dritte sich 2 Fufs über dem
Kopfe derselben befand. Der Verf. arbeitete ferner mit 2 Intensitäten,
von denen die schwächere eben wahrnehmbar war, die zweite aber vom
normalen Ohr nur aus einer Entfernung von ca lOÜ Fufs erkannt werden
konnte. Die Versuchspersonen, denen die Augen verbunden waren, waren
Singewiesen, bei jedem Einzelversuche die Entfernung und die Richtung
anzugeben, aus der sie die Schalleindrücke wahrzunehmen meinten.
Der Verf. fand unter Anderem eine bestimmte Tendenz, den einfachen,
über dem Kopfe der Versuchspersonen erzeugten Ton nach oben und nach
vorn zu localisiren. Beim Zusammenklingen der beiden seitlichen Schallein*
drücke wurde der resultirende Ton nach oben localisirt („above the ears**).
^This tendency is virtually as 8trong in this case as in the case of the
Single median sound that actually came from above."*
Literaiurbericht 115
Es konnte weiter festgestellt werden, dafs der von oben herrührende
Schalleindruck in Fällen, wo das eine Ohr schärfer hörte als das andere,
auf diese Seite verlegt wurde. Weniger ausgeprägt war diese Tendenz beim
Zusammenwirken der beiden seitlichen Schalleindrücke.
Ebenso wurde gefunden, dafs in der Verlängerung der Ohrenachse
erzeugte Schalleindrücke nach oben und nach vom localisirt wurden.
IV. Hearing Ability etc. Die Versuche wurden mit des Verfassers
Audiometer und mittels Stimmgabeln angestellt. Aus den Resultaten sei
hervorgehoben, dafs auch bei normalen Personen in der Hörfähigkeit grofse
individuelle Abweichungen gefunden wurden. Ebenso auffallend war die
Yerschienenheit in der Hörfähigkeit der beiden Ohren einer und derselben
Person. Wenige der untersuchten Personen waren sich dieses ünter-
echiedes bis dahin bewufst gewesen. Bei männlichen und weiblichen In-
dividuen schien die Hörfähigkeit nicht sehr zu differiren. Genauere An-
gaben hierüber sind in Tabellen zusammengestellt.
In der XJnterschiedsempfindlichkeit für Tonhöhen übertrafen nach des
Verfassers Untersuchungen Kinder bei weitem Erwachsene. Er sucht dies
dadurch zu erklären, dafs er es für wahrscheinlich hält, dafs das CoRTi'sche
Organ mit dem 10. Lebensalter die maximale Leistungsfähigkeit erreicht,
am dann hierin zurückzugehen, wenn es nicht systematisch geübt wird.
V. Motor Ability etc. Die Reaction auf Gehörseindrücke erforderte
nach den vorliegenden Untersuchungen die geringste Zeitdauer, diese Reactio-
nen waren ebenso am regelmäfsigsten. Etwas länger waren die Reactionen
&nf Tasteindrücke (Stirn), am längsten die auf Lichteindrücke. Bei Unter-
scheidungsreactionen (ein oder zwei Lichteindrücke) fand der Verf. als
Dnrchschnittswerthe bei Männern 0,08 und bei Frauen 0,07 See.
Bei Wahlreactionen (Wahl zwischen 1 oder 2 Lichteindrücken) betrug
der Mittel werth bei Männern 0,10, bei Frauen 0,8 See.
Der Verf. bemerkt, dafs bei ungeübten Versuchspersonen ein Unter-
schied zwischen motorischer und sensorieller Reaction nicht gemacht werden
könne. Er liefs deswegen muskulär reagiren.
Bei den rhythmischen Versuchen wurde so verfahren, dafs die Ver-
suchspersonen, ohne dafs das Wort Rhythmus erwähnt wurde, in regel-
mäTpigen Zeitabständen auf einen Knopf zu drücken hatten. Zweck der
Untersuchung war, „to determine the most natural rhythm of action and
its characteristics in free, simple, and small movements of a limb in its
mo6t natural position". Aus den Ergebnissen sei Folgendes herv^orgehoben :
-Der Rhythmus dieser freien Bewegungen scheint in der Regel durch die
Periodicität der Kreislaufs- und Athmungsvorgänge bestimmt zu sein. Der
häufigste Rhythmus ist der des Pulses." „Auffallend ist die Regelmäfsigkeit,
mit der der gewählte Rhythmus beibehalten wird." Es wurde eine starke
ond constante Tendenz beobachtet, den Grad des Druckes während der
freien rhythmischen Thätigkeit zu steigern. „Der Durchschnittsdruck ist
nach 90 See. wenigstens dreimal so grofs, wie zu Anfang." Weibliehe In-
dividuen zeigten eine geringe Tendenz, einen sehnelleren Rhythmus zu
wlhlen als männliche, doch wurden auch unter den ersten die längsten
Perioden gefunden.
8*
' i 16 Lite^'aturbericht.
Wenn den Versuchspersonen andererseits ein Rhjrthmas vorgemacht
.'wurde, den sie zu begleiten hatten, so zeigte sich die Tendenz, denselben
'zu beschleunigen, doch war in dieser Beschleunigung auch wieder ein
Rhythmus zu constatiren, sofern die Beschleunigung von manchen bemerkt
wurde, die dann in den ursprünglichen Rhythmus zurückkehrten, um dann
von Neuem die Bewegungen zu beschleunigen. Männliche Individuen
•zeigten bei diesen Versuchen im Ganzen etwas bessere Resultate als
weibliche.
Zeitsinnversuche mit kurzen Intervallen ergaben, dafs diese überschätzt
wurden. Bei längeren Intervallen wurde das kürzeste fast richtig geschfttxt,
die anderen wurden unterschätzt.
Kinder, bei denen die Versuche abgeändert waren, zeigten regelm&Isig
eine Unterschätzung der dargebotenen Zeitintervalle. Kiesow (Turin).
V. Hacker. Der Gesang der Vögel, seine anatomischen nnd biologischen Grund-
lagen. Jena, Fischer, 1900. 93 S.
Die grofsen Differenzen, welche die Stimmen der einzelnen Vogelarten
zeigen, beruhen zum Theil auf anatomisch-physiologischen Unterschieden
des Stimmapparates, dessen Bau und Function im ersten Capitel der vor-
liegenden Monographie erörtert werden. Den wichtigsten Einflufs auf den
specifischeu Ausbildungsgrad des Gesanges üben aber die psychischen
Eigenschaften der Vögel, welche sie mehr oder weniger befähigen, den an-
geborenen, instinctmäfsigen Gesang durch Lernen zu vervollständigen.
Ursprünglich wurde die Stimme nur dazu gebraucht, irgend einen ASect
zu äufsern. Dann ward sie zum Mittel gegenseitiger Verständigung, An-
.lockung und Zusammenhaltung der Artgenossen. Damit, dafs bei der
Paarung das Männchen der lockende, das Weibchen der wählende Theil
ist, hängt die bessere Ausbildung des männlichen Syrinx zusammen; der
weibliche ist im Grofsen und Ganzen auf einer weniger difEerenzirten Stufe
stehen geblieben. Vom einfachen Lock- und Paarungsruf bis zum voll-
kommenen Gesang und Schlag nach Zahl und Modulirung der Töne läfst
sich eine fortlaufende Entwickelungsreihe herstellen, der entsprechend sich
auch die wirkliche phylogenetische Entwickelung des Vogelgesanges voll-
zogen haben wird. Sommer-, Herbst- und Wintergesang bilden einen
weiteren Fortschritt des Gesanges über seine Bedeutung für das eigentliche
Liebesleben der Vögel hinaus. Der Gesang ist hierbei wohl schon als Aus-
druck einer Spielstimmung anzusehen, also einer psychischen Regung, die
über dem blos Instinctmäfsigen steht. Das Schlufscapitel behandelt die
Beziehung der Stimme zu den übrigen Bewerbungserscheinungen, nament-
lich zu den Sing- und Reigenflügen und den Balzkünsten, bei denen allen
die Stimme als Lockmittel und zur sexuellen Erregung dient. Bei den
Kampf- und Tanzspielen, die eine Weiterbildung des Balzinstinctes dar-
stellen, tritt die Stimm production mehr in den Hintergrund.
ScüAEFER (Gr. Lichterfelde-Ost).
Literaturbericht. \ 17
R. Dr Bois-Rethond. üeker die Geschwindigkeit des Hervenprincips. Archiv,
für Physiologie (Suppl.-Bd.), 68—104. 1900.
Verf. untersucht die Frage, ob die Fortpflanzung der Nervenerregung,
ukil gleichmäfsiger oder beschleunigter oder je nach der Bauart der Nerven:
mit verschiedener Geschwindigkeit abläuft. Versuchsanordnung und Fehler-
quellen werden auf das Genaueste beschrieben. Die bisher zur Zeitmessung
Wnntzte einfache graphische Methode mittels der Schreibtrommel hält Verf.
für nicht exact genug; er benutzt daher zur Zeitmessung die PociLLET'sche
Methode.
Die Versuche sind am Nervenmuskelpräparat vom Frosch gemacht;
«lie Reizung des Nerven erfolgt an vier Stellen, die erste nahe am Muskel,
«lie drei anderen in möglichst gleichen Abständen central wärts davon,
Verf. kommt auf Grund einer grofsen Anzahl von Versuchen zu dem Re»
soltate, dafs die Erregung im Froschnerven nicht, wie bisher angenommen^
mit der Länge der Leitungsstrecke abnehme, sondern sich überall mit
gleichförmiger Geschwindigkeit fortpflanze. Moskiewicz (Breslau).
Max Verwohn. Ermfidang^, ErscbSpfnng and Erholung der nervösen Gentra des'
Rickenmarks. (Ein Beitrag znr Kenntnirs der Lebensvorgänge in den Henronen.)
Archiv für Physiologie (Suppl.-Bd.), 152—176. 1900.
Das bei normaler Thätigkeit in den Neuronen bestehende Gleich-
jrewicht zwischen Dissimilation und Assimilation wird bei andauernd starker
Thitigkeit gestört, indem die dadurch hervorgerufenen Gleichgewichts-
Murungen nicht rasch genug beseitigt werden können; es tritt schliefslich
•1er Zustand der Ermüdung ein.
Diese an peripheren Organen genügend studirte Erscheinung läfst sich
auch am Centralorgane durch Vergiftung des Rückenmarkes mit Strychnin
'leutlich nachweisen. In kleinen und mittleren Dosen wirkt das Strychnin
erregend auf das Nervensystem, indem es die Erregbarkeit der sensiblen
Wemente des Rückenmarkes (nicht auch der motorischen) erhöht, so dafs
minimale Reize genügen, die stärksten Muekelcontractionen reflectorisch
iien'orzurufen. In sehr grofsen Dosen wirkt es jedoch lähmend, aber nicht
dadurch, dafs es die Erregbarkeit der Centren herabsetzt, sondern durch
Herzlähmung in Folge ungenügender Circulation.
Letztere Behauptung beweist Verf. durch eine Reihe von Versuchen.
Kin mit starken Dosen von Strychnin vergifteter Frosch zeigt erst eine
Reihe tet^nischer Anfälle, die schliefslich in einen Zustand der Erschöpfung
übergehen, die Anfälle folgen immer seltener auf einander, bis völlige
Lähmung eintritt und Herz und Athmung still stehen. Wird jetzt künst-
li'.he Athmung versucht, so erholt sich der Frosch und die maximale Er-
regbarkeit, die vor der Lähmung bestanden hat, tritt wieder ein. Diese
Asphyxie ist nur eine Folge der gestörten Circulation ; denn sie wird durch
Kinspritzen einer Kochsalzlösung in die Gefäfse des gelähmten Frosches
r:i»ch beseitigt.
Für die gestörte Circulation lassen sich zwei Ursachen angeben: un-
k'enügende Fortachaffung der Ermttdungsstoffe und Mangel an hinreichen-
•lem Ersatzmaterial. Auch diese Behauptung erhärtet Verf. durch eine Reihe,
von Versuchen, welche zeigen, dafs die Lähmung des vergifteten Frosche»*
118 Literaturbericht
aufhört und die frühere Erregbarkeit wieder eintritt, sobald für Fort-
Bchaffung der ErmüdungsstofiPe gesorgt wird, z. B. durch DurchstrOmniig
des Frosches mit einer Kochsalzlösung, und wenn femer dem Frosche ge-
nügend Ersatzmaterial (hauptsächlich Sauerstoff) z. B. durch Einspritaen
von 0-hal tigern Blute zur Verfügung gestellt wird.
Die Erscheinungen der Ermüdung sind also am Centralnervensystem
dieselben wie am Muskel, die Lähmung setzt sich auch hier aus zwei Com-
ponenten zusammen : 1. Lähmung durch Zerfallsproducte, 2. Lähmung durch
Mangel an neuem Material. Erstere nennt Verf. Ermüdung, letztere E^
Schöpfung.
Zur Erholung bedarf es also der Fortschaffung der ZerfaUsprodacte
und des Hinzutretens von Ersatzmaterial (hauptsächlich des Sauerstoffes).
Letztere That^ache stimmt gut ttberein mit den Anschauungen von PFLfoEx
und Hermann über die Constitution des Eiweifsmoleküls, welches erst durch
Hinzutritt von Sauerstoff labil und dadurch zerfallsfähig wird. Wenn es
auf äufsere Heize hin zerfällt, so verbindet sich der Sauerstoff mit den
stickstofffreien Substanzen und spaltet sich ab. Der zurückbleibende Kern
ist dadurch stabil geworden und wird erst wieder durch Hinzutritt von
neuem Sauerstoff labil. So ist es auch bei dem durch Strychnin vergifteten
Rückenmark. Das Strychnin erhöht die Erregbarkeit seiner Ganglienzellen,
d. h. deren Neigung zum Zerfall. Solange genügender Sauerstoff vorhanden
ist, kann sich das Eiweifsmolekül (Verf. nennt es Biogen) regeneriren und
von Neuem zerfallen; ist aller Reservesauerstoff der Zelle verbraucht, so
tritt Lähmung ein, wenn nicht von aufsen neuer Sauerstoff zugeführt wird.
MosKiEwicz (Breslau).
V. P. Ossipow. Ueber die physiolog^ische Bedeutung des Ammonshornet. Archiv
für Physiologie (Suppl.-Bd ), 1—32. 1900.
Die Ansichten der Forscher über die physiologische Bedeutung des
Ammonshornes widersprechen sich sehr. Während die einen in ihm ein
Centrum für die tactile und musculäre Sensibilität sehen, halten es andere
für das Centrum der Riechsphäre, das auch zur Seh- und Hörsphäre Be-
ziehungen hat.
Verf. unterzog daher diese Frage einer erneuten Prüfung, indem er
mehreren Hunden durch sehr vorsichtige, völlig aseptische Operationen
den gröfsten Theil des Ammonshornes beiderseits entfernte. Die Hunde
wurden mehrere Tage lang vor der Operation auf ihren Geruch hin unter-
sucht und in ganz derselben Weise nach der Operation noch über einen
Monat lang. Als Riechobjecte dienten Fleisch und Origanumöl, das den
Hunden höchst unangenehm war.
Die Resultate dieser an 7 Hunden vorgenommenen Operation waren
folgende :
Alle Hunde zeigten Sehstörungen, die jedoch durch die bei der Opera-
tion unvermeidliche Zerstörung des Hinterhauptlappens völlig erklärt sind.
Hingegen zeigte kein einziger Hund auch nur die geringste Störung seitens
des Geruchs-, Geschmacks- und ( rehörssinnes oder des Muskelgefühls. Be-
sonders ausführlich wurde der Geruchssinn geprüft, auch dieser zeigte
keinerlei Störung. Diese Resultate stehen in directem Gegensatze zu den
Literatwbericht. 119
Besultaten froherer Forscher. Verf. führt dies auf deren mangelhafte
Operationstechnik znrOck und kommt also zu dem Schlüsse, dafs dem
Ammonshom eine wesentliche Bedeutung fttr den Geruchssinn nicht zu-
kommt MosKiEWicz (Breslau).
W. V. BscHTEBBw. Uober die Localisation der Geschmackscentra in der Gebinh
rinde. Archiv für Physiologie (Suppl.-Bd.), 145—161. 1900.
Verf. hat mit seinen Schülern Untersuchungen zur genauen Localisa-
tion des his dahin noch strittigen Geschmackscentrums angestellt, indem
er insgesammt 42 Hunden verschiedene Gehirntheile exstirpirte und ihren
4je8chmack Tor und nach der Operation genau untersuchte.
Die Resultate sind folgende:
Doppelseitige Zerstörung eines Bindengehietes , entsprechend dem
vorderen und unteren Abschnitt der dritten und vierten ürwindung, hat
totalen Verlust des Geschmackes in allen Qualitäten zur Folge. Ist dieses
Gebiet nur einseitig zerstört, so besteht völliger Verlust des Geschmackes
anf der entgegengesetzten und theilweiser Verlust auf derselben Seite, wes-
halb unvollständige Kreuzung der Bahnen bestehen mufs. Mit dem Ver-
luste des Geschmackes tritt auch Aufhebung der tactilen Sensibilität der
Zunge ein. Alle diese Störungen bilden sich, selbst noch bei doppelseitiger
Zerstörung, langsam wieder zurück.
Partielle Zerstörung der Geschmackssphäre bedingt Verlust nur ein-
zelner Qualitäten des Geschmackes, und es ist Verf. gelungen, wenigstens
Annähernd die einzelnen Qualitäten süfs, sauer, bitter, salzig, in der Ge-
schmackssphäre von einander abzugrenzen.
MosKiEwicz (Breslau).
3i[ax Vebwobn. Znr Physiologie der nervösen Hemmnngserscheinnngen. Archiv
für Physiologie (Suppl.-Bd.), 105—123. 1900.
Die Frage, welche Beziehungen zwischen Skeletmuskel und nervösem
Centrum bestehen, wenn eine Muskelcontraction auf nervösem Wege ge-
hemmt wird, läfst von vornherein mehrere Antworten zu:
1. Die motorischen Vorderhornzellen werden in ihrer Thätigkeit ge-
hemmt, wodurch der Reiz für die Muskeln aufhört, diese also rein passiv
zar Erschlaffung gebracht werden.
2. Es giebt bestimmte Hemmungsneurone.
3. Die motorischen Vorderhornzellen hemmen activ, indem sie bei
ihrer eigenen Hemmung dem Muskel direct einen Reiz zuschicken, der
<iiei*en hemmt.
Zur Entscheidung dieser Frage stellt Verf. folgende Ueberlegung an:
Wird ein Muskel in situ durch gleichmäfsige Reize erregt, so behalten,
wenn die Zuckungen graphisch dargestellt werden, diese dauernd die gleiche
Höhe. Wird nun gleichzeitig der Muskel auf nervösem W^ege gehemmt,
!«o müssen die Zuckungen gleich hoch bleiben, wenn die Hemmung eine
passive ist, d. h. durch blofse Hemmung der Vorderhörner erfolgt. Wird
*\eT Muskel jedoch durch deren active Thätigkeit oder durch besondere
Hemmangsneurone gehemmt, so müssen die Höhen der Zuckungscurven
herabgehen, sobald die Hemmung eintritt.
120 Literaturbericht.
Auf Grund dieser Ueberlegung "hat nun Verf. eine Reihe von Ver-
suchen angestellt, die im Wesentlichen darin bestanden, dafs ein Nerv
durch gleichinäfsige luductionsströme gereizt und die Zuckungscnrve des
zugehörigen Muskels aufgeschrieben wurde, während gleichzeitig centrale
Hemmungen auf ihn einwirkten. Bei den Versuchen an Fröschen wurde
dies dadurch erreicht, dafs auf eine Grofshirnhemisphäre kleine Kochsali-
krystalle aufgelegt wurden, welche Hemmungen in der entgegengesetzten
Extremität hervorrufen, oder durch Decapitiren der Frösche, was völliges
Erlöschen der Reflexerregbarkeit für die nächsten 5—20 Min. zur Folge
hat, also ebenfalls stark hemmend wirkt. Trotzdem behielten die gleich*
zeitig durch Reizung des Ischiadicus gewonnenen Muskelcurven dauernd
ihre gleichen Höhen.
Bei Versuchen an Hunden benutzte Verf. die von Shbrringtox ge-
machte Beobachtung, dafs zwei antagonistisch wirkende Muskeln sich nie
gleichzeitig contrahiren können, dafs vielmehr die Contraction des einen
reflectorisch eine Erschlaffung des anderen hervorruft. Wurden nur die
Strecker der Zehen gereizt, so ergaben sie eine bestimmte, immer gleich-
hochbleibende Zuckungscurve. Wurden jetzt die antagonistischen Muskeln,
also die Beuger, mit einer Zange stark gequetscht, so liefs sofort der Tonus
der Strecker nach, das Niveau der Zuckungscurv^en sank herab; aber die
absoluten Zuckungshöhen blieben während der Zeit der Hemmung dieselben
wie vorher. Also auch hier zeigte sich kein Einflufs der centralen Hemmung
auf die absolute Höhe der Zuckungen.
Verf. zieht daraus den Schlufs, dafs eine durch periphere Reizung er-
folgte Contraction eines Skeletmuskels vom Centrum her nicht gehemmt
wird, seihst wenn sich die entsprechenden Vorderhornzellen selbst im
Zustande der Hemmung befinden. Der Procefs der Hemmung wird also
von der Ganglienzelle in den Axencylinder fortgeleitet; in diesem bewegt
sich einzig und allein der dissimilatorische Vorgang der Erregung.
Hemmungsvorgänge in den Ganglienzellen und Erschlaffung der Muskeln
stehen also nicht im Zusammenhange von Ursache und Wirkung; wir haben
uns den Vorgang vielmehr so zu denken: die im Zustande der Erregung
befindliche, d. h. dissimilatorisch thätige Vorderhornzelle wird gehemmt,
die Dissimilation hört auf, es tritt Assimilation ein, die Zelle tritt in den
Zustand der Ruhe. In Folge dessen erhält der bis dahin contrahirte, also
auch in der Dissimilation befindliche Muskel keine motorischen Impulse
mehr, die Dissimilation hört auch hier auf, es tritt daher Assimilation ein^
der 3Iuskel erschlafft. Diese Art der Hemmung nennt Verf. passive
Hemmung, im Gegensatz zur activen, die durch Einwirkung eines directen
Hemniungsreizes entsteht.
Als weitere Consequenz ergiebt sich ohne weiteres, dafs der Skelet-
muskel keine eigenen Hemmungsnerven hat. Seine Hemmung erfolgt rein
passiv durch Aufhören der Erregung im Centrum.
MosKiEwicz (Breslau).
Literaturbericht. 121
G. H. Pabkeb. Tbe fliotoiiieelianical Gbaiiges in tbe Retinal Pigment of Garn-
Bins. The Bulletin ef fhe Afuseum of Comparative Zoology 35 (6), 143 — 148.
(From the Zoological Laboratory at Harvard College.) 1899.
Die von P. am Auge eines Flohkrebsen, Gammarus omatus, unter
Einwirkung des Lichts beobachteten Veränderungen reihen sich den am
Axthroi>oden bereits gekannten ein: Das sogenannte Rhabdom (licht-
brechender Körper) wird scheidenförmig von Fortsätzen der retinalen Zellen
uSinneszellen) umgeben, die sich noch weiter nach vorn, die am Khabdom
eitzenden Coni umschliefsend, erstrecken. Während bei im Licht gehaltenen
Thieren die Fortsätze in ihrer ganzen Ausdehnung schwärzliches Pigment
enthalten und der Zellkörper dichtere Pigmentanhäufung nur in der Um-
gebung des Kerns aufweist, wird in der Dunkelheit der das Rhabdom um-
schliefsende mittlere Theil der retinalen Zelle von Pigment frei, welches
nun dicht den Zellkörper erfüllt. Es wird hierdurch ermöglicht, dafs in
der Dunkelheit auch seitliche, sonst vom Pigment absorbirte Lichtstrahlen
von den umgebenden, ein weifsliches Pigment enthaltenden Zellen in das
Khabdom hinein reflectirt werden und so eine Verstärkung des Lichtreizes
eintritt G. Abelsdorfp (Berlin).
A. TscHEBMAK. BeobachtQDgen über die relative Farbenblindheit im indirecten
Sehen. Arch. f. d. g^s. Phy»iologie 82, 559—590. 1900.
Die neueren Anschauungen über die Farbenempfindung der peripheri-
schen Xetzhauttheile stützen sich im Wesentlichen auf die einschlägigen
Arbeiten von Hess und von v. Kries; dieselben werden in willkommener
Weise durch die z. Th. neuen Beobachtungen von Tschermak erweitert.
T. stellt zunächst die für das Zustandekommen totaler Farbenblindheit
auf der Netzhautperipherie entscheidenden Factoren zusammen. 1. Nicht
zu grofse Ausdehnung der gereizten Netzhautfläche. 2. Geeigneter Grad
der Sättigung der Farbe, der wiederum durch die absolute Lichtintensität
mitbediugt wird. Bei geringerer Sättigung tritt Farblosigkeit bereits in
geringerer Excentricität auf. 3. Passende Helligkeit und Farbe des Grundes,
indem durch Simultancontrast der sub 2. genannte Factor, die Sättigung
zest^igert oder vermindert werden kann. 4. Der Adaptationszustand des
Sehorgans; durch vorausgegangenen Lichtabschlufs geht mit der Abnahme
der Sättigung der Farben eine dem Centrum sich nähernde Erweiterung
der Grenzen der farbenblinden Netzhautzone einher. Chromatische Ad-
aptation führt zur Einengung der Grenzen für die Wahrnehmbarkeit der
betreffenden Farbe und zur Erweiterung der Grenzen für die Gegenfarbe.
.'». Die farblose Empfindung macht der farbigen in den verschiedenen Netz-
hautmeridianen nicht gleichmäfsig Platz und tritt bei Roth und Grün,
gleiche Weifsvalenz und Helligkeit vorausgesetzt, in derselben und ge-
ringeren Entfernung von der Fovea auf als bei Gelb und Blau (Hess).
Nach dieser die Relativität der peripherischen Farbenblindheit nochmals
betonenden Zusammenfassung wird die Aenderung des llelligkeitsverhält-
nisses im indirecten Sehen erörtert. Bei Helladaptation zeigen nacli Ver-
.-«uehen mit Pigment- und Spectralfarben Roth und Gelb eine Verminderung,
Grün und Blau eine Zunahme der Helligkeit beim Uebergang von centraler
XU mehr und mehr excentrischer Betrachtung. (Auf der farbentüchtigen
122 Liter aturhericht,
Netzhautzone wurden heterochromatische Helligkeitsgleichungen hergestellt)
Für das helladaptirte Sehorgan erfahren ferner farblose Gleichangen
zwischen Binärgemischen bei zunehmend indirectero Sehen eine mit der
bei Dunkeladaptation an derselben Netzhautstelle auftretenden gleichsinnige
Aenderung. Paracentrale farblose Gleichungen bleiben jedoch auch für die
mehr peripherischen Theile bestehen, wenn das Sehorgan sich im Zustande
der Dunkeladaptation befindet. Nur der letzte Satz stimmt mit dem Er-
gebnifs der v. KaiEs'schen Beobachtungen ttberein, v. Kries behauptet ganz
allgemein ^die Gültigkeit aller paracentralen Gleichungen für alle peri-
pheren Partien". T. konnte allerdings bei relativ kleinem Felde eine
Aenderung farbloser Gleichungen im Zustande der Helladaptation ebenfalls
nicht sicher wahrnehmen, die Aenderung wurde erst bei Einbeziehung
mehr und mehr peripherer Netzhautstellen durch Vergröfserung des Feldes
deutlich. Dem Ref. erscheint jedoch bemerkenswerth, dafs auch die zuerst
erwähnte von T. beobachtete Aenderung der relativen Helligkeit farbiger
Lichter auf verschiedenen Netzhautstellen nicht ohne Weiteres mit den
Beobachtungen von v. Kries übereinstimmt. Letzterer hat zwar centrale
heterochromatische Helligkeitsvergleiche vermieden (s. die Begründang in
dieser Zeitschr. 15, 273), indessen würde sich nach den von ihm mitgetbeilten
„Peripheriewerthen" keine wesentliche Abweichung derselben von der Ver-
theilung der Helligkeitswerthe der Farben auf den farbentüchtigen Netz-
hautpartien vermuthen lassen. Die von T. später auf S. 584 der vorliegen-
den Abhandlung gegebenen Zahlen zeigen dasselbe Yerhältnifs, so daDs
Verf. selbst sagt, dafs die Helligkeitsvertheilung des Spectrums auf der
unter den gewählten Bedingungen farbenblinden Netzhautzone bei Hell-
adaptation „denselben Typus wie jene in dem central oder extramacular
farbig gesehenen Spectrum" zeigt; allerdings hebt auch hier T. als Be-
dingung eine Beobachtung auf sehr kleinem Felde hervor.
Ein dritter Abschnitt behandelt die ,, Bedeutung der Lichtstärke und
des Zustandes des Sehorgans für farblose Helligkeitsgleichungen im in-
directen Sehen". Mit fortschreitender Dunkeladaptation macht sich auch
auf der relativ farbenblinden Netzhautzone die Erscheinung geltend, dafs
im Wesentlichen die langwelligen Strahlungen des indirect betrachteten
und farblos erscheinenden vSpectrums eine geringere, die kurzwelligen
Strahlungen eine gröfsere Helligkeitszunahme aufweisen als unzerlegtes
Tageslicht. Nach T.'s Beobachtungen wird auch hier (vgl. die Arbeit des-
selben Autors „lieber die Bedeutung der Lichtstärke und des Zustandes
des Sehorgans für farblose optische Gleichungen, Pflüger's Archiv 70) die
Aenderung der relativen Helligkeit nicht durch den Wechsel der absoluten
Lichtintensität, sondern durch Zustandsänderung des Sehorgans erzeugt,
da bei Constanz des Adaptationszustandes und Aenderung der Intensität
Helligkeitsgleichungen gültig bleiben, bei Aenderung des Adaptations-
zustandes (einzelne Stadien fortschreitender Dunkeladaptation) und con-
stanter Intensität aber ungültig werden. WMe T. selbst bemerkt, hat
V. Kries bereits den Unterschied der „Peripheriewerthe" des helladaptirten
Auges von „den Dämmerungsperipheriewerthen" festgestellt. Es zeigt sich
hier also wiederum die bereits in früheren Arbeiten hervorgetretene
Differenz: T. tritt für die Abhängigkeit der Gleichungen nur von der
Literafurbericht 123
Adaptation und nicht von der Lichtstärke ein, während v. ICbies auch beim
indirecten Sehen den Einflufs von Lichtstärke und Adaptation nicht streng
sondern zu dürfen glaubt. Abelsdorff (Berlin).
G. M. Stbatton. A lew Determination of tbe ■inirnnm Yisibile and its Bearing
Ol Localization and Binocnlar Depth. Psychol. Review 7 (5), 429—435. 1900.
Der kleinste seitliche Ortsunterschied, der sichtbar ist, ist bisher als
ein Winkel von 50'' — 60" angegeben worden. Die Methode, die zu diesem
Ergebnifs führte, besteht darin, dafs man zwei parallele Linien so nahe zu-
sammen bringt, bis sie gerade noch als zwei unterschieden werden können.
Stritton wendet eine andere Methode an. Er schneidet eine senkrechte
gerade Linie in zwei Theile und verschiebt den unteren Theil parallel zu
sich selbst, bis man im Stande ist zu urtheilen, dafs die untere Gerade
nicht mehr in der Bichtung der oberen gelegen ist. Das Ergebnifs ist, dafs
der Schwellenwerth für räumliche Unterschiede nur ungefähr 1** ist.
Stbatton zieht hieraus den Schlufs, dafs man wohl nicht länger anzu-
nehmen brauche, dafs stereoskopische Tiefen Wahrnehmung durch einen
unbewufsten Conflict der zwei Netzhautbilder bewirkt werde. Ein
weiterer Schlufs ist, dafs Licht, das auf nur Einen Zapfen der Netzhaut
fällt, wahrscheinlich nicht nur auf diesen einen, sondern indirect auch auf
die benachbarten Zapfen einwirkt. Die Entfernung von zwei Zapfenreihen
beträgt 30", also weit mehr als das obige Minimum von 7". Dies Minimum
scheint Dur so erklärbar zu sein, dafs von dem Lichtätreifen nicht nur die
direct getroffenen, sondern auch benachbarte Zapfen gereizt werden, und
zwar mit verschiedener Intensität, je nach der seitlichen Entfernung von
dem Lichtstreifen. Max Meyer (Columbia, Missouri).
Leon Boütboux. La giniration de la gamma diatoniqne. Rev. sdentif. 13 (10),
289—299; (11), 326—331; (12\ 359—365. 1900.
Alle musikalischen Töne lassen sich aus den numerischen Beziehungen
eines Grundtones zu seinen harmonischen Obertönen ableiten. Beschränkt
man sich auf die beiden ersten Obertöne, Octave und Quinte, so erhält
mun die regelmäfsigste aller Leitern, die pythagoreische. Geht man bis
zum 5. Theilton inclusive, so resultirt die ptolemäische oder sogenannte
natOrliche Tonleiter. Die erstere ist mehr für die Verwerthung in der
Melodie, die letztere mehr fftr die Harmonie geeignet. Eine absolut gültige
Tonleiter ist überhaupt unmöglich. Die diatonischen Töne besitzen eine
gewisse Variationsbreite ; man möge als Richtschnur für die Nomenclatur
die pythagoreische Leiter wählen, aber unter Zulassung gewisser Nuancen
der Intonation. Die Definition der Mollleiter seitens des Verf/s ist eine
negative. Eine .4-Moll-Tonart existirt gar nicht, ihre Töne sind die der
^'-Dur-Tonart. — Der Bedeutung, welche die Obertöne, Schwebuugen und
Differenzt^ne für die Consonanz und Dissonanz haben, widmet Verf. eine
lanjrere Auseinandersetzung, wobei er mit mehr errechneten Differenztönen
•»perirt, als factisch gehört werden. Die Einwände gegen die IIelmholtz-
sche Consonanztheorie enthalten kaum Neues. Verf. empfiehlt, die Begriffe
Consonanz und Dissonanz dem Vocabularium der Aesthetik zu überlassen ;
124 Literaturbericht.
während für den Forscher Helmholtz die Consonanz gleichbedeutend war
mit dem Nichtvorhandensein von Dissonanz^ ist für den Künstler die Con-
sonanz eine positive Realität und die Dissonanz der Mangel derselben.
ScHAEFER (Gr. Lichterfelde-Ost).
W. Heinrich. lote priliminaire sor la fonction accommodative de la membrane
tympanique. Bulletin intern, de Vacad. des seiendes de Cracovie. (März)
105—111. 1900.
Verf. hat seine früheren, noch nicht zu eindeutigen Resultaten führen-
den Untersuchungen über die Accommodationsfähigkeit des Trommelfells
wieder aufgenommen und sich dazu des MiCHELSON'schen Interferomet^rs
bedient. Die Versuche, am Ohre eben getödteter Hunde angestellt, ergaben
Folgendes: Jeder Spannung des Trommelfells (durch Zug an der Tensor-
sehne) entspricht nur ein einziger Ton, auf den dasselbe reagirt; alle
anderen Töne von verschiedener Höhe haben keinen Effect. Die wirksame
Tonhöhe wechselt mit dem Grade der Spannung und ist bei gleicher
Spannung für verschiedene Trommelfelle verschieden Geräusche haben
keine Reaction zur Folge. Verf. hält hiernach das Trommelfell für ein
Accommodationsorgan. Sciiaefer (Gr. Lichterfelde-Ost).
W. Heinrich. De la Gonstance de perception des tons pors k la limite d'andl-
biliti. Bulletin Internat, de Vacad. des sciences de Cracovie. (Jan.) 37 — 15.
1900.
Wie in Bd. 21, S. 391 dieser Zeitschrift berichtet, hat Verf. früher ge-
funden, diifs eben noch hörbare Töne keine Intensitätsschwankungen zeigen»
während dies bei Geräuschen der Fall ist. Er hat nun seine Beobachtungen
wiederholt und zugleich die Angaben von Cook und Titchener, welche
auch bei Tönen an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit Schwankungen der
Stärke bemerkten, controlirt. Es ergab sich, dafs die Versuchsanordnung
der genannten Autoren nicht frei von Geräuschen war und dafs diese die
Intensität^schwankungen der Töne vorgetäuscht haben müssen. Ganz
geräuschfreie Töne lassen thatsächlich keinerlei Schwankungen an der
Grenze ihrer Wahrnehmbarkoit hören.
Sciiaefer (Gr. Lichterfelde-Ost).
G. W. Patrick. On the Analysis of the Perceptions of Taste, üniversity of
Iowa Studies in Psycholoyy 2, 85 — 127. 1899. Bxdlctin of tht Universify
of Towa, New Series, 1 (5).
In ihrem ersten Theile enthält die Arbeit wenig Neues. Es werden
nochmals die Fragen nach der Anzahl der Grundempfindungen des Ge-
schmackssinnes aufgeworfen, es wird erwogen, ob es deren eine unbegrenzte
oder nur eine beschränkte Anzahl gebe, wie weit Geruch, Getast, Tem-
peratur und Gesicht bei der Aufnahme von Geschmackssubstanzen mit-
wirken oder nicht und es wird schliefslich die ..Hypothese'* als am meisten
den Thatsachen entsprechend anerkannt, nach welcher es „nur vier (mög-
licherweise nur zwei) Geschmacksempfindungen giebt". Der Verf. schreibt:
„Indeed, there are several reasons for thinking with Valbnti.n and other»
that salt and sour are not true tastes at all. Kiesow's experimcnts with
Literaturbericht. 125
eocaine, however, seem to substantiate bis position that there are four tastes,
bat tbat salt and sour in particular are attended by touch sensations." Diese
g:inze Darlegung ist nur eine Wiederholung bekannter Ausführungen, ohne
dafs auf die ungeheure Arbeit der früheren Forschung genügend Bedacht
genommen wird. Wenn es für die volle Anerkennung von Salzig und Sauer
als Geschmacksempfindungen nicht genügt, dafs die allgemeine Natur des
änfseren Reizmittels auch hier gleich ist der der übrigen Geschmacks-
reize, dafs weiter nach anatomischen Befunden, wie nach der Arbeit
Oehäwall's, die ich in dieser Hinsicht bestätigen und erweitern konnte,
diese Empfindungen auf mit Geschmacksbechern versehenen Papillen aus-
gelöst werden, und dafs endlich psychologisch das Charakteristische dieser
Empfindungen dem der anderen Geschmackssensationen näher steht als
dem irgend einer Empfindung anderer Sinnesgebiete, so dürfte eine Ver-
ständigung darüber, ob Salzig und Sauer Geschmacksempfindungen sind
oder nicht, überhaupt schwerlich möglich sein. Den noch nicht erledigten
Fragen nach dem metallischen und elektrischen Geschmack tritt der Verf.
überhaupt nicht näher, der alkalische wird nur gestreift.
Der Verf. spricht dann von Mischungen von Geschmacksstoffen und
untersucht, ob hieraus neue Qualitäten resultiren oder nicht. Er findet,
dafs dies nicht der Fall ist. „These remain distinct in consciousness, not
subject to fusion or mixture with each other; the mauifold taste percep-
tions of daily experience are made up of these four taste sensations with
tbeir grades of intensity, and Sensation of smell, touch, temperature, sight,
and muscle sensations." Mit dem Letzteren wird dem bisher Bekannten
nichts Neues hinzugefügt. Mit Bezug auf den ersten Punkt hatte ich ge-
sagt: ^Es entsteht auf diese Weise für die Wahrnehmung, was wir ge-
wöhnlich als einen Mischgeschmack bezeichnen. Derselbe ist dann aber
nicht nur gleich einer Summe zweier an sich unvergleichlicher Qualitäten,
sondern es resultirt daraus zugleich bei allen Combinationen ein qualitativ
Neaes, das in die erzeugte Mischung als Grundgeschmack eingeht, aus dem
man dann die denselben verursachenden Einzelempfindungen je nach der
verwandten Lösungsstufe der letzteren herauserkennt. Dieser resultirende
(inindgescbmack ist bei den Mischungen von Salzig und Süfs, sowie bei den-
jenigen von Salzig und Sauer und Sauer und Bitter von so eigenartig quali-
tativer Färbung, dafs man dafür gar keine Bezeichnung finden kann. Bei den
anderen Zusammensetzungen können wir diese Bezeichnungen wenigstens
Stoffen entlehnen, für deren Ges(!hmack die Sprache bereits solche vor-
bereitet hat. Wir sprechen von einem süfssauren, einem bittersüfsen, einem
bittersalzigen Geschmack und associiren denselben mit der Wahrnehmung
bestimmter Substanzen aus dem Pflanzen- und Mineralreiche, die uns den-
selben verursachen können, aber wir sprechen eigentlich nicht von einem
.nalzHüfsen, salzsauren und bittersauren Geschmack etc." Bei diesem Her-
anstönen der Componenten aus dem Grundgeschmack kann Wettstreit ein-
treten. Diese Beobachtungen halte ich auch jetzt noch aufrecht. Der Verf.
prüfe nur verschiedene Früchte, Marmeladen u. dgl., und er wird vielleicht
doch meine Ansicht bestätigen können. Der bittersüfse Geschmack ist eben
doch noch etwas Anderes, als die Empfindungen, die man hat, wenn man
z. B. anf die eine Zungenseite einen bitteren, auf die andere einen süfsen
126 Liter a turberich t.
Geschmacksötoff bringt. Bei schwächeren Lösungen tritt hier, wie Usbis-
T8CHITSCII zuei»t fand, fast immer Wettstreit ein, aber es fehlt eben d«p
Grund- oder Mischungsgeschmack. Der Verf. schreibt: „Honey andallthe
different kinds of syrups and molasses have only one taste, viz. sweet"
In einer Note zu dieser Stelle heifst es: „An exception may be found in
New Orleans molasses which has a slight bitter taste together with sweet"
Es giebt aber eben viele Substanzen, aus denen man zwei Geschmftcke
herausempfindet.
Der Verf. geht dann näher auf die von mir [PhU<i8. Stud, 12, 269) mit-
getheilten Versuche der Süfs-Salzreihe ein. Er sehreibt: ,,1 selected from
bis list those mixtures of sweet and salt which gave, according to him,
most decidedly the new tastes, that is, the insipid and alkaline tastes.**
Ich hatte geschrieben: „an die Stelle dieser beiden Qualitäten war eine
Empfindung getreten, die ich am besten mit dem Ausdruck «fade« be-
zeichnen möchte und die man dem unbestimmt Laugigen, das man bei
grofser Verdünnung von Kali- und Natronlauge erhält, vergleichen könnte.
Die Empfindung ist nicht gleich Null, sie entspricht auch nicht völlig der-
jenigen des destillirten Wassers, sondern ist von so eigenartig neuer Qualität,
dafs sie unwissentlich schwer definirbar und eben in der angegebenen
Weise am geeignetsten zu bezeichnen ist." Es war mir eben schwer, einen
passenden Namen zu finden und in diesem Sinne sind natürlich die Angaben in
der Tabelle zu verstehen. Der Verf. will meine Versuche genau nach meiner
Angabe nachgemacht haben. Ich habe diese mühevollen Versuche mit geringen
Ausnahmen an mir selbst angestellt und habe angegeben: ,.Al8 Scbmeck-
Htelle benutzte ich die Zungenränder, weil die oben erwähnten Unterschiede
der Perceptionszeiten hier weniger stören und durch Zusatz von Lösungen
geringerer Stärken leicht ausgeglichen werden können." Der Verf. schreibt:
„I tested four observers, two men and two women, with these Solutions.
They were blindfolded and '/ä ccm of the Solution was placed upon the
tongue" (wo, wird nicht angegeben) „by means of a glass dropper. They
were instructed to taste the material carefully and swallow it.** Wenn der
Verf. die Schmecksubstanz über die ganze Zunge vertheilen und dann noch
verschlucken läfst, so werden hierdurch gerade die Fehler in die Versuche
eingeführt, die ich vermeiden wollte, nämlich dafs Flächen verschiedener
Empfindlichkeit betheiligt waren. Der Verf. sollte aufserdem wissen,
dafs bei allen diesen Versuchen auch wohl individuelle Differenzen
vorhanden sind, und dafs Schwellenwertho und andere Angaben, die
für eine Versuchsperson gelten, nicht mit mathematischer Genauigkeit
oline Weiteres auch für alle anderen gelten können, zumal in einem
Sinnesgebiete, wo diese Differenzen beträchtlich sind. Ich habe bei
mir selbst bei Constanterlialtung des Quantums der Concentrationsstufe
einer (Jualität und stetiger Abänderung derjenigen der Concentrationsstufe
der anderen durch mühevolle Versuche den Punkt herausgesucht, wo das
in Frage stehende Phänomen bei mir auftrat. Patrick hat weder an sich
selbst irgend einen Versuch ausgeführt, noch auch sich Mühe gegeben, die
^lischungsverhältnisse bei seinen Versuchspersonen zu variiren, und doch
lassen seine Angaben vermuthen, dafs er hierdurch zum Ziele gekommen
wäre; denn dieselben zeigen verglichen mit meinen Angaben mehr Ueber-
Literaturbericht 1 2 7
einfitimmaDg, als er selbst herausliest, wie überhaupt die Angaben nicht
hinreichend ausgenutzt und interpretirt sind. Die betreffenden Versuche
worden zudem an jeder Versuchsperson nur ein einziges Mal ausgeführt
Ich schlage ihm noch einen anderen Versuch vor. Er bestimme an sich
selbst die Schwellen für Süfs und Salzig, thue dann zu einem Quantum
der Flüssigkeit von der Süfsschwelle soviel Salz, als seiner Salzschwelle
entspricht, und er wird vielleicht die von mir beschriebene Erscheinung
erkennen. Er schalte hierbei alle störenden Factoren aus, bringe die Sub-
stanz auf eine begrenzte Schmeckstelle, aber er lasse sie nicht herunter-
whlncken.
Der Verf. discutirt dann die Frage, dafs Salzlösungen unterhalb der
Salzschwelle schon fade und laugig schmecken. Dies ist, wie er auch weifs,
von mir wiederholt betont worden und diese von mir gefundene Thatsache
ist der Ausgangspunkt meiner mit Dr. Höbeb zusammen unternommenen
Untersuchung über den Geschmack von Salzen und Laugen gewesen
iZritschr. f. phys. Chemie 27, 4). Der Verf. scheint diese Arbeit nicht zu
kennen. Er mag die dort mitgetheilten umfangreichen Versuchsreihen und
Ergebnisse aber doch selbst nachlesen.
Der Verf. wird wohl nicht im Ernst glauben (es geht aus seiner Arbeit
nicht klar hervor), dafs es meine Ansicht sei, die ungeheure Anzahl der
sogenannten Geschmacksempfindungen des populären Bewufstseins gingen
aus einer Mischung der vier Geschmacksqualitäten Süfs, Salzig, Sauer und
Bitter hervor. Mir ist wenigstens nicht bekannt, wo ich Derartiges gesagt
haben sollte. Wo sich so viel Empfindungen vereinigen können, wie im
Mandraum, wo sich, wie ich zeigen konnte, auf dem engbegrenzten Räume
einer einzigen geschmacksempfindlichen Papille vier Sinnesgebiete, noch
dazu mit verschiedenen Qualitäten vereinigen können, liegt der Schlufs nur
XU nahe, dafs bei der Aufnahme der Nahrung auch alle betheiligt sind.
Eine herv'orragende Rolle kommt hier, wie wohl bekannt ist, in erster Linie
dem Geruchssinn und sodann dem Tastsinn in allen seinen Abstufungen
(Betheiligung der festeren und weicheren Mundtheile u. s. w.) zu, und be-
sonders, wenn man den Schwerpunkt auf die Geftthlsseite verlegt. Ich
habe in meinen Arbeiten angegeben, von wem die leichte, auch vom Verf.
benutzte Ausschaltung des Geruchssinnes stammt, er unterläfst dies.
Den Rest der Arbeit bilden Mittheilungen über die Ergebnisse von
Versuchsreihen, die an einer anosmotischen Dame angestellt wurden. Der
Verf. fafst diese Ergebnisse selbst allgemein folgendermaafsen zusammen:
-On the whole the experiments confirm, so far as they go, the hypothesis
made in this article, and, while not diminishing the importance which has
been given to sensations of smell in the „tastes" of common experience, they
indicat« that touch and muscle sensations play an unexpectedly important
part."* KiESOW (Turin).
E. DE Cton. L'orientatlon chez le pigeon voyagenr. Rev. scientifique 13 (12),
35^—359. 1900.
Die Brieftauben benutzen zur Orieutirung über ihren Weg nicht nur
Gesichtseindrücke und Geruchswahrnehmungen sondern auch Druck-,
1 2^ /- itrrntHrl'eririk f. i
T*fn:7/«rrMtt2r- ul<1 vielleii-lit nri<-}j andere Empnndiin2<eii. die durch die Eior ;r
Mirkuti'j ^]*rr LufT'*trön:i:n2en auf die Ilant und namentlich auf die NaiMr j
•chWimhiiUi aii-:;el6Ht werden. I>ie Fähigkeit. ?ioh innerhmlh eines grolM )
Terrain»* zure'-htzufinden. die auc^ vielen Jaedthieien in hohem MmIm
ei'.;eri i^t. I^eniht ni<'}it auf einer bli.iS instiuc-:iven. sondern anch auf intdU-
geiiter V»rrw<-nhnn5r der eben erwähnten .Sinnesreixe. Ke BogengAgc
koriirii<:n nur in ho weit in Betra<^ht. als eine hohe Entvickelong denelbca
di<- l5<-we:rli''hkeit de» Thierej* ^ün^tie beeinänfet.
ScHAEFEB Gr. LichterfeldeOst .
B. B'/tKiKüf. U perceptioi des monvemeits par le Bfyei 4fit smatiiH
tactiles des jeix. Her. jJiHj«. 50 r? . l— 17. 19C0.
Die Frajff- nacli der Perception der Bewegung eines fixirten Objecto
ist >^-reit» von Ai:»eBT experimentell studirt worden. Derselbe erkl&rte
jedor-li dl*» Perr-eption uirht durch die tactilen und musknlftren Empfin-
dun;fen de« Autren, v, Fli.i-« hl hatte constatirt, dafs für die Schfttznng
der ^ieKr-liwindi^fkeit einer IJewejrung es nöthi^ ist. dsfs man einen unb^
wtTu\'u'h*'U J'iinkt des Gesichtsfeldes üxirt, oder dafs man mit den Augen
dem f-ji-li lie webenden Ohjecte seihst foljrt. Aitiert bediente sich aweier
('yliiid<;r. Vor jedem derselben war eine rechtwinklige Oeffnung von
iy) min Br"it«* und 2f) mm Höhe angebracht. Der Beobachter war 800 mm
von den <^.'yl indem entfernt. Letztere drehten sich mit verschiedenen
GeM-h windigkeiten. Vor dem links befindlichen war in sehr geringer Ent-
fern untr an «rinem Coronfaden in der Mitte der Oeffnung eine kleine
WiK-hskiigel aufgehängt, welche als Fixationspunkt diente. Der Beobachter
hatte an ZI] {feinen, welcher der beiden Cvliuder ihm am schnellsten sich in
drehen Hchi«'n. Atiikkt l^estütigte dabei, was in der Hauptsache schon
V. P'lkihciil gefunden hatte, dafs nämlich, so oft man den Punkt iixirte, die
Bewegung ungefähr zwei Mal oder ein wenig mehr als zwei Mal rascher
erfolgte, als wenn man den Gegenstund mit den Blicken verfolgte. Die
»klärung dc*H erhaltenen KenultatH stöfst jedoch auf Schwierigkeiten, weil
bei dem vorliegenden Kxperiment mehr als ein Gegenstand sichtbar war.
In «'inem anderen Falle liefs Albkiit Platindraht auf elektrischem Wege
roth werden. Kr constatirte, dafs die Wahrnehmung der Bewegung sehr
unsicher wird, dafs man nämlich einerseits dann eine Bewegung xu con-
statiren glaubt, wenn keine vorhanden ist t autokinetische Empfindungen),
und dafH man andererseits eine wirkliche und sehr markirte Bewegung
nicht wahrnimmt. Kr glau])t daraus schliefsen zu dürfen, dafs die An-
wesenheit von un]>ewegli<'hen und im Allgemeinen von bekannten Objecten
ebenso für dit^ Perception der Bewegung als für unsere Orientirung im
Kaume von fundamentaler Wichtigkeit ist, <la eine isolirte leuchtende Linie
in einem unsichtbaren Haume nicht genügt, uns über die Bewegung und
Localisiruiig zu unterrichten. Dieser Schlufs ist nach Verf. inexact. Denn
erstens macht AriiKUT keinen Unters(rhied, ob man das Object fixirt oder
nicht, liäfst man Z/ B. im Dunkeln einen leuchtenden Punkt so rasch
kn^isiMi, dafs das Aug(> nicht mehr folgen kann, so wird nicht allein die
Bewegung percipirt, sondern auch die Geschwindigkeit unterscheidet sich
nur um wenig, wenn man den Punkt inmitten von unbeweglichen sichte
Literaturhtrich t» 129
teren Objecten kreisen läfst. Der Schlufs ist auch für den Fall unsicher,
4Mb die Augen dem Gegenstande folgen. Man kann auch die Stellung
oder Bewegung eines isolirten Objects percipiren, selbst wenn man dasselbe
Izirt. Aber die Beobachtung ist viel schwieriger als bei einer Bewegung
inmitten von sichtbaren und unbeweglichen Objecten.
Um das Minimum von Geschwindigkeit zu studiren, welche man
einem isolirten Punkte ertheilen mufs, damit seine Bewegung bemerkt
wird, bediente er sich eines sich drehenden Cy linders, welcher durch eine
mit einem Spalt versehene Schachtel bei diffusem Tageslicht beobachtet
wurde. Hier muüs die Geschwindigkeit, damit man sie bemerkt, ungefähr
zehn Mal gröfser sein, als wenn das Object sich unter unbeweglichen sicht-
baren Objecten bewegt. Aubert schliefst daraus, dafs wir eine Vorstellung
von dem unbewegten Baume besitzen, und dafs wir mit dieser Vorstellung
die wirkliche Bewegung des Baumes verglichen. Verf. hält diese Er-
kliruDg fflr bedenklich. Vielmehr spielen nach ihm die Bewegungen der
Augenlider eine Rolle.
Um dies zu zeigen, gebrauchte Verf drei Objecte: einen leuchtenden
Punkt von 2 mm Durchmesser, einen leuchtenden gleichförmigen Kreis
von 4 cm Durchmesser und einen anderen von derselben Gröfse, dessen
Oberfläche aber durchbohrt war von 55 Oeffnungen, jede von 2 mm Durch-
messer. Die Kreise waren in schwarzes Papier eingeschnitten. Hinter
denselben befand sich Papier, welches durch eine Lampe erhellt war. Die
genannten Objecte wurden nun mit Hülfe des Apparats von Verdin gerad-
linig und parallel mit dem Gesicht des Beobachters von links nach rechts
bewegt. In der Mitte seines Laufes war ein solches Object 0,50 m von den
Augen entfernt. Verf. fand, dafs die Bewegung des Punktes ein wenig
leichter percipirt wurde als die der beiden Kreise. Also die Leichtigkeit
der Perception einer Bewegung hängt nicht wesentlich von der Zahl der
sich bewegenden Objecte ab. Demnach scheinen die Differenzen in der
Intensität schon keinen Einfiufs auszuüben. Auch durch Verdunkelung
des Kreises und der Oeffnungen wird keine Veränderung erzielt. Alles
dies wird leicht erklärlich, wenn man bedenkt, dafs beim Fixiren eines
isolirten Objects mittels der tactilen Empfindungen der Augen die Ver-
änderungen in der Intensität der Netzhautempfindungen die Intensität der
tactilen Empfindungen nicht modificiren. Die Perception der Bewegung
des Punktes ist leichter als die Bewegung des Kreises, weil im letzteren
Falle kleinere Bewegungen der Augen, welche verschiedene Theile des
Kreises nach einander festhalten, mit den Augenbewegungen, welche dem
Object als Ganzem folgen, interferiren.
Eine kaum merkliche Bewegung wird besser beobachtet am Ende des
Experiments als zu Beginn. Es treten bisweilen Verzögerungen und auto-
kinetische Phänomene ein. Bisweilen verschwindet das Phänomen auf
Augenblicke gänzlich. Verf. fand, dafs die Geschwindigkeit, bei welcher
die Bewegungen des Punktes und des Kreises anfangen zur Perception zu
gelangen, sich wie 1 : 2 verhalten. Eine leuchtende Linie von 0,4 mm Breite
ond 5 mm Länge hatte denselben Effect wie der Punkt.
Z«itsc1irift fOr Psychologie 86. 9
130 Literaturbericht
Versuchen wir jetzt, die Ursachen zu ergründen. Durch die Action
der Netzhaut nehmen wir wahr, dafs ein Punkt sich links oder rechts vom
anderen befindet. Bei einem leuchtenden Punkt im Dunkeln können wir
nur in Beziehung zu uns sagen, ob er rechts oder links, oben oder ontea
sich befindet. Einen wichtigen Antheil an der Bestimmung der Lage eines
Punktes haben die tactilen Empfindungen der Augenlider. Um die Em-
pfindlichkeit der Augen an der Oberfiäche zu messen, stellte Verf. ein
Experiment mit einem optischen Apparat an, desgleichen Experimente ohne
Apparat, welche sämmtlich im Original nachgelesen werden mögen. Verf.
fand, dafs diese Empfindlichkeit nicht oder nur zum kleinsten Theil von
der Hornhaut, vorherrschend von den Augenlidern herrührt. Die Action
der Augenlider ergänzt die Action der Netzhaut in denjenigen Fällen, wo
letztere bei der Perception keine directe Rolle spielt. —
Es ist das Verdienst des Verf.'s, die Bewegungen der Augenlider lur
Erklärung der Perception von Bewegungen der Körper herangezogen m
haben. Eine vollständige Klärung in dieser Hinsicht wird jedoch erst
durch weitere bezügliche Experimente und Beobachtungen erzielt werden
können. Giessler (Erfurt).
S. Freud. Die Traumdeatang. Leipzig und Wien, Deuticke, 1900. 371 8.
Das merkwürdige Buch des Wiener Nervenarztes sucht dem so oft
bearbeiteten und doch noch immer nicht geklärten Problem des Traumes
von einer gänzlich neuen Seite her nahe zu kommen. Wie schon der Titel
ergiebt, sieht F. im Traum nicht ein Phänomen, das lediglich in seiner^
der Wahrnehmung und Erinnerung zugänglichen, unmittelbaren Beschaffen-
heit aufgefafst und beurtheilt werden will, sondern ein solches, das auf
irgend etwas nicht direct Gegebenes deutet, das einen wirklichen Sinn
hat. Natürlich ist seine Traumauslegung nicht mit der der alten Seher
und der neuen Traumbücher zu identificiren ; sie geht nicht auf etwas
Aeufseres, Objectives, Zukünftiges, sondern auf etwas Subjectives, auf tiefer-
liegende, vollwichtige und sinnvolle psychische Acte, durch welche der so
absurde, ideenflüchtige, verworrene und unzusammenhängende Tranm-
Inhalt in allen seinen Theilen Bedeutsamkeit und innige Beziehungen zu
wesentlichen Zügen der träumenden Persönlichkeit erhalten soll.
Die Hauptgedanken des Werkes lassen sich in folgenden Sätzen za>
sammenfassen : Jeder Traum stellt eine Wunscherfüllung dar»
Nicht so sehr Wünsche momentaner Art, sondern chronische, meist schon
von der Kinderzeit her im Unbewufsten schlummernde Wunschtendenzen
sind es, die im Traume Verwirklichung erfahren. Nur selten freilich ist
der manifeste Trauminhalt eine directe Darstellung des W^unschzieles (so-
wenn das Kind den von den Eltern versagten Genufs als erreicht träumt).
Meist dagegen zeigt der unmittelbare Aspect nichts von einem Wunsche,
oft vielmehr sehr Unerwünschtes, Trauriges und Aengstliches, oft auch
gänzlich Indifferentes; aber hier läfst eine an der Traumerinnerung
arbeitende Analyse erkennen, dafs die scheinbar sinnlosen Bestandtheile
des Traumes vermöge mannigfacher oft höchst krauser Associationen (die
stets an indifferente Eindrücke des letzten Tages anknüpfen) auf Vor-
LiUraturbericht 131
Stellungen zurückweisen, welche mit Wünschen des Träumenden in innigem
Zusammenhang stehen; diese so nachgewiesenen Wünsche bilden den
eigentlichen Bestimmungsgrund und Sinn des Traumes, für den das un-
mittelbare Traumerlebnifs daher nur symbolischen Charakter hat. Die
Frage, warum denn aber die Traumwünsche sich meist in solchen absonder-
lichen Verstellungen kundgeben, beantwortet F. durch Einführung einer
höheren psychischen Instanz, die eine Art von Censur übt und die er
schematisch zwischen das Unbewufste und das Bewufstsein als das „Vor-
bewulste^ einschiebt. Sie spielt etwa eine ähnliche Rolle dem latenten
Vorstellungsinhalt gegenüber wie die WuNDT'sche „Apperception" und be-
wirkt im Traum, nur im minderen Maafse, das, was sie beim Wachen in
Tiel vollkommeneren Maafse leistet: nämlich kritische Unterdrückung oder
lam mindesten Unschädlichmachung jener Nachtseiten des psychischen
Dtseins, deren Entfesselung unsere Existenz stören oder entwürdigen
mfifste. Diese Censur übende Thätigkeit nun ist durch die besonderen
Bedingungen des Schlafes zwar nicht aufgehoben, aber doch herabgesetzt.
Kann sie daher die im Unbewufsten weilenden Wünsche auch nicht wie
im Wachzustande unterdrücken, so ist sie doch stark genug, sie nicht nackt
and unverhüllt ins Bewufstsein passiren zu lassen und unterzieht sie
daher einer Umgestaltung, unter der sie einen harmlosen, ja sinnlosen Ein-
druck machen — ähnlich etwa wie die Theatercensur irgend eine in ihren
Beziehungen durchsichtige Persönlichkeit durch eine mit anderem Namen
oder anderem Kostüm ersetzt.
Zu dieser Wunschtraumtheorie ist F. offensichtlich durch ähnliche
Gedankengänge hingeleitet worden wie es jene waren, die ihn schon früher
zam Versuch einer Erklärung und darauf basirten neuen Therapie der Hysterie
^föhrt hatten: auch in den hysterischen Symptomen sieht er die an ganz
indifferent« Aeufserlichkeiten sich klammernde Symbolik für unbewufste
Wunscht«ndenzen ; es gilt nur, diese letzteren durch eine vom Patienten
Mlbst vorzunehmende Analyse seiner seelischen Verflechtungen ins Be-
Tnistsfein zu ziehen, um sie unschädlich zu machen und ihre Symptome
xn beseitigen. —
Wir müssen gestehen, dafs diese neuartige Betrachtung des Traum-
lebens und seine an vielen Stellen vorgenommene Analogisirung zu patho-
logischen Zuständen uns manche interessanten Perspectiven eröffnet, ob-
fieieh die Theorie selbst aus gleich zu besprechenden Gründen Ablehnung
finden mufs. Werthvoll erscheint mir vor Allem das Bestreben, sich bei
der Erklärung des Traumlebens nicht auf die Sphäre des Vorstellungs-
lebens, des Aflsociationsspiels, der Phantasiethätigkeit, der somatischen Be-
ziehungen zu beschränken, sondern auf die mannigfachen, so wenig be-
kannten Fäden hinzuweisen, die in die kernhaftere Welt der Affecte
hinnnterleiten und vielleicht erfet in der That die Gestaltung und Auswahl
des Vorstellnngsmaterials verständlich machen werden. Auch sonst enthält
•li» Buch viel Einzelheiten von hohem Anregungswerth, feine Beobach-
umgen und theoretische Ausblicke; vor Allem aber ein aufserordentlich
ruchhaltiges Material an sehr genau registrirten Träumen, das jedem
Arbeiter auf diesem Gebiete hochwillkommen sein mufs.
9*
132 Literaturbericht
Dagegen mufs leider der Hauptinhalt des Buches als verfehlt und
unannehmbar bezeichnet werden. Wie nftmlich beweist Verf. seine oben
geschilderte Theorie? Durch eine Reihe durchgeführter Deutungen von
Träumen seiner selbst und seiner Patienten. Diesen Deutungen aber steht
der nüchterne Leser zuerst abwartend, dann zweifelnd, endlich aber mit
einem immer energischeren Schütteln des Kopfes gegenüber. Die ange-
wandte Methode ist die folgende : Zunächst wird der Trauminhalt einfach
verzeichnet. Dann beginnt die „Psychoanalyse". Der Geträumthabende
nimmt sich sein Traumreferat vor und läfst bei jedem Punkt desselben
seine Gedanken beliebig schweifen, hierbei aber immer sich selbst beobach-
tend und alle auftauchenden Associationen, Gedankensprünge, Einfälle,
Anklänge, Gleichnisse, Wortspiele sofort registrirend. Hierbei stöfst
irgendwo die sich selbst überlassene Wachphantasie auf Wünsche, die man
früher gehabt hat oder jetzt hat. Oft zeigt sich, dafs man von einem oder
mehreren Bestandtheilen desselben Traumes auf den verschiedensten Wegen
zu denselben Wunschmomenten kommt (was psychologisch, sobald ein
solches Wunschmoment nur einmal bemerkt und psychisch betont worden,
ganz natürlich ist). Nunmehr wird die Hypothese aufgestellt, dafs dieses
freie Associationsspiel entsprechend, nur in umgekehrter Folge, auch im
Traum gearbeitet hat — und der Zusammenhang zwischen dem Wünschen
und dem Trauminha]t ist hergestellt; was die Wachanalyse zufällig ge-
funden, wird für die Traumsynthese zum Hauptinhalt gemacht.
An diesem Verfahren ist nicht weniger als Alles zu bestreiten. Weder
ist die „Selbstbeobachtung" eine so einfache Sache, namentlich, wenn
man, wie der Verf. durch seine Theorie, und wie seine Patienten durch
sehr eindringliche Ausfragung und Belehrung, über den Wunsch Charakter
des Traumes, beeinflufst ist; noch ist auch nur die geringste Veranlassung
dafür vorhanden, in den Wachphantasien eine Wiederholung der Traum-
arbeit zu sehen und das, worauf jene als £nd- oder Knotenpunkt zufällig
gestofsen, bei dieser als unbewufsten Ausgangspunkt anzunehmen. Hier
wird einfach eine Behauptung an Stelle des .Beweises gesetzt. „^S^ i^i**^
nicht aus, so legt ihr's unter.'*
Nur einige wenige Beispiele aus der Fülle: Wenn eine Dame — die
sich einmal für einen Musiker interessirt hat — träumt, sie höre ein
Wagnerconcert, in welchem Hans Richter von einem mitten im Saale
stehenden, hohen, oben umgitterten Thurme dirigirt, so bedeutet dies, daiJB
der Mann, den sie an Hans Richter's Stelle wünscht, der aber leider
geisteskrank ist (das Gitter!), die anderen thurmhoch überragen solle. —
Wenn der Verf. träumte, dafs Freund R., der vergebens Professor werden
möchte, sein Onkel sei, so fällt ihm bei der Analyse sein wirklicher Onkel
J. ein, von dem sein Vater einmal gesagt habe, er sei ein SchwachkopL
Folglich bedeutet der Traum: ich wünschte, dafs R. (den ich im Wachen
sehr schätze) ein Schwachkopf wäre; dann dürfte ich hierin und nicht in
confessionellen Gründen (die in Wirklichkeit bei ihm und bei mir maDs-
gebend sind) das Motiv seiner Zurücksetzung sehen ; folglich hätte ich, der
ich kein Schwachkopf bin, Aussicht, Professor zu werden. — Eine specielle
Tendenz, nämlich allen möglichen und unmöglichen Trauminhalten sexuellen
Sinn unterzulegen, spielt in dem Buche eine solche Rolle, dafs es zwecklos
Literaturbericht. 133
i«>t, ein einzelnes Beispiel za bringen; wahrscheinlich ist das vorwiegend
von Hysterikern herrührende Material Schuld daran.
Die Unzulässigkeit dieser Traumdeuterei als wissenschaftlicher Methode
mulste mit aller Schärfe betont werden; denn die Gefahr ist grofs, dafs
unkritischen Geistern dieses interessante Vorstellungsspiel behagen könnte
ond wir damit in eine völlige Mystik und chaotische Willkür hinein-
geriethen — man kann dann mit Allem Alles beweisen.
Nicht unerwähnt will ich lassen, dafs eine Bibliographie von 78
Nummern und eine sehr übersichtliche Einleitung über die bisherigen £r-
kl&nmgs versuche der Traumphänomene orientiren. W. Stebn (Breslau).
J. M. VoLD. Ueber HallaGinationen, vorzüglich Gesicbts-Hallociiiationen, auf
der GniBdlage von cntan-motorischen Zuständen and auf derjenigen von ver-
gaigeien Gesichts- Eindrücken. Zeitschrift für Psychiatrie 57, 834 — 86ö.
Nach Ansicht des Verf.'s erhalten cutan- motorische Latenzzustände
<ler der Willkür unterworfenen Körperpartien nicht allein im normalen,
sondern auch im abnormen Leben häufig einen bestimmten psychischen
Aasdruck nicht in sogenannten Bewegungsempfindungen, sondern in Ge-
sichtsbildem, welche sich auf die betreffenden Körpertheile beziehen. Verf.
hat durch Experimente gefunden, dafs das Traumleben durch motorische,
weniger durch cutane Reizungen beeinflufst wird. Bei cutanen Ein-
wirkungen nahm der Träumende den drückenden Gegenstand mehr oder
weniger genau, mit guter oder schlechter Localisirung an sich selbst oder
an einem Anderen wahr, oder der Druck verflüchtete sich in eine Vor-
stellung, oder man hatte einen Gegenstand vor sich, der dem Reizmittel
oder dem gedrückten Gliede in einer Beziehung (visuell, phonetisch) ähn-
lich war. Bei cutan-motorischen Einwirkungen, z. B. bei umbundenen
Faf:*gelenk, gekrümmter Hand, träumt man, dafs man selbst Bewegungen
aasführt, von denen die reale Lage des Versuchsgliedes ein integrirendes
Moment bildet, oder man sieht Andere solche Bewegungen ausführen.
Bisweilen treten Passivbewegungen im Traume auf, z. B. träumt man bei
einer bestehenden Plantarbeugung beider Füfse, dafs man selbst gefahren
wird. Verf. sucht nun eine Anwendung dieser Thatsachen auf Wach-
hallurinationen zu machen. Er behauptet, dafs die an der Grenze des
Si'hlafes auftretenden „hypnagogischen"* Hallucinationen, die in Alkohol-
iind anderen Intoxicationsdelirien sowie in hysterischen und epileptischen
Zuständen auftretenden ebenfalls auf cutan-motorische Spannungen zurück-
zuführen seien. Bei den hypnagogischen Hallucinationen erscheinen be-
kannte Personen oder Gespenster oder der eigene Doppelgänger oder Thier-
bilder. Die Schwebeerscheinungen, die Aenderungen in der Heftigkeit der
Bewegungen und Volumenänderungen sind auf eine allgemeine motorische
Unruhe zurückzuführen. Selten sieht man andere Personen in ruhiger
l^i^e. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dafs die ruhige Lage gewöhn-
lich nicht wie die Bewegung stark gefühlsbetont ist, weshalb die Gedächt-
nifjsbilder der ersteren nicht so leicht wie die der letzteren dem Schlaf-
bewuffltsein zur Verfügung stehen. Häufiger ist eine Vertheilung der
eigenen Empfindungen an andere Wesen nachweisbar, ähnlich wie bei
progressiver Dementia und Paralysis generalis. Oft sieht der Träumende
134 Literaturbericht.
einen begrenzten Abschnitt eines Körpers, namentlich wenn bei einem
Körpertheil in Wirklichkeit eine motorische Form vorliegt. Hier muts
man ebenfalls annehmen, dafs die Gesichtsbilder cutan-motorisch veranlaüst
sind, ähnlich wie bei den an Anästhesie leidenden Personen. Von be-
sonderem Interesse sind die Hallucinationen von Gesichtern im hypna*
gogischen Zustande. Es sind Zeichen von cutan-motorischen Faeles-Ans-
lösungen. Denn warum würden sonst gerade Gesichter erscheinen und
nicht viel mehr andere Gegenstände?! Auf den cutan-motorischen Ursprung
deutet auch der Umstand, dafs die Gesichter Fratzen schneiden. Der
Tonus sämmtlicher Muskeln des Gesichts wird nicht immer gleichzeitig
und in derselben Weise geändert, z. B. in dem Augenblick, wo die Mund-
winkel vorzüglich erregt sind, kann also ein gesehenes Gesicht mit ver-
zogenem Munde herbeigerufen werden. Aehnlich kommen auch bei Epi-
leptikern Fratzen vor. —
Die verdienstvolle Arbeit bildet eine Fortsetzung der Traumexperimente,
in denen Vold bereits Bedeutendes geleistet hat. Besonders werthvoll
sind die gefundenen Analogien zwischen den Traumbildern und den
Gesichtsbildern von Geisteskranken. Jedoch scheint es mir, als ob bei der
causalen Erklärung der Zustand der inneren Organa zu wenig berück-
sichtigt wurde. Dafs letztere dabei eine Rolle spielen, davon zeugen schon
die zahlreichen Experimente von Weyoandt (Entstehung der Träume,
Leipzig 1893). Giessleb (Erfurt).
Hans Raeck. Der Begriff des Wirklichen. Eine psycbologiscbe Untersnchnng.
Halle a. S., Max Niemeyer, 1900. 89 S.
Der erste Theil dieser Untersuchung, der sich als „historisch-kritische
Betrachtung^ bezeichnet, ist bereits in dieser Zeitschrift angekündigt worden.
In unveränderter Gestalt erscheint er hier wieder und zugleich mit ilim
der zweite Theil, der den Titel führt „Neue Behandlung des Gegenstandes*".
Der Grundgedanke des Verf.'s ist, dafs das Wirklichkeitsbewufstsein seinem
Wesen nach Selbstverlorenheit in Etwas ist, das als vom Ich verschieden
erscheint. Dem scharfsinnigen Verf. auf all den vielverschlungenen Wegen
der Deduction und der Vertheidigung seines Satzes zu folgen, kann unsere
Aufgabe nicht sein. ^ Offneb (München).
C. Bos. Les croyances implicites. Rev. phüos. 50 (7), 33 — 46. 1900.
Der Glaube spielt in allen Stadien unserer sinnlichen Activität eine
Rolle. Das Negiren bezw. Zweifeln ist auch eine Form des Glaubens. Es
gehört dazu unter Umständen sogar ein hohes Maafs von Kraft, nach Bac<>
z. B. zum Leugnen der Existenz Gottes. Also unser Glaube erstreckt sich
nicht allein auf das, was wir bejahen, sondern auch auf das, was wir ver-
neinen. Der willkürliche Glaube ist nur der Kern des impliciten Glaubens.
Letzterer bildet die gröfsere Masse unseres Glaubens, er kommt meist erst
dann zur Geltung, sobald er auf ein Hindernifs stöfst. Der implicite
Glaube ist an unseren Instinct gebunden. — Schon auf der Basis unseres
Lebens steht der implicite Glaube als ein Postulat. Denn wir können
nicht einmal essen, ohne zu glauben. Aufserdem ist er die Bedingung
einer jeden der psychischen Erscheinungen, welche uns nothwendig er-
«chienen sind zur Constituirung des expliciten Glaubens. Alle Pereeption
Literaturbtricht. 135
beruht schliefslich auf Glauben, denn die Erscheinungen sind unseren Auf-
fassungen davon nicht ähnlich. Auch beim Gedächtnifs, bei allen unseren
Gefühlen ist das Glauben im Spiel.
Allgemein ist der Glaube an das Ich und an das Gegenwärtige. Der
Glaube an das Ich beruht auf dem Gefühl für die Existenz unseres Körpers,
-welches in der Permanenz unserer inneren Empfindungen wurzelt. Hierzu
gesellt sich in zweiter Linie der Glaube an unser denkendes und wollendes
Ich, an unsere Person. Dieser Glaube an unsere Persönlichkeit ist um so
fester, je fester die synthetische Einheit des Ich ist. Das Ich unserer
Persönlichkeit besteht aus mehreren Ich, welche sich gegenseitig behindern.
Jedes Alteriren unseres Gedächtnisses beeinflufst die Idee, welche wir
uns von unserer Person machen. Zum Glauben an das Ich gehört, auch
•das Selbstvertrauen.
An der Seite des Glaubens an das Ich, welchen man als croyance
simple bezeichnen kann, steht der croyance compos^e. Das Ich dehnt sich
aus und projectirt andere Ich's, es verbreitet sich in ihnen, um dadurch
Material zu einer breiteren Synthese zu haben. Dies ist um so mehr der
Fall, je mächtiger die Persönlichkeit ist. Unser Glaube an die Realität der
anderen Menschen verändert sich bezüglich seiner Intensität je nach
unserem Bedürfnifs: Das Genie arbeitet für die ganze Menschheit. Für
wenig entwickelte Menschen gelten nur diejenigen Personen als reell,
welche mit ihnen in Berührung kommen.
Der Glaube an unser Ich ist die Bedingung für den Glauben an die
Eealität der äufseren Welt. Die Wirklichkeit steht in Beziehung zu unserem
activen Leben. Denn wir antworten auf die von den Dingen ausgehenden
Heize durch active Bewegungen. Bos definirt mit Hinblick hierauf das
Gefühl für die Realität als: „Das Bewufstsein, welches wir von den wirk-
lichen Bewegungen haben, durch welche unser Organismus auf die Er-
regungen antwortet." Die Impulse zu solchen Bewegungen liefern uns
jedoch nur einen Theil der Erklärung. Hierzu ist noch erforderlich, dafs
dieselben auf Hindernisse stofsen. Namentlich also die Berichte des Tast-
sinns spielen dabei eine grofse Rolle.
Der Glaube an das Vergangene befestigt sich in jedem Moment durch
unsere gegenwärtigen Acte, von denen wir a posteriori den impliciten
Glauben an das Vergangene ableiten. Viel lebhafter indessen ist der
Glaube an die Realität des Zukünftigen. Derselbe wurzelt in unseren
Wünschen, Hoffnungen. Wir stehen der Zukunft gewissermaafsen
schöpferisch gegenüber. Giessler (Erfurt).
Hanns Gboss. Ein Zauberbnch aus einem modernen Procefs. Arch. f. Criminal-
Anthropologie 3, 88—99. 1900.
Gross ist in Besitz eines alten Zauberbuches, das noch im Jahre 1899
in einem Procefs eine grofse Rolle spielte, und nicht etwa in einen welt-
abgelegenen Winkel, — sondern in Berlin selbst! Es war im Besitz nicht
etwa eines Bauern, sondern eines Steuorbeamten, der die Feldzüge mitge-
macht hatte und im Besitze von fünf Militärehrenzeichen ist ! Die wenigen
mitgetheilten Recepte des Buches zeigen, wie zählebig der Aberglauben
noch ist. Umpfenbach.
136 Literaturbericht.
Harry Campell. The Feelings. Jöurn, of Mental Science 46 (193), 219—242.
1900.
Verf. will sein Thema, das Sinnesempfindungen und Gemüths-
bewegungen umfafst, vom praktischen Standpunkt des Arztes aus be-
handeln, ohne alle psychologischen „Subtilitäten^.
Gemüthsbewegangen sind ihm nichts als Accorde von Empfindungen,
insbesondere auch der den Ausdrucksbewegungen entsprechenden. Bei
guter Gesundheit ist das Gresammtgefühl meist lustvoll, im anderen Falle
das Gegentheil; und können dann selbst Freuden- bezw. Unglücksnsch-
richten nur einen vorübergehenden Stimmungswechsel hervorrufen. Trotz
der grofsen Unterschiede bei den Individuen mufs der Arzt versuchen,
sich in die Gefühle seiner Patienten hineinzudenken, zwar nicht mit
sentimentaler, sh&r discreter Sympathie.
Im zweiten Abschnitt betont C, dafs neben den speciiischen Sinnes-
empfindungen die unspecificirte, allgemeine Körperempfindung, die „coen-
aesthesia^ von Bedeutung sei. Dieselbe entstamme den chemischen Reizen,
welche insbesondere in den Flüssigkeiten des Körpers stattfinden.
Da Empfindung und Gefühl auch Gedanken und Thaten des Menschen
beherrschen, sei also das sich aus diesen ,, zusammensetzende" Ich in
weitem Umfang bestimmt durch den Stoffwechsel des Organismus.
Ettlinger (München).
Frank Thillt. Gonscience. Fhilosophical Review 9 (1), 1&— 29. 1900.
Der Verf. sucht in der vorliegenden Abhandlung die Entstehung des
Gewissens zu erklären und die Möglichkeit einer Vererbung des Gefühls
der V^erpfiichtung begreiflich zu machen.
Der Mensch vermag Recht von Unrecht zu unterscheiden ; er besitzt
ein moralisches Bewufstsein oder ein Gewissen. An die Vorstellung eines
Beweggrundes reihen sich eigenthümliche Gefühle und Regungen : Gefühle
der Billigung und Mifsbilligung, Gefühle, die zur That drängen, oder von
deren Ausführung abhalten. Sind mehrere, von Gefühlen der Billigung
und Mifsbilligung begleitete Vorstellungen im Bewufstsein, so führt die-
jenige zu einer That des Willens, die zur vorherrschenden wurde. Diese
inneren Vorgänge drücken sich in Urtheilen über einen Werth aus. Ist
die That von einem Anderen ausgeführt worden, so begleiten gewisse
Triebe und Gefühle die Vorstellung dieser That und veranlassen uns zu
einem Werthurtheil. Durch dieses Urtheil kennzeichnen wir uns selbst,
weil das Urtheil sagt, welchen Eindruck die That auf uns macht. Das
Gewissen nämlich ist eine Verbindung von psychischen Elementen. Das
Gefühl der Verpflichtung, des Sollens besteht aus einem Gemisch von €re-
fühl und Trieb und der Begriff der Pflicht führt auf gewisse Gefühle und
Triebe zurück, w^elchc das moralische Urtheil veranlassen.
Die Beobachtung, dafs die Vorstellungen gewisser Handlungen von
besonderen Gefühlen, welche den Werthurtheilen zu Grunde liegen, be-
gleitet sind, drängt zur Frage, ob die Verbindung zwischen diesen Vor-
stellungen und Gefühlen ursprünglich und angeboren, oder ein Ergebnifs
der Erfahrung ist. Sie ist das letztere. Schon der Entwickelungsgang des
Litcraturbericht 137
Kindes deutet darauf hin. Die in- der Familie begonnene Erziehung wird
durch die Schule und die Welt im Grofsen fortgesetzt. Das Kind lernt
Gebote anerkennen und fürchten. Die Gefühle der Furcht, welche sich
mit den Vorstellungen gewisser Handlungen in dem Bewufstsein des
Kindes einstellen, entwickeln sich zu den Gefühlen der moralischen Pflicht.
Analog entstehen aus den Gefühlen der Billigung Achtung, Liebe, Ehr-
furcht. Die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen moralische Gefühle zu
haben, mufs ursprünglich und angeboren sein. Daraus folgt jedoch nicht,
dafs die moralischen Gefühle mit den Vorstellungen der Handlungen, mit
denen sie jetzt verbunden sind, ursprünglich in Verbindung standen. Wird
nicht blos die Fähigkeit überhaupt zu fühlen auf die Nachkommen über-
tragen, sondern ist auch die Neigung auf eine gewisse Art zu fühlen erb-
lich, dann könnte auch die Neigung, in Verbindung mit gewissen Vor-
stellungen eine Verpflichtung zu fühlen, sich zu gewissen Handlungen
verpflichtet zu fühlen, eine ererbte sein.
Die Entstehung der moralischen Gefühle im Menschengeschlechte ist
nach dem Verf. in ähnlicher Weise zu denken, wie im Einzelwesen.
Weitere Fragen, ob Gott das Gefühl der Verpflichtung erschaffen hat, und
wie der erste Mensch, der je Verpflichtung fühlte, zu diesem Gefühle ge-
kommen ist, werden vom Verf. in das Gebiet der Theologie und Meta-
physik verwiesen. Saxingeb (Linz).
DuoAs. Fanatisme et charlatanUme: itade psychologlqae. Rev. phüos. 49 (G),
596—618. 1900.
Die Activität des Menschen ist nach Verf. ein Mittelding zwischen
zwei Extremen: der reinen Idee und der reinen Handlung, wobei unter
einer reinen Idee eine solche verstanden wird, welcher keine Handlung
folgt, unter einer reinen Handlung eine solche, welche von keiner reinen
Idee dirigirt wird. Die Idee ist eine Kraft, ein Princip des Handelns. Sie
Htrebt danach, den Glauben an die Wirklichkeit ihres Objects zu erzeugen
und nach Acten, welche diesem Glauben entsprechen. Wo diese Idee nicht
zur Bethätigung kommt, da wird sie abnorm, als reine Idee. Dieselbe kann
erstens noch Acte in sich schliefsen, aber vergebliche, falsche, sie schliefst
zweitens keine Acte mehr in sich, wohl aber Urtheile, aber falsche, drittens
schliefst sie weder Urtheile, noch Acte in sich.
Die chimärische Idee begegnet keinen antagonistischen Ideen. Sie
ist dem Fanatismus proportional. Der active Fanatiker verfolgt rücksichts-
los seine Idee. Er giebt sich nur oberflächlich von seiner Handlung
Rechenschaft, er verblendet sich. Mancher verzichtet auf die Verwirk-
lichung seiner Idee, da er die Unmöglichkeit fühlt, er ist zufrieden, einen
neuen Impuls gegeben zu haben. Andere erklären Thatsachen im Sinne
ihrer Theorie, welche derselben in Wirklichkeit widersprechen. Diese Um-
wandlung des machtlosen Fanatismus ist der Charlatanismus. Während
der Fanatiker seine Idee mit allen Mitteln zu verfolgen sucht, projectirt
«ler Charlatanismus sie nur wie ein vergebliches Schattenbild. — Im zweiten
Falle verwirklicht sich die Idee nicht in Handlungen, sondern in Worten.
♦Solche Ideen erlangen eine ungeheuere Gewalt. Es entsteht der speculative
Fanatismus. Der Denker wird verwegen. Er befreit sich von der objec-
138 Liter aturhencht.
tiven und socialen Wahrheit. Es kommt ihm nur auf das „Declamiren*
an. — Eine dritte hierher gehörige Classe von Menschen, die MeditiTen,
iinterwerfen ihre Ideen keiner Controle, weder der Controle der Erfabrang;
noch der des Urtheils. Sie verschliefsen ihre Ideen in sich und erhöhea
.dadurch deren Energie. Das angenehme Spiel des Geistes genügt ihnen.
Fanatismus und Charlatanismus haben ihre Wurzel im Verachten der
Erfahrung. Giesslsr (Erfurt).
Oskar Vogt. Ueber den Einflilfs einiger psychischer Zustände anf Kniephiaemei
and Mnskeltonns. Zeitschr. für Hypn. 10, 202—218. 1900.
Vogt ist seit längerer Zeit bemüht, die körperlichen Rückwirkungen
psychischer Zustände zu erforschen. Dieses Mal befafst er sich mit dem
Kniephänomen und Muskeltonus und ihren Veränderungen. Er controlirte
dieselben bei Heiterkeit und Traurigkeit, bei Einwirkung einer Salzlösung
und Zuckerlösung, die in concentrirter Form in den Mund genommen
wurden — bei Schmerz, augenehmen Sich gehenlassen, willkürlicher Er-
wartung, intelleetueller Arbeit, Muskelarbeit etc. ^uf die Versuche kann
hier nicht näher eingegangen werden. Vogt fand nun „in einer bisher
noch nicht möglich gewesenen Feinheit" eine Proportionalität zwischen der
Stärke des Kniephänomens und der des Muskeltonus der Streckmnskulatur.
Das Kniephänomen ist vom Muskeltonus abhängig; die Intensität des Knie-
Phänomens steigt und fällt mit der Zunahme, resp. Abnahme des Muskel-
tonus. Die stärkste Intensitätszunahme des Kniephänomens und die
stärkste Vermehrung des Muskeltonus fand sich bei der Heiterkeit, die
Salzlösung rief eine mittelstarke Zunahme beider hervor, die Zuckerlösung
eine mäfsige Steigerung. Die willkürliche Erwartung verminderte in sehr
geringem Grade das Kniephänomen. Mittelstarke Verminderung beider
fand sich bei Hypnose, geistiger Concentration, stärkste Abnahme beider
Erscheinungen bei Traurigkeit. Die Zu- und Abnahme des Muskeltonus
ist übrigens gering im Vergleich zu den betreffenden Differenzen beim
Kniephänomen. V. glaubt als Vermittler bei der motorischen Rückwirkung
der Heiterkeit, Traurigkeit, Salzlösung etc. etc. die betr. emotionellen
Momente in Anspruch nehmen zu müssen, weil der specielle intellectuelle
Inhalt bei seinen Versuchen durchaus bedeutungslos ist. Die Wirkung der
Heiterkeit ist derjenigen der Traurigkeit entgegengesetzt, diejenige des
Unangenehmen nur der angenehmen Ruhe. Die Wirkung des Unange-
nehmen ähnelt derjenigen der Heiterkeit, und diejenige der angenehmen
Ruhe derjenigen der Traurigkeit. Umppenbach.
Oskar Vogt. Ueber die Erricbtnng nenrologischer Gentralstationen. Zeitschr.
f. Hypn. 10, 170—177. 1900.
Vogt plant die Errichtung einiger neurologischer Gentralstationen^
vorläufig mit zwei Abtheilungen, einer hirnanatomischen und einer psycho-
logischen, — von der neurophysiologischen will er einstweilen noch ab-
sehen. Wie er mit Recht sagt, fehlt dem normalen und pathologischen
Anatomen Zeit und Interesse, sich mehr mit dem Gehirn zu befassen, —
der Psychologe ist immer Philosoph, der meist kein Interesse an ärstlichen
Liter aturbericht. 139
Fragen hat. So kommt Gelümanatomie und Physiologie und die ärztliche
Psychologie, soweit sie das Seelenleben betrifft in Verbindung mit dem
Gehirn, nicht recht voran. Anders würde die Sache sein, wenn Neuro-
logen nnd Psychiater sich an den zu gründenden Centralstationen mit den
dann gesammelten Gehirnen beschäftigen können. Das Gehirnmaterial
könnte dann, mit Hinblick auf die betr. Krankengeschichte, wirklich exact
verarbeitet werden, alle nur möglichen Untersuchungsmethoden wären zu
benutzen. Der Arzt hätte dort auch Gelegenheit, sich verhältnifsmäfsig
schnell über die medicinisch wichtigen Fragen der Psychologie zu orientiren.
Umpfknbach.
Sante de Sanctis. Una Yeggente. BuUeftino della Societä Lancisiatia degli
Ospedali di Roma 19 (1). 26 S. 1899.
Der Verf. beschreibt in den vorliegenden Mittheilungen die Ergebnisse
einer Untersuchung, die er an dem 12 jährigen Bauernmädchen Sestilia
Caldebina zu Migliano in der Provinz Perugia in Italien anstellte,
das durch seine Predigten, Weissagungen, Mittheilungen aus der anderen
Welt u. s. w. vom Januar bis zum Mai 1898 die ganze Umgegend seines
Heimathsortes in Staunen versetzte.
Die Anfangs October desselben Jahres vorgenommene Prüfung ergab
folgenden anamnestischen Befund: Die Kranke ist blafs, braun, von sym-
pathischem Ausdruck. Körpergröfse 1,40 m. Schlank und gut gebaut, ob-
wohl von etwas gebückter Haltung. Leichte Asymmetrie des Gesichts.
Zygomaticus, Orbita und Stirn rechts mehr hervortretend als links. Leichte
Functionsstörung der mimischen Antlitzmuskeln rechts. Defect in der
Aussprache der Laute s und r (das r wird ein wenig französisch ausge-
sprochen). Helix der Ohrmuscheln unregelmäfsig, die DARWiN'schen Knöt-
chen deutlich erkennbar. Das Mädchen ist skrophulös.
Die Kranke scheint erblich belastet zu sein, obwohl beide Eltern
gesund sind. Ein Bruder des Grofsvaters väterlicherseits litt im Irrenhaus
zu Pompeji an Melancholie, ein Verwandter der Mutter ist Idiot.
Die angebliche Wundergabe der Kranken erregte umsomehr Aufsehen,
als sie weder lesen noch schreiben kann, nie zur Schule ging und vor dem
Ausbruch der Krankheit auch die Kirche und den religiösen Unterricht
nicht gerade häufig besuchte, nur einmal jährlich beichtete und niemals
communicirte. Sie war unwissend wie fast alle Mädchen jener Gegend.
Es konnte ferner constatirt werden, dafs die Kranke bis zum 18. November
1897 niemals Anfälle gehabt hatte. Am Morgen dieses Tages fühlte sie sich
zum ersten Male unwohl und verfiel dann in einen tiefen und langauhaltenden
Schlaf. Von nun an entwickelt sich die Krankheit. Von hysterischen An-
fällen allgemeinen Charakters, verflochten mit Schlafzuständen, denen voll-
ständige Amnesie folgte, geht die Krankheit in einen Zustand des Schlaf -
redens über. Es folgt ein Stadium des reve d^lirant (GrisLAiN), das
dann in den Traum- und Dämmerzustand übergeht. Die Amnesie ist jetzt
nach dem Erwachen weniger vollständig, die Kranke ist im Stande, etwas
über den gehabten Anfall auszusagen. Endlich dauert der Inhalt des patho-
logischen Traumes auch während des Wachbewufstseins fort, die Kranke
befindet sich in einem Zustande vollständigen mystisch -prophetischen
1 40 Li tera turberich t
Deliriums, das als ^hysterische Psychose mit delirirenden Traum anfallen"
bezeichnet wird.
Fein sind die psychologischen Beobachtungen des Verf. 's über die
allmähliche und stetige Zunahme der Traumvorstellungen, die durch das
der Kranken entgegengebrachte Interesse der Bevölkerung und die Fragen^
die man an sie richtet, sowie durch den engen Connex, in dem sie sich
später zur Kirche stellt und die Wunder der Madonna und der Heiligen,
die man ihr erzählt, bedingt sind. Einen Hauptfactor für die Erklärung
des Falles sieht der Verf. in der Autosuggestion.
Zur Diagnose der Krankheit sei noch erwähnt, dafs zu jener Zeit nach
De Sanctis die vierte Periode (attaque de d^lire) der „grande attaque
hysterique" der Schule Charcot's hauptsächlich erreicht war.
Ein Verdienst des Verf.'s ist es ohne Zweifel, die einzelnen Entwicke-
lungsphasen der Krankheit unter Benutzung der modernen psychologischen
Erkenn tnifs, soweit es die Umstände gestatteten, zu einem klaren Verstand*
nifs gebracht zu haben.
Da ich selbst über diese Abhandlung an anderem Orte {2^t8chr. für
Hypnotiamus 9 (5), 309) bereits ausführlich berichtet habe, so mag das Vor-
stehende genügen. Kiesow (Turin).
H. J. Berkley. The Pathological Findings in a Gase of General Gntaneons ai€
Sensory Änaesthesia witbont Psychical Implication. Brain 23 (89), 111—138. 1900.
Bei einem Falle, in welchem durch fast 10 Jahre schwere allgemeine
Anästhesie bestanden hatte, konnte als anatomisches Substrat nur eine
ausgedehnte hyalin - fibröse Entartung des Gefäfssystems nachgewiesen
werden. Luetische Infection war 29 Jahre voraufgegangen. B. nimmt an,
dafs die dadurch bedingte Ernährungsstörung sowohl das Centralorgan als
die nervösen Endapparate an der Peripherie functionsuntüchtig gemacht hat.
8cnR(')DER (Heidelberg).
J. M. Bramwell. Hypnotic and Post-Hypnotic Appreciation of Time; Seeondary
and Mnltiplex Personalities. Brain 23 (90), 161—238. 1900.
B. hat Experimente, die schon Delboeuf gemacht, wiederholt und
})raktischer gestaltet. Er hat einer jungen Somnambulen in der Hypnose
den Auftrag gegeben, nach einer bestimmten Zeit auf einem Blatt Papier
ein Kreuz zu zeichnen und dazu, ohne nach der Uhr zu sehen, die augen-
blickliche Stunde und Minute zu notiren. Die Zeit, die bis zur Aus-
führung des Auftrages verfliefsen sollte, war meist in Minuten (z. B. 21 428,
oder 10055 Min.) gegeben, manchmal aber noch erheblich complicirter.
Da die Person somnambul war, wufste sie nach der Hypnose nichts von
dem Auftrag; gab man ihr im wachen Zustand ähnliche Aufgaben, so war
nie nicht im Stande, solch complicirte Rechenexempel zu lösen. Bei 55
Experimenten wurde in 45 Fällen zur richtigen Zeit die richtige Stunde
und Minute von der Patientin aufgezeichnet Ein Theil der Ausführungen
des Auftrages fiel in die Nacht: die Patientin hatte neben ihrem Bette
}*apier und Bleistift, am nächsten Morgen fand sie das richtig beschriebene
Blatt, wufste aber nicht, dafs sie es beschrieben hatte. In den übrigen
Fällen ganz kleine Fehler.
Literaturbench t 141
Mit ähnlichem Erfolge hat B. an anderen Personen experimentirt.
Verf. bespricht dann die verschiedenen Erklärungsversuche, speciell
den von Gübney, der für das Zustandekommen von Leistungen wie den
obigen ein „zweites Bewufstsein" annimmt, das die Zeit beobachtet und
im richtigen Augenblick das „gewöhnliche Bewufstsein" zur Ausführung
dee Auftrages veranlafst.
Es folgt eine ausführliche Besprechung der Beweise für das Vor-
handensein eines zweiten Bewufstseins, in der recht heterogene Dinge zu-
sammengeworfen werden; als stärkste Stütze wird das „automatische
Schreiben" angeführt. Schlufsfolgerung ist, dafs das zweite Bewufstsein
nicht im Stande sein kann, die Zeit abzuschätzen und unbewufst schwierige
arithmetische Aufgaben zu lösen, wie das bei den Versuchspersonen der
Fall war; das kann nur — „ein drittes Bewufstsein". Es folgen Beweise,
dafs multiple Bewufstseinszustände vorkommen; eine Patientin von A.
Wilson aus Leytonstone hatte deren gar 16. Zum Schlufs erklärt Verf.
trotzdem, dafs die von ihm angestellten Experimente noch sehr viel Wunder-
bares und Unerklärliches für ihn haben. Sonderbar!
Schröder (Heidelberg).
L Laqüer. Die Hfilfsschnlen ffir schwachbefähigte Kinder, ihre ärztliche und
sociale Bedeutlliig- Mit einem Geleitwort von Dr. med. Emil Kraepelin,
Professor der Psychiatrie in Heidelberg. Wiesbaden, Bergmann, 1901.
64 .S. Mk. 1,30.
Die vorliegende Schrift ist ein Vortrag, den Herr Dr. Läqukr auf der
25. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und IiTenärzte
aiii 27. Mai 1900 gehalten hat. Das Ergebnifs seiner Erörterungen fafst er
am Schlüsse in folgenden Thesen zusammen:
..1. Der angeborene oder früh erworbene Schwachsinn ist die Grundlage
vieler schwerer, zumeist unheilbarer Nerven- und Geistesstörungen, sowie
schwer verbesserlicher Neigungen zum Verbrechen.
2. Die Einrichtung von Hülfsschulen für schwachbefähigte Kinder der
Minderbemittelten ist nothwendig zur frühen Erkennung der verschiedenen
Grade des Schwachsinns, zur richtigen Erziehung und Behandlung der
Schwachsinnigen und zum Schutze derselben vor sittlichem Verfall und
vor Verarmung durch Erwerbsunfähigkeit.
3. Die gegenwärtige Verfassung der mehrclassigen selbständigen
Hülfsschulen ist im Wesentlichen aufrecht zu erhalten ; sie ist durch Hülfs-
(lassen, die an die Normalschule sich angliedern, nicht zu ersetzen, aber
durch Anfügung von Internaten mit Speisung und Beschäftigung der
Kinder in den Nachmittagsstunden weiter auszudehnen.
4. Das Zusammenwirken zwischen Lehrern und Schulärzten ist ge-
eignet, die Schwachsinnigen von den Normalbefähigten schon in der Volks-
schule rechtzeitig zu sondern und nur die bildungsfähigen Imbecillen der
Hfilfi^schule zuzuführen, auch die Bedeutung der körperlichen Verände-
rungen für die Entwickelung des Schwachsinns festzustellen.
5. Alle Schwachsinnigen, welche die Classenziele der Hülfsschule
nicht erreichen, sind auszuschulen und den Idiotenanstalten mit systenia-
tiifchem Unterrichte zu überweisen. Alle Moralischdefecten, Epileptiker
142 LUeraturhericht,
und mit schweren unheilbaren Sinnesgebrechen Behafteten gehören in be-
sondere Anstalten.
6. Nur durch mehrjährige weitere Versorgung und Unterstützung der
aus der Hülfsschule entlassenen Zöglinge wird ihre Selbständigkeit und
Erwerbsfähigkeit im späteren Leben gewährleistet. Stellennachweis^
Zahlung von Lehr- und Pflegegeldern sind durch private Wohlthätigkeit
oder öffentliche Mittel zu ermöglichen. Leichte Handwerke und ländliche
Arbeiten sind als berufliche Ziele für Schwachsinnige anzustreben.
7. Den Militär- und Justizbehörden sind genaue Berichte über die
Schulleistung und über das sittliche Verhalten der Hülfsschüler zugänglich
zu machen, damit bei Vergehungen gegen das Gesetz ihre Unzurechnungs-
fähigkeit bewiesen oder wenigstens ihre Bestrafung gemildert werden könne."
Der Vortrag begründet diese Thesen eingehend und nach den ver-
schiedensten Seiten hin und liefert so werthvolle Beiträge zur Psychologie
und Pädagogie der Schwachsinnigen, insbesondere der Kinder mit Schwach-
sinn geringeren Grades, der sogenannten Schwachbefähigten, für welche
jetzt überall in den Städten besondere sogenannte „Hülfsschulen" errichtet
werden. Laqüer beleuchtet seinen Gegenstand nicht blos vom medicinisch-
psychiatrischen , sondern auch vom psychologischen, ethischen, social-
wissenschaftlichen, criminalistischen und militärischen Standpunkte aus.
Nach allen diesen Seiten hin bereiten die Schwachsinnigen der Familie
und der weiteren Gesellschaft Schwierigkeiten und erheischen darum Für-
sorge. „Wenn wir die Städte durchmustern, welche Hülfsschuleinrichtungen
haben", sagt er S. 54, „so kommt Jedem der Gedanke, ein wie geringer
Theil aller Schwachsinnigen — ich denke hier auch an die des flachen
Landes — überhaupt zum Besuche in Hülfsschulen berechtigt ist. Wie
viele Hunderte von Imbecillen bleiben jetzt noch übrig, die in ländlichen
und in kleinstädtischen Volksschulen in überfüllten Classen unter Normal-
befähigten mitgeschleppt werden, ohne dafs es den Lehrern und Behörden
möglich ist, für ihre anderweitige Unterweisung zu sorgen I Hier liegt
noch ein weites fruchtbares Feld socialer Fürsorge und praktischer Päda-
gogik. Für alle diese unglücklichen, verkannten und verspotteten, oft
genug schlecht behandelten Armen am Geiste zu sorgen, ist wirklich
Menschenpflicht. Die grofse Zahl kirchlicher Wohlthätigkeitsstiftungen
reicht bei Weitem nicht aus, den Bedarf an Schulen und Anstalten für
Schwachsinnige zu decken."
Wir brauchen darum noch viele Hülfsschulen und Erziehungs-
anstalten für die Schwachsinnigen der grofsen Bevölkerungscentren. Wir
brauchen noch mehr Anstalten mit geeigneten Einrichtungen zu systema-
tischem Unterricht als Unterweisungsstätten für die Schwachsinnigen des
platten Landes und der Kleinstädte. Und für die moralisch defecten
Kinder und die jugendlichen Verbrecher besitzen wir in unseren Zwangs-
erziehungsanstalten, Rettungs- und Besserungshäusern ebenfalls noch längst
nicht die hinreichenden und die geeigneten Stätten der Fürsorge, wie sie
nicht blos um der betreffenden Individuen willen, sondern vor Allem auch
zum Nutzen und zum Schutze der Gesellschaft erwünscht sind.
Die Schrift bietet nicht blos eine Psychologie des Schwachsinns,
sondern beleuchtet auch mit warmem Interesse, grofser Belesenheit und
Literaturbericht 143
umfaseeDdem Blicke die eben erwähnten Probleme, und wir können nur
vünschen, dafs die Ausführnngen auf fruchtbaren Boden fallen mögen.
Obgleich die Schrift durchaus auf der Höhe medicinischer und psychi-
fttrischer Wissenschaft steht, so geht doch das Eine daraus hervor, dafs
für die Erforschung der pathologischen Kindesnatur noch eine aufser-
onlentliche Arbeit für die Psychologie übrig bleibt. Wenn Schulärzte und
Lehrer noch eine gemeinsame Arbeit von zwei Jahren gebrauchen, um den
Geisteszustand eines abnormen Kindes einigermaafsen sicher festzustellen,
80 zeigt das, dafs bei allen gelehrten psychologischen Untersuchungs-
methoden für das nothwendigste praktische Bedürfnifs noch nicht allzuviel
abgefallen ist. Es ist darum angezeigt, bei dieser Gelegenheit gerade an
diceem Orte auf diese Lücke hinzuweisen, dafs wir neben der Schärfung
and Specialisirung der psychologischen Untersuchungsmethode auch auf
deren Vereinfachung zum Zwecke der Brauchbarkeit für praktische Be-
dfirfnisse sinnen müssen. Trüpbr (Jena).
E. BoKBOETFEB. Etil Beitrag zur Kenntnifs des grorsstädtischen Bettel- and
Tagibondenthiims. Eine psychiatrische Untersnchnng. Berlin, J. Guttentag,
1900.
Es wird behauptet, dafs unlängst die Verwaltungsbehörde einer
deutschen Universität einen Lehrstuhl für physiologische und experi-
mentelle Psychologie nicht für nothwendig gehalten habe und darum die
Errichtung eines solchen ablehnte. Die Psychiatrie ist doch im Grunde
nnr die Anwendung physiologisch-psychologischer Kenntnisse auf patho-
logische Zustände, mufs also ohne Psychologie ihre eigene Psychologie des
Normalen nebenbei ausbilden, der darum naturgemäfs an wissenschaftlicher
Durchbildung Manches fehlen mufs. Dennoch aber verdanken wir der
Psychiatrie aufserordentlich viel für die Förderung der psychologischen
Forschung. Manche Psychiater haben ihren Ruf als Psychologen erlangt.
Auch die Pädagogik mufs ohne sorgfältige physio-psychologische Grundlage
ins Blaue hinein arbeiten. Da von den juristischen Verwaltungsbehörden
»afserdem die Noth wendigkeit der pädagogischen Lehrstühle an den
deutschen Universitäten erst in allerjüngster Zeit hier und da eingesehen
worden und sie darum im Allgemeinen noch als Autodidactin durchs
wissenschaftliche Leben wandern mufs, so liegt auf der Hand, dafs der
pädagogischen Psychologie noch weit mehr fehlen wird. Aber auch die
Jurisprudenz und namentlich die Criminalistik waltet ohne sorgfältige
psychologische Grundlage nicht ihres Amtes, wie sie es im Interesse ihres
-Auftraggebers, der Gesellschaft, sollte. Das Urtheil, das sie in den ein-
zelnen Fällen fällt, kann nur ein gerechtes sein, wenn das psychologische
Verständnifs für die betreffenden Fälle und vor Allem auch die Genesis
dieses psychopathologischen Zustandes, welchen man Rechtsbruch nennt,
nach zuverlässiger Methode erklärt werden kann. Namentlich aber greift
die Criminalistik im Strafvollzuge fehl, weil die pädagogische Wirkung der
Strafe auf die Psyche des Rechtsverbrechers nicht selten wegen mangel-
hafter Psychologie falsch gewerthet wird. Der ganze Strafprocefs kostet
dann der Gesellschaft viel und nützt wenig oder nichts. Mir erzählte ein-
144 Literaturbericht
mal ein Amtsrichter, dafs er an dem betreffenden Tage einen Vagabonden
zam 100. Male verurtheilt habe. 99 mal war also die Strafe schon fruchtlos
gewesen. Dennoch erfolgte sie zum 100. Male!
Für diese Behauptungen liefert die Schrift von Dr. L aquer nach der
ärztlich-erzieherischen und die vorliegende namentlich nach der crimi-
nalistisch-pädagogischen Seite hin schwer anfechtbare Beweise. Der Zweck
der Schrift ist zwar ein anderer, aber es dürfte nicht überflüssig sein, bei
einer solchen Gelegenheit auf die Lücken der im öffentlichen Dienste
stehenden Arbeit der Wissenschaft und ihrer Anstalten hinzuweisen. Wenn
hier Wesentliches fehlt, so ist das von erheblich gröfserer Tragweite, als
wenn einmal hier oder da in der Praxis ein Mifsgriff gethan wird. Prak-
tische Mifsgriffe werden durch die Erfahrungen des Lebens sich wieder
ausgleichen. Unzulängliche Theorien oder fehlende Einsicht haben oft
unausgleichbare Folgen für das öffentliche Leben.
BoNHOEPFEB beschäftigt sich hier mit einer psychologischen oder wenn
man will psychiatrischen Analyse des grofsstädtischen Bettel- und Vaga-
bondcuthums. Es sind die in socialer, ethischer, körperlicher und psychi-
scher Degeneration sich befindlichen Individuen, die immer wieder dem
Bettel und der Obdachlosigkeit verfallen, und die psychiatrische Unter-
suchung, welche Bonhoeffeh mit ihnen vorgenommen, mufs als eine ebenso
lehrreiche als bedeutsame betrachtet werden, sowohl nach der Seite der
hederitären Ursachen, unter denen in erster Linie Alkoholismns und
Geisteskrankheit stehen, als auch nach der Seite der erworbenen und zu-
meist durch das Milieu bedingten Ursachen, wo wiederum Alkoholismos,
psychische und ethische Defecte und damit fehlerhafte oder mangelnde
Erziehung im Vordergrunde stehen. Aber auch was Bonhoeffeb über die
Behandlung und Vorbeugung dieses gesellschaftlichen Abhubes sagt^ ver-
dient vom psychologischen wie vom pädagogischen und criminalistischen
Standpunkte aus unsere Beachtung.
122 Fragen dienen als Leitfaden für die Zergliederung der abnormen
Psyche und ihres leiblichen Trägers von 404 Individuen, als auch zugleich
zur Erforschung des Milieus, das solche defecte Wesen hervorgehen läfst
Tbüpeb (Jena).
Bemerkung.
Um V^erwechslungen vorzubeugen, sei bemerkt, dafs der Verfasser des
Bd. 25 S. 286 dieser Zeitschrift veröffentlichten Referats über eine Arbeit
von Oelzelt-Ne\\in Hr. Dr. jur. Berth. Freitdenthal zu Breslau ist.
Experimentelle Beiträge zur Psychologie des Erkennens.
Von
Karl G&oos.
L Die Arten der Denkbeziehnng beim Fragen.
Das Erkennen erkennen zu wollen ist ein schwieriges Unter-
nehmen. Wie deutlich zeigt sich das, wenn man die Beispiele
von ürtheilsacten in den Lehrbüchern der Logik ansieht I „Diese
Kose ist roth^, „diese Stahlfeder ist spitz" und ähnliche „logische
Artefaete" ^, wobei im günstigsten Falle der Bück des Forschers
über den Schreibtisch schweift, um da allerlei Beziehungen
herauszugreifen, sind nur der hundertste Abgufs von ursprüng-
lichen Erkenntnifsvorgängen. Um sich das klar zu machen,
mufs man erstens zwischen Neuurtheilen und Repetitions-
urtheilen, zweitens zwischen natürlichen imd künst-
lichen Urtheilen unterscheiden. Unter Neuurtheilen ver-
stehe ich nicht etwa blos originelle Entdeckungen, sondern alle
Denkprocesse, wobei der Ausgangspunkt ein Stutzen über etwas,
was sich nicht gleich logisch erledigen läfst, der Endpunkt die
gegenwärtig erlebte siegreiche Bewältigung dieser Schwierig-
keit ist Bei den viel häufigeren Repetitionsurtheilen handelt es
sich darum, dafs wir früher (von uns oder von anderen) ge-
wonnene Neuurtheile als etwas schon Feststehendes, was keinen
weiteren Kampf kostet, einfach wiederholen. Natürliche Urtheile
femer sind solche Denkprocesse, die ims von unseren Erlebnissen
abgenöthigt werden, während das künstliche Urtheil in dem Ver-
such eines Gelehrten besteht, einen Urtheilsact absichtlich her-
vorzurufen, um sich dabei zu beobachten. Ich will nicht be-
haupten, dafs die hierbei von mir verwendeten Termini völlig
v»
•- W* JjwüSALiM. „Die Urtheilsfunction." Wien. 1895. S. 78.
Z«itsehrift für Psychologie 26. 10
146 ÄaW Groos.
zutreffend seien; jedenfalls sind die damit bezeichneten Unter*
schiede selbst vorhanden. Es ist nun leicht einzusehen, dab
die Neuurtheile psychologisch interessanter sind als die Bepetir
tionsurtheile ; ebenso verständlich ist es aber, dals die künstlichen
Urtheile, solainge nieht ein günstiger Zufall helfend eingreift,
meistens der weniger interessanten Kategorie angehören. Dab
man diesen Eindruck roth, jenen spitz nennt, hat man schon
in der Kindheit gelernt, imd so stellen sich die gewünschten
Aussagen ohne jede Denkarbeit auf associativer Grundlage
fast mechanisch ein. Es ist von ungeheuerem Werth, daCs wir
so „denken" können; aber als Psychologen möchten wir doch
aufser dieser Maschinenarbeit auch die lebensvolleren Processe
kennen lernen, in denen ein gegenwärtiges Problem gegenwärtig
gelöst wird.
Es mag verschiedene Methoden geben, um hier zum Ziel zu
gelangen. Am einfachsten ist es, sich auf die Lauer zu legen«
bis man sich selbst einmal bei einem Neuurtheil ertappt Dabei
hat man ja ab und zu einen Erfolg, so besonders, wenn man
mit der Denkbeziehimg auf einen Weg geräth, aus dem man im
nächsten Augenblicke herausspringt, weil man merkt, dalSs er in
die Irre führt Fast noch seltener gelingt es, ein richtiges
Neuurtheil in der Selbstbeobachtimg einzufangen. Ich werde
hierauf zurückkommen. Jedenfalls wäre es gut, weim alle solche
Beobachtungen sofort aufgeschrieben und an eine Sammelstelle
eingeliefert würden.
Auf experimentellem Wege scheint man diesem Gebiet
kaum beikommen zu können. Dennoch giebt es ein Mittel, um
wenigstens in seine Nachbarschaft zu gelangen. Dieses Mittel
besteht darin, dafs man in einer — womöglich gröfseren —
Anzahl von Versuchspersonen durch Mittheilung bestinunter
Vorstellungsinhalte das Niederschreiben von Fragen anregt
Denn in solchen sich unwillkürlich aufdrängenden Fragen
werden nicht nur durch die Form der Fragestellung die als
Antwort gewünschten Urtheilsarten angedeutet, sondern die
Fragen enthalten auch selbst in grofser Zahl aufkeimende Er-
kenntnifsacte, von denen wenigstens ein Theil den Charakter
von Neuurtheilen besitzt Natürlich wird man in Hinsicht auf
die Ergebnisse solcher Versuche keine grofsen Ansprüche er-
heben dürfen; denn man betrachtet ja statt des inneren Vor-
gangs nur seine äufserliche Fixirung. Immerhin wird bei der
üoeperimenteUe Btürage zur Psychologie des Erkennens, 147
Verarbeituiig diesies Aeufserlichen der Blick für das Innere in
mancher Hinsicht geschärft, gerade wie ein genaues Studium
emotioneller Ausdrucksbewegungen vieles klarer machen kann,
was in der blofisen Selbstbeobachtung leicht übersehen wird.
Aus diesem Grunde habe ich in dem Wintersemester 1900/01
mein Psychologie-Colleg dazu benützt, um mehrere Wochen hin-
durch am Anfang der Stimde den Zuhörern kurze Themata yor-
zolesen, auf die sie mit Fragen zu reagiren hatten, welche sie
direct auf Zettel niederschrieben. Als Beispiel sei hier eins der
kürzesten mitgetheilt Nr. 17 lautet: „Ln Schaufenster des
Juweliers befindet sich ein Stein von grofser Schönheit". Nach
Vorlesung eines Themas fügte ich jedesmal direct hinzu: „Was
wünschen Sie nun zunächst zu wissen?" Im Ganzen waren es
23 Themata, die insgesammt 479 Fragen zum ErgebniTs hatten.
Die Zahl der Ablieferer von Zetteln schwankte zwischen 11 und
2L Vielfach wurde mit mehreren Fragen reagirt; ich dachte im
Anfang daran, in diesem Fall die zuerst gestellte in der Be-
rechnung besonders zu bewerthen, gab es aber auf, als ich mich
davon überzeugte, dafs die später niedergeschriebene Frage gar
nicht selten die im Bewufstsein früher aufgetauchte war. Da-
gegen war es oft nothw^ndig, eine sprachlich in einem Satz
ausgedrückte Frage in zwei verschiedene Beziehungen ausein-
anderzulegen. So lautet z. B. eine Frage: „Wo hatte er das
Messer liegen lassen?" Hier geht eine Tendenz zeitlich zurück,
eine zweite auf räumliche Localisirung. In Folge dessen mufste
ich die Berechnung doppelt führen, indem bei solchen Fällen
jede Tendenz für die Anzahl der Fragen = ^2» für die Anzahl
der „Beziehungen" aber = 1 angesetzt wurde. ^ Die Gesammt-
zahl der logischen Beziehungen beträgt 538 in 479 Fragen. Im
Folgenden bedeutet die in Klammern beigefügte Zahl stets die
logischen Beziehungen, während die nicht eingeklammerte auf
die Menge der Fragen geht In manchen Fällen ergaben sich
Schwierigkeiten der Berechnung, auf die ich zum Theil noch
hinweisen werde.
Die Themata sind, abgesehen von dem ersten, alle so ge-
wählt, dafs sie auf besondere Kategorien von Fragen angelegt
sind. Wenn also etwa eines von ihnen lautet: „Als der junge
^ Mehr als zwei Tendenzen aus einer Frage herauszulesen wurde ich
ia diesen Versuchen nirgends genöthigt.
10»
148 ^^^ €hroo8.
Mann gerade an einem stattlichen Hause vorbeiging, fiel pldte-
lich «ine Rose zu seinen Fülsen nieder^ — so ist hier die Haupt-
tendenz ^causal rückwärts!^, d. h. der Satz hatte den Zweck,
vorwiegend Fragen nach der Ursache anzuregen. Die Yersuehs-
personen wurden aber mit dieser Absicht nicht bekannt gexbacht
Natürlich ist es in den meisten Fällen unmöglich, alle Neben-
tendenzen auszuschliefsen ; man mufs sich aber umsomehr damit
begnügen, die Haupttendenz möglichst in den Vordergrund su
rücken, als gerade ihr Verhältnifs zu den Nebenbeziehungen oft
von Interesse ist. — Für jede Kategorie gab ich mindestens
zwei Themata, wovon allemal das Eine sich mehr als Bruchstück
einer Erzählung darstellt (Imperfect), während das Andere ein-
fach auf eine Thatsache hinweist (Präsens oder Perfect).
Betrachten wir nun die gestellten Fragen zuerst im Allge-
meinen, so springt da sofort ein Unterschied ins Auge, der den
Philologen wenn nicht vertraut, so doch bekannt ist, in den
psychologisch-logischen Erörterungen aber, soweit meine — wie
ich freilich von Anfang an betonen mufs — beschränkte Literatiur-
kenntnifs reicht, in der Regel nicht viel beachtet wird, obwohl
er einiges Interesse verdient. — Denken wir uns einen Menschen
in dem Stadium eines zu vollziehenden Neuurtheils (in dem
vorhin angedeuteten Sinn des Wortes), so können wir sagen:
vor der erreichten erkennenden Bewältigung des gegebenen
Thatbestandes befindet er sich psychologisch in dem Zustand
der Frage. Dieser Zustand läfst aber bei genauer Analyse
drei Phasen unterscheiden: 1. ein blofses Stutzen, das sich in
einer plötzlichen Hinwendung der Aufmerksamkeit verräth, ver-
bunden mit dem Wunsch oder der Erwartung einer logischen
Beziehung, in deren Erkenntnifs das Bewufstsein Ruhe finden
wird; 2. das Verlangen nach einer besonderen Art von
logischer Relation, wobei das Bewufstsein auf diese oder jene
Urtheilsform eingestellt ist, ohne dafs sich doch die concrete
Lösung, die bestimmte Inhaltsbeziehung schon ankündigte ; 3. das
erste, noch unsichere Auftauchen der Lösung selbst in Gestalt
einer Vermuthung.
Die erste Phase pflegt sprachlich keinen Ausdruck zu finden
(schriftlich liefse sie sich etwa durch ein blofses Fragezeichen
symbolisiren) ; dagegen tritt der Unterschied der zweiten und
dritten Phase deutlich in zwei Arten von Fragen hervor.
Die eine Art (zweite Phase) läfst sich nicht mit ja oder nein
EacperimmtdU Beiträge zur Psychologie des Erkennens. l49
eiledigen; denn obwohl sie nach einer bestimmten Urtheilsform
hindrftngt, enthält sie doch noch nichts von einer aufkeimenden
LOsimg (s. B. was ist es ? woher kommt es ? wann, warum, zu
irelchem Zweck geschah es ?). Die zweite Art (dritte Phase) kann
mit ja oder nein beantwortet werden, weil hier eine Vermuthung,
also ein versuchtes Urtheil vorliegt, über dessen Berechtigung
die Antwort entscheidet. Wie mir ein philologischer College
mitdieilt, ist dieser Unterschied schon von den antiken Gram-
matikem terminologisch durch die Gegenüberstellung von ero-
tematischen imd peistischen Fragen fixirt worden, wobei
die peistischen wohl (überredend = „nahe legend" : ist S e t w a
P?) der zweiten Art entsprechen, während in der modernen
Philologie (durch Delbbuck) die Bezeichnung „Ergänzungs"-
und y3estätigungsfragen^ eingeführt ist. Diese deutschen
Aasdrücke sind philologisch jedenfalls sehr gut gewählt. Psycho-
logisch haben sie den Nachtheil, dafs sie die Erscheinungen
heteronom, vom Charakter der Antwort aus bestimmen. Ich
nenne die zweite Art „Fragen mit Urtheilskeim" oder „Ver-
muthungsfragen^, die erste „leere Fragen".
Bei den Versuchen fallen auf 479 Fragen 218 leere und 261
Vermuthungsfragen. Doch hat sich das Verhältnifs wahrschein*
lieh dadurch etwas zu Gunsten der zweiten Classe verschoben^
dafs ich gleich nach dem ersten Versuch auf den Unterschied
beider Arten aufmerksam wurde und den Zuhörern sagte, Ver-
muthungsfragen seien mir besonders willkommen. Wieviel diese
nur im Anfang gegebene, später nicht wiederholte Anregung
ausgemacht hat, läfst sich nicht sagen. Gegen einen allzugrofsen
EinfluTs spricht die Thatsache, dafs bei dem ersten Versuch
sogar 18 Vermuthungs- und nur 12 leere Fragen gestellt wurden,
obwohl hier von dem Unterschied der beiden Classen noch nichts
b^annt war. — Im Allgemeinen ist noch als ein nicht im-
interessantes Ergebnifs hervorzuheben, dafs, abgesehen von dem
ersten Versuch, auf die 11 erzählenden Themata 108 leere
und 153 Vermuthungsfragen auf die 11 nicht erzählenden 98
leere und 90 Vermuthungsfragen gefallen sind. Wenn die
gröfsere Anzahl von Fragen überhaupt bei den erzählenden
Themata auftritt, so mag dies zum Theil an äufseren Gründen
liegen, auf die ich hier nicht eingehe. Wenn aber bei den er-
zählenden Versuchen die Vermuthungsfragen fast umdie
Hälfte zahlreicher sind als die leeren, während bei den nicht
150 Korl Groos,
erzählenden sogar etwas mehr leere Fragen vorkommen, so ist
das wohl mit Sicherheit darauf zurückzuführen, dab die ör-
zählende Form die Phantasie mehr anregt und dadurch leichter
über die Phase der leeren Fragen zur selbständigen Vermuthang
hinüberleitet.
Ich gelange nun zu dem eigentlichen Thema meines ersten
^Beitrages^ — den Arten der Denkbeziehung beim
Fragen. Wir stehen hier vor der „Eategorien^frage, dem
Problem einer Lehre von den besonderen Formen des beziehen-
den Denkens. Man kann diese Formen aus den verschiedenen
„Aussagen** abstrahiren, die man in der Sprache antrifft Man
kann, weniger direct aus den Quellen schöpfend, die Urtheils-
lehre der Schullogik zur Grundlage seiner Eintheilung machen.
Man kann endlich aus einer obersten Kategorie alle anderen —
etwa nach dialektischer Methode — zu entwickeln suchen. Meine
viel beschränktere Aufgabe geht dahin, zur Lehre von den
Denkbeziehungen ein paar bescheidene und vielleicht allzusehr
am Aeufserlichen haftende Anmerkungen zu machen, die sich
aus meinem Material an Fragen ergeben haben. Hierbei kann
ich überdies weder Vollständigkeit, noch endgültig gesicherte
Ergebnisse versprechen: der Zweck dieser ersten Mittheilung ist
hauptsächlich der, zu gründlicherer Bearbeitung eines dem Ex-
periment noch kaum erschlossenen Gebietes anzuregen, während
die zweite den Versuch machen wird, etwas tiefer in das Problem
des Neuurtheils einzudringen.
A. Die räumlichen Beziehungen.
Die Raumvorstellung, sagt Stumpf einmal, „beruhe ihren Ele-
menten nach auf directer Empfindung, ihrer Ausbildung nach auf
Associationen".* Ich würde (wohl auch im Sinne von Stumpf) der
zweiten Hälfte des Satzes noch hinzufügen: und auf der „bezie*
h e n d e n Thätigkeit des Verstandes". ^ Denn von der blofsen Ver-
kettung der Vorstellungen ist ihre „bewufste Beziehung" * zu unter-
scheiden. Li dem ursprünglich gegebenen Ausgedehntsein ent-
stehen die bewufsten räumlichen Beziehungen hauptsächlich im
' „üeber den psychologischen Ursprung der Kaumvorstellung.*' 8. 296.
« Ebd. 312.
' Vgl. E. ScHBADEB, „Die bewufste Beziehung zwischen Vorsteliangeo
als constitutives Bewufstseinselement^. 1893.
ExperimenteUe Beiträge zur Psychologie des Ericennens, 15X
Anschlufs an das Verhalten des leiblichen Ich zu seiner Um-
gebung. Der menschliche Organismus ist in eine räumliche
Umgebung hineingestellt, auf die er in Folge von theils ange-
borenen, theils ohne Reflection erworbenen Anpassungen zweck-
mälsig reagirt Das in diese Reactionen verflochtene BewuTstsein
hat beim Menschen (und wohl nur bei diesem) die Fähigkeit,
die so tiiatsächlich gegebenen Verhältnisse in bewufsten Be-
ziehungen wiederzuspiegeln und so erst unsere Raumvorstellung
au dem zu machen, was sie ist. Aus dieser Ursprungsart erklärt
es sich, dafs wir nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch
die populäre Unterscheidung der drei Dimensionen besitzen. Die
ein&chsten räumlichen Begriffe sind, wie mir scheint, Ort,
Richtung und Entfernung. Von diesen wird wieder der
Ort gewöhnlich als das Elementarste bezeichnet^ Das ist
logisch gewife zutreffend. Fragt man sich dagegen, was psycho-
logisch zuerst als bewufste Beziehung herausgehoben wird,
80 möchte ich im Zusammenhang mit dem eben Gesagten der
Richtung den Primat zuerkennen.
Bei den Versuchen, die man viel mehr auf Detail ausdehnen
könnte, als es mir dieses Mal möglich war, stellte sich Folgendes
heraus. Von 479 Fragen (538 Beziehungen) gehen im Ganzen
42 (45) auf räumliche Bestimmungen, also 8,77 (8,36) %. Dabei
waren zwei Themata mit räumlicher Haupttendenz gegeben
worden, die beide auf die Frage nach dem Ort eingestellt waren.
Kr. 9 lautete: „Vergeblich suchte er in allen Taschen nach
seinem Messer." Nr. 22 : „Seit zwei Jahren sucht man vergeblich
nach dem aus der Gemäldesammlung gestohlenen Rembrandt."
Diese beiden Themata waren nun entweder überhaupt schlecht
gewählt, oder zu stark mit Nebentendenzen versehen. Denn bei
den anderen Versuchssätzen kamen zum Theil mehr Fragen
nach räumlicher Beziehung vor als gerade hier. Wegen dieses
Versagens wird man vermuthlich das Interesse für die räumliche
Relation etwas höher einschätzen müssen ; freilich, wenn es sehr
vorwiegend wäre, so hätten die Hauptthemata eben doch besser
gewirkt. — Im Allgemeinen ist noch hinzuzufügen, dafs hier
30 (31) leere, 12 (14) Vermuthungsfragen gestellt wurden, ein
dem Gesammtergebnifs entgegengesetztes Verhältnifs, das nur
noch von dem bei den Benennungsfragen übertroffen wird. Es
1 Vgl. Stumpf, Ebd. 280.
152 -KarZ Qroos,
scheint also hier schwieriger als in anderen Fällen^ die Ver*
Suchsperson bis m jene dritte Phase hinüberzufahren, die ein
aufkeimendes Urtheil enthält.
Von den Unterarten der Raumbeziehung treten Ort, Rich-
tung und Entfernung hervor: Ort 15,5 (17), Richtung 19,5
(21), Entfernung 7 (7). Unter den zuletzt genannten gehen nur
2 (2) Fragen auf die Distanz zwischen verschiedenen Objecten,
während 5 (5) die Entfernung der Grenzen eines und desselben
Objectes von einander, also die Gröfse angegeben haben möchten.
Von allen diesen äufserhchen Ergebnissen kann höchstens die
starke Betheiligung der auf Richtung gehenden Fragen im
Zusammenhang mit dem früher Angedeuteten einigermaaTsen
beachtenswerth sein. Viel interessanter ist der Umstand; dafs
nun innerhalb der Richtungsfragen ein überraschendes Mifsver-
hältnifs zwischen dem Woher und dem Wohin zu constatiren
ist: es wurde 18,5 (20) Mal „woher" und nur ein einziges Mal
„wohin" gefragt Hier stofsen wir auf ein Resultajt, das des
weiteren Nachprüfens und — wenn es durch andere Versuche
im WesentUchen bestätigt wird — des Nachdenkens werth ist
Es ist mir nicht zweifelhaft, dafs die Erscheinung zum Theil
durch die hereinspielende Causalbeziehung erklärt werden
mufs; denn wir werden sehen, dafs fast überall, wo zugleich
causale Relationen anklingen, der Regrefs den Progrefs über*
wiegt. Dafs aber hier beim Räumlichen der Unterschied so
ungewöhnUch grofs ist, wird, falls es sich wirklich um eine all-
gemeine Erscheinung handelt, noch auf besondere Ursachen zu-
rückgeführt werden müssen.
B. Die zeitlichen Beziehungen«
Auch bei der Zeit haben wir ein ursprüngliches Ausgedehnt-
sein von besonderem Charakter, sei es nun, dafs wir es concrete
(Jegenwart oder psychische Präsenzzeit oder wie sonst nennen,
als unmittelbar Gregebenes vorauszusetzen. Man denkt dabei,
wenn man auf das Elementare zurückzugehen sucht, vor AUem
an das Nachklingen des eben Vergangenen im „primären Gre-
dächtnifs". Man kann sich aber fragen, ob nicht vielleicht ein
vor aller Reflection vorhandenes Eingestelltsein auf das Zu-
künftige, ein Gespanntsein auf das Kommende annähernd die
gleiche Wichtigkeit besitzt Wenn man bedenkt, wie bedeutungs-
voll das Triebleben für die Organismen ist, das doch lauter Ein-
ExperimentdU Beiträge zur Psychologie des Erkennens, 153
Stellungen auf das Zukünftige mit sich bringt, wenn man femer
beachtet, dafs sogar im rein Theoretischen das aufmerksame
Bewuüstsein dieselbe triebartige Einstellung zeigt, so wird man
diesen Gedanken nicht ohne Weiteres abweisen dürfen. — Die
bewuTsten zeitlichen Beziehungen sind nicht sehr leicht in Unter-
arten zu sondern, da die sich eindrängenden Analogien mit dem
Bfiomlichen vielleicht eher schädlich als nützlich wirken und
dennoch schwer eliminirt werden können. Für unsere Zwecke
genügt es, da& wir die Beziehung auf die Gegenwart von der
auf Früheres oder Späteres unterscheiden und die Beziehung
auf die Dauer hinzufügen.
Unter den Fragen sind 34 (40) = 7,43 (7,l)<>/o zeitUch, näm-
lich 11,5 (14) leere und 22,5 (26) Vermuthungsfragen, so dafs
hier das Verhältnifs aufkeimender Urtheilsacte viel günstiger ist
als beim Raum. Hauptthemata waren Nr. 10: „Als er von seiner
Reise ins elterliche Haus zurückkehrte, fand er, dafs man in-*
zwischen den Garten im englischen Geschmack angelegt hatte"
— und Nr. 12 : „In einem bestimmten Abschnitt der Entwickelüng
der Schwerter tritt die lanzettförmige Gestalt der Klinge auf."
Auch diese Themata haben sich nicht besonders wirksam gezeigt,
immerhin übertraf der Erfolg den der auf räumliche Beziehungen
angelegten — von den 34 (40) Zeitbeziehungen fallen 10 (13)
auf Nr. 10 und 12 — , während ich a priori eher das Gegentheil
erwartet hätte. Jedenfalls stellt sich im Ganzen das Interesse
für zeitliche Relationen noch etwas geringer dar als das nach
räumlichen. — Was die Unterarten der zeitlichen Beziehung an-
langt, so kam 10 (10) Mal das Verlangen nach zeitlicher Be-
stimmung im Allgemeinen vor, während 7 (11) Fragen auf da»
Vorausgehende, 12 (13) auf das Folgende, 1,5 (2) auf die Gegen-
wart, 3,5 (4) auf die Dauer abzielten. Da sich die Seltenheit der
Beziehimgen auf die Gegenwart wohl aus der Natur der Ver-
suche erklären wird, so ist hier nur ein einziges Ergebnifs be-
merkenswerth , nämlich der starke Antheil der Relationen auf
das zeitlich Folgende. Während im Allgemeinen der Progrefs
hinter dem Regrefs zurücksteht und bei dem Räumlichen sogar
fast verschwindet, ist bei der Zeit das Interesse für den Progrefs
überwiegend. Hier macht sich also möglicherweise jenes trieb-
artige Eingestelltsein auf das Kommende geltend, von dem ich
oben gesprochen habe ; aufserdem ist es allerdings denkbar, dafs
154 ÄaW Groos,
der Regrefs sprachlich leichter eine causale Form annimmt als
der Progrefs, was die Erscheinung auch erklären würde.
C. Die Zahlbeziehung.
Da die Versuche hinsichtlich der Zahlbeziehung nur ihrem
Gesammtresultat nach in Betracht kommen, so brauche ich hier
nichts weiter vorauszusetzen als die Bemerkung, dafs die Grund-
lage der bewufsten Beziehung wohl auch hier etwas Giegebenes
ist, nämlich der gröfsere oder geringere „innere Reichthum" beim
simultanen oder successiven Erleben einer Mehrheit — Fragen
nach der Anzahl kamen aufserhalb der eigens darauf angelegten
Themata nur zweimal vor. Von den Specialversuchen lautet
das Thema Nr. 14 : ,.Dieser junge Mann ist schon xäehr als ein-
mal verlobt gewesen"; und das Thema Nr. 20: „Charlottenburg
hat im letzten Jahrzehnt an Einwohnerzahl aufserordentlich stark
zugenommen". Nr. 20 ergab 4,5 (7) Beziehungen auf Anzahl,
Nr. 14 blos 2 (2), Die Gesammtsumme beträgt also 8,5 (11)
= 1,77 (2,05) 7o- Darunter ist 1 (1) Vermuthungsfrage.
Das Interesse für die Zahlbeziehung ist den Versuchen nach
am geringsten unter allen Urtheilsarten, die erprobt
wurden; höchstens die Existentialbeziehung kann mit ihr in
dieser Hinsicht verglichen werden, wie sich später zeigen wird.
Das ist sehr auffallend gegenüber der ungeheuren Wichtigkeit
der Zahl, die, wie v. d. Steinen einmal sagt, „das Gerüst all
unseres Wissens" darstellt. Wir werden dadurch ein wenig an
das Verhalten primitiver Stämme erinnert, die sich um bestimmte
Zahlenangaben unglaublich wenig kümmern und in Folge dessen
aus Mangel an Uebung (nicht aus Mangel an Begabung) kaum
über 5 oder 6 hinauskommen. Auch beim Culturmenschen
scheint die Bedeutung der Zahl in den Hintergrund zu treten,
sobald man nur an seine natürliche Wifsbegier appellirt
D. Vergleichen und Unterscheiden.
Zwei Erlebnisse a und b können hinsichtlich ihrer Unter-
scheidbarkeit in fünffacher Weise zum Gegenstand bewu&ter
Beziehungen gemacht werden: 1. die zugleich auf die Kategorie
der Substantialität verweisende Identitätsbeziehung, 2. Gleichheit,
3. Aehnlichkeit, 4. Verschiedenheit, 5. Contrast.
Meine Versuche sind in diesem Gebiet nicht vollständig, da
sie, was die Specialthemata anlangt, nur auf Fragen nach Gleich-
Experimentdle Beiträge zur Psychologie de9 Erkennene, 155
heit, Aehnlichkeit oder Verschiedenheit angelegt waren, aufser-
dem aber blos den Gontrast in noch näher zu besprechender
Weise hervortreten liefsen. Im Granzen haben wir hier 31 (40)
= 6,47 (7,43) 7o Fragen resp. Beziehungen zu verzeichnen, wovon
21,5 (26) den Vermuthungsfragen angehören. Es ergab sich aber
dabei eine gewisse Schwierigkeit für die Berechnung, die ich nur
verdeutlichen kann, wenn ich zuerst die Specialthemata anführe.
Nr. 4 lautete : „In der mineralogischen Sammlung sind in einem
besonderen Glaskasten (joldfunde aus Australien aufgestellt.
Links vomen sieht man einen stattlichen Klumpen von fast
kugelförmiger Gestalt, dessen Werth 6000 Frs. betragen soll.
Wenden wir den Bhck weiter nach rechts, so fällt uns ein zweites
Ftmdstück auf." Nr. 15: „Als der Tourist auf seiner Grat-
wanderung eine Spitze von beträchthcher Höhe erklettert hatte,
sah er vor sich einen weiteren Felsgipfel emporragen." Wenn
nun hier etwa eine Frage lautete: ^Wie hoch wurde das zweite
Fnndstück geschätzt?" so hielt ich es für richtig, Va a^^ die
Vergleichung und ^/^ auf attributive Beziehung zu verrechnen.
War dagegen in der Frage ein „auch" oder „gleichfalls" (z. B.
„Ist dasselbe auch so viel werth wie der erste Klumpen?") so
schien mir die Vergleichungstendenz vorherrschend genug, um
als 1 allein in Rechnung gezogen zu werden.
Die Fragen sind nicht alle so gestellt, dafs man abgesehen
von einer allgemeinen Vergleichungstendenz auch angeben kann,
ob sie mehr auf Gleichheit, Aehnlichkeit oder Unterschied gehen.
Prüft man diejenigen, bei denen eine genauere Bestimmung
möglich ist, so stöfst man auf einen jener Punkte, die vom blos
äofeerlichen Ergebnifs nach innen weisen und so allein im Stande
sind, diesen Versuchen eine gewisse, wenn auch bescheidene
Bedeutung zu verleihen. Wenn man nämlich so obenhin von
Vergleichen und Unterscheiden wie von zwei coordinirten Be-
griffen redet, so übersieht man, dafs das „Vergleichen" in den
meisten Fällen gar nichts Anderes als ein Unterschei-
den ist. Ein Hervorheben der Gleichheit oder gar der Aehn-
lichkeit, wird in „natürlichen" Urtheilen wohl überwiegend nur
da eintreten, wo die Gleichheit oder Aehnlichkeit aus irgend
einem Grunde etwas Ueberraschendes oder Erfreuliches hat, wie
1. B. beim ästhetischen Urtheil gegenüber Werken der nach-
ahmenden Kunst; ein solcher Fall tritt aber nicht besonders
häufig ein- Im Grofsen und Ganzen ist daher unser „Vergleichen"
156 ^^*'^ Grooa.
meistens ein Suchen nach Unterschieden^ wie das den Bedach
nissen eii^er fortschreitenden und darum „differenzirende^" Eifr
kenntnifs ja auch am besten entspricht Damit stimmen taUL
die Fragen gut überein. Auf Gleichheit gehen in ziemlich
unbestimmter Weise höchstens 6,5 (8); in unbestimmter Weieiei
weil die Beziehung auf Gleichheit meist nur durch „aueh'' odtir
^gleichfalls^' ausgedrückt wird. Auf Aehnlichkeit zielt vielleicht
1 (1) Fall. Auf den Unterschied dagegen haben es 16 Frag^
resp. 21 Beziehungen deutlich abgesehen.
Für eine Fortsetzung der Versuche würde Folgendes zu be-
achten sein. Bei dem Specialthema Nr 15 sind nur 3 (5) faierhejf
gehörige Beziehungen hervorgetreten, während bei Nr. 4 22 (26) mild
der Specialtendenz entsprechend reagirt wurde. Woraus erklftrt
sich dieser auffallende Unterschied ? Sollte die erzählende Form
in Nr. 15 die Phantasie mehr von dem nüchternen Vergleichen
ablenken? Ich glaube dies nicht, sondern sehe die Differenz
darin begründet, dafs in Nr. 4 eine gewisse Häufung attributiver
Bestimmungen nach vielen Richtungen hin zum Vergleichen und
Unterscheiden anregt, während Nr. 15 nur die eine attributiv^
Bestimmung der Höhe darbietet.
Endlich sei noch hervorgehoben, dafa auch das Contrftst*
verhältnifs in den Versuchen mehrfach sichtbar wird, nur in
besonderer Form, nämUch in einem Theil der ziemlich häufigen
disjunctiven Fragen, auf die ich daher bei dieser Grelegen^
heit verweisen will. Sie gehören begreiflicher Weise alle den
Vermuthungsfragen an und machen einen beträchtlichen Bruchr
theil derselben aus: 47 von 261 Vermuthimgsfragen haben dis-
junctive Form, was ja bei der Unsicherheit der Vermuthung,
die das „Oder" einer anderen Vermuthung nahelegt, nicht zU
verwiuidem ist. Man darf dabei allerdings nicht einseitig an
die strengste Auffassung der Disjunction denken, wonaich die
Urtheile sich nicht nur ausschliefsen , sondern wo auch eines
richtig sein mufs, wenn das andere oder die anderen falsch sind;
vielmehr wird man sich mit der Forderung wechselseitige]^ Aus*
schliefsung begnügen müssen.^ Es ist hier wohl nothwendig,
zwischen der im Disput gebrauchten Disjunction, bei der die
strengere Auffassung gefordert ist, und der Disjunction von Ver*
muthungen bei der Bildung eines Neuurtheils zu unterscheiden.
» Vgl. Lipps, „Grundztige der Logik", 1893, S. 68.
Experimentelle Beiträge zur Psychologie des Erkennens. 157
womit wir es zu thun haben. In dem letzteren Fall kommt die
strengere Form natürlich auch häufig vor; recht oft handelt es
sieh aber, soviel ich sehe, nur darum, dafs einige sich aus-
schliefsende Vermuthungen ^ neben einander zur Erwägung
kommen, ohne dafs dabei schon die Sicherheit vorhanden wäre :
eine weitere Lösung giebt es nicht. — Die contradictorische
Disjunction (S ist entweder P oder nicht P) kommt nur ein ein-
ziges Mal vor. B. Erdbiakn ist also völhg im Recht, wemi er
sagt, sie sei nicht häufig J wenn er weiter bemerkt, sie finde ihren
Ort mehr im vorläufig orientirenden als in dem abschliefsenden
Denken, so wird das zweifellos ebenfalls richtig sein. Dagegen
wäre noch hinzuzufügen, dafs sie sehr beliebt im Disput ist.* —
Die „specifische** Disjunction, in der das „Nicht-F" bejahend
bestimmt ist, bildet also bei den Fragen die Regel ; und darunter
sind nun 13 Fälle von conträrer Disjunction, wobei die Prä-
dicate in dem Contrastverhältnifs des conträren Gegen-
satzes stehen (lang oder kurz, grofs oder klein, jung oder alt etc.).
Eine bewufste Beziehung auf den Contrast haben wir hier eigent-
lich gar nicht vor uns; höchstens könnte in dem einen oder
anderen Fall einmal das Interesse der Phantasie für die Ab-
weichung vom Mittelwerth eine Rolle gespielt haben. Mein
hauptsächlicher Zweck bestand deshalb mehr darin , bei diesem
Anlafs die disjunctiven Fragen zu erwähnen, auf die ich sonst
nicht mehr zu sprechen komme. Nur darauf sei noch hinge-
wiesen, dafs die conträre Disjunction der contradictorischen
psychologisch oft näher steht, als man glaubt, indem der conträre
Gegensatz das Dazwischenliegende, was er nur äufserlich um-
schüefst, auch innerlich zu enthalten scheint (vgl. „Arm und
Reich"*, „Hoch und Niedrig") und so wie der contradictorische
für das Bewufstsein die ganze Reihe, nicht nur ihre Enden be-
* Bei einer Frage war die sprachlich disjunctive Form logisch unbe-
rechtigt: „War der zweite Gipfel für den Wanderer auch erreichbar oder
versperrte er ihm die Aussicht?"
* B. Erdmann, Logik I (1892), 8.400 f. — Eine historische Untersuchung
über das Verhältnifs der Disputirlogik und Erkehntnifslogik, die gleich bei
Aristoteles, ja schon bei den Sophisten beginnen müfste, würde: wohl in
mancher Hinsicht klärend wirken. — Nebenbei sei bemerkt, dafs eine Dis-
junction im Subject („Er oder Sie") und eine mehr als zweigliedrige Dis
junction vorkam ; in allen anderen Fällen handelte es sich um zweigliedrige
Disjunction im Prädicat.
158 Karl Grcm.
deutet.^ Das scheint mir gerade bei den betreffenden Fragen
der Fall zu sein.
£. Die Substantialbeziehung.
Diese Relation ist die Beziehung von Gegebenem auf ein
nicht gegebenes X, das „Ding^, die Substanz, wodurch das Ge-
gebene zum jjTtd&og^ jener nicht wahrnehmbaren „oöaia** wird*
Die Ej*iterien für die Anwendung der Substanzbeziehung sind
im populären BewuTstsein räumliche Zusammengehörigkeit und
ein zeitliches Beharren oder doch eine nur stetige Veränderung
des Zusammenhangs. Dabei ist die Substanz, sofern wir etwas
darunter zu denken suchen, kaum ein blofses „Bündel'' von
Eigenschaften (dieses Bild deutet auf einen äuTseren, periphe-
rischen Zusammenschlufs), sondern eher ein Kraftcentrum,
das als innere Einheit die wahrgenommenen Eigenschaften „hat^
(vergL Jebüsalem's „Urtheilsfimction"). Dafs die erlebte Con-
tinuität unseres Bewufstseins im Wechsel seiner Zustände beim
Zustandekommen des Dingbegriffes eine Rolle spielt, halten Viele
für wahrscheinlich, wie denn Kant die Kategorien überhaupt als
Functionsweisen der Einheit des Selbstbewufstseins betrachtet
Für die Erörterung der Substantialbeziehungen werden wir
unterscheiden müssen zwischen solchen Beziehungen, die auf das
Ding selbst und als Ganzes gehen, und solchen, die auf die ihm
zu „attribuirenden" Eigenschaften gerichtet sind.
Auf das Ding selbst geht die schon erwähnte Identitäts-
beziehung, die in den Versuchen keine Rolle gespielt hat Sie
tritt in dem Act des „Wiedererkennens" auf und ist ein Neur
urtheil, wie ich glaube, nur da, wo uns Veränderungen des
Dmges stutzig machen und die Frage der „Dieselbigkeit" auf-
drängen.
Ferner geht unser Interesse auf das Ding als Ganzes,
wo wir uns fragen: Was ist das für ein Ding? Die Antwort
darauf giebt die Bestimmung durch den Individual- oder
Gattungsbegriff, resp. durch den Namen des Indi-
viduums oder der Gattung.
Bei den Versuchen unterschied ich zwischen solchen Fragen,
^ Vgl. auch die Bemerkungen bei R. Lbhxann, „ Schopenhauer **. 1894^
S. 160 f., 1Ö6, 184.
Eijterimetädle Beiträge zur Psychologie des Erkennens. 159
die allgemein auf die BestimmuDg durch den Gattungsbegriff
und solchen die ausdrücklich auf die Benennung gerichtet sind.
Auf Bestimmung durch den Gattungsbegriff waren 46,6
(52) = 9,71 (9,67) ^/o der Fragen (Beziehungen) abgestellt, darunter
29 (30) leere. Die beiden Specialthemata Muteten : „Im Schau-
fenster des Juweliers befindet sich ein Stein von grofser Schön-
heit'' (Nr. 17) und: „Als der Botaniker durch das Gebüsch ge-
dnmgen war, stiefs er einen Freudenruf aus; denn vor ihm stand
die langgesuchte Blume^ (Nr. 23). Das erste Thema ergab 6 (5) hier-
her gehörende Fragen unter 16 (17) überhaupt, das zweite 10 (11)
Ton 17 (21). Die übrigen 31,5 (36) öind in neun anderen Ver-
suchen zerstreut, woraus man schon auf die Wichtigkeit einer
Beziehungsart, die sich auch ungesucht so häufig einstellt,
schlielsen kann.
Der Benennung dienten ebenfalls zwei Specialthemata, die
zugleich beide auf Individuen eingestellt waren, Nr. 7 und 18:
„Im Anfang des 18. Jahrhunderts lebte in München ein Schrift-
steller, der eine auTserordentliche Gewalt über die Jugend aus-
übte". „In Sachsen liegt ein Dorf von 22000 Einwohnern".^
Hier wurden 13 (13) unter 24 und 10 (10) unter 14 Fragen der
Hauptteüdenz entsprechend gestellt. Im Uebrigen kamen nur
noch 3 Benennungsfragen vor, von denen zwei den Namen einer
Gattung (Stein, Blume) verlangten. Im Ganzen sind es also 26
(26) = 5,43 (4,83) ^1^ Benennungsfragen. — Fassen wir zusammen,
so erhalten wir 72,5 (78) Fragen, die auf begriffliche Bestimmung
eines „Dinges** gehen.
Die attributiven Beziehimgen, wobei wir mehr auf die
dem Ding zuzuschreibenden Eigenschaften concentrirt sind, bieten
eine aufserordentliche Mannigfaltigkeit dar — mit der gewöhn-
lichen Unterscheidung von Eigenschaften im engeren Sinn und
Zuständen ist es nicht gethan. Ich will aber auf solche Unter-
abtheilungen nicht eingehen, da das mir zur Verfügung stehende
Material von Fragen zu klein ist, sondern die attributiven Be-
stimmungen nur in ihrer Gesammtheit betrachten. Da erhalten
' Ich bemerke y dafs die Angaben der Themata ein paar Mal einfach
vd Phantasie beruhen. Ich mnÜBte eben manchmal wegen Zeitmangels mit
dexDy was mir gerade einfiel, vorlieb nehmen. — DafB in Nr. 7 und 18 ab-
sichtlich auch die Möglichkeit anderer Beziehungen gegeben -wurde, erklärt
rieh ans deren ünvermeidlichkeit in anderen Fällen.
160 ÄaW Groos,
wir denn 58,5 (69) = 12,21 (12,83) «/o Fragen (Beziehungen) Von
attributivem Charakter, worunter 31 (38) Vermuthu|)ig8&agen.
Die Specialthemata Nr. 2 und 19 („Auf dep alten Tanne safs am
Äufsersten Endie eines Zweiges ein fremdartiger Vogel", »Der
Sammler Neumann besitzt ein orientalisches Seidentuch ron
herrlicher Färbung") ergaben zusammen nur 16 attributive Be-
ziehungen, während die anderen ziemlich gleichmäJsig über fast
aUe Themata verbreitet sind.
Die Versuche bestätigen, wenn man die verschiedenen Resultate
zusammenrechnet, die gewöhnliche Ansicht, wonach die Kategorie
der Substantialität nach der Causalität am wichtigsten für das
Denken ist. Denn mit 131 (147) Fragen resp. Beziehungen
nimmt sie über ^4 ^^s Gesammtergebnisses für sich allein in
Anspruch. Allerdings darf nicht vergessen werden, dafs hier
drei Mal so viele Specialthemata vorhanden sind als in den
bisher besprochenen Fällen. Aber schon die attributiven Be-
stimmungen und die Beziehungen auf den Gattungsbegriff stehen,
-jede für sich allein betrachtet, allen anderen aufser den Causal-
beziehungen voran. Und wenn wir uns nach dem Antheil. dieser
Beziehungen auf serhalb ihrer Specialthemata fragen, so er-
halten wir 42,5 (53) Attributive, 31,5 (36) Gattungs- und 3 (3)
Namenbeziehungen, also zusammen 77 (92) Substanzialrelationen,
die ohne helfende „Haupttendenz" auftreten, worin die Kategorie
abermals allein durch die Causalität übertroffen wird. (Weiter
unten folgt eine Zusammenstellung.)
F. Die Causalbeziehung.
WiNDELBzVND hat die Kategorien („Vom System der Kategorien",
Sigwartabhandlungen 1900) in reflexive und constitutive
eingetheilt, d. h. in solche, denen wir nur eine „vorgestellte",
imd solche, denen wir eine „gegenständliche" Geltung beilegen.
(Denselben Unterschied drückt auch Trendelenburg's Eintheilung
in modale und reale Kategorien aus). Zu den constitutiven
gehört die Causalität. Sie unterscheidet sich aber von allen
anderen noch dadurch, dafs sie gegenüber den blofsen „Ist-
beziehungen" die einzige „Mufsbeziehung" ist. So hat
z. B. die Beziehung einer Substanz z^xx einer ihrer Eigenschaften
nur dann den Charakter der Nothwendigkeit, wenn wir wissen,
warum das Ding die Eigenschaft haben mufs.
Experimentelle Beiträge zur Psychologie des Erkennens. \Q\
Wenn man nach der psychologischen Grundlage der be-
wn&ten Causalbeziehung fragt, so wird in der Antwort gern auf
die Willenshandlung verwiesen. Das ist nicht ohne weitere Er-
klSrung zulässig. Vor Allem ist es zu betonen, dafs dabei genau
genommen mindestens zwei verschiedene Arten von Erlebnissen
in Betracht kommen, nämlich das absichtliche „Hervor-
bringen" und das Gefühl des „Nöthigens" und „Genöthigt-
Seins". Beides, auch das Nöthigen und Genöthigtsein deutet
nun in der That auf das Willensleben hin. Aber der Hinweis
auf die Willenshandlung bedarf nicht nur einer genaueren
Analyse, sondern er mufs auch einem directen Angriff auf seine
Berechtigung gewachsen sein. Man sagt etwa: das in der
ftufiseren Causalbeziehung nicht wahrnehmbare und doch hinein-
verlegte „innere Band" zwischen der Ursache a und der Wirkung
b ist als thatsächliches Erlebnifs für uns da in dem Streben,
welches das a setzt, weil es das b will. Erst die Abstraction hat
aus der teleologischen die eigentUch causale Beziehung gemacht.
Dem gegenüber kann aber der Einwand erhoben werden: das
ist ein Cirkel ; denn wie kann ich, um b zu erreichen, a setzen,
wenn ich nicht schon ein Bewufstsein von einem causalen Connex
beider habe; die speciell teleologische setzt also die allgemeine
Causalbeziehung voraus. — Einen Ausweg aus dieser Schwierig-
keit würde man vielleicht in der Würdigung der biologischen
Thatsache finden, dafs das Bewufstsein von Anbeginn durch
das Erleben der Reflex- und Instinctbewegungen in einen zweck-
mäfsigen Causalnexus verflochten ist, wobei hundertfach ein
Drang auf b hin zu dem Setzen des a führt, ohne dafs eine
Erkenntnifs des Causalzusammenhanges zwischen a und h schon
vorhanden wäre. Es würde das in gewissem Sinne Kant's Ver-
hältnifs von „Affinität" und „Association" analog sein: statt der
transscendentalen Affinität hätten wir die ererbte Anpassung des
Organismus zu seiner Umgebung, in die das erwachende Be-
wnüstsein sich hineingestellt findet und die es dann in bewufsten
Beziehungen zur Reflection erhebt.
Wie dem auch sei, jedenfalls hielt ich es für nöthig, sowohl
die teleologische Beziehung (Motiv, Zweck, Mittel u. dergl.) als
auch die eigentliche Causalrelation im engeren Sinne zum Gegen-
stand von Specialversuchen zu machen. Ja ich ging hierüber
noch hinaus, indem ich bei der Letzteren die Beziehung auf die
Ursache und die auf die Wirkung (causal zurück und vorwärts,
ZdtKhrift mr TsychoJiVFie S6. 11
162 -KaW Groos.
Regrefs und Progrefs) wieder sonderte und für jede der beiden
Richtungen zwei Specialthemata verlas. So entstanden die 6
Themata Nr. 8, 16, 5, 13, 3, 21 :
Nr. 8 und 16 (teleologische Beziehung) : „Der Techniker, der
das Modell des neuen Apparates betrachtete, deutete auf einen
Theil der Construction und sagte: „Ich würde Ihnen rathen,
hierzu Aluminium zu nehmen". — „Am ZEPPELiN*schen Luftschiff
befinden sich sogen, Laufgewichte, durch deren Bewegung man
den Schwerpunkt des Ganzen verschieben kann."
Nr. 5 und 13 (causal, Regrefs zur Ursache): „Als der junge
Mann gerade an einem stattlichen Hause vorbeiging, fiel plötzlich
eine Rose zu seinen Füfsen nieder." — „An der Westküste Eng-
lands hat man ein allmähliches Sinken des festen Landes nach-
gewiesen."
Nr. 3 und 21 (causal, Progrefs zur Wirkung): „Am Thurm
der Stadtkirche löste sich ein Stein, schlug auf dem schiefen
Dach auf und sprang dann mit einem gewaltigen Satz in die
freie Luft hinaus". — „Man hat berechnet, dafs die Sonne all-
mählich an Gröfse verliert." ^
Betrachten wir vor Allem das Gesammtresultat, so wird ims
die Uebermacht der Causalbeziehmig über alle anderen in hübscher
Weise verdeutlicht. Denn 70 (78) = 14,61 (14,5) % teleologische
und 150,5 (163) = 31,42 (30,3)% im engeren Sinn causale
Relationen sind hier zu verzeichnen, wobei im ersten Fall 48
(55), im zweiten 95,5 (108) zu den Vermuthungsfragen gehören.
W^enn also die Substantialbeziehung in allen ihren Formen zu-
sammen 131 (147) Fragen, d. h. mehr als ein Viertel des
Ganzen in Anspruch nahm, so macht die Gesammtheit der
Causalfragen 220,5 (241) aus. Aufserdem müssen wir aber mehr
oder weniger auch noch die früheren besprochenen räumUchen
und zeitlichen auf Richtung gehenden Fragen hinzurechnen,
die zusammen 38,5 (45) betragen, so dafs wir sagen dürfen: die
Causalität bedeckt etwa die Hälfte des ganzen Gebietes. Frei-
Uch mufs auch hier wieder daran erinnert werden, dafs wir statt
der sonst üblichen 2 Specialthemata in diesem Falle 6 vor uns
^ Nr. 13 und 21 können eigentlich nur als allgemein causal bezeichnet
werden, da mir hierbei die Tendenz auf Regrefs und Progrefs nicht recht
gelungen ist.
ExperimentdU Beiträge zur Psychologie des Erkennens.
163
haben. Dabei bleibt aber das Verhältnifs zu der geradeso ge-
stellten Substantialbeziehung bestehen. Femer ist jede der beiden
eausalen Hauptbeziehungen (die teleologische und die causale
im engeren Sinn) für sich allein schon die stärkste wie folgender
Ueberblick zeigt, ^ in dem wir allerdings die noch zu erörternde
Existentialbeziehung vorausnehmen müssen:
Art der Relation
Fragen (in %)
Beziehungen
(in %)
Bäumlich
8,77
8,36
Zeitlich
7,1
7,43
Anzahl
1,77
2,05
Unterschied u. s. w.
6,47
7,43
1 Gattung
1 Name
9,71
9,67
5,43
4,83
' Attributiv
12,21
12,83
f Teleologisch ,
14,61
14,5
' Causal vor und zurück f
31,42
30,3
Existenz
2,51
2,6
100,00
100,00
Wir besitzen aber auch noch ein weiteres Prüfungsmittel.
Fragen wir uns nämhch, wie wir es schon vorher bei der Sub-
stantialbeziehung thaten, wie stark die verschiedenen Kategorien
abgesehen von den besonders auf sie eingestellten
Versuchen vertreten sind, so erhalten wir, obgleich auf diese
Weise die Causalität in der Verrechnung benachtheiligt
ist, abermals das Ergebnifs, dafs die Substantialbeziehung ein
starkes Viertel, die Causalbeziehung schwach die Hälfte
aüer so entstandenen Fragen resp. Beziehungen ausmacht. Dies
verdeutlicht die folgende Tabelle:
^ Da bei der Causalität im engeren Sinne auch noch andere Be-
gebungen aufser der auf Wirkung oder Ursache hervortraten, mufste in
der Tabelle Alles zusammen gerechnet werden, obwohl hier 4 Special-
themata vorlagen. Es bleibt aber, auch wenn wir die 31,42 % halbiren
(vas viel zu streng gerechnet wäre, da ja ein grofser Theil der Fragen gar
uebt in die Specialthemata fällt) das Causalverhältnifs im engeren Sinn
das stärkste von allen.
11*
164
Karl Groos,
Art der Relation
Anzahl
der Fragen
Anzahl
der Beziehungen
Räumlich
38
40
Zeitüch
24
27
Anzahl
2
2
Unterschied u. s. w.
6
9
'
Gattung
31,5
36
«
Name
3
3
■
Attributiv
1
42,5
53
{
Teleologisch
50
58
Causal vor und zurück i
80,5
85
Existenz |
1
1
278,5
314
Innerhalb der teleologischen Beziehungen empfindet man
bald das Bedürfnifs nach Unterabtheilimgen , wobei eine der
Unterscheidung von causalem Progrefs und Regreis entsprechende
Division sich aufdrängt, aber natürUch nicht so leicht durchzu-
führen ist; denn das Ziel, das in der Zukunft liegt, ist als
Zweckvorstellung zugleich Grund oder Motiv der eintretenden
Veränderung. Da mir jedoch daran lag, hier zu scheiden, so
ging ich in folgender Weise vor. Hatte die Frage den Sinn
von: warum geschah das? — so rechnete ich diese Beziehung
auf den Grund oder das Motiv zum ßegrefs. Ebenso natür-
Uch eine weitere Kategorie von Fragen, die sich für das Mittel
interessiren, wodurch etwas erreicht wurde. War dagegen die
Tendenz des Fragenden mehr auf den Charakter des zu er-
reichenden Zieles gerichtet, so wurde der Fall dem ProgreC»
zugezählt. Noch sicherer konnte man das thun, wenn direct
gefragt wurde, ob das Ziel erreicht worden sei.
Von den 70 (78) teleologischen Fällen gehen nun 27 (30)
auf den Grund, 11 (14) auf das Mittel, 22 (24) auf den
Charakter des Zieles und 10 (10) fragen, ob das Ziel wirklich
erreicht worden sei.
Bei der eigentlichen Causalität ist neben dem Hauptunter-
schied von regressiven, auf die Ursache und progressiven auf
die Wirkung gehenden Fragen auch noch das Interesse für
die Umstände, unter denen etwas stattfand, und vielleicht die
Kategorie der Wechselwirkung hervorgetreten. Auf die Ur-
sache gingen 86 (96), auf die Wirkung 58 (60), auf Umstände
Experimentelle Beiträge zur Fsycholoffie des Erketinetis.
165
5,5 (6), als Beziehung auf Wechselwirkung konnte möglicher-
weise 1 Fall aufgefafst werden: auf das Thema der sinkenden
Westküste wurde nämlich einmal gefragt, ob gleichzeitig die
Ostköste gestiegen sei.
Das Hauptinteresse Hegt niui hierbei in dem Verhältnifs
von Ursache und Wirkung, oder sagen wir allgemeiner : zwischen
causalem Regrefs und Progrefs. Wollen wir dieses Verhältnifs
übersehen, so laüssen wir nicht nur die teleologischen, sondern
auch die auf Richtung gehenden räumlichen und zeitUchen Be-
ziehungen mit in die Berechnung ziehen, während wir bei den
eigentlich causalen die Umstände zum "Regrefe, den Fall von
Wechselwirkung aber, da er eben doch jedenfalls Interesse für
die Wirkung zeigt, zum Progrefs zählen.
Wir erhalten dann folgendes Ergebnifs:
Kegrefs
Progrefs
Ursache + Umstände 91,5(102)
Grand + Mittel
Zeitlich zurück
Räumlich woher
38 (44)
7 (11)
18,5 (20)
Wirkung -f- Wechselwirkung 59 (61)
Ziel + Ziel erreicht 32 (34)
Zeitlich vor 12 (13)
Räumlich wohin 1 (1)
155 (177)
104 (109)
Eine gröfsere Ausgleichung erhält man allerdings, wenn man
den Antheil an Regrefs und Progrefs aufs erhalb der teleologi-
schen und causalen Specialthemata imtersucht:
Regrefs
Progrefs
Ursache -|- Umstände 43,5(46)
Grund + Mittel 20 (24)
Zeitlich zurück 7 (11)
Räumlich woher 16,5(18)
Wirkung + Wechselwirkung 34 (36)
Ziel + Ziel erreicht 23 (25)
Zeitlich vor 10 (11)
Räumlich wohin — —
87 (99)
67 (72)
Immerhin bleibt auch so das ü eberwiegen des Regresses be-
stehen, und dieses Ueberwiegen wird noch bedeutsamer durch
die beiden Umstände, dafs erstens die auf das Ziel gehende
Frage doch das Interesse für den Grund eher involvirt als um-
gekehrt die auf den Grund gehende das Interesse für den Er-
folg, und dafs zweitens unter den 33 (35) Wirkungen nicht
166 Korl GroM.
weniger als 18 psychische sind (,.war er erfreut, erstaunt" u.dgLX
die mehr einem gefühlsmälsigen Interesse als dem Erkenntnifs-
drang entspringen. Nehmen wir zu diesem Ergebnisse das hinzu,
was wir über das Neu-Urtheil und die Phasen des Fragezustandes
gesagt habeu, so bestätigt sich uns der Ausspruch von Lipps:
^Bezeichnen wir das Gefühl, das das Auftreten des Neuen be-
gleitet, als Gefühl der Verwunderung, setzen wir anderersdls
voraus, dafs in dem Rückwärtsgehen des Denkens, im Auf-
suchen von Ursachen und Bedingungen des wahrge-
nonmienen Weltinhaltes, vorzugsweise das Geschäft des Er
kennens bestehe, so hat es mit dem bekannten Satze, die Ver-
wunderung sei Anfang der Erkenntnüs, seine psychologische
Richtigkeit" ^ Unter allen Beziehungen sind die causalen, unter
diesen aber die regressiven am mächtigsten.
G. Die Existentialbeziehung.
Der Umstand, dafs in dem zweiten Thema (der auf einem
Tannenzweig sitzende fremdartige Vogel) eine Frage hervortrat,
die die Existenz des Vogels bezweifelte („War es wirklich ein
Vogel oder nur ein vogelähnlicher Gegenstand?"), veranlafste
mich, auch auf diese Relation einzugehen. Bekanntlich hat
Bkentano auf Grund seiner Urtheilstheorie - gelehrt, dafs sich
jedes kategorische Urtheil ohne Aenderung des Sinnes in ein
Existentialurtheil umwandeln lasse. Nun ist es freilich nicht
völlig deutlich, wie Bbentaxo den Ausdruck Existenz gefafst
wissen möchte. Bei Urtheilen über Aufsendinge mufs aber doch
wohl Existenz im gewöhnlichen Sinne gemeint sein. Wenn z. B.
das Urtheil: „irgend ein Mensch ist krank", umwandelbar ist in:
„es giebt einen kranken Menschen", so kann dies „es giebt"
doch kaum nur die Existenz in meiner Vorstellung sondern nur
die Existenz im gewöhnlichen Sinne bedeuten. In Hinsicht auf
solche Urtheile scheint mir nun folgende Kritik E. Ebebhabd's
völlig zutreffend: „Nur von Gegenständen, deren Existenz uns
selbst fraglich ist oder von anderen in Zweifel gezogen wird,
haben wir im Allgemeinen Veranlassung, das Dasein ausdrück-
lich zu betonen, und dann ist der Existentialsatz die einzige
ungezwungene und auch stets zu Gebote stehende Ausdrucks-
weise. Meist aber ist es uns wichtiger, über die Beschaffenheit,
* Lipps, ^Grundthatsachen", S. 416.
* Brentano, ^Psychologie vom empirischen Standpunkte" I, S.266f., 276 f.
Experimentelle Beiträge zur Psychologie des Erkennens. 167
das Thun und Treiben des Wirklichen etwas zu erfahren oder
mitzutheilen, imd hier sind Eigenschafts-, Thätigkeitsurtheileu.s. w.
die geziemende Form. Brentano's Umwandlung solcher Sätze
rnnfs uns deshalb als unzulässig gelten, weil sie ein untergeord-
netes Moment zur Hauptsache und diese zur Nebensache macht." ^
Ebrrhabd's Ansicht wird nun, wie mir scheint, dadurch be-
stätigt, dafs abgesehen von den eigens darauf eingerichteten
Specialversuchen die Existentialfrage nur das eine Mal gestellt
worden ist, wo sie mir zuerst auffiel und dann nie wieder. Es
ist aber doch auch von Interesse, den Erfolg jener Specialthemata
zu betrachten. Nr. 6 und 11 lauteten: „Der in Wolken einge-
hüllte Bergsteiger hemmte seinen Schritt ; denn vor ihm zeichnete
sich in dem dichten Nebel schattenhaft eine Gestalt ab, die wie
ein aufgerichteter Bär aussah". „Im Simplontunnel befindet sich
an einer Stelle ein Quarzgang, der ganz den Charakter einer
goldführenden Schicht besitzt". — Das erste Thema ergab 9^«
\11) auf die Existenz gehende Fragen („Wirklich ein Bär?"
•Ueberhaupt ein Thier?" „Vielleicht ein Baumstrunk?" etc.)
unter 23 (30) Fragen resp. Beziehungen insgesammt. Das ist ja
gewifs ein nicht unbeträchtlicher Bruchtheil; wenn man aber
bedenkt, in wie aufserordentlichem Maafse hier die Existenzfrage
nahegelegt ist, so mufs es doch eher auffallen, dafs beinahe die
Hälfte der Studenten, nämlich 8 von 17 diese Frage überhaupt
nicht gestellt haben. Bei dem zweiten Thema aber, wo es doch
auch scheinen möchte, als sei die Frage, ob denn thatsächlich
Gold in dem Quarzgang vorhanden ist, so ziemlich in den Mund
gelegt, ist nur ein einziger Herr von elfen auf diesen Gedanken
verfallen. Das spricht stark dafür, dafs die Existentialbeziehung
in der Regel beim Urtheilen nur eine untergeordnete Bedeutung
in Anspruch nehmen darf.
Hiermit will ich diesen ersten Beitrag schliefsen, obwohl sich
noch mancherlei, so z. B. das Interesse für psychische Ge-
schehnisse imd das Aufkeimen negativer Urtheile in Erwägung
ziehen liefse. Ein zweiter, noch kürzerer Beitrag soll von dem
Charakter der in den Vermuthungsfragen aufgetauchten Schlufs-
processe handeln.
* E. Eberhard. „Beiträge zur Lehre vom Urtheil." Dias., Breslau
1893. S. 41.
{Eingegangen am H. April 1901.)
(Aus dem Psychologischen Institut der Universität Groningen.)
Erster Artikel.
Untersuchungen über die
sogenannten Aufmerksamkeitsschwankungen,
Von
Dr. E. WiEESMA,
Privatdocenten der Psychiatrie an der Universität Groningen.
(Mit 17 Fig.)
In dem neulich erschienenen Grundrifs der Psychiatrie von
Wernicke kann man lesen, dafs die Psychiatrie in ihrer Ent-
wickelimg zurückgeblieben ist imd noch jetzt auf einem Stand-
pimkt steht, wie etwa vor einem Jahrhundert die gesammte
übrige Medicin. Mit den besseren Kenntnissen von dem Bau
imserer inneren Organe und ihrer normalen Lebensverrichtungen
imd mit der Entwickelung der Untersuchimgsmethoden gewann
man bei der inneren Medicin eine viel genauere Einsicht in die
krankhaften Abweichungen.
Das Bestreben des Psychiaters des vorigen Jahrhunderts und
auch noch von heute, so gut wie möglich bekannt zu werden
mit der feineren Structiu* des Gehirns hat allerdings zu grofsen
Vortheilen geführt. Aber ein Nachtheil war auch daran ver-
bunden. Man vernachlässigte dabei andere Sachen, womit der
Psychiater sich gerade in erster Linie zu beschäftigen hat. Seine
Arbeit ist gewifs für den Neuropathologen, für die Localisations-
lehre von grofser Bedeutung gewesen, aber die Psychiatrie, welche
sich in der Hauptsache mit der Aetiologie, dem Wesen und der
Therapie von krankhaften Abweichungen der BewuTstseins-
erscheinungen beschäftigt, konnte nicht in erster Linie daraus
Vntenuchuttgen über die sogetiannten ÄufmerkmmkeitsschiDankungen. L 169
Jfatzen ziehen. Viel mehr als es bis heute der Fall war, mufs
unser Streben darauf gerichtet sein, besser mit den normalen
psychischen Erscheinungen bekannt zu werden. Diese Kenntnifs
wird uns ein besseres Urtheil geben über die krankhaften Er-
scheinungen auf jenem Gebiete. Auf der anderen Seite kann
eine genaue Wahmehmimg von krankhaften Störungen der Be-
wulstseinserscheinungen auch für die Entwickelung der Psycho-
logie von Nutzen sein. Jede Untersuchung also, die der normalen
sowohl als die der abnormalen Bewufstseinserscheinungen, welche
unsere Kenntnifs in jener Richtung vermehren kann, mufs von
dem Psychiater mit Freuden begrüfst werden.
So sind auf dem Gebiete der Wahrnehmungen noch viele
Untersuchungen zu machen, welche von gröfstem Interesse sind.
Es st^ht unbedingt fest, dafs es von grofsem Werth für die
Psychopathologie ist, wenn die Wahrnehmungen von normalen
hidividuen besser bekannt werden, aber ebenso nützlich wird es
für die Psychologie sein, wenn man genauere Untersuchungen
anstellt über die Wahrnehmungen von psychisch krankhaften
Personen. Je mehr der Psychologe und der Psychopathologe
zusammen arbeiten und ihre Resultate mit einander vergleichen,
um so schneller kann man erwarten , dafs diese beiden Wissen-
schaften sich entwickeln w^erden.
Welche grofse Bedeutung die Wahrnehmungen für die Bil-
dung des Intellects haben, ist deutlich. Keine Vorstellung, keine
Erinnerung, keine Bewegung würde es geben, wenn die Wahr-
nehmungen fehlten.
Die Reizschwelle ist nicht constant. Man ist oft in der Lage,
die Reizsehwelle herabzusetzen, wenn man seine Aufmerksamkeit
stark auf den Reiz richtet ; andererseits kann sie auch bedeutend
erhöht werden bei Zerstreutheit und auch unter Umständen, auf
welche ich später zurückkommen werde. Dasselbe gilt, wie be-
kannt, von einer anderen Grenze der Wahrnehmung, der Unter-
schiedsschwelle. Die Werthe der Reizschwelle und der Unter-
sehiedsschwelle sind unter normalen Umständen festgestellt
worden, aber von ihrem Betrage bei krankhaften Abweichungen
ist nicht viel bekannt. Und dennoch ist es gewifs, dafs bei
vielen psychischen Abweichungen bedeutende Störungen darin
zu finden sein w^erden und es ist auch sehr wahrscheinlich, dafs
sie von grofsem Werthe für die Diagnostik sein können.
Oft bin ich in der Lage gewesen zu beobachten (und diese
170 E, Wiersma,
Wahrnehmung gehört nicht zu den Seltenheiten), dafs bei heftigen
Angstzuständen, sehr ernsthafte Verwundungen oder Beinbrüche,
welche unter normalen Umständen den betroffenen Körpertheil
zu absoluter UnbewegUchkeit zwingen würden, kein Hindemifs
abgeben für jede noch mögliche Bewegung. Der Schmerz
kommt nicht zum Bewufstsein des Patienten. Die Reizschwelle
ist hier dermaafsen erhöht, dafs der Reiz nicht bewufst wird.
Auch bei Hysterie kommt es manchmal vor, dafs die Reiz-
schwelle für Schmerz oder andere Gefühlsempfindungen sehr er-
höht ist. Bisweilen gelingt es, indem die Aufmerksamkeit des
Patienten auf das Gefühl hingelenkt wird, dieselbe bis zur Norm
herabzusetzen. Der Patient fühlt dann jeden Reiz wie unter
normalen Umständen. In der Regel dauert das normale Fühlen
dann nicht lange, weil Hysterici nicht im Stande sind, ihre Auf-
merksamkeit lange Zeit auf einen Punkt zu richten.
Die Erhöhung der Reizschwelle, welche wir unter krank-
haften Umständen auftreten sehen, kommt auch bei gesunden
Menschen vor. Wer in seine Arbeit vertieft ist, hört das Ticken
der Uhr und fühlt die Berührung seiner Kleider nicht. Die
Empfindung kommt nicht zum Bewufstsein ; sie bleibt unter der
Reizschwelle. Und dennoch findet hier ein unbewufstes Wahr-
nehmen statt; denn sobald die Uhr zu ticken aufhört, wird dies
oft sogleich bemerkt. Auch wenn man seine Aufmerksamkeit
willkürlich auf die Gehörs- und Druckempfindungen richtet,
werden sie wahrgenommen.
Das willkürliche Wahrnehmen, wenn die Aufmerksamkeit
mit voller Kraft auf den Reiz gerichtet ist, ist bei einer Anzahl
von psychischen Abweichungen gestört. Das Nichtfühlen von
Schmerz bei bedeutenden körperlichen Verwundungen in Angst-
zuständen und viele Erscheinungen der Hysterie können dadurch
erklärt werden. Die experimentelle Psychologie hat uns gelehrt,
dafs eine starke Vorstellung im Stande ist, eine schwächere auf
den Hintergrund zu schieben, zu verdunkeln. Diese psychische
Hemmung ist in der Psychiatrie von grofser Bedeutung. Des-
halb ist es meiner Ansicht nach von gi-ofsem Interesse, bei den
verschiedenen Psychosen, wenn der Krankheitszustand es erlaubt,
eine genaue Untersuchung anzustellen, inwiefern intensive Em-
pfindungen als Angst, Exaltation u. s. w. das Wahrnehmen von
Reizen hemmen. Man würde dagegen anführen können, dafs
psychisch Kranke wenig für jene Untersuchungen zugänglich
Untersuchungen über die sogenannten AHfmerksamkeitsschcanhmgen. I. 171
smd, aber bei vielen leichten Fällen wird man ganz gut experi-
mentiren können. Auch eine Untersuchung von Hysterici, wo
das Bewufstseinsfeld sehr erheblich eingeengt ist, wird von grofser
Bedeutung sein können.
Als diagnostisches Hülfsmittel bei Hysterie wird von Janet
das Aesthesiometer verwendet. -^An Hautstellen, wo in normalen
Umständen die beiden Spitzen in einer Entfernung von 20 bis
26 mm gefühlt werden, findet man, dafs bei Hysterie oft, auch
bei beliebiger Entfernung der Spitzen von einander, nur eine
derselben gefühlt wird. Findet man nun bei einem Kranken
eine Entfernung von 90 — 120 mm, so können diese Zahlen für
die Diagnose von Bedeutung sein. Janet giebt zu, dafs diese
Untersuchung mangelhaft ist. —
Ich meine, dafs unsere Wahrnehmungen Eigenschaften be-
sitzen, welche mit besserem Erfolg für die Diagnostik angewendet
w^erden können. Alle psychischen Inhalte zeigen eine Tendenz,
um nach und nach aus dem Bewufstsein zu verschwinden. Die
Empfindungen sind Anfangs am stärksten. Wenn Jemand eine
blaue Brille trägt, so sieht er nach einiger Zeit die blaue Farbe
nicht mehr. Der Druck unserer Kleider verschwindet nach und
nach. Gerüche, welche Anfangs sehr deutlich wahrgenommen
werden, bemerkt man später nicht mehr. Seeleute nehmen das
Geräusch des Wassers nicht wahr und der Müller hört den Lärm
der Mühle nicht. Es ist nicht wahrscheinlich, dafs diese Er-
scheinungen nur auf einer Abstumpfung der Nerven beruhen
würden, denn man kann beweisen, dafs der Nerv bis zum Geliim
fortzuleiten vermag, dafs nur das Bewufstwerden der Empfindung
fehlt. Es wird dies daraus klar, dafs der Müller wahrnimmt,
dafs das Geräusch verschwindet und dafs der durch seine Arbeit
Zerstreute bemerkt, dafs die Uhr zu ticken aufhört. Dafs das
Nichtwahrnehmen in einer Ermüdung der Nerven gesucht werden
sollte, ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil man den Reiz
sogleich wieder wahrnimmt, wenn die Aufmerksamkeit darauf
gerichtet wdrd. Und weiter ist diese Erscheinung nicht nur auf
die Empfindungen beschränkt, sondern gehorchen auch Gemüths-
erregungen und Erinnerungsbilder ebenso dem Gesetz der Ab-
fliefsung.
Eine andere Erscheinung, welche meiner Ansicht nach mit
dieser Abfliefsungstendenz eng verbunden ist, sind die sog.
Schwankungen der Aufmerksamkeit. Minimale Sinnesem pfin-
172 -S- Wiersnia.
düngen werden nicht fortwährend wahrgenommen. Wenn man
mit Aufmerksamkeit einem ganz schwachen, noch eben merkbaren
Geräusch lauscht, so hört man dasselbe Anfangs deutUch, aber
nach einigen Secunden kann man es nicht mehr wahrnehmen.
Fährt man fort mit Aufmerksamkeit zu lauschen, so kehrt die
Empfindung zurück, um endlich aufs Neue zu verschwinden und
wieder zu erscheinen. Diese Schwankungen in den Empfindungen
wiederholen sich unaufhörlich. Dieselbe Erscheinung kann man
wahrnehmen bei Licht- und Gefühlsempfindungen.
Auf die Frage, wo die Ursache dieser Erscheinung gesucht
werden soll, mufs die Antwort lauten, dafs nur drei verschiedene
Organe dafür in Betracht kommen können.
Erstens ist es denkbar, dafs der Nerv in Folge des an-
haltenden Reizes ermüdet, so dafs die Leitung bis zum Grehim
für eine Weile imterbrochen wird. In dieser Ruheperiode würde
es möglich sein, dafs der Nerv sich dermaafsen wieder erholte,
dafs er im Stande wäre, den Reiz aufs Neue fortzuleiten.
Zweitens kann man sich denken, dafs in dem Sinnesapparat,
worauf der Reiz einwirkt, z. B. im Auge eine Ermüdung der
Fixations- und Accommodationsmuskeln eintritt Durch das un-
aufhörlich aufmerksame Sehen nach einem bestimmten Punkte
werden die Muskeln, w^elche die Augen in einer bestimmten
Stellung fixiren müssen, ermüdet und dadiu'ch würde eine Ab-
weichung in der Stellung des Auges zu Stande kommen. In
Folge dessen würde das Bild auf einen Theil der Retina fallen,
der empfindlicher ist für Licht als der Macula lutea, wodurch
dann die Empfindung verschwinden würde. Zugleich würde eine
Ermüdung in den Accommodationsmuskeln hier eine bedeutende
Rolle spielen.
Diesen beiden Meinungen gegenüber, welche den Schwan-
kungen periphere Ursachen zuschreiben, kann man sich noch
eine dritte Möglichkeit denken. Man kann nämlich die Ursache
central suchen. Es ist sehr gut denkbar, dafs, aus welchen
Gründen denn auch, in unserem Bewufstsein Umstände auftreten,
welche das unaufhörliche Wahrnehmen eines schwachen Reizes
unmöglich machen. Ob hierbei Ermüdung auftritt, oder ob
andere Einflüsse sich geltend machen, kann man vorläufig bei
Seite lassen.
Ueber diese merkwürdige Erscheinung, die Schwankungen,
Untersuckungen über die sogenannttn Anfnierksamkeitaachwankungen. I. 173
ist schon mehrmals experimentirt worden und man kann in der
Literatur Vertreter für jede dieser drei Meinungen finden.
Weil es mir wichtig erscheint, dafs wir das Wesen dieser
Schwankungen mögUchst genau kennen lernen, habe ich eine
neue Untersuchung danach angestellt. Nicht nur vom psycho-
logischen Standpunkte aus, sondern auch für die Khnik ist,
meines Erachtens, diese Untersuchung wünschenswerth. Denn
zeigt es sich, wie von einigen Forschern (Lange, Eckener, Page
und Lehmann) angenommen wird, dafs wir es mit einer centralen
Ursache zu thun haben, und zwar wie einige derselben glauben,
mit Schwankungen der Aufmerksamkeit, so werden wir erwarten
können, dafs bei einer Anzahl von Psychosen, wo Störungen in
der Aufmerksamkeit eine grofse Rolle spielen, die betreffende
Erscheinung von diagnostischem Werth ist —
Ich habe meine Untersuchungen in drei Gruppen eingetheilt,
wovon ich hier die erste folgen lasse.
Die erste enthält Forschungen nach dem Verlauf der Schwan-
kungen von Licht-, Druck- und Gehörsempfindungen bei nor-
malen Personen mit Reizen von verschiedener Intensität.
Die zweite Untersuchung besteht darin, dafs mit denselben
Personen, während sie in Folge körperlicher und geistiger An-
strengungen oder unter dem Einflufs von Toxica in einem ab-
normalen Zustande sich befinden, experimentirt wird.
Die dritte wird vorgenommen mit Patienten mit psychischen
Störungen.
Wenn die Schwankungen peripheren Ursachen ihre Ent-
stehung verdanken, so kann man erwarten, dafs die Versuchs-
personen bei der ersten Untersuchung mit Ausnahme von
graduellen Unterschieden in derselben Weise auf denselben Reiz
reagiren, dafs man wenigstens keine deutlichen individuellen
Unterschiede finden wird. Es ist nicht wahrscheinlich, dafs der
Xerv. opticus des einen Menschen, was Ermüdung oder Uebung
angelangt, anderen Gesetzen gehorchen würde als der des anderen,
oder dafs dasselbe gelten würde für die Accommodations- und
Fixationsmuskeln des Auges. Kann man in dieser Hinsicht
wichtige individuelle Unterschiede constatiren, so ist dies gewifs
eine Hinweisung darauf, dafs centrale Ursachen eine Rolle
spielen. Wenn man nachher für Druck- und Gehörsempfindungen
dasselbe findet, und wenn aufserdem sich zeigt, dafs die Licht-,
Druck- und Gehörsempfindungen alle bei derselben Person
174 -S- Wier8f}ia.
gleichen Gesetzen folgen, so ist, glaube ich, wohl mit Gewifsheit
anzunehmen, dafs die Ursache central gesucht werden mufs oder
wenigstens, dafs centrale Einflüsse sich bedeutend gelten lassen.
Man würde es schon als einen grofsen Zufall betrachten müssen^
wenn die Sinnesapparate für Licht-, Gehörs- und Druckempfin-
dungen oder ihre sensorische Nerven denselben (Jesetzen von
Uebung und Ermüdung unterworfen wären. Diese Meinung
kann man für unwahrscheinUch halten; dagegen ist die Er-
klärung leicht, wenn die Wahrnehmungen alle von denselben
psychischen Factoren beeinflufst werden.
Die Untersuchungen, welche ich zweitens und zumal die»
welche ich drittens anzustellen gedenke, werden nicht nur von
psychologischer, sondern auch von klinischer Bedeutung sein
können.
Ich habe mich um Rath über die Einrichtung der Unter-
suchungen an Herrn Prof. Heoians gewandt, der nicht nur so
freundlich war, mir in allen möglichen Hinsichten zu helfen»
sondern auch seine Zeit, seine Person und sein Laboratorium
nur wohlwollend zur Verfügung stellte. In dem psychologischem
Laboratorium von Prof. Heymans wurden die folgenden Unter-
suchungen angestellt und als Versuchspersonen fungirten Prof.
Heymans (H.) und der Verfasser (W.). Es ist mir eine angenehme
Pflicht, Prof. Heymans meinen besten Dank auszusprechen.
Lichtempfindungen.
Prof. Heymans hat auf beiden Augen eine Myopie von 20 2).
Visus ist ^24- Es besteht keine Insufficienz der M. intern.
Uebrigens sind keine Abweichungen vorhanden.
Meine Augen sind ganz normal.
Als Lichtreiz diente eine schnell rotirende Scheibe, welche
aus einem grau gefärbten Carton, auf welchem ein Sector von
ein wenig hellerem Grau befestigt war, bestand. Der Radius
der Scheibe war 5^'^ cm, der des Sectoren 37« cm. Indem
man das hellere Grau mehr oder weniger mit einem anderen^
nicht festen Sector von dem zuerst genannten Grau bedeckte>
war der innere Lichtreiz in seiner Intensität willkürlich zu
variiren. Auf der Scheibe war ein Gradbogen angebracht worden,
so dafs man die Stellung des verschiebbaren Sectoren bequem
ablesen konnte. Es wurde hier also mit Unterschiedsempfin-
dungen experimentirt. Die Versuche wurden angestellt mit eben
Unterm^chungen über die soge^iannten Aufmerksamkeitsschioanktingen, I. 175
merkbaren Unterschieden und mit stärkeren, bis zu einem
Intensitätsgrade, bei welchem während der ganzen Versuchszeit
keine Schwankungen mehr auftraten. Zwischen diesen beiden
äofsersten Grenzen wurde mit sechs verschiedenen Intensitäten
experimentirt
Das Verhältnifs zwischen den beiden Arten Grau wurde
mittels eines Episkopisters festgestellt und ergab sich als 1 : lY«.
Der Unterschied ist also Va- Wird nun vor dem helleren Grau
1 Grad, ^/j^,, Theil, für das dunklere Grau substituirt, so beträgt
der Unterschied ^'lo8o• Wenn 9 Grade hinzugefügt werden, so
ist der Unterschied ^Iiq%q = ^'120- Wie bekannt, ist die mittlere
Unterschiedsschwelle für Lichtempfindungen + ^/,.2„.
Nachdem wir längere Zeit geübt und ein genügendes Maafs
von Sicherheit im Wahrnehmen von Schwankungen bekommen
hatten, ergab sich, dafs unter 5** von mir kein Unterschied
wahrgenommen, oberhalb 12 '/o® aber während der ganzen Ver-
suchszeit der Unterschied gesehen wurde. Zwischen diesen
Intensitäten wurde experimentirt mit Hinzufügung von 6^/^ ^
8^ 9' 2 ® und 11 ^ Es ist also klar, dafs bei mir mit Differenzen
experimentirt wurde, welche ungefähr gleichviel oberhalb wie
unterhalb der Unterschiedsschwelle liegen. Für die Versuche
mit Prof. Heymans bedurften wir Unterschiede, welche gerade
doppelt so stark waren. Sie entstanden also durch Hinzufügung
von 10 ^ 13«, 16 ^ 19 ^ 22" und 25« des helleren Grau. Die
Registrirung der Schwankungen mufste so eingerichtet werden,
dafs die Aufmerksamkeit der Versuchsperson möglichst wenig
abgelenkt werden konnte. Deshalb befand sich dieselbe mit der
rotirenden Scheibe in einem abgesonderten Zimmer, während
ein Kj-niographion in einem anderen Gemach aufgestellt war.
Als Kymographion wurde benutzt das LuDwiG-BALTz.ui'sche.
Die Wahrnehmung verschwand nicht immer plötzlich; oft
wurde sie allmählich schwächer bis sie endlich ganz erlosch.
Von einigen Forschern sind diese Ab- und Anschwellungen der
Wahrnehmungen in Curven ausgedrückt worden; ich habe aber
gemeint von dieser Registrirmethode absehen zu müssen, weil
es meine Absicht war, die Aufmerksamkeit möglichst wenig ab-
zulenken. Diese Ablenkung wird bedeutend gröfser sein, wenn
man sich von jeder Aenderung in der Wahrnehmung genaue
ßechenschaft geben mufs, als wenn man einfach zwischen Wahr-
nehmen und Nichtwahmehmen zu entscheiden hat
176 E' Wiersma.
Der Cylinder, auf welchem registrirt wurde, hatte einen
Umfang von 50 cm und machte genau in 5 Min. eine Um-
drehung. Mittels eines mit Tinte getränkten Pinsels wurde
eine gerade Linie aufgezeichnet, welche ungefähr einen halben
Centimeter höher markirt wurde, sobald die Versuchsperson
durch einen Druck auf einen elektrischen Knopf angab, dafs er
den Unterschied nicht mehr wahrnahm. Wenn die Wahmehmimg
zurückkam, so wurde der Druck auf den Knopf nachgelassen
und der Pinsel sank wieder einen halben Centimeter nach unten.
In dieser Weise wurden Linien aufgezeichnet, welche eine genaue
Bestimmung der Perioden von Wahrnehmen und von Nicht-
wahrnehmen ermöglichen. Jede Versuchszeit währte 5 Min.
Von anderen Forschern ist mit einer kürzeren Versuchszeit
experimentirt worden, weil man glaubte, dafs es nicht möglich
sei, die Aufmerksamkeit so lange auf einen Punkt zu richten.
Dieser Grund kann jedoch gegen eine Versuchszeit von 5 Min.
nicht gelten, denn es fiel uns nicht schwer, während dieser Zeit
imsere Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung zu richten.
Zwischen je zwei Versuchszeiten ruhten wir 8 Min.
Die Experimente wurden so eingerichtet, dafs an den ver-
schiedenen Versuchstagen die Reihenfolge der V^ersuche varürte.
Am ersten Tag wurde mit dem schwächsten Unterschiede an-
gefangen, dann folgten die stärkeren nach ihrer Intensität
Fingen wir also den ersten Tag an mit dem Unterschiede o und
liefsen darauf 6, c, d, e und f folgen, so wurde am zweiten Tag
mit h angefangen, worauf dann regelmäfsig c, rf, e, f und a
folgten. Nachdem wir in dieser Weise an den verschiedenen
Versuchstagen mit allen Unterschieden angefangen hatte, nahmen
wir dieselben Versuche in umgekehrter Reihenfolge.
Wenn wir die erhaltenen Curven einzeln näher betrachten,
so ergiebt sich, dafs die Schwankungen (die Zeiten der Unmerk-
lichkeit) einander sehr unregelmäfsig folgen und dafs auch in
der Dauer derselben sehr grofse Variationen auftreten. MiTst
man diese Perioden und nimmt man das Mittlere der ver-
schiedenen Versuchszeiten, so ergiebt sich mehr Regelmaafs als
sich ursprünglich vermuthen liefs. In verschiedenen Hinsichten
haben diese Versuche zu Resultaten geführt. Wir konnten ver-
schiedene Fragen stellen.
Hat die Intensität des Unterschiedes Einflufs auf die Zeit
der Unmerklichkeit? Um die Abhängigkeit der mittleren Zeit
UtttertuekHngen über die togenanntea Aufmerksamkeituchieattkungen. I. 177
der Uomerkliehkeit von der Intensität des Unterschiedes festzu-
stellen, werden für jeden Unterschied alle Zeiten der Unmerk-
lichkeit zusammengefügt und die erhaltene Summe durch die
Anzahl der Versuche getheilt Wir bekommen dann die mittlere
Zeit der Unmerklichkeit bei den Versuchen mit diesem Unter-
schiede.
Die folgende Tabelle enthält die Resultate.
Verholtaila
Mittlere Zeit der Unmerldichkeit
(in Secundeo)
intanaitäten ,
H.
W.
1 \\
286,1
271,2
1^
223,6
158,3
1,6 i
172,8
U1.7
1,9
108
38,3
2.2 "
69
8,9
2.5 ,
12,1
0
Die ersten Ordinalen
von links veranschaulichen
die mittleren Zeiten der
l'nmerklichkeit mit a, dem
stbwächsten Unterschied,
Uie zweiten mit b, die dritten
mit c, die vierten mit d, die
fünften mit e und die
if.c'listen mit f. Bei Prof.
Heymans sehen wir eine
ziemlich regelmärsige, sich
einer Geraden annähernde
Linie. Bei mir verläuft
diese Linie einigermaafsen
auders. Bei dem stärksten
unterschied nähert sich die
Linie mehr einer horizon-
talen , aber die Ursache
dafür liegt auf der Hand.
Der Unterschied f wurde
von mir stets wahrge-
ZeitBChiid Ar Pajchalogie K.
^
\\
\^
\
\
\
\
K
\
\
\,
\
\
\
\
\
\
V
JKm.
r»
Fig. 1. Lichtempfindungen A.
Mittlere Unmerkliclikeitsieit.
178
£. Wiertma.
80 daTs die Inteneität des Unterschiedes, wo die
Schwankungen zuerst auftreten, kleiner ist als f. Diese Stdle
wird man in der Curve irgendwo zwischen f und e Sachen
müssen und damit wird auch grörstentheils die Unregelmäfsi^Kit
in der Curve verschwinden.
Man kann weiter die Frage stellen, ob nicht auch die Dauer
der Periodea der Unmerklichkeit von der Intensität des Unte^
Bchiedes abhängt Wenn man für jeden Unterschied die Zeiten
der Unmerkhchkeit zusammenfügt und die erhaltene Summe
durch die Anzahl der Schwankungen theilt, so bekommt man
die mittlere Dauer der Perioden der Unmerklichkeit bei jedem
Unterschiede.
VerhaltDirs |{ Mittlere Daner der UnmerklicUeita-
ijer I Perioden (in Secnnden)
H.
W.
1
S6,6
22,8
1^
10,4
'.8
1,6
6,9
6,6
1,3
6,3
2,1
2f
i»
1,2
2fi
M
0
I
,g. 2. Lichtempfindungen
Mittlere Daner
der Unmerklichkeileperioden.
Es ergebt sich, dafs die
mittlere Dauer der Unmerkheh-
keitsperioden, während die In-
tensität des Unterschiedes sich
vermindert , zunimmt. Man
kann sehr deutlich eine groFse
Uebereinstimmung zwischen der
Curve von Prof. Hbymass und
üntenuehwnffen Über die togenannten Aufmerksamkeitsschtoankungen. L 179
der meinigen feststellen. Bei beiden ist die Verlängerung von
der Dauer der Perioden eine ziemlich regelmäfsige, allein bei
dem schwächsten Unterschiede wird plötzlich die Länge der
Perioden viel gröfser.
Eine dritte Frage ist, ob während einer Versuchszeit von
fünf Minuten die Zeit der Unmerklichkeit gleichmäfsig über diese
Zeit vertheilt war, oder ob im Anfange oder in der Mitte oder
am Ende derselben gröfsere oder geringere Fähigkeit für Wahr-
nehmung vorhanden war. Dieses zu untersuchen wurden alle
Versuchszeiten von fünf Minuten in drei gleichen Theilen ver-
theilt und für jeden Unterschied sämmtliche Zeiten der Unmerk-
lichkeit im ersten, zweiten und dritten Theü der Versuchszeiten
getrennt zusammengezählt Theilt man die Summen durch die
Anzahl der Versuchszeiten, so bekommt man für jeden Unter-
schied die mittlere Dauer der Unmerklichkeitszeit während der
drei verschiedenen Theile der Versuchszeiten.
In den folgenden Tabellen findet man die Kesultate.
Mittlere Zeit der Unmerklichkeit während der ver-
VerhäHnifB
schiedenen Drittel (in Secunden)
der
Int^nBitftteii
- — __
Heymahs
erster Theil
zweiter Theil
dritter Theil
1
93,5
97,4
95,2
1,3
59,4
84,7
79,5
1,6
36,6
57,3
78,9
1,9
20
39,5
48,5
2,2
8,4
21,9
38,7
2,6 i
1
•
i
0,4
4,2
7,5
*
Tir-^-.-.— .
1
1,3
1,6
1,9
2,6
1
erster Theil
zweiter Theil
dritter Theil
t
; 91,5
88,6
91,1
66,6
44,8
56,9
1 36,3
38
37,4
13,6
9,9
14,9
4,5
1,1
3,3
\ 0
IJ
0
0
12*
^
—
/
/
/
/
/
"
/
/
^
^
te
/
/
/
/
y
y
__
^
51g. s.
chtempfindungen A.
während eines Verriuchea \
j Minuten,
ErmUdungBcun'e
Man sieht sogleich, dafs bei "S'ergleichung der Cur\-en vou
Prof. Hetmaxs unter einander eine grofse Uebereinstimmung da-
zwischen zu constatiren ist. Bei allen Unterschieden ist hier im
ersten Drittel am besten wahrgenommen worden, im zweiten
wurde schon bedeutend weniger gesehen und im letzten in den
meisten Fällen wieder viel weniger als im zweiten. Eine Aus-
nahme hiervon machen die beiden seh wachsten Unterschiede, wo im
letzten Theile mehr walu-genonnnen wurde als im zweiten Drittel.
Bei Vergleichung meiner Curven fällt auch sogleich eine grofse
Uebereinstimmung auf. Im zweiten Drittel wird immer melir
wahrgenommen als im ersten und dritten , ausgenommen in
einem Falle, wo im zweiten etwas weniger wahrgenommen
wurde als im ersten. Im letzten Drittel wurde ungefähr ebenso-
viel wahrgenommen als im ersten, bisweilen etwas weniger, bis-
weilen etwas mehr. Dies giebt den Curven, wie man sehen
kann, eine ganz andere Richtung, und wir müssen annehmen,
dafs dieser Unterschied, der jedesmal so deutlieh auftritt, auf
individuelle Eigenschaften hinweist. Bei Prof. Hevmans ist
während der Versuchszeit von 5 Minuten vom Anfange bis zum
Ende eine zunehmende Unfähigkeit zur Wahrnehmung zu con-
statiren, welche wir, im Gegensatz zur Frische am Anfang des
Untersuehungen über die sogenannten Äufmerksamkeitaschtvankungen, L 181
Versuches, der Ermüdung zuschreiben müssen. Bei mir dagegen
?rird die Fähigkeit zur Wahrnehmung in der Mitte des Experi-
ments besser und nachher alhnählich geringer. Die Uebung
also setzt mich in den Stand, im zweiten Theile besser wahrzu-
nehmen als im Anfang. Dann tritt auch bei mir Ermüdung
ein, so dafs ich im dritten Theile wieder schlechter wahrnehme
als im zweiten. ^
Endlich erschien es mir wichtig zu untersuchen, ob auch
während einer ganzen Versuchsreihe Ermüdung oder Uebung
festzustellen sei. Es wäre möglich, dafs ein vorhergehender Reiz-
unterschied nach der Ruhezeit von 8 Minuten noch Spuren von
Ermüdung oder Uebung hinterlassen hätte. Die Versuche waren,
wie schon gesagt, so eingerichtet, dafs an den verschiedenen
Versuchstagen mit den folgenden Unterschieden experimentirt
wurde :
flr, 6, c, rf, e, f.
b, c, rf, e, f, a.
c, d, e, /; a, b.
d, e, f, a, 6, c.
€, f, a, 6, c, d.
/•, a, 6, c, d, e.
Am 1. Tag
„ 2.
0.
6.
«
n
n
n
n
Wenn man nun von allen Tagen die Unmerklichkeitszeiten
der ersten Versuchszeiten von 5 Minuten zusammenfügt und
auch die der zweiten, dritten, vierten, fünften und sechsten Ver-
suchszeiten, dann müfsten die Resultate einander ungefähr gleich
sein, wenn keine Ermüdung oder Uebung im Spiele wäre. Was
lehren nun die Resultate?
Ich lasse hier die Zahlen folgen.
Ermüdung während einer ganzen Versuchsreihe
Heymans
I
II
III
IV
: V
VI
106;2 See.
135 See.
127,8 See.
120 See.
120 See.
1
114 See.
WiERSMA
I
II
UI IV
V
VI
96 See.
96 See.
85,8 See.
75 See.
69 See.
66 See.
E. Wierama.
te
—
/
—
1
y
1
-^
L
_
-U
Fig. 4.
Lichtempfindungen A.
Ermtldungscurve wahrend einer ganzen Versncbsreihe.
Bei Prof. Heymanb ergiebt sich, daTs im Anfange joder Keihe
am deutlichsten wahrgenommen wird. Es tritt schon nach der
ersten Versucbszeit von 5 Minuten eine sehr bedeutende Er-
müdung ein, nachdem ist wieder eine geringe Besserung in der
Wahrnehmung zu bemerken, aber am Ende jeder Versuchsreihe
ist dennoch eine geringere Fähigkeit zur Wahrnehmung da als
im Anfang. Bei mir verläuft die Curve in einer anderen Richtung.
Ich nehme im Anfange jeder Versuchsreihe am schlechtesten
wahr. Nach dem Ende zu sehe ich immer besser, so dafs die
Uebung hier die Ermüdung überwiegt, —
Nach Beendigung dieses Versuches wurden sie noch einmal
wiederholt, nur mit dem Unterschiede, dafs die Reihenfolge um-
gekehrt wurde. Indem wir bei der ersten Gruppe von Versuchen
mit dem schwächsten Reiz begannen, wurde nun gerade mit dem
stärksten angefangen. Uebrigens wurde die Ordnung der Ver-
suche auf dieselbe Weise gewechselt wie früher. Es genügt hier
die Resultate mitzutheilen.
VerhältnifB
Mittlere Zeit der Unmerklich keit
der
(in
See
unden)
Intensitäten
Hetkanb
WiKMMA
1
288,9 *
243
1.3
246,2
185,8
1,6
106,4
87,8
1,9
89
31,7
2,2
62
3.4
2,5
13
0
Untermdumgcn iü>er die gogenannlen AufmerktamkntaaiAwanJeungen. I. ],g3
Lieh tempfiQdun gel
Fig. 6.
B. Mittlere Unmerklichkeitsseit.
Die UebereinstimmuDg der beiden Curven ist ebenso vie bei
ersten Gruppe von Versuchen eine sehr grofse. Hier gut
, was ich vorher über die zu horizontale Richtung der Curve
:hen c und f bemerkt habe.
Mittlere Dauer der UnmerUichketta-
der
perioden {i
Q Secunden)
Hbhuks
Wimatu
1
69,6
18,4
1,5
12,3
10,7
1,6
7,8
3,9
1,9
5,3
1,8
2,S
4,5
0.8
2,5 ;
2,1
n
Bei der Curve von Prot
Heymans ist genau dasselbe vx
bemerken als bei der ersten Ver-
suchsgmppe. Im Cranzen können
wir feststellen, dafs die Dauer
der Perioden in der zweiten
Gruppe ein wenig gröfser ist;
nnr bei dem schwächsten Unter
schied ist die Differenz be-
deutend. Auch meine Curve zeigt
wieder grofseUebereinstimmung
mit derjenigen der ersten Ver-
suchsgruppe ; nur ist jetzt nicht
nur bei dem schwächsten Unter
schied die Dauer der Perioden
bedeutend gröfser, sondern ist
dies auch schon bei b wahrzu-
nehmen.
MittT Dauer d. Unmerklichkeitsperioden.
Mittlere Zeit der Unmerklich keit wahrend der ver-
VerhaltDib
Bchiedenen Drittel (in Secunden)
Hbthaks
ei-Bter Theil
sveiter Theil
dritter Theil
1
93,5
97,4
95,2
1,3
69,4
84,7
79,6
1,6
36,6
67,8
78,9
1,9
20
39,5
48,5
2,2
8,4
21,9
38.7
2,5
0,4
4,2
•JA
2^
W:ebsh,i
erster lliei!
zweiter Theil
dritter TlieU
M,6
88,6
91,1
56,6
44,8
66,9
36,3
38
37,4
13.6
9,9
14,9
( 4,6
"
3,3
Vntenuchungen fiier die sogenannten Äufmerksamkeitsschtcankungen. I. I85
*jl 1 I 1
\
/'
\
/
/"
/
\
^
/
z:
s
N
/
•■
^■'
^
ErmOdungecun't
Fig, 7.
ichtempfindungen B.
während eines Versuches von 5 Minuten.
Noch deutlicher als bei der ersten Versuchsgruppe ist es
hier, dafs Prof. Heymakk bei jedem Unterschiede im Anfange
am besten wahrnimmt und am Ende am schlechtesten. Nur ein-
mal, mit dem schwächsten Unterschiede, wurde im letzten dritten
Theil ebensoviel wahrgenommen als im zweiten ; dies erklärt sich
aber daraus, weil sowohl im zweiten als im dritten Theil so gut
als Nichts wahrgenommen wurde. Die Uebereinstimmung in der
Richtung der Curven ist also bei der zweiten Versuchsgruppe
noch gröfser als bei der ersten. Bei meinen Curven trifft man
wieder dieselbe Erscheinung an wie früher, dafs nämlich die
Fähigkeit zur Wahrnehmung im zweiten Drittel bedeutend
grwfser ist, als im ersten und letzten. Die Unterschiede sind
hier gröfser als bei der ersten Versuchsgruppe. Bei den Ver-
suchen mit denn stärksten Unterschiede läfst sich die betreffende
Kegelmäfsigkeit nicht mehr erkennen, weil der dort vorliegende
L'nterschied ohne Unterbrechung wahrgenommen wurde.
Ermadung w&hrend einer ganMn Versuchsreihe
HaiMAaB
I
I -
Ul IV
V
VI
118,9 See.
1 141,3 Bec.
148,6 See. 148,7 See
169,9 See.
140,3 See
WlBBSMA
I
II
m
IV
V
VI
88,3 See.
93,8 See.
90,6 See.
83,8 Bec.
98,8 See.
84.4 8«c.
•^
/
"
^^
Fig. 8.
Licbtempfindungen B.
Ennüdungeeurve während einer gftnzen VersnchBrethe.
Auch aus diesen Zahlen ergiebt sich, dafs bei Prof. Heyhaks
bei jeder Versachsreihe die Ermüdung zunimmt. Offenbar
genügte die Ruhe von 8 Min. zwischen jeden zwei Verauchs-
zeiten hier nicht, um die Ermüdung der vorigen Versuchszeit
wegzunehmen. Bei mir ist es nicht so deutlich als in der ersten
Versuchsgruppe, daTs jeder vorhergehende Versuch durch Uebung
die folgenden beeinßufst. Im Ganzen können wir s^^n, dafs
die Unterschiede hier klein sind, so dafs die Curve mehr in hori-
zontaler Richtung verläuft. —
Wenn wir nun zusammenfassen, was uns diese Versuche
mit den Lichtempfindungen lehren, so können wir Folgendes
feststellen.
1. Die Dauer der Unmerklichkeitszeit nimmt mit dem Ab-
schwächen des Unterschiedes regelmäfsig zu.
2. Ebenso nimmt die Dauer der Unmerklichkeitsperiode mit
dem Abschwächen des Unterschiedes zu.
3. Während einer Versuchszeit von 5 Min. tritt bei Prot
Heymans vom Anfange bis zum Ende eine immer grölser
Uniemtckimgen über die sogenannten AufmerkBanüceitsschiDahkungen. L 187
werdende Unfähigkeit zur Wahrnehmung auf, während bei mir
die Wahrnehmungsfähigkeit Anfangs zu- und später abnimmt.
4. Bei Prol Heymans übt eine vorangehende Versuchszeit
in den meisten Fällen auf die folgende einen Einfiuls aus, der
störend auf die Fähigkeit zm* Wahrnehmung wirkt, während bei
mir in den meisten Fällen das Wahrnehmungsvermögen diux^h
die vorangehende Versuchszeit zunimmt.
In 3 und auch in 4 (obgleich hier nicht so constant) sehen
wir, da& die beiden Versuchspersonen ganz verschieden reagiren.
Es ist klar, dafs wir hier mit Unterschieden zu rechnen haben,
welche dem Individuum eigenthümlich sind, und auch unter sich
zusammenhängen. Ich habe schon darauf hingewiesen, dafs ein
bedeutender Unterschied in dem Bau unserer Augen besteht und
dafs auch der Visus sehr verschieden ist. Aus diesen Gründen
halte ich mich nicht für berechtigt aus dem Resultate dieser
Untersuchungen allein Schlüsse zu ziehen. Wir werden zunächst
untersuchen, welche Resultate wir bekommen bei Druck- und
Gehörsempfindungen.
Druckempfindungen.
Bei den Experimenten mit Druckempfindungen wirkte der
Reiz ein auf dem Handrücken, und zwar auf eine kreisförmige
Hautstelle mit einem Diameter von 2 cm, ein wenig oberhalb
des zweiten Phalango-metacarpalgelenkes. Dort war bei uns
beiden der Handrücken am flachsten, so dafs das aufzusetzende
Gewicht gleichmäfsig auf alle Theile dieser Oberfläche drückte.
Eine mögliche Bewegung der Hand mufste ausgeschlossen werden,
weil dadurch auch Bewegung des Gewichtes entstehen würde,
wodurch dann wieder eine störende Empfindung auftreten könnte.
Es wurde deshalb ein Gypsabgufs der Hand gemacht, in welchem
diese bequem ruhte. Dieser Gypsabgufs konnte mittels vier Stell-
schrauben so gestellt werden, dafs die Hautfläche, mit welcher
experimentirt wurde, gerade horizontal lag. Es wurde für eine
bequeme Haltung* des Armes und des ganzen Körpers gesorgt,
80 dafs störende Empfindungen soviel wie möglich ausgeschlossen
waren. Auf die genannte Hautstelle wurde eine kleine Kork-
scheibe gelegt, welche die ganze Oberfläche berührte und welche
an der unteren Seite bald die Temperatur der Hand annahm.
Ganz vorsichtig wurde dann mittels eines Hebels das Gewicht,
das denselben Diameter hatte, wie die Korkscheibe, auf dieselbe
188 -E. Wiersiua.
niedergelassen, so dafs es gleichzeitig alle Theile derselben b»'
rührte. Durch zahlreiche Vorversuche wurden auch hier die
Gewichte bestimmt, bei welchen der Druck einerseits fast gar
nicht, andererseits beinahe ohne Unterbrechung sich bemerkHch
machte ; zwischen diesen Grenzen wurde mit sechs Terschiedenea
Beizen experimeutirt. Die Intensitäten der Keize waren für nos
Beide dieselben. Sie betrugen: 7,4; 10,4; 13,4; 16,4; 19,4 and
22,4 g. Die Versuche wurden genommen im Ende vom Sep-
tember und im October bei einer Temperatur, welche nur zwischen
17 "C. und 19 "C. varibi«.
Die Reihenfolge der Experimente war wieder dieselbe wie
bei den LJchtversuchen. Ich habe hier nicht, so wie dort, die
beiden Versuchsgruppen jede für sich, aber beide zusammen ge-
nommen, der Rechnung zu Gmnde gelegt
Ich habe hier auf die nämlichen Fragen, die bei den Licht-
versuchen gestellt wurden, eine Antwort gesucht. Es ist nicht
nothwendig dieselben zu wiederholen.
\ 1
\\i
\
\
/a>
\
\
\
\
\
N
\,
\
30
\
\
\
fl&T-^
k
......
5^,2
10,4
13.4
16,4
19,4
Mittlere Zeit
der Unmerklichkeit
(in Secuaden)
ji HsnuHS
Wissaiu
\ u.
281
1 2B,6
178,6
,: 185
109,4
!! "6.9
68,6
«.6
18,5
51,1
1
Wir sehen, dafs auch hier die Zeit des Wahmebmens der
Intensität des Reizes nahezu proportional ist. Auf einen kleinen
Unterschied im Verlauf der Curven will ich noch hinweisen.
Dasselbe, was wir bei der ersten Versucbsgnippe mit Licht-
UnlerguchHngett vber dtt sogmannttn AitfmerkdamkHtsachwankungen. I. Ig9
empfindungen fanden, ist auch hier zu bemerken; die Curven
Terlaufen nämlich ziemlich parallel, während nur beim schwäch-
sten Reiz plötzlich eine starke Convergenz entgegentritt Dafs
auch bei dem stärksten Reiz eine leichte Convergenz zu be-
merken ist, wird ebenso wie bei den Lichtversuchen daraus er-
klärt werden müssen, daTs der Reiz bei mir hier etwas zu stark
genommen wurde, um noch regelmäfsig Schwankimgen auftreten
zu lassen.
Mittlere Dauer der UnmerklichkeitB-
perioden (in Secunden)
Intenaitaten
Auch hier stimmt das Re-
snllat mit demjenigen der Licht-
rersuche überein. Die Stärke
(ie= Reizes beeinflufst die Dauer
der Unmerklichkeitsperiodeu,
nur dafs bei mir für die beiden
stärksten Reize die Perioden
einander gleich sind. DerUnter-
scliied zwischen den l'eriodeii
Wi den] schwächsten und dem
darauffolgenden Reize ist hier
Wel grölser als bei den Licht-
experimenten.
m
Fig. 10. Druckempfindungei
Mittlere Dauer
der U nni erkli eil keitB Perioden.
Mittlere Zeit de
r TJnmerkJithkeit während der ver-
Verhftltniöi
Bchiedenen Drittel (in Secunden)
Hkyiuxs
erster Theil
Bweiter Theil
dritter Theil
1.4
91,2
97,1
DSU
10,4
60,6
«6,4
Xß
13.4
41,9
62.2
81
16,4
23
47.7
76,8
19,4
11,8
ao,4
64,4
ffl.4
7,6
lö,8
27,7
WtSRSU
erster Theil
iweiter Theil
dritter Theil
V
91,4
96,3
94,4
10,4
58,8
54,7
663
19,4
37,8
31,8
39,8
16,4
22,7
13.6
22,3
19,4
8,4
6.2
4,9
22,4
0,7
0.12
0,1
/
/
/
A
/
/
/
/
/
/
/
/
/
»
/
/
/
«t
/
/
,
y
/.
^
y'
-u
^
Fig. 11. Drackempfindnngen.
Ermadangtcarr« wahrend eincB Veranchea von 5 Hfnaten.
Vnhnmekmngen über «tte iogtitannte» Aufmerkaamkeittiehuiankiiugm. I. igi
Bei Pro! Heymans lassen die Curven dasselbe Resultat er-
jteimen vie bei den JE^erimenten mit Lichtempfindungen. Jedes-
mal ist bei allen Reizen im ersten Drittel die Wahmebmungs-
Ahigkeit am besten, nimmt dann sehr gleichmäTsig ab und ist
im dritten Theil am schlechtesten. Meine Curven verlaufen auch
ähnlich wie bei den Licbtempftndungen. Im zweiten Drittel wird
besser wahi^nommen als im ersten und dritten, während im
dritten bisweilen etwas mehr, bisweilen etwas weniger bemerkt
wird als im ersten. Nur beim schwächsten Reiz wird im zweiten
Drittel etwas weniger wahrgenommen als im ersten und bei dem
stärksten Reiz wird im zweiten Theil ebensoviel wahrgenommen
«ie im dritten.
Ermfldnng während einer ganzen VersnchBreihe
Hethahs
I 1 II [ III
IV V
VI
IM.l See.
166,1 See. j 174,9 See.
162,9 See. 179 See.
175.6 See.
WlBRaMi
I
II
III
IV V
VI
125,2 See.
116 See.
109,3 See.
101,6 See. 103,8 See.
96,1 See.
J. J I 1.1 I I
" r ir a IT r n
Fig. 12.
DTnckempfindungen.
Ennfldnngscnrve während einer ganzen Versnchsreihe.
Es ist deutlich, daTs ein groFser Unterschied im Verlaufe
dieser Corven vorliegt Bei Prot Heymans zeigen die Zahlen
auch hier in weitaus den meisten Fällen, dafs die Ermüdung in
Folge eines vorhergehenden Versuches nach einer Ruhe von
H Min. nicht verschwunden ist Bei mir dahingegen ist im All-
192 . -B. Wiersma,
gemeinen zu bemerken, dafs durch den Einflufs eines vorher- f.
gehenden Versuches die Wahrnehmimg in dem folgenden Ver- i
suche besser wird. ::
Um eine kurze Uebersicht über das Resultat der Bzperi- it
mente mit Druckempfindungen zu geben, genügt es zu sagen« i
dafs wir hier zu vollkommen denselben vier Schlüssen gekommen :
sind, die wir bei den Lichtversuchen gezogen haben.
Geh örsempfin düngen. \
Die Versuche mit Gehörsempfindungen verursachten im l
Anfange sehr viel Schwierigkeiten. Bei Licht- und Druck-
empfindungen waren wir im Stande die Reize so einwirken zu
lassen, dafs wir in der Wahrnehmung das eine Mal nicht mehr
als das andere durch Reize gleicher Qualität gestört wm^den- -
Sollte dasselbe bei den Gehörsexperimenten erreicht w^erden» so
mufste ein Ort gesucht werden, wo aufserhalb des anzuwenden-
den Reizes mögUchst absolute Stille herrschte. Es schien uns
im Anfange unmöglich dieser Bedingung zu genügen; deshalb
haben wir versucht, zugleich mit dem Reize ein constantes Ge-
räusch von ganz anderer Art als das Wahrzunehmende erkhngen
zu lassen. Die Absicht war hierdurch andere variable störende .
Geräusche unmerklich zu machen. Das gelang auch ganz gut; ;
wenn wir während der Versuchszeit eine elektrische Schelle
klingeln liefsen, wurden störende Geräusche ganz maskirt, und ,
dennoch war das Fallen eines Wassertropfens auf eine Zink-
platte, welches als Reiz angewandt wurde, deutlich hörbar. Es
ergab sich aber nach einigen Experimenten,, dafs wir den auf
diese Weise erhaltenen Resultaten nicht trauen konnten. Unwill-
kürlich wurde die Aufmerksamkeit oft auf die Klingel gerichtet
und dann war es sehr schwierig den fallenden Tropfen wieder
wahrzunehmen. Diese Methode mufsten wir also aufgeben. Es
blieb nichts anderes übrig, als ein Ort zu suchen, wo störende
Geräusche so gut wie ausgeschlossen waren. Es gelang uns
einen solchen zu finden, weil Herr Prof. Moll so freundlich war,
ein Zimmer im botanischen Laboratorium dafür zur Verfügung
zu stellen. Eine grofse Masse Schnee, welche am Ende von
December 1900 und von Januar 1901, als wir experimentirten,
die Erde bedeckte, so dafs keine Geräusche von aufeen zu hören
waren, begünstigte sehr unsere Versuche. An den. ersten zwei
Untenuekungen über die sogenannten Aufmerksamkeitsschwankungen. I. 193
Versuchstagen jedoch lag noch kein Schnee. Ebenso wie bei
den Licht- und Druckexperimenten war auch hier das Kymo-
graphion in einem anderen Gemach aufgestellt. Die Versuchs-
person safs, bei fixirter Kopflage, auf einem Stuhl Als Reiz
diente das Ticken einer Remontoiruhr, die jedesmal vor den
Versuchen aufgezogen wurde. Die Uhr befand sich in einer
hölzernen Schachtel, welche mittels einer der Versuchsperson
zugekehrten runden Oeffnung das Zifferblatt unbedeckt Uefs.
Die Schachtel war in solcher Höhe an einem Stativ befestigt,
dafe der Mittelpunkt des Zifferblattes ungefähr in der hori-
zontalen Fläche lag, welche durch die beiden äufseren Gehör-
gänge ging. Indem wir die Entfernung von der Uhr zu den
Gehörgängen variirten, wurde die Intensität des Reizes geändert
Auch hier suchten wir erst die Entfernung, bei welcher die Uhr
noch eben hörbar war, sowie diejenige, wo das Ticken immer
wahrgenommen wurde, festzustellen. Dazwischen wurde mit
sechs Intensitäten experimentirt. Die betreffenden Entfernungen
von den Gehörgängen an gerechnet, betrugen 14, 16, 18, 20, 22
und 24 dm; es erhalten sich also die Reizintensitäten, welche
den Quadraten der Entfernungen umgekehrt proportional sind,
ungefähr wie 1 : 1,2 : 1,5 : 1,8 : 2,3 : 3. Die Einrichtung der
Experimente und ihre Reihenfolge wurde hier wieder auf die-
selbe Weise geregelt wie bei den Licht- und Druckversuchen.
Dieselben Fragen, welche wir bei den Licht- und Druckempfin-
dungen gestellt haben, müssen auch hier beantwortet werden.
Verhältnifs
Mittlere Zeit der Unmerklicbkeit
der
(in Secunden)
Intensitäten
Hetmans
WiERSMA
1
197,9
173,6
1,2
135,7
86,8
1,5
110,1
79,3
1,8
73,7
54,6
2,3
42,7
16,7
3
16,1
1,1
Zeitoclnrin für Psychologie 26.
13
SchftllempfiDdnngi
Fig. 13.
n. Mittlere Unmerk]ichk«ib»eiL
Auch hier nimmt die Zeit der Unmerkhchkeit zu mit dem
Abtchwäohen des Reizes. In der Figm- Bind die Abscissen den
ReiEinteneitaten (also den umgekehrten Quadraten der Ent-
fernungen) proportional genommen worden.
Verhftltnira f Mittlere Dauer der Unmerklicbkeits-
jef i' periodeo (in Secundeu)
Inten Bitttt«ii
Heduns
WlBHSMi
16,8
16.4
9.9
6.3
1.6
6.2
5.8
3,9
! 8.6
1.9
3,7
0.9
UnterKuehungm Obtr die aogenaunten Aufmerktamkeittachuiaiiktmge». I. 195
Was bei den anderen
Sinn esempfinduit gen zu
bemerken war, nämlich
dafs bei dem schwächsten
Heize, in der Nähe der
Reizachwelle, die Dauer
der UnmerklichkeitB-
perioden sich abnorm
Terlängert, ist hier weni-
ger gut wahrzunehmen,
weil, wie früher bemerkt
wurde, dieser Reiz zu
stark genommen wurde.
Doch laTst die Curve
schon erkennen , dafs
unter günstigenUmstän-
den die betreffende Er-
scheinung auch hiernicht
gefehlt haben würde.
r der ünmerklichkeitsperioden.
Mittlere Zeit der Unmeriilichkeit wahrend der ver-
Verhaltnirs
schiedenen Drittel (in Secnnden)
Hbwumb
ereter Theil
Bweiter Theil
dritter Theil
1
48,7
72,3
77,9
1,2
24,9
46,6
643
V.
21,7
89,1
493
1,8
7,9
21,1
44,6
2,3
8,2
12,8
21,7
3
1,3
4,1
10,7
1,2
1,6
13
i
WatBaMA
erster Theil
iweiter Theil
dritter TheU
i| 62,1
66,4
66,1
i 34,7
213
30,2
! 31,6
19,4
28,4
23,2
12,4
19,1
1 73
3,6
63
1 ».'
0,2
03
5^
\
\
^
<^
jj;
t.
-^
"
^
, -
— ■
tj
Fig. 16. SchallempfindunKen.
ErmOdangacurve wahrend eines Versucbea von ö Minuten.
Auch hier wird von Prof. Hbtmans im ersten Drittel am
bestOD wahrgenommen und bei jedem Reiz finden wir eine Ab-
nahme der Wahrnehmungsfähigkeit in dem zweiten und dritten
Theil. Die Resultate stimmen also vollkommen überein mit
denen , welche bei den Licht- und Druckversuchen erhalten
wurden. Aus diesen Curven ergiebt sieh, daTs mit dem schwäch-
sten Reiz hier mehr wahrgenommen wurde als bei den Licht-
und Druckexperimenten. Der Grund dafür mufs darin gesucht
werden, dafs wir den schwächsten Reiz nicht in der unmittel-
baren Nähe der Reizschwelle genommen haben. Wie ich schon
mittheilte, lag, als wir unsere Experimente anfingen und als
die Grenzen festgestellt wurden, kein Schnee. Meine Curven
haben eine so grofse Uebereinstimmung mit denen der anderen
Sinnesemphndungen, dafs ich nur ein einziges Wort daran zuzu-
fügen brauche. Hier nämhch ergiebt sich noch deutlicher als
bei den anderen Versuchen, dafs im dritten Theil besser wahr-
genommen wird als im ersten. Bei den Druckempfindungen war
bis auf einige Ausnahmen und bei den Lichtversuchen in bei
weitem den meisten Fällen gerade das Umgekehrte der Fall
Die Ermüdung trat also bei den Gehörsversuchen nicht so bald
auf wie bei den anderen.
rifmKAun^m über die togenannten AufmeiletamkeitMckuiankungm. I. 197
Ermadnog wahrend einer gansen Versuchsreihe
Hbykans
I
1 ^^
m
IV j V
VI
97^ 6er.
j 102,9 See.
83 See.
79^ See. | 107,1 See.
100,6 See.
WlKMKA
I ! n 1 in 1 IV
V
VI
«1,4 See.
1 78,8 9ec. 1 61,9 See. j 61,9 See.
60,1 See.
B9,5 See.
Ans dem Verlauf der Curve
von Prof. Hetmans kann man
nicht viel schliefsen. Hier haben
wahrscheinlich aufser Uebung
und Ermüdung noch andere Ein-
flüsse mitgewirkt Meine Curve
beweist wieder vollkommen, dafs
die in einer Versuchszeit ge-
ronnene Uebung sich nach einer
Bnhe von 8 Min. noch gelten ~ .^ ^ i.. *■ j
° Flg. 16. Geht) rsempf induugen.
Ilfst Bei III und IV ist die Wahr- Ermüdungscurve während einer ganzen
nehmnngsfähigkeit gleich. Versuchsreihe.
Ergebnissp.
Betrachten wir nun die Kesultate der Experimente, dann
ISnnen wir sagen, dafs sich im Allgemeinen für Licht-, Druck-
and Gehörsempfindungen die gleichen Gesetzmäfsigkeiten er-
geben haben. Wir haben nämlich gefunden :
1. eine mehr oder weniger regelraäfsige, im Allgemeinen sich
der Proportionalität annähernde Zunahme der Merklichkeitszeiten
mit der Gröfse der Reizunterschiede ;
2. eine mehr oder weniger regelmäfsige Verkürzung der
Schwankungsperioden, wenn die Reizunterschiede gröfser werden ;
3. bei Prof. Hbymans ein starkes Ueberwiegen des Einflusses
der Ermüdung über denjenigen der Uebung während jedes Ver-
snches; bei mir dagegen zunächst ein deutliches Ueberwiegen
des Einflusses der Uebung und erst später ein solches des Ein-
ftnsses der Ermüdung;
4. bei Prof. Heymans im Allgemeinen einen merklichen Ein-
fiafo der aus den früheren Versuchen sich ergebenden Ermüdung
198
E. Wiersma.
auf die späteren Versuche desselben Tages; bei mir dagegen
auch im Grofsen und Ganzen einen überwiegenden EinfluTs der
gewonnenen Uebung. —
Wie aus dieser Zusammenfassung erhellt, hegen auf dem
Gebiete der Aufmerksamkeitsschwankungen auffallend con-
stante individuelle Differenzen vor. Jede der beiden
Versuchspersonen reagirte auf Druck-, Licht- und Schallreize auf
eine bestimmte, für sie charakteristische, auf jenen drei Gebieten
sich nahezu identisch wiederholende Weise; selbst bedeutende
Abweichungen im Bau und in der Empfindhchkeit einzelner peri-
pherer Sinnesorgane, wie sie z. B. für das Gesichtsorgan bei
Prof. Heymans vorUegen, vermögen diese Gesetzmäfsigkeit nicht
merklich zu verdunkeln. Unter diesen Umständen ist es kaum
zulässig anzunehmen, dafs die Vorgänge, welche diese Greset«-
mäfsigkeit erkennen lassen, durch periphere Factoren bedingt
sein sollten ; mindestens mufs zugestanden werden, dafs centrale
Ursachen darauf einen bedeutenden Einflufs ausüben. Ich glaube
demnach auf ganz andere Weise als bisher geschah, durch die^
Versuche bewiesen zu haben, dafs die Schwankungen in deA
Wahrnehmungen unter dem Einflufs centraler Ursachen stehetl.
Auch noch einen anderen Beweis dafür meine ich in deil
Resultaten meines Experimentes finden zu können. Es ist uns
nämhch klar geworden, dafs verschiedene Umstände, die Ein-
flufs haben auf die Frische unseres Geistes, die UnmerkUchkeits-
zeiten verlängern oder verkürzen können. Als Beweis dafür gebe
ich eine Uebersicht über die mittleren Zeiten, während welcher
die verschiedenen Druckreize an je einem der 12 Versuchstage
nicht gespürt worden sind.
Mittlere ünmerklicbkeitszeiten (in Secunden) während der verschiedenen
Versuchstage
Druckexperimente
Heymans
I II
III
127,8
IV
177
V
162,6
VI
VII
VIII
151,8
IX
X
XT
XTT
164,4
158,4
149,4
229,8
156,8
154,8
148,8
226,8
WiERSMA
I
II
III
IV
V
VI
VIT
VIII
IX
X
XT
XTT
115,5
139,2
119,4
99
106,8
114,6 60,6
103,8
105
106,2
121,8
94,2
UnUnu^ungen über die sogenannten Äufnterkaanüttitasehieankungen. I.
Fig. 17.
Druckexperimente.
Mittlere UnmerklichkeitsEeiten v&hrend der verschiedenen Vereuclietage.
Ich vill hier nur auf einzelne Tage hinweisen, welche eine
mehr als gewöhnliche Abweichung zeigen. Am 7. Tag hatte
ProE. Hkxmans den ganzen Morgen bis 2 Uhr, als wir zu ez-
perimentiren aofingeD, sehr angestrengt gearbeitet, während ich
gerade den ganzen Morgen in Ruhe verbracht hatte. Die Zahlen
und die Ausweichungen der Curve deuten genügend an, welchen
EinfluTs Ermüdung, welchen Frische auf die Richtung der Curve
hat Eine andere starke Abweichung finden wir am 12. Tag.
Statt Nachmittags von 2 bis 4 Uhr experimentirten wir an
jenem 't'ag Abends von 8 bis 10 Uhr. Es ist bekannt, dafs
einige Menschen in den Abendstunden, andere in den Morien-
stunden besser im Stande sind, intellectuelle Arbeit zu verrichten.
Prof. Heymass nun arbeitet Morgens schneller, ich dahingegen
habe immer Abends' besser studiren können. Es ist sehr wahr-
scheinlich, dafs dieser Umstand auch in diesen Curven sich
gelten läfst Wie ich schon im Anfange mittbeilte, sollen die
Einflüsse, welche verschiedene psychischen Zustände auf die
Unmerklichkeitszeiten ausüben können, näher untersucht werden.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dafs die Wahmehmungs-
schwankungen meines Erachtens in innigem Verhältnifs stehen
zu der Neigung aller Bewufstseinsinbalte, um unbewufst zu
Verden. Ich meine den Beweis dafür ziehen zu können aus
meinen Experimenten. Die Curven von Prof. Heymans zeigen
nämlich vom Anfang jeder Versuchszeit bis zum Ende eine
stetige Abnahme des Wahrnehmungsvermögens. Bei den Licht-
und Druckexperimenten werden in den letzten Theilen die
200 ^' Wiersnia.
schwächsten Reize so gut wie gar nicht mehr wahrgenommen.
Was hei den schwächsten Reizen schon Wirklichkeit geworden
ist, ist bei allen anderen, auch bei den Gehörsversuchen, im
Begriff sich zu reaUsiren. Auch meine Curven zeigen die Ab-
fliefsungstendenz, obgleich nicht so deutUch als die von Prof.
Heymans, weil im zweiten Drittel der Versuchszeit bei mir
immer besser wahrgenommen wurde als im ersten. Bei den
Licht- und Druckversuchen aber ist zu bemerken, dafs in den
meisten Fällen im dritten Theil schon weniger wahrgenommen
wurde als im ersten. Wenn wir nun Rücksicht darauf nehmen,
dafs von Janet und Jelgersma viele Symptome der Hysterie
erklärt werden durch die Neigung der Bewufstseinsinhalte um
unbewufst zu werden, dann liegt es auf der Hand, dafs eine
gründUche Untersuchung der Wahrnehmungsschwankungen in
gesundem Zustand und bei Hysterie sehr erwünscht ist Sehr
wahrscheinlich auch wird diese Untersuchung der Mühe werth
sein bei allen Psychosen, wo eine deutliche psychische Hemmung
in den Vordergrund tritt.
Zum Schlufs will ich noch auf ein anderes Resultat dieser
Experimente hinweisen. Es hat sich gezeigt, dafs die Unmerk-
lichkeitszeit und die Dauer der Unmerklichkeitsperioden von der
Intensität des Reizes abhängig sind. Damit scheint die Behaup-
tung einiger Forscher, dafs die Dauer der Schwankungen für
verschiedene Sinnesgebiete eine verschiedene, für jedes derselben
aber eine fest bestimmte ist, hinfällig zu werden. Man kann
für jedes Gebiet die Intensität der Reize so wählen, dafs
Schwankungen von beliebiger, längerer oder kürzerer Zeitdauer
sich ergeben. Jene Behauptung beruht demnach wohl einfach
auf dem Umstände, dafs die betreffenden Forscher für jedes
Sinnesgebiet nur mit einer, mehr oder weniger genau der Reiz-
schwelle entsprechender Reizintensität gearbeitet haben.
Eingegmigen am 21. April 1901.
Ueber die mechanischen Correlate
Ton Baum mid Zeit, mit kritischen Betrachtungen
über die E. HERING'sche Theorie vom Ortssinne
der Netzhaut.
(Auf Grund eines Falles von monoculärem Doppelt-
sehen ohne physikalische Ursache.)
Von
Dr. E. Storch,
Assistenten der Kgl. Neurologischen Poliklinik zu Breslau.
Unter den mannigfachen Theorien über das Zustandekommen
unserer Raumvorstellungen hat sich ganz allmählich die Hering-
sche Lehre vom Ortsinne der Netzhaut ein immer gröfseres Feld
erobert, besonders in ophthalmologischen Kreisen, weniger bei
Physiologen und Psychologen. Diese Anerkennung ist auch in
vollem Maafse verdient, sobald man das räumliche Sehen des
gesunden Erwachsenen in Betracht zieht. Hier kommt man in
der That mit der Annahme, dafs jeder Punkt der Netzhaut
neben einer Lichtempfindung eine untrennbar damit verbundene
Raumempfindung (sit venia verbo) vermittelt, vollkommen aus
und es dürfte vielleicht innerhalb der physiologischen Breite
überhaupt aussichtslos sein nach entgegenstehenden Thatsachen
zu fahnden. Es ist auch weniger dieser für den Praktiker un-
wichtigere Kernpunkt, der die Entstehung der Raumvorstellungen
angeht, als vielmehr die unleugbare Ueberlegenheit der Identitäts-
lehre über die Projectionstheorie, welche den HERiNo'schen An-
schauungen zum Siege verhalf. Lassen wir alles Beiwerk zu-
nächst bei Seite, so läfst sich die HERiNo'sche Lehre vom Ort-
sinne der Netzhaut kurz folgendermaafsen fassen : Wird ein Netz-
hautpunkt gereizt, so empfinden wir einen Lichtpunkt im Raum.
V>
202 E, Storch.
Dieser bestimmte Raumwerth, welcher jedem einzelnen Netzhaut-
elemente inhärirt, ist ein angeborener, dem einzelnen Elemente
eigenthümlieher.
Nach Heeing ist also der Raum sinnlich wahrnehmbar wie
das Licht, der Schall, oder die Wärme.
Unter Sinneselement verstehe ich diejenige organische Ein-
heit, welche eine erfahrungsgemäfs einfache, niemals in Com-
ponenten zerfallende Empfindung vermittelt; ich könnte auch
sagen, welche die einfachste Empfindung von einer bestimmten
Quahtät auslöst, die überhaupt denkbar ist, an der sich also nur
eine einzige Dimension (Intensität) entdecken läfst. Aber da
eine derartige Definition der Subjectivität einen zu weiten Spiel-
raum lassen würde, und z. B. Hering unter der einfachsten Seh-
empfindung den Lichtfleck im Raum, Wundt den raumlosen
Lichteindruck begreift, so überlasse ich die psychologische Be-
grifEserklärung lieber der Erfahrung. Zeigt diese in geeigneten
pathologischen Fällen, dafs die bisher für einfach gehaltene Em-
pfindung in Componenten auseinanderfallen kann, so wäre der
bisher festgehaltene Begriff des Elementes im psychologischen
Sinne entsprechend abzuändern, die Molekel in ihre Atome zu
zerfallen.
Der Begriff dieser einfachsten, reinen, oder elementaren
Empfindung ist zunächst eine wesenlose Abstraction, die in
unserem Bewufstsein keine Stätte hat Denn alle unsere sinn-
lichen Empfindungen werden sofort mit zahlreichen anderen
Bewufstseinsvorgängen associirt, die durchaus nicht immer der
psychischen Analyse zugänglich sind. Ja selbst wenn wir ein
Bewufstsein als noch völlig leer voraussetzen wollten, würde
der strenge Begriff der Elementarempfindung, auch beim ersten
Reize, der es trifft, nicht verwirklicht sein.
Der Begriff des Bewufstseins ist ja überhaupt nur möglich
als der einer fortwährenden Veränderung. Ein wirklich ruhendes
Bewufstsein, d. h. ein solches, in dem keine Veränderungen, also
keine Bewufstseinsvorgänge stattfinden, wäre kein Bewufstsein.
Man sieht schon hieraus, dafs es einen ersten Reiz für ein Be-
wufstsein nicht geben kann, denn als erster könnte er ja nur
ein ruhendes Bewufstsein — eine Contradictio in adjecto —
treffen. Aber sehen wir von dieser Schwierigkeit ab, so würde
der erste Reiz einer bestimmten Qualität, z. B. ein Lichtreiz, der
das jungfräuliche Bewufstsein erweckt, keinen Dauerzustand,
Ueber die mechanischen Correlaie von Baum und Zeit. 203
Bondem eine fliefsende Veränderung hervorrufen müssen. Der
sinnliche Eindruck verblaXst, wird Erinnerung, und ist in jedem
Moment im Bewufstsein durch ein besonderes, von jedem früheren
und späteren verschiedenes Erinnerungsbild vertreten. Jedes
dieser Augenblickserinnerungsbilder umfafst alle früheren, oder
ist, wie man sich ausdrücken könnte, mit ihnen associirt.
Diese primitivste Thätigkeit des Bewufstseins, associativer
Natur wie alle Bewufstseinsthätigkeit, ohne welche eine Sinnes-
empfindung nicht möglich ist, ist die unumgängliche Eigenzuthat
der Seele zu jeder, auch der einfachsten Empfindung. Mit ihr
zugleich würden wir den Begriff des Bewufstseins aufheben, wir
können sie also auch nicht in Gedanken von der elementaren
Empfindung trennen.
Diese Urthätigkeit der Seele nun findet eine ganz eigene
Bewerthung, jedem unmittelbar und auf das AUergenauste be-
kannt, aber eben deswegen, weil sie die Urthätigkeit der Psyche
darstellt, nicht weiter erklärbar, als — Zeit — .
Hätten wir eine Stimmgabel, welche angeschlagen dauernd
den gleichen Ton in gleicher Intensität gäbe, so würde der Be-
obachter immer den gleichen Ton hören und seine sinnliche
Wahrnehmung würde sich nicht ändern.
Trotzdem wäre in 2 auf einander folgenden Momenten der
Beobachtung sein Bewufstseinsinhalt nicht der nämliche, man ist
sich nämlich in jedem Augenblicke der Zeit bewufst, welche die
Stimmgabel schon tönt.
Bezeichnen wir die im Augenblicke 7\ deui stets gleichen
Reize R entsprechende Wahrnehmung als W^ = TF, so ist im
unmittelbar folgenden Zeitelement 1\^ die Wahrnehmung
If^j r= \V 4- '^1 zu setzen, wobei u\ die in M\ eingehende Com-
ponente, das Gedächtnifsbild von W^, darstellt
in T.^ ist W^ = W -\- /r«, und h\^ ist wieder das nach-
klingende IFo.
Wn=^ ]r+ %Cn - 1.
Diese hier durch eine offenbar der Erfahrung entsprechende
Formel ausgedrückte Aenderung des Bewufstseinszustandes bei
gleichbleibender Wahrnehmung ist gar nicht anders als auf den
zeitlichen Ablauf unserer Wahrnehmung zu deuten; nur die
Zeit ändert sich im angegebenen Falle, sie mufs also repräsentirt
sein durch den sichändernden Summanden ic.
204 E' Storch.
Dieses w entspricht dem Gedächtnifs ; und ist das psychische
Correlat einer unablässig von Statten gehenden materiellen Ver-
änderung des Gehirns, auch wenn dasselbe zeitweise von äufseren
Reizen nicht beeinflufst ist.
Ohne diese Veränderung, die in ähnlicher Weise auch in
der leblosen Welt von Statten geht, kein Gedächtnifs.
Ohne Gedächtnifs — keine Zeit
Ohne Zeit — keine Bewegung
Ohne Bewegung — kein Bewufstsein.
Daher ist eine elementare Empfindung nur als zeitlich denk-
bar, und diese Zuthat der Psyche ist bei allen Empfindungen
die nämliche, unabhängig von der Natur des Reizes und des
Sinnesorgans. Eine Sinnesempfindung ohne diese Association
mit den eigenen Erinnerungsbildern giebt es nicht, aber wir
können um den Begriff der reinen Sinnesempfindung aufau-
steilen, jede andere Association ausschliefsen. Die reinen Sinnes-
empfindungen liegen wohl in der Zeit, aber nicht im Raum.
Auch in diesem Sinne kommen reine Empfindungen bei
dem Erwachsenen nicht mehr vor. Was wir bei Reizung unseres
Sensoriums wahrnehmen liegt im Räume, oder hat, wie wir auch
sagen können neben dem Zeitwerthe auch einen Raumwerth,
und selbst die unbestimmtesten Organgefühle von unseren Ein-
geweiden in der Bauch-, Brust- oder Kopfhöhle besitzen eine
deutliche räumliche Betonung; sie können uns höchstens ahnen
lassen, was eine reine Empfindung ist. Auch diese Thatsache,.
dafs wir keine Sinnesempfindung ohne Raumwerth kennen oder
vorzustellen im Stande sind, — denn jeden Gegenstand sehen
wir an einem bestimmten Ort, jeden Ton hören wir aus einer
bestimmten Richtung, jede Berührung fühlen wir an einer be-
stimmten Körperstelle, jeden Geschmack haben wir im Munde«
den Geruch in der Nase, oder wir versetzen ihn in die um-
gebende Luft, ja schliefslich ein so vages Organgefühl wie das
mit dem Denkprocefs verbundene haben wir in uns, diese That-
sache, sage ich, weist darauf hin, dafs die Raumvorstellung nicht
von einem oder zwei Sinnesorganen geliefert wird, sondern dafs
sie den Ausdruck, die Objectivation einer Bewufstseinsthätigkeit
darstellt, die ihr mechanisches Correlat in einer bei allen Sinnes-
reizungen in gleicher Weise auftretenden ßewegungsgröfse besitzt
Dafs der Ort, an welchem eine Sinnesfläche gereizt wird,
nicht im Geringsten eine räumliche Vorstellung erregt, dürfte
üeber die mecfianiscJien Correlate von Baum und Zeit 205
einleuchten, wenn man das Gehörorgan betrachtet. Die Er-
regung verschiedener Stellen der peripheren Cochlearisausbreitung
hat durch die Tonhöhe verschiedene Empfindungen zur Folge,
nicht aber Empfindimgen, welche wir an verschiedene Stellen
des Raumes verlegen.
Warum also sollte die Reizung verschiedener Haut- oder
Netzhautpunkte andere Componenten zum Bewufstsein bringen
als die durch die zweifache Mannigfaltigkeit der Qualität und
Intensität gegebenen, deren erstere für jedes Sinneselement eine
besondere ist
Allen Lebewesen ist nun, wie wir wissen, die Reizbarkeit
eigen. Von der Empfindung der Bewufstseinsveränderung, die
auf den Reiz erfolgt, vermögen wir aufser aus innerer Erfahrung
nichts auszusagen; wohl aber von der Bewegung, der Energie-
abgabe, welche der Reiz, die Energieaufnahme zur Folge hat
Dieser sogenannte Reflex tritt bei den niedersten und höchsten
Thieren in zweierlei Form auf, der positiven und der negativen.
Bei ersterer zielt die Bewegung des Thieres auf eine Vergröfse-
rang des Reizes ab und findet ihr Ende, sobald ein Maximum
oder Optimum des Reizes und damit auch der Empfindung er-
reicht ist Ich erinnere an den Sangreflex Neugeborener, an den
Greifreflex kleiner Kinder bei sanfter Reizung des Handtellers,
an das Fliegen der Insecten zima Licht u. A. m. Bei der nega-
tiven Form wird die erregte Sinnesfläche dem Reize entzogen.
Diese beiden Formen des Reflexes finden sich, wie gesagt,
bei sämmtlichen Lebewesen, und eben deshalb müssen wir an-
nehmen, dafs sie nicht erlernt werden, sondern angeboren sind.
Es wäre auch ganz unbegreiflich, wie solch ein Reflex erworben
werden sollte. Er ist dem lebenden Protoplasma eigen, wie der
Magnetismus dem Eisen, die Fluorescenz dem Petroleum und
könnte durch die Auslese wohl erhalten und verfeinert aber
nicht geschaffen werden.
Wenn auch derartige Reflexe manchmal sich erst beim
reifen Organismus nachweisen lassen, beim Neugeborenen aber
fehlen, so mufs man doch die Annahme, dafs sie erlernt werden,
weit abweisen. Sie treten in dem Augenblicke auf, wo das
Sinnesorgan und der es bewegende Apparat die Entwickelungs-
reife erreicht haben.
Das leuchtet besonders bei den rudimentären Reflexen,
welche von dem Cheironti'schen Nachen der Heredität aus der
206 E. Storch.
Urzeit herübergerettet, noch eine Weile bewahrt werden, obgleich
sie für das betreffende Thier nunmehr ohne allen Nutzen sind.
Ein Beispiel möge das erläutern: Reizt man leicht die Fuls-
sohle eines erwachsenen Menschen, so krümmen sich die Zehen
nach unten, ein positiver Reflex, der für Wesen, welche auf
Bäumen lebten, nicht ohne Nutzen gewesen sein mag. Eigen-
thümlicherweise findet sich dieser Reflex nicht beim Neu-
geborenen. Im Gegentheil krümmen sich hier die Zehen nach
oben, und dieses Verhalten bleibt für die Dauer des ersten
Lebensjahres, vielleicht noch länger, das nämhche. Erkrankt
nun aber beim Erwachsenen die Pyramidenbahn im Rücken-
mark, indem sie z. B. ihre Markscheiden verliert, so wird der
Fufssohlenreflex dem des kleinen Kindes gleich. Bei diesem
aber besitzt die genannte Nerveubahn ebenfalls keine Mark-
scheiden.
Wer würde behaupten wollen, dafs dieser Reflex erlernt
wird? Er tritt mit derselben Naturnothwendigkeit ein wie das
Zuthalfliefsen des Wassers, sobald der Organismus seinen völligen
Ausbau gefunden hat.
Jede Bewegung aber stellt eine Veränderung der Bewegungs-
gröfse des Organismus dar und es kann a priori keinem Zweifel
unterliegen, dafs ihr auch eine Bewufstseinsveränderung parallel
geht Wir haben ja auch unzweifelhaft bei jeder Muskelthätig-
keit gewisse Sinnesempfindungen, die von den Tastkörperchen
der sich verschiebenden Haut, von denen der Sehnen und Gre-
lenke u. s. w. ausgelöst werden; wir können die Bewegungen
unserer Glieder ja auch sehen. Aber die diesen Empfindungen
entsprechenden Reize sind ja nur ein ganz unbedeutender Theil
der Energieschwankung, der sich mit dem Namen des inneren
Wiederstandes bezeichnen liefse. Der gröfsere Theil wird durch
diese sensoriellen Empfindungen nicht psychisch repräsentirt,
und doch mufs ihm ein Psychisches entsprechen, wenn es auch
nicht sinnlicher Natur ist in der engeren Bedeutung des Wortes.^
^ Dies würde aus der Theorie des psychophysischen Parallelismus
folgen, der gemäfs jeder Aenderung der Bewegungsgröfse unseres Körpers
eine Bewufstseinsänderung parallel geht Für solche, denen diese Art zu
schliefsen nicht behagen sollte, kann man auf andere Thatsachen ver-
weisen. Bei der Erlernung complicirter Bewegungen findet eine gans all-
mähliche Aenderung unseres Bewufstseins statt, die sich in dem Gefühl
gröfserer Leichtigkeit und Sicherheit bei der Ausführung der Beweguog
üeber die mecJMnUchai Correlate von Raum und Zeit 207
Wenn man auf dem Boden theoretischer Betrachtmigen zu
dem Schlüsse gelangt ist, daüs jeder Bewegung unseres Körpers
ein Psychisches entsprechen mufs, so hat man die Aufgabe auch
die Nervenbahn, welche es vermittelt, zu suchen.
Unter dem Zwange physiologischer und pathologischer Er-
fahrungen hat man die Meinung aufgeben müssen, dafs eine
Nervenfaser in doppelter Richtung leiten könne, und auch die
nähere Einsicht in den anatomischen Bau unseres Centralnerven-
sy«tems hat zu eben dieser Anschauung geführt. Jeder Neurit
leitet von der Zelle hinweg, jeder Dendrit zur Zelle hin. Die
motorischen Vorderhomzellen des Rückenmarks nun haben nur
einen Axenzylinderfortsatz, welcher durch die vorderen Wurzeln
das Rückenmark verläfst und sich zu den Muskeln begiebt; der
reich verzweigte Dendrit bildet einen wichtigen Antheil der
grauen Substanz. Wie soll man sich nun vorstellen, dafs die
Function dieser motorischen Zelle in der Stirnrinde eine ent-
sprechende Veränderung hervorbringt? Man hat wohl ange-
f nommen, dafs die functionelle Veränderung der spinalen Neurons
mit einem Abflufs von Nervenerregung der corticalen Pyramiden-
zelle Hand in Hand geht Aber dieser Vorgang wäre ja schon
psychisch durch den Willensact voll bewerthet, und es wäre
paradox die anatomischen Einheiten, die wahrscheinlich psy-
chische Elemente darstellen, noch aufserdem für die in Rede
stehende Bewufstseinsänderung, welche mit dem Willen nichts
zu thun hat, verantwortlich zu machen. Aber von diesen Pyra-
knnd giebt. Diesen Gefühlston wird wohl Niemand mit den bei der
Moskelaction vorhandenen Sinnesempfindungen in Verbindung bringen.
£r hat absolut nichts Sinnliches und ist eine psychische Componente die
der Erwachsene, im Sprechen z. B. Geübte, überhaupt nicht gesondert
wahrnimmt. Trotzdem mufs sie vorhanden sein ; denn wenn derjenige Ge-
himtheil, in welchem die Sprechbewegungen hauptsächlich ihre physische
Veränderung erzeugen, das Centrum der Sprechvorstellungen, wie man sich
sehr grob ausdrückt, erkrankt, so fehlt dieser Gefühlston und das Sprechen
kann bis zur Unmöglichkeit erschwert sein. Dafs man im besonderen Falle
das psychische Correlat dieser localisirten physischen Veränderung als
motorische Erinnerungsbilder bezeichnet, mag hingehen, wenn man meine
Eingangs erwähnte weite Fassung des Begriffes annimmt; nur darf man
sich nicht verleiten lassen, darunter etwas an sich Reproducibles zu ver-
stehen. Die motorische Sprechvorstelluug ermöglicht erst die motorischen
Si^rachfajictioneny tritt aber nie als etwas psychisch Beschreibbares allein
iB Ulmesem Bewulstoein auf.
208 -E- Storch.
midenzellneuriten gehen Collateralen zu anderen Rindengebieten
und diese dürften mit grofser Wahrscheinlichkeit die gesuchte
Bahn darstellen. Man könnte aber auch an die Collateralen der
Vorderhornzellneuriten denken.
Man hat den BewuTstseinsvorgang , um den es sich hier
handelt in dem Namen des Lage, Muskel- oder Bewegungsinnes
eine recht unglückliche Bezeichnung gegeben, und dadurch ver-
anlafst, dafs ihn viele Autoren unter anderem durch Herino mit
den Spannungs- oder Druckempfindungen, welche wir bei Be-
wegungen wahrnehmen verwechselten. Die Bahn dieser Em-
pfindungen ist lange bekannt, sie bildet den aufsteigenden Ast
eines Reflexbogens, dessen Knotenpunkt im Kleinhirn liegt
Hering hat in der That Recht, wenn er hiervon abgesehen einen
eigenen Muskelsinn in Abrede stellt. Einen Sinn in der exacten
Bedeutung, dafs wir seine Empfindungen auf bestimmte Objecte
z. B. Körpertheile bezögen, haben wir in unserer Muskulatur
allerdings nicht, aber wir behaupten das auch gar nicht von
dem hier in Rede stehenden Bewufstseinsvorgange, welcher das
psychische Correlat unserer Bewegungen darstellt Dieses sind
wir vorläufig aufser Stande näher zu analysiren, entnehmen aber
aus der Grundthatsache der Reizbarkeit der Organismen, dafs es
sich mit den Elementarempfindungen associirt. Diese vorläufig
ganz unbestimmte psychische Componente verhält sich in der
subjectiven Welt zur Empfindung, wie in der objectiven der
Reflex zum Reiz, wie die Abgabe einer aufgespeicherten Energie-
menge zu der Aufnahme einer von aufsen kommenden Be-
wegungsgröfse.1
^ Diese nicht durch die Pforten unserer Sinnesorgane eingehenden
psychischen Componenten werden häufig ganz übersehen, wenn man sie
nicht gar — horribile dictu — als unbewufste Vorstellungen brandmarkt.
Unbewufste Vorstellung ist eine Contradictio in adjecto. Diese Bewadst-
seinsthatsachen sind aber ebensowenig unbewufst wie Vorstellungen. Ein
Beispiel möge zeigen, was ich meine. Eine aufgezogene Spiralfeder ans
Stahl befindet sich offenbar in einem anderen Zustande als die entspannte.
Sie enthalt eine gewisse Menge potentieller Energie, die sich Jahrtausende
erhalten kann, ohne sich nach aufsen in Arbeit zu entladen. Und doch ist
dieser Zustand keineswegs während dieser Dauer unwirksam. Schlägt man
sie mit einem Metallstäbchen an, so giebt sie einen anderen Ton als vor
der Spannung u. a. m. Die potentielle Energie, die sie besitzt, giebt nun-
mehr jeder in ihr ausgelösten Bewegung eine besondere Zugabe.
Aehnliche Vorstellungen kann man sich bezOglich des Gehirns and
des Weiteren unserer Seele machen. Während unserer Verdauung wird
lieber die mechanischen Correlatc von Baum und Zeit. 209
Versuchen wir nunmehr dieser Componente, die wir vor-
läufig mit dem Namen des psychischen Motalitätswerthes (M)
belegen wollen, näher zu kommen so können wir aus der Aehn-
lichkeit ihrer objectiven Erscheinung, der Muskelconlraction,
welche ja bei allen durch noch so verschiedene Sinnesreize aus-
gelösten Reflexen im Grunde die gleiche ist, auch auf eine
psychische Gleichheit schliefsen, unabhängig von der Elementar-
empfindung, der sie sich zugesellt. Dieser Schlufs ist wenigstens
auf allen Gebieten unseres Sinnenlebens gerechtfertigt. Die
Function aller Netzhautstäbchen und Zapfen hat dem überein-
stimmenden Bau aller dieser Elemente und der wahrscheinlich
durchgehends sehr ähnlichen Form ihrer Lichtreaction ent-
sprechend eine ganz bestimmte psychische Vertretung, deren
Gemeinsamkeit sich in umfassenden Ausdruck der Lichtempfin-
dung wiederspiegelt. Ganz so steht es mit der Thätigkeit der
Hör- und Riechzellen u. s. w. Warum also nicht auch mit den
Muskelfasern ?
Nun ist es klar, dafs der Reizung jeder einzelnen Stelle der
Sinnesflächen, wenigstens bei den positiven Reflexen, welche im
Weiteren allein in Betracht kommen, immer nur ein und die-
selbe Endstellung als Reflexwirkung zukommt.
So wendet der Mensch sein Ohr nach der Richtung, aus
welcher der Schall kommt und saugt mit weiten Nüstern die
gewifs unser Gehirn energetisch verändert. Auch dem dürfte im Reiche
des Psychischen etwas entsprechen. Dieses P2twas ist freilich keine Vor-
stellung, aber es giebt den Vorstellnngen eine besondere Färbung.
So ist es zweifellos richtig, wenn ich sage : „ich besitze kein Bewufst-
»ein von meiner Bauchspeicheldrüse, von meinem Herzen u. s. w.", wenn
ich darunter verstehe, ich habe keine sinnliche Vorstellung davon. Es ist
aber total falsch, wenn ich meinen würde, diese Organe haben keine ihre
Bewegungsgröfsen subjectiv wiederspiegelnden Repräsentanten. Freilich
können diese Repräsentanten nicht objectivirt werden, aber sie sind nichts-
destoweniger in unserem Bewufstsein. Wir sind hier kaum an der Pforte
ded Wissens angekommen. Wir ahnen, dafs die Angst das psychische
Aeqaivalent von Veränderungen unseres Blutgefäfssystemes ist, dafs der
Altect der Mutterliebe sein physisches Correlat zunächst in gewissen Vor-
gängen der Sexualsphäre haben dürfte ; aber — das sind kaum bescheidene
Andeutungen dafür, dafs man medicinischerseits diese Frage bewufst auf-
geworfen hat. Im Grofsen und Ganzen aber wissen wir aus dem Bereich
der physiologischen Breite hierüber so gut wie nichts. Dafs die eingehende
klinische Analyse der Geisteskrankheiten berufen ist uns die Wege zu
veisen, ist meine persönliche Ueberzeugung.
Zeitschrift fdr Psychologie 26. 14
210 E. Storch,
Luft ein, wenn er einen Geruch wittert Trifft ein Lichtstrahl
sein Auge, so wird dieses so bewegt, dals er auf immer licht-
empfindlichere Stellen fällt, bis der Reiz endlich auf die Stelle
der gröfsten Sehschärfe, auf die Macula, zu liegen kommt
Trifft ein Tastreiz die Körperoberfläche, so werden die Finger-
spitzen einer oder beider Hände an den Ort des Reizes geführt,
und es wird die betreffende Stelle nochmals )t)erührt Dadurch
wird der erste Tastreiz nochmals ausgeübt, zugleich aber findet
jetzt ein Optimum der Empfindung statt, da nun auch die Haut
der Fingerspitzen, welchen mit den kleinsten Tastkreisen zu-
gleich auch die gröfste Tastschärfe zukommt, eine Empfindung
auslöst ; es wird auch hier, wie man sagen könnte, die Kemstelle
der Tasthaut nach der Stelle des Reizes hinbewegt
Aber wir haben den Vorgang erst ungenügend geschildert,
wenn wir als Wirkung eines Reizes eine für jeden Reiz eigen-
thümliche Endstellung des Körpers oder Sinnesorganes be-
trachteten. Der Weg auf dem diese Endstellung erreicht wird,
ist ebenso ein für jedes einzelne Sinneselement fest vorge-
schriebener. Das scheint nun zunächst für die Reizung von
Hautstellen nicht zuzutreffen; aber wir haben trotzdem Grund
zu der Annahme, dafs hier, in welcher Stellung der Körper sich
auch befinden möge, die Reflexbewegung, welche einer be-
stimmten Hautstelle entspricht, nur immer einen und denselben
psychischen Motilitätswerth besitzt
Aus welchen Gründen diese Annahme berechtigt ist, hier
auszuführen, würde zu weitläufig sein. Die Verhältnisse sind
beim Tastsinn, durch die unumgänglich nothwendige Berück-
sichtigung des Gleichgewichtsorganes sehr complicirte. Trotzdem
sind sie im Princip von denen für den Gesichtssinn nicht unter-
schieden, und da es hier nur auf die Entwickelung des Principes
ankommt, werde ich mich von nun an lediglich auf letzteren
beziehen.
Für das Auge nämlich ist die Forderung, dafs jedem ge-
reizten Netzhautelement nur eine einzige ganz bestimmte Augen-
bewegung zukommt, genau erfüllt, wenigstens für den Fall, dafs
es sich in der Ruhelage befindet.
Wäre nun die Elementarempfindung aller Netzhautstellen
wirklich genau die nämliche, so könnte es trotz allem vorher
Gesagten nicht dazukommen, dafs sich die dem Element a^ ent-
sprechende Elementarempfindung E^ mit dem psychischen Mo-
üeber die mechanischen Corrclate von Baum utid Zeit. 211
tilitätswerthe M^ zu einer miauflösbaren Einheit verbindet. Denn
sind E^, ^, E^ alle untereinander gleich, so mufs natürlich auch
Ifj + jEj = Jfj + -^2 == -*f| + -^8 sein, d. h. jede von der Netz-
haut ausgelöste Elementarempfindung könnte sich mit jedem
beliebigen Motilitätswerthe assocüren. Trotzdem würden die
psychischen Resultanten unter einander gleich sein.
Wie aber sattsam bekannt sein dürfte sind E^, E^^ E^ u. s. w.
alle untereinander ungleich (Localzeichen) so dafs -M^ -{- £'^ S
M, + E^ ist
Die Verschiedenheit von E^, E^^ E^ ist experimentell nach-
gewiesen. Wäre sie nicht vorhanden, so müfsten ja auch die
ihnen entsprechenden Bewegungsgröfsen in der Hirnrinde
5, = -Bg = Ä, sein u. s. w., was nur möglich wäre, wenn sie
alle an völlig gleich gebauten Stellen vorhanden wären, oder,
da es solche gleichen Stellen in idealer Vollendung in der Hirn-
rinde nicht giebt, wenn sie alle an derselben Stelle localisirt
wären. Dann aber wäre wieder nicht abzusehen wie von B^^ B^^
und -Bg im absteigenden Reflexbogen ungleiche Muskelactionen
ausgelöst werden sollten, welche wir doch jeden Augenblick zu
beobachten in der Lage sind.^ Schon in der Thatsache der ver-
schiedenen Localzeichen also liegt eine Gewähr für die Richtig-
keit der bisher entwickelten Theorie. Erst also durch die Ver-
schiedenheit der Localzeichen wird die Zuordnung und unlös-
liche Association der einzelnen Elementarempfindungen mit ihren
charkteristischen Motilitätswerthen möglich.
Für das Auge können wir den Mechanismus dieser Zu-
ordnung noch etwas genauer verfolgen.
Wenn wir den widerspruchsvollen Angaben der Autoren
über die Vertheilung des Lichtsinnes im Gesichtsfelde kein Ge-
wicht beilegen dürfen, so ist doch eine allmähliche Zunahme der
Sehschärfe von der Peripherie nach dem Centrum für jeden
Meridian festgestellt, und das Gleiche gilt für den Farbensinn.
Mit anderen Worten: Die Empfindungen, welche die einzelnen
Elemente eines Netzhautmeridianes vermitteln, sind um so
schärfer betont (umsomehr optimale) je näher sie dem Centrum
* Der Satz, dafs 2 gleiche Bewufstseinsgröfsen nur in derselben Hirn-
stelle ihr mechanisches Correlat haben können, ist ein Analogon zu dem
inaljTtischen Satze, dafs wenn 2 nach steigenden Potenzen von x geordnete
tmendJiche Reihen einander gleich sind, also f (x) = a -^ bx -\- cx'^ . . . .
= (. -i- /9x -f- yx^ . . ., dann auch « = <■•, 6 = .^ .. .
14^
212 E' Storch,
liegen. Bewegt sieh daher ein Reiz auf einem Meridiane nach
der Macula hin, so nimmt die Empfindung successive zu, und
zwar in jedem kleinsten Theilchen der Bewegung um den denk-
bar gröfeten Betrag. Jedes Abweichen von dem Meridian würde
die Empfindungszunahme verlangsamen. Nun wissen wir, dals
sich nach dem LiSTDfo'schen Gesetze die Macula stets auf einem
Meridiane nach der Stelle des Reizes begiebt und verstehen
diese Art der Bewegung als positiven Reflex, der schon im Be-
wegungsdifferential sein Princip deuthch hervortreten läfeL Es
ist begreiflich wie ungeheuer fest sich gerade bei dieser Ein-
richtung die Association zwischen M und E gestalten mufs, so
dafs unweigerlich bei jedem E das zugehörige M mittönt, gleich-
gültig, ob die dem M entsprechende Reflexbewegung wirkUch
ausgeführt wird oder nicht. ^ ^
Zugleich mufs aber bemerkt werden, dafs eine andere wenn-
gleich weniger feste Zuordnung auch zu Stande kommen könnte
bei anderer Anordnung der Localzeichen. Ich habe die Möglich-
keit dieser Association nachgewiesen unter der Voraussetzung
bestimmter Localzeichen überhaupt, nicht unter der bestimmten
ihrer natürUchen Anordnung. Bewegte sich z. B. aus irgend
einem Grunde nicht der Kernfleck, sondern eine andere Stelle,
aber stets dieselbe auf dem Meridian nach dem Orte des Reizes
hin, so könnte sich eine neue Reihe psychischer Werthe bilden,
z. B. von der Formel ilfi -f- jE« + 1 , i¥2 -f- £„ + 2 , ^a + -E'« + 3 u. s. w.
Die Festigkeit dieser Association wird nun noch durch einen
ganz besonderen Umstand erhöht. Das Ende der Reflexbe-
wegung nämlich, das mit dem Optimum der Empfindung zu-
sammenfällt, erhält einen ganz besonderen psychischen Accent
als Correlat des Bewegungsabschlufses. Dieser Accent kommt
nur als die Beendigung einer Spannung, als ein Gefühl der
Sättigung oder Befriedigung zum Bewufstsein. Er findet sich
übrigens bei jeder Eigenthätigkeit der Psyche, d. h. einer solchen,
die nicht auf eine einfache Energieaufnahme zurückzuführen
^ Es leuchtet ein, dafs diese Einrichtung eine gewisse Analogie bietet
zu dem, was man bei Pflanzen und niederen Thieren Phototropismus ge-
nannt hat. Dieser treibt z. B. viele Insecten zum Hineinfliegen in die
Flamme. Dafs es auch Menschen giebt, bei denen der Lichthunger, wenn
auch nicht zur Selbstvernichtung, so doch zur Erblindung führt, lehrt jede
Sonnenfinsternifs. Einzelne Individuen starren dabei so lange in die Sonne,
bis ihre Macula verbrennt.
lieber die mechaniscJien Correlate van Raum und Zeit 213
ist, sondern aufgespeicherte Energiemengen umsetzt. Ob diese
Thätigkeit reflectorisch im engeren Sinne ist, ob sie in einem
verwickelten Denkprozessö besteht, ist principiell gleichgültig.
Man kann ihn bei gesteigerter Aufmerksamkeit wahrnehmen,
wenn man z. B. die Fixation eines peripheren Gesichtsreizes
ausführt, oder wenn man bei geschlossenen Augen die Spitzen
beider Zeigefinger aus gröfserer Entfernung einander bis zur
Berührung nähert; er kann eine ungeheure Höhe erreichen bei
schwierigen Denkoperationen ^ und dürfte dem ihm voraus-
gehenden Grefühl der Spannung, dem Gradmesser psychischer
Thätigkeit parallel gehen. Friedmann bringt diesen Affect mit
einem Zustande chemischer Sättigung im Gehirn in Verbindung
und macht ihn verantwortlich für die Festigkeit gewisser Asso-
ciationen.
Selbst auf die Gefahr hin etwas abzuschweifen möchte ich
hier eine pathologische Beobachtung einflechten, welche dazu
dienen soll diesen Affect zu veranschaulichen. Denn für ge-
wöhnlich beachten wir ihn nicht, so innig ist er mit der Wahr-
nehmung verknüpft. Er ist im Bewufstsein, kann aber von der
Wahmehmimg selbst nicht getrennt werden, der er eine be-
stimmte Färbung giebt.
Eine etwa 40 jährige Frau klagte von ihrer Mädchenzeit an
die Gegenstände nicht mehr so wahrzunehmen wie früher. Sie
sah aber und hörte, fühlte und schmeckte ausgezeichnet, so dafs
die eingehendste Prüfung irgend einen objectiven Ausfall nicht
nachweisen konnte. Ihre Sinnesorgane waren intact, ihr Ge-
«lächtnifs besser als beim Durchschnittsmenschen. Sie hatte nur
Volksschulbildung genossen und vermochte nicht sich besonders
gewandt auszudrücken. Manchmal sei es ihr als ob sie gar nicht
selber sehe, fühle oder höre. Sie fühle ihren ganzen Körper
nicht, nicht ihre Augen, ihre Ohren. Es war im Ganzen ein
recht qualvoller Zustand, der sehr an den des bekannten
( HARCOT'schen Seelenblinden erinnert, nur dafs bei letzterem
sich das Gefühl des Nicht-satt-werdens auf die Gesichtswahr-
* Von Nbwton erzählt man, dafs er bei der Berechnung der Be
^( Iileunignng des Mondes in seiner Bahn, als er voraussehen konnte, dafs
«liese Beschleunigung die von seiner Theorie geforderte Function der Erd-
H^hwere wäre, vor Erregung die letzten Zahlen kaum mehr hinschreiben
konnte.
214 E, Storch.
nehmungen beschränkte, bei unserer Patientin aber auf allen
Sinnesgebieten zu Tage trat.
Es dürfte nicht zu kühn sein, wenn man das Grefühl des
Mangelhaften, welches diese Patientin bei ihren Wahrnehmungen
schildert, auf den thatsächlichen Ausfall einer normalerweise
vorhandenen, aber ganz in der Sinneswahrnehmung aufgegangenen
psychischen Componente deutet, nämlich jenes Accentes, welchen
das Zusammenfallen der optimalen Empfindung mit der Be-
endigung der Motilitätswerthe hervorbringt. Dieser Accent wäre
identisch mit einem Entspannungsaffect. Unsere Patientin steht
auf der Grenzscheide zwischen Neurasthenie und Geisteskrank-
heit und es würde sehr gut mit unseren Vorstellungen von
neurasthenischer Gehirnaffection übereinstimmen, wenn die Ent-
spannung und der sie begleitende Affect ausbUebe.
Dasselbe Manco wie bei der Wahrnehmung empfindet
Patientin auch bei der Reproduction , und zwar leidet sia an
einem starken Reproductionszwange, vielleicht gerade deshalb,
weil keine ihrer Wahrnehmungen einen befriedigenden Abschlufe
findet. So kommt ihr z. B. die Erinnerung an einen gedeckten
Tisch. Unter steigender Angst sucht sie das Gesichtsbild mit
sinnUcher Deutlichkeit vor ihr geistiges Auge zu rufen. Aber
umsonst, sie findet eine unvollkommene Art der Befriedigung
erst, wenn sie sich den wirklichen Anblick eines gedeckten
Tisches verschafft.
Einen ganz ähnlichen Zustand finden wir bei gewissen Zu-
ständen von Melancholie, nur ist hier die Störung eine viel
intensivere. Diese Kranken klagen, dafs sie überhaupt nichts
mehr empfinden, dafs sie längst gestorben seien; dabei beant-
worten sie, wenn auch zögernd, alle Fragen; ihre Bewegungen
und Aeufserungen zeigen, dafs sie alles wahrnehmen. Auch hier
dürfte der in Rede stehende Affect fehlen, welcher bei jeder
normalen Wahrnehmung den ICnoten schürzt zwischen der
Elementarempfindung — dem Correlat der Energieaufnahme,
und dem Motilitätswerth, der Eigenthätigkeit der Psyche. Ist
dieser Knoten gelöst, so stehen wir unserem psychischen Vor-
gängen als etwas Fremdem gegenüber.
So haben wir in groben Zügen für alle Sinnesorgane, etwas
eingehender für das Auge nachgewiesen, dafs sich zu jeder
Elementarempfindung nothwendigerweise eine Componente ge-
sellt, die eine psychische Repräsentation der Muskelbewegung
Ufber die mechanischen Correlate von Baum und Zeit 215
ist. Von einem Standpunkte aus ist diese Bewegung nur ab-
hängig von dem Orte der Reizung, vom Raum, sie ist in der
That eine Umsetzung der Raumwerthe in Bewegungsgröfsen,
und vermag in dieser Eigenschaft allein unserem Bewufstsein
Kunde zu geben vom Raum. Eine andere derartige Umsetzung
von Raumwerthen in Bewegungsgröfsen, und damit in Reize
giebt es nicht Von einem anderen Standpunkte sind diese
Reflexbewegungen eine Eigenthätigkeit des Organismus; ihr
psychisches Correlat ist die Raum Vorstellung , ohne welche es
keine Wahrnehmung giebt, und deshalb liegen alle Objecte
unserer Sinneswahmehmung im Raum.
Die Psyche schafft Zeit und Raum als Medium unserer
Wahrnehmungen. Einen treffenderen Ausdruck als den der
^Formen" reiner Sinnlichkeit hätte Kant dafür nicht finden können.
Bezeichnen wir diese Association der Empfindungen mit den
Raumwerthen als Wahrnehmungen, so ist klar, dafs jede Wahr-
nehmung etwas Räumliches haben mufs.
Aber die einzelnen Sinneswahrnehmungen sind mit Hinsicht
auf die Bestimmtheit ihrer Räumlichkeit, wie schon angedeutet,
sehr verschieden. Am feinsten localisiren wir mit dem Auge
und der Haut Das hängt eben von der Beweglichkeit dieser
[ Organe und der festen Zuordnung ihrer Localzeichen zu ganz
bestimmten Motilitätswertheii ab. Besäfsen wir ein Gehörorgan,
das anstatt unbeweglich in den festesten Schädelknochen ein-
gebettet zu sein, frei beweglich wäre z. B. an der Spitze eines
Insectenfühlers, und ausgerüstet mit einer Stelle gröfster Hör-
schärfe, welche sich stets auf dem kürzesten Wege nach dem
Reize hinbewegte, so würden wir wahrscheinlich ein räumliches
Gehörsbild der Welt besitzen; doch das geht über unser Vor-
stellungsvermögen hinaus.
Nun begreifen wir auch, warum die HERiNo'sche Theorie
vom Ortsinne allen praktischen Anforderungen genügt. Sobald
nämlich die unlösliche Verbindung der Netzhautelemente mit
den myogenen Raumwerthen zu Stande gekommen ist, brauche
ich mich in der That nicht darum zu kümmern, ob diese Raum-
werthe mittelbar oder unmittelbar durch Stäbchen und Zapfen
ausgelöst werden, die Beschreibung der optischen Thatsachen
wird dadurch nicht berührt werden. Allerdings war ich bis vor
Kurzem der Ueberzeugung, es gäbe einen Punkt, wo das physio-
logische Experiment den Irrthum Hering's aufdecken könnte.
216 E, Storch.
Nach der Theorie der myogenen Raumwerthe ist zu erwarten,
dafs die Wahrnehmung eines leuchtenden Punktes, dessen Bild
auf der Peripherie eines Elementes entsteht, sich unterscheidet
von der des im Mittelpunkte entstehenden Bildchens. Nach
Hering müfsten beide Wahrnehmungen die gleichen sein. Legt
man als Maafs der Sehschärfe den Winkel zu Grunde, unter
welchem die Verbindungslinie zweier gerade noch gesondert
wahrnehmbarer Punkte gesehen wird, so kommt man auf die
bekannte Winkelminute v. Helmholtz's. In dieser Beziehung
verlangen beide Theorien denselben Werth: Zwischen den
Schenkeln dieses Winkels mufs vom Knotenpunkt des Auges
aus gesehen ein Kernfleckelement bequem Platz finden.
Bekanntlich hat nun Hering nachgewiesen, dafs beim bin-
oculären Sehact alle Lichtpunkte, welche auf identische Netz-
hautstellen fallen, einfach und in einer Ebene, der Kemfläche
des Sehraums gesehen werden. Punkte, die auf nahezu identi-
schen Stellen sich abbilden, werden auch einfach gesehen, treten
aber körperlich vor oder hinter die Kemfläche. Nun ist ja klar,
dafs bei Hering zwei identische Punkte gleichbedeutend sein
müssen mit zwei identischen Netzhautelementen, mit anderen
Worten, dafs ein Lichtpunkt einen Tiefenwerth erst erhalten
kann, wenn seine Querdisparation im HERiNo'schen Einauge
gleich der Gröfse eines Netzhautelementes wird. Doch wufste
man schon lange, dafs eine Tiefenwahmehmung schon bei weit
geringerer Querdisparation auftritt, und dies verlangt die myo-
gene Raumtheorie, denn nach ihr sind identische Punkte durch-
aus nicht von der Gröfse der Netzhautelemente abhängig.
Nun hat Heine ganz neuerdings gezeigt, dafs die Sehschärfe
und die Tiefenwahrnehmung, wenn man beide unter vergleich-
baren Bedingungen prüft, recht gut harmoniren. FreiUch fehlt
die Prüfung mit Punktobjecten. ^
So lange diese aussteht, haben wir im Bereich der physio-
logischen Breite keinen Gegenbeweis gegen die HERiNo'sche
Auffassung.
Auch auf pathologischem Gebiete gab es bisher keine
zwingenden Beobachtungen, die gegen Hering gesprochen hätten,
denn die wenigen Fälle von Seelenblindheit, welche wir kennen,
beruhen keineswegs auf dem Ausfall der optischen Raumwerthe.
^ Gräfe^n Archiv für Ot/hthalmologie 51 (1): „Sehschärfe und Tiefen-
Wahrnehmung".
lieber die mechanischen Correlate von Raum U7id Zeit 217
In dieser Beziehung sind die Fälle cerebraler Tastlähmung viel
belehrender; hier fehlen in der That die tactilen Raumwerthe
bei erhaltener Tastempfindung. Aber diese Analogie ist noch
keiQ Beweis. Diesen bringt erst der von Bielschowski be-
schriebene Fall monoculärer Diplopie, welcher im Archiv für
Ophthalmologie 1897 veröffentlicht ist.
Der Fall ist also von principieller Bedeutung:
Bei einem 18 jährigen Techniker, der von Jugend auf mit
dem linken schwachsichtigen Auge nach einwärts schielte, trotz-
dem aber einen leidlichen binoculären Sehact besafs, wurde
wegen einer Erkrankung die Enucleation des rechten Auges
Dothwendig. Als er sich 8 Tage nach der Operation zur Be-
sichtigung vorstellte, machte er die Angabe, dafs er nunmehr
mit seinem linken Auge Alles doppelt sehe; links und etwas
miterhalb von dem fixirten Gegenstande befände sich ein „Trug-
bild" von etwas matterem Aussehen. Forderte man ihn auf
dieses Trugbild zu fixiren, so machte sein Auge eine kleine,
etwa 5 ^ betragende, Einstellbewegung nach links und nun ge-
wann der gesehene Gegenstand an Deutlichkeit. Mit der Zeit,
um dies gleich vorweg zu nehmen, empfand Patient einen immer
gröfseren Zwang, auf das Ti'ugbild einzustellen. Liefs man ihn
das Flammenbild im Augenspiegel fixiren, so beobachtete man
bei der Aufforderung, das Trugbild ins Auge zu fassen, dafs sich
die Macula von der Schläfenseite her einstellte.
Diese ganz einzigartigen Erscheinungen veranlafsten den
Verfasser, Hering um eine ausführUche Untersuchung des Falles
zu bitten, und dieser stellte einwandsfrei fest, dafs irgend eine
physikalische Ursache für die Entstehung zweier Netzhautbilder
auszuschliefsen sei, sei es, dafs diese in einer doppelten Pupillen-
bildung oder in sprungweiser Veränderung der Brechungs-
coefficienten der Augenmedien gesucht wurde.
Es unterliegt keinem Zweifel, dafs auf der Netzhaut von
jedem Gegenstande niu* ein Bild entworfen wurde.
Die Untersuchung stellte ferner fest, dafs der Sehwinkel,
unter dem die Verbindungslinie der Doppelbilder erschien, für
aUe Entfernungen annähernd derselbe war, im Mittel 5^ 28'.
Wählte man als Object eine kleine, weifse, kreisförmige
Scheibe von wenigen Millimetern Durchmesser, so gelang es,
wenn man von der Gesichtsfeldperipherie her eine zweite eben
solche Scheibe einführte, das natürliche Bild dieser mit dem
218 E. StorcL
Trugbild der ersteren zur Deckung zu bringen, und umgekehrt
Nahm man hingegen zwei längere schmale Streifen, so gelang
es bei paralleler Lage derselben nicht, eine genaue Deckungslage
zu erreichen. Das „Trugbild" des einen und das „natürliche**
Bild des anderen schnitten sich dann unter einem annähernd
Constanten Winkel von etwa 13 ^, Dementsprechend gab Patient
auch an, dafs das Trugbild eines einzelnen Streifens gegen diesen
Streifen selbst stets geneigt erscheine, und zwar divergirten die
Bilder bei senkrechtem Object nach oben.
Interessant waren noch folgende Beobachtungen : Das Trug-
bild einer weifsen Scheibe auf schwarzem Grunde war dunkler,
dasjenige einer schwarzen auf weifsem Grunde heller als das
natürliche. Das Trugbild einer grauen Scheibe auf farbigem
Grunde erschien wie durchsetzt von der Farbe der Umgebung,
während das natürliche Bild, wie man nach den Gesetzen des
simultanen Contrastes erwarten mufste, die Complementärfarbe
zeigte.
Legte man eine blaue und eine gelbe Scheibe so vor den
Patienten, dafs sich ein Trugbild und ein natürliches Bild
deckten, so zeigte die mittelste die gleichen Erscheinungen,
welche wir am Stereoskop oder Haploskop beobachten, wofern
wir dem einen Auge ein blaues, dem anderen ein gelbes Object
darbieten: den Wettstreit der Gesichtsfelder. Die mittlere
Scheibe erschien bald blau, bald gelb, oder auch in einem neu-
tralen Grau.
Wie wir gesehen haben, wendete Patient bei der Aufforde-
rung, das Trugbild zu fixiren, das Auge so, dafs sich der Gegen-
stand auf der anatomischen Macula abbildete. Dann aber glaubte
«r links am Gegenstande vorbei zu sehen. Bemerkenswerther-
weise beantwortete er die Frage, warum er denn das links und
unten gelegene Doppelbild als Trugbild von dem Gegenstände
unterscheide, dahin, „dafs er früher mit dem anderen Auge so
gesehen hätte", eine Aeufserung, die doch nur den Sinn haben
kann, dafs er jetzt beim Fixiren eines Gegenstandes das Gleiche
zu thun glaube wie früher. Dieses Gefühl werden wir kaum
auf etwas Anderes beziehen können, als auf die psychische Re-
präsentation der Augenmuskelthätigkeit, welche bei der neuen
Fixirstellung des Auges thatsächlich genau gleich der vor der
Operation geleisteten Fixationsthätigkeit w^ar. Der neue Kern-
fleck des linken Auges war nach innen verschoben. Denkt mau
Uel>er die mechanischen Correlate von Baum und Zeit, 219
sich bei der Buhelage der Schielstellung die rechte Retina durch
parallele Verschiebung mit der linken zur Deckung gebracht, so
fiel die rechte Macula auf diesen neuen Kernfleck.
Bei etwa einjähriger Beobachtungsdauer traten wesentliche
Veränderungen in den geschilderten Erscheinungen nicht ein;
die Sehschärfe besserte sich allmählich, während in dem Maafse,
wie das natürliche Bild immer undeutlicher wurde, der Zwang,
das Trugbild zu fixiren, zunahm. Immer aber hat er beim
Fixiren des Trugbildes noch das Gefühl, am Gegenstande vorbei
zu sehen.
Fügen wir hinzu, dafs der Kranke sich dunkel erinnert, in
früher Jugend eine Periode des Doppelsehens gehabt zu haben,
ßo müssen wir annehmen, dafs er zuerst einen guten binoculären
Sehaot besafs, ehe er zu schielen begann. Er sah die Gegen-
stände, welche sich bei symmetrischen Augenstellungen auf
seiner linken Macula abbildeten, gerade vor sich auf der senk-
rechten Halbirungslinie beider Knotenpunkte und vermochte sie
als räumlich nach allen drei Dimensionen ausgedehnte Objecte
wahrzunehmen. Die Correspondenz seiner Netzhäute war eine
vollkommene.
Durch den sich entwickelnden Schielact wurde das Einfach-
sehen mit identischen Netzhautstellen eine Unmöglichkeit. Die
Bildchen derselben Objecte lagen nunmehr auf nicht identischen
Stellen und muTsten an verschiedenen Orten erscheinen. An
identischen Netzhautstellen aber lagen ungleiche Bilder, die zu
einem einheitlichen Gesichtseindruck unter keiner Bedingung
verschmolzen werden konnten.
Dieser Zustand, der der Theorie nach bei allen Schielenden
einmal existirt haben mufs, würde die Orientirung im Räume
natürlich sehr erschweren. Es war bis vor Kurzem strittig und
dürfte Äuch jetzt noch nicht spruchreif sein, in welcher Weise
dieser Uebelstand behoben wird. Für den streng unilateralen
Strabismus aber dürfte der hier erwähnte Fall den zwingenden
Beweis bringen, dafs aus Gründen, die uns hier nicht weiter
interessiren, die Eindrücke von den identischen Stellen des nicht
fixirenden Auges unterdrückt werden können, während sich zu-
gleich eine neue Correspondenz ausbildet zwischen den Punkten
beider Netzhäute, welche die Bilder d^r gleichen Gegenstände
auffangen; wenigstens gilt das für einen gröfseren mittleren Be-
zirk der Netzhaut.
220 E' Storch.
Der Beweis hierfür, dafs sich an Stelle der angeborenen
anatomisch begründeten Correspondenz eine nene unter den ge-
nannten Bedingungen entwackeln kann, ist heutzutage schon
mehrfach geliefert worden. Läfst man einen Menschen von
normalem binoculären Sehact einäugig einen glühenden hori-
zontalen Faden in seiner Mitte fixiren, während man zugleich
diese fixirte Stelle durch den Finger verdeckt, dreht darauf den
Faden um seinen Mittelpunkt in die senkrechte Lage, und l&Tst
ihn nun von Neuem mit dem anderen Auge fixiren, so nimmt
die Versuchsperson nach Schlufs beider Augen folgendes Nach-
bild wahr: Ein Kreuz, dessen senkrechter Schenkel durch die
dunkel bleibende Mitte des wagerechten geht Genau so ver-
halten sich auch Leute mit Augenmuskellähmungen und die
meisten Schielenden. In gewissen Fällen aber geht der verticale
Faden des Nachbildes nicht durch die dunkle Stelle des hori-
zontalen, sondern mehr weniger seitlich davon. Es handelt sich
dann immer um Schielende.^ Wie gesagt, sind die Bedin-
gungen, unter denen diese Erscheinung auftritt, noch nicht
genau bekannt.
In solchen Fällen hat also jedes Element der Netzhaut des
schielenden Auges seinen nach Hebing angeborenen Raumwerth
vertauscht mit einem anderen nicht angeborenen, also erworbenen.
Die HERiNG'sche Theorie läfst aber die Möglichkeit einer Er-
werbung von Raumwerthen ausgeschlossen erscheinen; denn ist
der Raumwerth thatsächlich eine Function des Netzhautelementes,
so müfste letzteres in Fällen von Pseudocorrespondenz eine Ver-
änderung erfahren. Das ist sehr unwahrscheinlich. Wir wissen
wenigstens nichts davon; aber wir wissen ganz bestimmt, dafs
der Bewegimgsapparat des Auges sich verändert hat und müssen
in Folge davon veränderte Motilitätswerthe fordern.
Noch deutlicher als diese Beobachtungen zeigt der Fall von
BiELscHOwsKi, dafs die Raumwerthe unserer Sehdinge nicht von
den Netzhautelementen geliefert werden können.
Patient erhält von jedem Lichtpunkte im Raum nm: ein
Netzhautbild, aber er nimmt zwei ihrem Lichtwerthe wie Raum-
werthe nach verschiedene Sinneseindrücke wahr. Der Lichtpunkt^
* Dafs diese so selten monoculär doppelt sehen — man verfügt audser
dem B. 'sehen Fall nur über wenige Beobachtungen — dürfte, wie des
Weiteren klar werden wird, mit der Gröfse des Schielwinkels zusammen-
hängen.
lieber die mechanischen Cmrelute von Raum und Zeit. 221
den er zu fixiren meinte, — dem wirklichen Gegenstande ent-
^»rechend, erregte jene retinalen Elemente, welche vor der
Operation die gleichen Bilder empfingen wie der Kernfleck
seines fixirenden Auges. Diese Elemente vermittelten, wie es
nach Hebino sein soll, einen Lichtfleck im Raum, wenn sie ge-
reizt wurden. Dafs ihre Raumwerthe erworbene waren, ist schon
enrähnt. Zugleich aber mit der Reizung dieser Elemente tritt
noch eine andere Lichtempfindung, die des „Trugbildes" im
BewuGstsein aul Würde diese wirklich das psychische Correlat
des dioptrischen Netzhautbildchens sein, so müfste man den
Begriff des Sinneselementes fallen lassen, denn der Annahme,
daCs etwa durch Irradiation auch andere Elemente gereizt würden,
steht, abgesehen von dem anatomischen Bau der Netzhaut, zu
yiel entgegen. Jedes Element würde zwei Lichtempfindungen
Termitteln, ja noch mehr, diese beiden Lichtempfindungen wären
nicht nur ihrer Intensität, sondern auch ihrer QuaUtät nach ver-
schieden. Der Schlufs ist unabweislich, dafs höchstens ein Licht-
werth, und zwar der zum „wahren" Bilde gehörige einer Reizung
der Retina entspricht.
Wir dürfen also die Ursache des Trugbildes nicht in den
Xetzhautelementen suchen; denn dann müfsten wir annehmen,
dafs entweder
ein Netzhautelement eine Doppelwahrnehmung auslöst,
— das widerspricht dem Begriff des Elements —
oder
dafs ruhende, nicht gereizte Sinueselemente Wahrneh-
mungen vermitteln können — das ist ein Unsinn.
Ohne Schwierigkeit aber löst die myogene Theorie der
Raumwerthe alle Widersprüche. Bevor Patient schielte, hatte
jedes Netzhautelement seinen physiologischen Raumwerth, mit
dem es in Folge der aufserordentlich festen Association auch
dann noch verbunden blieb, als die Muskelbewegungen, welche
ihn geschaffen hatten, ganz andere geworden waren. Als nun
Patient zu schielen anfing, war die Möglichkeit gegeben, zu
jedem Element einen neuen Motilitätswerth zu schaffen, um so
eher, wenn wir die hier berechtigte Annahme eines Strabismus
concomitans unilateralis machen. Die Sinneswahmehmung des
linken Auges können wir nunmehr mit £+ilf-j-m veranschau-
lichen. Bei Ausbildung dieser neuen Association ist Folgendes
zu beachten. Die Bewegungen des Hnken Auges waren keine
222 E. Storch.
selbständigen; sie standen dauernd und überwiegend unter der
Herrschaft des rechten. Die reflectorischen oder gewollten Im-
pulse, welche retinale Erregungen auslösten, kamen alle von
rechts nach dem Bewegungsapparat des Auges am Boden des
Aquäducts; die linksgelegenen Kerne wurden nur durch den
commissuralen Apparat beschickt, bezw. durch Vermittelung der
Coordinationscentren im Höhlengrau. Nennen wir die Stelle der
linken Retina, welche in der neuen Primärstellung des Schielen-
den, der primären Schiellage, das Bild desselben Sternes auffing,
wie der Kernfleck des rechten, die Pseudomacula, so müssen
deren Bewegungen im Wesentlichen, wenigstens wenn sie eine
gewisse Grenze nicht überschritten, gleich denen der rechten
waliren Macula gewesen sein. Freilich mit gewissen Einschrän-
kungen, denn diese Pseudomacula bewegte sich aus ihrer Primär-
Stellung heraus nicht in gröfsten Kugelkreisen, der geometrische
Ort sämmtlicher Drehungsaxen des Auges in die ersten Secundär-
Stellungen war nicht die Aequatorialebene. Es ist hier über-
flüssig, auf die unter gewissen Voraussetzungen mögliche theo-
retische Ableitung des neuen Bewegungsmechanismus einzugehen ;
es genügt, dafs die Drehung der beiden bei dem Einäugigen
beobachteten Gesichtsfelder gegeneinander mit dieser Ableitung
in Einklang ist. Bei der neuen Gleichgewichtslage waren die
Ansatzpunkte des Rectus superior, inferior und internus einander
genähert, die des Rectus externus und der beiden Obliqui von
einander entfernt. Ob man für die Ableitung ein Ueberwiegen
des Internus oder eine Schwäche des Externus annimmt, ist
gleichgültig. Die Hauptsache ist, dafs auf Reizung eines be-
liebigen Netzhautelementes hin die Pseudomacula eine ganz be-
stimmte Bewegung machte und die Association ^-j-if-f-m, die
neue Gesichtswahrnehmung des linken Auges entstehen konnte.
Thatsache ist, dafs, wie die Krankengeschichte lehrt, vor der
Operation der Werth M keine Vorstellung hervorrief, er hat die
neuen Gesichts Wahrnehmungen jedenfalls nur in ihrer Färbung
beeinflufst. Warum das so war, wissen wir nicht, wir könnten
sagen, dafs die überwiegende Aufmerksamkeit auf die Wahr-
nehmungen des rechten Auges die linkseitigen Werthe M unter-
drückte, würden aber damit nur eine Umschreibung des That-
bestandes geben.
Die zu beantwortende Hauptfrage ist nun, woher bezog nach
'*■ Operation M seinen Lichtwerth, da ja das der retinalen'
Ueber die mechanischen Correlate von Raun und Zeit 223
Reizung entsprechende E mit m zu einer Wahrnehmung ver-
schmolz? Auch hierauf ist eine Antwort möglieh. Die neuer-
dings bekannter gewordene primäre Endstation des Opticus im
GgL geuiculatum extemum im Puloinar und vorderen Vierhügel
leigt, dafs hier jede noch so circumskripte Erregung eine grofse
Ausbreitung erfahren mufs, und dafs demzufolge jeder Lichtreiz
wahrscheinlich den gröfsten Theil des occipitalen Lichtfeldes der
Rinde mit schwingen läfst. Nur von einem Wellengipfel in der
Occipitalrinde kann die Rede sein. Dafs dieser Gipfel in der
maculären Projection am steilsten ist, dürfen wir aus der
gröfsten Sehscharfe der Macula schliefsen. Bei Reizung der
Pseudomacula wird er diffuser sein und auch die Projection
noch weiterer Netzhautgebiete mit bemerkenswerthen Energie-
mengen beschicken. Verbindet sich das psychische Correlat
dieser irradirenden Energie mit dem ursprünglichen Motilitäts-
werthe M des gereizten Netzhautelementes, so wdrd jetzt that-
sächlich die Doppelwahrnehmung bei Reizung einer Netzhaut-
stelle verständlich.
Durch Wilbra:ndt*s Untersuchungen, die mit den MuNK'schen
experimentell fortgelegten Beobachtungen übereinstimmen, steht
es aufser Zweifel, dafs jedem Netzhautpunkte eine Stelle im
corticalen Lichtfelde zugeordnet ist und zwar so, dafs jedem
continuirlichen Punktsystem auf der Netzhaut ein continuirliches
Punktsystem in der Rinde entspricht. Daraus folgt, dafs die
Rindenstelle, deren irradiirende Energie mit M in Verbindung
tritt auch einen Wellengipfel erhalten kann und zwar dann,
wenn ein gewisser Punkt der Netzhaut gereizt wird.
Nehmen wir an, der Einäugige fixire gerade einen Licht-
punkt, so entsteht dessen Bild auf der Pseudomacula, deren
Motihtätscomponente wir gleich nio ^ setzen können. Das Trug-
bild erscheine an einer beliebigen Stelle im Raum und entt
spricht dem Raumwerth M. Bietet man dem Patienten jetzt
ein zweites kleines Object, welches man solange verschiebt, bis
sein wahres Bild sich mit dem ersten Trugbild deckt, so wird
jetzt ein Netzhautpunkt (cf») gereizt, dessen Motilitätscomponente
* Dieser Index ,0" deutet an, dafs bei Reizung dieser Stelle reflectorisch
keine Bewegung ausgelöst wird. Würde ein anderes Element, dessen Mo-
tilitätscomponente m eine gewisse Bewegungsgröfse darstellt, gereizt, so
würde der Keiz successive auf Stellen mit in diesem Sinne kleineren m
gebracht, bis mo erreicht ist.
224 E' Sto7'ch.
genau der des ersten Trugbildes gleich ist, wir bezeichnen. sie
mit w«. Die Stelle der Hirnrinde, an welcher der bei Reizung
von of„ entstehende Wellengipfel liegt, ist es also» welche ihre
Lichtenergie bei Reizung der Pseudoroacula mit deren zweiten
Raumwerthe M verbindet ; also M = nin. Wurde Patient nun-
mehr aufgefordert, das zweite Object zu fixiren, so hätte man
mit Hülfe des Augenspiegels constatiren können, dafs die wahre
Macula an die Stelle der Pseudomacula trat. Daraus folgt, dab
die Pseudomacula den Bogen zwischen dem fingirten Orte des
Trugbildes und der Macula anatomica genau halbirt Das Trug*
bild scheint also von einer Netzhautstelle herzurühren, welche
in Bezug auf die Pseudomacula symmetrisch zum ursprünglichen
Kernpunkt liegt. Die Entfernung der beiden Kemflecke ist
gleich dem Schielwinkel; je gröfser dieser ist, desto weiter aus-
einander liegen die beiden Projectionen im Lichtfelde der Rinde,
desto geringer also wird die für den Raumwerth der Trugbilder
verwendbare iri'adiirende Energie. Es wäre also verständlich,
wenn bei grofsem Schielwinkel trotz vorhandener Pseudo-
correspondenz statt einer Doppelwahmehmung nur eine Un-
sicherheit in der Localisation auftritt, wie das in der That hin
und wieder beobachtet worden ist.
Ist die hier entwickelte Theorie richtig, so mufs sie auch die
übrigen beobachteten Erscheinungen erklären. Es wurde be-
obachtet, dafs, wenn man das Trugbild einer fixirten blauen
Scheibe mit dem wahren Bilde einer peripherisch ins Gesichts-
feld gebrachten gelben zur Deckung brachte, ein Wettstreit der
Gesichtsfelder eintrat. Das ist genau das Gleiche, was man
wahrnimmt, wenn man im Stereoskop dem einen Auge ein blaues,
dem anderen ein gelbes Object bietet. Im letzteren Falle inter-
feriren an derselben Stelle des Lichtfeldes 2 qualitativ ver-
schiedene Wellengipfel, das psychische Correlat ist der Wett-
streit. Bei dem BiELscHowsKi'schen Kranken traf der eine
Wellengipfel mit dem abfallenden Schenkel einer Welle, die der
Erregung der Pseudomacula entsprach, zusammen. Also auch
hier entstand eine Interferenz, deren psychisches Correlat dem
normalerweise auftretenden Wettstreit natürheh entsprach.
Beobachtete Patient eine graue Scheibe auf rothem Grunde,
so erschien ihr wahres Bild ihm nach dem Gesetze des simul-
tanen Contrastes grün gefärbt, das Trugbild aber wie durchsetzt
von der Farbe des Grundes, also grauröthlich. Ob das letztere
Ueber die tnechaniachen Corrdate van Baum und Zeit. 225
genau ist sei dahingestellt, vielleicht hätte Patient besonders
anfioaerksam gemacht, die Scheibe bald mehr grau, bald mehr
roth gesehen. Doch hätte zu dieser Wahrnehmung eine be-
sonders geschärfte Aufmerksamkeit gehört Der Ausdruck „wie
durchsetzt von der Grundfarbe^ läfst auf ein Befremdliches der
Wahrnehmung schliefsen. Nun hat Hering über jeden Zweifel
sicher gestellt, dafs der simultane Contrast sein physisches
Gorrelat in einer Function der Netzhaut hat; das stimmt mit
unserer Anschauung vom wahren Bude überem.
Diese Netzhautfunction fehlt nach unserer Auffassung beim
Trogbilde; der Contrast trat hier nicht aul Danach können
wir schlieüsen:
Im BiELScHowsKi'schen Falle kommen jedem Elemente der
Netzhaut 2 Raumwerthe zu.
Dieser Veränderung der Wahrnehmung entspricht keine
nachweisbare Veränderung der Retina, wohl aber eine solche
des Bewegungsapparates.
Der Raumwerth der anatomischen Macula war ein einfacher,
aber anderer geworden.
Folglich ist der Raumwerth nicht als Function der Zäpfchen
oder Stäbchen, sondern als eine solche der Augenmuskeln zu
betrachten.
Unter dieser Annahme allein, erklären sich alle Erscheinungen
des sonderbaren Falles von Bielschowski ungezwungen.
Der physiologische BegrifE der HEBiNo'schen Lichtempfindung
ist also zu spalten in eine elementare Lichtempfindung, die der
Erregung der Retina entspricht, und in eine damit allerdings
mb engste verknüpfte Raumwahmehmung, welche die psychische
Repräsentation der Augenmuskeln darstellt
In pathologischen Fällen kann eine Trennung dieser Asso-
ciation auftreten; so dafs man zur Annahme getrennter Apper-
ceptionsapparate für Raum und Licht gezwungen wird.
Wie wir früher sahen, bewirkt eine beliebige Wahrnehmung
e -f~ f^ ^^^ Reflexbewegung, bei deren Beendigung e ein Opti-
mum und fi = ^0 geworden ist. Diese Endwahmehmung erhält
den als Affect beschriebenen Accent, welcher das Charakteristicum
jeder normalen Wahrnehmung ist, allerdings aber uns nur auf-
fäUt, wenn er nicht zur vollen Entwickelung kommt
Bei unserem Patienten ist mm die Bedingung einer normalen
Wahrnehmung nie erfüllt Fixirt er mit der Pseudomacula, so
ZcHMhrifl Ar FsyokolATie iß. 15
226 JS. Storch,
ißt W=W^ + IF, ==jE;+Wo + E + Jlf, Eist kein Optimum
und mo + M entspricht nicht genau dem Begriff fi^. Dem xu
Folge fehlte das Gefühl der Sättigung imd Patient fühlte einen
inneren zunehmenden Zwang, das Trugbild zu fixiren. In diesem
Falle ist TT =» jE -[- iw -f- Jlf 0 • ^ ist hier allerdings ein Optimum
aber m -j- Jfo wieder nicht gleich f^io* Nun hatte Patient zwar
nicht das Grefühl, als ob nicht er es wäre der sähe, am Subjeet
zweifelte er nicht, wohl aber nannte er die Wahrnehmung ein
Trugbild, er zweifelte also am Object. Der AfEect der normalen
Wahrnehmung, welcher den Ejioten schürzt zwischen den
psychischen Correlaten des Reizes und der Bewegung^ zwischen
äufserer und innerer Energie, oder zwischen Subjeet und Object,
konnte nicht zur Entwickelung gelangen.
Betrachten wir zum SchluTs nochmals den Wahmehmungs-
Vorgang bei unserem Einäugigen, Wir können die Wahr-
nehmung des linken Auges W imter dem Schema E ^m-^ M
darstellen, wobei m den erworbenen, M den ursprünglichen
Raumwerthen entspricht Wie dieses Schema vor der Operation
auf die binoculäre Wahrnehmung einwirkte, wissen wir nicht;
jedenfalls hat Patient binoculär einfach gesehen. Vielleicht
konnte der zweite Raumwerth der linken Pseudomacula dea-
wegen unterdrückt werden, weil die ihm entsprechende Licht-
energie im Vergleich zu dem viel steileren Wellengipfel, den die
Reizung des rechten Kemfleckes verursachte, sehr gering ausfiel
Sofort nach der Operation fehlte dieser Gipfel und allein
xlie dem linken Auge entsprechende Erregimg trat in das Licht-
feld über. Dadurch war eben die Differenz der Erregung der
beiden Rindenstellen viel geringer geworden, und die Wahr-
nehmung E-{'m-\- M trat jetzt in 2 Wahrnehmungen aus ein-
ander, wobei TTj = ^ -j- m, TF, = E -|- -'^ gesetzt werden kann,
wenn E, wie oben dargelegt wurde, das psychische Correlat der
Irradiation ist
Diese Annahme findet ihre Bestätigung darin, dafs Patient
bei Fixation des Trugbildes, d. h. wenn die anatomische Macula
gereizt wurde, nur einfach sah, seine Wahrnehmung also der
Formel ^ -j- Jf«, + m entspricht. In diesem Falle war eben der
Wellengipfel zu steU um an der m zugeordneten Stelle des Licht-
feldes genügende Energiemengen zu entwickeln.
(Eingegangen am 26. März 1901.)
Eine Consequenz j
aus der Lehre vom psychophysischen Parallelismus*
Von
Dr. JuiilUS PiKLBB,
Prof. der Rechtsphilosophie an der Universität Budapest.
In seinem Aufsätze „Haben die niederen Thiere ein Bewufst-
seinJ^ (24, 3. 4. dmet Zeitschr.) hat E. Stobch eine originelle
Darstellung der Lehre vom psychophysischen Parallelismus ge-
geben, welche nach unserer Ansicht jeder Anhänger dieser Lehre
mit Freuden begrüTsen mnfs. Auch zieht Storch auf den
venigen Seiten seiner Abhandlmig einige hochwichtige Con*
Sequenzen aus dieser Lehre und deutet andere an; und es ist
nur zu bedauern, dafs in Folge der gedrängten Fassung dieser
Folgerungen die Richtigkeit und die hohe Bedeutung derselben
Manchen vielleicht nicht so einleuchtend sein wird, als dies bei
einer ausführUcheren Behandlung der Fall wäre. Ich wage in
den vorliegenden Zeilen aus derselben Auffassung der Lehre
Tom Parallelismus, zu welcher Stobch sich bekennt, eine weitere,
Yon ihm nicht festgestellte, Folgerung zu ziehen. Ich knüpfe
hierbei an die folgende Ausführung seines Artikels an:
„Das Bewufstsein ist nänüich kein Zustand, sondern eine
Veränderung. Es besteht nur, insofern es sich verändert Denn
das Einzige, was wir von der Materie wahrnehmen, ist ihre Ver-
änderung, die Bewegung, und ihr gehen die Veränderungen des
Bewulstseins parallel Wie aber die Bewegung eines Punktes
(die einfachste Form der Bewegung, gewissermaafsen das Element,
aus dem sich alle verwickeiteren Bewegimgen ableiten) nur be-
steht, insofern in jedem Momente die Summe der verflossenen
Bewegung in dem augenblicklichen Orte des Punktes in potentia
Torhanden ist, so ist auch der einfachste BewuTstseinsvorgang
15*
228 J^i^ -P^^-
dadurch charakterisirt, dafs bei jeder Bewufstseinsveräiidemng
der eben verflossene BewnTstseinszustand, die Summe aller vor-
hergehenden Verändenmgen , mit anklingt, d. h. in potentia
fortbesteht.
Man kann sich von dieser Grundbedingung des Bewu&t-
seins leicht an folgendem Beispiele überzeugen. Betrachtet man
den sich drehenden Secundenzeiger der Uhr, so wissen wir nur
darum, dafs er sich bewegt, weil wir in jedem Momente die
Reihe der früheren Stellimgen im Bewufstsein haben. Eline
Bewegung würden wir nicht wahrnehmen können ohne Ge-
dächtnifs.
Wir dürfen also von der Materie behaupten, ihre Elementar-
theilchen bewegen sich, insofern sie Object sind, sie ver-
ändern ihr Bewufstsein, sofern sie Subject sind. Folg-
lich besitzt die Materie ein Gedächtnifs."
Ich behaupte nun, aus dieser Auffassung ergebe sich con-
sequenterweise folgender Schlufs: Die von dem Gedächtnils d^r
früheren Bewufstseinszustände begleiteten und durch dieses Ge-
dächtnifs zu einer Einheit, und zwar zu der Einheit desselben
Bewufstseins, desselben Ich's verbundenen BewuIst8einsve^
änderungen desselben Individuums haben alle ihr physisches
Correlat in Bewegungsveränderungen derselben Materie, der-
selben elementaren Stofftheilchen. Mit anderen Worten: Das
physische Correlat der Thatsache, dafs ich alle meine Bewufist-
seinszustände als die meinigen erkenne, das physische Correlat
des einheitlichen Ichbewufstseins oder der Identität desselben
Individuums während aller Bewufstseinsverändenmgen dieses
Individuums besteht in der Identität der sich verändernden
Stofftheilchen bei allen Bewufstseinszuständen desselben Indivi-
duums. So hätten z. B. die von den verschiedenen Sinnen
desselben Individuums gelieferten Empfindungen ihr Correlat in
Bewegungsveränderungen derselben Theilchen der nervösen
Centralmasse. Mögen ims auch experimentelle Gründe zu der
Erkenntnifs führen , ; dafs Empfindungen verschiedener Sinne
durch das Vorhandensein und durch die Reizung verschiedener
Centraltheile oder Zellgruppen bedingt seien, eine weitere Be-
dingung für das Zustandekommen einer jeden Art von (durch
ein Ichbewufstsein begleiteter) Empfindung bestünde darin, data
die Bewegung dieser CentraltheUe wieder andere Centraltheile in
Bewegung setze, welche bei allen Arten von Empfindungen in
Eine CoH$equeng aus der Lehre vom pBychaphysisehen FaraUeliimua. 229
Bewegung gerathen und dadurch das Bewufstsein der Ver-
änderung ein und desselben Bewulstseins sichern.
Doch dies ist nur eine approximative Fassung unserer Fol-
gerung aus der STOBcn'schen Auffassung des psychophysischen
Parallelismus. Denn dieser Fassung widerspricht die Thatsache^
da(s in Folge des Stoffwechsels die materiellen Theilchen, aus
denen ein Individuum besteht, wechseln. Die Beobachtung,
welche uns davon überzeugt, dals trotz des Stoffwechsels die
Zosanmiensetzung der Organismen beinahe ganz die gleiche
bleibt, wie auch das gleiche Verhalten der Organismen trotz des
Stoffwechsels lehren uns aber, dafs der neu-assimilirte Stoff bei-
nahe ganz dieselben Bewegungen gewinnt, die der frühere hatte,
an dessen Stelle er tritt Oenauer müssen wir daher unsere Folge-
ning auf diese Weise fassen: Die einander folgenden ver-
schiedensten Bewufstseinszustände — z. B. Empfindungen ver-
schiedener Sinne - desselben Individuums haben ihr physisches
Correlat in weiteren Verändenmgen derselben Bewegungen oder
Bewegungsveränderungen, welche die physischen Correlate der
früheren Bewufstseinszustände waren, und deren Ueberbleibsel
die Correlate des Oedächtnisses dieser Bewufstseinszustände sind.
Dem einheitlichen Bewufstseinsverlauf desselben Individumns
entsprechen nicht einander folgende Veränderungen verschiedeneir
SteUen der nervösen Centralmasse, sondern Veränderungen
von Veränderungen in denselben Stellen.^
Diese Folgenmg aus der Lehre des psychophysischen
Parallelismus ist ein deductives Argument gegen die so sehr
verbreitete „atomistische^ Localisationstheorie. Diese Deduction
kann und will keineswegs den Anspruch erheben zur Wider-
legung dieser Theorie zu genügen ; doch sie kann den Anhängern
derselben vielleicht zu denken geben. Auch dies freilich nur in
dem Falle, wenn sie die Nothwendigkeit der Annahme des
^ Auf die etwaige Einwendung, dafs bei den krankhaften Erscheinungen
der ,,dopx>elten Persönlichkeit'' nach unserer Auffassung eine abenteuerliche
Annahme der Verschiebung des physischen Substrates der Bewufstseins-
nstftnde nothwendig wäre, antworten wir, dafs dies keineswegs der Fall
sei. Denn auch in diesen abnormen Fällen bleibt ja ein sehr grofser
Theil des Gedächtnisses und der Einheit des Bewufstseins vorhanden, da
jt sonst das Individuum jeder erlernten Handlung, der einfachsten wie der
▼erwickelteren , unfähig wäre. Die Frage, was physisch der multiplen
Persönlichkeit entspricht, muTs uns hier nicht beunruhigen.
230 J^iM ^Uder.
psychophysischen ParaUelismiis anerkennen und nicht i
Naturwissenschaft widerstreitende Grundauffassungen hegen,
Dr. Storch sie in seinem Artikel kritisirte.
Zu derselben Folgerung, die ich hier darzulegen best
war, bin ich in einem „Das Gnmdgesetz alles neuropsjchisc
Lebens^ betitelten, im Mai 1900 veröffentlichten Werke
anderem Wege gelangt als dem hier verfolgten, doch auf Gi
einer ähnlichen Auffassung des psychophysischen ParalleUsi
wie sie auch Storch eigen ist Ich erlaube mir bezüglich
führUcherer Begründung dieser Folgerung besonders auf
ersten und zweiten Zusatz in jenem Werke hinzuweisen.
{Eingegangen am 20, März 1901.)
T
Besprechung.
Zvr Analyse der TemperatBremplIiidiiiigeii.
Besprechung und Entgegnung.
Von F. EiBSOW (Turin).
8. albutz. Stadiaft auf dem SeUeta ter TeaifentmiBBe. IL Dia Hitia«
empfiadiag. Skandinav. Archiv für Physiologie 10, M^362, 1900. (Aob
dem physiol. Laboratorium der Universität üpsala.)
Der Verf. leitet seine Arbeit mit folgenden Worten ein: „Dafs man
Ton Kftltepunkten Eälteempfindungen erhalten kann, auch wenn dieaa
Punkte von warmen Metallspitzen gereizt werden, ist durch die Unter-
snchnngen von Lehmann (1892 § 42 bis 43), der jedoch nähere Details nicht
in^geben hat, von v. Fkey (1895, S. 175) und von mir (1897, S. 332—333)
festgestellt Diese Eälteempfindungen, die man „paradoxe Eälteempfin-
dungen'' genannt hat, sind nach v. Frey schon mit Metallspitzen von -f- 40
bis 45* C. auszulösen. Wenn man sie aber nur recht deutlich zu be-
kommen wünscht, sind dagegen Spitzen von -f- 70 bis 100* nach meiner
Erfahrung anzuwenden."
Diese Angaben dürften wohl dahin zu berichtigen sein, dafa Alfred Lbh-
lAjTN die Thatsache an sich zuerst entdeckt hat (die Hauptgesetze des mensch-
lichen Gefühlslebens, 1892, S. 35), dafs sie dann unabhängig von Lehmann
lach durch v. Fbet gefunden und als paradoxe Eälteempfindung
bezeichnet wurde (Beiträge zur Sinnesphysiologie der Haut, 3. Mittheil.
Leipziger Berichte 1895, S. 172) und dafs sie unter Eenntnifs der v. Fret-
schen Mittheilungen auch vom Verf. (Studien auf dem Gebiete der Tem-
peratursinnp, Skand. Arch, für Fhysid. 1897, 7, S. 332—333) bestätigt ward.
£fi ist ferner nicht richtig, dafs von Lehmann keine näheren Details
angegeben worden sind, falls man unter Details auch bestimmte Werth-
angaben versteht. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich vermuthe, dais der
Verf. anf die LBHMANN'schen Befunde erst durch meine Abhandlung Zur
Psychophysiologie der Mundhöhle (Philosophische Studien, 1899, 14,
S. 575) aufmerksam geworden ist. Ich habe aber hier die LEHMANN'sche
Werthangabe ausdrücklich hervorgehoben. Lehmann's Mittheilungen können
gtr nicht mifsverstanden werden, weder was die Versuchsanordnung, noch
wis die Resultate betrifft. Er arbeitete mit 4 Mitarbeitern und kam in der
ia Rede stehenden Frage zu dem Ergebnifs : „Eälteempfindungen entstehen
232 Besprechung.
an den Eältepunkten sowohl durch mechanischen und elektrischen StoljB,
als durch Wärmereize Wärmereize bis -{- 60® C. können Kälte-
empfindungen auslösen.*' Dafs es sich hier um punktuelle Reizung handelt»
geht aus den voraufgehenden Ausführungen hervor. Wenn der Verf. dem-
nach für einen höheren Klarheitsgrad der paradoxen K<eempfindung
-{- 70 — 100® C. verlangt, so dürfte er Lehmann näher stehen als v. Fbbt.
Es ist wohl als sicher anzunehmen, daüs es hier individuelle Unter-
schiede giebt» Soweit ich an mir selbst Erfahrungen sammeln konnte, Er-
fahrungen, die sich bereits über eine Reihe von Jahren erstrecken, sind die
durch V. Fbet angegebenen Werthe oder wenig höhere zur Hervorrofung
der Erscheinung ausreichend, wenn der Reiz auf der Körperoberfläche
punktartig mit dem von mir angegebenen Apparate {Philos, SUid. 14, S. 689)
applicirt wird.
Die weiteren Ausführungen des Verf-'s dürften sich zusammengefaßt
folgendermaafsen wiedergeben lassen:
AuTser der Warm- und Kaltempfindung giebt es noch eine dritte
„ganz einfache, d. h. durchaus gleichartige*', auf introspectivem Wege nicht
weiter zerlegbare Temperaturempfindung von specifischem Charakter, die
Hitzeem pfindung.
Um diese rein zu erhalten, muXs der Reiz unterhalb der Schmerz-
grenze bleiben. Solche Reize nennt der Verf. Hitzereize, stärkere, gleich-
zeitig Schmerzempfindungen auslösende thermische Schmerzrei'se.
„Hiemach kann man die Hitzeempfindung sozusagen nach unten und nach
oben negativ definiren: sie ist nicht „sehr warm** und nicht nothwendig
»schmerzbetont« . " (Der Ausdruck „schmerzbetont" dürfte meiner oben citirten
Arbeit entlehnt sein.)
um Hitzeempfindungen auszulösen, bedarf es der gleichzeitigen
Reizung von Elälte- und Wärmeorganen, der Reiz mufs daher immer mehr
oder weniger flächenhaft sein.
Die Hitzeempfindung kann bei 40^ C. auftreten. Mittels erwärmter
Messingcy linder, sowie eines Metallrohrs oder einer Metallplatte von
2 Vi — 3 cm Radius, durch welche letzteren Apparate erwärmtes Wasser
strömte, konnte der Verf. bei Temperaturen bis zu 42—44® reine Hitze-
empfindungen an der Stirn, dem Thenar, der Volarseite des Unterarms und
der Ellenbeuge erzeugen, wenn er den verwandten Apparat diesen Körper-
theilen fest anlegte. Diese Körperstellen sind nach A. „aus verschiedenen
Gesichtspunkten" Musterstellen für Hitzeempfindungen, obwohl man auch
an andere Hautfiächen gute Hitzeempfindungen erhalten könne.
Die meisten Menschen bezeichnen diese specifischen Empfindungen
als „heifs".
Paradoxe Kälteempfindungen lassen sich auch durch flächenhafte
Reizung [von Hautstellen hervorrufen. (Auf diese Thatsache dürfte ich in
der citirten Arbeit S. 585 bereits hingewiesen haben.) Mittels Thitnbkbg-
scher Silberplatten (Upsala, Läkaref. förhandl. 1896) rief der Verf. am Ober»
schenke! unmittelbar oberhalb der Kniescheibe, in der Armbiege, am
Unterarm, an der Kniescheibe und an anderen Stellen von stark ent-
wickelten Kälte- und schwach entwickelten Wärmeempfindungen Doppel-
empfindungen hervor, „deren erstes und kürzestes Glied aus einer scharfen
Besprechung. 233
und deutlichen Kältesensation*' bestand, „und deren zweites Glied eine
mehr oder minder intensive Wärme- oder Hitzeempfindung*' war. Die
Reiche Erscheinung erhält man nach ihm jedoch auch mittels gewöhn-
licher Metallcylinder.
In einem Bade von ungefähr 37® C. läfst sich beim Hinzutreten von
sehr heifsem Wasser ein gesondertes Auftreten von Kälte- und reinen
Schmersempfindungen beobachten.
Bei Reizung der Yolarseite des Unterarms mittels eines auf 45 — 47®
OTirmten Metallrohrs erhält man als erste Phase die Hitzeempfindung.
Diese dauert aber nicht an^ sondern nimmt an Intensität ab, wobei man
^ and zu auch ein kaltes „Strömen'' oder „Stechen*' herausfühlen kann*'.
Das zeitlich gesonderte Auftreten der beiden Empfindungen ist auf
die angleiche Ermüdbarkeit der Organe der Temperaturempfindungen zu-
rückzuführen.
Auf Hautflächen von schlechtem Wärme-, aber gutem Kältesinn erhält
nukn niemals wirklich starke Warmempfindungen, wohl aber Hitzeempfin-
dnngen. „Auch mit ziemlich starken Reizen erhält man nämlich hier nur
schwache Wärmeempfindungen, welche bei der Zunahme des Reizgrades
sozusagen den Grad „sehr warm" überspringen und sofort in Hitzeempfin-
dangen übergehen." Ebensowenig ist die Hitzeempfindung an warmpunkt-
freien Hautstellen auslösbar, sie ist daher mit einer starken Wann-
empfindung nicht identisch.
Schmerzempfindungen gehen in die Hitzeempfindung nicht ein. Auf
Hiatstellen, wo sich weder Kälte- noch Wärmepunkte finden, lösen „die
Hitzereize erstens gar keine Temperaturempfindungen aus, dann aber auch
keine wahrnehmbaren Schmerzempfindungen. Wenn solche sich in der
Hitzeempfindung vorfänden, sollten sie hier beobachtet werden, da aufser
den Druckempfindungen keine anderen ihrer Wahrnehmung entgegen
arbeiten können".
Es giebt keine specifischen Endorgane für die Hitzeempfindung, eben-
«)wenig Hitzepunkte. Metallspitzen lösen daher nur, wenn sie ziemlich
abgestumpft sind und „nur da wo ein Kältepunkt und ein Wärmepunkt
einander sehr nahe liegen — was, wie bekannt, gewöhnlich der Fall ist" —
Hitzeempfindungen hervor. (Hiemach dürften Hitzeempfindungen denn
auch mit sehr kleinflächigen Reizen auslösbar sein. Dafs Kalt- und Warm-
pankte immer sehr nahe bei einander liegen, dürfte nicht so allgemein
anerkannt sein, wie der Verf. zu glauben scheint.)
Von Hautflächen mit starkem Wärmesinn bei schwach entwickeltem
Kiitesinn „erhält man eine bedeutend minder intensive und minder speci-
fische Hitzeempfindung", als auf Körperstellen von entgegengesetzter Ver-
theilung der Temperaturorgane.
Nach allem diesen ist zu schliefsen, „dafs die von dem Hitzereiz aus-
gelöste Kälteempfindung in der That mit der Wärmeempfindung zu einer
neuen, von jenen beiden artlich zu trennenden Empfindung verschmilzt,
nimlich der Hitzeempfindung, in der die Kälte- und Wärmeempfindungen
an sich nicht mehr existiren oder wahrnehmbar wird".
An den Wärmepunkten können Wärme- oder Hitzeempfindungen auch
dorch sehr starke Kältereize ( — 70® C.) nicht hervorgerufen werden. Wenn
234 Besprechung.
•
nach dem Sprachgebrauch kaltes Metall brennende Empfindungen aoalOst
80 wird eben hier zwischen brennenden und rein schmerzhaften Empfin
düngen nicht scharf unterschieden, da sehr kalte Gegenstände die Kftlte
und Schmerzorgane gleichzeitig reizen. Der Verf. fflgt hinzu: „Ee ist ja
aber nicht unmöglich, dafs bei starken Eältereizen Wänneempfindongen
als ^ecundäre Erscheinungen auftreten; der heftigen Abkflhiung wegen
findet eine Beschädigung statt, die wiederum eine Reizung der Wänaeorgane
nach sich ziehen kann.*' (Hierzu wäre zu bemerken, dafs die Thatsache, dals
Wärmeempfindungen durch Kältereize nicht hervorgerufen werden können,
nicht neu ist Sie wurde bereits von Lehkann und mir gezeigt. Lbhxahn giebt
an, dafs ihm die Ursache des Ausbleibens der Warmempfindung nicht ganz
klar sei, fügt aber folgenden Erklärungsversuch hinzu : „Möglicherweise ist
dies dadurch zu erklären, dafs die Wärmepunkte im Ganzen durchweg eine
höhere Reizschwelle besitzen als die anderen Sinnespu^te, weshalb eine
starke Abkühlung erforderlich wäre, um Wärmeempfindungen zu erregen;
starke Abkühlungen (ich habe die ganze Scala von + 13* bis — 70® ver-
sucht) schwächen aber bekanntlich das Leitungsvermögen des Nerven. Es
ist deswegen nicht undenkbar, dafs gerade die Abkühlung, welche die
Empfindung auslösen sollte, die Fortpfianzitng der Bewegung ins Crehim
unmöglich macht." Soweit ich mir selber ein ürtheil über diese Verhält-
nisse erlauben darf, mufs ich seiner Anschauung zustimmen. Ich hätte
nur hinzuzufügen, dafs ich bei Verwendung schwächerer Kältegrade an
intensiven Wärmepunkten zuweilen freilich das Auftreten einer Wärme-
empfindung beobachten konnte, doch führe ich die Entstehungsursache
derselben auf die mechanische Reizung des verwandten Apparates (zuge-
spitzte Messingcylinder) zurück. Dafs mechanische Eindrücke an Tempera-
turpunkten adäquate Empfindungen auslösen, wurde zuerst von Goldscheidbb
auf das Glänzendste gezeigt und ist sodann durch Lehmann (cit. A. 8. 341),
mich u. A. hinreichend bestätigt worden. Ich habe aber später bei Unter-
suchungen im Gebiete der Hautsinne vielfach Gelegenheit gehabt zu be-
obachten, dafs, auch wo es sich gar nicht um Temperaturempfindungen
handelte, durch mechanischen Druck oder Stofs solche hervorgerufen werden
können. In hohem Grade vorherrschend sind hierbei Kälteempfindongen,
doch tritt bei der hervorgehobenen Reizung zuweilen auch spontan eine
Warmempfindung auf.
In einem letzten Capitel schliefslich „Noch zu lösende Aufgaben. —
Schlufsbe trachtungen '^ deutet der Verf. an, dafs die paradoxen Kälte-
empfindungen seines Erachtens auch für eine richtige Auffassung der
sogenannten „perversen Temperaturempfindungen" von Bedeutung seien.
Ein Zurückkommen auf diesen Gegenstand wird für später in Aussicht
gestellt.
Sodann werden die Fragen aufgeworfen, ob die Hitzeempflndnngen
uns über die Temperatur der uns umgebenden Gegenstände genauere Auf-
schlüsse zu geben vermögen als die Wärmeempfindungen an und für sich
es thun könnten und ob, wenn dies der Fall sei, damit zusammenhänge,
dafs gewisse Körperstellen Hitzeempfindungen besser auslösen als andere.
Die erste Frage wird bejaht, da es leichter sei, zwischen den qualitativ
Feri9chiedenen Wärme- und Hitzeempfindungen als zwischen verschieden-
Besprechung. 235
W&nneempfindnngen zu unterscheiden, lieber die zweite Frage
infeert sich der Verf. wie folgt: „Betreffs der zweiten Frage soll hier
wenigstens so viel hervorgehoben werden, dafs das Grebiet der reinen, nicht
schmerzhaften Hitzeempfindungen im Allgemeinen nicht grofs, auf ver-
schiedenen Hautstellen aber verschieden grofs sein muls. Dies Grebiet ist
nttfirlich grOÜBer, wo das Minimum pereeptibile des Schmerzsinnes
hodi liegt, wie z. B. in der Mundhöhle (s. Kibsow 1898, S. 586), und eben
hier hat man folglich den gröfsten praktischen Nutzen von den Hitze-
empfindangen. Eben für diese Begion ist aber das Verhältnifs von
grOCserer Bedeutung als anderswo, weil es hier ganz speciell wichtig ist,
die Temperatur der berührenden Gegenstände, d. h. die Nahrung, be-
mtheilen zu können. Aber nicht nur das Gebiet, sondern auch die
Stirke der Hitzeempfindungen ist an diesen Stellen 'grofs; die Ursache
ist die, dals der Kältesinn hier sehr stark entwickelt ist, was — wie schon
hervorgehoben — von groXser Wichtigkeit für die Stärke der Hitzeempfin-
dnngen ist. Nähere Untersuchungen sind hier jedoch nothwendig.^
Der erste Theil dieser Ausführung dürfte zu dem schon Gesagten
bam etwas Neues hinzufügen. Im zweiten ist die Verallgemeinerung der
Angabe, dals das Minimum pereeptibile des Schmerzsinnes in der Mund-
höhle überall hoch liege, nicht ganz richtig. Diese Angabe ist in dieser
Allgemeinheit auch wohl nicht meiner Arbeit, die der Verf. citirt, zu ent-
nehmen. Aufserdem habe ich diese Verhältnisse in einer anderen Mit-
fheilnng {Phüos. Stud. 9, 510) etwas näher dargethan. Es dürfte gerade her-
rorgefaoben werden, dals Schmerzempfindungen bei der Prüfung der aufzu-
nehmenden Nahrung eine bedeutende Rolle spielen.
Der Verf. schlielst seine Arbeit : „Oben habe ich die Hitzeempfindung
eine Mischung oder Verschmelzung von Kälte- und Wärme empfindungen
genannt. Streng genommen ist dies nicht richtig, oder wenigstens gar
nicht bewiesen. Es ist ja weder wahrnehmbar, noch wahrscheinlich, daüs
Kälte- und Wärmeempfindungen als die Factoren einer bestimmten
Hitzeempfindung gleichzeitig mit ihr existiren. Beobachten kann
man nur, dals die gleichzeitige Reizung der peripherischen Kälte- und
Wärmeorgane die nothwendige Bedingung der Hitzeempfindung ist. DaÜB
bei zn starken, bezw. zu schwachen Reizen Kälte- bezw. Wärmeempfindungen
nebet der Hitzeempfindung zuweilen vielleicht existiren können, ist eine
ganz andere Sache, von welcher ich hoffe, ein anderes Mal mehr sagen zu
können."
Der Arbeit ist die Note hinzugefügt, dafs die Hauptthatsachen dieser
Mittbeilong schon 1897 in schwedischer und 1898 in englischer Sprache
[Mind 7, 141) veröffentlicht wurden. Der Verf. fährt fort: „Zwischen den
beiden früheren Aufsätzen und dem vorliegenden bestehen jedoch hier
und da wichtige Unterschiede. Neue Beobachtungen sind in dieser
deotschen Arbeit hinzugekommen, die Temperaturangaben sind revidirt
worden u. dgl. mehr."
Das Hauptinteresse an dieser Mittheilung nimmt natürlich die vom
Verf. als Hitzeempfindung beschriebene Erscheinung in Anspruch. Der
Verf. hat damit die Aufmerksamkeit auf einen interessanten Vorgang ge-
lenkt» den |nan wohl doch nicht anders als einen psychologiachen b^
236 Besprechung.
zeichnen kann. Da auch ich mich seit geraumer Zeit mit ünterBuchongen
Ober die Analyse der Temperaturempfindungen beschäftigt habe, so mag ef
mir erlaubt sein, einige meiner eigenen Erfahrungen denen des Verl'«
gegenüber zu stellen.
Die Beobachtung, dafs Wärmereize an verschiedenen KOrpertheikn
nicht nur Empfindungen verschiedener Intensitätsgrade auslosen können^
sondern auch solche, die nach der qualitativen Seite hin deutliche XJntei^
schiede zeigen, ist durchaus richtig. Wie eine und dieselbe ^izintensitlt
an der einen Eörperstelle als kaum oder nur schwach warm, an einer
anderen als deutlich warm und an einer dritten etwa als sehr wann
empfunden werden kann, so kann sie je nach dem Beizorte auch gewine
qualitative Veränderungen hervorrufen. An einigen Beizstellen treten
beide Erscheinungen zusammen auf, an anderen entweder die eine oder
die andere.
Sodann kann auch die Beizdauer die auftretende Empfindung verändern
und zwar ebensowohl nach der intensiven wie nach der qualitativen Seite
hin, oder die Empfindung kann sich nach beiden Seiten hin xugleich ver-
ändern.
Die Einzelempfindungen, welche sich auf diese Weise, d. h. bei Appli-
cation eines Wärmereizes, zu einer Gesammtempfindung vereinigen können,
sind bei ruhiger Lage der untersuchten Eörperstelle je nach dem Intensi-
tätsgrade des Beizes somit: Wärme-, Kälte-, Tast- oder Deformationf- nnd
Schmerzempfindungen. Je nach dem Zusammenwirken der genannten Em-
pfindungselemente würden sich folgende Combinationsmöglichkeiten ergeben;
Wärme-, Kälte-, Tast-, Schmerzempfindungen.
Wärme-, Kälte-, Schmerzempfindungen.
Wärme-, Kälte-, Tastempfindungen.
Wärme-, Tast-, Schmerzempfindungen.
Wärme-, Kälteempfindungen.
Wärme-, Tastempfindungen.
Wärme-, Schmerzempfindungen.
Alle diese Combinationen sind je nach der zu untersuchenden Körper-
stelle, dem zur Beizung benutzten Apparate und der verwanden Beixinten*
sität möglich.
Nach meiner Erfahrung verbinden sich die einzelnen Empfindungen
zu einer Gesammtverbindung, doch so, dafs, wenn nicht intensive Schmerz-
empfindungen die übrigen völlig übertönen, man aus der ersteren einzelne
oder alle Componenten herauserkennen kann. Und selbst im Falle des
Vorherrschens der Schmerzempfindung, in dem die Empfindung ein be-
sonderes Gepräge annimmt, kann man meistens in Folge der Ausstrahlung
der Wärme in benachbartes Gewebe den thermischen Schmerzreiz als solchen
von anderen Schmerzreizen unterscheiden. Die Gesammtempfindung bildet
nach meiner Erfahrung gewissermaafsen den Grundton, aus dem die ein-
zelnen Qualitäten, sei es simultan oder successiv, in Schwankungen oder
im Wettstreit heraustönen.
Um [die Tastempfindung möglichst auszuschliefsen , dürften sich an
Körperstellen, wo diese auch bei leisem Aufsetzen des Beizrohres nicht zu
vermeiden oder nicht schnell vorübergehend sind, strahlende Wärme oder
Besprechung. 237
die suerst von v. Frbt verwandte Methode, Watte in erwärmtes Vasillin
sn tsnchen und andere Mittel, empfehlen.
Oftmals kündigt sich, wie bemerkt, die eine Componente früher an^
als die andere. Man kann so sahlenmäfsig bestimmbare Werthe erhalten,
die ich jedoch hier nicht mitzutheilen brauche.
Von besonderer Bedeutung für die qualitative Färbung der jeweils
tesaliierenden G^ndempfindung ist auch nach meinen Beobachtungen die
Eahempfindang, dann aber auch, wie bereits erwähnt, die Schmerzempfin-
dang. Ich finde zunächst, dafs die Schmerzschwelle an den einzelnen
KBfpei stellen etwas variirt, sie liegt an der einen höher als an der anderen.
Man sieht dies schon an folgendem einfachen Versuch. Tauche ich die
Nagelphalange des linken Zeigefingers in Wasser, das constant auf 49* G.
erhalten wird, so bemerke ich nach wenigen Secunden auf der Dorsalseite,
•n den Rändern, vom unter dem Nagel ausgesprochenen Schmerz, während
dieser auf der Volarseite des Fingergliedes nicht auftritt Lege ich die
Tolarseite der Phalange auf die Oberfiäche des Wassers, so mufs ich das-
■dbe bis anf 61 — 52* erwärmen, um hier Schmerz zu empfinden. Zuweilen
kündigt sich dabei die Schmerzempfindung an, ohne deutlich ausgesprochen
so sein. Diesen Zustand habe ich als schmerzbetont bezeichnet. Dafs auch
dkser Znstand auf die Färbung der Gesammtempfindung von Einflufs ist,
bedarf keines weiteren Beweises. Bei höheren Temperaturen kommt so-
dann die auch nach der Beizdauer verschiedene Entwickelung der Schmerz-
empfindnng, sowie die Ausbreitung des Reizes innerhalb des Gewebes nach
Terschiedenen Richtungen hin in Betracht. Es kann wohl als sicher an-
genommen werden, dafs auch die Empfindungen, welche durch die die Gre-
ftlse begleitenden Nerven ausgelöst werden, mitwirken und in die Gesammt-
empfindung eingehen. Nach den Erfahrungen, die ich bei Unterbindung
TOD Blutgefälsen gewonnen habe, ist der von diesen Nerven ausgelöste
Schmerz von eigenthümlicher Qualität. Aufserdem scheint es mir auch, dafis
die an einigen Körperstellen auslösbaren Vagusempfindungen von eigen-
artiger Färbnng sind. Je nachdem einzelne oder alle diese Empfindungen
sich an der Grundempfindung betheiligen oder nicht, mufs naturgemäfs
lach die qualitative Färbung derselben mitbestimmt werden.
Obwohl sich nun zwischen den Ergebnissen, die der Verf. mittheilt,
and denen, zu welchen ich durch meine Untersuchungen geführt bin, manche
Berührungspunkte finden, mag aus dem Erwähnten zur Genüge hervorgehen,
dals ich betreffs des von ihm ausschliefslich als Hitzeempfindung bezeichneten
Vorgangs zu einer anderen Auffassung gelangt bin. Ich kann nicht finden,
daüB bei der Entstehung der Hitzeempfindung die Kälteempfindung von aus-
schlaggebender Bedeutung ist, und dafs die Organe des Schmerzsinnes bei
diesem Vorgang völlig ausgeschlossen sind. Wiederhole ich z. B. den vom
Verl angegebenen Versuch, indem ich ein Reizrohr, durch das bis auf 45^ C.
erwärmtes Wasser strömt, auf die Volarseite des Unterarms, so beobachte
ich wohl, dals die G^ammtempfindung Phasen aufweist, und dafs die-
selbe je nach der Stelle, die man reizt, ihre qualitative Färbung wechselt
(die Empfindungen wechseln vielfach von Ort zu Ort, auch an anatomisch
viel enger begrenzten EEautstellen wie das Thenar und Antithenar), aber
ich meine immer die einzelnen Componenten aus derselben herauszuer-
238 Besprechung,
kennen. An den meisten Stellen empfinde ich hier als erste Phase eine
ziemlich intensive Warmempfindung und fast unmittelbar darauf ak xweita
die paradoxe Kälteempfindung, die darauf mit der ersten verschmilst oder
auch in Schwankungen wiedererscheint. Ebenso beobachte ich aaeh an
den übrigen, vom Verf. als Musterstellen für Hitzeempfindungen beseidi-
neten Stellen hier und da Empfindungen von eigenartiger Färbung, die ich
aber doch nicht als specifische Hitzeempfindungen bezeichnen würde.
Ganz eigenthümlich gefärbte Empfindungen erhalte ich bei Beicong der
inneren Wange. Ich gehe aber auf diese hier nicht weiter ein.
Als Hitzeempfindung, heifse, heifsartige Empfindung würde ich immer
nur die durch einen hochgradigen Wärmereiz ausgelöste Empfindung be-
zeichnen, die der Schmerzgrenze sehr nahe, schmerzbetont ist^ oder aber
sich auf der Schmerzgrenze befindet, oder diese überschritten hat. In
diesem Sinne ist sie auch wohl bisher in der Forschung aufgefalat worden.
Diese Empfindung ist freilich von der eigentlichen vollwarmen Empfindung
verschieden, sie ist aber etwas Anderes als die vom Verf. ausschlielslich
als Hitzeempfindung behauptete Erscheinung. Das Gebiet dieser Hitie-
empfindung auf der Körperhaut ist sehr grofs, sie findet sich auch auf
Hautstellen, die der Kältepunkte gänzlich ermangeln. Diese Empfindung
ist auch nicht leicht vorübergehend, sondern andauernd und steigert sich
meistens bei Constanterhaltung des Reizes.
Der Verf. stützt sich bei seiner Argumentation darauf, dafs nach seiner
Erfahrung die „überaus meisten Menschen die so hervorgerufene specifische
Empfindung eine heifse" nennen. Hiergegen dürfte der Einwand erhoben
werden, dafs gar nicht alle Sprachen ein besonderes Wort für heifs besitzen.
Prüfe ich die Scala der verschiedenen Wärmeintensitäten an meinen italieni-
schen Schülern durch, so erhalte ich, mit der Schwelle beginnend, etwa die
folgenden Antworten : Caldo, ma pochissimo — un po caldo — ben caldo —
piü caldo — piü ancora — molto caldo — caldissimo — intensamente caldo —
brucia u. s. w. In den letzteren Fällen ist der Reiz jedoch immer schon schmers-
haft. Sehen wir von Einzelheiten ab, wie sie oben beschrieben wurden (quali-
tative Färbungen, Phasen, Schwankungen), so erhalte ich (natürlich mit
Variationen) die gleichen Antworten, ob ich die Prüfung an Hautstellen
vornehme, wo neben Wärmeempfindungen die Kälteempfindungen nur sehr
schwach auftreten oder die den letzteren entsprechenden Organe ganz
fehlen (gewisse Stellen der Kopfhaut, Innenseite des Ohrläppchens, Lücken
zwischen den Kältepunkten u. s. w.), oder aber wo diese in gröDserer Zahl
vorhanden sind. Was ich hier betonen möchte, ist, dafs die intensiv auf*
tretenden Empfindungen, die durch caldissimo, brucia u. s. w. bezeichnet
werden, immer auch auf einen hochgradigen äufseren Wärmereiz bezogen
werden. Anders sind die Ergebnisse natürlich, die man an Stellen erhält,
wo die Wärmeorgane fehlen. Hier geht die Empfindung von dem Zustande
völliger Indifferenz oftmals, aber nicht immer durch die paradoxe Kalt-
empfindung hindurch nach Schmerz hinüber. Sobald die Möglichkeit gegeben
ist, dafs sich der Reiz innerhalb des Grewebes auf benachbarte Wärmeorgane
ausbreiten kann, was sehr oft der Fall ist, tritt zu dem Schmerz die Wärme-
empfindung hinzu. So kommt es, dafs man auch hier in der Mehrzahl der
Fälle den thermischen Schmerzreiz als solchen erkennt
Besprechtmg, 239
80 weit die Er&Jirangen reichen, die ich beim Zusammenarbeiten mit
deutschen und englisch redenden Beobachtern gewonnen habe, bin ich auch
hier m dem ErgebniXis gekommen, dafs mit den Ausdrücken heifs, hot,
Hitieempfindongen (von heizen, to heat) entweder hochgradige, schmerz-
betonte, zehmerzhafte Wärmeempfindungen bezeichnet werden, oder aber
solche Gesammtempfindungen, in denen jene vorherrschen. Die Hitzeempfin-
dnng ist zudem immer mehr oder weniger unlustbetont^ während die Wärme-
empfindnng lustbetont ist. Wir nennen Wasser heifs oder kochend heifs,
wenn es bereits Schmerz verursacht, und es dürfte daran zu erinnern
•ein, dafe die Schmerzschwelle hier ganz allgemein genommen und von
einseinen Hautstellen abgesehen um 60® G. herum liegt. Ich kann daher
die Bedeutung, die der Verf. der von ihm als Hitzeempfindung bezeichneten
Encheinung beilegt, nicht sehen, und eben so wenig, warum gewisse Haut-
stellen gerade deswegen einen Vorzug vor anderen haben müfsten, zumal
diese Empfindung meist leicht vorübergehend und ihr Gebiet nicht grofis
sein solL Wird der äufserlich auf uns einwirkende Wärmereiz z. B. zu
intensiv, so avertiren uns die nach v. Fbby*s Untersuchungen in grofser
Zahl in der KOrperhaut vertheilten Endigungen der Schmerznerven, dafs
der Organismus in Grefahr ist, und es ist wohl kein zufälliges Zusammen-
treffen, daÜB die thermische Schmerzgrenze sehr nahe dem Punkte liegt,
wo gewisse Eiweifskörper coaguliren. Die Beweisführung des Verf.'s, dafs
8e]mierzempfindungen nicht in die Hitzeempfindung eingehen, ist nicht
stichhaltig. Wenn er den Reiz auf Körperstellen, die weder warm-, noch
iaitempfindlich sind, nicht bis zur Schmerzschwelle steigert, können auch
keine schmerzhaften Empfindungen auftreten.
Die verschiedenen Wärmeintensitäten und die daraus resultirenden
Empfindungen kann man überdies sehr schön bei strahlender Wärme be-
obachten, wenn man eine Hautstelle aus gröfserer Entfernung langsam einer
Gasflamme, einem Gasgebläse oder einem an einer Stelle glühenden eisernen
Ofen nähert.
Von besonderem Interesse sind die Ergebnisse, die der Verf. aus
Herrn Thunbebg's Untersuchungen anführt und die er theils einer Ver-
öffentlichung desselben (Upsala Läkare f. förhandl. 30), theils mündlichen
Hittheilongen entnimmt. Indem Herr Thunbebg sich die Aufgabe stellte,
die Erscheinungen zu untersuchen, die bei gleichzeitiger Application von
Wärme- und Eältereizen an gleichen oder naheliegenden Hautstellen ent-
stehen, bediente er sich messingener Spiralrollen, durch welche er ver-
schieden temperirtes Wasser strömen liefs. „Als Thunbebg Wasser von
-r44* durch die eine und solches von -|-24<> durch die andere Spirale
leitete, erhielt er eine „Mischempfindung", in der man zwar sowohl Wärme-,
als Kälteempfindungen unterscheiden kann; sie sind jedoch in eine eigen-
thOniliche helTsartige Empfindung verschmolzen. „Wenn man mit dem
Kältereiz eben dann einsetzt, wenn die Wärmeempfindung*' (der Verf. setzt
hierzu die Note, dafs es wohl Hitzeempfindung helfsen sollte, „da Messing-
fpiralen von -f- 44^ wenigstens im Anfang solche auslösen*') „am stärksten
ist^ empfindet man es so, als ob die Temperatur ganz plötzlich sich erhöhte
and eine stark heifsartige Empfindung entstände, so dafs man fast erwartet,
man werde sich verbrennen.*' Am besten erhält man dieses Phänomen nach
240 Besprechung,
ihm an der Vola manus. Ich sehe nicht recht, wie der Verf. diesen schönen
Versuch als Stütze für die von ihm als specifischeHitseempfindongbeseichneto
Sensation Benutzen kann. Die Anfangs erwähnte Mischempfindiing scheliit
mir eher mit dem übereinzustimmen, was ich oben dargelegt habe und
wenn die zuletzt erwähnte heifsartige Empfindung mit der Vorstellmig;
sich zu verbrennen, verbunden war, so mufs wohl auch wenigstens ein
immaginärer Schmerz in sie eingegangen sein.
Ebensowenig scheint mir die folgende Argumentation beweiskrftftig.
„Dafs in der Hitzeempfindung eine Eälteempfindung latent vorhanden sei»
findet Thunbebo glaublich auch in Folge einer pathologischen Erscheinnni^
welche man „perverse Temperaturempfindung ** benannt hat.^ „Hierdnrdi
ist allerdings,'' fahrt er fort, „keineswegs erwiesen, dals der specifisdie
Charakter, der die Hitzeempfindung von der gewöhnlichen Wärmeempfinr
düng auszeichnet, gerade durch diese Kälteempfindung bedingt wird. Es
könnte ja unabhängig von ihr oder gar trotz ihres Vorkommens anstatt
dank derselben entstanden sein. Die Frage nach der Bedeutung der Efllfte-
empfindung hierbei mafo ich daher unentschieden lassen." Herrn Tamf-
BBBo*s Arbeiten, die sehr werthvoU zu sein scheinen, stehen mir leid«
nicht zur Verfügung, und ich kann daher nicht recht sehen, was hier imt
latenter Kälteempfindung gemeint ist. Soweit ich aber sehe, wäre aadi
diese Stelle mehr zu Gunsten meiner Anschauung als zu Gunsten der des
Herrn Verf.*s zu deuten. Wie mir scheint, erkennt auch der Verf. hier
selbst den Widerspruch. Er ist offenbar bemüht, diesen auszugleicheii,
wenn er fortfährt: „Indefs muls man meines Erachtens, wenn man, wie
Thünbbbo, von der — jetzt als eine Thatsache zu betrachtenden — Vontna*
Setzung ausgeht, dafs eine, wie er sagt» „latente" Kälteempfindung einen
Bestandtheil der Hitzeempfindung bilde, anerkennen, dafis das oben be-
schriebene Experiment einen hübschen synthetischen Beweis dafür liefoie^
dafs die Kälteempfindung bei der Entstehung der Hitzeempfindung in
günstigem Sinne mitwirkt — diese kann fortan nicht mehr als troti der
Xälteempfindung entstanden gedacht werden. Dies gilt natürlich aber nur
unter der Voraussetzung, dafs man auf diese Weise eine wirkliche Hitse-
empfindung oder heifsartige Empfindung erhalten hat"
Dem Vorstehenden sei auch noch die folgende Ausführung des Verlas
hinzugefügt: „Ein Umstand betreffs der heifsartigen Empfindung, welche
die THijNBEBO*schen Spiralen liefern, ist der besonderen Hervorhebung werth.
Diese Spiralen ergeben keineswegs eine Erregung der Temperaturorgane,
welche der durch eine einzige ununterbrochene heilse Reizfläche bewirkten
analog ist. Denn die letztere reizt jeden Kälte- und Wärmepunkt der ganxen
fraglichen Hautfiäche; die THüNBEBO*schen Spiralen reizen nur einige
Kältepunkte und einige Wärmepunkte. Femer werden offenbar die
zwischen den verschiedenen Spiralwindungen gelegenen Temperaturpnnkte
wenig oder gar nicht gereizt, da diese Hauttheile sowohl von den warmen
Spiralen erwärmt, als von den kalten abgekühlt werden, wenn ich mich
dieser Ausdrucksweise bedienen darf. Da man nichtsdestoweniger aof diese
Weise eine Steigerung der Hitzeempfindung zu Stande bringt, ist man
nach meinem Dafürhalten berechtigt, anzunehmen, daCs dieses Experiment
^nt die Bedeutung der Kälteempfindung für die Hitseempfindnng hin-
Besprechung. 241
veist. Zugestehen mufs man jedoch, dalls das obige Phänomen gar nicht
leicht zu beobachten ist. Leichter zu constatiren ist die Thatsache bei
{Dlgendem Versuch, den Thünbbbo mir neulich mitgetheilt hat:
^Wenn man Wasser -\-45^ längs eines Fingers rinnen läfst, und einen
Strahl lOgradigen Wassers gegen die Fingerspitzen richtet, hat man oft die
£mpfindungy dals die Temperatur sich steigert." £r fährt fort:
^In der That finde auch ich, dafs die Hitzeempfindung, die man von
dem 45 gradigen Wasser bekommt, durch das Hinzutreten des lOgradigen
Wassers an Intensität zunimmt."
Herr Thunbbbg spricht aber nur davon, dafs die Temperatur sich
steigert.
Lassen wir hier die Hitzeempfindung aufser Betracht (die Fingerhaut
gebort nicht zu des Verf.'s Musterstellen für Hitzeempfindungen), so dürfte
der Versuch auch bei einfachen Wärmeempfindungen gelingen. Versuchs-
ergebnisse, die ich selbst bei Untersuchungen über Contrasterscheinungen
im Gebiete der Temperaturempfindungen fand und die nicht veröffentlicht
wurden, nOthigen mich zu der Annahme, dafs es sich auch bei diesem
imd einem der vorstehenden Versuche einfach um den Temperaturcontrast
handelt. Hierbei darf wohl vorausgesetzt werden, dafs die Dauer der Reiz-
einwirkung berücksichtigt wurde ; denn die Wärmeempfindung pfiegt nicht
mit der vollen Litensität einzusetzen, sondern sich, wie schon Goldschsideb
fuid, allmählich zu entwickeln, so dafs, wenn man die Beizdauer nicht in
Betracht zieht, eine Täuschung entstehen kann.
Wenn endlich die Empfindungen der Kälte und der Wärme in so
enger Beziehung zu einander stehen, wie der Verf. ausführt, wenn aus der
gieichzeitigen Beizung der betreffenden Endorgane, die wir freilich noch
nicht kennen, die wir aber nach allen bisher gewonnenen Erfahrungen
Toraussetzen müssen, eine dritte Temperaturempfindung von durchaus
inderer Beschaffenheit resultiren sollte und die beiden Empfindungen, wie
achon aus Hebino*s und Goldscheideb's Versuchen hervorgeht und wie ich
aas eigenen Erfahrungen vielfach erkennen konnte, in einem Contrastver-
hältnifs zu einander stehen, so würde ich nicht von zwei Temperatur-
finnen reden, sondern einen Temperatursinn anzunehmen vorziehen,
dem zwei verschiedene Empfindungsqualitäten, die der Kälte und der Wärme
angehören.
Ich benutze gleichzeitig diese Gelegenheit, um einige Unrichtigkeiten
zurückzuweisen, die dem Verf. in seiner ersten Mittheilung „Studien auf
dem Gebiete der Temperatursinne" [ßkand. Arch, f. Fhys. 10) bei der Be-
sprechung und Beurtheilung meiner Arbeit „Untersuchungen über Tem-
peraturempfindungen" (FhÜos. Stud. 11, 135 f.) untergelaufen sein dürften.
Der Verf. leitet diese Arbeit ein wie folgt: „Bekanntlich hat Magnus
Blix (1883 — 1884) zuerst dargethan, dafs die verschiedenartigen, durch die
Haut zu vermittelnden Sinnesempfindungen nur von bestimmten Sinnes-
punkten auf derselben auslösbar sind. Demgemäfs fand er unter anderen
Sinnespunkten sogen. Wärme- und Kältepunkte, indem er nachwies, dafs
nur gewisse, genau bestimmte Hautpuukte Kälteempfindungen erregen
(wenn sie durch Inductionsströme oder kalte Spitzen gereizt werden), und
Zeitfduift für Psychologie 26. 16
242 Besprechung.
dafs gewisse andere, ebenfalls genau bestimmte Hautpunkte Wärmeempfin-
dungen liefern können (wenn sie durch Inductionsströme oder warme
Spitzen gereizt werden). Diese Beobachtungen wurden später von Gold-
scheider (1885), DoNALDSON (1885), v. Frey (1895) u. A. bestätigt. IndelJB wurde
die Richtigkeit der Bux'schen Entdeckung letzthin von anderer Seite mehr
oder weniger bestritten — von Dessoir (1892) und Kiesow (1895). Da deren
Resultate sich aus einer irrigen Methodik und der Ermangelung nöthiger
Vors ich tsmaafsregeln ergeben haben dürften, finde ich es zweckmälsig, mit
einigen Worten einleitungsweise bei den meines Erachtens behufs der Er-
reichung eines richtigen Resultates nothwendig zu berücksichtigenden Ver-
hältnissen zu verw^eilen."
Uns werden dann die seines Erachtens nöthigen VorsichtsmaaTsregeln
ertheilt und es wird fortgefahren: „Obgleich man meinen wird, dafs die
Vorsicht von vornherein solche Maafsregeln gebieten sollte, scheinen die
beiden vorerwähnten Forscher sie dennoch nicht beobachtet zu haben.
Denn nur, wenn man eine solche Vergefslichkeit voraussetzt, wäre es wohl
möglich zu verstehen, in welcher Weise sie zu ihren Behauptungen ge-
kommen seien. (Ich werde später wieder hierauf zurückkommen.)"
Was Dessoir betrifft, so liegt es an ihm, sich, wenn er es für nöthig
hält, selbst zu vertheidigen, aufserdem wurden seine Ausführungen bereits
in ruhiger und objectiver Weise von Goldscheider (diese Zeitschrift 5, 117)
besprochen.
Eine andere Frage aber ist die, wie weit der Verf. das Recht besitzt
oder es sich anmaafsen darf, mich mit Dessoir ohne Weiteres zusammen-
zuwerfen. Jeder, der unsere Arbeiten nur oberflächlich prüft, mufs auf den
ersten Blick erkennen, dafs es sich hier um gänzlich verschiedene Aul-
fassungen handelt. Dessoir kam durch seine Untersuchungen zu dem Ev-
gebnifs, dafs es sich bei den Kälte- und Wärmepunkten um Kunsterzeug-
nisse handelt, ich habe die Befunde von Blix, Goldscheider und Donalosov
in allen Einzelheiten bestätigen können bis auf den einen Punkt, dafs man
auch von den Kältepunkten aus unter Umständen Wärmeempfindungen
erregen könne, obwohl es mir nicht gelungen sei, von den Wärmepunkten
aus umgekehrt Kälteempfindungen zu erzeugen, wobei die verwandten
Temperaturen im ersten Falle von 45 — 47 <^, im zweiten von — 5 bis — 6®C.
waren. Ich spreche daher dem Verf. das Recht ab, die Ergebnisse Dessoib^s
und meine eigenen ohne Weiteres von gleichen Gesichtspunkten aus za
beurtheilen und meine Arbeit in ein falsches Licht zu stellen. Wie weit
meine Anschauungen sich in anderen Punkten mit denen Dessoir's berühren,
ist eine Sache, die darzulegen ich mich Herrn Alrütz gegenüber nicht für
verpflichtet halte.
Der Verf. kommt dann S. 325 seiner Arbeit auf mich zurück und
schliefst den betreffenden! Passus: „ich bin weder willens zu bestreiten,
noch vermag ich es, dafs die von Kiesow entdeckten, bezeichneten
und nachher durch inadäquate Mittel gereizten Punkte thatsächlich
inadäquate Empfindungen erregten; das wage ich aber zu behaupten: dies
wäre nicht der Fall gewesen, wenn der Reiz hinlänglich punktuell ange-
bracht worden wäre und mit der wirklich möglichen und nothwendigen
Genauigkeit den fraglichen Temperaturpunkt getroffen hätte. Die ab-
Besprechung. 243
schlielseiide Behauptung Kissöw's: „Doch glaube ich auf Grund der ge-
machten Erfahrung schon jetzt aussprechen zu können, dafs die grofse
Mehrzahl der Eältepunkte der Haut zugleich für Wärme
empfindlich isf (8. 185,) möchte demnach betreffs einer gröberen
rntersuchung sehr wahrscheinlich sein: in Bezug auf diejenigen Kälte-
punkte, welche mit der wirklich erhältlichen Genauigkeit punktuell be-
zeichnet und gereizt werden, gilt jene Folgerung meines Erachtens nicht.*'
Was den Verf. zu dieser gereizten Schreibart getrieben hat, weifs ich
nicht und ist mir unverständlich, sie ist auch eine Sache für sich, die auf
ihn selbst zurückfällt. Er besitzt aber kein Recht, Unrichtigkeiten in die
Controverse einzuführen. Ich habe nicht beansprucht, neue Punkte ent-
deckt zu haben, die von mir gefundenen waren mit Methylviolett be-
zeichnet, einem Färbemittel, das nach mir auch von Herrn Albütz still-
schweigend benutzt wurde, und es handelt sich nicht um inadäquate
Mittel, sondern um ein inadäquates Mittel, den Wärmereiz.
Was den Streitpunkt selbst betrifft, so behauptet der Verf., „dafs die
Xältepunkte durch keinen einzigen bekannten Reiz zur Auslösung einer
Wärmeempfindung, umgekehrt die Wärmepunkte nicht zur Auslösung einer
Eälteempfindung zu bewegen waren ; schliefslich, dafs die zwischen diesen
Punkten gelegenen Hautstellen demnach keiner Temperaturempfindung
fähig sind.** Er fährt fort: „So war kein einziger Hautpunkt auffindbar,
welcher, auch wenn er Anfangs unter gröberen Spitzen sowohl eine Wärme-
als auch eine Kältesensation lieferte, daran festhielt, falls der Reiz hin-
reichend punktuell applicirt wurde." Den Kältepunkt konnte der Verf.
mit einem scharf zugespitzten BLix'schen Rohre reizen, durch welches biff
lof -f- 100 ® C. erwärmtes Wasser strömte , ohne dafs hier weder Wärme
noch Schmerz auftrat.
Ich habe dagegen gefunden, dafs man von den Kältepunkten Wärme-
empfindungen erzielen könne. Es sei nochmals erwähnt, dafs dies der
einzige Punkt ist, gegen den der Verf. seinen Angriff zu richten vermochte, und
(laXs ich im Uebrigen die Annahme getrennter Empfindungspunkte und manches
andere durchaus bestätigt gefunden. Ich habe hiermit nur ausgesprochen,
Tss ich unter den durchaus eindeutig bezeichneten Bedingungen gefunden
hatte, ohne auf irgend welche Discussion einzugehen und ohne irgend einem
der übrigen Forscher zu nahe zu treten oder zu beschuldigen. Aus dieser
stelle war demnach an sich nichts Anderes zu entnehmen als die Thatsache
selbst, die der Verf. wohl auch nicht umhin kann zu bestätigen. Sie ist
eben unleugbar gewifs, nicht nur „sehr wahrscheinlich". Ich irre vielleicht
auch nicht, wenn ich vermuthe, dafs der Verf. durch diesen Befund erst
znr Anwendung scharf zugespitzter Cylinder geführt ward. Wenn ich da-
nials solche nicht benutzte, sondern die Spitze ein wenig abzurunden suchte,
sf> war ich hier nur den Vorschriften der Entdecker der vorliegenden That-
sachen gefolgt, denen der Verf. wohl kaum Vergefslichkeit, Ermangelung
nOthiger Vorsichtsmaafsregeln, irrige Methode u. s. w. vorzuwerfen wagen
dürfte. Ich that dies, um die bei der Application des Reizcylinders mit der
Hand leicht auftretenden schmerzhaften Eindrücke, die mir störend schienen,
tuazuschliefsen und ich sah hierin umsoweniger einen Versuchsfehler, als
16*
244 Besprechung.
ich im Verhältnifs zur Anzahl der Kältepunkte nur eine geringe Zahl von
Wärmepunkten finden konnte, die gleichzeitige direete Beizung eines Wärme-
punktes somit ausgeschlossen war. Diese Thatsache, daüis die Anzahl der
Warmpunkte geringer ist als die der Kaltpunkte, wurde auch von anderen
Forschern hervorgehoben. Wenn der Verf. demnach in seiner oben be-
sprochenen Abhandlung (S. 346) es als bekannt hinstellt, dals die Kälte-
und Wärmepunkte einander gewöhnlich sehr nahe liegen, so steht er z. B.
zu Blix und auch zu Anderen in einem directen Gegensatz. Blix hebt
mehrmals ausdrücklich hervor, dafs dies nur ausnahmsweise der Fall
ist. Die Temperaturpunkte sind zudem noch nicht die Temperatarorgane.
Es ist aufserdem von anderen Forschern hervorgehoben, dafs man
auch aufserhalb der Sinnespunkte Kälte- wie Wärmeempfindungen
hervorrufen kann (Goldscheideb, Lehmann), bei flächenhafter Reizung habe
ich hier für die Kaltempfindung selbst einen messenden Versuch mitge-
theilt (S. 139) und eine Erklärung versucht. Der Verf. steht somit auch
mit diesen Angaben in Widerspruch.
Hierzu kommt, dafs die Bestimmbarkeit der eigentlichen Wärmepunkte,
d. h. die Protection der peripherischen Wärmeorgane auf die Hautfläche
äufserst schwierig ist, und es ist durchaus noch fraglich, ob wir vor Kennt-
nifs der anatomischen Verhältnisse die Vertheilung der Wärmepunkte inner*
halb einer Hautfläche überhaupt genau werden bestimmen können. Ich
selbst zweifle daran. Die Schwierigkeiten sind hier fast unüberwindbar.
Bei verschiedenen Wärmegraden erhält man mit dem Reizrohre eine ver-
schiedene Anzahl von Punkten. Die Resultate sind auch verschieden an
verschiedenen Tagen. Höhere Grade, wie sie der Verf. angiebt, rufen bei
mir immer Schmerz und Ausstrahlung hervor. Die Wärmepunkte sind
auch nicht so punktartig wie die Kältepunkte, und die ihnen entspreehende
Empfindung ist nicht so blitzartig und bestimmt wie die der letzteren. Die
gefundenen Resultate dürfen daher immer nur unter Rücksichtnahme auf
die Bedingungen beurtheilt werden, unter denen sie gefunden wurden.
Vor Allem ist hier auch die Reizdauer und die Temperatur der Umgebung
zu berücksichtigen.
Angesichts dieser Schwierigkeiten und der Widersprüche in den An-
gaben der Entdecker selbst (die Anzahl der Wärmepunkte wie der Tem-
peraturpunkte überhaupt ist bei Goldscheider ungleich gröfser als bei Blec,
ich selbst bin im Allgemeinen immer mehr von der Richtigkeit der von
ihm angegebenen Vertheilung überzeugt worden) glaubte ich mich des
näheren Eingehens auf Einzelheiten enthalten und mich mit der Wieder-
gabe dessen, was ich an Anderen und mir selbst gefunden, begnügen lu
dürfen. Dafs auf nicht warmempfindlichen Hautstellen auch auf den Kälte-
punkten keine Warmempfindung auftreten kann, ist selbstverständlich und
von mir nicht behauptet worden. Die Thatsache selbst ist ebenso von Herrn
W. Nagel {diese Zeitschr. 10, 277) bestätigt worden. Ich dürfte wohl auch
eine Bestätigung in den unter Herrn A. Könio's Leitung von Kelchker und
RosBNBLUH ausgeführten Beobachtungen (diese Zeitschr. 21, 174) erblicken.
(Es reagirten nach deren Angaben beispielsweise von 73 Kältepunkten 63
auf Wärme. In anderen Punkten kann ich dieser Arbeit nicht durchweg
Besprechung. 245
znetimmen und komme auf sie in einer demnächst erscheinenden Abhandlung
zurück.)
Selbst und mit meinen Schülern zusammen habe ich auf diesem Ge-
biete weiter gearbeitet und zwar mit Hülfsmitteln, die hinter denen des
Yerf.*s nicht zurückstehen dürften. Wenn ich mich bisher nicht ent»
»rhlielsen konnte» die Ergebnisse zu veröffentlichen, so liegt der Grund
hierfür darin, dafs ich die Arbeit oft unterbrechen mufste und dafs mir
bei den angegebenen Schwierigkeiten, die man bei der Bestimmung der
Wftnnepunkte antrifft, ich gestehe dies offen, der Muth dazu fehlte. Wie
bemerkt, wird das Versäumte in nächster Zeit nachgeholt werden.
Ich arbeite seit langer Zeit und lange bevor ich etwas von Albutz
wafste, mit zugespitzten Reizrohren, die ich nicht nur mit der Hand,
sondern auch durch einen Trieb bei Anwendung des Zimmermann 'sehen
Ulliversalstativs applicire. Aber auch unter diesen Bedingungen reagiren
viele Kältepnnkte warmfund zwar so, dafs zuweilen die paradoxe Kälteempfin-
dang aus der Wärmeempfindung herausblitzt oder dafs die erstere gleichsam
von einem warmen Nimbus umgeben ist oder aber, dafs die Wärmeempfin-
dung allein auftritt, oftmals nach einer Latenzperiode. Die Zahl ist bei An-
wendung einer so geringen Reizfiäche, wie zu erwarten steht, vermindert,
irie Oberhaupt das Auffinden von Warmpunkten mit spitzen Rohren, wie
:«chon Blix andeutet, erschwert ist, aber die Erscheinung selbst ist nicht
aufgehoben. Man müfs zudem die Reizintensität meistens steigern.
Nach allen Erfahrungen bin ich der Meinung, dafs man hier der intra-
eellolaren Ausbreitung der Wärme auf die eigentlichen Wärmeorgane oder
deren Nerven Rechnung zu tragen hat, einer Anschauung, zu der ich be-
sonders auch bei der Untersuchung von Narbengewebe geführt bin (vgl.
L Agliardi, Ricerche int. al senso della temperatura, R. Äccad. di Med.
di TorinOy 12 maggio 1899), Es ist aber damit nicht jedes Geheimnifs ge-
Iöj*t, ich komme in meiner Abhandlung darauf zurück. Nochmals: die An-
zahl der eigentlichen Warmpunkte, Punkte, die immer und auch bei in-
idäquaten Reizen reagiren, ist sehr gering. Wahrscheinlich liegen aber die
Warmorgane, wie schon Andere vermutheten, tiefer als die Kälteorgane
and es ist anzunehmen, dafs wir nicht alle Warmorgane mit Sicherheit auf
die Haut projiciren können.
Ungleich besser als bei Application von Reizrohren gelingt uns die
Bestimmung der Wärmepunkte mittels des von mir beschriebenen Thermo-
ästhesiometers (Philos. Stud. 14, Ö83). Wie der Verf. es fertig bringt,
Beize von 100® C, die bereits zerstörend auf das Gewebe einwirken
dürften, auf den Kältepunkten nicht schmerzhaft warm (brennend heifs) zu
empfinden, kann ich nach Erfahrungen, die ich an meiner Haut gewann,
nicht begreifen. Es mag aber hier individuelle Unterschiede geben.
Im Uebrigen kann ich dem Herrn Verf. bemerken, dafs ich seit vielen
Jahren, sei es durch Vorlesungen, in praktischen Uebungen, bei der Beauf-
ficbtignng von Arbeiten im Laboratorium oder durch die Demonstration
vor Freunden und Bekannten vielleicht mehr für die Ausbreitung der vor-
liegenden Thatsachen gethan habe, als ihm bekannt sein dürfte. Grofse
Entdeckungen, zu denen die BLix-GoLDScHEiDER-DoNALDSON'sche ohne Zweifel
gehört, bedürfen eben oft langer Zeit, bevor sie sich der allgemem^ii
246 Besprechung.
Anerkennung erfreuen, man wird sie von immer neuen Gesichtspunkten
prüfen, bevor man sie dem bisherigen Schatze des Wissens zuordnet, und
dieser Lauf kann nicht dadurch aufgehalten werden, dafs Jemand ihm mit
Kedensarten wie irrige Methode, Ermangelung nöthiger Vorsieh tsmaaüs*
«rgeln u. dgl. entgegentritt.
Während diese Abhandlung im Druck war, erhielt ich von Dr. Sommer
den kürzlich von ihm veröffentlichten Vortrag: lieber die Zahl der
Temperaturpunkte der äufseren Haut {Würzburger Berichte 1901;
ein Referat darüber aus meiner Feder ist weiter unten auf S. 267 in dem
vorliegenden Bande dieser Zeitschrift abgedruckt). Wie ich sehe, fand auch
er, wie Agliardi und ich eine geringere Anzahl von Punkten, besonders
von Warmpunkten. Ebenso verlangt auch er beim Aufsuchen der Punkte
Berücksichtigung der Temperatur der Umgebung.
Eben, wo ich die Correctur dieser Arbeit beendet habe, erscheint das
neueste Heft dieser Zeitschrift (25, 4\ in dem Alrutz auf S. 263 f. ein Referat
der in schwedischer Sprache erschienenen, scheinbar sehr werthvollen
Abhandlung Thunberg's mittheilt.
Literaturbericht.
Th. Ribot. La Psychologie de 1889—1900. Discoars d'oavertare da lYe Gongris
iitenational de psycbologie. Revue sdoitifique 14 (12), 353—356. 1900.
R., der Präsident des letzten Congresses für Psychologie, giebt in
seiner Eröffnungsrede eine knappe üebersicht ttber die Fortschritte, welche
die Psychologie seit ihrem ersten, gleichfalls in Paris stattgehabten Con-
gresse gemacht hat. Er constatirt mit Freuden die ungeheure Entwickelung,
zugleich aber auch mit einem gewissen Bedauern das Zerfliefsen ins Breite,
die Vereinzelung und Decentralisation, welche üebersicht, Orientirung und
Zusammenfassung immer mehr erschwert. Bei der Durchmusterung der Einzel-
gebiete fällt ihm die Ungleichmäfsigkeit auf, mit der sich die Arbeit auf sie
Tertheilt. In einigen Sphären, z. B. dem Empfindungsgebiet, herrscht nahezu
Hypertrophie, während andere, die Psychologie der höheren Functionen
iz. B. der logischen), die Socialpsychologie etc. eine gewisse Zurücksetzung
erfahren haben. W. Stern (Breslau).
G. Villa. La qaestion des mitbodes en psycbologie. Revue sdentifigtie 14 (12),
357—362. 1900.
Der auf dem Pariser Congrefs gehaltene Vortrag läfst der Reihe nach
<iie Methoden der experimentellen, der physiologischen, der genetischen
Kinder-, Völker-, Thier) Psychologie Revue passiren, um schliefslich darauf
hinzuweisen, dafs all diese Verfahrungsarten nicht etwa die einzige Methode
der alten Psychologie, die Selbstbeobachtung, überflüssig machen, sondern
ihrer als Ergänzung ebenso bedürfen, wie sie selbst jene zu ergänzen und
eiacter zu gestalten berufen sind. W. Stebn (Breslau).
£. Kbetschmeb. Die Ideale and die Seele. Ein psychologischer Henernngsver-
snchy nebst einem logischen Anbang: Zar Lebre vom Urtbeil. Leipzig,
Hermann Haacke, 1900. 168 S.
Wie schief das Urtheil über so manches Buch ausfallen müfste, wenn
man an dasselbe mit einem von vorneherein festgelegten Standpunkt und
3{aarsstab herantreten würde, kann wiederum einmal an dem Büchlein des
Pfarrers Kbetschmeb erfahren werden. Von den Voraussetzungen der
heutigen strengen Fachpsychologie ausgehend würde man „Die Ideale und
die Seele'' mit Bedauern über den Zeitverlust hinlegen, als populär-psycho-
kigisches Bekenntnifs eines nach Orientirung strebenden Nichtzünitigeu
248 Literaturberichi.
dagegen ist die Erscheinung keineswegs ohne Sinn und Werth. Der Verf.
mag vielleicht gegen eine solche Zuordnung protestiren: WissenBchaftliche
Gröfsen von anerkannter Bedeutung, Lotze, Wündt, Siowabt (letzterem ist
das Buch gewidmet) haben, wie sich allenthalben zeigt, bei seiner Arbeit
Gevatter gestanden. — Doch nun zum Inhalte.
Im ersten Capitel setzt sich der Verf. mit Wundt aus einander (dessen
Anerkennung innerer Willenshandlungen er beipflichtet), dann durcheilt er
mit grofsen Schritten, vielfach von Lotzb geleitet, das „sinnliche Seelen-
leben", das „höhere Geistesleben", die „Erkenntnifs", die „Wahrnehmung
und Vorstellung", das „Gefühlsleben und Triebleben", lieber Einzelheiten
in diesen Abschnitten, wie beispielsweise über die Behauptung, dafs jede
Empfindung erst „durch öftere Wiederholung derselben ihre volle Stärke
und Deutlichkeit" erhalte (S. 39), wollen wir nicht streiten, ebensowenig
über die Unklarheit im System der Stoffanordnung. Es sei vielmehr so-
gleich über einige Grundgedanken des ersten Theiles berichtet. — Der
Verf. unterscheidet zwei Grundkräfte der Seele, eine gestaltende Kraft
als das Gemeinsame aller Wahrnehmungen, Gefühle, Triebe und Hand-
lungen, und eine erhaltende Kraft, das Gedächtnifs im weitesten Sinne
(S. 99). Die gestaltende Kraft in der äufseren und inneren Wahrnehmung
tritt (wie schon Lotze lehrte) in drei Stufen zu Tage, als „Empfindung (Vor-
stellung) mit rein sinnlichem Inhalte", als „Anschauung", welche sich auf
räumliche und zeitliche Verhältnisse bezieht, und als „Erkenntnifs", näm-
lich der logischen Verhältnisse der Aehnlichkeit und Verschiedenheit, der
Gleichheit und des Gegensatzes. „Im Mittelpunkte der Seele, entsprechend
den rundlichen Ganglienzellen der grauen Hirnrinde (?), stehen die Gefühle
und Triebe, in denen sich die Seele sozusagen in sich selbst bewegt . . ."
In der „Selbstthätigkeit" endlich findet das Triebleben seine Vollendung.
Diese Gliederung entspricht der Erfahrungsthatsache, dafs die Seele im
Ganzen drei Seiten, eine centripetale (Empfänglichkeit), eine centrale
(Gefühl- und Triebleben) und eine centrifugale (die Selbstthätigkeit) aufweise.
In den folgenden Abschnitten der Schrift geht der Autor daran, „den
psychologischen Ort, sowie den wesentlichen Sinn und Inhalt" der altbe-
währten ^Ideale des Guten, Schönen und Wahren", welche der „Voraus-
setzung eines persönlichen Gottes" nicht entrathen können, zu beschreiben.
Der im Titel des Buches angekündigte „Neuerungsversuch" kann in diesen
Ausführungen wohl schwerlich gefunden werden, wenn sich auch hier der
Verf. als belesener, schriftstellerisch gewandter Mann erweist.
Die besten Abschnitte des ganzen Haupttheiles sind unseres Erachtens
jene über die logischen Gefühle (S. 67), über das Triebleben (S. 74) und
über das sinnlich Angenehme (S. 112).
Der Anhang über das Urtheil bewegt sich in der Hauptsache in der
Lehrrichtung Siowart's, doch weicht der Verf. von diesem in einer Herzens-
angelegenheit durch die richtige Behauptung ab, dafs das negative Unheil
nicht durchwegs ein solches über ein versuchtes bejahendes Urtheil
sei (S. 163). Auch die Eintheilung der Urtheile in Urtheile der Einordnung
und räumlich zeitlichen Verbindung einerseits und solche der Beiordnung
und Unterordnung andererseits ist selbständig entwickelt. Als Kesultat
der Untersuchung des Anhangs stellt der Verf. den Satz hin: „Das Urtheil
LUeraturbericht, 249
ist ein auf der Wahmehmung anschaulicher oder logischer Beziehungen
zwischen mehreren Wahrnehmungen oder Vorstellungen (auch Urtheilen)
bemhendeSy anerkennendes Denken dieser Verhältnisse" (S. 167).
Zum Schlüsse unseres Berichtes sei die Bemerkung angefügt, dafs das
ganze Büchlein eine gewisse naive Frische und Herzlichkeit athmet, die
für den Verf. sympathisch einzunehmen geeignet ist. Zur wissenschaft-
lichen Reinlichkeit der Terminologie und zur vollen Strenge in der Schlufs-
Verkettung bringt es der Verf. (mit seinen oft kühnen „oder" und „und")
freilich nur in einzelnen Theilen. Kreibig (Wien).
F. Thillt. Tbe Theory of Interaction. Fhilos. Rev, 10 (2), 124—138. 1901.
Th. schildert den gegenwärtigen Stand der Leib-Seelen- Streitfrage, in-
dem er Parallelisten und Antiparallelisten ihre Argumente abwechselnd
vorbringen läfst Sodann bekennt er sich selbst zu den Anhängern der
Wechselwirkung und sucht nachzuweisen, dafs das Gesetz der Erhaltung
der Energie mit der Wechselwirkung vereinbar, dafs aber die Hauptveran-
lassüng des Parallelismus — nämlich die Annahme, dafs Physisches nur
mit Physischem causal verknüpft sein könne — eine in der Erfahrung
nicht begründete und daher unberechtigte Verallgemeinerung sei.
W. Stern (Breslau).
Tel Elsenhans. Ueber individaelle and Gattangsanlagen. Zeitschr. f. pädag,
Pfychol 1, 233—244, 334—343 (1899) ; 2, 41—49 (1900).
Elsenhans beginnt mit dem durchaus richtigen Hinweis, dafs der Be-
griff der Anlage, den man im Interesse logischer Klarheit so oft aus der
vissenschaftlichen Betrachtung auszumerzen versucht hat, für die Psycho-
logie im Allgemeinen und für die pädagogische Psychologie im Besonderen
Qnentbehrlich sei. Es giebt Gattungsanlagen, d. h. allen Menschen zu-
kommende Dispositionen zu geistigen Aeufserungen bestimmter Art und
individuelle Anlagen, welche bestimmte Modificationen der Gattungsanlagen
darstellen. Nach Erörterung der Frage, ob die individuellen Anlagen rest-
los auf physische Bedingungen zurückftihrbar seien, geht E. zu einer ver-
sündigen, aber wenig Neues bietenden Darstellung der individuellen
Differenzirungen über, die uns bei den Anlagen des Instincts, der An-
schauung, des Gedächtnisses, der Phantasie, des Verstandes, des Charakters
begegnen. Der Schlufs, der die pädagogische Beeinflufsbarkeit der An-
lagen behandelt, führt den Verf. auf den auch für die differentielle Psycho-
logie nicht unwichtigen Satz: „dafs der Einflufs der Anlagen abnimmt, je
complicirter die geistige Leistung ist, und dafs in demselben Verhältnifs
der Einflufs der rationellen Ausbildung und Uebung wächst".
W. Stebn (Breslau).
F. KzMSEEs. Die bäaslicbe Arbeitszeit meiner Schiller. Zeitschr. f, päd, PsychoL
1, 89—95, 132—134. 1899.
H. Koch. Die bäasliche Arbeitszeit meiner Scbfiler. Ebenda 1, 192—196. 1899.
Veranlafst durch eine vom Cultusrainisterium ausgegangene Anfrage,
stellte Kemsiks während einer Januarwoche an den Schülern seiner U III
statistiche Erhebungen über ihre häusliche Arbeitszeit an, die Koch in
250 Literaturbericht
einer Maiwoche wiederholte. Es ergab sich als durchschnittliche
Arbeitsdauer bei EIemsies kurz nach den Weihnachtsferien : eine Stunde und
sieben Minuten, bei Koch zu einer Zeit, da die Classe der Versetzung ent-
gegenging: eine Stunde und 39 Minuten. Bedenkt man, dafs behördlicher-
seits für jede Classe eine Maximal-Arbeitsdauer von zwei Stunden ange-
setzt ist, so sieht das Resultat recht günstig aus. Ganz anders aber wird
das Bild, wenn man nicht den Durchschnitt, sondern die individuellen
Differenzen beachtet. Diese sind ganz enorm. Kemsies theilt die
Schüler in vier Kategorien, deren letzte die doppelt so grofse Arbeitszeit
zeigt wie die erste. Diese vierte Kategorie nun — es sind 13 % aller
Schüler — mufs bei Koch täglich 159 Minuten arbeiten, d. h. überschreitet
das Maximal-Soll um 39 Minuten. Die dritte Kategorie mit 26 % der
Schüler erreicht gerade die Maximalgrenze. Aus diesen Resultaten leitet
Kemsies mit Recht die Forderung ab, dafs entweder die Schale mit ihren
Anforderungen weiter nachlassen müsse, oder dafs den weniger begabten
Schülern die Aufnahme zu verwehren sei.
Die ausführlichen statistischen Tabellen bieten auch sonst manches
Lehrreiche. W. Stekn (Breslau).
B. ScHMm. Aus dem Seelenleben der Insecten. Ein Beitrag xar Thierpsycho-
logle. Vierteljahrsschrift f. wissenschafil. Philosophie 24 (2), 173—196. 1900.
Der Verf. zeigt zunächst, dafs sich der Entwickelungsgedanke auch
auf dem Gebiete der Thierpsychologie fruchtbar erwiesen hat. Früher be-
zeichnete man alle seelischen Regungen der Thiere als Instincte, ohne der
Entstehung derselben nachzuforschen. Die Entwickelungstheorie lehrt,
dafs das Geistesleben der Thiere ebenso, wie die Arten derselben der Ver-
änderung unterworfen ist, und die geistige Entwickelung sieh bis zu den
einfachsten Lebewesen zurückverfolgen läfst. Die Anwendung des Ent-
wickelungsgedanken auf die Thierpsychologie brachte aber auch Nachtheile
mit sich: Einerseits vermenschlichte man die thierischen Handlungen
allzusehr, andererseits erblickte man in allen Thieren nur Reflexautomaten.
Der Verf. geht dann nach einigen Bemerkungen über die Entstehung und
physiologischen Grundlagen der Instincte zur Besprechung der Ansichten
Bethb's und Wasmannn's über und beleuchtet an der Hand von Beispielen
aus dem Leben der Ameisen die Vorzüge der Theorie des Letzteren.
Bei der Beurtheilung des Seelenlebens der Thiere müssen wir, wie
Verf. meint, von unserem eigenen ausgehen und dasselbe bis zu den primi-
tivsten Leistungen zurück verfolgen. Die psychischen Vorgänge eines In-
sectes werden uns bis zu einem gewissen Grade immer verschlossen bleiben,
und wir können da höchstens von einer Aehnlichkeit der Vorgänge sprechen.
Die Sinne eines Käfers müssen seiner Psyche Inhalte zuführen, die von
den unseren in Manchem total verschieden sind. Der Verf. zeigt hierauf
an einem Beispiele, welches gleichfalls von dem Thun und Treiben der
Ameisen handelt, dafs sich die Instincte übrigens manchmal recht un-
zweckmäfsig äufsern können. Hieran schliefsen sich weitere Beispiele,
welche erkennen lassen, dafs die Thiere (Insecten) nicht blos nach Instincten
handeln, sondern auch Erfahrungen machen und diese auch verwerthen.
Nach der Anschauung des Verf.'s beruhen die psychischen Erscheinungen
LUeraturberich t 25 1
des Insectenleben» auf Associationen. Es liegt nirgends die Noth wendig-
keit vor, complicirtere Denkoperationen anzunehmen. Bei höher ent-
wickelten Thieren sind allerdings auch die Anfänge der Intelligenz, An-
finge von Begriffs- und Urtheilsbildung nicht zu verkennen.
Saxinoeb (Linz).
Alsx Hill. Consideratioiis opposed to tbe „Kearon Tbeory''. Brain 23 (92),
657-690. 1900.
Die Neurontheorie nimmt die anatomische Unabhängigkeit der Nerven
xeUen von einander an. Sie basirt auf Bildern, die nach Methoden ge-
wonnen sind, welche das Cytoplasma färben und die leitenden Elemente
iribrillen) ungefärbt lassen. Aber selbst GoLOi-Präparate lassen erkennen,
dafe Fasern, die aus Axonen gewisser gröfserer Zellen entspringen, sich
direct mit kleineren Zellen verbinden. Verf. nennt als Beispiel die sogen.
Granula des Kleinhirns; desgleichen widersprechen die Sympathicuszellen
dem Schema eines Neurons: sie senden nach beiden Seiten Axone aus.
Bezüglich der vielumstrittenen „Dornen" an GoLGi-Zellen nimmt er an:
das Protoplasma der Dendriten setzt sich eine kurze Strecke weit auf die
rechtwinklig in sie einmündenden Fibrillen fort und erscheint deshalb
«of Präparaten, in welchen nur das Plasma gefärbt ist, als kurzes Stäbchen.
Verf. macht die kühne Hypothese, dafs die Fibrillen, welche die Zellen ver-
tnüpfen, nur die Rolle von Conductoren spielen, längs deren sich das Plasma
einer Zelle zu einer anderen hinüberschiebt in dem Moment wo beide in
fanctionelle Verbindung treten; die Impulse verlaufen dann in dem die
Zellen verknüpfenden Protoplasma; eine neue Variante der Lehre von der
.Plasticität der Neurone**. Im Uebrigen erklärt sich H. mit Apathy und
Bethe einverstanden. Schröder (Heidelberg).
S. Ramön y Cajal. Stadien über die Hirnrinde des Menschen. Aus dem
Spanischen übersetzt von Dr. J. Bresler, Oberarzt der Prov. Heil- und
Pflegeanstalt Freiburg i. Schi. 2. Heft: Die Bewegnngsrinde. Leipzig,
J. A. Barth, 1900. 113 S. mit 31 Abbild. Mk. 4,50.
In der Einleitung hebt Verf. hervor, dafs, wenn die graue Hirnrinde
ein Aggregat von Organen von verschiedenartiger Function ist, einer jeden
Function eine specifische Structur des zugehörigen Organs entsprechen
mufs. Zwischen einer optischen, akustischen, tactilen Vorstellung be-
stehen so grofse Unterschiede, dafs für diese nicht allein die specifische
Beschaffenheit des peripheren Sinnesapparats, sondern auch der besondere
Bau der betreffenden Gehirncentren in Betracht kommt. Verf. hält es für
•ehr wahrscheinlich, dafs innerhalb eines jeden sensorischen Centrums
Zonen mit specifischen Gewebseigenthümlichkeiten sich befinden, die, ohne
dafo sie von dem allgemeinen Aufbau der betreffenden Oertlichkeit ab-
weichen, theils einer besonders empfindlichen Gegend der empfindenden
Oberfläche, theils einer besonderen Qualität der Empfindung entsprechen.
Verf. stellt kurz die bisherigen Ergebnisse zusammen, welche die
Untersuchungen der Structur der motorischen Rinde ergeben haben; ihre
Bearbeitung hat sich bei der schon früh entdeckten besonderen physiologi-
252 Literaturbericht.
sehen Function einer leicht erklärlichen Beliebtheit erfreut. Verf. berichtet
sodann über seine eigenen Untersuchungen, die er vor Allem an dem Ge-
hirne eines neugeborenen, eines 15 Tage alten und eines 2 Monate alten
Kindes mittels der Chromsilberfärbung angestellt hat.
Die früheren Beschreibungen des Baues der motorischen Hirnrinde
lassen vielfach eine Einheitlichkeit vermissen, und das liegt daran, dafs
bald die vordere, bald die hintere Central windung untersucht wurde, ohne
dafs man um deren verschiedene Structur wufste. Die beiden Windungen
behalten ihren verschiedenen Bau bei bis auf den Grund der RoLANBo'schen
Furche, in der sich eine Uebergangsregion ausbildet. Verf. beschreibt mit
der bei ihm gewohnten Genauigkeit und Gründlichkeit den Aufbau der
vorderen und hinteren Centralwindung und hebt ihre gegenseitigen Unter-
schiede sowie ihre principi eilen Differenzen von den anderen Hirngegenden
hervor.
Von specifischer Bedeutung für die motorische Rinde sind der sensible
Plexus in der dritten Schicht (der der mittelgrofsen Pyramidenzellen), so-
wie die Form und die bedeutende Zahl der Riesenpyramiden (BETz*schen
Zellen). Aus diesen und den mittelgrofsen Pyramidenzellen stammt voi^
zugsweise die Pyramidenbahn. Da sich gerade in der Schicht der mittel-
grofsen Pyramiden sensible Fasern vertheilen, so vermuthet Verf. eine Be-
ziehung dieser Zellen zur Tast-, Schmerz- und Temperatur-Empfindung.
Die Uebersetzung ist flüssig und gewandt.
Ernst Schultze (Andernach).
W. B. Warringtoic und J. E. Dutton. Observations Ott tbe Conne of thft
Optic Fibres in a Gase of Unilateral Optic Atrophy. Brain 23 (92), 642—656.
1900.
Pathologisch-anatomischer Beitrag für die Richtigkeit der Lehre von
der partiellen Kreuzung der Sehnervenfasern. Schröder (Heidelberg).
Karl Schaffer. Anatomisch- klinische Vorlesungen ans dem Gebiete der Herren-
patbologie. Mit 5 Tafeln und 63 Abbildungen im Text. Jena, Gustav
Fischer, 1901. 296 S. Mk. 12.—.
In der Form von Universitätsvorlesungen, in welchen Verf. in ge-
schickter und glücklicher Weise die Mitte zwischen den Le^^ons der fran«
zösischen Autoren und den systematischen Hand* und Lehrbüchern h<^
berichtet Sch. über seine Studien bezüglich der Tabes und der Paralyse»
mit besonderer Bevorzugung der ersteren Erkrankung.
ScH. entwirft eine Schilderung der Anatomie lind allgemeinen Patho-
logie des Neurons, ohne zu verhehlen, dafs die neueren anatomischen Unter-
suchungen die Keurontheorie nicht mehr zu Recht bestehen lassen, bespricht
genauer das sensible Neuron, und im Anschlufs daran und unter beständiger
Bezugnahme hierauf giebt er ein anschauliches Bild der pathologischen
Anatomie der Tabes. Eine ausführliche Darstellung der Klinik der Tabes
schliefst sich an; an der Hand der früheren anatomischen und physiologi-
schen Erörterungen versucht er, den Mechanismus der wichtigsten Symp-
tome darzustellen. Er berührt dann die durch die Hinterstrangerkrankung
gegebenen nahen Beziehungen zwischen der Tabes und der Paralyse, für
Literaturbericht 253
deren Bestehen er die ätiologisch in beiden Fallen gleich bedeutsame Lues
Terantwortlich macht, skizzirt dann die Topographie der der Paralyse zu
Grunde liegenden Degeneration der Gehirnrinde und schliefst mit einer
Besprechung der Differentialdiagnose zwischen Paralyse und Neurasthenie.
Die Schilderung ist aufserordentlich anregend, und gerade für den
spröden Stoff der Anatomie des Centralnervensystems eignet sich die ge-
wfthlte Darstellungsform sehr. Das Verständnifs wird weiterhin noch er-
leichtert durch die Beigabe von Abbildungen und Krankengeschichten.
Hoffentlich sieht sich Sch. veranlafst, auch andere Capitel aus dem
Gebiete der Neurologie und Psychiatrie in gleicher Form zu erörtern; des
Dinkes der Leser wird er gewifs sein können.
Ernst Schxjltze (Andernach).
J. üscHAKOFF. Das Localisatlonsgesetz. Elfte psychophysiologische Unter-
fldlllg. I. Leipzig, Otto Harrassowitz, 1900. 204 S.
Verf. versucht in diesem Werke folgendes Gesetz zu formuliren und
IQ beweisen:
a) Qualitativ mehr oder weniger ungleiche sensorische Psychome
(= BewuIJBtseinserscheinungen) oder willkürliche Bewegungen, die zu ver-
flchiedenen Zeiten bei demselben Individuum hervorgerufen bzw. von dem-
selben Individuum ausgeführt werden, beruhen auf nervösen Processen in
mehr oder weniger verschiedenen corticalen Neuroncomplexen, ganz dis-
parate sensorische Psychome oder willkürliche Bewegungen auf Processen
in ganz verschiedenen corticalen Neuroncomplexen. — Bei Psychomen,
deren qualitative Ungleichheit nur sehr geringfügig ist, läfst sich doch eine
abweichende Zusammensetzung der entsprechenden Neuroncomplexe nicht
bestimmt behaupten.
b) Qualitativ gleichen Wahrnehmungen oder Vorstellungen, sowie
qualitativ gleichen willkürlichen Bewegungen entsprechen dagegen jedes-
mal Processe in corticalen Neuroncomplexen, die zum mehr oder weniger
grofsen Theil aus denselben Neuronen bestehen. Bei qualitativ und quanti-
tativ gleichen Wahrnehmungen, Vorstellungen oder willkürlichen Be-
wegungen sind die entsprechenden corticalen Neuroncomplexe jedesmal
znm gröfsten Theil, wenn nicht ganz dieselben. — Das von gleichen Wahr-
nehmungen Gresagte gilt ebenfalls von gleichen Gehörsempfindungen.
Um dieses Localisationsgesetz zu beweisen, giebt Verf. im ersten
Capitel seiner Schrift eine etwas weitschweifige Uebersicht über den feineren
Bau des Nervensystems, insbesondere über die physiologische Verbindung
imter den Neuronen, sowie über die Arten der Bewufstseinserscheinungen,
die den nervösen Personen entsprechen. Er führt hier einige neue Termini
ein, die indessen leicht entbehrt werden können, bespricht die Hypothese
von den unbewufsten Seelenerscheinungen in ablehnendem Sinne und tritt
der Vorstellung entgegen, dafs „das materielle Substrat einer Vorstellung
der ProceJCs in blos einer einzigen Nervenzelle sein sollte". Auch der An-
nahme specifisch hemmender Wirkungen der Innervation ist Verf. abhold
ond sucht die vorkommender Hemmungserscheinungen auf motorischem
254 Literaturbericht
und sensorischem Gebiete auf das gegenseitige Verhältnifs der Intensität
zweier Procefscomplexe von verschiedener Stärke zurückzuführen; eine
Theorie, die durchaus bemerkenswerth erscheint. Im zweiten Capitel folgt
eine ebenfalls sehr breit angelegte und ins Einzelne gehende Darstellung
der bisherigen Resultate der Forschungen über die Grofshimlocalisationen.
Diese Darstellung ist deshalb beachtenswert!!, weil sie zeigt, wie verworren,
unklar und einander widersprechend noch heutzutage die Anschauungen
der meisten Autoreu über den Begriff und die Bedeutung der Localisation
sind. Ref. vermifst in dieser, im Uebrigen sehr reichhaltigen Aufzählung
eine Berücksichtigung der Lehre Hemlk's, dessen Anschauungen in Bezug
auf die Localisation der seelischen Vorgänge leider zu wenig bekannt und
gewürdigt sind. Das Ergebnifs dieses Capitels fafst Verf. dahin zusammen,
„dafs weder die anatomischen, pathologischen und experimentellen, noch
die psychophysiologischen Argumente, die bisher vorgebracht worden, das
vom Verf. aufgestellte Localisationsgesetz in befriedigender Weise darzuthun
vermögen." Darin stimmt Ref. dem Verf. durchaus bei. Das dritte und
letzte Capitel endlich — ein ursprünglich geplantes viertes Capitel soll
später erscheinen — versucht den Nachweis des Localisationsgesetzes auf
einem angeblich neuen, psychophysiologischen Wege. In Wirklichkeit ist
dieser Weg weder neu, noch psychophysiologisch. Vielmehr handelt es
sich um logisch theoretische Erwägungen elementarster und zum Theil frag-
würdigster Art, mit denen U. seine Localisationshypothese, besonders gegen
die von W^undt aufgestellte Lehre von der Stellvertretung der Functionen
in der Grofshirnrinde zu stützen sucht. Ueber allgemeine Redensarten,
wie: „es ist nicht anzunehmen, es erscheint zweifellos, es ist unerfindlich,
es ist äufserst unwahrscheinlich" u. dergl. m., kommt diese Beweisführung
meistens nicht hinaus, so dafs ihr eine überzeugende Kraft nicht zugestanden
werden kann. Immerhin ist es ein Verdienst des Verf.'s, die schwierige
und ungemein wichtige Frage von der Localisation der seelischen Vorgänge
in der Grofshirnrinde wieder einmal in den Vordergrund des wissenschaft-
lichen Interesses gerückt und besonders gezeigt zu haben, wie erschreckend
grofs noch immer die Lücken des zu Beweisenden in der modernen Locali-
sationslehre sind. L. Hirschlapp (Berlin).
A. RoLLETT. Die Localisation psychischer Vorgänge im Gehirn. Einige
historisch-kritische Bemerkungen. Arch. f. d. ges. Fhysiol 70, 303—311. 1900.
Scharfe Polemik gegen einen Aufsatz des Londoner Psychiaters und
Neurologen Bsbnabd Holländer (Die Localisation der psych. Thätigkeiten
im Gehirn, Berlin 1900), welcher den Versuch der Wiedererweckung des
Organologen Gall macht. Gall hat Verdienste um die Gehirnanatomie,
doch sind seine Kenntnisse vom Aufbau des Nervensystems sehr ver-
schwommene; er ist ein Phantast und nicht frei von ungründlicher Schön-
rednerei; seine unhaltbar speculative Organologie hat mit der modernen
Lehre von der Localisation der Ilirnfunctionen nichts gemein.
ScHRÖDBB (Heidelberg).
Liter aturbericht. 255
Henry Head and A. W. Cahpbell. The Pathology of Herpes Zoster and its
Bearing oa Seiisory Localisation. Brain 23 (91), 353—523. 1900.
Monographische Behandlung des Herpes zoster (Gürtelrose). Die Verff.
haben unter 21 Fällen, die verschieden lange Zeit nach dem Ausbruch resp.
Ablauf der Erkrankung zur Section gekommen sind, 19 mal frischere oder
altere Veränderungen in einem, seltener mehreren Spinalganglien gefunden,
and daran sich anschliefsende secundäre Degeneration in den Hinterwurzeln
and Hintersträngen im Bückenmark aufwärts nachweisen können. Herpes
Eoster wird nach ihrer Angabe nicht hervorgerufen durch eine Affection
der hypothetischen trophischen Nerven, sondern durch eine intensive
Beizung derjenigen Ganglienzellen, welche normalerweise für die Ueber-
mittelung der Schmerzempfindungen bestimmt sind (Spinalganglien). Die
Verff. haben ihre Fälle gleichzeitig benutzt, um die Hautgebiete zu be-
stimmen, die von den einzelnen Spinalganglien mit Nervenfasern versorgt
werden. Schrödeb (Heidelberg).
Ch. Bik£t-Sanol£. Action da HaGhisch snr les nearones. Rev. scient. 15 (9)^
270-274. 1901.
Dem Titel nach erwartet man eine experimentell-histologische Unter-
sucbung. Doch nichts von dem. Der Autor giebt eine Selbstbeobachtung
wieder und erklärt sie an der Hand einer phantastischen Vorstellung des
Geschehens innerhalb des Centralnervensystems.
B.-S. nahm 0,20 g Hachisch in Form einer Pille zu sich. Nach einer
halben Stunde stellten sich die Intoxicationserscheinungen ein. Das Muskel-
gefäbl findet eine Abnahme: die Haltung des Gleichgewichts ist erschwert,,
die Willkürbewegungen sind unsicher, beinahe atactisch und ihre Excur-
»onen werden bei geschlossenem Auge falsch beurtheilt. Tastgefühl, Gehör-
nnd Gesichtssinn sind sehr stark geschärft, so dafs sie ünlustgefühle er-
zeugen. — Die fixirten Gegenstände erscheinen ungewöhnlich grofs, mifs-
^«»taltet, in grünen Nebel gehüllt und rufen lang anhaltende Nachbilder
hervor. — Es besteht starkes Ohrensausen. — Die Erinnerungsbilder sind
beäonders lebhaft und tragen den Charakter von Hallucinationen. Daneben
kommt Amnesie vor. — Das Symptomenbild beherrscht ein starker Be-
wegungstrieb: Aufspringen beim geringsten Geräusch, hastiger und fortge-
i^etzter Rededrang, continuirliche Zwangsbewegungen der Finger und Hände.
— nach einiger 2ieit stellen sich Lachattacken ein, zuerst vereinzelt, dann
fortgesetzt, obgleich die Gesichtsmuskulatur durch die beständige Inanspruch-
nahme heftig schmerzt. Gegen Morgen lassen alle die Erscheinungen nach,,
treten nur ab und zu anfallsweise auf, besonders die Lachausbrüche und
können zuletzt durch kräftige Willensimpulse gehemmt werden. Dieser Zu-
stand hält bis zum übernächsten Morgen an.
Bei einer zweiten Versuchsperson traten mehr Athemstörungen in den
Vordergrund, begleitet von Angstzuständen.
Die Beobachtungen stimmen überein mit den Resultaten von Gautier,
LrosviLLE, Hat u. A. m.
Der II. Theil beschäftigt sich mit der Erklärung der Symptome. Die
Erklärung gipfelt in dem einen Satze: das Hachischgift verändert
die Form der Nervenzelle. — Es ist ungemein schwer den Autor zu
256 Literaturbericht.
begleiten in der nun folgenden Schilderung seiner rein physikalischen Vor*
Stellungen über das Geschehen im Centrainer vensystem. Seine Theorie
basirt auf die von ihm als erwiesen angenommene Contractibilität der
Ganglienzellen und ihrer Fortsätze, d.h. auf die sogenannte Plasticitftts-
theorie. Durch die Betraction innerhalb der Substanz entstehen Ver-
dichtungen in den Zellen und Zusammenziehungen in den Forts&tzen, welche
die Contiguität derselben mit anderen Fortsätzen verändern und schlechte
Leiter, die sogenannten ^neuro-dielectiques" bilden sollen. Auf diese
Weise kommt eine Druckerhöhung innerhalb der betreffenden Theile zu
Stande, die eine Druckverminderung in anderen Theilen zur Folge hat
Wollte man sich diesen Vorstellungen anschliefsen, so könnte man mit
etwas gutem Willen schliefslich noch Erscheinungen der Verminderung
oder Erhöhung der Thätigkeit gewisser Centraltheile verstehen. Wenn aber
B.-S. die für das Auge scheinbare Vergröfserung und Verzerrung der Gegen*
stände in der Hachischnarkose zurückzuführen sucht, lediglich auf die durch
die Intoxication selbst gröfeer gewordene und deformirte Zelle (i^le corps des
neurones ^tait deform^ et augment^, Taugmentation de volume donnant lien
ä la macropsie") so ist es Ref. unmöglich, ihm in seiner Anschauung zu
folgen. Es bestimmt doch schliefslich nicht die Gröfse und die Form einer
Zelle ihre uns irgendwie bewufst werdende Thätigkeit, sondern die Com-
bination des Geschehens in vielen Zellen und Fortsätzen zugleich wird
unsere Kritik über die Gröfse eines Gegenstandes begründen.
Sämmtliche Erscheinungen der Hachischnarkose deutet B.-S. mit Hülfe
seiner Hypothese der Druckerhöhung und -Verminderung in einzelnen Zellen-
Systemen und der dadurch erfolgenden auf- oder absteigenden erschwerten
Leitung nach anderen Neuronen hin und schafft auf diese Weise eine
Theorie, die man mit vielen Fragezeichen ausstatten mufs. [Dem Ref. er-
scheint es überflüssig des Näheren auf die in Deutschland so ziemlich über-
wundene Plasticitätstheorie einzugehen, die vollkommen mit den gefundenen
histologischen Befunden und zum Theil physiologischen Thatsachen zu dis-
harmoniren scheint. Schliefslich ist aus B.-S.'s Arbeit nicht zu ersehen, ob
er je seiner Theorie entsprechende morphologische Befunde nach Vergiftung
des Nervensystems mit Hachisch zu Gesicht bekommen hat — und wäre es
thatsächlich der Fall — so würde es auch noch nichts beweisen. Eine ge-
nügende Kritik hat die ganze Lehre durch Vebwobn in seinem „Das Neuron
in der Anatomie und Physiologie, Jena 1900**, gefunden.]
Merzdacheb (Strafsburg i. £.).
N. E. Wedensky. Die ftndamentaleA Eigenschaften des Ier?eii mter Eil»
wirkang einiger Crifte. Pflüoer*s Arch, 82, 134—191. 1900.
Verf. untersuchte am Nervenmuskelpräparate des Frosches die Ver-
änderungen der Leitungsfähigkeit und Erregbarkeit unter der localisirten
Einwirkung von Cocain, Chloralhydrat oder Phenol. Oberhalb der narkoti-
sirten Nervenstrecke und innerhalb derselben wurde mit tetanisirenden
Strömen gereizt, der Actionsstrom durch das Telephon gemessen und gleich*
zeitig wurden die Muskelcontractionen graphisch aufgezeichnet.
Die Arbeit enthält eine Menge feiner detaillirter Beobachtungen, deren
Literatlirbericht. 257
Wiedergabe hier nicht möglich ist. Es sollen nur die Besultate Erwähnung
finden, die weitere Ausblicke auf die allgemeine Nervenphysiologie gestatten.
Im Gregensatz zu den früheren Methoden — bei denen minimale Reize
an der nicht narkotisirten Stelle angebracht wurden — konnte nach der
neuen Versuchsanordnung nachgewiesen werden, dafs die locale Leitungs-
fähigkeit eine Veränderung erleidet, die sowohl im telephonischen Nerventon
als auch in den Muskelcontractionen zum Ausdruck kam.
Die Veränderungen der Leitungsfähigkeit nehmen im weiteren Ver-
lauf einen paradoxen Charakter an: starke Erregungen g^hen durch die
narkotisirte Stelle nicht hindurch, sehr mäfsige Erregungen hingegen rufen
teUnische Contractionen hervor.
Die Reizbarkeit der narkotisirten Nervenstrecke sinkt allmählich und
besteht noch deutlich, wenn bereits die Leitungsfähigkeit aufgehoben ist
£8 besteht hierbei eine Verschiedenheit für die auf- oder absteigenden In-
ductionsströme.
Eine Reihe von Versuchen beweist im scharfen Gegensatz zu den
Untersuchungen von Hebzsn, dafs die functionellen Eigenschaften der
Nerven in reinem Parallelismus stehen zu den Aeufserungen der Actions-
»tiöme — wenn man gewisse Cautelen nicht aufser Acht läfst.
Nicht nur nach gasförmigen Giften, auch nach Einwirkung schwacher
Ldsongen von Giften stellt sich die ursprüngliche Function der Nerven
wieder ein, eine Thatsache, die über die Art und Weise der Einwirkung
solcher Gifte auf den Nerven neue Untersuchungen herausfordert.
Belehrend sind die Versuche über „parallele Zeugnisse" des Telephons,
Galvanometers und der Muskelcontraction. Jedes derselben spricht seine
,eigene Sprache", und die Fragen werden jedesmal nach eigener Art beant-
wortet; deshalb ist das Versagen eines dieser Zeugen für die functionelle
Thätigkeit des Nerven noch nicht beweisend.
Mebzbacher (Strafsburg i. E.)
A. BicKEL und P. Jacob. Ueber neue Beiiehnngei iwischen Himrinde and
Untarea RftckeBmarkfwaneli Miisichtlich der BewegnagsregiilatioA beim
lande. Sitzungsberichte d, Kgl. Preufs. Äcad. d, Wissenschaften z. Berlin 35
(12. Juli), 763—767. 1900.
Im Anschlufs an seine älteren Versuche über sensorische Ataxie und
Compensation derselben, untersucht Bickel in Gemeinschaft mit Jacob in
dieser Arbeit die Rolle der sensomotorischen Zonen als Coordi-
nations- und Regulationsorgane atactisch gemachter Thiere.
Die Versuche wurden in doppelter Weise angestellt: einmal werden die
hinteren Wurzeln durchschnitten und nach Compensation der sich daran
&nschliefsenden Beeinträchtigung der Motilität die sensomotorischen Zonen
entfernt, dann zweitens zuerst die Gehirnexstirpation vorgenommen und
nach eingetretener Ausgleichung der Bewegungsstörungen die sensiblen
Wurzeln durchschnitten.
Die Erscheinungen nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln lassen
sich drei Stadien zutheilen: 1. dem pseudo-paraplectischen Stadium, 2. dem
Stadium der ausgesprochenen Ataxie, 3. dem Stadium der Compensation.
Wartet man das dritte Stadium ab und entfernt dann die sensomotorischen
Zcitfchrift ftr Psychologie 26. 11
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••■ •• ..r f.. .Ii '.»-•• »i-,» 1.1 L.ij^ '.ii*r ■.-:-.• Uli» Uli«'. ;i '.i*- rtiii üuiAeriirüitu Ti:«
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/•«, * ' .* '»fi /.'.•^.•f!''■'l^ .'^■>"^'.i' *.•*■ Vn>->/xi t : !»«?"▼- jfcTi ^1121 ntr *.uxi"
Vi-; •■•» r *■'.•../.. rUiv V.-: \ '.'i ic ijf u *'-i.L.i*> :«•'." 'ivL "^«rc* ▼'tui'J«-«' rir-**.'.-
'. w. ii z-, ■ '. Vr* :i: •..i^c lr>rl i /-t".» »•n.'-i.jvi-
':.*T^ • •; f ».' • ♦'■'. ♦-•*-.'. . i. )>*•'. r *-•. ;. : r '. -a i*.- «f-v '. 'f.'- ? l rf ""»*. Q tii«. iJi* Surr irt-T^ • i
Literaturbericht 259
«ach in der Literatur diese Verhältnisse mit hesonderer Bevorzugung des
£exujilduftes des Weihes erörtert werden.
Die Art des Stoffes hringt es mit sich, dals vielfach nur vereinzelte
Beobachtungen, Mittheilungen, Erfahrungen mit kritischer Sichtung neben
einander gestellt werden.
Daus gerade dem Geruchssinn eine Bedeutung für die sexuelle Thätig-
kdt sugeschrieben wird und auch zukommt, ist zum grofsen Theil wohl
4arin begründet, dals er ein exquisit affectiver Sinn ist. Kaum ein Sinn
beherrscht so wie er die Stimmungen und die Gefühle. Interessant ist der
Ton ZwAABDXMAKEB erbrachte Nachweis, dafs alle thierischen Grerüche,
welche die Sexualität beeinflussen, einer bestimmten Gruppe chemischer Ver-
bindungen angehören und zwar der der Fettsäuren, speciell der Caprylgruppe.
Der Geruchssinn hat an Schärfe bei dem heutigen civilisirten Menschen
gegenüber den Naturvölkern gewaltig eingebüfst und dementsprechend an
Bedeutung für das Geschlechtsleben verloren. Geruch und normale Liebe
haben mit einander wenig zu thun. Wo das doch der Fall ist, ist es etwas
Känstliches, ein Zeichen des Atavismus. Hiermit stimmt auch überein, dafs
•die abnormen, oft geradezu unerklärlichen Handlungen vieler Fetischisten
40 einer Deutung zugänglich sind. Ernst Schültzb (Andernach).
£ Hitzig. Ueber das corticale Sehen des Haides. Vortrag gehalten in der
Section für Neurologie des XTTL internationalen medicinischen Con-
gresses zu Paris. Ardiiv f. Psychiatrie 33 (3). 1900.
- Ueber den Mechanismas gewisser corticaler SehstOningen des Hundes.
Berliner klin. Wochenschr. (45). 1900. 10 S.
Die Resultate jahrelanger Untersuchungen, die in beiden Abhandlungen
wiedergegeben werden, sind im Stande, ganz neue Gesichtspunkte in der
viel umstrittenen Frage über die cortiqale Localisation des Sehens beim
Hunde zu schaffen. Diese Frage ist es auch vorzüglich gewesen, die inner-
halb des Lagers der Anhänger der Localisationstheorie neue Meinungsver-
schiedenheiten geschaffen hat. Während Mukk auf der einen Seite .die
Existenz eines specifischen corticalen Sehcentrums bewiesen zu haben
glaubte, hatten andere Forscher und vorzüglich Hitzig nach Ope.rationen
Terschiedener Gehirntheile Sehstörungen sich einstellen sehen. HiTzia's
neue Untersuchungen sollen nun beweisen, dafs Munk*8 Theorie nicht auf-
recht erhalten werden kann, und dafs auf der anderen Seite das geschilderte
Verhalten der Sehfunction mit der Lehre der Localisation in Einklang
sich bringen läfst.
Hitzig legte sich zwei Fragen vor: entweder hat der Hund nur ein
corticales Sehcentrum im Hinterhauptslappen, oder deren mehrere, von
denen eines im Vorderhim liegen müfste. Wäre Letzteres der Fall, so
müfste successive Verletzung der verschiedenen Centren bereits vorhandene
Sehstörungen erhöhen oder bereits verschwundene wieder in Kraft treten
la2»sen; im ersten Falle aber müfsten solche Erscheinungen nicht eintreten.
Bevor H. an die Ausführung dieses Versuchsplanes ging, prüfte er
verschiedene Methoden zur Verletzung des Hirnes, kämpfte an gegen
Muint's immer wieder auftretende Behauptung, dafs Verletzung des Gyrus
«igmoideus seine sogenannte Sehsphäre mitbeleidige, untersuchte schliefs-
17*
260 Literaturbericht.
lieh das Verhältnifs des Gyrus sigmoideus und der sogenannten Sehsphftre
zum Sehen.
Blofse Eröffnung der Schädelhöhle in gröfserer Ausdehnung, Abtragen
der Dura ohne Verletzung der Pia giebt bereits meist sehr starke nutri*
torische Störungen, die einer Verletzung circumscripter Rindentheile gleich-
zustellen ist, zur Verletzungsmethode sich aber wegen der inconstanten
Resultate nicht eignet. Das ist das, was am meisten in den Ausführangea
über Methodik interessirt. Auf Grund dieser Methode wurde auch MmrK's
beliebter Einwand zerstört: einfache Abtragung der Dura Ober den
Gyrus sigmoideus bei nachfolgender Heilung per primam ergab unter
8 Fällen 7 mal Sehstörung. Noch entschiedenere Verletzungen diese»
Gyrus ergaben mit grofser Sicherheit Sehstörungen. Ging hingegen dieeen
Operationen eine Verletzung der „Sehsphäre" voraus und waren die dadurch
bedingten Sehstörungen ausgeglichen, so blieb ein erneutes Auftreten der-
selben aus. Aus dieser Versuchsanordnung geht hervor:
1. Ein zweites corticales optisches Centrum ist jedenfalls nicht im
Gyrus sigmoideus gelegen.
2. Das Eintreten von Sehstörungen nach primären Verletzungen dieses
Gyrus spricht dafür, dafs zwischen ihm und einer hypothetischen Sehsphäre
directe oder indirecte Beziehungen bestehen.
Die in umgekehrter Reihenfolge vorgenommene Doppeloperation ergab
ein überraschendes Resultat: wurde zuerst der Gyrus sigm. verletzt, so er-
gab secundäre Verletzung der sogenannten Sehsphäre in der Regel nicht
einmal eine Spur von Sehstörung. Auch daraus wieder zwei Schlüsse:
1. Die Stelle A I (so bezeichnet Munk seine Sehsphäre) kann unmög-
lich das eigentliche Sehcentrum sein, da seine Verletzung unter allen um-
ständen eine Störung nach sich ziehen müfste.
2. Auch hier müssen gewisse Verbindungen mit dem eigentlichen Seh-
centrum vorhanden sein.
Das Resultat fafst H. mit folgenden Worten zusammen: Es besteht
also ein Mechanismus, welcher den Sehact bei primären Operationen derart
aufser Function setzt, dafs er dadurch gleichsam eine Immunität gegen
secundäre Operationen gewinnt Dieser Mechanismus wird wahrscheinlich
durch Vermittelung subcorticaler Centren wirksam.
Die zweiteAbhandlung beschäftigt sich mit der Natur des Mechanis-
mus. Nachdem bewiesen war, dafs die Sehstörung nicht durch Verletzung opti-
scher Centren bedingt war, blieb noch die Annahme, dafs dieselbe als Folge
einer Hemmung der Thätigkeit solcher Centren aufzufassen sei und es ergab
sich die Frage: Greift die Hemmung in den corticalen oder subcorticalen
Centren an? Das Studium einer die Sehstörung begleitenden und mit ihr
in Zusammenhang stehenden Erscheinung, des Lidschlufsreflexes, erwies
sich für die Beantwortung der Frage am geeignetsten. Die Ergebnisse
lassen sich kurz dahin zusammenfassen : bei Eingriffen in dem motorischen
Theil der Rinde (Gyr. sigm.) sind nicht nur die anderweitigen, sondern
auch die mit dem Sehact in Zusammenhang stehenden motorischen Func-
tionen, d. h. der optische Lidreflex, regelmäfsig gestört, während bei Ein-
griffen in dem sensuellen Theil der Rinde die motorischen Functionen
primär ungestört sein können, da ein Eingriff in den Gyrus sigm. nur un-
Literaturbericht. 261
erhebliche Sehstörungen , dagegen eine erhebliche des optischen Reflexes
ergab, so kann dies nicht auf eine Hemmung optischer Centren, also auch
nicht corticaler optischer Centren beruhen. Aus mehreren experi-
menteUen Thatsachen geht hervor, dafs auch die motorische Hirn-
rinde nicht der Angriffspunkt sein kann. Somit bleibt das subcorti-
cale motorische Centrum als das einzige Organ übrig, welches für die
Hemmung des optischen Reflexes verantwortlich gemacht werden kann. An
der Hand dieser Annahme lassen sich die gemachten Beobachtungen er-
küren : nach Verletzung der Stelle A I sind Sehstörungen vorhanden, das
Verhalten des optischen Reflexes hingegen variirt. Die Differenz der Er-
scheinungen wird dadurch bedingt, dafs der Reiz von AI ausgehend zu-
Qicbst das snbcorticale optische Centrum trifft, in ihm aber eine mehr oder
minder starke „Schranke'^ findet, bis er das snbcorticale motorische Centrum
beeinflussen kann. — Reize vom Gyrus sigmoideus aus treffen zunächst auf
das Bubcorticale motorische Centrum, dies setzt eine mächtigere „ Schranke"
als das subcorticale optische Centrum, so dafs der optische Reflex ausbleibt,
<iie Hemmnng des Sehactes aber gering bleibt.
Fflr die Erklärung der Erscheinungen bei combinirten Operationen,
nach denen eine secundäre Hemmung des Sehactes ausbleibt, leistet die
Aufstellung subcorticaler Centren folgendes: Giebt man zu, dafs Läsionen
Ton A I und des Gyrus sigmoideus die subcorticalen optischen und motori-
scben Centren beeinflussen, so mufs auch — nach der Ansicht des Verf. —
fogegeben werden, dafs durch jene Eingriffe in die Rinde Veränderungen
in den subcorticalen Centren hervorgebracht werden, vielleicht auf Basis
wcondärer Degenerationen. Diese Veränderungen dehnen sich in jedem
Falle von dem einen subcorticalen Centrum auf das andere aus, so dafs
itpäter in umgekehrter Leitungsrichtung projicirte Reize ihre Wirksamkeit
aof die subcorticalen Angriffspunkte einbüfsen.
[Verf. giebt selbst zu, dafs diese Erklärung der neu aufgefundenen
Thatsachen noch manche Fragen herausfordert. Dem Ref. erscheint vor
Allem jene Annahme von degenerirten Verbindungsbahnen zwischen sub-
corticalem motorischen und optischem Centrum noch sehr der Aufklärung
bedfirftig. Sollten wirklich nacb Eingriffen in der Rinde Degenerationen in
jenen Verbindungsbahnen der erwähnten Centren sich einstellen, so mtifsten
«ierartige Degenerationen auch den optischen Reflex für immer unmöglich
machen, da derselbe doch nothwendig vom optischen Centrum auf das
motorische Centrum überzugehen hat. Hitzig erwähnt aber das Verhalten
eine» Hundes, der nach Verletzung der Stelle AI zwar hochgradige Seh-
störungen, niemals aber Aufhebung des optischen Reflexes zeigte.]
Mebzbacheb (Strafsburg i. E.).
Ed. Hitzig. Hughliigs Jackson and die motorischen Rindencentren im
Lichte pliysfologischer Forschung. Gelesen in der Neurological Society of
London den 29. November 1900. Berlin, Aug. Hirschwald, 1901. 39 S.
- Inghlings Jackson and the Cortical Motor Oentres in the Light of
Phyiiological Research. Brain 23 (92), 545—581. 1900.
Nach einer Würdigung der Verdienste Jackson's, der die nach ihm be-
nannten corticalen Krämpfe zuerst zutreffend gedeutet und ihre Lage un
262 Literaturbericht
gefähr richtig angegeben hat, schildert Verf. in kurzen Zügen die Ent-
Trickelung der Lehre von den motorischen Bindencentren seit den Arbeiten
Jackson's, soweit die Physiologie an ihr theilgenommen hat, und wirft die
Fragen auf, ob die Gesammtsumme unserer Erfahrungen uns wirklich zu
der Annahme von Centren in der Hirnrinde berechtigt, und dann, in welcher
Weise die Centren etwa functioniren möchten. Die Antwort auf die erste
Frage fällt natürlich im bejahenden Sinne aus. Es wird gezeigt, welche
Fehler einer anderen Auffassung zu Grunde liegen und welche unzweideutigen
Ergebnisse experimenteller Forschung (sowohl Reiz- wie Exstirpationsver-
suche) die Existenz solcher Centren beweisen.
Was die zweite Frage nach der Function der Centren angeht, so hatten
schon die ersten Exstirpationsversuche beim Hunde ergeben, dafs ihnen
niemals eine eigentliche Lähmung folgt. Die operirten Thiere haben viel-
mehr nur ein mangelhaftes Bewufstsein von den Zuständen ihrer Glieder
und entbehren die Fähigkeit, sich vollkommene Vorstellungen über diese
Glieder zu bilden. An diesen Angaben haben die Ergebnisse späterer Zeiten
nichts zu ändern vermocht. Dafs von der über die Thätigkeit der Centren
herrschenden motorischen und sensiblen Theorie mit der obigen Auffassung
nur die letztere vereinbar ist, da die Gründe für die nach Zerstörung der
Centren auftretenden Störungen auf eine Alteration der Vorstellungs-
thätigkeit zurückgeführt werden müssen, braucht kaum noch hervorgehoben
zu werden.
Ebnst Schxtltze (Andernach).
Matthaei. Die Erhöhung der Krie|;8tflchti|;keit eines Heeres dnreh Eithaltuf
TOI AlkohoL Der ÄUcoholismua 1 (2). 1900.
An zahlreichen der Geschichte entnommenen Beispielen zeigt M., dafs
der enthaltsame Soldat kräftiger ist, allen Anstrengungen, der Kälte und
Hitze besser gewachsen ist, dafs er besser marschirt, besser schiefst, nur
halb so oft krank ist und dann noch erheblich weniger Behandlungstage
braucht, und nur einhalbmal so häufig wegen Verbrechen und Vergehen
bestraft wird wie der Nichtenthaltsame. Des genaueren setzt M. aus ein>
ander, worauf das beruht, indem er seinen Ausführungen die Aehnlichkeit
der Wirkung von Chloroform, Aether und Alkohol zu Grunde legt. M. ist
Anhänger der völligen Abstinenz und wünscht deren Einführung auch beim
Heere, damit es seiner Aufgabe noch mehr gerecht wird, einen trefflichen
Lehrmeister für das Volk abzugeben. Doch das erscheint vorläufig noch
nicht durchführbar. Für jetzt verlangt er Verbot des Schnaps verkauf es
und Mitwirkung der Militärgeistlichen, Auditeure und Sanitätsofficiere durch
Belehrung und eigenes Beispiel. Noch mehr freilich wird die Mitarbeit
der directen Vorgesetzten helfen. „Nur dadurch, dafs wir ganz Deutsch-
land enthaltsam machen, bekommen wir ein Heer, das in der Hand des
Führers nach jeder Richtung hin eine brauchbare und zuverlässige Waffe ist.*'
Ernst Schültze (Andernach).
Literaturhet-icht 263
c. Hambcbgeb. Ueber die ftnellei des Kammerwassen. KUn. MoymtsU. für
AugenheiUc. 38, 802->823. 1900.
H. kommt auf Gmnd experimenteller Untersuchungen, die z. Th. be-
reits an anderer Stelle früher vom Verf. mitgetheilt sind (Einspritzung von
Floorescein), zu dem Schlufs, dafs die allgemein herrschende, von Leber
besonders vertretene Anschauung, das Kammerwasser sei ein Secret des
Oiliarkörpers, eine irrige ist. Der Ciliarkörper liefert vielmehr Flüssigkeit
für die hinter der Iris gelegenen Qebilde, während die Quelle des Kammer-
wassers in der vorderen Kammer zu suchen ist, indem die Hauptmenge
desselben von der Vorderwand der Iris abgesondert wird.
G. Abelsdobfp (Berlin).
F. Hdcstedt u. W. A. Nagel. Ueber die Einwirkang der Becqaerei- and der
RiltgeiStraUei auf das Auge. Berichte d. Naturforsche^ulen GessUschaft z,
Freiburg i. Br. 11 (3), 139—152. 1901.
Die von Giesel zuerst gemachte Beobachtung, dafs durch Auflegen
eines lichtdicht verhüllten Radiumpräparates auf das Auge in diesem eine
Lichtempfindung erregt wird, wurde von den Verff. einer genaueren ünter-
sttchang unterzogen ; das Ergebnif»^ läfst sich dahin zusammenfassen, dafs
die Lichtempfindung im Wesentlichen durch Fluorescenzerzeugnng im Glas-
körper und in der Linse ausgelöst wird. Den ultravioletten Strahlen,
welche eine ähnliche Empfindung diffusen Lichtes wie die Becquerel-
^rablen hervorrufen, kommt dieselbe Eigenschaft der Fluorescenzerregung
in Linse und Glaskörper zu. Im Gegensatz hierzu konnte bei Röntgen-
strahlen eine Fluorescenz der brechenden Medien des Auges nicht beob-
achtet werden, eine Lichtempfindung wird aber auch durch die Röntgen-
strahlen ausgelöst, wie bereits Dorn und Brandes gefunden. Es gelingt bei
diesen „unsichtbaren'^ Strahlen, eine einer umschriebenen Netzhautreizung
entsprechende Lichtempfindung zu erzeugen, während bei den Becquerel-
^rahlen stets „das ganze Auge voll Licht ^ erscheint. Alle diese Strahlen
werden nur vom dunkeladaptirten Auge wahrgenommen, und zwar ist die
Helligkeitsempfindung am stärksten in der Peripherie, Erscheinungen, die
von den Verff. auf überwiegende Erregung der Netzhautstäbchen bezogen
werden.
Ein noch nicht erklärtes Phänomen tritt bei seitlicher Bestrahlung
des Auges mit Becquerel- oder Röntgenstrahlen auf; die gröfste Helligkeit
wird nämlich auf derselben Seite empfunden, auf welcher das Radium-
präparat oder die Röntgenröhre gelegen ist, anstatt dafs die Reizung des
betreffenden Netzhautbezirks durch den Knotenpunkt nach aufsen, also
nach der entgegengesetzten Seite projicirt wird.
Es gelang als objectives Zeichen der Einwirkung der Röntgen- und
ultravioletten Strahlen eine Aenderung des elektromotorischen Verhaltens
des Froschauges festzustellen. Das von Fuchs und Kreidl erhaltene nega-
tive Resultat bezüglich der Bleichung des Sehpurpurs durch Röntgenstrahlen
wird von den Verff. bestätigt. G. Abelsdorff (Berlin).
264 Literaturberic/it.
F. HiMSTEDT u. W. A. Nagel. Die Yertheiliuig der Reiiwerthe fir die Itesdi*
netihant im Dlspenionsspectmm des Gaslichtes, mittels der AetieisstrBme
nntersncht. Berichte d. Naturforschenden Gesellsclmft z. Freiburg i. Br. 11
(3), 153—162. 1901.
Die Mangelhaftigkeit unserer Kenntnisse von den Farbenempfindongen
der Thiere beruht im Wesentlichen auf der Unbrauchbarkeit der nur sehr
problematische Schlüsse gestattenden Untersuchungsmethoden. Bei der
allgemein biologischen und speciell physiologischen Wichtigkeit des
Problems ist jeder kleine Schritt vorwärts auf diesem Gebiete mit Freuden
zu begrüfsen; in der vorliegenden Abhandlung scheinen die Verff. einen
noch weitere Erfolge versprechenden Weg betreten zu haben. Als objectives
Merkmal der Reizwerthe verschiedenfarbiger Lichter benutzten sie die von
HoLMGREN zuerst beschriebenen, bei Lichteinwirkung eintretenden Schwan-
kungen des abgeleiteten elektrischen Stromes, die sogenannten Actions-
ströme der Retina. Die Versuche wurden zunächst auf das Froschauge be-
schränkt, und es ergab sich ein bemerkenswerther Unterschied zwischen
im Dunkeln und im Hellen gehaltenen Augen. Während für letztere im
Spektrum des Gaslichtes das Maximum der Reiz Wirkung bei Gelb in der
Gegend der Natriumlinie liegt, tritt für Dunkelaugen eine Verschiebung des
Maximums nach dem kurzwelligen Ende bis zur Wellenlänge 544 (i(Jk ein;
ein Unterschied, der um so interessanter ist als das Helligkeitsmaximum
beim menschlichen Auge eine Verschiebung in demselben Sinne erfährt
G. Abelsdorpp (Berlin).
A. DRUiLULT. Rechercbes snr la pathoginie de Tamanrose qniniqae. Paris,
G. Steinheil, 1900. 80 S.
Die deletäre Wirkung, welche der Gebrauch mancher, z. Th. auch als
Arzneimittel verwandter Stoffe auf das Sehorgan ausüben kann, hat D.
speciell am Chinin einer experimentellen Prüfung unterzogen. Wenngleich
die Einzelheiten dieser interessanten Monographie mehr das Interesse des
Klinikers und Pathologen in Anspruch nehmen, so sei an dieser Stelle
doch das wichtige Ergebnifs hervorgehoben, dafs der schädigende Einflufs
von Chininvergiftung am Auge in einer Läsion der retinalen Ganglienzellen
mit consecutiver Sehnervendegeneration zum Ausdrucke kommt.
G. Abelsdobff (Berlin).
M. Meyer. Die Tonpsychologie, ihre bisherige Entwickelniig und ihre Be-
deutung fttr die musikalische Pädagogik. Zeitschr, f. pädag. Psychol. 1,
74-85, 180—189, 245-254. 1899.
Der erste Theil giebt eine kurze Uebersicht über den gegenwärtigen
Stand der Lehre von der Klangfarbe und der Consonanz, wobei M. auch
seine eigenen, den Lesern dieser Zeitschrift bekannten Anschauungen, die
zum Theil von denen Stümpf's stark abweichen, zum Ausdruck bringt. —
Der zweite Theil wirft die Frage auf, wie zur Musik erzogen werden solle
und könne. Mit Recht weist M. phantastische Vorschläge von Theoretikern
zurück, die der Musiktheorie und -Geschichte einen ganz abnormen Um-
fang im Unterricht zuerkennen wollen, und betont, dafs eine Hauptforde-
rung zur Erzielung musikalischen Verständnisses darin besteht, beim Hören
LiteraturbericJit. 265
mehrstinuniger Musik die gesonderte Verfolgung der gleichzeitigen Töne
und Tonphrasen zu ermöglichen. Von den verschiedenen hierzu vorge-
schlagenen Mitteln ist das wichtigste und interessanteste die vereinfachte
grtphische Darstellung der Musikstücke, eine allerdings sehr zu ver-
vollkommnende Idee von Hövkeb. Unter Weglassung aller zum Spielen
nothwendiger, zum Lesen überflüssiger Elemente der Notenschrift, werden
die za einer Phrase gehörenden Noten durch Linien mit einander ver-
bünden ; so entstehen höchst charakteristische geometrische Figuren, deren
Wiederholung in verschiedenen Höhen, in Verschiebungen und Ver-
kürzangen schon dem Auge einen intellectuellen Genufs etwa der Art ge-
währt, wie das Verfolgen gewisser Motive in complicirten Arabesken, und
deren Verwendung in der musikalischen Schul- und Volkserziehung mehr
tum verständnilsvollen Genufs musikalischer Werke beitragen könnte als
Harmonielehre, Contrapunkt und gedruckte programmatische Erklärungen.
^V. Stern (Breslau).
Felix Kbuegeb. BeobacMuiigeii an Zweikläagen. Fhilos. Studien 16 (3 u. 4),
307-379 u. 568—663. 1900.
In dieser umfangreichen Abhandlung liegt uns eine Arbeit vor, die
zu den werthvollsten Beiträgen zu rechnen sein dürfte, die die Tonpsycho-
logie in letzter Zeit erhalten hat und die wegen der Fülle der mitgetheilten
Beobachtungen, wie der originellen und exacten experimentellen Durch-
führung für weitere Arbeiten lange Zeit von grundlegender Bedeutung
bleiben dürfte. Da es in Anbetracht des reichen dargebotenen Materials
nicht möglich sein dürfte, dem Verf. durch einen Auszug auch nur einiger-
maaüsen gerecht zu werden, so mag es der Becension gestattet sein, neben
der Angabe von Zweck und Ziel der Arbeit sich mit einer kurzen Dar-
stellung der Versuchsanordnung und der W^iedergabe der allgemeinsten
Resultate zu begnügen.
Unter Hinweis auf die verschiedenen Theorien des Hörens und der
Consonanz sucht der Verf. in einer Einleitung zu zeigen, dafs Riemann's
Vorschlag {diese Zeitschrift 17, 4ö6ff.), den Zweiklang aufzugeben und sich
dem Studium der Accorde und des Dreiklangs zuzuwenden, verfrüht sei
Der Verf. findet eine Reihe von Fragen von grofser theoretischer Trag-
weite, die sich gerade nur an jenen einfachen Tongebilden mit hinreichen-
der Genauigkeit bearbeiten lassen, noch unaufgeklärt. Da bei unserer ge-
ringen Kenntnifs der physikalischen und chemischen Vorgänge im inneren
Ohr der Zweiklang psychologisch der einfachste Complex sei, der dazu
Eigenschaften und Elemente besitze, die für alle anderen Klangwahrneh-
mungen von Bedeutung sei, so sei diesem vor Allem zunächst die Auf-
merksamkeit zuzuwenden.
Der Verf. präcisirt seine Aufgabe selbst dahin: „die aus dem Zu-
sammenklänge zweier Töne resultirenden Erscheinungen
auf Grund der Beobachtung möglichst vollständig und ein-
fach zu beschreiben," und fährt fort: „Durch diese Beobachtungen
hoffte ich 1. über alle psychologischen Eigenschaften der Zweiklänge so
weit ins Klare zu kommen, dafs eine weitere Zurttckführung der Unter-
schiede von Consonanz und Dissonanz möglich würde; 2. für die all-
266 Literaturbericht,
gemeine Theorie des Hörens an einem entscheidenden Punkte einige
sichere Erfahrungsgrandlagen zu gewinnen.''
Die Untersuchungen wurden in Wijndt*s Laboratorium in den Jahren
1898/99 ausgeführt. Die Versuchsanordnung erstreckte sich auf drei in einer
Flucht gelegene Zimmer, von denen das mittlere das sogenannte stille
Zimmer des Instituts war und je eines der beiden anderen für die Ton-
erzeugung und die Beobachtungen dienten. Als Tonerzeuger dienten 6 noch
von Appünn eigens für diesen Zweck gefertigte, mit Laufgewichten versehene
und auf Resonanzkästen aufgeschraubte Stimmgabeln, die eine ununter-
brochene Scala von 192 — 1700 Schwingungen gestattete. Die Resonanzkästen
reichten mit dem mit einer drehbaren Holzklappe versehenen offenen Ende in
Schalltrichter, die aus Pappe gefertigt waren. „Aus diesen Schalltrichtern
trat der Ton jeder Gabel in ein Messingrohr von 1 cm Durchmesser. Die
beiden Rohre vereinigten sich mit sanfter Biegung nahe vor der ersten
Wand. Von da ging ein geradliniges, den vorderen gleiches Rohr durch
die beiden Wände des stillen Zimmers und endete im Beobachterzimmer
in einem Schlauch von gleichem Durchmesser. Dieser ca. 1 m lange Gummi-
schlauch umgab an der anderen Seite das Ende einer kurzen Röhre, die in
ein kleines birnenförmiges Hörstück aua Kautschuck auslief. Die beiden
Röhren im Tonerzeugungszimmer waren kurz hinter den Schallaufnahme-
kästen ausziehbar, ebenso das Ende der Leitung im Beobachterzimmer.
Im Durchschnitt der Versuche hatte die ganze Leitung von den Stimm*
gabeln bis zum Ohre des Beobachters eine Länge von 8 m."
Vor den Versuchen wurden die Gabeln nach den AppuNN'schen Zungen-
apparaten abgestimmt. Erregt wurden die Gabeln durch langsames Streichen
mit dicht und gleichmäfsig behaarten Violinbögen. Der Verf. zog diese
Art der Erregung der elektrischen vor, um Obertöne möglichst zu ver-
meiden. Auch waren die Gabeln diesem Zwecke entsprechend von Appünn
eingerichtet. Aufserdem dämpfte der Verf. die Gabeln, bevor die Töne
ausklingend merklich in die Höhe gingen. Dementsprechend waren die
Klangzeiten je nach den gewählten Gabeln gleich 4,6 und 8 See. „Jeder
Klang wurde in kurzen Zwischenzeiten so lange wiederholt, wie es der
Beobachter wünschte." „Das Hören geschah durchweg mit einem Ohr."
„Der Beobachter schrieb mit vereinbarten Abkürzungen, was er auf die
ihm vorher vorgelegten oder nach und nach zugerufenen Fragen zu be«
künden wufste. Für die am häufigsten wiederkehrenden und theilweise den
Fortgang der Versuche bestimmenden Mittheilungen (ja; nein; stärker;
schwächer etc.) wurden Signale (Klingelleitung) verabredet." Das Verfahren
war unwissentlich.
Zu Interferenzversuchen und zum Vergleichen von Tonhöhen wurden
aufserdem KoENio'sche Gabeln von 64 — 2048 Schwingungen benutzt. Inter-
ferenzversuche konnten jederzeit eingeführt werden. Diesem Zwecke diente
ein in eins der vorderen beiden Leitungsrohre eingeschalteter Interferenz-
apparat.
Auf diese Weise untersuchte der Verfasser in einer ersten Serie die
Intervalle innerhalb einer Octave, in einer zweiten die von der
Octave bis zur Duodecime, in einer dritten die von der Duo-
decime bis zur Doppeloctave. Der Gang der Versuche war innerhalb
Literaturbericht 267
jeder Periode im Allgemeinen die Feststellung der Differenztöne, der
Snmmationstöne, der Schwebungen, des Gefühlseindrucks.
Innerhalb der ersten Serie wurden aufserdem noch der Zwischenton und
die primären Töne bei engen Intervallen, sowie die Dauer und zeitliche
Folge der Gombinationstöne bestimmt. Eine vierte Versuchsreihe — Er-
gebnisse der Selbstbeobachtung während der Analyse — be-
handelt: den Vorgang der Analyse, die Beurtheilung der Theil-
töne, die Auffassung der Schwebungen, optische und andere
Associationen, den Gefühlseindruck.
Das Gesammtergebnifs seiner Versuche fafst der Verf. selbst folgender-
maaDBen zusammen:
„Aus dem Zusammenklange zweier einfacher Töne resultiren, neben
einem Summationstone, bis 5 Differenztöne verschiedener Ordnung, deren
Tonhöhen nach der Regel zu berechnen sind, dafs man zunächst die
Schwingungszahlen der Primärtöne und dann fortgesetzt die beiden
kleinsten bereits ermittelten Schwingungszahlen von einander subtrahirt.
Diese Differenztöne verhalten sich zu einander und zu den Primärtönen
genau wie primäre Töne unter sich; so vor Allem hinsichtlich der
wechselseitigen Verstärkung, wo mehrere zusammenfallen oder benachbart
sind, und hinsichtlich der in diesem zweiten Falle entstehenden Schwebungen
nnd Zwischentöne.''
In umfangreichen Tabellen sind die einzelnen Werthe und Angaben
übersichtlich zusammengestellt. Kiesow (Turin).
G. SoMMEB. Ueber die Zahl der Temperatarpankte der Snfseren Haut. Sitzunffs-
berichte d. Physikal.-med. GeseUchaft zu Würzburg, Jahrg. 1901.
Der Verf. arbeitete mit dem BLix*schen Thermophor. Er bestätigt die
von Agliabdi (R. Accademia di Med. di Tiyrina^ 12. niaggio 1899) unter Leitung
des Ref. gefundene Thatsache, nach welcher die Anzahl der Temperatur-
pnnkte auf der Haut und besonders die der Warmpunkte geringer ist, als
vielfach angenommen wird. So fand er in einem Hautfelde des linken
Handrackens 13 Kalt- und 2 Warmpunkte pro Quadratcentimeter. Die von
Bux und GoLDSCHEiDER angegebene eigenthttmliche Gruppirung der Tempe-
raturpunkte konnte er bestätigen. „Mit dieser ungleichen Vertheilung
hängt die örtlich so sehr wechselnde Kälteempfindlichkeit zusammen, welche
schon E. H. Weber ausdrücklich hervorgehoben hat.**
Wie der Ref. in einer im Druck befindlichen Ausführung verlangt,
hebt auch der Verf. die Nothwendigkeit hervor, die Temperatur der Um-
gebung beim Aufsuchen der Temperaturpunkte zu berücksichtigen. Ebenso
ist die Ermüdung der Temperaturorgane nach ihm in Betracht zu ziehen.
Auf der Fingerbeere gelang es dem Verf. die Warmpunkte zu be-
stinunen.
Bei Kindern stehen die Temperaturpunkte nach dem Verf. in gröfserer
Dichte beisammen, als bei Erwachsenen (Czermak, Raumschwelle, Kiesow,
Vertheilung der Geschmacksorgane).
Unter Zugrundelegung der MEEH'schen Berechnung der Gröfse der
Körperoberfläche besitzt die äufsere Körperhaut des Menschen nach den
Befunden Sommer's ca. V^ Million Kaltpunkte und ca. 30000 Warmpunkte.
268 Literaturbericht
Die Vertheilung der Temperatarpunkte, wie sie der Verf. an ver-
schiedenen Körpertheilen an sieh selbst und einem intelligenten 9 jährigen
Kinde fand, ist in einer werthvollen Tabelle zusammengestellt.
KiESOw (Turin).
•i
L. Heine. Sehschärfe and Tiefenwahrnehmang. v. Gbaef£*s Arch. f. Ophthalm.
51 (1), 146—173. 1900.
— Ueber Orthoskopie oder fiber die Abhängigkeit relativer Entfeniuigs-
schätiuAgen von der Yorstellnng absoluter Entfemong. Ebenda 51, 563— 572.
H. hat die Beziehungen der beiden Functionen, der Sehschärfe und
des Tiefenwahmehmungsvermögens einer eingehenden Untersuchung unter-
worfen. Während die Sehschärfe, welche wiederum von dem Wahr-
nehmungsvermögen für die seitliche Lageverschiedenheit (Hebino) zu
trennen ist, monocular bestimmbar ist, stellt die feinere Tiefen Wahr-
nehmung den vollkommensten Grad binocularen Sehens dar. Indem Verf.
von der HERiNG*schen Erklärung binocularer Tiefen Wahrnehmung auf Grund
der Disparation der Netzhautbilder ausgeht, bestimmt er die kleinste „bin-
oculare Querdisparation" (Tiefen Wahrnehmung) durch drei in einer frontalen
Ebene stehende Stäbe, deren mittlerer sagittal verschiebHch ist und so die
Messung der kleinsten noch wahrnehmbaren Entfernungsdifferenz gestattet
Es ergab sich, dafs bei normaler Sehschärfe und gleicher Refraction auf
beiden Augen Entfernungsunterschiede, die einer Querdisparation der Netz-
hautbilder von 1 II entsprechen (d. h. bei Prüfung in 5 m eine Verschiebung
von 25 mm, nach vorn oder hinten vom Nullpunkt) erkannt werden. Durch
ungleichen Befractionszustand beider Augen, sowie verminderte Sehschärfe
kann dieses Maafs ebenso eine Vergröfserung wie durch Steigerung der
Sehschärfe eine Verminderung erfahren. Dieses Resultat beruht auf einer
Untersuchungsmethode, bei welcher das Wahrnehmungsvermögen von Ent-
fernungsdifferenzen verticaler Contouren (differente Bilder auf verticalen
Netzhautmeridianen) bei ruhendem Blick geprüft wird, da Entfernungs-
differenzen horizontaler Contouren ohne Bewegungen der Augen nicht er-
kannt werden können. H. wies nach, dafs auch bei einer Uebereinander-
stellung der Augen durch geeignete prismatische Anordnung die Differenz
der Bilder in den horizontalen Meridianen das Erkennen von Entfemungs-
differenzen horizontaler Contouren nicht zu Stande kommen läfst, jenes
Vermögen also auf die verticalen Meridiane beschränkt ist. Zur Erklärung
der Feinheit der Tiefenwahrnehmung nimmt H. eine nervöse Doppeltver-
sorgung der Macula lutea an, die durch centrale Commissuren bedingt, die
Verschmelzung der zwei differenten Bilder beider Augen zu Einem Bilde
ermöglicht. Schematische Zeichnungen dienen zur Veranschaulichung
dieser theoretisch postulirten centralen Verbindung.
In einer zweiten Abhandlung hat Verf., einer Anregung Hebino*s
folgend, die binoculare Tiefen Wahrnehmung als solche untersucht, wie weit
wir im Stande sind, ausschliefslich auf Grund dieser das Verhältnifs der
Tiefendimensionen eines Gegenstandes zu seinen übrigen Dimensionen
richtig (orthoskopisch) zu sehen. Da mit der Entfernung eines Gegen-
standes die Incongruenz seiner Netzhautbilder geringer wird, nehmen auch
Literaturbericht 269
»eine Tiefendimensionen scheinbar ab. Die einzelnen Bedingungen für das
.orthoskopische^ Sehen wurden in der Weise ermittelt, dafs von drei ver-
schieblichen verticalen Stäben, deren Enden abgeblendet waren, zwei die
Basis und der dritte die vordere mediane Kante eines Prismas bildeten
und die Veruchsperson mit fixirtem Kopfe ein gleichseitiges Prisma durch
Verschiebung der Stäbe herzustellen hatte. Im Hellzimmer, wo die Ent-
fernung des Prismas richtig beurtheilt werden konnte, lag der Bezirk des
.orthoskopischen Sehens'^ in einer Entfernung von Vs l^is 1 m* Int^ Dunkel-
zimmer, wo die Entfernung des Prismas unterschätzt wurde, erschien ein
▼irUich gleichseitiges Prisma in einer Entfernung von Vs i^ zu flach, in
^3 m Entfernung wurde es in der Kegel als solches gesehen. Der Versuch,
ortboskopisches Sehen in anderen Entfernungen dadurch herzustellen, dafs
dAMelbe Verhältnifs des Sehwinkels der Basisbreite des Prismas zum Quer-
disparations Winkel der Vorderkante wie bei Vs ni gewählt wurde, beispiels-
weise die Tiefe des Prismas mit der doppelten Entfernung verdoppelt
wurde, mifslang. Denn es ergab sich, dafs die Tiefendimensionen im
Verhältnifs zu den Breitendimensionen mit zunehmender Entfernung
des Objects zwar unterschätzt werden, „jedoch nicht in demselben
Maaüse, in welchem mit der wirklichen Entfernung die durch die
DisparationsgrOfse gegebenen Tiefenwerthe abnehmen.'' Es liefs sich
rahlenmäfsig feststellen, dafs das Verhältnifs des Sehwinkels der Basis
zxun Querdisparationswinkel der vorderen Kante in gröfserer Entfernung
anch grOfser zu wählen ist als in kleinerer, um ein scheinbar constantes
Verhältnifs zwischen Breite und Tiefe herzustellen. Es zeigt sich also mit
Zunehmender Entfernung des Objects eine sich steigernde Ausnutzung der
Tiefenwerthe; die letztere ist nicht nur von der absoluten, sondern auch
von der scheinbaren Entfernung abhängig, wie unter Anderem aus der
bereits erwähnten Thatsache hervorgeht, dafs bei anscheinender Annähe-
rung des Prismas im Dunkelzimmer die Tiefe scheinbar abnahm, so dafs
w zu flach erschien. G. Abelsdorff (Berlin).
«lOSEPPE Bellei. Li sUnchena mentale nei bambini delle pablicbe scnole.
Rivista sperimentale di freniatna 2«, 692—698. 19(X).
Der Verf., Schularzt in Bologna, hat an 460 Schulkindern im Alter
von durchschnittlich 11 Jahren und 6 Monaten Versuche über die Er-
mödnng durch den Unterricht gemacht. Er benutzte als Prüfungsarbeit
Dietate. Sein Befund war der, dafs nach der 1. Stunde mehr geleistet
Würde als vor Beginn des Unterrichtes, und dafs die Müdigkeit während
des Vormittags nicht zunahm. Die schlechteste Leistung fand sich, und
zwar gegenüber dem geringen ermüdenden Einflufs des Vormittags in ganz
anfälligem Grade, nach der einen Nachmittagsstunde, während nach der
Mittagspause weitaus am besten gearbeitet wurde. Gegen die Versuche ist
der eine Einwand zu machen, dafs es trotz der Mithülfe einer Lehrerin
kaum möglich sein dürfte, Dietate von absolut gleicher Schwierigkeit her-
zustellen, und dafs der Einflufs der Uebung wohl etwas zu gering veran-
schlagt wurde. Aschaffenbürq (Halle).
270 Literaturbericht.
M. LoBSQEN. Ueber die psychologfiscb-p&dai^ogischeii Methoden iir Erfendung
der |[ei8ti|[eil Ermfldimi;. Zeitschr, f. pädag, Fsychol u. Path. 2, 273—286,
352—367. 1900.
L. giebt eine brauchbare Orientirung über die hauptsftchliothen xur
Prüfung der geistigen Leistungsfähigkeit und Ermüdung bisher angewandten
Yerfahrungsweisen, insbesondere über die Rechen-, Dictir-, Credächtnirs- und
Oombinationsmethode, und beurtheilt in besonnener Kritik ihren methodo-
logischen Werth. W. Stern (Breslau).
B. Blazek. Ermfidongsmessimi^eii mit dem Federästhesiometer an Schtleni des
Frani-Joseph-Gymnasinms iq Lemberg. Zeitschr, f. pädag. Fsychol, 1, 311—325.
1899.
Mit einem selbstconstruirten sinnvollen Federästhesiometer (die aus-
führliche Beschreibung und Gebrauchsanweisung ist im Original nachzu-
lesen) macht B. Versuche an einer ungenannten Anzahl von Gymnasiasten
ungenannter Altersstufen. Zu Beginn des Unterrichts, sowie nach Schluis
jeder Stunde wurde die Tast-Distanzschwelle am Unterarm geprüft. Die
gewonnenen Ermüdungscurven führt B. auf drei Grundtypen zurück. Der
«rste Typus zeigt in der ersten Hälfte der Schulzeit ein starkes Ansteigen
•der Ermüdung, das dann geringer oder auch negativ wird. Der zweite
Typus, der von den weitaus meisten Fällen repräsentirt wird, weist einen
mehrmaligen Wechsel von Ermüdung und Erholung auf, der dritte zeigt
überhaupt keine nennenswerthe Ermüdung und Erholung. Seine Ergeb-
nisse deutet nun Verf. zu folgender merkwürdigen Weise aus: Die Er-
müdung in einer Stunde ist ein Zeichen, dafs in ihr „gearbeitet^ worden
ist. Die Erholung zeigt das Gegentheil an. Ein Knabe also, der von
Stunde zu Stunde eine Erhöhung der Tastschärfe zeigt, hat während der
ganzen Zeit „nicht gearbeitet''! Somit lehren die Versuche: „Die Mehr-
zahl der Knaben arbeitete bei fünfstündiger Schulzeit nur drei Stunden.
Fünf Stunden hindurch arbeitete kein Schüler." Daraus geht hervor, „daGs
die dreistündige Unterrichtszeit als Maximum angesehen werden mufs."
Derartig voreilige und willkürliche Schlufsfolgerungen können nur geeignet
«ein, die eben beginnende experimentelle Bearbeitung des Schulermüdungs-
problems in ihrer Entwickelung zu hemmen. W. Stebn (Breslau).
H. Gale. Oh tbe PsycholOgy Of Ädfertising. Fsychdogical Studies hy Galt
(1), 39—69. 1900.
Nach einer wenig erfolgreichen Umfrage bei Geschäftsleuten hat G.
•die Psychologie der Reclame durch mehr als 6000 Laboratoriumsversuche
-ergründen wollen, und zwar hinsichtlich ihrer beiden Zwecke, die Auf-
merksamkeit auf sich zu ziehen, und dann: zum Kauf zu veranlassen. Er
benutzte dazu den Anzeigentheil von amerikanischen „magazines", dessen
Seiten rasch vor dem Auge der Versuchspersonen vorübergeführt wurden,
indem man sie im dunklen Zimmer kurz beleuchtete. Dabei erwiesen sich
u. A. bedeutsame Worte als auffälliger, wie Abbildungen, und wurde die
Wirkung der ersteren durch mehrfache Wiederholung noch gesteigert, die
Literaturbericht. 271
der letzteren gesckwächt Bei weiblichen Versuchspersonen war die Wirkung
Ton Bildern eine gröfsere als bei männlichen. Noch künstlicher als hierbei
waren die Bedingungen bei der Untersuchung der Wirksamkeit auf die
Kauflust, so dafs auch hier die Resultate in praktischer Beziehung ebenso
bedeutungsarm sind als in psychologischer. Ettlinoeb (München).
w. Fite. Contiguity aid Similarity. Philos. Rev,. 9 (6), 613—629. 1900.
F. ist Apperceptionist und sucht als solcher nachzuweisen, dafs die
beiden Hauptgesetze der Association, das der Contiguität und das der
Aebnlichkeit, als psychologische Gesetze vom Association ismus nicht erklärt
werden können. Sofern Contiguität auf Bewufstseinsinhalte bezogen wird,
gehört zu ihr nicht nur die Beziehung gleichzeitiger Vorstellungen, sondern
auch das BewuTstsein dieser Beziehung. Dies Bewufstsein aber ist nicht
al8 dritter hinzukommender Inhalt denkbar, sondern entspringt der geistigen
Activität, welche den einzelnen Elementen übergeordnet ist. Ebenso hat
Aehnlichkeit nur Sinn, sofern nicht nur ähnliche Vorstellungen, sondern
auch ein sie constatirendes Bewufstsein vorhanden ist. — Das Contiguität»-
gesetz ist wenigstens als physiologisches Associationsgesetz sinnvoll, indem
ea raumlich-mechanische Beziehungen zwischen Gehirnelementen ausdrückt;
das Aehnlichkeitsgesetz ist dagegen nicht physiologisch umdeutbar.
W. Stern (Breslau).
F. Kemsies. GedachtnifsQiitersQclioDgeii an Scbfilern. Zeitschr. f, pädag. Psychol.
M. Faihol, 2, 21-30, 84—95. 1900.
Die vorliegenden Massenuntersuchungen K.'s (welche später auf dem
Wege des Einzelversuchs ergänzt werden sollen) gelten hauptsächlich der
Frage, welche Lernmethode (die akustische, visuelle oder akustisch-
visuelle) die geeignetste sei. Das Lernmaterial bestand aus Lern-
t^tücken, die aus zehn lateinischen zweisilbigen Vocabeln^ mit deren
deutschen zweisilbigen Bedeutungen zusammengesetzt waren. Ein Lern-
stück wurde fünfmal hinter einander dargeboten ; sodann hatten die Schüler
das Behaltene niederzuschreiben. Die Darbietung geschah bei einem Lern-
!*töck akustisch durch Vorlesen, bei einem zweiten visuell durch Zeigen
der gedruckten Worte, beim dritten combinirt durch lautes Vorlesen der
sichtbaren gedruckten Worte.
Bei der Verwerthung waren die Hauptgesichtspunkte : Feststellung der
Quantität des überhaupt Behaltenen, Feststellung der Qualität der Leistung,
d. h. der richtig verknüpften Vocabeln und Bedeutungen. Das Haupt-
resultat bestand in einem bedeutenden Ueberwiegen der rein akustischen
Methode über die visuelle, sowohl der Quantität als auch, und zwar in
höherem Maafse, der Qualität nach. Die combinirte Methode (die in der
Praxis häufigste) weist, was überraschend scheint, keinen Vorzug, eher eine
gewisse Minderwerthigkeit gegenüber der rein akustischen auf. Bei dem
Zusammenwirken der beiden Hauptsinne scheint sich also gegenseitige
Unterstützung einerseits, Zersplitterung der Aufmerksamkeit andererseits
die Wage zu halten. Von weiteren Resultaten sei noch dieses erwähnt:
Vergleicht man die Ergebnisse verschiedener Classen, so zeigt sich ein
jichnelleres Steigen der Qualität als der Quantität der Gedächtnifsleistungen.
W. Stern (Breslau).
272 Literaturhericht.
'}
Eknst Mallt. Äbstractioa ond Aehnlicbkeits-ErkeniitBifs. Archiv f. «yttanst {•
Philosophie 6 (3), 291—310. 1900. |
Nach der von Meinono und anderen Psychologen vertretenen AbstractioiiB-
theorie ist die Abstraction als eine besondere intellectaelle Leistung ania-
sehen. Mit dieser Auffassung der Abstraction ist Cornelius nicht einverstanden.
Derselbe bestreitet, dafs die Abstraction ein urspr anglich er Thatbestaad
sei, und meint, Abstraction in Aehnlichkeitsbewufstsein auflösen sn können.
Meinong hat in einer längeren Abhandlung (Abstrahiren und Vergleichen»
diese Zeitsch. 24, 1) die Abstractionstheorie Cornelius* einer eingehenden
Prüfung unterzogen und deren Unhaltbarkeit nachgewiesen. Beinahe gleich-
zeitig mit der erwähnten Arbeit ist der vorliegende Aufsatz erschienen»
welcher sich ebenfalls das Ziel gesteckt hat, die CoRNEUus'sche Position
auf ihre Haltbarkeit zu prüfen.
Mally stellt zunächst die CoRNELiü8*sche Abstractionstheorie den Aus-
sagen der inneren Erfahrung gegenüber und weist nach, dafs die Theorie
durch die Empirie mangelhaft beglaubigt wird. „Die Theorie will» dab
wir bei jeder Abstraction vergleichen; unsere innere Wahrnehmung seigt
uns aber davon nichts." Hierauf wendet sich die MALLY'sche Kritik den
Bedingungen zu, die im Sinne der CoRN£Lius*schen Abstractionslehre erfüllt
sein müfsten, wenn Abstraction zu Stande kommen soll. Die erste Be-
dingung sei der Eintritt einer Aehnlichkeitsassociation. Dieselbe zeige sich
jedoch im Verhältnifs zur Häufigkeit der abstracten Vorstellungen selten
erfüllt. Die zweite Bedingung laute: Vollziehung einer Vergleichung
zwischen einem Gegenstande und einer Gruppe von gleichsinnig ähnlichen
Gegenständen oder einer Aehnlichkeitsreihe. Die verlangte Vergleichung
müsse im Sinne der Aehnlichkeit ausfallen und sich auf Glieder beziehen,
von denen das eine, die Aehnlichkeitsreihe vom Subjecte erst gebildet
worden sei. Die Aehnlichkeitsreihen entstünden durch das Aneinander«
ordnen der Glieder. Ein und dieselbe Thätigkeit bilde und führe die Reihe
weiter. Jedes Glied werde durch die Erkenntnifs seiner Zugehörigkeit zur
Reihe d. h. seiner Aehnlichkeit mit jedem der Glieder angefügt. Das sei
aber eben die Abstraction. Folglich verlange die CoRNELiüs'sche Hypothese
Abstraction vor der Abstraction. Bei der Bildung der Aehnlichkeitsreihen
käme nur Aehnlichkeit in einer und derselben Hinsicht in Betracht In
je mehr Hinsichten die Gegenstände eine Vergleichung zuliefsen, desto un-
wahrscheinlicher und zufälliger sei gerade die associative Bildung einer
bestimmten Reihe. Cornelius führe hier eine Hülfshypothese ein, nach
welcher wir durch eigenes Zuthun die Richtung der Association bestimmten ;
die Aehnlichkeitscomplexe würden unter einander wieder verglichen. Dieser
Hülfssatz sei unhaltbar, weil er nähere qualitative Bestimmung der Aehn-
lichkeit, welche es nicht gebe, voraussetze.
Gelegentlich der Erörterung der Frage nach der Entstehung der
Aehnlichkeitsreihen weist der Verf. darauf hin, dafs die CoRNELius'sche
Abstractionshypothese bei der Aehnlichkeitsrelation stehen bleibe, statt
das gesammte Gebiet der Relationen zu umspannen. Wenn Erkenntnifs
der Aehnlichkeit Abstraction sei, dann auch Erkenntnifs der Verschieden-
heit und überhaupt Erkenntnifs jeder Relation, deren Glieder nicht in jeder
Hinsicht in sie einbezogen seien. Aber selbst in dieser erweiterten Form.
Literaturbericht 273
fenOge die H3rpothe8e nicht Das ergebe sich ans der Weise, wie Aehnlich-
keitsreihen thatsächlich vorgestellt würden. Alle Glieder der Reihe würden
durch eine und dieselbe Vorstellung, den allgemeinen Begriff vorgestellt.
Immer mOfsten die Glieder einer Beihe unter einer allgemeinen Vorstellung
fegeben sein, wenn eine Vergleichung eines Gegenstandes mit der Reihe
stattfinde. Die Hypothese verlangt also Allgemeinheit der Vorstellung vor
der Abstraction. Das ErgebniXs der vorliegenden Untersuchung ist also
Unhaltbarkeit der CoENELius'schen Abstractionslehre.
Allem Anscheine nach bedeuten die Begriffe abstract und allgemein
bei CosKSLius so ziemlich dasselbe. Die Aufstellungen Cornelius' können
in Bezug auf die Genesis der allgemeinen Vorstellungen zutreffend sein,
wahrend sie das für das Abstractionsproblem nicht sind. Mally hätte viel-
leicht diesen Umstand in seiner Arbeit ausdrücklich hervorheben sollen.
Die eben ausgesprochene Vermuthung scheint in der That durch die gleich-
seitig mit den Arbeiten Meinong*s und Mally's veröffentlichten Ausführungen
CosvELius' (Zur Theorie der Abstraction, diese Zeitschr, 24, 1) bestätigt zu
werden. Cobkklius hat zweifellos recht, wenn er bemerkt, dafs einem Kinde
an einem Tone die allgemeinen Vorstellungen Klangfarbe und Höhe nicht
TerstAndlich gemacht werden können. Aber man wird einem Kinde auch
an mehreren Tönen die Bedeutung der genannten Allgemeinbegriffe nicht
klarlegen können, wenn es nicht vorher gelernt hat, auf einzelne Merkmale
eines Gegenstandes zu achten, d. h. wenn es in der abstrahirenden Thätig-
keit noch nicht genügende Uebung besitzt. Was das Kind auf die von
CosKioJUS beschriebene Art gewinnt, das ist das Verständnifs der allge-
meinen Vorstellimgen : das Mittel dazu ist aber wohl die Abstraction. Man
kommt eben über die Thatsache, dafs die Abstraction eine specifische in-
tellectuelle Leistung darstellt, nicht hinaus. Saxinger (Linz).
C. M. GiEssLER. Die Identiflcining von PersOnlicbkeiten. VicrteljahrsschHft f.
uismuschaftl, PhUosaphie 24 (3), 299—312. 1900.
Der Verf. unterzieht in der vorliegenden Arbeit den Vorgang der
Identificirung von Persönlichkeiten einer psychologischen Analyse. Der
erste Paragraph handelt von den Arten der Reproduction, nämlich der un-
betonten, der emotionellen und der ingeniösen Keproduction. Die emotio-
neUe Reproduction wird von emotionellen, die ingeniöse von intellectuellen
Stimmungen geleitet. Bei der emotionellen Reproduction tritt der herr-
Khende Gefühlston mit sämmtlichen Vorstellungen des gerade verarbeiteten
Vorstellungskreises in associative Beziehung. Hierbei treten diejenigen
Vorstellnngsmerkmale , deren Geftihlston mit dem herrschenden überein-
römmt, in den Vordergrund. Bei den intellectuellen Stimmungen gelangen
hiaptsächlich die Merkmale der der Majorität angehörigen Vorstellungen
in den Vordergrund. Diese werden dann unter dem Hinzutreten von Lust
ond Unlust zu einem Stimmungscomplex vereinigt. Durch Wiederholung
der betreffenden Stimmungslage entsteht eine gewisse Aehnlichkeit der
nervösen Betonungen, auf welchen die Vorstellungen des Stimmungscom-
plexes basiren« Dadurch scheinen diese Vorstellungen selbst einander ver-
wandt zu sein.
Zeitiehrift für Psyehologie 26. IB
274 Liter aturbei'^idU.
Im zweiten Paragraph zeigt der Verf., wie sich physikalische Begriffe
auf die Vorgänge der Reproduction anwenden lassen. Den Ausgangspunkt
bildet der von Höfler in die Psychologie eingeführte Begriff des psychi-
schen Kraftfeldes. Psychische Kraftfelder entstehen nach der Ansicht des
Verf.'s nicht nur, wenn Vorstellungen in die Urtheils- bezw. Begehrungs-
Sphäre eintreten, sondern auch in allen Fällen, wo einige Zeit hindurch
Vorstellungen, die einem bestimmten Associationskreise angehören, heran-
gezogen werden. Weiters kommt der Begriff der Flächen gleichen Poten-
tiales (Niveauflächen) in Betracht. Von den verschiedenen Vorstellungs-
kreisen werden die einen leicht, die anderen schwerer reproducirt. Sie be-
finden sich auf Flächen verschiedenen Potentiales. Dies gilt auch von
den Vorstellungen eines bestimmten Vorstellungskreises. Beim Repro-
duciren eines Vorstellungskreises befinden sich die Vorstellungen nicht auf
einer einzigen Niveaufläche, sondern auf einem Complex benachbarter
äquipotentieller Flächen.
Der dritte Paragraph ist der Untersuchung der Einübung des Gedächt-
nisses gewidmet. Die Einübung des Sinnengedächtnisses kommt durch
wiederholtes Fixiren der Persönlichkeit in Bezug auf ihre sinnlich wahr-
nehmbaren Eigenschaften zu Stande. Je bekannter eine Persönlichkeit,
desto leichter werden auf Grund einiger sinnlich wahrnehmbarer Eigen-
schaften die übrigen hinzu ergänzt. Die Einübung des emotionellen Gre-
dächtnisses auf Persönlichkeiten vollzieht sich durch wiederholte Ein-
wirkung derselben auf unser Ichgefühl. Aus dem Grade der Modificationen
des Ichgefühles bei einer Begegnung mit Persönlichkeiten erkennen wir
den Grad der Einübung. Das ingeniöse Gedächtnifs wird dadurch einge-
übt, dafs wir die in einer bestimmten Situation wahrgenommene Persön-
lichkeit zu den Vorstellungsgefühlen in associative Beziehung setzen, welche
zu den stimmungsbildenden Factoren der betreffenden Situation gehören.
Die Einübung des ingeniösen Gedächtnisses ist um so gröfser, je gröfser
die Zahl der Situationen ist, denen die Persönlichkeit associirt wurde.
Im vierten Paragraph schildert der Verf. den Verlauf der Identificirung.
Zuerst tritt das Sinnengedächtnis in Kraft. Die Thätigkeit des Sinnen-
gedächtnisses wirkt vorbereitend für die Verwerthung der anderen Rich-
tungen des Gedächtnisses. Im zweiten Moment kommt das emotionelle
Gedächtnis hinzu, welches bewirkt, dafs jene Modificationen des Ichgefühles
in Verbindung mit reflectorischen Veränderungen des Mienenspiels und
der Körperhaltung zur Geltung kommen, die beim Antreffen der Persönlich-
keit in früheren Situationen aufgetreten waren. Mit Hülfe des Sinnen-
gedächtnisses wird eine weitere mit Hülfe des emotionellen Ge-
dächtnisses eine engere Wahl von Situationen getroffen, in welche die
Einreihung der Persönlichkeit möglich ist. Die Einreihung in eine be-
stimmte Situation wird durch das im dritten Moment zur Mitwirkung ge-
langende ingeniöse Gedächtnifs vollzogen. Dieses gewährt die Möglichkeit,
die Spuren jener Vorstellungsgefühle zu verwerthen, welche zu den
Stimmungsmodis für früher wahrgenommene Situationen gehört hatten.
Wir suchen nach einem Stimmungsmodus, welcher sich den von der Per-
sönlichkeit ausgehenden Eindrücken leicht associiren läfst.
Literaturbericht, 275
Der Verf. macht dann auf jene Fälle aufmerksam, in welchen die 6e-
dftchtniCsspnren für die Situationen, in die die Persönlichkeiten einzuordnen
sind, nicht dem neueren Bestände des Gedächtnisses angehören. Hier spielt
dann auch die Beproduction der Zeit eine wichtige Bolle.
Saxinoeb (Linz).
B.ESD1IANN. OnrlMe nr PsychOlOgfie des Denkens. Aus den „Philosophischen
Abhandiungen*', Chbistoph Sigwabt gewidmet, S. 3 — 40. 1900.
Die Grundgedanken dieser scharfsinnigen und vielfach anregenden
Abhandlung sind die folgenden. Die Bestimmung des Begriffs des Denkens
ist seither hauptsächlich aus drei Motiven heraus erfolgt, erkenntnifstheore-
twchen, metaphysischen und logischen. Entsprechend wurde die Allgemein-
ffiltigkeit des Denkens im Gegensatz zur sinnlichen Erkenntnifs, seine
Spontaneität zum Unterschiede von der Keceptivität der Sinnlichkeit, oder
das Urtheilen als das specifische Merkmal des Denkens hervorgehoben.
Psychologische Bestimmungen haben weniger hineingewirkt; sie zu geben
ist die Absicht der vorliegenden Abhandlung. Zu dem Zweck wird, um
einen möglichst einwandfreien Ausgangspunkt zu gewinnen, das Denken
als ein Urtheilen angesehen, was insofern unbedenklich ist, als ja doch
jedenfalls alles Urtheilen ein Denken ist. Von den Verknüpfungen von
Vorstellungen, welche alle Urtheile darstellen, werden aber näher noch
diejenigen ausgewählt und zum Ausgangspunkt der psychologischen Unter-
suchung über das Denken gemacht, denen eine prädicative Beziehung eigen
ist d. h. eine solche, welche eine Zerlegung des sachlichen Inhaltes in
Subject, Prädicat und Copula fordert. Solche Urtheile sind typische Re-
prtsentanten einer Art des Denkens. Eine derartige Verknüpfung ist stets
zugleich ein „Sagen", d. h. ist an sprachliche Vermittelung gebunden, die
freilich auch durch optische Symbole, durch Worterinnerungen, Wortein-
Inldungen und abstracte Wortvorstellungen repräsentirt sein kann. Ein
derartiges Denken, wie es z. B. in dem Urtheil: Die Flamme flackert, sich
ausdrückt, welches also einen sachlichen, dem Vorstellen gegenwärtigen
Inhalt in sprachlicher, dem Vorstellen ebenfalls gegenwärtiger Form aus-
drückt, nennt £. ein vollständiges formulirtes Denken. Die Ver-
knüpfung, die es enthält, ist stets eine unsinnliche. Ein solches — bei
Gelegenheit der Wahrnehmung einer flackernden Flamme gefälltes — Ur-
theil soll nun — und das ist der wesentlichste Punkt der Ausführungen
E's. — lediglich durch die, durch associative Verknüpfung (der Wortvor-
stellnngen mit den Wahmehmungsinhalten) ausgelösten Beproductionen
der Wortvorstellungen zu Stande kommen. Von einer Trennung und
Wiedervereinigung der Inhalte, von einem Unterscheiden und Vergleichen,
einer Selbstthätigkeit, einer Synthesis, die man dabei hat eine Bolle wollen
spielen lassen, kann keine Bede sein; der falsche Schein, daiJs dem so sei,
entspringt daher, dafs man das ErgebniTs logischer oder metaphysischer
Beflexionen in den psychologischen Procefs hineingedeutet hat : ein Fehler,
vor dem eine Psychologie des Denkens sich nicht genug hüten kann.
An das vollständige formulirte Denken schlieüsen sich zwei andere
Arten des Denkens an, von denen die eine innerhalb der Functionen der
Sprache bleibt, die andere in entgegengesetzten Bichtnngen aus dem SptacVi-
18*
276 Literaturbericht.
leben hinausführt. Die erste ist das unvollständige formulirte
Denken. Bei ihm ist die sprachliche Form vorhanden und dem Vor-
stellen gegenwärtig, der andere Bestandtheil des vollständig formulirten
Denkens, der sachliche Inhalt der Aussage aber nicht oder doch nicht voll-
ständig. Der Fall des unvollständigen formulirten Denkens liegt da vor,
wo wir (im entwickelten Sprachleben) auf Grund von gehörten oder ge-
lesenen Worten urtheilen. Hier nimmt die Reproduction den umgekehrten
Weg als in dem oben angezogenen Wahrnehmungsurtheil, sie geht von den
Wortvorstellungen aus, führt aber die Bedeutungsinhalte nicht vollständig
herbei. Mitunter ist auch nicht eine Spur der Begriffe, welche die Worte
bedeuten, in unserem Vorstellen gegenwärtig. Die Bedeutungsinhalte sind
deshalb doch vorhanden, als unbewufst (reproductiv) erregte Gedächtnils-
dispositionen bestehen sie und vermitteln das Verständnifs des Ausdrucks.
Das unvollständige formulirte Denken bildet im entwickelten Bewufstsein
die Kegel, der gegenüber das vollständige formulirte Denken als ein seltener
Ausnahmefall erscheint.
Die andere Art des Denkens ist das unf or muH rte Denken, welches
in zwei Formen, als hypologisches und als metalogisches Denken,
auftritt. Hier fehlt das andere Glied, die sprachliche Vermittelung. Das
hypologische Denken besteht in dem, was die Aufmerksamkeit auf die Vor-
stellungsinhalte ohne sprachliche Verknüpfung zu leisten vermag. Es geht
d^m formulirten Denken vorher und findet sich beim Kinde und bei den
Thieren, aber auch beim erwachsenen Menschen ; von ihm unterscheidet sich
das metalogische Denken nur durch den gröDseren Keichthum seiner Objecte
und die Gröfse seiner Gesichtspunkte, nicht aber durch die Processe, in
denen es sich vollzieht. Es spielt die gröfste und bedeutsamste Rolle in
unserer intellectuellen Thätigkeit, insbesondere in den complicirteren und
schwierigeren Aufgaben derselben. Die Kraft, der Keichthum und die Art
dieses metalogischen Denkens sind ausschlaggebend für die Stärke und
Eigenthümlichkeit der intellectuellen Begabung. Demgemäfs ist seine
Schätzung immer eine hohe gewesen. So erkennen wir es z. B. in dem
höheren intuitiven Denken wieder, welches seitens der Philosophen so oft
dem gemeinen, sprachlich formulirten, abstracten Denken entgegengesetzt
worden ist. Besitzen es die einzelnen in verschiedenem Maafse, so besitzt
es in einigem Maafse doch jeder.
Aber auch diese Vorgänge sind nach E. blofse Keproductions Vorgänge,
ohne dafs sich eine Handlung, eine specifische Thätigkeit, eine Beziehung
auf das Ich darin nachweisen liefse. Die Inhalte des metalogischen und
hypologischen Denkens sind zwar an sich von der sprachlichen Formulirung
unabhängig, können aber — wenn auch oft mit Schwierigkeit — sprach-
lich formulirt werden und müssen es werden, um fixirt und festgehalten
und Bestandtheile der Wissenschaft zu werden. Das sprachlich formulirte,
und zwar das vollständige formulirte Denken bildet denn auch den eigent-
lichen Gegenstand der Logik, wenigstens derselben als Elementarlehre,
wenngleich die logischen Gesetze natürlich auch für das metalogische
Denken ihre Gültigkeit behalten. Uebrigens bleiben, wie beim formulirten
Denken die Beziehungen zu dem sachlichen Denken, so beim metalogischen
Denken die sprachlichen Beziehungen bestehen; sie sind reproductiv er-
Literaturbericht, 277
regt, wenn sie auch dem Vorstellen nicht gegenwärtig sind. Das rein
metalogische Denken ist im entwickelten BewuTstsein ein Grenzfall. — Für
du vollständige formulirte Denken schlägt E. die Bezeichnung discur-
mes, für das unvollständige formulirte Denken den Namen des ent^yme-
Bttischen vor; das unformulirte Denken bezeichnet er als intuitives. Der
Umfang des (formulirten und intuitiven) Denkens ist den Gegenständen
ntch unbegrenzt; seine logische Grenze bildet der Satz vom Widerspruch.
Das Beziehen ist allem Denken eigenthümlich, ein „beziehendes Denken"
daher eine Tautologie.
Vergleichen wir die Auffassung des Denkens, welche die psychologische
Betrachtung ergeben hat, mit den Eingangs erwähnten Auffassungen, so
wird auch auf dem psychologischen Standpunkt der Gegensatz des Denkens
gegen die Sinnlichkeit durchaus gewahrt. Die Allgemeingültigkeit kommt
dagegen nur dem wissenschaftlichen Denken, auch diesem nicht ohne
Weiteres zu. Die Spontaneität als charakteristisches Merkmal des Denkens
fiült fort. Das letzte Wort gebührt in dieser Beziehung freilich der Meta-
physik. Die XJebereinstimmung mit der logischen Fassung bleibt eine enge.
Zum SchluTs bezeichnet E. seinen Standpunkt als den einer Asso-
ciationspsychologie oder vielmehr einer Repr oductionspsychologie
aof modern-biologischer Grundlage. Die Selbständigkeit der Psychologie
gegenüber der Biologie wird aber deshalb nicht preisgegeben; die sog.
^materialistische" Psychologie, welche nur die physischen Processe als
causal und continuirlich zusammenhängend, die Bewufstseinsvorgänge aber
als discontinuirliche Begleiterscheinungen derselben betrachtet, verwirft E,
und hält an der psychischen Causalität fest. Ebenso lehnt er die Ansicht
ab, dafs die psychologische Erklärung des Denkens auch schon die logische
and erkenntnifstheoretische in sich schliefse. Die Logik behält ihre Selb-
ständigkeit gegenüber der Psychologie, Philosophie darf nicht in Psycho-
logie aufgelöst werden.
Auf diese Skizzirung der Grundgedanken der trotz ihrer Kürze sehr
inhaltreichen Abhandlung E's. mufs sich mein Referat nothgedrungen be-
schränken. Von einer eigentlichen Recension derselben, die in ihrem
polemischen Theile hauptsächlich E's. Auffassung des Denkens, insbe-
sondere des vollständigen formulirten ürtheils als eines blofsen Repro-
(Inctionsvorganges entgegentreten, mit vielem anderen dagegen, so insbe-
soDdere auch mit der von ihm gemachten und sehr ansprechend dar-
gestellten Unterscheidung der verschiedenen Arten des Denkens sich ein-
verstanden erklären würde, glaube ich aus mehreren Gründen absehen zu
sollen. Abgesehen davon, dafs es mir nicht recht passend erscheint, daDs
Männer, die sich, wie es hier der Fall ist, zu einem gemeinsamen Werke,
einer Festschrift, vereinigt haben, ihre Beiträge unter einander kritisiren,
würde auch bei der Fülle der zu beachtenden und in Betracht zu ziehenden
Gesichtspunkte eine Begründung meiner Ansichten über die von E. ver-
fochtenen Auffassungen weit über den mir hier zur Verfügung stehenden
Raum hinausgehen. Und endlich ist zu berücksichtigen, dafs B. Erdhann
oelbst durch das Mifsverhältnifs, in welchem der Reichthuni und die
Mannigfaltigkeit seiner Gedanken zu dem Raum, auf den er angewiesen
war, standen, genöthigt ward, sich, namentlich was die Begründung seiner
278 Ltteraturbencht
Auffassung anbetrifft, grofse Beschränkung aufzuerlegen, und daher vieles nur
andeuten konnte, was ausführlich darzulegen und zu begründen unmöglich
war. Die Abhandlung enthält in gedrängter und oft sehr concentrirter
Form thatsächlich einen ungewöhnlich reichen Inhalt, von welchem mein
Seferat nur das nach meiner Ansicht Wichtigste und Wesentlichste hat
wiedergeben können. Busse (Königsberg i. Pr.V
Eduard Zelleb. Ueber den Einflofs des Geftbls auf die Thatlgkeit der Phan-
tasie. Aus den „Philosophischen Ahhandlwvgtii^ , Chbistoph Sigwart ge-
widmet, S. 205—216. 1900.
Der ehrwürdige Nestor der deutschen Philosophen der Gegenwart
bietet in dieser Abhandlung eine anziehende Studie über den Einflufs des
Gefühls auf die Phantasiethätigkeit. Der psychologische Standpunkt, den
Z. einnimmt, ist von dem, welchen B. Erdmann in seiner gleichfalls den
„Philosophischen Abhandlungen^ angehörenden und hier von mir ange-
zeigten Abhandlung vertritt, in mehrfacher Hinsicht verschieden. Steht
E. auf dem Boden der Reproductionspsychologie, bemüht er sich, die von
ihm betrachteten Denkvorgänge als blofse Beproductionsprocesse anter
Ablehnung jeder Vorstellung von specifischer Thätigkeit oder Spontaneität
der Seele zu erweisen, so liegt den Z.'schen Ausführungen unverkennbar
die Auffassung zu Grunde, dafs die intellectuellen Processe auf einer
Spontaneität der Seele beruhen, welche, auf ihre Zustände lebendig zurück-
wirkend, bestimmend in den Ablauf derselben eingreift. Und wenn E. die
Einfiufs- und Wirkungssphäre des Gefühls zu beschränken bestrebt ist,
so möchte Z. ihm vielmehr einen bestimmenden Einflufs auch auf dem
Gebiete des Vorstellens und Denkens zuschreiben; die Spontaneität der
Seele empfängt nach ihm ihre Directive vom Gefühl. Die vorliegende Ab-
handlung beschränkt sich indes darauf, diesen Einflufs auf dem engeren
Gebiete der Thätigkeit der Phantasie aufzuzeigen.
Nachdem die Phantasie gegen die (äufsere und innere) Wahrnehmung,
von der sie ihr repräsentativer Charakter unterscheidet, einerseits, gegen
das Erkennen, von dem sie die ihr eigenthümliche SubjectivitÄt trennt,
andererseits abgegrenzt ist, wird gezeigt, dafs schon bei der Reproduction
der Vorstellungen, in welcher Z. nicht nur die B^ingung aller Phantasie-
thätigkeit überhaupt, sondern auch eine Leistung derselben als reproduc-
tiver Phantasie erblickt, das Gefühl eine sehr wichtige Rolle spielt. Schon
die Deutlichkeit, Lebhaftigkeit und Häufigkeit der Wahrnehmungen, die ja
für die Reproduction der ihnen entsprechenden Vorstellungen von grofser
Wichtigkeit sind, sind durch das Gefühl (Interesse) mit bedingt. Die
Reproduction selbst wird durch es beeinflufst: was grofsen GrefOhlswerth
für uns hat, befestigt sich im Gedächtnifs und haftet an einander. Noch
mehr tritt der Einflufs des Gefühls hervor im freien Spiel der Phantasie.
Nicht nur die individuellen dem Einzelnen eigenthümlichen Gefühle, die
ja schon die Reproduction überhaupt beeinflussen, sondern auch die
wechselnden momentanen Stimmungen und Interessen sind hier von
grofsem Einflufs. Bis in die höchsten Leistungen hinein kann man den
Einflufs des Gefühls verfolgen. In der symbolisirenden Phantasiethätigkeit,
auf der die Sprachbildung beruht, in der bildlichen Denk- und Ausdrucks-
Literaturbtricht. 279
weise, in der Kunst nnd in der Religion ist das Gefühl thätig. Es treibt
in dieser Thätigkeit hin — ohne Begeisterung kein Dichter und Künstler,
ohne Interesse kein Forscher — und bestimmt die Art und Bichtung der-
selben.
Von einem kritischen Eingehen auf die Ausführungen Z's. mufs ich
tmi denselben Gründen, wie bei B. E&dmann, Abstand nehmen.
Busse (Königsberg i. P.).
J. Zeitler. TtchistoskopUclie UntersncliQiigen über das Lesen. Mit 1 Figur
im Text. Fhilos. Studien 16 (3), 380—464. 1900.
An der Hand einer beigegebenen Zeichnung beschreibt der Verf. zu-
nicbst Wundt's neues Tachistoskop, mit dem die Untersuchungen ausge-
führt wurden. Dem vom Mechaniker E. Zimmermann in Leipzig ange-
fertigten Apparat liegt der von Cattell angegebene (Fhilos. Stvd. 3, 94, 97 ff.)
in Grunde. Er besteht im Wesentlichen darin, dafs sich zwischen zwei
anf einem Fulsbrett stehenden Messingsäulen von 80 cm Höhe eine ge-
schwärzte, 10 cm breite, rechteckige Fallscheibe bewegt, welche letztere
eine für die Aufnahme der zu beurtheilenden Objecte bestimmte, variirbare
Oeffnnng besitzt. Die Fallscheibe wird vor der Exposition von zwei
Elektromagneten gehalten und nach derselben von zwei Fangfedern fest-
gehalten. Ein mit. einer Fixirmarke versehenes Schutzblech verdeckt das
Object vor der Exposition. Im Momente der Exposition wird das Schutz-
blech von der Fallscheibe so in ein Fangschild geschnellt, dafs das Object
«rfort wieder verdeckt wird. Zur Regulirung der Fallbewegung dient eine
ArwooD'sche Vorrichtung. Mit dem Rad dieser Vorrichtung mifst der
Apparat selbst 1 m Höhe. „Die Fallhöhe der Expositionsscheibe kann
innerhalb 50 cm beliebig variirt werden. Die Möglichkeit, den Spalt jeder-
leit zu verändern, gestattet aber auch eine rasche Variation der Expositions-
leit, ohne dafs die Fallhöhe geändert zu werden braucht." Der Apparat
gestattet mit Fallzeiten von 0,2 — 0,005 See. zu arbeiten. Erstere wurden
durch Stimmgabelschwingungen gemessen.
Die Beobachtung geschah durch ein astronomisches Fernrohr, das
eine Vergröfserung von 2:3,3 aufwies.
Die Expositionszeiten waren kurz genug, um die Wanderung der Auf-
merksamkeit auszuschliefsen und doch lang genug, um die Apperception
'les Eindrucks zu gestatten.
Für die Sichtbarkeit des Objects unterscheidet der Verf. drei Phasen :
1. die Präexpositionszeit, d. h. die kurze Zeit vom Beginn der Ex-
position, „an dem der untere Strich der Expositionsspalte die obere Be-
grenzungslinie des Schriftbildes passirt, bis zur völligen Sichtbarkeit des-
selben", 2. die absolute Expositionszeit und 3. die Postexposi-
tionszeit, d. h. der Zeit, „innerhalb deren der obere Strich der Spalte
die obere und untere Begrenzungslinie des Wortbildes passirt."
Da das Fernrohr die Objecte in der Umkehrung wiedergiebt, wurden
diese in umgekehrter Stellung eingesetzt. Der Verf. sieht hierin eine Com-
pensation, sofern „beim Schlufs der Exposition der charakteristische Streifen
zuletzt verschwindet, wodurch sich die ohnedies wohl unbedeutenden Zeit-
nntenschiede wieder ausgleichen."
280 lAteraturbericht
Unter Darlegung aller dieser Verhältnisse an durch Messung ge-
wonnenen Werthangaben zeigt der Verf., dafs die erwähnten Phasen für
den Beobachter subjectiv bedeutungslos sind. „Daus das Wortbild allmählich
aufgedeckt würde, entzieht sich der Beobachtung vollständig, für die es
ebenso plötzlich enthüllt als wieder verhüllt wird. Das Vorübergleiten der
Scheibe wird überhaupt in keiner Weise wahrgenommen, im Gegentheil
besteht nur der Eindruck, dafs das Bild simultan auftaucht und wieder
verschwindet."
1. Appercipirendes und assimilirendes Lesen. Der Verf.
unterscheidet zwei Arten der Beobachtung, je nachdem die Vorgänge der
Apperception oder der Assimilation bei derselben Überwiegen. Er führt
dann aus, dafs sich der Apperceptionsvorgang objectiv inmier auf einer ge-
gebenen Vorstellungsgrundlage vollzieht, sofern sich durch den äofiseren
Eindruck hervorgerufene rep>roductive Elemente mit diesem zum einheit-
lichen Wortbilde verbinden. Der Verf. unterscheidet hier reproductive
Factoren ersteren Grades oder primäre Reproductionen von secundären.
Die ersteren, durch die dominirenden Elemente des Eindrucks hervorge
rufen, verbinden sich mit der Apperception unmittelbar. Dieser Vorgang
zeigt sich besonders beim Lesen der geläufigsten Wörter. „Denn die Ge-
läufigkeit der Wortbilder beruht auf einer entsprechend starken Disposition
zu ihrer Wiedererneuerung Indem der directe Sinneseindruck einen
jenen Dispositionen entsprechenden Complex von Empfindungen erweckt,
werden die Dispositionen selbst zu «actuellen Empfindungen« (Wündt,
ölkerpsychologie 1, 1, S. 540 ff.), die mit dem durch den äufseren Eindruck
rweckten in eine einheitliche Vorstellung zusammenfliefsen. Dieser ob-
jective Vorgang der Apperception wird dabei subjectiv stets von einem
Thätigkeitsgefühl begleitet, das wir auf eine Mitwirkung von activer Auf-
merksamkeit beziehen."
Beider secundären Reproduction gehen die durch den primären
Vorgang gehobenen Elemente mit den unbetonten, nur dunkel pereipirten
Strecken der Wortbilder Verbindungen ein, — Assimilation im engsten
Sinne des Wortes. „Eine nachweisbare Assimilation tritt erst in dem
Momente ein, wo reproductive Elemente, die von den direct erregten ver-
schieden sind, zu aactuellen Empfindungen« werden, sie vollzieht sich erst
mit dem vollen Eintritt der secundären reproductiven Elemente ins Be-
wufstsein, indem diese nunmehr auch auf die primären zurückwirken
können."* Die sich verbindenden Elemente können sich weiter im Sinne
einer wechselseitigen Assimilation gegenseitig beeinflussen und
sich in ihren Wirkungen leicht in successive Associationen fortsetzen, die
wiederum das Bild assimilativ verändern können. Das subjectiv Charakte-
ristische dieses ganzen Vorganges ist die passiv schweifende Auf-
merksamkeit.
„Das Lesen unter vorwaltendem Einflufs der Apperception und Aus-
schlufs der secundären Reproductionen und Assimilationen vollzieht sich
schon bei minimalen Zeiten, und zwar unter stärkerer Spannung und
activer Fixation der Aufmerksamkeit, während das assimilative Lesen mit
schweifender fluctuirender Aufmerksamkeit gröfsere Zeiten benöthigt." ^Bei
kurzer Expositionszeit wird daher entweder nur direct appercipirt oder
Litera turherich t 281
überhaupt nichts erkannt." Es entsteht ein falsches Wortbild, wenn bei
momentanem Nachlassen der Aufmerksamkeit erhebliche Assimilationen
irirksam werden.
Obwohl eine absolute Trennung der apperceptiven und assimilativen
Vorginge nicht durchführbar ist, hält der Verf. doch dafür, dafs bei tachisto-
skopischen Versuchen über das Lesen auf diese Unterschiede Rücksicht
genommen werden mufs. Dementsprechend suchte er bei seinen Versuchen
die secundären Reproductionen und Assimilationen so viel wie möglich
aosxuschalten und wies seine Versuchspersonen an, dem objectiven Ein-
druck selbst den höchsten Aufmerksamkeitsgrad zuzuwenden. „Es kam
nicht auf Lesen überhaupt, sondern auf Richtiglesen an.^ Die Expositions-
zeit wurde daher so kurz gewählt, dafs noch gerade eine Apperception
möglich war. Schon die ersten Resultate ergaben, dafs die dominirenden
Buchstaben die Apperception bestimmten, während die Assimilation vor-
zugsweise an die Wortform geknüpft war. „Das Wortbild wird zwar
secnndär scheinbar als »Ganzes« assimilirt, aber primär appercipirt
wird es nur in seinen dominirenden Bestandtheilen." „Die grundlegende
Arbeit im Procefs des Lesens hat die Apperception und die mit ihr ver-
bundene primäre Assimilation zu verrichten; mit ihr verschmilzt aber
fortwährend die secundäre Assimilation, so dafs beide Vorgänge, in ein-
ander übergreifend, sich verdeckend, sich zu verwirren scheinen."
Die Einübung der Versuchspersonen geschah an geläufigen Wörtern,
hierauf wurden sinnlose Zusammensetzungen von Buchstaben und sodann
geläufige gröfsere Sätze exponirt.
Indem der Verf. zunächst die Frage zu beantworten suchte, in welcher
Weise beim appercipirenden Lesen einzelne Buchstaben wirkten, konnte er
die Angaben Cattell's bestätigen, wonach die Apperceptionszeit der ein-
reinen Buchstaben eine verschiedene ist. Die Versuchspersonen konnten
sodann bei ungeläufigen Wörtern nur einzelne Buchstaben erkennen. „Die
Vocale und kleinen Consonanten waren den meisten Verlesungen ausge-
setzt, die ober- und unterzeiligen den wenigsten. Je charakteristischer die
Buchstabenform war, desto dominirender wurde sie gefunden." Der Verf.
macht darauf aufmerksam, dafs bei einer Expositionszeit von 10 — 15 o
Augeubewegungen wohl als ausgeschlossen zu betrachten w^aren.
2. Methode. Der Verf. führt aus, dafs die Aussagen der Versuchs-
personen noch kein Kriterium für die Objectivität ihrer Auffassung sind,
und dafs diese daher in jedem Falle analysirt werden müfsten, wobei aber
darauf Bedacht zu nehmen sei, dafs auf den Beobachter nicht suggestiv
eingewirkt werde. Sodann empfiehlt er Vexirversuche. Die verwandten
.Schriftzeichen blieben nach Gröfse (3—4 mm) und Typus bei den Ver-
suchen constant. An Versuche in der Muttersprache schlössen sich solche
in einer fremden.
3. Die Aufmerksamkeit. Der Verf. zeigt, dafs das Maximum
der Aufmerksamkeitsspannung bei kleinsten Expositionszeiten mit dem
3Ionient der Exposition zusammenfallen müsse. Er liefs daher durch den
Beobachter selbst den günstigsten Moment für das Fallenlassen des Deck-
Hchildes des Apparates angeben. Es wird weiter ausführlich gezeigt, dafs
bei derartigen Versuchen zwischen constanter Aufmerksamkeit und Auf-
282 Literaturbericht,
merksainkeitsschwankung einerseits und fixirter und fluctuirender Auf-
merksamkeit andererseits zu unterscheiden sei. „Die fixirte Aufmerksam-
keit entspricht in der Regel dem directen Sehen, die fluctuirende Aufmerk-
samkeit jedoch läfst sich im Bereiche des indirecten Sehens nicht genau
begrenzen.'' „Je kleiner die Markirung des Fixifpunktes, desto fester ist
die Fixation. Der Aufmerksamkeitspunkt dagegen "^ (der mit dem psychi-
schen Aequivalent des physiologischen Fixirpunktes nicht identisch ist)
„fluctuirt im Aufmerksamkeitsumfang." ^Die Verschiedenheit des Auf-
merksamkeitspunktes bedingt auch eine Verschiedenheit der Exposi-
tion," u. s. w.
4. DieSuccession. Der Verf. geht hier auf die von Cattbll, sowie
auf die von Erdmann und Dodge (Untersuchungen üb. d. Lesen, Halle 1898)
ausgeführten Untersuchungen ein und führt aus, dafs der Grund ihrer Be-
hauptung, es werde stets das »Ganze« gelesen, darin liege, dafs der Einflufs
der Assimilation den Schein der Simultaneität des Eindrucks vorgetäuscht
habe. Er sucht zu zeigen, dafs die letztere sich höchstens für einen domi-
nirenden Complex von Buchstaben aufrecht erhalten lasse. „Was wir
appercipiren, sind letzten Endes immer nur Buchstaben, allerdings gleich-
sam relief artig herausgehobene determinirende Buchstaben, die einem be-
stimmt gruppirten Complex angehören, der am klarsten aufgefafst wird,
wenn auch die unbetonten Buchstaben über die Schwelle gerückt sind.**
Dabei können, wie weiter gezeigt wird, die Beobachter selbst durchaus
sicher sein, das iGanze« gelesen zu haben. Weitere Beweise für die
Succession der Auffassung erblickt der Verf. darin, dafs die Beobachter
zuweilen wohl Buchstaben, aber nicht den Sinn des Wortes appercipiren,
sowie in den Resultaten, die er bei Anstellung von Vexirversuchen gewann.
„Der Procefs des Lesens findet nur beim entwickelten Menschen so rasch
statt, dafs er in sprungweiser Simultaneität zu geschehen scheint, aber im
Grunde reihen wir die dominirenden Complexe ähnlich successiv an ein-
ander, wie beim primitivsten buchstabirenden Lesen der Buchstaben. Der
Ablauf des Lesens ist nur sehr rasch, darum ist er aber nicht weniger
successiv. Mit dem gewöhnlichen Buchstabiren hat dies jedoch nichts zu
schaffen; wir reihen vielmehr die dominirenden Buchstaben und betonten
Complexe an einander. Dies erfolgt möglicherweise in einer Art rhythmi-
scher Succession, mit fortwährender Variation des Rhythmus."
5. Die Wanderungen der Aufmerksamkeit. Die Aufmerk-
samkeitsw^anderung steht nach dem Verf. mit der Succession des Lesens
im Zusammenhang. Ist die letztere mehr objectiver, so ist die erstere
mehr subjectiver Natur. ^I^i© Wanderung der Aufmerksamkeit erweist
sich als ein sprungweises Uebergehen von einem dominirenden Complex
zum anderen. Sie tritt fast stets unter Mitwirkung von Assimilation auf.
Bei längeren Expositionszeiten (100 a) ist der Vorgang auch subjectiv leicht
wahrnehmbar, bei kleinsten Zeiten ist er subjectiv nicht bemerkbar, obwohl
er objectiv vorhanden ist. Die Bestimmung der Grenze dieser Wahrnehm-
barkeit ist einmal dadurch erschwert, dafs der Aufmerksamkeitswechsel bei
jedem Beobachter variirt, sodann aber auch dadurch, dafs der Aufmerk*
samkeitsvorgang bei jedem Worte an die objective Struktur der Schrift-
bilder geknüpft ist und endlich dadurch, dafs die Bemerkbarkeit des Vor-
Literaturbericht. 283
ganges durch die Assimilation verwischt wird. „Die Assimilation verhindert
oder erschwert auch hei grofsen Zeiten die Beobachtung des Aufmerksam-
keitsvorganges so sehr, dafs ihm nur mit ganz grofsen und ganz geläufigen
Wörtern beizukommen ist." Nach der weiteren Ausführung dieser Ver-
hältnisse an der Hand von Beispielen zeigt der Verf., dafs Cattell bei
meinen Versuchen diesen Vorgang nicht bemerkte, weil die Beobachtung
desi^elben bei den von ihm verwandten geringen Expositionszeiten (10 o)
erechwert war.
6. Der Umfang der Aufmerksamkeit. Bei der Bestimmung
des Umfangs der Aufmerksamkeit mufs die Assimilation nach dem Verf.
möglichst ausgeschlossen werden. Aber auch bei Verwendung von sinn-
losen Zusammensetzungen von Buchstaben und Silben kann der Umfang
der Aufmerksamkeit nicht allgemein angegeben werden, da er sich hier
TOD einem Minimum zu einem Maximum ändert. „Am engsten ist der Um-
fang bei sinnlos zusammengesetzten Buchstaben" (ohne Vocale 4 — 7, mit
Vocalen 5—8). Bei heterogen an einander gesetzten Silben tritt eine Er-
weiterung ein (6 — 10). Silben sind aber schon Assimilationscomplexe. „Mit
dem Uebergang zu Wörtern steigert sich der Umfang ganz beträchtlich.
Je nach dem Grad der Bekanntheit und Geläufigkeit eines Wortes variirt
der Umfang zwischen 15 — 25 Buchstaben." Bei sinnlos neben einander
stehenden Wörtern sinkt der Umfang „jäh herunter und erstreckt sich
höchstens auf ein Wort und die rechts und links benachbarten Buchstaben."
.Je geläufiger aber die Satzbildung, desto mehr steigt der Umfang."
7. Die Versuche. Diese erstreckten sich über
I. sinnlose Buchstabenverbindungen,
II. sinnlose Silbenverbindungen,
III. ungeläufige Wörter,
IV. geläufige Wörter,
V. ungeläufige Sätze,
VI. geläufige Sätze.
Wir heben aus den Ergebnissen das Folgende hervor.
I. Vocallose sinnlose Gebilde sind am schwersten aufzufassen." „Die
dominirenden Buchstaben werden zuerst erkannt und in ihrer Lage festge-
{«telJt, und am wenigsten umgesetzt oder verwechselt." „Sobald in das sinn-
los (rebilde ein paar Vocale eingeschoben werden, stellen sich schon Silben
ein nnd werden Assimilationen möglich."
II. -Bei Versuchen mit sinnlos zusammengesetzten sinnvollen ge-
läufigen Silben von 3 — i Buchstaben zeigt sich der Einflufs der Assimi-
lation.**
III. Sinnlose Silben und sinnvolle unbekannte Wörter sind für die
Versuchspersonen von geringem Unterschied.
IV. „Die Versuche mit geläufigen Wörtern ergaben, dafs der unter
Einfiufs der Assimilation eintretende Auf merksamkeitsumfang bis zu25Buch-
Mtaben betragen kann und zwar schon auf die erste Exposition hin."
V. VI. „In kurzen Sätzen tragen die den Sinn fixirenden Bestand-
theile auch für die Assimilation dominirenden Charakter. Den dominirenden
Buchstaben im Wortbild können sonach dominirende Wörter oder Wort-
complexe im Satzbild angereiht und gegenübergestellt werden."
284 ^i ^^'^ hirberich t
8. Expositionszahl und Expositionszeit. Der Verf. führt
aus, „dafs die Expositionsfolgen keine unmittelbare Bedeutung zum Wort-
erkennen haben." Sobald die objectiven Bedingungen (dominirende Buch-
staben, Wortform und -länge, Feststellung des Buchstabenbestandes) hierfür
erfüllt sind, vollzieht sich die Auffassung der Bedeutung des W^ortes in-
stantam in einem selbständigen psychologischen Act „D^ls unbekannte
Wort wird nur nach dem Zeichencomplex festgestellt .... Das bekannte
Wort hat zwei Erkennungsphasen: a) die Apperception der dominirenden
Elementengruppe, des dominirenden Buchstabencomplexes und der Ge-
sammtform, b) daran anschliefsend die Apperception des Granzen und die
Apperception der Bedeutung." „Die Apperception des optischen Bildes ist
an die Folge der Expositionen gebunden, die Apperception der Bedeutung
an den dominirenden Complex." Der Verf. tritt daher der CATTBix'schen
Methode, nach welcher bei kurzer Expositionszeit 5 mal nach einander ex-
ponirt wird, entgegen und fordert eine einmalige Exposition. Die Exposi-
tionszeit „is^ ^in^ 1*6^1^ physiologische Zeit, eben die Zeit, die zur Xetz-
hauterregung erforderlich ist, wozu dann noch eventuell die Dauer des
Nachbildes hinzukommt. Sie variirt bei den einzelnen Beobachtern (6 bis
20 a), bleibt aber innerhalb der Grenzen von 5 a bei einem und demselben
Beobachter constant.
9. Kritik der CATTELL'schen Versuche. Der Verf. zeigt, dafs
Cattell*s Versuche nicht reine Apperceptionsversuche waren, und dafs er
vermuthlich für Apperception hielt, was lediglich der Assimilation zuzu-
schreiben ist. Die von Erdmann und Dodge mit einer Expositionszeit von
100 a ausgeführten Versuche hält der Verf. für reine Assimilationsversuche.
10. Die dominirenden Buchstaben und die Wort form. Die
Erkennung der durch die Zahl der Buchstaben bestimmten Wortlänge hängt
von dieser Zusammensetzung und von der Richtung der Aufmerksamkeit
ab. „Bei gröfseren Wörtern constatiren die Beobachter zwischen der Auf-
fassung der ersten Worthälfte und der Wortlänge eine deutliche Pause.^
Die Wortforni mufs in ihre Factoren zerlegt und nach ihren dominirenden
Bestandtheilen beurtlieilt werden, die Wortform als solche verführt zu
Irrthümern. Die Gesammtform eines Wortes ist für die Erkennung des-
selben nicht entscheidend. „Für die Erkennung des Wortes sind nur die
im Keizcomplex befindlichen dominirenden Elemente maafsgebend. Diese,
als ober- und unterzeilige Consonanten, als Buchstaben erster Ordnung
sind nicht identisch mit den doniiuirenden Buchsteben Goldschsideb's.''
„Die Rolle des dominirenden Complexes wird im Satz vom dominirenden
Wort übernouniien, das den Schlüssel für den Bedeutungszusammenhang
liefert, an den die Erkennung von Sätzen gebunden ist."
11. Die Aehnlichkeits-Assimilation. ».Dafs die Gesammtform
eine den dominirenden Elementen untergeordnete Rolle spielt, beweisen
die determinirten falschen Assimilationen, in denen Wort und Assimilation
nach den dominirenden Buchstaben völlig übereinstimmen und nur die in-
differenten Zwischenstücke verschieden sind. Diese Fixirung der richtigen
dominirenden Elemente in der falschen Assimilation beweist ihre grund-
legende Bedeutung gegenüber der Wortform, in der keinerlei Momente
Literaturbericht. 285
liegen, um eine wenigstens nach Elementen determinirte Aehnlichkeits-
sssimilation hervorzurufen.'' Der Verf. führt dies an Beispielen weiter aus.
12. Die Assimilationsversuche. Die Wirkung der Assimilation
wurde an veränderten Objecten untersucht. Der Verf. bespricht die Ver-
tmche PiLL8BURY*8 und hält diesem entgegen, „dafs die planlose Eliminirung
deutlichere Veränderungen hervorruft, als die mit bestimmter Absicht er-
folgende." Er selbst veränderte die Versuchsbedingungen durch Verände-
rung (Substitution) und Auslassung. Im Allgemeinen sei aus diesem Capitel
Folgendes hervorgehoben: „Solange die dominirenden Buchstaben analog
verändert werden, ist ihre Wirkung zu Ende und die falschen Buchstaben
werden appercipirt." Im letzteren Falle kann die Assimilation nicht auf-
kommen. „Das Wortbild bleibt unsicher, labil, wenn es nicht sofort seine
Bedeutung empfängt Erst durch den Sinn wird das Bucbstabengeftige ge-
festigt"
13. Die Suggestions-Assimilation. Versuchsanordnung: Es
wurde mit einer Reihe von richtigen und mit einer solchen von falschen
Wortbildern gearbeitet. „Die Substitutionen und Verstümmelungen variirten
l»ei letzeren zwischen 2 — 8 Buchstaben. Der Anfangsbuchstabe blieb stets
unverändert, auch bei tieferen Eingriffen in das Buchstabengefüge wurde
der domin irende Complex möglichst unversehrt erhalten.** Dabei wurden
die dem Beobachter geläufigen richtigen Wortbilder zuerst exponirt, diese
beeinflufsten suggestiv die darauf in einem Abstand von drei Expositionen
folgenden falschen Objecto. Im Allgemeinen sei aus den Resultaten hervor-
gehoben, dafs die Versuchspersonen bei einer ersten Gruppe von Ver-
«achen (z. B. Irronumstatt— Irrenanstalt) Anfangs zufriedenstellend assimi-
lirten, dann aber unruhig wurden und falsche Buchstaben erkannten. Bei
den weiteren Versuchen ergaben sich individuelle charakteristische Unter-
schiede, auf die wir nicht eingehen.
14. Assimilationsversuche mitAuslassungen. „Auslassungen
von Buchstaben im Wortbild haben eine verschiedene Wirkung, je nach-
dem es dominirende oder unbetonte Buchstaben, stark hervortretende Con-
f ^onanten oder Vocale sind." Bei Auslassung unbetonter Buchstaben trat
nrich die richtige Assimilation ein. Bei Auslassung dominirender Buch-
staben ergab sich Folgendes: „1. Die Fehler bleiben unerkannt und es
wird assimilirt. Dagegen wird angegeben, dafs Vocale fehlen.'* „2. Die
Auslassung wird erkannt und nach einer merkbaren Pause tritt die Assi-
milation ein." „3. Die Auslassung wird erkannt und es stellt sich eine
falsche oder überhaupt keine Assimilation ein."
15. Inversionen und Permutationen. Die Fälle, in denen In-
versionen vorkommen, geben über die Bewegungen der Buchstaben einigen Auf-
«chlufs. „Die Beobachter sagen oft aus, sie befänden sich einer verwirrenden
Fülle von Buchstaben gegenüber, in die sie erst Ordnung zu bringen hätten.
!;^obald es ihnen nicht gelänge, die chaotische Masse von Eindrücken sinn-
voll zu gruppiren, verschwände ihnen ein grofser Theil davon wieder aus
dem Gedächtnifs.** Der Verlauf des Auffassungsvorganges ist nach dem
Verf. im Umrifs der folgende: ,,Die erste Phase der Apperception giebt
die dominirenden Buchstaben; sie sind das Rohmaterial für die folgenden
Vorgänge. Das Weitere hängt von zwei Umständen ab: a) sobald fticVv
286 Liter aturbericht.
eine Assimilation aufdrängt, modificirt sie den Sachverhalt, d. h. die ob-
jective Anordnung der Buchstaben zu ihren Gunsten; b) aber schon an
sich können die Buchstaben in verschiedener Zeit aufsteigen und sich dem-
gemäfs ordnen, dann wird die daran anschliefsende Assimilation schon
dieser Anordnung Rechnung tragen . . . Diese beiden Momente setsen,
mannigfach in einander übergreifend, die zweite Phase des Vorganges zu-
sammen." „Mit der Inversion verband sich häufig noch eine Substitution."
An der Hand von Beispielen wird dies des Näheren ausgeführt.
Die Arbeit wurde in Wündt's Laboratorium in seinem Auftrage und
unter seiner Leitung ausgeführt. Kessow (Turin).
A. Hüther. Die psychologischen Gnmdpriiicipieii dinr Pidagog^lk. Zeitschr. f,
pädag. Psychol u. Path. 2, 121—132, 192—209, 287—302, 367—383. 1900.
Der Aufsatz enthält der Hauptsache nach eine ausführliche Besprechung
des Apperceptionsbegriffs. Die Herbart - ERDMANN*sche Anschauung, dafii
Apperception eine rein mechanisch sich vollziehende Eingliederung des
neuen Eindrucks in eine herrschende Apperceptionsmasse sei, wird nur dem
objectiven Thatbestande, nicht dem subjectiven, gerecht; Wcndt's Lehre
von einem willkürlichen Eingreifen eines spontanen Acts in den passiv-
mechanischen Vorstellungsverlauf erscheint zu dualistisch. H. sucht nun,
in theilweisem Anschlufs an Lipps, nachzuweisen, dafs Apperception nor
eine höhere Bethätigungs weise derselben psychischen Activität sei, die sich
auch in den einfachsten Formen geistigen Lebens, im Erzeugen von Em-
pfindungen und Bilden von Vorstellungen ausspricht. Die logischen Apper-
ceptionsverbindungen und -leistungen werden von diesem Standpunkt aus
erörtert. — Der Schlufstheil bringt dann eine Willenstheorie, die, in ähn-
licher Weise zwischen Wundt und Lipps die Mitte haltend, den Willen
nicht als selbständigen Bewufstseinsfactor, sondern nur als eine besondere
Erscheinungsweise psychischer Activität auffafst. W. Stern (Breslau).
H. Davies. Hethod Of Aesthetics: & Hote. Phüos. Revietc 10(1), 28—35. 1901.
Damit Aesthetik eine Wissenschaft werde, mufs sie sich der drei
wissenschaftlichen Methoden: der Classification, des Auffindens von Oe-
setzen und der Kritik bedienen. Wie die Anwendung dieser Methoden an
den Problemen der Aesthetik durchgeführt werden könne, wird kurz ange-
deutet. W. Stern (Breslau).
Havelock Ellis. Geschlechtstrieb ond SchamgeffihL Autorisirte Uebersetzong
von Julia E. Kötscheb unter Redaction von Dr. med. Max Kötscheb.
Leipzig, G. Wigand, 1900. 364 S. 13 Tafeln.
Es fehlt uns nicht gerade an Abhandlungen über den Geschlechtstrieb
und seine Verirrungen sowie über ähnliche Dinge, und im Allgemeinen
kann etwas Vorsicht beim Herantreten an diese Erzeugnisse der Literatur
nichts schaden.
Bei Havelock Ellis ist man indes sicher, auf eine ernste und wissen-
schaftliche Behandlung seines Gegenstandes zu stoDsen, was sich nicht
gerade von Jedem behaupten läfst.
Literaturbericht. 287
In dem vorliegenden Bande giebt er uns drei Studien, die ihm noth-
endige pProlegomena" für eine Analyse des geschlechtlichen Instinctes
sein scheinen, welche Analyse die Hauptrolle bei einer Erforschung der
Geechlechtspsychologie spielen mufs. Die erste Studie enthält eine Schilde-
ning des Schamgefühls, die zweite sucht das Phänomen der Sexualperiodi-
citftt zu erklären, und die dritte endlich, die den Auto-Erotismus behandelt,
TeTsacht uns darüber zu belehren, dafs wir selbst auf Gebieten, wo wir
unsere Kenntnisse für ausreichend halten, bei genauerer Betrachtung unser
Endartheil noch aufschieben müssen und gut thun, eine vorsichtigere
Haitang einzunehmen.
Der Geschlechtstrieb hat die Tendenz, in einer spontanen und bis zu
einem gewissen Grade periodischen Weise aufzutreten, und dabei auf Mann
und Weib in verschiedener Weise zu wirken. Besonders ist es das Scham-
gefühl, d. h. eine instinctive und gewöhnlich auf sexuellen Vorgängen be-
gründete Furcht, das beim Weibe vorzugsweise ausgebildet ist. Es geht
der Bekleidung voraus und ist von ihr unabhängig. Vielmehr entspringt
die Bekleidung dem Schamgefühl und wird als Schmuck zum Anzieh ungs-
nnd Lockmittel.
Das ErrOthen ist die Weihe des Schamgefühls, und der vasomotorische
Mechanismus des Erröthens seine physiologische Grundlage.
Daher auch der Einflufs der Dunkelheit auf das Schamgefühl, obwohl
«ich die schon von Lichtenberg aufgeworfene Frage, ob die Frauen im
Dankein errOthen, bis heute der Entscheidung entzieht, da sie bei Licht
nicht wohl entschieden werden kann.
Von der allmählichen Entwickelung des Schamgefühls giebt uns u. A.
die Literatur Kunde, und die derben und ihrer Zeit unbeanstandeten Er-
tfhlungen eines Chaucer, Boccaccio u. A. m. würden heute kaum für hof-
Ähig erachtet werden.
Das Schamgefühl wandelte sich durch die Civilisation in Anstands-
gefühl um. Wie sehr aber auch dieses der Allgewalt der Mode unterworfen
ist, beweist u. A, die für die Hofbälle vorgeschriebene Toilette der Damen,
die ohne diese Vorschrift und am hellen lichten Tage sicherlich für un-
anständig gehalten würde.
Von besonderem Interesse sind die ausführlichen Untersuchungen
über das Phänomen der geschlechtlichen Periodicität.
In der pflanzlichen und Thierwelt ist das Geschlechtsleben durchweg
an bestimmte Perioden gebunden, und die Brunst der Thiere und die Men-
struation der Frauen sind in Wirklichkeit ein und dasselbe Phänomen. Be-
steht nun beim Manne eine gleiche oder ähnliche Periodicität? Ellis ver-
sucht dies an der Hand einer ganz aufserodentlichen Belesenheit klar zu
legen, und daüs ein gewisser Rhythmus unser ganzes Leben durchzieht und
die grofsen athmosphärischen Spannungen, die Frühjahrs- und Herbstphasen
anser geschlechtliches Leben nicht unberührt lassen, ist schon von vorn-
herein nicht unwahrscheinlich. In einem Anhange B. wird diese Unter-
suchung von Pebby Coste weiter geführt.
PsBBY Coste fand, dafs der Puls beim Manne einen deutlichen monat-
lichen Bhythmus zeige, und da Puls und Menstruation bei den Frauen iii
üebereinstimmung stehen, so spreche dies stark für das Bestehen einer
288 Literaturbericht.
monatlichen physiologischen Periode bei dem Manne. Dies führte ihn dazu
über seine nächtlichen Samenergiefsungen zehn Jahre hindurch Buch zu
führen, da sie das Uebermaafs an geschlechtlichen Absonderungen dar-
stellen, wo eine normale Erleichterung versagt wird. Er fand nun als jähr-
liches Mittel 36, und er konnte ferner einen bestimmten jährlichen, lunar-
monatlichen, und selbst einen wöchentlichen Khythmus nachweisen. Die
socialen Schlüsse, die er daraus zieht, sind recht interessant. Die Pollution
bedeutet selbstverständlich nur ein Minimum, dessen Vielfaches gefunden
werden mufs. Jedenfalls würde ein dreimaliger Geschlechtsgenufs im Monat
das Minimum sein, um das physiologische Gleichgewicht des Mannes in
dieser Beziehung aufrecht zu erhalten, und dies stimmt mit der alten Fest-
setzung von SoLON überein, der „drei Zahlungen für den Monat" bestimmte.
CosTE fand eine nicht erwartete Symmetrie seiner Curven, was in ihm den
Wunsch anregte, ein gröfseres Material für fernere Beobachtungen zur Ver-
fügung zu haben. Er fordert zu Sammelforschungen auf, deren Schwierig-
keit er im Uebrigen nicht verkennt.
Ein Haupttheil des Buches ist den Erscheinungen des Auto-ErotismuB
gewidmet, d. h. der spontanen geschlechtlichen Erregung ohne irgend welche
Anregung von aufsen. Als solche spielt er überall seine Rolle. Er ist ein
wichtiger Antrieb zu allerhand Manifestationen und ein unvermeidliches
Nebenproduct des gewaltigen Processes, auf dem die ganze animalische
Welt beruht.
Der AutoErotismus ist keineswegs immer Masturbation; er kann alle
Arten der Selbstbefriedigung umfassen, bis zu den Tagesträumen. Ellis
benutzt dies zu einem langen Excurse auf das Gebiet der Hysterie, ohne
dafs wir gerade viel klüger dadurch würden. Ihm ist die Hysterie ein
auto-erotisches Phänomen, und Breuer und Freud müssen ihm dabei als
Taufpathen dienen.
Die Frage, welches Geschlecht der Masturbation mehr ergeben sei,
bleibt ungelöst, so massenhaft das Material auch ist, das er hierüber zu-
sammengetragen hat ; was er über die Folgen der Gewohnheit sagt, ist ver-
ständig. Unsere erste Pflicht ist es, die Natur und die Folgen dieser Mani-
festation bei allen Classen der Bevölkerung zu untersuchen. Das ist eine
vorbereitende Bedingung für jene Fragen, und so lange sie nicht endgültig
entschieden sind, gilt es, ihnen keine Gleichgültigkeit, aber doch auch keinen
übertriebenen Abscheu entgegenzutragen, der nur zur Verheimlichung führen
und das üebel künstlich vergröfsern würde. In dem Anhange A. behandelt
er den Einflufs der Menstruation auf die Stellung des Weibes, und zwar
in Bezug auf die Gefühlsathmosphäre, worin die Männer die Frau gewöhn-
lich sehen.
Die Menstruation des Weibes gilt im Allgemeinen als eine Art Minder-
werthigkeit. Das Weib ist während dieser Zeit unrein, zugleich aber von
Geistern besessen und mit geheimen Kräften begabt. Daher gewinnt die
Unreinheit den Nebenbegriff des tabu, d. h. des heiligen, geheiligten. Man
sucht die menstruirte Frau zu vermeiden, um sich vor Schaden zu hüten.
Aehnlich ist es mit dem Menstrualblut. Es schützt vor Hieb und Stich,
es tritt in viele Heilmittel ein und ist besonders in Liebestränken wirksam.
Literaturbericht. 289
Im Christenthum blieb nur das Böse zurück, und die Frau wurde
wirklich unrein. Wd eine menstruirte Frau sich sehen läfst, wird die Milch
sauer und geht das Kraut um, und chirurgische Operationen waren zur Zeit
der Begeln veri)önt. Hatte man die Frau früher überschätzt und in ihr ein
Zwischenglied zwischen Mensch und Gottheit verehrt, so mied man sie
jetzt, dank den Anschauungen des Mönchthums, als eine Art von Teufel.
Erst die moderne Civilisation drängt dazu, den socialen Unterschied der
Geschlechter zu verwischen und sie nach Möglichkeit gleichzustellen.
Ein dritter Appendix endlich behandelt den auto-erotischen Factor in
der Religion. Dafs zwischen beiden Gefühlen, der Liebe und der Religion,
innige Beziehungen bestehen, kann nicht bestritten werden. Sie sind die
beiden leidenschaftlichsten Gemüthsbewegungen , denen der menschliche
Organismus unterworfen ist. Daher kann eine Störung der einen sofort
auf das Gebiet der anderen übergehen und dort Veranlassung zu weiteren
Störungen abgeben. Dieses leugnen zu wollen widerspricht jeder Erfahrung,
und es zu verkennen war und ist die Quelle unendlichen Unheils.
Je mehr man versucht, die sinnliche Liebe zu unterdrücken, um so
höher steigert sich die geistige Inbrunst, bis sie sich in den Erscheinungen
der Exstase und des Mysticismus schrankenlos Bahn bricht. Das Leben
der Heiligen liefert hierfür massenhaftes Material, sofern es hierfür über-
haupt eines Beweises bedürfen würde. Der Mensch ist nun einmal ein
Mensch und als solcher menschlichen Gesetzen unterworfen. Lehnt er sich
dagegen auf, dann mufs er den Schaden mit in den Kauf nehmen, und da-
gegen schützt ihn sogar die Heiligkeit nicht.
In dieser Weise eröffnet uns das Buch mannigfache Ausblicke und
eine Anregung zu weiterem Nachdenken, und dies um so mehr, je mehr
man gewahrt, wie die Hand des Meisters dem spröden Stoffe neue und
bisher unbekannte Seiten abgewonnen hat. Pelman.
£. RiTCHiE. The Eflsential in Religion. Philos. Bev. 10 (1), 1—11. 1901.
Es wird versucht, das Wesen der Religion in ihrem weitesten Um-
fang, vom Fetischismus bis zum Spinozismus, zu definiren. Das Ergebnifs
ist, dafs Religion weder durch irgend welchen bestimmten Inhalt, noch
'lurch ein bestimmtes Gefühl definirt werden kann. Vielmehr liegt Religion
überall dort (und nur dort) vor, wo eine wie auch immer beschaffene Auf-
fassung der Wirklichkeit dem Individuum so zum inneren Erleben ge-
worden ist, dafs all sein Fühlen und Handeln dadurch bedingt und bestimmt
ist. [Wir Deutschen würden es etwa ausdrücken können: Religion ist die
zur Lebensanschauung gewordene Weltanschauung. Ref.]
W. Stern (Breslau).
K2. B. R. Aabs. Analyse de l'idie de 1& morale. Videmkatsselskabets Skr. 2,
Hist-filo8. Kl. (5). 27 S. 1899.
Der Verf. geht davon aus, dafs die Gefühle die Grundlage der Moral
bilden. Das moralische Urtheil ist der Ausdruck der moralischen Gefühle.
Diese sind zusammengesetzter Natur, und die Bedingung ihrer Entstehung
ist das Vorhandensein mehrerer einfacher Gefühle. Von den sympathischen
Zeitschrift fdr Ysychologie 26. 1^
290 lAteraturbericht
Gefühlen unterscheiden sich die moralischen Grefühle einmal durch die
Verschiedenheit ihrer Objecte: die Objecte dieser sind Handlungen, die
Objeete jener aber GefOhle anderer. Weiters sind die beiden Gefühle noch
verschieden hinsichtlich der Intensität und des Umfanges. Der umfang
der moralischen Gefühle deckt sich nicht mit dem der sympathischen.
Die Frage, ob die Suggestion bei der Entstehung der moralischen Ge-
fühle mitwirke, entscheidet der Verf. dahin, dafs zwar in vielen Fällen sugge-
rirte Gefühle vorkommen, das moralische Gefühl aber jedenfalls spontanen
Ursprunges ist. Hieran schliefst sich eine Besprechung des egoistischen
Utilitarismus, sowie des Gegensatzes zwischen egoistischer und altruistischer
Moral. Egoistisch urtheilen wir, wenn wir eine That nur nach dem be-
urtheilen, ob sie uns angenehm oder unangenehm ist. Eine altruistische
Beurtheilung liegt dann vor, wenn die Folgen der ins Auge gefafsten That
in Rücksicht auf andere beurtheilt werden. •. .
Gelegentlich der Ausführungen über den Einflufs der Religion auf die
Moral macht der Verf. auf die zweifache Bedeutung des Pflichtbegriffes
aufmerksam. Derselbe kann sich einmal auf ein moralisches Ideal, ein
andermal auf eine bestimmte Handlung beziehen. Sodann wird die Frage
in Erwägung gezogen, ob und inwieweit wir anorganischen Körpern und
Thieren moralische Gefühle zuwenden. Hierauf folgen genauere Darlegungen
über die Objecte und Subjecte jener Handlungen, die einer moralischen
Schätzung unterworfen Verden. Der Verf. erörtert dann die verschiedenen
Stufen der moralischen Unverantwortlichkeit, sowie das Problem der Willens-
freiheit. Den Schlufs der Abhandlung bilden eine Charakteristik der Werthe
in Bezug auf ihre Qualität, und Ausblicke über die Zukunft und Weiter-
entwickelung der Moral. Saxingeb (Linz).
WncDscHEiD. Die Prophylaxe in der Hervenheilkniide. München, Seitz und
Schauer, 1900. 47 S. Mk. 1.50.
Die sehr flüssig geschriebene Arbeit, die gleich der von Fuchs einen Theii
des Handbuchs der Prophylaxe von Nobilinq-Jankaü bildet, zerfällt in einen
allgemeinen und einen speciellen Theil. Im allgemeinen Theil bespricht
Verf. die Prophylaxe der Prädisposition und die der verschiedenen Schäd-
lichkeiten, welche den einzelnen Lebensaltern zukommen. Der specielle
Theil behandelt die Verhütung der Erkrankungen des Gehirns, des Kücken-
marks, der peripheren Nerven und dann die der functionellen Neurosen.
Unter ihnen bespricht er besonders eingehend die Prophylaxe der Neura-
sthenie. Bei der Gelegenheit warnt er vor dem heute vielfach üblichen
und doch so übel angebrachten Humanitätsdusel. Sicherlich hat er auch
Recht, wenn er darauf hinweist, dafs viele Neuerungen im modernen Leben,
denen man für gewöhnlich bei der Entstehung der Neurosen eine Rolle
beimifst, uns auch nicht zu unterschätzende Annehmlichkeiten und Vor-
theile verschaffen und so wieder indirect zur Stärkung unseres Nerven-
Systems dienen. Ernst Schultze (Andernach).
Literaturbericht 291
Obkbstkinbb. taictIoAelle und organische HerreBkranklieitea. Heft II der
Grenzfragen de» Nerven- und Seelenlebens von Löwbnfeld und Kurslla.
Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1900. Mk. 1.—.
Nicht nur aus wissenschaftlichen, sondern auch aus praktischen Gründen
▼ird man organische Nervenkrankheiten mit sichtbaren krankhaften Ver-
Änderungen am Nervensystem und functionelle, bei denen ein solcher Nach-
weis nicht gelingt^ unterscheiden. Wenn nun auch dank neuerer Methoden
(NiasL, Marchi) und Forschungen das Gebiet der functionellen Störungen
«ingeengt ist und wenn die Ergebnisse experimenteller Untersuchungen
eine weitere Einschränkung versprechen, so bleibt doch noch eine Reihe
von Störungen übrig, die so bezeichnet werden mufs. Freilich bleibt uns
<lAmit deren Wesen verschlossen, und die Annahme, es handle sich bei
ihnen um moleculare Alterationen, um Ernährungsstörungen, wird uns auch
nicht Honderlich weiter bringen.
0. legt sich dann die Frage vor, ob nicht den functionellen Störungen
ein gemeinsames Characteristicum zukommt gegenüber den organischen
Formen ; er präcisirt die Frage noch weiter und nimmt nur auf functionelle
Symptome im Gegensatz zu functionellen Erkrankungen Bezug, da den
meisten anscheinend rein organischen Krankheiten auch ein functioneller
Factor zukommt.
Die Erfahrungen der Anatomie und Physiologie und die Beobachtungen
am Krankenbette geben uns keinen völlig sicheren Aufschlufs darüber, in
welchen Himtheilen und wo sich psychische Processe, die Bewufstseins-
vorgänge, abspielen. Wenn auch von den meisten Autoren die Grofshirn-
rinde als der Sitz der Vorstellungsthätigkeit angesprochen wird, so mahnt
uns doch, wie O. meint, ein historischer Rückblick zu aller Vorsicht. Den
bisher bekannten Rindencentren kommen vielmehr mit Sicherheit nur
Leistungen zu auf mehr materiellem Gebiete, wie z. B. dem der Bewegung,
dem des Fühlens, Sehens, Hörens etc. Es sind das Leistungen, wie sie auch
von den peripheren Nerven oder von den Sinnesorganen aus erzielt werden
können. Zur Zeit fehlt es uns noch an einer ausreichenden anatomischen
ErJciäning für die Erscheinungen des gesunden wie des kranken psychischen
Lebens. Es ist allen rein functionellen Symptomen oder* Symptomgruppen
ron Seiten des Nervensystems gemeinsam, „dafs sie in das Bereich der
psychischen Symptome gehören, wenn auch ihre Manifestation nach aufsen
hin oft eine materielle wird, wie beispielsweise eine hysterische Lähmung".
Wir müssen uns mit einer physiologischen Erklärung dieser Symptome
begnügen, die psychisch bedingt und psychisch beeinflufsbar sind. Wenn
auch bei vielen Psychosen sich Hirn Veränderungen nachweisen lassen, so
wird damit ihr directer Zusammenhang mit den psychischen Symptomen
durchaus noch nicht erwiesen. Neben den functionellen Störungen wird
das Seelenleben der Kranken meist auch noch andere Abweichungen er-
kennen lassen. Auf der anderen Seite sind Symptome aus Gebieten, die
der Psyche und dem Willen entzogen sind, meist als Aeufserungen einer
anatomischen Läsion des Nervensystems anzusehen, w*ie Muskelschwund»
gewisse Haatveränderungen n. s. w.
E. ScHULTZE (Andernach).
19*
292 Literaturhericht.
Gramer, üeber die anrserhalb der Schale liegenden Ursachen der Herrositit
der Kinder. Schiller-Ziehen 2 (6), 1—25. 1899.
Die Nervosität beruht auf einem gestörten Functioniren des Gehirns.
Man trennt die Nervösen in Hysterische, Neurasthenische, Uebergänge
zwischen beiden und in eigentlich Nervöse. Das Hauptsymptom der
Neurastheniker int die leichte Ermüdbarkeit. Das neurasthenische Kind
ist nicht so leistungsfähig, seine Aufmerksamkeit ermüdet bald. Unter
Hysterie haben wir eine Erkrankung der Vorstellungen zu verstehen:
aufserordentlich leichte Beeinflussung der Vorstellungen, hiermit verbunden
eine gesteigerte Einbildungskraft. Das hysterische Kind, dessen Vor-
stellungsinhalt noch gering ist, zeigt psychisch bedingte Lähmungen,
Schmerzen, Krämpfe, desgl. krankhaften Eigensinn, gesteigerte Reizbarkeit
un<l Neigung zum Lügen. Zur Nervosität im engeren Sinne gehören ab-
norme Reizbarkeit, hypochondrische Veranlagung, Muthlosigkeit Rein
nervöse Kinder sind selten. Zu ihnen kann man auch solche mit ausge-
prägter Lebhaftigkeit oder Schüchternheit rechnen.
Die Ursachen, welche bei Kindern nervöse Zustände hervorrufen, sind
endogene oder exogene. Beide können jedoch auch gleichzeitig bestehen.
Zu den endogenen Ursachen gehört in erster Linie die erbliche Belastung.
Kino solche ist vorhanden, wenn innerhalb der Blutsverwandtschaft Geistes-
oder Nervenkrankheiten vorgekommen sind. Ein erblich Belasteter braucht
aber nicht geisteskrank zu werden. Hierzu sind gewöhnlich noch exogene
I^rsachen nöthig. Geisteskranke oder hochnervöse Personen üben leicht
auf ihre Umgebung einen inducirenden Einflufs aus. Nervöse Mütter ver-
erben schon während der Schwangerschaft auf ihre Kinder Dispositionen
zur Nervosität und (leisteskrankheit. Zu den exogenen Ursachen gehören
vor Allem die Kinderkrankheiten. Gewöhnlich lassen die Eltern den
Kin<lern während ihrer Reconvalescenz nicht die nöthige Ruhe zur Kräfti-
gung. Sie suchen sie auf alle Weise zu amüsiren. Auch schicken sie die-
selben zu bald wieder zur Schule. Eine zweite Gruppe exogener Ursachen
ist gegeben «lurch ein physisches oder psychisches Trauma. Pressungen^
guetschungen, Stofs und Fall auf den Kopf wirken ungünstig auf die
<Jchirnentwickelung. Auch von den psychischen Traumen, durch Schreck,.
Furcht, Angst hervorgerufen, mufs man ein Kind nach Möglichkeit be-
wiihr(«n. I>as Anliören von Teufels- und Gespenstergeschichten hat in
«lii'ser Hey.iehung oft schädlich gewirkt und schon ganze Schulclassen in
v'wwu «»rregt psychischen abnormen Zustand versetzt. Jedoch richtet sich
ili(« Srhlhllirlikeit <lieser veranlassenden Momente nach der Disposition der
KiinliT. Durch vieles Fragen nach dem Befinden des Kindes können
hvHlprisi'he Störungen suggestiv hervorgerufen werden. Körperliche
'/nrlititfuugen sin<l bei gesunden Kindern nach Ansicht des Verf.'s über-
thtMMijir. bei nervösen Kindern schädlich. Eine wichtige Ursache für die
NiMv«»Mltat der Kin<ler liegt namentlich in den unzweckmäfsigen und ver-
kehrU'ii Verhältnissen, unter denen die Kinder grofs gezogen werden. Die
n Kliwler wenlen zu oft in ihrer Ruhe gestört, sie werden mit Licht-
ihHllreizen förmlich überschüttet, mit sprachlichem Dressiren gor
MUbon ihnen Vergnügungen den nöthigen Schlaf, namenti'
Literaturbericht. 293
Fnbertätsalter. Alkoholika sind den Kindern nicht zu reichen. Ueber das
Schädliche der Onanie sind die Kinder nicht generell, sondern einzeln auf-
xoklären. Für geistig zurückgebliebene Kinder sind besondere Schulclassen
finznrichten.
Möchten die Schulmänner die Ausführungen des Verf. 's recht gründ-
lich Studiren und beherzigen! Zum Glück ist ja die grofse Mehrzahl der
Kinder nicht nervös. Andererseits aber recrutiren sich gerade aus der
Zahl der Nervösen die geistig bedeutenderen, welche für die höchsten
Leistungen disponirt sind. Unter ihnen möglichst viele vor den schäd-
lichen Folgen der Nervosität zu bewahren, dazu möge die Leetüre der vor-
liegenden Schrift beitragen! Giessler (Erfurt).
LöwEXFELD. Somnambolismas and Spiritismus. Heft I der Grenzfragen des
Xercen- und Seelenlebens, herausgegeben von Löwenfeld und Kürella.
Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1900. 57 S. Mk. 1. — .
Die vorliegende Arbeit eröffnet in der glücklichsten Weise eine zwang-
lose Reihe von Abhandlungen, ^in welchen Fragen von allgemeinem In-
teresse aus dem Bereiche der Nerven- und Seelenheilkunde und deren
wissenschaftlichen Qrenzgebieten, insbesondere der Psychologie, Pädagogik,
Hygiene, Fthnologie, Anthropologie, Sociologie und gerichtlichen Medicin
in durchaus vollständiger und origineller Weise behandelt werden" sollen.
L. unterscheidet den spontan auftretenden und den künstlich herbei-
geführten Somnambulismus ; der erstere, der sich nur bei kranken Individuen
findet, zerfällt wieder in das sog. Schlaf- oder ;Nachtwandeln und den
hysterischeu Somnambulismus. Die Sinne des Nachtwandlers erfassen nur
^, ^as mit dem ihn beschäftigenden Gedankengange zusammenhängt;
dem Schlafwandeln liegt ein Traumvorstellen zu Grunde, das mehr ein
ptrtielles systematisches Wachsein ist, und das macht die Annahme mysti-
«cher Kräfte unnöthig. Gelegentlich der Besprechung des hysterischen
Somnambulismus hebt L. auch die interessante Erscheinung des sog. zweiten
Zostandes hervor, der, möchte man sagen, zu einer Spaltung des geistigen
Wesens in zwei gesonderte Existenzen führen kann. Auch die vielartigen,
befremdlichen, in ihrer Bealität vielfach angezweifelten Erscheinungen des
hypnotischen Somnambulismus lassen sich leicht ei klären durch ein Neben-
1 einander von partiellem Schlaf und partiellem Wachsein, durch anhaltende
Concentration der Aufmerksamkeit, durch den ständigen Rapportverkehr
mit dem Hypnotiseur.
Der zweite gröfsere Abschnitt ist den aufsergewöhnlichen Erscheinungen
des Somnambulismus gewidmet, die eine besonders beweiskräftige Stütze
des Spiritismus sein sollen. L. bespricht der Reihe nach das Hellsehen,
die Sinnesverlegung (Transposition der Sinne), das räumliche Fernsehen
tmd Femhören, die Gedankenübertraguug ohne Vermittelung der Sinne
^Telepathie), das zeitliche Fernsehen (Clairvoyance) , Vorahnungen, Weis-
sagungen und schliefslich das Reden in fremden, nicht erlernten Sprachen.
Unter Heranziehung einer Reihe interessanter Beobachtungen weist
er nach, dafs entweder der blofse Zufall eine Rolle mitspielte, oder es wirkte
Taib^chang, sei es gewollte oder ungewollte, mit, oder die Beobachtung
▼tr nicht einwandsfrei und stammte von wenig glaubwürdigen AMtoietv,
294 Literaturbericht
Eine vierte Gruppe von Erscheinungen war einer natürlichen Erklärung
(durch Steigerung der Combi nationsgabe und Phantasie bei zeitlichem
Fernsehen, unwillkürliche Flüstersprache bei einzelnen Fällen von Tele-
pathie) zugänglich. Es bleiben aber noch einige wenige Erscheinungen^
wie die Möglichkeit einer geistigen Fem Wirkung übrig, welche noch der
Aufklärung harren.
Jedenfalls bedarf es aber zu der Erklärung solcher BeobachtungeD
nicht der Hinzuziehung des Spiritismus, da mit ihm nur wieder eine neue
und völlig unbekannte Gröfse in die Rechnung eingeführt wird.
E. ScHüLTZE (Andernach).
V. ScHRENCK-NoTziNQ. DcF Fall Sauter. (Hordfersnch and snggerirte An-
stiftang zu neanfachem Horde.) Zeitschr. f. Hypnotismus 9 (6), 321—352.
. 1900.
Vor demselben oberbayerischen Schwurgerichte in München, vor dem
im Jahre 1896 der Fall Czynski, im Jahre 1896 der Fall Berchtold zur Ver-
handlung kam, wurde am 2. Oct. 1899 ein Procefs verhandelt, bei dem die
Angeklagte, Kathabina Sauter, unter dem suggerirten Einflüsse einer an-
deren Person das Strafgesetz verletzt hatte. Es hudelt sich am die
44jährige Frau eines Metzgermeisters, welche des versuchten Mordes an-
geklagt war, weil sie ihrem Ehemanne ein nach ihrer Meinung todbringende»
Pulver — geschabte Enzianwurzel — in die von ihm benutzten Socken ge-
streut und aufserdem eine Wahrsagerin, Katharina Gänzbaüer, unter Zu-
sicherung einer kleinen Belohnung aufgefordert hatte, noch acht weitere
ihr mifsliebige Personen, darunter ihre drei Kinder, aus dem Leben zu
schaffen, v. Schrenck-Notzinq reproducirt in seinem interessanten Aufsatze-
die Anklageschrift, die Verhandlung und die ausführlichen Gutachten der
drei Sachverständigen, unter denen Verf. sich selbst befand. Die Verhand-
lung entrollt das typische Bild des bekannten Milieus, in dem eine raffi-
nirte Karten schlägerin und Wahrsagerin auf der einen, eine abergläubische,
beschränkte Person auf der anderen Seite sich gegenüberstehen. Während
der eine Sachverständige, Prof. Messerer, die Angeklagte für vollständig
zurechnungsfähig erklärte, betonte der zweite Sachverständige, Oberarzt
Dr. VocKE, dafs die freie Willensbestimmung zwar nicht ausgeschlossen
gewesen sei, trotzdem aber die Angeklagte zweifellos unter dem psychischen
Bann der Wahrsagerin gestanden habe. In sehr ausführlicher, kritischer und
exact psychologischer Weise zergliedert dann Verf. selbst den körperlichen
und seelischen Zustand der Angeklagten. Auf Grund einer einwandsfreien
Analyse kommt er zu dem Resultate : „dafs die Angeklagte an einer nervösen
und psychischen Widerstandsunfähigkeit im Sinne der Hysterie leide in
Folge einer offenbar auf erblicher Anlage beruhenden neuropathi sehen Dis-
position, sowie in Folge zahlreicher schwerer Unterleibsleiden und des seit
Vjo Jahren eingetretenen Klimakteriums." Die Zurechnungsfähigkeit der
Fr. Sauter erschien daher nicht aufgehoben, wohl aber erheblich herab-
gesetzt. Das Gericht erkannte unter Würdigung dieser Ausführungen auf
Freisprechung. Die criminalpsychologischen Bemerkungen, die Verf. an
diesen Fall knüpft, sind aufserordentlich lesenswerth. Der Wunsch, dafs
die Lehre von den suggestiven Erscheinungen auch auf dem Gebiete der
Literaturbericht. 295
Criminalpsychologie mehr BerQcksichtignng finden möchte als hisher, er>
(icheint durchaus gerechtfertigt. Nur möchte Ref. den Wunsch hinzufügen,
daüs die forensische Bedeutung der Suggestionslehre stets so kritisch und
wissenschaftlich-psychologisch aufgefafst werden möge, als es von Seiten
des Verf/s im vorliegenden Aufsatze geschieht.
L. HiBSCHLAFF (Berlin).
Th. Ziehen, üeber die Bexiehnngen der Psychologie nur Psychiatrie. Rede
gehalten bei dem Antritt der ord. Professur für Psychiatrie an der Uni-
versität Utrecht am 10. Oct. 1900. Jena, G. Fischer, 1900. 32 S.
Ziehen unterwirft in seiner Antrittsrede die Beziehungen der Psycho-
logie zur Psychiatrie einer Besprechung, und es ist ihm gelungen, auf
engem Baum und trotz aller Kürze vor seinen Zuhörern ein klares Bild
dieser Beziehungen aufzurollen und sie von der Bedeutung , ja mehr noch
von der Unentbehrlichkeit der Psychologie zu überzeugen.
Für die Leser dieser Zeitschrift bedarf es dieser Belehrung allerdings
nicht Aber Ziehen sprach zu Studenten, und die Ueberzeugung von der
Nothwendigkeit experimentell - psychologischer Untersuchungen und von
psychologischen Kenntnissen überhaupt, ist eine verhältnifsmäfsig junge
und keineswegs schon überall absolut feststehende.
Ziehen hat nun mit grofsem Geschick die praktischen Ergebnisse her-
vorgehoben und gezeigt, wie man die Befunde der experimentellen Methode
mit der klinischen Beobachtung verbinden und sie zur Gewinnung einer
Diagnose selbst da verwenden kann, wo die klinische Beobachtung allein
ans im Stiche läfst.
DaTs er dabei über die vielfachen Schwierigkeiten und Längen einer
psychophysischen Untersuchung mit leichter Hand hinweggeht, soll dem
Zwecke der Anregung zu Gute gehalten werden.
An meiner eigenen Empfindung kann ich gewissermaafsen die Beaction
nachprüfen, die er bei seinen Zuhörern hervorgerufen hat, den Wunsch
nimlich, dem anregenden Lehrer in die geöffneten Bahnen zu folgen und
reichen Gewinn daraus zu ziehen. Pelman.
Walter Fuchs. Die Prophylaxe in der Psychiatrie. München, Seitz u. Schauer,
1900. 52 S. Mk. 1.60.
Heute beansprucht in der Behandlung der Krankheiten die Prophylaxe
dank unserer erweiterten Kenntnifs über das Wesen vieler Leiden mit Recht
mehr Beachtung denn je. Das giebt sich auch in dem rein äufserlichen
Umstand kund, dafs ein besonderes Handbuch der Prophylaxe von Nobiling-
Jaxkau herausgegeben wird, von dem obige Abhandlung einen Theil darstellt.
Die Prophylaxe in der Psychiatrie wird sich hier auf den Gesunden
and auf den bereits Erkrankten erstrecken; im ersteren Falle ist sie mehr
^ache des Hausarztes, im letzteren mehr des Psychiaters. Der Hausarzt
kennt die ganze Persönlichkeit des Individuums am besten, und sein Wirken
wird um so erspriefslicher sein, je gröfser sein psychiatrisches Wissen ist.
Indem Verf. den natürlichen Werdegang des Individuums von der Geburt
an verfolgt, bespricht er die einzelnen Phasen (Zeugung, Schwangerschaft,
Geburt, Kindheit, Pubertät, Rückbildungsalter) und Punkte (^Erziehung, Be-
296 Literaiurbericht.
rufswahl), die in Betracht kommen. Die Besprechung der Prophylaxe der
schwer Erkrankten schliefst sich einmal an an die verschiedenen Erank-
heitsformen, wobei die Entarteten und die auf dem Boden der Entartung
erwachsenen Psychosen besonders eingehend berücksichtigt werden, und
dann an mannigfache, besonders in die Augen springende Symptome von
Geistesstörung überhaupt.
Gerade, weil es uns in der Therapie der Psychosen an speeifischen
Heilmitteln fehlt, verdient die Prophylaxe unsere volle Beachtung. Freilich
müfste, um sie in Wünschenswerther Weise zu ermöglichen und durchzu-
führen, der Staat einschreiten und im Interesse seiner selbst und der Ge-
sunden zu Maafsregeln greifen, die selbst für Amerika zu hart erscheinen.
Die klar geschriebene Abhandlung ist naturgemäfs in erster Linie
für den Arzt bestimmt. Gleichwohl möchte man ihr eine weitere Ver-
breitung in Laienkreisen wünschen, nicht nur, um die Eltern, besonders
die Mütter und die Lehrer auf ihre Aufgaben auch nach dieser Richtung
hin und die dabei zu erzielenden Erfolge hinzuweisen, als auch, um dem
alten Institute des Hausarztes als eines fachmännisch vorgebildeten Freundes
und Berathers der Familie das Wort zu reden.
Ernst Schültze (Andernach).
M. Fbiedmann. Ueber Wahnideen im YSlkerleben. Heft VI u. VII der Gmiz-
fragen des Nerven' und Seelenlebens, herausgegeben von Löwenfeld und
Kürella. Wiesbaden, Bergmann, 1901. 100 S.
In der geistigen Geschichte der Menschheit haben wiederholt, ja eigent-
lich zu jeder Zeit Vorstellungen in grofsen und kleinen Kreisen eine starke
Herrschaft ausgeübt, welche theils in ihrer Folge sich grauenhaft und ver-
derblich erwiesen haben, theils mehr lächerlich und kindisch uns anmuthen.
Man bezeichnet sie heute ziemlich allgemein als Wahnidee, als Wahngebilde
im Völkerleben, und man hatte sich gewöhnt, sie direct als epidemische
Geisteskrankheiten, als wirklichen Wahnsinn aufzufassen. So leitet Fried-
mann seine Studie über Wahnidee im Völkerleben ein, um sich sofort gegen
diese Anschauungsweise zu wenden.
An sich sind Psychosen nicht ansteckend, und eine eigentliche Geistes-
störung kann sich nur dort entwickeln, wo bei dem einzelnen Individuum
der Boden durch eine specifische constitutionelle Anlage geebnet ist. Mau
kann daher eben so wenig von epidemischen Geistesstörungen reden, wie
etwa von einer epidemischen Gicht oder Diabetes, und wenn wir auch
unter den Tausenden und Abertausenden von Besessenen und in anderen
Geistesepidemien hin und wieder auf Geisteskranke stofsen, so unterlag
doch die Mehrzahl einer ganz anderen Störung.
Ein Verständnifs für diese Störungen ist uns erst durch die Kenntnifs
von der Suggestion und ihrer Bedeutung im Volksleben aufgegangen, und
Suggestion, Nervosität und Hysterie heifsen die drei Factoren, die hier un-
beschränkt zur Wirkung kommen. Diese suggestive Wirkung einer Idee
wird sich um so üppiger entfalten, je mehr sie auf die festgefügte Asso-
ciation einer vorgebildeten Ueberzeugung trifft, und eine je geringere in-
tellectuelle Hemmung und keine contrastirende Vorstellung ihr gegen-
übersteht.
Literaturbericht 297
Wir sehen nun, wie überall und zu allen Zeiten im Leben der Völker
derselbe Aberglaube wirksam ist und bis auf den heutigen Tag als Unter-
fftrömung, als ein früher erworbener und daher festerer Besitz jede spätere
religiöse Bewegung begleitet und durchzieht. Bei dieser Uebereinstimmung
bedarf es nur eines verhältnifsmäfsig kleinen Anstofses, um ganze Massen
nach der gleichen Richtung hin in Bewegung zu setzen und zu Handlungen
ansofachen, die der Einzelne nicht unternommen hätte.
Mit der zunehmenden Bewegung der Masse steigert sich die Erregbar-
keit des Einzelnen, und die Suggestion wächst zur krankhaften Nachahmung,
ZQ hypnotischen nnd exstatischen Zuständen hervor, die überreizte Phan-
tasie ergeht sich in Bildern von visionärer Deutlichkeit, und es kommt zu
iTfthren Paroxismen, zu rein automatischen Handlungen.
Die Geschichte liefert hierfür zahllose Beispiele, und es gelingt un-
schwer, an der Hand dieser Beispiele die Richtigkeit der vorstehenden £r-
klämngsart zu beweisen. Dafs wir es hierbei kaum nöthig haben, in die
Vergangenheit zurückzugreifen, dafs uns auch die Gegenwart hinreichendes
Material zur Verfügung stellt, hat eigentlich etwas Beschämendes.
Wenn wir aber die Erregung der Masse betrachten, wie sie z. B. noch
Tor Kurzem in Konitz stattgefunden hat, und wie sie sich morgen in einem
beliebigen anderen Orte wiederholen kann, dann werden wir finden, wie
e« stets derselbe Boden ist, auf dem sich diese Sumpfpflanze entwickelt.
Unter anderem Aberglauben steckt auch der des Ritualmordes dem
Volke so tief im Blute, dafs es nur eines Anstofses bedarf, um zur vollsten
üeberzeugung aufzulodern, die ebenso wie vormals bei den Hexenprocessen
gegen die Beschuldigten keine Untersuchung, sondern einen wirklichen,
blutigen Krieg führt. Diese üeberzeugung bedarf keiner logischen Be-
gründung, und so lange die Erregung anhält ist es unmöglich, mit Gründen
der Vernunft gegen sie vorzugehen.
Friedmann hofft von einer besonnenen Handhabung der Vernunft und
einer Erziehung des Volkes zu einer verständigen Weltanschauung eine
Besserung. Gewifs wäre es von dem allerhöchsten Werthe, wenn wir die
thörichten Ideen der Masse durch bessere ersetzten könnten. Vorderhand
aber wird dies noch auf lange hinaus ein frommer Wunsch bleiben, und
da wir uns darauf gefafst machen müssen, auch fernerhin im Völkerleben
auf Wahnideen zu stofsen, so ist es von Werth, ihr Wesen an hervor-
ragenden Beispielen zu studiren und uns einen Einblick in ihren Organis-
jnus zu verschaffen, wozu uns Friedmann hier eine günstige Gelegenheit
geboten hat. Pelman.
BicuHOLz. Aufgaben bei Beartheilong Imbeciller. Allgem. Zeitschr, f. Psychiatr.
u. jjsychisch-gerichtl. Medicin 57, 340—396. 1900.
Die Arbeit befafst sich vorzugsweise mit den leichteren Formen des
angeborenen Schwachsinns, die gerade wegen der fliefsenden Uebergänge
zar Breite des Normalen im Gegensatz zu der scharfen Scheidelinie, die
das Gesetz vorschreibt, . dem Gutachter besondere Schwierigkeiten bereiten.
Die Grenze zwischen krankhafter geistiger Schwäche und mangelhafter
Begabung ist nicht identisch mit der vom Gesetz durch den § 51 Str.G.B.
298 lAteraturbericht
verlangten Linie, vielmehr mufs letztere noch eine Strecke in das Gebiet
der krankhaften Schwäche hinein verschoben werden.
Besonders heikel sind die von B. anschaulich geschilderten Fälle, in
denen der Imbecille auffallend viel Wissen aufgespeichert hat, das er je-
doch nicht zu verarbeiten versteht. Meist tritt dabei ein Mangel an den
entsprechenden, begleitenden Gefühlstönen zu Tage; zugleich herrschen
niedere Gefühle vor, die auf dem Nahrungs- und Geschlechtstrieb beruhen.
Bei der Begutachtung ist die ganze Entwickelung des Falls zu berück-
sichtigen, vor Allem die Verhältnisse der Erblichkeit, die Umstände der
Geburt und das Auftreten der frühesten Störungen, dann die Leistungen
der Schulzeit und die Vorgänge des Pubertätsalters. Aus der Anamnese
ergeben sich oft schon Anhaltspunkte für den vorwiegenden Egoismus, die
Selbstüberschätzung, die ethischen Defecte.
Die Zustandsprüfung mufs eingehend die intellectuellen Fähigkeiten,
den Wissensschatz und die Merkfähigkeit für neue Eindrücke prüfen,
fernerhin die Aufmerksamkeit, die Begriffsbildung und die Urtheilsfähigkeit
In irgendwie zweifelhaften Fällen ist klinische Beobachtung zu ver-
langen. Kein bestimmter Symptomencomplex giebt den Ausschlag für die
Anwendbarkeit der Grenze des § 51, vielmehr mufs die Gesammtheit der
psychischen Erscheinungen im Auge behalten werden. Neben den intellec-
tuellen Defecten sind ganz besonders die gemüthlichen Mängel zu betonen.
Laien fassen oft fehlerhafterweise irgendwelche Raffinirtheit bei der Be-
gehung der That als Beweis gegen die Annahme des Schwachsinns auf.
Gerichtlich können in Bezug auf Schwachsinnige wohl alle möglichen
Paragraphen des Strafgesetzbuchs in Betracht kommen, aber doch handelt
es sich vorzugsweise um bestimmte Delicte: Vagabundage, Entwendung,
Diebstahl, Unterschlagung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sittlichkeits-
verbrechen, besonders gegen Minderjährige, Päderastie, Sodomie. Vorzugs-
weise Subordinationsvergehen beim Militär bilden oft den ersten Anlafs
zur Erscheinung angeborener Schwachsinnszustände leichteren Grades.
Manchmal gelangt § 56 zur Geltung, der bei Personen unter 18 Jahren
den Nachweis der zur Erkenntnifs der Strafbarkeit einer Handlung erforder-
lichen Einsicht verlangt. Grelegentlich steht auch § 176 in Frage, der den
Beischlaf mit willenlosen oder geisteskranken Frauenspersonen betrifft.
Givilrechtlich ist zu betonen, dafs Imbecillität wohl im ärztlichen Sinne
vielfach als Schwachsinn oder Geistesschwäche bezeichnet wird, womit
aber nicht die Geistesschwäche des § 6 B.G.B. gemeint ist. Bei stärkeren
Defecten, vor Allem auch auf moralischem Gebiet, empfiehlt B. die Ent-
mündigung wegen Geisteskrankheit. Nur sehr leichte Fälle lassen Ent-
mündigung wegen Geistesschwäche zu, während die auf geistig gebrech-
liche Personen anwendbare Pflegschaft des § 1910 nach der Ansicht von B.
nur ganz aufserordentlich selten angewandt werden darf.
Es war dem Zweck der besprochenen Untersuchung, die ein Referat
in einer Psychiatorv'ersammlung darstellt, durchaus entsprechend, dafs die
complicirte Frage nach den Beziehungen zwischen der angeborenen Geistes-
schwäche und dem Delinquente nato aufser Betracht blieben. Im Uebrigen
ist die Darstellung der schwierigea Stellungnahme zwischen klinischer und
gerichtlicher Betrachtung des angeborenen Schwachsinns anschaulich and
Literaturbericht 299
erHchöpfend darchgeführt. Vielleicht hätten die mannigfachen Versuche,
intellectuelle Defecte durch Fragebogen und mittels psychophysischer
Methoden festzulegen, noch eine Erwähnung verdient. Fernerhin würde
die Frage der forensischen Beurtheilung eine ungemeine Erleichterung er-
fahren, wenn die moderne, segensreiche Bewegung der Hülfsschulen allge-
mein aufgenommen würde, welche für minderbeanlagte Kinder bestimmt
sind und ihren Schulgang mit einem auch die psychischen Leistungen
berücksichtigenden Gesundheitsschein begleiten, der bei späteren Con-
flicten ein äufserst werthvolles Actenstück zur Feststellung angeborener
geistiger Defecte darbieten wird.
In der fast völligen Abweisung der Pflegschaft (§ 1910 B.G.B.) für
Oreirtesschwäche stimmt Ref. nicht mit dem Verf. überein; in einzelnen
Fällen, besonders bei anergetischen Imbecillen, hält er diese Form mildester
gesetzlicher Fürsorge vielmehr ab und zu für ganz angebracht, so z. B. wenn
eine schwach beanlagte Person, die Jahre lang im Schutz der Familie, bei
Eltern, Gatten oder Geschwistern lebte, in vorgerückten Jahren durch
Tod der Angehörigen plötzlich auf sich allein angewiesen ist.
Weyoandt (Würzburg).
G. Ofiia. Osservasioiii Aosologiche e cliniche sol cosi detto „delirio di Aega*
Xione". Rivist^i speriment^ile di fre^iiatria 28, 1—29. 1900.
Obici, der in seinen Anschauungen Kraepelin aufserordentlich nahe-
steht, hält die nihilistischen Ideen für eine Erscheinung, die zwar in den
verschiedensten Formen geistiger Erkrankungen sich zeigen kann, haupt-
sächlich aber in solchen, die auf Involutions- und Degenerationsprocessen
beruhen. Am meisten zusammenhängend und systematisirt (CoTARD*sche
Krankheit) sind diese Verneinungs- und Vernichtungsideen in den Melan-
cholien des Rückbildungsalters; bei der periodischen Melancholie treten
iie erst in höherem Alter stark in den Vordergrund. Die Melancholie des
Käckbildungsalters, deren Sonderexistenz Obici mit Kraepelin annimmt, ist
ein Zeichen der beginnenden Abnahme der Geisteskräfte. Der Verf. be-
nutzt weiter seine Beobachtungen um der Frage der Paranoia näher zu
treten. Chronische, systematisirte Verfolgungsideen entstehen nur auf dem
Boden einer tiefgreifenden Veränderung der Persönlichkeit und einer ün-
znlänglichkeit der Intelligenz. Dagegen pflegt die geistige Schwäche bei
der Paranoia im engsten Sinne nicht fortzuschreiten, während bei jugend-
lichen Individuen (Dementia praecox) ein vollständiger Verfall der Geistes-
kräfte eintritt. Ascuaffenbüro (^Halle).
X. Vaschide e L. Marchaud. Ufflcio che le condizioni mentali hanno stille
modüetzioiii della respirazione e della circolazione perlferlca. Rivista
sperimeutale di freniatria 20, 512 — 528. 1900.
Die Verff. haben Gelegenheit gehabt, einen ungewöhnlich ausgeprägten
Fall von Erythrophobie (Erröthungsfurcht) genauer zu untersuchen. Bei
dem Kranken genügte schon der Gedanke, dafs Jemand das Zimmer be-
treten könne, ja schon allein ein Blick in den Spiegel, um lebhafteste
Angstempfindungen wachzurufen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dafs
Absinth diese Angstzustände erleichterte, und war dadurch zum Trinker
300 Literaturbericht
geworden. Untersucht wurden mit graphischen Methoden die Athmung, der
Radial- und Capillarpuls, der Blutdruck und die dynamometrische Leistung.
Die Unterschiede ^wischen dem Normalzustand und der Erregung durch
die Erröthungsangst, sowie die kaum merkhare Beeinflussung, sobald der
Kranke Absinth getrunken hatte, sind in Curven wiedergegeben und sehr
deutlich. Der Fall beweist die psychische Genese der Erröthungsfurcht.
ASCHAFFENBUBG (Halle).
P. J. MöBius. Ueber Entartang. Heft ni der Grenzfragen des Nerven- und
SeelenlehenSj herausgeg. v. Löwenfeld u. Kurella. Wiesbaden, J. F. Berg-
mann. Mk. 1. — . 1900.
Ein anziehend und anregend geschriebener Essay über Entartung.
Unter ihr versteht M. die Abweichung vom Typus im ungünstigen Sinne,
wenn sie nur von gewisser Gröfse, wesentlich und dauernd ist. Die Ab-
weichung mufs die Nachkommenschaft schädigen können. Die Entartung
kann ererbt oder erworben sein. Im letzteren Falle ist die Möglichkeit der
Vererbung gebunden an die gleichzeitig bedingte Veränderung der Keim-
drüsen. Der Einflufs der erworbenen Entartung auf die Nachkommenschaft
erlischt aber auf die Dauer durch die Zuführung frischen Blutes. Unsere
Kenntnisse hinsichtlich der ererbten Entartung sind weniger sicher. Von
der Entartung wird am häufigsten das Nervensystem betroffen; dabei in-
teressiren uns auch noch andere Veränderungen als Signale einer abnormen
Gehifnbeschaffenheit.
Im concreten Falle mufs man erstens die Abweichungen und zweitens
ihre Bedeutung feststellen. Die Grenzen der Normalen lassen sich aber
bei der individuellen Verschiedenheit nur schwer ermitteln, und das gilt
insbesondere in geistiger Beziehung. Für die körperlichen Abweichungen
kann man schon einen Kanon aufstellen und hat es nach dieser oder jener
Richtung hin gethan. An einer Proportionslehre der geistigen Fähigkeiten,
die übrigens den verschiedenen Geschlechtern, Altersstufen, Berufsarteu etc.
Rechnung tragen und mehr die Triebe als die sog. rein intellectuellen
Leistungen berücksichtigen müfste, fehlt es uns aber noch. An einem
Beispiele leichter Entartung zeigt M. des Ausführlicheren, wie die Bedeu-
tung einzelner Abnormitäten untersucht werden kann und welche Fülle
von Fragen dabei dem Untersucher entgegentritt.
Beim Geisteszustand der Entarteten unterscheidet M. mit Maonan den
Geisteszustand, das labile Gleichgewicht, die Disharmonie oder Instabilität
auf der einen Seite und auf der anderen die auf jener erwachsenen secun-
dären Symptome, die Syndrome, die als Formen geistiger Störung bekannt
sind, wie die Paranoia, das intermittirende Irresein, die Obsessions der
Franzosen u. s. w. Einer richtigen Auffassung des Wesens der Instabilität
steht vielfach noch die verbreitete Anschauung von der „Einheit der
geistigen Thätigkeit" hindernd im Wege. Der Charakter des Menschen
ist aber keine Einheit. Die einzelnen Eigenschaften haben vielmehr eine
gewisse Selbständigkeit, und dem entspricht auch die Anschauung und
Sprache des Volkes. Von ihnen unterscheidet sich das wissenschaftliche Ver-
fahren nur durch gröfsere Sorgfalt und Vollständigkeit. Die Disharmonie
Literaturbericht 301
beruht im GroDsen und Ganzen mehr auf quantitativen als qualitativen
Abweichungen, und Ueberschüsse in der einen Richtung werden Lücken
in der anderen entsprechen. Zwei Fragen, die nach dem verbrecherischen
und die nach dem genialen Menschen, erregen dabei besonderes Interesse.
Ebnst ScnuLTZE (Andernach).
Edcard Reich. Griminalität und Ältruismiu. Studien Aber abnorme Entwicke-
Ing und nonnale Gestaltung des Lebens und Wirkens der Gesellschaft.
2 Bde. 490 bezw. 424 S. Arnsberg, F. W. Becker, 1900.
Der erste Band betrifft die Entwickelung des Verbrecherthums und
das System der Verhütung, der zweite die Entwickelung der national-öco-
Domischen Idee und das System der Gegenseitigkeit. Entsprechend dem
Programm der vorliegenden Zeitschrift wird es genügen, nur auf den ersten
Band Bezug zu nehmen.
Verf. definirt Verbrechen als diejenige Handlung, welche mit bewufstem
Wollen ausgeübt das Dasein des Nächsten in Gefahr bringt, und zwar das
physische ebenso wie das moralische, unmittelbar oder mittelbar. Das
gröfste Verbrechen ist ihm der Krieg; den Krieg verherrlichen heifse von
TV'ahnsinn befallen oder ein gekaufter Schurke sein. Er bespricht darauf
die ursächlichen Factoren des Verbrecherthums wie den Alkoholismus, die
psychische Ansteckung, das gesellschaftliche und wirthschaftliche Elend,
Vernachlässigung der Erziehung, Trägheit und Müfsiggang, Ausschlufs aus
der Gesellschaft, den Einflufs des Klimas, der Kasse, Berufsarbeit, Erblich-
keit, des Milieus, der Ehe, der Prostitution; dann erörtert er die mannig-
fachen körperlichen und psychischen Abweichungen, schildert eingehender
«iie Verbrecher gegen das Eigenthum und gegen das Leben und kommt
schliefslich auf die Verhütung und Heilung des Verbrecherthums. Von
den heute üblichen Sühnen und Strafen verspricht auch er sich nicht das
Geringste. Neben einer Vertiefung der Religiosität sowie einer wahren
physischen und geistig-sittlichen Erziehung redet er vor Allem dem üm-
tansch der Güter und Dienste allein durch den Staat das AVort.
In vielen Punkten wird man mit dem Verf. einer Meinung sein können ;
in anderen Punkten — und deren Zahl ist nicht gering — wird er sicher-
lich auf energischen Widerspruch aus den Kreisen der Fachleute rechnen
Diflgsen- Das ist beispielsweise der Fall, wenn er dem Mifsbrauch des
Quecksilbers, des Jods etc. eine Rolle bei der Entstehung des Verbrecher-
thums zuspricht oder wenn er von dem bildenden Wollen der Seele schreibt
und so die bei den specifischen Verbrechern beobachteten Abweichungen
im anatomischen Bau als eine Folge des Criminalismus auffafst. Auch die
Tuberkulose soll die plastische Seelenkraft lähmen und so zur Vermehrung
des Verbrecherthums beitragen. „Der Geist des Verbrechens . . . verhält
sich als moralisches Pestgift, welches physiognomisch und magisch auch
die anderen Gruppen ansteckt". Die blofse Anwesenheit magisch starker
Verbrechematuren genügt, auf magisch schwache, erblich belastete Naturen
verhängnifsvollen Einflufs auszuüben, durch Stockwerke und Wände hin-
durch. Der magische Einflufs spielt überhaupt eine grofse Rolle, auch bei
den Arbeitern der Eisenindustrie. Dem Verbrecher kommen specifische
Dnftstoffe zu, die die Effecte des Magischen bedeutend unterstützen. Diese
302 Literaturbericht
Duftstoffe werden in gröfserer Menge durch Zersetzung einer eigenartigen
Substanz gebildet und ausgestofsen. „Es sind ganz einfach Zustände Ton
Entartung, und es ist gleichgültig, ob letztere vorwaltend physisch oder
überwiegend moralisch sich bekundet." Gauner, Heuchler, Schurken, Be-
trüger stinken teuflisch. Auch ohne diesen Duft kann das Individuum als
Verbrecher von dem Sensitiven magisch erkannt werden. Die Fleisch-
fresserei soll u. A. Neigung zu Gewaltthätigkeiten und cynischen Hand-
lungen erzeugen. Er spricht von einem Wahnsinn des Morphium gebrauches.
Das möge genügen. Ernst Schültze (Andernach).
O. Anoiolella. Solle tendenze snicide negli alienati e siUa pslcologii del
SlicidlO. Rivista sperimentale di freniatria 26, 336—355. 1900.
Angiolella glaubt, dafs uns die Psychologie des Geisteskranken werth-
volle Hinweise für die Psychologie der socialen Erscheinungen geben könne.
In gleicher Weise, wie das Verständnifs des Verbrechers durch die Psy-
chiatrie gewonnen habe, sei aus den Selbstmordneigungen Geisteskranker
eine Aufklärung über das sociale Phänomen des Selbstmordes zu versuchen.
Er veröffentlicht zu diesem Zweck die Krankengeschichte von 20 Geistee-
kranken mit Suicidneigungen und kommt zu folgenden Schlüssen : Die Er-
krankungen sind entweder mehr melancholischer oder ängstlicher Art mit
Verfolgungsideen; demnach die Charakterveranlagung der Selbstmörder —
im Gegensatz zu der der Verbrecher — mehr eine leidende. Die Versuche
erfolgten meist impulsiv, nicht vorbedacht und vorbereitet; es gehört folg-
lich dazu eine gewisse Lebhaftigkeit des Temperamentes. Bei 2 Kranken
mit vorwiegend paranoischen Symptomen war der Selbstmord nicht ernst
gemeint, diese stehen also nicht der suicidalen Veranlagung nahe, sondern
der verbrecherischen. Selbstmord und Verbrechen gehören zu den de-
generativen Formen und bilden ein Mittel der socialen Auslese.
ASCHAFFENBUBO.
Samter. Älkobolismis und Öffentliche Ärmeiipflege. Der Alkoholismw 1 (3).
1900. 257 S.
Dafs das Trinken als mittelbare oder unmittelbare, ausschliefsliche
oder mitwirkende Ursache der Hülfsbedürftigkeit in zahllosen Fällen eine
Rolle spielt, steht fest. Die bisher vorliegenden statistischen Ergebnisse
können aus den verschiedensten Gründen nicht verwerthet werden, weil
sie weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Die bisherigen gesetzlichen
Maafsregeln haben nichts genutzt. Nun hat sich aber die ErkenntniÜB
Bahn gebrochen, dafs die Trunksucht eine Krankheit ist, die eine Behand-
lung erfordert und in mindestens 25% der Fälle einer Heilung fähig ist
Daher ist die Armenverwaltung, falls eine durch Trunksucht bedingte
armenrechtliche Hülfsbedürftigkeit vorliegt, verpflichtet, die Kosten für
eine Anstaltsbehandlung des Trunksüchtigen aufzuwenden. Diese schon
vorbauende Thätigkeit liegt auch durchaus in ihrem fiskalischen Interesse.
Würde sich ein solcher, von den Medicinern nur mit Freuden zu be-
grüfsender Standpunkt auch bei anderen Behörden geltend machen, so wäre
damit bald die Frage gelöst, mit welchen Geldern die Trinkerheilanstalten
erbaut werden sollen. Deren bedürfen wir aber dringend, falls überhaupt
die Möglichkeit der Entmündigung wegen Trunksucht Nutzen stiften soll.
"EiBS^T ^CH.\i\*TZE (Andernach).
,\
Literaturbericht 303
Wilhelm Rüdbck. Syphilis nid Gonorrlioe vor Gericht. Die sexnellen Krank*
hdtei in Ihrer Jnriitlschen Tragweite nach der Rechtsprechnng Dentsch-
lands, Oesterrelchs nnd der Schwell. Jena, Hermann Costenoble, 1900.
148 S.
Gegenüber der Syphilis wurde die Bedeutung der Gonorrhoe für die
Gesundheit des an ihr erkrankten und des anderen Ehegatten vielfach
unterschätzt. Erst den Forschungen der letzten Jahrzehnte war es vorbe-
halten, ihren wahren Werth zu erkennen. Es kommt somit beiden Ge-
schlechtskrankheiten eine ganz gewaltige und weittragende sociale Be-
deutung zu, und in der Hauptsache wird es, wie so oft, so auch hier bei
ihrer wirksamen Bekämpfung auf eine geeignete Prophylaxe ankommen.
8oweit eine solche mit den heute zu Recht bestehenden Bestimmungen des
öffentlichen und bürgerlichen Hechts möglich ist, und wie sich unter ihrem
EinflnÜB die Einwirkung der Geschlechtskrankheiten auf das eheliche Ver-
hiltniCs aufsert, setzt Verf. in einer auch dem Nichtmediciner verständ-
lichen Weise aus einander, unter Heranziehung vieler einschlägiger Bei-
spiele. Die ünkenntnifs der verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen
trägt die Schuld daran, dafs von ihnen im praktischen Leben so wenig
Gebrauch gemacht wird, und dafs von Zeit zu Zeit gesetzgeberische Vor-
schläge zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten auftauchen, obwohl
diese kaum mehr leisten als die schon bestehenden Vorschriften. Ob in
Tirklichkeit eine Ehe von einem Ehegatten so oft angefochten wird, der
um die bei der Eheschliefsung bestehende Geschlechtskrankheit des anderen
Gatten nicht wufiste, wie Verf. glaubt und auch wohl mit Recht wünscht,
möchte Ref. bezweifeln.
Dafs bei der Therapie der Sexualleiden der Aberglaube eine grofse
Bolle mitspielt, ist bekannt, und die Ansicht ist auch heute noch weitver-
breitet, dafs das beste Mittel gegen solche Affectionen der Beischlaf mit einem
jungen, unbescholtenen Mädchen ist. Weniger bekannt dürfte sein, dafs
dieser Aberglaube zu den verschiedensten Zeiten und in den verschiedensten
Ländern sich vorfindet. Ernst Schultze (Andernach).
A. BASTiAif. Die ¥61kerkinde und der ¥61kerverkebr unter seiner Rfickwirkung
aif die Yolksgescbicbte. Ein Beitrag znr Volks- nnd Menschenkunde. 171 s.
Berlin, Weidemann'sche Buchhandlung, 1900.
In seinem bekannten, jeder Beschreibung spottenden Stile, der ein
seltsames Gemisch darstellt von streng wissenschaftlichen Anschauungen
und grenzenlos trivialen Redensarten, und der den Leser an den meisten
Stellen wie eine mifslungene Uebersetzung aus dem Chinesischen anmuthet,
behandelt der greise Verf. das gesammte Stoffgebiet der Anthropologie und
Ethnologie im Abrifs. Von der Erschaffung der Welt bis zum neuesten
Berliner Giftmordprocefs Jaenicke giebt es kein Problem, das er nicht,
mindestens in einigen Klammern oder Anmerkungen, zur Sprache bringt;
und das „feinest zerkrümelte Lebewesen" bis zum Pithecanthropus erectus,
der „Wildling" bis zum „Uebermenschen in modernster Frisur** wird mit
gleicher, unparteiischer Liebe zum Gegenstande der Betrachtungen gemacht.
Dabei ist es völlig gleichgültig, ob es sich um wissenschaftliche Erfahrungen
handelt, oder um die ältesten, naivsten und unmöglichsten Anschauungen,
304
'-^ «.>*»v
kuaufln. mit: #fl*- ,:, *■. ir*-- .iiifsö. r':naaAäL — i^ knoM nnd graufle)
-^t^uwel^i*•ter- « '^'kz i.ti« *r_zi*r iziiüraL 3WCi-5ÜjK*:h«i Weh — die
Literat nr c üt . L:. - * 'z*z. : •■ 1 li^r>*-': Ir* ii3i_3ii*r. :•?-: r»»rxiiafs Terkrflppelter
KurzattLiieke:: " '•*'** i_^ Xrcir>i* -iirr iiXiir:c*:i>:tEidvb«i FoTscbnng an-
btrlansrt, «:* jrLz.: rr il-*- r .'^ " _. - 1*.- 7."* -.«■ • '*»» St^s^iilas*:-«! ab ZtZ^i empfiehlt die
iiaiurmis«*r:*^.i.Ai-.l: i*. . : :LTaTxrT-r*c.-KLf.:l* Mrti.i?. .r^trSamrforscher-,
HO erklän tr. .Li.: '^: .v-^^-^- n T^r:.>f:.Ki. r-K fei=*r Mutter Xatur,
ohntf mit .>.:Lii- .i^_z .LZri i- A^La^^icl x*ifcL«r=. Helene xu buhlen,
Wfil IfgiiiiiL l-rrr:i» er: iia Er*-: ni: ier-et. i:^ -iirrh Xaznensbereich-
nuiijr «hvn cr-iiTriirxr-: i-r-T si-i. al* üir? ,L:*>Lah*r- Philo »ophen .-
Ktwas freur..!:: Ler «-.^1: -irr V^rf. der Psyibx^re ««saber. Er nennt
sif dt-r AntLr >. : -rir- .>ri*ere Hilf:^* i=.i iiefir^:«« «iu Studium der
MTflisK-hm En:T:.kr:-:ir öer XarzirT.i.lker. ii*:*Si:c-iere der Entstehung
ihrer rriici'.-sen Ar.«- :ii--::iren, ari^r ■•hne ,-iiJ* ein* the»:«»>phi»che Ethik
ihren Sen: Linz-rr'-r:: «ilrfr-. I»;r sj^ridaiive, rad-rsjhle und mTstische
P^y ^ h.-ii..rle Yrnrirf: er. -ni l-rkenni #::b xz. der Ac2a«!Siing. die Rehiiee,
LiJBiy'.-HAr* un«i Avfv^i::"« vrnreten. .Bcnt sohillers und flimmert es in
dtrii Vi.lkeri^-ianker.. -äLier cea GIol-u« hin, :n Iniferenjirungen gebrochen;
aWr harmonisch ^- hw:n:n-: e* rusammen, wenn 'aus Hzucholtz's akusto-
optischer Onoi.rdanz in -Farbienacconien- s. üy^tz dem Auge auf
'.Ca stell'? -FarlienL-iavier- musicirt wird im Ailerweirsconcert , und der
Menschheit ihr <fe*lanie zum Aas<lruek kommt jetiem Menschen und
Mensohlein der seine ." Auf dieser «irun^ilage f'.«n1ert B. zur Mitarbeit an
den Problemen der Eti:nOi"2ie und Anthrop-C'logie auf. Denn .nicht zu
(t et räum und quietistist^hem .Schiafgedusel ist der Mensch erschaffen,
tJondern um selbst thäti^ mitzuschaffen am -Bau der Ewiekeiten" in des
l>ii'hters Lied .- Es ist unm»:.;jlich, im Rahmen eines Referates von der
^ iel8eiti>;keit der Ge^ianken, die Verf. zur Darstellung bringt, einen Begriff
r.u jrobon. Ji*«lenfalls ist diese Darstellung selbst ein so eigenartiges Durch-
einander von lielehrsamkeit und «Geschmacklosigkeit in ihrer -letzt höchsten*
' tei^erunj;. dafs die Lektüre des Werkes nur Denjenigen empfohlen werden
kann, die für llindernirsrennen auf dem Gebiete der Sprachverständigung
das KenüKcnde Verständnifs besitzen. L. Hirschlaff Berlin .
Bericht igmng.
In dem vnii mir im vorliegenden Bande flicser Zeitschrift auf S. 1:^1
verfalHten Kefcrate ülu.r die Arbeit Tschermaks ^Beobachtungen über die
relative Karl>enl)lindheit im indirecten Sehen" ist auf Zeile 20 statt der
Worte ^Klei<-lie WeiiHvalenz un<i Helligkeit- zu lesen ^gleiche Weifsvalenz
imi chromaÜHclie Aeciuivaienz". G. Abelsdorff (Berlins
/
Untersuchungen über psychische Hemmung.
Von
G. Heymans.
Zweiter Artikel.^
Inhalt. Seite
ni. Die Verdrängung von Empfindungen durch andere,
qualitativ gleiche, aber local von jenen verschie-
dene Empfindungen 305
1. Druckempfindungen 306
2. Lichtempfindungen 321
IV. Folgerungen 335
1. Die Beziehung zwischen Reiz und Empfindung 335
2. Die Verdrängung von ünterschiedsempfindungen durch
Empfindungen (das WEBER'sche Gesetz) 341
3. Die Abschwächung von ünterschiedsempfindungen durch
Empfindungen (die MERKEL'schen und AMENT'schen Ver-
suche) 358
III. Die Terdrängnug Ton Empfindungen durch
andere, qualitatir gleiche, aber local yon jenen yerschiedene
Empfindungen.
Auch hier richtete sich die Untersuchung auf die Fest-
stellung der durch gleichzeitig einwirkende Reize verursachten
Erhöhung der Reizschwelle für bestimmte Empfindungen; statt
> 8. duse Zeitschrift 21, 321—359.
Zeitschrift für Psychologie 26.
20
306 O. Heymans.
aber Activ- und Passivreize von verschiedener Qualität gemischt
auf Einen Theil der entsprechenden Sinnesfläche einwirken zu
lassen, wurden jetzt verschiedene Theile einer Sinnesfläche durch
Activ- und Passivreize gleicher QuaUtät getroffen. Es eignen
sich zu dieser Untersuchung hauptsächUch zwei Sinnesgebiete:
diejenigen der Druck- und der Lichtempfindungen.
1. Druckempfindungen.
Der Apparat, mittels dessen die einschlägigen Hemmungs-
verhältnisse untersucht wurden, war folgenderweise eingerichtet
(Fig. 1).
Ein am Rande des Experimentirti3ches festgeschraubtes
Holzbrett trägt erstens drei feste Stative ABC mit Metallkapseln,
in welchen zwei horizontale MetaUachsen DE frei und xmab-
hängig von einander drehen können. An jeder Achse ist in
beliebig variirbarer Entfernung von den Stativen ein Hebel be-
festigt; einer derselben FG trägt an einem Arme eine Schale G
mit Pelotte, am anderen ein verstellbares Laufgewicht jP, mittels
dessen der Hebel bei unbeschwerter Schale in einen Zustand
indifferenten Gleichgewichts gebracht werden kann; der zweite
Hebel HI besteht aus zwei Armen von ungleichem Gewichte,
von denen der schwerere / ein an dünnen Seidenfädeu aufge-
hängtes Papierschälchen trägt. Pelotte und Papierschälchen lassen
sich über eine Strecke von etwa 1 cm auf- und niederschrauben.
Bei den Versuchen, über welche hier berichtet werden soll, war
der Apparat so eingestellt, dafs das halbkugelförmig abgerundete
imtere Ende der Pelotte und die Untenseite des Papierschälchens
sich in gleicher Höhe befanden; während die horizontale Ent-
fernung zwischen denselben zunächst constant 4 cm betrug.
Unter denselben lag auf einem mit Stellschrauben versehenen
Brettchen in einem genau passenden Gypsabgufs die Hand der
Versuchsperson, deren Vorderarm in bequemer Lage auf einem
Polster ruhte. Wurden also die in der Figur rechts liegenden,
mit beliebigen Gewichten beschwerten Hebelarme gleichzeitig
niedergelassen, so wurde der Handrücken an zwei, 4 cm von
einander entfernten Stellen gleichzeitig gedruckt, und es konnte
durch Variiren der Gewichte untersucht werden, inwiefern die
Merklichkeit des einen durch das gleichzeitige Auftreten des
anderen Druckes beeinflufst wurde. — Damit ist das Princip der
Vtttertuchungen Über piychUche Hemmung.
307
Versnchseinrichtmig erkl&rt; es erübrigt noch, auf einige weitere
MaafBnahmen aufmerksam zu machen, durch welche hauptsäch-
lich möglichst« Gleichheit der Umstände and möglichste Aus-
Fig. 1.
schliefsung störender Factoren gewährleistet werden sollte. An
erster Stelle muTste dafür gesorgt werden, die eigentlichen Druck-
empfindungen von begleitenden Temperatur- und Berührungs-
empfindungen (etwa durch Biegung der Hauthärchen u. dergl.)
20«
308 Ö- Seymans.
frei ZU erhalten, oder wenigstens Variationen der beiden letzteren
auszuschliefsen ; zu diesem Zwecke wurden Pelotte und Papier-
•schälchen nicht unmittelbar auf die Hand der Versuchsperson,
sondern auf kleine, während einer Versuchsreihe auf der Hand
liegen bleibenden Korkscheibchen, deren Durchmesser 15 mm
und deren Dicke 3 mm betrug, niedergelassen ; eine Einrichtung,
wodurch aufserdem noch vollständige Gleichheit der Druckflächen,
über welche die Einwirkungen der beiden Gewichte sich ver-
theilen, gesichert wurde. Sodann erschien es wünschenswerth,
sowohl die Geschwindigkeit, mit welcher Pelotte und Papier-
schälchen auf die Hand niedergelassen wurden, als die Dauer
des von denselben ausgeübten Druckes constant zu erhalten;
zu diesem Zwecke wurde der Apparat so eingerichtet, dafs die
betreffenden Hebelbewegungen nicht durch Manipulationen des
Experimentators, sondern durch einen einfachen Mechanismus
regulirt wurden. Es sind nämlich auf dem oben erwähnten
Holzbrett noch zwei weitere Stative K L angebracht, zwischen
welchen ein Metallreifen M um eine Längsseite drehen kann;
diese Drehung besorgt ein etwa 80 cm langes und 1,7 kg schweres
Pendel NO, welches mit dem Metallreifen fest verbunden ist,
und seine Drehungsachse mit demselben gemein hat. Befindet
sich das Pendel, wie in der Figur dargestellt, in seinem höchsten
Stand nach rechts, so drückt der Metallreifen M die darunter
befindlichen Hebelarme nieder ; macht aber jenes eine Schwingung
von rechts nach links, so läfst dieser Druck nach, und die Ge-
wichte senken sich auf die unterliegende Hand. Indem nun bei
jedem Versuch die Höhenlage der Pelotte und des Papier-
schälchens so reguUrt wird, dafs beide die auf der Hand liegenden
Korkscheibchen beinahe berühren, tritt der doppelte Druckreix
sofort ein, nachdem die zunächst vom Experimentator festge-
haltene Pendelstange losgelassen wird, und dauert fort, bis die
zurückschwingende Pendelstange seinen höchsten Stand wieder
erreicht hat, und hier vom Experimentator aufgefangen wird.
Die Einwirkung der Druckreize auf die Hand der Versuchs-
person dauert also so lange wie eine Doppelschwingung des
Pendels, nämlich etwas mehr als Vj^ See; sie tritt fast momentan
in ihrer vollen Stärke ein, indem einerseits der linke Arm des
Hebels FG sogleich beim Anfang der Schwingung durch die
Aufwärtsbewegung der darauf drückenden Kante des Metall-
reifens von der Einwirkung desselben befreit wird, andererseits
üntenuchungen über psychische Hemmung. 309
der linke Arm des Hebels HI jener Aufwärtsbewegung folgt,
und eine Entspannung der Seidenfäden, woran das Papier-
schälchen aufgehängt ist, zu Stande bringt ; und sie hört ebenso
momentan wieder auf. — Schliefshch ist noch zu erwähnen, dafs
bei sämmtlichen hier zu besprechenden Versuchen die Haut-
stellen, auf welche die Reize einwirkten, in der Längsachse der
Hand lagen; dergestalt, dafs das leichtere, auf dem Papier-
schälchen liegende Gewicht nahe an den Fingerwurzeln, das
schwerere, die Pelotte belastende näher am Pulsgelenk seinen
Drack ausübte. Die Einrichtung des Apparates empfahl die
entsprechende Handlage als die bequemere und einfacher herzu-
stellende; doch habe ich mich durch einige Versuche davon
überzeugt, dafs bei transversaler Lage der Druckflächen sich die
Resultate im w^esentlichen identisch gestalten.
Gröfsere Schwierigkeiten als die Einrichtung des Apparates
ergab die Wahl der Forschungsmethode. Anfangs war die
Methode der Minimaländerungen, welche bei den früher be-
sprochenen Versuchen über Schall-, Farben- und Geschmacks-
empfindungen ausschhefslich zur Verwendung gelangte, auch
für das jetzt vorliegende Gebiet in Aussicht genommen; bald
jedoch stellte sich heraus, dafs in dieser Weise keine irgendwie
befriedigende Resultate zu erreichen waren. Wurden nämlich,
wie bei den Farben- und Schallempfindungen geschah, die zu
einer Schwellenbestimmung erforderten einzelnen Entscheidungen
über MerkUchkeit oder Unmerklichkeit in einem Zuge nachein-
ander absolvirt, so erwies sich die bei Druckempfindungen
schneller als sonst eintretende Abstumpfung als äufserst störend :•
je nachdem nämlich aufsteigend von einem schwächeren oder
stärkeren, bezw. absteigend von einem stärkeren oder schwächeren
Reize ausgegangen wurde, ergaben sich bedeutend höhere oder
niedrigere Schwellenwerthe. Wurden dagegen, wie früher bei
den Geschmacksempfindungen , die einzelnen Entscheidungen
durch längere Zwischenzeiten getrennt, so war es unmöglich,
auch nur annähernd die unentbehrliche Gleichheit der Umstände
aufrecht zu erhalten. Wärme und Kälte, Arbeit und Ruhe, be-
quemere oder weniger bequeme Stellung und Handlage, All-
gemeinbefinden und Stimmung beeinflufsten nämlich die Empfind-
lichkeit in auffallendem Grade; demzufolge es vorkam, dafs
beispielsweise ein Reiz mehrere Male als unmerklich, einen Tag
gpäter aber als entschieden übermerklich, und bei bedeutender
310 (^' Heymans.
Abschwächung noch immer als merklich beurtheilt wurde. Unter
solchen Umständen liefs sich von der Methode der Minimal-
änderungen weiter nichts erwarten, und erschien es als angezeigt,
die Methode der richtigen imd falschen Fälle an die Stelle der-
selben treten zu lassen. Allerdings fehlten auch hier die
Schwierigkeiten nicht ganz: steht doch die Theorie der mathe-
matischen Verarbeitung der mittels dieser Methode gewonnenen
Resultate noch keineswegs auf soUden, wenigstens nicht auf all-
gemein als solid anerkannten Füfsen. So überzeugend mir
demnach persönlich die G. E. MüLLEB*schen Formeln, von
welchen ich nachher auch noch einmal Gebrauch zu machen
beabsichtige, vorkommen mögen, so schien es mir dennoch, um
jeden Schein der Willkür und der Unsicherheit auszuschliefeen,
besser, auf die Hülfe der Rechnimg überhaupt zu verzichten,
und die Versuche so einzurichten, dafs die Ergebnisse derselben
an und für sich eine directe Vergleichung des Einflusses ver-
schiedener hemmender Factoren gestatten. Dieses zu ermög-
lichen, win-de vom Principe ausgegangen, dafs zwei Reize gleich-
merkKch sind, wenn sie in einer gleichen Procentzahl sämmt-
licher Fälle, in welchen sie zur Anwendung gelangen, gemerkt
werden; und es win-den nim diu-ch vielfaches Herumprobiren
diejenigen Verhältnisse ausgesucht, wo die betreffende Gleichheit
thatsächlich sich ergab. Selbstverständüch erforderte dieses Ver-
fahren zahlreiche Vorversuche, welche, da nicht nur täglich
oder stündlich wechselnde Umstände, sondern auch relativ con-
staute wie Jahreszeit u. dergl. die Empfindlichkeit merklich be-
einflussen, vor jeder neuen Versuchsgruppe wiederholt werden
mufsten ; es gelang aber auf diesem Wege Resultate zu erreichen,
welche, wie mir scheint, die vorliegenden Verhältnisse mit ge-
nügender Deutlichkeit erkennen lassen.
Es wurde damit angefangen, durch vorläufige Versuche eine
Reizgröfse zu bestimmen, welche, ohne Hemmungsreiz ein-
wirkend, ungefähr ebenso oft bemerkt als nicht bemerkt wurde;
es fand sich, dafs dies annähernd der Fall war, wenn das mit
einem Gewichte von 160 mg beschwerte Papierschälchen auf die
Hand niedergelassen wurde. In gleicher Weise wurde nun
untersucht, wieviel zu diesem Betrage hinzugefügt werden mufste,
imi bei gleichzeitiger Einwirkung von Hemmungsreizen von 50,
100, 150, .... 500 gr ein gleiches Resultat zu erzielen. Die bei
dem hierzu erforderten Herumprobiren gewonnenen Zahlen
Untersuchungen übei' psychische Hemmung. 311
machten es bald wahrscheinlich, dafs auch die jetzt vorliegenden
Verhältnisse dem früher festgestellten Hemmungsgesetze sich
unterordnen; dafs also die dem Passivreize hinzuzufügenden
Betrage der Intensität der Activreize proportional verlaufen
müssen, um die erforderte Gleichheit der sich ergebenden Ver-
hütnisse zwischen richtigen und falschen Fällen zu Stande zu
bringen. Demzufolge konnte sich die Voruntersuchung jetzt
darauf beschränken, für Einen, und zwar für den stärksten
Activreiz von 500 gr, den Betrag des Passivreizes zu bestimmen,
welcher ebenso oft, wie ein solcher von 160 mg ohne Hemmung,
gespürt wurde; und da solches einzutreffen schien, wenn die
Belastung des Papierschälchens 360 mg, also die Erhöhung der-
selben 200 mg betrug, wurde das entsprechende Verhältnifs
Uix- = oRno) ^^^ Versuchen einer ersten Gruppe zu Grunde
gelegt
Diese Versuche, im Ganzen 3250 der Anzahl nach, erstrecken
sich mit einigen Unterbrechungen über eine Zeit von 1^/^ Jahren
(25. August 1894 bis 15. Januar 1896), indem nur einmal täglich
(sofort nach dem Frühstück) experimentirt, und jedesmal nur
10 Einzelversuche angestellt wurden; jenes um störende Ein-
flüsse verschiedener Art, dieses um die Wirkung der Ab-
stumpfung möglichst auszuschliefsen. Bei sämmtlichen 10 Ver-
suchen Eines Tages wirkte der nämliche Activ- und der näm-
liche Passivreiz ; von Tag zu Tag wurden Activ- und Passivreize,
abwechselnd in auf- und absteigender Reihenfolge, jedesmal mit
50 gr bezw. 20 mg vermehrt oder vermindert. Es gelangten
demnach als Activreize Gewichte von 0, 50, 100, 150, 200, 250,
300, 350, 400, 450 und 500 gr, als Passivreize (da das Gewicht
des Papierschälchens 80 mg betrug) solche von 240, 260, 280,
300, 320, 340, 360, 380, 400, 420 und 440 mg zur Verwendung;
nennen wir den Activreiz A, so hatte also jedesmal der ent-
sprechende Passivreiz einen Worth = 240 -f- 0,0004 A. Das
Verfahren war ein durchaus unwissentliches. Die Resultate sind
in Tab. I zusammengestellt worden.
312
6r. Heymans,
Tabelle I.
Activreiz
in gr
Passivreiz
in mg
Anzahl
der
Versuche
Anzahl
der
r-Fälle
Procentzahl
der
r-Fälle
0
240
300
117
39,0
50
260 '
300
104
34,7
100
280
300
106
35,3
150
300
300
107
35,7
200
320
300
102
34,0
250
340
300
101
33,7
300
360
300
97
32,3
350
380
300
100
33,3
400
400
300
98
32,7
450
420
300
97
32,3
500
440
300
104
34,7
Ein Blick auf diese Tabelle lehrt zuerst, dafs für sämmtliche
verwendete Reizpaare die Anzahl der MerklichkeitsfäUe im Laufe
der Versuche weit unter 50% gesunken ist. Die Vorversuche
scheinen in einer Zeit übemormaler Empfindlichkeit der Ver-
Suchsperson stattgefunden zu haben ^; jedenfalls wurde schon
während der ersten 100 Versuchstage im Ganzen nur 388 auf
1000 mal der Druck gefühlt, welche Zahl für die folgenden und
für die letzten 100 Versuchstage nur noch unbedeutend (auf 379,
bezw. 366) herunterging. Wichtiger ist, dafs die resultirenden
Procentzahlen, vorläufig von der ersteren abgesehen, fast voll-
ständig mit einander übereinstimmen ; von oben nach unten
durchgesehen, lassen sie höchstens eine schwache Tendenz zur
Abnahme erkennen, welche darauf hinweist, dafs die Differenzen
der Passivreize um ein Geringes gröfser hätten genommen werden
sollen. Hiervon abgesehen, findet sich also dafs, trotz der herab-
gesetzten Hautempfindlichkeit, die verwendeten Passivreize bei
gleichzeitiger Einwirkung der denselben zugeordneten Activreize
in einer Entfernung von 4 cm gleichmerklich gebUeben sind;
die Hemmungswirksamkeit der letzteren, an die
* Man vergleiche jedoch die Bemerkungen S. 320, welche
andere Erklärung nahelegen.
eine
Untersuchungen über psychische Hemmung. 313
Erhöhung der Reizschwelle für die ersteren ge-
messen, ist demnach auch hier, ebenso wie früher für
Empfindungsmischungen gefunden wurde, proportional ihrer
Intensität — Dafs bei Anwendung eines Passivreizes von
240 mg ohne Activreiz ein bedeutend höherer Procentsatz von
Merklichkeitsfällen erhalten wurde als sonst, läfst sich vielleicht
aus der früher besprochenen, nur theilweise eliminirten Mit-
wirkung von Berühnmgsempfindungen (S. 307 — 308) erklären. Ob-
gleich nämlich bei den betreffenden Versuchen an der Stelle, wo
sonst der Activreiz einwirkte, ein Korkscheibchen aufgelegt wurde,
kam dasselbe in Ermangelung jedes Druckes nur sehr lose mit
der Hand in Berührung; demzufolge sich diese Fälle von den
anderen nicht nur durch den Wegfall der Druckempfindung,
sondern auch durch eine Herabsetzung der begleitenden Be-
rührungsempfindungen unterscheiden. Man kann versuchen,
diese Ungleichheit dadurch aufzuheben, dafs man bei den be-
treffenden Versuchen den die Einwirkung des Activreizes ver-
mittelnden Hebel nicht ganz aufser Function setzt, sondern den-
selben mit einem unbedeutenden Gewicht von 1 oder 2 gr be-
lastet; in welchem Falle auch ein Verschwinden der Ungleich-
heit in den Resultaten festgestellt wurde (s. Tab. HI S. 315). Doch
ist allgemein zu bemerken, dafs die reinen Schwellenversuche
viel weniger regelmäfsige Resultate lieferten als die anderen, bei
welchen Hemmungsreize einwirkten ; was nach unseren früheren
Erörterungen über die Reizschwelle wohl aus der gröfseren
Variabilität der in ersterem Falle vorliegenden hemmenden
Factoren zu erklären ist.
Eine zweite Versuchsgruppe hatte den Zweck, einen
möglichen Einwand gegen die Beweiskraft der ersteren zu be-
seitigen. Man könnte nämlich fragen, ob nicht die Gleichheit
der damals gewonnenen Zahlen einfach von der geringen Ver-
schiedenheit der Passivreize herrühren, und von der Einwirkimg
der gleichzeitig angreifenden Activreize durchaus unabhängig
sein könne. Um hierüber zu entscheiden, wurde bei den jetzt
2U besprechenden Versuchen ein unveränderlicher Passivreiz
von 440 mg (das Papierschälchen mit 360 mg Belastung) mit
verschiedenen Activreizen (100, 200, 300, 400 und 500 gr) gleich-
zeitig zur Verwendung gebracht. Es wurden jetzt allmorgend-
lich zwei Versuchsreihen, jede zu 10 auf Einen Activreiz sich
beziehenden Einzelbestimmungen, absolvirt ; und es wurde dafür
314 (r. Heymant.
gesorgt, dafs die beiden nach einander verwendeten Activreize
stets entweder gleich oder möglichst wenig (also 100 gr) ver-
schieden waren, sowie dafs die V^ersuche mit jedem Activreiz
ebenso oft die erste als die zweite Stelle einnahmen. Die Gre-
sammtzahl der Versuche beträgt für jeden Activreiz 100, also
500 im Ganzen; die Tab. II giebt die Anzahlen (zugleich die
Procentzahlen) der Merklichkeitsfälle.
Tabelle IL
I
Activreiz Passivreiz |
Anzahl Procentzahl
der der
in gr m mg I yerguehe r-FäUe
100 440 I 100 38
200 440 = 100 I 24
300 440 > 100 1 21
400 440 100 j 15
500 440 i 100 1 12
1
Diese Zahlen entsprechen wenigstens insofern durchaus der
Erwartung, als sie die Thatsache einer mit der Intensität des
Activreizes zimehmenden Hemmungswirkung aufser Zweifel
setzen. Dagegen erregen die im Vergleich mit den in Tab. I
verzeichneten Ergebnissen äufserst niedrigen Procentzahlen einige
Verwunderung; auf diesen Punkt komme ich später zurück.
In einer dritten und letzten Versuchsgruppe wurde
diu Kragestellung der ersten mit derjenigen der zweiten Gruppe
V(Tl)un<len, indem von 4 Activreizen und ebensoviel Passivreizen
je zwei rogelmäfsig mit einander zur Verwendung gelangten.
Diu Zeit zu ersparen, und zugleich einen Einblick in die Er-
inüdungsverhältnisse zu gewinnen, wurden von diesen Versuchen
allniorgendlich sechs Reihen, jede zu 10 auf Einem Activ- und
Einoni Passivreiz sich beziehenden Einzelbestimmungen, durch-
gononnucn. Die Gesanuntzahl der Versuche für jede der 16
müglichen (.'ombinationen betrug 180; es wurde dafür gesorgt,
dafs jede (-onibination in regelmäfsiger Abwechslung ebenso oft
wie die anderen die erste, zweite .... sechste Stelle in der
Tagesordnung einnahm. Im Ganzen liegen also 16 X 180 = 2880
'^ersuche vor. Die Activreize betragen 2 (vgl. S. 313), 100, 300
id 500 gr, die Passivroize 280, 360, 520 und 680 mg, welche
träge durch neue Vorversuche als jetzt den Activreizen an-
Untertuchwngen über psychische Hemmung.
315
n&hemd entsprechende erkannt waren.
Resultate.
Tabelle HL
Die Tab. m giebt die
Activreiz
in gr
Passivreiz
in mg
Anzahl
der
Versuche
Anzahl
der
r-FäUe
Procentzahl
der
r-Fälle
2
280
180
44
24,4
2
360
180
54
30,0
2
520
180
80
44,4
2
680
180
129
71,7
100
280
180
27
15,0
100
360
180
46
25,6
100
520
180
54
30,0
100
680
180
81
45,0
300
280
180
27
15,0
300
360
180
25
13,9
300
520
180
44
24,4
300
680
180
61
33,9
500
280
180
16
8,9
oOO
360
180
24
13,3
500
520
180
B2
17,7
500
680
180
45
1
25,0
Eine übersichtliche Zusammenstellung der in der letzten
i'erticalspalte dieser Tabelle enthaltenen Procentzahlen giebt
Tab. IV:
Tabelle IV.
Pa&sivreize
in mg
Activ reize in gr
100
300
500
280
360
520
680
24,4
30,0
44,4
71,7
15,0
25.6
30,0
45,0
15,0
13,9
24,4
33,9
8,9
13,3
17,7
25,0
316 (^' Heynians,
Mit wenigen Ausnahmen zeigen auch diese Zahlen, daTs
Einführung oder Verstärkung von Hemmungsreizen die Em-
pfindUehkeit für andere herabsetzt, während dagegen der Pro-
centsatz der Merklichkeitsfälle im Grofsen und Gunzen sich
gleich bleibt, wenn die eingeführten Hemmungsreize durch pro-
portionale Incremente der Passivreize aufgewogen werden. —
Vergleicht man die jetzt gewonnenen Zahlen mit denjenigen der
Tab. I, so ergiebt sich wieder, ähnlich wie bei den Versuchen
der zweiten Gruppe, eine bedeutende Abnahme der Reizempfind-
lichkeit imd eine entsprechende Zunahme der Henunungswirk-
samkeit. Während nämlich dort ein Druckreiz von 240 mg
ohne Hemmungsreiz in 39 % d^r Fälle gespürt wurde, und nach
Analogie der sonstigen damals gewonnenen Zahlen bei Einführung
der die Activreize begleitenden Berührungsempfindungen ver-
muthlich noch in ungefähr 34®/o der Fälle gespürt sein würde,
macht sich hier ein stärkerer Reiz von 280 mg bei unbedeuten-
dem, kaum mehr als jene Berührungsempfindungen erzeugendem
Activreize nur in 24,4% der Fälle bemerklich; und während
dort zur Aufrechterhaltung der gröfseren Procentzahl Reiz-
incremente zum Betrag von örnfr der Activreize genügten, sind
hier zur Handhabung der geringeren Procentzahl solche von
TT^^rpr der Activreize erfordert. Um die Verschiedenheit der Er-
12o0
gebnisse in den drei Versuchsgruppen zur Anschauung zu bringen,
stelle ich die für die erste und zweite Gruppe experimentell
festgestellte, für die dritte durch Interpolation bestimmte Frequenz
der Merklichkeitsfälle für Activ- und Passivreize von 500 gr bezw.
440 mg zusammen :
in der 1. Gruppe 34,7
in der 2. Gruppe 12,0
in der 3. Gruppe —^-^ — ^=15,5
•
Die Verschiedenlieit dieser, unter vollkommen gleichen
äufseren Versuchsbedingungen gewonnenen Resultate, erläutert
in schlagender Weise die Variabilität der EmpfindUchkeit auf
dem vorliegenden Gebiete. Die Erklärung für die niedrigen
Procentsätze richtiger Fälle in der zweiten und dritten Gruppe
ist nicht so leicht zu geben. Die Versuche der zweiten Gruppe
Untersuchungen über psychische Hemmung. 317
fallen zwischen 16. Januar und 24. Februar 1896; man könnte
dennoch zunächst geneigt sein, hier an den Einflufs der Winter-
zeit auf die Beschaffenheit der Oberhaut zu denken, wodurch
naturgemäfs die EmpfindHchkeit herabgesetzt werden mufs. Doch
kann dieser Umstand kaum entscheidend gewesen sein, da die
ersten sowie die letzten lOQ Tage der ersten Versuchsgruppe
im Winter, die mittleren 100 Tage dagegen im Sommer fielen,
ohne dafs dennoch ein durchgreifender Unterschied iu den
Resultaten festzustellen wäre (s. S. 312). An zweiter Stelle könnte
versucht werden, ein im Protokoll verzeichnetes allgemeines Un-
wohlbefinden der Versuchsperson während jener Zeit für die
herabgesetzte EmpfindHchkeit verantwortlich zu machen ; dem steht
aher gegenüber, dafs die Versuche der dritten Gruppe, welche
in bestem Gesimdheitszustande absolvirt wurden, kaum höhere
Zahlen ergaben. Endhch könnte man noch fragen, ob nicht die
Verdoppelung bezw. Versechsfachung der täglichen Versuchs-
zahl in der zweiten und dritten Gruppe, wodurch der Einflufs
von Abstinnpfung und Ermüdung nothwendig verstärkt werden
mufste, die Verschiedenheit der Ergebnisse erklären könne. Diese
Frage läfst sich aus den Versuchsresultaten der dritten Gruppe
selbst mit leichter Mühe beantworten; dieselben ergeben als
Procentzahl der richtigen Fälle im Durchschnitt für die ersten
Versuchsreihen jedes Tages 30 7o» für die ersten und zweiten
zusammengenommen 27 %, für die sämmtlichen sechs Reihen
27,4 *'o- Ermüdung und Abstumpfung haben demnach ganz
sicher zur Herabsetzung der mittleren EmpfindHchkeit bei den
Versuchen aus der zweiten und dritten Gruppe etwas beigesteuert ;
ihr Einflufs ist aber ebenso sicher viel zu schwach gewesen, um
von den festgestellten Differenzen auch nur annähernd genügende
Rechenschaft ablegen zu können. — Die geforderte Erklärung
mufs also irgendwo sonst, und zwar vermuthlich in Umständen,
welche der zweiten und dritten Versuchsgruppe in gleichem
Maafse anhaften, gesucht werden. Auch können diese Umstände
kaum solche gewesen sein, welche blos zufällig während jener
Versuche stärker als während derjenigen der ersten Gruppe auf-
traten. Es wurden nämlich die Versuche der ersten Gruppe am
15. Januar 1896 abgeschlossen und diejenigen der zweiten Gruppe
am 16. Januar 1896 angefangen ; zeitlich schUefsen sich demnach
diese immittelbar an jene an; sofort nach der Veränderung der
Versuchseinrichtung tritt aber auch der Umschlag ein, indem
318
G. JSeyniafis,
beispielsweise die letzten fünf Versuchsreihen aus der ersten
Gruppe mit Reizen von 500 gr und 360 mg im Ganzen 14, die
ersten fünf Versuchsreihen aus der zweiten Gruppe mit den
nämlichen Reizen im Ganzen nm* 6 Merklichkeitsfälle ergaben.
Es mufs also gefragt werden, dm-ch welche für das yorliegende
Problem in Betracht kommende EigenthümUchkeiten sich die
Versuchsbedingungen der zweiten und dritten von denjenigen
der ersten Gruppe unterscheiden; auf diese Frage aber finde
ich nur Eine Antwort: die Passivreize aus der ersten
Gruppe waren in Folge ihrer Verbindung mit proportional
anwachsenden Activreizen alle ungefähr gleichmerklich;
diejenigen der beiden anderen Gruppen dagegen,
von welchen jeder mit Activreizen sehr verschiedener Intensität
combinirt wurde, erwiesen sich demzufolge auch als merk-
lich in durchaus verschiedenem Grade. Dafs in der
That die auffallende Verschiedenheit der Ergebnisse aus diesem
Umstände zu erklären ist, wird durch eine weitere Versuchs-
gruppe, über welche ich schUefsUch noch zu berichten habe,
in schlagender Weise bestätigt.*
Während nämUch bei allen bisher besprochenen Versuchen
nur die Intensitäten der Activ- und Passivreize variirt, die Ent-
fernung zwischen den Angriffsstellen derselben aber constant er-
halten wurde, schien es mir interessant, jetzt auch über die Art
und Weise, wie sich die Hemmimgswirkung mit der Entfernung
ändert, Einiges zu erfahren. Zu diesem Zwecke wurde zunächst
die Versuchseinrichtung dahin verändert, dafs ein constanter
Passivreiz zum Betrage von 500 mg an der nämlichen Haut-
stelle wie früher einwirkte, während ein gleichfalls constanter
Activreiz von 500 gr in wechselnden Entfernungen von 3 bis
7 cm von jener seinen Druck ausübte. Für jede Entfernung
wurden 100, im Ganzen 500 Versuche angestellt; das Resultat
war folgendes:
Tabelle V.
Entfernungen in cm: 3
4
5
6
7
Procentzahl der r-Fälle:
7
15
22
37
46
Aus diesen Zahlen ergiebt sich zunächst, dafs bei zunehmender
Entfernung die Hemmungswirkung ziemlich rasch hinuntergeht.
ünUrsuehungm über psychische Hemmung.
319
wie dies mit Rücksicht auf die mit der Entfemmig zunehmende
Leichtigkeit, die Aufmerksamkeit vom Activreiz abgelenkt zu
erhalten, nicht anders zu envarten war. Des weiteren sieht man,
dafs die jetzt ermittelten Zahlen mit denjenigen aus der zweiten
und dritten Gruppe von gleicher Ordnung sind, indem bei
gleichzeitiger Einwirkung eines Activreizes von 500 gr in der
zweiten Gruppe ein Passivreiz von 440 mg 12 mal, in der dritten
ein solcher von 520 mg 17,7 mal, jetzt aber ein dazwischenliegen-
der von 500 mg 15 mal in 100 Versuchen (alle mit einer Ent-
fernung von 4 cm) gespürt wurde ; auch hier geht demnach mit
der ungleichen Merklichkeit der Reize eine bedeutende Herab-
setzung der mittleren Empfindlichkeit einher. Nun wurden aber
die zuletzt besprochenen Versuche noch einmal unter durchaus
unveränderten Umständen wiederholt, nur dafs diesmal mit dem
Constanten Activreize von 500 gr abwechselnd Passivreize von
500 und 1000 mg zur Verwendxmg gelangten. Das Ergebnifs
aus 1000 Versuchen (100 mit je einem Passivreiz in je einer
Entfernung), wie früher in Procentzahlen der r-Fälle ausgedrückt,
ist in Tab. VI zu ersehen:
Tabelle VI.i
Passivreiz in mg
500
1000
0
0
Entfernungen in cm
1
5
12
32
31
43
39
53
Wie man sieht, hat jetzt eine neue, und zwar keineswegs
unbedeutende Herabsetzung der EmpfindHchkeit stattgefunden.
Die Reize zu 500 mg sind diesmal, unter genau den nämlichen
Bedingungen wie vorher, nur etwa '% so oft wie damals wahr-
genommen worden; und zwar sind es ganz besonders die Ver-
* Aus diesen Zahlen lassen sich nach den von G. E. Müller {Pflüg er's
Archiv 19, 191 ff.) vorgeschlagenen Formeln leicht die Keizschwellen bei
Einwirkung eines Hemmungsreizes von 500 g in verschiedener Entfernung
berechnen ; es ergeben sich dabei für Entfernungen von 4, 5, 6 bezw. 7 cm
Reizschwellenwerthe von 2414, 1H31, 1277 bezw. 894 mg. Doch ist nach
dem Vorhergehenden klar, dafs diesen Zahlen nur eine durchaus relative
Bedeutung beigelegt werden darf.
320 ö. Heymam.
suche mit wenig entfernten Activreizen gewesen, welche diesen
Zurückgang verschuldet haben. Indem nun die jetzt vorliegen-
den Versuche sich von den früheren niu' durch die (jeden zweiten
Tag erfolgende) Unterbrechung derselben durch Versuche mit
intensiveren und deshalb merkUcheren Reizen unterscheiden, und
indem dieser Wechsel zwischen merklicheren und weniger meric-
lichen Reizen auch überall sonst, wo ein starker Abfall der
. Merklichkeitsurtheile festgestellt wurde, gegeben war, darf der-
selbe wohl mit Recht als die Hauptursache der herabgesetzten
Empfindlichkeit angesehen werden.^ Auch ist es nicht unmög-
lich, die betreffende Wirkung wenigstens einigermaafsen begreif-
"^lich zu machen. Wenn nur annähernd gleichmerkliche Beize
dargeboten werden, so bildet sich alsbald ein scharf bestimmtes
Erinnerungsbild von dem eigenthümlichen Charakter des jedes-
mal zu erwartenden Eindrucks; dieses Bild kommt dem Ein-
drucke selbst entgegen, und erleichtert die Wahrnehmung des-
selben. Wechseln dagegen die Reize dem MerkUchkeitsgrade
nach fortwährend, so weifs die Versuchsperson nicht was sie zu
erwarten hat, und braucht demnach, um mit Sicherheit ent-
scheiden zu können ob eine vom Passivreiz herrührende Druck-
empfindung dagewesen ist, eine gröfsere Intensität desselben-
Dafs die allgemeine Herabsetzung der EmpfindHchkeit sich bei
den weniger merklichen Reizen am stärksten offenbart, läfst ver-
muthen, dafs aufser den vom Activreiz herrührenden Hemmungs-
wirkungen noch andere, welche von den Erinnerungsbildern der
stärkeren Passivreize ausgehen, die Sache compliciren. Indem
nämlich diese Erinnerungsbilder sich auf die gleiche Hautstelle
beziehen, auf welche später die schwächeren Reize einwirken,
läfst sich verstehen, dafs die auf diese Hautstelle concentrirte
Aufmerksamkeit dieselben in einem solchen Grade verstärkt»
dafs sie auf jene nachkommenden schwächeren Reize eine merk-
liche hemmende Wirkung ausüben können. Doch wird dieseir
Punkt erst später, wenn wir von den Erscheinungen des suc—
cessiven Contrastes zu reden haben, genauer zu erläutern seia.-
^ Nach einer von Dr. E. Wiersma in meinem Laboratorium angestellt»
Untersuchung über Aufmerksamkeitsschwankungen, deren erster Theil In.
diesei' Zeitschrift 26, 168 ff. veröffentlicht wurde, werden auch die MerkiicVt-
keitszeiten bei dauernden schwachen Reizen in hohem Grade durch den
im Text erwähnten Factor beeinflufst.
Untentichungen über psychische Hemmung, 321
Wie dem aber auch sei, das Hauptergebnifs dieses Theiles
unserer Untersuchung wird nicht davon berührt. Indem ich
dasselbe kurz zusammenfasse, erinnere ich daran, dafs, trotz er-
heblicher durch verschiedene Umstände bedingter Schwankungen
der Empfindlichkeit, nicht nur überall wo Hemmungsreize ein-
geführt oder verstärkt wurden, sich eine Abnahme der Merk-
lichkeitsfälle ergab, sondern dafs auch die Anzahl dieser Merk-
lichkeit^älle sich im Grofsen und Ganzen constant erhalten liefs,
wenn mit der Einführung oder Verstärkung des Hemmungsreizes
eine proportionale Erhöhung des dieser Hemmung ausgesetzten
Passivreizes einherging. Das betreffende proportionale Verhält-
nife, also nach der früher eingeführten Terminologie der
Hemmungscoefficient unter den vorliegenden Umständen,
beträgt 0,0004 bis 0,0008. Von den drei Gesetzen, welche wir
früher für den Fall einer Vermischung von Activ- und Passiv-
reiz festgestellt haben (diese Zeitschr, 21 S. 356), findet dem-
nach das erste auch hier, wo active und passive Druckreize ge-
sondert einwirken, volle Bestätigung: die an der Erhöhung der
Reizschwellen gemessenen Hemmungswirkungen sind den In-
tensitäten der hemmenden Reize proportional. Die beiden anderen
Gesetze finden, da sie qualitative Verschiedenheit der Reize vor-
aussetzen, auf das vorliegende Gebiet keine Anwendung. Wohl
aber ergiebt, wie S. 316 schon bemerkt wurde, eine Ver-
; gleichung der Tabb. I und HI die wichtige Thatsache, dafs bei
Herabsetzung der Empfindlichkeit für Druckreize ohne Hemmung,
auch eine stärkere Zunahme der Passivreize erfordert ist, um
der Einführung bestimmter Activreize die Waage zu halten.
Nicht nur der durch qualitative Verschiedenheit, sondern auch
der durch andere Ursachen bedingten Ungleichheit der Reiz-
schwellen scheint demnach eine in umgekehrter Richtung ver-
laufende Ungleichheit der Hemmungswiderstände zu entsprechen ;
was als eine Bestätigung der früher dargelegten Theorie der
Reizschwelle angesehen werden kann.
2. Lichtempfindungen.
Es wurde hier, analog der Fragestellung des vorigen Ab-
schnittes, untersucht, ob und in welchem Maafse sich die Reiz-
schwelle für farblose Lichtempfindungen erhöht, wenn gleich-
zeitig in einiger Entfernung stärkere farblose Lichtreize ein-
Zeitschrift für Psychologe 26. 21
u*r T*
Hr.vaör.T^arz A BCD toc ± 2. ffege onti 35 cm Breite ist dmdi
«sne Tatzcale. 40 cm iM^ie, hä-
zerce Waibi IT/* der Lfti^e nadi
in. xvei Hälften gecheilt; zu
c«id«i Säten der Wand ist ein
Arssndbrenner GG, dessen ücht
' i_ K_^ \ durrfi einoi Gssdmckregolator
■T^ ^ coQätJuit effamhen wnrde, an^ge-
r «teilt. Das Brett wird an einem
Ende doreh einen Terticalen,
iSO cm hohen und 60 cm breiten
Holzschirm £f /abgeschlossen, in
dessen Mine ein rechtwinkliger
AusscJmitt JK von 4 cm Höbe
and 12 cm Breite angebracht
ist. Vor diesem Ausschnitt ist
eine Mattglasplatte zwischenzwei
metallenen Diaphragmen be-
festigt; jedes Diaphragma hat
zwei, mit denjenigen des ande-
ren Diaphragmas sich deckende
kreisförmige Oeffnungen, deren
Minelpmikte auf einer Horizon-
tallinie 6 cm von einander ent-
fernt, und zwar svTnmetrisch zur
^ v* ^ Schnittlinie des Schirmes mit der
hölzernen Scheidewand liegen.
Die eine dieser Oeffnungen hat
einen Durchmesser von 1 cm, die
iu\t\(iri', i''\\\tir\ solchen von 2 cm; jede derselben wird durch einen
iWr Argftrulbnjnuer beleuchtet, welche zu beiden Seiten der
^v.\n'\(\iiviiiu(\ in beliebig zwischen 30 und 190 cm variirbarer,
iinrl rriittcln eiiior an der Wand angebrachten Centimeter-
ifintlujilun^ abzulesender Entfernung von der Mattglasplatte
iiuf^<?Ht4j||t wenhjn. Jeder der beiden Argandbrenner trägt um
den (iluHcylinrlor einen Metallcylinder mit lichtdichtem Schorn-
3
¥W. 2.
Untenuchufigen über psychische Hemmung, 323
Stein; in dem Metallcylinder ist auf Flammenhöhe eine kreis-
fönnige OefEnung von 1 cm Durchmesser angebracht; sodann
vor dieser Oeffnung (zur Abbiendung des seitlichen Lichtes und
rar Compensation der gelben Farbe der Flamme) in 10 cm Ent-
femung von der Flamme ein kleiner Metallschirm mit kreis-
nmder, durch eine blaue Glasplatte verschlossener Oeffnung,
deren Durchmesser 2 cm beträgt Das Licht des einen, die
gröüsere Diaphragmaöffnung beleuchtenden und den Activreiz
liefernden Brenners wird blos durch Veränderung des Abstandes
zur Mattglasplatte verstärkt oder geschwächt; die Intensität des
anderen, auf die kleinere Diaphragmaöffnung fallenden und den
Passivreiz liefernden Lichtes mufste durch weitere Maafsnahmen
der Schwelle nähergebracht werden. Zu diesem Zwecke wurde
erstens die LichtöfEnung des Metallcylinders mittels einer kleinen,
vor derselben drehbaren, mit verschiedenen Löchern versehenen
Scheibe auf 4 mm Durchmesser reducirt; sodann zwischen dem
kleinen Metallschirm und dem blauen Glase eine weifse Milch-
glasscheibe geklemmt, welche also von der Flamme beleuchtet
wurde, und von welcher ein kreisförmiges, mit der Oeffnung
des Metallschirmes sich deckendes Stück die directe Lichtquelle
bildete. Die Latensität dieses Lichtes kann schliefslich noch
mittels einer vor der kleineren Diaphragmaöffnung rotirenden-
Episkotisterscheibe L beliebig herabgesetzt werden. Die Intensi-
täten des von der Milchglasscheibe ausgestrahlten und des von
dem anderen Brenner geUeferten Lichtes verhielten sich, wie die
photometrische Bestimmung als Mittel aus 25 Beobachtungen
ergab, wie 1 : 832.
Bei der Ausführung der Versuche safs nun die Versuchs-
person hinter dem Holzschirm, und beobachtete aus einer con-
stanten, durch eine Holzleiste mit Gucklöchern bestimmten Ent-
fernung von 25 cm binoculär die beiden beleuchteten Mattglas-
scheiben, indem sie die kleinere und schwächer beleuchtete
fixirte. Es wurden demnach die Mittelpunkte der beiden Scheiben
unter einem Gesichtswinkel von beinahe 13,5 ^ die inneren
Ränder derselben unter einem solchen von etwas mehr als 10*^
wahrgenommen. Sammttücher, welche die Holzleiste mit dem
>k?hirm verbinden, schlössen jeden Lichtreflex auf die Mattglas-
scheiben aus; ein grofses an den Holzschirm befestigtes Stück
8ammt umhüllte Kopf und Oberkörper der Versuchsperson, und
Jiefs von dem spärlichen im Zimmer anwesenden Lichte nichts
21*
324 ^- HeymatkM.
zn ihr dorchdringeiL Jeder einzelne Versuch bestand darin,
daTs bei einer bestimmten Intensität des Actirreizes der Passiv-
reiz durch allmähliche Verkleinerung der EpiskotisterOfiEnung so
l^uige geschwächt wurde bis er nicht mehr zur Wahrnehmung
gelangte, und dafs dann, nachdem die EpiskotisteröfEnung noch
um eine Strecke yerkleinert worden war. durch allmähliche Ver-
gröfserung derselben der Punkt bestimmt wurde, wo sich der
Reiz wieder bemerklich machte. Das arithmetische Mittel der
beiden den betreffenden Episkotisteröffnungen entsprechenden
Intensitäten des Passivreizes lieferte dann die Reizschwelle unter
den betreffenden Umständen; aus mehreren in solcher Weise
unter gleichen Umständen gewonnenen Schwellenwerthen wurde
wieder das arithmetische Mittel gezogen, und der wahrschein-
liche Fehler desselben berechnet. Es wurden im Granzen zehn
verschiedene Reizschwellen bestimmt: einmal ohne Hemmungs-
reiz, sodann während die den Hemmungsreiz liefernde Flamme
sich in Entfernungen von 160, 110, 90, 80, 70, 60, 50, 40 und
30 cm von der beleuchteten Mattglasscheibe befand. Nimmt
man das Lichtquantum, welches das von dem anderen Brenner
beleuchtete Milchglasscheibchen aus einer Entfernung von 172 cm
auf die Mattglasscheibe wirft, als Einheit, so sind nach dem
Vorhergehenden die Intensitäten der Hemmungsreize = 961,
2034, 3039, 3846, 5023, 6837, 9846, 15384 und 27349 zu setzen.
Die Intensitäten der jeweilig angewandten Reize waren der Ver-
suchsperson unbekannt Jeder Versuchsreihe (von drei bis fünf
Einzelversuchen) ging eine Vorbereitungszeit von 10 Min. im
Dunkeln voran. In den folgenden Tabellen sind die Intensitäten
der Activreize und der Passivreizschwellen in der oben er-
wähnten Einheit ausgedrückt. Die wahrscheinlichen Fehler der
mittleren Schwellenwerthe, die Hemmungscoefficienten und die
daraus berechneten, mit den beobachteten zu vergleichenden
Schwellenwerthe sind in der nämlichen Weise wie die ent-
sprechenden Zahlen für die Untersuchungen des ersten Artikels
ermittelt worden (vgl. diese Zeitschr. 21, S. 328 und 334).
Tabb. VII und VIII enthalten die Resultate zweier Ver-
sucliHgruppen , welche auf die Feststellung der nämlichen
Schwellenwerthe unter den nämlichen Bedingungen ausgingen,
deren Ergebnisse ich aber gesondert vorführe, weil bei den Ver-
suchen der zweiten noch etwas genauer als bei denjenigen der
ünterauchwigen über psychische Hemmung.
325
ersten Gruppe auf die Ausschliefsung störender Lichtreflexe ge-
achtet wurde. Die grofse Verschiedenheit zwischen den Intensi-
täten der Activ- und der Passivreize liefs es nämlich als mögUch
erscheinen, dafs, obgleich die Zimmerwände sowie auch sämmt-
Uche Apparate und Möbel schwarz angestrichen waren, dennoch
ein geringer Bruchtheil des den Activreiz Uefernden Lichtes auf
Umwegen zur kleineren Diaphragmaöffnung gelangen, und den
Passivreiz in nicht ganz zu vernachlässigender Weise verstärken
könnte. Dieser Möglichkeit vorzubeugen, wurden nun zwischen
den Brennern und den durch sie zu beleuchtenden Flächen
mehrere Metallschirme M aufgestellt, von welchen jeder mit
einer kreisförmigen Oeffnung versehen war, welche zwar das
für die betreffende Fläche bestimmte Licht durchliefs, allem
anderen Lichte aber den Zutritt verwehrte. Dafs diese Maafs-
nahmen nicht ganz überflüssig waren, ergiebt sich daraus, dafs
die in Tab. VIII enthaltenen Schwellenwerthe fast sämmtUch
etwas höher sind als diejenigen, welche aus den der Tab. VII
zu Grunde hegenden Versuchen hervorgingen.
Tabelle VIL
Intensität
des
Activreizes
0
961
2034
3039
3846
5023
6837
9846
15:^84
27 349
Anzahl
der
Versuche
18
18
18
18
18
18
18
18
18
18
Mittlere
Keiz-
schwelle
Wahr- i
scheinlicher Hemmungs-
Fehler
derselben
0,054
0,074
0,093
0,135
0,150
0,189
0,225
0,297
(0,894)
(1,437)
0,003
0,003
0,004
0,004
0,006
0,005
0,005
0,023
0,066
0,072
coefficient
0,000025
Berechnete
Reiz-
schwelle
0,053
0,077
0,104
0,129
0,149
0,179
0,224
0,297
0,438
0,737
326
G. Heyman*.
Tabe
Ue VIII.
Intensitlt •
de«
Actirreixes
Anzahl
der
Veraache
Mittlere
Beiz
schwelle
Wahr Berf^hnete
scheinlicher Hemmnng»- ^^^
Fehler coefficient
derselben "^^^^"^
0
18
0,077
OfiOö
r 0,065
961
18
0.093
O.OCÖ
0.094
20S4
18
0,120
0,003
0,126
3039
18
0,149
ojyob
0,156
3846
5023
18
18
0,180
0,216
0,008
0,009
0,000090
0.180
0,216
6837
18
0,270
0,012
0,270
9816
18
0,359
0,014
0350
L'i384
18
(0,575)
0.023
0,527
27349
18
(1,188)
0.039 '
l 0,885
Ein Blick auf diese Tabellen (wobei wir vorläufig von den
beiden höchsten, für Activreize von 15384 und 27349 ermittelten
Schwellenwerthen absehen) läfst sofort erkennen, nicht nur dafs,
sondern auch wie die Zahlen aus der ersten und aus der dritten
Verticalspalte mit einander zusammenhängen : auch hier ist die
durch Einwirkung eines Hemmungsreizes erfol-
gende Erhöhung der Reizschwelle der Intensität
dieses Hemmungsreizes proportional. In der That
ergiebt die unter Zugrundelegung dieser Annahme erfolgte Be-
rechnung der wahrscheinhchen Hemmungscoefficienten und Reiz-
schwellen Zahlen, welche in sehr genügender Weise zu den
Versuchsergebnissen stimmen, wie in den Tabellen nachzusehen
ist. Nur bei den stärksten zur Verwendung gelangten Hemmungs-
reizen zeigt sich eine erhebliche Abweichung, indem hier die
Reizschwelle viel höher ansteigt als die Formel erwarten läCst.
Eben hier ist aber auch eine der Bedingungen, welche wü* am
Anfang unserer Untersuchung für die Zuverlässigkeit der Ver-
suchsergebnisse gestellt haben (diese Zeitschr, 21 S. 324) nicht
mehr erfüllt: es fangen nämlich jetzt merkliche Gefühlstöne an,
die Sache zu compliciren. Die starken Lichtreize in der dunkeln
Umgebung und nach der langen Vorbereitung in völUger Dunkel-
Untersuchungen über psychische Hemmung. 327
heit siud zwar nicht immer, aber doch oft dem Auge sehr un-
angenehm; sie müssen demnach das BewuTstsein mehr in An-
sprach nehmen und stärker hemmend wirken als sonst der Fall
I sein würde. Die Einmischung dieses fremden Factors giebt sich
aach in der auffallenden Steigenmg des wahrscheinlichen Fehlers
kund ; wo diese^ weniger stark hervortritt (in Tab. VIII), ist auch
die Differenz zwischen den beobachteten und den berechneten
Reizschwellen am geringsten.
Des Weiteren habe ich versucht, ähnlich wie für die Druck-
empfindungen, auch für das vorliegende Gebiet wenigstens in
groben Zügen die Abhängigkeit der Hemmungswirkimg von der
Entfernung zwischen den gereizten Netzhautstellen zu bestimmen«
Hierzu war nur nöthig, die beiden vor dem Ausschnitt des Holz-
schirms angebrachten sich deckenden Diaphragmen durch andere
lu ersetzen, in welchen die OefEnimgen, bei gleicher Gröfse wie
, früher, 4 cm, bezw. 2 cm von einander entfernt waren, so dafe
die Mittelpunkte derselben jetzt unter Gesichtswinkeln von 9® 5'
bezw. 4*^34', die inneren Ränder unter solchen von 5^34' bezw.
1*9' zur Beobachtung gelangten. Mit Rücksicht auf die be-
deutend stärkere Hemmungswirkung, welche sich unter diesen
Bedingungen ergab, mufsten die Grenzen, zwischen welchen der
Passivreiz variirt werden konnte, entsprechend erhöht werden;
lu welchem Zwecke bei den Versuchen mit 4 cm Entfernung
die Lichtöffnung des Metallcylinders auf 7 mm Durchmesser
vergröfsert, bei denjenigen mit 2 cm Entfernung zwar diese
Lichtöffnung wieder auf 2 mm verkleinert, dagegen aber an die
Stelle des die directe Lichtquelle bildenden Milchglasscheibchens
ein Mattglasscheibchen, welches bedeutend mehr Licht durch-
scheinen liefs, verwendet win-de. Die bei diesen Versuchen auf
die kleinere Diaphragmaöffnung geworfenen, mittels des Epi-
skotisters noch weiter herabzusetzenden Lichtquanta erwiesen
sich als 2,8 bezw. 15,2 mal so stark als bei der früheren Ein-
richtung; in den nachfolgenden Tabellen sind die ursprünglich
mit diesen veränderten Maafsen gemessenen Reizschwellen je-
doch wieder auf die früher (S. 324) angegebene Einheit zurück-
geführt
328
G. Heymans.
Tabelle IX.
(MittelpunktBentfemung der Diaphragmaöflnangen 4 cm.)
Intensität
des
Activreizes
Anzahl
der
Versuche
Mittlere
Reiz-
schwelle
Wahr-
scheinlicher ,
Fehler
derselben
Henunungs-
coefficient
Berechnete
Reiz-
schwelle
0
8
0,068
0,001
1 /
0,045
961
8
0,152
0,013
0,144
2034
8
0,247
0,016
0,255
3039
8
0,348
0,015
0,358
3846
5023
8
8
0,416
0,555
0,027
0,050
0,000103
0,441
0,562
6837
8
0,758
0,081
0,749
9 846
8
1,072
0,010
1,059
15384
8
1,560
0,063
1,630
27349
8
(3,076)
0,318
.
2,862
Tabelle X.^
(Mittelpunkteentfernung der Diaphragmaöfinungen 2 cm.)
Intensität
des
Activreizes
Anzahl
der
Versuche
Mittlere
Reiz-
schwelle
Wahr-
scheinlicher
Fehler
derselben
Hemmungs-
coefficient
Berechne
Reiz
schwelL
961
8
0,689
0,054
"
1
0,771
2034
8
1,366
0,109
1,352
3039
8
1,840
0,150
1,895
3846
8
2 424
0
0,128
2,333
5 023
8
2,931
0,131
0,000541
2,969
6 837
8
4,167
0,132
3,951
9846
8
5,436
0,209
5,579
15 384
8
6,514
0,188
7,575
27 349
8
9,687
0,989
,
. 15,048
* Die gröfsere Intensität des bei diesen Versuchen zur Erzeugung d
Passivreizes verwendeten Lichtes (s. o.) machte es unmöglich, dassell
mittels des Episkotisters so weit zu verdunkeln, als zur direkten B
Stimmung der einfachen (ohne Hemmung sich ergebenden) Reizschwel
erforderlich gewesen wäre.
üniersuehungeti über psychische Hemmurig, 329
Die abnormal niedrigen Werthe, welche für die letzten zwei
Reizschwellen in Tab. X gefunden wurden, sind schwer zu er-
klären ; am nächsten liegt wohl die Vermuthung, dafs trotz aller
Vorsichtsmaafsregeln, bei der geringen Entfernung zwischen den
Diaphragmaöffnungen und dem nahen Stande der das starke
Licht liefernden Lampe, ein Bruchtheil dieses Lichtes zur Er-
hellung der kleineren, den Passivreiz abgebenden Diaphragma-
öffnung hat mitwirken können. Die übrigen Zahlen bestätigen
in sehr befriedigender Weise das Proportionalitätsgesetz; des
weiteren ergiebt sich aus denselben, dafs der Hemmimgscoefficient,
welcher bei 6 cm Entfernung der Diaphragmaöffnungen rund ein
Dreifsig- bis Vierzigtausendstel betrug, sich bei Entfernungen
von 4 bezw. 2 cm auf ein Zehntausendstel bezw. ein Zwei-
tausendstel erhöht. Die Hemmungswirkung nimmt also, ähnlich
wie für Druckempfindungen festgestellt wurde, bei abnehmender
Entfernung zwischen den gereizten Theilen der Sinnesfläche rasch
zu, was hier wie dort auf die gröfsere Schwierigkeit, die Auf-
merksamkeit von einer dem Fixirpunkte näherliegenden Stelle
abgelenkt zu erhalten, zurückzuführen sein wird.
Sohliefslich habe ich noch über einige Controlversuche zu
berichten, durch welche naheliegende Zweifel an der Berechtigung,
die vorliegenden Resultate dem allgemeinen Begriffe der Hemmimg
unterzuordnen, auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden sollten.
Mit Rücksicht auf den grofsen Intensitätsunterschied zwischen
Activ- und Passivreiz wäre es nämlich denkbar, dafs das von
jenem (der gröfseren Diaphragmaöffnung) ausstrahlende Licht
durch Reflexion oder Zerstreuung im Apparate oder im Auge
der Versuchsperson eine dem schwachen Passivreiz gegenüber
nicht zu vernachlässigende Erleuchtung des ganzen Sehfeldes
zu Stande -brächte; wenn dem aber so wäre, so könnte die fest-
gestellte Erhöhung der Reizschwelle einfach als eine durch jene
Erhellung des Hintergrundes nach dem WEBER'schen Gesetz zu
erklärende Erhöhung der absoluten Unterschiedsschwelle gedeutet
werden, und die Annahme einer Hemmungswirkung bei Licht-
empfindungen wäre eine überflüssige Hypothese. Allerdings
müfste in jenem Gedankengange Eines sonderbar erscheinen,
welches sich für die Hemmungstheorie leicht erklären läfst,
nämlich die in Tabb. VH, VHI und IX regelmäfsig zurück-
kehrende weit überproportionale Erhöhung der Reizschwelle bei
Verwendung stärkster Activreize; denn dafs hier das reflectirte
330 ö^- Heymans.
und zerstreute Licht, obgleich es für die Versuchsperson völlig
unmerklich bleibt, schon stark genug sein würde um die be-
kannte „obere Abweichimg" vom WEBER'schen Gesetze eintreten
zu lassen, ist doch wohl ausgeschlossen. Zur Erklärung der be-
treffenden Thatsache würde demnach jene Theorie doch wieder
80 wie so eine Hemmungswirkung gelten lassen müssen, während
die hier vertretene Auffassung für die Erklänmg des ganzen
vorUegenden Thatbestandes mit der Hemmimg allein auskommt
Trotz alledem kommt jedoch jenen beiden Factoren, wenn auch
nur als möglichen Fehlerquellen, von vornherein eine gewisse
Wahrscheinlichkeit zu ; und so habe ich denn geglaubt, dieselben
nicht unberücksichtigt lassen zu dürfen.
Was nun zuerst die Lichtreflexion innerhalb des
Apparates betrifft, so liefs sich der etwaige Einflufs derselben
ohne Schwierigkeit experimentell bestimmen. Allerdings war
nicht daran zu denken, das äufserst geringe, durch die Augen
der Versuchsperson und die sie umgebenden schwarzen Sammt-
tücher zurückgeworfene Lichtquantum direct zu messen; wohl
aber konnte untersucht werden, ob und inwiefern dasselbe für
sich eine Erhöhung der Reizschwelle bewirken könne. Zu
diesem Zwecke wurde innerhalb des von dem Holzschirm und
den Sammttüchern eingeschlossenen Raumes auf einem Stativ
ein kleiner schwarzer Papierschirm so aufgestellt, dafs das von
der gröfseren Diaphragmaöffnung ausstrahlende Licht von den
Augen der Versuchsperson abgeblendet wurde, überall sousthin
sich aber frei verbreiten konnte; und sodann bei verschiedenen
Litensitäten dieses Lichtes die Reizschwelle für das andere in
der vorhin angegebenen Weise bestimmt. Es war also bei diesen
Versuchen nur die Wirkung des Activreizes im Auge und im
Bewufstsein der Versuchsperson ausgeschaltet, während- die Licht-
reflexion im Apparate sich in gleichem Maafse wie früher geltend
machen konnte; hätte also jene Lichtreflexion ganz oder zum
Theil die früher festgestellte Erhöhung der Schwelle verursacht,
so müfste eine solche sich auch jetzt ergeben haben. Statt
dessen war aber genau das Umgekehrte der Fall: bei Ver-
stärkung des Activreizes von 961 bis 15384 ging die Reizschwelle
allmählich von 0,067 bis auf 0,025 zurück, während bei Ein-
führung des stärksten Activreizes (zu 27349) selbst ohne jede
Beleuchtung von aufsen die kleinere Diaphragmaöffnung erkannt
wurde. Auch läfst sich dieses Ergebnifs unschwer erklären : die
Untersuchungen übei' psychische Hemmung, 331
beobachtete Mattglasscheibe wirft nämUch mehr Licht zurück
als die umgebende schwarze Fläche des Diaphragmas; das von
innen auffallende Licht begünstigt denmach die Unterscheidung
beider statt dieselbe zu erschweren. Jedenfalls beweisen diese
Versuche, dafs Lichtreflexion innerhalb des Apparates die früher
beobachtete Erhöhung der Reizschwelle nicht verschuldet haben
kann; vielmehr würden ohne dieselbe sämmtliche Schwellen-
werthe noch um ein Geringes höher ausgefallen sein als jetzt
der Fall gewesen ist.
Die zweite Fehlerquelle, welche wir womöglich auszuschhefsen
hätten, bezieht sich auf Verhältnisse innerhalb des Auges.
BekanntHch sieht man in der Umgebung eines sehr hellen, von
dunkelm Grunde sich abhebenden Lichtes einen nebligen weifsen
Schein ; wenn man mit Helmholtz * dieses Phänomen auf diffuse
Zerstreuung und Reflexion des Lichtes innerhalb des Auges
zurückführt, so wird es wahrscheinlich bei schwächerem Lichte,
nur in geringerem oder selbst gar nicht merklichem Maafse,
gleichfalls vorkommen; wollte man nun schhefslich noch an-
nehmen, dafs bei den oben besprochenen Versuchen sich dieser
den Activreiz umgebende Nebelschein bis in die Gegend des
Passivreizes verbreitet habe, so käme wieder eine Erhellung des
Hintergrundes heraus, aus welcher in oben angedeuteter Weise
die scheinbare Erhöhung der Reizschwelle erklärt werden könnte.
Hier ist es nim, da wir nicht einen Schirm innerhalb des Auges
aufzustellen vermögen, nicht so leicht wie vorher, festzustellen
was die Zerstreuung ohne Hemmung leisten kann; wohl aber
kann umgekehrt untersucht werden, was die Hemmung ohne
Zerstreuung zu Stande bringt. Wenn wir nämUch unsere Ver-
suchseinrichtung so modificiren, dafs der Activreiz auf das eine,
der Passivreiz auf das andere Auge der Versuchsperson einwirkt,
so kann jene vermuthete objective Erhellung eines gröfseren
Theiles der Netzhaut nur in jenem Auge stattfinden, und der
Hintergrund, auf welchem der Passivreiz dem anderen erscheint,
bleibt völlig dunkel; die Bedingungen, unter welchen die oben-
erwähnte Erkläi-ung zulässig erscheinen könnte, sind also auf-
gehoben. Dieses zu bewerkstelligen, wurde zwischen den Augen
der Versuchsperson und dem Diaphragma ein stereoscopf örmiger,
vorn lind hinten offener, durch eine verticale Scheidewand in
» Physiologische Optik, 2. Aufl , S. 178.
332
G. Heymans.
zwei Hälften vertheilter Kasten aufgestellt, wie in der Figur
durch Strichellinien angedeutet ist; die Scheidewand erstreckte
sich bis unmittelbar an das Diaphragma, so dafs der Activreiz
nur dem linken, der Passivreiz nur dem rechten Auge sich
irgendwie bemerklich machen konnte. Uebrigens waren die
Versuche genau so wie diejenigen, über welche in Tabb. VU
und VIII Bericht erstattet wurde, eingerichtet. Das Ergebnifs
war folgendes:
Tabelle XL
Intensität
des
Activreizes
Anzahl
der
Versuche
Mittlere
Reiz-
schwelle
Wahr-
scheinlicher
Fehler
derselben
Hemmongs-
coefficient
1
Berechnete
Reiz-
schwelle
0
961
2034
• 3039
3846
5023
6837
9846
15384
27 349
12
12
12
12
12
12
12
12
12
12
0,048
0,051
0,054
0,058
0,070
0,068
0,068
0,082
0,096
0,119
0,002 1
0,002
0,002
0,002
0,004
0,003
0,003
0,004 1
0,004
0,004
0,0000027
0,051
0,054
0,056
0,059
0,061
0,065
0,069
0,078
0,093
0,125
Von diesen Zahlen darf wohl mindestens soviel mit gutem
Gewissen behauptet werden, dafs sie deutlich die Tendenz be-
kunden, sich dem Proportionalitätsgesetze zu fügen. Uebrigens
sind hier die Hemmungswirkungen bedeutend schwächer als bei
den früheren binocular, sonst aber unter gleichen Bedingungen
angestellten Versuchen; was zu erwarten war. Denn schon
während der Experimente erklärte die Versuchsperson wieder-
holt, dafs der Activreiz jetzt kaum noch störend wirken könne,
da sie denselben bei der angestrengten Fixirung des Passiv-
reizes fast ganz aus dem Auge verliere ; welche Aussage dadurch
eine interessante Bestätigung erhielt, dafs einmal während eines
Versuches durch eine zufällige Verschiebung der Lampe der
Activreiz für die eine Hälfte verdunkelt und für die andere gelb
statt weifs gefärbt wurde, ohne dafs die Versuchsperson etwas
davon bemerkte. Vermuthlich haben iustinctive, kaum bewufste
Untersuchungen über psychische Hemmung. 333
und schwer auszuscbliefsende Augenbewegungen die geringere
Merklichkeit des störenden Lichtes verschuldet; jedenfalls genügt
dieselbe vollständig um die schwächere Wirkung dieses Lichtes
zu erklären. Dafs trotz derselben dennoch fast jede Verstärkung
des Activreizes eine entsprechende Erhöhung der Schwelle für
den Passivreiz mit sich führte, macht es in hohem Grade wahr-
scheinlich, dafs auch die früher besprochenen Hemmimgs-
wirkungen von der Lichtzerstreuung im Auge wesentlich unab-
hängig waren.
Dennoch wäre es interessant, wenn wir nun auch noch die
umgekehrte Probe machen, also untersuchen könnten, was die
Lichtzerstreuung im Auge, für sich allein, zu leisten vermag.
Ich sagte vorhin, dazu wäre eigentUch erfordert, einen Schirm
innerhalb des Auges aufzustellen; durch diese FormuUrung des
Problems, welche scheinbar nur seine Unlösbarkeit zum Aus-
druck bringt, wurde schliefsUch der Weg zu einer einfachen
Lösung desselben gewiesen. Die Herstellung eines solchen
Schirmes, welche uns allerdings unmöglich sein würde, hat
nämlich die Natur selbst besorgt, indem sie das Auge mit dem
blinden Fleck ausstattete: werden die Versuche so eingerichtet,
dafs das hemmende Licht auf den blinden Fleck fällt, so sind
ja die Verhältnisse durchaus die nämhchen, wie wenn wir inner-
halb des Auges vor dem beleuchteten Netzhauttheile einen
undurchsichtigen Schirm aufgestellt hätten; Reflexion und Zer-
streuung des Lichtes im Auge sowie im Apparate findet in
gleicher Weise wie früher statt, die hemmende Lichtempfindung
aber ist ausgeschaltet. Dieses zu erreichen, war nur nöthig, die
früher verwendeten Diaphragmen durch andere zu ersetzen, in
welchen die den Activreiz liefernde Oeffnung verkleinert (Durch-
messer 1 cm) und etwas nach links und nach unten verschoben
war (Mittelpunktsentfernung der beiden OeflPnungen 7 cm), und
schliefslich die Beobachtung monocular stattfinden zu lassen.
Bei den betreffenden Versuchen war mir Dr. E. Wiersma, Privat-
docent der Psychiatrie an der hiesigen Universität, als Versuchs-
person behülflich, wofür ich ihm hier meinen besten Dank aus-
spreche. Die Versuche fanden in dreifacher Weise statt : einmal
so, dafs der Activreiz durch einen schwarzen Papierschirm für
das Auge der Versuchsperson verdeckt erhalten, und also die
einfache Reizschwelle bestimmt wurde ; sodann indem der Papier-
schirm entfernt, und der Kopf so gestellt wurde, dafs beim
334
G. Heyniatis.
Fixiren des Passivreizes der Activreiz den blinden Fleck traf
und also nicht gesehen wurde; schUefsUch so, dafs die beiden
Diaphragmen umgekehrt (auf den Kopf gestellt) wurden, dem-
zufolge das Licht des Activreizes auf einen empfindlichen Theil
der Netzhaut fiel und zur Wahrnehmung gelangte. Bei aUen
diesen Versuchen wurde mit dem linken Auge beobachtet und
das rechte geschlossen gehalten; da überall das nämliche Paar
Diaphragmen verwendet wurde, blieben auch Gröfse und Ent-
fernung der Reize sich vollkommen gleich. Die Versuche ver-
theilten sich, von mehreren Vorversuchen abgesehen, auf drei
Abende; an jedem Abend wurden nach einer Viertelstunde
Vorbereitung im Dunkeln, aus jeder Gruppe 6 Versuche ab-
solvirt; die Ordnung der Versuche war so bestimmt, dafs
diejenigen aus je einer Gruppe einmal zuerst, einmal zuzweit
und einmal zuletzt an die Reihe kamen. — Im Anfang er-
wies es sich als nicht ganz leicht, den zu beobachtenden,
mittels des MARBE'schen Apparates bis zur Unmerklichkeit sich
verdimkelnden Passivreiz unausgesetzt im Fixationspunkte, und
damit das Bild des Activreizes auf dem blinden Fleck zu
erhalten, und auch später machte sich bei unwillkürlichen Augen-
bewegungen der Activreiz noch bisweilen bemerklich; es wurde
dann aber stets mit der Abgabe eines Urtheils gewartet, bis es
gelungen war, denselben wieder auf den bUnden Fleck zurück-
zubringen. Indem letzteres bei stärkeren Reizen, welche sobald
sie bemerkt werden, fast unwiderstehlich den BUck ajif sich
ziehen, etwas Zeit kostete, demzufolge hier eine Complication
durch die Nachwirkung des wahrgenommenen hellen Lichtes zu
befürchten war, wurde nur mit einem schwachen Activreiz
(= 118 mal die früher eingeführte Einheit) experimentirt Das
Resultat war folgendes:
Tabelle XII.
(Activreiz = 118.)
VersuchseinrichtuDg
Anzahl
der
Mittlere
Reiz-
Wahr
scheinlicher
Fehler
derselben
Versuche
schwelle
Activreiz verdeckt
18
0,115
0,011
Activreiz beleuchtet bl. Fleck
18
0,109
0,008
Activreiz wahrgenommen
18
0,221
0,009
Untersuchungen über psychische Hemmung. 335
Es stellt sich also heraus, dafs, während die Reizschwelle
durch den wahrgenommenen Activreiz nahezu verdoppelt wird
I welche in Vergleich mit unseren früheren Ergebnissen uner-
wartet starke Wirkung wohl auf die geringere Uebung der jetzigen
Versuchsperson zurückgeführt werden muTs), sie durch den nicht
wahrgenommenen, den blinden Fleck beleuchtenden Activreiz
keine merkliche Steigerung erfährt. Damit scheint mir aber die
Annahme, dafs die oben besprochenen Hemmungserscheinungen
auf Reflexion und Zerstreuung des Lichtes im Auge beruhen
sollten, endgültig zurückgewiesen zu sein.
IT. Folgerungen.
1. Die Beziehung zwischen Reiz und Empfindung.
Lidem wir jetzt versuchen wollen, aus den in diesem und in
dem vorhergehenden Artikel besprochenen Thatsachen einige
weitere theoretische Folgerungen abzuleiten, wird uns an erster
SteDe die Frage zu beschäftigen haben, ob diebetreffenden
Thatsachen, deren Zusammengehörigkeit durch das gemein-
same Gesetz, welches sie beherrscht, verbürgt zu werden scheint,
als rein physiologische oder als psychologische ge-
dacht werden müssen. Man wolle den Sinn dieser Frage
nicht mifsverstehen. Ich bin sehr weit davon entfernt, psycho-
logische und physiologische Auffassungen als ein Entweder-Oder
einander gegenüberstellen zu wollen; vielmehr halte ich es für
höchst wahrscheinlich, dafs alles Psychische seine physiologische
„Kehrseite" hat, das heifst, nach den Principien des an anderer
J^telle von mir vertheidigten idealistischen Monismus S dafs es
unter günstigen Umständen durch Vermittelung der Sinnes-
organe die Wahrnehmung physiologischer Erscheinungen er-
zeugen kann. Durch dieses Zugeständnifs verliert jedoch die
oben aufgeworfene Frage keineswegs ihre Bedeutung. Denn von
sömratlichen in meinem Körper wahrzunehmenden physiologi-
schen Processen entsprechen vermuthlich nur wenige (die oder
einige Hirnprocesse) in der angedeuteten Weise den mir gleich-
zeitig gegebenen Bewufstseinserscheinungen, während den anderen
* Zur Parallel ism lief rage, diese ZiUs-hri/t 17, 62—105.
336 ö^- Heymans.
unbekannte reale Processe zu Grunde liegen, welche jedenfalls
in „meinem" Bewufstsein nicht vorliegen, wenn sie auch mit
dem Inhalte desselben vielfach ursächhch zusammenhängen.
Die Frage nach der physiologischen oder psychologischen Natur
irgendwelcher gegebener Verhältnisse kann demnach überall
nur folgenden Sinn haben : sind diese Verhältnisse in Processen
begründet, von welchen uns nur die physiologische Seite ge-
geben sein kann, oder aber in solchen, welche wir im eigenen
Bewufstsein als psychische vorfinden? Praktisch fällt diese Frage
mit der anderen, ob die betreffenden Processe sich der sinnlichen
Wahrnehmung als solche in den peripheren Sinnesorganen oder
den nervösen Leitungsbahnen, oder aber als solche im Central-
nervensystem darbieten, nahezu zusammen. Nur wo jene Frage
in letzterem Sinn beantwortet werden mufs, gehören die
Thatsachen, auf welche sie sich bezieht, zum Forschungsgebiet
des Psychologen; allerdings hat sich derselbe als solcher blos
mit der psychischen Seite dieser Thatsachen zu befassen, während
das Suchen nach körperlichen Begleiterscheinungen principiell
dem Physiologen zu überlassen ist.
Dafs wir es nun im vorliegenden Falle mit in diesem Sinne
psychologischen Verhältnissen zu thun haben, halte ich aus
mehrfachem Grunde für äufserst wahrscheinlich. Erstens scheint
mir die gemeinsame Gesetzmäfsigkeit, welche die gesammten
festgestellten Thatsachen beherrscht, eher auf einen psychischen
bezw. centralen Ursprung derselben, als auf einen solchen aus
Verhältnissen in den verschiedenartig eingerichteten und in ver-
schiedener Weise die Reize verarbeitenden Sinnesorganen hinzu-
weisen. Sodann ist von vornherein schwer einzusehen, warum
die Einführung des einen Reizes die Wirksamkeit des anderen
herabsetzen sollte. Die Reize, welche in den vorUegenden Ver-
suchen zur Verwendung gelangten, waren entweder quaUtativ
verschieden oder räumlich getrennt; in diesem Falle ist sicher,
in jenem mit gröfserer oder geringerer WahrscheinUchkeit an-
zunehmen, dafs sie verschiedene Theile der Sinnesflächen afficiren,
und auf verschiedenen Wegen zum Gehirn gelangen. Wollte
man aber Ausstrahlungen der nervösen Processe auf benachbarte
Elemente oder Bahnen annehmen, durch welche diese gereizt,
und also die Unterscheidung eines hinzugefügten äufseren Reizes
erschwert werden sollte, so wäre dagegen zu bemerken, dafe
nach dieser Auffassung, wenn beispielsweise nach Tab. 111 des
Unter9%ichungen übet' psychische Hemmung. 337
ersten Artikels die Rothempfindung durch blau oder weifs mehr
als durch roth gehemmt wird \ die Wirkung dieser Ausstrahlung
der Blau- oder Weifsreizung auf die rothempfindenden Fasern
diejenige einer directen Reizimg durch roth übertreffen müfste,
was doch kaum glaubUch ist. Aufserdem wird sich bald ergeben,
dafs wir, statt die Hemmung mittels Hülfshypothesen aus dem
WEBER'schen Gesetze zu erklären, einfacher und ohne Hülfs-
hypothesen das WEBEB'sche Gesetz aus der Hemmung erklären
können. — SchliefsUch aber und hauptsächhch läfst sich die
tiefgehende Analogie nicht verkennen, welche zwischen den hier
besprochenen Hemmungswirkungen und anderen, welche ganz
sicher der psychischen Sphäre angehören, besteht. Ich denke
hierbei besonders an alle diejenigen Erscheinungen, welche in
der älteren Psychologie unter dem Begriff der „Enge des Be-
wufstseins" zusammengefafst wurden, und mittels derer sich
zwischen den einfachsten sensorischen und den complicirtesten
iQtellectuellen oder emotionalen Hemmungsvorgängen mit leichter
Mühe ein continuirlicher Uebergang herstellen läfst. Oder wäre
es vielleicht möglich, hier irgendwo eine scharfe Grenze zu
ziehen ? Man vergleiche zunächst die im Vorhergehenden unter-
suchten Hemmungswirkungen mit anderen, in der Einleitung
[diese Zeitschr. 21 S. 322) genannten : etwa mit der Verdrängung
einer schwächeren elektrischen Hautempfindung oder eines
schwächeren körperlichen Schmerzes durch stärkere, jedoch an
ganz verschiedenen Körperstellen auftretenden Eindrücken gleicher
Natur. Für diese Fälle ist eine Erklärung aus peripherischen
Processen bereits vollständig ausgeschlossen ; indem sich dieselben
aber durch Verringerung des Abstandes zwischen den gereizten
Körperstellen allmählich in die im vorhergehenden Abschnitt
besprochenen Erscheinungen überführen lassen, wird man sich
kaum veranlafst fühlen, sie scharf von diesen zu trennen. Nun
denke man sich aber den Fall, jener starke körperliche Schmerz
mache es einem Maler oder einem Mathematiker unmöglich, be-
stimmte Farben- oder Linienverbindungen in der Vorstellung zu
Stande zu bringen oder zu erhalten; oder auch umgekehrt: die
intensive Beschäftigung mit interessanten Farben- oder Linien-
verbindungen bringe beim Maler oder beim Mathematiker einen
leichten Schmerz zum Verschwinden : liegt nun irgend ein Grund
vor um anzunehmen, dafs jener Schmerz in anderer Weise
* Diese Zeitschrift 21, 335.
Zeitschrift für Psychologie 26. 2'2
338 G. Htynmm.
hemmend wirken, dieser in anderer Weise gehemmt werden
sollte als früher, weil denselben jetzt Vorstellungen statt sinn-
Ucher Empfindungen und Gefühle gegenüberstehen? Und
sehliefslich hält es nicht schwerer, diese gemischten Fälle mit
der rein ideationellen Hemmung einerseits, wie mit der rein
sensorischen andererseits, in Verbindung zu bringen: der in
seinen Büchern vertiefte Gelehrte überhört nicht nur den Strafsen-
lärm, sondern vergifst auch einer getroffenen Verabredung Folge
zu leisten; der verwundete Krieger spürt in der Hitze des
Kampfes nicht nur keinen Schmerz, er denkt auch nicht an die
Gefahr für das eigene Leben; dem beglückten Liebhaber ist
nicht nur sein Kopfweh, sondern auch seine pessimistische Welt-
auffassung spurlos verschwunden. Es wäre allerdings voreiüg,
mit Sicherheit zu behaupten, dafs alle diese Fälle einer identischen
psychischen Gesetzmäfsigkeit unterliegen; das wird erst nach
sehr vielen weiteren Untersuchungen möglich sein. Soweit aber
unsere jetzigen Kenntnisse reichen, liegt kein Grund vor, einige
derselben principiell von den anderen zu trennen; insbesondere
wird man kaum die psychische Natur der letzteren zugestehen
können, ohne auch diejenige der ersteren* mindestens für sehr
wahrscheinlich zu halten. Nur auf Einen Punkt, welcher gegen
diese Gleichsetzung geltend gemacht werden könnte, ist hier
noch kurz einzugehen. Auf dem Londoner Psychologencongrefs
von 1892, wo die hier vertretene Auffassung zuerst im Unnrifs
vorgetragen wurde, vertheidigte Prof. Sully die Nothwendigkeit
einer scharfen Sonderung zwischen sensorischer und ideationeller
Hemmung mit einer Berufung auf das angeblich durchaus ver-
schiedene Verhältnifs beider zur willkürlichen Aufmerksamkeit:
„the very fact, that in the former domain an effort of voluntary
attention was (save within certain narrow limits) inoperative in
rendering the unperceived differences observable, appeared to
him sufficiently to differentiate the two groups of phenomena." *
Ich kann die Berechtigung dieses Schlusses nicht zugestehen:
denn einmal kann ja auch bei ideationeller Hemmung die Arbeit
der willkürlichen Aufmerksamkeit erfolglos bleiben (so wenn der
von tiefem Leid oder hohem Glück Betroffene vergeblich ver-
sucht, die für die tägliche wissenschaftliche oder Berufsarbeit
erforderten Vorstellungen im Bewufstsein gegenwärtig zu be-
* International Congrefs of Experi mental Psychology, Seeond Session,
London 1892, S. 114.
Untermchungen über psychische Hemmutig. 339
halten); und andererseits gelingt es oft ohne Mühe, eine rein
sensorische Hemmung (z. B. die Verdrängung der Wahrnehmung
des ührtickens durch das Tagesgeräusch) mittels willkürlicher
Anspannung der Aufmerksamkeit zeitweilig ihrer Wirksamkeit
zu berauben. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, einer ge-
gebenen Hemmung durch willkürliche Anspannung der Auf-
merksamkeit mit Erfolg entgegenzuarbeiten, hängt also nicht
davon ab, ob die betreffende Hemmung ideationeller oder sen-
sorischer Natinr ist, sondern einfach davon, ob die Aufmerksam-
keit während der eingetretenen Hemmung schon mit maximaler
Intensität auf die gehemmten Bewufstseinsinhalte gerichtet war
oder nicht In ersterem, bei allen hier besprochenen Versuchen
gegebenem Falle kann der gehemmte Inhalt durch eine Steigerung
der Aufmerksamkeitsspannung unmöglich zur MerkUchkeit ver-
helfen werden; nicht deshalb aber, weil eine solche Steigerimg
unwirksam wäre, sondern weil sie ex hypothesi unmöghch ist.
Im zweiten Falle dagegen kann sich die Aufmerksamkeit dem
gehemmten Inhalte zuwenden, bezw. die diesem Inhalte bereits
zugewendete Aufmerksamkeit sich verstärken, wodurch derselbe
dann unter Umständen wieder merküch werden kann. — Die
Gesanmitheit der einschlägigen, oben durch einige typische Bei-
spiele erläuterten Fälle läfst sich demnach, wie mir scheint, am
einfachsten nach folgendem, in seiner Allgemeinheit allerdings
noch durchaus hypothetischem Schema überschauen. Jeder Vor-
stellung im weitesten Sinne des Wortes kommt, anderen Vor-
stellungen gegenüber, eine gewisse Hemmungskraft und ein ge-
wisser Hemmungswiderstand zu, welche von verschiedenen Um-
ständen, jedenfalls von der Intensität und dem Gefühlston der-
selben, abhängen, und durch willkürliche Zuwendung der Auf-
merksamkeit verstärkt werden können. Ob Hemmuugskraft und
Hemmungswiderstand immer, wie in unserem ersten Artikel für
bestimmte Fälle festgestellt wurde, einander proportional ver-
laufen, mufs vorläufig dahingestellt bleiben. Ist nun die In-
tensität und der Gefühlston einer Vorstellung gering, so wird
dieselbe nur wenn man die Aufmerksamkeit derselben zuwendet,
merklich hemmend wirken können; bei einem etwas höheren
Grade der Intensität oder des Gefühlstones wird sie auch ohne-
dies, bei einem noch höheren Grade selbst wenn man die Auf-
merksamkeit auf eine bestimmte andere Vorstellung richtet,
diese zu hemmen im Stande sein. Und schliefslich kann es
22*
340 Cr- Heymans.
vorkommen, dafs eine Vorstellmig, kraft ihrer Intensität oder
ihres Gefühlstons, solchermaafsen das Bewufstsein in Ansprach
nimmt, dafs sie die Motive, welche zu einer willkürlichen Ab-
wendimg der Aufmerksamkeit führen könnten, selbst nicht auf-
kommen läfst, und so zeitweilig die Alleinherrschaft an sich
reifst. Nimmt man noch hinzu, dafs selbstverständUch associativ
verbundene Vorstellimgen auch in dieser Verbindung hemmen
und der Hemmung wiederstehen, so braucht man, wie mir
scheint, keine weiteren Gesichtspunkte, um die Gesammtheit der
vorüegenden Thatsachen, soweit wir sie überhaupt kennen, ver-
ständlich zu machen.
Wenn nach alledem die in dieser Arbeit untersuchten
Hemmungserscheinungen als psychische Thatsachen, also, ob-
gleich sie an den Reizen gemessen wurden, doch als Wirkungen
zwischen Empfindungen gedacht werden müssen, so ergiebt sich
daraus eine wichtige Folgerung für die allgemeine Empfindungs-
lehre. In Bezug auf die viel ventilirte Frage, ob die Empfindungen
proportional den Reizen, oder ob sie proportional den Logarithmen
der Reize anwachsen, scheinen nämlich die hier gewonnenen
Resultate sehr bestimmt der ersteren Auffassung das Wort zu
reden. Es haben uns, wie ich kurz erinnere, fünf verschiedene,
auf vier Sinnesgebiete sich erstreckende Untersuchungen über-
einstimmend gelehrt, dafs die Hemmimgskraft eines beliebigen
Reizes, an die durch denselben bewirkte Erhöhrmg der Schwelle
für einen gleichzeitig einwirkenden anderen Reiz gemessen,
seiner Intensität proportional zu setzen ist; werden nun des
Weiteren die Empfindungen proportional den Reizen gesetzt, so
ist das ganze Verhältnifs ein überaus durchsichtiges: die zu er-
klärende Proportionalität zwischen dem hemmenden und dem
ebengehemmten Reize beruht einfach darauf, dafs den Reiz-
intensitäten die Empfindungsintensitäten, und den Empfindungs-
intensitäten die zugehörigen Hemmungswirkungen proportional
sind. Hätte dagegen die logarithmische Hypothese Recht, so
müfste der vorliegende Sachverhalt in imgleich complicirterer
Weise gedeutet werden. Nennt man den hemmenden Reiz J?,
den ebengehemmten r, und stellen c, c\ &* Constanten vor, so
wären nach jener Hypothese die zugehörigen Empfindungen
E = c log B e = c log r
zu setzen; ferner haben unsere Versuche ergeben:
üntersuchwigol über psychische Hemmung. 341
Daraus folgt aber:
E = e + c "
Das heifst also : wenn die logarithmische Beziehung zwischen
Reiz und Empfindimg gelten sollte, so müfste die Empfindungs-
hemmung, um den vorUegenden Thatsachen zu genügen, nach
dem Gresetze stattfinden, dafs immer die hemmende und die
eben gehemmte Empfindung um einen constanten Betrag diffe-
rirten. Nun ist aber erstens kaum anzimehmen, dafs eine so
einfache Gesetzmäfsigkeit wie die vorliegende in so verzwickter
Weise begründet sein sollte ; und zweitens wird, wenn eine starke
Empfindung E eine viel schwächere e unmerklich macht,
Niemand es für wahrscheinlich halten, dafs E nur um den ge-
ringen Betrag e verstärkt zu werden brauchte, um eine doppelt
so starke Empfindung wie früher verdrängen zu können. Soviel
darf nach alledem wohl getrost behauptet werden, dafs, soweit
die in dieser Arbeit besprochenen Thatsachen reichen, die
Proportionalitätshypothese als die weitaus näherliegende imd
wahrscheinlichere anzusehen ist. Wäre aus der Empfindimgs-
lehre nichts mehr bekannt als dieses, dafs Empfindungen anderen
Empfindungen gegenüber Hemmungswirkungen ausüben, welche
den Intensitäten der verursachenden Reize proportional sind, so
würde daraus mit vollstem Rechte auf die hohe WahrscheinUch-
keit einer proportionalen Beziehung zwischen Reiz und Empfin-
dung geschlossen werden. Nun ist uns aber aus der Empfin-
dungslehre mehr bekannt, und darunter solches, woraus nach
der Ansicht Vieler in mehr oder weniger zwingender Weise
(las Gegebensein einer logarithmischen Beziehimg gefolgert
werden kann. Wir wollen also jetzt die betreffenden Thatsachen
— diejenigen des WEBER'schen Gesetzes — etwas genauer
ins Auge fassen, und fragen, ob sie in der That unseren bis-
herigen Resultaten schnurstracks zuwiderlaufen, oder aber ob
sie mit denselben vereinbar, vielleicht selbst aus denselben ab-
zuleiten sind.
2. Die Verdrängung von Unterschiedsempf indunge-n
durch Empfindungen (das WEBER'sche Gesetz).
Das WEBER*sche Gesetz ist (wie öfters, aber doch kaum
zu oft, hervorgehoben wurde) von der zur Erklärung desselben
aufgestellten Fechner' sehen Hypothese scharf und prin-
zipiell zu trennen. Ersteres sagt nur aus, dafs die Differenz;
342 G^- Heynians^
zweier Reize, welche zur Unterscheidbarkeit der zugehörigen
Empfindungen erfordert ist, innerhalb bestimmter Grenzen der
Intensität jener Reize proportional verläuft; es ist ein rein
empirisches, nichts mehr als einen gegebenen Thatbestand zum
Ausdruck bringendes Gesetz. Zur Erklärung dieses Thatbestandes
machte nun Fechner die Annahme, dafs die Empfindungen
proportional den Logarithmen der Reize anwachsen; eine An-
nahme welche, wenn ihr weiter nichts im Wege stünde, ohne
Zweifel als eine mögliche Erklärung des WEBER'schen Gresetzes
volle Beachtung verdienen würde. Mit Unrecht aber hat man
oft geglaubt, dieselbe als eine nothwendige Folgerung aus dem
WEBER'schen Gesetze darstellen zu dürfen; nur wenn voraus-
gesetzt wird, dafs die eben- (und als solche gleich-) merklichen
Empfindungsunterschiede auch gleiche Empfindungsunterschiede
sind, ist der Schlufs auf die Richtigkeit der logarithmischen
Formel nicht mehr zu vermeiden. Thatsächüch ist aber jene
Voraussetzimg nichts weniger als sicher: die Möglichkeit, dafs
ungleiche Empfindungsunterschiede, in Folge der ungleichen
Umstände unter welchen sie auftreten, sich dem Bewufstsein in
gleichem Maafse bemerklich machen, darf von vornherein keines-
wegs als ausgeschlossen betrachtet werden.
Des Weiteren ist bekannt, dafs im Laufe der Zeit gegen
die Zulässigkeit der FECHNER'schen Hypothese mehrere, imd
zum Theil schweraäegende Bedenken laut geworden sind. Einige
derselben beruhen auf Thatsachen, welche an imd für sich
aufserhalb des WEBER'schen Gesetzes liegen: so die m. A. n.
noch immer nicht entscheidend widerlegten Einwürfe Hering's,
und die Zweifel, welche sich an die von Merkel und neuerdings
von Amext mittels der Methode der mittleren Abstufungen ge-
wonnenen Ergebnisse festknüpfen ; in diesem Kreise finden auch
die oben erörterten, auf den Inhalt des Hemmungsgesetzes
fufsenden Schwierigkeiten ihren Platz. — Kaum geringeren Werth
möchte ich einer zweiten Gruppe von Bedenken zugestehen,
welche sich auf den Gültigkeitsumfang des WEBER'schen Ge-
setzes selbst beziehen. Das Weber'scIic Gesetz gilt, wie man
weifs, nicht nur für die Yergleichung von Empfindungsintensi-
täten, sondern auch für die von Raum- und Zeitstrecken, Lust-
und Unlustgefühlen, Urtheilsintensitäten ^ ; wenn auch für die
* Beispiele (aufser dem allbekannten von der fortune physique und
der fortune morale): bei zunehmendem Ruf kümmert man sich immer
Untersuchungen über psychische Hemmimg. 343
beiden letzteren Gebiete der zahlenmäfsige Beweis noch nicht
geführt werden kann. Nun ist aber auf alle diese Fälle die
FECHXER'sche Erklärung im Princip unanwendbar; man steht
also vor der Wahl, entweder die Einheit des WEBER*schen Ge-
setzes aufzugeben, oder die FECHNER'sche Hypothese fallen zu
lassen. — Schliefslich wäre noch zu bemerken, was bisweilen
übersehen worden ist, dafs die FECHNER'sche Hypothese, selbst
für das Gebiet der Vergleichung von Empfindungsintensitäten,
nicht den gesammten vorliegenden Thatbestand, sondern nur
eine einzige Seite desselben zu erklären vermag, für das Uebrige
aber ohne Hülfshypothesen nicht auskommt. Zu erklären sind
an dem WEBEB'schen Gesetze mindestens drei relativ selbständige
und dennoch eng verbundene Thatsachencomplexe : die Existenz
der Unterschiedsschwelle, die Proportionalität derselben mit der
Reizintensität, und die unteren und oberen Abweichungen. Die
logarithmische Hypothese erklärt nicht die Thatsache der
ünterschiedsschwelle : indem ihr zufolge die Empfindung zwar
langsamer als der Reiz, aber doch regelmäfsig mit dem Reize
anwächst, könnte sie nichts dagegen haben, wenn die kleinste
Differenz zwischen den Reizen noch eine Unterscheidung der
Empfindungen ermöglichte. Sie mufs also die Thatsache der
Unterschiedsschwelle voraussetzen, und kann dann die Pro-
portionalität derselben mit der Reizintensität erklären ; zum Ver-
stäudnifs der oberen und unteren Abweichungen kann sie aber
nur wieder mittels weiterer, physiologischer oder anderer Hülfs-
annahmen gelangen. Ein solcher Sachverhalt kann offenbar
einer Erklärungshypothese nicht zur Empfehlung gereichen.
Wenn nach alledem die logarithmische Hypothese den ge-
sicherten Platz, den sie noch vor wenigen Jahren in der Wissen-
schaft einzunehmen schien, kaum mehr behaupten kann, so habe
ich nicht den Eindruck, als ob etwas ebenso Klargedachtes und
Scharfumrissenes, welches an ihre Stelle zu treten berufen wäre,
in der Literatur irgendwo fertig vorläge. Wir haben, allerdings,
das WuNDT'sche Beziehungsgesetz, nach welchem „wir in unserem
veniger um eine einzelne günstige oder ungünstige Beurtheilung ; eine
feine Bemerkung in einem mittelmäfsigen Buch macht gröfsere Freude als
eine solche bei einem durchwegs geistreichen Schriftsteller; Alles verliert
seinen Reiz, wenn es in all zu grofser Ueberfluth gegeben ist; ein neuer
Wahrscheinlichkeitsgrund bringt eine um so weniger merkliche Verstärkung
des üeberzeugungsgefühls zu Stande, je mehrere Gründe schon vor-
lagen; u. 8. w.
344 G' Heynians.
Bewufstsein kein absolutes, sondern nur ein relatives Maafs
besitzen für die Intensität der in ihm vorhandenen Zustände**,
und ,,also je einen Zustand an einem anderen messen, mit dem
wir ihn zimächst zu vergleichen veranlafst sind" \ Aber es will
mir scheinen, als ob dieses „Gesetz" seinen Hauptvorzug, auch
auf Erscheinungen* aufserhalb des Gebietes der Empfiudungs-
messimg anwendbar zu sein, durch sein vollständiges Verzicht-
leisten auf quantitative und qualitative Bestimmtheit doch etwas
zu theuer erkauft hätte. Fragen wir kurz: welche von den im
WEBER'schen Gesetz zusammengefafsten Thatsachen hätte man
auf Grund jenes Gesetzes vorhersagen oder auch nur ver-
nünftigerweise erwarten können? Die Thatsache der Unter-
schiedsschwelle? die scheinbare Gleichheit also der aus wenig
verschiedenen Reizen sich ergebenden Empfindungen? Gewifs
nicht. Dann vielleicht doch die Constanz der relativen Unter-
schiedsschwelle? Man könnte es fast glauben; nur wäre dann
mit gleichem Recht das Nämliche auch bei der Vergleichung
von Tonhöhen zu erwarten gewesen, wo es aber bekanntüch
nicht zutrifft. Von den oberen und unteren Abweichungen ist
ganz zu schweigen. Sicher bedarf das Relativitätsgesetz der
näheren Präcisirung, wenn es mehr als ein bequemer Schlupf-
winkel für unsere Unwissenheit werden soll.
An dieser Stelle ist nun, wie mir scheint, der Hemmungs-
begriff berufen, ergänzend einzutreten. Ich betrachte näm-
lich, kurz gesagt, die Unterschiedsschwelle als eine
Hemmungserscheinung, und das WEBER'sche Gesetz
als einen Special-, bezw. als einen Grenzfall zum
ersten (auf die ProportionaUtät zwischen hemmenden und ge-
hemmten Reizgröfsen sich beziehenden) Hemmungsgesetz.
Die hiermit ausgesprochene und im Folgenden zu be-
gründende Auffassung ist nicht ganz neu; vielmehr finden sich
Anklänge an dieselbe durch die ganze psychologische Literatur
zerstreut vor. Ich erinnere an das von Hering dem Fechxer-
schen gegenübergestellte „allgemeine psychophysische Grund-
gesetz", nach welchem „die Reinheit, DeutUchkeit oder Klarheit
irgend einer Empfindung oder Vorstellung abhängt von dem
Verhältnifs, in welchem das Gewicht derselben, d. i. die Gröfse
des entsprechenden psychophysischen Processes, steht zum Ge-
sammtgewichte aller gleichzeitig vorhandenen Empfindungen und
^ Physiologische Psychologie I *, 8. 393.
Untersuchungeyi über psychische Hetnmwig. 345
Vorstellungen (oder wie man sonst die psychischen Zustände
nennen will), d- i. zur Summe der Gröfsen aller entsprechenden
psychophysischen Processe" ^ ; sodann an die von Höfler befür-
wortete Annahme, „dafs es uns um so schwerer fällt (verhältnifs-
m&feig mehr „psychische Arbeit kostet"), Vergleichungen anzu-
stellen, je stärker das Organ, genauer : das empfindende Bewufst-
sein, schon in Anspruch genommen ist" - ; schliefslich an das
Wu^'DT'8che Kelativitätsgesetz. In allen diesen und in mehreren
anderen Aeutserungen ist der Grundgedanke der nachfolgenden
Erörterungen bereits enthalten; allerdings bedürfte dieser
Grundgedanke der genaueren Kenntnifs der Hemmungser-
scheinungen, um zu einer discutirbaren Theorie sich entwickeln
zu können.
Wir wollen jetzt, indem wir nichts weiter als jenes erste
und bestbegläubigte Hemmungsgesetz, sowie die Proportionalität
zwischen Reiz und Empfindung voraussetzen, versuchen ob es
nicht möglich ist, von hier aus zum WEBER'schen Gesetze zu
gelangen.
Um eine erste, wenn auch nur vorläufige Brücke zu schlagen,
erinnere ich an die in meinem ersten Artikel besprochenen
Untersuchungen über die Hemmungsverhältnisse bei Farben-
empfindungen (I. 1; diese Zeitschr, 21, S. 326—338). Es wird
rielleicht einigen Lesern aufgefallen sein, dafs ich bei jen,en
Untersuchungen mich insofern nicht genau an das aufgestellte
IVogramm gehalten habe, als nicht nur die Reizschwellen-
erhöhungen welche durch Beimischung heterogener, sondern
auch diejenigen welche durch Beimischung gleichartiger Farben-
reize erfolgten, ermittelt wurden; oder mit anderen Worten: ich
habe damals nicht nur Mischungs-, sondern gleichzeitig Unter-
schiedsschwellen im altbekannten Sinne bestimmt, nicht nur
das Hemmungsgesetz, sondern gleichzeitig das WEBER'sche Gesetz
auf seine Gültigkeit für Farbenempfindungen geprüft und gültig
befunden. Sofern die bei jener Untersuchung ermittelten
Hemmungscoefficienten sich auf Verhältnisse zwischen gleich-
artigen Activ- und Passivreizen beziehen, sind sie dementsprechend
auch nichts weiter als relative Unterschiedsschwellen im Sinne
der üblichen Terminologie. Nun wolle man aber in der Tab. HI
{diese Zeitschr. 21, S. 335) nachsehen, ob die betreffenden
* Zur Lehre vom Lichtsinne, Wien 1878, S. 84—85.
* Vierteljahrsschr. f. wissensch. Phil. 11, 369.
346 ^' Jl^ymans.
Zahlen zu den anderen stimmen, sich der allgemeinen Gresetz-
mäfsigkeit derselben unterordnen, oder ob denselben von ihrer
Sonderstellung etwas anzumerken ist. Ist, wie ich glaube,
letzteres nicht der Fall, können sich also die Erscheinungen
des WEBEE'schen Gesetzes unter diejenigen des Hemmungs*
gesetzes mischen ohne sich irgendme fremdartig auszunehmen,
so wird w^ohl auch der Schlufs, dafs die beiden Erscheinungs-
gruppen wesentlich zusammengehören, kaum zu umgehen sein.
Oder um ein concretes Beispiel zu nehmen : in der erwähnten
Tab. III hat die relative Unterschiedsschwelle für Weifs auf Weifs
aus allen Zahlen der betreffenden Verticalcolumne den höchsten,
aus allen Zahlen der betreffenden Horizontalcolumne den
niedrigsten Werth ; Ersteres gilt aber auch von den Hemmungs-
coefficienten in allen Fällen wo Weifs als Activreiz, das zweite
von den Hemmungscoefficienten in allen Fällen wo Weifs als
Passivreiz auftritt. Das w^äre aber ein durchaus unerklärlicher
Zufall, w^enn die Weifsempfindung in anderer Weise und aus
anderen Gründen durch Weifs unmerklich gemacht würde als
die Grünempfindung durch Weifs oder die Weifsempfindung
durch Grün.
Ein anderer, nicht weniger naheliegender Gedankengang
führt von einigen Ergebnissen des gegenw'ärtigen Artikels zmu
gleichen Resultat. Wir haben nämlich oben (S. 318—319, 327—329)
gefunden, dafs sowohl bei Licht- als bei Druckempfindungen die
Hemmungswirkung stärker wird, wenn die Entfernung zwischen
den Angriffsstellen des Activ- und des Passi\Teizes abnimmt;
was sich auch durchaus ungezwungen aus dem Umstand erklärt,
dafs es bei geringerer Entfernung stets schwieriger wird, die
Aufmerksamkeit auf den Passivreiz zu fixiren ohne dieselbe
gleichzeitig dem Activreiz zuzuwenden. Was wird nun ge-
schehen, wenn wur die Entfernung zwischen Activ- und Passiv-
reiz noch weiter, und schliefslich bis auf Null, verringern?
Mehrere Umstände gestatteten nicht, dieser Frage bei unver-
änderter Versuchseinrichtung experimentell genauer auf den
Leib zu rücken; nach Analogie der vorliegenden Resultate ist
aber zu vermuthen, dafs, sofern Complicationen ausgeschlossen
bleiben, der Hemmungscoefficient dabei fortwährend steigen, und
endlich beim Zusammenfallen des Activ- und Passivreizes einen
Maximalwerth erreichen würde. Dieser Maximalwerth aber ist
wieder nichts Anderes, als die altbekannte relative Unterschieds-
VntfrBuchiinffen über paydiische Hemmung.
347
schwelle: der Satz, dafs die relative Unterschiedsschwelle für
Lichtempfindungen '/loo beträgt, kann auch ao formulirt werden,
d&Ts eine Lichtempändung von der Intensität E einen gleich
localisirten Empändungsunterschied von Vioo -^ unmerklich zu
machen, also zu hemmen vermag. Stellen wir die a. a. 0. er-
mittelten Hemmungscoefficienten für Druck- und Lichtreize,
welche in verschiedenen Entfernungen einwirken, mit den be-
kiuinten relativen Unterschiedsschwellen für die betreffenden
Gebiete graphisch zusammen, so ergeben sich Curven, welche,
soweit unsere Daten reichen, einen ganz regelmäfsigen Verlauf
erkennen lassen, so zwar, dafs die Hemmungswirkung bei Ört-
lichem Zusammenfallen von Äctiv- und Passivreiz am gröfsten
ist, bei zunehmender Entfernung zwischen beiden aber zunächst
sehr schnell, dann immer langsamer heruntergeht (Figg. 3 u. 4).
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Fig. 3. (Dmckeuipfindungen.)
yig.4. (Lichtem pflndungen.)
Doch können offenbar diese Curven, wegen der geringen Anzahl
der experimentell ermittelten Werthe, der geringen Zuverlässig-
lieit der S. 319 ermittelten Druekreizschwellen, und der Ver-
schiedenheit der Umstände, unter welchen die Bestimmung der
l'nterschiedsschwellen und der Hemmungscoefficienten statt-
gefunden hat, nur eine durchaus provisorische Bedeutung be-
anspruchen.
Versuchen wir nun die hiermit angedeuteten Gedanken zu
Ende zu denken, so gelangen wir zum Begriff einer Hemmung
von ünterschiedsempf indungen durch Reizempfin-
dungen. Es ist nämlich daran zu erinnern, dafs bei Ver-
348 ^- Heymans,
suchen über Unterschiedsempfindlichkeit stets und nothwendig
im Momente der Entscheidung ein Doppeltes im Bewuistsein
gegenwärtig ist: erstens die Wahrnehmung bezw. Vorstellung
der zu vergleichenden Empfindungsinhalten, sodann die Wahr-
nehmung bezw. Vorstellung des Unterschiedes zwischen den-
selben. Dieser letztere Bewufstseinsinhalt setzt zwar jenen
ersteren voraus, schliefst sich auch unter gewissen Bedingungen
demselben sofort an, aber ist doch keineswegs schon in dem-
selben enthalten: wir nehmen ja oft genug succedirende oder
auch gleichzeitige Empfindungsinhalte wahr ohne an dfiis In-
tensitätsverhältnifs zwischen denselben zu denken ; auch verläuft
bei Versuchen über Unterschiedsempfindlichkeit oft eine merk-
liche Zeit zwischen dem fertigen Vorliegen zweier wenig ver-
schiedener Empfindungen und dem auf das Intensitätsverhältnils
beider sich beziehenden Urtheil. Das Bewufstwerden des Unter-
schiedes ist also etwas, welches zum Bewufstwerden der Empfin-
dungen hinzutritt; es bezieht sich ferner auf einen Inhalt, der
ebenso wie derjenige der Empfindungen des Mehr -oder -Weniger
fähig ist : wir können uns gröfserer oder geringerer Unterschiede
bewufst sein, ebenso wie wir uns stärkerer oder schwächerer
Empfindungen bewufst sein können. Und schliefsUch wird,
wenn wir mit Recht angenommen haben, dafs die wahrge-
nommene Empfindung dem zu Grunde hegenden Reiz pro-
portional ist, auch wohl der wahrgenommene Empfindungsunter-
schied dem zu Grunde liegenden Reizunterschied proportional
zu setzen sein. Wird aber soviel zugestanden, so bedürfen wir
nur noch der durch die Erörterungen des vorigen Abschnittes
als sehr wahrscheinlich erwiesenen Annahme, dafs dem Hemmungs-
begriff und den Hemmungsgesetzen Gültigkeit für alle psychische
Phänomene zukommt, um das WEBER'sche Gesetz, wenigstens
seinem allgemeinen Inhalte nach, als eine nothwendige Folgerung
aus diesen Voraussetzungen deduciren zu können. Die be-
treffende Argumentation verläuft dann f olgendermaafsen : Im
Momente, wo zwei ungleiche Empfindungen der Intensität nach
mit einander verglichen werden, ist stets, aufser jenen Empfin-
dungen, noch ein anderes psychisches Phänomen gegeben,
welches mit denselben im Fixationspunkte der Aufmerksamkeit
liegt, und welches wir, ohne damit über seine eigentliche Natur
zu präjudiciren , die Unterschiedsempfindung nennen wollen.
Sind nun, wie bei den betreffenden Versuchen regelmäfsig der
üntersucJmngen über psychische Hemmung. 349
Fall ist, die Empfindungen im Vergleich mit den Unterschieds-
empfindungen stark, so können sie diese unmerklich machen
oder henmien ; und zwar wird nach unserem ersten (erweiterten)
Hemmungsgesetz die Intensität der eben zu hemmenden Unter-
schiedsempfindung derjenigen der hemmenden Reizempfindmig
proportional sein. Nun haben wir aber weiter vorausgesetzt,
dafs die Unterschiedsempfindung dem Reizunterschiede, sowie
die Reizempfindung dem Reize, proportional verläuft ; es werden
also auch die eben gehemmten (oder die ebenmerklichen) Reiz-
unterschiede den Intensitäten der Vergleichsreize proportional
sein müssen. Dafs dem so ist, besagt aber eben das WEBEK'sche
Gesetz, imd ist, innerhalb bestimmter Grenzen und mit be-
stimmten Abweichungen auf welche ich später zurückkomme,
durch alle auf dasselbe sich beziehende Untersuchungen regel-
mäfeig bestätigt worden.
Dafs in der That durch Hemmungs Wirkungen, welche von
Empfindungen ausgehen , sonst merkliche Empfindungsimter-
schiede unmerkUch gemacht werden können, läfst sich nicht nur
durch Analogieschlüsse wahrscheinlich machen, sondern auch
auf experimentellem Wege direct nachweisen. Ueber eine ganze
Reihe hierhergehöriger Versuche habe ich in 1892 auf dem
Londoner Psychologencongrefs Bericht erstattet; dieselben be-
zogen sich auf Druckempfindungen, und suchten nach der
Methode der richtigen imd falschen Fälle die Frage zu beant-
worten, inwiefern bei der Vergleichung zweier successiver Druck-
reize die Frequenz der r-Fälle durch die gleichzeitige Anwendung
stärkerer, in 4 cm Entfernung einwirkender Hemniungsreize
beeinflufst wird. Der bei diesen Versuchen verwendete Apparat
war dem früher (S. 306 — 309) beschriebenen ähnlich, nur etwas
unbehülflicher eingerichtet, indem das Niederlassen und Aufheben
der Grewichte durch Manipulationen des Experimentators besorgt
wurde, die Hand der Versuchsperson ohne Gypsunterlage auf
dem Tisch ruhte u. s. w. Durch zahlreiche Vorversuche wurden
diejenigen Differenzen zwischen je zwei successiven Reizen be-
stimmt, welche mit, bezw. ohne Hemmungsreiz in ungefähr 75 *Vo
sämmtlicher Fälle richtig erkannt wurden, und dann mit diesen
Differenzen weiter experimentirt. Indem nun die sich hierbei
ergebenden Procentzahlen der r-Fälle in der That nur wenig
und unregelmäfsig von jenem angestrebten Verhältnifs abweichen,
beweisen dieselben wenigstens annähernd die Gleichnierklichkeit
350
6r. Heymaixs,
der Unterschiede bei allen untersuchten Combinationen, und
kann ohne grofsen Nachtheil auf die (durch das seltene Vor-
kommen von Gleichheitsurtheilen in exacter Weise kaum mög-
liche) Bestimmung der entsprechenden Unterschiedsschwellen
verzichtet werden. ^ Die Resultate sind in Tab. XIII zusammen-
gestellt worden ; in Bezug auf dieselbe ist nur noch zu bemerken,
dafs die in der zweiten Versuchsgruppe verwendeten Hemmungs-
reize, wie übrigens leicht ersichtlich, in der dritten zu den Ver-
gleichsreizen zugesetzt worden sind.
Tabelle XIU.
Halbe Summe
der
Vergleichsreize
in gr
Differenz
der
Vergleichsreize
in gr
3
Hemmungsreiz
in 4 cm
Entfernung
in gr
Anzahl
der
Versuche
Anzahl
der
r-FftUe
10
0
160
99
20
4
0
160
113
40
6
0
160
113
80
10
0
160
118
120
14
0
160
116
180
20
0
160
114
10
6
50
160
116
20 10
100
160
117
40 14
200
160
112
80 28
400
160
116
120 40
600 1
160
114
180 56
ÜOO
160
115
1
60 8
0
160
121
120 14
0
160
116
240 20
0
160
105
480 40
1
0
160
115
720 i 60
0 i
160
108
1080 90
0
160
115
^ In meinem Londoner Vortrag war eine Berechnung der Unterschieda-
schwellen nach der KRÄPELiN-jASTROw'schen Methode vorgenommen worden;
indem ich aber die Berechtigung der gegen die Zuverlässigkeit dieser
Methode erhobenen Einwürfe anerkenne, schien es mir besser, mich hier
auf die Veröffentlichung der rohen, an und für sich deutlich genug redenden
Versuchsergebnisse zu beschränken.
üntfrsuehwigen über psychisdie Hemmung. 351
Im Durchschnitt mufsten also die Differenzen zwischen den
Vergleichsreizen fast auf das Dreifache gesteigert werden, um
bei gleichzeitiger Verwendung von Hemmungsreizen, welche
fünfmal stärker waren als die Vergleichsreize und in 4 cm Ent-
fernung von denselben einwirkten, die ursprünglichen Procent-
zahlen aufrecht zu erhalten. Wurden dagegen jene 5 fachen
Hemmungsreize einfach den Vergleichsreizen zugesetzt, so war
zu dem gleichen Zwecke eine Erhöhung der Differenzen auf das
4- bis 5 fache ihres ursprünglichen Betrages erforderlich und
genügend (ein Resultat, welches darauf hinweist, dafs die Ver-
suche der ersten Gruppe sich bereits im Gebiete der „unteren
Abweichungen** vom WEBER'schen Gesetz bewegten). Ueberall
sind also die Erhöhungen der Differenzen zwischen den Ver-
gleichsreizen den Hemmungsreizen nahezu proportional; und
zwar betragen die Hemmungscoefficienten bei Entfernungen
von 4 bezw. 0 cm, wie eine leichte Rechnung ergiebt, im
Durchschnitt 0,048 bezw. 0,083. Diese Verhältnisse ordnen sich
dem früher aufgestellten Schema wieder ohne Mühe unter: die
Merklichkeit der Unterschiede wird, wie die Merklichkeit der
Reize, umsomehr durch Hemmungsreize herabgesetzt, je
schwieriger es wird, die ersteren ohne die letzteren im Blick-
punkte der Aufmerksamkeit zu erhalten; sie wird minimal,
«renn jene Schwierigkeit, durch das örtliche Zusammenfallen
beider, zur Unmöglichkeit geworden ist.
Aehnliche Resultate ergab eine allerdings vereinzelt gebliebene
Untersuchung auf dem Gebiete der Lichtempfindungen. Dieselbe
fand mittels des früher (S. 322 — 323) beschriebeneu Apparates
statt ; nur war die früher den Passivreiz , jetzt die Vergleichsreize
liefernde Diaphragmaöffnung so angebracht, dafs sie durch das
vor derselben rotirende Episkotister nicht ganz, sondern nur zur
Hälfte verdunkelt wurde. Es wurde nun untersucht, in welchem
Maafse diese Verdunkelung stattfinden mufste, damit der Hellig-
keitsunterschied zwischen den beiden Hälften, sowohl für sich
als bei gleichzeitiger Einwirkung eines 4 cm entfernten Hemmungs-
reizes von verschiedener Intensität, noch eben gespürt wurde.
Es zeigte sich aber alsbald, dafs die betreffende Untersuchung
mit den vorliegenden Mitteln nur für schwache Vergleichsreize
durchgeführt werden konnte; für stärkere ist die (absolute)
Cnterschiedsschwelle an und für sich bereits zu hoch, um durch
hinzugefügte Hemmungswirkungen noch in exact bestimmbarer
352
G. Hqpnans,
Weise gesteigert zu werden. Bei den (nach der Methode der
Minimaländerungen angestellten) Versuchen, deren Ergebnisse
in Tab. XIV mitgetheilt werden, betrug die Intensität des stärkeren
Vergleichsreizes, in der S. 324 eingeführten Einheit ausgedrückt,
constant 38.
Tabell
le XIV.
Intensität
des
Hemmungs-
reizes
Anzahl
der
Versuche
Mittlere
Unter-
schieds-
schwelle
1
Wahl-
scheinlicher Hemmungs-
Fehler coefficient
derselben j
Berechneta
Unter-
Bchiedft-
schweüe
0
ö
7,72
0,24 . ,
7,91
2034
10
7,62
0,27
8,14
3039
12
8,34
0,22 i
8,25
3846
12
8,46
0,22
8,34
5023
12
8,69
0,21
0,000111
8,47
6837
12
8,88
0,20
8,67
9846
12
9,11
0,22
9,00
15384
12
9,70
0,25
9,62
27 349
12
10,77
0,21 J
k
10,95
Was an dieser Tabelle zuerst auffällt, ist der abnorm hohe
Betrag der ohne Hemmung sich ergebenden relativen Unter-
schiedsschwelle (etwa ^5), welcher vermuthüch auf die geringe
Intensität und besonders auch auf die geringe Ausdehnung der
Vergleichsreize zurückzuführen ist. Sodann ist interessant, dafs
der jetzt ermittelte Hemmungscoefficient fast genau demjenigen
gleich ist, welchen nach Tab. IX die Versuche über Hemmung
von Lichtempfindungen, bei gleicher Entfernung zwischen Activ-
und Passivreiz wie hier, ergaben. Ob wir hier einer zufäUigen
Coincidenz gegenüberstehen, oder aber ob allgemein Empfin-
dungen und Empfindungsunterschiede unter gleichen Umständen
in gleichem Maafse gehemmt werden, ist eine theoretisch wichtige
Frage, deren Beantwortung aber weiteren Untersuchungen über-
lassen bleiben mufs. Die für Druckempfindungen und für Druck-
empfindungsunterschiede erhaltenen Resultate sind für die Be-
antwortung jener Frage ohne Werth, weil die letzteren, wie oben
bemerkt wurde, durch successive Reize erzeugt wurden, und also
die Wahrnehmung derselben mit der momentanen Reizwahr-
nehmung nicht vergleichbar ist.
üntermchungen über psychische Hemmung, 353
Wie dem aber auch sei, durch die beiden zuletzt besprochenen
Untersuchungen scheint mir die Thatsache einer Hemmung von
Unterschiedsempfindungen durch gleichzeitige Reizempfindungen
sichergesteUt, und die ProportionaHtät zwischen den entsprechen-
den Reizdifferenzen und Reizgröfsen wenigstens als sehr wahr-
scheinlich nachgewiesen worden zu sein. Die hier vorgetragene
Erklärung des WEBE»*schen Gesetzes gewinnt damit eine neue
Stütze, indem der von ihr vorausgesetzte Erklärungsgrund nun-
mehr nicht nur nach Analogie erschlossen imd an die zu er-
klärenden Thatsachen verificirt, sondern auch aufserhalb des
Gebietes dieser Thatsachen als eine „vera causa" nachgewiesen
werden kann.
Wir dürfen jedoch unsere Untersuchung nicht für abge-
schlossen halten, ehe wir noch einige weitere, auf die Leistungs-
fähigkeit der aufgestellten Hypothese sich beziehende Fragen
lu beantworten versucht haben. Im Vorhergehenden haben wir
nämlich zwar gesehen, dafs diese Hypothese die Gültigkeit des
WEBEB'schen Gesetzes im Grofsen und Ganzen zu erklären im
Stande ist, nicht aber ob sie auch über den Umfang des von
demselben beherrschten Gebietes, sowie über die innerhalb dieses
Gebietes festgestellten Abweichungen und Besonderheiten Rechen-
schaft abzulegen vermag. Eben hierin, dafs sich ohne irgend-
welche Hülfshypothesen die wichtigsten der betreffenden That-
sachen als nothwendige Folgerungen aus ihrem Princip ableiten
lassen, sehe ich aber einen Hauptvorzug der hier vertretenen
Auffassung.
Ich erwähne an erster Stelle die wichtige Thatsache, dafe
das WEBEB'sche Gesetz überall da, wo intensive oder extensive
Gröfsen mit einander verglichen werden, sich innerhalb weiter
Grenzen trefflich bewährt; dafs es aber, der anfänglichen Er-
wartung schnurstracks entgegen, für qualitative Unterschiede in
keiner Weise gilt. Jene erste Thatsache, also die Constanz der
relativen Unterschiedsschwelle nicht nur für Empfindungs-
intensitäten sondern auch für Raum- und Zeitgröfsen sowie
annähernd für Ueberzeugungs- , Lust- und Unlustgefühle,^ hat
stets den physiologischen Theorien Schwierigkeiten bereitet ; diese
zweite, also die Nichtbestätigung jenes Gesetzes für Unterschiede
der Tonhöhe imd des Farbentons, ist für diejenige psychologische
Theorie, welche das Gesetz als eine Folge der allgemeinen
Relativität innerer Zustände deutet, schwer zu erklären. Beide
Zeitsehrift für Psychologie i»6. '^^
354 ^- Heynians.
Thatsachen sind aber für die hier gebotene Erklärung durchaus
verständlich. Die eben zu hemmenden Unterschiede steigern
sich überall da, wo die hemmenden Bewufstseinsinhalte intensiv
oder extensiv einen Zuwachs erfahren, und demzufolge mehr
als früher das Bewufstsein in Anspruch nehmen; aber sie
brauchen sich keineswegs zu steigern, wo jene blos qualitativ
verändert werden. Im ersteren Falle sind ja mehr hemmende
Theilinhalte da als früher, und setzen sich die Hemmungskräfte
der neu hinzugekommenen mit denjenigen der früher anwesenden
zu vereinter Wirksamkeit zusammen ; im zweiten sind die früheren
hemmenden Inhalte blos durch andere ersetzt worden, und es
hegt kein Grund vor, eher eine Zunahme als eine Abnahme der
Hemmungswirksamkeit zu erwarten. Es scheint nicht nöthig,
über diese fast selbstverständlichen Folgerungen ausführlicher
zu reden.
Eine zweite, nicht weniger interessante Frage betrifit die
unteren und oberen Abweichungen vom WEBEB'schen Gesetz.
Bei Anwendung sehr schwacher Reize hat man regelmäfsig eine
Abnahme, bei Anwendung sehr starker Heize in den meisten
Fällen eine Abnahme, bisweilen aber auch eine Zunahme der
relativen Unterschiedsempfindlichkeit festgestellt; alle diese Er-
scheinungen sind meistentheils störenden Umständen physio-
logischer Natur, welche mit den zur Erklärung des WEBEE'schen
Gesetzes aufgestellten Hypothesen nicht nothwendig zusammen-
hängen, zugeschrieben worden. Die hier vorgetragene Erklärung
bedarf solcher Hülfshypothesen nicht; die Nothwendigkeit der
unteren, sowie wenigstens die MögUchkeit der oberen Al)-
weichungen läfst sich aus ihren Voraussetzungen logisch ableiten.
Was nämlich zunächst die unteren Abweichungen betrifft,
so ist in Betracht zu ziehen, dafs dieselben uneUminirbaren Be-
wufstseinsinhalte, auf welche wir früher die Thatsache der Reiz-
schwelle zurückgeführt haben, auch bei den Unterschieds-
schwellenbestimmungen auftreten, und hier, neben den in den
Vergleichsreizen gegebenen vaiiabeln hemmenden Factoren, einen
Constanten hemmenden Factor darstellen. Indem jedoch diese
uneliniinirbaren Bewufstseinsinhalte, während sich die Aufmerk-
samkeit auf die Vergleichsreize richtet, nur eine schwache
hemmende W^irkung ausüben, kann diese die ProportionaUtät
zwischen den Intensitäten stärkerer Vergleichsreize und den ent-
sprechenden Hemmungswirkungen nicht merklich stören; je
Untersuchungen fiber psychische Hemmung, 355
schwächer aber die Vergleichsreize werden, um so deutlicher
wird sich der betreffende Einflufs in den Versuchsergebnissen
erkennen lassen. Setzen wir etwa die Hemmungswirkungen ver-
schiedener sich wie die natürlichen Zahlen verhaltender Reize =
a, 2a, 3a .... na, und diejenige der imeliminirbaren Bewufst-
seinsinhalte = d, so betragen die in den Unterschiedsschwellen
sich offenbarenden Totalhemmungen:
a + ^1 2a + ^1 3a + ^j na +d,
und es ist klar, dafs diese Werthe für hohe Betrage von n an-
nähernd proportional den Vergleichsreizen verlaufen, für kleinere
jedoch merklich langsamer als im Verhältnifs zu den Vergleichs-
reizen abnehmen müssen. — Man wird übrigens leicht einsehen,
dafs die Reizschwelle und die untere Abweichung vom Webeb'-
schen Gresetz nicht zwei verschiedene, einander coordinirte That-
sachen sind, sondern dafs die erstere als ein Specialfall der
letzteren, genauer als derjenige Specialfall, in welchem die untere
Abweichung ein Maximum erreicht, aufzufassen ist. Wäre das
WBBEB'sche Gesetz absolut gültig, so müfste für einen Normal-
reiz 0 auch die Unterschiedsschwelle 0 betragen ; dafs dem nicht
so ist, bringt eben der Satz von der Reizschwelle zum Ausdruck.
Die Gründe welche früher (II ; diese Zeiischr. 21, S. 357—358) für
die Auffassung der Reizschwelle als eine Hemmungserscheinung
angeführt worden sind, unterstützen demnach auch die hier ge-
botene Erklärung der imteren Abweichung.
Was sodann die oberen Abweichungen vom Webe»*-
schen Gesetze anbelangt, so wird für die Erklärung derselben
wohl hauptsächlich auf die Verstärkung der Hemmungswirkung
durch den Gefühlston der Empfindungen Rücksicht zu nehmen
sein. Sehr starken Empfindungen kommt bekanntlich ein aus-
geprägter Unlustcharakter zu; und ebenso wie dadurch nach
unseren früheren Versuchen (diese Zeiischr, 21, S. 346, 26, S. 326)
die hemmende Wirkung derselben anderen Empfindungen
gegenüber verstärkt wurde, werden auch die Unterschieds-
empfindungen, mehr als sonst der Fall sein würde, dieser
hemmenden Wirkung unterliegen; m. a. W. die Unterschieds-
empfindlichkeit wird für die betreffenden Reize herabgesetzt
werden. Eine solche Herabsetzung der relativen Unterschieds-
empfindlichkeit für starke Reize hat denn auch die Untersuchung
für die meisten Sinnesgebiete, besonders für Licht- und Farben-
356 (^' Heymana.
einpfindungen , ergeben; für Druckempfindungen dagegen hat
Merkel bei stärkeren Reizen umgekehrt eine Steigerung der
relativen Unterschiedsempfindlichkeit beobachtet.^ Indem die
betreffende Steigenmg ungefähr bei derjenigen Reizstärke auf-
trat, wo die Empfindung anfing schmerzhaft zu werden ^ wird
auch hierbei der Gefühlston wohl eine Rolle spielen. Ich gebe
Folgendes als eine mögliche Erklänmg: im Gebiete des Druck-
sinnes wächst bekanntlich der Unlustcharakter der Empfindung
nicht allmähUch mit der Stärke des Reizes, sondern derselbe
tritt ziemlich plötzlich als Schmerzgefühl auf; demzufolge kann
es aber leicht geschehen, dafs von zwei Reizen, welche nach
ihrer Intensität nicht hätten unterschieden werden können, der
stärkere sich durch eben dieses Schmerzgefühl als solcher zu er-
kennen giebt. Dafs die Steigerung der Unterschiedsempfindlich-
keit für ein verhältnifsmäfsig ausgedehntes Gebiet festgestellt
wurde, ist hiermit nur scheinbar im Streit, da das Auftreten des
Schmerzgefühls aufser von der Reizstärke noch von mehreren
anderen Umständen (Hautstelle, Richtung des Druckes u. s. w.)
abhängt, und je nach diesen Umständen einmal bei geringeren,
das andere Mal erst bei gröfseren Reizstärken erfolgt. Bei jedem
Versuche hat aber der stärkere Reiz die gröfsere Chance,
Schmerz hervorzurufen; wodurch die mittlere Unterschieds-
schwelle für Reize aus jenem Uebergangsgebiet nothwendig etwas
nach unten verschoben werden mufs. — Uebrigens gilt von
diesen, wie von den früheren Bemerkungen zur Reizschwelle,
dafs selbstverständlich die Mitwirkimg physiologischer Factoren
zur Entstehung der Abweichungen durch dieselben keineswegs
ausgeschlossen wird. Nur soviel kann behauptet werden imd
wird behauptet, dafs die Auffassung der Unterschiedsschwelle
als Hemmungserscheinung an imd für sich genügt, um Ab-
weichungen vom WEBER'schen Gesetz, im Sinne derjenigen welche
thatsächlich vorliegen, von vornherein nothwendig oder wahr-
scheinlich zu machen.
In Bezug auf eine dritte Frage, diejenige von der Ungleich-
heit der Ergebnisse, welche bei Untersuchungen mit simultanen
und mit successiven Reizen gewonnen werden, kann eine kurze
Bemerkung genügen; ich glaube nämlich nicht, dafs hier die
* Philosoph Mie Studien 5, 257—262.
* a. a. 0. S. 286.
üfUersuchungen iU>er psychische Hemmwig, 357
Hemmungstheorie bestimmte Erwartimgen nach einer oder der
anderen Seite begründen kann. Allerdings ist zu vermuthen,
dalSs zwei gleichzeitige Empfindungen eine stärkere Hemmungs-
wirkung ausüben als eine, imd könnte daraus gefolgert werden,
dafs nur eine Steigerung der Unterschiedsempfindlichkeit bei
successiver Reizung (welche bekanntUch auch die Versuche über
Dmckempfindungen thatsächUch ergeben haben) den Voraus-
setzungen der Hemmimgstheorie entspricht. Dem steht aber
g^enüber, dafs auch während eines kurzen Intervalls die Klar-
heit und Deutlichkeit des vom ersteren Eindrucke zurückge-
lassenen Erinnenmgsbildes eine Abnahme erfährt, welche die
exacte Vergleichung mit dem folgenden Eindruck nothwendig
erschweren mufs; ob aber dieser ungünstige oder jener günstige
EinfluTs überwiegen wird, ist von vornherein schwer zu sagen.
Wenn also die Versuche mit Lichtempfindungen regelmäfsig
niedrigere Unterschiedsschwellen bei simultaner als bei successiver
Reizung ergeben haben, so kann dieser Thatsache schwerlich
ein begründeter Einwurf gegen die Hemmungstheorie entnommen
werden.
Schliefslich scheint mir ein Hauptvorzug der hier gebotenen
Erklärung des WEBEB*schen Gesetzes darin zu liegen, dafs sie
den scheinbaren Widerspruch zwischen den nach der Methode
der ebenmerklichen Unterschiede und nach der Methode der
mittleren Abstufungen erhaltenen Versuchsresultaten beseitigt
Nach den in jüngster Zeit veröffentUchten Untersuchungen
Aicent's^ kann es nämlich kaum mehr zweifelhaft erscheinen,
dafs die mittels der letzteren Methode gewonnenen Zahlen nur
unter ganz besonderen Versuchsbedingungen (auf welche ich
später noch zurückkomme) sich der logarithraischen Hypothese
fügen wollen, während bei allen übrigen Verfahrungsweisen stets
wieder Werthe sich ergeben, welche dem nach der Proportionali-
tätshypothese zu erwartenden arithmetischen Mittel 'der Grenz-
reize wenigstens sich annähern. Nach der hier vertretenen Auf-
fassung besteht zwischen diesen Resultaten imd den Thatsachen
des WEBER'schen Gesetzes nicht im geringsten Streit : eben Aveil
die Empfindungen proportional den Reizen verlaufen, mufs
einerseits die mittlere Empfindung, sofern nicht störende Um-
stände eingreifen, dem mittleren Reize entsprechen; und mufs
> Philosophische SUidien 1«, 135—196.
358 ö^- Heymans.
andererseits der Unterschied zweier Reize, welcher eben stark
^genug ist, um trotz der Hemmimgswirksamkeit der zugehörigen
Empfindungen wahrgenommen zu werden, mit der Intensität
dieser Reize und dieser Empfindungen sich vergröfeem. Wir
können aber, wie mir scheint, noch einen Schritt weiter gehen.
Sowie wir nämlich früher nicht nur den allgemeinen Inhalt des
WEBER'schen Gesetzes, sondern auch die Abweichungen von dem-
selben mit Hülfe der Hemmungstheorie aus der Proportionalitäts-
hypothese erklärt haben, so wollen wir jetzt versuchen, neben
der Annäherung der MEBKEL-AMENx'schen Ergebnisse an das
arithmetische Mittel, auch die systematischen Abweichungen vom
arithmetischen Mittel, welche diese Ergebnisse erkennen lassen,
mit Hülfe der Hemmungstheorie aus der Proportionalitäts-
hypothese abzuleiten. Mit diesem Versuch wird sich der nächst-
folgende Abschnitt beschäftigen.
3. Die Abschwächung von Unter schiedsempfin-
dungen durch Empfindungen (die MERKEL'schen
und AMENT'schen Versuche).
Wenn wirklich, wie wir im Vorhergehenden angenommen
und durch unsere Versuche bestätigt gefunden haben, Reize und
Empfindungen sich durchgehend proportional verhalten, wie er-
klärt es sich dann, dafs in den MERKEL'schen und AMENT'schen
Versuchen die nach subjectiver Beurtheilung mittlere Empfindung
nicht genau dem arithmetischen Mittel der Grenzreize, sondern
regelmäfsig einem niedrigeren, zwischen arithmetischem und
geometrischem Mittel liegenden Werthe des Reizes entsprach?
Ich glaube, dafs wir auch für die Lösung dieses Problems auf
Hemmungsverhältnisse Rücksicht nehmen müssen.
Wenn wir nämlich den Erörterungen des vorigen Abschnittes
entsprechend annehmen, dafs unter Umständen Unterschieds-
empfindungen durch gleichzeitige Empfindungen unmerkUch ge-
macht werden, so können wir die Frage auf werfen, was ge-
schehen wird, wenn die unmerklichen Unterschiede, bei unver-
änderter Intensität der hemmenden Empfindungen, allmähUch
bis zur Ebenmerklichkeit und dann bis zur UebermerkUchkeit
verstärkt werden. Oder genauer: werden die hemmenden
Empfindungen, welche die Unterschiedsempfindung bis zu einem
bestimmten Betrage vollständig aus dem Bewufstsein zu ver-
drängen vermochten, bei Ueberschreitung dieses Betrages plötz-
ünteriuchungen über psychische Hemmung, 359
lieh ihre Wirksamkeit einstellen, und den jetzt vorliegenden
•Unterschied voll und ganz zur Wahrnehmung gelangen lassen?
DaGs dem so wäre, ist aus mehrfachen Gründen durchaus un-
wahrscheinüch. Erstens widerspräche es den allgemeinsten
Gesetzen der Erfahrung und des Denkens, wenn eine wirkende
Kraft, bei Zunahme des zu überwindenden Widerstandes über
einen bestimmten Punkt hinaus, auf einmal aller Wirkung ver-
lustig gehen sollte. Sodann lehrt die Erfahrung in Bezug auf
den analogen Fall der Empfindimgshemmung, dafs nicht nur
bei gleichzeitiger Einwirkung sehr starker Reize schwache Reize
keine, sondern auch stärkere Reize abgeschwächte Empfindimgen
hervorrufen : bei spätem Tageslicht werden die Sterne nicht, aber
^eichzeitig der Mond blafs und lichtarm gesehen, im Fabrik-
getöse wird eine schwache Menschenstimme nicht, eine starke
aber als eine schwache wahrgenommen. Drittens aber läfst sich
auch durch directe Wahrnehmung feststellen, dafs etwa der eben-
merkliche Unterschied zwischen Schallreizen von 300 imd 400
kleiner erscheint als der gleich grofse aber übermerkUche zwischen
Schallreizen von 50 und 150. Mit Rücksicht auf alledem darf
die Annahme dafs, sowie kleine Unterschiede durch die hemmende
Wirksamkeit der zu Grunde liegenden Empfindungen gar nicht,
gröfsere durch die nämUche Ursache wenigstens geschwächt
wahrgenommen werden, sicher als eine wohlbegründete ange-
sehen werden; imd es ist nach sämmtlichen vorhergehenden
Untersuchungen wohl mindestens als plausibel zu betrachten,
dafe auch diese Abschwächung proportional den Intensitäten der
hemmenden Empfindungen stattfinden wird. Nehmen wir also ver-
suchsweise einmal an, dafs jeder Unterschied zweier Empfindungen
E und jET um einen der Summe oder dem Mittel dieser Empfin-
dungen proportionalen Betrag H (E -^^ N) abgeschwächt wird, so
lassen sich die auf Grund dieser Annahme bei Versuchen nach der
Methode der mittleren Abstufungen zu erwartenden Resultate in
einfacher Weise berechnen und an die vorhegenden Thatsachen
verificiren. Nennen wir nämlich von den äufseren Reizen den
kleineren ß und den gröfseren pB, die entsprechenden Empfin-
dungen E und pE, die als gleich weit von beiden entfernt ge-
schätzten Reize und Empfindungen xR und xE^ so betragen
abgesehen von der Hemmung die gleichgeschätzten Empfindungs-
diEFerenzen
xE—E und pE—xE
360 G^. Heynuins.
Werden aber nach Obigem beide um einen den Summen
der einschlägigen Empfindungen proportionalen Betrag herald
gesetzt, so gelangen als Differenzen thatsächlich zur Wahr-
nehmung :
xE—E—H (xE + E) und pE — xE—H (pE+xE)
Werden diese einander gleichgesetzt, so ergiebt sich des
Weiteren :
xE—E — H{xE'\-E) = pE — xE — H(pE + xE)
2xE = pE — HpE+E^ HE
Daraus folgt aber Verschiedenes:
1. Da 2) > 1, mufs der als in der Mitte liegend geschätzte
Reiz xR kleiner sein als das arithmetische Mittel
aus den äufseren Reizen {^Up+ V2) -^'
2. Sofern der Werth H constant bleibt (wie dieses für ein
bestimmtes Sinnesgebiet und bei unveränderter Versuchsein-
richtung vorauszusetzen ist), ist x durch p vollständig be-
stimmt; wo also das Verhältnifs zwischen den äufseren Reizen
constant bleibt, mufs, trotz beUebiger Variation der absolutea
Intensitäten derselben, auch das Verhältnifs des als in der Mitte
liegend geschätzten Reizes zum kleineren (und ebenso zum
gröfseren) der äufseren Reize sich constant erhalten.
3. Sofern der Werth H constant bleibt, mufs a;einelineare,
also geometrisch durch eine gerade Linie darzu-
stellende Function von p sein.
Eben diese Gesetzmäfsigkeiten nun, welche wir als noth-
wendige Folgerungen aus der aufgestellten Hypothese deducirt
haben, lassen sich aus den Versuchsergebnissen Merkel's tmd
Ament's, sowie schUefsUch auch aus denjenigen Angell's, mit
leichter Mühe und in unzweideutigster Weise herauslesen; wie
im Folgenden nachgewiesen werden soll.
In Bezug auf den ersten Punkt brauchen wir keine Worte
zu verUeren. Dafs der geschätzte mittlere Reiz überall, mit sehr
wenigen Ausnahmen (welche später auch ihre Erklärung finden
werden), hinter das arithmetische Mittel der äufseren Reize
zurückbleibt, ist von allen erwähnten Autoren übereinstimmend
festgestellt und wiederholt hervorgehoben worden.
Untersuchungen über psychische Hemmung.
361
Was den zweiten Punkt anbelangt, mnTs auf die Tabellen
IV bis XXn verwiesen werden, in welchen sämmtliche ein-
ehlägige, von den genannten Autoren mitgetheilte Versuchs-
rgebnisse mit Angabe der Herkimft zusammengestellt und nach
len Werthen von p geordnet worden sind. Es bedeuten darin
Rj, £,, Rm, wie gebräuchlich, die äuTseren Reize und den ge-
schätzten mittleren Reiz; über Ursprung und Bedeutimg der in
ien letzten zwei Verticalcolumnen enthaltenen Zahlen wird S. 375
ÄufschluXs gegeben; der Sinn der übrigen Zahlen erklärt sich
aus den Aufschriften von selbst Vorläufig hat man sich nur
davon zu überzeugen, dafs für gleiche Werthe von p überall
auch nahezu gleiche Werthe von x vorliegen.
Tabelle XV.
(Lichtempfindungen. Merkel's Tabellen IX — XIII. Philosophische
SiudUn 4, 567—568.)
Nr. der
1
x»
H
X
Tab. bei
Merkel
Bi
12»
Mm
1
1
Rm
be-
rechnet
be-
rechnet
IX
0,5
1
0,721
2
1,4
X 14
IX
24
48
39,79
2
1,2
IX
0,5
2
1,166
2,8
'
XI
0,5
2
1,18
2,4
XIII
0,5
2
1,17
2,3
XJ
2
8
4,70
2,4
X
8
32
18,61
2,4
XI
IX
8
24
32
96
19,80
58,21
2,5
2,4
2,1
XI
24
96
61,08
2,5
XI
X
96
384
384
1536
248,5
1040
2,6
0,27
XT
384
1536
1032
2,7
XII
384
1536
999
2,6
1
IX
0,5
4
1,86
8
3,7
} 3,6
IX
24
192
93,6
8
3,9
IX
0,5
8
2,98
16
6,0
«
XTTI
0,5
8
3,56
16
7,1
X
IX
2
24
32
384
1 12,04
157,7
16
16
6,0
6,6
6,5
X
96
1536
675,5
16
7,0
XII
i 96
1536
736,7
16
7,7
t
362
&, Heyman».
Nr. der
Tab. bei
Bi
B2
B>m
Rm
H
be-
X
be-
Merkel
rechnet
rechnet
IX
0,5
16
5,45
32
10,0
} 12,3
IX
24
768
293,8
32
12,2
xn
32
1536
580,3
48
18,1
18,2
IX
0,5
32
8,3
64
16,6
^
X
0,5
32
8,93
64
17,9
xm
0,5
32
10,44
64
20,9
\ 25,0
IX
24
1536
472,3
64
19,7
0,27
X
24
1536
517,6
64
21,6
1
xin
0,5
96
24,8
192
49,6
} 70,7
XII
8
1536
399,6
192
49,7
XIII
0,5
384
68,5
76S
137,0
} 281,0
xn
2
1536
289
768
144,5
xn
0,5
1536
211,7
3072
423,4
] 1121,9
xni
0,5
1536
194,9
3072
389,8
<
Tabelle XVL
(Dnickempfindungen. Merkel's Tabellen XXIII— XXVc. Phüosophischt
Studien 5, 269—271.)
Nr. der
Tab. bei
Merkel
Rt
Ä9
B
m
p =
Bi
X =
"ST
H
be-
rechnet
X
be-
rechnet
XXIVa
1
2
1,481
2,0
1,5
g
XXVa
1
2
1,466
2,0
1,5
XXI Vb
2010
4010
3361
2,0
1,7
XXVb
2010
4010
3316
2,0
1,6
XXIVa
51
110
78,5
2,2
1,5
XXVa
51
110
78,79
2,2
1,5
XXIVb
21
51
35,60
2,4
1,7
XXVb
20
50
34,50
2,5
1,7
0,13 1
XXIVc
6
21
12,37
3,5
2,1
XXIVc
510
2010
1257
3,9
2,5
XXVc
510
2010
1268,5
3,9
2,5
XXVc
5
20
11,44
4,0
2,3
XXIVb
1010
4010
2664
4,0
2,6
XXVb
1010
4010
2714
4,0
2,7
XXIVa
51
210
116,3
4,1
2,3
\
1.4
} 1.5
1,6
1.7
•2.1
} 2,3
2,3
2.3
Untenuckungen über ptychitche Hemmung.
363
Nr. der
Tib.bei
A
Ä»
Rm
4,1
Rm
2,4 "
H
be-
X
be-
MOKKL
rechnet
rechnet
XXVa
51
210
121,9
-
j 2,3
XXTVc
51
210
123,5
4,1
2,4
XXVc
51
210
126,5
4,1
2,5
XXIVb
11
51
30,03
4,6
2,7
^
WTVc
XJÜVc
11
110
51
510
29,03
283,3
4,6
4,6
2,6
2.«
2,6
XWc
110
510
300,7
4,6
2,7
-
XXIVc
210
1010
572,7
4,8
2,7
1 2,7
XXVc
210
1010
598,7
4,8
2.8
xxrv'a
1
5
2,721
5,0
2,7
'
XXV»
1
5
2,784
5,0
2,8
xxn^c
1
5
2,52
5,0
2,5
XXVc
1
5
2,52
5,0
2,5
XXVc
2
10
5,19
5,0
2,«
2,7
XWT)
10
50
28,80
5,0
2,9
XXVc
10
50
28,20
5,0
2,8
XXIVc
1010
5025
3157
5,0
8,1
XXVc
1010
5025
3186
5,0
3,2
1
XXIVc
XXVc
21
21
110
110
59,44
60,6
5,2
5,2
2,8
2,9
0,13
} 2,8
XXIVc
2
11
5,55
5,5
2.8
3,0
XXIM)
XXVb
510
510
4010
4010
2397
2388
7,9
7,9
4.7
4,7
} 4,0
XXT\T)
6
51
27,34
8,5
4.«
4,3
xxm
1
10
4,689
10,0
4,7
'
XXVa
1
10
4,839
10,0
4,8
XXIII
2
20
9,801
10,0
4,9
xxni
5
50
21,97
10,0
4,4
XXVb
5
50
25,15
10,0
5,0
xxm
10
100
46,36
10,0
4,6
XXIII
20
200
92,37
10,0
4,«
( *'*
XXIU
50
500
215,3
10,0
4,9
XXIVa
51
510
230,4
10,0
4,5
XXVa
51
510
247,5
10,0
4,9
XXIII
100
1000
430,7
10,0
4.8
XXITT
200
2000
948,3
10,0
4,7
xxin
500
5000
2435
10,0
4,9
1
XXIVa
1
11
5,263
11,0
5.3
.
5,4
364
G. Heymans,
Nr. der
T>
T>
H
X
Tab. bei
i?i
i?2
Mm
^
^-R.
be-
be-
Merkel
51
rechnet
rechnet
XXIVb
3
23,87
17,0
7,*
8,0
XXIVb
210
4010
2132
19,1
10,2
} 8,9
XX Vb
210
4010
2176
19,1
10,4
XXIVa
51
1010
425,2
19,8
8,3
9,2
XXVa
1
20
8,885
20,0
8,9
} 9.3
XXVa
51
1020
465,4
20,0
9,1
XXIVa
1
21
9,255
21,0
9,3
9,7
XXVb
2
50
22,02
25,0
11,0
11,4
XXIVb
110
4010
2061
36,5
18,7
1
}l6,4
XXVb
110
4010
2050
36,5
18,6
> 0,13 <
XXIVa
51
2010
793
39,4
15,6
}l7,7
XXVa
51
2010
887,4
39,4
17,4
XXVa
1
50
20,8
50,0
20,8
}22.3
XXVb
1
50
20,57
50,0
20,6
XXIVa
1
51
21,12
51,0
21,1
}22,8
XXIVb
1
51
20,96
51,0
21,0
XXIVb
51
4010
1998
78,6
39,2
}34,8
XXVb
51
4010
1934
78,6
37,9
XXIVa
51
5025
2232
98,4
43,8
\ 43,4
XXVa
51
5025
2101
98,4
41,2
i
Tabelle XVII.
(Druckempfindungen.' Merkel's Tab. XXVI. Phüosophitche Studien 5, 271.)
Nr. der
-Tk
-ry
H
X
Tab. bei
n.
i4
Um
Jtim
X =-^-
be-
be-
Merkel
Mi
rechnet
rechnet
XXVI
1
10
5,040
10
5,0
'
n
2
20
10,71
10
5,4
n
0
50
23,65
10
4,7
T)
10
100
49,35
10
4,9
^
r>
20
200
101,5
10
5,1
0,11
6,0
r
50
500
240,1
10
4,8
r>
100
1000
475,6
10
4,8
r
200
2000
1063
10
5,3
t
«
400
4000
3541
10
8,8
^ Wegen erheblicher Verschiedenheit der Versuchseinrichtung mufsten
diese Zahlen, ebenso wie diejenigen der beiden folgenden Tabellen, ge-
Untenuchungen über psychische Hemmung,
365
Tabelle XVm.
(Dmekempfindungen. Mebkel's Tabelle XXVIL Philosophische
Shidien 5, 271.)
Nr. der
Tab. bei
Merkel
Ri
R^ Rm
1
Rm
H
be-
rechnet
X
be-
rechnet
xxvn
m
n
1
2
5
10
20
50
100
200
400
10
20
60
100
200
500
1000
2000
4000
4,547
9,498
22,12
46,25
93,47
223,9
415,2
991,8
3022
10
10
10
10
10
10
10
10
10
4,5
4,7
M
4,6
4,7
4,5
4,5
5,0
7,6
0,20
4,6
Tabelle XIX.
(Dmckempfindungen. Mebkel's Tabelle XXVIII. Philosophische
Shtdien 5, 271.)
Xr. der
Tab. bei
R,
B^
Rm
B2
Rm
^ = D
H
be-
X
be-
Mebkel
-Bi
Ri
rechnet
rechnet
xxvm
1
10
4,770
10
4.8
«•
2
20
10,08
10
5,0
••
5
50
22,93
10
4,6
j"
10
20
100
200
47,88
97,15
10
10
4,8
4,9
0,16
4.8
1*
50
500
231,3
10
4,6
w
100
1000
460,9
10
4,«
r
200
2000
1019
10
6,1
m
400
4000
3365
10
8.4
sondert von den vorhergehenden dargestellt werden, obgleich sie inhaltlich
gut zu denselben passen.
366
G. Heymans.
Tabelle XX.
Studien 5,
Ö19-Ö20.)
— "—"^j"
Nr. der
1
H X
Tab. bei
B.
i«.
Rm
^9
■Bf»
be- be-
MSRKEL
Äi
Ri
1
rechnet ' rechnet
XIX
5,062
10,12
7,563
2,0
1,6
1.4
XVI
2,025
6,075
4,060
3,0
2,0
XVI
4,993
14,98
9,911
3,0
2,0
XVI
9,886
29,66
19,88
3,0
2,0
XVI
39,73
119,2
80,39
3,0
2,0
'
XVI
77,89
233,7
155,0
8,0
2,0
, 1,8
XVI
146,6
439,8
305,4
3,0
2,1
XVI
260,8
782,4
524,6
3,0
2,0
1
XVI
795,2
2386
1600
3,0
2,0
1
XVI
1234
3702
2461
3,0
2,0
XIX
5,062
24,%
14,73
4,9
2,9
1 2,6
XVII
2,025
10,12
6,146
5,0
3,0
XVII
4,993
24,96
14,93
5,0
3,0
XVII
9,886
49,43
29,15
5,0
2,9
xvn
39,73
198,7
118,1
5,0
3,0
2,6
XV IT
77,89
389,5
231,7
5,0
3,0
1
XVII
146,6
733,0
435,8
5,0
3,0
XVII
260,8
1304
773,3
5,0
3,0
0,20
XVII
795,2
4771
2551
6,0
3,2
1 t* £\
XVII
1234
7404
3915
«,o
3,2
1 }
XIX
5,062
49,43
25,90
9,8
6,1
4.5
XVIII
2,025
20,25
11,39
10,0
5,(t
xvin
4,993
49,93
27,89
10.0
5,6
1
XVIII
9,886
98,86
55,89
10,0
5,6
xvni
39,73
397,3
210,8
10,0
5,3
4,6
XVIII
77.89
778,9
411,8
10,0
5,3
1
i
XVIII
146,6
1466
757,3
10,0
5,2
XVIII
260,8
2608
1330
10,0
6,1
XVIII
2,025
30,37
15,16
15,0
7,6
■ 6,fi
XVIII
4,993 ' 74,89
38,25
15,0
7.7
XVIII
9,886
148,3
75,9
15,0
7,7
j
XIX
5,062
98,86
44,59
19,5
S,8
8,4
XIX
5,062
198,7
79,25
39,2
15,6
, 16,3
XIX
5,062 ! 389,5
141,6
70.9
28,0
) ! 30,8
XIX
5,062 733,0
244,8
144,8
48,4
1 58,5
XIX
5,062 1304
384,7
257,6
76,0
103,6
XIX
5,062 '2386
604,2
471,4
110,4
185,2
XIX
5,062
3702
893,9
731,3
176,7
293,1
Untersuchungen über psychische Hemmung.
367
Tabelle XXL
challempfindimgen.' Meb]U(i.'8 Tab. XX— XXI. Philos. Stud. 5, 621—622.)
Nr. der
rab. bei
Ri
Ä»
Merkel
XXI
1590
2468
XX
5,062
10,12
XXI
869,5
2468
XX
5,062
24,96
XXI
488,6
2468
XXI
259,6
2468
XX
5,062
49,43
XXI
132,5
2468
XX
5,062
132,6
XXI
49,43
2468
XX
5,062
259,6
XX
5,062
488,6
XXI
24,%
2468
XX
5,062
869,5
XXI
10,12
2468
XX
5,062
1590
XX
5,062
2468
XXI
5,062
2468
H
X
Rm
Rm
be-
be-
2043
Ri
1,6
Ri
1,8
rechnet
rechnet
'
1,2
7,560
2,0
1,5
1,4
1675
2,9
1,9
1,8
14,89
4,9
2,9
2,6
1479
5,1
3,0
2,7
1340
9,5
5,2
4,5
26,70
9,8
5,3
4,7
1207
18,6
9,1
0,17
8,3
65,58
26,2
13,0
11,5
1109
49,9
22,4
21,3
121,6
51,3
24,0
21,9
216,9
96,5
42,8
40,7
1015
«W,c>
41,5
41,6
354,9
171,8
70,1
71,9
946,5
248,9
98,5
101,8
596,0
314,1
117,7
130,9
831,8
487,6
164,3
1 201,9
875
487,6
172,9
Tabelle XXIL
i^duülempfindungen. Ament's Tabelle XJ.' Philosophische Studien 16, 177.)
Nr. der
Tab. bei i
1
Ament
Ä.
s*
Rm
1
1^-
X =
Rm
Ri
H
be-
rechnet
X
be-
rechnet
^_r_ : ..
_.
— — . .
— — =
^ — ^^
_ ^
--
— — — - -a
XI
11,24
46,95
24,00
4,2
4,50
32,78
14,19
7,3
4,50
46,95
20,91
10,4
1
11,24
4,14
11,2
1
20,76
6,75
20,8
1
32,78
9,34
32,8
1
46,95
14,78
47,0
2,0
•1 o
2,9
4,6
3.8
4,1
0,40 <
4,1
6,8
6,9
9,3
10,5
14,8
.
14,8
^ Die Zahlen dieser Tabelle sind aus Zweckmäfsigkeitsrücksichten, weil
riämlich die Curv-e derselben etwas anders verläuft als diejenige der Zahlen
108 Tab. XX, gesondert von den letzteren dargestellt worden. (Vgl. Figg.
-11, S. 373.)
' Da die vier Tabellen Ament's sich auf Versuche beziehen, welche
368
G. Heyntans.
Tabelle XXIH.
(Schallempfindungen. Amemt's Tab. XII. Phüosophische Sivditn 16, 177.)
Nr. der
Tab. bei
Ament
Rt
R^
Rm
R%
^-^ R.
Rm ;
be-
rechnet
■r
be-
rechnet
XTI
n
n
«
»
n
n
11,24
4,50
4,50
1
1
1
1
46,95
32,78
46,95
11,24
20,76
32,78
46,95
26,12
15,11
23,32
4,88
8,16
11,94
19,47
4,2
7,3
10,4
11,2
20,8
32,8
47,0
2,8
8,4
5,2
4,9
8,2
11,9
19,5
► 0,24 .
1 k
2,2
3,4
4,6
4,9
8,5
13,1
18,5
Tabelle XXIV.
(Schallempfindangen. Ahekt's Tab. XIEE. Philosophisclie Studien 16, 181.1
Nr. der
Tab. bei
Ament
Ri
R^
Rm
Rm
'^ R.
H
be-
rechnet
1
X
be-
rechnet
xin
n
n
n
n
n
n
11,24
4,50
4,50
1
1
1
1
46,95
32,78
46,95
11,24
20,76
32,78
46,95
25,28
17,15
23,79
4,15
7,23
10,53
14,34
4,2
7,3
10,4
11,2
20,8
32,8
47,0
2,2
3,8
5,3
4,2
7,2
10,5
14,3
> 0,36
2,0
3,0
4.0
4,3
7,3
11,2
15,7
Tabelle XXV.
(Schallempfindungen. Akent's Tab. XIV. Philosophische Studien 16, 181.)
Nr. der
T*
T^
R
X
Tab. bei
Ri
R,
Jim
Ri
Rm
be-
be-
Ament
Ri
Äl
rechnet
rechnet
XIV
11,24
46,95
25,86
4,2
2,3
*
2,1
n
4,50
32,78
16,04
7,3
3,6
3.1
n
4,50
46,95
22,17
10,4
4,»
4.2
n
1
11,24
3,98
11,2
4,0
' 0,33 V
4,5
»
1
20,76
6,93
20,8
6,9
7.7
n
1
32,78
12,25
32,8
12,3
11,8
n
1
46,95
15,75
47,0
15,8
^
16,6
entweder mit verschiedenen Versuchspersonen oder mit verschiedenei
Versuchseinrichtungen ausgeführt wurden, mufsten die Ergebnisse derselbei
gesondert zusammengestellt werden.
Untersuchungen Über psychische Hemmung.
369
Tabelle XXVI.
(SchaUempfindongen. AxeELL's^ Tab. IIa. Philosophische Studien 7, 441.)
Nr. der
Tab. bei
AirOIET.T«
Ri
R^
Rm
Ä2
^=1^
Rm
H
be-
rechnet
X
be-
rechnet
na
r
r
40
20
20
20
120
79
111
144
75,8
55,5
61,7
84,8
3,0
4,0
5,6
7,2
1.9
2,8
8,1
4,2
1 1
^ 0,00
' 1
1 2,0
2,5
3,3
4,1
Tabelle XXVIL
(Schallempfindungen. Ansell'b Tab. IIb. Philosophische Studien 7, 441.)
Xr. der
Tab. bei
A56ELL
Bi
Ä»
Rm
H
be-
rechnet
X
be-
rechnet
nb
n
40
20
20
20
120
79
111
144
56
60,5
86,8
3,0
4,0
5,6
7,2
1,9
2,8
8.0
3,«
0,08
1,9
2.4
3,1
i 3,8
Tabelle XXVHI.
I Schallempfindungen. Anoell's Tab. III. Philosapkische Studien 7, 443.)
Xr. der ;
Tab. bei |
A5GELL 1
m
B.
Bs
Rm
P
X =
Rm
H
be-
rechnet
X
be-
rechnet
20
50
33,6
2,5
20
60
37,2
3,0
20
70
38,9
3,5
20
79
44,6
4,0
20
90
52,9
4,5
20
102
63,6
5,1
20
144
84,4
7,2
1,7
1,9
1,9
2,2
2,6
3,2
4,2
■ 0,06
1,7
1,9
2,2
2,4
2,6
2,9
3,9
' Anch die AKOELL'schen Tabellen erfordern mit Rücksicht auf die
Verschiedenheit der Versuchspersonen und Versuchseinrichtungen eine
gesonderte Darstellung. Zu denselben ist noch zu bemerken, dafs die drei
TBteren (unsere Tabellen XXVI, XXVII und XXVIII) nur der Vollständig
:eit halber hier aufgenommen sind, da sie nach Akobll's eigener Aussage
1. a. O. S. 447) als wenig zuverlässig zu betrachten sind.
Zeittchrift fBr Psychologie 26. 24
370
G. Htymans,
Tabelle XXIX.
(Schallempfindungen. Anobll's Tabellen IV— VI. PhHos. Siud. 7, 468—454.)
Nr. der
Tab. bei
Angell
Rt
s.
R
m
p=
Ri
X =
Rm
H
be-
rechnet
X
be-
rechnet
IV
VI
IV
V
VI
IV
V
VI
IV
V
10
40
21,3
10
40
21,4
15
60
32,2
15
60
32,2
15
60
31,1
20
80
43,5
20
80
46,6
20
80
41,2
25
100
52,5
25
100
53,9
4,0
4,0
4,0
4,0
4,0
4,0
4,0
4,0
4,0
4,0
2,1
2,1
2,1
2,1
2,1
2,2
2,3
2,1
2,1
2,2
0,24
2,1
Tabelle XXX.
(Schallempfindungen. Anokix's Tabellen VII— Villa. PAito». SA«A 7, 457— 466.)
Nr. der
Tab. bei
Amorix
AI
R^
Rm
^ -r;
R
be-
rechnet
X
be
rechnet
08
i-i
i-i
>
OD
>
20
10
15
20
20
60
40
60
80
100
35,00
19,62
28,60
41,61
43,77
3,0
4,0
4,0
4,0
5,0
1,8
2,0
1,9
2,1
2,2
1
0,33
1,7
2,0
2,3
Tabelle XXXI.
(Schallempfindungen. Angell's Tabellen VII— VUI b. Fhilos. Stud. 7, 457-465.)
Nr. der
Tab. bei
Angell
IS
20
10
15
20
20
60
40
60
80
100
35,75
20,49
32,33
43,71
51,11
3,0
4,0
4,0
4,0
5,0
x =
Rm
's:
1,8
2,0
2,2
2,2
2,6
H j X
be- be-
rechnet ! rechnet
0,22
I '
1,8
2,2
26
Untersuchungen über psychische Hemmung. 371
Man braucht diese Tabellen nur durchzusehen, um überall
bestätigt zu finden, dafs nicht nur x unter allen Umständen
legelmäCdg mit p ansteigt, sondern dafs auch, wo für ein be-
stimmtes Sinnesgebiet und bei unveränderter Versuchseinrichtung,
aber bei beliebiger Variation der verwendeten Reizintensitäten^
p constant oder nahezu constant erhalten wird, sich für x merk-
lich gleiche Zahlen ergeben. Den entscheidendsten Beweis hier-
für liefern wohl die obigen Tabb. XVII — XIX, wo die für Grenz-
reize von 1 und 10 gr erhaltenen Werthe x, bei proportionaler
Verstärkung jener bis über die Beträge von 100 und 1000 gr
hinaus, nur unbedeutende und unregelmäfsige Schwankungen
erkennen lassen. Aber wie gesagt, die nämliche Gesetzmäfsigkeit
findet sich in allen übrigen Tabellen ohne Ausnahme wieder;
die aus der aufgestellten Hypothese S. 360 abgeleitete zweite
Folgerung, nach welcher x durch p bestimmt sein mufs, findet
also in den Versuchsergebnissen Merkel's, Ament's und Angell's
ihre volle Bestätigimg.
An dritter und letzter Stelle wurde aus jener Hypo-
these abgeleitet, dafs für ein bestimmtes Sinnesgebiet und bei
unveränderter Versuchseinrichtung x eine lineare, durch eine
gerade Linie darzustellende Function von p sein mufs. Um sich
zu überzeugen, inwiefern die vorliegenden Versuchsergebnisse
dieser Forderung genügen, wolle man die nachfolgenden Dia-
granune (Figg. 5 — 15), in welchen die Abscissen ^Werthe, die
Ordinaten a:- Werthe veranschaulichen, zu Rathe ziehen. In
Bezug auf dieselben ist noch zu bemerken, dafs einzelne von
den Zahlen der Tabb. XVI, XX und XXI so nahe auf einander
gedrängt sind, dafs sie in den entsprechenden Figuren keinen
Platz haben finden können; der Inhalt der übrigen Tabellen ist
vollständig dargestellt worden. Wo für Einen Werth von p
mehrere Werthe für x vorlagen, ist selbstverständlich das Mittel
aus denselben zur graphischen Darstellung verwendet.
24*
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Fig. 6. (Tabelle XV, kleinere Werthe.)
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Fig. 14. (T»b. XXIV.)
Fig. 15. {Tab. XXV.)
Auch über die Deutung dieser Figuren kann kein Zweifel
bestehen: in jeder derselben vertheilen sich die durch schwarze
Tüpfel angegebenen Endpunkte der Ordinaten, mit gerii^n
und unregelmäTsigen Abweichungen, auf die beiden Seiten einer
die Ordinatenaxe etwas oberhalb des Nullpunktes schneidenden
Geraden; nur für die höchsten p-Werthe zeigen einige dieser
Geraden eine Tendenz, weniger steil als Anfangs zu Terlaufeo,
was spater (S. 375—377) seine Erklärung finden soll. Hiervon
abgesehen, zeigen also die betreffenden Punktsysteme eben den-
jenigen Verlauf, welchen sie nach der hypothetischen Formel
von S. 360:
oder:
üntcrnichungen über psychische Semmung, 375
besitzen sollen ; es bleibt nur noch zu untersuchen, ob der durch
^/g (1 — B) bestimmte Neigimgswinkel der Curven zum Anfangs-
punkte derselben, welcher durch Va (1 + -^ bestimmt wird, pafst»
Zu diesem Zwecke ist für jede der Tabb. XV — XXXI aus den
gegebenen Werthen von p = — ^ und x = —f^- der wahrschein-
liche Werth von H berechnet, und dm*ch Substitution dieses
Werthes in der obigen Formel für jeden Betrag von p der zu-
gehörige Betrag von x ermittelt worden; die solcherweise ge-
wonnenen Zahlen habe ich in die letzten zwei Verticalcolumnen
der betreffenden Tabellen eingetragen, und in den entsprechenden
Figuren dm*ch ausgezogene Linien dargestellt. Die Ueberein-
stimmung der berechneten mit den experimentell ermittelten
Werthen läfst, von jener Abweichung für höhere p-Werthe ab-
gesehen, nur wenig zu wünschen übrig.
Zusammenfassend können wir also sagen, dafs die nach
Analogie unserer früheren Ergebnisse von uns auf-
gestellte Hypothese einer der Intensität zweier
verglichener Empfindungen proportional ver-
laufenden Verkleinerung des zwischen denselben
wahrgenommenen Unterschiedes durch die Resul-
tate Mebkel's, Ament's und Angell's überein-
stimmend und in exaoter Weise bestätigt wird. Die
Zuverlässigkeit dieses Ergebnisses wird noch dadm*ch erhöht,
dafs die beiden zuletzt besprochenen Gesetzmäfsigkeiten den
Forschem selbst, aus deren Untersuchungen wir sie ans Licht
gefördert haben, durchaus verborgen geblieben sind ; demzufolge
die Möglichkeit, dafs Erwartungstäuschungen zum Zustande-
kommen derselben mitgewirkt haben sollten, vollständig aus-
geschlossen ist
Wir haben jetzt noch auf einige specielle Punkte kurz ein-
zugehen.
Erstens auf die mehrfach erwähnten Abweichungen vom
linearen Charakter der Function x = F {p\ welche sich mit be-
sonderer Deutlichkeit in den Tabb. XV, XX — XXI und XXTV
als ein Zurückbleiben der beobachteten hinter den berechneten
a;- Werthen bei höheren Beträgen von p offenbaren, und auch in
den entsprechenden Figg. 5—6, 8 — 9, 10 — 11 imd 14 als eine
merkliche Abbiegung der Curve nach der Abscissenaxe hin her-
vortreten. Für die Hemmungstheorie können diese Abweichimgen
376 G^. JSeymans,
nur den Sinn haben, dais in den betreffenden Fällen entweder eine
der (oder die beiden) äufseren Empfindungen eine Abschwächung
^erfährt, oder aber dafs die stärkeren Empfindungen J?» und
J?, in höherem Maafse als ihrer Stärke entspricht die Wahr-
nehmimg ihres Unterschiedes beeinträchtigen, demzufolge dieser
Unterschied abnorm verkleinert erscheint, imd erst nach ent-
sprechender Herabsetzung von ßm demjenigen zwischen jK^ und
J2m gleichgeschätzt werden kann. Es läijst sich nun in den vor-
liegenden Verhältnissen das Gregebensein der Bedingungen für
diese beiden Möglichkeiten imschwer nachweisen. In Bezug auf
die erstere wäre auf Contrastwirkungen Rücksicht zu nehmen,
«denen zufolge von zwei weit auseinanderliegenden Empfindungen
die schwächere noch weiter herabgesetzt erscheinen mufs; mit
dieser Erklärung stünde in Einklang, was sowohl Merkel ^ als
Ament* gefunden haben, dafs nämlich Rm bei aufsteigendem
Verfahren dm*chwegs mehr als bei absteigendem sich dem
stärksten der drei Reize nähert, ein Ergebnifs, welches auch
schon von Mbhkel^ auf den Einflufs des (Kontrastes zurück-
geführt wurde. Was sodann die zweite Möglichheit anbelangt,
so wäre auch hier, ähnlich wie bei den oberen Abweichungen vom
WEBEB*schen Gresetz (S. 355 — 356), an Complicationen durch Ge-
fühlswirkungen zu denken, welche entweder auf den intensiveren
Empfindungen an und für sich anhaftenden Unlustcharakter,
oder auf das Ueberraschungsgefühl, welches ihre starke Ab-
weichung von den vorhergegangenen Empfindimgen hervorruft,
beruhen können, in beiden Fällen aber eine Verstärkimg ihrer
Hemmungswirkimg ergeben müssen. Für diese Erklärung würde
sprechen, dafs die genannte Abweichung bei Druckempfindungen
entweder (Tab. XVI, Fig. 7) nicht vorkam, oder selbst (Tabb.
XVn, XVin, XIX) in entgegengesetzter Richtung verlief; was
.den Ergebnissen Merkel's in Bezug auf die oberen Abweichungen
vom WEBER*schen Gesetz vollständig entspricht, imd in gleicher
Weise wie dort zu deuten wäre (S. 356). Welche der beiden
Erklärungen die richtige ist, oder inwiefern beide zusammen
gelten, mufs späteren Untersuchungen zu entscheiden überlassen
werden; uns kann die Einsicht genügen, dafs Abweichungen
* Philosophische Studim 5, 269.
' FhilosophiscJie Studien 16, 196.
• Philosophische Studieti 5, 273.
Vntenudmngea über psychische Eemmung.
377
von der beschriebenen Art von vornherein, und zwar aas
doppeltem Grunde, zu erwarten waren.
Sodann sind noch einige GesetzmäTsigkeiten von unter*
geordneter Bedeutung zu besprechen, welche die mehrfach ge-
nannten Autoren in ihren VersucbBresultaten vorgefunden haben,
and welche sich sämmtlich auf das VerhältniTs des geschätzten
mittleren Reizes zum geometrischen und zum aritbmetiacben
Mittel aus den beiden äulsereu Reizen beziehen. Zur Erläuterung
der Art und Weise, wie sich nach der hier vertretenen Auffassung
dieses VerhältniTs mit dem Werthe von p ändern mufs, sind in
Fig. 16 die Curven für /p' V, p + »/a "»^ Vi P + Vj — Vs -H (P — 1)
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Fig. 16.
(letztere für H = 0,3, während die Curven für kleinere Werthe
von B sämmtlich gerade Linien sind, welche durch A gehen
und zwischen der Curve für H = 0,3 und derjenigen für das
arithmetische Mittel Sa verlaufen) zusammengestellt worden; es
läfst sich also aus dieser Figur für jeden Werth von p das ent-
sprechende Gröfsenverhältnifs zwischen dem geometrischen Mittel
Y Ä, Äj = /-Bi ■ i>-fij =Äi Yp, dem arithmetischen Mittel
V* (Äi + Äj) = Vs {Äi +i'Äi) = B^ (V, j) + '/j) und dem nach
der Theorie als in der Mitte liegend zu schätzenden Reiz
Ä, iT = Äj (V, p + Va — 'li S {p — 1)) ohne Weiteres ablesen.
Ein Blick auf diese Figur kann nun Mehreres , was sonst
sonderbar oder zufällig erscheinen müfste, als durchaus in der
Ordnung oder selbst nothwendig erkennen lassen. Erstens die
vielbesprochene Thatsache, dafs, während nach Merkel und
Amemt bei Schallempfindmigen der geschätzte mittlere Reiz sich
378 (^' Scymans,
dem arithmetischen Mittel aus den äufseren Reizen annähert,
Angell dafür in denjenigen Versuchsreihen, welche allein er
als zuverlässig gelten liefs, Werthe fand, welche sich nahezu mit
dem geometrischen Mittel aus den äufseren Reizen decken.
Dieser scheinbare Widerspruch löst sich sofort, wenn man er-
wägt, dafs (auch nach den Versuchen Mebkel's und Ament's)
H für Schallempfindungen um den der mittleren Curve in
Fig. 16 zu Grunde gelegten Werth 0,3 oscillirt, dafs in den be-
treffenden Versuchen Angell's p niemals höhere Werthe als 5
erreichte, und dafs nach der Figur für diese Werthe von p die
imtere imd die mittlere Curve nahezu zusammenfallen. Die
Vermuthung Ament's^, dafs die kleinen Reizintervalle, mit
welchen Angell arbeitete, sein abweichendes Resultat verschuldet
haben, findet also volle Bestätigung. Büerzu ist noch zu be-
merken, dafs das althergebrachte, auf die subjective Eintheilung
der Sterne in Gröfsenclassen sich stützende Argument für die
logarithmische Hypothese durch eine analoge Betrachtung als
nicht entscheidend nachgewiesen werden kann. Es verhalten
sich nämlich die mittleren Intensitäten zweier auf einander
folgender Gröfsenclassen ungefähr wie 1 : 2,5, also die Intensi-
täten zweier durch eine mittlere getrennter Gröfsenclassen wie
1 : 6,25 ; nun beträgt nach Mebkel's Versuchen für Lichtempfin-
dungen H etwa 0,27 ; für diese Werthe gehen aber in der Figur
die untere und die mittlere Curve nur noch wenig aus einander.
— In gleicher Weise lassen sich einige weitere Aussagen
Ament's mit leichter Mühe aus der Figur bestätigen, oder auch
als einer Correctur bedürftig nachweisen. Dafs z. B., wie Ament
für Licht- und Schallreize festgestellt hat, Rm um so mehr in
der Richtung nach dem stärkeren Reiz hin von Rg differirt, je
gröfser die Intervalle der Grenzreize werden ^ läfst sich aus dem
linearen Charakter der mittleren gegenüber dem paraboUschen
der unteren Curve sofort als nothwendig erkennen. Ein Gleiches
gilt von seiner Bemerkung, dafs die Function i^« = 1 jf-
theils unregelmäfsig verläuft, theils eine gewisse Constanz auf-
weist ^ : indem nämlich Ra und Rm beide lineare Fimctionen von
* Philosophische Studien 16, 195.
« Philosophische Studiai 16, 179.
» a. a. O. 180.
Unterguckungen über psychische Hemmung. 379
p bedeuten, sind die Zuwächse beider bei beliebiger Verstärkung
von p einander proportional, woraus sich wenigstens für nicht
allzukleine Beträge von p eine annähernde Constanz von F^ er-
giebt Genauer gesprochen, ist nach dem Vorhergehenden:
F 1 — -^ Jgg — Bfn _ 'I, H(p—1) _ p — 1
•^^ Ba ^ Ra ~ V2P+V2 ~ P'\'V
• es muls also bei zunehmendem p Fa gegen H limitiren: eine
Folgerung, welche durch die Tabellen Mebkel's und Ament's
im Grofsen und Ganzen bestätigt wird. — Auch eine andere
sich aus diesen Tabellen ergebende Thatsache, dafs nämlich
Fg^= -^ 1 mit wachsendem p regelmäfsig und ziemlich
schnell zunimmt, hätte man aus der Figur oder aus den der-
selben zu Grunde hegenden Formeln vorhersagen können. Denn
F, = -g»> 1^ Bn^-B, _ V>l> + V. -V. fl(p-l)-l/p
Bg Bg Yp
1 -4- jy
dieser Betrag mufs aber offenbar, da — _ — nur zwischen
ip
einem die Einheit wenig übersteigendem Werthe und Null
variiren kann, mit p regelmäfsig anwachsen. — Dagegen würde
eine letzte Bemerkung Ament's, wenn dieselbe richtig wäre,
Allem zuwiderlaufen, was wir im Vorhergehenden vorausgesetzt
und stets wieder bestätigt gefunden haben. Er ist nämlich der
Ansicht, dafs nicht nur die absolute Abweichung vom geo-
•tint
metrischen Mittel B^ — Bg, sondern auch die relative Fg = -p 1,
aufser von dem Verhältnifs der äufseren Reize p, noch von den
absoluten Intensitäten derselben abhängt ^ ; während nach obiger
Erörterung Fg ausschliefslich durch H und p bestimmt sein
müfste. Nun beruht aber die Behauptung Ament's nur auf die
Ergebnisse, welche er einmal bei Versuchen mit äufseren Reizen
von 1 und 11,24, sodann bei solchen mit äufseren Reizen von
4,50 und 46,95 gewonnen hat: es verhalten sich nämUch diese
beiden Reizpaare annähernd gleich, während doch merklich ver-
schiedene Beträge von Ig herauskommen. Zieht man aber die
obigen, sämmtliche Versuche Ament's zusammenfassenden
« a. a. O. 180.
380 G. Heyniam,
Figg. 12—15 oder die entsprechenden Tabb. XXn—XXV zu Rathe,
80 ergiebt sich, dafs eben die Versuche mit den äufseren Reizen
1 und 11,24 einen Ausnahmefall darstellen, indem sie allein die
überall sonst vorliegende regelmäfsige Zunahme von x mit p doich
einen mehr oder weniger jähen Abfall unterbrechen. Da diese Er-
scheinimg in allen vier Versuchsreihen Ament's in durchaus
gleicher Weise zurückkehrt, analoge Erscheinungen aber so got«
wie nirgends sonst nachweisbar sind (man vergleiche die sämmt-
liehen Figg. 5 — 15), so mufs die Ursache derselben wohl in
irgend einer Unvollkommenheit des Versuchsapparates oder d»
Versuchseinrichtung zu finden sein; jedenfalls eignen sich die
betreffenden Ergebnisse nicht dazu, allgemeine Gesetzmälsig-
keiten auf dieselben aufzubauen. Leider hat Abient sonst nicht
mit Reizpaaren von verschiedener Intensität aber gleichem oder
nahezu gleichem Verhältnifs experimentirt ; Merkel aber um so
mehr. Bei den Versuchen des letzteren hat sich aber dm*chweg8
X, und demnach auch Fg, von der absoluten Intensität der
äufseren Reize unabhängig gezeigt ; wie denn ersteres aus unseren
darauf bezüglichen Tabellen, und das andere aus den ent-
sprechenden Tabellen von Merkel selbst, direct zu entnehmen ist
SchHefslich haben wir uns noch einen Augenbhck bei den
früher ermittelten und in die vorletzten Verticalcolumnen der
Tabb. XV — XXXI eingetragenen Ä-Werthen aufzuhalten. Aller-
dings haftet denselben, indem wir die für hohe jp-Werthe ge-
fimdenen Zahlen von der Berechnimg ausschHefsen und hierbei
mehr oder weniger willkürlich die Grenze ziehen mulsten, eine
gewisse Unsicherheit an ; trotzdem darf nicht unbeachtet bleiben,
dafs sie sämmtlich eine ausgesprochene Tendenz
bekunden, sich den relativenUnterschiedsschwellen
für die betreffenden Gebiete anzunähern. Für Schall-
empfindungen ergiebt sich als Durchschnittswerth für H aus den
MERKEL'schen Tabellen 0,19, aus den AMENT'schen 0,33, aus den
ANGELL'schen, sofern dieselben von ihm als zuverlässig anerkannt
wurden, 0,26 ; die relative Unterschiedsschwelle für das betreffende
Gebiet beträgt etwa 0,30. Für Druckempfindimgen fand Merkel
bei verschiedenen Versuchseinrichtimgen die relativen Unter-
schiedsschwellen 0,09, 0,10 und 0,08 ^ denen die oben fest-
gestellten fi-Werthe 0,13, 0,11 und 0,20 entsprechen. Endhch
' Philosoplmche Studien 5, 267—262.
üfUenuehungen über psychiscJie Hemmung, 381
for Lichtempfindungen beträgt H nach den MEHKEL'schen
TabeUen 0,27, während die unter gleichen Umständen von ihm
ennittelten relativen Unterschiedsschwellen zwischen 0,04 imd
0,66 sich bewegen* Auf so rohen Uebereinstimmungen weit-
tragende Folgerungen zu bauen, wäre offenbar gefährlich; doch
schemt es mir für die Beurtheilung der hier vorgetragenen
Theorie nicht ohne Bedeutung zu sein, dafs die beiden Werthe,
welche von ihr als das Maafs der Verdrängimg und als das
Maafs der Abschwächung von Unterschiedsempfindimgen durch
gleichzeitige und gleichlocaUskte Empfindungen gedeutet werden,
wenigstens nicht zu weit auseinandergehen.
Welche wären also imsere Resultate, imd welchen Werth
«hätten wir denselben beizulegen?
Wir haben erstens für vier Sinnesgebiete, und zwar so-
wohl bei Mischung als bei gesonderter Anwendung der Reize,
gefunden, dafs schwache Empfindungen durch stärkere in einem
den Intensitäten der letzteren proportionalen Maafse aus dem
Bewufstsein verdrängt werden;
sodann, dafs eine Erweiterung dieses Gesetzes auf die
Verdrängung von schwachen Unterschiedsempfindungen genügt,
um die Thatsache der Unterschiedsschwelle, den allgemeinen
Inhalt des WEBEB'schen Gesetzes, den Umfang in welchem das-
selbe gilt, sowie die oberen und imteren Abweichungen von
demselben zu erklären;
und zuletzt, dafs eine abermalige Erweiterung dieses Ge-
setzes auf die Abschwächung von stärkeren Unterschiedsempfin-
dungen uns befähigt, von den bei Anwendimg der Methode der
mittleren Abstufungen durch Merkel, Ament und Angell er-
haltenen Versuchsresultaten durchgängige und exacte Rechen-
schaft zu geben.
Der Werth dieser Ergebnisse scheint mir zunächst darin zu
liegen, dafs sie die Vielheit der vorliegenden Erscheinungen in
einfacherer und übersichtlicherer Weise, als bis jetzt möglich
war, zu beschreiben gestatten. Aufserdem weisen sie auf eine
innere Zusammengehörigkeit dieser Erscheinungen hin, und
fordern einen gemeinsamen Erklärungsgrund für dieselben.
> Philosophische Studien 4, 557—561.
f
382 ^' HeymaM,
Dagegen ist die Art und Weise, wie im Vorhergehenden diese
Zusammengehörigkeit formulirt wurde, als eine durchaus pro-
visorische zu betrachten; Begriffe wie Unterschiedsempfindung,
Intensität der Unterschiedsempfindung u. dergL sind sicher nicht
dazu angethan, unzergliedert und unverändert ihren Platz in der
Wissenschaft ;« behlupten. Ich mufs demnach ausdrücküch
bitten, in jenen von mir verwendeten Ausdrücken keinen tieferen
Sinn zu vermuthen; sollte man mich auffordern dieselben zu
definiren, so könnte ich nm* antworten: ich meine damit das-
jenige quantitativ abstufbare Psychische, welches durch den ge-
gebenen Unterschied zweier verghchener Empfindungen oder
Reize hervorgerufen wird, und in unseren Aussagen über wahr-
genommene Unterschiede seinen naturgemäfsen Ausdruck findet
Das ist allerdings keine Definition welche sich sehen lassen
darf; aber ich habe keine bessere, und glaube auch, daCs wir
vorläufig einer besseren entrathen können. Es scheint mir nicl^t
nm* möglich sondern auch nützHch, ehe wir mit dem begriff-
lichen Oberbau anfangen, den thatsächlichen Unterbau zu prüfen,
zu befestigen upd zu Ende zu führen: wird doch dieser jenen
zu tragen haben. Wenn wir über die Gesetze einig sind, werden
die Begriffe sich finden.
(Eingegangen am 29, Mai 1901.)
(Ans der von Dr. Kiesow geleiteten Abtheilung für experimentelle Psychologie
des physiologischen Instituts der Universität Turin.)
Beobachtungen über die Empfindlichkeit
der hinteren Theile des Mundraumes für Tast-,
Schmerz-, Temperatur- und Geschmacksreize/
Von
F. Kiesow und R. Hahn.^
(Mit 3 Fig.)
Die in dieser Mittheilung vorzugsweise in Betracht kommen-
den Mundtheile sind die Gaumenpfeiler, die Tonsillen
und die Uvula, vergleichsweise sind daneben auch andere
Theile des Mundraumes mitberücksichtigt worden. An den
vorderen Gaumenbögen wiu*den aufserdem noch einige Be-
obachtungen über die EÄUmwahmehmung angestellt und ebenso
haben wir diese Gebilde auf ihre EatzelempfindUchkeit geprüft.
Wir arbeiteten mit der Projectionslampe und dem Stirn-
spiegel. Die Zunge wurde mit einem aus Hartgummi oder Glas
gefertigten Zungenhalter niedergehalten. Wir vermieden metallene
Zungenhalter, um die durch diese verursachten Geschmacks-
empfindungen, sowie die bei elektrischen Reizen leicht auf-
tretende Leitung nach anderen, der Prüfung nicht unterworfenen
Mundtheilen hin auszuschUefsen. Personen mit stark steigender
^ üeber einige der in dieser Arbeit mitgetheilten Thatsachen wurde
im Allgemeinen bereits der K. Accademia di Medicina zu Turin in
to Sitzungen vom 26. April und 31. Mai 1901 kurz berichtet, sie sind
in der vorliegenden Abhandlung nochmals revidirt worden.
' Specialarzt für Oto-rhino-laryngologie und Sprachstörungen zu Turin.
384 F' Kiesow und B. Hahn.
Zunge wurden bei den Untersuchungen über die Tast-, Tem-
peratur- und Schmerzempfindlichkeit nicht benutzt und bei den
Geschmacksuntersuchungen thunlichst ausgeschlossen.
Die Bestimmung der Tastempfindlichkeit geschah
mittelst dünner und nicht zu weicher Haarpinsel, sowie mit
Wattebäuschchen, der von FfiEY'schen Reizhaare und dem
Inductionsstrom. Um die AppUcation des Reizes auf die hinteren
Mundtheile möglich zu machen, wurden die Haarpinsel einem
längeren Glasstabe aufgesteckt, während die Wattebäuschchen,
die Reizhaare und die für die Prüfimg der Raumwahmehmung
benutzten Reizmittel dem einen Ende eines Strohhalmes (Virginia-
halm) von ca. 19 cm Länge aufgeklebt waren. Das Reizhaar
(Pferdehaar) wm*de auf diese Weise applicirt dm*ch Scheeren-
schnitt so lange verkürzt, bis eine Empfindung auftrat und dann
gemessen. ^
Als Inductionsapparat diente uns ein Schütten nach du Bois-
Reymond aus der Fabrik von G. Hasler in Bern, der nach
Kronecker geaicht und bei einer Skalenlänge von 52 cm in
14000 Einheiten getheilt war. Die Anzahl der Windungen der
secundären Spule ist leider nicht angegeben. In den Apparat
wurde constant ein Strom gesandt, der beim Durchgang durch
die primäre Rolle eine Intensität von 0,5 Ampere besafs. Als
Stromquelle dienten Danielelemente. Die Stromintensität wurde
vor und nach jeder Versuchsreihe am Ampöremeter abgelesen
und, wenn nöthig, durch Vei'änderung einer eingeschalteten
Resistenz regulirt. Die Reizung war in diesem Falle eine unipolare
und geschah mittelst einer Kupferdrahtelektrode von 16 cm
Länge und 1 mm Durchmesser, an deren freiem Ende in der
Gebläseflamme ein kleines Knöpfchen angeschmolzen war.
Diese, durch ein Glasrohr gezogene imd so isolirte Elektrode
wurde wie bei früheren Versuchen von Frey's und Kiesow's zur
Kathode der Oeffnungsschläge gemacht imd der andere Pol zu
^ Als eine bequeme Methode, den Querschnitt eines Beizhaares unter
dem Mikroskop zu messen, erwies sich mir die folgende : Man benutze das
letzte vor dem Auftreten der Empfindung abgeschnittene Stückchen und
stecke von diesem ein etwa 1 — 2 mm langes Endchen in ein dünnes
Hollundermarkscheibchen, das mit dem Kasirmesser geschnitten ist. Legt
man das so zugerichtete Scheibchen auf den Objectträger des Mikroskops,
so hat die weitere Bestimmung keine Schwierigkeit. Elissow.
EmpfiindUchkeit der hinteren Theüe des Mundraumes für Tost- etc, Beize. 385
einer dem einen Unterarm umgelegten breiten Metallmanschette
geleitet
Die Schmerzempfindlichkeit wurde faradisch, thermisch
und mechanisch geprüft. Als mechanische Reizmittel dienten
neben den Reizhaaren auch feine und zugeschlifEene Nähnadeln,
die dem freien Ende eines Glasstabes von 20 cm Länge ein-
geschmolzen waren.
Die thermischen Prüfungen wurden auf zweierlei
Weise angestellt. Wir verfuhren zunächst so, dafs wir in ein
mit erwärmtem Wasser gefülltes Gefäfs mit einem Thermometer
zusammen einen gut leitenden Metallstab von 19 cm Länge und
5 mm Durchmesser thaten, dessen Applicationsende glatt ab-
geschüfEen und dessen freies Ende mit einem Stück dickwandigen,
als Handgriff dienenden Gummischlauches überzogen war. Nach-
dem wir das Wasser auf eine ziemlich hohe Temperaturstufe
(ca. 65 — 70 ® C.) erwärmt hatten, begannen wir die Versuche imd
folgten in kurzen Zeitabständen der Abkühlung des Wassers bis
zu dem Punkte, wo eine ausgesprochene Kaltempfindung auftrat
Neben der Empfindlichkeit für Wärme- und Kältereize konnte
so zugleich annähernd die Schwelle des Wärmeschmerzes be-
stimmt werden. Die Application des Metallstabes geschah sehr
schnell, nachdem die Versuchsperson den Mund geöffnet hatte
und die Zunge mit dem erwähnten Zungenhalter niederge-
halten war.
Sodann benutzten wir ein Thermoästhesiometer, wie Kiesow
auf VON Fket's Vorschlag construirte und bereits beschrieben
hat ^ Für den vorliegenden Fall war dasselbe dahin abgeändert,
dafs die Kupferstäbe isolirt durch ein ca. 16 cm langes Glasrohr
gezogen waren. Ebenso besafs dasselbe keinen Kurzschlufs.
Oeffnung imd SchUefsung des Stromes wurden durch einen in
den Stromkreis eingeschalteten Contactschlüssel bewirkt.
Für die Prüfung der Geschmacksempfindlichkeit der er-
wähnten Mundtheile benutzten wir starke Lösungen von Rohr-
zucker, Kochsalz, Salzsäure und Quassin, die mittelst passender
Pinsel und Wattebäuschchen aufgetragen wurden. Hierbei waren
aber weitere Vorsichtsmaafsregeln nöthig, die im Zusammenhang
mit den Versuchsergebnissen unten beschrieben sind.
Aufser dieser Methode benutzten wir die zuerst von
* F. EliEsow, Zur Psychophysiologie der Mundhöhle. Fhilos. Stud. 14, 583.
Zeitschrift för Psychologie 26. 2b
386
J^. Kiesoio und R, H<ihn,
E. Neümann^ und kürzlich auch wieder von R. Zander^ mit
Erfolg für diesen Zweck angewandte elektrische Reizung. Die
beiden Elektroden wurden isolirt durch ein 16 cm langes Glas-
rohr gezogen und endeten bei einer sehr geringen Entfernung
von einander in kleinen angeschmolzenen Knöpfchen. Wir be-
nutzten wie Neümann einen constanten Strom, der die Tast-
xmd Schmerzapparate der Mundschleimhaut beim Oeffnen und
Schhefsen nicht erregte, wohl aber den eigenartigen elektrischen
Geschmack an den Geschmackspapillen deutlich hervortreten
liefs. Durch leises Hin- und Herbewegen der Elektroden auf
den Schmeckflächen tritt der Geschmack, wie schon Neümau»
angegeben hat, noch deutlicher hervor.
Fig. 1.
Fig. 2.
Für die Untersuchung der Raum Wahrnehmung be-
nutzten wir Carton- und Papierstückchen, die ebenfalls einem
Virginiahalm aufgeklebt waren. Die Stückchen waren für die
Wahrnehmimg von Linien am freien Ende glatt abgeschnitten,
für die Schätzung auf Pimktdistanzen eingekerbt (Siehe die
Figuren 1 und 2.) Von jeder Art hatten wir eine gröfsere Serie
angefertigt. *
^ E. Neumann, Die Elektricität als Mittel zur Untersuchung des Ge-
schmackssinnes im gesunden und kranken Zustande etc. Königsberger med.
Jahrb. 4, 1—22. 1864. Citirt nach v. Vintschgau, Hermann's Handbuch der
Physiologie III, 2, S. 153.
* R. Zander, Ueber das Verbreitungsgebiet der Gefühls- und Geschmacks-
nerven in der Zungenschleimhaut. AiiatomiscJtcr Anzeiger 14, 131. 1898.
' Ueber das bei Untersuchungen über Raumwahrnehmungen ziemlich
gute Dienste leistende Princip, mit Carton und Papierstreifen, deren Reiz-
werthe mefsbar sind, zu arbeiten, werde ich später ausführlicher berichten.
KlESOW.
Empfindlichkeit der hinteren Theüe des Mundraumes für Tost- etc. Beize. 387
Die Kitzelempfindungen wurden durch Streichen mit
Haarpinseln, Wattebäuschchen imd Glasstäben hervorzurufen
gesucht
Die weitere Versuchsanordnung war so getroffen, dafs die
Versuchsperson bequem auf einem Stuhle safs und angewiesen
war, mit der Hand ein Zeichen zu geben, sobald eine Sensation
erfolgte. Nachdem der Mimd wieder geschlossen war, wurde das
Urtheil abgegeben und notirt
Ausdrücklich hervorgehoben sei noch, dafs wir besonders
für die bei den thermischen Reizungen erhaltenen Resultate
nicht die Gültigkeit absoluter Werthe beanspruchen und ims
wohl bewufst sind, mit diesen Messungen keine Exactheit im
absoluten Sinne befolgt zu haben. Da es uns mehr auf die
Feststellung der Thatsachen an sich imd auf ein ungefähres
Maafs der Empfmdlichkeit ankam, so haben wir ims angesichts
der noch zu überwindenden technischen Schwierigkeiten mit
diesen relativen Werthen begnügt. Bemerkt sei noch, dafs
empirisch ermittelte Verlustwerthe bei diesen Messungen in
Abzug gebracht wurden. — Bis zu einem gewissen Grade gilt
das Vorstehende auch für die übrigen Werthangaben. Unser
Hauptzweck war auch hier, zu einer allgemeinen Orientirung zu
gelangen imd möglichst getreue Annäherungswerthe zu erhalten.
Wir begannen die Untersuchung mit der Prüfung der ge-
nannten Mundtheile auf ihre Tastempfindlichkeit mittelst
des faradischen Stroms. AppUcirt man die Drahtelektrode auf
die Tast- und Haarpimkte der Körperhaut oder auf die übrigen
Theile des Mundraimis, so erhält man die mehrfach beschriebene
intermittirende, von Anderen als schwirrend bezeichnete Tast-
empfindung. Diese Empfindung ist für die äufsere Körperhaut
und die übrigen Mundtheile (Zunge, Lippen, Wangenschleimhaut,
harter und weicher Gaumen, Zahnfleisch) so charakteristisch,
dafs sie hier niemals ausbleibt. Die Methode dürfte daher ein
gutes Mittel abgeben, diejenigen Körpertheile zu bestimmen,
welche tastempfindlich sind. Auf den in Rede stehenden Mund-
theilen fanden wir nun Verhältnisse, die von den bisher be-
kannten zum Theil abweichen. Unsere Versuche zeigten, dafs
die intermittirende Tastempfindung auf den Tonsillen, der
Mitte der hinteren und der Mitte der vorderen Gaumen-
bögen ausblieb, auch wenn die Stromintensität unter den an-
25*
388 ^' Kiesotc und B. Hahn.
gegebenen Bedingungen bis zu einem sehr hohen Grade ge-
steigert wiu*de. Bei sehr intensiven Reizen treten aber so
starke, von imangenehmem Gefühlston begleitete ContractioDS-
und Reflexempfindung auf und aufserdem mehrt sich die
Speichelsecretion in solchem Maafse, dafs der Versuch nicht
mehr rein bleibt Da der Reiz durch den Speichel überhaupt
leicht nach mit Tastorganen versehenen Stellen hin fortgeleitet
wird, so braucht kaum hervorgehoben zu werden, dafs dieser
Factor bei den Versuchen in Rücksicht gezogen wurde. Wir
haben vor jedem Versuche den Mund gründlich spülen lassen
und aufserdem die zu untersuchenden TheUe und ihre Um-
gebung mit Watte abgetrocknet.
An den erwähnten Stellen der beiden Gaumenbögen traten
nun freilich bei einer Stromintensität von ca. 600 — 900 Einheiten
und an den Tonsillen bei einer solchen von ca. 700 — 800 Einheiten
bereits schwache Empfindungen auf, aber diese waren nicht Tast-
empfindungen, sondern schlössen, wie weiter unten beschrieben
ist, bereits die Schmerzqualität in sich. Die Empfindungen sind
stichartig und auf diesen Flächen punktförmig vertheUt. In diesen
Punkten wird man daher Schmerzpunkte anzuerkennen haben.
Ebenso dürften wir nach den dargelegten Erfahrungen zu dem
•Schlüsse berechtigt sein, dafs eigentliche Tastorgane auf den
angegebenen Flächen nicht vorhanden sind. Bemerkt sei aber
schon hier, dafs das Aufsetzen der Elektrode an den genannten
Stellen oftmals als schwacher und vager Tasteindruck empfunden
wird. Wir kommen auf diese Erscheinung imten zurück. Die
Beobachtungen wurden an mehreren Versuchspersonen mit stets
gleichem Erfolge angestellt.
Abweichend von diesen Befunden verhielten sich die oberen
und unteren Enden der vorderen Gaumenbögen. Hier gaben
mehrere Versuchspersonen bei intensiven Reizen von 2000 — 3000
Einheiten und darüber an, dafs sie ein schwaches Schwirren
beobachteten. Wir haben dieser Erscheinung viel Aufmerksam-
keit geschenkt, haben aber nicht mit absoluter Sicherheit er-
mitteln können, ob es sich hier um directe Reizung von Tast-
organen handelt, die auf diesen Stellen selbst vertreten sein
könnten, oder um Ausbreitung des Stromes nach dem weichen
Gaumen und der Zunge hin. Ist das erstere auch wahrschein-
lich (s. Note 2 auf S. 389), so dürfte doch auch die letztere An-
schauung nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen sein.
Empfindlichkeit der hinteren Theile des Mundraumes für Tast- etc, Beize. 389
Abgesehen davon, dafs die Mundflüssigkeit leitet, steht der
Tordere Gaumenbogen durch den M. palato-glossus (Fort-
setzung des M. transversus linguae) sowohl mit der Zunge als
auch mit dem Gaumensegel in Verbindung und ebenso finden
sich hier gleichfalls Nervenfasern aus dem Trigeminus. Die
Leitung durch die Mundflüssigkeit haben wir, wie bereits be-
merkt, durch Abtrocknen thunlichst zu beseitigen gesucht, aber
es bleibt dann immer noch eine Leitung durch die Muskel- oder
die Nervenfaser nach den sehr nahe liegenden Tastflächen hin
möghch. Durch Contraction des Muskels, die bei dieser
Reizrmg stark hervortritt, wird das Gaumensegel nach abwärts
gezogen und sodann hat v. Frey in hohem Grade wahrscheinlich
gemacht, dafs durch den elektrischen Reiz nicht direct die
Endorgane , sondern vielmehr die zuführenden Nerven ge-
troffen werden.* Diese Vorstellung haben auch wir bei den
vorliegenden Beobachtungen vielfach bestätigen können. Man
merkt oft deuthch, wie der Reiz sich unter der Haut fortpflanzt
Die Leitung durch die Muskel- und Nervensubstanz nach Zunge
und Gaumen, Gebilde, die mit Tastorganen versehen sind, dürfte
somit nicht ausgeschlossen sein, zumal die Stromintensität zur
Hervorrufung dieser Erscheinimg beträchtlich ist imd die Em-
pfindung andererseits schwach bleibt. Dazu kommt, dafs auch
auf der äufseren Körperhaut ganz ähnliche Erscheinungen durch
Ausstrahlung des Reizes hervorgerufen werden können.
Trotzdem haben wir diese Frage unentschieden gelassen.
Wir kommen nochmals darauf zurück. Was aber als sicher
aus unseren Versuchen hervorging, ist dies, dafs wenn hier
Tastorgane vorkommen, sie hier nur in minimaler Anzahl vor-
handen sein können und schwer zu treffen sind. Unmöglich
ist auch nicht, dafs hier individuelle Differenzen vorkommen.
Die hinteren Gaumenbögen wurden aus leicht ersichtlichen
Gründen nur an ihrem medialen Rande untersucht, ihre oberen
und unteren Enden blieben der möglichen Fehlerquellen wegen
von der elektrischen Prüfung ausgeschlossen. -
' M. VON Frey, Beiträge z. Phys. d. Schmerzsinnes. Leipziger Berichte
18W, 2. Mittheil., S. 292.
' Zu einer endgültigen Beantwortung dieser und anderer Fragen wird
neileicht eine histologische Bearbeitung der Gebilde führen, die einer
meiner 8chüler auf meinen Wunsch unternommen hat und über die er
spftter selbst berichten wird. AVie mir Herr Prof. v. Frey schreibt, den
390 F- Kiesow und R. Hahn.
Am oberen Theile der Uvula wurde von den meisten,
am obersten von allen Versuchspersonen Schwirren angegeben,
der imtere drüsige Theil des Organs scheint ebenso individuellen
Differenzen zu unterliegen. Bei Keesow ist der untere Theil
für Tast- und Schmerzreize vöUig unempfindUch.
Um einen näheren Einblick in diese Verhältnisse zu g^
winnen, haben wir sie messend weiter verfolgt und mit der
Empfindlichkeit anderer Mundtheile zu vergleichen gesucht
Diese wie alle anderen Messungen wurden vorzugsweise an
KiESOw angestellt. Für einige Controlversuche leisteten uns die
Herren DDr. Cüshing, und N., sowie Herr stud. med. Fontana u. A.
ihre Hülfe. Letzterer ist ims aufserdem beim Experimentiren
vielfach behülflich gewesen. Wir versäumen nicht, diesen
Herren, wie allen anderen Personen, die uns behülflich waren,
auch an dieser Stelle unseren besten Dank für ihre Theilnahme
an den Versuchen auszusprechen.
Wir stellen in den nachfolgenden Tabellen die Werthe zu-
sammen, die an Kiesow als Tast- und Schmerzschwellen ge-
funden wurden. Diejenigen der übrigen Herren wichen nicht
erhebUch von diesen ab.
I. Intermittirende Tastempfindung.
Zungenspitze :
25 Einheiten
Harter Gaumen:
25—30
n
Mitte der Zunge:
ca. 100
r
Mundwinkel:
ca. 100
r
Weicher Gaumen:
ca. 800
n
Uvula:
ca. 1250
r
Oberes Ende des vord
eren
Gaumenbogens:
ca. 2500
r
Unteres Ende des
vorde-
ren Gaumenbogens:
ca. 2000
r
II. Schmerzempfindung.
Zungenspitze: 100 — 200 Einheiten
Harter Gaumen: 50 — 100 „
Mundwinkel: 300-400 „
ich um Nachprüfung dieser physiologisch schwer festzustellenden That-
sache bat, konnte auch er an sich selbst gegen den oberen Rand und
zwar sowohl des vorderen wie des hinteren Bogens durch faradische
Reizung beliebiger Frequenz und ohne Muskelreizung vereinzelte isolirte
Tastpunkte nachweisen. Kiesow.
n
r
Empfindlichkeit der hinteren Theile des Mundraumes für Tctst' etc, Reize. 391
Mitte der Zunge: ca. 500 Einheiten
Weicher Gaumen: ca. 500 — 600 „
Vorderer Gaumenpfeiler, oben: ca. 600
Vorderer Gaumenpfeiler, Mitte: ca. 900
Hint. Gaumenpfeiler, Mitte: ca. 600—700 „
Oberer Theil der Uvula: ca. 600— 700 „
Tonsillen: ca. 700—800
Es sei nochmals hervorgehoben, dafs diese Werthe nur An-
näherungswerthe sein können. Sie sind die niedrigsten, die ge-
funden wurden und dürften somit für die empfindlichsten Punkte
des jeweils untersuchten Körpertheils gelten. Da diese Punkte auf
den vorderen Mundtheilen besser auffindbar sind als an den hinteren,
so kann der Vergleich zwischen beiden im absoluten Sinne
keine Exactheit beanspruchen. Dennoch dürften die Angaben
nicht ohne Werth sein, da sie ein ungefähres Verhältnifs der
EmpfindUchkeit der einzelnen Mundtheile deutUch erkennen
lassen. Sehr schwer bestimmbar ist die Schwelle für die inter-
mittirende Tastempfindung an der Zungenspitze, sofern, wie
KrEsow bereits in einer anderen Arbeit hervorgehoben hat ^, das
Organ selbst fortwährend Bewegungen ausführt und diese Em-
pfindung auch ohne Stromdurchgang so leicht vorgetäuscht
werden kann. Man kommt hier aber zum Ziele, wenn man den
inducirten Strom, während die Elektrode bei minimalster In-
tensität der Zungenspitze anliegt, öffnet und schliefst. Auf diese
Weise wurde der oben angegebene Werth gefunden. Kaum ver-
schieden von der EmpfindUchkeit der Zungenspitze ist die des
harten Gaumens, besonders am hinteren Rande, wo er in den
w^eichen Gaumen übergeht. In der Schmerzempfindlichkeit über-
trifft der harte Gaumen noch die Zungenspitze. Die letztere hat
aber durch ihre grofse Beweglichkeit für die Auffassung von
Reizgröfsen Vortheile vor allen anderen Organen. Im Uebrigen
bedürfen die vorstehenden Tabellen keiner weiteren Interpretation.
Es geht aus denselben deutlich hervor, dafs die vorderen Mund-
theile sowohl für Tast- als für Schmerzreize bedeutend empfind-
licher sind als die hinteren. Was die letzteren betrifft, so ist
der hintere Gaumenpfeiler in seinem mittleren Theile schmerz-
empfindlicher als der vordere und ebenso ist dieser hier etwas
weniger empfindlich als die Tonsillen. Bei ihrem Uebergange in
* F. KiEsow. Zur Psychophysiologie der Mundhöhle. Philos. Stiid. 14.
392 ^' Kiesow und R, Hahn.
den weichen Gaumen, nehmen die Gaumenbögen allmählich die
Empfindlichkeit dieses Mimdtheiles an.
Bevor der Schmerz erscheint und noch etwas über diesen
Pimkt hinaus, hatten einige Versuchspersonen namentUch auf
den Gaumenpfeilem den Eindruck, als ob ein auf den Körper-
theil ausgeübter Druck anwachse und sich in die Tiefe fort-
pflanze. Diese Erscheinung wird vielleicht durch die Zimahme
der erwähnten Contractionsempfindung vorgetäuscht.
EigenthümUch ist ferner die Thatsache, dafs die Grenze bis
zur Unerträglichkeit des Schmerzes auf den einzelnen
Theilen der Mundhöhle verschieden ist. Man erträgt den Schmerz
auf den hinteren Mimdtheilen länger als auf den vorderen und
auf den Tonsillen z. B. wieder weit länger als auf den Gaumen-
pfeilem und dem weichen Gaumen. Kiesow gewann schon in
einer früheren Arbeit über die Empfindlichkeit des Mundraums
„den Eindruck, dafs, von inneren Organen abgesehen, die Wangen-
schleimhaut wie die hinteren Theile des Mundraumes mit Ein-
schlufs der hinteren Zungenhälfte von allen Körpertheilen viel-
leicht die geringste Schmerzempfindhchkeit besitzen." * Die
Wangenschleimhaut besitzt aufserdem, wie er zuerst fand, eine
schmerzfreie Stelle.*- Er bezeichnete die auf der hinteren Wangen-
schleimhaut auftretenden Empfindungen nicht geradezu als
schmerzhaft, sondern als schmerzbetont. Es darf jedoch diesem
hinzugefügt werden, dafs im hinteren Mundraume die Schmerz-
empfindungen wie auf einzelnen Theilen, so auch auf einem
und demselben Theile der Mundcavität noch wieder verschieden
sind.^ Im Einzelnen ist die Analyse hier aber sehr erschwert
Die durch die erwähnten Contractionen und Reflexe, sowie durch
Ausstrahlung in benachbartes Gewebe und durch elektrolytische
Zersetzimgen hervorgerufenen Empfindungen' verschmelzen zu-
sammen mit Temperaturempfindungen oder direct und indirect
ausgelösten Geschmacksempfindungen mit der Schmerzempfindung
1 Citirte Arbeit, S. 578.
« Ebenda. Aufserdem Philos. Stitd. 9, 510 ff.
• Die Verallgemeinerung, welche S. Alrutz (Skandin. Ärch. f. Physio-
toyic 10, 361) aus den in meiner oben eitirten Arbeit mitgetheilten Angaben
gexogen hat, dafs das minimum perceptibile des Schmerzes im Mund-
rniunv hoch liege, ist nicht richtig. Ich hatte diese Angabe nur für die
hinteren Mundtheile gemacht. Schmerzempfindungen spielen bei der Auf-
uiilune der Nahrung eine bedeutende Rolle. Kibsow.
Bnj^ndliehkeit der hinteren Theile des Mundraumes für Tost- etc. Beize. 393
lu einem Empfindungscomplex, der dem Schmerz namentlich
bei höheren Reizintensitäten eine ganz eigenartige Färbung ver-
leiht Der Totaleindruck ist dann meistens von einem höchst
unangenehmen Gefühlseindruck begleitet Würgbewegungen
setzen der Untersuchung gewöhnlich ein Ende.
Eine weitere Erfahrung, die wir bei diesen und früheren
Untersuchungen gewannen, ist die Thatsache, dafs auf dem
vorderenGaumenpfeiler bei unipolarer faradischer Reizung
zuweilen deutUch eine Geschmacksempfindung auftrat, die aber
nicht hier, sondern nach der Zungenbasis hin locaUsirt ward.
Erwähnt sei ferner noch, dafs die durch die elektrische
Reizung erzeugte Temperaturempfindung immer eine Kalt-
empfindung, niemals eine Warmempfindung war. Die so her-
vorgerufene Kaltempfindung nahm mit anwachl^ender Strom-
stärke meistens zu.
Es wurde schon hervorgehoben, dafs auf den Gamnenpfeilern
und den Tonsillen das Aufsetzen der Elektrode selbst als Tast-
eindruck empfunden wird. Dies gilt auch für solche Stellen des
vorderen Gaumenbogens, wo sicher keine Tastorgane vorhanden
sein können. Diese Thatsache hat uns Anfangs überrascht,
durch eine sorgfältige Prüfung glauben wir aber zu einer voll-
gültigen Erklärung gelangt zu sein. Die Empfindung ist immer
bedeutend schwächer als an den mit Tastflächen versehenen
Körperstellen, sie bleibt dazu immer vage und vor allem schlecht
localisirbar. Man erkennt schlecht oder gar nicht die Reizstelle,
sondern kann meistens nur im Allgemeinen angeben, ob an der
rechten oder an der Unken Körperseite, und ob hier am oberen
oder unteren Theil der Mundcavität gereizt wurde. Um die
Empfindung hervorzurufen, mufs hier eine ungleich gröfsere
Kraft angewandt werden, als bei Reizung der eigentüchen Tast-
flächen. Dies ist leicht nachweisbar bei Benutzimg von abge-
rundeten Glas- und Metallstäben oder von Haarpinseln und
Strohhalmen, denen ein kleines Wattebäuschchen angesetzt ist
Individuelle Differenzen traten hier nur insofern auf, als manche
Personen etwas intensiver zu empfinden schienen als andere,
mit dem Vorbehalt jedoch, dafs auch im letzteren Falle die In-
tensität der Empfindung weit hinter der an Tastflächen hervor-
zurufenden zurückblieb. In Anbetracht der vielfachen Factoren,
die hier eine Rolle spielen können, ist dies auch wohl nicht auf-
fallend. Wir arbeiteten zwar nur an Personen, bei denen die
394 ^. Kiesow und IL Hahn,
in Rede stehenden Mundtheile anscheinend durchaus normal
waren, aber es dürfte doch daran zu erinnern sem, dafs leichtere
Insulte, denen gerade die hinteren Mundtheile vielfach ausge-
setzt sind, auch wenn sie anscheinend spurlos verlaufen, auf die
fernere Empfindlichkeit dieser KörpertheUe von nachhaltigem
Einflüsse bleiben können. Dazu kommt, dafs auch die Form
dieser Körpertheüe mannigfach variirt und daher die AppUcation
des Reizes in einem Falle leichter ist als im anderen.
Nach allen von uns gewonnenen Erfahrungen kamen wir
zu der sicheren Ueberzeugung, dafs es sich bei dieser schwachen
und ihrer Qualität nach immer mehr vage bleibenden Tastempfin-
dung, wenn auch, wie nach v. Frey's Angabe sehr wahrschein-
hch ist, an den oberen Enden der vorderen Gaumenbögen wenige
Tastorgane in Frage kommen, doch besonders um Ausbreitung
des Reizes nach den Tastflächen hin oder vielleicht auch um
Muskelempfindungen handelt. Letzteres gilt natürlich nur für
die Gaumenpfeiler. Schon bei nicht sehr starken Reizen sieht
man das Ausweichen dieser Gebilde nach hinten, wendet man
stärkere Reize an, so treten Contractionen und Reflexe auf.
Nimmt man nicht abgerundete Reizstäbe, wie etwa Virginiahalme,
denen kein Wattebäuschchen aufgesetzt ist, so wird die Em-
pfindung schon bei mäfsigem Drücken schmerzhaft.
Diese durch Contraction und Ausbreitung hervorgerufenen
Empfindungen beobachtet man gut, wenn man mit Inductions-
stöfsen reizt, die nicht so schnell aufeinander folgen, dafs Tetanus
eintreten kann. Wir haben hierüber einige Versuchsreihen an-
gestellt und theilen im Folgenden eine solche mit, die an Kiesow
bei 6 Inductionsschlägen in der Secunde gewonnen wurde. Wir
benutzten für diesen Zweck Kronecker's Unterbrechimgshammer,
der mit dem erwähnten Inductorium verbunden wurde. Im
Uebrigen waren die Bedingungen die gleichen, unter denen die
oben mitgetheilten Werthe gefunden wurden.
Vorderer Gaumenbogen, Mitte:
2500 Einheiten — Schmerzhaft, kein Zucken.
3000 ,. — Ebenso.
3250 „ — Schmerzhaft. Stöfse. Die Empfindung ist bei den Stöfsen
tastartig schmerzhaft.
Vorderer Gaumenbogen, oberes Ende:
2600 Einheiten — Sclimerzhaft, kein Stofs.
3000 „ — Ebenso.
Empfindlichkeit der hinteren Theile des Mundraumea für Tost- etc. Beize. 395
iS50 Einheiten — StöIJse tastartig schmerzhaft. Der Reiz breitet sich bis
znr Uvula aus, die in Contractionen den Intermissionen
des Beizes folgt.
Vorderer Gaumenbogen, hart am weichen Gaumen:
SOO Einheiten — Kalt und stichartig.
3800 „ — Leise stichartige Stöfse.
Hinterer Gaumenbogen, Mitte:
1000 Einheiten — Schmerzhaft.
1250 „ — Geringes Zucken.
ISOO „ — Die Uvula folgt den Intermissionen des Beizes.
Tonsille:
3500 Einheiten — Sehr leiser Stich.
3000 „ — Ebenso, fast nichts.
3500 „ — Stich ohne Stöfse.
4000 „ — Der Versuch ist nicht mehr rein, da man die Zuckungen
bereits im Arm spürt.
Diese Versuche wurden an der linken Körperseite angestellt,
die an der rechten gefundenen Werthe weichen aber kaum von
den vorstehenden ab. Dafs es sich hier neben der durch die
Ausbreitung des Reizes und durch die Contractionen als solchen
an den Tastflächen hervorgerufenen Empfindungen, wohl auch noch
um wirkhche Muskelempfindungen handelt, geht aus der That-
sache hervor, dafs man den Stofs mehr in der Tiefe empfindet,
nicht wie bei der intermittirenden Tastempfindung oberflächlich.
Man erkennt dies auch, wenn man die Elektrode auf die äufsere
Körperhaut, etwa auf die Fingerbeere, den Daumenballen oder
die Rückseite der Hand applicirt. Hier merkt man deutUch den
Stofs im Muskel und hat bei grofsen Intensitäten sogar oft den
Eindruck, als werde ein Stofs auf den Knochen ausgeübt. Dies
ist bei schnell folgenden Reizunterbrechungen anders. Hier
kann an den Tastflächen, wie z. B. an der inneren Wange bei
hohen Intensitätsgraden ein hochgradiger Tetanus hervorgerufen
werden, trotzdem aber folgt die Empfindung den Intermissionen
des Reizes.
Die beträchtliche Differenz der Stromintensität, welche nöthig
ist, um bei dieser Reizung die Uvula in Mitleidenschaft zu ziehen,
erklärt sich hinreichend aus der ungleichen musculären Ver-
bindung der Gaumenpfeiler mit diesem Organ.
-^r F- Kiesoic und R. Hahn,
-1 -rr 'rviila kann man mit stärkeren mechanischen Reizeü
-jz zz -rr oberen Hälfte arbeiten, die Spitze weicht dem Reize
L -r^-ir xZs. aJs dals man hier zu irgend einem sicheren Er-
-■::_^ ::.::nait;n könnte. Am oberen Theile wird der Reiz meist
_s *-=rr-2';nek empftinden und dann ungleich deutlicher und
r-: _r .iH 'ien vorstehend erwähnten Theilen. Dafs es sieh
_!-_- ZI. *ir«rt:Te Reizung von Tastorganen handelt oder weni^>Te:i?
ZI -Jir !t:!LütmogIiche Ausbreitung nach solchen hin, l>edan'
j_i— Teueren Be^veises-
.'llll Feststellung dieser Verhähnisse haben wir die in Rede
-;^-_lri: K'3rT>irr?:eIIen auf ihre Empfindlichkeit für punkt-
__:■: Reize ieprüf:, die in der oben angegeben Weise hrr-
_.*:>:_- vurieu. Die Er^rebnisse dieser Untersuchungen sind für
- -t.:::.rub«}gen ujii Tonsillen im Ganzen die folgenden:
.-- :iiim Jur.!:: ;=.l>.nählicho Verkürzung des Reizhaares bis
T— Punkt i^eldiiiTr- wo eben eine Empfindung auftritt, so
_ _-^ iehr s.'hv.Ä.h und ihrer (Jualität nach nicht gut zu
. -■ -w:i, <ie '.vir.: als vage , schwache , unbestimmte Tast-
.::.'>^:iü bezcichr.e:, es wird aber dabei angegeben, dafs sie
-^ 11 ier. i:^" :::an auf Tastpunkten erhält, unterscheidet.
-r :I:i:pnnd'.i:::; verschwindet auch fast sogleich nach der
-^ ■_.^_ iiuch 'Vru:: diese andauert, wie dies bei schwacher
j^ ^.^ .Jt-r Tis:: ".'.'.kTo goseliieht. Verstärkt man den Reiz all-
.-«:.:=, :i. =<^ ^*i^- ^••^" Emptindung stichartig, ohne aber ausge-
^ - viieii scirr.c ri-.ÄT: ::: sein. Man findet jedoch Punkte, bei deren
, :^<r die >:x'r.Ar::o- Empfindung erst eintritt, wenn man den
»^ . viir/e l^ci: s::äs::ini läist, und andere, bei denen sie fast
-t ■ .iritii: •::"" ^'•^" Keirung einsetzt. Im ersten Falle ist die
7t- - :.,-r"*' Vv.i&i-sTS sohwaoh und vage und wird dann fast
ra ..: sricl'Är'a;^. Pioso stiohartige Empfindung könnte man
.^ •-'•vr'*;:: v.^'v.r.t::. Sie schlielst zweifellos die Schmerz-
.^; s^-* ::< ::; <:oh. ohne dals der Schmerz klar ausgesprochen
'rslieüisch^' IWobci^^hter priogen hier anzugeben: ^.Piunje un
^1 <«m '■( .6'<>'>5 /ÄitiV," Bei der gleichen Reizintensität
^H,^« uidüt fertuT l\::ikte. auf denen die stichartige Empfindung
Mic^iü^ tait der Abnahme des äufseren Reizes ver-
ttud Äiidtrrv. Äuf denen sie mehr oder weniger lange
Verstärkt man den Reiz in der erwähnten Weise
so verringert sich die Latenzzeit bis zum Auf-
gly^rtigvn Empfindung imd zugleich nimmt diese
Empfindlichkeit der hinteren Theile des Mundraumes für IVwf- etc, Reize. 397
in immer ausgesprochenerer W«ise die Schmerzqualität an.
Ebenso vermehrt sich die Anzahl der Punkte. Weitere Ver-
stärkerungen des Reizes führen dann zu immer intensiveren und
nachdauemden stichartigen Schmerzempfindungen und nur zu
solchen, bis auf noch höheren Reizstufen der Versuch in Folge
der bereits hervorgehobenen Stönmgen nicht mehr rein bleibt
Zu beachten ist hier besonders, dafs das Reizhaar nicht
gleiten imd bei der Biegung nicht Tastflächen wie Zunge und
Wangenschleimhaut streifen darf. Die Körpertheile müssen
wirklich punktartig getroffen werden, was nicht immer leicht ist
und von Seiten der Versuchspersonen eine grofse Hingabe an
den Versuch erfordert.
Es resultirte weiter aus unseren Versuchen, dafs auch an
den Gaumenbögen die einzelnen Abschnitte dieser Mundtheile
noch wieder von verschiedener Empfindlichkeit sind.
Das sind die allgemeinen Resultate, zu denen uns die Unter-
suchung führte. Wir haben dann versucht (und zwar auch am
oberen Theile des hinteren Gaumenbogens), einige genauere An-
gaben zu erhalten, die wir in den nachstehenden Tabellen über-
sichtlich zusammenstellen :
Für die erste Phase der Empfindung, wie sie oben be-
schrieben wurde, ergaben sich an den rechten Mundtheilen bei
KiESOw rund die folgenden Werthe:
Vord. Gaumenbogen, oben:
Vord. Gaumenbogen, Mitte:
Hint. Gaumenbogen, oben:
Hint. Gaumenbogen, Mitte:
Tonsille:
Quer-
schnitt d.
Haares
Mittl.
Radius
Kraft
Spannung Druck
mm*
mm
gr
grmm gr.mm*
0,04
0,11
0,45
4 11
0,038
0,11
0,85
8 22
0,f>41
0,11
0,28
3 7
0,04
0,11
0,64
6 Itf
0,035
0,11
1,05
10 30
Bei den in der folgenden Tabelle zusammengestellten Werthen
zeigen die Stiche bereits die iSchmerzqualität. Der Schmerz ist
aber, obwohl ausgesprochen, doch erträglich.
398 ^- Kiesow und B. Hahn,
Quer-
schnitt
MittL
Bad.
Kraft
Spannung
Druck
mm'
mm
Kr
gr/mm
gr/mm'
0,035
0,11
1,56
14
45
0,025
0,088
2,00
23
80
0,035
0,11
0,9
8
26
0,028
0,10
1,41
14
50
0,029
0,10
1,71
17
58
Vord. Gaumenbogen, oben:
Vord. Gaumenbogen, Mitte: 0,025
Hint. Gaumenbogen, oben:
Hint. Gaumenbogen, Mitte: 0,028
Tonsille:
Nach Aufnahme dieser Versuchsreihen wurden für die erste
Empfindungsphase am mittleren Theile des rechten vorderen
Gamnenbogens an Herrn Fontana, sowie an dem fünfzehnjährigen
Hülfsdiener unseres Instituts, Michele Giordano, einige Control-
versuche mit verschiedenen Reizhaaren angestellt. Diese Ver-
suche ergaben für Herrn Fontana folgende Werthe:
Querschnitt des Haares
Mittl. Kadius
Kraft
Spannung
Druck
mm'
mm
gr
gr/mm
gr/mm*
0,030
0,10
0,66
7
22
0,04
0,11
0,76
7
19
0,04
0,11
0,95
9
24
Bei dem letzten Reizwerthe wurde die Angabe hinzugefügt:
Appena^ appena pungentel
An Michele Giordano liefsen sich für jene Empfindimgs-
phase folgende Reizgröfsen bestimmen:
Querschnitt
Mittl. Badius
Kraft
Spannung
Druck
mm'
mm
gr
gr/mm
gr/mm*
0,035
0,10
0,5
5
14
0,044
0,12
0,58
5
13
In Anbetracht der individuellen Unterschiede, die sich
überall finden, dürfte eine gröfsere Uebereinstimmimg der Reiz-
werthe kaum zu erzielen sein. Die niedrigeren Werthe im
letzteren Falle erklären sich wohl zum Theil aus dem jüngeren
Alter der Versuchsperson. Dann kommt aber dazu, dafs der
Reiz bei ihr besonders leicht applicirt werden konnte, da die
Zunge nur leise niedergehalten zu werden brauchte.
Was die Interpretation der vorstehenden Werthe betrifft, so
steigt hier wiederum die Frage auf, was für Hautorgane gereizt
wurden, ob Tast- oder Schmerzapparate. Soweit die Tonsillen
und die Mitte der Vorderseite der Gaumenbögen in Betracht
EmpfindUchkeit der hinteren Uieile des Mundraumes für Tost- etc. Reize. 399
kommen, glauben wir auch durch die vorstehend mitgetheilten
Ergebnisse zu der Annahme berechtigt zu sein, dafs es sich hier
ausschliefslich um Reizung von Schmerzapparaten handelt Der
Cliarakter der auftretenden Empfindung wie besonders die hohen
Reizschwellen weisen durchaus hierauf hin. Nicht mit Bestimmt-
heit l&fst sich sagen, ob die auf den oberen Enden des vorderen
und hinteren Gaumenbogens bei Kiesow gefundenen Werthe sich
auf directe oder indirecte Reizung von Tast- oder von Schmerz-
punkten beziehen. Die Werthe entsprechen freilich den maximalen
Reizschwellen weniger Tastpunkte der äufseren Körperhaut,
andererseits aber weist die bei stärkeren Reizen auftretende Empfin-
dungsquahtät auf eine directe oder indirecte Reizimg von Schmerz-
apparaten hm. Die Empfindung ist dann immer schmerzhaft.
Sollten hier somit, was die histologische Untersuchung ergeben
mufs und nach v. Frey wahrscheinhch ist, auch Tastapparate
vorbanden sein, so dürfte ihre Zahl auch nach diesen Er-
gebnissen nur sehr gering sein und sie dürften ebenso bei
mechanischer Erregung schwer zu treffen sein. Wie dem
auch sein möge, so geht aus unseren Untersuchungen be-
reits so viel hervor, dafs die Mundhöhle neben Stellen,
die wohl tast-, aber nicht schmerzempfindlich
sind, auch solche Gebilde besitzt, die bei er-
haltener Schmerzempfindlichkeit umgekehrt keine
Tastempfindlichkeit besitzen. Es dürften hier somit
zum Theil wenigstens analoge Verhältnisse vorliegen, wie v. Frey
für die Conjunctiva bulbis imd die Cornea feststellen konnte.^
Gehen wir auf v. Frey's Untersuchungen etwas näher ein,
so wäre hervorzuheben, dafs es nach seinen aufserordentlich
gründUchen und bahnbrechenden Arbeiten kaum noch als
zweifelhaft angesehen werden kann, dafs die Schmerzempfin-
dungen der Hautoberfläche von specifisch adaptirten Organen
ausgelöst werden. Diese Schmerzorgane der Hautoberfläche sind
nach V. Frey die in die Intercellulärräume der Epidermis auf-
steigenden freien Nervenendigungen, und ihre Erregung ge-
schieht nicht durch directe Wirkimg des mechanischen Reizes,
* M. V. Frey, Beiträge zur Physiologie des Schmerzsinnes. Ijcipziyer
Btridite, Sitzung vom 2. Juli 1894, S. 192.
Derselbe, Untersuchungen über die Sinnesfunctionen der mensch-
lichen Haut. Leii}Z. Ahhandl. 23 (3;, 250.
400 ^- Kiesmc und B. Hahn,
sondern, wie v. Fbey in hohem Maafse wahrscheinlich macht,
durch einen chemischen Zwischenprocefs, indem die in diesen
Räimien vorhandene Flüssigkeit ihre Zusammensetzung ändert
und so auf das Nervenende wirkt Auf diese Weise erklärt sich
nach ihm sowohl die Latenzzeit und das baldige Verschwinden
der Empfindung bei schwächsten Reizen, als auch ihre Con-
tinuität bei stärkeren Deformationen. Uns erscheint die durch
V. Frey auf Grund seiner Erfahrungen aufgestellte Theorie von
allen bisher aufgestellten die plausibelste.
V. Frey hat dann weiter gezeigt, dafs die Messung der
Schmerzempfindung in Drücken, nicht in Spannungsein-
heiten zu geschehen hat. Letztere geben die Reizwerthe für
die Erregung der Tastorgane ab. Auch diese stellen, wie v. Feet
zuerst dargethan hat und wie durch ihn und Kiesow^ noch
wahrscheinlicher gemacht wurde, nicht eine Vorrichtung dar,
durch welche der äufsere Druck als solcher auf den Nerven
übertragen wird, sondern es handelt sich hier um eine Erregung,
die durch eine in dem Tastorgan vor sich gehende Störung des
chemischen Gleichgewichts zu Stande kommt.
Wir haben in den Tabellen neben den Constanten der Reiz-
haare beide Werthe vergleichsweise zusammengestellt Da es
sich hier aber, wie oben gezeigt wurde, auf der Mitte der
Gaumenbögen zweifelsohne um die Erregung von Schmerzorganen
handelt, so dürften hier nur die in Drücken angegebenen
Werthe in Betracht zu ziehen sein. Wollte man die an diesem
Theile der Gaumenbögen gefundenen Spannungswerthe als
die eigentlich verwerthbaren ansehen, so würden diese Werthe
im Vergleich zu denen, die an den eigentUchen Tastflächen ge-
funden werden, zu hoch seien. Es ist wenigstens gar kein
Grund vorhanden, warum die Tastorgane hier plötzlich eine
so hohe Schwelle haben sollten, v. Frey fand die mittlere
Schwelle des Tastpunktes auf der Wade = 1,44 gr/mm, am
Handgelenk = 1,28 gr/mm-, Kiesow^ fand diese auf den ein-
zelnen Körpertheilen innerhalb der Grenzen von 1,02 — 1,93 gr/mm
variiren; und unter denselben Bedingungen, wie die Werthe
* M. V. Frey und F. Kiesow, Ueber die Function der Tastkörperchen.
Diese Zeitschrift 20.
* M. V. Frey, Cit. Arbeit 233, 235.
' F. Kiesow, Contributo alla psico-fisiologia del senso tattile. Giornak
della R. Accademia di Medicina di Torino 6. 1900.
Empfindlichkeit der hinteren Theile des Mundrawnes für Tost- etc. Beize. 401
an den in Rede stehenden Körperstellen gefunden wurden,
konnte er an den Fingerbeeren, den behaarten Stellen der
Vorderseite des linken Unterarms und der Wangenschleim-
haut Werthe bestimmen, die innerhalb der Grenzen von
0,5 — 1 gr/mm hegen. Diesem kann noch hinzugefügt werden,
dafe KiEsow bei neueren Untersuchungen am harten Gaumen
unter gleichen Bedingimgen den Spannimgswerth von 0,5 gr/mm
noch überschweUig fand und dafs er am weichen Gaumen
und dem oberen Ende der Uvula Tastwerthe von 0,5 — 0,76,
resp. 1,5 gr/mm bestimmen konnte. Es ist somit (von Aus-
nahmen wie Zimgenspitze und Lippenroth abgesehen) sehr wahr-
scheiohch, dafs die mittlere Schwelle für die Tastorgane inner-
halb gewisser Grenzen constant bleibt und es ist nicht gut ein-
insehen, warum hier eine Ausnahme von der Regel vorUegen
sollte. Diese Angaben nehmen wir somit als Reizwerthe für die
8chmerzapparate in Anspruch. Diese variiren auf der Körperober-
fläche in weit höherem Grade als die Tastwerthe, und die von uns
gefundenen fallen durchaus in die Grenzen hinein, innerhalb
deren sich die Reizschwellen für die Schmerzpunkte nach v. Fbby
bewegen.^ Die äufsersten Grenzen sind nach ihm 0,2 gr/mm*
für die Cornea und 300 gr/nmi^ für die Fingerspitzen,
die mittleren Werthe bewegen sich zwischen den Grenzen von
10 gr,mm^ (Augenlider) und 50 gr/mm- (Fufsrücken).
Unser Ideal wäre gewesen, die Untersuchung in gleich gründ-
licher Weise durchzuführen, wie dies von ihm an der Con-
junctiva seines rechten Auges geschehen ist. Wir mufsten aber
bald einsehen, dafs dies eine Sache der Unmöglichkeit war. Das
Offenhalten des Mimdes, das Niederhalten der Zunge, die
Schwierigkeit der Reizapphcation, die UnmögUchkeit, die Punkte
zu fixiren und sicher wieder zu treffen, sie in ein Kartennetz
einzutragen und manche anderen Umstände zwangen uns zu
der Nothwendigkeit, uns mit der Feststellung der Verhältnisse
im Allgemeinen zu begnügen.
Ein Vergleich dieser Angaben unter einander führt mit
Bezug auf die EmpfindUchkeit dieser Theile zu denselben Er-
gebnissen, die wir oben bei Besprechung der elektrischen
Reizung mitgetheilt haben. Diese Ergebnisse konnten auch noch
^ M. V. Frey, Leipz. Ber. 3. Dec. 1894, 284.
ZeiUchrift für Psychologie 26. 26
402 F' Kiesow und R. Hahn.
durch Reizung mit den eingangs erwähnten zugeschliffenen Näh-
nadehi verificirt werden.
Gewisse Berührungspunkte dürften die vorstehenden Aus-
führungen auch mit den Beobachtungen haben, die Goldscheideb
bei der Reizung „punktfreier Hautstellen" machte, and
die er so beschreibt^: „An den punktfreien Hautstellen da-
gegen wird erst bei relativ stärkeren punktförmigen Berührungs-
reizen ein Berührungsgefühl hervorgebracht; dasselbe ist nicht
scharf und distmct ausgeprägt wie bei den Druckpunkten, son-
dem stumpf, pelzig, unbestunmt Es geht bei Verstärkung des
Reizes über in ein stechendes oder besser stichähnliches, aber
nicht schmerzhaftes Gefühl, d. h. in eme Empfindung, welche
punktförmig, dabei dünn und matt in ihrem Ausdruck ist und
— wenn sie auch quantitative Unterschiede in sich wohl er-
kennen läfst, doch ein unmittelbares, objectivirendes Wahr-
nehmen der aufgewendeten Druckstärke nicht gestattet Dieses
Gefühl geht weiterhin über in ein schmerzhaft stechendes, welches
durchdringend, lancinirend und, meist im Moment des Ent
Stehens am stärksten ist, um trotz Fortdauer des Reizes schnell
zu erlöschen und im Allgemeinen einen schwächeren Eindruck
auf das Sensorium ausübt, als die schmerzhafte Erregung eines
Druckpunktes etc." Wir finden hier Berührungspunkte, obwohl
sich unsere Beobachtungen nach anderen Seiten hin unter-
scheiden- Die Empfindimg entwickelt sich und ist bei stärkeren
Reizen auch nach dem Aufhören der letzteren oft lange Zeit
andauernd. Im Uebrigen können wir, wie aus dem Vorstehenden
bereits erhellt, auf Grund unserer Erfahrungen nur v. Fbey zu-
stimmen, der die Schmerzpunkte der Haut wohl „nach dem Vor-
gange Goldscheideb's, aber nicht in seinem Sinne" als solche
bezeichnete.
Es erübrigt noch, auf jene auf der Mitte der Gaumenbögen
bei schwächsten Deformationen auftretende und als vage, un-
bestimmte, aber im Ganzen doch als Tasteindruck bezeichnete
Empfindung einzugehen. Für ims liegt es aufser allem Zweifel,
dafs diese Sensation nichts Anderes ist, als eine Vorstufe der
Schmerzempfindung und dafs sie nicht als eigentliche Tast-
qualität classificirt werden darf. Wir haben es hier vielleicht
mit ähnlichen Verhältnissen zu thun, wie Kiesow bei seinen
* A. Goldscheideb, Gesammelte Abhandlungen 1, 198.
Empfindlichkeit der hinteren TheUe des Mundraiunes für Tost- etc. Beize. 403
Geschmacksuntersuchungen beobachten konnte. Auch bei Appli-
cation gewisser Geschmacksstoffe auf die Zunge beobachtet man,
bevor die Schwelle erreicht ist, das Auftreten von Empfindungen,
die bereits als Geschmackseindrücke bezeichnet werden, ohne dafs
sie nach ihrer Qualität erkannt werden. Es könnte hier ähn-
lich sein. Die Erregung wäre somit vieUeicht stark genug, um
über die SchweUe des Bewufstseins zu treten, aber nicht stark
genug, um neben ihrer Existenz auch noch eine QuaUtät wahr-
nehmen zu lassen. Dieses erste Stadium der Vorstufe der
Schmerzempfindung ist, wie oben gezeigt wurde, sehr bald
überschritten. Verstärkt man den Schwellenwerth nur um
ein sehr Geringes, so wird die Empfindung stichartig (vergl.
die an Fontana gefundenen Werthe). Weitere und be-
stimmtere Angaben hierüber seien einer späteren Mittheilung
vorbehalten, es sei nur noch darauf hingewiesen, dafs man
eine ähnhche EmpfindungsquaHtät oftmals bei isoUrt auf-
tretenden Juckempfindungen beobachtet. Was als sicher aus
unseren Versuchen hervorgmg, ist dieses, dafs wo die beiden
Empfindungen zum klaren Ausdruck kommen, sie auch bei ge-
ringsten Intensitätsgraden von einander unterschieden werden.
Es ist femer ebenso gewifs, dafs die stichartige Schmerzempfin-
dung nicht sogleich mit der vollen Unlustbetonung einsetzt,
sondern dafs ihre Gefühlscurve, bevor sie sich zu ausgesprochener
Unlust senkt, zunächst gewisse Stadien der Indifferenz und der
Schmerzbetonung durchläuft.
Schliefslich sei noch erwähnt, dafs auch diese Beobachtungen
Beweise für die noch nicht völlig anerkannte Thatsache liefern
dürften, dafs der Schmerz ein Empfindungselement ist und nicht
lediglich als Gefühl aufgefafst werden kann. Die Gefühlscurve
ist hier von der Empfindungscurve durchaus verschieden imd
hat ihre besondere Form. Eine Darstellung dieser Curve soll
später mitgetheilt werden.
Bei der IJntersnchnng der Raumwahrnehmnng der Torderen
Ganmenbögen hat ims besonders Herr Dr. Cushing seine Hülfe
geliehen. Die Versuche ergaben, dafs die Raumwahrnehmung
hier in hohem Grade herabgesetzt, ja zum Theil so gut wie auf-
gehoben ist. Es wurde oben bereits ausgeführt, dafs die Tast-
eindrücke schlecht localisirt wurden. Diesem sei hinzugefügt,
dafs beim Streichen der Vorderseite des Gaumenbogens mit
404 ^' Kicsmc und R. Hahn,
intensiven überschwelligen Reizen von oben nach unten mi
umgekehrt, wie quer von links nach rechts und umgekehrt dio
Richtung meistens nicht erkannt wurde. Etwas besser gelingt j
die Auffassung successiver punktförmiger Eindrücke, die in 1
gleicher Weise hervorgerufen wurden, obwohl auch diese von der ■
Versuchsperson als sehr schwierig bezeichnet und die Richtungai
der Eindrücke nur ziemlich selten richtig angegeben wurden.
Dem gegenüber wurde auf der Wangenschleimhaut, sowie
auf dem weichen und harten Gaumen beim Bestreichen dieser
Gebilde sowie bei Application successiver Eindrücke in jedem Falle
die Richtung ziemlich erkannt. Es ergab sich femer, d&b,
.während auf der Wangenschleimhaut Punktdistanzen von
2 — 2,4 cm, auf dem harten Gaumen solche von 1,2 — 1,4 cm und
auf dem Zungenrücken solche von 0,5 — 0,7 cm bestimmt ab
zwei Eindrücke erkannt wm-den, auf dem Gaumenbogen Punkt-
distanzen von der ganzen Länge und Breite dieses Gebildes nur
als ein Eindruck empfunden wurden. Dasselbe gilt von linearen
Ausdehnungen. Auf der Wangenschleimhaut wurden solche von
ca. 2,5 cm bereits als eben sich ausbreitend aufgefafst ADe
diese Eindrücke wurden in der oben angegebenen Weise her-
vorgerufen. Diese Versuche wurden dann an mehreren Ve>
Suchspersonen wiederholt. Individuelle Unterschiede ergaben die
Angaben nur insofern, als Einige bei einer Punktdistanz von
der ganzen Länge des Gebildes nicht sicher angeben konnten,
ob sie zwei Eindrücke oder nur einen empfangen hatten. Bw
linearer Ausdehnung gaben dieselben Versuchspersonen an, nur
einen Eindruck zu empfinden, dafs dieser aber nicht punkt-
förmig, sondern stumpf sei.
Für die Feststellung der Empfindlichkeit dieser Gebilde
für thermische Beize wurden mittelst der oben beschriebenen
Metallstäbe aufser an Kiesow auch an Herrn Dr. N. aus-
gedehnte Versuchsreihen aufgenommen. Diese Reihen wurden
zwei bis drei Mal wiederholt und ergaben ziemlich überein-
stimmende Werthe. Wir geben im Folgenden die bei den zu-
letzt aufgenommenen Reihen erhaltenen Angaben ausführlich
wieder :
Kiesow: Rechter vorderer Gauinenbogen.
69 • C. — Im ersten Momente etwas Schmerz, der aber ertragbar ist, dant
Warmempfindung.
EmpfindliMeit der hinteren Thcile des Mut^raumes für Tost- etc. Beize, 405
56® C. — Warmempfindung.
53® C. — Sehr schwache Warmempfindung.
50® C. — Indifferente Empfindung. Dieses Stadium der Indifferenz blieb
constant bis zu
34® C. — wo leichte Kühlempfindung auftrat. Auch die Zone der Kühl-
empfindung ist ziemlich ausgedehnt. Erst bei
27® C. — ist die Empfindung, obwohl noch schwach, doch ausgesprochen
kalt.
Linker vorderer Gaumenbogen.
62® C. — Nicht starker Schmerz mit Warmempfindung.
59® C. — Warmempfindung.
55® C. — Merkwürdige Mischempfindung. Die paradoxe Kaltempfindung
tönt heraus.
54® C. — Indifferente Empfindung. Dieses Stadium bleibt bestehen bis zu
35® C. — wo der Uebergang nach kühl zu constatiren ist. Erst bei
27—28® C. — tritt obwohl schwache, doch ausgesprochene Kälteempfin-
dung auf.
Dr. N.: Vorderer rechter Gaumenbogen.
65® C. — Schmerzhafte Warmempfindung.
50® C. — Warmempfindung.
54® C. — Desgleichen.
49® C. — Schwache Warmempfindung, fast indifferent. Bei
30® C. — Kühlempfindung, erst bei
28® C. — kalt.
Linker vorderer Gaumenbogen.
65® C. — Sehr schmerzhafte Warmempfindung, die lange anhält
59® C. — Schmerzhaft warm.
53® C. — Ebenso.
47® C. — Warm.
43® C. — Geringe Warmempfindung.
40® C. — Indifferente Empfindung, erst bei
30® C. — kühl, erst bei
24® C. — kalt.
KiESOw: Rechter hinterer Gaumenbogen.
63® C. — Schwache schmerzhafte Hitzeempfindung.
57® C. ~ Merkwürdig, kalt gemischte Hitzeempfindung.
50® C. — Eigenartige Mischempfindung.
45® C. — Leichte eigenthümlich gefärbte Warmempfindung.
43® C. — Völlg indifferente Empfindung. Dieses Stadium der Indifferenz
bleibt bis zu
34® C. — Hier giebt die Versuchsperson an: Vielleicht ein wenig kalt.
33® C. — Kalt.
406 F' Kiesow und R. Hahn.
Linker hinterer Gaumenbogen.
60® C. — Schmerzhafte Hitzeempfindnng.
58" C. — Hitzeempfindung.
54» C. — Ebenso.
60® C. — Schwache Warmempfindung.
46® C. — Sehr schwache Warmempfindung.
42® C. — Vielleicht noch schwach warm.
40® C. — Indifferenz bis zu
30® C. — Hier ist die Empfindung kühl, erst bei
24® C. kalt.
Dr. N.: Bechter hinterer Gaumenbogen.
66® C. — Starke Wärme mit leichtem Schmerz.
53® C. — Warmempfindung.
50® C. — Warmempfindung.
44® C. — Sehr geringe Wärmeempfindung. Fast indifferent. Die Empfin-
dung bleibt indifferent bis zu
38® C. — wo sie als kühl angegeben wird. Erst bei
27® C. — war die Empfindung ausgesprochen kalt.
Als Annäherungswerthe dürften sich nach den vorstehenden
Versuchsreihen für die einzehien Empfindungsqualitäten folgende
Schwellen zusammensteUen lassen:
Schmerzempfindung: ca. 54 — 60® C.
Warmempfindung: ca. 44 — 50® C.
Kühlempfindung: ca. 30—35® C.
Kaltempfindung: ca. 24 — 28® C.
An den Tonsillen war die Untersuchung der Temperatur-
empfindlichkeit bei diesen Versuchspersonen wegen der Kleinheit
der Organe erschwert. Mit Hülfe von umgebogenen Metall-
stäbchen konnte im Allgemeinen festgestellt werden, dafs auch
diese kalt- warm- und schmerzempfindUch waren. Die Grem-
werthe für die einzelnen EmpfindungsquaUtäten dürften nahezu
mit den an den Gaumenbögen gefundenen Werthen zusammen-
fallen, doch ist auch der Wärmeschmerz hier längere Zeit er-
träghch. Es sei ferner hervorgehoben, dafe auch hier die
paradoxe Kälteempfindung beiflächenhaftenReizen deutUch
auftritt.
Die Untersuchung der Uvula ergab bei Kiesow, dafs die
untere Hälfte, wie für mechanische und elektrische Tast- und
Schmerzreize, so auch für Wärmereize unempfindlich war,
während Kaltreize adäquat empfunden wurden. Eine an ihm
Empfindlichkeit der hinteren Theile des Mundraumes für Tost- etc. Beize, 407
k aufgenommene Versuchsreihe ergab für die untere Hälfte des
Organs, die mit der Vorderseite auf dem erwähnten Instrumente
ruhte, die folgenden Resultate:
60® C. — Eigenthümlich metallisch kalt gemischte Schmerzempfindung,
die aber nicht an der Uvulaspitze, sondern nach dem Velnm
hin localisirt ward. (Verschmelzung der paradoxen Kalt-
empfindung mit der durch Ausstrahlung nach oben hin her-
vorgerufenen Schmerzempfindung.
57® C. — Ebenso.
65® C. — Im ersten Moment leichte, nach oben hin sich ausbreitende
Schmerzempfindung.
50—49 • C. — Fehlt jede Sensation. Erst bei
35® C. — leichte Kühlempfindung.
33® C. — Ebenso.
32—31® C. — Kalt.
Die obere Hälfte zeigte alle drei Empfindtmgsqualitäten.
Die einzelnen Schwellenwerthe dürften annähernd die folgen-
den sein:
Schmerzschwelle: ca. 55® C.
Warmschwelle: ca. 49—50® C.
Kühlschwelle: ca. 35® C.
Kaltschwelle: ca. 32® C.
An Dr. N. ergaben die Prüfungen folgende Werthe:
Untere Hälfte der Uvula.
63® C. — Schmerzhafte Wärmeempfindung.
60® C. — Gemäfsigte schmerzhafte Warmempfindung.
56® C. — Warmempfindung ohne Schmerz.
51® C. — Schwache Warmempfindung.
48® C. — Indifferente Empfindung. Dies Stadium währt bis zu
31® C. — wo die Empfindung als kühl bezeichnet wird. Bei
29® C. — ist die Empfindung kalt.
Obere Hälfte der Uvula.
60® C. — Starke schmerzhafte Warmempfindung.
58® C. — Schmerzhaft warm, heifs.
54® C. — Ziemlich intensiv warm.
50® C. — Schwach warm.
47® C. — Vielleicht noch etwas warm, dann ist die Empfindung indifferent
bis zu
36® C. — wo die Kühlempfindung auftritt. Bei
30® C. — ist die Empfindung ausgesprochen kalt.
408 ^' Kiesow und R. Hahn,
Fassen wir die an beiden Versuchspersonen gefundenen
Werthe zusammen, so ergeben sich für die Uvula die nach- ^
stehenden Grenzwerthe :
Schmerzempf indung: ca. 55 — 60® C.
Warmempfindnng: ca. 47 — 51** C.
Kühlempfindung: ca. 31—35® C. I
Kaltempfindung: ca. 29—31® C. j
%
Im Allgemeinen dürften zunächst auch diese Prüfungen be-
stätigt haben, was schon die obigen Beobachtungen gezeigt ;
hatten, dafs die SchmerzempfindUchkeit dieser Körpertheile
herabgesetzt ist. Sodann dürfte sich weiter ergeben haben, daCs
auch die WarmempfindUchkeit hier in beträchtiichem Maafse
vermindert ist. Dieses Ergebnifs stimmt durchaus mit dem
überein, das aus den Untersuchungen Göldscheideb's ^ und
EiESOw's über die Temperaturempfindlichkeit des Mundraumes
resultirte. So hat Kjesow die Beobachtungen Gtoldschbider's be-
stätigen können, „dafs der ganze Mimdraum nur eine schwache
Warmempfindlichkeit besitzt." - Auffallend ist femer das grofse
Stadium der Indifferenz, wie das der Kühlzone. Nimmt man
als Schwelle der Kaltempfindung denjenigen Punkt an, wo die
Empfindung ausgesprochen kalt ist, so mufs zugegeben werden,
dafs auch die EmpfindUchkeit für Kaltreize hier herabgesetzt
ist. Hervorzuheben dürfte weiter sein, dafs auch die paradoxe
Kälteempfindung (A. Lehmann, v. Frey) bei flächenhafter
Reizung mehrmals deutlich hervortrat. Auf diese Erscheinung,
dafs die von v. Frey als paradoxe Kälteempfindung bezeichnete
Sensation auch bei flächenhafter Reizung hervortritt, ist bereits
von KiEsow aufmerksam gemacht ^ imd sie ist ebenso auch von
Alrutz gezeigt worden.*
Sodann sei noch bemerkt, dafs die in den TabeDen als schmerz-
hafte Warmempfindung und Hitzeempfindung oder heifse Em-
pfindung sich findenden Ausdrücke identisch sind. Wir weichen
in diesem Punkte von Alrutz* ab, der die Hitzeempfindung
* A. GoLDscHEiDER, Gcs. Abhandl. 1, 171.
* F. KiEsow, Zur Psychophysiologie der Mundhöhle. Fhilos, Stud. 14, 585.
* Ebenda 585.
* S. Alrutz, Studien auf dem Gebiete der Temperatursinne, II. Die
Hitzeempfindung. Skand. Ärch, f. Physiologie 10, 340 ff.
** Ebenda.
Empfiiidlichkeit der hinteren TJieUe des Mundraumes für Tost- etc. Reize. 409
aus der gleichzeitigen Reizung von Kalt- und Wärmeorganen
entstehen läfst. Nach uns entsteht die Hitzeempfindung auch
auf HautsteDen, wo die Kaltorgane fehlen und nur Wärme-
punkte gefunden werden, sowie durch Ausbreitung nach Wärme-
organen hin bei thermischer Reizung von Schmerzapparaten.
Die sich der Hitzeempfindung leicht beimischende paradoxe
Kfilteempfindung giebt der Hitzeempfindung nur eine besondere
Färbung.^
Man könnte versucht sein zu glauben, dafs den in Rede
stehenden Körpergebilden die Empfindlichkeit für Wärmereize
ganz abgeht und dafs die Warmempfindimg hier in Anbetracht
der hohen Reize, die man anwenden n^ufs, nur durch Aus-
strahlimg nach mit specifisch adaptirten Warmorganen versehenen
Theilen hin zu Stande kommt. Wir haben hierüber einige Ver-
rache angestellt, indem wir mit der oben beschriebenen Platina-
schlinge diese Körperflächen mehr punktförmig zu reizen ver-
suchten. Wir liefsen hierbei durch den Apparat einen Strom
flielsen, dessen Intensität auf der äufseren Körperhaut eben die
Schmerzpunkte erregte und der daher einen Wärmereiz von
ca. 50^ C. entsprach. Dieser Reiz war niedrig genug, wm auf
den in Rede stehenden Gebilden keine Schmerzempfindung zu
erzeugen und doch hoch genug, um einen maximalen Wärme-
reiz abzugeben. Mit diesem Wärmereiz ist es uns an drei Ver-
suchspersonen nicht ein einziges Mal gelungen, an diesen Körper-
stellen punktförmig eine Warmempfindung hervorzurufen. Sollte
somit die Warmempfindung in den oben beschriebenen Fällen
auf Ausstrahlung beruhen, so wären diese Gebilde denjenigen
Theilen des Mundraumes zur Seite zu stellen, denen Goldscheider
die Warmempfindung abspricht.- Es ist diese Frage aber sehr
schwer zu entscheiden, da, wie Kiesow gezeigt hat, auch auf
gewissen Stellen der äufseren Körperhaut die Temperatur-
empfindung nicht mit punktförmigen, wohl aber mit flächen-
haften Reizen auslösbar ist.^ Wir müssen diese Fragen daher
unentschieden lassen. Da, wie oben gezeigt wurde, die Warm-
empfindlichkeit hier zweifellos in hohem Grade herabgesetzt ist,
* Vergl. F. Kiesow, Zur Analyse der Temperaturempfindung, Be-
sprechung und Entgegnung. Diese Zeitschrift 26, 231.
* A. Goldscheider, Cit. Arbeit, 171.
* Auf der Fingerbeere ist es kürzlich G. Sommer gelungen, Warm-
punkte zu bestimmen. Sitztmgsber. d. Physik.-med. Ges. zu Würzburg 1901.
410 ^' ^i^ow und R. Hahn.
SO können die noch unbekannten Wäxmeorgane hier nur in
sehr geringer Zahl vertreten sein und es wäre nicht unmöglich,
dafs sie angesichts der Schwierigkeit und Unbequemlichkeit der
AppUcation des Reizes punktförmig nicht zu bestimmen sind.
Wie dem aber auch sei, so ergeben auch diese Versuche mit
Sicherheit, dafs die Warmempfindlichkeit hier wenigstens stark
vermindert ist, und man könnte nur hinzufügen, dafs die Warm-
organe hier vielleicht fehlen.
Fassen wir die bisher beschriebenen Thatsachen zusammen,
so gelangen wir zu dem Ergebnifs, dafs die Empfindlichkeit dieser
Theile an gewisse pathologische Fälle erinnern, wie einen solchen
L. F. Barker unter v. Frey's Leitung an sich selbst beschrieben
hat.^ Die Störung war in seinem Fall auf das Gebiet der Nervi
cutanei brachii et antibrachii mediales des linken
Unterarmes beschränkt und die Ausfallserscheinungen betrafen
die EmpfindUchkeit für „Warm, Kalt, Druck imd Berührung"
(Tastreize), während die „Schmerzempfindung", obwohl in ge-
ringem Grade vermindert, hier intact war. Die Fälle sind nicht
identisch (abgesehen davon, dafs es sich bei uns um normale,
bei Barker aber um anormale Verhältnisse handelt), sondern sie
ähneln sich nur. Bei uns ist die Kaltempfindung vermindert,
es fehlen hier zum Theil sicher die Tastorgane, vielleicht auch
die Warmorgane, in jedem FaDe können sie nur in sehr geringer
Anzahl vertreten sein, während die Schmerzempfindung auch
hier, obwohl herabgesetzt, intact ist.
Interessante Beobachtungen lassen sich hier mit Bezug auf
die Kitzelempfindung anstellen. Wir haben dieser von
Anfang an unser Interesse zugewandt. Da aber hierüber später
eine besondere Arbeit veröffentlicht werden soll, so sei hier nur
so viel angedeutet, dafs die Kitzelempfindung an unseren Körper-
stellen zum Theil ganz fehlt, zum Theil sehr stark herabgesetzt
ist. Mit schwachen Reizen gelingt es niemals, sie hervorzurufen,
mit starken (Reiben mit ziemUch starken Pinseln und mit ab-
geschliffenen Glasstäben) tritt sie an vereinzelten Stellen, wie
den oberen Enden der vorderen Gaumenbögen schwach her-
vor. Wahrscheinlich handelt es sich hier um durch starkes
Ausweichen nach hinten bedingte Ausstrahlung nach oben und
* L. F. Barker, Ein Fall von einseitiger, umschriebener und elektiver
sensibler Lähmung. Deutsche Zeitachr, für Nervenheilkunde 8.
Empfindlichkeit der hinteren TJieile des Mundraumes für Tost- etc, Beize. 411
unten. Auffallend ist eben, dafs die Kitzelempfindung hier nur
durch starke Reize und erst nach langem Reiben auftritt An
anderen Mundtheilen, wie harten Gaumen und Zahnfleisch, tritt
sie schon bei leisem Reiben auf. Nach allen unseren Er-
&hrungen ist die reine Kitzelempfindung immer an das Vor-
handensein der Tastorgane gebunden (Goldscheideb, v. Fbey u. a.),
sie tritt aber verstärkt hervor, wenn die mit Tastorganen ver-
sehenen weichen Körpertheile festeren Gebilden aufliegen. Wir
beschränken uns auf diese kurzen Andeutungen und geben
später ausführlichere Berichte. Bemerkt sei nur noch, dafs auch
im BABKEB'schen FaDe die Kitzelempfindung ausblieb.
Unsere letzten Versuche stellten wir Über die Oeschmacks-
empflndlichkeit dieser Gebilde an.^ Diese Untersuchungen he-
gten hier mancherlei Schwierigkeiten, durch welche das
ürtheil leicht getrübt wird. Schling- und andere Reflexe, Würg-
bewegungen, Speichelsecretionen, Diffusion und Abtröpfeln der
Geschmacksstoffe auf benachbarte Schmeckflächen, alle diese und
andere Factoren können als FehlerqueDen in die Untersuchung
eingehen und zu Täuschungen Anlafs geben. Hieraus sind auch
sicherlich die vielfach sich widersprechenden Angaben zu er-
klären, die sich über die Geschmacksempfindlichkeit dieser Ge-
bilde in der Literatur vorfinden.- Unser Ziel war, zu sehen, ob
es angesichts der vielfachen Widersprüche in den Angaben der
einzelnen Forscher unter Benutzung einer grofsen Anzahl von
Versuchspersonen und bei möglichster Ausschaltung von Fehler-
quellen nicht möglich sei, zu eindeutigen und abschliefsenden
fiesultaten zu gelangen. Soweit Erwachsene im Alter von
13 Jahren und darüber in Betracht kommen, glauben wir unser
Ziel erreicht zu haben. Ausgeschlossen bleiben von dieser Mit-
* Ich habe bereits in einer früheren Arbeit diese Fragen behandelt
iPhilos. Siud. 10). Da mir aber im Laufe der Jahre bei Wiederholungen,
dieser Versuche über die damals verwandte Methode Zweifel aufgestiegen
waren, so entschlofs ich mich, hierüber neue Erfahrungen zu sammeln. Die
hier mitgetheilten Ergebnisse sind diejenigen, welche ich jetzt vertrete.
KlESOW.
* Ueber die Literaturangaben vergl. M. v. Vintschgau, Physiologie des
Geschmackssinnes, Hermann's Handbuch der Physiologie III, 2; F. Kiesow,
Beiträge zur physiol. Psychologie des Geschmackssinnes, Fhilos. Stud, 10,
sowie die physiologischen und psychologischen Lehrbücher.
412 ^' Kiesow und R. Hahn,
theilung die an Personen unter 13 Jahren angestellten Prüfungen.
Diese ergeben, wie bereits Kiesow gezeigt hat und wie auch
aus anatomischen Befunden erheUt, zum Theil abweichende Ver-
hältnisse. Da wir diese an jüngeren Individuen vorgenommenen
Prüfungen noch zu keinem Abschlüsse bringen konnten, bleiben
auch die hieraus resultirenden Befunde einer späteren Mittheilung
vorbehalten. Nur soviel sei hier angegeben, dafs die Schmeck-
flächen im jüngeren Lebensalter bestimmt gröfser sind, als im
späteren.
Wir begannen unsere Prüfungen an der Uvula. Kiesow
hatte wie Uebantschitsch diesem Gebilde Geschmacksfähigkeit
zugeschrieben, hatte hier aber eine bedeutend längere Percep-
tionszeit für die einzelnen Geschmacksqualitäten bemerkt. Es
mufs nun hervorgehoben werden, dafs die hier mögHchen
Fehlerquellen ganz bedeutende sind. Trägt man den Geschmacks-
stoff mit zu dünnen Pinseln auf, so läuft man Gefahr, dafs kein
hinreichend grofses Quantum aufgetragen wiurde, verwendet man
zu grofse Pinsel, so tröpfelt in Folge zu starker Füllung leicht
etwas auf die für Geschmacksreize sehr empfindliche hintere
Zungenpartie. Aber auch wenn durch sorgfältige Auswahl der
Pinsel diesen Fehlerquellen vorgebeugt wird, bleibt immer noch
der Umstand in Betracht zu ziehen, dafs durch eine unbemerkte
leise Berührung der Uvulaspitze mit der Zunge, oder durch
Contractionen des Gebildes nach dem weichen Gaumen hin
intensiv empfindUche Geschmacksflächen indirect gereizt werden
können. Diese Fehlerquellen haben wir mehrfach beobachten
können. Hierbei traf es sich — es seien diese Beobachtungen
gleich eingefügt — , dafs in einem Falle, in dem die erwähnte
Berührung von Uvula und Zunge zweifelsohne zu constatiren
war, sowie in einem anderen, in dem eine Fehlerquelle nicht
mit absoluter Gewifsheit nachgewiesen werden konnte, eine mehr
als 20 procentige Lösung von Rohrzucker nicht süfs, sondern
bitter empfunden wiurde. Die Versuchsperson zählte im ersten
Falle 16, im zweiten 24 Jahre. Auf diese und ähnliche, mehr
fach beobachteten FäDe hat jedoch Kiesow bereits in seiner
Arbeiten in eingehender Weise hingewiesen. Ganz besondere
Schwierigkeiten erwachsen der Untersuchung der Uvula in Fällen
in denen die Versuchspersonen eine steigende Zunge besitzen
In solchen Fällen lassen die Pinselversuche fast gar keine sichert
Deutung der Ergebnisse zu. Um die hervorgehobenen Fehler
Empfindlichkeit der hinteren Theilc des Mimdraimes für Tast- etc. Beize. 413
quellen zu vermeiden, haben wir daher die alte Methode des
Auftragens der Schmecksubstanz mittelst Haarpinsel, Schwämm-
chen oder Wattebäuschchen hier gänzlich aufgegeben, sondern
für die Application ein kleines Instrument construirt, dessen
Verwendung zu einwurfsfreien Ergebnissen führen mufste. Es
ist dies ein ziemlich langgestielter Löffel, in dessen mit einer
Schmeckflüssigkeit gefüllten Gefäfs die Uvula frei eintauchen
konnte. Nachdem wir für die Anfertigung desselben das ver-
schiedenartigste Material versucht hatten, haben wir es schUefs-
lich einfach aus Glas herstellen lassen. In der Form, in der
die beigegebene Figur 3 diesen „Uvulalöffel" zeigt, ist er
für alle hier mitgetheilten Schmeckversuche verwendet worden.
Fig. 3.
Der Stiel ist bei einem Durchmesser von 3 mm der Mundcavität
entsprechend geschwungen und 16 cm lang. Das Gefäfs, das
einen Inhalt von ca. 1,1 cm ^ und einen oberen Durchmesser von
ca. 1,5 cm besitzt, verjüngt sich der Form des Organs ent-
sprechend konisch nach unten. In dieser Form hat sich das
Instrument bei allen Versuchen bewährt. Man ist bei einer
solchen Applicationsweise nicht nur sicher, dafs keine Berührung
der Uvula mit der Zunge entstehen kann, sondern es lassen sich
durch die wässerige Lösung hindurch auch alle etwaigen Be-
wegungen des Organs genau verfolgen. Aufserdem besitzt es
den Vortheil, dafs es leicht gereinigt werden kann.
Die verwandten Schmecksubstanzen waren die oben bereits
namhaft gemachten, sie bestanden in wässerigen Lösungen von
ca. 40 procentigem Rohrzucker, von ca. 10 procentigem Kochsalz,
ca. 0,2 procentiger Salzsäure, und fast concentrirtem Quassin.
Wenn irgend welche Geschmacksfähigkeit an der Uvula vor-
handen war, so mufsten diese Lösungsstufen hinreichen, um die
adäquate Empfindung auszulösen. Alle Lösungen hatten thun-
lichst die Temperatur des Mundraums.
Um dem Einwände zu begegnen, dafs es zuweilen und be-
sonders bei einer immerhin schwach empfindlichen Schmeck-
fläche nicht genüge, dieselbe einfach in die Geschmacksflüssig-
414 F- Kiesow und B. Hahn.
keit einzutauchen, sondern dafs die letztere, um Empfindungen
hervorzurufen, wie bei den Pinselversuchen in die einzelnen
Organe hineingerieben werden müsse, so wurde der Uvulalöffel
während des Versuchs derart leicht auf- und abwärts bewegt,
dafs zwischen den einzelnen Rändern imd Flächen des Organs
und den Innenflächen des Bechers eine Reibung entstand. Für
einige Controlversuche wurde auch noch ein wenig Watte am
Boden und an den inneren Wänden des Löffels befestigt und
mit Schmeckstoffen getränkt.
Die weitere Versuchsanordnung ist oben angegeben. Es sei
hier nur noch daran erinnert, dafs alle Versuche mit reflectirten
Licht angestellt wurden, der Mundraum somit gut erleuchtet war.
Die Versuche wurden an einer und derselben Versuchsperson
mehrmals nach einander wiederholt. Das Verfahren war stets
ein unwissentliches. Wenn nach einem Zeitraum von ca.
1 Minute keine Reaction erfolgte, sahen wir den Versuch als
beendet an.
Diese Versuche wurden an über 60 Personen männlichen
und weiblichen Geschlechts angestellt, von denen die jüngsten
13, die älteste 51 Jahre alt waren. Sie waren so ausgewählt,
dafs alle Altersstufen vertreten waren, doch lag das Alter der
meisten zwischen 18 und 30 Jahren. Wir hatten aufserdem da-
für Sorge getragen, dafs nur intelligente Versuchspersonen ver-
wandt wurden, auf deren Aussagen man sich verlassen konnte.
Bevor endgültige Resultate verzeichnet wurden, waren die Ver-
suchspersonen femer zuvor durch einige Probeversuche eingeübt
worden.
Unter den hervorgehobenen Vorsichtsmaafsregeln ist es
uns nun bei den erwähnten Personen auch nicht ein
einziges Mal gelungen, eine klar erkennbare Ge-
schmacksempfindung irgend welcher Qualität her-
vorzurufen. 13 Mal findet sich in unseren Protokollen die
Angabe, dafs eine undefinirbare Sensation erfolgte, welche die
betreffenden Versuchspersonen als stark (fotie) bezeichneten.
Dies ist aber keine Geschmacksempfindung. Derartige unbe-
stimmbare Empfindungen sind bei Geschmacksversuchen mehr-
fach beobachtet worden, und es liegt wohl aufser allem Zweifel,
dafs diese Empfindung eben diejenige Sensation ist, die, wie
Kjesow ^ gezeigt hat, auch auf wirklichen Schmeckflächen unsere
* F. KiEsow, Cit. Arbeit. Fhilos. Shid. 10.
Emi^indlicKkeii der hinteren Tlieile des Mundraumes für Tost- etc. Reize, 415
Geschmacksempfindungen begleitet Vielleicht handelt es sich
auch hier um eine schwache Erregung der Schmerzorgane im
oben angedeuteten Sinne.
Nach diesen Erfahrungen glauben wir uns berechtigt,
den Satz aufstellen zu dürfen, dafs die Uvula bei Er-
wachsenen nicht geschmacksempfindlich ist
Diese allgemeine Regel schliefst natürlich nicht aus, dafs
auch einmal Geschmacksempfindungen auf der Uvula entstehen,
mit anderen Worten, dafs hier einmal Geschmacksorgane vor-
kommen könnten. Derartige Fälle aber dürften, wenn sie über-
haupt vorkommen, doch nur sehr vereinzelt auftreten, also in
sehr hohem Grade selten sein.
Da diese Methode an den Gaumenbögen und den Ton-
sillen nicht anwendbar war, so mufsten wir nach anderen
Hülfemitteln suchen. Nach vielfachen Versuchen sind wir für
die Untersuchung dieser Gebilde wieder zur Anwendung von
mittelgrofsen Pinseln und kleinen Wattebäuschchen zurückgekehrt
Uasere Vorsicht bestand aber darin, dafs wir die oben erwähnten
Lösungen mit ein wenig Methylblau leicht färbten. Auf diese
Weise war es nicht nur möglich, die berührten Stellen genau zu
erkennen, sondern auch zu beobachten, ob und wann etwas von
der aufgetragenen Substanz auf eine Schmeckstelle der Zunge
abgetröpfelt war. Es wurde aufserdem der Mund vor und nach
jedem Versuch gründlich gespült und das zu untersuchende
Organ mit Watte sorgfältig abgetrocknet. Im Uebrigen war die
Versuchsanordnung gleich der oben beschriebenen. Die Ver-
suche wnirden an 25 Personen angestellt. Diese waren in gleichem
Alter, wie die, welche uns ihre Hülfe für die Untersuchung der
Uvula liehen.
Soweit hier die Tonsillen und die hinteren Gaumen-
pfeiler in Betracht kommen, führten diese Beobachtungen zu
absolut negativen Ergebnissen. Es ist uns bei sorg-
fältigster Application hier auch nicht ein einziges Mal gelungen,
ein positives Ergebnifs zu erzielen. Wir schliefsen daher, dafs
die Tonsillen und die hinteren Gaumenpfeiler bei
Erwachsenen in der Regel nicht geschmacks-
^jmpfindlich sind.
Diese Regel gilt im Allgemeinen auch für die
rorderen Gaumenbögen. Auch diese Gebilde sind, man
wann dies ohne Vorbedacht sagen, bei Erwachsenen in der
416 F' Kiesotü und R. Hahn.
Regel nicht geschmacksempfindlich. Es scheinenaber
hier Ausnahmen vorzukommen. Wir fanden einen Fall, in dem
auf dem äufsersten obersten Theil der vorderen Gaumenbögen die
vier Geschmacksqualitäten empfunden wurden. Die Versuchs-
person war ein intelligentes Mädchen von 15 Jahren. Die Reaction
erfolgte sicher und schnell, so dafs hier kaum eine Täuschung
vorUegen dürfte. In einem anderen Falle (Mädchen von
13 Jahren) wurde angegeben, dafs ein Geschmack vorhanden
sei, dafs er aber nicht erkannt werde. In einem dritten wurde
der angegebene Bitterstoff am oberen Ende des rechten vorderen
Gaumenbogens adäquat empfunden, aber nicht am linken. Es
dürften hier demnach Ausnahmen zuzugeben sein. Bei ana-
tomischen Untersuchungen fand ABxmjB Hoffmann ^ am vorderen
Gaumenbogen des Menschen bei Embryonen und Neugeborenen
Papillen dicht gedrängt stehen, die denen des weichen Gaumens
ähnüch waren, es ist aber aus seinen Angaben nicht genau er-
sichtlich, ob diese oder einige von ihnen Schmeckbecher enthielten,
obwohl wahrscheinUch. Nach den Untersuchungen von ükbak-
TSCHiTSCH und KiESOW sind, wie mehrfach hervorgehoben, die
Geschmacksflächen des Mundraums in der früheren Jugend ver-
gröfsert, und es ist nicht unwaJirscheinlich, dafs durch das Nach-
wachsen des Parenchyms die Schmeckbecher nicht immer gleich-
mäfsig vom Gaumenbogen verdrängt werden oder vielleicht
untergehen. Die angegebene Regel bedarf somit nach unseren
Erfahrungen der Einschränkung, dafs man mit Schiff annimmt,
dafs „die vorderen Pfeiler manchmal Geschmack besitzen."*
Nach Abschlufs dieser Versuche haben wir die gefundenen
Resultate nochmals an 10 anderen Versuchspersonen mittleren
Lebensalters nach der eingangs angegebenen NEUMANN'schen
Methode controlirt. Wir Uefsen durch die Elektroden einen Strom
fliefsen, der, wie oben angegeben, die Tast- und Schmerzapparate
nicht erregte, wohl aber den elektrischen Geschmack auf den
Schmeckflächen der Zunge deutlich erzeugte.
Auch bei Anwendung dieser Methode kamen wir bei der
erwähnten 10 Herren für die Geschmacksempfindlichkeit de:
* A. Hoffmann, Ueber die Verbreitung der GeschmacksknoBpen beir
Menschen. Virchow^s Archiv 62, 516.
* Schiff, Le^ons sur la Physiologie de la digestion 1867. Citirt nac!
V. ViNTSCHOAÜ 8. 160.
Empfindlichkeit der hinteren Theile des Mundraumes für Tost' etc. Reize, 417
Uvula, der Tonsillen und der vorderen und hinteren
Gaumenbögen zu absolut negativen Resultaten.
Schon V. ViNTSCHGAü glaubte bei der Besprechung der sich
widersprechenden Vereuchsergebnisse der einzelnen Forscher
„vor der Hand den negativen Angaben mehr Werth beilegen
zu müssen als den positiven, da der Verdacht nicht ausge-
schlossen werden kann, dafs die schmeckende Substanz längs
der Schleimhaut herabgeflossen sei und mit der Zunge in Be-
rührung kam".^ Er fügt hinzu, dafs dieser Verdacht nicht für
Neumann's Versuche gelte, der dem unteren Theil des vorderen
Gaumenbogens Geschmacksfähigkeit zusprach, da er schwache
elektrische Ströme verwandt habe. Es ist aber auch daran zu
denken, dafs bei Anwendung der NEUMANN'schen Elektroden
der am unteren Ende des vorderen Gaumenbogens sich leicht
anhäufende Speichel zersetzt oder durch diesen das elektro-
lytische ßeizproduct nach den Schmeckflächen hin übertragen
werden kann. Wir haben diese Stelle vor jedem Versuche sorg-
fältig abgetrocknet und hier nie Geschmack beobachtet.
Im Uebrigen konnte durch unsere Versuche nur weiter be-
stätigt werden, was schon bekannt ist. Wir fanden den weichen
Gaumen durchaus schmeckfähig, den harten in der Regel
nicht, die Mitte der Zunge bei Erwachsenen nicht, bei Kindern
dagegen häufig. Gerne hätten wir gröfsere Versuchsreihen an
der hinteren Rachenwand angestellt, aber wir mufsten hiervon
absehen, da es uns nicht immer gelang, störende Reflexe auszu-
schliefsen. Soweit wir aber eindeutige Resultate erzielen konnten,
konnte auch durch diese Erfahrungen bestätigt werden, dafs die
hintere Rachenwand Geschraacksfähigkeit besitzt. Ueber
die Geschmacksempfindlichkeit der Epiglottis folgt umgehend
eine weitere Mittheilimg.
* V. ViNTSCHGAu, Cit. Arbeit, 160.
(Eingegangen am 18. Juni 1901.)
Zeitschrift für Psychologie 26. 27
Literatlirbericht.
£. König. Die Lehre vom psychophysisGheA Parallelismiii ead ihre ttegier.
Zeitschnft für Fhüos, u. phüos. Kritik 115, 161—192.
M. Wentscher. Der psychophysische Parftllelismes in der Gegenwart (Zweiter
Artikel.) Ebenda 117, 70—93.
Indem ein grofser Theil der zuzweitgenannten Arbeit sich auf die
erstere bezieht, empfiehlt es sich, die beiden zusammen zu besprechen.
König vertritt den WuNDx'schen, rein empirischen, nichts Metaphysisches
voraussetzenden Parallelismus, welcher nicht einmal für alle psychischen
Daten, sondern nur für die sinnlichen Empfindungen und Gefühle, physio-
logische Begleiterscheinungen fordert. Der dieser Auffassung zu Grunde
liegende Satz von der geschlossenen Naturcausalität sei eine nothwendige
Verallgemeinerung der Erfahrung, welche überall lehre, dafs Veränderungen
in der Körperwelt von Bedingungen abhängen, welche selbst in der Körper-
welt nachweisbar sind ; eine Argumentation, gegen welche Wentscher nicht
mit Unrecht anführt, dafs das betreffende Erfahrungsmaterial vorläufig nur
in Bezug auf Vorgänge, welche nicht nachweislich mit Psychischem zu-
sammenhängen, in genügender Exactheit gegeben sei, und demnach kaum
eine zuverlässige Grundlage für die Verallgemeinerung auf Gehirnprocesse,
wo eben dieser Zusammenhang vorliegt, abgeben könne. Auch dafs eine
exacte Naturwissenschaft ohne die Geschlossenheit der Naturcausalität
nicht bestehen könne, wird von Wentscher mit der Bemerkung, dafs doch
auch eine exacte Optik oder Elektricitätslehre keine geschlossene optische
oder elektrische Causalität erfordert, in durchaus zutreffender Weise wider-
legt. In Bezug auf den von Paulsen, dem Referenten u. A. vertretenen
idealistisclien Parallelismus beschränkt sich Wentscher auf eine Erörterung
der Frage, ob derselbe zur Abwehr materialistischer Consequenzen genügen,
dem Geiste nach über den Materialismus hinausführen könne. Diese Frage
wird besonders mit Rücksicht darauf verneint, dafs für die betreffende
Auffassung die ganze Welt doch den „automatenhaft^n** Charakter bei-
behalte; wogegen Referent eich nur zu bemerken erlaubt, dafs es bedenk-
lich ist, für ein Psychisches, welches als Physisches erscheint, einen Namen
zu verwenden, mit welchem gewöhnlich genau das Umgekehrte, nämlich
ein Physisches, welches als Psychisches erscheint, bezeichnet wird.
Heymans (^Groningen).
Literaturbericht 419
L. Edikokb. Hinaiatomie end Psychologie. Berliner klinische Wochenschriß
37 (26), 561—564; (27), 600-604. 1900.
Nach einem kurzen geschichtlichen Ueberblick über die Lehren des
Zusammenhanges zwischen den Bewufstseinserscheinungen , insbesondere
der sogenannten höheren Lebensthätigkeit, und den physiologischen
Organen, d. h. anatomischen Verhältnissen der Himsubstanz, wirft Eoinobb
die Grundfrage auf, wie sich die Anatomie zur Welt der psychologischen
Begriffe mit Rücksicht auf die unmittelbare Förderung ihrer eigenen Auf-
gabe zu verhalten habe. — Der Verf. stellt zunächst fest, dafs die allge-
meine Frage nach den physiologischen Bedingungen des Bewufstseins
überhaupt vorläufig als müssig bei Seite zu setzen ist, weil ja die ana-
tomischen und physiologischen Befunde nur als Bewufstseinsinhalte studirt
werden können, uns nur als Empfindungen gegeben sind, eine Ursache an
sich der Empfindung daher niemals erkennbar, sondern höchstens mit der
Geltung einer metaphysischen Hypothese aufstellbar sein kann. Für den
Naturforscher kann es sich nach dem Vorgange von Wundt, Mach u. A.
nur darum handeln, Parallelismen zwischen den Reihen der psychischen
und physischen Objecte, Gesetzmäfsigkeiten in dem durch die Sinnes-
organe Gegebenem aufzufinden. Von hier aus liegt die Gefahr nahe, im
Sinne Häck£L*s aus physiologischen Vorgängen im thierischen Organismus
zu weitgehende Analogieschlüsse auf das Vorhandensein und Mitwirken
von Bewufstsein zu ziehen. Gerade die bewufst einseitige Erklärung
physiologischen Verhaltens bei Menschen und Thieren „aus der Kenntnifs
der anatomischen Unterlagen und ihrer Eigenschaften heraus, das Studium
der nach dem Reflextypus arbeitenden Mechanismen"^, muls die Anatomie
als ihre ausschliefsliche Aufgabe festhalten, während die Betheiligung von
Bewufstseinsvorgängen an motorischen Lebensäufserungen für jeden Fall
erst zu beweisen wäre, tiberall da aber, wo der Vorgang ohne ihre An-
nahme erklärbar ist, als nicht vorhanden anzunehmen ist. Der Physio-
logie verbleibt in inniger Fühlung mit der anatomischen Forschung die
Untersuchung der Leistungsfähigkeit der Elementarorgane und ihrer Ver-
bindungen mit einander.
Bei einigen niederen Thieren ist es gelungen, Handlungen derselben
direct auf bekannte chemisch - physikalische Vorgänge zurückzuführen, ja
ee konnten auf diesem Wege sogar künstliche Amöben (Rumbler*s künstl.
Amöben) construirt werden. Für die Functionen des Nervensystems bietet
das Studium der Reflexvorgänge eine Reihe von Anhaltspunkten zur
Zurückführung anscheinend zweckmäfsiger Handlungen auf anatomische
Anordnungen. Durch die fortschreitende Kenntnifs der die Associations-
möglichkeiten bedingenden nervösen Bahnen und unter Zuhttlfenahme der
Vererbung lassen sich sodann auch complicirtere Reflexmechanismen ohne
die Annahme des Bewufstseins verstehen. Schon jetzt sind die Handlungen
niederer Vertebraten zum grofsen Theil aus dem Hirnbau erklärbar; nur
darf man nicht den menschlichen ähnliche Gefühle und Ueberlegungen da
Sehen wollen, wo ein rein reflectoriscber Ablauf noch irgend zu er-
weisen ist.
27*
420 lAteraturbenchi.
Das eifrige Studium des sogen. Seelenlebens bei niederen Thieren mit
verhältnirsmäfsig einfachem Grehirn mufs den psychologischen Fragen nach
der Bedeutung und dem Zusammenhang cerebraler Bildungen mit psychi-
schen Erscheinungen höherer Ordnung vorangehen.
Mebzbacheb (Strafsburg i. £.)
Otto Wiener. Die Erweiterang BIIBerer Sinne. (Hab.) Leipzig, Barth, 1900.
43 S.
Im Anschlufs an eine Aufzählung zahlreicher feinster Instrumente,
welche die moderne Technik auf Grund der entwickelten physikalischen
Erfahrungen herstellen konnte, wirft Verf. die Frage auf, welche Bedeutung
die dadurch gewonnene Erweiterung unserer Sinne für die Erkenntnifs-
theorie gewinnen kann und giebt einen Ausblick auf die Möglichkeit, uns
mit Hülfe einer einheitlichen und erweiterten Theorie einstmals frei
machen zu können von der Beschränkung, die uns die besondere Natur
unserer Sinne auferlegt. Den Versuch zu einer solchen Theorie, die alle
physikalischen Erscheinungen auf Bewegungen gleichartigen Stoffes
zurückführt, hat Herz in seinen „Principien der Mechanik" hinterlassen.
Merzbacheb (Strafsburg i. E.).
Preter. Die Seele des Kindes. 5. Auflage. Nach dem Tode des Verfassers
bearbeitet u. herausgegeben v. Karl L. Schaefer. Leipzig, Th. Grieben,
1900. 448 S.
Der neue Herausgeber, ein Schüler des Verf.'s, bezeichnet das vor
zwanzig Jahren zum ersten Male erschienene Werk mit Recht als die noch,
immer reichlich fliefsende Quelle, aus der andere Autoren zu schöpfen,
pflegen, und auch darin mufs man ihm Hecht geben, dafs er den Text,
soweit irgend thunlich, unverändert gelassen hat. Am meisten haben die
Abschnitte über die Entwickelung der Sinne Verbesserungen und Er-
gänzungen durch den Herausgeber erfahren, wobei die neueren Forschungs-
ergebnisse berücksichtigt worden sind. Auch die Ausführungen über das
Sprechenlernen weisen Zusätze aus der neueren und neuesten Literatur
auf (Lindner, Ament, Oltuszewsky u. A.).
Ob die Zusätze des Herausgebers nicht noch etwas reichlicher hätten
ausfallen können, kann dahingestellt bleiben, denn was man in dem Pebter-
schen Werke vor allen Dingen sucht, das sind die Beobachtungsergebnisse
von Preyer selbst. Ihnen verdankt es seine Stellung in der Geschichte
der Kinderpsychologie und seinen dauernden Werth.
Da wir einmal die Greschichte der Kinderpsychologie erwähnt haben,
so mag noch darauf hingewiesen werden, dafs auch in der 5. Auflage des
PREYER'schen Buches (S. 353) noch von Tiedemann's „Memoiren" die Rede
ist. Aus der Benennung, die Preyer von Perez übernommen hat, geht her-
vor, dafs das Original Preyer nicht zu Gesicht gekommen ist. Da es sich
hier um die ersten Anfänge der biographischen Methode auf dem Gebiete
der Kinderpsychologie handelt, so mag auf Folgendes hingewiesen werden.
Die TiEDEMANN 'sehen Aufzeichnungen erschienen, wie ich aus Tiedemakn*s
Psychologie ermitteln konnte, 1787 in den „Hessischen Beiträgen zur Ge-
lehrsamkeit und Kunst" unter dem Titel „Beobachtungen über die Ent-
Literaturbericht. . 421
wickelang der Seelenfähigkeiten bei Kindern", wurden 1863 in französischer
Sprache im Pariser Journal g^n^ral de Tlnstruction publique und 1881 nach
dieser üebersetzung auszugsweise von Pebez als besondere Schrift ver-
öffentlicht. Pr£T£b und andere haben die Schrift offenbar nur in Gestalt
des Auszugs von Peeez gekannt. Nachdem dieser Auszug auch ins Englische
übersetzt worden war (Boston 1891), veranstaltete ich selber die erste voU-
sUlndige Sonderausgabe des Originaltextes (Altenburg, Bonde, 1897), nach
der dann eine ungarische Ausgabe bearbeitet wurde. Soviel zur Geschichte
der TiEDEXAirN'schen „Memoiren". Ufer (Altenburg).
M. C. u. Harlow Gale. The Yocabnlurles of two Ghildren of one Family to
two and a half Tears of Age. Fsychol. Studies by Gale (1), 70—117. 1900.
Von 3 Kindern derselben Familie hatte am Ende des zweiten Lebens-
jahres das erstgeborene einen Wortschatz von ca. 400, die späteren von
Aber 700. Bei allen dreien fand bis zum Alter von 2 ^'2 Jahren ungefähre
Verdoppelung statt. DaTs die meisten anderen Kinderpsychologen auch
ungefähr die Zahl 400 fanden, erklärt G. daraus, dafs solche Untersuchungen
mit Vorliebe bei den „wunderbaren" Erstgeborenen gemacht werden. An
Beine Ergebnisse knüpft G. berechtigte Bedenken gegen die häufige geringe
Einschätzung des Wortschatzes „ungebildeter"* Erwachsener.
An einem Tag gebrauchten die Kinder o — 10000 Worte, darunter
50-ß5®'o ihres gesammten Wortschatzes; dabei freilich auch wohl theil-
weise angeregt und offenkundig amüsirt durch das Gebahren ihrer Eltern,
die ihnen von Zeit zu Zeit einen ganzen Tag mit dem Notizblei folgten ;
an den anderen Tagen aber immer nur die neuen Worte anmerkten ; diese
Methode hält G. für die zuverlässigste.
Beachtenswerth sind die grofsen individuellen Differenzen im Wort-
schatz; trotz der grofsen Aehnlichkeit der äufseren Bedingungen hatten die
drei Kinder weniger als die Hälfte der Worte gemeinsam, und jedes über
ein Viertel ganz für sich. G. will dies aus einem biologischen Lust-Ünlust-
gesetz erklären. Ettlinger (München).
0. Kalischer. Ueber GrofshirAezstirpatlOAeA bei Papageien. Sitzungsberichte
d. königl, preufs. Akadem. d. Wissensch. zu Berlin 34 (5. Juli), 722 — 726. 1900,
- Weitere HlttheilnngeA inr GrorshirnezstirpatiOA bei Papageien. Fort-
schritte der Med. 18 (33), 641—644. 1900.
Die Exstirpationen des Grofshirnes bei Papageien (Sittiche, Amazone,
Cacadu) ergeben Störungen analog denen bei Affen und Hunden. Totale
ExBtirpation einer Hemisphäre oder gröfserer Theile derselben ergiebt
complete gekreuzte Lähmungen, doch sterben die Thiere nach kurzer
Frist, da die Nahrungsaufnahme aufhört. Entfernungen oberflächlicher
Gehimtheile haben Störungen der Motilität und Sensibilität auf der ge-
kreuzten Seite zur Folge, die bei älteren Individuen bedeutend länger
nachzuweisen sind als bei jüngeren. Bei letzteren können nach drei bis
vier Wochen nur Reste der ursprünglichen Schädigungen nachgewiesen
werden.
422 Literaturbericht
Es liefs sich auch eine gewisse Localisation nachweisen. Bei Zer-
störungen nach vorne zu waren mehr die Flügel beiheiligt, wfthrend Bein
und Fufs mehr durch die Exstirpation eines weiter nach hinten gelegenen
Hirntheiles in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Noch unsicher ist die Frage, ob bei Schädigung des Occipitallappens
auch Sehstörungen sich einstellen, und es stehen femer noch histologische
Untersuchungen aus.
Die zweite Abhandlung beschäftigt sich mit den Ergebnissen elek-
trischer Reizung der Hirnrinde und mit Localisationsbestrebungen. Der
Verf. glaubt auch bestimmte motorische Centren festgestellt zu haben, die
im Allgemeinen die bekannten Thatsachen aus den analogen Versuchen an
Säugethieren wiedergeben. Für Zunge- und Kieferbewegungen fand er an
symmetrischen Punkten beider Hemisphären Erregungscentren. Vom
Hinterhauptslappen liefsen sich Augenbewegungen auslösen. Besonders
erwähnenswerth erscheint die Thatsache, dafs eine Abhängigkeit der Er-
regbarkeit von gewohnten Thätigkeiten erkannt werden konnte, so dafs
besonders geübte Bewegungen besonders leicht von der Hirnrinde aus
ausgelöst werden konnten. L. Mebzbacher (Strafsburg i. E.)
H. E. Hering. Ueber Grofshimreiinng nach Dorchschneidang der Pjruddti
oder anderer Theile des centralen Henrensystems mit besonderer Bertd-
Sichtignng der Rindenepilepsie. Wieyiej- kUn. Wochenschr. 12 (33), 831—833.
1899.
Nach Reizung der Extremitätenregionen der Hirnrinde bei durch-
schnittenen Pyramiden konnte Hering bei Hunden Bewegungen in der
ungleichseitigen und bei Verstärkung des Reizes in sämmtlichen Extremi-
täten hervorrufen. Auf diese Weise gelang es ihm, die Existenz einer
zweiten corticofugalen Bahn nachzuweisen, die in ihren topographischen
Verhältnissen durch Combination von Hemisectionen in der MeduUa oblongata
oind Rückenmark näher bestimmt werden konnte. Sie zieht demnach durch
die Capsula interna, kreuzt sich oberhalb der Medulla oblongata und ver-
läuft in den Seitensträngen des Rückenmarks.
Durch Vermittelung eben derselben corticofugalen Bahnen konnte be-
stehender Strecktonus gehemmt und klonische Krämpfe („Rindenepilepsie",
d. h. den Reiz überdauernde klonische Krämpfe) ausgelöst werden.
Analoge Versuche am Affen brachten bezüglich der Function der
corticofugalen Bahnen wesentliche Unterschiede dem Hunde gegenüber:
1. Die Pyramidenbahnen vermitteln beim Affen hauptsächlich die
isolirten Bewegungen der contralateralen Seite; die contralaterale Bahn
des Affen ist schwerer erregbar und functionirt nur associirt mit der
homolateralen, während die analoge Bahn des Hundes leicht erregbar ist
und isolirte Bewegungen vermittelt;
2. die homolaterale Bahn des Affen besitzt eine detaillirte Function
und ist leichter erregbar als beim Hunde.
Als allgemeines Resultat aus den Untersuchungen beider Thierarten
ergiebt sich:
Specifische Hemmuugsbahnen lassen sich nicht aufstellen, sondern es
LiteraturbericJU. 423
leigt rieh, dafs ein und dieselbe Bahn Muskelcontraction und Muskel-
erachlaffnng vermitteln kann.
Specifische Leitungsbahnen zur Vermittelung der ^^Rindenepilepsie''
sind nicht nachweisbar ; auf jeder corticof ugalen Bahn ist es möglich von
der Rinde aus klonische Krämpfe auszulösen, nur ist die Erregbarkeit der
Terschiedenen Bahnen eine verschiedene. Die Pyramidenbahnen erweisen
sich besonders leicht erregbar. Mebzbacher (Strafsburg i. E.).
H. Magnus. Die Anatomie des Auges in ihrer geschichtlichen Entwickelnng
13 farbige Tafeln mit 28 S. Text. (Avgenärztliche Unternchtstafeln^ hrsg.
von H. Magnus, Heft XXI.) Breslau 1900. J. U. Kern's Verlag (Max
MnUer).
Bereits im Jahre 1877 hat der Verf. als Beilageheft zu Zehendrb's
Id. Moiuitshlättern elf ^Historische Tafeln zur Anatomie des Auges" veröffent-
licht Jetzt läfst er als weitere Frucht seiner verdienstlichen Studien in
der von ihm selbst herausgegebenen Reihe „Augenärztlicher Unterrichts-
Ufeln^ eine von einem Texthefte begleitete Sammlung von 13 Tafeln er-
scheinen, welche die geschichtliche Entwickelnng der Anatomie des Auges
von Demokkit von Abdera an bis zu der am Ende des 19. Jahrhunderts
veröffentlichten allgemein bekannten und benutzten Unterrichts- Wandtafel
von Flemmino zeigen.
Aus diesen Tafeln geht hervor, dafs unsere Erkenntnifs von dem Bau
des menschlichen Auges sich nicht in einer aufsteigenden Linie vollzogen
hat, sondern dafs ein erstes Maximum bei Galen im zweiten Jahrhundert
nach Chr. Geb. liegt, dessen Anschauungen geltend blieben, bis die Wissen-
schaft in die Hände der Araber gerieth. Mit dieser Periode begann im
8. nachchristlichen Jahrhundert dann eine rückläufige Bewegung: Man machte
selbst keine Zergliederungen des Auges mehr, sondern beschränkte sich
darauf die Darstellungen zu wiederholen, welche man bei den älteren vor-
galenischen lateinisch-griechischen Autoren fand. Das ganze abendländische
Mittelalter und auch der Beginn der neueren Zeit bis zur Mitte des 17. Jahr-
hunderts stehen noch unter dem Einflufs dieses Rückschlages. Eine neuere,
bessere Erkenntnifs der Ophthalmo- Anatomie wird nun aber nicht von den
Medicinern herbeigeführt, sondern es sind die Mathematiker und Physiker,
die durch das Studium der Vorgänge beim Sehen auf die Anatomie
des Anges gewiesen werden und nun hier den endgültigen Umschwung
herbeiführen, der dann in stetem Anstieg zu dem unzweifelhaft gesicherten
Wissen der Neuzeit über die makroskopische Anatomie des Auges führt.
Um jedoch völlig gerecht zu sein, mufs bemerkt werden, dafs anfänglich
auch noch Mathematiker und Physiker auf den falschen Bahnen wandelten.
Macbolyccs und Baptista Porta waren von einer richtigen Auffassung noch
weit entfernt; erst die Abbildung, welche der bekannte Jesuitenpater
ScHEiNER in seinem Werke: „Oculus" (1621) bringt, „zeigt uns wieder die mit
Messer und Pincette frisch und fröhlich am Secirtisch thätige Anatomie",
nachdem Jahrhunderte lang vorher alles in Dogmatismus erstarrt war.
Während Magnus in der älteren oben erwähnten Studie (1877) die
antike Ophthalmo-Anatomie nur insofern berücksichtigte, als er einige aus
424 Literaturberickt
dem Mittelalter stammende Zeichnungen reprodacirt, welche die Anschauungen
der Alten darzustellen beabsichtigen, hat er in der neueren jetzt vorliegenden
Tafelsammlung aus den Beschreibungen von Demokrtf von Abdera, Hifpo-
KRATKS und Ajustoteles, Celsus, Rufus und Galen die Figuren selbst
angefertigt und, soviel sich beurtheilen läfst, Zeichnungen geliefert, die
mit den Anschauungen der betreffenden Autoren übereinstimmen. Bei
der auf Galen bezüglichen Zeichnung macht Magnus selbst darauf aufmerk-
sam, daÜB er eigentlich ohne innere Berechtigung die Linse zu groDs ge-
zeichnet habe, es sei dieses nur geschehen, „um die verwickelten An-
lagerungsverhältnisse all der Häute des Auges im Corpus ciliare, wie eie
Galen schildert, klar zur Darstellung zu bringen''. Dem Referenten will
es scheinen, daDs auch bei einer der Wirklichkeit entsprechenden Darstellong
der Linsengröüse jene Anlagerungsverhältnisse sich noch hätten deutlich
machen lassen. Er möchte es beinahe als ein Unrecht gegenüber der doch
zweifellos ungemein scharfen Auffassungsgabe Galen*s ansehen, wenn man
ohne absolut zwingenden Grund etwas Unrichtiges in eine solche Zeichnung
hineinträgt.
Den Tafeln kann im Interesse der Wiederbelebung des zur Zeit bei
den Naturwissenschaftlern leider noch immer sehr wenig regsamen
historischen Sinnes eine recht weite Verbreitung gewünscht werden. Für
eine, hoffentlich in nicht zu langer Zeit erforderliche zweite Auflage
möchten wir dem Verf. den Wunsch unterbreiten, neben anderen Er-
weiterungen auch die beiden Tafeln VI und VIII seiner früheren (1877)
Sammlung aufzunehmen. £s ist nicht recht ersichtlich, weshalb dieselben
in der jetzigen demselben Zwecke dienenden erweiterten Sammlung fehlen.
Arthub König.
■
F. Best. Uebw die Crreuen der Sehsehirfe. Bericht der ophtli. Ge8. in Heidd-
herg 1900, 28, 129—135. 1901.
— Ueber die Grenze der Erkennbarkeit von UgenntorsGhieden. Archiv für
Ophth. 51 (3), 453—460. 1900.
Verf. falst in kurzer und klarer Darstellung das zusammen, was wir
unter Bestimmung der Sehschärfe verstehen. Er unterscheidet eine drei-
fache Methode:
1. Welche kleinsten Einzelobjecte können wir sehen?
2. Unter welchen Bedingungen vermögen wir 2 kleinste Objecte noch
eben getrennt zu sehen?
3. Welche kleinsten Lage- bezw. Gröfsenunterschiede vermögen wir
eben zu erkennen?
Ad 1 wird die Berechnung der Zapfengröfse aus dem Aubebt 'sehen
„Physiologischen Punkt" als unhaltbar nachgewiesen. Wir bestimmen mit
Meth. 1 nur die Lichtunterschiedsempfindlichkeit eines oder wahrscheinlich
einer Gruppe von Zapfen.
Ad 2 wird ausgeführt, dafs die HELMHOLTz'sche Winkelminute der
Eigenthümlichkeit der H.'schen Berechnung wegen eigentlich auf 40 — 50*'
reducirt werden mufs. Es wird dargelegt, dafs wir nach dieser Methode
nur die Maxi mal wert he für die Zapfengröfse (bezw. -dicke) erhalten.
Literaturbericht, 425
welche Übrigens mit den anatomisch gewonnenen Zahlen (4 fi) gut über-
einstimmt.
Ad 3: Wieder etwas ganz Anderes wird bestimmt, wenn wir nach
WÖLFiKG 2 vertical übereinander stehende Linien noniusartig gegeneinander
Terschieben. Hier benutzen wir die Wahmehmbarkeit kleinster Lagen-
bezw. GröÜBenunterschiede. Für letztere konnte B. bis auf einen Winkel-
werth von 2,5" herabgehen (0,184 fi Netzhautbild). Er erklärt diese hohe
^Sehschärfe" ähnlich wie Hering in seinen „Grenzen der Sehschärfe**,
worüber schon in dieser Zeitschr. berichtet wurde. Die Sehschärfe war für
verticale Striche am gröfsten, für horizontale schon geringer, für solche
Yon 45^ Neigung am geringsten. Ein Optimum in den 3 Richtungen,
welche dem Mosaik der sechseckigen Zapfenquerschnitte entsprechen, liefs
sich also nicht nachweisen. Heine (Breslau).
Rot. W. Tall3£ann. Taste and Smell in Artides Of Diet. Mit Nachwort von
Hablow Gale. Psychol. Studiea hy Qale (1), 118—139. 1900.
Die vermeintlichen Verschiedenheiten des Geschmacks sind in Wirk-
lichkeit fast alle solche des Geruchs; und aufserdem wird der Geschmack-
nim Tom Tastsinn sehr beeinflufst. Verkleidet man eine Speise derart,
d&CB sie den Tasteindruck einer anderen macht, so stellt sich meist auch
der betreffende Geschmack ein, wie überhaupt hier Suggestion sehr wirk-
sam ist. Nach Ausschaltung aller Hülfswahrnehmungen bleiben nur die
4 fundamentalen Geschmacksrichtungen: süfs, sauer, salzig, bitter. Die
Fähigkeit ihrer Wahrnehmung ist ungleich ; süfs wird am leichtesten, bitter
am unsichersten unterschieden. Auch die individuellen Unterschiede sind
beträchtlich, besonders bei süfs, am wenigsten für sauer.
(jale weist in seiner Nachschrift besonders darauf hin, dafs die Lust-
betonung von süfs, sauer und salzig, wie die Unlustbetonung von bitter
ans biologischen Principien abzuleiten sei. Die betreffende Lustbetonung
trete beim Kind immer erst dann ein, wenn die entsprechende Speise
nützlich sei, zuerst bei süfs, im zweiten Jahr bei salzig, und erst in der
letzten Hälfte des dritten bei sauer. — Wohlgefallen an bitterem, das
weniger schädlich ist, erkläre sich aus der Gewöhnung, so bei den geistigen
Getränken. Ettlinger (München).
Ragnar Vogt. Ueber Ablenkbarkeit and GewShnaAgsfähigkeit. Kraepelin's
Psychol Arbeiten 3, 62—201. 1890.
Um das Wesen der Ablenkbarkeit, welche in vielen Geisteskrankheiten,
z. B. Manie, Katatonie, Erschöpfungspsychosen, einen sehr hohen Grad an-
nehmen kann, in exacter Weise zu untersuchen, stellte Verf., zumeist an
Bich selbst, eine grofse Zahl verschiedengestaltiger Versuche unter den in
der Kkaepelin 'sehen Schule üblichen Rücksichten und Vorsichten an. Die
ablenkenden Störungen waren zunächst unterbrochener Art. So mufsten
bei den „Auffassungsversuchen" sinnlose Silben, die auf einer
rotirenden Tronraiel mittelst eines 3 mm weiten Spaltes ins Gesichtsfeld
traten, aufgefafst und hergesagt werden, während gleichzeitig von den 19
idingenden Metronom seh lägen in der Minute — jeder zweite Metronom-
426 Literaturbericht.
schlag war ein Klingelschlag — entweder nur jeder durch eine einätdie
klopfende Fingerbewegung {A + H) oder aufserdem noch jeder vierte dorch
eine Doppelbewegung {A-}- R -\- G) markirt wurde. Vorher und zwischen*
durch wurden natürlich Auffassungen ohne Störungen vorgenommen. Es
ergab sich nun, dafs weder R noch R-^ O die Auffassung beeintrftchtigte,
dafs dagegen die Anzahl der fehlerhaften Reactionen bei R-\- G gröÜBer
war als bei R. Den Grund für den ungestörten Ablauf der Hauptarbeit
erblickt Verf. in den leeren Pausen zwischen den einzelnen Silben (331 in
6 Min.), in welche die Markirungen von selbst fielen oder bequem verlegt
werden konnten, so dafs eine etwaige Beeinträchtigung der Auffassung bei
dieser Versuchsanordnung nur zu einer Verkürzung der Pausen führte.
Aber auch bei einer mehr continuirlichen Auffassungsarbeit, bei
der in einem völlig unverstandenen, finnischen Texte jedes », I und s bei
gleichzeitigem Reagiren auf jeden einzelnen und jeden vierten Metronom-
schlag durchstrichen wurde (A -\- D -}- R -\- G), ergab sich nur eine Herab-
setzung der Leistung um ca. 8%, die um so weniger in Betracht kommt,
als sich bereits bei störungsfreien Versuchen m i t Durchstreichen eine Ver-
minderung der Leistung um 16%, gegenüber solchen o h n e Durchstreichen
herausstellte und andererseits bei den letzteren mit der gleichzeitigen
Nebenarbeit R -\- G keine merkliche Beeinträchtigung der reinen Auf-
fassung sich zeigte. Diese leidet also jedenfalls viel weniger unter einer
Nebenarbeit als die Reactionsbewegungen , zu denen auch das Durch-
streichen gehört. Ganz deutlich zeigte sich dies bei den gleichen Ve^
suchen an einer anderen Person. — Bei den Additionen ergab sich ein
sehr wesentlicher Unterschied zwischen dem fortlaufenden Addiren bi»
100 ohne Niederschreiben der Summen (a-Addition) und dem Addiren je
2 einziffriger Zahlen mit jedesmaligem Niederschreiben der Summen
(6-Addition). Dort verursachte R + G eine weitaus gröfsere Abnahme der
Leistung als hier, wo die Reaction — auf ungefähr 4 — 5 Additionen kam
immer ein Klingelschlag — in den leeren Pausen stattfand, während das
nothwendige Merken der Summen die fortlaufende Addition zu einer con-
tinuirlichen Arbeit machte. Dieser Umstand kam umsomehr in Betracht,
als diese Gedächtnifsarbeit ebenso wie das Merken der Metronomschläge
bei dieser Versuchsperson ursprünglich sich in musculär-akustischer Art
vollzog, so dafs letzteres auf dem ungewohnten, mehr optischen Wege all-
mählich versucht wurde, natürlich auf Kosten der Additionen. Auch
handelte es sich bei der fortschreitenden Addition um überwiegend zwei-
stellige Zahlen; allerdings fällt dieser Umstand, selbst abgesehen von dem
hohen Uebungsgrade, schon deshalb nicht sehr ins Gewicht, weil die Ver-
suchsperson instinktiv das Reagiren wie das Merken der Klingelschläge in
die Zeiten zwischen den eigentlichen Additionen verlegte. Wodurch nun
die Abnahme der Leistung beim zifferweisen Addiren bedingt war, suchte
Verf. dadurch zu entscheiden, dafs er dieses ohne Niederschreiben und
ohne Störung vornahm ; auch bestimmte er die einfache Schreibgeschwindig-
keit. Im letzteren Falle war natürlich die Leistung am gröfsten, während
sie bei den Additionen mit Niederschreiben der Summen am kleinsten
war, so dafs auch hier der störende Einflufs des R + G wohl mehr auf die
Reactionsbewegung , auf das Niederschreiben, als auf das eigentliche
Literaturbericht. 427
Addiren kommt. — Neben dem Einflüsse von R-^ G untersuchte Verf.
tnch den des blofsen Anhörens der Metronomschläge auf die fortschreitende
Addition {Ad -{- M); in diesem Falle blieb jede Beeinträchtigung aus, viel-
leicht weil complicirtere Nebenarbeiten schon vorausgegangen waren. Da-
gegen seigte sich eine Verminderung der Leistung sowohl beim Reagiren
aaf Metronomschläge durch das Niederschreiben eines Punktes {Ad -\- B)
als beim Reagiren auf diese Punkte durch Hinzusetzen eines 2. Punktes
{Ad -|- Bi), als beim Markiren jedes 4. Metronomschlages durch ein Kreuz
{Ai + Q). Im letzteren Falle war die Störung am gröfsten und nur ein
wenig geringer als bei Ad + R+G, während zwischen Ad-^-R und Ad-\-Ri
kein unterschied war. Im Verlaufe der Versuche trat jedoch nach Abzug
des Uebungszuwachses beim einfachen Addiren eine sehr bedeutende Ge-
wöhnung an die Störung ein, die namentlich in den ersten Tag stark
anstieg, um sich schliefslich in constanter Höhe zu erhalten, und die durch
Isnge Unterbrechung nicht besonders beeinträchtigt, jedenfalls schnell
wiedergewonnen wurde. In der Tagescurve zeigten die Störungsver-
Buche, dafs ihre höchste Leistung nur in den letzten Tagen auf die ersten
5 Min. fiel, während bei den ungestörten Additionen die Leistung fast
stets im Verlaufe des Tages stetig sank, um allerdings selbst durch 1 Min.
Pause wieder zu steigen. Selbst beim blofsen Anhören der Metronom-
•chläge trat diese Erscheinung auf, am deutlichsten aber zeigte sie sich
beim einfachen Registriren derselben, während bei Ad-^ G und Ad-\-R'{'G
die Ermüdung sich stark geltend machte; diese war hier gröfser, beim
blolsen Anhören oder Markiren der Schläge geringer als beim einfachen
Addiren. Die Uebung endlich wuchs trotz bereits anfänglich hohen
.Grades beim einfachen Addiren sehr bedeutend, ging jedoch schnell wieder
rerioren und zwar nach kurzen Unterbrechungen in nicht viel geringerem
Grade als nach langen, zeigte aber von Tag zu Tag keine so grofse Ein«
baÜBe wie die Gewöhnung. Ziffernmäfsige Angaben vermochte jedoch Verf.
auf Grund dieser Versuche trotz complicirter Berechnungen weder in Be-
zug auf Ermüdung, noch auf Uebung, noch auf Gewöhnung zu machen.
Daher stellte er an seiner Frau, die um den Zweck der Experimente nichts
wufste und an Störungen nicht gewohnt war, fortlaufende Additionen der-
art an, dals sie die Summen abwechselnd motorisch durch halblautes
Sprechen und sensorisch als Klangbilder sich merkte. Die Leistungs-
abnahme im Verlaufe des 1 \'t stündigen Arbeitens war allerdings dort
grölser als hier, aber nicht nur in Folge der Ermüdung, sondern auch da-
durch, dafs, wie schon die Selbstbeobachtung lehrte, das sensorische Addiren
luerst schwieriger fiel als das motorische. Uebrigens nahm auch hier die
Ermüdung mit der fortschreitenden Uebung ab; diese wiederum zeigte
keinen Unterschied zwischen den beiden Additionsarten. Dagegen war die
i^tdrung durch die Reproduction des Alphabets beim motorischen Addiren,
wo die Buchstaben als Gesichtsbilder auftauchten, gröfser als beim sen-
Borischen, wo die Buchstaben hergesagt wurden; auch war im letzteren
Falle die Zahl der reproducirten Buchstaben gröfser. Kein Unterschied
zwischen den beiden Additionsarten zeigte sich bei gleichzeitigem Re-
gistriren der Metronomschläge durch Punkte. Auch hier ergab sich also,
dals selbst 2 motorische Vorgänge sich nicht stören, wenn sie verschiedener
428 Literaturbericht.
Art sind. Die Gewöhnung war in diesen Versuchen eine schnelle, ja blieb
nicht auf diese beschränkt, sondern als nach ihnen die Additionen mit
Reproduction des Alphabets wiederum, nach zwölftägiger Unterbrechung;
aufgenommen wurden, war die Grewöhnung an diese Störongsart unver
ändert, wenn nicht gröfser. Ebenso zeigte sich, dafs das Lernen 12 stellig«
Zahlen b^i gleichzeitigem Reagiren auf Metronomschlftge schneller von
statten ging, nachdem eine Einübung des Addirens bei gleichzeitigem
Registriren der Metronomschläge oder Reproduciren des Alphabets statt-
gefunden hatte, als vorher. Ja, am letzten Tage störte das Reagiren das
Zahlenlernen überhaupt nicht mehr. Wie die Versuchsperson selbst be-
merkte, schwand schon am 2. Störungstage überhaupt das lästige Gefflbl
der Verdriefslichkeit über die Schwierigkeit, 2 Arbeiten zu combiniren.
Es findet also eine „Mit Übung" der einen Arbeit durch die andere statt,
die natürlich um so gröfser ist, je ähnlicher die Arbeiten sind. Dals nun
bei dieser Versuchsperson im Gegensatze zu der vorigen die Störung dei
Zahlenlernens durch das Registriren am letzten Tage gänzlich schwand,
erklärt Verf. damit, dafs die erstere die Zahlen optisch, also mit längeren
Pausen, die letztere dagegen motorisch, also schneller lernte ; daher worden
auch die Zahlen von dieser 3 mal so schnell wiederholt als von jener. —
Die dritte Hauptarbeit, deren Beeinflussung durch die Metronomschlflge
Verf. an sich untersuchte, war das Lernen 12 stelliger Reihen tos
Zahlen und sinnlosen Silben. Hier ergab bereits das blofse An-
hören der Schläge eine Herabsetzung der Leistung und das Reagiren auf
dieselben sowohl als einfaches R wie als £ -f~ ^ ^^^^ gröfsere als bei den
Addition. Dieses zeigte sich jedoch beim Lernen der Zahlen in höherem
Grade als bei dem der Silben, trotzdem dafs dieses schwerer war als jenek
Den Grund findet Verf. in der Lernmethode. Diese war zunächst musculto-
akustisch; allmählich aber erlangte bei den Zahlen das motorische, bei ;
den Silben das akustische mit seinen längeren Pausen das üebergewicht :
In Folge dieser wechselnden Lernweise und des fortgesetzten Suchens
nach der zweckmäfsigsten Arbeitsweise, das namentlich bei den Zahlen
hervortrat, war die im Verlaufe eines Tages erlangte Gewöhnung sehr
flüchtiger Natur. Auch die Thatsache, dafs der üebungszuwachs bei den
Zahlen siebenmal gröfser war als bei den Silben und auch die Anzahl der
Wiederholungen d. h. die Schnelligkeit des Ablesens bei den Zahlen nicht
nur von vornherein gröfser war, sondern noch stetig wuchs, während sie
bei den Silben stetig abnahm, ist in der Lern weise begründet. Mit dieser
hängt es endlich auch zusammen, dafs im Verlaufe des einzelnen Tages
nur bei den Silben die Leistung wie bei den Additionen allmählich sank,
während bei den Zahlen die beste Leistung häufig nicht auf die ersten
5 Min. fiel. Dementsprechend zeigte auch die Selbstbeobachtung beim
Addiren grofse Willensanspannung mit starker Muskelbewegung, während
beim Zahlenlernen dies hinderte und eine mehr gleichmäfsige Arbeits-
weise, eine Vereinigung der akustischen und motorischen Leruweise mit
wachsendem Üebergewicht der letzteren nöthig war. Erfolgte jedoch das
Lernen unter Störung, dann trat auch bei den Silben, abgesehen von den
letzten Tagen, eine erhebliche Leistungszunahme im Laufe des Tages ein;
aber auch dann war diese Erscheinung bei den Zahlen ausgeprägter. In
Literaturbericht, 429
Besag auf die Ermüdung zeigte ein Vergleich der letzten Viertelstunde
mit der ersten, dafs sie beim schwierigen Lernen, namentlich bei dem der
Zahlen, kleiner ist als beim leichten Addiren. Allerdings erfolgte, wie be-
reits erwähnt, das Addiren unter grofser Willensanstrengung; trotzdem
pebt Verf. selbst zu, dafs dieses auffällige Resultat den Werth der ange-
windten Berechnungsweise fraglich macht. Ebenso läfst sich ein ein-
deutiger Einflufs der Störung auf die nachfolgende Normalarbeit weder
beim Lernen noch beim Addiren ermitteln.
Ununterbrochene Störungen suchte Verf. durch das leise Her-
Bftgen Ton wohl eingeübten Gedichten, dessen Geschwindigkeit
besonders bestimmt wurde, herbeizuführen. Hierbei kam auch in Wegfall
die Einübung der störenden Arbeit ebenso wie die Hauptarbeiten bereits
gDt eingeübt waren. Aus all diesen Gründen ist eine Gewöhnung hier
uugeschlossen. Die Hersagegeschwindigkeit war bei der zifferweisen
Addition die nämliche wie bei der fortschreitenden und betrug in beiden
AUen 40^/0 der normalen, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dafs die
Versuchsperson der Vergleichbarkeit wegen absichtlich in beiden Additions-
irten die nämliche Geschwindigkeit innezuhalten sich bemühte. In Bezug
mf die Leistung wies dagegen das zifferweise Addiren mit den optisch
gegebenen Summanden und niederzuschreibenden Summen keinerlei Be-
einflussung, das fortlaufende Addiren eine sehr bedeutende Beeinträchtigung
auf. Denn hier waren Haupt- und Nebenarbeit normalerweise musculär-
akustischer Art, also sehr ähnliche Vorgänge, so dafs sich das ungewohnte,
zu hohen Spannungsempfindungen in den Augen führende Streben geltend
machte, die Summen optisch zu merken. Noch störender wirkte dieser
mühsame Ausweg auf das Zahlenlernen. Da aber hier das optische Ein-
prägen vollständig gelang, so zeigte sich das Hersagen weniger beein-
trächtigt als beim Addiren. — Wurde ein Gedicht leise hergesagt, während
ein anderes niedergeschrieben wurde, und in Parallelversuchen die Ge-
schwindigkeit beider gesonderter Thätigkeiten bestimmt, dann zeigte sich
d*8 Schreiben weniger beeinflufst als das Hersagen, weil, wie Verf. meint,
jenes mehr unbewufst sich vollzieht und ein flüchtiges unklares Sprech-
Uangbild oder optisches Bild der zu schreibenden Zeile ausreicht, um das
langwierige Niederschreiben derselben auszulösen. Der Gewöhnungszu-
▼achs war beim Niederschreiben gröfser als beim Hersagen und in beiden
Fällen bedeutender als der Uebungszu wachs. — Die Vereinigung von 2
noch mechanischeren Vorgängen, das Niederschreiben des Alpha-
bets während des Zählens von 200 ab ergab nur eine Herabsetzung
des Schreibens und auch diese nur in den ersten Tagen; dagegen gelang
es nicht Zahlen und Buchstaben gleichzeitig als Sprechklangbilder zu re-
produciren; wurden die Buchstaben nicht niedergeschrieben, dann wurden
aie als optische Schriftbilder reproducirt, und zwar in 10 mal so langer
Zeit als für das einfache Aussprechen erforderlich ist.
Eine dritte Störungweise war dadurch charakterisirt, dafs wie im ge-
wöhnlichen Leben die Möglichkeit vorhanden war, die Störung zu um-
gehen. Es wurden daher bestimmte Buchstaben beim Durchlesen eines
deutschen und eines völlig unbekannten, flnnischen Textes durchstrichen.
Auf diese Weise glaubte Verf. die Empfänglichkeit für eine Störung
430 Literaturbericht
im Unterschiede von der Sammlungsfähigkeit zu bestimmen. Wurde
nun nur jedes n durchstrichen, dann war die Zahl der übersehenen n im
sinnvollen Texte wohl etwas gröfser als im sinnlosen, aber auch dort sehr
gering. Selbst als jedes Z, n und 8 bezw. jedes l, n, o, 8 und v zu durch-
streichen war, war nur die Fehlerzahl anfangs im deutschen Texte merklich
gröfser, um zuletzt ebenfalls nur 7«% zu betragen. Erst als jedes 2. n und
8 durchstrichen wurde, ergab die Zahl der durchstrichenen wie der durch-
suchten Buchstaben eine quantitative Herabsetzung im deutschen Texte;
noch deutlicher trat diese bei der Dnrchstreichung jedes 2. l, n und 8 her-
vor. Um nun das Verhältnifs von Empfänglichkeit und Sammlungsfilhig-
keit zu einander zu bestimmen, wäre es nunmehr erforderlich, die letit-
genannte Arbeit bei sinnlosem Texte während verschiedener Störungen la
untersuchen. Vorher jedoch wäre noch nöthig, das obige ErgebniTs bei
2 Texten nachzuprüfen, in denen das Verhältnifs der zu durchstreichenden
Buchstaben zu allen vorhandenen das nämliche ist. Auch weist VerL
darauf hin, dafs dieses Ergebnifs wenigstens theilweise vielleicht dadurch
bedingt ist, dafs man den sinnvollen Text mehr in Form von Wörtern als
Buchstaben auffafst, so dafs es rathsam wäre an Stelle des sinnvollen
Textes zusammenhangslose Reihen einzelner muttersprachlicher Wörter zn
gebrauchen.
Endlich stellte Verf. noch Versuchsgruppen unter pathologischen
Bedingungen an. In der einen wurde das zifferweise Addiren während
gleichzeitigen Anhörens oder einfachen Registrirens der Metronomschläge
bei einem Paralytiker und Epileptiker untersucht; nur der letztere^
der sehr gewissenhaft und langsam arbeitete, zeigte eine beträchtliche ,
Herabminderung der Leistung; aber der Paralytiker markirte nur in den
Pausen und vernachlässigte Vs der Schläge. — In der 2. Gruppe wurde der
Einflufs von 30 gr Alkohol untersucht. Nur die einfache fortschreitende
Addition erwies sich etwas beeinträchtigt. Wurden gleichzeitig Metronom-
schlage angehört, so ergab sich gar keine Störung und wurden sie durch
R oder E + G markirt, so zeigte sich sogar eine geringe Förderung im
Vergleiche mit den nämlichen Versuchen ohne vorherigen Alkoholgenuft,
offenbar in Folge der erleichterten Auslösung von Bewegungsvorgftngen
nach letzterem; Versuche mit Durchstreichung jedes 2. l, n und 8 in sinn-
vollem und sinnlosem Texte unter dem Einflüsse des Alkohols führten m
keinem brauchbaren Ergebnisse.
Diese Angaben, welche den wesentlichsten Inhalt der vorliegenden
Arbeit enthalten, dürften bereits zur Genüge zeigen, dafs wir es hier mit
einer sowohl in den Versuchsbedingungen wie in der Verwerthung der
gewonnen Resultate sehr sorgfältigen und wohldurchdachten Untersuchung
zu thun haben. Man kann dem Verf. nur beistimmen, wenn er seine Aus-
führungen mit den Bemerkungen schliefst: „Zum Schlüsse ist zu betonen,
dafs die StörungHversuche uns tiefe Einblicke in die natürliche Veran-
lagung der Versuchspersonen gestatten. Bei der entschieden grofsen Be-
deutung der Arbeitsweise für die Ausgleichung von bestimmten Störungen
werden wir in der Verbindung verschiedenartiger Haupt- und Nebenarbeiten
ein Mittel besitzen, um theils aus der Gröfse der stattfindenden Ablenkung,
theiis aus der Schnelligkeit und aus dem Umfange der eintretenden Ge-
L%teraturbet*icht. 431
wöhnang Schlüsse auf die besondere Art zu ziehen, mit welcher der Ein-
zelne die verschiedenen Hülfsmittel des optischen, akustischen oder psycho-
motorischen Gebietes zur Lösung der gestellten Aufgaben gewohnheits-
mäOsig verwendet. Niemand aber wird bezweifeln, dafs ohne tieferen Ein-
blick in diese persönlichen Arbeitsbedingungen, in die Eigenart der Ver-
anlagung, ein grofser Theil der Versuche unverständlich bleiben mufs,
durch die wir Aufschlüsse über das entwickelte Getriebe unseres Seelen-
lebens erhoffen" (S. 198). Um so bedauerlicher aber ist es, dafs Verf. die
Versuche zum weitaus gröfsten Theile nur an sich anstellte. Denn ab-
gesehen von der Einbufse an Allgemeingültigkeit, welche die Resultate
hierdurch erleiden — Verf. selbst betont ja wiederholt die Eigenart
seiner Arbeits- und Lemweise — hört das Verfahren dadurch auf, ein u n -
wissentliches zu sein. Hierzu kommt noch, dafs die Resultate zuweilen
aus einer zu geringen Anzahl von Versuchen gewonnen sind. Wurden
doch manche Versuchsarten nur an 1 oder 2 Tagen angestellt, z. B. das
Hersagen von Gedichten beim Addiren und beim Zahlenlemen. Auch das
nöthige üebungsstadium war noch nicht erreicht; steigt doch selbst
eine so alltägliche Thätigkeit, wie das einfache Addiren noch innerhalb
von ca. 2 Monaten von 1007 Aufgaben bis zu 3568. — Das gegenseitige
Verhältnifs von üebung und Gewöhnung ist nicht genügend scharf heraus-
gearbeitet, vielmehr sind beide Erscheinungen so unabhängig von einander
behandelt, als ob sie in keinerlei verwandtschaftlicher Beziehung zu ein-
ander ständen. Bei beiden wurde femer der Unterschied zwischen der
vorübergehenden Tagesübnng oder — Gewöhnung und der dauernden
Uebung oder Gewöhnung nicht ausreichend beachtet, obgleich dort ganz
andere psychologische Faktoren in Betracht kommen als hier. Auch sonst
stellt Verf. häufig Behauptungen über die Wirkungsweise der Uebung an,
die nicht frei von Bedenken sind. So nimmt er an, dafs „der Uebungszu-
wachs während der Störungsarbeit, wo viel langsamer addirt worden ist,
kleiner gewesen ist, als während der Normalarbeit*^. Das scheint mir gar
nicht so „natürlich*^. Zum mindesten denkbar ist es, dafs man durch lang-
sames Arbeiten mehr eine Fertigkeit erlangt als durch schnelles. Im
Ganzen verfährt Verf. bei der Berechnung der Uebung wie auch der Er-
müdung und Gewöhnung viel zu constructiv und mathematisch-deductiv.
Daher auch die sonderbaren und widerspruchsvollen Ergebnisse, zu denen
er gelangt, und das schliefnliche eigene Zugeständnifs, dafs die angewandte
Berechnungsweise zu keinem sicheren Urtheil z. B. über die Ermüdungs-
erscheinungen führt. Endlich noch einige Kleinigkeiten. Aus den
Tabellen über die AuffasHungsversuche an der Kymographiontrommel
scheint mir hervorzugehen, dafs die Verlesungen zunehmen, wenn die
Markirungsfehler abnehmen. Von Interesse wäre es, wenn die Art und
Weise angegeben wäre, wie die AuffasHung der Buchstaben Z, n und «
controlirt wurde, t«obald sie nicht durchstrichen wurden ; ebenso hören wir
nicht, wie die zifferweisen Additionen geprüft wurden, wenn die »Summen
nicht niedergeschrieben wurden. Ganz unerfindlich ist mir, wie Verf. auf
S. 156 je 6 Werthe für die m- und «Tage erhält, obgleich es nur je 4 Tage
giebt, an denen das reine m- und «-Addiren nur während der dritten halben
Stunden vorgenommen wurde. — Auf S. 107 mufs es für 100 : G6,2 l>ezw.
1
432 Liter aturbericht.
100 : 64,4 heifsen 66,2 : 100 bezw. 64,4 : 100. Endlich wäre es rathsam m
yermeiden, dafs R -{- Q bei den Auffassungsversuchen eine etwas anders
geartete Störung bedeutet, als bei den Additionen.
Abthur Wbeschneb (Zürich).
Jacopo Finzi. Zar Untenachnng der Anffftssangsfähigkeit amd ■erklihigkett
Kraepelin's Psychol. Arbeiten 3, 289—384. 1900.
Die bisherigen Gedächtnifsuntersuchungen, wie z. B. die an Geistes-
kranken constatirten nur den vorhandenen Besitzstand von Erinnerungen
ohne Rücksicht auf die überhaupt erworbenen und die noch zu erwerbenden
Kenntnisse, oder sie sind für die klinische Beobachtung zu complicirt wie
z. B. die von Ebbinghaus ausgeführten, oder sie sind zu oberflächlich nnd
unsicher wie die nach der Methode der „mental tests." Verf. wandte da-
her ein neues Verfahren an, um die Auffassungsfähigkeit und Merk&hig-
keit, letztere im Sinne Wernickes als die Fähigkeit „willkürlicher Ein-
prägung und Beherrschung dargebotener Eindrücke und Vorstellungen,"
also als Maafs der augenblicklichen Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses
gegenüber frischen Eindrücken zu untersuchen. Er bot nämlich Buchstaben
(im grofsen lateinischen Alphabet), Zahlen und Sbuchstabige sinnlose Silben
(aus dem kleinen lateinischen Alphabet), die auf durchsichtigem Papier mit ■
der Schreibmaschine gedruckt waren, vermittelst eines eigens, nach dem Vor- ^
bilde des Schufsmyographions construirten, näher beschriebenen Apparates ■
als Gesichts reize bei durchscheinendem Lichte dar. Die Lichtquelle war :
ein Auerbrenner. Die Anzahl der Beize, die so geordnet waren, dafs ent« j
weder je 1 oder je 2 oder je 3 unter einander standen, wechselte; jeder j
Punkt des Reizes war 16,76 a sichtbar. Die Gesanamtzahl der Auffassungs- ^ 7
versuche war 2630, die der Merkversuche 7080 ; sie wurden an 12 akademisch ■
gebildeten Personen zwischen 20 und 35 Jahren unter den üblichen Cautelen
gewonnen, aber nicht an allen in gleicher Zahl.
Die Auffassungsversuche, bei denen die Kärtchen mit 9 Buch-
staben zur Anwendung kamen und das Gesehene sofort laut hergesagt
wurde, mit gleichzeitiger Bezeichnung der Stelle auf einem Quadrat mit
9 leeren Abtheilungeu, ergaben, dafs im Gesammtdurchschnitte von allen
Personen 2 Va Buchstaben richtig und 3 überhaupt genannt wurden. Die
Irrthtimer schwanken in ihrer Anzahl je nach der Versuchsperson und be-
standen in Verstellungen und Verkennungen d. h. Buchstaben, die sich
überhaupt nicht in der Vorlage fanden; die Zahl der letzteren ist durch-
gängig die gröfsere. Gleiche Versuche mit 4 und 6 Buchstaben zeigten,
dafs die richtigen Angaben im Procentsatz zur Zahl der dargebotenen Reize
stets und im absoluten Werthe mehrfach mit der Zahl der Reize abnimmt ;
*
dagegen bleibt die Zahl der überhaupt wiedergegebenen Buchstaben un-
beeinflufst von der Reizzahl; es wächst also mit dieser vor allem die
Fehlerzahl, namentlich die der Verstellungen, wozu ja auch die Möglichkeit
steigt; nur ist die Fehlerzahl bei 9 Buchstaben geringer als bei 6, weil
jene weitaus am häufigsten vorkamen und wie die 4 Buchstaben in einem
Quadrat, die 6 Buchstaben dagegen in einer senkrechten Säule angeordnet
waren. Ein Vergleich der Buchstaben und Zahlen, die zu je 6 dargeboten
Literaturbericht 433
wurden, ergiebt» dals im Grsnzen von jenen mehr genannt wurden als von
diesen, daÜB aber die Zahlen mehr richtige Angaben liefern; es giebt eben
mehr Buchstaben als Zahlen und die Möglichkeit der Verlesungen ist dort
gröÜBer als hier. Bei Versuchen mit je 2 Silben, so dafs Beagent wufste,
dafs er es mit Silben ku thun hatte, war die Anzahl der aufgefalsten Buch-
ftaben grOfser als selbst bei 4 einzelnen Buchstaben, jedenfalls weil diese
im grofsen, jene im kleinen Alphabet und mit der Möglichkeit der Silben-
bildang gedruckt waren; immerhin aber erkannte keine Person im Durch-
schnitt eine volle Silbe richtig; die Fehler waren hier fast nur Ver-
kennungen. Die Reizstelle, bei den Versuchen mit 9 Buchstaben bestimmt,
leigte sich bei den verschiedenen Personen von verschiedenem Einflüsse;
lameist wurden allerdings, in Folge des gewöhnlichen Lesens, die 3 obersten
Bachstaben, zuweilen auch unter Bevorzugung der links stehenden, am
besten gelesen; nicht selten aber auch war der Gesammteindruck mit Be-
Torzugung bald dieses, bald jenes Feldes mafsgebend; jedenfalls traten
diese individuellen Differenzen deutlicher an den richtig erkannten, als an
den überhaupt aufgefafsten Buchstaben hervor. Auch die Form der Buch-
stiben, unabhängig von der Stellung, war nicht gleichgültig : L, M und 8
Würden am häufigsten genannt, gleich nach ihnen kamen C, H und Z; aber
Aach hier giebt es persönliche Liebhabereien; im Gegensatz zur Stellung
zeigt sich jedoch die Form von gröfserem Einflüsse bei den überhaupt ge-
nannten, als bei den richtig angegebenen Buchstaben; war ja doch der
Seagent bei den letzteren mehr durch das Gregebene gebunden. Berechnet
mtn daher die durchschnittliche Häufigkeit der Verkennungen, so erhält
man einen Einblick in die Lesbarkeit, die natürlich bedeutende per-
sönliche Differenzen zeigt. Die Ursache der Verkennungen liegt zumeist
in der Formähnlichkeit {L und J, V und Y, W und M, C und 0) ; im
Ganzen ist der Vorgang der Falschlesung sehr verwickelt, so dafs der Unter-
«chied zwischen Verkennungen und Verstellungen sehr schwierig ist und
letztere nur 20 mal überhaupt mit Sicherheit zu constatiren waren. Hierzu
tritt noch der sehr erhebliche Einflufs früherer Eindrücke. Einmal er-
kannte Buchstaben werden bei Wiederkehr derselben Karte leichter auf-
gefafst, oft in ihrer Gesammtheit, oft auch nur theilweise, die anderen
dann durch Association reproducirend. Trotzdem zeigte sich die That-
sache, dafs unter den 9 Buchstaben immer 3,53 von der letzten und 3,68
von der vorletzten Elarte wiederkehrten, zumeist sogar von ungünstigem
Einflüsse und zwar die letzte Karte in höherem Grade als die vorletzte ; aller-
dings ist bei dieser Berechnung die Lesbarkeit und Stellung unbeachtet
^blieben. Jedenfalls zeigt eine Berücksichtigung nur der in der letzten
und vorletzten Karte erkannten Buchstaben einen unterstützenden Ein-
fluls, und zwar dort mehr als hier. Allerdings stellten sich hierdurch oft
auch Fälschungen ein, namentlich durch die vorletzte Karte, aber in
gleichem Grade durch die genannten, wie durch die nicht genannten Buch-
staben.
Bei den Merkversuchen mit 2, 4, 8, 15 und 30 See. zum Theil auch
2 und 5 Min. Zwischenzeiten von Darbietung bis Wiedergabe des Reizes,
während deren Beagent stumm und unbeweglich, die Augen dauernd auf
Zeitschrift tai Psychologie 26. 28
434 LiteraturberichL
die Reizstelle gerichtet, dasafs, stieg die Zahl der Angaben überhaupt wie
auch der Fehler, der Verkennungen wie der Verstellungen, mit dem
Intervall an; beide Werthe sind bei 2 See. bereits gröCser als bei dea
blofsen Auffassungen ; auch die Zahl der richtigen Angaben ist dort gröÜBer
als hier, bei etwa 4 See. aber am gröfsten. Der Einflols von Stellaag,
Form und Lesbarkeit war hier der nämliche wie bei den Auffassungen,
nur scheinen D, G und E in der Erinnerung besonders bevorzugt, L, C,
M und Z besonders vernachlässigt zu werden, offenbar in Folge unberechen-
barer persönlicher Eigenthümlichkeiten. Einzelne Buchstabengmppen
blieben bewufst oder unbewufst besonders leicht im Gedächtnils haften,
so dafs sie bei Wiederholung der Kärtchen richtig erkannt wurden : an sie
gliederten sich dann nach und nach andere Buchstaben dauernd oder
vorübergehend an. Einige Kärtchen wurden in dieser Weise von allen
Personen bevorzugt, entweder weil in ihnen die nämlichen Buchstaben,
zuweilen sogar an den gleichen Stellen relativ häufig wiederkehrten oder
weil der Reichthum an Vocalen zur Silbenbildung führte. Die Anzahl der
sich festsetzenden Gruppen wächst natürlich mit der der Wiederholungen,
jedoch wechselt die Schnelligkeit, in der dies geschieht, je nach den Per-
sonen. Die Bevorzugung gewisser Stellen ist dabei nicht immer maaüs-
gebend, sondern zuweilen auch sprachliche Anknüpfung, namentlich wenn
nur ein Theil der Gruppe deutlich aufgefafst worden war. Auf diese
Weise stellte sich auch oft eine fehlerhafte Bereicherung der Wahr-
nehmungen oder Einprägungen ein. Die vorletzte, noch mehr die letzte
Karte zeigte sich von merklichem Einflüsse, und zwar nicht nur in Bezug
auf die Auffassung, sondern auch in Bezug auf die Einprägung für sich.
Allerdings wirkt dieser Einflufs oft im Sinne einer Verfälschung, der der
vorletzten Karte bei Auffassung und Einprägung gleich stark, der der
letzten hier stärker als dort; im Ganzen führte er in Vs ^^^ Fälle irre. Er
ist femer gröfser in den genannten als in den nicht genannten, und bei
den letzteren wiederum absolut wie relativ genommen bedeutender durch
die letzte als durch die vorletzte Karte. Der Zwischenzeit nach wächst er
bei beiden Karten für die richtigen wie für die Einprägungen überhaupt
bis zu 8 See, um dann deutlich abzunehmen; er ist also nicht bedingt
durch das Hineinfallen des neuen Reizes in das allmähliche Schwinden
des alten sondern durch die einige Zeit benöthigende Neuerregung der be-
reits versunkenen Erinnerungsbilder auf associativem W^ege. Die Anzahl
der Buchstaben erwies sich bei einem mit lautem Zählen ausgefüllten
Intervall von 30 See. ohne Einflufs auf die absolute Zahl der richtigen
Einprägungen; das Zählen verminderte die Leistung den Auffassungs-
wie einfachen Merkversuchen gegenüber und vermehrte die Fehler, nament-
lich die Verstellungen. Zahlen werden durchweg schlechter eingeprägt als
aufgefafst, sowohl in Hinsicht auf die Einprägungen überhaupt wie auf die
richtigen insbesondere; dagegen weisen sie weniger Fehler auf wie die
Buchstaben. In sinnlosen Silben wurden so viele Buchstaben eingeprägt
wie aufgefafst, dagegen war die Fehlerzahl dort gröfser; im Ganzen war
diese Einprägung leichter als die einzelner Buchstaben; trotzdem wurde
nie eine Silbe richtig eingeprägt, namentlich in Folge theil weiser Um-
wandlungen. Die Art des Einprägens wurde bei einem Interwall derart
Literaturbericht, 435
nntersacht, dafs die eingeprägten Buchstaben am Ende des Intervalls
Biedergeschrieben oder hergesagt oder anf einem Alphabet gezeigt oder
■ofort hergesagt und nach 15 See. wiederholt oder sofort niedergeschrieben
und nach 15 See. ausgesprochen wurden. £s ergab in Hinsicht auf die
liehügen Einprägungen wie auf die Fehler das Niederschreiben nach dem
Intervall ein besseres Besultat als das Aussprechen ; auch das unmittelbare
Aussprechen wirkte in beiden Hinsichten, wenn auch in geringerem Grade,
fOfderlichy während bei dem unmittelbaren Niederschreiben dies nicht der
Fall war. Das mehr optische Verfahren scheint besonders zu Verstellungen,
das sprachliche zu Verwechslungen zu führen. Das Zeigen auf dem
Alphabet lieferte kein eindeutiges Ergebnifs; übrigens zeigten auch die
anderen Arten der Einprägung individuelle Differenzen.
Ablenkungen durch Addiren oder Lesen oder lautes Zählen oder
dorch einen neuen Auffassungsversuch nach 15 See. bei Versuchen mit
9 Buchstaben und 30 See. Intervall bedingten eine bedeutende Herab^
setsang der richtigen Angaben; am stärksten störte das Addiren« während
die übrigen Arten deutliche persönliche Unterschiede aufwiesen. Das
lAote Zählen störte weniger, wenn es bereits vor dem Versuche einsetzte.
Die Fehler waren gegenüber den Auffassungen vermehrt, aber nicht gegen-
Ober den einfachen Merkversuchen bei 30 See. Intervall.
Die subjeetive Sicherheit wurde durch 1 Va stündiges Auffassen
und Merken mit mehreren Zwischenzeiten theilweise auch mit Ablenkungen
durch Zählen oder Lesen während 3 Tage untersucht ; sie war am gröfsten
mmittelbar nach dem Auffassen, um dann mit Zunahme des Intervalls zu
sinken; das gleiche gilt von ihrer Bichtigkeit. Wie das Wachsen des
Intervalls wirkte auch die Ablenkung. Unter den unsicheren Angaben
waren '/^ richtig; der Einflufs der Länge der Zwischenzeit ist hier mehr
persönlichen Differenzen ausgesetzt.
Die Uebung während 4 Tage erstreckte sich bei der einen Versuchs-
person mehr auf den Umfang, bei der anderen mehr auf die Güte der Auf-
itssangen und führte so zu einer allmähligen Verwischung der anfänglichen
Unterschiede; insgesammt aber steigert sie mehr die Zuverlässigkeit als
den Umfang; bei den Merkversuchen erhöhte sie die Richtigkeit mehr,
den Umfang weniger als bei den Auffassungen. Die Gewöhnung an die
Störung erfolgte bald schnell, bald langsam, und zwar ohne Beziehung zur
Grölse der Ablenkung; wo sie eintrat, pflegte sie die Richtigkeit mehr als
die Zahl zu heben. Ermüdungserscheinungen traten in Folge der
Tielen Pausen kaum ein; waren sie vorhanden, dann führten sie bei dem
einen zur Einschränkung des Umfangs, bei dem anderen zu der der
Richtigkeit. Ein Antrieb machte sich nur bei einzelnen und dann nur
bei den richtigen Angaben geltend. Was die sonstigen persönlichen
Verschiedenheiten anlangt, so geht ihnen Verf. sehr eingehend nach,
ohne jedoch zu besonders gesicherten Ergebnissen zu gelangen als zu dem,
dafs selbst bei so einfachen Vorgängen die persönliche Eigenart sehr
mannigfaltig ist. Höchstens wäre noch erwähnenswerth, dafs der Umfang
der Auffassung wie der Einprägung bei den 3 Frauen am kleinsten war,
während die Zuverlässigkeit relativ gröfser war; die Uebungsfähigkeit war
2H»
1
.J
436 Literaiwrhericht
bei ihnen gering, die Ermüdbarkeit grofs; die Einpr&gung erfolgte bei
ihnen vornehmlich visuell.
So gewissenhaft und sorgfältig auch die vorliegende Arbeit ist, so
wenig dürfte sie das letzte Wort über dieses Thema sein. Ihr wichtigstes
Ergebnifs scheint mir der Einblick in die aufserordentliche Complicirtheit
dieser scheinbar einfachen Vorgänge zu sein. Auch muls man dem Verf.
unbedingt zugeben, dafs sein Verfahren sich als fruchtbar und leicht aus-
führbar erwiesen hat und dafs „eine Fortsetzung derartiger Untersuchnngen
uns ein brauchbares Werkzeug zur genaueren Zergliederung bisher nur in
ihren gröbsten Umrissen bekannter Störungen liefern und damit unser
Verständnifs krankhafter Seelenzustände wesentlich zu fördern im Stande
«ein wird." Trotzdem wird es mancherlei Verbessungen unterzogen werdei\
müssen. Namentlich erscheint mir die durch die geringe Zahl der Buch-
staben wie Ziffern bedingte Wiederkehr der nämlichen Beize höchst be-
denklich ; jedenfalls muijB die Wiederkehr der nämlichen Gonstellation der-
selben Beize, obenein noch an denselben Stellen unter allen Umständen
vermieden werden. Nicht genügend berücksichtigt ist der Einflafs des
Aussprechens der aufgefafsten oder gemerkten Beize auf die Leistung.
Bei dem Vergleich zwischen Auffassungen und Einprägungen in Beng :^
auf den Einflufs früherer Eindrücke ist die Thatsache des Merkens nicht |
beachtet, obgleich es doch natürlich einen grofsen Unterschied macht, ob
ich einen Eindruck sofort abthue oder mich mit ihm angestrengt 2 bis
30 See. lang beschäftige, um ihn im Gedächtnifs zu behalten ; auch sonst
ist der Vergleich zwischen Merken und Auffassen zu schablonenhaft. In
der Beizzahl wäre ein gröfserer Wechsel bei Constanz der Versuchssahl
wünschenswerth. Schliefslich wäre in der Darstellungsweise gröüsere Ein-
fachheit und Durchsichtigkeit willkommen ; es kostet viel Mühe, sich durch
diese Arbeit durchzuwinden. Wbbschneb (Zürich).
L£oN Bbunschvico. Introdaction k la vie de Tesprit Paris, Alcan, 1900.
175 S.
Der mehr philosophische als psychologische Gehalt dieses anregenden
Buchs gestattet hier nur eine kurze Notiz. B. behandelt im ersten Capitel
das Bewufstseinsleben im Allgemeinen, in den folgenden das wissenschaft-
liche, ästhetische, moralische und religiöse Leben des Geistes; dies Alles
vom Standpunkt des französischen Neukriticismus aus. Dem entspricht
bereits im ersten Capitel eine Vernachlässigung des Crefühls- und Willens-
lebens gegenüber dem Vorstellungsleben und in den weiteren Darlegungen
eine einseitig intellectualistische Auffassung. Trotzdem und obgleich über
der populären Absicht die zureichende Begründung oft unterbleibt» machen
Eigenart und Wärme der Darstellung die Lektüre genufsreich.
Ettlinobb (München).
VON Feldego. Beiträge zar Philosophie des Gefühls. Leipzig, J. A. Barth,
1900. 122 S.
Die geistvolle Schrift behandelt vom idealistischen Standpunkte aus
einige Fragen aus dem Gebiete der Psychologie, Metaphysik, ErkenntniCs-
theorie und Ethik. Es wird viel Anregendes geboten. Verf. beabsichtigt.
Literaturbericht 437
an Stelle des Willens ein neues metaphysisches Princip zu setzen, welches
fogleieh die subjective und objective Wesenheit der Welt in sich zu fassen
vermag, nämlich das Gefühl. Nur schade ist, dafs die Schrift sogleich mit
heftigen Angriffen auf die so hochverdiente Wissenschaft der physio-
logischen Psychologie beginnt.
Die bezQgliche Kritik wird an Ziehen's Leitfaden vollzogen. Verf.
wirft ZiEHSM vor, dafs das BewuTstsein bei ihm erst mit der Empfindung
auftaucht, nicht schon beim Reflex, obwohl doch die Reflexe aus ursprüng-
lich psychischen Acten hervorgegangen sind. Die Selbstbeobachtung be-
weise nicht die Existenz eines psychischen Vorganges, da es der nicht
beobachteten psychologischen Thatsachen Tausende gäbe. Verf. vergifst
dabei, dafs das Bewufstsein mit einer Art von Anpassung verbunden ist»
welche zu ihrer Entwickelung eine gewisse Zeit braucht und beim Reflex
nicht zu Stande kommt Weiter wird getadelt, dafs Z. behauptet, das Ent-
stehen der Empfindungen aus äufseren Reizen verfolgt zu haben. Das
psychische Correlat der Empfindung könne man nicht aus Reizen ableiten.
Auch dünkt es dem Verf. unpsychologisch zu sein, wenn Z. die Spuren
als etwas Materielles auffafst Bezüglich beider Punkte möchte Ref. darauf
aufmerksam machen, dafs die physiologische Psychologie keinen besonderen
Werth darauf legt, die Grenzen zwischen dem Physiologischen und Psychi-
schen festzustellen bezw. Grenzstreitigkeiten zu schlichten, sondern dafs
es ihr vor Allem darauf ankommt, die Berührungspunkte d. h. die Punkte
der Wechselwirkung zwischen beiden nachzuweisen. Ferner glaubt Verf.
an den zweifellos richtigen Behauptungen, dafs die Gefühle der Lust und
Unlust, desgleichen dafs der Wille nichts Selbständiges sei, sofern beide
nnr mit Beziehung auf etwas mehr oder weniger Vorgestelltes hervortreten,
rütteln zu müssen. Er sieht in letzterer Behauptung eine Gefahr für die
Willensfreiheit. Offenbar hängt aber gerade die Willensfreiheit mit einem
rejren Wechsel der Vorstellungskreise eng zusammen. Endlich berührt
Verf. die Ichthatsache. Er bezweifelt, dafs ein Gesammtempfinden ent-
^hen könne aus einer Summe von Bewegungen, welche keine Empfindung
hervorrufen. Jedenfalls aber versteht auch Z. unter diesen Einzelbewe-
gnngen nichts rein Materielles, sondern Vorgänge, welche bereits mit Vor-
Stadien der Empfindung verknüpft sind, denen jedoch der Name „Empfin-
dung" noch nicht zuerkannt werden kann. Z. sagt am Schlufs seines
Baches, dafs das häufige Auftreten der Ichvorstellung und der jeder
Handlung vorausgehenden Vorstellungsreihe den Grund dafür bildet, dafs
wir unsere Ichvorstellung als Ursache unserer Handlungen betrachten.
Verf. behauptet, dafs wir dadurch aus uns herausgehen und unsere eigenen
ZuHchauer geworden sind. Und doch haben wir auch innerhalb der thieri-
f'chen Entwickelung zuerst Bewegungen ohne Bewufstsein. Erst später
kommt das Bewufstsein hinzu. Dieser Folge der Thatsachen kann sich
auch unser menschliches Sein nicht entziehen.
Es folgen allgemeinere Erörterungen: Eine Verbindung zwischen der
Welt als Materie (Realgrund) und als Bewufstsein (Idealgrund) besteht im
<je!ühl. Verf. wirft Spinoza, Kant, Ficute, Hegel, Schkllino und von Hart-
man» vor, dafs sie, statt von einer concreten Vorstellung auszugehen, von
einem abstracten Bewufstseinsbegriff ausgingen. Feldeog geht vom Ge-
438 LiteraturberMt
fahlflbewa&tsein aas. Er stimmt mit du Pbel darin flberein, data der Za-
sammenhang zwischen dem Metaphysischen und dem Real-Empirischen an
keiner Stelle unterbrochen ist, nnr für unser Vorstellen, und zwar da, wo
das zeit- und raumfreie Princip zur zeitlichen und rftumlichen Erscheinung
wird, da wo für unser Selbstbewufstsein das Gefühl einerseits zum Willens-
act sich verdichtet, andererseits zur Vorstellung sich erweitert. Diese
Grenze wird für höhere Wesen, als wir sind, eine andere sein, sie wird
zum Theil die transcendente Sphäre umfassen, welche für uns noch aolser-
halb liegt. Bei ihnen wird ein gröfeerer Theil des Gefühlslebens in an-
schauliches Verstandes- und Vernunftbewufstsein umgesetzt sein. Solche
Wesen werden daher von der Welt mehr erkennen, wiewohl nicht mehr
fühlen als wir. Diese Verschiebung wird sich im Verlaufe des biologischen
Processes so lange erneuem, bis das letzte Residuum des Gefühls erschöpft
und in erkennendes BewulJstsein umgesetzt sein wird. Im Sinne seiner
Theorie fortfahrend weist F. am entgegengesetzten Ende des geschilderten
biologischen Processes dem Thiere ein unvermindertes GefühlsbewufBtsein
zu als latentes Erkenntnifsbewufstsein. — Die Wirklichkeit ist nach F
„realphänomenale Causalität", die, soweit sie mit dem Subjecte in Ver-
bindung tritt, zum Wahmehmungsprocefs wird. In letzterem giebt es ob-
jective und subjective Elemente. Wo liegt die Grenze zwischen beiden?
Die Empfindung ist einerseits ein subjectives Element, andererseits rührt j
sie von ^An sich" der Wirklichkeit. Dies ist nur dann möglich, wenn das :
„An sich" der Wirklichkeit selbst ein subjectives Element ist. Dieses „An
sich" ist die Kraft. Sie ist nichts Materielles, nichts Gegenständliches,
sondern etwas Zuständliches und kann daher mit dem Bewufstsein, das
ebenfalls etwas Zuständliches ist, in Beziehung treten. Das Bewufstsein
ist das „An sich" im Subject. Mit mehrfacher Bezugnahme auf Kaitt und
mit einem Seitenhieb auf Brentano wird die Subject-Objectgrenze erörtert.
Man mufs annehmen, dafs wir schon, bevor ein Reiz sich in Empfindung
umsetzt, psychisch zwar nicht afficirt, aber constituirt sind. Das Wesen
dieser unserer metaphysischen Constitution besteht im Reizvermögen.
Ferner ist wahrscheinlich, dafs die psychophysische Schwelle sich allmäh-
lich verschiebt, dafs allmählich mehr vom transcendentalen Weltsttick
erkannt wird. Die Subject-Objectgrenze liegt somit im erkennenden
Wesen selbst.
Diese Ausführungen des Verf.'s enthalten viel AVahres. Dafs das
Gefühl das Urphänomen ist, bestätigt die Psychologie ohne Weiteres. Es
bildet so recht den Durchgangspunkt vom Physiologischen zum Seelischen,
von da zu höheren seelischen Aeufserungen. Denn jeder physiologische
Vorgang, der eine seelische Wirkung hervorbringen soll, mufs eine Ver-
bindung mit dem Gefühl eingehen. Alle Einwirkungen der Aufsenwelt sind
ursprünglich gefühlsmäfsig erfafst worden, woraus sich erst allmählich
differentientere Auffassungs weisen entwickelt haben.
Es folgen noch drei Aufsätze aus dem Gebiete der Ethik : Die ethische
Bewegung der Gegenwart erstrebt einerseits Unabhängigkeit vom Dogma,
andererseits Toleranz gegen die bestehenden Religionen. Der erste Grund-
gedanke der ethischen Bewegung ist der: „Suche zu ergründen, was deine
höchste Pflicht und Schuldigkeit ist." Dieses Motiv der Moral mufs höherer
Literaturbericht. 439
tnmscendental-endämonologischer Natur sein. Ein nur durch Utilitäts-
grfinde geleitete Moral ist armselig gegenüber einer Moral, welche von dem
Glauben an eine übersinnliche Ordnung geleitet wird, von der Ansicht,
dafs die Moral nicht nur menschliche Gültigkeit habe, sondern übermensch-
liche. — Ein wichtiges Moment ist hierbei der Glaube an eine Seelen-
wanderung. Eine solche ist unter der Voraussetzung einer blos empiri-
«chen Fassung dieses Ich schlechterdings undenkbar. Das Ganze unseres
Seelenlebens bildet eine Beihe aufeinanderfolgender Bewufstseinsacte.
^Unsere transcendentale Seelenhälfte ist Träger einer uns zukommenden
transcendentalen Individualität und durchläuft in einer Anzahl empirischer
Beincamationen, indem sie jedesmal mit einer neuen empirischen Seelen-
hftlfte, als Trägerin unserer empirischen Erscheinung, verbindet, eine Beihe
▼on Daseinsstufen.'' DaTis dazu die Erinnerbarkeit keine nothwendige Be-
dingung ist, zeigt die Thatsache, dafs auch die Träume derselben Nacht
susammenhangslos sind (?). — Die Beziehung auf fremdes Wohlergehen ist
kein erschöpfendes Kriterium der moralischen That. Es ist nicht richtig,
wenn man das handelnde Subject nur als Beflex der fremden Person gelten
lassen will. Jede moralische Bewerthung mufs vielmehr im Sinne des
transcendentalen Egoismus erfolgen. Den Beweis für die Existenz einer
höheren moralischen Weltordnung bildet das Gewissen. Was empirisch als
Verneinung des Willens erscheint, kann zugleich eine Bejahung im trans-
cendentalen Sinne bedeuten. Das in Entwickelung begriffene transcenden-
tale Subject kann nur auf dem Wege der Steigerung befindlich gedacht
werden (?) „Jede spätere Incarnation des Subjects kann in diesem Sinne
nur als eine weitere Vollendungsphase dieses Subjects im Vergleiche zur
vorhergehenden angesehen werden."
Verf. verräth in diesen Erörterungen einen hohen ethischen Schwung.
Seine Auffassungsweise zeigt Berührungspunkte mit der christlichen. Je-
doch ruhen die erbrachten Beweise offenbar auf unsicheren Füfsen.
GiEssLER (Erfurt).
Warxeb Fite. Art, Indastry and Science. Fsychol. Revieic 8 (2), 128—144.
ISOl.
Der Verf. versucht eine „psychologische" Begriffsbestimmung des
Schönen als verschieden vom Guten und Wahren. Er betont, dafs der
Mensch eine Reihe von Dingen als zum Leben absolut nothwendig be-
trachtet, dafs diese nothwendigen Dinge jedoch gänzlich verschieden sind
auf verschiedenen Culturstufen. Ein civilisirter Mensch könnte nicht ohne
Kleider leben, während der Feuerländer trotz seines kalten Klimas sie als
einen Luxusgegenstand betrachtet. Dinge, die zuerst nur um ihrer ästhe-
tischen Wirkung willen geschätzt wurden, gehören schliefslich zur Lebens-
nothdurft und verlieren dann nach Fite ihre ästhetische Wirkung. Die
Grenze zwischen dem Schönen und Guten ist daher keine absolute, sondern
abhängig vom Culturzustand des Individuums. Aehnlich unterscheidet er
das Schöne vom Wahren. Aesthetischer Genufs ist möglich nur unter der
Bedingung, dafs das Object des Genusses keine Stelle im wissenschaftlichen
System der Wirklichkeit hat. Das Vergnügen, das der Duft von Blumen
uns gewährt, würde nicht mehr ästhetisch sein, wenn wir eine deutliche
440 Literaturbericht.
Beziehung dieses Vergnügens zu unserm körperlichen Wohlsein zo er-
kennen vermöchten.
Dem Keferenten erscheint dieser Versuch einer psychologischen Be-
griffsbestimmung des Schönen nicht als gelungen, weil er zu einseitig, zu
unpsychologisch ist. Nach Fite ist es ein „Cremeinplatz^, daÜB diejenigen,
die am tiefsten durch ein Kunstwerk afficirt werden, nicht identisch mit
den besten Kennern des Kunstwerks sind. Ein Gremeinplatz mag das sein,
aber eine allgemeingültige psychologische Wahrheit ist es sicherlich nicht
Wenn es uns gelingen sollte, die psychologischen Wirkungen einer
Symphonie Beethovens bis in jede Einzelheit zu verstehen, so sollte das
den ästhetischen Genufs der Symphonie unmöglich machen? Den Beweis
dieser Behauptung hat Fitb noch nicht geführt. Sollten wirklich Teppiche,
bemaltes Porzellan und Bilder an den Wänden ästhetisch unwirksam sein,
weil man sie als Noth wendigkeiten betrachtet, ohne die man gar nicht
leben könnte? Dafs ein Gegenstand auf einer gewissen Culturstufe un-
entbehrlich wird, schliefst doch seinen ästhetischen Genufs nicht aus. Es
ist natürlich eine gewisse Wahrheit in Fite*s Behauptung, aber er scheint
sie ohne genügenden Grund verallgemeinert zu haben. In einer Anmerkung
am Schlufs weist er darauf hin, dafs seine Begriffsbestimmung nahezu alle
früheren Definitionen des Schönen in wechselseitige Beziehung setze, worin
er einen Vorzug zu sehen scheint. Aber andererseits könnte man daraus
schliefsen, dafs seine eigene Definition nicht das ganze Grebiet des Schönen
nmfafst, sondern nur denjenigen Theil, der in allen jenen anderen Defini-
tionen zufällig enthalten ist. Max Meyer (Columbia, Missouri).
E. W. ScRiPTURE. Observations on Rhythmic Äction. Science, N. S., 10 (257),
807—811. 1899.
Es giebt zwei Formen regelmäfsig wiederholter Handlungen ; entweder
die Versuchsperson wählt die Zwischenräume selbst; oder sie sind gegeben.
Danach unterscheidet S. „freie rhythmische Thätigkeit" und „geregelte".
Finde sich bei letzterer ein Urtheil des Subjects über das Zusammentreffen
seiner Bewegungen mit den Signalen, so beseitige dies alle physiologische
Theorie hierfür, insbesondere die EwALD'sche Tonustheorie. In der That
hat S. beobachtet, dafs die meisten Personen schon unmittelbar vor dem
Signal die Bewegung ausführen; zudem spricht für die subjective Natur,
dafs sich die Versuchsperson in einen neuen Rhythmus erst finden mufs.
Also sei die „geregelte'' rhythmische Thätigkeit nur eine modificirte „freie".
Bei dieser nun giebt es je nach der Person und den Umständen
immer ein Intervall, welches am leichtesten ausgeführt wird. Ist T diese
natürliche Periode und P ihr wahrscheinlicher Fehler, so glaubt S. für
den wahrscheinlichen Fehler p eines Intervalls t das Gesetz aufstellen zu
können :
.p(.+.[-a-).
wobei c eine persönliche Constante. Daraus würde sich dann ergeben, dafa
kleine Abweichungen von der natürlichen Periode die Schwierigkeit nicht
Literaturbericht. 441
sehr erhöhen und, dafs diese schneller für kleinere als für gröfsere Inter-
valle wächst. Alles Genauere hierüber wäre einer früheren Abhandlung
S.*8 {Scietice N. S. 4, 536) zu entnehmen, welche Ref. nicht auftreiben konnte.
Ettlinobb (München).
A. DiEHL. Ueber die Eigenschaft der Schrift bei Gesanden. Kraepeiin's
PsycM. Arbeitai 3, 1—61. 1899.
Als Versuchspersonen dienten je 4 Wärter und Wärterinnen der Heidel-
berger Universitätsirrenklinik, die an Bildung dem Durchschnitt der Patienten
nahe standen. Denn mit Recht erblickt Verf. in der Schriftuntersuchung
eine wichtige Handhabe zur Erforschung der Willensstörungen, die bisher
noch viel weniger wissenschaftlich ergründet sind als die Krankheiten des
Intellects. Die den Experimenten vorausgegangene. Arbeit war zwar nicht
immer die nämliche, erwies sich aber ohne Einflufs. Auf gleiche Wieder-
holung des Auftrages wurde peinlichst geachtet ; letzterer bestand darin, auf
der Schriftwaage mit einem stets gleichmäfsig gespitzten Kohinoorstifte
Nr. H. B. die Zahlen von 1 — 10 auf ein gut geleimtes Kärtchen zu schreiben,
und zwar an 5 Tagen zunächst 2 mal hinter einander langsam und sorg-
sorgfältig (Z) und dann nach 2 Min. Pause 2 mal so schnell wie möglich (S).
An weiteren 5 Tagen wurden die Zahlen nochmals 4 mal hinter einander
so schnell wie möglich geschrieben und an allen 10 Tagen bildete den
Schlufs die umgekehrte Reihe von 10 — 1 in der bequemsten Weise (R), Es
ergab sich nun, dafs der Schreibweg, der mit einem eigens construirten,
genau beschriebenen und auf dem Principe der Aehnlichkeit von Figuren
mit parallelen Umfassungslinien beruhenden Curvimeter bestimmt wurde,
bei L am längsten und bei R am kürzesten war. Es wurden also die
Schriftztige um so kleiner, je schwieriger die Aufgabe war. Ebenso nimmt
der Weg unter allen 3 Versuchsbedingungen von Tag zu Tag ab. Die
Wiederholung des Versuches an demselben Tage vergröfserte ihn bei L
und verkürzte ihn bei S. Die Tagesschwankungen waren unbedeutend, bei
S am gröfsten. Die Schreibdauer — gemessen durch die Zeitschreibung,
welche die Fünftelsecundenuhr an der rotirenden Trommel lieferte — war
bei Nichtberücksichtigung der Binnenpause am längsten bei X, am kürzesten
bei S\ durch die AViederholung der Aufgabe verkürzte sie sich, namentlich
bei L. Die Schwankungen der einzelnen Tage waren hier bei S am ge-
ringsten, bei L am gröfsten. — Die Millimeterzeit d. h. die Zeit für
1 mm Schreibweg ausgedrückt in hundertstel Secunden {^), wurde durch
Division des Schriftwegs in die Schriftdauer gewonnen und liefert ein
Maafs für die Schreibgeschwindigkeit. Sie ist bei L fast um ein
Viertel gröfser als bei S, aber nur wenig gröfser als bei R; durch die
Wiederholung des Versuchs wird sie bei L kleiner, bei S etwas gröfser;
im Laufe der Versuchstage wächst sie, vielleicht in Folge einer gewissen
Erregung am Anfange. Die Tagesschwankungen sind am gröfsten bei i?,
am kleinsten bei S. — Die Pausendauer zwischen den einzelnen Zahlen
ist bei L am gröfsten, bei S am kleinsten, wird durch die Wiederholung
verkürzt und nimmt im Laufe der Versuchstage ab, namentlich vom 1. zum
2. Tage. Sehr grofs sind ihre Tagesschwankungen. — Die Binnen -
pausen bei den Zahlen 4, 5 und 10 sind durchschnittlich halb so lang >Ni^
442 Literaturberickt
die Pausen zwischen den Zahlen, verhalten sich aber sonst wie diese. Die
von 10 ist die kürzeste bei L und S, die längste bei R, wahrsckeüüicli in
Folge der Stellung; zeigte doch beim Vorwärtsschreiben die 10 oft eine
theilweise Verbindung der beiden Ziffern. Die Binnenpause von 4 ist
meist länger als die von 5, jedenfalls in Folge der schroffen Richtangs-
änderung und der Wichtigkeit des 2. Bestandtheils. — Der Schreib-
druck, gemessen an dem höchsten Drucke bei jedem Schriftzug und zwar
vermittelst der Schriftwaage in der von Gross {Psychol. Arbeiten 2, 450ff.)
angegebenen Weise, war am geringsten bei L, am gröfst^n bei R; darch
die Wiederholung der Aufgabe wurde er gröfser bei L und geringer bei 8.
Im Verlauf der Tage nimmt er ab. Die Tagesschwankungen sind bei B
und S gröfser als bei L, nehmen bei der Wiederholung von L zu, bei der
von S ab. — Die einzelnen Zahlen zeigen in der Dauer bedeutende
Verschiedenheiten, so dafs die kürzeste zur längsten sich verhält wie
100 : 242. Ihre Ordnung, nach dem arithmetischen Mittel bestimmt (Ord. l\
ist: 1, 6, 9, 8, 3, 2, 7, 5, 4, 10 und nach dem Durchschnittswerthe für die
einzelnen Personen (Ord. II) : 1, 6, 3, 9, 8, 7, 2, 4, 10, 5. Ein Unterschied
zwischen der vorwärts oder rückwärts geschriebenen Keihe ist nicht vor-
handen, was gegen den Finflufs der Stelle spricht; dagegen scheint die
Pause von Einflufs zu sein. Dem AV e g nach ergab Ord. 1 : 1, 5, 4, 6, 3, 7,
2, 8, 9, 10 und Ord. II : 1, 5, 4, 3, 6, 7, 8, 2, 9, 10. Offenbar kommt hier der
Wechsel des Einflusses der Pause und der schroffen Richtungsänderung 4
und ö zu statten, während 6, 9, 8 wegen ihrer Bundung einen relativ
grofsen Weg bei geringer Dauer haben. Die Millimeterzeit, deren
kleinste sich zu der gröfsten nur wie 100 : 145 verhält, ist am kleinsten bei
10 und 9, am gröfsten bei 4 und 5; auch 3 und 1 wurden langsam ge-
schrieben. Es werden also die Zahlen mit kurzem Weg verhältniXiBin&&ig
langsam geschrieben. — Das Geschlecht zeigte sich insofern von Ein-
flufs, als der Weg bei L bei Männern kleiner war als bei den Frauen, die
Schnörkeleien liebten; bei S und R drehte sich dagegen das VerhältniÜB
um. Die Wiederholung war ohne Einflufs. Die persönlichen Differenzen
sind hier bei den Frauen gröfser. Die Dauer des Schreibens wie der
Pausen war bei den Frauen geringer als bei den Männern, namentlich
zeigte sich dieses bei L. Auch hier ist die Wiederholung ohne Einflufs;
dagegen sind die persönlichen Differenzen hier bei den Männern gröfser,
namentlich bei -S und B. Die Millimeterzeit ist bei den Frauen kürzer
und weist zwischen L und »S geringere Unterschiede auf. Für R liegt sie
bei den Männern zwischen L und 8, während sie bei den Frauen hier am
gröfsten ist. Die persönlichen Differenzen sind hier bei den Frauen gröfser,
namentlich bei S. Der Druck ist bei den Frauen kaum halb so grofs wie
bei den Männern; der Unterschied ist gröfser bei 8 als bei L; auch die
persönlichen Differenzen sind hier bei den Männern gröfser. Bei R wird
der Druck noch gröfser als bei ^', namentlich aber bei den Männern. Ad
persönlichen Eigenthümlichkeiten ergab sich, dafs die Tages
Schwankungen des Weges und der Dauer bei L für die einzelnen Personen
annähernd gleichmäfsig sind, während bei S die der Dauer und Millimeter
zeit abnehmen und die des AVeges zunehmen; nur 1 Versuchsperson, die
bei L die gröfste und bei 8 die kürzeste Dauer aufwies, zeigt bei S eine
Literatarbericht. 443
Btirke VergrOfserung der Schwanknngen bei der Dauer und auffällige
Gleichm&Tsigkeit und Vergröfserung des Weges. R führte im Allgemeinen,
abgesehen von der eben erwähnten Person, zur Abnahme und gröfseren
Gleichmäfslgkeit der Dauer im Vergleich mit L; auch der Weg nahm hier
ab, ohne dafs aber die Gleichmäfsigkeit gröfser wurde. Am gröfsten sind
die Tagesschwankungen der Pausendauer und zwar besonders bei L und
am wenigsten bei R. Die Reihenfolge der Personen in Bezug auf die
Schwankungen der Tage wechselt mit den Versuchsbedingungen. Bildet
man aus den Werthen für die letzteren wieder einen Mittelwerth und be-
rechnet die mittlere Variation, so sind die so erhaltenen Schwankungen
am geringsten beim Weg, etwa 10 mal so grofs bei der Dauer des Schreibens
und noch gröfser bei der Pausendauer. Bestimmt man die Reihenfolge
der Personen nach den Werthen für die einzelnen Eigenschaften der Schrift,
so bleibt sie im Grofsen und Ganzen in Bezug auf Weg, Dauer des
Schreibens und der Pause, und Druck unter den verschiedenen Bedingungen
die n&mliche, während sie in Bezug auf die Millimeterzeit weit weniger
feststehend ist; diese ist also mehr von der persönlichen Veranlagung ab-
hängig, während jene unter den verschiedenen Bedingungen für die ver-
schiedenen Personen in annähernd gleichmäfsiger Weise sich verändern.
Jedenfalls dürfen nur Schriften unter möglichst gleichen Bedingungen mit
einander verglichen werden.
Wie Verf. selbst zugiebt, erblickt er den eigentlichen Werth dieser
Untersuchung weniger in den noch „unsicheren" Ergebnissen, als in
dem Einblick in die Bedingungen des Schreibens. Diesen Erfolg hat
er sicherlich erreicht. Je mehr sich auf graphologischem Gebiete der
Dilettantismus breit macht, um so dankenswerther sind derart exacte,
nflchterne und von jeder Sensation freie Arbeiten. Nicht unbedenklich
scheint mir die Vereinigung der Werthe für alle Zahlen und für alle Per-
sonen, um Mittelwerthe für den AVeg, die Dauer etc. zu gewinnen. Aller-
dings wird das Bedenken dadurch geschwächt, dafs hinterher die einzelnen
Zahlen und Personen auch wieder getrennt betrachtet werden. Eine Er-
mftdung nimmt Verf. bei diesen kurzen Versuchen nicht an; es will mir
scheinen, als ob sie namentlich beim schnellen Schreiben doch nicht so
ganz auszuschliefsen ist; sie erklärt vielleicht die Wiederholungs-
erecheinungen besser als der „Nachlafs des Antriebes". Auch die Zeit-
folge der Reihen hätte beachtet werden müssen; manches Ergebnifs bei
den rückläufigen Reihen dürfte in dem Umstände seine Erklärung finden,
dafs diese immer am Schlüsse der Sitzung vorgenommen wurden. Ebenso
hätte das schnelle Schreiben nicht immer nach dem langsamen erfolgen
»ollen. — Tabelle XX auf S. 34 ist offenbar die der Pausendauer und XIX
die der Schreibdauer schon für auf — und absteigende Reihe; dem-
entsprechend ist auch der Zusatz „Tab. XX "* in der letzten Zeile von S. 33
am falschen Platze ; er gehört auf S. 35. A. AVbeschneb (Zürich).
Harlow Gale. A Gase of Älleged Loss of Personal Identity. Psychol. studier
by Gale (1), 140—156. 1900.
In einem Fall, wo einige Zeit hindurch völliger Verlust des Gedächt-
nisses vorgegeben wird, liegt wegen früherer Verbrechen der Verdacht der
444 Literaturbertcht
Simulation nahe, znmal bei der allmählichen Wiederkehr gerade alles Nach-
theilige verleugnet wird; und dies auch in der Hypnose, deren Ek^htheit
G. deshalb (?) bezweifelt. Trotzdem schliefst G. aus deutlichen Anzeichen
Yon „Gröfsen- und Verfolgungswahn*' auf Unzurechnungsfähigkeit ; dafs mit
dieser ein sehr hoher Grad von Verlogenheit verbunden sein kann, würdigt
er zu wenig. Mehr thut dies in einem beigegebenen Gutachten der Irren-
arzt Dr. ToMLiNsoN, der den Fall als einen solchen von Epilepsie bezeichnet,
bei dem ,,die Krampfanfälle durch das Auftreten des sog. Doppelbewufst-
seins ersetzt seien''. Ettlinger (München).
Erwiderung.
Die auf S. 134 des vorliegenden Bandes dieser Zeitschrift erschienene
kurze Besprechung meiner Abhandlung über den Begriff des Wirklichen
hat bei der Angabe dessen, was nach mir das Wesen des Wirklichkeits-
bewufstseins ausmacht, nur einen Theil der von mir betrachteten Fälle von
Wirklichkeitsbewufstsein berücksichtigt, indem sie sagt: „Der Grundge-
danke des Verf.'s ist, dafs das Wirklichkeitsbewufstsein seinem Wesen nach
Selbstverlorenheit in etwas ist, das als vom Ich verschieden erscheint. '^
Schon die an der Spitze der ganzen Abhandlung stehende Gliederung läfst
das in die Augen fallen, da für den zweiten Theil als Abschnitte ange-
geben sind:
I. Es besteht Selbstverlorenheit in etwas, das vom Ich verschieden
erscheint.
IL Es besteht keine Selbstverlorenheit in etwas, das vom Ich ver-
schieden erscheint.
Dementsprechend beginnt der zweite Abschnitt (S. 78) mit den Worten :
„Damit sind die Hauptfälle erledigt, wo für den Wirklichkeitsbegriff Selbst-
verlorenheit in etwas wesentlich ist, das vom Ich verschieden erscheint."
In diesem zweiten Abschnitt werden dann neben Fällen, wo überhaupt
noch Selbstverlorenheit besteht, andere angeführt, wo solche gar nicht
besteht.
Erst dadurch wird übrigens verständlich, weshalb es bei den vorher
besprochenen Fällen heifst, „Selbstverlorenheit in etwas, das vom Ich ver-
schieden erscheint", und nicht einfach „Selbstverlorenheit" sei da für den
Wirklichkeitsbegriff wesentlich ; das läfst die in Rede stehende Besprechung,
weil sie den zweiten Abschnitt nicht berücksichtigt, zugleich im Unklaren.
Auch hätte wenigstens mit ein paar Worten zu erwähnen nahe ge-
legen, dafs in meiner Abhandlung die Schilderung der mannigfachen
Nuancen, welche der Wirklichkeitsbegriff von Fall zu Fall annimmt, neben
„der Deduction und der Vertheidigung" des Grundgedankens einen breiten
Kaum einnimmt. H. Raeck (Eisleben).
Namenregister.
FettEedraakUSelMnuhlen bexiehan sich *of denTerfunr einer OriginiUbhandlDDg, SaltM-
Mahlen mit t >af dsn Terfunr elnu rcferirten Bachea oder einer leterirten Abhutdloug,
Seit«iu»lilen mit * tut den VertUaet eines Belentes.
A.
A»rB, B.R. Kr. 289.t
Äbelsdorfl, G. 121.* 123.«
263.« 263.' 264." 264.«
269.» 3M.»
Airutt, 8. 231.t
Angiolellft, G.. 302.t
Aschaffenbarg 269.* 299.«
aOO.* 302.'
B.
Bastian, Ä. 303.t
Bechterew, W. v. 119.t
Beilei, G. 269.t
Berkley, H. J. I40.t
Beet, F. 424.t
Bickol, A. 267.t
Binet-SangliS Ch. 265-1
Sirch&eichenwald Aara,
Kr. 289,t
Blozek, B. 2T0.f
Bois-Be ymonil,R.dn 117.f
BonhöEfer K. 143.t
Boe, C. l34.-i-
Bourdon, B. 128.f
Boutrouz, L. 123.t
Bramwell, J. M. 140.t
Brilckner, A. 88.
BraDschwicg 436,f
Buchhol« 297.+
Busse 278. •■ 279.-
Csjal, 8. Ramon y 251. f
Campbell, A. W. 266.+
Campell, H. 136.+
Cramer 292.+
Cyon, E. de 127.+
D.
Dantec, F. le 107.+
Davies, H. 2S6.+
Diehl, A, 441.+
Druault, A. 264.+
Dagaa 137.+
Button, J. E. 252.+
E.
Edinger, L. 419.+
Ellie, H. 2B6.+
Elsenhans, Th. 249.+
Erdmann, B. 276.+
Ettünger 1;«.*27I.*421,*
425.* 436.» 441.« 444.'
F.
Feldegg, v. 436.+
Finzi, J. 432.+
Fite, W. 271.+ 139.+
Forel 112.+
Freud, S. 130.+
Frendenthal, B. 144.*
Friedmann, M. 296.+
Fuchs, W. 296.+
G.
Gale, H. 270.+ 421.+ 443.+
Gale, M. C. 421.+
Görard-Varet I08.+
Giefsler 108.* 109.' 130.»
134.» 136,* 138.« 273.+
Grofs, H. 136,+
GroOB, K. 145.
H.
Httcker, V. 116 +
Hagen, A. 268+
Hahn, R. 283.
Hamburger, C. 263.+
Read, H. 266.+
Heine, L. 268.+ 425.«
Heinrich, TV. 124+ 124 +
Heller, Th. 111.* 112.*
Hering, H. E. 422+
Heymans, G. 805. 418.*
Hill, A. 251.+
Himstedt, F. 263.+ 264.+
Hirscblaö, L. 254.* 296.«
301.«
Hitzig, E. 269.+ 261.+
Hohenemser, R. 61.
Hnther, A. 286.+
Kalischer, 0. 421.+
Keraeies, F. 111.+ 249+
271.+
KiesoK 116.* 127.« 140.*
231.'267.«268.*286.*288.
Koch, H. 249.+
König, A. 424.*
König, E. I09.+ 418.+
Kreibig 249.«
446
Namenregister.
Kretschmer, E. 247.t
Krüger, F. 265.t
L.
Laquer, L. 141.f
Le Dantec, F. 107.t
Lobsien, M. 270.t
Löwenfeld, 293.t
M.
Magnus, H. 423.t
Mally, E. 212.f
Marchand, L. 299.t
Matthäi 262.t
Mayer, A. 1.
Merzbacher 256 * 257 *
258* 261 * 420.* 420*
422 * 422 *
Meyer, M. 123*264.t440*
Möbins, P. J. 300.t
Moskiewicz 117* 118*
119.* 119 * 120 *
N.
Nagel, W. A. 263.t 264.t
0.
Obersteiner 291.f
Obici, G. 299.t
Offner 134 *
Oelzelt-Newin 144.t
Orth, J. 1.
Ossipow, V. P. 118.t
P.
Parker, G. H. 121.t
Patrick, G. W. 124.t
Pelman 289.* 295 * 297 *
Pikler, J. 227.
Preyer 420.t
R.
Raeck, H. 134.t 444.t
Ramön y Cajal, S. 261.t
Reich, E. SOl.f
Ribot, Th. 247.t
Ritchie, E. 289.t
RoUett, A. 254.t
Rudeck, W. 303.t
S.
Samter 302.t
Sanctis, S. de 139.t
Saxinger 137 * 251.* 273 *
275.* 290.*
Schäfer 116 * 124.* 124.*
128.*
Schaffer, K. 252.t
Schmid, B. 250.t
Schrenck-Notzing,v. 294.f
Schröder 140.* 141.* 251.*
252.* 254.* 255.*
Schnitze, E. 252.* 253.*
259.* 262.* 262.* 290.*
291.* 294.* 296.* 301.*
302.* 302.* 303*
Scripture, E. W. 440.t
Seashore, G. E. Il3.t
Sommer, G. 267.t
Stern, W. 133.* 247.* 247.*
249.* 249.* 250.* 265.*
270.* 270.* 271.* 271.*
286.* 286.* 289.*
Storch, E. 105. 200.
Stratton, G. M. 123.t
T.
Tallmann, R. W. 425.t
ThiUy, F. 136.i 249.t
Trüper 143 * 144.*
Tchermak, A. 121.t dOLf
Tschisch, W. v. 14.
u.
Ufer 421.*
Umpfenbach 113.* 135.*
138.* 139.*
Uschakoff, J. 253.t
V.
Vaschide, N. 299.t
Verwom, M. llT.f 119.t
Villa, G. 247.t
Vogt, O. 138.t 138.t
Vogt, R. 425.t
Vold, J. M. 133.t
w.
Warrington, W. B. 252.t
Wedensky, N. E. 2ö6.t
Wentscher, M. 418.t
Weygandt 299.*
Wiener, O. 420.t
Wiersma, E. 168.
Windscheid 290.t
Wreschner, A. 432.* 436.*^
443.*
z.
Zeitler, J. 279.t
Zeller, E. 278.t
Ziehen, Th. 295.t
Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naamburg a. S.
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In Gemeinschaft mit
S. Exner, E. Hering, J. v. Kries, Th. Lipps,
G. E. Müller, C. Pelman, C. Stumpf, Th. Ziehen
herausgegeben von
Henn. Ebbinghans nnd Arthur König.
27. Band.
Leipzig, 1902.
Verlag von Johann Ambrosius Barth.
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Inhaltsverzeichnifs.
Abhandlungen. seit«
-Vbthub König f 146
0. Hess. Zur Kenntnifs des Ablaufes der Erregung im Sehorgan . . 1
RoBEBT Saxingbb. Uebor den Einflufs der Gefühle auf die Vorstellungs-
bewegung 18 u. 224
Mabx Lobsien. Experimentelle Untersuchungen über die Gedächtnifs-
entwickelung bei Schulkindern 34
Wilhelm Sternbero. Geschmacksempfindung eines Anencephalus . . 77
F. KiKsow u. B. Hahn. Ueber Geschmacksempfindungen im Kehlkopfe 80
0. Stumpf. Ueber das Erkennen von Intervallen und Accorden bei
sehr kurzer Dauer 148
Helen B. Thompson und EIatharina Sakijewa. Ueber die Flächen-
empfindung in der Haut 186
Kabl Marbb. Bemerkung zu der Arbeit von Wiersma, diese Zeitschrift
26, 168 ff 200
Theod. Lipps. Zur Theorie der Melodie 225
^V. A. Naoel. Stereoskopie und Tiefenwahrnehmung im Dämmerungs-
sehen 264
^V. 4.. Nagel. Ueber die Wirkung des Santonins auf den Farbensinn,
insbesondere den dichromatischen Farbensinn 267
^^ A. Nagel. Zwei optische Täuschungen. Nach Beobachtungen von
Prof. Danilewsky 277
^H. Ziehen. Erkenntnifstheoretische Auseinandersetzungen .... 305
^'- Uhthopp. Ein weiterer Beitrag zur angeborenen totalen Farben-
. blindheit 344
£. Storch. Ueber die Wahrnehmung musikalischer Ton Verhältnisse . 9^1
A. BoEscHKE u. L. Hescheles. Ueber. Bewegungsnachbilder 387
^. DU Bois-Betmond. Zur Lehre von der subjectiven Protection . . . 399
Heyma>'8. Berichtigung 144
Llteratnrbericht und Besprechungen.
L Allgemeines.
^- J.- MöBius. Stachyologie. Weitere vermischte Aufsätze 106
^- V. Habtmann. Die moderne Psychologie 95
^* Hollakdbb. The Present State of Mental Science 412
IV Inhaltaverzeidinifs,
Seite
JuL. Bergmann. Seele und Leib 104
W. B. B. GiBSON. The Principle of Least Action as a Psycbological
Principle 202
J. Jastrow. Some Currents and Undercurrents in Psychology ... 103
6. Hiemann. Taubstumm und blind zugleich. Vortrag 287
Paul Biemann. Beeinflussung des Seelenlebens durch Taubheit . . . 411
Benno Ebdmann. Die Psychologie des Kindes und die Schule . . . 412
J. GoHN. Was lernt die Psychologie von der Pädagogik? 288
A. Moll. lieber eine wenig beachtete Grefahr der Prügelstrafe bei
Kindern 20ä
W. Ch. Bagley. On the Correlation of Mental and Motor Ability in
School Children 416
Alb. Liebmann. Die Sprachstörungen geistig zurückgebliebener Kinder 28^
W. Ament. Die Entwickelung von Sprechen und Denken beim Kinde 285
K. Pappenheim. Die Kinderzeichnung im Anschauungsunterricht . . 288
L. William Stern. Ueber Psychologie der individuellen Differenzen.
(Ideen zu einer „differentiellen Psychologie") 282
Sophia Bbtant. The Double Effect of Mental Stimuli; a Ck)ntra8t of
Types 125
F. V. LüscHAü. Ueber kindliche Vorstellungen bei den sogen. Natur-
völkern 203
Th. Ziehen. Das Verhältnifs der HERBART*schen Psychologie zur physio-
logisch-experimentellen Psychologie 105
Th. Flournot. Observations psychologiques sur le spiritisme .... 204
H. Wegener. Die psychischen Fähigkeiten der Thiere 289
W. S. Small. Experimental Study of the Mental Processes of the Rat. II . 415
L. W. Stern. Die psychologische Arbeit des 19. Jahrhunderts, insb.
in Deutschland 201
IL Anatomie der nervösen Centralorgane.
JoLES SoüRY. Le Systeme nerveux central, structure et fonctions.
Histoire critique des th^ories et des doctrines 40S
J. Turner. Observations on the Minute Structure of the Cortex of the
Brain as revealed by the Methylene Blue and Peroxide of
Hydrogen Method of Staining the Tissue ....*.... 416
M. Probst. Ueber den Verlauf der Sehnervenfasern und deren Endigung
im Zwischen- und Mittelhirn 416
W. Barratt. On the Changes in the Nervous System in a Oase of
Old-Standing Amputation 417
m. Physiologie der nervösen Centralorgane.
G. von Bunge. Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Erster Band :
Sinne, Nerven, Muskeln, Fortpflanzung in 28 Vorträgen ... 203
R. Müller. Ueber Mos80*s Ergographen mit Bücksicht auf seine
physiologischen und psychologischen Anwendungen 106
J. Orchansky. Le m^canisme des ph^nomänes nerveux 106
Th. Beer, A. Bethe u. J. v. Uexküll. Vorschläge zu einer objectivirenden
Nomenclatur in der Physiologie des Nervensystems . . • . • 112
Inhaltsverzeichnifs, V
Seite
0. Fkbrikb and W. A. Tcbmbb. Experimental Lesion of the Corpora
Qnadrigemina in Monkeys 418
H. Pbobst. Experimentelle Untersuchungen über die Anatomie und
Physiologie des Sehhügels 417
— Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnver-
letzungen 417
— Physiologische, anatomische und pathologisch-anatomische Unter-
suchungen des Sehhügels 417
A. BiNBT. Nouvelles recherches sur la consommation du pain, dans
ses rapports avec le travail intellectuel 111
rv. Sinneaempfindungen. Allgemeines.
Ts. Bbsb. Ueber primitive Sehorgane 112 u. 294
B. Hesse. Untersuchungen über die Organe der Lichtempfindung bei
niederen Thieren 112
0. EüLpB. Ueber das Verhältnifs der ebenmerklichen zu den über-
merklichen Unterschieden 289
V. Fhyslologiscbe und psychologisohe Optik.
GrsTAV Fbitsch. Vergleichende Untersuchungen menschlicher Augen 207
— Rassenunterschiede der menschlichen Netzhaut 207
Ä. Tschbbmak. Ueber physiologische und pathologische Anpassung
des Auges 419
J. Piltz. Sur les nouveaux signes pupillaires dans le tabes dorsal . . 426
L Pnx}Biii. Einige Aufgaben der Wellen- und Farbenlehre des Lichtes 418
W. H. R. BivBBS. Primitive Color Vision 419
A. Pick. Kritik der HERXNo'schen Theorie der Lichtempfindung . . . 422
M. F. McClcbp. A ^Color Illusion" 423
M. B. BoüBDON. La distinction locale des sensations correspondantes
des deux yeux 119
A. BiELSCHOwsKY. Ueber die sogen. Divergenzlähmung und Discussion
dieses Vortrags 425
W. A. Nagel. Ueber das BELL'sche Phänomen 424
Ratmoxd Dudob and T. S. Cline. The Angle Velocity of Eye Movements 119
A, TüYL. Ueber das graphische Kegistriren der Vorwärts- und Rück-
wärtsbewegungen des Auges 423
Fb. Schbnck. Ueber intermittirende Netzhautreizung. 8. Mitth. . . . 420
— n. W. Just. Ueber intermittirende Netzhautreizung. 9. Mitth. . . 420
Wilhelm Wibth. Der FECHNEB-HELMHOLTz'sche Satz über negative Nach-
bilder und seine Analogien 290
JcsE E. DowNEY. An Experiment on getting an After-Image from a
Mental Image 119
J. M. Gillettb. Multiple After-Images 119
Büke. Hydrophthalmus und Myopie 425
J. B. Hofmann u. A. Bielschowsky. Die Verwerthung der Kopfneigung
zur Diagnostik von Augenmuskellähmungen aus der Heber- und
Senkergruppe 424
W. A. Naosl. Der Farbensinn der Thiere 421
VI InhalUverzeiehnifi.
Seite
VX Physiologisohe und psychologische Akustik«
C. Stumpf. Tonsystem und Musik der Siamesen. Mit einer Belage:
Partitur und Melodie eines siamesischen OrchesterstÜcks . . . 810
F. A)70BLL. Discrimination of Clangs for Different Intervals of Time.
Part, n 426
Mabage. Formation des voyelles 121
F. Kbübger. Zur Theorie der CombinationstOne 296
G. Lange. Zur Geschichte der Solmisation 120
vn. Die übrigen specifischen Sinnesempflndungen.
A. M. Pastore. Sülle oscillazioni delle sensazioni tattili prodotte con
stimolo meccanico, e sulle oscillazioni nella percezione della
figura di Schroeder 20B
F. KiESOw. Contributo alla psico-fisiologia del senso tattile 206
Annibale M. Pastore e Luioi Aqliardi. Sulle oscillazioni delle sen-
sazioni di deformazione cutanea 206
A. BiNBT. Kecherches sur la sensibilit^ tactile pendant l'^tat de
distraction 121
A. J. KiNNAMAN. A Comparison of Judgments for Weights Lifted with
the Hand and Foot 427
H. ZwAARDEHARER. Les scusations olfactives, leurs combinaisons et
leurs compensations 297
F. KiBsöw. Das Verhältuifs der Geschmacksempfindungen zu einander 406
Hjalmar Oehrwall. Die Modalitäts- und Qualitätsbegriffe in der
Sinnesphysiologie und deren Bedeutung 406
VIIL Baum« Zeit. Bewegung und Veränderung. ZahL
L. Heupstead. The Perception of Visual Form 429
E. J. Swift. Visual and Tactuo-Muscular Estimation of Length ... 490
Klaudia Mabkota. Contribution de la perception st^röognostique . . 428
J. R. Angell u. W. Fite. The Monaural Localization of Sound ... 122
C. E. Seashore u. M. C. Williams. An Illusion of Length 122
H. JüDD. A Study of Geometrical Illusions 122
IX. BewuDstsein und UnbewuTstes. Aufmerksamkeit. Schlat
Ermüdung.
A. Einet. Attention et Adaptation 1
E. Thorndike. Mental Fatigue 1
X. Hebung, Association und GedachtniDi.
G. Cordes. Experimentelle Untersuchungen über Associationen. . .
N. Triplett. The Psychology of Conjuring Deceptions
XI. Vorstellungen.
Raymond Dodoe. The Psychology of Reading
S. H. Mellone. The Nature of Self-Knowledge
R. EisLBR. Das Bewufstsein der Aufsenwelt. Grundlegung zu einer
Erkenn tnifstheorie
H. R. Marshall. Oonsciousness^ Self-Oonsciousness and the Seif . .
Inhaltwerzeichnifa. VII
Seite
A. Pick. CUnical Stodies in Pathological Dreaming 433
W. Ch. Bjlolbt. The Apperception of the Spoken Sentence. A Study
in the Psychology of Langnage 430
Gefühle.
(k. S. Mtkbs. Experimentation on Emotion 132
C. H. SniBBiNGTOir. Experimentation on Emotion 132
GioBOBs DüMAs. La tristesse et la joie 215
Ch. TtBk. L*in8tinct sexuel, Evolution et dissolution 134
F. H. Sakdsbs and Stanlbt Hall. Pity 433
M. W. Calkiks. An Attempted Experiment in Psychological Aesthetics 131
l LiBouiEBS DES Bancels. Los m^thodes de l'esth^tique exp^rimentale.
Formes et couleurs 132
Tuö HntN. The Origins of Art. — A Psychological and Sociologieal
Inquiry 434
- The Psychological and Sociologieal Study of Art 213
Sjlttesoise. Religion et folie 133
Xm. Bewegungen und Handlungen.
L HntscHLAPF. Zur Methodik und Kritik der Ergographenmessungen 299
A. W. Trettisn. Creeping and Walking 441
HnrBT HüOHES. Die Mimik des Menschen auf Grund voluntarischer
I^sychologie 218
Alfred EChtmamn. Maine de Biran. Ein Beitrag zur Geschichte
der Metaphysik und Psychologie des Willens 439
J. Türkheim. Zur Psychologie des Willens 437
HsEMAKN ScHWABz. Psychologie des Willens (zur Grundlegung der Ethik) 437
St. Sh. Colvik. The Fallacy of Extreme Idealism 432
S. T. W. Patbick. The Psychology of Profanity 136
^ Näcke. Zur Pathogenese und Klinik der Wadenkrämpfe .... 442
XTV. Neuro- und Psychopathologie.
LowETfFELD. Der Hypnotismus. Handbuch der Lehre von der
Hypnose und der Suggestion mit besonderer Berücksichtigung
ihrer Bedeutung für Medicin und Bechtspflege 444
. Baginsky. lieber Suggestion bei Kindern 210
MOV. Exp^riences de suggestious sur les debiles 137
. Gaupp. Die Entwickelung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert . . 299
MiL Kbapelik. Einführung in die Psychiatrische Klinik. Dreifsig
Vorlesungen 137
. Stürrino. Vorlesungen über Psychopathologie in ihrer Bedeutung
für die normale Psychologie mit Einschlufs der psychologischen
Grundlagen der Erkenntnifstheorie 443
"b. SmoK. Becherches anthropom^triques sur 223 gar^ons anormaux
ag^s de 8 ä 23 ans 138
V- Robertson. Unilateral Hallucinations ; their Belative Frequency,
Associations^ and Pathology 303
VIII InhaifsverzeichnifB.
Seite
Bernabd Holländer. The Cerebral Localisation of Melancholia ... 447
A. PiLEZ. Die periodischen Geistesstörungen. £ine klinische Studie . 220
J. MicKLE. Mental AVandering 303
K. KöLLE. Der erste Unterricht bei Schwachsinnigen 302
ToBiE JoMCKHEEBE. lieber den Einflufs der Musik auf die Bewegungen
bei schwachsinnigen Kindern 302
Hegab. Zur Frage der sog. Menstrualpsychosen. Ein Beitrag zur Lehre
der physiologischen Wellenbewegungen beim Weibe ..... 303
N. Vaschide e Cl. Vurpas. Di alcune attitudine caratteristiche
d'introspezione somatica patologica 302
Wachsmuth. Cerebrale Einderlähmung und Idiotie 447
P. SoLLiER. Psychologie de Tldiot et de l'Imb^cile 447
Baron Mourbe. Les causes psychologiques de l'aboulie 139
H. LiEPMANN. Das Krankheitsbild der Apraxie („motorische Asym-
bolie^) auf Grund eines Falles von einseitiger Apraxie .... 300
E. CLAPARiiDE. Revue g^n^rale sur Tagnosie (c^cit^ psychique etc.) . 139
— Bibliographie sur l'agnosie 139
XV. Sooialpayohologie.
Novicow. Les castes et la sociologie biologique 142
E. DE BoBEBTY. Morale et psychologie 140
Palante. Le mensonge de groupe: ^tude sociologique 142
Sydney Ball. Current Sociology 304
A. Grotjahn. Die Trunksucht unter den deutschen Landarbeitern
nach der Enquete des Vereins für Socialpolitik im Jahre 1892 . 144
A. N. KiÄR. Ueber die Ergebnisse des „Samlags"-Systems in den
norwegischen Städten 143
A. T. Ormond. The Social Individual 140
Klaüsbneb. Ursachen der Trunksucht und Mittel zur Bekämpfung
derselben 143
A. Baer. Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine social-
hygienische Studie 222
Näcke. Drei criminalanthropologische Themen 448
J. M. Baldwin. Das sociale und sittliche Leben erklärt durch die
seelische Entwickelung. Deutsch von Ruedemann 449
P. Beroemann. Sociale Pädagogik auf erfahrungs wissenschaftlicher
Grundlage und mit Httlfe der inductiven Methode 449
Berichtigung (Kiesow) 224
Berichtigung (Saxinoer) 224
Namenregister 455
1
Zur Kenntnifs y
des Ablaufes der Erregung im Sehorgan.
Von
Prof. C. Hess in Würzburg.
(Mit 1 Fig.)
I. Eine bisher unbekannte Nachbilderscheinung.
Bewegt man eine ca. 20 cm lange, 1 mm breite, rothgelbe
Lichtlinie ^, die in ihrem mittleren Theile auf einer Strecke von
^'« cm unterbrochen ist, in einem Abstände von 30 — 50 cm mit
mäfsiger Schnelligkeit vor dem ohne Fixirobject geradeaus ge-
richteten Auge vorüber, so sieht man leicht Folgendes (S. Ab-
bildung 1):
Zunächst erscheinen (Phase 1 ; vergl. auch Capitel II) zwei
rothgelbe Linien, durch einen dunklen Zwischenraum von ein-
ander getrennt; danach folgt (Phase 2) eine schmale, dunkle
Strecke, die unter den einen Bedingungen continuirlich erscheint,
unter anderen Verhältnissen aber an der der Unterbrechung des
primären Bildes entsprechenden Stelle einen röthlichen Fleck
^ Zur Herstellung dieser Linie benutzte ich einen 20 cm langen Kohle-
glühfaden, dessen Glasliülse von einem schwarzen Blechmantel umschlossen
war ; aus letzterem war parallel zum Glühfaden ein ca. 20 cm langer, 1 mm
breiter Schlitz ausgeschnitten, der mit weifsem Papier hinterlegt wurde;
der Schlitz erschien dann als gleichmäfsig helle Linie, deren Lichtstärke
durch einen passend angebrachten Rheostaten innerhalb ziemlich weiter
Grenzen beliebig variirt werden konnte. lieber die Mitte des Schlitzes
'Wurde ein schwarzer Reif gelegt, dessen Breite gleichfalls beliebig variirbar
^ar und im Mittel ca. ^'a cm betrug. Es wurde zum Theile mit farbigen
Gläsern beobachtet, zum Theile ohne solche.
Zeitschrift für Psychologie 27. \
2 C. Hefs.
zeigt (im Folgenden „Kopf" genannt), der heller als die seitliche
Umgebung ist. (Genaueres siehe weiter unten) ; es folgt Phase 3
als ein blaugrüner Streif, der entsprechend der Unterbrechung
des primären Bildes eine meist deutliche dunkle Lücke zeigt, die
aber unter gewissen Versuchsbedingungen zum Theile von einem
röthlichen Nachbilde eingenommen werden kann (s. u.). Phase 4
stellt sich als ein um sehr viel breiteres dunkles Intervall dar;
entsprechend der Unterbrechung im primären Bilde tritt hier fast
unmittelbar nach Abklingen der Phase 3 ein schmaler heller
Streif auf, dessen Helligkeit zunächst eine nicht unbeträchtliche
ist, nach rückwärts aber allmählich abnimmt, so dafs er eine
gewisse Aehnlichkeit mit einem Kometenschweife erhält Seine
Färbung ist im Allgemeinen zu jener des ReizUchtes complementär,
doch trifft dies nicht in so ausgesprochener Weise zu, wie für
die Phase 3. In der That unterscheidet sich dieser „Komet"
(wie wir der Kürze halber das fragliche inducirte oder Contrast-
nachbild nennen wollen) in seiner Farbe meist merklich von jener
der Phase 3. Er ist aufserdem etwas weniger hell als diese Phase,
seine Farbe weniger gesättigt. Bei gelbrothem Reizlicht fand ich
den Kometen meist leicht gelblich grün, bei leuchtend rothera
Reizlichte grünlich. Bei Benutzung der weniger gesättigten gelben
und grünen Gläser war die Färbung des Kometen zu wenig aus-
gesprochen, um eine sichere Beurtheilung zu gestatten. Der
Komet erscheint etwa 4 — 8 mal so lang als Phase 3. Indem seine
Helligkeit beständig abnimmt, entwickelt sich aus ihm schliefs-
lich eine tiefdunkle Furche, die in etwas hellerer Umgebung
sehr deutlich sichtbar ist ; diese hellere Umgebung entspricht der
Phase 5 auf den vom Reizlichte getroffenen Netzhautstellen.
Mit abnehmender Helligkeit dieser Phase wird auch die mittlere
Furche dauernd unsichtbar.
Dieser Komet und die ihm folgende Phase sind so leicht
zu sehen, dafs mehrere Laien, welchen ich den Versuch
zeigte, sie sofort wahrnahmen. Etwas schwieriger ist die
Beobachtung der dem Kometen vorausgehenden Phasen, die
der Unterbrechung der leuchtenden Linie entsprechen. Bei
passender Helligkeit und geeigneter Breite dieser Lücke seh(
ich vor Auftreten des gegenfarbigen Kometen eine kurze, ziem
lieh helle Strecke von ähnlicher Färbung, wie das Reizlicht. E;
ist schwer, genauer den Zeitpunkt des Auftretens dieses Nach
bildes zu bestimmen. Es wird meist etwas früher sichtbar al
Zur Kenntnifs des Ablaufes der Erregung im Sehorgati. 3
die Phase 3, so dafs es zum Theil in dem der Phase 2 ent-
sprechenden dunklen Intervall erscheint. Ob es von dem gegen-
farbigen „Kometen" regelmäfsig durch eine dunkle Strecke ge-
trennt ist oder continuirlich in sie übergeht, konnte ich nicht
immer sicher unterscheiden. Bei etwas höheren Lichtstärken
schien ersteres, bei geringeren letzteres der Fall zu sein.
Bei sehr geringer Lichtstärke eines röthlichen Reizlichtes sehe ich
inscheinend in unmittelharem Anschlösse an die Phase 3 einen schwach
dankelrothen, ziemlich kurzen Schweif, der schon dicht bei der Lücke der
Phase 3 sichtbar ist und ca. 2— 3 mal so lange dauert als diese Phase.
Das Wesentliche der ganzen Erscheinung besteht nach dem
Geschilderten darin, dafs eine von keinem Lichtreize ge-
troffene Netzhautstelle etwa ^^ — '/o Secunde nach
Erregung benachbarter Stellen durch mäfsig helles
Licht, eine Lichtempfindung von ansehnlicher
Helligkeit und Dauer vermitteln kann.
Man kann die Unterbrechung der leuchtenden Linie so breit
nehmen, dafs bei geeigneter Bewegung derselben diese Unter-
brechung den fovealen Bezirk annähernd oder vollständig deckt
Ich fixirte ein feinstes, schwach leuchtendes Pünktchen im
Dunkelziramer und bewegte in 25 cm Abstand die Lichtlinie,
deren Unterbrechung 1 cm breit war, so am Auge vorüber, dafs
die Mitte der letzteren über das Fixirpünktchen glitt. Unter
solchen LTmständen wird foveale Netzhaut gar nicht oder
höchstens nahe ihren äufsersten (nasalen und temporalen)
Grenzen vom ßeizlichte getroffen: Trotzdem sind der gleich-
farbige kurze Kopf und der gegenfarbige Komet auch jetzt mit
der fovealen Netzhaut deutlich und ohne Unter-
brechung zu sehen.
Im Hinblicke auf etwaige spätere theoretische Erörterungen
bebe ich hervor, dafs also auch der foveale Bezirk ohne selbst
durch objectives Licht erregt zu sein, lediglich nach kurz
dauernder Reizung der Umgebung ein helles, zum Reizlichte
gegenfarbiges Nachbild von merklicher Dauer zu vermitteln ver-
mag, das einen Bruchtheil einer Secunde nach der Reizung auf-
tritt. Ebenso hat die Adaptation keinen wesentlichen Einflufs
auf die Erscheinung, sofern selbstverständlich der gesteigerten
Erregbarkeit des dunkeladaptirten Auges durch Verminderung
der Lichtstärke des Reizlichtes Rechnung getragen ist. Die zur
Erzeugung des fraglichen Nachbildes geeignetesten Lichtstärken
1^-
4 C. Hefs.
sind im Grofsen und Ganzen die gleichen — verhältni&mäfsig
geringen — die zur Erzeugung einer deutlichen Phase 3 hin-
reichen. Während aber diese letztere bei zunehmender Licht-
stärke oft weniger klar und deutlich wird, kann man den
^Kometen" auch dann noch in seiner charakteristischen Form
sehen, wenn die Lichtstärke des ReizUchtes eine beträchtlichere
geworden ist. Zur thunlichen Vermeidung von Mifsverständ-
nissen betone ich aber, dafs er auch bei geringer Lichtstärke des
Reizlichtes schon deutlich hervortritt. Am schönsten fand ich
die Erscheinung, wenn die Unterbrechung der Glühlinie bei
einem mittleren Abstände von 25 — 30 cm vom Auge ca. ^ j cm
breit war; doch sah ich sie einerseits noch bei einer Breite der
Unterbrechung von nur 1 — 2 mm andererseits auch bei einer
solchen von mehr als 1 cm.
Nach V. Helmholtz sollen die hierher gehörigen Er-
scheinungen auf „Urtheilstäuschungen" zurückzuführen sein und
es giebt noch immer Anhänger dieser Erklärungsweise. Grerade
für sie dürfte der vorstehend beschriebene Versuch besonders
lehrreich sein, da wohl bei wenigen Erscheinungen jene psycholo-
gische Deutung so vollständig versagt, wie hier: Zu emer Zeit
wo, nach v. Kries, der Erregungsvorgang bereits vollständig ab-
geklungen sein soll (s. d. folgenden Abschnitt) tritt an Sehfeld-
stellen, die überhaupt von keinem objectiven Licht-
reize getroffen waren, eine Erregung auf, welche als lichter
Streif in dunkler Umgebung zum Ausdrucke kommt.
Unter Berücksichtigung der Lehre von der Wechselwirkung
der Sehfeldstellen (Heking, Mach) wird die eigenartige Erscheinung
leicht verständlich.
IL Ueber die Nachbilder und die sogenannte
V. KRiEs'sche Theorie.
Im 25. Bande dieser Zeitschrift (S. 239) macht v. Kries einige
Bemerkungen über eine Arbeit von mir, die den Ablauf des
Erregungsvorganges nach kurzdauernder Reizung des Sehorgans
beim Normalen und beim total Farbenblinden zum Gegenstand
hatte. {Arch, f. Ophth. 51 (2), 225.)
Da die v. KRiEs'schen Bemerkungen dem mit meinen Arbeiten
nicht Vertrauten ein vielfach unzutreffendes Bild der Sachlage
geben und da meine in den letzten 7 Jahren über diesen Gegen-
stand veröffentlichten Abhandlungen alle in einer anderen Zeit—
Zur Kenntnifs des Ablaufes der Erregung im Sehorgan, 5
Schrift ^ erschienen sind, so halte ich es für nothwendig, auch dem
Leser dieser Zeitschrift einen kurzen UeberbHck über die wich-
tigsten Punkte in dieser Frage zu geben.
Als „V. KniEs'sche Theorie" sind in der letzten Zeit vielfach
Anschauungen bezeichnet worden, welchen dieser Name in keiner
Weise zukommt. Diese Theorie setzt sich aus 2 von einander
unabhängigen und wohl zu sondernden Annahmen zusammen :
Die erste Annahme ist die, dafs die Stäbchen die Empfin-
dung farbloser Helligkeit vermitteln sollen und dafs die Farben-
empfindung nur durch die Zapfen vermittelt werde. Diese An-
nahme ist es insbesondere, die oft als .,v. KßiEs'sche" bezeichnet
wird. Sie ist wohl discutirbar, stammt aber nicht von v. Kuies,
sondern wurde zuerst 1866 von Max Schültze aufgestellt, später
wiederholt, so von Kühne und von Haab, dann von Parinaud
(1881 — 84) in einer der v. KRiEs'schen auffallend ähnlichen Form
und grofsentheils auf Grund der gleichen Thatsachen wie später von
V. Kries eingehend erörtert und physiologisch zu begründen ge-
sucht. (Die bezüglichen Angaben der genannten Forscher habe
ich in der Einleitung zu meiner Arbeit „Experimentelle und
kritische Untersuchungen über die Nachbilder rasch bewegter
leuchtender Punkte'* (Arch, f. Ophth. 44, 3) zusammengestellt.)
Die zweite Annahme hat v. Kries selbst zum Urheber.
Nach ihr soll die Erregung in den Zapfen sich im Sinne der
YocxG-HELMHOLTz'schen Theorie abspielen. Danach soll also
unter Anderem die Empfindung Weifs auf 2 verschiedene Arten
zu Stande kommen , es soll zweierlei Weifs geben , ein seiner
Entstehung nach einfaches (wie es auch die Theorie der Gegen-
farben annimmt) und ein in Gemäfsheit der Young-Helmholtz-
schen Theorie entstehendes „trichromatisches** Weifs. Die Un-
vereinbarkeit dieser v. KRiEs'schen Hypothese mit einer Reihe
wichtiger Thatsachen ist wiederholt betont worden; sie ergiebt
sich auch aus der Untersuchung der Nachbilder nach kurz-
dauernder Reizung des Sehorgans. Als .,v. KniEs'sche Theorie**
schlechtweg ist im Folgenden nur diese letztere Annahme be-
zeichnet, während die erstere richtiger als Max ScHULTZE'sche
Theorie zu bezeichnen ist.
Seine Annahme sucht v. Kries unter Anderem durch einige
Beobachtungen zu stützen, die er bei Untersuchung der Nach-
bilder bewegter farbiger Lichter gemacht hatte.
' Archiv f Ophthalm. 40 (2), 1894; 44 (3), 1897; 51 i2), IJKX).
6 C. Eefs.
Wird eine farbige, nicht zu helle Lichtquelle am Auge vorüber-
geführt, so folgt der primären Erregung (Phase 1) ein kurzes
dunkles Intervall (Phase 2), darauf eine complementär gefärbte
helle Strecke (Phase 3), dann ein längeres dunkles Intervall (Phase 4),
danach eine langdauernde helle, zur primären Erregung gleich-
farbige Strecke (Phase 5) und darauf wieder ein längeres dunkles
Intervall (Phase 6).
Ich hatte nun in meiner letzten Abhandlung den Nachweis
geliefert, dafs v. Kries bei seinen Untersuchungen die ganzen,
bei mäfsiger Lichtstärke meist mehrere Secunden lang dauernden
Phasen 4, 5 und 6 völlig übersehen hat. v. Kjiies sucht dies zu
bestreiten mit der Behauptung: „Die gesammten Erscheinungen,
deren Uebersehen Hess mir vorwirft, sind unter den von mir
eingehaltenen Beobachtungsbedingungen in der That nicht vor-
handen." Indem v. Kries dem Leser vorenthält, dafs ich die
Irrigkeit einer solchen Annahme schon in meiner letzten Ab-
handlung mit schlagenden Beweisen dargethan habe, nöthigt
er mich, meine Widerlegungen zum Theil wenigstens eingehender
zu erörtern:
Bei einem Theile der v. KRiEs'schen Beobachtungen schlofs
sich die Versuchsanordnung „fast genau" der von Bidwell ge-
übten an. Von einer runden Thüröffnung, die mittels einer
elektrischen Bogenlampe mit weifsem oder, durch Entwerf ung eines
reellen Spectrums, mit farbigem Lichte erleuchtet werden konnte,
wurde auf einem weifsen Schirme mittels Objectiv und Spiegel ein
reelles Bild entworfen, das bei Rotation des Spiegels auf dem
Schirme eine kreisförmige Bahn durchlief. Bei solcher Versuchs-
anordnung ist nach Bidwell ein (der Phase 5 entsprechender)
langer lichter Schweif sichtbar, der fast die ganze Bahn ausfüllt. Nun
giebt V. Kries aber ausdrücklich an, dafs er ,.um die Farben von
gröfserer Lichtstärke zu erhalten" „in vielen Fällen auch farbige
Gläser unter Verzicht auf die spectrale Zerlegung verwendet
habe". Da mit zunehmender Lichtstärke Dauer und Deutlichkeit
der Phase 5 zunehmen, so geht schon hieraus mit Sicherheit
hervor, dafs v. Kries die Phasen 4, 5 und 6 wirklich ganz über-
sehen hat. Seine vorher citirte Behauptung war um so imvor-
sichtiger, als jeder Anfänger sich leicht von ihrer Irrigkeit über-
zeugen kann, so z. B. mittels des folgenden, auf S. 242 und 243
meiner letzten Arbeit ausführlich geschilderten Versuches : Durch
allmähliche Abschwächung der Lichtstärke des als Reizlicht;ii-
Ztir Kenntnifs des Ablaufes der Erregimg im Sehorgan. 7
dienenden Milchglasglühlämpchens mittels Rheostaten suchte ich
die geringste zur Erzeugung einer deuthch sichtbaren Phase 3
nöthige Lichtstärke auf; bei sehr geringer Lichtstärke erscheint
diese Phase 3 deutUch sichtbar, aber farblos. Ich konnte leicht
feststellen, dafs „selbst bei den geringsten für das Sichtbarwerden
der dritten Phase eben hinreichenden Lichtstärken stets auch
die drei folgenden Phasen sichtbar sind, und dafs ihr Ablauf
auch jetzt noch mehrere Secunden in Anspruch nimmt. Damit
diese dritte Phase deutlich gegenfarbig gesehen werde, sind
höhere Lichtstärken nöthig; dann sind aber die drei letzten
Phasen beträchtlich länger sichtbar, sofern das Auge vor weiterem
Liehteinfall geschützt wird." Diese letztere, eigentlich selbstver-
ständliche Vorsichtsmaafsregel hat v. Kries ganz aufser Acht
gelassen, trotzdem ich ihn wiederholt auf deren Wichtigkeit auf-
merksam gemacht habe. Denn er läfst die einzelnen Reize in
Intervallen von 1,5 — 2 Secunden auf einander folgen; zudem sind
Reiz- und Fixirlicht beständig sichtbar. Es ist wohl verständlich,
dafs V. Kries die fraglichen 3 Phasen (4, 5 und 6) in Folge
dieses Fehlers übersehen hat. Dafs sie aber bei den von ihm im
Allgemeinen benutzten Lichtstärken thatsächlich vorhanden
waren, geht schon aus den oben erwähnten Versuchen schlagend
hervor. (Dafs eine qualitative Aenderung des Reizlichtes bei
seiner Abschwächung für das Typische der Erscheinung bei
den fraglichen Versuchen nicht in Betracht kommen kann, ist
selbstverständlich, soll aber im Hinblick auf einen von v. Kries
erhobenen Einwand weiter unten eingehender dargethan werden).
Auch die folgende irrige Angabe von v. Kries ist darauf zu-
rückzuführen, dafs er die fraglichen 3 Phasen ganz übersehen hat
Er schreibt: „Das günstige Stadium für die Beobachtung des
Springens, für die Bestimmung der Farbe, für die Vergleichung
der Stärke bei verschieden gefärbtem primären Bilde u. s. w. ist
jenes, in dem das secundäre Bild noch kurz ist, höchstens wie
es etwa die von mir gegebene Abbildung zeigt .... In diesen
Fällen dauert also der ganze Effect der Reizung etwa ^o Secunde
oder noch w^eniger und nicht wie Hess für die von mir be-
nutzten Lichter ausrechnet, 3 — 4 Secunden." Diese letzte Be-
hauptung ist durchaus unrichtig. Selbst bei so*lichtschwachen
Reizlichtern, bei welchen die Phase 3 nur ganz schwach und
farblos gesehen wird, dauert „der ganze Effect der Reizung"
schon mehrere Secunden. Bei solcher Erscheinungsweise aber,
8 C. Hefs.
wie sie v. Kries abgebildet hat, (wo die Phase 3 deutlich gegen-
farbig erscheint), dauert dieser Effect meist noch mehrere
Secunden länger. Die viel zu rasche Aufeinanderfolge der ein-
zelnen Reize bei den v. KitiEs'schen Versuchen macht also die
Beobachtung des ganzen Verlaufes unmöglich, v. Kries schreibt
femer: „Bezüglich der sonstigen, von H. erhobenen Einwände
sei erwähnt, dafs die Wiederholung der Reizung durch den
rotirenden Apparat sicher nicht in der von ihm angenommenen
Weise als Fehlerquelle zu betrachten ist; denn es versteht sich
ja von selbst, dafs man die Erscheinung auch sofort bei Fixirung
der Marke nach zuvor abgewandtem Auge, also bei erstmaligem
Vorübergang des Lichts beobachten kann." Auch dieser Irrtum
erledigt sich durch das vorher Gesagte, v. Kjeües kann bei der
Wiederholung der Reizung die Phase 3 wohl wahrnehmen, nicht
aber die 3 folgenden Phasen, die einen integrirenden
Bestandtheil des ganzen Nachbildverlaufes bilden
und unter keinen Umständen bei der theoretischen Betrachtung
von den ersten Phasen getrennt werden dürfen.
Es ist unverständlich, wie v. Kries immer wieder den Ver-
such machen kann, die Verschiedenheit unserer Versuchsergeb-
nisse durch die Annahme der Benutzung zu hoher Lichtstärken
meinerseits zu erklären, angesichts der Thatsache, dafs ich durch
systematische Abschwächung der Lichtstärke des
ReizHchtes bis zu solchen Stadien gekommen bin, bei w^elchen
die Phase 3 nicht mehr farbig, sondern farblos gesehen wird,
während die v. KRiEs'schen Angaben sich auf solche Stadien be-
ziehen, in welchen die Phase 3 farbig erschien, wozu doch be-
trächtlich höhere Lichtstärken nöthig sind, als zu Erzeugimg
einer farblosen Phase 3. Einen thatsächlichen Irrthum enthält
auch die folgende Behauptung von v. Kries : „Hess hat aus der
von Samojlow gegebenen Beschreibung eines von ihm und über-
haupt in meinem Institut benutzten Apparates geschlossen, dafs
ein Milchglas, aus einer Entfernung von ca. 50 cm durch 2 oder
3 Auerbrenner transparent beleuchtet eine für unsere Beobach-
tungen angemessene und von uns im Allgemeinen benutzte
Lichtstärke darbiete." Meine Abhandlung giebt nirgends einen
Anhalt für die Aufstellung einer solchen, nur aus sehr flüchtiger
Lektüre zu erklärenden Behauptung; der aufmerksame Leser
wird sich leicht von ihrer Irrigkeit überzeugen, v. Kries scheint
sich auf einen Versuch zu beziehen, den ich unter vielen anderen
Zur Kmutnifs des Ablaufes der Erregu7ig im Sehorgan, Q
angestellt habe, um zu sehen, wie bei den höchsten mit dem
SAMOJLOFF'schen Apparate erhältlichen Lichtstärken die Nach-
bilder sich verhalten. Dafs ich ausführlich Versuchsreihen ge-
schildert habe, bei welchen nur ein einziger Auerbrenner benutzt
wurde, sowüe solche, bei welchen farbige Gläser (mit Milchglas)
mit 2 oder 3 Auerbrennern benutzt wurden, und dafs ich diese
Versuche ausdrücklich als die wichtigeren bezeichnet habe,
— das unterläfst v. Kries anzuführen und giebt durch diese
partielle Erwähnung meiner Beobachtungen dem Leser ein un-
zutreffendes Bild der Thatsachen. Nun konnte ich aber zeigen,
dafs auch bei diesen geringeren Lichtstärken der Ablauf der Er-
regungsvorgänge 4—7 Secunden und mehr in Anspruch nimmt,
i?ofern nur die Fehler der v. KßiEs'schen Versuchsanordnung
vennieden sind.
Dafs V. Kries auch bei den Versuchen mit adaptirtem Auge
vermuthlich verhältnifsmäfsig höhere Lichtstärken angewendet
hat, als ich, geht u. A. daraus hervor, dafs er auf die gesteigerte
Lichtempfindlichkeit des dunkeladaptirten Auges Rücksicht zu
nehmen nicht für nöthig gefunden hat, während ich diesem
Umstände selbstverständlich stets Rechnung getragen habe.
V. Kries hatte angegeben, dafs die Phase 3 auf der Fovea
fehle und hatte dies — auffälligerweise — mit seiner Hypothese
in Einklang gefunden. Bei Vermeidung der Fehlerquellen der
V. KRiEs'schen Versuchsanordnung konnte ich mich von dem
angeblichen Ausfalle jener Phase im fovealen Bezirke nicht
überzeugen, v. Kries übt nun an verschiedenen der von mir
angegebenen Versuchsanordnungen Kritik, ohne diese einer
Nachprüfung unterworfen zu haben. Wenn er sich der kleinen
Mühe unterzogen hätte, die einfachsten meiner Versuche zu
wiederholen, so würde er es z. B. nicht „für zweifelhaft halten^
können, dafs es möglich ist, „die selbst nicht sichtbare Mitte"
zwischen zwei leuchtenden Fixirzeichen „mit genügender Sicher-
heit zu fixiren, zumal wenn ein relativ helles Objeet im Gesichts-
feld bewegt wird**. Etwas eingehender mufs ich den folgenden
Einwand besprechen: v. Kries sagt: „Für empfehlenswerth kann
ich auch die von Hess versuchte Methode nicht halten, eine
längere Lichtlinie als Objeet zu benutzen, deren mittleres Stück
über die Fovea läuft und nun zu sehen, ob im Nachbild die
Linie unterbrochen erscheint. Es ist doch klar, dafs man hier
mit all den bekannten Schwierigkeiten zu rechnen hat, die der
10 C, Hefs.
subjectiven Wahrnehmung eines kleinen Scotoms immer ent-
gegenstehen. Wenn man eine Lichtstärke herstellt, die central
nicht gesehen wird, bei der man also ein kleines Object zum
centralen Verschwinden bringen kann, und dann eine gröfsere
Fläche von derselben Helligkeit betrachtet, so weifs man, wie
schwer es ist, die centrale Lücke sicher wahrzunehmen. Es
gelingt wohl, wie Hess selbst angiebt, im ersten Moment der
Beobachtung; aber selbst diese Beobachtung erfordert schon
grofse Aufmerksamkeit und eine gewisse üebung. Was will es
also besagen, wenn man die centrale Unterbrechung eines Nach-
bildes nicht constatiren kann.'*
Gegen diese Argumentirung ist eine Reihe von Einwänden
zu erheben. Zunächst erscheint es unzulässig, die Verhältnisse
bei Beobachtung einer hellen Fläche ohne W^eiteres auf jene
bei Beobachtung einer Lichtlinie zu übertragen. Ein ein-
facher Versuch zeigt ferner, dafs eine noch viel kleinere
Unterbrechung der Nachbildlinie, als dem fovealen Bezirke ent-
sprechen würde, deutlich und leicht wahrnehmbar ist.
Ich schiebe über die Mitte der zur Reizung benutzten
leuchtenden Linie (s. die vorhergehende Abhandlung) einen matt-
schwarzen Ring von 5 mm Breite. Bewege ich nun die Licht-
Unie in '^ — 1 m Abstand vor dem Auge vorbei, so fällt im Vor"
wie im Nachbilde die betreffende Strecke aus; dieser Ausfall is**
als deutliche Unterbrechung der Nachbildhnie auffällig sieht; ^
bar. Nun beträgt nach den früheren Angaben von v. Kries de:^
horizontale Durchmesser des dem stäbchenfreien Netzhautbezirk^^
entsprechenden Gesichtsfeldbezirkes, auf 1 m Abstand projicirt;-^
35 — 38 mm für das Auge eines seiner Schüler, 55 mm für seir»-
eigenes Auge. Nehmen wir nur 36 mm für diesen Durchmesset
an, so müfste bei den fraglichen Versuchen (wenn die Linie z. B-
von oben nach unten am Auge vorübergeführt wird) die foveale
dunkle Unterbrechung der Nachbildlinie mehr als 5-, bezw. 7 mal
länger sein als jene bei Benutzung des Ringes von 5 mm Breite;
da im letzteren Falle die Nachbildunterbrechung noch mit voller
Deutlichkeit sichtbar ist, wird man nicht wohl einwenden können,
es sei zu schwer, die 5 — 7 mal längere Unterbrechung im ersteren
Falle wahrzunehmen. Noch überzeugender ist der folgende Ver-
such: Wenn man einen Draht von weniger als ^L, ^^^^ Durch-
messer über den leuchtenden Schlitz legt, so sieht man selbst
jetzt bei Bewegung des Rohres an der dem Drahte entsprechen-
Zur Kennfnifs des Ablaufes der Ei'regung im Sehorgan. H
den Stelle des Nachbildes deutlich eine dunkle Unterbrechung;
man kann die Lichtstärke des Reizlichtes so wählen, dafs die
Unterbrechung der Vorbildlinie durch den Draht in Folge der
Irradiation kaum oder gar nicht bemerkt wird; so ist dem
etwaigen Einwände vorgebeugt, dafs die sichtbare Unterbrechung
des Vorbildes die Sichtbarkeit jener des Nachbildes erleichtern
könne. Im Nachbilde ist bei diesem Versuche die Unterbrechung
deutlich sichtbar und doch ist ihr Durchmesser kaum den
siebzigsten Theil so grofs als die angebliche, dem fovealen
Bezirke entsprechende Unterbrechung, von der v. Kbies meint,
dafs sie bei diesen Versuchen zu leicht übersehen werden könne !
Ferner läfst v. Kries aufser Acht, dafs bei meinen Versuchen
die Beobachtung des fovealen Theiles der Nachbildlinie leicht
und sicher genug ist, um in vielen Fällen festzustellen, dafs das
foveale Nachbild eine kurze Zeit später auftritt, als das extra-
foveale, was sich in einer entsprechenden schwachen Einbuchtung
der vorderen Grenzlinie des fovealen Nachbildtheiles kund giebt.
Solche Erscheinungen kann man doch wohl nur wahrnehmen,
wenn der fragliche Nachbildtheil wirklieh sichtbar ist.
Endlich möge mir v. Kries gestatten, darauf aufmerksam
zumachen, dafs er selbst das jetzt von ihm so scharf ver*
urtbeilte Princip der bewegten Lichtlinie empfohlen hat, um die
von ihm behauptete foveale Unterbrechung des Nachbildes nach-
zuweisen, und dies sogar in einem Falle, wo die Wahrnehmung
der Erscheinung schwieriger ist als gewöhnlich. Er schreibt im
XII. Bande dieser Zeitschr, S. 93, bei Besprechung der mit starjc
dunkeladaptirtem Auge wahrnehmbaren Erscheinungen : „Das
Fehlen an der Stelle des deuthchsten Sehens ist freilich hier,
wo der Schweif sich dem primären Bilde unmittelbar anschliefst,
schwieriger zu sehen. Doch kann man sich auch davon ganz
wohl überzeugen. Ich fand es dazu am vortheilhaftesten, dem
laufenden Lichtbilde die Gestalt eines Streifens zu
geben ^, der z. B. horizontal liegt und den Fixationspunkt
vertical aufsteigend passirt. Ueberdies hält man zweckmäfsig
einen Schirm mit seinem oberen horizontalen Rande derart vor
die Augen, dafs der blaue Streifen erst dicht am Fixationspunkte
dahinter auftaucht. Alsdann sieht man recht gut, dafs das blaue
Bild rechts und links zwei weifse Schwänze hinter sich herzieht.
* Bei V. Kries nicht gesperrt gedruckt.
12 C. Hefs,
welche gegen den Fixationspunkt zu unscharf begrenzt sind,
diesen aber selbst frei lassen. Erst etwas über dem Fixations-
punkte erstreckt sich der weifse Schein von rechts nach links
continuirhch."
V. Kriks hat hier den (bei dem Principe der leuchtenden
Linie besonders leicht zu vermeidenden) Fehler begangen, einen
leuchtenden Fixirpunkt zu benutzen und sich die Beobachtung
durch den vorgeschobenen Schirm unnöthig erschwert. Trotzdem
hat ihm die Methode gute Dienste geleistet. Wir begegnen also
der bemerkenswerthen Thatsache, dafs v. Kries ein Unter-
suchungsprincip als besonders vortheilhaft empfiehlt, wenn die
damit gewonnenen Ergebnisse seine Anschauungen zu stützen
scheinen, dafs er aber dieses Princip scharf verurtheilt, wenn
damit Ergebnisse erzielt werden, die seinen Ansichten nicht
entsprechen.
Man kann gegen das Gesagte nicht einwenden, dafs die Einzelheiten
des Versuches bei v. Kries etwas andere waren als bei mir. Die Benutzung
eines Schirmes sowohl, wie die eines Fixirpunktes macheu die Beobachtung
nur schwieriger. Denn wenn der blaue Streifen erst dicht am Fizations-
punkte hinter dem Schirme auftaucht, so kann ein mehr oder minder
grofser Theil des fovealen Bezirkes durch den Schirm ausgeschaltet sein,
ein eventueller Ausfall des Nachbildes also immer in kleinerer Ausdehnung
statthaben, als ohne Schirm. Ein leuchtender Fixirpunkt ist auch hier
durchaus zu verwerfen, da der foveale Bezirk dadurch ermüdet wird und
da die dauernde Sichtbarkeit dieses Lichtpunktes die Wahrnehmung des
fovealen Nachbildes stören mufs. Der Vorzug der Beobachtung mit be-
wegter Lichtlinie ist ja eben, dafs ein Fixirpunkt ganz überflüssig ist.
Dafs die hier von v. Kkies erwähnten blauen Lichter wegen der macularen
Absorption für diese Versuche vorzugsweise ungeeignet sind, sei nur bei-
läufig erwähnt.
V. Kries erhebt gegen die von mir angegebenen Methoden
noch den folgenden sonderbaren Einwand: „Insbesondere ist
die Regulirung der Lichtstärke durch Rheostaten ein äufserst
bedenkliches Verfahren, weil man stets mit der Stärke des
Lichtes auch seine Qualität resp. Zusammensetzung in erheb-
lichstem Maafse ändert .... Ohne Anwendung von Rauch-
gläsern u. dergl. ist in der That die Glühlampe, wie es scheint,
zu diesen Beobachtungen ganz vorzugsweise ungeeignet, weil
bei der Abschwächung des Glühens das Licht roth wird; es ist
wohl denkbar, dafs ein für die Beobachtungen qualitativ und
quantitativ geeignetes Licht auf keinem Punkte der Glühstärke
erreicht wird.** Es ist unverständlich, was dieser Einwand soll:
Zur Kenntnifs des Ablaufes der Blrregimg im Sehorgan. 13
Die fragliche Versuchsanordnung erfüllt ihren Zweck vollständig,
sobald sie die Phase 3 deutlich zur Anschauung bringt. Eine
-Abschwächung und damit verbundene Aenderung der Zusammen-
setzung des Reizlichtes kann doch höchstens eine Aenderung in
der Farbe oder bei genügender Abschwächung ein Farblos- oder
Tölliges Unsichtbarwerden der 3. Phase zur Folge haben.
Solange man die Phase 3 auf ihre Farbe, ihr Verhalten im
fovealen Bezirke oder bei Dunkeladaptation untersucht, wird
man selbstverständlich nicht das Reizlicht bis zum Unsichtbar-
werden der Phase abschwächen. Solange sie aber sichtbar ist,
kommt die Qualitätsänderung des Reizlichtes, insoferne durch
sie nur die Farbe der dritten Phase geändert wird, für unsere
Erörterungen gar nicht in Betracht; v. Kries hat bisher nichts
darüber angegeben, dafs die Phase 3 bei verschiedener Färbung
derselben sich auf der Fovea, im adaptirten Auge etc. ver-
schieden verhalte, solange sie überhaupt sichtbar ist. (Das von
mir benutzte Licht war auch bei der äufsersten Abschwächung,
die ich anwandte, noch deutlich gelbroth; die brechbareren
Strahlen waren also stets in für unsere Zwecke zureichendem
Maafse vorhanden.)
Dieser v. KRiEs'sche Angriff, dessen Unhaltbarkeit durch
das Gesagte schon genügend dargethan ist, mufs um so selt-
samer erscheinen, wenn man sich erinnert, dafs v. Kuies selbst
bei seinen Versuchen zur Abschwächung des Reizlichtes Rauch-
gläser etc. benutzt. Sollte es ihm wirklich ganz unbekannt sein,
' dafs die gebräuchlichen Rauchgläser keineswegs nur auf die
Quantität einer Lichtquelle von Einflufs sind, sondern im All-
gemeinen auch die Qualität merklich verändern? Der spectro-
skopische Vergleich einer beliebigen Lichtquelle bei directer
Betrachtung und bei Betrachtung durch einige rauchgraue Gläser
genügt zum Nachweise dieser übrigens wohl allgemein bekannten
Thatsache. Was also der Einwand gegen die von mir benutzte
Methode der Abschw^ächung des Reizlichtes soll, ist nicht ein-
zusehen.
Es ist einleuchtend, dafs für systematische Versuche die
Methode der allmählichen Abschwächung des Reizlichtes in
jeder Hinsicht den Vorzug verdient vor der v. KßiEs'schen Ab-
schwächung mittels Rauchgläsern; denn die letzteren gestatten
doch immer nur eine eng begrenzte Zahl von Abstufungen der
Lichtstärken.
14 C. Hefs.
Ueber den Einflufs der Adaptation auf die fraglichen Nadi-
bilderscheinungen finden wir bei v. Kries dreierlei mit einander
in Widerspruch stehende Angaben: In seinen ersten Aufsätzen
gab er an, dafs das fragliche Nachbild (Phase 3) „bei dunkel-
adaptirtem Auge bei Weitem am schönsten zu sehen sei". In
den folgenden Aufsätzen hiefs es im Gegentheil, dafs „die
schönste und eleganteste Erscheinungsweise bei hell- oder
schwach dunkeladaptirtem Auge gesehen werde", ja dafs durch
lange Dunkeladaptation die Phase 3 ».wirklich fortfällt". Nach-
dem ich die Unrichtigkeit dieser letzteren Angaben in einer be-
sonderen Untersuchungsreihe mit langdauernder Dunkeladaptation
nachgewiesen hatte, wurde der fragliche Punkt, obschon ihn
V. KiiiEs früher als „besonders wichtig" bezeichnet hatte, in
einer gegen meine Untersuchungen gerichteten Abhandlung eines
V. KßiEs'schen Schülers (Samoiloff) vollständig mit Stillschweigen
übergangen. In seiner letzten Arbeit wiederum macht v. Kries
über den Einflufs der Adaptation folgende Angaben:
„Das secundäre Bild (sc. Phase 3), w^elches ca. ^^ See. nach
dem primären beginnt, zeigt eine mit zunehmender Dunkel-
adaptation beständig zunehmende Länge, ist aber zuerst gan^
kurz, um sich erst allmählich in einen längeren und längerer^
Schweif auszuziehen. Von der Lichtstärke hängt es ab, ob d3^
secundäre Bild sogleich nach Verdunkelung des Beobachtung'^*
raumes sichtbar ist oder erst nach kürzerem oder längerei^^
Dunkelaufenthalt sichtbar wird. Nach längerer Adaptation i^'^
der Schweif so lang, dafs die ganze Peripherie mit einem Lich'i^'
nebel erfüllt erscheint."
Nach diesen so verschiedenen Angaben kann kein Leser
sich ein Bild davon machen, welches nun eigentlich v. Kries'
Ansicht über den Einflufs der Adaptation ist, noch viel weniger von
den Thatsachen selbst. Es ist daher vielleicht nicht überflüssig,
wenn ich betone, dafs der Typus des Verlaufes der Nachbilder
bei allen Graden von Dunkeladaptation der gleiche ist, wie im hell-
adaptirten Auge, sofern nur der gesteigerten Lichtempfindlichkeit
des dunkeladaptirten Auges durch entsprechende Minderung der
Lichtstärke des Reizlichtes Rechnung getragen ist. Auch diese
Vorsiclitsmaafsregel hat v. Kries aufser Acht gelassen ; ich mufs
es dahingestellt sein lassen, ob hierauf seine von den meinigen
abweichenden Angaben bezogen werden können. Jedenfalls
kann man oft beobachten, dafs bei einer für das helladaptirte
Zur Kenntnifs des Ablaufes der Erregung im Sehorgan, 15
Auge passenden Lichtstärke des Reizlichtes das gut dunkel-
adaptirte die Phase 3 nicht mehr deutlich wahrnimmt, dafs aber
dann eine entsprechende Verminderung dieser Lichtstärke genügt,
um die fragliche Phase wieder mit voller Deutlichkeit hervor-
treten zu lassen. Auch die Angabe, dafs „nach längerer Adap-
tation der Schweif so lang sei, dafs die ganze Peripherie von
einem Lichtnebel erfüllt erscheint" beweist, dafs v. Kkies hier
zu hohe Lichtstärken benutzt hat, jedenfalls viel höhere als ich
bei meinen Versuchen mit adaptirtem Auge. Denn wenn man
der gesteigerten Lichtempfindlichkeit entsprechend die Licht-
stärke des Reizlichtes mindert, so erscheint auch nach viel-
stündiger Dunkeladaptation die Form der Phase 3 im Wesent-
lichen genau so, wie dem helladaptirten Auge bei gleicher Ge-
schwindigkeit der Bewegung, nicht aber in einen langen Schweif
ausgezogen. Die Dauer der Sichtbarkeit dieser Phase übertrifft
auch im adaptirten Auge jene der Sichtbarkeit des Vorbildes
nur wenig.
Endlich hatte ich in meiner Arbeit den Nachweis geliefert,
dafs die v. KuiKs'schen Beobachtungen, selbst wenn sie richtig
wären, nicht als Stütze für die von ihm gemachte Annahme
aufgeführt werden könnten, wonach sich die Erregung in den
Zapfen in Gemäfsheit der YouNO-HELMHOLTz'schen Theorie ab-
spielen soll und dafs die Erklärung in einer anderen als der
von V. KiiiEs gewollten Richtung gesucht werden müsse. Als
Beispiel führte ich (unter eingehender Begründung) an, nach
seiner Theorie wäre zu erwarten, dafs die Phase 3 im fovealen,
stäbchenfreien Bezirke nicht ausfiele, sondern dafs hier eine sehr
gesättigte farbige Strecke, dunkler als die Umgebung, sichtbar
werden müfste und dafs ein Gleiches, aus anderen Gründen, für
das dunkeladaptirte Auge zu vermuthen wäre.
v. Kries fafst in seiner Entgegnung seine Ansicht noch
einmal dahin zusammen, „dafs eine eigenartige Function nach-
gewiesen werden kann, hinsichtlich deren auch bei schwach oder
gar nicht dunkeladaptirtem Auge die Reizwerthe der ver-
schiedenen Lichter sich wie die Dämmerungswerthe verhalten
und dafs diese Function in einem centralen Bereich fehlt . . .
üeber ihre (sc. dieser C'Onstatirung) theoretische Bedeutung weiter
zu streiten, dürfte kaum von Nutzen sein."
Ich bedauere auch hier einen von dem v. KniEs'schen durch-
aus verschiedenen Standpunkt einnehmen zu müssen. Solange
16 C, Hefs,
man eine Theorie vertritt, sollte man, wie mir scheint, auch
bemüht sein, auffällige Widersprüche zwischen dieser und einer
Reihe fundamentaler, leicht zu constatirenden Thatsachen zu
erklären, wenn letztere ursprünglich zur Stütze der Theorie her-
angezogen worden waren. Denn wer auf eine Lösung solcher
Widersprüche verzichtet, kann leicht in den Verdacht kommen,
eine befriedigende Erklärung der Thatsachen nicht geben zu
können.
Die Hypothese, die von Kries vertheidigt, stellt insofern
eine wesentliche Annäherung an die von Hering seit langer
Zeit vertretenen Anschauungen dar, als sie eine von der farbigen
mehr oder weniger unabhängige farblose Empfindungsreihe an-
nimmt. In seinen ersten Abhandlungen machte v. Kries diese
Annahme nur für die extrafoveale Netzhaut, später, auf die von
Hering, Tschermak, mir u. A. gemachten Einwendungen hin,
hat er die Möglichkeit einer solchen von der farbigen mehr oder
weniger unabhängigen farblosen Empfindungsreihe auch für den
fovealen Bezirk zugegeben, wo der „Dunkelapparat" „nur in
äufserst reducirtem Maafse" vorhanden sein soll. v. Kries nimmt
also hier nur noch quantitative Unterschiede zwischen fovealem
und extrafovealem Gebiete an. In seiner letzten Abhandlung
aber spricht er wieder von dem „Fehlen" der fraglichen Function
in einem centralen Bereich. Es ist also auch hier schwer zu
ersehen, welches eigentlich die v. KRiEs'sche Ansicht ist ; für die
Theorie ist dies insofern gleichgültig, als die Thatsachen mit
der einen wie mit der anderen Fassung der Hypothese in Wider-
spruch stehen.
Aus meinen Beobachtungen geht hervor, dafs v. Kries in
Folge der mehrerwähnten Fehler seiner Untersuchungsmethoden
die drei der Zeit nach längsten Phasen des nach kurzdauernder
Reizung des Sehorgans wahrnehmbaren Nachbild verlauf es ganz
übersehen hat, die einen integrirenden Bestandtheil des Phäno-
mens bilden, bei den von ihm in der Regel benutzten Licht-
stärken stets vorhanden und bei richtiger Versuchsanordnung
leicht wahrnehmbar sind; ferner, dafs seine Angaben über das
Fehlen der Phase 3 im fovealen Gebiete und bei längerer
Dunkeladaptation den Thatsachen nicht entsprechen. Weiter
zeigte sich, dafs die fraglichen von mir mitgetheilten Thatsachen
und Beobachtungen an Normalen wie an total Farbenblinden
Zur Kenntnifs des Ablaufes der Erregung im Sehorgan^ 17
in Widerspruch stehen mit der v. KaiEs'schen Hypothese so- ,
wohl in deren älterer, wie in der neueren Fassung, insoweit
diese Hypothese neu und v. Keies eigenthümlich ist
Erklärung der Abbildung.
In der Figur habe ich versucht, eine annähernde Vorstellung der
vorstehend geschilderten Erscheinungen zu geben, wie sie bei mäCsiger
Lichtstärke des Reizlichtes wahrnehmbar sind. Der mit solchen Versuchen
Vertraute weifs, wie schwierig es ist, eine so flüchtige Erscheinung natur«
^treu wiederzugeben; ich betone daher ausdrücklich, dafs die Abbildung
vorwiegend zu dem Zwecke angefertigt wurde, das Verständnifs der Be*
Schreibung zu erleichtern und für Nachprüfungen einen Anhaltspunkt zu
geben. Ich habe von den Nachbildern des bewegten gelbrothen Objectes nur
die ersten 5 Phasen wiedergegeben ; der Phase 5 folgt an den von objectivem
Lichte getroffenen Stellen stets (auch bei sehr geringen Lichtstärken des
Reizlichtes) eine 6. Phase als sehr dunkles Band in weniger dunkler Um-
gebung, das meist mehrere Secunden lang sichtbar, und ebenso wie Phase 4
und 5 von v. Kbibs ganz übersehen worden ist.
(Eingegangen am 15. Juni 1901.)
Zeitschrift für Psychologie 27. ^1
(Aus dem philosophischen Seminar der Universität Graz.)
J lieber den Einflufs der Gefühle auf die Vorstellungs-
bewegiing.
Von
Dr. Robert Saxinqeb.
§ 1.
Die Erkenntnifs, dafs das Gefühl auf den Vorstellungslauf
einen Einflufs ausübe, stammt keineswegs aus jüngster Zeit
Man hat längst eingesehen, dafs das Auftreten von Gefühlen für
die Vorstellungsbewegung nicht gleichgültig sei ; aber im Grofsen
und Ganzen ist man über allgemeine Formulirungen dieses Ge-
dankens nicht hinausgekommen. Erst bei Ehbenfels findet sich
eine zusammenhängende Darstellung und eingehende Schilderung
der Einwirkung der Gefühlsmacht auf den Vorstellungslauf.*
Begreiflicherweise werden die Ansichten darüber auseinander
gehen können, erstens inwieweit sich die Einwirkung des Ge-
fühles auf den Vorstellungsverlauf geltend macht, und zweitens
in welcher Weise die Einwirkung des Gefühles zu charakterisiren
ist. Ist es doch von vornherein denkbar, dafs die Einwirkung
des Gefühles auf den Vorstellungslauf sowohl durch längeres
Verweilen der betreffenden Vorstellungen im Bewufstsein, als
auch durch öfteres Auftauchen derselben zu Tage tritt. Femer
wird auch die Art und Weise der Charakterisirung des Einflusses
der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung naturgemäfs eine
verschiedene sein, je nachdem man die Qualität oder Intensität
der Gefühle zum leitenden Gesichtspunkte macht So liegt den
» System der Werththeorie, I, 188 ff.
Uis&fT den Einfluß der Gefühle auf die Vorsteüwigshewegung, 19
Aufstellungen Ehrenfels' offenbar die Anschauung zu Grunde»
dafs einerseits die Gefühle nur ein längeres Beharren der Vor-
stellungen im Bewufstsein bewirken, und dafs andererseits die
Qualität der Gefühle dad ausschlaggebende Moment bildet Der
Standpunkt Ehbenfels' erhellt am besten aus dem von ihm auf-
gestellten Gesetze der relativen Glücksförderung : „Die Differenz
der Gefühlszustände, welche sich an zwei beliebige Vorstellungen
knüpfen würden und nicht etwa positive Gefühle oder eine stete
Glückszunahme giebt den Grund ab, weshalb immer die an-
genehmere in Bezug auf die unangenehmere Vorstellung einen
Kraftzuschufs erhält" ^
Hier kann selbstverständlich auf das Gesetz der relativen
Glücksförderung nur soweit eingegangen werden, als es durch
die Natur der Sachlage unbedingt geboten erscheint^ Vor Allem
ist hervorzuheben, dafs unter der „angenehmeren" „Vorstellung"
sowohl die lustvollere als auch die minder unlustvolle Vorstellung
gemeint ist^ Beachtet man dies, dann werden sich sofort nahe-
liegende Bedenken aufdrängen. Nach diesem Gesetze müfsten
pämHch die von starken Unlustgef ühlen begleiteten Vorstellungen
gegenüber den von schwachen Gefühlen getragenen und weiters
gegenüber den indifferenten Vorstellungen zurückstehen. Die
schwach unlustbetonten und die nicht betonten Vorstellungen
würden im Kampfe um die Enge des Bewufstseins den Sieg
über die stark unlustbetonten Vorstellungen davontragen. Jeder-
mann weifs nun, dafs in Wirklichkeit gerade das Umgekehrte
stattzufinden pflegt: Vorstellungen mit starken Unlustgef ühlen
überwiegen im Bewufstsein entschieden über indifferente oder
nur mit schwachen Gefühlen verbundene Vorstellungen. Die
Neigung zum Beharren tritt also gerade dort am deutlichsten
hervor, wo sie nach dem in Rede stehenden Gesetze am geringsten
Bein sollte. Das ist Ehrenfels auch keineswegs entgangen.
Allein er giebt nicht zu, dafs die Fälle, in welchen „die schmerz-
lichen Vorstellungen im Kampfe um die Enge des Bewufstseins
» System der Werthth. I, 197.
* Vgl. Schwarz, Die empiristische Willenspsychologie nnd das Gesetz
der relativen Glttcksförderung. Vierteljahrsschrift f. wisaensch, Philosophie 23,
205—234, und Ehrenfels, Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik der enipi risti-
schen Willenspsychologie und des Ges. d. rel. Glücksförderung. Vierteljahrs-
Bchrift f. wissensch. Philos. 23, 261—284.
» System d. Werthth. I, 190.
2*
20 Robert Saxinger.
«ine besondere Uebermacht besitzen/ ^ wirkliche Gegeninstanzen
^egen das Gesetz der relativen Glücksförderung bilden: Denn
<lie Yon der relativen Glücksförderung herstammenden Ein-
wirkungen würden oft durch ^anderweitige Einflüsse'* paralysiit»
und es gäbe aufser den bekannten noch andere, wahrscheinlich
rein physiologische Theilursfiwjhen, welche den Vorstellungslauf
beeinflufsten.' Da Ehrenfels femers behauptet, dalB „lebhafte
Eindrücke aller Art, also auch schmerzUche, sich mit grober
Beharrlichkeit erhalten, ^^ «o ist anzunehmen, dafs er die schmerz-
lichen Eindrücke zu den lebhaften rechnet, und dafs nach seiner
Meinung die „anderweitigen Einflüsse^ sich eben bei den leb-
haften Eindrücken geltend machen.
Es fragt sich nun, ob die von Eheenfels angedeutete Er-
klärung des Ueberwiegens unlustvoller Vorstellungen in den mit
«dem Gesetze der relativen Glücksförderung nicht in Einklang
ÄU bringenden Fällen eine ausreichende ist Vergleicht man
beispielsweise den Fall, in welchem eine Frau ihr eigenes Kind
sterben sah *, mit dem, in welchem sie dem Sterben eines Nach-
barkindes beiwohnte, so zeigt sich, dafs den Erinnerungsbildern,
welche von den beim Sterben des eigenen Kindes empfangenen
Eindrücken herrühren, gegenüber den anderen gröfsere Beharr-
lichkeit zukommt. Wie ist das Ueberwiegen jener Vorstellungen
zu erklären? Nach Ehbenfels zählt der Anblick des im Sterben
liegenden eigenen Kindes jedenfalls zu den lebhaften Eindrücken,
und daher das Beharren der Vorstellungen. Die Lebhaftigkeit
des Eindruckes oder genauer die dadurch begründete Disposition
ist es, auf welche das Beharren zurückgeht. Zu dieser Auf-
fassung ist vor Allem zu bemerken, dafs, wenn man von leb-
haften Eindrücken spricht, die Lebhaftigkeit auf den Eindruck
selbst, oder aber auch auf das begleitende Gefühl bezogen werden
könnte. Bei Ehbenfels ist unzweifelhaft das Erstere der Fall.
Es ist nämlich nicht anzunehmen, dafs der Genannte die Leb-
haftigkeit auf das Gefühl beziehen wollte; denn damit hätte er
ja selbst das Gesetz der relativen Glücksförderung von vom-
1 System, d. Werthth. I, 193.
« Ebenda 194.
» Ebenda 194.
* Vgl; Ehrenfels, Syst. d. Werthth. I, 182. Ich habe diesen Fall, der
bei Ehrenfels als Beispiel angegeben ist, absichtlich zu dem Vergleich
Lerangezogen.
üeher den Einflufs der Gefühle auf die VorsteUungshewegung. 2t
herein preisgegeben. Sieht man nun von den emotionelleiit,
Elenienten ab, und betrachtet man nun die bezüglichen Wahr-
nehmungsvorstellungen, so mufs zugegeben werden, dafs diese^
in beiden Fällen gleiche Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit auf*
weisen. Da den in Frage kommenden Dispositionen sohia
gleiche Energie beizulegen ist, so müfste also die Beharrlichkeit
den beiden Vorstellungskreisen in gleichem Maafse zukommen»
Das letztere ist bekanntlich nicht der Fall. Man könnte nun-,
vielleicht daran denken, die bevorzugte Stellung der einen Vor^
Stellungsgruppe aus einer durch die hinzutretenden Wahr-
nehmungsurtheile bewirkten Hebung der Anschaulichkeit und
Lebhaftigkeit zu erklären. Lidefs, wenn man nicht etwa die auf
die Urtheile zurückgehenden Gefühle in Betracht ziehen will, so
ist nicht einzusehen, warum in dem einen Fall die Urtheils-.
function mehr leisten sollte als in dem anderen. Auch so läfst
sich also keine Erklärung des Ueberwiegens der einen Vor-,
Stellungsgruppe gewinnen. Somit ist es naheUegend, gerade auf
die bisher nicht berücksichtigte Gemüthsbeschaffenheit das Augen-
merk zu richten. Die Verschiedenheit der Gefühlslage ist in
der That in beiden Fällen eine auffallende. Auf der einen Seite
intensive Unlustgefühle, auf der anderen mehr oder weniger an-
klingende Mitleidsregungen. Das Beharren der Vorstellungen
vom Tode des eigenen Kindes steht also offenbar mit dem Auf-
treten der intensiven Unlustgefühle in Verbindung. Auch der
Ausnahmsfall, dafs einer Mutter der Tod des eigenen Kinde»
nicht sonderlich zu Herzen ginge, kann als Bestätigung des be-
haupteten Zusammenhanges zwischen dem Beharren jener Vor-
stellungen und dem Vorhandensein der intensiven Unlustgefühle,
gelten : Denn in diesem seltenen Falle würden die Vorstellungen
vom Tode des eigenen Kindes vor den Vorstellungen, die den
Tod eines Nachbarkindes betreffen, rücksichtlich der Beharrlich-
keit wohl kaum etwas voraus haben. Der angestellte Vergleich
lehrt also, dafs zur Erklärung des Beharrens der Vorstellungen'
unter Umständen die Berufung auf die Lebhaftigkeit der Ein-
drücke nicht genügt.
Die Beharrlichkeit unlustvoller Vorstellungen läfst sich auch
in Fällen beobachten, wo weder äufsere Eindrücke noch so ge-
waltige Gef ühlsreactionen , wüe die in dem oben angeführten
Beispiele, vorhanden sind. Mancher wird sich vielleicht an einen
kleinen Formfehler (Unterlassung einer geziemenden Handlung)
22 Robert Saxinger,
erinnern, den er sich einer Persönlichkeit gegenüber, an deren
Wetthschätzung ihm gelegen ist, zu schulden kommen liefs. Es
ist solchen Falles leicht zu beobachten, wie gerade der Gedanke^
sich nicht correct benommen zu haben, eine grofse Beharrlich-
keit besitzt. Weiters ein anderes Beispiel : Jemand hat mehrere
Besuche zu machen, von welchen ihm ein Besuch peinlich ist
Auch hier kann es nun Niemand entgehen, wie sich der Gedanke
an diesen peinlichen Besuch mit besonderer Zähigkeit im Be-
wufstsein erhält. Ich wüfste nicht, was in den eben angeführten
Beispielen den Vorstellungen die Beharrlichkeit verleihen sollte,
wenn nicht die actueUen ünlustgefühle. Streichen wir die ün-
lust, die der Gedanke an den Formfehler oder an den unange-
nehmen Besuch mit sich bringt, so ist nicht auszudenken, warum
gerade diese Gedanken im Bewufstsein beharren.
Aus den besprochenen Fällen folgt also, dafs das Gesetz
der relativen Glücksförderung auf Seite der Ünlustgefühle nicht
gilt. Günstiger gestaltet sich die Sachlage für das erwähnte
Gesetz, wenn man nur die Lustgefühle in Betracht zieht. Hier
kann das Gesetz nicht widerlegt werden, weil eine von intensiver
Lust begleitete Vorstellung in der Regel auch relativ angenehmer
sein wird, als eine mit minder starkem Lustgefühl verbundene.
Wenn sich beispielsweise ein mittelmäfsiger Schüler auf die
kommenden Ferien freut, so sind die bezüglichen Vorstellungen
von Lustgefühlen getragen. Diese Vorstellungen sind dann
natürlich angenehmer als die Gedanken an die Zeugnifsver-
theilung, welche etwa nur schwache Lustgefühle mit sich bringen.
Erfahrungsgemäfs beharren solche von kräftigen Lustgefühlen
begleitete Vorstellungen länger im Bewufstsein als andere von
minder starker Lust getragene Vorstellungen. Der Schüler denkt
beharrlicher an die Ferien als an andere Dinge, die ihm weniger
Lust bereiten. Der Grund des Beharren des ersteren Vor-
stellungskreises könnte ebensogut in der relativen Annehmlich-
keit der Vorstellung, wie in dem actueUen Gefühle gesucht
werden. Indefs, ist einmal nachgewiesen, dafs das längere Be-
harren der Vorstellungen mit dem Vorhandensein mehr oder
minder intensiver Ünlustgefühle im Zusammenhang steht, dann
ist anzunehmen, dafs dies auch bei den Lustgefühlen der Fall
ist. Und es ist nur consequeht, wenn man sich das Beharren
lustvoller Vorstellungen in analoger Weise, wie das Beharren
der unlustvollen Vorstellungen, nämlich durch die Bezugnahme
lieber den Einfiufs der Gefühle avf die VorsteUwngshewegung, 23
%d die actviellen Grefühle begreiflich zu machen sucht, zumal
ja auch die Erfahrung damit nicht in Widerspruch stehti Wollte
man aber im Bereiche der Lustgefühle an der Einwirkung durch
die relative Glücksförderung noch immer festhalten, dann müfste
man, um die Sache bei den Unlustgef ühlen conf orm zu gestalten,
annehmen, dafs die von der relativen Glücksförderung her-
rührenden Einflüsse in Wahrheit zwar vorhanden sind, durch
die Einwirkung des actuellen Unlustgefühles jedoch jedesmal
aufgehoben werden 1
• § 2.
EHRE^FELS erblickt in den Zuständen der Melancholiker
eine Bestätigung seines Gesetzes von der relativen Glücksförderung.
^Das psychische Verhalten jener Melancholiker," — sagt Ehbek-
PELS, — „läfst sich am ungezwungendsten gerade als ein Er-
gebnifs der Tendenz der Phantasie nach den angenehmeren
Vorstellungen begreifen. Die Vorstellungen trüben oder traurigen
Inhaltes sind ihnen thatsächlich die angenehmeren." ^ Ich meine
nun, dafs sich die psychische Verhaltungsweise der Melancholiker
auch ohne Gesetz der relativen Glücksförderung verständlich
machen läfst. Deshalb, und weil sich dabei einige Ausblicke,
welche für das Gefühlsleben überhaupt nicht ohne Bedeutung
sind, ergeben, glaube ich, von einer kurzen Erörterung dieses
Gegenstandes nicht Umgang nehmen zu sollen.
Die Erfahrung zeigt, dafs die gleichen Vorstellungen je nach
üinständenverschiedene Gefühlswirkungen in einem und demselben
Subjecte hervorbringen. Besehen wir uns den Seelenzustand eines
Menschen, dem ein schwerer Unglücksfall begegnet ist: Während
der Betreffende früher an vielerlei Dingen Freude hatte, sind
ihm jetzt solche Dinge gleichgültig, und es ist für Freude in
seiner Seele kein Platz. Der Schmerz über die widerfahrene
Unbill beherrscht ihn gänzlich. In diesem Falle verbleiben Vor-
stellungen, die sonst Lustgefühle hervorriefen, wirkungslos in
Bezug auf das Gemüth. Erscheinungen dieser Art sind durch-
aus nichts seltenes. Sie lassen sich im Allgemeinen an PersoneUi
welche intensive Unlustgefühle mit sich herumtragen, beobachten.
Solche Menschen werden dieser Gefühle auch dann nicht ledig,
wenn sich andere Vorstellungen einstellen, die mit den Ein-
' System d. Werthth. I, 194.
24 Robert Saxinger,
drücken, von welchen die Unlustgefühle herrühren, gar nichts
zn thun haben, und die normalerweise Lustgefühle erregt h&tten.
Alles ereignet sich gleichsam unter dem Trauergefühl; dasselbe
ergreift sozusagen auch alle anderelQ Vorstellung;en. Auch die
sonst lustvollsten Vorstellungen versagen vollständig und nifen
keine Freude hervor. Es ist in Wahrheit die Fähigkeit, anders
als mit ünlustgef ühlen zu reagiren, verloren gegangen, üebrigens
bedarf es gar nicht immer besonders intensiver Unlustgefühle;
um den Gemüthszustand eines Menschen in dem Sinne zu ändern,
dafs er freudigen Eindrücken unzugängUch wü-d. Das bringen
auch schwächere Gefühle zu Stande; freilich müssen sie dann
längere Zeit dauern. So vermag beispielsweise das in anhalten-
dem, wenn auch schwachem Kopfschmerz sich kundgebende
Unlustgefühl jede Lebensfreude zu vernichten. Die Ursache der
verschiedenen Weise, in der die Seele die gleichen Eindrücke
durch Gefühlsregungen beantwortet, kann natürlich nicht auf
intellectuellem Gebiete liegen, sondern sie mufs in der Gemüths-
beschaffenheit der Person gesucht werden. Wie lassen sich nun
diese Veränderungen des Gefühlslebens verständlich machen?
Wie fängt es sozusagen ein Gefühl an, dafs andere Gefühle
neben ihm nicht aufkommen können?
Bekanntlich bezieht sich jedes Gefühl auf einen Gegenstand,
der natürlich zugleich Gegenstand einer Vorstellung ist, und
insofern bildet diese die psychologische Voraussetzung des Ge-
fühles.^ Die Gegenstände werden durch bestimmte Inhalte * vor-
gestellt, und auf diese gehen die begleitenden Gefühle zurück.
Der Inhalt, durch den ein Gegenstand vorgestellt wird, ist also
eine Theilursache des Auftretens eines bestimmten Gefühles.
Offenbar mufs aber noch eine zweite Theilursache vorausgesetzt
werden, wenn überhaupt eine Gefühlsreaction zu Stande kommen
soll. Der Vorstellungsinhalt vermöchte kein Gefühl hervor-
zubringen, wäre nicht die Möglichkeit vorhanden, dafs eine
Person durch einen gewissen Vorstellungsinhalt gefülilsmäfsig
äfficiil; würde. Mit anderen Worten : Die Person muCs die
Eigenschaft besitzen, auf bestimmte Eindrücke oder Vorstellungen
* Vgl. Meinono , Psychologisch-Ethische Untersuchungen zur Werth-
theorie, S. 34.
* Vgl. Meinono, Ueber Gegenstände höherer Ordnung und deren Ver-
hältnifs etc. Zeitschnft für Psychologie 21 (3 u. 4), 18öff.
üeher den Einflufs der . Gefiüile auf die VorsteUungshewegufig, 25.'
mit gewissen Gefühlsregungen zu antworten. Diese EigehBchäft
kann nun eine vorübergehende oder eine dauernde sein; jeden^
falls ist sie die zweite Theilursache.^ Den Vorstellungsinhalt,
der das Gefühl erzeugt, bezeichnen wir als Dispositionserreger,
die vorübergehende oder dauernde Eigenschaft der Person, durch
gewisse Inhalte gefühlsmäfsig erregt zu werden als Dispositions-^
gtundlage und das Gefühl als das Dispositionscorrelat. Die Ge-
fühlsdisposition wird actualisirt d. h. das Dispositionscorrelat
ausgelöst, wenn zur Dispositionsgrundlage der Dispositionserreger
hinzutritt^ Hiermit wäre also dem Dispositionsgedanken im-
Bereiche der Gefühle eine möglichst präcise Fassung gegeben. ;
Nun ist es klar, daüs die Actualisirung der Disposition
zu einem Gefühle in verschiedener Weise ausfallen kann, und
zwar je nach der Beschaffenheit der Disposition und des Dispo-
sitiönserregers. Bei ungeänderter Disposition werden gleichen
oder ähnlichen Dispositionserregern gleiche oder ähnliche Dis-
positionscorrelate , d. h. Gefühlsregungen entsprechen. Rufen
also die gleichen Vorstellungsmhalte zu verschiedenen Zeiten
verschiedene Gefühle hervor, so mufs der Grund hiefür in einer
vor sich gegangenen Veränderung der Gefühlsdisposition ge-
sucht werden. Ebenso mufs eine Aenderung der Gefühls-
disposition auch dann angenommen werden, wenn auf eine
Vorstellung, die bisher Gefühlsregungen zur Folge hatte, die et-
wartete Gefühlsreaction ausbleibt Wenn wir sehen, dafs mit
dem Auftreten von ühlustgefühlen in vielen Fällen der Ver-
lust oder wenigstens die Herabsetzung der Fähigkeit, Lustr
gefühle zu haben, verbunden ist, so müssen wir uns dies durch
eine Veränderung der Gefühlsdispositionen erklären.^ Und zwar
ist anzunehmen, dafs die betreffenden Unlustge fühle die Ver-
änderung der Gefühlsdispositionen herbeigeführt haben. Da also
unter Umständen die Actualisirung gewisser Gefühlsdispösitionen
unter der Einwirkung der conträren Gefühle entweder gar nicht
oder doch nur schwer möglich ist, so ist es begreiflich, dafs sich
trauernde Personen oder zuweilen auch solche, die mit einem
* Vgl. Meixong, Phantasievorstellung und Phantasie. Zeitschrift f Philos,
95, 165.
* Vgl. WiTASEK, Beiträge zur speciellen Dispositionspsychologie. Archio
f. systematische rhilos. 3, 273—293.
' Vgl. Ehkekfels, System der Werththeorie I, 117 ff.
26 Robert Saxinger.
körperlichen Leiden behaftet sind, selten oder überhaupt nicLt
EU freuen vermögen.
Noch sei darauf hingewiesen, dafs mit der Abnahme der
Unlustgefühle auch die Fähigkeit zu Lustgefühlen nach und
nach wiederkehrt. Die Gefühle gehorchen dem (xesetze der Ab-
stumpfung; Abstumpfung ist aber nichts anderes als eine Dis-
positionsveränderung. Während dem Auftreten der Unlust-
gefühle eine Herabsetzung der Lustgefühlsdispositionen zu folgen
pflegt, scheint mit der Abstumpfung der Unlustgefühle bezw.
der Herabsetzung ihrer Dispositionen eine Bjräftigung der Dispo-
sitionen zu Lustgefühlen einzutreten.^
Wir haben in der Veränderung der Gefühlsdispositionen durch
Gefühle einen Gesichtspunkt gewonnen, von dem aus sich das
psychische Verhalten des Melancholikers ohne Weiteres verstehen
läfst, ohne an das Gesetz der relativen Glücksförderung appelliren
zu müssen. Gewifs sind psychologische Vorgänge häufig der Grund
der anhaltenden Unlustgefühle des Melancholikers.- Aber das
psychische Verhalten des Melancholikers ist eben doch eine Folge
dieser dauernden Unlustgefühle. Wir haben oben darauf aufmerk-
sam gemacht, wie sehr anhaltende Unlustgefühle auf die Gemüths-
beschaffenheit eines Menschen einzuwirken vermögen. Sowie
bei einem an dauerndem Kopfschmerz Leidenden eine Ver-
änderung der Gefühlsdispositionen vor sich geht, so erfahren
analog auch die Gefühlsdispositionen des Melancholikers ejne
Veränderung. Auf diese Weise erklärt sich die Thatsache, dafs
solche Menschen Alles im trüben Lichte erblicken und stets
düstere Vorstellungen haben ; ihnen ist eben die Fähigkeit anders
als mit Unlustgefühlen zu reagiren verloren gegangen.
§3.
Es ist bereits an früherer Stelle angedeutet worden, data
sich die Einwirkung des Gefühles auf die Vorstellungsbewegung
nach zwei Richtungen hin geltend machen könnte. Einmal in
der Weise, dafs den betreffenden Vorstellungen eine Tendern
* Von der Erörterung der Frage, ob auch Lustgefühle eine Verändc
rung der Gefühlsdispositionen bewirken können, kann hier Umgang gi
noromen werden. In gewissem Sinne wäre die Frage zweifellos zu bejahet
• Natürlich könnte der Zustand des Melancholikers auch ein rei
psychisch bedingter sein. Auch in diesem Falle wären die dauernden Ci
lustgefühle die Ursache der Veränderung der Gefühlsdispositionen.
Ueber den Einflufs der Gefühle auf die Voratellungsbewegung. 27
tum Beharren verliehen würde, und dann in dem Sinne, dafs
die von gewissen Gefühlen begleiteten Vorstellungen sich ohne
associativen Anlafs häufiger im BewuTstsein einstellten als andere.
Von der Beharrungstendenz war oben die Rede. Nun handelt
€8 sich darum, festzustellen, ob nicht die Gefühle ein öfteres
Auftauchen der betreffenden Vorstellungen zu bewirken ver-
mögen.
Nach Ehkenfels findet eine Einwirkung des Gefühles rück-
sichtlich des Auftauchens der Vorstellungen, wie schon erwähnt,
nicht statt: „Solange es sich um das Auftauchen der Vor-
stellungen handelt, herrscht blos das Gesetz der Gewöhnung
und bedingungsweise das der Ermüdimg." ^ Ehrekfels würde
2. B. den Umstand, dafs jemand auch ohne associative An-
knüpfung häufig an den Abschied von einer nahestehenden
Person denkt, aus der Lebhaftigkeit des Eindruckes und der
dadurch bedingten physischen Disposition erklären. Unzweifel-
haft ist richtig, dafs die Lebhaftigkeit des Eindruckes für die
Reproduction nicht gleichgültig ist. Aber damit ist nicht aus-
geschlossen, dafs nicht in vielen Fällen noch ein anderer Factor
sich wirksam zeigt. Gerade das angeführte Beispiel deutet
daraufhin, dafs die Beschaffenheit des Eindruckes nicht aus-
reicht, um das oftmalige Auftauchen der Vorstellungen im Be-
wufstsein zu erklären. Man braucht nur den Fall, in welchem
jemand von einer nahestehenden Person Abschied nimmt, mit
dem, wo es den Abschied von einem gleichgültigen Menschen
gilt, zu vergleichen, um die Richtigkeit des Gesagten einzusehen.
Die Situation beim Abschiednehmen (z. B. am Bahnhofe) kann
in beiden Fällen, mit Ausnahme der Gemüthsstimmung, als voll-
ständig gleich angenommen werden. Die betreffenden Wahr-
nehmungsvorstellungen sind dann hinsichtlich der Anschaulich-
keit und Lebhaftigkeit gleichwerthig und man sollte erwarten,
dafs die betreffenden Vorstellungsdispositionen gleiche Energie
besäfsen. Eine ähnliche Ueberlegung wie oben führt auch hier
zur Erkenntnifs, dafs das, was den Vorstellungen des einen Er-
eignisses das Uebergewicht verleiht, eben doch nur die intensiven
Unlustgefühle sind. Ehrekfels ist selbst einmal nahe daran,
das öftere Auftauchen der Vorstellungen im Bewufstsein von
dem actuellen Gefühlen in Abhängigkeit zu bringen. Er be-
» System der Werththeorie I, 190.
28 Robert Scmnger.
hauptet nämlich von den lebhaften Eindrücken, dafs sie ^desto
häufiger auftauchen, je erschütternder sie sich geltend gemacht
haben." ^ Was anders^ macht aber wohl ein Ereignifs zu einem
erschütternden als ijas begleitende Gefühl?
Nicht immer bedarf es so starker Gefühle, wie solche im
TrennungsBchmerze zu Tage treten, um die Vorstelltingsbeweguiig
im Sinne eines öfteren Auftauchens der Vorstellungen zu be
einflussen. Auch Gefühle schwächeren Grades scheinen untei
Umständen die Macht zu besitzen, die wiederholte Wiederkehl
der Vorstellungen im Bewufstsein zu erzwingen. Man brauch
daraufhin nur die früher angegebenen Beispiele zu prüfen, un(
man wird das Behauptete bestätigt finden. Der Gedanke ai
den Formfehler beharrt nicht nur im Bewufstsein, er kehrt aucl
öfters dahin zurück, als es geschehen würde, wenn er nicht ei;
Unlustgefühl hervorgerufen hätte. Ebenso drängt sich die Voi
Stellung des widerwärtigen Besuches wiederholt ins Bewufstseii
während die Vorstellungen der übrigen Besuche diese Tenden
nicht zeigen. Der Grund, warum man oftmals an den eine
Besuch denkt und an den anderen nicht, kann angesichts de
sonst gleichen Verhältnisse wiederum nur in dem den eine
Fall auszeichnenden Unlustgefühle gelegen sein.
Was von den Unlustgefühlen gilt, das trifft auch bei de
Lustgefühlen zu. Der Schüler , der sich . auf die kommende
Ferien freut, denkt öfters an diese, als mit einem gedeihUche
Fortschritte des Unterrichts vereinbar ist Aehnliche Fälle sin
wohl jedermann bekannt. Es wäre zwecklos die Beispiele zi
häufen, da die diesbezüglichen Erfahrungsthatsachen so band
greiflich $ind, dafs sie nicht leicht übersehen werden können.
Das längere Beharren der Vorstellungen und das öfter
Auftauchen derselben im Bewufstsein beruht, wie wir gesehe
haben, insoweit überhaupt Gefühle in Betracht kommen, . stet
auf einer Eiilwirkung actueller Gefühle. Diese Einwirkung gel
sowohl von Lust- als auch von Unlustgefühlen aus. Und zw(
sind die Lustgefühle in dieser Beziehung nicht anders gestel
als die Unlustgefühle. Nicht die Qualität sondern die Intensiti
der Gefühle ist das für den Einflufs der Gefühle auf die Vo
Stellungsbewegung maafsgebende Moment Fragt man nun, c
die Neigung der Vorstellungen zum Beharren und Auftauche
im Bewufstsein mit dem Grade der Intensität der Gefühle z
' System d. Werthth. I, 194.
üeber den Einfiufs der Q^fühle auf die Vorsteüungabetoegung, 29
und abnehme , so ist zu antworten , dafs ein ' durchgängiger
Parallelismus nicht nachweisbar ist. Ueberblickt man die in
Betracht kommenden Erf ahrungsthatsachen, so läfst sich zwar
sagen, dafs im Allgemeinen bei intensiven Gefühlen sich die
beiden Tendenzen in erhöhtem Maafse geltend machen, aber es
ist auch nicht zu verkennen, dafs schon schwächere Gefühle ein
längeres Beharren und öfteres Auftauchen der Vorstellungen
bewirken können. Eine genaue Bestimmung jedoch, ob die
Leistung des Gefühles in Rücksicht auf das Beharren und Auf-
tauchen der Vorstellungen in einem constanten Verhältnisse zur
Intensität des Gefühles steht, ist schon deshalb nicht gut mög-
lich, weil wir keinen festen Maafsstab für Gefühlsintensitäten
besitzen ; zudem hängt die Vorstellungsbewegung auch noch von
anderen veränderlichen Factoren ab, die in jedem einzelnen
FaU bestimmt werden müfsten.
§4.
Es ist eine auffallende Erscheinung, welche in den oben
angeführten Beispielen zu Tage tritt und durch Erfahrungsthat-
cachen im weitesten Umkreis bestätigt wird, dafs die Beharrungs-
tendenz und die Neigung der Vorstellungen zu öfteren Auf-
tauchen im Bewufstsein stets zusammen vorkommen. Sollte dies
nicht auf einen inneren Zusammenhang der beiden Tendenzen
hindeuten? Um einen Einblick in diesen Zusammenhang zu
gewinnen, müssen wir untersuchen, wie es denn überhaupt
möglich wird, dafs Gefühle auf die Vorstellungsbewegung in den
angedeuteten Richtungen Einflufs nehmen können. Die bis*
herigen Ausführungen haben ergeben, dafs die gedachten Eigen-
thümlichkeiten des Vorstellungsverlaufes , insofern überhaupt
Gefühle mit in Betracht zu ziehen sind, auf der Einwirkung
actueller Gefühle beruhen. Dabei war die Frage offen gelassen
worden, ob das Hereingreifen der Gefühle etwa in der Weise
zu denken sei, dafs das mit der betreffenden Vorstellung jedes-
mal auftretende Gefühl das Auftauchen und das Ueberwiegen
der Vorstellung bewirke. Ist V die intellectuelle Grundlage,
genauer die Vorstellung, die die psychologische Voraussetzung
des Gefühles G bildet, sind V^ V^ F, die betreffenden Repro-
ductionsvorstellungen und G^ G« G^ die zu den letzteren ge-
hörigen Gefühlsregungen, so fragt es sich also zunächst, ob das
Gefühl G^ das Auftauchen und Beharren der Vorstellung V^
30 Robert Saxingert
bewirke, und weiters ob G^ und G^ in dei^elben Weise auf 7^
bezw. Fj, Einflufs nehmen.
Was zunächst die Beharrungstendenz anbelangt, so erscheint
die Annahme, die den betreffeliden Vorstellungen zugeordneten
Gefühle bewirkten das Beharren derselben, zweifellos als die
einfachste. Allein näher besehen, zeigt es sich, dafs bei dieser
Annahme die Gefahr besteht, ein aufserhalb der Gefühlssphäre
liegende^ Element hereinzutragen. Jedermann weifs, dafs
interessante Dinge die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken pflegen.
Die Vorstellungen von Gegenständen, die zu unserem Gefühls-
leben in naher Beziehung stehen, werden vielfach absichtlich im
Bewufstsein festgehalten. Das, was das Beharren der Vor-
stellungen bewirkt, ist also streng genommen dann nicht das
Gefühl, sondern der Wille.. Freilich wird man immerhin, insofern
der Wille als durch das Gefühl in Bewegung gesetzt gedacht
wird, wenigstens von einer indirecten Einflufsnahme des Gefühles
auf die Vorstellungsbewegung sprechen können. Indes hier
handelt es sich um eine andere Art der Gefühlswirkung. Das
erhellt sofort aus der Erwägung, dafs es Vorstellungen giebt,
die selbst gegen unseren Willen im Bewufstsein beharren. Da
solche Fälle mit in den Kreis der Betrachtung gezogen werden
müssen, so müsste sich also die von den mit den betreffenden
Vorstellungen verbundenen Gefühlen ausgehende Einwirkung
jedenfalls ohne Mithülfe des Willens vollziehen. Erinnern wir
uns nun, wie Gefühlsdispositionen actuahsirt werden, so ist er-
sichtlich, dafs ein Vorstellungsinhalt, der als Dispositionserreger
fungirt, nicht selbst wiederum in irgend einer Beziehung von
dem Dispositionscörrelate , dem Gefühle abhängig sein kann.
Die psychologische Voraussetzung bedingt zwar das (Jefühl,
nicht aber ist umgekehrt erstere dem letzteren luiterworfen.
Die Annahme, dafs das Beharren der Vorstellungen auf dem
Einflufs der zugehörigen Gefühle beruhe, erweist sich sonach
als eine unhaltbare.
Sehen wir nun, wie es mit der Einwirkung der zugehörigen
Gefühle in betreff des Auf tauchens der Vorstellungen bestellt isU
Der gleiche Einwand, der der Anschauung, als könne das Be-
harren der Vorstellungen auf der Einwirkung der ihnen zu-
gehörigen Gefühle beruhen, entgegensteht, begegnet uns auch
hier. Bedenkt man, dafs die Reproductionen der ursprünglichen
intellectuellen Grundlage eines Gefühles die jeweiligen psycho*
JJeher den Einflu/s der Gefühle auf die Vorateüungahewegung, 31
logiscben Voraussetzungen der zugeordneten Gefühlsregungen
birden; die Voraussetzungsvorstellungen die Gefühle erst hervor-
rufen, so. ist ohne Weiteres einleuchtend, dafs die zu den Vor-
stellungen gehörigen Gefühle nicht das Auftauchen derselben
bewirken . können.
Die Ablehnung einer Einflufsnahme der zugehörigen Gefühle
in dem obgedachten Sinne leitet naturgemäfs zu einer anderen
Auffassung. Nunmehr soll untersucht werden, ob nicht das
durch die Vorstellung V hervorgerufene Gefühl G für die Re-
productionen F, Fj V^ irgendwie von Bedeutung ist.
Die Dispositionspsychologie lehrt, dafs die Reproductions-
vorgänge im Wesentlichen von dem Bestände diesbezüglicher
(psychischer) Dispositionen^ abhängig sind. Veränderungen in
der Beschaffenheit der Vorstellungsdispositionen werden sich in
.den Vorgängen der Reproduction widerspiegeln; und umgekehrt
deuten Besonderheiten des Reiproductionsvorganges auf eine be-
sondere Gestaltung der Disposition hin. Verstärkung der Dis-
positionen einerseits und Herabsetzung derselben andererseits
bezeichnen die Richtungen, in welchen sich die Veränderungen
der Dispositionen bewegen. Die Verstärkung einer Vorstellungs-
disposition verräth sich sowohl durch die gröfsere Leichtigkeit,
mit der der Actualisirung entgegenstehende Hindemisse beseitigt
werden, als auch durch eine gröfsere Widerstandskraft der be-
treffenden Vorstellungen. Die Herabsetzung einer Disposition
äufsert sich dann selbstverständlich durch die gegentheiligen
Erscheinungen. Der leichteren Actualisirbarkeit der Vorstellungs-
disposition entspricht naturgemäfs ein öfteres Auftauchen der
Vorstellungen, der gröfseren Widerstandskraft der letzteren, ein
längeres Beharren im Bewufstsein. Erschwerte Actualisirung der
Vorstellungsdisposition und geringe Widerstandskraft der Vor-
stellungen dagegen bedingen seltenes Vordringen der Vor-
stellimgen zum Bewufstsein und eine gewisse Flüchtigkeit der-
selben. Wie also ersichtlich ist, bilden die Beharrungstendena
und die Neigung zum öfteren Auftauchen im Grunde genommen
gar nicht zwei für sich bestehende Tendenzen. Mit der Tendenz
zum Auftauchen ergiebt sich nämlich zugleich auch die Neigung
zum. Beharren von selbst, und die letztere ist sozusagen nur die
andere Seite der ersteren. Das Auftauchen und Beharren der
Vorstellungen sind also zwei Bethätigungsweisen einer und der-
* Vgl. HöPLER, Psychologie, S. 165.
32 Bobert Saxinger.
selben Disposition.^ Wenn sich sohin aus der vergleichenden
Beobachtung empirischer Fälle ergiebt, dafs dort, wo gewisse
Gefühle ins Spiel kommen, die Vorstellungen ohne associative
Anlässe öfters auftauchen und länger im Bewufstsein yerhairen
als dort, wo die Gefühle fehlen oder zu schwach sind, um eine
bemerkbare Wirkung auszuüben, so kann dies nur so erklärt
werden, dafs die betreffenden Vorstellungsdispositionen durch
die Einwirkung des Gefühles eine Verstärkung erfahren haben.
Die Vorstellung F, welche das Gefühl G erzeugt, begründet die
Disposition D, Diese letztere erfährt durch das Gefühl 0 eine
Verstärkung, welche sich in dem Auftauchen und längerem Be-
harren der Reproductionsvorstellungen Fj V^ Fj etc. äufeert
So bewirkt z. B. der Schmerz der Mutter beim Anblick des
sterbenden Kindes eine Verstärkung der durch die betreffende
Wahmehmungsvorstellung begründeten Vorstellungsdisposition.
Nicht unwichtig erscheint die Frage, ob die Veränderung
der Vorstellungsdispositionen durch das Gefühl nur bei der Be- .|
gründung der betreffenden Dispositionen mögUch ist, oder auch {
nachträglich während des Bestandes derselben erfolgen kann.
Soviel ich sehe, giebt es in der That Fälle, in welchen wir eine
. Veränderung einer schon bestehenden Vorstellungsdisposition
durch den Einflufs des Gefühles annehmen müssen. So l&fot
sich beobachten, dafs nicht selten Erinnerungsbilder früherer
Erlebnisse, wenn sie nach längerer Zeit durch irgend einen
associativen Anlafs wieder einmal ins Bewufstsein gehoben
werden, unter dem Hinzutritte hinlänglich starker Gefühle
wenigstens für kürzere Zeit die Tendenz zeigen, ohne associative
Beihülfe öfters im Bewufstsein aufzutauchen und daselbst länger
2U verweilen. Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob die Er-
innerungsbilder vielleicht erst jetzt in Folge geänderter Gtefühls-
dispositionen Gefühle auslösen, während etwa das Erlebnifs
selber gleichgültig war, oder ob es sich um alte, zum Wieder-
aufleben gebrachte Gefühlswerthe handelt, da das Resultat das-
selbe ist: eine nachträgliche Veränderung der Vorstellungs-
disposition im Sinne einer Verstärkung.
Die Möglichkeit der späteren Veränderung der Vorstellungs-
^ Vgl. G. E. MüLLEB und A. Pilzecker, Experimentelle Beiträge zur
Lehre vom Gedächtnifs. Zeitschrift f, Psychologie^ Erg.-Bd. 1, 1900. Daselbst
"vrird die Tendenz der Vorstellungen, frei ins Bewufstsein zu steigen, als
Persdverationstendenz bezeichnet.
lieber den Mnfiufs der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung. 33
dispositionell ist nun nach einer Richtung hin nicht ohne Belang.
Da die Vorstellungen F, F, Fg etc. von ähnlichen Gefühlsreac-
tionen, wie die Voretellung F begleitet sind, und weiter Verände-
rungen schon bestehender Vorstellungsdispositionen durch Gefühle
einmal möglich sind, so ist eine Einwirkung der Gefühle G, G^
6j etc. auf die Disposition />, vorausgesetzt, dafs sie hinlängliche
Intensität besitzen, meines Erachtens nicht auszuschhefsen.
Diese Annahme widerstreitet keineswegs den früheren Auf-
stellungen. Während dort der Gedanke, dafs das Beharren und
Auftauchen einer Vorstellung jedesmal diirch das begleitende
Gefühl bewirkt werde, in dem Vordergrund stand, handelt es
sich jetzt um eine Einflufsnahme des Gefühles, nicht auf die zu-
gehörige Vorstellung, sondern auf nachfolgende Reproductionen.
Die von dem Gefühl ö, ausgehende Kräftigung der Disposition
D äufsert sich natürUch erst bei den Reproductionen F^ F3 etc.
Dasselbe gilt dann mutatis mutandis von Einflüssen, die von
den Gefühlen G^ G^ etc. herstammen.
Einem Bedenken soll hier Raum gegeben werden: Wenn
nämlich von den Gefühlen G^ G^ G^ etc. Einwirkungen aus-
gehen, so Aüfste eigentlich die Disposition D eine fortlaufende
Verstärkung erfahren, was offenbar in einem steten Auftauchen
und endlosen Beharren der betreffenden Vorstellungen zu Tage
treten würde. In WirkUchkeit findet aber weder das eine noch
das andere statt. Die anscheinenden Schwierigkeiten, die sich
der Annahme einer von den Gefühlen G^ G^ Gg'etc. ausgehenden
Verstärkung der Vorstellungsdisposition D entgegenstellen, sind
leicht zu beseitigen. Aus der Erwägung, dafs Dispositionen
kaum unendlich steigerungsfähig sein werden, folgt, dafs die
Vorstellungsdispositionen nur bis zu einem gewissen Punkte
eine Verstärkung erfahren können. Wenn bereits durch das
Gefühl G die Grenze der möglichen Verstärkung erreicht wurde,
dann kann natürlich der betreffenden Vorstellungsdisposition
durch die Gefühle G^ Gc, Gq etc. keine neue Energie mehr zugeführt
werden. Sowie aber die Stärke der Disposition unter diese
Grenze sinkt, mufs eine Energievermehrung der Disposition als
möglich gedacht werden. Vielleicht ist es die Hauptaufgabe der
den Reproductionsvorstellungen zugeordneten Gefühle die natur-
^emäfse Herabsetzung der Vorstellungsdispositionen aufzuhalten.
{Eingegangen am S. Juli 1901.)
Zeitschrift fOr Psychologie 27.
r
Experimentelle Untersuchungen
über die Gredächtnifsentwickelung bei Schulkindern,
Von
Marx Lobsien, Kiel.
I.
Alexandeb Netschajeff hat über experimentelle Unter-
suchungen in gleichem Sinne in dieser Zeitschrift (24, 321 flE.) im-
längst berichtet. Trotzdem halte ich nicht für überflüssig, nach*
stehend die Ergebnisse meiner Untersuchungen aufzuzeichnen»
Zunächst kann ja eine ev. Bestätigung der dort gegebenen Re-
sultate nur erwünscht sein, sodann aber habe ich den Versuch
gemacht, die Beobachtungsweise Netschajeff's in manchen, und
wie mir scheint nicht unwesentlichen Punkten klarer zu um-
zeichnen. In einer Beziehung zwar geht seine Versuchstechnik
weiter, als mir zu gehen vergönnt war. Herr Netschajeff's Be-
obachtungen erstrecken sich über sechs verschiedene Lehr-
anstalten in St. Petersburg: Volksschule für Knaben, Volks-
schule für Mädchen, Realschule, Mädchengymnasium, Mädchen-
stift und Lyceum, insgesammt über eine Schüleranzahl von 687
im Alter von 9 — 18 Jahren. Dem gegenüber beschränken sich
meine Experimente auf Schüler und Schülerinnen Kieler Volks-
schulen im Alter von 9 — 14, bew. 14Vo Jahren. Diesem Mangel
in der zeitlichen Ausdehnung steht eine wesentlich gröfsere An-
zahl von Versuchsergebnissen innerhalb des angegebenen Zeit-
raumes gegenüber. Ich stellte Versuche an mit 462 Schülern,
238 Knaben und 224 Mädchen. Nktschajeff beobachtete
88 Volksschüler, 47 Knaben und 41 Mädchen im Alter von
bezw. 9, 10 und 11 Jahren. Den Löwenantheil beansprucht eine
Realschule mit 335 Schülern. Ich bitte die Tabelle I (S. 32)
Experim. Unterauchutigen üb, d, Gedäch^ifsetiücickelufig bei Schulkindern, 35
sorglich zu vergleichen! Zunächst! die Versuche in Mädchen-
klassen sind so sehr in der Minderzahl gehalten, daTs ich leb-
haft Bedenken trage, zumal wo sie zum Vergleich mit solchen
an den Knabenklassen herangezogen werden, sie in allen Theilen
zu unterschreiben. Für das 9. bis 11. Schuljahr kommen ins-
gesammt 41 Volksschülerinnen in Betracht, und zwar für das
neunte 9, das zehnte 15, das elfte 13, für die Zeit vom 12. bis
14. aber 60, bis zum 15. 60 + 19 = 79. Die Zöglinge emes
Mädchengymnasiimis und eines Mädchenstifts, gesammt 23 im
Alter von 15 — 18 Jahren, bleiben für die vorliegenden Unter-
suchungen aufser Rechnung. Somit stehen den 60 + 41 = 101
Versuchen mit Mädchen, solche mit 343 Knaben im Alter von
9 — 15 Jahren, gegenüber. Dazu kommt femer: die Mädchen
gehören wesentlich verschiedenen Bildungsanstalten an (41 der
Volksschule, 60 dem Gymnasium), die Versuchsergebnisse er-
fahren an ihrem Werth damit noch eine bedeutende Einbufse.
Denn deren ganze Unterrichts- und Erziehungsweise bedingt noth-
wendig Verschiedenheiten in der Entwickelung der Gedächtnifs-
arten, eme quantitativ verschiedene Inanspruchnahme dieser oder
jener Gedächtnifsweise. Dieser Unterschied bleibt gewifs auch
bestehen innerhalb der verschiedenen Classen solcher Bildungs-
anstalten, die gleiche Ziele verfolgen, und wird immer ein nicht
ganz tarirbarer Fehlerwerth ähnlicher Versuchsweisen bleiben.
Wenn man aber in der Weise Netschajeff's, eine geringe An-
zahl Versuche mit Mädchen verschiedenartiger Bildungsanstalten,
mit einer überwiegend grofsen Anzahl Knaben, die derselben
Schule angehören, vergleicht — dann multiplicirt man den
Fehler anstatt ihn zu verringern und gelangt zu Ergebnissen,
die nicht einwandfrei sein können. Ich achte die Experimente
Netschajeff's, soweit sie Knaben angehen, für weit werthvoUer
als diejenigen mit Mädchen. — Ich suchte dem Experiment und
seinen Ergebnissen eine gröfsere Gleichmäfsigkeit dadurch zu
verleihen, dafs ich die Anzahl der Versuche mit Knaben und
Mädchen annähernd gleich gestaltet und den Vergleich zunächst
beschränkte auf Unterrichtsanstalten, die in ihren Classen- und
Gesammtzielen und Mitteln wenigstens theoretisch gleich ge-
stellt sind.
Die ferneren versuchstechnischen Umstände gestalteten sich
^Um Theil den von Netschajeff angestellten ähnlich. Die Ver-
buche wurden angestellt, theils vor Beginn des Unterrichts^ theila
gß . Marx Lohsien.
nach der zweiten gröfseren Unterrichtspause, die 15 Minuten
dauerte. Ich wählte diese Zeiten in Uebereinstimmung mit den
Ergebnissen meiner Untersuchungen über die geistige Ermüdung \
um Einflüsse der Ermüdung auf die Versuchsergebnisse möglichst
unwirksam zu machen. Ein weiteres, diese Fehlerquelle zu ver-
stopfen, kann bei der vorliegenden Art des Experimentirens
nicht imtemommen werden. Man kann höchstens bei abnormen
äufseren Einflüssen den Versuch aussetzen, mufs aber im
Uebrigen auf eine möglichst grofse Anzahl von Einzelversuchen
seine Hoffnung setzen. Den Ermüdungserscheinungen gegenüber
sah sich Netschajeff durch äufsere Umstände gezwungen, den
Schaden dadurch gut zu machen, dafs er in jeder neuen Classe
die Reihenfolge der Versuche änderte. Es erschien ein Versuch,
„der in einer Classe zuerst ausgeführt worden war, als letzter in
einer anderen u. s. w. So konnten die Schüler vom gleichen
Alter und verschiedenen Classen unter gänzlich verschiedenen
Bedingungen hinsichtlich der Ermüdung beobachtet werden.
Das gab den Vortheil, bei Beobachtung der Ergebnisse die Frage
über die Ermüdung gänzlich unbeachtet lassen zu können"
(323) — eine Folgerung, die man schwerlich ohne Weiteres wird
zugeben wollen.
Die Versuche wurden mit einer ganzen Classe zugleich an-
gestellt und dabei die äufseren Umstände sorglich in Rücksicht
gezogen, die Störungen des Versuchs veranlassen könnten.
An den Versuchsreihen nahm ich einige Aenderungen vor.
Zunächst kürzte ich ihre Länge; statt 12 einzelner Eindrücke
benutzte ich 9. Dazu wurde ich bestimmt, theils durch die
praktische Erwägung, dafs nur das Alter von 8— 14\'2 Jahren
für mich in Frage kam, theils durch Ergebnisse, die bekannte
Untersuchungen über das Gedächtnifs festgelegt haben.
Das „Gedächtnifs für abstracte Begriffe" liefs ich aufser
Rechnimg, denn ich sah keine Möglichkeit: 1. sie reinhch zu
sondern von den Wörtern, die Gefühls- und Gemüthszustände
bezeichnen, es sei denn, dafs ich mich auf eine kurze Reihe be-
schränkte, die den jüngeren Zöglingen niemals geboten, aber
von den älteren, anderen Vorstellungen gegenüber, durch den
Unterricht erzwungen, jeweils so oft wiederholend durch-
laufen worden, dafs kein reinUches Ergebnifs möglich war.
* Unterricht und Ermüdung. Herrn. Beyer u. S., Langensalza.
Experim. UnterstMhufigen Üb, d. Gedächtnifstiitmckelnng hei Schulkindern, 37
Auch die von Netschajeff gebotenen Wörter leiden an diesem
Mangel; sie lassen der Versuchsperson oft in der Deutung so
viel Spielraum, dafs man nicht versichert ist, ob wirklich ein
Abstractum oder an seiner statt ein Concretum durch die jugend-
liche Phantasiethätigkeit in das Kianggebilde hineingedeutet
wird. Diese Erwägung bestimmte mich zu weiteren Aenderungen
an den Versuchsreihen Netschajeff's. Nicht wenige seiner „Ein-
drücke" sind durchaus nicht eindeutig, greifen vielmehr in ihrer
Deutung in verschiedene Gedächtnifsgebiete so über, dafs man
nicht sicher ist, ob dasjenige überwiegt, das der Experimentator
im Auge hatte. Wird z. B. das Wort „Huhn" vorgesprochen,
so ist durchaus nicht ausgemacht, dafs es eine Gesichtsvor^
Stellung weckt, wie beabsichtigt war, es ist im Gegentheil sehr
wohl mögUch, wenn nicht wahrscheinlich, dafs Laut Vorstellungen
— oder auch das wohlschmeckende Ei — reproducirend so sehr
dominirt, dafs diese unbeabsichtigte Gedächtnifsfunction sich
ebenbürtig, wenn nicht überwiegend neben das gewollte Ergebnifs
stellt. Ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, dafs bei
meinem Material gelungen ist, dieses zweite Fehlergebiet der
vorliegenden Untersuchungen scharf zu umgrenzen, ich wünsche
nur, dafs es um einiges genauer geschehen sein möchte als
bei Netschajeff.
Die von Netschajeff benutzten Wörter sind durchgehends
dreisilbig. Die russische Sprache ist an solchen reicher als
unsere, und so war es ihm leichter, ein äufserlich überein-
stimmendes Material zu construiren, ein Material, an dem die
visuelle, akustische, motorische Form des Gedächtnisses reinlich
zum Ausdruck gelangen kann. So sehr ich wünschte, ähnUche
Gleichmäfsigkeit in der äufseren Wortgestaltung construiren zu
können, so wenig unentschlossen war ich, als sich mir die
Unmöglichkeit offenbarte, ohne die oben gerügten Mängel zu
vermeiden, dieses Moment aufser acht zu lassen. Es ist
mir zwar nicht unwesentlich, aber doch bedeutsamer, unter den
Uebeln das kleinere zu wählen. Zwar scheint dieser Umstand
einer besonderen Betonung werth, wo es sich um die Erkundung
des typischen Unterschiedes zwischen visuellem und akustischem
Gedächtnifs handelt, aber in allen anderen Fällen steht der
Klanginhalt, die durch den Ausdruck umschlossene Vorstellung
durchaus im Vordergrunde des Interesses. Dieser Unterschied
prägt sich offenbar weit reiner aus bei dem Vergleich mit sinn-
38 Marx Lobsien.
losen Zeichenhäufungen, die sich eben äufserlich mit kleiner
Mühe zu vergleichenden sinnvollen Wörtern gleich gestalten
lassen. Endlich noch spielt das akustische Moment eine sehr
bedeutsame Kolle, nicht sowohl bei der Summe dessen, was
von den Schülern reproducirt wird, als vielmehr bei der Form,
in der das geschieht, also für die Genauigkeit des Reihenablaufs.
Diese Seite der Betrachtung läfst Netschajeff ganz aufser Rück-
-sicht, während doch, laut viel und oft bezeugter Erfahnmg, bei
solchen Wortreihen, zumal von bedeutender Länge, wo man
nicht durch Ausschliefsen des Wortsinnes allein das auditive
Moment wirken lassen will, der lebendige Wortinhalt gar leicht
die Spinnfäden zerreifst, welche etwa das LautgedächtniJGs zwischen
den einzelnen Gliedern knüpfte. In Verfolg dieser Erwägungen
nahm ich es mit der äufseren Textgestaltung solcher Eindrücke,
die ihre Absicht lediglich auf das Gedächtnifs des Wortinhaites
richten, nicht zu streng, wenn ich auch ohne Noth von einer
annähernden Gleichstellung nicht abgewichen bin.
Folgende Reihe von Eindrücken benutzte ich:
A. I.
1. Zeitung
6. Kasten
2. Schlüssel
7. Buch
3. Taschentuch
8. Hand
4. Glas
9. Kreide
5. Tafel
Diese Dinge wurden den Kindern je während einer Secunde
gezeigt, nachdem sie zu scharfem Hinsehen aufgefordert worden
waren. Selbstverständlich mufste dabei Sorge getragen werden,
dafs weder vor noch nach der jeweiligen Vorführung ein früherer
oder späterer Gegenstand noch sichtbar war. Nachdem alle
9 Gegenstände in Zwischenräumen von 1 Secunde gezeigt worden
waren, erfolgte das Commando: Schreibt! und unter scharfer
Controle, die jede Anleihe eines Schülers bei dem Nachbar aus-
schlofs, erfolgte die Niederschrift auf die bereit gehaltene Schreib-
fläche
n. 1. Händeklatschen 6. Klingeln
2. Klopfen 7. Rollen einer Kugel
3. Zerreifsen von Papier 8. Klirren mit Schlüsseln
4. Stampfen 9. Brummen.
5. Pfeifen
Experim, üntentichungen Üb, d. Qedächtnifsentwickelung hei SehuXkindem. 39
Diese Geräusche wurden in der Weise erzeugt, dafs die
Schüler die nothwendigen Bewegungen der Hände, des Mundes tu s. w.
nicht sahen, sondern nur das Greräusch wahrnahmen und zu deuten
suchten. Dabei war ihnen anheimgegeben es onomatopoetisch
oder auch durch Bezeichnung der Umstände, unter denen es
hervorgebracht wird, zu charakterisiren.
B. m.
1.
37
6.
96
2.
68
7.
45
3.
54
8.
28
4.
27
9.
17
5.
63
Diese neun Zahlwörter wurden den Schülern langsam und
deutlich vorgesprochen.
C. IV. Folgende Wörter, die mit Gesicbtsvorstellungen veiw
knüpft sind, wurden mit deutlicher Articulation vorgesprochen:
1. Blitzstrahl 6. Mondscheibe
2. Wandkalender 7. Sonnenstrahl
3. Zifferblatt 8. Feuerschein
4. Fensterbank 9. Himmelsblau.
5. Wandteller
V.
VI.
Dann folgende:
1.
Schutz
6.
Krachen
2.
Gekreisch
7.
Gebrüll
3.
Gebell
8.
Pfeifen
4.
Donner
9.
Geknall
5.
Gebraus
[. 1.
kalt
6.
rauh
2.
weich
7.
spitz
3.
rund
8.
kühl
4.
glatt
9.
scharf.
5.
heifs
I. 1.
Sorge
6.
Angst
2.
Feigheit
7.
Freude
3.
Hoffnung
8.
Reue
4.
Zweifel
9.
Neid.
5.
Hunger
40 Marx Lobsieti..
Vin 1. auditiv 6. QuantitÄt
2. simultan 7. Integral
3. subjectiv 8. Diffusion
4. Transaction 9. Attraction.
5. Lyceum
Diese letzte Gruppe enthält für Schüler der Volksschule, die
fremdsprachlichen Unterricht nicht geniefsen, nur sinnlose Zeichen-
häufungen. —
Bei der Werthung der Versuchsergebnisse benutzte ich wie
Netschajeff nur die Zahl der richtigen Aufzeichnungen.
Fehler kamen bei den Versuchen in so verschwindend geringer
Menge vor, dafs sie ohne Nachtheil aus der Rechnung fort-
gelassen werden konnten, andererseits würde eine Fehlerwerthung»
— wie ich sie zu Beginn im Auge hatte — aus nahe liegenden
«runden auf nicht geringen Widerspruch stofsen.
Eine Weiterführung der Versuche Netschajeff's endlich^
suchte ich besonders dadurch, dafs ich auch die Form, die
Beihenconstruction , in der die Eindrücke reproducirt wm-den,
einer näheren Betrachtung imterzog. Netschajeff gestattete den
Schülern, die Vorstellungen „in beUebiger Reihenfolge mitzu-
theilen". Ich gab eine solche Erlaubnifs nicht ausdrückUch,
sondern überliefs die Mittheilung der Reihenfolge stillschweigend
dem Einzelnen in der Hoffnung, auch dort über das Gredächtnifs
Aufschlüsse zu erhalten. Es handelt sich sowohl um die Menge
des vom Gedächtnifs aufbewahrten, als auch um die Form, in der es
reproducirt wird. Die letztere gerade bietet, soweit man sie
innerhalb des Experiments zahlenmäfsig schätzen kann, neue
und intimere Werthe für die Bestimmung des Reichthums au
Reproductionsvermögen dieser oder jener Seite des Gedächt-
nisses, reichere als ausschliefslich in den Angaben über den Um-
fang des Behaltenen vorhanden sind. Die durch die Weise
Netschajeff's gewonnenen Werthe müssen genauer bestimmt
werden im Sinne und in Consequenz des allgemein zugestÄudenen
Satzes: die Congruenz, die volle üebereinstimmung nach Form
und Inhalt der reproducirte Reihe von Eindrücken mit der ge-
gebenen, bedeutet höchste Energie des Gedächtnisses. Die
Etappenwerthe von o bis zu diesem Kulminationspunkte sind
dann zu bestimmen nach der Erwägung, dafs zuerst das Was,
dann das Wie, zunächst der Inhalt, erst hernach die Form, weil
Experim. Untersuchungen Üb. d. Gedächtni/sefitunckdung bei Sdiulkindem. 41
eben diese von jenem schlechterdings abhängig ist, über Werth
und Unwerth entscheidet Immer aber bleibt die Werthabgrenzung
innerhalb allgemeiner Angaben, denn selbst dann, wenn man
beachtet, dafs jeweilige Umstände gar wohl eine Höherwerthung
der formalen Seite bedingen können, so bleibt doch mit den
Mitteln des vorliegenden Experiments ungemein schwer, ja un-
möglich, zu bestimmen, ob bei der gegebenen Reihe
a b c d e f ff h^
die reproducirte Reihe
oder
bacfdehg^
a b c d € f g —
höher zu werthen ist. War die Absicht gerichtet auf formale
Genauigkeit, dann möchte man geneigt sein, die letztere, ging
das Absehen aber auf quantitative Vollständigkeit, die erstere
vorzuziehen, ein bestimmter ziffernmäfsiger Werth fehlt aber
auch dann.
IL
Tersuchsergebnisse.
A. Mit Bezug auf den Umfang der reproducirten
Reihen.
Die nachstehende Tabelle giebt eine Uebersicht über die Ge-
sammtergebnisse ; ich gebe die Werthe in %.
Tabelle L
Knaben:
■r*
Alter:
II
IV
13—14 V« i 12—13
11—12
10—11
9—10
a
Reihe:
Zeitung
100
91
Schlüssel
95
91
Tuch
98
81
Glas
81
65
Tafel
93
74
Kasten
98
93
Buch ,
96
41
Hand
76
67
Kreide
96
85
90
92
66
78
92
72
100
74
90
100
88
92
88
92
96
88
98
96
54
14
67
64
72
76
43
64
62
42
Marx Lohnen.
Alter:
n
m
13—14 Vi
12-13
11—12
IV
10—11 ! 9-10
Klatschen
i
74
50
40
54
87
Klopfen
81
76
80
76
81
Reifsen
67
54
32
48
51
Stampfen
91
70
52
74
64
Pfeifen
80
43
68
66
70
Klingen
54
1
14
46
32
11
Rollen
64
35
40
48
15
Klirren
, "
100
80
46
37
c
37
89
100
80
74
16
68
93
96
78
78
42
54
74
74
78
54
40
27
67
50
48
22
5C
73
80
50
54
24
42
96
76
65
72
12
57
45
80
59
54
42
1»
28
93
65
76
58
ao
17
74
93
92
•
90
^
d
Blitz
96
93
90
72
50
Kalender
76
57
62
28
26
Zifferblatt
83
65
54
22
15
Bank
70
93
80
76
76
TeUer
61
54
40
38
9
Mondscheibe
83
70
66
90
45
Sonnenstrahl
72
74
54
70
62
Feuerschein
42
57
28
50
24
Himmelsblau
74
64
62
50
52
Untersuchungen Üb, d, Gedächtnifsentwickdung bei Schüüeindem. 43
Liter:
I
II
m
IV
V
13—14 Va
12—13
11—12
10—11.
9—10
91
1
91
94
48
54
3Ch
80
65
72
32
30
76
74
60
62
67
•
' 83
83
80
80
80
.8
48
39
36
38
14
in
50
43
50
18
11
1
91
57
74
42
64
'
80
65
68
30
24
1
74
67
48
86
50
98
93
86
80
59
76
76
64
46
19
70
59
88
62
33
76
59
90
58
21
65
57
48
52
26
76
65
76
52
50
65
1
74
76
52
41
1 74
70
68
60
72
76
80
64
52
74
96
87
72
34
11
it
91
76
84
38
11
ng !
74
65
56
58
50
l
39
39
12
14
9
r
81
62
72
34
52
70
50
42
36
15
76
54
80
48
43
1
72
33
34
18
9
80
62
56
64
45
1
'_. _
.
-. —
44
Marx Lohnen..
I
II
m
IV
V
Alter-
■
13-14 V2
12—13
11 12
10-11
9-10
auditiv
76
91
66
1
36
39
simultan
13
54
18
2 !
4
subjectiv
98
70
16
46 ^
2
Transaction
24
15
8
20 1
0
Lyceuin
7
13
0
0
0
Quantität
62
26
8
2 '
2
Integral
7
11
14
2
2
Diffusion
45
33
14
8
0
Attraction
33
26
26
6
16
Ich berechne hieraus zunächst den Gesammtdurchschnitt aus
allen Altersstufen für die verschiedenen Gebiete.
Tabelle 2.
Art des Gedächtnisses
1
Werth in '>o
Reale Dinge
82,2
Geräusche
59,0
Zahlen
64,8
Wörter: visuelle Vorstellungen !
60,6
Lautvorstellungen
59,4
Tastvorstellungen
64,2
Gefühlsvorstellungen
31,2
Lautgedächtnifs !
24,0
Diese Zahlen bieten also den zu vergleichenden Dur
schnittswerth für die verschiedenen Seiten des Gedächtnisses
Knaben.
Die Curve offenbart deutlich eine sehr verschieden aus
prägte Gedächtnifsenergie. Weil sie gewonnen wurde aus all
Versuchen unter möglicher Ausmerzung individueller Besonc
heiten, möchte ich sie mit der aus den Mädchenversuchen gle
zu entwickelnden als Normalcurve bezeichnen und die na
folgenden Ergebnisse nicht nur unter sich, wie Netschaj:
allein vorhat, sondern besonders auch mit dieser vergleichen.
Ejperlm. UntersuchMngtn üS. d. Oedächtnifsenturickrluiig bei Schwlkindem. 46
Ein Vergleich der Curve mit dem entsprechenden Gesammt-
ergebDÜs Netschajeff's (vgl, S. 332) zeigt im Grofsen und Ganzen
in der jeweiligen Tendenz zum Steigen oder Falten Ueberein-
stimmung, nor in betreff des Zahlengedächtnisses zeigt sich eine
bemerkenswerthe Abweichung. Trotzdem bedeutet sie keines-
wegs ein falsch oder richtig da oder hier, sondern das Ergebnifs
entspricht in beiden Fällen den Thatsachen. Der Unterschied
erklärt sich dem Kundigen ohne Weiteres aus der Verschieden-
heit der Lehranstalten, der verschiedenen Pflege des Zahlen-
gedächtnisses besonders im elementaren Rechenunterrichte.
Die nachstehenden Tabellen, aus den vorhergehenden be-
rechnet , sollen die Weise der Entwickelung der ver-
schiedenen Gedächtnifaarten auf den in Fr^e kommenden
Altersstufen offenbaren. Die Werthe sind auf "/„ berechnet.
Altersstufen : V = 9-10, IV = 10-11, III = 11—12, n = 12—13,
I = 13— 14V..
Tabelle 3.
Art des Gedächtnisses
Stufe
1
1
1
1
.2 ■
>
s 1
>
J
'1
I
92^
71,89
80,8,
73,00
74,78
75,33
75,44
40,56
U
je,46
57,33
72,33
fia,ti7
1)4,89
73,67
68,67
37,67
UI
89,78
57,19
70,22
59,67
63.00
73,33
50,33
19,99
IV
87,12
65,33
49,33
65,11
48,44
57,11
38,m
12,44
V
64,(»
53.33
49,1)9
46,.t6
43,78
43,67
27,22
7.22
Normal-
werth
82,2
Öif,02
64,8
fiO,fi
59,4
64,2
31,2
24.0
Ein Vei^leich bezeugt in manchen Punkten volle Ueber-
«instimmung mit den Ergebnissen Netschajeff's. DeutUcli
offenbart sich ein allmähliches Ansteigen des Gedächtnifsumfangs
in den auf einander folgenden Stufen. Der Grad des Wachs-
ttun« ist für die Altersstufen und verschiedenen Gedäehtnifs-
46 Jiarx Lobsieni
arten recht verschieden. Die Differenz für die Gr^ammtentwic
long von der jeweiligen I. bis V. Stufe beträgt:
für Gegenstände 92,56
— 64
28,56
für Geräusche
71,89
53,33
18,56
für Zahlen
80,67
49,09
31,58
für Worte: visuelle Vorstellungen einkleidend
73,00
— 46,56
26,44
für Worte: akustische Vorstellungen einkleidend
74,78
— 43,78
31,00
für Worte: Tastvorstellungen einkleidend
75,33
— 43,67
31,66
für Worte: Gefühlsvorstellungen weckend
75,44
— 27,22
48,22
Gesammtdurchschnitt für Wörter: 34,33.
Endlich für Laute 40,56
— 7,22
33,34
Gesammtdurchschnitt: 29,27 der Anfangshöhe.
Am weitesten wächst das Gedächtnifs für Gefühlsvorstellu
und Zahlen, am geringsten für Geräusche. Volle Bedeutun
Experim, Untersuchungen üb. d, Qedächtnifaentwidcelung bei Schulkindem. 47
halten diese Differenzwerthe aber erst im Vergleich zu der oben
angedeuteten Normalcurve.
Die Höhe in der die Normale die Differenzwerthe durch-
schneidet, zeigt in noch deutUcherem Maafse die Entwickelung
der verschiedenen GedächtniTsgebiete und zwar in negativem
Sinne in dem Abstände von Curve V, positiv in den Entfernungen
von Curve L Je näher der gesammte Durchschnittswerth der
dem entsprechenden Werth auf der Curve 5 hegt, desto bedeut-
samer ist die Entwickelung bei sonst gleicher Entfernung von
Curve I.
Das führt zugleich auf eine speciellere Betrachtung der
Steigerungsunterschiede unter den einzelnen Altersstufen.
Tabelle 4.
Differenz in dem Umfange der Gedächtnifsentwickelung auf
d
ien verschied
enen Altersst
uf en.
1
Differenz
zwischen
1
1
Gegen-
stände
00
u
0
d
visuelle Vor-
stellungen
akustische
Vor-
stellungen
1
Tast-
stellungen
Gefühlövor-
Stellungen
I u.
II
+ 16,11
1
+ 14,56 + 8,34
+ 3,33
+ 9,89
+ 1,66
+ 16,77
+ 2.89
II u.
in
1
! — 12,73
+ 0,14
+ 2,11
+ 10,00
+ 1,89
+ 0,34
+ 3,34
+ 17,68
IM u.
IV + 2,06
+ 1,86
+ 20,89
+ 4,56
+ 14,56
+ 16,22 :+ 17,00
+ 7,56
IV u
. V
1
1
1 + 23,12
1
+ 2,00
+ 0,24
+ 8,55
+ 4,66
+ 13,44
+ 11,11
+ 6,22
Die Tabelle bezeugt für das 13. Lebensjahr eine bedeutende
Zunahme für Gegenstände, Geräusche und Gefühlsvorstellungen,
ganz besonders im Vergleich zu der voraufgegangenen Alters-
stufe, wo sich sogar ein nicht unwesentlicher Rückgang ver-
zeichnet findet. Dafür zeigt dieses Alter eine bedeutende
Zunahme des Gedächjtnisses für Wörter visuellen
Inhalts und für sinnlose Lauthäufungen, Wort-
klangbilder. Um das 10. Lebensjahr herum zeigt sich die
gröfste Zunahme überhaupt im Zahlengedächtnifs, für
akustische, Tast- und Gefühlsvorstellungen. Wir
haben hier, abgesehen von den Differenzen im Gedächtnifs für
Gegenstände und Geräusche zwischen Stufe I und II überhaupt
den relativ bedeutendsten Gedächtnifszuwachs zu
verzeichnen. In der Zeit vom 9, bis 10. Lebensjahre findet sich
eine — relativ die bedeutendste überhaupt — Steigerung des
48
Marx Lohnen.
Gedächtnisses für Gegenstände und damit für Wörter, die visaelle
Vorstellungen bezeichnen.
Ohne Weiteres offenbart sich femer, dafe der jeweilige Zu-
wachs an GedächtniTsstärke auf verschiedenen Altersstufen keines-
wegs gleich grofs ist, es zeigt sich vielmehr, dals die Zunahme,
die Energie sich gleichsam auf einzelne Gredächtnilsseiten con-
centrirt und andere sehr viel weniger berücksichtigt So ersieht
man auch innerhalb der Entwickelung derselben GredäehtniTsait
ein nahezu regelmäfsiges Auf- und Absteigen der Werthe. Das ^
wird noch wesentlich deutlicher, wenn man die absoluten Unter-
schiedswerthe, d. h. diejenigen gegen Curve 5, anstatt der oben
angedeuteten relativen vergleicht.
Tabelle 5.
Differenz
zwischen
Stufen
Gegen-
stände
1
Geräusche
Zahlen
i
vifluelleVor-
stellungen
akustische
Vor-
stellungen
Tastvor-
stellungen
Geftihlflvor-
Stellungen
lu.II
28,56
18,56
31,58
26,44
31,00
31,66
48,22
33,a4
II u. III
; 12,45
4,00
23,44
23,11
21,11
30,00
31,45
30,45
ni u. IV
25,18
3,86
21,13
13,11
19,22
29,66
28,11
12,77
IV u. V
23,12
2,00
0,24
8,55
4,66
13,44
11,11
5,2?
1 64,00
53,39
49,09
46,06
43,78
43,67
27,22
1
7,22
Die Tabelle 6 zeigt deutlich, dafs der relative Gedächtnifs-
zuwachs für die Gesammtentwickelung der einzelnen Gedächtnifs-
weisen nicht stark variirte, mit Ausnahme des Gedächtnisses für
Gefühlsvorstellungen und Laute, wenn auch die Etappen dieser
Entfaltung von recht ungleich verschiedener Länge sind. Der
Gesammtzuwachs betrug bei Knaben:
Gedächtnifs für Gegenstände: etwa V-
Geräusche :
Zahlen : „ ,5
Worte: visuelle Vorstellungen : ^
: akustische Vorstellungen :
: Tastvorstellungen:
des Umfangs um das 9. Lebensjahr herum. Dagegen stieg di^
Gesammtzunahme im
n
n
n
n
»>
Vs
S:
«i
3
>?
n
n
n
H
8
Gedächtnifs für Gefühlsvorstellungen um etwa 1
/5
„ „ Lauthäufungen
der ursprünglichen Energie.
»j
n
4».
Eocperim. Untersuchungen Üb, d. Qedächtnifaentwickdung bei SchüOnndem, 49
Tabelle 6.
(1 Gegenstände, 2 Gremische etc., in der Beihenfolge von Tabelle 8.)
so
9J
90
JJ
SO
6 j^
ZJ
ß
20
rf}--
<S/''
1
y / / i
//\.
/J
J
/: / /
y
/u^/
JO
/
l'S^
A
/ 2//
/
S
1 A^a,
V
l/^^f(^
^
ü^^^rTTi
.j
^^ ^
/7/
^n m
.71'
•> .' •
.v-
^\ i'
///-
!U'X'
n'
Tabelle 7.
Gedächtnifsversuche mit Mädchen.
Alter-
i
I
II
m
IV
V
13—14
12—13
11—12
10—11
9 10
Reihe:
1
Zeitung
98
92
100
40
92
Schlüssel
1 100
96
97
81
92
Tuch
100
96
95
83
84
Glas
100
94
97
83
88
Tafel
100
98
97
91
94
Kasten
100
98
97
83
84
Buch
98
82
78
89
92
Hand
100
84
97
72
92
Kreide
100
i
96
88
60
1
86
Zeitschrift für Psychologie 27.
Klatsch en
EJopfen
Seiffleu
Stampfen
Pfeifen
Klingeln
RoUen
Brummen
Blitzstrahl
100
Kalender
100
Zifterbktt
98
Fensterbank
95
WandteUer
95
Mondscheibe
98
Sonnenstrahl
93
Feuerschein
93
Himmelsblau
98
SchuTe
GekreiBch
Gebell
Donner
Gebraus
Kratrhen
Gebrüll
Pfeifen
Gekaall
IjlL
Experim. Untersuchungen üb. d. Gedächtnifsentwickelung bei ScJiuOcindem. 51
I
11
III
IV
V
AltAr*
Xx 1 • O A •
13—14
12-13
11 12
10-11
9—10
kalt
i 95
1
90
91
81
74
weich
! 86
58
85
76
64
rund '
80
76
91
38
68
glatt
! 77
34
63
24
23
rauh ;
; ^^
92
68
32
38
heifs i
68
68
49
62
38
spitz ;
98
96
91
76
74
kühl
75
80
49
67
50
scharf
1
82
68
71
74
30
Sorge
77
68
93
42
66
Feigheit
! 71
84
63
49
24
Hoffnung
91
84
61
58
56
Zweifel
56
20
56
12
12
Hunger
61
84
93
42
58
Angst
61
78
79
32
44
Freude
! 71
1
70
88
74
64
Heue
' 72
40
54
40
10
Neid
86
1
1
96
t
73
40
22
auditiv
70
96
75
40
16
simultan
27
16
15
0
2
subjectiv
74
40
41
7
4
Transaction
23
12
11
7
4
Lyceum
32
2
3
1
6
Quantität
22
1
44
0
7
0
Integral
31
26
22
5
0
Diffusion
' 43
12
13
5
2
Attraction
47
1
66
24
25
28
Hieraus ergiebt sich als Gesammtdurchschnitt aus allen
Altersstufen für die verschiedenen Gedächtnifsgebiete :
4*
52
Marx Lob9im.
Tabelle 8.
Art des Ged&chtnisses
Werth in %
Reale Dinge
91,4
Geräusche
62,2
Zahlen
71,8
Wörter: visuelle Vorstellungen
71,0
akustische Vorstellungen
60,2
TastTorstellungen
67,2
Gefühlsvorstellungen
^ 59,4
LautgedftchtnilJB
23,8
Auch hier offenbart sich, wie bei den obigen Berechnungen,
bei den Knaben im Allgemeinen Uebereinstimmung mit den
Versuchsergebnissen Netschajeff's ; die Ursache des Unter-
schiedes im Zahlengedächtnifs ist schon dort erläutert worden,
für sonstige Abweichungen möchte ich auf das grölsere [Beob-
achtungsmaterial hinweisen, das mir zu Grebote stand.
Die nachstehende Tabelle giebt eine Uebersicht über die
Weise der Gedächtnifsentwickelung auf den verschiedenen Alten-
stufen der Mädchen.
Tabelle 9.
Stufe
I
II
III
IV
V
Art des Gedächtnisses
OD
0)
O
C3
99,56
82,67
87,22
96,67
71,44
82,00
1
70,22
92,89
75,56
74,89
77,22
63,11
74,67
67,33
94,00
56,00
73,56
72,78
72,11
70,89
73,33
75,78
46,22
62,44
56,22
54,78
58,78
43,22
89,33
46,22
50,44
54,22
38,22
51,11
32,89 1
41,33
34,89
23,2ä
10,44
6,89
Normal-
werth
91,4
62,2
71,8
71,0
60,2
67,2
59,4
23,8
Auch diese Tabelle offenbart eine allmähUche Steigerung
des Gedächtnisses von der V. bis zur L Stufe, wenn auch ii
Experim. Untenuehungen äi. d. Gedächtniflentwiclcelung bei ScImOändem. 53
ungleichen Geschwindigkeiten. Die Differenz für die Gesammt-
entwickelung zwischen diesen Stufen beträgt
für reale Gregenstände : 99,56
— 89,33
10,23
für Geräusche: 82,67
— 46,22
36,45
für Zahlen: 87,22
— 50,44
36,78
für Wörter: visuelle Vorstellungen:
96,67
— 54,22
42,45
für Wörter: akustische . Vorstellungen :
71,44
— 38.22
33,22
für Wörter: Tastvorstellungen:
82,00
— 51,11
30,89
für Wörter: Gefühlsvorstellungen:
70,22
— 32,89
37,33
für Laute: 41,33
— 6,89
34,44
Gesammtdurchschnitt für Wörter: 33,49
Gesammtdurchschnitt der Gedächtnifsentwickelung von
Stufe V— I überhaupt: 30,28,
also fast um '/j der Anfangshöhe.
M
ilarx Lobiien.
Es offenbart sich die bedeutendste Gedächtnifszunahme für
Wörter, die -visuelle Vorstellimgen bezeichnen, die geringste für
reale Gegenstände.
Eine speciellere Betrachtung der Steigerungsunterschiede
innerhalb der einzelnen Altersstufen der Mädchen zeigt
Tabelle 10.
Sie enthält sowohl die relativen, wie die absoluten Unter-
schiede, die in Tabelle 4 und 5 für Knaben angegeben wurden.
Differens
twiflchen
II
1
1
1
H
li
1 g
^1
II
11
(itbB.
+ 6,67
+ 7,11
+12,33
+19,45 + 8,33
+ 7,33
+ 2,89
+ 6,31
+10,23
+36.4&
36,78
42,45
33,18
30,89
27,33
34.«
labe.
- 1,11
+19,56
+ 1,33
+ 4.44
-9,00
+ 3,78
-6,00
+11,67
3,66
29,33
24,45
23
18,89
23,56
34,44
28,00
—11
+18,22
+ 9,78
+l*i,56
+17,33
+17,32' +12,11
+30,11
+12,78
4,Ö7
S,78
23,11
18,56
33,89 1 19,78
40.44
lß.33
-«-{::
-13,05 ' 0,00
i
+12,00
+ 2,00
+16,56
+ 7,67
+10.33
+ 3.55
89,:-i3
«.-
50,44
W,22
38.22
61,11
33.89
23.8
(Zugehörige Gurve nebenstehend.)
Die Tabellen und Curven offenbaren ein© bedeutende Ge-
dächtnirssteigerung für Mädchen für alle GcdächtniTsweisen, um
das 12. Lebensjahr herum. Uebertroffen wird diese relative
Steigerung nur im 14. Lebensjahr bezüglich des Gedächtnisses
für visuelle Vorstellungen. Um das 13, Jahr zeigt sich die
weitaus gröfste Steigerung des Gedächtnisses für Geräusche und,
damit zusammenhängend, für Lauthäufungen. Ein auffallender
Rückgang im GredächtniTs für Gegenstände zeigt sich bei dem
Uebergang von der V. zur IV. Stufe. Die durchschnittliche Ge-
aammtzimahm© zwischen den einzelnen Stufen beträgt (Tab. 12) :.
Experim, Untersuchungen Üb. d. Gedächtnifsentwickekmg bei Schulkindern. 55
Tabelle 11.
Tabelle 12.
zwischen
%
I u. II
II u. III
m u. IV
IV u. V
8,69
3,08
16,75
4,82
Der Gesammtzuwachs von der V. bis zur I. Stufe bedeutet
Vergleich zu dem Anfangswerthe des Gedächtnisses bei
dchen :
für Gegenstände: etwa %
für Geräusche:
für Zahlen:
für Wörter ; visuelle Vorstellungen :
für Wörter : akustische Vorstellungen
für Tastvorstellungen:
für Gefühlsvorstellungen:
für Lauthäufungen:
n
n
n
n
n
rt
n
das 6 fache.
56
Marx Lobaien,
B. Vergleich der üntersuchungsergebnisse an
Knaben und Mädchen.
1. Der Gesammtdurchschnitt der Gedächtnifszunahme li^
bei den Mädchen etwas höher, als bei den Knaben. Die 6^
sammtzunahme von der V. bis zur I. Stufe beträgt:
Mädchen 30,28
Knaben 29,27
Differenz 1,01
7o
2. Das Verhältnifs der Durchschnittswerthe für die einzelnen
Stufen zeigt
Tabelle 13.
Zwischen
Knaben
Mädchen
Durchschnitt
I u. II
7,81
8,69
8,25
n u. III
2,53
3,08
2,80
III u. IV
10,60
16,75
13,67
IV u. V
6,91
4,82
5,86
Diese Uebersichten , nach denen mit gröfster Deutlichkeit
hervorgeht, dafs die relative Gedächtnifszunahme am
gröfsten ist zwischen der IV. und HI. Altersstufe, widersprechen
nicht, wie es den Anschein haben könnte, den oben (S. 47 und
35) gezogenen Folgerungen. Diese an einander gefügt erst geben
ein Bild von dem Umfange des Gedächtnisses auf der nächst
höheren Stufe.
Mädchen.
Tabelle 14.
Knaben.
Durchschnitt.
/ u.jr
JltLjH
}
mu.TV
Wuu V
In der Energie des relativen Wachsthums des Gesamnv'*
gedächtnisses zeigen sich die Elnaben den Mädchen gegenüb^
Experim. UttUntKhunijeit üb. d. Gfdäihlnifaentieickeltmg bei Scbvtkindem. 57
nur zwischen dem 9. und 10. Lebensjahre im Verhältnifa von
annähernd 6 : 5 überlegen, auf allen anderen sind die Mädchen
den Knaben überlegen. Diese Grörse in der Zunahme aber be-
rechtigt offenbar nur im Vergleich zu dem Gedächtnifs-
umfange zu Beginn der Untersuchungen zu SchlüBsen
über die Verschiedenheit des Gedächtnisses zwischen Knaben
und Mädchen.
Tabelle 15.
Gesammthohe des GedftcbtnisBes bei Knaben nnd M&dchen.
:1
Knaben
Mädchen
Gegenstände '
92.56
99,56
1 + ',00
Gertnsche
71,89
82,67
+10.78
Zahlen .|
80,67
87,22
-h 6,55
Visuelle VorBtellangen.;
73,00
96.67
; +23,67
Akuat. Vorstellungen |
74,78
71,44
- 3.34
Taatvorstellongen ''
76,33
82,00
+ 6.67
76,44
70.22
— 4,78
Laut«
40,66
41,33
+ 0.7?
Im Alter von 13
-UV, Je
hxen zeigl
sich das GedächtniTs
der Mädchen dem der Knaben insgesammt um 5,91 % überlegen.
Besonders bemerkenswerth ist das Uebergewicht in betreff des
Gedächtnisses für Zahlen, Geräusche imd besonders für visuelle
Vorstellungen. Das Uebergewicht für Worte überhaupt betri^
5,5%, liegt also wenig unter dem Durchschnitt
Tabelle 16.
M
■
' \\ -' Z
' l ^^^ i,''S-
»
it J
T
T
J^ 31
Jlfara; Lobaien.
Vergleich zwi
Tabelle 17.
chen Knaben nnd Mftdci
12—13 Jahren.
Gedachtnira für
Knaben
Madchen
76,45
92,89
+16,44
Geräusche !
67,33
75,66
+18,23
Zahlen
72,33
74,89
+ 2,56
Wörter: visuelle Voret
69,67
77,22
+ 8,55
„ ; akust. Vorst.
61,89
63,11
- 1,78
„ : Tastvorst.
73,67
74,67
+ 1,00
„ : Gefühlavorst.
68,67
67,33
+ 8,66
Laute
37,67
34,89
- 3,78
Tabelle 18 (Curve).
„ '~-.= -\
« S v--^ ?k ^
V '^ -id-^;
" ^^ Tt'
' " ^i
X
Gedächtnifs für I
Oegen stände
GerüuBche
Zahlen
Wörter: visuelle Vorst.
„ ; akust. Vorst.
„ : TftBt vorst.
„ : GefOhlsvorst.
Äiif dieser Altersstufe ist der
Unterschied zwischen dem Ge-
dachtnira der Knaben und Mäd-
chen zu Gunsten der letzteren
noch gröfser als auf der höheren,
6,22";. Das Gedachtnifs für
Zahlen überwiegt nicht so sehr,
als wieder das für visuelle Vor-
stellungen, und dann das für
Gegenatände, Geräusche und Ge-
fühlsvorstellungen. Das Gedächt-
nifs für Wörter überhaupt ist
— 4,17 ";'p — geringer als auf
der höheren Altersstufe und dem
der Knaben überlegen.
Tabelle 19.
Alter: 11—12 Jahre.
Knaben M&dchen | Differenz I Durchschnitt
70,22
r>9,67
94,00
56,U0
73,56
72,78
72,11
70,89
73,33
+ 4,12
— 1,19
+ SM
+13,11
+ '.',11
— 2,44
+18,00
+ 3,23
+ 9,45
Experim. üntertwAwtgm i&. d. GediüAMßenttBV^lung bei Schtükindem. {
Tabelle 20 (Curve).
Die nachstehende Tabelle
bietet einen Vergleich zwi-
schen Knaben und Mädchen
im Alter von 10 — 11 Jahren.
"°:r::::;:::::::::
^-\ j_
-^-A-^^zzptrv----
r n ml H
-:::::::::::::^::
«, iv--
j 1
"::::::::::::::$
Gedttchtnißi für
Knaben
Mädchen
DiUerenB DurchBchnitt
87,12
76,78
—11,34
Geraasche
56,33
46,-22
- 9,11
Zahlen
49,33
62,44
+13,11
■Wörter: viBuelle Voret.
66,11
66,22
+ 1,11
+ 0,67
„ : akust. Vorst.
48,44
54,78
+ 6,34
, ; TMtvorat.
57,11
58,78
+ i,ö'
, : GefOhlBvorat.
38.33
43,22
+ 4,89
Laute
12,44
10,44
-2,00
GeeammtmehT für Wörter:
Auch hier weisen die Re-
sultate der Versuche mit Mäd-
chen ein Plus auf, aber nur
ein geringes von 0,57 %.
Tabelle 22 (Curve).
l^t~6^:
Die letzte Tabelle dieser Gruppe weist die Schwankungen
des Umfangs verschiedener Gedächtnifsarten zwischen Knaben
und Mädchen auf für Stufe V, das Älter von 9 — 10 Jahrea
GwiÄchtniTB far
Knaben
M&dchen
Ditferen« j Dnrchaehciitl
64,00
89,33
+25,33 !
Gerftnecbe
53,33
46,22
- 7,11 j
Zahlen
49,09
60,44
+ 1,36
Wörter: viBuelle Vorst.
46,56
64,22
1+8,34 !
+*>3S%
„ : aknat. Vorst.
43,78
36,22
~ 5,66
„ : Taatvorst.
43,67
61,11
+ 7,«
„ : Geffiblsvorat.
27,22
32,89
1 + 6,67
Laute
7,22
6,89
- 0,33 1
Datchechnittsplua der Mädchen für Wörter: 3,97.
Tabelle 24 (Curve).
',
^1
,
~~
^,
,■
l
',
"v
N
,
\
\
-
Es erübrigt sich noch der Vergleich zwischen der Gedächtni
entwickelung für Küaben und Mädchen der verschiedenen Alle
stufen innerhalb der verschiedenen GedächtniTsarten.
£xpmM. UnterM^vngen iä>. d. Oedäelitnifienlvnekelung bei Schitlkindem. 61
1. Ged&chtnifB fftr
Tabelle 25.
Alter
Madchea
Knaben
I
99,56
92,56
II
92,89
70,15
m
94,00
89,78
IV
75,78
87,12
V
89,33
64,00
Tabelle 26 (Curve).
Knaben. Mltdchen.
-,
■=; ,- -
5 ^ ^
^7 ^^
:s
2. GedachtnifB fa
Tabelle 27.
'li
82,67
57,33 ! 75,56
67,19 ' 56,00
55,33 I 46,32
6333 I 46,22
Geranache.
Tabelle 28 (Oorve).
"=p::::::
J Jl'iflJ
3. Gedächtnifa füi
Tabelle 29.
Alter
Knaben
Mädchen
I
80,67
87,22
n
72,33
74,89
III
70,22
73,36
IV
49,33
62,41
V
49,09
50,44
Tabelle 30 (Curye).
^
N^
\""
v"^^
3 ^
4. Gedächtnirs für WOrter:
Tabelle 31.
Alter
Knaben
Mädchen
I
73,00
96,67
II
69,67
77,22
ni
59,67
72,78
IV
55,11
66,22
V
46,56
64,22
saelle Voratellnngen.
Tabelle 32 (Carve).
1
\
--
(
--,
1
Tf
i 1
'^s
,
-^,"1 1
"1
1
. GeHächtnirs fOr aku
Tabelle 33.
Alter
1 Knaben
Madchen
1
74,78
71,44
II
i 64,89
63,11
III
63,00
72,11
IV
48,44
54,78
V
43,78
38,22
che VorstelluDgen.
Tabelle 34 fCurve).
I s m w V
6. Gedachtnirs fUr
Tabelle 35.
Alter
Knaben
Mftdchen
I
7r>.a')
82,00
11
! 43,67
74,67
III
73.33
70,8Ü
IV
57,11
58,78
V
43,67
5i,n
tvorstellungen.
Tabelle 36 (Curve).
Eiperim. UntenuchungeH ti6. d. Oedächtniftenfvndtelitng bei SchvJkindem. ■
7. Gedkchtaifs fQr GefOhlsvocetelllaitgen.
VUer
Knaben
Mltdchen
I
75,44
70,22
11
68.67
67,33
III
55.33
73,33
IV
38,K
43,22
V
27.22
33,89
Tabelle 38 (Carre).
» U--'^'
^ ^ _2
3v
^1^
Jö \
8. Gedächtnifs fflr ai
Tabelle 39.
Ali«r l Knaben ] MAdcben
I 40,56
II 37,67
41,33
M,ö9
ee Lanth&nfangen.
Tabelle 40 (Curve).
Tabelle 41.
Knaben.
Alter
i sinnvoll
sinnlos
I
! 74,64
40,56
II
1 66,72
37,67
III
1 62,83
19,99
IV
! 4»,75
12,44
V
■10,31
7,22
Die Tabelle zeigt ileutlich den Einäufs des Worteinnea für
^ Behalten, je niedriger das Alter, desto geringer die Fähig-
^ii sinnlose Zeichenhäufungen zu behalten. Setzen wir den
'enh für die erste Colonne = 1, dann ergeben sich für die
zweite etwa folgende Bnichwerthe : l:*l,, II : '/t t IH '■ '/• . IV : V„
V: '/e- — Bei Mädchen ist das Gedächtnife für Wörter durch-
sclmittlich etwas höher entwickelt.
T
ahelle
42.
H&dche
Alter j
eianvoll
sinnlos
I i!
79,83
j «,33
II ;
70,58
34,89
III i
69,78
23.22
IV 1
50,75
10.44
Die Bruchwertlie sind dementsprechend niedriger: I: Vi.
11: %, III: Vs) IV: '/», V: */,. Das Ergebnifß möge folgende
Curvenzeichnung veranschaulichen:
Ta
b
e
I
e
43
.,
■■
nn
'
'
•
''«
-
?r
\
\
1 1
fr
\~
Interessant endlich noch ist der Ver-
gleich zwischen den Versuchen mit Wörtern
akustischen und visuellen Vorstellungs-
inhalts einerseits und den realen Dingen
und Geräuschen andererseits.
89,78
«7,12
«4,00
Tabelle 44.
1, (.Je-
!| rausch
■\Vort
71,89 I 74,78
.-i?,:« i 64.89
57,19 ! 63
5r>,3.1 j 48,41
03,33 I 43,78
!(9,56
92,89
04,00
Mftdchen
Wort
Ge
96,67 1 82,67
77,22 :, 75,56 '.
72,78 :, 5(i,00 1
56,22 \ 46,22
54,22 i 46,22 ;
fseperim. Untenudiuiyen üb. d. GedäehtnißenhFkkdung bä SdmO»nderH. i
\ ^ ' ' ■
_s-:25:-::_
'—^t' — '^A-—
« ~-"~v V
•■ j 5
■=S-
w'
f'TI "1 1 1 1 T 1
■ ^
X i, ^ ^
^-^¥i\-i
Tabelle 46a (Curve).
K
Gegenstaude:
Gegenstände: .. .^
Tabelle 45b (Curve).
Visnelle Vorstellungen:
Mftdchen:
Vieuelle Vorstellungen:
Die Tabelle oSenbart als eigentbümlicbes Ergebnifs, dafs
zwar die unmittelbare Beobachtung der durch das Wort ver-
anlaTsten Keproductiou einer visuellen Vorstellung für die
Energie des Gedächtnisses von sehr grofser Bedeutung ist,
keineswegs aber immer das wirkliche Geräusch dem durch das
Wort reproducirten gegenüber. Nicht nur, dafs der Abstand
zwischen beiden Curven, sowohl bei Knaben wie Mädchen ein
weit geringerer ist, nein, das Verhältnifs ist geradezu umgekehrt
Und zwar weist die Curve der Knaben für aJcustische Vor-
stellungen gegenüber den realen im Älter von 9 — 11 Jahren zwar
einen Vortheil der ersteren nach; um das 12. Jahr aber kreuzen
sich die Curven und es überwiegt, wenn auch nicht sehr be-
deutend, das Wortgedächtnifs. Auch bei den Mädchen kreuzen
sich die Curven um dieselbe Zeit, hier aber überwiegt — umge-
kehrt wie oben — bei älteren Kindern das Gedächtnifs für
akustische Reize gegenüber dem entsprechenden Wortgedächtnifs,
während bei den kleineren der Umfang des Gedächtnisses für
Wörter mit akustischem Vorstellungsinhalt gegenüber dem an-
deren ; nur für das Alter von 9 — 10 Jahren findet sich ein Ueber-
gewicht. In der ersten Curvenzeichnung M) finden wir durch-
gehends ein Ueberwiegen des Gedächtnisses für reale Dinge.
Die Differenz zwischen den Curven ist keineswegs constant.
Zwischen Knaben und Mädchen besteht der charakteristische
ZeilachriA tUr FsychDios'e ^' ^
66
Marx Lobsien,
Unterschied, dafs die Differenz zwischen beiden von unten nach
oben consequent geringer wird und zwax ist das zurückzuführen
auf die bedeutende Zunahme des Wortgedächtnisses zumal in
13 — 14 V2 Lebensjahre. Bei den Knaben ist die Distanz von
ungleicher Gröfse. Am bedeutendsten überragt das Gedächtnils
für reale Dinge in der Zeit vom 10. — 12. Jahre, am wenigsten
um das 13. heruuL
m.
Die formale Seite der Ergebnisse.
Die neun GUeder jeder Versuchsreihe bilden eine psychische
Reihe, die aber nur lose gefügt ist nach dem bekannten Gesetze
der Gleichzeitigkeit. Aber gerade diese lose Fügung gewährt den
Vortheil, dafs sich eigenartige Gedächtnifserscheinungen deutlicher
ausprägen.
Ich gebe zunächst eine Uebersicht über die Gesammt-
zahl der reproducirten Gliederanzahl innerhalb der
verschiedenen Gedächtnifsuntersuchungen.
Tabelle 46.
1. Knaben.
Gedächtnils
Gliederanzahl
4 I ö ! 6
Alter: 13 — I4V2 Jahre.
Gegenstände
(Geräusche
Zahlen
visuelle Vorstellungen
akustische Vorstellungen
Tastvorstellungen
Gefühlsvorstellungen
Laute
Gegenstände
Geräusche
Zahlen
visuelle Vorstellungen
akustische Vorstellungen
Tastvorstellungen
Gefühlsvorstellungen
Laute
—
3
2
—
2
7
14
14
4
4
5
9
—
—
—
5
17
15
—
1
4
18
18
1
6
6
17
—
—
0
15
14
2
3
14
16
7
1
1
23 I 20
0
11
8
11
11
7
1
12
1
6
3
Alter: 12—13 Jahre.
»
—
5 •
' '■
1
8
2
1
11
7
1
—
■ ' 1
4
5
1
l
1
10
1
9
9
16
14
10
17
16
8
11
4
8
7
11
11
16
12
10
2
19
am
O
8
8
7
8
6
1
7
6 -
3
10
1
3
1
Experim. ünteratichungen üb. d, Gedächtniflentwickdung bei SchüOcindem. 67
Gredächtnifs
Gliederanzahl
8
Alter: 11—12 Jahre.
Gegenstände
—
2
12
20
17
Geräusche
1
2
4
11
11
19
2
1
Zahlen
1
5
2
9
7
10
9
6
visuelle Vorstellungen
3
9
12
12
10
— •
akustische Vorstellungen
2
9
8
13
16
2
Tast Vorstellungen
1
2
8
16
9
7
7
Gefühlsvorstellungen
1
4
8
16
12
8
Laute
17
14
11
4
1
Alter: 10—11 Jahre.
(Gegenstände
Geräusche
Zahlen
visuelle Vorstellungen
akustische Vorstellungen
Tastvorstellungen
Gefühlsvorstellungen
Laute
1
3
17
1
4
2
11
17
4
1
o
8
f)
14
8
12
2
12
12
7
15
2
1
5
7
18
19
12
12
4
2
10
12
14
6
5
15
16
2
—
14
5
6
12
12
5
5
0
2
1
Gegenstände
Geräusche
Zahlen
visuelle Vorstellungen
akustische Vorstellungen
Tastvorstellungen
Gefühlsvorstellungen
Laute
—
1
1
2
2
3
6
2
7
4
9
18
21
10
Alter: 9—10 Jahre.
3
6
7
14
11
18
6
1
3
14
13
8
3
7
15
10
4
10
0
11
4
9
12
1
10
14
2
1
—
10
10
4
1
7
2
2
—
Tabelle 47.
Mttdchen.
Gliederanzahl
' 1 M M
Alter: 13— U>/i Jahre.
GcgennULnile ,
Gerftaiche
Zahlen ,
vienelle Voratellnngen
akuBtieche Vorstell angen .
Taatvorstellangen ,
Gefühls vors tellangen j
Gegenstände
Gerftasche
Zahlen
vienelle VorBtellungen
akustische Vorstellungen
Tastvorstellangen
Gefuhlsvoretellangen
— 1 —
—
_
—
—
2
42
„ ■ _
—
l
6
19
17
1
— . —
-
1
1
3
1
8
1
11
8
19
34
_ _
1
2
8
10
11
4
4
_ 1 _
—
1
2
6
16
14
6
— —
2
6
10
8
13
4
1
4 10
9
7
7
3
4
-
-
Alter: 12—13 Jahre.
—
—
—
—
7
3
11
—
2
4
6
11
—
—
—
11
12
—
-.
2
16
18
_
—
—
6
16
—
„
2
2
5
12
7
17
16
8
3
1
Gegenstände
Geräusche
Zahlen
visuelle Vorstellungen
akustische Vorstellungen
Tast V orstellungen
Gef U hls vorstel 1 uu gen
Alter: 11—12 Jahre.
1
:
1
10
12
4
2
_
^
1
1
—
—
—
2
7
—
\
1
4
4
—
—
6
6
12
11
10
2
1
Gegenstände
Geräusche ;
Zahlen
visuelle Vorstellungen
akustische Vorstellungen
Taetvorstellungen
Getühlsvorstellungen
Alter; 10—11 Jahre.
—
2
2
14
14
8
3
14
7
9
5
1
_
—
8
8
9
9
4
3
12
13
4
3
1
_
8
19
6
3
1
—
7
11
15
9
1
_
6
16
12
6
1
1
1
5
6
-
~
-
- ;
Expertin, Unterauckungen Üb. d. Oedächtnißenhoidcdung bei Schulkindem, 69
Gedächtnifs
Gliederanzahl
1
2
3
4
5
6
. 7
8
9
Alter: 9
-10 Jahre.
Gegenstände !
1
■ —
—
3
4
8
6
19
Geräusche
1
6
11
8
0
11
3
3
—
Zahlen
2
3
14
8
9
7
3
1
3
visuelle Vorstellungen
—
2
5
16
15
7
3
2
1
-akustische Vorstellungen 1
4
8
15
13
11
1
—
Tastvorstellungen
—
2
3
18
8
14
3
—
Gefülilsvorstellungen
2
11
13
17
o
2
Traute
1
20
7
—
—
—
Aus diesen Werthen greife ich die höchsten heraus und
stelle sie vergleichend neben einander, um so von der Fonn des
Reproducirten aus einen MaaTsstab an die verschiedenen Gre*
dächtnifsgebiete zu legen. Ich multiplicire die Gliederanzahl mit
der Zahl der gefundenen Reihen. Es ergeben sich dann folgende
Werthe:
Tabelle 48.
Knaben.
Alter
Gegen-
stände
Ge-
räusche
Zahlen
visuelle
Vorst.
akust.
Vorst.
Tast-
vorst.
Gefühls-
vorst.
Laute
I
II
in
IV
V
192
84
108
102
108
119
90
133
70
50
85
80
72
• 55
133
114
70
60
112
96
80
1 171
60
98
%
70
66
60
78
1
1
75
66
42
70
54
36
64
64
17
17
20
Tabelle 49.
Mädchen.
Alter
Gegen-
, stände
Ge-
räusche
Zahlen
visuelle
Vorst.
akust.
Vorst.
Tast-
vorst.
Gefühls-
vorst.
Laute
1
I
378
133
171
306
77
112
91
20
II
192
98
70
72
108
133
91
34
III
252
60
120
78
112
65
71
12
VI
91
42
57
65
95
75
48
18
V
1
171
66
42
65
45
72
68
20
1
10
Marx Lohsien.
Diese Werthe geben aber kein richtiges Bild, dieses gewinnt
man nur im Zusammenhang mit dem folgenden. Die Uebersicht
zeigt, wie oft eine Reihe ganz evolvirte. Ein Beihenablauf rückwärts
kam so selten vor, dafs dieser Fall ganz auTser Betracht bleiben
kann. Ich unterscheide den durchaus correcten Reihenablauf = r
von demjenigen, da zwar auch alle zugehörigen Glieder repro-
ducirt wurden, aber mit einzelnen Umstellungen = n.
Tabelle 50.
Mädchen.
Gedächtr
I
II
' ITT
1
IV
V
nifs
n
r
n
r
! n r
1 ''
r
n ; r
1
42
23
26
1
1 ^^
0
26
0 •
:' 24 ' -
2
5
0
4
0
0
0
1
1
1 1
' i ~
3
19
6
1
7
2
5
0
1
1
i
2 1
4
34
8
3
0
2
0
—
1 -
5
4
0
0
0
I 2
0
1
1
—
—
6
6
1 i
2
0
3
0
'
—
7
2
0
9
0
4
0
■ "^
8
0
0 .
0
0
0
0
.
1
t
—
Tabelle 51.
Knaben.
Gedächt-
nifs
1
2
3
4
5
6
7
8
II
III
71
r
71
r
w
IV
V
li
?i
21 ' -
1
12
19
1
o
3
3
1
— 16
8
1 :| 3
— : 3
3 17
- ■■ 1
4 ' 9
n
19
— : 5
1 -
In der Genauigkeit des Reihenablaufs zeigen sich die Mädchen
den Knaben durchweg und recht bedeutend über-
legen. Am besten steht bei beiden das Gedächtnifs für p'
sehene Gegenstände, aber die Mädchen übertreffen die Knaben um
das Doppelte. Dafür gelang der Reihenablauf bei demZahle^^'
gedächtnifs den Knaben besser als den Mädchen-
Dem ausgeprägten Gedächtnifs für gesehene Dinge entspricht a^
Experim, Untersuchungen üb, d. Gedächtnißentwickdung bei Schuücindem. 7I
den oberen Stufen der Mädchen die grofse Genauigkeit der Reihen-
construction für Gesichtsvorstellungen, während darin die Knaben
ganz versagten. Dieses Ergebnifs stimmt mit dem früher ent-
wickelten, nämlich, dafs die Mädchen durchweg ein ausgeprägteres
Gedächtnifs für visuelle Vorstellungen haben als Knaben, überein ;
es ist leicht erklärlich, warum dasselbe Resultat sich bei dieser
Art der Werthung der Versuchsergebnisse deutlicher ausdrückt
Ein fernerer Vergleich mit früheren Resultaten zeigt weiter,
dafs die Genauigkeit in der Reihenreproduction innerhalb
gewisser Grenzen mit dem Maafse des Gedächtnifs-
umfangs zu- und abnimmt, aber keineswegs direct
proportional. Das zeigen noch deutlicher folgende Be-
trachtungen. Die Tabelle giebt eine üebersicht über die Anzahl
der Fälle, da ein Glied in der Reproduction den Ort zugewiesen
erhielt, der ihm nach der zu reproducirenden Reihe zukam. Die
AVerthe sind in Procent angegeben. Die Tabelle bildet zu der
obigen die nothwendige Ergänzung.
Tabelle 52.
Mädchen.
11 Gegen- Ge- ! „ , visuelle
Alter ^ , ' Zahlen
stände rausche
Vorst.
akust. ; Tast- 'Gefühls-
Vorst. ; vorst. ' vorst.
Laute
I
II
III
IV
V
72,4
32,8
19,3
17,3
13,1
' 18,45
40,9
36,8
23,8
24,4
16,6
10,9
28,9
12,4
12,3
16,9
14,7
9,01
17,1
6,7
9,6
10,8
6,2
3,9
6,8
2,8
5.1
4,7
2.7
5,8
7,1
5,8
4,5
5,8
3,5
11,3
8,9
3,3
1,5
0,8
Tabelle 53.
Knaben.
Alter
Gegen- • Ge-
stände rausche
Zahlen
visuelle akust.
Vorst. Vorst.
I
II
in
IV
V
37,4
28,3
13,1
13,7
16,2
16,4
10,3
4.2
6,9
9,6
34,9
35,2
15,1
8,0
11,3
23,5
14,8
6,5
3,1
4,3
24,1
18,6
6,7
3,7
7,2
Tast-
vorst.
26,5
25,6
7,8
6,7
8,3
I
Gefühls
vorst.
18,5
16,4
6,7
1,3
2,7
Laute
13,3
17,7
3,0
1,6
2,9
72
Marx LobaUn,
Bevor ich jedoch diese Tabellen einer eingehenderen Be-
trachtung unterwerfe, möchte ich das wichtige Ver-
halten des ersten zum letzten Reihengliede beider
Reproduction untersuchen. Die Untersuchung berieht
sich nur auf ganz reproducirte Reihen, verkürzte sind ausge-
schieden. Bei einer so losen, so ausschliefslich mechanischen
Reihenconstruction, wie sie vorliegt, steht zu erwarten, dafe das
erste und letzte Glied eine bedeutendere Rolle spielen als die
anderen. Ja man möchte erwarten, dafs wenigstens in sehr
vielen Fällen, das letzte Glied, der letzte Eindruck, der den
Kindern entgegentrat, an den Anfang gestellt werde.
Tabelle 54.
Mädchen.
Alter
9
® 'S
o g
Zahlen
<D . '
•
CO
^ ^ akußt
Tast-
3 "g
o £
Laute
1 ^ Vorst.
vorst.
> :
1
O
Tabelle 55.
Knaben.
s
I
1
3
1
3
6
—
14
II |:
1
10
11
10
6
16
17
71
m \
O
3
1
10
5
8
7
38
IV :
2
2
6
14
8
11
6
10
59
V
2
1
9
10
8
8
6
12
55
Insges. :
5
8
29
39
37
33
41
46
m
I
*
Alter
1
5 'S
0)
O §
Zahlen
I
:ii
III
IV
v
13
1
8
2
14
1
0
3
4
9
! 31
15
3
6
10
6
10
akust.
Vorst.
Tast-
vorst.
10 c
0)
o
Laute
5
3
8
11
8
3
4
11
7
11
2
3
10
14
15
Insges. : li 22
35
35
36
44
Die Einwirkung des letzten Gliedes ist nachdiö^^^
Tabellen nur gering und es sind noch weitere Abstriche ^^
machen, weil weitaus nicht in allen Fällen mit der ersten -R^'
production des Endgliedes ein Ablauf der Reihe in umgekehrter
Experim. Untermchunyeu üb. d. OtdächtHifatntwickdwig bei SehuBtindtm. 73
Folge gegeben ist Bezeichnend bleibt aber immer doch, 1. dafs
die Einwirkung des letzten Gliedes bei rein mecha-
nischer ßeihenconstruction sich bei den Knaben in
höherem Maafse bemerkbar macht, als bei den
Madchen, 2. dafs sie bei höherer Credächtnifsent-
wickelung geringer wird und 3. auch im Allge>
meinen parallel geht der GröTse des Gedächtnifs-
umfange 9.
Am geringsten erweist sich sein Einflufs bei Knaben bezüg-
lich der Zahlenreihen, sodann des Gedächtnisses für reale Dinge
und Geräusche, am bedeutendsten bei GefühlBTorstellungen und
Lautcompositionen. In Uebereinstimmung damit gestalten sich
die Verhältnisse bei den Mädchen, nur das Gedächtnifs fOr Zahlen-
reihen bildet eine Ausnahme.
Jetzt zurück zur Tabelle 52. Sie zeigt durchgehends ein
Aufsteigen in der Fähigkeit der genauen Beihenreproduction.
Es würde hier zu weit führen in Form von Curven und Tabellen
alle Ergebnisse nebeneinander zu stellen. Ich begnüge mich
mit den wesentlichsten. Zunächst möge untersucht werden, in
welchem Verhältnifs diese Tabelle zu den früheren Ei^ebniseen
steht, sodann die Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen
ebenfalls im Vergleich zu jenen hervorgehoben werden.
Folgende Tabelle giebt die Genauigkeit derReihen-
reproductiou in % für die verschiedenen Seiten
des Gedächtnissesan, für Knaben sowohl wie für Mädchen.
Tabelle 56.
Gegen- Ge- j zahlen I ^'""«"^
\ Stande TttuBche ' Vorat.
Madchen
Knaben j
30,9
21,6
9,45
ll,i8
103
10,44
Tast |GefOhlB-j
vorat vorat |
11,06
12,06
5,14
7.70
Tabelle 57 (Curve).
*
K ''
V^/
-^>.
^
- —
LLL
1
-L-
ilü
74
Harx Lobaien.
Die DifEereuz zwischen den Knaben und Mädchen im Ge-
sammtei^ebnlTs ist nicht sehr bedeutend, auffallend ist, dafs in
der Genauigkeit der Reihenreproduction die Knaben nur bezüg-
lich des Gedachtniasea für wirkliche Dinge erheblicher über-
troffen werden, sonst stehen sie ihnen nicht nach, sondern fiber-
treffen sie. Das offenbaren auch die Tabellen Ö8 und 69, die die
Differenz zwischen der ersten und letzten Altersstufe veran-
schaulichen.
_:-__,:r::::::::
-^ t-,r
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j
m! N^
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~V ',\~. —-^ — h
"■ — V ^i-
-=---,-:. -s;:".
Die Cur\'en weisen eine rapide Steigerung für Mädchen im
Alter von 13 — 14 ', j Jahren auf.
Um einen Vergleich zu ermöglichen zwischen dem Gesamnit-
wachsthum in der Energie der Reihenproduction und der Zu-
nahme des Gedächtnifsumfanges trage ich die entsprechenden
Curven in obigen Tabellen nach.
Sie offenbaren deutlich, dafs Gedächtnifs umfang und
Energie in der genauen Reihenproduction pro-
portional wachsen, wenn auch nicht direct Die letztere
Ecperim. Unfersucltvngtn üb. d. Gedächtnißenhtickehing bei Schulkindern. 7Ö
rt des Gedächtnisses wird durch ungleich niedri-
ire Werthe bezeichnet als die erstere.
Dieses Ergebnifs erleidet in der Entwickelung von Stufe zu
Me nur geringe Modißcationen. Ich begnüge mich damit, die
iirven mit den entsprechenden nachzutragenden hinzuzeicbnen.
Reihenconstruction bei den verschiedenen
GedächtniTs arten.
Knaben. Mtkdchen.
1
r~ ;
» ~^
± ^ t
« ^ t
J~ << "^-''
! i
Tabelle 60.
Gegenstände.
1
«: Zi"
i'
«j'
— 1
n
— 1
— 1
~-\
— 1
— 1
— 1
'
2
^
-
*=
—
—
'
Tabelle 63.
Visuelle Vorstelluoge
^
Tabelle 64.
[»tische Vorstellunge
Tabelle 65.
Taetvoratellung
I^^
n
:?*
--
ffi
m
Tabelle 66,
GefahlBvorBtellu
Tabelle 67.
GedachtniTe für Lsnte.
Die Entwickelung des Gedächtnisses für genaue Reihen-
reproduction folgt in weitem Abstände der Entfaltung des Ge-
dächtnifsumfangs. Die Mädchen werden, wenn auch nur um
ein Geringes, von den Knaben ühertroSen im Gebiete der Zahlen,
Wörter, Tastvorstellungen und Laute, diese bleiheu aber beträcht-
lich hinter ihnen zurück im Gebiete der realen Dinge. Hiemach
wird nach dem weiter oben ausgesprochenen Gedanken der Unter-
schied im GedächtniTs zwischen Knaben und Mädchen in den ge-
nannten Gebieten um Einiges zu Gunsten der ersteren gemindert,
in einem aber erweitert Es ist unmöglich, diesen Werth in
Zahlen auszudrücken, man mufs sich mit einer Schätzung be-
gnügen — und kann das um so eher, als es sich, wie eben
gezeigt, um minimale Gröfsen handeln würde.
(Eingegangen am 6. Juli 1901.)
Geschmacksempfindung eines Anencephalus. ^
Von
Dr. Wilhelm Stebnbeeg, pract Arzt in Berlin.
Da sich in der Gesammtliteratur nur eine kurze Angabe
über die Geschmacksempfindung eines ohne Gehirn geborenen
Kindes^ vorfindet, glaubte ich, die Gelegenheit nicht imgenützt
lassen zu dürfen, einen neugeborenen Anencephalus auf seine
Geschmacksempfindung hin zu prüfen.
Diese Mifsbildung, wie die meisten Mifsbildungen eine
Hemmungsbildung, fand sich, wie dies mit Mifsbildungen ge-
wöhnlich der Fall ist, bei einem Kande weibHchen Geschlechtes ;
seine Eltern sind mit einander verwandt und zwar in der Weise,
dafs der Ehemann und der Vater der Ehefrau Geschwisterkinder
sind; fünf Jahre zuvor hatte sich ebendieselbe Mifsbildimg
merkwürdigerweise schon einmal bei einem Kinde dieser Frau
gezeigt. 26 Stunden nach der Geburt nahm ich die Gelegenheit
wahr, die Geschmacksprüfung vorzunehmen.
Es wurden süfs, bitter, salzig und sauer schmeckende Flüssig-
keiten verwandt, die vorher erst ein wenig erwärmt wurden und
mittels verschiedener Haarpinsel auf die Zunge in den Mund
eingetragen wurden. Die süfse Flüssigkeit bestand in einer ge-
sättigten Rohrzuckerlösung, die bittere in einer 2 % Lösung von
salzsaurem Chinin, welche deutUch und stark bitter schmeckte,
* W. Pkeyer, Die Seele des Kindes. 4. Aufl., S. 79. Herr Prof. Bins-
WANGER theilt mir freundlichst auf Befragen mit, dafs jene Untersuchung
von ihm ausgeführt mündlich mitgetheilt ist, ohne dafs eine Puhlication
darüber stattgefi^iden hat.
78 WiUielm Stemberg.
die salzige in einer concentrirten Lösung von Kochsalz, die saure
in einer Essiglösung, welche deutUch sauer schmeckte. I
Die Mifsgeburt führte nicht, wie dies normale Kinder schon
im Mutterleibe stets thun, Saugbewegungen beim Einfähren des
Fingers in den Mund aus, so dafs dasselbe trotz mehrfach aus«
geführter Bemühungen seitens der Eltern den ganzen Tag noch
gar keine Nahrung hatte zu sich nehmen wollen. Nachdem die
süfse Lösung auf die Zunge gebracht war, schlug das Kind die
Augen auf, spitzt den Mund, schluckt zum ersten Mal und mit
sichtlichem Behagen, führt Saugbewegungen aus und beifst sogar
auf den Pinsel, denselben mit den Kiefern festhaltend, so dafs der-
selbe nur mit einiger Mühe aus dem Munde entfernt werden kann.
Wurde alsdann die bittere Chininlösung auf die Zunge gebracht,
so verzieht sich sofort das Gesicht, das Kind wendet den Kopf
ab, hebt denselben wiederholt etwas hoch, öffnet den Mund weit,
speichelt stark und bringt mit dem Speichel einen Theil der
eingebrachten Flüssigkeit mit Würgbewegungen zurück, dabei
fängt das Kind an zu wimmern und öffnet bei Wiederholung
dieses Versuchs den Mund nicht so leicht. Wurde hiernach mit
der Zuckerlösung die Zunge eingepinselt, so wehrte das Kind
bei den erstmaUgen Versuchen zunächst stets ab, sodann aber
schluckt es wieder, beifst wiederum mit Behagen zu und be-
ruhigt sich.
Die saure Essiglösung hatte zur Folge, dafs das Kind kläg-
lich das Gesicht zu dem „sauren Gesicht" verzieht, speichelt,
unruhig wird, den Kopf in die Höhe hebt und bei Seite wendet,
so dafs es Mifsbehagen zu empfinden scheint. Auch jetzt weicht
dasselbe einem behaglichen „süfsen Gesichtsausdruck" bei mehr-
maligem Bepinseln mit der Zuckerlösung.
Auch die stark salzig schmeckende Kochsalzlösung bewirkt,
dafs das Kind unruhig wird, den Mund zusammenprefst, bald
wieder weit offen hält und nicht schluckt. Wurde mehmial*
Zuckerlösung darauf eingepinselt, so beruhigt das Kind sieb
wieder und fängt wieder an, mit sichtlichem Behagen zu schlucken-
Die süfse Zuckerlösung rief also bei jedesmaligen Versuchen
regelmäfsig dieselben mimischen Reflexbewegungen bei dieser
Mifsbildung hervor, die wir beim Erwachsenen als den „süfse^
Gesichtsausdruck", die bittere Chininlösung dieselben Bewegungen,
die wir als „bitteren Ausdruck" anzusehen gewohnt sind. Suis
wurde auch hier als angenehm zusagend, die anderen (Jeschmäclvß
Geschmacksempfindung eines Änencephalus. 79
als nicht angenehm wahrgenommen, wie dies Kussmaul^ imd
Genzmer* bei neugeborenen normalen Kindern bereits nachge-
wiesen haben.
Das Band blieb 10 Tage am Leben, eine für derartige Mifs-
bildungen ungewöhnlich lange Lebensdauer. Bei der Section
zeigte sich die wenig ausgebildete Schädelhöhle mit einer geringen
kleinhimartigen Masse erfüllt. Die Nebennieren fehlten zwar
nicht, wie gewöhnlich bei Anencephalen , sie waren aber nur
minimal entwickelt.
Zum Schlufs sage ich Herrn Geheimrath OiiSHAUSEN für die
freundliche Ueberlassimg des Falles meinen Dank.
^ Kussmaul, Untersuchnngen über das Seelenleben des neugeborenen
Menschen. Leipzig u. Heidelberg 1859.
^ Genzmeb, Untersuchungen über die Sinneswahmehmungen des neu-
geborenen Menschen. Halle 1882.
{Eingegangen am 1. August 1901.)
!
(Aus der von Dr. Ejesow geleiteten Abtheilung für experimentelle Psycho-
logie des physiologischen Instituts der Universität Turin.)
üeber Geschmacksempfindungen im Kehlkopf.
Von
F. KiEsow und R. Hahn.
Im J. 1868 beschrieb E. Verson^ im zweiten Viertel der
hinteren Epiglottisfläche des Menschen Gebilde, die er mit
einigen Abweichungen in allen wesentUchen Punkten als mit
denen übereinstimmend erkannte, die kurz zuvor von G. Schwalbe-
und Ch. LoviiN * gleichzeitig und unabhängig von einander m
der Zunge des Menschen und einiger Säugethiere gefunden und
von diesen Forschem als die Elementarorgane des Greschmacks-
Sinnes gedeutet waren, nachdem schon F. E. Schulze * 1863 die
1851 von Leydig ^ im geschichteten Epithel der Süfswasserfische
gesehenen ähnUchen Gebilde als Geschmacksorgane erkannt und
diese mit den von ihm selbst in der Gaumenschleimhaut der
Fische, sowie 1861 von Axel Key • in den pilzförmigen Papillen
der Froschzunge entdeckten Organen als in functioneller Hinsicht
gleichbedeutend bezeichnet hatte. Auf Grund der erwähnten
Beobachtung leugnete Vebson die Auffassung dieser Grebüde als
Geschmacksorgane, da sie eben auch an einer Stelle gefunden
würden, wohin keine Geschmacksstoffe gelangen. So auch nocli
FOSTER 1881 (s. u.).
* E. Verson, Wienn' Sitzungsberichte 57 (1), 1093.
- G. Schwalbe, Arch. f. mikroskop. Anat. 3, 504; 4, 154.
* Ch. Lov£n, Ebenda 4, 96.
* F. E. Schulze, Zeitschr. f. tciss. Zoologie 12, 218.
'^ Leydig, Ebenda 3, 1.
* A. Key, Arch. von Reichert u. Du Bois-Reymond 1861, 346.
üeber Geschmacksempfindungen im Kehlkopf. 81
Die von Verson an der Epiglottis des Menschen gefundenen
Gebilde wurden am gleichen Körpertheil von Kbause ^ beim Schaf
und Kaninchen, von Hönigschmied * beim Reh und Kalbe, von
Shofield^ bei der Katze und dem Hund, von Davis* aufser bei der
Katze, dem Hund, dem Kaninchen, dem Kalb und dem Schwein
auch beim Menschen, von Rabl * ebenfalls beim Menschen (manch-
mal Papillen aufsitzend) gesehen, während Arthüb Hoffmann •, der
seine histologischen Untersuchungen auf alle Schmeckflächen des
Menschen ausdehnte, an der Epiglottis niemals „wirkhche Ge-
schmacksknospen" aufzufinden vermocht hatte. Er giebt aber an,
dafs seine Erfahrungen für die Feststellimg dieser Verhältnisse
auf der Epiglottis nicht vollständig ausreichend waren. Davis
sah die Becher beim Menschen wie bei Thieren in den Larynx
hineinreichen. Er fand aber die Vertheilung bei den einzelnen
Thierarten noch wieder verschieden. Beim Hund sah er sie
auch in der Schleimhaut des Lig. epigl. aryt. und auf der
Innenfläche des Giefskannenknorpels, ebenso zeigten sich „einige
Male Becher auf den Stimmbändern, und zwar in mäfsiger
Zahl auf dem oberen, spärlicher auf dem unteren Band"; bei
der Katze, dem Kaninchen, dem Kalb und dem Schwein waren
sie auf die hintere Fläche der Epiglottis und die Giefskannen-
knorpel beschränkt Ueber die am Menschen gefundenen Ver-
hältnisse schreibt Davis : „Beim erwachsenen Menschen beginnen
die Becher bereits 3,5 mm unter der Spitze des Kehldeckels und
erstrecken sich soweit als die nicht flimmernde Auskleidimg des
Larynx reicht, mit Ausnahme der Stimmbänder. Sie finden sich
hier also mehr in den oberen Partieen der Hinterfläche. Die
Innenfläche der Schleimhaut der Ligamenta epiglottideo
arytaenoidea besitzt keine Becher, wenigstens nicht in den
oberen Partieen, dagegen enthält die Innenfläche des Processus
arytaenoideus deren eine grofse Zahl, und einige trägt dessen
AuTsenseite dicht imter der Spitze. Solche finden sich auch auf
dem Kehldeckel, an den rings vom Flimmerepithel umgebenen
» W. Krause, Handb. d. Anat. 1876, 198.
' J. HöNiGSCHMiED, Zcttsckr. f. u'iss. Zoologie 23, 433.
' Shofield, Joum. of Atiat. and Fhysiol. 10. 1876. Cit. nach den ange-
gebenen Arbeiten von Michelson und Davis.
* C. Davis, Ärch. f. mikroskop. Anatomie 14, 158. 1877.
* H. Rabl, Anat. Anzeigei' 11, 153. 1896.
* A. Hoffmann, Yirchow'a Archiv 6*2, 516. 1875.
Zeitschrift für Psychologie 27. 6
82 ^' Kiesow und R. Hahn,
Inseln aus platten Zellen. Kommen die Becher vereinzelt im
Flimmerepithel vor, so sind sie immer mit mehreren Lagen
platter imd kubischer nicht flimmernder Zellen bedeckt Sie
reichen in diesem Fall nicht bis zum Niveau des FUmmerüber-
zuges, es finden sich in diesen also kleine Vertiefungen, in deren
Grund die Becher münden." ^ In ihrem Bau fand Davis diese
becherförmigen Gebilde des Kehlkopfes sehr übereinstimmend
mit denen der Zunge. Die von Vebson gefundenen Abweichungen
sucht er daraus zu erklären, dafs von jenem Forscher wahr-
scheinUch Präparate benutzt wurden, bei denen bereits cadaveröse
Veränderungen eingetreten waren. Die Vertheilung der Becher
ist somit nach Davis im Kehlkopf gröfser als nach Verson. In
der flimmerlosen Epiglottisschleimhaut des Menschen zählte er
20 — 25 Becher pro mm-. Obwohl im Kehlkopf in der Gröfse der
Becher erhebliche Differenzen vorkamen, überschritt die Gröfee
der einzelnen Gebilde doch niemals die der Zunge.
Von SiMANowsKY- eudUch wurden die in Rede stehenden
Gebilde auch auf den wahren Stimmbändern des Menschen ge-
funden.
Während somit die von Verson gemachte Entdeckung
des Vorhandenseins jener becherförmigen Organe im Kehlkopf
theils bestätigt, theils erweitert ward, hat die Forschung der hieraus
gezogenen Schlufsfolgerung nicht zustimmen können. Namentlich
die überaus verdienstvollen Arbeiten von Vintschgau's imd Hokig-
schmied's^ erbrachten im Jahre 1877 durch das physiologische
Experiment endgültig den Beweis, dafs jene Gebilde der Zunge
in der That die wahren peripherischen Organe des Geschmacks-
sinnes seien, und schon 1874 konnte A. Hoffmann schreiben:
„An allen Stellen, welche der physiologischen Er-
fahrung nach Geschmacksempfindungen besitzen,
existiren Geschmacksknospen."* Wenn aber somit die
Aeufserung M. Foster's * : „Die sogenannten G^schmacksknospen
^ Cit. Arbeit 163.
' N. SiMANOwsKY, Arch. f. mikr. Anat. 22, 709. 1883.
' M. V. ViNTSCHGAu u. J. HöNiGSCHMiED, Pflüger's Archiv 14, 443.
M. V. ViNTScHGAU, ebenda 23, 1. 1880. Vgl. auch Ranyier, Traite
technique d'histologie, 949. 1882.
* Citirte Arbeit 528. Vgl. auch J. Hönioschmied, Zeüschr. f. tciss. Z(-^
29, 255. 1877; 34, 452. 1880.
* M. FosTEB, Lehrbuch der Physiologie, deutsche Uebersetzong von
N. Kleinenbebg 1881, 493.
Ueber Geschmackaempfinduyigen im Kehlkopf. 83
sind nicht als specifische Geschmacksorgane aufzufassen, da sie
auch an Stellen (z. B. an der Epiglottis) vorkommen, welche
durchaus nichts mit dem Geschmackssinn zu thim haben", zurück-
gewiesen werden mufste, so enthielt sie andererseits noch im-
beantwortete Fragen, nämlich die, ob die hier gefundenen becher-
förmigen Organe Geschmackssensationen vermitteln imd welchen
Zweck sie hier erfüllen. Dafs solche Organe hier regelrecht vor-
kommen, konnte, wie im Vorstehenden gezeigt, nicht mehr be-
zweifelt werden. Und wenn A. Hoffmann sie hier nicht fand,
so dürfte der Grund dafür aufser in dem erwähnten, von ihm
selbst zugestandenen Umstände wohl, wie Rabl hervorhebt, be-
sonders darin zu suchen sein, dafs er Präparate von Regionen
anfertigte, wo sich überhaupt keine Becher finden (Spitze, Bereich
des flimmernden Ueberzugs). Die Thatsache an sich war nach
allen sonstigen Beobachtern unzweifelhaft erwiesen. Aber sind
diese Gebilde geschmacksfähig? Diese Frage war immer noch
zu beantworten. Einen erstön Versuch mit positivem Ergebnifs
stellte hierüber Gottschau ^ an sich selbst an. Sodann hat
i. J. 1891 P. MiCHELSON - auf Langendorff's Anregung und unter
seiner Mitwirkung mit Hülfe des laryngoskopischen Experiments
versucht, hierüber zu entscheidenden Ergebnissen zu gelangen.
MiCHELsoN benutzte eine passend gebogene ScHRöTTER'sche Kehl-
kopfsonde, deren Spitze mit Geschmackslösungen versehen war
und berührte mit dieser unter Leitimg des Kehlkopfspiegels vor-
sichtig den oberen Theil der Innenfläche der Epiglottis. Hierbei
wurde aufserdem ein NoLTENius'scher Demonstrationsspiegel als
Gegenspiegel benutzt, um den Vorgang durch einen zweiten
Beobachter controliren zu lassen. Nach der Application der
Schmecksubstanz wurde die Sonde dann mit gleicher Vorsicht
schnell wieder herausgezogen. Er giebt weiter an, dafs diese
Berührung bei den meisten, aber nicht bei allen Personen von
einem kurzen Hustenstofs gefolgt war. Michelson untersuchte
auf diese Weise an 25 Versuchspersonen, die im Alter von 15
bis zu 60 Jahren standen, die Schmeckfähigkeit der Innenseite
des Kehldeckels für Süfs- und Bitterstoffe (concentrirte Saccharin-
iind Chininlösungen unter Zusatz eines minimalen Quantums
* Gottschau, Verhandl. der phys.-med. GesellscJiaft in Würzburgj N. F. 15.
Citirt nach Rabl, Anat Anzeiger 11, 153. 1896.
« P. Michelson, Virchow's Archiv 123, 389. 1891.
g4 F. Kiesow und B. Hahn.
von Salicylsäure und zwei Tropfen von Mucilago gummi arab.l
An einer Person wurde aufserdem festzustellen gesucht, ob
auch die bei elektrischer Reizung auftretenden Greschmacks-
empfindungen hier stattfänden. Die Resultate des Verl's lassen
sich kurz dahin zusammenfassen, dafs die weitaus grofse
Mehrzahl der untersuchten Personen den Ge-
schmacksstoff in beiden Fällen empfand, und dab
auch bei der elektrischen Prüfung die betreffende Versuch?-
person den sowohl an der Anode wie an der Kathode auftreten-
den Geschmack bestimmt erkannte imd unterschied. Auf
Einzelheiten der Angaben kommen wir weiter unten zurücL
MiCHELSON selbst schliefet diesen Theil seiner Mittheilimgen mit
den Worten: „Auf Grund des Ergebnisses der soeben
mitgetheilten Versuche halten wir — O. Lakgendobff
und ich — es für erwiesen, dafs die Innenfläche des
Kehldeckels Geschmacksempfindung en besitzt
Die Auffassung der Schmeckbecher als Endorgane
der geschmackpercipirenden Nerven erhält durch
dievonunsconstatirteThatsacheeine weitere Stütze.*
Es schien uns werth zu sein, diese sehr interessanten Ver-
suche Michelson's einer Nachprüfung zu unterziehen und zugleich
zu versuchen, über ihn, wenn möglich, noch etwas hinauszu-
kommen. Wir haben daher die Innenfläche der Epiglottis auf
alle vier Geschmacksqualitäten hin geprüft und dann, soweit dies
möglich war, das Minimum perceptibile einiger der ver-
wandten Reizstoffe festzustellen versucht Aufserdem wurden Ver-
suche im Innern des Larynx angestellt. Die erhaltenen qualita-
tiven Befunde wurden dann noch durch die elektrische Reizung zum
Theil controlirt. Die Anzahl unserer Versuchspersonen war für
die Prüfung mit Geschmacksstoffen leider keine so grofse wie die,
über welche Michelson verfügte, wir mufsten uns hier auf im
Ganzen drei beschränken, die im Alter von 15 bis zu 42 Jahren
standen, und im Larynx selbst konnten wir nur an einer Ver-
suchsperson arbeiten. Glücklicher waren wir bei den elektrischen
Prüfungen, die wir an sechs Personen anstellen konnten. So
glauben auch wir zur Lösung der Frage beigetragen zu haben.
Die verwandten Schmecksubstanzen waren wässerige Lösungen
von Rohrzucker (ca. 40%), Kochsalz (ca. 10%), Salzsäure
(ca. 0,4 %), Schwefelsäure (ca. 0,2 %) und Quassin (Concentrin).
^ Citirte Arbeit 399.
üeber Qeachmacksetnpfindungen im Kehlkopf. g5
Die Versuche wurden an Kiesow mit den erwähnten Lösungen
von Rohrzucker und Quassin begonnen. Wir benutzten wie Michel-
SON eine passend gebogene ScHROETTBK'sche Kehlkopfsonde, deren
vorderstes Ende mit ein wenig Watte fest umhüllt war. Diese
wurde mit der Schmeckflüssigkeit getränkt, die bei einigen Control-
versuchen noch mit ein wenig Methylenblau gefärbt war, und die
Sonde dann unter Leitung des Kehlkopfspiegels und unter Benutzung
eines Reflectors in die Mundhöhle eingeführt Nachdem die zu
untersuchende Stelle einmal damit bestrichen war, wurde die
Sonde schnell wieder herausgezogen. Die Versuchsperson hatte
mit der Hand oder dem Fufs ein verabredetes Zeichen zu
geben, wenn bei der Berührung mit der Sonde eine Geschmacks-
sensation erfolgte und den Vorgang später zu beschreiben.
Tränkt man auf diese Weise die Sondenspitze vorsichtig mit
der Schmecksubstanz, so ist ein Abtröpfeln der letzteren ausge-
schlossen. Eine Fehlerquelle kann nur durch hervorgerufene
Reflexe oder den Speichel verursacht werden. Ein in der Laryngo-
skopie einigermaafsen erfahrener Beobachter wird aber der-
artige Fehlerquellen erkennen. Wo, wie bei unseren Control-
versuchen, die Schmeckflüssigkeit aufserdem noch gefärbt ist,
ist dies noch erleichtert Versuche, die uns nicht völlig rein
imd unzweifelhaft erschienen, wurden verworfen. Mit einer Ge-
schmackslösung wurde eine Versuchsreihe, die sich oft auf viele
Tage erstreckte, nie abgeschlossen, bevor sie uns zu absolut
überzeugenden Resultaten geführt hatte.
Bei den ersten Versuchen, die an Kiesow mit der oben er-
wähnten Rohrzuckerlösung angestellt wurden, haben wir noch
ein Uebriges zu thun versucht, indem wir den ganzen Mund-
raum, soweit hier Geschmacksflächen nachweisbar sind und
dies möglich war, mit Gymnemasäure (5% ^ 58 procentigem
Alkohol) ^ wiederholt pinselten , um jede Süfsempfindung im
Mundraum selbst auszuschalten und dann die erwähnte Epiglottis-
fläche in der angegebenen Weise mit der Sonde untersucht.
Die allerersten Versuche führten wegen auftretender Reflexe zu
keinen sicheren Ergebnissen. Nachdem sich die Versuchsperson
aber an die Experimente gewöhnt und die nöthigen Vorsichts-
maafsregeln (Herausholen und Festhalten der Zunge, richtiges
Athmen u. s. w.) gelernt hatte, gelangen die Versuche eindeutig
» Vgl. A. RoLLETT, Pflüg er's Archic 74, 399. 1899.
86 F. Kiesoto und B, Hahn,
mit durchaus positiven Ergebnissen. Die Empfindung
wurde hierbei so tief localisirt, wie dies gewöhnlich nicht zu
geschehen pflegt. Bei den weiteren Versuchen haben wir aber
die Pinselungen mit Gymnemasäure unterlassen und ebensowenig
haben wir bei AppUcation der Quassinlösung den Mundraum mit
Cocain behandelt, wie wir Anfangs beabsichtigten. Wir kamen
hiervon zurück, weil wir uns überzeugten, dafs durch jene
Pinselungen den Versuchspersonen unnöthige Belästigimgen auf-
erlegt wurden, da auch ohne diese Mittel die Versuche eindeutig
und rein gelingen. Ebenso sei schon hier bemerkt, dafs uns ein
Gegenspiegel, wie Michelson verwandte, nicht zur Verfügung
stand. Die Reinheit der Versuche dürfte deswegen aber nicht
im Mindesten zu beanstanden sein.
Die Versuche mit der Rohrzuckerlösung wurden demnach
auch an Kiesow ohne voraufgegangene Pinselung mit Gymnema-
säure wiederholt. Hervorgehoben sei hier noch, dafs auch bei
unseren Versuchen die Berührung der Innenseite der Epiglottis
besonders zu Anfang oft, wie bei Michelson's Experimenten,
von einem kurzen Hustenstofs gefolgt war. Dies war aber
nicht immer der Fall. Es gelang manchen Personen vielmehr
zuweilen, den Reflex ganz zu unterdrücken. Solche Versuche
waren für ims von ganz besonderem Werth. Kaum erwähnt zu
werden braucht, dafs auch die übrigen Personen zuvor eingeübt
wurden. Die ersten Resultate sind von keiner einzigen als end-
gültig angenommen worden.
Aufser den angegebenen Personen nahmen an diesen Ver-
suchen mit Lösungen noch Herr Cereüti und der 15 jährige
Hülfsdiener unseres Instituts Michele Giorda^^o theil. Letzterem
sind wir für seine stete Bereitwilligkeit und Hingabe an unsere
Arbeit zu besonderem Danke verpflichtet.
Blicken wir auf die zahlreichen Versuche zurück, die in der
angegebenen Weise angestellt wurden, so können wir kurz zu-
sammenfassend sagen, dafs sowohl bei Kiesow, wie bei Herrn
Cehruti imd Giobdano in den weitaus meisten Fällen alle
verwandten Geschmacksstoffe an der laryngealen Seite der
Epiglottis Geschmacksempfindungen auslösten. Die Empfindung
blieb freilich mitunter aus, aber diese Thatsache erklärt sich
wohl hinreichend daraus, dafs man bei der gebotenen Vor-
sicht nicht in jedem Falle absolut sicher sein kann, die be-
treffenden Organe zu treffen oder die Epiglottisfläche Bit
Ueber Geschmacksempfindungen im Kehlkopf. Q^
einem hinreichenden Quantum der Schmecksubstanz zu be-
feuchten, zumal die Watte nicht so stark benetzt werden
durfte, dafs die Flüssigkeit abtröpfeln konnte. Ebensowenig
dürfte die weitere Thatsache etwas Auffallendes an sich haben,
dafs die auftretenden Empfindungen manchmal von stärkerer,
manchmal von geringerer Intensität waren. Im Ganzen aber,
dies sei schon hier bemerkt, waren die Empfindungen hier immer
von geringerer Intensität, als die, welche die gleichen Lösungs-
stufen an der Zunge hervorriefen. Was die Angaben über die
Localisation der erzeugten Geschmacksempfindungen betrifft, so
konnten diese nur eine weitere Bestätigung der erhaltenen
positiven Ergebnisse sein. Die Versuchspersonen gaben aus-
nahmslos an, dafs sie nie zuvor in einer solchen Tiefe Ge-
schmacksempfindungengehabt hätten. Sie waren nach Beendigung
des Versuches angewiesen, an der Aufsenseite des Halses die
Stelle zu bezeichnen, wohin sie den Geschmack locaUsirten.
Diese Angaben entsprachen durchaus dem untersuchten Ort
Was die Erkennung der einzelnen Geschmacksreize betrifft,
so sei erwähnt, dafs die Versuchspersonen den Süfs- und den
Bitterstoff ohne Schwierigkeiten adäquat empfanden. Die Salz-
und Säurelösungen wurden Anfangs von Herrn Cekrutti
und GiORDANO verwechselt, nach einiger Uebung aber hörte
diese Verwechselung mehr und mehr auf. Anders war dies bei
Klesow. Während er die Salzlösung adäquat empfand, war
dies bei der Salzsäurelösung niemals der Fall. Dieser
Schmeckstoff wurde in allen Fällen, in denen eine Empfin-
dung auftrat, immer und ausnahmslos als salzig empfunden.
Wir haben hierauf statt der Salzsäure Schwefelsäure applicirt
Aber auch bei diesem Schmeckstoff zeigte sich dieselbe Er-
scheinung. Dabei sei hervorgehoben, dafs beide Substanzen an
der Zunge ausgesprochen sauer und brennend empfunden wurden.
Eine Nachprüfung der Epiglottisfläche mit Schwefelsäure an
G10ED.VN0 ergab, dafs auch diese Substanz hier von ihm sauer
empfunden ward. Auf die Verwechselung von Salz- und Sauer-
stoffen (namentlich bei Kindern) hat Kiesow in seinen Arbeiten
wiederholt hingewiesen. Worauf aber die eben angeführte Er-
scheinung zurückzuführen ist, ist schwer zu entscheiden. Nach
dem gegenwärtigen Stand der Forschung dürfte man anzunehmen
geneigt sein, dafs die für saure Stoffe adaptirten becherförmigen
Organe hier bei Kiesow fehlen, und dafs auf die Reizung mit
gg F, Kiesow und B. Hahn.
diesen Substanzen die für Salz adaptirten reagirten.^ Die
Sache soll hier aber nicht endgültig entschieden werden.
Wir finden bei Michelson einen Fall, wo die applicirte
Chininlösung am Kehldeckel als „etwas gesalzen" angegeben
ward.^ In zwei weiteren Fällen wurde an der Kehldeckel-
innenfläche Chinin als „bitterlich" resp. bitter empfunden,
während Saccharin hier keine Geschmacksempfijidungen aus-
löste.^ Von diesen Versuchspersonen war die eine, ein
17 jähriges Mädchen, „das früher lange an Coordinations-
störungen im Bereich der Kehlkopfmuskulatur, dann an überaus
hartnäckigen, ebenso wie jene Affection auf hysterischer Basis
entstandenen hypokinetischen MotiUtätsstörungen geUtten hatte;
zm* Zeit der Untersuchung bestand Aphonie in Folge von
Lähmung der Glottisschliefser". Die andere Versuchsperson,
ein 16 jähriges Mädchen war gesund. Beide schmeckten Saccharin
auf der Zungenspitze süfs. Wenigstens der erste wüe der dritte
dieser Fälle gehören wohl in dieselbe Kategorie. In einem vierten
Fall (30 jähr. Mann) berichtet Michelson, dafs die Chininlösung
an der Innenfläche des Kehldeckels eine süfsbitterliche Empfin-
dung hervorrief, aber in diesem Falle trat der gleiche Geschmack
bei der gleichen Lösung auch auf der Zungenspitze auf, wenn
diese mit der Sonde berührt ward. Michelson fügt hinzu, dafs
der betreffende Geschmack aber „intensiv bitter*^ war, sobald die
Versuchsperson die Zunge gegen den Gaumen drückte.*
Was die Perceptionszeiten der einzelnen Qualitäten betrifft,
so wurde bei Rohrzucker, Salz und Säure angegeben, dafe das
Auftreten der Empfindung mit der Berührimg zusammenfiel,*
nur bei der Bitterlösung wurde zuweilen eine geringe Verzögerung
der Perception angegeben. Ohne Zweifel sind auch hier wie
sonst auf den Schmeckflächen Unterschiede in den Perceptions-
zeiten der einzelnen Geschmacksempfindungen vorhanden, die
eben imter den gegebenen Bedingungen nur nicht bemerkt
werden. Ebenso ist bekannt, dafs die Bitterempfindung die
^ Vgl. H. Oehrwall, Skand. Arch. f. Physiologie 2, 1; ferner F. Kiesow,
Phüosaphlsche Studien 14, 591.
« Citirte Arbeit 397.
3 Ebenda 397 u. 398.
* Ebenda 398.
* Zum selben Ergebnifs kam auch Michelson, Cit. Arb. 398.
üeber Oeschmacksempfifidutigen im Kehlkopf. 89
längste Perceptionszeit hat.* Besondere Messungen hierüber an-
zustellen, war uns aus leicht ersichthchen Gründen nicht möglich.
Nach Feststellung dieser Verhältnisse haben wir unsere Auf-
merksamkeit einigen quantitativen Bestimmungen zugewandt,
um zu erfahren, bis zu welchem Grade die Schmeckfähigkeit
des Kehldeckels reiche. Diese Prüfungen wurden fast ausschliefs-
lich an Michele Giobdano angestellt, für einige wenige Nach-
prüfungen zeigte sich uns Herr Cebrüti gefällig. Hierzu sei
aber bemerkt, dafs wir die Prüfung der Schmeckfähigkeit für
Säuren von diesen Bestimmungen ausschlössen, um die Versuchs-
person nicht gar zu viel zu belästigen. Es wurde bereits er-
wähnt, dafs die am Kehldeckel hervorgerufenen Geschmacks-
empfindungen nach unseren Beobachtungen in ihrer Intensität
gegen diejenigen zurückstanden, die von den gleichen Reiz-
werthen auf der Zunge ausgelöst wurden. Die Bestimmungen
ergaben nun bei Giordano unter den hervorgehobenen Be-
dingungen für die hintere Epiglottisfläche folgende Schwellen-
werthe :
Rohrzucker: 4—5%
Kochsalz: ca. 2";o
Quassin: 0,00005% -
Diese Werthe wurden durch viele Bestimmung und unter
Zuhülfenahme von Controlversuchen mit destillirtem Wasser
scliliefslich als die niedrigsten gefunden. Bei Herrn Cereuti
lag die Schwelle für Salz ebenfalls bei 2%, für Zucker und
Quassin war sie imgleich höher. Da wir an ihm aber nur
wenige Versuche anstellen konnten, so liegt die Vermuthimg
nahe, dafs sich bei Fortsetzung dieser Bestimmungen auch die
Schwellenwerthe für diese Substanzen noch vermindert hätten.
Nachprüfungen, die unter völlig gleichen Bedingungen an
KiEsow (Selbstversuch) und Giordano am vorderen Zungenrande
angestellt wurden, ergaben folgende Schwellenwerthe:
Rohrzucker: 0,4 — 0,5 ^j^y
Kochsalz: 0,3—0,4%
Quassin: 0,000001—0,000002 % -
* Vgl. hierzu M. v. Vintschgau, Hermann's Handbuch III, 2, 205.
- Abgeleitet aus dem Verhältnifs von 0,01 : 100, soviel sich hier von
reinem Quassin in Wasser von Zimmertemperatur löste.
90 F' Kiesotc U7id R. Hahn.
Wir sind uns wohl bewufst, dafs bei diesen Messungen von
einer Exactheit im eigentlichen Sinne keine Rede sein kann.
Aber auch zugegeben, dafs selbst der Vergleich der gefundenen
Werthe unter einander noch keine exacte Deutung zuläfst, lassen
sie doch erkennen, dafs in der Schmeckfähigkeit der hinteren
Epiglottisfläche gegenüber den sonstigen Schmeckflächen des
Mundraumes eine Herabsetzung bestehen dürfte.^ Diese Herab-
setzung erstreckt sich wahrscheinlich auch auf die Umgebung
des Kehldeckels. Schleim, der aus dem Halse aufsteigt, pflegt
man erst zu schmecken, wenn er in den eigentUchen Mundraum
gelangt.
Nachdem die Arbeit soweit gediehen war, haben wir die
Geschmacksempfindlichkeit dieser Epiglottisfläche noch elektrisch
geprüft. Die Reizung war eine unipolare. Wir benutzten wie
MiCHELSON eine bis zur äufsersten Spitze isohrte Sonde als
Elektrode. Der andere Pol wurde, wie bei v. Feey's und Kiesow's
Versuchen über den Tastsinn mit einer breiten Metallmanschette
verbunden, die dem einen Unterarm der Versuchsperson um-
gelegt ward. Als Stromquelle dienten drei kleinere Daniel-
elemente. Durch Umschaltung des Stroms mittelst einer Pohl-
schen Wippe konnte die Sondenspitze das eine Mal als Anode
und ein anderes Mal als Kathode fungiren. Dieses Umschalten
des Stromes geschah stets ohne Wissen der Versuchspersonen,
wie überhaupt unser Versuchsverfahren überall und stets ein
unwissentliches war.
Wir konnten hierbei natürlich nicht auf alle die Einzelheiten
eingehen, die seit dem zuerst von Sülzer (1752) beobachteten
und dann von Volta (1792) wieder entdeckten elektrischen Ge-
schmack von den einzelnen Forschern beschrieben worden sind.
Hierzu waren die uns auferlegten Versuchsbedingungen nicht
geeignet. Wir mufsten uns vielmehr lediglich auf die Be-
obachtung der Erscheinungen beschränken, die auftraten, wenn
die Sondenspitze, wie angegeben, entweder als Anode oder als
Kathode zur Verwendung kam. Wir bezweckten mit diesen
Versuchen daher nichts weiter, als eine einfache Nachprüfung
der von Michelson mitgetheilten Ergebnisse. Er fand an der
Anode einen säuerlichen, an der Kathode einen schwach laugen-
artigen Geschmack.
1 \T
Vgl. F. KiESOw, Fhilos. Studien 10, 362.
Ueber Geschmacksempfindungen im Kehlkopf. 91
Unsere elektrischen Prüfungen konnten, wie bereits angegeben,
an im Ganzen sechs Versuchspersonen angestellt werden. Diese
waren aufser Herrn Cekruti, Giordano und Kjesow drei Patienten
im Alter von 15, 24 und 40 Jahren.
Herr Cebbuti gab an, wenn die Sonde als Anode fungirte,
einen eigenartig bitterUchen, wenn sie als Kathode verwandt
ward, einen salzigen Geschmack zu verspüren.
Bei Giordano erhielten wir in wiederholten Versuchen
folgende Ergebnisse : Anode: Kein Geschmack, bitterlich sauer
(5 mal), Geschmack, aber nicht erkannt (2 mal), säuerlich bitter;
Kathode: Eigenartiger, undefinirbarer Geschmack (mehrere
Male), eigenartig salzig (mehrere Male). Die Prüfung an Kiesow
ergab an der Anode einen eigenartig gemischten Geschmack
mit unangenehmer Gefühlsbetonung, an der Kathode war der-
selbe ausgesprochen laugenartig. Die Empfindung salzig bei C.
und G. ist wohl mit dem Laugenartigen anderer Beobachter
identisch.
Von den drei Patienten erhielten wir von dem 15 jährigen
kein sicheres Resultat. Die beiden anderen gaben in jedem
Falle an, einen schwachen Geschmack zu verspüren, den sie aber
nicht definiren konnten.
Wie bemerkt, kann hier auf die Analyse des elektrischen
Geschmacks nicht eingegangen werden. Dazu sind aufserdem
auch die Angaben der meistens nicht hierauf eingeübten Personen
zu ungenau. Uns genügt aber die Feststellung der Thatsache,
dafs die elektrische Reizung an der Epiglottis Geschmack erzeugt
und dafs die durch die Stromrichtungen hervorgerufenen quali-
tativen Unterschiede im Allgemeinen als solche erkannt werden.
Somit halten auch wir es auf Grund unserer Er-
fahrungen für erwiesen, dafs die hintereEpiglottis-
fläche geschmacksempfindlich ist.
Die Versuche im Larynx wurden nur an Kiesow an-
gestellt. Anfangs wurde die mit dem SchmeckstofE armirte Sonde
unter den angegebenen Vorsichtsmaafsregeln einfach in den
Larynx eingeführt, wobei alle erwähnten Geschmackssubstanzen
aufser der Schwefelsäure verwandt wurden. Da aber diese Ver-
suche nicht annähernd so rein sein konnten wie die vorhin
beschriebenen, sofern in Folge der auftretenden Reflexe eine Be-
rühnmg der Innenfläche des Kehldeckels nicht ausgeschlossen
92 F' Kiesou) U7id R. Hahn.
blieb, und aufserdem ein mit Salzsäure angestellter Versuch
eine lang anhaltende schmerzhaft kratzende imd unangenehme
Empfindung wachrief, so sind wir für diese Prüfungen zur Be-
nutzung von Cocain und Gymnemasäure zurückgekehrt und
haben ims auf die Reizung von Rohrzucker, Kochsalz und
Quassin beschränkt.
Die mit Cocain und Gymnemasäure angestellten Versuche, \
resp. Versuchsreihen, beschränken sich auf im Ganzen vier. ;
Wir beschreiben die Versuche im Nachstehenden so, wie sie an-
gestellt wurden:
1. Versuch. Die Versuchsperson sucht Mund und Rachen
mögUchst von Schleim zu reinigen. Dann werden die beiden
oberen Drittel der Innenfläche des Kehldeckels mit lOproc. C'Ocain-
lösung bestrichen. Es tritt hier die vom Cocain hervorgerufene
Bitterempfindung auf, die ca. 3 — 4 Minuten anhält Ebenso
erscheint die ziemlich andauernde adstringirende, pappige, dem
Cocain charakteristische Tastempfindung. Nachdem die Bitter-
empfindung vorüber ist, wird die gleiche Fläche ein zweites Mal
mit der gleichen Cocainlösung bestrichen. Es tritt hier wiederum
die Bitterempfindung auf, die ca. 2 Minuten anhält. Die Em-
pfindung dauert zusammen mit einer eigenartigen Lähmungs-
empfindung fort. Nachdem die Bitterempfindung vorüber ist,
wartet man kurze Zeit und es wird dann die mit der Quassin-
lösimg armirte Sonde vorsichtig in den Larynx bis auf die in
Phonationsstellung sich befindenden wahren Stimmbänder
herabgeführt, wobei wahrscheinlich auch die Schleimhaut der
Arytänoidknorpeln mit berührt wird. Gemäfs der verlängerten
Perceptionszeit der Bitterempfindung tritt nach kurzer Zeit tief
im Larynx unzweideutig die Bitterempfindung hervor. Nach
einiger Zeit diffundirt die Empfindimg, wohl in Folge auf-
steigenden Schleims und Speichels in den hinteren Mundraum.
Die beiden Phasen sind aber sehr deutlich von einander zu
unterscheiden.
2. Versuch, angestellt am folgenden Vormittage. Die
Versuchsperson sucht wiederum Mund und Rachen vom Schleim
möglichst zu reinigen. Dann wird in einem Zeitraum von
10 Minuten der gleiche Theil der Innenfläche des Kehldeckels
mit lOproc. Cocainlösung 7 mal kräftig gepinselt, wobei natürlich
auch der Kehlkopf eingang sowie indirect auch Theile des Pharynx
mitcocainisirt werden. Die Epiglottis ist bei Berührung mit der
Ueber Geschmacksempfindungen im Kehlkopf. 93
Sonde unempfindlich für Tast- und Geschmacksreize. Die mit
Quassm armirte Sonde wird vorsichtig bis auf die in Phonation&-
stellung sich befindenden wahren Stimmbänder herabgeführt
Plötzlich tritt tief im Larynx eine Bitterempfindung auf. Kehl-
deckel und Umgebung sind für Bitterreize, auch nachdem die
erste Empfindung verschwunden ist, unempfindlich. Erst nach
längerer Zeit verbreitet sich langsam eine schwache Bitterempfin-
dung im Mundraum.
3. Versuch, angestellt am Spätnachmittage des gleichen
Tages. Mund und Rachen werden vom Schleim zu reinigen
gesucht. Dann wird die Epiglottis und deren Umgebung mit
der oben erwähnten Lösimg von Gymnemasäure 2 mal kräftig
bestrichen und darauf die nun mit einer 40proc. Rohrzucker-
lösung armirte Sonde in gleicher Weise in den Larynx eingeführt
Tief im Larynx tritt die Süfsempfindung, wenn auch nicht sehr
intensiv, so doch unzweifelhaft und klar hervor.
4. Versuch. Die beiden oberen Drittel der hinteren Epi-
glottisfläche werden wie früher 7 mal mit lOproc. Cocainlösung
gepinselt. In Folge der durch den Reflex auftretenden Con-
traction wird der Kehlkopfeingang mitcocainisirt. Die Sonde
wird mit der lOproc. Kochsalzlösung armirt und bis auf die
Stimmbänder herabgeführt, die sich in der Phonationsstellung
befinden. Es erfolgt keine Sensation. Der Versuch wird in
gleicher Weise wiederholt. Es tritt tief unten im Kehlkopf eine
sehr schwache Salzempfindung auf. Die Sonde wird mit der
Quassinlösung armirt und zw^eimal in der beschriebenen Weise
eingeführt. Beide Male tritt die Bitterempfindung auf. Ein
viertes Mal wird die Sonde mit der Rohrzuckerlösung armirt
eingeführt. Es tritt tief unten eine schwache Süfsempfindung auf.
Welche Theile des Kehlkopfinnern, von der Epiglottisfläche
abgesehen, beim Herausziehen der Sonde etwa mitberührt wurden,
konnte nicht sicher controlirt werden.
Hier haben wir diese Versuche abgebrochen. Nach der
Lösung der principiellen Frage glaubten wir von gesonderten
und immer schwierig auszuführenden Untersuchungen darüber,
^^elche Theile der Knospen tragenden Innenflächen des Larynx
^^ü auftretenden Geschmack vermittelten, absehen zu können.
Wollte man diese Versuche nicht als entscheidend ansehen,
^^ würde man den aus ihnen gewonnenen Ergebnissen doch
^'^nigstens einen im höchsten Grade wahrscheinlichen positiven
94 F' Kiesow und B. Bahn,
Werth zugestehen dürfen. Wir haben aus diesen Versuchen die
Ueberzeugung gewonnen, dafs auch die im Innern des
Larynx gefundenen knospenf örmigen Gebilde ge-
schmacksfähig sind.
Mit dem Vorstehenden ist freilich die Frage noch nicht ge-
löst, welchen Zweck diese Organe auf der hinteren Kehldeckel-
fläche und im Innern des Larynx haben ; denn so gewifs es sein
dürfte, dafs sie geschmacksfähig sind, so gewifs ist es auch, daß
für gewöhnUch und normalerweise keine Geschmackssubstanzen
dorthin gelangen. Man hat geglaubt, auf die Oberfläche der
Epiglottis die intensiven Nachgeschmäcke verlegen zu dürfen ^
aber für die normalen Nachgeschmäcke kann die Innenfläche
des Kehldeckels, wie auch das Innere des Larynx nicht in An-
spruch genommen werden. Wir haben es hier wohl mit Ueber-
resten der phylogenetischen Entwickelungsreihe zu thun, die sich
vielleicht erhalten haben, weil sie zum Reflexmechanismus in be-
sonderer Beziehimg stehen. Wir betrachten aber hiermit die Frage
noch nicht als gelöst, sie sei vielmehr im Zusammenhang mit
anderen einer besonderen Bearbeitimg vorbehalten.
^ W. Krause, Handb. d. Anatomie 1876, 190 u. 198. Kr. giebt ebenso
an, dafs sich die Becher auch auf der oberen Fläche und auf den Rändern
finden, obwohl in geringerer Anzahl als auf der unteren Fläche (S. 197).
Auch hierüber erfolgen später genauere Angaben.
H. Karl, cit. Arbeit 154.
F. KiESOw, Fhilos. Stud. 12, 276 (lies Hönigschmied, Krause!).
(Eingegangen am 22. Juli 1901.)
Literaturbericht.
E. y. Habtmann. Die moderne Psychologie. Leipzig, H. Haacke, 1901. 458 S.
In dem gegenwärtigen Stadium der psychologischen Forschung, in
welchem sich nach langer, rein empiristischer Richtung wieder das Be-
dQrfnifs nach metaphysischer Fundamentirung regt, mufs es lebhaftes
Interesse erwecken, wenn ein Mann, der alle Zeit durch und durch Meta-
physiker war und ist, seinerseits die Brücke schlägt zur specialwissen-
schaftlichen Psychologie, und ihre Principien und Meinungen von einem
möglichst umfassenden Betrachtungsstandpunkte aus einer kritischen
Musterung unterzieht. Ein solcher Versuch liegt vor in dem neuesten
Werk E. v. Hartmann's, des fleifsigsten aller philosophischen Schriftsteller.
Leider mufs man sich diese eigentlich werthvollen und fruchttragenden
Seiten aus dem sehr voluminösen Buche erst mit Mühe heraussuchen, weil
die Anlage des ganzen Werkes eine nicht glückliche ist. Bei der Lektüre
des weitaus gröfsten Theils der 458 Seiten kann man sich des Eindrucks
nicht erwehren, dafs man gar nicht ein fertig durch- und ausgearbeitetes
Buch, sondern eine ungeheure Materialsammlung zu einem solchen vor
sich habe ; und wir glauben, die Bedeutung, die w4r den hierin verstreuten
Ideen Hartmann's zuschreiben, gar nicht besser kennzeichnen zu können,
als durch den aufrichtigen Wunsch, dafs der Verf. bald einmal die
Quintessenz aus diesem Buche ziehe, d. h. eine zusammenhängende positive
Darstellung seiner eigenen Anschauung in den grundlegenden psycholo-
gischen Streitfragen gebe.
Das Buch nennt sich im Untertitel: „eine kritische Geschichte
der deutschen Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert", und
gerade darin steckt sein Grundmangel, dafs es nicht nur Kritik, sondern
auch Geschichte sein will — und doch nicht ist. H. ist viel zu sehr der
Mensch der eigenen Weltanschauung und der begeisterte Kämpfer, als dafs
ihm die kühl betrachtende, anschmiegsame, reconstructive Art des Historikers
nicht innerlich völlig fremd sein sollte. Das zeigt jede Seite des Buches.
Man kann den Begriff Geschichte auffassen, wie man mag — dafs er einen
Werdegang und zwar einen irgend wie zusammenhängenden Werdegang
bedeute, wird niemand bezweifeln. Hiervon finden wir bei Habticahm
nichts. Zur Gesammtcharakteristik der modernen Psychologie fflh'^
vier Eigenschaften an: dafs sie hinter das Bewniatsein an^
96 Literaiurbericht
welchem Sinne ünbewufstes zurückgehe, dafs sie naturwissenschaftlich ge-
färbt, geschichtlich fundamentirt und in sich weit stärker gespalten sei
als irgend eine frühere Periode psychologischer Forschung, und stellt fest,
welche Probleme abgethan, überwunden und vor Allem brennend
seien; aber eine, wenn auch nur einleitende Schilderung der grobeQ
Züge der psychologischen Entwickelung in den letzten 50 Jahren fehlt
vollständig. Vielmehr wird die Psychologie sofort zerschnitten in ein«
Keihe einzelner Probleme, von denen nun jedes für sich bebandelt wird:
Aufgaben und Methoden; das ünbewufste; Association und Reprodaction;
Empfindung, Gefühl, Wille ; Einheit des Bewufstseins ; der psycho-physische
Parallelismus. Nun kann man ja Greschichte auch, wie Wikdelbani) am
gezeigt hat, als Geschichte der Probleme behandeln, aber auch das thnt
Hartmann nicht. Denn der Charakter des einzelnen Capitels ist nun im
Grofsen der eines Massenreferates über alles, was die Hauptpsychologen
in den letzten 50 Jahren über das betreffende Problem geschrieben haboi,
oder noch mehr der eines Massenexcerptes ; denn Habtmann sucht sie, mit
steter Angabe der Stellen, möglichst selbst reden zu lassen. So folgen sich
denn in ermüdender Eintönigkeit auf einander : „ Jodl wünscht . . ." „Höir-
DING lehrt . . . ." „Stumpf meint . . ." u. s. w., ohne dafs also auch nur
innerhalb der Capitels selbst irgend etwas wie ein Zusammenhang geboten
würde. Und nun wiederholt sich dieses Referiren und Aufzählen Capitel
für Capitel ; immer wieder begegnen uns dieselben Männer, nur mit anderen
Seiten ihrer Werke, so dafs uns also in dieser Geschichte der Psychologie
weder die Wissenschaft selbst, noch die Entwickelung der einielnen
Probleme, noch die Persönlichkeiten als etwas Ganzes entgegentreten.
So ist denn dieser historisch-referirende Theil des Buches für den,
der erst eingeführt sein will, überhaupt nicht brauchbar, denn er wird
durch die unorganische Aufreihung nur verwirrt und abgeschreckt; für den
aber, der schon als Fachmann in der Bewegung steht, giebt er einen
ungeheuren Ballast von unverarbeitetem und zum gröCsten Theil ihm be-
kannten Stoff, was wenig zu einer Vertiefung in das Werk anreizen kann.
Noch einmal ein Referat dieser Referate zu geben, ist unmöglich und
unnöthig ; erwähnt sei daher nur, dafs die Darstellung sich auf die deatschen
Psychologen und zwar nur auf diejenigen erstreckt, die in einer der
Principien fragen etwas Eigenes gegeben haben. Dankenswerth ist, dife
man auf manche, jetzt wenig beachtete Psychologen aus der ersten Hälfte
des besprochenen Zeitraums aufmerksam gemacht wird, wie Gbobgx, Fobt-
LAGE, ÜLRici, J. H. Fichte, IIorwicz. Dafs Hartmann seine eigene „Philo-
sophie des ünbewufsten" in die Liste der besprochenen Werke einreiht,
ist natürlich und gerechtfertigt. Vermifst habe ich Avenabiüs und Mach. —
Die eigentliche Bedeutung des Buches liegt, wie schon bemerkt, nsch
der Seite des Kritischen hin. Auch diesen kritischen Betrachtungen
ist es nicht förderlich, dafs sie zum Theil in die oben genannten Referate
eingestreut sind; was zu unendlichen Variationen der gleichen Themtt*
führt. Zu diesen Einzelkritiken Stellung zu nehmen, mufs den behandelten
Verfassern selbst überlassen bleiben. Wir werden uns hier dagegen vor
Allem halten an die Zusammenfassungen, die am Schlufn jedes Capitel^r
Literaturbericht 97
und, unter dem Titel „die Bilanz der modernen Psychologie", als letztes
Capitel des ganzen Werkes gegeben werden.
Der eigenartige Zug in der Stellungnahme H.'s, ein Zug, der sicher
auf das psychologische Denken befruchtend und anregend wirken wird,
ist die mit eiserner Consequenz durchgeführte Unterordnung aller Probleme
und Lehrmeinungen unter einen Gesichtspunkt, der sonst in der Psychologie
nur als einer unter vielen Berücksichtigung findet: unter die Alternative:
Bewufst — Unbewufst.
Schon in der Einleitung nennt er als ersten aller Hauptstreitpunkte
der modernen Psychologie : „Die Bedeutung und Tragweite des UnbewulÜBten
und der genetische Zusanmienhang der bewufst psychischen Phänomene
mit ihnen." — Und in seinem Schlufswort formulirt er als Resultat seiner
Kritik die Aufgabe einer „vollständigen, allumfassenden Psychologie" also:
„eine vollständige Psychologie wird von den bewufst psychischen Phänomenen
als Grundlage der weiteren Erkenntnifs ausgehen, sie ins Gebiet des relativ
Unbewufsten erweitern und sie sowohl als central bewufste wie als relativ
unbewufste genetisch aus dem Zusammenwirken physiologischer Vorgänge
mit unbewufst psychischen Thätigkeiten erklären."
Wir versuchen zunächst, die Grundgedanken H.*s zu formuliren. Er-
schwert wird diese Arbeit durch die Ueberlastung der Sprache mit schwer
flüssigen Terminis, z. T. auch selbstgeschaffenen, (wie „allotrope Causalität^,
„synthetische Categorialfunctionen^', „homologe Correspondenz'') deren
Kenntnifs aus früheren Schriften H.'s vorausgesetzt wird. Die folgende
Zusammenfassung wird ohne sie auszukommen suchen.
Das Problem der Psychologie ist Erklärung der im Bewufstsein ge-
gebenen psychischen Phänomene. Diese Erklärung ist aber nicht aus den
Kategorien und Eigenschaften des Bewufstseins selbst möglich; vielmehr
ist eine Deutung der Bewufstseinsphänomene und ein Zusammenhang
zwischen ihnen nur herstellbar, wenn man mitwirkende Factoren annimmt,
in deren Wesen es liegt, selber nicht bewufst zu sein. Diese Annahme des
„Unbewufsten" ist nur eine Hypothese, ja eine niemals direct verificirbare
Hypothese, dennoch ist sie ebenso unentbehrlich, wie etwa die physicalische
Hypothese des Atoms. Unter dem Namen des „Unbewufsten" ist nun eine
Mannigfaltigkeit von Bedingungen zum psychischen Leben zu verstehen,
welche sich des Näheren auf drei Gruppen reduciren lassen, auf das
„physiologisch Unbewufste", das „relativ Unbewufste" und das „absolut
Unbewufste". Das physiologisch Unbewufste besteht aus rein materiellen
Dispositionen gewisser nervöser Organe; es ist die Bedingung für Repro-
duction und Association. Das relativ Unbewufste beruht darauf, dafs es
eine Uebereinanderschichtung von Bewufstseinsindividuen giebt, und dafs
etwas für ein niederes Bewufstsein schon bewufst sein kann (z. B. für das
Bücke nmarksbewufstsein, das Bewufstsein eines Ganglions, einer Zelle),
was für ein höheres Bewufstsein (z. B. des Menschen) unter der Schwelle
liegt. Ist das relativ Unbewufste doch für irgend ein Bewufstsein bewufst,
80 ist das „absolut Unbewufste" ein Factor, der schlechthin niemals und
nirgend die Form des Bewufsten annehmen kann. Dieser Factor tritt uns
entgegen in dem, was wir psychische Thätigkeit nennen, in einer
Zeitschrift für Psychologie 27. 1
98 lÄteraturhericht
Thätigkeit, die als Theilf anction des universellen Weltgmndes im Individamn
sich bethätigt, die im Wollen, im Denken, in der Aufmerksamkeit auf die
Bewufstseinsphänome wirkt, sich ihrer bedient, sie teleologisch dirigixt,
die — in der Form des Gefühls — sich im Bewufstsein reflectirt^ die die
Vielheit der Bewufstseinsinhalte zur Einheit des Ich zusammenfafst — die
aber nie selbst bewufst ist. Nur durch das Zusammenwirken aller dreier
Arten des Unbewufsten kann die Psychologie wirklich das Entstehen and
den Zusammenhang der Bewufstseinsphänomene erklären ; ungenfigend sind
daher alle Versuche, die entweder gar keinen oder nur einen der genannten
Factoren gelten lassen. Ohne die Annahme yon irgend etwas ünbewnllBtem
sucht die „Bewufstseins-Psychologie" auszukommen, welche
„psychisch" und „bewufst '^ identificirt und daher dem BewuTistsein &lle
möglichen Eigenschaften und Fähigkeiten zuerkennen mufs, (Actiyittt,
Fähigkeit der Einheitsbildung, Aufspeicherung yon Vorstellungen) die in
Wahrheit unbewufst sind. Mit dem physiologisch Unbewufsten begnflgt
sich die „psychologische Physiologie**, die verkappter Materialismos
ist und die restlose Erklärung der psychischen Phänomene in der Reduction
auf materielle Dispositionen sieht; ihr Gegenstück ist die „antiphysio-
logische Psychologie des Unbewufsten" (vertreten durch den
speculativen Idealismus), die aus einer schöpferisch psychischen Thätigkeit
alles Bewufste hervorzaubern will, auch dasjenige, was nur durch die
materiell-physiologischen Seiten der Welt bedingt sein kann. Als höhere
Synthese all dieser Einseitigkeiten sieht H. in seiner oben skizzirten Auf-
fassung die „allseitige, allumfassende Psychologie''.
Im Zusammenhang findet der Leser diese Grundanschauung, wenn
auch nur sehr knapp, in dem letzten Capitel dargestellt ; ich nahm sie vor-
weg, weil nur so die Kritik, die H. an allen einzelnen Problemlösungen
der modernen Psychologie übt, verständlich werden kann. —
Ref. bekennt gern, dafs er, wie er in manchen Punkten der oben
skizzirten Lehre zustimmt, so auch die geübte Einzelkritik an zahlreichen
Stellen für zutreffend und aufserordentlich fruchtbar hält. An dieser Stelle
mufs er sich mit dem Herausgreifen einiger Hauptpunkte begnügen.
Nach dem 1. Capitel (Einleitung), das über die Absicht des Verf.'fl
orientirt und ein chronologisches Verzeichnifs der behandelten Schriften
bringt, behandelt das 2. Capitel AufgabenundMethoden der Psychologie,
constatirt die erfreuliche Uebereinstimmung der modernen Psychologie in
Bezug auf die Methoden und sucht in Bezug auf die Aufgabe nachzuweisen,
dafs sie ohne Berücksichtigung des Unbewufsten nicht richtig formulirt werden
kann. „Innerhalb des unmittelbar gewissen, thatsächlich gegebenen com-
plexen und veränderlichen Bewufstseinsinhalts ist weder erschöpfende und
sachgetreue „Beschreibung", noch „Kunde", noch „Wissenschaft" möglich.
Zugleichsein und Veränderung werden im Bewufstseinsinhalt erlebt und
erfahren, Zusammenhänge und Beziehungen nicht, also auch nicht ursäch-
liche und Zweckbeziehungen u. s. w."
Cap. III. hat das Unbewufste zum Gegenstand. H. schildert, wie
der Begriff des Unbewufsten, der in der ersten Jahrhunderthälfte in der
Metaphysik heimisch geworden war, seit Beginn der zweiten auch in die
Psychologie Eintritt zu erlangen sucht. Dieser Procefs sei jäh unterbrochen
]
Literaturbericht 99
worden durch H.'s Philosophie des Unbewufsten (1868), welche durch die
metaphysische, die antimechanistisch-teleologische und die antitheistische
Verwerthung des Begriffs auf die in jener Zeit allein herrschenden ent-
gegengesetzten Strömungen abschreckend wirkte; die Folge war bei der
Psychologie eine „Selbstcastration aus lauter unsachlichen Rücksichten^'.
(Hierbei scheinen mir die Einflüsse des Buches doch erheblich überschätzt,
die Forschungsmotive unserer Wissenschaft ebenso erheblich unterschätzt
zu werden.) Es trat nun nämlich seitdem die Tendenz auf, den Begriff des
ünbewursten in der Psychologie möglichst einzuschränken, entweder indem
man wie Wundt psychisch und bewufst identificirte und unbewuTste
psychische Thätigkeiten für einen Widerspruch in sich selbst erklärte, oder
indem man, wie Jodl, zwar die ünbewufstheit gewisser in der psychischen
C&asalität betheiligter Elemente anerkannte, aber diese ünbewufstheit nur
als eine physiologische betrachtet wissen wollte. Es folgt eine Zusammen-
stellung dessen, was in Bezug auf das Problem des Unbewufsten heute als
gesichert gelten kann, und worüber noch wesentliche Meinungsverschieden-
heiten bestehen.
Cap. IV. Association und Beproduction. Hier ist besonders
<lie Stellung bemerkenswerth, die H. zu dem Gegensatz von Associations-
nnd Apperceptionstheorie einnimmt. Association beruht auf physiologisch-
mechanischen Grundbedingungen, aber es ist nichts falscher, als hieraus
niin alles an den Vorstellungen sich vollziehende Geschehen erklären zu
trollen. Vielmehr hat gegenüber dieser Mechanisirungstendenz diejenige
Anschauung Recht, welche eine schöpferische Synthese, eine auswählende
Thätigkeit des Geistes unter den zur Verfügung stehenden Reproductionen .
annimmt. Aber hieran ist wiederum nichts falscher, als diese psychische
Thätigkeit selbst wieder zu einem Bewufstseinsinhalt zu machen, sie
dadarch dem passiven Vorstellungsinhalte, dem sie eben übergeordnet
vurde, sogleich wieder neben zu ordnen, ja, für sie sogar nach einenr
gesonderten physiologischen Substrat zu suchen und sie dadurch ihres
hypermechanischen Charakters ganz zu entkleiden. „Die Apperceptions-
pnchologie, die nur mit physiologischen und bewufst psychischen (im Text
"teht hier der schlimme Druckfehler „unbewufst") Factoren arbeitet und
loch die mechanische Associationspsychologie überwinden will, ist eine
)hnmächtige Velleität, ein Versuch mit absolut untauglichen Mitteln"
•^. 177). Mir scheint, dafs diese Charakteristik die Schwäche des Wündt'-
chen Apperceptionsbegriffs vorzüglich präcisirt.
In einem ähnlich treffenden Gedankengang nimmt das 5. Cap.:
•Empfindung, Gefühl und Wollen zum Problem des Willens Stellung,
bleiben wir zunächst bei dem stehen, was uns das BewuTstsein zeigt, so
riebt es keinen Willen. Es ist ein Vorurtheil des naiven Denkens, dafs
las Wollen ein besonderer innerlich direct erlebbarer Inhalt des Bewufst-
seins neben Gefühl, Vorstellung und Empfindung sei. Vielmehr haben
Analytiker wie Münstebberg und Ebbinghaüs vollständig Recht, wenn sie
fien unter dem Namen Willen einhergehenden Bewufstseinsbestand restlos
in jene anderen Inhalte auflösen. Dennoch ist das Wollen mehr als eine
^^genstandlose Illusion, ja wesenhafter als alle die Elemente, in die es eben
■ •\
100 Literaturbet'icht
aufgelöst worden. Jene Inhalte sind nämlich nichts anderes als die in-
activen Bewufstseinsrepräsentanten für eine psychische Thätigkeit, die aber
als solche unbewufst ist und bleibt. Die Inactiyität jener BewoIiBtseinB-
phänomene ist die Wiederspiegelung einer kemhafteren Activitftt, für die
der alte Namen Wille die natürliche Bezeichnung darbietet. — Eine eigen-
thümliche Folgerung aus dieser Anschauung ist es, dafs die Grefühle ihres
Amtes, wirkliche Willensmotive zu sein, enthoben werden. Motive sind
Vorstellungen, sie werden hierzu erhoben durch die allgemeine charaktero-
logische Willensveranlagung; und was wir Gefühl nennen, ist nichts anderes
als eine rein passive Bewufstseinsspiegelung dieser vom Willen vollzogenen
Werthschöpfung. Auf diesem Wege glaubte H. die eudämonistische
Motivation und die darauf gegründete Ethik überwinden zu können. —
Durchaus metaphysischen Charakter trägt endlich die Anschauung, 6iSs
die Empfindungen in unserem Bewufstsein nichts anderes sind als Synthesen
aus den für uns unterschwelligen Gefühlen der zu uns zugehörigen niederen
Bewufstseinsstufen.
Die Einheit des Bewufstseins (Cap. VI.) ist nach H. mehr als
blofser Zusammenhang, d. h. als Summationsphänomen der bewnDsten
Phänomene oder Correlat der physischen Einheit des Organismus, sondern
nur verständlich durch eine die Einheit herbeiführende Thätigkeit (der
Genitiv „des BewuDstseins" ist nicht gen. subjectivus, sondern objectivns.
Bef.). Für jede individuelle Bewufstseinseinheit ist aber diese synthetische
Thätigkeit nach H. nicht eine substantiell getrennte selbständige, sondern
nur concreto Sonderbethätigung einer absoluten Substanz. Dieses Absolute
ist aber wiederum nicht aufzufassen in Gestalt eines höchsten transoen-
deuten Bewufstseins, sondern als unbewufstes, absolutes, alleines Sabject
Dem psychophysischen Parallelismus ist das VU. Cap. ge-
widmet, das umfangreichste (106 S.) und auch das weitaus bedeutendste des
Ruches. Ich halte es in der That für geeignet, dem nun schon seit Jahren
in wenig veränderten Bahnen dahinwogenden Streit eine neue und aos-
sichtsvolle Wendung zu geben. Zwei Gresichtspunkte, mit denen Bef. in
letzter Zeit an dieses Problem heranzugehen sich gewöhnt hatte, findet er
zu seiner Freude von H. gleichfalls angewendet: erstens die Ueberzengong,
dafs das Problem des Verhältnisses von Physischem zu Psychischem nicht
zum ursprünglichen Ausgangspunkt des Philosophirens erwählt werden
dürfe, sondern nur von einer noch allgemeineren metaphysischen Be-
trachtungsweise her seine Lösung finden könne, zweitens die Ansicht, dafo
diese zu erhoffende Lösung weder in dem Parallelismus, noch in der
Wechselwirkung, sondern in einer Synthese von Beiden zu suchen sei.
Freilich in der specielleren Anwendung dieser Gresichtspunkte kann ich mich
nicht mit H. identificiren.
Schon der rein referirende Theil ist in diesem Capitel weit nuti-
bringender als in den anderen, einestheils weil er die gesammte Neuttit
von NicoLAüs von Cues an umfafst, anderntheils, weil er nicht nur den
Inhalt der leicht zugänglichen Lehrbücher wiederholt, sondern (und zwar
gerade für die letzte Zeit) auch die Zeitschriften- und Monographien-Literatur
(Wentscher, Erhabdt, Busse, König, Heymans, Paulsen) excerpirt, so dafs
wir hier ein so ziemlich lückenloses und bis zur Gregenwart durchgeführtes
Liter atwrhtrichi, 101
Material für dieses so wichtige Problem vor uns haben. Dann aber ist der
kritische Theil hier besonders weitzügig angelegt. H. zeigt, dafs das schein-
bar so einfache Problem und vor Allem die scheinbar so durchsichtige
Liösung des Parallelismus in Wirklichkeit in eine grofse Beihe von Fragen
(er formulirt etwa ein Dutzend) zerfällt, die sämmtlich erst einer sorgsamen
Durcharbeitung bedürfen. Ich erwähne hier nur einige der Fragen: was
soll parallel gehen? Phänomene, Veränderungen von Phänomenen, Thätig-
keiten, Dispositionen oder essentielle metaphysische Attribute? — Welches
Materielle geht den Bewulstseinsphänomenen parallel? (Hier macht er mit
vollstem Kecht auf die Verwirrung aufmerksam, die daraus entsteht, dafs
man den Parallelismus bald psychophysisch meint als Parallellaufen
von Bewufstseinsinhalten und nervösen Processen, bald erkenntnifs-
theoretisch als Parallellaufen von Vorstellungen und den ihnen ent-
sprechenden Dingen). — Wie unterscheidet sich parallelistische Abhängig-
keit von Causalität? — Wie verhält sich die innere Gesetzmäfsigkeit jeder
Beihe zu der der anderen? — Welches ist der Umfang der Greltung des
Parallelismus und wo sind seine Grenzen ? (Hier giebt es nur, wie H. richtig
betont, die Alternative : entweder wird der Parallelismus consequent durch-
geführt, dann kommt man zur Allbeseelung und mufs auch aufserhalb des
Bewulistseins, also auch in Molecülen, in Atomen, Psychisches, annehmen.
Oder man scheut den Begriff des Unbewufst-Psychischen, dann ist der
Parallelismus ein begrifflicher Torso, der nicht zu Ende gedacht werden
darf). — Die wichtigste Frage lautet: welches sind die Beweisgründe für
die metaphysische Hypothese des Parallelismus? Sie sind wesentlich
negative, nämlich solche, die die Wechselwirkung widerlegen wollen. Als
Argumente werden angeführt a) die Unmöglichkeit der Causalität zwischen
Heterogenem, b) das Axiom der geschlossenen Xaturcausalität, c) das Gresetz
der Erhaltung der Energie, d) das Beharrungsgesetz.
a) Das erste Argument ist nach H. hinfällig, denn „alles, was auf-
einander wirkt ist mehr oder minder verschieden und die Leichtigkeit und
Stärke der causalen Beziehungen hat mit dem Mehr oder Minder dieser
Verschiedenheit keinen Zusammenhang" ; b) „das Axiom der geschlossenen
Naturcausalität im Sinne der mechanistischen Weltanschauung ist ein Vor-
urtheil unserer Zeit." Es sind nicht alle Bewegungen eines materiellen
Systems restlos aus den Gesetzen der Bewegungen ihrer Theile zu erklären,
bei den organischen Individuen treten zu den Atomgesetzen noch höhere
Naturgesetze hinzu, c) und d) Das Energiegesetz bezieht sich lediglich auf
das Quantum der vorhandenen Energie, bestimmt aber das Geschehen ein-
deutig nur in anorganischen Körpern. Für die organische Welt dagegen
gilt das Energieprincip, ohne darum die Möglichkeit auszuschliefsen, „dafs
bei der Art und Weise der Umwandlung der mechanischen materiellen
Energie nicht-mechanische nicht-materielle Kräfte bestinmiend mitgewirkt
haben". Denn sie ist denkbar, ohne dafs dadurch das Quantum der vor-
handenen Energie selbst vermehrt oder vermindert würde.
Trotz seiner Bekämpfung des Parallelismus vermag sich H. auch nicht
den gegenwärtigen Vertretern der Wechselwirkungslehre anzuschliefsen,
einerseits weil sie mit ihrem Dualismus und ihrer Tendenz, die Seele als
etwas Selbständiges und darum Unsterbliches hinzustellen, elw^t x^Ot-
102 Literaturbericht,
ständigen Bichtung angehören, andererseits, weil sie für dasjenige Psychuche,
das auf den Körper zu wirken im Stande sei, das BewnÜBtsein halten,
während dies selbst völlig inactiv ist Die leider nirgend klar heraus-
gearbeitete Anschauung H.*s selbst glaube ich so verstanden zu haben,
dafs er Parallelismus annimmt zwischen Bewufstseinsinhalten und materiellen
Vorgängen, ihn aber nicht als letztes Weltgesetz, sondern nur als phftno-
menale Folge einer indirecten Causalität auffafst. In directer Wechsel-
wirkung stehen nämlich nur die einander übergeordneten unbewaüsten
Thätigkeiten des Ich und seiner Theilindividuen (der Zelle u. s. w.) So
wirken die physiologischen Reize auf die einheitliche Thätigkeit des Ich,
welche darauf dann wieder mit den Acten des Auffassens oder des Willens
antwortet und auf seine ihm untergeordnete Theilindividuen einwirkt
Da das letzte Capitel (die Bilanz der modernen Psychologie) schon
oben Besprechung fand, so habe ich den Bericht nur noch durch die Be-
merkung zu vervollständigen, dafs ein chronologisches und ein alphabetisches
Autorenverzeichnifs, sowie ein Sachregister das Buch beschlieüst —
£. V. H. ist trotz seiner Fruchtbarkeit und trotz des zeitweisen stariien
literarischen Erfolges seiner Philosophie des Unbewufsten bisher aaf die
wissenschaftliche Arbeit der Zeit ohne grofsen Einflufs geblieben. Allein
er hat nicht so Unrecht, wenn er mit einem gewissen TriumphgefOlü
darauf hinweist (S. 117), dafs manche Punkte, um derentwillen er seiner-
zeit verlacht und bekämpft worden ist, jetzt nach Jahrzehnten von anderen
Seiten her in die wissenschaftliche Betrachtung Eingang gefunden haben.
Dafs Pflanzen beseelt seien, dafs man den niederen Himtheilen and dem
Rückenmark, ja auch den Molecülen und Atomen in irgend welcher Weise
Bewufstsein zuschreiben könne, gilt heute längst nicht mehr als absurd
In der Physik steht gegen den Materialismus ein Dynamismus, in der
Biologie gegen den Mechanismus eine immer stärker anschwellende teleolo-
gische Richtung auf, und der Parallelismus wird hart bedrängt — Stellung-
nahmen, die H. in der That schon vor drei Jahrzehnten vertreten hatte.
So wird H. sicherlich für alle diejenigen, welche, wie der Ref., glauben,
dafs die Weltanschauung der kommenden Zeit eine anti- oder sagen wir
lieber eine hyper-mechanistische sein wird, als ein früher und einsamer
Verkünder zu gelten haben. Und so bin ich denn auch überzeugt, dafe
die Psychologie auf ihrem Zukunftswege davon so manchen Nutzen ziehen
wird, dafs E. v. H. sich entschlossen hat, in ihre Discussionen einzugreifen.
Er that es hier kritisch und seine Kritik wird in vielen Punkten frucht-
tragend sein; aber sie wird erst ihre Wirkung ganz zeigen können, wenn
H. — ich wiederhole den Wunsch hier nochmals — seine eigene psycho-
logische Lehre, statt sie durch die Kritik nur durchschimmern zu lassen,
zu einer zusammenhängenden positiven Darstellung gestalten wird. —
Wenn H. bisher speciell innerhalb der Psychologie mit seinen früheren
Schriften, deren Inhalt doch an so vielen Stellen zu ihr Beziehung hat,
wenig Beachtung gefunden hat, so liegt dies allerdings, ganz abgesehen
von der metaphysikfeindlichen und mechanistischen Richtung der jüngsten
Vergangenheit, an einem schweren Grundmangel der H.'schen Philosophie:
an einem gewissen Wortcultus. An nur allzu vielen Stellen glaubt er
durch Anwendung schwer dahinfliefsender Termini die Erklärung bestreiten
Literaturbericht 103
zu können und ganz und gar in die Scholastik gehört die Verwendung,
die der Grundbegriff seiner gesammten Philosophie, der des „ünbe-
wufsten" findet. Dieses negative Neutrum, welches zunächst nur aus-
sagt, dafs eine bestimmte Eigenschaft nicht vorhanden ist, wird nun zum
ens realissimum hypostasirt; zugleich aber wird alles und zwar das
Disparateste, in den Begriff hineingeworfen, sobald es jener „bewufsten"
Eigenschaft ermangelt : die absolute Thätigkeit des Weltgrundes ebenso wie
die physiologischen Vorgänge im Nerven. Aber ist denn jemals das Nicht-
hab en einer Eigenschaft ein Grund gewesen zu einer metaphysischen
Identification? Umfafst der Begriff des Nicht-Schwarzen noch irgend eine
sachliche Einheit, wenn ich das Weifse, die Liebe und den Bosenduft —
denn alle drei sind nicht schwarz — hereinnehme? Was vielleicht unter
einem speciellen methodologischen Gresichtspunkt gerechtfertigt ist:
gegenüber einem bestimmten Erscheinungscomplez (z. B. dem des Be-
wufstseins) alles andere unter einem gemeinsamen Begriff zusammenzu-
fassen — es ist völlig ungerechtfertigt als metaphysische Synthese. Der
Begriff des Unbewufsten, den die Psychologie und die Philosophie so
nöthig brauchten, er war in der H.*schen Verallgemeinerung für sie einer
wirklichen Verwendbarkeit baar geworden. Wenn auch H. dann wieder
den so postulirten Begriff in seine verschiedenen Arten zerlegt, es bleibt
doch die Scheidung das Secundäre, die Identification das Primäre und der
Grundfehler ist dadurch nicht wieder gut zu machen.
In dem vorliegenden Buche ist in dieser Beziehung ein grofser Fort-
schritt zu constatiren. H. giebt selbst zu, dafs er jetzt die verschiedenen
Categorien des Unbewufsten viel schärfer und principieller gegen einander
abgrenzt als früher, wo es ihm ausgesprochener Maafsen auf die Betonung
des Gemeinsamen ankam. Die positiveren Unterscheidungsmerkmale:
synthetische Thätigkeit, Wollen, materielle Erregungen tauchen doch schon
viel häufiger aus dem negativen Nebelmeer des Unbewufsten heraus. Je
weiter der geschätzte Denker auf diesem Wege fortschreitet, um so mehr
Ertrag wird die Metaphysik im Allgemeinen und die Psychologie im
Besonderen aus seiner Gedankenarbeit erhoffen dürfen.
W. Stern (Breslau).
j. Jastrow. Some Garrents and ündercarrenU in Psychology. (President*s
Address, Amer. Psychol. Ass.) Psychol Revieio 8 (1), 1 — 26. 1901.
Jastrow bespricht in diesem Artikel verschiedene Strömungen, die
sich gegenwärtig in der Psychologie, namentlich in Amerika, bemerkbar
machen. Er drückt den Wunsch aus, dafs dem functionellen Gesichts-
punkte in der Psychologie, besonders im psychologischen Einführungs-
unterricht, ein bedeutenderer Platz zugewiesen werde. Er illustrirt diesen
Gesichtspunkt durch Hinweis auf die Vorzüge gröfserer Sehschärfe in der
Gentralgrube im Vergleich zu einer mehr diffusen Gesichtsempfindung
ohne Fovea; auf die wunderbaren Coordinationen des binocularen Sehens,
die zweifellos ein spätes Entwickelungsproduct sind. Er erwähnt ferner
die dreifache Weise, in der psychologische Probleme in neuerer Zeit in
Angriff genommen zu werden pfiegen, nämlich als Probleme der genetischen,
normalen und abnormen Psychologie, und zeigt die Bedeutung dieser
104 lAteraturbericht,
Trinität am Studium der „Intelligenz". Er betont die Gefahr, die der
Psychologie von populären Strömungen droht. Das populäre Interesse ist
besonders leicht durch das Mystische gefesselt, und so ist es kein Wunder,
wenn man vielfach unter Nicht-Psychologen die Ansicht verbreitet findet,
dafs die Hauptaufgabe der Psychologie in Untersuchung der Telepathie
und ähnlicher Phänomene bestehe. Max Meter (Columbia, Missouri).
Jttl. Beromann. Seele and Leib. Archiv für systeniat Philosophie N. F. 4 (4j,
401—437 u. 5 (1), 25—68.
Verf. beabsichtigt „den Begriff der Seele so zu bestimmen, wie es
vor dem Versuche, ihre Natur zu ergründen, möglich und zum Zweck eines
solchen Versuches erforderlich ist". Dazu genügt ihm das Merkmal des
„Bewufstseins^^ Dies Bewufstsein wird unter Berufung auf den -Sprach-
gebrauch mit Denken gleichgesetzt und die so definirte Seele mit dem Ich;
denn „jedes mit Bewufstsein begabte Wesen ist sich auch seines Bewolst-
seins bewufst, und zwar als des seinigen, und so hat es die Vorstellong
Ich und ist einerlei mit dem von ihm vorgestellten Ich". Nun erst fragt
Verf., ob es wirklich auch solche so definirte Seelen giebt. Die scholasti-
schen Schwierigkeiten, in welche sich der Verf. hierbei verstrickt, sind im
Original nachzulesen, ebenso der kurze „Beweis", den Verf. 8. 413 für die
Existenz an sich seiender Dinge giebt, die einst Seelen sind.
Nachdem Verf. so „die allgemeine Natur der Seelen" erledigt hat,
wendet er sich zur „allgemeinen Natur der Körper". Diese Erörterungen
können in dieser Zeitschr. übergangen werden. Verf. sucht nun weiter an
beweisen, dafs jedenfalls nur ein Körper, der einheitlich ist und in der
Veränderung, insbesondere im Stoffwechsel mit sich identisch bleibt, Snb-
ject eines Bewufstseins sein kann, und weist nach, dafs solche Körper
„denkbar" sind. Nunmehr steht der „Vermuthung, dafs das Bewulstsein
eine Eigenschaft von Körpern sei", aufser einigen Zweifeln, die später er-
ledigt werden, nichts mehr im Wege. Da nun ferner aus Geschwindigkeits-
Veränderungen kein Bewufstsein entstehen kann, so schreibt Verf. kuner-
band „der Form (der Organismen) zwei ganz verschiedene Bedeutungen,
organische Kraft und Subject des Bewufstseins zu sein, zu. Zwischen beiden
besteht ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnifs. Damit glaubt Verl die
„empirische" Auffassung ausgeführt zu haben. Dieser stellt er schlieMch
die metaphysische Auffassung gegenüber und deutet im Dienst der letzteren
die empirische Auffassung des Verhältnisses der Seele zum Leib um: ^
existirt ein unendliches absolutes Bewufstsein, die körperliche Welt ist
sein Inhalt u. s. f. Nur, „wie ein Wahmehmungsact dieses absoluten Be-
wufstseins, der die individuell eigenthümliche Form eines einheitlichen
Körpers oder eine die Materie zur Hervorbringung eines Körpers von
solcher Form befähigende Eigenschaft zum Inhalt hat, das Dasein einer
diesen Körper fühlenden und sich mit ihm identificirenden Seele zur Folge
haben könne, und auf welche Weise die Seelen in dem absoluten Be-
wufstsein enthalten seien", diese Fragen vermag Verf. nicht (doch wohl.
noch nicht) „genügend zu beantworten".
Ziehen (Utrecht).
LiteraturberichL 105
Ziehen. Das Yerhältnifs der H e r b a r t ' sehen Psychologie iwt physiologisch-
experimentellen Psychologie. Sammlung von Ahlmnälunge^i aus de^n Gebiete
der pädagogischen Psychologie u. Physiologie herausgegeben von H. Schiller
n. Th. Ziehen, 3 (5). 79 S. 1900.
Der physiologischeste — sit verbo venia — unter den physiologischen
fchologen, Th Ziehen, hat sich der dankenswerthen Arbeit unterzogen,
j Verhältnifs der von ihm vertretenen Richtung in der Psychologie mit
• HERBART'schen zu vergleichen, wie sie uns vorliegt in den Schriften
RBART*8 und der bedeutendsten seiner Schüler. In erster Linie bespricht
die beiderseitigen Principien. Die moderne Psychologie — womit im
Igenden der Kürze halber lediglich die experimentell-physiologische be-
chnet wird — geht rein empirisch vor. Die Empirie hat Hebbart ja
ichfalls zur Grundlage genommen, dann aber die Metaphysik zu Hülfe
rufen, um die Widersprüche zwischen den einzelnen aus der Erfahrung
R^onnenen Sätzen zu lösen. Hinsichtlich der Methode bedeutet Hebbabt*s
rnachlässigung des Physiologischen und Verwerfung des Experimentes
ausgenommen in der Tonlehre — einen Rückschritt gegen frühere
ychologen. Dagegen ist es ein grofses Verdienst Herbabt's, die Möglich-
it und Nothwendigkeit der mathematischen Behandlung der Psychologie
abgewiesen zu haben, wenn auch die Durchführung dieser Forderung
t Fechnbr und der physiologischen Psychologie gelungen ist. Die Thier-
rchologie erkennt er in ihrem vollen Werthe, weniger die psychopathischen
ächeinungen. Den zweiten, umfangreichsten Abschnitt bildet die Ver-
ichung der beiderseitigen Lehren und Ergebnisse. Die Lehre von den
ipfindungen, die in der modernen Psychologie eine so hohe Ausbildung
ahren, fand durch Herbabt auffallend geringe Beachtung. Lediglich den
lempfindungen widmete er eingehenderes Studium. Darauf hatte ihn
1 grofses Interesse für Musik — Herbabt war selbst vorzüglicher
Vierspieler und hat auch componirt — geführt. Aber seine Ergebnisse
ieten, wie Stumpf nachgewiesen, vielfach in Widerspruch mit den That-
aen der unmittelbaren Beobachtung. Um so bedeutungsvoller ist seine
re von der Raumanschauung, insofern er gegen die KANT*sche Lehre
der apriorisch-subjectiven Natur der Raumvorstellung, die Abhängigkeit
selben von den Reizen und die Unerläfslichkeit einer Erforschung der
chischen Bedingungen ihrer Entstehung betont hat. Hier baute die
lerne Psychologie nur weiter, indem sie die Bedingungen der räum-
en Anordnung unserer Empfindungen empirisch ermittelte, vornehmlich
Bewegungsempfindungen, auf deren Mitwirken die Schüler Hebbabt*s
jn hingewiesen, eingehender würdigte. Nicht gering ist Hebbabt's Ver-
ist um die Lehre von den Vorstellungen (= Erinnerungs- und Phantasie-
Heilungen), trotz seiner ungenügenden Scheidung zwischen Empfindung
. Vorstellung, besonders durch richtigere Feststellung des Wesens der
itraction und durch Beseitigung des sog. inneren Sinnes der früheren
chologen. Am eigenartigsten und folgereichsten war bekanntlich
iBABT*8 Lehre von der Ideenassociation. Während die moderne Psycho-
ie wie er festhält an der Gesetzmäfsigkeit unseres Gedankenablaufes,
dem Unterschied zwischen latenten und actuellen Vorstellungen und
den Begriffen Hemmung und Verschmelzung, die Begriffe Hülfe und
106 Literaturbericht
.Schwelle aber, mittelbare und unmittelbare Reproduction und die Weiter-
bildung und eine erhebliche ELlärung des Begriffes Apperception ihm allein
verdankt, lehnt sie aufs entschiedenste seine Verstellungs-Mechanik und
•Dynamik ab. Aehnlicherweise bringt Hbrbabt in der Lehre von den Ge-
fühlen manche glückliche und werthvoUe Beobachtung, in der theoretifichen
Deutung und Herleitung der Gefühle und Affecte jedoch kann ihm die
moderne Psychologie nicht folgen. Der letzte Abschnitt endlich ist HESBin's
Willenslehre gewidmet, in der manch ein bedeutender Orundsatz der
modernen Psychologie schon zur Geltung gekommen ist. AbschlieÜBend
kennzeichnet Z. nochmal die unterschiede, welche trotz vielfacher Heber-
einstimmung in wichtigen Punkten die beiden Richtungen trennen. Dabei
kann Bef. freilich nicht verhehlen, d&ÜB seines Erachtens Verf. den Werth
der Physiologie, von ihrem noch unbefriedigenden Stand ganz abgefiehen,
für die Psychologie etwas überschätzt, die Thatsache aber, dals die physio-
logischerseits beobachteten Vorgänge ihre Deutung doch erst erhalten dnick
die Psychologie, nicht hinreichend würdigt. Mit dem sehr beachtenswertben
Hinweis, dafs auch die grofsen Verdienste Hebbart's um die Pädagogik
kein Grund sein können, seine Psychologie der modernen vorzuziehen, ein-
fach deshalb weil sich sein pädagogisches System auch mit den letzteren
recht gut in Einklang bringen läfst, schliefst diese werthvolle, zum gegen-
seitigen Verständnifs nicht wenig beitragende Untersuchung.
Offneb (München).
P. J. MöBiüs. Stachyologie. Weitere vermischte Aufsätze. Leipzig, J. A. Barth,
1901. 219 S.
Die vorliegende „Aehrenlese** der wie immer anregend geschriebenen
Aufsätze widmet Verf. dem Andenken Fecuner's zu seinem demnächstigen
100 jährigen Geburtstage. Ein Theil der Aufsätze liegt aufserhalb des
Kahmens der vorliegenden Zeitschrift; andere wie z. B. der über Entartang
ist bereits hier referirt. Folgendes möge daher genügen.
Dafs dem Psychiater mit so viel Mifetrauen begegnet wird, liegt nach
Verf. unter Anderem daran, dafs er sich zu sehr für sich, fern von der
Welt hält. Der Psychiater sollte vielmehr sein Reich ausdehnen und auf
Eroberungen ausziehen; er sollte die Literaturbetrachtung in den Kreis
seiner Arbeit ziehen und vor Allem weniger die Minder^'erthigen als viel-
mehr die Mehrwerthigen studiren, um so unser Wissen von den Talenten,
ihrer Abhängigkeit von der Organisation des Individuums, von dem Ein-
flüsse der Vererbung etc. aufzuklären. Das ist der Inhalt seiner Aus-
führungen über „Psychiatrie und Literaturgeschichte".
Wie sehr die Psychiatrie geeignet ist, uns über das Wesen von Persön-
lichkeiten aufzuklären, das hat M. selbst mit seiner bekannten Arbeit be-
wiesen, die die Krankengeschichte Roüsseaü's betrifft, von seinen anderen
Studien gar nicht zu reden. Hier („Ueber J. J. Roüsseaü's Jugend") berichtet
er des Genaueren über Roüsseaü's Jugend, und beweist damit, dalis seine
spätere Paranoia, der wir seine Bekenntnisse verdanken, nur der Ausdruck
der ererbten Entartung war. Die Art und Weise, wie Rousseau seine
Jugend zubrachte, ebnete den Boden für die spätere Paranoia, aber sie
schuf auch die Eigenartigkeit seiner Persönlichkeit.
LiterattMrbericht 107
In einem weiteren Aufsatze („lieber das Studium der Talente") tadelt
er die Methode des Vorgehens Lohbroso's bei seinen Studien über den
genialen Menschen. Verf. verlangt Einzeluntersuchungen und ein Ausgehen
von bestimmten Fähigkeiten. Bei der Besprechung des Talents soll die
möglichst sorgfältige Prüfung des Menschen, bei dem das Talent im höchsten
Grade beobachtet worden ist, den Kern der Arbeit ausmachen. Wie
Bchwierig freilich die Begriffe des Talents und des Genies, die, da sie nur
quantitativ verschieden sind, nicht scharf von einander getrennt werden
können, gegebenenfalls abzugrenzen sind, zeigt Verf. an den Beispielen der
Musik, Malerei und Bildhauerkunst, Architektur, Dichtkunst. Auch die
Uebergänge müssen natürlich studirt werden, sowie Heredität, die Jugend-
zeit, die anderen Eigenschaften der Begabten. Insofern ist das Talent
immer etwas Pathologisches, als es einer Störung des normalen Gleich-
gewichts der geistigen Fähigkeiten entspricht.
Das Talent zu den bildenden Künsten und zur Musik ist, wie M. im
folgenden Aufsätze („Ueber die Vererbung künstlerischer Talente") ausein-
andersetzt, gleich dem mathematischen Talent angeboren und findet sich
oft mehrfach in einer Familie. Die Vererbung gehe in erster Linie vom
Vater aus. Die Mutter spiele dabei nur eine untergeordnete Bolle, ohne
dafs ihre Beschaffenheit gerade gleichgültig wäre. Das weibliche Talent
findet sich nur recht selten. Das künstlerische Talent des Mannes ver-
gleicht er geradezu mit einem secundären Geschlechtszeichen, wie es der
Bart ist.
In naher Beziehung zu diesen Aufsätzen stehen die beiden folgenden
Abhandlungen („Ueber einige Unterschiede der Geschlechter", „Ueber den
physiologischen Schwachsinn des Weibes"), in denen das Weib wenig gut
wegkommt Worauf er hinaus will, sagt M. selbst mit folgenden Worten:
„Die Aufgabe des Mannes ist, zu zeugen, die des Weibes, zu gebären und
das Kind zu pflegen. Die männliche Thätigkeit ist sehr rasch erledigt, die
weibliche füllt einen grofsen Theil des Lebens aus. Es ist daher nicht
erstaunlich, wenn auch im geistigen Sinne das Geschlechtliche den Kern
und das Wesen des weiblichen Lebens bildet, während es für das Bewufst-
sein des Mannes eine Episode ist." Ohne Mann keinen Fortschritt, sondern
allgemeine Stagnation. In dem zweiten Aufsatze wird die geistige In-
feriorität des Weibes im Vergleich zum Manne noch schärfer zum Ausdruck
gebracht. Er hebt darin weiter hervor, dafs die dem Weibe karger zu-
bemessenen Geistesgaben viel schneller abblassen als beim Manne. Der
Schwachsinn des Weibes ist nicht nur ein physiologisches Factum, sondern
auch ein physiologisches Postulat. Daher weg mit dem Intellectualismus
des Weibes. Auf die Nachschrift, in der er sich mit seinen Kritikern aus-
einandersetzt, sei besonders hingewiesen; hier genüge nur, die eine Be-
merkung mitzutheilen, dafs noch Niemand den Muth gefunden habe, ihm
öffentlich zuzustimmen. —
In einem letzten Aufsatze, betitelt „Ueber Mäfsigkeit und Enthaltsam-
keit" sucht er die Gegensätze auszugleichen, die zwischen den zwei
Kichtungen der directen Bekämpfung des Alkoholismus, den Mäfsigen und
den Enthaltsamen, bestehen, und den Nachweis zu erbringen, dafs ange-
sichts der Uebereinstimmung beider Parteien über die Schädlichkeit und
108 LiteraturberichL
Nutzlosigkeit des Alkohols eine Einigung in diesem höchst onnöthigen
Streite wohl zu erzielen sei. Es komme vor Allem mehr auf die Energie
als auf die letzte Ahsicht des Handelns an, mehr auf das positive Thnn
des einzelnen Streiters als auf sein Verhalten. Verf. theilt auch seine
Antwort auf die ihm darauf gewordenen Entgegnungen mit. Er betont
darin, dafs die Nutzlosigkeit der Mäfsigkeit bisher noch nicht erwiesen so,
und beweist, warum davon keine Rede sein kann, dafs es ebensowenig
sicher gestellt sei, dafs die Mäfsigen die Verführer abgäben, dafs viel-
mehr die Trinksitten und die Unwissenheit des Volkes in erster Linie
schuld sind an der weiten und weiteren Verbreitung der Trunksucht.
Ernst Schültze (Andernach).
J. Orchansky. La micanisme des pbinomines nerveaz. Bösum^ et conclosionB
g^n^rales (Ouvrage publik par l'Acad. des Sciences de St. Petersbonrg).
Ä7i7ialen dei' Univ. Charkow. 38 S. 1898.
Verf. versucht eine allgemeine chemisch-physikalischbiologische Theorie
der Erregungsvorgänge im Nervensystem zu construiren. Als vielleicht
erwähnenswerth und charakteristisch führe ich folgende Einzelsätze dieser
Theorie an. Verf. nimmt neben den chemischen Processen physikalische
(ondes, vibrations) an. Die Höhe der Erregbarkeitsschwelle soll dem
Durchmesser der gereizten Nervenfasern umgekehrt proportional sein. Das
Gedächtnifs bezw. die Uebung und Association beruht auf der Verlängernng
(und damit Verschmälerung) der Endverästigungen der Fasern und Zellen
und auf der temporären Bildung neuer Verästigungen. Das Hinzukommen
eines psychischen Parallelprocesses hängt nicht allein von der In-
tensität des Reizes (Höhe der Eeizschwelle), sondern namentlich anch
von den zeitlichen Verhältnissen und der speciellen Form der Er
regungswelle ab. Bewufst wird der Procefs dann, wenn alle Erregung»-
wellen zu einem Ganzen vereinigt werden, und die neue Erregungswelle
mit allen alten verbunden wird ; deshalb ist das BewuTstsein vor Allem an
eine gewisse Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung in den Centren
geknüpft u. s. f.
In einem Anhang versucht Verf. eine mathematische Ableitung der
Beziehungen zwischen Reiz, Erregung und Empfindung zu geben. D&
Hauptfehler der Ableitung liegt in der Escamotage des Functionszeichens
(S. 29 unten). Ziehen (Utrecht).
R. Müller, üeber Mosso's Ergographen mit Rficksicht anf seiie pljikH
logischen and psychologischen Anwendungen. WundVs Philos. Studien \1
(1), 1—29. 1901.
In dieser werthvollen und sehr interessanten Studie unterwirft der
Verf. auf Grund von Beobachtungen, die in Wundt's Institut ausge-
führt wurden, die Leistungsfähigkeit des Mosso'schen Ergographen einer
eingehenden Kritik. Er fügt seiner Darstellung hinzu, dafs die Ve^an^
wortlichkeit für ihren polemischen Inhalt ausschliefslich auf ihn allein falle.
Der Verf. sucht zunächst zu zeigen, „dafs nicht ein Muskel oder eine
kleine scharf bestimmte Muskelgruppe bei der Entstehung des Ergogramms
Literaturbericht. 109
thätig sind, sondern eine ganze Anzahl von Muskeln" und ^dafs Mosso's
Annahmen über die physiologischen Vorgänge bei der Fingerbeugung und
-steckung theils unzulänglich, theils falsch sind**. „Demjenigen, der zum
ersten Male ohne genügende Vorsicht und Vorkenntnisse an die Be-
nutzung des Ergographen herantritt, könnte es scheinen, .... als ob das
Werth volle der Versuchstechnik mit dem Ergographen darin bestehe, dafs
die Isolirung der langen Fingerbeuger durchgeführt sei, dafs also die Ver-
hältnisse in der Weise vereinfacht seien, wie wenn man an einem isolirten
Froschgastrocnemius arbeite. Dem ist aber nicht so.''
Bei aufmerksamer Beobachtung des Handrückens während der Arbeit
mit dem Ergographen wurden Bewegungen in den Interstitien der Meta-
carpalknochen bemerkt, die der Verf. auf eine Betheiligung der Interossei
zurückführt. Er erinnert an die bekannten Arbeiten von DucheniiE (Physio-
logie der Bewegungen, übersetzt von C. Webnicke 1885) und führt aus, dafs
die Extens. dig. und die langen Fingerbeuger wohl nicht alle Phalangen
gleichmäfsig bewegen, ja gewisse Phalangen sich der Thätigkeit dieser
Muskeln ganz entziehen und dafs gerade auf die Wirkung der anderen
eingreifenden Muskeln die gröfste Bedeutung zu legen sei. ,,Dabei handelt
es sich nicht nur um die Betheiligung eigentlicher Beuger, sondern auch
um synergistische und wohl auch antagonistische Bewegungsvorgänge.*'
Es wird ferner gezeigt, dafs bei jeder Volarflexion der Grundphalange
des belasteten Mittelfingers auch die Extensoren und Flexoren der
Handwurzel ,,mit immer wachsenden Beträgen'* mitwirken und dafs sich
dieselben Verhältnisse bei der Streckung wiederholen, ,. indem die Beuge-
muskeln der Hand gegen den Vorderarm bei der willkürlichen Contraction
des Extensor communis und der Extensores digitor. propra eine syn-
ergistische Function zu erfüllen haben, die derjenigen vollkommen ent-
spricht, welche die Streckmuskeln der Hand gegen den Vorderarm bei der
willkürlichen Contraction des Flexor digitorum comm. sublimis und pro-
fundus zu leisten haben (Duchenne)." Der Verf. sucht dann weiter die
Function der beiden langen Fingerbeuger festzustellen und gelangt zu dem
Ergebnifs: „Die Interossei wirken nicht nur nebensächlich
mit, sondern sie sind beinahe die wichtigsten Muskeln für
die Entstehung des Ergogramms", und er fügt hinzu, dafs auch
durch eine nähere Untersuchung der Sehnen Verhältnisse die Behauptung
einer physiologischen Isolirung der langen Fingerbeuger hinfällig werde.
Die bei fortschreitender Ermüdung angestellten Beobachtungen ergaben
dann weiter, dafs auch die langen Daumenmuskeln, der Brachial is internus,
die Tricepsgruppe und der Biceps bei der Bewegung mitwirkten, ja dafs
die ganze Schultermuskulatur bis zum Omohyideus daran betheiligt sein
kann und dafs bei hohen Belastungen, die mit Anstrengung ausgeführt
werden müssen, sogar Bewegungen in den Wirbelgelenken stattfinden.
y.Das Ergogramm ist also kurz gesagt, die Resultante einer
Beihe sich superponirender Wirkungen verschiedener
Muskelgruppen, die in ganz verschiedener Weise ermüdet
werden."* Diese Thatsache, dafs der Ermüdungszustand der einzelnen
mitwirkenden Muskeln bei Aufnahme eines Ergogramms ein ungleicher
HO Literaturbericht
sein mufs, klar erkannt und gezeigt zu haben, ist ein nicht geringes Ver-
dienst des Verf. 's.
Die Verwendbarkeit des Apparates in der experimentellen Schal-
psychologie wird vom Verf. — und zwar mit vollem Kecht — verworfen.
Der Ergograph ist zur Gewinnung von Ermüdungscurven nach Mclub
immerhin brauchbar, aber die Deutung der Curven kann in zuverlässiger
Weise nur von Jemand unternommen werden, dem die genauere Anatomie
und die Mechanik des Bewegungsapparates hinreichend bekannt sind.
Interessant sind die Faradisirungsversuche des Verf. 's. Mosso hatte
geschrieben : „L'excitation ^lectrique t^tanisante du nerf, continude jasqa'
a r^puisement de la force du muscle, laisse encore chez celui-ci un reste
d'^nergie, qui peut ötre utilis^e par la volonte, et vice versa, la volonte
laisse un reste de force qui peut 6tre utilis^e et mise en action par T^lectri-
cit^." Dagegen zeigt Müller, dafs in beiden Fällen verschiedene Moskeh
ermüdet werden, indem die bei willkürlicher Contraction in Wirksamkeit
tretenden Interossei bei der Faradisirung vom Medianus aus (wie im Mosso-
sehen Fall) unbetheiligt bleiben. Durch gleichzeitige Ermüdung der langen
Fingerbeuger und der Interossei durch den faradischen Strom erhielt der
Verf. Curvenbilder, die von den Mosso'schen abwichen. Verf. glaubt, dafii
hierdurch auch die Mosso'sche Folgerung widerlegt werde: „D'apres ce§
recherches la fatigue centrale ou nerveuse apparait avec ^vidence. Noni
voyons en effet, que durant le repos de la volonte la fonction des mou?e-
ments volontaires s*am^liore; et l'am^lioration ne peut 6tre p^riphöriqne
parce que nous ne laissons pas au muscle le temps de se reposer."*
Durch ein näheres Eingehen auf die muskelphysiologischen Arbeiten
von Mosso, Wedenski, Maschek, Bowditch, Funke, Marey, Rollstt, Wüsdt,
Volkmann, Maooiora, Kronecker, Hermann, Tiegel, Rossbacu und Hartkack
sucht der Verf. weiter zu zeigen, wie complicirt diese Verhältnisse sind
und welche Factoren hier vor Allem mitwirken und in Betracht in
ziehen sind.
In einem zweiten Theile der Arbeit sucht der Verf. dann auf
einige vorwiegend psychologische Gesichtspunkte hinzuweisen, die für die
Beurtheilung des Ergogramms von Bedeutung sind, hebt aber hervor, dafe
diese Ausführungen nicht erschöpfend sein können (— es sind die letiten
fünf Seiten der Arbeit — ), sondern dafs in denselben nur auf das für die
Kritik des Ergogramms Wichtige aufmerksam gemacht werden soll. Es
wird des Weiteren daneben ausdrücklich betont, dafs an der in dieser Be-
ziehung in der Psychologie eingetretenen Begriffsverwirrung Mosso nnbe-
theiligt und völlig schuldlos ist.
Diese Ausführungen lassen sich kurz vielleicht folgendermalaen
wiedergeben: Es sind vorläufig alle jene Theorien zu verwerfen, welche
zwischen der centralen Ermüdung und der im Ergogramm zum Ausdmck
kommenden peripheren irgendwelche Kelation herzustellen suchen. Ve^
wendbar ist der Ergograph zur Zeit allenfalls „nur für die Muskelphysio-
logie, zum Studium der Muskelermüdung und der diese beeinflussenden
Factoren. Dabei sind wieder die allgemeinen Stoffwechselverh<nisse dee
Muskels ebenso zu berücksichtigen, wie die besonderen in den Versuchen
zu variirenden Factoren der Belastung, des Tempos u. a. m." Nicht unbe-
Literaturbericht 111
achtet bleiben darf das Eingreifen subjectiver Vorgänge, wie Ermüdungs-
empfindungen und die rhythmische Betonung und Gruppirung der das
Arbeitstempo markirenden Sinnesreize. Die subjectiven und die physio-
logischen Ermüdungserscheinungen stehen zwar in enger Beziehung mit
einander, aber sie sind keinesfalls zu identificiren. Als rein psychologische
Fragestellungen bleiben die folgenden bestehen: „1. Wie verhalten sich
die Ermüdungsempfindungen bei der Muskelermüdung zu andersartigen Er-
müdungsvorgängen (etwa der Ermüdung durch intellectuelle Thätigkeit)?
nnd 2. wie verhält sich der als Anstrengung bezeichnete Complex von
Empfindungs- und Willensvorgängen (?) zu den Gomponenten in den Er-
müdungsempfindungen, sind diese selbst verstärkte Innervationsempfin-
dungen (?) oder von der Peripherie aus bedingt?^' „Mit dieser zweiten
Frage ist dann unmittelbar die verknüpft, ob die Ermüdungsempfindungen
eine Veränderung von Bewegungsempfindungen erhalten.*'
Es ist wohl das erste Mal, dafs die Analyse des Ergogramms und der
dasselbe bedingenden Verhältnisse in so klarer und überzeugender Weise
durchgeführt wurde. Ohne die Verdienste des Erfinders des Ergographen
in irgend einer Weise vermindern zu wollen, wird man diese Arbeit Robert
Müller's nur mit Dank und Genugthuung lesen können. Es mag mir
erlaubt sein, schon hier auf eine demnächst erscheinende umfangreiche ergo-
graphische Arbeit aufmerkam zu machen, die von meinem Ck)llegen Z. Treves
ausgeführt wurde, dessen Anschauungen und Ergebnisse sich mannigfach
mit denen des Verf.*s berühren. Kiesow (Turin).
A. BiNET. Hoovelles recbercbes sar la consommation da paln, dans ses rapporta
avec le travail intellectoel. Annee paychologique 6, 1—73. 1900.
Im vierten Jahrgang der Ann^e psychologique hatte Binet eine Statistik
des Brotconsums in einigen Lehrerseminaren gegeben, aus welcher sich,
wie er meinte, eine Abhängigkeit dieses Consums von der Intensität der
geistigen Leistungen ergab: in den Monaten angestrengter Examensarbeit
war der Consum ein geringerer. Da eingewandt wurde, dafs hier andere
Factoren mit von Einflufs gewesen sein könnten, so nimmt Binet dies
Mal die Untersuchung, auf einer viel specialisirteren statistischen Grund-
lage auf und sucht sämmtliche Factoren, die Einflufs auf den Brotconsum
haben könnten, gesondert zu bestimmen.
Das Material wurde geliefert von einem Pariser Seminar mit etwa 120
Schülern, in welchem ein Jahr hindurch Tag für Tag einerseits das Gewicht
des consumirten Brotes, andererseits Temperatur, Barometerdruck, Speise-
zettel und besondere physische oder psychische Leistungen der Schüler
(wie Spaziergänge und Examensarbeiten) registrirt wurde. Die Tabellen
füllen allein 20 Seiten der Arbeit. Verwerthet sind die Zahlen von Januar
bis Juli.
Die Ergebnisse stehen in keinem Verhältnifs zur angewandten Mühe.
Das Hauptresultat ist eine starke Abnahme des Consums vom Winter zum
Sommer hin. Anfang Februar werden pro Tag und Kopf 800 g, Anfang
Juli 700 verzehrt. Der letztere Termin bezeichnet in dem Seminar die
Prüfungen; so dafs in der That der starken Steigerung der intellectuellen
Arbeit zum Sommer hin eine Abnahme des Brotverbrauchs parallel läuft.
1 12 lAteratmrberiekt
Dennoch M, wie B. mit Becht herrorhebt, ein caosmler Zuaunmenhing
zwischen beiden Momenten noch nicht erwiesen : denn Ton Jannsr bis JdU
ändert sich noch ein anderer sehr wichtiger Factor: die Tempeimtnr, ond
data aie anf den Brotconanm Kinflofa hat, geht aas der Statiadk zweüelk»
hervor. Werden nämlich immer diejenigen Tage, welche gleiche Tempentor
hatten, zu einem 3Iittelwerth vereint, so ergiebt sich eine Tabelle, ans der
nur folgende 2^hlen heraosgegriffen seien : Brotconsom pro Kopf bei 0*
794 g, bei W 780, bei 20» 742, bei 30» 650 g. Der reine Einfluis der inteUo^-
toellen Arbeit wäre daher nnr aas solchen Tagen an entnehmen, an welchflB
bei gleicher Temperatur sehr verschieden intensive geistige LeiBtunget
vollbracht wurden; hierfür liefert die Statistik nur sehr wenig Miteritl,
aas dem immerhin mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit au entndimes
ist, dafs stärkere geistige Anspannung eine gewisse Abnalune des Brot*
consums zur Folge hat.
Die Versuche, zwischen Luftdruck und Brotverbrauch eine Bedehong
herzustellen, fielen negativ aus. — Der Tagesausgang am Sonntag brachte
für den Abend eine Herabsetzung des Consums, der regelmft£sige Donnersti^*
Spaziergang für diesen Tag selbst eine Ztmahme, für den Folgetag eine
Minderung. — Erwähnt sei noch der EinfluUs starker physischer An*
Htrengungen: turnerische Wettkämpfe, die sich durch eine Aprilwoch«
hindurchzogen, vermehrten den Consum an Brot ganz beträchtlich, nämlich
um etwa 45 g pro Kopf.
Ref. mufs zum Schlufs bekennen, dafs er den Werth dieser seit-
raubenden Zahlenzusammenstellungen für die psychologische Wissenschaft
nicht recht einzusehen vermag. W. Stebn (Breslau).
Tu. Beer, a. Bethe und J. v. Uexküll. Yonchlige n eimer objactiflreita
Homendatar in der Physiologie des Henrensystems. CcntralhL f, Phyml. C,
137—141. 1899.
Th Beer, üeber primitive Sehorgane. Wienei- klinische Wochenschrift (11—13).
1901.
K. IIe88e. üntersnchnngen fiber die Or|;ane der Lichtempllnduig hei niedsm
Thieren. I-TI. Zeitschr. f. tdss. Zool. 61, S. 39^-419; 62, S. 527-582;
62, 8. 671-707; 63, S. 456—464; 65, S. 446—516: 68, S. 379-477. 1896-1900.
Jedes gröfsere Gebiet des Wissens und Könnens bildet natnrgem&fs
im Laufe der Zeit seine eigene Nomenclatur heraus ; sie entspringt, je mehr
sich neue Begriffe häufen, je mehr alte erweitert oder eingeschränkt werden,
ganz von selbst aus dem unabweisbaren Bedürfnifs nach präciser, jedes
Mifsverständnifs nach Möglichkeit ausschliefsender Ausdrucksweise. Es
niufs daher als durchaus berechtigt angesehen werden, wenn auch die
junge Wissenschaft der vergleichenden Physiologie des Nervensystems und
der SinneHorgane danach strebt, die alte psychologische, anthropomorphe
Ausdrucksweise, die ihren Zwecken nicht mehr genügt, durch eine nene
^objectivirende" Nomenclatur zu ersetzen.
Beer, Bkthe und üexKÜLL haben den ersten Entwurf einer solchen ge-
geben, der zunächst in grofsen Zügen ein Gerüstwerk bietet, in das auf
Literaturbericht 113
jedem Specialgebiet der vergleichenden Physiologie die nenen Bezeichnungen,
•deren noch eine Menge nöthig sein werden, eingefügt werden können.
Die neue Nomenclatur trennt in der Bezeichnung:
1. Den objectiven Reiz, 2. den physiologischen Vorgang und 3. die
(eventuelle) Empfindung.
Die vergleichende Physiologie hat sich, nach Anschauung der Autoren,
t nur mit dem physiologischen Geschehen vom Auftreten des Beizes bis zur
Vollendung der eventuellen Beaction zu befassen. Für den objectiven Beiz
bestehen zum Theil schon unzweideutige Bezeichnungen, für doppelsinnige
«■ wie „Licht" oder „Schall" andere einzuführen, erscheint, solange die Physik
eich ihrer bedient, nicht noth wendig. Jede Möglichkeit einer subjectiven
Deutung könnte durch einen Zusatz wie z. B. objectives Both, oder Both-
wellen ausgeschlossen werden.
Für den physiologischen Vorgang sind neue Ausdrücke erforderlich.
Die „Beizbeantwortungen" werden zunächst danach eingetheilt, ob
sie durch ein Nervensystem vermittelt werden, oder nicht. Diejenigen, die
ohne Nervensystem zu Stande kommen, wie alle Beactionen bei einzelligen
Organismen, bei Pflanzen und in manchen Organen der vielzelligen Thiere,
eollen als „Antitypien" [avTirvTcla = Bück Wirkung) bezeichnet werden,
alle übrigen durch ein Nervensystem vermittelten, als „Antikinesen"
{dmxitnjaie => Bückbewegung). Die Antikinesen kehren entweder stets in
der gleichen Weise wieder, dann werden sie Beflexe genannt, oder sie
sind modificirbar, dann heifsen sie „Antiklisen". Der Aufnahme der
Reize, der „Beception", dienen „Beceptionsorgane" oder „Beceptoren". Die
Verff. unterscheiden „anelective Beceptionsorgane", bei denen eine
Reizauswahl nicht zu constatiren ist, von „electiven Beceptions-
organe n", d. h. solchen, bei denen von den sie treffenden Beizen nur
eine bestimmte Art im Stande ist, Zustandsänderungen hervorzurufen.
Die Election kann entweder durch die Lage des Organs bewirkt werden,
die unter normalen Bedingungen nur einer bestimmten Gruppe von Beizen
den Zutritt zu dem Organ gestattet, dann spricht man von „topoelec-
tiven" Beceptoren, oder es handelt sich um „transformatorisch-
elective" Beceptoren, um „Umwandlungsorgane", bei denen Beize,
die an sich für den Nerven unwirksam sind, z. B. Licht, Anziehungskraft
der Erde u. s. w., in wirksame Beize umgewandelt werden. Solcher Üm-
wandlungsorgane zählen die Verff. 7 Gruppen auf, die im Original nach-
gelesen werden mögen, hier soll nur eine derselben näher besprochen
werden, für die eine detaillirte Ausgestaltung der Nomenclatur von Th. Bkbb
vorliegt: Die Photo-Beceptionsorgane, Photoreceptoren oder Pho-
toren, Sehorgane d. h. die Organe, bei denen Lichtwellen in wirksamen
Reiz umgestaltet werden. Ihre Function wird Photorecipiren genannt.
Ks giebt zunächst zwei grofse Gruppen solcher Organe, die Beer als
..Photirorgane" und „Idirorgane" unterscheidet. Die Photirorgane
Bind blos geeignet, quantitative Verschiedenheiten der Belichtung (und
Beschattung, wie selbstverständlich stets zu ergänzen ist) zu signalisiren
— eventuell also auch Bewegungen und Bewegungsrichtungen — wie etwa
unser Auge bei geschlossenen Lidern (Motoperception, Motophotiren). Die
Zeitschrift für Psychologie 27. ^
114 Literaturbericht
recipirenden Elemente heif8en„Photirzellen", ihre Function „photiren",
der Spielraum ihrer Function „Photirfeld." Die Idirorgane sind g^
eignet, ein Bild der Aufsenwelt zu entwerfen. Je nach dem Princip ihres
Baues sind (zusammengesetzte, facettirte) Comp lex- und (einfache)
Oameraaugenzu unterscheiden. Ihre Function heifst „i d i r e n", eventuell
„sehen", die Gesammtheit der photorecipirenden Elemente Betina, der
Einzeltheil der convexen Complexaugen „Omma", die einfachen Augen
der Insecten „Simpelaugen". Nervi optici sind die aus den Photoren
hervorgehenden Nerven, welche die vom Lichtreize hervorgerufene Er-
regung dem Nervensystem zuleiten.
Drei „hohle Vorurtheile" sind es nach Beeb's Ausführungen, die dem
Fortschritt der Erkenntnifs vom Bau und den Leistungen primitiver Seh-
organe hemmend im Wege standen.
I. „Der physiologische Irrthum, dafs mehr oder minder dunkles
Pigment — wie man es vom Innern des Wirbelthierauges her gewohnt
war — ihr wesentlichster Bestandtheil sei und speciell den Umsatz von
Lichtreizen in Nervenerregung („die eigentliche Lichtempfindnng") ver-
mittle." „Die einleuchtende Thatsache, dafs Albinos doch nicht blind sind,
hätte immer laut dagegen sprechen müssen." Pigment tritt zwar sehr oft
in Verbindung mit primitiven Photoren auf, aber bei ganzen Ordnungen
von Thieren kommen auch völlig pigmentlose Photoren vor (z. B. Lumbri*
ciden, Hirudineen, Salpen).
IL „Der physikalische Irrthum, dafs brechende Medien („Cornea*',
„Linsen", „Krystall", „Glaskörper" etc.) wesentliche Bestandtheile eines
Belichtungsänderungen signalisirenden Apparates seien." In der näheren
Erörterung dieser These, in der der Nachweis erbracht wird, dafs gerade
die Licht recipirenden Elemente, die Photirzellen, früher als „Linsen"
angesprochen wurden, entrollt der Verf. ein überaus ergötzliches Bild der
massenhaften Irrthümer, die eine einseitig morphologische Behandlung der
primitiven Sehorgane mit sich brachte, in Verbindung mit dem anthropo-
morphen Bestreben, die Theile des Wirbelthierauges auch in den ein-
fachsten Photoren nach Möglichkeit wiederzufinden. Wer von „Augen'' er-
fahren will, die nur aus „Linse und Chorioidea" bestehen, oder von solchen
mit „mehreren Linsen" (NB. ! einzelligen Linsen von ganz unregelmälsiger
Form I) oder gar von solchen, bei denen „Retinazellen" oder ein „Ganglion
optivum" vor der Linse liegen sollten, der mag das Original durchsehen,
in dem reichliches Material dieser Art zusammengetragen ist. Auf den
Beweis näher einzugehen, dafs durch primitive Photoren keine Formen
„gesehen" werden, dafs vielmehr nur durch Belichtung und Beschattung
Reactionen ausgelöst werden, die gröfste Aehnlichkeit mit den Photo-
tropien nervenloser Organismen, z. B. der Pflanzen haben, würde hier w
weit führen.
Der III. Irrthum, der grofsen Schaden in der Lehre von den primitiven
Photoren angerichtet hat, ist „der speculative Fehler — ein solcher
mindestens im heuristischen Sinne — dafs der Umsatz von Lichtreizen in
Nervenerregung sehr oft nicht durch specifische Sehorgane geleistet werde,
sondern auch durch im Uebrigen Anderes (Getast, Geruch etc.) leistende
Literaturbericht 115
Apparate, etwa durch die ganze (*dermatoptische«) Haut, durch »Ueber-
gangs-« oder »Wechselsinnesorgane« u. dgl. bewerkstelligt werden könne.**
„Geht man den Veranlassungen zu solchen Annahmen auf den Grund,
so ergeben sich ihrer vorwiegend drei:
1. „Das Dogma, dafs *bei den niedersten Thierformen die ganze
Körperfläche allen Sinnesreizen Einwirkung auf die Empfindungsnerven
gestattet« (Ranke), eine Anschauung, die nicht einmal für den Protisten-
körper völlig gültig ist; kennen wir doch z. B. bei Euglena einen
distincten Bezirk stärkster Lichtreizbarkeit „Auch die Hegen wurmhaut
hat einmal als Universalsinnesorgan gegolten, und doch kennt man jetzt
gesonderte Tango-, Chemo- und Photoreceptoren."
2. „Die Annahme, dafs relativ rasche Reizbeantwortungen nur durch
Sinnesorgane und Nervensystem vermittelt, also blos als Reflexe
( — nicht auch als Antitypien — ) aufgefafst werden können." Demgegenüber
bleibt die Annahme directer Lichtmuskelreizbarkeit immer noch als wahr-
scheinlichere Erklärung für viele Fälle, besonders seit in neuerer Zeit
Steinach nicht nur für die Muskulatur der Iris bei Amphibien und
Fischen, sondern auch für die Cephalopoden-Chromatophoren-
Muskeln solche directe Reizbarkeit nachgewiesen hat. Auch die Mög-
lichkeit liegt vor, dafs specifische Sinnesorgane vorhanden, zur Zeit aber
noch nicht aufgefunden sind; sollten aber solche auch nicht gefunden
werden, so liegt es zur Erklärung rascher Reizbeantwortungen immer noch
näher, an Reizbeantwortung ohne Vermittelung des Nervensystems, an
Phot-Antitypien zu denken, als an „Wechselsinnesorgane".
3. „Das Vorurtheil, dafs in allen Fällen, wo bis jetzt keine »Augen«
bekannt oder die bekannten entfernt worden sind und doch Lichtreactionen
zu beobachten waren, auch in Zukunft »keine specifischen Organe des
Lichtsinnes« gefunden werden könnten." Die Consequeuzen, die aus dem
Fehlen solcher Organe zu ziehen sind, wurden schon oben berührt, höchst-
wahrscheinlich aber kommen bei niederen Thieren „anelective" Sinnes-
organe vor, d. h. Sinnesorgane, bei denen keine Reizauswahl stattfindet.
Solche Sinnesorgane wären dann das directe Gegentheil der „Wechsel-
sinnesorgane". Während diese im Stande sein sollten, durch dieselbe Zelle
qualitativ verschiedene „Sinnes"eindrücke aufzunehmen, besteht das Wesen
der anelectiven Sinnesorgane darin, dafs sie, was für Reize sie auch treffen
mögen, stets in der gleichen Weise reagiren.
Seinen entschiedenen Kajupf gegen die Annahme der „Wechsel-
sinnesorgane" schliefst Beer mit folgender Zusammenfassung: „Der
Haut als solcher ist vorläufig keine Photoreception zuzuschreiben, wie so
lange geschah, weil in der Haut mancher Thiere Photoreceptoren liegen,
und weil solche und auch andere Thiere Phototropien oder Phot-Antitypien
aufweisen, oder weil in der Haut Aenderungen der Pigmentirung, thera-
peutische Wirkungen etc. durch Lichteinflufs beobachtet werden; es wäre
höchste Zeit, dafs die „Dermatoptik" („Vision dermatoptique , photo-
dermatique, Somatoptik" etc.) begraben würde und definitiv aus der Literatur
verschwände."
Als Beispiele zu diesen theoretischen Ausführungen mögen einige
O-k
116 Literaturbericht
Mittheilungen aus den umfangreichen Arbeiten R. Hesse's gemacht werden,
denen wir eine sehr bedeutende Erweiterung und Vertiefung unserer
Kenntnisse vom Baue primitiver Sehorgane verdanken. Die Anwendung
der neuen Nomenclatur auf die von Hesse beschriebenen Befunde scheint
umsomehr berechtigt, als, wie Beer mittheilt, der Verf. selbst sich mit
derselben einverstanden erklärt hat.
Die Photirorgane der Plattwürmer: Es sind nach Bm'i
Ausdruck fast alles „invertirte Pigmentbecherocellen'*. Ali
O c e 1 1 e n bezeichnet er pigmentumgebene Photirzellen oder PhotineU-
gruppen. Eine Anordnung, bei der das Licht erst die Photirzelle und diu
den Nerv trifft, heifst vertirt, trifft das Licht zuerst die Opticusfasem
und dann die Photirzellen, so ist die Anordnung invertirt.
Den wichtigsten und allein unentbehrlichen Bestandtheil der Ocellei
bilden natürlich die Photirzellen. Bei fast allen Platt Würmern sind
diese Zellen durch einen Saum von protoplasmatischen Stiftchen ausge-
zeichnet, die dem Licht abgewandt sind. In dem Stiftchensaum iit
der recipirende Apparat der Photoren zu sehen. Das ganze Plasma seigt
fibrillären Bau und diese Photirfibrillen, die je mit einem Photii-
stiftchen in Verbindung stehen, bilden durch ihren Zusammentritt da
optischen Nerv. Den zweiten Bestandtheil des Ocells bildet der Pigment-
becher, der die Photirzellen kappenförmig umfaTst, so dafs das lidit
dieselben nur von einer Seite aus treffen kann. Im einfachsten Falle be-
steht der Pigmentbecher nur aus einer einzigen Zelle, und enthält nur eine
Photirzelle (Tristomum molae). Die Entwickelung der Photoren inne^
halb des Stammes geht zwei Wege, die aber beide darauf abzielen, die An-
zahl der Photirstiftchen im Ocell zu vermehren. Der erste Weg, auf dem
keine Formenmannigfaltigkeit erreicht ist, ist der, dafs die Stiftchen tragende
Seite der Zelle gefaltet und dadurch ihre Oberfläche vergröfsert wird (Tri-
stomum papillosu m). Viel reichere Entwickelungsmöglichkeiten bietet
der zweite Weg: Durch Vermehrung der Photirzellen das Ocell functions-
kräftiger zu machen. Eine Vermehrung der Photirzellen bei gleichbleibender
Dicke würde bald eine solche Verflachung des Pigmentbechers (der andi
mehrzellig wird) zur Folge haben, dafs er nicht mehr genügend das Licht
abblenden könnte ; es tritt daher mit der Vermehrung der Photirzellen in-
gleich eine Differenzierung in einen voluminöseren kernhaltigen Theil, der
aus dem Pigmentbecher heraus, vor denselben verlegt wird, und in einen
schmalen Theil innerhalb des Pigmentbechers ein. Diese im Pigmentbecb»
gelegenen Zelltheile gestalten sich zu Photirzellkolben, und tragen d»
Saum der Photirzellstiftchen, der entweder nur an ihrem trichter
förmig verbreiterten Ende, dem Licht abgewandt liegt (Euplanarii
gonocephala), oder den ganzen Photirkolben allseitig umgiebt (D endro-
coelum lacteum). Die Zahl der Zellen innerhalb eines Pigmentbechers
kann bei dieser Anordnung bis auf über 200 steigen. Hesse hat bei Platt-
Würmern keine Photirkolben frei im Körperparenchym, ohne Beziehung
zu Pigmentbechern gefunden, dagegen beschreibt Jänichen * solche Befunde
^ Jänichen, Beiträge zur Kenntnifs des Turbellarienauges. Zeitfchr. (-
wies, Zool. 62. 1897.
Literaturbericht. 117
(bei Polycelis nigra). Eine wichtige Beobachtung machte Hesse an
den Ocellen mehrerer Plattwürmer, er fand häufig bei frischen Präparaten
den Saum der Photirstiftchen röthlich gefärbt. Die Farbe ver-
schwindet nach und nach, besonders lebhaft ist sie bei Polystomum
(dem bekannten Parasiten in der Harnblase des Frosches), was vielleicht
mit seinem dunklen Aufenthaltsorte in Beziehung gebracht werden kann.
£8 liegt nahe, in diesem Farbstoff ein Analogon des Sehpurpurs der
Wirbelthiere zu sehen.
Ein Photirorgan, das mit dem der Plattwürmer grofse Aehnlichkeit
hat, zeigt der Amphioxus. Es liegen bei ihm die Ocelle zu beiden
Seiten und ventral vom Centralcanal des Bückenmarks, in diesem selbst.
Sie sind sehr einfach gebaut und bestehen nur aus je einer Photirzelle mit
Stiftchensaum, die von einem einzelligen Pigmentbecher kappenartig be-
deckt ist.
Die Photoren der Hirudineen und Lumbriciden. Ein
wesentlich anders gestaltetes Element liegt den sämmtlichen Photoren der
Hirudineen und Lumbriciden, der Egel und Begenwürmer zu
Grunde. Es ist eine Photirzelle, die, meist in ihrem dem Licht abge-
wandten Ende, eine oder mehrere Vacuolen enthält. Die Vacuolen sind
wohl mit Flüssigkeit gefüllt und häufig, doch nicht ausnahmslos, von einem
verdichteten Plasmasaum umgeben. In der dem Licht zugewandten Seite
der Zelle liegt der Kern, hier entspringt auch die Nervenfaser. Die
Vacuolen müssen als die Vermittler der Photoreception angesehen
werden. Ihre Gestalt ist nicht selten äufserst unregelmäfsig, mit vielen
Ein- und Ausbuchtungen, wodurch natürlich die Fläche der Vacuolenwand
wesentlich vergröfsert wird. Bei den Egeln läfst sich fast Schritt für
Schritt verfolgen, in welcher Weise dieser primäre, wichtigste Bestundtheil
des Photirorganes mit dem zweiten, accessorischen Bestandtheil, dem ab-
blendenden Pigment in Verbindung tritt.
Das primitivste Verhalten zeigt Pontobdella muricata Lam. Sie
hat die gröfsten Photirzellen unter allen Egeln, und diese liegen im
Körpergewebe ohne irgend welche Beziehung zu dem Pigment des Thieres.
Das Licht kann also die Photirzellen von allen Seiten reizen und dement-
sprechend sind auch die Vacuolen nicht, wie bei den meisten Egeln nur
auf einer Seite der Zelle vorhanden, sondern umgeben den central gelegenen
Kern von allen Seiten.
Ein weiteres Stadium zeigt Branchellion torpedinis Sav. Hier
ist das Pigment zu einer Wand angeordnet und die Photirzellen liegen vor
und hinter derselben, die vorderen sind also vor Belichtung von hinten,
die hinteren vor solcher von vorne geschützt.
Dann sehen wir echte Pigmentbecher auftreten, die nur Licht von
einer bestimmten Bichtung zu den Photirzellen gelangen lassen. Und
wiederum macht sich das Bedürfnifs geltend, eine möglichst grofse Anzahl
Zellen in einem Ocell zu vereinigen. Auch hier ist die Lösung angebahnt,
die sich bei den P 1 a 1 1 w ü r ui o r n als so praktisch erwies : die Differenzierop«*
der Zellen in einen schlanken Theil, der den recipirenden Apparat ei
alw hier die Vacuolen, und im Pigmentbecher steckt, und in «5«
nösen Theil, der den Kern enthält und aufserhalb dl
118 Literaturbericht
liegt. Aber diesen Modus finden wir nur bei wenigen Formen (Clepsine.,
die Mehrzahl der Photoren hat eine andere Entwickelung genommen: Die
Anordnung der Photirzellen in einer Schicht, die bei den Plattwürmern
durchgängig gewahrt blieb, wird aufgegeben, und die Zellen werden in
vielen Schichten innerhalb des tiefen Pigmentbechers über einander ge-
lagert. Zugleich mit dieser Zunahme der Zahl der Photirzellen vollzieht
sich der UebergAng des invertirten Ocells in ein vertirtes. Der
optische Nerv, der bisher (auch bei allen Plattwürmern) von vorne her
an das Ocell herantrat, durchbricht zunächst die Seitenwand des Pigment-
bechers (Haementeria officinalis) und tritt endlich beim Blutegel
von hinten an das Ocell heran, in dessen Axe er nach vorne zieht, und
sich durch Abgabe der Fasern, die zu den Photirzellen gehen, allmählich
erschöpft.
Das meiste Interesse dürften aber die Photoren der Be gen Würmer
in Anspruch nehmen. Da es eine sicher bekannte Thatsache war, daCs der
Regenwurm durch Licht reizbar sei, man aber keinerlei Organe kannte,
denen man die Function der Photoreception zuschreiben konnte, so nahm
man, wie z. B. auch noch Nagel thut, hier „Wechselsinnesorgane'
an. Es war daher von grofeer Bedeutung, als Hesse Zellen auffand, für
die er den Beweis erbringen konnte, dafs sie Photoreceptoren seien. Es
soll hier nicht dieser ganze mit grofser Umsicht geführte Beweis erbracht
werden. Nach dem, was über die Photoren der Egel vorausgeschickt
wurde, genügt wohl schon die eine Thatsache als Beweis, dafs die Photir-
zellen des Begenwurmes fast ganz den gleichen Bau zeigen, wie die der
Egel. Sie enthalten eine, häufig sehr unregelmäfsig gestaltete Vacuole
(Hesse bezeichnet sie in seiner ersten Arbeit mit dem indifferenten Namen
„Binnenkörper"), die von einem verdichteten Plasmasaum umgeben ist, nnd
entsenden eine Nervenfaser. Sehr interessant ist ihre Vertheilung im
Körper. Eine grofse Anzahl liegt in der Epidermis, sie erreichen hier nie
die Cuticula, sondern haben meist nur die halbe Höhe der Epithelzellen,
oft sind sie noch niedriger, dabei aber von bedeutend gröfserer Breite, als
ihre Nachbarzellen. Am zahlreichsten sind sie in der Oberlippe; in den
zunächst darauf folgenden Segmenten sind sie bei Weitem seltener, am
Schwanzende findet sich wieder eine stärkere Anhäufung der Zellen, die
aber nicht so bedeutend ist, wie an der Oberlippe. Bei einigen Arten
beschränken sich die Zellen nicht auf die Epidermis, sondern sie finden
sich auch im Innern des Wurmkörpers, besonders im Kopflappen. Sie
liegen hier unter anderem auch zahlreich im Schlundganglion (Gehirn-
ganglion). Im Gehirnganglion liegen die Photirzellen in besonderer Weise
vertheilt. „Wir finden diese Ganglien bei den Regenwürmern zusammen-
gesetzt aus einem äufseren zelligen Theil, der eine innere „Punktsubstanz"
umgiebt. In der äufseren Zellhtille liegen unsere Zellen, und zwar ziemlich
weit nach der Oberfläche des Ganglions zu." Sie sind auch hier nicht
gleichmäfsig vertheilt, sondern liegen im hinteren oberen Ende, in den
nach aufsen gekehrten Theilen des Doppelganglions. Von Wichtigkeit ist
auch die Thatsache, dafs die Photirzellen der Regenwürmer keine Be-
ziehung zu Pigmentansammlungen haben, ein schlagender Beweis für die
auch von Beer vertretene Anschauung, dafs das Pigment durchaus kein
Literaturbericht 119
nothwendiger Bestandtheil eines Photirorgans sei. Wir fanden ja auch
bei Hirudineen Photirzellen ohne Pigmentblendung.
Die Augen der polychäten Anneliden und einiger Mollusken, die Hesse
in seinen letzten Arbeiten behandelt, zeigen auch viele interessante Ver-
hältnisse, doch wird es am besten sein, mit einem Bericht über sie zu
warten, bis die zusammenfassende allgemeine Arbeit über die primitiven
Sehorgane vorliegt, die Hesse verspricht. Pütteb (Breslau).
JcNE £. DowKET. An Experiment on getting an After-Image flrom a Mental
Image. Psychol. Review 8 (1), 42—55. 1901.
Die Versuche wurden an einer Studentin angestellt, die von der
Theorie der Nachbilder nichts wufste und erst nach Beendigung der Ver-
suche darüber belehrt wurde. Sie hatte auf einem dargebotenen Grunde
(gewöhnlich Schwarz oder Weifs) eine farbige Fläche 20 bis 40 See. lang
vorzustellen und dann anzugeben, was für ein Nachbild ihr erschien. Die
Ergebnisse dieser Versuche sind in mehreren Tabellen ausführlich darge-
stellt. Sie scheinen zu beweisen, dafs eine lebhafte Farbenvorstellung ein
Nachbild erzeugt. Max Meyeb (Columbia, Missouri).
J. M. Gillette. Multiple After-Images. Fsychol Remeio 8 (3), 279—280. 1901.
Gillette beschreibt hier, wie man durch wiederholtes Sehen in die
Sonne eine Reihe (bis fünfzehn) gleichzeitiger, theils positiver, theils
negativer, theils durch „Mischung" erklärbarer Nachbilder hervorrufen kann.
Max Meyeb (Columbia, Missouri).
M. B. BouRDON. La distinction locale des sensations correspondantes des deox
yeox. Bull, de la 80C. scierit. et med. de Vouest 9 (1), 1—20. 1900.
Verf. untersuchte die Frage, ob es möglich sei, rechtsäugige Wahr-
nehmungen von linksäugigen zu unterscheiden. Er kommt in dieser Frage
zu einem positiven Ergebnifs, doch erscheint dem Ref. dieses der Technik
der Versuchsanordnung wegen nicht hinreichend gesichert. Den Grund
für die Möglichkeit der Unterscheidung sucht B. in Muskelempfindungen,
ohne indes diesbezügliche Versuche mitzutheilen. Auch dieser Punkt be-
dürfte noch weiterer Untersuchung. Heine (Breslau).
Raymond Dodge and T. S. Cline. The Angle Yelocity of Eye Movements.
R^ychol. liev^iew 8 (2), 145—157. 1901.
Die Bestimmung der Geschwindigkeit von Augenbewegungen ist
wichtig für das Verständnifs der psychologischen und physiologischen*
Processe beim Lesen. Dodge und Cline haben die Winkelgeschwindigkeit
ies Auges vermittelst einer neuen Methode gemessen. Sie liefsen einen
Lichtstrahl von der Cornea auf eine photographische Platte reflectiren.
Die Platte wurde senkrecht bewegt, so dafs Augenbewegungen eine Kurve
auf der Platte beschrieben. Die Durchschnittszeit von Lesebewegungen
Qach rechts war 22,9 a für "Winkel von 2° bis 7^ Die Durchschnittszeit
ron Lesebewegungen nach links war 40,7 ö für Winkel von 12® bis 14®.
Max Meter (Columbia, Missouri).
120 Literaturhericht
G. Lange. Zur Geschichte der Solmisation. Sammelbd. d, LUernat Munkgaeü,
4 (Aug.— Oct.), 535—622. 1900. Selbstanzeige.
Solmisation bedeutet die Lautirung der (gesungenen) Töne. Ihr Organ
ist die einfache Silbe bestehend aus Vocal und dazu tretendem als Lao^
stütze dienenden Consonanten. Die Solmisation stellt also die Tonsymbolik
für das Ohr dar und steht der Tonbezeichnung (durch Buchstaben, Noten,
Ziffern) gegenüber, der Tonsymbolik für das Auge.
Wie die geschichtliche Untersuchung ergiebt, sind die beiden Dar-
stellungsweisen getrennte Wege gegangen. Die Solmisation insbesondere
diente dem Sänger dazu das Tonsystem nach Maafseinheiten (Tetrachord-,
Hexachord-, Oktochord-, Heptachordlehre) zu gliedern, in denen die Ent-
fernung der Töne von einander durch die ihnen zukommenden bestimmten
Silben erkannt wurde. Die Bedeutung solcher Tonsymbolik beruht in der
Leichtigkeit, mit welcher Associationen zwischen Sprach- und Tonvor-
Stellungen zu Staude kommen; es spielen deshalb die Tonsilben beim
Sänger zur Erweckung der Tonvorstellung dieselbe Bolle, nur in noch weit
höherem Grade, wie die Muskelempfindungen beim Instrumentalisten.
Nach einer langen Zeit der Unsicherheit bot die Hexachordsolmisation
des Mittelalters, deren Erfindung, eine musikgeschichtliche That ersten
Banges, auf Guido von Atrezzo zurückgeht, dem Sänger die ersehnte feste
Handhabe zu seiner Orientirung im Tonsystem. Ihr Nutzen ftlr den
Unterricht war so grofs, dafs sie Jahrhunderte lang im ganzen Abendlande
als alleinige Bichtschnur galt, an der man nicht das Geringste verändern
durfte. Befangen von den Vorurtheilen seiner Zeit verwechselte man anf
diese Weise das in der Methode zum Ausdruck gelangte, dem damaligen
Stande der Kunst entsprechende System (Hexachordlehre) mit der Methode
selber. Dies gab Veranlassung zu einem länger als zwei Jahrhunderte
währenden Streit über die Abschaffung der alten Maafseinheit und Ein-
führung einer moderneren und bequemeren nämlich des Oktochords, später
des Heptachords durch Hinzufügung einer siebenten Silbe 8% zu den sechs
alten do, re, mi, fa^ solj la. Die endgültige Abstellung des mittelalterlichen
Solmisationsverfahrens und die in Deutschland erfolgte Abschaffung auch
der neuen Einheit c2o, re, mi^ fa, soly la, si und ihre Ersetzung durch die
Namen der Tonzeichen (c, d, e, /*, g, a, 6, h) ist also nicht das Besultat einer
der obigen widersprechenden besseren Einsicht in die psychologischen Vor-
gänge, sondern findet ihre Erklärung allein darin, dafs dos einfachen Be-
dürfnissen angepafste alte Solmisationssystem in seiner Entwickelung hinter
dem sich zur 12 stufigen Chromatik ausreifenden Tonsystem zurückgebheben
war und sich darum selbst im Licht stand. ^
Man schüttete das Kind mit dem Bade aus und wandte sich einer
ganz anderen Methode zu, der Ziffrirung der Töne, die dem Auge allein
die Erweckung der Tonvorstellung zuschiebt. Allmählich fand jedoch auch
bei den Ziffristen die Silbe wieder Würdigung, der beste Beweis für ihre
Leistungsfähigkeit. Voll und ganz kommt sie in der Tonica Solfa Methode
zur Geltung, die zur Zeit in England allgemein verbreitet ist. Besonders
interessant ist diese Methode, weil sie in ihrem Anfangsstadium den kühnen
Versuch wagte, dem natürlich reinen Stimmungsprincip gerecht zu werden.
Das zu diesem Zw^ecke den alten Silben hinzugefügte nothwendige Flick-
Literaturbericht 121
werk machte aber die Durchführung dieses für den Gesang wichtigen
Principes so verwickelt, dafs man sich schliefslich mit einem vereinfachten
System ähnlich der pythagoräischen Notirungsweise der Töne begnügte.
Was der Tonica Solfa Methode durch künstlichen Ausbau des alten Silben-
stockes nicht gelang, das ist von C. Eitz aus Eisleben durch eine völlig
neue sinnreiche Ausnützung des gesammten Vocal- und Konsonanten-
materials erreicht worden. Die 6 Fliefs- und 6 Stofslaute r, m, », h fj n —
^» *» 9i Pi ^y ^ vermitteln die Darstellung der chromatisch temperirten
Stimmung, die 5 Vocale ff, e, iy o, ti, bringen in Verbindung mit den
Consonanten die siebenstufige Diatonik zur Anschauung, indem die Halb-
tonschritte durch Liegenbleiben des Vocales ausgezeicl^et werden. Die
Beeultate des jetzt in die Wege geleiteten vom Königlich Preufsischen
Kultusministerium genehmigten Unterrichtsverfahrens nach dieser Methode
an der zweiten Bürgerschule zu Eisleben, versprechen für die wissenschaft-
liche Erörterung der Frage, welch hohen Werth Tonsilben zur begrifflichen
Aneignung des Toncomplexes besitzen, wichtiges Material zu liefern.
MiBAOE. Formation des voyelles. AnnSe psychologique 6, 485 — 492. 1900.
M. war im Stande, die verschiedenen Vocale künstlich zu erzeugen,
indem er die Mundhöhle durch einen nach ihr geformten Besonator, die
Stimmbänder durch eine Sirene ersetzte. Ein durch den Besonator allein
geführter Luftstrom ergiebt den Vocal, dessen Mundhöhlenform durch die
Resonatorform dargestellt wird, als geflüsterten. Mittels der Sirene konnten
klingende Vocale dadurch hergestellt werden, dafs durch Verstopfung von
Löchern zusammengehörige Gruppen von 3 Schwingungen (für a), zwei
Schwingungen (für e und o) etc. erzeugt wurden. Doch damit die Sirenen-
töne als Vocale deutlich werden, müssen sie durch die auf sie abgestimmten
Resonatoren geleitet werden. Bei Durchleitung durch andere Resonatoren
entstehen andere Vocale. W. Stebn (Breslau).
A. BmsT. Recherches snr la sensibiliti tactile pendant Titat de distnction.
Annee psychologique 6, 405 — 440. 19(X).
B. untersucht, ob die Tastschärfe im Zustande der Ablenkung und in
^em der Aufmerksamkeit merklich verschieden sei. Als Ablenkung diente
fortgesetzte Addition, während deren geurtheilt werden mufste, ob die Be-
^^hrung von einer oder zwei Spitzen empfunden worden sei. Die Methode
"^rar die der richtigen und falschen Fälle. Das vor Allem an einem
X4 jährigen Mädchen gefundene Ergebnifs besagt, dafs zwischen den Zu-
ständen der Aufmerksamkeit und der Zerstreuung ein verschiedenes Ver-
halten gegenüber den Tasteindrücken bestehe, dafs aber diese Verschieden-
heit nicht die Hautempfindlichkeit selber betreffe. In der Ablenkung ist
«ine starke Tendenz zu einem generalisirenden Automatismus im
Antworten vorhanden. Eine Versuchsanordnung, die an sich eine
stärkere Häufigkeit des Urtheils „zwei" provocirte, erhöhte diese Häufig-
keit noch im Zustande der Abgelenktheit (so dafs hier der paradoxe Schein
einer gesteigerten Empfindlichkeit geweckt wurde); eine andere Versuchs-
anordnung, bei der das Urtheil „eins" häufiger war, steigerte wieder in der
122 lAteraturbericht
Ablenkung die Zahl dieser Antworten. — Bei einer zweiten Versnchsperson
zeigte sich keine Verschiedenheit im aufmerksamen und abgelenkten Ve^
halten. W. Stebn (Breslau).
C. E. Seashore und M. C. Williams. An Illusion of LOAgth. Psychol. Beviev
7 (6), 592—599. 1900.
Wenn man eine gerade Linie doppelt so lang zu machen sucht wie
eine gegebene Grade, so macht man die längere Linie etwas zu kurz, d. h.
man überschätzt ihre Länge. Diese Täuschung wird in speciellen FftUeo
untersucht. 1. Iq^ Falle eines Doppelquadrats ist die Täuschung wirksam
sowohl für horizontale als für verticale Lage ; sie ist stärker als die be-
kannte Ueberschätzung verticaler Linien im Vergleich zu horizontalen.
2. Im Falle der Schenkel eines rechten Winkels, von denen der eine doppelt
so lang ist wie der andere, tritt die Täuschung ebenfalls auf. 3. In
parallelen Linien, von denen die eine doppelt so lang wie die andere ist,
wird die längere ebenfalls überschätzt; aber die Täuschung ist in diesem
Falle nicht sehr stark. 4. Keine Täuschung ist zu beobachten, wenn an
Stelle der parallelen Linien Punktdistanzen verglichen werden. Die Verff.
erklären diese Täuschungen durch Augenbewegungen und Contrast.
Letztere Bedingung scheint ihnen besonders wirksam bei Kindern.
Max Meyeb (Columbia, Missouri).
H. JuDD. A Study of Geometrical lUusions. Paycholog^ical Eevietc 6, 241—261
1899.
Der Verf. glaubt (wesentlich in Uebereinstimmung mit der 1897 vom
Referenten entwickelten Anschauung) die PoooENDORFF'sche und die
ZÖLLNEB'sche Täuschung primär auf eine Fehlschätzung linearer Distanzen,
genauer auf eine Verschiebung von Punkten in Bezug auf andere Punkte
im Gesichtsfelde, zurückführen zu müssen ; so zwar, dafs Augenbewegungen
von einem zum anderen Punkte, und damit die entsprechenden Distawen,
über- bezw. unterschätzt werden, je nachdem der weitere Inhalt des Ge-
sichtsfeldes dazu angethan ist, Bewegungstendenzen entgegengesetzter beiv.
gleicher Richtung zu erregen. Quantitative Versuche über die Vergleichuug
von Theilen einer horizontalen Linie, welche entweder durch verticale oder
durch schiefe Parallellinien begrenzt werden, sowie mehrfache Modificationen
der PoGGEinjORFF'schen Figur scheinen diese Ansicht zu bestätigen.
Heymans (Groningen).
J. R. Angell u. W. Fite. The Monaural Localization of Sound. Fsychol Ret.
8 (3), 225—246. 1901.
Angell und Fite machten Versuche über Schalllocalisation mit einem
Mann, der auf dem einen Ohre völlig taub war. Wenn der Schall von der
Seite des tauben Ohres kam, war die Localisation schlecht, ziemlich gut
dagegen, wenn von der Seite des gesunden Ohres. Die Localisation scheint
in diesem Falle durch qualitative Verschiedenheiten ermöglicht zu sein, je
nachdem der Schall von der einen oder anderen Richtung kommt. Wie
diese qualitativen Verschiedenheiten zu Stande kommen, darüber machen
Literaturbericht 123
lie Verff. nur sehr allgemein gehaltene Angaben. Sie sehen die Ursache
ier qualitativen Verschiedenheiten einfach in einer Verstärkung oder
Dämpfung von Obertönen. Diese Behauptung wird insofern durch die
experimentellen Ergebnisse gestützt, als obertonreiche Töne in der That
viel leichter als einfache Töne einohrig localisirt werden. Trotzdem scheint
dem Referenten diese Erklärung nicht ganz überzeugend. Die Sache dürfte
doch wohl nicht so einfach sein. Die Verff. suchten festzustellen, ob Tast-
empfindungen irgend welche Bolle bei der SchalUocalisation spielen. Die
Localisation war jedoch ebenso gut, wenn Tastempfindungen unmöglich
gemacht oder wenigstens sehr erschwert waren. Die Bedingungen der
Localisation dürften demnach gänzlich auf dem Gebiet des Gehörsinns zu
suchen sein. Der Artikel enthält eine Anzahl anregender Thatsachen, aber
von einer Lösung des Problems sind wir noch weit entfernt.
Max Meteb (Columbia, Missouri).
A. Btnet. Attention et Adaptation. Armee psychologique 6, 248 — 404. 1900.
Die Untersuchungen dienten einem differentiell-psychologischen Zwecke.
Ihre Absicht war, einfache Methoden zu finden, durch welche die willkür-
liche Aufmerksamkeit des Einzelnen in ihrer Leistungsfähigkeit gemessen
wrerden konnte. Versuchspersonen waren 11 Schüler einer Elementarschule
im durchschnittlichen Alter von 11 Jahren. Diese waren nach Angabe der
Lehrer so ausgesucht, dafs 5 eine Gruppe recht intelligenter und 6 eine
solche recht wenig intelligenter Schüler bildeten. An diesen Schülern
Wurden der Reihe nach die verschiedensten ,tests' angewendet: 1. Raum-
empfindlichkeit der Haut, 2. einfache und Wahlreactionen, 3. Zählung von
Punkten, die regelmäfsig in Linien oder unregelmäfsig in Haufen vertheilt
waren, 4. Wahrnehmung kleiner Aenderungen in der Geschwindigkeit von
Metronomschlägen, 5. Zählung rhythmischer Metronomschläge, 6. Copiren
von Ziffern, Sätzen und geometrischen Figuren, 7. Maximalgedächtnifs für
Buchstaben und Zahlen, 8. Wahrnehmung und Wiedergabe momentan dar-
l^ebotener Worte und Zeichnungen, 9. Anstreichen bestimmter Buchstaben
in einem Text. Alle Versuche sind mehrmals in gewissen Zwischenräumen
wiederholt worden.
Als erfolgreich galten diejenigen Versuche, bei denen deutliche Unter-
schiede zwischen den Gruppen der Intelligenten und ünintelligenten zu
constatiren waren. Hauptergebnifs : obgleich die Versuche in keiner Weise
die Intelligenz, d. h. die Auffassungsfähigkeit der Prüflinge, sondern nur
eine bestimmte Anspannung der Aufmerksamkeit zum Gegenstande hatten,
zeigten sie doch fast alle eine deutliche, oft sehr beträchtliche Differen-
zining zwischen den Intelligenten und Nicht-Intelligenten, und zwar zu
Gunsten der Ersteren. Keinen Erfolg nach dieser Richtung hatten nur
die unter 2 und 4 genannten Versuche und die Erkennung momentan dar-
gebotener Worte. Als besonders charakteristisch seien erwähnt die Copir-
ver.su che (6). Das Maafs war hier gegeben durch den Umfang und Inhalt
derjenigen Elemente, welche in einen einzelnen Copirungsact zusammen-
gefafst wurden; die Intelligenten fafsten im Durchschnitt 3,6, die Un-
intelligenten 2,8 Ziffern zusammen; jene zerlegten einen Satz vorwiegend
124 Literaturbericht.
nach seiner logischen Structnr, diese nicht. Beim Anstreichen bestimmter
Buchstaben im Text (9) ist zwar das Quantum der I/eistungen bei beiden
Gruppen ziemlich gleich, dagegen das Quäle bei den Intelligenten auÜBer-
ordentlich besser.
Das zweite Hauptresultat, welches B. nicht mit Unrecht für noch
wichtiger hält, besteht darin, dafs diese bedeutende Differenz zwischen den
beiden Gruppen bei ferneren Wiederholungen stark abnimmt, so dals die
Unintelligenten den Intelligenten an Leistungsfähigkeit dann sehr nahe
kommen. Charakteristisch für den Unterschied der beiden Gruppen ist
also nicht sowohl ein constantes Minus der Aufmerksamkeitsleistung bei
den Unintelligenten, als eine erschwerte Adaptation der Aufmerksamkei
an neue Anforderungen. W. Stern (Breslau).
E. Thorndike. Mental Fatigne. Fsychol. Review 7 (6), 547—579. 1900.
Dies ist die Fortsetzung einer Abhandlung, die bereits in dieser Zeit-
schrift (25 (4), 269) besprochen wurde. Thorndike berichtet nun über Ver-
suche an Schulkindern, die nach einer theilweise neuen Methode angestellt
wurden. Um den Einflufs der Uebung zu vermeiden, wurden dieselben
Versuche nie zw^eimal an denselben Kindern angestellt, sondern an einer
Gruppe von Kindern früh am Tage, an einer anderen Gruppe spät. Die
folgenden Aufgaben wurden gestellt: 1. Multiplication vierstelliger Zahlen.
2. Markirung von Druckfehlern. 3. Eine zehnstellige Zahl wurde 10 See,
gezeigt und dann von den Kindern aus dem Gedächtnifs niedergeschrieben.
4. Fünf sinnlose Silben, jede bestehend aus einem Vocal und einem Con-
sonanten, wurden 10 See. gezeigt und dann aus dem Gedächtnils nieder-
geschrieben. 5. Sechs ganz einfache Zeichnungen wurden 10 See. geieigt
und dann aus dem Gedächtnifs wiederholt. 6. Zehn Buchstaben wurden
gezeigt an Stelle der zehn Ziffern. 7. Die Schüler zählten in 5 See. Punkte
auf einer Karte. Das Ergebnlfs dieser Versuche war, dafs die Schüler sp&t
am Vormittage oder Nachmittags ebensogut arbeiteten als am frühen
Morgen. Alles was nöthig ist, um sie dazu zu veranlassen, ist die richtige
Anregung zur Arbeit. Thorndike behauptet nun, dafs die Anforderungen,
die hier an die Schüler gestellt wurden, äquivalent seien mit den An-
forderungen, die das gewöhnliche Schulleben an die Schüler stelle; doch
giebt er keine Gründe für diese überaus wichtige Behauptung an. Es
scheint dem Ref. zweifellos, dafs man Schüler sehr leicht — selbst am
Nachmittag — dazu anregen kann, für ein paar Minuten mit aller Energie
einer speciellen, verhältnifsmäfsig einfachen Thätigkeit, wie der hier ver-
langten, sich hinzugeben ; aber nicht so leicht, eine ganze Stunde lang
ihre Aufmerksamkeit auf die gewöhnliche Schulthätigkeit zu concentriren.
Ob man das ^inability" der Schüler nennen soll oder nicht, ist einfach eine
Frage der Definition. Thorndike leugnet eine Abnahme der „ability*
während des Schultages, weil seine Experimente beweisen, dafs die
Schüler am Nachmittag ebensogut arbeiten „können" wie am Vormittag.
Er wirft dann die Frage auf, ob stundenlang fortgesetzte Thätigkeit
einer und derselben Art nach einiger Zeit eine Abnahme erfährt Einer
der Versuche bestand darin, dafs in einem Buch von 151 Seiten jedes Wort
. Literaturbericht. 125
mgestrichen wurde, das sowohl e als t enthielt (8 Stunden Arbeit). Im
w^anzen wurde bei diesen Versuchen keine Abnahme der Leistung bemerkt
Ferner wurden Versuche gemacht, um festzustellen, ob die musculftre
Leistungsfähigkeit Abends geringer ist als Morgens. Diese sowie die zu<
letzt erwähnten Versuche wurden an erwachsenen Personen angestellt.
Man machte Morgens nach dem Aufstehen und Abends nach Beendigung
der gewöhnlichen (vorwiegend geistigen) Thätigkeit 100, 200 oder 300 Con-
tractionen an einem Federdynamometer, je eine Contraction in 1 See. Kein
Unterschied zwischen der Morgen- und Abendleistung wurde bemerkt.
Max Meyeb (Columbia, Missouri).
Sophia Bbyant. The Donble Effect of Mental Stimnli; a Contraat of Tjpea.
Mhid, N. S. 9 (35), 305—318. 1900.
Unter Mental Stimulus versteht die Verf. einen Vorgang, der sowohl
in unserem Bewufstsein eine Veränderung hervorruft, als auch in unserem
Körper. Der Procefs ist also doppelter Art. Er kann aber unter Um-
ständen einfach werden, insofern eine Veränderung zurücktritt, ausfällt.
So fällt bei der Befiexhandlung das Bewufstsein aus, bei aufmerksamem
Hören und Sehen hingegen fehlt jegliche Bewegung. Zwischen diesen
beiden extremen Formen giebt es natürlich Mittelstufen. Viele Beobach-
tungen machen es wahrscheinlich, dafs die Körperbewegungen umsomehr
zurücktreten, je breiteren Raum der zugehörige psychische Vorgang im
Bewufstsein einnimmt und umgekehrt. Dem entspricht, dafs Menschen,
welche tief empfinden, lebhaft vorstellen, langsam sind im Handeln und
amgekehrt. Selbst im Bewufstseinsleben allein zeigt sich dieser Gegen-
satz. Lebhafter Vorstellende, tiefer Fühlende haben einen langsameren
Wechsel der Vorstellungen, ihre Phantasie ist ärmer, im Vergleich mit den
weniger tief Empfindenden, weniger gründlich, aber rascher Vorstellenden
und Denkenden. Ersteren Typus nennt Verf. ästhetisch, den anderen
kinetisch, ein Gegensatz, der sich auch beim rein mechanischen Erinnern
wiederfinden läfst. Offneb (München).
G. Cordes. Experimentelle Untersncliiingeii ttber Associationen, Philos. Studien
17 (1), 30—77. 1901.
Der Verf. stellt sich die Aufgabe, zu bestimmen, „ob psychische
Verläufe, die als mittelbare Associationen zu bezeichnen
wären, experimentell nachgewiesen werden können, und
sodann — vorausgesetzt, dafs jeneFrage eine bejahende Ant-
wort fände und ein genügend grofses Material gesammelt
würde — die Abhängigkeitsbeziehungen dieser mittelbaren
Associationen festzustellen.^ Er theilt seine Arbeit nach einer
kurzen einleitenden Vorbemerkung in z w e i Abschnitte, von denen der erste
die einfache Association und der zweite die mittelbare Asso-
ciation behandelt. Hieran schliefsen sich dann einige Folgerungen für
die Theorie der mittelbaren Associationen.
In der Einleitung legt der Verf. kurz die angewandte Versuchstechnik
dar. Diese war im Ganzen die folgende: Die Versuchsperson befand sich
126 Literaturbericht
in einem schwarzen Kasten (Scbifture, Phü, Stud, 7, 53) und blickte durch
einen in einer Wand desselben befestigten vierkantigen Taboa anf die in
einer gewissen Entfernung auf einem schwarzverbüllten Tisch befindliche
und hier gegen einen schwarzen Pappständer gelehnte Beiiobject Das
vordere Ende des Tubus war während der Ruhepausen durch einen Vor-
hang verdeckt. Die Expositionszeit des Reizwortes, bezw. -bildes betrag
3 See. Die Versucheperson hatte die Karte während dieser Zeit anio-
blicken und darauf über ihre Erlebnisse zu berichten. „Für den Experimen-
tator war nicht die Absicht leitend» für gewisse Theorien experimentelle
Verificirung zu finden, sondern einfach die, die psychischen Geschehens-
folgen, die man Associationen nennt, kennen zu lernen; die planmä(isige
Anordnung der Reize verfolgte den Zweck, günstige Verhältnisse fflr dis
Zustandekommen von mittelbaren Associationen herzustellen." Verf. £Üirt
fort: ,,Dars thatsächlich solche Associationsverläufe , die man mittelb&re
Associationen nennen kann, vorkommen, schien mir zu Beginn der Ve^
suche gewifs, wurde mir in der ersten Hälfte des zweiten Semesters zweifel-
haft und ist für mich jetzt in das Gebiet der beobachteten Thatsachen
gerückt."
I. Die einfache Association. Der Verf. führt zunächst aus, d&b
sich in den älteren Associationsversuchen zwei irrige Vorstellungen geltend
machen. „Die eine ist die, dafs man unter Association allgemein nur die
Verknüpfung von zwei oder mehr »Vorstellungen« verstand; den Begrif
Vorstellung gebraucht als übergeordneten Begriff zu Wahmehmungs-, Er
innerungs- und Phantasievorstellung^*, wobei der Begriff Vorstellung wohl
im Sinne complexer Verläufe verwandt war, doch aber „diejenigen Theile
des an einem von aufsen gegebenen Eindruck sich knüpfenden psychischen
Geschehens, die sich der Selbstbeobachtung der Vp.* zwar als für sich
wahrnehmbare, von anderen Theilen dieses Geschehens unterscheidbare
Theile gaben, ihrerseits aber nicht Vorstellungscharacter tragen, nur als
Begleitserscheinung gelegentlich erwähnt, wenn nicht ganz vernachlässigt
oder gar als nicht zur Klarheit des Bewufstseins gelangende Vorstellongen
verkannt wurden." Als zweiten Irrtum führt der Verf. den auf, „daiJs man
ohne Weiteres als das Anfangsereignifs eines durch ein Reizwort angeregten
Associationsverlaufes eben dieses Reizwort nahm."
Der Verf. bespricht dann die einzelnen Glieder der Versuchs-
associationen. Das erste ist ihm dasjeniges psychische Phänomen, das
unmittelbar durch den äufseren Reiz angeregt wird. „Um als erstes Glied
einer beobachteten Association tauglich zu sein, mufs dies Phänomen der
nachfolgenden Erinnerung der Vp. zugängig sein und ihr als ein unmittelbar
nach Eintritt des Reizes gegebenes, von den zeitlich nachfolgenden Be-
wufstseinsvorgängen wohl unterscheidbares Geschehnifs erscheinen." Dieses
erste Glied entsprach in der Mehrzahl der Fälle dem Vorstellungsinhalte,
als dessen Symbol das Reizwort dient. „Die meisten Fälle entsprechen also
thatsächlich der fälschlich oft als allgemein gültig gemachten Annahme,
dafs eine Vorstellung des Sinnes des Reizwortes erstes Glied der in Frage
Hier wie immer Versuchsperson.
LiteraturberichL 127
stehenden Verläufe sei." Meistens, aber nicht immer, fielen Apperception
des Schriftbildes und Innewerden des Wortsinnes in einen Act, in dem
bald die Auffassung des Wortsinns, bald die Auffassung des Wortes im
Vordergrunde stand, bald beides in innigster Verschlingung, in völligem
In- und Miteinander zum Bewufstsein kam. Es kamen aber auch Fälle
vor, in denen der Sinn des Wortes merklich später erfafst wurde als das
Wortbild und die Vorstellung des Wortes (Association des Wortsinnes).
Noch seltener waren Fälle, in denen der Sinn des Wortes erfafst wurde,
bevor das Wort fertig gelesen war. Der Verf. fügt dem Vorstehenden die
Ausführungen hinzu, dafs schon hier „angesichts eines Wortes innerhalb
des durch den Wortsinn gegebenen Rahmens thatsächlich sehr Ver-
schiedenes vorgestellt werden kann." Die Auffassung des Sinnes ist häufig
verschieden, je nachdem das Reizwort ein Abstractum oder ein Verbum,
oder ob es ein concretes Object repräsentirt. In diesen Fällen handelt es
sich nach C. um Assimilationen, „die, mag man sie theoretisch auch dem
Begriff »Associationen« unterordnen, hier doch nicht als solche gelten
können." „Es ist nicht so, dafs bei diesen Versuchen etwa erst das Wort-
bild irein« appercipirt wäre und daran sich dann reproductive Elemente
angeschlossen hätten, sondern so, dafs im Appercipiren reproductive Elemente
mitwirken zum Zustandekommen einer subjectiv mitbedingten Vorstellung."
Erinnert wird hier an die bei tachistoscopischen Versuchen gewonnenen
Erfahrungen, nach welchen häufig mehr gesehen wird, als exponirt wurde.
«Aehnlicherweise", fährt der Verf. fort, „wird bei Associationsversuchen
häufig beim Anblick eines Wortes unmittelbar eine Vorstellung ausgelöst,
die durchaus subjectiv gefärbt ist, d. h. Elemente enthält, die sich nicht
aus dem vom Experimentator gegebenen Reiz erklären lassen, sondern nur
aus der Eigenart des Gesammtcomplexes der Vorstellungsdisposition der Vp."
In anderen Fällen kam es zu einer Auffassung des Wortsinnes über-
haupt nicht (sinnlose Silben) oder erst nach Eintritt eines anderen Phänomens.
Im letzten Fall kann entweder die Aufmerksamkeit am Schriftbild haften
bleiben ( — verwandt damit sind Fälle, „in denen ein erster Eindruck des
tiesammtbildes des weder in seiner Totalität noch in einzelnen Teilen klar
uppercipirten Reizwortes eine Vorstellung heraufführte, die von der Vp.
nicht als Wortsinn angenommen wurde", kein Verlesen also, sondern eine
Unterbrechung des Apperceptionsprocesses — ), oder die Wortvorstellung
wird durch den Leseprocefs herbeigeführt. Aeufserst schwer war es oft
auch, wie C. weiter zeigt, bei der Exposition sinnloser Silben, zwischen
Apperception und nachfolgender Association eine scharfe Grenze zu ziehen.
-Aber in vielen Fällen war die Beobachtung, dafs z. B. das sinnlose Wort
sofort zu einem sinnvollen ergänzt sei und dabei selbst vollkommen im
Hintergründe des Bewufstseins gestanden habe, so weit ich sehe, unan-
fechtbar."
Complicirter gestalteten sich die Versuche, wenn das Reizwort statt
anf weifsem auf farbigem Grunde gezeigt, oder wenn gleichzeitig acustische
oder andere Sinnesreize gegeben wurden. „Zu diesen Fällen . . . wird man
sich sehr oft mit negativen Feststellungen begnügen müssen, mit der Con-
statirung, dafs der »Nebenreiz« nicht zum Bewufstsein gekommen sei oder
cioch die Auffassung des Reizwortes nicht gestört habe u. s. w. — Für die
128 Literaturbericht
Fälle, in denen Beizwort und Nebenreiz klar zum BewnÜBtsein kam, ist n
bemerken, dafs solches gewöhnlich succesaiv, manchmal auch altemiTCod
geschah, in anderen Fällen aber nach Angabe der Vp*en simultan. In wttt-
aus den meisten Fällen stand das zu appercipirende Reizwort darduraB im
Vordergrunde des Bewufstseins."
War das Reizwort in farbiger Schrift geschrieben, so kam es hinfig
zur Auslösung von Gefühlen oder es wurde das Reizwort als Aufforderung
oder Befehl aufgenommen. Ein mit rother Tinte geschriebenes Wort er-
weckte z. B. das Gefühl des „Unheimlichen", des „hart Unangenehmen.'
Diese Momente wirkten dann auch bei anderen Associationsverläufra mit
Der Verf. bespricht dann das zweite Glied in Versuchs-
associationen. „So wenig wie das auf die Reizung eintretende
Phänomen . . . jedenfalls eine Vorstellung oder gar eine durch das Reis»
wort eindeutig bestimmte Vorstellung ist, ist das associirte Phänomen . . .
stets . eine durch ein Wort .... eindeutig bestimmte Vorstellung — ge-
schweige denn dieses Wort selbst." Der Verf. zeigt, dafs allerdings Wort-
associationen (namentlich sogenannte Klangassociationen) vorkommen, diis
diese aber durch eine planmäfsige Versuchsanordnung zurückgedringk
werden können. Häufiger konnten Vorstellungen, im günstigsten Falk
„bildartige, scharf umrissene Phantasie- und Erinnerungsvorstellnngen*
constatirt werden, denen sofort eine mehr oder weniger lebhafte O^flhli'
.betonung eigen war oder durch die Vorstellung erweckt wurde, in seltenei
Fällen auch ihr voraufging. Hierbei kann das die associirte VorsteDong
(immer im Sinne spontaner Vorgänge verstanden) characterisirende Wort
nach dieser oder aber sie begleitend und mit ihr einen Gomplex bildend
zum Bewufstsein kommen. Nicht selten wurden auch sogen. Doppä-
associationen beobachtet u. s. w. Aber allen diesen Aecociationen stellt
C. die grofse Menge derjenigen gegenüber, in denen das associirte Phänomen
„ganz oder in bedeutsamen Theilen unklar und undeutlich blieb oder aber
durch eine Fülle verschiedener Vorgänge gebildet wurde, der gegendber
die Selbstbeobachtung der Vp. versagte." — Interessant sind die Awh
führungen des Verf.'s über die sogenannten »Urtheilsassociationen«. Er
zeigt, dafs er diese nicht gefunden habe, in zwei Fällen, in denen er de
constatiren zu dürfen glaubte, reichte sein Material zu endgültiger Be-
stimmung nicht aus. C. schreibt selbst: „Die Mehrzahl der Fälle, in denen
ich erst Urtheilsassociationen glaubte erkennen zu dürfen, hielt bei ein-
gehender Prüfung nicht stand. Es handelte sich dabei erstens um FiUe.
in denen ein dem ^-Phänomen" (das auf die Reizung eintretende Phänomen)
„angehörender psychischer Theilvorgang (ästhetisches Gefühl, Bekannt-
heitsqualität) die Aufmerksamkeit erregte und zu einem Urtheil über den
Reiz führte, das als apperceptiver Vorgang anzusprechen ist. Zweitens waren
es Fälle, in denen sich einem Reizoilde als -B- Phänomen" (associirtes
Phänomen) „die Vorstellung oder der Name des entsprechenden Objecto
associirte und die Vp. dann apperceptiverweise die Identification volliog.
Endlich gehört hierher noch die gelegentlich beobachtete Association der
Schlufsvorstellung eines eingeübten apperceptiven Vorgangs, der selbst
nicht reproducirt wurde. In allen diesen Fällen wird man von Urtheilfl-
associationen zu sprechen nicht berechtigt sein." Auf Grund der ge-
Literaturbericht, 129
Tonnenen Erfahrungen warnt der Verf. sodann einmal vor einer Eintheilung
der Associationen, die in irgend einer Weise zu dem Verhältnifs in Be-
riehung tritt, in dem das Reactionswort zum Reizwort steht und sodann
vor Messungen von Associationszeiten. Er will nicht leugnen, dafs solche
Messungen bei seinen Wort- und Vorstellungsassociationen, unter gewissen
Gantelen vorgenommen, Werth haben können, bestreitet aber, dafs für alle
ftbrigen Associationen exacte Zeitmessungen möglich sind.
Das allgemeine Bild, das C. von psychischer Association gewann, be-
schreibt er selbst, wie folgt: „Ein einzelnes Element des ^-Phänomens''
(s. 0.) „(Empfindung, Gefühl) oder ein Complex von Elementen .... tritt
im Apperceptionsact besonders hervor Während nun nach ge-
schehener Apperception die übrigen Bestandtheile des A-Phänomens schnell
ablaufen, verharrt der betonte Bestandtheil länger; reproductive Elemente
assimiliren sich ihm und in ihrem Zusammengehen kommt es zu einem
mehr oder weniger klaren und deutlichen -B-Phänomenen" (s. o.) „das nach-
folgender Erinnerung zugängig ist. Wie also das A-Phänomen durch Zu-
tritt reproductiver Elemente zu den durch den Reiz angeregten Empfindungs-
elementen zu Stande kommt, so entsteht das ^Phänomen dadurch, dafs
sich einem perseverirenden Bestandtheile des ^-Phänomens neue reproduc-
tive Elemente anschliefsen.'' Ebenso können sich im jB-Phänomen mehrere
Kiemente oder Theilgebilde des il-Phänomens finden, wodurch der Vorgang
complicirter wird. In vielen Fällen werden die im ^-Phänomen sich wieder-
findenden Elemente des ^-Phänomens von der Vp. als »Vermittelung« der
Association empfunden. Ueber die Gesetzmäfsigkeit dieses Verlaufs äuTsert
rieh der Verf. dahin, dafs die Vermuthung, jene reproductiven Elemente,
iie zur Assimilation mit den perseverirenden wach wurden, seien Vorzugs-
(reise solche, die sich mit den letzteren häufig im Bewufstsein fanden, in
seinen Versuchen Bestätigung fand. C. fügt aber hinzu, dafs diese Er-
klärung nicht für jene oft ziemlich „phantastischen und doch scharf um-
rissenen Phantasievorstellungen'^ ausreiche, die bei manchen Personen
bäufig seien, er enthält sich jedoch eines weiteren Urtheils über diese
NTorgänge. Der Abschnitt schliefst mit der nochmaligen Betonung, dafs es
sich in der vorliegenden Arbeit nur um psychische Vermittelung der
Associationen handle, es wird anerkannt, dafs auch physische Factoren,
wie die momentane Lage und die durch üebung erworbenen Dispositionen
des Articulationsmechanismus, die Association mit bestimmen können.
II. Die mittelbareAssociation. Der Verf. bespricht die Versuche
von ScBiPTURE, Ziehen, Aschaefenbubo, Smith, Howe, Münstebberg. Das
Wort „unbewufst" wird im Sinne von „unbemerkt" genommen. Bei An-
stellung von Versuchen nach ScBiPTURE'schem Muster konnte C. keine
einzige mittelbare Association beobachten. Ebenso verhält sich
ier Verf. zum gröfsten Theil ablehnend gegenüber den von Ziehen ge-
sogenen Folgerungen. Eine ausführlichere Besprechung ist den von
V SCHAFFENBURG Veröffentlichten Versuchen gewidmet. Ablehnend steht C.
»uch den Versuchen Aschaffenburg's gegenüber, in denen ein durch Klang-
«sociation angeregtes Wort als Mittelglied angenommen wird. Der Verf.
•chreibt: „Ich sträube mich gegen die AscHAFFBNBURo'sche Deutung dieser
Zeitschrift für Psychologie 27. ^
130 Jjiteratwrherkht,
Fälle nicht deswegen, weil sie mir gegen irgend eine Theorie YeratieÜMii,
sondern nur deswegen, weil ich in meinen Versuchen keinen einiigen der-
artigen Fall beobachtete, wohl aber nicht ganz selten Fftlle, in denen die
ersten Bestandtheile des Reizwortes vor Apperception de« Ganzen für sich
psychische Phänomene zu Wege brachten. Ich glaube um so mehr be-
rechtigt zu sein, diese Fälle Aschaffenbubo's zu beanstanden, als die £ik^
mit der die Reaction zu erfolgen hatte, die Selbstbeobachtung der Vp.
überaus erschweren mufste." Ueber diejenigen Versuche AacHAFFXNBi7B6*8»
in denen das Reactionswort dasselbe ist wie in einer früheren Association,
deren Reizwort dem jetzigen verwandt ist, sagt der Verf. : „Es ist zo be-
dauern, dafs AscHAFFSNBUBG nicht mittheilt, ob die Mittelglieder überhzapt
nicht im Bewufstsein waren; auch bei Aufnahme dieser Fälle mag manch-
mal der gleiche Beobachtungsfehler mitgespielt haben Aber da fg
Fälle characterisirter Art überhaupt vorkommen, ist un-
zweifelhaft." Ueber Aschaffenbubo's «paraphasische Associa-
tionen« äufsert sich C. dahin, dafs diese nicht zu den mittelbaren
Associationen zu zählen, sondern meistens auf Rechnung des Articulatiom-
mechanismus zu setzen seien. Bei der Beschreibui;ig seiner eigenen Xer-
suche zwecks Erlangung mittelbarer Associationen betont C, dala aar
„völlig freie Associationen" von ihm gewünscht wurden. Er moliti
daher um seinen Zweck zu erreichen, möglichst günstige Versuchsbe«
dingungen einführen und benutzte zunächst „Doppelreihen von Worten,
deren erste Hälfte sämmtlich einem Gebiete angehörten, während die
zweite Hälfte aus jenem Gebiete fremden Worten oder sinnlosen Silben,
Zahlen und dergl. bestand." Bei mannigfacher Variirung dieser Versuche
ergab sich ein völlig negatives Resultat, es war mit Sicherheit keine
einzige mittelbare Association zu constatiren. Bei weiteren Versuchen mit
starkem Nebenreiz ohne Doppelreihen ergaben sich, wie C. schreibt, einige,
obwohl im Verhältnifs zu der hohen Gesammtzahl der Versuche, nur
wenige programmgemäfse Fälle, aus denen der Verf. aber doch nicht das
Vorkommen mittelbarer Associationen zu behaupten wagt. Er fügt
hinzu: „Da nun aber das Vorkommen mittelbarer Associationen ander
weitig sicher gestellt wurde, bin ich nicht geneigt, die Vorsicht so weit lu
treiben, die wenigen bisher gehörigen Fälle, die der schärfsten uns mög-
lichen Kritik stand hielten, nachträglich wieder in Zweifel zu ziehen.
Schliefslich wurden noch andere Methoden versucht. Hierüber schreibt C:
„Die Versuche .... ergaben, dafs neben den Fällen, wo auf das Reizwort
einfach das zugehörige sinnvolle Wort .... »associirt« wurde, neben den
anderen Fällen, in denen das Reizwort nur wiedererkannt wurde, ohne n
einer Association zu führen, auch solche vorkamen, in denen das zugehörige
Wort, ohne selbst für sich zum Bewufstsein zu kommen, den Gang des
associativen Verlaufs bestimmt hatte." Die Anzahl dieser Fälle war frei-
lich gering, doch aber glaubt C. aus den gewonnenen Erfahrungen die
«mittelbare Association« im Allgemeinen psychologisch characterisiren in
können. Er schliefst hiervon diejenigen dreigliedrigen Associationen aus,
„in denen das mittlere Glied nur flüchtig, undeutlich und unklar, aber doch
für sich bewufst wird." Diese sind den dreigliedrigen directen Associationen
zuzuzählen. Als mittelbare Associationen bezeichnet C. vielmehr „nur als
Literaturherieht. 131
sweigliedrigbewafst gewordene Associationen, Associationen, in denen
sich dem ^-Phftnomen sofort ein J^fh&nomen anschliefst, das dem Er-
lebenden deshalb anffftllig ist, weil es nicht mit dem ^-Phänomen in einem
Zosammenhange steht, wie er sonst bei Associationen beobachtet zu werden
pflegt.** Nach C. „ist die mittelbare Association an verstehen als ein
Specialfall der directen zweigliedrigen Associationen, in denen das J^Phftnomen
ein Vorstellnngen-Complex (Begriffssphäre) isf Der Verf. sucht dann za
zeigen, dafs die Bildung des Terminus «mittelbare Association« auf einem
MifsverständniXis beruht. „»Vermittelt« wird die in Frage stehende Association
durch das aus dem ^.-Phänomen perseverirende Moment; auf diese Ver-
mittelung kann das Wort «mittelbar« nicht gehen; denn gleiche Ver-
mittelung ist auch bei jeder directen Association der Fall. Der Unterschied
zwischen den beiden Associationsformen liegt nicht in der Verknüpfung
des A' mit dem ^Phftnomen, sondern darin, welcher Bestandtheil des
^Gomplexes klar und deutlich wird. Sind in den meisten Fällen die
Elemente, die sich innerhalb des jB-Complexes zu einer deutlichen Vor-
stellung zusammenschlieÜBen, unmittelbar auf den perseverirenden , den
i^-Complex anregenden Bestandtheil des il-Phänomens bezogen, so haben
in unserem Specialfall die zu einer Vorstellung zusammenschlielsenden
reproductiven Elemente ihren Assimilationsmittelpunkt aufserhalb jenes
perseverirenden Bestandtheils. Es ist also im ersteren Falle die Verwandt-
schaft der hervortretenden Vorstellung mit dem A-Phänomen thatsächlich
eine nähere, unmittelbarere, als im letzteren. Und deshalb, meine ich, ist der
nun einmal eingeführte Ausdruck «mittelbare« Association als Gegensatz
von «unmittelbar« oder «direct« erträglich."*
Die Arbeit wurde in Wundt's Laboratorium während eines Zeitraums
von 3 Semestern ausgeführt. Sie ist in hohem Grade interessant. Beich
an mitgetheiltem Versuchsmaterial wie an neuen Gesichtspunkten, wird
sie zu mannigfachen weiteren Arbeiten auf diesem noch viel umstrittenen
Gebiete Anlaüs geben. Der Verf. bedauert, dafs er seine Arbeit aus Mangel
an Zeit unterbrechen mufste, hofft aber mit dem vorliegenden anderen
Arbeitern unnöthige Mühe erspart zu haben. Wie man den Folgerungen des
Verf. 's auch gegenüberstehen mag, so wird man ihm für die sorgfältige
Durchführung der Untersuchung und die Anregungen, die sie bietet, immer
zu grofsem Danke verpflichtet bleiben. — Kiesow (Turin).
M. W. Calkins. Ab Attempted Experiment in PsychologicU Aesthetics. PaychoL
BevUw 7 (6), 580—591. 1900.
Mifs CALxnrs suchte festzustellen, wie und warum Personen von ver-
schiedenem Lebensalter gegenüber verschiedenen bildlichen Darstellungen
sich verschieden verhalten. Zwei Bilder wurden gezeigt, eine farbige
Lithographie, darstellend ein junges Mädchen, und eine farblose Photo-
graphie von Chantron's Souvenir. Das Bild, das der Versuchsperson besser
gefiel, wurde dann noch einmal mit einem dritten Bilde verglichen, einer
Photographie eines violinspielenden Engels. Die Versuchspersonen wurden
o Classen entnommen, 1. dem Kindergarten, 2. dem vierten Schuljahr,
3. dem neunten Schuljahr, 4. dem ersten Collegejahr, 5. dem vierten College-
132 Literaturbericht
jähr. Die Collegestudenten waren weiblichen Greschlechte, die Schüler
Knaben sowohl wie Mädchen. Nach vollzogener Wahl wurden alle drei
Bilder zusammen gezeigt und Gründe für die Wahl verlangt. Ans den
KindergartenzOglingen war natürlich in dieser Hinsicht nicht viel heraas-
zubringen; etwas mehr aus den übrigen Versuchspersonen. Die kleinen
Kinder scheinen weniger dem ganzen Bilde als einzelnen Theilen, die
ihnen bekannte Gegenstände darstellen, ihre Aufmerksamkeit zu schenken
und demgemäfs ihre Wahl zu vollziehen. Ein Kind sagt z. B., der Engel
sei am schönsten, denn er habe ,, Locken wie ich". Aufserdem macht die
Farbe einen starken Eindruck auf diese kleinsten Studenten. Die älteren
Kinder betonen den Ausdruck einer Gemüthsbewegung, oder geben die
Natürlichkeit des Bildes als Grund ihrer Wahl an. Für die Collegestndenten
ist die Zeichnung, Pose und Bedeutung der Figuren von gröjCstem Einflois.
Max Meyer (Columbia, Missouri).
C. H. Shebrinoton. Experimentätion on Emotion. Nature (2. Aug.), 32&-330.
1900.
Verf. bringt gegen die bekannte, von Lange, James und Sebgi Ter-
tretene Theorie, dafs die Gefühle nicht die Ursache der sog. Ausdmcks-
bewegungen seien, sondern umgekehrt die Wirkung derselben, das Be-
wufstwerden der durch Wahrnehmungen oder Vorstellungen ausgelosten
Vorgänge in den Muskeln, der Haut und den Eingeweiden, Experimente
vor, die er an einem Hunde gemacht hat. Er hatte den Hund anästhetinrt
und glaubte damit, für diesen eine Wahrnehmung jener inneren VorgSnge
ausgeschlossen zu haben. Trotzdem beobachtete er sämmtliche Bewegungen,
welche unter normalen Umständen auf bestimmte Gefühlserregungen ge-
deutet werden. Und so scheint ihm die in Frage stehende Theorie durch
das Experiment widerlegt zu sein. Offneb (München).
Ch. S. Myebs. Ezperimentation on Emotion. Mind, N. s. 10 (37), 114-115.
1901.
Diesen Ausführungen hält Mtebs entgegen, dafs alle diese Ausdmcb-
bewegungen auch von einem Hunde gemacht werden können, der die von
uns aus ihnen erschlossenen Gemüthsregungen, Grefühle nicht hat. Es
gehe zu weit anzunehmen, der Hund müsse in jedem Falle, wo wir diese
Bewegungen an ihm sehen, auch die entsprechenden Gefühle haben. Mig
der Hund anästhetisch sein oder nicht, mag seine Gehirnrinde vorhanden
sein oder nicht, geeignete Reize bewirken jederzeit ein Schweifwedeln,
Zurücklegen der Ohren, eine Erweiterung der Pupillen und ein zwingend«
Beweis für — oder gegen, fügen wir hinzu — jenen begleitenden psychischen
Factor, das Gefühl, ist in keinem Fall gegeben. So findet Myers die Lakgi-
jAME'sche Theorie durch Sherbington's Experiment keineswegs geföhrdet
Offneb (München).
J. Labgüiers des Bakcels. Las mitbodos de restbitfqne ezp irlmentale. Ftniei
et COalenrs. Annie psychologique 6, 144—190. 1900.
Die Arbeit ist ein ausführliches kritisches Referat über die experi-
mentellen Untersuchungen zur Aesthetik der Formen und Farben (Fechksb,
WiTMBB^ CoHN, Majob, Piebce). Sie kann als orientirende Uebersicht gnte
Dienste leisten. W. Stebn (Breslau).
JjiteratwrberichL 133
Santbnoise. Religion et folie. Bev. philos, 50 (8), 142—164. 1900.
Die Beziehungen zwischen Keligion und Wahnsinn sind bisher nur
ungenügend studiert worden, sofern man dabei nur den religiösen Wahn
ins Auge gefafst hat Es existirt aber nach S. kein wesentlicher Unter-
schied zwischen normalem und pathologischem religiösem Gefühl, sondern
nur ein Gradunterschied. Und es sind mehrere psychische Phänomene,
welche man bei der normalen Religion trifft, identisch mit einigen von
denjenigen, welchen man bei den Krankheiten der Sinne begegnet.
Man kann die Wahnideen nach Ball und Ritti in 8 Classen eintheilen :
Ideen von Genugthuung, Gröfse, Reichthum, Ideen von Erniedrigung, Yer-
zweifelung, Verfall, Verfolgungsideen, hypochondrische, religiöse, erotische,
Ideen von der körperlichen Umwandlung des eigenen Ich oder der Um-
gebung, Wahnideen mit Bewufistsein z. B. Agoraphobie, Topophobie,
Claustrophobie, Zweifelsucht, Berührungsdelirium. Der religiöse Glaube —
speciell der katholischen Religion — enthält von diesen Ideen die der
Gröfse, Demuth, Verfolgung. Hierzu kommt die Idee des Schutzes. Verf.
bespricht dies nun im Einzelnen. Die Idee der Gröfse findet man bei den
Priestern. Im Gegensatz hierzu wird der Masse der Gläubigen Demuth als
Tugend gepredigt : Das Leben ist voller Thränen und Elend, nichts als eine
Vorbereitung auf den Tod. Der Christ wird dadurch in eine Art religiöser
Melancholie versetzt. Er glaubt femer, fortwährend vor dem Teufel auf
seiner Hut sein zu müssen: also die Idee der Verfolgung. Alle diese Er-
scheinungen können von Hallucinationen begleitet sein : Erscheinen Gottes,
der heiligen Jungfrau, der Engel, des Teufels.
Dies waren die positiven Phänomene, welche die Religion hervor-
bringt. Die negativen gehören theils dem Sensoriellen, theils dem Affectiven
an. Die Religion polarisirt gleichsam das seelische Leben. Denn das
religiöse Gefühl in seiner höchsten Entwickelung, der Zustand der religiösen
Exstase besteht darin, dafs die Gläubigen mit offenen Augen nichts sehen,
nichts hören, nichts fühlen. Sie werden gefühllos, sie sollen ja Jesu zu Liebe
auf Vater, Mutter, Gattin, Kinder, Brüder und Schwestern verzichten.
Alles dies hat nun einen krankhaften Charakter als Folge. Der Christ soll
auf die Freuden der Erde verzichten, er quält sich mit Fasten,
Kasteiungen u. s. w. und schädigt dadurch seinen Organismus.
Immerhin aber ist die Religion weder eine nothwendige, noch hin-
reichende Ursache des Wahnsinns. Sie schafft nicht die Ideen der Gröfse
oder der Verfolgung, sondern sie giebt ihnen nur eine Form. Andererseits
mufs man zu Gunsten der Religion anerkennen, dafs die Religion, wie
Taibe ausführt, einen heilsamen moralischen Einflufs ausgeübt hat, und
dafs sie den Menschen zu einem hohen Grad von Reinheit führt. In den
Zeiten der Irreligiosität sank auch der Mensch von seiner sittlichen Höhe.
Religion kann durch nichts ersetzt werden. —
Die Ausführungen des Verf.'s haben Ref. nicht davon überzeugen
können, dafs die normale Religion Elemente des Irrseins enthält. Denn
was die gefährlichste der drei genannten Ideen anbetrifft, die Idee, dafs
der Christ allezeit vor den Verführungen des Satans auf seiner Hut sein
mufs, so wird ein Mensch mit gesundem Gehirn diese Idee niemals bis
zu einer Verfolgungsidee ausarten lassen. Dasselbe gilt noch viel raabct
134 LiteraturberichU
von den beiden anderen Ideen. Allerdings ist nicht zu leugnen, dafs die
katholische Religion mit ihren übertriebenen Bet- und BuDsttbungen all-
mählich im Gläubigen einen pathologischen Zustand erzeugen kann, nnter
dessen Einflufs dann die religiösen Ideen zu pathologischen werden. Im
Uebrigen kann sehr leicht ein zur Geisteskrankheit neigender Mensch die
religiöse Idee zu seiner Wahnidee erheben, aber ebensogut auch jede
andere Idee, so dafs man von einer speciellen Disposition der reli^
Beanlagten zur Geisteskrankheit nicht gut reden kann. Die ähnlichen Be-
ziehungen zwischen Religion und Wahnsinn liegen meiner Ansicht nzch
vielmehr in der allgemeinen Richtung auf das üeberschwängliche, die sich
bekanntlich bei gewissen Formen des Wahnsinns findet. Der Volksmiud
bezeichnet ja auch wohl das Verrückt werden als das „Steigen in die vierte
Dimension." — Der letzte Theil der Arbeit bildet einen merkwürdigen
Contrast zu dem Geiste, der die vorausgehenden beseelt, obwohl seine
Richtigkeit anerkannt werden mufs. Gisssleb (Erfurt).
Gh. ¥tB&, L'instiiiet soxnel, ivolation et dissolntion. Paris, Alcan, 1899.
340 S.
Instinct ist nach FtRt ein complicirter Reflex, durch welchen ange-
borene Fähigkeiten auf äufseren Reiz ausgelöst werden. Der geschlecht-
liche, der Rassenerhaltung gewidmete Instinct entwickelt sich beim
Menschen später als der Selbsterhaltungstrieb. FtsA unterscheidet dtrin
zwei Formen, 1. Instincte, die sich auf sexuelle Anlockung und Verfolgong
beziehen und 2. solche, die eine dauernde Vereinigung und den Schutz der
Nachkommenschvft erstreben. Alle peripheren Reizungen, alle Vorstellungen,
Gemüthsbewegungen, welche auf den Organismus einwirken, beeinflussen
auch das Geschlechtsleben. Bei civilisirten Wesen sind Erregung der
Sinne, wie moralische und intellectuelle Eigenschaften für die (reschlechtB-
wahl von grofser Bedeutung. Nach der Ansicht des Verf.'s erwächst m
der Vereinigung zweier mittelmäfsiger Menschen oft eine werthvollere
Kachkommenschaft als aus der unglücklichen Ehe zwischen hochbegabten
Individuen. Jedes Mal wenn eine Gattung aufhört, durch ihre Fruchtbar
keit zu kämpfen, bringt sie besser entwickelte Nachkömmlinge hervor and
läfst ihnen mehr Sorgfalt angedeihen. Die Vervollkommnung der Er
Ziehung vermindert die Nothwendigkeit der Anzahl. Das ist eine Thateache,
die man bei Fischen, Reptilien und allen nieder organisirten Thieren wahr-
nehmen kann. Die Vögel, deren Nest am sorgfältigsten gemacht ist, legen
die wenigsten Eier. Ebenso bei den Menschen. Die Töchter der wilden
Rassen verheirathen sich sehr früh. In dem Maafse wie die Givilisation
vorrückt, wird das Heirathsalter hinausgeschoben, obgleich der Greschlechts-
trieb schon früher erwacht. Die Anzahl der Nachkommen vermindert »ich,
wobei die Erziehung des einzelnen wächst.
Interessant ist die allerdings nicht einwurfsfreie atavistische Auf-
fassung der Entartung des Geschlechtstriebes. Nach FtRt werden Tendern
zu regelloser Polygamie, zu geschlechtlicher Zügellosigkeit und Neigung
zur Prostitution bei der senilen und pathologischen Regression geistes-
schwacher Individuen vorzugsweise beobachtet. Jedes noch so geringe ib-
Literaturberieht 135
weichen verrftth nach dem Autor einen Fehler in der Entwickelung. Dieser
atavistische Entwickelongsfehler drückt sich für den ganzen Organismus
als ein Mangel der Anpassungsfähigkeit an das actuelle Milieu aus. Für
den Greschlechtstrieh bildet die vorzeitige oder verspätete Entwickelung
die Basis su Perversionen. Die erste Stufe der Entartung beginnt damit,
dafs der Familieninstinct, das Interesse am Schutz der Neugeborenen, an der
dauernden ehelichen Verbindung zurücktritt. Als noch ernsteres Symptom
fafst FtRt den Verlust des sexuellen Anlockungs- und Verfolgungstriebes
auf, weil dadurch die Chancen der Zuchtwahl verringert werden. Wenn
das unbefriedigte Verlangen psychisch defecter, mit mangelhaften Instincten
und mangelhaften Mitteln der Verfolgung begabten Individuen zur defini-
tiven Resignation führt, so ist das ein anderer Procefs der Entartung. In
vielleicht übertriebener Auffassung dieses Princips geht FtBA so weit, selbst
den Nothzuchtsact als atavistisches Phänomen hinzustellen.
Die Entartung des Geschlechtstriebes kann sich äufsem einerseits im
^Fehlen des Anlockungs- und Paarungsinstinktes (bei getrennter Entwickelung
und Ernährungsstörungen), in absoluter sexueller Apathie, in asexueller
mechanischer Onanie, andererseits in sexueller Perversion und in der
Eliminirung der geschlechtlichen Tendenzen, welche beim Mann in Ver-
weiblichung und beim Weib in Vermännlichung bestehen. Die Effemination
beg^nt mit der Thatenlosigkeit und dem Mangel an Initiative, die Viragi-
nität tritt in den Bestrebungen der Frauenbewegung deutlich hervor.
Diese Bewegung selbst ist ebenfalls nach FtRt ein bedeutender Factor der
Entartung.
In logischer Weiterführung seines Standpunktes verlangt der Verf.,
dafs Individuen mit perversen Neigungen an der Fortpflanzung gehindert
würden, da sie die Zukunft der Rasse bedrohen. Die Aufgabe der
Suggestionstherapie sei hier, völlige Enthaltsamkeit zu erziehen anstatt der
Herstellung normaler sexueller Rapporte.
Wenn die ärztliche Intervention auch hier den Privatinteressen dient,
so geschieht das nach Fftiut auf Kosten der Gesellschaft.
Gewifs steckt in der atavistischen Lehre, wie sie vom Verf. in
geistreicher Weise dem ganzen Werke zu Grunde gelegt wird, ein Wahr-
heitskem. Indessen sind andere Erklärungsmöglichkeiten für zahlreiche
Formen sexueller Abweichungen kaum berücksichtigt; so werden z. B. das
Streben der Natur nach Variabilität, die grofse Anpassungsfähigkeit des
menschlichen Trieblebens, die Neigung zur Abwechselung, die Bestimmbar-
keit derselben durch äufsere Einflüsse etc. kaum berücksichtigt. Solange
es nicht wissenschaftlich feststeht, welcher Antheil in einer entwickelten
psycho-sexuellen Erkrankung der Vererbung, welcher Antheil der An-
passung, dem Milieu zukommt, solange erscheint es verfrüht, weitgehende
Theorien über die hereditären Folgen des perversen Geschlechtslebens sowie
über sexuelle Rassenverbesserung aufzustellen. Die Gefahren, welche nach
FtBA die Zukunft unserer Rasse bedrohen, bedürfen vorläufig noch selbst
eines Beweises! Seine Vorschläge dürften auch kaum durchführbar sein,
so z. B. gegenüber der Prostitution, die nachgewiesenermaafsen so alt ist,
wie die Menschheit überhaupt. Dafs sexuelle Zwangsrichtungen sich stets
vererben, ist vorerst nicht bewiesen; dagegen ist bewiesen, daüs sexuelle
136 Literatiirbericht
Abweichungen, die nach F£r£ und v. Krafft-Ebino zu der im Embryo prä-
formirten Entartungsform gehören sollen, vollkommen eorrecturfähig eind,
bis zu einem solchen Grade, dafs derartige Individuen im Stande sind,
eine Familie zu gründen und normale Kinder zu erzeugen. Sobald der
Arzt, wie Ftiuk es wünscht, anfinge, als Reformator auf socialem Gebiet
nur im Interesse der Allgemeinheit, das ja oft genug dem des In-
dividuums widerstreitet, aufzutreten, so kämen ganz unhaltbare Zustände.
Höchstens ein Viertel aller Menschen dürften sich fortpflanzen ! Denn e«
giebt wohl heute kaum eine Familie, in der sich nicht eine Yererbnngs-
tendenz nach irgend einer pathologischen Richtung hin nachweisen lieOse.
Völlige sexuelle Enthaltsamkeit von Individuen zu verlangen, die erfahrongs-
gemäfs neben ihrer perversen Geschmacksrichtung oft auch unter einer
anormalen Stärke ihres Geschlechtstriebes (bis zu Zwangshandlangen)
leiden, ist ebenfalls ein undurchführbares Ideal! Und aufserdem ist
sexueller Rapport noch durchaus nicht immer identisch mit Befruchtung.
Es mag Fälle geben, in denen der Geschlechtsverkehr wünschenswerth ist,
dagegen die Fortpflanzung besser vermieden wird 1 Gegen Anwendung eines
sicheren anticonceptionellen Mittels bei solchen Individuen dürfte vom
Standpunkt einer vernünftigen sexuellen Hygiene kaum etwas einzu-
wenden sein.
Mit den hier kurz besprochenen Grundlagen des F£B£*schen Werkes
steht und fällt der Inhalt der übrigen Capitel, welcher lediglich die ein-
zelnen Hypothesen weiter ausbaut und im Ganzen sich eng an die bekannte
Lehre und Eintheilung von v. KIbafpt-Ebing anschliefst. Da die letztere
hinreichend bekannt ist, so kann an dieser Stelle nicht weiter darauf ein-
gegangen werden. von Schbenck-Notzing (München).
G. T. W. Patmck. The Psycbology of Profanity. Psychol. Review 8 (2), llS-127.
1901.
Der Verfasser stellt sich die beiden Fragen: Warum flucht man und
warum gebraucht man dazu die besonderen Worte, die man gebraucht?
Er weist darauf hin, dafs die Beantwortung dieser Fragen von Wichtigkeit
ist für die Probleme des Ursprungs der Sprache und der Beziehung zwischen
Gemüthsbewegungen und ihrem Ausdruck. Er unterscheidet zunächst die
beiden Arten von swearing (das englische Wort ist doppeldeutig), nämlich
feierliche Versicherung und blofsen Ausruf. Die zweite Art (profanity)
will er näher untersuchen. Er unterscheidet sieben Classen von Flüchen:
1. Namen von Gottheiten, Engeln und Teufeln. 2. Namen, die zur Religion
irgendwie in Beziehung stehen, wie Sacrament, Kreuz. 3. Namen von
heiligen und biblischen Personen, wie Maria und Joseph. 4. Namen von
heiligen Orten. 5. Wörter, die zum künftigen Leben in Beziehung stehen,
wie Himmel, Hölle, verdammt. 6. Vulgäre Ausdrücke, die man in guter
Gesellschaft nicht gebraucht. 7. Wörter, die aus verschiedenen Gründen
eine starke Wirkung haben, wie tausend. Solche Wörter haben jedoch ge-
wöhnlich auch eine Beziehung zu religiösen Begriffen. Die Greschichte des
Fluchens lehrt uns, dafs ein gewisser Zusammenhang besteht zwischen
diesem Laster und der Religiosität eines Volkes. Bei den alten Israeliten
war es so gewöhnlich, dafs ein besonderes Verbot dagegen nothwendig war.
LUerahirbericht 137
Bei den weniger ernsten Griechen war es verhältnirsmäfsig selten. Aehn«
liehe Verhältnisse findet man in neueren Zeiten. Goddam war zeitweilig
der Spitzname des religiösen Engländers.
Man ist leicht geneigt die Frage nach dem Zweck des Fluchens dahin
zu beantworten, dafs es eine Art von xa&a^is sei : Man wird die Spannung
los, die unerträglich geworden ist Der Verf. lehnt jedoch diese Theorie
ab, oder will ihr wenigstens nur untergeordnete Bedeutung beimessen. Die
Sprechorgane sind kein besonders geeigneter Canal zur Ableitung über-
schüssiger Energie. £r zieht es vor, die Gewohnheit des Fluchens genetisch
zu erklären. Der Urmensch, der einen Gegner abzuwehren hatte, bediente
sich aller möglichen Mittel, um ihm Schrecken einzujagen. Hierzu sind
natürlich die Namen von Naturgewalten (Donnerwetter) und Gottheiten
ganz besonders geeignet. Je gröfser der shock ist, den die Worte her-
vorrufen, um so besser für den, der sie gebraucht. Die Entwickelung der
religiösen Anschauungen macht dann die Wahl der Fluchworte, wie wir
sie jetzt finden, leicht verständlich. Max Meyer (Columbia, Missouri).
Katmond Dodoe. The Psycbology of Reading. Fsychol. Review 8 (1), 56—60.
1901.
Dodoe kritisirt Zeitlbr*8 Artikel „Tachistoskopische Versuche über
das Lesen'^ in Wündt's Studien, Bd. 16. Er hält Zbitler*s Unterscheidung
zwischen Lesen mit Apperception und mit Assimilation für nicht glücklich
und wendet sich namentlich gegen die Behauptung Zbitleb's, dafs seine
Versuchspersonen während der kurzen Darbietungszeit von 0,01" bis 0,1''
eine Bewegung der Aufmerksamkeit über einzelne Buchstaben der gelesenen
Wörter wahrgenommen hätten. Max Meyeb (Columbia, Missouri).
Simon. Ezpiriencos de snggestions snr les dibiles. Ännee psychologique 6,
441--484. 1900.
Eine Reihe von ,tests', welche Binbt zur Prüfung der Suggestibilität
in seinem Buch „la Suggestibilit^" beschrieben und unter Anderem an
normalen Schulkindern angewandt hat, werden von Simon an 27 geistig
schwachen Kindern executirt. Diese Kinder zeigten ebenfalls einen hohen
Grad suggestiver Beeinflufsbarkeit , doch blieben sie hierin hinter den
normalen Kindern zurück. S. analysirt die Ergebnisse im Einzelnen und
sucht nach ihnen die Kinder in eine Reihe von Typen einzutheilen.
W. Stern (Breslau).
Emil Kräpelin. EiBführang in die Psychiatrische Klinik. Dreifsig forlesnngen.
Leipzig, J. A. Barth, 1901. 328 S.
In manchen Kliniken ist es Sitte, dafs der Lehrer am Schlüsse des
Semesters seinen Zuhörern eine gedruckte Uebersicht über die im Laufe
des Semesters vorgestellten Krankheitsfälle mit besonderer Hervorhebung
der wichtigsten Gesichtspunkte zukommen läfst. Das ist entschieden nach-
ahmenswerth; der jedesmalige Gebrauch des Heftes wird den Studenten
an die in der Klinik empfangenen Eindrücke lebhaft erinnern und eine
Wiederholung der Anschauung ermöglichen.
138 Literaiurbericht
Eine ähnliche Absicht schwebte Verf. vor, als er das xa bespiecheiide
Buch schrieb. Es soll und kann sein Lehrbuch der Psychiatrie lüchttt-
setzen, sondern es soll den Neuling in die psychiatrische Klinik einfOhnt
und ihm eine Anleitung zur klinischen Beobachtung Geisteskranker gdwn
Dieser Aufgabe wird das Buch in vollem Maafse gerecht
An der Hand prägnant geschilderter und vortrefflich ausgesachter
Krankheitsbilder erörtert Verf. die Klinik der verschiedenen Psychom
und legt ganz besonderen Werth auf die Stellung der Diagnose and die
eingehende Begründung der Differentialdiagnose. Mit besonderem Nach-
druck wird immer wieder auf die Bedeutung des Satzes verwiesen, dals du
einfache Zustandsdiagnose, wie z. B. Blödsinn, Stupor, Melancholie, um
nicht genügen dar^ dafs wir vielmehr versuchen müssen, an der Hand
dieser oder jener wesentlichen, charakteristischen Erscheinungen, onter
Berücksichtigung des bisherigen Verlaufs, unter Verwerthung der Itio-
logisch bedeutsamen Momente zu einer exacten Diagnose zu gelang».
Damit wird uns auch die Möglichkeit gegeben, eine Prognose zu Btelkn,
was um so wichtiger ist, als unser therapeutisches Können oft versagt
Jede Form von Psychose, die zu einem Zustand geistiger Schwäche fahrt,
endigt mit einem gerade für diese Form charakteristischen Schwachsinn;
Verlauf und Ende der Krankheit stimmen in den grundlegenden, nidit
nur vorübergehend auftretenden Störungen überein, und das ermöglicht
die Prognostik.
In anziehender Weise und anregender Form, mit didactischem G^
schick, mit einer feinen Beobachtungsgabe, die auch ganz unscheinbue
Züge zu verwerthen weifs, begründet K. in jeder der mitgetheilten Krank*
heitsgeschichten die Diagnose und berichtet über das weitere Schickstides
Kranken. Offen bekennt auch Verf., wo und wann er früher zu einer
falschen Auffassung dieses oder jenes Falles gekommen ist. Nebenher sind
sociale und gerichtsärztliche Bemerkungen, vor Allem aber therapeütiaefae
Winke und Rathschläge eingestreut.
Ref. glaubt nicht fehlzugehen in der Annahme, dals sich auch vor-
liegendes Buch bald einer ebenso grofsen Beliebtheit und Verbreitung
erfreuen wird wie des Verf.'s Lehrbuch. Jedenfalls ist heute wohl
kaum ein Buch geeigneter, den Studenten in die Klinik einzuführen, ihm
Interesse für die Psychiatrie einzuflöfsen und ihn zu selbständigem Denken
anzuregen. Ernst Schultzb (Andernach).
Th. Simon. Recbercbes antbropomitriqnes snr 223 garfons anormaoz agis <il
i 23 ans. Anne^ psychologique 6, 191—247. 1900.
Um die Beziehung zwischen geistiger und körperlicher Entwickelnng
festzustellen, untersuchte S. an 223 geistig zurückgebliebenen Knaben ver-
schiedenen Alters Gröfse, Brustumfang, Schultembreite , Kopf umfang,
Gewicht und Spannweite der Arme. Von den durch zahlreiche Tabellen
und Curven belegten Ergebnissen seien erwähnt: Das physische Wach»-
thum des Körpers verlangsamt sich von Jahr zu Jahr und weist eigenthflm-
liehe Oscillationen auf, indem in den Alterstufen von 10 zu 11 und von
12 zu 13 Jahren fast stationäre Zustände bestehen. Zum Wachsthum der
Gröfse steht das Wachsthum aller anderen Maafse in ziemlich gleichmäfnger
Literaturbericht 139
Proportionalitftt. Ein Vergleich der S/schen Statistik mit den an normalen
Kindern aufgenommenen Statistiken anderer Anthropologen ergiebt eine
Inferiorität der geistig abnormen in Bezug auf Gröfse, Brust- und Kopf-
umfang. Wurden die von S. untersuchten Kinder in Idioten einerseits,
geistig Zurttckgebliebene andererseits eingetheilt, so zeigten die Letzteren
durchweg beträchtlich höhere Durchschnittsmaafse als die Idioten gleichen
Alters. £s besteht also hier eine unleugbare Parallelität zwischen körper-
licher und geistiger Entwickelung. W. Stkrn (Breslau).
E. Clapar^de. Reme gfoiralo snr ragnosio (cidti psychiqne etc.). Ann^e
psychologique 6, 74—118. 1900.
— BlbliograpUe snr Fagnoiio. Ebda, 119—143. 1900.
C. fafst unter dem Namen „Agnosie" alle jene pathologischen Er-
scheinungen zusammen, in denen bei intactem Sehorgan die Auffassung
und Verwerthung der Gresichtseindrücke gestört ist: Seelenblindheit,
Asymbolie, optische Aphasie etc. Er giebt im ersten Artikel einen orien-
tirenden Ueberblick Ober die Arten der Agnosie, die bisher bekannten
Thatsachen (namentlich nach der psychologischen Seite hin) und den Stand
der Theorien. Der zweite Artikel enthält eine alphabetische Bibliographie
von 177 Nummern, welche besonders dadurch nutzbringend ist, dafs jedem
Titel eine knappe Inhaltsangabe angefügt ist. W. Stkrn (Breslau).
Baron Moürre. Lei caoses psjcbologiqves de Taboalie. Rev. pUlos. 50 (9),
277—285. '1900.
Verf. behandelt in der vorliegenden Arbeit eine Erscheinung, welche
in ihren niedersten Graden von der weitesten Verbreitung ist. Bekanntlich
besteht bei Abulie die Unmöglichkeit, eine Idee durch den Sieg über
antagonistische Ideen in einen Act umzusetzen. Man findet die Abulie bei
den psychischen Paralysen. Manche haben als Ursache das Vorhandensein
einer Idee von einem Act, welcher verschieden ist von demjenigen, welchen
das Subject beabsichtigt, aber ihm nicht entgegengesetzt. Bei anderen
wird der Kranke paralysirt, weil er fürchtet es zu werden. Diese zweite
Art von Paralyse führt zur Abulie. Bei der Abulie fragt es sich, ob die
Contrastassociation primär oder secundär ist, ob die entgegengesetzte Idee
an und für sich eine hinreichende Ursache zur Verhinderung des Actes
ist, oder ob sie von anderen sie beschränkenden Ideen bezw. von affectiven
Zuständen, welche ihre Intensität erhöhen, begleitet werden mufs. Wie es
Verf. scheint, ist bei Abulie die Contrastassociation nicht primär. Denn
wenn die Furcht, abulisch zu sein, welche sich auf diese Contrastassociation
zurückführt, früher als jeder Act von Abulie vorhanden ist, so wird es
unerklärlich, dafs diese Furcht jemals hat entstehen können. Wie sollte
eine solche Idee in die Seele des Kranken gelangen?! Vielmehr kommen
zunächst im Individuum Acte der Faulheit vor. Allmählich entsteht in
ihm die Idee, dafs es faul ist. Dieselbe kann so mächtig werden, dafs sie
jede willkürliche Anstrengung unmöglich macht. Die Furcht nicht handeln
zu können bildet die Faulheit zur Abulie um. Die Schwierigkeit des will-
140 Literaturbericht
ktirlichen Effects bei Abulie beruht auf einer organischen Störung desGt-
hirns, deren Art unbekannt ist. Bisweilen kann man den nöthigen Ad
nicht erfüllen, weil der GenuTs am gegenwärtigen Zustand Einen dam
hindert, diesen Zustand zu verändern. Vollzieht sich ein solcher Kampf
öfters, so entsteht als krankhafter Zustand die Abulie. Jeder von uns hit
schon Stunden erlebt, in denen alle äufseren und inneren Erregungen, alle
Empfindungen und Ideen ohne Action bleiben, uns kalt lassen. Dies sind
Anzeichen von Abulie. Zu den psychologischen Ursachen gehört eine tieli
moralische Depression und ein Ueberdrulis am Leben. Der Kranke hat dii
Idee, dafs Alles, was er unternimmt, unnütz ist. Hierzu gesellt sich all-
mählich das Gefühl der Traurigkeit, welches den Zerfall der Sinnesthiti^'
keit befördert.
Die mannigfaltigen Ausführungen des Verf.'s bezüglich der Unmög-
lichkeit, andere Erklärungsgründe anzunehmen, mögen im Original nach-
gelesen werden. —
Nach Ansicht des Ref. haben alle Arten von Abulie das organische
Gefühl der Unfähigkeit gemeinsam. Dies bildet bei einer bestimmten Classe,
zu welcher der vom Verf. erwähnte Fall von dem Stellmacher gehört^ bei
dem die Abulie eine Folge des Typhus war, und wohin auch die Aboüe
des Traumzustandes zu rechnen ist, das einzige begleitende seelische
Phänomen. Bei einer anderen Classe kommen noch die geschilderteD
Phänomene hinzu, vor Allem die Abneigung gegen die Veränderung dei
gegenwärtigen dem Individuum angenehmen körperlichen und seelischen
Zustandes. Giessleb (Erfurt).
A. T. Obmond. The Social Individnal. Psychol. Revieio 8 (1), 27—41. 190L
Ormond stellt sich die Frage, wie das Individuum den Begriff des
Selbst als eines „Socius" erwerbe. Er illustrirt das Problem durch das
Beispiel eines Knaben, der seinem Vater, einem Zimmermann, dessen ge-
werbliche Thätigkeit nachahmt. Zunächst besteht hier nur eine Nach-
ahmung von äufseren Bewegungen, die zu einem gewissen materiellen Er-
folge führen. Aber während der nachahmenden Thätigkeit macht das
Kind dieselben inneren Erfahrungen, die der Vater in seiner Thätigkeit
macht; es wird auf diese Weise bekannt mit dem Bewufstseinszastand
eines anderen Individuums in einem bestimmten Fall. Association and
Imitation sind die Bedingungen der Entwickelung des socialen BewuCstseins.
Max Meyer (Columbia, Missouri).
E. DE RoBERTY. Montle et Psychologie. Rev. phUos. 50 (10), 329—345. 1900.
Manche Psychologen legen auf Definitionen und Eintheilungen keinen
Werth : Die seelischen Vorgänge seien zu innig mit einander verwoben und
die Uebergänge von einer Erscheinung zur nächst complicirteren zu wenig
merkliche. Und doch erfordert der wissenschaftliche Verkehr eine Ver-
ständigung bezüglich der Grundbegriffe, ohne einen genügenden Ueberblick
über die zu einer Erscheinung gehörigen Phänomene kann eine Bearbeitung
derselben nicht auf Gründlichkeit rechnen. Dabei dürfte eine von Zeitn
lAteraturberidit 141
Zeit erfolgende Erneuerung solcher Feststellungen für die Wissenschaft von
Nutzen sein. In der vorliegenden Abhandlung nun bemüht sich Verf., für
Biologie, Sociologie, Altruismus, Moral und Psychologie die bezüglichen
Begriffsbestimmungen und Festsetzungen der Grenzlinien vorzunehmen.
£r entwickelt f olgendermaafsen :
Die Umwandlung der organischen oder biologischen Vielheit (Art,
Kace) in eine überorganische oder sociale Einheit (Gemeinschaft, Gesell-
schaft) und die Umwandlung der organischen Einheit (Egoismus, Isolirung,
Kampf um das Leben) in eine überorganische Vielheit (Altruismus, Zu-
sammenwirken, Moralität) bildet nach B. den Ausgangspunkt der Sociologie.
Der Altruismus ist eine neue Complication des Lebens. Man beobachtet
ihn auf allen Stufen der biologischen Leiter (als Symbiose, Parasitismus,
Commensalismus u. s. w.). Verf. hält daher die Moral und Sociologie für
identisch. In beiden Fällen handelt es sich um s^ries de conduite. Auch
der Charakter ist nur ein aspect de conduite. Die Moral ist eine abstracto
Sociologie, sie ist das exacte Gorrelat der Sitte, Gewohnheiten, Rechte,
socialen Beziehungen.
Die Welt der Ideen entspringt aus zwei Quellen, aus den Gesetzen
und Bedingungen des organischen Lebens und aus den Gresetzen und Be-
dingungen der socialen Existenz. Die Biologie ist die Wissenschaft der
Ersteren, die Sociologie und Moral die Wissenschaft der Letzteren. Ueber
dieser doppelten Basis erhebt sich die Psychologie, welche mit der Biologie
und Sociologie nicht verwechselt werden darf.
Die Moral einiger niederer Thiere, der Bienen und Ameisen, hat
bereits Aehnlichkeit mit der menschlichen. Beim Menschen treten die
socialen Gewohnheiten in Beziehung zum Denken. Verf. führt den etwas
ungeheuerlichen Ausdruck „coUectiver Psychismus" ein. Bleibt derselbe
inactiv, wie bei den meisten Thierspecies und bei allen PflanzenspecieSy
so erwacht die Socialität nicht aus ihrem tiefen Schlafe, sie bleibt im Zu-
stande der Tendenz. Wird er dagegen activ, so entstehen Societäten von
Individuen.
Die organische Function ist eine Coordination von unbewufsten Be-
wegungen, welche zur Erhaltung des Lebens nöthig sind. Dagegen die
sociale Function ist eine Coordination von psychischen Elementen (Vor-
stellungen, Emotionen, Wünsche oder Bedürfnisse), welche zur Erhaltung
der Allgemeinheit nöthig sind. Indem die sociale Function sich der
organischen Function nähert, nähert sie sich noch mehr dem biologischen
Instinct. Aber dank ihrer psychischen Natur vermag sie aus dem unbe-
wufsten Zustande in den bewufsten überzugehen. Die seelische Differen-
tiirung dient dazu, das Band zwischen den Gliedern der thierischen Gemein-
schaften zu befestigen. Zwischen der Wissenschaft von den Associations-
Phänomenen und den Phänomenen der Verwandtschaft, zwischen Sociologie
und Chemie giebt es so viele Analogien, dafs man die Sociologie mit einer
Chemie des Geistes und die Chemie mit einer Sociologie der Materie ver-
gleichen könnte.
Zum Schlufs kommt Verf. auf die Beziehungen zwischen dem mora-
lischen und intellectuellen Fortschritt zu sprechen. Der Begriff ,.Moral''
ist ein ganz unbestimmter. Man kann darunter sowohl den. eolV^cXVs^xi
X42 LUeratwrberieht.
Pej^chisrnne verstehen als auch die ethischen Concept«, welche das Product
der eigentlichen ethischen Erfahrung bilden. Die raschen Fortachritte der
intellectuellen Cultnr werden vom collectiven Psychiamue erat hervo^
bracht. Dabei mufs man bedenken, dafe die ethischen Erfahrnngen den
biologischen, phyaico-chem lachen nnd mechanischen Erkenntnieseu nicht
vorausgehen können. Auch die wildeste Gesellschaft besitit bereiti «ine
rudiment&ie Ideologie. Der intellectueUe and moralische Fortschritt erfolgts
nur auf Grund einer Verbesserung der materiellen Existeu.
Qncaai.MK (Eite^.
Novicow. In oastes it I« McloloKle Uolvgl^u. £<-<'- phih». 50 (lO), m-3?i
1900.
Die guise Abhandlung bildet eine Polemik gegen eine Arbelt ron
BoüolS: 8ur la sociologie biologique et le regime des ca.'iteB (Kn. yUn
April 1900). B. hatte die Frage aufgeworfen, ob die GeHell9cbuft«ii0ix>i)><
men seien, und ob die Gesetze der Biologie nich auf die Socicdogie «n-
wenden Hefaen. Er macht darauf aufmerksam, dars die biologiedie Eni
Wickelung in der Weise geschieht, dafa die einaelnen Tbeile eines thierisrh^n
OrganismuB, welche Anfangs in einer gewissen Unabhängigkeit von elnandtr
exiatiren, allmählich sich einheitlich dem Gehirn unterordnen, ümgrtahn
verläuft die sociale Entwickelung. UrsprOngüch sind die IndivldtMH eof
mit einander vereinigt, mit dem annehmenden L^infang der G«aeltocblftec
werden die Individuen freier. Ein Orgonismuf int um so vollkomnwMr, }'
diSerentiirter seine Functionen sind. Dies Ailfs ist richtig. Jedoch d«rf
man nach N. im socialen Organismue Functionen und Ka3t«a nidit tu-
wechseln, wie B. dies thut. Denn die Fähigkeiten, neicfae die AngehOHgen
einer Kaste haben, brauchen nicht dieselbe Qualität /.u besitzen: E.B.kacu
sehr leicht ein der Kaste der Priester angehörigei .Sprörsling kaufmftniiiKlie
Fähigkeiten besitzen. Freiheit ist im Grunde niclit« Anderes als Difleni
tiirung der Function in Unabhängigkeit vom (Staate. Der Staat moTa ili^
Rechte seiner Bürger echfltzeu. B. hat also tlnretbl, wenn er behanptH.
dafe die organische Theorie sich mit der Freiheit nicht verträgt. Fttnti
verquickt B. die politische Gleichheit mit <1«r socialen. In einer fui
organisirten Gesellschaft mufs politische Gleielitieit bestehen. Im Otfi«
satz hierzu je vollkommener die Gesellschaft ist, um so grofser die sociil''
Ungleichheit, ebenso die moralische und finaiKielle. N. niacht weiterhii;
darauf aufmerksam, dafs beim menschlichen Eürper die Arbeitsleistnog ü>
zum äufeersten getrieben, die Anpassung dar (!)rguiie an die Function.
ebenso das Gleichgewicht zwischen der centralen Kraft und den einicJitec
Theilen vollendet ist. Könnten die menseUirlien Gesellschaften dies*
Modell nachahmen, so wQrde die Summe des Glocke sich versehnfubeo-
Auch dies verkennt B. Gikssiak (Ertnit).
Palaktu. Le meuoBge de gronpe: 6ta4e aoelDlo^qve. Sev. philo». iO i»,
165—173. 1900.
Die verhältnifsmäfsig dürftige Studie führt im Anschlurs an Schope>-
HAüBS 3 Beispiele von gesellschaftlichen Lügen an: Die optimiaUscbe LB^
I ''fi
1-.
* —
Litßraturbericht 143
hat ihren Grand darin, dafs jede G^ellschaft bei ihren Mitgliedern einen
Grad von Optimismus erhalten mnfs, um sie zum Handeln anzustacheln
und das Maximum von Anstrengung zu erzielen. Sie umgiebt sich daher
mit einem Glanz, der bei vielen Dingen unmotivirt ist. Eine zweite Art
der gesellschaftlichen Lüge entsteht dadurch, daCs der Einzelne die Ent-
scheidungen der öffentlichen Meinung respectirt und sein eigenes Urtheil
unterordnet. Drittens liegt es im Interesse der guten Gesellschaft, die
ungefährliche Mittelmäüsigkeit zu begünstigen und intelligente Leute nicht
in die Höhe kommen zu lassen.
Der allen diesen Lügen gemeinsame Zug besteht in dem Widerspruch
zwischen den Gedanken und den Worten bezw. Handlungen dessen, der
ihnen huldigt Die Ursachen der gesellschaftlichen Lügen sind nach Sselet
vor Allem die, dafs für das Bestehen einer Gruppe von Wesen die Gleich-
förmigkeit ein wichtiger Factor ist, auch schon der Glaube daran. Auch
überschätzen manche Gesellschaften ihren Werth. Das Individuum erkennt
jedoch die Ungereimtheiten durch Vergleichen, Urtheilen, Ueberlegung:
In dem Maafse, als die gesellschaftliche Entwickelung vorwärts schreitet,
wird das individuelle Bewufstsein umfangreicher, freier und dadurch ge-
schickter, die Ungereimtheiten zu entdecken, namentlich je gröfser die Zahl
der gesellschaftlichen Kreise ist, in denen das Individuum verkehrt. Den
Gegenstand mehrerer Dramen Ibsen's bildet der Kampf gegen die gesell-
schaftlichen Lügen. GiESSLER (Erfurt).
A. N. KiÄR. Ueber die Ergebnisse des „Samlags^-Systems in den norwegischen
Städten. Der Alkoholisnucs 1 194. 1900.
Das durch die Gesetze von 1871 und 1894 in Norwegen eingeführte
Samlag-System besteht darin, dafs unter gewissen Bedingungen das Monopol
des Branntweinausschanks und des Detailverkaufs in einer Stadt einer für
gemeinnützige Zwecke gebildeten Actiengesellschaft zugestanden werden
kann. Man wollte so den Branntweinconsum einschränken, Ordnung in
den Schankstätten einführen und die reichlichen Einnahmen für gemein-
nützige Zwecke verwenden. Neuerdings wird die Einführung des Samlag-
Systems von der Volksabstimmung abhängig gemacht. Spricht diese sich da-
gegen aus, so ist damit in der betreffenden Stadt überhaupt jeder Ausschank
und Kleinverkauf für die nächsten ö Jahre verboten. In der That verhält
eich die Volksabstimmung recht oft ablehnend dank der Thätigkeit der
Enthaltsamkeitsvereine und besonders dank der Mitwirkung der Frauen.
Daraus aber schliefsen zu wollen, das System habe sich nicht bewährt, ist
nicht berechtigt, wie Verf. an der Hand der bisher mit dem System ge-
machten Erfahrungen darthut. Ernst Schultze (Andernach).
Klausener. Ursachen der Tmnksncht nnd Mittel znr Bekämpfung derselben.
Der Alkoholismus 1 201. 1900.
Kurze Skizze über einige Ursachen und Mittel zur Bekämpfung der
Trunksucht. Mit Recht wird darauf besonderer Werth gelegt, dafs eine
zweckmäfsige Erziehung des weiblichen Geschlechts in Haushaltungs-
144 Jjiteraturbericht
schulen für den zukünftigen Beruf der Hausfrau eine gewaltige Rolle apieU^
da sie der Trunksucht beim Manne vorzubeugen vermag.
Ebkst Schultze (Andernach).
A. Gbotjahn. Die Tranksiicht unter den deutschen Landirbeitera nach te
Enquete dei Yereini für Socialpolltik im Jahre 1892. Der AlkohoUamut 1
186. 190a
G. stellt zum Zweck des Studiums des Alkoholismus vom socialen und
nationalökonomischen Standpunkte aus die Berichte des Vereins für Social-
politik zusammen, wenngleich in ihnen der Alkoholismus eine nur neben-
sächliche Berücksichtigung erfahren hat. Daraus ergiebt sich, daSa in den
Ländern des nördlichen und östlichen Deutschlands der Mifsbrauch geistiger
Getränke zurückgeht, in den südlichen und westlichen Theilen des Keichee
dagegen in Zunahme begriffen ist. Es sei noch bemerkt, daüs von den Be-
richterstattern oft die Abnahme der Trunksucht auf die durch die Brannt-
weinsteuer bedingte Preiserhöhung zurückgeführt wird.
Ebnst Schxjltzs (Andernach).
Berichtigung.
Von
G. Heymans.
Durch ein Versehen sind in meinem Artikel „Untersuchungen über
psychische Hemmung II", diese Zeitschr. 26, S. 374 die oberen und die unteren
Figuren verwechselt worden. Es gehört demnach zu Tab. XXIT die Fig. 14,
zu Tab. XXIII die Fig. 15, zu Tab. XXIV die Fig. 12 und zu Tab. XXV
die Fig. 13, was man bei der Lektüre gefälligst berücksichtigen wolle.
Arthur König f.
Unser lieber und treuer Arbeitsgenosse an dieser Zeit-
schrift ist uns am 26. October 1901 durch den Tod ent-
rissen worden. Bedrohliche Anzeichen einer schweren Er-
krankung hatten ihn ein frühzeitiges Ende schon lange
voraussehen lassen, und es war überaus schmerzlich, ihn
gegen diesen lähmenden Gedanken immer wieder kämpfen
und zugleich sich ihm unterwerfen zu sehen. Noch im
Laufe des Sommers war er voll Hoffnung, seinen Zustand
durch selbst ersonnene Mittel bessern zu können. Aber
eine plötzliche Verschlimmerung seiner Krankheit hat ihn
dann rasch hinweggerafEt und ihm schwerere Leiden er-
spart. Nur 45 Jahre zu vollenden war ihm beschieden.
König ist von physikalischen Studien ausgegangen und
ihnen Zeit seines Lebens mit seinen Interessen zugethan
und durch selbständige Arbeiten verbunden geblieben.
Aber durch Helmholtz, der zu Anfang der 80 er Jahre
auf seine Begabung aufmerksam wurde und ihn zu seinem
Assistenten machte, wurde er früh auch in andere Gebiete
hineingezogen. Er hatte seinem Lehrer bei der Neuheraus-
gabe seines grofsen Handbuchs der physiologischen Optik
zur Hand zu gehen, Uterarisch durch Sichtung des unge-
heuren, seit etwa 20 Jahren auf gehäuf ten gedruckten Materials,
ZeiUehrift für Psychologie 27.
und experimentell durch Bearbeitung einzelner wichtiger
Fragen im Laboratorium. So wurde sein eigentHches Arbeits-
gebiet mehr und mehr die physiologische Optik, indem seine
Aufmerksamkeit sich zugleich auch den mit ihr zusammen-
hängenden psychologischen und erkenntnifstheoretischen
Fragen zuwandte. Eine glückliche äufsere Stellung zur Ver-
folgung dieser Interessen fand er als Vorsteher der physikali-
schen Abtheilung des Berliner physiologischen Instituts, zumal
seit ihm mit der Berufung Engelmanns nach Berlin die Ver-
tretung der gesammten Sinnesphysiologie und die Abhaltung
der Vorlesungen über sie übertragen wurde.
Zahlreiche psychophysiologische Arbeiten sind hier seiner
eigenen Thätigkeit wie auch seiner anregenden Wirkung auf
Andere entsprungen. UeberbHckt man ihre ganze Reihe, so
wird man als die wichtigsten wohl seine Untersuchungen
zur Klarstellung von 5 Problemen bezeichnen müssen: die
Arbeiten über das WEBEß'sche Gesetz, über die Mischung
von Farben, über die Helligkeitsvertheilung der Farben im
Spectrum, über den Sehpurpur und über die Sehschärfe.
Sie gehören uneingeschränkt zu dem Ersten, was wü' über
die von ihnen behandelten Gegenstände überhaupt besitzen,
theilweise sind sie das einzig Zuverlässige. Was sie charak-
terisirt, sind überall die gleichen Vorzüge: sichere Be-
herrschung auch der verwickeltesten physikalischen Hülfs-
mittel, weiteste Ausdehnung der Untersuchung über die
extremsten Lichtintensitäten, die verschiedensten Wellen-
längen , die mannigfachen AnomaUen des Farbensehens,
sorgfältige Berücksichtigung aller in Betracht kommenden
psychophysiologischen Factoren, Exactheit der Resultate und
vorsichtige Zurückhaltung in ihrer Verwerthung. So sind
namenthch unsere genaueren Kenntnisse der verschiedenen
Formen der Farbenblindheit durch König aufs Wesent-
lichste gefördert, die wichtige Thatsache, dafs die Total-
Farbenblinden mit dem Centrum ihrer Netzhaut nichts sehen,
ist durch ihn gefunden worden.
Den eigenthchen Anstofs zur Gründung dieser Zeit-
schrift hat König gegeben. Im Anschluls an seine Thätig-
keit fafste er zu Ende der 80er Jahre den Plan, ein
Centralorgan für physiologische Optik oder auch für Sinnes-
physiologie im Allgemeinen zu schaffen, imd fand für die
VerwirkUchung seiner Absicht, unterstützt durch das Interesse
und die Autorität von Helmholtz, bald die äufsere MögKch-
keit Der Wunsch nach einem Genossen des Unternehmens
führte dann, unter Festhaltung des ursprüngUchen Gedankens,
zugleich zu seiner Ausdehnung über die ganze Psychologie,
wie ja beides in dem Doppeltitel unserer Zeitschrift sich
ausprägt. Auch um den Fortbestand der Zeitschrift, als er
einmal vorübergehend bedroht erschien, hat König sich das
maafsgebende Verdienst erworben. Aber was sie ihm wesent-
lich zu danken hat, bleibt doch seine nimmer ermüdende
tägliche Arbeit an ihr. Ungeachtet des dunklen Schattens,
der über ihm schwebte, hat er ihr bis in seine letzten Tage
mit stets gleicher Freudigkeit seine besten Kräfte gewidmet,
musterhaft durch seinen Fleifs, seine Gewissenhaftigkeit imd
seine Pünktlichkeit Wir werden wenige Schritte thim können,
ohne ihn schmerzUch zu vermissen, aber um so dankbarer
in Ehren halten, was er ims gewesen ist
Ebblnghaus.
Johann Ambroslus Barth.
nI
Ueber das Erkennen von Intervallen und Aecorden
bei sehr kurzer Dauer.
Von
C. Stumpf.
Verkürzung der Dauer von Toneindrücken kann in manchen
Beziehungen Beiträge liefern zur Lösung theoretischer Fragen.
Man hat sie zur Untersuchung der physiologischen Bedingungen
des Hörens, aber auch der psychologischen Vorgänge bei der
Tonwahmehmung herangezogen. In letzterer Beziehung bleibt
allerdings immer zu bedenken, dafs die Kriterien, an die sich
der Beobachter im Nothfall wie an einen Strohhalm klammert,
nicht nothwendig dieselben sein müssen, die imter gewöhnlichen
Umständen die Hauptrolle spielen. Ein Merkmal kann wesent-
lich sein, aber längere Zeit gebrauchen, um wirksam zu werden,
ein anderes ist vielleicht nur auxiUär, aber rascher zu erfassen.
Eben darum können aber solche Versuche dienen, KriterieD, die
unter gewöhnlichen Umständen in einer nicht genau erkennbaren
Weise blos mitwirken, isolirt zu beobachten und die Thatsache
und Richtung ihrer Wirksamkeit genauer festzustellen.
Die Aufgaben der Beobachter bei den bisherigen Versuchen
waren, soweit psychologische Fragen in Betracht kamen:
1. Schnellste Reaction auf Töne verschiedener Höhen, sobald
überhaupt ein Ton wahrgenommen oder sobald ein tiefer von
einem hohen vorher bekannten unterschieden worden war
(AüEEBACH und V. Kbies, G. Mabtiüs), 2. Reaction nach Erkennung
von Dur- und Molldreiklängen (Tanzi), 3. Erkermen der absoluten
Tonhöhe (Abeaham und Bbühl), 4. Unterscheidimg mehrerer
Töne imd Bestimmung ihrer Reihenfolge und der durch sie
gebildeten Melodie bei schnellstem Wechsel (Abraham und
K. L. Schaefeb) ; 5. Urtheil über Einheit oder Mehrheit der ge-
hörten Töne bei Zweiklängen von verschiedenem Intervall
üd>er das Erkennen v. Intervallen ii. Accorden bei sehr kurzer Dauer, 149
(M. Meyee); 6. Schnellste Reaction auf Grund solcher Urtheile
(M. Meter) ; 7. Erkennung des Intervalls bei Zweiklängen, deren
tieferer Ton verstärkt war (M. Meyeb); 8. Urtheil über Einheit
oder Mehrheit bei harmonischen Zusammenklängen bis zu
6 Tönen (R. Schulze); 9. Dasselbe Urtheil bei Zweiklängen von
verschiedenem Intervall mit fortschreitender Verkürzung der
Zeitdauer bis zum Minimum (R. Schulze).^
In näherer Beziehimg zu den im Folgenden zu beschreiben-
den Versuchen stehen nur die zuletzt erwähnten 5 Versuchs-
reihen.^ Und da die Veranlassung zu den meinigen theilweise
in Bedenken lag, welchen diese Versuche mir ausgesetzt scheinen,
so will ich diesen Bedenken zuerst Ausdruck geben.
Auf die Folgerungen, welche Meyee an seine Ergebnisse
knüpft, will ich hierbei nicht zurückkommen, da ich das Un-
logische darin früher genug gekennzeichnet zu haben glaube.
BezügHch der Versuche selbst aber scheint es mir ein Fehler, sich
mit einem einzigen Beobachter zu begnügen. In psychologischen
und psychophysischen Dingen sind der individuellen Verschieden-
heiten so viele auch unter den Geübten, auch unter den so-
genannten MusikaUschen, dafs nur die Untersuchung einer
gröfseren Zahl vor einseitigen und schiefen Theorien schützt
Speciell bei Zeitverkürzungen zeigt sich, dafs mancher, der sich
^ Auf welche Versuche Wüwdt in seinem „Grundrifs der Psychologie**
1896, S. 116 hindeutet, ist mir nicht klar. Nachdem er die Verschmelzungs-
grade der Intervalle angeführt und sogar der kleinen und der grofsen Terz
verschiedene Grade zuerkannt hat, fährt er fort : „Ein Maafs für den Grad
der Verschmelzung erhält man in allen diesen Fällen, wenn man während
einer gegebenen, sehr kurzen Zeit einen Zusammenklang einwirken und
den Beobachter entscheiden läfst, ob er blos einen Klang oder mehrere
Klänge wahrgenommen hat. Wird dieser Versuch öfter wiederholt, so er-
giebt die relative Anzahl der für die Einheit des Klangs abgegebenen Ur-
theile ein Maafs für den Grad der Verschmelzung."
Auf diese Methode als eine zu versuchende habe ich zwar selbst
schon 1890 hingewiesen; aber eine so bestimmt hingestellte Behauptung
über ihre Leistungsfähigkeit, wonach man sogar den Unterschied in der
Verschmelzung der beiden Terzen, der bisher niemals festgestellt wurde,
dadurch bestimmen könnte, mufs sich doch wohl auf ausgedehnte Er-
fahrungen gründen, deren Veröffentlichung demnach zu erwarten steht.
* Max Meyer. Ueber Tonverschmelzung u. die Theorie der Consonanz.
ZHtschr. f. PsychoL 17, 401 f. 1898.
RuDOLP Schulze. Ueber Klanganalyse. Wundt*8 Philosoph, Studien
U, 471 f. 1889.
150 . C, Stumpf.
für musikalisch hält und es in der gewöhnlichen Praxis auch
wirklich ist, gegen anscheinend weniger Musikalische zurück-
tritt üeber Meyeb's Versuchsperson G., von ihm als „gut
musikalisch gebildeter imd vielfach bewährter Beobachter** be-
zeichnet, will ich nur erwähnen, dafs ich denselben gleichfalls
nebenbei zu den unten zu beschreibenden Versuchen heran-
gezogen habe. Es fand sich, dafs er in einer Versuchsreihe
mit sehr kurzen Zeiten, wo die Aufgabe gestellt war, das ge-
hörte Intervall zu bezeichnen, imter 19 Fällen nur 3 richtige
Urtheile abgab (sie fielen jedesmal auf die Terz), während ein
wirkUch gut musikahscher und geübter Beobachter unter genau
gleichen Umständen imter 17 Fällen nur 3 verfehlte.
Die sonstige Beobachtimgsfähigkeit dieses unseres geschätzten
Mitarbeiters wird dadurch natürHch nicht bestritten. Auch
war Meyeb's Fragestellung leichter (nur „Einheit oder Meh^
heit?") und die Zeiten länger. So werden wir denn auch
Mehreres aus seinen Ergebnissen bestätigt finden, während
Anderes mit den erweiterten Erfahrungen im Widerspruch steht
Aber eben die Entscheidung darüber, was ein individueller und
was ein allgemeinerer Zug ist, läfst sich nur durch Vermehrung
deü Versuchspersonen gewinnen. Und dabei zeigen sich dodi
auch noch andere mehr formelle Unterschiede : in Hinsicht der
Constanz der Ergebnisse, der Durchsichtigkeit der Tabellen
überhaupt, endlich auch Unterschiede in der Fähigkeit und den
Ergebnissen der Selbstbeobachtung der Einzelnen während der
Versuche, die für die nachherige Verwerthung von grofser Be-
deutung werden können.
Durch Meyeb's Publikationen wurde R Schulze verankK
Versuchsreihen zu veröffenthchen , welche er bereits 1891—93
im Leipziger psychologischen Institut auf Grund ähnlicher Frage-
stellungen gemacht hatte. Auf diese muTs ich etwas näher ein-
gehen.
In der ersten Versuchsreihe wurden Zusammenklänge ein-
facher Töne (von Gabeln), welche im Verhältnifs der ersten
sechs harmonischen Theiltöne zu einander standen, in ver-
schiedenen Combinationen (bald nur einer davon, bald drei,
vier etc.) in wechselnder Anordnung angegeben. Der Eindruck
dauerte jedesmal 2 Secunden. Drei Beobachter, darunter ein
sehr musikahscher, hatten die Aufgabe, zu sagen, ob sie einen oder
Ud>er das Erkermen v. Intervallen u. Accorden hei sehr kurzer Dauer, 151
mehrere Töne hörten (nicht aber, wie viele und welche). In den
Tabellen werden die Urtheile „Ein Ton" zusammengestellt.
Schulze zieht mm aus diesen Tabellen in erster Linie den
SchluTs, dafs ein Zusammenklang blos zweier Töne,
z. B. der Töne 1:6 oder 5:6, durch allmäliche
Hinzufügung der übrigen harmonischen Theiltöne
immer einheitlicher werde. In der That zeigt zum Bei-
spiel die Abtheilung 3 der zweiten Tabelle beim Zusammenklang
der fünf Töne von den Verhältnilszahlen 2:3:4:5:6 folgende
Urtheilszahlen der drei Beobachter : 4, 13, 18 (so oft erklärte also
jeder den Zusammenklang für Einen Ton). Dagegen beim Zu-
sammenklang der sechs Töne 1:2:3:4:5:6 waren die be-
züglichen Urtheilszahlen: 48, 17, 22. So erheblich stieg also
durch blofse Hinzufügung des Grundtons die Schwierigkeit, den
Zusammenklang als eine Mehrheit von Tönen zu erkennen.
Nun aber drängen sich starke Einwendimgen bezügUch der
ganzen Versuchseinrichtung auf. Zimächst ist eine nicht un-
beträchtliche Ungleichheit unter den gebrauchten Intervallen in
Hinsicht der Tonregion. Die Octave gehört noch der tiefen
Region an {A — a). Die Terzen liegen schon in der mittleren
(a^ — cis^^ eis- — e-). Das macht einen Unterschied in Bezug auf
die Analysirbarkeit, der nichts mit dem Intervall als solchem zu
thun hat Femer — und das erweckt am meisten Bedenken —
ist nirgends in der ganzen Abhandlung von der Intensität
und von den Mitteln, genau gleiche Intensitäten herzustellen, die
Rede. Es heifst nur: „Der Experimentator schlägt zwei oder
mehrere Stimmgabeln an und giebt dann ein Klingelzeichen,
worauf der Reagent (Beobachter) den Gummischlauch dem Ohr
nähert" Wer bürgt nun dafür, dafs die sechs Gabeln mit
gleicher Stärke, und zwar nicht nur mit gleicher physischer
Stärke, sondern so, dafs gleiche Ton stärke resultirte, angeschlagen
wurden? Bei Tönen verschiedener Höhe ist es schwer genug,
auch nur zu sagen, ob ihre Stärke als Empfindimg genau gleich
ist oder nicht. Noch viel schwieriger ist es natürlich, sie durch
Anschlag mit freier Hand gleich stark für die Empfindung zu
erzeugen. Dazu kommt weiter, dafs Gabeln von so beträchtlicher
Höhe imgleich schnell verkKngen, selbst wenn sie auf Resonanz-
kästen stehen. Das Experiment begann immer erst 2 See.
nach dem Anschlagen der Gabeln imd dauerte seinerseits auch
noch 2 See. Während 4 See. können sich aber solche Unter-
152 C. Stumpf.
schiede des Verklingens schon geltend machen. Femer kommt
es auf die Stellung der Gabeln zur Schallröhre an und auf die
Fortpflanzimg innerhalb derselben, in welcher Beziehung auch
Unterschiede sein können. EndUch sind die Stimmgabeln jeden-
falls nach einander angeschlagen worden; denn 6 Gabeln
gleichzeitig anzuschlagen und dazu gleich stark, das wird keinem
geUngen. Aber beim Anschlagen nach einander ist die erste
LhUcn eimgermafen «hw.ch,r geworden, wenn die 1*.
angeschlagen wird. Es ist also auch die Dauer des Abklingens
nicht die gleiche, imd es wird sehr darauf ankommen, welche
zuletzt angeschlagen wurde.
Solange nichts angegeben wird, wie alle diese — nach
meiner Meinung unter den angegebenen Umständen theilweise
geradezu unüberwindKchen, bei Gabeln etwa nur durch elektrische
Erregung lösbaren — Schwierigkeiten experimentell beseitigt
wurden, solange bleiben die Versuche ohne alle Beweiskraft,
und man kann sehr leicht sich eine Erklänmg für die an-
gegebenen Resultate ausdenken, die mit psychologischen Dingen
gar nichts zu thun hätte.
Verfasser zieht aber aus seinen Tabellen aufser dem obigen
allgemeinsten Ergebnifs auch die Folgerung, dafs gewisse Per-
sonen leichter durch die ungeradzahhgen , andere durch die
geradzahligen Theiltöne zu Einheitsurtheilen verleitet werden,
dafs es also für jedes Individuum einen Normal-Obertonklang
gebe, d. h. einen, welcher die gröfsten Schwierigkeiten der
Analyse bietet. Ich kann nicht finden, dafs die dafür heran-
gezogenen Zahlen der Tabelle HI hinreichend starke Unter-
schiede zeigen, um diese merkwürdige Folgerung zu stützen.
Aus Tabelle IV aber geht überhaupt nichts derartiges hervor,
sie lehrt nur, dafs Vergröfserung des Intervalls die Einheits-
urtheUe verringert, was sich ja leicht versteht.^
* Wenn übrigens der Verf. S. 472 sagt: „Von solchem Verhalten ist keinem
Musiker oder Tonpsychologen etwas bekannt^, so darf ich wohl auf mebe
Tonpsychologie 11, 319 f. verweisen, wo als erste unter den Bedingungen
für die Analyse gleichzeitiger Töne ihre Distanz angeführt ist, wie es auch
sonst bei jeder Gelegenheit von mir betont wurde.
Aufserdem ist es aber ein grofses Mifsverständnifs der Helmholtz'
sehen Lehre vom Mechanismus des Hörens, dafs aus dieser die genannte
Folgerung fliefse, die erst der Verf. bestätigt zu haben glaubt. Nach
Helmholtz wird, wie jeder weiTs, der Zusammenklang nur dann „gestörtS
Ueber das Erkennen v. Intervallen u. Accorden bei sehr kurzer Dauer. 153
In Schulzens zweiter Versuchsreihe wurden immer nur zwei
Töne zugleich angegeben, dagegen die Zeitdauer immer mehr
verkürzt, imd zwar von 0,14'' bis auf 0,004''. Es wurden sämmt-
liche Intervallarten der chromatischen Leiter innerhalb der ein-
gestrichenen Octave vorgelegt. Hier functionirte nur Ein Be-
obachter, der aber an Feinheit des musikalischen Gehörs den
früheren noch überlegen war. Er versuchte immer zuerst den
Klang nachzusingen und gab dann an, ob es ein oder zwei Töne
waren. In den Tabellen (VII und VIII) werden nun die Zahlen
der falschen Urtheile (Ein Ton) zusammengestellt und daraus
geschlossen, dafs die wachsende Entfernung der Töne von ein-
ander hauptsächlich die Analyse erleichtert, während die Ver-
wandtschaft nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Nun ist es richtig, dafs die kleine Secunde 45 falsche Fälle
aufweist, die Octave nur 7. Aber dazwischen ist der Gang der
entsprechenden Zahlen für die Intervalle mit fortschreitender
Vergröfserung dieser: 12, 18, 12, 8, 10, 12, 7, 10, 9, 8 (unter
je 60 Fällen). Ich kann hierin keine irgendwie regelmäfsige
Abnahme erkennen. Das einzige Bemerkenswerthe an der
ganzen Reihe ist die grofse Zahl bei der kleinen Secunde, aber
dieses Intervall liegt ja eben nahe an der Unterscheidungs-
schwelle für gleichzeitige Töne überhaupt und kann nicht aus
demselben Gesichtspunkte wie die übrigen Intervalle betrachtet
werden.
In einer weiteren Tabelle (IX) sind die Zeiten zusammen-
gestellt, in denen das Zweiheitsurtheil überhaupt unmögHch
wurde. „Diese Tabelle zeigt" — nach dem Verfasser — , „dafs
die kleine Secunde e — f [sc. e^ — P] bereits bei einer Einwirkimgs-
dauer von 0,14 Secunden nicht mehr analysirt werden konnte,
während erst bei 0,007 Secunden ... die Fähigkeit aufhörte, die
Octave c — c^ [sc. c^ — c^] zu analysiren." Aber eine genauere
Besichtigung zeigt, dafs eine deutliche Abnahme überhaupt nur
stattfindet bis zur grofsen Terz. Von da an bis zur Octave be-
wegen sich die Zeiten zwischen 0,009 und 0,006 unregelmäfsig
hin und her, und obendrein sind dies doch Unterschiede, die rein
wenn die Töne sehr nahe beisammen liegen. Ueber diese Grenze hinaus
hat die Entfernung der Fasern von einander, bez. ihre Gröfsendifferenz, als
solche mit der Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Analyse nach Helmholtz
absolut nichts mehr zu schaffen.
154 C. Stumpf.
zufällig d. h. durch die unvermeidlichen Schwankungen der ob-
jectiven Zeitmessung bedingt sein können.
Ganz unverständlich ist mir aber die Behauptung des Ver
fassers, dafs die Schwebungen bei diesen Versuchen eine
wichtige Rolle für die Analyse gespielt hätten, insofern die Ver-
suchsperson daraus auf das Vorhandensein zweier Töne ge-
schlossen hätte. Er berechnet die Anzahl der Schwebungen, die
bei jedem der gebrauchten Intervalle noch in den erwähnten
Minimalzeiten stattfanden. Sie hegt zwischen 3,1 und 0,6
Schwebungen und nimmt mit der Erweiterung des Intervalls zu-
nächst ab, dann wieder zu (kleine Secunde 3,1, Quarte 0,6,
Octave 1,8).
Da nun der Gang der Schwebungszahlen hiemach nicht
correspondirt mit dem der Minimalzeiten selbst, und noch
weniger mit der Regel, dafs die weiteren Intervalle leichter
analysirt werden sollen, so sieht man nicht ein, wie er dafür
als Erklärung dienen soll. Vollends in der eigens beigefügten
Rubrik, wo die Schwebungen auf ganze Zahlen abgerundet sind,
werden ja beinahe alle Intervalle einander hierin gleich, indem
sie bis auf vier unter ihnen sammt und sonders Eine Schwebun|f
üefem.
Ferner werden Schwebungen in dieser Region, in der ein-
gestrichenen Octave, überhaupt nur bis zu etwa 150 in der
Secunde noch vernommen ; und an dieser Grenze natürlich nur
unter den günstigsten Umständen, namentUch bei längerer Ton-
dauer, bei starktönenden, immittelbar ans Ohr gehaltenen Gabeln,
als eine letzte Spur von Rauhigkeit.^ Nun sollten aber hier selbst bei
der Sexte d^ A^, wo sie 198 betragen, ja bei der Octave c^ c\ wo
sie 264 betragen, noch Schwebungen vernommen werden; und
dies noch dazu bei Tönen, die durch eine Röhre geleitet waren,
und innerhalb eines so winzigen Bruchtheils einer Secunde, dafe
nur 1 — 2 dieser raschen Schwebungen, ja öfters nicht einmal
eine ganze Schwebung (0,6 etc.) ins Ohr gelangen konnte. Der
Beobachter mag sehr musikalisch und sehr geübt gewesen sein.
Aber um dies zu vollbringen, müfste er schon fast das Gras
wachsen hören.
* Herr Dr. K. L. Schaefeb hat die kleine und die eingestricheoe
Octave auf meinen Wunsch in dieser Hinsicht durchgeprüft. In der kleinei
liegt die Grenze etwa bei 70 Schwebungen.
lieber das Erkennen v. Intervallen u. Äccorden bei sehr kurzer Dauer. 166
Wenn nun auch, nach der sogleich zu begründenden Ver-
muthung, die Empfindungsdauer thatsächUch länger gewesen sein
dürfte, als es der Verfasser annimmt: immer bleibt es doch un-
inögHch, so rasche Schwebungen in dieser Tonregion überhaupt
wahrzunehmen. Man mag die reine Octave c^ c- beobachten,
bis einem Hören und Sehen vergeht: sie ist glatt wie poHrter
Marmor.
Dafs die Versuchsperson öfters angab, den Ton „mit einem
Vorschlag" gehört zu haben, und zwar besonders bei der Octave,
mag jeden anderen Grund haben, auf Schwebungen kann es
sich nicht beziehen. Nur in einem einzigen Falle mögen sie
eine Rolle gespielt haben, nämUch wieder bei dem Intervall des
Halbtons, wo auf 0,14 See. 3 Schwebungen kamen. Sie scheinen
hier aber die Analyse vielmehr erschwert zu haben, denn
gerade hier ist die Minimalzeit, bei welcher Analyse nicht mehr
möglich war, wesentlich gröfser als bei allen übrigen Intervallen.
Auf die an die Versuche geknüpfte Theorie der Tonverwandt-
schaft, die auch in sich betrachtet der Schwächen genug ent-
hält, will ich nun nicht mehr eingehen. Dagegen sei ein Be-
denken erwähnt, das sich an die Zeitangaben knüpft. Zeiten
wie 4 oder auch 7 oder 9 Tausendstel einer Secunde sind so
kurz, dafs hier jede Art von Tonwahrnehmung an der Grenze
anlangt Es fanden ja nur 1 bis 2 Schwingungen währenddessen
statt Bei Einer Schwingung hört man überhaupt keinen Ton
sondern höchstens ein knallartiges Geräusch. Bei zweien kann
eine Gehörsempfindung entstehen, die von einem ganz exceptio-
nellen Gehör (O. Abraham) sogar als Ton von bestimmter ab-
soluter Höhe erkannt wird. Aber dafs ein gleichzeitiges Ton-
gemisch von einer und zwei Schwingungen oder von einer
und Vlf^ Schwingungen noch analysirt, ja sogar die Töne in
vielen Fällen richtig nachgesungen würden, wie hier behauptet
wird, ist eine kaum glaubliche Leistung. Man sieht sich daher
auf die Vermuthung geführt, welche M. Meyer bereits äufserte
(Zeitschr. f. Psychol. 20, 446) und auch Prof. KtJLPE mir mündhch
aussprach, dafs die chronographisch gemessene OefEnungszeit
des Schlauches nicht zusammenfiel mit der wirkHchen Empfin-
dungsdauer, dafs vielmehr durch Reflexion in den Röhren die
Dauer der Tonempfindung verlängert wurde. Wir werden weiter
unten bei unseren eigenen Versuchen Bestätigungen dafür finden^
War dies aber der Fall, dann verlieren die Zeitunterschied
156 C- Stumpf.
Schlauchöffniing und die weiter daraus berechneten Schwebungs-
unterschiede für die verschiedenen Intervalle vollends jede Basis.
Denn man kann natürlich nicht voraussetzen, dafs diese physi-
kalischen Nachwirkungen in genauer Proportion zur Zeit der
SchlauchöfEnung selbst stehen.
Sonach muTs ich diese Untersuchung in ihren Haupttheilen
für verfehlt halten, wenn auch Einzelnes zu beachten bleibt
Ich rechne dahin die letzte Tabelle XI, worin angegeben wird,
wie oft jedes Intervall richtig nachgesungen wurde (Verfasser
unterscheidet die Analyse überhaupt oder das Mehrheitsurtheil
und die „genaue Analyse", d. h. das richtige Heraushören und
Nachsingen der Töne). Die gröfste Zahl weist in dieser Hin-
sicht die Octave auf. Dann folgen in merklichen Abständen die
übrigen Intervalle, unter denen allerdings eine bemerkenswerthe
Reihenfolge, etwa eine mit dem Consonanzgrad oder dem Ton-
abstand übereinstimmende, nicht zu erkennen ist Die Octave
zeigte sich also als das Intervall, welches am leichtesten zu er-
kennen war, sobald überhaupt zwei Töne darin unterschieden
wurdeu. Dies werden wir bestätigt finden, wie es denn auch
aus der überragenden musikaHschen Bedeutung der Octave ohne
Weiteres zu verstehen ist. Das heifst aber nicht so viel, dafe
sie am leichtesten zu analysiren wäre; in welcher Beziehung
vielmehr das Gegentheil stattfindet, da sie am öftesten mit dem
Einklang verwechselt wird. —
Ich habe nun im Sommer 1899 zwei Versuchsreiheu mit
ähnKchen Fragestelluugen gemacht, doch wurde nicht die Frage
nach Einheit oder Mehrheit überhaupt gestellt, sondern die be-
stimmtere Frage nach dem Intervall zweier gleichzeitiger
Töne in der einen Serie, und nach der AnzahlundOrdnungs-
zahl der augenblicklich gehörten unter 6 vorherbestimmten
Tönen in der auderen Serie. Die Frage nach Einheit oder
Mehrheit sollte man in so unbestimmter Weise überhaupt nur
bei sehr unmusikalischen Menschen stellen, bei denen billiger-
weise nicht mehr zu verlangen ist. Bei Musikalischen ist es
zweckmäfsig, die Frage concreter zu formuliren, um ihren Be-
wufstseinszustand so vollständig als mögKch zu übersehen.
Ud>er das Erkennen v, Intervallen u. Äccorden bei sehr kurzer Dauer. 157
Erste Untersuchung:
Bestimmung des Interralls gleichzeitiger Tone.
Von drei in einer Flucht liegenden Zimmern dienten die beiden
äufseren als Tonerzeugungs-, beziehungsweise Tonbeobachtungs-
zimmer, das grofse mittiere zur Durchleitung des Schalles ver-
mittelst weiter Röhren imd zur Regulirung der Zeitdauer. Die
letztere versuchten wir auf sehr verschiedenen Wegen, gelangten
aber schHefslich zu dem Princip, dessen sich auch R. Schulze
bedient hatte: es wurde ein Hahn in der Schallleitung auf
kurze Zeit geöffnet Um die Herstellung der nötigen Ein-
richtungen, die sich mit vielen Schwierigkeiten verknüpft zeigten,
haben sich die Herren Dr. F. Schumann und Dr. K. L. Schaefer
verdient gemacht, der letztere überdies durch die grofse Geduld
und Genauigkeit, mit welcher er während sämmtlicher Versuche
die Auslösung besorgte.
Es wurde in die Schallleitung ein Metallröhrenstück von
l^/o cm Durchmesser eingesetzt, das einen sehr leicht drehbaren
Hahn enthielt. An dem Hahngriff war eine dünne Stange be-
festigt Diese trug vermittelst eines kleinen Hakens an einer
daran befestigten über eine Rolle laufenden Schnur ein Gewicht
Wurde die Stange, die Dr. Schaefer vor jedem Versuch fest-
hielt, losgelassen, so drehte das fallende Gewicht den Hahn und
MHirde dann, um jedes störende Geräusch zu vermeiden, von
Dr. ScH. mit der Hand aufgenommen. Kurz vorher und nach-
her gab er dem Tonerzeuger und den Beobachtern die nöthigen
Signale. Die Oeffnungsdauer wurde durch das Chronoskop ge-
messen, indem bei jeder der beiden Stellungen der Stange, die
dem Beginn und Schlufs der Röhrenöffnung durch den Hahn
entsprachen, elektrische Contacte angebracht wurden, die den
durch das Chronoskop gehenden Strom öffneten und schlössen.
Der Ton mufs nun allerdings in Folge der Bewegung des
Hahnes während der kurzen Dauer noch anschwellen und ab-
nehmen, und insofern hegen die Bedingungen für das Urtheüen
nicht ganz so günstig, als wenn er während der vollen Zeit die
ganze Stärke hätte, doch kommt es hier ja überhaupt nur darauf
an, sehr kleine Zeiten zu erhalten und sie während einer Ver-
suchsreihe mögUchst imverändert } lw»lifi]ton.
Bis zur vierzehnten Ve b Dauer 0,225 See.,
von da wurde sie a^ ^ edhe, bei der
158 C-. Stumpf.
nur ich allein beobachtete, auf 0,075, und bei einer letzten Reihe
noch darunter durch Verengung des Schlauches und des Hahnes
verringert. Die Messung ergab Schwankungen innerhalb einer
Reihe bis zu 0,01 See. Die Constanz darf also als eine be-
friedigende gelten.
Bei der Verringerung der Zeit zeigte sich nun aber keine
Verschlechterung des Urtheils, im Gegentheil waren die Er-
gebnisse in den zwei letzten Reihen gerade besonders gut Unter
den 30 Urtheilen bei 0,075 See. waren nur 9 falsche, und unter
den 30 bei weniger als 0,075 See. nur 7 falsche : eine so geringe
Zahl, wie ich sie nur sehr selten erreichte. Natürlich kommt
in Betracht, dafs die Uebung gewachsen, vielleicht auch die
Disposition besonders gut war, aber höchst wahrscheinlich
war die wirkliche Empfindungsdauer überhaupt nicht kürzer
geworden. Ich hatte auch subjectiv diesen bestimmten Eindruck
(obschon ja daraus allein nichts zu schliefsen wäre). Hier dürften
die obenerwähnten Reflexionen in der Leitung in Betracht kommen.
Es kann aber auch angenommen werden, dafs die subjective
Nachdauer eines Toneindruckes unabhängig sei von seiner ob-
jectiven Dauer und somit bei sehr kurzen Eindrücken relatiy
grofs sei, so dafs die Fortsetzung über eine gewisse Grenze hinaos
überhaupt keinen merklichen Einflufs mehr auf die Empfindungs-
dauer gewänne.
Als Tonquelle diente die früher schon öfters benutzte
Flaschenorgel, auf welcher innerhalb der mittleren Regionen
eine gröfsere Anzahl von Tönen sorgfältig ausgesucht und
nöthigenfalls noch adaptirt wurden, so dafs sie möglichst genau
ansprachen und gleich stark in dem Beobachtungsraum Te^
nommen wurden. Der letztere Punkt mufs immer besonders
geprüft werden, weil oft genug zwei Töne, die im Erzeugungs-
raum gleich stark scheinen, in Folge ungleicher Fortpflanzungs-
verhältnisse in den Schallröhren im Beobachtungsraum nicht
gleich stark vernommen werden. Auf diesen Punkt ist auch in
der Durchführung der Versuche beständig in erster Linie Be-
dacht genommen worden , indem immer wieder von den Beob-
achtern die Töne, welche kurzdauernd gehört werden sollte,
zwischendurch auch mit längerer Dauer auf ihr Stärkeverhältnife
geprüft wurden, sowohl einzeln als auch in verschiedenen Com-
binationen mit einander.
Die Töne wurden im Schallerzeugungszimmer durch einen
Ud>er das Erkennen v. Intervallen u. Äccorden bei sehr kurzer Dauer. 159
Schalltrichter in die 3 cm weite Röhre geleitet , welche in den
Beobachtungsraum führte. Hier endigte die Leitung in einen
eben so weiten Gummischlauch, an welchem vier rechtwinklige
eben so weite Ansätze von gleicher Länge angebracht wurden,
so dafs bis zu fünf Beobachter gleichzeitig den ^Eindruck
empfangen konnten. Wir versicherten uns, dafs an jeder der
fünf Oeffnungen die Töne gleich mäfsig gut zum Vorschein kamen.
Eine solche Multiplication, mit der gehörigen Vorsicht durchge-
führt, kann bei akustischen Versuchen dieser Art nicht genug em-
pfohlen werden, nicht nur, weil man dadurch eine gröfsere Anzahl
von Beobachtungsreihen auf einmal erhält, sondern auch, weil man
sicher ist, dafs sie bei ganz gleichen Reizeinwirkungen gemacht
sind, imd weil überdies mehr Chancen gegeben sind, dafs einer der
Beobachter irgend einen übersehenen Nebenumstand bemerkt, der
zu Modificationen in weiteren Versuchen Anlafs giebt.
Es währte lange, bis die Einrichtung so gelungen war, dafs
die Töne einerseits nicht unabhängig von der Leitung hinübeiv
drangen, andererseits stark genug durch die Leitung kamen,
um nicht schon durch die Schwäche Unsicherheit des Urtheils
zu bewirken. Aber schliefslich wurden diese beiden Bedingungen
doch in befriedigendem Maafse erfüllt.
Die Erzeugung der Toncombinationen an der Orgel besorgte
mit dankenswerther Ausdauer und Sorgfalt Herr Dr. Schweitzer
abwechselnd mit Herrn stud. Pfungst. Die einzelnen Serien um-
f afsten 20 — 30 Versuche. Es wurden benutzt : grofse Terz, Quarte,
übermäfsige Quarte, Quinte, kleine und grofse Sexte, kleine Septime,
Octave, grofse None, grofse Decime, Undecime, übermäfsige Un-
decime und Duodecime, aufserdem aber auch Fälle mit nur Einem
Ton eingeschaltet Mit dem Intervall, aber auch mit der absoluten
Höhe der Töne wurde innerhalb der mittleren Region (zwischen
a und g^) und unter den vorher ausgesuchten gleichstarken
Tönen beständig gewechselt Bis zur 7. Serie fehlten die Sexten,
Sieptime und Undecime, von da ab wurden sämmtliche genannten
Intervalle gebraucht Die Beobachter hatten in einem Heft zu
jeder Versuchsnummer ihr Urtheil über das gehörte Intervall
hinzuschreiben. Sie wufsten, was für Intervalle überhaupt vor-
kamen. Zuweilen glaubten sie dennoch, andere Intervalle zu
hören, z. K statt der grofsen die kleine Terz, was dann natürlich
ebenfalls registrirt wurde. Die Hauptbeobachter waren Prof. Dr.
Kbigab-Menzel (K), als physikaUscher Beobachter von beson-
160 ^- Stumpf,
derer Genauigkeit durch seine langjährigen Messungen über
die Erdschwere bekannt, aber auch ausgezeichnet als Musiker,
Prof. Heineich Barth (B.), der berühmte Clavierkünstler, und
ich selbst (St.). Ejugak-Menzel hat 21 Serien mitgemacht (alle
bis auf die zwei letzten), Babth Serie 1 — 8, 12—14, ich selbst
Serie 3 — 11 und 13 — 23. Ich bin diesen beiden Herren für ihre
langwierige Mühewaltung besonders dankbar. Aufserdem wirkten
bei einzelnen Reihen mit: Dr. Schweitzeb, von hervorragender
musikaUscher und experimenteller Begabimg, Dr. Abraham, durch
sein ungewöhnliches Gehör und eigene akustische Beobachtungen
bereits bekannt, Frl. Hutzelmann und stud. Münnich, beide
bereits als gut musikalische Beobachter erprobt Die Ergebnisse
dieser Beobachter werde ich aber wegen ihrer geringeren Anzahl
nur in zweiter Reihe heranziehen.
K. notirte regelmäfsig, Dr. Abraham meistens nicht blos das
Intervall, sondern auch die absolute Höhe der gehörten Töne.
Abbaham giebt an, dafs er bei gröfseren Intervallen durch sein
ausgeprägtes absolutes Tonbewufstsein auch in der Schätzung
des Intervalls beeinflufst wird, indem er aus den beiden absoluten
Höhen eben das Intervall bestimmen kann. EL stellt für seine
Person eine solche Beeinflussung durchaus in Abrede. Das
absolute Höhenurtheil stellt sich ihm gleichzeitig mit dem Inter-
vallurtheil ein, aber jedes unabhängig vom anderen, wie denn
auch das eine richtig und das andere unrichtig sein konnte.
Ich gebe nun im Folgenden in Tabelle A zunächst in extenso
die Uebersicht der Urtheile K.'s, dessen Aufzeichnungen sowohl
der Menge nach, als der Form und der systematischen Durch-
führung nach die anderen überragen. Seine Tabelle ist als die
am meisten typische und maafsgebende zu betrachten. £s sind
hierbei alle 21 Reihen zusammengerechnet, obschon von der 15.
an die Ton-(Reiz-)Dauer auf 0,15 See. reducirt wurde , da dieser
Umstand auf das Ergebnifs keinen Einflufs hatte. Horizontal
über der Tabelle stehen die Bezeichnungen der gebrauchten
Intervalle (die kleinen Intervalle sind mit arabischen Ziffern aus-
gedrückt), vertical links die Bezeichnungen derjenigen, welche
der Beobachter zu hören glaubte. Die erste Horizontalreihe giebt
also die Verwechslimgen mit dem Einklang, die zweite die Ve^
wechslungen mit der Terz, u. s. w. Die Fälle, in welchen Ve^
wechslungen mit einem nicht unter unseren Versuchsintervallen
vorkommenden Intervall stattfanden, sind besonders eingetragen.
ber das Erkennen v. Intervallen u. Accorden bei sehr kurzer Dauer, 161
Tabelle A.
(Absolute Urtheilszahlen für Kmgab - Menzel.)
TTT
IV
#IV
V
6
VI
7
VIIT
IX
X
XT
#XI
XII
B
2,
ItkITi.
2
4
2
1
11
8
9
2
o
8
2,
1
1,
9.
1
2,
13.
Irr.Stft.
4
2
37
4
4
9
7
4
V.
1
4
6,
24.
v.
35
1
1
22
V.
1
4
29
21,
1
1
20
1,
38,
ikl.
None
25.
1
V«
1
25,
1
1
1
3,
1
14,
6
1
20
10,
2
4
29
> z. B. die Quarte wurde 2 mal für Einen Ton, 4 mal für die
se Terz, Imal für die übermäfsige Quarte gehalten, 35 mal
tig beurtheilt. „ ^/o mal" kommt dadurch heraus, dafs in manchen
en (bei K. in ziemlich vielen, bei anderen nur in wenigen) ein
rvall für eins von zweien erklärt wurde, z. B. für None oder
üme, in welchem Falle das Urtheil beiden zur Hälfte zu-
^twlirin fUr Psychologe «7. -y^Y
C. Stwnpf.
gerechnet wurde. Das verechiedenen Zahlen angefügte Komma
bedeutet gleichfalls Vt- ^^ (zweifelhaft) sind die Fälle, in deneo
überhaupt kein UrtheU zu Stande kam, obschon der Klang-
eindruck deutlich Temommen wurde.
Tab. B iBt aus Tab. Ä gebildet Sie enthält statt der ^
soluten Zahlen Procentzahlen und stellt zugleich die richtigen,
falschen und zweifelhaften Fälle überBichtlich zusammen. Die
Rubrik für den Einklang ist weggelassen, da er ja ausnahmsloä
richtig erkannt wurde. Die Anzahlen der richtigen Urtheile über
jedes Intervall stehen in der Horizontalreihe r, die Fälle der
Verwechslung mit kleineren Intervallen in der Reihe fc, die der
Verwechslung mit gröfseren Intervallen in der Reihe g.
Tab. C giebt das Nämliche für den Beobachter Stc»f,
Tab. D für Bakth. In Tab. E sind die Ei^ebnisse der ersten
14 Reiben , wo gleiche Reizdauer stattfand, für diese drei Be-
obachter zusammengerechnet. Tab. F endlich stellt die Ergeb-
nisse aus allen Reihen aller Beobachter in Procenten zusanuuen.
Tabelle B.
(Frocente für Kriqib-Mbhzel.)
theilef™
IV
itiv
V
S
Vi
7
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13
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100 100 j 100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
1300
Tabelle C
(Procente ftlr Sun
(wirkliche Summe = 519)
ß.p.)
theile ^
IV
Jfiv
V 6
VI
7
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0. 0| 0
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5
100
100
100 1 100 100
100
100
100
1()0|100[]00,100
100
1300
(l-
drUi
che
Suhl
me =
= m
n^tr da» Efiaitien v. InUrtaUen n. Aceorilen bei »ehr htrzer Dawr. 163
Tabelle D.
(Frocente fär Babth.)
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III
IV
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V
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7
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IX
X
XI
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XII
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k
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22
34,
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60
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100
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100
100
100
100
100
lüO
100
100
KJI)
laoo
(virkliche Bnmme =
Tabelle E.
(Procente fDr K. -|- St. -|- B. sub den 14 ersten Reihen.)
Ür
theile
ni
IV
»IV
V
6 VI
7
vm IX
X
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Summe
EinTon
10
3
6
15
13
9
4
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16
26 1 9 21
188
k
IB
9
40
20
33
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33
2 11
16
34 40 20
323
f
68
77
47
60
39
37
60
55
67
49
28 i 37 59
678
e
9
11
7
4
16
9
3
3
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10 12 0
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o; 0
0
1
0
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0
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100
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100
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100
100
100
100
100
100 1 100 KXI
1300
(wirkliche Bnmme =
Tabelle F.
(Procente fUr Blkmmtliche Beobachter.)
'^'- 1 TTT
IV
jfiv
vie
VI
7
vm IX j X
xiJtxi
XU
Summe
EinTon
12
3
7
16
6
6
3
24
11
6
13 6
11
127
k
12
12
28
18
.32
31
27
3
10
10
32 31
20
266
r
67
70
53
£9
51
63
66
66
65
62
42| 4ä
69
766
K
9
16
11
6
9
8
4
5
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0
1
1
0
3
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16
100
lOO
lÜO
100
100
100
IQO
iff^
164 C. Stumpf.
Wir wollen nun die Ergebnisse, welche theils aus diesen
Tabellen hervorgehen, theils sonst in den Versuchen hervor-
traten, zusammenstellen.
1. Der einfache Ton wurde als solcher fast ausnahmslos
richtig erkannt und fast niemals mit einem Intervall verwechselt.
Wie in Tab. A bei K., so verhält es sich ähnlich in allen anderen
Urtabellen. Es sind insgesammt, alle Beobachter zusammenge-
rechnet, 93 Beobachtungen für den Einklang angestellt, und unter
diesen sind 89 richtig, 3 falsch (einmal gleich Quinte, einmal
gleich Septime und einmal gleich None) : offenbar Producte einer
zufälUgen Unaufmerksamkeit, wie sie selbst bei den sichersten
Urtheilen in längeren Reihen nicht fehlen. Bei Unmusikalischen
würde dies anders gewesen sein. Sie pflegen schon bei längerer
Tondauer nicht selten einen einfachen Ton für eine Mehrheit zu
erklären. Auch Herrn G., mit dem Meyer experimentirte, und
der bei der Klangdauer von 0,265 See. unter 70 Fällen in
16 Fällen 2 Töne zu hören angab, können wir daher nicht mehr
zu den wirklich musikalisch Hörenden rechnen.
2. Betrachten wir die Fälle, in denen ein Intervall für
Einen Ton erklärt wurde, also die erste Querreihe unserer
Tabellen, so fällt sogleich die besondere Stellung der Octave
in die Augen. K., der sonst die besten Leistungen hat, erklärte
sie in Vg ^Uer Fälle für einen Ton, während er sie in fast allen
übrigen Fällen, wo er sie überhaupt analysirte, richtig als Octave
erkannte. Bei den übrigen Beobachtern ist das Verhältnifs theil-
weise noch imgünstiger. B. hat unter 18 Fällen die Octave 12 mal
für einen Ton erklärt und nur 4 mal richtig erkannt. St. dagegen
hat 33 richtige, nur 1 falsches und 1 zweifelhaftes Urtheil. Bei
ihm, ebenso bei Münnich, Abraham, Schweitzer enthält die
horizontale Rubrik „Ein Ton" überhaupt nur sehr wenige Fälle.
In Tab. E imd F sind diese individuellen Unterschiede ausge-
glichen (sie sind in keinem anderen Pimkte so grofs, sonst
würde sich auch das Zusammenrechnen nicht rechtfertigen). Man
mufs hier also die erste Rubrik hauptsächlich auf den Einflufs
von K. und B. beziehen.
Diese Unterschiede erklären sich daraus, dafs die zuletzt-
genannten Individuen und besonders ich selbst durch die fort-
gesetzten akustischen Studien, bei denen die Analyse eine Haupt-
rolle spielt (und man ist natürlich gerade, weil man die Gefahr
bei der Octave kennt, besonders darauf bedacht gewesen, sich
Ueber d<i8 Erkennen i\ IntervalUn u. Accorden hei sehr kurzer Dauer. 165
von ihr zu emancipiren), hierin eine solche Fertigkeit erlangt
haben, dafs Täuschungen auf ein Minimum reducirt werden.
Die „Verschmelzung^ der Octave bewirkt ja nicht immer imd
überall ihre Nichtunterscheidung. Aber dafs sie selbst bei aufser-
ordentlich musikahschen Menschen die Analyse in viel höherem
Grade als bei den übrigen Intervallen verhindert, zeigt uns be-
sonders das Beispiel B/s, aber auch das K/s.
Die übrigen Intervalle bilden keine ganz deutlich hervor-
tretende Reihe in Hinsicht ihrer Verwechslung mit dem Einklang.
Es ist wohl nicht zu verkennen, dafs die consonanteren im All-
gemeinen günstiger gestellt sind (siehe besonders die Gesammt-
tabelle F : die höchsten Zahlen bei der Octave, Quinte, Undecime,
Terz, Duodecime, ebenso für K. in Tabelle B bei der Octave,
Undecime, Quinte, Duodecime, in dieser Reihenfolge). Aber
es sind zu bedeutende individuelle Abweichungen, um mit irgend
welcher Genauigkeit eine Reihenfolge der Verschmelzungen
hieraus zu erschliefsen. Bei St., der sonst wenig Einheitsurtheile
fällt, hat die Undecime relativ viele, bei B. die None auffallend
viele Einheitsurtheile u. s. w. Und es machen sich dann diese
Abnormitäten in den Gesammtzahlen geltend. Man müfste die
Versuche auf noch viel mehr Individuen ausdehnen, damit sie
sich genügend ausglichen , aber die Mühe wäre zu grofs, als dafs
sie sich lohnte. Bei der Undecime scheint es übrigens nach den
beigefügten Bemerkungen im Protokoll öfters an einer wirklichen
Ungleichheit der Tonstärke gelegen zu haben, so sehr wir be-
müht waren, sie fern zu halten. Auch K. zeigt hier ungewöhn-
lich viel falsche Urtheile.
Man kann fragen, ob nicht die Gröfse der Distanz eineu
Unterschied macht. In gewöhnlichem Falle wirkt vergröfserte
Distanz günstig für die Analyse, was man besonders bei Un-
musikalischen eclatant beobachten und auch leicht psychologisch
begreifen kann. Wenn aber die Zeitdauer so minimal ist,
könnte die Distanz eher im umgekehrten Sinne wirken : denn die
äuTserst concentrirte Aufmerksamkeit ist naturgemäfs auch nur
auf ein einzelnes Gebiet der Tonreihe concentrirt. Man stellt hier,
wie mir scheint, seine Aufmerksamkeit immer auf eine gewisse
mehr oder weniger enge Tonregion ein, innerhalb deren man
das Phänomen erwartet, in unserem Falle auf die mittlere Ab-
theüung innerhalb des gebrauchten Tonbezirkes. Wenn nun ein
besonders grofses Intervall, Duodecime, Undecime, auftritt, so
166 G' Stumpf.
kann es leicht vorkommen, dafs man nur den unteren Ton oder
nur den oberen wahrnimmt, weil die Aufmerksamkeit nicht so
schnell wandern kann. Ich will damit nicht 8agen> dafs zur
Analyse überhaupt ein Wandern nöthig ist, vielmehr können sich
bei sonst günstigen Umständen zwei Töne als zwei und als
dieses bestimmte Intervall ohne jede Veränderung der Auf-
merksamkeitseinstellung aufdrängen. Aber unter so exeeptionellen
Umständen könnte die erforderUche Concentmtion der Aufmerk-
samkeit geradezu nachtheilig wirken, indem, was dem ehoien Ton zu
gute kommt, dem anderen entzogen und dieser so überhört wird
Ob nun unsere Tabellen wirklich in diesem Sinne sprechen,
läfst sich nicht unzweideutig erkennen. Bemerkenswerth ist
allerdings die Zunahme der zw bei den grofsen Intervallen
(aufser XII). Aber in der Einheitsrubrik ist eine deutliche Zu-
nahme, auch wenn man ein Intervall mit seiner Erweiterung
(Terz mit Decime, Quinte mit Duodecime etc.) vergleicht, nicht
zu constatiren, allerdings auch nicht eine durchgängige Abnahme.
Bald findet das eine, bald das andere Statt.
Wichtig ist nun die Frage, was eigentlich im Falle eines
Einheitsurtheils wahrgenommen wurde. Bei Unmusikali-
schen sind wir schlimm daran, sie können es eben nicht näher
angeben. Dagegen sind die Musikalischen häufig dazu im Stande,
und zumal K. hat fast immer in seinem Protokoll den gehörten
Ton namhaft gemacht: es war in der Mehrzahl der Fälle der
tiefere, in einzelnen auch der höhere, niemals ein zwischen-
liegender. Hierbei sehe ich davon ab, dafs er bei der Ton-
bezeichnung fast immer um einen halben Ton nach der Höbe
fehlging, denn dieser constante Fehler lag offenbar an einer
etwas tieferen Abstimmung seines absoluten Tonbewuüstseins
gegenüber unserer Klangquelle.
3. Wenn wir nun die erste Horizontalrubrik bei Seite lassen
und ims also nur an die Fälle halten, wo die Urtheilenden ein
Intervall zu hören glaubten, so können wir zunächst die An-
zahl der richtigen im Verhältnifs zu den falschen Urtheilen ins
Auge fassen, unter den falschen (f) also jetzt verstanden die
g -f- k (die wenigen zw können wir hier bei Seite lassen).
Zweierlei kommt hier in Betracht:
a) die grofse Sicherheit des Urtheils überhaupt,
welche sich hieraus ergiebt, und die indivi-
duellen Unterschiede hierin.
lieber das Erkennen v. Intervallen u. Äccorden hei sehr kurzer Dauer, 167
Man sieht sogleich aus den Tabellen, dafs die r bei K.
weitaus, auch bei St. noch bedeutend die f überwiegen. Bei B.
allerdings sind mehr f als r. Aber in den G^sammttabellen
überwiegen wieder die r. Bei K. findet sich dieses Uebergewicht
auch für jedes einzelne Intervall, nur bei der Undecime ist eine
minimale Abweichung. Bei St. findet es sich gleichfalls überall,
nur mit Ausnahme zweier Intervalle (kleine Texte und über-
mäfsige Undecime).^
Hierbei ist mm noch zu bedenken, dafs der Fall nicht so
liegt wie etwa, wenn man über die Frage zu urtheilen hätte:
welcher von zwei aufeinanderfolgenden Tönen ist der höhere?
Denn hier wären überhaupt nur zwei Urtheile möglich (vom
zweifelhaften imd vom Gleichheitsurtheil abgesehen). Der zweite
ist der höhere, oder er ist der tiefere. Dagegen, wo es sich um
die richtige Benennung eines Intervalls handelt, sind natürlich
mindestens so viele falsche Urtheile möglich, als andere Inter-
valle vorgelegt werden. Eigentlich aber noch mehr, da auch die
übrigen musikaUsch gebräuchlichen Intervalle wenigstens bis zur
Duodecime in Frage kommen und zuweilen auch wirkUch ge-
nannt wurden. Während also dort, bei der Höhenvergleichung
zweier aufeinanderfolgender Töne, das Verhältnifs r : f := 50 : 50 7o
ein absolutes Schwanken, reine Zufälligkeit des Urtheils bedeutet
xmd mindestens 75 \ r verlangt werden müssen, imi dem Urtheil
einen anständigen Grad von Sicherheit zuzuschreiben, aus dem
sich etwas schliefsen läfst, bedeutet hier Gleichheit der r und f
schon eine erhebliche Sicherheit des Urtheils. Hiemach betrachte
ich beispielsweise B.'s Leistung, obschon die f sogar schon über-
wiegen, immer noch als ein Zeichen bemerkenswerther Urtheils-
fähigkeit.
' Man könnte es für richtig halten, bei der Zählung der r und f die
Duodecime auÜBer Betracht zu lassen, da hier g-ürtheile ohnedies ausge-
schlossen seien, insofern die Urtheilenden wufsten, dafs kein gröfseres
Intervall vorkam. Doch würden sich die Ergebnisse dadurch nicht irgend
wesentlich verändern. Auch ist zu erinnern, dafs hiemach ebenso bei der
groÜBen Terz die k-Urtheile ausgeschlossen wären, während doch factisch
Öfters die kleine Terz als das gehörte Intervall bezeichnet wurde, femer
dals auch sonst zuweilen Intervalle von den urtheilenden angegeben
wurden, von denen sie recht wohl wufsten, dafs sie nicht zu den vorgelegten
gehörten, z. B. Secunde, kleine None.
168 C'. Stumpf.
b) Die Unterschiede unter den Intervallen in
Bezug auf ihre Erkennbarkeit
Vergleichen wir das Verhältnifs der r und f bei den ve^
schiedenen Intervallen. Folgende Reihenfolge der Intervalle in
Bezug auf die Gröfse des Quotienten ergiebt sich aus Tab. B,
C, E und F (denen mit gröfseren absoluten Zahlen).
Tab. B: VEI, IX, 7, IV, XII, V; X, III, VI, #IV, 6, # XI, XL
„ C: VIII, XII, m, V, 7, IV; X, XI, IX, VI, #iv, 6, t^:^
„ E: Vm, IV, IX, XII, V, ni; 7, X, jflV, 6, Jxi, VI, XL
„ F: VIII, XII, m, IX, IV, V; 7, X, VI, #IV, 6, XI, fXL
Durchgängige Constanz zeigt sich nur, insofern überall und
immer die Octave, und zwar weitaus, an der Spitze bleibt
Man kann sagen, dafs sie so gut wie immer richtig beurtheilt
wird, wenn sie überhaupt als Intervall, als Zweiheit von Tönen
erkannt wird. Hierin stimmen auch M. Meyeb's und R. Schülze's
Ergebnisse mit den meinigen überein.^
Im Uebrigen aber ist eine ganz bestimmte Reihenfolge nicht
aufzustellen. Dies hängt theilweise an gewissen Abnormitäten
oder besser individuellen EigenthümHchkeiten, die sich auch an
den besten Beobachtern finden. So stehen namentlich bei K
die None und Septime auffallend günstig, was dann auch bei der
grofsen Anzahl von K.'s Urtheilen auf die Summentabellen E
und F erhebUchen Einflufs gewinnt.
Nur soviel läfst sich noch deutUch erkennen, dafs in der
ersten Hälfte der Intervallreihe aufser der Octave allgemein auch
die Duodecime, Quarte und Quinte zu stehen kommen.* Man
kann darin einen Einflufs der Consonanz, beziehungsweise Ver-
schmelzimg erkennen ; aber es wäre, wie man sieht, verfehlt, ans
Versuchen dieser Art den Consonanzgrad überhaupt bestimmen
zu wollen. Wahrscheinlich hat aufser ZufälHgkeiten und indivi-
duellen Constanten Eigenthümlichkeiten (die auf habituellem Merk-
hchkeits- oder Gefühlsüberge wicht gewisser Intervalle für eine Pereon
1 Meyer a. a. 0. 407, Schulze a. a. 0. 487 (Tab. XI).
* Auch in einer Versuchsreihe Meyeb's, bei welcher die Aufgabe einer
Benennung des Intervalls gestellt, das Urtheil überdies dadurch, dafs der
tiefere Ton immer stärker als der höhere angegeben wurde, erschwert, da-
gegen die Zeitdauer auf 0,52 See. verlängert war, ergab sich, dals die
dissonanten Intervalle weniger gut erkannt wurden. Doch enthält die
Tabelle nur geringe Versuchszahlen (a. a. 0. 408).
Ucber das Erkennen v. Intervallen u. Accordeti hei sehr kurzer Dauer, 169
beruhen mögen) besonders auch der Umstand Einflufs, ob ein
Intervall in harmonischer Beziehung einen mehr oder
weniger ausgesprochenen Charakter trägt. Die Un-
decime und die übermäfsige Undecime haben wenig mit Accord-
bildungen zu thun. Man kann wohl von einem Undecimen-
accord reden, aber er gehört zu den seltensten Bildungen. Da-
gegen spielen die Septime und None als Begrenzung von Accorden
eine bedeutende Rolle. Damit mag ihre erleichterte Erkennbar-
keit namentlich bei K. zusammenhängen.
Ob die Distanz der Intervalltöne auch einen maafsgebenden
Einflufs hat auf ihre Erkennbarkeit (Analyse überhaupt voraus-
gesetzt), läfst sich nach diesen Zusammenstellungen nicht sagen,
wenn man auch im Allgemeinen vermuthen mag, dafs gröfsere
Intervalle schwerer erkennbar werden.
4. Vergleichen wir endlich die falschen Urtheile unter-
einander, so bieten sich zwei wichtige Züge dar.
a) Die Verwechselungen betreffen in den weitaus
meisten Fällen benachbarte Intervalle, solche, die
sich nur um einen halben oder ganzen Ton, auch wohl um
zwei Tonstufen vom wirklich gehörten Intervall unterscheiden.
Man sieht dies in der Tabelle A, aber auch in den hier
nicht in extenso mitgetheilten Urtabellen von St. und B. Bei
den übrigen Personen zerstreuen sich die Verwechselimgen mehr,
aber diese haben eben geringere absolute Urtheilsziffern ; bei der
Zusammenrechnung läfst sich auch hier einigermaafsen dasselbe
erkennen.
Es geht hieraus hervor, dafs unter solchen Versuchs-
umständen die Distanz der Intervalltöne für die
Erkennung sehr wesentlich seinmufs. Denn nach dem
reinen Consonanzprincip hätte man erwarten müssen, dafs die
Verwechselung vorzugsweise die in der Consonanzreihe
benachbarten Intervalle beträfen; dass also z. B. Sexten mit
Terzen verwechselt würden, Dissonanzen unter sich, nicht aber
mit Consonanzen. Hier wurde hingegen, um besonders markante
Beispiele aus den Urtabellen anzuführen, von B. die Septime
13 mal mit der VI verwechselt , 2 mal mit der 6, und nur je
einmal mit drei nichtbenachbarten Intervallen. Die XI ver-
wechselte B. 8 mal mit der X, 2 mal mit der IX, xmd nur je
einmal mit zwei anderen nichtbenachbarten (viel kleineren) Inter-
vallen. Die JflV wurde von demselben 10 mal mit der IV ver-
170 G, Stumpf.
wechselt, niemals mit irgend einem anderen Intervall Die | XI
wurde von St. 18 mal mit der XI, 5 mal mit der Xu, 3 mal mit
der X verwechselt, imd nur je einmal mit drei anderen nicht-
benachbarten Intervallen. Das nämliche Intervall wurde von K.
4 mal mit der XI, lOVgDial niit der XU, einmal mit der X und
niemals mit einem der anderen Intervalle verwechselt Von
demselben Beobachter wurde die j(IV 11 mal mit der IV, 4 mal
mit der V verwechselt, einmal mit der DI, sonst mit keinem
Intervall. Ebenso verwechselte Schweitzer die j^ XI 6 mal mit
der Xn imd nur einmal mit einem nichtbenachbarten Intervall,
MüNNicH die XI 4 mal mit der X, imd nur je einmal mit drei
nichtbenachbarten Intervallen. U. s. 1
Man sieht zugleich, dafs die auffallendsten Beispiele meist
Dissonanzen betreffen und besonders die übermäfsige Quarte und
ihre Octavenerweiterung (überm. Undecime). Dies hängt indessen
wohl damit zusammen, dafs bei diesen Intervallen überhaupt
besonders viele falsche Urtheile stattfinden (s. u.).
Auch dieses Ergebnifs stimmt überein mit Befunden
Meyeb's an dem Beobachter G., welche ich damals auch schon
an mir selbst gelegentlich mehrfach bestätigt fand.* Aber es
ist nun in gröfserem Umfang bei ausgesuchten Beobachtern fest-
gestellt und mufs als eine allgemeingültige Eigenthümlichkeit
der Tonurtheile unter solchen Umständen gelten.
Theoretisch ist es unstreitig von Interesse. Man kann es
nachträglich verstehen, konnte es aber apriori nicht erwarten.
Verstehen : denn ein bestimmtes Intervall besitzt zwar im Allge-
meinen nicht eine ganz bestimmte Distanz seiner Töne, wohl
aber gilt dies innerhalb eines gewissen relativ engen Tonbezirks.
Die Quinte c — g und die Quinte d — a unterscheiden sich hin-
sichtlich der Distanz ihrer Töne natürlich nur äufserst wenig,
und in unseren Versuchen wurden ja wenigstens die gröfseren
Intervalle nur unter sehr geringen Veränderungen der absoluten
^ Meyer a. a. 0. 407: „Die Fehler bestanden gewöhnlich darin.
dafs Intervalle von wenig verschiedener Distanz mit einander verwechselt
wurden ; so die Quarte mit der Quinte oder die grofse Terz mit der Quarte.
AeuTserst merkwürdig jedoch ist, dafs der schauerlich dissonante Tritonus
sehr häufig als Quarte oder Quinte bezeichnet wurde, sehr selten als Tri-
tonus. Diese Beurtheilung des Tritonus als Quarte oder Quinte zeigte sich
auch bei Prof. Stumpf, als dieser unter denselben Versuchsumstftnden (mit
etwas längerer Elangdauer) einige Beobachtungen machte.'^
Ueber das Erkennen v. Intertalleii u. Accorden bei sehr kurze}' Dauer, 171
Höhe angewandt. Begreiflich ist also das Ergebnifs wohl und
ohne Widerspruch mit meinen früheren Anfstellimgen, zumal
da derEinflufs des Distanzprincips sich gerade in Verwechse-
lungen, also falschen Urtheilen zeigt Aber imerwartet war
es dennoch, weil man apriori nicht wissen konnte, dafs das
Consonanzmerkmal bei so starker Zeitverkürzung so sehr an
Wirksamkeit verlieren würde. Unter gewöhnlichen Umständen
werden z. B. Terzen und Sexten in der That eher miteinander
verwechselt, als Sexten und Septimen (ich erinnere mich ent-
sprechender Erfahrungen), obwohl Verwechselung von Inter-
vallen bei musikalisch Gebildeten überhaupt selten vorkommt
Man mufs hieraus, scheint mir, schUefsen, dafs das Consonanz-
merkmal, obgleich es das primäre und essentielle für die Definition
des Intervallbegriffs ist, eine gröfsere Zeit gebraucht, als wir sie
anwandten, um für das Urtheil als untrügUcher Leitfaden zu
dienen, während das Distanzmerkmal weniger von der Zeitver-
kürzung beeinflufst wird.
Dies kann man wohl daraus erklären, dafs wir uns in der
Musik in den Consonanzcharakter eines isolirten Intervalls um
so mehr vertiefen, auch seine Gefühlswirkung um so intensiver
erleben, je länger der Eindruck dauert. Bei allzu kurzen Ein-
drücken, wo das Bewufstsein schon durch die Aufgabe, die
Töne überhaupt auseinanderzuhalten, stark in Anspruch genommen
ist, bleibt uns so zu sagen nur so viel intellectuelle Kraft übrig,
als eben hinreicht, um noch den Abstand der Töne, ihren rein
quaUtativen Unterschied, annähernd zu erfassen.
Doch zeigt immerbin die relativ grofse Zahl der r gegenüber
den f namentlich bei K. und St. und vor Allem in den Fällen
der Octave, dafs der Consonanzcharakter auch hier keineswegs
ganz verloren geht und bei der vollkommensten Consonanz sogar
sehr wesentlich mitwirkt
b) Die Verwechslungen erfolgen in weit höherer
Anzahl gegenüber kleineren als gegenüber gröfse-
ren Intervallen.
In allen unseren Tabellen springt dieser Zug ohne Weiteres
in die Augen. Auch die hier nicht mitgetheilten Tabellen von
MüNNiCH und von Schweitzer ergeben denselben Zug : M. hat 30 k,
112 r, 16 g, ScHw. hat 41 k, 135 r, 27 g. Bei Frl. H. und
Dr. A. halten sich k und g allerdings die Wage, aber diese B€'
hatten überhaupt nur sehr kleine Urtheilszahlen.
172 <^' Stumpf.
Auch dies ein Ergebnifs, das man nicht hätte voraussagen
können, sicherlich nicht in diesem Maafse. Eine überzeugende
Erklärung hierfür weifs ich nicht zu geben. Man kann ja an-
führen, dafs im Allgemeinen die kleineren Intervalle die gewöhn-
licheren sind. Aber dies gilt doch vor Allem für den melodischen
Gebrauch, für die Aufeinanderfolge, während wir hier gleich-
zeitige Töne hatten.
Für die gleichzeitigen Töne kann man nur etwa so argumen-
tiren. Da die Accorde sich aus Terzen und Secunden aufbauen,
so kommen diese Intervalle nothwendig in Accorden öfter vor
als alle anderen. Aber auch Quarten kommen öfter vor als
Sexten, Septimen öfter als Nonen, und diese öfter als Unde-
cimen: weil das folgende Intervall immer durch Hinzufügung
einer neuen Terz in den Accord hineinkommt und also das
frühere immer schon mit dabei ist (ausgenommen, wenn Elision
stattfindet). Es ist mögUch, dafs hierin die Erklärung liegt
Aber in Ermangelung weiterer stützender Anhaltspunkte — die
Selbstbeobachtung und die Erinnerung bei den übrigen Herren
giebt mir hierüber keinen näheren Aufschlufs — wage ich sie
nicht für sicher auszugeben.
Soviel ist gewifs, dafs es sich nicht um ein allgemeines
Gesetz für die Schätzung von Tondistanzen handelt. Denn bei
sehr kleinen Tonunterschieden (unter einer halben Tonstufe)
sind vielmehr Ueberschätzungen die Regel. Man kann beide
Fälle insofern unter einen Gesichtspunkt bringen, als man auch
hier wieder die Schätzung nach der Seite des Gewöhnlichen
erfolgen läfst ; was dann zugleich als eine Art theoretischer Be-
stätigung der eben versuchten Erklärung dienen könnte. Auch
an das Ergebnifs unserer Versuche über Reinheitsurtheile könnte
man hierbei zurückdenken, wonach man bei Verstimmungen für
Verkleinerung eines Intervalls empfindlicher ist als für Ver-
gröfserung. Doch glaube ich nicht, dafs eine wirkliche Beziehung
unseres gegenwärtigen Falles zu diesem besteht. —
Ich füge noch einige gelegentliche Bemerkungen hinzu,
welche sich bei diesen Versuchen aufdrängten:
Besonders viel hängt bei Versuchen mit sehr kurzen Ein-
drücken von der nervösen Disposition, Frische oder Ermüdung
u. s. w. ab; wie ich dies an meinen eigenen Reihen constatiren
konnte.
(
Heber das Erkennen v. Inte%'vnllen «. Accorden bei sehr kurzer Datier. 173
Aber auch die momentane zufällige Richtung und Bereit-
schaft der Aufmerksamkeit bei jedem einzelnen Versuch ist von
besonderem Einflufs. Es kam vor, dafs einer einen Eindruck
ganz überhörte, welchen die anderen so deutlich wie immer ver-
nommen hatten. Die Aufmerksamkeit brauchte nicht überhaupt
abgelenkt zu sein, sie war vielleicht nur auf eine andere Octave
eingestellt.
Ferner zeigten sich hier wie bei anderen Versuchsreihen eigen-
thümliche Strömungen des Urtheils, nicht blos derart, daXs z. B.
14 mal hintereinander nur richtige, 6 mal hintereinander nur
falsche Urtheile abgegeben wurden, was natürlich mit der
nervösen Disposition zusammenhängt, sondern auch derart, dafs
eine temporäre Vorliebe für die Angabe irgend eines Intervalls
eintrat, dessen Wortbild oder Tonbild gerade im Bewufstsein in
den Vordergrund getreten war, oder endlich so, dafs bestimmte
Verwechslungen zeitweise das Uebergewicht hatten ; wie z. B. K.
in der Serie 13 und 14 regelmäfsig die Decime als None be-
urtheilte, sonst niemals.
Die Urtheilsbildung erfolgte erst nach dem Eindruck und
bedurfte einer gewissen Zeit, während deren keine Störung durch
Sprechen eines Anderen u. s. w. stattfinden durfte, ohne dafs
alle Möglichkeit der Urtheilsbildung aufgehoben wurde. Alle
stimmten darin überein, dafs das Urtheil sich an dem „Er-
innerungsbild" vollzieht, wie man übrigens dieses auch näher
definiren mag. In schwierigeren Fällen nahm ich ein inneres
Nachsingen zu Hülfe, fand dann allerdings auch hierbei Schwierig-
keiten.
Einmal war ein Tonreiz durch einen Versuchsfehler zu lange
gerathen : diese unerwartete Dauer setzte uns alle so in Bestürzung,
dafs sie das Urtheil verhinderte. Ebenso wurde das Urtheil
nicht gefördert, sondern gestört, wenn einmal einer der Töne
schon vorher hörbar war. NatürUch wurde in solchen Fällen
der Versuch nicht gerechnet.
Mehrere Beobachter hatten ein ausgesprochenes Gefühl
Bubjectiver Leichtigkeit gegenüber der Terz. Nur sie wurde
zugleich in der ersten Reihe als angenehm empfunden, „wie
eine Oase in der Wüste" (K.) In späteren Reihen auch noch die
Decime und die beiden Sexten. Sonst war von Annehmlichkeits-
unterschieden bei diesen kurz dauernden Eindrücken und der auf
das Erkennen gerichteten Gemüthsverfassung nichts zu bemerken.
174 ^' Stumpf.
Zweite Untersuchung:
Bestimmung Ton Accordtonen.
Diese Untersuchung wurde mit der ausdrücklichen Absicht
der Nachprüfung von Schulzens Resultaten angestellt Ich
wünschte mir ein Bild von den dabei vorkommenden experimen-
tellen und psychologischen Verhältnissen zu machen imd zu
sehen, ob nicht das eine oder andere von seinen Ergebnissen
sich auch unter einwandfreieren Versuchsumständen doch be-
wahrheitete.
Wundt's Theorie von der einsmachenden Ejraft des Tones 1
und seine Ableitung der Verschmelzungsthatsachen aus der Ge-
wöhnung an die harmonischen Obertöne (Nachklang der Helm-
HOLTz'schen Lehre von der psychologischen Klangzerlegung, die
Helmholtz aber später selbst aufgegeben) habe ich früher als
eine unbegründete bezeichnet. Ich würde aber natürhch, wenn
Versuche etwas davon bestätigten, nicht zögern, es anzuerkennen.
Es wurden daher wie bei Schulze die 6 ersten harmonischen
Theiltöne eines Klanges als Tonmaterial benützt. Diese ^^urden in
verschiedener Anzahl und verschiedenen Combinationen vorgelegt
und die Aufgabe dahin formulirt: bei kurzdauernden Ein-
drücken zu sagen, welche von den 6 Tönen im gegebenen FaD
in dem Tongemisch vorhanden waren. Die Beurtheilenden
wufsten, dafs es sich nur um diese Töne handle, und hatten
sie vor den Versuchen einzeln gehört
Die Aufgabe war also erhebUch schwerer gestellt als bei
Schulze, wo sie nur zu sagen hatten, ob sie einen oder mehrere
Töne überhaupt hörten, nicht einmal wie viele. Es hat aber,
wie schon bemerkt, keinen rechten Zweck, bei sehr musikalischen
Menschen — und nur solche können unter so erschwerten Um-
ständen einigermaafsen übersichtliche Resultate geben — die
Frage so unbestimmt zu stellen, weil bei der Zeitdauer von
einer Secunde und darüber wirküch musikalische Individuen
thatsächlich genauere Urtheile abzugeben in der Lage sind,
vorausgesetzt dafs es sich um gleich starke Töne handelt
Es wurden nicht so kurze Zeiten angewendet wie bei der
vorangehenden Untersuchung, aber auch nicht so lange wie bei
Schulze, der die Eindrücke 2 Secunden lang wirken Uefs. Die
Dauer betrug etwa eine Secunde und wurde regulirt durch ein
Pendel von entsprechender Länge, welches den Hahn drehte.
Ueber das Erkennen v, Intemaüen ti. Accorden bei sthr kurzer Datier, 175
Als Ellangquelle benutzte ich zuerst wie Schulze Stimmgabeln
auf Resonanzkästen, um zu probiren, ob nicht auf irgend eine
Weise doch möglichst gleich bleibende und unter sich gleiche
Intensitäten herzustellen wären. In die Besonanzkästen der
Gabehi von 100, 200, 300, 400, 500, 600 Schwingungen wurden
Schläuche geleitet, welche durch ein System von dreiarmigen
Glasröhren zuletzt in den Hauptschlauch mündeten, der den
Klang in das Beobachtungszimmer leitete. Durch langes Probiren
wurde diejenige Lage der Schlauchendigungen in jedem Kasten
ermittelt, welche für jede Gabel unter Voraussetzung eines gleich
starken Anschlages eine mögUchst gleich starke Tonstärke im
Beobachtungszimmer ergab. Aber alles half nichts. Wir mufsten
darauf verzichten, durch angeschlagene Gabeln zu Accorden von
hinreichend gleicher Stärke der Töne zu gelangen.^
Hierauf wählte ich als Klangquelle wieder unsere Flaschen-
orgel und zwar die Töne c, c\ g^, c^, e-, g^ (nebst einigen
dissonanten Zusammenstellungen). Durch einen grofsen Schall-
trichter, der einige Schritte vor der Orgel stand, wurde der
Klang in die Röhre geleitet, die zum Beobachtungszimmer
führte. Jeder dieser Töne wurde durch kleine Veränderungen
an dem Anblaseröhrchen zu einer möglichst gleichen Stärke mit
den übrigen gebracht, und zwar zu einer gleichen Stärke im
Beobachtungszimmer an der Röhrenmündung. Vollkommen ist
dieses Ziel freilich auch hier kaum zu erreichen, aber es fanden
jetzt wenigstens keine gröberen Ungleichheiten statt.
Nun ist aber noch ein Uebelstand in Hinsicht der Stärke,
der bei solchen Versuchen überhaupt nicht ausgeschlossen werden
kann, so lange man Töne von diesen Verhältnifszahlen wählt,
den man also nur eben bei der Interpretation der Ergebnisse
berücksichtigen mufs. Fügen wir zum Ton 1 die Töne 2 und 3
hinzu, so bilden diese unter sich einen Differenzton 1, verstärken
also den Ton 1. Ebenso 3 und 4, 4 und 5, 5 und 6. Ebenso
^ Bei Versuchen über Unterschiedsempfindlichkeit fflr aufeinander-
folgende Töne kann man, gehörige Uebung des Experimentators voraus-
gesetzt^ mit angeschlagenen Gabeln auskommen, weil jeder mifslingende
Fall, wo nur die geringste Stärkeungleichheit zu bemerken ist, durch einen
anderen ersetzt werden kann. Gegenüber 6 Tönen aber, die gleichzeitig
gleichstark erklingen sollen, ist der Experimentator nicht in der Lage, den
Erfolg seiner Bemühung in jedem Einzelfall zu controliren und Mifs-
lingendes auszuschalten.
176
C. Stumpf.
wird auch 2 verstärkt, sobald es durch andere Töne, wie 3 und
5, 4 und 6, als Differenzton miterzeugt wird. Kurz, es werden
mannigfache Verstärkungen entstehen, die den tieferen Tönen
mehr als den höheren zu Gute kommen, weitaus am meisten
aber dem Ton 1. Das ist ein Umstand, der immer noch an
Schulze's merkwürdigen Ergebnissen Schuld sein kann, wenn
auch sonst alle Vorsichtsmafsregeln getroffen wären. Es scheinen
allerdings Differenztöne eine gewisse kurze Zeit zu gebrauchen,
um überhaupt im Ohr aufzutreten (nicht blos, um wahrgenommen
zu werden). Aber bei zwei Secunden Hördauer, wie er sie an-
wandte, dürfte diese Zeit schon überschritten sein.
Als Versuchspersonen dienten bei diesen Versuchen haupt-
sächlich Herr Pastor Fehl, seit mehreren Semestern Theilnehmer
unserer Uebungen, und Herr stud. H. Beide sind nicht so
hervorragend musikaUsch wie die Versuchspersonen der vorher-
Tabelle I.
Vorgelegte
Toncombinationen
Beobachter H.
1. Reihe 2. Reihe
1 3. Reihe
a) 1
b) 1 6
c) 12 3 4 5
d) 12 3 4 5 6
e) 2 3 4 5 6
f) 13 4 5 6
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6
135
135
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1
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2345
13456(?)
Vorgelegte
Toncombinationen
Beobachter F.
1. Reihe
2. Reihe
3. Reihe
a) 1
b) 1 6
c) 12 3 4 5
d) 12 3 4 5 6
e) 2 3 4 5 6
f ) 13 4 5 6
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123
124
236
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16
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12346
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123456
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1456
Vtter das Erkennen v. Interwiüen u. Accorden hei sehr kurzer Daner, 177
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Zeitschrift für Psychologie 87.
178 ^- Stumpf.
gehenden Untersuchung, aber immerhin gut ausgebildet Der
erste spielt Orgel, Ciavier, Violine, der zweite Ciavier. Im
Hören von Obertönen war H. nicht geübt Au&erdem betheiligten
sich auch wieder Herr Dr. Abraham und Herr stud. Munnich, aber
nicht regelmäfsig und lange genug, als daTs ihre Ergebnisse
verwerthet werden könnten. Die Ergebnisse der beiden ersten
Herren dagegen führe ich in extenso an.
In Tabelle I giebt die erste Rubrik die vorgelegten, mit a)
bis f) bezeichneten Toncombinationen, wobei die Ordnungszahlen
1 bis 6 die oben genannten Theiltöne bedeuten. Die übrigen
Rubriken geben die von den Beobachtern wahrgenommenen
Töne. Analog ist die Einrichtung der Tabelle H, deren letzte
Gruppen auch dissonante Zusammenstellungen enthalten. Die
einzelnen Toncombinationen wurden in stets wechselnder und
unregelmäfsiger Reihenfolge vorgelegt.
Ein eingeschaltetes Fragezeichen bedeutet, dafs der ihm
voranstehende Ton nicht sicher wahrgenommen wurde. Ein
freistehendes Fragezeichen bedeutet, dafs der Urtheilende an eben
dieser Stelle selbst (also z. B. bei 12? jenseits der beiden ersten
sicher wahrgenommenen Töne nach der Höhe zu) noch einen
Ton zu hören glaubte, dessen er aber nicht sicher war oder den
er nicht näher bestimmen konnte.
Wir verstehen nun im Folgenden unter „wahrgenommenen*
Tönen diejenigen, welche die Beobachter zu hören glaubten.
Sie konnten sich täuschen und haben sich öfters getäuscht
Aber im Allgemeinen lehrt schon der Anblick der Tabellen, dafe
es sich nicht blos um Schätzungen auf Grund irgendwelcher
mittelbarer Kriterien handeln konnte, sondern dafs der Zusammen-
klang ihnen als eine wirkliche Mehrheit empfundener Töne er-
schien. Ich wüfste kein secundäres Kriterium anzuführen, das
so genaue Urtheile liefern könnte. Die Beobachter sprachen sieh
aber auch selbst in diesem Sinne aus.
Die Betrachtung der Tabellen ergiebt:
1. Es wurden im Allgemeinen um so mehr Töne wahr-
genommen, je mehr ihrer da waren; während bei Schulze
im Allgemeinen das Umgekehrte stattfand, insofern der Zu-
sammenklang um so öfter für einen Ton gehalten wurde, je
mehr er sich in der Zusammensetzung dem sog. normalen Ober-
tonklang näherte. Von solchem Verhalten läfst sich hier
schlechterdings nichts bemerken.
(
Ueber das Erkennen v, Intervallen u. Accorden bei sehr kurzer Dauer. 179
Bilden wir die Gresammtsumme aller vorgelegten und die
aller wahrgenommenen Töne bei den verschiedenen Ton-
combinationen, so erhalten wir folgende Uebersicht:
Tabelle I:
Vorgelegt: a) 12 b) 24 c) 60 e) 60
f) 60
d) 72
Wahrgenommen: „12 „ 23—24 „ 4ö „ 4ö— 46
„ 50-
-53 „ 50
Tabelle II:
Vorgelegt: a) 8 b) 16 c) f) je 24 g) 32
h) 40
i) 48
Wahrgenommen: „ 8 ^ 13—15 „ 16—27* „ 32
„ 35
„ 35—36
Mit der Anzahl der vorgelegten Töne wächst also im Allge-
meinen auch die der wahrgenommenen, wenngleich nicht in
demselben Grade, sondern abnehmend, was sich leicht versteht.
Speciell kann man noch, mit Rücksicht auf die Frage, wie
das Hinzutreten des Tones 1 wirkt, die Fälle e) und d) in der
Tab. I, sowie h) und i) in der Tab. II vergleichen. Die Gesammtzahl
der wahrgenommenen Töne erfährt auch hier nicht eine Ver-
minderung, sondern (wenigstens in Tab. I) eine Steigerung, wenn
der Ton 1 zu den Tönen 2 3 4 5 6 hinzukommt. Und dies ist
um so beweiskräftiger, als in Folge des schon erwähnten Um-
standes bei 2 34 5 6 nothwendig 1 als starker Differenzton auf-
tritt imd andererseits bei 12 3 4 5 6 der bereits vorhandene Ton
1 verstärkt wird. Dies mufs dahin wirken, dafs im ersten Fall
leicht mehr Töne, im zweiten leicht weniger Töne (in Folge
Ueberhörens der schwächeren) wahrgenommen werden. Trotzdem
nimmt selbst hier die Gesammtzahl der wahrgenommenen Töne
mit der der objectiv vorhandenen zu, wenn auch nicht in gleichem
Maafse.
Sondert man die Ergebnisse beider Beobachter, was hier
Wohl richtiger, so tritt die Zunahme bei H. um so stärker in die
Erscheinung, während diese bei F. in Tab. I fast verschwindet,
in Tab. II sich umkehrt. Bei H. steigt die Summe durch Hin-
zutritt des Tones 1 zu 2 3 4 5 6 in Tab. I von 21 auf 24, in
Tab. II von 20 auf 24. Bei F. steigt sie in Tab. I nur von 25
auf 26 und sinkt in Tab. II von 18 auf 14 Vo. Dies Uegt aber
nach Ausweis unserer Tabellen daran, dafs eben F. bei I in 3 von
* Hier hat F. öfters Töne hinzugehört. Bei H. allein ergeben sich für
ciiese Rubriken auf je 12 vorgelegte Töne je 8 — 12 wahrgenommene [8 für c),
11-12 für cD — f)].
12*
180 C'. Stumpf.
6 Fällen, bei II in 3 von 4 Fällen den DiSerenzton 1 zu der Com-
bination 2 3 466 hinzuhörte. Selbst die Ausnahme also wird
zur Bestätigung.
Wenn wir femer die Reihen c) und d) in Tab. 11 vergleichen,
also die Combinationen 12 3 und 2 34, so werden allerdings bei d)
im Ganzen mehr Töne wahrgenommen als bei c). Aber eine
vollkommen genügende Erklärung hierfür liegt darin, dafs man
die tiefere Octave c^ : c^ (Ton 1 und 2) schwerer auseinanderhält
als die höhere Octave c^ : c* (Ton 2 und 4), und dafe wiederum
bei 234 der Ton 1 als Differenzton hinzukommt.
Hiemach darf man wohl hoffen, dafs die Legende von der
vereinheitlichenden Wirkung des Tones 1 als solchen und von
dem EinfluTs, den das häufige Hören obertonreicher Klänge auf
die Analyse von Zusammenklängen haben soll, nicht weiter fort-
gepflanzt werde.
2. Es wurde im Allgemeinen ein um so gröfserer
Procentsatz der Töne überhört, je mehr Töne ge-
geben wurden.
Ein Verhalten, das ja gleichfalls sehr leicht begreiflich ist
und besondere Versuche nicht erfordert hätte, wenn nicht die
Paradoxien Schulzens vorlägen. Bezüglich Tab. I ersieht man
dieses Verhalten ohne Weiteres aus der Zusammenstellung
auf der vorigen Seite. Bezüglich Tab. II kommt in Betracht
dafs Fehl hier häufig Töne hinzuhörte, so dafs man natürlich
die Zahl der überhörten nicht aus der Zahl der angeblich ge-
hörten erkennen kann. Wenn wir aus den Urtabellen nur ab-
zählen, wie viele von den jedesmal vorgelegten Tönen überhört
wurden, so ergiebt sich
für a) (1 Ton) 0 der Gesammtsumme
„ b) (2 Töne) \ «
„ c)-f) (3 Töne) Ve „
. g) (4 Töne) Vie ^
„ h) (5 Töne) V. .
„ i) (6 Töne) V4 „
Die Brüche nehmen regelmäfsig zu, nur den Fall g) aus-
genommen. Da die Unterschiede in der Zahl der vorgelegten
Töne ebenso wie der Versuchszahlen überhaupt nur gering sind,
kann ja eine solche Ausnahme leicht vorkommen.
lieber da$ Erkennen v, Intervaüen u. Äccordeti bei sehr kurzer Dauer. 181
3. In Bezug auf die Ordnungszahl der überhörten
Töne gilt:
a) Der jeweiUg tiefste Ton eines Zusammenklanges wird
nur äulserst selten überhört
b) Im Uebrigen besteht ein Unterschied zwischen H. und F.
in der Art, dafs ersterer mehr die g e r a d zahligen, letzterer
mehr die ungeradzahUgen Töne überhört
ad a) In der ganzen Tab. I sind nur 2 Fälle von Ueber-
hören des tiefsten Tones. In Tab. 11 finden sich unter 81 Fällen
— die Fälle a) zählen wir natürlich nicht mit, wohl aber dies-
mal die Fälle m) und diejenigen von k) und 1), in denen die
ürtheilenden bestimmte Töne angegeben haben — nur 7 dieser
Art, wobei aber auch noch zu bemerken ist, dafs F. in einigen
dieser Fälle einen noch tieferen, subjectiv auch vorhandenen,
Ton an Stelle des wirklichen angab.
ad b) Wenn wir aus Tab. I Reihe b) — f) und aus Tab. II
Reihe b) — i) die Anzahl der Ueberhönmgen für jeden der 6 ersten
Theiltöne zusammenstellen, so erhalten wir folgende Uebersicht :
Tabelle HL
T
abelle IV.
Ton
kam vor
wurde flberhOrt
kam vor
wurde tIberhOrt
in Tab.I
von H. von F.
in Tab. II
von H. von F.
1
24 mal
2 mal
Omal
12 mal
Omal Omal
1
2
18 „
6 -,
1 «
24 „
10-12 „ 2 r.
3
24 „
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24 „
1 „ . 13 .
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20 „
0 , : 4 .
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24 „
13 .
4 „
12 „
1 n 1 ß r
Besonders die Tabelle III zeigt in auffallender Weise, dafs
bei H. vorzugsweise die geradzahligen, bei F. die ungeradzahligen
Theiltöne überhört wurden (natürlich mit Ausnahme des Tones 1,
welcher als jedesmal tiefster Ton unter die Regel a; fällt;.
In Tab. IV ist das Nämliche nur für die ersten zwei Ober-
töne (Ton 2 und 3; ersichtlich.
182 C'. Stumpf.
Dies erinnert nun in der That an eine der Anfetellungen
Schulze's. Wenn auch der behauptete Sachverhalt gem&fs der
Verschiedenheit der Fragestellung nicht der nämliche ist (denn
dort sollen von dem einen Beobachter die aus überwiegend
geradzahligen, von dem anderen die aus imgeradzahligen Theil-
tönen bestehenden Theilklänge vorwiegend für einen Ton ge-
halten werden), und überdies der von ihm behauptete Unter-
schied aus seinen eigenen Tabellen nicht irgend zuverlässig
folgt, so scheint doch nach meinen Ermittelungen etwas Wahres
daran zu sein.
Die Ursache dieses interessanten Unterschiedes dürfte, wenn
er nicht doch zufällig ist, in individuellen Erfahrungen und Ge-
wöhnungen liegen. Vielleicht dafs Orgelspieler wie F. in Folge
der Zusammensetzung gewisser viel gebrauchter Register sich
solche Urtheüsdispositionen aneignen. Jedenfalls wäre es ver-
kehrt, daraus für die allgemeine Theorie der Tonverwandtschaß
Schlüsse ziehen zu wollen. Die Duodecime ist für solche, die
den Ton 3 zu überhören geneigt sind, doch um deswillen nicht
stärker verwandt als die Octave. Damit haben diese individuellen
Eigenheiten nichts zu thun, und eine Theorie, aus welcher man
solche Folgerungen ziehen müfste, würde dadurch nur ihre Un-
möglichkeit beweisen.
4. Die dissonanten Dreiklänge d^ P h^ imd d^ f^ c\
wurden fast in allen Fällen, in welchen überhaupt genauere
Angaben erfolgten, richtig erkannt, in 7 Fällen wenigstens, im
Allgemeinen als Septimenaccorde bezeichnet. Bei dem dissonanten
Dreiklang 4:5:7 wurde von H. regelmäfsig die Septime über-
hört, von F. fast immer noch ein Ton der Reihe hinzugehört
Hier ist jedoch zu bemerken, dafs der Ton 7 nur schwach durch
den Schlauch kam, so dafs ich selbst ihn gar nicht hören konnte.
Auch hatte H. keine Kenntnifs davon, dafs dieser Ton in den
Versuchen vorkam, während F. es wufste.
Etwas Allgemeineres läfst sich bei der geringen Zahl der
Versuche in diesen Punkte nicht erschliefsen, ich hatte sie nur
der Abwechslung halber eingefügt.
In früheren Versuchen am Ciavier, wobei die Dauer nicht
gemessen wurde, aber gleichfalls sehr kurz war, wie sie eben
bei einem ganz kurzen Anschlag resultirt, habe ich gefunden,
dafs consonante wie dissonante Vierklänge auch von Musika-
lischen noch leicht als Duraccorde, verminderte Septimenaccorde
üd)€r das Erkennen v, Intervallen u. Accorden bei sehr kurzer Dauer, lg3
u. 8. w. erkannt, tind daXs von Solchen, die absolute Tonhöhen
erkennen, auch diese bezeichnet werden, ja sogar leichter, als
wenn die Töne isolirt erklingen. Auch über besondere Leistungen
in Hinsicht ganz ungewöhnlicher, ausgesucht schwieriger Auf-
gaben habe ich damals berichtet (Tonpsychologie 11 369). Ver-
suche dieser Art, wobei auch Beispiele aus der praktischen
Musik benutzt werden können, wären mit genaueren Hülfs-
mitteln, als ich sie damals hatte, durchzuführen und zu syste-
matischen Reihen zu erweitem. Ob etwas besonderes dabei
herauskommen wird, kann man freilich nicht wissen, aufser
etwa, daXs die Grenzen der musikaUschen Leistungsfähigkeit in
dieser Hinsicht festgestellt und dafs ermittelt würde, wo secundäre
Kriterien an die Stelle der wirklichen Analyse treten und welcher
Art sie sind. —
Schliefslich muTs ich aber eine eigenthümüche Erscheinung
erwähnen, die sich bei dem Beobachter H. in einigen oben nicht
aufgenommenen Versuchsreihen einstellte und die sich stark den Ver-
suchsergebnissen von Schulze annähert Zwischen den Reihen
der Tab. I und denen der Tab, H nämüch fanden zwei Ver-
suchsreihen statt, bei denen ich nur unter drei Zusammen-
stellungen wechselte: 1 23456 — 23456—1345 6.
Jede kam in jeder Reihe viermal vor. Ich gedachte dadurch
besonders die in den Reihen der Tab. I hervorgetretene That-
sache zu prüfen, dafs bei EL mehr die geradzahligen, bei
F. mehr die ungeradzahligen Theiltöne überhört werden. Die
beiden Reihen wurden zunächst nur H. vorgelegt Die Um-
stände waren sonst wie vorher. Aber das Ergebnifs war ein
sehr unerwartetes: H. glaubte jetzt beständig nur den
Ton 1 zu hören. Nur in 3 Fällen, dem ersten der einen, dem
zweiten der anderen Reihe schrieb er noch den Ton 2 (c^) mit
einem Fragezeichen hin, in zwei Fällen das Beiwort „voller" (beide
Male war es die Combination 13 4 5 6), in einem Falle
„schwächer" (es war 2 3 4 5 6).
Daraufhin ging ich zum umgekehrten Verfahren über, statt
die Anzahl der vorkommenden Zusammenstellungen zu ver-
mindern, sie zu vermehren und auch gelegentlich dissonante
Combinationen einzuschalten, wie es in den Reihen der Tab. H
geschehen ist Denn ich vermuthete, dafs die Fälle unter-
einander zu gleichartig gewesen waren ; wie denn auch H. selbst
184
a stumpf.
nach Beendigung der Reihe äufserte: „Es ist ja immer das-
selbe^. In der That lieferten die nun (Tags darauf) folgenden
vier Beihen H/s die wohlunterschiedenen und übersichtlichen Er
gebnisse, wie sie oben mitgetheilt wurden.
Dennoch kann dies nicht der einzige Grund gewesen sein.
Denn 1. bleibt es unklar, warum schon der erste Fall in den
beiden wunderUchen Reihen unanalysirt bUeb, während bei Za*
sammenstellungen von 5 Tönen niemals in den Reihen der Tab. I
und U nur Ein Ton von H. aufgezeichnet wurde; 2. habe ich
nach den Versuchen der Tab. 11 wieder eine Reihe mit H. allein
xmtemommen, bei welcher ich 6 Zusammenstellimgen vorlegte,
die aber auch sämmtlich aus mindestens 4 und höchstens 6 der
harmonischen Töne bestanden (immer vom 1. oder 2. anfangend),
die also ebenfalls sehr gleichförmig waren, aber dennoch wohl-
unterschiedene und der wirklichen Zusammensetzung ent-
sprechende Ergebnisse lieferten.
In drei weiteren Reihen, die ich nun unternahm, um diesem
seltsamen Verhalten näher auf die Spur zu kommen, legte idi
zuerst wieder nur die 3 obigen Zusammenstellungen vor und
erhielt wieder dasselbe Resultat wie in den zwei anormalen
Reihen. Dann aber 12 verschiedene Fälle, die zwischen 1 Ton
und allen 6 in mannigfachen Combinationen wechselten. Auch
hier fand sich die nämhche Unfähigkeit: immer wurde der
Ton 1 mit oder ohne 2 angegeben, einige Male auch, wo 1 wirk-
lich fehlte, nur 2, und einmal 1 und 3 (statt 1 2 3). Eine letzte
Reihe endlich enthielt 7 Fälle, die wiederum zwischen 1 und
den volleren Zusammenklängen wechselten. Diesmal liels ich
auch Herrn F. theilnehmen, um zu sehen, ob nicht ein un-
bemerkter Versuchsumstand auf ihn in gleicher Weise nivellirend
einwirkte. Aber wieder volle Unfähigkeit bei H., normale
Leistungen bei F., der nur wieder öfters Töne hinzuhörte.
Vorgelegte Töne:
Urtheile von F.:
H.:
n
1456
13456
1
345
2345
1(?)2
12
1
1
23456
12345
2
456
456
2
1
1
1
135
1345
123
Diesmal machen die Urtheile H.'s sogar den Eindruck des
rein Zufälligen.
Es bleibt also nur noch übrig, zu schUefsen, daCs der
intelligente Beobachter H. (trefflicher Mathematiker), der von
IJtbtr dca Erkennen v. Intervallen u. Aceorden hei sehr kurzer Datter. 185
nervösen Stimmungen auch sonst sehr abhängig ist (er muTste später
einmal wegen nervöser Störungen eine Heilanstalt aufsuchen),
zeitweise zur Analyse überhaupt unfähig wurde. Er analysirte
nicht das eine Mal besser, das andere Mal schlechter, sondern
einmal analysirte er, und zwar besonders sicher und genau, das
andere Mal analysirte er nicht, wenigstens nicht bei consonanten
Zusammenklängen m der hier angewandten Lagerung. Es ist
als wenn — um mich m einem physiologischen Büd auszu-
drücken — das durch Uebung erworbene gesonderte Functioniren
der einzelnen HörgangUen oder Processe durch einen über die
ganze Hörsphäre ausgebreiteten Hemmungsvorgang beeinträchtigt
wäre. Erklärt ist mit physiologischen Bildern freilich nichts,
da wir von solchen Mechanismen nichts wissen.
Es mag dabei noch eine Art Autosuggestion, anders gesagt
eine Urtheils- oder Aufmerksamkeitsträgheit hinzukommen, die
in der gleichen nervösen Disposition wurzelt. Wenn einmal im
ersten oder in den ersten Fällen der Eindruck der EinheitUch-
keit, vielleicht nur in Folge ungenügender Concentration der
Aufmerksamkeit, entstanden war, so konnte schon dadurch die
Richtung der folgenden Urtheile mit bestimmt werden, wenn dies
auch in normaler Verfassung bei einem guten Beobachter nicht
der Fall ist Begünstigt mufste dieser Erfolg natürUch werden
durch die in den 2 ersten abnormen Reihen angewandten geringen
Unterschiede der Toncombinationen.
Ich erinnere noch an ein eigenes Erlebnifs. Als es sich um
feinste Abstimmungsverschiedenheiten der Terzen handelte, lag
für mich, solange kleine Terzen ausschliefsUch vorgelegt wurden,
der subjective Reinheitspunkt unterhalb der physikalischen Rein-
heit Als aber in einer späteren Untersuchung grofse Terzen
vorgelegt wurden, bei denen er auf der Plusseite liegt, rückte
er auch bei der kleinen Terz während dieser Zeit auf dieselbe
Seite. Von Nervenstimmungen war hierbei nicht die Rede, die
erkannten Unterschiede waren auch nicht geringer als vorher.
Aber es war doch auch eine Art Autosuggestion entstanden, die
sich auf ganze Urtheilsreihen erstreckte.*
Ob nur irgend etwas von dem hier zuletzt Beobachteten und
Vermutheten auch auf die Ergebnisse Schulzens Anwendung
findet, will ich dahingestellt lassen, möchte es aber eher be-
» Zeitschr. f, Psychol. 18, 340 t
186 C". stumpf,
zweifeln, da die oben erwähnten Bedenken in Bezug auf seine
Versuchseiniichtungen die Aufsuchung von Erklarungsgründen
zunächst überflüssig machen. Es war ja in den abnormen Reihen
H.'s auch nicht etwa eine zunehmende Zahl der Einheitsurtheile
mit zunehmender Zahl der Töne und mit Annäherung an den
harmonischen Obertonklang aufgetreten, sondern es waren fast nur
Einheitsurtheile, es war Unfähigkeit zur Analyse überhaupt ein-
getreten. Doch ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dals
eine ähnliche Verfassung bei den Beobachtern Schulze's mit-
gewirkt habe ; in welchem Falle aber die Ergebnisse, auch wemi
die Versuchseinrichtung einwandsfrei wäre, nicht als Ausdruck
der normalen UrtheilsbeschaSenheit musikalischer Menschen
gelten dürften.
(Eingegangen den 2. August 1901.)
(Aus der physikalischen Abtheilung des Physiologischen Instituts
der Universität zu Berlin.)
sJ
lieber die Fläclienempfindiing in der Haut.
Von
Dr. Helen B. Thompson und Kathaeina Sakijewa.
(Mit 1 Fig.)
§1.
Durch die experimentelle Untersuchung, über welche im
Nachstehenden berichtet wird, sollte die Fähigkeit zur Unter-
scheidung der Gröfse von Flächen, welche die Haut berühren,
geprüft und dabei insbesondere der Einflufs des bei der Be-
rührung ausgeübten Druckes auf die Feinheit dieser Unter-
scheidung bestimmt werden. Dieses Ziel haben wir zwar, zum
Theil aus Mangel an Zeit, nicht vollkommen erreicht; wir
glauben aber, dafs es uns wenigstens gelimgen ist, einen Fort-
schritt in der psychologischen Analyse des Urtheils über die
Gröfse der berührenden Fläche und den Einflufs des Druckes
zu machen.
Zimächst haben wir zwei bereits früher ausgeführte Unter-
suchungen zu erwähnen, die unserem Thema nahe stehen.
L Dieselbe Frage ohne Berücksichtigung des Druckes hat
M. Eisneb zu lösen versucht.^ Er benutzte zur Berührung
kreisrunde Flächen und suchte den Unterschied zwischen den
Durchmessern von zwei derselben zu bestimmen, die bei der
* M. Eisner. „üeber die Beurtheilung der Gröfee und der Gestalt von
Flächen, welche die Haut berühren." Inaugural-Dissertation zur Erlangung
der medicinischen Doctorwürde. Erlangen 1887.
Igg Helen B, Thompson und Katharina Sakijewa.
Berührung als eben merklich verschieden in ihrer Gröfee em-
pfunden wurden. Das Verfahren dabei war das folgende: man
berührte bei einer Versuchsperson, welche die Augen schloft,
mit zwei verschieden grofsen Flächen dieselbe Hautstelle und
die Versuchsperson mufste entscheiden, ob die Flächen von ver-
schiedener Gröfse waren und gegebenen Falls, welches die
gröfsere war. Zu diesen Versuchen benutzte M. Eisnee aus
Hartgummi hergestellte Scheiben, die zur bequemen Handhabung
mit einem Metallstäbchen versehen waren, „damit sie, wenn man
damit die Haut berührte, nicht drückten, sondern nur deutliche,
reine Berührungsempfindung hervorbrächten." Es zeigte sich
nun eine ziemlich grofee Verschiedenheit in der Unterscheidungs-
fähigkeit der Haut an verschiedenen Körperstellen. So ergab
es sich, dafs auf der Zungenspitze zwei Flächen noch als Ter-
schieden grofs empfunden wurden, deren Diu'chmesser nur V«
und 1 mm betrug; auf dem Rücken, Oberarm, Oberschenkel
und Unterschenkel dagegen mufsten zwei als verschieden grofe
empfundene Flächen die Durchmesser von 2 und 25 mm haben.
Wie wir später sehen werden, war ein so grofser Unterschied bei
unseren Versuchen z. B. auf dem Rücken imd dem Oberarm
durchaus nicht erforderUch. Es ist mm zweifelhaft, ob es
M. EiSNEE wirklich gelungen ist, mit seiner Versuchsmethode
immer nur eine reine Berührungsempfindung hervorzurufen, und
ob das Urtheil der Versuchsperson sich immer ausschliefelich
auf die Grö&e der berührenden Fläche gründete ; denn das Auf-
setzen der Scheiben vermittelst der Hand konnte immöglich
immer und überall in derselben Art geschehen; es war wohl
unvermeidlich, dafs dabei eine mehr oder minder starke Druck-
empfindung oder eine verschiedene Art der Berührungsempfin-
dimg entstand. Diese Factoren spielen, wie wir später sehen
werden, eine sehr wichtige, sogar entscheidende Rolle in der
Beurtheilung der Gröfse der berührenden Fläche.
Von den sonstigen Resultaten Eisnek's können wir die von
ihm gefimdene Wirkung der Uebung bestätigen, femer die
feinere Empfindung an denjenigen Körperstellen, die gewöhnlich
zur LocaUsation vermittelst der Tastempfindung benutzt werden.
Doch haben wir selbst hierüber keine besonderen ausgedehnten
Versuchsreihen angestellt, sondern können imser Urtheil nur auf
gelegentlich eingeschobene Einzelversuche gründen. Die Er-
müdung an den Extremitäten, in Folge deren die Tastempfind-
Ueber die Flächenempfindung in der Haut. 189
lichkeit bei längerer Thätigkeit geschwächt erscheint, können wir
wenigstens am Oberarm nicht bestätigen. Am Unterarm, sowie
am Ober- und Unterschenkel haben wir selbst keine Versuche
gemacht
IL Die erste von uns (H. Th.) hatte gelegentlich einer
früheren experimentellen Arbeit die nachfolgenden Beobachtungen
gemacht :
a) Um die Unterscheidungsfähigkeit der Haut für die Gröfse
einer berührenden Fläche zu prüfen, wurde ein Satz von
quadratischen imgefähr 3 mm dicken Korkstücken hergestellt,
deren Seitenlänge von 10 bis 20 mm anstieg. Durch aufgeklebte
Bleistückchen wurden sie alle zu dem gleichen Gewicht von
20 g gebracht. Legte man nun zwei dieser Korkplatten nach
einander in wechselnder Folge auf dieselbe Stelle der Haut auf,
80 wurde im Allgemeinen die kleinste Korkplatte des betreffen-
den Paares als schwerer empfunden, ausnahmslos erschien aber
allen Versuchspersonen die kleinste Platte (10 mm Seitenlänge)
viel schwerer, als die gröfste (20 mm). Manche Versuchspersonen
hielten die kleinsten Korkplatten nicht nur für schwerer, sondern
auch für gröfser, als die gröfste; Andere hielten es fast für un-
möglich, überhaupt irgend ein Urtheil über die Gröfse der be-
rührenden Fläche abzugeben.
b) Da die vorstehenden Erfahrungen zu der Vermuthung
führten, dafs die Intensität einer Druckempfindung durch das
auf der Flächeneinheit lastende Gewicht bestimmt wird, so
wurde ein ähnlicher Satz von Korkplatten wie bei den eben
beschriebenen Versuchen angefertigt, jetzt aber die Belastung
durch Bleistückchen in der Art ausgeführt, dafs das Gesammt-
gewicht jedesmal der Gröfse der Fläche proportional, d. h. der
Druck auf die Flächeneinheit stets derselbe war. Das absolute
Gewicht wurde so gewählt, dafs es bei der gröfsten Korkplatte
(20 mm Seitenlänge) 20 g betrug. Wäre die oben ausgesprochene
Vermuthung richtig, so hätten alle Korkplatten dieser neuen
Reihe beim Auflegen auf die Haut dieselbe Druckempfindung
verursachen müssen; jetzt aber erschienen die kleinsten Kork-
platten leichter, als die gröfseren.
Aus dieser Beobachtung ergiebt sich daher:
1. Wenn auf zwei verschieden grofsen Flächen an derselben Stelle
des Körpers eine gleichstarke Druckempfindung hervorgerufen
werden soll, so sind die dazu erforderlichen Belastungen weder
190
Hden B, Thompson und Katharina SaJdjewa,
dem absoluten Gewicht nach gleich, noch proportional der GrröCse
der Flächen, sondern sie hegen zwischen diesen beiden Grenzen.
2. Die Empfindung der Gröfse der berührenden Fläche
wird beeinflufst durch die Gröfse des auf ihr lastenden Gewichtes.
Da nun die früheren Arbeiten über die Unterscheidungs-
fähigkeit für die Gröfse einer die Haut berührenden Fläche
nicht die MögUchkeit einer Beeinflussung des Urtheils durch die
Verschiedenheit des Druckes berücksichtigten, so bedürfen sie
von diesem Gesichtspunkte aus einer Nachprüfung. In den
nachfolgend beschriebenen Versuchen ist dieses nun zum
Theil geschehen. Doch ist mit ihnen keineswegs das genannte
Gebiet erschöpft und das ganze Problem gelöst Wir hoffen
jedoch, dafs eventuell andere Beobachter für die Fortsetzung
und Vollendimg dieser Versuche aus dem Nachfolgenden Nutzen
ziehen können.
§2.
Zu unseren Versuchen wurde der nebenstehend abgebildete
Apparat benutzt, der von dem Mechaniker des Physiologischen
Instituts Herrn W. Oehälke für unsere Untersuchung
besonders hergestellt war. Er besteht aus einem
Metallcylinder AB, an dessen einem Ende zur be-
quemen Handhabung der Griff H angesetzt ist.
Durch eine Oeffnung an dem anderen Ende ist
eine Nadel N verschiebbar, die sich auf eine in
dem Cylinder AB befindliche Spiralfeder stützt und
diese beim Einschieben zusammendrückt. Damit
dieses Verschieben möglichst glatt und reibungslos
geschieht, ist die Nadel mit einer langen Führung
versehen, zu welchem Zwecke über den Handgriff H
die Büchse C herausragt. Der von der Nadel aus-
geübte Druck läfst sich durch einen mit ihr ver-
bundenen Index I auf der seitlich angebrachten
Scala S, welche bis zu einem Drucke von 250 g
anstieg, ablese n.
An die Spitze der Nadel N wurde ein Kork K
aufgespiefst. Drückte man diesen nun auf die
imtersuchte Körperstelle auf, so konnte man an der
Scala sehen, wie hoch der ausgeübte Druck war.
Um für den kleinen Druck von 20 g eine gröfsere
j
jr
Üeber die Flächenempfindwng in der Haut 191
Genauigkeit zu erzielen, wurde für ihn eine andere schwächere
Spiralfeder mit der entsprechenden Scala eingesetzt In unserer
Figur ist das Instrument mit der schwächeren Feder und der
zugehörigen Scala abgebildet
Es wurden für die Versuche nur Korke verwandt, welche
mögUchst ebene, nmde Flächen besafsen. Die Durchmesser der
benutzten Korke waren : 24,75 mm, 22,5 mm, 20,5 mm, 17,75 mm,
15,5 mm, 12,75 mm, 10,25 mm, 8,25 mm. Der Kork mit dem
Durchmesser von 24,75 mm wurde als constante Gröfse ge-
nommen, mit welcher alle anderen vergHchen wurden.
Aus der nunmehr folgenden Beschreibung imserer Versuchs-
methode geht hervor, dafs stets zwei gleiche derartige Apparate
benutzt wurden.
Der Kork von 24,75 mm Durchmesser wurde auf die Nadel-
spitze des einen Apparates, der Kork von 22,5 mm Durchmesser
auf die Nadelspitze des anderen aufgespiefst. Dieses Paar setzte
man nach einander mit demselben Drucke, z. B. 70 g, auf eine
imd dieselbe Körperstelle der Versuchsperson auf. Die gegebenen
Antworten wurden als richtige, falsche und unbestimmte notirt
Im letzten Falle wurde der Versuch öfters wiederholt, um zu
sehen, ob die Ursache der undeuthchen Empfindung bei der Ver-
suchsperson oder beim Experimentator lag (ungeschicktes, schiefes
Aufsetzen des Korkes, gelindes Zittern der Hände u. s. w.). Ein und
dasselbe Paar von Korken wurde an einer und derselben Region
des Körpers 12 mal aufgesetzt und wenn % der Antworten
richtig waren, wurde der betreffende Unterschied zwischen den
Durchmessern als Unterschiedsschwelle der betreffenden Region
angesehen. Wenn dieser Bruchtheil nicht erreicht war, wurde
der Kork von 22,5 mm durch einen kleineren (von 20,5 mm,
17,75 mm, 15,5 mm u. s. w.) ersetzt und die Versuche wurden
auf die beschriebene Weise wiederholt, indem immer der-
selbe Druck angewendet wurde, bis sich die Unterschieds-
schwelle ergab.
Die Versuchsreihen wurden an sieben Körperstellen aus-
geführt :
1. auf dem rechten Oberarm;
2. auf der rechten Seite des Brustkorbes, 5 — 10 cm unter
der Achsolhöhle;
3. auf der Brust — rechte Mamma;
4. auf dem Bauch — unterhalb des Nabels;
192 Helen B, Thompson und Katharina Sak^ewa,
5. auf dem Rücken etwas unterhalb des linken Schulter-
blattes ;
6. auf dem Rücken imgefähr in der Höhe der ersten
Lendenwirbel ;
7. auf dem Glutäus.
Die verschiedenen Drucke wurden nicht in stets au&teigender
Gröfse genommen, sondern in nachstehender Folge : 70 g, 20 g,
150 g, 100 g und 250 g. Die Versuchsreihen mit dem Drad
von 20, 70 und 150 g wurden an zwei Personen dreimal aus-
geführt; die anderen Reihen nur je einmal. Um die gewonnenen
Resultate nachzuprüfen, wurden noch zwei Personen heran-
gezogen, an denen fünf Versuchsreihen mit den verschiedenen
Drucken je einmal ausgeführt wurden. Die Ergebnisse dieser
Versuche sind in den weiter imten folgenden Tabellen dargesteDt
Jede Versuchsreihe dauerte mit Einschlufs kleinerer Er
holungspausen 1^/^ — 2 Stunden. Dabei wurden noch folgende
Vorsichtsmaafsregeln beachtet. Die Temperatur des Zimmen
wurde immer so hoch gehalten, dafs die Versuchsperson, troti
der Entblöfsung ihres Körpers auch nicht die geringste Eälte-
empfindimg hatte, da sonst die Empfindlichkeit der Haut un-
günstig beeinflufst und auch die Aufmerksamkeit gestört wurde
Nach je 4—6 abgegebenen Urtheilen wurde die betreffende
Hautstelle leicht mit der Hand überstrichen, um die eventuellen
Nachempfindungen zu löschen, welche die deutUche Wahr-
nehmung des folgenden Reizes hinderten. Die Versuchszeit für
die ersten zwei Personen wurde fast immer Vormittags gewählt
weil zu dieser Tageszeit die Versuchspersonen frischer warea
Die ersten Versuche stiefsen fast bei allen Versuchspersonen
auf Schwierigkeiten ; die Flächenempfindung war sehr undeutlich
oder vielmehr gar nicht vorhanden ; sogar die Flächen mit dem
Durchmesser von 17,75 mm, selbst von 20,5 und 24,75 mm
wurden nur als Punkte empfunden. Bei den Versuchspersonen
H. Th. und K. S. trat die Flächenempfindung ziemlich bald anf :
bei der Versuchsperson S. Sch. ergaben dagegen die drei ersten
Versuchstage keine Resultate, alle Flächen wurden als Punkte
empfunden; erst am vierten Tage konnte diese Versuchsperson
verschiedene Flächen unterscheiden, ohne dafs aber ein Gröfsen-
urtheil möglich war; bald nachher wurde aber die Unterscheidungs-
fähigkeit sehr fein, wie es auch unten aus der Tabelle III
(Seite 26) zu sehen ist. Der Factor, der dabei die entscheidende
Ue&er die Fläehenempfindung in der Harnt 193
Rolle spielte, wird später besprochen werden« Nur die Ver-
suchsperson N. A. zeigte eine Abweichung von dem eben Ge-
sagten; bei ihr trat die reine Flächenempfindung sofort deutUch
auf imd war von Anfang an für ihr Urtheil maafsgebend.
Die Thatsache, dafs die Unterscheidimg der Flächen an«
fänglich nur sehr schwankend und unsicher war, hat veranlaGst,
dafs wir die Versuche zimächst mit Korken von ziemUch grofsen
Durchmessern begannen, und als dann später die Unterscheidung
mit der Uebung feiner geworden war, hat Mangel an Zeit uns
nicht erlaubt, die Versuche mit den klemeren Durchmessern, wie
sie EksNEB benutzte, anzustellen.
Die Schwankungen der Zahlen, die besonders in den Reihen
1 — 6 und 8 — 10 der Tabellen I imd II für einzelne Körperstellen
zu sehen sind, haben ihre Ursache zum Theil im Experimentator,
denn das Au&etzen der Korke geschah nicht immer in einer
für die betreffende Körperstelle passenden Weise, d. h. es wurde
wohl manchmal der Kork etwas schief aufgesetzt, wodurch un«
deutliche Empfindungen erzeugt wurden, die falsche Beurtheilung
hervorriefen. Mit der steigenden Geschicklichkeit des Ex*
perimentators wurden auch die Antworten der Versuchsperson
consequenter.
In den nachfolgenden Tabellen sind die Gröfsen derjenigen
Durchmesser angegeben, die beim Vergleich mit dem Kork von
24,75 mm bei dreiviertel der Antworten richtig als die kleineren
erkannt wurden.
Die Versuchspersonen waren alle ungefähr gleichen Alters
und standen im Anfang der zwanziger Jahre.
Wie sich aus den nachstehenden Tabellen ergiebt, hatte die
Verschiedenheit des Druckes nicht viel Bedeutimg für die Be-
urtheilimg der Flächengröfse. Doch schien der mittlere Druck
von 70 g und 100 g fast allen Versuchspersonen der beste für
das Zustandekommen einer wirkUchen Flächenempfindimg imd
die Beurtheilung ihrer Gröfse zu sein. Der gröfste Druck von
250 g störte dadurch, dafs er die Aufmerksamkeit der Versuchs-
person auf den starken Druck hinwenden und damit von der
Gröfse der berührenden Fläche ablenken liefs. Der kleinste
Druck von 20 g schien zuerst allen Versuchspersonen zu klein
zu sein, und die Berührung der Haut mit Korken bei der
Ausübung dieses Druckes rief eine sehr undeutliche Flächen-
empfindung hervor; nach einigen Versuchen aber wurde sie
Zeitschrift für Psychologie 27. IB
194
Helen B. Thomf»on und Ka^haritM
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Ueber die Fläckenetnpfindung in der Haut.
195
Tabelle m.
VersnchBperson Frl. Stud. pbil. S. 8ch.
20 g
70 g
Druck
100 g
150 g
1
250 g
Körperstelle
1. Reihe
2. Reihe
3. Reihe
4. Reihe
6. Beihe
Unterschiedsschwelle
Oberann
Brust
Seite des Brustkorbes
%auch
Hucken oben
Rücken Mitte
Olutäus
17,75
17,75
17,75
17,75
20,5
20,5
20,5
17,75
17,75
17,75
20,5
17,75
22,5
22,5
17,75
20,5
20,5
20,5
17,75
22,5
20,5
17,75
22,5
17,75
17,75
20,5
20,5
20,5
17,75
20,5
20,5
17,76
20,5
20,5
22,5
Tabelle IV.
Versuchsperson Frl. Stud. phil. N. A.
20g
70 g
Druck
100 g
150 g 250 g
Körperstelle
1. Reihe
2. Reihe 3. Reihe
4. Reihe
5. Reihe
Unterschied sschwelle
Oberarm
Brust
Seite des Brustkorbes
Bauch
Rücken oben
Rücken Mitte
Glutäns
15,5
15,5
15,5
15,5
15,5
15,5
17,75
20,5
20,5
20,5
17,75
20,5
20,5
17,75
17,75
20,5
20,5
20,5
20,5
20,5
17,75
20,5
17,75
17,75
17,75
17,75
17,75
17,75
1
20,5
20,5
20,5
17,75
20,5
17,75
20,5
gewöhnlich ziemlich gut und deutlich; die Versuchsperson
S. ScH. fand sogar, dafs dieser Druck der geeignetste sei, um
die Gröfse der Flächen deutUch wahrnehmen zu können; nur
die Versuchsperson N. A. fand ihn immer zu klein, um die
Fläche vollkommen deutlich wahrnehmen zu können.
Aus den Tabellen ergiebt sich ferner, dafs nach unseren
Versuchen keine grofse Verschiedenheit in der Unterscheidungs-
1^*
196 Helen B, Thompson und Katharina Sakyewa,
fähigkeit der Haut an den verschiedenen von uns untersuchten
Körperstellen besteht, wie dieses M. Eisneb gefunden hatte. Bei
uns scheint die Unterscheidungsfähigkeit auf dem ganzen Körper
zienüich gleichmäfsig vertheilt zu sein. Zum Theil können wir
dieses wohl darauf zurückführen, dafs der entscheidende Fiactor
für das gefällte Vergleichungsurtheil , wie wir sogleich noch
näher sehen werden, nicht die unmittelbare Gröfsenempfindung
der berührenden Fläche war, sondern in anderen Begleitum-
ständen lag.
§3.
Nachdem wir im Vorstehenden imsere Versuche und Er-
gebnisse systematisch dargelegt haben, wollen wir nunmehr die-
jenigen Resultate mittheilen, welche aus den gemachten Be-
obachtungen gewissermaafsen nur beiläufig gewonnen wurden.
Wie in § 1 schon erwähnt ist, beziehen sie sich zima Theil auf
die psychologische Analyse des von den Versuchspersonen bei
dem Vergleich der Berührungsflächen vollzogenen Urtheils.
1. Sehr wenige der Urtheile erschienen den Versuchspersonen
als reine Urtheile über die Gröfse der Flächen. In vielen Fällen
war es immöglich hierüber ein Urtheil zu fällen, ohne gleich-
zeitig den Factor des Druckes mit in Erwägung zu ziehen. Da
zwei von den Versuchspersonen (H. Th. und K. S.) einerseits
wufsten, dafs die beiden ihrer Gröfse nach zu vergleichenden
Flächen mit demselben absoluten Druck aufgesetzt wurden imd
da andererseits nach den (in § 1 unter IIa) angegebenen Et-
fahrungen die kleinere Fläche bei thatsächUch gleichem Drucke
subjectiv als stärker gedrückt empfunden wurde, so bestand
stets die Neigung, einen wirklichen Flächenvergleich völlig zu
unterlassen und von dem subjectiv stärker empfimdenen Druck
auf die geringere Gröfse der Fläche zu schliefsen. Das Ergebnife
dieses Schlusses war zwar richtig, aber das Urtheil, welches
eigentlich hätte gebildet werden sollen, war in Wirklichkeit gar
nicht vollzogen worden. Die Versuchsperson S. Sch., welche
diese Thatsache (§ 1, IIa) nicht wufste, unterschied die Gröfse
nach einigen Versuchen sehr fein; bei der näheren psycho-
logischen Analyse ergab es sich aber, dafs es bei der Beurtheilung
nicht auf die Gröfse der Flächen, sondern auf die Art der Be-
rührungsempfindung ankam. Die gröfsere Fläche (mit dem
Durchmesser von 24,75 mm) rief die Empfindung einer weichen
üeber die Flächenempfindung in der Haut 197
zarten Berührung hervor, die sich auf eine ziemUch grofse, aber
doch nicht sehr deutUch begrenzte Fläche erstreckte ; es ist nicht
gelungen, näher zu analysiren, warum der betreffende Kork als
gröfser beurtheilt wurde, obgleich die Gröfsenempfindung bei
der vorhandenen Flächenempfindung undeutlich war. Die Art
der Berührungsempfindimg, die durch den Kork von 24,75 mm
hervorgerufen wurde, war bei den Versuchspersonen K. S. und
S. SoH. schliefslich so ausgeprägt, dafs in den Fällen, wo dieser
Kork zuerst aufgelegt wurde, sich das Urtheil öfters ohne Ver-
gleich vollzog, indem die Versuchsperson dann diesen Kork als
den gröfseren bezeichnete, noch ehe der andere Kork aufgesetzt
wurde. Bei der Versuchsperson N. A. trat, wie schon erwähnt, die
Flächenempfindung von Anfang an deutlich hervor, und die
gröfsere Fläche wurde fast immer richtig erkannt, und merk-
würdig war es dabei, dafs die betreffende Versuchsperson die
gröfsere Fläche auch manchmal als die stärker drückende
empfand; das Urtheil wurde in diesen Fällen zwar nach dem
Druck vollzogen, war aber doch richtig, denn die als stärker
drückend empfundene Fläche war auch objectiv die gröfsere.
2. Der psychologische Character des Urtheils war bei den
Versuchspersonen H. Th., K. S. und S. Sch. abhängig von der
Beschaffenheit der Körpergegend, auf welche die Korke auf-
gedrückt wurden.
a) An Körperstellen, wo weiche Substanz in gröfserer Menge
gleichmäfsig vorhanden war, z. B. auf den Glutäen und den
Mammae, war die Unterscheidungsfähigkeit gering und es war
schwer zu sagen, auf welche Factoren das Urtheil eigentlich be-
gründet war. Im Ganzen schien es etwas mehr vom Druck
mittelbar abgeleitet, als unmittelbar auf die Empfindung der Be-
rührungsfläche begründet zu sein. Die kleinere Fläche machte
nänüich bei absolut gleichem Drucke einen tieferen Eindruck
an der betreffenden Körperstelle und rief dadurch ein gröfseres
Gtefühl der Spannung hervor, welches dann zur richtigen Unter-
scheidung benutzt wurde, da ja die Versuchspersonen H. Th.
und K. S. bewufst erwarteten, dafs es die kleinere Fläche sein
sollte, die diesen Eindruck machte. Bei der Versuchsperson
N. A. trat diese Abhängigkeit von der untersuchten Körper-
gegend für das Urtheil nicht hervor. Obwohl die kleineren
Flächen bei den Versuchen mit den gröfseren Drucken von 150
und 250 g einen tieferen Eindruck auf den weicheren Körper-
198 Helen B, Thompson und Katharina SaSajewa.
stellen, wie den Glutäen und den Mammae machten, so wurde
dadurch die Flächenempfindung doch nicht beeinflufist und das
stets richtige Urtheil stützte sich auf die Empfindung der
Flächengröfse.
b) Bei einer Region, welche im WesentUchen aus einer
dünnen Muskelschicht ohne Knochenunterlage bestand, wie auf
dem Bauche, beruhte die Unterscheidung fast gänzUch auf der Ver-
schiedenheit der Druck- und Berührungsempfindung und zwar
zum Theil durch Vermittelimg der in § 1 in IIa erwähnten
falschen ßeurtheilung des Druckes : der scheinbar kleinere Druck
der gröfseren Fläche wurde leicht bemerkt und ihre weichere
Berührung sehr deutHch empfunden; von den beiden wurde
dann auf die geringere Gröfse der anderen Fläche geschlossea
Bei der Versuchsperson N. A. wurde diese Art der Schluß-
folgerung nie oder nur sehr selten gemacht; sie meinte das
Urtheil immer auf die reine Flächenempfindung zu gründen.
c) Auf Körperstellen, wo die Haut nur diu'ch eine dünne
Muskelschicht von den darunterUegenden Knochen getrennt war,
z. B. an der Seite des Brustkorbes und auf dem Rücken unter
dem Schulterblatt, war das Urtheil in viel höherem Grade ein
reines Urtheil über die Flächengröfse; aber es beruhte nicht
allein auf den Empfindungen in der Haut, sondern es wurde
unterstützt durch die Differenzirung der Knochenunterlage. Die
Ränder der Druckfläche konnten besonders bei den starken
Drucken durch die Knochen localisirt werden und die Vor-
stellung der Flächengröfse wurde darauf gegründet.
3. Von anderen Beobachtungen, welche aber noch weiter
bestätigt und genauer verfolgt werden müssen, führen wir hier
folgende an:
a) Dieselbe Fläche erschien zu verschiedenen Zeiten der
subjectiven Empfindung nach sehr verschieden deuthch. Der-
selbe Kork, der das eine Mal als ein blofser Druckpimkt ohne
merkbare Flächenausdehnung empfunden wurde, erzeugte an
derselben Stelle zu einer anderen Zeit das ganz bestimmte Ge-
fühl einer berührenden Fläche. Ein analoger Unterschied bot
sich bei unmittelbar auf einander folgender Berührung mit dem-
selben Kork an verschiedenen Körperregionen dar, indem er auf
der einen als blofser Druckpunkt, auf der anderen als Fläche
empfunden wurde. Da, wo nahe unter der Hautoberfläche ein
Knochen lag, trat im Allgemeinen leichter ein bestimmtes Gefühl
Uthtr die Flächenempfindung in der Haut 199
der Flächenberührung auf, als an weicheren fleischigeren Stellen.
Einige Versuchspersonen glaubten, dafs sie an einigen Körper-
stellen besonders deutlich die Flächen und ihre Gröfsen unter-
scheiden könnten ; als solche Stelle gab z. B. die Versuchsperson
S. ScH. die Seite des Brustkorbes die Versuchsperson N. A. den
Oberarm an. Doch geht aus unseren Tabellen lH imd FV
(Seite 195) hervor, dafs hier hinsichtlich der Feinheit der
Unterscheidung eine subjective Täuschimg vorlag.
b) Aber wenn auch eine deutUche Fläehenempfindung ent-
stand, so wurde derselbe Kork an verschiedenen Körperstellen
doch verschieden grofs empfunden.
Anfänglich erschien uns derselbe Kork um so gröfser zu
sein, je weiter die mit ihm berührte Körperstelle nach unten
lag. Bei einer kurzen zur Prüfung dieser Erscheinung besonders
angestellten Versuchsreihe ergab sich aber keine durchgängige Be-
stätigung dafür. Doch wäre es sehr wünschenswerth, dafs weitere
systematische Beobachtungen nach dieser Richtung hin angestellt
würden, da die Empfindung in den entsprechenden Fällen
Aufserordentlich deutlich war.
Zusammenfassung der Ergebnisse.
1. Auf die Unterschiedsempfindlichkeit der Haut für die
Gröfse sie berührender Flächen übt eine Aenderung des Be-
Tührungsdruckes zwischen den Grenzen von 20 und 250 g nur
einen geringen Einflufs aus, solange die beiden zu vergleichenden
Flächen mit demselben Druck angelegt werden.
2. Die absolute Unterscheidungsfähigkeit der Haut für die
Gröfse sie berührender Flächen ist an allen im Tasten nicht ge-
schulten Stellen des Körpers beinahe die gleiche.
3. Das Urtheil über die Verschiedenheit der Gröfse zweier
die Haut berührender Flächen ist selten auf einfache Flächen-
empfindimg gegründet, sondern gewöhnlich auf mehrere andere
Factoren in zusammengesetzter Weise aufgebaut, z. B. Druck-
empfindung, Spannung der Haut und Locahsation durch die
unter der betreffenden Hautstelle hegenden Knochen«
Zum Schlüsse erlauben wir uns Herrn Prof. Dr. Arthüe
König, unter dessen Leitung die Arbeit ausgeführt wurde, für
sein stetiges Interesse und seine Rathschläge unseren besten
Dank auszusprechen.
{Eingegangen am 16» September 1901.)
Bemerkung
zu der Arbeit von Wiersma, diese Zeitschrift 26, 168fL
Von
Karl Marbe.
Gegenüber den Ausführungen von Wiersma in seiner Arbeit
„Untersuchungen über die sogenannten Aufmerksamkeitsschwan-
kungen. L^ gestatte ich mir zu bemerken, dafs das Hauptproblem
dieser Untersuchungen, die Frage der Abhängigkeit der Schwan-
kungen von den Reizimterschieden , von mir schon vor einer
Reihe von Jahren für Gesichtsreize untersucht wurde, \md dafs
ich zu imgefähr denselben Resultaten gelangt bin wie Wiersma.
Ich habe die Ergebnisse meiner Untersuchungen in den PhHo-
soplmchen Studien 8, 615 fE. mitgetheilt
Literatlirbericht.
L. W. Stern. Die psychologische Ärheit des 19. Jahrhanderts, inshesondere in
Deatschland. Zeitschr. f. pädag, Psychol. u. Pathol. 2, 329—352, 413—436.
Zugleich separat erschienen als Nr. I/II des: Vortragscyklus der Psycho^
logischen Gesellschaft zu Breslau über die Entunckelung der Psychologie etc,
im 19. Jahrhundert. Berlin, H. Walther, 1900. 48 S. (Selbstanzeige.)
Als standigem Ref. über die in der Zeitschrift für pädagogische
Psychologie erscheinenden Abhandlungen liegt es mir diesmal ob, über
eine eigene Arbeit zu berichten.
Die psychologische Gesellschaft zu Breslau hat in den letzten Wintern
einen Cyklus von Vorträgen veranstaltet, in welchem Jahrhundertrück-
blicke über die Entwickelung der Psychologie und wichtiger zu ihr in Be-
ziehung stehender Gebiete (Psychiatrie, Gehirnphysiologie, Sprachpsycho-
logie, Religionspsychologie, Kriminalanthropologie u. s. w.) gegeben wurden.
„Diese Vorträge, von Fachleuten, aber nicht für Fachleute gehalten, sollen
zur Orientirung des wissenschaftlich gebildeten Publikums dienen.'' Die
Vorträge erscheinen, aufser in der genannten Zeitschrift, auch als Einzel-
broschüren und werden später in einem Sammelband vereinigt ausgegeben
werden.
Die beiden Vorträge über die psychologische Arbeit des 19. Jahr-
hunderts, welche den Cyklus eröffneten, habe ich in der vorliegenden
Publication zu einer knappen, aber wenigstens alles Wesentlichste an-
deutenden Übersicht über Entwickelungsgang und Charakter der modernen
Psychologie auszugestalten versucht. Hierbei ist allerdings mit Absicht
die Betrachtung nur auf die Psychologie als Specialwissenschaft be-
schränkt worden, da ihre philosophische Seite in einem besonderen, noch
nicht veröffentlichten Vortrage („Das Problem der Seele im 19. Jahrhundert*')
zur Darstellung kam.
Der Gang der Betrachtung ist der folgende: Aus der ersten Hälfte
des Jahrhunderts hat die Psychologie als Fachwissenschaft nur zwei be-
deutende Namen aufzuweisen, Hebbabt und Beneks, deren Lehren kr
skizzirt werden. Die zweite Jahrhunderthälfte bringt innerhalb e^
zwölf ts (1851—63) die völlige Physiognomieveränderung der
Schaft zu Stande: neue Männer, neue Probleme, neue MeUv
die herrschende Tendenz in dieser Bewegung ist der Zug
202 Literaturhericht
wissenschaftlichung^. Dieser Zug gliedert sich sofort in drei dentlich
unterscheidbare Bichtungen: die physiologische, die psychophysische und
die eigentlich psychologische. An der Spitze einer jeden steht je ein
bahnbrechender Forscher : Helmholtz, Fbchneb, Wukdt ; ihr Werk und ihre
Lehre füllt die zweite Hälfte des ersten Vortrags.
Der zweite Vortrag, der die psychologischen Bestrebungen and
Leistungen der letzten Jahrzehnte zum Gegenstand hat, verläfist die bis-
herige Betrachtungsweise ; nicht mehr nach einzelnen Psychologen, sondern
nach psychologischen Tendenzen, Disciplinen, Methoden und Anschauungen
mufste hier der Stoff gegliedert werden. Mit einem lachenden und einem
weinenden Auge wird als die Eigenart der modernen Psychologie constatirt:
multum et multa: ungeheure Betriebsamkeit, schärfste Analyse, aber-
wältigende Materialfülle, aber auch ungeheure Buntscheckigkeit, Klein-
staaterei und Zerfahrenheit, Mangel an grofsen Gesichtspunkten und an
synthetischer Kraft.
Es ziehen zunächst die einzelnen Unterdisciplinen an uns vorfiber.
die physiologische, die genetische (nebst Kindespsychologie) die Gemein-
'schafts-(Völker- und Social-jPsychologie, die der individuellen Differenxen,
die Psychopathologie. Es folgt eine Betrachtung der modernen Behand-
lungsweisen: die Ausdehnung des Experiments auf immer centralere Ge-
biete der Seele, die Selbstbeobachtung, der scholastische Formalismns
(Bbentano nebst Schule, Rehmkb). Die Schlufsausführungen gelten den
theoretischen Grundanschauungen, soweit sie heut die specialwissenschaft-
liche Arbeit beeinflussen. Als Hauptscheidungsmerkmal wird hier die An-
nahme oder Leugnung eines einheitlichen Seelen- oder Subjectsprincipd
eingeführt; es stehen sich die „subjectlosen" und die „Subject-Psychologen*
gegenüber.
Da es bisher an einem historischen Abrifs über die Psychologie des
19. Jahrhunderts fehlte, so wird die kleine Arbeit vielleicht nicht ganz un-
nütz sein, um Studirenden und anderen Interessenten eine orientirende
Uebersicht zu gewähren. L. W. Stebn (Breslau).
W. B. B. GifisoN. The Principle of Least Action as a Psychological Priaciple.
Mind, N. S. 9 (36), 469-495. 1900.
Das Princip der kleinsten Wirkung (least action, cf. Helmholtz), ein
Grundprincip der Mechanik, wurde bekanntlich auch auf die Psychologie
ausgedehnt. Mit welchem Becht, das will der Verf. prüfen. Die mathe-
matische Fassung des Gesetzes ist ebenso verschieden wie sein Name.
Im Allgemeinen wird damit die Thatsache bezeichnet, dals ein Körper,
der sich von einem Punkt zu einem anderen bewegt, auf dem Weg sich
bewegt, welcher die geringste Gesammtsumme von Wirkung einschliefst,
wobei Wirkung (action) in LBiBNiz'schem Sinne als Product von Masse,
Geschwindigkeit und Weg verstanden ist.
Dieses mechanische Princip, über dessen ganze Tragweite und ent-
sprechenden Bang in der Beihe der Principien die Physiker keineswegi
eins sind, wurde gelegentlich mutatis mutandis auch zu einem psycho-
logischen Principe erhoben und zwar in drei Fassungen, als Princip kleinst-
Literaturbericht 203
möglicher Arbeit (inertia), als Princip abnehmender Arbeit (facilitation), als
Princip gröfstmöglichen Arbeitserfolges (economy).
In der ersten Form, als priucipium inertiae, vertritt es Ferbkro an-
geregt durch LoMBBOSo: das allgemeine menschliche Streben geht dahin,
möglichst wenig geistige wie körperliche Anstrengung zu leisten. Abgesehen
von der unhaltbaren Voraussetzung, dafs das Gehirn in absoluter Unthätig-
keit ruhe, wenn äufsere Reize fehlen, widerspricht Febrebo's Auffassung
die Thatsache der spontanen Bewegungen. Sie mauste sich mindestens
eine ganz erhebliche Umformung gefallen lassen, etwa: geistiger Fortschritt
hängt ab von dem Ausschlufs aller derjenigen Interessen, welche den
Interessen ferne liegen, die dem geistigen Leben Einheit verleihen; das
menschliche Streben geht also dahin, möglichst wenig zweck- oder werth-
lose Arbeit zu leisten. — Auch in der zweiten Fassung, als Princip der
Arbeitserleichterung, kommt ihm nicht dieselbe Bedeutung zu, wie seinem
physikalischen Vorbild im Gebiete des Mechanischen. Die Thatsache, daHs
durch Ausscheidung des minder Wichtigen und Herausarbeitung des
Wichtigen, die Denkprocesse sich verkürzen, die Denkarbeit sich ver-
mindert, giebt nach Ansicht des Verf. noch kein Recht zu der Annahme,
dafs sämmtliche geistigen Processe auf eine Verminderung der Denkarbeit
hinzielen. Nur als ein werthvoUer Gesichtspunkt zur Zusammenfassung
bestimmter, empirisch gefundener Thatsachen — Verf. verweist auf die
Veränderungen der Sprachen hin — kann es dienen. Endlich auch in der
dritten Fassung, als Princip der Oekonomie, in welcher es Mach und
AvENARius zum Grundprincip alles wissenschaftlichen Denkens erhoben
und H. CouNELius wie James es aufgenommen haben, spricht ihm Gebson
nur untergeordnete Bedeutung zu. So sieht der sehr kritische Verf. in
diesem Princip nur ein Princip zweiten Ranges, ein Ergebnifs, das uns
lebhaft erinnert an die Streitfragen, wie etwa, ob Herr X. hochwohlgeboren
ist oder nur wohlgeboren. Ofpnbb (München).
F. v. LuscHAü. Ueber kindlicbe Yorstellnngen bei den sogen. Naturvölkern.
Zcitschr. f. pädag. Psychol. i«. Pathol. 3 (2), 89—96. 1901.
Der im V^erein für Kinderpsychologie gehaltene Vortrag ist vor Allem
eine Kritik der Kritiklosigkeit, mit der häufig „Psychologie der Natur-
völker"* getrieben wird. So ist auch die Behauptung, dafs der psychische
Habitus der Naturmenschen dem des Kindes gleiche, in vielen Fällen nur
Folge falscher Beobachtung, verfehlter Ausfragung und ungerechtfertigter
Deutung. L. illustriert dies an zwei Eigenschaften, die man den Natur-
völkern zugeschrieben hat: der Schwäche im abstracten Denken und der
Unfähigkeit zu zählen. W Stern (Breslau)
A. Moll. Ueber eine wenig beachtete Gefahr der Prügelstrafe bei Kindern.
Zcitschr. f. pädag. Psychol. n. Pathol 3 (3), 215—219. 19()1.
M. führt in die Discussion über die Prügelstrafe den sehr bemerkens-
werthen Gesichtspunkt ihrer sexuellen Gefahr ein. Diese Gefahr ist eine
dreifache. 1. Es sind Fälle beobachtet worden, in denen Lehrer und
Lehrerinnen in der Prügelstrafe ein Mittel sehen, sich sinnliche Erregung
zu verschaffen. 2. Bei dem geschlagenen Schüler können Schläge (nament-
'204 Literaturbericht.
lieh solche auf das Sitzfleisch) sexuelle Empfindungen erwecken und da-
durch das Geschlechtsleben vorzeitig wecken. 3. Bei den zuschauenden
Schülern kann der Anblick des Schiagens erregend wirken.
W. Stebn (Breslau).
Th. Flocbmoy. Obserratlons psycbologiqnes snr le spiritlsme. Comptes-Bendu»
du TVe Congres intemat de Psychol, 22 acut 1900. Paris, ^Ican. 11 8.
Der letzte Psychologencongrefs brachte auf dem Grebiete des Spiritis-
mus und Occultismus viele kritiklose, anekdotenhafte Mittheilungen. Aber
zuweilen verrieth sich doch das Bedürfnifs nach einem streng wissen-
schaftlichen Prüfen und Begreifen, wozu noch in letzter Stunde O. Voot,
und vor ihm, in mehr allgemeiner Weise, Floubnoy fruchtbare Vorschlage
machten. — Mit gutem Humor schilderte dieser die Verlegenheit, die vielen
Gelehrten durch die „angeblich supranormalen" d. h. spiritistischen
Phänomene bereitet wird. Gerade die „officiellen" Vertreter der Psychologie
müfsten ihre Abneigung dagegen überwinden und die behaupteten Er-
scheinungen selbst prüfen ; das sei ihre wissenschaftliche wie pädagogische
Pflicht, zuletzt auch die beste Politik gegenüber den Angriffen der Gläubigen.
Der Genfer Psychologe hat mehrere Jahre hindurch in Spiritistenkreisen
eigene Anschauungen und Mittheilungen aus erster Hand gesammelt. Noch
ist er keiner einzigen Thatsache begegnet, die „zu Gunsten des Supra-
normalen" spreche. Sein Mifstrauen in Sachen des Spiritismus wuchs mit
der ErkenntniTs, wie zahlreich und mächtig die Quellen der Selbsttäuschung
auch für die ehrlichen Medien fliefsen, wi^ wenig der einmal überzeugte
Spiritist zu nüchterner Selbstkritik fähig und geneigt zu sein pflegt. Den
Hauptantheil an den Offenbarungen und den zu Grunde liegenden Erleb-
nissen der Medien haben unbewufste Factoren des Seelenlebens. Aus un-
bemerkten Perceptionen und latenten, d. h. für gewöhnlich nicht heraus-
analysirten Erinnerungsbildern flechten sich die Gewebe der unterbewufsten
Phantasie (Imagination subliminale). Und was so dem regellosen Spiele
der eigenen Vorstellungen unbewufst entstammt, erscheint dem Medium
selbst, ähnlich wie dem Träumenden, dem Hypnotisirten, dem Hailuciniren-
den, als Mittheilung einer fremden, objectiv gegenwärtigen Person. Aus
seinem, anderweitig ausführlicher mitgetheilten, Material hebt Floürnoy
hier den Fall einer träumerisch veranlagten Dame hervor, die nach einander
mit den Bewohnern dreier Planeten in Verbindung zu stehen angab.
Cagliostro's Geist vermittelte ihr Sprache und Schrift jener Planetenbe-
wohner. Zuerst liefs sich die Bevölkerung des Mars durch Mund und
Hand des Mediums vernehmen. Auf die Aehnlichkeit der Schriftzeichen,
der Laute und ihrer Bedeutung mit dem Französischen aufmerksam ge-
macht, producirte Frl. S. eine Reihe von fremdartigen, unter sich ähn-
lichen, kindlichen Diagrammen für einzelne concrete Begriffe, die der
unentwickelten Cultur eines der kleinen Planeten zwischen Jupiter und
Mars entstammen sollten; diese Begriffe erinnern an die Vorstellungswelt
der Abenteuerromane. Schliefslich erschienen drei grofse Buchstaben und
ein geschriebener und gesprochener, aber nicht übersetzter Satz vom
Uranus, dessen Idiom dem französischen weit überlegen sei. Der ge-
sprochene Satz enthielt 12 Silben, deren jede aus einem Consonanten und
Literaturbericht 205
«inem Vocale oder nar aaB einem Vocal bestand.^ Floübnoy betont das
Kindische aller dieser Offenbarungen und den naiv-feierlichen Ernst, mit
dem sie ohne jede Kritik vorgetragen werden. Es sei wie ein vorüber-
gehendes Wiederaufleben des kindlichen Zustandes. Die Frage der Gut-
gläubigkeit habe hier so wenig Sinn wie bei einem Jungen, der, den
hölzernen Säbel in der Hand, einen General vorstellt, oder bei dem
Mädchen, das seine Puppe reden lä&t; „sie betrügen nicht und wollen
nicht betrügen; sie spielen einfach." — Für die nähere, womöglich
experimentelle Erforschung der mediumistischen Vorgänge verspricht
Floubnoy sich viel von dem systematischen Zusammenarbeiten des in
Paris neu gegründeten Institut psychique. Zwei alte und gute methodische
Grundsätze empfiehlt er ihm zur Beachtung: 1. dafs nichts a priori für
unmöglich zu halten ist ; 2. dafs das Ungewöhnlichste, das unserem gegen-
wärtigen Wissen am meisten Widerstreitende auch am vorsichtigsten ge-
prüft werden mufs. Floübnoy zweifelt nicht, dafs alle spiritistischen Er-
scheinungen bei strenger Analyse ihrer Elemente und Bedingungen einer
psychologischen Erklärung nach bekannten Erfahrungen und Gresetzen
zugänglich seien. — Was er selbst, im Hinblick auf jene verhältnifsmäfsig
einfachen Fälle, an Erklärungsgründen vorbringt, ist gewifs geeignet, das
Dunkel vielfach zu erhellen. Natürlich reicht es nicht für alle Fälle aus;
z. B. nicht für die erstaunlichen Leistungen der „Hellseherin*' Mrs.
Thompson, von denen Myebs und van Eeden in Paris erzählten. Schliefslich
müssen auf diesem Felde die Erfahrungen der Physiologen, der Psychologen
und ganz besonders der Psychopathologen mit dem guten Willen intelligenter
Medien kritisch zusammenwirken. Krueoeb (Kiel).
G. VON Bunge. Lehrbach der Physiologie des Menschen. Erster Band : Sinne,
lerven, Mnskeln, Fortpflanxnng in achtnndzwanxig Vorträgen. Mit 67 Ab-
bildungen im Text und 2 Tafeln. 381 S. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1901.
Mk. 10.—.
Vorliegendes Lehrbuch der Physiologie ist, wie der Herausgeber in
dem Vorwort bemerkt, dadurch entstanden, daüs er sich durch den Wunsch
seiner Schüler zur Veröffentlichung seiner Vorlesungen veranlalst sah,
wenngleich er sich dabei nicht verhehlen konnte, dafs es heutzutage un-
möglich sei, das ganze weite Gebiet des vorliegenden Faches zu beherrschen.
Dafs er mit Bücksicht darauf die von ihm benutzten einschlägigen Quellen
aberall citirt, ist dankbar zu begrüfsen.
Der bisher erschienene erste Band erörtert die Physiologie der Sinnes-
organe, des Nervensystems, der Muskeln und der Fortpflanzung. Die hier
gewählte Form der Darstellung kommt dem Buche sehr zu gute, was bei
einem Manne, der das Wort mündlich und schriftlich so beherrscht wie
Verf., kaum noch besonders hervorgehoben zu werden verdient.
Was besonders betont werden mufs, das ist der Umstand, dafs Verf.
^ Unter den Consonanten waren 7 t und ein d; von den, durchweg
mit einander verbundenen, Schriftzeichen dieses Satzes ähneln die meisten
dem lateinischen t.
206 Literatwrbericht
Auf die aus den Lehren der Physiologie für die Praxis sich ergebenden
Folgerungen überall hinweist, und dafs er so vielfach die thatsftchliche Be-
deutung der Physiologie vor Augen führt. Das tritt insbesondere in der
18. und 19. Vorlesung zu Tage, wo er den Schlaf und den Hypnotigniiu
bespricht, und in der letzten, die Vererbung behandelnden Yorlesong, in
der er zu einer Vermeidung der Ehe zwischen Blutsverwandten in «Ben
Fällen räth, weil kein Mensch ganz gesund sei, und weil eine geringe
krankhafte Beanlagung beider Eltern sich bei der Nachkommenschaft
summire und potenzire, und weil wir über den Stammbaum und die Ge-
brechen aller Vorfahren niemals genau orientirt seien.
Ebenso folgt Verf. dem Zuge der Zeit, wenn er auch die Geschichte
der Medicin berücksichtigt, und dafs er Gall's nicht zu bestreitenden Ver-
diensten gerecht wird, soll nicht verschwiegen werden. Nachdrücklich hebt
er hervor, dafs Gmia^ schon 1825 vor Dax und vor Bboca das Sprich-
vermögen mit den untersten Windungen des Stimlappens in Zusammen-
hang brachte. Uebrigens hält Verf. es für möglich, dafs die Angaben
Gall's über die Beziehungen des Kleinhirns zur Geschlechtstunction xu-
treffen.
Natürlich bespricht Verf. auch actuelle Fragen ; so hält er — nm nor
dies zu erwähnen ; denn ein genaueres Eingehen auf den Inhalt des Bachei
verbietet sich schon von selbst — die Angaben von Fi«schsig über die
Function der Grofshimrinde trotz der stichhaltigen Einwendungen tob
Dj&jerine, Monakow, Sachs, Vogt und Sibmerlino, der hierbei ebenfalls hätte
erwähnt werden dürfen, nicht für widerlegt. Das Gleiche gilt auch von
der Neurontheorie. Im Gegensatz zu deren Gegnern hält er es nicht fflr
ausgeschlossen, dafs die Vorgänge, welche das Wesen der Nervenfonction
ausmachen, nicht in den Fibrillen, sondern in dem diese umgebenden
Protoplasma, in der Ferifibrillärsubstanz, sich abspielen; ja, er hält dies
mit Bücksicht auf deren Aggregatzustand für wahrscheinlicher. Einen
triftigen Einwand gegen diese Annahme kann er darin nicht erblicken,
dafs an den RANviER'schen Einschnürungen nur die FibriUen keine Unter-
brechung erleiden, da wir über die Art und Fortpflanzung der Bewegungs-
vorgänge bei der Nervenleitung noch nichts wissen und da es nicht fest-
gestellt sei, wie weit es sich bei den BAi7viER*schen Einschnürungen am
Kunstproducte handele. Freilich spricht Verf. später von einer in den
einzelnen Fibrillen ablaufenden Erregung.
Schliefslich schneidet Verf. auch neue oder bisher nur wenig discatirte
Fragen an, z. B. die, ob in der Retina bereits Licht- und Farbenempfindnngen
uns zum Bewufstsein kommen können, was mit Rücksicht darauf nicht
unmöglich wäre, dafs die Retina entwickelungsgeschichtlich nur ein Theil
des primären Vorderhirns ist.
üeber den zweiten Band des Lehrbuchs soll demnächst, wenn er er-
schienen ist, an dieser Stelle kurz berichtet werden.
Ernst Schultze (Andernach).
Literaturbericht. 207
Gustav Fritsch. Yer gleichende Untersncbimgeii menschlicher Angen. Sitzung»"
berichU d, Akademie d. Wissensch. zu Berlin 1900, 63&— 663.
— Rassennnterschiede der menschlichen Netshant. Ebenda 1901, 614—631.
Die hervorragenden Leistungen, deren die Augen der Naturvölker
nach den Berichten der Beisenden fähig sind, haben in neuester Zeit zwar
etwas an Erstaunlichkeit eingebüfst, indem man die Leistungsfähigkeit zum
guten Theile auf Gewöhnung und Schulung der Aufmerksamkeit zurück-
führen konnte, thatsächlich wurde jedoch auch häufig eine über die Norm
hinausgehende Sehschärfe von zuverlässigen Untersuchem zahlenmäfisig
festgestellt, so dafs die von F. in Angriff genommene Frage, ob die materielle
Basis hierzu in dem besonderen Baue der Netzhaut, speciell der Stelle des
schärfsten Sehens, der Fovea centralis gelegen ist, nicht nur auf das
Literesse der Anthropologen, sondern auch der Physiologen und Augenärzte
in hohem Maafse Anspruch hat. Wer die Schwierigkeit in der Beschaffung
frischer menschlicher Augen nur in Europa aus eigener Erfahrung kennt,
wird begreiflich finden, dafs Verf. in den beiden vorliegenden Abhandlungen
die Frage noch nicht zur Entscheidung bringen konnte. Er erörtert zunächst
die technische Behandlung der Augäpfel, welche behufs Erzielung guter
vollständiger Bilder von der Fovea centralis zu den schwierigsten Gebieten
der mikroskopischen Technik und gehört durch Kunstproducte leicht zu
falschen Anschauungen über den anatomischen Aufbau führen kann. F. hat,
von einigen Beobachtungen Koster's abgesehen, zum ersten Male in
systematischer Weise das Verhalten der Stäbchen-Zapfenschicht der mensch-
lichen Netzhaut an Flachschnitten, nicht den üblichen dem Längsdurch-
messer parallel geführten Schnitten studirt. Das hierbei deutlich hervor-
tretende Mosaikbild der quergetroffenen Stäbchen und Zapfen gestattet
Zählungen und ein Urtheil über die Vertheilung der einzelnen Sehelemente,
dessen Einzelheiten einer späteren Arbeit vorbehalten werden. In den vor-
liegenden werden auf Grund der Untersuchung von 60 „Kassenaugen"
(afrikanische und europäische, wie viel von jeder einzelnen Basse vor-
lagen, wird leider nicht mitgetheilt) vier schon bei Lupenvergröfserung
erkennbare Typen der Fovea, von welchen auch Uebergangsformen vor-
kommen, aufgestellt: 1. Die fein und scharf umrandete Fovea mit ebenem
Grunde (Berberiner). 2. Die fiache, seitlich verstreichende, glatte Fovea
(Sudanesen). 3. Die ebene Fovea mit strahliger Umwallung (Aegypter, d. h.
ägyptisch-arabische Mischrasse}. 4. Die unregelmäfsige, häufig stark um-
wallte Fovea (europäische Rassen). Gerade bei den letzteren ist durch
Rassenvermischung der Typus mehr und mehr verwischt worden, so dafs
Verf. die Noth wendigkeit betont, auch Lebensweise und Beschäftigung
„womöglich sogar der Eltern" zu berücksichtigen. Nach Ansicht des Ref.
wäre dann auch die freilich meist sehr erschwerte Berücksichtigung der
Refraction und Sehschärfe des anatomisch untersuchten Auges wünschens-
werth.
Der Grundtypus der genannten Varietäten ist nach F. bei den Affen
und zwar nicht bei den höheren, sondern bei den niederen Formen ». ^
den Meerkatzen zu finden. Bei ihnen ist die relativ fgtotß^
abgerundete Fovea mit glatten Rändern ausgestattet, im
die regelmäfsig gebildete Foveola sichtbar. Auch die Ztt
208 Literaturberichi.
keit der einzelnen Elemente l&fst F. vermuthen, dafs die Angen dieeer
Thiere die menschlichen an Sehschärfe übertreffen, während die Angen
der Anthropoiden dem Menschen ähnlicher, in diesem Sinne bereits re-
gressiv metamorphosirt sind. Abslsdobff (Berlin).
A. M. Pastorb. Sülle oscillazioni delle sensaiioni tattiU prodotte con itiaelo
meccanico, e inlle oscillaxioni nella percexione della flgora diSchroeder.
QiofTMle della reale accademia dt medicina di Torino 68, Volnme VI, fasc. 6.
1900.
F. KiBsow. Gontribnto alla psico-flsiologia del lenso tattile. Ebenda fasc. 9—12.
Aknibale M. Pastobe e Luioi Agliabdi. Sülle oscillaiioni delle aeiaaxloiii di
deformasione cutanea. AtH della r. accademia deUe Scienze di Torino. YoL
36. 10. März 1901.
Die Arbeiten sind der Anregung Kiesow's zu verdanken. Als Apparat
wurde eine Präcisionswage benutzt; der längere Arm lief in eine Karte
von 3,5 mm Durchmesser aus ; ein am gleichen Arm angebrachtes Grewicht
bestimmte die Intensität des Beizes. Die Karte berührte die Haut ober-
flächlich vor Beginn des Versuches. Pastobe fand bei seinen Experimenten,
die er auf der Beugefläche des rechten Vorderarmes und auf der Pulpa
des Mittelfingers machte, dafs die Tastempfindungen, hervorgerufen durch
mechanischen Beiz, deutlich schwanken, und zwar nicht in der Nähe der
BeizschweUe, sondern oberhalb derselben ; ferner daüs diese Schwankungen
nicht periodisch sind.
KiBSOw stellte mit Hülfe von Haarreizen nach Frey die Zahl der, den
MEissNEB'schen Tastkörperchen entsprechenden, Tastpunkte für verschiedene
Körperregionen überaus sorgfältig fest. Am inneren Bande des linken
Vorderarms fanden sich in der Nähe des Handgelenks auf 1 Quadratcenti-
meter 28,53 Tastpunkte, in der Mitte 16, im oberen Theile 9,33, an der
inneren Seite des Ellbogengelenks 12,16, in der Mitte des Oberarms 9; die
Bückseite des linken Vorderarms zeigte 28, der Processus styloides der
linken Ulna 20,5, die Bückseite des Daumens 25,75, in der Mitte der Knie-
scheibe 8, der Oberschenkel unmittelbar oberhalb der Kniescheibe innen
13,5, aufsen 15,3 Tastpunkte auf den Quadratcentimeter. Die Zahlen stellen
den Durchschnitt eines 4 Quadratcentimeter umfassenden Baumes dar.
In einer weiteren Beihe von Experimenten, deren Besultate aber nur
vorläufige sind, suchte Kiesow die Empfindlichkeit der Tastpunkte festza*
stellen. Die mittlere Empfindlichkeit war 1 — 2 Grammmillimeter. Fast
10 mal so empfindlich war Zunge und Unterlippe.
Die Verff. der 3. Arbeit bedienten sich des oben erwähnten Apparates.
Das Signal der wahrgenommenen Empfindung bestand theils in der Auf-
zeichnung auf einem Kymographion mit Hülfe eines Tasters, theils in dem
Aussprechen bestimmter vorher verabredeter einsilbiger Worte. Es konnte
mit Sicherheit festgestellt werden, dafs bei gleichbleibendem Beiz und
gleichbleibender Beizstelle die Schwankungen in verschiedener Weise auf-
traten. In der 1. Minute traten die meisten Schwankungen auf und zwar
solche der Deutlichkeit; in der 2. häuften sich die fehlenden Eindrücke.
Literaturheri^t 209
Auch bei Iftngerer Ansdehnung fehlten die SchwAnknngen nicht; bei G^-
irichten jenseits der Beisschwelle nahmen sie ab und bestanden bei 6 gr
-Gewichten nnr noch in seltenen Yerändemngen der Deutlichkeit. Die
Verff . echlieHsen nach eingehender Besprechung det einschlftgigen Literatur :
Auch die Empfindung der Hautverschiebung (durch Druck) seigt^ innerhalb
^r Grenzen einer gewissen Intensit&t, Schwankungen von unregelmftfsigem
Verlauf und sehr verschiedener Dauer. Die Sinnesorgane spielen eine Rolle
beim Zustandekommen dieser Erscheinung, aber nicht die einsige und nicht
die ausschlaggebende. Sie mufs auf andere, centrale Ursachen, die nicht
festzustellen sind, zurückgeführt werden. Die Selbstbeobachtung Iftfst die
complicirte Zusammensetzung der studirten Erscheinung erkennen; von
dieser rührt wahrscheinlich auch die Unregelmftfisigkeit her. Die festge-
steUte Verschiedenheit der einzelnen Empfindungsschwankungen macht
eine genaue Feststellung der Schwankungen selbst unmöglich.
ASCHAFFENBVRG (Halle).
H. R. BiABSHALL. Oonsclevs&en, Self-Oonseioasiisss and ^e Seif. Müid, N. 8.
10 (37), 98—113. 1901.
Verf. geht aus vom psychophysischen Parallelismus und von der
Thatsache, dafs das Gehirn nicht sowohl eine Summe von selbständigen
Einzelelementen ist, sondern vielmehr ein nervöses System, in welchem
die einzelnen Elemente als unterscheidbare, aber nicht trennbare Bestand-
theile mit einander und auf einander wirkend vereinigt sind. Nun ist aber
das Bewufstsein eine Erscheinung, welche Vorgängen in diesem System
parallel geht. Also müssen wir es gleicherweise nicht als Summen
psychischer Atome ansprechen, sondern als ein System, ein Ganzes, be-
stehend aus unterscheidbaren, aber nicht trennbaren Bestandtheilen, die
unter geeigneten Umständen die Centren neu auftretender Bestimmtheiten
des Bewufstseins werden können. Bedeutungsvoll ist diese Auffassung für
das Verständnifs dessen, was wir Selbstbewufstsein heifsen. In diesem
Zustand der Selbstbeobachtung, der Reflexion, erscheint das Bewnüstsein
halbirt Es tritt uns, den Wissenden, gegenüber als eine Vorstellung, ein
Inhalt, und zwar als ein Zuwachs zum Ich (increment), eine Unterscheidung,
welche bei den meisten anderen Bewufstseinsvorgängen unterbleibt. Das
Ich, Selbst, ist Bestandtheil des Bewufstseins und doch nicht vorstellbar
(vgl. WüNDT : Ich — keine Vorstellung sondern ein Gefühl, und ähnlich Lipps
in seiner scharfsinnigen Untersuchung: „Das Selbstbewufstsein; Empfindung
und Gefühl**). Diesem reinen, absoluten Ich wächst im Fall der Reflexion
zu, tritt entgegen eine Vorstellung, die selbst wieder aus zwei Elementen be-
steht, aus der Vorstellung des empirischen Ich, dem das empirische loh
ausmachenden, begründenden Inhalt, worüber uns freilich die Untersuchung
nicht hinreichend aufklärt, und dem Zuwachs (incremen tum), die Vor-
stellung, welche dieses empirische Ich hat, den es ausfüUenden, be-
schäftigenden Inhalt. Solch ein Zuwachs zum empirischen Ich wäre z. B.
ein Lichteindruck, also eine bestimmte Vorstellung. Dem entspräche im
nervösen System ein Vorgang in einem Theile des Systems, im optischen
Centram. Diejenigen Vorgänge aber im nervösen System, welche nicht
ZeiUchiift (Or Psychologie 27. 14
210 Literaturbericht.
als momentane Reiznngsvorgänge in bestimmten Gentren sich erweiaen,
entsprechen dem, was wir Ich, Selbst nennen, das nicht als Vorstellnngs-
Inhalt gegeben ist. Seine Eigenart ist bedingt^ begründet durch die Nach-
wirkung früherer Erlebnisse, solcher der Vorfahren wie eigener, und durch
eine von Individuum zu Individuum wechsehide besondere Wirksamkeit
der Centren in dieser oder jener Richtung. Dieses Ich tritt in die Er-
scheinung als eine Summe von instinctiven Gefühlen und gewinnt so auf
unser concretes Denken, Urtheilen und Handehi groüsen Einflufa, oft im
Widerspruch mit den im Moment gegebenen Bewufstseinsinhalten.
Offneb (München).
B. Eisler. Das Bewufstsein der Anfsenwelt. Gmndlegniig xn einer ErkeBmtnirs-
theorie. Leipzig, Dürr, 1901. 106 S.
Der Verf. untersucht zunächst das Verhältnifs von Empfindung und
Wahrnehmung (deren Plus er in assimilirten Elementen früherer Wahr-
nehmungen erblickt), dann den Gegenstand der Wahrnehmung, die Kategorie
der Dingheit (Dingheit ist ein Refiex der Ichheit, also Introjections-
Leistung) und die KAxx'schen Kategorien, endlich den naiven und kriti-
schen Realismus und die Beziehung von Bewufstsein und Sein („Sein''
heifst in letzter Linie: sich wie ein Ich verhalten). Als ErgebnillB seines
wissenschaftlichen Nachdenkens bezeichnet der Verf. einen kritischen
Realismus und Positivismus. — Die dem Haupttexte beigefügten An-
merkungen sind Zeugnisse eines seltenen Fleilses und verleihen dem Büch-
lein einen speciellen Gebrauchswerth als Orientirungsbehelf. In der
Problemstellung und Lösung selbst scheint dem Ref. die Arbeit einen
eigentlichen Fortschritt nicht zu begründen. Kreibiq (Wien).
A. Baoinsky. üeber Suggestion bei Kindern. Zätschr. f, päda^, Fsydiol u.
Pathol. 3 (2), 97—103. 1901.
Der im Verein für Kinderpsychologie gehaltene Vortrag beschreibt
eine Reihe von klinischen Beobachtungen, in welchen Kinder von zimi
Theil recht schweren pathologischen Zuständen auf rein suggestivem Wege
geheilt wurden. W. Stern (Breslau).
C. Stumpf. Tonsystem und Musik der Siamesen. Mit einer Beilage: Partitir
und Melodie eines siamesischen Orchesterstücks. Beiträge zur Akustik und
Musikunssemchaft (3), 69—138. 1901.
A. J. Ellis hatte im Jahre 1885 beiläufig mitgetheilt, dafs der
siamesischen Musik eine Leiter von 7 gleich grofsen Stufen zu Grunde
liege. Die principielle Wichtigkeit dieser Angabe veranlaÜBte Stumpf zu
einer Nachprüfung, wozu die Anwesenheit eines guten siamesischen
Orchesters in Berlin Gelegenheit bot. Seine umfassenden Untersuchungen
beschränkten sich nicht auf die (bestätigende) Feststellung jener 7 stufigen
Tonleiter; sie erstreckten sich auf alle Instrumente der Truppe, auf das
musikalische Gehör der Künstler, auf die producirten Musikstücke; sie
führten zu einer Analyse und psychologischen Interpretation der siamesischen
Musik überhaupt. — Die regelmäfsig und zugleich benutzten Instrumente
Literaturbericht 21 1
waren 2 Harmonikas verschiedener Höhe aus Bambusholzstäben (Banat),
2 ebensolche ans Metallglocken (Kong) nnd 2 Labialflöten; dasn kamen
2 Pauken nnd mehrere Becken. Der Umfang dieser Instrumente reichte
von Ab 106 bis e$* 1520. Die ein für alle Mal festliegenden Töne der
Banats nnd Kongs wurden ihrer Höhe nach sämmtlich genau bestimmt:
durch alle Tonlagen hindurch wiederholte sich eine temperirte Octaven-
l^^r von 7 geometrisch gleich grofsen Stufen; dabei war die Abstimmung
so fiin, dafs die unmittelbare Tonvergleichung Abweichungen von der
Gleichotafigkeit nur bis zu B Schwingungen ergab. Selbst die Schlag-
instrumente waren nach diesem Principe gestimmt. Das Schwingungsver-
hältnifs zweier benachbarter Töne ist also bei den Siamesen überall gleich
und steht in der Mitte zwischen dem Halbton und dem Ganzton der
europäischen Leitern. Aufser der Octave enthält das siamesische Ton-
system keines unserer Intervalle, „weder rein, noch in den für uns zu-
lässigen Grenzen temperirt". Zur Erklärung dieser, wie auch der 5 stufigen
Tonleiter der Javaner ist nach Stumpf die Voraussetzung unausweichlich,
dafs [ursprünglich] „die auf einander folgenden geometrisch gleichen Stufen
auch in der Empfindung als gleiche Tonabstände sich darstellen". Das
entgegenstehende Versuchsergebnifs von Luft und Lorenz, wonach gleiche
Schwingungsdifferenzen und nicht -Verhältnisse als gleiche Ton-
abstände aufgefafst würden, beruhe auf unseren musikalischen Gewohn-
heiten, auf der Bedeutung des harmonisch-musikalischen „Schwerpunkts''
für unser Urtheil.
Diese Erklärung pafst auf den von Stumpf herangezogenen Fall, dafs
die Quinte in die Mitte der Octave verlegt wird ; sie würde auch die grofse
Terz als Mitte der Quinte, die Quarte als Mitte der grofsen Sexte begreiflich
machen. Aber damit sind nicht alle abweichenden Beobachtungen erledigt.
Stumpf's technische Bedenken kann ich auf Grund eigener, wiederholter
Versuche mit Stimmgabeln wie mit Zungen nicht als erheblich anerkennen.
Die harmonische Gewöhnung beeinflufste unverkennbar auch die Auf-
fassung meiner Versuchspersonen, besonders der musikalischen ; sie lenkte
das Urtheil in den angeführten Fällen nach der arithmetischen Mitte hin,
in anderen, z. B. bei der Doppeloctave nach der geometrischen (hier der
Octave). Reiner und daher entscheidender sind natürlich die Mittenbe-
stimmungen bei unharmonischen, musikalisch ganz ungebräuchlichen
Schwingungsverhältnissen. Ich fand hier freilich das Urtheil schwieriger
und unsicherer, ebenso wie bei weiten, über eine Octave hinausreichenden
Intervallen. In allen Fällen erhielt ich Durchschnittswerthe, die tiefer
als die arithmetische und höher als die geometrische Mitte, d. h. zwischen
beiden lagen. Die wichtige Frage muls noch weiter untersucht werden.
Benrtheilung und Vergleich übermerklicher Abstände sind auf dem Gebiete
der Tonqualitäten keineswegs, wie manche glauben, unmöglich; aber die
Urtheile sind mannigfacher bedingt und vermittelt, als die ersten Bearbeiter
annahmen. Zu Gunsten einer arithmetischen Proportion bleiben noch die
zahlreichen Versuche über ebenmerkliche Unterschiede der Tonhöhe im
Felde, auf Grund deren fast alle Beobachter Schwellenwerthe von absoluter
Constanz angeben. Meine eigenen, noch unzureichenden Beobachtni
14*
212 Literahirbeneht
auf diesem Gebiete sind nicht so eindeutig wie die von Pbbtxb und seinen
Naclifolgem mitgetheilten.
Nach Stumpf gilt also für die ursprüngliche» von harmonischer
Gewöhnung freie Auffassung qualitativer Tonabetftnde Fbohxkb*!
logarithmische Formel; nur in der Begründung weicht Stumpf von
der psycbophysischen Ansicht Wbbbb's und Fbohkbb*s ab, wie er auch
deren apriorische Verallgemeinerung ablehnt. Bei der Entstehung der
gleichstufigen Leitern muXs in gewissem Umfang auch das Consonani-
bewuTstsein mitgewirkt haben: neben der Octave kommen in der Musik
der Siamesen simultane Quarten häufig vor, — die freilich gegen die
unserige erheblich vergröljBert sind ; auch die Quarte hat einen besonderen
Namen, und sie wird zum Abstimmen der Instrumente gebraucht. Es
könnte, vermuthet Stumpf, durch den reinen Quartenrirkel zunächst eine
Leiter von pythagoreischer Stimmung in Slam entstanden und allmählich
durch die „Tendenz nach Gleichstufigkeit** umgebildet worden sein. Alle
gleichstufigen Leitern haben ja für den Grebrauch den Vortheil, dals jede
Melodie ohne Aenderung ihres Charakters mit jedem beliebigen Tone be-
ginnen kann ; und thatsächlich fand Stumpf Transpositionen als etwas sehr
Gewöhnliches in der siamesischen Musikpraxis. Die scheinbar willkürlich
gewählte Zahl von 7 (bei den Javanern 6) Tonstufen innerhalb der Leiter
führt er auf die Heiligkeit, die religiöse Bedeutung dieser Zahlen für die
asiatischen Völker zurück. Diese Motive der Leiterbildung einmal ange-
nommen, sei die weitere Entwickelung des siamesischen Tonsystems —
Analoges gilt für Java — so zu denken: das Abstandsurtheil verfeinerte
sich immer mehr, im Sinne der Gleichstufigkeit; zugleich gewöhnte man
sich mehr und mehr an die noth wendig gewordene Temperirung (Ver-
gröfserung) der Quarte, und es entwickelte sich ein specifisches Reinheits-
gefühl für die neuen Intervalle, besonders für die vergröfserte Quarte und
für die einfache Tonstufe des gleichstufigen Systems. Im Gebrauche der
so entstandenen Leitern macht sich das Consonanzprineip, das für ihre
Entstehung eine so durchaus secundäre Bedeutung hat, noch dahin geltend,
dafs die Melodie führung sieh im Wesentlichen auf gewisse, dem Con-
sonanzbewuTstsein weniger anstöfsige Intervalle beschränkt, die störendsten
dagegen — in Siam die Quarte und Septime — fast nur als Durchgangs-
punkte verwendet.
Akustische Versuche, die der Verf. mit den siamesischen Musikern
anstellte, hatten, wie die von Ellis, keinen befriedigenden Erfolg. Auf-
gefordert, am Tonmesser ihre Leiter herzustellen, wählten sie die einfachen
Tonstufen zu klein, so dafis 8 Töne statt 7 herauskamen; stimmten auch
die Octave ziemlicli unrein ab. Vor einer Guitarre und einer Zither ver-
sagten sie völlig. Zur Erklärung verweist Stumpf auf das Ungewohnte der
Instrumente und vermuthet eine gröfsere Bedeutung der absoluten Ton-
höhe für das siamesische als für unser Gehör. Die beiden Terzen und die
Quarte unseres Tonsystems, successive angegeben, wurden als unschön em-
pfunden ; es gelang aber den Musikern, unsere einfachsten Duraccorde nachzu-
singen. Einer der begabtesten erkannte an dem gewohnten Ranat mit Sicher-
heit eine Mehrzahl (bis 4) gleichzeitig angeschlagener Töne. Von verschie-
denen Zusammenklängen des Claviers war ihm der Mollaccord regelmäfsig
Idttraturberiehl. 213
nn an genehm , der Unraccord angenehm, „and Ewar nmeomebr, je mehr
•ich die Zusammenstellung derjenigen der barmoiiiecheD Theiltäne eines
Klanges nHherte". An der Geige vermochte er bei gleichzeitigem Streichen
der beiden oberen Saiten die reine Quinte genau zu bestimmen. — Die
Proben und Analysen aiameBischer Musik bestätigen vielfach frühere Be-
obachtungen auch an anderen exotischen Tonwerken: die stetige Be-
schleunigung des Tempo im Verlaufe der StQt^ke, das ritardando am
Schlnfs; die anaschlierBliche Herrschaft des *.V bezw. '/,-TacteB; den aus-
giebigen Gebranch der Schlaginstrumente ; die Betonung (<chlechter Tact'
theile; die Vorliebe fUr AViederholungen und Nachahmungen der kurzen
Motive; das häufige Vorkommen des SextenschlnsseB. Der melodische
Oeearomteindruck war regelmarsig der des Durgescblecbtes. Der letzte
Ton oder Accord eiuea Stflckee fiel stets auf das 1. oder 3. Viertel.
Dyiuunieche Unterschiede liers die Natur der Instrumente nur in geringem
Umfange zu. Beim Stadium der mitgetheilten Koten bei epiele ist zu be-
achten, daCs die fObrenden Instrumente, also „die Ranats und Kongs jede
llngare Note, vom Viertel angefangen durch ein Tremolo wiedergeben".
Die Hnsik der Siamesen besteht durchweg aus kurzen Tönen und kurzen
ZOHanunenklikngen. Diese Thatsaclie scheint mir keineswegs gleichgQttig
m aein Iflr die Frage nach der Entstehung des »inmeBiHchen Tom^ystema
nad der fiberraachend geringen Bedeutung, die der Consonanc und Dissonanz
dabsi ankommt — Rein rnnsikgescbicbtlicbe Erörterungen, zu denen einige
dar Stflcke Anlafs geben, können hier Qbergangen werden. Die zunehmende
T«bicdtimg enropftiecber Einflüsse Urst auch auf musikalischem Gebiete
die FeatstflUnog des e igen w fleh ei gen Fremden doppelt wünacheuswerth er-
aehelnen. Den Schlafs der reichhaltigen Monographie bilden methodische
■atbachllge fOr die Erforschung exotischer Musik, die Beschaffung des
ÜBterlala (woan der Phonograph empfohlen wird') und seine Ueben>etzuiig
is nnaei« maeikaliechen Vorstellungen. Die vorliegende Untersuchung ist
da Hnater solcher methodiacli sicheren Forschung, deren Noth wendigkeit
und Werth dem Psychologen und Aesthetiker ebenso einleuchten mnfa
le dem Unaikhiatoriker und dem Ethnologen. Kkueukr (Kieli.
i Btix. TbB PijcholOKlckl and SociolOKlc&l Study of Art. Jfi>i'/, N. ä. 9
1. 6U-582. 1900.
ileiteud erinnert der Verf. (lieses sehr nnspret'b enden Artikels an
•elnde Werth Schätzung, welche die AeHthetik erfahren hat. Bald
''e durch Badhuahten im Kreise der WiBsenechafteu einen Platz
'angte ata laach zu hohem Ansehen, besonders seitdem sie von
Kritik der UrUieilskraft'' als Vermittlerin z1^'iHchen Vernunft
't hWlHlHIBfc^Mfr ^ war. Als aber dieser <iegeusatz als
ier Dualimnufi durch den Monismus
T Vermittlerin nicht mehr und die
«physiker. Die Kunnit aber, die zu
^chloBsen si'bien und darum zum
et war, gewann bald wieder neue
) aas viel Deduction nn<l wenig
■k au Schanden machte und
214 Literaturbericht.
diese auch bei den Nicht-Metaphysikern in Mifscredit brachte. Der Kflnstler
kümmert sich nicht um sie, sowenig wie der Kunstfreund, der Kunst-
gelehrte wurde Kunsthistoriker und zerbricht sich nicht mehr den Kopf
über die Begriffe Kunst nnd Schönheit. Und doch spielen diese Begriffe
eine grolse Bolle im menschlichen Leben, ganz besonders im modernen
Leben, eine so grofse, dafs es sich wohl verlohnt, den Beziehungen forschend
nachzugehen, welche künstlerische Thätigkeit und ästhetisches Urtheil zu
den übrigen Factoren des individuellen und socialen Lebens haben. Hat
so heute die Aesthetik, die moderne Aesthetik, eine neue, eigenartige Auf-
gabe, so hat sie auch ihre neue Methode, statt der mehr dialektischen die
historisch-psychologische, welche die Kunst betrachtet als eine menschliche
Thätigkeit und das Schöne als einen Gegenstand menschlichen Verlangens
und eine Quelle menschlicher Freude.
Was speciell die Kunst angeht, so ist — um einige Gesichtspunkte
dieser neuen Behandlung der Kunstphilosophie zu geben — ihre erste Auf-
gabe, die verschiedenen Begriffsbestimmungen oder Auffassungen derselben,
wie sie in Sprache, Literatur und Wissenschaft vorliegen, festzustellen und
zu prüfen. Dabei zeigt sich dann, dafs sie alle einseitig sind, daüs die eine
diese, die andere jene Kunstgattung bevorzugt und daraus natürlich eine un-
genügende Bestimmung des Wesens der Kunst entnimmt. So entstanden die
widersprechendsten Definitionen, denen schliefslich nur ein einziges gemein-
sames Merkmal bleibt, das rein negative Kriterium der Kunst, dafs sie Seibet-
zweck sei, keinen Nutzen anstrebe, kein anderes Interesse verfolge als einzig
und allein das ästhetische. Kant's Definition des Schönen ist ja bekannt.
Und selbst diesen letzten Punkt der Uebereinstimmung stellt Guyau in
Frage. Gerade die Beobachtung der Kunstübung tieferstehender Völker
zeigt ihm, dafs alles, was wir hier als Kunstleistungen zu betrachten pflegen,
von diesen Völkern selbst in durchaus aufserästhetischer Absicht, nur aus
Nützlichkeitsgrtinden hervorgebracht ist. Trotzdem kann dieses Ergebnifs
der rein historischen Kunstbetrachtung Güyau's mit jenem so allgemein
vertretenen negativen Kriterium der Kunst in Einklang gebracht werden.
Beide Parteien sind einseitig. Der Selbstzweck hat freilich nicht jene
grofse, entscheidende Rolle gespielt, wie von jenen angenommen wird; aber
er kann trotzdem nicht aus dem Begriff des Künstlerischen verdrängt werden,
wie dieser möchte. Es kann vielmehr als Grundsatz aufgestellt werden:
In der sog. künstlerischen Thätigkeit, die anfänglich rein praktischen
Zwecken diente, drängt sich beim Schaffenden wie beim Betrachtenden
der Selbstzweck immer mehr vor, tritt die Nützlichkeit immer mehr zurück.
Das Verhältnifs dieser beiden Factoren, des Fremdzweckes — es sei dem
Ref. dieses Wort gestattet — und des Selbstzweckes, in den Kunst-
schöpfungen und in der Thätigkeit des Künstlers zu bestimmen, ergiebt
sich als Aufgabe der Kunstphilosophie, die zu lösen ist durch kunst
psychologische und kunstgeschichtliche Betrachtung. Das sind die leitenden
Gedanken für eine moderne Philosophie der Kunst, wie sie der Verf. in
einem ausführlicheren Werke demnächst darlegen wird. Diese orientirende
Einleitung mit ihrem vorsichtigen Abwägen und ihrem klaren Scheiden
des Thatsächlichen und des Theoretischen lassen uns seinem gröfseren
Werke mit Interesse entgegen sehen. Offner (München).
JUtmvturhericht. 215
Georges DmuB. lA tristesse et la Joie. Biblioth^'ue de philosophie con-
iamjmrame, Paris, Alcan, 1900. 426 S. 7,50 Frcs.
Diese Monographie dürfte die Bücher der modernen romanischen
Psychologie in Manchem übertreffen. Zwar strebt Verf. als Mediciner auch
gleich wieder auf die Erfassung des ganzen psychophysiologischen Lebens-
zusammenhanges hinaus und kehrt daher überall den physiologischen Ge-
sichtspunkt besonders hervor. Doch erstrebt er daneben in bewuTst
methodischer Weise einen rein psychologischen Ausgangspunkt der Analyse
Ton Vorstellungen und Grefühlen als solchen. Die allgemeinsten Gesetze
des Gefühlslebens will er erst nach einer ähnlichen monographischen Be-
handlung anderer specieller Gremüthsbewegungen, wie Zorn, Furcht etc.
geben, doch ist auch schon diese Schrift nicht ein amüsant zu lesendes
Allerlei, sondern überall auf jenen letzten Endzweck systematisch zuge-
spitzt Deshalb wird man ihr auch nicht zum Vorwurf machen, dafs an
I>sychologischer Detailanschauung trotz der Methode der ausführlichen
Einzelbeobachtung und des Experimentes nichts wesentlich Neues gefunden
werden konnte. Wie u. a. vor Allem aus dem letzten Capitel und dem
SchlnÜB hervorgeht, haben auch dem Verf. die ^Lücken" der Lanob-Jambs'-
schen Theorie die Wichtigkeit jener psychologischen Analyse besonders
nahe gebracht. In dieser Hinsicht will er in dem Streit jener Physiologen
gegen die sog. „Intellectualisten'* der HEasABT'schen Schule auf Seiten der
Letzteren stehen. Wenn er auch zugiebt, dafs wenigstens die „passiven*'
Stimmungen nur Correlate, nicht Ursachen der von jener Theorie genannten
physiologischen Vorgänge sind, so fragt er doch, wie solche unter sich
direct entgegengesetzte Abweichungen von einer Mittellage gerade durch
bestimmte Vorstellungsthatbestände ausgelöst werden und sucht (im 4. Gap.)
den psychologischen „Grundmechanismus von Trauer und Freude '^ darauf-
hin zu analysiren. Zur Erklärung mufs auf die letzten „Tendenzen^ zur
Activität zurückgegangen werden, auf deren freiem Spiel die Freude und
auf deren Hemmung die Unlust beruhe. Die verschiedenen Möglichkeiten
der Befriedigung oder Hemmung angeregter Tendenzen werden durch Auf-
stellung einer negativen, positiven und gemischten Form zu classificiren
gesucht Ganz im Geiste Leibniz's wird zur richtigen Auffassung von
jenen Tendenzen ein hypothetisches Hinausgehen über das „klare" Be-
wuHstsein gefordert. Die Wichtigkeit des Dispositionellen wird auch bei
Erklärung der Ueberraschungs Wirkung anerkannt, wie sie jeden neuen
Gefühlsthatbestand einleitet und nicht etwa intellectualistisch aus bereits
bewufsten Associationen erklärt werden kann. Dieses erste Stadium,
Welches die Unterscheidung der Lust und Unlust noch nicht enthalte,
müsse von dem späteren speciellen Gefühlsverlauf ausdrücklich unter-
schieden werden, der unter dem Begriffe des ^motion-choc häufig mit ihm
confandirt werde, soweit es sich um acut verlaufende Gemüthsbewegungen
bandelt. Verf. selbst aber will aus methodischen Gründen vor Allem die
rorm des ^motion-sentiment, d. h. den längeren stimmungsartigen Verlauf
bearbeiten. Diese Absicht unterstützt noch sein psychiatrisches Vorurtheil
im Sinne Ribot's, wonach er sich vor Allem an die pathologischen Fälle
tiillt, die gerade jenen Verlauf am häufigsten zeigen. Eine öfters vor-
lonunende Vermischung der Begriffe des Gefühles und der Ursache des-
21:6 IdUraturberiehl^,
gelben zeigt dabei seine Behanptnng, dafe auf dem Gebiete de« Geftthlf«
lebens die Grenze zwischen Normal und Abnorm Oberhaupt viel schwerer
zn ziehen sei. Allerdings treten innerhalb dee Baches selbst öfters auch
die eigenen Klagen heryor> daTs der geistige Zustand des Kranken di«
Ezactheit der Analyse erschwere , während andererseits gerade der er-
wähnte „Grundmechanismus" vom Normalen abgeleitet wird. WerihvoU
ist daneben wenigstens sein Princip, einige wenige Personen möglichst
continuirlich in den verschiedenen Stimmungslagen zu beobachten. —
Eine principielle Unklarheit über das Wesen des Gefühles Oberhaupt ver-
birgt sich in der oftmals wiederkehrenden Gregenüberstellung von doulear,
bezw. plaisir physique, organique etc. einerseits und moral» mental etc.
andererseits. Beide Gefühlsarten seien nicht ihrem Wesen» sondern nur
der Ursache nach verschieden. Die erstere sei eine Art von Verschmelzong
peripherer Empfindungsmomente, die Letztere entstehe auch unter Mit-
wirkung der Vorstellungen unmittelbar in den centralen Regionen als
Sensation centrale. So komme ihnen auch eine verschiedene Stellung zur
Localisation zu, indem die erstere geradezu peripher, die letztere nur
„vage im Gehirn" localisirt wird. Diese Unterscheidung wird nun von Be-
deutung in der Analyse der verschiedenen Unterarten der ,,Traurigkeit'^
und „Freude"; für beide, insbesondere aber für die erstere ist nämlich der
€fegensatz des „passiven" und „activen" Zustandes durchgeführt, der einem
Zustande der Depression und der Excitation entspricht. Er macht sich
schon bei douleur, bezw. plaisir physique geltend und wird auf verschiedene
Grundanlagen der Erregbarkeit, Reactionsfähigkeit oder Empfindlichkeit
zurückgeführt. Tristesse morbide passive unterscheidet sich von T. m.
active vor Allem durch douleur morale und Deliriumsvorstellungen, wie
Selbstanklagen etc., und wird dieser ganze Unterschied wiederum im
Engeren auf dos Vorhandensein von douleur morale (souffrance) zurück-
geführt, wodurch das Delirium selbst erst entstehe. Auch bei Joie morbide
ist die ruhigere Form mit einfachem Gefühl des Wohlbefindens von einer
activen Form, die allerdings in Folge der Activität der Freude überhaupt
schwerer abtrennbar ist, vor Allem durch den Mangel an Projectmacherei,
Wahnvorstellungen etc. unterschieden. Dabei soll aber nun das „Delirium"
der Melancholie von dem letzteren dem ganzen psychologischen Mechanis-
mus nach verschieden sein. Bei ersterem soll eine im Anschluls an
Griesinqee noch sehr intellectualistisch formulirte Synthese vorliegen,
wonach der Kranke auf Grund des seelischen Schmerzes (d. mor.) sich ab-
quält und über die Ursache nachsinnt ; es sei nicht etwa ein „automatisches''
Auftreten von Vorstellungen auf Grund des Associationsmechanismus, wie
es für das Delirium des freudig bewegten Zustandes zugegeben wird, bei
dem nur aus den automatisch beiströmenden Vorstellungen „ausgewählt"
zu werden brauche. Es ist aber natürlich positiv unrichtig, dafs bei dem
erregten Melancholiker nicht auch ein Herzudrängen von Angstvorstellungen
auf Grund der nämlichen Aehnlichkeitsassociation stattfinde, und aulser-
dem ist die ganze Unterscheidung zwischen bewufst und unbewufst vor-
bereiteter Synthese niemals eine principielle. Ein Verständnifs für die All-
gemeinheit der Aehnlichkeitsassociation hätte auch sonst Manches verein-
facht. Diese Detailbeschreibung der pathologischen Erscheinungen an der
Literaturberickt 217
H«nd yoB Krmkewgegwhichteo, •xperiinenteUen üntersachtmgen etc. bringt
den Verf. an die nA^^tCBerste Grense, bis zn der die Psychologie überhaupt
führen kann.'' Die eigentliche Physiologie dieemr Gefühle schildert
dann die bekannten sphygmographischen (Mabby)» pneamognraphischen
(Mabbt), spirometrischen (Dupoirr), plethysmographischen (Luft-PL nach
HAiiiioM-CoMTB, doch ein Baum für alle Finger zugleich) manometrischen
Untersuchungen. Die zuletzt genannten Blutdruckmessungen wurden durch
Aufdrücken eines Luftschlauches auf die Badialis vorgenommen (Abänderung
der Methode BlochChebbon auf Mabet's Rath). Nach der erwähnten Fest-
stellung von douleur physique ohne douleur morale bei tristesse passive
soll sich nun rein periphere Vasoconstriction ohne wesentliche Veränderung
der Herzthätigkeit finden lassen, so dafs hier auch innerhalb des Kreislaufis
jene Trennung von physique und morale wiederholt wird. Zwischen trist
pass. und joie bestehen die bekannten symptomatischen Gegensätze, hin-
gegen ist tr. a. bei entsprechend hohen Graden von joie nach dieser Hin-
sicht kaum zu unterscheiden. AuDserdem bestätigen sich die Gleichartig-
keit der Symptome für den ^motion-choc im engsten Sinne, sowie der vor
Allem von Lehmann gefundene unterschied für die acuten Grefühlsverläufe
der Lust und Unlust. Aufserdem folgen Messungen der Secretion und der
Zahl der Blutkörper. Die sog. Psychophysique bringt in einer ganz anderen
als der gewöhnlichen FECHNEB'schen Bedeutung die secundären Momente
jener physiologischen Variationen, wie Temperatur, Farbe und sogar Geruch.
In der Psychomechanik folgen dann die bekannten dynamometrischen
Experimente über die Muskelleistung in den verschiedenen Stimmungen,
ohne Bestätigung der MüNSTEBBEBo'schen Unterscheidung hinsichtlich der
Beuger und Strecker. Betont ist dabei die vermittelnde Bedeutung der
verschiedenen Lebhaftigkeit des Vorstellungslebens überhaupt auf die
speciell motorischen Vorstellungen. Besonders wichtig ist dem Verf. das
6. Kap. über „Psychochimie'* d. h. über die nutritiven Verhältnisse, Ge-
wichtsveränderungen etc. bei den beiden Gefühlen. Hier wird vor Allem
die physiologische Unterscheidung der in den übrigen Aeufserungen
schwerer unterscheidbaren Zustände der tr. active und joie in dem be-
kannten Rückgang des Ernährungszustandes bei der Melancholie gewonnen,
wobei die active die passive naturgemäfs auch noch übertrifft. In der be-
kannten Art der Verallgemeinerung wird dann das Spiel der nutritiven
Verhältnisse mit Beziehung auf das in der psychologischen Analyse ge-
wonnene Material überhaupt als das entsprechendste physiologische Correlat
betrachtet. Hinsichtlich der symptomatischen Aeufserungen des Gefühles
werden schliefslich die peripheren und centralen Vorgänge, welche schon
zu Anfang als vollständig correlativ bezeichnet wurden, von den eigent-
lichen und wirklich von Gefühl causal abhängigen Aeufserungen unter-
schieden, welche eine charakteristische Eigenthümlichkeit eben der activen
Formen der Gemüthsbewegungen ausmachen. Diese Auffassung des Schreiens,
Händeringens etc. beim activen Melancholiker als activer Beaction gegen
sein Leiden bringt also endlich auch noch die strebungsartige, voluntarische
Gefühlsfärbung ausdrücklich mit in die Analyse herein, welche neben dem
mehr quantitativen Moment der Depression und Erregung vorher fort-
während unanalysirt mitgedacht war. So wäre denn überhaupt wohl noch
218 Literaiurbericht
mehr Einheitlichkeit und System in das Ganze gekommen, wenn der
phänomenologische Gesichtspunkt, der im letzten Kapitel gelegentlich der
Frage nach der Allgemeinheit, hezw. Ahstractheit oder speciellen Ooncret-
iMtl ^wn Tr—ngkeit and Prende beiläufig gestreift wurde, von ▼ome JmsbIa
die Frage der Analyve von €toffihleB JKwh jnafar jpkürt JfltfeB.
WiBTH (Leipzig).
Henbt Hüohbs. Die Mimik des Menschen auf Grand foltutariseher Psychologie.
Frankfurt a. M., Joh. Alt, 1900. 42ö S. Mk. 14.—.
Die Ausführungen über die Mimik, welche auch die Pantomimik zu
umfassen bestrebt sind, können von der Behandlung der „yoluntarischen
Grundlage", dem Versuche einer ganzen Grefühls- und Willenspsychologie,
leicht abgetrennt werden. Von kurzen Hinweisen abgesehen, erfüllen die-
selben zunächst 8. 88 — 209, wo die einzelnen Bewegungen des Gesichtes
und des übrigen Körpers an der Hand der Muskelanatomie beschrieben
werden, femer den Schlufs des Buches S. 343 — 419, wo die eigentliche
Psychologie der Mimik behandelt wird und die Gremüthsbewegungen als
Eintheilungsgrund für die typischen Ausdrucksformen festgehalten sind.
Zahlreiche Abbildungen, vor Allem die bekannten nach Pidbbit etc. sind
besonders in diesen letzten Theil eingefügt. Der Werth des Buches dürfte
vor Allem in der zuerst genannten Gruppe zu suchen sein. Wenn auch
nichts Neues geboten wurde, so ist doch alles wesentliche Material an Aus-
drucksbewegungen systematisch geordnet. Zunächst werden die einzelnen
Muskelgruppen der Sinneswerkzeuge, der übrigen körperlichen Organe und
Glieder in ihrer ursprünglichen, äufserlichsten Function dargelegt und
dann bereits die „Verinnerlichung'^, d. h. die eigentliche mimische Be-
deutung der ähnlichen Combinationen angeschlossen; es wird also bereits^
nur unter einem anderen Gesichtspunkt, dem letzten Theile vorgegriffen.
Als Erklärungsprincip gilt hier vor Allem im Anschlufs an Wundt die Ge-
fühlsverwandtschaft des dargestellten Seelenzustandes einerseits und der
darstellenden Bewegung bei jener ursprünglichen Function andererseits.
Doch scheint Verf. bei dem Bestreben, möglichst viele unter sich ver-
schiedene Gemüthsbewegungen verschiedenen Coordinationen ein und der
nämlichen Muskelgruppe eindeutig zuzuordnen, vor Allem bei den Augen-
bewegungen nach Schema S. 138 zu weit zu gehen. Bei der Mimik des
Mundes darf die rein asthenische Oeffnung in Folge von Ueberraschung
und anderweitiger Beschäftigung der Aufmerksamkeit kaum, wie auf S. 151,
mit der willkürlichen Oeffnung des Mundes zur Aufnahme von Speise iu
Zusammenhang gebracht werden. Die Verschiebung des psychologischen
Thatbestandes wird noch klarer im letzten Theile S. 372. Verf. setzt hier
bei dem „Erstaunen" nicht die Absorption der Energie durch das Neue
und die hiermit gegebene Hemmung anderweitiger Functionen dem Oeffnen
des Mundes parallel, sondern ein zweites Stadium der positiven Ergreifung
des Neuen, um jene Analogie mit der Aufnahme von Speise zu erlangen.
Doch betont Verf. selbst auch, dafs jenes Offenstehen des Mundes nur bei
relativer Schwäche vorkomme. Noch schwieriger wird die Zurückführung
natürlich bei den Reflexbewegungen, und dürfte z. B. die angedeutete Be-
Literaturbericht 219
»ehung zwischen dem willkürlichen oder triebartigen Aufrei£isen des
Mundes (bei gleichzeitiger Betheiligung der Lippenmuskeln etc.), wie es
der Vorbereitung oder Androhung des Verschlingens entspricht, und dem
reflectorischen Aufreifsen beim Gähnen doch sehr gewagt sein. Die häufige
Verbindung des letzteren mit sonstigem Dehnen und Recken, das krampf-
artige Auftreten bei Hysterie etc., das auch Verf. erwähnt, weisen doch u. a.
auf die Bedeutung hin, die allen ähnlichen Muskelvorgängen als solchen
zukommt. Zur ZurückfOhrung des Lächelns wird nur auf eine zweck-
mäfsige Verschiebung der Wangen bei behaglichem Kauen verwiesen und
scheint die Komik im Verhältnifs zum gegenwärtigen Stande ihrer theo-
retischen Behandlung ganz besonders zu kurz gekommen zu sein. Von der
eigentlich psychologischen Mimik am Schlüsse mufs vor Allem lobend
hervorgehoben werden, dafs Verf. sich nicht auf zu wenige Qualitäten des
Gemflthslebens einschränken liefs, sondern der ganzen Mannigfaltigkeit
desselben gerecht zu werden versuchte. Seine Coordination von Stimmung,
Aufmerksamkeit, Neigung und Achtung, von denen die erste und dritte als
„intellectuelle^ Affecte den anderen als „Gefühlsaffecten'' gegenüberstehen
and deren jede wieder in zwei Gegensätze sich scheidet, dürfte allerdings
kaum glücklich gewählt sein. In den verschiedenen Schemen für diese
paarweise gegenüberstehenden Qualitäten^ in denen möglichst viele Ge-
fühlsbegriffe (zu je elf und in fünf verschiedenen Intensitätsstufen) unter-
gebracht sind, tritt jene Unzulänglichkeit deutlich hervor. Unter die
Stufen der „Aufmerksamkeit" ist z. B. jegliche Thätigkeit und endlich
auch Zorn, Wildheit und Wuth gerechnet, so dafs schliefslich nur noch
irgend eine Intensitätssteigerung überhaupt als die eine Dimension des
Schemas festgehalten ist, oft aber sogar nicht einmal diese. Die zweite
Dimension der schematischen Darstellung soll der fortschreitenden »Ver-
innerlichung" oder Vergeistigung der rein physiologischen Vorgänge zu
Gemüthsbewegungen entsprechen und geht ihr Sinn aus der „voluntarischen
Grundlegung" hervor. Wenn nun auch eine Unterscheidung zwischen
eigentlichen Gefühlen und mehr körperlich localisirbaren Stimmungen,
welche den Organempfindungeu verwandt sind, versucht werden kann, so
ist doch damit niemals der psychologische Gesichtspunkt der „Innerlich-
keit" überhaupt verlassen, während andererseits die physiologischen
Aeufserungen auch für die „geistigsten" Vorgänge stets „äufserlich" bleiben.
Zudem ist jener relativ berechtigte Gesichtspunkt oft gar nicht als zweite
Dimension beibehalten, z. B. in der Reihenfolge „Energielosigkeit, Theil-
nahmslosigkeit, Nervosität" oder „Zaghaftigkeit, Aufregung, Ungeduld", zwei
Unterabtheilungen der „Achtlosigkeit". S. 31 f. u. a. zeigen eine ähnliche
Verschiebung der Begriffe zur Fixirung an sich berechtigter Unterscheidungen.
Dort wird der Gegensatz von Trieb und Willkürhandlung so bezeichnet,
als ob bei den Trieben noch ein im Körper localisirter Vorgang gegeben
sei, während bei der Willkür die Verinnerlichung so weit stattgefunden
habe, dafs der Vorgang in die Seele verlegt werde. Für jeden der schematisch
geordneten Gefühlsbegriffe ist dann eine einfache Beschreibung des
typischen äufseren Verhaltens gegeben, wobei die Darstellung sich vor
Allem an die allgemein anerkannten Aeufserungen der oberen Intensitäts-
stufen hält. — Die bereits zu Anfang erwähnte allgemeine Gefühls- und
220 Literaturbericht
\¥111en8p8ycbologie bringt zunächst in dem ersten Abschnitt bis 8. SBwn
Zurüokführung der Willens-, Instinct- nnd Reflexvorgftnge auf die Tmli
in Anlehnung an die WuNDT'sche Psychologie. Doch ist mit Absicht benüi
viefe Metaphysik über die Entstehung von Bewuüstsein ans Körperiiefata
in die wissenschaftlichen Darlegungen eingemengt Im zweiten allgMMb
psychologischen Theil S. 210--d43 wird dann der Aufbau der BewnÜBtsei]»
einheit mit ihrer einheitlichen Gemüthsbewegung aus „EinaelimpiilMi*
systematisch durchzuführen versucht, um die Grundlegung zu der B»
Schreibung der Aeufserung jener entwickelten Einheit zn gewinnen. Bv
„Einzelimpuls'* ist aber keineswegs als psychologische Hypothese auf Gnuri
der Bewufstseinsanalyse gewonnen, sondern rein physiologisch als V»
gang in einer Muskelfaser (bezw. als Analogon hierzu) gedacht. Die Yo*'
allgemeinerung des Begriffes, die Verf., wenigstens nach der Vorred«, ak
etwas Neues anzusehen scheint, geschieht durch eine ganz auiserlidie
Analogie des motorischen Vorganges zur Actualität überhaupt, wie sie auch
bei der Empfindung vorliegt; da aber nun Verf. für das Bewulstsein, du
jederzeit einem Zusammenarbeiten solcher Einzelimpulse entspricht, kam
andere Grundqualität als die Empfindung kennt, so wird schliefslich du
Bewufstsein der Thätigkeit doch wiederum den Muskelempfindungen bexw.
„Anschauungen'', etc. gleichgesetzt. Daneben besteht, nicht recht T«r
arbeitet, der Gegensatz von Intellectus und Voluntas. An der Hand vider
und umfangreicher Schemen und nach Aufzählung vieler Principien werden
dann alle einzelnen Qualitäten, Baum- und Zeitvorstellung, die Erkenntnii%
„Fühlung" und Strebung auf das Zusammenarbeiten von EinzelimpiÜMi
zurückgeführt, häufig sogar unter Anwendung mathematischer FonnelB
über Veränderungsrichtungen. Verf. fühlt sich vor Allem mit Hinweis «rf
Schopenhauer berufen, die Fachwissenschaft auf die voluntarische Psycho-
logie hinzuweisen und das „wüste und leer liegende'' Gebiet der Völker
Psychologie zu cultiviren. Wundt's Völkerpsychologie I, 1 war erst toi
vor Herausgabe des Buches erschienen und nicht mehr berücksichtigt
Auch wer mit der Methode des Verf. 's principiell nicht einverstanden u^
wird seinem ernsten Streben nach einheitlicher Gestaltung einer Psycho-
Physiologie auf Grund eigener Intuition die Anerkennung nicht verssgen
können und sich über das Interesse freuen, das von einem nicht herab'
mäfsigen Psychologen den Fragen entgegengebracht wird, die auch di«
Fachwissenschaft in neuerer Zeit immer mehr beschäftigen.
WiBTH (Leipzig).
Alexander Pilez. Die periodischen Geistesstörungen. Eine klinische Stiili.
Mit 57 Curven im Texte. Jena, Gustav Fischer, 1901. 210 S.
Da seit dem 1878 erschienenen Werk von Kirn die periodischen
Psychosen keine monographische Bearbeitung erfahren haben, so ist die
vorliegende Arbeit sicherlich ein berechtigtes Unternehmen, zumal sie ein-
gehend die bisher verhältnifsmäfsig wenig studirten somatischen StOrongen
berücksichtigt und hinsichtlich der meisten zur Discussion stehenden Fragen
sich auf eigene Beobachtungen stützen kann.
, Es sei im Voraus bemerkt, dafs P. unter periodischen Psychosen aus-
lAteratwbericht 221
schliefslich solche 'Krankheitsformeai versteht, deren einselne Anfftlle ohne
brannte Aalsere Veranlaesungsursache in ihrer eigenthümlich^ Er-
scheinungsweise regelmäXsig i>eriodisch wiederkehren ; es ist somit sweierlei
nothwendig, eine mehr oder minder regehnftlsige Wiederholung und eine
gewisse Aehnlichkeit der einzelnen Anfidle anter einander.
Nach einem erschöpfenden und kritischen Ueberblick» der auf manches
bereits Vergessene wieder hinweist, bespricht Verf. die allgemeine und
individuelle Disposition. Das weibliche Geschlecht und nach des Verf/s
persönlichen Beobachtungen die jödische Bevölkerung überwiegt bei dem
periodischen Irresein. Als die hauptsächlichsten Factoren spricht er an
die angeborene Degeneration durch hereditäre Belastung, bei welcher das
Individuum gerade zur Zeit der Pubertät oder des Klimakteriums besonders
gefährdet ist, und eine erworbene Veranlagung durch Schädeltraumen oder
cerebral-organische Läsionen, vor Allem Grehirnnarben. Diese letstere
Gruppe, welche oft durch besondere Schwere der Symptome und durch
stärkeres Hervortreten der sog. „him-cong^iven Erscheinungen" (allerlei
Halbseitensymptome , vorübergehende Sprachstörungen, Convulsionen,
Lähmungen etc.) ausgezeichnet ist, führt eher zu einer Demenz, während
bei den auf dem Boden der angeborenen Degeneration entstandenen
periodischen Psychosen die intellectuellen Fähigkeiten meist intact zu
bleiben pflegen.
Die auslösenden, determinirenden Ursachen sind von Belang vorzugs-
weise bei den sogenannten reflectorisch-periodischen Psychosen ; hier genügt
die Disposition allein nicht, es bedarf noch eines veranlassenden, äufseren
Moments wie der Menstruation, einer Neuralgie. Diese secundär ausge-
lösten periodischen Psychosen verdienen eine Sonderstellung nur mit Bück-
sicht auf ihre Aetiologie und ihre durchweg günstigere Prognose.
Verf. unterscheidet bei dem periodischen Irresein folgende Formen:
1. Circuläres Irresein (Aufeinanderfolge von melancholischen und mani-
schen Phasen); 2. periodische Manie; 3. periodische Melancholie; 4. peri-
odische Amentia, bei der keine affectiven und associativen Störungen,
sondern vielmehr massenhafte Sinnestäuschungen, ein den Delirien ent-
sprechender Stimmungswechsel, Verworrenheit das Krankheitsbild be-
herrschen ; ö. periodische Paranoia (primäre Wahnbildung, klares Sensorium,
fehlende oder nur dem Inhalte der Wahnideen entsprechende, secundär
bedingte Stimmungsanomalien) ; 6. periodisches Irresein in der Form krank-
hafter Triebe wie Dipsomanie, Psychopathia sexualis periodica, wobei
gebührend hervorgehoben wird, dafs die Stellung dieser Form in der
psychiatrischen Nosologie noch strittig ist, und 7. periodische delirante
Verworrenheitszustände (kurzdauernde Anfälle schwerer Bewufstseinsstörung,
)nassenhafte, meist schreckhafte Sinnestäuschungen, heftige motorische Ent-
ladungen, eine Form, welche in naher Beziehung zur Epilepsie steht).
Allen diesen verschiedenen Störungen ist gemeinsam eine Differenz
der Persönlichkeit des erkrankten Individuums während des Anfalls und im
anfallfreien Zwischenraum ein periodischer Charakter des Verlaufs, brüskes
Einsetzen und eine meist kritische Lösung des Anfalls, gewisse Aehnlichkeit
der einzelnen Anfälle unter einander, bestimmte, für jeden Anfall stereotype
Prodromi, die körperlichen Begleiterscheinungen und die Aetiologie. Gerade
222 Literaturbericht.
in den ersten drei Gruppen finden sich bei der jeder Schildenmg spottenden
Mannigfaltigkeit alle möglichen üebergangsformen, so daüs eine scharfe
Grenze zwischen den einzelnen Grnppen nicht zn ziehen ist.
An der Hand von Krankheitsgeschichten entwirft Verf. ein anschaa-
liches Bild der Symptomatologie jeder Form, ihres Verlaufs und ihres Aus-
gangs, ihrer Aetiologie, Diagnose und Therapie; besonders eingehend wird
das circul&re Irresein behandelt, welches die anderen Formen in der Praxis
an Bedeutung bei Weitem überragt. Die den periodischen Störungen ge-
meinsamen körperlichen Symptome werden eingehend gewürdigt; auiser
der Beschaffenheit des Pulses und dem Verhalten der Menstruation ver-
dienen gewisse, vom Verf. zuerst erhobene Hambefunde sicherlich alle
Beachtung. Bemerkungen über den Einflufs intercurrenter körperlicher
Krankheiten, über die Combination von periodischem Irresein mit anderen
Psychosen und Neurosen, die pathologische Anatomie beschlielsen die
anregend geschriebene Abhandlung. Welcher Fleifs darin steckt, möge
schon daraus erhellen, dafs das beigegebene und im Text auch ausgiebig
benutzte Literaturverzeichnifs mehr denn 700 Nummern aufweist.
Ernst Schultzb (Andernach).
A. Baer. Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine social -hygienische
Stndie. Leipzig, Georg Thieme, 1901. 84 S. Mk. 2.—.
Versteht man unter Kinderselbstmord nur den Selbstmord, der von
Personen unter 15 Jahren ausgeführt wird, so lehrt die Statistik, dafs auch
die Zahl des Kinderselbstmordes in den letzten Jahrzehnten erheblich zu-
genommen hat, so dafs es nicht nur berechtigt, sondern nothwendig ist,
den Ursachen dieser Erscheinung nachzuforschen. Das thut B. in der vor-
liegenden Broschüre in der bei dem Verf. bekannten streng sachlichen und
kritischen Weise.
Verf. bespricht zunächst die Häufigkeit des Selbstmordes im kindlichen
Lebensalter und weist nachdrücklich darauf hin, dafs er noch zu Anfang des
19. Jahrhunderts wenig verbreitet und wenig bekannt war. Das hat sich,
wie zahlenmäfsig nachgewiesen wird, wie bei den verschiedensten Cultur-
völkern, so auch in Deutschland geändert, welches Siegert geradezu das
klassische Land des Selbstmordes genannt hat. Nach den amtlichen
statistischen Angaben für das Königreich Preufsen, welche natürlich auf
Vollständigkeit keinen Anspruch machen können und hinter den wirklichen
Verhältnissen noch zurückbleiben, ist bei den 1708 Kinderselbstmorden in
der Zeit von 1869—1898 das männliche Geschlecht mit fast 79% betheiligt
Die unverkennbare Zunahme zeigt sich darin, dafs der jährliche Durch-
schnitt in der ersten fünfjährigen Periode 38, in der letzten 68 beträgt;
oder es kommt, wenn man die Bevölkerungsziffer zu Grunde legt, in der
Zeit von 1869—1873 ein Selbstmord auf 666022, in der Zeit von 1894—1898
ein Selbstmord auf 497815. Die Zahl der Selbstmorde überhaupt ist in den
30 Jahren etwas stärker gestiegen als die der Kinderselbstmorde. Ein Par-
allelismus oder irgend eine Abhängigkeit zwischen diesen beiden Zahlen
l&fet sich nicht erweisen, und das spricht dafür, dafs dem Kinderselbstmord
Literaturhericht. 223
andere Beweggründe and Ursachen zu Grunde liegen, wie dem Selbstmorde
der Erwachsenen.
Hinsichtlich der Ursachen des Selbstmordes mufs man zwei Gruppen
unterscheiden, solche, welche aus den Lebensbedingungen des ganzen Ge-
sellschaftsorganismus hervorgehen, und solche, welche in den besonderen
Verhältnissen der Einzelnen gelegen sind. Begreiflicherweise werden uns
beim Kinderselbstmorde die letzteren mehr interessiren, wenn wir uns
auch die Schwierigkeit des Nachweises des wirklichen Beweggrundes in
jedem einzelnen Falle nicht verhehlen dürfen.
Von den individuellen Momenten erörtert Verf. den Einflufs der
Greistesstörung, der minderwerthigen Organisation, der Abstammung und
Vererbung und des krankhaften A^ects. Man wird seiner Annahme
sicherlich beipflichten, dafs Geistesstörung bei Kindern in einer noch
gröfseren Zahl zum Selbstmorde führt als bei Erwachsenen, und diese An-
nahme trifft auch für die ungleich verbreitetere psychopathische Minder-
werthigkeit zu. Der Einflufs des Alkohols in der Ascendenz verdient eine
eingehendere Prüfung und Würdigung, als bisher geschehen ist. Meist ist
der Selbstmord das Ergebnifs eines krankhaft gesteigerten, schmerzhaften
Unlustaffects. Bei 936 Selbstmorden im Kindesalter aus den Jahren 1884
bis 1898 werden in 76 Fällen Geisteskrankheit, in 78 Fällen Zustände von
einer lang andauernden depressiven Wirkung, in 410 Fällen acuter Affect
(Scham, Reue, Gewissensbisse, Aerger) als Motiv angeführt; und sicherlich
wird noch mancher der Fälle mit unbekannten Gründen hierzu gehören.
Von den auDserhalb des Individuums gelegenen Ursachen erörtert Verf.
zunächst die Einwirkung der weiteren Umgebung. Die meisten Selbstmorde
hat die Provinz Sachsen, die wenigsten die Provinz Posen zu verzeichnen.
Industrie und Dichtigkeit der Bevölkerung sind aber hierbei nicht aus-
schlaggebend; und ebensowenig spielt die gewerbliche Beschäftigung der
Kinder selbst hierbei eine Bolle. Die Annahme, dafs gerade in den Grofs-
städten die Zahl der Selbstmorde auffällig grofs sei, trifft nicht zu.
Von ungleich gröfserer Bedeutung sind die Einwirkungen der engeren
Umgebung, welche die Erziehung des Kindes ausmachen und vornehmlich
von der Familie und der Schule ausgehen. Ein Ueberwiegen der Selbst-
morde in den verschiedenen Classen der Bevölkerung läfst sich nicht nach-
weisen. Nur wird die Art der Ursachen und Motive in den armen und
reichen Gesellschaftskreisen eine andere sein: dort schlechte Ernährung,
Hunger, Mifshandlung, Fehlen einer geordneten Erziehung und des
Familienlebens, Verwahrlosung, Ueberanstrengung bei der Arbeit; hier
Wohlleben, Ueppigkeit, frühzeitige Gewöhnung an für das Kindesalter
nicht bestimmte Genüsse, unzweckmäfsige Erziehung, einseitige Berück-
sichtigung der Entwickelung des Verstandes bei Vernachlässigung der Ent-
faltung des Gemüths. Beiden gemeinsam ist die Ausbildung einer Früh-
reife, die zur Ursache vielen Uebels wird.
Es liegt sicherlich sehr nahe, die Schule mit dem Selbstmorde in
ursächlichen Zusammenhang zu bringen, und besonders wird die moderne
Schule mit der fast übergrofsen Menge des Lehrstoffs und der Ueberbürdung
angeschuldigt. Das ist aber nicht berechtigt. Höchstens kann die Schule
eine Mitursache sein. Die wesentliche wirkliche Ursache für die Ueber-
224 LUeraturberidtt,
tyttrdiiiig and Alles, was damit sasamttenhftngt, ist in der Oonstitiitien dee
Kindes und dessen socialen Verhältnissen zu suchen. Fehler der haasUchea
£rziehnng (hierbei n. ▲. Alkoholdarreichung) berechtigen fast daan, eher
von einer Ueberbürduag auüMrhalb der Schule als durch die Schule su
reden. Auf der anderen Seite soll gewiüi nicht geleugnet werden, dab die
höhere Schule mit den häufigeren, bisweilen ganz überflfissigen CSensuren,
dem Inspiciren und Ezaminiren mitwirkt^ da diese Momente auch Schaler
mit normalen F&hi^eiten schadigen können. Nimmt doch % aller Kinder
zur PrOfungszeit an Gewicht ab. Mit grof^er Genugthuung begrOlst daher
Verf. die Reform unseres höheren Schulwesens, welche eine Verminderung
des Examenwesens bezweckt Wenn so oft gekränkter Ehrgeiz als Beweg-
grund angefahrt wird, so liegt dies auch daran, dafs man heutzutage dem
Fortkommen in der Schule einen zu grofsen Werth beimilst^ sowie an der
üeberschätzung der eigenen Persönlichkeit durch das jugendliche Individuum,
der kfinstlichen Zachtung des Ehrgeizes. Aehnlich steht es um das verletzte
Ehrgefühl, harte oder unwürdige Behandlung, Furcht vor der Strafe. Ißt
<ler Schule haben diese Momente immerhin, wie schon oben gesagt, oft
genug gar keinen directen Zusammenhang, und wenn doch, so fahrt vor
Allem die Eigenart des Individuums in vielen Fällen zum Selbstmorde.
Schliefslich berührt Verf. noch kurz das suggestive Moment der Naeh-
ahmung, indem er auf die Gefahr der Lektare der Tageeblätter hinweist,
sowie das Moment der Spielerei und Eitelkeit, der Sucht Andere zu argem
und der unzutreffenden Vorstellung des kindlichen Alters vom Tode.
Da Degeneration und Geistesstörung auf der einen, schlechte Er-
ziehung und Frühreife auf der anderen Seite die relative Häufigkeit der
Selbstmorde und ihre Zunahme erklären, so hat hier die Prophylaxe ein-
zusetzen und sich frühzeitig mit der Erforschung der körperlichen und
geistigen Fähigkeiten des Kindes und mit einer auf dieser Erkeimtnils sich
aufbauenden Erziehung und Behandlung abzugeben.
Ebnst Schültzb (Andernach).
Berichtigung.
In meiner im 26. Bd. dieser Zeitschr. erschienenen Besprechung 1. saf
S. 236, Z. 6 V. u. Gesammtklang, auf S. 237, Z. 1 Vaselin, Z. 7 Gesammt«
empfindung. F. Kissow.
Berichtigung.
Durch ein Versehen ist in meinem Aufsatze „Ueber den EinfluDs der
Gefühle auf die Vorstellungsbewegung", diese Zeitschrift 27, S. 26, Zeile 16
ein Druckfehler stehen geblieben. Daselbst soll es statt ,, psychologische
Vorgänge" richtig „physiologische Vorgänge" heiften.
Saxinorb.
^
' : .
Zur Theorie der Melodie.
Von
Theodob Lipps.
Max Meyee's Theorie.
Ich bin zu den folgenden Bemerkungen veranlafst durch
Max Meyeb's „Contributions to a Psychological Theory of Music",
die das erste Heft des ersten Bandes der „Universüy of Missouri
Studies^, Juni 1901, füllen. Max Meyeb giebt in dieser Abhand-
lung insbesondere Grundzüge einer neuen Theorie der Melodie.
Diese Theorie beruht zunächst auf dem Satze: Wenn zwei
Töne sich verhalten wie 2" : 3, 5, 7, 9, 15, — wobei 2" jede
Potenz von 2 einschliefslich 2** = 1 bezeichnet — so ist mit dem
Fortgang vom ersten zum zweiten dieser beiden Töne eine Ten-
denz der Rückkehr zum ersten verbunden.
Dieser Satz wird dann alsbald erweitert und gesteigert zu
der Regel : Wenn in einer Melodie ein Ton vorkommt, der sich
zu allen übrigen Tönen der Melodie verhält wie 2" : 3, 5, 7,
oder zu einem Product aus 2, 3, 5, 7, so ist der Hörer befriedigt,
nur wenn dieser Ton am Schlufs der Melodie wiederkehrt. Einen
Ton von der bezeichneten Art nennt M. „Tonica" der Melodie.
Wir können also auch kurz sagen: Die „Tonica" einer Melodie,
in diesem MEYER'schen Sinne, mufs nach M. den Schlufston der
Melodie bilden.
Hieraus ergiebt sich dann ohne Weiteres folgende Con-
sequenz : Für alle Töne der „diatonischen Leiter" ist die Quarte,
nach Meyer's Terminologie, „Tonica". D. h. die Quarte verhält
sich zu allen übrigen Tönen der Leiter wie 2" : 3, 5, 7 oder zu
einem Product aus den Zahlen 2, 3, 5, 7. Also müfste nach M.
jede aus den Tönen der diatonischen Leiter gebildete Melodie
Zeitschrift für Psychologie 27. 15
r '•• .
226 Ilieodor Lipps.
mit der Quarte abschliefsen. Dieser SchluCs müfste der einzig
befriedigende sein. Nun pflegen die Melodien, die nach der ge-
wöhnlichen Ansicht auf der diatonischen Leiter beruhen, nicht
mit der Quarte abzuschliefsen. Trotzdem ist ihr Abschlag be-
friedigend. Also beruhen diese Melodien in Wahrheit nicht
auf der diatonischen Leiter. Der Glaube an die diatonische
Leiter als Grundlage unserer Melodien ist überhaupt ein Aber-
glaube. Wir müssen die „diatonische Leiter", um die wirkliche
Grundlage aller dieser Melodien zu gewinnen, umwandeln. Wir
müssen insbesondere an die Stelle der Quarte die natüriiche
Septime der Quint, und weiterhin an die Stelle der Sexte die
Secunde der Quint (8:9) setzen. Nehmen wir hier, wie im
Folgenden immer, an, der Grundton der Leiter, aus deren Tönen
die Melodie gebildet ist, sei C, so mufs der vierte Ton der Leiter, •
F^ gef afst werden als natürliche Septime von ö, der sechste Ton,
A, als Secunde von G. Es mufs, mit anderen Worten, dasVer-
hSitnifs von 0: F gedacht werden nicht als 3:4, sondern als
16 : 21, das VerhSitnifs C : Ä nicht als 3 : 5, sondern als 16 : 27.
Damit ist erreicht, dafs der Grundton der Leiter, also C, für die
ganze Leiter „Tonica", nämlich Tonica im MsYEB'schen Sinne
ist Erst auf Grund dieser Annahme sind nach M. die nadi
gemeiner Auffassung auf der diatonischen Leiter beruhenden
Melodien psychologisch verständlich.
Diese „neue Theorie" setzt M. in scharfen Gegensatz zu der
„alten Theorie". Dabei fällt zunächst auf, dafs M. sich den
Kampf gegen die alte Theorie etwas leicht macht Für die alte
Theorie ist nach M. eine Melodie einfach eine beliebige Fdge
von Tönen der diatonischen Leiter. Eine solche „alte Theorie'
kenne ich nicht. Zweitens: In weniger einfachen Melodkn
kommen auch Töne vor, die der diatonischen Leiter, auf weldw
die Melodie nach gemeiner Meinung aufgebaut ist, fremd sind,
z. B. in C-Dur der Ton Fis. Diese Töne sind nach Mets*!
Meinung für die alte Theorie nur dazu da „to make the melodj
more like howling^^ Nun mag diese Anschauung wohl dieean
oder jenen Anhänger haben. Aber Meyer redet von der „ahen
Theorie" in Bausch und Bogen.
Auf Grund dieser Vorstellung von der „alten Theorie" findet
M. überall in Melodien Töne, oder er findet ganze Melodien, mit
denen, seiner Ueberzeugung nach, die alte Theorie gar nichts
anzufangen weifs. Das sind Phantasien. Li jedem der Fülle,
Zmt Theorie der Mdodie. 227
die M. anführt, ist die Deutung für die „alte Theorie" voll-
kommen klar. Die alte Theorie hat ihre darauf bezügUchen und
Jedermann bekannten Regeln. Ich weifs nicht, warum M. von
diesen Regeln keine Notiz nimmt.
Die Theorie der „Tonrhythmen".
Indessen davon wUl ich hier nicht weiter sprechen. Etwas
gnädiger als mit den sonstigen Vertretern der alten Theorie ver-
fährt Meyeb mit mir. Ich habe, so findet M., einen Anfang zu
einer richtigen Theorie gemacht Doch hat auch mir das Haften
an der diatonischen Leiter den Weg zu weiteren Einsichten ver-
sperrt.
In der That hegt in jenem ersten Satze Meyeb's — Wenn
zwei Töne sich verhalten, wie 2* : 3, 5, 7, 9, 15, so sei mit dem
Fortgang vom ersten zum zweiten dieser Töne die Tendenz der
Rückkehr zum ersten verbunden — die Anerkennung einer
Grundlage der Melodiebildung, auf die ich seit lange aufmerksam
gemacht habe. Ich kann dieselbe kurz so bezeichnen: Wenn
in dem durch möglichst kleine ganze Zahlen ausgedrückten
Schwingungsverhältnisse zweier genügend nahe verwandter Töne
das eine VerhältniTsglied 2 oder eine Potenz von 2 ist, so ist
der diesem Verhältnifsglied entsprechende Ton gegenüber dem
anderen der „Zielton". Folgt etwa auf ein O ein C, das sich
zu dem vorangegangenen G verhält wie 2:3, so ist in diesem
Granzen oder in dieser als Einheit aufgefafsten Folge das C
Zielton des G. Dies will heifsen: Der Fortgang von 6 zu C
bat , im Vergleich mit dem Fortgang von C zu G, den Charakter
des Uebergangs zur Ruhe, der in sich zum Abschlufs gelangen-
den Bewegung, der Gewinnimg einer natürUchen Gleichgewichts-
lage, des Einmündens einer Bewegung in ihren natürlichen End-
punkt Das G — C, so habe ich dies auch wohl ausgedrückt,
klingt wie eine Antwort, während das C — G wie eine Frage sich
ausnimmt Ich fügte hinzu, in gewissem Grade verhalte sich das
C auch zu seiner höheren Octave c analog wie C zu G.
Meyer tadelt nun zunächst diesen letzteren Zusatz. Er
meint, er könne nicht finden, dafs die Folge c — C in höherem
Grade den Eindruck des Fortgangs zur Ruhe mache, als die
umgekehrte Folge. Dazu bemerke ich, dafs es bei mir
zweifellos sich so verhält Im Uebrigen ist dieser Punkt für
die Theorie der Melodie nebensächlich.
15*
228 Theodor Lipps.
Meyer tadelt weiter die Art, wie ich jene besondere Be-
deutung der 2 bezw. der Potenzen von 2erkläre. Er thut meine
Erklärung kurz ab mit der Bemerkung, die Rauhigkeit der
tiefen Töne gebe, wie er nachgewiesen habe, kein Recht zu der
Meinung, Tonempfindungen seien nicht stetige Empfindungen,
sondern eine Reihe kurzer Empfindungen, die durch kurze leere
Zwischenräume getrennt seien.
Mit dieser Bemerkung mag Meyer Recht haben. Nur kann
er gewifs nicht Recht haben gegen mich. Denn eine so thörichte
Ansicht vom Wesen der Tonempfindung habe ich niemals aufge-
stellt. Auf die Rauhigkeit tiefer Töne habe ich mich freilich,
als ich meine Anschauung zum ersten Male äufserte, berufen.
Ob mit Recht oder mit Unrecht, ist aber für die Anschauung
selbst gleichgültig. Späterhin bin ich übrigens auf diese Rauhig-
keit geflissentUch nicht wiederum zurückgekommen.
In Wahrheit ist meine Anschauung die folgende. Ich gebe
sie möglichst kurz in einer Reihe von Sätzen wieder.
Erstlich: Das im psychischen Leben Wirkende imd Wir
kungen Empfangende sind jederzeit nicht die Bewufstseinsinhalte,
sondern die diesen zu Grunde liegenden psychischen oder, wenn
man lieber will, „centralen** Vorgänge. Also mufs auch die
Wechselwirkung zwischen Tönen als eine Wechselwirkung der
psychischen Vorgänge betrachtet werden, die den Bewufstseins-
inhalten. Töne genannt, zu Grunde liegen.
Zweitens: Diese Vorgänge sind, wie alle psychischen Vot-
gänge, zu denken — nicht als sich gleichbleibende Zustände,
sondern eben als — Vorgänge, nämlich als Vorgänge im
Sinne wechselnder Zustände, oder im Sinne eines Wechsels
von Zuständen.
Drittens : Wir müssen annehmen, dafs dem Rhythmus der
physikalischen Schwingungen, die einen Ton erzeugen, ein
analoger Rhythmus in den zugehörigen Tonempfindimgsvor-
gängen, oder in dem zugehörigen Wechsel psychischer oder
centraler Zustände entspricht, dafs also der psychische oder
centrale Vorgang der Tonempfindung in eine, der Folge der
physikalischen Theil Vorgänge , d. h. der einzelnen Ton wellen,
analoge Folge von Elementen oder elementaren Theilvorgängen
sich zerlegt.
Viertens: Einem G mögen 300 Schwingungen in der Se-
cunde entsprechen; dann entsprechen dem C 200 Schwingungen
Zwr Theorie der Melodie, 229
in der gleichen Zeit. Diese Folgen von Schwingungen haben
etwas Gremeinsames : die physikalischen „Rhythmen" der
beiden Töne — der Rhjrthmus der Folge von 300 und der
Rhythmus der Folge von 200 Schwingungen — haben einen
Grundrhythmus gemein. 300 ist 100 X 3, und 200 ist 100 X 2.
Damit ist der gemeinsame Grundrhythmus bezeichnet Es ist der
Rhythmus der Folge von 100 im Uebrigen gleichen, niur beim
einen Ton jedesmal in 3, beim anderen jedesmal in 2 Elemente
zerlegten Einheiten.
Dies nun müssen wir nach dem Gesagten tibertragen auf
die Rhythmen der Folgen von elementaren Theilvorgängen der
Tonempfindungsvorgänge, oder kurz auf die „Tonrhythmen". Auch
die Tonrhythmeo von G imd C haben einen gemeinsamen Grund-
rhythmus.
Fünftens: Treffen zwei solche Töne in der Psyche zu-
sammen, so bilden sie ein Ganzes, das diesen gemeinsamen
Grundrhythmus zum Einheitspunkte hat Sie büden ein rhyth-
misches System, mit diesem gemeinsamen Grundrhythmus als
Basis. Dieser Grundrhythmus ist, a 1 s Basis, einerseits etwas für
sich, psychisch relativ selbständig. Andererseits differenzirt er
sich in beiden Tönen in entgegengesetzter Weise, d. h. so, dab
das rhythmische Element dieses Grundrhythmus im einen Tone
jedesmal als Einheit von drei, im anderen jedesmal als Einheit
von zwei Elementen sich darstellt Oder umgekehrt gesagt : Die
beiden Töne sind innerhalb dieses rhythmischen Systems einer-
seits diese beiden von einander verschiedenen Töne, oder diese
beiden qualitativ auseinandergehenden Tonrhythmen; anderer-
seits sind sie doch nicht mehr die beiden qualitativ auseinander-
gehenden Tonrhythmen, die sie sonst sind, sondern sie sind in
dem einheitUchen Grundrhythmus beschlossen oder zusammenge-
schlossen. Dieser Grundrhythmus unterliegt nur in beiden einer
verschiedenen Gliederung, nämlich im einen einer Dreigliederung,
im anderen einer ZweigUederung, d. h. in jenem findet eine Zu-
sammenfassung von je drei, in diesem eine Zusammenfassung
von je. zwei Elementen zu im Uebrigen gleichen Einheiten statt
Die hiermit bezeichnete Einheit eines Mannigfaltigen ist ein
Fall der ästhetischen Einheit eines Mannigfaltigen. Als solche
ist sie begleitet von einem Gefühl der qualitativen Einheitlich-
keit, der inneren Zusammengehörigkeit, der Einstimmigkeit, kurz
der Consonanz.
230 Theodor Liftps,
Endlich sechstens: Unter allen Theilungen des in der Zeit
Verlaufenden ist die Theilung in z w e i gleiche Theile, wiederum
die Theilung jedes Theiles in zwei gleiche Theile, fär uns die
natürlichste. Oder: — Unter allen Gliederungen ist die Zwei-
gliederung und die potenzirte ZweigUedenmg, d. h. die Zusammen-
fassung von je zwei Elementen zur Einheit, dann wiederum die
Zusammenfassung von je zwei solchen Einheiten zur Einheit, für
ims die natürlichste. Oder vielmehr, solche auf der Zweizahl
beruhende Theilung und Gliederung ist für uns die zunftchst
natürliche. Der ZweigUedenmg am nächsten steht die Vier-
gUederung, die dem Bedürfnifs der ZweigUederung in minderem
Grade genügt ; dieser die Achtgliederung u. s. w. Diese auf der
Zweizahl basirenden Gliederungen sind, so kann ich dies auch
genauer bestimmen, die in sich relativ gegensatzlosen. Dag^en
trägt die DreigUederung, noch mehr die Fünf-, SiebengUederong
IL s. w. in sich ein Moment der ausgesprochenen Gegensätzlich-
keit. Jenen GUedenmgen eignet demgemäfs ein Charakter der
Ruhe oder des in sich Beruhenden, des Gleichgewichtes, diesen
in wachsendem Maafse ein Charakter relativer Unruhe, der Be-
wegtheit, des aufgehobenen Gleichgewichtes.
— Daraus wird mir der verschiedene Eindruck des Fort-
ganges von G zu C, und andererseits des Fortganges von CtaG
verständUch.
Ich füge noch hinzu: Die hier kurz angedeutete An-
schauung ist nicht eine von mir ad hoc ersonnene Hypothese,
sondern sie ist die Anwendung allgemeinster psychologischer
Grundanschauungen auf den bestimmten Fall. Diese Grand-
anschauungen finden im Uebrigen ihre Anwendung auf allen
möghchen Gebieten des psychischen Lebens.
Meyeb's Theorie und die Thatsachen.
Kehren wir nun aber zu Meyeb zurück. Er tadelt, wie ge-
sagt, meine Erklärung des besonderen Vorzuges der Zwei-
theilung oder Zweigliederung, kurz der ZweizahL Dies hind^
doch nicht, dafs er das Wesentlichste an dieser Erklärung selbst
voraussetzt. Dies thut er unmittelbar, indem er mit der Zweixahl
und andererseits der Dreizahl, Fünf zahl etc. überhaupt operirt,
und indem er sie insbesondere für die Gesetzmälüsigkeit der
Melodie verantwortUch macht. Alle diese Zahlen sind ja zunächst
Schwingungszahlen. Offenbar können sie psychologische Be-
Zur Theorie der Melodie. 231
deutung haben, nur wenn der Rhythmus der Schwingungsfolgen
irgendwie auch psychisch existirt. Das ist aber eben die Grund-
lage meiner Anschauimg.
Im Uebrigen könnte ich damit zufrieden sein, dafs Meter
den von mir behaupteten Vorzug der Zweizahl anerkennt. Aber
Mkyeb erkennt ihn nicht einfach an, sondern er schränkt ihn
einerseits ein, andererseits steigert er ihn.
Dies Beides thut Meyeb willkürUch und im Widerspruch
mit den Thatsachen. Meyeb sagt: Wenn in einer Folge ver-
wandter Töne, oder in einer „Melodie" ein Ton vorkomme, der
sich zu den anderen Tönen der Melodie verhalte wie 2" : 3, 6, 7
oder zu einem Producte aus 2, 3, 5, 7, so bestehe das Bedürfnis
der Rückkehr zu 2" imd des Abschlusses in 2". Hier ist un-
richtig die Annahme, dafs 2" innerhalb der Folge von Tönen
vorkommen, also irgendwelchen dieser Töne vorangehen
müsse, wenn die Tendenz des Ueberganges zu 2 bestehen solle,
oder kurz, dafs dieser U ebergang eine Rückkehr sein müsse.
Man vergleiche mit der Tonfolge G — c — H — d — f — G — c
die Tonfolge G — H — d — f — G — c. Es ist kein Zweifel, in beiden
Tonfolgen entspricht der Abschlufs in c einem fühlbaren Be-
dürfnifs. Bei der ersten Tonfolge nun kann Meyer dies Be-
dürfnifs ableiten aus jener eben wiederholten allgemeinen Regel
Vielmehr er mufs es nach seiner ganzen Anschauung und nach
Analogie der von ihm eingehender besprochenen Fälle daraus
ableiten. D. h. zunächst, er mufs hier, ebenso wie bei den nach
gemeiner Meinung auf der diatonischen Leiter aufgebauten Me-
lodien, das f als natürliche Septime von G fassen, also f zn c
sich verhalten lassen wie 21 : 16. Thut er dies, dann ist c die
„Tonica" jener Tonfolge. Und daraus ergiebt sich, der Meyer-
schen Regel zufolge, das Bedürfnifs der Rückkehr zu c.
Natürlich müfste dann aber M. bei der zweiten Tonfolge den
gleichen Sachverhalt, d. h. das bei ihr in gleicher Weise be-
stehende Bedürfnifs des Abschlusses in c in gleicher Weise er-
klären. Hier aber geht dem abschliefsenden c innerhalb der
Tonfolge kein C voraus.
Sehen wir indessen davon ab. Achten wir nur auf die
Fälle, in denen die gemeinsame „Tonica" einer Reihe von Tönen
innerhalb der Reihe vorkommt Dann frage ich zunächst:
Wie eigentUch kommt M. zu seiner Regel, ich meine zu der Regel,
dafs in solchen Fällen die Tonica den Schlufston bilden müsse?
232 Theodor JÄpps,
Meyeb geht aus von der Bemerkung: Wenn ich von 2 zu
3, also etwa von C zu (r fortgehe, so habe ich ein fühlbares Be-
dtirfnifs der Rückkehr zu 2. Aber wieso folgt hieraus der Satz,
dafs in jeder Folge von Tönen, oder jeder „Melodie", in der 2
als Tonica vorkommt, die Tendenz der Rückkehr zu 2 be-
stehe. Soll hier nach Meyer jeder der Töne die Tendenz der
„Rückkehr'^ in sich schliefsen. Dann bedenke man, dab unter
den Tönen einer Melodie, in denen die Tonica 2 vorkommt, nach
Meyeb auch Töne sich finden können, die sich zur Tonica wie
21 zu 2" oder wie 405 : 2" oder gar wie 675 : 2» verhalten; kurz,
dafs in Melodien Töne vorkommen können, die mit der „Tonica*
auch nach M. gar nicht verwandt sind. So sind insbesondere
in jener Tonfolge G — c — H — d — f — G — c die Töne f und
c, wenn f als natürliche Septime von G gefafst wird, nach
M. nicht verwandt M. sagt aber selbst an einer Stelle, das
BedürfniTs der Rückkehr von 3 zu 2 sei stärker als das Bedarf-
nifs der Rückkehr von 7 zu 8, oder von 9 zu 8; und fügt
hinzu, dieser Sachverhalt scheine durch den Grad der Ver-
wandtschaft bedingt Daraus müssen wir schliefsen, dab in
unserer Tonfolge G — c — H — d — f — G — c das /*, das, wie ge-
sagt, für Meyeb mit c nicht verwandt ist, keine Tendenz der
Rückkehr zu o in sich schUefst.
Darnach müssen wir Meyer's Regel anders interpretiren,
als wir soeben versuchsweise thaten. Nicht alle Töne der
„Melodien*', die in ihrer Tonica befriedigend abschliefisen, tragen
die Tendenz der Rückkehr zur „Tonica" in sich, sondern nur
einige derselben. Oder umgekehrt gesagt: Es genügt, dals
einige Töne diese Tendenz in sich schUefsen, damit dieselbe für
die ganze Melodie bestehe, damit also die ganze Melodie in der
Tonica befriedigend abschliefse. Aber wenn es nim so sich ver-
hält, wenn also in unserem Falle f für die Tendenz der Rück-
kehr zu c vöUig bedeutungslos ist, was hat es dann für
einen Sinn zu fordern, dafs f sich zu c verhalte wie 21 zu 2"?
Was für einen Sinn hat es zu sagen, dies Verhältnifis müsse
angenommen werden, weil sonst die Tendenz der Rückkehr zu
c nicht bestehen könne ? Warum soll ein /*, das mit der Tendenz
der Rückkehr zu c gar nichts zu thun hat, nicht auch, unbe-
schadet dieser Tendenz, Quart das c sein? Woher überhaupt
Meyer's Eifer gegen die Quart und ihr Verhältnifs 4:3 zur
Tonica ?
Zur Theorie der Melodie. 233
Wenn f die Quart von c wäre, würde nach M. in unserer
Tonfolge an die Stelle der Tendenz der Rückkehr zu c die
Tendenz der Rückkehr zu f treten. Betrachten wir die Sache
auch von dieser Seite. Ich frage: Warum ist es so? M. ant-
wortet: Weil jetzt f „Tonica" ist Dies ist f in der That nach
Mbyer's Terminologie. Aber Terminologien haben doch nicht
die Kraft, eine bestimmte Art des Abschlusses einer Melodie zu
erzwingen. Nur die Töne der Tonfolge können diese Kraft
haben. Die Frage lautet also: Wie ist es damit bestellt?
Wenn in der Tonfolge G — c — H — d — /*, /*als Quart von
c, also nach Meyer's Terminologie als Tonica genommen wird,
so hat, trotz dieser Terminologie, aber nach Meyeb's eigener
Angabe, nur ein einziger Ton, nämlich c, die Kraft auf den
AbschluTs in f hinzudrängen, c hat diese Kraft vermöge seines
Verhältnisses zu /'=3:4. Dagegen verhält sich O zur Quart
/* wie 9 : 16; jBT wie 45 : 64; d wie 27 : 32. Und alle diese Verhält-
nisse begründen nach Meyeb keine Tendenz der Rückkehr dieser
Töne (?, jBT, d zu f.
Dagegen liegt in (r, H und d die stärkste Tendenz der
Rückkehr zu dem Tone c; in G wegen des Verhältnisses 3:4,
in IT und d wegen der Verhältnisse 15 : 16 und 9 : 8 zusammen
mit der besonderen Nähe der beiden Töne H und d an c.
Wir haben also innerhalb der Folge G — c — H — d — f im
Ganzen einerseits eine einfache Tendenz des Abschlusses in /*,
andererseits eine dreifache Tendenz des Abschlusses in c. Natür-
lich wird jene Tendenz durch diese überwunden. Das Resultat
ist, trotz der Quart /*, die Tendenz der Rückkehr zu c. So
verhält es sich, wohlverstanden, nach der Consequenz der Meyer*-
schen Theorie.
Dies alles nun übersieht Meyer, verführt durch seinen Ge-
brauch des Wortes „Tonica". 2 ist ihm Tonica auch für 21, 405 etc.,
lediglich weil diese Zahlen Producte sind aus 3, 5, 7. Aber die
Frage ist doch nicht, ob man einen Ton vermöge einer willkürlich
erweiterten Terminologie als Tonica eines anderen Tones be-
zeichnen kann, sondern ob er diesem anderen Tone gegenüber
Tonica ist, d. h. ob er als solcher wirkt Thut er dies nicht,
so ist die „Tonica'^ ein leeres Wort, und auf leere Worte aoll
man keine Theorien bauen.
Aber die von Meyer aufgestellte B^
unmittelbar den Thatsachen. Wie ge«
234 Theodor Lipps.
der Auffassung der „alten Theorie^ auf der diatonischen Leiter
beruhenden Melodien dadurch mit seiner Regel in Ueberein-
stimmimg, dafs er an die Stelle der Verhältnisse 3 : 4 und 3 : 5
die Verhältnisse 16 : 21 und 16 : 27 setzt. Er erklärt jene
„Intonationen" für falsch, diese für richtig. Aber wenn ich mich
nun darauf capricire, trotz Meyeb nach der alten Theorie zu
intoniren, also in C-dur das F als Quart, das A als Sext er-
klingen zu lassen? Dann ist nach M. das F die Tonica.
Dann müTsten also, wiederum nach M., alle jene Melodien in
F^ und nur in F befriedigend abschliefsen. Aber man mache
einmal den Versuch, d. h. man lasse die Melodien thatsächlich
in F abschUefsen. Man wird finden, dafs der Versuch mifslingt
Der Abschlufs in F klingt nicht befriedigend. — Ich frage,
warum hat M. diesen Versuch nicht gemacht? Und wenn er
ihn gemacht hat, wie kann er bei seiner Theorie bleiben?
Fassen wir aber die Sache einfacher. Kehren wir noch
einmal zur zweiten der oben einander gegenübergestellten Ton-
folgen, d. h. zur Tonfolge G — H — d — f — O zurück. In ihr
sei f die natürUche Septime von G; das f werde als solche
„intonirt". Dann verhält sich G:H:d:f wie 4:5:6:1. Es
ist also hier für M. zweifellos das G die Tonica für alle übrigen
Töne. Die Tonfolge müfste also in G befriedigend abschlielsen,
und sie könnte nur in 6 befriedigend abschhefsen. Aber diee
ist n i c h t der Fall. Die Reihe schliefst befriedigend ab einzig in c.
Meyer's Theorie ist also falsch.
Hiermit komme ich nun gleich zum zweiten Hauptpunkte
der MEYER'schen Theorie. Für Meyeb ist die 7 innerhalb der
Melodie der 3 und der 5 coordinirt. Das Verhältnifs 2" : 7 hat
der Art nach dieselbe Bedeutung wie das Verhältnifs 2": 3 und
2" : 5. Auch diese Annahme wird durch die Folge G — H — d — /"— Ö,
in der wir wiederum f als natürliche Septime des G betrachten,
also f zu G wie 7 : 4 sich verhalten lassen, widerlegt Lassen
wir in dieser Folge für einen AugenbUck das f weg, dann
finden wir: Die Folge G — H — d schliefst — zwar in erster Linie
gleichfalls in c, sie schliefst aber auch in G befriedigend ab.
Auch in G kommt die Bewegung zur Ruhe. Und dieser Sach-
verhalt bleibt derselbe, vielmehr er steigert sich noch, d. L der
Abschlufs in G ist ein vollkommenerer, wenn die grofse Septime
von G, Fis, hinzutritt, also etwa in der Folge G — H — d — F«— Ö.
Zur Theorie der Melodie. 235
Dagegen ist in dem Augenblick, wo die natürliche Septime des
G hinzutritt, ein befriedigender Abschlufs in O unmöglich.
Wie man sieht, ist bei diesem Sachverhalt ein Doppeltes zu
unterscheiden. Einmal: — Die natürliche Septime F trägt zu
dem BedürfniTs des Abschlusses in der „Tonica" G nichts bei,
während die grofse Septime Fis allerdings dazu beiträgt Und
doch ist die natürliche Septime der Tonica verwandter als die
grofee Septime. Damit aber ist es nicht genug: Die natürliche
Septime hebt auch den befriedigenden Abschlufs in der Tonica
auf. Wie verträgt sich das mit Meyeb's Theorie?
Die Melodie nach Max Meyeb.
Auf diese Frage der „natürlichen Septime der Quint^ komme
ich weiter unten zurück. Zunächst wenden wir uns jetzt zu
dem Punkte, der in unserem Streit mit Meyeb der eigentlich
entscheidende ist Meyer will eine neue Theorie der Melodie
begründen. Da fragen wir denn biUig: Was eigentlich ist für
M. eine Melodie ? Was macht ihr Wesen aus ?
Bei Beantwortung dieser Frage halten wir wohl den Meyeb-
schen Begriff der Tonica fest, und erinnern uns des MEYER'schen
Dogmas: Die „Tonica^ der Melodie, nämlich die Tonica im
MEYEB'schen Sinne, muTs am Schlüsse wiederkehren. Ist dies
der Fall, dann und nur dann schliefst die Melodie, in welcher
die Tonica vorkommt, befriedigend ab.
Daraus mm müssen wir, so scheint es, zunächst schliefsen:
Eine Melodie ist für M. eine Folge von Tönen, die eine Tonica
hat, und mit der Tonica endigt Eine Melodie ist ja doch in
jedem Falle eine abgeschlossene und in befriedigender Weise
abschUefsende Folge von Tönen. Die einzige Antwort aber, die
uns Meyeb auf die Frage giebt, wie ein solcher befriedigender
Abschlufs erreicht werde, ist die soeben bezeichnete: Die Me-
lodie schliefst befriedigend ab, wenn die Tonica am Ende wieder-
kehrt
Dieser Schlufs scheint noch zwingender zu werden, wenn
wir sehen, dafs Meyeb jene Regel auch als das elementarste
Gesetz der melodischen Tonfolge bezeichnet Es scheint,
eine Tonfolge, auf welche dies elementarste Gesetz gar keine An-
wendung findet, kann unmöglich den Anspruch erheben eine
Melodie zu sein.
236 Theodor Lipps,
Nun giebt es aber thatsächlich Melodien, die nicht mit der
Tonica abschliefsen, weder mit einer Tonica im Sinne Meters,
noch mit der Tonica, welche die alte Theorie in diesen Melodien
statuirt. Trotzdem sind diese Melodien richtige Melodien. Sie
sind insbesondere befriedigend abschliefsende Melodien.
Diese Melodien nun kann M. nicht leugnen. So bleiben für
ihn nur zwei Möglichkeiten: Entweder das MEYER*sche Dogma
ist falsch, oder es giebt Melodien ohne Tonica Da ein Dogma
nie falsch sein kann, so erübrigt für Meyee nur die letztere An-
nahme. Zu ihr entschliefst er sich denn auch. Ks giebt für ihn
zwei Gattungen von Melodien. Die einen haben eine Tonica;
diese schliefsen nothwendig mit der Tonica ab. Die anderen
schliefsen mit keiner Tonica ab; diese haben also auch keine
Tonica.
Natürlich fragt man, nach welcher Regel denn diese Me-
lodien befriedigend abschliefsen, da der einzige Grund für einen
befriedigenden Abschlufs, den M. anzuführen weifs, für sie nicht
in Frage kommt. Diese Frage bleibt ohne Antwort
Indessen lassen wir dies, imd kehren zurück zur oben ge-
stellten Frage. Wenn für Meyer die Tonica und der Abschluls
in derselben nicht die Melodie constituirt, was ist dann für ihn
die Melodie?
Hier begegnen wir einer neuen Unterscheidung von Gattun gen
der Melodie : Die einen heifsen einfache Melodien. In diesen sind
alle Töne mit allen verwandt. Die anderen heifsen „complexe'^
Melodien. In diesen finden sich auch Töne, die nicht mit einander
verwandt sind, „oder besser. Töne, die mit einander nicht direct,
sondern durch Vermittelung eines dritten Tones verwandt sind".
Meter fügt hinzu, diese complexen Melodien müTsten denmach
theoretisch in „partial melodies^^ aufgelöst werden. Später sagt
Meyer, speciell mit Rücksicht auf die Melodien ohne Tonica, in
diesen Melodien „finden sich allerlei Beispiele — many in-
stances — partialer Melodien". Jede dieser partialen Melodien
ist in sich zusammengehalten durch eine secundäre Tonica. Die
partialen Melodien sind in der Gesammtmelodie mit einander
„verwoben".
Damit haben wir die Antwort auf unsere Frage. Melodien
sind für Meyer Folgen von Tönen, die verwandt oder nicht
verwandt „oder genauer" indirect verwandt sind. Aufserdem
scheint zur Melodie dies zu gehören, dafs in ihnen „partial
Zur Theorie der Melodie, 237
melodies'^ sich finden, die mit einander verwoben sind. Dabei
ist zu berücksichtigen, dafs zu den indirect verwandten Tönen
auch solche gehören, die sich etwa wie 2": 405 oder wie 2": 675
verhalten.
Dieses Ergebnifs ist sehr verwunderlich. Meybb wirft, wie
wir sahen, der alten Theorie vor, eine Melodie sei für sie nichts
weiter als eine beUebige Folge von Tönen, die der diatonischen
Leiter angehören. Dieser Vorwurf ist ungerecht Aber der Vor-
wurf, der Meyer trifft, ist schümmer. Die Töne der diatonischen
Leiter sind doch wenigstens enger verwandt als gar manche der
indirect verwandten Töne Meyeb's.
Die Melodie und ihre Tonica.
In jedem Falle genügt Meyeb's Begriffsbestimmung der Me-
lodie nicht. Eine „Melodie" ist weder eine Folge indirect, noch
eine Folge direct verwandter Töne. Sie ist auch nicht eine
Folge einzelner Melodien, die mit einander verwoben sind, aber
keinen Einheitspunkt haben. Sondern eine Melodie ist zunächst
eine ästhetische Einheit. Und dies besagt hier, was es überall
besagt, nämlich dafs ein Mannigfaltiges sich unterordnet einem
Gremeinsamen, sich selbst Gleichen, dafs das Mannigfaltige sich
darstellt als eine Vermannigfaltigung, Ausgestaltung, Differenzi-
mng dieses Einen, als ein Aussichherausgehen dieses Einen und
Auseinandergehen desselben in Verschiedenheiten und Gregen-
sätze. Das ästhetisch Einheitliche ist ein „Organismus'^ in diesem
Sinne.
Bei der Melodie nun kann dies Eine oder dieser Einheits-
punkt niu: bestehen in einem einzigen „Tonrhythmus". Dabei
ist unter dem Tonrhythmus nicht ein Rhythmus einer Reihe
von Tönen verstanden, sondern ein Rhythmus von der Art, wie
er nach oben Gesagtem in jeder Tonempfindung oder jedem Ton-
empfindungsvorgang verwirklicht ist. Jede Tonempfindung ist
eine psychische Bewegung von bestimmtem Rhythmus. Und
auch daran erinnere ich, dafs dieser Rhythmus dem Schwingungs-
Aythraus analog gedacht werden mufs. Einem solchen Rhyth-
tnus ordnet sich die Melodie unter, in ihm hat sie ihren Ein-
heitspunkt. Sie ist ein in der Zeit sich verwirklichendes System
von Tonrhythmen, das in einem einzigen Alles beherrschen-
den Grundrhythmus seinen Einheitspunkt hat und in ihm, als
seiner Basis, abschUefsend sich zusammenfafst. Indem sie diesen
238 Theodor Lipps.
zusammenfassenden Abschlufs gewinnt, kommt die Bewegung in
sich zur Ruhe. — Dieser Grundrhythmus ist die wahre und eigent-
liche „Tonica".
Dies führe ich im Folgenden etwas näher aus. Zunächst
aber mache ich zwei Vorbemerkungen. Einmal: Ich setze hier
voraus, dafs die Melodie aus einfachen Tönen, nicht aus Klängen
besteht Klänge sind selbst schon simultane, in einem Einheit»-
punkte zusammengefafste oder auf einem einheitlichen Grand-
rhythmus, als ihrer Basis, aufgebaute rhythmische Systema Be-
steht die Melodie aus Klängen, so complicirt sich das Bild der
Melodie. Aber es kommt kein principiell neuer Factor in dasselbe
hinein.
Die zweite Vorbemerkung ist eine terminologische. Auf die
Frage, welches die Tonica einer Melodie in C-Dur sei, antwortet
die „alte Theorie" : C sei diese Tonica. Dabei ist aber unter dem
C nicht das grofse C oder das kleine c oder C| oder c^ gemeint,
sondern einer dieser Töne. C hat also hier eine allgemeinere Be-
deutung. Diese allgemeinere Bedeutimg mm soll in der folgen-
den Darlegung das „C^ jederzeit haben. Ich vermeide die
Verwechselung mit dem grofsen C, also mit dem bestimmten
Tone C, der zwischen C^ und c in der Mitte liegt, indem ich
diesen mit Cq bezeichne, so dafs also die verschiedenen C der
Reihe nach die Namen C^, C, , C^, c, c^ etc. tragen. Das
Gleiche gilt mit Rücksicht auf 2), E etc.
Nehmen wir nun an, eine Melodie bestehe aus den Tönen
c, e und g. Diese Töne seien Töne von bezw. 400, 500 und 600
Schwingungen. Dann stellt sich der im Ton c verwirklichte
Rhythmus dar als Rhythmus einer Folge von 400 Elementen in
der Secunde, oder kurz als „Rhythmus 400", ebenso der Rhyth-
mus der Töne e und g bezw. als „Rhythmus 500" und ab
„Rhythmus 600". Alle diese Rhythmen nun haben den Rhyth-
mus 100 gemein. Die drei Töne c, e, g haben in diesem „Rhyth-
mus 100" ihren Einheitspunkt oder ihre einheitUche Basis; ihre
Rhythmen sind verschiedene Diflferenzirungen dieses Grund-
rhythmus. Sie bilden ein einheitliches rhythmisches System, das
auf diesem Grundrhythmus sich aufbaut Alle diese Ausdrücke
kann ich durch den einen ersetzen : Der Rhythmus 100 ist die
eigentliche „Tonica" der Melodie.
Dieser Rhythmus ist identisch mit dem Rhythmus des
Tones Cj. Demnach können wir, wenn einem bestimmten ein-
Zur Theorie der Melodie. 239
seinen Ton der Name „Tonica^ der Melodie zuerkannt werden
soll^ auch dies C^ — nicht etwa Cq oder c — für die eigentliche
Tonica der fraglichen Melodie erklären.
Indessen zu diesem C^ steht nun C^ und c in einer be-
sonderen Beziehung. Q, nächst ihm c, trägt den Rhythmus 100
also den Rhythmus von C^, in besonderem MaaTse in sich. Die
Rhythmen 200 und 400 sind, wie wir sahen, die einfachsten
Differenzirungen des Rhythmus 100. Sie sind, wie bereits oben
gesagt wurde, diejenigen Differenzirungen desselben, durch die
in den Grundrhythmus keine eigentUche Gegensätzlichkeit hinein
kommt Der Grundrhythmus 100 wird, so können wir auch
sagen, durch diese Differenzirungen sich selbst am wenigsten
entfremdet Er bleibt relativ als das, was er an sich ist, be-
stehen. Kurz, der Rhythmus 300 und der Rhythmus 400, weiter-
hin auch der Rhythmus 800 etc., ist mit dem Rhythmus 100, ob-
zwar in abnehmendem Grade, relativ identisch. Dies findet in
unserem Bewufstsein seinen unmittelbaren Ausdruck darin, daTs
uns Cf, und c in gewisser Weise als „Dasselbe" erscheinen, wie C^,
nur in höherer Lage. Wir erkennen diesen Sachverhalt unmittel-
bar an, indem wir sie mit gleichartigen Namen bezeichnen.
Und demgemäfs können nun auch die Töne Cq und c die
Stelle der Tonica C^ vertreten. Sie können als stellvertretende
Toniken auftreten. Damit rechtfertigt sich jene Gepflogenheit
der „alten Theorie" von einer Tonica C zu sprechen in der
Weise, dafs dabei zwischen Cj, C^, c etc. nicht unterschieden
wird.
Immerhin müssen wir dabei bleiben: Im strengen Sinne
„Tonica" ist in unserem Falle nur der Ton Cj, oder noch ge-
nauer der Tonrhythmus 100. Die Töne Cq oder c können nur
Tonica sein, sofern sie in der bezeichneten Beziehung zu C^
stehen. Dafs sie durch diese Beziehung stellvertretende Toniken
werden können, dies wird noch verständlicher, wenn wir uns
erinnern, dafs beim Abschlufs der Melodie auch die Quinte oder
die Terz die Stelle der Tonica vertreten kann. Daraus ergiebt
sich ein minder vollkommener Abschlufs, aber doch ein Ab-
schlufs, der uns genügen kann. Dies ist möglich, weil eben
doch auch die Quinte und die Terz die Tonica in sich schliefsen,
nur minder vollkommen als die höheren Octaven der Tonica.
Die wirkUche Tonica schwebt der abschliefsenden Melodie,
die nicht bis zur Tonica fortschreitet, sondern mit G oder E als
240 Theodor Lipps.
Schlufston sich begnügt, doch sozusagen vor. Sie liegt iraplicüe
darin. So liegt auch in den höheren Octaven der eigentlichen
Tonica die Tonica implicite, nur vollkommener, unmittelbarer,
reiner, mit Fremdem relativ unvermischt.
Dominanten und Tonica.
Betrachten wir nun die Töne der diatonischen Leiter von
G-Dur mit Rücksicht auf ihre Fähigkeit, in einer aus diesen
Tönen gebildeten Melodie Tonica zu sein. Offenbar ist diese
Fähigkeit am gröfsten bei den Tönen C, G und F. Diese also
heben wir speciell heraus. Wir können sie von vornherein iet
Reihe nach als mittlere, obere und untere „Dominant" be-
zeichnen. — „F" hat hier natürlich den Sinn, den es in d»
diatonischen Leiter hat, d. h. es ist damit die Quart von C ge-
meint. Dies gilt mit Rücksicht auf die ganze folgende Uebe^
legung.
C nun hat in G seine Quinte, in E seine grofse Terz. Di-
mit ist zugleich gesagt, dafs diese beiden Töne sich, von
den verschiedenen Höhenlagen des C selbst abgesehen, am
unmittelbarsten in das auf C aufgebaute rhythmische System
einordnen. Sie sind die nächsten und einfachsten Differenri-
rungen des in C enthaltenen Grundrhythmus. Auch als Diffe-
renzirungen, nur nicht eben als einfache Differenzirungen dieses
Grundrhythmus stellen sich die Secunde und die grofse Septime,
D und i/, dar. Die noch übrigen Töne der Leiter, F und i,
dagegen stehen aufserhalb des auf C aufgebauten oder sich auf-
bauenden rhythmischen Systems. Dies drücken wir mit An-
wendung jenes Terminus „Dominant" zunächst so aus, dafe wir
sagen: C ist ».Dominant" für E und G, weiterhin für H undA
und es ist Dominant nur für diese Töne. Eine Dominant ist
wie der Name sagt, ein herrschender Ton. Und für uns kann
dies nur heifsen : Sie ist ein Ton, dessen Rhythmus herrschender
oder Grundrhythmus ist für andere Töne. Dominant ist für uns,
kurz gesagt, die Basis eines rhythmischen Systems. Dabei lassen
wir aber dahingestellt, ob die Basis wirksame oder
nur ideelle Basis ist. Nur die wirksame Basis nennen wir,
wie schon angedeutet, Tonica. Davon sogleich ein Weiteres.
Vergleichen wir nun mit dem Grundton C der diatonischen
Leiter die Quinte 6r, so finden wir: G ist Dominant oder
Zur Theorie der Melodie. 241
Basis nur für zwei Töne, nämlich für ihre grofse Terz und
Quinte, also für die Töne H und D.
Die Quarte F endlich ist Basis zunächst für den Grundton C
und die Sexte A. Sie hat wiederum in diesen beiden ihre Quint
und grofse Terz. Sie ist dann weiter Dominant oder Basis für
alle die Töne, die C zur Dominant oder Basis haben, also für
G und E und für H und D. Sie ist mit einem Worte die alle
Töne der Leiter umfassende Dominant
Hiermit ist zunächst gesagt, wiefern die Töne C, O und I
als Dominanten der diatonischen Leiter bezeichnet werden
können. Zugleich rechtfertigt sich in einfacher Weise die Be-
zeichnung des F als „untere", des G als „obere Dominant". Das
rhythmische System auf der Basis C ist in dem gesammten rhyth-
mischen System, das F zur Basis hat, eingeschlossen. F ist für
das rhythmische System auf C die tiefer liegende Basis. An-
dererseits schliefst das auf C sich aufbauende rhythmische System
das Gy und damit auch das rhythmische System, das G zur Basis
hat, in sich. C ist die tiefer liegende Basis oder Dominant dieses
letzteren rhythmischen Systems. Das rhythmische System auf G
hat C zur tieferen, G zur höheren und nächsten Basis.
— Die Dominant C kann nach dem Gesagten im Vergleich mit
Fund G mittlere Dominant heifsen.
Indem wir die Quart F als die alle Töne der diatonischen
Leiter umfassende Basis oder Dominant charakterisiren, sind wir
nun wieder auf den Punkt gestofsen, auf den Meyeb bei seiner
Theorie alles Gewicht legt. Weil die Quart die allumfassende
Dominant ist, soll sie zugleich die Tonica der Leiter sein, und
müfste darum zugleich, nach Meyek, als die Tonica aller aus
den Tönen dieser Leiter gebildeten Melodien betrachtet werden.
Indessen ich gab schon zu verstehen: Dafs ein Ton für
andere Basis oder Dominant sei, schliefse nicht ohne Weiteres
in sich, dafs er wirksame Basis oder wirksame Dominant der-
selben sei. Statt dessen kann ich nach einer gleichfalls bereits
oben gemachten Bemerkung auch sagen: Es liegt darin nicht ein-
geschlossen, dafs der Ton für die anderen Töne Tonica sei.
Denn so unterscheiden wir Dominant und Tonica: Beides sagt,
dafs der Rhythmus eines Tones für andere Töne Grund-
rhythmus ist. Das Wort Tonica aber besagt, dafs er wirk-
samer Grundrhythmus oder wirksame Basis für andere
Töne ist.
Zeitschrift fdr Psychologie 27. 16
242 Theodor Lipps.
Es bestehe nun weiter eine Melodie aus den Tönen c, d, 9, f.
Dann bestimmt sich die unterste, alle diese Töne umfassende
Dominant genauer als F^. Zugleich ist F^ speciellere Dominant
für die Töne c und f. Hier nun ist nur Fj, nicht Fg, wirksame
Dominant F^, das im Toncontinuum gar nicht vorkommt, ist
ideelle Basis des rhythmischen Systems, das alle jene vier
Töne in sich schliefst. Aber es wirkt nicht als Basis, d.h. der
Tonrhythmus, der in F^ verwirkUcht ist, ist zwar allen jenen
Tönen gemein, oder alle die Töne, c, d, /*, g, sind einfache Diffe-
renzirungen oder Theilungen desselben, aber er ist nicht wirk-
samer, nämlich ästhetisch wirksamer Einheitspunkt derselben.
Er bindet die Töne nicht ästhetisch an einander. — Die Wirkung,
um die es sich hier überall handelt, ist aber eben die ästhe-
tische Wirkung. — Dagegen bindet der Rhythmus, der in F^
verwirkUcht ist, die Töne c und f allerdings ästhetisch an einander.
Fl ist also für diese Töne wirksame Basis oder Dominant
Dafs es so sich verhält, das giebt sich uns zu erkennen im
Vorhandensein bezw. Nichtvorhandensein des Consonanzgefühls.
Das Intervall c — f ist consonant, d. h. nach früher Gesagtem,
wir haben angesichts desselben ein Gefühl der Einheitlichkeit
oder der inneren Zusammengehörigkeit Dies Gefühl nun be-
ruht auf dem Aneinandergebundensein der beiden Töne durch
den ihnen gemeinsamen Grundrhythmus. Dieser Grundrhythmus
ist in unserem Falle der Rhythmus des Tones F, . Durch diesen
sind also, nach Ausweis des Consonanzgefühls, die Töne c und f
ästhetisch an einander gebunden. Dieser Rhythmus ist nicht nur
thatsächlich und für unser reflectirendes Denken, sondern er ist
für unser Gefühl der Einheitspunkt, oder die Basis für diese beiden
Töne. Er ist mit einem Worte wirksamer, nämlich ästhetisch
wirksamer Einheitspunkt oder er ist wirksame, nämlich ästhetisch
wirksame Basis der beiden Töne. Es ist Dasselbe, wenn ich
sage, der Ton -F, ist wirksame „Dominant" der beiden Töne, oder,
er ist für die beiden Töne Toni ca.
Dagegen ist das Intervall f — g, erst recht das Intervall /*— rf,
dissonant. D. h. wir haben ein Gefühl der Nichtzusammen-
gehörigkeit Der diesen Tönen gemeinsame Grundrhythmus —
der in dem Tone F^ bezw. F^ sich verwirklicht oder verwirklichen
würde — bindet also die Töne für unser Gefühl nicht an einander.
Er ist demnach nicht wirksamer Einheitspunkt oder wirksame
Basis der beiden Töne, oder er ist für sie nicht ästhetischer Ein-
Zwr Theorie der MdodU. 243
heitspunkt oder ästhetische Basis. Wiederum ist es Dasselbe,
wenn ich sage, der Ton F^ bezw. F^ ist nicht wirksame „Domi^
nant", oder er ist nicht Tonic a für g oder gar für d.
Verallgemeinem wir dies, so gelangen wir zu der Regel:
Töne können eine gemeinsame Tonica haben, nur wenn sie ge-
nügend eng verwandt d. h. wenn sie consonant sind. Tritt zu
zwei verwandten Tönen ein dritter Ton, so verschiebt sich der
gemeinsame Grundrhythmus oder die gemeinsame Basas der drei
Töne nach der Tiefe; und ist der dritte Ton zu einem der
beiden ersten dissonant, so verschiebt sich der gemeinsame
Grundrhythmus so weit in die Tiefe, dafs er aufhört für die
drei Töne wirksamer ästhetischer Einheitspunkt, kurz Tonica
zu sein.
Dazu ist nun freilich ein Zusatz erforderlich. H und D sind
zu C dissonant, d. h. sie haben dazu geringe Verwandtschaft;
ihr gemeinsamer Grundrhythmus genügt nicht, sie ästhetisch zu
vereinheitiichen. Aber H und D sind unter gewisser Voraus-
setzung die dem C nächst benachbarten Töne. H^ und d
etwa sind unmittelbar benachbart dem C^. Und diese Nachbar-
schaft vermag bei der Aufeinanderfolge der Töne, also in der
Melodie, den Mangel der Verwandtschaft zu ergänzen. Sie ist
sozusagen eine eigene Art der Verwandtschaft, durch welche die
Wirkung der eigentlichen Tonverwandtschaft unterstützt wird.
Hq und d sind für Cq „Leittöne".
Ebenso hat die Quarte F unter Voraussetzimg einer be«
stimmten Lage ihre Leittöne in E und <?. Dagegen hat die
Quint G in der diatonischen Leiter keine Leittöne.
Danach ist also die Quart, was die Fähigkeit Tonica zu sein
angeht, zunächst dem Grundton C völlig gleichgestellt, und nur
die Quint benachtheüigt. Und dabei bleibt es auch, so lange wir
niu: jeden der drei Töne: Grundton, Quart und Quint, für sich
betrachten und nach seiner Stellung zu den Tönen der Leiter
fragen.
Die Melodie aus der diatonischen Leiter.
Innerhalb des Ganzen der Melodie ist mm aber aufserdem
wichtig das Verhältnifs der Identität oder Verwandtschaft bezw.
der Dissonanz, in welchem die Töne der drei im Vorstehenden
betrachteten rhythmischen Systeme, nämlich der rhythmischen
Systeme mit C, G und F als Basis, zu einander stehen.
244 Theodor lApps.
Hierbei ist zunächst noch einmal daran zu erinnern, daüsG
zugleich der erste Ton des auf C, C zugleich der erste Ton des
auf F aufgebauten rhythmischen Systems ist; damit ist zugleich
die enge Verwandtschaft zwischen F und C und C und G betont
Weiter ist zu beachten, dafs die Töne des rhythmischen
Systems auf (?, d.h, H und i>, zusammenfallen mit den Leit-
tönen für C, ebenso die Töne des rhythmischen Systems auf C,
die Töne E und G , zusammenfallen mit den Leittönen für F.
Es ist endlich besonders zu berücksichtigen die volle Dissonanz
zwischen t einerseits, und H imd Z), die für C Leittöne sind,
oder sein können, andererseits.
Damit kommen wir nun endlich zur Betrachtung der Melodie,
die aus den Tönen der diatonischen Leiter überhaupt gebildet ist
Die Melodie, so sagte ich, ist eine ästhetische Einheit Sie wird
dazu durch den das Ganze der Melodie beherrschenden Grund-
rhythmus. Dieser ist die eigentUche Tonica. Betonen wir hier
noch speciell das Negative an dieser „Einheit^ der Melodie : Die
Melodie ist nicht eine Folge von Tönen, sondern sie ist im
Vergleich damit ein Neues. Daraus folgt, dafs ein Ton nicht ein-
fach dadurch Tonica der Melodie wird, dafs er Tonica ist für
alle Töne der Melodie. Sondern eine Melodie kann da xmd dort
diese oder jene, und sie kann doch zugleich im Ganzen oder als
Einheit eine einzige Tonica haben. So hat auch ein Ornament hier
diese, dort jene Richtung ; imd doch ist im Ganzen seine Richtung
eine einzige. Oder eine Rede verfolgt hier diesen, dort jenen
Gedanken und entwickelt doch im Ganzen nur einen einzigen
Gedanken.
Dem fügen wir hinzu: — Die Melodie entsteht Und in-
dem sie entsteht, wird auch erst ihre Tonica zu der das Ganze
beherrschenden Tonica, d. h. das rhythmische System, als welches
die Melodie zu betrachten ist, gewinnt erst in seinem Entstehen
in einem einzigen Rhythmus seine einheitlich wirksame Basis.
Und indem es dieselbe gewinnt, kommt zugleich die Bewegung
der Melodie in sich zur Ruhe. Die Gewinnung dieser Basis ist
die wahre „Rückkehr zur Tonica".
Dieser Procefs vollzieht sich aber durch Gegensätze. Je
mannigfaltiger die Rhythmen sind, die in die Melodie eingehen,
je reicher also die Melodie ist, desto mannigfaltiger und gröfeer
sind die Gegensätze. Die Gegensätze sind genauer Gegensatz«
Zur Theorie der Meiodie,
2^5
zwischen den Ansprüchen verschiedener Tonrhythmen, Grund-
rhythmen oder Tonica des Ganzen zu sein.
An sich betrachtet nun erhebt jeder Ton diesen Anspruch.
Innerhalb der Melodie in C-Dur können ihn aber aus den oben
bezeichneten Gründen vorAllem erheben C, F und Ö. Soll aber
einer dieser Töne Tonica werden, so müssen die Ansprüche der
anderen überwunden werden.
Verläuft nun die Melodie in C-Dur, so ist damit ohne Weiteres
gesagt, dafs C bestimmt ist Tonica zu sein oder dazu zu werden.
Darauf wird also die Melodie von vornherein angelegt sein. Sie
mufs in ihrem ganzen Verlauf umso einheithcher erscheinen, je ent-
schiedener von vornherein auf diese Tonica hingewiesen wird.
Dies geschieht am wirksamsten durch die Folge G — C. Damit
ist bereits in ihrem einfachsten Grundzuge die Melodie mit C als
Tonica gegeben: Wir haben ein rhythmisches System, das in
seine Basis C einmündet
Aber es handelt sich hier um die reicher sich entfaltende,
insbesondere um die alle Töne der diatonischem Leiter in sich
aufnehmende Melodie. Indem diese Töne successive auftreten,
entstehen jene Gegensätze, und beginnt die Aufgabe ihrer
Ueberwindung.
Noch auTserhalb des Kampfes um die Stellimg als Tonica
steht K Indem E zu C und G hinzutritt, wird nur der Hinweis
auf C als Tonica gesteigert, also die Stellung der Tonica befestigt
Nicht blos darum, weil auch E zum rhythmischen System C
hinzugehört, imd mit G zusammen C zur wirksamen Basis hat,
sondern auch vermöge der relativen Dissonanz zwischen E und G.
Hier schon gewinnt die allgemeine Regel Bedeutimg — die auch
auf anderen Gebieten ihr Analogen hat: — Treten zwei Töne
sich gegenüber, die zu einander dissonant, aber zugleich mit
einem dritten Tone nahe verwandt sind, so vermindert jeder
der beiden Töne den selbständigen Anspruch des anderen zu
Gunsten des dritten, d. h. es steigert sich der Hinweis auf den
dritten und die Geneigtheit der Töne diesem dritten als herrschendem
Tone sich unterzuordnen.
Dagegen beginnt jener Kampf, indem zu G die auf G als
Basis sich aufbauenden H und D hinzutreten. Es entfernt sich
jetzt die Melodie von der Tonica C, und stellt sich auf die
Tonica G. Zugleich bleibt sie doch durch (? an C gebunden,
und zwar umsomehr, je mehr G in seinem rhythmischen System
^46 Theodor Lippt.
dominirt, oder die H und D sich ihm unterotdneiL Die Ent-
fernung von C ist also nicht eine Loslösung. Die Melodie schwebt
zunächst nur zwischen C und 6, obzwar mit grö&erem oder
geringerem üebergewicht des G,
Andererseits weist die Bewegung, wenn H und D als Leit-
töne des C auftreten, wiederum unmittelbar auf C hin und kann
in C übergehen. Dann wird die Entfernung von C in ihrem
eigenen Verlaufe zur Rückkehr zu C, und ebendamitzur
volleren Anerkennung des C als Tonica.
Anders, wenn nun F in die Melodie eintritt. F ist, wie
gesagt, für C Basis. Und die auf C unmittelbar sich aufbauenden
Töne E und G sind für F Leittöne. Und tritt zu i^" das A so
weist auch A auf F als seine Basis hin. Damit ist zunächst ge-
sagt, wie die Melodie durch sich selbst, in ihrem natürlichen
Verlauf, zu-Fhingeleitet werden, imd zugleich, wie F zu seinem
Anspruch auf die Stellung als Tonica gelangen kann.
Aber wir verstehen ebensowohl, wie dieser Anspruch, und zwar
zu Gunsten des C, überwunden werden kann. Da alle die soeben be-
zeichneten Töne zu C hinführen, und seinen Anspruch Tonica
zu sein unterstützen, da andererseits keiner der auf jP als
Basis sich aufbauenden Töne L e i 1 1 o n für C oder auch nur für
G ist, also keiner dieser Töne direct oder indirect von F zum
Grundton C hinführen kann^ so kann diese Ueberwindung nur
auf einem Wege geschehen. Dieser Weg ist bezeichnet durch
die Töne H imd Ä
Die Melodie sei von C irgendwie, etwa auf dem einfachsten
Wege, d. h. immittelbar von C aus, oder durch G oder E oder
durch diese beiden Töne hindurch, zu F gelangt, — in
jedem Falle erscheint F zunächst als Tonica. Oder die Melodie
schwebt zwischen der Tonica F imd der Tonica C. Die Folge
c — e — g etwa kann befriedigend abschliefsen in c; aber sie
schliefst ebensowohl befriedigend ab in /". Li j e n e m befriedigenden
Abschlufs zeigt sich die Kraft der auf C unmittelbar aufgebauten
Töne, in diesen die Kraft der Leittöne. Und fügen wirdas
F thatsächlich hinzu, bilden also die Folge c — e — g — /", und
lassen darauf wieder einen oder mehrere der Töne C, G, E
folgen, so ist gar die Möglichkeit unmittelbar zu C überzugehen
und in C abzuschliefsen, aufgehoben. Cist also jetzt nicht
mehr Tonica. Dagegen ist F Tonica gebHeben. Es ist jetzt
ausschliefsliche Tonica: Die Reihe c — e — g — f — e etwa
Zw Theorie der Melodie, 247
Dder c — e — g~f — g kann nur in einem nachfolgenden f un-
mittelbar zum befriedigenden AbschluiB kommen.
Nun folge aber auf F ein H oder 2), oder es folgen
beide Töne. Ein vorangegangenes C, an das diese Töne als
Leittöne gebunden sind, oder ein vorangegangenes (?, auf das
sie sich unmittelbar aufbauen, kann in natürlicher Weise zu
ihnen hinleiten. Damit ist die Situation völlig verändert. Jetzt
ist nicht mehr F^ sondern nur noch C Tonica. Die Reihe
c — e — g — f — d etwa, oder c — e — g — f — H^ kann nicht un-
mittelbar befriedigend abschUefsen in f. Sie kann auch nicht
befriedigend abschliefsen in d oder in H^^ oder in einem sonstigen
von C verschiedenen Tone, sondern einzig in C, und genauer
in dem C, dessen Leittöne die H^ und d sind, in unserem Falle
also in c.
Dies nun geschieht nach der Regel, die uns schon oben be*
gegnete. Ich wiederhole dieselbe theilweise in etwas anderer
Form: Treten sich zwei dissonante Töne gegenüber, die aber
einem und demselben dritten Tone genügend eng verwandt sind,
BD drängt die Bewegung von ihnen nach diesem dritten Tone hin
und die dissonanten Töne selbst verlieren mehr oder minder die
Bedeutung und Wirkung für den Verlauf der Tonbewegung, die
sie an sich betrachtet, d. h. als diese von einander ver-
schiedenen Töne, haben würden. — Das Letztere ist eine
genauere Bestimmung dessen, was ich oben als Tendenz der
Unterordnung bezeichnet habe. Die eigene Wirkung der dissonanten
Töne ordnet sich unter ihrer gemeinsamen Wirkung. Diese ge-
meinsame Wirkung ist aber eben der Hinweis auf den dritten Ton.
Damit ist angedeutet, was in unserem Falle das Entscheidende
ist, nämUch die volle Dissonanz zwischen F einerseits und H
und D andererseits, und der Umstand, dafs diese Töne gemein-
sam zu C in dem innigen Verhältnisse stehen, wie es in ihrer
Bezeichnung als Leittöne des C ausgesprochen liegt
Aus diesem Sachverhalt ergiebt sich zunächst ein Doppeltes,
nämlich einmal der entschiedene Hinweis auf C. Dieser Hinweis
besagt noch nicht ohne Weiteres, dafs C Zielton der Bewegung
ist C ist zwar Zielton für die — als Leitton auftretenden —
H und 2), aber nicht für F, Indessen hier ist der Umstand
wichtig, dafs das H oder D auf F folgt, oder zwischen F
und das abschliefsende C tritt. Durch dies dem Fnachfolgende
H oder D wird F in den Hintergrund gedrängt. Es ordnet sich
248 Theodor Lipp8.
dem H oder i>, das dem C zeitlich unmittelbar yorangeht,
hinsichtlich seiner Wirkung unter. D. h. als die zunächst auf
C hinweisenden Töne erscheinen H oder D; das F dient nur,
diesen Hinweis zwmgender zu machen. So geschieht es, dalk
der Fortgang von F — D oder F — H zu C im Ganzen den
Charakter hat, den der Fortgang des H oder 2> zu C in sidi
schliefst, d. h. den Charakter des befriedigenden Abschlusses.
Dafs es in der That so ist, zeigt leicht der Versuch. Man
lasse das H oder D dem F vorangehen, bilde also etwa die Folge
c — e — g — JETo — /*, und gehe von da zu C über. Dies ist nichts
weniger als ein befriedigender AbschluTs. Soll ein solcher erreicht
werden, so mufs zwischen f und c wiederum ein Hq oder d ein-
treten, oder es mufs — dies leistet die gleichen Dienste — ein
anderer Ton, für den C Zielton ist, also g bzw. G^ oder e einge-
schoben werden.
Das Zweite, was aus diesem Gegeneinanderwirken von F und
einem nachfolgenden H oder D sich ergiebt, ist dies, dafs nun
keine Tendenz mehr besteht, von dem abschliefsenden C wiedenim
zu F fortzugehen. Oben war davon die Rede, dafs die Folge
c — e — ginf, ebensowohl aber auch in c befriedigend abschliefeen
könne. Wir müssen jetzt hinzufügen: Angenommen, ich gehe
zu c, so hindert doch der damit erreichte befriedigende Abschlols
nicht, dafs ich von c zu f weitergehe und hier von neuem be-
friedigend abschliefse. c — e — g — c schliefst befriedigend ab.
Aber c — e — g — c — f nicht minder. Jener erste Abschlols ist
also kein endgültiger. Ich mufs nicht bei c bleiben. Da-
gegen ist der durch die Dissonanz zwischen f und einem nach-
folgenden H^^ oder d bewirkte Abschlufs in c — nicht blos ein
wirkUcher befriedigender Abschlufs, sondern er hat den Charakter
des endgültigen Abschlusses.
Dies hat seinen Grund wiederum in jener Dissonanz, f ist
an sich natürUcher Zielton des C, d. h. die Bewegung C— f ist
eine in F zur Ruhe kommende. Aber F, auf das H oder D folgt,
ist eben nicht mehr das F, das es an sich ist, sondern es ist ein jP,
das der Einwirkimg des zu ihm dissonanten H oder D unterlegen
ist. Dadurch ist in F eine Störung, ein Moment der Unruhe, der
Entzweitheit hineingekommen, das auch, wenn das F verklungen
ist, und von Neuem auftritt, noch nachwirkt. Und in einem
solchen F kann keine Bewegung ztir Ruhe kommen. Wir können
dies auch kurz so ausdrücken : Die Nachwirkung der Dissonanz,
Zw Theorie der Melodie. 249
durch welche das Fortdrängen der Bewegung von F nach C be-
wirkt wurde, schliefst ohne Weiteres die Aufhebung der umge-
kehrten Tendenz, d. h. der Tendenz der Rückkehr von C zu F in
sich. Wir können die allgemeine Regel aufstellen: Ein Ton,
der an sich Zielton für einen anderen Ton wäre, kann dieser
Eigenschaft durch einen zu ihm dissonanten Ton, der vorher
erklungen ist und nachwirkt, beraubt werden.
Function der Quart.
Hieraus ist nun auch schon theilweise die besondere Be-
deutung der Quart, und damit auch der unmittelbar zu ihr ge-
hörigen Sext, für das Ganze der Melodie deutlich. Sie besteht
einmal darin, dafs die Quart, und mit ihr die Sext, nicht nur
die Melodie vermannigfaltigt, sondern in sie den stärksten Gegen-
satz zur Tonica hineinbringt Indem dieser Gegensatz auftritt
und überwunden wird, kommt in die Melodie ein eigenartiges
neues Leben. Dabei ist immer zugleich zu bedenken, dafs das
zeitweiUge Auftreten des F als Tonica, und das Uebergewicht
dieser secundären Tonica über die primäre Tonica C, ebenso
wie das Auftreten der Tonica G und ihr Uebergewicht über die
Tonica C, ganz abgesehen von der Ueberwindung, doch insofern
die Einheitlichkeit der Melodie wahrt, als F^ ebenso wie G^
nächster Verwandter der Tonica C ist.
Dazu kommt der zweite Punkt: Die Töne H und D sind,
wie wir sahen, auch ohne die Quart, Vermittler des Fortgangs
zu C als Tonica. Aber dieser in sich natürliche Fortgang wird
nun durch die hinzutretende Quart zwingender. Und zwar in
doppeltem Sinne. Einmal in dem schon oben bezeichneten:
Die Bewegung drängt vermöge der Dissonanz der Quart — und
der Sext — einerseits, und H und i> andererseits, intensiver
nach C hin. Man lasse etwa erst die Folge c — e — g — Hq oder
c — e — g — Hq — d mehrmals hinter einander erklingen, und gehe
dann über zur Folge c — e — g — f — Hq bzw. c — e — g — f — Hq — d.
Es ist dann kein Zweifel, dafs die beiden letzteren Folgen
energischer zum Fortgang zu C auffordern. Und gehorchen
wir in beiden Fällen dieser Aufforderung, lassen also c thatsäch-
lich folgen, so erscheint der Fortgang im zweiten Falle be-
gründeter, innerlich noth wendiger. Die Nöthigung zum Fort-
gang hat sich durch das Eintreten des F fühlbar vervollständigt,
ist sozusagen voller geworden.
250 Theodor Lippa,
Und wir verstehen auch, warum es so sich verhält Wir
sind eben jetzt von zwei deutlich entgegengesetzten Seiten her
zu C hingedrängt Wir fühlen darum in höherem Grade, als
wenn F fehlt : Hier ist kein Ausweg mehr ; die Bewegung mab
zu C fortschreiten.
Oder man vergleiche die Folge c — e — g — Hq mit der Folge
c — e — g — Af^ — Hq, Hier ist an die Stelle der Quart die Seit
getreten. Aber die Wirkung ist eine gleichartige. Sie verstärkt sich,
wenn Quart und Sext zusammenwirkte, wie in c — e — g — f — Ä^—H^^
oder c — e — g — f — Aq — Hq—cI.
Auf diesen Punkt habe ich schon früher, an anderer SteUe,
Gewicht gelegt Meyer sagt mit Bezug darauf, ich stelle das
psychologische Gesetz auf, der Grundton C werde in höherem
Grade Zielpunkt der Bewegung, weil die Quart vorangehe, und
fügt hinzu : „Dies wäre, als ob man von Napoleon sagen woUte,
Elba wurde für ihn in höherem Grade Zielpunkt, weil er erst
Kaiser war." Ich bemerke auch hier, dafs ich eine solche
thörichte Behauptimg nicht aufgestellt habe.
Aber die Bewegung von H und D nach C hin wird durch die
Quart zwingender nicht nur in dem Sinne, dafs wir weniger bei
H und D bleiben können, sondern auch noch in dem besonderen
Sinne, dafs wir mit besonderer Ausschliefslichkeit eben
zu diesem Ton, also zu 0, fortgedrängt werden.
Hier komme ich zurück zu unserem früheren Beispiel
Gq — Hq—cI — f— G, Wir sahen schon damals: Die Folge GQ—H^^d
schliefst befriegend ab in C, aber auch in G. Tritt nun aber
das /'hinzu, so ist der befriedigende Abschlufs in G ausgeschlossen.
Es bleibt nur der Abschlufs in C übrig.
Dies können wir jetzt auch so ausdrücken: Der Ansprach
des G, Tonica zu sein, wird aufgehoben, und die Tonica C in
ihr Recht eingesetzt Ebenso also, wie nach Obigem durch B
und D das F, so wird durch F die Basis des H und 2), das G,
zu Gunsten des C aus seiner vorübergehenden Tonica-Stellnng
verdrängt Der Grund liegt wiederum in der Dissonanz. Ich
sagte oben, das in die dissonante Beziehung zu H oder D ge-
rathene F sei nicht mehr das F, als das es sonst sich darstelle.
Ebenso nun ist das H oder 2>, nachdem es in die dissonante Be-
ziehung zu F gerathen ist, nicht mehr das H oder D, oder wirirt
nicht mehr als das H oder Z>, das es sonst ist Beide üb^
nicht mehr die selbständige Wirkung, die sie als diese von
Zwr TKeorie der Melodie, 261
I verscbiedenen Töne üben würden, sondern diese Wirkung ist
der gemeinsamen Wirkung auf C untergeordnet Zu dieser selb-
ständigen Wirkung des H oder D gehört aber vor Allem ihr Ab-
zielen auf G. Dies wird also aufgehoben. Dadurch ist G seines
Anspruchs, Tonica zu sein, verlustig. — Die der Wirkung der
Quart gleichartige Wirkung der Sext ist ersichtlich etwa aus der
Folge öo — ^0 — ^^--^0 — ^0 — ^> diö verstärkte Wirkung des
Zusammen von Quart und Sext aus der Folge Öq — ^o — ^ —
A^—f—H^ — c.
Endlich hat die Quart ihre eigenartigste Bedeutung darin, dafs
sie, wiederum auf Grund jener Dissonanz mit H oder 2), oder
beiden, in besonderem Maafse einen endgültigen AbschluTs
herbeizuführen vermag. Ich wiederhole: H und D vermögen
in durchaus natürUcher Weise von ö zu C hinzuleiten und C
den Charakter der Tonica zu geben. Aber nicht jede Hin-
führung zu C als Tonica ist abschliefsend. Es giebt — in der
Melodie in C-Dtir — einleitende Hinführungen zu C als
Tonica, imd es giebt solche, bei denen C als Durchgangs-
punkt oder als vorübergehender Ruhepunkt erscheint.
Die Verbindimg des H oder D mit F aber schafft in besonderem
Maafse solche Hinführungen zu G als Tonica, die C als end-
gültigen Abschlufs erscheinen lassen. Die Folge g — H^ — c
etwa führt zweifellos zu C als Tonica hin; aber vielleicht dient
sie damit nur der Einführung der Tonica C In der That
ist diese Folge zur bestimmten Einführung der Tonica trefflich
geeignet Dagegen geht die Folge g — f-^H^ — c über die blofse
Einführung hinaus. Sie ist specifisch geeignet zum Abschlufs
des Granzen. Noch mehr klingt etwa g — f — A^ — U^ — c oder
g — a — f — e — d — c als endgültiger Abschlufs. Man vergleiche
mit der letzteren Folge die Folge g — e — d — c, die wiederum zur
Einführung der Tonica und damit zur Einleitung der Melodie
specifisch geeignet erscheint.
Wiederum hat dieser Sachverhalt seinen Grund in der Dis-
sonanz F — H oder F — Z). Ich sagte, diese dissonanten Töne
ordnen sich oder ihre Wirkung in besonderer Weise unter dem
C oder der Wirkung auf C. Hier kommt es mir darauf an, dafs
sie sich dem C in besonderer Weise unterordnen. Dabei be-
denken wir: Das ztir Ruhe Kommen einer Folge von Tönen in
der Tonica ist Unterordnung unter die Tonica. Es besagt, dafs
die Tonica der sicher herrschende Factor geworden ist in einem
252 Theodor Lipps,
rhythmischen System, dafs das ganze System sich in der Tonica
zusammenfafst und zusammenschliefst, dafs die Töne, die sich
unterordnen, nicht Geltung beanspruchen als diese so be-
schaffenen Töne, nicht für sich etwas sein wollen, sondeni
^dienen", zu dienenden Momenten werden in dem herrschenden
Factor, also in der Tonica oder dem in ihr reprä43entirten Grund*
rhythmus, dafs sie in der Tonica relativ aufgehen. Demgem&Ts
ist jedes Moment, das irgendwelche Töne zu solcher Unter-
ordnimg unter einen dritten Ton nöthigt, geeignet, das zur Ruhe
Kommen der Bewegung in diesem dritten Tone zu steigern.
Ein solches Moment ist nun aber eben jene Dissonanz
zwischen F einerseits imd H und D andererseits. Die dis-
sonanten Töne widerstreiten sich oder wirken gegen einander;
sie bestreiten sich das Recht des Daseins und wirken damit auf
die gemeinsame Unterordnung unter die Tonica C hin. Nach
oben Gesagtem geht mit dieser gemeinsamen Unterordnung zu-
gleich eine Unterordnung des F oder seiner Wirkung auf C
imter die H oder D und ihren Hinweis auf C, Hand in Hand.
— Nebenbei bemerkt: Meyeb meint, Tonempfindungen streiten
nicht mit einander. Das ist eben ein Irrthum. Im Uebrigen
läfst auch Meyeb gelegentlich die Tonica „win the battle**. ich
verstehe nicht, wie man eine Schlacht gewinnen kann ohne
Streit
Ich füge noch hinzu : Auch bei dem Aufbau der Terz und
Quint auf der Tonica läfst der relative Widerstreit zwischen
Terz imd Quint nicht Hur, wie bereits betont, den Hinweis anf
die Tonica zwingender erscheinen, sondern er bewirkt auch, dafe
die Tonica in höherem Maafse der feste und sichere Ruhepunkt
innerhalb des aus Tonica, Terz und Quint gebildeten rhythmi-
schen Systems ist. Das Gleiche nun geschieht in unserem Falle,
nur, wegen der stärkeren Dissonanz, mit höherer Wirkung.
Rückkehr zu Meyeb's Intonationen der Quart
und Sext.
Mit dem oben über die Stellung der Quart und der Sext
Gesagten bin ich in sehr bestimmten Gegensatz zu Meyeb ge-
treten. Meyeb sind in der Melodie mit primärer Tonica Quart
und Sext der Tonica unverständlich. Uns erschienen sie als
verständlich und nothwendig. Diesen Gregensatz zu Meyeb muüs
Zur Theorie der Melodie. 253
ich nun zunächst noch weiter rechtfertigen. Zugleich aber wird
sich dabei eine Art von Annäherung an Meyer ergeben.
Die Abweisung der Quart und Sext wird von Meyeb in der
Eingangs angegebenen Weise theoretisch begründet. Diese
theoretische Begründung ist, wie wir sahen, nicht stichhaltig.
M. verkennt das Wesen der Melodie.
Aber auch die gegebenen oder möglichen einzelnen Me-
lodien werden aus Meyeb*s Theorie nicht verständlich. Wo Ein-
heit und Natürlichkeit des Fortgangs herrscht, würde Meyeb's
Theorie mitunter die vollste Zusammenhangslosigkeit an die
Stelle setzen. Was dies betrifft, so genüge ein Beispiel Ich
wiederhole : Immer, wenn C Tonica ist, soll, nach Meyeb, F zu
C im Verhältnifs von 21:16, A zu C im Verhältnifs 27:16
stehen. Eine Melodie in C-Dur nun könnte vollkommen be-
friedigend abschliefsen in der Folge c — /" — Aq — Hq — c. Diese
Töne müssen sich nach M. verhalten wie 32:42:27:80:32.
Hier ist der zweite Ton, auch für Meyeb, nicht verwandt mit
dem ersten, also auch nicht mit der Tonica; der dritte nicht
verwandt mit dem zweiten und ebensowenig mit der Tonica;
der vierte nicht verwandt mit dem dritten. Die einzige in der
Tonfolge vorkommende Beziehung, die Töne musikalisch an
einander binden kann, ist die zwischen dem vierten und dem
Schlufston. Im Uebrigen erscheinen in jener Tonfolge einfach
Töne, die einander und der Tonica fremd sind, neben einander
gestellt.
Und doch haben wir angesichts dieser Folge das Gefühl des
natürlichsten Fortgangs und des natürlichsten Aufbaus auf der
Tonica. Die „alte Theorie" nun sagt, warum es so sein mufs.
Für sie ist der zweite Ton dem ersten, der dritte dem zweiten
und der Tonica aufs Engste verwandt. Der vierte ist zum
dritten dissonant, aber beide sind durch die Tonica an einander
gebunden.
Nun beruft sich aber Meyeb auf die Erfahrung. Er hat
eine Reihe Melodien untersucht und überall Töne gefunden, die
die alte Theorie als Quarten und Sexten fafst, bei denen aber
diejenige Intonation als die richtige, oder als die bessere, oder
ästhetisch wirkungsvollere erschien, die seiner Auffassung dieser
Töne als Septime bezw. Secunde der Quint entsprach. Ich
wiederhole, dafs hierbei F zur Tonica C wie 21:16, A zur
Tonica C wie 27 : 16 sich verhält. Setzen wir statt 21 : 16 das
254 Theodor Lipps,
Verhältnifs 63 : 48, statt 27 : 16 das Verhältnifs 81 : 48, so ergiebt
sich, dafs Meter bei seiner Intonation F etwas tiefer, nämlich
um Vsi tiefer, und A etwas höher, nämlich um Vso höher nahm
als Diejenigen thun, die die diatonische Leiter festhalten. Für
diese verhält sich ja F zu C wie 4 : 3 = 64 : 48, und A zu C wie
5 : 3 = 80 : 48.
Ich gedenke nun nicht die Sorgfalt der Untersuchungen
Meteb's oder sein musikaUsches Gefühl in Zweifel zu ziehen.
Aber ich bezweifle die Beweiskraft seiner Ergebnisse. Meyer
selbst hat in Gemeinschaft mit Stumpf höchst sorgfältige und
dankenswerthe Untersuchungen darüber angestellt, welche In-
tonation der grofsen Terz, der Quint, der Octave, andererseits
der kleinen Terz eines gegebenen Tones als die richtige oder
ästhetisch wirksamere erscheine, und das ErgebniCs war, dafs —
nicht Unmusikalischen, sondern musikalisch Hochbegabten als
richtige Intonationen diejenigen erschienen, bei denen die grolse
Terz, die Quint, die Octave in zunehmendem Grade zu hoch,
d. h. höher als es die Verhältnisse 4:5, 2:3, 1:2 vorschrieben,
die kleine Terz dagegen zu tief, d. h. tiefer als es das Verhält-
nifs 5 : 6 vorschrieb, genommen wurden.
Dies nun hat Meyeb nicht etwa veranlafst, in der Tonleiter,
aus welcher unsere Melodien gebildet sind, die Verhältnisse 4: 5«
2:3, 1:2 und 5 : 6 zu streichen und andere, die jener richtigen
Intonation entsprechen, an ihre Stelle zu setzen. Sondern er hat
theoretisch die diesen Verhältnissen entsprechenden Intervalle
festgehalten, nur mit dem Zusatz, dafs die musikalische Intona-
tion praktisch davon abweiche.
Hier müssen wir zunächst fragen: Wie kommt Meter ju
dieser Stellungnahme? Wie kann man theoretisch die Musik
auf Verhältnisse aufbauen, die das musikahsche Grefühl durch
andere, sei es auch wenig davon abweichende ersetzt?
Aesthetische Abweichungen von Normalformen.
Auf diese Frage nun ist schon in jener Abhandlung von Stumpi
und Meyer eine Antwort gegeben, die mir zutreffend scheint
Ich formulire dieselbe aber hier in meiner Weise, zugleich an
einem Punkte etwas genauer.
In kunstgewerblichen Erzeugnissen, etwa Majolicagefäfsen,
begegnen wir allerlei geometrischen Formen, wie Kreisen,
geraden Linien. Die ästhetische Wirkung dieser Formen beruht
Zwr ThecriB dmr Melodie. 255
darauf, dafs sie diese geometrischen Formen sind. Und doch
wäre auch wiederum die ästhetische Wirkung der Formen ver-
mindert, ja es wäre das Beste an ihr zerstört, wenn die geo-
metrischen Formen rein, in mathematischer Strenge gegeben
wären. Die Formen wären „charakterlos". Das ästhetische Ge-
fühl fordert leichte Abweichungen.
Dies nun hat seinen Grund darin, dafs die Formen nicht
als solche ihre ästhetische Wirkung üben, sondern vermöge des
Lebens, das sie bekunden, oder das wir in sie hineinfühlen. Dies
Leben ist zunächst gebunden an die geometrische Form, d.h.
an die wirklichen Kreise und Geraden. Auch die thatsächlich
gegebenen, also geometrisch ungenauen Kreise und Geraden
rufen dies Leben für uns ins Dasein, sofern sie eben doch
Kreise und Gerade sind, sofern sie also trotz der Ab-
weichung von der reinen geometrischen Form diese Form oder
das Gesetz derselben in sich schUefsen ; sie haben ihre Bedeutung
nicht als diese in sich selbst so oder so beschaffenen und von
den Kreisen und Geraden der Geometrie verschiedene
Linien, sondern als Kreise und Gerade.
Dann aber fordert die Eigenart jenes Lebens ihr selb-
ständiges Recht. Dies Leben ist in unserem Falle speciell Leben
eines bestimmten, technisch in bestimmter Weise behandelten,
also bestimmte Charakterzüge zur Schau tragenden Materials.
Wir können demgemäfs auch sagen: Material und Technik
fordern ihr Recht. Bestimmter gesagt : Sie fordern ihre relative
Freiheit Diese nun bekundet sich — nicht in anderen
Formen, wohl aber in einer relativen Durchbrechung jener
Formen. Das will sagen: Auch die Wirkung der Abweichung
von den geometrischen Formen beruht nicht darauf, dafs durch
die Abweichung andere Formen entstehen, sondern darauf,
dafs diese Formen Abweichungen sind, dafs sie also zu einer
„Norm" in Gegensatz treten. Die geometrischen Formen
erscheinen, eben in diesen Abweichungen, als Norm. Auch
in ihnen sind die geometrischen Formen nicht geleugnet, son-
dern vielmehr als die zu Grunde hegenden Formen voraus-
gesetzt, oder als die Norm anerkannt Lidem die
thatsächlich vorliegenden Formen als Abweichungen von der
Norm erscheinen, statuiren sie diese Norm, oder was
Dasselbe sagt: Ich statuire die Norm oder erkenne die reinen
geometrischen Formen als Norm an, indem ich die Wirkung
256 Theodor Lipps.
der thatsächlich gegebenen Formen als die Wirkung einer Ab-
weichung von der Norm verspüre; gerade so wie Derjenige, der
sich über eine Handlung freut, weil sie ein Gesetz übertritt, da-
mit das Dasein des Gesetzes anerkennt.
Daraus ergiebt sich für die wissenschaftliche Betrachtang
der thatsächlich vorliegenden Formen eine doppelte, klar m
scheidende Fragestellung. Die Frage lautet das eine Mal: Als
was wirken die Formen, wenn zunächst abgesehen wird von
den besonderen Forderungen, welche die Eigenart des in ihnen
flieh verkörpernden Lebens stellt. Welches sind die Formen, die
dies Leben für uns ins Dasein rufen, abgesehen von der
Rückwirkung, welche dies Leben übt, wenn es einmal ins
Dasein gerufen ist? Statt dessen können wir auch kun
sagen: Welches sind die der gegebenen Form zu Grunde
liegenden oder welches sind ihre Normalformen? — Und
dazu tritt dann die zweite Frage: Wie und warum wirkt die
Eigenart des in den Formen verkörperten Lebens auf die
Formen, die es ins Dasein gerufen haben, modificirend zurück?
Analog nun, freiUch auch wiederum anders, verhält es sich
mit den musikalischen Formen. Auch sie sind nicht blos diese
Formen, sondern sie sind für uns Träger eines von ihnen selbst
ganz und gar verschiedenen Lebens. Wir pflegen dies Leben
wohl kurz als Stimmungen zu bezeichnen. Auch hier wirken die
Formen zunächst als Formen von bestimmter GesetzmäCsigkdt
Sie werden vermöge dieser Gesetzmäfsigkeit Träger dieses
Lebens. Dann aber fordert dies Leben die volle Ausprägung
seiner Eigenart. Und daraus ergeben sich die Abweichungen.
Der Fortgang etwa von einem Ton zu seiner Octave ist für
mich nicht blos die Aufeinanderfolge eines Tones von n und
eines anderen Tones von 2n Schwingungen, sondern in ihm
liegt zugleich für mich eine eigenthümliche Weise mein«
Lebensbethätigung überhaupt, ein aus mir Herausgehen, bei
dem ich doch mit mir nicht in Zwiespalt gerathe, sondern mit
mir vollkommen einstimmig bleibe. Dies Erlebnifs ist ge-
bunden an jenes Verhältnifs 1:2, an die dadm-ch bedingte
rhythmische Einstimmigkeit, kurz an die Consonanz. Auch
wenn das Octavenintervall nicht rein, sondern verstimmt ist, so
übt es doch diese Wirkung — nicht als ein anderes Intervall
etwa als das Intervall 100 : 102, sondern als, obzwar verstimmtes
Octavenintervall. Es übt die Wirkung nach dem Gesetz, dafe
Zur Theorie der Melodie, 257
verstimmte Intervalle innerhalb gewisser, in den einzelnen Fällen
variabler Grenzen als reine wirken, also hinsichtlich ihrer
Wirkung als reine betrachtet werden können und müssen; es
übt sie, sofern in seiner Wirkung die Wirkung des reinen
Intervalls, oder sofern in ihm, seiner Wirkung nach, das reine
Intervall steckt, oder darin als Grundform enthalten liegt.
Nun ist aber jenes „aus mir Herausgehen^, das im Octaven-
schritt liegt, nicht blos ein solches, in dem ich mit mir ein-
stimmig bleibe, sondern es ist zugleich ein aus mir Herausgehen
in einem specifischen Sinne, insbesondere ein aus mir Heraus-
gehen von ganz anderer Art oder ganz anderem Charakter ab
dasjenige, das auch im Fortgang zur kleinen Terz liegt, nämlich
ein solches von eigenthümlicher Freiheit, Entschlossenheit, Un-
bekümmertheit Daraus gewinnt die Octave ihren specifischen
and zugleich specifisch erfreulichen Charakter.
Und nun liegt mir daran, diesen Charakter in der Octave
möglichst vollkommen und ausgeprägt zu erleben. Jemehr er
in der Octave schon von Hause aus gegeben ist, umsomehr er^
scheint er für mich dazu gehörig, umsomehr fordere ich ihn,
wenn mir die Octave als eine richtige Octave erscheinen soll
Und zur Erfüllung dieser Forderung ist nun die Er-
weiterung des Intervalls, die Vergröfserung des Tonschrittes,
die Steigerung des Fortganges innerhalb des Toncontinuums das
Mittel. Indem ich die Erweiterung vollziehe, erfährt das Gefühl
des freien aus mir Herausgehens einen Zuwachs; und es er-
leidet zugleich, soweit die verstimmte Consonanz als reine zu
wirken vermag, der Eindruck der Einstimmigkeit keine Ein-
bofse.
Auch hier aber mufs hinzugefügt werden: Nicht dies er-
weiterte Intervall, das an die Stelle des reinen tritt, sondern
dafs dies Intervall eine Erweiterung des reinen Interv€dls
ist, und ein Hinausgehen über die damit gegebene Norm, bedingt
jenen Zuwachs. Oder, was Dasselbe sagt: Nicht dafs das In-
tervall gröfser, sondern dafs es zu grofs genommen ist, er-
zeugt die erhöhte ästhetische Wirkung. Dafs es zu grofs ge-
nommen wird, dies besagt aber eben, dafs es gröfser genommen
wird, als es normalerweise, oder auf Grund der Schwingungs-
verhältnisse genommen werden dürfte.
Und man sieht auch, wiefern dies „zu grofs^ thatsächlich zu-
trifft. Gehe ich von einem Ton zu seiner höheren Octave, so ist es
Zeitschrift für Psycholoffie 27. 17
.258 Theodor Lippe,
mir zunächst natürlich, es besteht also für mich eine Art yon
Nöthigung, zur reinen Octave fortzugehen. Der tiefere Ton weist
mich hin — nicht auf die verstimmte, sondern auf die reine Octave.
Er weist mich darauf hin vermöge des Schwingungsverhältnisses
1:2. Die Intonation der verstimmten Octave, d.h. des höher
Hegenden Tones, geschieht demgemäXs im Gegensatz zu diesem
Hinweis. Aber eben dies Hinausgehen über das zunächst mir
vorgeschriebene Ziel, im Widerstreit mit dem Antrieb
dabei zu bleiben, die darin hegende Spannung, das ^Forciren*^
der Höhe, bedingt jenen Eindruck. Er bringt in jenes aus mir
Herausgehen ein Moment der inneren Anspannung, der kraft-
vollen Activität. — Es giebt ja keine Activität ohne Gregensatz,
ohne Spannung, ohne Ueberwindung einer Hemmung.
Daraus erst ist die fragUche Wirkung erklärUch. Ergäbe sie
sich einfach aus dem Umstand, dafs der Tonschritt ein weiterer
ist und doch die Consonanz bestehen bleibt, so mülste die
Doppeloctave den gleichen Eindruck in sehr viel höherem Grade
machen, auch wenn hier das Intervall statt zu grols, zu klein
genommen würde. Es wäre ja noch immer sehr viel gröfser als
der einfache Octavenschritt Es wäre nur nicht „zu grofe".
Es liegt also auch der ästhetischen Wirkung des vergröfserten
Intervalls die Wirkung des reinen zu Grunde oder hat diese zur
Voraussetzung.
Durchaus Gleichartiges gilt mit Rücksicht auf die Neigung,
die kleine Terz zu niedrig zu nehmen, oder eine kleine Terz,
die niedriger intonirt ist, als es das Schwingungsverhältnifs 5 : 6
vorschreibt, für eine richtige kleine Terz zu erklären. Der
kleinen Terz eignet ein Charakter — nicht des freien, unbe-
kümmerten, ,,flotten** aus sich Herausgehens, sondern des
relativen in sich Bleibens, des innerlichen „ Arbeitens** , des
Sinnens, Grübelns, Sehnens. Wiederum wünschen wir diesen
Charakter ausgeprägt, nämlich nach seiner positiven Seite hin.
Wir wünschen das Sinnen, Grübeln, Sehnen, das Bleiben in der
Innerlichkeit des Gemüthes, das innerliche Arbeiten — oder mit
welchem Namen sonst wir diesen Charakter der kleinen Terz zu
bezeichnen versuchen mögen — nicht matt, leer, nichtssagend,
sondern bedeutsam, kraft- und inhaltvoll. Und auch hier ist
dies nicht möglich, ohne dafs in diesen ästhetischen Inhalt der
Terz ein Moment der Activität, also der Spannung hineinkommt
Dazu ist aber offenbar wiederum das Hinausgehen über die
Zur Theorie der Melodie. 259
„Norm", d. h. über die reine Consonanz, und die daraus sich
ergebende Spannung das Mittel. Nur diesmal nicht das Hinaus-
gehen im Sinne der Erweiterung des Tonschrittes, des freieren
Fortganges innerhalb des Toncontinuums, sondern im Sinne des
geflissentlichen Zurückhaltens, der gewaltsamen Ein«
engung der Bewegung in sich selbst.
Die „richtigen Intonationen" der Quart und Sext.
Verhält es sich nun aber so mit den „richtigen" Intonationen
der Octave, Quinte, grofsen Terz, kleinen Terz, so ist bei der
wissenschafthchen Betrachtung der richtigen oder der ästhetisch
wirkimgsvolleren Intonationen der Intervalle überhaupt, ebenso
wie bei der wissenschaftlichen Betrachtung jener vorhin er-
wähnten Formen, die Aufgabe eine doppelte. Es handelt sich
einmal um die Feststellimg der „Norm", zum anderen um die
Beantwortung der Frage nach den Bedingungen, Arten, Wir-
kungen des Hinausgehens über die Norm. Es ist Dasselbe, wenn
ich sage, es handelt sich das eine Mal darum, aus welcher in
den Tönen und Ton Verbindungen selbst liegende Gesetzmäfsig-
keit, uns das Zusammen der Töne und der Fortgang vom einen
zum anderen und schliefslich der Zusammenschlufs vieler zu
einer ästhetischen Einheit begreiflich werden kann, das andere
Mal um die ganz anders geartete G^setzmäfsigkeit, die sich er-
giebt aus den specifischen Forderungen des ästhetischen Inhaltes
im engsten Sinne dieses Wortes. Wir kennen aber nur eine
Gesetzmäfsigkeit der ersteren Art, nämlich diejenige, die aus der
rhythmischen Verwandtschaft und in secundärer Weise aus der
Nachbarschaft innerhalb des Toncontinuums sich ergiebt.
Meyer nun erinnert sich in seinen Beiträgen zur Theorie
der Musik wohl jener Erweiterungen bezw. Verengerungen der
Intervalle, und der durch sie bedingten Erhöhung der ästhetischen
Wirkung. Und er stellt die Frage, ob nicht vielleicht die höhere
Wu-kung, die in den von ihm untersuchten Melodien aus der In-
tonation des F als natürliche 'Septime der Quint, und der In-
tonation des A als Secunde der Quint sich ergiebt, gleichfalls
aus einem solchen Hinausgehen über das normale Schwingungs-
verhältnifs zu erklären seL Aber er meint diese Frage ver-
neinen zu müssen. Die Abweichung sei hier zu grofs. Er
statuirt darum seine neuen Intervalle.
Indessen Meyer übersieht hier einen wichtigen Umstand.
17*
260 Theodor Lipps.
Die Versuche, die die Neigung zur Vergröfserung des Ten-,
Quinten-, Octavenintervalls, und die Neigung zur Verkleinenmg
des Intervalls der kleinen Terz ergaben, operirten mit zwei
Tönen. Einem Ton ¥nirde ein anderer hinzugefügt. Aber
darum handelt es sich ja bei den von Meyeb untersuchten Me-
lodien gar nicht Sondern hier treten zu Tönen, die einer
Melodie, also einem mehr oder minder reichen rhythmischen
System angehören, andere Töne hinzu. Und diese Töne treten
ebendamit selbst ein in die Melodie. Hier sind demgemäfs die
einzelnen Intervalle nicht mehr diese isolirten Intervalle, sondern
Theile einer Melodie, in ihrer Wirkung dem Einfluüs der ganzen
Melodie, und damit dem EinfluTs alles dessen, was die Melodie
ausdrückt, des in ihr pulsirenden reichbewegten Lebens, der in
ihr verkörperten Stimmungen und des Fortgangs von Stinmmng
zu Stimmung unterworfen. Es ist vorauszusehen, dafe hier da
und dort in ganz anderer und sehr viel intensiverer Weise eine
Abweichung von der Norm ästhetisch gefordert sein wird. Es
ist die Frage erlaubt: Sollte nicht Meter mit den „richtigen^,
d. h. ästhetisch besonders wirksamen Intonationen, die er ge-
funden hat, und in denen F zur natürlichen Septime der Quint
erniedrigt, Ä zur Secunde der Quint erhöht erschien, eben dafür
den Beweis geliefert haben?
Ich zweifle nicht, dafs es in einigen Fällen in der That sich
so verhält.
Doppelbedeutung der Quart und Sext
In anderen Fällen scheint mir Meyer mit seiner Statuirung
der Verhältnisse 16 : 21 und 16 : 27 Recht, und doch auch wiederum
Unrecht zu haben. Oder warum sollte nicht ein F Beides zu-
gleich sein, natürliche Septime der Quint und Quart?
Nennen wir der Kürze halber das F, das Septime der Quint
ist, F, , das F, das Quart von C ist, Fq, Und erinnern wir uns nun
noch einmal der Folge (?o — ^o — ^ — f — ö^o — ^- I^ dieser Folge
scheint mir das f zunächst allerdings als F,, also als natürUche
Septime des G gefafst werden zu müssen. Es scheint mir so,
weil ich nicht verstehe, wie wir, mit dem Gefühl der vollen
Natürlichkeit des Fortganges, von Gq — i/^ — ^ — zu f gelangen
sollten, wenn dies f zu den vorangehenden Tönen Hq und d sich
verhält wie 64 : 45 bezw. wie 32 : 27. Dagegen ist der Fortgang
Zur Theorie der Melodie, 261
wohl verständlich, wenn die vier ersten Töne jener Reihe sich
veriialten wie 4:5:6:7.
Damit ist nicht gesagt, dafs das f in der bezeichneten Folge
tfaatsächlich F, sein müsse. Vielleicht ist es Fg. Dann wirkt
ea doch in ■ diesem Zusammenhange zunächst als ein ver-
stimmtes Fg. Vielleicht ist sogar die Intonation als Fq die
richtigere, d. h. die ästhetisch befriedigendere. Auch in diesem
Falle würde das F wirken, d. h. zunächst in natürUcher Weise
in diesen Zusammenhang sich einfügen, sofern es annäherungs-
weise Fg ist und demgemäfs innerhalb gewisser Grenzen als F, zu
wirken vermag.
Aber eben dieses -F, der Beihe G© — ^o — ^ — f wirkt dann
ebenso gewifs auf das nachfolgende C als Fg. Es „gleicht^ sich
dem nachfolgenden C „an^. Solche Doppelwirkung scheint M.
an einer Stelle als völlig unmöghch anzusehen. Er denkt dabei,
wie es scheint, an eine gleichzeitige Wirkung. Aber darum
handelt es sich ja hier nicht Auf f folgt erst Gq und dann erst c.
Schon während Gq eintritt, besteht f nur noch in der Erinnerung,
und solche „Angleichung^ in der Erinnerung ist uns eine sehr
geläufige Sache. Zwei sehr ähnliche Farben, die ich gleichzeitig
sehe, erscheinen mir vielleicht deutlich verschieden. Nim sehe
ich sie aber nach einander. Dann kann es geschehen, dafs ich
keine Verschiedenheit mehr erkenne. Es ist eben dadurch, dafs
bei der Wahrnehmung der zweiten Farbe die erste für mich nur
noch als Erinnerungsbild besteht, der thatsäcbUch bestehende
Unterschied der beiden Farben wirkungslos geworden. Die erste
Farbe wirkt in meinem Vergleichungsurtheil jetzt nicht mehr
als die von der zweiten Farbe deutlich verschiedene, sondern sie
wirkt wie eine ihr gleiche. Dies ist es, was ich auch so aus«
drücke: Die erste Farbe hat sich der zweiten angeglichen. —
Und ebenso nun kann bezw. mufs das F dem nachfolgenden C
sich angleichen.
Den Hergang dieser Angleichung müssen wir aber genauer be-
stimmen. Dabei müssen wir zugleich das ganze G^ — Hq — d — f — c
noch von anderer Seite her betrachten. Oben wurde Grewicht
darauf gelegt, dafs die Quart F mit H und D dissonire, und
dafs diese Dissonanz zur Fortbewegung nach dem ihnen gemein-
sam verwandten C hindränge. Eine Dissonanz geringeren Grades
zwischen F einerseits und H und D andererseits besteht nun aber
auch, wenn F als F, genommen wird. Sie besteht also insbe-
262 Theodor Lipps.
sondere auch in unserem Gq — Hq — d — f — c. Die Verhältnisse
5 : 7 und 6 : 7 schliefsen zweifellos eine solche Dissonanz in sicL
Der Hinzutritt des f zu den vorangehenden Tönen erscheint
deutlich als der Büneintritt eines eigenthümUch fremdartigen
Elementes in die Tonfolge. Auch hier besteht demgem&fe die
Tendenz des Fortganges zu einem allen diesen Tönen gemein-
sam verwandten Ton. Und auch hier ist dieser Ton der Ton c
Zunächst weist die Folge Gq — H^ — d in ihren sämmtlichen
Elementen auf c hin. Dann hegt der gleiche Hinweis noch ein-
mal in dem zweiten G^.
Eben dadurch nun vollzieht sich jene Angleichung. c, oder
genauer der Rhythmus des c, wird durch die ffo» -ö^, d in ge-
wisser Weise vorausgenommen. Diesem vorausgenommenen e
gleicht sich das f an. Es ist Dasselbe, wenn ich sage : Es folgt
dem Hindrängen auf c. Indem ihm c sozusagen als Ziel vor-
gehalten wird, wird die in ihm liegende Möglichkeit, als F^, zu
wirken, in Anspruch genommen. Und eben dadurch wird sie
zur Thatsache.
In allem dem liegt nichts, was der „alten Theorie" wider-
stritte. Diese Theorie kennt unter Anderem die Ausweichung
einer Melodie in C-Dur nach G-Dur. Gesetzt mm, es kommt in
der Melodie, solange sie in 6r-Dur sich bewegt, ein Ä vor, so
mufs die alte Theorie dies als Secunde von G fassen, also genau
so, wie M. das A in allen Melodien mit C als Tonica gefälst
wissen will. Offenbar ist es aber nur consequent, wenn sie unter
der gleichen Voraussetzung auch F als natürliche Septime des
G fafst. Die Melodie in C-Dur weicht aber nach G-Dur aus nicht
erst, wenn Fis auftritt, sondern auch schon in solchen Folgen,
wie die eben erwähnte. Sie weicht überhaupt jederzeit nach
G-Dur aus, wenn, und in dem Maafse, als G den Charakter der
Tonica gewinnt. — Und nicht minder geläufig ist der alten
Theorie jene Doppel Wirkung und Angleichung eines Tones.
Das Bild der Melodie.
Auf Grund des Vorstehenden mm läfst sich, wie mir scheint,
ein verständliches Bild der Melodie aus den Tönen der diatonischen
Leiter gewinnen. Die Melodie oscillh*t, nachdem ihre Tonica
mehr oder minder bestimmt eingeführt ist, um die in dieser
Tonica gegebene Gleichgewichtslage. Sie oscillirt insbesondere
zwischen Quint und Quart. Sie mündet vermöge des Gegen-
Zur Theorie der Melodie, 263
einanderwirkens dieser beiden secuDdären Toniken und
ihrer rhythmischen Systeme schliefslich endgültig in jene Gleich-
gewichtslage ein. Die Quart hat dabei die vierfache oben be-
zeichnete Bedeutung. Jetzt mufs noch hinzugefügt werden jene
Doppelnatur des vierten Tons der Leiter, d. h. die Fähigkeit
desselben, zuerst als natürliche Septime der Quint und dann als
Quart zu wirken und so in flüssiger Form von der Quint zur
Tonica hinzuführen.
Nur von der Melodie in Dur war die Rede und nur gelegent-
lich von ihren Ausweichungen. Diese letzteren bieten nichts
principiell Neues, sondern vermannigfaltigen und steigern nur,
was auch in den einfacheren Melodien schon gegeben ist
In der Melodie in Moll kommt zu den beiden Nebentonikert
G und F die dritte Nebentonica As hinzu. Auch Es spielt in.
gewissem Grade — schon in der einfachen Folge C — Es — G
die Rolle einer Nebentonica. Dagegen hat der Grundton C den
einen der Töne, die sich in Dur unmittelbar auf ihm aufbauen,
die Terz E, andererseits aber auch die Quart ihren Secundanten
A verloren. Damit hat in der Melodie in Moll die Geschlossenheit
des Aufbaues auf einem einzigen Tonrhythmus eine Minderung
erfahren. Ein Schweben, man könnte sagen eine Sehnsucht
nach solcher einfachen Geschlossenheit, bleibt ihr. Ich erinnere
noch an das Mittel, dem Abschlufs den Charakter gröfserer Sicher-
heit zu geben, die Einführung der Dur- statt der Mollterz. Im
Uebrigen sind aber hier die allgemeinen Principien für ein
psychologisches Verständnifs dieselben wie bei der einfachen
Melodie in Dur.
Diese Principien bleiben auch dieselben bei der harmonisirten
Melodie, und schliefslich beim beliebig reichen Tonkunstwerk.
(Eingegangen am 1. October 1901.)
Stereoskopie
und Tiefenwahrnehmung im Dämmerungssehen.
Von
Prol Dr. W. A. Nagel (Preiburg i. Br.).
HEDfE hat unlängst in seiner Abhandlung über „Sehschftife
und Tiefenwahmehmung'' ' gezeigt, wie überraschend fein anter
geeigneten Bedingungen die Tiefenwahmehmung mittels beider
Augen sein kann. Das sehr einfache und elegante Versuchfl*
verfahren, von y. HelmhoiiTz herrührend, besteht darin, dab drei
verticale Stäbehen in einer frontalen Ebene vor einem gleich*
mäfsig hellen Hintergrund aufgestellt und binocular betrachtet
werden, und nun festgestellt wird, um wie weit das mitdeie
Stäbchen vor oder hinter die durch die beiden äulseren Stäbchen
gegebene Ebene verschoben werden muTs, damit die Verschiebung
erkannt wird xmd der Eindruck verschiedener Entfernung vom
Beobachter eintritt
Ohne auf die theoretischen Folgerungen fiüuNs's über
„Doppelvereorgung'^ des macularen Netzhautbezirks näher eum-
gehen, möchte ich hier nur erwähnen, dafs die Ausführungen
Heine's mir den Gedanken nahe legten, ob eine derartige HefeD-
Wahrnehmung und stereoskopisches Sehen auch den Netzhant-
stäbchen zukommt, oder etwa nur durch die Zapfen vermittelt
wird. Von vorneherein möchte man vielleicht sagen, es sei
selbstverständlich, dafs auch mittels der Stäbchen allein stereo-
skopisch gesehen werden könne und Tiefenwahmehmung mög-
lich sei. Selbstverständlich ist dies indessen keineswegs und auch
meines Wissens bis jetzt nicht bewiesen. Die Verschiedenheit
der Bedingungen, unter denen Stäbchen und Zapfen functioniren,
und die Verschiedenheit ihrer anatomischen Beziehungen zum
Sehnerven lassen gewifs an die Möglichkeit denken, dafe die
Stäbchen hinsichtlich des binocularen Zusammenwirkens gewisse
^ L. Heine. Sehschärfe und Tiefenwahmehmung. Arch. f, Ophthalm.
51, 146.
Stereoskopie und Tiefenwüyrnehmung im Dämmerungesehen. 265
Unterschiede gegenüber den Zapfen zeigen. Auch Hsn^B sieht
sich ja veranlafst, für die besonders feine Tiefenwahrnehmung
im macularen Gebiete Besonderheiten der Innervation anzur
nehmen.
Dafs man im reinen Dämmerungssehen, wo die Stäbchen
allein functioniren, z. B. bei nächtlichem Gang auf schlecht-
beleuchtetem Wege, körperlich zu sehen glaubt, beweist nicht
allzuviel; man weüs ja, wie man sich hierüber täuschen kann,.
Dnd auch körperlich zu sehen glaubt, wenn man ein Auge
schUefst Der kürzlich von mir gemeinsam mit Herrn Professor
E. V. Hippel untersuchte total farbenblinde Herr konnte, wie es
bei einigen allerdings nur flüchtigen Versuchen schien, mittels
des Stereoskops kern körperUches Sehen erzielen. So wenig ich.
hieraus den Schlufs ziehen wollte, dafs die Stäbchen zum Stereo«
skopischen Sehen ungeeignet seien, so war diese Beobachtung
doch mit ein Anlafs für mich, die nachstehend beschriebene
Versuchsreihe auszuführen, in welcher ich feststellen wollte, ob
unter den Bedingungen des reinen Dämmerungssehens oder
Stäbchensehens in analoger Weise körperlich gesehen wird und.
Tiefenwahmehmung möglich ist, wie mit helladaptirten Augen.
Die Versuche ergaben aufs Unzweideutigste, dals dies in
der That der Fall ist
Zunächst läfst sich zeigen, dafs die gut dunkeladaptirten
Augen StereoskopbUder gut vereinigen und körperUch sehen,
wenn die Beleuchtung derselben unter der fovealen Schwelle
bleibt Die Figur einer vierseitigen abgestumpften Pyramide z. B.,
von oben gesehen, wkd ausgesprochen körperUch gesehen, ja
wie mir scheint, mit noch gröfserer Tiefe als bei Betrachtung
im Hellen. Sie war durch dicke weiTse Linien auf schwarzem
Grunde hergestellt
Mit nur einem Auge betrachtet, erscheint sie natürlich völlig
flach.
Beleuchte ich das eine Halbbild, wie in dem eben erwähnten
Versuche, so schwach, dafs es foveal unsichtbar ist, das andere
dagegen stärker, so dafs es foveal sichtbar ist, und betrachte
nun das erstere mit einem dunkeladaptirten, das andere mit
helladaptirtem Auge, so wird ebenfalls ganz deutlich körperlich
gesehen. Dabei war durch geeignete Regulirung der Helligkeit
Sorge getragen, dafs dem Hellauge sein Bild in der gleichen
Helligkeit erschien, wie dem Dunkelauge das seinige.
266 ^' ^- ^<HI^^'
Ich habe mir sodann eine Versuchsanordnung hergerichtet,
entsprechend derjenigen von Heine, und mich zunächst davon
überzeugt, dafs ich bei Beobachtung im Hellen Resultate erhielt,
die mit denjenigen Heine's gut übereinstimmen. Die Stäbchen
waren 2,25 m von meinen Augen entfernt, die beiden äufseren
hatten einen Abstand von 10 cm von einander, das mittlere war
durch Schnurlauf verschiebUch ; die Stäbchen erschienen schwan
auf weifsem Grunde, ihre Enden waren abgedeckt Meine Seh-
schärfe beträgt 2^4 bis 272, meine Pupillardistanz 64 mm.
Unter diesen Bedingungen lag die Grenze der Tiefenwahr-
nehmung für mich bei einer Verschiebung des Mittelstäbchens
um 3 mm vor oder hinter die Ebene der Seitenstäbchen. Führte
ich den Versuch im Dunkelzimmer aus und liefs die Stäbchen
auf monochromatisch rothem Grunde erscheinen, so war die
Tiefenwahmehmung etwas weniger vollkommen, die Grenze bei
+ 5 bis 6 mm.
Nun schwächte ich die Helligkeit des Hintergrundes (nach
Entfernung der Rothscheibe) so ab, dafs sie unter der fovealen
Schwelle war und beobachtete wiederum in gleicher Weise.
Auch in diesem Falle, wobei also die Bedingungen des reinen
Dämmerungssehens eingehalten waren, war Tiefenwahmehmung
in deutlichster Weise möglich, die Grenze war weniger ver-
schoben, als ich erwartet hatte, sie lag bei + 10 bis 12 mm.
Es verdient noch erwähnt zu werden, dafs ich auf denselben
Werth (10 bis 12 mm) kam, wenn ich im Hellen, mit hell-
adaptirten Augen beobachtete, aber durch unvollkommene Cor-
rection meiner Myopie V auf ^/j bis Vio herabdrückte, also etwa
auf den Betrag, der dem Sehen mit der paracentralen Zone des
dunkeladaptirten Auges entspricht.
Alle die hier angegebenen Werthe würden vielleicht durch
längere Uebung noch ein wenig heruntergehen ; mir kam es je-
doch nur auf eine ungefähre Orientirung über die quantitativen
Verhältnisse an, nicht auf die Gewinnimg genauer absoluter
Werthe für die Feinheit der Tiefenwahmehmung.
(Eingegangen am 18, Odober 1901.)
lieber die Wirkung des Santonins
auf den Farbensinn, insbesondere den dichromatischen
Farbensinn.
Von
Prof. Dr. W. A. Nagel (Freiburg i. Br.).
Die interessante Wirkung des Santonins auf den Gesichts-
sinn ist zur Zeit noch wenig verständlich, ja auch über die that-
sächlich zu beobachtenden Erscheinungen ist man sich noch
recht wenig einig. Der Grund hierfür hegt jedenfalls grofsen-
theüs in der sehr ungleichen Empfindlichkeit verschiedener Per-
sonen für die Wirkung des Santonins. Nicht nur brauchen ver-
schiedene Individuen verschieden grofse Dosen, um überhaupt
eine Wirkung zu erzielen, sondern die Wirkung ist auch quali-
tativ ungleich. Beispielsweise hat die Dosis von 0,5 gr Natrixun
santonicum bei mir schon recht starke AUgemeinwirkungen un-
angenehmer Art, die subjective Geruchsempfindung (Geruchs-
hallucination) erreicht eine fast unerträgliche Intensität, die
Wirkung auf den Gesichtssinn tritt schon nach 5 — 10 Minuten
auf, während von Anderen bei dieser Dosis keine unangenehmen
Allgeraeinerscheinungen beobachtet werden und die Wirkung auf
den Farbensinn erst nach einer Stunde eintritt; die Geruchs-
hallucination scheint bei manchen anderen Beobachtern weit
weniger intensiv oder gar nicht aufzutreten. Bei solchen Ver-
schiedenheiten ist es begreiflich, wenn auch die theoretisch in-
teressanteste Wirkung auf den Farbensinn verschiedenen Beob-
achtern sich ungleich darstellt.
Der Entscheidung harren noch die Fragen, was von den
beachteten Wirkungen des Santonins auf den Gesichtssinn auf
Reizung, was auf Lähmung zurückzuführen sei, und wo der An-
grifEsort der Santoninwirkung zu suchen sei, im Centrum (Gehirn)
oder in der Peripherie (Netzhaut).
268 ^- ^' ^<^^'
Ich habe während der letzten Jahre öfters an mir selbst
Beobachtungen über die Santoninwirkung angestellt, und will,
yeranlafst durch die neuen, diesen Gegenstand behandelnden
Arbeiten von Rählmann ^, Knies ^ und Filehne ', die Ergebnisse
meiner Versuche hier kurz mittheilen und zu den Ergebnissen
der genannten Forscher in Beziehung setzen. Ein gewisses In-
teresse dürfte meinen Beobachtungen deshalb zukommen, weil
es die ersten sind, die den Farbensinn eines Deuteranopen (Grün-
blinden) betreffen. Der meines Wissens einzige bisher unter-
suchte Dichromat, über den Rählmann (1. c.) berichtet, war Pro-
tanop (Rothblinder).
Für die Anhänger der Dreicomponententheorie des Farben-
sinnes muTste es von vorneherein naheUegen, die Santoninwirkung
in der verhältnifsmäTsig einfachen Weise zu deuten, dals das
Gift zunächst die der Violettcomponente entsprechende Seh-
substanz erregte imd sie dann ganz oder theilweise aufeer
Function setzte beew. lähmte. Bei genauerer Betrachtung stellen
sich jedoch die Verhältnisse anders und zwar wesentlich com-
plicirter dar. Wäre jene Auffassung zutreffend, so wäre zu err
warten, dafs beim Dichromaten, der aufser der Violettcomponente
nur noch eine weitere besitzt, im Zustande hochgradiger San-
toninwirkung nur diese eine Gomponente seines farbenpercipi-
renden Apparates functionsfähig bleibe, sein Sehen also durch
Ausschaltung der Violettcomponente monochromatisch werde.
Das ist aber entschieden nicht der Fall, weder für den Prota-
nopen Rählmann's, noch für mich trifft es zu.
RÄHLMANN spricht allerdings davon, dafs durch das Santonin
das Farbensystem des Dichromaten monochromatisch werde, doch
bleibt nach seinen Beobachtimgen gerade das Blau erhalten,
die langwellige Spectralhälfte dagegen wird farb-
los, grauweifs.
Mich haben meine Beobachtungen, obgleich sie mit den
RÄHLMANN'schen in gewisser Hinsicht übereinstimmen, doch
zu anderen Schlüssen geführt. Ich habe nicht an einem in toto
sichtbaren Spectrum beobachtet, sondern ich erleuchtete das Ge-
sichtsfeld des HELMHOLTz'schen Farbenmischapparates mit dem
* Zeitschr. f. Augenheilk. 2.
* Ärch. f, Augenheiüc. 37.
' Ärch. f. d. ges. Physiologie 80.
Wirkung des Santonins auf den Farhensinnf inebes, den dichromatiachen, . 269
betreffenden homogenen Licht, dessen Aussehen ich prüfen
wollte. Die Farbe erschien auf tiefschwarzem Grunde als
halbmondförmiges Feld mit etwa 3 — 4 ^ gröfstem Durch-
messer. Violett und Blau, überhaupt alle Töne der kalten
Spectralhälfte erschienen mir in jedem Stadium der Santonin-
vergiftimg^ vollkommen in ihrem normalen gewöhnlichen Aus-
sehen. Das gilt auch für das kürzestwellige Violett, das mir in
unvergiftetem Zustande noch gesättigt farbig erschien. Es tritt
also bei mir weder eine absolute, noch eine relative Violett-
blindheit ein. Da auch nicht einmal die Anfänge einer solchen
zu constatiren sind, ist es mir einigermaafsen zweifelhaft, ob
noch gröfsere Dosen Violettblindheit erzeugt haben würden.
Sehr auffallende Veränderungen erUtt dagegen das Aussehen
der warmen Farben, vom (Jelbgrün bis zum äufsersten Roth.
Sowie die Vergiftung deutlich einsetzte, erschienen sie zuerst
blafs und ungesättigt, dann schliefshch rein weifs, oder bei ge-
ringerer Intensität grau, ganz wie es auch Rählmank angiebt
Trotzdem ist mein Farbensystem in diesem Zustande
keineswegs ein monochromatisches, nur unter ganz
besonderen Bedingungen, imter denen am Spectralapparat beob-
achtet wird, werden die warmen Farben weifs gesehen. Pigment-
farben, farbige Gläser, Flüssigkeiten und Papiere erscheinen mir
durchaus in ihrer gewöhnlichen Farbe; anWollproben
und Farbentafeln mache ich genau dieselben Unterscheidimgen,
die mir auch in unvergiftetem Zustande möglich smd.
Dieser scheinbare Widerspruch klärt sich in einfacher Weise
^ Ich habe bei diesen Versuchen 0,2—0,5 gr Natrium santonicum
innerlich genommen; 0,2 wirkt bei mir auf den Gesichtssinn noch gar
nicht, nur auf den Greruchssinn , 0,3 dagegen macht schon starkes Gelb-
sehen und merkliches Unwohlbefinden. Bei 0,5 treten die Erscheinungen
rasch und stürmisch auf, nach 10 Minuten ist die G^ruchsempfindung und
das Gelbsehen schon deutlich. Der Höhepunkt ist nach etwa einer Stunde
erreicht. Dabei tritt Schwindel, Uebelkeit, zuweilen mit Erbrechen, und
hochgradige nervöse Unruhe auf.
Die Geruchsempfindung ist eine widerlich brenzliche; zu einer Zeit,
wo sie spontan noch nicht auftritt, bemerke ich sie beim Cigarrenrauchen,
ebenso am Tage nach einem San tonin versuch. Offenbar enthält der Misch-
geruch des Gigarrenrauches eine Componente, die dem durch Santonin aus-
gelösten subjectiven Geruch entspricht. Seitdem ich diesen genau kenne,
bemerke ich ihn öfters auch, wenn ich den Rauch schlechter Cigarren
rieche.
270 ^' ^' Nagd.
auf. Bekanntlich tritt das Gelbsehen nur beim Betrachten
gröfserer heller Flächen auf (für mich am deuthchsten beim
Blick auf das helle Fenster), das Violett- oder Blausehen dagegen
im gleichen Stadium der Vergiftung stets nur beim Blick auf
tiefschwarze Flächen.*
Das EigenthümUche nun an diesem Violettsehen ist es, dab
die Empfindung einer leuchtenden, gesättigten Farbe nur vorüber-
gehend intensiv auftritt, in dem AugenbUck, wo ich die schwane
Fläche ansehe. Betrachte ich sie längere Zeit, so bedarf es be-
sonderer Aufmerksamkeit, um zu erkennen, dafs ich nicht eigent-
Hch Schwarz, sondern ein tiefes, dunkles Violett oder Blau-
sehe. In dieser Farbe erscheint nun auch das sonst tiefsehwarze
Gesichtsfeld beim Hineinsehen in das Ocular des Spectroskopes,
und in diesem dunkelblauen Felde erscheint dann das kleine,
mit Roth, Orange oder G^lb beleuchtete Farbenfeld weifs, und
zwar um so sicherer, je kleiner es ist Offenbar erstreckt sich
der beim Betrachten der schwarzen Fläche fortbestehende
Reizungszustand, der zur Violett- oder Blauempfindung führt,
auch über das kleine helle Feld und ergänzt sich mit der von
diesem ausgehenden „warmen" Farbe zu Weifs, gerade wie wenn
objectives Blau zugemischt würde.
Es ist bemerkenswerth, dafs bei gröfserem farbigen Felde
das Weifs nicht rein wird, sondern einen gelblichen Ton bei-
behält. Bei gröfseren farbigen Flächen, sowie bei kleinen (rothen
oder gelben) Farbenflecken auf hellem Grimde fehit jene
Farbenveränderung, jenes Abblassen zu Weifs, vollständig.
Ich bin hiernach entschieden der Ansicht, dafs der Verlust
^ Von Anderen wird ein dem Gelbsehen vorausgehendes „Stadium dee
y iolettsehens" angegeben, in welchem helle Flächen violett gesehen werden.
Ich habe bei meinen zahlreichen Versuchen niemals etwas Derartiges be-
merkt. Die erste Erscheinung war immer plötzliches Violett- (Blau) sehen
beim Blick auf eine schwarze Fläche, namentlich wenn diese im indirectea
Sehen erschien. Nun war aber auch sofort das Tageslicht schwach gelb-
lich, ähnlich etwa, wie wenn die Sonne bei nicht ganz klarem Wetter sich
zum Untergehen anschickt.
Es mufs dahin gestellt bleiben, ob das Fehlen des primären Violett-
sehens mit meiner partiellen Farbenblindheit zusammenhängt oder nicht
Einzelne Beobachter mit normalem Farbensinn scheinen es auch nicht be-
merkt zu haben.
" Blau und Violett ist für mich als Deuteranopen natürlich eines nnd
dasselbe.
Wirkung des Santonins auf den Farhensinnj inshes, den dichramatiachen, 271
aller anderen Farbenempfindungen aufser der Blauempfindung,
den ich ebenso wie Rählmann's Fall constatire, nicht auf dem
temporären Ausfall einer der Componenten des dichromati-
schen Farbensinnes beruht, sondern im Gegentheil auf einem
Reizungszustand der Blaucomponente des farbenpercipiren-
den Apparates.
Es ist nicht ohne Interesse, dafs eine ganz analoge Täuschung
über die im Farbenmischapparat gesehenen Farben auch unter
anderen Umständen, ohne Santoninvergif tung, auftritt,
und zwar, wie es scheint, ebenfalls nur beim Dichromaten.
Blicke ich einige Zeit, etwa 10 bis 20 Secunden, gegen eine recht
hell mit gemischtem Licht beleuchtete Fläche, am besten gegen
den hellen Himmel, und richte dann schnell den Blick in das
Ocularrohr des Farbenmischapparates, in welchem ein nicht zu
grofses Feld (2 — 3®) mit einer der warmen Spectralfarben er-
leuchtet ist, so sehe ich, genau wie im Santoninrausch, Anfangs
reines Weifs^statt Gelb, Orange oder Roth; nach einigen Se-
cunden beginnt ein gelblicher Ton aufzutreten, die volle Sätti-
gung erreichen die Farben jedoch erst nach etwa einer halben
Minute, vorausgesetzt, dafs die vorherige Belichtung des Auges
genügend intensiv war.
Die Farben der kalten Spectralhälfte bleiben bei dem gleichen
Versuche gänzlich unverändert.
Von einer Anzahl anderer Beobachter, die auf meine Ver-
anlassung den Versuch ebenfalls ausführten, sah nur einer die
Erscheinung, und zwar auch in voller Deutlichkeit. Dieser eine
aber ist der einzige Dichromat unter den betreffenden Beob-
achtern (mein Bruder Dr. O. Nagel).
Diese Beobachtung erklärt sich in ganz derselben Weise, wie
die oben erwähnte, durch Santonin Wirkung bedingte. Nach
starker Reizung der Retina mit diffusem, weifsem Licht besteht
noch nach dem Aufhören der Lichteinwirkung ein Reizungs-
zustand fort, der sich in intensiver Blauempfindung äufsert.
In der That sehe ich den schwarzen Hintergrund im Ocularrohr
in prachtvoll leuchtendem Dunkelblau. Auf dem kleinen hellen
Farbenfelde ergänzt sich wieder die Blauempfindung mit der
Gelbempfindung zu Weifs.
Genau wie beim Santoninversuch gilt es auch hier, dafs das
272 '^' ^- ^<^^'
Farbenfeld nicht zu grofs sein darf, wenn es nach der Blendung
wirklich rein weifs oder grau aussehen solL^
Ich habe untersucht, ob bei kurzdauernder Reizung der Re-
tina mit hellem Himmelslicht ebenfalls ein blaues Nachbild
auftritt und dieses in der That gefunden. Ich brachte einen
MomentverschluTs vor das eine Auge, schloüs das andere und
löste nun den Momentverschluls mit langsamem Gang (Vio See)
aus, während der Blick nach dem Himmel gerichtet war. Das
bekannte „PuRKi^jE'sche Nachbild" ist unter diesen Umständen
mäfsig deutlich sichtbar, dann folgt eine Uchtlose Pause von
mehreren Secunden, und nun entwickelt sich das eigentliche
Nachbild in gesättigtem, tiefem Dunkelblau, auf dem sich die
Nachbilder dunkler Objecto, z. B. des Fensterkreuzes, in dunkel-
gelber Farbe abhoben.
Bedingung für das Eintreten dieser Erscheinung ist, dafis
die Helligkeit des Reizlichtes genügend grofs und die Dauer
seiner Einwirkung nicht zu kurz ist. Anderen^ls erscheint das
Nachbild wohl auch, jedoch in farblosem, neutralem Grau, oder
höchstens mit schwach bläulichem Tone.
Unter den gleichen Bedingungen, imter denen ich das Nach-
bild lebhaft blau sehe, sehen andere Beobachter, mit normalem
Farbensinn, das Nachbild farblos. Auch frühere Beobachter er-
wähnen, so weit mir bekannt ist, nichts von einem blauen Nach-
bild nach so kurzdauernder Reizimg mit weifsem Licht. Ob, wie
ich vermuthe, andere Deuteranopen die Erscheinung eb^so wie
ich sehen, konnte ich noch nicht feststellen.
Ein dritter Fall endlich, in welchem mir ebenfalls schwarze
Objecto in leuchtendem Blau erscheinen können, ist gegeben,
wenn ich bei durch Homatropin erweiterter Pupille kleine
schwarze Objecto auf sehr hellem Grunde sehe, z. B. wenn ich
aus der Feme dunkel gekleidete Menschen auf sonnenbeschienener
Strafse sehe.
Dafs zwischen den hier beschriebenen Erscheinungen ein
gewisser innerer Zusammenhang besteht, scheint mir aufser
* Erwähn enswerth dürfte sein, dafs eine für mich gültige Gleichung
zwischen spectralem Roth und Gelbgrün gültig bleibt, wenn ich sie nach
vorgängiger Blendung durch helles weifses Licht betrachte. Beide Seiten
der Gleichung erscheinen dann farblos, weifs bis grau, je nach der
Helligkeit.
Wirkung des Santanins auf den Farbennnnf insbes, den dichramaÜachen, 273
Zweifel zu stehen. Das Blau- (oder Violett-) Sebeu schwarzer
Objecte neben sehr hell beleuchteten grofsen weiüsen Objecten,
oder nach dem Betrachten sehr heller weifser Objecte ist
im Santoninrausch gewissermaafsen in einen Dauer-
zustand übergeführt. Es fehlt noch die Entscheidung darüber,
ob das Santonin den Reizzustand der Blau- (Violett-) Ck)mponente
direct herbeiführt, oder ob nur unter seinem Einflufs die Nach-
wirkung eines jeden durch weifses Licht bewirkten Reizes be-
deutend in die Länge gezogen wird. Zum Zwecke dieser Ent-
scheidung müfste untersucht werden, ob für einen mit Santonin
behandelten Dichromaten die warmen Spectralfarben auch dann
SU Weifs verblassen, wenn die Augen längere Zeit zuvor vor
jedem Lichteinfall geschützt waren. Ich habe diesen Versuch
nicht mehr ausgeführt, weil bei den bisherigen Versuchen mit
Einführung von 0,5 gr Natriumsantonat die Allgemeinwirkungen
SU unangenehmen Charakter annahmen.
Das wesentliche Ergebnifs meiner Beobachtungen scheint
mir in dem Beweis zu liegen, dalis das Verblassen der lang-
welligen Spectralhälf te und das damit zusammenhängende Violett-
(Blau-) Sehen dunkler Flächen (auch während des Stadiums des
Gelbsehens) nicht auf einer Lähmungs- oder Ausfalls-
erscheinung beruht, sondern auf einem Reizzustand
des Sehorgans. Für mich ist eine Lähmungserscheinimg auf
Grund der Santoninwirkung (Violettblindheit) überhaupt in keinem
Stadium der Vergiftung festzustellen.
Da eine Reihe weiterer hieran sich knüpfender Fragen nicht
ohne fortgesetzte eingehende Experimentalimtersuchimgen zur
Ekitscheidung zu bringen sind, mub ich es mir versagen, sie
hier zu besprechen und hoffen, dafs es entweder mir möglich
werden wird, die Frage gelegentlich von Neuem aufzunehmen,
oder dafs meine Erfahrungen von anderer Seite nachgeprüft und
ei^änzt werden, wozu es bei der grofsen Häufigkeit der Deutera-
nopen an Gelegenheit nicht fehlen dürfte.
Jedenfalls mufs immer die Möglichkeit, ja Wahrscheinlich-
keit im Auge behalten werden, dafs die Abweichungen zwischen
einem Theil meiner Ergebnisse und denjenigen anderer Beob-
achter mit der Verschiedenheit der Farbensysteme zusammen-
hängt.
Zeitschrift für Psychologie 27. 18
274 ^' ^' ^<^^'
Von anderen Gesichtspunkten aus, als sie den vorstehenden
Ausführungen zu Grunde liegen, hat kürzlich Filehne (1. c.) die
Frage der Wirkimg des Santonins auf den Farbensinn behandelt
Filehne wollte den Angriffspunkt des Giftes feststellen; er theilt
mit, dafs er, obgleich von vorneherein mehr der Annahme cen-
traler Wirkung zugeneigt, durch neue Versuche zu der An-
schauung gebracht worden sei, dafs das Santonin auf die Netz-
haut wirkt.
Fn^EHNE nimmt als gegeben an: ein primäres Violettsehen,
worauf Gelbsehen mit Violettblindheit folgt, und findet diese
Erscheinungen am besten erklärt durch die Annahme einer
sensibilisirenden Wirkung des Santonins auf die violett-
empfindliche Sehsubstanz. Die Empfindlichkeitssteigerung dieser
Substanz hat die Folge, dafs anfänglich das weifse Licht mit
violettem Tone erscheint; durch die grofse Empfindlichkeit ver-
braucht sich aber die Violettsubstanz auch rascher und nun
ist sie in ungenügender Menge vorhanden, das weifse Licht er-
scheint in der complementären grüngelben Farbe. Das ist die-
selbe Auffassung, die auch von früheren Autoren vertreten
wurde, so z. B. von Hüfneb im Jahre 1867 {Arch. f. OphthalmclX
Um eine derartige sensibilisirende Wirkung des Santonins
wahrscheinlich zu machen, theilt Filehne Versuche über die Be-
einflussung der Sehpurpurregeneration durch jenes Gift mit
Für den Sehpurpur soll Santonin nachweisbar als Sensi-
bilisator wirken, und hieraus dann per analogiam entsprechende
Wirkung auf die violettempfindliche Sehsubstanz zu schliessen sein.
Filehne's Beweisführung erscheint in diesem Punkte nicht
überzeugend. Wenn F. zunächst sich auf eine Angabe von
Knies beruft, nach welcher unter Santonineinwirkung die Dunkel-
adaptation „erschwert und stark verzögert" sein soll (1. c. p. 103),
so ist es mir nicht möglich gewesen zu finden, auf welche
Angabe von Knies* sich hier F. stützt. In der einzigen mir be-
kannten Arbeit von Knies über Santonin (1. c.) wird im Gegen-
teil ausdrücklich an mehreren Stellen hervorgehoben, dafs der
Lichtsiiin während der ganzen Dauer der Vergiftung normal
bleibe, auch die Adaptationszeit nicht verlängert
sei und deshalb an Betheiligung des Sehpurpurs nicht gedacht
w^erden könne.
FiLEiiNf: giebt nun allerdings an, dafs er diese vermeint-
liche KNiEs'sche Beobachtung bestätigen könne, theilt jedoch
Wirkung des Santonins auf den Farheminny inshes, den dichramaHsehen. 2.7.5
über die Art und Weise, wie er die „Verlängerung der Adap-
tationszeit'' nachgewiesen hat, nichts mit, ebensowenig über
das MaaTs dieser Verlängerung. Die Sache bleibt also einst-
weilen mindestens fraglich.
Bei Fröschen fand Filehne den Vorrath des vor der
Santoninvergiftung gebildeten Sehpurpurs in den Netzhäuten
durch nachherige Santoningaben nicht beeinflufst, wohl aber die
Regeneration des vorher ausgebleichten Purpurs ganz aufgehoben
oder doch stark beeinträchtigt. Obgleich ausdrückHch angegeben
wird, dafs die Frösche „nicht etwa gelähmt, circulationslos,
moribund auf ihre Purpur -Wiedererzeugungs-Fähigkeit geprüft
wurden", kann ich mich der Vermuthung doch nicht enthalten,
dafs die Versuchsthiere doch durch die colossalen Dosen des
Giftes eine schwere Schädigung erlitten haben müssen, die sich
nicht allein auf das Pigmentepithel beschränkt haben wird. Sie
erhielten zum Theil Gaben, die diejenigen noch erheblich über-
treffen, die beim erwachsenen Menschen schon starke Allgemein-
störungen bewirken. Dabei beträgt das Durchschnittsgewicht
eines Frosches etwa den tausendsten Theil von dem des Menschen.
Zum Ausgangspunkt weitergehender Schlüsse scheinen danach
die FiLEHNE'schen Versuche wenig geeignet
Ich habe nun übrigens einen Versuch angestellt, dessen Aus-
fall eine Entscheidung der Frage Uefem konnte, ob Filehne*s
auf die Froschversuche gegründete Auffassung von der Wirkung
des Santonins auf die Violettsubstanz zutreffend ist. Wenn das
Gelbsehen die Folge eines zu raschen Verbrauchs violettempfind-
licher Substanz ist, mufs ein Auge, das vor Lichteinfall vom
Beginn der Vergiftung an geschützt war, beim ersten Licht-
einfall zunächst entweder gar nicht gelb sehen, oder doch jeden-
falls weniger intensives Gelb, als ein Auge, das schon einige
Zeit durch Lichteinfall gereizt war. Ich habe diesen Versuch
ausgeführt, fand jedoch, dafs das dunkelgehaltene Auge, wenn
es auf dem Höhepunkt der Vergiftung von weifsem Licht ge-
troffen wurde, dieses sogar ungemein viel gesättigter gelb
sah, als das Hellauge.
Auf Grund vorstehender Erwägungen und Beobachtungen
finde ich die Frage nach dem Angriffsort des Santonins durch
Filehne's Versuche nicht entschieden, sondern nach wie vor
offen.
In diesem Zusammenhange verdient noch ein Versuch Er-
18*
276 ^' ^' Nf^'
wähnung, den ich, angeregt durch Filehke^s Arbeiten, mehrmals
ausgeführt habe. Filehne hat in einer anderen Arbeit ^ kürzM
mitgetheilt, dafs er die Erweiterung der Gesichtsfeldgrenzen durch
Strychnin auf nur einem Auge habe erzielen können, indem
er Strychnin in wässeriger Lösung in den Conjunctivalsack
träufelte. Ich habe dasselbe mit santonsaurem Natron versucht
Ich tröpfelte in kurzen Zwischenräumen (von 2 — 3 Minuten)
jedesmal mehrere Tropfen einer starken wässerigen Lösung ein,
was ohne jegUche lästige Reizerscheinung möglich ist Der Er-
folg war jedoch ein negativer, d. h. es traten nach etwa einer
Stunde die ersten Allgemeinvergiftungserscheinungen (Geruchs-
hallucination) auf, ohne dafs es zu einseitigen Farbensinns-
stönmgen gekommen wäre.
Bei diesem Ausfall beweist der Versuch natürUch gar nichts
für oder wider die direkte Wirkung des Santonins auf die Retina
* Arch, f, d, ges, Physiol. 88.
(Eingegangen am 18, October 1901.)
Zwei optische Täuschungen.
Nach Beobachtungen von Prof. Dakilewsky
mitgetheilt von
Prof. Dr. W. A. Nagel
in Freibarg i. Br.
(Mit 3 Fig.)
Bei seinem Aufenthalte in Freiburg i. Br. im Sommer-
semester 1901 zeigte mir Herr Prof. Danilewsky zwei optische
Erscheinungen, die man unter den Begriff der „optischen
Täuschungen'' rechnen müssen wird und die ich, seinem
Wunsche entsprechend, hier mittheile und zu erklären versuche.
L Der eine Versuch stellt eine Ergänzung einer bekannten
Beobachtung von S. Thompson dar.
Wenn man auf weifser Papierfläche eine Anzahl concentri-
scher Ringe mit dicken schwarzen Strichen und in nicht zu
grofsem gegenseitigen Abstände gezeichnet hat und nun der
ganzen Scheibe eine leichte Drehbewegung ertheilt (wobei das
Centrum der Scheibe einen Kreis von etwa 1 cm Durchmesser
beschreibt und die ganze Scheibe stets sich selbst parallel ver-
schoben wird (Thompson's rinsing movement), so hat man be-
kanntlich den deutlichen Eindruck, dafs sich auf der Scheibe
ein heller Streifen uhrzeigerartig dreht. Der Zeiger geht durch
den Mittelpunkt der Scheibe und an beiden Seiten bis an deren
Rand. Seine Drehungsrichtung ist derjenigen der ganzen Scheibe
gleich.
Herr Prof. Danilewsky hat nun beobachtet, dafe, wenn man
zwei derartige Scheiben Ä und B neben einander legt, den
Mittelpunkt von A fixirt und nun diese Scheibe Ä bewegt, die
Zeigerdrehung sowohl auf der bewegten wie auf der ruhenden
Scheibe B in gleicher Weise sichtbar ist Wird dagegen A fixirt,
aber B bewegt, so erscheint die Zeigerdrehung niu* auf der (ir
278 ^^' -^^ ^^agcl
direct gesehenen) Scheibe Ä Wird durch eine vor das Gesidit
(sagittal) gehaltenen Scheidewand dafür gesorgt, dafs das eine
Auge nur die eine, das andere Auge die andere Scheibe sieht,
so ändert das an der beschriebenen Erscheinung nichts.
Die Erklärung dieser Beobachtung ist einfach und knüpft
an die Erklärung der Thompson 'sehen Täuschung an.* Letztere
kommt bekanntlich dadurch zu Stande, dafs das Auge dem rins-
ing movement 4er Scheibe nicht rasch genug folgen kann und
in Folge dessen das Bild der Kreise auf der Netzhaut fort-
während Verschiebungen erleidet Diese haben wiederum zur
Folge, dafs nur diejenigen Partien der Ringe schwarz und scharf-
begrenzt wie bei ruhender Scheibe erscheinen, die annähernd in
der Bewegungsrichtimg liegen; bei Bewegung des Kreises ABCD
(Fig. 1) der in Richtung C A wären dies die Stellen D und Ä Die
anderen Kreispartien müssen bei genügend rascher Verschiebung
des Netzhaütbildes mehr oder weniger ver-
schwommen erscheinen, am meisten die
Stellen A imd C. Umgekehrt, bei Be-
wegung der Figur in der Richtung DK
scheinen B und B am meisten verschwom-
men. Bei der Kreisbewegung der Scheibe
nun läuft diese hellste Stelle der Kreis-
peripherie rund um den ganzen Bieis-
umfang und bei Combination mehrerer c^n-
centrischer Ringe in der THOMPsoK'schen
Figur entsteht der Eindruck eines sich
drehenden Zeigers.
Dafs nach Danilewsky's Beobachtung nicht nur eine direct
betrachtete bewegte, sondern auch gleichzeitig eine excentrisch
gesehene stillstehende TnoMPsoN'sche Scheibe die Zeigerdrehung
zeigt, erklärt sich offenbar daraus, dafs das Auge der bewegten
Scheibe zwar nicht völlig folgen kann (daher die TnoMPsoK'sche
Täuschung), aber auch nicht völlig stille zu stehen vermag, son-
dern ihre Bewegungen in verkleinertem Maafsstabe mitmacht;
daher verschiebt sich auch das Bild der stillstehenden Scheibe
auf der Netzhaut, und auch diese scheint sich zu drehen.
Fixirt man andererseits die stillstehende Scheibe, so ist der
* Vgl. H. P. BowDiTCH and Stanley Hall. Optical lUusions of Motion.
Joumu of Fhysiology 3, 297. 1880—1882.
Zwei optische Täuschungen. 279
Einflufs der im peripheren Gesichtsfeld wahrgenommenen be-
wegten Scheibe nicht stark genug, um auch das Auge zu Be-
wegungen zu zwingen. Die fixirte Scheibe zeigt keine Zeiger-
drehungen, sondern nur die excentrisch gesehene bewegte Figur.
Nicht ohne Weiteres ist zu sagen, wie der Eindruck sein
raufs, wenn man die eine Scheibe rechts herum und die andere
links herum bewegt und eine von beiden zu fixiren sucht Ich
sehe in diesem Falle auf der Scheibe, die ich ansehe, deutlich die
Zeigerbewegung, auf der anderen dagegen fehlt sie völlig, diese
sieht verwaschen grau aus.
Herr Professor DANn^EwsKY beobachtet folgende Erscheinung,
die für mich nicht wahrnehmbar ist : Fixirt man einen zwischen
zwei Thompson *schen Scheiben gelegenen Punkt und bewegt
die eine derselben, am besten nur in kurzen Kreisbewegungen
bald rechts, bald links herum, so tritt jeweils auf der anderen
Scheibe die entgegengesetztgerichtete Zeigerdrehung auf.
Ich sehe in diesem Falle auf der ruhenden Scheibe entweder
überhaupt keine Bewegung oder nur imdeutliche Bewegungen,
an denen ich eine bestimmte Richtung nicht erkennen kann.
II. Die zweite von Professor Danilewsky beobachtete und
unseres Wissens bis jetzt nicht beschriebene Erscheinung ist die
folgende: Wird eine recht stark schwingende Stimmgabel durch
eine mit radiären Schlitzen versehene (einem Episkotister ähnliche)
Scheibe beobachtet, die mit
passender Geschwindigkeit
rotirt, so sieht man unter ge-
wissen Umständen die Zinken
der Stimmgabel wellenförmig
gekrümmt, wie es Fig. 2 ver- ^^^ '^'
anschaulicht.
Die nähere Untersuchung der frappanten Erscheinung zeigt
zunächst, dafs das Bild der Stimmgabel sich wesentlich verändert,
je nachdem man die rotirende Scheibe dicht vor das Auge
bringt oder von demselben weiter entfernt. Im ersteren Falle
sind die einfachen Bedingungen der Stroboskopie gegeben, und
man sieht dann bei passendem Verhältnifs der Umdrehungs-
periode der Scheibe zur Schwingungsperiode der Gabel die
letztere ihre Schwingungen in verlangsamtem Tempo ausführen,
eventuell in irgend einer Phase stillstehen.
2g0 W. A. Nagd.
Entfernt man dagegen die rotirende Schlitzscheibe weiter
vom Auge, so sieht man die Stimmgabel durch den Spalt hin-
durch nicht nur während eines einzigen bestimmten Momentes
in jeder Umdrehungsperiode, sondern während eines gröfsereo
Bruchtheiles der gesammten Umdrehungszeit Da nun während
dieser Zeit die Stimmgabel selbst sich bewegt, moTs sie doioh
die Scheibe hindurch nothwendigerweise gekrümmt erscheinen.
Fig. 3.
Nehmen wir beispielsweise eine Scheibe wie in Fig. 3, mit
zwei radiären Schlitzen, die in ihrer gegenseitigen Verlängerung
liegen und setzen wir voraus, daTs die Umdrehungsperiode der
Scheibe und die ganze Schwingungsperiode der Stimmgabel
gleich lang seien, so werden wir auf dem hinter der Scheibe
gelegenen Stück der Stimmgabelzinken gerade eine halbe Sinues-
Schwingung sehen. Wenn in dem Augenblick, in dem die
Spedten AB und CD horizontal stehen, die Stimmgabelzinke
gerade durch ihre Ruhelage geht, wird die letztere unter den
gemachten Voraussetzungen sich im Maximum ihres Ausschlages
befinden, wenn die Scheibe sich um 90® weiter gedreht hat;
nach weiteren 90® Drehung schwingt die Gabel wieder durch
die Ruhelage u. s. w.
Ist die Umdrehungszahl der Scheibe halb so grofs, wie die
Schwingungszahl der Stimmgabel, so kommt auf eine Scheiben-
breite eine ganze Sinusschwingung ; auf diese Art hängt in
leicht ersichtlicher Weise die Gestalt der gekrümmten Summ-
gabelzinken von der Periodenlänge der beiden reellen Bewegungs-
Vorgänge ab.
Bei geeignetem Abstand von Auge, Scheibe und Stimmgabel
kann man beide Zinken der Stimmgabel wellenförmig gekrümmt
sehen, wie es Fig. 2 veranschaulicht
Ist die Geschwindigkeit der Scheibendrehung eine wechselnde,
so sieht man an der Gabel fortschreitende Wellen.
2!wei optische Täuschungeti, 281
Natürlich kann man ähnliche Bilder bei jeder anderen
oscillirenden Bewegung erhalten. Besonders frappant ist die
Erscheinung bei kleinen Dampfmaschinen mit oscillirendem
Cylinder und recht langer Kolbenstange. Hier sieht man durch
die Schlitzscheibe die Kolbenstange und den Cylinder in der
seltsamsten Weise schlangenförmig gekrümmt. Die Erscheinung
ist hier noch auffallender als bei der Stimmgabel, weil die
Ausschläge der oscillirenden Kolbenstange weit gröfsere sind,
als bei einer Stimmgabel.
Um die ganze Erscheinung deutlich sichtbar zu machen,
empfiehlt es sich, auf den oscillirenden Körper (Stimmgabelzinke,
oder Kolben) einen Streifen weifsen Papiers aufzukleben und die
Schlitzscheibe zu schwärzen, so dafs sie kein Licht reflectirt
(Eingegangen am 18. October 1901,)
Literaturbericht.
L. William Stebn. Ueber Psychologie der individveUen Differenieft. (Ideei n
einer „differentiellen Psychologie".) Schriften der Gesdlachaft für ptycho-
logische Forschung 3 (12). 146 S. 1900. Mk. 4.50.
Es ist ein begrüfsenswerthes Buch, das Verf. als 12. Heft der rasch
zu Ansehen gelangten „Schriften der Gesellschaft für psychologische
Forschung" veröffentlicht hat. Wie schon der Titel sagt, will das Buch
keine differentielle Psychologie als festbegründete Wissenschaft mit ge-
sicherten Ergebnissen bieten — das macht der gegenwärtige Stand der
psychologischen Wissenschaft von vorn herein noch unmöglich — ledig-
lich Ideen zu einer solchen, die das Erforschenswerthe aufzeigen and ein
Programm künftiger Arbeit aufstellen. Es zerfällt in zwei Abschnitte.
Der erste kürzere Abschnitt handelt vom Wesen, den Aufgaben und den
Methoden der differentiellen Psychologie. Während die bisherige Psychologie
generell war, nur den allgemeinen Gesetzen nachging, nach welchen die
Seelenphänomene sich vollziehen, untersucht die differentielle Psychologie
die individuellen Eigenarten und Unterschiede, bemüht sich festzustellen,
in welchen besonderen Formen bei verschiedenen Individuen die psychischen
Elemente auftreten und wie sie sich zu complexen Gebilden und Zusammen-
hängen vereinen, in welcher besonderen Weise die allgemeinen psychischen
Gesetze functioniren, in welchen verschiedenen Formen, Stärkegraden und
Verbindungsweisen die psychischen Thätigkeiten und die Dispositionen
zu ihnen vorhanden sind (S. 9). So gliedert sich die Aufgabe der differen-
tiellen Psychologie in folgende drei Fragen: 1. Worin bestehen die psychischen
Differenzen, welche Individuen, Völker etc. unterscheiden? (Differenxen-
lehren). 2. Wodurch sind diese Differenzen bedingt? Wie wirken Ver-
erbung, Klima, Stand, Erziehung, Anpassung u. dgl.? (psychische Aetiologie
und differentielle Psychophysik). 3. Worin äufsern sich die Differenxen,
etwa in Gesichtsbildung und Mienen, Handschrift und ähnl. (psychische
Symptomenlehre und Diagnostik (S. 4 f.). In die bei solcher Betrachtung
sich ergebende überreiche Mannigfaltigkeit wird aber Uebersicht und
Ordnung gebracht mit Hülfe des Typenbegriffes, unter welchem jeweils
die einfachste oder die häufigst auftretende Form einer einzelnen
psychischen Function festgehalten erscheint. Eine und dieselbe Psyche
gehört demnach je nach dem Gesichtspunkt verschiedenen Typen an, die
Literaturhericht 283
bald als blos neben einander stehend auftreten (Typencomplex), bald als
sich gegenseitig bedingend und beeinflussend (complexe Typen). Das
Individuum ist somit ein Kreuzungspunkt einer Zahl von Typen. Da der
Verf. auch nach der Häufigkeit des Vorkommens den Typus bestimmt, so
kann er der Begriffe „normal" und „abnorm" entbehren. Aber es ist doch
fraglich, ob es nicht vortheilhafter gewesen wÄre, dem älteren Gebrauche treu
bleibend, für die Feststellung des Typus lediglich die Einfachheit und
Klarheit der betr. Erscheinung mafsgebend sein zu lassen und daneben die
Begriffe „normal" und „abnorm" als Ausdrücke für die Häufigkeit des
Vorkommens im Gebrauch zu behalten. An diese Ausführungen über
Wesen und Aufgabe der differentiellen Psychologie schliefst sich eine Be-
sprechung ihrer Methoden, wobei unseres Erachtens besondere Anerkennung
der scharfen Kritik der Mental tests gebührt.
Auf diese allgemeinen Erörterungen folgen im zweiten Abschnitte
ins Einzelne eingehende Darlegungen über die hauptsächlichen Richtungen
der individuell differenten seelischen Functionen und über ihre Unter-
suchung durch das Experiment, wobei sich jetzt schon manche Ergebnisse
vermuthen lassen. So führt die scharfe Unterscheidung zwischen natür-
licher Sinnesempfindlichkeit und wirklicher Sinnesempfindlichkeit {S.-E.
im engeren Sinne) — Ref. würde übrigens lieber sagen: scheinbare S.-f.
und reine S.-E. — zu der Annahme, dafs, wenn die natürliche S.-E. durch
Uebung und Ausbildung des Urtheilens und der übrigen psychischen Be-
dingungenn auf die wirkliche «S-'-E. reducirt ist, die übrigbleibenden indivi-
duellen Differenzen der wirklichen und reinen S.-E. relativ gering sind,
ümsomehr dagegen unterscheiden sich die Individuen je nach dem An-
schauungstypus, dem sie angehören, der, wenngleich er innerhalb gewisser
Grenzen wandelbar ist, doch als angeborene Vorherrschaft eines bestimmten
Sinnesgebietes zu betrachten ist. Bei Besprechung des Gedächtnisses
nimmt Verf. Stellung gegen die seit Ribot häufig gewordene Anschauung,
dafs man eigentlich nicht von einem Gedächtnifs, sondern von Gedächtnissen
reden dürfe. Das Gedächtnifs sei hier, meint St., zu sehr als Reservoir
und zu wenig als Function betrachtet. Ganz abgesehen von den Bevor-
zugungen dieses oder jenes Vorstellungsgebietes gebe es in der Art, wie
man lerne, behalte, sich erinnere, sich besinne und vergesse, bestimmte
formale Bedingungen, welche die gröfsere oder geringere Güte des Gedächt-
nisses charakterisiren. Unseres Erachtens legt hier der Verf. in das Wort
Gedächtnifs mehr hinein, als man sonst zu thun pfiegt. Binet und Henri,
gegen die er sich speciell wendet, bleiben hier mehr auf dem Boden des
allerdings geläuterten Sprachgebrauches. Freilich scheinen sie jenen
formalen Bedingungen, welche St. sehr mit Recht hervorhebt, nicht ge-
nügend Rechnung zu tragen. Wir möchten hier einen Vermittelungsvor-
schlag machen. Wie oben bei der Sinnesempfindlichkeit liefsen sich auch
hier ein natürliches oder lieber scheinbares Gedächtnifs (Gedächtnifs im
weiteren Sinne, wie der unwissenschaftliche Sprachgebrauch das Wort
gerne anwendet) und ein wirkliches oder lieber reines Gedächtnifs (Ge-
dächtnifs im engeren Sinne, entsprechend dem geläuterten Sprachgebrauch)
unterscheiden, bei welch Letzterem die formalen Bedingungen als Unter-
schiede in den Leistungen begründende Faktoren in Abrechnung gebracht sind.
284 Literatlirbericht
Stern's abweichende Auffassung des Wortes GredächtniTs tritt dann
wieder zu Tage bei Besprechung der Gedächtnilstreue. Uebrigens fürchten
wir, daTs sein Experiment zur Bestimmung dieser Function, schriftliche
Wiedergabe vorgelesener kleiner Prosastocke unter ungleichen zeitlichen
Bedingungen, in seinem Werthe nicht unerheblich herabgemindert wird
durch den von sehr vielen anderen Dingen abhängigen Faktor der ungleichen
stilistischen Fähigkeit, den Verf. zu unterschätzen scheint. Ganz mit ihm
einverstanden aber sind wir in der Ablehnung von Philippb's Vorschlis,
an Nachzeichnungen aus dem Gedächtnifs dessen Treue zu messen. Ab-
gesehen davon, dafs damit besten Falles nur ein einziges Sinnesgebiet ge-
prüft werden kann, macht schon die grofse Ungleichheit der techniichea
Geschicklichkeit diesen Versuch werthlos. Und auch des Verf/s MiüBtraoen
gegen die Associationsversuche theilen wir. Selbst die UntersuchangeD
ZiEHEK*s, die übrigens St. auffallenderweise hier nicht erwähnt, haben
unser Mifstrauen nicht gemindert.
Bei Besprechung der BmsT'schen Prüfung der Auffassungstypen durch
Beschreibung eines Gegenstandes und eines Bildes, das freilich, wie St.
sehr berechtigt rügt, keine Geschichte darstellen darf, welche den einen
bekannt ist, den anderen nicht und so ungleiche Bedingungen schafft und
obendrein bei den sie schon Kennenden die Beobachtung mit Erinnerongi-
elementen durchsetzt, hätten wir abermals einen Hinweis gewünscht tnf
die das Ergebnifs trübende Ungleichheit der Fähigkeit, sich schriftlich
auszudrücken. Sehr ansprechend sind die Versuche zur Prüfung der Auf-
merksamkeit mit Hülfe sich allmählich verändernder Reize, während bei
denen zur Prüfung der Combinationsfähigkeit neben der sprachlichen Ge-
wandtheit auch das erworbene Wissen mitspielt, so dafs bestenfalles nicht
die reine Combinationsfähigkeit^ sondern die natürliche oder scheinbare
gemessen wird. Auf sicherem Boden bewegen wir uns wieder im zehnten
Kapitel, das vom Urtheilen handelt, und im elften, das die Beactionstypen
bespricht. Das nächste giebt Einblicke in die Individualität des Gefühle-
lebens und weist mit guten Gründen die tests zurück, welche Shabp snr
Bestimmung des ästhetischen Geschmackes aufgestellt hat. Zur Aufdeckung
des psychischen Tempos fand St. ein allem Anschein nach vorzügliche«
Prüfungsmittel, das Klopfen eines dreitheiligen Tactes, ein Experiment,
das nicht nur sehr leicht auszuführen und zu controliren ist, sondern eich
auch eignet zur Feststellung der psychischen Energie, vieUeicht sogar eine
ganz praktische Mefsmethode der Ermüdung abgiebt.
Das sind die Grundlagen einer Individualitätspsychologie oder einer
difterentiellen Psychologie, wie sie bis jetzt noch nicht in solcher Aus-
dehnung und Vollständigkeit geboten wurden, wenngleich schon von ver-
Bchiedenen Seiten ihr Wesen und ihre Ziele und theilweise auch ihre
Wege angegeben worden sind. Die verschiedenen Ansätze und Versoche
sorgfältig zusammengefafst, übersichtlich geordnet, kritisch beleuchtet und
vielfach erweitert und verbessert zu haben, ist das Verdienst, das St. für
sich in Anspruch nehmen darf. So kann sein Buch Anregung und Aus
j^angspunkt für mannigfache Forschungen werden, der beste Erfolg, den
wir dem Verf. zu wünschen wissen. Offner (München).
lAteraturberi^Jit 285
w. AxBNT. Die EntwiekeUng ?oii Spredien und Denken beim Kinde. Leipzig,
E. Wunderlich, 1899. Vni u. 213 S.
Eine Monographie der Entwickelung von Sprechen und Denken beim
Kinde umfaTst, wie Amekt S. 1 klar formulirt, „eine vollständige Be-
schreibung des Entwickelungsganges der Worte und ihrer Verknüpfungen
und des Weges, auf welchem diese zur Keprftsentation von Vorstellungen
und Vorstell ungs Verknüpfungen emporgehoben werden, Begriffe, Urtheile
und Schlüsse bedeuten.'* Der Verf. schickt eine kurze Erörterung über
die Quellen und die Methoden und eine recht dankenswerthe Greschichte
der Forschung und Litteratur voraus (S. 7—28). Hierauf behandelt er I. die
Theorie der Beziehungen zwischen Sprechen und Denken (29—33), II. die
Entwickelung der Worte und ihrer Bedeutungen mit einem Anhang über
Kinderzeichnungen (33—161), III. die Entwickelung der Sätze und ihrer
Bedeutungen (162—183) und IV. die Entwickelung der Stilistik und Gre-
sammtbedeutung des kindlichen Denkens und der kindlichen Weltanschauung
(183 — 195). Beigegeben ist ein Litteratumachweis , ein Namen- und ein
Sachregister.
In dem I. theoretischen Abschnitte hält sich A. im Grofisen und
Ganzen an Benno Ebdmank: er verwirft die Identität von Sprechen und
Denken, er scheidet Sachvorstellungen, Wortvorstellungen und die beides
verknüpfenden Associationen. Doch wird das Granze so knapp mit einigen
Worten abgethan, daÜB man von einer „Theorie" kaum sprechen kann. In
dem einzigen Punkte, wo er von Ebdmann abweicht, in der Fassung des
Begriffes „Begriff", liegt nicht sosehr ein sachlicher als ein terminologischer
Dissens vor, den ich gar nicht erwähnen würde, wenn es nicht doch als
recht bedauerlich bezeichnet werden müfste, dafs man in so fundamentalen
Terminis noch immer nicht zu endgültigen Festlegungen kommen will.
Ambnt scheidet Begriff im weiteren Sinne = Bedeutung eines jeden
Wortes überhaupt und Begriff im engeren Sinne = Inhalt einer wissenschaft-
lichen Definition. Hierbei identificirt er einerseits Begriff und Begriffs-
inhalt, und ignorirt andererseits das Auseinanderfallen von Vorstellungs-
inhalt und -Gegenstand und schafft sich so selbst eine störende
Unklarheit.
Der II. Abschnitt ist sowohl dem Umfange als dem Inhalte nach der
wichtigste. Die Disposition — 1. Entwickelung der Wortform, 2. Statistik
der ersten Begriffe eines Kindes, 3. Entwickelung der Wortbedeutung —
ist insofern nicht glücklich, als die Natur der Sache doch wohl verlangt
hätte, wenn schon das in der Wirklichkeit so mannigfach Durcheinander-
spielende aus Gründen der wissenschaftlichen Darstellung getrennt werden
mnfste, einerseits die Wort form als solche, andererseits die Bedeutungs-
vorstellung als solche und schliefslich deren associativen Zusammenschluis
zu behandeln. Der Verf. aber bespricht schon unter 1. durchaus nicht blos
die Wortform, sondern schon bei der ^dritten Stufe" wird die Bedeutungs-
vorstellung herangezogen; ebenso später in der Wortbildungslehre. Der
Uebergang von der zweiten Stufe, dem ^Lallen", zur dritten Stufe, der
Wortbildung, ist S. 35 etwas rasch abgethan. Grerade hier bei der dritten
Stufe wird auch erst völlig klar, was A. ganz besonders anstrebt. Durch
Vergleichung der Gresetzmäfsigkeiten der Kindersprache bei verschiedenen
286 Literaturhericht
Völkern, und andererseits durch Beleuchtung des Verhältnisses der Kinder-
spräche zur Volkssprache gelangt der Verf. nicht nur zu dem durchaus
nicht einwurfsfreien Satze, dafs auch auf diesem Gebiete die ontogenetische
Entwickelung eine kurze Wiederholung der phylogenetischen sei, sondern
geradezu zur Forderung, es müsse eben deshalb die Grammatik der Kinder-
spräche Gegenstand einer eigenen Disciplin, einer „Kindersprachwissen-
schaft" werden.
Werthvoll durch das empirische Material ist die nun folgende descriptive
Darstellung der Kindersprache, obwohl sie sich der Disposition, wie schon
früher erwähnt, nicht durchaus fügt. Die oft recht kühn und weit aus-
greifenden sprachwissenschaftlichen Schlüsse sind hierbei nicht immer völlig
überzeugend. Die S. 76 - 131 gegebene Statistik der ersten 200 Begriffe des
Kindes ist wohl der. Kernpunkt der ganzen Arbeit zu nennen. Leider hat
A., sowie noch allerneuestens A. Waag in seiner „Bedeutungsentwickelung
unseres Wortschatzes" (Lahr i. B. Schauenburg, 1901), die rein logische
Kategorie der Umf angserweiterung und -Verengerung zum Hauptmerkmal
seiner Darstellung gewählt, auf deren Mangelhaftigkeit der um die Be-
deutungslehre so verdiente K. Schmidt jüngst (Berliner Zeitschrift für da;s
Gymnasialioesen 1901, S. 667) so treffend hingewiesen hat. Hier sollten nur
psychologische Gesichtspunkte entscheidend sein. — Li dem Capitel „Ent-
wickelung der Wortbedeutung" begegnen einige Flüchtigkeiten. Die bei
Kindern beobachtete Verwechselung von auf und ab, warm und kalt, u. ä.
mit Abel's „Gegensinn der Urworte" direct in Parallele zu stellen, ist eine
mifsliche Sache, müfste jedenfalls reichlicher empirisch belegt werden, ja
Abkl's These selbst bedürfte hierbei wohl der üeberprüf ung. Trefflich und
fundamental wichtig ist der Hinweis auf die inhaltliche Armuth der kind-
lichen „Begriffe". Hierbei ist es jedoch mindestens schief ausgedrückt,
wenn A. (S. 141) sagt, dafs das Kind, welches z. B. mit „medi" nur seine
Schwester bezeichnet, dem Begriffe einen „zu reichen Inhalt" ertheile.
Dies ist nur äufserlich richtig, psychologisch dürfte die Sache wohl besser
so zu beschreiben sein: das Kind wendet dieses Wort in dem engeren
Sinne von Schwester an, da es den allgemeineren Begriff Mädchen über-
haupt noch nicht kennt. — Sehr lehrreich sind die Darlegungen über
die verschiedenen Ursachen der Umfangserweiterungen (S. 144 ff.); ebenso
mufs dankend entgegengenommen werden die wichtige und treffende Auf-
stellung der „Urbegriffe", jenes mehr minder chaotischen Vorstadium:*
schärferer Abgrenzung von Einzel- oder Allgemeinbegriffen. — Bei Be
spreehung der Entwickelung der Sätze und ihrer Bedeutungen wird manch-
mal vielleicht etwas zu äufserlich registrirt; die Thatsache z. B., dafs ein
Kind irgend einen Redetheil gebraucht, beweist noch nicht, dafs es ihu
als solchen anwendet und darauf kommt es hierbei doch an. — Sehr in-
teressantsind die unter „Entwickelung der Stilistik" gebrachten Einzelnheiten.
Das Buch ist reich an Belehrung, insbesondere für die Durchforschung
des kindlichen Denkens. Im Allgemeinen ist der Verf. vielleicht noch etwas
zu sanguinisch in der Hoffnung auf eine bald erblühende „Kinderspraoh-
Wissenschaft". Für das Thatsächliche, das er uns bietet und die vielen
lichtvollen Einblicke in die Kindesseele mufs ihm auch die Psychologie
Dank wissen. Martinak (Graz).
Literaturhericht 287
G. RiKMANN. Tavbstomm und blind zvgleiclL Tortraf^. Zeitschrift für pädaq,
Psychol u. Fathol 2 (4), 257-273. 1900.
Die Zahl der für die Psychologie so wichtigen Fälle von Taubstumm-
blindheit wird hier um einen vermehrt, der hoffentlich bald noch aus-
führlichere Analyse und Darstellung erfahren wird. Hebtha Schulz, ge-
boren 1876, verlor im vierten Jahre nach einer Gehirnhautentzündung Ge-
sicht und Gehör und verlernte bald völlig die Sprache. Seit ihrem
11. Jahre ist sie im Oberlinhause zu Nowawes bei Berlin untergebracht,
seit ihrem 15. Jahre geniefst sie den Unterricht des Taubstummenlehrers R.
R. schildert nun in obigem Vortrag den Unterrichtsgang; dieser begann
mit Articulationsübungen (wobei sich herausstellte, dafs die frühere Sprech-
periode des Kindes keine Erinnerungen hinterlassen hatte, während optische
Gedächtnifsbilder aus jener Zeit später wieder auftauchten). War die
Articulation eines Wortes geübt, so trat Schrift (gewöhnliche und Blinden-
schrift) und Gebärde, endlich das Handalphabet der Taubstummen hinzu.
Durch diese vielseitige Verknüpfung verschiedener Verständigungsmittel
gelang es in erfreulichem Maafse, ihr concrete und abstracte, ja auch
moralische und religiöse Vorstellungen beizubringen und eine Verkehrs-
möglichkeit mit der Umgebung herzustellen. In Bezug auf die zum Theil
recht interessanten Einzelheiten mufs auf das Original verwiesen werden.
W. Steen (Breslau).
Alb. Liebhann. Die SprachstOrnngeii %e\Mg zorfickgebllebener Kinder. Samm-
lung Schiller-Ziehen 4 (3). 1901. 78 S.
Die Sprachstörungen geistig zurückgebliebener Kinder sind in den
meisten Fällen secundärer Natur und haben ihre nächste Ursache in der
geistigen Inferiorität der Patienten. Unter diesen kommt völlige Stumm-
heit am häufigsten vor. Die Idioten sprechen nicht, weil sie uns nichts
zu sagen haben. Es wäre verfehlt, bei diesen sofort mit der Sprachtherapiie
zu beginnen ; vielmehr erwächst dem Lehrer die Pflicht, die Intelligenz des
Kindes soweit zu fördern, bis es von selbst den Versuch macht, zu sprechen.
Verf. stellt die Methode, die er bei der Behandlung idiotisch stummet
Schüler befolgt, an einigen Fällen ausführlich dar; es würde zu weit führen,
an dieser Stelle auf alle Einzelheiten einzugehen. Im Laufe der Behand-
lung nahmen die Sprachäufserungen der Kinder vorübergehend den
Charakter des Agrammatismus an, einer Sprachstörung, die bei vielen
schwachsinnigen Kindern als constante Erscheinung angetroffen wird.
Sehr häufig wird auch Stammeln beobachtet, die Unfähigkeit, alle Laute
und Lautverbindungen in correcter Weise zu bilden. Als eine weitere
Form von secundärer Sprachstörung führt der Verf. gewisse Fälle von
Stottern und Poltern an, „die auf einer Disharmonie zwischen mechanischer
und formaler Sprache beruhen".
Seltener kommen primäre Sprachstörungen bei geistig zurückge-
bliebenen Kindern vor ; sie haben zumeist eine organische Ursache (Gaumen-
lefecte, Gaumensegellähmungen, Behinderung des Gaumensegels durch
Nasenrachentumoren oder Herabsetzung des Gehörs). Schwerhörigkeit hat
[läufig nicht blos eine Beeinträchtigung des Sprach Vermögens , sondern
luch secundäre intellectuelle Defecte im Gefolge, deren Behebung mit nicht
anbeträchtlichen Schwierigkeiten verbunden ist. Th. Helleb (Wien).
2gg Literaturbericht
K. Pappenheim. Die KiftdeneiclllIVlIg iffl Ä]k8Clia««ng8«lterrkllt Zeit$ekr. für
pädag, Psychol. u. Pathol 2 (3), 161—190. 1900.
Die Arbeit ist wesentlich praktisch-pädagogischer Natur. Sie bespricht
eine Reihe von Methoden, durch welche die Kinder zum Zeichnen tob
Lebensformen in linearer und flftchenhafter Darstellung angeleitet werden
können und hebt hervor, wie auf diesem Gebiet Schulpraxis und Kindes-
psychologie auf einander angewiesen sind und gegenseitige Forderung er-
hoffen lassen. W. Stern (Breslau).
J. CoHN. Wu lernt die Piyeliologle ?ob 4er Pldigegik? Zeitackr. für pädof
Fsychol 1 (1), 20-27. 1899.
Seitdem die Pädagogik sich der Fesseln der HKBBABr'schen Seelen*
lehre 2U entledigen beginnt, eröffnet sich der vom Geiste exacter Forschong
durchdrungenen Psychologie ein wichtiges Anwendungsgebiet. Aber such
der Psycholog kann von der Mitarbeit des Lehrers eine unabsehbare FOUe
von Anregungen erwarten, die wiederum befruchtend auf seine eigene
Wissenschaft einzuwirken im Stande ist.
Aufser den in seinen Methoden verborgen liegenden allgemeinen Ein-
sichten verfügt der Lehrer über ein ungeheueres Material psychologiiclier
Experimente. Der Verf. hat hierbei jene Versuche im Auge, welche lich
aus dem Unterrichtsbetrieb selbst ergeben. Allerdings wird es zuvor nöthig
sein, die Gesichtspunkte zu entwickeln, unter denen die Dictate, Extem-
poralien, Antworten etc. als psychologisches Material benutzt werden
können. Dies scheint nach drei Bichtungen hin möglich zu Bein: für ge-
wisse Fragen der allgemeinen Psychologie, für die ErkenntniÜB der Ent-
wickelung des Geistes und für die Charakteristik der IndivldualitftteiL
Unter den allgemein psychologischen Problemen ist das der ErmOdang
und in engem Zusammenhang damit das der Uebung bereits behandelt
worden. Eine Reihe anderer Fragen harrt noch der Bearbeitung. Von
besonderer Wichtigkeit wird die entwickelungsgeschichtliche Verwerthnag
des im Unterrichte gegebenen Materials sein. Grenaue Anhaltspunkte fflr
den Fortgang einer derartigen Untersuchung lassen sich freilich a priori
nicht aufstellen, sie müssen sich in der Arbeit selbst ergeben, die nur von
einem psychologisch gebildeten Lehrer mit Aussicht auf Erfolg durchge-
führt werden kann.
Die Psychologie der Altersstufen führt naturgemäfs hinüber zu den
Problemen der individuellen Unterschiede. „Dieser Zweig der Psychologie
hat es mit zwei Arten von Gruppenbegriften zu thun: Einmal mit denen,
welche die Wissenschaft selbst nach den von ihr erkannten Verschieden-
heiten bildet — hierher gehören die Gruppen der visuell, akustisch ood
motorisch behaltenden und vorstellenden Menschen — dann aber auch mit
den anderweitig gegebenen Gruppen der Geschlechter, Altersstufen, Bemf»-
unterschiede, Stammesverwandtschaften u. s. w.'' Solche Verschiedenheiten
müssen sich in einer durchschnittlichen Verschiedenheit der geistigen
Funktionen und Leistungen abspiegeln, und nach beiden Seiten hin ergeben
sich wichtige Fragen für die psychologische Bearbeitung. Ueber den Zo-
sammenhang der Variation verschiedener geistiger Eigenschaften kann der
Lehrer, wie nicht leicht ein anderer Beobachter, AufschlaEs geben, di er
Literaturbericht 289
die Fähigkeiten seiner Schüler nach verschiedenen Seiten hin kennen zu
lernen Grelegenheit hat und daher in der Lage ist, auch innerhalb jener
Complexe, die man als mathematische, sprachliche Begabung etc. zu be-
zeichnen pflegt, feinere Unterschiede aufzufinden.
Von besonderem Interesse wäre die Beantwortung der Frage, ob die
Uebungs- und Ermüdungstypen, die sich aus der Beurtheilung der Fehler
innerhalb gröDserer Classenarbeiten ergeben, für den einzelnen Menschen
constant bleiben. Auch wäre festzustellen, ob und in welcher Weise das
Vorwiegen akustischer, motorischer oder visueller Vorstellungen Ver-
änderungen unterworfen ist, in wie weit bestimmte Gedächtnifstypen mit
anderen geistigen Begabungen zusammenhängen, schlielJslich auch, in
welcher Beziehung Begabungen und Mängel der Schüler zu ihrer Ab-
stammung und der Erziehung in der Familie stehen.
Die vorliegende Arbeit will keineswegs ein Programm für die psycho-
logische Bethätigung des Lehrers aufstellen; es ist dem Verf. vielmehr
darum zu thun, die Pädagogen zur Mitarbeit in den angegebenen Richtungen
anzuregen. « Th. Helleb (Wien).
H. Wbgsner. Die psycliiscilen Fähigkeiten der Thiere. Zeitschrift für pädag.
Fsychol u. Fathol 2 (5), 383—398; (6), 457—480. 1900.
Als Hauptproblem der modernen Thierpsychologie bezeichnet W. die
Frage, ob den Thieren nur Instinct oder auch Intelligenz zugesprochen
werden darf. Während die meisten Forscher das Vorhandensein von In-
telligenz behaupten, wird sie vom Jesuitenpater Wasmann für alle, und von
Bbthe für bestimmte scheinbar sehr intelligente Thiere (Ameisen und
Bienen) bestritten. Verf. führt den Streit zum Theil darauf zurück, dafs
die von ganz verschiedenen psychologischen Standpunkten herkommenden
Forscher mit den Worten Instinct und Intelligenz sehr abweichenden Sinn
verbinden; sodann weist er an zahlreichen Beispielen, die zumeist dem
Bienen- und Ameisenleben entnommen sind, nach, dafs Intelligenz als
„Fähigkeit zur Ueberlegung und darauf basirender zweckmäfsiger Handlungs-
weise*^ bei der Erklärung zahlreicher thierischer Functionen unentbehrlich
sei, während andere eine mechanische Analyse erlauben.
W. Stern (Breslau).
0. Küi;pE. Ueber das Terhältiiifs der ebenmerkliclieft zv den übermerUiclieii
Unterschieden. Congr^ de Psychologie, Aoüt 1900. Paris, F61ix Alcan,
1900. 10 S.
Der Verf. vertheidigt die Verhältnifshypothese gegenüber der Unter-
schiedshypothese. Er weist darauf hin, dafs, wenn auch Unterschiede von
gleicher Merklichkeit oder Deutlichkeit gefunden werden sollten,
doch damit über die Bedeutung und den Werth der ebenmerklichen oder
gleichmerklichen Unterschiede noch nichts Bestimmtes ausgesagt sei. „Das
Ebenmerkliche hat also an sich keineswegs, wie Fbchnsb meinte, eine noth-
wendige Beziehung zur Gleichheit der entsprechenden Empfindungen oder
Empfindungsunterschiede." Der Verf. geht dann auf die bekannten Arbeiten
von MsBKEL, Anoell und L. Lange ein und kommt auf Grund der von
Zeitschrift für Psychologie 27. 19
290 Literaturbericht
Amsnt im Gebiete von Licht- und Schallinteiisit&ten anter seiner Leitung
ausgeführten Versuche {Philas, Stud. 16, 135) zu der Ueberzeugung, „dafis
die ebenmerklichen Unterschiede mit der Intensität der sie
begrenzenden Empfindungen wachsen.*' Vermuthungsweise spricht
der Verf. die Ansicht aus, daÜB die gefundene Gresetzmftisigkeit auch für
andere Grebiete GOltigkeit habe.
Aus den erbrachten Resultaten folgert Külpb, dais das WsBSB'sche
Gesetz für ebenmerkliche Unterschiede etwas anderes bedeute, als für
übermerkliche. „Wahrend es dort nur besagt, daüs das merkliche Vor-
handensein eines Empfindungsunterschieds bei gleichen relativen Reiz-
unterschieden gleich bleibt, würde es hier bedeuten, dafs gleichen Reiz-
Verhältnissen, beziehungsweise relativen Reizunterschieden gleiche Em-
pfindungsunterschiede entsprechen.^ Wegen der Zweideutigkeit des
Terminus Constanz, der relativen Reizunterschiede, der relativen Unter-
schiedsempfindlichkeit empfiehlt es sich nach K., „von einer Gonstans
der relativen Unterschiedsbestimmung bei ebenmerklichen, von
einer Constanz der relativen Unterschiedsvergleichung bei
übermerklichen Unterschieden zu reden. ** Das WBBBB*sche Gesetz kann man
somit nach K. auch als eine „Abhängigkeitsbeziehung zwischen
der Merklichkeit von Unterschieden und deren objectiver
Gröfse bezeichnen oder, da es nur psychologisch gedeutet werden
kann, als ein Apperceptionsgesetz, womit die Function der Maafi-
einheit des ebenmerklichen Unterschiedes und somit auch Fbchnbb*8
psychophysisches Formelsystem hinfallen. Unter Merken versteht K.
Constatiren, Auffassen, Beurtheilen von Empfindungen oder
Empfindungsunterscbieden. Die Ausdrücke Merken und Vorhandensein
sind hiemach nicht identisch. Es kann psychisch etwas vorhanden und
wirksam sein, ohne dafs es bemerkt wird. Nur in diesem Sinne ist der
Ausdruck „unbewufst" in der Psychologie nach K. brauchbar.
Der Verf. schliefst die werthvolle Mittheilung, indem er darauf hin-
weifst, dafs für ebenmerklicheReize bezw. Empfindungen dasselbe
gelte, was für ebenmerkliche Empfindungsunterschiede wahrscheinlich ge-
macht worden sei. Kiesow (Turin).
Wilhelm Wibth. Der Feclmer-Helmlioltz'gclie Satx Aber negati?e lieh-
bilder und seine Analogien. Mit 9 Figuren im Text und 1 angehängten
Tafel. Wundt'8 Fhiloa, Studien 16 (4), 465—567. 1900.
Die in Wündt's Institut ausgeführte umfangreiche Arbeit theilt sich,
soweit sie uns bis jetzt vorliegt, nach einer Einleitung (Historisch- Kritisches,
Fragestellung) in zwei Kapitel. Von diesen trägt das erste die lieber-
Schrift: Prüfung des Fechner - Helm holtz * s c h e n Satzes für den
Helligkeitswerth farbloser Nachbilder durch Pigmentver-
suche. Das zweite behandelt Episkotisterversuche.
Der Verf. beanstandet, dafs die hier vorliegende Gesetzmäfsigkeit
(Proportionalität zwischen der durch Ermüdung eingetretenen Herab-
minderung der Erregung und dem objectiven Reiz) mit von Kribs als
HELMHOLTz'scher Satz benannt wird, er will sie, da sie auf Fschneb zurück-
Literaturberieht 291
gehe und unter sein Parallelgesetz falle, als F£CHKEBHELMHOLTz*schen Satz
bezeichnet wissen. Helmholtz übernahm, wie er zeigt, diesen aprioristi-
sehen Satz von Fbchneb und suchte ihn mathematisch zu formuliren,
wobei er den neuen Begriff des „reagirenden Lichtes" einführte (d. h. des-
jenigen Reizes, der auf eine Sehfeldstelle einwirkt, nachdem ihre Erregbar-
keit modificirt ist) und die genauere Beobachtung hinzufügte, ,.dafs die
negativen Nachbilder nicht nur bei intensivem reagirenden Lichte schneller
hervortreten, sondern auch in denjenigen Helligkeitsstufen am deutlichsten
sind, in welchen eben ein proportionaler Gewinn oder Verlust neben der
vollen Reizwirkung am besten hervorzutreten pfiegf In einer muster-
gültigen Darstellung entwickelt der Verf. auf 36 Seiten die ganze Geschichte
der quantitativen Bestimmung der Nachbilder und sucht ihre einzelnen
Phasen kritisch zu beleuchten. Ein besonderes Gewicht fällt hier zunächst
auf die verdienstvolle Arbeit C. F. Müllsb*s — Versuche über den
Verlauf der Netzhautermüdung (Züricher Dissertation 1866) — ,
durch welche zum ersten Male eine ex acte Messung dieser Erscheinungen
in die Wissenschaft eingeführt ward. Es werden dann die bekannten
Arbeiten Schobn's {Archiv für Ophthalmologie 20, 1874) und von Kbibs' be-
handelt und betont, wie nach letzterem auch in Schobn's Versuchen ein
directer Beweis für oder gegen den F.-H.'schen Satz nicht enthalten sein
könne; denn „überall sei das ermüdende Licht zugleich das reagirende ge-
wesen, und niemals habe man gemessen, welche Veränderung die ver-
schiedenen Helligkeitsstufen unter constanten Ermüdungsbedingungen
erleiden.** Der Verf. bespricht femer die mit v. Hklmholtz' Spectral-
apparat sowie die von Exnbb und besonders von Hess ausgeführten
Arbeiten und geht dann ausführlicher auf die von Mabtius aufgestellte
Theorie ein, nach welcher die Nachbilder als secundäre Erregungselemente
aufzufassen sind, „welche die normale Thätigkeit der Netzhaut als selb-
ständige Componenten unverändert bestehen lassen und nur unter günstigen
Umständen als besondere Factoren hinzutreten, um den Gesammteindruck
nach einer festen Gesetzmäfsigkeit mit zu bestimmen.*' Die hierbei zu
Tage tretende Veränderung der Helligkeit bezeichnet Mabtiüs als „Hellig-
keitswerth der negativen Nachbilder". Aus der Kritik der MABTius'schen
Auffassung sei hervorgehoben, dalÜB Mabtius bei seinen Versuchen nach dem
Verf. das Hauptgewicht auf Momente legt, in welchen eine Concentrirung
der Aufmerksamkeit erschwert ist. Der Verf. macht femer darauf auf-
merksam, dafs der Begriff der „normalen Function" beim Sehorgan keip
so eindeutiger ist wie auf anderen Gebieten und dafs, da das absolute Gre-
dächtnifs für Lichtreize im Allgemeinen wenig ausgebildet sei, man meistens
nur Unterschiede innerhalb des momentanen Sehfeldes selbst genauer be-
stimmen könne. Mit Bezug auf das momentane Verschwinden der Nach-
bilder führt der Verf. aus, dafs die HEBiMO*sche Auffassung über diese Er-
scheinung in seiner eigenen mit enthalten sei, dafs ihm aber die ExNsa'sche
zu intellectualistisch und constructiv erscheine. W. will vor aller Erklärung
de6 relativen Zurücktretens der Nachbilder zwei wesentliche Erscheinungs-
weisen derselben auseinander gehalten wissen, und zwar „erstens die
Veränderungen der Gesichtsempfindungen auf Grnnd der Nachbildwirkung
10*
292 Literaiurbericht
überhaupt und zweitens die Auffassung des negativen Nachbildes als
eines gesonderten, dem primären Object analogen Flftchenstflckes/ welche
letztere nur unter besonders günstigen Bedingungen vorzukommen scheine,
während eine modificirende Wirkung immer vorhanden sei, solange nur
der Werth des Nachbildes nicht völlig verschwinde. Der Verf. fügt hinzu,
dafs zur Unterscheidung dieser beiden Gesichtspunkte farbige Nachbilder
besser geeignet seien als die von Martiüs beobachteten farblosen. Es wird
dann weiter auf die apperceptive Heraushebung der Nachbilder Gewicht
gelegt und gezeigt, dafs, wie diese schon beim ruhenden Auge Schwierig-
keiten begegne, die letzteren bei Augenbewegungen noch vergröfisert
werden. Der Verf. sucht zu zeigen, dafs hierbei vielleicht nicht die Em-
pfindungsdifferenzen im Sehfelde fehlten, sondern nur die Apperception
auf eine falsche Stelle gerichtet und die richtige keiner genaueren Analyse
unterzogen wurde: Das Nachbild ist für uns ein ebenso selbständiger
Gegenstand, wie jede andere räumliche Wahrnehmung, auch hier läfst sich
die dreidimensionale Localisation nicht aufheben, — alle bei Augen-
bewegungeu gemachten Erfahrungen übertragen sich unmittelbar auch auf
das Nachbild, in Folge der Verschiebung der Wahrnehmungsgegenstände
mufs bei Augenbewegungen das Nachbild scheinbar zunächst verschwin-
den etc. Neben diesen Ortsveränderungen rechnet der Verf. hierher auch
die scheinbaren Gröfsenveränderungen. „Man erkennt hierbei am aller*
deutlichsten, dafs ein Nachbild nicht vielleicht schon mit der blofsen Em-
pfindungsdifferenz gegeben zu sein braucht, sondern daüs man auch wissen
mufs, wo und in welcher Form sich diese Differenzen als Flächencontouren
befinden, damit man sich eines Nachbildes bewufst werden könne."
(Schwierigkeit im Wiederfinden von Nachbildern auf einer entfernteren
Projectionsfläche , die man auf einer näheren bereits klar erfafst hatte).
„Wer also die Nachbilder nicht gerade auf einen bestimmten Projections-
effect hin studirt hat, wird niemals in der Weise auf das Kommende ge-
fafst sein, dafs ihm das Nachbild nach einer fortschreitenden Augen-
bewegung wie ein objectiver Gegenstand sofort wieder klar vor Augen
stände", wenn dieser Ausdruck für Nachbilder gestattet ist." — Der Verf.
zeigt weiter, dafs die Schwierigkeiten, ein Nachbild nach raschen Augen-
bewegungen wiederzufinden, durch die Bedingungen der gewöhnlichen
binocularen Gesichts Wahrnehmungen noch gesteigert werden und dafs die
Apperceptionsbedingungen während der Bewegung selbst noch viel un-
günstiger werden, da die Apperception durch den Bewegungsimpuls selbst
in ihrer Leistungsfähigkeit beschränkt sei. „In allen Fällen, in denen die
Bewegungen nicht durch das Streben nach Fixation eines zunächst indirect
gesehenen Gegenstandes ausgelöst werden, sondern durch das Erstreben
der entsprechenden Bewegungsempfindungen überhaupt, fallen sämmt-
liche Gegenstände des Sehfeldes im Momente der Bewegung aus dem
Mittelpunkt der Apperception heraus." Es wird dann noch des Weiteren
darzuthun gesucht, dafs jene apperceptiven Momente hierbei allein in Frage
kommen und gezeigt, dafs die Erscheinungen, welche Martiüs zu seiner
Theorie führten, sich auch durch die alte Anschauung erklären lassen,
nach welcher die Nachbilder in Erregungsdifferenzen ihre Ursache haben.
Literaturbericht. 293
Für die Festhaltung dieser älteren Anschauung sucht der Verf. schliefslich
auch noch allgemeinere Gesichtspunkte geltend zu machen.
Die Aufgahe der vorliegenden Arbeit bezeichnet der Verf. selbst als
„eine Untersuchung über die Abhängigkeit der negativen
Nachbilder vom reagirenden Reize.^ Er hebt aber hervor, dafs
seine Arbeit nur ein erster Versuch sein könne, allmählich zu ezacteren
Anordnungen durchzudringen.
I. Verwandt wurde der MASBE*sche Apparat, der, wie bekannt, eine
Veränderung der Sectorenverhältnisse während der Rotation gestattet. Der
Verf. hebt besonders hervor, dafs mit Hülfe dieses werthvoUen Apparates
eine annähernd exacte Nachbildmessung auch durch einen einzigen Ver-
such erzielt werden kann. Eine einfache, von dem Beobachter selbst zu
handhabende Zugvorrichtung machte dies möglich. Diese Einrichtung
diente vorzugsweise zur Nachprüfung früherer Arbeiten (v. Kbies), für die
Abhängigkeit einer bestimmten Nachbildwirkung von der reagirenden
Helligkeit waren weitere Vorrichtungen nöthig. Im Ganzen kam es
namentlich bei Verwendung von Pigmentfarben darauf an, störende Con-
traste auszuschliefsen, es mufste daher neben der Variirung der rotirenden
Scheibe auch eine solche ihrer Umgebung erstrebt werden. Diese sinn-
reichen Einrichtungen werden ausführlich beschrieben. Aus den zahlreich
ausgeführten Versuchen, deren Resultate in besonderen Tabellen und
Curven dargestellt sind, konnte für eine mittlere Region eine annähernd
ideale Gültigkeit des FECHNEB-HELMHOLTz'schen Satzes nachgewiesen werden.
Der Verf. zeigt, „dafs in einer breiten Mittelzone der Werth des
Nachbildes in dem oben bezeichneten Sinne thatsächlich
zur absoluten Helligkeit der reagirenden Fläche in einem
annähernd constanten Verhältnifs steht," dafs ,.also für diese
Region die jeweilige Nachbildwirkung mit jenem Satze in bester Ueber-
einstimmung steht."
II. Für die Untersuchung des Rückganges der Nachbildwirkung unter
verschiedenen Bedingungen, führte der Verf. eine durchaus neue Versuchs-
anordnung ein, indem er unter Benutzung einer elektrischen Projections-
lampe dem MARBE'schen Rotationsapparat einen Episkotister aufsetzte.
Wie eine stetige, annähernd gleichmäfsige Erhellung des ganzen Sehfeldes,
gestattete diese Anordnung neben der Verwandlung des gesammten Seh-
feldes auch die gleichzeitige Einstellung auf subjective Gleichheit, so daüs
für die Abwechslung der reagirenden Umgebung kein besonderer Mechanis-
mus erforderlich war. Diese Beobachtungen wurden im Dunkelzimmer
angestellt, wobei die Projectionslampe als einzige Lichtquelle diente. Als
Projectionsschirm wurde farbloses Transparentpapier benutzt, weswegen die
Beobachtungen nicht nur ungestört von der entgegengesetzten Seite aus ge-
sehen, sondern die Beobachter selbst auch symmetrisch zu der erleuchteten
Kreisfläche placirt werden konnten. Auch bei dieser Anordnung konnte
der Rotationsapparat durch eine Zugvorrichtung vom Beobachter, wenn
nothwendig, selbst eingestellt werden. Eine besondere Schwierigkeit bot
bei diesen Versuchen die Herstellung der Episkotisterscheiben. Dem Verf.
ist diese Einrichtung aber trefflich gelungen. Die von ihm getroffene
Scheibencombination, liefs freilich keine Variation der Helligkeit im ganzen
294 Literaiurhericht
Umfang vom tiefsten Dnnkel bis zum Maximalgrade derselben zn, aber W.
sieht hierin keinen Nachtheil seiner Anordnung, da das elektrische Bogen-
licht so blendend wirkte, dafs der störende Blendungsfactor erst bei starker
HerabsetEung der maximalen Helligkeit ausgeschlossen erschien. Durch
diese Anordnungen, die des Weiteren ausführlich beschrieben sind, suchte
der Verf. den FBCHNER-HELMHOLTZ*schen Satz auch für das Nachbild eines
farbigen Helligkeitsunterschiedes zu erproben. Statt des Schwarz wurde
hier Grün verwandt. Auch die Resultate dieser Versuchsanordnung sind
in besonderen Tafeln und graphisch in einer Curve dargestellt. Auch aas
diesen Versuchen, "die der Verf. an sich selbst anstellte, resultirte „in der
That eine sehr gute Uebereinstimmung mit dem F.-H.*schen Satze."
Der Verf. suchte dann noch die Frage zu entscheiden, „ob sich das
Nachbild einer farbigen Helligkeitsdifferenz auch hinsichtlich seines
absoluten Werthes ebenso verhält, wie ein Nachbild, das durch die
Fixation einer Differenz entsprechender farbloser Helligkeiten ent-
standen ist,** da erst durch eine solche Uebereinstimmung die allgemeinere
Regel für die Thatsachen gefunden sei, die Martius als Ausgangspunkt für
seine Methode der Bestimmung der Helligkeit einer Farbe dienten. Die
Aufgabe bestand hier darin, ein Grau von der gleichen Helligkeit des ver-
wandten Grün zu finden, das dann an die Stelle des letzteren gesetzt ward.
Der Verf. führte auch diese Versuche an sich selbst aus; es ergab sich,
wie man auch aus der betreffenden Tabelle ersieht, eine gute Ueberein-
stimmung. W. fügt hinzu: „Bei der Genauigkeit, die vorläufig erreicht
worden ist, kann natürlich kein absolutes Zusammenfallen beider Cnrven
erwartet werden, auch wenn die Wirkungen selbst thatsächlich vollkommen
zusammenfielen.'' „Diese nahe Uebereinstimmung des Helligkeitswerthes
eines farbigen Nachbildes mit dem Nachbild einer entsprechenden farb-
losen Helligkeitsdifferenz, bildet zugleich", wie hinzugefügt wird, „eine
wichtige Bestätigung für die Selbständigkeit des Helligkeitsfactors in der
Lichterregung überhaupt, welche in allen neueren Farbentheorien auf Grund
allgemeiner Erfahrungen angenommen ist."
Die Arbeit schliefst: „Wie schon erwähnt, gebührt G. Mabtics das
Verdienst, diese Selbständigkeit des farbigen Helligkeitsnachbildes zu einer
Methode der indirecten Helligkeitsbestimmung von Farben verwerthet xu
haben, und bilden meine Versuche dieses letzten Abschnittes zugleich eine
volle Bestätigung derselben von einem allgemeinen Gesichtspunkte aus etc."
— Die Einzelheiten der inhaltreichen Arbeit müssen hier selbst nach-
gesehen werden. Ein Schlufs wird folgen. Kiesow (Turin).
Th. Beeb. Ueber primitive Sehorgane. Wiener klinische Wochenschr, Nr. 11.
12 u. 13. 73 S. 1901.
Nach einleitenden kritischen Vorbemerkungen, welche die bisherigen
speculativen, Lichtempfindung und Sehorgane bei niederen Thieren oft nur
auf Grund eines Vorurtheils supponirenden Bezeichnungen rügen, schlägt
B. eine mehr „objectivirende" Nomenclatur vor. Dieselbe verdient wegen
des Bestrebens, nicht jede Reaction auf Lichtreiz sogleich als Licht-
empfindung zu deuten, allgemeine Berücksichtigung auf dem Gebiete der
Sinnesphysiologie.
Literaturberickt. 295
Sehorgane oder Fhoto-Receptoren oder Fhotoren nennt B. alle fflr Um-
setEung der Lichtreize in Nervenerregung geeignete Gehilde. Gerade weil
ihre Function, das Photorecipiren, durchaus nicht mit Sehen identisch zu
sein braucht, scheint dem Ref. der Begriff des Sehorgans dem der rPhotoren^
untergeordnet und das ,,Oder^ an dieser Stelle nicht glücklich gewählt zu sein.
Solche Photoren, die nur quantitative Verschiedenheiten der Belichtung
anzeigen, werden Photirorgane, die recipirenden Elemente Fhotirzellen ge-
nannt. Idir-Organe resp. Augen sind hingegen diejenigen Photoren, die
Bilder der Aufsenwelt entwerfen und je|nach ihrem Baue Complex — (facettirte)
oder einfache (Camera) Augen sind.
Zu der Schwierigkeit, Photirorgane bei niederen Thieren aus der
Function zu erschliefsen , gesellte sich noch erschwerend die weit ver-
breitete Annahme hinzu, dafs stark absorbirendes Pigment der unentbehr-
liche Bestandtheil eines jeden Sehorgans sei. Wenngleich zuzugeben ist,
dafs dem Pigmente häufig ein heuristischer Werth für den Nachweis licht-
recipirender Theile zukommt, so führt B. doch Beispiele pigmentloser
Fhotirzellen bei Lumbriciden und Hirudineen, die durch das Vorhanden-
sein gitterumsponnener Vacuolen charakterisirt sind, an. Indem man ferner
niederen Thieren die Sehleistungen eines Wirbelthieres zusprach, glaubte
man in den Photirorganen jener auch den dioptrischen Apparat des Wirbel-
thierauges wiederfinden zu müssen und sprach von bilderzeugenden Linsen,
während bei der Mehrzahl der niederen Thiere von einem bildmäfsigen
Sehen gar keine Bede sein kann. So hat man zuweilen die Fhotirzellen
selbst als Linsen und die dieselben umgebenden Becherzellen als „Retina''
beschrieben.
Eine principielle, der Erkenntnifs von der Leistung primitiver Seh-
organe sich hindernd entgegenstellende Ansicht, glaubt B. besonders be-
kämpfen zu müssen : in Fällen von unzweifelhafter Lichtreaction darf man
nicht einen universellen, Geruch, Tasten, Photiren etc. vermittelnden Sinnes-
apparat, etwa eine „dermatoptische" Haut annehmen, sondern hat nach
Bpecifischen Photoren zu suchen. Sogar bei einigen Protozoen ist es be-
reits gelungen, distincte photorecipirende Stellen nachzuweisen, so konnte
Enoelhann zeigen, dafs bei Euglena eine Beschattung nur dann Reactionen
hervorruft, wenn der Vordertheil getroffen wird. Wenn aber auch andere
Protozoen wirklich am ganzen Leibe für verschiedenartige Reize empfäng-
lich sein sollten, so liegt noch kein Grund vor, wegen der Verschieden-
artigkeit der einwirkenden Reize auch qualitativ verschiedene Erregungen
anzunehmen. Man hat ferner in solchen Fällen von Lichtreactionen, in
welchen bisher der Nachweis von Photoren nicht geglückt ist, nicht nur
an die Möglichkeit des zukünftigen Nachweises, sondern auch an diejenige
einer directen Licht-Muskelreizbarkeit zu denken, wie sie thatsächlich in
den Irismuskeln der Amphibien und Fische vorhanden ist. Es giebt auch
„Reizbeantwortungen" ohne Vermittelung des Nervensystems, im vor-
liegenden Falle also Phototropien (Heliotropismus). Nach dieser Be-
kämpfung der Annahme von „Wechselsinnesorganen", in der B. der Lehre
von den specifischen Sinnesenergien eine gewissermaafsen erweiterte An-
wendung verleiht, giebt er eine referirende üebersicht neuer Erfahrungen
aber primitive Photoren. Man findet 1. Pigmentlose Fhotirzellen. 2. Pig-
296 Literaturbericht
mentirte oder mit pigmentirten Zellen alternirende Photirzellgruppen
3. Pigment umgebene Photirzellen. 2. und 3. werden Ocellen genannt und
zwar sind solche, bei welchen das Licht zuerst die Photirzelle, dann den
optischen Nerven trifft, als vertirt, solche, wo das Licht umgekehrt erst
den Nerven und dann die Photirzelle wie in der Wirbelthiernetzhaat trifft,
als invertirt zu bezeichnen. Das Verständnils der verschiedenen Anordnung
und des für die einzelnen Thiergruppen charakteristischen Aufbaus kann
nur durch die Anschauung der im Original beigegebenen Abbildungen er-
worben werden und mufs in dieser Beziehung auf die Lektüre der auch
im übrigen äufserst lesenswerthen und lehrreichen Abhandlung selbst ver-
wiesen werden. Abelsdobff (Berlin).
F. Kbüegbb. Zar Theorie der OombinationstSne. Philos. SUidien 17 (2), 185—310.
1901.
In dieser umfangreichen Arbeit sucht der Verf. die Thatsachen
historisch zu beleuchten und theoretisch zu verwenden, die er bereits in
seinen werthvollen Abhandlungen „Beobachtungen an Zweiklängen'
im 16. Bande der Philos. Studien (S. 307—379 und 568—664) veröffent-
licht hat. üeber diese Untersuchungen ist bereits in dieser Zeitschr^
eingehend berichtet worden. Es gebührt dem Verf. das Verdienst, durch
Ausbildung und Benutzung exactester Methoden das bisher vorliegende
Beobachtungsmaterial um ein ganz Beträchtliches vermehrt und ergänzt la
haben. — Der leitende Gesichtspunkt für die vorliegende Abhandlung
bildet die Bedeutung der Combinationstöne für die Theorie des Hörens.
Der Verf. giebt an, dafs viele irrthümlichen Beschreibungen der Com-
binationserscheinungen und weitreichende theoretische Abweichungen auf
lückenhafte Beobachtungen zurückzuführen seien, ja dafs viele Theoretiker
die Ergebnisse ihrer Vorgänger nur ungenau kannten und die meisten
scheinbar von vornherein auf einen kritischen Ausgleich der bestehenden
Differenzen verzichteten.
Die sich in 3 Capitel gliedernde Arbeit behandelt in den beiden ersten
alle in der Literatur sich vorfindenden Angaben über die Combinationfl-
erscheinungen, die hier mit den eigenen Befunden des Verf. zusammen-
gestellt und kritisch verglichen werden. Das dritte behandelt in 5 Sonder-
abtheilungen die physiologischen Theorien. Die leitenden Gesichtspunkte
für diesen Theil der Abhandlung sind die folgenden: „Wie verbalten eich
die bisher versuchten Zusammenfassungen und Erklärungen zu den That-
sachen? Welche Consequenzen ergeben sich aus den Beobachtungen über
Combinationstöne und verwandte Erscheinungen für die physiologische
Akustik?"* Der Verf. fügt in einer Fufsnote hinzu, dafs die in der oben
angegebenen Arbeit angekündigte Untersuchung über das Consonanzproblem
den Gegenstand einer dritten Abhandlung bilden wird.
Da es unmöglich ist, auf alle Einzelheiten der Arbeit einzugehen (sie
umfafst das ganze Heft der Zeitschrift), so sei es gestattet, die Haupt-
resultate wiederzugeben, wie der Verf. sie selbst am Schlüsse zusammen-
gestellt hat:
Literaturbericht 297
„1. Der Zusammenklang zweier Töne enthält für die Wahrnehmung
in der Regel einen Summationston und vier bis fünf Differenztöne. Alle
diese Combinationstöne mit ihren Folgeerscheinungen (Schwebungen,
Zwisehentönen u. a.) sind an das Dasein von Obertönen des primären
Klanges nicht gebunden.
2. Alle Schwebungen sind auf das Vorhandensein von mindestens
zwei benachbarten, d. h. um höchstens eine grofse Terz von einander
entfernten Tönen zurückzuführen; es giebt keine multiplen Schwebungen
im Sinne Koenio*s.
3. Die von Koenig sogenannten ,,Storstöne" sind nicht die einzigen
Combinationstöne. Es giebt insbesondere auch zwischen den Primärtönen
gelegene Differenztöne.
4. Es giebt nur zwei Arten Combinationstöne: Differenztöne und
Summationstöne. Die Unterscheidung von Stofstönen und Differenztönen
ist durch die Thatsachen nicht gefordert. Sie erklärt sich historisch aus
einer unzureichenden Berücksichtigung der Dissonanzen und einer damit
zusammenhängenden irrthümlichen Verallgemeinerung bestimmter Stärke-
verschiedenheiten der Differenztöne.
5. HsKMANN'sche Mitteltöne, RiEMANN'sche üntertöne und subjective
Obertöne existiren nicht.
6. Alle bis jetzt hervorgetretenen Versuche, die OHM*sche Zerlegungs-
theorie und die darauf gegründete Hblmholtz - HEN8EN*sche Resonanz-
hypothese principiell aufzugeben und durch andere Annahmen zu ersetzen,
leiden an grofsen inneren Schwierigkeiten oder (und) widerstreiten der
akustischen Erfahrung.
7. Die gegen die HELMHOLTz'sche Theorie des Hörens erhobenen Ein-
wände, auch der der Unterbrechungstöne, sind nicht stringent.
8. Hklmholtz' Erklärung der subjectiven Combinationstöne ist un-
befriedigend.
9. Die physiologische Theorie dieser Töne braucht den Boden der
Resonanzhypothese nicht zu verlassen. Es empfiehlt sich vielmehr zunächst
der Versuch, Helmholtz* Theorie der objectiven Combinationstöne auf die
Vorgänge anzuwenden, die bei der Wahrnehmung subjectiver Combinations-
töne im inneren Ohr stattfinden.''
Ein vom J. 1743 bis auf die Gegenwart reichender Literaturbericht
ist der Arbeit angehängt. EJrnsow (Turin).
H. ZwAARDEMAKEB. Los seiisatioiis olfactives, lenrs combinaisons et leors com-
pensatlOAS. Utrecht, :^vreuz. 1898. 24 S.
Verf. hat sich bereits durch eine ganze Reihe von Abhandlungen um
die Erforschung der physiologischen Beziehungen der Gerüche hoch ver-
dient gemacht. Man kann wohl behaupten, dafs erst durch ihn die
Forschungen über Gerüche in sichere Bahnen gelenkt worden sind. In
der vorliegenden Abhandlung behandelt er speciell die Combinationen und
Compensationen.
Die Geruchsempfindungen erwecken in uns vage Empfindungen, welche
von sehr starken Emotionen begleitet sind. Letztere beherrschen uns,
298 Literaturbericht
während die Ursache selbst unbemerkt bleibt. Die Gerüche vermögen
grofse Veränderungen in den seelischen Dispositionen hervorsubringen.
Die Di^sionszeit für verschiedene geruchliche Substanzen ist sehr ver-
schieden, bei manchen dauert es Tage lang, bevor man sie wahmimmt
Für das Thier sind die Gerüche mit langsamer Diffusion wichtig, da sie
in Beziehung zur Erhaltung der Species stehen. Derartige Gase haben ein
grofses specifisches Grewicht und halten sich in Folge dessen am längsten
am Boden. In der Natur begegnet man fast ausschlieÜBlich solchen Ge-
rüchen. Bei ruhigem Athmen erreichen die Düfte nicht das eigentliche
Creruchsorgan , da letzteres in einer Grube verborgen liegt, bewahrt vor
Staub, Kälte und Trockenheit. Bei aufmerksamem Riechen dagegen wird
die Luft in Stöfsen in die Nasenhöhle getrieben und vertical nach oben
gestofsen, wo sie das Geruchsorgan erreicht. Wir nehmen die Gerüche
auch beim Ausathmen war. Beim Essen und Trinken nämlich werden die
geruchlichen Moleküle durch die Ausathmung aus der Kehle in die Mund-
höhle befördert und gelangen von da aus in die Nasenhöhle.
Bezüglich einer Eintheilung der Grerüche weist Verf. darauf hin, daüs
es ganze Gruppen von Gerüchen giebt, deren Zugehörige etwas Gremein-
sames haben, so z. B. die Küchengerüche, Fruchtgerfiche, Aromas. Zw. hat
im Anschlufs an LiNNift ein natürliches System der Gerüche aufgestellt, d. h.
ein solches, welches sich historisch und ohne vorgefafste Meinungen ent-
wickelt hat.
Bestimmte chemische Elemente führen durch ihre Gegenwart in be-
stimmten Mischungen eine gewisse Aehnlichkeit bezüglich des Geruches
dieser Mischungen herbei.
Die durch Gerüche hervorgerufenen Aetherschwingungen sind weder
mit denen der Wärme, noch mit denen des Lichtes identisch, möglicher-
weise haben sie kleinere Wellenlängen. Wenn wir annehmen, daXiB der
Geruch von einer molekularen Bewegung herrührt, so folgt daraus noch
nicht, dafs diese Bewegung sich im Baume auf eine Weise verbreitet,
welche für unsere Sinne wahrnehmbar ist. Im Gegentheil ist der Geruch
wahrscheinlich ein Attribut der Materie.
Der letzte Theil der Arbeit schildert Experimente mit dem Doppel*
Olfactometer. Gibsslbr (Erfurt).
S. H. Mellonb. The Katore of Self-Knowledge. Mind N. S. 10 (39), Sia-SSö.
1901.
Die Meinungsverschiedenheit, die über Begriff und Wesen des Selbst-
bewufstseins, der Selbsterkenntnifs besteht, veranlafste den Verl zu er-
neuter Untersuchung dieser Erscheinung. Unter Selbsterkenntnifs versteht
er jede Kenntnifs irgend welcher Art, soweit sie unser inneres Leben be-
trifft und sich gründet auf directe Analyse desselben, mag sie nun auf-
treten unter dem Namen der Selbstcharakteristik oder als sog. Kenntniüs
der menschlichen Natur (Menschenkenntnifs) oder in der psychologischer,
logischer oder philosophischer Verallgemeinerung. Die besonders von H.
Spencer betonten Schwierigkeiten, die sich hierbei ergaben, insofern bei
der Selbsterkenntnifs Object und Subject des Erkennens zusammenfallen,
Literaturbericht. 299
während sie sich in allen anderen Fällen des Wissens gegenüberstehen,
löst Verf., indem er sie als selbstgeschaffen, als nur eingebildet und in
Wirklichkeit gar nicht bestehend erklärt. Die Trennung zwischen em-
pirischem und transcendentem oder reinem Ich lehnt er ffir die Psychologie
ebenso ab wie für die Metaphysik und läfst nur gelten das empirische Ich,
das erkannt wird, sich äufsert nur in und durch die wirklichen Vorgänge
des BewuTstseins, in und durch seine Inhalte. Auch wenn wir Ausdrücke
gebrauchen wie Noumenon und Phaenomenon, Realität und Erscheinung,
müssen wir uns vor Augen halten, dafs das Erstere jederzeit nur erkannt
wird, Gegenstand des Wissens wird durch das Letztere. Und ähnlich ist
sa fassen das Verhältnifs zwischen Subject und Object. Die weitere Aus-
führung und Verfolgung dieses Gedankens zeigt den Verf. in vielfacher
Uebereinstimmung mit den Ideen, welche Bbadley in „Defence of Pheno-
menalism in Psychology" vorträgt. Offner (München).
L. HiBscHLAFF. luT lethodlk und Kritik der ErgogriphenmessmigeB. Zeitschr,
f. pädag. Fsychol. u. Fathol 3 (3), 184—198. 1901.
Die kleine Arbeit discutiert in besonnener Weise Werth und Bedeutung
von Ergographenmessungen, und führt sowohl die absprechenden Urtheile
einiger Gegner, als auch die zu weit gehenden Schlufsfolgerungen einiger
Experimentatoren auf das rechte Maafs zurück. H. bespricht die Methodik,
wobei namentlich auf die von Kemsieb eingeführten Verbesserungen hin-
gewiesen wird, erörtert sodann den Sitz der physiologischen Ermüdung,
welche der Ergograph mifst, und geht dann zu den psychologischen Er-
gebnissen über, wo er mit Recht die gröfste Vorsicht anempfiehlt. Das
einzige, was bis jetzt mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, ist die
Existenz einer quantitativen Beziehung zwischen geistiger Arbeitsleistung
und Ergographenleistung ; zu Schlufsfolgerungen über die Ermüdung und
gar zu schulhygienischen Reformen bietet aber jene Constatirung noch
keine Anhaltspunkte dar.
Dankenswerth ist eine der Arbeit angehängte Bibliographie von 36
Nummern. W. Stebn (Breslau).
R. Gaüpp. Die Entwickelmig der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Zeitschr, f,
pädag. Psychol. u. Fathol. 2 (3), 209—226. Zugleich separat erschienen als
Nr. IV des : Vortragscyklus der Fsychologiachen OeseUachaft zu Breslau über
die Entwickdung der Fsychologie etc. im 19. .Jahrhundert.
Der Vortrag Gaüpp's, der nichtfachliche Leser in knapper Form über
die wichtigsten Momente im Entwickelungsgang der Psychiatrie unter-
richten soll, unterscheidet zwei Perioden, die durch das Jahr 1846 getrennt
werden. In der ersten Periode dominirte die Frage nach Wesen und Sitz
der Geisteskrankheiten. Zwei entgegengesetzte Antworten zeigt uns der
Anfang des Jahrhunderts: die Psychiker, wesentlich unter dem Einflufs
der grofsen Philosophen stehend, sehen in den Geisteskrankheiten Wirkungen
der Seele selbst, die, wenn sie sündhaft sei, sich und den Leib krank mache
(Heikboth); für die Somatiker sind stets körperliche Ursachen vorhanden,
in deren Aufstellung allerdings sehr unkritisch verfahren wurde (Gall etc.1
300 Literaturbericht.
Allmählich reifte die Einsicht in die 8x>ecielle Beziehang dee Ciehirns n
den Geisteskrankheiten , und damit war die moderne Periode der Ent-
wickelung eingeleitet.
G. führt nun aus, wie sich durch Esquirol, Batlb, Pbitchabd, Gsnsaeii,
Morel, Metkebt und die grofse Schaar der heute wirkenden Psychiat«
eine immer detaillirtere Kenntnifs der verschiedeneu geistigen Erkranknngeo,
ihrer Ursachen und ihrer somatischen Correlate ausbildete, schildert dam
die merkwürdige Buntscheckigkeit in den Versuchen zur Systematik und
Classification und schliefst mit einem Blick auf die ungeheure Umwilnnig
„von Scheiterhaufen, Gefängnifs und Ketten zur modernen HeilaIlBtllt^
die die praktische Irrenpflege unt«r dem Einflufs der Mediciner wihiend
des 19. Jahrhunderts durchgemacht hat. W. Stbrn (Breslao).
II. LiEPMANN, Das Krankheitsbild der Apraxie („motorische Asjmbolie") uf
Gmiid eines Falles von einseitiger Apraxie. Monatsschr. f. Fsi^ckiatrii %
Xeurol 8, 15—44, 102—132 u. 182—197. 1900.
Verf. theilt einen höchst interessanten Fall mit, dessen Symptome auf
dem Höhepunkt der Krankheit die folgenden waren. Vor Allem besteht eijie
fast absolute motorische Aphasie. Pat. kann keinen Laut nachsprechen,
aufser zuweilen a. Das Sprachverständnifs ist erhalten. Das Leseverstind-
nifs ist für einzelne Worte erhalten, versagt aber für Sätze von einiger
Länge. Kopf-, Gesichts- und Zungenbewegungen werden auf Befehl nicht
ausgeführt. Bewegungen mit der linken Hand werden auf Verlangen
prompt und richtig ausgeführt, dagegen ist Pat. völlig rathlos, wenn min
eine rechtsseitige Bewegung von ihm verlangt. Auch vorgezeigte Be-
wegungen vermag Pat. nur mit den linksseitigen Extremitäten nach-
zuahmen. Auf Hautreize wird nur mit der linken Hand reagirt Werden
5 Gegenstände vor ihn auf den Tisch gelegt (Bleistift, Carreaukönig, Cigane,
ühr und Schlüsselbund) und wird er aufgefordert, mit der rechten Hand
z. B. den Schlüsselbund zu zeigen, so irrt er sich meistens. Mit der linken
Hand zeigt er den verlangten Gegenstand meist sofort richtig. Wiederhoh
kam es vor, dafs er, während er noch mit der rechten Hand rathlos an
falschen Gegenständen herumtappte, mit der linken Hand den verlangten
Gegenstand reichte. Seelenblindheit bestand nicht (auch keine halbeeitigej,
ebensowenig Hemianopsie. Sobald es sich nicht um eine Wahl handelte,
sobald also der Kranke z. B. nach einem einzigen Gegenstand zu greifen
hatte, verfehlte er sein Ziel niemals. Für die rechte Hand besteht auch
eine schwere Schreibstörung : sowohl beim Dictatschreiben wie beim Copiren
werden die Buchstaben sinnlos durch andere ersetzt. Links schreibt Pat
richtig, aber in Spiegelschrift. Auch Nachzeichnen gelingt nur mit der linken
Hand. Im Uebrigen vermag Pat. einzelne sehr einfache Bewegungen aoch
mit der rechten Hand auszuführen (z. B. Zuknöpfen, Führen des Löffels
zum Mund etc.). Viele Handlungen gelingen auf Aufforderung oft nicht,
während sie bei Gelegenheit einmal spontan richtig zur Ausführung
kommen. Bei zweihändigen Bewegungen mifslingen oft die einfachsten
Aufgaben dadurch, dafs die rechte Hand durch fehlerhafte Hülfe die
Lösung der Aufgaben behindert. Alle höheren Sinnesorgane zeigten keine
erheblichen Abweichungen. Auf mittelstarke Berührungen der rechten
Literaturbericht 301
Körperhälfte, namentlich der Extremitäten, hleiht jede Reaction aus. Starke
Stiche werden auch rechts empfunden, aher ganz verkehrt localisirt. Gröbere
Gewichtsunterschiede wurden auch rechts erkannt. Im Allgemeinen wurden
Gewichte in der rechten Hand unterschätzt. Die Lage seines rechten
Arms vermag Fat. bei verbundenen Augen mit dem linken nicht nachzu-
ahmen, ebensowenig umgekehrt. Das Erkennen von Gegenständen durch
Betasten war äufserst beeinträchtigt. Lähmungen lagen aufser einer Parese
des linken Mundfacialis nicht vor. Gang normal; Verlust der Geberden-
sprache. — Gedächtnifs, Merkfähigkeit und Orientirung erwiesen sich als
ziemlich gut. Die spontane Aufmerksamkeit ist gering; auf äufseren An-
trieb wurde sie annähernd normal, ermüdete aber rasch. Schriftlich addirt
P. mit der linken Hand dreistellige Zahlen in Spiegelschrift richtig, hin-
gegen ist er auch mit der linken Hand nicht im Stande z. B. „2 X 3" Streich-
hölzer hinzulegen.
Die Störungen in den Bewegungen der rechten Körperhälfte fafst Verf.
als halbseitige Apraxie auf. Er glaubt ausschliefsen zu können, dafs
sein Pat. lediglich in Folge der Störungen der Hautsensibilität und des
Muskelsinns apraktisch ist. Er stützt sich dabei namentlich auf die That-
sacbe, dafs bei dem Kranken keine dauernde Ataxie besteht und dafs
Angenschlufs bei ihm weder die Beweglichkeit der Glieder noch die ele-
mentare Coordination der Bewegungen aufhebt. Zugleich schöpft er hieraus
die Vermuthung, dafs bei dem Kranken überhaupt kein Verlust des rechts-
seitigen Muskelgefühls bestand (sonst hätte man eben Ataxie erwarten
mflssen], dafs vielmehr die Unfähigkeit Stellungen des rechten Arms mit
dem linken nachzuahmen bedingt ist durch die Unterbrechung der Leitungs-
bahn vom Muskelsinncentrum der linken Hemisphäre zum übrigen Gehirn.
Ueberhaupt glaubt Verf. die wesentlichen Störungen in seinem Fall durch
eine Zerstörung derjenigen Bahnen erklären zu können, welche die senso-
motorischen Felder der linken Hemisphäre mit dem übrigen Gehirn, also
den motorischen Centren der linken Hemisphäre und den beiderseitigen
optischen und akustischen Centren verknüpfen. Durch interessante, aber
nicht ganz einwurfsfreie Ueberlegungen sucht Verf. speciell auch nachzu-
weisen, dafs kein zwingender Grund vorliegt einen wirklichen Verlust der
Bewegung»- und Tast vor st eilungen anzunehmen. Die Aphasie wird in
analoger Weise als Apraxie der Sprachmuskulatur gedeutet. Auf Grund
aller dieser Erwägungen vermuthet Verf. einen linksseitigen Krankheits-
herd, welcher sich von der dritten Stirnwindung durch die Insel nach
hinten zieht, im Wesentlichen die Centralwindungen verschont, aber Rinde
und vorwiegend Mark des Gyrus supramarginalis und des oberen Scheitel-
lappens zerstört hat. Aufserdem ist für die linksseitige Facialislähmung
ein kleinerer Herd rechts anzunehmen. Eine Mitbetheiligung der linken
Thalamusregion scheint Verf. nicht anzunehmen.
Bei entsprechender Behandlung besserte sich der Zustand erheblich.
Die Apraxie blieb trotz der Wiederkehr eines fast normalen Verhaltens der
Sensibilität bestehen.
Das Wesen der Apraxie findet Verf. nach eingehender Erörterung
der Literatur darin, dafs „der gesammte Erwerb an Erfahrungen auf allen
Sinnesgebieten und die frischen Wahrnehmungen dem Bewegungsapparat
302 Literaturbericht
nicht zu Gute kommen'' und in Folge dessen eine Unfähigkeit zu zweck-
gemälsen Bewegungen besteht. Sein Fall scheint zu zeigen, d&fs ein circnm-
skripter Herd im Gehirn die Verwerthung jenes Gesammtbeeitzes für die
Bewegung bestimmter Theile des Körpers aufheben kann.
Sowohl wegen mancher interessanter Untersuchungsmethoden wie wegen
zahlreicher theoretischer Erörterungen verdient die Arbeit im Original stodirt
zu werden. Zibhev (Utrecht).
N. Vaschide e Cl. Vübpas. Di Alcttiie atütadlie ciratteristlclie dlAtrMpeiiiM
somatica patologlca. Rivista sperimentale di freniatria 27, 179—186. 190L
Verfif. schildern eingehend ihre an einer öO jährigen Frau gemachten
Beobachtungen. Die Kranke war mit 49 Jahren eine starke Trinkerin ge-
worden und dann in ein delirio di negazione, wir würden sagen eine
Involutionsmelancholie mit Kleinheitsideen, verfallen. Die Entwickelnng
der Vorstellung, sie sei von Eisen, wird auf die Selbstbeobachtung der
Patientin zurückgeführt, die das an sich Wahrgenommene, insbesondere
ihre Gefühllosigkeit, immer in dem Sinne verarbeitete. Ein verunglfickter
Selbstmordversuch ruft die Idee wach, sie könne nicht sterben und dieser
Gedanke wiederum die Vorstellung, sie sei verwandelt. Die genaue Unter-
suchung der verschiedenen Empfindungsqualitäten liefs nichts Abnormes
erkennen. Die in ö Bildern wiedergegebene Haltung der Kranken zeigt
sehr hübsch, wie sie sich selbst beobachtet und nachdenkt. Verfif. schlagen
vor, bei der Bedeutung, die der Selbstbeobachtung zukommt, diese Formen
als introspectives Delirium zu bezeichnen. Aschaffekbubo (Halle).
1. K. KöLLE. Der erste üäterricht bei Schwachsiäiiige«. Die Kindtrfthkr I
(3), 101—112. 1901.
2. ToBiE JoNCKHEEBE. üeber den Einflafs der losik aif die Bevepuigei M
schwachtiänigen Kindern. Ebendaselbst 113^-120.
1. Der verdienstvolle Verf., welcher in einem leider zu wenig ge-
würdigten Vortrag: „Das Erwachen der Psyche" (1898) sein von den her-
kömmlichen Anschauungen in wesentlichen Punkten abweichendes heil-
pädagogisches System begründete, nimmt in der vorliegenden Arbät
Stellung gegen jene Bichtung des Idiotenunterrichtes, welche sich der
Hauptsache nach mit der Uebung der Sinnesorgane begnügt. Verf. erblickt
in der Weckung und Uebung der Verstandesfunctionen die wichtigste Auf-
gabe des Schwachsinnigenunterrichtes und spricht sich daher entschieden
gegen jene Methode aus, welche den sprachlosen Idioten durch mechanische
Beibringung von Lauten und Lautverbindungen in den Besitz der Sprache
bringen will.
2. Die Bedeutung gymnastischer Uebungen für den Unterricht ond
die Erziehung schwachsinniger Kinder ist schon von dem Altmeister der
Heilpädagogik, Itard, gewürdigt worden. Ebenso ist es längst bekanot,
dafs diese Uebungen am erfolgreichsten sind, wenn sie von möglichst ein-
fachen Tactformen unterstützt werden. Diese Erfahrungen veranlaüsten
den Verf. zur Einführung gymnastischer Uebungen mit Musikbegleitong
als besonderen Lehrgegenstand in der Schwachsinnigenschule zu Brflseel-
Literaturbericht 303
Wenn Verf. aber empfiehlt, „in diesen Stunden den eigentlichen Tanz zu
lehren**, so drängt sich die Frage auf, ob die Schwachsinnigenlehrer die
Unterrichtszeit nicht mit Wichtigerem auszufüllen habe.
Tbbodob Heller (Wien).
A. BoBEBTsoN. Unilateral Hallnciiations; their Relative Frequency, Aasociationi
and Pathologie. The Joum, of Mental Science 47 (197), 277—293. 1901.
B. berichtet von 15 Fällen, wo bei Geisteskranken Hallucinationen
(sicher nur bei Gehörstäuschungen festgestellt) einseitig waren; die linke
Seite war bevorzugt (12 Fälle); ätiologisch kam bei fast allen Alkohol in
Betracht. B. stellt dieselben in Parallele mit den Hemianästhesien bei
Hysterie und mit den organisch bedingten Krämpfen und Lähmungen. Er
knüpft daran eine Beihe pathologischer üeberlegungen , kommt aber za
keinem abschliefsenden Urtheil. Schbödbb (Heidelberg).
J. MicKLE. Mental Vandering. Brain 24 (93), 1—26. 1901.
Unter dem Namen „Mental Wandering'' werden „subdeliriöse und
deliriöse Zustände, sowie gewisse Traummodificationen^ zusammengefafst
und als Beispiel die Beobachtung eines solchen Zustandes im Verlaufe eines
Typhus mitgetheilt. Verdoppelung, Vervielfachung des Bewufstseins und
Aehnliches mehr spielt darin eine grofse Bolle. Schbödeb (Heidelberg).
Hbgab. Znr Frage der sog. lenstnialpsychoten. Ein Beitrag nr Lehre der
phyiiologiachen Vellenbewegnngen beim Veibe. Aüg. Zeitschr. f. Psychiatrie
58, 307—390.
Neuere Untersuchungen scheinen die GooDMANN*sche Theorie zu be-
stätigen, deren Hauptsatz lautet : Das Leben des Weibes verläuft in Stadien,
deren Zeitlange der Dauer einer Menstruationsepoche entspricht; jedes
dieser Stadien zerfällt in zwei Hälften, in denen die Lebensprocesse wie
Ebbe und Fluth verlaufen. Die Energie dieser vitalen Vorgänge erreicht
ihren Höhepunkt vor Eintritt der menstruellen Blutung. Bei den Heoab-
schen Kranken handelt es sich um einen regelmäfsigen Ablauf von Krank-
heitserscheinungen, der in seiner Dauer jeweils einer Menstruationsepoche
entspricht. Innerhalb dieser Abgrenzung kommt es zu einer meist im
Intermenstruum erfolgenden Scheidung, so dafs die beiden Krankheits-
phasen der ersten und zweiten Hälfte des Intervals entsprechen und ein
regelmäüsiges Auf- und Niedergehen zeigen. Die gröfste Intensität dieser
Bewegung wird erreicht kurz vor dem Umschlag, der auf den Beginn der
menstruellen Blutung fällt. Das regelmäfsige Ablaufen der Wellenbewegung
wird auch bei schweren Störungen des Allgemeinbefindens nicht erschüttert;
auch beim geisteskranken Weibe bleibt die Form der Welle im Wesent-
lichen erhalten, weil, wie Hbqab meint, diese Lebenserscheinung eine viel
zu starke, den Organismus viel zu energisch durchdringende ist, als dafis
sie selbst durch schwere nervöse und circulatorische Störungen verändert
würde. Die Frage: Sind diese Wellenbewegungen in der psychischen
Krankheitscurve abhängig von den periodischen Functionen der Sexual-
organe? und haben die Schwankungen ihren Grund in den Hauptbedin-
gungen des Lebens des Weibes überhaupt? läfst sich zur Zeit noch nicht
304 Literaturbericht
entscheiden. Wellenförmige Bewegungen im Krankheitsverlauf lassen sich
bereits constatiren vor den Pubertäts jähren. Vieles spricht daffir, dafs wir
es bei diesen kurz dauernden Schwankungen der Lebenserscheinungen mit
einem biologischen Gesetz zu thun haben, und dafs die dem Weibe zq-
kommeude periodische Thätigkeit der Ovarien nur eine Theilerscheinung
des ganzen Processes ist. Die menstruellen Blutungen bezeichnen nar die
Abschnitte, in denen sich die Lebenscurve bewegt. Je gesunder das In-
dividuum, desto gleichmäfsiger, unbewufster, verläuft der periodische
Wechsel, desto ruhiger das An- und Abschwellen der Welle; je neoro-
pathischer, desto peinlicher und störender werden die Veränderungen em-
pfunden; die Geistesstörung schlieüslich bringt mit ihrem jähen Umschlag,
dem brflsken Abheben der beiden Phasen, die Welle pathologisch schroff
zum Ausdruck. Uhpfenbach.
Sydney Ball. Garrent Sodology. Mind N. S. 10 (38), 145—171. 1901.
In diesem von allgemeinsten Gesichtspunkten ausgehenden Artikel
bespricht Verf. die Grundsätze, Ziele und Voraussetzungen der neaeren
Sociologie, wie sie zum Ausdruck kommen in Werken, wie
Fb. Alengby : Essai historique et critique sur la Sociologie chez Augaste
Comte. Paris, 1900,
G. Tabde : Social Laws : an Outline of Sociology (translated). London, 1900,
G. Tabdb: Les Transformations du Pouvoir. Paris, 1899,
J. M. Baldwin: Social and Ethical Interpretations in Mental Develop-
ment. Second Edition. London, 1899,
B. Bosanqüet: The philosophical theory of the State. London, 1899,
Fb. H. Giddings : The Elements of Sociology. A Text-Book for Colleges
■
and Schools. New-York, 1899.
Eingehender beschäftigt sich B. mit der besonders von Tabde and
Baldwin verfochtenen Ansicht, dafs das grundlegende Phänomen aller
gesellschaftlichen Entwickelung die Nachahmung sei, und findet diese An-
schauung, ganz abgesehen von der dabei angewendeten übermäCBigen Er-
weiterung des Begriffes Nachahmung, völlig unzureichend. GrofsenWerth
legt der Kritiker auch auf reinliche Scheidung der einzelnen bei Er-
forschung der menschlichen Gesellschaft in Betracht kommenden Gebiete,
auf scharfes Auseinanderhalten der Sociologie und socialen Philosophie,
der Psychologie, der Ethik, deren Grenzen die modernen Sociologen nicht
selten vermischten. Offneb (München).
• / Y .'
*.C .>r'.
Erkenntnifstheoretische Auseinandersetzungen. ^
Von
Prof. Th. Ziehen in Utrecht.
In den folgenden Abhandlungen werde ich meine erkenntnifs-
theoretischen Sätze, wie ich sie kürzlich systematisch entwickelt
habe^, mit solchen älteren und neueren erkenntnifstheoretischen
Lehren vergleichen, welche dank ihrer Begründung Beachtung
verdienen. Ich werde dabei mannigfach Gelegenheit finden,
meine eigenen erkenntnifstheoretischen Sätze bis in speciellere
Konsequenzen zu verfolgen. Die Thatsache, dafs diese Er-
kenntnifstheorie — wenigstens nach meiner Absicht und nach
meiner Ansicht — ausschliefslich auf psychophysiologischen That-
sachen aufgebaut ist, mag den folgenden Auseinandersetzungen
als Pafs für diese psychophysiologische Zeitschrift dienen. Es
wird sich nämlich allenthalben darum handeln, zu welchen all-
gemeinsten Vorstellungen die Gesammtheit unserer Empfin-
dungen führt, und dies ist meines Erachtens schliefslich noch
Psychophysiologie. Um eine Erkenntnifskritik oder Erkenntnifs-
theorie im alten Sinne, um eine Feststellung der Kriterien
einer Gewifsheit, Selbstevidenz etc. handelt es sich hier nicht
Der Erkenntnifstheoretiker, der eine solche herausklaubt, kommt
mir vor wie ein Beamter, der sich selbst Vollmachten aus-
stellt Die Bezeichnung ^Erkenntnifstheorie^ ist für das Folgende
sonach nur insofern gerechtfertigt, als der Ausgangspunkt stets
das Ursprünglich-Gegebene und das Ziel die Feststellung der
aus dem Ursprünglich-Gegebenen hervorgehenden Vorstellungen
ist: der Gang dieser Vorstellungsentwickelung, wie er sich voll-
ziehen muTs, wenn wir die Gesammtheit des Ursprünglich-
* Psychophysiologiii'.'he KrkeiintnifHthcKirie. Jena, G. Fi8<:her, IKfH. Im
Folgenden citire ich nt^to: Tm. Krk.th.
Zeitachrift för Ptychologi« /7. ^^
306 Th, ZUKen.
Gregebenen ohne Zathaten zu allgemeinen Vorstellungen ver-
arbeiten, wird dargelegt Eine solche ErkenntnilSstheorie nuib
daher mehr sein als eine ErkenntniTskritak : allenthalben mnb
sie auch zu positiven Sätzen in allgemeiner Form führen. Dabei
stöfst sie allenthalben auf andere Erkenntnüstheorien, weldie
denselben Anspruch erheben, und ist daher verpflichtet, sich mit
ihnen auseinanderzusetzen. Dieser Verpflichtung komme ich
jetzt nach. Die Reihenfolge dieser Auseinandersetzungen mag
zunächst als willkürlich gelten. Der Verlauf wird ergeben, dals
sie für den Aufbau des Ganzen nicht gleichgültig ist
1. AvENABius. Die Kritik der reinen Erfahrung*
und der Empiriokriticismus.
Das System von Atenabius setze ich als bekannt voraus.
Auf die Versuche seiner Schüler, dies System weiter zu ver
breiten und auszubilden, gehe ich niu" gelegentlich kurz ein*
Ich erhebe daher sofort die für die Ejitik in erster Linie maals-
gebende Frage: welches ist für Avekabius der erkenntnils-
theoretische Fundamentalbestand? Sein Hauptwerk giebt darauf
eine unzweideutige Antwort in dem ersten ^empiriokritischen
Axiom"", dem ^Axiom der Erkenntnifsinhalte^. Dasselbe lautet:
„Jedes menschliche Individuum nimmt ursprünglich sich gegen-
über eine Umgebung mit mannigfaltigen Bestandtheilen, andere
menschliche Individuen mit mannigfaltigen Aussagen und das
Ausgesagte in irgendwelcher Abhängigkeit von der Umgebung
an : alle Erkenntnifs-Inhalte der philosophischen Weltanschauungen
— kritischer oder nicht-kritischer — sind Abänderungen jener
* Der erste Band ist 1888, der zweite 1890 erschienen. Auf einfr
frühere Schrift von Avenastüs „Philosophie als Denken der Welt nach dem
Princip des kleinsten Kraftmaafses. Prolegomena zu einer Kritik der reinen
Erfahrung. 1876" gehe ich nicht ein ; sie ist für die Entwickelangsgeschichte
des AvENARiüs'schen Systems sehr interessant, aber ihre Hauptsätze sind
von AvENARius in seinen späteren Werken fast geflissentlich unerwähnt ge-
blieben und stehen auch in der That zu seinem späteren System z. Th. itt
Widerspruch.
"^ Oefters werde ich auf die kritische Bsprechung des Empiriokriticis-
mus durch WuNDT (Philosoph. Stiidten 13 (1); 1896) hinweisen. Die wesent
liehe Verschiedenheit meiner Besprechung von der WuNDr'schen ergiebt
sich aus der absoluten Verschiedenheit des erkenntnifstheoretischen Stand-
punktes.
Erkenntnifatheoretische Auseinandersetzungen. 307
ursprünglichen Annahme."* Schon hier scheiden sich die Wege.
AvENAKius geht nicht von dem ursprünglich-gegebenen That-
bestand aus, sondern von einer allerdings weit-verbreiteten An-
nahme, welche an den ursprünglichen Thatbestand angeknüpft
wird. Ursprünglich gegeben sind uns zunächst niur zahllose
Empfindungen und zahllose an sie angeknüpfte Vorstellungen.
Er greift aus den letzteren willkürlich eine einzelne Vorstellung
(„Annahme") heraus. Der alte Gegensatz von Subject (Indi-
viduum) und Object (Umgebung) schleicht sich hier sofort unter
einer neuen Maske wieder ein. Das Willkürliche verräth sich
schon in der Ausdrucksweise, ein Umgebimgsbestandtheil sei
„gesetzt".* Mit diesem „gesetzt" l&fst sich gar keine Vorstellung
verbinden. Das alte „esse" erscheint hier doch wieder. Für den
erkenntnifstheoretischen Fundamentalbestand existirt nur „em-
pfunden" oder „vorgestellt" und auch dies nicht im Sinne eines
Passivs oder einer Thätigkeit, sondern schlechthin als Erlebnifs.
Von einem Dritten wissen wir noch gar nichts. Alles Folgende
ergiebt, dafs Avenarius schon hier dem Umgebungsbestandtheil
ein geheimnifsvolles, erklärungsbedürftiges, aber nicht-erklärtes
Esse zuschreibt, was von Empfindung und Vorstellung ver-
schieden ist. Während uns in Wirklichkeit — aufser den Vor-
stellungen — nur Empfindungen und unter den letzteren Gehörs-
empfindungen der Aussagen unserer Mitmenschen gegeben sind,
zweigt A. von den Empfindungen hypothetische Umgebungs-
bestandtheile (Ä-Werthe) ab, und setzt an die Stelle der Gehörs-
empfindungen der Aussagen meiner Mitmenschen Werthe, welche
der Aussage eines Individuums als Ausgesagtes zugeordnet werden
(iS-Werthe). Die schönen Auseinandersetzungen S. 21/22 erwecken
allerdings nochmals die Hoffnung, dafs Avenarius unter den
-B's nur die Empfindungen und unter den -B-Werthen niur die
Aussage-Empfindungen (sit venia verbo) versteht, aber die folgen-
den Auseinandersetzungen zerstören diese Hoffnimg sehr bald.
Dadurch, dafs A. die Ich's anderer Individuen statt seines eigenen
einschiebt ^ wird die Enttäuschung nur etwas länger hingehalten.
Es bleibt nämlich bei der Grundvoraussetzung von Avenarius
* Kr. d. r. Erf. Bd. I, S. VII.
« Ebda. 8. 3.
' Eine ausreichende Kritik dieser Einschiebung selbst hat Wundt a. a. 0.
8. 53 ff. gegeb0n.
20*
308 ^^- ^»«Äen.
zunächst noch immer die Auffassungsmöglichkeit offen, dafs die
ganze Veränderungsreihe B — C — E lediglich sich darstelle als
-die Reihe der Empfindungsänderungen, welche ich selbst erlebe,
wenn — um mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu reden —
ein Object R auf die Hirnrinde C eines Mitmenschen wirkt und
.diesen zu Aeufserungen E veranlafst Man sollte erwarten, dafe
AvENAiiius alsbald auf diese dringende erkenntnifstheoretische
Frage einginge. Statt dessen erfolgt jene weitausholende meta-
physisch-biologische Speculation über die Selbsterhaltung, Vital-
differenz u. s. w. des Systems C.^ Für die Erkenntnifs-
theorie sind diese Erörterungen belanglos.
Weder hat Avenarius den erkenntnifstheoretischen Funda-
mentalthatbestand selbst richtig dargestellt noch, wie es wohl
eigentUch in der Absicht der Kritik der reinen Erfahrung lag,
die Aussagen der Mitmenschen über den erkenntnifstheoretischen
Fundamentalthatbestand richtig wiedergegeben. Das Individuum
sagt : ich sehe einen Baum oder das ist ein Baum. Damit ist
ein Erlebnifs gegeben, welches ich als Empfindung bezeichnet
habe (warum, wird sich später zeigen), welches man aber natür-
lich ebensogut als „Umgebungsbestandtheil" bezeichnen kann;
-es kommt nur darauf an, dafs man bei dem Wort „Empfindung"
und bei dem Wort „Umgebungsbestandtheil" nichts insgeheim
hinzudenkt, sondern bei dem Erlebnifs selbst stehen bleibt*
Aufser dem Erlebnifs „Baum" ist nur die Aussage des Indivi-
duums und auch diese nur als Erlebnifs gegeben. Hätte Avenamts
das erstere als JK-Werth, die letztere als JE-Werth bezeichnet, so wäre
nichts einzuwenden gewesen. Die weitere Analyse hätte dann er-
geben, dafs bei der Beschränkung der Betrachtung auf die eigene
Person die J5-Werthe überflüssig werden xmd die Erlebnisse selbst,
meine Empfindungen, die Ä-Werthe von Avenarius (wie er sie hätte
formuliren müssen) allein übrig bleiben. Statt dessen schiebt
nun Avenarius den Aussagen (den JE-Werthen, wie er sie hätte
formuliren müssen) Aussageinhalte (Ausgesagtes) unter (Nr. 27),
identificirt diese Aussageinhalte mehr und mehr mit den Er-
lebnissen selbst und übersieht, dafs diese Aussageinhalte nichts
* Ich darf bezügl. dieser Erörterungen auf die Kritik Wündt's s. a. 0.
S. 49, 165 etc. und die Antikritik von Gabst anjen Viertdjahrsschr. f. wiu.
Philos. 22, S. 76 verweisen.
' Auch Bewufstseinsinhalt hat man dies Erlebniüs oft genannt» nur
verbindet man damit erst recht Nebenvorstellungen.
Erkenntnifstheoretische AtisehiaTulersetzwigen. 309
anderes sind als die schon mit einem Namen bedachten
ümgebungsbestandtheile. Damit ist der Dualismus gegeben.
Unvermerkt verwandeln sich jetzt die Ümgebungsbestandtheile,
die eigentlich mit den Erlebnissen identisch waren und auch
vom gewöhnlichen Menschen mit diesen vollkommen identificirt
werden (Ps. Erkth. S. 105), in die materiellen Objecte oder Reize
der Naturwissenschaft, und so wird der Dualismus unheilbar.
BeztigUch der biologischen Speculationen läfst sich leicht nach-
weisen, dafs es sich um scheinbar rein logische Constnictionen
handelt, welche nur soweit zutreffen, als sie insgeheim durch
physiologische Erf ahrungsthatsachen beeinflufst , also nicht
rein logisch sind.^ Ebenso sind auch die Erörterungen- über
Systeme C höherer Ordnung für die Erkenntnifstheorie gleich-
gültig ; sociologische Erfahrungsthatsachen haben hier den Mentor
für die logische Analyse — allerdings in der Tarnkappe — ge-
spielt. Der Werth aller dieser Erörterimgen liegt nur in der
consequenten Durchführung einer Darstellung der ^Aenderungen
des Menschen** „ohne Hinzuziehung der weiteren Annahme eines
Bewufstseins". Die Erkenntnifstheorie kommt dabei insofern
zu kurz, als Avenarius vergifst, dafs alle diese Vitalreihen nur
als Bewufstseinsthatsachen gegeben sind.
Der 2. Band ist der Untersuchung der abhängigen
Vitalreihe gewidmet. =^ Die Erörterungen über die Abhängigkeit
der Schwankungsform und -gröfse liegen wiederum der allge-
meinen Erkenntnifstheorie fem. Nur der in Nr. 481 eingeführte
Begriff des „Existentials" könnte wieder eine Perspective
in allgemein-erkenntnifstheoretisches Gebiet eröffnen. Das Exi-
stential soll eine Componente des „Fidentials" darstellen. Eine
scharfe Definition wird nicht gegeben; der Hinweis auf das
„Seiende", die „Wirklichkeit" ist nur eine Umschreibung. Zu-
sammengestellt wird das Existential mit dem Notal und Secural,
* Es kann daher auch nicht zugegeben werden, dafs sich der Empirio-
kriticismus mit diesen Ausführungen, wie Carstanjkn sagt {Vierteljahrsschr,
f. tciss. Fhilos. 22, 84; 1898), „über die Naturwissenschaft erhebt und ihren
Resultaten durch allgemein-logische Aufstellungen vorgreift^.
' I, S. 153 ff. Vgl, die vollkommen zutreffende Kritik Wündt^s a.a.O. S.66.
' Nebenbei sei bemerkt, daüs die Deduction Bd. II, S. 4 ff. auch insofern
lückenhaft ist, als nicht nachgewiesen wird, dafs ohne Vitaldifferenz -E-Aus-
sagen nicht vorkommen; ebenso wird nicht nachgewiesen, sondern ohne
Nachweis vorausgesetzt, dafs speciell die sich ausgleichenden Vitaldifferenzen
zu i'J-Aussagen Anlafs geben.
310 ^' Ziehen,
obwohl die Beziehung zu den beiden letzteren nur eine häufige«
keine durchgängige ist. Allerdings sind wir oft geneigt das uns
Unbekannte und Unheimliche als scheinhaft, als nicht-seiend,
als nicht-wirklich zu betrachten, aber nicht selten erscheint ims
auch das Unbekannte und Unheimliche als durchaus wirklich.
A. scheint dies auch selbst anzuerkennen (vgl. Nr. 482), bringt
aber trotzdem keine zureichenden Gründe für die Zusammen-
fassung der drei Fidentiale bei.^ Man kann sogar noch weiter
gehen und gegen die Ausfühnmgen von Avenabius einwenden,
dafs das Existential durchaus nicht immer ein Fidential ist:
denn nicht selten erscheint uns etwas als wirklich, was durchaus
keinen relativ grofsen Uebungswerth hat. Ich weifs wohl, dafs
AvENARiüs sich — wenigstens Nr. 473 — gegen eine directe
logische Rubricirung seiner Begriffe verwahrt, aber er selbst
giebt — wenigstens scheinbar — bei der Darstellung des Exi-
stentials diesem Begriff allenthalben durchaus das logische Ge-
präge, statt den eigenartigen, an einzelnen Beispielen von ihm
so ausgezeichnet geschilderten psychologischen Zustand des Exi-
stentials auch psychologisch zu analysiren. Eine solche Analyse
hätte ihn eben gelehrt, dafs das Existential durchaus nicht stets
mit einem relativ hohen Uebungswerth zusammenhängt, sondern
an ein eigenartiges Merkmal gebunden ist, welches man in Ueber-
einstimmxmg mit den Aussagen der Umgebimgspersonen als
sinnliche Lebhaftigkeit bezeichnen kann und der später zu er-
wähnenden „Sachhaftigkeit" sehr nahe steht.
In den Erörterungen Nr. 509 ff., welche die Aussage von
„Sachen" behandeln, wird die erkenntnifstheoretische Frage nicht
berührt. Die von Avenakius Nr. 533 aufgestellte Reihe der
Satzungsformen „Sache, Nachbild, Gedanke, Nach-
gedanke" ist nicht zutreffend. In der Regel setzen die Indi-
viduen die Nr. 510 gemeinten ausgezeichneten j&Werthe gar
nicht als Sachen (Nr. 511), sondern als -&Werth tritt die Aussage
von Sachen auf. Den i^Werthen selbst kommt die Sachhaftig-
keit ebensowenig zu wie die grüne Farbe. Wenn man aber selbst
direct für die Aussage den zu Grunde liegenden psychischen
Zustand setzt, so müfste A. von Anfang an berücksichtigen, dafe
die Aussagen eine doppelte Reihe bilden, welche beispielsweise
* Die in Nr. 492 behauptete Gemeinsamkeit der Grundbedingung ihrer
Entwickelung trifft, wie oben erwähnt, nicht zu.
ErkenntnifstheoretUche Auseinandersetzungen, 311
SO auszudrücken wäre: hier ist ein grüner Baum und hier sehe
ich einen grünen Baum. „Die Sache besitzt nicht ihr Positionai
in der Wahrnehmung" (Nr. 538), sondern die Analyse der Aus-
sagen der Individuen ergiebt als erstes Glied der obigen Reihe
die Empfindung bezw. nach Avenabius terminologischem Vor-
schlag (Nr. 536) eine Wahrnehmung , die sich vor der Vor-
stellung durch die sinnliche Lebhaftigkeit auszeichnet, und erst
die Empfindung oder Wahrnehmung empfängt sehr oft den
positionalen Charakter, welchen A. als Sachhaftigkeit bezeichnet.
Davon ist nun aber wieder das Verhältnifs zu unterscheiden, in
welchem sich der Aussagende zu dem betreffenden j&Werth
findet. Nach Avenabius (Nr. 538) soll der Aussagende „die
Sache wahrnehmen" und „den Gredanken vorstellen". Das ent-
spricht weder den Aussagen schlechthin noch ihrer Analyse.
Avenabius verwechselt das afficirte und das efficirte Object
Die Aussage schlechthin lautet: ich nehme die Sache z. B. den
Baum wahr und stelle auch die Sache z. B. den Baum vor. Der
Unterschied des positionalen Charakters in beiden Fällen ist die
sinnliche Lebhaftigkeit, wie sie die Individuen bald mit diesem
bald mit jenem Wort beschreiben. Die Einführimg des Terminus
Sache in die Reihe der Setzungsformen ist also vom erkenntnifs-
theoretischen Standpunkt zum Wenigsten äufserst gefährlich.
Gerade, weil Avenabius sonst mit Bezeichnungen, welche durch
den seitherigen Gebrauch präjudiciren könnten, so vorsichtig ist,
ist die Unvorsichtigkeit an dieser Stelle doppelt auffällig. End-
lich ist wenigstens anzumerken, dafs A. die Frage, wieso der
Aussagende sich in einem Verhältnifs zu den JE-Werthen finden
kann, gar nicht berührt A. verläfst mit der Annahme eines
solchen Verhältnisses den erkenntnifstheoretischen Fundamental-
thatbestand und damit den reinen empiriokritischen Standpunkt
vollständig: dieser kennt nur i?, C und JE-Werthe, aber keinen
Aussagenden als Werth aufserhalb der Ä, C und ^-Werthe. Das
Ich-Bezeichnete seiner späteren Lehren wirft hier bereits seine
Schatten voraus.
Dieser Mangel an Unterscheidungsschärfe tritt denn in der
That auch in Avenabius' eigenen Beispielen sehr deutlich hervor.
Der in Nr. 518 angeführte Fremde, welcher in Rom weilt, wird
wahrscheinlich nicht stets sagen: Vor mir habe ich Rom und
denke an seine Gründung, sondern ebenso oft: „Vor mir sehe
ich Rom und denke an seine Gründung." Jedenfalls meint er
312 Th, Ziehen,
auch mit dem „haben" im Wesentlichen das „Sehen**. Der
Inhalt seiner Aussage — und dieser macht den -E-Werth
aus (vgl. Nr. 27 u. 29) — ist also in den meisten Fällen gar
nicht schlechthin: „Rom — Sache", wie Avenabius annimmt,
sondern erheblich complicirter : der Fremde sagt in erster Linie
eine Empfindung aus. Hier rächt es sich, dafs Avenabius die
JS^Werthe nicht eindeutig definirt hat. „Inhalt einer Aussage"
ist vieldeutig. Aus dem Inhalt wird hier ein hypothetisches
Empfindungsobject. Avenabius behandelt daher auch die beiden
Aussagen: „ich sehe Rom" und „ich denke an Rom" in ganz
ungerechtfertigter Weise verschieden. Bei der ersteren Aussage
soll die Sache Rom den JE-Werth darstellen (statt der Gesichts-
empfindung), bei der zweiten Aussage hingegen soll das Denken
Roms, der „Gedanke Rom" den JE-Werth darstellen. Im ersteren
Fall wird das Verbum ignorirt, im letzteren nicht Nur durch
diesen Fehler gelangt A. zu der merkwürdigen oben angeführten
Reihe, in welcher auf die „Sache" sofort das „Nachbild" folgt
A. hat wohl selbst gefühlt, dafs seine Erörterung nicht ge-
nügend sei, aber seine in Nr. 534 — 539 folgenden Ergänzungen
machen den Fehler nicht wieder gut. Die Thatsache, dafs Rom,
zugleich als ein Gesehenes charakterisirt ist, ist nicht ein Ad-
ditament, sondern ist ein wesentlicher Inhaltsbestandtheil der
Aussage.
Richtig gestellt müfste die AvENAKius'sche Deduction folgender-
maafsen lauten. Bei gegebenem JK-Werth (im Sinne von Avenabius)
treten vier verschiedene ^'-Werthe auf, die, um nichts zu präju-
diciren, S^, Sg, Sg und S^ heifsen mögen. Sj unterscheidet sieh
von Sg (d. h. in der incorrecten Terminologie von Avenarits
die Sache von dem Gedanken) durch ein nicht-definirbares, aber
aus den Aussagen der Umgebungspersonen durchweg zu ent-
nehmendes Merkmal, welches man z. B. als sinnliche Lebhaftigkeit
oder auch durch einen beliebigen Buchstaben bezeichnen kann.
Als afficirtes bezw. recipirtes Object wird für S^ eine hypo-
thetische Sache, für Sg dieselbe Sache oder oft auch S, aus-
gesagt. Als efficirtes Object der Thätigkeit der Person wird für
»S, Empfindung bezw. Wahrnehmung, für S^ Gedanke bezw.
Vorstellung ausgesagt. Endlich als Subject sowohl des Afficirens
bezw. Recipirens als auch des Efficirens wird ein Jch ausgesagt.
So und nicht anders hätte die Deduction von dem eigenen Stand-
j)unkt A.'s lauten müssen. Die weitere Analyse hätte alsdann
ErkenntnifstJieoretiache Ausehiandersetzungen, 313
bald ergeben, dafs alle diese Aussagen aus dem einen That-
bestand, welchen die Person selbst zum efficirten Object um-
deutete, also aus der Empfindungs- und Vorstellungsreihe hervor-
gegangen sind. Zugleich wären dabei die i?-\Verthe entlarvt
worden als eigenartig umgearbeitete Vorstellungen,
also als iSg's, welche wir den S/s substituiren. DieÄ-Werthe,
welche A. ursprünglich vorfindet, hätten sich im
Sinne von AvENARius als eineSetzungsform entpuppt
DieReihe der JE-Werthe wäre alleinübrig geblieben.
Damit ist man aber zu dem erkenntnifstheoretischen Funda-
mentalbestand gelangt, welchen ich meinen Erörterungen zu Grunde
gelegt habe.^
Es ist natürlich, dafs Avenariüb für die Wahrnehmung
(Empfindung vgl. Nr. 53ß) keinen Raum behält Sie wird
zum „positionalen Charakter" der „Sache" (Nr. 536 — 538). Auf
Gnmd hinzukommender „uneigentlicher Gefühle" werden die als
Sachen gesetzten Elemente oder Charaktere zugleich als „Wahr-
genommenes" charakterisirt, und „die Auflösung des Wahr-
genommenen als Bestand in die fliefsenden Werthe des Actes er-
giebt dann die Wahrnehmung".*- Avenajriüs scheint unter
jenen uneigentlichen Gefühlen besondere Organempfindungen
zu verstehen. Diese spielen jedoch thatsächlich eine äufserst ge-
ringe Rolle. In der That beruht vielmehr z. B. die „Charakteri-
sirung" eines Lichts (einer Lichtempfindung) als „gesehener"
(als optischer Empfindung) erstens auf der speciellen optischen
Empfindungsmodalität (im Sinne von Helmholtz), zweitens auf der
durch andere Sinnesorgane controlirten Erfahrung, dafs bei Augen-
* Bei dieser Polemik gegen Avenabius möchte ich nur kurz hervor-
heben, dafs ich andererseits die kurzen Ausführungen Nr. 532 und 533 für
sehr bedeutsam halte; mit dem oben erörterten Streitpunkt stehen sie in
keiner Verbindung.
' Die Erläuterung, welche Carstanjen für den AvENARius'schen Wahr-
nehmungsbegriff giebt a.a.O. S.273, deckt sich vielleicht mit den Intentionen
von AvENARius, jedenfalls aber nicht ganz mit dem Wortlaut und Sinn
seines Werkes, wie es vorliegt. Nach Carstanjen handelt es sich bei der
Sache um die peripherisch bedingte Abhängigkeit von einem Umgebungs-
bestandtheil R, bei der Wahrnehmung um die peripherisch bedingte
Abhängigkeit vom Individuum. Da nach A. jeder A'-Werth von i^ und
vom Individuum abhängig ist, so ist in jedem Fall die Unterscheidung von
Sache und Wahrnehmung erst das Ergebnifs besonderer Keflexionen, deren
Untersuchung nicht hätte unterlassen werden dürfen.
314 Th, Ziehen,
schlufs die Lichtempfindung verschwindet u. AehnL Die modale
Bestimmtheit als Cbarakterisirung zu bezeichnen, ist überflüssig,
sie ist kein Additament, sondern wesenthch für das ErlebniTs;
die Erfahrungen über die Unerläfslichkeit eines bestimmten
Sinnesorgans als Cbarakterisirung zu bezeichnen, ist geradezu ge-
fährlich, weil diese Bezeichung dazu verführt, zu übersehen, welch
ein immerhin nicht ganz einfacher, jedenfalls untersuchungs-
bedürftiger Vorstellungsprocefs hier im Spiele ist. Gerade,
wenn Avenabius, wie er selbst und seine Schüler behaupten, in
der Elritik der reinen Erfahrung nur schildern will, wie die Indi-
viduen thatsächlich ihre Erfahrungen beschreiben, ohne ent-
scheiden zu wollen, ob ihre Beschreibung zutreffend ist, hätte es
einer exacteren Darstellung dieser „Positionalcharaktere" bedurft
Der eben hervorgehobene Irrthum der AvENAKius'schen Dar-
stellung rächt sich bei der Feststellimg des „analytischen Be-
griffs der reinen Erfahrung". Dieser leidet überhaupt im Gegen-
satz zu dem synthetischen Begriff der reinen Erfahrung, wonach
diese ein Ausgesagtes ist, welches in allen seinen Componenten
nur Umgebungsbestandtheile zu seiner Voraussetzung hat, an
einer bemerkenswerthen Unklarheit. Nr. 5 wurde er definirt als
Begriff einer Erfahrung^, welcher nichts beigemischt ist, was
nicht selbst wieder Erfahrung wäre — welche mithin in sich
selbst nichts anderes als Erfahrung ist. Damit scheint A. voraus-
zusetzen, dafs es noch etwas giebt, was nicht Erfahrung ist. Um
festzustellen, was dies sein könnte, müssen wir hören, was A.-
unter Erfahrung versteht bezw. was die Individuen selbst als
Erfahrung aussagen. Nr. 932 ff. versucht hierauf eine Antwort
zu geben. Diese Antwort fällt nun sehr unpräcis aus, wie das
bei einem so schwankenden Wortbegriff vorauszusehen war.
Aus den von ihm angeführten Beispielen glaubt A. zunächst
schliefsen zu können, dafs nicht jedwede Erfahrung qua j&Werth
als von einer Complementärbedingung der Gattung ß abhängig
angenommen werden darf. Dieser Satz ist nur richtig, wenn
^ Nachträglich hat Avenarius, wie Krebs mittheilt ( Viertel jahrsachr. f.
wis8. Fhilos. 20) diese Definition folgendem) aafsen abgeändert: ^als eines
Ausgesagten, welchem nichts beigemischt ist" u. s. f. Fttr die obige Er-
örterung ist diese Correctur belanglos.
* Ob Avenarius mit der Erweiterung des Begriffs „Erfahrung", welche
sich bei Willy findet {Vierteljahrsschr. f. miss. Fhilos. 20, 1896, S. 62), einver-
standen wäre, ist mir sehr zweifelhaft.
Erkenntnif8theoreti8(^ Aweinanderaetzungen, 315
man statt „Complementärbedingung^ gegenwärtige „Comple-
mentärbedingung" einsetzt Ebenso sind die drei positiven
Merkmale, welche A. für die Erfahrung angiebt, nicht stichhaltig.
„Gemeiniglich", sagt Avenajrius (Nr. 936), wird in den Fällen,
in denen -E-Werthe als Erfahrung bezeichnet werden, ausgesagt
1. ein Seiendes bezw. Gewesen-Seiendes ;
2. eine Kenntnifsnahme seiner Existenz oder irgend eines
existirenden Bestandtheils bezw. Zusammenhangs iL s. w.
desselben ;
3. eine blofse Kenntnifsnahme , eine Kenntnifsnahme
schlechtweg.
A. selbst kommt denn auch bald zu dem Ergebnifs, dafs zu
^vermuthen" bleibe, dafs, wenn überhaupt Erfahrung ein eigen-
thümUches Merkmal besitzt, dasselbe niur mit der dritten der
eben aufgezählten analytischen Bestimmungen „zusammenfallen"
oder „wenigstens darin irgendwie stecken möchte" (Nr. 938).
Also die „blofse Kenntnifsnahme" (im Sinne von Nr. 489 u. 490)
bleibt übrig. Diese Kenntnifsnahme ergiebt aber bei genauerer
Analyse wieder nur eine negative Bestimmimg (als das „Nicht-
Erfundene" u. s. w.). Daraus wäre nun meines Ermessens der
Schlufs zu ziehen, dafs eine positive Charakteristik des hypo-
thetisch von AvENARius aufgestellten analytischen Begriffes der
reinen Erfahrung nicht möglich ist, dafs man entweder alle Aus-
sagen als Erfahrung bezeichnen oder im Sinne des syntheti-
schen Erfahrungsbegriffes die Beziehung auf -B-Werthe fordern
mufs. Statt dessen schlägt Avenajrius, um zu einer positiven
Bestimmung zu gelangen, den bedenklichen Weg ein, „zunächst
nur auf solche Fälle ausgesagter Erfahrung zu reflectiren, in
welchen das Seiende zugleich als Sache charakterisirt ist"
(Nr. 939). Bedenklich ist dieser Weg schon wegen der damit
gegebenen Restriction, noch viel bedenklicher aber, weil nun-
mehr der oben berührte Irrthum zu vollem Einflufs gelangt
Statt die Erfahrung in diesem beschränkten Sinne (^die Er-
fahrung xoT* i^oxt^ Nr. 959 u. 965) einfach als Empfindung
bezw. Wahrnehmung zu fassen, wie es Avenabius Nr. 942 zu-
nächst auch thut, fluthen nun zahlreiche Hyothesen herein, die
gegen die sonstige Methode des Werks grell abstechen: Aende-
rungen der nächsten Umgebung des Systems C, die Functionen
und Reactionen der mit sensiblen Nerven versehenen Organe
bedingen den Ich - J5J-Werth, durch Miterregung der Sinnesorgan-
316 Th. Ziehen,
nerven wird mit jeder Wahrnehmung das Individuum mitgesetzt,
Sache und Individuum treten sich gegenüber, erstere wird zum
Activ-Seienden, letzteres zum Passiv-Seienden u. s. 1 Ich weife
natürlich sehr wohl, dafs A. hiermit nur den Gang der Aussagen
darstellen will, aber ich behaupte gerade, dafe er eben diesen
falsch darstellt. Die physiologischen Annahmen schweben in der
Luft, die thatsächliche Entwickelung der Aussagen ist eine ganz
andere. Die so allgemeine und erkenntnifstheoretisch so ver-
hängnifsvolle Gegenüberstellung von Sachen und Ich entwickelt
sich auf einem ganz anderen Weg und in einem anderen Sinne :
maafsgebend für diese Scheidung von Sachen imd Ich war viel-
mehr Folgendes. Anfangs lautet der Gegensatz nur : eigener Leib
und fremde Gegenstände, und ersterer sowohl wie letztere haben
reinen Empfindungscharakter. Die Sachen des Kindes sind seine
Empfindungen. Sprachlich werden dann von den Empfindungen
die Vorstellungen ^ unterschieden. Zunächst nehmen nur letztere
eine Sonderstellung ein. Man denke z. B. an ein zweijähriges
Kind, das einen abwesenden Gegenstand verlangt. Eine analoge
Bedeutung gewinnen die Gefühlstöne und Affecte, insofern sie
die Anwesenheit des ursächlichen Gegenstandes oft überdauern.
Weiter werden nun aber die Bewegungen des eigenen Körpers
mit den Bewegungen anderer Körper verglichen. Für die ersteren
wird nach Analogie der letzteren eine Ursache und zwar im
eigenen Körper gesucht. Diese Ursache, dies Ich, ist zunächst
bei dem Kind noch rein körperlich. Bald stellt sich jedoch
heraus, dafs kein einzelner Körpertheil speciell und allein diese
Ursache darstellt, und dafs unsere Vorstellungen dabei betheiligt
sind. Damit ist der erste Schritt zur Sonderung des Ichs vom
Körper geschehen. Dazu kommt nun, dafs die Empfindungen
wechseln, je nachdem ich die Augen schliefse, den Kopf drehe,
die Hand wegziehe u. s. f., kurzum, dafs die primären Empfindungs-
sachen von meinem Körper (speciell von meinen Sinnesorganen)
abhängig sind. Ebenso aber beobachten wir, dafs diese primären
Empfindungssachen sich auch unabhängig von unserem Körper
ändern. Nur wird der von unserem Körper und unseren Vor-
stellungen abhängige Bestandtheil der Empfindungssachen als
^ Vgl. hierzu und zum Folgenden namentlich auch die 5. Auflage
meines Leitfadens der physiologischen Psychologie S. 148 und die Be-
sprechung der „Reflexionsbegriffe*' Schuppe's in der zweiten dieser Abhand-
lungen.
Erkenntnifatheoretiscke Auseinandersetzungen, 317
Empfindimgeu zu den Vorstellungen und zum Ich geschlagen,
also secundär in das Psychische einbezogen, während der unab-
hängige Bestandtheil als Sachen den Empfindungen gegenüber-
gestellt wird.
Der thatsächliche Verlauf der Entwickelung des dualistischen
Erfahrungsbegriffes „Sache" und „Ich" ist also ein ganz anderer,
als ihn Avenariüs darstellt. An diesem entscheidenden Punkt
hat ihn seine geniale Construction der Erfahrung aus Ä-, C- und
£^Werthen im Stich gelassen. Die Positionale sind andere, als
er annimmt. Die specifische Modification des Positional-
charakters „Wahrnehmung", welche die Erfahrung darstellen
soll (Nr. 941 und Nr. 957), ist überhaupt nicht präcisirt worden
(auch nicht durch eine Bedingungsdefinition).
Die thatsächliche Entwickelung, wie ich sie oben abgekürzt
gegeben habe, wäre nunmehr auf ihre Richtigkeit oder Be-
rechtigung zu prüfen gewesen. Einer solchen enthält sich
Avenariüs, dem Plan (nicht aber dem Titel) seines Werkes ent-
sprechend, durchaus. Ich bemerke daher nur kurz, dafs eine
solche Prüfung ergiebt, dafs die populäre eben dargestellte
Sonderung berechtigt ist, insofern sie sehr allgemeine Eigen-
schaften der Empfindungsthatsachen richtig unterscheidet, und
nur in der Terminologie aus praktischen Gründen mifsverständ-
liche Bezeichnungen gewählt hat; speciell ist in der Termino-
logie der einheitliche Ursprung der Empfindungen und
Sachen verloren gegangen. Praktisch war der Unterschied
viel wichtiger, so dafs das Gemeinsame unbezeichnet blieb.
Bei dem gewaltigen Einflufs der Sprache auf die Begriffsbildimg
Jiat sich von Geschlecht zu Geschlecht diese Auffassung mehr
und mehr fixirt. Der terminologische Fehler wird zum logischen.
Der Gegensatz wurde immer schärfer. Die Philosophie trug zur
Verschärfung wesentlich bei. So traten die Sachen schliefslich
als Materie den psychischen Empfindungen und Vorstellungen
gegenüber. Die Erkenntnilstheorie hat die Aufgabe, diese Ent-
wickelung nachzuprüfen und, unbeirrt durch praktische Gesichts-
punkte, terminologisch und logisch die populäre Auffassung zu
corrigiren.
Der letzte Theil des AvENABius'schen Hauptwerks behandelt
^die abhängige Multiponible denkbar höchster
Ordnung" und damit die Frage, in welchem Sinne imd Um-
fang der synthetische und der analytische Begriff reiner Er-
318 ^- Ziehen.
fahrung auseinanderfallen und ihr Zusammenfallen angenonoimen
werden kann. Diese Fragestellung, ganz abgesehen davon, dals
beide Begriffe den nicht-legitimirten Begriff der Umgebungs-
bestandtheile enthalten, ist nach den vorausgegangenen Erörte-
rungen unklar. Die Feststellung eines analytischen Begriffes
reiner Erfahrung ist nicht gelimgen. Ueber eine rein tauto-
logische Definition ist A. nicht hinausgelangt Eine positive
Charakteristik ist vergeblich versucht worden. Die Fragestellung
könnte also nur folgenderma^afsen lauten: giebt es überhaupt
reine ^ Erfahrungen, deren Unabhängige (d. h. deren zugehörige
Beschaffenheiten des Systems C) nicht durch die Umgebung
complementär bedingt sind? Diese Fragestellimg hätte weiter
sofort dazu geführt zu untersuchen, welcher Antheil bei dem
Zustandekommen der einzelnen Erfahrungsaussagen der Um-
gebung und welcher Antheil den im System C gelegenen Vor-
bedingungen zukommt. Damit sind wir wieder bei dem alten
Problem der primären und secundären Qualitäten angelangt, bei
der Binomie, wie ich sie in meiner erkenntnifstheoretischen Schrift
zu begründen versucht habe.
Trotz der Unklarheit der Fragestellung ist im Einzelnen
gerade dieser letzte Theil auch reich an richtigen und wichtigen
erkenntnifstheoretischen Ergebnissen. Dabei hat die Darstellung,
so seltsam es klingen mag, etwas Ergreifendes: sie wendet sich
auch an das Gefühl und findet bei diesem wohl einen milderen
Richter als bei dem kritischen Verstand. Aber auch der letztere
wird vor Allem ein Hauptergebnifs anerkennen müssen, welches
ich von meinem Standpunkt so ausdrücken möchte: unter dem
fortgesetzten Einflufs der Umgebungsbestandtheile kommen
Beschaffenheiten des Systems C und dementsprechende Gedanken
bezw. Aussagen (populäre Anschauungen, philosophische Systeme)
zu Stande, welche sich nicht nur auf diesen oder jenen Um-
gebungsbestandtheil, sondern auf jeden beliebigen Umgebungs-
bestandtheil beziehen. Dies eben ist die Multiponibilität höchster
Ordnung.^ So entsteht der „Weltbegriff'*. Er deckt sich etwa
mit dem, was ich (S. 97) als „allgemeinste Vorstellungen der
* Ich will dabei für „rein" die von Carstanjen (a. a. O. S. 59) gegebene
Erklärung gelten lassen.
* Vgl. auch WüNDT (a. a. 0. S. 83), welcher sich namentlich gegen die
präsumptive Einfachheit des Weltbegriffs wendet, während mir seine
Allgemeinheit wesentlicher scheint.
Erkenntnifatheoretische Auseinandersetzungen, 319
Empfindungen und Empfindungsbeziehungen ^ bezeichnet habe.
A. drückt dasselbe aus, wenn er von Aenderungsformen des
Systems C spricht, welche von den denkbar meist sich wieder-
holenden Beschaffenheiten der Systeme C und der Umgebungs-
bestandtheile abhängig sind. Die Entwicklung eines solchen
Weltbegriffes vollzieht sich im Individuum (ontogenetisch), aber
auch in der Greschichte des ganzen Menschengeschlechtes ^ (phylo-
genetisch).
A. versucht auch (Nr. 1002 ff.) die historische Entwickelung
des Weltbegriffes in drei Entwickelungsstufen (Nr. 1024 ff.) zu
skizziren. Die Erkenntnifstheorie hat hieran kein immittelbares
Interesse. Wohl aber mufs sie Einspruch erheben, wenn A. die
definitive Lösung des Welträthsels nur von einem Weltbegriffe
erwartet, „welcher vollständig dem synthetischen und dem ana-
lytischen Begriffe reiner Erfahrung entspricht" (Nr. 1033).
Welchem analytischen Begriff reiner Erfahrung soll der
hypothetische Weltbegriff entsprechen? Etwa dem unklaren,
den A. Nr. 931 ff. (siehe oben) vergeblich zu charakterisiren ver-
sucht hat? Die Unklarheit wird dadurch noch gröfser, dafs A.
jetzt nochmals einen Versuch macht, den analytischen Begriff
reiner Erfahrung zu charakterisiren. Hierbei habe ich die
Schlufssätze von Nr. 1031 im Auge, deren wörtliche Anführung
unerläfslich ist: „Diese Bedingungen genügen indefs auch dem
analytischen Begriffe reiner Erfahrung ; denn, da der Erfahrungs-
Charakter (doch wohl der analytische ?I) von Systemänderungen
abhängt, welche ihrerseits in Aenderungen peripherischer Sinnes-
Organe die nächste Bedingimg ihrer Setzung haben, diese Be-
dingung aber durch das gewahrte Abhängigkeitsverhältnifs zu
den Uragebungsbestandtheilen durchgehends erfüllt bleibt, so
bleibt auch den Componenten jener abhängigen ^-Werthe durch-
gehends die Charakteristik als Erfahrung gewahrt"* Ist das
wirklich derselbe analytische Begriff reiner Erfahrung, der
Nr. 931 ff. u. Nr. 5 aufgestellt wurde? oder nicht vielmehr der
synthetische in etwas anderem Umhang 1? Die Berufung auf
Nr. 509 f. u. Nr. 535 ff. ist ganz unstatthaft; denn die Abhängig-
keit von Systemänderungen, welche ihrerseits in Aenderungen
peripherischer Sinnesorgane die nächste Bedingung ihrer Setzung
haben, kann doch keineswegs als allgemeines Merkmal des ana-
^ Vielleicht ist auch das noch zu anthropistisch ausgedrückt.
320 ^A- ^^i^n,
lytischen Erfahrungsbegriffes gelten; denn es erwies sich nur
für einen Theil der Erfahrung im analytischen Sinne als zu-
treffend. Die Lehre vom Zusammenfallen des synthetischen und
des analytischen Begriffes reiner Erfahrung im Universalbegriff
giebt nach meinem Dafürhalten dem Buch einen architectoniscben
Abschlufs auf Kosten der Klarheit, ja sogar der Universalbegriff
selbst wird dabei verschoben. Es ist nicht richtig, dafs die Welt-
begriffe (Nr. 1032) in dem Maafse, als sie, von beliebigen
Anfangswerthen aus, sich dem Universalbegriffe annähern, auch
dem synthetischen und dem analytischen Begriffe reiner Er-
fahrung entsprechen. Die höchste Multiponibihtät, welche für
den Universalbegriff charakteristisch ist (Nr. 973), läuft der aus-
schliefslichen Abhängigkeit von „Umgebungsbestandtheilen", welche
für den synthetischen Erfahrungsbegriff charakteristisch ist und
schliefslich auch für seinen unklaren Doppelgänger, den analy-
tischen Erfahrungsbegriff charakteristisch sein soU, kemeswegs
einfach parallel. Der Universalbegriff ist nicht nur von den
meist sich wiederholenden Beschaffenheiten der Umgebungs-
bestandtheile abhängig, sondern auch von den meist sich wieder-
holenden systematischen Vorbedingungen des Systems C.^ Es
liegt durchaus nicht im Interesse des Universalbegriffes, diese
letzteren wegzulassen oder wenigstens in den Hintergrund zu
stellen. Nach meinen Dafürhalten führt dies nur zu einer künst-
lichen Ignorirung der factisch vorhandenen Binomie.
Es bleibt also der Universalbegriff in zwei Beziehungen un-
haltbar: erstens wird ihm eine Abhängigkeit von ganz hypothe-
tischen Umgebungsbestandtheilen zugemuthet, welche als solche
gewifs nicht zu dem Sich-Meist- Wiederholenden gehören, sondern
hypothetische Vorstellungen darstellen, und zweitens wird ro
Gunsten dieser Abhängigkeit sogar die Multiponibihtät höchster
Ordnung eingeschränkt. Dazu kommt die Unklarheit der Rolle
des Systems C und des Nr. 863 ff. aufgetauchten Ichs. Ersteres
ist uns in Wirklichkeit ebenso wie der Baum auch nur als
JE-Werth gegeben, letzteres ist nur eine sehr vieldeutige Vor-
stellung. Was bedeuten beide?
^ Dafs AvEKARius hier nicht etwa überall — wie Carstanjen a. a. 0. 272
Anm. auf Grund von Nr. 62 behaupten zu können glaubt — das System ('
in den Umgebungsbeslaiidtheilen eingeschlossen denkt, geht, wie mir scheint,
aus der Fassung z. B. nou 'S^t.^'W ^-wca \«ia»^«s\s5öa»SX.\ÄTSQT.
Erkenntnifstheoretische Auseinandersetzungen. 321
Vollständiger wird das Bild der Erkenntnifstheorie von
AvENAMüs erst durch die Betrachtung seines zweiten Haupt-
werkes „Der menschliche Weltbegriff^, welches 1891, 3 Jahre
nach dem ersten Band und 1 Jahr nach dem zweiten Band der
Elritik erschien, jedoch nach dem Zeugnifs Cabstanjen's in
manchen Theilen älter als die Kritik ist. A. beschäftigt sich
hier nochmals mit dem Welträthsel, mit dem philosophischen
Weltbegriff. Er will angeben, was aller Anschauung der Ge-
sammtheit des Vorgefundenen gemeinsam ist. In der That aber
ist das Buch gröfstentheils einer viel specielleren Aufgabe ge-
widmet, nämlich der erkenntnifstheoretischen Bewerthimg der
Aussagen der Mitmenschen. Gegenüber dem vorwiegend formalen
Charakter der Kritik versucht A. hier eine materiale Lösung der
-erkenntnifstheoretischen Probleme.
Aus der Beweisführung im Einzelnen ist Folgendes hervor-
zuheben. AvENABiüs geht auch hier bei der Darstellung des
natürUchen Weltbegriffs von der Stufenleiter ^Sache — Nach-
bild — Gedanke" aus, deren Bedenklichkeit oben erörtert wurde.
Auch hier wird ohne Weiteres vorausgesetzt, dafs Subjecte (ich,
Mitmenschen) Umgebungsbestandtheile „vorfinden**, ohne dafs
dies Vorfinden näher präcisirt wird. Das Hauptproblem der Er-
kenntnifstheorie wird gar nicht discutirt, sondern eine bestimmte
Lösung von Anfang an vorausgesetzt. Der erkenntnifstheoretische
Fundamentalbestand ist nicht der, dafs ein oder gar mehrere
Subjecte Sachen und Gedanken vorfinden, sondern ausschliefs-
lich der, dafs Empfindungs- und Vorstellungsreihen gegeben
sind. Jede Erkenntnifstheorie, welche nicht von diesem Funda-
mentalbestand ausgeht, geht am Hauptproblem der Erkenntnifs-
theorie vorüber. Aber, wird man einwenden, Avenarius will
gar nicht den erkenntnifstheoretischen Fundamentalbestand,
sondern nur den ^.natürlichen Weltbegriff" darstellen. Damit
könnte man sich zufrieden geben, wenn nicht dieser natürliche
AVeltbegriff so sehr hypothetisch wäre. Was der ,,natürliche"
Mensch meint, wenn er sagt: ,.hier ist ein Baum", ist noch sehr
strittig. Es müfste doch erst noch untersucht werden, ob er da-
mit etwas anderes meint als: ich sehe, fühle etc. hier einen
Saum und kann ihn unter bestimmten Bedingungen noch öfters
^eder sehen, fühlen etc.
Die Variation des natürlichen Weltbegriffs, welche A. nun-
mehr specieJJ untersucht, ist die von ihm sogenaimXA ^tiXi^c^"
Zeitschrift für Psychologie 27. ^
322 ^Ä- Ziehen,
jection", durch welche „die natürliche Einheit der empirischett
Welt nach zwei Richtungen gespalten wird: in eine Aufeenwelt
und in eine Innenwelt, in das Object und das Subject" (Nr. 47).
Diese Spaltung, diese Introjection soll dadurch zu Stande kommen,
dafs das eine Individuum (M) in das andere (T) Wahrnehmungen,
Denken, Gefühl imd Wille „hineinlegt". Diese Thatsache ist
zweifelsohne zuzugeben, nur vergifst A.^, dafs seine empiriokritische
Voraussetzung die Abspaltung transpsychischer Objecte in Ge-
stalt der i?-Werthe, welche dem vorfindenden Ich gegegenäber
gestellt werden, bereits involvirt ; die Introjection ist also nicht die
alleinige Sünderin. Dadurch, dafs Jf nun, wie Avenarius es darstellt,
den Standpunkt der Introjection verwechselt und auch sich selbst
Wahrnehmungen etc. einlegt und Objecte gegenüberstellt, fügt
M zu der empiriokritischen Voraussetzung, wie sie die Kritik der
reinen Erfahrung darstellt, kaum etwas hinzu: die U-Werthe
werden auch bei Avenaeius als Object vorausgesetzt und in
einen principiellen Gregensatz zu dem vorfindenden Individuum
imd den J5-Werthen gestellt. Nur die grobe räumliche Trennung»
die Introjection im wörtlichen Sinn hebt Avenabiüs auf, mid
hierin sehe ich allerdings ein imsterbliches Verdienst
Die ausgezeichnete Darstellung der concreten Formen, in
welchen sich die Introjection thatsächlich verwirklicht hat mid
noch verwirklicht (Nr. 55 fE.), ist erkenntnifstheoretisch belanglos.
Um so wichtiger ist die Kritik der Introjection (Nr. 118 ff.), auf
welche ich ausführlich eingehen will.
A. findet keinen Anlafs zu Bedenken, solange die Annahme der
^-Werthe auch für M nichts weiter besagt, als dafs Bewegungen
des Mitmenschen T im Sinne seiner eigenen Erfahrung in Be-
ziehung zu Sachen und Gedanken stehen und mithin eine ,.mehr
als nur mechanische Bedeutung" haben (Nr. 120). Die Annahme
von jE-Werthen wird für M „erst bedenklich", wenn der Inhalt
dieser Annahme zu etwas prijicipiell Anderem wird als der In-
halt seiner eigenen Erfahrung,' bezogen auf ein zweites mensch-
Uches Individuum, und letzteres tritt unvermeidlich ein, wenn
M die -B-Werthe schlechthin in den Mitmenschen T hineinverseüt
und damit behauptet, dafs das System C des Mitmenschen T die
JE'-Werthe „habe" (Nr. 121). Zweifelsohne hat A. damit einen
Krebsschaden vieler Erkenntnifstheorien, den Introjectionsfehler
1 x:
Nr. 111 eiiüTifeTt «t »\^V NC>\^^x^<^^\A ^^^^x Beziehung.
Erkenntnifatheoretische Auseinandersetzungen, 323
richtig aufgedeckt, während er den anderen Krebsschaden, die
Projectionshypothese in vielen Punkten bestehen läfst. Zur Be-
seitigung des Introjectionsfehlers untersucht A., „was denn eigent-
lich das Haben der -B-Werthe bedeute." Das negative Ergebnifs
dieser Untersuchung ist zweifellos richtig: das Gehirn „hat" die
Gedanken nicht Um so zweifelhafter ist, was A. an die Stelle
setzt: die „empiriokritische Principialcoordination". A. versteht
hierunter die principielle Coordination (gleichwerthige Zuordnung)
des Ich-Bezeichneten und eines Umgebungsbestand theils.^ Dieser
^^empiriokritische" Befund ist jedoch unklar. A. sagt uns nicht,
was er mit dem Ich-Bezeichneten und mit den Umgebungs-
bestandtheilen meint Offenbar denkt er bei den letzteren an
die „iJ-Werthe" der Kritik. Diese „iJ-Werthe" aber werden gar
nicht vorgefunden, sondern nur Empfindungen und Vorstellungen,
welche wir auf -B-Werthe beziehen, oder — im Sinn von
AvENAKiüs Aussagen und Aussageinhalte, d. h. jE-Werthe. Ich
finde nicht den Uragebungsbestandtheil Baum vor, sondern
meine nach Gröfse etc. sehr variable Empfindung „Baum" und
die zugehörige Vorstellung „Baum". Ebenso wird nicht ein
„Ich-Bezeichnetes" schlechthin vorgefunden, sondern die Em-
pfindung „mein Körper" und die Vorstellung „mein Körper."
Dazu kommen weitere Vorstellungen wie Ich- Vorstellung, Gott-
Vorstellimg, Kraft- Vorstellung etc., welche allenthalben sich ein-
stellen. Die Analyse ergiebt, dafs alle diese Vorstellungen
secundär aus den Empfindungen entstehen, hier und heute diese,
dort und morgen jene. Die Aufgabe der Erkenntnifstheorie
kann nur eine Kritik aller dieser Vorstellungen (Sach- Vorstellung,
Ich- Vorstellung -, Gott- Vorstellung , Kraft- Vorstellung etc.) sein.
Der einzige Ausgangspunkt sind die gegebenen Empfindungen.
Für die Auswahl unter den aus den Empfindungen gezogenen
Vorstellungen giebt es nur ein Kriterium: die bez. Vorstellungen
müssen aus dem Ges am mt bestand der Empfindungen ent-
^ Man beachte auch die nicht ganz unwesentliche Differenz gegenüber
i^r. 1 ff. der Kritik.
' Nr. 143 setzt Avenariüs sehr schön auseinander, dafs das „Ich-Be-
zeichnete** ganz im selben Sinn ein Gegebenes ist wie das als Baum Be-
zeichnete. Er hätte nur noch richtiger sich ausgedrückt, wenn er „das Ich-
"Bezeichnete" als Vorstellung charakterisirt hätte und nicht als „Elementen-
complex'* (Nr. 140), zu dem auch Erinnerungsbilder der Umgebung gehören
^Nr. 141).
324 ^*- Zi^^'
wickelt werden, sie müssen — in diesem Sinne — die all-
gemeinsten sein (vgl. Ps. Erkenntnifstheorie S. 92). Avknabius
kommt daher denn auch in der That von seinem Standpunkt
doch nicht über die Introjection und erst recht nicht über die
Selbstintrojection hinaus. Die Introjection wird nur
scheinbar beseitigt.
Dazu kommt eine weitere Lücke. A. führt mit Recht aus,
dafs das Gehirn die Empfindungen imd die Gredaiiken nicht
„hat". Hingegen bleibt er uns eine Aufklärung schuldig über
die besondere Rolle, welche das Gehirn bezw. das System C —
auch nach Avenaeius' Darstellung — mm eben doch einmal mit
Bezug auf imsere Empfindungen und Vorstellungen spielt.
Gerade durch die Ausschaltung der Introjection wird diese Frage
brennend. Leider aber hat A. sich den Weg zu dieser Frage
und ihrer Lösung verbaut Indem er nämlich den Empfindungs-
charakter der Umgebungsbestandtheile übersah, ignorirte er ihre
VariabiUtät, wie wir sie allenthalben unter dem Einflufs unseres
Nervensystems beobachten. Ein grünes Glas vor meinem Auge,
eine Chorioiditis in meinem Auge etc. ändert die Empfindungen.
Zu der von A. Nr. 157 ganz richtig erörterten Einwirkung
auf das System C kommt eine merkwürdige, den Duahsmus
immer wieder fordernde Rückwirkung des Systems C auf die
Empfindungen. Natürlich ist A. diese Rückwirkung, d. h. diese
Abhängigkeit der Empfindungen vom System C, nicht unbekannt
gelegentlich erwähnt er sie ausdrücklich, aber an der ent
scheidenden Stelle, im wichtigsten Zusammenhang übersieht er
sie. Daher die Enttäuschung, welche wohl aufmerksame Leser
bei Nr. 160 stets erfahren werden. Alle vorher besprochenen
Fehler und Unklarheiten wirken hier zusammen. Da ist vor
Allem der Umgebungsbestandtheil R. R ist z. B. für 3/, der
einen Baum durch ein rothes Glas betrachtet, roth. Sieht auch
T den Baum, so genügt es nicht für T die bez. Aendermig
seines Systems Cr durch R einzusetzen, sondern erst mufs B
selbst substituirt oder, wie ich es genannt habe, reducirt werden,
d. h. der Einflufs des Nervensystems von M bezw. des rothen
Glases vor Jlf s Auge, die rothe Farbe mufs eUminirt werden.
Diese Reduction ist von entscheidender Bedeutung. A. hat sie
nur deshalb übersehen, weil sein Umgebungsbestandtheil R ein
Zwitter zwischen dem hypothetischen extrapsychischen Object
und der U-Empfindung ist Avenaeius sagt uns wohl, dafs die
Erkefintnifstheoretische Auseinandersetzungoi. 325
^-Werthe des Mitmenschen T nicht von ü, sondern von den
durch R hervorgerufenen Schwankungen des Systems Cr un-
mittelbar abhängig sind, aber er sagt uns nicht, dafs das Ä,
welches die Schwankungen des Systems Cr hervorruft, ein
reducirtes R ist, eine Reductionsvorstellung aus Empfindungen
von M. Am nächsten kommt A. dem Problem in Nr. 162. Er
erklärt hier selbst, dafs wohl im Allgemeinen die Annahme zu-
lässig sei, dafs in den beiden Principialcoordinationen IJÜf \J\
und (T R) das Gegenglied R der Zahl nach eines sei, dafs
aber darum „freilich noch nicht sofort die weitergehende An-
nahme zulässig sei, dafs das Gegenglied R in beiden Principial-
coordinationen der Beschaffenheit nach dasselbe sei." Auf eine
Kritik dieser weitergehenden Annahme geht er nicht ein. Das
ist ja eben gerade das Problem: wir sehen uns gedrängt durch
Eliminationen ein nicht nur numerisch identisches, sondern auch
qualitativ identisches R vorzustellen; welche Eliminationen voll-
ziehen wir dabei und was ist diese reducirte -ß- Vorstellung? Das
sind zugleich die Fragen, welche ich zum Ausgangspunkt meiner
Untersuchungen gewählt habe. Die Antwort ergab sich dahin,
dafs die individuellen Empfindungen (Erlebnisse, das sinnlich
lebhafte Vorgefundene) nach 2 Gesetzen reducirt werden, nach
dem Gesetz der Causalf ormel und dem Gesetz der Parallelformel.
Die Causalformel giebt an, wie das reducirte R auf das Nerven-
system wirkt, die Parallelformel, wie dieses auf jenes im Sinn
der specifischen Energie (im weitesten Sinn) zurückwirkt. Die
individuellen -ß-Empfindungen sind die Resultanten dieses doppelten
Processes und sind daher, wie auch Avenabius sagt, nicht in
unserem Gehirn. Die -ß's haben durch die Reduction nicht etwa
ihren psychischen Charakter verloren, sondern nur die Abänderung
durch die individuellen Rückwirkungen der einzelnen individuellen
C-Systeme (d. i. Nervensysteme). Die Vorstellung reducirter R's
ist also nicht die Vorstellung einer nicht-psychischen (materiellen,
extrapsychischen) ReaUtät, sondern nur die Vorstellung einer
von bestimmten individuellen Beziehungen befreiten Realität.
Der Naturforscher substituirt aus heuristischen Gründen, der
gewöhnliche Mensch um der Einfachheit des Ausdrucks willen
eine neue „materielle'* Realität, die Erkenntnifstheorie mufs diese
ablehnen.^
^ Hbymans (diese Zeitschr. 22, 222) versteht nicht, ^\^o «vc\i ^\^ KxAr
326 ^* Ziehen,
Vielleicht hat Avenabius selbst gefühlt, dafs seine bis jetzt
allein berücksichtigteii beiden Hauptwerke über die Stellung der
B und über das Verhältnifs der Schwankungen des Systems C
zu den ^-Werthen und über die Natur der letzteren und auch
über das Verhältnifs der „vorfindenden Individuen** noch keine
genügende Auskunft geben und hat diese Lücke durch seine
„Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der
Psychologie"^ auszufüllen versucht Auch in diesen Abhand-
lungen hält AvENARiüs fest, dafs sich die „Mannigfaltigkeit von
thatsächlich Vorgefundenem" in zwei Haupttheile scheidet, das
Ich-Bezeichnete und die . Umgebungsbestandtheile. Die Analyse
des Ich-Bezeichneten soll ferner „ein Mehreres als einen reinen
Mechanismus imd mithin für meine Bewegungen eine mehr-
als -mechanische Bedeutung ergeben", welche Avenabius auch
fassung der reducirten Empfindungen als blofser Abstractionen aus den
concreten Wahrnehmungen mit dem Zusammenwirken von reducirten Object-
und •'-Empfindungen vor der concreten Wahrnehmung vereinbaren lasse.
Darauf mufs ich einfach erwiedern, dafs alle unsere metaphysischen, e^
kenntnifstheore tischen, religiösen Vorstellungen nur Abstractionen aus den
concreten Empfindungen, also Vorstellungen sind.. Auch die von mir ver-
tretene Vorstellung, dafs in den concreten Empfindungen reducirte, allge-
meine (d. h. von den individuellen Rückwirkungen der individuellen Nerven-
systeme befreite) Empfindungen (d. h. psychische Realitäten) enthalten sind,
ist und bleibt nur eine Vorstellung, aber selbstverständlich stelle ich mir
nicht vor, dafs diese reducirten Empfindungen etwa wieder als Vor-
stellungen oder Abstractionen in meinen concreten Empfindungen enthalten
sind, sondern als reducirte Empfindungen. Ich wollte nur dem skeptischen
Standpunkt treu bleiben, dafs auch meine Reductionen wie alle anderen
Speculationen nur Vorstellungen sind, die wir aus den Empfindungen
abstrahiren: ich wollte ihre ihnen wie allen erkenntnifstheoretischen etc.
Vorstellungen allezeit anhaftende Entstehungsweise betonen. Wenn ich
mir vorstelle, dafs morgen ein Blitz irgendwo zündet oder gestern ge-
zündet hat, so will ich damit nicht sagen, dafs der Blitz nur als Vorstellung
gezündet hat oder zünden wird. Oder: wenn ich mir vorstelle, dafs die
Erde vor Jahrmillionen eine glühende Kugel war oder nach Jahrmillionen
völlig erkaltet sein wird, so will ich damit nicht sagen, dafs die Erde als
Vorstellung beides erlebt, sondern nur, dafs die entsprechende Empfindung
mir fehlt. Dasselbe gilt auch von meinen reducirten Empfindungen: ali«
solche werden sie nie erlebt, meine concreten Empfindungen sind immer
von ihnen verschieden. Ich kann und — wie ich glaube — mufs mir nur
die Vorstellungen solcher reducirter Empfindungen bilden.
1 VicrteljaJirsschr. f. ms8, Philos. 18, S. 137 und 400 (1894) sowie 1»,
S. 1 und 129 (1895).
ErkenntnifstheoreHsche Auseinandersetzungen. 327
äIs „aniechanisch" bezeichnet Wenn auch Avenabius bei allen
-diesen Aufstellungen zunächst nur „seinen natürlichen Welt-
begriff" zu schildern angiebt und es dem Leser „überläfst, ob
und inwieweit er das, was er (Avenabius) von sich aussagt, als
Auch für sich (den Leser) gültig anerkennt", so geht doch aus
-dem Zusammenhang hervor, dafs Avenabius diesen Aufstellungen
■eine allgemeinere Gültigkeit vindicirt. Nun kann man wohl zu-
geben, dafs der thatsächliche imd allgemeingültige erkenntnifs-
theoretische Fimdamentalthatbestand , wie ich ihn dargestellt
habe, also die Gesammtreihe der Empfindungen und Vorstellungen
(mitsammt ihren Gefühlstönen) von vielen Individuen in ein
Ich-Bezeichnetes und in eine Umgebung zerlegt wird, dem ist
Aber sofort zuzufügen, dafs diese Zerlegung sehr schwankt, dafs
die Grenze zwischen dem Ich-Bezeichneten und der Umgebung
bald hier bald dort gezogen wird, und dafs von vielen In-
-dividuen aufser dem Ich-Bezeichneten und der Umgebung
noch anderes als coordinirt unterschieden wird (z. B. Gott)
xind dafs wir sehr häufig bei imserem Empfinden imd Denken
unser Ich nicht hinzudenken. ^ Es ist also eine kritische
Prüfung einer solchen Unterscheidung ganz unerläfslich. Diese
Unterscheidung mufs scharf, für alle Menschen verständlich und
durchführbar sein; ferner mufs ein die beiden Classen imter-
scheidendes Merkmal angebbar sein; sonst behält die Unter-
scheidung, wenn sie auch noch so verbreitet ist, nur Interesse
als häufig auftretende Unterschiedsvorstellung innerhalb der
Reihe, d. h. also wegen ihres Vorkommens; aber nicht als ver-
-werthbare Classification wegen ihrer erschöpfenden und allge-
meinen Beziehung zu allen Gliedern der Gesammtreihe. Diese
Anforderungen erfüllt die Unterscheidung der Gesammtreihe in
Empfindimgen und Vorstellungen, nicht aber die Unterscheidung
in Ich-Bezeichnetes und Umgebungsbestandtheile. Avenabius
wird hiergegen einwenden, dafs diese letztere Unterscheidung
•doch wenigstens für einige Menschen, z. B. ihn selbst zu Recht
besteht und also trotz ihrer Unzweckmäfsigkeit doch, da sie
nicht geradezu falsch ist, auch als Ausgangspunkt in Betracht
gezogen werden kann. In der That kann man auch von dieser
AvENABius'schen „empiriokritischen Principialcoordination" aus-
* Diesen Punkt hat auch Wundt in seiner Kritik des Empiriokriticis-
mus hervorgehoben, Philos. Sind. 13, 43.
328 ^*- Ziehen.
gehen, nur mufs man dann wegen der Unbestinimtheit und Un-
zweckmäXsigkeit des Ausgangspunktes bei den weiteren Schritten
doppelt vorsichtig sein, zumal auch die Namen „Ich-Bezeichnetes^
und „Umgebungsbestandtheile" leicht zu falschen Folgerungen
verführen. Diese Vorsicht aber hat Avenaeius in einem Haupt-
punkt versäumt, nämlich, wenn er weiterhin bei der Analyse
des Ich-Bezeichneten ein Amechanisches d. h. „ein Mehreres als
einen reinen Mechanismus" zu finden behauptet — Was versteht
Avenaeius unter „Mechanismus" imd „mechanisch" ? Man wird
in den beiden Hauptwerken ^ vergeblich nach einer genaueren
Erklärung suchen, dagegen giebt Avenaeius eine solche in
Nr. 30 fE.- seiner Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes
der Psychologie. Meine Bewegimgen, sagt Avenaeius, haben
eine mechanische Bedeutung, insofern die Bewegungen meiner
Glieder wieder die Bewegungen anderer Sachen im Sinn des
Gesetzes der Erhaltung der Energie zur Folge haben, dagegen
eine amechanische Bedeutung \ sofern sie zugleich z. B. eben ein
„Gefühltes" sind, mit welcher Bestimmung nicht eo ipso die-
jenige einer mechanischen Arbeitsleistung verbunden ist. Diese
Sätze enthalten eine Fülle von Hypothesen, deren sich gerade
die Erkenntnifstheorie enthalten soll. Vor Allem ist im Auge
zu behalten, dafs das Ich-Bezeichnete und die Umgebungsbestand-
theile nur „Erlebnisse" sind. Von einem Ich, das erlebt, und
von einem Baum, der erlebt wird oder gar auch existirt, wenn
er nicht erlebt (z. B. gesehen) wird, wissen wir noch garnichts.
In dem Fundamentalthatbestand sind u. A. noch alle die sog.
Täuschungen enthalten, welche wir erst nachträglich corrigii*en:
der Baum wird kleiner, wenn wir uns entfernen, der Stein ist
> Vgl. der menschliche Weltbegriff Nr. 12 und 120.
2 Vgl. auch Nr. 157 und 148.
^ Carstanjkn behauptet in seiner Antikritik {Vierteljahrsschr, f. iciss.
Philos. 22, 1898; 69) unter Berufung auf Nr. 27 der Bemerkungen z. Begr.
d. Gegenst. d. Psych., dafs Avenaeius gesagt habe, thatsächlich komme
den mitmenschlichen Bewegungen nur eine mechanische Bedeutung zu, die
amechanische legten wir ihnen erst bei. Mit dem Wortlaut von Nr. 27
stimmt dies doch wohl nicht überein, da Avenarius den mitmenschlichen Be-
wegungen die amechanische Bedeutung insofern abspricht, als sie „nur von
meinem örtlichen Standpunkt aus als Vorgefundenes betrachtet werden.*'
Sowohl die mechanische als die amechanische Bedeutung der menschlichen
Mitbewegungen ergiebt sich also jeweils nach dem Standpunkt der Be-
trachtung.
Erkenntnifatheoretische Ämeinanderaefzungen. 329
Wärmer, wenn unsere eigene Hand kalt ist, die Umgebung ist
gelb, wenn wir eine Santonindosis verschluckt haben u. s. f.
Gerade die Anwesenheit solcher „Täuschungen" ist für den
Fundamentalthatbestand charakteristisch. Für diesen imreducirten
Fundamentalthatbest£uid nun existirt kein Gesetz der Erhaltung
der Energie, weder für denjenigen Theil, den A. als Umgebungs-
bestandtheil bezeichnet, noch innerhalb des Ich -Bezeichneten.
AvENAMüs übersieht an dieser Stelle wiederum ganz, dafs erst
compUcirte Reductionen erforderlich sind, bevor das Gesetz der
Erhaltung der Energie nachgewiesen werden kann. Ohne diese
Reductionen ausgeführt zu haben, kann man weder bei den
Umgebungsbestandtheilen noch bei dem Ich -Bezeichneten von
mechanisch oder amechanisch sprechen. Führt man aber diese
Reductionen aus, so ergiebt sich auch bei den Umgebungs-
bestandtheilen eine amechanische Bedeutung neben der mecha-
nischen. Solange ich dem Baum-Erlebnifs seine grüne Farbe
belasse und das Grün nicht durch mechanische Vorgänge ersetze
d. h. eben die Baumempfindung reducire, kann ich das Gesetz
der Erhaltung der Energie nicht nachweisen. Es ist also mit
den Umgebungsbestandtheilen nicht anders als mit dem Ich-
Bezeichneten. Wohl aber ergiebt sich bei Berücksichtigung dieser
Reductionen eine Sonderstellung für unsere Erinnerungsbilder
oder Vorstellungen, insofern diese Träger der Reductionen sind,
aber selbst als solche keiner weiteren Reductionen (im passiven
Sinn) fähig sind.^ Man gelangt also auch vom Standpunkt der
„empiriokritischen Principialcoordination" von Avenariüs aus zu
der von mir an die Spitze der Analyse des Fimdamentalthat-
bestands gestellten Unterscheidung von Empfindungen und Vor-
stellungen und zu Reductionsvorstellungen der ersteren, d. h.
Zerlegung der Empfindungen imd zwar aller Empfindungen in
zwei Componenten entsprechend der Causal- und der Parallel-
formel.
AvENARiüs behauptet zunächst, wie sich aus Nr. 26 ergiebt,
^ Wir müssen an Stelle der Vorstellungen die Empfindungen setzen,
und auf die letzteren beziehen sich unsere Reductionen. Thatsächlich aus-
führbar ist diese Umwandlung der Vorstellungen in Empfindungen nicht.
Es ist der inverse Procefs der Abstraction und kann als Sensification be-
zeichnet werden. Ein pathologisches Beispiel bietet die Hallucination.
Durch technische oder künstlerische Darstellung wird sie auf Umwegen
erreicht.
330 ^- Ziehen.
dafs das ganze Ich-Bezeichnete ein Mehreres als einen reinen
Mechanismus darstellt; für seine weitere Untersuchung kommt
es ihm aber hauptsächlich auf die amechanische Bedeutung eines
Theils des Ich-Bezeichneten, nämlich „meiner Bewegungen" an.
Zu Gunsten der amechanischen (d. h. also nicht-nur- mechanischen)
Bedeutung der letzteren führt er in erster Linie an, dafs meine
Bewegungen nicht nur Arbeit leisten, sondern auch gefühlt
werden. Dabei erfahren wir jedoch nicht, was dies „gefühlt
werden" bedeutet. Alle primären Erlebnisse „werden gefühlt",
d. h. von diesem oder jenem Sinnesorgan vermittelt. In diesem
Sinn wird auch die Arbeitsleistung meiner Bewegimgen „gefühlt",
und das Gesetz von der Erhaltung der Energie beruht nur auf
solchen „gefühlten" Wahrnehmungen. Die soeben besprochene
Vernachlässigung unserer Reductionen rächt sich hier wiederum.
Weiter beruft sich A. zu Gimsten der amechanischen Bedeutung
meiner Bewegungen auch auf ihre Beziehungen zu Lust -Unlust,
Gedanken, Bedürfnissen etc. (Nr. 31), die keine mechanische, unter
dem Gesetz der Erhaltung der Energie stehende Arbeit leisten,
so wie dies meine Bewegungen thun (Nr. 32). Hiergegen ist nur
anzuführen, dafs eine Beziehung eines Vorgangs a zu amecha-
nischen Vorgängen doch wohl noch nicht eine amechanische
Bedeutung des Vorgangs a beweist Gerade die Bewegungen
meines Körpers stehen erkenntnifstheoretisch den Umgebungs-
bestandtheilen viel näher als den Erinnerungsbildern oder Vor-
stellungen, deren Sonderstellung wir anerkannt haben.
Die folgenden Argumentationen von Avenarius gegen die
Introjection (Nr. 35 — 63) sind vollständig correct Nur wenn er
glaubt, mit der Introjection auch den Gegensatz zwischen Subject
und Object aufgehoben zu haben, irrt er. Dieser Gegensatz
wird nur etwas verdeckt. Centralglied und Gegenglied sind
schliefslich doch nur andere Namen für Subject imd Object
Ich kann durchaus nicht finden, dafs, wie Avenabius Nr. 55 Anm.
annimmt, die Introjection für diese Gegenüberstellung w^esentUch
ist Ich glaube vielmehr, dafs erst durch meine Einführung der
v-Empfindungen diese Gegenüberstellung, s o w e i t sie unzutreffend
ist, wirklich beseitigt worden ist
Avenabius führt sein Ich-Subject^ durch ganz ähnliche
* WuNDT, Fhihsophische Studien 12, 1896; 319 hat, wie mir scheint, die
allgemeine Grundanschauung der immanenten Philosophie nicht richtig
Erkenntnifstheoretische Aviseinandersetzungen. 331
Hinterthüren ein wie so viele Metaphysiker. Die verdächtige
Hinterthür ist bei Avenabius die „volle Erfahrung". Avenarius
bemerkt wohl, dafs in zahlreichen Erfahrungen — als Erfahrung
wird Nr. 66 viel präciser als in den Hauptwerken einfach das
„Vorgefundene" bezeichnet — das Ich-Bezeichnete fehlt. Darum
scheidet er solche Erfahrungen einfach aus, indem er Nr. 72
den ganz künstlichen Begriff einer „im vollen Sinne concreten"
oder „vollen" Erfahrung construirt. Um als „voll" gelten zu
können, mufs die Erfahrung nach Avenabius zwei Bedingungen
erfüllen. Sie mufs erstens ein Individualbegriff sein, und zweitens
mufs der Inhalt der Erfahrung „ohne Abstractionen auch in dem
Sinn gesetzt sein, dafs darin nicht von analytisch bestimmbaren
Inhalten, welche in ihr eingeschlossen sind, abstrahirt worden
ist". Grerade gegen die zweite Bedingung erheben sich schwere
Bedenken. Diese volle Erfahrung enthält, wie Avenabius selbst
sagt, „auch alles das, was an ihr wohl unterschieden werden
kann, was aber nicht geschieden vorkommt; was in ihr wohl
übersehen werden kann, aber nie ganz fehlt". Warum läfst
Avenabius die Erfahrung, den empiriokritischen Befund nicht
so, wie er ist? Warum unterscheidet er gewissermaafsen eine
Erfahrung erster Classe, die volle Erfahrung, und eine Er-
fahrung zweiter Classe, die partielle Erfahrung? Wer soll
entscheiden, ob eine thatsächliche Erfahrung dieser oder jener
Classe angehört, ob an ihr noch etwas und was an ihr fehlt?
Aus der weiteren Darstellung (Nr. 73 ff.) ^ ergiebt sich, dafs nach
Avenabius die Erfahrungen des gewöhnlichen Sprachgebrauchs
gröfstentheils wegen dieser oder jener Abstractionen als partiell
gelten müfsten. Die Erfahrung „der Zucker schmeckt süfs" soll
partiell sein, weil sie vom menschHchen Individuum, das den
Zucker geniefst, und von der Lust oder Unlust beim Greschmack
des Süfsen absieht. Man darf doch hier Avenabius fragen,
warum einer Erfahrung, die beispielsweise allein im Süfsgeschmack
wiedergegeben, wenn er den Gegensatz zwischen dem denkenden Ich und
dem Empfindungsinhalt als einen wesentlichen Bestandtheil der immanenten
Lehre betrachtet. Wesentlich ist nur für die letztere, dafs aufser dem
gegebenen Bewufstseinsinhalt keine andere qualitativ verschiedene
Realität angenommen wird.
^ Ich vermuthe übrigens am Schlufs des 1. Absatzes von Nr. 78 einen
Druck- oder Schreibfehler. Der Sinn wird durch die gehäuften Negationen
entstellt.
332 ^- -^Ä«»«
besteht, gewaltsam noch solche Ergänzungen auf genöthigt werden
sollen, und wo die Grenze für solche Ergänzungen gegeben ist
Was meint ferner Avenarius mit den Abstractionen, welche die
Erfahrungen des gewöhnhchen Sprachgebrauchs „enthalten*"
sollen ? Meint er Abstractionen, die thatsächlich einmal bei dem
Erfahrenden stattgefunden haben, dann muTs ich sagen, dafs in
dem angeführten Beispiel die Vorstellung des den Zucker ge-
niefsenden menschlichen Individuums nicht nachträglich weg-
gelassen, sondern vielmehr nachträglich zugefügt worden ist;
denn der erste Süfsgeschmack des Kindes war gewifs nicht von
der Vorstellung eines den Zucker geniefsenden Individuums be-
gleitet. Oder meint Avenabius Abstractionen von Nebenempfin-
dungen ^ oder Nebenvorstellungen, die bei entsprechender Auf-
merksamkeit und Ausdehnung der Beobachtung stets neben der
ausgesagten Empfindung („der Zucker schmeckt süfs") nachge-
wiesen werden können und deshalb mitgedacht werden müssen?
Dann aber würden zu diesen Abstractionen auch die Geschmacks-
Papillen und ihre feinsten mikroskopischen Structuren gehören»
und die volle Erfahrung würde niemals gegeben sein. Ich frage
daher nochmals : wo ist die Grenze ? und wer schützt uns davor,
dafs das Fehlen dieser oder jener hypothetischen Vorstellung,
welche wir z. B. gewohnheitsmäfsig oft früher an die ausgesagte
Empfindung geknüpft haben, es sei nun die Annahme eines
empfindenden Ich oder in bestimmter Weise zusammengesetzter
Zuckermoleküle, als eine Abstraction gedeutet wird, die wir
schleunigst revociren müssen, und dafs uns schliefslich als ^voUe*
Erfahrung nun eine mit Hypothesen versetzte Erfahrung be-
scheert wird.
In der That bewahrheitet sich diese Befürchtung bei Avenabius
durchaus. Nr. 77 wird unter dem Deckmantel der vollen Er-
fahrung das Ich-Subject und die Umgebung eingeführt. Jede
volle Erfahrung gliedert sich, heifst es da, in zwei Hauptbestand-
theile, das Ich-Bezeichnete und die Umgebung. Es wird also
vorausgesetzt, dafs das Ich-Bezeichnete zu den Inhalten gehört,
von welchen bei den partiellen Erfahrungen des gewöhnlichen
Sprachgebrauchs oft abstrahirt wird. Würde Avekarius uns
* Das Vorwort „Neben" soll hier keine Unterordnung ausdrücken,
sondern nur das Auftreten neben, d. h. zugleich mit der ausgesagten Em»
pfindung G,tler Zucker schmeckt sttfs").
Erkenntnißiheoretische Auseinandersetzungen. 333
sagen: ich will eine Erfahrung, welche in diese beiden Glieder
zerfällt, als volle Erfahrung bezeichnen, so könnte man sich,
wie jede Terminologie, so auch diese schliefslich trotz der Gefahr
arger Mifsdeutungen noch gefallen lassen. Aber Avenabius
will, wie der Zusammenhang und der Wortlaut ergiebt, mehr
sagen, nämlich dafs auch in den Erfahrungen, welche das Ich-
Bezeichnete nicht enthalten, dieses Ich -Bezeichnete nur in
Folge einer Abstraction fehlt und zu ergänzen ist Ausdrücklich
sagt AvENAEius (Nr. 78), eine Erfahrung „Umgebung** komme
nicht vor, ohne dafs in dieser Erfahrung das Ich-Bezeichnete
^eingeschlossen" wäre. Das wäre aber doch erst noch nachzu-
weisen. Die Berufung auf Nr. 21 (in Nr. 77) ist nicht stichhaltig.
In Nr. 21 hat A. behauptet^ dafs der thatsächlich vorge-
fundene Bestandtheil seines natürlichen WeltbegrifEes in Ich-
Bezeichnetes und Umgebung zerfällt, jetzt will er in Nr. 21
nachgewiesen haben ^ dafs jede volle Erfahrung eine
zunächst zweifach bestimmte Mannigfaltigkeit sein mufs, welche
sich in Ich-Bezeichnetes und Umgebung gliedert. Da hat sich
doch zwischen den Seiten der harmlose Satz des § 21 in sehr
bedenkUcher Weise umgestaltet. An keiner Stelle hat
AvENARius ein klar unterscheidendes Merkmal oder
eine scharfe Grenzbestimmung zwischen dem Ich-
Bezeichneten und der Umgebung gegeben, an keiner
Stelle die Triftigkeit dieser Gliederung begründet.
In dieser Beziehung tritt er fast ebenso dogmatisch auf, wie
irgend ein Systembildner, der den Gegensatz „Subject — Object"
oder „Psychisch — Materiell" ohne Weiteres als gegeben ansieht
Er kehrt damit auch in dieser neuesten Abhandlimg auf den
principiellen Anfangsstandpunkt zurück, den er in der Kritik
der reinen Erfahrung und namentlich im Weltbegriff einge-
nommen hatte.
Es verlohnt sich noch etwas näher zu verfolgen, wie A. die
Abgrenzung des Ich-Bezeichneten gegen die Umgebung ver-
sucht hat. Gemeinsam im logischen Sinn soll dem Ich-Be-
zeichneten imd den Umgebungsbestandtheilen in gewissem Um-
fang die allgemeine Bestimmung als „Sache" oder „Sachhaftes^
sein (Nr. 80). Ich vermag diesen Satz nicht mit Nr. 509 fE. der
' Der gesperrte Druck in diesem Satz stammt von mir.
* Im Text heifst es: wir „wissen" nun schon.
334 ^Ä- Ziehen.
Kritik der reinen Erfahrung in Uebereinstimmung zu bringen.
Dort (Kr. d. r. Erf. Nr. 509) sind es die Abhängigen der peri-
pherisch bedingten Aenderungen des Systems C, welche als
Sachen gesetzt sind, mithin nach dem gewöhnlichen Sprach-
gebrauch die Empfindungen oder Wahrnehmungen. Die Er-
innerungsbilder oder Vorstellimgen sind jedenfalls nach der dort
gegebenen Definition von der Sachhaftigkeit ausgeschlossen.
Jetzt (Nr. 80) wird die Sachhaftigkeit auch dem Ich-Bezeichneten
ganz allgemein zugesprochen; zu diesem Ich-Bezeichneten ge-
hören aber auch die Gedanken (Nr. 22 u. 81); also wären diese
nun auch sachhaft?! Doch man wird den Satz des Avenabiüs
vor diesem Widerspruch vielleicht dadurch bewahren wollen,
dafs man seine Worte „in gewissem Umfang" als eine Ein-
schränkimg auffafst AvENABius könnte gemeint haben, dafs nur
einem Theil des Ich-Bezeichneten die Sachhaftigkeit mit den
ümgebungsbestandtheilen gemeinsam ist. Dann kann jedoch
erstens von einer logischen Gemeinsamkeit nicht mehr ge-
sprochen werden, und zweitens wird damit zugegeben, dafs die
natürliche Grenze nicht zwischen dem Ich-Bezeichneten und den
Ümgebungsbestandtheilen , sondern zwischen dem Sachhaften,
als Sache Gesetzten und den Gedanken oder — nach meiner
Bezeichnungsweise — zwischen Empfindungen und Vorstellungen
verläuft, dafs sie also mitten durch das Ich-Bezeichnete hindurch-
geht.
Aufserdem ist es höchst befremdlich, dafs die Bestimmung
als Sache oder Sachhaftes nun den Ä-Werthen zugeschrieben
wird, während sie in der Kritik den jE-Werthen zukam.
Auch scheint mir unzweifelhaft, dafs A. noch in einer
anderen Beziehung seinen Standpunkt bezügUch des Ich-Be-
zeichneten etwas verschoben hat. In der Kritik der reinen Er-
fahrung wird der menschliche Leib und speciell auch das
System C nicht so schlechthin zum Ich-Bezeichneten gerechnet
wie in den Bemerkungen zum Begriffe des Gegenstandes der
Psychologie. Vgl. z. B. Kritik Nr. 62 und Cabstanjen L c. S. 272
Anm. In der Kritik der reinen Erfahrung schimmert die richtige
Grenzlinie noch öfter durch, Avenamus bleibt sich noch theil-
weise bewufst, dafs der Leib 'einschhefsHch des Systems C uns
zunächst durchaus in derselben oder sehr ähnlichen Weise ge-
geben ist wie die Umgebungsbestandtheile , nämlich in Gestall
von sinnHch lebhaften Empfindungscomplexen. In den Be-
Erkenntnifstheoretische Aiueinandersetzungen. 335
merkungen tritt diese Erkenntnifs schon ganz in den Hinter-
grund.
Wenn nach diesen Ausführungen das gemeinsame Merkmal,
welches A. für das Ich-Bezeichnete und die Umgebungsbestand-
theile angiebt, schon höchst zweifelhaft ist, so gilt dies noch
mehr von dem Unterschied, welchen er zwischen beiden auf-
stellt (Nr. 81). Dieser Unterschied läuft nämlich darauf hinaus,
dafs in der Erfahnmg „Ich" weit mehr Erfahrungen einge-
schlossen seien als in der Erfahrung „Baum", „Stein" u. s. f.
Also der einzige Unterschied, den A. für seine principielle
Hauptgliederung angiebt, ist ein quantitativer. Und wie
schwach begründet ist noch dazu dieser quantitative Unterschied I
Dadurch, dafs Avenabius das gesammte Ich-Bezeichnete einem
einzelnen Umgebungsbestandtheil, wie Baum oder Stein gegen-
überstellt, wird einen Augenblick ein solcher quantitativer Unter-
schied vorgetäuscht Sobald ich mir aber die Gesammtheit
meiner Sachempfindungen, d. h. der Umgebungsbestandtheile
vergegenwärtige und ihr die karge Zahl meiner Vorstellungen,
Gefühle u. s. f. gegenüberstelle, so wird das Resultat des Ver-
gleichs schon sehr zweifelhaft Und ein solch zweifelhafter
quantitativer Unterschied soll eine principielle Zweitheilimg des
erkenntnifstheoretischen Fundamentalthatbestandes begründen
können?! Gerade aus diesem verunglückten Versuch einer
Unterschiedsbegründung mufs man schliefsen, dafs die Avenarius'-
sche Zweitheilung nicht richtig ist, d. h. vor Allem nicht im
Stande ist, erkenntnifstheoretisch weiter zu führen.
Die AvENAEiüs'sche Principialcoordination „Ich-Bezeichnetes
und Umgebungsbestandtheile" kann daher nicht als „die all-
gemeinste formale Bestimmung der vollen Erfahrung ihrer all-
gemeinen Form nach" (Nr. 90) anerkannt werden, wenn man
unter der vollen Erfahrung nicht geradezu eben ausschliefsUch
die Erfahrung versteht, wo gelegentlich einmal — z. B. bei
AvENABirs selbst — diese Gegenüberstellung von einem Menschen
gedacht wird. Unter keiner Bedingung aber darf man die Er-
fahiningen des gewöhnlichen Sprachgebrauchs sämmtlich als die
„materialen Bestimmungen" dieser vollen Erfahrung (Nr. 91)
bezeichnen. Der Nachweis, dafs in diesem Sinne die gewöhn-
lichen Erfahrungen alle der AvENABius'schen Principialcoordination
subsumirt werden können, ist nicht geführt
Die weitere Ausführung der Lehre von den partiellen Er-
336 ^- Ziehen.
fahrungen verwickelt Avenarius in neue Schwierigkeiten. Er
theilt die partiellen Erfahrungen ein in Elemente bezw. Elementen-
complexe und Charaktere. Ich will hier mich nur gegen die
Avenarius 'sehe Besprechung der ersteren wenden, weil sie für
die Erkenntnifstheorie unmittelbar bedeutsam ist. Die Elemente
theilt Avenarius nämlich, je nachdem sie sachhaft oder gedenken-
haft sind, in die „körperlichen Dinge" und die „nichtkörperlichen
Dingerinnerungen und -phantasien" (Nr. 93). Hier erhebt sich
nun die Frage, was A. unter den körperlichen Dingen versteht:
die Empfindungserlebnisse selbst mit allen ihren sogenannten
subjectiven Zuthaten und Täuschungen (also die Empfindimgen
meiner Erkenntnifstheorie) oder Dinge, die von diesen Em-
pfindungen verschieden sind? Im letzteren Fall hat Avenarius
ganz vergessen uns zu erläutern, wieso er zu diesen „Dingen**
kommt. Die Reductionen und Eliminationen werden übergangen.
Man wird vielleicht im Hinblick auf die Kritik der reinen Er-
fahrung die Meinung von Avenarius dahin erläutern wollen,
dafs wir die Empfindungserlebnisse „als Sachen setzen". Aber
auch damit ist nichts gebessert. In der Kritik der reinen Er-
fahrung werden die Sachen nur charakterisirt dm'ch ihre Ab-
hängigkeit von direct peripherisch beanspruchten Partialsystemen
(Nr. 509). Sie sind noch ganz mit unseren uncorrigirten Em-
pfindungserlebnissen identisch. Das „setzen" wird gar nicht
näher erläutert. Man wird sich also wohl doch zu der anderen
Alternative entschliefsen müssen, dafs A. mit den körperlichen
Dingen unsere uncorrigirten Empfindungserlebnisse meint. Dann
aber ist ganz unverständlich, mit welchem Recht er dieselben
ausschliefslich den Naturwissenschaften zuAveist und vom Gegen-
stand der Psychologie ausschliefst. Warum sollte die Empfindungs-
lehre ganz der Psychologie entzogen werden ? Nach meiner Auf-
fassung ergiebt die Analyse der Empfindungserlebnisse zwei Be-
standtheile: einen dem Causalgesetz unterworfenen Reductions-
bestandtheil, mit dem sich die Naturwissenschaften beschäftigen,
und einen dem Parallelgesetz folgenden subjectiven d. h. von
individuellen v - Empfindungen abhängigen Bestandtheil , mit
dem sich die Psychologie beschäftigt. Avenarius begnügt sich
nicht vom Gegenstand der Psychologie Abhängigkeit vom aus-
sagenden Individuum zu fordern (Nr. 101), sondern er verlangt
auch Gedankenhaftigkeit. Offenbar kam A. zu dieser Forderung,
weil er die Erfahrung der Pendelschwingungen, der Fallgesetze
Erkenntnifstheoreti^che Auseinandersetzungen, 33?
und anderer Eznpfindungsthatsachen mit Recht aus der Psycho-
logie fernhalten wollte« Aber dabei hat er vergessen, daXs ii^
den Empfindungserlebnissen (ebenso wie in den Erinnerungen)
auch ein yom aussagenden Individuum abhängiger Factor steckt,
von dem die Naturwissenschaft bei ihren Gesetzen geradezu ab-
sieht. Unbemerkt haben sich für Avenabius die Empfindungs-
erlebnisse doch in rein materielle Dinge verwandelt Die weiteren
Ausführungen Nr. 103 — 106 berühren darum so seltsam, weil die
Gedankenhaftigkeit, die kurz vorher (Nr. 101) noch von dem
Gegenstand der Psychologie als Bedingung gefordert wiu*de, nun
plötzlich weggelassen wird. In der Kritik der reinen Erfahrung
wird man solche Inconsequenzen nicht finden.^ Die Definition
des Gegenstandes der empirischen Psycholc^e, wie sie Nr. 111
und 113 gegeben wird, erwähnt ebenfalls die Gedankenhaftigkeit
nicht und beschränkt sich mit Recht auf die individuelle Ab-
hängigkeit bezw. die Abhängigkeit vom System C. Man kann
nur zweifeln, ob es nützlich ist die letztere Abhängigkeit an die
Stelle der ersteren zu setzen.
A. glaubt freilich mit diesen Erörterungen seinen Weltbegriff
vom metaphysischen Dualismus befreit zu haben. „Der absolute
Gegensatz von Leib und Seele, Materie und Geist, kurz von
Physischem und Psychischem^ soll nunmehr ausgeschaltet sein.
In der That ist jedoch die Ausschaltung dieses Gegensatzes
AvENABius nicht gelungen. Etwas verschleiert kehrt derselbe
Cregensatz wieder in der Unterscheidimg des Ich-Bezeichneten
und der Umgebungsbestandtheile , in der Unterscheidung der
i?-Werthe und der -E-Werthe, in der Unterscheidimg des
Amechanischen und des Nur -mechanischen und in der Unter-
scheidung der Sachen und der Gedanken. Wir haben gegen
den einen Gegensatz des Materiellen und Psychischen vier
noch dazu nicht klar von einander geschiedene Gegensätze ein-
getauscht
A. gründet seineu Anspruch den Gegensatz zwischen
Psychischem und Physischem ausgeschaltet zu haben auf ein
seltsames Argument (Nr. 119). „Innerhalb der geläuterten vollen
Erfahrung giebt es, sagt Avenakiüs, Psychisches-Materie im
metaphysischen absoluten Begriff nicht, weil die Materie in
* Dabei ist zuzugeben, dafs A. durcli das Wörtchen „scheint" in Nr. i)4
0ich einen Rückxug offen gehalten hat.
Zeitsclirift för Psychologie 27. 22
33g Th. Ziehen.
jenem Begriff nur ein Abstractum ist : sie wäre die Gesammtheit
der Gregenglieder unter Abstraction von jedem Centralglied.*'
Die volle Erfahrung, jetzt sogar die „geläuterte*^ volle Et&hrong
wai* ein gekünstelter, anfechtbarer Begriff. Weil nun hypothetisch
jede partielle Erfahrung zu einer solchen vollen ergänzt werden
kann, versichert A., wo eine partielle Erfahrung wie Materie
vorliege, habe eine Abstraction stattgefunden, und nennt
deshalb eine solche Materie im metaphysischen absoluten Begriff
ein Unding. In dem Ergebnifs stimme ich völlig überein, die
Gründe aber, welche Avenabiüs hier vorbringt, sind nicht stich-
haltig.
Dafs in seinem System der Gegensatz „.B-Werthe und
-B-Werthe" und der Gegensatz „Ich-Bezeichnetes und Umgebungs-
bestandtheile" in den meisten Punkten dem vermeinthch aus-
geschalteten Gegensatz „Psychisches und Physisches'' entspricht^
scheint Avenarius entgangen zu sein. Wohl aber fühlt er selbst,,
dafs der von ihm acceptirte Gegensatz „Sachhaftes und 6e-
dankenhaftes^ (zwischen dem Baum als körperlichen Ding und
dem Baum als nicht-körperlichen Gedanken) den alten Gegensatz
zwischen Physischen und Psychischen doch wieder ins Leben zu
rufen scheint (Nr. 121 ff.), und versucht darum ausdrücklieh
nachzuweisen, dafs dieser Unterschied durchaus nicht derjenige
ist, welcher Physisches und Psychisches absolut scheidet. In der
That hat auch dieser Unterschied zwischen dem Sachhaften
„Baum" und dem Gedankenhaften „Baum" mit dem Unterschied
zwischen Physischem und Psychischem gar nichts zu thun, so-
lange man den Empfindungscharakter des Sachhaften „Banm"
durchaus walirt, also unter dem Sachhaften „Baum" nur das
Empfindungserlebnifs mit den charakteristischen sogenannten
subjectiven Zuthaten, Täuschungen bezw. Modificationen, kurz
das Empfindungserlebnifs so wie es ist versteht. Aber schon die
Bezeichnung, „körperliches Ding" welche A. diesem Empfindungs-
erlebnifs giebt, führt irre, und erst recht lehrt die oben gegebene
genauere Verfolgung seiner Lehre, dafs er diesen Erlebnifs-
charakter in keiner Weise wahrt.
Auch wenn Avekabius (Nr. 123) sich dagegen verwahrt, dafs
sein Begriff des Mehr-als-Mechanischen etwa versteckt den Begriff
des Psychischen wieder einführe, kann er sich nur auf die oben
hervorgehobene Unklarheit dieses Begriffes berufen.
Endlich legt sich A. (Nr.. 124 ff.) noch die Frage vor, wie
Erkenntnifsthearetische Auseinandersetzungen, 339
nach seiner Lehre sich das Ich, das einen Nadelstich empfindet,
unterscheidet von einem leblosen Umgebungsbestandtheil, welchem
man ein Empfinden des Nadelstichs abspricht? . Damit ist in
der That das Problem bis zu einem gewissen Grade richtig
wiedergegeben. A. formulirt diese Frage des Weiteren dahin:
wie unterscheidet sich ein CentralgUed von einem Gegenglied,
welches nur als solches d. h. nicht auch als Centralglied einer
zweiten Principialcoordination angenommen wird ? Avenasiüs
glaubt nun, dafs ein solcher Unterschied bezüglich Gröfse,
Schwere, Form, Farbe etc. nicht in Betracht kommt. Einen
anderweitigen Unterschied könnte er sich nur denken mit Bezug
auf die Hypothese, welche den mitmenschlichen Bewegungen
eine mehr-als-mechanische Bedeutung zuspricht (Nr. 27) und so-
mit das Gegenglied der ersten Principialconstruction als Central-
glied einer zweiten auffasst Ein Vergleich in dieser Richtung
ist aber nach Ayenarius logisch ausgeschlossen, da ja die Ab-
wesenheit einer zweiten Principialcoordination vorausgesetzt wird.
Ich kann diese genaueren Ausführungen in Nr. 130 und 131
nur als sehr gekünstelt bezeichnen und mufs ihr Ergebnifs be-
streiten. Weshalb ist es „sofort klar", dafs ein Unterschied in
Gröfse, Schwere etc. nicht in Betracht kommt für den Unter-
schied zwischen mir und einem leblosen Umgebungsbestandtheil
z. B. einem Stein? Gerade die natürliche Auffassung giebt die
einfache Antwort: ich habe ein Centralnervensystem und der
Stein nicht An die Anwesenheit des ersteren, bezw. bestimmter
Theile des ersteren ist das Empfinden des Nadelstichs geknüpft.
Dies Centralnervensystem gehört doch wohl zum „thatsächUch
Vorgefundenen". Avenariüs erkennt auch sonst seine Rolle
aUenthalben an^; warum wird es hier übergangen?
Vom Standpunkt meiner Erkenntnifstheorie erledigt sich die
Frage von Avenariüs sehr einfach. Meine Empfindungserlebnisse
zerlegen sich in Componenten, welche nach den Gesetzen der
mechanischen Causalität aufeinander wirken, und in Componenten,
welche dem Parallelgesetze folgen. Durch Reduction der Em-
pfindungserlebnisse bezw. durch Elimination der zweiten Com-
ponenten erhalte ich die ersten Componenten, die Reductions-
bestandtheile. Die Anwesenheit der Parallelcomponenten ist an
' So tritt in Nr. 141 ff. und 167 ff. seine Bedeutung schon wieder hervor.
22»
g40 ^- Z^^f^^-
die Anwesenheit eines Nervensystems^ geknüpft und kann als
eine „Rückwirkung^ eines solchen Nervensystems aufgefaCsl
werden. Der Stein hat kein Nervensystem und bedingt daher
keine Rückwirkungen. Insofern hat der populäre Ausspruch
recht, wenn er dem Stein Empfinden abspricht Irrthümlich ist
nur die mit diesem Ausspruch meist verknüpfte Ansicht, daüs
ich meine Empfindungen in mir trage und dafs diese Empfin-
dungen zum Stein in dem Gegensatz von „psychisch^ und
„materiell'^ stehen. Alles ist Empfindungserlebnifs und insofern
psychisch. Indem ich die Reductionsbestandtheile herauslöse,
eliminiere ich nicht das Psychische, sondern nur die individuellen
Rückwirkungen. Nur diese letzteren unterscheiden den Reductions-
bestandtheil meines Gentralnervensystems von dem Reductions-
bestandtheil des Steins.
Am nächsten kommt Avenabius dieser Auffassung in den
Ausführungen Nr. 143 — 146. Was er hier als logische Abhängig-
keit^ der partiellen Erfahrung „schmerzhafter Stich" von der
anderen partiellen Erfahrung „System C" bezeichnet, deckt sich
im Wesentlichen mit dem, was ich Parallelgesetz genannt habe. *
Die Bezeichung ,,logi8che Abhängigkeit" ist hier jedenfalls irra-
führend; A. ersetzt sie selbst später (Nr. 155) durch die Be-
zeichnung ,, psychologische Abhängigkeit". Vor Allem aber hat
AvENARius auch an dieser Stelle den, wie mir scheint, ent-
scheidenden Punkt übersehen, nämlich die Thatsache, dafs unsere
Objectvorstellungen durch fortschreitende Elimination indivi-
* Dieses zerfällt natürlich, wie ich dies ausführlich erörtert habe, auch
selbst in einen Reductionsbestandtheil und eine Parallelcomponente.
' WuNDT (a. a. O. z. B. S. 62) scheint mir in diesem Punkte Avbhabics
nicht ganz gerecht zu werden. W. behauptet nämlich, Avenabius „nehme
von vornherein eine Abhängigkeit aller psychischen Werthe von den
Aenderungen des Systems C an*'. Thatsächlich behauptet dies AvENARirs
nicht von allen psychischen Werthen, sondern von allen iiJ-Werthen;
schwerlich würde er sich die Einsetzung des Terminus „aller psychischen
Werthe" für alle £?- Werthe gefallen lassen. In der ursprünglichen Avrnarit^
sehen Form ist der Satz empirisch, wie mir scheint, völlig genügend be
gründet. Auch der WuNirr'schen Kritik S. 88 und 89 vermöchte ich nicht
beizupflichten.
^ Nur wird in meinem Gegensatz: Causalgesetz-Parallelgesetz zugleich
ein anderer (Jegensatz von Avenarius mit eingeschlossen, nämlich derjenijfe
zwischen Coniplementärbedingung und systematischen Vorbedingungen.
Vgl. Krit. d. r. Erf. Nr. 485, 450 und 29.
ErkenrUnifstheoreüsche Ausünandersetzungen, 341
dueller dem Pafallelgesetz folgender Rückwirkungen entstehen;
Er hat nicht erkannt, dals die £-Werthe^ (^Aussageinhalte^,
^Erfahrungen^) nichts Anderes sind als Componenten der ^Um^
gebungsbestandtheile^ (jR-Werthe''), dafs sie losgelöst von den
letzteren gar nicht existiren, dafs sie nur die „Rückwirkungen^
des Reductionsbestandtheiles unserer Centralnervensysteme auf die
Reductionsbestandtheile anderer Empfindungserlebnisse sind, wo-
mit denn auch der Gegensatz Centralglied und Gregenglied eine
ganz andere Bedeutung bekommt. So kommt es auch, dafs
AvENABius schliefslich (Nr. 148 u. 149) nicht nur den Dual ist
m u s nicht definitiv überwunden hat, sondern auch zwei Formen
des Parallelismus übrig behält, den Parallelismus zwischen
der mechanischen und der amechanischen Bedeutung der
menschlichen Bewegungen und den Paralielismus zwischen be-
stimmten Aenderungen des Systems C und ihren „logischen Ab-
hängigen^ (im Sinne der oben erwähnten logischen Abhängig«
keit). Er glaubt diese Parallelismen gewissermaafsen dadurch
entschuldigen zu können, dafs er sie empirische Parallelismen
nennt und den „gewöhnlich angenonmienen*' Parallelismus als
metaphysisch bezeichnet, doch vermisse ich eine klare Be-
stimmung und Rechtfertigung dieser beiden Attribute ganz und
gar; ich wüfste nicht, inwiefern beispielsweise der Parallelismus
der mechanischen und amechanischen Bedeutung der mensch-
lichen Bewegungen weniger metaphysisch wäre als der gewöhn-
liche Parallelismus.*
AvKNARius versteht ursprünglich unter den j&Werthen die
Aussagen. Allmählich aber schieben sich den Aussagen die
Aussageinhalte unter, und letztere werden ganz mit den Bewufst-
Seinsinhalten identificirt. Wenn Avenahius die letztere Bezeichnung
perhorrescirt , so ist sein Motiv die Furcht vor introjectio-
nistischen Mißverständnissen. Hütet man sich vor diesen, so
ist, wie auch Garst an jen ausdrücklich sagt -, „gar nichts dagegen
' Ich gehe in dieser vorwiegend erkenntnifstheoretischen Fragen ge-
widmeten Arbeit nicht näher auf die positive Bezeichnung des Gegenstandes
der Psychologie bei AvENARa's (Nr. 161 ff.) ein und hebe nur beiläufig
hervor, dafs seine Definition der Psychologie zu eng ist, wenn er die
Psychologie auf die Betrachtung der Erfahrungen unter dem besonderen
Gesichtspunkt ihrer Abhängigkeit vom Individuum (vom System C) he-
schränkt.
• A. ». 0. 192 Anm. 1.
342 ' Tk. Ziehen,
I '■■••. , ••
einshiwenden^ V däfe mia'n rbn : BäirafstseUielinfaiCl^
^ Werthex^' ^richt. Wo&l inuis : mäH ' d^nii i. aber r cfragexL! i '. mü
welchem Recht darf Avenabit7& befaiiipten; dafa wir- E^eräkQ
und Umgebungsbestandtheile vorfindeli^? Lefs^tere süid. :d6^
in den ersteren enthalten oder, 'werden^ wenn? man: ;:i;inter dtei
i{-Werthen die Reduötiönsbestandtheilä Tersteht/ eist wa. .deh
ersteren durch Reduction abgeieite^t. Ein:' Hauptmangel., der
AvENABius'schen Lehre liegt auf ierkenntnifstheoretifichem' Gebiet
eben in der Annahme von Umgebungsbe^tandtheilen (U-^Wertben)
neben den JS-Wertheh und in der Unbestimmtheit dieser Umr
gebungsbestandtheile. Anfangs konnte man glauben , dals
AvENARius als -R-Werthe. unsere Euipfhiduhgen bezeichnet so wie
sie sind, aber seine späteren Ausführungen zeigen . zweifelloB
(vgl. z. B. die Erörterungen über die Abhängigkeit der. akustit
sehen Aussagewerthe von den physikalischen Schwingungen),
dafs er die von der Naturwissenschaft substituirten Reductions-
bestandtheile als i2-Werthe bezeichnet. Hier hätte es doch jeden-
falls einer Kritik und Bedeutungserklärung dieser Reductionen
und Substitutionen bedurft.
Die Frage, welche Avenarius im letzten Abschnitt behandelt,
lautet in ihrer definitiven Fassung (Nr. 164) : Welche Bedingung
mufs durch die Gegenglieder erfüllt sein, um dieselben — von
meinem örtlichen Standpunkt aus betrachtet — zugleich als
Centralglieder annehmen zu dürfen? Von meinem Standpunkt
aus würde dieselbe Frage lauten : welche Reductionsbestandtheile
üben Rückwirkungen im Sinne des Parallelgesetzes aus? Die
Antwort von Avenarius ist ungenügend. Er behauptet, dafs ein
Gegenglied nur dann auch zugleich als CentralgUed anzunehmen
ist, wenn ihm der Wert „bestimmte Aenderimg des Systems C"
substituirt werden kann. Diese Antwort ist jedoch ohne jeden
Werth, da wir gar nicht wissen, was das System C ist Es ist
nur definirt worden auf Grund seiner Rolle in der Principial-
coordination. Die Antwort von Avenarius läuft also auf eine
Diallele hinaus. Wohl hat er gelegenlich als Beispiel für das
System C das Centralnervensystem angeführt, nirgends aber be-
stimmt gesagt, geschweige denn bewiesen, dafs nur dieses im
Stande ist die bez. Rolle in der Principialcoordination zu spielen.
Auch der Ergänzungsversuch (Nr. 176 ff.) ist nicht gelungen.
V
* Vgl. aufser der Krit. d. r. Erf. selbst auch Carstan ^ a. O. S. 190.
Erkenntnifstheoretische Auseinandersetzungen, 343
Man kann ihn kurz so resumiren: das System C ist bei dem
wachenden erwachsenen Menschen das Centralnervensystem : hier
ist es actuelles Centralglied. Bei Ablenkung der Aufmerksamkeit
(Nr. 177), im Schlaf (Nr. 182), vor der Geburt (Nr. 183) ist es
potentielles Centralglied, desgleichen dürfen beliebige Umgebungs-
bestandtheile, auch anorganische, sofern sie als befähigt ange-
nommen werden 'müssen ÄtT' Systemen £? werden ^zu können, in
Bezug auf eine künftige individuelle Umgebung als potentielle
Oentralglieder angenommen werden. Auch diese Antwort ist
•durchaus unbefriedigend : wir woileti wisscüa, welche Beschaffen-
lieit, Zusammensetzung u. s. f die Umgebungsbestandtheile haben
müssen, um als Centralglied gelten zu können. Ist z. B. das
Nervensystem der Medusen schon als Centralglied zu betrachten
oder gar schon die Neuromuskelzellen der Polypen oder etwa
auch das contractile Protoplasma der Amöben und die reizleiten-
den Grewebesysteme mancher Pflanzen oder endlich (mit Haeckel)
jedes organische und anorganische i^Iolekül und Atom ? Die rein
formale Antwort von Avenarius, führt uns dem Problem .keinen
Schritt näher, da das System C nur bezüglich seiner FunctioijL
in der Principialcoordination definirt und im Uebrigen nur durch
Beispiele erläutert worden ist. Durch die Zuhülfenahme der
Entwickelungshypothese (Nr. 188) wird die Inhaltlosigkeit der
-Antwort nur oberflächUch verschleiert
Leider ist es Avenarius nicht vergönnt gewesen, in einem
vierten Werk sein System zu vollenden. Es ist ein Torso ge-
blieben. Die gewaltige, vorher kaum jemals versuchte Inventar-
aufnahme der menschlichen Aussagen und die Bekämpfung der
Introjection sind die beiden unsterblichen Vei*dienste von Avenarius
um die Erkenntnifstheorie. Die positive Grundlegung der letzteren
ist ihm hingegen mifslungen. Schon den erkenntnifstheoretischen
Fundamentalbestand hat er nicht klar und auch thatsächUch nicht
lichtig wiedergegeben.
(Eingegangen am 13. November 1901.)
(Aus der Breelauer Universitäts- Augenklinik.)
- Ein weiterer Beitrag
^^ zur angeborenen totalen Farbenblindheit.
Von
Prof. W. Uhthopp in Breslau.
(Mit. 3 Fig.)
Die folgenden Mittheilungen schliersen sich an meine^
früheren über einen Fall von congenitaler totaler Farbenblind-
heit {diese Zeitschr. 20, 1899) an und berichten kurz über 3 weitere
Fälle, welche im letzten Jahr in unserer Klinik zur Beobachtung
kamen und die einerseits eine willkommene Gelegenheit boten,
früher gemachte Erfahrungen nachzuprüfen und zu bestätigen,
auf der anderen Seite aber auch einige neue Daten zu Tage
förderten, die bei der Discussion der ganzen Frage nicht ohne
Interesse sein dürften.
Ich werde die einzelnen Fälle nur kurz besprechen, zumal
da, wo sie mit den früheren in Uebereinstimmung stehen, die
wichtigeren Punkte aber, soweit sie Neues bieten, sollen etwas
eingehender beschrieben werden.
Fall I.
Am 7. October 1901 stellte sich der 41jährige Lehrer F. K.
aus Z. in der Klinik vor mit der Klage über schlechtes Sehen
im Allgemeinen und besonders bei greller Beleuchtung. Bei
herabgesetzter Beleuchtung sehe er entschieden besser, dagegen
sinke seine Sehschärfe bei directer Sonnenbeleuchtung, er be-
komme dabei ein lästiges Gefühl von Lichtscheu, ja sogar ein
Thränen der Augen. Die Farben habe er von jeher schlecht
unterscheiden können. Schlechter sei sein Sehen im Laufe der
Zeit nicht geworden und, wenn auch mit Mühe, so sei er doch
Ein »eitertr Beitrag t\tr a»§Aormm totalen Farbetibliiidheit.
345
bisher in der Lc^ gewesen, seinem Berufe als Lehrer Dacbzu>
gehen. Er trägt eine mftTsig dunkle, rauchgraue Brille, von der
er behauptet, dafs sie ihm nicht nur wegen seiner Liebtscheu
angenehm sei, sondern dafs sie sogar direct bei beller Beleuchtung
seine Sehechftrfe verbessere.
Patient ist verheirathet , er bat 3 lebende Kinder, welche
angeblich gut sehen, 3 seiner Kinder sind im starten Alter ge-
storben. Er bat 6 Geschwister, von denen nur 1 Schwester
aogeblicb nicht gut siebt, ahnlich wie er selber, sie sei wohl
„korzsicbtig" und könne die Farben nicht gut unterscheiden;
die Uebrigen sehen gut Keine Blutsverwandtschaft der Eltern.
Das Kind dieser schwachsichtigen Schwester soll gut sehen.
Die objective Untersuchung ergiebt:
Die Sehschärfe beträgt bei möglichBter Correction mit
— 1,5 D und raucbgrauen Gläsern nur Vio cl^r normalen. Rechts
bei der objectiven Ke&actionsbestimmung Myopie 1,5, links
Myopie 1 D mit 1 D Astigmatismus nach der Regel, jedoch ver^
bessert eine Cylindercombination die Sehschärfe nicht weiter.
Bei sehr beller Beleuchtung der Sehproben ist die Sehschärfe
beiderseits noch etwas geringer.
Das Gesichtsfeld ist für ein weiises Object im Wesent^
liehen frei, die peripheren Grenzen sind nach aufsen und innen
cöne Spur enger als normal (um ca. 10"). Die Lage des blinden
Fleckes ist keine ganz normale, sondern derselbe zeigt sich beider-
seits um 5° nach innen verschoben. Nach innen vom Fixirpunkt
ist beiderseits ein kleines centrales absolutes Scotom sicher nach-
weisbar, in dessen Bereich ein weifses Quadrat von 5 mm Seite
vollkommen verschwindet.
846 .i''^"v-:v'-.:^'t;3^-. -^-^y::' W.\ßMfyfff, .'..^.r'
\ •«
Der sichere Nachweis diesiesr kleinen i absoluten t OBntnQeif
Skiotoms geläng erdt nach' vielen Tefgeblicheb Betnüfaimgen am
Viertieh tJtitersuchunggtage/ obwohl der intelligente .Patient! mit
grofsem Interesse und viel gutem WiHen sich, diesen wiederholten
eingehenden Untersuchungen unterzog. / i
^ * Üö -handelte sich auch bei ihm um. jenen eigentbümlichen
Nystagmus von kleinen Excursionen, wie ich ihn in liieSnem
früheren = Falle fand^ und wieder durchweg in einschlägigen
Italien beschrieben wotden ist Forderte man ijm auf, einein bet
stimmten Punkt ruhig zu fixiren, so war es ihm nur mit grofiser
Mühe möglich, die Augen in der fixirenden Stellung eine Zeit
ganz ruhig zu halten, es bestand fortwährend die Neigung kleine
seitliche ruckweise Bewegtingen auszuführen und so abwechselnd
mit Verschiedenen Netzhaütstellen zu fixiren* ^
War es dem Untersuchten schon beim directen Fixiren nur
mit Mühe Und vorübergehend möglich die Augen ganz unbeweg-
lich zu halten, so wuchsen diese Schwierigkeiten noch bedeutend,
wenn man rnit einen! kleinen Object (weifs auf dunklem Grunde^
oder schwarz auf hellem Grunde) den Patienten in den der
fixirenden Netzhautstelle benachbarten Partien gleichzeitig prüfte.
Schon die Enlirung der Lage des blinden Fleckes war aus diesem
Grunde schwierig, gelang jedoch bald mit aller Sicherheit, zumal
wenn man das Prüfungsobject nur ganz momentan durch schnelles
Umdrehen auftauchen liefs, und hatte man erst die blinde Stelle
aufgefunden, so dafs das weifse Object am schwarzen dünnen
Draht gar nicht gesehen wurde, so liefs sich auch die Gröfse
des blinden Fleckes in normaler Ausdehnung nachweisen und
hielt Patient das Auge wenigstens eine kurze Zeit lang absolut
ruhig. Suchte man dagegen den blinden Fleck so zu bestimmen,
dafs man das kleine Object von den sehenden Netzhautpartien
in den nicht sehenden Theil des Sehnerveneintritts überführte,
so konnte Patient leichte nystagmusartige Seitwärtsbewegungen
absolut nicht unterdrücken und vereitelte dadurch die Abgrenzung
des blinden Fleckes. Er hatte offenbar die gröfsten Schwierig-
keiten das Auge auch nur ganz vorübergehend still zu halten,
sobald seine Aufmerksamkeit durch ein gleichzeitig neben dem
fixirten Punkt auftauchendes Object in Anspruch genommen
wurde.
Waren diese Schwierigkeiten für die Bestimmung deö blinden
Fleckes schon erhebliche, so kamen sie erst recht zum Ausdruck
Ein Knittrer Beitrag eur^w^Aimen tofolm Farbenblindheit. ^4"?
bei dem Aufsuchen des -ftfeh^t^eu Scotoms, auch bei AnweDdung
eines ringförmigen Fixirzöfchens wollte es'liÄht''geUngen.
Erst am vierten TagS'^r UntertööKtörigten wurde es sicher
atifgefunden, auf denr' linfeen -Äugte "'ifctf' horizontalen Meridian,
liegend oval in einer^Aüsdehnung von -3 — 8* (also 5* Durch-
messer) nach innen vom Fixirpunkt und auf' dem rechten Auge
ebenf^llß DAch innen voni.äxirtei) Punkte in.-einer'Ausdefanuüg
von 3P.\Dm7;hme9ser und ziemlich gleiohmiiXsig .kreisförÄdger
.Gestalt,.. (8,.ri«.i). ;t.: ■. .-■.
Abgesehen von diesem eben' erwtöint^ Ißicbten NjntAemus,
waren die Augenbewegungen frei. - . . ; ■ ■> :!
Was den .Lichtsinn des Patienteit anlangt < .so wurde
schon Eingangs auf die ausgesprochene Ldcbtaebeu uäddijs Herab-
eetzung seiner Sehschärfe dwrch grelle . Beleuchtung verwiesen,
ganz wie jn meiner früheren Beobachtung , ]und io; den anderen
mitgetheilten Fällen.
Dagegen war bei diesem Untersuchten' die Adaptatii^ in der
Dunkelheit in keiner Weise eine schbellere wie beim noxmaten
Aoge, und ebenso ist er in Bezug auf die Unterscheidung von
Helligkeitsdifferenzen bei verschiedener objectiver Beleuchtungs-
intensität in keiner Weisg. dem normalen Auge überiegen, sondern
bleibt noch etwas IjifiteT .d^uiselbei^, zurück, wie Versuche am
FoEESTEB'schen PbotoniBter und an der MASSos'schen Scheibe
lehren. In dieser Hinsicht weicht der Fail von meiner früheren
Beobachtung ab, wo gerade eine ftbnoyiii schnelle Dunkel^daptation
und ein hervorragendes Helligkeitsiinteracheidungsvennügen con-
statirt werdem konnte. Demfeiifsprechenti macht auch unser
Patient durch(Hig nicht die Erfahrung, daTs er sich io der
Dämmerung beisei' orientiren k^nne wie ein oorniaier Mensch;
eine Angabe, die u^jr^ «rster^EüUmit greise^ Sicherheit machte
und die auch durch die , opJMliv^' tjritersuchtung bestätigt werden
konnte. ' '
In Bezug auf den Farbeneiriu des Patienten will ich mich
kurz fassen, weil die verschieden«!' Proben ganz wie in meinen
übrigen Fällen ein völliges Fehlen des Farbensinnes ergeben.
Alle Farben lassen sich am Farbenkreisel aus Weifs' und Schwarz
för ihn mischen.
Schwäre ^WeilB
360 Roth =350-1-10
■ „ Orange ^323+37
348
w. mthoff.
Schwarz Wafe
360 Gelb -= 140 + 220
„ Hellgrün = 185 + 175
„ Dunkelgrün =255-1- 105
„ Blau =280-1- 80
(von Dr. DepRmk iiafiEenniiimeii).
Die für meine erste Beobachtung hergestellte Farbentafel mit
Hülfe der HBBiNG'schen grauen Papiere nach dem Vorgehen
von Hivpel's (cf. „Ueber totale angeborene Farbenblindheit".
Festscbr. z. 200j6hrigeD Jubelfeier der Universität H«Ue) erkennt
auch dieser Patient mit kleinen Abweichungen als ganz für ihn
zutreffend an. Im Spectmm hat er analog wie der frühere Fall
das Helligkeitsmaximum im Grün. Das rothe Ende des SpectrumB
erscheint ihm ausgesprochen verkürzt dem normalen Auge
gegenüber, eine geringe Verkürzung ist auch am violetten Ende
nachweisbar. Kurz gest^, die Analogie im Verhalten des Farben-
sinnes ist mit meinen früheren und meinen folgenden Beobach-
tungen eine so weitgehende, dafs ich glaube, auf detaillirtere
Mittheilungen in dieser Hinsicht verzichten zu können.
Sehr bemerkenswcrth erscheint mir nun in diesem Falle
das ophthalmoskopische Verhalten der Gegend der
Macula lutea und speciell der Fovea centralis. Nach
künsthcher Erweiterung der Pupillen ergiebt sich auf beiden
Augen bei Untersuchung im aufrechten und im umgekehrten
J^ifi weiterer Beitrag zur angeborenen totalen Farbenblindlieit. 349
Bilde folgendes : Die Papillen zeigen beiderseits eine etwas auf-
recht ovale Gestalt, aber sonst normale Färbung und scharfe
Begrenzung. Congenital anomal erscheint der Verlauf der
Betinalgefäfse, dieselben entspringen etwas stärker excentrisch
nach innen auf den Papillen und verlaufen Anfangs nicht gerade
in verticaJer Richtung, sondern abnorm nach innen, um dann
mit einer etwas winkligen Knickung mehr in die äufsere Netz-
hauttheile überzubiegen. Es ist das jene Verlaufsanomalie, wie
wir sie nicht selten bei dem sogen. Conus nach unten an der
Papille (dieser ausgesprochenen congenitalen Anomalie) sehen.
Wenn ich diesem Befunde auch keine besondere Bedeutung bei-
legen möchte, so zeigt er meines Erachtens doch ein gewisses
<5ongenital anomales Verhalten des Sehnerveneintritts und der
Netzhautgefäfse.
Wichtiger nun aber ist der Befund in der Gegend der Fovea
•centrahs, der beiderseits gleichartig ist, und den ich ebenfalls
^Is einen congenital anomalen ansehen möchte, zumal nach der
bestimmten Angabe des Patienten sich das Sehen im Verlaufe
■des Lebens nicht verschlechtert hat.
Die ganze Gegend der fovea centralis und ihrer nächsten
Umgebung stellt sich dar als ein ausgesprochen hellgelbröthlicher,
ziemlich scharf begrenzter Fleck von ca. ^'^ Papillengröfse. (s.Fig.2).
Im aufrechten Bild bei stärkerer Vergröfserung zeigt dieses Terrain
-ein fein chagrinirtes Aussehen in Folge von Pigmentatrophie in
Form von zahlreichen kleinen hellen Herden, die wieder unter-
mischt sind mit vielen kleinen schwärzlichen Pigmentpunkten
und zwischen diesen eingestreut eine Anzahl kleiner hellglänzender
Herde. Die Veränderung ist so ausgesprochen, dafs sie im
umgekehrten Bilde sich schon als auffallender gelblich röthlicher
Herd von oben beschriebener Gröfse und in ziemlich scharf ab-
gegrenzter Weise repräsentirt Der Befund ist ein zweifellos
pathologischer und etwa mit einer physiologiscljen Varietät im
Aussehen der Fovealgegend gar nicht zu verwechseln. Auf dem
linken Auge ist der Befund analog wie auf dem rechten, nur
von etwas geringerem Umfang.
Wenn man die Lage dieser Stelle gerade in der Gegend der
Fovea und ihre Lage zum Sehnerveneintritt in Betracht zieht,
so entsprechen meines Erachtens die centralen kleinen Scotome
diesen pathologisch veränderten Netzhautstellen.
350 ^- ^thoff,
Fall IL
Bertha F., 15 Jahre alt, aus Breslau stellt sich zum ersten
Mal am 29. Januar 1901 in der Klinik vor , mit der Klage über
schlechtes Sehen, welches von jeher bestfiUQden habe, ujid be-
sonders auch über grofee Empfindlichkeit gegen grelle Be-
leuchtung, wodurch ihre Sehschärfe noch mehr vermindert werde.
Sie wünscht eine Brille zur Verbeöserung der SeJikraft Sie
macht sonst einen gesunden Eindruck, ist normal körperlich
und geistig entwickelt und zeigt keine anderweitigen con-
genitalen Anomalien. Die Eltern sollen ebenfalls gesund sein
und auch in jeder Hinsicht gut sehen. Keine Blutsverwandt-
schaft der Eltern. Patientin hat 3 Geschwister, von denen das
Jüngste, jetzt 5 Jahre alt, angeblich gut sieht, während die beiden
anderen, Fritz und Margarethe, 8 und 6 Jahre alt, an derselbeji
Sehstörung leiden wie Patientin. Diese letzteren beiden Ge-
schwister, sonst normal entwickelte Kinder, welche ebenfalls
wiederholt genau in der Klinik untersucht wurden, zeigen das-
selbe Verhalten, wie die ältere Schwester und sind wie diese
typische Fälle von congenitaler totaler Farbenblindheit Ich will
auf diese beiden jüngeren Geschwister hier nicht näher eingehen,
weil ihre Angaben noch in vielen Beziehungen unzureichend
waren und ihr Verhalten ein dem der Schwester analoges ist
Was nun die 15 jährige Bertha F. anbetriflFt, so hat sie
auf dem rechten Auge einen einfach myopischen Astigmatismus
von 3 D und links einen solchen von 4 D nach der Regel.
Die Sehschärfe beträgt mit entsprechender Cylinder-
correction = Vi'Sn. 0,5 wird in 12 cm mühsam gelesen.
Es besteht eine ausgesprochene Lichtscheu der Patientin
und durch intensive Beleuchtung wird ihre Sehschärfe nachweis-
bar verschlechtert, sie trägt deshalb eine rauchgraue Schutzbrille.
Ferner findet sich ein mäl'siger concomitirender Strabismus
divergens alternans. Die Augenbewegungen sind sonst frei, auf-
fällig aber ist aubh bei ihr ein Nystagmus, wenn sie einen Gegen-
stand genau fixirt Sieht sie mit beiden Augen ruhig in die Ferne,
so verschwindet zeitweise dieser Nystagmus, wird sie aber aufge-
fordert, scharf einen Gegenstand für die Nähe zu fixiren, nament-
lich beim Sehen mit einem Auge, so stellen sich auch sofort,
diese ruckweisen kleinen nystagmusartigen Bewegungen in seit-
licher Richtung ein, die Patientin trotz aller Mühwaltung nur
ganz vorübergehend zu vermeiden vermag.
Ein tctittrer Bätrag mi* angdiorenen tetahn Farbenblindheit.
301
In Bezug auf ihren Licbtsinn mticbt sie die Angabe, dab
sie sich bei stark herabgesetzter Beleuchtung schneller zu orientirea
vermöge, wie ihre normal sehenden Familienangehörigen. Eine
Untersuchung im Dunkelzimmer und die Prüfung mit dem
FoEBSTERschen Photometer bestätigen diese Angaben sowohl für
sie als auch für ihren Sjäbrigen Bruder Fritz, der gleichzeitig
mit untersucht wird. Es besteht hei beiden eine schnellere
Adaptation als für das normale Auge.
Die Gesichtsfelder sind für ein weifses Object im
Wesentlichen frei Bei der monoculären Prüfung desselben am
Perimeter bekommt man ganz deutlich den Eindruck, dafs
Patientin etwas excentrisch fixirt. Nach der Bestimmung am
Perimeter beträgt der -^ y zwischen Visirlinie und Homhaut-
mittellinie rechts ca. 10", links ca. 7" in positivem Sinne. Patientin
fixirt offenbar mit einer etwas excentrisch nach aufsen von der
Fovea gelegenen Stelle. Nach längerem Bemühen gelingt es
anch die Lage des blinden Fleckes mit Sicherheit festzustellen.
Derselbe liegt rechts ungefähr horizontal um 5" zu weit nach
aafsen der normalen Lage des blinden Fleckes gegenüber, auf
dem linken Auge ebenso nur etwas unterhalb der Horizontalen
(b. Fig. 3). Diese Feststellungen sind durch den oben erwähnten
Ltnkee Ange.
Rechtee Auge.
Nystagmus ganz aufserordentlich erschwert, und die Patientin ist
durchweg nicht im Stande bei der monoculären Prüfung, wenn
ihre Aufmerksamkeit neben der centralen Fixation gleichzeitig auf
ein excentrisch gehaltenes Object gelenkt wird, die wechselnden
352 ^y ühthoff.
tiystagmusartigen Bewegungen des Auges auch nur für kurze
Zeit zu unterlassen.
Es ist uns auch bisher bei dieser Untersuchten nicht ge-
lungen trotz eingehender Bemühungen, ein centrales Scotona
entsprechend der Fovea centralis nachzuweisen. Jedenfalls
möchte ich glauben, dafs ein absolutes Scotom, wie im vorigen
Falle, hier wohl nicht existirt ; ein relatives sicher auszuschliefsen,
möchte ich nicht wagen bei der grofsen Schwierigkeit der Untei>
suchung und bei der Unmöglichkeit für die Patientin, auch nur
vorübergehend bei der Untersuchung die nystagmusartigen Hin-
und Herbewegungen des Auges zu unterdrücken.
In Bezug auf den Farbensinn kann ich auch hier nur
das für die früheren Fälle Gesagte wiederholen. Absolute Un-
möglichkeit für die Patientin Farben zu differenziren , wie sich
bei den verschiedenen Versuchen ergiebt (Wahlproben, Farben-
kreisel u. s. w.). Auch läfst sich jede Farbe aus Weifs und
Schwarz mischen. Die Patientin erkennt die für meinen ersten
Fall entworfene Farben -Tafel mit den HEEiNo'schen grauen
resp. schwarzen Papieren auch für sich als durchweg zutreffend
an. Die hellste Stelle im Spectrum liegt ebenfalls bei ihr im
Grün, das rothe Ende des Spectrums ist deutlich verkürzt u. s. w.
Mit einem Worte es ähnelt der Fall in dieser Hinsicht so absolut
den früheren, dafs ich lediglich darauf verweisen kann.
Die ophthalmoskopische Untersuchung ergiebt im
Uebrigen normale Verhältnisse, doch zeigen sich in der Gegend
der Fovea centralis auch hier, wenn auch geringfügige, so doch,
meines Erachtens , sicher pathologische Veränderungen. Auf
beiden Augen findet sich in der Gegend der Fovea (links etwas
mehr als rechts) ein deutlich marmorirtes Aussehen, d. h. zahl-
reiche kleinere hellere Fleckchen abwechselnd mit kleinen dunklen
l^igmentpunkten, die Veränderungen setzen sich gegen die sonst
normale periphere Partie der Macula lutea ziemlich scharf ab.
Wenn ich diese Veränderungen bei unserer Patientin doch als
pathologisch in Anspruch nehme, so bin ich mir dabei wohl
bewurst, dafs auch die physiologische Fovea centralis, namentlich
im späteren Leben leichte Unregelmäfsigkeiten in der Pigmen-
tirung zeigen kann, doch nicht in dem Maafse, wie hier in
unserem Falle. Die Patientin wurde wiederholt bei Mydriasis
auch im aufrechten Bilde von mir und von verschiedenen geübten
Ein vreiterer Beitrag «i«r angeborenen totalen Farbenblindfieit, 353
Ophthalmoskopikem untersucht und ebenso der Befund mit
normalen Fällen verglichen.
Fall III.
Es handelt sich um den jetzt 25jährigen Stud. H., der sich
Anf€uig Januar 1901 zu wiederholten eingehenden Untersuchimgen
vorstellte imd ebenfalls den Symptomencomplex der typischen con-
genitalen Farbenblindheit bietet wie mein erster Patient Ich
will hier auf die ganzen übrigen Erscheinungen nicht näher ein-
gehen, da Stud. H. seiner Zeit schon von Herrn Collegen A, von
Hippel eingehend untersucht wurde. Ueber die Ergebnisse dieser
Untersuchungen hat derselbe damals auf dem Heidelberger
ophthalmologischen Congrefs 1889 (s. den Congrefsbericht) in ge-
nauer Weise berichtet.
Wenn ich mir erlaube, über diesen Fall noch einige Be-
obachtimgen kurz zu erwähnen, so »geschieht es mit gütiger Zu-
stimmimg des Herrn Collegen von Hippel, dem gegenüber ich
mündhch dieser Beobachtungen Erwähnung that Ich glaube
auch, dafs es sich hier weniger um neue von mir -gefundene
Thatsachen handelt, als vielleicht um eine etwas andere Deutimg
der gemachten Beobachtungen.
Mit Rücksicht auf meine erste Beobachtung interessirte mich
besonders der Punkt, ob auch bei diesem Patienten centrale
Scotome nachweisbar wären.
Ich habe mich auch in diesem Falle zunächst des ring-
förmigen Fixirzeichens um den Mittelpunkt des Perimeterbogens
bedient und damit nach längerem Bemühen mit aller Sicherheit
ein centrales relatives Scotom an der Stelle des Fixirpunktes
nachweisen können. Die Form des Scotoms ist auf beiden Augen
etwas liegend oval und hat einen Durchmesser von ca. 3 ^ Ein
schwarzer runder Fleck von 2,5 mm im Durchmesser auf weifsem
Grund verschwand im Bereich des Scotoms zwar nicht voll-
kommen, wurde aber viel undeutUcher daselbst gesehen als
aufserhalb desselben. Für diese Prüfung am Perimeter in 33 cm
Entfernung wurde eine mäfsig herabgesetzte Beleuchtung ge-
wählt, das Optimum der Beleuchtung für die Sehschärfe des
Untersuchten, so dafs er gar kein Gefühl von Blendung empfand.
Die Beleuchtungsintensität betrug ca. 50 Meterkerzen, wie mit
dem WEBER'schen Photometer festgestellt wurde. Bei voller
Zeitschrift für Psychologie 27. 2S
354 ^- ^^^ff-
Tagesbeleuchtung litt die Grenauigkeit dieser Feststellung, da
dann die Sehschärfe überhaupt schon beeinträchtigt wurde.
Die Versuche wurden sodann in mannigfacher Weise modi-
ficirt, es wurde auch ein weifiser Punkt auf dunklem Grunde
imd ebenso ein System von dunklen Punkten auf hellem Grunde
imd von hellen Pimkten auf dunklem Grimde verwendet, sowohl
bei momentaner als bei längerer secundenlanger Beleuchtung der
Probeöbjecte imd bei verschiedener objectiver allgemeiner Be-
leuchtungsintensität
Ich möchte bemerken, dafs Stud. H. in Folge der früheren
imd der jetzigen eingehenden Untersuchimgen allmählich sehr
genau zu beobachten gelernt hatte und seine Angaben mit grofser
Präcision und voller Ueberzeugung machte. Ich habe ihn des-
halb auch wiederholt gebeten seine Wahrnehmungen selbst schrift-
Uch niederzulegen.
Ueber die Versuche mit^inem System dunkler Punkte auf
hellem Grunde imd einem solchen heller Pimkte auf dunklem
Gnmde berichtet er selbst Folgendes.
„Die Beobachtung war nur bis zu einer Entfernung von
ca. 23 cm möglich, bei gröfserer Entfernung erschien das Bild
überhaupt verschwommen (diese Versuche wurden nicht am
Perimeterbogen angestellt).
Bei der angegebenen Entfernung erschien auf der Scheibe
mit den Punkten ein Raum von nicht ganz 1 qcm unklarer als
die Umgebung, wofern dieser Raum fixirt wurde, es konnte
daher nicht constatirt werden, ob die in oben bezeichneten Raum
fallenden Pimkte rund oder eckig waren, während die weiter
vom Fixirpunkt entfernt liegenden Punkte ihrer Gestalt nach
genau erkannt werden konnten.
Die Beobachtung blieb die gleiche bei Moment- und Zeit-
beleuchtung, desgleichen bei Object 1 und 2, wenn auch bei
Objeet 2 (d. h. helle Punkte auf dunklem Grunde) die Wahr-
nehmung leichter zu machen war. Verschiedene Beleuchtungs-
stärken der Objecte gaben gleichfalls keine Veränderung. Es
blieb die Beobachtung eben die gleiche bei verschiedener Be-
leuchtungsintensität bis zu der für die Beobachtungen am Peri-
meter festgestellten Maximalgrenze" (also ca. 50 Meterkerzen).
Erschwerend bei all diesen Untersuchungen auf das Vor-
handensein des centralen Scotoms wirkte natürlich auch in
diesem Falle der vorhandene typische Nystagmus namentHch
Ein weiterer Beitrag zur angeborenen totalen Farbenblindheit 355
bei monoculärer Fixation, aber gerade das grofse Interesse an
der Sache von Seiten des Patienten und seine Intelligenz liefsen
diese Hindernisse relativ leicht überwinden.
Alle diese Versuche bei diesem Patienten sowie auch in den
früheren Fällen sind stets unter Mitwirkung und Zeugenschaft
mehrerer Herren (DDr. Heike, Setdel, DiipfeuE u. A.) ausgeführt,
die mich versicherten ebenso wie die Patienten selbst, dafs sie
von den oben mitgetheilten Versuchsergebnissen überzeugt seien.
Die Sehschärfe betrug Vs» ©s bestand mittlere Myopie mit
3 I) Astigmatismus nach der Regel auf beiden Augen.
Die Dunkeladaption des Patienten am FoERSTEB'schen Photo-
meter erfolgte erheblich schneller wie am normalen Auge.
Der Nystagmus war, beim Fixiren mit beiden Augen gleich-
zeitig, relativ wenig wahrnehmbar, beim Verdecken Eines Auges
tritt er sehr deutlich ein, auch beim binoculären Sehen wird der
Nystagmus deutlicher bei intensiverer Beleuchtung.
Die Pupillen sind relativ eng (2,5 mm), auch bei stark herab-
gesetzter Beleuchtung erweitern sie sich wenig, während ihre
Reaction auf Licht und Convergenz sonst gut erhalten ist.
In Bezug auf die nähere Analyse des Farbensinnes gestatte
ich mir, auf die genauen von HiPPEL^schen früheren Angaben
zu verweisen und möchte nur erwähnen, dafs die Farbensinn-
anomalie mit der unserer anderen Beobachtungen die weit-
gehendsten Analogien bietet
Für das dunkeladaptirte Auge des Patienten beschreibt auch
Herr College von Hippel (S. 154) die centrale Undeutlichkeit im
Gesichtsfeld den peripheren Netzhautpartien gegenüber, indem
der Untersuchte bei einem kreuzförmigen Punktsystem, den
gerade fixirten schwächer und stärker beleuchteten Punkt un-
deutlicher sieht als die übrigen, während eine solche centrale
Undeutlichkeit bei hellerer Beleuchtimg mit kreuzförmig an-
geordneten weifsen Scheiben auf schwarzem Grunde nicht nach-
gewiesen werden konnte. A. von Hippel fafst demnach die bei
dem dunkeladaptirten Auge nachgewiesene centrale Undeutlich-
keit lediglich als ein Adaptationsphänomen auf, indem die Fovea
des Patienten, analog wie bei dem normalen Auge sich lang-
samer adaptire und dadurch die centrale UndeutUchkeit entstehe.
Bei meinen Untersuchungen aber gab der Patient auch für
das hell adaptirte Auge diese centrale Undeutlichkeit in der-
selben Weise an.
23*
356 ^- IJhthoff,
Stud. H. ist nun ferner schon früher von Prof. E. Dorn
(Halle) in Bezug auf das Sehen von Röntgenstrahlen eingehend
untersucht worden und sind die interessanten Resultate über
diese Versuche in Wiedemann*s Annalen f. Physik 66, S. 1171,
1898, niedergelegt worden. Wir nahmen Veranlassung auch in
dieser Hinsicht noch eine theilweise Nachprüfung vorzunehmen,
welche die Dokn 'sehen Resultate durchaus bestätigte. Wurde der
Untersuchte vor einem Röntgenapparat in die Richtung der
reflectirten Strahlen gebracht, so hatte er, wenn auch Kopf und
Augen mit einem achtfach liegenden schwarzen Tuch verdeckt
waren, eine allgemeine Helligkeitserscheinung, jedoch ohne eine
bestimmte Form der Erscheinung angeben zu können. Durch
zeitweiliges Vorschieben eines Stanniolschirmes ohne Kenntnils
des Untersuchten wurde die Thatsächlichkeit der Erscheinung
geprüft. Wurde der Schirm von imten nach oben vor das Auge
geschoben, so erschien die Verdunkelung von oben nach unten
fortschreitend und umgekehrt. Ein in der Stanniolplatte befind-
Ucher Spalt gab am Auge vorüber bewegt eine Lichterscheinung,
die, je weiter von der Mitte des Auges entfernt, einen um so
stärker gekrümmten Bogen bis zum geschlossenen Kreise dar-
stellte, in der Mitte des Auges dagegen als gerade Linie wahr-
genommen wurde. Die Erscheinung war bei horizontaler und
verticaler Lage des Spaltes die gleiche und bewegte sich in um-
gekehrter Richtung als der Spalt des Stanniolschirmes bewegt
wurde. Ein in den Schirm eingeschnittenes Kreuz ergab die zu
erwartende Combination der vorher bei horizontalem und verti-
calem Spalt wahrgenommenen Erscheinungen. Die Beobachtungen
wurden mehrfach mit dem gleichen Erfolg wiederholt, strengten
jedoch die Augen, nach Aussage des Untersuchten, verhältnifs-
mäfsig stark an.
Vergleichsversuche mit unseren normalen Augen fielen im
Wesentlichen negativ aus. Ebenso gaben analoge Versuche mit
meinem zuerst untersuchten total Farbenblinden keine sicheren
Resultate, was aber wohl mit der schlechteren Beobachtungsgabe
dieses Patienten in Zusammenhang stehen mag.
Ich möchte nicht unterlassen auf die weiteren interessanten
Ausführungen und Versuche von Prof. Dorn in betreff imseres
Patienten an dieser Stelle noch besonders hinzuweisen, speciell
auch in betreff der relativen Empfindlichkeit der Stäbchen und
Zapfen gegen Röntgenstrahlen u. s. w.
Ein weiterer Beitrag zur angeborenen totalen Farhenhlvidheit 357
Der ophthalmoskopische Befund bei Stud. H. ergab keine
direct pathologischen Veränderungen, doch will ich bemerken,
dafs ich in diesem Falle keine genaue Untersuchung der Macula
lutea im aufrechten Bild bei erweiterter Pupille vorgenommen
habe und möchte mir eine solche noch vorbehalten, wenn Patient
später nach Breslau zurückkehrt.
Im Hinblick auf die vorstehenden Beobachtungen erscheint
mir Folgendes hervorzuheben:
1. Zimächst finden sich bei eingehender ophthalmoskopischer
Untersuchung im aufrechten Bilde und bei erweiterter Pupille
in zwei Fällen pathologische Veränderungen in der
Gegend der Fovea centralis, welche sehr wohl eine aus-
gesprochene Functionsstörung an der Stelle des deutlichsten
Sehnes erklären. Namentlich in Fall I mit den absoluten cen-
tralen Scotomen waren diese Erscheinungen sehr ausgesprochen
(s. Fig. 2). Dieselben zeigen den Charakter älterer atrophischer
Veränderungen und keine Zeichen frischer Entzündung. Da die
Sehschärfe der Patienten nach ihren bestimmten Angaben, so
weit sie zurückdenken können, sich im Laufe des Lebens nicht
verschlechtert hat, so liegt jedenfalls die Annahme am nächsten,
dafs es sich um schon angeborene abnorme Fovealveränderungen
handelt; zumal in Fall I auch das Verhalten der Papillen und
der Retinalgefässe als ein congenital etwas abnormes bezeichnet
werden mufs.
Wenn somit auch natürlich in diesen relativ geringfügigen
und räumUch beschränkten pathologischen, schon mit dem Augen-
spiegel nachweisbaren Retinalveränderungen noch keine Er-
klänmg für die Form der Sehstörung bei der congenitalen totalen
Farbenblindheit gegeben ist, so liegt doch inmier in diesen Be-
obachtungen der Hinweis, dafs in einem Theil der Fälle doch
auch greifbare pathologische Netzhautverändenmgen nachweisbar
sind und zwar ebenfalls congenitale, wie ich glaube. Wir können
uns sehr wohl vorstellen, dafs eine sehr ausgedehnte abnorme
Beschaffenheit der Retina und ihrer Elemente vorhanden sein
kann, die sich der Feststellung mit dem Augenspiegel intra vitam
vollkommen entzieht. Gerade die positiven Befunde geben uns einen
Hinweis auf ein anatomisch abnormes Verhalten der Netzhaut.
Es erscheint mir bemerkenswerth, dafs auch Nagel in seiner
letzten Mittheilung („Einige Beobachtungen an einem Falle von
358 ^- mthoff.
totaler FarbenbUndheit", Arch f. Äugenhk. 44 (2), S. 153; 1901)
über abnorme Veränderungen in der Fovealgegend sowohl in
seiner jetzigen als in der früheren Freiburger Beobachtung be-
richtet.
Bei unserem Fall II war auch zuerst der ophthalmoskopische
Befund nicht als pathologisch gerechnet worden, erst die letzte
Untersuchung im aufrechten Bilde bei erweiterter Pupille und
unter gleichzeitiger Correction des Astigmatismus wies diese
pathologischen Veränderungen nach, während ich bei dem
jüngeren, ebenfalls total farbenblinden Bruder der Patientin, der
allerdings erheblich stärkeren Nystagmus zeigte, derartige Ver-
änderungen nicht auffinden konnte. Auch bei meiner ersten
Beobachtung und bei Fall III (Stud. H.) ist kein pathologisch
ophthalmoskopischer Befund notirt, aber auch in beiden Fällen
wurde die Untersuchung nicht bei erweiterter Pupille vor-
genommen, ich möchte mir eine nachträgliche Controle in dieser
Hinsicht noch vorbehalten. Ob nicht doch noch öfter bei ein-
gehender ophthalmoskopischer Untersuchung pathologische Ver-
änderungen der Fovea centralis gefunden werden, als man bisher
angenommen ?
2. In zweiter Linie hat sich die Zahl der Fälle, welche ein
centrales Scotom aufwiesen, durch meine neuen Beobachtungen
um zwei vermehrt und zwar waren die Scotome in dem Fall I
absolut, d. h. es wurde ein weifses Quadrat von 5 mm Seite über-
haupt nicht wahrgenommen; es coincidirte diese intensive
Functionsstörung mit sehr ausgesprochenen pathologischen Ver-
änderungen in der fovea centralis. In Fall III möchte ich die
Scotome auch heute als relativ bezeichnen, da bei den an-
gewendeten relativ kleinen Prüfungsobjecten kein vollständiges
Verschwinden, sondern ledigUch ein Undeutlicherwerden ein-
trat Es ist wohl anzunehmen, dafs bei hinreichend weiterer
Verkleinerung des Prüfungsobjectes und somit Verminderung
des Reizes für die Netzhaut, schliefslich das centrale Scotom ein
absolutes geworden wäre, doch glaubte ich, die Gröfse der
Prüfungsobjecte gerade mit Rücksicht auf die relativ geringe
Sehschärfe überhaupt nicht weiter vermindern zu dürfen und
mufs somit die Scotome in Fall III als nur relative bezeichnen.
In Fall II gelang der Nachweis circumscripter Scotome nicht;
wohl konnte sicher erwiesen werden, dafs Patientin nicht central,
sondern mit einer Stelle nach aufsen neben der Fovea centralis
Ein weiterer Beitrag zur angeborenen totalen Farbenblindkeit. 359
hauptsächlich fixirte. Hierfür sprach auch die ermittelte Lage
des blinden Fleckes, der im Gesichtsfeld ca. 5^ zu weit nach
aufsen gefunden wurde dem normalen Auge gegenüber und dem-
entsprechend der abnorm grofse positive Winkel y. Es zeigte
dieses Factum jedenfalls auch, dafs die Sehschärfe in der Fovea
cenWU eine geringe" »in mufete, .1» in den benachbarten
Partien der Netzhaut, wenn auch diese Undeutlichkeit nicht in
Form eines circumscripten Scotoms abgegrenzt werden konnte.
Gerade dieser Fall lehrte uns wieder, wie enorm schwierig die
Beurtheilung dieser Dinge für den Patienten sein kann, wenn
er die leichten nystagmusartigen Zuckungen gar nicht zu unter-
drücken im Stande ist, sobald neben dem Fixirpunkt seine
Aufmerksamkeit gleichzeitig für ein excentrisch gehaltenes Ob-
ject in Anspruch genommen wird.
Auch in Fall I war die Feststellung des blinden Fleckes an
einer falschen Stelle zu weit nach innen dasjenige, was uns den
Fingerzeig gab, wo das centrale Scotom zu suchen sei, und wo
€8 dann auch in absolut sicherer Weise nachgewiesen werden
konnte. Koenig's erster Nachweis des centralen Scotoms bei
congenitaler totaler Farbenblindheit hat somit auch wieder durch
zwei unserer neuen Beobachtungen Bestätigung gefunden.
Aber auch schon die Auffindimg des doch absolut sicher
vorhandenen blinden Fleckes macht bei den congenital total
Farbenblinden gelegentlich grofse Schwierigkeiten, eben wegen
der nystagmusartigen Bewegungen, die sofort eintreten, wenn
vom Untersuchten die Beachtung zweier Punkte (des Fixir-
objectes und des excentrisch gehaltenen Zeichens) gleichzeitig
gefordert wird. Man versteht schon imter diesen Umständen,
dafs noch vielmehr die Auffindung kleiner centraler absoluter
oder relativer Scotome Schwierigkeiten machen mufs, ja bei
weniger intelligenten Beobachtern zur UnmögUchkeit werden
kann.
3. In diesen drei neuen Beobachtimgen habe ich die mühe-
vollen und aufserordentlich zeitraubenden Untersuchungen über
die zahlenmäfsige Abnahme der excentrischen Seh-
schärfe je nach dem Grade der Excentricität nicht in der
Weise wiederholt, wie in Fall I; glaube jedoch sicher sagen zu
können, auf Grund der Prüfungen, dafs auch bei ihnen die peri-
phere Sehschärfe mit dem Grade der Excentricität stetig abnahm,
analog wie in meinem früheren Falle. Ich glaube auch, dafs
360 ^' Vhthoff.
dieses Moment noch nicht gegen die Theorie des „Stäbchen-
sehens" direct zu verwerthen ist
4. Es erscheint mir bei unserem Fall I bemerkenswerth,
dafs derselbe wohl ganz analog wie die sonstigen Fälle von
einem lästigen Blendungsgefühl geplagt wurde und durch grelle
Beleuchtung eine directe Verschlechterung seiner Sehschärfe er-
fuhr, dagegen in keiner Weise für die Dimkelheit schneller
adaptirte als das normale Auge, auch war seine Wahrnehmung
für HelUgkeitsunterschiede in keiner Weise eine bessere als die
des normalen Auges. Schnellere Adaptation aber, als beim nor-
malen Auge trat in allen unseren anderen Beobachtungen deut-
lich zu Tage.
5. Die Sichtbarkeit der Röntgenstrahlen war in unserem
Fall ni eine sehr exquisite und konnten die eingehenden An-
gaben von Dorn über diesen Untersuchten nur bestätigt werden.
In meiner früheren Beobachtung konnte bei einer nachträglichen
Untersuchung daraufhin diese Thätsache nicht sicher festgestellt
werden. Es scheint demnach wohl, dafs dieselbe keine constante
bei allen congenital total Farbenblinden ist. Dieser Punkt be-
darf jedenfalls noch der weiteren Untersuchung.
In Bezug auf das Literaturverzeichnifs sei auf meine frühere
Mittheilung verwiesen.
(Eingegangen am 17. November 1901.)
lieber
die Wahrnehmung musikalischer Tonverhältnisse.
Von
Dr. E. Stoech.
Betrachte ich emen Lichtpunkt A und unmittelbar darauf
einen anderen B, von derselben Helligkeit und Farbe, so werden
iu beiden Fällen genau die gleichen Netzhautelemente in der
gleichen Stärke gereizt Trotzdem ist in beiden Wahrnehmungen
ein räumlicher Unterschied: den Punkt A sehe ich in einer
anderen Richtung, an einer anderen Stelle im Raum, als den
Punkt B.
Betaste ich erst die rechte Ecke einer Stuhllehne und un-
mittelbar darauf die völlig gleich geformte Unke, so ist wiederum
die Erregung der tastenden Sinneselemente in beiden Fällen ab-
solut gleich ; in den Wahrnehmungen aber besteht auch hier ein
räumUcher Unterschied: die linke Ecke liegt in einer anderen
Richtung als die rechte.
Wäre in dem optischen Beispiel in A erst ein weifses und
dann ein blaues Licht erschienen, so würde kein Physiologe
daran gezweifelt haben, dafs der Verschiedenheit der sinnlichen
Wahrnehmungen eine Verschiedenheit der auf den Reiz er-
folgenden Netzhautveränderung entspricht, und diesen selben
Schlufs würde man hinsichtlich der Tastfläche gezogen haben,
falls in dem zweiten Beispiel sich die eine Ecke rauh, die andere
glatt angefühlt hätte.
Und sicher ist man zu diesem Schlüsse berechtigt, ob man
sich mit vollem Bewufstsein zu der Lehre vom psychophysischen
Parallelismus bekennt oder nicht; denn solange Menschen ge-
dacht haben, haben sie immer nur von psychisch Verschiedenem
auf physische Verschiedenheiten geschlossen.
Trotzdem ist die Annahme, dafs der Wahrnehmung eines
blauen Lichtes ein anderer Vorgang in der Netzhaut entspricht,
\j
362 ^- Storch.
als der eines gelben, bis zum heutigen Tage eine unerwiesene
Hypothese, und dürfte es auch noch für absehbare Zeiten bleiben-
Vor Aller Augen liegt aber diese von unserer Vernunft un-
abweisbar geforderte körperliche Verschiedenheit, sobald es
sich um die räumlichen Verschiedenheiten der Wahrnehmungen
handelt.
Betrachte ich erst den Punkt A und dann den Punkt B, so
treten meine Augenmuskeln oder auch die Muskeln meines
ganzen Körpers in Thätigkeit, und es ist darum wohl der Mühe
werth zu untersuchen, ob sich das räumUche Moment, welches
mit all unseren Wahrnehmungen aufs Engste verknüpft ist, nicht
in letzter Linie zurückführen läfst auf unsere Muskelthätigkeit
In gröfserer Ausführlichkeit habe ich diesen Gedanken in
einer kleinen Abhandlung^ entwickelt. Hier kann ich den Ge-
dankengang nur andeuten.
Das neugeborene Kind verharrt in den ersten Tagen und
Wochen seines Lebens in einer ganz bestimmten Ruhelage, die
es nur auf Sinnesreize verläfst. Die Gliedmafsen sind an den
Leib gezogen, die Fäustchen geballt Streckt man bei einem
solchen Kinde z. B. den kleinen Finger, so schlägt es ihn
maschinenmäfsig wieder ein, sobald man ihn losläfst. Kurz zu
jedem Reize, den man durch passive Bewegungen auf die
Sinneselemente der Sehnen und Gelenke ausübt, gehört eine
ganz bestimmte Reflexbew^egung.
Bewegt man ihm den Kopf hin imd her, so sieht man lange
bevor an eine Fixation zu denken ist, wie die Augen hinter der
passiven Kopfdrehung zurückbleiben; d. h. zu jeder einzelnen
Reizung des Bogengangapparates gehört reflectorisch eine ganz
bestimmte Augenbewegung.
Nicht durchaus so regelmäfsig, so automatenhaft, aber immer
noch deutlich genug läfst sich beobachten, dafs der Berührung
einer bestimmten Stelle der Haut eine eigene Reflexbewegung
kleinerer oder gröfserer Muskelgebiete folgt. Und wir brauchen
nur an juckende Reize zu denken, um uns darüber klar zu
werden, dafs auch beim Erwachsenen, die Reizung gewisser
Sinneselemente specifische Bewegungen reflectorisch auslöst
Wir können den Zeitpunkt nicht genauer angeben, zu
welchem das Kind aus seinem Reflexleben erwacht; aber eines
* Muskelfunction und Bewufstsein. Wiesbaden, F. J. Bergmann, 1901.
üeber die WcJimehmung musikalischer TonverhäUnisse. 363
Tages beobachten wir, dafs es die Faust in den Mund steckt,
und immer öfter kommen Bewegungen vor, die ganz den Ein-
druck des Willkürlichen machen.
Die meisten Bewegungen beim Erwachsenen sind will-
kürliche. Will ich meinen rechten Arm erheben, so geht der
Ausfühi'img dieser Bewegung eine räumUche Vorstellung voran.
Ich habe ein Bild von meinem Körper, dem ich gleich werden
will. Diese räumliche Vorstellung aber genügt um die Be-
wegung, auszuführen um gerade die Muskelfasern zur Contraction
zu bringen, diejenigen Ganglienzellen im Rückenmarke zu
innerviren, welche meine räumliche Vorstellung verwirklichen.
Es mufs also der cerebrale Vorgang, welcher als materielles
Correlat jener räumlichen Vorstellung meines Körpers zu be-
trachten ist, alles in sich enthalten, was zur Innervinmg jener
Muskeln, von deren Dasein ich keine Ahnung habe, gehört.
Dieser cerebrale Vorgang mufs ein genaues Abbild, eine Art
Photographie sein der von ihm erzeugten spinalen Innervation.
Das Verständnifs hierfür aber eröffnet einzig, dafs dem Be-
wufstsein vorangehende Reflexleben.
Jeder Reiz, der zu dieser Zeit ein Sinneselement erregt, ruft
auch eine Muskelaction hervor, und es ist durchaus folgerichtig
zu schliefsen, dafs sowohl die Veränderung der Sinneselemente,
wie auch der muskuläre Vorgang im Gehirn Spuren hinterlassen.
Dem würde entsprechen, dafs eine Wahrnehmung sich aus zwei
Factoren zusammensetzt. 1. Dem reinsinnlichen Elemente, das
ein Abbild des Vorganges im Sinnesorgane darstellt, und 2. einem
Symbol, einer Art Photographie der reflectorischen Bewegung.
Ob diese Reflexbewegung späterhin wirklich eintritt oder nicht,
ist gleichgültig, sobald eine sehr feste Association zwischen der
cerebralen Sinneserregung und dem Erinnerungsbild des zu-
gehörigen Reflexes gebildet ist. Es wird dann jeder Sinnesreiz
unweigerlich dieses motorische Erinnerimgsbild zum Anschwingen
bringen.
Wir haben gesehen, dafs die räumliche Vorstellung, welche
-der willkürlichen Erhebung des Armes vorhergeht, unbedingt
«ine Art Photographie der zugehörigen Muskelaction im Gehirne
voraussetzt, und haben den Weg kennen gelernt, auf welchem
diese cerebrale Vertretung der Muskelthätigkeit zu Stande
kommt. Psychisch wird sie räumlich bewerthet und wir können
364 ^- Storch.
den Satz aufstellen : Der Raum ist die psychische Repräsentation
unserer Bewegungen.
Jede Raumvorstellung aber, auch die aller complicirteste
läfst sich auf das Element der Richtungsvorstellung zurück-
führen. Ein Wagen den ich an mir vorüberfahren sehe er-
scheint mir nach einander in verschiedenen Richtungen, ein
Buchstabe, ein Körper, irgend eine Form, all das ist auflösbar in
eine Summe von in verschiedenen Richtungen gelegenen Raum-
punkten. Alle Formen die wir an den Objecten wahrnehmen
beruhen auf mehr minder verwickelten Richtungscomplexen.
Wenn ich ein Gewicht von 10 Balo vom Boden erhebe und
unmittelbar darauf ein solches von 20 Kilo, so ist die Richtung
in welcher ich einen Widerstand durch Muskelkraft überwinde
in beiden Fällen dieselbe, die Anstrengung aber, welche ich als
Masse objectivire, eine verschiedene. Der gleichen Richtungs-
wahrnehmung wird man die in beiden Fällen gleiche Combination
der thätigen Muskeln, der verschiedenen Masse die verschiedene
Stärke ihrer Innervation parallel setzen.
Nehme ich zunächst einen Gummiball in die Hand und
schliefse diese mit immer gröfserer Kraft zur Faust, so bemerke
ich die Weichheit des Objectes. Im Gegensatze dazu würde ich
eine Holzkugel hart empfinden. Im letzteren Falle ändert sich
trotz zunehmender Innervationstärke die Form meiner Hand
nicht, es bleiben dieselben Muskelfasern mit der vergleichsweise
nämlichen Kraft contrahirt, während die Gesammtsumme der
Innervation steigt.
Dem entsprechend ändert sich denn auch das räumliche
Moment der Wahrnehmung, die Form der Holzkugel, durchaus
nicht, wohl aber bemerke ich bei zunehmenden Kraftaufwand
ihre Härte. Ein Gegenstand ist um so härter, je gröfser der
Widerstand den er dem Versuche seine Form zu verändern
entgegensetzt
Es würde hier zu weit führen den Beweis zu erbringen,
dafs für alle Sinnesgebiete das räumliche Moment der Wahr-
nehmung allein abhängig ist von den Innervationsverhältnissen
der in Action tretenden Muskelgruppen, die Quantität der
Empfindung bei gleichem Innervationsverhältnifs, aber nur ab-
hängt von der Gesammtsumme der Innervation.
Nenne ich daher die bei einem Wahrnehmungsacte thätigen
Muskelelemente m^, w«, Wg . . . ihre zugehörigen Innervations-
Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tanverhältnisse. 365
stärken aber ij, l^, ig , so würde die Formel t» wij + u
iWj + *8 ^s • • • • das periferische Correlat aller räumlichen und
quantitativen Elemente in einer Wahrnehmung darstellen. Würde
in dieser Formel ein allen i gemeinsamer Factor n wachsen, so
würde die Quantität der Empfindung zunehmen.
w ih *^i + «9 ^ + h ^h ' • •)
Quantität imd Raum aber ist an unseren Wahrnehmungen
alles, was die Objecte zu einander in Beziehung setzt. In Be-
ziehung setzen aber heifst erst Denken, wahrnehmen, BewuTstsein
haben, und so ist Quantität und Raum, die psychische Repräsen-
tation unserer Muskelfunction, das Material all unserer BewuTst-
seinsthätigkeit. Alles Vorstellen, alle Begriffe sind in letzter
Linie auf Raum- und Quantitätsgröfsen zurückzuführen. Von
dem rein Sinnlichen tritt nichts in unsere Denkthätigkeit ein;
es ist nur vorhanden im Augenblicke der Wahrnehmung. Und
wenn der Physiker über Farben, Geräusche oder sonst welche
Thatsachen sinnlicher Erfahrung nachdenkt, so kann er das nur
indem er für sie Raum- und Quantitätsgröfsen setzt, denn die
rein sinnlichen Empfindungen an sich sind durchaus beziehungslos.
Auch hier mufs ich mich mit diesem Hinweise begnügen,
dals alle Beziehungen in unserem Wahrnehmen und Denken,
also auch alle Beziehungen, welche die Objecte zu einander be-
sitzen, nichts aber auch gar nichts weiter sind als die psychische
Repräsentation unserer Muskelthätigkeit.
Und doch kennen wir unter den Objecten imserer Wahr-
nehmung Beziehungen, die freilich im Denkprocesse keine Rolle
fq>ielen, die aber ebenso bestimmt und eindeutig geordnet er-
scheinen, wie die Massen im Raum. Ich meine die Wahr-
nehmung der acustischen Objecte, und unter diesen wieder
greife ich diejenigen heraus, welche musikalische Verwendung
finden.
Was die musikalischen Töne in eine eindeutige Reihe ordnet
iat ihre Höhe oder Tiefe. In Bezug auf einen beliebigen
«Husikalischen Ton ist irgend ein anderer höher oder tiefer.
Es ist ein ähnliches Verhältnifs wie wir es bei den quanti-
Ibcttiven Beziehungen irgend einer specifischen Sinnesempfindimg
^I^Xaben. In Bezug auf irgend eine Lichtempfindung ist irgend
ine andere dunkler oder heller.
Aber es besteht zwischen der Wahrnehmung der Tonhöhe
der der Helligkeiten doch ein gewaltiger Unterschied. Es
366 ^- Storch.
ist ganz unmöglich sich einen bestimmten Helligkeitsunterschied
vorzustellen, man kann ihn nur wahrnehmen, und ganz unmög-
lich ist es diesen Unterschied der Quantität wiederzuerkennen,
wenn ich von einer anderen Lichtquelle als Vergleichsobject
ausgehe. Niemand vermag aus sich selbst heraus zu sagen, ob
die Veränderung der Lichtempfindung die gleiche ist, wenn die
Leuchtkraft einer Lichtquelle von 1 auf 2, und wenn sie von
2 auf 4 steigt.
Dagegen vermag ich mir sehr wohl einen bestimmten Höhen-
unterschied vorzustellen und erkenne denselben auch mühelos
in jeder Höhenlage wieder.
Dadurch erhalten die Beziehungen der musikalischen Töne
eine gewisse Aehnlichkeit mit den im Raum gültigen Gresetzen.
Wie ich mir an jeder beUebigen Stelle im Raum einen Winkel
von bestimmter Gröfse denken kann, so ist auch zu jedem be-
Uebigen Ton ein anderer vorstellbar, der zu ihm in einem be-
stimmten HöhenverhältniTs steht. Das Intervall eines halben
oder ganzen Tones, der Quinte oder Octave ist ganz unabhängig
von der Tonhöhe, wie der Richtungsunterschied, der Winkel den
zwei Linien mit einander bilden ganz unabhängig besteht von
der Lage desselben im Raum. Ist aber die eine beider Richtungen
gegeben, so ist es auch die andere, ebenso wie bei Festlegung
des Grundtones die Octave ebenfalls bestimmt ist.
Die Uebereinstimmung geht noch weiter. Habe ich in einem
Kreise einen Radius als Schenkel eines Centriwinkels von der
Gröfse a bestimmt, so giebt es zwei Radien, welche diesen
Richtungsunterschied mit ihm einschliefsen ; denn ich kann mir
den Winkel a entstanden denken durch Drehung des Radius
aus seiner ursprünglichen Lage entweder in der einen, oder der
entgegengesetzten Richtung. Ebenso kann ich von einem be-
liebigen Grundtone entweder zur nächst höheren oder nächst
tieferen Octave gelangen.
Sehe ich irgend eine Form, so fasse ich sie simultan auf
als Complex von Richtungen, und sehe ich dieselbe Form, z. B.
einen Buchstaben schreiben, so nehme ich sie wahr als successive
Folge verschiedener Richtungen. Ohne Weiteres erkenne ich
die Identität beider Richtungscomplexe.
Höre ich den Zusammenklang c e g und dann c e und g
in der Aufeinanderfolge einer Melodie, so erkenne ich unschwer
die Identität der Intervalle.
lieber die Wahrnehmung musikdlischer TonverJUUtnisse. 3g7
Die Beziehungen zwischen den musikalischen Tönen haben
also eine deutUche Aehnlichkeit mit den quantitativen und räum-
lichen Verhältnissen im Reiche der körperUchen Objecte, so dafs
der Gredanke nahe liegt auch sie als psychische Spiegelung
unserer Muskelthätigkeit aufzufassen.
Wie unser logisches Denken auf räumUchen und quantitativen
Verhältnissen basirt, so unser musikalisches auf der Tonhöhe
und der Intervallvorstellung, und wäre die eben ausgesprochene
Vermuthung richtig, so würde imsere gesammte geistige Thätig-
keit, auch die nicht verstandesmäfsige, musikalische, sich zurück-
führen lassen auf die psychische Repräsentation unserer Muskel-
action. Unser Bewufstsein wäre das Combinationsvermögen
dieser Erinnerungsbilder unserer Bewegungen.
Dafs all unsere Kenntnifs acustischer Phänomene und
musikalischer Verhältnisse auf der Wahrnehmung basirt, ist
selbstverständUch, und wir werden, um imser Problem zu lösen,
uns an die ersten Gehörseindrücke halten müssen, welche das
neugeborene Kind empfängt, an die Zeit der reflectorischen Be-
wegungen.
Das erste Lebenszeichen, mit welchem das neugeborene Kind
die Welt begrüfst, ist ein lebhaftes Geschrei, also eine Muskel-
thätigkeit Das wirklich schallerzeugende Organ hierbei ist der
Kehlkopf, und wenn wir an unserer Annahme festhalten, dafs
die Muskelcontractionen wenigstens in dem ersten Abschnitte
unseres Lebens einen cerebralen Vorgang auslösen, der in engste
Association mit der cerebralen Spur eines bestimmten Sinnes-
reizes tritt, so wird sich auch die Wahrnehmung dieses Geschreis,
eines jeden Lautes überhaupt zusammensetzen aus zwei psychischen
Oo.,Anen«o. Die eine ^pr^nüri die p,ych»che Lwerftm,g
der Veränderung des Gehörorganes, die zweite die der den Laut
erzeugenden Kehlkopfbewegung. Die Association zwischen diesen
beiden Bewufstseinselementen müssen wir uns wieder als so eng
vorstellen, dafs jede Erregung unseres acustischen Organes im-
weigerlich ein ganz specifisches motorisches Erinnerungsbild an-
schwingen läfst. Ohne dieses wären die einzelnen Töne ohne
Jede Beziehung, sie wären einfach verschieden, so wie die
Empfindungen blau und schwarz und wohlriechend imvermittelt
und beziehungslos neben einander stehen.
Dafs diese motorischen Erinnerungsbilder thatsächlich vor-
handen sind, beweist die Erfahrung, dafs ich jede Tonfolge zu
368 ^' Storch.
singen vermag. In der Vorstellung des TonverhältnlBses c c\
oder des Tones c^ nach c, mufs also alles liegen was zur "Et-
Zeugung des Tones c^ gehört. Es mufs die Vorstellung c^ that-
sächlich alles enthalten, was zur spinalen Innervation des Kehl-
kopfes gehört, oder wie ich auch sagen könnte, die Vorstellung
c^ mufs eine Art seelischer Photographie dieser Innervation sein.
Die Beziehungen nun, welche zwischen den musikalischen
Tönen bestehen, sind uns unmittelbar gegeben, in ihnen denken
wir wenn wir eine Melodie vor unserm geistigen Ohr vorüberziehen
lassen, mit ihnen operirt der Componist. Diese Beziehungen
aber vermögen wir uns auch unabhängig von ihrem Material
abstract zu denken, imd wenn wir das thun, wenn wir sie also
nicht naiv sondern verstandesmäfsig zergUedem, müssen wir sie
uns räumlich vorstellen. Da das thatsächUch in groCser Voll-
kommenheit möglich ist, wie z. B. die HELMHOLXz'sche Lehre
von den Tonempfindungen zeigt, müssen wir annehmen, dafe
alle musikalischen Beziehungen in unseren Raumvorstellungen
schon enthalten ist, dafs abgesehen von dem eigenen acustischen
Material diese Beziehungen einen Specialfall der Summe aller
räumlichen Beziehungen bilden. Sind aber letztere auf die
Combination unserer Muskelthätigkeit zurückzuführen, so gilt
naürtlich auch dasselbe von den musikalischen Tonverhältnissen.
Unsere Theorie aber, der zu Folge die musikalischen Be-
ziehungen als psychische Bewerthung der durch die Kehlkopf-
bewegungen erzeugten cerebralen Veränderungen aufzufassen
sind, gestattet uns diese nämlichen Beziehungen auch auf anderem
Wege abzuleiten.
Statt nämlich diese Beziehungen selbst verstandesmäfsig, d. h.
räumlich auszulegen, können wir auch ihr peripheres Substrat,
die Muskelthätigkeit des Kehlkopfes, zum Ausgangspunkte unserer
Betrachtung machen und untersuchen, wie sich die auf sie zurück-
zuführenden räumlichen Vorstellungen gestalten müssen. Das
heifst, wir machen die Annahme, dafs wir unsere Kehlkopf-
bewegungen räumlich auffassen, dafs wir also, ebenso, wie wenn
wir den rechten Arm heben wollen, auch von jeder Kehlkopf-
Innervation wohl eine räumliche Vorstellung, aber keine akustische
besäfsen.
Ist es wichtig, dafs jedem räumlichen Elemente, jeder Rich-
tungsvorstellung, ein peripheres Substrat von der Formel
Ueber die Wahrnehmung muiikalischer TanverhaUnisse. 369
ZU Grunde liegt, cL h. eine bestimmte Innervation gewisser
Muskelelemente, so leuchtet ein, dafs imser Raum so viel Rich-
tungen besitzt, als es verschiedene Innervationsmechanismen giebt,
cL h. unendlich viele.
Für unsem Kehlkopf aber kommen nicht unendlich viele,
sondern nur drei Innervationsmechanismen in Betracht. Er hebt
und senkt sich, er dreht sich um eine fronto- horizontale Axe,
und die Stimmbänder entfernen oder nähern sich einander. Jedem
dieser Bewegungsmechanismen entspricht eine einzige Formel
in welcher sich nur der gemeinsame Factor n, die Gesammt-
innervation ändern kann.
Die psychische Repräsentation dieser drei Mechanismen kann
natürUch nur drei verschiedene räimiUche Elemente, drei Rich-
tungen Uefem, die ich mit 1. 2 und 3 bezeichne, und wie wir
bei der Lautbildung diese drei Mechanismen
ftj («1*^1« + ij^mg« . . .)
und W3 («1« m/ -f ig» wig» -f ig» wig« . . .)
in mannigfaltigster Weise combiniren, so combiniren wir auch
beim musikalischen Denken ihre psychischen Werthe in jeder
nur möghchen Weise. Bleiben wir bei unserer Fiction, dafs sie
TäumUch bewerthet werden, so heifst das, dafs imser räumUches
Denken, wofern es ausschhefsUch auf den motorischen Erinne-
rungsbildern der Kehlkopfbewegungen beruht, sich völlig erschöpft
in der Combinatorik dreier verschiedener Richtungen.
Die möglichen Combinationen sind also folgende:
1. 2 imd 1. 2. 3
1. 3 1. 3. 2
2. 3 2. 1. 3
2. 1 2. 3. 1
3. 1 3. 1. 2
3. 2 3. 2. 1
Die Combination zweier Richtungen ergiebt offenbar einen
Richtungsimterschied, einen Winkel von bestimmter Gröfee, und
wenn ich die Richtung 1 als Ausgangsrichtimg wähle, wie ich
ja in unserem wirklichen Räume auch stets eine bestimmte
Richtung, die gerade nach vorn, für die Orientirung verwende,
Zeitschrift für Psychologie 27. 24
370 ^' Storch,
SO erhalte ich im Ganzen vier Combinatipneu und ihre Um-
kehrungen.
I = 1. 2, (2. 1) III = 1. 2. 8, (3. 2. 1)
II = 1. 3, (3. 1) IV = 1. a 2, (2. 3. 1)
Die Beziehungen, welche zwischen den Gröfsen unseres
fingirten Raumes bestehen, lassen sich also auf vier bezw.
acht gegen eine Ausgangsrichtung gemessenene Winkel zurück-
führen.
I = 1,2 = ^a, (2. 1 = — -$ aj
n = 1. 3 = -^ o, (3. 1 = — -4 a^)
ni = 1. 2. 3 = -4 (a,) (3. 2. 1) = — -? (a,)
IV = 1. 3. 2 = -5 (aj (3. 2. 1) = — ^ (aj
Da nun bei jeder lautlichen Aeufserung sämmtliche drei
Mechanismen des Kehlkopfes in Fimction treten, so werden auch
mit jeder Tonwahmehmung ihre psychischen Correlate, die Com-
binationen miterregt. Ganz ähnUch, wie bei der Wahrnehmung
irgend eines räumlichen Objectes in einer Richtung, diese nur
einen Sinn hat in Bezug auf alle übrigen Richtimgen, auf den
gesammten Raum, so wird auch die Vorstellung einer Richtung
in unserem fingirten „phonetischen Räume" nur durch ihre Be-
ziehung zu den übrigen phonetischen Richtungen, durch das An-
schwingen der Combinationen möglich sein.
Nehme ich in diesem phonetischen Räume einen Ton, also
ein Object, in einer der drei Richtungen wahr, so geschieht das
imweigerlich in Beziehung zu den beiden anderen. Ohne diese
Beziehung wäre ja der Begriff der Richtung illusorisch.
Wenn es nun möglich wäre die Gröfse der Winkel a,, a„
«g und a^ zu bestimmen, so würde ich alle Beziehungen im
phonetischen Räume genau kennen, und diese Beziehungen
müfsten, wenn unsere Theorie richtig ist, die nämlichen sein,
welche die musikalischen Töne zu einander haben. Denn nach
unserer Theorie sind ja diese Beziehungen nichts anderes als die
psychische Spiegelung der phonetischen Kehlkopfbewegungen.
Sei die Ausgangsrichtung 1 peripherisch durch die Hebung
und Senkung des Kehlkopfes, durch die Formel:
repräsentirt, so ist klar, dafs die zweite Richtung, welche der
Drehung um eine transverso - frontale Axe entspricht, durch voll-
kommen verschiedene Muskelelemente ausgeführt wird, und dafs
lieber die Wahrnehmung musikaliacher TonverhäUnisse,
371
ebenso wie zwischen den beiden Mechanismen keinerlei Ueber-
gänge bestehen, auch ihre psychischen Spiegelbilder ganz unver-
mittelt neben einander stehen. Entspricht die zweite Richtung J/,
der Formel «2 {^1 ^h^ -i'^i^h^ • • O? so wird eine Vergröfserung
von W2 der positiven Richtung +-M1, eine Verringerung der
negativen oder entgegengesetzten — M^ zugehören, und ebenso
hängt -(- -äfi und — M^ von der Zu- oder Abnahme des Factors
n^ ab.
Da nun diese beiden Richtungen absolut keine Beziehimgen
zu einander haben, ebensowenig wie ihre physischen Correlate,
d. h. da der Unterschied + Jlf 1 + J^a psychisch nicht anders
bewerthet werden kann als + -Mj — M^^ oder — Jfcf j + Jfg ^^^
— Jtfi — Jfg , so kann ich diesen Bedingungen nur dadurch ge-.
recht werden, dafs ich Richtung 2. senkrecht auf 1. annehme.
FolgUch ist -4 1. 2 = «1 = 90 = ~^!^-.
■=T
jjß
^
3frJ
'f
'JUJ
Fig. 1.
Fig. 2.
Die Richtung 3. werde durch die Formel:
^8 (*/ ^1* + h^ ntj« . . .) = ifg
symbolisirt und es ist zunächst ohne Weiteres klar, dafs 1. 2 = a^
unmögUch gleich 1. 3 = ag sein kann. Denn Ungleiches mit
Gleichem in derselben Weise combinirt mufs Ungleiches er-
geben.
Es ist also z. B. unrichtig die Richtung (3) wie in Figur 1
als Halbirungslinie des Winkels «j zu zeichnen, denn dann wäre
3. 1 = 3. 2.
Andererseits ist aber der Richtungsunterschied 1. 3 psychisch
ebensowenig bewerthet wie der Richtimgsunterschied 2. 3, sie
müssen also ihrem absoluten Werthe nach gleich sein; aber die
Richtung 3 in Bezug auf 1 mufs eine andere sein, als in Bezug
24*
372
E, Storch,
auf 2. In Figur 2 werde sie in ihrem Verhältnifs zu 1 durch
3 (1), zu 2 durch 3 (2) dargestellt, so dafs
-4 1.3(1) = a, = -4 2.3(2)
st, mithin
^ Sa). 3(2) = -4 1.2 = ^"^
«1 =
Aufser der Combination 1. 3 = ^ a^ existirt aber auch noch
3. 1 = — «o , wie ich es in Figur 3 durch die Linie 3' dar-
gestellt habe, und wir haben uns zu fragen, was uns zur psychi-
schen Bewerthung der drei Winkel 1. 3 , 3. 3' , 3'. 1 gegeben ist
Nun wissen wir von jedem dieser Winkel genau das näm-
7t
liehe Negative, keiner darf gleich 45 ®
oder ein Vielfaches
davon betragen. Weitere Bedingungen für die Gröfsenbestinunung
liegen nicht vor; die drei Combinationen müssen demnach psychisch
auch gleich bewerthet werden; also:
-4 1. 3 = 3. 3' = 3'. 1 = a, =
2 TT
= 120^*
Fig. 3.
Wir haben die Beziehungen zwischen den Richtungen des
phonetischen Raumes kennen gelernt und können nunmehr die
^ Man gelangt auch durch folgende Ueberlegung zu dem gleichen Re
sultat. 3 mufs zur Ausgangsrichtung eine andere psychische Gröfse geben
als 2. Die beiden Richtungen 1 und 3 aber können nur einen einsigen
Kichtungsunterschied ergeben, einen einzigen Winkel, der auf 1 bezogen
zwei verschiedene Lagen haben kann; der absolute Werth dieses Winkels
ist natürlich derselbe, wenn ich 1 auf 3 als Ausgangsrichtung beziehe, so
dafs, wenn ich alle möglichen Lagen von a^ zu 1 und 3 darstelle, auf der
einen Seite von 1 ^cca, auf der anderen — «2 liegen muls; ebenso aber
auch auf beiden Seiten von 3. Dafs das bei einer beliebigen Gröfse von
««5 in der Ebene nicht der Fall ist, liegt offenbar daran, dafs ich bei dieser
Darstellung nicht die beiden Kichtungen 1 und 3 in ihren möglichen Be-
Ueber die Wahrnehmung mu8ikal%8cher TonverhiUtnUae, 373
möglichen vier (acht) Combinationen in Bezug auf die Ausgangs-
richtung bestimmen.
+ 1 = 1.2 = «. =90<^ = l^.,
TOI 2?! . 2n
— 1 = 2.1= -. n-\ -r-;
+ II = 1. 3 = o, = 120» = ^
II = 3.1 = --^ = ^+f;
+ ni = 1.2.3 = a,^a, = 210« = 1^+2'^
4 ' 3 '
TTT Q01 i2it 2n\ 2n n
-m = 3.2.1 =. - (.^ + ^ = -^ + _;
+ IV = 1.3.2 = a,+a, = 210« = -^ + iii,
-IV = 2.3.1 = -(-^ + -^) = Y+f.
Figur 4 veranschaulicht diese Beziehungen und zeigt, dafs
die Combinationen III und IV in eins zusammenfallen.
Mit jeder Wahrnehmung in diesem Räume klingen also un-
weigerlich diese Combinationen an. Halte ich unsere Fiction
aufrecht, so heifst das, dafs jedes in diesem Räume wahrge-
nommene Object (jeder Ton) neben seiner eigenen, der Aus-
gangsrichtung, sechs andere Richtimgsvorstellungen ins Bewufst-
sein erhebt
Nun stellt zwar der phonetische Raum, wie ihn Figur 4
wiedergiebt, die Beziehungen zwischen den psychischen Spiegel-
bildern der Kehlkopfbewegungen vollständig dar, aber der Kehl«
köpf ist, wenn schon ein sehr wichtiger Theil des lautbildenden
Organes, so doch immer nur ein Theil. Die gesammte Muskulatur
Ziehungen darstelle, sondern auch in Beziehung zu den unendlich vielen
Richtungen der Ebene. Die Eigenschaften der Ebene dürfen also, als nicht
in unserer Voraussetzung gelegen, die Bedingung nicht stören, dafs 1 und
3 nur einen einzigen Kichtungsunterschied ergeben, sondern müssen hier-
mit in Einklang gebracht werden. Das ist, wie man sieht, aufser in Figur 1
nar noch in Figur 3 geschehen.
374 ^- Storch.
des Halses und der Brust nimmt an der Lauterzeugung Theil,
und wir werden nicht fehl gehlen, wenn wir die Summe der von
diesen Organen erzeugten Richtungsvorstellungen als unendlich
ansehen. Der von ihnen dargestellte phonetische Raum enthält
also unendlich viele Richtungen und wir werden ihn also als Ebene
auffassen. Jedenfalls sind aber in ihm, die von dem musikali-
schen Organe Kat Exochen, dem Kehlkopf abzuleitenden Rich-
tungen ganz besonders bevorzugt. Sie spielen etwa dieselbe Rolle,
wie im wirklichen Räume die Richtungen, vom imd hinten, rechts
und links, oben imd unten.
Wie uns im wirkUchen Räume die Orientirung von Objecten
desto leichter fällt, je genauer sie in einer dieser Hauptrichtungen
liegen, so wird ein Aehnliches auch mit den Objecten unseres
fingirten Raumes (mit den Tönen) der Fall sein.
Denke ich mir eine Scheibe von der Gestalt der Figur 4, auf
welcher ich im Mittelpunkte stehe, das Gesicht in der Richtung
von 1, so wird ein beliebiges Object, das in der Ebene erscheint,
desto leichter seiner Lage nach bestimmt werden, je genauer es
mit einem der Strahlen I, 11, HI zusammenfällt, am leichtesteo,
wenn es auf 1 selber liegt, In Figur 4 sind die Strahlen ver-
schieden dick gezeichnet, 1 am stärksten, dann HI ( — III), II
( — II) und I. Das hat, wie wir gleich sehen werden, seine Be-
rechtigung. Zunächst aber ist klar, dafs die Orientirung eines
Objectes desto gröfsere Schwierigkeiten machen müfste, je un-
deutlicher der Strahl, auf welchem es erscheint, hervortritt, und
dafs ich die Objecte auf 1 denen auf III, diese denen auf II
und diese endlich denen auf I vorziehen würde.
Hätte ich aber die Aufgabe, auf dieser Scheibe herum-
zugehen, und dürfte immer nur auf den gezeichneten Strahlen
mich bewegen, so würde ich offenbar auch wieder die deutlichsten
(gangbarsten) am meisten betreten.
Stellen wir uns ferner vor, über der festen Scheibe von der
Form der Figur 4 sei, um den gemeinsamen Mittelpunkt drehbar,
eine zweite aus Glas angebracht mit derselben Zeichnung. Dreht
sich nun die gläserne Scheibe, deren Strahlen ich mit 1', I', 11',
Iir bezeichne, so dafs 1' nach einander auf I, II, HI der festen
Scheibe zu liegen kommt, so kommt III' nach einander in die
Richtungen als, h, eis u. s. w. zu liegen, welche durch punktirte
Linien angedeutet sind, und man bemerkt, dafs die Combinationen,
welche auf die Richtungen 1, 2 und 3 sich zurückführen lassen,
Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tanverhältnisse. 375
sämmtlich gegeben sind durch ein zwölffaches Strahlenbüschel,
in welchem je zwei einander benachbarte Strahlen sich unter
-einem Winkel von 30® schneiden. Auf irgend einem dieser
Strahlen mufs ein Object liegen, das sicher und mühelos in dem
phonetischen Räume orientirt werden kann.
Aber die Orientining ist offenbar nicht für jeden Strahl
gleich mühelos. Liegt ein Object auf der Grundrichtung 1, fällt
%. B. V der gläsernen Scheibe mit 1 zusammen, so ist die
psychische Arbeit offenbar sehr leicht Das Object 1' verstärkt
einfach die Wahrnehmung der vorhandenen Grundrichtung. Fiele
1' auf ni, so wäre die psychische Arbeit, welche nöthig ist
dieses neue Object auf 1, die Grundrichtung zu beziehen, zwar
gröfser als im ersten Falle, aber doch noch sehr leicht und sicher.
Denn die Richtung III, in welcher das neue Object liegt, ist ja
schon mit der Grundrichtung gegeben, es ist in ihr schon ent-
halten. Ja die Richtung III hat vor I und 11 einen gewissen
Vorzug; sie ist ihnen gegenüber doppelt bewerthet, da sie den
Oombinationen 1. 2. 3 und 1. 3. 2 entspricht. Erscheint auf ihr
«in Object, so kann ich es also ganz besonders genau orientiren,
insofern ich auf zwei Wegen zu ihm gelangen kann, durch die
Schritte a^ und a^ oder «., und a^. Es ist also eine Art Probe
möglich.
Es steht demnach III in engerer Beziehung zu 1 als I und II ;
es ist die Intensität, mit welcher das III einer beliebigen Grund-
richtung stets anschwingt, gröfser als die des I und IL Man
könnte auch sagen, dafs ein Object, das auf III wahrgenommen
wird, die Vorstellung der Grundrichtung mehr verstärkt als ein
auf I oder II gelegenes.
Offenbar ist die gröfste psychische Anstrengung nothwendig
bei einer vollständigen Umkehr der Grundrichtung, wenn 1' auf
— 1 fällt; dann fällt I' auf —I und — I' auf I, während 11' und
ni' gar keine auf der festen Scheibe vorgezeichneten Richtungen
finden. Die Richtung — 1 hat daher unter allen zwölf möglichen
Richtungen die geringsten Beziehungen zur Grundrichtung, sie
wird im Stande sein, die Vorstellung derselben am meisten zu
verdimkeln.
Diese Bemerkung giebt uns ein Mittel an die Hand, zu ent-
scheiden, in welcher Reihenfolge die einzelnen zwölf Richtungen,
je nach dem Grade, in welchem Ihre Wahmehmimg die Vor-
stellung der Grundrichtung verstärkt, zu ordnen sind.
376 -S- Storch,
Liegt nämlich 1' auf I, so liegt I' auf — 1, und es ist klar^
dafs diese Lage von I' die Vorstellung oder „Kinese** von 1 etwas
verwischen mufs.
Liegt dagegen 1' auf 11, so bleibt — 1 frei , während V auf
m, ir auf — II und IW auf — I fällt. Ein Object auf U wird
demnach die Vorstellung der Grundrichtung 1 mehr verstärken
als ein solches auf I.
Fällt 1' auf eis oder A, so fällt III' oder — HI' auf — 1, so
dafs die hierdurch bedingte grofse Intensität, mit welcher — 1
anschwingt, ungünstig auf die Kinese von 1 wirken muTs.
Deckt sich 1' endhch mit d oder ais, so fällt II' ( — 11) mit
— 1 zusammen, und die ungünstige Wirkung auf die Vorstellung
der Grundrichtung wird sich bedeutend geringer bemerkUch
machen als im vorhergehenden Falle.
Der Intensitätszuwachs, welchen die Vorstellung der Grund-
richtung, durch die Wahrnehmung eines Objectes auf einer der
zwölf vorhandenen Richtungen erfährt, nimmt also ab von dem
ersten bis zum letzten Gliede folgender Reihe:
1, m (— III), II (— H), I (— I), d (ais) eis (h) fis.
Das sind die Beziehungen, welche zwischen den psychischen
Correlaten der drei Bewegungsmechanismen des Kehlkopfes, wenn
ich sie räumlich auffasse, bestehen.
Ist es wahr, dafs die uns unmittelbar, d. h. nicht vernunft-
mäfsig, gegebenen Beziehungen zwischen den musikalischen
Tönen, ebenfalls auf diese drei Mechanismen zurückgeführt
werden können, so mufs die verstandesmäfsige, d. h. räumliche
DarstelUung dieser Beziehungen zu dem gleichen Resultat führen,
wie die eben gegebene Ableitung. Führen aber umgekehrt beide
Ableitungen zu dem gleichen Resultat, so liegt darin ein zwingen-
der Beweis für die Richtigkeit der Theorie.
Zu jedem Tone giebt es einen, der sich durch seine Höhe
gerade merklich von zwei anderen unterscheidet, deren einer
tiefer, der andere höher ist als das Vergleichsobject Gehe ich
von einem beliebigen Tone immer zu dem nächst höheren, so
komme ich schliefslich an eine Grenze, an welcher eine Steige-
rung der Höhenempfindung nicht möglich ist, ebenso wie ich,
von einer beliebigen Lichtempfindung ausgehend, zu immer in-
tensiveren Lichtern gelangen kann, bis das Maximum erreicht
ist. Bewege ich mich in der entgegengesetzten Richtung zu
immer tieferen Tönen, so gelange ich ebenfalls bald zu einer
lieber die WaJirfiehmung musikalischer Tonverhältnisse. 377
GrenzempfindiiDg, und diese Beziehung läfst sich wie jede
quantitative Reihe einer QuaUtät als gerade Linie darstellen, an
deren einem Ende das Minimum, am anderen das Maximum
steht, oder auch, wenn ich an der Stelle der Vergleichsempfin-
dung den Nullpunkt setze als Gerade, auf welcher vom Null-
punkte aus nach der einen Richtung die positiven, nach der
anderen die negativen Werthe wachsen.
Offenbar aber habe ich auf diese Weise die Beziehungen
zwischen den Tönen nicht erschöpft. Von welchem Punkte der
Reihe ich ausgehe, wenn ich eine Melodie singen will, ist zwar
gleichgültig. In dieser Hinsicht hat kein Punkt einen Vorzug
vor dem anderen: sobald ich aber einen Punkt als Ausgangs-
station festgelegt habe, kommen für unser musikaUsches Denken
und Empfinden nur noch gewisse Punkte in Betracht und zwar,
wenn ich die gleichschwebend temperirte Stimmung unserer
kaviere zu Grunde lege, lauter Pimkte, die in gleichen Ab-
ständen von einander liegen ; sie entsprechen Tönen, welche um
das Intervall eines halben Tones von einander entfernt sind,
also um das 30- bis 40 fache des gerade noch ivahrnehmbaren
Höhenunterschiedes.
Und bei allen Völkern, zu allen Zeiten hat man in der
Musik das continuirliche Anschwellen der Tonhöhe abgelehnt,
und sich in Tonstufen bewegt, deren kleinste etwa dem Intervall
des halben Tones entspricht.
Bezeichne ich, dem allgemeinen Brauche folgend, die Töne
der temperirten Stimmung mit c, cis^ d, dis^ e, /", /&, g, gis, a, ais^
c^ und so weiter, so entsprechen ihnen auf der geraden Linie
Punkte, die alle um ein gleiches Stück von einander entfernt sind.
Schlage ich nun nach einander erst c dann eis, c dann d, c
dann dis u. s. w. an, so bemerke ich, dafs einige dieser Ton-
folgen ganz besonders ins Gehör fallen, imd zwar in der auf-
steigenden Linie c dis, c e, c g, in der absteigenden c^ a, c^ gis,
c^ /*, vor Allem aber c c* und c^ c.
Gehe ich über c^ nach aufwärts hinaus, so erkenne ich in
den Tonfolgen c dis^, c e^, c g^ sehr deutlich die AehnUchkeit
mit den Intervallen c dis, c e und c g heraus, und nicht anders
ist es, wenn ich über c nach c, hinuntersteige.
Ganz identisch aber erscheinen mir die Intervalle c dis imd
c^ dis\ c e und c^ e^, c g und c^ ^f^ so dafs sich stets nach einer
ganzen Octave die Intervalle in derselben Weise wiederholen.
378
E, Storch,
Will ich diese Wiederkehr der gleichen Wahrnehmung bei
verschiedener Tonhöhe räumlich veranschauUchen , so ist das
offenbar nur dadurch mögUch, dafs ich die Punkte, die die Töne
versinnlichen, nicht auf einer Geraden, sondern auf einer sich
in immer weiteren Windungen um einen Mittelpunkt legenden
Spirale aufzeichne, und jeden Umlauf mit einer Octave bewerthe.
In dem inneren, gröfser werdenden Radiusvector ist dann die
zunehmende Tonhöhe, in dem Winkel, den zwei Radiusvectoren
bilden, die sich bei jedem Umlauf wiederholende Folge der
gleichen Intervalle symbohsirt. Lege ich einen Punkt für den
Orundton c fest, so würde c,, Cj » . . ebenso wie c*, c* . . . auf
der gleichen Richtung liegen, und dasselbe würde von jeder be-
liebigen andern Octavenfolge gelten. Die zwölf Halbtöne der
Octave aber würden auf einen Umlauf in gleichen Winkel-
abständen zu liegen kommen, wie Figur 5 zeigt.
Da nun offenbar der Unterschied der Höhenempfindung für
das gleiche Intervall stets derselbe ist, also c^ c* = dis dis^ und
so weiter, so mufs ich für jeden Zwölftel-Umlauf, d. h. für jeden
halben Ton den Radiusvector um ein Zwölftel seiner Zunahme
beim ganzen Umlauf wachsen lassen. Es leuchtet ein, dafs die
Spirale eine sogenannte archimedische ist, deren Polargleichung
ß
durch -^ — = r wiedergegeben werden kann. Ist ß der Centri-
^ TT
Ueber die Wahrnehmung mtisikalischer Tonverhältnisae. 379
Winkel = 0, so ist r, welches die Tonhöhe repräsentirt, ebenfalls
gleich 0. Einen Ton von dieser Höhe giebt es nicht, da jeder
Ton zu jedem anderen in einem bestimmten Höhenverhältnifs
steht Setze ich aber die Höhe des tiefsten musikalischen Tones
als Vergleichseinheit gleich 1 , so ist 6 =^2n, d. h. der tiefste
musikalische Ton ist an das Ende des ersten Umlaufes zu
setzen ; dann steht bei 8 = 2 '2n, am Ende des zweiten Umlaufes,
die Octave des tiefsten Tones von der Höhe r = 2, bei ö = 3 • 2 tt
die dritte Octave von der Höhe 3 und so weiter.
Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, daTs in der
aufsteigenden Octave von den zwölf auf c^bezogenen melodiösen
Schritten vier sich besonders auszeichnen: Der Reihe nach
die Octave, einem ganzen Umlauf entsprechend =2n^ cc^,
die Quint, 7i2 Umläufe = — -^ 1 ö— i c g,
die grofse Terz, ^,3 Umläufe = — 0— 1 <^ ^1
und die kleine Terz, ^^ Umläufe = —j- , c dis.
In der absteigenden Octave waren es:
die Octave c^ c,
die Unterquint, die Quart der tieferen Octave
die grofse Unterterz, die kleine Sext der tieferen Octave
, . 27t
c^ gts = g- ,
die kleine Unterterz, die grofse Sext der tieferen Octave
2n
c^ a = —
4 •
Auf die tiefere Octave von c\ auf c als Gnmdton bezogen
heifsen diese Intervalle Quart, kleine und grofse Sext. Sie sind
einfach die Umkehr der Quint und der Terzen.
Wenn wir uns nunmehr erinnern, dafs die Beziehungen der
musikalischen Töne zurückgeführt werden sollten auf die bei
jeder Tonwahmehmung anklingenden motorischen Erinnerungs-
bilder des Kehlkopfes, so wäre nach unserer Fiction des phoneti-
380 E' Storch,
sehen Raumsehemas der Grundton einer Melodie das auf der
Hauptrichtung gelegene Object. In der Wahrnehmung dieses
Grundtones sowohl wie in seiner Vorstellung, die während der
Dauer der Melodie wach bleibt, ist enthalten mit abnehmender
Deuthchkeit — als Partialwelle der Grundwelle — die Vorstellung
der Quint, der grofsen und kleinen Terz, sowie die nächst höheren
Octaven der Umkehrungen dieser Intervalle.
Folgt nun auf den Grundton c die Octave c^, so werden
absolut keine neuen Richtungsvorstellungen erregt, c^ sagt mir
nichts Anderes als c. Und wie wir aus dem Vorhergehenden
leicht entnehmen können, wird die Vorstellung des Grundtones,
der Tonica, in abnehmendem Maafse verstärkt durch die Wahr-
nehmung der Quint (Quart), der grofsen Terz (kleinen Sext) und
der kleinen Terz (grofsen Sext). Das sind die harmonischen
Intervalle nach ihrem Verwandtschaftsgrad zum Grundtone ge-
ordnet. Es folgen die unharmonischen c rf, c dis, c fis^ von denen
letzteres die Vorstellung des Grundtones am meisten abschwächt
Die hier gegebene Reihenfolge der Verwandtschaft der Töne,
wie sie sich aus der Fiction des phonetischen Raumes ergiebt,
wird nun auf das Glänzendste durch unsere unmittelbaren musi-
kalischen Empfindungen und Erfahrungen bestätigt
Aufser der Octavenbegleitung kannte man im Alterthum nur
die homophone Musik, den melodiösen Fortschritt in einfachen
Tönen.
Nach der Octave bevorzugten die Alten als zweites Intervall
die Quint, und wenn musikalisch ungeschulte Sänger eine Melodie
mitsingen wollen, singen sie häufig, wenn ihnen die Octaven-
begleitung zu hoch ist, in Quinten mit.
Später erst hat man die grofse Terz und noch später die
kleine Terz zu den harmonischen Intervallen gerechnet
Je nach dem Verwandtschaftsgrade, den das Intervall zum
Grundtone bestimmt, verhält es sich nämUch mit der Mühe,
einen Ton zu einem Grundtone zu treffen. Am leichtesten ist
die Octave, am schwersten fis oder eis nach c. Freilich ist das
durch die Kenntnifs der Tonleitern etwas verdunkelt, tritt aber
gerade in den beiden Tonarten unserer Systeme sehr schön zu
Tage.
In beiden Tonleitern, C-Dur und C-Moll, fehlt fis, welches
den Grundton zu sehr verdunkeln würde.
Die beiden halben Töne, welche in der Diu'-Tonleiter vor-
Ueher die Wahrnehmung mtisikalischer Tanverhaltnisse, 381
kommen, e f und h c, liegen an Stellen, wo die Beziehung auf
die Tonica eine sehr deutliche ist f ist die Quart von c, h die
grofse Terz der Quint, und ähnlich steht es mit der Moll-Ton-
leiter. Offenbar hat die Tonfolge c e g etwas bestimmteres als
c dis ^, auch wird sie in volksthümlichen Melodien mehr bevor-
zugt. Auch Helmholtz rühmt dem C-Dur-Accord eine gröfsere
Bestimmtheit und Kernigkeit nach.
Woher kommt das? Nur im Moll-Accorde wird durch die
kleine Terz fis ins Bewufstsein erhoben, so dafs in der That die
Grundrichtung etwas verdunkelt werden kann. (Man erinnere
sich an den Versuch mit der Glasscheibe.) Die grofse Terz des
Dur-Accordes dagegen ruft diese Vorstellung des Gegensatzes
zur Grundrichtung nicht hervor.
Weiter auf die musikalischen Verhältnisse einzugehen, halte
ich für überflüssig. Ich glaube gezeigt zu haben, dafs die musi-
kalischen Beziehungen in der That die nämUchen sind, wie die
des phonetischen Raumes.
Das Substrat des musikalischen Denkens, das was die Töne
zu einander in Beziehung setzt, und ein musikalisches Gedächt-
nifs erst ermöglicht, sind in der That die Erinnerungsbilder der
Kehlkopfbewegungen. Je nachdem ein neuer Ton in einer Me-
lodie die Tonica (Ausgangsrichtung) mehr weniger belebt oder
^ar verdunkelt, wird der ästhetische Werth der Tonfolge mehr
weniger beruhigend oder verwirrend wirken.
In jedem einzelnen Falle wird man sich die ästhetische
Wirkung klar machen können an dem Beispiel mit der gläsernen
Scheibe. Jede neue Lage derselben bedeutet die Wahrnehmung
eines neuen Tones, während die feste Scheibe die Vorstellung
der Tonica, welche während der Dauer der Melodie anhält, ver-
sinnlichen sollte.
Handelt es sich um mehrstimmige Musik, so kann man sich
durch mehrere gläserne Scheiben ein Bild davon machen, in
welche Beziehimgen die Tonica tritt, wie sie immer in neuen
Verhältnissen erscheint
Ist das motorische Erinnerungsbild, welches mit jeder Ton-
wahmehmung anklingt = itf^ + Mg -|- Jtfg, also zurückzuführen
auf die Formel
so ist klar, dafs das Verhältnifs w^ : n^ : n^ ganz allein für die
382 ^' Storch,
Beziehung dieses Tones auf einen anderen in Betracht kommen
kann, da die Klammerausdrücke sich nicht ändern können,
während die Summe n^ + w^ -f- Wg , die Gesamtinnervation als
Quantität, als Höhenempfindimg bewerthet wird.
Werfe ich nun einen BHck auf Figur 4, so sehe ich, da&
der Radiusvector zwar von Halbton zu Halbton um die gleiche
Gröfse '■/la wächst , dafs also auch n^ -|- n^ + Wg in derselben
Weise zimimmt, dafs aber zugleich die RichtungsvorsteUung oder
Intervallempfindung bei jedem Zuwachs um 7i2 sich ändert, bis
sie bei der zwölften Zunahme wieder dieselbe geworden ist Es
besteht also ein Gesetz, derart, dafs die drei Summanden n^, n^
und tig nicht gleichmäfsig zunehmen können, sondern nur un-
gleichmäfsig , so dafs das Verhältnifs Wj : »2 : n^ während des
Wachsthums der Summe zwölf Werthe durchläuft. Es ist also
Wj -f- Wo + Wg eine stetig zunehmende, «^ : Wj : Wg eine periodische
Function.
In unsere Tonempfindungen übersetzt heifst das, dafs zu
jeder Tonhöhe, zu jeder Quantität der Tonempfindung eine be-
sondere Intervallvorstellung gehört. Der Radiusvector von Figur 4
versinnbildlicht die Quantität der Höhenempfindung, die zwölf
Strahlen des phonetischen Raumes die Intervallvorstellungen.
So haben wir für die Töne einer beliebigen Octave folgende
Quantitätswerthe der Höhenempfindung
eis = m+ Vi« /" = ^ + '^/la « = m +
18
9!
ili
11,
.12
wobei m für die tiefste Octave gleich 1 und für die nächst höheren
= 2, 3, 4 . . . zu setzen ist. Das Bildungsgesetz dieser Reihe
ist durch die Polargleichung der archimedischen Spirale r = -
gegeben, wenn 8 der Reihe nach die Werthe 2/1, 27r + -^,
2 TT -| — - , 2 TT -| ^— . . . ertheilt.
Nach dem sogenannten psychophysischen Grundgesetz ent-
spricht aber der arithmetischen Progression der Empfindungs-
gröfsen eine geometrische der zugehörigen Reizgröfsen.
lieber die Wahrnehmung nmmMücher Tanverhältnisse, 383'.
Ist also die Ekzipfindungsreihe für die Octaven: 1, 2, 3, 4,
d. h. ist c gegen c^ um ebensoviel verschieden wie c* gegen c*u. s. w.,
so ist die zugehörige Reizreihe a:\ a;*, x^, x^ .... und giebt uns
die archimedische Spirale das Bildungsgesetz der Empfindungs-
reihe, so die geometrische e^^^ = JR, das der Reizreihe.
Diese Spirale nähert sich in unendlich vielen Windungen
dem Mittelpimkte. Setze ich den Radiusvector, welcher der Reiz-
gröfse des tiefsten Tones entspricht, gleich 1, also exO z=l^ so
beginnt von hier aus mit wachsendem 6 der positive Theil der
Spirale, deren jeder Punkt einen Tonreiz repräsentirt
Für den Reiz des tiefsten Tones habe ich also
l = exe
X ' 6 = 0
Da X aber nicht 0 sein kann, weil sonst alle Reizgröfsen von
der Formel e^-^ = 1 wären, so mufs ich Ö = 0 setzen.
Für die Octave dieses tiefsten Tones ist folgerichtig Ö = 2 tt,
und wenn ich den Unterschied der Reizgröfse des tiefsten Tones
und seiner Octave mit 1 bezeichne, so ergiebt sich für diesen
Reiz
Äi = 1 + 1 = 2 = eX'2n
oder log nat 2 = 27t - x
.^, . log nat 2
mithin x = — ^
2n
Die Gleichung der Exponentialspirale ex(^ = R geht also
über in
( log nat 2 . ^-)
oder _^
i? = 2^"
Setzt man hier für 6 der Reihe nach -^, -^ , — ß~i so
dafs man für die Octave des tiefsten Tones 2 /r, für die nächste
4 TT, Ott . . . setzen mufs, so steht der Reihe der Höhenempfin-
dungen folgende der zugehörigen Reizgröfsen gegenüber:
Quantitätsreihe :
J. , X Ii2 1 A /i2 • • • ^ » ^ /i2 . . • D • . . 4: . . .
Reizreihe :
1, 2V.., 2''" ... 2\ 2^'/i. ... 2» . . . 23 . . . 2* . . .
384 ^' Storch,
und ich kann demnach das Verhältnifs jedes Intervalles zum
Grundtone aus den Verhältnissen der Reizgröfsen berechnen.
Es wird, da 2*": 2"'*/" unabhängig von m = 2^'« ist, durch die
Höhenlage nicht beeinflufst.
Setze ich also den Grundton 1, so ist die Reizgröfse
der klemen Terz = 2"/" = 1,1893,
der grofsen Terz = 2*1» = 1,2589,
der Quart = 2 V« = 1,3348,
der Quint = 2'/». = 1,4983,
der kleinen Sext = 2'/'« = 1,5874,
der grofsen Sext = 2*/" = 1,6818,
der Octave = 2^ = 2,0000,
des Halbtones = 2*/" = 1,0595.
Ueberlegen wir uns, dafs diese Reizgröfsen den bezüglichen
Innervationssummen des Kehlkopfes (w, + Wg + w») entsprechen,
also der Spannung der Stimmbänder oder auch deren Schwingungs-
zahlen proportional sein müssen, so müssen diese Zahlen wenigstens
bis zu einem gewissen Grade mit den aus den Seitenlängen oder
Schwingungszahlen der Tonwellen berechneten übereinstimmen,
und wir werden eine imi so gröfsere Uebereinstimmung für die
Intervalle vermuthen, bei welchen die Beziehung oder Verwandt-
schaft mit dem Grundtone am stärksten ist Erinnem wir uns
an den phonetischen Raum, so war die Orientirung eines Objectes
am leichtesten und sichersten auf der Grundrichtimg selbst möglich,
sodann mit abnehmender Sicherheit auf den Strahlen HI ( — III),
II ( — II) und I ( — I). Eine Abweichung der Stimmung eines
Instrumentes von dem hier entwickelten, organisch begründeten
Schwingungsverhältnifs, die beim Halbton bei der kleinen und
selbst der grofsen Terz noch erträglich wäre, müfste bei der Quart,
der Quint und gar der Octave eine sehr beunruhigende Wirkung
hervorrufen.
Folgende Tabelle giebt eine Uebersicht über die Verhältnife-
zahlen der „reinen", der gleichschwebend temperirten und meiner
„physiologischen" Stimmimg.
Rein Gleichschwebend Physiologisch
Kleine Terz 1,2000 1,1902 1,1893 (—0,7%)
Grofse Terz 1,2500 1,2589 1,2589 (+0,6%)
Quart 1,3333 1,3348 1,3348 (+0,13%)
Ueber die Wahmehmtmg musikalischer TonverJiältnisse, 385
Rein
Gleichschwebeud
Physiologisch
Qtiint
1,5000
1,4983
1,4983 (-0,12%)
Kleine Sext
1,6000
1,5874
1,5874 (-0,6«/o)
Grofse Sext
1,6666
1,6804
1,6818 (+0,7»/„)
Octave
2,0000
2,0000
2,0000 (0%)
Die in Klammem beigefügten Procentzahlen geben die Ab-
weichung der physiologischen Stimmung gegen die sogenannte
reine an und man sieht, dafs in dieser thatsächhch die Annähe-
rung von der kleinen Terz zur grofsen, zur Quint und endlich
zur Octave zunimmt
Bei den Völkern der mittelländischen Cultur^ hat nun von
je her die Ansicht bestanden, dafs die sogenannte reine Stim-
mung und die aus ihr abgeleiteten Saitenlängen in der That
genau einem in unserem Empfinden begründeten Gesetze ent-
sprächen, und Helmholtz hat in seinem genialen Werke „Die
Lehre von den Tonempfindungen" dieser Anschauung eine
scheinbar unerschütterliche Stütze gegeben. Dafs diese reine
Stimmung aber thatsächhch weniger natürUch ist als die tem-
perirte, dürfte nach meinen Ausführungen kaum bezweifelt
werden. Die Begründung, die Helmholtz seiner Lehre giebt,
hier zu kritisiren, würde zu weit führen. Ich will nur fest-
stellen, dafs eine objective Stimmung der Instrumente erst mög-
lich wurde, nachdem die Zahlenverhältnisse bekannt waren, und
möchte femer darauf hinweisen, mit welch ungeheurer suggestiver
Wucht die gefundenen einfachen Zahlen 1:2, 2:3, 3 : 4, 4 : 5,
5 : 6 gewirkt haben. Diese Einfachheit nahm man als Sanction
der Richtigkeit, und das Gefühl war bei der verhältnifsmäfsig
grofsen Annäherung an die Wahrheit unfähig die Vernunft zu
corrigiren.
Wäre die reine Stimmung wirkhch die natürüche, es wäre
unfafsbar, warum die heutigen Culturvölker bei einer noch nie
dagewesenen Bethätigung der musikalischen Psyche, darauf imd
daran sind sie, gegen die gleichschwebend temperirte zu ver-
tauschen.
Ebenso haben die Perser in dem Maafse, wie der fremde
Einflufs, der bei ihnen die reine Stimmung eingeführt hatte, er-
' Aas Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen, 4. Ansgabe, 1877,
S. 444 Anm. geht hervor, dafs die ältesten anf uns gekommenen Instrumente
der Aegypter die zwölfstufige Halbtonscala aufweisen.
Zeitschrift für Psychologie 27. 25
386 E' Storch,
losch, beim Verfall ihrer mittelalterlichen Cultur, d. h. als die
natürlichen Instincte des Volkes zur Geltimg gelangten, sich der
gleichschwebend temperirten Stimmimg wieder zugewandt
Es ist natürUch kein blinder Zufall, dafs mein räumUches
Tonschema die Gestalt der Cochlea acustica zeigt Meine Theorie
verlangt, dafs die Reizung jedes akustischen Elementes neben
der rein qualitativ akustischen Empfindung E ein motorisches
Erinnerungsbild M wachruft, so dafs jede Tonwahmehmung unter
dem Schema E -{- M dargestellt werden mufs.
Jedes Element der Schnecke, oder auch eine Anzahl be-
nachbarter steht für eine Tonwahmehmung; da diese Elemente
räumlich sind, müssen sie auch räumlich angeordnet sein. Mein
Schema ist aber nichts als die räumliche Anordnung der Ton-
wahmehmung imd diese mufs mit der räumlichen Anordnung
der Schneckenelemente übereinstimmen.
Die weiteren sehr interessanten anatomischen Folgerungen
mufs ich hier bei Seite lassen. Nur dafs der Kuppelblindsack
in der ersten, von Tönen freien Windung der archimedischen
Spirale sein Gegenstück findet, sei zum Schlüsse bemerkt
(Eingegangen am 15. September 1901.)
(Aus dem physiologischen Institute der üniversitftt in Wien.)
Ueber Bewegungsnachbilder, ^
Von
A. BoRSCHKE und L. Hescheles, stud. med.
(Mit 3 Fig.)
Während das Studium der Nachbilderscheinungen auf dem
Gebiete des Licht- und Farbensinnes seit Jahren eifrigst betrieben
wurde, die Zahl der darüber verfafsten Arbeiten grofs und unsere
Kenntnifs der betreffenden Phänomene, was ihre descriptive Seite
anlangt, eine ziemHch weit vorgeschrittene ist, ist die Kenntnifs
der analogen Erscheinungen im Bereiche der optischen Bewegungs-
empfindungen weniger weit ausgebildet. Dies erklärt sich aus
dem Umstände, dafs erst einer verhältnifsmäfsig späten Zeit die
Einsicht vorbehalten war, dafs die Perception von Licht- und
Farbenempfindungen nicht die einzige Leistung des zweiten
Himnerven sei, sondern dafs auch die optische Empfindung von
Bewegungen, die als eine specifische Empfindung aufzufassen ist,
durch den Sehnerv vermittelt werde; das eingehende Studium
dieser und der entsprechenden Nachbilder nach dem Erlöschen
des auslösenden Reizes wurde erst ziemlich spät in Angriff ge-
nommen, und darum ist unsere Kenntnifs und theoretische
Deutung derselben von einem befriedigenden Abschlufs noch
weit entfernt.
Schon Purkinje, der gleichzeitig mit Goethe das Studium
subjectiver Gesichtserscheinungen systematisch betreiben lehrte,
hatte, ohne den Gegenstand einem genaueren Studium zu unter-
ziehen, gelegentlich die Beobachtung gemacht, dafs, wie bei
Licht- und Farben-, ebenso auch bei Bewegungseindrücken die
Art der Empfindung unter Umständen in ihr Gegentheil um-
schlägt, d. h. wie wir heute sagen, ein negatives Nachbild zurück-
25*
388 ^- BoracJike u. X. Heacheka.
läfst. Er £and^ „daXs, wenn man eine Zeitlang eine vorüber-
gehende Reihe formell individualisirter Gegenstände, z. B. einen
langen Zug von Reitern, vorüberziehende Wellen, die Speichen
eines nicht zu schnell sich umdrehenden Rades ansieht, eine den
reellen Bewegungen der Gegenstände ähnliche Scheinbewegung
im Gesichtsfelde zurückbleibe, die auf dem durch temporelle
Eingewöhnung erworbenen Bewegungsbestreben der Augen-
muskeln beruhe." Plateau, der sich eingehend mit dem Studium
der Nachbilder beschäftigte und ein allgemeines Gesetz ihres
Ablaufes aufstellen zu können glaubte, erhob Pubkü^je's Be-
obachtung zum wissenschaftlichen Versuch. Er zeichnete eine
ARCHiMEDEs'sche Spirale auf eine weifse Scheibe, liefs sie unter
dauernder Fixation des Centrums rotiren und konnte nach plötz-
lichem Einhalten der Rotation beobachten, dafs die Spirale, deren
Windungen sich früher zu erweitem schienen, nun gegen das
Centrum zu schrumpfte.* Oppel construirte zum Studium des-
selben Phänomens einen eigenen Apparat, den er Antirrheoskop
nannte: fünf nebeneinander liegende Walzen, die mit weifsem
Papier überzogen waren und je eine schwarzgezeichnete Spirale
trugen; alle drehten sich gleichsinnig und gleich rasch, nur die
mittlere lief rascher.* Im Nachbild zeigten die Spiralen alle das
Plateau 'sehe Phänomen, die mittlere in rascherem Tempo als
die anderen, womit die Aufmerksamkeit auf eine bis dahin un-
berücksichtigt gebliebene Eigenschaft des Nachbildes gelenkt
wurde, seine Geschwindigkeit. Bei Oppel finden wir auch be-
reits die Angabe, die auch wir und alle anderen Beobachter,
Helmholtz ausgenommen*, bestätigen, dafs zum Gelingen dies-
bezüglicher Versuche festes Fixiren nothwendig sei, gröfsere
Augenbewegungen störend wirken. Später nahm Dvobak die
PLATEAü-OppEL'schen Versuche wieder auf, um den Nachweis zu
führen, dafs die Scheinbewegungen als locale Netzhautvorgänge
zu betrachten seien. Er legte auf eine grofse, weifse Scheibe
mit einer Spirale eine kleinere, concentrische mit einer entgegen-
gesetzt laufenden und endlich eine noch kleinere dritte, eben-
falls concentrische Scheibe mit einer der ersten gleichsinnigen
* J. Purkinje. Beiträge zur Kenntnife des Schwindels aus heauto
gnostischen Daten. MediciniscJie Jahrbücher des östnT. Staates 6. 1820.
' Mhnoires de VÄcademie de Bruxelles 8.
» Foggendorff's Annalcn 80, 287.
* H. V. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, 2. Aufl., S. 764.
Ueber Bewegungsnachbilder. 389
Spirale auf, rotirte und sah nachher auf emem Schirm das Nach-
bild der Spirale in drei, theils schwellende, theils schrumpfende
Ringe getheilt.* Der Ansicht Dvorak's hinsichtlich der Lokali-
sation schlofs sich G. Zehfuss an^ der auch eine Hypothese für
die Entstehimgsweise der Nachbilder aufstellte und femer hervor-
hob, daJs man nach dem Anschauen einer Bewegung im ge-
schlossenen Auge „eine chaotische Masse von schwachen Licht-
funken sehe, deren Bewegungsrichtung der ursprünglichen
entgegengesetzt ist". Es hafte somit die Erscheinung an der Netz-
haut u. zw., wie aus weiteren Versuchen hervorgeht, nur an der
von der Bewegung erregten Stelle, über deren Rahmen sie nicht
hinausgehe.
Den Ausgangspunkt unserer Untersuchungen, die eine mög-
lichst exacte Beschreibung des Phänomens imd insbesondere das
Studium der Nachbildgeschwindigkeit zum Ziele hatten, bildeten
die Arbeiten E. Büdde's* und Sigm. Exneb's*; des letzteren
Versuchsanordnung, der bei seinen Studien über Bewegungs-
nachbilder sich theils rotirender Scheiben, theils äquidistanter
Liniensysteme bediente, die auf die Trommel des LüDwio'schen
Kymographion oder auf einen breiten, über zwei Walzen laufen-
den Papierstreifen ohne Ende gezeichnet waren, kam mit ent-
sprechenden Modificationen auch bei unseren Experimenten in
Anwendung.
Von vornhinein konnte die scheinbare Geschwindigkeit des
negativen Bewegungsnachbildes als abhängig vermuthet werden
1. von der Geschwindigkeit des Vorbildes,
2. von der Zahl der eine Netzhautstelle in der Zeiteinheit
treffenden Contouren,
3. von deren Deutlichkeit,
4. von der Dauer der Vorbilder.
* Dvorak. Ueber die Nachbilder von Reiz Veränderungen. Sitzungs*
btrichte der k. Akademie der Wissenschaften in Wien 61.
* G. Zehfuss. Ueber Bewegungsnachbilder. Ännale7i der Physik und
Chemie, hrsg, «?. G. Wiedemann, N. F. 9, 672—676.
' E. BüDDE. Ueber metakinetische Scheinbewegungen und über die
Wahrnehmung der Bewegungen. Archiv f. Anatomie u. Physiologie, PhysioL
Abth.f hrsg, v, E. Du Bois-Rcymond, 1884.
* S. ExNER. Einige Beobachtungen über Bewegungsnachbilder. Central-
blatt f, Physiologie, 1887. — Derselbe. Ueber optische Bewegungsempfin-
dungen. Biologisches Centralblatt, 1888.
390 ^' BoTBchke u, L, Heaehdes,
Da vorherzusehen war, dafs eme durch Zahlen ausdrückbare
Schätzung der Geschwmdigkeit des Nachbildes blofs nach dem
Augenschein zu unsicher sein werde, mufsten wir darauf bedacht
sein, eine genauere Methode für diese Geschwindigkeitsbestimmung
ausfindig zu machen. Anknüpfend an die Erfahrungen Sigm.
Exner's, nach welchen zwei rechtwinkelig gekreuzte Linien-
Systeme, die sich senkrecht auf die Richtung der Linien gleich-
zeitig durch dasselbe Sehfeld bewegen, ein Nachbild liefern,
dessen Bewegung in der Diagonalen erfolgt, versuchten wir die
Wirkung eines Liniensystems auf die Geschwindigkeit des Nacb-
bildes nach der Richtung zu beurtheilen, um welche das Nach-
bild von jener Richtung abweicht, die es bei ausschliefsUcher
W^irkung des anderen Liniensystems als Vorbild haben würde.
Zu diesem Zwecke brachten wir hinter einem kreisförmigen
Ausschnitt (eines senkrechten Schirmes) von etwa 5 cm Durch-
messer zwei getrennte, auf einander senkrecht stehende Stab-
systeme an, von denen das eine, aus verticalen Stäben — Strick-
nadeln — bestehende in horizontaler, das andere aus wagrechten
Stäben Zusammengesetze in senkrechter Richtung fortschritt
Die Stäbe waren mit ihren Enden an Bändern ohne Ende be-
festigt, die um je zwei senkrecht, beziehungsweise wagrecht ge-
stellte Walzen liefen. Die beiden Stabsysteme lagen hart hinter
einander; ihre Geschwindigkeit liefs sich, die des einen unab-
hängig von der des anderen, mit Hilfe von Kegel-Uebersetzungen ^
beliebig variiren ; ein Elektromotor setzte dieselben in Bewegung.
Zum Fixiren diente der Kopf einer in der OefEnung des Schirmes
angebrachten Stricknadel. Die Stäbe waren von mattschwarzer
Farbe, hatten eine Dicke von etwa IV2 ^^ ^^^ ^^^^ Distanz
von 5 mm und hoben sich von einem, dahinter befindlichen,
mattweifsen Hintergrund deutlich ab, welchen zwei Glühlampen
von der Seite her derart beleuchteten, dafs die Stäbe keinen
Schatten auf ihn warfen.
Die Oeffnung des Schirmes, durch die man die Stäbe sah,
konnte in jedem Augenblicke durch einen Klappdeckel ge-
schlossen werden, auf dem zur Erleichterung der Nachbild-
beobachtung ein Gitter senkrechter und wagrechter Linien ge-
zeichnet war. Blickte man durch den Ausschnitt, so sah man
^ Vgl. V. Stern. Studien über den Muskelton. Pflüg er ^8 Archiv für die
ges. Physiologie 82, S. 45. 1900.
lieber BewegungsncLchhüder, 391
«in Gitter sich rechtwinklig kreuzender Stäbe. Es konnten sowohl
die verticalen Stäbe für sich allein in horizontaler Richtung als
auch die horizontalen Stäbe in verticaler Richtung bewegt werden.
Liefs man beide zu gleicher Zeit laufen, so sah man, je nach der
Deutung des gegebenen Netzhauteindruckes, eine scheinbare
Verschiebung eines quadratischen Gitters in der Richtung, die
der Diagonale des Geschwindigkeitsparallelogrammes entsprach,
bei gleicher Geschwindigkeit in beiden Systemen also unter
einem Winkel von 45®; oder man sah gleichzeitig die beiden
Stabsysteme in ihrer wirklichen Bewegung, oder nach Art eines
^Wettstreites der Sehfelder" ein Stabsystem in seiner Bewegung,
während das andere der Aufmerksamkeit mehr oder weniger
entzogen war.
Jedes der Stabsysteme mufste ein seiner wirklichen Be-
wegung entgegengesetzt gerichtetes Nachbild erzeugen, und
beide Nachbilder sich zu einem neuen combiniren, dessen
Richtung in der Diagonale des Geschwindigkeitsparallelo-
grammes beider Nachbildcomponenten gelegen ist. Bei unseren
Versuchen erstreckten sich alle Variationen, die wir hin-
sichtlich Geschwindigkeit, Zahl der Stäbe, Intensität der Be-
leuchtimg und Dauer der Einwirkung vornahmen, natürlich
blos auf ein Stabsystem, so dafs die Geschwindigkeit des Be-
wegungsnachbildes, die das zweite lieferte, constant blieb und
wir daher aus der Richtung der resultirenden Nachbildbewegung
«inen Schlufs auf die relative Geschwindigkeit der variablen
Componente ziehen konnten. Diese liefs sich, da die in Betracht
kommenden Parallelogramme immer rechtwinkUg waren, durch
die Formel aty x ausdrücken, wo a die constante Geschwindig-
keit des Nachbildes des einen Systems, das von allen Variationen
ausgeschlossen blieb, bedeutet und x den Winkel bezeichnet,
welchen die Richtung der Resultirenden mit der Richtimg der con-
stanten Componente einschliefst. Läfst man die Stäbe beider Systeme
gleichzeitig mit gleicher Geschwindigkeit laufen, so müssen auch
die Componenten des Nachbildes unter einander gleiche Ge-
schwindigkeit haben, und die resultirende Nachbildrichtung mufs
einen Winkel von 45® mit der Horizontalen einschliefsen. Dies
bestätigte der Versuch.
Hierbei bot das Nachbild einige interessante Erscheinungen,
Nach einer sehr kurzen und nicht ganz constanten Phase,
in der das Nachbild sich gleichsam zu rühren anfing, sah man
392 ^' Borschke u. L. Heschdea.
es mit einer Geschwindigkeit einsetzen, die offenbar im weiteren
Verlauf allmäMich abnahm, um endlich in Ruhe auszuklingen.
Der Uebergang in Ruhe erfolgt jedoch nie scharf bestimmbar,
so dafs man manchmal im Ungewissen sein kann, ob das Gitter
schon stehe oder, dafs man es einen Moment für ruhend hält,
und es dann noch eine kurz dauernde Bewegung zu machen
scheint. Am ehesten liefse sich wohl das Gleiten und Wallen
des Nachbildes mit einem Fliefsen im Strome vergleichen. Aus
der vorstehenden Schilderung könnte der Leser vielleicht ver-
muthen, es seien im Ablaufe des Phänomens mehrere, wohlge-
trennte Phasen zu unterscheiden; eine solche Eintheilung wäre
aber gezwungen, da die erste Phase sehr kurz und nicht immer
mit Sicherheit zu constatiren, der Uebergang der einen Phase
in die andere oft verschwommen und unbestimmt ist Blick-
bewegungen während der Beobachtung von Vor- oder Nachbild,
ungleichmäfsiger Gang des Apparates, der die Bewegung der
Stäbe besorgte, störten das Zustandekommen des Nachbildes.
Oftmalige Wiederholung dieses Grundversuches überzeugte uns,
dafs eine verhältnifsmäfsig genaue Angabe der Richtung, in der
das Nachbild abläuft, nur unter Benützung der im ersten
Momente auftretenden Bewegungsrichtung zu gewinnen ist
Später herrscht ein beständiges Schwanken in dem Phänomen,
und glauben wir jetzt, deutlich eine Bewegung unter dem Winkel
von 45^ zu sehen, so ist im nächsten AugenbUck die Richtung
bereits um einige Grade verändert, eine Weile scheint dann die
Bewegung sich nur in einer Richtung fortzusetzen, um dann
neuerdings ins Schwanken zu gerathen. Wir haben den Ein-
druck, als würden hier zeitweilig die Einzelnachbilder der beiden
Stabsysteme getrennt zur Geltung kommen, wenigstens entsprechen
die Grenzen dieser Schwankungen näherungsweise denselben.
Bei unseren folgenden Versuchen, wo es uns auf eine möglichst
exacte Angabe der Bewegungsrichtung ankam, machten wir es
uns daher zur Regel, immer nur die ersten Secunden, in denen
das Nachbild deutlich und unzweideutig auftauchte, zur Be-
urtheilung der Richtung zu benützen und von den späteren
Schwankungen abzusehen. In manchen Fällen konnte man den
Eindruck gewinnen, dafs die Schwankungen immer in dem
gleichen Sinne erfolgen und eine Abnahme des anfänglichen
Winkels bewirken, doch war dies nur ausnahmsweise der Fall,
viel häufiger folgten die verschiedensten Richtungen unter bald
üeher Bewegungsnachbüder, 393
gröfseren, bald kleineren Winkeln in buntem Wechsel auf einander*.
Von diesen Schwankungen abgesehen war im Grofsen und
Ganzen die Nachbildrichtung nicht viel von 45*' abweichend.
Es lag nahe, diese immer nachweisbaren Schwankungen auf
die Construction unserer bewegten Liniengruppen zu beziehen,
und so dachten wir, dieselben würden möglicherweise ausbleiben,
wenn wir die Zusammenstellung aus Componenten vermieden
und ein rechtwinkhges Gitter unter einer Neigung von 45« sich so
bewegen liefsen, dafs ein Stabsystem stets vertical blieb. Wir
stellten daher die Trommel des HERiNo'schen Kymographion so
auf, dafs seine Achse mit der Horizontalen einen Winkel von
45« einschlofs, und überzogen sie mit Papier, auf welchem Linien
gezogen waren, die unsere Stabsysteme nachahmten. Bei
Rotation der Trommel, die von dem Uhrwerk des Apparates
tadellos besorgt wurde, und nachherigem Anhalten sah man diö
Nachbildschwankungen mit gleicher Deutlichkeit wie bei der
ersten Versuchsanordnung.
Nachdem wir so durch unseren Grundversuch uns über den
Verlauf des Nachbildes näher unterrichtet hatten, wendeten wir
uns dem Studium seiner Geschwindigkeit zu.
1. Inwiefern wird die Geschwindigkeit des Nachbildes von
der Geschwindigkeit des Vorbildes beeinflufst?
Unser Versuch zeigte, dafs die Geschwindigkeit des Nach-
bildes der des Vorbildes, bis zu einer gewissen Grenze, direct
proportional ist. Dies geht daraus hervor, dafs bei Aenderung
der Geschwindigkeit in beiden Stabsystemen die Richtung des
Nachbildes immer der Diagonale des Geschwindigkeitsparallelo-
grammes beider Vorbilder entgegengesetzt war, was nur dann mög-
lich ist, wenn die Zunahme der Geschwindigkeit der Nachbild-
componenten proportional der Zunahme in den Componenten des
Vorbildes erfolgt. So bald wir aber ein Stabsystem so rasch laufen
liefsen, dafs sein Eindruck ein verschwommener war, nahm die Ge-
schwindigkeit seines Nachbildes wieder ab. Lief das System der hori-
zontalen Stäbe rascher als das der verticalen, so bildete die Richtung
des Nachbildes mit der Horizontalen einen Winkel, der gröfser war
als 45«. Dieses Verhältnifs änderte sich aber bei zu grofser Ge-
schwindigkeit der horizontalen Stabreihe so, dafs die Richtung
des Nachbildes der erwarteten nicht mehr entsprach und schliefs-
lich horizontal wurde, wenn das System der wagrechten Stäbe
liegen allzu bedeutender Geschwindigkeit überhaupt nicht mehr
394 '^' BoTBcKke u. X. Heschdes.
deutlich unterschieden werden konnte. Es ist selbstverständlich,
dafs man die geschilderte Bewegung der Stabsysteme im Vor-
bilde auch in der Form sehen kann, dafs sich anscheinend
Quadrate in einer geneigten Richtung bewegen. Das Nachbild
entspricht dann natürlich dieser scheinbaren Richtung.
2. Inwiefern wird die Geschwindigkeit des Nachbildes von
der Zahl und DeutHchkeit der Stäbe beeinflufst?
Wir entfernten zunächst aus der Reihe der senkrechten, in
horizontaler Richtung fortschreitenden Stäbe jeden zweiten Stab,
so dafs die Distanz jetzt näherungsweise doppelt so grofs war
wie früher. Die Geschwindigkeit der senkrechten und wag-
rechten Stäbe bUeb vorläufig die gleiche. Wurde jetzt das Vor-
bild beobachtet, der Klappschirm gesenkt und das Nachbild
studirt, so zeigte sich, dafs, abgesehen von den Schwankungen,
die jedes Nachbild bot, der Winkel, den seine Bewegungsrichtung
mit der Horizontalen einschlofs, unverkennbar gröfser war als
bei gleicher Zahl der Stäbe. Zu seiner Schätzung brachten wir
an unserer Klappvorrichtung einen beweglichen Zeiger an, der
über einer Gradeintheilung spielte, und den wir, so genau wie
möglich, in die Richtung des Nachbildes einzustellen suchten.
Aus einer grofsen Anzahl von Beobachtungen ergab sich uns
ein Winkel von 50 — 55^ Da sich die beiden Stabsysteme senk-
recht auf einander gleich schnell bewegten, erschien die Ver-
schiebung des Gitters im Vorbilde unter 45". Durch Erhöhung der
Geschwindigkeit der weit abstehenden Stäbe auf weniger als das
Doppelte konnte im Nachbilde ein Winkel von 45® erzielt werden.
Wir fügten nun die herausgenommenen verticalen Stäbe wieder ein,
entfernten jetzt jeden zweiten von den horizontalen, in senkrechter
Richtung fortschreitenden Stäben und machten die Geschwindig-
keit der Stabsysteme wieder gleich. In diesem Falle erfolgte die Be-
wegung des Nachbildes unter einem Winkel von etwa 40 ^^ ; durch
entsprechende Vergröfserung der Geschwindigkeit der weit-
gestellten Stäbe erzielten wir wieder einen Winkel von 45^
Um die besprochene Erscheinung noch eclatanter zu gestalten,
machten wir den Abstand z. B. der senkrechten Stäbe viermal
so grofs wie den der wagrechten. Bei gleicher Geschwindigkeit
in senkrechter und wagrechter Richtung nahm das Nachbild
einen bedeutend steileren Weg als in den bisherigen Versuchen
und hatte etwa eine Neigung von 65 — 70®. Vergröfserung der
Geschwindigkeit der weiter gestellten Stäbe gab dem Bewegungs-
üeber Bewegungsnachbilder. 395
nachbild wieder eine Richtung von 45^. Die Resultate waren
natürlich analog, wenn nicht die senkrechten, sondern die wag-
rechten Stäbe sich in dem vierfachen Abstand befanden.
Diese Ergebnisse bewiesen, dafs in unserer Versuchs-
Anordnung die Richtung und damit im Allgemeinen die Ge-
schwindigkeit jedes Bewegungsnachbildes mit der Zahl der Reize
in der Zeiteinheit zunimmt.
3. Inwiefern wird die Geschwindigkeit des Nachbildes von
der DeutUchkeit des Vorbildes beeinflufst?
Es liefs sich vermuthen, dafs auch die Intensität der Reize
eine entscheidende Rolle für die Richtung des Nachbildes spielen
würde, dafs also schärfer vom Hintergrunde sich abhebende
Stäbe die Richtung des Nachbildes mehr beeinflussen würden
als weniger deutlich hervortretende. Wir halfen uns in der
Weise, dafs wir das eine Stabsystem, und zwar das der horizon-
talen Stäbe, mit einer grauen Farbe bestrichen ; die Geschwindig-
keit war in beiden Systemen gleich. Wir verwendeten zu diesem
Versuche einen schwarzen Hintergrund; von demselben hoben
sich die schwarzen Stäbe bedeutend weniger ab als die grauen.
Erstere durften nicht vor den grauen Stäben angebracht werden,
da diese sonst als heller Hintergrund wirkten; überdies wären
die grauen Stäbe von den sie kreuzenden schwarzen scheinbar
in eine Anzahl von Abschnitten zerlegt worden. Das Bewegungs-
nachbild verlief in diesem Versuche unter einem Winkel von
70 — 80^ Es war also die Nachbildgeschwindigkeit der grauen
Stäbe bedeutend gröfser, obwohl beide Systeme sich gleich rasch
bewegten. Es ist dies ein Beweis dafür, dafs unter sonst gleichen
Umständen die Geschwindigkeit des Nachbildes durch die Deut-
lichkeit des Vorbildes beeinflufst wird.
4. Inwiefern wird die Geschwindigkeit des Nachbildes von
der Dauer der Beobachtung einer Bewegung beeinflufst?
Zur Entscheidung dieser Frage gingen wir so vor, dafs wir
das eine Stabsystem in den einzelnen Versuchen verschieden
lange Zeit früher anlaufen Uefsen als das andere; die Zahl der
Stäbe war in beiden Systemen die gleiche, ebenso die Geschwindig-
keit War unsere Vermuthung richtig, so mufste das durch
längere Zeit vorbeibewegte Stabsystem bewirken, dafs das Nach-
bild entsprechend seiner Richtung rascher lief als in der
Anderen, es mufste somit eine Abänderung der Nachbildrichtung
in seinem Sinne erfolgen. In unserer ersten diesbezügUchen
396
A. Borschke u. L. Hetch^.
Versuchsi'eihe betrug die Gesaiumtdauer der Beobachtung 30 Se-
cunden, später fanden wir es aber zweckmäfeiger, blofs lö Se-
cunden lang zu beobachten. Dieser Theil unserer Untersuchui^en,
in dem es ganz besonders auf Genauigkeit der Beobachtungen
ankam, war mit den gröfsten Schwierigkeiten verbunden. Figur 1
und 2 steUen die Resultate der ersten, beziehungsweise zweiten
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Versuchsreihe dar. Zu ihrem Verständnisse sei hervorgehoben,
dafs wir als Abscisse die Zeit auftrugen, während der das eine
Stabsystem lief, dessen Bewegungsdauer wir variirteu, als Ordi*
nate die Tangente jener Winkel, unter welchen die Nach-
üebtr BewegungsnacJibildei', 397
bildbewegiing erfolgte. Das zweite Stabsystem lief in der ersten
Versuchsreihe immer 30, in der zweiten immer 15 Secunden,
die Geschwindigkeit seines Nachbildes war sonach in jeder Reihe
für sich constant, und die Ordinate ist daher direct proportional
jener Geschwindigkeitscompenente, die das variable Stabsystem
lieferte. Stand das eine Stabsystem während der ganzen Dauer
der Beobachtung still, so war seine Wirkung natürlich gleich
Null, und das Nachbild bewegte sich in der Richtung, die dem
Nachbild des zweiten Systems zukam. Je länger wir das eine
System laufen liefsen, umsomehr wurde die Richtung des Nach-
bildes von jener des zweiten abgelenkt, bei gleichdauemder Ein-
wirkung beider Stabsysteme erreichte diese Ablenkung als Maxi-
mum den Winkel von 45 ^ Verbindet man nun die beiden
Extreme von 0 ® und 45 ® durch eine gerade Linie, so findet man,
dafs bei kurzer Einwirkung des einen Stabsystems die Mehrzahl
der für die Nachbildrichtung gefundenen Resultate unterhalb,
bei längerer Einwirkung oberhalb der Geraden liegt. Bei Zu-
nahme der Zeit, innerhalb deren das variable Stabsystem lief,
liefse sich also die Zunahme der Geschwindigkeit des Nachbildes
durch eine mit der Convexität nach oben gewendete Curve dar-
stellen, wofern man es überhaupt unternehmen wollte, aus den
mitgetheilten Daten eine Curve zu construiren. Bei unserer
Versuchsanordnung und Beobachtungsweise hatte Beobachtung des
einen Stabsystems durch 4 Secunden in der ersten Versuchs-
reihe, durch 2 bis 3 Secunden in der zweiten auf die Richtung
des Nachbildes keinen merklichen Einflufs, was auffällt, da unter
anderen Umständen schon sehr kurzdauernde Bewegungen Nach-
bilder hervorzurufen vermögen. So fand Sigm. Exneb, dals bei
Beobachtung eines in Drehung befindlichen Rades, wenn man
während der Fixation rasch nacheinander blinzelt und die Augen
immer nur kurze Zeit geöffnet läfst, der Eindruck einer Rotation
schwindet und man eine Scheibe vor sich zu haben glaubt, die
bei jeder Blinzelbewegung anstatt in der wahren Drehungs-
richtung sich fortzubewegen, ruckweise hin- und hergeschleudert
wird. Unter diesen Umständen scheint also schon die kurze
Zeit, während welcher die Augen geöffnet waren, zur Entstehung
eines Bewegungsnachbildes ausgereicht zu haben.
5. Eine der besprochenen Versuchsanordnung ähnliche schien
uns ein Mittel an die Hand zu geben, über die Dauer des Nach-
bildes Aufschlufs zu gewinnen. Läfst man beide Stabsysteme
398
Ä. Bomchke u. L. HucheU».
gleichzeitig anlaufen, das eine aber früher stille stehen als das
andere, so mufs nach einer gewissen Zeit sein Einflufs auf die
Nachbildrichtung erloschen sein. Diese Zeit mufs der Dauer des
Nachbildes entsprechen. Wir beobachteten in diesem Versuche
durch 30 Seeunden. Figur 3 veranschaulicht die diesbezüglichen
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Resultate. Ordinaten sind hier wieder die Tangenten der Winkel,
unter denen das Nachbild ablief, als Abscissen trugen wir dies-
mal die Anzahl der Seeunden auf, während welcher das eine
Stabsystem bereits ruhig stand. Je gröfser diese wurde, umso-
mehr nahm die demselben zugehörige Componente der Richtung
des Bewegungsnachbildes ab, woraus folgt, dafa die Geschwindig-
keit des Nachbildes räch abnimmt und, wie die Figur zeigt, nach
ca. 15 Seeunden erloschen ist Die Abnahme der Geschwindigkeit
erfolgte übrigs anfangs schneller, da die Zeit, während der das
eine Stabsysteme stillstand, noch kurz war, später, bei längerer
Ruhe, langsamer, einer Curve entsprechend, deren Convexität
der Abscissenachse zugewendet ist. Selbstverständlich hat die
hier angeführte Dauer des Bewegungsnachbildes von 15 Seeunden
nur für die im Versuche gegebenen Verhältnisse Gültigkeit, da
ja bekanntermaafsen unter anderen Umständen die Dauer des-
selben weit gröfser sein kann.
Vergleichende Beobachtungen im directen und indirecten Sehen
ergaben hinsichtlich der Dauer des Nachbildes keinen Unterschied.
(Eingeßangen ant 31. Ociober 1901.)
Zur Lehre von der subjectiven Projection.
Von
Dr. R. DU Bois-Reymond,
Privatdocent in Berlin.
Bei den meisten Säugethieren stehen die Augen nicht wie
beim Menschen parallel nach vom gerichtet, sondern mehr oder
weniger seitlich, mit divergenten Blickaxen. Das binoculare
Sehen spielt deshalb bei diesen Thieren eine geringe Rolle.
Dagegen müssen sich diese Thiere, namentlich die, deren Blick-
axen in gestrecktem Winkel nach aufsen divergiren, im Räume
nach den beiden vollständig von einander verschiedenen An-
sichten ihrer beiden Augen orientiren, etwa wie ein Schiff, das
nach den Angaben zweier nach beiden Seiten auslugender
Lootsen gesteuert würde.
In dem Wunsche, mir von diesem Vorgange eine deutliche
Anschauung zu verschaffen und gewissermaafsen die Welt durch
eine „Thierbrille" zu sehen, fertigte ich mir eine Vorrichtung,
die die Blickaxen der Augen nach beiden Seiten ablenken sollte.
Sie bestand einfach aus einer vierkantigen Röhre von schwarzer
Pappe, die quer vor beiden Augen befestigt wurde. In die den
Augen zugekehrte Seitenwand waren zwei Gucklöcher geschnitten
und mit einem vorstehenden Rande versehen, der sich an den
Rand der Augenhöhlen anlegte und störendes Aufsenlicht ab-
schlofs. Im Inneren der Röhre war vor jedem der beiden Guck-
löcher ein Stückchen senkrecht und unter 45^ ziu* Axe der Röhre
stehendes Spiegelglas angebracht. Die beiden Spiegel warfen
also die beiden Bilder der vor den Enden der Pappröhre befind-
lichen Gegenstände je in ein Auge des Trägers der „Thierbrille".
Obschon auf diese Weise der beabsichtigte Zweck erreicht
wurde, mit jedem Auge eine Ansicht der seitlich vom Körper
gelegenen Gegenstände zu erhalten, blieb die weitere Absicht,
auf diesem Wege der Weltanschauung der Thiere näher zu
kommen, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, unerfüllt.
Denn während das Thier bei der Wahrnehmung seines seitlichen
Gesichtsfeldes die wahrgenommenen Gegenstände ohne Zweifel
auch subjectiv dahin versetzt, wo sie sich wirklich befinden,
projicirt der Mensch das vom Spiegel der Thierbrille auf-
400 -K- ^^ Bois-Beymond.
genommene seitliche Gesichtsfeld in der Richtung seiner natür-
lichen Blickaxe hinter den Spiegel. Wenn man die Thierbrille
aufsetzt, nimmt man also die links vom Kopfe befindlichen
Gegenstände gerade vor dem linken Auge, die rechts vom Kopfe
befindhchen Gegenstände gerade vor dem rechten Auge wahr.
Die beiden verschiedenen Bilder können aber nicht, wie sonst
die Blickfelder beider Augen, vereinigt werden, sondern es env
steht ein Wettstreit zwischen ihnen. In diesem Wettstreite siegt
im Allgemeinen das besser beleuchtete Gesichtsfeld. Es empfiehlt
sich daher bei diesem Versuch mögUchst einen Standpimkt ein-
zunehmen, der auf beiden Seiten ungefähr gleich helle Blick-
felder gewährt. Ist der Beobachter, etwa durch den Gebrauch
des Mikroskops, daran gewöhnt das Gesichtsfeld eines Auges zu
vernachlässigen, so ist es dagegen vortheilhaft, wenn die Seite
dieses Auges eine etwas hellere Beleuchtung erhält Unter diesen
Bedingungen sieht also der mit der Thierbrille versehene Mensch,
in Folge der subjectiven Projection und der Gewöhnung an den
binocularen Sehact, vor sich ein einfaches Gesichtsfeld, in dem
einzelne Stücken der rechts und links vor den Spiegeln befind-
lichen Aufsenwelt durcheinandergewirrt um seine Aufmerksam-
keit zu ringen scheinen. Geht der Beobachter vorwärts, so rücken
die beiden unvereinigten wettstreitenden Gesichtsfelder von rechts
und hnks her durch einander hindurch, wobei ein äusserst ver-
wirrender, ja schwindelerregender Eindruck entsteht
Dieser Versuch bildet eine geradezu schlagende Demonstration
des Princips von der Projection der Sinneseindrücke,
Es ist aber natürlich nicht daran zu denken, dafs den Thieren
mit divergenten Blickaxen die Aufsenwelt in dieser Form er-
scheinen könnte, vielmehr ist in dieser Beziehung der Versuch
als von vornherein verfehlt zu bezeichnen. Dafür aber fühne
er noch in einer anderen Richtung auf eine nicht unintesersante
Erscheinung.
Man kann diese Erscheinung am besten beobachten, wenn
man von der beschriebenen Vorrichtung nur die eine Hälfte be-
nutzt, indem man ein Auge schliefst, oder auch, wenn man über-
haupt nur ein Stück Spiegelglas in passender Stellung vor das
eine Auge hält. Es mag im Folgenden angenommen werden,
dafs der Beobachter das rechte Auge unbenutzt läfst, und sich
also ausschliefslich des linken Auges mit dem davor befindlichen
Spiegel bedient. Die Blickrichtung ist also nach links abgelenkt
Zur Lehre von der aubjectiven Projectiofi, 401
Oeht nun der Beobachter vorwärts, so sieht er die zu seiner
linken Seite befindlichen Gegenstände im Spiegel von schläfen-
wärts nach nasenwärts wandern. Hierbei fällt auf, dafs alle per-
spectivischen Verschränkungen, die im Blickfelde vor sich gehen,
deuthch bemerkt werden. Geht man z. B. an einem Fenster
vorüber, so sieht man das Fensterkreuz sich vor der Landschaft
vorbeibewegen und gleichsam an alle hervortretenden Punkte
der Landschaft einzeln anstofsen. Nimmt man dagegen die Brille
ab, und geht mit seitlich gewendetem Kopfe in ganz derselben
Weise am Fenster vorbei, so mufs sich zwar das Fensterkreuz
im Netzhautbilde in ganz derselben Weise vor der Landschaft
verschieben, aber dieser Umstand kommt für die bewufste Wahr-
nehmung gar nicht zur Geltung.
Man könnte nun einwenden, es sei zwischen den beiden
Fällen deswegen ein Unterschied, weil die Bewegung des Bildes
auf der Netzhaut nicht in beiden Fällen in gleichem Sinne er-
folgt. Denn, wenn man sich mit links gewendetem Kopf vor-
wärts bewegt, wandert das Netzhautbild des Gesichtsfeldes (des
linken Auges) von schläfenwärts nach nasenwärts, wenn man da-
gegen die Thierbrille aufhat und (mit geradeaus gerichtetem Ge-
sicht) vorwärts geht, bewegt sich das Bild im Spiegel von
schläfenwärts nach nasenwärts, das Netzhautbild also in entgegen-
gesetzter Richtung. Um diesem Mangel abzuhelfen, könnte man
den Spiegel diu'ch ein System von Prismen ersetzen, das die
Blickrichtung ablenkt, ohne das Bild umzukehren. Es läfst sich
aber auch auf andere Weise mittelbar zeigen, dafs die Um-
kehrung der Bewegung für den Unterschied in der Auffassung
des Netzhautbildes nicht maafsgebend ist
Sobald man nämlich die Thierbrille aufsetzt, bemerkt man,
dafs sich beim Neigen des Kopfes das Gesichtsfeld scheinbar
mit neigt, so dafs alle Senkrechten schräg zu stehen scheinen.
Nur bei aufrechter Kopfhaltung, also bei horizontaler Augenaxe
und senkrechtem Spiegel, erscheinen die senkrechten Linien des
Blickfeldes auch im Spiegel senkrecht. In diesem Falle ,#werden
sie auf ebenfalls senkrechten, dem Meridian parallelen, Strecken
der Netzhaut abgebildet. Es läfst sich leicht zeigen, dafs, wenn
die Brille durch Senken des Kopfes geneigt wird, die senkrechten
Linien des Blickfeldes auf der Netzhaut nicht mehr senkrecht,
sondern schräg abgebildet werden. Das obere Ende jeder Senk-
rechten erscheint (für das linke Auge) im Spiegel nasenwärts
Zeitachrift für Psj'cliologie 27. 26
402 -ß* ^M Bois-Reymond,
verschoben, das untere schläfenwärts. Auf der Netzhaut selbst
muTs also beim Neigen des Kopfes das Bild der Senkrechten
in der umgekehrten Richtung verschoben werden. Genau die
gleiche Drehung des Bildes muTs aber eintreten, wenn man beim
gewöhnlichen Gehen den Kopf seitwärts neigt. Um die gleich-
sinnige Drehung zu erhalten, mufs in dem betrachteten Falle
der Kopf nach rechts geneigt werden. Bei dieser seitlichen
Kopfneigung, bei der das Netzhautbild genau dieselbe Bewegung
macht, wie beim Senken des Kopfes mit aufgesetzter ThierbriUe,
hat man aber durchaus nicht den Eindruck, als neigten sich die
senkrechten Linien des Blickfeldes mit
Es handelt sich also hier um einen Fall, der dem vorher
besprochenen ganz gleich ist, und für den der Einwand betreffend
die Richtung der Bewegung des Netzhautbildes nicht zutrifft
Die gleiche Drehung des Netzhautbildes erweckt, wenn sie durch
Senken des Kopfes bei aufgesetzter Thierbrille erzeugt wird, die
Vorstellung, als drehe sich die Aufsenwelt, wenn sie aber durch
seitliche Neigung des Kopfes bei freiem Auge hervorgebracht ist,
kommt sie überhaupt nicht zum Bewufstsein.
In letzterem Falle mufs also eine vorhandene Sinnes-
empfindung vernachläfsigt werden, und dies geschieht offenbar
deshalb, weil die Erfahrung lehrt, dafs mit bestimmten Be-
wegungen des Kopfes bestimmte Verschiebungen des Netzhaut-
bildes verbunden sind, denen keine wirkliche Verschiebung der
Gegenstände der Aufsenwelt entspricht. Auf diese Weise ist also
die bewufste Wahrnehmung des Netzhautbildes abhängig von der
Wahrnehmung der gleichzeitigen Bewegung des Kopfes. Für
den Fall der seitlichen Neigung des Kopfes ist dieser Zusammen-
hang leicht verständlich und wohl allgemein bekannt Die vor-
her besprochene Beobachtung über die Wahrnehmung der per-
spectivischen Verschiebungen weist aber darauf hin, dafs die
Auffassung des Netzhautbildes in derselben Weise von der Vor-
stellung gleichzeitiger Ortsbewegung überhaupt abhängig ist
Geht njan mit seitlich gewendetem Kopf, so vernachläfsigt man
die Verschränkungen, die durch die Ortsbewegung entstehen.
Gehen dagegen dieselben Verschiebungen, durch Vermittlung
des Spiegels, scheinbar in einer Richtung vor sich, die der gleich-
zeitigen Ortsbewegung nicht entspricht, so werden sie mit auf-
fälliger Deutlichkeit wahrgenommen.
(Eiyujc(jangen am 19. November 1901.)
Besprechungen.
JüLEs SoüBT. Le systime nerrenx central, strnctiure et fonctions. Histoire
critiqoe des thiories et des doctrines. Paris, Garr^ et Naud, 1899. 1867 S.
40. 60 Frcs.
Beim Studium der immensen neueren Literatur über das Nerven-
system hat sich mehr als auf anderen Grebieten das Bedürfnifs nach Zu-
sammenfassung und Ordnung geltend gemacht. Diesem Bedürfnifs sind
denn auch für den einen und anderen Theil der Nervenanatomie die
Autoren entgegengekommen und Lehrbücher wuchsen aus dem Boden, wie
Pilze. Aber auch die besten derselben brachen mit der Tradition und ihre
historischen Einleitungen beschrankten sich auf Budimente von Chrono-
logieen. Ein Buch zu schaffen, worin die gesammte Nervenlehre im Zu-
sammenhang mit der Biologie überhaupt, ja in ihren Voraussetzungen mit
den psychologischen Grundlagen der Kulturgeschichte dargestellt ist, das
blieb einem einsamen Gelehrten vorbehalten, der durch frühere Studien
auf dem Gebiet der Geschichte der Physiologie und Psychologie gründlich
vorbereitet, durch keine praktischen Verpflichtungen gebunden und mit
einer dem Gregenstand entsprechenden Arbeitskraft ausgerüstet war, Julbs
SoüBY, dem Professor der Geschichte unserer Disciplinen an der Sorbonne.
Das Werk Souby's reicht in seiner Bedeutung weit über den engen
Bahmen unserer Fachwissenschaften hinaus. Es ist ein werthvolles Symptom
für eine Wendung in der Behandlung biologischer Probleme überhaupt, die
eintreten mufste, die Wendung zur Geschichte. Was war vorangegangen?
Auf dem Gebiete der Nervenforschung hat das Mikroskop und die Färbe-
technik nicht die an anderen Objecten erzielten Erfolge gehabt. GrOLOi's
Entdeckung einer specifischen Färbung für die Elemente des Nervensystems
war fünfzehn Jahre lang unbeachtet geblieben und begann erst Aufsehen
zu erregen zu einer Zeit, da gleichzeitig Ehrliches Methylenblau auf den
Plan trat. Eine fieberhafte Aufregung unter den Neurologen: Monat um
Monat fördert die neue Technik längst erhoffte Thatsachen zu Tage, alles
„versilbe^", die Zeitschriften schwellen an und der Niederschlag des ganzen
Gährungsprocesses wird in Lehrbücher überdestillirt. Und wie die Mode
kam, so ging sie wieder. Rasch wurde es unheimlich still und nur wenige
Beharrliche begnügen sich nicht mit der Umsetzung ihrer Forschungs-
energie in Hausbedarf. Unsere Anschauungen über die Anatomie des
Nervensystems hatten sich radical umgestaltet. Seine Elemente waren
durchsichtig geworden und jetzt trat die Aufgabe heran, auf Grund dieser
Elemente die Auffassung von Bau und Functionen des Nervensystems um-
zugestalten. Viel Anerkennenswerthes ist von allen Seiten, namentlich von
Pathologen und Anatomen nach dieser Hinsicht gethan worden und doch
• 26*
404 Besjn'echungen.
fehlte das eine, das erst das Zeichen der Wissenschaftlichkeit ist, das Be-
wufstsein des Zusammenhanges unserer Vorstellungen mit denen voran-
gegangener Zeiten, denen eine Technik geläufiger war, als uns Modernen,
nämlich das Denken. Es fehlte das Verständnifs für die ganze BegrifFs-
weit, aus der die neurologische Sprache entstanden, und fUr ihren Zu*
sammenhang mit Philosophie und Theologie — kurz für die geschichtliche
Bedingtheit unseres Forschungsgebietes. An diesem Punkte Hetzt SorBY
ein mit seinem einzigartigen Werk.
Einen gründlichen Kenner der antiken Biologie mufste die Aehnlich-
keit moderner Theorieen mit alten und längst vergessenen, schlagen; aber
nicht minder die neuen Thatsachen, welche einen Einblick in das Nerven-
system gewährten. „Die Geschichte der Lehren und Theorieen von der
Structur und den Functionen des Nervensystems aller Lebewesen ist die
Naturgeschichte des menschlichen Geistes. Das vergleichende Studium
der Sinnesorgane und der nervösen Centren bleibt die erhabenste Quelle
für unsere Vorstellung der Welt als eines Hirnphänomens". Diese Natur-
geschichte sucht unser Werk zu geben und verräth uns schon durch diesen
Standpunkt, dafs wir es mit einem Autor zu thun haben, der ebenso wohl
durch den Positivismus, wie durch Schopenhauer hindurchgegangen ist.
Beides ohne Schaden, denn der überreiche Stoff setzt der allzu prononcirten
Betonung eines speculativen Standpunktes ganz natürliche Grenzen.
Das erste Fünftel von Soury's Werk ist den antiken Erfahrungen und
Theorieen über das Nervensystem gewidmet. Seine Darlegungen gehen
aus von der antiken Psychologie, deren empirisches Substrat Soury prüft
und die mit den modernen Philosophen im Einzelnen zu vergleichen ihm
besonderen Reiz gewähren mufste. Naturgemäfs kommt ein besonders
grofser Raum den aristotelischen Anschauungen zu (S. 110—249). Mit
einer Sicherheit, die nur aus eigenstem Quellenstudium zu holen ist, hat
es hier Soüry verstanden, alle Fehler zu vermeiden, die sonst in der
herrschenden Beurtheilung von Aristoteles Biologie stereotyp wiederkehren.
SocHY, im Anschlufs an Lewes, weifs die Schriften de partibus und de
generatione animalium zu schätzen und zu verwerthen, im Gegensatz zum
traditionellen Glauben der Biologen, dafs nur die historia animalium
classisch sei, während sie doch gerade das untergeordnetste der drei Werke
ist. Der ganze Kampf um den Sitz der Seele, der die psychologische
Forschung des Alterthums beherrschte, wird uns im Zusammenhang mit
den übrigen Anschauungen jener Periode ausführlich dargelegt. Fügen
wir bei, dafs dieser Theil, sowie die folgenden von einer LiTTRfi'schen Be-
lesenheit und Exactität zeugt und mit philologischer Genauigkeit alle
Quellen wiedergiebt, die dem Leser wichtig sein könnten.
„Galen war Teleologe und empfand religiös, bei jedem Anlasse hebt
er Weisheit und Walten der Götter hervor, er findet im Weltregiment eine
Vorsehung. Er hat nichts von der kühlen und ruhigen üeberlegung
Plato's, Aristoteles', oder Theophrasts, auch wo er sie anruft und von ihrem
Denken zu leben glaubt. Ein gewiegter Arzt, ein beispielloser Experimen-
tator, von übermäfsig polemischem Geschmack, einem geradezu intoleranten
Doctrinarismus, ein temperament- und geräuschvoller Rhetor, so hatte ei
mehr das Zeug zu einem Professor, als zu einem Gelehrten und Philosophen". • .
Besprechungen, 405
^Für ihn war die ganze Welt eine weite Bühne, auf der det göttliche
Impresario sich ein Schauspiel vorführte, das er mit bewundemswerther
Kunst aufs Letzte vorbereitet hatte. Man hätte glauben sollen, Galen stecke
beständig hinter den Coulissen dieser Bühne." Im Einzelnen geht Sourt
darauf ein, die Vergröberung der Hirnanatomie zu schildern, welche Gale»
im Vergleich zu den Alexandrinern charakterisirt. Vielleicht ist daneben
der Nachweis etwas zu kurz gekommen, wieso Galen der Anatora werden
mufste, der der mittelalterlich-christlichen Psychologie diente. Während
dann wiederum die Geschichte der ausgehenden mittelalterlichen Hirn-
forschung, die ja besonders an das Aufblühen der Anatomie in Paris an-
knüpft, zu ausführlicherer Behandlung gelangt, kommt der Beginn der
Neuzeit bei Soürt entschieden zu kurz. Das geschichtlich wichtige Factum,
dafs Achillini, die GALSN'sche Zählung der Nerven durchbrechend und ent^
gegen besserem Wissen der Alexandriner den Biechkolben als Nerven mit-
zählte, ist nicht erwähnt. (Wie S. richtig anführt, war es Theophilub, der
ihn zuerst zwar als Riechnerven bezeichnete, aber, um mit Galen nicht in
Conflict zu gerathen, mi# dem Opticus zusammen als ersten Nerven zählte.)
Wir vermissen femer eine ausführlichere Behandlung Vebals, Eustachis
und Fallopias, die, wenn schon in ihren Grundanschauungen über das
Nervensystem völlig im Banne Galen's geblieben, doch in ihrer allgemeinen
Bedeutung auch der Hirnforschung zur Förderung dienten. Speciell das
Verdienst der bildlichen Darstellung des Gehirns und ihres Fortschrittes —
man vergleiche nur Berengab von Cabpi (den Sourt gar nicht erwähnt) und
Vesal, — hätte als geschichtlich bedeutungsvoll zu Beginn der Neuzeit
Stelle finden sollen.
Einen breiten Spielraum gönnt dann Sourt der Darstellung von
Descartes*, Gassendi's und Hobbe's psychologischen Theorieen. Sorgfältige
Behandlung findet Willis, „dont la grande Imagination, l'öclat du style
et la profondeur des pens^es fönt songer ä Shakespeare**. Bei Halleb
durften wohl die vortrefflichen vergleichend-anatomischen Schriften in den
Opera minora Erwähnung finden, wie denn überhaupt die Geschichte des
Problems vom Seelensitz bei Sourt so sehr in den Vordergrund tritt, dafs
die Entwickelung der Anatomie des Nervensystems vom 16. — 18. Jahrhundert
etwas zu kurz kommt.
Gall und Spurzheim, die ja neuerdings wieder gelesen und gewürdigt
werden, erscheinen auch Sourt als Neuerer, dadurch, dafs sie die Hirn-
thätigkeit nicht mehr in den Ventrikeln sondern in der Hirnrinde localisiren.
Wie spät erst die Kenntnifs Gall's verloren ging, beweist die von Flourens
citirte Stelle: „Gall, der das wirkliche Gehirn studirt und es so gut ge-
kannt hat, hat uns seine wirkliche Anatomie erst gegeben." Hier wird
denn auch einmal der Streit zwischen Gall und Cuvier erwähnt, der für
Letzteren so schmählich abgelaufen ist, ein geschichtliches Ereignifs ersten
Hanges und der Controverse Cuvier-Geoffrot St. Hilaire mindestens eben-
bürtig. Häser weifs allerdings nichts davon. Nun wird aber auch Sourt
Gall nur theilweise gerecht und wir vermissen hier die Thatsache, dafs
Gall vor Allen es war, der eine genetische Betrachtung des Nervensystems
durchführte, der das anatomische Problem vom psychologischen insofern
trennte, als er in seinen Betrachtungen von den niederen Centren zu den
406 Besprechungen.
höheren hinaufstieg: Sympathische Knoten, Spinalknoten, Rackenmark, Ge-
hirn, entsprechend der Entwickelung der psychischen Organe in der Thierreihe.
Mit einer übersichtlichen Darstellung der ^Salpetri^re** und einem
Abschnitt über die Himlocalisation von Fbitsch und Hrrzio schlieÜBt der
eigentlich historische Theil des Werkes ab (p. 631) und beginnt die kritische
Darstellung der heute bestehenden Himforschung, welche die übrigen zwd
Drittheile des Werkes füllt.
Als grofse Gliederung sind, wenn wir dem Druck des Inhaltsyeraeich-
nisses folgen, sieben Ueberschriften anzunehmen. Himbahnen, Hirnrinde,
Hirnlappen, motorische Centren, Theorie der Gemüthsbewegungen, sen-
sorische Centren, Neuronentheorie. Das hierbei angewandte Eintheilungs-
princip ist keineswegs durchsichtig ; ebenso wenig die Untergliederung der
einzelnen Abschnitte und darin dürfte bei dem Umfange des Werkes sein
wesentlichster Nachtheil zu erblicken sein. Dieser Mangel an Architectnr,
der bei der Ungleichheit in der vorliegenden Bearbeitung des Stoffes ebenso
verzeihlich, wie der Klarheit hinderlich ist, verbietet denn auch dem Vexl
am Ende der Abschnitte Zusammenfassungen zu g^ben. Andererseits treteo
die Vorzüge Soubt's innerhalb der einzelnen Abschnitte aufe Deutlichste
hervor und erheben ihn zu einem höchst werthvollen Berather für Jeden,
der sich Über das eine oder andere Thema möglichst vielseitig orientiren
will. In Bezug auf Vergleichung der verschiedenen Ansichten modemer
Autoren bis ins Einzelne dürfte wohl keine andere Anatomie und Physiologie
des Nervensystems dasselbe leisten, was die Soüby's und vollends nicht in
einem so anziehenden und lesbaren Stil.
Eine Inhaltsangabe des ganzen Bandes findet sich auf 6ö eng gedruckten
Seiten; schon daraus erhellt, dafs hier eine solche auch nur annähernd
wiedergeben zu wollen, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Sourt hat nicht,
wie so viele, nur zusammengefafst, was man am Ende des 19. Jahrhunderte
wufste; mit seiner Einführung des historischen Gesichtspunktes in die
Discussion der obwaltenden Theorieen hat er gleichzeitig für die Zukunft
gearbeitet und ein Postulat aufgestellt, das seit Langem nicht mehr snr
Geltung gekommen war. Das war doppelt nöthig, bei einem so complicirten
Organsystem, aber es war nur möglich einem Manne, der sich ebenso gern
und geschickt ins letzte empirische Detail der Gregenwart einarbeitete, wie
er durch umfassende philosophische und historische Studien berufen wät,
den Wurzeln alles Denkens über Gehirn und Seele nachzuspüren. Damit
behält auch Soury*s Werk neben seiner praktischen Bedeutung den Werth
des Ausdrucks einer selbständigen, originellen, dabei gründlichen und
erstaunlich vielseitigen Forschernatur. Run. Bitbckhabdt (Basel).
Das Terhältnlss der GeBchmaoksempflndiiiigen ca einander.
Vorläufige Entgegnung.
Von F. KiBSOw, Turin.
Hjalmar Oehbwall. Die Hodaütöts- ond aaaliUtsbegriffe in der Stuei-
Physiologie und deren Bedeatnng. Skandinuv. Archiv für Physiologie It
245—272. 1901. (Aus dem physiol. Institut der Universität Upsala.)
Die vorliegende Arbeit steht in engem Zusammenhang mit dem, was
der Verf. zum Theil bereits in seinen „Untersuchungen über den
Besprechungen. 407
<7e8chmackssinn" {Skandinav. Arch, für Fhys. 2, 1 — 69) mitgetheilt hat.
-Sie bildet die Weiterführung des theoretischen Inhaltes der letzteren.
Oehbwall geht aus von dem Hinweis, dafs bei einer grofsen Detail-
-arbeit innerhalb der einzelnen physiologischen Forschungsgebiete, deren
Werth er nicht herabsetzen wolle, gewisse principielle Fragen vernachlässigt
würden, durch welche den Einzeluntersuchungen erst „Richtung, Meinung
und Werth'^ verliehen werde. Zu diesen Fragen rechnet er die nach der
Anzahl der Sinne, sowie die andere, welche Empfindungen einem Sinnes-
^gebiete zuzurechnen seien und welche nicht. Die alte Eintheilung in fünf
Sinne wird als dem gegenwärtigen Umfange unserer Erfahrungen nicht
mehr entsprechend verworfen. Bei einer Neueintheilung der Sinnesgebiete
darf zunächst weder von den makroskopisch-, noch von den mikroskopisch-
anatomischen Verhältnissen ausgegangen werden, da histologische Merk-
male hier zu keiner Entscheidung, sondern höchstens zu Analogien von
sweifelhaftem Werthe führen könnten. Ebensowenig aber ist hierfür nach
Oe. das „sogenannte adäquate BeizmitteP als Eintheilungsgrund in
Anspruch zu nehmen, da ein und derselbe äufsere Vorgang ein Beizmittel
für verschiedene Sinne abgeben könne. Zusammenfassend sagt der Verf.,
<lafs als Eintheilungsgrund für die Sinne weder ein anatomischer, noch ein
physikalischer oder chemischer, sondern nur ein physiologischer ange-
nommen werden dürfe, nämlich die Function des Organs. „Ob ein gewisses
Organ ein Sinnesorgan ist, oder nicht, hängt davon ab, ob es Empfin-
•düngen erzeugt, und ob es zu dem einen oder anderen Sinne gehört,
kommt auf die Beschaffenheit dieser Empfindungen an." Femer ist
hei der Classification der Empfindungen von den einfachen auszugehen,
-die zusammengesetzten sind in solche zu zerlegen.
Einen ersten Eintheilungsgrund findet der Verf. darin, dafs man
flftmmtliche Empfindungen in äufsere und innere theilt. Die ersteren
sind objectivirbar und werden „als Eigenschaften von äufseren Gegen-
ständen aufgefafsf*, die inneren sind nicht objectivirbar und werden von
uns „als Zustände unserer selbst aufgefafst." „Die einfachen Empfindungen
können in vielen Hinsichten verschieden sein: nach ihrer Intensität,
Dauer, Localisation (Localzeichen), ihrem Gefühlston, vor allem
nach ihrer Qualität." „Die Qualität ist das Eigenthümliche, wodurch
«ine Farbe sich von einem Tone oder Geschmack unterscheidet, oder eine
Farbe von einer anderen, ein Ton von einem anderen u. s. w." Als eigent-
liches Eintheilungsprincip für die Sinne ist nach Oehbwall einzig und
•allein der von von Helmholtz aufgestellte Unterschied nach Qualitätskreisen
und Modalitäten zulässig. Hiemach gehören zu einem Sinnesgebiete die-
jenigen Empfindungen, welche in Folge continuirlicher Uebergänge von
«iner zur anderen, wie Licht- und Tonempfindungen eine Qualitätenreihe
bilden. Wo dies nicht der Fall ist, hat man, selbst wenn Contrast- und
CJompensationserscheinungen zwischen gewissen einfachen Empfindungen
nachgewiesen werden können, von Modalitäten, also von Einzelsinnen, nicht
'von Qualitätsdifferenzen zu reden. Hieraus ergiebt sich für den Geschmacks-
sinn, dafs die Empfindungen Süfs, Sauer, Salzig und Bitter nicht Qualitäten
•eines Sinnesgebietes, sondern Modalitäten, d. h. vier Einzelsinne sind.
^Der Gefühlssinn zerfällt in mindestens vier: Kälte-, Wärme-, Druck- (bei
408 Besprechungen.
welchen Qualitätsdifferenzen fehlen) und Schmerzsinn, vielleicht mehrere.
Den Geruchssinn betreffend/' fährt Oehbwall fort^ „ist es schwer zu sagen^
was für ein Besultat eine eingehendere Untersuchung ergeben würde. Die
Anzahl der verschiedenen Geruchsarten scheint fast unendlich grofs zu
sein; dieser in Rückgang begriffene Sinn ist trotzdem der reichste von
allen; vielleicht aber würde die Menge der verschiedenen Geruchsempfin-
dungen weniger unübersichtlich erscheinen, wenn sie sich in ein oder
mehrere ,,Spectren'' ordnen liefsen." „In derselben Weise würde man mit
den inneren Empfindungen verfahren, wo in diesem Falle fast noch Alles
zu thun übrig ist/' Der Verf. tadelt ferner, dalis der sogenannte „Ortssinn^'
in der Sinnesphysiologie als Unterabtheilung des Tastsinnes behandelt
werden kann.
Die Anzahl der Sinne, zu w^elcher diese Eintheilung führt, ist somit
eine recht grofse, „und es ist gewifs, dafs die Anzahl (wie die der Elemente
in der Chemie) immer noch wachsen wird." Hierin erblickt Oehbwall
aber keinen Nachtheil. „Dafs eine vermehrte Differenzirung während der
Entwickelung der Wissenschaft stattfindet, ist eine normale Erscheinung
und ist immer als vortheilhaft betrachtet worden (bene docet, qui bene
distinguit)."
Die Vortheile einer solchen Differenzirung sieht der Verf. „unter
Anderem im Wegfall einer Menge veralteter Zusammenkoppelungen von
Empfindungen, welche nichts mit einander zu schaffen haben." Ebenso
sucht er darzulegen, dafs auch die Praxis in der Klinik Nutzen daraus
ziehen werde. „Es ist ja einleuchtend, dafs der klinische Beobachter
bessere Resultate erhalten würde, wenn es ihm z. B. klar wäre, dab er
anstatt eines Gefühlssinnes mindestens vier zu untersuchen hat ... Es
gilt hier factisch nicht einen Streit um Wörter, sondern um Principien,
oder richtiger, es gilt ein Princip, einen wirklichen Eintheilungsgnind ein-
zuführen, wo man bisher gar keinen befolgt hat."
Den möglichen Einwand, dafs sein System für die vergleichende
Physiologie nicht passe, sucht der Verf. dadurch zu entkräften, dafs er auf
eine indirecte Beobachtung der Function der Sinnesorgane der Thiere
verweist, „wobei wohl auch die Kenntnifs unserer eigenen Empfindungen
(Sinnesphysiologie des Menschen) in allen anwendbaren Fällen einen ent-
scheidenden Einflufs auf unsere Auffassung erhalten wird."
Oehrwall mufs einräumen, dafs (was er an Anderen so sehr tadelt j
VON Helmholtz selbst „hie und da" noch von unseren fünf Sinnen redet
und dafs er aus dem von ihm aufgestellten Satze keine Consequenzen zog
(vielleicht mit mehr Absicht und Vorbedacht als der Verf. glaubt). Diet»
erklärt sich nach Oehrwall daraus, „dafs er sich ausschliefslich mit dem
Gesicht und Gehör beschäftigte (I) ; in Bezug auf diese,*' fährt Oehrwall
fort, „kommt man zu demselben Resultat, gleichviel, ob man die Modalität
der Empfindungen, oder das Organ selbst als Eintheilungsgrund wählt."
In einer Fufsnote wird hinzugefügt, dafs hierbei vorauszusetzen sei, dafs
man von den zu jener Zeit noch nicht hinreichend anerkannten Functionen
der Bogengänge und Säcke absehe.
Während der Durchführung des im Vorstehenden Mitgetheilten, wo-
durch der Inhalt der Arbeit in seinen Hauptzügen wiedergegeben sein
Besprechungen, 409
dürfte, kommt der Verf. noch anf die Theorie von der specifischen Energie
der Sinnesorgane, sowie auf die Einwände zu sprechen, welche ich gegen
seine Forderung, die Geschmäcke in vier Einzelsinne zu trennen, vorge-
bracht habe. Der Verf. sucht meine Einwände zu entkräften und leugnet
nach wie vor das Vorhandensein contrastirender Verhältnisse bei den Ge-
schmäcken. Die Thatsachen der von mir als theilweise Compensation be«
zeichneten Erscheinung werden, soweit ich sehe, zugegeben, obwohl der
Ausdruck verworfen wird. Da ich in einer besonderen Abhandlung auf
diese Fragen zurückkommen werde, so beschränke ich mich hier, ohne auf
Einzelheiten näher einzugehen, vorläufig auf das Folgende:
Ich gebe Oehrwall gerne zu, dafs die Eintheilung in fünf Sinne so
wie sie uns aus dem Alterthume überliefert ist, nicht mehr haltbar ist.
Ich selbst vertrete diese alte Eintheilung nicht. Andererseits dürfte aber
auch seine Classification Widerspruch begegnen und, wie ich später zeigen
werde, zu unannehmbaren Consequenzen führen. Die einzelnen Geschmäcke,
wie die Temperatur- und die Greruchsempfindungen unter einander als
disparate Empfindungen, als von einander getrennte Einzelsinne aufzu-
fassen, widerstreitet nach meiner Auffassung der unmittelbaren Erfahrung.
Ich will hier nur noch hinzufügen, dafs bei den Geschmäcken theilweise
Uebergänge thatsächlich nachweisbar sind.
Ich gebe ferner zu, dafs ich den Zusammenhang, den ich zwischen
des Verf. 's Eintheilungsprincip und der Theorie der specifischen Energie
der Sinnesorgane sah, vielleicht überschätzt habe. In Bezug aber darauf,
dafs ich nach seiner Darstellung annehmen mnfste, er sehe in dem mög-
lichen Vorhandensein von Contrast- und Compensationserscheinungen bei
den Geschmäcken selbst einen triftigen Grund gegen seine Auffassung, sie
als Modalitäten zu betrachten, erinnere ich Okhrwall daran, dafs die von
ihm selbst angeführte Stelle seiner ersten Arbeit: „Schliefslich würde man
vielleicht gegen diejenige Auffassung der Geschmackskategorien, die ich in
dem Vorigen geltend zu machen versucht, das Dasein von Contrast und
Compensation zwischen den verschiedenen Geschmacksempfindungen
anführen^ — so fortlautet: „Giebt es, wie oft angegeben wird, der-
gleichen Contrast- und Compensationsphänomene unter den
verschiedenen Geschmackskategorien in demselben Sinne,
wie zwischen den verschiedenen Farben, so zeigt dieses, dafs
sie nahe mit einander verbunden sind, und bildet einen
wichtigen Grund dagegen sie als verschiedenen Sinnen
angehörend zu betrachten."^ Diesen letzten Satz läfst Oehrwall
jetzt fort. Wenn Oehrwall ferner auf die Temperaturempfindungen ver-
weisend zu zeigen sucht, dafs er die vorgetragene Meinung schon damals
gehabt habe, so kann ich auch hier nur erwidern, dafs mich kein Vorwurf
treffen kann, wenn ich dies aus der von ihm angezogenen Stelle nicht er-
sehen konnte. Hier wird kurz zuvor davon gesprochen, dafs bei den Ge-
schmäcken keine Uebergänge nachweisbar seien, und es wird dann
ganz im Vorübergehen gesagt, dafs die Geschmäcke sich ebenso zu ein-
ander verhielten, wie die Wärme-, Kälte- und Druckempfindungen, „die
* Im Ori^rinaJ ist die8e Stelle nicht gespeirl gedt\3Lc\LV.
410 Besprechungen,
auch früher für Qualitäten desselben Sinnes gehalten wurden, welche aber
demselben Grundsatze gemäfs ohne Zweifel als Modalitäten zu betrachten
sind." In Parenthese wird dann sogar noch von einem wahrschein-
lichen Mangel von Qualitätsdifferenzen bei den lezteren gesprochen. Von
Contrast und Compensation ist hier gar keine Bede und es werden in der
weiteren Ausführung, in welcher Obhbwall den Nachweis zu führen sucht,
dafs diese Erscheinungen bei den Geschmäcken nicht existiren, die Tempe-
raturempfindungen nicht einmal wieder erwähnt. Es ist mir daher unbe-
greiflich, wie Obhbwall sich jetzt damit entschuldigen kann, er habe keine
Einleitung zur Sinnesphysiologie schreiben wollen und ebensowenig ver-
stehe ich, wie er schreiben kann, ich habe gemeint, über ihn einen leichten
Sieg zu gewinnen und ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, wo
es sich einfach um Feststellung von Thatsachen handelt. Was die Form
meiner eigenen Ausführungen gegen und für Oe. betrifft, so verweise ich
auf meine Darstellung in Philo». Stud. 10, 533 ff., wie auf meine übrigen
Schriften, in denen ich mit ihm in Berührung gekommen bin.
Was die Geschmackscontraste betrifft, so sind diese für mich
eine so feststehende Thatsache, dafs ich noch nicht die Hoffnung aufge-
geben habe, ein Forscher wie Prof. Oehrwall werde sich von deren that-
sächlichem Vorhandensein schliefslich überzeugen. Wenn der Verf. aber
die mühevoll durchgeführte Versuchsanordnung nicht zuverlässig findet,
so dürfte ich wohl auch zu fragen berechtigt sein, inwiefern die seinige
der meinigen vorzuziehen ist. Die Einwände der geringen Intensität und
des theilweisen Ausbleibens sind hinfällig. Bei Versuchen über Farben-
contrast, an denen ich vor Jahren theilnahm, hatte ich mit anderen Beob-
achtern in der Erkennung der Erscheinung bei schwachen Reizen eine
solche üebung gewonnen, dafs wir den Contrast bereits auf einer Stufe
erkannten, wo Andere ihn noch lange nicht sahen. Die Geschmacks-
contraste, wie ich sie mitgetheilt habe, sind mir unaufgefordert von ver-
schiedenen Forschern bestätigt worden. Diese Herren, die die Erscheinung
zum Theil auch in ihren praktischen Uebungen demonstriren, haben mich
autorisirt, ihre Namen zu nennen. Ich unterlasse dies aber hier, um sie
nicht unnöthig in die Polemik hineinzuziehen.
Der Geschmackscontrast ist übrigens auch sonst bestätigt worden
(vergl. W. A. Naoel, Ueber die Wirkung des chlorsauren Kali
auf den Geschmackssinn. Diese Zeitschr. 10, 235 ff.).
Weitere Erfahrungen haben mich gelehrt, dafs man hier zwischen
peripheren und centralen Vorgängen zu unterscheiden hat. Die damals
mitgetheilten Ergebnisse beziehen sich auf centrale Vorgänge. Ich werde
hierauf später ebenfalls zurückkommen.
Was die Lehre von der specifischen Energie betrifft, so stellt sich Oe.
mit mir auf den entwickelungsgeschichtlichen Standpunkt. Ich will hier
nur hervorheben, dafs ich in dieser Lehre kein eigentliches Erklärungs-
princip sehe. Im Uebrigen behalte ich mir vor, in der ausführlicheren Ab-
handlung darauf zurückzukommen.
Die besprochene Arbeit wurde nach einem auf der Naturforscher-
versammlung zu Stockholm am 11. Juli 1898 gehaltenen Vortrage verfafst.
Literaturbericht.
Paul Ribmann. Beeinflossviig des Seelenlebens durch Taubheit Einderfehle
5 (6), 241—269. 1900.
Ueber die seelischen Eigenthümlichkeiten der Taubstummen werden
verschiedene Behauptungen aufgestellt, die einander häufig widersprechen.
Am deutlichsten zeigt sich dieser Widerstreit der Meinungen in der Be-
antwortung der Frage, ob die Geberden- oder die Lautsprache die Grund-
lage für den Taubstummenunterricht bilden solle. Verf. weist nach, dafs
die Geberdensprache wohl eine gewisse geistige Entwickelung ermögliche.
^yMancher ohne Unterricht aufgewachsene Taubstumme hat schon im
Mechanischen Bewundernswürdiges zu Tage gefördert, wozu ohne Zweifel
eine richtige, zusammenhängende Anschauungsfertigkeit, ein geübtes
Combinations vermögen gehören.'' Aber abgesehen davon, dafs das Denken
des Taubstummen, der sich lediglich der Geberdensprache bedient, niemals
Aber das Gebiet der sinnlichen Anschauung hinausreicht, erhält sein
Seelenleben ein eigenthümliches, egoistisches Gepräge, soferne er von sich
selbst auf andere Menschen schliefst und ihren Handlungen oft eigennützige
Gesinnungen und Absichten unterschiebt. Aber auch der unterrichtete
Taubstumme bleibt quantitativ und qualitativ in seinem Denken zurück,
flein Urtheilen und Schliefsen ist einseitig, lückenvoll und unsicher. „Es
kann bei ihm von einer über die Mittelbildung der Vollsinnigen hinaus-
reichenden Förderung nie und nimmer die Bede sein."
Es wird vielfach behauptet, dafs die Bildung des Gemüthes und des
Willens durch den Mangel des Gehörs beeinträchtigt werden. Dies trifft
nicht einmal für den ungebildeten Taubstummen in vollem Umfange zu;
seine Fehler erklären sich zum gröfsten Theil aus seiner geistigen Verein-
samung und der verkehrten Behandlung, die ihm häufig seitens seiner
hörenden Mitmenschen zu Theil wird. Der Taubstummenlehrer hat Ge-
legenheit, durch den Unterricht nicht blos auf die Geistes , sondern auch
auf die Gemüthsbildung fördernd einzuwirken.
Für die Willensbildung des Taubstummen kommen vor Allem der
Unterricht und die Schulzucht in Betracht. Es läfst sich nicht in Abrede
stellen, „dafs auch der Taubstumme durch Unterricht zu einem verständigen,
sittlichen und in gewissem Sinne charaktervollen, vernünftigen Wollen
gelangt ; wenn dasselbe auch naturgemäfs nie zu einem höheren Grade von
VoUkommenheit ausreift/*
412 Literaturbericht.
Dem Wirken des Taubstummenlehrers sind Grenzen gezogen, die sich
nach Ansicht des Verf.'s lediglich aus den psychischen Eigenthamlich-
keiten des Taubstummen ergeben. Die Frage mufs aber noch unbeant-
wortet bleiben/ ob man die UnvoUkommenheiten, welche dem Taubstummen
trotz allen Unterrichtes anhaften, nicht späterhin bis zu einem gewissen
Grade durch eine Vervollkommnung der Methoden wird beheben können.
Solange es aber an einer exacten Taubstummenpsychologie fehlt, kann an
eine solche Ausgestaltung der Taubstummenpädagogik nicht gedacht
werden. Th. Heller (Wien).
B. HoLLAMDER. The Presoiit State of Mental Science. The Joum. of Mentd
Sci^ce 47 (197), 293—317. 1901.
Eine Arbeit mit vielversprechendem Titel und seh wung\' ollen Capitel-
überschriften. Der Hauptnachdruck wird auf den Nachweis gelegt, dafs
das Stirnhirn der Sitz der Verstandesthätigkeit und damit das ^Hemm-
centrum gegen die niederen und mehr instinctiven Triebe^ ist; auch die
Affecte erhalten ihre eigenen Centren. Schröder (Heidelberg).
Benno Erdmann. Die Psychologie des Rindes nnd die Schnle. Bonn, Cohen»
1901. 51 S. Mk. 1.—.
Eine wie grofse Gefahr für .die wissenschaftliche Arbeit der Gegen-
wart in dem Scheine der Exactheit liegt : davon legt auch der gegenwärtige
Betrieb der Kinderpsychologie beredtes Zeugnifs ab. Statt sich den Be»
wufstseinsthatsachen des Kindes mit den Mitteln der Psychologie anzu*
nähern, ziehen die Kinderpsychologen vielfach physiologische und biologische
Begriffe und Gesichtspunkte in der Voraussetzung heran, dafs durch sie
die kindlichen Bewufstseinsvorgänge unmittelbar festgestellt und erklärt
werden können. Der Schein der Exactheit, der für Viele von Allem aus-
geht, was von Physiologie und Biologie herkommt, läfst leichten Herzens
die einfache Thatsache übersehen, dafs das üntersuchungsgebiet der Kinder-
psychologie das Bewufstsein des Kindes ist. So vergifst man, dafs die
Methoden dieser Wissenschaft doch wohl den eigenthümlichen Forderungen
anzupassen sein werden, die durch die Aufgabe der Bewufstseins-
forschung gegeben sind. Der einzige Erfahrungsstoff, der dem Kinder-
psychologen zur Beobachtung gegeben ist, liegt weitab von den kindlit-heu
Bewufstseinsvorgängen als solchen; und es kommt nun darauf an, Mittel
und Wege zu ersinnen, durch die es möglich ist, von dem andersartigen
Erfahrungsstoffe aus unter Beachtung der mannigfaltigen Schwierigkeiten
und Unsicherheitsquellen dennoch einigermaafsen die Bewufstseinsvorgänge
des Kindes nach Elementen und Entwickelung zu erschliefsen. Statt dieses
langwierigen und dornigen Weges wird nun von vielen ein kürzerer und
sich aufserdem durch scheinbare Exactheit empfehlender W'eg gewählt:
der Kinderpsychologe glaubt in gewissen der Physiologie und Biologie ent-
nommenen Begriffen oder wohl gar „Gesetzen" unmittelbar den Schlüssel
zu den Fragen und Räthseln des kindlichen Seelenlebens in der Hand zu
haben. Indem er von etwas völlig anderem spricht, glaubt er doch schon
von dem kindlichen Bewufstsein zu sprechen. Heinrich Eber bat die
Schädigung der Kinderpsychologie durch biologische Begriffe besonders an
Literaturbericht 413
dem Beispiele des BxLDwiN'schen Buches „Mental Development in the Child
and the Race'^ trefiend dargelegt („Zur Kritik der Kinderpsychologie*' in
Wundt's Philos. Stud. 12, 587 ff.).
Noch in anderer Weise übt der verlockende Schein der Exactheit in
der Kinderpsychologie verderbliche Wirkungen aus. Wem drängt sich nicht
die Wahrnehmung auf von dem mannigfachen Nutzen, den die Psychologie
aus der Anwendung des Experiments gezogen hat! Da bemächtigte sich
nun Vieler die unkritische Ueberzeugung, es werde sich auch auf dem
besonderen Gebiet des kindlichen Seelenlebens das Experiment in ähnlichem
Umfang und mit ähnlichem Erfolge anwenden lassen. Dabei legte sich
zugleich der Gedanke nahe, dafs sich aus gewissen experimentellen Ergeb-
nissen der Kinderpsychologie für die Pädagogik eine exactere Grundlage
werde gewinnen lassen. So wird denn von zahlreichen Stimmen mit über-
schwenglicher Kritiklosigkeit eine neue Pädagogik auf experimenteller
Grundlage in Aussicht gestellt. Es wird nicht bedacht, in welch hohem
Grade für das Experimentiren mit Kindern die (refahr unentwirrbarer und
unausschaltbarer Unsicherheitsquellen besteht, und eine wie dürftige und
unzureichende Grundlage für Folgerungen auf den lebendigen und vollen
Unterricht die Experimente mit ihren künstlichen, einförmigen, unpädago-
gischen Bedingungen in den allermeisten Fällen bilden.
Bei solcher Lage der Dinge ist es hocherwünscht, wenn sich gewicht-
volle Stimmen erheben, die die schweifenden Geister zur Ordnung rufen.
Es ist daher zu begrüfsen, dafs Benno Erdmann den Vortrag, den er über
die Psychologie des Kindes in den Lehrerinnenvereinen zu Frankfurt a. M.
und Bonn gehalten hat, in ausgeführter Form weiteren Kreisen zugänglich
gemacht hat. Man ist berechtigt, von dem Schriftchen eine klärende,
zügelnde, luftreinigende Wirkung zu erwarten. Denn jeder seiner knapp
gefafsten, gedrängt inhaltsvollen Sätze läfst den Leser fühlen, dafs ein
Forscher zu ihm spricht, der der gegenwärtigen Arbeit auf dem Gebiet der
Kinderpsychologie mit freiem, beherrschendem Ueberblick gegenübersteht,
und der in die Aufgabe, Methoden, Schwierigkeiten der Kinderpsychologie
eine Einsicht besitzt, in der alles klar eindringend, streng erarbeitet, wohl-
begründet ist. In den meisten Fällen erscheinen mir seine Darlegungen
unwidersprechlich.
Durch den ganzen Vortrag geht die Mahnung : die kinderpsychologische
Strömung sei viel zu sehr in die Breite gegangen; sie müsse überall mehr
tief als breit werden. Erdilvnn findet, dafs man überaus häufig der Neigung
zu unklaren Formulirungen, mangelhaft durchdachten Methoden und
schweifenden Deductionen nachgegeben habe. Besonders in Lehrerkreisen
sei vielfach ein ideal gerichteter Eifer in Uebereifer ausgeartet, dem die
Voraussetzungen ernsthaften Gelingens fehlten. Vor allem müsse sich der
Kinderpsychologe über die verschiedenen Methoden und das durch sie
Erreichbare klar werden. Nichts aber sei in dieser Beziehung mehr vom
Uebel, als sich weitgehenden Hoffnungen enthusiastisch hinzugeben. Habe
sich doch sogar „keine der weittragenden Hoffnungen" erfüllt, die auf die
Psychologie überhaupt in den Anfängen ihrer modernen Entwickelung ge-
setzt wurden I Jeder Fortschritt der psychologischen Erkenntnifs enthalte
^die Keime zu mehr und schwierigeren Problemen", als er löse. Durch das
41 4 Literaturbericht.
unleugbare Wachsthum der wohlgeordneten und sorgfältig analysirten That-
Bachen des seelischen Lebens seien die unterschiede der Auffassung and
Deutung keineswegs geringer geworden. Trotzdem sei es die erste Be>
dingung für alle kinderpsychologische Forschung, sich streng an die
Methoden der allgemeinen Psychologie anzuschliefsen. Was nun diu
Besondere in den Methoden der Kinderpsychologie betrifft, so unterscheidet
Ebdmann zunächst die Methode der Rückerinnerung von der objectiven
Methode. Jene gewinne nur in seltenen Fällen einige Bedeutung. Die
objective Methode gründe sich entweder auf directe oder auf experimentelle
Beobachtung. Von der directen Beobachtung erkennt Erdmann an, dafii
mit ihr in den letzten Jahrzehnten für die ersten Lebensjahre des Kindes
nicht Unbeträchtliches geleistet worden ist. Mit dieser Eintheilung der
objectiven Methode kreuzt sich eine andere: die Beobachtung des Kindes
ist entweder „still" oder „formell". In dem zweiten Fall weilia sich du
Kind beobachtet, in dem ersten nicht. Die formelle Beobachtung hält Ebd-
HASN mit Recht für etwas sehr Fragwürdiges. Wieder unter einem
anderen Gesichtspunkt ergibt sich der Unterschied der biographischen und
statistischen Methode. Jener giebt er bei Weitem den Vorzug. In der
Statistik des kindlichen Seelenlebens erblickt er „fast die unsicherste aller
der unsicheren Statistiken, durch die wir die gemeinsamen Züge ver-
wickelter Reactionen zu finden und zu deuten suchen". Endlich scheidet
sich die Beobachtung des Kindes darnach, ob die zu beobachtenden
Reactionen natürlich oder künstlich, unwillkürlich oder willkürlich sind.
Nachdrücklich weist Erdmann auf das schwer Deutbare der willkürlichen
Reactionen hin. Aber auch „die unwillkürlichen reagirenden Bewegungen
des Kindes zu deuten", sei „so unsicher wie schwierig".
Reich an beherzigenswerthen Wahrheiten sind auch die letzten, den
Folgerungen für die Schule gewidmeten Betrachtungen Erdmann's. Eine
officielle Einrichtung kinderpsychologischer Institute hält er mit vollem
Recht nicht für wünschenswerth. „Der berufene Lehrer und der berufene
Kinderpsychologe fallen eben nicht zusammen ; die Arbeit an der Ausbildung
der Kinderpsychologie bleibe das Vorrecht derer, die sich dazu in be-
sonderem Maafse eignen. Es wäre nicht eine wünschenswerthe Vertiefung
oder Ergänzung, sondern eine sehr wenig wünschenswerthe Verschiebung
der pädagogischen Vorbildung, solche Schulung allgemein zu machen. Es
schlösse das zugleich ein fast völliges Verkennen der Aufgaben des Lehrers
und eine sehr unzweckmäfsige Mehrbelastung seiner verantwortungsvollen
Thätigkeit ein." Auch zur Gründung von Vereinen zum Zweck des Kinder-
studiums verhält sich Erdhann zweifelnd und zurückhaltend. Er fürchtet;
dafs dadurch jenes lästige Wuchern der kinderpsychologischen Literatur,
das schon verderblich genug geworden ist, noch zunehmen werde. Ins-
besondere aber warnt er vor den maafs- und sorglosen Folgerungen, die
aus den Ermüdungsversuchen für den Schulunterricht gezogen zu werden
pflegen. Es ist mir aus der Seele gesprochen, wenn er hervorhebt, d*ö
für die Entscheidung in der Ueberbürdungsfrage und verwandten Fragen
neben jenen Ermüdungsversuchen und unter Umständen auch gegen sie
die Erfahrungen in der Schule, die Würdigung der Unterrichtsergebnisse,
Literaturbericht 415
die pädagogische Erwägung, wie sie seit lange geübt wird, ihr Recht be-
balten. Johannes Volkelt (Leipzig).
W. Ch. Baoley. On the Oorrelation of Mental and Motor Ability In School
Ohildren. Amer. Joum, of Psych. 12 (2), 193—205. 1901.
Zur experimentellen Prüfung der körperlichen Geschicklichkeit dienten
fünf verschiedene Apparate und zwar zur Messung der Stärke, Schnellig-
keit, Stetigkeit^ der Genauigkeit und Constanz der willkürlichen und des
ümfanges der unwillkürlichen Bewegungen. Aufserdem kamen für die
Beurtheilung in dieser Hinsicht die Qualificationen seitens der Lehrer in
Betracht. Die geistige Geschicklichkeit wurde ebenfalls sowohl nach
letzterem Gesichtspunkt unter Einführung gewisser Correcturen bestimmt,
als auch wiederum experimentell mit Reactionsversuchen an Jastrow's
Card-Sorting Apparat (Bericht der Am. Psych. Association 1897), die von
Mifs Chaphan durchgeführt wurden. Aufserdem wurden die persönlichen
Verhältnisse der Kinder in Betracht gezogen und anthropometrische
Messungen über Gewicht, Gröfse und Schädelumfang angestellt. Zur
Klärung der Versuchsergebnisse wurden fünf verschiedene Altersclassen
zwischen 8 und 17 Jahren für sich betrachtet. Es zeigte sich nun im All-
gemeinen ein reciprokes Verhältnifs zwischen geistiger und körperlicher
Geschicklichkeit, allerdings mit individuellen Ausnahmen. Die geistige
Geschicklichkeit, für sich betrachtet, scheint als Reactionsgeschicklichkeit
zur Classenqualification in keiner weiteren Beziehung zu stehen. Mit dem
Alter nimmt die körperliche Gewandtheit mehr zu als die geistige, und
scheinen die Knaben in jener, die Mädchen in dieser den Vorzug zu
haben. Zwischen Schädelumfang und geistiger Geschicklichkeit wurde
diesmal ein umgekehrtes Verhältnifs festgestellt. Wibth (Leipzig).
W. S. Small. Ezperimental Stndy of the Mental Processes of the Rat. IL
Atntr. Joum. of Psych. 12 (2), 206—239. 1901.
Wie in den früheren Versuchen wurde auch hier die an den thieri-
schen Verstand gestellte Forderung möglichst den natürlichen Lebens-
gewohnheiten angepafst und beobachtete Verf. diesmal die Orientirung der
Ratten in den vielfach gewundenen und mit blinden Seitengassen ver-
sehenen Gängen eines Labyrinthes aus Drahtgeflecht. Der Ausblick auf
das im mittleren Erdraum liegende Futter bildete für die hungrigen Thiere
jedesmal einen gleichmäfsigen Antrieb. Nach dem Versuche am Abend
blieben die Thiere auch Nachts über in dem Räume. Nach Vorversuchen
mit wilden Ratten folgten die Hauptversuche wieder mit zahmen weifsen
Ratten beiderlei Geschlechts. Das Maafs des Fortschrittes giebt wieder
die bis zum Ziel gebrauchte Zeit, die Herabsetzung der Fehler etc. Die
Männchen zeigten sich den Weibchen dabei etwas überlegen, auch die
wilden Thiere den zahmen, allerdings nur, was die jeweils gebrauchte Zeit,
nicht die Stetigkeit der Einübung für die späteren Versuche anbetraf.
Verf. hält in beiden Fällen nur die gröfsere Dreistigkeit, nicht den besseren
Verstand für die Ursache. Die Nachahmung hat überall wieder nur sehr
geringe Bedeutung. Wenn alte Fehler auch lange Zeit immer wieder-
holt werden, so findet sich doch als Anzeichen höherer psychischer
416 Literaturbericht
Functionen vor Allem eine Art von Ueberlegung an den kritischen Stellen
und schliefslich wird vollkommene Sicherheit in der Erreichung des Ziele»^
erlangt. Weiterhin soll nun aufgezeigt werden« welche psychischen Ele-
mente die Orientirung eigentlich ausmachen. Der Geruch kann hierbei
zwar unter den gegebenen Bedingungen nicht einfach als Wegweiser auf
Grund der bereits vorhandenen Spuren helfend eingreifen; doch zeigt sich
seine Wichtigkeit darin, dafs ein neues, im Uebrigen völlig gleich ge-
arbeitetes Labyrinth zunächst wieder mit ganz den nämlichen Fehlem
durchsucht wird. Verf. glaubt jedoch, dafs hier vor Allem nur die allge-
meine, allerdings vor Allem dem Geruchssinn entstammende Enttäuschung
vorsichtig und verwirrt mache, zumal die Einübung sich sehr bald wieder
geltend macht. Dafs der Gesichtssinn nicht die eigentliche Grundlage
liefere, soll zunächst aus der vollständigen Belanglosigkeit der Entfernung
auffälliger Wegmarkirungen nach der Einübung hervorgehen, femer durch
die grofse, fast normale Leistungsfähigkeit erblindeter Katten. Auch die
Abkürzung des Weges durch später eingeführte Zwischenthüren werde
von diesen letzteren vorgezogen. Eine Instanz für den Gesichtssinn
bilde höchstens die etwas schnellere Orientirung der normalen Batten in
dem nach der Einübung umgestürzt aufgestellten Gehäuse, dessen Boden
und Decke aus dem nämlichen Drahtgeflecht bestehen. So sollen also vor
Allem die Tast- und Bewegungsempfindungen ein in sich geschlossenes
Aösociationssystem für die Orientirung bilden, dem eventuell die anderen
Empfindungen nur helfend zur Seite stehen. Wenn nun auch im Natur-
leben der Ratten diese Sinne vor Allem in den dunklen Gängen die
Führung müssen übernehmen können, so ist doch aus den Fällen der Er-
blindung ebenso wenig wie in der Menschenpsychologie der Nachweis
sicher durchzuführen, dafs sehende Ratten im Hellen nicht auch aus der
Summe der optischen Eindrücke die Situation wiedererkennen.
WiRTH (Leipzig!.
J. Turner. Observations on the Minnte Stractare of the Cortez of the BriiB
as revealed by tbe Methylene Blne and Peroxide of Hydrogen Hethod of
Staining the Tissae direct on its Removal from the Body. Brain 24 (94),
238-256. 1901.
T. färbt mit einer Mischung von Methylenblau und Wasserstoffsuper-
oxyd. Die Methode ist sehr launenhaft und gelingt auffallenderweise nie
an frischen Stücken. Trotzdem hält T. seine Befunde für zwingend
genug, wieder einmal „eine bedeutende Aenderung in unserer Auffassung
von der Anordnung der nervösen Elemente der Hirnrinde" herbeizuführen.
Das Hauptresultat ist das, dafs die Dendriten bestimmter Zellarten um
andere Zellen herum grobmaschige Netze bilden. Schröder (Heidelberg).
M. Probst. Ueber den Verlauf der Sehnervenfasem nnd deren Endlgnng im
Zwischen- nnd Hittelhim. Monatsschr. f. Psychmtr. u. Neurol 8(3), 165—181.
1900.
Die Sehnervenfasern entspringen in der Retina, kreuzen partiell im
Chiasma und enden blind, der gröfsere Theil gekreuzt im äufseren Knie-
höcker, im Pulvinar und im vorderen Zweihügel. Schröder (Heidelberg).
Literaturbericht. 417
W. Barratt. On the Cbanges in the Hervotis System in a Oase of Old-Standi&s
Ampntation. Brain 24 (94), 318—328. 1901.
Anatomische Beschreibung der Centralorgane eines Mannes, dem mit
19 Jahren der rechte Oberarm amputirt worden war, und der mit 61 Jahren
«tarb. Die Befunde sind nicht eindeutig, da gleichzeitig senile Atrophie
des ganzen Grehirns und eine alte Erweichung im linken Hinterhauptlappen
bestand. Es fand sich Verschmälerung des rechten Cervicalmarkes, wesent-
lich bedingt durch Schwund der grauen Vorderhömer, aber keine gröberen
Veränderungen an den vorderen und hinteren Wurzeln, sowie an den Spinal-
ganglien. Pyramidendegeneration, rechts stärker wie links.
ScHBÖDEB (Heidelberg).
M. Pbobst. Experimentelle Untersnchungen ttber die Anatomie nnd Pliysiologie
des Sehhttgels. Monatsschr. f. Psychiatr, u. Neurol. 7 (5), 387—404. 1900.
— Zar Anatomie nnd Physiologie experimenteller Zwlschenbirnverletinngei.
Dmtsclie Zeitschr. f. NervenheUk. 17, 141—168. 1900.
— Physiologische, anatomische nnd pathologisch -anatomische Untersnchnngen
des Sehhttgels. Ärch. f. Psychiatr, 33 (3), 721—817. 1900.
Unsere ersten genaueren Kenntnisse von den Faserverbindungen der
SehhOgelregion mit der Grofshirnrinde stammen von v. Monakow, der die
Veränderungen der einzelnen Sehhügelkerne nach verschieden localisirten
Bindenabtragungen bei Thieren studirte. Pbobst hat den umgekehrten
Weg eingeschlagen und schon seit längerer Zeit einer grofsen Anzahl von
Hunden und Katzen mit einem eigenen Instrument Verletzungen des Seh-
hügels und seiner Umgebung gesetzt. Die Thiere sind nach der Operation
physiologisch genau beobachtet und die Gehirne dann auf Serienschnitten
sorgfältig mit Hülfe der MABCHi-Methode untersucht, die sehr viel
eclatantere Bilder giebt, als die von Monakow noch angewendete Carmin-
färbung. Leider sind die Arbeiten an recht verschiedenen Stellen ver-
-öffentlicht und deshalb nicht frei von zahlreichen Wiederholungen. Ueberall
«ind eingehende anatomische und physiologische Details gegeben und
Zeichnungen beigefügt. Von den Resultaten seien nur die hauptsäch-
lichsten und allgemeineren hervorgehoben. Wie schon v. Monakow gezeigt
hatte, sind die Verknüpfungen zwischen Sehhügel und Rinde ungemein
zahlreiche und zwar leiten sie sowohl von der Rinde zum Sehhügel wie
umgekehrt. P.*s Arbeiten berücksichtigen, gemäfs der Anordnung seiner
Experimente, ausschliefslich die letzteren. Er konnte nachweisen, dals
jeder Kern des Sehhügels ein bestimmtes umschriebenes Einstrahlungs-
gebiet in die Rinde hat. Der Sehhügel empfängt ferner eine ungemein
^ofse Zahl von Fasern aus tiefer gelegenen Centren, er mufs als „eine
Hauptumschaltungsstation für alle peripherwärts kommenden Erregungen,
die von den verschiedenen peripheren Sinnesorganen kommen*', angesehen
werden; dagegen sendet er abwärts nur sehr wenige Fasern zu einigen
nahegelegenen Kernen (rother Kern, vorderer Vierhügel, Substant. reticul.).
Die physiologischen Erscheinungen nach der Operation werden ein-
gehend besprochen. Sie bestehen hauptBächlich vn Sfe\\r«^tV»\i«^^^\^%^Ti.
Zr^imcbrift für Psychologie 27. ^
418 Literaturbericht,
und sind verschiedenartig bei Verletzung verschiedener Kerne. Bei doppel-
seitigen Zerstörungen treten ganz andere Symptome auf.
ScHBÖDBB (Heidelberg).
D. Fbrbibb and W. A. Tubnbr. Kxperimental Lesion of the Oorpon duadri-
gemina in Honkeys. Brain 24 (93), 27—46. 1901.
Die Vierhügel stellen ein Organ dar, das im Grehim der niederen
Vertebraten eine wichtige Rolle spielt, während seine Ausbildung und Be-
deutung bei den höheren Wirbelthieren parallel der Entwickelung der
Grofshirnrinde zurücktritt, üeber die Function der Vierhügel beim
Menschen sind zahlreiche, widerspruchsvolle Angaben gemacht worden.
Febbier und Türneb haben deshalb einer Reihe von Afien das Grau der
Vierhügel experimentell entfernt und haben dabei constatiren können, dafs,
wenn benachbarte Theile nicht mitverletzt wurden, irgend-
welche dauernden Symptome nicht auftraten, dafs auch jedenfalls die Be-
ziehungen zum Seh- und Höract nur sehr lockere und wenig wesent-
liche sind. ScHBÖDEB (Heidelberg).
L. PiLOBDc. Einige Aufgaben der Wellen- and Farbenlehre des Lichtes. Beilage
z, Frogr, der Bealanstalt in Cannstadt IdOOjlOOl, 68 S. Mit zwei grofsen
farbigen Tafeln.
Die äufserst reichhaltige Programmabhandlung behandelt sowohl rein
physikalische wie auch ein farbenphysiologisches Problem. Nur das letztere
kommt für uns an dieser Stelle in Betracht. Es handelt sich darum die
Farbe, Sättigung und Helligkeit von Interferenz- und Polarisations-
erscheinungen auf Grund der bisher angestellten Versuche über die
Mischung von Spectralfarben zu bestimmen. Im Wesentlichen werden
hierbei die Versuche, welche Maxwell im Jahre 1860 und dann diejenigen,
welche der Ref. zum gröfsten Theile gemeinsam mit Herrn C. Dietebici
ausgeführt hat, benutzt. Aufserdem kam noch ein Verfahren in Anwendung,^
das von Lommel zum gleichen Zwecke (1891) vorgeschlagen und in dieser
Zeitschrift (5, 407) besprochen und kritisirt worden ist. Die Resultate der
zum Theil nur mit grofsem mathematischen Küstzeug durchführbaren
Rechnungen stimmen mit der Erfahrung befriedigend überein, woraus sich
also ergiebt, dafs zur Zeit die Analyse normaler Farbensysteme bereits hin-
reichend genau durchgeführt ist, um Farbe, Helligkeit und Sättigung jeder
Farbenmischung aus den Componenten mit einer beträchtlichen Genauig-
keit im Voraus berechnen zu können. Völlige Uebereinstimmung ist
übrigens auch wegen der Schwierigkeit oder vielmehr Unmöglichkeit, das
der Rechnung zu Grunde gelegte „weifse" Licht genau zu deäniren,
principiell ausgeschlossen.
Im Einzelnen gäbe die reichhaltige Abhandlung noch zu manchen,
sowohl zustimmenden wie kritisirenden Bemerkungen Anlafs. Wir wollen
hier aber davon absehen, weil sie einen zu grofsen Raum erfordern und
doch nur demjenigen ganz verständlich sein würden, der die Abhandlung
selbst, sowie alle, auf welche sie sich stützt, völlig durchgearbeitet hätte.
Arthur Könio.
Liieraturbericht 419
A. Tschebmax. üeber physiologischt und pathologische Anpassang des Äoges.
Leipzig, Veit u. Co., 1900. 31 S. 0,80 Mk.
T. definirt in diesem Vortrage den Begriff der Anpassung als ^eine
durch Abänderung der Aufsenbedingungen ausgelöste Reaction, welche auf
einen gerade unter den geänderten Bedingungen nützlichen Effect gerichtet
ist.*' In diesem, die Zweckmäüsigkeit schon in der Tendenz und nicht im
ausnahmslosen Erreichen erblickenden Sinne sind die Anpassungsphänomene
des Sehorgans unter physiologischen und pathologischen Verhältnissen
sehr mannigfaltiger Art Die Erscheinungen, die T. unter diesem Gesichts-
punkt mehr auf frühere, z. Th. eigene Untersuchungen verweisend als im
Einzelnen schildernd aufzählt, lassen sich im Wesentlichen folgendermaafsen
Knsammenfassen :
I. physiologische. 1. Die Aenderungen der Pupillengröfse bei wechseln-
der Lichtintensität und ihre Abhänirigkeit von der scheinbaren Helligkeit
der Lichter. 2. Die Accomodation des bilderzeugenden Apparates. 3. Auf
dem Gebiete des Licht- und Farbensinnes die achromatische und chroma-
tische Adaptation (Heriko). 4. Die am Bewegungsapparate ausgelösten
Fusionsbewegungen zur Verschmelzung von Doppelbildern.
II. pathologische Anpassungserscheinungen. 1. Die Lösbarkeit der
angeborenen Association zwischen bestimmten Graden der Accomodation
nnd Convergenz bei Kurz- und Weitsichtigen. 2. Bei Schielenden lassen
sich verschiedene Phänomene nachweisen, die gegen Doppeltsehen bezw.
auf binoculares Einfachsehen gerichtet sind, hierher sind die Unterdrückung
^innere Hemmung'' der Eindrücke des schielenden Auges, sowie die anomale
Lage der beiden Einzelsehfelder zu einander, die anomale Sehrichtungs-
gemeinschaft zwischen Fovea des fixirenden und excentrischen Theilen des
schielenden Auges zu rechnen.
Der adaptative Charakter dieser Erscheinungen gewinnt dadurch ein
um so höheres allgemeines biologisches Interesse, als er ein aufs höchste
differencirtes Organ betrifft und sonst Organe sowie Organismen im Allge-
meinen mit fortschreitender Differenzirung eine Einbufse an Anpassungs-
fähigkeit erleiden. G. Abelsdobff (Berlin).
W. H. R. RiVBRS. PrimitiTe Oolor Ylsion. The FoptUar Science Monthly 50 (1),
44—58. May 1901.
B. hatte Gelegenheit in NeuGuinea und der Torresstrafse eingehende
Untersuchungen an den Eingeborenen über Farben-Bezeichnung und Em-
pfindung anzustellen. Von 4 papuanischen verschiedensprachigen Stämmen
hatte der eine nur besondere Namen für Roth, Weifs und Schwarz, der
«weite auch für Gelb, der dritte ferner für Grün und einen dem Englischen
entlehnten Ausdruck für Blau (Bulu Bulu), während bei dem vierten Grün
und Blau als solche, aber mit häufiger Verwechselung bezeichnet wurden.
Hach R. entspricht dieser zunehmende Reichthum an Farbennamen auch
der sonstigen culturellen und intellectuellen Entwickelung der vier Stämme,
l^ach der auch hier hervortretenden, vielen Naturvölkern gemeinsamen
mangelhaften Bezeichnung für Blau fassen sich die betreffenden Sprachen
in zwei Gruppen theilen : solche, die dasselbe Wort für Blau und Schwarz,
«nd solche, die dasselbe Wort für Blau und Grün haben. Ein weiteres
420 Literaturbericht
Charakteristicum der Farbenterminologie primitiver Sprachen bildet die
Abwesenheit eines Namens für Braun.
R. konnte die Frage, ob dieser mangelhaften Bezeichnung auch ein
mangelhafter Farbensinn bei den australischen Stämmen entspräche, dahin
entscheiden, dafs Blau und Grün sowie Blau und Violett häufig verwechselt
wurden. Es wurden auch „quantitative" Beobachtungen mit Lovibokd's
Tintometer angestellt, das eine Abstufung der Farbenintensität durch Vor-
schieben einer Keihe verschieden stark gefärbter Gläser gestattet Ein
Vergleich mit Europäern ergab, dafs die Eingeborenen zwar nicht blaublind
aber relativ unempfindlich gegen Blau sind. Wie K. mit Recht hervorhebt,
braucht diese Unempfindlich keit nicht auf einer Verschiedenheit der
percipirenden Elemente zu beruhen, sondern kann durch die stärkere
Pigmentirung der Macula lutea erklärt werden, zumal da die Bilder der
Beobachtungsfelder über die Gröfse der Macula nicht hinausgingen und
die Eingeborenen bei indirecter Betrachtung Blau peripherisch prompt er-
kannten.
Wenn man bei diesen Ergebnissen in Betracht zieht, dafs die Farben-
bezeichnungen der alten Sprachen, im besonderen diejenigen Homeb's
ebenso wie der Farbensinn kleiner Kinder Defecte ganz ähnlicher, wenn
nicht der gleichen Art aufweisen, so braucht man zwar nicht so weit wie
Gladstone und Geiger zu gehen und von einer Farbenblindheit Homeb'b
zu sprechen, mau kann indessen die Möglichkeit nicht von der Hand
weisen, dafs in der Farbennomenclatur Homeb^s noch ein früherer, zu
seiner Zeit bereits überwundener Entwickelungszustand menschlicher
Farbenempfindungen zum Ausdruck kommt; jedenfalls soll man die aller-
dings zu weitgehenden Ansichten Gladstone's und Geiger's nicht als völlig
undiscutirbar aufser Acht lassen, nur von der vereinten Arbeit arch&o-
philologischer und psycho-phy Biologischer Forschung erwartet R. die Lösung
des Problems der Entwickelung des menschlichen Farbensinnes.
G. Abelsdorff (Berlin).
Fr. Schenck. Ueber intermittirende Netzhaatreiznng. 8. Mitth. Pflüg er' 8
Archiv 77, 44—52. 1899.
— u. W. Just. Ueber intennittire&de NetzhaatreizQng. 9. Mitth. Pflüg er '$
Archiv 82, 192—198. 1900.
In der achten Mittheilung kommt Verf. auf die schon in der siebenten
Mittheilung (Referat vgl. diese Zeitschr. Itf, 439) erwähnte Beobachtung zurück,
dafs eine ganz mit schwarzen und weifsen Sectoren erfüllte Kreieelscheibe
eine geringere Umdrehungsgeschwindigkeit nöthig hat, um gleichmäfsig
auszusehen, als eine nur zur Hälfte von den Sectoren bedeckte, zur anderen
Hälfte mit (dem Sectorengemisch gleich hellem) Grau erfüllte Scheibe.
Schenck gelangt zum Resultat, dafs diese Beobachtung mit der von Exneb
u. A. vertretenen Theorie der Netzhauterregung bei successiv-periodischen
Reizen unverträglich ist und er ersetzt deshalb die ExNER'sche sägeförmige
Curve durch eine andere Erregungscurve, die mit dem fraglichen Beobach-
tungsresultat nicht im Widerspruch steht.
Ref. ist der Meinung, dafs wir z. Z. über den Verlauf der Ketzhaul-
erregung bei successiv-periodischen Reizen speciellere Aussagen nicht
Literaturberich L 42 1
xn machen vermögen und er kann deshalb auch der neuen ScHENCK'schen
Ourve keinen besonderen Werth beilegen. Denn dafs die Erregungen bei
successiv-periodischen Reizen im Sinne einer bestimmten Curve verlaufen,
nur weil diese Curve den Versuchsergebnissen nicht widerspricht, wird
doch wohl niemand behaupten wollen.
unabhängig von Schenck hat Dürr {Fhilos. Stud. 15, 502) die Beobach-
tung mitgetheilt, dafs von zwei in je sechs gleich grofse Sectoren einge-
theilten rotirenden Scheiben die eine eher verschmilzt als die andere,
wenn bei jener die einzelnen Sectoren abwechselnd schwarz und weifs und
wenn sie bei dieser abwechselnd schwarz, grau und weifs sind. Dürr
Bchlofs aus dieser Beobachtung mit Recht, dafs die Zahl der von einander
verschiedenen Reize auf die Verschmelzung successiv - periodischer
Reize ungünstig wirkt. Die ScH£NCK*sche Beobachtung erklärt sich offen-
bar aus dieser allgemeinen von Dürr abgeleiteten Thatsache, was Dürb
selbst schon (a. a. 0. S. 505) dargelegt hat
Des Ref. Theorie des TALBOT'schen Gesetzes suchte im Gegensatz zu
der üblichen Behandlungsweise die bisher bekannten Thatsachen des
TALBOT'schen Gesetzes, ohne die Frage der speciellen Netzhautvorgänge im
Einzelnen zu tangiren, aus gewissen allgemein anerkannten Voraussetzungen
und einer eigen thümlichen Betrachtung der Reize abzuleiten. (Referate
vgl. diese Zeitschr. 13, 116 ff. u. 20, 197 ff.) Alle neuen Thatsachen des
TALBOT*schen Gesetzes müssen sich, wenn diese Theorie richtig ist, ohne
Weiteres aus ihr ableiten lassen. Dafs dies für die Schenck - DüRR'sche
Thatsache zutrifft, hat Dürr (a. a. 0. p. 503 ff.) ausführlich gezeigt.
In der neunten Mittheilung berichtet Schenck und Jüst über eine
Beobachtung bei einer rotirenden Scheibe mit zwei concentrischen Ringen,
deren äufserer aus acht und deren innerer aus sechszehn abwechselnd
weifsen und schwarzen Sectoren bestand. Es zeigte sich, dafs für den
äufseren Ring trotz schnellerer Contourenbewegung und schnellerer Reiz-
folge die kritische Periodendauer kürzer war als für den inneren. Schenck
bringt diese Beobachtung mit den Ungleichmäfsigkeiten der Scheiben-
partien, die eigentlich homogen sein sollten, in Zusammenhang und er
erblickt in diesen unvermeidlichen Ungleichmäfsigkeiten eine methodische
Schwierigkeit von allgemeiner Tragweite. Ejlrl Marbe (Würzburg).
W. A. Nagel. Der Farbensinn der Thiere. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 32 S.
In diesem in der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i. Br. ge-
haltenen Vortrage giebt N. eine ausführliche kritische Uebereicht über die
bisherigen Untersuchungen des Farbensinns der Thiere und hebt u. a. mit
Recht hervor, wie wenig eindeutig in dieser Beziehung die Ergebnisse der
vielfach citirten GRASER'schen Versuche des „Zweikammerprincips" (Grund-
linien zur Erforschung des Helligkeits- und Farbensinnes der Thiere (1884)
sind. Andererseits wendet er sich gegen einen übertriebenen Skepticismus,
der in den Farbenempfindungen der Thiere nur ein jenseits der Grenzen
unseres Erkenntnifs Vermögens liegendes subjectives Element sieht. Schon
unsere allgemein biologischen Anschauungen zwingen uns zu der Annahme
eines weit im Thierreiche verbreiteten Farbenunterscheidungsvermögens;
die Schutzfärbungen und sexuellen Lockfarben könnten sonst weder zum
422 lAteratwrbericht
Schutze noch zur Warnung noch zur Anziehung dienen. Wenn die Thiere
total farbenblind wären, würde ein einziges Pigment z. B. Braun in Te^
schiedenen Helligkeitsabstufungen als Schutzfärbung ausreichen.
Aufser diesem von der Natur selbst angestellten Experimente können
die Beobachtungen des lebenden Thieres bei Einwirkung farbiger Strahlungen
über das Farbenunterscheidungsvermögen Aufschlufs geben, nur müssen
dieselben, wie N. ausführt, mehr als bisher mit Berücksichtigung der Ton
der physiologischen Optik neuerdings klar gelegten Thatsachen angestellt
werden.
Einer experimentellen Prüfung sind femer die durch den Beu ver-
schiedenfarbiger Lichter am Auge eintretenden objectiyen Veränderungen
zugänglich. Hauptsächlich zwei Erscheinungen kommen hier in Betracht:
1. Die Pupillarreaction. 2. Die Actionsströme der Netzhaut. Beide Unter-
Buchungsmethoden sind bereits erfolgreich benutzt worden, die sub 1 ge-
nannte vom Ref., die sub 2 genannte vom Verf., über deren Ergebnisse
bereits in dieser Zeitschr. (26, 264) berichtet worden ist. N. betont zum
Schlüsse, dafs diese die Reizwerthe der verschiedenen Spectralfarben für
die betreffende Netzhaut feststellenden Experimente trotz ihrer grdlJBeren
Exactheit natürlich die Beobachtung der Reaction des lebenden Thieres
nicht entbehrlitfh machen, da sie ja an sich über das Farbenunterscheidnngs-
vermögen des Besitzers der Netzhaut keine Auskunft geben.
G. Abelsdobff (Berlin).
A. FicK. Kritik der Heri&g'schen Theorie der Lichtempflndang. Sitzungd>er,
d, FhysikaL'fned. Gesdlach. zu Würzburg, 1900. Separatabdr. 6 S.
F. wendet sich gegen die Grundannahmen der HsaiNo'schen Licht-
empfindungstheorie: vor Allem träfen die Kriterien der Empfindung ftir
den „mit dem Worte Schwarzsehen bezeichiCeten Bewufstseinszustand'' nicht
zu; so sind z. B. die Grenzen des mit Lichtempfindungen erfüllten Ge-
sichtsfeldes scharf bestimmt, die Grenzen eines dunklen, schwarz erfüllten
Gesichtsfeldes sind nicht nur nicht bestimmt, sondern entziehen sich der
Vorstellung.
Für die biologisch teleologische Betrachtung widerspricht femer die
grundlegende Hypothese, dafs nicht nur die Dissimilirung sondern anch
die der Regeneration dienende Aasimilirung als Empfindung ins Bewnüst-
sein trete, dem Principe organischer Zweckmäfsigkeit. Während nun die
Dissimilirung in allen drei Sehsubstanzen durch Reize, gewöhnlich Aether
Schwingungen hervorgerufen wir^ äoU nach der H£RiNo*schen Theorie die
Assimilirung in den farbigen Sehsubstanzen nicht wie in der Schiran-
Weifs-Substanz durch die Abwesenheit von Lichtstrahlen sondern in der
Regel durch die Einwirkung bestimmter Strahlungen verursacht werden.
Eine weitere ünwahrscheinlichkeit sieht F. in der sich hieraus ergebenden
Folgerung, dafs von zwei nur durch einen relativ geringen Unterschied
in der Wellenlänge von einander abweichenden Strahlungen, die eine
dissimilirend, die andere assimilirend auf dieselbe Sehsubstanz wirken solL
G. Abelsdobff (Berlin).
Literaturbericht 423
M. F. McGlübs. ä „Oolor IllQSion''. Amer, Jtmm, of Psych. 12 (2), 178—184.
1901.
Wie kaum anders zu erwarten war, wandte man sich also in Amerika
«elbst baldmöglichst gegen G. T. Ladd's Artikel in den „Studiea from the
Yale Fsycholagical Laboratory"* VI: „A Colour Illusion", in welchem all-
bekannte, schon von Fechmeb ausführlich beschriebene Erscheinungen der
gleichfarbigen Induction als eine neue Art von „Täuschungen" behandelt
worden waren. Verf. variirte nun die Farben nicht nur für die schmalen
Streifen, sondern auch für den Hintergrund in gröfserem Umfange und
liels jedesmal bis zur gröfstmöglichen Ausgleichung fixiren. Es bestätigten
■sich die bisherigen Anschauungen, insbesondere auch eine gewisse Un-
abhängigkeit der Helligkeits- von der Farbenausgleichung, sowie eine Art
von Reciprozität der scheinbaren Veränderung zum AusdehnungsverhältniDs
der benachbarten Farben. Verf. ist zwar immer noch bei dieser rein
•qualitativen Betrachtung stehen geblieben, hält jedoch insbesondere für die
zuletzt genannte Frage quantitative Bestimmungen für nothwendig.
WiBTH (Leipzig).
A. TuYL. üeber das graphische Registriren der Vorwärts- and Rttckwärts-
bewegnngen des Aoges. v. Graefe's Ar eh. f. Ophthalm. 52 (2), 233—262.
1901.
Um die unter physiologischen Verhältnissen stattfindenden Bewegungen
•des Auges nach vorn und rückwärts zu untersuchen, bediente sich T., da
die Stellungsänderungen für directe Beobachtung zu gering sind, eines
Apparates zur graphischen Registrirung. Derselbe besteht im Wesentlichen
aus einem Hebel mit einem sehr langen und einem kurzen Arm. Der
letztere ist mit einer Contactfläche versehen, die ohne Ausübung eines
nennenswerthen Druckes auf die Vorderfläche des Auges gesetzt werden
kann, während der lange Hebel die Bewegungen an einer in verticaler
Richtung fortgeschobenen Fläche aufschreibt.
Es liefs sich so feststellen, dafs die Cornea durch die Herzthätigkeit
0,01—0,02 mm hervortritt; der Einflufs der Respiration macht sich ebenfalls
geltend und ist bei willkürlich verstärkter Athmung besonders markant,
bei forcirter Ausathmung konnte eine Vorwärtsbewegung von 0,06 mm
registrirt werden. Anstrengung der Bauchpresse wirkt durch Erhöhung
-des intrathoracalen Druckes und gröfsere Füllung der Venen in demselben
Sinne, der Augapfel konnte hierdurch 0,3 mm nach vom gedrängt werden.
Eine Verschiebung des Bulbus nach hinten (0,15—0,2 mm) tritt bei gleich-
zeitiger Anspannung des Rectus externus und internus ein.
Bei Feststellung dieser Ergebnisse war darauf zu achten, dals keine
Aenderung in der Stellung der Augenlider vorgenommen wurde. Bei Er-
weiterung der Lidspalte wird der Augapfel nämlich nach vorn (im
Maximum — 0,8 mm) und unten, beim Schliefsen der Lider nach hinten
und oben verschoben. Die erste Stellungsänderung erfährt ihre einfachste
Erklärung durch die Annahme eines vom Musculus levator palpebrae
4Buperioris auf den oberen hinteren Abschnitt des Bulbus ausgeübten
Druckes, die letztere wird durch den Druck des die Lider schliefsenden
Jfusculus orbicularis hervorgerufen. G. Abelsdobff (Berlin).
424 Literaturbericht.
W. A. Naqbl. Ueber das Beirsche Phlnomen. Arch, f. AugenheWc. 43 (3)^
199—206. 1901.
Als B£LL*8che8 Phänomen wird die nach ihrem Entdecker {^nannte
Erscheinung bezeichnet, dafs bei activem Lidschlufs der Augapfel sich
nach oben bewegt, um bei geschlossenen Lidern in dieser Stellang zu ver-
harren. Zur Erklärung dieses Phänomens zieht N. aufser der bisher
supponirten Verknüpfung der entsprechenden Hirnrindengebiete eine
reflectorische Erregung in Betracht, indem er annimmt, dafs die mechanische
Reizung der sensiblen Hornhautnerven durch den Druck des Oberlides die
Aufwärtsbewegung des Bulbus auslöst und so den Scheitel der Comeawölbung
vor maximalem Druck seitens der Mitte der Tarsusplatte bewahrt. Zur Stütze
dieser Anschauung führt N. die an sich selbst gemachte Beobachtung an,
dafs auch passiver Lidschlufs das BELL'sche Phänomen hervorruft. Wenn
nämlich ein Auge durch einen Verband geschlossen gehalten und das
andere frei bleibende zum Lesen oder Schreiben benutzt wird, so wird
unwillkürlich das Kinn auf die Brust gesenkt und das vorliegende Buch
mit aufwärts gewandter Blickebene betrachtet: d. h. es wird entsprechend
der vom geschlossenen Auge ausgeführten Bewegung nach oben die, Blick-
ebene erhoben und demgemäfs die Kopfhaltung verändert.
G. Abelsdorff (Berlin).
F. B. Hofmann u. A. Biblschowsky. Die Yerwerthang der RopfaeigHBg xur
Diagnostik von Angenmnskelläbmüttgen ans der Heber- nnd Senkergrnppe.
V. Graefe'8 Arch. f. Ophthalm. 51, 174—185. 1900.
Seit Naoel*s Untersuchungen ist bekannt, dafs die Kopfneigung, d. h.
Drehung des Kopfes um die sagittale Axe eine gleichsinnige Rollung beider
Augen um die Gesichtslinie nach der der Kopfneigung entgegengesetzten
Richtung bewirkt. N. nahm an, dafs diese Rollung durch die gemeinsame
Thätigkeit eines oberen Muskelpaares (Rectus und Obliquus superior) in
dem einen und eines unteren Muskelpaares (Rectus und Obliquus inferior)
in dem anderen Auge zu Stande käme.
Verff. haben nun den thatsächlichen Beweis für die Richtigkeit dieser
Annahme dadurch erbracht, dafs sie bei Patienten, die an Lähmung eines
der an der Rollung betheiligten Muskeln litten, bei entsprechender Kopf-
neigung die theoretisch postulirten Doppelbilder erhielten. Die ünter-
suchungsmethode mufste, um Aenderungen der Blickrichtung bei am
gleichen Orte bleibenden Objecte und hierdurch entstehende Täuschungen
über die Lage der Doppelbilder zu vermeiden, dafür sorgen, dafs das Seh-
object die Kopfneigung in gleichem Umfange und in gleicher Richtung
mitmachte ; es geschah dieses mit Hülfe einer leichten Vorrichtung, die als
Fixationsobject einen Streifen schwarzen Papiers auf weifsem Carton trug
und sich durch Einbeifsen halten liefs.
Das mittels dieser Methode erhaltene und bereits erwähnte Ergebnifs
bildet nicht nur einen neuen Beitrag zur Kenntnifs der Physiologie der
Augenbewegungen, sondern läfst sich auch klinisch diagnostisch verwerthen,
indem das Verhalten der Doppelbilder bei Neigung des Kopfes in compli-
cirten Fällen von Augenmuskellähmung die Diagnose entscheiden kann.
G. Abelsdorff (Berlin).
Literaturbericht, 425
A. BiBLscHowsxY. üober die sogenannte Dlvergensl&bmnng and Discnssion
dieses Vortrags. Bericht über die J28. Vtrsamml der Ophthalwol Gesellsch.
Heidelberg 1900, 110—124.
Auf Grund von drei gemeinsam mit Dr. F B. Hopmann beobachteten
Fftllen stellt B. die Symptome des Krankheitsbildes der Divergenzlähmung
der Augen fest. 1. Bei freier Beweglichkeit der Augen Unfähigkeit zur
Parallelstelinng der Gesichtslinien. 2. Die bestehende Convergenz wird
nicht durch Seitenwendung des Blickes geändert, sondern nimmt erst bei
Senkung desselben zu und bei Hebung ab. 3. Binoculares Einfachsehen
kann durch adducirende Prismen hergestellt werden. 4. Binoculare Fixation
ist innerhalb eines nahegelegenen Bezirkes möglich.
Gegen die Erklärung dieses Symptomencomplexes durch einen Con-
vergenzkrampf sprechen die Stabilität der Ablenkung und die Möglichkeit
binocularer Fixation; B. nimmt vielmehr an, dafs mit dem Convergenz-
centrum ein antagonistisches Divergenzcentrum innervirt wird, so dafs
beim Blick in die Ferne ein gleichstarker Tonus beider Centren vorhanden
ist und mit der Erschlaffung der Convergenz eine entsprechende Zunahme
der Divergenzinnervation einhergeht. —
Aus der sich anschliefsenden Discussion sind die Ausführungen Hof-
kann's bemerkenswert, der auf die physiologischen Voraussetzungen für die
Deutung der Krankheitsfälle als einer Divergenzlähmung auf Grund der
Annahme einer besonderen Divergenzinnervation hinweist. Wie für die
gleichsinnigen Lateralbewegungen der Augen mit der Contraction der
Agonisten ein Nachlafs des Tonus des Antagonisten erfolgt, so kann man
freilich zunächst nur auf Grund einer Analogie, auch auf ähnliche Ver-
bältnisse bei der Convergenz- und Divergenzbewegung schliefsen, d. h. es
ist bei Parallelstellung der Gesichtslinien die gleichzeitige Erregung eines
subcorticalen Convergenz- und Divergenzcentrums anzunehmen, bei Con-
yergenzimpuls Verstärkung der Convergenz- und Hemmung der Divergenz-
innervation und endlich beim Divergenzimpuls Verstärkung der Divergenz-
nnd Nachlassen der Convergenzinnervation. Nach dem alten Schema da-
gegen nahm man beispielsweise beim Uebergang von Convergenz zur
Parallelstellung der Gesichtslinien nur eine Erschlaffung der Intemi an,
der erst eine Contraction der Extern! folgt, das neue ordnet sich dem vom
Sherbington ausgesprochenen Principe der „reciproken Innervation" ein.
G. Abblsdorff (Berlin).
L. Heine. Hydrophthalmas a&d Myopie. Bericht aber die 28. Versammlung der
Ophthalmol. Gesellsch. Heidelberg 1900, 176—180.
Man hat die Entstehung der Kurzsichtigkeit durch intraoculare Druck-
Steigerung erklären wollen ; die Veränderungen, die eine solche hervorbringt,
kann man an Augen mit Hydrophthalmus acquisitus, der anerkannter-
maafsen durch intraoculare Drucksteigerung entsteht, studiren. Die Unter-
suchungen H.'s haben nun ergeben, dafs gerade solche Augen entweder
gleichmäfsig oder in den vorderen Teilen, wo die Sclera normalerweise
dünner ist, gedehnt werden, während die Messungen kurzsichtiger Augen
eine Dehnung ausschliefslich in der hinteren Bulbushälfte nachwiesen.
Man hat demnach weniger in der intraocularen Drucksteigerung als in an-
426 Literaturberichi.
geborener Schwäche der Sclera in der hinteren Hälfte das entscheidende
Moment für die Entwickelung der Kurzsichtigkeit zu suchen.
G. Abelsdobff (Berlin).
J. Piltz. Sor les noaveaux signes papillaires dans le Ubes dorsaL Eevw
neurologique 595—599. 1900.
Aufser dem Licht-, Accomodations- und Vorstell ungs- (Haab's Hirnrinden)
Reflex der Pupille sind in neuerer Zeit folgende Pupillarreflexe beschrieben
worden : 1. Nach energischem Lidschlufs tritt Pupillenverengung ein (Verl)
2. Beim Versuche die auseinander gehaltenen Lider gewaltsam zu schlieDsen,
verengt sich die Pupille des sich nach oben richtenden Augapfels (West-
PHAL u. A.). Nach den Beobachtungen des Verf/s kann diesen beiden
Keflexen ein entscheidender klinisch diagnostischer Werth noch nicht zu-
gesprochen werden. Allerdings trifft man den sub 1 genannten Reflex nur
selten bei normalen Individuen, bei welchen unter diesen Umständen die
Tendenz zur Pupillenerweiterung überwiegt, während bei an Tabes oder
Paralyse leidenden Personen mit lichtstarren Pupillen, die die Orbicularis-
contraction begleitende Mitbewegung der Iriscontraction rein zum Ausdruck
kommen kann und sich daher häufig findet. Der sub 2 genannte Reflex
ist dagegen entsprechend der gröfseren Energie, die auf die Contraction
des Orbicularis verwendet wird, häufig auch bei normalen Individuen nach-
weisbar. Zuweilen konnte P. bei Personen, die an Tabes dorsalis leidend
lichtstarre Pupillen hatten, trotzdem bei activem sowie passivem Lidschlaüs
statt ^upillenverengung eine Erweiterung feststellen. Es handelt sich
hierbei wahrscheinlich um einen Reflex, der durch Reibung des Lides aof
der Conjunctiva oder Cornea ausgelöst wird, er fehlte demgemäfs bei einem
Patienten mit Hemianästhesie des Gesichtes auf der entsprechenden Seite.
G. Abelsdorff (Berlin).
F. Angsll. Discrimination of Clangs for Different Interrals of Time. Part U.
Amer. Joum. of Psych. 12 (1), 58—79. 1900.
Diese Fortsetzung der Untersuchungen aus Bd. XI, 1., welche der
Analyse der allgemeinen Factoren des Vergleichsurtheiles überhaupt dienen
sollen, bringt zunächst Vergleichungen von Tonhöhen (in der Region 360
bis 768 Schw.) nach der Methode der richtigen und falschen Fälle
mit objectiver Gleichheit oder Differenz von 4 und 8 Schw. Dabei werden
die von 10 bis 60 See. variirten Zeiten zwischen den Vergleichstönen mit
verschiedenen und ungleich wirksamen Zerstreuungen ausgefüllt, wie
Addition von Zahlen, Lesen, Anhören von Metronomschlägen oder Vor-
lesungen, anderweitigen Tonvergleichungen etc. Das interessante Hanpt*
ergebnifs besteht in der geringen und häufig sogar vortheilhaften Beein-
flussung der Genauigkeit und der Sicherheit des Vergleichsurtheiles, soweit
objective Verschiedenheit vorhanden war. Bei objectiver Gleich-
heit zeigt sich hingegen wirklich eine geringere Genauigkeit bei jenen
Zerstreuungen, ohne dafs jedoch hier, oder sonst irgendwo, eine Proportio
nalität zwiscYieii d^t GtöIä^ d«t 7i«t^\.\^\i>\TL^ und der Urtheilsmodification
festgestellt YreTden ^öxoiXä. OVitv» \i«t^\\a «v\3ä xsS^cv^x^ ^^^k^&xns!ö% ^^asi«a
LUeraturhericht 427
Unterschiedes zu geben, betont Verf. die Wahrscheinlichkeit einer wesent-
lichen Verschiedenheit der Beurtheilnng objectiver Gleichheit und Ver-
schiedenheit, und die Unvergleichbarkeit der beiderseitigen Resultate. Von
hier aus nimmt Verf. Stellung zu derjenigen Anschauung über das Wesen
des Vergleichens, welche mehr „physikalisch^ ein Aneinandermessen des
auftauchenden Gedächtnifsbildes vom ersten Reize an der zweiten Empfin-
dung annimmt (Lbhmann, Stabke etc.) und insbesondere den Fehler der
Zeitlage aus der allmählichen Abschwftchung jenes Gedächtnifsbildes er-
klärt. Dagegen spreche vor Allem die introspective Feststellung des sog.
„freien^ Urtheiles („absolut" nach Mabtin und Müller), welches ohne ein
Abwenden des inneren Blickes vom zweiten Reiz auf irgend welche Ge-
dächtnifsbilder, gerade am besten bei Zerstreuung in der Zwischenzeit, mit
voller Sicherheit frei aufsteigt. Aufserdem fand Verf. den Zeitfehler bei
Vergleichung von Tonhöhen keineswegs im Sinne einer Herabsetzung
oder irgend einer bestimmten Qualitäts Veränderung des ersten Reizes.
Beim Vergleich von Tonstärken aber wechselt der im Sinne jener
Theorie thatsächlich vorhandene Zeitfehler so aufserordentlich je nach der
Zeitlage der variirten Gröfse, dafs die Zeitlage als solche nicht entscheidend
sein kann. SchlieÜBlich wird auch noch auf die Ungereimtheit bei Ueber-
tragung auf die „mittlere Abstufung" verwiesen. Gerade wenn man nun
im Sinne des Verf.*s daran festhält, dafs eine schwache Erinnerung [an
einen starken Ton keine Erinnerung an einen schwachen Ton ist, dafs also
dies Bewufstsein von den „gemeinten" Qualitäten von den Qualitäten, die
dem Auftreten des Erinnerungsbildes als solchen zugesprochen werden,
Bcharf unterschieden werden mufs, wird man zunächst auch zugeben, dafs
die subjective „Sicherheit" dieser Erinnerung von diesen letzteren
Qualitäten zu unterscheiden ist. Dann wird man aber auch zugeben
können, dafs allerdings ein Bewufstsein von den früher wahrgenommenen
Qualitäten die Grundlage von sicheren Vergleichsurtheilen bildet, mag jene
Lebhaftigkeit, Frische etc. noch so gering sein. Auch ist ein Hin- und
Hergehen im Sinne des Aneinandermessens zum wirksamen Dasein jenes
Srinnerungsbewufstseins ebenfalls nicht nothwendig. Nicht gegen die An-
nahme dieses jederzeit auch im „freien" Vergleichsurtheil mitgegebenen
Bewufstseins, sondern nur gegen jene Verwechselung der genannten Quali-
täten hat wohl auch Verf. in seiner werthvoUen Arbeit vorgehen wollen.
WiBTH (Leipzig).
A. J. KiNNAMAN. A Comparison of Judgmeiits for Weigbts Lifted witb tbe
Hand and Foot. Amer. Jotim. of Psych. 12 (2), 240—263. 1901.
Nach einer Variation der FECHNEB*schen Methode wurden die Gewichte
(9 verschiedene von 100 bis 3200 g) und die procentual nach Sanfobd's
Tabelle gewählten Zusatzgewichte auf einem Brett gehoben, das wie eine
Wagschaale an einem doppelten Muft aufgehängt war, der theils auf die
Hand, theils auf den Fufs genau pafste. Zur Milderung des Anfangswider-
standes stand das Brett zunächst auf einem Polster. Die Methode der
r. u. f. F. war beibehalten. Nur 20 Versuche, incl. eines gleichmäfsigen
Wechsel der Zeitlage (ohne Correctur des VeT\iiaAtma»^B \)«v ^«t ^V^tsäw^k^
428 LiteraturbericJit.
bildeten eine Gruppe, die dann sogleich mit dem anderen Gliede wieder^
holt wurde. Augen und Ohren waren verschlossen, die Reihenfolge war
theilweise bekannt. Es wurde jederzeit irgend ein Urtheil verlangt. Vor
Allem zeigte sich eine etwas höhere U.-£. fflr die Hand, zumal in der
unteren Region, keine Constanz der relativen U.-E., sondern ein Maximum
für 2000 bis 2400 g. Verf. sucht nun die Erklärung hierfür nach dem
Vorgange Herino*s in einer genauer analysirten Verschiedenheit der je-
weiligen Empfindungsgrundlage des Vergleichsurtheiles , deren Elemente
bei verschiedener Schwere ihre Lage zum Blickpunkt des Bewufstseins
wechseln sollen. Das Bewufstsein der geringen Schwere bestehe vor Allem
in Tastempfindungen der Haut, deren Sinn bei der Hand viel besser ent-
wickelt ist als beim Fufse. Erst mit Zunahme des Gewichtes treten die
Bewegungsempfindungen und andere „Hülfsempfindungen" unter gleich-
zeitigem Zurücktreten der Tastempfindungen stärker hervor, und jene zu-
nächst hülfreichen Nebenempfindungen werden dann in der obersten
Region sogar störend. Haben aber einmal die Bewegungsempfindungen
die Führung übernommen, so schiebt sich auch noch die Hebung des
Armes, dessen Ausbalancirung vom Verf. in Vorversuchen vergeblich an*
gestrebt wurde, in den beurtheilten Complex hinein, so dafs also auch das
Zusatzgewicht einer gröfseren absoluten Reizhöhe entsprechen mufs. Gegen
diese ganze Auffassung vom Bewufstsein der Schwere bleibt freilich immer
wieder die Einheitlichkeit und Continuität desselben in den verschiedenen
Reizhöhen einzuwenden, wie sie ohne absichtliche Hereinziehuug der
secundären Begleitempfindungen in der Analyse thatsächlich vorhanden
ist. Durch ausdrückliche Analyse dieser „Htilfsempfindungen" wird aller-
dings das eigentlich beachtete Object der U.E. überhaupt und damit natür-
lich auch deren Betrag verschoben werden können. Zum Schlüsse bringt
Verf. einen Auszug aus einem noch umfangreicheren Literaturverzeichnifs
über die U.E. hinsichtlich der Schwere. Wirth (Leipzig).
Klaudia Marko va. Gontributioa ä l'itade de la perception steräognostiqne.
(Thöse inaugurale.) Genöve 1900. 82 S.
Verf. verstellt unter Stereognosie in Uebereinstimmung mit Hoffmanx
(Stereognostische Versuche etc. Dias, inaug. Strafsburg 1883) die Wahr-
nehmung der körperlichen Gestalt der Objecte. Die hierher gehörigen
Thatsachen werden in der fleifsigen Untersuchung auf Grund der bisherigen
(auch klinischen) Literatur zusammengestellt. Auch hat Verf. interessante
eigene Versuche ausgeführt.
In der ersten Abtheilung der Experimente wurden der mit geschlosseneu
Augen beobachtenden Versuchsperson complicirtere kleine Gegenstände
(ein kleines Holzhäuschen, ein kleiner Schuh aus Porcellan und vieles
Andere) vorgelegt. Diese Gegenstände wurden dem Beobachter, dessen
Hand sich bei einem Theil der Versuche zur Abschwächung der Tast-
empfindungen in einem wollenen Handschuh befand, bald auf die flache
Hand gelegt, bald mufste er sie mit der Hand umschliefsen, bald mit den
Fingern befühlen u. s. w. Nach jedem Versuch mufste der Beobachter
seine Erlebnisse zu Protokoll geben und wenn möglich, die untersuchten
Literaturbericht 429
Oegenstände zeichnen. Dabei ergab sich, dafs die Berührangs- und Muskel-
empfindungen (les sensations tactilo-musculaires) sich unmittelbar in Ge-
siehtsbilder umsetzten. Die Berührungsempfindungen erschienen sehr
unsicher und das Gedftchtnifs für sie sehr schwach. Bei den verhältniüs-
mäfsig einfachen Gegenständen waren die Beobachtungen mit Handschuhen
nicht wesentlich verschieden von denen ohne Handschuhe. Bei den
complicirtesten Gegenständen zeigte sich, dafs die Beobachtungen ohne
Handschuhe zuverlässiger waren.
£ine zweite Abtheilung von Versuchen bezog sich auf die Beobachtung
ganz einfacher Formen. Verf. benützte Cartonstücke, deren eine Seite
convex oder concav zugeschnitten war. Der Beobachter mufste mit ge-
schlossenen. Augen die Pulpa des Zeigefingers auf diesen Curven hin und
her bewegen. Bei einem Theil der Versuche ward auf den Zeigefinger
ein Fingerhut aufgesetzt, wodurch Tast- und Druckempfindungen eliminirt
wurden. Aus allen diesen Experimenten ergab sich, dafs die concaven
Curven viel unsicherer erkannt wurden als die convexen. Die Zahl der
falschen Antworten des Beobachters bei den Versuchen ohne Fingerhut
betrug 13,9%, bei denen mit Fingerhut 22,5^|^^.
In der dritten Abtheilung von Versuchen arbeitete Verf. mit zehn
kleinen Würfeln und Parallelepipeda, die in Gruppen von dreien benutzt
wurden. Der Beobachter mufste zunächst mit geschlossenen Augen einen
der drei Körper während ein bis zwei Secunden beftlhlen. Dann mufste
er mit offenen Augen entscheiden, welchen der drei Körper er vorher in
den Händen hatte. Dann mufste der Beobachter die Augen wieder
schliefsen, um nun die drei Körper der Beihe nach in die Hand zu nehmen
und zu entscheiden, welchen er bei Beginn des Versuches befühlt hatte.
Es zeigte sich, dafs die Körper unter 107 Fällen 42 mal auf Grund des
Gesichts- und Tastsinns, 26 mal nur auf Grund des Tastsinns und 39 mal
nur auf Grund des Gesichtssinns wiedererkannt wurden.
BIakl Mabbe (Würzburg).
L. Hkmpsteai). The Perception of Yisiial Form. Amer. Joum. of Psych. 12 (2),
185—192. 1901.
Verf. will die Auffassung von Figuren untersuchen, deren Zeichnung
sich kaum merklich vom (dunkleren) Grunde abhebt. Hierzu werden die
deutlich hellgrau auf dunkelgrau gezeichneten Figuren (71, bezw. incl. der
Umkehrung 142), die durch ein geschwärztes Rohr betrachtet werden, noch
hinter einen Episkotister mit dem Dunkelgrau des Grundes gebracht, dessen
fast rechteckige Ausschnitte in den verschiedenen Kreisringen verschieden
stark abdämpfen. Es wurde von der gröfstmöglichen Dämpfung ausge-
gangen und in den folgenden Versuchen durch Hebung der Scheibe relativ
immer gröfsere Ausschnitte vor das Bohr gebracht. Jede Exposition währte
5 See. Es zeigte sich u. A. eine Neigung zur Fortsetzung von Linien, zur
Vervollständigung oder Umformung der Figuren nach dem Princip der
Aehnlichkeit und Symmetrie, zur Abrundung von Winkeln u. A. m. Be-
sonders abweichende Auffassungen will Verf. in einer Fortsetzung der Ver-
suche als peripher bedingt nachweisen. Den Erwartungsfehler, der aus der
zusammenhängenden Wiederholung der Figur bei der zunehmenden Ver-
430 Literaturbericht
deutlichung entsprang, glaubt Verf. aasdrücklich vernachlässigen zn dürfen.
Und doch ist aus Versuchen mit wiederholter instantaner Beleuchtung der
nämlichen (allerdings „übermerklichen") Figur u. dergl. der grofise Einfluls
dieser Wiederholungen bekannt. Wollte also Verf. die Auffassung von dem
unsicheren Einflüsse einer beliebig langen Exposition vollständig befreien,
wie er es doch innerhalb jeder Deutlichkeitsstufe anstrebte, so konnte zwar
die Stetigkeit der Deutlichkeitsstufen überhaupt beibehalten werden, inner*
halb einer Stufe waren aber die Figuren beliebig zu wechseln. Allzuviel
mag ja schliefslich dieses Moment unter den speciellen Umständen an
jenen Hauptergebnissen wenigstens kaum zu ändern. Eine beigefügte Tafel
zeigt die verwendeten Figuren und die subjectiven Substitutionen.
WiBTH (Leipzig).
E. J. SwiPT. Visual and Tactuo-Hfisciilar Estimation of Length. Amer, Joum.
of Psych. 11 (4), 527—529. 1900.
Holzstücken von verschiedener Länge wurden das eine Mal bei ver-
schiedenen Augen nur durch Abtasten geschätzt, das andere Mal nur mit
dem Augenmaafse, bald mit continuirlich, bald mit sprunghaft wechselnder
Normallänge innerhalb der einzelnen Versuchsgruppen und jedesmal mit
beliebiger Schätzungszeit. Es ergab sich ein geringerer und regelmäfsigerer
Fehler des Augenmaafses, ein besseres Gedächtnifs für letzteres, und beide
Male eine Unterschätzung kleiner Strecken. Verf. scheint nicht besonders
berücksichtigt zu haben, worin denn eigentlich jene „Schätzung" bestand
und ob und inwieweit sie in allen Fällen visueller Natur war, bezw. über
solche Vorstellungen ihren Weg nahm. Wirth (Leipzig).
W. Ch. Baglby. The Äpperception of the Spoken Sentence. Ä Stady iä tbe
Psyebology of Langnage. Amer. Joum. of Psych. 12 (1), 80—130. 1900.
Im ersten Haupttheile finden sich in Analogie zu den bekannten Ver-
suchen über visuelle Wortauffassung entsprechende Experimente über die
akustische -Auffassung von Worten ohne Zusammenhang, mit einem
„Minimum von Zusammenhang" (d. h. unter vorhergehendem Aussprechen
begriffsverwandter Worte) und endlich innerhalb einer Sentenz, und zwar
wiederum entweder am Anfang, in der Mitte oder am Ende derselben. Das
betreffende Wort war dabei jedesmal durch Auslassung eines Consonanten
am Anfang, in der Mitte oder am Ende objectiv verstümmelt Sämmtliche
Worte, mit Ausnahme jenes „minimalen" Zusammenhanges vor dem Worte,
wurden vom Phonographen wiedergegeben. Das Hauptergebnifs dieser
Versuche ist unter These 9 zusammengestellt: Die zeitliche SteUung eines
verstümmelten Wortes innerhalb eines Zusammenhanges bestimmt den
Nachtheil der Verstümmelung für die Auffassung. Und Aehnliches gilt
auch wieder innerhalb der einzelnen Worte selbst. Es waren nun auch
die ausgelassenen Consonanten möglichst variirt und hierzu im Ganzen
850 Sentenzen ausgewählt worden. Dabei zeigte sich die verschiedene
Wichtigkeit der Consonanten, insofern die Muta für die richtige Auffassang
am unerläfslichsten erschienen, die sog. Semivocale uj, Z, r und g am ent-
behrlichsten. Letztere wurden dafür am häufigsten irrthümlicher weise
LUeraturbericJU, 431
substituirt. Verf. will hierdurch die Regel bestätigt finden, daüs die am
schwersten erworbenen Semivocale später am leichtesten gebraucht werden.
Allerdings kommen bei dieser Substitution die am „leichtesten erworbenen"
Muta gleich an zweiter Stelle. AuTserdem aber mnfs wohl doch noch be-
rücksichtigt werden, dafs, trotz der innigen Beziehung zwischen Sprechen
and Hören, leichter Gebrauch und Hineinhören in einen objectiven That-
bestand verschiedene Dinge sind. Zwei ohne Zwischenconsonanten auf-
einanderfolgende Vocale schränken doch durch die rein akustische Be-
stimmung dessen, was so ähnlich und was sicher nicht gehört wurde, den
Bereich der kinästhetisch unterstützten Associationen ein, so dafs z. B.
alleinstehendes pj tj 8 etc., abgesehen vom Zusammenhang, trotz des leichten
Gebrauches, nicht leicht hineingehört wird. Im Allgemeinen wäre noch
hinzuzufügen, dafs überhaupt jedes Auslassen von Buchstaben, falls die
Aenderung nicht am fertigen Wortbild des Phonographen künstlich vor-
genommen, sondern das Wort gleich als neuer Lautcomplex ausgesprochen
wird, keineswegs ein so einfaches Moment ist, wie die Auslassung ge-
druckter Buchstaben in den analogen visuellen Versuchen. Im zweiten
Haupttheile geht nun Verf. zur centraleren Psychologie der Wortapper-
ception unter den gegebenen Bedingungen über. Angreifbar ist wohl gleich
die erste Behauptung, dafs nur im Falle des sofortigen richtigen Hörens
eines verstümmelten Wortes eine simultane Association vorliege, während
beim sofortigen Heraushören des Fehlers auf Grund der richtigen Sub-
stitution bereits immer eine successive Association gegeben sei, als ob bei
hinreichender Wirksamkeit des Zusammenhanges nicht gleich die ganze
Vorstellungsgrundlage für das abgegebene ürtheil simultan gehoben werden
könnte. Mit gröfster Sorgfalt sind sodann alle visuellen, akustischen etc.
Vorstellungselemente beschrieben, welche den Versuchspersonen — lauter
geübten Psychologen — während des apperceptiven Vorganges aufstiegen.
Das Bewufstsein des ^ Sinnes^' von Worten, insbesondere auch des ab-
stracten, soll hiermit analysirt und auf die (je nach dem Sinne auf Grund
einer Art von innerer „Adaptation" wechselnden) marginal factors im Sinne
des psychologischen Nominalismus reducirt sein, ohne dafs man mit Stout
ein besonderes Bewufstsein des abstracten „Meinens" anzunehmen brauche.
Das vor Allem von Stout, wenigstens in der angelsächsischen Psychologie,
vertretene „structurelle" Bewufstseinsmoment wird freilich umsomehr über-
sehen werden können, je mehr die Häufung von Tausenden verschiedener
Einzelfälle den interessanten Wechsel der auftauchenden Elemente von
Einzelvorstellungen beachten läfst. Wirth (Leipzig).
N. Triplett. The Psychology of Gonjuring Deceptions. Amer. Joum, of Psych,
11 (4), 439—610. 1900.
Das einleitende Capitel holt bei der biologischen Bedeutung der un-
beabsichtigten oder zielbewufsten Täuschung der Umgebung überhaupt aus,
behandelt die Vorspiegelung höherer Kräfte dem unwissenden Volke gegen-
über und bringt endlich die historische Entwickelung der eigentlichen
Taschenspielerei und Zauberkunst. Die einschlägigen Kunststücke unserer
Variet^e-Theater werden zunächst aus einer umfangreichen Literatur zu
Hunderten einzeln aufgezählt, zum Theil genauer beschrieben und, so gut
432 lÄteraturhericht.
es eben geht, nach theilweise psychologischen Gesichtspunkten zu ordnen
versucht. Das psychologische Material, das in dem Verhalten des Zauber-
künstlers einerseits und in der Täuschung des Publikums andererseits mit-
halten ist, kommt sodann in einer umfangreichen Plauderei zur Darstellnns,
vielfach angeregt durch die bereits vorhandenen Arbeiten von Dessoib nnd
BiNET über den gleichen Gegenstand. Den optischen, akustischen, elektri-
schen, chemischen und mechanischen Kunststücken, welche vor Allem die
Paradoxa gegenüber der alltäglichen Erfahrung und die rein sinnlich
wirkenden Knalleffecte ausnützen, folgen die Künste auf Grund „einer be-
sonderen Geschicklichkeit des Zauberers.'' Auf letztere beziehen sich ins-
besondere die Ausführungen des dritten Capitels über die „ Vorbereitang dei
Zauberkünstlers" selbst als einer Steigerung bezw. Uebung seiner körper-
lichen und insbesondere seiner geistigen Fähigkeiten zur absoluten Be-
herrschung von Auge und Hand und seines Talentes als Schauspieler and
Hypnotiseur. Die folgende Gruppe der Kunststücke, deren Gelingen aof
festgewordenen Associationen des Zuschauers beruht, bietet weiterhin dis
Hauptmaterial für die psychologische Analyse der Täuschung. Was in
diesem Capitel aufser der Ablenkung der Aufmerksamkeit von der kritischen
Stelle durch irgendwelche Betonung einer entfernten Stelle seitens dee
Taschenspielers, insbesondere durch dessen Beden, gesagt wird, gehört vor
Allem zu jenen Associationswirkungen, die eine Art von Illusion erzeugen,
am besten durch systematische Erzeugung einer entsprechenden Association
durch Wiederholung von vorläufig thatsächlich vorgeführten Vorgängen.
Unter Berücksichtigung der sonstigen Umstände findet der Begriff der
r Suggestion" dabei ausführliche Verwendung. Eigene Versuche des Vert's
mit Schulkindern über die bekannte Vortäuschung des Werfens einer Kugel
nach mehrfach vorangehendem wirklichen Werfen zeigt bei 40% der Knaben
und bei 60**/o der Mädchen eine individuell verschieden weit gelungene
Illusion. Die zuletzt behandelten Fälle der Suggestion des sog. „forcing^
d. h. die beliebige Lenkung des Ausfalles einer Auswahl wären noch
systematischer gleich mit unter die beliebige Lenkung der Aufmerksamkdt
eingereiht worden. Die „sociologischen und pädagogischen Bemerkungen''
des Schlusses behandeln u. A. die bekannten Gründe für das Interesse an
derartigen Zauberkunststückchen, die spätere Entwickelung des kindlichen
Interesses hierfür und schliefslich, wegen der entfernten Aehnlichkeit aDer
psychologischer Beeinflussungen überhaupt, eine kurze Ausführung dee
recht mifsverständlichen Grundsatzes : Every teacher is in some sort a con-
jiirer. Wibth (Leipzig).
St. Sh. Colvin. Tbe Fallacy of Extreme Idealism. Amer. Jow-n. of Fsffd.
11 (4), 511-526. 1900.
Neben einem historischen Rückblick polemisirt Verf . vor Allem gegen
zwei moderne Vertreter eines „extremen" Idealismus, Bradlby (Appearance
and Reality) und Josiah Royce (The world and the Individual). Ersterem,
der den Erkenntnifswerth der allgemeinsten Anschauungsformen und der
Kategorien wegen ihres inneren Widerspruches verneint und als Vertreter
des „logisch" begründeten Idealismus erscheint, wird die Bedeutungslosig
keit dieser Methode des ausgeschlossenen Dritten entgegengehalten. Bei
LiteratwrberiekL 43g
SoTd wird henrorgehoben, dals er doch auch zur Abgrensang des Wirk-
HehkeitsbemiiktaeiiiB innerhalb des IndlTidnums auf ein Wiliensmoment im
üitheil, und rar Definition der Wirklichkeit überhaupt auf ein Abeolntee
in der Welt .zurückgreife und damit den Inhalt der gegenwärtigen Vor-
«tellung überschreite. Diese Ueberschreitung hftlt er auch schon für den
fertigen Beweis gegen die ganze zweite Form, den „ psychologisch '^ be-
gründeten Idealismus, insofern dieser doch auch vergangene Vorstellungen
anerkenne, als ob es dem Idealismus auf etwas Anderes ankäme, als den
Inhalt des Wirklichen eben nur auf ideelle Momente überhaupt einzu-
schrftnken. Mit des Verf.'s eigener Annahme eines Systemes activer
Momente in gegenseitiger Cansalrelation, von denen unsere Vorstellungeii
nur einen Theil bilden, steht seine Polemik gegen den „extremen" Realis-
mus der Annahme des ,, Dinges an sich" nicht ganz im Einklang. Die Bei-
ziehung der KAKT'schen y,Postulate'' Gott etc. als einer dritten Form des
^religiös und ethisch begründeten" Idealismus dürfte eine Verschiebung
des Themas bedeuten. Wenn auch das Postuliren kein Erfassen des
Transcendenten ist, wie es der Realist in der Wahrnehmung und Erkennt-
nifs zu thun glaubt, so kann doch auch der extremste Realist etwas in
seinem Sinne über den Inhalt der Wirklichkeit postuliren. Kurz, diese
ganze Frage bezieht sich nur auf die Genesis, nicht auf den Inhalt des
Wirklichkeitsbewufstseins. Wibth (Leipzig).
A. Pick (Prag), dialeal Stidies in Patkologlcil Dreamiftg. Joum, of Merd.
Science 47 (198), 485—499. 1901.
P. schildert 3 Fälle und kommt zu folgenden Schlüssen : Träumereien
kommen besonders häufig bei Hysterischen vor, aber gelegentlich auch bei
Nenrasthenischen. In bei weitem der Mehrzahl der Fälle beginnen sie in
<der Jugend und zeigen oft eine Verwandtschaft zu dem Havelock ELLis'schen
^^Auto-erotism*'. Der Bewufstseinszustand zeigt die verschiedensten Ueber-
l^ftnge, von einem lebhaften Spiel der Phantasie bis zu den deliri^Vsen Traum-
zuständen der Hysterischen. Sghrödbb (Heidelberg).
F. H. Sandebs and Stanlet Hall. Pity. Amer. Joum. of P9ycli. 11 (4),
Ö34-Ö91. 1900.
Auch diese Abhandlung sucht wieder, wie a study of anger, das Heil
in der statistischen Methode, nach Ausgabe von Fragebogen über die
physiologischen Begleiterscheinungen des Mitleides, über den Gegenstand,
der im Leben, in Kunst und Literatur, vor Allem aber im Leben des
Heilandes als der „rührendste'' befunden wurde, dann über Mitleid für
Thiere, Pflanzen, leblose Dinge, neugeborene Kinder, Arme, Verbrecher,
Kranke, Soldaten etc. In den eingelaufenen Berichten, die im 1. und 2.
Oapitel verarbeitet sind, mischen sich die gewöhnlichen, allbekannten Ur-
sachen des Mitleides mit deutlichen Symptomen krankhafter Zustände. In
der psychologischen und pädagogischen Verwerthung des Ganzen (Oapitel
3 und 4) wird zunächst wieder die Hülfslosigkeit der Psychologie diesem
Chaos der Thatsachen gegenüber beklagt, so dafs sich die „Psychologen
selbst am meisten bemitleiden sollten". Die präcise psychologische Frage-
Zeitschrift fOr Psychologie 27. 28
434 Literaturbericht,
Stellung ist eben hinter jenen Detailbeschreibungen fast verloren gegangen,
80 dafs neben dem eigentlich sympathisirenden Mitleid auch die natflrliche
oder krankhaft übertriebene Abneigung gegen Wahrnehmung fremden
Leides, die schon von Hüvs als unvollständige Sympathie abgetrennt
worden war, behandelt wird, femer allerlei rührselige Herbst- und Dämmer-
stimmung, die nur mit einer speciellen Ablaufsweise des Mitleides eine
gewisse Stimmungsverwandtschaft besitzt, dann auch SelbstbemiÜeidung,
endlich jedwede Stellungnahme zu fremdem Leide, welche nicht gerade, wie
die Grausamkeit, am fremden Schmerz selbst Genufs findet, also z. B. die
Freude, dafs man selbst nicht so schlecht daran sei. Mit der mangelnden
Analyse des eigentlichen Mitleides bleiben aber natürlich auch die gegen-
seitigen Beziehungen solcher Abarten wenig aufgeklärt. Der Cregenstand
unserer Sympathie wird insbesondere durch den Satz allzusehr einge-
schränkt, daüs wir nur mit solchem Leide Mitleid haben könnten, das wir
für uns selbst fürchteten. Im letzten Capitel wird u. A. gegenüber den
Verächtern des Mitleides die Anerziehung eines richtigen Maalses von Mit-
leid den Pädagogen empfohlen, wobei natürlich nicht an einen quanti-
tativen Maafsstab gedacht werden darf. Ueberall blickt eine menschen-
freundliche, selbst für Mitleid reich empfängliche Persönlichkeit des Verf. 's
hindurch, und finden sich im Einzelnen viele treffliche Bemerkungen.
WiBTH (Leipzig).
Ybjö Hirn. The Origins of 4rt. — Ä Psycbologlcal aid Sociolegical Inqiiry. —
London, Macmillan and Co., 1900. 331 S. 10 sh.
Wie ist die Menschheit dazu gekommen, so viel Kraft und Eifer der
Kunst zu widmen, „einer Thätigkeit, die fast gänzlich ohne einen praktischen
Zweck sein kann?" — (S. 15) Die Lösung dieses „sociologischen und psycho-
logischen Bäthsels'' ist die Hauptaufgabe des Buches. H. richtet daher
seine Untersuchung vor Allem auf die Natur des „Kunsttriebes** (art-
impulse), den er mit Recht nicht als ein Privilegium einzelner Individuen,
sondern als ein Gemeingut unseres ganzen Geschlechts ansieht. Zunächst
kritisirt er einige frühere Ansichten über das Wesen dieses Triebes. Der
durch ScHiLLKR, Spencer und Grogs vertretenen „Spieltheorie"; die er dabei
noch am ausführlichsten bespricht, gesteht er zwar zu, dafs „sie wohl das
negative Kriterium der Kunst erklären möge; sie sei aber nicht im Stande
uns irgend einen positiven Aufschlufs über die Natur der Kunst zu geben.'*
(S. 29). — In Wirklichkeit ist jene Theorie freilich doch nicht so unvoll-
kommen, als H. glaubt. Schiller und Groos wenigstens charakterisiren
das „künstlerische Spiel" durchaus nicht nur negativ als eine äufserlich
zwecklose Thätigkeit, sondern zugleich sehr positiv als die freieste und
vollste Bethätigung der Persönlichkeit. „Der Mensch ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt." — Die positive Erklärung, durch welche H. die
„negative" Bestimmung seiner Vorgänger ergänzt, ist auf die „allgemeine
Psychologie des Gefühls" gegründet. Lustgefühle erhalten und erhöhen
sich in dem Maufse, in dem sie Ausdruck durch Bewegungen finden. Un-
lustgefühle dagegen werden durch activen Ausdruck abgeschwächt und
überwunden. „Die lebenerhaltende Tendenz, die uns unter einem Lust-
gefühl zu Bewegungen führt, welche die Empfindung verstärken und klarer
Literaturbericht, 435
zum Bewurstsein bringen, zwingt uns im Schmerze, Erleichterung und Be-
freiung durch heftige motorische Entladung zu suchen" (S. 42). Dieses
unmittelbare emotionale AusdrucksbedürfniTs ist gleichsam der Keim des
Kunsttriebes; er würde sich jedoch nicht entwickeln, wenn der Mensch
nicht ein sociales Wesen wäre. Wir fühlen uns stets als Glieder eines
socialen Körpers; und wie unsere Empfindung an Stärke und Deutlichkeit
durch die Bewegung unseres individualen Körpers gewinnt, so erhält sie
noch gröfsere Intensität und Klarheit, wenn sich die Bewegung auf den
socialen Körper ausdehnt, wenn das Gefühl eines Individuums eine ganze
Gruppe ergreift, die seine Ausdrucksbewegungen theilnehmend wiederholt
(S. 82). „Als das wirksamste Mittel aber, welches das Individuum befähigt,
einen emotionalen Zustand, von dem es selbst beherrscht wird, weiteren
und immer weiteren Kreisen von Anderen mitzutheilen, — stellt sich das
Kunstwerk dar'' (S. 8ö). Das Kunstwerk ist also das Erzeugnifs und zu-
gleich das Mittel des unmittelbaren emotionalen Ausdrucksbedürfnisses,
des Strebens nach einer Verstärkung oder Erleichterung der individualen
Emotion durch die „sociale Resonanz. "^ Dafs die Kunst als eine sociale
Erscheinung aufgefafst werden mufs, ist sicherlich eine Wahrheit, aller-
dings keine ganz neue. Aber wenn H. sagt, dafs „selbst die Production
der individuellsten und einsamsten Künstler nur durch sociologische Be-
trachtungen erklärt werden kann" (S. 101) ; so darf man vielleicht mit noch
gröfserem Rechte behaupten, dafs selbst die populärste und vulgärste Pro-
duction nicht nur aus sociologischen Betrachtungen erklärt werden kann.
Der erste und gewifs nicht unwesentlichste Theil der künstlerischen Pro-
duction, die eigentliche Schöpfung im Gegensatze zu der späteren Aus-
führung liegt durchaus innerhalb der Grenzen des individualen Lebens;
ganz aufserhalb des Bereiches „sociologischer Erwägungen." H. hat in der
That nicht sowohl die Schöpfung als die auf sociale Wirkung berechnete
„Elaboration" im Auge, wenn er den beruhigenden und befreienden Ein-
flufs rühmt, den die productive Arbeit auf den emotional erregten Künstler
ausübt. — 7,Nur in ganz directen Bethätigungen wie in den einfachsten
Gesängen, Tänzen und Dichtungen" giebt sich der Kunsttrieb unmittelbar
als das lebenerhaltende emotionale Ausdrucksbedürfnifs zu erkennen.
„Aber es lälJBt sich nicht verbergen, dafs diese Auffassung, soweit die
Malerei, die Sculptur und die höheren Formen der Poesie in Betracht
kommen, ausschliefslich auf hypothetischer Grundlage ruht" (S. 114). Die
Annahme kann jedoch bewiesen werden, indem man zeigt, dafs auch die
höchsten Manifestationen der Kunst allgemein und wesentlich nach ihrem
emotionalen Ausdrucks werthe beurtheilt und geschätzt werden (S. 115).
Dieser Beweis ist denn auch versucht worden ; allein um auch nur einiger-
maafsen überzeugend zu wirken, hätte er mit ganz anderem Ernste durch-
geführt werden müssen. Indessen der Satz, der bewiesen werden soll, ist
falsch: — die emotionale Ausdrucksfähigkeit ist keineswegs die „distinctif
quality" eines Kunstwerkes, denn diese theilt die Kunst mit anderen nicht
künstlerischen Ausdrucksformen; ihre wesentliche Eigenart besteht viel-
mehr darin, dafs sie die Emotionen in einer ästhetischen Form aus-
drückt. Der „Kunsttrieb" ist Nichts weniger als emotionales Ausdrucks-
28*
436 UieratwHfericht
und Mütheiltingsbedürfixirs schlechthin; aondem er richtet «ich «vf eine
besondere, nämlich die ästhetische, Form des Ansdruckes. U<dM9ens ftklk
und gesteht H. selbst die Unzulänglichkeit seiner Brklftntng. „Wir kOuMi
einen lyrischen Tanz, oder selbst einen lyrischen Gesang als UBmitteU)ta
Ausbrüche eines emotionalen Druckes betrachten, der ohne Ableitung &tm
Organismus gefährlich werden würde. Aber wir können uns kaum vor
stellen, daHs irgend ein Mensch im Stande sein sollte z. B. ein voU an-
gebildetes Drama zu erfinden, nur um dadurch in der wirksamsten Weiie
das Grefühl mitzutheilen, von dem er beherrscht ist. Und noch acbwierigv
ist es zu verstehen, wie das Bedürfnifs nach socialem Ausdrucke, Pein n
seiner eigenen Befriedigung, so hoch entwickelte Kunstformen wie Makiei
und Sculptur hätte schaffen können." — n^i^ 0in<l daher gezwungen, bm
anderwärts nach dem Ursprung und der Entwickelung des concretea
technischen Mediums umzusehen, dessen sich der Künstler für seiaeii
Zweck bedienf* (S. 145). H. meint die Entstehung und Entwickelung der
künstlerischen Formen „aus den Beziehungen der künstlerischen Thidgkdt
zu den wichtigsten biologischen und sociologischen Aufgaben des Lebens'
erklären zu müssen (S. 147) ; und er glaubt am Schlüsse seiner Untersuchung;
dafs es ihm gelungen sei, „auf diese äufseren »Ursprünge« (origins) einige
der wichtigsten Eigenschaften zurückzuführen, die wir an einem Kmiel-
werke schätzen. Auf diesem Wege ist es uns möglich zu erklären, wie
verschiedene Vorzüge der Kunst, wie sie uns bekannt ist, von den primi-
tiven Bedürfnissen abgeleitet sein mögen, denen sie diente ; wie z. B. die
Klarheit (lucidity) der Kunst ihren Ursprung in der Verwendung der Kunst,
Belehrung zu vermitteln , haben kann ; wie sich die sinnlichen und an-
ziehenden Eigenschaften aller Kanst aus dem Bedürfnisse €rnnst zu ge-
winnen herleiten lassen; wie die Macht der Kunst, den Geist an stftrka
und zu erregen, ein Erbtheil aus den Tagen sein kann, als der Künskkr
berufen war, seine Genossen zur Arbeit oder zum Kampfe zu ermuthigen.
Und endlich könnte man geltend machen, daüs eine höchst charakteristische
Eigenschaft der Kunst, die Einbildung (imagination), die in einem gewissen
Sinne Glaube an die Wirklichkeit des Unwirklichen ist (mag sie den
menschlichen Geiste angeboren sein oder nicht), ungeheuer durch die Ver-
wendung der Kunst für die Zwecke der Magie erhöht sein mag, die dse
Sichtbare und das Unsichtbare verschmilzt" (S. 305). In Wirklichkeit findet
man in den Ausführungen über die Beziehungen der Kunst zu verschiedenes
praktischen Zwecken, welche die zweite Hälfte des Buches füllen, Nichli
von einem solchen Nachweise; wohl aber eine Menge von intereesanteo
und theil weise werth vollen Bemerkungen, die allerdings weniger für die
Kunstwissenschaft als für die Biologie und Sociologie Bedeutung haben.
Namentlich die Capitel über „Animal Display" und „Art and Sexual 8e-
lection" sind lesenswerth. — Als kunstwissenschaftliche Leistung gehftt
dieses Buch in die neuerlich häufig werdende Gattung von Arbeiten, weldie
die Kunst zu begreifen glauben, indem sie um die Kunst hemmtasten.
Ebnst Gbossb (Freiburg i. B.).
LiUraturbeHcht 437
J. TtBUBOL Xir Piyciolagia des WUltlS. Wünbnr?, Stahel'Bcke VerHtg»^
anstalt, 1900. 181 S. Mk. 1,80.
lyw V«rl. behandelt im ersten Theil des Buches die Frage naeh dem
Wesen des Willens. Der Wille soll mit dem Schmers (Schmerzgefühl)
identisch sein. Das ist der Grundgedanke des Buches, auf den die weiteren
Ansfilhrungmi immer wieder surückkommeu. Ich glaube nicht, dafs diese
Anlfassang Anklang finden wird. Ebensowenig wird die Ansicht des Verf.*s
dafs der Schmers positiver, Lust dagegen negativer Natur sei, durchdringen.
TüBKHSDf sucht uns vergeblich einzureden, dafs das, was wir innerlich als
L«st erleben, eigentlich nichts anderes als aufhörender Schmerz oder unter-
gehender Wille sei.
Der zweite Theil des Buches hat die Aufgabe die Beziehungen darzu-
stellen, in welchen die GefQhle zu dem übrigen Bewufstseinsinhalt stehen.
Der Verf. untersucht hier insbesondere die Frage nach dem Einflufs der
Grefühle auf die Entwickelung der geistigen Gebilde. Weiters bespricht er
die Ursachen, welchen die einzelnen Gefühle ihre Anwesenheit im Bewufst*
sein verdanken. Es sind die physiologischen, die pathologischen, und
intellectnelle Vorgänge aller Art, welche bei der Hervorbringung der Ge--
fflhle betheiligt sind. In betreff des Problemes der Willensfreiheit vertritt
der Verf. die Ansicht, dafs es keine Willensfreiheit giebt An die Unter«
snchung dieses Problems reiht sich dann eine Erörterung über die Ent*
stehung des Charakters und die Bedeutung desselben für den Lebenslauf
des Individuums. Hier steht der Verf. auf dem Standpunkt, dafs der
Charakter angeboren ist, und dafis Erziehung und Umgebung nur im be-
schränkten Maalse Einflufs auf die Ausgestaltung desselben gewinnen
können. Den Schlufs des Buches bilden Ausführungen über den Begriff
der Glückseligkeit.
Bemerkenswerth erscheint noch, dafs in dem Buche vielfach auch
metaphysische Aufstellungen vorkommen. Die metaphysischen Anschauungen
des Verf.*s sind nicht ohne Einflufs auf die Behandlung psychologischer
Fragen geblieben. Saxinoer (Linz).
Hbbmann Schwarz. Psychologie des Willens (zur Grandlegnng der Ethik).
Leipzig, Engelmann, 1900. 381 S.
Das Buch ist anziehend geschrieben und bietet dem Psychologen viel-
seitige Anregung. In übersichtlicher Weise werden die Erscheinungen
des Willenslebens behandelt und durch glücklich gewählte Beispiele er-
läutert. Ebenso flnden Fragen aus dem Bereiche der Gefühle im engen
Anschlufs an die Darstellung der Willensvorgänge ihre Erörterung. Be-
merkenswerth erscheint auch der metaphysische Standpunkt des Verf. 's.
Schwarz zeigt sich als ein entschiedener Gegner einer rein naturwissen-
schaftlichen Betrachtung des Menschen. Während man sich in der
Psychologie zumeist gewöhnt hat, unter Seele die Gesammtheit der seelischen
Vorgänge zu begreifen, vollzieht sich bei Schwarz wieder eine bedeutsame
Annäherung an die ursprüngliche Bedeutung des Seelenbegriffes. Die
Annahme einer geistigen Persönlichkeit als Trägerin der geistigen Functionen
und weiteres deren Beziehung zu einem persönlichen Gotte bildet wohl
den wichtigsten Punkt der Metaphysik Schwarz. Wir müssen es uns hier
438 Literaturbericht.
versagen, den metaphyBiflchen Ausführungen des Verf.*s ins Einzelne in
folgen.
In der Einleitung behandelt der Verf. den Gregensatz zwischen Natur-
zwang und Normzwang. Der Naturzwang ist entweder ein physischer oder
ein psychischer. Auch im letzteren Falle ist die psychische Person causal
beeinflufst (z. B. Motivzwang). Ist dagegen die psychische Person, insofern
sie aus sich nach selbständigen Gesetzen zu wirken vermag, die alleinige
Ursache gewisser seelischer Acte, dann spricht man vom Normzwang.
Gewisse Denkvorgänge stehen nun, wie die Logik zeigt, unter dem Norm-
zwang. Vielleicht giebt es analog auch Acte des Willens, die eigenen Ge-
setzen gehorchen. Das ist die Frage, die das Buch l(Vsen wilL
Der erste Theil des Buches (Lehre vom unteren BegehrungsvermOgen]
handelt von den Naturgesetzen des Willens und zeigt, wie weit im Gebiete
des Willens der naturgesetzliche Mechanismus reicht. Er umfafst die Acte
des Gefallens und Mifsfallens, Gefallen und Mifsfallen sind keine Gefühle.
Lust ist ein Gewertetes, kein Werten. Lust ist Object des Grefallens.
Aehnlich verhält es sich mit Unlust und Mifsfallen. Gefallen und Mifs-
fallen, die Acte des niederen Begehrungsvermögens sind die einfachsten
und ursprünglichsten Willensregungen. Sie haben ihren Ursprung in den
allgemeinen Willensanlagen. Alles Gefallen und Mifsfallen läfst Sättigungs-
unterschiede zu. Das Begehrte, das wir haben, sättigt unser Grefailen;
iBolange wir es begehren, ohne es zu haben, bleibt unser Gefallen unge-
sättigt. Ungesättigt nennen wir jenes Gefallen, das uns mit Wünschen
erfüllt, gesättigt jenes, bei dem das Wünschen aufhört. Entgegengesetzt
wie das Gefallen zum Wünschen, verhält sich das Mifsfallen zum Wider-
streben. Letzteres schwindet, wenn das Mifsfallen ungesättigt wird.
Wir können hier die Frage, ob die von Schwarz vorgenommene Um-
stellung der Begriffe vor der bisher waltenden Ansicht, nach welcher Ge-
fallen und Mifsfallen für Gefühlsreactionen gehalten werden, den Vorzug
verdient, auf sich beruhen lassen. Jedenfalls ist aber daran zu erinnern,
dafs als gemeinsames Merkmal aller Willensregungen gilt, dafs sie auf
Nieht-Daseiendes gerichtet sind. Ein Umstand, der beim Gefallen und
Mifsfallen nicht von Belang ist.
Die Aufgabe des zweiten Theiles des Buches (Lehre vom oberen Be-
gehrungsvermögen) besteht in der Aufdeckung der Normgesetze des
Willens. Das Vorziehen ist keine intellectuelle Operation; es ist vielmehr
ein höherer Willensact. Die Acte des Vorziehens (Lieberwollen) sind ebenso
wie die des Gefallens und Mifsfallens ursprüngliche Aeufserungen des
W^illensvermögens. Während aber diese unter dem Naturzwange stehen,
vollziehen sich jene nach autonomen Gesetzen. Hier ist die Grenze des
naturgesetzlichen Mechanismus im Willensleben. Das Vorziehen ist ent-
weder ein analytisches oder ein synthetisches. Dem analytischen Vor-
ziehen wird durch die Acte des Gefallens und Mifsfallens die Richtung
gewiesen. Diese lassen schon vorher erkennen, wo das Bessere liegt. Das
analytische Vorziehen tritt stets zu Gunsten des satter Gefallenden und
minder satt Mifsfallenden ein. Synthetisch ist das Vorziehen, das durch
seinen eigenen Act anzeigt, wo das Bessere liegt. Durch das synthetische
Vorziehen werden wir uns bewufst, was besser und was schlechter ist.
Literaturbericht. 439
Das synthetische Vorziehen prägt Würdeunterschiede. Das Bessere, das
flieh darch den Act dieses Vorziehens kundgiebt, ist das sittlich Bessere.
Wir stellen das Wollen persönlicher Werthe höher als das zuständlicher
Werthe und setzen das Wollen der Fremd-Werthe über das von allen
£igenwerthen. Mit der Elarlegung der Normen des analytischen und
synthetischen Vorziehens gewinnen wir den Begriff eines voluntaristischen
Apriorismus, der sich dem rationalistischen Apriorismus Kant's ergänzend
zur Seite stellt. Die Anerkennung eigener Normgesetze im Gebiete des
Willens bringt auch die Lösung des Problems der Willensfreiheit. Sie ist
einerseits eine deterministische, denn sie lehrt Determinirung der höheren
Willensacte durch Normzwang; und andererseits ist sie aber eine in-
deterministische, denn sie leugnet die Determinirung der höheren Willens-
acte durch Motivzwang. Es widerspricht keineswegs dem physikalischen
Gesetze der Energieerhaltung, dafs freie Wesen mit spontanen Acten das
Gewebe der natürlichen Ursachen durchbrechen. Das Gesetz der Energie-
erhaltung besagt nichts anderes, als dafs es kein perpetuum mobile giebt,
oder dafs es unmöglich ist, mit vorhandener physischer Energie neue zu
erzeugen.
Das Buch beschliefsen zwei Excurse, von denen der erste einen allge-
meinen Beitrag zur Lehre von den Gefühlen bringt, der zweite von der
Oentrirung der Vorstellungen durch das Gefallen und Mifsfallen handelt.
Saxingeb (Linz).
Alfred Eühtmann. Haine de Biran. Ein Beitrag xnr Geschichte der Meta-
physik und Psychologie des Willens. Bremen, M. Nöfsler, 1901. 195 S.
Das historische Interesse unter den gegenwärtigen Psychologen ist im
Allgemeinen nicht sehr stark. Man ist zu sehr mit der wachsenden Fülle
-von Problemen und ihrem grofsen Anhang von Einzelfragen beschäftigt,
als dafs man sich um deren Vorgeschichte viel kümmern könnte. Und
doch liefse sich wohl manche Mühe sparen, wenn man die Geschichte mehr
zu Rathe zöge. Denn nicht wenige Fragen sind von den Früheren weiter
gefördert worden, als wir anzunehmen gewohnt sind, und mancher frucht-
bare Gedanke, zu dem wir erst auf langen Umwegen gelangt sind, ist schon
früher ausgesprochen worden. Es ist darum sehr zu begrüfsen, dafs Küht-
MANN sich der keineswegs geringen Mühe unterzogen hat, die Psychologie
Maine de Biran's,' deren Grundgedanke in der voluntaristischen Psychologie
unserer Tage eine Art Auferstehung feiert, in zusammenfassender Dar-
stellung uns Deutschen näher zu bringen. Kühtmakn's Absicht ist dabei
keineswegs, die gesammten Gedankengänge des französischen Denkers in
allen ihren Einzelheiten darzulegen und kritisch zu erörtern. Vielmehr
beschränkte er sich darauf, die geschichtlichen Anknüpfungspunkte der
BiRAM'schen Philosophie, sowie ihren Entwickelungsgang nur in den Grund-
zügen darzulegen, nicht ohne Leben und Lebenskreis des Philosophen zu
beschreiben. Dagegen behandelt er diejenigen Fundamentalprobleme seiner
Philosophie ausführlicher, deren Ausprägung M. de B. selbst als seine
werthvollste Gedankenarbeit betrachtet hat, wie das Verhältnifs des Wollens
zum Empfinden und Vorstellen, Apperception und Aufmerksamkeit, die Ur-
sächlichkeit des Willens und das Causalproblem und den WUletv «As C^wtx^-
punkt des ethischen Problems.
440 LUeratwrbencht.
Als Ausgangspunkt M. i» B/s ist der auf Locxb sich stütacad» Co*-
KiLAC XU betrachten, nicht sowohl in positiTem, alsrielBaehr m negstiTsn
Sinne. Dieser consequenteste Vertreter des Sensualismus ist ihm „die all-
gemein anerkannte Autorität, der wichtigste (Gegner, in dessen psyehdogi-
schem Ausgangspunkte alle IrrthAmer der sensualistischen Biehtungen ein-
geschlossen liegen.'' Gegen ihn erhebt er den Vorwurf, ndtkSa er allein aoi
der sinnlichen Empfindung, die der Menseh mit den Thieren theilt, alle
weitere seelische und geistige Thfttigkeit ableitet und die ActiTitftt des Bt*
wufstseins vemachlftssigt" und damit „den Willen den Empfindungen unter-
ordnet, von denen er Anstofs und Bichtung empfangen soll." CoMnnjjurs
Grundsatz, dafs alle seelischen Erscheinungen im Grrunde nur umgewandelt»
Empfindungen seien, ist ihm „nichts weiter als eine abstracte Hypothese;
und wenn dieser Philosoph alle Seelenkrftfte und die primitiven Erkennt-
nisse aus der transformirten Empfindung ableiten zu können glaubt» wo
setzt er eben stillschweigend das Persönlichkeitsbewufstsein oder das Ich
als in der Natur der Seele selbst oder des empfindenden Snbjects pii-
existirend voraus^. M. de B. sieht seinerseits die psychische Grundthat*
Sache in einer anderen Erscheinung. Die keines Beweises bedürftige, vos
Jedem anerkannte Thatsache des Selbstbewnüertseins ist fflr ihn die Fähig-
keit, eine Muskelbewegung willkürlieh ausführen zu können, die gewollte
Anstrengung, der effort voulu. In der Sinnesempfindung, GoiimLLAc's Ur*
phänomen, fühlen wir uns nur passiv ; unsere Activität kommt dabei nicht
zur Geltung. „Den effort voulu bilden zwei Glieder eines VerbftltnisseB^
die nicht von einander getrennt werden können, ohne ihre Natur zu ändern,
un seul rapport ä deux termes, oder zwei Elemente, die gleichzeitig wahr-
genommen werden und demnach die ursftchliche Verbindung des Willeni
mit der Bewegung in der unmittelbaren inneren Apperception unzweifelhaft
machen." „Aber ebenso sicher unterscheidet die innere Apperception die
beiden Glieder (termes) von einander. Jeder freiwillige Bewegungaact
trennt sich in den Widerstand des Muskels (rösistance organique, Sensation
musculaire) und in eine hyperorganische Kraft (force hyperorganiqae)."^
„Die Kraft, die angewandt wird, um den Körper zu bewegen, ist eine
thätige Kraft, die wir Willen nennen. Das Ich identificirt sich mit ihr
vollständig'^ und „unterscheidet sich daim als Ursache von der ansgeführten
Bewegung als Wirkung." „Dieses Ichbewufstsein = Persönlichkeitsbewolit-
sein = Wille ist toto genere von dem einfachen Bewufstsein einer Sinnee-
empfindung verschieden" und geht dem Thiere ab. Allen psychologischen
Thatsachen entsprechen stets physiologische, „aber sie laufen nur parallel,
sind nicht aus einander ableitbar."
Für dieses Grundprincip suchte M. db B. in der Geschichte der Philo-
sophie theils übereinstimmende Anschauungen, die ihm als Bestätigong
dienten, theils gegensätzliche Auffassungen, an denen er die Festigkeit
seiner Ansicht prüfen konnte. In knapper Form zeigt der Verf., wie M. db B.
sich zu Cabtbsiüs stellte, wie zu Hobbes und Gassbndi, zu 'M.äusbkxscee,
Locke, Bacon, Hume, Leibniz, zu den Philosophen der Berliner Akademie,
zu Kant, Schelling, Bouterwek und zu der Physiologie seiner Zeit
Dieses IcVibe^w^Xae^ü \a\» ^% ^tvo^x^ ^v»yci3:V<^M di<d ErkenntnüsqueUe
für die abstracten TXi^\A^\iiÄ\ac\3Ä\v ^^^^^ ^«t "^x^^Naxa.^ ^isst ^'LssJss^^»^
lAteraiurbericht 441
Identitit» der Urssebe und Wirkung, welche durch die Analyse der Vernunft
mm der ursprünglichen BewnÜBtseinsthatsache als dem nächstliegenden und
b«0tgekannten Erfahrungsmaterial abstrahirt werden.
An diese Darlegung der BmAN'schen Psychologie und Metaphysik reiht
BL eine Biographie des Philosophen, die uns ein anschauliches Bild von
der auch rein menschlich interessanten Persönlichkeit dieses feinsinnigen
Denkers geben. Im darauffolgenden Abschnitte wird die Literatur über
ihn zosammengestellt, nicht ohne gelegentliche kritische Stellungnahme.
Entgangen ist der Findigkeit des Verf.*8 nur der von Ernbst Navillk
stammende umfangreiche Artikel über M. de B. im Dictionnaire des sciences
phüosophiques, herausgegeben von Ad. Franck, und damit auch die daselbst
mitgetheilte Literatur, welche neben einigen von K. aufgeführten Er-
scheinungen noch einen Artikel von Jules Simon in der Revue des deiuß
mandes, 16. Nov. 1841^ und ein Buch: M. de B., sa vie et ses pens^es, 1857
(2. ed. 1874) enthält, dessen Autor aus dem Zusammenhang nicht deutlich
ersichtlich ist. In Gumposch, Die philosophische Literatur der Deutschen,
Regensbnrg 1851, fand ich endlich noch erwähnt L. A. Gbüter, Du spiri-
tnalisme du XIX. siäcle on examen de la doctrine de M. de B., Brux. 1840
(TissoT, Observations critiques). Die nächsten Capitel bringen sehr inter-
essante Hinweise auf übereinstimmende Ansichten bei englischen Philo-
sophen, wie Bbid und anderen Edinburgern, Bain und Spencer, und auf
die Kritik, welche besonders Hamilton an M. de B.'s Theorie geübt, sowie
auf die Wiederkehr und Umbildung seiner Gedanken bei Schopenhauer und
WuNDT, welchen Beiden gemeinsam ist die Bedeutung, die sie der psycho-
logischen Betrachtung des Verhältnisses zwischen der äufseren und inneren
Willenshandlung beilegen, bei M. de B. der einzigen Strafse, bei Sch. und W.
der wichtigsten Strafse, welche zu einer metaphysischen Weltanschauung
führt (S. 8).
Den Schlufs des Buches bildet eine Prüfung der „inneren Folgerichtig-
keit der theoretischen Probleme und der Festigkeit ihrer Fundamente", so-
wie eine Schlufsbetrachtung, in welcher der Verf. seine eigene philosophische
Stellung skizzirt. Um unser Urtheil zusammenzufassen, sehen wir in dem
anziehend und meist klar geschriebenen Buche einen dankenswerthen Bei-
trag zur Greschichte der Psychologie. M. Offner (München).
A. W. Tbbttibn. Creepiftg and Walking. Amef\ Jaum, of Psych. 12 (1), 1—57.
1900.
Auch diese von Stanley Hall angeregte Arbeit erwirbt ihr Material
über die Entwickelung des Kindes bis zur Erlernung des Gehens vor Allem
aus Fragebogen, die allerlei Beobachtungen des ganzen motorischen Ver-
haltens des Kindes von der Geburt bis zu jener Periode sammeln wollen.
Wo es sich um die äufseren Bewegungen handelt, ist diese Methode natür-
lich hier sehr gut am Platze. Mifslich wird die Sache schon wieder, wenn
die Analyse des Willensvorganges der Kinder in Frage kommt. Nach Zu-
sammenstellung der Anatomie und Physiologie über Maafse, Stellung und
Bewegungen des Embryo etc. und Darlegung der BALDwiM*schen Theorie
über die Entwickelung der Willkürbewegung, werden an der Hand jener
Mittbeilnn^eii das Liegen, Sitzen, Kriechen und fioiv«\i%<& ^^TVtEAVVH^ ^^\\r
442 Literaturhericht
bewegangsmittel incl. der ersten Gehversuche beschrieben. Anch wird tot
Allem die schliefsliche Hauptfrage discutirt, ob dieses erste Grelingen immer
willkürlich sei in dem Sinne, dafs die Aufmerksamkeit dabei der Bewegong
zugewandt ist, oder ob der Mechanismus nicht schon gleich im alleinigen
Hinblick auf einen höheren Zweck, z. B. Erreichung femliegender Gegen-
stände, nach entsprechender Entwickelung der Anlagen ohne auf die B&
wegung gerichtete Aufmerksamkeit nebenbei wie sonst nach der Einübung
ablaufen könne, was vom Verf. behauptet wird. Natürlich ist der sichere
Nachweis für ein solches ausschliefsendes Urtheil, zumal auf Grund fremder
Beobachtungen, immer schwer. Auch ist die Einübung von Associationen
motorischer Vorstellungen mit ausdrücklicher Beachtung derselben in der
aufmerksamen Betrachtung anderer Personen der Umgebung vielleicht
nicht hinreichend berücksichtigt, welche Vorstellungen von Bewegungen,
die im Einzelnen schon grofsentheils geübt sind, ebenfalls zu einem neuen
Ganzen combiniren hilft. Gerade für diese Frage sind ja die gleichfalls
beigezogenen Kückfälle in die primitiveren Fortbewegungen lehrreich,
welche in der Eile eintreten, wo thatsächlich die Aufmerksamkeit gans
vom Zwecke absorbirt wird. Die Arbeit schliefst mit philosophischen
Betrachtungen über den rückläufigen Abschluls der höchsten Entwickelang
in der Rückkehr zur kriechenden Stellung im Gebete.
WiRTH (Leipzig).
P. Näcke. Zar Pathogenese and Klinik der Wadenkrimpfe. Ncurologvschei
Centralblatt (7), 1—7. 1901.
Den Wadenkrämpfen hat besonders F£b£ seine Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Er nimmt als Ursachen heftige Verkürzung der Muskeln oder
eine Entspannung an, wobei Ermüdungszustände, nämlich nervöse, hysterische,
epileptische, namentlich paralytische begünstigend wirken. Nach N. tragen
heftige Verkürzungen und fehlerhafte Bewegungen die Schuld. Sie treten
vorwiegend des Nachts auf, ferner nach langen Märschen, Schwimmen,
Tanzen, bei heftigem Stiefelanziehen. Dafs chemische Heize eine grofse
Rolle dabei spielen, sehen wir aus den häufigen Wadenkrämpfen bei Cholera,
Diarrhoe, Typhus, Diabetes, Blei-, Arsen-, Schwefel Vergiftung, desgl. bei
Magenüberfüllung, Obstipation, Schwangerschaft, ebenso bei Hysterie, Epi-
lepsie. Das allen Beiden Gemeinsame liegt in der abnormen Beschaffenheit
des Blutes: Blutverdickungen und Stauungserscheinungen. Doch ist nicht
erklärlich, weshalb die entsprechenden Wirkungen sich gerade in der Wade
fühlbar machen sollten. N. zeigt, dafs die Theorie der Wadenkrämpfe über-
haupt noch wenig ausgebildet ist. Jedenfalls sind die Crampi peripher be-
dingt, central gewifs nur selten. N. hält die von Vold angeführten Fälle
über die Beziehungen zwischen Wadenkrämpfen und Traumhallucinationen
für wenig zuverläfslich, da der Krampf so urplötzlich und heftig einsetse,
dafs man gewöhnlich sofort aufwacht, so dafs also die Auslösung irgend
eines Traumes unwahrscheinlich wird. — *
Dafs ein gefühlsbetonter Körpertheil in der Traumwelt des Besitzers
dessen Vorstellungen und Bilder beeinflufst, gehört ja zu den Grundthat-
Sachen des TTa\xmi.\XÄ\ÄXi^^^. \i^^^ v^^doeh Wadenkrämpfe oder Abortir-
krämpfe (Kr&mpie m N^^da xxxA'BwV^ ^\^ ^ ^x^\!\a»«.\iXij^ \^ä ^s^^«;§«%s^^de
Literaturbericht 443
Traumbildär geben, hat Ref., der häufig an Abortivkrämpfen leidet, trotz
seiner umfassenden Traumbeobachtungen noch nicht feststellen können,
weshalb er N. Recht geben muls. Gibssleb (Erfurt).
G. Stöbrino. Yorlesingen ttber Psychopathologie in ihrer Bedeatang für die
normale Psychologie mit Einschlnfs der psychologischen Grandlagen der
Erkenntnifstheorie. Leipzig, Engelmann, 1900. 468 S.
Mit dem vorliegenden, Wilhelm Wundt gewidmeten Werke wird uns
eine werthvolle Arbeit dargeboten, die auf eine jahrelange Beschäftigung
mit dem Gegenstande zurückschliefsen läfst und die nicht verfehlen wird,
nach manchen Seiten hin Anregung zu neuen Studien zu erwecken. In
25 Vorlesungen sucht der Verf. darzulegen, was der Titel verheifst. Dabei
handelt es sich um die Bedeutung, welche die allgemeine Psycho-
pathologie für die normale Psychologie hat, die specielle, welche nur ein
rein medicinisches Interesse darbietet, bleibt von der Behandlung ausge-
schlossen. Da es unmöglich ist, auf alle Einzelheiten des reichhaltigen,
durch eigene und fremde Erfahrungen illustrirten Inhaltes einzugehen, so
beschränken wir uns darauf, im Allgemeinen den Standpunkt zu charakteri-
siren, den der Verf. vertritt, ohne uns auf Kritik einzulassen.
Die Psychologie ist dem Verf. die Wissenschaft von den Bewufstseins-
vorgängen. Sie hat diese zu analysiren und die Gesetze ihrer causalen
Beziehungen festzustellen. Bei der Feststellung der letzteren kann von
den sogenannten unbewufsten Vorstellungen nicht abgesehen werden, ob-
wohl diese nicht im selben Sinne Gegenstand der Psychologie sein können
wie die Bewufstseinsvorgänge. Grundbedingung für die Analyse und Fest-
stellung der Abhängigkeitsbeziehungen ist das klare und deutliche Piervor-
treten der zu untersuchenden psychischen Phänomene. Die Analyse kann
eine subjective, introspectiv sich vollziehende oder eine objective, das
Experiment und, wie bei Gefühlen und Willensacten, die körperlichen Be-
gleit- und Folgeerscheinungen zu Hülfe nehmende sein. Bei den Abhängig-
keitsbeziehungen sind solche von physischen und andere von psychischen
Vorgängen zu unterscheiden. Im ersten Falle wird die experimenteile Be-
handlung um so mehr erschwert, je complexer der Vorgang ist. Hier sind
die pathologischen Fälle heranzuziehen, in denen die Natur für uns experi-
mentirt, und die mehr die complexen psychischen Phänomene betreffen als
die einfachen. In diesem Sinne stehen Psychopathologie und normale
Psychologie in Wechselbeziehung zu einander, die eine kann nicht von der
anderen absehen. Wie pathologische Fälle einerseits psychologische That-
sachen zu erklären im Stande sind, giebt es andere, die selbst der Er-
klärung seitens der Psychologie bedürfen. So eröffnet die Psychopathologie
zugleich oft neue Fragen zu neuen Problemen.
Ueber die Frage, welche Bedeutung der anatomisch -physiologischen
Betrachtungsweise hier zukommt, äufsert sich der Verf. nach einer längeren
Ausführung zusammenfassend dahin, „dafs die Verfolgung der psychischen
Vorgänge vorDehmUch auf der psychiBchen 8ft\lft %,feftcYÄ\ÄXi \siw^%, ^^Sa
444 LüeratwfberickL
lü^er die Analyse hftaflg anteratütrt wird durch Zahfilfonahjne pkyeiolec^iBcber
Fftctcren und in einaelnen Fällen ohne dieselbe anmöglich ist^
Dem Vorstehenden sei noch hinzugefügt,^ daüs der Arbeit ein naifaiig-
reiches Literaturverzeichnifs angehängt ist. Kibsow (Turin).
L. Löwenfeld. Der Hypnotismiu. Handbacb der Lebre ioa der HypBeta ul
der Snggestiom mit besenderer BerttcksicbtlgttiiK ibrar BedMtug flr
ledicil and Rechtspflege. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1901. 522 S.
Nach einem lehrreichen Ueberblick über die Geschichte des Hypnotis-
mus geht Verf. zum eigentlichen Thema über. Dabei setzt er ein bei dem
mehrsinnig gebrauchten und deshalb leicht zu Irrthümer führenden Begriff
der Suggestion, die er selber definirt als „die Vorstellung eines psychischen
oder psychophysischen Thatbestandes, welche in Folge von Beschränkung
oder Aufhebung der associativen Thätigkeit durch Herbeiführung dieses
Thatbestandes eine aufsergewöhnliche Wirkung äuüsert." Je nach dem
Entstehungsmodus können wir directe und indirecte, Fremd- und Anto*
Suggestionen unterscheiden, je nach dem Verhalten zum Bewulstsein be-
wuTste und unbewufste (oder unterbewufste) ; scblielslich trennt man noch
Wach- von hypnotischen und posthypnotischen Suggestionen. Nachdrück-
lich hebt er hervor, dafs der Suggestion ein gewisser, verschieden aus-
geprägter Zwangscharakter anhaftet. Suggestibilität umschreibt Verf. als
die Neigung zur Bildung von Suggestionen auf äufsere oder innere An-
regungen; sie ist eine Disposition der Psyche, welche sich im^ Ausfall oder
in einer Abschwächung der associativen Thätigkeit gewissen Vorstellungen
gegenüber, d. h. in kritikloser Annahme gewisser Vorstellungen äulsert.
Man mufs hier die normale von der abnormen oder gesteigerten Suggesti-
bilität trennen. Der Typus der letzteren ist die Hypnose, die keinen
krankhaften, insbesondere hysterischen, sondern nur einen arteÜcieU er-
zeugten, eigenartigen, physiologischen Zustand darstellt, der durch g^
steigerte Suggestibilität ausgezeichnet ist und dem natürlichen Schlafe
nahe steht. L. bezeichnet die Hypnose geradezu als einen Zustand par-
tiellen Schlafes. Jeder geistig gesunde Mensch läfst sich hypnotisiren»
d. h. durch Hypnotisirungsproceduren in irgend einen Grad des hypnoti-
schen Zustandes versetzen, wie zuerst und mit Nachdruck Fobel betonte.
Natürlich ist die Hypnotisirbarkeit individuell recht verschieden und von
den verschiedensten äufseren und inneren Momenten abhängig. Zutreffend
wird dabei hervorgehoben, dafs Geisteskranke sich schwer hypnotisiren
lassen.
Bei der Technik der Hypnotisirung unterscheidet Verf. trotz der
scheinbar aufserordentlichen Mannigfaltigkeit der hypnosigenen Mittel
sensorielle Reize (Fixation, mesmerische Striche) und die directe Erwecknn^
von Schlafvorstellungen (durch verbale Eingebung oder auf anderem Wege".
Die letztere, die suggestive Methode, ist gegenwärtig am meisten verbreitet.
Die für die Einleitung der Hypnose zutreffenden Vorbereitungen und ihre
verschiedenen Modificationen werden ausführlich geschildert, insbesondere
die Methode von Bern heim, die vom Verf. und die sogenannte fractionirte
Methode von Vogt.
Sehr eingeYi^tvd -^'^x^eu \i'öääi\\\Ocv ^\^ -s^wÄäKvsÄÄxsfija. ^^^^dci^s^^i^^ und
Literaturberiekt 446
«taaatMcflien firscbeiiiiiiigeii der normalen Hypnose abgehandelt ; besonders
ietenswerth ^werden für die Leser dieaer Zeitschrift die Ausfflhnmgen über
&ftpfindiing88töningen, Hallucinationen and negative Hallacinationen sein,
"welch* letztere Verf. „selective Anästhesie" zu benennen vorschlagt.
Den Erscheinungen der normalen Hypnose stehen gegenüber die der
IMkthoIogischen Hypnose, die im Grolsen und Ganzen als Mischformen
von Hypnose und hysterischen Zuständen aufgefafst werden können.
Natürlich giebt es flielsende Uebergänge zwischen normalen und patho*
logischen Hypnosen wie die hypnotischen Zustände, in deren Verlauf som-
nambule Träume auftraten.
Von besonderem Interesse sind auch für den Laien die posthypnoti-
flchen Erscheinungen und hier vor Allem die mit längerer Verfallzeit
(Suggestion k ^ch^ance). Seine Ausführungen belegt Verf. mit einer Keihe
von zum Tbeii geradezu frappanten, fremden und eigenen Beobachtungen.
Das Experiment gelang hierbei, auch wenn die Verfallzeit Monate dauerte,
und die suggerirte Handlung noch so fremd und eigenartig war. In einem
mitgetheilten Falle realisirte sich die Eingebung genau nach 4335 Min., wie
suggeriert war.
Die weiteren Capitel über au fserge wohnliche Erscheinungen des
Somnambulismus und der Hypnose verwandte Zustände können wir hier
füglich übergehen, da die vom Verf. geschriebene und das gleiche Thema
behandelnde Arbeit „Somnambulismus und Spiritismus" bereits früher hier
eine eingehende Besprechung erfahren hat. Er weist hierbei besonders
scharf die Meinung zurück, als ob die Hypnose eine Art von arteficiell er-
zeugter Psychose sei; gegen eine Gleichstellung mit der Demenz spreche
die Möglichkeit geistiger Thätigkeit und das Verhalten des Gedächtnisses;
von der Verrücktheit unterscheide sich die Hypnose dadurch, dafs wahn-
hafte Vorstellungen bei ihr nach Belieben erzeugt und beeinÜufst werden
können. Die gesteigerte Suggestibilität ist das Hauptcharakteristicum
hypnotischer Zustände, und die finden wir nur bei wenigen Geistes-
störungen und auch da nur in beschränktem Maafse.
Wie schon oben bemerkt ist, fafst Verf. die Hypnose als eine Form
partiellen Schlafs auf. Er nimmt dementsprechend auch an, dafs ihr die
gleichen physiologischen Veränderungen in dem functionellen Verhalten
der corticalen Elemente zu Grunde liegen wie dem natürlichen Schlafe.
Nun giebt es eine Reihe von Schlaftheorien. Wie Verf. aber ausführt,
kann nun die Annahme zutreffen, dafs für das Einschlafen ein Zustand
corticaler Anämie erforderlich ist, der gegenüber die Ermüdung eine weniger
vrichtige Rolle spielt. Sehr wahrscheinlich wird jene Schlaf anämie des
Gehirns durch Erregung eines vasomotorischen Centrums in der Medulla
oblongata, dem Schlafcentrum Voot's, zu Stande kommen. Bei der Hypnose
durch verbale Suggestion werden die dem Einschlafen vorhergehenden Vor-
stellungen erweckt, und diese erregen in Folge eines erworbenen func-
tionellen Connexes jenes vasomotorische Centnim. Eintönige Reize rufen
Ermüdung und damit Schlafvorstellung hervor. Mit dieser Auffassung
lassen sich die drei Hauptpbänomene auf psychischem Gebiete, die Ein-
schränkung der associativen Thätigkeit, die Herabsetzung der Willenaenergie
and die erhöhte Suggestihilit&t, erklären.
446 Literaturberieht
Zwei ansführliche Capitel sind der Bedeutung der Suggestion und
Hypnose für die Medicin und die Rechtspflege gewidmet, auf die an dieier
Stelle nicht eingegangen zu werden braucht, da sie eben vorwiegend deä
Praktiker und den Sachverständigen interessiren.
An dieser Stelle kommt mehr die Bedeutung des Hypnotismus für die
Psychologie in Betracht, die von den verschiedenen Autoren eine recht
verschiedene Beurtheilung erfahrt. Indes mufs man doch zugeben, dab
durch den Hypnotismus die Psychologie nicht nur um ein neues Capitel
bereichert ist, sondern auch unsere Erkenntnifs in den verschiedenen
psychologischen Gebieten erheblich gefördert wurde. Hinsichtlich der
normalen Psychologie haben wir mannigfache Aufklärung erhalten über die
Sinnespsychologie, in der Lehre von der Willensthätigkeit, vom Gedächtnüii,
von den un- oder unterbewufsten psychischen Thätigkeiten, sowie in der
Kenntnifs von den körperlichen Wirkungen seelischer Zustände. Noch
fruchtbarer wirkte der Hypnotismus auf die pathologische Psychologie, in-
dem er das Verständnifs anbahnte für den autosuggestiven Ursprung zah^
reicher hysterischer und anderer nervöser Symptome. Letzthin ist von
VooT die Anwendung der directen psychologischen Experimentalmethode
in gewissen hypnotischen Zuständen empfohlen worden, und die bereits
erzielten Resultate lassen noch manche bedeutsame Förderung erhoffen.
Schliefslich haben auch unsere Ansichten über Massen- und Völker-
psychologie aus der Lehre der Suggestion und der Hypnose reichen Nutzen
gezogen. Warum freilich die Massenpsyche, wenn wir die Masse als eine
geistiger Thätigkeit fähige Einheit betrachten, in der Regel suggestibler ist
als die Einzelpsyche, kann bisher noch nicht befriedigend erklärt werden.
Verf. legt grofsen Werth auf die Art der Suggestion. Die Suggestion der
Massen sei keine allgemein gesteigerte, sagt Verf. ; sie gehe nur in gewiesen
Richtungen über die Durchschnittssuggestibilität der sie bildenden Einzel-
individuen hinaus; sie sei mit anderen Worten im Wesentlichen electiver
Natur. So zeigen, um das an einem Beispiele darzuthun, die OonservaÜTen
in der Regel für die socialistischen Eingebungen nicht die geringste
Empfänglichkeit und umgekehrt. In Versammlungen wird die geistige
Persönlichkeit der einzelnen Theilnehmer eingeschränkt, und dem-
entsprechend ihr geistiger Horizont eingeengt; weiter wirken mit Vor-
eingenommenheit, die Gemüthsverfassung, der Mangel des Gefühls persön-
licher Verantwortlichkeit, die Nachahmungssucht. Kurz und prägnant
werden Erscheinungen der Massensuggestion auf religiösem, politischem,
wirthschaftlichem Gebiete, auf dem der Mode, Literatur und Kunst skizziri
Das dürfte genügen, um den Beweis zu erbringen, dafs Verf. das Ziel
erreicht hat, welches ihm bei der Abfassung der vorliegenden Arbeit vor
Augen schwebte, nämlich eine möglichst vollständige Darstellung des That-
sächlichen und Wissenswerthen auf dem Gebiete des Hypnotismus zu geben.
In der That fehlte es uns an einer dem derzeitigen Stande der Wissen-
schaft entsprechenden Darstellung, und Verf. war mit seiner reichen Er-
fahrung sicherlich der Berufene, diese Lücke auszufüllen. Die Form der
Darstellung ist anife^^Ti^*, ^\^ ^\\s>Kt\«v^«v!L >M\d Beobachtungen anderer
Autoren weiden ^ieT^eY«vc^\i\^^^. wxA YxSJCä^^ ^«^^^t'Cörx.x ^\ää ^^^««»«Js«.
Literaturbericht 447
der wichtigeren, seit dem Jahre 1890 publicirten Literatur ist beigefügt.
Bomit wird die Arbeit die gute Aufnahme finden, die sie verdient.
Ernst Schtjltzr (Andernach).
P. SoLLisB. Psychologie de Tldiot et de rimbicile. II. Edition. Paris, Felix
Alcan, 1901. 236 S.
Auf das interessante Werk von Sollieb wurde bereits im dritten Band
dieser Zeitschr. des Näheren hingewiesen gelegentlich der Uebertragung ins
Deutsche durch Bbib (Bd. UI, S. 240 f.). Sollibr*s Werk erschien in erster
Auflage im Jahre 1891, die deutsche Uebertragung im selben Jahre. Später
wurde es durch Gtoldbauh 1893 ins Polnische übersetzt. Jetzt ist die zweite
französische Ausgabe erschienen, die übrigens im Wesentlichen nur ein
Abdruck der ersten Ausgabe ist. Von der deutschen Uebertragung ist bis-
her die zweite Auflage nicht erschienen. Mit Unrecht. Das Werk verdient
wirklich weiteren Kreisen bekannt zu werden. Umpfenbach.
Wachsmüth. Cerebrale Kinderläbmang und Idiotie. Arch. für Psychiatrie 34,
787—841.
An der Hand von 22 Krankengeschichten kommt W. zu dem Resultat,
daCs Idiotie und cerebrale Kinderlähmung in Aetiologie, Symptomatologie
und vielleicht auch pathologischer Anatomie eine so grofse Zahl von Be-
rührungspunkten haben, dafs wir diese Thatsache nicht als zufällig und
oberflächlich auffassen dürfen. Belastung, Infectionskrankheit und Trauma
bilden in vielen Fällen für Idiotie und cerebrale Kinderlähmung die Aetio-
logie. Nicht jede Idiotie läfst sich aus der cerebralen Kinderlähmung, resp.
deren Initialläsion, die Encephalitis ableiten, — doch mufs man annehmen,
dafs die cerebrale Kinderlähmung viel häufiger ist, als durchschnittlich
angenommen wird. .Die Lähmung verschwindet häufig ganz. Lähmung
und geistige Schwäche laufen nicht parallel. Es giebt Fälle, die in geistiger
und körperlicher Beziehung zu einer restitutio ad integrum führen, —
andere, die psychisch keine dauernden Schädigungen erkennen lassen, wohl
aber auf körperliche Gebiete Lähmungen zeigen. Wieder andere Fälle
weisen psychische Schädigungen auf, aber keine somatischen, — während
schliefslich eine vierte Reihe von Fällen psychische und somatische
dauernde Störungen erkennen lassen. Umpfbnbach.
Bbbnabd Hollandeb. The Cerebral Localisation of lelancholia. Joum. of
Ment Science 47 (198), 458-4a5. 1901.
Herr Hollandeb hat die Psychiatrie um eine wichtige Erkenntnifs be-
reichert: die Melancholie sitzt im Scheitellappen. Melancholie wird ein-
gangs als eine Geisteskrankheit definirt, die ausschliefslich das Ge-
müthsleben afficirt, die Intelligenz aber unberührt läfst; dann wird jedoch
ganz kritiklos jeder als melancholisch bezeichnet, der deprimirt, traurig,
apathisch, ängstlich ist; doch H. thut ja nur, was viele Andere auch thun:
mit dem Worte Melancholie ist von jeher Unfug getrieben worden. Es
werden eine grofse Menge von Fällen aus der neueren und älteren Lite-
ratur referirt, eigene Beobachtungen scheinen H. nicht zur Verfügung zu
stehen. Darunter ßndet sich alles Mögliche*. ScYv^^\\m^T^«.%\öTk«ii, '^äStcl-
448 Literaturbericht
abscesse, Tumoren, Erweichungen, Hämatome der harten, Cysten der wefclMD
Hirnhaut, Leute, die „nebenbei" an progressiver Paralyse litten u. v. a.«.:
daneben wirklich Geisteskranke verschiedenster Art. Bei allen diesen
„Melancholischen'' war irgendwie der Scheitellappen des Gehirns oder die
darüber befindlichen Hüllen makroskopisch grob verändert.
Schröder (Heidelberg).
NicKB. Drei crlmintUmtbropolegiiclia TbemeiL Ärekkf für CriminaUmtiirüpd.
6, 360—371. 1901.
N. beantwortet die erste Frage: ob die Oriminahinthropologie mehr
zur Anthropologie oder zur forensischen Psychiatrie gehört^ gegen Lombiom
und sein Grefolge, welche dieselbe für eine Disciplin für sich erklären, die
offenbar am Nächsten zur Anthropologie gehört, — dahin, dafis das Ver
brechen eine antisociale Handlung ist, dals es keinen Verbrechertypiw
giebt, dafs zwischen Normalen und Verbrechern nur Quantitätsunterscbiede
aller Qualitäten bestehen, dals die Entartungszeichen keinerlei regelrechte
Combination zeigen, und dafs der Verbrecher als specieller Gegenstand der
eigentlichen Anthropologie ausscheidet. Die Criminalanthropologie gehört
der Methodik und der Untersuchung nach zwar zur Anthropologie, ihren
Hauptzweck nach aber zur forensen Psychiatrie. Dadurch .wird auch du
Hauptgewicht auf die Erforschung der physiologisch-psychischen Seite dei
Verbrechers gelegt. —
N. fragt dann weiter: giebt es zur Zeit praktische Mittel und Wege,
um Intellect, Affectsphäre und Moral zu messen? Intellect, Affecte und
Moral spielen beim Verbrechen eine Hauptrolle, meist wegen der Defe^
tuosität dieser drei Dinge. Ein specifisches Verhalten dieser Qoalititeii
iäfst sich nicht nachweisen. Den Normalen gegenüber handelt es sich ov
um Quantitätsunterschiede. Es kommt nur darauf an, wann obige Qnih-
täten so beschaffen sind, dafs eine Zurechnungsfähigkeit ansgescbloeeen
oder beschränkt ist. Ein sicherer Maafsstab für Intellect, Aifecte and
Moral fehlt uns, die Begriffe sind vieldeutig, nicht genau definiit Sie
stellen keine einfachen, sondern recht complexe Dinge vor. Beim Intellect
spielt die richtige Wahrnehmung des Keizes, die weitere Verarbeitong,
Association und Schlufsbildung eine grofise Rolle, ebenso das Gedächtnib-
Sichere Methoden für die Schlufsbildung fehlen uns noch, ebenso fflr den
sog. Willen. In Folge unserer stets unmerklich sich ändernden K()rpe^
beschaff enheit schwanken stets unsere Bewufstseinshelle und -weite, ebenso
unser Intellect, Gedächtnifs, Affect, Moral und Wille. Der Charakter ist
den gleichen Schwankungen unterworfen wie das Bewufstsein. Die Gefühle,
Affecte, das Temperament, der Untergrund alles seelischen Getriebes laseefi
sich nicht fixiren. Die affective Sphäre ist vielleicht im Geistesleben über
haupt das Ausschlaggebende, im Leben des Verbrechers spielt sie sich«'
die Hauptrolle. Geringe Affecte, verkümmertes Triebleben zeugen keise
Verbrecher. Affecte und Triebleben bestimmen, ob die Moral angelernt
oder in Fleisch und Blut übergeht. Sie beherrschen auch den Intdlect
Abetractes Denken, ^. Vi. o\vtv^ Qi^VMi3Ä«a^\«tv>\Tk%, vat unmöglich. Viele Seite«
der Affectöp\\Ä.Te ftm^ wtä xiwtV \mkiä^t\^^. ^^^^t >^s5wj&sw^gpSL vcfe^ ^iIöl
Literaturbericht. 449
schwankend, ein sicherer MaaXisstab fehlt bisher. Meist laufen Intellect
und Moral einander parallel, doch nicht immer ; ersterer unterstützt letztere ;
letstere geht daher als das psychogenetisch spätere Gebilde eher verloren.
Eine streng wissenschaftliche Messung des sog. Charakters des Menschen
ist zur Zeit unmöglich, wird es wahrscheinlich immer bleiben.
Die dritte Frage betrifft die Unterbringung geisteskranker Verbrecher.
Umppknbach.
J. M. Baldwin. Das sociale uid sittliche Leben erklirt durch die seelische
Entwickelmig. Nach der zweiten englischen Auflage übersetzt von
Dr. BtTBDBMANN. Durchgesehen und mit einem Vorwort eingeleitet von
Dr. Paul Barth. Leipzig, Barth, 1900. 461 S. Mk. 12.—.
Nachdem die erste Auflage des Werkes bereits in dieser Zeitschrift
besprochen erscheint, wäre eine nochmalige Inhaltsangabe überflüssig, und
es sei daher auf das diesbezügliche, von P. Barth verfafste Referat (19
(2. u. 3.), 239) hingewiesen.
Die Herausgabe des BALDWiN'schen Werkes in mustergültiger deutscher
Uebersetzung ist jedenfalls ein verdienstliches Unternehmen. In dieser
Form ist das Buch auch einem gröfseren Kreise von Lesern, die sich mit
den Gedanken Baldwin^s vertraut machen wollen, zugänglich.
SAxnfGER (Linz).
P. BsROBHANif. Sociale Pädagogik auf erfahrangswissenschaftlicher Grundlage
nnd mit Hfllfe der indnctif en Methode als aniforsalistische oder Kaltv-
Pädagogik dargestellt Gera, Hof mann, 1900. 615 S. Geb. 11,60 Mk.
Socialpädagogik, Culturpädagogik — neue Namen, ob auch neue Dinge ?
Klingt es doch beinahe, als wäre die bisherige Pädagogik unsocial und
unculturell gewesen, und Bbrqemann ist wohl im Stillen auch davon über-
zeugt. Denn er stellt sich die ideale und hohe Aufgabe, das gesammte
Leben eines Volkes zu versittlichen, womit doch wohl gesagt sein will, dafs
es bisher nicht so gewesen sei, sondern dafs man sich nur einzelnen
Theilen oder einzelnen Seiten dieses Lebens zugewandt habe. Er denkt
dabei hauptsächlich daran, dafs die Pädagogik sich in der Regel nur mit
den Unerwachsenen befasse, die Socialpädagogik aber auch über die Schule
hinaus mit den Erwachsenen. Des Pudels Kern liegt aber anderswo. Ein-
mal ist es in unserer socialistischen Literatur aus den Verhältnissen er-
wachsene Sitte, für die Massen gegen die Besitzenden und Gebildeten
einzutreten; dazu lenkte der Einflufs der collectivistisch- positivistischen
Philosophie Condovcet's und Comte's, sowie ihrer Schüler, durch Darwin*s
Lehren verstärkt, ebenfalls die Geschichte und andere Wissenschaften in
die Bahnen der Massenbewegung und des Generischen gegen das Indivi-
dualistische. BoüRREAU bestritt bekanntlich, dafs man ein Recht habe, von
^führenden Geistern" zu reden, und wollte nur eine führende Massen-
bewegung anerkennen, deren Erzeugnisse auch eben diese sogen, führenden
Geister seien. Berqemann gehört dieser Richtung an; doch zieht er die
änfsersten Consequenzen nicht. So wird das „Genie" nicht gänzlich
eliminirt, „aber in allen den Stücken, wo das Genie nicht Genie ist" —
kurz vorher tadelt B. die,, verschwommene AllgemeVnheW." wi ^«iiTi%Är!^.N^SiT!Äfö.
Zeitschrift für Psychologie 27. ^
450 Literaturbericht.
der Pädagogik — ,,i8t es ganz Kind seiner Zeit und seines Volkes» reprisen-
tirt es dessen Eigenthümlichkeiten ebenso wie jeder andere Mensch und
teilt die Schwächen und Vorzüge, die Vorurtheile und die Aufgeklärtheit
seiner Zeitgenossen." Die „Volksseele" oder die „sociale Psyche" spielt
zwar eine grofse Rolle, und wir werden versichert, dafs „die CoUectivseele
oder die sociale Psyche ebenso wirklich ist wie die Einzelseele." Freilich
nur in bildlichem Sinne : „was für die Einzelseele Hirn und Nervensystem,
das sind für die Collectivseele, für die sociale Psyche die natfirHchen
Lebensbedingungen." Nun, jeder Vergleich hinkt, dieser aber gleich auf
zwei Beinen. Bald darauf erfahren wir, „dafs die Volksseele von deo
individualen Seelen variirend und modificirend beeinflufst wird" und
schliefiBlich erhalten wir sogar das Zugestand nifs : „und jedenfalls bedarf
die sociale Psyche überhaupt einiger Individuen" — dies sind eben die
führenden Greister, — „um sich sammeln und selbstbewulst und energisch
auf bestimmte Ziele concentriren zu können." Man darf es uns Anderen
nicht verdenken, wenn wir zunächst, wenn es sich um Erziehung handelt,
mit dieser „socialen Psyche" als Abstractum noch als mit einer X-Grö6e
rechnen. Denn in unserer Erfahrungswelt — B. will ja nur auf dieser
seine Socialpädagogik aufbauen — „findet sich Cresellschaftsseele als Be
wufstseinsindividuum nicht". Das naturwissenschaftliche Denken hat eben
auch seine Metaphysik. Im Ganzen ist es nicht richtig, daCs die bisherige
Pädagogik den Menschen nicht als Mitglied der Gesellschaft {^ähv Troliuxör
des Aristoteles) betrachtet und gewerthet hat Sie hat sich von Ueber
treibungen ferngehalten wie „der einzelne Mensch ist nur als abstracter
Begriff denkbar, er existirt in Wirklichkeit nicht" oder „nur sociale Er-
ziehung kann ein sinnvolles Thun genannt werden". Aber sie war sich
stets die Beziehungen des Individuums zur Gesellschaft bewufist, und indem
sie mit Recht allein das Individuum für erziehbar hielt — anders wird es
künftig auch nicht werden — hat sie doch die Ziele dieser Erziehung stets
mit Rücksicht auf das Gemeinschaftsleben gesteckt und bestimmt.
Der Verf. legt besonderes Gewicht darauf, „dafs er die sociale Pädagogik
auf die breite Basis der Erfahrungswissenschaft stellt und durchgehende
auf dem sicheren Wege der Induction weiterschreitet Nicht aus irgend-
welchen kritisch-philosophischen oder sonstigen Voraussetzungen werden
pädagogische Principien hergeleitet, sondern die für die Erziehungslehre
in Betracht kommenden Grundsätze werden gewonnen als Ergebnisse, als
Consequenzen von Erfahrungsthatsachen, und zwar von Thatsachen der
äufseren Erfahrung."
Die Pädagogik auf den Boden der Erfahrung zu stellen ist gewiCs
richtig und kann fruchtbar sein, und inductiv denken ist meist ein sicherer
Weg ; aber diese Gedanken sind doch nicht neu, namentlich so weit es die
psychischen Processe und ihre Beobachtung im unterrichte betrifft; diese
Zeitschrift, die von Ziehen und mir herausgegebene Sammlung und andere
Schriften und Zeitschriften enthalten dafür Beweise in Hülle und Fülle.
Dafs wir aber trotzdem heute schon im Stande seien, ein System der
Pädagogik, ich sage absichtlich nicht der socialen Pädagogik, rein auf Er
fahrungen und Beobachtungen in ausreichender Menge aufzurichten, diese
Frage wird ^edei ktSnuen bestimmt verneinen. Da in BxBonAXN's Buch
Literaturbericht. 451
wie bei den meisten Erziehung sreformen der (Jnterricht bedeutend
hinter die Erziehung zurücktritt, so ist auch nicht daran zu denken, dafs
er etwa den Versuch gemacht hätte, den Unterricht anders als in grofsen
Zügen auf Erfahrungsthatsachen zu begründen. Diese Erfahrungsthatsachen
kommen vielmehr da in Betracht, wo es sich um Dinge wie den Aufbau
der geistigen und körperlichen Entwickelung handelt; dabei galten aber
den Anthropologen vielfach Hypothesen, selbst umstrittene — und welche
^äre hier nicht umstritten? — als Thatsachen, auf die Schlüsse begründet
werden, die allerdings ganz sicher correct sind, wenn man — nur erst ihre
Unterlage zugiebt. Nicht vereinzelt werden aber dabei Beobachtungen und
ihre Ergebnisse als Thatsachen verwandt, die lange nicht ausgedehnt und
umfangreich genug sind, um auf Allgemeingeltung Anspruch zu haben.
Selbstverständlich soll nicht bestritten werden, dafs in anderen Fragen der
Sachverhalt weit günstiger liegt, und dafs Bkrgemann auch recht hübsche
Dinge mit seinem Verfahren erarbeitet hat. Meines Erachtens hätte er
viel richtiger gehandelt, wenn er Fragen wie die Abstammung des Menschen
vom Affen noch nicht als wissenschaftliche Thatsachen verwerthet, und
wenn er so wenig begründete Hypothesen, wie dafs des Wachsthum des
Gehirns gröXsere körperliche Zartheit und eingeschränkte Fortpflanzungs-
kraft mit sich gebracht habe, und seiner Social pädagogik weggelassen hätte;
denn für diese ist es doch gänzlich einerlei, ob der Mensch vom Affen
stammt, oder ob das Wachsthum des Grehirns die Fortpflanzung beein-
trächtigt hat: Das System wird dadurch nicht haltbarer, und die heutige
„Individual- und Volksseele'^ dadurch nicht anders.
Seine materialistische Ansicht über Seele und Gottheit drängt er in
schroffer Weise hervor; dies ist ja allerdings seine Sache, er hält es für
seine Pflicht, und gar mancher wird den „Muth der Ueberzeugung" preisen,
der freilich heute nicht grofs zu sein braucht. Aber B. darf sich auch nicht
wundern, wenn sein Werk nicht die Verbreitung findet und die Wirkung
übt, die vielen Partieen desselben zu wünschen wäre. Denn die natur-
wissenschaftliche Methode vermag die eigentlich geistigen Vorgänge auch
nicht befriedigend zu erklären, und sie setzt mannigfach nur eine neue
Metaphysik an Stelle der bisherigen. Jedenfalls wird B. nicht viel Zu-
stimmung finden, wenn er die Forderung absoluter Religionsfreiheit seitens
des modernen Culturmenschen damit begründen will, „weil er weifs, dafs
in dieser Hinsicht Alles Gefühlssache und Phantasiewerk ist, dafs wir über
die letzten Dinge nichts wissen können, dafs die Religion nur eine Rand-
verzierung für das Leben bedeutet". Auch die geradezu feindselige Art,
wie er sich über Christus und Christenthum äufsert, erscheint mir insofern
ungerecht, als er selbst doch Duldung für seine von denen der meisten
Menschen weit abweichenden Ansichten fordert. Warum die verletzen, die
hierin anderer Meinung sind? Das Christenthum — und sagen wir auch
die Kirche — hat auf socialem Gebiete grofse Verdienste, und wenn es
hier nur langsam falsche Ueberlieferungen beseitigt hat, so hat es jeden-
falls weiser und erfolgreicher gehandelt, als unsere ^Socialpädagogen", die
neue ideelle Verhältnisse so schroff construiren, dafs sie ihre Ausführung
selbst so lange für unmöglich erklären, bis die ^vorhandene Gesellschaft
10*
452 Literaturbericht.
erst hinweggefegt und durch eine Gesellschaft ersetzt sein wird, die atif
ihre Fahne das Lösungswort geschrieben hat: alle für einen und einer fftr
alle." Für einen ruhigen Denker ist dieser Tag doch wohl noch unabsehbti
fem — übrigens im Wesentlichen nichts anderes als die Idealfordernng
des alten Christenthums.
Ebenso utopistisch ist meines Erachtens das Steckenpferd dieser
Socialpädagogen, die allgemeine Volksschule. B. fafist in sehr maaflBvollem
Sinne Vererbung und Variation auf, er unterschätzt nicht die Bedeotnng
der Dispositionen und das Milieus für die Erziehung und natürlich auch
für den Unterricht. Trotzdem ist aber die allgemeine Volksschule sein
Ideal. Das allgemeine Gerede von dem grofsen socialen Werte der allge-
meinen Volksschule mit ihrer versöhnenden Ausgleichung der Ciasseti-
gegensätze sollte man doch endlich einmal ruhen lassen, da es jeder that-
sächlichen Unterlage entbehrt. Der Süden Deutschlands hat im 19. Jahr-
hundert nie eine andere als die allgemeine Volksschule gekannt, und in
ganz Deutschland besitzt überhaupt nur V5 ^^^ höheren Schulen Vor-
schulen, in % gelangen die Kinder nach dem 3— 4 jährigen Besuch der
allgemeinen Volksschule. Ist es denn nun etwa im Süden oder im Norden
gelungen, die Ciassengegensätze aus der Welt zu schaffen? Nein, und es
wird der allgemeinen Volksschule nie gelingen, so lange nicht der social-
demokratische Zwangsstaat existirt, und selbst dieser wird es nicht können,
wenn er nicht die Cultur vernichten will. Dazu kommen aber gerade
neuerdings noch sehr interessante Erfahrungen, die jenem Gerede jeden
Boden entziehen. In Mannheim hat man, dem Phantom der allgemeinen
Volksschule zu Liebe, den Lehrplan in Rechen- und Realien Unterricht
etwas erweitert. Die Folge war, wie nach 15 jähriger Erprobung festgestellt
wurde, „dafs 66% ^^^ Schüler die Oberclasse nicht erreichten oder nicht
absolvirten. Da suchte man zu helfen mit der Gründung von Qualitftts-
schulen d. h. von 4., spätestens 5. Schuljahre ab sollten die besseren Schüler
jeder Classe ausgesondert, zu Eliteclassen vereinigt und nach einem er-
weiterten Lehrplan unterrichtet werden, während der grofsen Masse eine
bescheidenere Kost servirt würde." Kann es eine schlagendere Kritik för
die Utopie der allgemeinen Volksschule geben? Noch interessanter sind
die in München mit der allgemeinen Volksschule gemachten Erfahrungen.
Diese ist hier besonders rein durchgeführt; es giebt weder Vorschulen noch
Mittelschulen. „Die Münchener Volksschulen zählten in der IV. Classe
(4. Schuljahr) im Durchschnitt der letzten ö Jahre ungefähr 3000 Knaben
und in der VII. (letztes Schuljahr) 1000, d. h. '/» *ller unserer Knaben
wendet sich zunächst den Mittelschulen (Gymnasien und Realschulen) in.
Nun nimmt jedes Gymnasium in München in den letzten 5 Jahren im
Durchschnitt 160 Kinder auf. Die 4. Klassen (Tertien) zählen mit auffallender
Uebereinstimmung bereits nur mehr */» der Aufgenommenen, und an das
Endziel der Oberclassen gelangt nur Vi* Noch ungünstiger steht es an den
Realschulen, an welchen bei einer mittleren Aufnahme von 230 Schülern
per Anstalt und Jahr in der 4. Classe (Tertia) nur mehr % <^er ^^
genommenen und in der Oberclasse nur mehr Vs— Ve zu finden ist" Was
hilft es, daCs „d\^«e \ o\kA^O[iN2\<^TL ^\<^ ^vcLdfikT oller Gesellschaftselemente
Aufnehmen, vom ¥^TÄ\feTv\yva T»>axö. 'I^.^^^^jät^^ ^^t^ssl ;^'5asXfe\i5KxsÄ. ^^s^
Literattirbericht 453
TAglOhnerskind" daraas weglauft, sobald es überhaupt nur möglich ist?
Ist hier der Name »^allgemeine Volksschule" nicht geradezu ein Hohn?
Ich habe vorhin von dem socialdemokratischen Zukunftsstaate ge-
sprochen ; der Zwang in dem socialpädagogischen wäre nicht minder grofs.
Hier sollen die Lehrer der allgemeinen Volksschulen die Entscheidung er-
halten, ob die Schüler in eine höhere Schule übertreten dürfen oder nicht.
Und diese Tyrannei der Lehrer noch obendrein in einer Sache, in der
jeder vorsichtige Mensch gerne sich ein Urtheil erspart sieht, nämlich in
der Entscheidung über die mälsige Entwicklung eines Kindes. Diese
Tyrannei der Schule ist überhaupt heute eine grofse Gefahr, gerade wie
die der Aerzte. Unsere Socialmänner scheinen über ihren Utopien gar
nicht zu bemerken, dafs sie dabei nur für die Socialdemokratie oder für
die Kirche arbeiten; denn diese werden sich der geschaffenen Machtmittel
eines Tages zu ihren Zwecken bemächtigen. Mit nicht geringerer Macht
wird die „Gesellschaft" ausgestattet. Sie darf den Eltern, die ihre Kinder
nicht richtig erziehen, diese wegnehmen, und da die Erziehung mit der
Schule nicht aufhört, so darf sie auch das Halten von Dienstboten und
Lehrlingen verbieten, wenn Dienstherrschaften und Lehrherren nicht richtig
erziehen. Ja sogar die Ehe soll allen nicht völlig gesunden Personen von
der „Gesellschaft" verboten werden. Leider wird das Eheverbot nicht die
Kindererzeugung hindern, und darum ist es nicht nur thöricht, sondern
geradezu unsittlich; denn den Kindern wird der Makel der Unehelichkeit
und der Nachtheil einer jedenfalls nicht besseren Pflege als bei ihren ver-
heiratheten Eltern zugefügt. Vielleicht kommt ein späterer Sozialreformer
noch einmal zu dem Vorschlage der Castration ; der wäre wenigstens wirk-
samer und — consequenter. Dafs es auch ein Recht der Freiheit giebt,
davon weifs der echte Socialist nichts. Und wer ist diese „Gesellschaft",
die mit dieser Dictatur ausgestattet wird? Worauf wird die Unfehlbarkeit
ihrer Entscheidung begründet? In letzter Linie stets auf die Machtfrage
des sie volo sie jubeo, stat pro ratione voluntas.
An Erziehern fehlt es allerdings der socialpädagogischen Gesellschaft
nicht; dann, sagt B., alle Menschen sind Erzieher; er scheidet nur zwischen
beruf smäfsigen und gelegentlichen. Alle berufsmäfsigen Erzieher (Schul-
und Anstaltserzieher) stehen sich in Hang und Gehalt gleich, müssen ein
Gymnasium absolvirt und auf der Universität Pädagogik studirt haben.
Gewifs ein freundliches Bild, aber „es war zu schön gewesen" etc. Und
die gelegentlichen? Wie sollen sie auf die Höhen der Social pädagogik er-
hoben werden ? Durch die Presse und freie Vereinigungen zu Erziehungs-
zwecken. Wieder ein schöner Optimismus, der nur leider die Frage nicht
beantwortet, wie man eine Presse mit solchem Verständnifs für das Er-
ziehungswerk und solch' normativem Charakter schafft und — wer sie liest.
Bei der Erziehung wird dem Weibe eine bedeutende Rolle zugewiesen,
gewifs mit Recht. Aber die Begründung klingt seltsam „weil es dem kind-
lichen Typus näher stehe." Und nun kommen die anatomischen, physiolo
gischen und psychologischen angeblichen Minderwerthigkeiten des Weibes,
die man zum grofsen Theile doch nicht als erwiesene Thatsachen betrachten
kann, da darüber die gröfsten Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Würde ein verständiger und erfahrener Mensch etwa die erzieherische
454 Literaturbericht
Veranlagung des Weibes insbesondere für bestimmte Altersstufen in Abrede
stellen, wenn auch hundertmal bewiesen wäre, dafs dessen Gehimstructiir
und Gehimgewicht anders sei als die des Mannes?
Auch sonst lieCse sich über gar vieles streiten. B. hat zwar ganz mit
Recht die Ueberschätzung der Phantasiethätigkeit im frühen Kindesalter ver
worfen. Aber er geht nach der anderen Seite viel zu weit, wenn er i. B.
die Kindersprache lediglich ein Werk der Ammen und Mütter neoot;
denn zweifellos erfinden Kinder mit ihren eigenartigen Wortschatz. Eben»
ist es Uebertreibung, wenn er behauptet, das Kind sei in seinen ersten
Lebensjahren reiner Empirist, besitze gar keine Phantasie. Denn es ist
gar nicht zu bestreiten, dafs nicht wenige Kinder schon sehr früh die com-
binirende Thätigkeit üben.
Aber ich will nicht mit dem Bestreitbaren schliefsen. Abgesehen too
dem, was freilich für den Verf. das Wesentlichste ist, von den unsicheren
allgemeinen Grundlagen, auf denen das System ruht, ist das Buch dnrchaoB
werthvoll. Es enthalt einen reichen Schatz an erfahrungsmäüsigem Wissen,
und zwar an Wissen, wie es in den meisten Lehrbüchern der Pädagogik
fehlt. Es stellt eine Menge von Problemen, zu denen der Leser SteUung
nehmen mufs, es ist dabei klar und leicht verständlich; freilich die Schni-
terminologie, hier die naturwissenschaftliche, erhöht, wie in philosophisch»
Schriften die philosophische, öfter das Verständnifs nicht Es giebt end-
lich viele Lösungen von Erziehungsfragen, denen ich nur beistimmen kinn,
so sehr sie der gedankenlosen Routine in unseren Schulen und in unserer
Erziehung widersprechen; der Verf. sieht dabei weder rechts noch links,
sondern er sucht einfach die Wahrheit.
Die äuCsere Anlage ist durchaus übersichtlich. In 4 Theilen werden
zuerst die pädagogischen Grundbegriffe in ihrer erfahrungswissenschaft-
liehen Ableitung, dann die socialen Grundlagen der Erziehungslehre ent-
wickelt. Der 3. Theil giebt den theoretischen Aufbau der socialen Er-
ziehungslehre als Culturpädagogik , der 4. behandelt Kinderschntx und
Volkserziehung. Der 1. Theil hätte erheblich kürzer sein können, dt er
meist selbstverständliche Fragen mit unnöthiger Breite behandelt; dasselbe
gilt grofsentheils von dem 2. Theile, wo ebenfalls nicht selten mit Kanonen
nach Spatzen geschossen wird. Schiller (Leipzig).
Namenregister.
Fettgedruckte Seitenzahlen beziehen sich auf den Verfasser einer Oiiginalabhandluug, Seiten«
ziüilen mit f auf den Verfasser eines referirten Buches oder einer referirten Abhandlung.
Seitenzahlen mit * auf den Verfasser eines Referates.
A.
Abel8dorfl208.*296.*419.*
420.* 422.* 422.* 423.*
424 * 424* 425.* 426.*
Agiiardi, L. 208.t [426*
Ament, W. 285.t
Angell, F. 426.t
Angell, J. R. 122.t
Aßchaffenburg 209.* 302.*
B.
Baginsky, A. 210.t
Bagley, W. Ch. 415.t 430.t
Baldwin, J. M. 449.t
Ball, S. 304.t
Bancels, J. Largaier des
Baer, A. 222.t [132.t
Barratt, W. 417.t
Beer, Th. 112.t 294.t
Bergemann, P. 449.t
Bergmann, J. 104.f
Bethe, A. 112.t [425.t
Bielschowsky, A. 424.f
Binet, A. llLf 121. tl23.t
Bois-Reymond, R. da 399. 1
Borschke, A. 387.
Bourdon, B. 119.t
Bryant, 8. 125.t
Bunge, G. v. 205.t
Burckhardt, R. 406.*
c.
Calkins, M. W. IBl.f
ClaparMe, E. 139.t
Cline, T. S. 119.t
Cohn, J. 288.t
Colvin, St. Sh. 432.t
Cordes, G. 126.t
D.
Dodge, R. 119.t 137.t
Downey, J. E. 119.t
Dumas, G. 215.t
E.
Eisler, R. 210.t
Erdmann, B. 412.t
F6r6, Ch. 134.t
Ferrier, D. 418.t
Fick, A. 422.t
Fite, W. 122.t
Floumoy, Th. 204.t
Fritsch, G. 207.t
G.
Gaupp, R. 299.t
Gibson, W. R. B. 202.t
Giefsler 134.* 140.* 142.*
142.* 143.* 298.* 443.*
Gillette, J. M. 119.t
Grofoe, E. 436.*
Grotjahn, A. 144.t
H.
Hahn, R. 80.
Hall, Stanley 433.t
Hartmann, E. y. 95. f
Hegar 303.t
Heine 119.* 425.t
Heller, Th. 287.* 289.*
303.* 412.*
Hempstead, L. 429.t
Heymans 122.* 144.
Hescheles, L. 387.
Hefs, C. 1.
Hesse, R. 112.t
Hirn, Y. 213.t 434.t
Hirschlaff, L. 299.t
Hofmann, F. B. 424.t
Hollander, B. 412.t 447.t
Hughes, H. 218.t
J.
Jastrow, J. lOS.f
Jonckheere, T. 302.t
Judd, H. 122.t
K
Klär, A. N. 143.t
Kiesow, F. 80. 111.* 131.*
208.t 224. 290.* 294.*
297.* 406.* 444.*
Kinnaman, A. J. 427.f
Klausener 143.f
456
Namenregister.
König, A. 418 *
Krapelin, E. 137.t
Kreibig 210*
Krüger, F. 205.* 213*
296.t
Kühtmann, A. 439.t
Külpe, O. 289.t
L.
Lange, G. 120.t*
Larguiere des Bancels, J.
132.t
Liebmann, A. 287.f
Liepmann, H. SOO.f
Lippe, Th. 225.
Lobsien, M. 84.
Löwenfeld, L. 444.f
Luschan, F. v. 203.t
BL
Marage 121.f
Marbe 200. 421.* 429.*
Markowa, K. 428.t
Marshall, H. R. 209.t
Martinak 286*
McClure, M. F. 423.t
Mellone, S. H. 298.t
Meyer, M. 104.* 119.* 119.*
122.* 123.* 125.* 132.*
137.* 137.* 140.*
Mickle, J. 303.t
Möbins, P. J. 106t
Moll, A. 203.t
Mourre, B. 139.t
Müller, ß. 108.t
Myers, Ch. S. 132.t
N.
Näcke, P. 442 1 448.t
Nagel, W. A. 264. 267.
277. 421.t 424.t
Novicow 142.f
0.
Offner 106.* 125.* 132.*
132.* 203.* 210.* 214.*
284.* 299.* 304.* 441.*
OehrwaU, H. 406.t
Orchansky, J. 108.t
Ormond, A. T. 140.t.
P.
Palante 142.t
Pappenheim, K. 288.t
Pastore, A. M. 208.t
Patrick, G. T. W. 136.t
Pick, A. 433.t
Pilez, A. 220.t
Pilgrim, L. 4l8.t
Pütz, J. 426.t
Probst, M. 416.t 417.t
Pütter 119.*
R.
Riemann, G. 287.t
Riemann, P. 411.f
Rivers, W. H. R. 419.t
Robertson, A. 303.t
Roberty, E. de 140.t
S.
Sakijewa, K. 187.
Sanders, F. H. 433.t
Santenoise 133.t
Saxinger, R. 18. 224. 437.*
439.* 449.*
Schenck, Fr. 420.t
Schiller, H. 464.*
Schrenck-Notzing, v. 136.*
Schröder 303.* 303.* 412.*
416.* 416.* 417.* 418.*
418.* 433.* 448.*
Schnitze, E. 108.* 138.*
143.* 144.* 144.* 206.*
222.* 224* 447.*
Schwarz, H. 437.t
Seashore, 0. F. 122.t
Sherrington, C. H. 132.t
Simon 137.t 138.t
Small, W. 8. 41ö.t
Sollier, P. 447.t
Soury, J. 403.t
Stern, L. W. 103.» 112.*
121.* 122.* 124.* 132.*
137.* 139.* 139.* 201.*t
203.* 204.* 210.* 282.»
287.* 288.* 289.* 299.*
300.*
Sternberg, W. 77.
Storch, E. 361.
Störring, G. 443.t
Stumpf, C. 148. 210.t
Swift, E. J. 430.t
T.
Thompson, H. B. 187.
Thomdike, E. 124.t
Trettien, A. W. 441.t
! Triplett, N. 431.t
j Tschermak, A. 419.t
' Türkheim, J. 437.t
I Turner, J. 416.t
! Turner, W. A. 418.t
Tuyl, A. 423.t
ü.
ühthoff, W. 344.
Umpfenbach 304.* 447.*
447.* 449.*
üexküU, J. V. 112.t
Y.
Vaschide, N. 302.t
Volkelt, J. 415.*
Vurpas, C. 302.t
w.
Wachsmuth 447.f
Wegener, H. 289.t
Williams, M. C. 122.t
Wirth, W. 218.* 220.*
290.t 415.* 416.* 423.*
427.* 428.* 430.* 431.*
432.* 433.* 434.* 442.*
z.
Ziehen, Th. 805. 104.* lOö.f
108.* 302.*
Zwaardemaker, H. 297.1
Druok. 'VOU liVg^xK. U ^q. VJi. Y"ÄXai%«äBÄ'Ä^<ööft::t>kN'^%!aas^^«%'w'^
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JUN 2 2 1938