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Full text of "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane"

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In  Gemeinschaft  mit 

S.  Exner,  E.  Hering,  J.  v.  Kries,  Th.  Lipps, 
G.  E.  Müller,  C.  Pelman,  C.  Stumpf,  Th.  Ziehen 

herausgegeben  von 

Herrn.  Ebbinghans  und  Arthnr  König. 


ge.  Band. 


Leipzig,  1901. 
Verlag  von  Johann  AmbroBiuB  Barth. 


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Inhaltsverzeichnifs. 


Abhandlungen.  .  seite 

A.  Mater  und  J.  Orth.    Zur  qualitativen  Untersachung  der  Association  1 

W.  V.  TscHiscH.    Der  Schmerz 14 

AiTTHUR  Brückner.    Die  Raumschwelle  bei  Simultanreizung      ....  33 

Richard  Hohsnemser.    Zur  Theorie  der  Tonbeziehungen 61 

R  Storch.    Eine  letzte  Bemerkung  zu  Herrn  Edinoer's  Aufsatz  „Hirn- 
anatomie und  Psychologie" 106 

Karl  Groop.    Experimentelle  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens  145 
£.  WiXRSMA.    Untersuchungen  über  die  sogenannten  Aufmerksamkeits- 
schwankungen     168 

E.  Storch,    lieber  die  mechanischen  Correlate  von  Raum  und  Zeit, 

mit  kritischen  Betrachtungen  über  die  E.  HERiNo'sche  Theorie 
vom  Ortsinne  der  Netzhaut.  (Auf  Grund  eines  Falles  von  mono- 
culärem  Doppeltsehen  ohne  physikalische  Ursache) 201 

Jcurs  PiELER.    Eine  Consequenz  aus  der  Lehre  vom  psychophysischen 

Parallelismus 227 

G.  Heyxans.    Untersuchungen  über  psychische  Hemmung.   II.     .    .    .    306 

F.  K1E8OW   und   R.   Hahn.    Beobachtungen    über   die  Empfindlichkeit 

der  hinteren  Theile  des  Mundraumes  für  Tast-,  Schmerz-,  Tem- 
peratur- und  Geschmacksreize 383 


Literaturbericht  und  Besprechungen. 

I.  Allgemeines. 

GfiRARi>-VARBT.    La  psychologio  objective 108 

G.  Villa.     La  question  des  möthodes  en  psychologie 247 

Th.   BiBOT.     La   Psychologie   de  1889 — 1900.    Discours   d'ouverture  du 

IVe  Ck>ngr^  international  de  psychologie 247 


IV  Inhaltiverzeichnifs, 

Seite 
Edm.  König.    Die  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus  und  ihre 

Gegner 109  u.  418 

M.  Wentsciier.    Der  psychophysische  Parallelismus  in  der  Gegenwart  418 

E.  Kretschmer.     Die   Ideale    und   die    Seele.     Ein    psychologischer 

Neuerungsversuch,  nebst  einem  logischen  Anbang:    Zur  Lehre 

vom  Urtheil 247 

F.  Thilly.    The  Theory  of  Interaction 249 

L.  Edinoer.    Hirnanatomie  und  Psychologie 419 

Th.  Elsenhans.    Ueber  individuelle  und  Gattungsanlagen 249 

Preyer.    Die  Seele  des  Kindes 420 

Ferdinand  Kemsies.     Die  häusliche  Arbeitszeit  meiner  Schüler.    Ein 

statistischer  Beitrag  zur  Ueberbürdungsfrage 111 

—    Die  häusliche  Arbeitszeit  meiner  Schüler 249 

H.  Koch.    Die  häusliche  Arbeitszeit  meiner  Schüler 249 

FoREL.    Ueber  Talent  und  Genie 112 

F.  LE  Damtec.    Homologie  et  analogie 107 

G.  E.  Seashore.    Some  Psychological  Statistics 113 

Otto  Wiener.    Die  Erweiterung  unserer  Sinne 420 

V.  Häcksr.  Der  Gesang  der  Vögel,  seine  anatomischen  und  biologischen 

Grundlagen 116 

B.  ScHMiD.    Aus  dem  Seelenleben  der  Insecten.    Ein  Beitrag  zur  Thier- 

psychologie 250 


IL  Anatomie  der  nervösen  Centralorgane. 

Alex  Hill.  Considerations  opposed  to  the  „Neuron  Theory"  ....  2öl 
S.  Ramön  y  Cajal.    Studien   über  die  Hirnrinde  des  Menschen.    Die 

Bewegungsrinde 2dl 

W.  B.  Warrington  und  J.  E.  Dütton.    Observations  on  the  Course  of 

the  Optic  Fibres  in  a  Gase  of  Unilateral  Optic  Atrophy  .  .  .  252 
Karl  Schaffer.    Anatomisch  klinische  Vorlesungen  aus  dem  Gebiete 

der  Nervenpathologie 252 


in.  Physiologie  der  nervösen  Centralorgane. 

R.  DU  Bois-Reymond.  Ueber  die  Geschwindigkeit  des  Nervenprincips  117 
Max  Verworn.    Ermüdung,   Erschöpfung  und  Erholung  der  nervösen 

Centra    des    Rückenmarks.     (Ein    Beitrag    zur    Kenntnifs    der 

Lebensvorgänge  in  den  Neuronen) 117 

J.  UsciiAKOFF.     Das    Localisationsgesetz.     Eine    psychophysiologische 

Untersuchung 253 

0.  Kalischer.  Ueber  Grofshirnexstirpationen  bei  Papageien  ....  421 
—  Weitere  Mittheilungen  zur  Grofshimexstirpation  bei  Papageien  .  421 
A.  Rollett.    Die  Localisation  psychischer  Vorgänge  im  Gehirne.   Einige 

historisch-kritische  Bemerkungen 254 

Ed.  Hitzig.    Hughlings  Jackson  und  die  motorischen  Rindencentren  im 

Lichte  physiologischer  Forschung 261 


InhaUwerzeichnifs,  V 

Seite 
A.  BicKBL  and  P.  Jacob.    Ueber  neue  Beziehungen  zwischen  Hirnrinde 
und  hinteren  Rückenmarkswurzeln  hinsichtlich  der  Bewegungs- 
regulation beim  Hunde 257 

H.  £.  Hebino.     Ueber  Grofshirnreizung   nach  Durchschneidung   der 
Pyramiden  oder  anderer  Theile  des  centralen  Nervensystems  mit 

besonderer  Berücksichtigung  der  Rindenepilepsie 422 

Max  Vbbwobn.    Zur  Physiologie  der  nervösen  Hemmungserscheinungen    119 
V.  P.  Ossipow^.   Ueber  die  physiologische  Bedeutung  des  Ammonshomes    118 

E.  Hitzig.    Ueber  das  corticale  Sehen  des  Hundes 269 

—  Ueber   den   Mechanismus    gewisser   corticaler   Sehstörungen    des 

Hundes 259 

W.  V.  Bechtebew.    Ueber  die  Localisation  der  Geschmackscentra  in 

der  Gehirnrinde 119 

N.  £.  Wedensky.    Die  fundamentalen  Eigenschaften  des  Nerven  unter 

Einwirkung  einiger  Gifte 256 

Hbnbt  Head  und  A.  W.  Campbell.    The  Pathology  of  Herpes  Zoster 

and  its  Bearing  on  Sensory  Localisation 255 

Ch.  Binet-Sanol£.    Action  du  Hachisch  sur  les  neurones 255 

Mattuaei.    Die  Erhöhung  der  Kriegstüchtigkeit  eines  Heeres  durch 

Enthaltung  von  Alkohol 262 

V.   Fhysiologisohe  und  psychologisohe  Opük. 

H.  Magnus.    Die   Anatomie  des  Auges  in  ihrer  geschichtlichen  Ent- 

wickelung 423 

C.  Hahbuboeb.     Ueber  die  Quellen  des  Kammerwassers 263 

F.  HiMSTEDT  u.  W.   A.  Naoel.     Ueber  die  Einwirkung  der  Becquerel- 

und  der  Röntgenstrahlen  auf  das  Auge 263 

G.  H,  Pabkeb.    The  Photomechanical  Change»  in  the  Retinal  Pigment 

of  Gammarus 121 

F.  Best.    Ueber  die  Grenzen  der  Sehschärfe 424 

—  Ueber  die  Grenze  der  Erkennbarkeit  von  Lageunterschieden    .    .    424 

G.  M.  Stbatton.    A  New  Determination  of  the  Minimum  Visible  and 

its  Bearing  on  Localization  and  Binocular  Depth 123 

F.  HiMSTEDT  u.  W.  A.  Nagel.    Die  Vertheilung  der  Reizwerthe  für  die 

Froschnetzhaut  im  Dispersionsspectrum  des  Gaslichtes,  mittels 

der  Actionsströme  untersucht ^    .    .    264 

A.  TscHEBMAK.    Beobachtungen   über  die  relative  Farbenblindheit  im 

indirecten  Sehen 12L  u.  304 

A.  Dbüault.    Recherches  sur  la  pathogönie  de  l'amaurose  quinique         264 

VI.  Physiologische  und  psychologische  Akustik. 

M.  Mkyeb.    Die  Tonpsychologie,  ihre  bisherige  Entwickelung  und  ihre 

Bedeutung  für  die  musikalische  Pädagogik 264 

L^ON  BouTBOux.    La  g^n^ration  de  la  gamme  diatonique 123 

Felix  Kbueobb.    Beobachtungen  an  Zweiklängen 265 


VI  Inhaltsverzeichni/s. 

Seite 
W.  Heinrich.    Note  pröliminaire  sur  la  fonction  accomodative  de  la 

membrane  tympanique       124 

-      De  la  constance  de  perception  des  tons  purs  ä  la  limite  d'audibilitä    124 

VII.  Die  übrigen  specifischen  Sinnesempfindungcn. 

S.  Albutz.    Studien  auf  dem  Gebiete  der  Temperatureinne.    IL   Die 

Hitzeempfindung 231 

G.  Sommer,    lieber  die  Zahl  der  Temperaturpunkte  der  äufseren  Haut  267 

Roy.  W.  Tallmann.    Taste  and  Smell  in  Articles  of  Diet 425 

G.  W.  Patrick.    On  the  Analysis  of  the  Perceptione  of  Taste  ....  124 

VUL    Baum«    Zeit.    Bewegung  und  Veränderung.    Zahl. 

E..DE  Cyon.    L'orientation  chez  le  pigeon  voyageur 127 

L.  Heine.    Sehschärfe  und  Tiefenwahrnehmung 268 

—  Ueber  Orthoskopie  oder  über  die  Abhängigkeit  relativer  Entfernungs- 
schätzungen von  der  Vorstellung  absoluter  Entfernung     .      .    .  268 
B.  BocRDON.    La  perception   des  mouvements  par  le  moyen  des  sen- 

sations  tactiles  des  yeux 128 

IX«   Bewußtsein  und  UnbewuTstes.    Aufmerksamkeit.    Schlaf. 

Ermüdung. 

M.  LoBsiKN.  Ueber  die  psychologisch-pädagogischen  Methoden  zur  Er- 
forschung der  geistigen  Ermüdung ....    270 

GuiSEPPB  Bellei.    La  stanchezza  mentale  nei   bambini  delle  publiche 

scuole 269 

B.   Blazek.     Ermüdungsmessungen   mit   dem   Federästhesiometer   an 

Schülern  des  Franz-Joseph-Gymnasiums  zu  Lemberg 270 

Ragnar  Vogt,    üeber  Ablenkbarkeit  und  Gewöhnungsfähigkeit   .    .    .    425 

X.   Hebung,  Association  und  Qedächtnifo. 

Jacobo  Finzi.  Zur  Untersuchung  der  Auffassungsfähigkeit  und  Merk- 
fähigkeit       482 

W.  Fite.    Contiguity  and  Similarity 271 

H.  Gale.    On  the  Psychology  of  Advertising 270 

F.  Kemsies.    Gedächtnifsuntersuchungen  an  Schülern 271 

XI.  Vorstellungen. 

L£oN  Brunschvicg.    Introduction  ä  la  vie  de  Tesprit 4.% 

Ernst  Mallt.     Abstraction  und  Aehnlichkeits-Erkenntnifs 272 

Eduard  Zeij^er.    Ueber  den  Einflufs  des  Gefühls  auf  die  Thätigkeit  der 

Phantasie 278 

S.  Freud.    Die  Traumdeutung ; 130 


lnhalt9verzeiehni/8,  VII 

Seite 
J.  M.  VoLj>.   Ueber  Hallucinationen,  vorzüglich  Gesichts-Hallucinationen, 

auf   der   Grandlage  von  cutan-motorischen  Zuständen   und  auf 

derjenigen  von  vergangenen  Gesichts-EindrOcken 133 

M.  C.  u.  Hablow  Gale.    The  Vocabularies  of  three  Ghildren   of  one 

Family  to  two  and  a  half  Years  of  Age 421 

J.  ZKrri.£B.     Tachistoskopische  Untersuchungen  über  das  Lesen  .    .    .  279 

B.  Erdmakk.    Umrisse  zur  Psychologie  des  Denkens 275 

A.  Hüther.     Die  psychologischen  Grundprincipien  der  Pädagogik    .    .  286 
Hans  Rasck.    Der  Begriff  des  Wirklichen.    Eine  psychologische  Unter- 

snchnng 134  u.  444 

C.  Bos.    Les  croyances  implicites 134 

C.  M.  GiEssLEB.    Die  Identificirung  von  Persönlichkeiten 273 

Hasss  Gross.    Ein  Zauberbuch  aus  einem  modernen  Procefs    ....  135 


Oef&hle. 

Harrt  Campell.    The  Feelings  . 136 

Tox  Feldego.    Beiträge  zur  Philosophie  des  Gefühls 436 

Warner  Fite.     Art,  Industry  and  Science 439 

Havelock  Ellis.    Geschlechtstrieb  ui^d  Schamgefühl 286 

Albert   Haosn.    Die  sexuelle   Osphresiologie.    Die   Beziehungen   des 
Geruchssinnes  und  der  Gerüche  zur  menschlichen  Geschlechts- 

thätigkeit 258 

H.  Davies.    Method  of  Aesthetics:    a  Note 286 

E.  Ritchie.    The  Essential  in  Religion 289 

Xm.  Bewegungen  und  Handlungen. 

OäKAB  VooT.     Ueber  den  Einflufs  einiger   psychischer  Zustände  auf 

Kniephänomen  und  Muskeltonus 138 

E.  W.  ScEiPTüRE.    Observations  on  Rhythmic  Action 440 

Fbank  Thilly.    Conscience 136 

A.  DiEHL.    Ueber  die  Eigenschaft  der  Schrift  bei  Gesunden    ....  441 

Kit  B.-R.  Aars.    Analyse  de  l'idöe  de  la  morale 289 

DiOAS.    Fanatisme  et  charlatanisme :  ^tude  psychologique 137 

XTV.  Neuro-  und  Psychopathologie. 

Obeestkixer.     Functionelle  und  organische  Nervenkrankheiten     .    .    .  291 

Windscheid.    Die  Prophylaxe  in  der  Nervenheilkunde 290 

Oskar  Vogt.     Ueber  die  Errichtung  neurologischer  Centralstationen    .  138 
Ceamer.    Ueber  die   aufserhalb  der   Schule   liegenden   Ursachen  der 

Nervosität  der  Kinder 292 

Sante  de  Sai7Ctis.    Una  Veggente 139 

H,  J.   Berkley.     The    Pathological  Findings    in   a  Gase   of  General 
Cntaneous   and  Sensory   Anaesthesia  without  Psychical  Impli- 

cation 140 


< 


Vm  InhaltiverzeichnifB, 

Seite 

LöwBNFELD.    Somnambalismus  und  BpiritismuB 293 

J.  M.  Bbamwell.    Hypnotic  and  Post-Hypnotic  Appreciation  of  Time; 

Secondary  and  Multiplex  Personalities 140 

V.  ScHB£NCK-NoTZiNO.    Der  Fall  Sautkr.    (Mordversuch  und  suggerirte 

Anstiftung  zu  neunfachem  Morde.) 294 

Th.  Ziehen.    Ueber  die  Beziehungen  der  Psychologie  zur  Psychiatrie.  295 

Walter  Fuchs.    Die  Prophylaxe  in  der  Psychiatrie 295 

N.  Vaschide  e  L.  Marchaud.    Ufficio  che  le  condizioni  mentali  hanno 

sulle  modificazioni  della  respirazione  e  della  circolazione  periferica  299 

Buchholz.    Aufgaben  bei  Beurtheilung  Imbeciller 297 

L.  Laqusr.    Die  Hülfsschulen  für  schwachbefähigte  Kinder,  ihre  ärzt- 
liche und  sociale  Bedeutung 141 

Harlow  Gale.    A  Gase  of  Alleged  Lobs  of  Personal  Identity  ....  443 
G.  Obici.    Osservazioni  nosologiche  e  cliniche  sul  cosi  detto  „delirio 

di  negazione*' 299 

M.  Friedmann.    Ueber  Wahnideen  im  Völkerleben 296 


XV.   Sooialpsyohologie. 

A.  Bastian.  Die  Völkerkunde  und  der  Völkerverkehr  unter  seiner 
Rückwirkung  auf  die  Volksgeschichte.  Ein  Beitrag  zur  Volks- 
und Menschenkunde 303 

Eduard  Reich.  Criminalitftt  und  Altruismus.  Studien  über  abnorme 
Entwickelung  und  normale  Gestaltung  des  Lebens  und  Wirkens 

der  Gesellschaft 301 

Wilhelm  Rudeck.    Syphilis  und  Gonorrhoe  vor  Cfericht 3(ö 

K.  Bonhoeffer.    Ein  Beitrag  zur  Kenntnifs  des  grofssUUltischen  Bettel- 

und  Vagabondenthums 143 

Samter.    Alkoholismus  und  öffentliche  Armenpflege 302 

MöRius.    Ueber  Entartung 300 

G.  Anoiolella.    Sulle  tendenze  suicide  negli  alienati  e  sulla  psicologia 

del  suicidio 302 


Bemerkung 144 

Berichtigung  (Arelsdorpp) 304 

Erwiderung  (Raeck) 444 


• 


NamenregiBter 445 


l_  .  _ 


— — i 


(Aus  dem  Psychologischen  Institut  der  Universität  Wtirzburg.) 

Zur  qualitativen  Untersuchung  der  Association. 

Von 

A.  Mayee  und  J.  Orth. 

Schon  von  Marbe  ^  und  einem  der  Verfasser  *  wurde  darauf 
hingewiesen,  dafs^die  üblichen  Eintheilungen  der  Association 
alle  mehr  oder  weniger  an  dem  Fehler  leiden,  dafs  sie  ihre 
Eintheilungsgründe  nicht  aus  dem  Wesen  der  Association, 
sondern  aus  logischen  Gesichtspunkten  schöpfen.  Die  selbst- 
verständliche Forderung,  die  Eintheilung  der  Associationen  auf 
ihre  Eigenthümlichkeiten  und  nicht  auf  irgendwelche  andere 
Momente  zu  basiren,  legt  eine  gründliche  Untersuchung  der 
<jualitativen  Verschiedenheiten  der  Associationen  nahe. 

Dabei  mufs  man  sich  natürlich  darüber  im  klaren  sein,  dafs 
sehr  verschiedenartige  Erlebnisse  unter  den  Begriff  der  Association 
fallen  ^,  und  dafs  Thatsachen  und  Eintheilungen,  welche  an  einer 
Gruppe  von  Associationen  gewonnen  worden  sind,  nicht  ohne 
Weiteres  auf  Andere  übertragen  werden  dürfen.  Qualitative 
Untersuchungen  imd  neue  Eintheilungsversuche  der  Associationen 
müssen  sich  demnach  zunächst  auf  eine  bestimmte  Classe  der 
associativen  Vorgänge  erstrecken,  und  erst  später  ist  dann  die 
Frage  auf  zuwerfen,  ob  innerhalb  anderer  Classen  dieselben 'That- 
sachen vorhanden  sind  und  dieselben  Eintheilungen  einen  Sinn 
haben. 


^  Thxtub  und  Marbe.  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  psycho- 
logischen Grundlagen  der  sprachlichen  Analogiebildung.  Leipzig,  W.  Engel- 
ruann,  1901.     8.  11  ff. 

■  J.  Obth.  Kritik  der  Associationseintheilungen.  Zeitschr.  f.  pädag. 
FHychd.  u.  Pathol.  3.    (1901.) 

'  Thcicb  und  Marbe  a.  a.  O.  S.  11  f. 
Zeitschrift  fär  Psychologie  U.  1 


2  Ä.  Mayer  und  J.  Orth. 

Auf  Grund  derartiger  Erwägungen  stellte  uns  Herr  Dr.  Mabbe 
die  Aufgabe,  diejenigen  Associationen  zu  untersuchen,  bei  welchen 
die  Versuchsperson  auf  ein  zugerufenes  Wort  mit  einem  ge- 
sprochenen Worte  reagirt,  und  möglicherweise  eine  sachgemäfse 
Eintheilung  dieser  Associationen  zu  gewinnen. 

Diese  Untersuchung  konnte  nur  unter  der  Voraussetzung  zu 
einem  Resultate  führen,  dafs  wir  die  vom  Beobachter  während 
des  Experiments  erlebten  Vorgänge  möglichst  genau  kennen 
lernten. 

Da  es  wahrscheinlich  erschien,  dafs  die  quaUtativen  Ver- 
schiedenheiten der  zu  untersuchenden  Associationen  in  ihren 
Associationszeiten  zum  Ausdrucke  kommen,  so  verbanden  wir 
mit  unseren  Versuchen  eine  entsprechende  Zeitmessung.  Der 
Verlauf  unserer  Experimente  gestaltete  sich  demnach  im  Ein- 
zelnen f  olgendermaafsen : 

Der  Experimentator  rief,  nachdem  er  durch  das  Signal 
„fertig"  den  Beobachter  zur  Sammlimg  aufgefordert  hatte,  das 
Reizwort  zu  und  setzte  beim  Beginn  des  Sprechens  eine  Fünftel- 
secundenuhr  in  Gang.  Sobald  die  Versuchsperson  das  Reactions- 
wort  auszusprechen  begonnen  hatte,  wurde  die  Uhr  arretirt 
Hierauf  erfolgte  seitens  des  Beobachters  die  Angabe  aller  jener 
Bewufstseinsvorgänge,  die  von  dem  Augenblicke  des  Aussprechens 
des  Reizwortes  an  bis  zum  Schlüsse  der  Reaction  in  ihm  ab- 
gelaufen waren.  Diese  Aussagen  wurden  durch  den  Experimen- 
tator notirt.  Auch  die  Associationszeit,  die  sich  aus  dem  Ablesen 
der  Fünftelsecundenuhr  ergab,  fand  Aufnahme  ins  Protokoll 
Diese  verhältnifsmäfsig  ungenaue  Ablesung  erwies  sich  für  der- 
artige Versuche  als  ausreichend  und  als  durchaus  zweckmäfsig. 
Die  angegebenen  Zeiten  sind  allerdings  etwas  zu  grofs;  doch 
spielt  das  hier  keine  Rolle,  da  es  sich  für  uns  nicht  um  eine 
genaue  Feststellimg  der  Associationszeiten  handelte.  Zudem  ist 
der  Fehler,  welcher  sich  in  Folge  der  Anwendung  der  be- 
schriebenen Methode  ergiebt  (abgesehen  von  dem  Einflufs  der  ver- 
schiedenen Längen  der  zugerufenen  Worte),  ein  constanter,  so  dafs 
also  durch  ihn  die  Brauchbarkeit  imserer  Resultate  nicht  wesentlich 
beeinflufst  wird.  ^  Während  des  ganzen  Versuchsverlaufes  schlofs 
der  Beobachter  die  Augen,  um  eine  Störung  oder  Beeinflussung 


*  Diese  Methode  wurde  auch  in   der  oben  citirten  Arbeit  von  Thumb 
und  Masbe  mit  gutem  Erfolg  benutzt. 


Zur  qualitativen  Untersuchung  der  Association.  3 

des  Associationsablaufes  durch  Gesichtswahmehmungen  zu  ver- 
meiden.    Die  Versuche   wurden   in   zwei  Gruppen   ausgeführt: 
Verfasser  Mayeb  entnahm  153  einsilbige  Substantiva  einer  Arbeit 
Trautscholdt's  ^,  während  Verfasser  Okth  255  Substantiva  aus 
dem  ersten  Theil  von  Aschatfenbübö's  experimentellen  Studien 
über  Associationen  -  verwendete.    Reagenten  für  beide  Ginippen 
waren   die   Herren  Privatdocent  Dr.  Kinkel    aus    Giefsen   und 
stud.  phil.  Kercheb.    Verfasser  Mayer  war  Beobachter  für  die 
Reihe  des  Versuchsleiters  Orth  und  umgekehrt,  so  dafs  also  im 
Ganzen  3  X  408  =  1224  Associationen  zu  Stande  kamen. 

Bei  der  Betrachtimg  des  so  gewonnenen  Materials  ergab  sich 
zunächst,  dafs  bei  einer  Reihe  von  Associationen  das  Reizwort 
direct  reactionsauslösend  wirkt,  d.  h.  ohne  dafs  sich  irgend  ein 
Bewufstseinsvorgang  als  Zwischenglied  zwischen  Reiz-  imd 
Reaetionswort  einschiebt.  Wir  wollen  diese  Reactionen  als  Re- 
actionen  ohne  eingeschaltete  Bewufstseinsvorgänge  bezeichnen 
im  Gegensatz  zu  jenen,  bei  welchen  sich  psychische  Thatsachen 
zwischen  Reiz-  und  Reaetionswort  einschalten. 

Wir  stellten  uns  nun  die   Aufgabe,    die  verhältnifsmäfsige 
Häufigkeit  und  Dauer  dieser  Associationen   zu  ermitteln.     Um 
den  Werth  für  die  verhältnifsmäfsige  Häufigkeit-  zu  gewinnen, 
wurde  die  absolute  Anzahl  dieser  Associationen  festgestellt  und  in 
Procenten  aller  überhaupt  erhaltenen  Associationen  ausgedrückt 
Die  mittlere  Dauer  ergab  sich  dadurch,  dafs  man  aus  allen  hierher 
gehörigen  Associationszeiten  das  arithmetische  Mittel  zog.     Ueber 
die   Resultate    ertheilen    die    Tabellen   la   und    Ib    Aufschlufs. 
Tab.  la  ist  aus   der  Reihe  des  Versuchsleiters  Mayer,  Tab.  Ib 
dagegen   aus  der  des  Experimentators  Okth  gewonnen  worden. 
Jede   Tabelle    enthält   drei   durch   senkrechte  Doppelstriche  ge- 
schiedene Columnen.     Die  erste   enthält  die  Gattung  der  Asso- 
ciationen; Columne  2  enthält  in  Procenten  die  Angabe,  wieviele 
Associationen  einer  Gattung  von  jeder  einzelnen  Versuchsperson 
geleistet    wurden.      In   Columne    3    schliefslich    finden    wir    die 
mittlere  Associationszeit  für  den  einzelnen  Beobachter  verzeichnet. 
Wir  theilen  zunächst  die  Tab.  la  mit: 


>  Fhüos.  Studien  1,  S.  213  ff.    1883. 

•  Kraepeli»,  Psychologische  Arbeiten  1,  S.  209  ff.    1896. 


1* 


A,  Mayer  und  J,  Orth, 


Tabelle  la. 


Gattung 


1 .  Associationen  ohne 
eingeschaltete  Bewufst- 
seinsYorgänge 


2.  Associationen  mit  ein- 
geschalteten Bewufst- 
Seinsvorgängen 


Häufigkeit  in  \ 


Kebcheb  :         7,2 
Obth  :  19,6 

Dr. Kinkel:  31,4 


Kebcheb  :       92,8 
Obth  :  80,4 

Dr. Kinkel:   68,6 


Mittlere  Dauer  in  See. 

Kebcheb:       1,27 
Obth  :  1,19 

Dr.  Kinkel  :  1,62 


Kebcheb  :       1,68 
Obth  :  1,51 

Dr. Kinkel:   2,55 


Nach  dieser  Tabelle  (Columne  2)  vertheilen  sieh  die  Associa- 
tionen der  einzelnen  Versuchspersonen  derart,  dafs  bei  Beob- 
achter Kerchee  7,2  %,  bei  Oeth  19,6  %  und  bei  Dr.  Kinkel  31,4  «/o 
ohne  eingeschobene  Bewufstseinsvorgänge  ablaufen.  Dagegen 
sind  92,8 "/«  (Kerchee),  80,4  %  (Obth)  und  68,6  ^'o  (Dr.  Kinkel) 
aller  Fälle  Associationen  mit  eingeschobenen  Bewufstseinsvor- 
gängen.  Diese  Tabelle  scheint  zu  lehren,  dafs  die  Associa- 
tionen mit  eingeschalteten  Bewufstseinsvorgängen 
im  Allgemeinen  weit  häufiger  auftreten  als  jene 
ohne  eingeschaltete  Bewufstseinsvorgänge. 

Die  mittlere  Dauer  für  die  Associationen  ohne  eingeschobene 
Bewufstseinsvorgänge  beträgt  für  Keechee  1,27  See,  für  Oeth 
1,19  See.  und  für  Dr.  Kinkel  1,62  See.  Die  Associationen  mit 
Bewufstseinsvorgängen  weisen  eine  verhältnifsmäfsig  viel  längere 
Dauer  auf.  Keechee  reagirte  in  dieser  Form  mit  1,68  See. 
Oeth  mit  1,51  See.  imd  Dr.  Kinkel  mit  2,55  See.  mittlerer 
Dauer.  Wenn  auch  diese  Angaben  grofse  individuelle  Differenzen 
aufweisen,  so  scheint  doch  ohne  Weiteres  daraus  zu  erhellen, 
dafs  den  Associationen  mit  eingeschalteten  Be- 
wufstseinsvorgängen eine  relativ  gröfsere  Dauer 
zukommt  als  jenen  ohne  eingeschaltete  Bewufst- 
seinsvorgänge. Dieselben  Resultate  ergeben  sich  aus  der 
vom  Versuchsleiter  Oeth  gewonnenen 


2!tcr  qualitativen  Ünter»uchung  der  Association. 


o 


Tabelle  Ib. 


Gattung 


1.  Associationen  ohne 
eingeschaltete  Bewulst- 
Seinsvorgänge 


2.  Associationen  m  i  t  ein- 
geschalteten BewuTst- 
seinsvorgftngen 


Häufigkeit  in  ^.'^ 


Mayeb  :  30,6 

Kescher  :  19,2 

Dr. Kinkel:  35,7 

Mayeb  :  69,4 

Kercher  :  80,8 

Dr.KiNBiEL:  64,3 


Mittlere  Dauer  in  See. 


Mayer:  1,39 

Kercher  :       1,52 
Dr.  Kinkel:    1,79 


Mayer  :  1,83 

Kercher  :       1,85 
Dr. Kinkel:   2,73 


In  dieser  Tabelle  tritt  ein  neuer  Beobachter  (Mater)  auf. 
Aber  auch  sie  zeigt  für  alle  Versuchspersonen,  dafs  bei  aller 
individuellen  Verschiedenheit  der  Resultate  die  Associationen 
mit  eingeschalteten  Bewufstseinsvorgängen  häufiger  auftreten  und 
langsamer  verlaufen  als  die  ohne  eingeschobene  Bewufstseins- 
Vorgänge. 

Die  Tabellen  IIa  und  üb  beschäftigen  sich  mit  einer  ein- 
gehenderen Classificirung  der  Associationen  mit  eingeschalteten 
Bewufstseinsvorgängen. 

Wir  theilen  hier  die  inneren  psychischen  Thatsachen,  d.  h. 
die  Bewufstseinsvorgänge  excl.  der  Wahrnehmungen,  ein  in  Vor- 
stellungen, die  ihrei-seits  mehr  oder  weniger  zusammengesetzt 
und  mehr  oder  weniger  gefühlsbetont  sein  können  und  in 
Willensacte,  die  gleichfalls  mehr  oder  weniger  zusammengesetzt 
und  mehr  oder  weniger  gefühlsbetont  sein  können.  Wir  wollen 
indessen  mit  dieser  Eintheilung  zur  Frage  nach  der  Möglichkeit, 
ob  die  Willensacte  sich  auf  Vorstellungen  und  Gefühle  zurück- 
führen lassen,  durchaus  nicht  Stellung  nehmen  oder  gar  diese 
Frage  in  negativem  Sinne  beantworten.  Aufser  diesen  beiden 
Classen  von  Bewufstseinsvorgängen  müssen  wir  aber  noch  eine 
dritte,  in  der  bisherigen  Psychologie  nicht  genügend  betonte 
Gruppe  von  Bewufstseinsthatsachen  statuiren,  auf  deren  Vor- 
handensein wir  im  Laufe  unserer  Experimente  immer  und  immer 
wieder  unwillkürlich  hingewiesen  wurden.  Die  Versuchspersonen 
machten  sehr  häufig  die  Aussage,  dafs  sie  gewisse  Bewufstseins- 
vorgänge erlebten,  welche  sie  ganz  offenbar  weder  als  bestimmte 
Vorstellungen,    noch  auch   als   Willensacte  bezeichnen  konnten. 


6  Ä.  Mayer  und  J,  Orih, 

So  machte  Versuchsperson  Mayer  die  Beobachtung,  dafs  sich 
im  Anschlüsse  an  das  gehörte  Reizwort  „Versmaafs"  ein  eigen- 
thümlicher,  nicht  näher  zu  charakterisirender  Bewufstseinsvorgang 
einstellte,  an  welchen  sich  das  laut  gesprochene  Wort  „Trochäus" 
anschlofs.  In  anderen  Fällen  gelang  es  der  Versuchsperson, 
diese  psychischen  Thatsachen  näher  zu  bezeichnen.  So  beobachtete 
Okth,  dafs  das  Reizwort  „Senf"  einen  solchen  eigenthümlichen 
Bewufstseinsvorgang  auslöste,  den  er  als  „Erinnerung  an  eine 
geläufige  Redensart"  charakterisiren  zu  können  glaubte.  Daran 
schlofs  sich  die  Reaction  „Korn"  an.  In  allen  derartigen  Fällen 
konnte  jedoch  die  Versuchsperson  von  dem  Vorhandensein  der 
Vorstellungen  im  Bewufstsein,  durch  welche  sie  die  psychische 
Thatsache  in  ihren  Aussagen  näher  bezeichnete,  nicht  das  Min- 
deste bemerken.  Alle  diese  Bewufstseinsvorgänge  fassen  wir 
trotz  ihrer  oflEenbaren,  vielfach  gänzlich  verschiedenen  QuaUtät 
unter  dem  Namen  der  „Bewufstseinslagen"  zusammen. 
Die  Antworten  der  Beobachter  zeigen,  dafs  diese  Bewufstseins- 
lagen mitunter  gefühlsbetont,  mitunter  aber  auch  ohne  jeden 
Gefühlston  waren. 

Unser  Material  zeigte  nun,  dafs  sich  des  Oefteren  nur  eine 
psychische  Thatsache  zwischen  Reiz-  und  Reactionswort  ein- 
schaltet: So  gab  Versuchsperson  Dr.  Kinkel  an,  dafs  sich  an 
das  Reizwort  „Stift"  ein  deutUches  Gesichtsbild  eines  Freundes 
gleichen  Namens  anschlofs,  worauf  sich  die  Reaction  „Student" 
einstellte.  Femer  läfst  sich  aus  dem  Protokoll  ersehen,  dafs 
auch  zwei  Bewufstseinsvorgänge  zwischen  Reiz  und  Reaction 
treten  können :  So  löste  bei  der  Versuchsperson  Orth  das  Reiz- 
wort „Blei"  ein  deutliches  Gesichtsbild  eines  platt  gedrückten, 
weifsgrauen  Bleistückchens  aus ;  darauf  stellte  sich  die  akustisch- 
motorische Wortvorstellung  „schwer"  ein,  welche  ihrerseits  die 
Reaction  „schwer"  assocürte.  Endlich  zeigte  unser  Material,  dafs 
sich  auch  drei  und  mehr  Bewufstseinsvorgänge  zwischen  Reiz- 
und  Reactionswort  einschieben  können. 

In  den  beiden  folgenden  Tabellen  IIa  und  IIb  ist  in 
Columne  1  die  Anzahl  der  sich  zwischen  Reiz-  und  Reactions- 
wort einschiebenden  Bewufstseinsthatsachen  verzeichnet.  Col.  2 
giebt  in  Procent  für  die  verschiedenen  Versuchspersonen  die  zu- 
gehörigen Anzahlen  der  Associationen  an ;  Col.  3  enthält  die  ent- 
sprechenden mittleren  Associationszeiten. 


Zur  q^alib^üveu  ünttrauehung  der  Association. 


Tabelle  IIa. 


Anzahl  der  eingesch. 
BewnÜBteeinBthatsachen 

1        Häufigkeit 

1 

in% 

Mittlere  Dauei 

in  See. 

Kescher: 

32,0 

IlErgher: 

1,54 

Eine 

Obth: 

46,4 

Orth: 

1,34 

Dr.  ILiNKRL : 

37,9 

Dr.  Kinkel  : 

2,60 

Kercher: 

40,6 

Kercher: 

1,69 

Zwei 

Orth: 

25,5 

Orth: 

1,57 

1 
i 

Dr.  Kinkel  : 

20,3 

Dr.  Kinkel: 

2,69 

I 

1 

1 

Kercher: 

1 
20,3 

1 

Kercher  : 

1,93 

Drei  und  mehr 

Orth: 

8,5 

Orth: 

2,23 

Dr.  Kinkel  : 

10,5 

Dr.  EIinkel: 

2,73 

Tabelle 

IIb. 

Anzahl  der  eingesch. 
Bewnfsteeinsthatsachen  ; 

Häufigkeit 

1 

in^ 

1 
Mittlere  Dauer 

in  See. 

1 

Mayer: 

36,9 

Mayer: 

1,59 

Eine 

Kercher  : 

14,9 

!         Kercher: 

1,65 

1 

Dr.  Kinkel  : 

37,6 

Dr.  Kinkel  : 

2,47 

1 
! 

Mayer: 

19,6 

Mayer  : 

1,68 

1 
Zwei 

Kercher  : 

45,5 

Kercher  : 

1,79 

' 

Dr.  Kinkel  : 

18,4 

1 

Dr.  Kinkel  : 

3,04 

Mayer: 

12,9 

Mayer: 

2,40 

Drei  und  mehr 

Kercher  : 

20,4 

Kercher  : 

2,14 

. 

Dr.  Kinkel  : 

8,2        ': 

Dr.  Kinkel  : 

3,20 

Diese  Tabellen  weisen  insofern  Verschiedenheiten  der  Reac- 
ionsweise  der  einzelnen  Beobachter  nach,  als  sie  für  3  Versuchs- 
»ersonen  (Orth,  Dr.  Kinkel,  Maye»)  zeigen,  dafs  dieselben  am 
äafigsten  einen,  seltener  aber  zwei,  drei  und  mehrere  Bewufst- 
jinsvorgänge  zwischen  Reiz  und  Reaction  einschieben,  während 
ch  hingegen  bei  dem  4.  Beobachter  (Kercher)  verhältnifsmäfsig 
Jtener  eine,  am  häufigsten  aber  zwei  psychische  Thatsachen 


8  A.  Mayer  und  J.  Orth. 

zwischen  Reiz  und  Reaction  einschalten.  Doch  ergeben  die 
Tabellen  bei  aller  individuellen  Verschiedenheit  der  einzelnen 
Beobachter  ganz  ofiEenbar  das  Gresetz,  dafs  die  mittlere 
Associationszeit  mit  der  Zahl  der  eingeschobenen 
Bewufstseinsvorgänge  zunimmt. 

Weiter  stellten  wir  uns  die  Aufgabe,  die  Reactionen,  bei 
welchen  sich  nm*  ein  Bewufstseinsvorgang  zwischen  Reiz  und 
Reaction  einschiebt,  näher  ins  Auge  zu  fassen. 

Unser  Material  zeigt,  dafs  diese  eine  psychische  Thatsache 
nicht  selten  eine  Wortvorstellimg  ist.  So  löste  bei  der  Versuchs- 
person Mayer  das  Reizwort  „Seele"  die  akustisch -motorische 
Wortvorstellung  „Körper"  aus,  welche  alsdann  die  Reaction 
„Geist"  associirte.  Femer  war  des  Oefteren  der  eine  eingeschobene 
Bewufstseinsvorgang  eine  Sachvorstellung.  So  gab  Beobachter 
Kercher  an,  dafs  sich  bei  ihm  nach  dem  Zuruf  des  Reizwortes 
„Schornstein"  das  Gesichtsbild  eines  Kaminkehrers  einstellte,  an 
welches  sich  die  Reaction  „Kaminkehrer"  anschlofs.  Dafs  auch 
eine  Bewufstseinslage  den  einzigen,  zwischen  Reiz-  und  Reactions- 
wort  ablaufenden  seelischen  Vorgang  bilden  kann,  zeigen  die 
auf  S.  6  angeführten  Beispiele.  SchUefsUch  bezeichneten  die 
Beobachter  nicht  selten  diese  eine  eingeschobene  Bewufstseins- 
thatsache  als  einen  Willensact :  So  veranlafste  bei  der  Versuchs- 
person Dr.  Kinkel  das  zugerufene  Reizwort  „Glanz"  ein  Suchen 
nach  Verbindung,  wodurch  alsdann  die  Reaction  „Sonne"  aus- 
gelöst wurde.  Wir  legten  uns  nun  die  Frage  vor,  ob  sich 
häufiger  eine  Wortvorstellung,  eine  Sachvorstellung,  eine  Bewufst- 
seinslage oder  eine  Willensbethätigung  zwischen  Reiz  und 
Reaction  einschaltet;  zugleich  suchten  wir  das  Problem  zu  lösen, 
ob  die  eine  oder  andere  Art  der  eingeschobenen  Bewufstseins- 
thatsachen  den  Reactionsvorgang  verlangsamt  oder  beschleunigt. 
Trotz  der  eingehenden  Untersuchung  des  Materials  fanden  wir 
jedoch  wenig  Gesetzmäfsigkeit  nach  dieser  Richtung.  Es  zeigte 
sich  nur  die  von  vornherein  sehr  nahe  liegende  Thatsache,  d  a  f  s 
sich  häufiger  Vorstellungen  einschieben  als  Be- 
wufstseinseinlagen  und  Willensbethätigungen,  und 
das  allerdings  werthvoUere  Ergebnifs,  dafs  die  Willensbe- 
thätigungen den  Associationsablauf  verlangsamen. 

Die  folgenden  Tabellen  Illa  und  III  b  zeigen  in  der  ersten 
Columne  die  Häutigkeit  aller  Reactionen  mit  eingeschalteten  Be- 
wufstseinsvorgängen    exclusive    derjenigen,    bei    welchen    sich 


Zur  qualitativen  Untersuchung  der  Association.  9 

zwischen  Reiz  und  Reaction  Willensbethätigungen  einschieben. 
In  der  zweiten  Columne  enthalten  diese  Tabellen  die  zugehörigen 
mittleren  Ässociationszeiten ,  während  die  dritte  Columne  die 
mittleren  Zeiten  für  diejenigen  Reactionen  mittheilt,  bei  welchen 

sich  Willensvorgänge  zwischen  Reiz  und  Reaction  einschalten; 

in  der  letzten  Columne  schliefsUch  finden  wir  die  zugehörigen 

Häufigkeiten. 


Tabelle  nia. 

Beactionen  mit  eingesch. 

Bewafstseinsvorgängen, 

aber  ohne  Willens- 

Beactionen mit  eingesch. 

Be  wu  Cstseins  Vorgängen, 

aber  mit  Willens- 

Versachsperson 

bethätigungen 

bethätigungen 

Häufigkeit 
in  Procent 

Mittl.  Dauer 
in  See. 

Mittl.  Dauer 
in  See. 

Häufigkeit 
in  Procent 

1 

Kp.rcher  : 

1 

81,7 

1,63 

2,11 

11,1 

Obth: 

65,4 

1,41 

1,98 

15,0 

Dr.  Kinkel: 

30,1        !        2,12 

2,89 

38,6 

Tabelle  Illb. 

Beactionen  mit  eingesch. 

Bewulstseinsvorgängen, 

aber  ohne  Willens- 

Beactionen  mit  eingesch. 

Bewulstseins  Vorgängen, 

aber  mit  Willens- 

Versuchsperson 

bethäti 

gungen 

bethätigungen 

Häufigkeit 
in  Procent 

Mittl.  Dauer 
in  See. 

Mittl.  Dauer 
in  See. 

Häufigkeit 
in  Procent 

Mater: 

52,9 

1,67 

2,36 

16,5 

Eehcher  : 

\        71,8 

1,78 

2,48 

9,0 

Dr.  Kinkel: 

29,4 

2,45 

2,96 

34,9 

Die  beiden  Tabellen  lehren  ganz  offenbar,  dafs  die  Willens- 
vorgänge den  Associationsablauf  verlangsamen. 

unser  Material  ergab  ferner,  dafs  die  Bewnfstseinsvorgänge, 
welche  sich  zwischen  Reiz  und  Reaction  einschieben,  entweder 
gefühlsbetont  sind  oder  nicht  gefühlsbetont.  Kercheb  beobachtete 
r.B.,  dais  bei  ihm  das  Reizwort  „Wald"  ein  von  einem  positiven 
Gefühle  begleitetes  Gesichtsbild  eines  Waldes  auslöste,  worauf 
die  Reaction  „grün"  erfolgte.    Die  nachstehenden  Tabellen  IV  a 


10 


A.  Mayer  und  J,  Orth, 


und  IV  b  geben  in  Columne  2  die  Häufigkeit  der  gefühlsbetonten 
und  der  nicht  gefühlsbetonten  Associationen  an,  während  die 
3.  Columne  die  zugehörigen  mittleren  Dauern  enthält. 


Tabelle  IV a. 


Gattung 


AsBociationen  mit  ein- 
gesch.  gefühlsbetonten 
Be  wulstsei  ns  Vorgängen 


Association,  m.  eingesch. 
nicht  gefühlsbetonten 
Bewufstseinsvorgängen 


Häufigkeit  in  ^jo 


Mittlere  Dauer  in  See. 


Kerchbb  :       21,6 
Orth  :  3,3 

Dr.  Kinkel:    0,7 


Kercher  :       78,4 
Orth  :  96,7 

Dr.  Kinkel  :   99,3 


Kercher:       1,96 
Orth  :  1,84 

Dr. Kinkel:   3,20 


Kercher  :       1,54 
Orth  :  1,44 

Dr. Kinkel:   2,32 


Tabelle  IVb. 


Gattung 


Associationen  mit  ein- 
gesch. gefühlsbetonten 
Bewulstseinsvorgängen 

Association,  m.  eingesch. 
nicht  gefühlsbetonten 
Bewufstseinsvorgängen 


Häufigkeit  in  % 


Mayer  :  12,5 

Kercher  :         2,4 
Dr.  Kinkel  :     3,1 

Mayer  :  87,5 

Kercher  :       97,6 
Dr. Kinkel:   96,9 


Mittlere  Dauer  in  See. 


Mayer  :  2,26 

Kercher:       2,27 
Dr.  Kinkel  :   3,43 


Mayer  :  1,62 

Kercher  :       1,78 
Dr. Kinkel:   2,36 


Bei  aller  ofiEenbaren  individuellen  Verschiedenheit  der  Beob- 
achter zeigen  diese  Tabellen  deutlich,  dafs  die  eingeschalteten 
Erlebnisse  in  den  meisten  Fällen  nicht  gefühlsbetont  sind; 
aufserdem  aber  erkennen  wir,  dafs  die  mittlere  Dauer  der 
Associationen  mit  eingeschalteten  gefühlsbetonten 
Bewufstseinsvorgängen  erheblich  länger  ist  als  die 
der  übrigen. 

Wir  stellten  uns  nun  die  Frage,  ob  wohl  die  Richtung  der 
den  Associationsvorgang  begleitenden  Gefühle  die  Associations- 
dauer  beeinflusse.    Um  dieses  Problem  zu  lösen,  haben  wir  die 


Zwr  qualitativen  üntermichung  der  Asaoeiatiofi. 


11 


Tabellen  Va  und  Vb  zusammengestellt.  Diese  theilen  in  Co- 
lunme  2  die  Häufigkeiten  der  mit  lust-  und  der  mit  unlust- 
betonten Zwischengliedern  verlaufenden  Reactionen  und  in  Co- 
Inmne  3  die  dazu  gehörigen  Dauern  mit.  Die  Häufigkeiten  sind 
in  beiden  Tabellen  bezogen  auf  die  Anzahl  der  gefühlsbetonten 
Associationen. 

Tabelle  Va. 


Gattniig 


Associationen  mit  lust* 
betonten  Zwischen- 
gliedern 


Häufigkeit  in  % 


Kercher  :       42,4 
Orth  :  40,0 

Dr.  Kinkel  :     — 


Mittlere  Dauer  in  See. 


Kercher  :       1,79 
Orth:  1,40 

Dr.  Kinkel  :     — 


Associationen  mit  unlust- 
betonten Zwischen- 
gliedern 


Kercher  :       57,6 
Orth  :  60,0 

Dr.  Kinkel  :  100,0 


Kercher  :       2,06 
Orth  :  2,13 

Dr. Kinkel:   3,20 


Tabelle  Vb. 


Gattung 


Aflsociationen  mit  unlust- 
betonten Zwischen- 
gliedern 


Häufigkeit  in  % 


Mittlere  Dauer  in  See. 


Associationen  mit  lust- 
betonten Zwischen- 
gliedern 


Mayer:  15,6 

Kercher  :       66,7 
Dr.  Kinkel  :   37,5 


Mayer  :  84,4 

Kercher  :       33,3 
Dr. Kinkel:   62,5 


Mayer  :  1,64 

Kercher  :       2,25 
Dr. Kinkel:   3,13 


Mayer  :  2,37 

Kercher  :       2,30 
Dr. Kinkel:   3,60 


Diese  Tabellen  zeigen  deutlich,  dafs  der  negative  Ge- 
fühlston der  eingeschalteten  Bewufstseinsvorgänge 
die  Geschwindigkeit  der  Association  beeinträchtigt. 

Schliefshch  fanden  wir  noch  bei  der  Betrachtung  unseres 
Materials,  dafs  sich  sowohl  parallel  dem  Reizworte,  als  auch 
parallel  dem  Reactionsworte  andere  Bewufstseinsvorgänge  (die 
Gefühle  eingeschlossen)  einstellen  können:  So  war  bei  der  Yer- 
SQchsperson    Orth    die   unmittelbar   auf   das   Reizwort    „Band'* 


12  A.  Mayer  und  J,  Orth, 

folgende  Reaction  „Wurm"  von  dem  Gesichtsbilde  eines  Band- 
wurmes begleitet.  In  dem  Beobachter  Mayer  entstand  beim 
Anhören  des  Reizwortes  „Choral"  ein  Lustgefühl,  worauf  sich 
sofort  die  Reaction  „singen"  einstellte.  Die  geringe  Anzahl  der 
in  unserem  Material  vorhandenen  hierher  gehörigen  Fälle  ge- 
stattet uns  jedoch  nicht,  irgend  welche  allgemein  gültige  weitere 
Schlüsse  von  Bedeutung  zu  ziehen.  Es  müssen  daher  die  Fragen, 
ob  die  psychischen  Parallelvorgänge  häufiger  das  Reiz-  oder  das 
Reactionswort  begleiten,  sowie  femer  die  Fragen,  ob  irgend  eine 
Gruppe  von  psychischen  Vorgängen  besonders  häufig  begleitend 
auftritt,  ob  und  in  welcher  Richtung  ein  Einflufs  dieser  Parallel- 
erscheinungen auf  die  Associationsdauer  stattfindet,  späteren 
Untersuchungen  zur  Lösimg  vorbehalten  bleiben.  Wir  können 
nur  sagen,  dafs  bald  mit  dem  Reiz-,  bald  mit  dem  Reactionswort 
andere  begleitende  Erlebnisse  (inclusive  der  Gefühle)  parallel  gehen 
können;  obgleich  unser  Material  keine  directe  Stütze  dafür 
bietet,  dürfen  wir  es  als  selbstverständUch  betrachten,  dafs  auch 
innerhalb  eines  Associationsvorganges  sowohl  mit  dem  Reizwort  als 
auch  mit  dem  Reactionswort  andere  Erlebnisse  einhergehen  können. 

Wir  fassen  jetzt  die  wesentUchsten  Ergebnisse  dieser  Arbeit 
in  Folgendem  zusammen: 

Wenn  der  Versuchsperson  die  Aufgabe  gegeben  wird,  auf 
ein  zugerufenes  Wort  mit  einem  laut  gesprochenen  Wort  zu 
reagiren,  so  können  sich  bei  ihr  verschiedene  Bewufstseinsvor- 
gänge  einstellen.  Erstens  kann  sich  das  Reactionswort  an  das 
Reizwort  unmittelbar  anschliefsen,  zweitens  können  sich  zwischen 
Reiz-  und  Reactionswort  ein  oder  mehrere  Bewufstseinsvorgänge 
einschalten. 

Dabei  zeigt  sich,  dafs  die  Reactionen  ohne  eingeschobene 
Bewufstseinsvorgänge  schneller  ablaufen  als  jene  mit  einge- 
schobenen Bewufstseinsthatsachen  und  dafs  die  Reactionen  mit 
einem  eingeschobenen  Bewufstseinsvorgang  von  kürzerer  Dauer 
sind  als  jene,  bei  welchen  sich  mehrere  psjxhische  Thatsachen 
zwischen  Reiz-  und  Reactionswort  einschalten. 

Die  Reactionen  mit  eingeschobenen  Bewufstseinsvorgängen 
treten  im  Allgemeinen  weit  häufiger  auf  als  jene  ohne  einge- 
schaltete Bewufstseinsthatsachen. 

Finden  sich  unter  den  eingeschobenen  Bewufstseinsvorgängen- 
Willensbethätigimgen,  so  wird  hierdurch  der  Reactionsvorgang 
verlangsamt. 


Zur  qualitativen  Untersuchung  der  Association,  13 

Die  an  die  zugerufenen  Worte  sich  ansehliefsenden  Bewufst- 
seinsYorgänge  sind  in  den  wenigsten  Fällen  gefühlsbetont,  in 
den  meisten  Fällen  nicht  gefühlsbetont 

Die  Gefühlsbetonimg  der  eingeschalteten  Bewufstseinsvor- 
gänge  verlangsamt  den  associativen  Vorgang;  die  negative  Ge- 
fühlsbetonung verzögert  ihn  mehr  als  die  positive. 

Wenn  man  nun  eine  Eintheilung  der  Associationen  zwischen 
zugerufenen  und  laut  gesprochenen  Worten  versuchen  wollte, 
welche  auf  der  qualitativen  Verschiedenheit  dieser  Associationen 
beruht,  so  müfste  dieselbe  ungefähr  folgendermaafsen  lauten: 

Die  Associationen  zerfallen  entweder 

a)  in  solche  ohne  eingeschobene  Bewufstseinsvorgänge,  und 

b)  in  solche  mit  eingeschobenen  Bewufstseinsvorgängen, 
die  sich  ihrerseits  wieder  nach  Zahl,  Art  und  Gefühls- 
betonung der  eingeschalteten  Bewufstseinsthatsachen 
weiter  gliedern  lassen,  oder 

a)  in  solche  ohne  begleitende  Bewufstseinsvorgänge  und 

b)  in  solche,  bei  welchen  mit  dem  Reizworte  begleitende 
Bewufstseinsvorgänge  ablaufen,  und 

c)  in  solche,  bei  welchen  mit  dem  Reactionsworte  begleitende 
Bewufstseinsvorgänge  ablaufen,  und 

d)  in  solche,  bei  welchen  sowohl  Reiz-  als  Reactionswort 
durch  andere  Erlebnisse  begleitet  werden. 

Eine  umfängliche  Vermehrung  des  Materials  dürfte  zeigen, 
dafs  auch  diese  zweite  Eintheilung  einer  weiteren  Gliederung 
zugänglich  ist. 

Zum  Schlüsse  gestatten  wir  uns  noch,  Herrn  Privatdocent 
Dr.  Mabbe  für  seine  werthvollen  Winke  und  Rathschläge,  sowie 
den  Versuchspersonen  Herrn  Privatdocent  Dr.  Kinkel  und 
Herrn  cand.  phil.  Kercher  für  ihre  thatkräftige  Unterstützung 
dieser  Arbeit  unseren  Dank  auszusprechen. 

(Eingegangen  am  28,  Januar  1901.) 


^N/  Der  Schmerz. 

Von 

Professor  W.  v.  Tschisch. 

„La  doulenr  est  la  morf 
FouLLi^,  La  Psychologie  des  iddea 
forces.    (T.  I,  p.  74.) 

I. 

RiBOT  hat  Recht,  wenn  er  sagt :  ^  „Ueber  den  physischen 
Schmerz  ist  nicht  wenig  gearbeitet  worden  und  mufs  in  Zukunft 
noch  viel  gearbeitet  werden."  Es  liegt  thatsächUch  eine  statt- 
liche Anzahl  von  Untersuchungen  über  den  Schmerz  vor  —  man 
denke  nur  an  die  werthvoUe  Arbeit  von  Seegi  „Dolore  e  Piacere" 
—  und  dennoch  ist  die  Lehre  vom  Schmerz  bis  heute  lückenhaft, 
und  manche  wichtige  Frage  völlig  unaufgeklärt  geblieben.  So 
ist  noch  lange  nicht  festgestellt,  welche  Reize  eigentUch  Schmerz 
erzeugen,  und  auch  die  Psychologie  des  Schmerzes  ist  noch 
keineswegs  vollständig.  —  Wenden  wir  uns  zunächst  der  Frage 
zu,  welche  Reize  Schmerz  erzeugen,  so  begegnen  wir  in  der 
neuesten  diesbezüglichen  Arbeit,  die  von  dem  so  verdienstvollen 
Physiologen  Charles  Rick  et  auf  dem  III.  internationalen  psycho- 
logischen Congrefs-  veröffentlicht  wurde,  der  Behauptimg,  dafs 
der  Schmerz  einerseits  durch  starke  Reize  (excitations  fortes) 
und  andererseits  durch  alle  abnormen  Zustände  (tout  6tat  anormal) 
hervorgerufen  werde.  Diese  Behauptung  entbehrt  aber  nicht  nur 
genügender  Klarheit,  sondern  entspricht  nicht  einmal  den  That- 
sachen.  Schon  Horwicz*  ist  gegen  die  WtnNDT'sche*  Ansicht, 
nach  welcher  starke  Reize  Schmerz  erzeugen,  aufgetreten,  und 
das  wahrlich  nicht  ohne  Grund.    Ist  es  doch   zur  Genüge  be- 

^  La  Psychologie  des  sentiments  S.  42. 

*  Dritter  Internationaler  Congrefs  für  Psychologie  1896. 

*  HoBwicz,  Psychologische  Analysen,  I.  Bd.,  6.  Buch;  IL  Bd.,  1.  u.  2.  Buch. 

*  WcNDT,  Physiologische  Psychologie,  Bd.  I,  Cap.  10. 


.    Der  Schmerz,  15 

kannt,  dafs  starke  Reize,  wie  z.  B.  länger  andauernde  intensive 
Schallreize  zwar  unangenehm,  aber  keineswegs  schmerzhaft  sind, 
und  dafs  andererseits  schwache  Reize,  z.  B.  ein  Tabaksstäubchen, 
ins  Auge  gerathen,  heftigen  Schmerz  verursacht.  — 

Es  ißt  leicht  einzusehen,  dafs  der  Schmerz  nicht  von  der 
Intensität  des  Reizes  abhängt,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt, 
dafs    z.   B.   der  bis  zur  Weifsglühhitze  erwärmte  Paquelin   nur 
geringen  Schmerz  verursacht,   während  der  Schmerz  sehr  heftig 
ist,  wenn  der  Apparat  nicht  genügend  erhitzt  ist  —  Manche 
Reize  erzeugen  allerdings  Schmerz,   erst  nachdem  sie  eine  ge- 
wisse Intensität  erreicht  haben,  dafür  giebt's  aber  andere,  die 
niemals  Schmerz   hervorrufen,    und    endlich   auch   solche,    die 
immer,  vollständig  unabhängig  vom  Grade  ihrer  Intensität,  Schmerz 
erzeugen.  — 

Nicht  weniger  unbestimmt  und  unklar  ist  die  Behauptung 
Richbt's,  dafs  jeder  abnorme  Zustand  Schmerz  bewirke.  „Ab- 
normer Zustand",  was  soll  dieser  Ausdruck  besagen?  Lungen- 
cavemen  sind  zweifelsohne  abnorme  Zustände  und  bewirken  oft 
keinen  Schmerz,  und  Mensehen,  die  dem  Erhängungstode  nah, 
also  in  einem  abnormen  Zustande  sich  befunden  haben,  geben, 
rechtzeitig  von  der  Schlinge  befreit,  an,  sich  völlig  wohl  gefühlt 
zü  haben.  Und  wenn  wir  auch  schhefsüch  die  Behauptung 
Richet's  als  richtig  und  klar  anerkennen  wollten,  wäre  doch  eine 
weitere  Bearbeitung  seiner  These  unumgänglich,  insofern,  als 
man  sich  nicht  mit  der  Annahme  zweier  Ursachen  begnügen 
kann,  ohne  sich  darüber  klar  zu  sein,  warum  zwei  verschiedene 
Ursachen  identische  Wirkungen  erzeugen,  warum  einerseits 
^starke  Reize"  und  andererseits  „abnorme  Zustände"  ein  und 
dieselbe  Wirkung,  Schmerz,  hervorrufen.  — 

Lichtreize  können  allerdings  sehr  unangenehme  Gefühle  be- 
wirken, erzeugen  aber  beim  gesunden  Menschen  nie  thatsächUchen 
Schmerz.  Eine,  wenn  ich  nicht  irre,  bei  den  Chinesen  beliebte 
Inquisitionsmethode  soll,  wie  Richet  erzählt,  darin  bestehen,  dafs 
den  Verbrechern  die  AugenUder  amputirt,  und  die  Augen,  so 
des  natürlichen  Schutzes  beraubt,  der  Sonne  ausgesetzt  werden. 
Ein  derartiger  Zustand  ist  bestimmt  qualvoll,  nicht  aber  in  Folge 
der  einwirkenden  Lichtreize,  sondern  weil  die  Augen,  so  allen 
schädlichen  Einflüssen  ausgesetzt,  leicht  der  Entzündung  ver- 
hüllen und  hyperästhetisch  werden.  Nur  bei  kranken  Menschen 
bewirken   intensive  Lichtreize  Schmerz,   Gesunden  dagegen   ist 


16  W.  von  Tschisch. 

intensives  Licht  angenehm.  Zu  bemerken  wäre  noch,  dafs  wir 
nicht  wissen  und  offenbar  auch  nicht  wissen  können,  ob  an- 
dauernde und  starke  Lichtreize  überhaupt  Schmerz  erzeugen,  da 
durch  die  Lider  die  Augen  vor  solchen  Reizen  geschützt  werden. 
Kranken,  die  an  FaciaUsparalyse  leiden,  venu*sacht  nach  meinen 
Beobachtimgen  intensives  Licht  keinen  Schmerz. 

Dasselbe  gilt  auch  von  den  Grehörsreizen,  die  an  und  für 
sich  keinen  Schmerz  verursachen.  Ein  Kanonenschufs  im  ge- 
schlossenen Raum  würde  allerdings  Schmerz  erzeugen,  aber  nicht 
als  Gebörsreiz,  als  Schall,  sondern  als  mechanischer  Reiz.  Eine 
Ruptur  des  Trommelfells,  mechanisch  durch  Einwirkung  von 
Luftschwingungen  erzeugt,  ist  selbstverständlich  schmerzhaft;  in 
diesem  Falle  darf  aber  nicht  der  Schall  als  Ursache  des  Schmerzes 
aufgefafst  werden.  Schallreize  als  solche  erzeugen  bei  Elranken 
Schmerz,  Gesunden  sind  sie  aber  nur  mehr  oder  weniger  un- 
angenehm.  — 

Musik  übt  freiHch  auf  verschiedene  Menschen  verschiedene 
Wirkungen  aus;  ein  Musikstück,  für  welches  der  Chinese  sich 
begeistert,  ist  uns  unangenehm.  Wirkhcher  Schmerz  wird  aber 
bei  allen  Menschen  und  auch  bei  Thieren  durch  ein  und  die- 
selben Reize  hervorgerufen,  wobei  nur  die  Litensität  des  Schmerzes 
verschieden  sein  kann;  geglühtes  Eisen  verursacht  dem  Tiger 
Schmerz,  ebenso  wie  dem  Menschen. 

Geruchsreize  bewirken  an  und  für  sich  ebenfalls  keinen 
Schmerz,  auch  wenn  sie  noch  so  unangenehm  sind.  Solange  das 
chemische  Agens  nur  auf  das  Geruchsorgan  wirkt,  erregt  es  nur 
Unlustgefühle,  aber  keinen  Schmerz.  Letzterer  könnte  allerdings 
bei  Einwirkung  des  Reizes  auf  Schleimhäute  eintreten,  doch 
wäre  dann  der  Schmerz  nicht  als  Folge  eines  Geruchsreizes  auf- 
zufassen. —  Wie  die  Geruchsreize  erzeugen  auch  diejenigen 
chemischen  Reize,  welche  Geschmacksempfindungen  auslösen, 
keinen  Schmerz.  Alle  Geschmacksempfindimgen,  wie  süfs,  sauer, 
salzig  und  bitter  können  wohl  unter  Umständen  unangenehm 
und  widerUch,  niemals  aber  schmerzhaft  sein.  Dem  könnte  man 
allerdings  entgegenhalten,  dafs  z.  B.  Essig  in  entsprechender 
Concentration  ein  unangenehmes  schmerzhaftes  Brennen  im 
Munde  bewirkt,  doch  dieses  schmerzhafte  Brennen  ist  nur  als 
Einwirkung  des  chemischen  Reizes  auf  die  Mundschleimhaut 
aufzufassen.  Chemische  Reize  erzeugen  nur  dann  Schmerz, 
wenn  sie  keine  Geschmacksempfindungen  auszulösen  vermögen, 


Der  Schmerz.  yi 

wie  Jeder  zugeben  wird,  der  unvorsichtigerweise  oder  absichtlich 
Königswasser  oder  Schwefelsäure  geschluckt  hat;  man  erinnert 
sich  in  solchen  Fällen  wohl  Schmerzen  aber  keine  Geschmacks- 
empfindungen gehabt  zu  haben.  Sehr  heftige  Schmerzen  be- 
wirken chemische  Agentien  sowohl  bei  Menschen  als  auch  bei 
Thieren  bei  allgemeiner  Einwirkung,  wie  z.  B.  Salpeter-  oder 
Schwefelsäure,  subcutan  oder  per  os  applicirt  —  Chemische 
Reize  wirken  schmerzerregend  nicht  vermöge  ihrer  Intensität, 
sondern  schon  durch  ihre  Natur  an  und  für  sich,  und  das  in- 
sofern,' als  diejenigen  chemischen  Reize,  welche  auf 
unseren  Organismus  zerstörend  wirken,  Schmerz 
erzeugen,  diejenigen  aber,  welche  nicht  den  Orga- 
nismus zerstören,  keinen  Schmerz  bedingen;  erstere 
rufen  immer  Schmerz  hervor,  letztere  niemals.  Der 
Intensität  chemischer  Reize  kommt  nur  insoweit  Bedeutung  zu, 
als  der  Schmerz  mit  der  Intensität  des  Reizes  wächst;  es  ist 
leicht  einzusehen,  dafs  zwei  Tropfen  Essigsäure  stärkeren  Schmerz 
erregen  als  ein  Tropfen. 

So  wissen  wir  denn  von  den  chemischen  Reizen,  dafs  einige 
von  ihnen,  wie,  mn  ein  Beispiel  Richet's  zu  gebrauchen,  die 
Essigsäure,  Schmerz  erzeugen,  andere  hingegen,  z.  B.  das  Wasser, 
keinen  Schmerz  erregen.  Näher  läfst  sich  Richet  über  den 
Unterschied  der  chemischen  Körper,  die  schmerzerregend  wirken, 
und  derjenigen,  die  keinen  Schmerz  erzeugen,  nicht  aus.  Es 
wäre  ein  Leichtes,  die  hauptsächlichsten  schmerzerregenden 
chemischen  Körper  aufzuzählen , .  doch  damit  wäre  noch  nicht 
ihre  Definition  gegeben.  Um  zu  bestimmen,  welche  chemischen 
Körper  Schmerz  erregen,  gilt  es  zuerst,  ein  Kennzeichen  zu  finden, 
das  allen  schmerzerregenden  Körpern  gemeinsam  ist.  Merk- 
würdigerweise ist  auf  ein  derartiges  Kennzeichen  noch  nicht 
hingewiesen  worden;  ich  glaube  es  jedoch  in  Folgendem  ge- 
funden zu  haben:  Diejenigen  chemischen  Körper, 
welche  bei  unmittelbarer  Einwirkung  Schmerz  er- 
zeugen, tödten  lebendes  Gewebe.  Der  Schmerz  ist 
selbstverständlich  an  die  Existenz  von  Nerven  gebunden  imd 
entsteht,  ehe  noch  das  Gewebe  getödtet  ist;  er  tritt  deshalb  bei 
Einwirkimg  geringer  Dosen  oder  schwacher  Lösungen  auf, 
während  der  Tod  des  Gewebes  durch  concentrirte  Lösungen  oder 
grofse  Dosen  bedingt  wird.  — 

Zeitschrift  (^üt  Psychologie  26.  2 


18  W.  von  TschiscL 

Die  schmerzen'egenden  Stoffe  sind  ihrer  chemischen  Structur 
nach  sehr  verschieden,  und  ihre  Anzahl  ist  Legion;  es  würde 
auch  zu  nichts  führen,  wollten  wir  sie  alle  aufzählen,  wichtig  ist 
nur,  dafs  ihnen  allen  die  charakteristische  Eigenschaft  zukommt, 
lebendes  Gewebe  in  todtes  zu  verwandeln.  Diejenigenchemi- 
schen  Körper,  die  keinen  Schmerz  erregen,  tödten 
eben  kein  lebendes  Gewebe.  Folglich  sind  die  chemischen 
Körper  in  zwei  Gruppen  zu  sondern,  in  solche,  die  das  Gewebe 
tödten  und  Schmerz  erregen,  und  in  solche,  die  lebendes  Gewebe 
nicht  angreifen  und  keinen  Schmerz  erregen.  Fassen  wir  end- 
Uch  die  schmerzerregenden  Eigenschaften  der  chemischen  Körper 
in  ein  Gesetz  zusammen,  so  würde  es  wie  folgt  lauten:  Jedes 
chemische  Agens,  welches  lebendes  Gewebe  in 
todtes  verwandelt,   erzeugt   Schmerz. 

Mechanische  Reize,  wie  Hieb,  Druck  u.  s.  w.  erzeugen 
Schmerz,  freilich  erst  nachdem  sie  eine  gewisse  Intensität  er- 
reicht haben,  so  dafs  in  dieser  Beziehung  die  von  Richet  auf- 
gestellte Regel  zutrifft,  wenngleich  sie  noch  einer  Ergänzung  be- 
darf. Von  der  Richtigkeit  der  von  Richet^  und  Naunien*  in 
Bezug  auf  die  Summation  schwacher  mechanischer  Reize  ge- 
zogenen Schlüsse  überzeugt  man  sich  leicht  durch  einen  ein- 
fachen Versuch.  Reizt  man  durch  auf  einander  folgende  schwache 
Schläge  ein  und  dieselbe  Stelle,  so  entsteht  Schmerz;  folglich 
wird  Schmerz  nicht  nur  durch  starke,  sondern  auch  durch  die 
Summation  schwacher  mechanischer  Reize  erzeugt.  — 

Jeder  noch  so  schwache  mechanische  Reiz  erzeugt  Schmerz, 
wofern  er  die  Integrität  des  Gewebes  angreift.  Schnitt,  Stich, 
Rifs  u.  s.  w.  sind  deshalb  stets  schmerzhaft,  vorausgesetzt,  dafs 
das  verletzte  Gewebe  auch  Nerven  enthält,  denn  der  Schmerz 
ist  natürhch  an  die  Existenz  von  Nerven  gebunden.  —  Wie  die 
mechanischen  erzeugen  auch  die  elektrischen  Reize  Schmerz  erst 
bei  gewisser  Intensität,  und  wie  die  Summation  schwacher  mecha- 
nischer Reize  wirkt  auch  die  Summation  schwacher  elektrischer 
Reize  schmerzerregend.  Elektrische  Reize  erregen  bekannthch 
bei  ihrer  Einwirkung  auf  die  Sinnesorgane  die  entsprechenden 
specifischen  Empfindungen;  so  entstehen  bei  der  Wirkung  von 
Elektricität  aufs  Auge  Gresichtsempfindungen,  bei  der  aufs  Ohr 


*  Recherches  sur  le  sensibilit^.    1877. 

•  Archiv  für  ea^rimentellc  Pathologie  und  Pharmakologie  15. 


Der  Schmerz.  19 

Gehörsempfindungen  u.  s.  w.  Interessant  ist  nun,  dafs  die  elek- 
trischen Reize  keinen  Schmerz  erzeugen,  solange  sie  specifische 
Empfindungen  hervorrufen,  sind  sie  aber  so  stark,  dafs  sie 
Schmerz  erregen,  so  vermögen  sie  nicht  specifische  Empfindungen 
hervorzurufen.  Dieses  Gesetz,  auf  welches  meines  Wissens  in 
der  Literatur  noch  nicht  hingewiesen  ist,  bestätigt  vollkommen 
die  früher  aufgestellte  Behauptung,  dafs  die  specifischen  Empfin- 
dungen der  höheren  Sinnesorgane  niemals  mit  Schmerz  ver- 
gesellschaftet sind.  —  Der  heftigste  Schmerz  entsteht  durch 
Temperaturreize,  für  welche  die  JRiCHET*sche  Regel  wohl  kaum 
Geltung  findet.  In  Bezug  auf  diese  Reize  wäre  die  Regel  rich- 
tiger in  folgender  Weise  zu  formuhren:  „Hitze  und  Kälte  er- 
zeugen Schmerz  insoweit,  als  sie  mit  Nerven  versehenes  Gewebe 
zerstören."  Des  Schmerzes,  der  durch  den  Paquehn  erzeugt 
wird,  ist  bereits  vorhin  Erwähnung  gethan  worden ;  hinzuzufügen 
wäre  noch,  dafs  der  Schmerz  um  so  heftiger  wird,  je  gröfser  die 
Fläche  ist,  auf  welche  die  höhere  oder  niedere  Temperatur  wirkt. 
Starke,  plötzlich  einwirkende  Kälte  erzeugt  zuerst  brennenden 
Schmerz  und  dann  Empfindungslosigkeit,  weil  die  Kälte  zuerst 
oberflächUche  Nekrose  und  dann  Anästhesie  bedingt.  Mäfsige 
Kälte  imd  Hitze  bedingen  keinen  Gewebstod,  folgUch  auch  keinen 
Schmerz,  sondern  nur  Unlustgefühle  im  ganzen  Organismus; 
starke  Kälte  und  starke  Hitze  verursachen  dagegen  heftige 
Schmerzen,  wahrscheinlich  nicht  nur  durch  unmittelbare  Zer- 
störung der  Gewebe,  sondern  auch  durch  Erzeugung  von  Gift- 
stoffen. — 

Nachdem  wir  so  alle  in  der  Aufsenwelt  vor  sich  gehenden 
Veränderungen,  die  in  uns  Empfindungen  hervorrufen,  aufge- 
zählt, nachdem  wir  femer  festgestellt,  welche  von  diesen  Ver- 
änderungen oder,  besser  gesagt,  Reizen,  Schmerz  erzeugen,  und 
unter  welchen  Bedingungen  dieses  geschieht,  erübrigt's  noch, 
ein  charakteristisches,  allen  schmerzerregenden  Reizen  gemein- 
sames Kennzeichen  ausfindig  zu  machen,  durch  welches  sich 
diese  von  allen  übrigen  Reizen  unterscheiden,  die  nicht  mit 
Schmerzgefühlen  associirte  Empfindungen  erzeugen.  — 

Vor  Allem,  wäre  bei  Erörterung  dieser  Frage  darauf  hinzu- 
weisen, dafs  die  Empfindungen  der  höheren  Sinnesorgane  bei 
gesunden  Menschen  nie  mit  Schmerzen  einhergehen,  doch  dieser 
Hinweis,  der  wohl  für  den  Psychologen  von  einigem  Werth  ist, 
kann  weder  den  Physiologen,  noch  den  Arzt  befriedigen.  — 

2* 


20  ^'^  ^on  Tschisch. 

Meines  Wissens  hat  diese  Frage  bisher  noch  keine  Beant- 
wortimg erfahren;  aus  diesem  Grunde  will  ich  mich  bemühen, 
die  Berechtigung  meiner  Auffassung  von  diesem  Gegenstand 
näher  zu  begründen.  — 

Beize,  welche  den  Menschen  nicht  tödten  können,  wie  grelles 
Licht,  lauter  Schall,  widerlicher  Geruch,  ekelerregende,  aber  nicht 
zerstörend  auf  das  Gewebe  des  Verdauungskanals  wirkende  Stoffe 
erzeugen  keinen  Schmerz. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  erzeugen  aber  Schmerz  diejenigen 
Beize,  welche  den  Menschen  tödten  können.  So  wirken  schmerz- 
erregende Giftstoffe,  mechanische,  elektrische  Beize,  Hitze  und 
Kälte.  — 

Es  unterUegt  keinem  Zweifel,  dafs  die  Inquisition  bei  so 
reicher  Erfahrimg  sich  der  vollendetsten  Mittel  zu  bedienen 
wufste,  um  ihre  Opfer  zu  martern  und  zu  tödten.  Mit  den  Ur- 
sachen des  Schmerzes  besser  vertraut,  als  mancher  Gelehrte,  be- 
nutzten die  Inquisitoren  starke  Licht-,  Schall-,  Geruchs-  oder 
Greschmacksreize  nicht  für  ihre  Zwecke,  weil  diese  viel  zu  geringe 
Qualen  verursacht  und  den  Opfern  nie  ein  Geständnifs  abge- 
rungen hätten.  Die  Unglücklichen  wurden  freilich  in  dunkle 
Kerker  geworfen,  weil  andauernder  Lichtmangel  thatsächUch 
Unlustgefühle  und  sogar  Schmerz  bedingt;  diese  Wirkung  war 
dann  aber  nicht  direct,  sondern  vielmehr  indirect  bedmgt  durch 
Veränderungen,  welche  im  ganzen  Organismus  hervorgerufen 
wurden.  —  Unklar  erscheint,  freilich  nur  bei  oberflächUcher  Be- 
trachtung, die  Thatsache,  dafs  nicht  alle  chemischen  Beize,  welche 
den  Organismus  tödten,  Schmerz  en^egen.  Alkohol,  Morphium 
imd  Cocain  rufen  in  kleinen  Dosen  nicht  nur  keine  Schmerzen 
hervor,  sondern  erzeugen  sogar  eine  angenehme  Wirkung,  wäh- 
rend sie  in  grofsen  Dosen  tödten,  ohne  Schmerz  zu  erregen.  — 
Schmerzerregende  Gifte  unterscheiden  sich  lebhaft  von  Giften, 
die  tödtUch  wirken,  ohne  Schmerz  zu  erzeugen.  Solange  dieser 
Unterschied  nicht  aufgeklärt  ist,  ist  auch  die  Behauptung  ge 
rechtfertigt,  dafs  der  Schmerz  nicht  „die  wachsame  Schildwache" 
des  Organismus  ist  — 

Dieser  Unterschied  besteht  aber  in  Folgendem:  „Beize, 
welche  dem  Individuum  schädlich  sind,  erregen  Un- 
lustgefühle; Beize,  welche  das  Individuum  tödten, 
erregen  ebenfalls  Unlustgefühle,  Beize  aber,  welche 
lebendes  Gewebe  tödten,  erregen  Schmerz.    In  diesen 


Der  Schmerz,  21 

Gesetzen  liegt  die  Antwort  auf  alle  gestellten  Fragen,  sie  beant^ 
Worten  die  Frage,  warmn  nicht  nur  auf  das  Individuum  schäd- 
lich, sondern  sogar  tödtlich  wirkende  Reize  keinen  Schmerz  er- 
regen. — 

Einige  Gifte  bewirken  keinen  Schmerz,  und  zwar  gerade 
diejenigen,  welche  nicht  unmittelbar  auf  das  lebende  Gewebe, 
sondern  auf  das  Individuum  tödtlich  wirken.  Im  Gegensatz  zu 
diesen  wirken  schmerzerregend  diejenigen,  welche,  wie  z.  B. 
Sublimat,  unmittelbar  das  Gewebe  zerstören,  lebendes  Gewebe  in 
todtes  verwandeln,  oder  Veränderungen  im  Organismus  hervor- 
rufen, welche  auf  mechanischem  oder  chemischem  Wege  den 
Gewebstod  herbeiführen.  — 

Der  Schmerz  erscheint  zeitUch  als  erste  Reaction  des  Orga- 
nismus auf  Reize,  die  lebendes  Gewebe  tödten,  er  ist  gleichsam 
der  Wächter  des  Organismus,  ein  Eilbote,  der  die  Meldung  bringt, 
daCs  Gefahr  im  Anzüge  ist,  der  Schmerz  zeigt  an,  dafs  bei 
längerer  und  stärkerer  Einwirkung  des  Reizes  der  Tod  des  Ge- 
webes eintreten  werde,  und  dafs  letzterer  zum  Theil  schon  im 
Emtreten  begriffen  ist.  — 

Reize,  welche  Unlustgefühle  erregen,  sind  dem  Individuum 
schädUch,  Reize  dagegen,  welche  Schmerz  erregen,  zerstören  einen 
gröfseren  oder  kleineren  Theil  des  den  Organismus  bildenden 
Gewebes.  — 

Betrachten  wir  von  diesem  Standpunkte  aus  nochmals  die 
schmerzerregenden  Reize,  so  sehen  wir,  dafs  gerade  diese  Reize, 
zum  Unterschiede  von  allen  übrigen,  es  sind,  welche  nicht  nur 
das  Individuiun  tödten,  sondern  das  lebende  Gewebe,  das  ihrer 
unmittelbaren  Einwirkung  unterhegt.  — 

Hitze  und  Kälte  tödten  lebendes  Gewebe,  tödten  jede  lebende 
Zelle,  ebenso  wie  die  schmerzerregenden  Gifte.  Es  giebt  keine 
lebende  Zelle,  die  diesen  Reizen  widerstände,  und  deshalb  auch 
kein  Lebewesen,  dem  sie  nicht  schädhch  wären,  das  ihnen  nicht 
gern  fernbUebe.  Mechanische  Reize,  wie  Stich,  Schlag  oder 
Druck,  und  ebenso  elektrische  Reize,  tödten  gleichfalls  lebendes 
Gewebe.  Auf  welche  Weise  Elektricität  lebendes  Gewebe  tödtet, 
ist  allerdings  noch  völlig  unbekannt,  es  imterliegt  aber  keinem 
Zweifel,  dafs  derartige  Reize  schädlich  sind,  weshalb  sie  auch 
nach  Möglichkeit  gemieden  werden.  — 

Nach  diesen  Ueberlegungen  ist  auch  unschwer  einzusehen, 
warum   schmerzerregende   Reize  bei   allen   Lebewesen    Schmerz 


22  W'  von  Tschisch, 

erzeugen,  wofern  letztere  der  Schmerzempfindung  fähig  sind. 
Ein  Tropfen  Schwefelsäure  ruft  beim  Menschen  in  gleicher  Weise, 
wie  beim  enthaupteten  Frosch  Abwehrbewegungen  hervor,  denn 
Schwefelsäure  wirkt  sowohl  auf  das  Gewebe  des  Menschen  wie 
auch  auf  das  des  enthaupteten  Frosches  tödtlich.  Es  giebt  kein 
der  Schmerzempfindung  fähiges  Thier,  das  auf  schmerzerregende 
Reize  nicht  in  derselben  Weise  reagirte,  wie  der  Mensch.  Der 
Schmerz  ist  universell,  insofern  als  ein  imd  dieselben 
Reize  auf  alle  Lebewesen  identisch  wirken;  ein  Unterschied  gilt 
nur  in  Bezug  auf  den  Grad  der  Wirkung.  Doch  nur  schmerz- 
erregende Reize  wirken  auf  alle  Lebewesen  in  gleicher  Weise, 
während  Reize,  die  nur  Unlustgefühle  erzeugen  —  imd  darin 
besteht  der  wesentUche  Unterschied  —  nicht  als  universell  be- 
zeichnet werden  können.  Schmerzerregenden  Reizen  gegenüber 
verhalten  sich  auch  alle  Lebewesen  in  gleicher  Weise ;  alle  streben 
ihnen,  wenn  irgend  möglich,  zu  entgehen,  denn  schmerzerregende 
Reize  tödten  alles  Lebendige.  —  Der  Schmerz  wird  also  durch 
Reize  erregt,  welche  ohne  Ausnahme  alles  Lebendige  zerstören, 
während  Unlustgefühle  erzeugt  werden  durch  Reize,  welche 
keineswegs,  wie  jene,  auf  alle  Lebewesen  identisch  wirken,  son- 
dern auf  verschiedene  Thierspecies,  ja  sogar  auf  verschiedene 
Einzelindividuen  verschieden. 

Eine  schwierigere  Frage  ist,  wie  die  genannten  Reize  in  den 
inneren  Organen  wirken,  was  für  Processe  sie  hier  hervorrufen. 
Bekannt  ist  nur,  dafs  einige  innere  Krankheiten  mit  mehr  oder 
weniger  heftigen  Schmerzen  verlaufen,  andere  dagegen  ohne  die- 
selben, und  weiter  beschränken  sich  unsere  Kenntnisse  ledigUch 
darauf,  dafs  die  Schmerzen  in  den  inneren  Organen  durch  mecha- 
nische und  chemische  Reize  erregt  werden.  — 

Auf  welche  Weise  mechanische  Reize  Schmerz  erregen,  ist 
allerdings  bekannt,  unerforscht  ist  aber,  ob  in  den  einzelnen 
Krankheitsfällen  der  Schmerz  auf  mechanische  oder  chemische 
Reize  zu  beziehen  sei,  und  wir  sind  auch  nicht  im  Stande,  alle 
Krankheiten  und  krankhaften  Processe  aufzuzählen,  die  mit 
Schmerzen  einhergehen.  So  wissen  wir,  dafs  Geschwülste,  Gallen- 
und  Harnsteine  auf  mechanischem  Wege  Schmerz  erzeugen,  ob 
aber  bei  Entzündungsprocessen  mechanische  oder  chemische 
Reize  schmerzerregend  wirken,  ist  unbekannt.  Es  liegt  wohl 
nahe,  in  vielen  Fällen  den  Schmerz  auf  chemische  Ursachen 
zurückzuführen,  einstweilen  fehlen  jedoch  überzeugende  Unter- 


Der  Schmerz.  23 

suchungen.  —  Mechanische  und  ehemische  Reize  erzeugen  in 
den  inneren  Organen  nicht  nur  bei  starker  Einwirkung  Schmerz, 
sondern  auch  bei  schwacher.  Nicht  nur  grofse,  sondern  auch 
kleine  Greschwülste  verursachen  Schmerz ;  in  manchen  Fällen  von 
intracraniellen  Tumoren  bestehen  die  schreckKchsten  Schmerzen 
gerade  nur,  solange  die  Gesch\\^8t  klein  ist,  und  verschwinden, 
sobald  letztere  gröfsere  Dimensionen  angenommen  hat.  Ein  Glas 
schlechten  Weines  verursacht  andauernde  heftige  Kopfschmerzen, 
obgleich  doch  in  einem  Glase  wahrscheinUch  nicht  mehr  als 
wenige  MiUigramme  der  giftigen  Substanz  enthalten  sind.  Die 
Intensität  des  Schmerzes  in  den  inneren  Organen  ist  der  Inten- 
sität des  entsprechenden  Reizes  nicht  proportional  und  wird 
durch  einstweilen  noch  gänzUch  unbekannte  Ursachen  bedingt 
—  Schon  im  Jahre  1880  hat  Meynert  die  Vermuthung  ausge- 
sprochen, dafs  die  gedrückte  Gemüthsstimmung,  der  psychische 
Schmerz  auf  veränderte  Stoffwechselvorgänge  in  den  Zellen  der 
Hirnrinde  zu  beziehen  sei,  die  in  Folge  ungenügender  Zufuhr 
arteriellen  Blutes  zu  Stande  kämen;  er  bezeichnete  diesen  Zu- 
stand der  Zellen  als  dyspnoische  Emährimgsphase.  Mit  dieser 
Hypothese  stehen  auch  die  genannten  Gesetze  von  der  Ent- 
stehung des  Schmerzes  in  gewissem  Einklang.  — 

Wenn  auch  die  Art  und  Weise,  wie  die  schmerzerregenden 
Gifte  das  Gewebe  tödten,  noch  nicht  in  allen  Fällen  genügend 
erforscht  ist,  so  wissen  wir  doch,  dafs  einige  von  ihnen  durch 
Entziehung  von  Sauerstoff  den  Gewebstod  bedingen,  andere 
wiederum  dadurch,  dafs  sie  die  innere  Structur  des  Gewebes  zer- 
stören, ohne  dabei  Bestandtheile  zu  entnehmen  oder  hinzuzufügen. 
Jedenfalls  wird  die  MEYNEBT'sche  Hypothese  durch  die  Thatsache, 
dafs  Gifte,  welche  durch  Sauerstoffentziehung  lebendes  Gewebe 
tödten,  Schmerz  erzeugen,  in  zutreffendster  Weise  bestätigt  Der 
Schmerz  erscheint  als  erste  Reaction  bei  Einwirkung  von  Giften, 
welche  Sauerstoff  entziehen.  Demgemäfs  werden  auch  die  func- 
tionellen ,  neuralgischen  Schmerzen  wahrscheinhch  durch  im  Blut 
oder  im  Nervensystem  selbst  auftretende  Gifte  bedingt,  die  das 
Gewebe  tödten,  indem  sie  ihm  den  Sauerstoff  entziehen,  oder 
die  Blutbeschaffenheit  dahin  ändern,  dafs  das  Blut  die  Fähigkeit 
einbüfst,  den  Nervenzellen  die  nöthige  Quantität  von  Sauerstoff 
abzugeben.  Die  Nervenzellen  befinden  sich  eben  dann  in  der 
„dyspnoischen  Ernährungsphase'',  sie  verfallen  dem  Sauerstoft*- 
hunger.    Den  Sauerstoffmangel  beantwortet  das  Bewufstsein  mit 


24  W,  von  Tsehisch, 

der  Schmerzerscheinung  in  derselben  Weise,  wie  die  Einwirkung 
von  Giften,  die  das  Gewebe  durch  Entziehung  von  Sauerstoff 
zerstören. 

n. 

Obgleich  der  Schmerz  eine  so  bekannte  Erscheinung  und 
schon  oft  Gegenstand  der  Forschung  gewesen  ist,  sind  die  An- 
schauungen vieler  Gelehrten  über  denselben  noch  auffallend  un- 
klar. Schon  ein  einfacher  Versuch  jedoch,  den  ich  oft  an  mir 
und  Anderen  ausgeführt  habe,  genügt,  um  dem  Wesen  des 
Schmerzes  näher  zu  treten.  Die  einfache  Berührung  der  Elek- 
trode eines  noch  nicht  geschlossenen,  unwirksamen  Stromes  ruft 
nur  die  Empfindung  einer  einfachen  Berührung  hervor;  wird 
aber  der  Strom  geschlossen,  so  entsteht,  solange  er  schwach  ist, 
eine  eigenartige,  mir  persönlich  angenehme,  vielen  Anderen  un- 
angenehme Empfindung,  die  bei  fortschreitender  Steigerung  des 
Stromes  immer  unangenehmer  wü-d,  bis  endUch  das  Unlustgefühl 
in  Schmerz  übergeht.  Läfst  man  den  Strom  noch  weiter  an- 
schwellen, so  steigert  sich  auch  der  Schmerz;  die  Schmerz- 
empfindung wird  aber  allmähhch  weniger  deutlich  und  dann 
tritt  schliefslich  ein  Moment  ein,  in  welchem  das  Bewufstseiü 
vollständig  vom  Schmerz  absorbirt  ist,  ein  Zeitpunkt,  in  welchem 
trotz  der  Ueberzeugung,  elektrisirt  zu  werden,  nichts  mehr  em- 
pfunden wird,  in  welchem  eben  das  Bewufstsein  vom  Schmerz 
absorbirt  ist  Der  Versuch  lehrt,  dafs  man  bei  schwachen  Strömen 
mit  Leichtigkeit  Empfindung  und  Schmerz  zu  unterscheiden  ver- 
mag, während  bei  starken  der  Schmerz  so  sehr  hervortritt,  dafs 
es  unmöglich  wird,  die  Berührung  der  Elektrode  und  die  durch 
den  Strom  bedingte  Empfindung  getrennt  wahrzunehmen.  Wird 
der  Moment  der  Stromschliefsung  auf  dem  Kymographen  markirt^ 
und  die  Versuchsperson  aufgefordert,  den  Zeitpunkt,  in  welchem 
sie  den  Reiz  des  faradischen  Stromes  empfindet,  durch  ein  auf 
dem  Kymographen  zu  vermerkendes  Zeichen  anzugeben,  so  zeigt 
sich,  dafs  die  Empfindung  des  elektrischen  Stromes  früher  auf- 
tritt, als  der  Schmerz,  dafs  die  Berührung  0,1 — 0,2  See.  nach  der 
Schhefsung  des  Stromes  empfunden  wird,  der  Schmerz  dagegen 
nach  0,3  bis  1,5  See.  Markirt  man  auf  dieselbe  Weise  den 
Moment  der  Stromöffnung,  so  überzeugt  man  sich,  dafs  die 
Empfindung  des  elektrischen  Stromes  sofort  erlischt,  nicht  einmal 
0,2  See.  lang  die  Oeffnung  des  Stromes  überdauert,  während  der 


Der  Schmerz,  25 

Schmerz  noch  lange  wahrgenommen  wird,  je  nach  der  Stärke 
des  ihn  erzeugenden  Stromes.  Nach  schwachen  Reizen  erUscht 
der  Schmerz  schon  im  Verlaufe  von  wenigen  Secimden,  nach 
starken  dagegen  dauert  er  sogar  einige  Minuten  an.  Es  ergiebt 
sich  also,  dafs  der  Schmerz  später  ins  BewuTstsem  gelangt,  als 
die  Empfindung  des  elektrischen  Stromes,  und  dafs  er  nach 
Entfernung  des  Reizes  eine  bestimmte  Zeit  andauert,  während 
die  Empfindung  gleichzeitig  mit  dem  Reize  erUscht  — 

Um  das  Verhältnifs  zwischen  Empfindimg  und  Schmerz 
genau  zu  studiren,  setzte  ich  mich  selbst  Reizen  von  verschie- 
dener Stromstärke  aus,  nachdem  ich  zuvor  Stickoxydul  auf  mich 
hatte  einwirken  lassen.  Nach  leichter  Vergiftung  bUeben  die 
Empfindungen  im  verändert,  während  Schmerz  erst  durch  sehr 
starke  Ströme  ausgelöscht  wurde  und  es  zu  heftigen  Schmerzen 
bei  den  mir  zur  Verfügung  stehenden  Strömen  überhaupt  nicht 
kam;  nach  stärkerer  Vergiftung  konnten  Gefühle,  also  Schmerz, 
nicht  mehr  erzeugt  werden,  während  Empfindungen  deutlich 
wahrgenommen  wurden.  Genau  dasselbe  habe  ich  auch  nach 
subcutanen  Cocaininjectionen  an  mir  beobachtet  Während  ge- 
ringe Dosen  die  Empfindungen  nicht  rni  Germgsten  beemflussen 
und  Berührungen  eines  Messers  z.  B.  deutlich  wahrgenommen 
wurden,  entsteht  Schmerz  niemals  durch  Schnitte  in  die  Haut, 
welche  unter  solchen  Umständen  nur  Unlustgefühl  erzeugen. 
Eine  gröfsere  Dosis  des  genannten  Giftes  bringt  jegUches  Gefühl 
zum  Erlöschen  und  läfst  Empfindungen  unbeeinflufst.  — 

Der  Schmerz  ist  immer  mit  einer  Empfindung  vergesell- 
schaftet Solange  der  Schmerz  gering  ist  und  sich  noch  nicht 
ganz  imseres  Bewufstseins  bemächtigt  hat,  vermögen  wir  noch 
deuthch  die  dem  Reiz  entsprechende  Empfindung,  welche  uns 
über  den  erfolgten  Reiz  in  Kenntnifs  setzt,  vom  Schmerz  zu 
unterscheiden.  Wird  aber  der  Schmerz  sehr  heftig,  so  tritt  die 
Empfindung  zurück,  wird  undeutlich  und  verschwommen;  die 
Empfindung  erUscht  jedoch  keineswegs,  und  unter  noch  so 
heftigen  Schmerzen  sind  wir  im  Stande,  genau  anzugeben,  wo 
e«  schmerzt  Der  Schmerz  ist,  ich  wiederhole  es,  mit  einer 
Empfindimg  immer  vergesellschaftet,  darf  aber  keineswegs  mit 
letzterer  identificirt  werden;  es  wäre  unrichtig,  über  Schmerz- 
empfindungen in  demselben  Sinne  zu  reden,  wie  über  Geschmacks- 
empfindungen ;  denn  es  giebt  auch  Empfindungen,  die  nicht  von 
Schmerzgefühlen  gefolgt  sind.    Empfindungen  und  Schmerz  sind 


26  ^.  von  Tschisch, 

durchaus  selbständige  grundverschiedene  Erscheinungen  dea 
psychischen  Geschehens.  — 

Ein  schmerzerregender  Reiz  ruft  gleichzeitig  die  Empfindung 
mit  allen  ihren  Attributen,  der  Qualität  und  Intensität,  hervor 
und  das  lebhafte  Schmerzgefühl.  Meine  Beobachtimgen,  welche 
nur  noch  emmal  längst  bekannte  Thatsachen  bestätigen,  zeigen, 
dafs  das  Gefühl  als  Begleiterscheinung  der  Empfindimg  au&u- 
fassen  ist,  und  dafs  das  Gefühl  auch  nach  dem  Erlöschen  der 
Empfindung  fortbestehen  kann,  während  es  andererseits  schwin- 
den  kann  bei  noch  bestehender  Empfindung. 

Wirkt  ein  Reiz  störend  auf  den  Organismus,  so  geUngt  die 
Kunde  von  der  Zerstörung  dadurch  ins  Bewufstsein,  dafs  zur 
Empfindung  das  Schmerzgefühl  hinzutritt  Gleichzeitig  gehen 
im  Organismus  Veränderungen  vor  sich;  einige  von  ihnen,  wie 
die  Veränderungen  des  Pulses  und  der  Pupillenweite,  sind  uns 
zur  Genüge  bekannt,  andere  dagegen  harren  der  Erforschung.  — 

So  sind  denn  der  Schmerz  als  elementarer  psychischer  Vor- 
gang einerseits,  imd  die  zum  Theil  erforschten  Veränderungen  des 
Organismus  andererseits  Theile  ein  und  desselben  Vorgange& 
Der  Schmerz  ist  demnach  nicht  nur  als  psychologische  sondern 
auch  als  physiologische  Erscheinung  aufzufassen,  und  die  von 
Martius  ^  für  den  Schmerz  gegebene  Definition  entbehrt  der  Voll- 
ständigkeit, wenn  er  ihn  als  rein  subjective  Erscheinimg  be- 
zeichnet. 

In  Bezug  auf  die  Dauer  des  Schmerzes  bemerkte  ich  schon 
früher,  dafs  selbst  nach  schwachen  Reizen  der  Schmerz  noch 
fortbesteht,  nachdem  der  Reiz  zu  wirken  aufgehört  hat.  Starke 
Reize,  wie  eine  bedeutende  Verbrennung,  ein  Schlag  mit  dem 
Stocke,  erzeugen  bekanntlich  Schmerzen,  die  mehrere  Minuten 
andauern,  und  sehr  starke  Reize  rufen  oft  Schmerzen  von  Tage, 
Monate,  ja  Jahre  langer  Dauer  hervor.  Alte  Wunden  bedingen 
Jahre  imd  Jahrzehnte  hindurch  die  qualvollsten  Schmerzen. 
Nicht  imbekannt  ist  auch  die  Thatsache,  dafs  geringe  Reize  an- 
dauernde Pulsveränderungen  hervorrufen,  die  sich  noch  nach 
dem  Erlöschen  der  Reize  feststellen  lassen.  Entgegengesetzt  der 
Meinung  Anderer  mufs  ich  mich  jedenfalls  für  eine  kürzere  oder 
längere  Dauer  des  Schmerzes  aussprechen.  Schon  die  Entstehung 
des  Schmerzes  durch  Reize,  welche  das  Gewebe  zerstören,  weist 


*  Der  Schmerz,  S.  1. 


Der  Schmerz.  27 

Äuf  die  Dauer  desselben  hin ;  ist  dem  so,  dann  mufs  der  Sehmerz 
auch  fortbestehen,  nachdem  der  Reiz,  welcher  ihn  erzeugt  hat, 
geschwimden  ist  Ein  Hieb,  ein  heifser  Gegenstand,  ein  Tropfen 
Schwefelsäure  verursachen  bei  ihrer  Einwirkung  auf  unseren 
Organismus  fraglos  eine  Reihe  von  Veränderungen,  die  auch 
nach  dem  Schwinden  des  Reizes  fortdauern.  Sind  denn  Quetsch- 
wunden oder  Hyperämie  und  Blasen  der  Haut  nicht  deutlich 
wahrnehmbare  fortbestehende  materielle  Spuren  eines  Hiebes 
oder  einer  erfolgten  Verbrennung,  deren  Ursache  längst  entfernt, 
zu  wirken  aufgehört  hat?  Ein  Tropfen  Schwefelsäure  zerstört 
nicht  nur  das  Gebiet,  auf  welches  derselbe  unmittelbar  eingewirkt 
hat,  sondern  ruft  auch  in  der  Umgebung  desselben  andauernde 
entzündliche  Veränderungen  hervor;  ja  sogar  ein  schwacher 
faradischer  Strom  hinterläfst  Veränderungen  wie  Gefäfserweite- 
rung  u.  s.  w.  FreiHch,  der  Organismus  sucht  sich  mit  allen  ihm 
zu  Gebote  stehenden  Mitteln  zu  vertheidigen  vor  Angriffen,  die 
Schmerz  verursachen,  doch  sind  seine  Vertheidigungswaffen,  wie 
Regeneration  des  zerstörten  Gewebes,  die  Demarcationsline  Pro- 
cesse,  welche  verhältnifsmäfsig  langsam  vor  sich  gehen.  — 

Ein  wirkHcher  Unterschied  zwischen  den  schmerzerregenden 
und  allen  übrigen  Reizen  wäre  dann  zu  sehen,  dafs  die  schmerz- 
erregenden Reize  in  den  Organismus  eindringen,  während  die 
anderen  denselben,  möchte  ich  sagen,  nur  streifen.  — 

Schmerz  entsteht  nur  dann,  wenn  der  Reiz  in  den  Organis- 
mus eingedrungen  ist,  materielle  Spuren  hinterlassen  hat  Bei 
Berührung  eines  warmen  Körpers  entsteht  nur  eine  Temperatur- 
empfindung,  gefolgt  von  einem  Lust-  oder  Unlustgefühl,  wird 
aber  ein  heifser  Körper  berührt,  so  treten,  abgesehen  von  der 
der  Berührung  unmittelbar  folgenden  Schmerzempfindimg,  Ver- 
brennungserscheinungen ein,  und  solange  diese  dauern,  dauert 
auch  der  Schmerz.  Es  ist  demnach  leicht  einzusehen,  dafs 
schmerzerregende  Reize,  schon  ihrer  Natur  gemäfs,  keinen  kurz- 
dauernden Bewufstseinszustand  hervorrufen ;  Schmerz  erregen 
nur  solche  Reize,  welche  materielle  Spuren  hinterlassen  und  da- 
durch längere  Zeit  hindurch  den  Bewufstseinszustand  verändern. 
Der  Schmerz  ist  im  Vergleich  mit  allen  anderen  Bewufstseins- 
zuständen  eben  von  längerer  Dauer,  und  diese  schreckUche 
Eigenschaft  des  Schmerzes  ist  uns  Aerzten  leider  nur  zu  gut 
bekannt  — 

Eine  andere  Frage  ist,   warum   der  Schmerz  so  schnell  ver- 


28  ^'  von  Tschisch. 

gessen  wird,  vom  Gedächtnifs  nur  so  kurze  Zeit  festgehalten  wird» 
doch  auch  auf  diese  Frage  giebt  die  Psychologie  befriedigende 
Antwort 

Dafs  das  Gedächtnifs  für  Schmerzempfindungen  sehr  schwach 
ist,  imterliegt  keinem  Zweifel.  Bain  ^  sagt,  dafs  „Grefühle  als  solche 
in  sehr  geringem  Grade  in  der  Erinnerimg  bewahrt  werden"  und 
auch  James-  behauptet,  dafs  das  „Gedächtnifs  die  Gefühle  nur 
sehr  kurze  Zeit  festzuhalten  vermag".  Ebenso  konnte  Ribot* 
für  die  Richtigkeit  dieser  Anschauung  eintreten  auf  Grund  von 
Antworten,  die  er  auf  seine  Fragen  von  Aerzten  und  Leidenden 
erhielt.  — 

Wie  schon  erwähnt,  besteht  der  Schmerz  aus  Empfindung 
und  Grefühl;  je  stärker  der  Schmerz,  desto  geringer  die  Empfin- 
dung. Ein  erlebter  Bewufstseinszustand  wird  aber  nur  als  Ganzes 
im  Gedächtnifs  erhalten,  nur  als  Complex  von  Empfindung  und 
Gefühl.  Nun  ist  der  Schmerz  immer  mit  den  weniger  deutlich 
zum  Bewufstsein  gelangenden  Empfindungen  der  niederen  Sinnes- 
organe vergesellschaftet,  und  diese  letzteren,  ich  denke  an  die 
Temperatur,  die  mechanischen  und  elektrischen  Empfindungen, 
werden  in  so  geringem  Grade  vom  Gedächtnifs  festgehalten,  dafs 
sie  nach  dieser  Richtung  hin  nicht  einmal  Gegenstand  experi- 
menteller Untersuchimg  sein  können.  Noch  weniger  werden  die 
so  imdeutlichen,  von  den  inneren  Organen  herrührenden  Em- 
pfindungen in  der  Erinnerung  bewahrt  Wird  aber  die  TheU- 
erscheinung  des  Schmerzes,  die  Empfindung,  so  schnell  ver^ 
gessen,  dann  kann  auch  nicht  die  Gesammterscheinung  sich 
lange  im  Gedächtnifs  behaupten.  Aus  diesem  Grunde  erlischt 
die  Erinnerung  an  den  Schmerz  so  schnell,  aus  diesem  Grunde 
kann  der  Schmerz  auch  nicht  reproducirt  werden.  — 

Ich  berühre  absichtlich  nicht  die  Frage,  wie  sich  das  Gre- 
dächtnifs  zu  den  Gefühlen  an  und  für  sich  verhält,  denn  wenn 
es  auch  das  Gefühl  in  genügendem  Grade  festhalten  könnte, 
wäre  es  doch  unmöglich,  sich  des  Schmerzes  mit  entsprechender 
Deutlichkeit  zu  erinnern.  Das  Gedächtnifs  vermag  eben  nicht 
Gefühle,  gesondert  von  der  Empfindung,  zu  reproduciren,  die  Re- 
production  einer  Empfindung  aber  ist  unmöglich.    Je  heftiger 


'  Emotione  and  Will,  8.  262. 

•  The  Principles  of  Psychology,  Bd.  II,  S.  474. 

•**  La  Psychologie  des  sentiments,  Cap.  XI. 


Der  ScJmerz,  29 

der  Schmerz,  desto  schwächer  das  Gedächtnifs  für  denselben, 
und  das  aus  dem  Grunde,  weil  die  mit  heftigen  Schmerzen  ver- 
geseUschafteten  Empfindungen  so  undeutlich  und  schwach  smd, 
dafs  sie  schnell  vergessen  werden  und  jeglicher  Reproduction 
unfähig  sind.  Jede  gesunde  Mutter  hat  diese  Erfahnmg  gemacht 
und  der  Satz:  „Dieu  a  mesure  la  peine  k  nos  forces  en  nous 
donnant  ToubU"  ist  unumstöfslich.  — 

Der  Schmerz  wird  also  schnell  vergessen,  um  so  treuer  ist  dafür 
das  Gedächtnifs  für  die  Umstände,  unter  denen  der  Schmerz  auf- 
tritt —  Durch  Verknüpfung  mit  starken  Unlustgefühlen  werden 
die  Erlebnisse  mit  ganz  besonderer  Aufmerksamkeit  wahrgenommen 
und  um  so  fester  dem  Gedächtnifs  eingeprägt  Von  einem  er- 
zieherischen Werth  des  Schmerzes  kann  demgemäfs  nur  insofern 
die  Rede  sein,  als  diejenigen  Ereignisse,  welche  gleichzeitig  mit 
dem  Schmerz  erlebt  werden,  länger  im  Gedächtnifs  bleiben, 
während  der  Schmerz  an  und  für  sich  schnell  in  Vergessenheit 
geräth.  —  Diese  Eigenschaft  des  Schmerzes,  schnell  vergessen  zu 
werden,  ist  auch  nicht  ohne  Bedeutung ;  sie  bedingt  fraglos  zmn 
Theil  den  Fortschritt  des  Menschen,  der,  immer  von  lebhafter 
Schmerzvorstellung  beeinflufst,  in  niedriger  Angst  stets  nur  um 
sein  Wohl  bedacht,  höherer  Regungen  kaum  fähig  wäre.  —  Es 
ist  geradezu  ein  Glück,  dafs  der  Schmerz  so  schnell  dem  Gre- 
dächtnifs  entschwindet,  während  moraUsche  Leiden  viel  schwerer 
vergessen  werden.  Moralische  Leiden  sind  immer  mit  so  vielen 
complicirten  Eindrücken  und  Vorstellungen  verknüpft,  und  weil 
letztere  lange  im  Gedächtnifs  bleiben,  können  auch  die  mit  ihnen 
associirten  Gefühle,  die  moralischen  Leiden,  einerseits  nicht  so 
leicht  vergessen  und  andererseits  um  so  leichter  reproducirt 
werden.  —  Ausschliefslich  dadurch,  dafs  man  den  Schmerz  so 
leicht,  moraUsches  Leid  aber  so  schwer  vergessen  kann,  beein- 
flufst letzteres  unser  Handeln  bei  weitem  mehr  als  der  Schmerz. 
Nur  Pharisäer  konnten  behaupten,  dafs  der  Schmerz  mächtiger 
wirke  als  moralisches  Leid,  und  dafs  es  vorzuziehen  sei,  sich 
Schmerzen  auszusetzen,  um  moralischen  Leiden  zu  entgehen. 
Das  ist  aber  nur  darauf  zurückzuführen,  dafs  moralische  Leiden 
länger  im  Gedächtnifs  bleiben  als  Schmerzen,  nicht  aber  auf  die 
mächtigere  Wirkimg  der  moralischen  Leiden  im  Vergleich  zu 
der  des  physischen  Schmerzes.  —  Ein  schon  einmal  im  Zwei- 
kampf schwer  Verwundeter  folgt  rückhaltslos  einer  zweiten  For- 
derimg nur  aus  Angst,   für  einen  Feigling  gehalten  zu  werden; 


30  ^.  »0»  Tachisch, 

diese  Vorstellung  von  der  Kränkung  und  Verachtung,  die 
ihm  von  Seiten  seiner  Freunde  widerfahren  könnten,  wenn  er 
sich  vom  Duell  zurückziehen  wollte,  wird  so  lebhaft,  dafs  der 
Schmerz  der  früher  einmal  erUttenen  Wimde  nicht  mehr  in  Be- 
tracht kommt.  Dieser  physische  Schmerz  ist  eben  längst  ver- 
gessen,  der  Geforderte  hat  keine  Vorstellung  mehr  davon,  wie 
schwer  die  Wunde  brannte,  die  Wunde,  der  er  sich  wieder  aus- 
setzt.  Wie  wäre  es  denn  auch  möglich,  für  Ideale  zu  kämpfen, 
das  Leben  zu  wagen,  wenn  uns  die  Erinnerang  an  physische 
Schmerzen  mit  gleicher  Lebhaftigkeit  gefangen  hielte,  wie  die 
an  erlebte  moraUsche  Leiden?  Wer  könnte  dann  mit  solcher 
Hingebung  Kranke  pflegen,  mit  solcher  Opferfreudigkeit  in  den 
Kampf  ziehen,  an  gefahrdrohenden  Expeditionen  theilnehmen^ 
wenn  der  erhttene  Schmerz  mit  ursprüngUcher  Lebhaftigkeit  in 
der  Erinnerung  bewahrt  würde? 

Der  physische  Schmerz  währt  nur,  solange  der  Reiz  und 
seine  unmittelbaren  Folgenerscheinungen  dauern,  derselbe  kann 
sich  mit  Vorstellungen,  mit  Erinnerungsbildern  nicht  associiren. 
Granz  anders  moralische  Leiden,  die  nicht  nur  durch  Reize, 
sondern  auch  durch  Vorstellungen  erzeugt  werden.  Wir  empfin- 
den Kmnmer  nicht  nur,  solange  wir  die  Leiche  eines  geliebten 
Menschen  vor  Augen  haben,  sondern  auch  später  bei  der  Er- 
innerung an  den  Verlust  Im  Gregensatz  zum  physischen  Schmerz 
kann  mit  der  Zeit  ein  solcher  Kummer  sich  sogar  steigern.  Wer 
das  Unglück  gehabt  hat,  handgreiflich  beleidigt  zu  werden,  der 
weifs,  wie  schnell  der  physische  Schmerz  vergeht,  und  wie  schwer 
aber  eine  Beleidigung,  eine  moralische  Kränkung  zu  vergessen  ist 

Moralische  Leiden  sind  die  mächtigsten  Hebel  imserer  Hand- 
lungen ;  um  ihnen  zu  entgehen,  sind  wir  bereit  Opfer  zu  bringen, 
Genüssen  zu  entsagen,  ja  Gesundheit  und  Leben  zu  wagen.  — 

Wenn  Schmerz  imd  moralisches  Leid  sich  gleich  lange  im 
Gedächtnifs  behaupteten,  würde  allerdings  der  Schmerz  als  Be- 
weggrund imserer  Handlungen  die  moralischen  Leiden  verdrängen. 
Unter  dem  Einflufs  von  physischen  Schmerzen  —  ich  denke  dabei 
natürlich  nur  an  gewöhnliche  SterbUche,  nicht  an  Helden  — 
sind  wir  zu  Allem  bereit,  um  uns  vor  denselben  zu  retten. 
Kranke  sind  bekanntlich  die  krassesten  Egoisten  \md,  nur  auf 
Erleichterung  ihres  eigenen  Zustandes  bedacht,  unglaublich  an- 
spruchsvoll und  rücksichtslos  gegen  ihre  Umgebung.  Sobald 
aber  der  Schmerz  geschwunden  ist,   schämen  sie  sich,  wie  ich 


Ihr  Schmerz,  31 

(^  beobachtet  habe,  ihrer  egoistischen  Rücksichtslosigkeit,  und 
sind,  da  die  Schmerzen  nun  vollständig  vergessen  sind,  wiederum 
bereit,  der  Humanität  oder  ihrem  Ehrgeiz  die  gröfsten  Opfer  zu 
bringen.  — 

Zum  Schlufs  sei  es  mir  gestattet,  den  Inhalt  vorliegender 
Abhandlung  in  Folgendem  zusammenzufassen: 

Schmerz  wird  nur  durch  solche  mechanische,  chemische, 
Üiermische  und  elektrische  Reize  erzeugt,  welche  nicht  nur 
dis  hidividuum,  sondern  auch  das  lebende  Gewebe  als  solches 
ti^en. 

Derartige  Reize  erregen  Schmerz  nur  insoweit,  als  sie 
lebendes  Grewebe  tödten;  bei  schwacher  oder  zu  kurzdauernder 
Wirkung  erzeugen  sie,  wenn  sie  das  Gewebe  nicht  zerstören, 
keinen  Schmerz.  —  Schmerzerregende  Reize  wirken  in  gleicher 
Weise  auf  alle  Lebewesen  und  werden  deshalb  nach  Möglichkeit 
Ton  allen  Lebewesen  gemieden. 

Schmerzerregende  Reize  erzeugen  undeutliche  Empfindungen, 
vergesellschaftet  mit  einem  specifischen  Gefühl,  dem  Schmerz; 
die  Empfindung  tritt  früher  auf  als  der  Schmerz.  — 

Je  stärker  das  Gefühl  —  der  Schmerz  —  desto  undeutUcher 
die  zugehörige  Empfindung. 

Der  Schmerz  ist  nicht  nur  ein  psychologischer,  sondern  auch 
ein  physiologischer  Zustand;  die  physiologische  Seite  ist  noch 
wenig  erforscht 

Der  Schmerz  kann  nicht  geschildert  werden,  weil  die  Empfin- 
dungen, welche  durch  schmerzerregende  Reize  entstehen,  undeut- 
lich und  unbestimmt  sind,  der  Schmerz  aber  einfach  ist  und 
sich  nur  durch  seine  Intensität  unterscheidet. 

Der  Schmerz,  als  Reaction  des  Bewufstseins  auf  Reize,  welche 
lebendes  Grewebe  tödten,  ist  das  stärkste  Unlustgefühl ;  alle  übri- 
gen Unlustgefühle ,  wie  die  Reactionen  des  Bewufstseins  auf 
Reize,  welche  den  Organismus  tödten,  oder  ihm  schädUch  sind, 
sind  nicht  so  qualvoll,  wie  der  Schmerz. 

Der  Schmerz,  wenn  auch  von  noch  so  geringer  Intensität, 
hat  immer  eine  bestimmte  Dauer,  denn  die  Veränderungen  in 
der  AuTsenwelt,  welche  ihn  erzeugen,  hinterlassen  materielle 
Spuren  im  Organismus.  Zum  Unterschiede  von  allen  übrigen 
Beizen,  verursachen  schmerzerregende  Reize  stets  mehr  oder 
weniger  tiefgreifende  Veränderungen  im  Organismus. 

Der  Schmerz  bleibt  nur  kurze  Zeit  im  Gedächtnifs,  denn  die 


^'i 


«:^   iiiwt^ai  mmte  Tni=«i«  EamiLnzi^fHL  ^"^gTc  in  3ii«fi»is«Mi£iii  zu 
i*-^:nttiifls«i.     Z»#ir  S'nmt*r;   tttl   V^rhc   micaiisc&is  Leid  aber 

-u^nii    iit*?»eai  rTnjÄimie  T»£riaiiikai    üu  'nlhtfrsL  Raecngeii  den 

fj'^r  nihmers  'jsl    ieomiicii  j^  Sciä   aar  T-y^rrcr^   grausam 


üiik/eyoi«^   im  1  J£frz  y^fL. 


Die  Banmschwelle  bei  Simultanreizung. 

Von 

Abthub  Bbückneb,  Arzt  in  Jena. 

In  einer  Mittheilung  vom  9.  November  1899^  hat  v.  Fbbt 
gezeigt,  dafs  die  verschiedene  Raumschwelle,  welche  auf  der 
Haut  je  nach  successiver  oder  simultaner  Reizung  zweier  Stellen 
zur  Beobachtung  kommt,  im  Wesentlichen  darauf  beruht,  dafs 
im  ersteren  Falle  periphere,  im  zweiten  centrale  Abschnitte  des 
Sinnesapparates  in  Frage  kommen.  Obwohl  nämlich  die  peri- 
pheren Einrichtungen  eine  getrennte  Wahrnehmung  der  beiden 
simultan  gereizten  Orte  erlauben  würden,  kommt  es  doch  nicht 
dazu,  weil  durch  irgend  einen  mehr  central  gelegenen  Vorgang 
die  beiden  Erregungen  wieder  zusammenfliefsen.  Aus  diesem 
Grunde  ist  die  „Simultanschwelle"  (v.  Fbby  1.  c.)  stets  um  Vieles 
gröfser  als  die  „Successivschwelle"  (ebendort). 

Bei  der  geringen  Zahl  von  Angriffspunkten,  welche  wir  zum 
Studium  centraler  Theile  des  Nervensystems  besitzen,  schien  die 
Aufgabe  nicht  uninteressant,  zu  untersuchen,  von  welchen  Um- 
ständen es  abhängt,  ob  zwei  simultan  auf  die  Haut  applicirte 
Reize  als  zwei  wahrgenommen  werden  oder  nicht,  d.  h.  wann 
eine  Verschmelzung  beider  Erregungen  stattfindet  und  wann  sie 
unterbleibt. 

Voraussetzung  für  diese  Aufgabe  ist  eine  Methode,  welche 
wirklich  genau  gleichzeitige  Erregung  zweier  Hautpunkte  ge- 
stattet, da  ja  die  geringste  Ungleichzeitigkeit  die  Unterscheidung 
der  beiden  Erregungen  begünstigt  Eine  Unzulänglichkeit  der 
Methode  in  dieser  Richtung  wird  das  Resultat  derart  beeinflussen, 
dafs  alle  anderen  in  Betracht  kommenden  Factoren  dagegen  ver- 
schwinden. Es  braucht  nicht  näher  ausgeführt  zu  werden,  dafs 
weder  der  von  Webeb  benutzte  Cirkel  noch  die  verschiedenen 


'  M.  VON  Fbst.     lieber   den  Ortsinn   der  Haut.     Sitzungsberichte    der 
pkynkalisch-medieinischen  Gesellschaft  zu  Würzburg. 

Zeinehrift  für  Psychologie  S6.  3 


34 


demselben  nacfagebfldeten  Aesthcsiometer  dieser  Anforderung 
genügen.  Es  ist  thatsacfaüdi  unmöglich,  mittels  eines  derartigen 
mit  der  Hand  geföhrten  Instruments,  das  Zeitintervall  zwischen, 
den  bttden  Seilen  auf  irgend  einem  constanten  Werth  zu  halten 
Dies  ist  einer  der  Hauptgründe  für  das  Unbefriedigende  der 
bisherigen  Bestimmungen  der  Baumschwelle. 

Die  nadif olgend  besduriebene  nm  Herrn  Plrofessor  tok  Fbey 
mir  gütigst  zur  Verfügung  gestellte  Einrichtung  gewfthrieistet 
▼ollkommen  simultane  Reizung.  Sie  könnte  daher  als  Simultan* 
Aesthesiometer  bezeichnet  werden. 


Beschreibung  der  Methode. 

Der  Apparat  zur  vollkommen  simultanen  Reizgebung  setzt 
sich  zusammen  aus  zwei  völlig  gleich  gebauten  Hebeln  von 
folgender  Construction  (s.  Fig.X    Ein  ca.  7  cm  langer  zweiarmiger 


Holzhebel  (H)  von  sehr  geringem  Trägheitsmoment  mit  dem 
Drehpunkt  in  Z>  ist  an  dem  Ende  des  langen  Armes  mit  einer 
Nähnadel  (N)  armirt,  deren  stumpfes  Ende  nach  abwärts  sieht. 
Am  anderen  Hebelarm  ist  ein  kleines  Eisenstückchen  (E)  be- 
festigt, welches  als  Anker  dient  und  sich  dem  Eisenkern  eines 
kleinen  Elektromagneten  gegenüber  befindet  Dieser  läfst  sich, 
wenn  die  Nadel  N  auf  die  Haut  aufgesetzt  wird,  durch  einen 
Stellhebel  (S),  der  mit  dem  Elektromagneten  fest  verbunden  ist,  in 
beliebige  Entfernung  von  dem  Anker  bringen,  durch  Drehung  um 
eine  mit  der  Hebelaxe  zusammenfallende  Axe.  Dieselbe  geschieht 
mit  genügender  Reibung,  um  das  Verharren  des  Elektromagneten 
in  jeder  gewünschten  Stellung  zu  sichern.  Eine  Gradtheilung  (6r), 
welche  an  dem  Stellhebel  angebracht  ist,  und  auf  der  ein  mit 


Die  BawMdiwdU  M  SimiMUanreisung.  35 

dem  Beizhebel  H  verbundener  ZeSgßr  J  spielt,  gestattet  die  Ent- 
fernung zwischen  Elektromagnet  und  Anker  in  Winkelgraden 
abzulesen;  bei  Berührung  der  beiden  spielt  der  Zeiger  auf  0  ein. 
Hierdurch  ist  ein  willkürliches  Haals  gewonnen  für  die  Ejaft, 
mit  welcher  der  Anker  vom  Elektromagneten  angezogen  wird, 
and  damit  für  die  Keizstftrke,  d  h.  für  die  Stftrke,  mit  welcher 
die  Nadel  g^gen  die  Haut  gedrückt  wird  Diese  Form  der  Be- 
stimmung und  Einstellung  der  Beizstärke  war  für  den  vorliegen- 
den Zweck  nicht  nur  genau  genug,  sondern  namentlich  bei  Be- 
nutzung stärkerer  magnetisirender  Ströme,  also  gröfserem  Ab- 
stand zwischen  Magnet  und  Anker,  sogar  von  aufserordentlicher 
Feinheit  Die  ganze  beschriebene  Einrichtung  ist  an  einem 
Stativ  befestigt  und  kann  durch  einen  Trieb  in  beUebige 
Höhe  eingestellt  werden;  aulserdem  ist  eine  Drehung  um 
eine  horizontale  Axe  durch  eine  einfache  Ellemmvorriohtung  er- 
möglicht 

Wie  gesagt  dienten  zwei  genau  gleich  gebaute  Hebel  von 
der  beschriebenen  Construction  zur  Beizgebung.  Der  Widerstand 
in  den  Spiralen  der  beiden  Elektromagneten  war  ebenfalls  genau 
abgeglichen  und  betrug  0,92  Ohm.  Diesem  gleich  war  ein  dritter 
aus  bifilar  gewickeltem  Draht  bestehender  Widerstand,  welcher 
an  SteUe  eines  der  Elektromagneten  treten  konnte.  Es  muTste 
nämlich  die  Möglichkeit  gegeben  sein,  bald  nur  den  einen,  bald 
beide  Hebel  in  Thätigkeit  zu  versetzen,  ohne  eine  Vermin- 
derung oder  Vermehrung  der  Widerstände  im  Stromkreise  zu 
schaffen,  denn  daraus  würde  eine  Verstärkimg  resp.  Ab- 
schwächung  der  Stromstärke  resultiren,  in  Folge  deren  die  Anker 
der  Reizhebel  nicht  mit  der  gleichen  Kraft  angezogen  werden 
würden.  Damit  würde  aber  auch  die  Stärke  des  Reizes  auf  der 
Haut  für  einen  und  denselben  Hebel  schwanken,  und  diese 
mufste  constant  erhalten  werden  können.  Die  drei  imter  sich 
gleichen  Widerstände  wurden  nun  in  folgender  Weise  ange- 
ordnet 

12  8  4 

•  •  •  • 

Die  Punkte  1—4  stellen  vier  Quecksilbemäpfchen  dar,  deren 
jedes  mit  einer  doppelt  durchbohrten  Klemme  verbunden  ist 
Zwischen  1  und  2,  sowie  zwischen  3  und  4  ist  je  ein  Elektro- 
magnet, zwischen  2  und  3  der  „vicarürende^  Widerstand  einge- 
schaltet    Durch  Umlegen  eines  Metallbügels,   welcher  je  zwei 

3* 


I 


36  Arthuir  Brüdmer. 

benachbarte  Quecksilbemäpfchen  verbindet,  ist  es  möglich,  einen 
oder  beide  Hebel  einzuschalten,  ohne  daCs  dabei  eine  Aende- 
rüng  in  den  Widerständen  und  damit  in  der  Beizstärke  ein- 
tritt Verbindet  der  Bügel  die  Näpfchen  1  und  2,  so  wird 
der  Hebel  zwischen  3  und  4  in  Thätigkeit  versetzt;  wenn  ein 
Kurzschlufs  zwischen  2  und  3  beigestellt  wird,  so  geht  der 
Strom  durch  beide  HebeL 

Die  ganze  Versuchseinrichtung  setzte  sich  nun  folgendo^ 
maalsen  zusammen.  Als  Stromquelle  dienten  vier  DANiBi^L'sche 
Elemente,  welche  wegen  des  sehr  constanten  Stroms,  den  sie 
liefern,  für  den  gegebenen  Zweck  sehr  geeignet  waren.  In  den 
Stromkreis  eingeschaltet  waren  folgende  Apparate:  ein  Stöpsel- 
rheostat,  ein  SiEicENs'sches  Milli-Ampöremeter,  dann  der  soeben 
beschriebene  Schlüssel  mit  den  Beizhebeln  und  ein  gewöhnlicher 
QuecksilberschlüsseL 

Diese  Versuchsanordnung ,  speciell  der  eigentUche  Beix- 
apparat,  erlaubte  einmal  vollkommene  Simultanreizung  zweier 
Punkte  der  Haut,  sowie,  durch  die  äufserst  kleinflächige  Be- 
rührung zwischen  den  Nähnadeln  imd  der  Haut,  eine  Be- 
schränkung der  Erregung  auf  einzelne  Tastpunkte.  Aulserdem 
gestattete  sie,  durch  Aenderung  der  Entfernung  zwischen 
Anker  und  Elektromagnet  des  Beizhebels,  die  Möglichkeit  einer 
ganz  genauen  Dosirung  der  auf  jeden  Tastpunkt  entfallenden 
Beizstärke.  — 

Da  zur  Anstellung  der  Versuche  stets  zwei  Personen  —  Be- 
obachter und  Beagent  —  erforderlich  waren,  hatte  Herr  Prof  esse» 
VON  Fbey  die  grofse  Liebenswürdigkeit  die  Versuche  mit  mir  zu 
machen.  Es  sei  mir  gestattet  ihm  an  dieser  Stelle  dafür  meinen 
herzlichsten  Dank  auszusprechen. 

Beide  Versuchspersonen  hatten  bei  guter  Beleuchtung  unter 
der  Lupe  mit  Beizhaaren  ^  alle  Tastpunkte  aufzusuchen  inner- 
halb einer  Fläche  von  ca.  15  qcm  der  Beugeseite  des  linken 
Unterarmes,  welche  die  Form  eines  Kreuzes  hatte,  dessen  lange 
Axe  in  die  Längsrichtung,  dessen  kurze  in  die  Querrichtung 
des  Unterarmes  fiel.  Da  die  Tastpunkte  hier  mit  den  Haar- 
bälgen  zusanmienf allen,   war  die  Aufsuchung  sehr  erleichtert; 


^  Siehe  von  Frbt,  Untersuchungen  über  die  Sinnesfunctionen  der 
menschlichen  Haut,  Abhandlungen  der  Kgl,  Sachs,  Oes.  der  Wiss.^  math.'phys, 
Oam,  Leipiig  1896,  S.  206  ff. 


Die  Baums^tweüe  bei  SimuUanreizunff,  37 

vorher  wurden  die  Haare  an  der  betreffenden  Stelle  kurz  abge^ 
schnitten.  Die  gefundenen  Pimkte  wurden  mit  feinen  Farb- 
punkten markirt  und  dann,  nachdem  ihre  Lage  durch  eine 
eventuelle  Correctur  genau  ermittelt  war,  mit  kleinsten  Tröpfchen 
einer  10  7o  Lösung  von  Silbemitrat  fixirt  Sodann  wurde  auf 
einem  Streifen  Gelatihepapier,  der  über  der  Hautstelle  befestigt 
wurde,  die  Lage  der  Tastpunkte  tmd  der  Haüptvenen  eingeritzt 
und  darauf  mittels  eines  in  Glas  geätzten  MiUimetemetzes  eine 
Karte  in  5fächer  VergrÖfserung  hergestellt^ 

Jede  Versuchsperson  hatte  außerdem  eine  Hohlform  seines 
linken  Unterarms  in  Gyps  anzufertigen,  welche  die  Beugeseite 
frei  liefs.  Diese  Hohtform  liefs  sich  derart  in  ein  Gerüst 
einhängen,  dais  eine  Drehung  um  ihre  Längsaxe  möglich  war, 
was  die  Einstelitmg  der  Nähnadeln  auf  bestimmte  Punkte  sehr 
erieichterte. 

Der  Beagent  hatte  bei  den  Versuchen  die  Aufgabe  seinen 
Unterarm  in  der  Hohlform  zu  fixireh,  bei  geschlossenen  Augen 
seine  Aufmerksamkeit  dem  Versuch  zuzuwenden  und  dami  über 
die  Empfindungen,  welche  di^  Beizung  verursachte,  Aussagen 
zu  machen.  Um  möglichste  Unbeweglichkeit  imd  langes  Aus- 
harren in  der  angegebenen  Stellung  zu  gestatten,  wurde  für  be- 
quemen Sitz  des  Reagenten  gesorgt  Trotzdem  waren  zuweUen  kleme 
Bew^ungen  nicht  ganz  zu  vermeiden,  wodurch  Verschiebungen 
der  Nadeln  auf  der  Haut  eintraten,  welche  von  Zeit  zu  Zeit  eine 
neue  Einstellung  derselben  mitten  in  einer  Versuchsreihe  er- 
förderten. Dem  Reagenten  war  die  Lage  der  gereizten  Punkte 
bekannt;  er  wurde,  wie  unten  noch  zu  erwähnen  sein  wird, 
durch  ein  verabredetes  Wort  von  dem  Eintritt  der  Reizimg 
unterrichtet;  im  Uebrigen  war  das  Verfahren  ein  völlig  un- 
wissentliches. ' 

Der  Beobachter  hatte  die  Angabe,  zuerst  die  Nähnadeln 
der  beiden  Reizhebel  auf  zwei  vorher  ausgewählte  Punkte  des 
Versuchsfeldes  genau  aufzusetzen  und  dann  durch  Drehung  der 
Stellhebel  an  den  Reizapparaten  den  Reiz  in  seiner  Stärke  je 
nach  Erfordemifs  zu  varüren,  sowie,  je  nachdem  der  Versuch 
es  verlangte,  durch  Umlegen  des  Metallbügels  bald  einen,  bald 
beide  Reizhebel  in  Thätigkeit  zu  versetzen.    Er  hatte  femer  den 


^  Siehe  M.  von  Fbst  und  F.  Kissow,   tJeber  die  Function  der  Tast- 
körperchen, jSeitBchrift  für  Fsyckoloffie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane  20, 132. 


38  Arthur  Brüdcner» 

Reageuten  durch  einen  Zuruf  auf  den  Eintritt  der  Reizung  auf- 
merksam zu  machen,  welche  durch  SchlieJBen  des  Quecksilber- 
schlüssels herbeigeführt  wurde.  Endlich  hatte  der  Beobachter 
die  gemachten  Aussagen  mit  der  zugehörigen  Reizung  zu  Proto- 
koll zu  bringen* 

Der  gröCste  Theil  der  Versuche  wurde  derart  ausgeführt, 
dafs  nach  jeder  einzelnen  Reizung  eine  kleine  Pause  gemacht 
wiu*de,  welche  der  Beobachter  zum  Protokolliren  benutzte.  Eine 
Aenderung  in  diesem  Verfahren,  welche  für  specielle  Zwecke 
nothwendig  wurde,  wird  weiter  unten  beschrieben  werden. 

Nach  einigen  Vorversuchen,  die  am  Tage  gemacht  wurden,  er- 
wies es  sich  als  imbedingt  erforderlich,  die  Versuche  sp&t  Abenda 
vorzunehmen,  da  jede  Störung  die  Resultate  durch  Ablenkung- 
der  Aufmerksamkeit  stark  beeinträchtigte.  Es  wurde  daher  aus** 
nahmslos  in  den  Stunden  von  8 — 11  Uhr  Abends  experimentirt, 
wodurch  genügende  Ruhe  garantirt  war.  Femer  mu&te  der 
Raum  entsprechend  temperirt  sein,  ebenso  die  Hohlform,  weil 
sonst  sehr  leicht  störende  Sensationen  verursacht  wurden.  — 

Es  kann  mm  zur  Schilderung  der  Versuchsergebnisse  über- 
gegangen werden. 

Verschmelzung  und  Summation. 

Die  gesteüte  Aufgabe,  zu  untersuchen,  unter  welchen 
Umständen  bei  Simultanreizung  zweier  Punkte  der  Haut  eine 
Verschmelzung  beider  Eindrücke  und  wann  eine  getrennte 
Wahrnehmung  eintritt,  führte  darauf,  zunächst  Punkte  mit 
kleiner  Entfernung  von  einander  zu  verwenden,  um  da  die 
Verhältnisse  zu  studiren.  Es  wurden  Punkte  gewählt,  welche 
nahe  zusammen  lagen  oder  unmittelbar  benachbart  waren,  von 
ziemlich  hoher  und  unter  sich  möglichst  gleicher  Empfindlich- 
keit Dabei  zeigte  es  sich,  dafs  unmittelbar  benachbarte  Punkte 
bei  gleichzeitiger  Reizimg  niemals  als  zwei  erkannt  wurden,  son- 
dern man  stets  nur  den  Eindruck  einer  einfachen  imischriebenen, 
nicht  in  irgend  welcher  Richtung  ausgedehnten  Erregung  hatte. 
Dieselbe  bot  nur  den  Unterschied  von  der  monostigmatischen 
BeuEung,  daCs  sie  stärker  als  diese  erschien.  Diese  Thatsache 
der-  Verschmelzung  ist  besonders  in  dem  Falle  interessant,  wenn 
i4e  Einzelreize  imterschwellig  sind,  ihre  Summe  aber  über- 
>ir  wird  und  daher  vom  Bewufstsein  wahrgenommen 
Es  mögen  einige  Beispiele  folgen. 


Die  BaumsehweUe  bei  SimüUanreizung,  39 

Versuch  vom  13.  HI.  1900.    Nr.  IV, 
Reftgent  v.  F.    Punkte  a  and  b,  Abstand  derselben  4,2  mm.^ 

a       b 

2.  13  nein 

3.  10       nein 

4.  13      10       ja  schwach  aber  dentlich. 

Versuch  vom  13.  HI.  1900.    Nr.  VL 
Beagent  B.    Punkte  f  und  h.    Abstand  6  mm. 

/       h 

27.  13  nein 

28.  11       nein 

29.  13      11       ganz  schwach  und  diffus. 

Versuch  vom  13.  HI.  1900.    Nr.VIL 
Beagent  v.  F.    Punkte  p  und  d.    Abstand  12,2  mm. 

p       d 

a        13      14       ja 

4.  14       nein 

5.  13  nein 


26. 

11 

nein 

27. 

11 

13 

ja 

28.  • 

13 

nein, 

Versuch  vom  17.  in.  1900.    Nr.  IV. 
Beagent  B.    Punkte  m  und  q.    Abstand  41  mm. 


m 

g 

32. 

13 

nichts 

33. 

6 

13 

eine  Spur  gefühlt 

34. 

6 

nichts 

36. 

6 

13 

eine  Spur 

36. 

13 

nichts. 

Die  Beispiele  liefsen  sich  leicht  noch  mehren.^ 
Diese  Thatsache  beweist,  dafs  bei  Schwellenbestimmungen 
auf  dem  Gebiete  des  Tastsinns  (Bestimmung  der  Feinheit  des 


'  Hier  wie  in  allen  citirten  Versuchen  stehen  in  der  ersten  senkrechten 
Beihe  die  Nummern  der  Einzelversuche,  dann  folgen  die  auf  den  einzelnen 
Tastpunkt  jedesmal  entfallenden  Beizstärken  in  Winkelgraden  angegeben. 
Zuletzt  folgen  die  zugehörigen  Aussagen  des  Beagenten. 

'  Ein  ferneres  Beispiel  findet  sich  auf  S.  49  Anmerkung  (Versuch  6^9). 


40  Arthur  Brückner. 

Tastsinns)  die  QTöf^e  der  Beizfläche  in  Betracht  kommt  nicht 
nur  bezüglich  der  auf  den  einzelnen  Tastpunkt  -entfallenden 
Reizwirkung  ^  sondern  auch  hinsichtlich  der  Zahl  der  durch  sie 
getroffenen  Tastpimkte.* 

Femer  ist  dadurch  aber  auch  bewiesen,  dafs  es  Reize  geben 
mufs,  welche  an  sich  zwar  zu  schwach  sind, -um  bewufst  zu 
werden,  die  aber  doch  eine  Veränderung  im  Centralnervensystem 
hervorrufen  derart,  dafs  sie  von  einem  gleichartigen,  an  sich 
auch  unterschweUigen  imterstützt,  zum  Sewufstsein  kommen 
können.  — 

Offenbar  ist  diese  Thatsache  nur  ein  specieller  Fall  einer 
allgemeineren  Erscheinung,  nämUch  der,  dafs  zwei  gleichartige 
Eindrücke  im  Centralnervensystem  irgendwie  in  Beziehung  treten. 
Der  vorliegende  .Fall,  zeigt  eine  quantitative  gegenseitige  Beein- 
flussung im  Sinne  einer  Verstärkung.  Man  kann  diesen  speciellen 
Fall  der  gegenseitigen  Verstärkung  alsSummation  bezeichnen. 
Es  ist  nun  von  grofsem  Interesse  zu  untersuchen,  welche  ge- 
naueren Verhältnisse  bei  dieser  quantitativen  Beeinflussimg  zweier 
Reize  vorliegen ;  zugleich  könnte  vielleicht  dadurch  die  Möglich- 
keit gegeben  werden,  daraus  Folgerungen  auf  die  Gröfse  der 
simultanen  Raumschwelle  zu  ziehen. 

Zunächst  aber  handelte  es  sich  darum,  ausgehend  von  der 
gefundenen  Thatsache,  dafs  eine  Summation  zweier  gleichartiger 
Reize  stattfindet,  dieser  Erscheinung  nachzugehen. 

Das  E^erimentiren  mit  untermerkUchen  oder  ebenmerk- 
lichen Reizen  zeigte  sich  aber  als  ungemein  schwierig,  denn 
der  Reagent  wurde  durch  die  Anspannung  der  Aufmerksamkeit 
auf  die  immer  um  die  Schwelle .  sich  bewegenden  Reize  derart 
ermüdet,  dafs  darunter  die  Zuverlässigkeit .  der  Aussagen  Utt 
und  längere  Versuchsreihen  nicht  ausführbar  waren.  Es  ist 
aber  augenscheinUch  auch  gar  nicht  nothwendig  mit  so 
schwachen  Reizen  zu  arbeiten,  denn  es  genügt .  offenbar  zum 
Nachweise  der  Summation,  wenn  die  Empfindung,  welche  der 
Doppelreiz  auslöst,  stärker  erscheint,  als  die,  welche  jeden  Einzel- 
reiz begleitet.  Es  wurde  daher  mit  überschwelligen  Reizen  ex- 
perimentirt  und  die  Resultate  waren  sofort  an  Zahl  und  Sicher- 


*  Siehe  v.  Prbt  und  Kisaow  1.  c. 

*  Ueber  fthnliehe  Erscheinangen  auf  dem  Gebiete  des  GesicIltssiniieB 
8.  E.  A.  FiCK  in  Pplüokb's  An^iv  17,  162  und  4S,  441. 


Die  Baumsekwelle  beißitHultanreizung,  4tt 

heit  ungleicli  bessere.    Bs  inögen  einige  Beispiele  folgen,  um  die- 

Art  und  Weise  zu  zeigen,   wie  die  Resultate  gewonnen- wurden.« 

... 

Versuch  vom  la  IIL  1900.    :Nr,VI;  j 

Keagent  B.    Punkte  v  und  p.    Abstand  3,8  nun.  ,  .      ■ 

V       p 

39.  14  eine  Spur  gefühlt 

40.  14      10       ja  deutlich 

41.  10       .eine  Spur. 

Versuch  vom  20.  III.  1900.    Nr.  II. 
Reagent  v.  F.    Punkte  c  und  y.    Abstand  5  mm. 

y      c 

7.  8       ja  ganz  minimal 

8.  10      8        ja  deutlich  stärker 

9.  10  etwas  schwächer. 

Versuch  vom  20.  III.  1900.    Nr.  III. 
Reagent  B.    Punkte  c  und  q.    Abstand  3,2  mm. 

q      c 

42.  7       eine  Spur        "    ; 

43.  6      7        ja  deutlich 

44.  6  minimal. 

Es  wurde  hier  zwischen  jedem  Eihzelversuch  eine  kleine 
Pause  gemacht  Dabei  zeigte  sich  aber  ein  grofser  Uebelstand: 
die  Vergleichung  der  Stärke  der  Empfindungen  war  durch  dsiä 
lange  Zeitintervall,  welches  zwischen  den  Einzelversuchen  lag, 
sehr  erschwert  Daher  ergaben  sich  zu  viele  unbestimmte  Re- 
sultate. Um  dem  abzuhelfen  wurde  die  Beihenfolge  der  Reiz^ 
derart  geändert,  dafs  immer  zwei  Reizungen  unmittelbar  hinter 
einander  gegeben  wurden,  zwischen  denen  zu  vergleichen  war-. 
Das  Intervall  zwischen  beiden  betrug  stets  1 — 2  See 

Folgende  Ueberlegung  rechtfertigt  diese  Methode.  Offenbar 
ist  nämlich  auch  dann  Summation  nachgewieisen,  wenn  der 
Doppelreiz  stärker  imponirt,  als  der  unmittelbar  vorher  oder 
nachher  gegebene  Einzelreiz.  Der  Einwand,  dafs  die  stärkere 
Empfindung  möglicherweise  ja  nur  durch  den  beim  Doppelreiz 
gegebenen  Reiz  b  ausgelöst  werden  könne,  wenn  dieser  stärker 
als  a  sei,  der  allein  zur  Vergleichung  gegeben  wurde,  läTst  sich 
dadurch  entkräften,  dafs  abwechselnd  bald  a,  bald  b  allein,  bei 
Constanterhaltung  der  Reizstärke  jedes  Punktes,  zur  Vergleichung 


42  Arthur  Brückner. 

gegeben  wurden,  und  aufserdem  für  eine  möglichste  Abgleichong 
der  Einzebeize  gesorgt  wurde.  Besonders  wenn  man  dieser 
zweiten  Forderung  genügte,  war  die  Summation  schlagend  zu 
beweisen,  weil  ja  dann  der  Reizzuwachs  beim  Doppelreiz  stets 
gegenüber  der  monostigmatischen  Reizung  am  gröCsten  ist  Zur 
Erläuterung  des  Verfahrens  diene  folgendes  Beispiel: 

« 

Versuch  vom  19.  X.  1900.    Nr.  HL 
Beagent  v.  F.    Punkte  17  und  S«    Abstand  2,1  mm. 

1?      S 


38.  6  6 
5 

39.  5 

5  5 

40.  5 

6  5 

41.  5  5 


der  erste  Beiz  viel  stärker 


der  zweite  deutlich  stärker 


sind  nahezu  gleich 


der  erste  ist  stärker. 


Das  Beispiel  zeigt  drei  zweif eUos  für  Summation  sprechende  Aus- 
sagen (38, 39, 41).  Dieselben  sollen  im  Folgenden  immer  als  r-Fftlle 
(richtige  Fälle)  bezeichnet  werden,  im  Gegensatz  zu  den  falschen 
Aussagen  (f-Fälle),  wo  der  Einzelreiz  für  starker  erklärt  wurde. 
Versuch  40  scheint  eine  unbestimmte  Aussage  zu  enthalten,  und 
doch  kann  auch  sie  unbedenkUch  mit  zu  den  r-FäUen  gerechnet 
werden.  Es  findet  nämlich  bei  der  schnellen  ßeizfolge  eine  Er- 
müdung im  peripheren  Endorgane  statt^  Dadurch  ist  der  Erfolg 
der  Reizung  bei  der  unmittelbar  folgenden  zweiten  Erregung  des 
Organs    ein   geringerer.     Das  Deficit  wird   durch    den   hinzu- 


^  Siehe  y.  Frey,  Untersuchungen  flher  die  Sinnesfunctionen  der  Haut» 
I.  c  S.  220. 

Dals  eine  periphere  Ermüdung  stattfindet,  l&Tst  sich  auch  aus  den  vor- 
liegenden Versuchen  oeweisen,  z.  B. : 

Versuch  vom  21.  in.  1900.    Nr.  lU. 
Beagent  v.  F.    Punkte  a  und  6.    Abstand  4,2  mm. 

b     a 

26.  8 

^       suerst  schwacher  Reiz,  dann  eigentlich  nichts. 

g      Q       der  erste  ein  bischen  sUrker. 


Die  Baumsehweile  bei  Simultanr^izung, 


43 


kommenden  zweiten  Reiz  gerade  gedeckt,  und  daher  erscheinen 
die  Empfindungen  gleich.  Deshalb  kann  man  diese  Aussagen 
zu  den  r-FäUen  rechnen. 

Umgekehrt  wurden  die  Versuche,  wo  Gleichheit  zwischen 
beiden  Empfindungen  ausgesagt  wurde,  den  f-FäUen  zugezählt, 
bei  denen  zuerst  der  Doppelreiz  und  dann  der  Einzelreiz  ge- 
geben wurde,  weil  hier  unter  allen  Umständen  eine  schwächere 
Empfindung  den  Einzelreiz  begleiten  müüste.  Direct  positiv 
lautende  Aussagen  bei  dieser  Reizfolge  (wie  z.  B.  in  dem  ange- 
fahrten Beispiel  in  dem  Versuch  38)  wurden  aber,  obwohl  wegen 
der  Ermüdung  im  peripheren  Organ  ja  eigentlich  nur  die  um^ 
gekehrte  Reizfolge  streng  beweisend  für  Summation  ist,  doch  den 
r-FäUen  zugerechnet,  weil  der  Intensitätsunterschied  fast  stets 
sehr  bedeutend  war. 

Die  folgende  Tabelle  giebt  eine  Uebersicht  über  die  Resultate, 
welche  mit  dieser  Methode  unter  Anwendimg  der  eben  ausge 
sprochenen  Kriterien  für  r-  und  f-Fälle  sich  ergeben  haben. 


Fort- 
laufende 
Nummer 

Beagent 

Funkte 

AbsUnd 
in  mm 

Eesulta 

te 

%  der 
r-FäUe 

1 

B. 

r   9 

2,0 

36  r 

6  f 

85 

2 

V.  F. 

n    5 

2,7 

32  r 

100 

3 

V.  F. 

l   m 

3,0 

45  r 

14  f 

76 

4 

B. 

c    q 

3,2 

22  r 

13  f 

63 

5 

B. 

V     ß 

3,6 

38  r 

6  f 

86 

6 

V.  F. 

a    b 

4,2 

31  r 

7  f 

82 

7 

V.  F. 

c    d 

10,0 

58  r 

21  f 

73 

8 

B. 

C      V 

12,0 

17  r 

4  f 

81 

9 

B. 

p  ^ 

14,0 

37  r 

7f 

84 

10 

B. 

a   ß 

20,0 

27  r 

9  f 

75 

11 

V.  F. 

c    e 

20,2 

36  r 

8f 

82 

12 

V.  F. 

t  y 

29,0 

42  r 

7f 

86 

13 

V.  F. 

a     ß 

30,0 

13  r 

2  f 

87 

Wie  aus  der  Tabelle  ersichtlich,  sind  nach  dieser  Methode 
Versuche  nicht  nur  bei  geringem  Abstände  der  Pimkte  von 
einander  gemacht  worden,  sondern  solche  bis  zu  Distanzen  von 
30  mm.  Die  Versuche  smd  so  geordnet,  dafs  diejenigen  mit  den 
kleinsten  Abständen  zuerst  angeführt  sind.  — 


44  Arthur  Brückner, 

Grehen  wir  ziir  Discüssion  ^er  Tabelle  über.  Zunächst  ist 
dadurch  einwahdsfrei  bewiesen,  dafis  eijle  Summation;  in  diestit 
Abständen  überhaupt  stattfindet,  denn  durchschnittlich  sind  81,5  % 
r-Fälle  zu  verzeichnen.  PiiB  au£falletidste  Thatsache  dabei  ist 
zweifeUos^  dafs,  wie'  der  Stab  mit  den  Procentzahlen  der  r-FäUe 
zeigt,  die  Fälle  von  Summation  bei  allen  Entfernungen  innerr 
halb  der  gegebeneil  Abstände,  d.  h.  von  unmittelbar  benadii-* 
harten  Pimkten  bis  ssu  eineni  Abstand  von  30  mm,  in  ungefähr 
gleicher  Zahl  vorhanden  sind* 

Bei  den  Versuchen,  in  denen  eine  starke  Abnahme  dir 
r-Fälle  vorliegt,  lasseh  sich  jedesmal  bestimmte  Ursachen  da{fl]> 
nachweisen.  Nr.  4  war  der  erste  Verlsuch,  der  nach  der  nemon 
Methode  abgestellt  wurde,  wo  weder  Beobachter  noch  Reägent 
darauf  eingeübt  waren;  zudem  wurde  bei  diesem  Versuch  nodi: 
nidit  das  Commandb  des  Beobachters :  -  „jetzt  —  eins  —  zwei" 
gegeben,  welches. den  zeitlichen  Eintritt  jedes  Beides  genau  aa* 
zeigte  und  damit  dem  Beagenten  die  Angäbe '  wesentlich  ei^ 
leichterte.  Versuch  7  war  der  erste  nach  einer  Pause  von  über 
einem  halben  Jahr,  auTserdem  fehlte  eine  genügende  Ab- 
gleichung  der  Stärke  der  Einzelreize,  und  in  Folge  unge-. 
nügender  Pausen  zwischen  den  Einzelversuchen  trat  wahrschein- 
lieh  starke  Ermüdung  sowohl  peripher,  wie  central  ein.  Bei 
Versuch  3  ist  das  wenig  günstige  Resultat  auf  die  imbequeme 
Haltung  des  Reagenten  und  die  Störung  durch  einen  gleich- 
zeitigen heftigen  Sturm  zurückzuführen,  der  allerlei  störende 
Geräusche  verursachte.  Bei  Versuch  10  ist  als  der  störende 
Factor  besonders  das  Interesse,  welches  der  Reagent  an  der  Er- 
kennung der  Doppelreizung  nahm,  anzusprechen,  also  eine 
mangelnde  Concentration  der  Aufmerksamkeit  auf  die  Stärke 
der  Empfindung  allein.  Aufserdem  giebt  das  Protokoll  an,  dafe 
Reagent  durch  starke  Parästhesien  im  Arme,  an  dem  das  Ver- 
suchsfeld sich  befand,  belästigt  wurde.  —  Sehr  interessant  ist 
Versuch  2,  wo  100  %  richtige  Aussagen  gemacht  wurden.  Dieses 
günstige  Resultat  ist  zum  Theil  wohl  auf  gute  Disposition  des 
Reagenten  zu  beziehen,  vor  Allem  aber  auf  das  Einhalten  ge- 
nügend langer  Pausen  zwischen  den  Einzelversuchen  (ca.  '30  See. 
zmschen  zwei  Doppelreizungen). 

Es  lassen  sich  nun  unter  Heranziehung  einiger  früherer 
Versuche,  welche  noch  mit  der  weniger  vollkommenen  Methode 
der  Aufeinanderfolge  der  Reize   gemacht  wurden,   folgende 


Die  Baum9chwdle  bei  Simultanreizung.  45 

Factoren  als  einfluTsreich  für  das  Zxistandekommein 
von  Summation  bei  einer  Entfernung  beider  Tast- 
pnnkte  bis  zu  30  mm,  nachweisen. 

Wie  schon  oben  erwähnt,  ist  es  günstig  für  das  Zustande- 
kommen der  Summation,  wenn  eine  möglichste  Abgleichung  in  der 
.Stärke  der  Einzelreize  vorhanden  ist  Dann  ist  der  Reizzuwachs 
bei  der  Doppelreizung  stets  am  größten,  gleichgültig,  welcher 
Efaizelreiz  zur  Vergleichung  gegeben  wird.  Ebenso  ist  eine 
möglichst  gleiche  Empfindlichkeit  beider  Punkte  von  VortheiL 
Die  bestimmtesten  Aussagen  für  Summation  finden  sich  bei  den 
Versuchen,  wo  Empfindlichkeit  und  Beizstärke  für  beide  Punkte 
annähernd- gleich  sind. 

Neben  diesen  beiden  Momenten,  welche  von  dem  Beagenten 
unabhängig  sind,  zeigen  sich  auTserdem  Factoren  von  ausschlag- 
gebender Bedeutung,  welche  in  hohem  Maa&e  der  augenblick- 
lichen Disposition  der  Versuchsperson  unterworfen  sind.  In 
erster  Lönie  ist  hier  die  Aufmerksamkeit  zu  nennen.  Ist  die- 
selbe nicht  ausschUefslich  auf  den  Versuch  gerichtet,  so  sinkt 
sofort  die  Zahl  der  richtigen  Aussagen.  Jede  äu&ere  Störung 
wie  Lärm  oder  abnorme  Sensationen  irgend  welcher  Art  lenken 
die  Aufmerksamkeit  ab,  und  damit  treten  fehlerhafte  Aussagen 
ein.  Oben  sind  einige  derartige  Beispiele  für  ganze  Ver- 
suchsreihen angeführt;  Einzelheiten  zu  erwähnen  dürfte  kaum 
lohnend  sein. 

Neben  diesen  mehr  äuiäeren  Momenten,  welche  die  Aufmerk- 
samkeit abziehen,  kommen  mm  auch  noch  „innere"  Ursachen 
in  Frage.  Die  Aufmerksamkeit  muTs  nämlich  derart  gerichtet 
sein,  dafs  ganz  speciell  nur  auf  die  Stärke  der  Empfindungen 
geachtet  wird.  Sobald  der  Beagent  z.  B.  noch  auf  Localisation 
oder  auf  Erkennung  der  Doppelreize  als  zwei  Empfindungen  sein 
Interesse  wendet,  werden  die  Besultate  für  Summation  schlechter. 
Einige  Beispiele  mögen  zum  Belege  des  Gesagten  dienen. 

Im  Versuch  11  vom  19.  X.  1900^,  Beagent  B.,  Abstand  der 
Punkte  3,6  mm,  findet  sich  im  ersten  Theile  des  Versuchs, 
welcher  19  Einzelversuche  über  Summation  enthält,  nm:  eine 
falsche  Aussage;  in  den  folgenden  13  Versuchen  richtete  Beagent 
auTserdem  seine  Aufmerksamkeit  noch  auf  die  Localisation  der 
Eänzelreize.     Das  Besultat  ist,  dafs  4  Fehler  und  nur  9  richtige 


^  In  der  obigen  Tabelle  Versuch  5. 


46  Arthur  Brüdener, 

Aussagen  auftreten«  Als  dann  zum  Schlüsse  des  Versuchs  die 
Localisation  wieder  ganz  vernachlässigt  wurde,  und  die  Auf- 
merksamkeit sich  nur  der  Stärke  der  Empfindungen  zuwandte, 
ergeben  12  Versuche  nm:  einen  Fehler. 

Zum  Beweise,  dafe  das  Bestreben  Poppelreize  zu  erkennen 
störend  für  die  Summationsresultate  ist ,  sei  Folgendes  ausgefOhrt. 

Versuch  vom  21.  UI.  1900  \  Reagent  B.,  Abstand  der  Punkte 
3,2  mm.  Der  erste  Theil  des  Versuchs  ergiebt  durchaus  brauch- 
bare Resultate.  Da  werden  plötzlich  zwei  Reize  empfunden 
(s.  darüber  unten  S.  öOf.  Anmerkung).  Sofort  wendet  sich  die 
Aufmerksamkeit  auch  diesem  Punkte  zu,  und  es  sind  nun  unter 
den  16  nächsten  Versuchen  nur  8  richtige  Aussagen. 

Femer  ist  eine  zu  starke  allgemeine  Ermüdung  der  Versuchs- 
person nicht  günstig.  Eine  gewisse  Ermüdung  ist  dagegen  fast 
von  Vortheil,  weil  in  völlig  frischem  Zustande  die  Aufmerksam- 
keit des  Reagenten  gewissermaafsen  zu  „beweglich"  ist,  so  dafis 
leicht  eine  Ablenkung  von  dem  einseitigen  Interesse  stattfindet 
Der  Reagent  kommt  dagegen  bei  einiger  Ermüdung  in  einen 
gewissen  apathischen  Zustand,  welcher  die  Gleichmäfsigkeit  der 
Aussagen  begünstigt 

Im  Gegensatz  hierzu  ist  die  periphere  Ermüdung,  d.  h.  die 
Ermüdung  des  peripheren  Sinnesapparates  durch  zu  schnelle 
Reizfolge  von  unbedingtem  Nachtheil:  dadurch  leidet  das  Re- 
sultat Der  Versuch  2  der  Tabelle,  der  100  7o  richtige  Aussagen 
enthält,  verdankt  das  gute  Resultat,  wie  bereits  erwähnt,  zum 
gröfsten  Theil  der  Einhaltung  genügend  langer  Pausen  zwischen 
den  einzelnen  Versuchen. 


Die  bisher  besprochenen  Ergebnisse  sind  gewonnen  worden 
aus  Versuchen,  bei  denen  der  Abstand  der  Punkte  von  einander 
nicht  mehr  als  30  mm  betrug.  Es  wäre  nun  interessant  zu 
untersuchen,  ob  auch  noch  in  gröfserer  Entfernung  Summation 
stattfindet,  oder  ob  etwa  von  einer  bestimmten  Grenze  an  die- 
selbe aufhört,  und  andere  Beziehungen  sich  zwischen  den  beiden 
Reizen  geltend  machen.  Leider  stehen  mir  speciell  für  diesen 
Zweck  nur  wenige  Versuche  zur  Verfügung,  welche  auch  nicht 
nach  derselben  Methode  angestellt  wurden,  wie  die  eben  mitge- 
theilten  Experimente.    Bei  denselben  wurde  jede  Reizung  einzeln 


^  In  der  Tabelle  Versuch  4. 


DU  Eaumsdiwdie  hei  Simultanreizung,  47 

gegeben  und  dann  eine  Pause  gemacht  Daher  war  die  Ver- 
gleichung  erschwert  Gleichwohl  gestatten  die  Versuche  bestunmte 
Schlüsse. 

Es  liegen  vor  ein  Versuch  mit  einem  Abstand  der  Punkte 
von  62  mm  (Beagent  B.)  imd  zwei  Versuche  mit  84  mm  (Reagent 
y.  F.).    Die  Resultate  sind  kurz  folgende. 

Sicher  zu  beweisen  ist,  dafs  noch  bis  zu  dieser  Entfemimg 
Verschmelzung  der  Beize  zu  einer  Empfindung  und  deutliche 
Summation  stattfinden  kann.  Es  findet  sich  sogar  zweimal  bei 
der  Entfernung  von  84  mm  eine  merkliche  Empfindung,  während 
jeder  der  Einzelreize  untermerklich  ist  (S.  die  Anmerkung  auf 
S.  49.)^  Die  Summation  vollzieht  sich  anscheinend  nicht  mehr 
mit  der  Sicherheit,  wie  bei  kleineren  Entfernungen,  jedoch  ist 
an  dem  Vorkommen  dieser  Erscheinung  bei  so  groüsen  Abständen 
nicht  zu  zweifeln.  Sie  scheint  nach  einigen  anderen  Versuchen, 
welche  freilich  mit  anderer  Fragestellung  gemacht  wurden,  sogar 
noch  bis  zu  einer  Entfernung  von  134  mm  (Reagent  y.  F.)  und 
142  mm  (Reagent  B.)  auftreten  zu  können.  Eine  sichere  Behaup- 
tung, dafs  Summation  in  so  grofsen  Entfernungen  noch  stattfindet, 
erlauben  die  wenigen  yorUegenden  Aussagen  aber  nicht 

Leider  kann  auch  für  eine  andere  sehr  interessante  Er- 
schemung  der  Beweis  nicht  mit  Sicherheit  erbracht  werden,  weü 
dazu  die  Versuche  nicht  ausreichend  sind.  Mit  Zimahme  der 
Distanz  zwischen  beiden  Tastpunkten  seheint  nämlich  die  Zahl 
derjenigen  Fälle  zuzunehmen,  wo  die  Doppelreizung  schwächer 
imponirt,  als  die  Einzelreizung.  Bis  zu  30  mm  ist,  wie  aus  der 
Tabelle  ersichtlich,  ihr  Vorkommen  ein  so  spärliches,  dafs  sie 
unbedenklich  als  Versuchsfehler  angesprochen  werden  können. 
In  den  drei  soeben  erwähnten  Versuchen  mit  Entfernungen  von 
62  resp.  84  mm  aber  macht  sich,  obwohl  dieselben  ja  eine  Ver- 
gleichung  mit  den  nach  anderer  Methode  gewonnenen  Resultaten 
nicht  direct  gestatten,  doch  eine  derartige  Erhöhung  der  Zahl  dieser, 
oben  als  f-Fälle  bezeichneten,  Aussagen  geltend,  dafs  die  Möglich- 
keit einer  „Subtraction"  wohl  nicht  ausgeschlossen  werden  kann. 
Einer  analogen  Erscheinung  werden  wir  bei  der  Untersuehimg 
der  quantitativen  Beziehungen  zwischen  beiden  Reizen  bei  Er- 
kennung der  Doppelreizung  begegnen,  so  dafs  hier  doch  wohl 
eine  allgemeinere  Erscheinung  vorzuliegen  scheint 

^  Derartige  Fälle  sind  bei  kleineren  Entfernungen  noch  öfters  beob- 
achtet worden,  so  z.  B.  bei  23  und  41  mm  (vgl.  S.  49). 


I 


48  Arihtir  Brudmfr, 

Disparation. 

Die  soeben  mitgetheilten  Resultate  haben  von  neuem  'di6 
längst  bekannte  Thatsache  ergeben^  dafe  swei  gleichartige  Beize, 
wenn  ihre  getrennte  Wahrnehmung  nicht  gelingt,  yerschmolsen 
werden.  Aufserdem  aber  hat  sich  herausgestellt,  dafs  eine  Wechsel- 
beziehung  zwischen  beiden  Reizen  stattfindet,  welche  Ton  Ein- 
fluss  ist  auf  die  Intensität  der  wahrgenommenen  Empfindung. 
Damit  ist  ein  neues  Ejriterium  gewonnen  für  das  Studium  der 
Gröfse  der  Einflulssphären,  welche  den  einzelnen  Tastpunkten 
im  Gentralnervensystem  zukommen,  und  damit  nach  den  Eiil- 
gangs  gemachten  Erörterungen,  für  die  Gröfse  der  simultanen 
Raumschwelle  auf  der  Haut  Die  gewonnei^en  Resultate  legten 
vor  allem  den  Gredanken  nahe,  die  Thatsache  der  Summation 
zur  Untersuchung  dieser  Frage  zu  verwenden. 

Die  einfachste  Anwendung  dieses  Phänomens  zur  Lösung 
der  Frage,  wie  grofs  die  simultane  Raumschwelle  sei,  scheint 
diejenige  zu  sein,  dafs  man  mitersucht  bis  zu  welchem  Abstand 
der  Tastpunkte  von  einander  zwei  untermerkliche  Reize  noch  za 
einer  merklichen  Empfindung  verschmolzen  werden.  So  lange 
dieses  noch  stattfindet,  muTs  offenbar  die  simultane  Raumschwelle 
noch  nicht  erreicht  sein. 

Grelänge  es  diesen  Gedanken  experimentell  durchzuführen, 
so  hätte  man  ein  sehr  scharfes  Kriterium :  so  lange  nämlich  über- 
haupt noch  etwas  gefühlt  wird,  ist  die  Raumschwelle  noch  nicht 
erreicht  Es  wäre  dieses  eine  ganz  andere  Art,  die  Gröfse  de^ 
Raumschwelle  zu  bestimmen,  als  die  von  Weber  angegebene 
mittels  des  Tastercirkels,  wo  angegeben  werden  muTs,  ob  eine 
oder  zwei  Empfindungen  wahrgenommen  werden. 

So  einleuchtend  der  eben  ausgesprochene  Gedanke  auf  den 
ersten  Blick  erscheint,  so  stellen  sich  ihm  doch  gröfse  Schwierig- 
keiten entgegen.  Geht  man  nämlich,  wie  wir  es  gethan  haben, 
von  der  Annahme  aus,  dafs  bei  Reizimg  eines  Tastpimktes 
eine  Diffusion  der  Erregimg  im  Gentralnervensystem  stattfindet, 
so  muss  die  Gröfse  dieses  ,.Diffusionskreises^  offenbar  abhängig 
sein  von  der  Stärke  der  Reize,  welche  das  periphere  Organ 
trifft  —  es  ist  das  ein  allgemeiner  Grundsatz  in  der  Physiologie 
des  Centralnervensystems.  Nun  ist  aber  ein  untermerklicher 
Reiz  noch  lange  keine  constante  Gröfse,  sondern  kann  grofsen 
Schwankungen  unterworfen  sein.     Daher  müfste   beim  Experi- 


Die  Baumschweüe  hei  SimuUanreizung.  49 

mentieren  die  Voraussetzung  gemacht  werden,  dass  die  untei^ 
merklichen  Reize  alle  etwa  denselben  Abstand  von  dem  Schwellen- 
reiz  für  die  betreffenden  Tastpunkte  haben.  Nur  dann  könnten 
brauchbare,  untereinander  vergleichbare  Resultate  erhalten  werden.^ 

Dieser  Forderung  zu  genügen  ist  aber  kaum  möglich,  so  dafe 
schon  aus  diesem  Grunde  auf  die  Ausführung  verzichtet  wurde, 
abgesehen  davon,  daib  das  Arbeiten  mit  derartig  schwachen  oder 
unmerklichen  Reizen  aufserordentUch  ermüdend  für  den  Re- 
agenten  ist,  selbst  wenn  zuweüen  stärkere  Reize  „zur  Erholung« 
g^^eben  werden  (s.  das  Beispiel  in  der  Anmerkung  auf  dieser 
Seite,  Versuch  7). 

Man  könnte  nun  auf  den  Gedanken  kommen  auch  hier,  wie 
bei  den  Summationsversuchen,  überschwellige  Einzelreize  zu  be- 
nützen, und  die  Raumschwelle  so  gross  anzunehmen,  als  noch 
Summation  stattfindet  Aber  dabei  läfst  sich  genau  der  gleiche 
Einwand  machen,  wie  bei  Verwendung  unterschwelliger  Reize, 
denn  auch  hier  ist  offenbar  die  Diffusion  der  Erregung  im 
Centralnervensystem  d.  h.  die  Gröfse  der  EinfluTssphäre  eines 
Tastpunktes  abhängig  von  der  Stärke  der  Reizung  des  peripheren 
Sinnesapparates. 

Es  liess  sich  also  die  vorliegende  Methode  der  vollkommen 
simultanen  Reizung  zweier  Punkte  der  Haut  zur  Bestinmiung 
der  simultanen  Raumschwelle  vorläufig  nicht  anders  verwenden, 
wie  der  alte  WEBEB'sche  Tastercirkel.  Nur  gestattete  die  voll- 
kommen simultane  Reizung  und  die  Beschränkvmg  derselben  auf 
zwei  bestimmte  Sinnesendapparate  bei  der  Möglichkeit  der  ge- 
nauen Dosierung  der  Einzelreize  eine  ungleich  gröfsere  Exakt- 


^  Zum  Beweise,  dala  unteimerkliche  Beize  sehr  verschieden  groDs  sein 
können,  sei  znm  UeberfloTs  folgendes  Beispiel  angeführt: 

Versuch  vom  15.  III.  1900.    Nr.  I. 
Beagent  v.  F.    Punkte  x  und  y.    Abstand  84  mm. 

y       X 


2. 

ao 

ja 

3. 

25 

nein 

4. 

20 

nein 

5. 

25 

25 

nein 

6. 

10 

nein 

7. 

3,6 

ja  deutlich 

8. 

25 

10 

ja  sehr  schwach 

9. 

25 

nein. 

Zeitschrift  fttr  Psychologie  86. 


50  Arthur  Brückner, 

heit.  Es  ist  dadurch  auch  in  der  That  gelungen,  eine  Anzahl 
von  Bedingungen  festzustellen,  von  welchen  es  abhängt,  ob  zwei 
Reize  getrennt  wahrgenommen  oder  zu  emer  Empfindung  ver- 
schmolzen  werden. 

Das  Hauptresultat  der  Untersuchungen  über  Erkennung  der 
Doppelreize  als  zwei  disparate  Eindrücke  möge  vorangestellt 
werden.  Zwei  Reize  werden  nämUch  unter  Umständen  getrennt 
wahrgenommen  bei  einer  Entfemimg  der  Punkte  von  einander, 
in  der  sonst  in  der  Regel  eine  Verschmelzung  und  Summation 
beider  Einzelreize  stattfindet  Es  können  also  sowohl  Summation 
mit  Verschmelzung  wie  Disparation  (Erkennimg  von  zwei  Reizen) 
bei  derselben  Entfemimg  vorkommen.  Damit  ist  gesagt,  dafs 
es  für  ein  bestimmtes  Individuum  eine  bestimmte 
simultane  Raumschwelle  nicht  giebt  Eine  allgemein- 
gültige Zahl  für  die  Gröfse  derselben  ist  natürlich  vollends  nicht 
anzugeben  d.  h.  es  ist  nicht  möglich  zu  sagen,  dafs  von  einer  be- 
stimmten Entfernung  der  Einzelreize  von  einander  an,  stets  die 
Wahrnehmung  zweier  räumlich  getrennter  Eindrücke  stattfindet 

Die  kleinste  Entfernung,  bei  der  in  den  vorliegenden  Ver- 
suchen dieses  stattfand,  betrug  20  mm.  Hier  wurden  bei  einer 
Versuchsreihe,  in  der  36  Doppeheize  gegeben  wurden  5  mal  zwei 
Reize  richtig  erkannt.  Es  ist  damit  jedenfalls  der  Beweis  er- 
bracht, dafs  beim  Zusammentreffen  gewisser  Bedingungen  eine 
Disparation  zweier  Reize  in  dieser  Entfemimg  möglich  ist  Diese 
Zahl  ist  bedeutend  kleiner,  als  die  ursprünglich  von  Weber  für 
diesen  Theil  des  Körpers  angegebene  (Beugeseite  des  Unterarmes 
18  Pariser  Linien  =  40,5  mm). 

Es  kann  aber  die  simultane  Raumschwelle  auch  bedeutend 
gröfser  werden,  so  wird  z.  B.  bei  einer  Entfernung  von  143  mm  * 
durchaus  nicht  immer  der  Doppelreiz  als  solcher  erkannt* 

^  Zur  Anstellung  der  Versuche  mit  so  grofsen  Abständen  wurde  ein 
Punkt  des  gewöhnlichen  Versuchsfeldes  am  Unterarm  und  einer  unmittelbar 
proximal  vom  Handgelenk  verwendet. 

'  Es  hat  sich  auffallenderweise  gezeigt,  dafs  bei  3,2  mm  resp.  3,6  mm 
Abstand  der  Einzelreize  von  einander  einige  Male  die  Doppelreizung  erkannt 
worden  ist.  Ich  möchte  das  nicht  unerwähnt  lassen,  obwohl  ich  dieser 
Thatsache  kaum  eine  Bedeutung  beimessen  kann,  da  gleichzeitig  in  den- 
selben Versuchsreihen  „Vexirversuche"  vorliegen,  d.  h.  Versuche,  bei  denen 
der  Einzelreiz  für  doppelt  gehalten  wird  (bei  3,2  mm  in  einem  Versuch 
Tiermal  zwei  Reize  richtig  erkannt,  bei  sechs  ^Vexirversuchen"^ ;  in  einer 
anderen  Versuchsreihe  bei  3,2  mm  dreimal  zwei  Reize  richtig  erkannt  und 


Die  Baumsckweäe  bei  SimüUanreizung,  '  51 

Während  also  die  Erkennung  der  Doppelreizimg  nur  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  von  dem  Abstand  der  Einzelreize  sich 
abhängig  zeigt,  haben  sich  andere  Faktoren  von  gröfserer  Be^ 
deutimg  für  Erkennting  der  Disparation  erwiesen. 

Es  hat  sich  auch  bei  den  vorliegenden  Versuchen,  wie  lange 
bekannt,  herausgestellt,  dafs  die  Disparation  leichter  ist  in  der 
Queraxe,  als  in  der  Längsaxe  des  Unterarms.  Die  Zahl  der 
richtigen  Aussagen  ist  im  ersten  Falle  bei  gegebener  Entfernung 
eine  gröfsere  als  im  zweiten. 

Auch  der  schon  bekannte  Einflufis  der  Eörpergrölse  auf  die 
Gröfse  der  Raumschwelle  schien  sich  bei  den  beiden  Versuchs- 
personen geltend  zu  machen:  der  kleinere  Reagent  B.  erkannte 
schon  in  geringerer  Entfernung  die  Doppelreizung  als  der  Re- 
agent V.  F. 

Von  Einflufs  ist  aber  vor  allem  die  Intensität  der  Reize. 
Schwache  Reize  werden  nicht  so  leicht  getrennt  wahrgenommen, 
selbst  bei  gröfserer  Entfernung  der  Einzelreize  von  einander,  wie 
stärkere.    Zwei  Beispiele  mögen  zur  Illustration  dienen : 

Versuch  vom  19.  X.  1900.    Nr.  IV. 

Re&gent  B.    Punkte  p  und  r,  querliegend  zur  Längsaxe  des  Unterarms. 

Abstand  24  mm.    p  ulnar. 


P 

r 

71. 

11 

ulnar 

72. 

11 

10 

sind  wohl  zwei 

73. 

5 

5 

zwei  Reize!  radial  stärker. 

Die  unsichere  Aussage  in  Versuch  72  verwandelt  sich  sofort 
in  eine  absolut  sichere,  so  wie  die  Reizstärke  erhöht  wird.  Das- 
selbe zeigt  sich  in  folgendem  Falle. 

Versuch  vom  23.  X.  1900.    Nr.  U. 
Keagent  v.  F.    Punkte  x  und  X  (x  vom  am  Handgelenk).    Abstand  143  mm. 

X       X 

20.  3      6        etwas  gespürt,  waren  vielleicht  zwei  Reize,  ganz  unsicher 

21.  2      ö       jetzt  deutlich  zwei! 


ein  Vexirversuch ;  bei  3,6  mm  ein  Doppelreiz  erkannt  und  ein'  Vexirversuch). 

Aufserdem  finden  sich  diese  Aussagen  nur  bei  der  Versuchsperson  B.,  welche 

><tets  ein  lebhaftes  Interesse  an  der  Disparation  hatte,  so  dafs  leicht  hier 

der  Zufall  im  Spiel  sein  kann.     Es  sei  femer  erwähnt,   dafs  das  eine  Mal 

bei  3,2  mm  zwei  Reize  erkannt  wurden,  nachdem  der  Reagent  unmittelbar 

vorher  die  Hebel  betrachtet  hatte. 

4* 


^^***"^    ■• 


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V-.   r4*.,/u^ju^g^\.  r.-u-   titt.  >m 


DU  Baumsi^w^  hei  SimtUtanreizung,  53 

Es  wirken  offenbar  auch  hier  andere  Ursachen  mit  als  rein 
physiologische,  nämlich  psychische  und  von  diesen  speciell  die 
Aufmerksamkeit  Dieselbe  zeigt  sich  überhaupt  von  gröfster 
Bedeutung,  ebenso  wie  wir  es  bei  der  Verschmelzung  und 
Summation  gefunden  haben.  Es  gelten  hier  genau  dieselben 
Fordenmgen  wie  dort,  welche  an  die  Aufmerksamkeit  gestellt 
werden  müssen,  um  gute  Resultate  zu  erhalten.  Sowohl  Ab- 
haltung äuTserer  Störungen  ist  nöthig,  wie  völlige  Concentration 
der  Aufmerksamkeit  auf  Erkennung  der  Doppelreizung.  Es  mufs 
gewissermaafsen  das  BewuTstsein  auf  diesen  Punkt  „eingestellt^, 
eine  Disposition  in  dieser  Richtung  vorhanden  sein.^  Dafs  so 
etwas  wirklich  stattfinden  kann,  beweist  der  Umstand,  dafs  bei 
Versuchen,  in  denen  ein  Doppelreiz  nach  dem  anderen  sicher 
erkannt  wird,  auch  eine  Häufung  der  „Vexirversuche"  statthat. 
Während  nämlich  im  Allgemeinen  niur  ganz  sporadisch  ein  Fall 
auftritt,  wo  ein  Einzelreiz  für  doppelt  gehalten  wird,  kann  unter 
den  genannten  Verhältnissen  eine  Cumulation  derartiger  Aus- 
sagen eintreten,  z.  B.: 

Versuch  vom  19.  III.  1900.    Nr.  IV. 
Reagent  B.    Punkte  p  und  r,  Abstand  24  mm. 

P      r 

vielleicht  zwei  Reize,  unsicher 

vielleicht  auch  zwei  Reize,  stärker  als  vorher 

wohl  auch  zwei 

das  waren  zweil 

Neben  einer  grofsen  Zahl  richtiger  Aussagen  finden  sich  im  weite- 
ren Verlauf  des  Versuchs  noch  viele  „Vexirversuche"  (von  30  Doppel- 
reizen werden  18  richtig  erkannt,  daneben  sind  7  „Vexirversuche"  zu  ver- 
zeichnen). 

Beachtenswerth  ist  in  dem  angeführten  Beispiel,  dafs  doch 
ein  Unterschied  zwischen  den  Empfindungen  bei  den  „Vexir- 
versuchen^  imd  denen  bei  den  richtig  erkannten  Doppelreizen 
vorhanden  ist:  die  sehr  bestimmte  Aussage  bei  Versuch  24 
deutet  daran! 

Besonders  bei  schwachen  Reizen  und  gröfseren  Entfernungen 
ist  zur  Erkennung  der  Doppelreize  eine  gewisse  Uebimg  noth- 


21. 

11 

22. 

9 

11 

23. 

9 

24. 

9 

11 

^  Vgl.  hierzu  v.  Kbies  in  der  Zeitschrift  für  Psychologie  \mi  Physiologie 
der  Sinnesorgane  8,  14  f.,  wo  von  einer  „dispositiven  Einstellung''  gesprochen 
wird. 


54  Arthur  Brütkner* 

wendig.  Es  muTs  nämlich  bei  jeder  Versuchsreihe  der  Reagent 
gewissermaaXsen  die  Empfindung,  welche  mit  zwei  Beizen  einher- 
geht, von  neuem  kennen  lernen,  tun  sicher  die  Disparation  aus- 
sagen zu  können.  Dann  kann  für  längere  Zeit  eine  richtige 
Aussage  der  anderen  folgen.   Es  sei  folgendes  Beispiel  angeführt : 

Versuch  vom  19.  X.  1900. 

Beagent  v.  F.    Punkte  z  am  Unterarm  und  ein  Punkt  {d)  am  Handgelenk. 

Abstand  134  mm. 

Es  gehen  mehrere  ganz  unsichere  Aussagen  über  Wahrnehmung  der 
Doppelreizung  voraus,  dann  folgt  plötzlich,  ohne  dalis  eine  Verstärkung  dar 
Reize  stattgefunden  hatte,  die  erste  sichere  Aussage: 

d      z 

o  dss  war  ein  Doppelschlag  und  dann  distal. 

Im  weiteren  Verlaufe  des  Versuchs  werden  nun  die  Doppelreize  stets 
sicher  erkannt. 

Es  liefsen  sich  mehrere  analoge  Beispiele  anführen. 

Die  wesentlichste  Schwierigkeit,  welche  durch  Uebung  über- 
wunden werden  muTs,  ist  die,  die  Doppelreize  dann  zu  erkennen, 
wenn  die  Emzekeize  sehr  weit  von  einander  entfernt  sind.  In 
den  drei  Versuchen,  welche  mit  sehr  grofsen  Abständen  (134, 
142,  143  mm)  gemacht  wurden,  stellte  es  sich  jedesmal  im  An- 
fange des  Versuchs  als  sehr  schwer  heraus,  das  ganze  Versuchs- 
feld gewissermaaXsen  auf  einmal  zu  übersehen  d.  1^  die  Auf- 
merksamkeit auf  beide  weit  von  einander  entfernten  Punkte 
gleichmäfsig  zu  concentriren.  Sie  fährt  sozusagen  „hin  imd  her" 
zwischen  beiden  Punkten,  imd  die  Aussagen  sind  so  lange  un- 
sicher, als  der  Reagent  nicht  gelernt  hat,  beiden  Pimkten  gleich- 
mäfsig seine  Aufmerksamkeit  zuzuwenden. 

Soll  die  Doppelreizimg  als  solche  erkannt  werden,  so  ist 
endlich  nothwendig,  dafs  der  Keagent  im  Allgemeinen  nicht  zu 
sehr  ermüdet  ist,  sowie,  dafs  nicht  durch  zu  schnelles  Aufein- 
anderfolgen der  einzelnen  Reizungen  eine  Ermüdung  im  peri- 
pheren Sinnesapparat  stattfindet.  Es  gelten  hier  im  WesentUchen 
dieselben  Bedingungen,  wie  sie  oben  für  das  Zustandekommen 
der  Summation  angegeben  wurden. 


Auch  in  den  vorUegenden  Versuchen  sind  natürUch  Fälle 
aufgetreten,  in  denen  eine  Disparation  bestimmt  zwar  nicht  aus- 


Die  BaumschtceUe  bei  SimtUtanreizung.  55 

gesagt  wird,  wo  aber  die  Angaben  darauf  schliefsen  lassen,  dals 
doch  etwas  wahrgenommen  wird,  was  in  irgend  welcher  Weise 
sich  von  der  Empfindung,  wie  sie  der  Einzekeiz  hervorruft, 
unterscheidet  Diese  „Uebergänge  zur  Disparation"  sind  sehr 
verschiedener  Art 

Mehrfach  findet  sich  z.  B.  die  Aussage,  dafs  der  Eindruck 
„ausgedehnt",  „linienförmig"  sei  oder  linienförmig  imponire  und 
gleichzeitig  an  den  Enden  der  Linie  stärker  erscheine,  etwa  so: 

• •.    Der  Eindruck   auf   der   Haut  kann   als   „flächenhaft", 

„diffus"  oder  „von  ganz  anderer  QuaUtät"  wahrgenommen  werden, 
als  der  Einzelreiz. 

Während  die  eben  genannten  Empfindimgen  schon  lange 
bekannt  sind,  ist  eine  andere  Erscheinung  früher  noch  nicht 
beobachtet  worden.  Es  findet  sich  nämlich  eine  grofse  Zahl  von 
Aussagen,  denen  zufolge  der  Doppelreiz,  wenn  er  nicht  als  solcher 
erkannt  wird,  an  eine  andere  Stelle  localisirt  wird,  als  jeder 
Einzelreiz  für  sich.  Voraussetzung  ist  dabei  natürUch,  dafs  eine 
genauere  LocaUsation  der  Einzelreize  möglich  ist  und  auch  aus- 
gesagt wird  (z.  B.  radial-ulnar,  proximal-distal). 

Bei  etwas  gröfserem  Abstand  der  einzelnen  Reize  von  ein- 
ander finden  sich  nun  folgende  Aussagen  über  die  Empfindung 
bei  der  einfach  empfundenen  Doppelreizung  hinsichtlich  ihrer 
LocaUsation. 

Li  einer  ziemlich  grofsen  Zahl  von  Fällen  wird  der  Eindruck 
in  die  Mitte  zwischen  beiden  Einzelreizen"  localisirt,  oder  es  wird 
ausgesagt,  wenn  z.  B.  der  ulnare  Reiz  allein  vorausgegangen  ist, 
„nicht  so  ulnar  wie  vorher".  Es  kann  auch  vorkommen,  dafs 
der  Reagent  imsicher  ist,  wo  er  die  Empfindung  gehabt  hat, 
während  die  Einzelreize  sofort  richtig  localisirt  werden,  so  z.  B. 
in  folgenden  Aussagen. 


Versuch 

vom  17.  TTT.  1900.    Nr.  I. 

Reagent  v.  F. 

Punkte  X 

und  y.    Abstand  84  mm.    x  proximal. 

y 

X 

86. 

7 

10 

ja  deutlich,  fraglich  wo? 

87. 

7 

10 

auch  deutlich,  wo? 

88. 

7 

ja  distal 

89. 

10 

proximal 

90. 

7 

10 

deutlich  etwas,  wo? 

Oft  wird  nur  ausgesagt,  dafs  der  Eindruck  sich  „an  anderer 
SteUe"  befinde. 


56  Arthur  Brüdener, 

Genauer  untersucht  wurde  diese  interessante  Erscheinung 
nicht,  welche  einen  Beitrag  bildet  für  die  Thatsache  der  räum- 
lichen Localisation  vermittelst  des  Tastsinnes. 

Quantitative  Beziehungen  zwischen  den  Einzel- 
reizen bei  Erkennung  der  Doppelreizung. 

Ausgehend  von  der  Thatsache,  dafs  bei  gegebener  Entfernung 
zweier  Tastpunkte  von  einander  bald  eine  Verschmelzung  mit 
gleichzeitiger  Summation  der  Eindrücke  stattfindet,  bald ,  wenn 
die  Verhältnisse  günstig  liegen,  eine  Erkennung  des  disparaten 
Charakters  der  Doppelreizung  auftritt,  drängt  sich  unwillkürhch 
die  Frage  auf,  wie  sich  die  Intensitätsverhältnisse  bei  der  Dis- 
paration  verhalten,  d.  h.  ob  etwa  auch  in  diesem  Falle  noch  eine 
quantitative  Beeinflussung  beider  Reize  stattfindet  oder  nicht 

Besonders  auf  diesen  Punkt  gerichtete  Versuche  wurden  zwar 
nicht  angestellt,  jedoch  geben  die  vorliegenden  Aussagen  einen 
genügenden  Anhalt,  um  einige  Schlüsse  in  dieser  Richtung  ziehen 
zu  können. 

Es  mufs  als  zweifellos  erwiesen  angenommen  werden,  dab 
in  solchen  Entfernungen,  bis  zu  denen  noch  Verschmelzung  und 
Summation  mit  Sicherheit  nachzuweisen  ist,  auch  eine  Ver- 
stärkung der  Empfindimg  bei  Erkennung  der  Doppelreizung 
stattfindet  Es  kann  dabei  entweder  die  Gresammtempfindung 
stärker  imponiren,  wie  diejenige  eines  Einzelreizes,  oder  es  kann 
jeder  einzelne  Reiz  für  sich  in  der  Doppelempfindung  stärker 
erscheinen,  als  er  empfunden  wird,  wenn  er  nur  für  sich  gegeben 
wird.    Es  mögen  einige  Aussagen  derart  angeführt  sein. 

Versuch  vom  16.  III.  1900.   Nr.  V. 
Reagent  v.  F.    Punkte  x  und  y.    Abstand  84  mm.    x  proximal. 

X       y 

28.  14  ja  sehr  schwach,  proximal 

29.  8.5        auch  so  schwach,  distal 

30.  14      8.5       ja  deutlich,  sind  zwei  Reize. 

Versuch  vom  15.  X.  1900.    Nr.  II. 
Reagent  B.    Punkte  a  und  ß,  a  distal.    Abstand  20  mm. 


18.        5 
5 


-        zwei  stärker,  sind  zwei  Reize;  eins  distal 

19.  7 

.        eins  proximal,  zwei  sind  zwei  Reize,  stärker 

20  A       7 

.  eins  sind  zwei  Reize,  stärker;  zwei  eigentlich  nichts. 


Die  Baumschtoeüe  bei  Simtdtanreizung,  57 

Es  kann  also  bei  Erkennung  der  Doppelreizung  die  Gte- 
sammtempfindung  gegenüber  der  bei  monostigmatischer  Reizung 
verstärkt  sein.  Als  Beispiel,  dafs  die  Einzelreize  jeder  für  sich 
in  der  Doppelreizung  stärker  imponiren,  sei  folgender  Versuch 
angeführt 

Versuch  vom  19.  lU,  1900.    Nr.  IL 
Beagent  B.   Punkte  r  und  u  querliegend,  u  ulnar,  r  radial.   Abstand  60  mm. 

tt      r 


51. 

8 

radial  schwach 

52. 

6 

ulnar  schwach 

53. 

6      8 

zwei  Reize,  jeder  für  sich  viel  stärker 
als  der  Einzelreiz. 

Es  kann  also  nicht  daran  gezweifelt  werden,  dafs  auch  bei 
Erkennung  der  Doppelreizung  eine  Summation  in  dem  Sinne 
stattfindet,  dafs  nicht  nur  der  Gresammteindruck  der  Empfindung 
ein  stärkerer  wie  bei  der  Einzeheizung  ist,  sondern  dafs  auch 
jeder  Einzeheiz  für  sich  in  seiner  Intensität  durch  den  anderen 
verstärkt  wird.  Es  ist  das  ja  auch  durchaus  begreiflich ,  denn 
es  ist  nicht  einzusehen,  warum  in  Entfernungen,  wo  Summation 
bei  Verschmelzung  der  Reize  stattfinden  kann,  dieselbe  nicht 
auch  auftreten  kann,  wenn  der  Doppelreiz  erkannt  wird. 

Diese  Thatsache  mufs,  sofern  sie  allgemeine  Geltung  bean- 
sprucht, auch  festzustellen  sein,  wenil  eine  starke  Ungleichheit 
zwischen  den  Einzelreizen  statthat,  d.  h.  um  einen  extremen 
Fall  anzunehmen,  wenn  der  eine  Reiz  merklich,  der  andere  unter- 
merklich ist  In  diesem  Falle  kann  nämUch,  wenn  überhaupt 
die  Bedingungen  zur  Erkennung  des  Doppelreizes  gegeben  sind, 
der  imtermerkliche  Reiz  dadurch,  dafs  er  von  dem  anderen  Reiz 
verstärkt  wird,  überschwellig  werden,  so  dafs  zwei  Reize  wahr- 
genommen werden.  Eine  diesbezügliche  Versuchsreihe  sei  hier 
angeführt 

Versuch  vom  19.  lU.  1900.    Nr.  II. 
Beagent  B.   Punkte  u  und  r  querliegend,  r  radial,  u  ulnar.   Ahstand  60  mm. 

tc      r 

29.  8        radial 

30.  8      8       radial,  vielleicht  auch  ulnar 

31.  8  nichts 

59.        ö      8        vielleicht  zwei  Reize 


58  Arthur  Brückner. 

tt      r 

60.  8       eine  Spur,  radial 

61.  5  8       zwei  Reize  deutlich 

62.  5  nichts 

63.  5  nichts 

64.  5  8       ulnar  (I)  vielleicht  auch  radial 

65.  5  8       zwei  Reizet 

66.  5  nichts 

67.  8       ja  radial. 

Neben  solch  einem  extremen  Fall,  wo  der  eine  Reiz  für  sich 
g€mz  immerklich  ist,  finden  sich  mehrere  Versuche,  in  denen  der 
eine  für  sich  kaum  merkliche  oder  sehr  schwache  Reiz  bei  der 
Doppelreizung  deutlich  wahrgenommen  wird. 

So  merkwürdig  diese  Thatsache,  dafs  ein  untermerklicher 
Reiz  in  dieser  Art  und  Weise  bewuTst  werden  kann,  erscheint,  so 
erklärt  sie  sich  doch  ganz  natürlich,  wenn  man  berücksichtigt,  daCs 
überhaupt  eine  gegenseitige  Verstärkung  zweier  Reize  mögUch  ist 

Eine  derartige  Sunmiation  bei  Erkennung  der  Doppelreizung 
scheint  aber  nur  bis  zu  solchen  Entfernungen  stattzufinden,  bei 
denen  auch  sonst  eine  Summation  mit  Verschmelzung  der  Einzel- 
reize vorkommt  In  gröfseren  Entfernungen  finden  sich  keine 
Angaben  mehr,  welche  für  diese  Erscheinung  verwerthbar  sind. 
In  den  mehrfach  bereits  erwähnten  Versuchen  mit  Abstand  der 
Punkte  bis  zu  143  mm  findet  sich  vielmehr  u.  A.  folgende  Angabe. 

Versuch  vom  23.  X.  1900. 

Reagent  B.    Punkt  q  des  Versuchsfeldes  am  Unterarm  und  ein  Punkt  am 

Handgelenk  ((f).    Abstand  142  nmi. 
d      q 

13.       5  distal,  dann  zwei  Reize,  alle  drei  schwach  und  ungefilhr 

5      7  gleich  stark. 

Einige  Male  wird  auch  der  Gesa^mteindruck,  der  durch  die 
Doppelreizung  bei  Erkennimg  derselben  hervorgebracht  wird,  als 
schwächer  bezeichnet,  wie  die  Empfindung  des  Einzelreizes. 
So  in  folgendem  Beispiel. 

Versuch  vom  19.  X.  1900. 
Reagent  v.  F.    Punkte  z  und  d  (am  Handgelenk).    Abstand  134  mm. 

•    d     z 

23.  5 

2     .       zuerst  der  proximale  und  dann  ein  Doppelreiz,  schwächer. 

30.  5 

a     .       zuerst  deutlich  proximal,  dann  schwächer,  Doppelreiz. 
M      o 


Die  Baumachtcdle  bei  Simultanreizung.  59 

Bei  Ungleichheit  in  der  Stärke  der  Reize  kann  es  vorkommen, 
dafe  in  directem  Gegensatz  zum  oben  erwähnten  Fall,  wo  der 
schwächere  Heiz  verstärkt  wird,  dieser  ganz  unterdrückt  wird 
und  gamicht  zum  Bewufstsein  kommt.  Es  findet  das  offenbar 
dann  statt,  wenn  die  Bedingungen  zur  Erkennung  der  Doppel- 
reizung nicht  gegeben  sind ;  es  wird  dann  nur.  der  stärkere  Reiz 
wahrgenommen.  Diese  Erscheinung  ist  häufig  beobachtet  worden. 
Unter  den  vielen  Beispielen  sei  nur  eins  herausgegriffen. 

Versach  vom  17.  in.  1900.    Nr.  in. 
Beagent  v.  F.    Punkte  r  und  u,  r  radial,  u  ulnar.    Abstand  68  mm. 

1«       r 


45. 

12 

7 

zwei  Reize,  radial  etwas  stärker  als  ulnar 

46. 

12 

5 

radial  gefohlt,  vielleicht  auch  ulnar 

47. 

14 

5 

radial 

48. 

5 

12 

ulnar  stark 

49. 

12 

nichts 

ÖO. 

10 

nichts 

51. 

5 

10 

ulnar  stark 

52. 

5 

9 

ulnar  stark 

53. 

9 

nichts 

54. 

8 

radial  deutlich 

55. 

5 

8 

glaube  zwei  Beize. 

Eine  Erläuterung  hierzu  dürfte  kaum  nöthig  sein.  Das 
Beispiel  dient  zugleich  dafür,  zu  zeigen,  dafs  die  Bedingung, 
welche  oben  als  günstig  für  das  Zustandekommen  der  Dispara- 
tion  angegeben  wurde,  nämlich  die  möglichste  Abgleichung  in 
der  Stärke  der  Emzehreize,  richtig  ist  Sobald  dieselbe  nämlich 
hier  einigermaafsen  erfüllt  ist,  werden  auch  zwei  Reize  erkannt 


Die  vorliegenden  Untersuchungen  haben  die  Thatsache  sicher- 
gestellt, dals  eine  gegenseitige  Beeinflussung  zweier  Tasteindrücke 
in  quantitativer  Hinsicht  stattfindet.  Dieselbe  besteht  fast  aus- 
nahmslos in  einer  gegenseitigen  Verstärkung  beider  Eindrücke, 
wobei  es  gleichgültig  ist,  ob  der  doppelte  Sinnesreiz  zu  einer 
Empfindung  verschmolzen  wird  oder  ob  eine  Erkennung  seines 
disparaten  Charakters  stattfindet.  Wir  haben  es  also  offenbar 
bei  der  Summation  mit  einer  Erscheinimg  von  allgemeiner  Be- 
deutung zu  thun,  während  die  Disparation  nur  unter  gewissen 
Umständen  vorkonunt  Es  müssen  demnach  wohl  zwei  gänzlich 
verschiedene  Ursachen  für  die  Thatsache  der  Summation  und 


60  Arthur  Brückner. 

diejenige  der  Disparation  herangezogen  werden.  Die  erstere  be* 
ruht  anscheinend  auf  dem  allgemeinen  physiologischen  Gesetz, 
dafs  eine  Erregung,  welche  die  lebende  Substanz  trifft,  durch 
eine  zweite  gleichartige  in  ihrer  Wirkung  verstärkt  wird.  Daraus 
erklärt  sich  die  grofse  Regelmäfsigkeit,  mit  der  die  Summation 
in  den  angestellten  Versuchen  eingetreten  ist. 

Ob<  die  Disparation  zu  Stande  kommt,  wird  offenbar  von 
Momenten  beeinflufst,  welche  nicht  solch  eine  Constanz  zeigen, 
wie  sie  emem  physiologischen  Vorgang  von  der  genannten  Art  ^^ 
zukommt.  Es  müssen  hier  psychische  Factoren  in  Frage  kommen, 
und  in  erster  Linie  muTs  die  Aufmerksamkeit  herangezogen  -. 
werden.  Warum  erst  von  einer  gewissen  Entfernung  an  eine 
Erkennung  der  Doppekeize  überhaupt  mögUch  wird ,  läfet  sich 
zur  Zeit  meiner  Ansicht  nach  nicht  angeben;  vielleicht  sind  hier 
noch  andere  Einflüsse  als  die  genannten  betheüigt  Für  das 
Schwanken  in  der  Gröfse  der  simultanen  Raumschwelle  aber 
oberhalb  dieser  imteren  Grenze  (welche  etwa  in  20  mm  zu  setzen 
wäre)  glaube  ich,  bieten  die  Schwankungen  in  der  „Disposition'*, 
wie  man  allgemein  etwa  sagen  könnte,  eine  genügende  Erklärung. 

Die  Erscheinung  der  „Subtraction" ,  welche  zuweilen  auf 
grofse  Entfernung  vorzukommen  scheint  und  gerade  den  ent- 
gegengesetzten Vorgang  wie  die  Summation  bedeutet,  glaube 
ich  ebenfalls  nur  auf  psychische  Ursachen  beziehen  zu  können, 
etwa  so,  dafs  man  eine  Theilimg  der  Aufmerksamkeit  annimmt 
Jedoch  kann  ich  diese  Erklärung  nicht  anders  als  eine  Ver- 
muthung  bezeichnen,  zmnal  überhaupt  die  Subtraction  selbst 
nicht  viel  mehr  als  eine  Annahme  ist,  zu  der  ich  mich  durch 
die  wenigen  Aussagen  in  dieser  Richtung  berechtigt  glaubte.  — 

Zum  Schlufs  ist  es  mir  BedürfniTs,  meinem  hochverehrten 
Lehrer  Herrn  Professor  M.  von  Frey  meinen  herzlichsten  Dank 
auszusprechen,  sowohl  für  die  Anregung  zu  der  vorliegenden 
Arbeit,  wie  für  die  grofse  Liebenswürdigkeit,  mit  der  er  mich 
bei  derselben  nach  jeder  Richtung  unterstützt  hat  Aulserdem 
bin  ich  ihm  zu  Dank  verpflichtet  dafür,  dafs  mir  die  Hülf smittel 
des  physiologischen  Instituts  zu  Würzburg  zur  Verfügung  ge* 
stellt  wurden. 

(Eingegangen  am  24,  Februar  1901,) 


u^ 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehungen. 

Von 
Dr.  RiCHABD   HOHEKEM8EB. 

Hinsichtlich  der  Theorie  der  Tonbeziehungen,  d.  h.  der  Art, 
in  welcher  man  die  Beziehungen,  die  erfahrungsgemäfs  zwischen 
Tönen  vorhanden  sind,  auffafst  und  zu  erklären  sucht,  stehen 
sich  gegenwärtig  im  WesentUchen  zwei  Anschauungen  gegen- 
über, die  eine  von  Th.  Lipps,  die  andere  von  C.  Stumpf  ver- 
treten. ^  Allgemein  einig  ist  man  darüber,  dafs  die  Töne,  nach 
ihrer  Höhe  angeordnet,  eine  eindimensionale  Reihe  bilden, 
innerhalb  welcher  sie  einander  in  verschiedenen  Graden  ähnlich 
sind.  Der  Streit  beginnt  da,  wo  es  sich  um  die  Beziehimgen 
handelt,  in  welchen  Töne,  abgesehen  von  dem  blofsen  Höhen- 
verhältnifs,  zu  einander  stehen  können,  also  bei  den  sogenannten 
harmonischen  Beziehungen.  Die  HBLMHOLTz'sche  Ansicht,  wo- 
nach diese  Beziehimgen  bei  gleichzeitigem  Erklingen  von  Tönen 
auf  dem  Fehlen  oder  Vorhandensein  von  Schwebungen,  bei 
successivem  Erklingen  auf  einer  Verwandtschaft  beruhen,  die 
durch  gemeinsame  Obertöne  gegeben  sein  soll,  haben  Lipps  und 
Stumpf  mit  fast  den  gleichen  Gründen  widerlegt,  und  sie  darf 
für  die  heutige  Psychologie  wohl  als  abgethan  gelten,  wenn  auch 
die  Physiker  noch  immer  an  ihr  festhalten.  Danach  mufste 
man  auch  die  Anschauung  Wundt's  verwerfen,  da  dieselbe  mit 
der  Gremeinsamkeit  von  Obertönen  nicht  niur  die  bei  successivem, 
sondern  auch  die  bei  gleichzeitigem  Erklingen  auftretenden  Be- 
ziehungen   erklären    wilL     Ausdrücklich   wurde   sie   von   Lipps 


^  Vergl.  besonders:  Lipps,  Gmndthatsachen  des  Seelenlebens,  1883; 
Psychologische  Studien,  1885;  Stuupf,  Tonpsychologie,  2.  Band,  1890;  Con- 
sonanz  und  Dissonanz,  1898. 


60  Arthur  Brückner, 

diejenige  der  Disparation  herangezogen  werden.  Die  erstere  be- 
ruht anscheinend  auf  dem  allgemeinen  physiologischen  Gresetz, 
dafs  eine  Erregimg,  welche  die  lebende  Substanz  trifft,  durch 
eine  zweite  gleichartige  in  ihrer  Wirkung  verstärkt  wird.  Daraus 
erklärt  sich  die  grofse  Regelmäfsigkeit,  mit  der  die  Summation 
in  den  angestellten  Versuchen  eingetreten  ist. 

Ob  die  Disparation  zu  Stande  kommt,  wird  offenbar  von 
Momenten  beeinflufst,  welche  nicht  solch  eine  Gonstanz  zeigen« 
wie  sie  einem  physiologischen  Vorgang  von  der  genannten  Art    « 
zukommt.    Es  müssen  hier  psychische  Factoren  in  Frage  kommen,  . 
und   in   erster   Linie    mufs   die   Aufmerksamkeit   herangezogen  1 
werden.    Warum   erst  von  einer  gewissen  Entfernung  an  eine 
Erkennung  der  Doppebeize  überhaupt  mögUch  wird,  läfet  sich 
zur  Zeit  meiner  Ansicht  nach  nicht  angeben;  vielleicht  sind  hier 
noch  andere  Einflüsse   als  die  genannten  betheiligt     Für  das 
Schwanken   in   der   Gröfse  der  simultanen  Raumschwelle   aber 
oberhalb  dieser  imteren  Grenze  (welche  etwa  in  20  mm  zu  setzen 
wäre)  glaube  ich,  bieten  die  Schwankungen  in  der  „Disposition'', 
wie  man  allgemein  etwa  sagen  könnte,  eine  genügende  Erklärang. 

Die  Erscheinvmg  der  „Subtraction" ,  welche  zuweilen  auf 
grofse  Entfernung  vorzukommen  scheint  und  gerade  den  ent- 
gegengesetzten Vorgang  wie  die  Summation  bedeutet,  glaube 
ich  ebenfalls  nur  auf  psychische  Ursachen  beziehen  zu  können, 
etwa  so,  dafs  man  eine  Theilimg  der  Aufmerksamkeit  annimmt 
Jedoch  kann  ich  diese  Erklärung  nicht  anders  als  eine  Ver- 
muthung  bezeichnen,  zumal  überhaupt  die  Subtraction  selbst 
nicht  viel  mehr  als  eine  Annahme  ist,  zu  der  ich  mich  durch 
die  wenigen  Aussagen  in  dieser  Richtung  berechtigt  glaubte.  — 

Zmn  SchluTs  ist  es  mir  Bedürfnifs,  meinem  hochverehrten 
Lehrer  Herrn  Professor  M.  von  Frey  meinen  herzUchsten  Dank 
auszusprechen,  sowohl  für  die  Anregung  zu  der  vorliegenden 
Arbeit,  wie  für  die  grofse  Liebenswürdigkeit,  mit  der  er  mich 
bei  derselben  nach  jeder  Richtung  unterstützt  hat  AuTserdem 
bin  ich  ihm  zu  Dank  verpflichtet  dafür,  dafs  mir  die  Hülfsmittol 
des  physiologischen  Listituts  zu  Würzburg  zur  Verfügung  g^ 
stellt  wurden. 

{Eingegangen  am  24.  Februar  190L) 


L^ 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehungen. 

Von 

Dr.  Richard  Hohenemseb. 

Hinsichtlich  der  Theorie  der  Tonbeziehungen,  d.  h.  der  Art, 
in  welcher  man  die  Beziehungen,  die  erfahrungsgemäfs  zwischen 
Tönen  vorhanden  sind,  auffa&t  und  zu  erklären  sucht,  stehen 
sich  gegenwärtig  im  Wesentlichen  zwei  Anschauungen  gegen- 
über, die  eine  von  Th.  Lipps,  die  andere  von  C.  Stumpf  ver- 
treten.^ Allgemein  einig  ist  man  darüber,  dafs  die  Töne,  nach 
ihrer  Höhe  angeordnet,  eine  eindimensionale  Reihe  bilden, 
innerhalb  welcher  sie  einander  in  verschiedenen  Graden  ähnlich 
sind.  Der  Streit  beginnt  da,  wo  es  sich  um  die  Beziehimgen 
handelt,  in  welchen  Töne,  abgesehen  von  dem  blofsen  Höhen- 
verhältnifs,  zu  einander  stehen  können,  also  bei  den  sogenannten 
harmonischen  Beziehimgen.  Die  HELMHOLTz'sche  Ansicht,  wo- 
nach diese  Beziehungen  bei  gleichzeitigem  Erklingen  von  Tönen 
auf  dem  Fehlen  oder  Vorhandensein  von  Schwebungen,  bei 
successivem  Erklingen  auf  einer  Verwandtschaft  beruhen,  die 
durch  gemeinsame  Obertöne  gegeben  sein  soll,  haben  Lipps  und 
Stumpf  mit  fast  den  gleichen  Gründen  widerlegt,  und  sie  darf 
für  die  heutige  Psychologie  wohl  als  abgethan  gelten,  wenn  auch 
die  Physiker  noch  immer  an  ihr  festhalten.  Danach  mufste 
man  auch  die  Anschauimg  Wundt's  verwerfen,  da  dieselbe  mit 
der  Gemeinsamkeit  von  Obertönen  nicht  nur  die  bei  successivem, 
sondern  auch  die  bei  gleichzeitigem  Erklingen  auftretenden  Be- 
ziehungen   erklären    wilL     Ausdrücklich   wurde   sie   von   Lipps 


^  Vergl.  besonders:  Lipps,  Grundthatsachen  des  Seelenlebens,  1883; 
Psychologische  Stadien,  1885;  Stubipf,  Tonpsychologie,  2.  Band,  1890;  Con- 
sonanz  und  Dissonanz,  1898. 


62  Richard  Hohenemser. 

bekämpft^;  aber  auch  bei  Stumpf  kommt  die  Verwandtschaft 
durch  gemeinsame  Obertöne  nur  secimdär  und  aushülfsweise  in 
Betracht  Eine  andere  Theorie,  die  RiEMANN'sche  Klang» 
Vertretungslehre,  hat  Stumpf  so  schlagend  zurückgewiesen  \  dab 
sie  wohl  jedem  wirklichen  Psychologen  unannehmbar  erscheinen 
wird.  Ein  solcher  hat  sich  heute  also  nur  noch  mit  Lipps  und 
Stumpf  abzufinden. 

Ich  möchte  im  Folgenden  an  zwei  Punkten  eine  kleine 
Weiterführung  der  Lipps'schen  Theorie  versuchen;  zuvor  aber 
erwächst  mir  die  Verpflichtung,  meine  Stellimg  zu  den  An- 
schauungen Stumpf's  und  zu  den  Gründen,  die  er  gegen  Lipps 
vorbringt,  zu  kennzeichnen. 

Zur  Erklärvmg  oder,  besser  gesagt,  zur  Begreiflichmachung 
der  zwischen  Tönen  möglichen  harmonischen  Beziehungen  führt 
Stumpf  den  Begriff  der  Verschmelzung  ein: 

„Es  scheint  überhaupt  nicht,  dafs  wir  im  Stande  sein 
werden,  den  Verschmelzungsbegriff  tiefer  oder  verständ- 
licher zu  fassen,  als  indem  wir  die  Verschmelzung  als 
das  Verknüpftsein  zweier  Empfindimgsinhalte  zu  einem 
Ganzen   oder    als   Einheitlichkeit,    als   Annäherung   des 
Zweiklangs  an  den  Einklang  beschreiben.''  ^     Mit  diesen 
Worten   giebt   Stumpf    eine   Definition    seines   Verschmelzungs- 
begriffs und  spricht  zugleich  die  Ueberzeugung  aus,   dals  die 
Thatsache,  welche  diesem  Begriff  zu  Grunde  liegt,  eine  letzte, 
nicht   weiter  erklärbare  sei     Allerdings   sucht   er  an    anderen 
Stellen*,  da  man  psychologische  Ursachen  nicht  finden  könne, 
nach  einer  Erklärung  aus  einem  physiologischen  Thatbestande. 
Da  sich   aber  dieser  Thatbestand  allmählich  entwickelt  haben 
soll  und  daher  nothwendigerweise  ein  psychologisches  Correlat 
haben  müfste,  das  wir  jedoch  nach  Stumpfes  eigener  Meinung 
nicht  kennen,  imd  da  wir  über  die  in  Betracht  kommenden  Vor- 
gänge im   Gehirn   durchaus   nichts  wissen,    so  ist  diesen  Aus- 
führimgen  nur  geringe  Bedeutung  beizulegen. 

Die  Thatsache  der  Verschmelzung  selbst  wird  Niemand 
leugnen.     Zwei  Töne,   welche   zu   einander  im  Verhältnifs  der 


*  Siehe:   Psychologische  Studien,  S.  112 ff. 
'  Consonanz  und  Dissonanz,  S.  84  ff. 

'  Consonanz  und  Dissonanz,  S.  44. 

*  Vergl.  z.  B.  Consonanz  und  Dissonanz,  S.  öOff. 


Zur  Theorie  der  Taiibeziehungefi.  gg 

Octave  stehen,  fallen,  wenn  sie  gleichzeitig  erkUngen,  für  unsere 
Wahrnehmung  zu  einer  Einheit  zusammen,  welche  dem  Ein- 
klänge so  nahe  steht,  dafs  es  ims  unter  Umständen  unmöglich 
ist,  die  beiden  Bestandtheile  noch  zu  unterscheiden.  Beim  Zu* 
sammenklang  der  Quinte  ist  die  Einheit  weniger  eng  und  die 
UnterscheidungsmögUchkeit  nimmt  zu.  So  geht  es  fort,  bis 
endlich  bei  den  scharfen  Dissonanzen  die  beiden  Bestandtheile 
für  unsere  Wahmehmimg  deuthch  auseinanderfallen,  freilich 
nicht  unter  Verlust  jedes  Zusammenhanges ;  denn  stets  empfinden 
wir  die  Verwandtschaft,  die  sie  als  Töne  an  sich  besitzen,  so 
dafs  Stumpf  berechtigt  ist,  auch  auf  die  scharfen  Dissonanzen 
den  VerschmelzungsbegrifE  anzuwenden. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  er  diesen  Begriff  nicht  so  nach- 
drücklich herausgearbeitet  hätte,  wie  er  es  in  der  „Tonpsycho- 
logie" that^,  wenn  ihm  derselbe  nur  zur  Benennimg  einer 
letzten,  nicht  weiter  zurückführbaren  Thatsache  und  nicht  auch 
zur  Erklärung  anderer  Thatsachen  hätte  dienen  sollen.  Worum 
es  sich  ihm  in  erster  Linie  handelte  und  naturgemäfs  handeln 
mufste,  war  die  Lösimg  des  Problems  der  Consonanz  und  Disso- 
nanz, welche  er  in  der  in  Anmerkung  3  S.  62  und  früher  er- 
wähnten Schrift  anstrebt  Er  stellt  fünf  Verschmelzungsstufen 
auf,  welche  nach  der  abnehmenden  Schwierigkeit,  die  beiden 
Bestandtheile  des  Zusammenklangs  zu  unterscheiden,  angeordnet 
sind.  Die  Intervalle  der  vier  ersten  Stufen  nennt  er,  mit  dem 
allgemeinen  Sprachgebrauch  übereinstimmend,  consonirend,  die 
der  fünften  Stufe  dissonirend.  Was  heifst  aber  consoniren  und 
dissoniren?  Nach  Stumpf  nichts  weiter  als  mehr  oder  weniger 
eng  verschmelzen;  bei  gewissen  Graden  der  Verschmelzung 
sprechen  wir  noch  von  Consonanz,  bei  dem  oder  den  darunter 
liegenden  von  Dissonanz. 

Der  VerschmelzungsbegrifE  hat  also  für  die  Lösung  des 
Problems  nichts  gethan;  denn  wir  erfahren  nicht,  warum  die 
Oktave  stärker  verschmilzt  als  die  Quinte  u.  s.  w.  Da  sich  aber 
Consonanz  und  Dissonanz,  wir  wir  sahen,  nach  Stumpf's  Ansicht 
nicht  als  etwas  durchaus  verschiedenes  gegenüberstehen,  viel- 
mehr ein  allmählicher  Uebergang  stattfindet,  so  wissen  wir  über 
das  Wesen  beider  nichts,  solange  diese  Frage  nicht  beant- 
wortet ist. 


^  Vergl.  n.  Bd.,  S,  127  ff. 


64  Richard  Hohenemser, 

Die  Zahlenverhältnisse,  welche  den  die  Intervalle  bildenden 
Tönen  physikalisch  zu  Grunde  liegen  und  welche  bekanntlidi 
um  so  rompücirter  sind,  je  mehr  em  Zusammenkl^ig  dissonirk. 
•und  um  so  einfacher,  je  mehr  einer  consonirt,  setzt  Stumpf  in 
keine  directe  Beziehung  zum  Wesen  der  Consonanz  und  Disso- 
nanz, weil  uns  beim  gleichzeitigen  Erklingen  zweier  Töne  im 
Bewufstsein  zwar  die  Empfindungsqualitäten  der  bestimmten 
Höhen,  Stärken  imd  Färbungen  gegeben  seien,  welchen  auf 
physikaUscher  Seite  die  Schwmgungsgeschwindigkeiten,  Schwill- 
gungsampUtuden  und  Schwingungsformen  entsprächen,  aber 
keine  Empfindungsqualität,  welche  dem  geometrischen  VerhältnÜii 
der  Schwingungszahlen  entspreche ;  die  Empfindungen  hätten  nur 
die  MögUchkeit,  sich  mehr  oder  weniger  einer  einheitlichen 
Empfindung,  dem  Einklang,  anzunähern. 

Während  die  Worte  „consoniren"  imd  „dissoniren^,  d.  h. 
„zusammenklingen^^  und  „auseinanderklingen"  unmittelbar  auf  die 
Thatsache  der  Verschmelzung  hinweisen,  bekunden  die  deutschen 
Ausdrücke  „wohl''-  und  „übelklingen''  eine  andere  Auffassmig^ 
welche  bei  den  modernen  Musikern  durchaus  die  herrschende 
ist,  nämlich  die,  dafs  mit  Consonanzen  Lustgefühle,  mit  Disso* 
nanzen  Unlustgefühle  verbimden  seien.  Dafs  dieser  Auffassniy 
etwas  Richtiges  zu  Grunde  liegt,  weifs  jeder  aus  Erfahrung; 
aber  freiUch  ist  sie,  so  aUgemein  ausgesprochen,  für  psycho- 
logische Zwecke  imbrauchbar.  Stumpf  nun  verkennt  nicht,  dab 
Zusammenklänge  mit  Lust-  oder  Unlustgefühlen  verbunden  sein 
können,  aber  er  vermag  auch  hier  keine  directe  Beziehung, 
keine  Gesetzmäfsigkeit  zu  finden.  Mit  Recht  bekämpft  er  die 
Anschauung,  welche  Consonanz  imd  Dissonanz  aus  den  Losi- 
und  Unlustgefühlen  erklären  will.  Irgend  eine  psychische  Eir- 
scheinung  durch  ein  Gefühl  erklären  wollen,  hiefse  die  Wirkung 
zur  Ursache  machen;  denn  das  Grefühl  ist  die  uns  zum  BewuDst- 
sein  kommende  Reaction  des  Seelenganzen,  des  Subjects,  auf 
einen  bestimmten  psychischen  Vorgang  oder  auf  eine  Oom- 
bination  solcher  Vorgänge.  Daher  kann  z.  B.  das  Gefühl  niemals 
Ursache  der  Verschmelzung,  sondern  nur  umgekehrt  ein  be- 
stimmter Grad  der  Verschmelzimg  Ursache  eines  bestimmten 
Gefühls  sein.  Aber  auch  dies  sucht  Stumpf  nicht  nachzuweisen, 
weil  ihm  die  Urtheile  über  den  Gefühlswerth  der  Consonancen 
und  Dissonanzen  äufserst  schwankend  erscheinen.  Genau  genommen 
wäre  ihm  freilich  der  Versuch,  einen  Zusammenhang  zwischen 


Zur  Theorie  der  Tonbezichungen.  65 

den  verschiedenen  Verschmelzungsgraden  und  ihrem  Gefühls- 
chaxakter  herzustellen,  unmöglich  gewesen;  denn  der  Ver- 
schmelzungsbegriff,  wie  ihn  Stumpf  fafst,  pafst  einzig  auf  das 
Gebiet  der  Töne  und  hat  im  gesammten  übrigen  Seelenleben 
keine  Analogien,  ist  also  auch  in  einer  allgemeinen  Gefühls- 
lehre, wie  sie  durch  die  Natur  des  Gefühls  gefordert  ist,  nicht 
zu  verwenden.  Stumpf  hätte  also  diesem  einzelnen  Begriff  zu 
Liebe  eine  eigene  allgemeine  Gefühlslehre  aufstellen  müssen, 
was  nicht  anging,  oder  es  bUeb  ihm  nichts  übrig  als  die  Ver- 
schmelzung und  den  Gefühlscharakter  der  Zusammenklänge  fast 
unabhängig  neben  einander  hergehen  zu  lassen.  Also  auch  über 
die  zweifellos  bestehenden  innigen  Beziehungen  zwischen  den 
Znsammenklängen  und  den  Gefühlen  giebt  der  Verschmelzungs- 
begriff keinen  Aufschlufs. 

Es  stellen  sich  seiner  Formulirung  aber  auch  positive 
Schwierigkeiten  entgegen,  die  Stumpf  nicht  übersehen  hat,  die 
er  aber  beseitigen  zu  können  glaubt.  Die  Thatsache,  dafs  die 
Einstimmigkeit  der  Mehrstimmigkeit  zeitlich  vorausging  oder 
wenigstens  lange  Zeiten  hindurch,  im  classischen  Alterthum  imd 
im  frühen  Mittelalter,  fast  alleinherrschend  war,  scheint  der  Ver- 
schmelzung zu  widersprechen,  da  ja  diese  und  somit  auch  die 
Unterscheidung  der  verschiedenen  Intervalle  nur  beim  gleich- 
zeitigen Erklingen  von  Tönen  zu  Stande  konunen  kann.  Stumpf 
meint  zimächst,  die  Auffindung  der  Octave  sei  durch  die  enge 
Obertonverwandtschaft  der  sie  bildenden  Töne  begünstigt  worden. 
Er  stützt  sich  darauf,  dafs  die  Octave,  übrigens  auch  jedes 
andere  Intervall,  wenn  sie  aus  einfachen  Tönen  gebildet  ist, 
schwerer  imterschieden  wird,  als  wenn  sie  aus  den  einzig  in  der 
Musik  gebrauchten  Klängen  besteht.  Aber  bei  Aufeinanderfolge 
von  Klängen  kann  die  Auffindung  der  Octave  doch  nur  dann 
gefördert  werden,  wenn  der  zweite  Klang  schon  zugleich  mit 
dem  ersten  gehört  wird  (wenn  auch  nur  als  einfacher  Ton),  weil 
nur  dann  eine  Veranlassung  gegeben  sein  kann,  auf  den  zweiten 
Klang  überzugehen  imd  somit  das  Intervall  der  Octave  zu  bilden. 
Nun  werden  aber  Obertöne  fast  niemals  gehört,  wenn  wir  imsere 
Aufmerksamkeit  nicht  in  besonderem  Mafse  auf  sie  richten  oder 
sie  uns  durch  besondere  Vorkehrungen  (z.  B.  Resonatoren)  zu- 
gänglich machen,  also  von  ihrer  Existenz  bereits  wissen.  Daher 
ist    ihre    imterstützende    Mitwirkung    bei    der    ursprünglichen 

Zeitschrift  für  Psychologie  %.  5 


66  Bichard  Hoheiieniser. 

Bildung    des    Octayenintervalles    im    höchsten    Grade    unwafar- 
scheinlich. 

Aber  sehen  wir  hiervon  ab,  da  ja  Stumpf  die  Verwandt- 
schaft durch  Obertöne  nur  als  Hülfsmittel  und  nur  für  die 
Octave  in  Anspruch  nimmt  Jedenfalls,  meint  er,  mufste  man 
jedes  IntervaU,  bevor  man  es  in  der  Aufeinanderfolge  verwenden 
konnte,  durch  Wahrnehmung  des  betreffenden  Zusammenklanges 
an  einem  Instrumente  kennen  lernen.  Wir  müssen  fragen,  was 
dazu  veranlassen  konnte,  den  Zusammenklang  in  ein  Nachein- 
ander zu  verwandeln.  Stumpf  sagt  hierüber  nichts.  Nehmen 
wir  einmal  an,  die  Wohlgefälligkeit  eines  Zusammenklanges, 
zimächst  natürlich  eines  Zweiklanges,  führe  dazu,  seine  Bestanji- 
theile  auch  nacheinander  erklingen  zu  lassen  und  so  die 
Wirkimgen  dieser  Tonfolge  zu  erproben.  Dann  ist  zunächst 
nicht  einzusehen,  wie  man  überhaupt  jemals  zu  einer  stufen- 
weisen Führung  der  Melodie  gelangen  konnte;  denn,  für  sich 
angegeben,  sind  die  Zusammenklänge  der  grofsen  und  kleinen 
Secimde  mifstönend.  Vielleicht  sagt  man,  die  Zusammenkl&nge 
der  grofsen  und  kleinen  Secunde  seien  nicht  schlechthin  h&fsUch, 
sondern  enthielten,  da  ihre  Bestandtheile  doch  Töne  seien  und 
somit  in  gewisser  Weise  [übereinstimmten,  einen  gewissen  Grad 
der  Wohlgefälhgkeit  Auf  Grund  dieses  habe  man,  nachdem 
man  alle  consonirenden  Zusammenklänge  in  Intervallschritte 
aufgelöst  habe,  das  Gleiche  mit  der  grofsen  und  kleinen  Secimde 
gethan.  Die  Vorherrschaft  der  stufenweisen  Fortschreitung  im 
Gresang,  der  fast  die  einzige  Art  der  einstimmigen  Musik  ist,  er- 
kläre sich  aus  dem  Umstand,  dafs  diese  Fortschreitung  für  die 
menschlichen  Stimmorgane  die  angemessenste  sei.  Danach 
müfsten  sich  die  ursprünglichen  Melodien  ausschliefslich  in 
Octaven-,  Quinten-,  Quarten-,  Terzen-  und  Sextensprüngen  bewegt 
haben.  Aber  gerade  für  das  Gegentheil  haben  wir  Anhalts- 
pimkte;  denn  sowohl  in  den  ältesten  Melodien,  die  wir  kennen^ 
den  altgriechischen,  als  auch  in  den  Gesängen  derjenigen  heute 
lebenden  Völker,  welche  wir  für  die  primitivsten  halten,  herrscht 
die  stufenweise  Fortschreitung  durchaus  vor.  Demgegenüber 
bliebe  nur  die  Annahme  übrig,  dafs  die  Ueberlieferung  nicht  in 
die  Zeit  des  ursprünglichen  Stadiums  der  Melodik  zurückreiche 
und  dafs  auch  die  heutigen  primitiven  Völker  diese  Zeit  bereits 
hinter  sich  hätten.  Aber  es  ist  sehr  die  Frage,  ob  alle  primi- 
tiven Völker,  welche  stufenweise  singen,  auch  Instrumente  be- 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehungen,  g7 

sitzen,  auf  welchen  sich  die  Zusammenklänge  der  grofsen  imd 
kleinen  Secunde  hervorbringen  lassen,  ja  ob  es  nicht  Völker 
giebt,  welche  zwar  den  Gesang,  aber  keine  klangerzeugenden, 
sondern  nur  schallerzeugende  Instrumente  kennen. 

Noch  gröfser  wird  die  Schwierigkeit,  wenn  man  auch  die- 
jenigen Melodien  in  Betracht  zieht,  in  welchen  kleinere  Inter- 
valle als  Halbtonschritte  vorkommen.  Solche  Melodien  sind 
sowohl  bei  orientalischen  Culturvölkem,  so  bei  den  Chinesen, 
Indem  und  Arabern,  als  auch  bei  vielen  Naturvölkern  etwas 
ganz  GrewöhnUches.  ^  Zwar  meint  Stumpf  eine  Musik,  die  sich 
nicht  in  festen  Tonstofen  bewege,  sei  noch  keine  eigentUche 
Musik.  Aber  einmal  ist  nicht  gesagt,  dafs  Intervalle,  welche 
kleiner  sind  als  die  bei  ims  gebräuchUchen,  darum  auch  imbe- 
stimmt imd  schwankend  sein  müssen  ^,  imd  femer  darf  man  die 
Anwendung  der  engen  Tonstufen,  mögen  dieselben  mm  fest- 
stehend sem  oder  nicht,  wenn  man  ihr  auch  allen  ästhetischen 
Werth  absprechen  wollte,  doch  als  psychologisches  Phänomen 
nicht  auTser  Acht  lassen.  Nun  ist  bei  so  kleinen  IntervaUen  die 
Wohlgefälligkeit  des  Zusammenklanges  noch  problematischer 
als  beim  Ganz-  oder  Halbton,  imd  auTserdem  unterliegt  es  wohl 
keinem  Zweifel,  dafs  in  dem  reich  verzierten  Gesang  vieler 
Orientalen  feinere  Abstufungen  gemacht  werden,  als  es  auf  den 
Instrumenten  geschieht.  Soweit  keine  Nebengeräusche  in  Betracht 
kommen,  sind  auch  diese  feinsten  Abstufungen  nichts  Anderes 
als  Intervalle  im  Nacheinander  und  müssen  daher  ebenso  wie 
die  übrigen  Intervalle  entstanden  sein.  Man  müfste  sich  also 
denken,  dals  sie  zuerst  beim  unbeabsichtigten  Zusammenklange 
etwa  zweier  Saiten  oder  zweier  Flöten,  die  zufälUg  eine  so 
geringe  Differenz  ergaben,  gehört  worden  seien. 

In  ähnhche  Schwierigkeiten  verwickelt  man  sich,  wenn  man 
an  Stelle  unserer  bisherigen  Hypothese  die  Annahme  setzt,  es 
sei  ein  natürlicher  Trieb  des  Menschen,  jeden  Zusammenklang 
auch  in  die  Aufeinanderfolge  seiner  Bestandtheile  zu  verwandeln. 
Freihch  wäre  damit  nicht  viel  gesagt,  aber  die  Annahme  läfst 
sich  immerhin  machen.    Dann  wären  zwar  auch  ursprüngliche 

*  Vergl.  L.  RiEicANN,  Ueber  eigenthümliche ,  bei  Natur-  und  orientali- 
schen Culturvölkem  vorkommende  Tonreihen  und  ihre  Beziehungen  zu  den 
Gesetzen  der  Harmonie.    Essen  1899. 

"  So  nimmt  Riemann  bei  den  Indern  die  Verwendung  von  feststehen- 
den kleinen  Intervallen  an. 


i)* 


68  Richard  Hohenemser. 

Melodien  in  stufenweiser  Fortschreitung  denkbar,  wenn  man 
nämlich  das  Vorhandensein  der  erforderlichen  Instrumente  vor- 
aussetzt, aber  die  übrigen  Schwierigkeiten  wären  nicht  ge- 
hoben. 

Wie  man  sich  auch  die  IntervaUschritte  aus  den  Zusammen- 
klängen hervorgegangen  denken  möge,  jedenfalls  dringt  Stumpf 
darauf,  dafs  auch  bei  der  Aufeinanderfolge  Tonverschmelzung 
stattfinde,  da  ja  nach  seiner  Meinung  ohne  dieselbe  kein  Be- 
wuTstsein  von  Intervallverhältnissen  möghch  wäre.  In  diesem 
Punkte  erblickt  er  mit  Recht  eine  andere  Schwierigkeit,  die  sich 
der  Formulirung  des  Verschmelzimgsbegriffs  entgegenstellt  Zu 
ihrer  Beseitigung  führt  er  aus,  dafs  die  Tonvorstellung,  welche 
die  Tonempfindung  in  uns  zurücklasse,  mit  der  folgenden  Ton- 
empfindung verschmelzen  könne,  und  dafs  wir  auf  diese  Weise 
auch  bei  der  Succession  von  Tönen  dazu  gelangten,  die  ver- 
schiedenen Intervalle  wahrzunehmen.  Dagegen  hat  Lipps  ge- 
zeigt^, dafs  bei  der  Aufeinanderfolge  von  Tönen  für  unser  Be- 
wufstsein  durchaus  kein  Zusammenfiiefsen,  keine  Annäherang 
an  den  Einklang  gegeben  ist.  Auch  läfst  sich  leicht  nachweieen, 
dafs  zwischen  einem  vorgestellten  und  einem  empfundenen  Tone 
zwar  Verschmelzung  stattfinden  kann,  dafs  dieselbe  aber  zur 
Wahmehmimg  der  Intervalle  durchaus  nicht  erforderlich  ist 
Wir  können  einen  Ton,  nachdem  wir  ihn  empfunden  haben, 
absichtlich  in  der  Vorstellung  festhalten,  d.  h.  innerUch  weiter- 
klingen lassen,  und  während  dieser  Zeit  eine  zweite  Tonempfin- 
dimg  erzeugen ;  dann  haben  wir  das  deutUche  Bewufstsein  eines 
Zusammenklanges,  während  uns  dasselbe  beim  Auffassen  einer 
Melodie,  deren  Intervalle  wir  doch  deutlich  erkennen,  völlig 
fehlt  —  Wir  müssen  also  die  Behauptung,  dafs  beim  Wahr- 
nehmen einer  Melodie  jeder  Ton  eine  Zeit  lang  als  Vorstellung 
im  Bewufstsein  fortbestehe,  zurückweisen,  da  uns  sonst  zweis 
oder  mehrere  Töne  als  Zusammenklang  und  nicht  als  Aufein- 
anderfolge erscheinen  würden.  Aber  etwas  mufs  die  Tonempfin- 
dung doch  in  imserem  Bewufstsein  zurücklassen,  da  uns  in  der 
Melodie  nicht  ein  zusammenhangloses  Nebeneinander  von  Tönen, 
sondern  ein  Bezogensein  der  Töne  aufeinander  gegeben  ist 
Die  schwierige  Frage,  worin  dieses  „etwas"  besteht,  imd  wie 
demnach  die  Einheit,  die  wir  Melodie  nennen,  zu  Stande  kommt, 


*  Diese  ZeiUchr.  19,  10  ff. 


Zur  Theorie  der  Tofibeziehungen,  69 

haben  wir  hier  nicht  zu  erörtern.  Uns  genügt  die  Erkenntnifs, 
dafs  bei  der  Aufeinanderfolge  von  Tönen  die  Verschmelzung 
nicht  möglich  ist,  dafs  also  der  Verschmelzungsbegriff  im 
STüMPF*schen  Sinne  auf  die  Melodie  keine  Anwendimg  finden 
kann. 

Ueberbhcken  wir  das  bisher  Gresagte,  so  ergiebt  sich,  dafs 
der  Verschmelzimgsbegriff  uns  trotz  der  Aufstellimg  der  ver- 
schiedenen Verschmelzimgsstufen  über  das  Wesen  von  Consonanz 
und  Dissonanz  nicht  aufklärt,  dafs  er  femer  in  seiner  Anwendung 
auf  das  Nacheinander  von  Tönen,  auf  die  Melodie,  versagt  und 
endUch,  dafs  er  zwar  auf  einer  unleugbaren  Thatsache  beruht, 
dafs  diese  Thatsache  aber  eine  letzte  sein  soll  imd  weder  mit  der 
physikalischen  Gesetzmäfsigkeit,  die  sich  in  den  eigenthümlichen 
Schwingungsverhältnissen  der  Intervalle  ausspricht,  noch  mit 
dem  gesammten  Seelenleben  in  Zusammenhang  gebracht  ist 
Stumpf  selbst  weifs  sehr  wohl,  dafs  namentUch  seine  Beiträge 
zur  li^sung  des  Problems  der  Consonanz  und  Dissonanz  lücken- 
haft sind;  aber  er  glaubt,  bei  dem  Verschmelzungsbegriff  stehen 
bleiben  zu  müssen.  In  der  That  bliebe  auch  uns  nichts  Anderes 
übrig,  wenn  sich  ims  nicht  eine  Anschauungsweise  darböte, 
welche  nicht  nur  alle  Schwierigkeiten  zu  heben,  sondern  auch 
die  Thatsache  der  Verschmelzung  selbst  auf  allgemein  psychische 
Gesetze  zurückzuführen  scheint 

Diese  Anschauung  geht  davon  aus,  dafs  zwei  gleichzeitig 
erklingende  Töne  lun  so  consonirender  sind,  in  je  einfacheren 
Zahlenverhältnissen  die  ihnen  zu  Grunde  hegenden  Schwingungen 
zu  einander  stehen,  und  um  so  dissonirender,  je  compUcirter 
diese  Verhältnisse  sind. 

Ein  derartiger  ParalleUsmus  zweier  Reihen  von  Erscheinungen 
macht  einen  inneren  Zusammenhang  zwischen  diesen  Reihen  in 
hohem  Grade  wahrscheinUch,  ohne  ihn  freiüch  zwingend  zu  be- 
weisen.  In  imserem  Falle  wächst  die  Wahrscheinüchkeit,  wenn 
man  bedenkt,  dafs  die  Tonhöhe  von  der  Geschwindigkeit  der 
Schwingungen  oder,  was  dasselbe  ist,  von  der  Zahl  der  Schwin- 
gungen in  der  Zeiteinheit  abhängt  Sollte  da  nicht  auch,  zum 
mindesten  bei  gleichzeitig  erklingenden  Tönen,  das  Verhältnifs 
der  verschiedenen  Schwingimgsgeschwindigkeiten  oder  kurz :  das 
Verhältnifs  der  Schwingungszahlen  einen  Einflufs  ausüben? 
Der  nahe  hegende  Einwand,  dafs  bei  den  Farben,  welchen  doch 
auch  Schwingungen  zu  Grunde  lägen,  von  einem  solchen  Ein- 


70  Richard  ßohenetnier, 

flufs  nichts  zu  bemerken  sei,  ist,  wie  Lipps  gezeigt  hat^,  nicht 
stichhaltig;  denn  die  Farben  ergeben,  nach  ihren  Schwingimgs- 
geschwindigkeiten  angeordnet,  nicht  eine  Reihe  von  Empfindungen, 
welche  sich  von  ihrem  Ausgangspunkt  immer  weiter  entfernt, 
sondern  eine  solche,  welche  schliefsUch  wieder  zu  ihm  zurfick- 
kehrt.  Es  fehlt  also  die  Analogie  zu  den  Tonhöhen,  die  als  ein- 
dimensionale Reihe  im  geraden  Verhältnifs  zu  den  Schwingongs- 
geschwindigkeiten  stehen;  folgUch  darf  man  auf  diesem  Gebiete 
auch  keine  weiteren  Analogien  erwarten. 

Sieht  man  näher  zu,  wie  das  Verhältnifs  der  Schwingung»- 
zahlen  zweier  Töne  auf  uns  wirken  kann,  so  wird  man  nator- 
gemäfs  auf  den  Rhythmus  geführt;  denn  in  dem  Schwingongs- 
verhältnifs  eines  Zusammenklanges  ist  ausgesprochen,  dals  in 
einer  Zeiteinheit  zwei  Reihen  regelmäfsiger  Anstöfse  gleichzeitig 
ablaufen,  dafs  aber  die  Zahl  der  Anstöfse  in  jeder  Reihe  eine 
andere  ist,  und  dafs  somit  nur  beim  Beginn  einer  neuen  SSeit- 
einheit  ein  Anstofs  der  einen  Reihe  mit  einem  solchen  der 
anderen  Reihe  zusammentrifft.  Die  Anstöfse  entstehen  zwar  zu- 
nächst in  dem  schallerzeugenden  Körper,  pflanzen  sich  aber 
durch  die  Luft  auf  imser  Trommelfell  fort  Nun  wäre  es  doch 
seltsam,  wenn  sie  nicht  auch  in  imserer  Empfindung  auf  irgend 
welche  Weise  zur  Geltung  kämen.  Die  Theorie,  welche  dies  be-* 
hauptet,  ist  bekanntUch  schon  alt  ^,  erhielt  aber  erst  durch  Lipps 
eine  psychologische  Begründung  und  theilweise  Anwendung  auf 
Einzelprobleme  der  Musik,  vor  Allem  auf  das  der  Consonank 
imd  Dissonanz. 

Die  Hauptschwierigkeit  für  diese  Theorie  liegt  darin,  dab 
uns,  aufser  vielleicht  bei  den  tiefsten  Tönen,  keine  Quahtät  der 
Tonempfindung  bewufst  wird,  welche  dem  durch  die  einzelnen 
Anstöfse  gegebenen  Rhythmus  entspräche.  Da  auch  die  Ton- 
höhe von  den  Schwingungszahlen  abhängt,  könnte  man  meinen, 
dieselbe  Schwierigkeit  bestehe  auch  hier.  Aber  dies  ist  nicht  der 
Fall;  denn  die  Zu-  oder  Abnahme  der  Schwingungszahl  ergiebt 
einfach  eine  qualitativ  andersartige  Empfindung,  zu  deren  Er- 
klärung man  an  sich  nicht  auf  die  Wirkung  der  einzelnen  Elr- 
regungsanstöfse  zurückzugehen  braucht.  Vielmehr  wird  dies 
erst  nöthig,  wenn  das  Verhältnifs  zweier  Schwingungszahlen  füi^ 


'  Vergl.  FhiloBophische  ManaUtliefU  28,  580. 

*  Vergl.  Stumpf,  Consonanz  und  Dissonanz,  S.  19  ff. 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehungen.  71 

das  VerhältnÜB  der  entsprechenden  Tonempfindungen  maafs- 
gebend  sein  soll;  denn  „Verhältnifs  zweier  Schwingungszahlen^ 
besagt  eben,  dals  zwei  Schwingungsreihen  in  Verschiedenen 
Rhythmen  verlaufen.  Entspricht  also  diesen  Rhythmen  in 
unserem  BewuTstsein  nichts,  so  muis  ihre  Wirkung,  wenn  sie 
dennoch  vorhanden  sein  soll,  eine  uns  unbewufste  sein.  Dies 
nimmt  Lipps  in  der  That  an. 

Die  rhythmischen  Anstöfse  sind  die  Grimdlage,  aus  welcher 
die  qualitativ  durchaus  eigenartige,  nur  durch  Höhe  und  Stärke 
charakterisirte  Tonempfindung  resultirt  Nur  diese  kommt  uns 
zum  BewuTstsein,  nicht  aber  die  Art  ihres  Zustandekommens. 
So  ist  überhaupt  jeder  Bewufstseinsinhalt  für  uns  nur  ein  Re- 
sultat, ein  gegebenes,  das  wir  hinnehmen  müssen,  ohne  seine 
Entstehung  bewuTst  miterlebt  zu  haben.  Selbst  wenn  eine  Vor- 
stellung imgezwuugen  und  gleichsam  von  selbst  zur  anderen, 
ein  Gedanke  zum  anderen  führt,  erleben  wir  doch  nur,  dafs  es 
geschieht,  aber  niemals,  wie  es  geschieht.  Was  den  Bewulst- 
seinsinhalten,  uns  imbewuist,  zu  Grunde  hegt,  können  wir  nur 
zu  erschliefsen  versuchen. 

Nun  ist  anzunehmen,  dafs  die  rhythmischen  Anstöfse,  ob- 
gleich weder  sie  noch  ihre  Wirkungen  ims  zum  Bewufstsein 
kommen,  doch  ebenso  wirken  wie  bewufst  wahrgenommene 
rhythmische  Schläge.  Jeder  Rhythmus  zwingt,  je  nachdem  er 
langsamer  oder  schneller,  einfacher  oder  compUcirter  ist,  die 
Seele  gleichsam  in  eine  bestimmte  Richtung.  Dies  erkennen 
wir  an  der  Art,  wie  er  uns  anmuthet,  ob  er  das  Gefühl  leichter, 
spielender,  ungehemmter  oder  schwieriger,  gehemmter  Thätigkeit 
in  uns  erweckt.^  Hören  wir  einen  tiefen  Ton,  so  haben  wir 
das  Gefühl  des  Schweren,  Lastenden,  Langsamen ;  ein  hoher  Ton 
dagegen  erweckt  in  uns  das  Grefühl  der  Leichtigkeit,  der  raschen 
Beweglichkeit,  der  Ungehemmtheit.  Jedenfalls  ist  dieser  Unter- 
schied in  der  Verschiedenheit  der  Schwingungsrhythmen  be- 
gründet, obgleich  vms  weder  rhythmische  Schläge  noch  Wir- 
kungen, wie  sie  dieselben,  bewufst  wahrgenommen,  haben  würden, 
zum  Bewufstsein  kommen.  Hören  wir  gleichzeitig  zwei  Töne, 
so  wird  die  Seele  von  beiden  Schwingungsrhythmen  gleichsam 


'  Es  bedarf  kaum  der  Erwähnung,  dafs  die  Sprache  nicht  ausreicht, 
am  die  Arten,  in  welchen  uns  die  unendlich  vielen  möglichen  Rhythmen 
anmuthen  können,  zu  beschreiben.    Sie  kann  immer  nur  andeuten. 


72  Richard  Hohaietnaer. 

nach  zwei  verschiedenen  Richtungen  gezogen.  Da  sie  eine  Ein- 
heit ist,  mufs  sich  hieraus  sozusagen  ein  bestimmtes  Spannungs- 
verhältnifs  ergeben,  und  dieses  kommt  uns  in  dem  VerhältniCs 
der  beiden  Tonempfindungen  zu  einander  zum  Bewufstsein. 

Wenn  wir  oben  sagten,  die  Wirkung  der  einzehien  AnstöHse 
werde  uns  nicht  bewufst,  so  müssen  wir  jetzt  diesen  Ausdruck 
richtig  stellen.  Ihre  unmittelbare  Wirkung  wird  uns  allerdings 
nicht  bewufst,  wohl  aber  die  Art,  in  welcher  die  Rhythmen,  in 
welchen  sie  verlaufen,  uns  anmuthen,  und  somit  beim  gleichzeitigen 
Auftreten  mehrerer  Tonempfindungen  auch  das  Verhältnifs  dieser 
Arten  zu  einander.  Je  weniger  die  Schwingungsrhythmen  zweier 
gleichzeitiger  Töne  die  Seele  in  verschiedene  Richtungen  zu 
zwingen,  ihr  verschiedene  Bethätigungsweisen  abzunöthigen 
suchen,  um  so  verwandter,  um  so  ähnlicher  erscheinen  uns  natur- 
gemäfs  die  beiden  Töne,  und  umgekehrt. 

Die  verschiedenen  Verwandtschaftsgrade  drängen  sich  uns 
bei  gleichzeitigem  ErkUngen  der  Töne  unmittelbar  auf  und  ent- 
sprechen genau  den  Verschmelzungsstufen  Stümpf's.  Die  gröbere 
oder  geringere  Schwierigkeit,  die  Bestandtheile  des  Zusammen- 
klanges zu  unterscheiden,  rührt  also  von  der  gröfseren  oder 
geringereu  Aehnlichkeit  dieser  Bestandtheile  her.  Damit  wäre 
die  Verschmelzung  auf  die  allgemeinere  Thatsache  zurückgeführt, 
dafs  gleichzeitig  gegebene  Bewufstseinsinhalte  um  so  schwerer 
von  einander  unterschieden  werden  können,  je  ähnlicher  sie 
einander  sind,  und  umgekehrt  Nur  besteht  in  unserem  Falle 
die  AehnUchkeit  nicht  in  einer  beiden  Tonempfindungen  gemein- 
samen Qualität,  sondern  darin,  dafs  uns  beide  in  ähnlicher  Weise 
anmuthen,  dafs  sie  die  Seele  in  ähnliche  Thätigkeiten  versetzen, 
und  zwar  thun  sie  dies  auf  Grund  der  beiden  unbe^nifsten, 
einander  ähnhchen  Schwingungsrhythmen. 

Nunmehr  haben  wir  auch  den  Schlüssel  zur  Lösung  des 
Problems  der  Consonanz  und  Dissonanz  gefunden;  denn  je  ver- 
wandter zwei  Töne  sind,  um  so  consonirender,  angenehmer  ist 
der  aus  ihnen  gebildete  Zusammenklang,  je  weniger  verwandt, 
um  so  dissonirender,   unangenehmer.^    Dies  beruht  auf  einem 


*  Mit  Recht  weist  Lipps  darauf  hin  {diese  Zeifschr.  19,  22),  dafs  sich  die 
Schwankungen  in  den  Urtheilen  über  den  Geftihlswerth  der  Zusammen- 
klänge daraus  erklären,  dafs  nicht  der  Grad,  sondern  die  Art  der  An- 
nehmlichkeit oder  Unannehmlichkeit  beurtlieilt  wird  und  dafs  die  Beur- 


Zur  Theorie  der  Totibeziehungen.  73 

allgemeinen  Gresetz,  das  man  mit  Lipps  das  psychische  Be- 
harrungs-  oder  Trägheitsgesetz  nennen  kann  und  welches  besagt, 
dafs  sich  das  psychische  Geschehen  am  leichtesten  imd  unge- 
hemmtesten zwischen  gleichen  oder  ähnlichen  Elementen  voll- 
zieht und  dafs  in  Folge  dieses  leichten  Vollzuges  Lustgefühl  ent- 
steht, dafs  dagegen,  wenn  die  Elemente,  zwischen  welchen  es 
sich  vollziehen  soll,  einander  unähnlich  sind,  Schwierigkeiten, 
Hemmungen  überwimden  werden  müssen  imd  daher  Unlust- 
gefühl  erzeugt  wird.  Man  kann  dieses  Gesetz  auf  den  ver- 
schiedensten Grebieten  des  Seelenlebens  nachweisen ;  doch  dürfen 
wir  hier  diesen  Nachweis  als  geführt  betrachten.  —  Welche  Zu- 
sammenklänge consoniren,  welche  dissoniren,  kann  uns  nur  die 
Erfahrung  lehren.  Es  ist  aber  klar,  dafs  wir  es  mit  einer  nur 
in  einer  Richtung  laufenden  Reihe  zu  thun  haben  imd  dals 
diejenigen  Zusammenklänge,  welche  man  gewöhnUch  als  Con- 
sonanzen  und  Dissonanzen  bezeichnet,  nur  nach  den  Bedürfnissen 
der  Musikpraxis  aus  einer  grofsen  Menge  möglicher  JPälle  heraus- 
gegriffen sind., 

Dafs  der  Zusammenklang  z.  B.  der  grofsen  Secunde :  8  :  9, 
für  sich  allein  gehört,  Unlustgefühl  erweckt,  dagegen  der  der 
grofsen  Terz :  4  :  5  Lustgefühl,  darüber  ist  man  allgemein  einig. 
Aber  man  hat  mit  Recht  gefragt,  ob  nicht  die  Octave  weniger 
Lustgefühl  erwecke,  uns  gleichgiltiger  lasse  als  z.  B.  die  grofse 
Terz.  Lipps  hat  diese  Schwierigkeit,  welche  sich  seiner  Theorie 
entgegenstellt,  gesehen.  Zu  ihrer  Lösimg  weist  er  darauf  hin, 
dafs  auch  sonst  die  Seele  nicht  das  absolut  oder  annähernd 
absolut  gleiche  will,  sondern  Mannigfaltigkeit  in  der  Einheit.^ 
Sie  will  die  MögUchkeit  des  leichten  Uebergangs  von  einem 
Element  zum  andern,  aber  doch  so,  dafs  jedes  dem  andern 
gegenüber  etwas  neues  enthält.  Daher  mufs  in  einer  Reihe,  in 
w^elcher  je  zwei  Elemente  allmählich  einander  unähnlicher  werden, 
das  Lustgefühl  bis  zu  einem  gewissen  Punkte  zunehmen  können ; 
bis  zu  welchem,  entscheidet  auf  allen  Gebieten  nur  die  Erfahrung. 
So  ist  auf  dem  GebiÄe  der  Töne  der  Zusammenklang  der  Octave 


theiler  je  nach  ihrer  Individualität  theils  eine  einfachere  theils  eine  com- 
plicirtere  Befriedigung  bevorzugen.  Beurtheilt  man  die  Zusammenklänge 
nur  nach  dem  Annehmlichkeits-  oder  Unannehmlichkeits  grade  und  aufser 
allem  musikalischen  Zusammenhange,  so  wird  es  stets  dabei  bleiben,  dafs 
Consonanzen  Lustgefühl,  Dissonanzen  Unlustgefühl  erwecken. 
*  Vergl.  z.  B.  diese  Zeitszhr,  10,  19. 


74  Richard  Hohencmser. 

zwar  der  einheitlichste,  denn  wir  kennen;  aber  er  erscheint  uns 
z.  B.  der  Terz  gegenüber  gerade  wegen  seiner  Einheitlichkeit 
leer,  nichtssagend.  Die  Terz  versetzt  die  Seele  sozusagen  in  eine 
gegliedertere  Thätigkeit  und  erzeugt  daher  höhere  Befriedigung.  — 
Der  Unterschied  beider  Zusammenklänge  läfst  sich  am  Schlufe- 
accord  eines  Musikstückes  deutUch  erkennen.  Hier  ist  die  Octave 
als  vollkommenste  Einheit,  die  am  Schlufs  ihren  naturgem&ÜBen 
Platz  hat,  kaum  zu  entbehren,  die  Terz  dagegen  sehr  wohl;  ja, 
sie  hebt,  in  die  oberste  Stimme  verlegt,  den  Schlufscharakter 
sogar  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auf,  so  sehr  mangelt  ihr 
schon  die  EinheitUchkeit  Und  doch  ist  sie  an  sich,  d.  h.  auiser 
allem  Zusammenhang  angegeben,  befriedigender  als  die  Octave. 
Wir  wissen  jetzt,  warum  die  Verschmelzungsstufen  und  die 
Gonsonanzgrade  der  Zusammenklänge  im  Allgemeinen  parallel 
laufen.  Beide  beruhen  eben  auf  einer  gleichen  AehnUchkeit 
auf  der  AehnUchkeit  der  gleichzeitig  gegebenen  Schwingongs- 
rhythmen;  nur  fällt  die  vollkommenste  Verschmelzung  nicht  mit 
der  Erzeugung  des  höchsten  Lustgefühls  zusammen.  Da  wir  im 
Bisherigen  stets  die  Abhängigkeit  des  Consonanzgrades  vom 
Gefühlscharakter  des  Zusammenklanges  betonten,  müTsten  wir 
consequenter  Weise  die  grofse  Terz,  die  wohl  das  lebhafteste 
Lustgefühl  erweckt,  als  den  consonirendsten  Zusammenklang  be- 
zeichnen. Dies  zu  thun  hindert  ims  der  Sprachgebrauch,  dem 
entgegenzutreten  wir  nicht  beabsichtigen.  Wir  müssen  uns  daher, 
um  keinem  MiTsverständnisse  Raum  zu  geben,  über  seine  hier 
zu  Tage  tretende  Eigenthümlichkeit  klar  zu  werden  suchen.  Bei 
der  am  weitesten  verbreiteten  Eintheilung  der  sogen.  Gonsonanzen, 
nach  welcher  Octave,  Quinte  und  Quarte  die  vollkommenen 
Gonsonanzen  bilden,  während  die  unvollkommenen  mit  der 
grofsen  Terz  beginnen,^    ist   offenbar  nur  der  Einheitlichkeits- 


^  Dafs  die  meisten  Theoretiker  des  Mittelalters  die  giofse  Terz  zu  den 
Dissonanzen  rechneten,  lasse  ich  hier  aufser  Acht ;  denn  dies  beruht  jeden* 
falls  darauf,  dafs  sie  das  Verhältnifs  der  grofsen  Terz  nicht,  wie  wir,  mit 
4  :  5,  sondern,  nach  pythagoräischer  Berechnung,  mit  64  :  81  ansetzten.  Sie 
meinten  also  ein  anderes  Intervall  wie  wir,  dessen  Dissonanzcharakter 
schon  aus  dem  complicirten  Zahlenverhältnifs  zu  vermuthen  war  und  von 
dessen  widriger  Wirkung  sie  sich  z.  B.  am  zweisaitigen  Monochord  über- 
zeugen konnten.  Dafs  in  der  Volksmusik  Terzen  in  unserm  Sinne  zur  An- 
wendung kamen,  aber  bei  den  Theoretikern  keine  Berücksichtigung  fanden, 
ist  sehr  wahrscheinlich. 


Zur  Theorit  der  TonbezieJiungen.  75 

grad,  die  Yerschmelzungsstufe  des  Zusammenklanges  berück- 
sichtigt Andererseits  versteht  aber  jeder  unter  Dissonanz  einen 
Zusammenklang,  der  an  sich  Unlustgefühl  erweckt,  und  im 
Oegensatz  dazu  unter  Consonanz  einen  Zusammenklang,  der 
Lustgefühl  erweckt.  Der  Sprachgebrauch  vermischt  also  die 
Verschmelzungsgrade  und  den  Gefühlscharakter  der  Zusammen- 
klänge. Dies  ist  bei  dem  oben  betonten  Parallelismus  beider 
Erscheinungen  durchaus  nicht  zu  verwimdern.  Auch  wird  man, 
um  nicht  von  den  Gepflogenheiten  der  praktischen  Musik  abzu- 
weichen, gut  thun,  den  Sprachgebrauch  beizubehalten.  Nur  mufs 
man  sich  darüber  klar  sein,  dafs  Verschmelzungsgrad  und  Ge- 
fühlscharakter  der  Zusammenklänge  trotz  des  Parallelismus  ver- 
schiedene Dinge  sind. 

Beruht  das  im  Zusammenklang  gegebene  VerhältniTs  wirk- 
lich auf  einer  AehnUchkeit  der  Töne,  so  bedarf  es  keiner  weiteren 
Erklärung  mehr,  dafs  wir  das  VerhältniTs  auch  bei  der  Succession 
wahrnehmen ' ;  denn  dafs  wir  die  Aehnlichkeitsgrade  einander 
folgender  BewuCstseinsinhalte  zu  erkennen  vermögen,  steht  fest. 
Wie  dies  die  Seele  leistet,  haben  wir  hier  nicht  zu  imtersuchen. 
Auch  Stumpf  erkennt  an,  dafs,  wenn  die  Verschmelzimg  wirk- 
lich auf  der  Aehnlichkeit  der  Töne  beruhe,  die  Schwierigkeit  der 
Melodiebildung  und  der  früheren  Vorherrschaft  der  Einstimmig- 
keit gehoben  sei  Ebenso  wird  er  wohl  auch  anerkennen,  dafs 
sich  die  ganze  Theorie  imgezwungen  mit  allgemeineren  That- 
sachen  in  Verbindung  bringen  und  in  Anschauungen  über  den 
allgemeinen  Verlauf  des  psychischen  Geschehens  einordnen  läfst. 
Aber  gerade  die  Gnmdlage,  dafs  es  eine  Aehnlichkeit  der  Töne 
geben  soll,  die  nicht  eine  Aehnlichkeit  der  Empfindimgsqualitäten 
ist,  sondern  auf  der  zunächst  unbewufsten  Wirkung  einander 
ähnlicher  Schwingungsrhythmen  beruht,  erscheint  ihm  unan- 
nehmbar. LiFPs  dagegen  meint,  zwei  Bewufstseinsinhalte  seien 
nicht  nur  einander  ähnlich,  wenn  beide  eine  gleiche  oder  ähn- 
liche Qualität  besäfsen,  wie  z.  B.  zwei  Töne  von  ähnlicher  Stärke 
oder  Höhe,  sondern  auch  dann,  wenn  beide  die  Seele  in  ähnlicher 
Weise  anmutheten,  sie  in  ähnliche  Thätigkeiten  versetzten.    Mit 


^  Freilich  tritt  in  diesem  Falle  der  Consonanz-  und  Dissonanzcharakter 
nicht  80  scharf  hervor,  und  aufserdem  scheint  die  durch  die  Tonhöhen  ge- 
gebene Aehnlichkeit  oder  Unähnlichkeit  stärker  mitzuwirken  als  beim  Zu- 
sammenklang. 


76  Ricliard  Hohetieniscr, 

Recht  zieht  er  den  Schlufs :  Da  zwei  oder  mehrere  BewuTstseins- 
inhalte,  welche  hinsichthch  ihrer  QuaUtäten  unvergleichbar  sind, 
dennoch  sowohl  die  gleichen  Gefühle  in  uns  erwecken,  als  auch 
einander  reproduciren  können,  so  müssen  die  ihnen  zu  Grunde 
liegenden  unbewufsten  Vorgänge  einander  ähnhch  sein.  Ver- 
schiedene Beispiele  solcher  Aehnlichkeiten  hat  Deffner  in  einem 
Aufsatz  über  „Aehnlichkeitsassociationen"  beigebracht^;  aber  er 
hat  nicht  festzustellen  gesucht,  wie  wir  dazu  kommen,  Ton- 
empfindungen zu  Raumempfindungen  in  Analogie  zu  setzen, 
indem  wir  von  tiefen  und  hohen  Tönen  sprechen. 

Erfahrungsassociationen,  an  welche  man  in  solchen  Fällen 
gewöhnlich  zunächst  denkt,  sind  hier  wohl  ausgeschlossen ;  denn 
ein  aus  der  Tiefe  heraufgerufener  Ton  kann  hoch,  ein  aus  der 
Höhe  herabgerufener  tief  sein.  —  Eine  andere  Erklärung  suchte 
man  darin,  dafs  Hücbald,  jener  Theoretiker  des  9.  «Jahrhunderts, 
der  zuerst  die  verschiedenen  Tonhöhen  durch  verschiedene 
Stellung  von  Zeichen  (Textsilben)  im  Raum  wiedergab,  den 
untersten  Zwischenraum  seines  Liniensystems  dem  Ton  mit  der 
kleinsten  Schwingungszahl  anwies  und  von  da  aus  aufwärts 
ging.  Aber  diese  Erklärung  ist  aus  mehreren  Gründen  unhalt- 
bar: Einmal  könnte  es  eine  tiefer  liegende  allgemein-psycho- 
logische Ursache  haben,  dafs  Hücbald  die  Anordnung  gerade 
so  und  nicht  umgekehrt  wählte.  Ferner  lag  auf  der  itaUenischen 
Laute  des  Mittelalters  die  Saite,  welche  den  tiefsten  Ton  gab, 
oben,  die  welche  den  höchsten  gab,  unten,  und  demgemäfe  waren 
auch  in  der  Lauten-Notation,  in  welcher  die  Linien  als  Symbole 
der  Saiten  dienten,  die  Töne  angeordnet  Aber  man  hat  niemals 
gehört,  dafs  die  italienischen  Lautenspieler  deshalb  die  hohen 
Töne  als  tief  und  die  tiefen  als  hoch  bezeichnet  hätten.  Endlich, 
und  das  ist  das  Wichtigste,  war  die  Anwendung  der  Worte 
„hoch"  und  „tief"  auf  die  Töne  schon  lange  vor  Hücbald  in 
den  verschiedensten  Sprachen  verbreitet,  imd  schon  in  der 
ersten  christlichen  Zeit  machte  der  Dirigent  des  Kirchenchores, 
wenn  dieser  mit  der  Stimme  steigen  sollte,  eine  Handbewegung 
nach  aufwärts,  wenn  er  fallen  sollte,  eine  solche  nach  abwärts. 
Später  wurden  diese  Bewegungen  in  der  sogen.  Neumenschrift 
fixirt  Ganz  ähnlich  verhielt  es  sich  bei  den  Indem,  Armeniern 
und  Griechen.* 

»  Vergl.  diese  ZeiUchr.  18,  235  ff. 

•  Vergl.  O.  Fleischer,  Neumenstudien,  1.  Theil,  1895. 


Zur  Theorie  der  Tatibeziehungen.  77 

Man  könnte  noch  meinen,  die  Bezeichnungen  „tief"  und 
„hoch"  rührten  von  den  Empfindungen  her,  welche  man  beim 
Singen  der  betreffenden  Töne  hat  Zur  Erzeugung  der  tiefen 
Töne  scheinen  die  tiefer  im  Brustkasten  hegenden  Theile  der 
Stimmwerkzeuge  in  hervorragendem  Maafse  erforderlich  zu  sein, 
zur  Erzeugung  der  hohen  Töne  dagegen  die  der  Mimdhöhle 
näher  hegenden.  Mir  fehlen  die  physiologischen  Kenntnisse,  um 
entscheiden  zu  können,  ob  es  sich  wirkUch  so  verhält  Es  kommt 
hier  aber  nur  auf  die  Empfindungen  an,  und  diese  haben  wir 
in  der  That,  wie  ja  die  Ausdrücke  „Brust-"  und  „Kopfstimme" 
beweisen.  Freilich  müTste  danach  z.  B.  die  Sopranistin  den 
gleichen  Ton  tief  nennen,  welchen  der  Tenorist  hoch  nennt 
Dies  geschieht  in  der  That,  solange  jeder  nur  die  in  seiner 
Stimmlage  vorhandenen  Töne  beurtheilt  Da  aber  „tief"  und 
„hoch"  stets  relative  Begriffe  sind  und  da  man  sich  auch  beim 
Hören  solcher  Töne,  welche  die  eigene  Stimme  nicht  hervorzu- 
bringen vermag,  mindestens  eine  ungefähre  Vorstellung  von  den 
Empfindungsunterschieden  machen  kann,  welche  zwischen  den 
äuTsersten  der  Stimme  erreichbaren  Tönen  und  dem  gehörten 
Ton,  wenn  er  gesungen  würde,  beständen,  so  könnte  man  diese 
Begriffe  auf  die  Töne  jedes  beliebigen  Zusammenklanges  und 
jeder  behebigen  Aufeinanderfolge,  sowie  auch  auf  jeden  beliebigen 
Ton  eines  in  Gedanken  vorausgesetzten  Tonsystems  übertragen. 
Trotzdem  dürfte  auch  diese  Ableitung  aus  einer  Erfahrungs- 
association  unhaltbar  sein ;  denn  beim  Singen  kleiner  Intervalle, 
also  namentlich  bei  Ganz-  und  Halbtonfortschreitungen,  sind  die 
Empfindungsunterschiede  noch  unmerklich  oder  kaum  merkhch, 
jedenfalls  so  gering,  dafs  nicht  anzunehmen  ist,  dafs  sie  zu  einer 
so  festen  Association  hätten  Anlafs  geben  können,  wie  sie  schon 
im  Alterthum  und  in  den  ersten  christhchen  Zeiten  bestanden 
haben  müfste,  da  sich  damals  der  Gesang  fast  ausschhefshch 
stufenweise  bewegte  und  trotzdem,  wie  wir  sahen,  die  Analogie 
zu  den  Raumempfindungen  schon  ausgebildet  war. 

Es  wird  uns  also  nichts  übrig  bleiben  als  für  diese  Analogie 
einen  rein  psychologischen  Grund  zu  suchen,  d.  h.  es  mufs 
zwischen  der  Empfindung  eines  tiefen  Tones  und  der  räum- 
lichen Empfindung  der  Tiefe  und  ebenso  zwischen  der  Empfin- 
dung eines  hohen  Tones  und  der  räumhchen  Empfindimg  der 
Höhe  eine  Aehnlichkeit  bestehen.  Dafs  eine  Tonempfindung 
und    eine  Raumempfindimg   keine  QuaUtät  gemein  haben,    ist 


78  Ridiard  Hohenemser, 

klar.  Also  kann  die  Aehnlichkeit  nur  darin  bestehen»  dafe  uns 
beide  in  gleicher  Weise  anmuthen,  in  gleicher  Weise  auf  dM 
Seelenganze  wirken,  und  dies  kann  seine  Ursache  nur  in  der 
Aehnlichkeit  der  zu  Grunde  liegenden  unbewuTsten  Vorg&nge 
haben.  ^ 

Sind  wir  also  gezwungen,  AehnUchkeiten  anzunehmen, 
welche  nicht  auf  der  Gemeinsamkeit  einer  Empfindongs- 
qualität,  sondern  darauf  beruhen,  dafs  den  betreffenden  un- 
bewuTsten Vorgängen  etwas  Gemeinsames  anhaftet,  so  dürfen 
wir  solche  AehnUchkeiten  auch  den  Tonempfindungen,  zu- 
schreiben. 

Abgesehen  davon,  dafs  Stumpf  die  allgemeinen  Grundlagen 
der  Theorie  bekämpft,  führt  er  auch  noch  speciellere  Gtegen- 
gründe  an-: 

Weder  die  physikalische  noch  die  physiologische  Discon- 
tinuität  der  die  Tonempfindung  erzeugenden  Vorgänge,  so  meint 
Stumpf,  sei  von  vornherein  einleuchtend.  Nim  sind  uns  in  den 
tiefsten  Tönen  zunächst  discontinuirliche  Empfindungen  gegeben ; 
demnach  wäre  es  das  Natürlichste,  wenigstens  soweit  es  diese 
Töne  betrifft,  im  physikalischen  oder  physiologischen  Beiz 
irgendwo  eine  Discontinuität  anzunehmen.  Stumpf  aber  sieht  in 
der  empfindirngsmäfsigen  Discontinuität  der  tiefsten  Töne .  nur 
eine  Begleiterscheinung.  Nähere  man  eine  sehr  langsam 
schwingende  Stimmgabel  dem  Ohre,  so  habe  man  intermittirende 
Tastempfindungen,  und  auTserdem  entständen  intermittirende 
Nebengeräusche.  Auch  könnten  die  Schwebimgen  der  Obertöne 
zum  Eindruck  der  Discontinuität  beitragen.  Sobald  es  aber  ge- 
linge, die  Aufmerksamkeit  ausschliefslich  auf  den  Ton  selbst  zu 
concentriren,  laufe  dieser  ebenso  glatt  und  fliefsend  ab  wie  irgend 
ein  hoher  Ton. 


*  Anders  verhält  es  sich  möglicherweise  mit  der  Aehnlichkeit,  welche 
sich  in  den  Ausdrücken:  „hohle"  und  „scharfe  Töne"  zu  erkennen  giebt 
Im  ersten  Fall  kann  eine  Erfahrungsassociation  vorliegen,  da  der  durch  in 
einem  Hohlräume  schwingende  Luft  erzeugte  Ton  eine  bestimmte  Art  der 
Klangfarbe  hat,  an  welche  uns  auch  durch  frei  schwingende  Luft  erzeugte 
Töne  erinnern  können.  Im  zweiten  Falle  handelt  es  sich  vielleicht  wirk- 
lich um  eine  gemeinsame  Empfindungsqualität;  denn  es  scheint  fast,  als 
habe  die  Tastempfindung  des  Scharfen  eine  gleiche  Wirkung  auf  unsere 
Nerven  wie  ein  scharfer  Ton  oder  ein  scharfes  Gewürz. 

"  „Consonanz  und  Dissonanz",  S.  23  ff. 


Zur  TJieorie  der  Tonbeziehunffen.  79 

Näher  wurde  diese  Ansicht  von  Max  Meyer  ausgeführt^ 
Er  läfst  die  intermittirenden  Tastempfindungen  aufser  Acht  und 
legt  auch  den  Schwebungen  keine  grofse  Bedeutung  bei,  da  nach 
seiner  Ansicht  auch  noch  solche  Töne  discontinuirlich  sind, 
deren  Obertöne  keine  hörbaren  Schwebungen  mehr  ergeben. 
Zur  Erklärung  der  Discontinuität  als  Begleiterscheinung  läfst  er 
zwei  Wege  offen:  Zunächst  führt  er  aus,  bei  sehr  langsamen 
Schwingungen  einer  Stimmgabel  höre  man  nur  ein  intermittiren- 
des  Geräusch,  das  demjenigen  ähnUch  sei,  welches  entsteht, 
wenn  man  mit  einem  Stocke  rasch  durch  die  Luft  fährt  Bei 
schneller  werdenden  Schwingungen  trete  der  Ton  auf,  aber 
noch  fast  vöUig  von  dem  Greräusch  gedeckt  Je  schneller  die 
Schwingungen  würden,  um  so  deutlicher  werde  der  Ton  und 
um  so  schwächer  das  Geräusch.  Diese  Erklärung  erscheint  mir 
unhaltbar;  denn  ich  vermag  nicht  einzusehen,  wie  eine  be- 
stimmte Luftmasse,  welche  auf  bestimmte  Organe  einwirkt, 
gleichzeitig  ein  Geräusch,  das  aus  unregelmäfsigen  Schwingungen 
besteht  und  einen  Ton,  der  aus  regelmäfsigen  Schwingungen  be- 
steht, veranlassen  soll.  Noch  dazu  soll  das  Geräusch  inter- 
mittirend,  der  Ton  continuirlich  sein,  und  die  Deutlichkeit  des 
Greräusches  soll  in  demselben  Verhältnifs  abnehmen,  in  welchem 
die  des  Tones  zimimmt  Dafs  für  Geräusch  und  Ton  wirklich 
die  gleiche  Luftmasse  und  die  gleichen  Organe  in  Anspruch  ge- 
nommen werden,  beweist  der  zweite  Erklärungsversuch,  welcher 
sagt,  möglicherweise  entständen  bei  sehr  langsamen  Schwip- 
gungen  im  Ohre  irgend  welche  intermittirende  Nebengeräusche. 

Gegen  diese  Erklärung  ist  bei  imserer  geringen  Kenntnifs 
des  inneren  Ohres  an  sich  nichts  einzuwenden,  ebenso  wenig 
gegen  die  durch  Schwebungen  der  Obertöne,  wo  solche  hörbar 
sind.  Auch  dafs  wir  Tastempfindungen  unter  Umständen  für 
Gehörseindrücke  halten,  ist  wohl  nicht  unmöglich.  Aber  es  ist 
die  Frage,  ob  der  tiefe  Ton  für  unsere  Empfindung  wirklich 
glatt  abläuft,  oder  ob  er  nicht  auch  bei  schärfster  Concentration 
unserer  Aufmerksamkeit  discontinuirlich  bleibt  Die  tiefen  Töne 
sind  so  schwierig  wahrzunehmen  *-,  dafs  sich  hierüber  auf  Grund 
einfacher  Beobachtungen  derselben  vielleicht  niemals  eine  Eini- 


»  Diese  Zeitschr.  18,  75  ff. 

'  Man  denke  nur  an  die  verschiedenen  Bestimmungen  der  Wahrnehm- 
barkeitsgrenze  I 


80  Richard  Hohenemser. 

gung  erzielen  lassen  wird.  Vorläufig  jedenfalls  stehen  die  An- 
sichten einander  diametral  gegenüber.  Man  wird  daher  gut 
thnn,  zu  prüfen,  ob  sich  nicht  auf  Grund  theoretischer  Er- 
w*ägungen  die  Continuität  oder  Discontinuität  der  tiefsten  Töne 
wahrscheinlich  macheu  läfst  Einen  Anhaltspunkt  liefern  uns 
die  intermittirenden  Geräusche.  Dieselben  bestehen  aus  Stöfsen, 
welche  wir,  wenn  sie  einander  langsam  genug  folgen,  deutUch 
als  einzelne  Stöfse  wahrnehmen,  ohne  sie  freilich  zählen  zu 
können.^  Wird  die  Aufeinanderfolge  schneller,  so  verwischt  sidi 
die  Unterscheidung  der  einzelnen  Stöfse  immer  mehr  und  schlieüi- 
lich  empfinden  wir  das  Geräusch  nur  noch  als  rauh.  Es  wäie 
sogar  denkbar,  dafs  wir  bei  sehr  schneller  Aufeinanderfolge  eine 
durchaus  continuirUche  Empfindung  hätten.  Nun  ist  anzunehmen, 
dafs  es  sich  mit  den  durch  regelmäfsige  Schwingungen  gegebenen 
Anstöfsen  ebenso  verhält  wie  mit  denjenigen,  welche  die  Ge- 
räusche hervorrufen.  Daher  ist  es  das  Nächstliegende,  die  bei 
den  tiefsten  Tönen  doch  unbestreitbar  vorhandene  Discontinuität, 
solange  sie  nicht  durch  Beobachtung  unzweifelhaft  als  Begleit- 
erscheinung nachgewiesen  ist,  nicht  auf  Nebengeräusche  zurfick- 
zuführen,  sondern  darauf,  dafs  die  Aufeinanderfolge  der  Anstölse 
noch  nicht  schnell  genug  ist,  um  eine  durchaus  continuirUche 
Empfindung  zu  erzeugen. 

Wenn  wir  demnach  an  der  Discontinuität  der  tiefsten  Töne 
festhalten,  so  müssen  wir  auch  discontinuirUche  Reize  an- 
nehmen. Lassen  sich  solche  nicht  in  der  Bewegung  der 
schwingenden  Körper  nachweisen,  weil  beispielsweise  die 
schwingende  Saite,  wenn  sie  sich  am  weitesten  aus  der  Gleich- 
gewichtslage entfernt  hat,  nicht  erst  einen  Moment  ruht,  bevor 
sie  den  Rückweg  antritt,  weil  also  die  Bewegung  selbst,  von  der 
Richtungsänderung  abgesehen,  eine  continuirliche  ist,  so  müssen 
sie  auf  physiologischem  Gebiete  gesucht  werden.  Nun  sind  wir 
über  den  physiologischen  Theil  des  Hörprocesses  durchaus  nicht 
im  Klaren ;  denn  angenommen  selbst,  die  HELMHOLTz'sche  Hypo- 


^  Zählen  können  wir  etwa  noch  acht  Stöfse  in  der  Becunde;  doch 
werden  wir  eine  solche  Gruppe  noch  kaum  als  intermittirendes  Geräusch, 
sondern  eben  als  acht  einzelne  Geräusche  bezeichnen.  Das  intermittirende 
€toräusch  unterscheidet  sich  von  ihr  objectiv  nur  durch  die  schnellere  Auf- 
einanderfolge der  einzelnen  Glieder  und  subjectiv,  d.  h.  für  unser  Empfinden, 
dadurch,  dals  wir  diese  Aufeinanderfolge  schon  als  Einheit,  wenn  auch  als 
eine  aus  Theilen  bestehende  Einheit,  empfinden. 


Zur  TheoiHe  der  Tonhezietiungen,  81 

these   über  die   Beschaffenheit    und   Wirksamkeit   des    inneren 
Ohres  sei  vollkommen  richtig,  was  heute  yielfaw^h  angezweifelt 
wird  ^,  so  wissen  wir  doch  nichts  über  die  Vorgänge  im  Hör- 
nerven und  im  Centralorgan.    Soviel  aber  läfst  sich,   wie  mir 
scheint,  aus  der  Beschaffenheit  der  physikalischen  Anstöfse  und 
des  äuTseren  Ohres  schliefsen,   dafs  eine  physiologische  Discon- 
tinuität  des  Reizes  sehr  wohl  mögUch,  ja  sogar  für  alle  Ton- 
empfindungen in  hohem  Grade  wahrscheinlich  ist.     Denn  beim 
Schwingen   verdichtet   und    verdünnt    sich    die   Luft    in  regel- 
mäfsigem  Wechsel;   jede  Verdichtung   drückt  das  Trommelfell 
etwas  nach  innen,  worauf  es  bei  der  Verdünnung  in  seine  ur- 
sprüngHche  Lage  zurückkehrt.     Warum  sollte  sich  nun  dieses 
Hinundher  nicht  in  irgend  einer  Weise  bis  in  den  Hörnerven 
und  ins  Centralorgan  fortsetzen?    Die  Fortsetzung  braucht  nicht 
nothwendig*  in  Bewegungen  zu  bestehen.    Aber  auch  dies  wäre 
denkbar;   denn   bei  der   Bewegung   im  Organismus   kommt   es 
nicht   mehr   auf  ihre    mathematische   Continuität    an,    sondern 
darauf,   ob    sie   eine   continuirliche    oder   eine   discontinuirUche 
Wirkung  ausübt.    Nun  ist  bei  einer  bewufst  wahrgenommenen 
Bewegung  im  Organismus   mit  jeder  Richtungsänderung  auch 
eine  Empfindungsänderung,   also  offenbar  eine   Aenderung  der 
Wirkung  auf  den  Organismus,  verbunden.    Daher  müssen  wir 
annehmen,  dafs  auch  eine  nicht  wahrgenommene  Bewegung  mit 
der  Richtung  auch  die  Wirkung  ändert  und  daher  eine  Discon- 
tinuität  der  Empfindung  zur  Folge  haben  kann.    Uebrigens  be- 
tont Lipps  ausdrückUch  -,  dafs  es  nicht  darauf  ankomme,  ob  sich 
der  Reiz  in  Form  von  rhythmischen  Schlägen,    also  etwa  als 
regelmäfsige  Bewegung  fortpflanze,   sondern  nur  darauf,  dafs  in 
ihm   nach  Maafsgabe   der   Schwingungszahl   in   irgend   welcher 
Weise  ein  regelmäfsiger  Wechsel  vorhanden  sei. 

Wie  sich  die  Annahme  discontinuirlicher  Reize  für  alle  Ton- 
empfindungen mit  der  Thatsache  vereinigen  läfst,  dafs  wir  doch 
die  weitaus  meisten  Töne  als  continuirlich  empfinden,  ergiebt 
sich  aus  dem,  was  oben  über  die  interraittirenden  Geräusche  und 
die  tiefsten  Töne  gesagt  wurde.    Auch  findet  der  Satz,  dafs  eine 


*  Vergl.  z.  B.  Max  Meyer,  Zur  Theorie  der  Differenztöne  etc. 
in  ^Beiträge  z%ir  Akustik  und  Mimkictssenschaft*^^  hrsg.  von  C.  Stumpf,  Heft  II, 
S.  25  ff. 

*  Vergl.  z.  B.  Philosophische  Monatshefte  28,  579  ff. 

Zweitschrift  für  Psychologie  2C.  ß 


82  Richard  Hohetieniser, 

Reihe  gleicher  Empfindungen,  welcher  also  eine  Reihe  discoa- 
tinuirlicher  Reize  zu  Grunde  liegt,  zu  einer  continuirlichen  Ein- 
heit verschmelzen  könne,  auf  anderen  Sinnesgebieten  eine  Be- 
stätigimg. Hält  man  z.  B.  den  Finger  an  eine  Fläche,  die  sich 
mit  gröfster  Geschwindigkeit  bewegt,  so  glaubt  man,  fortwährend 
nur  einen  Punkt  zu  berühren,  d.  h.  die  discontinuirUchen  Tast- 
reize sind  zu  einer  einheitlichen  Empfindung  verschmolzen. 

Ferner  meint  Stumpf,  auch  die  Voraussetzung,  dafs  der  uns 
unbewufste  Rhythmus  angenehm  wirke,  weil  es  der  bewulst 
wahrgenommene  thue,  habe  nichts  Ueberzeugendes.  Wer  den 
oben  angedeuteten  Standpunkt  einnimmt,  dafs  alles  BewuTstsein 
imbewufste  Vorgänge  zur  unerläfslichen  Grundlage  hat,  daDs 
jedes  bewufste  Erlebnifs  nur  einen  Theil  eines  unbewufsten  Vor- 
ganges oder,  wie  es  meist  der  Fall  sein  wird,  einer  Combination 
unbewufster  Vorgänge,  gleichsam  nur  die  oberste  Spitze  des 
psychischen  Geschehens  darstellt,  der  wird  anderer  Ansicht  sein. 
Er  wird  sich  sagen,  dafs  wenn  das  Bewufstwerden  und  das  Im- 
Bewufstsein-Beharren  eines  Inhaltes  mit  unbewufsten  Vorgängen 
eine  untrennbare  Einheit  bildet,  ein  bewufster  Vorgang  und  ein 
ihm  gleicher  unbewufster  im  Wesentlichen  auch  eine  gleiche 
Wirkung  ausüben  werden.  Es  giebt  eben  keinen  Wesensunter- 
schied zwischen  bewufsten  und  unbewufsten  Vorgängen,  sondern 
psychische  Vorgänge  unterscheiden  sich  ihrem  Wesen  nach  nur 
durch  ihre  qualitative  Beschaffenheit.  Ohne  die  Annahme,  dals 
es  unbewufste  Vorgänge  giebt,  welche  bewufeten  Vorgängen 
gleich  sind  und  daher  ebenso  wie  diese  wirken,  wäre  z.  B.  die 
ganze  Associationspsychologie  unmöglich;  jal  wir  würden  uns 
von  der  einheitlichen  Bethätigung  der  Seele  überhaupt  keine 
Vorstellung  machen  können ;  denn  mit  den  bewufsten  Erlebnissen 
wären  uns  nur  Bruchstücke  gegeben,  deren  Zusammenhang 
uns  unerklärlich  bliebe.  Aber  wir  haben  es  nicht  etwa  mit  einer 
willkürlichen  Annahme  zu  thun,  welche  nur  gemacht  wurde,  tun 
psychologische  Theorien  aufstellen  zu  können,  sondern  die  That- 
sachen  drängen  zu  ihr  hin :  Man  denke  z.  B.  nur  an  die  durch 
Uebung  herbeigeführten  sogenannten  secundären  Reflexbe- 
wegungen und  an  andere  gewohnheitsmäfsig  gewordene  Thätig- 
keiten,  die  man  häufig,  ohne  etwas  davon  zu  wissen,  genau  so 
ausführt,  als  geschähe  es  mit  bewufstem  Willen.  Hier  wirken 
also  die  unbewufsten  Vorgänge  so,  als  wären  sie  bewufst.  Es  ist 
also   kein   Grimd  vorhanden,    weshalb    unbewufste    Rhythmen, 


Zur  Thearie  der  Tmibeziehungen.  83 

wenn  es  solche  überhaupt  giebt,  nicht  ebenso  wh-ken  sollten  wie 
bewufste. 

Freilich  möchte  Stumpf,  wenn  er  überhaupt  einen  Schlufs 
auf  unbewufste  Rhythmen  für  zulässig  hielte,  aus  dem  Um- 
stände, dafs  ein  bewufst  wahrgenommener  Rhythmus,  welcher 
sich  aber  aus  irgend  einem  Gnmde  der  Unwahrnehmbarkeit 
nähere,  nicht  mehr  angenehm  wirke,  die  Folgerung  ziehen,  dafs 
auch  der  unbewufste  Rhythmus  nicht  angenehm  wirken  könne. 
Wir  dürfen  nicht  bei  dem  „aus  irgend  einem  Grunde"  stehen 
bleiben,  sondern  müssen  die  Gründe,  aus  welchen  sich  ein 
Rhythmus  der  Unwahmehmbarkeit  nähern  kann,  genauer  ins 
Auge  fassen: 

Ein  rhythmisches  Grebilde,  wozu  auch  das  gleichzeitige  Auf- 
treten zweier  oder  mehrerer  Rhythmen  zu  rechnen  ist,  kann  so 
complicirt  sein,  dafs  wir  es  nur  mit  Mühe  zu  verstehen  vermögen. 
Hier  kann  die  unangenehme  Wirkung,  die  sich  jedenfalls  ein- 
stellen wird,  entweder  eine  Folge  der  grofsen  Anstrengung  sein, 
die  wir  aufwenden  müssen;  oder  sehr  comphcirte  Rhythmen 
sind  der  Natur  der  Seele  überhaupt  nicht  angemessen.  Doch  ist 
selbstverständlich  dieser  ganze  Fall  auszuscheiden,  da  es  ja  auch 
im  Unbewufsten  einerseits  einfachere  und  angenehm  wirkende, 
andererseits  compHcirtere  und  an  sich  unangenehm  wirkende 
Rhythmen  geben  soll. 

Femer  kann  sich  ein  Rhythmus  der  Grenze  der  Wahrnehm- 
barkeit nähern,  wenn  die  Intensität  der  ihn  markirenden  Schläge 
zu  grofs  oder  zu  gering  ist  Nehmen  wir  in  beiden  Fällen  die 
äufsersten  Extreme  an,  so  werden  uns  im  ersten  Sie  einzelnen 
Schläge  so  einnehmen,  so  betäuben,  dafs  wir  sie  kaum  noch  von 
einander  unterscheiden  und  daher  ihre  rhythmische  Anordnung 
kaum  noch  erkennen  werden.  Im  zweiten  Falle  müssen  wir  mit 
gespanntester  Aufmerksamkeit  hinhorchen,  um  die  einzelnen 
Schläge  noch  wahrzunehmen;  und  selbst  wenn  uns  dieses  ge- 
lingt, wird  es,  eben  weil  die  Aufmerksamkeit  von  den  einzelnen 
Schlägen  so  sehr  absorbirt  wird,  schwierig  sem,  den  Rhythmus 
zu  verfolgen.  Dafs  in  beiden  Fällen  die  Wirkung  eine  unange- 
nehme sein  wird,  ist  nicht  zu  bestreiten.  Aber  dies  hat  seinen 
Grund  darin,  dafs  die  Seele,  wenn  auch  jedes  Mal  in  anderer 
Weise,  durch  die  Schläge  selbst  bis  an  die  Grenze  ihrer  Leistungs- 
fähigkeit in  Anspruch  genommen  wird.     Dazu  kommt  vielleicht 

noch  die  Unbefriedigung,  welche  entsteht,  wenn  wir  etwas  er- 

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Zur  Theorie  der  Tonbezielinvgeti.  85 

nicht  angenehmer  klingen  als  Dissonanzen,  leicht  beantworten. 
Berücksichtigt  man  femer,  dafs  die  Anstöfse  (gemeint  sind  selbst- 
verständlich  unbewufste  psychische  Vorgänge  als  Correlate  der 
physikalischen  Schwingungen  und  der  physiologischen  Reize) 
nur  Theilvorgänge  der  gesammten  Tonempfindung  sind  unti 
daher,  sowohl  was  das  Bedürfnifs  der  Seele,  bei  der  einmal  be- 
gonnenen Thätigkeit  zu  beharren,  als  auch  was  die  Hemmungen 
betrifft,  von  geringerer  Wirkung  sein  müssen  als  die  Tonempfin- 
düngen  selbst,  so  versteht  man,  dafs  beispielsweise  die  kleine 
Terz,  mit  dem  Schwingungsverhältnifs  5  :  6,  noch  entschieden 
consonirend,  wohlklingend  wirkt,  während  zwei  bewufst  wahrge- 
nommene, gleichzeitig  ablaufende  Reihen  von  dem  gleichen  Ver^ 
hältnifs  wohl  nicht  mehr  in  ihrer  rhythmischen  Anordnung  er- 
fafst  werden  könnten  und  zweifellos  eine  unangehme  Wirkung 
ausüben  würden.  In  dieser  Verschiedenheit  hat  Stumpf  einen 
Widerspruch  gegen  die  Theorie  zu  finden  geglaubt. 

Auf  Stumpf's  letzten  Einwand  hat  Lipps  mit  Hülfe  der 
„mikropsychischen  Betrachtungsweise",  wenigstens  zum  Theil, 
widerlegt  Stumpf  meint,  die  Thatsache,  dafs  wir  geringe  Ver- 
stimmungen eines  Intervalles  nicht  bemerken,  sei  mit  einer 
Theorie,  welche  die  Consonanz-  und  Dissonanzgrade  von  den 
Verhältnissen  der  Schwingungsrhjlihmen  abhängig  macht,  nicht 
vereinbar.  Dem  gegenüber  stellt  Lipps  fest,  dafs  z.  B.  bei  dem 
Schwingungsverhältnifs  100 :  201  zwar  nicht ,  wie  bei  dem  Ver- 
hältnifs  100  :  200  jeder  3.  Anstofs  der  einen  Reihe  mit  jedem 
2.  der  anderen*  zusammentrifft,  dafs  aber  dies  jedes  Mal  an- 
nähernd der  Fall  ist  und  dafs  sich  auch  die  übrigen  Anstöfse 
annähernd  so  verhalten  wie  beim  Zusammenklang  der  reinen 
Octave.  Da  nun  auf  allen  Gebieten  des  Seelenlebens  bis  zu  einer 
gewissen  Grenze  annähernde  Gleichheit  wie  völlige  Gleichheit 
wirkt,  so  ist  in  der  von  Stumpf  angeführten  Thatsache  kein 
Widerspruch  gegen  die  Theorie  zu  erblicken.  Aber  er  geht  noch 
weiter,  indem  er  meint,  auch  die  bei  reinen  Intervallen  möglichen 
Phasenunterschiede  müfsten  gemäfs  der  Schwingungsrhythmen- 
theorie in  irgend  welcher  Weise  von  uns  wahrgenommen  werden, 
während  sie  bekanntlich  für  unsere  Tonempfindung  nicht  vor- 
handen sind.    Zwei  gleichzeitige  rhythmische  Reihen  stehen  bei- 


setzung,   dafs  die  Reize   discontinuirlich   seien,   kann  also  in  diesem   Zu- 
sammenhange übergangen  werden. 


36  BicJiard  HoJienemaer. 

spielsweise  im  Verhältnisse  von  2  :  4,  wenn  auf  je  1  Schlag  der 
einen  Reihe  2  Schläge  der  anderen  fallen ;  das  VerhältnÜB  bleibt 
aber  das  gleiche,  wenn  der  1.  Schlag  der  2.  Reihe  erst  eintritt, 
nachdem  ^/^  der  Zeit,  die  zwischen  dem  1.  und  2.  Schlag  der 
1.  Reihe  hegt,  verflossen  ist.  Dann  geschieht  nicht  mehr,  wie 
vorher,  der  1.  und  3.  Schlag  der  2.  Reihe  gleichzeitig  mit  dem 
1.  und  2.  Schlag  der  1.  Reihe,  sondern  um  V4  des  bezeichneten 
Zeitabstandes  später;  die  2.  Reihe  besteht  dann,  nach  musik- 
technischer Termmologie  gesprochen,  aus  SjTikopen.  Führte  nun 
Lipps,  wie  Stumpf  glaubt,  die  Uebereinstimmung  der  beina  Zu- 
sammenklange entstehenden  unbewuTsten  rhythmischen  Reihen 
auf  eine  in  regelmäfsigen  Zeitabständen  erfolgende  Colincidenz 
der  Schwingungsmaxima  zurück,  so  müfste  allerdmgs,  sobald  ein 
Phasenunterschied  (dessen  Natur  wir  uns  soeben  an  bewuTst 
wahrgenommenen  Rhythmen  klar  gemacht  haben)  eintritt,  die 
Wirkung  eine  andere  und  zwar  eine  complicirtere  werden.  Aber 
soviel  ich  sehe,  braucht  weder  die  Theorie  auf  die  Coincidenz 
der  Schwingimgsmaxima  Werth  zu  legen,  noch  thut  es  Lipps. 
Zwar  spricht  er  davon,  dafs  es  leichter  sei,  zu  einem  %-Tact  der 
Musik  2  Tanzschritte  auszuführen  als  zu  einem  -/4-Tact  3,  und 
dabei  ist  als  selbstverständlich  vorausgesetzt,  dafs  jedes  Mal 
der  Anfang  eines  neuen  Tactes  mit  dem  Anfang  einer  neuen 
Schrittgruppe  zusammenfällt.  Aber  auf  dieses  Zusammenfallen, 
das  der  Coincidenz  der  Schwingungsmaxima  entsprechen  würde, 
kommt  es  hier  durchaus  nicht  an,  sondern  das  Ganze  soll  nur 
als  Beispiel  dafür  dienen,  dafs  uns  Rhythmen  wie  2  :  3  auch  im 
Bewufstsein  gegeben  sein  können  und  dafs  die  Zweitheilung  der 
Seele  naturgemäfser  ist  als  die  Dreitheilung.^  Wenn  also  für 
das  Zustandekommen  beispielsweise  der  Empfindung  der  Octave 
nur  erforderlich  ist,  dafs  gleichzeitig  in  der  einen  Reihe  ein  An- 
stofs  erfolgt  und  in  der  anderen  zwei  Anstöfse  stattfinden  (und 
zwar  sowohl  auf  physikalischem  als  auch  auf  physiologischem 
Gebiet),  so  ist  es  kein  Widerspruch,  dafs  sich  die  Phasenunter- 
schiede  unserer   Tonwahrnehmung    nicht    zu    erkennen    geben. 


*  Die  Beantwortung  der  von  Stumpf  aufgeworfenen  Frage,  ob  der  Tanz 
auch  dann  noch  möglich  sei,  wenn  die  Anfänge  der  Schrittgruppen  und 
der  Tacte  nicht  zusammentreffen,  hat  also,  wie  sie  auch  ausfallen  mag,  für 
uns  keine  Bedeutung,  einmal  weil  es  nicht  auf  die  Phasenunterschiede 
ankommt,  sodann  weil  es  sich  auf  dem  Gebiete  des  unbewuß3ten  Bhythmua 
anders  verhalten  könnte  als  auf  dem  des  bewufsten. 


Zwr  Thtorit  der  Tanbeziehungen,  87 

Warum  sie  es  nicht  thiin,  ist  damit  freilich  nicht  erklärt;  aber 
es  kam  uns  hier  nicht  auf  eine  Erklärung  an,  die  vorläufig  wohl 
überhaupt  unmögUch  ist,  sondern  nur  darauf,  zu  zeigen,  dafs 
die  Thatsache  unserer  Theorie  nicht  widerspricht. 


Wir  haben  im  Vorstehenden  zu  zeigen  versucht,  weshalb 
die  Schwingungsrhythmentheorie  vor  der  Verschmelzungstheorie 
den  Vorzug  verdient,  imd  Tvde  sie  allen  gegen  sie  erhobenen  An- 
griffen standgehalten  hat.  Nunmehr  können  wir  dazu  übergehen, 
auf  der  durch  sie  gewonnenen  Grundlage  die  Erklärung  zweier 
speciellerer,  mit  einander  eng  zusammenhängender  Thatsachen 
anzustreben. 

Ueberall  da,  wo  man  die  Consonanz-  und  Dissonanzgrade 
zu  den  Verhältnissen  der  Schwingungszahlen  in  Parallele  setzt, 
nimmt  man  als  selbstverständlich  an,  dafs  die  Reihe  dieser  Ver- 
hältnisse vom  Einfachsten  schrittweise,  d.  h.  ohne  die  MögHch- 
keit  weiterer  Zwischenglieder,  zu  immer  Complicirterem  aufsteige. 
Nun  ist  allerdings  das  denkbar  einfachste  Zahlenverhältnifs,  ab- 
gesehen von  1:1,  das  naturgemäfs  kein  Intervall  ergiebt,  das  Ver- 
hältnifs  von  l  :  2,  welches  der  Octave,  dem  einheitlichsten  Inter- 
vall, zu  Grunde  liegt.  Es  fragt  sich  aber,  ob  die  allgemein  an- 
genommene Reihe :  1  :  2,  2  :  3,  3  :  4,  4  :  5,  5  :  6,  der  die  Octave, 
Quinte,  Quarte,  grofse  und  kleine  Terz,  also  eine  nach  dem  Con- 
sonanzgrade  abnehmende  Reihe  von  Intervallen  entspricht,  wirk- 
lich stufenweise  fortschreitet.  Setzen  wir  die  Reihe  der  Zahlen- 
verhältnisse in  derselben  Weise  fort,  so  tritt  gleich  nach  5  :  6 
eine  Unterbrechung  ein ;  denn  6  :  7  und  7  :  8  ergeben  keine  in 
der  Musik  vorkommenden  Intervalle.  Ein  solches  ist  erst  wieder 
8:9,  nun  eine  ausgesprochene  Dissonanz ,  nämlich  die  grofse 
Secunde ;  dann  folgt  9  :  10 ,  der  kleine  Ganzton,  der  in  dem  so- 
genannten natürlichen  Tonartsystem  seine  Stelle  hat;  hierauf 
treffen  wir  erst  wieder  bei  15  :  16  auf  ein  gebräuchliches  Inter- 
vall, auf  die  kleine  Secunde.  Wenn  es  richtig  ist,  dafs  das  Halb- 
tonintervall schärfer  dissonirt  als  das  des  kleinen  Ganztones,  und 
dieses  schärfer  als  das  des  grofsen  Ganztones,  wie  schon  Haupt- 
mann glaubt  S  so  nimmt  allerdings  in  der  ganzen  Reihe  der 
Dissonanzgrad    zu   oder,    was   dasselbe    ist,    der  Consonanzgrad 


*  Natur  der  Harmonik  und  Metrik,  1853,  S.  137. 


88  Bichard  Hohenemser, 

nimmt  ab.  Aber  es  finden  sich  auch  Glieder,  welchen  kein 
Intervall  entspricht  Auf  den  Grund  hierfür  sowohl  in  Bezog 
auf  die  soeben  angeführten  als  auch  auf  andere  Zahlenverh&lt» 
nisse  werden  wir  später  zurückkommen;  jetzt  wollen  wir  uns 
nochmals  dem  Anfang  der  Reihe  zuwenden. 

In  diesem  ist  zwar  äuTserlich  keine  Lücke  zu  entdecken« 
Aber  mufs  auf  1  :  2  wirklich  2  : 3  folgen  ?  Könnte  nicht  auch 
1  :  3,  1  :  4,  1:5  etc.  folgen ,  und  sind  diese  Verhältnisse  nicht 
vielleicht  einfacher  als  die  anderen  ?  Diese  Fragen  wären  nicht 
von  so  grofser  Bedeutung,  wenn  den  genannten  Verhältnissen 
nicht  thatsächlich  Intervalle  entsprächen.  1  :  3  liegt  der  Duo- 
decime,  1 : 4  der  Doppeloctave,  1 : 5  einer  grofsen  Terz  zu  Grunde, 
deren  einer  Ton  um  zwei  Octaven  versetzt  ist,  etc.  Wie  lassen 
sich  diese  Intervalle  mit  der  allgemein  angenommenen  Verhält- 
nifsreihe  in  Verbindung  bringen?  Hierauf  mufs  jede  Theorie 
der  harmonischen  Tonbeziehungen,  die  erschöpfend  sein  will, 
eine  Antwort  finden ;  und,  wie  mir  scheint,  wird  dies  der  Theorie 
der  Schwingimgsrhythmen  nicht  schwer. 

Jedes  der  in  Rede  stehenden  Intervalle  kann  man  sich  als 
Erweiterung  eines  Intervalles  der  gewöhnlichen  Verhältnifsreihe 
denken,  indem  der  tiefere  Ton  um  eine  oder  mehrere  Octaven 
abwärts  oder  der  höhere  um  ebenso  viel  aufwärts  versetzt  wird. 
So  entsteht  aus  der  Octave  die  Doppeloctave,  aus  der  Quinte  die 
Duodecime,  aus  der  grofsen  Terz  die  um  2  Octaven  erweiterte 
grofse  Terz.  Ueberall  liegt  der  Unterschied,  den  wir  zwischen 
dem  ursprünglichen  und  dem  erweiterten  Intervall  empfinden, 
nur  in  der  verschiedenen  Distanz  der  beiden  Bestandtheile  des 
Intervalles;  sein  Charakter  aber,  seine  specifische  Eigenart,  wird 
sowohl  in  der  Gleichzeitigkeit  als  auch  in  der  Succession  durch 
die  Erweiterung  nicht  verändert.  1  :  4  hat  so  gut  Octavcharakter 
wie  1  :  2 ;  1  :  3  so  gut  Quintcharakter  wie  4  :  5.  Auch  bei  fort- 
gesetzter Erweiterung  tritt  keine  Aenderung  des  Intervall- 
charakters ein,  so  dafs  1:8,  1  :  16  etc.  gleichfalls  Octavcharakter, 
1  :  6,  1  :  12  etc.  Quintcharakter,  1  :  10,  1  :  20  etc.  Terzcharakter 
besitzen.  Hinsichtlich  des  Terzintervalles  ist  noch  zu  bemerken, 
dafs  auch  2  :  5  als  Erweiterung  von  4  :  5  betrachtet  werden  kann 
und  seinem  Charakter  nach  gleichfalls  mit  diesem  übereinstimmt 

Für  die  Charaktergleichheit  der  ursprünglichen  und  der  er- 
weiterten Intervalle,  die  jedem  Musiker  als  selbstverständlich 
erscheint  und  mit  welcher  der  Componist  mehrstimmiger  Musik 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehungen.  gg 

fortwährend  rechnet,  fehlt  es  der  Verschmelzungstheorie,  welche 
die  Aehnlichkeit  der  die  Octave  bildenden  Töne  leugnet,  an  jeder 
Erklärung.     Vielleicht  ist  man  versucht  zu  sagen,  der  Zusammen- 
klang C — c  stehe  auf  derselben  Verschmelzungsstufe  wie  c  —  c^; 
daher  nehme   auch  C — c^  diese  Stufe   ein.     Von  der  Falschheit 
dieses  Schlusses  kann  man  sich  leicht  überzeugen,   indem  man 
die  Anwendung  auf  die  Quinte  macht:  C — G  und  G — d  bilden 
Quinten,  stehen  also  auf  gleicher  und  zwar  auf  der  zweiten  Ver- 
schmelzungsstufe;  und  doch  ist  C — d  nicht  gleichfalls  eine  Quinte 
sondern  eine  None,  also  eine  scharfe  Dissonanz,  die  in  die  unterste 
Verschmelzungsstufe  gehört.    Aber  auch  wenn  der  Schlufs  theo- 
retisch richtig  wäre,  hätte  man  doch  nur  die  Charaktergleichheit 
der  Octave  und  ihrer  Erweiterungen  erklärt ;  denn  es  wäre  nicht 
einzusehen,  warum  C — G  und  C — g  der  gleichen  Verschmelzungs- 
5tufe  angehören,   da  doch  C — G  und  G — g  auf  verschiedenen 
Verschmelzungsstufen  stehen.   Uebrigens  hat  Stumpf  keine  eigent- 
bche  Erklärung  versucht,   sondern  nur  ein  Gesetz   der  Erweite- 
rung formulirt.^    Aber  auch  wenn  man  den  Tönen  des  Octaven- 
intervalles  die  gröfste  Aehnlichkeit  zuschreibt,   genügt  es  nicht, 
zu  sagen,  in  Folge  dieser  Aehnlichkeit,  die  ja  auch  in  der  Gleich- 
heit der  Benennung  ihren  Ausdruck  finde,   sei  es  nur  natürhch, 
dafs  der  Charakter  eines  Intervalles  durch  die  Versetzung  eines 
seiner  Töne   in   eine  andere   Octave  nicht  alterirt  werde.    Für 
das  musikahsche  Gefühl  ist  dies  allerdings  natürlich;  aber  theo- 
retisch folgt  auch  hier  daraus,   dafs   C  und  c  einander  ebenso 
ähnlich  sind   wie  c  und  c\  nicht   die   gleiche  Aehnlichkeit  von 
C  und  r* ,   und  ebenso  wenig  folgt  aus  der  grofsen  Aehnlichkeit 
von  G  und  g,   dafs  C  und  G  einander  ebenso  ähnlich  sind  wie 
C  und  g.    Vielmehr  mufs,  wenn  die  Verhältnisse  der  Schwingungs- 
rhvthmen   den  Charakter   der  Intervalle  bedingen  sollen,   auch 
die  Charaktergleichheit  der  ursprünglichen  und   der  erweiterten 
Intervalle  in  diesen  Verhältnissen  begründet  sein. 

Unter  denjenigen  Verhältnissen,  welche  den  Intervallen  mit 
Octavcharakter  zu  Grunde  liegen,  ist  offenbar  das  einfachste  das 
von  1:2.  Es  ist  also  anzunehmen ,  dafs  sich  dieses  in  allen 
Octavintervallen  in  irgend  welcher  Weise  geltend  machen  und 
dadurch  ihren  gemeinsamen  Charakter  bestimmen  wird.  Das 
Wesentliche   des  Verhältnisses   1  :  2  ist  offenbar  das ,   dafs  zwei 


^  Vergl. :  Consonanz  und  Dissonanz,  S.  78. 


90  Richard  Hohenemser, 

Einheiten  der  einen  Reihe  unter  einer  Einheit  der  anderen  zu- 
saramengefafst  werden.  Nun  ergiebt  die  erste  Erweiterung  aller- 
dings das  Schwingungsverhältnifs  1:4,  d.  h.  auf  1  Schwingung 
des  tieferen  fallen  4  Schwingungen  des  höheren  Tones.  Abw 
es  ist  bekannt,  dafs  wir,  wenn  wir  eine  Reihe  gleich  starker, 
einander  in  gleichen  Zeitabständen  folgender  Schläge  hören,  die^ 
selben  in  der  Regel  zu  Gruppen  von  zwei  zusammenfassen,  in- 
dem wir  jedes  Mal  dem  dritten  Schlage  in  Gedanken  eine 
stärkere  Betonung  zukommen  lassen,  obgleich  ihm  objectiv  eine 
solche  fehlt  Eine  Gnippirung  zu  je  3  oder  5  Schlägen  wird 
nur  dann  eintreten,  wenn  man  die  bestimmte  Absicht  hat,  nur 
so  und  nicht  anders  zu  gruppiren,  und  dabei  wird  man  ein  deut 
liches  Gefühl  der  Anstrengung  haben.  Ergiebt  sie  sich  aber 
einmal  von  selbst,  so  werden  besondere,  die  augenblickliche  Dis- 
position der  Versuchsperson  bedingende  Umstände  mitwirken. 
Die  Gruppirung  zu  je  2  Schlägen  dagegen  vollziehen  wir  mit  dem 
Gefühl  der  Leichtigkeit,  der  Selbstverständlichkeit.  Sie  wird 
stets  eintreten,  wenn  ihr  nichts  hindernd  im  Wege  steht.  Viel- 
leicht glaubt  man  zuweilen,  eine  Gruppirung  zu  je  4  Schlägen 
vorzunehmen,  aber  bei  genauerer  Beobachtmig  wird  man  stets 
finden,  dafs  man  auch  auf  den  3.  Schlag  eine  Betonung,  wenn 
auch  nur  eine  schwächere,  legt  und  somit  2  Gruppen  von  je 
2  Schlägen  zu  einer  neuen  Gruppe  zusammenfafst.  Nach  alle- 
dem ist  die  Annahme  nicht  zu  umgehen,  dafs  auch  auf  dem 
Gebiete  des  unbewufsten  Rhythmus  die  Seele,  wo  es  immer 
möglich  ist,  Gruppen  von  je  2  Schlägen  bildet,  dafs  sie  also  in 
unserem  Falle  die  4  Schläge  des  höheren  Tones  in  2  X  2  und 
bei  fortgesetzter  Erweiterung  des  Octavintervalles  8  Schläge  in 
4x2,  16  in  8x2  zerlegt  etc.  Wie  uns  nun  ein  in  gleich- 
mäfsiger  Stärke  andauernder  Schall,  gleichviel  ob  er  Geräusch 
oder  Ton  ist,  wenn  wir  zu  gleicher  Zeit  eine  Reihe  regelmäfsiger 
Schläge  vernehmen,  aus  ebenso  vielen  Einheiten  zu  bestehen 
scheint,  als  wir  Gruppen  von  Schlägen  bilden,  obschon  uns  die 
Continuität  des  Schalles  deutlich  bewufst  bleibt,  so  werden 
auch  beim  Zusammenklang  eines  erweiterten  Octavintervalles  je 
2  Schläge  des  höheren  Tones  einen  entsprechenden  Theil  des 
tieferen  Tones,  der,  solange  er  eine  Schwingung  ausführt,  als 
gleichmäfsig  abfliefsend  zu  denken  ist,  als  Einheit  absondern,  so 
dafs  immer  2  Einheiten  des  höheren  auf  1  Einheit  des  tieferen 
Tones  fallen.    Es  verschlägt  nichts,  dafs   bei  dem  Schwingungs- 


Zur  Theorie  der  Toiibeziüehungen,  91 

TOrhältnifs  1  :  4  je  2  Schläge  des  höheren  Tones  auf  die  Hälfte 
der  Schwingung  des  tieferen,  bei  dem  Verhältnifs  1  :  8  dagegen 
aaf  ^4  dieser  Schwingung  fallen  etc.,  sondern  es  kommt  nur 
darauf  an,  dafs  diese  Theile  als  Einheiten  markirt  werden,  und 
dies  geschieht  jedes  Mal  durch  den  Beginn  einer  neuen  Gruppe 
in  den  Schlägen  des  höheren  Tones.  Das  Gemeinsame  und 
Charakteristische  aller  Octavintervalle  ist  also  nicht  das  Schwin- 
gungsverhältnifs  1:2,  wohl  aber  das  rhythmische  Verhältnifs 
1:2,  d.  h.  es  sind  uns,  natürlich  unbewufst ,  stets  Einheiten  in 
diesem  Verhältnis  gegeben,  im  Zusammenklang  gleichzeitig,  in 
der  Aufeinanderfolge  successive,  aber,  wie  wir  wissen,  darum 
doch  vergleichbar. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  Intervallen  mit  Quintcharakter, 
so  begegnen  wir  den  Schwingungsverhältnissen  1:3,  1:6,  1  :  12 
etc.  und  dem  Verhältnifs  2  :  3,  das  der  eigentlichen  Quinte  zu 
Grunde  liegt  Aber  offenbar  ist  nicht  dieses,  sondern  1  :  3  das 
einfachste;  auf  dessen  Wesen,  also  darauf,  dafs  je  3  Einheiten 
des  höheren  auf  1  Einheit  des  tieferen  Tones  fallen,  werden 
alle  übrigen  Verhältnisse  zurückgeführt  werden  müssen  und 
damit  werden  wir  das  gemeinsame  Charakteristicum  der  Quint- 
intervalle erhalten.  Das  Verhältnifs  1  :  3  ist,  ebenso  wie  1  :  2, 
ein  Grundverhältnifs,  d.  h.  es  kann  nicht,  wie  z.  B.  1  :  4,  durch 
einen  psychischen  Vorgang  auf  ein  anderes  Verhältnifs  zurück- 
geführt werden ;  denn  wenn  die  Seele  beispielsweise  beim  Wahr- 
nehmen des  Zusammenklanges  der  Duodecime,  in  welchem  die 
Schwingungen  beider  Töne  den  zur  Wirkung  gelangenden  Ein- 
heiten entsprechen,  versuchen  sollte,  je  zwei  Schläge  des  höheren 
Tones  zu  einer  Gruppe  zusammenzufassen,  so  müfste  sie,  sobald 
der  zweite  Schlag  des  tieferen  Tones  eintritt  und  damit  un- 
zweifelhaft eine  neue  Gruppe  des  gesammten  rhythmischen  Ge- 
bildes eröffnet,  gewahr  werden,  dafs  ihr  dieser  Versuch  unmög- 
lich gelingen  kann,  dafs  sie  vielmehr  bei  der  gegebenen  Gruppi- 
rung,  d.  h.  bei  der  Zusammenfassung  von  3  Einheiten  des 
höheren  unter  1  Einheit  des  tieferen  Tones,  stehen  bleiben 
mufs.  Da  der  Seele,  wie  wir  wissen,  solange  sie  sich  selbst 
überlassen  ist,  die  Gruppirung  zu  je  2  Schlägen  am  nächsten 
liegt,  so  werden  wir  zu  der  Annahme  gedrängt,  dafs  der  Cha- 
rakter der  Duodecime  erst  nach  Vollendung  des  2.  Schlages 
des  tieferen  oder,  was  dasselbe  ist,  des  6.  Schlages  des  höheren 
Tones  erkannt  ist.    Diese  Annahme  hat  nichts  Verwunderliches, 


I 

1 

92  Richard  Hohenemser. 

i 

wenn  wir  die  grofse  Geschwindigkeit  der  Schwingungen  in  Be-  '"^^ 
tracht  ziehen.    Machen  wir  die  ganz  unwahrscheinliche  Voraus- 
setzung, dafs  schon  2  Töne  von  24  und  72  Schwingungen  iii.p' 
der  Secunde  im  Zusammenklange  eine  deutlich  charakteriBirte 
Duodecime  ergeben,  so  haben  wir  dieselbe  bereits  nach  Vn  ^ 
cunde  erkannt.    Da  uns  aber  beim  Wahrnehmen  der  IntervaUe  [- 
Obertöne   unterstützen    können   und    da    der  Intervallcharakter  \- 
jedenfalls  erst  in  höherer  Tonlage,  also  bei  gröfserer  Schwingongs-  \ 
gesch windigkeit,   deutlich  hervortritt,   so  wird  in  Wahrheit  die  1 
Zeit,  die  wir  zum  Erkennen  der  Duodecime  brauchen,  eine  nodi  ^ 
kürzere  sein. 

In  ähnlicher  Weise  wie  bei   der  Duodecime  wird  auch  bd 
ihrer  ersten  Erweiterung,  also  bei  dem  Zusammenklange  mit  den 
Schwingungsverhältnisse  1 : 6,  die  Seele  an  der  Gruppenbildung 
zu  je  2  Schlägen  gehindert  werden;  denn  jede  Gruppe  bildet  :- 
selbstverständlich  eine  neue  Einheit  (darin  besteht  ja  gerade  das 
Wesen   der   Zusammenfassung  einzelner  Schläge),   und   solcher 
Einheiten    würden    3    auf   jeden    Schlag    des    tieferen    Tonee 
fallen.    Da  aber  die  Seele  die  Zusammenfassung  dreier  Einheiten 
nicht  ohne  bestimmte  Veranlassung   vollzieht   und   eine   solche 
hier  nicht  vorliegt,  so  wird  sie  zur  Zweitheilung  übergehen,  in- 
dem  sie  die   6   Schläge  zu  2  X  3  Schlägen  gruppirt    und  hier- 
durch  ganz  in  der  Weise,  wie  wir  es  z.  B.  bei  dem  Schwingungs- 
verhältnifs   1  :  4  kennen  gelernt  haben,    ^/a  Schlag  des  tieferen 
Tones   als  Einheit  absondert.    Nunmehr  fallen  3  Einheiten  des 
höheren  auf  1  Einheit  des  tieferen  Tones,  und  daraus   ergiebt 
sich   der  Quintcharakter   oder,    wie   wir  vorläufig  besser  sagen 
würden,   der  Duodecimcharakter  des  Intervalles.     Freilich  sind 
nun  doch  3  Einheiten,   nämlich  3  Schläge  des  höheren  Tones, 
zu    einer   Gruppe    zusammengefafst.      Aber   das,    was    zunächst 
theilungsbedürftig    war,    waren    die    Haupteinheiten,    d.   h.    die 
gröfsten  Einheiten  des  ganzen  rhythmischen  Gebildes,  also  die, 
welche   von   je    2    Schlägen    des   tieferen    Tones   begrenzt   und 
aufserdem  noch  dadurch  markirt  werden,  dafs  mit  jedem  Schlag 
des  tieferen  ein  Schlag  des  höheren  Tones  zusammentrifft.    Sie 
waren  theilungsbedürftig,  weil  die  Seele   eine  Aufeinanderfolge 
von  6  gleichmäfsigen  Schlägen  nicht   ungruppirt   lassen   kann, 
und    weil   sich    die   Gruppirung,    d.  h.   die  Bildung  von  Unter- 
einheiten,   auch    auf    den    tieferen    Ton    überträgt.      Da    kein 
Hinderungsgrund  vorlag,  wurde  die  Zweitheilung  in  2  X  3  Schläge 


Zur  Tiieorit  der  Tonbeziehungeti,  93 

vollzogen,  und  damit  war  für  die  auf  diese  Weise  entstandeneu 
Untereinheiten^  da  sich  3  Schläge  nicht  weiter  eintheilen  lassen, 
die   Zusammenfassung  von   je   3  Schlägen   zwingend    gegeben. 
Wie  hier  3  Schläge    des    höheren   auf  ^4   Schlag  des   tieferen 
Tones  fallen,  so  fallen  sie  bei  dem  Schwingungsverhältnifs  1 :  12 
auf  V*  Schlag  etc.;  denn  die  Zweitheilung  setzt  sich  so  weit  wie 
möglich  fort,  also  bei  allen  Verhältnissen  von  1  zu  einem  Pro- 
duct  aus  3  und  einer  Potenz  von  2  bis  zu  dem  Punkt,  wo  3  Ein- 
heiten auf  1  Einheit  fallen,  ebenso  wie  bei  den  Verhältnissen 
von  1  zu  einem  Product  aus  2  und  einer  Potenz  von  2  oder, 
wie  man   hier  kurz  sagen  kann,  zu  einer  Potenz  von  2  bis  zu 
dem  Punkt,  wo  2  Einheiten  auf  1  fallen. 

Es  fragt   sich  nun,   ob    und   wie   wir   in   der   eigentlichen 
Quinte,  also  in  dem  Schwingungsverhältnisse  2  :  3,  das  Einheiten- 
verhältnifs   1  :  3   aufzufinden  vermögen.     Wenn   auf  2   Schläge 
des  tieferen  Tones  3  des  höheren  fallen,  so  fallen  auf  1  Schlag 
3  halbe.      Gelingt   es   uns    zu   beweisen,    dafs   diese   3   halben 
Schläge  als  3  Einheiten  aufgefafst  werden,  so  ist  damit  das  ge- 
suchte Verhältnifs  aufgezeigt    Der  2.  Schlag  des  tieferen  Tones 
feilt   genau  in   die  Mitte  des   2.  Schlages    des   höheren  Tones, 
theilt  ihn  also  in  zwei  Hälften.    Wie  bisher,  so  müssen  wir  auch 
hier  annehmen,  dafs  durch  je  2  Schläge  des  tieferen  Tones  eine 
Einheit  abgegrenzt  wird,  d.  h.  dafs  Alles,  was  von  Schlägen  des 
höheren    Tones   auf   einen   Schlag   des   tieferen   fällt,   zu   einer 
Gruppe    zusammengefafst   wird;    folglich    bilden    die   3   halben 
Schläge,   die  durch  den  1.  Schlag  des  tieferen  Tones  von  dem, 
was    ihnen   folgt,   gleichsam   abgeschnitten    sind,    eine    Gruppe. 
Dieselbe  besteht  weder  aus  2  noch  aus  3  Schlägen,   wie  wir  es 
bisher  gesehen  hatten,    sondern   aus    einem  und  einem  halben 
Schlag.     Sobald  der  2.  Schlag  des  tieferen  Tones  eintritt,  wissen 
wir,  dafs  der  2.  Schlag  des  höheren  halbirt  ist;  denn  gemäfs  der 
Thatsache,    die   man   als   psychisches   Trägheitsgesetz   formulirt 
hat,  erwarteten  wir  für  den  2.  Schlag  des  höheren  Tones,  da  zu 
einer  anderen  Erwartung  kein  Grund  vorlag,   genau  die  Dauer 
des  1.  Schlages   und  können   daher,   wenn  er  getheilt  wird,   er- 
keiuien,  welche  Theilung  mit  ihm  vorgenommen  wurde.    Indem 
wir  aber  wahrnehmen,   dafs  er  halbirt  ist,   wissen  wir  zugleich, 
dafs  der  halbe  Schlag  ein  Drittel  des  ganzen,   im  höheren  Tone 
bisher  abgelaufenen  rhythmischen  Gebildes  ist,   dafs  dieses  in  3 
gleiche  Theile    von   der  Dauer   eines   halben  Schlages   zerfällt. 


94  RicJuird  Hohenemser. 

Diese  zu  bilden  und  als  solche  zu  empfinden,  hat  uns  der 
2.  Schlag  des  tieferen  Tones  veranlafst.  Er  seinerseits  fafst  die 
2.  Hälfte  des  2.  Schlages  und  die  beiden  Hälften  des  3.  gleich- 
falls zu  3  halben  zusammen,  sodafs  auf  jeden  Schlag  des  tieferen 
Tones  3  Einheiten  des  höheren  fallen.  Es  bedarf  wohl  kaum 
der  Erwähnung,  dafs,  da  sich  dies  Alles  im  Unbewufsten  voll- 
zieht, die  Ausdrücke:  wissen,  erwarten,  erkennen,  wahrnehmen, 
empfinden  nicht  wörtlich  zu  nehmen  sind,  sondern  nur  dazu 
dienen,  die  Wirkung  der  unbewufsten  Vorgänge  auf  die  Seele 
klarzulegen.  —  Man  könnte  noch  meinen,  bei  dem  Schwingungs- 
verhältnifs  2  :  3  werde  die  Haupteinheit  nicht  von  dem  1.  und  2., 
sondern  von  dem  1.  und  3.  Schlag  des  tieferen  Tones  abgegrenzt, 
da  ja,  wie  das  Verhältnifs  angiebt,  nur  hier  Schläge  des  tieferen 
und  des  höheren  Tones  zusammentreffen,  und  daher  müsse  diese 
Einheit  für  den  Quintcharakter  maafsgebend  sein.  Aber  wir 
haben  gesehen,  dafs  auch  sonst  der  Quintcharakter  (und  ebenso 
der  Octavcharakter)  nicht  von  der  jeweiligen  gröfsten  Einheit 
abhängt,  sondern  stets  von  dem  Umstand,  dafs  3  Einheiten  des 
höheren  Tones  unter  einer  Einheit  des  tieferen  zusammengefaßt 
werden,  dafs  es  also  z.  B.  bei  dem  Schwingungsverhältnifs  1 :  6 
nicht  darauf  ankommt,  dafs  jedes  Mal  der  7.  Schlag  des  höheren 
mit  dem  2.  des  tieferen  Tones  zusammentrifft,  sondern  darauf, 
dafs  3  Schläge  des  höheren  Tones  auf  einen  halben  des  tieferen 
fallen.  Wie  also  die  für  den  Quintcharakter  maafsgebende  Ein- 
heit aus  ^/n,  V41  ^/s  ®tc.  Schlage  bestehen  kann,  wenn  nur  auf 
diesen  Theil  3  Schläge  des  höheren  Tones  fallen,  so  yrird  sie 
auch  im  eigenthchen  Quintintervall  trotz  des  Schwingungsver- 
hältnisses 2  :  3  aus  einem  Schlag  des  tieferen  Tones,  auf  welchen 
%  Schläge  des  höheren  fallen,  bestehen  können  und  müssen. 
Dadurch,  dafs  ^'^  Schläge  des  höheren  auf  1  Schlag  des  tieferen 
Tones  oder  dafs  3  Schläge  auf  1,  V2»  V*  ^^^'  Schlag  fallen,  be- 
stimmt sich  nur  der  Erweiterungsgrad  des  Quintintervalles, 
d.  h.  ob  seine  beiden  Bestandtheile  innerhalb  der  gleichen  Octave 
liegen,  oder  um  wieviele  Octaven  einer  derselben  versetzt  ist 

Wie  unter  den  Verhältnissen  der  Quintintervalle  nicht  das 
von  2  :  3,  sondern  das  von  1  :  3  das  einfachste  und  daher  das 
charakterisirende  war,  auf  das  sich  alle  anderen  zurückführen 
liefsen,  so  ist  unter  den  Verhältnissen  der  Terzintervalle  nicht 
das  von  4  :  5,  sondern  das  von  1  :  5  das  einfachste.  Auch  dieses 
ist  ein  Grundverhältnifs ;  denn  sowohl  der  Gruppirung  zu  je  2, 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehungen.  95 

als  auch  derjenigen  zu  je  3  Schlägen  des  höheren  Tones  würde 
der  2.  Schlag  des  tieferen  ein  Ende  setzen.  Die  Seele  muTs  also 
dabei  stehen  bleiben,  5  Einheiten  des  höheren  unter  einer  Ein- 
heit des  tieferen  Tones  zusammenzufassen.  Die  Erweiterungen 
erfolgen  genau  so  wie  diejenigen  der  Octave  und  Duodecime, 
sodafs  also  bei  dem  Schwingungsverhältnifs  1  :  10  5  Schläge  des 
höheren  Tones  auf  Vi>  l>©i  d^i^  Verhältnifs  1  :  20  auf  V4  Schlag 
des  tieferen  Tones  fallen  etc.  Analog  der  eigentlichen  Quinte 
fallen  in  dem  Verhältnifs  2  :  5  %,  in  dem  Verhältnifs  4:5  ^4 
Schläge  des  höheren  auf  1  Schlag  des  tieferen  Tones.  Die  halben 
und  Viertelschläge  werden  ganz  in  derselben  Weise  wie  bei  der 
Quinte  als  Einheiten  kenntlich  gemacht. 

Suchen  wir  in  der  begonnenen  Reihe  weitere  Grundverhält- 
nisse  auf,  so  stofsen  wir  zunächst  auf  1  :  7.  Dieses  Verhältnifs, 
als  Einheitenverhältnifs  gefafst,  hegt  naturgemäfs  sowohl  den 
Intervallen  mit  den  Schwingungsverhältnissen  1:7,  1  :  14  etc. 
als  auch  denjenigen  mit  den  Verhältnissen  2  :  7  und  4:7  zu 
Grunde.  Letzteres  Intervall  ist  unter  dem  Namen  der  natür- 
lichen Septime  bekannt,  aber  ebenso  w^enig  wie  seine  Er- 
weiterungen in  das  Intervallsystem  der  Musik  aufgenommen, 
obgleich  es  vielleicht  doch  in  gewissen  Fällen  zur  Verwendung 
kommt  ^  Dagegen  treffen  wir  in  dem  nächstfolgenden  Grund- 
verhältuifs,  1  :  9,  wie  der  ein  solches  an,  das  für  eine  in  der 
Musik  gebräuchliche  Intervallgruppe  charakteristisch  ist,  nämlich 
für  die  grofse  Secunde  mit  dem  Schwingungsverhältnifs  8  :  9 
und  für  ihre  Erweiterungen.  Rein  mathematisch  betrachtet^ 
liefsen  sich  in  dem  Verhältnifs  1  :  9  die  Schläge  des  höheren 
Tones  zu  je  3  gruppiren;  aber  hierzu  wäre  eine  Dreitheilung 
erforderhch,  und  eine  solche  vollzieht  die  Seele  nur,  wenn  sie 
dazu  gezwungen  wird.  Hier  bleibt  ihr  jedoch  der  Ausw^eg,  die 
9  Schläge  überhaupt  nicht  in  Gruppen  zu  theilen,  sondern  sie 
nur  unter  jedem  Schlag  des  tieferen  Tones  zu  einer  Gruppe 
zusammenzufassen. 

Die  Grundverhältnisse  1  :  11  und  1  :  13  entsprechen  keinen 
in   der   Musik   vorkommenden   Intervallen.     Dagegen    liegt   das 

*  „^^atOriiche  Septime"  heifßt  das  Intervall,  weil  sein  Grundintervall^ 
mit  dem  Schwingangsverhältnifs  1:7,  in  der  harmonischen  Obertonreihe, 
nämlich  als  Verhältnifs  des  Grundtons  zu  dem  7.  Theilton  vorkommt.  Es 
wird  durch  diese  Bezeichnung  von  der  kleinen  Septime  unterschieden,  die 
in  das  Intervallsystem  der  Musik  aufgenommen,  aber  in  der  harmonischen 
Obertonreihe  nicht  unmittelbar  gegeben  ist. 


i. 


96  Richard  Hohenemser.  ' 

I 

Verhältnifs  1  :  15  der  grofsen  Septime  zu  Grunde,  da  dieselbe  ] 
das  Schwingungsverhältnifs  8  :  15  aufweist  Ebenso  wenig  wie  i 
vorher  die  9  Schläge  werden  hier  die  15  Schläge  des  höheren  1 
Tones  zu  je  3  gruppirt,  da  die  Fünftheilung  ebenso  wenig  ohne  } 
Zwang  vollzogen  wird  wie  die  Dreitheilung. 

Hier   wollen    wir   die  Reihe    abbrechen,   da  die  bisher  ge- 
fundenen Etnheitenverhältnisse  auch  noch  anderen  Intervallen 
zu   Grunde   liegen.     Ein   der  Erweiterung   ähnUches  Verfahren 
ist  nämlich  das  der  Umkehrung  des  Intervalles,  welches  darin 
besteht,  den  tieferen  Ton  eines  ursprünglichen  Intervalles  um 
eine  Octave  aufwärts  oder  den  höheren  um  eine  Octave  abwärts 
zu  versetzen.    Das  Intervall  der  Octave  läfst  sich  naturgemäß 
nicht   umkehren,  da  der  Versuch,    es   zu   thun,    zum  Einklang 
führen  würde.    Aus  der  Quinte  wird  durch  Umkehrung  bekannt- 
lich die  Quarte,  aus  der  grofsen  Terz  die  kleine  Sexte,   aus  der 
grofsen  Secunde  die  kleine  Septime,  aus  der  grofsen  Septime  die 
kleine  Secunde.     Lassen  wir  gleichzeitig  zwei  Töne,   die  eines 
der  genannten  ursprünglichen  Intervalle  bilden,  z.B.  C — (?,  und 
die  Octave  des  Grundtones:  c  erklingen,   so  ist  naturgemäfs  in 
dem  Zusammenklang  auch  die  Umkehrung  G  —  c  gegeben.    Doch 
wird  uns  das  A^erhältnifs  klarer,  wenn  wir  die  Zusammenklänge 
C — G  und  G  —  c  einander  folgen  lassen.    Noch  deutlicher  können 
wir  es  uns  machen,  wenn   wir  auch  diese  Zusammenklänge  in 
Succession   auflösen,    also   nach   einander  die  Töne  CGGc  an- 
geben; dann  haben  wir  das  deutliche  Gefühl,  dafs  die  Tonfolge 
von  G  aus  in   gewisser  Weise  in  ihren  Ausgangspunkt  zurück- 
gekehrt ist,  aber  doch  nicht  in  den  ursprünglichen  (wir  werden 
sie  niemals  mit  der  Folge  C  6?  (?C  verwechseln),  sondern  in  einen, 
wie  jeder  Unbefangene  zugeben  wird,  ihm  ähnlichen. 

Es  ist  klar,  dafs  auch  hier  die  Verschmelzungstheorie  völlig 
versagt,  und  Stuäipf  hat  sich  auch  hier  mit  der  Formulirung 
eines  Gesetzes  begnügt.^  Aber  auch  der  Hinweis  auf  die  Aehn- 
lichkeit  der  Octavtöne  genügt  nicht;  dem  Tone  C  sind  auch 
andere  Töne  ähnUch,  z.  B.  e,  und  doch  empfinden  wir  die  Folge 
CGGe  durchaus  nicht  als  Umkehrung  der  Quinte  CG.  Freilich 
könnte  man  sagen,  die  Aehnlichkeit  der  Octavtöne  sei  so  be- 
schaffen, dafs  uns  dieselben  bis  zu  einem  gewissen  Grade  als 
identisch  erschienen,  und  soweit  dies  der  Fall  sei,  empfänden 
wir  die  Umkehrung  eines  Intervalles  als  Rückkehr  in   den  Aus- 

*  Vergl. :  Consonauz  und  DisBouauz  S.  81. 


Z%ir  Theorie  der  Tonheziehunge^i.  97 

gangspunkt.    Aber  damit  wäre  wenig  gesagt,  und  der  specifische 
Unterschied   zwischen  einem  Intervall  und   seiner  Umkehrung, 
der  zwischen  Intervallen,  welche  nicht  in  diesem  Verhältnifs  zu 
einander  stehen,  niemals  auftritt,  wäre  nicht  erklärt.  Auch  hier  wird 
eine  Elrklärung  nur  in  den  rhythmischen  Verhältnissen  zu  finden  sein. 
In  den   Schwingungsverhältnissen  der  Quinte   und  Quarte, 
2  :  3  und  3  :  4,  ist  zunächst  nichts  von  Umkehrung  zu  bemerken. 
Aber  wir  wissen  bereits,  dafs  der  Charakter  und  somit  auch  der 
Oharakterunterschied  der  Intervalle  nicht  unmittelbar  durch  die 
Verhältnisse  der  Schwingungszahlen,  sondern  durch  die  Verhält- 
nisse der  zur  Wirkung  gelangenden  Einheiten  bestimmt  wird. 
Bei  dem   Schwingungsverhältnifs  3  :  4  fallen  auf  1  Schlag  des 
tieferen    %   Schläge  des  höheren   Tones.    Würden   diese  ^/g  als 
Einheiten  gefafst  imd  käme  diese  ganze  Theilung  zur  Wirkung, 
so  hätten  wir  das  Einheitenverhältnifs  1  : 4.    Damit  wäre  unsere 
ganze  Theorie  von  den  in  Einheitenverhältnissen  bestimmbaren 
charakteristischen  Merkmalen   der  Intervalle  hinfällig;   denn  da 
hier  noch  eine  Zweitheilung  möglich  ist,  müfste  die  Zusammen- 
fassung von  2  Schlägen  des  höheren  Tones  unter  '/.>  Schlag  des 
tieferen    das   charakterisirende  Merkmal   bilden.    Aber  das  Ver- 
hältnifs 1  :  2  sollte  ja  der  Octave  zu  Grunde   liegen  und  aufser- 
dem  ist  nicht  einzusehen,  wie  es  dem  Verhältnifs  1  :  3  gegenüber 
eine  Umkehrung  bewirken  sollte.    Nun  nahmen  wir  aber  bisher, 
weim  wir  Einheitenverhältnisse  aufsuchten,  als  den  bestimmenden 
Theil   des  Verhältnisses,   d.   h.  als   den,  unter  welchem  so  viele 
Schläge,  wie  die  andere  Verhältnifszahl  angiebt,  zusammengefafst 
werden,  stets  denjenigen  an,  welcher  sich  aus  Zweitheilung  ergab. 
Wir  sagten  nicht :  bei  der  Quinte,  2  :  3,  fallen  auf  1  Schlag  des 
höheren    %   Schläge  des  tieferen  Tones,    sondern  auf  1  Schlag 
des  tieferen  fallen  \  Schläge  des    höheren  Tones.    Wir  setzten 
also  stillschweigend  voraus,  dafs  die  erstgenannte  Theilung,   die 
mathematisch  allerdings  möglich  ist,  thatsächlich  nicht  vollzogen 
wird.     Die  Berechtigung  zu  dieser  Voraussetzung  lag  darin,  dafs 
die  Seele,   wenn  sie  nicht  unter  Zwang  steht,   wohl  die  Zwei- 
theilung,   niemals  aber  die  Drei-   oder  Fünftheilung  vornimmt. 
Man  könnte  meinen,  die  Zweitheilung  erreiche  mit  der  Gruppirung 
zu  je  2  Schlägen  ihr  Ende ;  eine  Gruppe  von  2  Schlägen  zerfalle 
ebenso   nur  noch   in  einzelne   Schläge   wie  eine  Gruppe  von  3 
oder  5;   daher  sei  es  für  den  einzelnen  Schlag  gleichgültig,   in 
welcher  Gruppirung  er  stehe.    Aber  wenn  man  auch  nicht  sagen 

Zeitflchrift  für  Psycboloi^Je  26.  7 


98  Richard  Hohenemscr, 

kann,  dafs  eine  Gruppe  von  2  Schlägen  in  derselben  Weise 
weiter  zerlegt  wird  wie  8  Schläge  in  2  x  4  imd  je  4  in  2  x  2 
zerlegt  werden,  nämlich  so,  dafs  jede  der  durch  Zweitheilung 
entstandenen  Unterabtheilungen  zu  einer  Einheit  zusam  menge* 
fafst  wird,  so  mufs  doch  der  einzelne  Schlag,  der  einer  Gruppe 
von  2  Schlägen  angehört,  eine  stärkere  Wirkung  ausüben,  mehr 
Gewicht  besitzen  als  jeder  andere;  denn  jede  rhythmische  An- 
ordnung hat  zur  Folge,  dafs  jedes  der  rhythmisch  geordneten 
Elemente  stärker,  eindringlicher  wirkt,  als  wenn  es  uns  in  einer 
unrhythmischen  Reihe  gegeben  wäre,  und  selbstverständlich  ist 
die  Wirkung  in  derjenigen  Anordnung  am  stärksten,  welche  der 
Seele  am  naturgemäfsesten  ist,  also  in  der  Gruppirung  zu  je  2 
Elementen,  zu  je  2  Schlägen.  Demnach  wird  sich  bei  der  Quarte, 
3  :  4,  die  Theilung  nicht  so  vollziehen,  dafs  auf  einen  Schlag 
des  tieferen  */«  Schläge  des  höheren  Tones  fallen,  sondern  so, 
dafs  auf  einen  Schlag  des  höheren  ^j^  Schläge  des  tieferen  fallen. 
Mit  dem  Eintritt  des  2.  Schlages  des  höheren  Tones  ist  von  dem 

1.  Schlage  des  tieferen  Tones  ein  Theil  abgeschnitten.  Dafe 
dieser  Theil  ein  Viertel  ist,  wissen  wir,  sobald  der  2.  Schlag  des 
tieferen  Tones  einsetzt.  Von  ihm  wird  durch  den  3.  Schlag  des 
höheren  Tones  die  Hälfte  abgeschnitten,  welche  sich  naturgemfife 
mit  dem  vorangegangenen  Viertel  unter  dem  2.  Schlage  des 
höheren  Tones  zu  einer  Gruppe  von  3  Einheiten  vereinigt    Die 

2.  Hälfte  wird  mit  dem  1.  Viertel  des  folgenden  Schlages  unter 
dem  3.  Schlag  des  höheren  Tones  wieder  zu  einer  Gruppe  von 
3  Einheiten  zusammengefafst  u.  s.  f.,  so  dafs  stets  auf  1  Einheit 
des  höheren  3  Einheiten  des  tieferen  Tones  fallen.  Hierdurch 
ist  die  Quarte  deutlich  als  ümkehrung  der  Quinte  charakterisirt; 
denn  beide  Intervalle  beruhen  darauf,  dafs  3  Einheiten  des 
einen  unter  1  Einheit  des  anderen  Tones  zusammengefafst  werden^ 
Aber  die  zusammenfassende  Einheit  ist  bei  der  Quint  und  ihren 
Erweiterungen  in  dem  tieferen,  also  dem  langsamer  verlaufenden 
Tone  gegeben,  bei  der  Quarte  und  ihren  Erweiterungen  dagegen 
in  dem  höheren,  also  dem  schneller  verlaufenden.  Daher  mufs 
dasjenige,  was  zusammengefafst  wird,  bei  den  Quintintervallen 
stets  aus  mehr  als  einem  Schlage  bestehen,  bei  den  Quart- 
intervallen dagegen  aus  mehreren  Theilon  eines  Schlages. 

Die  Quarte  läfst  sich  natürlich  in  derselben  Weise  erweitem 
wie  die  Quinte.  In  der  ersten  Erweiterung,  mit  dem  Schwingungs- 
verhältnifs  3  :  8,  fallen  auf  1  Schlag  des  höheren  %  Schläge  des 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehungeti.  99 

tieferen  Tones,  in  der  zweiten,  mit  dem  Schwingungsverhältnifs 
3 :  16,  %«   IL  8.  w.     Während    aber  in   den  Erweiterungen   der 
Quinte  (1:3,  1:6  etc.)  mit  1  jedes  Mal   dieselbe  Einheit,    d.  h. 
jedes  Mal  eine  Einheit  von  gleicher  Dauer  bezeichnet  wird,    ist 
bei  den  Erweiterungen  der  Quarte  die  mit  1  bezeichnete  Einheit 
jedes  Mal  eine  andere,  da  der  Ton,  in  welchem  sie  gegeben  ist, 
jedes  Mal   in  einer  anderen  Octave  liegt.    Während   daher   bei 
den  Erweiterungen   der  Quinte   der  Quintcharakter   festgestellt 
ist,  sobald   die  Seele  die   einzige  unter  der  mit  1  bezeichneten, 
jedes  Mal  gleichen  Einheit  des  tieferen  Tones  mögliche  Gruppirung 
der  Einheiten  des  höheren  Tones  vorgenommen  hat,   also,   wie 
wir  früher  sahen,  nach  dem  2.  Schlag  des  tieferen  Tones,  hängt 
bei  den  Erweiterungen  der  Quarte   der  Zeitpunkt,    in  welchem 
der  Quartcharakter  bestimmt  ist,  von  der  jedes  Mal  verschiedenen 
Dauer  der  mit  1   bezeichneten  Einheit   des  höheren  Tones   ab, 
da  diese  als  die  bestimmende,  um  im  tieferen  Tone  eine  Gruppen- 
bilduBg  zu  ermöglichen,  erst  von  einem  Schlage  desselben  einen 
Theil   abschneiden   mufs.    Zugleich   kommt  es   auf   die    Gröfse 
dieses   Theiles  an,   da  sich  hierdurch  bestimmt,   wie   grofs   der 
Theil   des   folgenden  Schlages    sein    mufs,    der   noch   benöthigt 
wird,   damit   eine  Gruppe   zu  Stande  kommt.    So   schneidet  in 
dem   Schwingungsverhältnifs   3  :  8    der   3.    Schlag    des   höheren 
Tones  von  dem  1.  Schlag  des  tieferen  -/s  s-b.    Damit  eine  Gruppe 
entstehen  kann,  mufs  zu  diesen  noch  Vs  ^^s  folgenden  Schlages 
hinzukommen,    welches  der  4.  Schlag    des    höheren   Tones   ab- 
schneidet     Sobald   dieser   eintritt   oder,    mit   anderen    Worten, 
nachdem    von   dem  2.  Schlag  des  tieferen   Tones  Vs   verflossen 
ist,  ist   also  der  Charakter  des  Intervalles   festgestellt,   während 
er  sich  bei  der  eigentlichen  Quarte  erst  nach  Ablauf  der  Hälfte 
des  2.  Schlages  des  tieferen  Tones  offenbart.    Bei  dem  Verhält- 
nis 3  :  16  wird  er  sich  nicht  früher  zu  erkennen  geben,  als  bei 
dem  Verhältnifs  3:8;   denn  der  6.   Schlag   des  höheren  Tones 
schneidet  von  dem  I.Schlag  des  tieferen  nur  ^/,ß  ab,  sodafszur 
Gruppenbildung  noch   '-/je   oder   ^/g    des  folgenden  Schlages   er- 
forderlich ist.    Dagegen   wird  bei  den  Schwinguiigsverhältnissen 
3 :  32  und  3  :  64  der  Intervallcharakter  schon  festgestellt  sein, 
wenn    von    dem    2.    Schlag    des    tieferen   Tones    7a2    verflossen 
ist,  etc.     Wie  wir  aber  schon  früher   sahen,   ist  es  in  Folge  der 
grofeen  Geschwindigkeit  der  Schwingungen  sehr  begreiflich,  dafs 
tUe  diese  unterschiede  für  unsere  Empfindung  nicht  existiren. 

7* 


■    i\ 


100  RicJiard  Hohenemser. 

Da  wir  bei  der  Quarte  und  dementsprechend  auch  bei  ihren 
Erweiterungen  die  Bildung  einer  Gruppe  innerhalb  des  1.  Schlagira 
des  tieferen  Tones  für  unmöglich  hielten,  könnte  man  fragen, 
ob  demnach  nicht  jedes  Mal  da,  wo  ein  Schlag  des  tieferen  mit 
einem  Schlag  des  höheren  Tones  zusammentrifft,  also  da,  wo 
sich  das  gesammte  rhythmische  Gebilde  zu  wiederholen  beginnt, 
z.  B.  bei  der  Quarte  mit  dem  5.  Schlag  des  höheren  und  dem 
4.  des  tieferen  Tones,  eine  Unterbrechung  eintreten  müsse,  von 
der  doch  in  unserer  Empfindung  nichts  zu  bemerken  sei.  Wir 
müssen  aber  annehmen,  dafs  die  Seele,  da  sie,  sobald  sie  eine 
bestimmte  Theilung  und  Gruppirung  öfter  hinter  einander  (ja 
auch  nur  ein  Mal)  vollzogen  hat,  die  Wiederholung  dieser 
Theilung  und  Gruppirung  erwartet,  den  Schlag  des  tieferen 
Tones  auch  dann  in  3  Theile  zerlegt  und  diese  unter  einem 
Schlage  des  höheren  Tones  zu  einer  Gruppe  zusammenfafst, 
wenn  hierzu  in  dem  unmittelbaren  Verhalten  der  Schläge  zu 
einander  keine  Veranlassung  gegeben  ist.  Möglich  ist  der  Seele 
diese  Fortsetzung  des  vorher  dagewesenen,  weil  sich  ja  die  mit 
den  Tönen  gegebenen  Vorgänge  thatsächhch  nicht  ändern.  So- 
bald sie  es  thun,  sobald  also  ein  neues  Intervall  eintritt,  ist  die 
Seele  natürlich  gezwungen,  eine  neue  Theilung  und  Gruppirung 
vorzunehmen. 

Genau  wie  die  Quarte  zur  Quinte  verhalten  sich  die  Um- 
kehrungen der  übrigen  bisher  betrachteten  ursprünglichen  Inter- 
valle zu  diesen.  Aus  der  grofsen  Terz,  mit  dem  Schwingungs- 
verhältnifs  4  :  5  und  dem  Einheitenverhältnifs  1  :  5,  ergiebt  sich 
durch  Umkehrung  die  kleine  Sexte,  mit  dem  Schwingimgsver- 
hältnifs  5:8,  in  welcher  also  auf  1  Schlag  des  höheren  */ß 
Schläge  des  tieferen,  auf  1  Einheit  des  höheren  5  Einheiten  des 
tieferen  Tones  fallen.  Ebenso  ergiebt  sich  aus  der  grofsen 
Secunde,  mit  dem  Schwingungsverhältnifs  8  :  9  und  dem  Ein- 
heitenverhältnifs 1 :  9,  die  kleine  Septime,  mit  dem  Schwingungs- 
verhältnifs 9  :  16  und  also  mit  dem  Einheitenverhältnifs  1  :  9  in 
umgekehrter  Verwendung,  wie  genau  in  derselben  Weise  der 
kleinen  Secunde  als  der  Umkehrung  der  grofsen  Septime  das 
Einheitenverhältnifs  1 :  15  in  umgekehrter  Verwendung  zu  Grunde 
liegt.  Auch  die  Erweiterungen  dieser  Umkehrungen  vollziehen 
sich  genau  so  wie  diejenigen  der  Quarte. 

Uebersehen  wir  die  Intervalle,  die  wir  bis  jetzt  auf  Ein- 
heitenverhältnisse zurückgeführt  haben,  so  fällt  sofort  auf,  dals 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehtingen.  101 

die  kleine  Terz  und  die  grofse  Sexte  noch  fehlen.  Die  kleine 
Terz  giebt  sich  durch  ihr  Schwingungsverhältnifs  5  :  6  als  eine 
Umkehrung  zu  erkennen;  denn  da  eine  Zweitheilung  nur  im 
höheren,  nicht  im  tieferen  Tone  möglich  ist,  kann  die  bestimmende 
Einheit  nur  in  jenem  gegeben  sein.  Das  ursprüngliche  Intervall 
hat  demnach  das  Schwingungsverhältnifs  3  :  5  und  ist  bekannt- 
lich die  grofse  Sexte.  Wollten  wir  annehmen,  dafs  hier  auf 
1  Schlag  des  tieferen  ^/g  Schläge  des  höheren  Tones  fallen,  so 
erhielten  wir  das  Einheitenverhältnifs  1  :  5,  welches  wir  jedoch 
bereits  der  grofsen  Terz  zugeschrieben  haben.  Es  liegt  aber  zu 
dieser  Annahme  durchaus  kein  Grund  vor,  denn  es  ist  uns  hin- 
länglich bekannt,  dafs  die  Seele  ohne  Zwang  weder  eine  Drei- 
noch  eine  Fünftheilung  vollzieht.  Dadurch,  dafs  jeder  4.  Schlag 
des  tieferen  mit  jedem  6.  des  höheren  Tones  zusammentrifft,  ist 
sie  zwar  gezwungen,  je  3  Schläge  des  tieferen  und  je  5  Schläge 
des  höheren  Tones  zu  einer  Gruppe  zusammenzufassen.  Aber 
innerhalb  dieser  Gruppen  wird  sie  keine  weitere  Theilung  mehr 
vornehmen,  d.  h.  in  keinem  der  beiden  Töne  werden  die  einzelnen 
Schläge  ein  Uebergewicht  an  Wirkung  gewinnen.  Sie  werden 
also  nicht  zu  bestimmenden  und  bestimmten  Einheiten,  sondern 
3  :  5  ist  selbst  ein  Einheitenverhältnifs,  in  welchem  sich  selbst- 
verständlich, wie  bei  1:3,  1:5  etc.,  der  complicirtere  Theil  dem 
einfacheren  unterordnet;  die  Seele  bleibt  also  dabei  stehen,  5 
Einheiten  des  höheren  unter  3  Einheiten  des  tieferen  Tones  zu- 
sammenzufassen. Demnach  sind  auch  die  Erweiterungen,  3 :  10, 
3 :  20  etc.,  auf  dieses  Verhältnifs  zurückzuführen,  indem  5  Schläge 
des  höheren  auf  %,  '%  etc.  Schläge  des  tieferen  Tones  fallen. 

Bei  der  Umkehrung,  der  kleinen  Terz  mit  dem  Schwingungs- 
verhältnifs 5  :  6,  werden  die  6  Schläge  des  höheren  Tones  selbst- 
verständlich in  2  Gruppen  von  je  3  Schlägen  zerlegt,  und  wie 
bei  der  Quarte  auf  1  Schlag  des  höheren  '"^'^  Schläge  des  tieferen 
Tones  fallen,  so  fallen  hier  auf  jede  der  aus  3  Schlägen  be- 
stehenden Einheiten  des  höheren  ^'o  Schlage  des  tieferen  Tones, 
so  dafs  also  das  Einheitenverhältnifs  3  :  5  in  umgekehrter  Ver- 
wendung erscheint.  Dafs  wir  soeben  das  Wort  „Einheit"  in 
doppelter  Bedeutung  gebrauchten,  ist  kein  Widerspruch;  denn 
in  der  grofsen  Sexte  und  kleinen  Terz  ist  nicht  der  einzelne 
Schlag,  sondern  die  Gruppe  von  3  Schlägen  die  zusammen- 
fassende, bestimmende  Einheit.  Darum  aber  gehen  die  einzelnen 
Schläge  als  solche  doch  nicht  verloren,   so  dafs  wir  das  charak- 


102  Richard  Hohejiemser. 

teristische  Merkmal  der  genannten  Intervalle  doch  darin  er- 
blicken müssen,  dafs  5  Einheiten  des  einen  unter  3  Einheiten 
(hier  gleichbedeutend  mit  Schlägen)  des  anderen  Tones  zusammen- 
gefafst  werden.  Wie  sich  das  Verhältnifs  in  den  Erweiterungen 
der  kleinen  Terz  zu  erkennen  giebt,  wird  man  sich  ohne  Weiteres 
klarmachen  können. 

Da  wir  neben  dem  Einheitenverhältnifs  von  1  :  5  auch  das- 
jenige von  3  :  5  gefunden  haben,  wird  neben  1  :  9  auch  5  : 9 
ein  musikalisches  Intervall  ergeben.  Der  Umkehrung  desselben 
sind  wir  bereits  begegnet  und  zwar  in  dem  Schwingungsverhält- 
nifs  9  :  10,  das  dem  kleinen  Ganzton  zu  Grunde  liegt  Wie  bei 
der  grofsen  Sexte  und  kleinen  Terz  eine  Gruppe  von  3  Schlägen, 
so  bildet  bei  dem  kleinen  Ganzton  und  der  zugehörigen  Septime, 
die  als  ursprüiigliches  Intervall  zu  betrachten  ist,  eine  Gruppe 
von  5  Schlägen  die  bestimmende  Einheit,  unter  welcher  also 
9  Einheiten  des  anderen  Tones  zusammengefafst  werden.  In 
welcher  Weise  dies  in  der  ganzen  Intervallgruppe  geschieht, 
brauchen  wir  nicht  mehr  näher  aus  einander  zu  setzen. 

Wenn  wir  die  doppelte  Anwendungsmöglichkeit  der  Ein- 
heitenverhältnisse vor  Augen  haben,  und  wenn  wir  mit  jeder 
Intervallbenennung  auch  die  Erweiterungen  des  betr.  Intervalles 
einbegreifen  wollen,  so  können  wir  nunmehr  folgende  Reihe  auf- 
stellen :  1  :  2  entspricht  der  Octave,  1  :  3  der  Quinte  und  Quarte, 
1  :  5  der  grofsen  Terz  und  kleinen  Sexte,  3  :  5  der  grofsen  Sexte 
und  kleinen  Terz,  1  :  9  der  grofsen  Secunde  (dem  grofsen  Ganz- 
ton) und  kleinen  Septime,  5  :  9  der  Intervallgruppe  des  kleinen 
Ganztones,  1  :  15  der  grofsen  Septime  und  kleinen  Secunde.  In 
dieser  ganzen  Reihe  nimmt  also  der  Consonanzgrad  ab.  Auch 
lernen  wir  aus  ihr,  dafs  nicht  etwa  alle  die  Verhältnisse,  in 
welchen  eine  Anzahl  von  Einheiten  unter  einer  Einheit  zu- 
sammengefafst wird,  einfacher  sind  als  die  übrigen,  dafs  viel- 
mehr, was  die  Einfachheit  betrifft  ,3:5  vor  1  :  9  und  ebenso 
5  :  9  vor  1  :  15  zu  stehen  kommt.  Alle  Intervalle,  welche  aufser 
den  bisher  besprochenen  noch  vorkommen,  liegen  in  der  Fort- 
setzung der  Reihe,  aber  an  den  verschiedensten  Stellen.  So  ent- 
spricht 1  :  25  der  übermäfsigen  Quinte  und  verminderten  Quarte 
(Schwingungsverhältnifs  16  :  25  und  25  :  32) ,  1  :  27  einer  über- 
mäfsigen Sexte  und  verminderten  Terz  (Schwingungsverhältnifs 
16  :  27  und  27  :  32),  5  :  27  einer  unreinen  Quarte  und  der  zu- 
gehörigen  Quinte   (Schwingungsverhältnifs  20  :  27  und   27  :  40), 


Zur  Theorie  der  Tonbeziehungen,  103 

1  :  45  der  tibermäfsigen  Quarte  und  venuinderten  Quinte 
(Schwingungsverhältnifs  32  :  45  und  45  :  64) ,  1  :  75  der  über- 
mäfsigen  Secunde  und  venuinderten  Septime  (Schwingungsver- 
hältnifs 64  :  75  und  75  :  128). 

Die  Thatsache,  der  wir  ja  auch  schon  früher  begegnet  sind, 
dafs  sich  die  in  der  Musik  gebrauchten  Intervalle  nicht  auf  eine 
ununterbrochen  fortlaufende  Reihe  von  Einheitenverhältnissen 
vertheilen,  dafs  vielmehr  gewisse  an  sich  mögliche  Verhältnisse 
übersprungen  werden,  hat  ihren  Grund  jedenfalls  nicht  in  der 
Natur  dieser  Verhältnisse,  also  nicht  in  der  Natur  der  ihnen  ent- 
sprechenden Intervalle,  welche  man  bekanntlich  auf  künstUchem 
Wege  bilden  kann.  Zu  dieser  Annahme  führen  uns  zwei  Er- 
wägungen :  Einmal  ergiebt  das  Einheitenverhältnifs  1  :  7,  das 
erste,  welches  übersprungen  wird,  eine  Intervallgruppe,  aus  deren 
Natur  sich  ihre  Unverwendbarkeit  schwerlich  ableiten  lassen  dürfte. 
Eher  könnte  man  versucht  sein,  auf  ihre  besondere  Brauchbar- 
keit zu  schliefen;  denn  das  Intervall  mit  dem  Schwingungsver- 
hältnifs 4  :  7,  die  natürUche  Septime,  ist  eine  Dissonanz,  welche 
der  kleinen  Septime  nahesteht,  aber,  wie  wir  uns  leicht  an  der 
harmonischen  Obertonreihe  überzeugen  können,  weicher  klingt 
als  diese,  überhaupt  weicher  als  alle  gebräuchlichen  sogenannten 
Dissonanzen,  welche  aber  doch  entschiedenen  Dissonanzcharakter 
besitzt.  Sie  wäre  also  in  die  Musik  eingeführt,  die  mildeste  Disso- 
nanz Auch  ist  ihr  Vorkommen  in  primitiver  Hornmusik  kaum 
zu  bezweifeln ;  denn  auf  den  Naturhörnern,  auf  welchen  sich  nur 
die  harmonische  Obertonreihe  hervorbringen  läfst,  ist  gerade  die 
Gruppe  etwa  vom  4.  bis  zum  10. Oberton  besonders  leicht  zu  erzeugen.  ^ 
Wenn  die  natürliche  Septime  trotzdem  in  der  modernen  Musik 
keine  Stelle  hat,  so  wird  der  Grund  hierfür  wohl  nicht  in  dieser 
Septime  selbst  zu  suchen  sein.  —  Ferner  ist  es  auffallend,  dafs  sich 
unter  den  gebräuchlichen  Intervallen  auch  solche  finden,  welche 
anderen  gebräuchlichen  Intervallen  so  nahe  stehen,  dafs  sie  sehr 
leicht  mit  ihnen  verwechselt  werden,  z.  B.  die  unreine  Quinte 
(Schwingungsverhältnifs  27  :  40)  mit  der  reinen  (27  :  40,5),  die 
verminderte  Terz  (27  :  32)  mit  der  kleinen  (27  :  32,05).  Solche 
Intervalle  werden  doch  schwerlich  um  ihrer  selbst  willen  Ver- 
wendung finden.  Wir  müssen  vielmehr  annehmen,  dafs  sich  das 
jeweilig  herrschende  Tonsystem  aus  bestimmten  Grundintervallen 
aufbaut  und   dafs  aus   der  unendlich  grofsen  Zahl  der  übrigen 

*  Vergl.  „Sammelbäude  der  Internationalen  MusUcyesellschaft"  1,  18. 


104  Bichard  Hohentmser. 

möglichen  Intervalle  nur  diejenigen  zur  Verwendung  kommen, 
welche  die  Beschaffenheit  des  Systemes  zuläfst  So  sind  in  den 
von  Hauptmann  angenommenen  Systemen  der  Dur-  und  Moll- 
Tonart,  welche  ausschliefslich  auf  der  reinen  Quinte  und  der 
grofsen  Terz  aufgebaut  sind,  d.  h.  in  welchen  alle  Töne  nach 
dem  Quint-  oder  Terzverhältnisse  berechnet  werden,  nur  die  bis- 
her als  gebräuchlich  angeführten  Intervalle  möglich.  Erst  bei 
der  Combination  der  Systeme,  also  bei  Einführung  der  Chromatik, 
entstehen  wieder  neue  Intervalle.  Berechnet  man  die  Töne  nur 
nach  dem  C^uintverhältnifs,  wie  es  die  griechischen  Theoretiker 
thaten,  so  ergiebt  sich  u.  A,  ein  Intervall  mit  dem  Schwingungs- 
verhältnifs  64  :  81,  die  sogenannte  pythagoräische  Terz,*  welche 
in  den  Systemen  Hauptmann's  unmöglich  ist  Das  Vorhanden- 
sein oder  Fehlen  bestimmter  Intervalle  mufs  also  in  der  Natur 
der  Tonsysteme  seinen  Grund  haben.  Aber  die  Tonsysteme 
selbst  entbehren  noch  fast  völlig  der  psychologischen  Begründung; 
ja  es  ist  sogar  nicht  unmöglich,  dafs  das  HAUPTMANN'sche  System, 
welches  jetzt  allgemein  als  die  Grundlage  der  modernen  Musik 
anerkannt  wird,  ebenso  wie  das  der  Griechen,  wenigstens  zum 
Theil  nur  eine  theoretische  Speculation  ist,  welche  mit  der  Wirk- 
lichkeit, d.  h.  mit  der  Intervallauswahl,  die  unser  natürliches 
Tonbewufstsein  vornimmt,  nicht  übereinstimmt. 

Die  verschiedenen  Tonsysteme  zu  constatiren  und  zu  er- 
klären, ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  desjenigen  Theiles  der 
Psychologie,  welcher  sich  mit  der  Tonkunst  beschäftigt.  Wenn 
ihre  Lösung,  die  selbstverständlich  in  engem  Anschlufs  an  die 
geschichtlich  gegebenen  Thatsachen  angestrebt  werden  mufs,  mit 
Hülfe  der  Rhythmentheorie  gelingen  sollte,  was  bestimmt  zu  er- 
warten ist,  so  hätte  man  in  diesem  Erfolge  eine  wichtige  Stütze 
dieser  Theorie  zu  erblicken.  Unsere  Aufgabe  aber  bestand  nur 
darin,  die  Thatsache,  dafs  die  Intervalle  sich  erweitern  und  um- 
kehren lassen,  aus  der  Theorie  der  Schwingungsrhythmen  heraus 
zu  erklären  und  damit  verständlich  zu  machen.  Soweit  uns  dies 
gelungen  ist,  ist  damit  gleichzeitig  eine  Bestätigung  der  Theorie 
geliefert,  einer  Theorie,  welche  nicht  nur  an  sich  von  höchstem 
psychologischem  Interesse  ist,  sondern  welche  auch  berufen  zu 
sein  scheint,  für  alle  weiteren  musikpsychologischen  Forschungen 
die  Grundlage  abzugeben. 

{Eingetjangen  am  6.  März  1901.) 


Eine  letzte  Bemerkung  zu  Herrn  EdingeR's  Aufsatz 

„Himanatomie  und  Psychologie". 

Von 

Dr.  E.  Storch. 

Herr  Edinüek  hat  meine  kleine  Arbeit  „Hö-l^^n  die  niederen 
Thiere  ein  Bewufstsein  ?"  einer  Entgegnung  gewürdigt.^  Eine 
Kritik  seiner  Anschauungen  war  allerdings  nicht  eigentlich  der 
Hauptzweck  meiner  Ausführungen.  Ich  hätte  mich  ebenso  gut 
an  die  Ameisenarbeit  Bethe's  oder  an  die  Vergleichende  Gehirn- 
anatomie und  Gehirnpsj''chologie  von  Jax:ques  Loeb  halten  können. 
Die  Absicht  meines  Aufsatzes  war  eine  allgemeinere,  nämlich: 
darzulegen,  dafs  es  für  die  Welt  des  Bewegten  nur  eine  Auf- 
fassung giebt,  den  Mechanismus,  und  dafs  die  Naturwissenschaft 
in  dem  Momente,  wo  sie  in  dieser  Welt  aufser  einer  Transforma- 
tion der  Bewegungsgröfsen  nach  dem  Gesetze  von  der  Erhaltung 
der  Kraft  noch  etwas  anderes  als  Ursache  wirken  läfst,  sich  selbst 
aufgiebt.  Diejenige  Weltanschauung,  welche  diesem  Mechanismus 
ebenso  gerecht  wird  wie  dem  Psychischen  ist  allein  der  psycho- 
physische  Parallelismus,  und  die  klare  Aufgabe,  welche  er  der 
Psychologie  stellt,  ist  die  Entdeckung  der  mechanischen  Correlate 
psychischer  Vorgänge.  Dabei  habe  ich  mich  nicht  im  Geringsten 
über  das  Verhältnifs  beider  Reihen  geäufsert,  wie  es  Mach  und 
AvENAuius  thun,  abgesehen  davon,  dafs  ich  die  Relation  der 
Causalität  ausschlofs. 

Der  Vorwurf,  den  ich  gegen  Edinger  erhob,  war  einfach 
—  sine  ira  et  studio  —  dafs  er  gerade  diese  Beziehung  zwischen 
beiden  Reihen  annimmt,  und  wer  auf  diesem  Standpunkte  steht, 
ist  eben  entweder  naiver  Materialist  oder  Spiritualist. 

Jeder  der  beiden  Standpunkte  hat  eine  gewisse  Berechtigung, 
nicht  aber  eine  Verquickuug  beider.    Entweder  ist  die  Materie 

1  Diese  Zeitschrift  24,  445. 


106  E.  Storch, 

eine  Folge  des  Denkens,  oder  sie  ist  seine  Ursache;  beides  auf 
einmal  ist  nicht  möglich. 

Ich  habe  aus  Herrn  Edinger's  Arbeit  nachgewiesen,  dafs  bei 
ihm  diese  Verquickung  der  zwei  entgegengesetzten  Anschauungen 
besteht.  Herr  E.  macht  mir  den  Vorwurf,  dafs  ich  seine  Arbeit 
nicht  aufmerksam  gelesen  habe ;  das  ist  ein  sehr  harter  Vorwurf, 
auch  w^enn  er  in  höfliche  Worte  eingekleidet  wird. 

Herr  Edinoer  hat  es  mir  aber  nicht  schwer  gemacht  diesen 
Vorwurf  zurückzuweisen.  S.  446  des  24.  Bandes  dieser  Zeitschrift^ 
der  2.  Seite  seiner  Entgegnung  schreibt  er :  „Herr  v.  Uexküll  u.  A. 
haben  neuerdings  behauptet,  dafs  es  ganz  aufser  dem  Bereiche 
wissenschaftlicher  Arbeit  liege,  zu  untersuchen,  ob  ein  Thier  bei 
Ausübung  irgend  einer  Handlung  Bewufstsein  habe.  So  weit 
möchte  ich  nicht  gehen,  denn  es  erscheint  keineswegs  aussichts- 
los, an  die  Frage  heranzutreten,  ob,  wenn  einmal  der  Mechanis- 
mus genügend  bekannt  ist,  sich  nicht  Leistungen  zeigen,  die 
über  das  hinausgehen,  was  die  bekannte  Maschine  fertig  bringen 
könnte."  Diese  sich  zeigenden  Leistungen  können  doch  nur  Be- 
wegungen sein,  Bewegungen,  die  durch  den  Mechanismus  nicht 
erklärt  werden  können,  die  also  —  das  ist  der  Kernpunkt  — 
ihre  Ursache  nicht  in  einer  Bewegungsgröfse  sondern  in  etwas 
anderem  haben  müssen,  und  zwar,  wie  Herr  Edinger  bemerkt, 
im  Bewufstsein.  Unmittelbar  anschliefsend  an  obiges  Citat  ist 
nämlich  zu  lesen:  „Ich  habe,  ganz  ohne  zu  präjudiciren,  ge- 
schlossen :  Wir  werden  auch  auf  dem  vorgeschlagenen  Wege  an 
einen  Punkt  kommen,  wo  die  Annahme  eines  Bewufstseins  noth- 
wendig  wird"  u.  s.  w\  Das  ist  es  ja  eben,  zu  diesem  Punkte 
kann  ja  die  Erforschung  der  Bewegungsgröfsen  nicht  führen  und 
ich  möchte  Herrn  E.  bitten  nochmals  mein  Citat  aus  Schopen- 
HAUEU  vorzunehmen. 

Wer  aber  diese  Grundlage  aller  Psychologie,  die  causale 
Unabhängigkeit  zwischen  Psyche  und  Materie  nicht  erkannt  hat, 
ist  nicht  berufen,  uns  eine  vergleichende  Psychologie  zu  schenken. 
Herr  E,  hat  auf  dem  Gebiete  der  Hirnanatomie  so  grofse  und 
bleibende  Errungenschaften  zu  verzeichnen,  dafs  es  bedauerlich 
ist,  ihm  auf  Irrwegen  zu  begegnen. 


Literaturbericht. 


F.  LE  Dantbc.    Homologie  et  analogie.    Rei\  phüos.  49  (5),  449—491.    1900. 

Verf.  sucht  zunächst  auf  Grund  einer  Anzahl  von  Beispielen  den  Satz 
abzuleiten :  Findet  man  einen  Charakter,  welcher  zwei  verschiedenen  Wesen 
gemeinsam  ist,  so  mufs  man  zwischen  zwei  Alternativen  schwanken.  Ent- 
weder rflhrt  der  gemeinsame  Charakter  durch  directe  Descendenz  von 
einem  gemeinsamen  Vorfahren,  welcher  den  besagten  Charakter  besafs, 
z.  B.  die  Zahnbildung  bei  Hatte  und  Maus.  In  diesem  Falle  besteht  Homo- 
phylie  (lifiotoi,  ^iXrj),  Oder  dieser  Charakter  ist  von  den  Vorfahren  beider 
Werten  erworben,  unabhängig  von  jeder  Vaterschaft,  einfach  durch  Con- 
vergenz,  in  Folge  von  einfacher  Anpassung  an  gemeinsame  Existenz- 
bedingungen z.  B.  die  Zahnbildung  der  Hatte,  des  Wombat,  des  Aye-aye. 
In  diesem  Falle  besteht  Homomorphie  [ouotoi,  fioofij).  Letztere  hat  viele 
Irrthümer  in  der  Classification  hervorgerufen.  Die  neueste  Correctur  in 
dieser  Beziehung  ist  bei  der  Classification  der  Rippenquallen  erfolgt,  welche 
man  bisher  ihrer  Durchsichtigkeit  wegen  zu  den  Quallen  rechnete,  welche 
aber  in  Wirklichkeit  zu  den  Turbellarien  gehören. 

Zwei  verschiedene  Thiere  führen  verschiedene  Acte  aus.  Man  kann 
eigentlich  das  Wort  ..leben"  gar  nicht  im  Allgemeinen  anwenden,  sondern 
man  kann  nur  sagen,  dafs  der  Fuchs  fuchst,  die  Taube  täubt,  der  Hecht 
hechtet,  die  Eidechse  eidechst.  Leben  bedeutet:  das  innere  Medium  des 
Wesens,  welches  aus  einer  grofsen  Zahl  von  Piastiden  besteht,  erneuern, 
und  zwar  in  der  Weise,  dafs  diese  Piastiden  ihr  elementares  Leben  fort- 
setzen können.  Die  synergetische  Activität  aller  Piastiden  bestimmt  diese 
Erneuerung.  Jedoch  mufs  man  nicht  annehmen,  dafs  bei  den  Wesen, 
welche  dieselben  Functionen  zeigen,  auch  die  Apparate  Teinander  ent- 
sprechen. Dies  erkennt  man  z.  B.,  wenn  man  die  Nahrungsaufnahme  beim 
Menschen  mit  der  des  Bandwurms  vergleicht.  Die  Definition  von  Organen 
ist  rein  physiologisch,  auch  die  Analogie  zwischen  den  Organen  zweier. 
Individuen.  Im  Gegensatz  hierzu  ist  die  Homologie  eine  rein  morpho- 
logische Begriffsfassung.  Alle  Säugethiere  z.  B.  sind  nach  demselben  Plane 
construirt,  mit  nur  quantitativen  Differenzen.  Die  Homologie  wird  vererbt. 
Durch  Anpassung  homologer  Theilo  un  verschiedene  Functionen  kann  die 
Homologie  bestehen  bleiben,  während  die  Analogie  verschwindet.  Die 
Homologie  kommt  der  Homophylie  gleich,  die  Analogie  der  Organe  schafft 
Homomorphien. 


1 08  Literaturberich  t 


Nach   Fritz   Müller  durchschreitet  jedes   lebende  Wesen    im   Lanf»  T 


t 


seiner  individuellen  Eutwickelung  morphologische  Zustände,  welche  dea  } 
morphologischen  Zuständen  seiner  Art  im  Laufe  ihrer  Entwickelung  ähneln,  | 
mit   anderen   Worten:    Die   Genealogie   eines    Thieres    -wird    durch   seine   i 
Embryogenio  dargestellt.    Um  den  gemeinsamen  Vorfahren  zweier  Wesen   v 
zu  finden,  brauchen  wir  also  nicht  mehr  die  unbekannte  Keihe  der  Vo^   ) 
fahren  zu   durchsuchen,  sondern  nur  die  Larvenstadien,  bis  wir  ein  ge-   \ 
meinsames   finden.     Je   höher   dieses  Larvenstadium   liegt,   um   so  näher    ' 
werden   die   beiden   Wesen   einander   bezüglich   ihrer   genealogischen  Ab*    : 
stammung  stehen.    Dies  ist  wichtig  beim  Aufsuchen  der  Verwandtschaft    • 
So  z.  B.  rechnete  man  früher  die  Ascidien  zu  den  Mollusken,  jetzt  zu  den 
Vertebraten,  seitdem   man  aus  der  Entwickelung  ihrer  Larvenformen  ge- 
wisse  Aehnlichkeiten   herausgefunden   hat.     Durch  F.  M.  angeregt,  sucht 
Verf.   nun   auch  seine   eigene  biochemische  Theorie   zu  vervollständigen. 
Verf.  hatte  unter  Piastiden  derselben  Art  solche  verstanden,  welche  ans 
denselben    plastischen    Substanzen   bestehen.     Nunmehr   definirt   er  auch 
morphologisch  verwandte  Piastiden,  was  vom  rein  biochemischen   Stand- 
punkte unmöglich  war:  Zwei  Arten  von  Piastiden  sind  verwandt,  falls  sie 
unter    denselben    Bedingungen    zu    embryonären    Entwickelungen    Veran- 
lassung geben,  welche  lange  Zeit  parallel  bleiben.    Je  rascher  dagegen  die 
Divergenzen  hervortreten,  um  so  verschiedener  sind  sie. 

GiEssLER  (Erfurt). 

Gärard-Varet.  La  Psychologie  0bjecti?e.  Bev.  philos.  4»  (5),  492—514.  190QL 
Die  objective  Psychologie  hat  ihre  eigene  Methode.  Sie  mufs  vor 
Allem  Thatsachen  sammeln,  in  derselben  Weise  wie  die  Naturwissen- 
schaften, und  sie  mufs  ihren  Stoff  classiliciren  als  Psychologie  der  Er- 
wachsenen, Kinder  und  (Jreise,  als  Psychologie  der  Professionen,  der 
gebildeten  und  wilden  Völker  u.  s.  w.  Die  erste  Arbeit  der  objectiven 
Psychologie  ist  also  monographisch.  Es  handelt  sich  darum,  eine  Reihe 
von  psychischen  Typen  zu  sammeln,  ihre  Structuren  und  Umrisse  zu  be- 
stimmen. Von  der  Beschreibung  mufs  dann  weiter  zur  Vergleichung  Ober- 
gegangen werden.  Jedoch  ist  die  Vergleichung  im  Grunde  auch  nur  eine 
Beobachtung,  die  Ursprünge  entgehen  ihr.  Sie  findet  nur  ein  Zusammen- 
gesetztes von  Neigungen,  welche  sich  gegenseitig  unterstützen  und  be- 
schränken. Das  Grundgesetz  des  Bewufstseins  wie  des  Lebens  ist  ein 
Gesetz  des  Gleichgewichts.  Hält  man  sich  an  die  Daten  der  Erfahrung,  so 
ignorirt  man  den  wahren  Zusammenhang,  es  entgehen  Einem  die  Anfänge 
und  Ursachen.  Dies  wird  vermieden  durch  die  psychologische  Analyse. 
Man  mufs  die  Erscheinungen  isoliren,  um  die  Action  einer  Kraft  zu  er- 
kennen, weh^he  sich  selbst  überlassen  ist.  Die  Analyse  dringt  viel  tiefer 
in  den  Zusammenhang  als  die  Vergleichung. 

Es  fragt  sich,  welchen  Platz  die  objective  Psychologie  in  der  allge- 
meinen Psychologie  einnimmt.  Man  unterscheidet  beim  Geistigen:  die 
Empfindung,  den  spontanen  Gedanken  und  die  Reflexion.  Der  Instinct  ist 
das  Reich  der  präsenten  Empfindung.  „Der  Instinct  ist  eine  automatische 
Folge  von  Bildern  vermittelst  einer  automatischen  Folge  von  Bewegungen." 
Bisweilen  gehorcht  die  Bewegung  nicht  mehr  dem  Bilde  oder  die  statt 


Literaturbericht.  109 

gefundene  Bewegung  bringt  ihren  Effect  nicht  hervor.  Da  jedoch  das 
Bedürfnifs  bleibt,  so  stellt  das  Individuum  Versuche  an,  um  zum  Ziel  zu 
gelangen.  Die  Intelligenz  hat  also  ihren  Ursprung  nicht  in  der  Empfindung, 
sondern  in  der  gefühlten  Mangelhaftigkeit  der  Empfindung.  Der  Mangel 
also  regt  die  spontane  Intelligenz  an,  sie  arbeitet  unter  dem  Drucke  der 
Ereignisse,  unter  äufseren  Impulsen.  Die  Refiexion  dagegen  legt  sich 
selbst  Fragen  vor.  Die  spontane  Intelligenz  handelt  ohne  vorherige 
Prüfung,  die  Reflexion  dagegen  prüft  vorher.  Für  die  spontane  Intelligenz 
ordnen  sich  die  Dinge,  wie  sich  deren  Phänomene  ordnen.  Die  mit  ein- 
ander verbundenen  Dinge  werden  zusammengefafst,  die  anderen  bleiben 
isolirt.  Anders  verhält  sich  die  überlegende  Vernunft.  Die  primitive 
Intelligenz  zieht  aus  den  spärlichen  Daten  des  primitiven  Automatismus 
allmählich  eine  ganze  Welt  von  Bildern  und  Vorstellungen.  Sie  schafft 
den  Wunsch  und  die  Kunst.  —  Die  Empfindung  mit  dem  Instinct  ist  die 
Domäne  der  eigentlichen  experimentellen  Psychologie,  der  spontane  Ge- 
danke ist  die  Domäne  der  objectiven  Psychologie,  endlich  die  Reflexion 
d.  h.  die  Gesammtheit  der  höheren  Formen  des  Geistes  ist  die  Domäne 
der  subjectiven  Psychologie.  — 

Verf.  hat  in  der  vorliegenden  Abhandlung  die  Bedeutung  der  drei 
Zweige  der  Psychologie  ins  rechte  Licht  gerückt.  Es  wäre  zu  wünschen, 
dafs  die  beobachtende  Psychologie,  die  gegenwärtig  gegenüber  der  experi- 
mentellen Psychologie  etwas  in  den  Hintergrund  getreten  ist,  die  ihr  ge- 
bührende Werthschätzung  bei  den  Psychologen  wiedergewönne. 

GiESSLER  (Erfurt). 

Edm.  Köniü.    Die  Lehre  ?om  psycbopbysiscben  Parallelismns  und  ihre  Gegner. 

Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische.  Kritik  115  (2),  161—192.   1900. 
In  den  letzten  Jahren   ist  eine  ganze  Anzahl  von  Schriften  und  Ab- 
handlungen erschienen,  die  das  Princip  des  psychophysischen  Parallelismus 
scharf  angreifen   und  die  Seele  als  ein   mit  den  physischen  Ursachen  con- 
currirendes  Agens  darzustellen  versuchen. 

Der  Verf.  selbst  theilt  den  Standpunkt  Wuxdt'h,  der  mit  der  Annahme 
eines  Parallelismus  ein  empirisches  Forschungsprincip  geben  will,  keines- 
wegs aber  eine  metaphysische  Hypothese  über  das  Verhältnifs  des  Physi- 
schen zum  Psychischen.  Auf  der  Gegenseite  wird  jedoch  mit  den  Requi- 
siten der  alten  Metaphysik  gekämpft;  Rehmke  gelangt  zur  Annahme  einer 
Wechselwirkung,  indem  er  die  anderen  Vorstellungsweisen  über  das  Ver- 
hältnifs von  Leib  und  Seele  („Solipsismus",  „Materialismus",  „Spinozismus") 
•verwerfen  zu  dürfen  glaubt.  Statt  nachzusehen,  welche  Anhaltspunkte  die 
Resultate  der  empirischen  Forschung  für  die  Entscheidung  der  Frage 
bieten,  setzt  er  sich  mit  empirischen  Verhältnissen  in  Widerspruch  und 
gelangt  auf  diese  Weise  dazu,  die  Allgemeingültigkeit  des  Gesetzes  von 
der  Erhaltung  der  Energie  in  Zweifel  zu  ziehen. 

Wird  das  Seelenleben  in  seinem  ganzen  Umfang  und  in  allen  seinen 
Einzelheiten  als  eine  Begleiterscheinung  physiologischer  Processe  aufge- 
fafst,  so  erweitert  man  das  Princip  des  psychophysischen  Parallelismus 
zum  psychophysischen  Materialismus,  der  zwar  von  vielen  Autoren  als 
letzte   Gonsequenz    der    parallelistischen   Anschauungsweise    erklärt    wird, 


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'■     »  ■'     '*'  -ii..»,!  if    iirifi    (fi /hftt/iiri{^Mi/fH«;  ^'fiiltitrkeit   l^rigelegt  werden.     Er* 

"■'' '••   ""'   Miilfi    i|«M   tfiifM»iriiiwhli/'h  an  (ff;  wendeten  Kraft  l>cgTiff  es  zu 

'  '    '"  "     ''••'"   ''"     AiiiMihnH-   finiT    pMyf'hi.Hflicn   Verureachung  physischer 
•  rM»,|.i    imII  ihn   |.ti/il,ii)Hf!iii  iiml  iilli(i-nicincn  <irundsfttzen  der  causnlcn 


Literaturbericht  ]11 

Interpretation  der  äufseren  Erfahrung  durchaus  vereinbar  sei.  Er  kommt 
schliefslich  zu  dem  Resultat,  dafs  das  Princip  der  geschlossenen  Natur- 
cansalität  nichts  Anderes  sei  als  die  Hypothese  von  der  vermeintlichen 
Notb wendigkeit  einer  physikalisch-chemischen  Naturerklärung.  Der  Verf. 
entgegnet,  dafs  E.  Unrecht  thue,  wenn  er  diese  Forderung  als  „Hypothese" 
bezeichne,  die  „a  priori"  den  Erscheinungen  entgegengebracht  werde,  während 
sie  doch  in  Wirklichkeit  eine  wohlbegründete  Folgerung  aus  der  Erfahrung 
ist,  deren  Allgemeingültigkeit  wir  keinerlei  Grund  haben  zu  bezweifeln. 

Die  Frage,  ob  physische  Ursachen  psychische  Wirkungen  haben  können, 
ist  von  Anhängern  und  Gegnern  des  Parallelismus  weniger  discutirt  worden 
als  die  umgekehrte.  Kann  man  es  als  einen  durch  die  Erfahrung  be- 
stätigten Satz  aussprechen,  dafs  keine  physische  Causalreihe  abbricht,  so 
ist  die  Hypothese,  dafs  psychische  Wirkungen  aus  physischen  Ursachen 
hervorgehen  können,  offenbar  unhaltbar.  In  der  Entscheidung  der  Frage, 
ob  Parallelismus  oder  Wechselwirkung,  spielt  zumeist  auch  das  Gesetz  der 
Erhaltung  der  Energie  eine  grofse  Rolle,  obzwar  man  aus  demselben,  wie 
WüNDT  dargelegt  hat,  weder  für  die  eine  noch  für  die  andere  Auffassung 
etwas  folgern  kann.  In  dieser  Hinsicht  wird  angenommen,  dafs  die  Seele 
die  Fähigkeit  habe,  Energieumsetzungen  auszulösen  und  hierdurch  in  den 
Verlauf  der  physischen  Vorgänge  mitbestimmend  einzugreifen  (Wentscher). 
Erhardt  nimmt  an,  dafs  neben  den  allgemeinen  Naturkräften  ^specifische 
Kräfte"  ihren  Sitz  im  Gehirn  haben,  auf  deren  Bedeutung  hier  nicht 
näher  eingegangen  werden  kann,  und  glaubt,  durch  ihre  Einführung 
dem  Energieprincip  zu  genügen.  Siowart,  Rbhmke  und  Busse  ziehen 
einfach  die  Allgemeingültigkeit  des  Energiegesetzes  in  Frage.  Busse 
glaubt  Thatsachen  anführen  zu  können,  welche  die  Realität  psychischer 
Einwirkungen  auf  den  Körper  und  damit  die  nur  bedingungsweise  Gültig- 
keit des  Satzes  von  der  Erhaltung  der  Energie  beweisen  (z.  B.  die  durch 
das  Lesen  eines  Telegramms  hervorgebrachten  verschiedenen  psychischen 
Wirkungen).  Hier  handelt  es  sich  jedoch  zweifellos  um  einen  Auslösungs- 
procefs,  bezüglich  dessen  die  Erfahrung  lehrt,  dafs,  je  complicirter  ein 
System  ist,  desto  weiter  sich  auch  die  quantitative  Beziehung  zwischen 
Reiz  und  Reaction  von  der  einfachen  Proportionalität  entfernt. 

So  beweist  der  Verf.  mit  anerkennenswerther  Gründlickeit  die  Hin- 
fälligkeit aller  Einwände,  welche  von  den  Anhängern  der  Wechselwirkungs- 
theorie gegen  den  psychophysischen  Parallelismus  vorgebracht  wurden. 

Th.  Heller  (Wien). 

Febdinand  Kemsies.    Die  häusliche  Arbeitszeit  meiner  Schfiler.   Ein  statistischer 

Beitrag  znr  Ueberbfirdnngsfrage.  Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  1 
(2),  89-95.  1899. 
Die  Zeitschrift  nSpiel  und  Sport^  brachte  unter  dem  Titel :  „Die  Arbeits- 
last der  Berliner  Schuljugend"  Mittheilungen  über  die  Dauer  der  häuslichen 
Arbeiten  der  0  HI  einer  Berliner  Lehranstalt,  nach  welchen  8  -  5,  sogar  bis 
ß  Stunden  täglich  auf  die  Anfertigung  der  Schularbeiten  entfielen;  aus 
diesen  Angaben  ist  jedoch  nicht  zu  ersehen,  ob  hier  die  berechnete 
(Soll-)  Zeit  oder  die  wahre  (Ist-)  Zeit  angegeben  ist. 

Der  Verf.  hat  auf  Grund  möglichst  zuverlässiger  Angaben  der  Schüler 


112  Litern  turberich  t 

der  Untertertia  zunächst  deren  durchschnittliche  Arbeitszeit  ermittelt» 
welche  pro  Woche  7  Stunden  46,3  Minuten  oder  pro  Tag  ca.  1  Stunde 
6  Minuten  für  den  einzelnen  Schüler  betrug.  Diese  Zahlen  schliefsen  woU 
jeden  Verdacht  einer  üeberbtirdnng  aus. 

Ganz  anders  gestalten  sich  die  Verhältnisse,  wenn  man  die  Arbeifti- 
zeiten  der  einzelnen  Schüler  von  demselben  Tage  mit  einander  und  mit 
dem  Durchschnitt  vergleicht.  Hier  ergeben  sich  ungeheure  Gegens&tw; 
so  braucht  z.  B.  ein  Schüler  7  mal,  an  einem  anderen  Tage  4  mal  soviel 
Arbeitszeit  als  sein  begabter  und  strebsamer  Mitschüler,  der  ihn  trotzdem 
ganz  bedeutend  an  Qualität  und  Quantität  der  Leistungen  übertrifft. 

Nebst  dem  Schulunterricht  und  der  Schularbeit  kommen  für  manche 
Schüler  die  Schulwege  in  Betracht,  welche  keineswegs  als  Erholung  angesehen 
werden  können.  Die  Schulwege  sind  bei  manchen  Schülern  so  anstrengend 
und  zeitraubend,  dafs  schon  bei  einer  durchschnittlichen  Arbeitszeit  von 
1  Stunde  pro  Tag  eine  starke  Belastung  eintreten  kann. 

«  

An  Schüler,  welche  zu  Hause  durch  den  Privatlehrer  Wiederholungs- 
Unterricht  empfangen,  und  solchen,  die  nicht  zu  arbeiten  verstehen,  konnte 
Verf.  an  einer  anderen  Realanstalt  sogar  Ueberbürdung  feststellen.  Ueber- 
lastung  kommt  übrigens  in  folgenden  Fällen  vor:  1.  bei  Versetzungs-,  Ab- 
schlufs-  und  Reifeprüfungen;  2.  bei  Ausarbeitung  der  periodischen  schrift- 
lichen Arbeiten  am  letzten  Tage  vor  dem  Abgabetermin ;  3.  bei  durch  Schul- 
versäumnisse zurückgebliebenen  Schüler,  welche  die  Lücken  ihres  Wissens 
auszufüllen  bestrebt  sind;  4.  bei  zu  hohen  Anforderungen  an  die  Schüler. 

Für  den  Praktiker  ergiebt  sich  aus  den  Angaben  des  Verf.*s  die 
Mahnung,  „bei  normativen  Bestimmungen  über  die  Arbeitsdauer  erst  die 
individuellen  Arbeitsverhältnisse  der  Schüler  kennen  zu  lernen". 

Heller  (Wien). 

FoREL.    Ueber  Talent  und  Genie.    Zeitachr.  f.  Hypn.  10,  159—170.    1900. 

Wie  in  der  pathologischen,  so  fliefsen  auch  in  der  normalen  Psychologie 
alle  Begriffe  ineinander.  Grenzen  giebt  es  nicht.  Dasselbe  gilt  für  die 
erblichen  constitutionellen  Psychopathien,  deren  Wesen  liegt  in  Gleichge- 
wichtsstörungen.  in  abnormer  Functionirung  des  Neurocyms,  bedingt  durch 
ererbte  Abnormitäten  des  molecularen  Baues  der  Neurone.  Nur  das  Proto- 
plasma des  Eikernes  und  des  Spermakernes  lebt  im  Nachkommen  fort  und 
verleiht  ihm  sein  ererbtes  Gepräge.  Es  überträgt  allein  die  erblichen 
Eigenschaften  auf  das  Embryo.  Beide  Kerne  sind  ziemlich  gleich  grofs. 
Die  elterlichen  Keimzellen  bestehen  wieder  aus  Potenzen  der  grofselter- 
liehen  Keime  u.  s.  f.  Daher  der  Atavismus.  Dies  kann  man  interne  Ver- 
erbung nennen  im  Gegensatz  zur  externen,  wo  gewisse  Einflüsse  (Wärme» 
Kälte,  Nutrition  etc.)  die  Keime  vor  der  Conjunction  oder  den  conjungirten 
Keim  von  seiner  Bildung  (Conjunction)  an  bis  zu  seinem  Tode  treffen  und 
ev.  die  Entwickelung  des  Einzelwesens  modificiren.  Eigenschaften,  die 
dann  weiter  vererbt  werden,  müssen  aber  die  Keimzelle,  das  Nucleoplasma, 
selbst  treffen.  Forel  tritt  dann  Möbiüs  entgegen,  der  behauptet,  dals  jede 
tüchtige  Talentleistung  etwas  Neues  enthält,  dafs  jedes  Talent  im  gewissen 
Grade  genial  ist,  und  dafs  das  Talent  nichts  als  eine  Steigerung  einer  allen 
Menschen  zukommenden  Fähigkeiten  und  das  Genie  nichts  als  ein  hoher 


Litera  iurberich  t.  113 

Grad  des  Talentes  ist.  Das  steht  in  Widerspruch  mit  den  herkömmlichen 
Begriffen  and  mit  den  Thatsachen.  Eine  qualitative  Identität  von  Talent 
nnd  Genie  zu  construiren  ist  ein  logischer  Fehler.  Es  gehört  nicht  zu  den 
Eigenschaften  der  Talente  Neues  zu  leisten,  d.  h.  neue  geistige  Combinationen 
zu  schaffen.  Es  giebt  talentlose  Genies  und  genielose  Talente,  viel-  und 
veitumfassende  Genies,  aber  auch  vielseitige  Talente,  einseitige  Genies 
and  einseitige  Talente.  Das  Talent  ist  receptiv,  assimilirt  die  Leistungen 
Anderer,  wobei  die  plastische  Combi nationsfähigkeit,  die  Phantasie  oft  ge- 
hemmt wird.  Das  Grenie  geht  dagegen  plastische,  eigene  Wege.  Gäbe  es 
nar  Talente,  so  würde  die  Kultur  bald  dogmatisch,  chinesisch,  erstarren 
und  zurückgehen.  Dem  genialen  Trieb  allein,  mag  er  im  üebrigen  auch 
oft  defect  sein,  verdankt  die  Kultur  alle  ihre  Fortschritte.  Der  Trieb  zur 
Schaffung  neuer  Bahnen  beruht  auf  der  plastischen  Fähigkeit  der  Phantasie ; 
<»hne  Phantasie  kein  Genie,  kein  Schaffen,  kein  Fortschritt.  Zwischen 
Normal  und  Pathologisch  giebt  es  keine  scharfe  Grenze.  Alles  Pathologische 
besteht  aus  mehr  oder  minder  erheblichen  Abweichungen  einer  ideal  ge- 
dachten, jedoch  in  der  Natur  nie  absolut  vorhandenen  Norm.  Lombboso 
fibertreibt.  Viele  Genies  haben  einen  entschieden  pathologischen  Zug,  der 
sie  bis  zur  Geistesstörung  führen  kann.  Doch  darf  man  nicht  verallge- 
meinern. Grobe  pathogene  Factoren  des  Hinilebens  produciren  keine 
Genies!  Doch  kommt  die  Anlage  zu  geistigen  Gleichgewichtsstörungen 
beim  Genie  ernst  in  Betracht.  Sie  führen  oft  zum  Ruin ;  oft  enthalten  sie 
siQch  eine  gewaltige  Entwickelung  des  Phantasievermögens.  Auf  die  Stärke 
der  Defecte  kommt  es  an,  ob  das  Minus  und  das  Pathologische  oder  das 
Plüi«  und  das  Physiologische  überwiegen.  Das  geniale  Schaffen  strengt  das 
Gehirn  mehr  an  als  die  receptiv-productive  Thätigkeit.  Dazu  kommen 
hÄüfige  Gemüthserschütterungen,  Mifserfolge,  Excesse  u.  A.  Günstige  und 
ungünstige  Factoren  können  sich  summiren  und  subtrahiren,  auch  neutrali- 
siren,  —  davon  hängt  vielfach  der  Schlufserfolg  ab.  ümpfenbach. 

O.  £.  Seashore.    Some  Psychological  Statistics.     Univeraity  of  Jowa.    Studie» 
in  Pftychology  2,  1 — 84.    1899.      Bulletin  of  the  University  of  Jowa ,  New 
Series,  1  (5). 
Die  Arbeit  enthält  auf  84  Seiten  die  Beschreibung  folgender  Einzel- 
untersuchungen : 

I.    Visual  Perception  of  Interrupted  Linear  Distances, 
IL   The  Material-Weight  Illusions, 
m.    Localization   of   Sound  in   the  Median  Plane, 
IV.   Hearing-Ability      and      Discriminative     Sensibility 

for  Pitch, 
V.    Motor     Ability,    Reaction-Time,    Rhythm    and    Time 
Sense. 
In  einer  Einleitung  wird  hervorgehoben,  dafs  die  einzelnen   Unter- 
mchungen  den  behandelnden  Gegenstand  nicht  erschöpfen,  dafs  aber  die 
anfgestellten    Probleme    solcher    Natur    sind,    dafs,    wie    z.  B.    bei    den 
Täuschungen,  die  besten  Resultate  bei  dem  ersten  Versuch  erhalten  werden. 
Die  Versuche  wurden  zunächst  an  Studenten  und  Studentinnen  ausgeführt 
nnd  in  einzelnen  Teilen  auch  auf  Schulkinder  ausgedehnt. 

ZeiUchrift  f&r  Psychologie  26.  8 


114  Literaturbericht 

I.  Visual  Perception  etc.  In  dieser  Untersuch ang  ist  ein  Ver- 
such gemacht,  die  MüLLER-LYER'sche  Täuschung  in  verschiedenen  Abfinde- 
rangen  an  Personen  zu  beobachten,  denen  die  Erscheinung  nicht  bekannt 
war.  Der  Verf.  benutzte  für  seine  Versuche  Münzen  verschiedener  GrOlse^ 
verschiedenartige  Diagramme  etc.  Er  untersuchte  ferner  den  Einfloüs  der 
Winkelgröfse  und  der  Seitenlänge  seiner  Versuchsgegenstände,  die  Elasticitftt 
der  scheinbaren  Entfernung  durch  einen  offenen  Rauiü,  und  endlich  wie 
weit  die  Täuschungen  von  der  geistigen  Entwickelung  abhängen.  Zeich- 
nungen der  verwandten  Versuchsobjecte  sind  der  Beschreibung  beigegeben. 
Aus  den  Resultaten  sei  Folgendes  hervorgehoben:  Wo  Münzen  gebraucht 
werden,  nimmt  die  Täuschung  mit  der  Verkleinerung  des  Gegenstandes 
ab.  Durch  das  Belief  der  Münze  wird  die  Illusion  gesteigert.  Deutlichkeil 
der  Umrisse  vermehrt  die  Täuschung  nicht,  diese  wird  dagegen  grOfiser^ 
wenn,  wie  bei  Tapetenmustern,  die  Umrandung  der  verwandten  Figur  com- 
plicirter  ist.  Zieht  man  unter  die  Figur  eine  Linie,  so  wird  die  Täuschung 
verringert.  Die  Täuschung  ist  am  gröfsten  für  Kreise,  am  geringsten  fflr 
Vierecke.  Die  Versuche  über  den  Einflufs  der  Winkelgröfse  und  der  Seiten* 
länge  ergaben  eine  Uebereinstimmung  mit  den  Ergebnissen  Heyman's  (diät 
Zeitschr.  1895,  9,  221).  Die  verschiedenen  Grade  der  geistigen  Entwickelung 
scheinen  auf  die  Täuschung  keinen  Einflufs  auszuüben. 

IL  The  material-Weight  Illusions.  Der  Verf.  constatirt  beim 
Heben  von  Gewichten  eine  weitere  Täuschung,  die  nicht  von  der  GröCse 
der  Gegenstände,  sondern  von  dem  Material  abhängig  ist,  aus  dem  sie  ge* 
fertigt  sind.  Von  drei  gleich  schweren  Cy lindern  (55  g),  die  aus  Kork,  Hole 
und  Eisen  hergestellt  waren,  die  aber  alle  die  gleiche  Länge  und  ebenso^ 
den  gleichen  Querschnitt  besafsen,  wurde  beim  Heben  der  Kork-,  wie  der 
Hohlcylinder  überschätzt,  der  eiserne  unterschätzt.  Diese  Versuche  wurden 
vielfach  variirt,  die  genaueren  Angaben  sind  in  Tabellen  zusammengefafst» 

III.  Localization  of  Sound  in  the  Median  Plane.  Die  Ver- 
suchsanordnung dieser  Untersuchung  war  so  getroffen,  dafs  durch  eine  in 
einem  entfernten  Zimmer  befindliche  elektrische  Stimmgabel  der  primäre- 
Stromkreis  eines  Inductionsapparates  unterbrochen  wurde,  in  dessen  secun- 
därem  Kreis  3  Telephone  eingeschaltet  waren.  Von  diesen  war  das  eine 
7  Fufs  vom  rechten  Ohr,  das  zweite  ebensoweit  vom  linken  Ohr  der  Ver- 
suchsperson entfernt  angebracht,  während  das  dritte  sich  2  Fufs  über  dem 
Kopfe  derselben  befand.  Der  Verf.  arbeitete  ferner  mit  2  Intensitäten, 
von  denen  die  schwächere  eben  wahrnehmbar  war,  die  zweite  aber  vom 
normalen  Ohr  nur  aus  einer  Entfernung  von  ca  lOÜ  Fufs  erkannt  werden 
konnte.  Die  Versuchspersonen,  denen  die  Augen  verbunden  waren,  waren 
Singewiesen,  bei  jedem  Einzelversuche  die  Entfernung  und  die  Richtung 
anzugeben,  aus  der  sie  die  Schalleindrücke  wahrzunehmen  meinten. 

Der  Verf.  fand  unter  Anderem  eine  bestimmte  Tendenz,  den  einfachen, 
über  dem  Kopfe  der  Versuchspersonen  erzeugten  Ton  nach  oben  und  nach 
vorn  zu  localisiren.  Beim  Zusammenklingen  der  beiden  seitlichen  Schallein* 
drücke  wurde  der  resultirende  Ton  nach  oben  localisirt  („above  the  ears**). 
^This  tendency  is  virtually  as  8trong  in  this  case  as  in  the  case  of  the 
Single  median  sound  that  actually  came  from  above."* 


Literaiurbericht  115 

Es  konnte  weiter  festgestellt  werden,  dafs  der  von  oben  herrührende 
Schalleindruck  in  Fällen,  wo  das  eine  Ohr  schärfer  hörte  als  das  andere, 
auf  diese  Seite  verlegt  wurde.  Weniger  ausgeprägt  war  diese  Tendenz  beim 
Zusammenwirken  der  beiden  seitlichen  Schalleindrücke. 

Ebenso  wurde  gefunden,  dafs  in  der  Verlängerung  der  Ohrenachse 
erzeugte  Schalleindrücke  nach  oben  und  nach  vom  localisirt  wurden. 

IV.  Hearing  Ability  etc.  Die  Versuche  wurden  mit  des  Verfassers 
Audiometer  und  mittels  Stimmgabeln  angestellt.  Aus  den  Resultaten  sei 
hervorgehoben,  dafs  auch  bei  normalen  Personen  in  der  Hörfähigkeit  grofse 
individuelle  Abweichungen  gefunden  wurden.  Ebenso  auffallend  war  die 
Yerschienenheit  in  der  Hörfähigkeit  der  beiden  Ohren  einer  und  derselben 
Person.  Wenige  der  untersuchten  Personen  waren  sich  dieses  ünter- 
echiedes  bis  dahin  bewufst  gewesen.  Bei  männlichen  und  weiblichen  In- 
dividuen schien  die  Hörfähigkeit  nicht  sehr  zu  differiren.  Genauere  An- 
gaben hierüber  sind  in  Tabellen  zusammengestellt. 

In  der  XJnterschiedsempfindlichkeit  für  Tonhöhen  übertrafen  nach  des 
Verfassers  Untersuchungen  Kinder  bei  weitem  Erwachsene.  Er  sucht  dies 
dadurch  zu  erklären,  dafs  er  es  für  wahrscheinlich  hält,  dafs  das  CoRTi'sche 
Organ  mit  dem  10.  Lebensalter  die  maximale  Leistungsfähigkeit  erreicht, 
am  dann  hierin  zurückzugehen,  wenn  es  nicht  systematisch  geübt  wird. 

V.  Motor  Ability  etc.  Die  Reaction  auf  Gehörseindrücke  erforderte 
nach  den  vorliegenden  Untersuchungen  die  geringste  Zeitdauer,  diese  Reactio- 
nen  waren  ebenso  am  regelmäfsigsten.  Etwas  länger  waren  die  Reactionen 
&nf  Tasteindrücke  (Stirn),  am  längsten  die  auf  Lichteindrücke.  Bei  Unter- 
scheidungsreactionen  (ein  oder  zwei  Lichteindrücke)  fand  der  Verf.  als 
Dnrchschnittswerthe  bei  Männern  0,08  und  bei  Frauen  0,07  See. 

Bei  Wahlreactionen  (Wahl  zwischen  1  oder  2  Lichteindrücken)  betrug 
der  Mittel werth  bei  Männern  0,10,  bei  Frauen  0,8  See. 

Der  Verf.  bemerkt,  dafs  bei  ungeübten  Versuchspersonen  ein  Unter- 
schied zwischen  motorischer  und  sensorieller  Reaction  nicht  gemacht  werden 
könne.    Er  liefs  deswegen  muskulär  reagiren. 

Bei  den  rhythmischen  Versuchen  wurde  so  verfahren,  dafs  die  Ver- 
suchspersonen, ohne  dafs  das  Wort  Rhythmus  erwähnt  wurde,  in  regel- 
mäTpigen  Zeitabständen  auf  einen  Knopf  zu  drücken  hatten.  Zweck  der 
Untersuchung  war,  „to  determine  the  most  natural  rhythm  of  action  and 
its  characteristics  in  free,  simple,  and  small  movements  of  a  limb  in  its 
mo6t  natural  position".  Aus  den  Ergebnissen  sei  Folgendes  herv^orgehoben : 
-Der  Rhythmus  dieser  freien  Bewegungen  scheint  in  der  Regel  durch  die 
Periodicität  der  Kreislaufs-  und  Athmungsvorgänge  bestimmt  zu  sein.  Der 
häufigste  Rhythmus  ist  der  des  Pulses."  „Auffallend  ist  die  Regelmäfsigkeit, 
mit  der  der  gewählte  Rhythmus  beibehalten  wird."  Es  wurde  eine  starke 
ond  constante  Tendenz  beobachtet,  den  Grad  des  Druckes  während  der 
freien  rhythmischen  Thätigkeit  zu  steigern.  „Der  Durchschnittsdruck  ist 
nach  90  See.  wenigstens  dreimal  so  grofs,  wie  zu  Anfang."  Weibliehe  In- 
dividuen zeigten  eine  geringe  Tendenz,  einen  sehnelleren  Rhythmus  zu 
wlhlen  als  männliche,  doch  wurden  auch  unter  den  ersten  die  längsten 
Perioden  gefunden. 

8* 


'  i  16  Lite^'aturbericht. 

Wenn  den  Versuchspersonen  andererseits  ein  Rhjrthmas  vorgemacht 
.'wurde,  den  sie  zu  begleiten  hatten,  so  zeigte  sich  die  Tendenz,  denselben 
'zu  beschleunigen,  doch  war  in  dieser  Beschleunigung  auch  wieder  ein 
Rhythmus  zu  constatiren,  sofern  die  Beschleunigung  von  manchen  bemerkt 
wurde,  die  dann  in  den  ursprünglichen  Rhythmus  zurückkehrten,  um  dann 
von  Neuem  die  Bewegungen  zu  beschleunigen.  Männliche  Individuen 
•zeigten  bei  diesen  Versuchen  im  Ganzen  etwas  bessere  Resultate  als 
weibliche. 

Zeitsinnversuche  mit  kurzen  Intervallen  ergaben,  dafs  diese  überschätzt 
wurden.  Bei  längeren  Intervallen  wurde  das  kürzeste  fast  richtig  geschfttxt, 
die  anderen  wurden  unterschätzt. 

Kinder,  bei  denen  die  Versuche  abgeändert  waren,  zeigten  regelm&Isig 
eine  Unterschätzung  der  dargebotenen  Zeitintervalle.  Kiesow  (Turin). 

V.  Hacker.    Der  Gesang  der  Vögel,  seine  anatomischen  nnd  biologischen  Grund- 
lagen.   Jena,  Fischer,  1900.    93  S. 

Die  grofsen  Differenzen,  welche  die  Stimmen  der  einzelnen  Vogelarten 
zeigen,  beruhen   zum  Theil  auf  anatomisch-physiologischen  Unterschieden 
des  Stimmapparates,  dessen  Bau  und  Function  im  ersten  Capitel  der  vor- 
liegenden Monographie  erörtert  werden.    Den  wichtigsten  Einflufs  auf  den 
specifischeu   Ausbildungsgrad    des   Gesanges    üben   aber   die    psychischen 
Eigenschaften  der  Vögel,  welche  sie  mehr  oder  weniger  befähigen,  den  an- 
geborenen,   instinctmäfsigen    Gesang    durch    Lernen    zu    vervollständigen. 
Ursprünglich  wurde  die  Stimme  nur  dazu  gebraucht,  irgend  einen  ASect 
zu  äufsern.    Dann  ward  sie   zum  Mittel  gegenseitiger  Verständigung,  An- 
.lockung   und   Zusammenhaltung    der  Artgenossen.      Damit,   dafs   bei   der 
Paarung  das  Männchen  der  lockende,  das  Weibchen  der  wählende  Theil 
ist,  hängt  die  bessere  Ausbildung  des  männlichen  Syrinx  zusammen;  der 
weibliche  ist  im  Grofsen  und  Ganzen  auf  einer  weniger  difEerenzirten  Stufe 
stehen    geblieben.    Vom   einfachen   Lock-  und  Paarungsruf  bis  zum  voll- 
kommenen Gesang  und  Schlag  nach  Zahl  und  Modulirung  der  Töne  läfst 
sich  eine  fortlaufende  Entwickelungsreihe  herstellen,  der  entsprechend  sich 
auch  die  wirkliche  phylogenetische  Entwickelung  des  Vogelgesanges  voll- 
zogen   haben    wird.      Sommer-,    Herbst-    und    Wintergesang   bilden    einen 
weiteren  Fortschritt  des  Gesanges  über  seine  Bedeutung  für  das  eigentliche 
Liebesleben  der  Vögel  hinaus.    Der  Gesang  ist  hierbei  wohl  schon  als  Aus- 
druck einer  Spielstimmung  anzusehen,  also  einer  psychischen  Regung,  die 
über  dem  blos  Instinctmäfsigen  steht.     Das  Schlufscapitel  behandelt  die 
Beziehung  der  Stimme  zu  den  übrigen  Bewerbungserscheinungen,  nament- 
lich zu  den  Sing-  und  Reigenflügen  und  den  Balzkünsten,  bei  denen  allen 
die  Stimme  als   Lockmittel  und   zur  sexuellen  Erregung  dient.    Bei  den 
Kampf-  und  Tanzspielen,   die   eine  Weiterbildung  des  Balzinstinctes   dar- 
stellen, tritt  die  Stimm production  mehr  in  den  Hintergrund. 

ScüAEFER  (Gr.  Lichterfelde-Ost). 


Literaturbericht.  \  17 

R.  Dr  Bois-Rethond.    üeker  die  Geschwindigkeit  des  Hervenprincips.    Archiv, 

für  Physiologie  (Suppl.-Bd.),  68—104.    1900. 

Verf.  untersucht  die  Frage,  ob  die  Fortpflanzung  der  Nervenerregung, 
ukil  gleichmäfsiger  oder  beschleunigter  oder  je  nach  der  Bauart  der  Nerven: 
mit  verschiedener  Geschwindigkeit  abläuft.  Versuchsanordnung  und  Fehler- 
quellen werden  auf  das  Genaueste  beschrieben.  Die  bisher  zur  Zeitmessung 
Wnntzte  einfache  graphische  Methode  mittels  der  Schreibtrommel  hält  Verf. 
für  nicht  exact  genug;  er  benutzt  daher  zur  Zeitmessung  die  PociLLET'sche 
Methode. 

Die  Versuche  sind  am  Nervenmuskelpräparat  vom  Frosch  gemacht; 
«lie  Reizung  des  Nerven  erfolgt  an  vier  Stellen,  die  erste  nahe  am  Muskel, 
«lie  drei  anderen  in  möglichst  gleichen  Abständen  central wärts  davon, 
Verf.  kommt  auf  Grund  einer  grofsen  Anzahl  von  Versuchen  zu  dem  Re» 
soltate,  dafs  die  Erregung  im  Froschnerven  nicht,  wie  bisher  angenommen^ 
mit  der  Länge  der  Leitungsstrecke  abnehme,  sondern  sich  überall  mit 
gleichförmiger  Geschwindigkeit  fortpflanze.  Moskiewicz  (Breslau). 

Max  Verwohn.  Ermfidang^,  ErscbSpfnng  and  Erholung  der  nervösen  Gentra  des' 
Rickenmarks.  (Ein  Beitrag  znr  Kenntnirs  der  Lebensvorgänge  in  den  Henronen.) 
Archiv  für  Physiologie  (Suppl.-Bd.),  152—176.    1900. 

Das  bei  normaler  Thätigkeit  in  den  Neuronen  bestehende  Gleich- 
jrewicht  zwischen  Dissimilation  und  Assimilation  wird  bei  andauernd  starker 
Thitigkeit  gestört,  indem  die  dadurch  hervorgerufenen  Gleichgewichts- 
Murungen  nicht  rasch  genug  beseitigt  werden  können;  es  tritt  schliefslich 
•1er  Zustand  der  Ermüdung  ein. 

Diese  an  peripheren  Organen  genügend  studirte  Erscheinung  läfst  sich 
auch  am  Centralorgane  durch  Vergiftung  des  Rückenmarkes  mit  Strychnin 
'leutlich  nachweisen.  In  kleinen  und  mittleren  Dosen  wirkt  das  Strychnin 
erregend  auf  das  Nervensystem,  indem  es  die  Erregbarkeit  der  sensiblen 
Wemente  des  Rückenmarkes  (nicht  auch  der  motorischen)  erhöht,  so  dafs 
minimale  Reize  genügen,  die  stärksten  Muekelcontractionen  reflectorisch 
iien'orzurufen.  In  sehr  grofsen  Dosen  wirkt  es  jedoch  lähmend,  aber  nicht 
dadurch,  dafs  es  die  Erregbarkeit  der  Centren  herabsetzt,  sondern  durch 
Herzlähmung  in  Folge  ungenügender  Circulation. 

Letztere  Behauptung  beweist  Verf.  durch  eine  Reihe  von  Versuchen. 
Kin  mit  starken  Dosen  von  Strychnin  vergifteter  Frosch  zeigt  erst  eine 
Reihe  tet^nischer  Anfälle,  die  schliefslich  in  einen  Zustand  der  Erschöpfung 
übergehen,  die  Anfälle  folgen  immer  seltener  auf  einander,  bis  völlige 
Lähmung  eintritt  und  Herz  und  Athmung  still  stehen.  Wird  jetzt  künst- 
li'.he  Athmung  versucht,  so  erholt  sich  der  Frosch  und  die  maximale  Er- 
regbarkeit, die  vor  der  Lähmung  bestanden  hat,  tritt  wieder  ein.  Diese 
Asphyxie  ist  nur  eine  Folge  der  gestörten  Circulation ;  denn  sie  wird  durch 
Kinspritzen  einer  Kochsalzlösung  in  die  Gefäfse  des  gelähmten  Frosches 
r:i»ch  beseitigt. 

Für  die  gestörte  Circulation  lassen  sich  zwei  Ursachen  angeben:  un- 
k'enügende  Fortachaffung  der  Ermttdungsstoffe  und  Mangel  an  hinreichen- 
•lem  Ersatzmaterial.  Auch  diese  Behauptung  erhärtet  Verf.  durch  eine  Reihe, 
von  Versuchen,  welche  zeigen,  dafs  die  Lähmung  des  vergifteten  Frosche»* 


118  Literaturbericht 

aufhört  und  die  frühere  Erregbarkeit  wieder  eintritt,  sobald  für  Fort- 
Bchaffung  der  ErmüdungsstofiPe  gesorgt  wird,  z.  B.  durch  DurchstrOmniig 
des  Frosches  mit  einer  Kochsalzlösung,  und  wenn  femer  dem  Frosche  ge- 
nügend Ersatzmaterial  (hauptsächlich  Sauerstoff)  z.  B.  durch  Einspritaen 
von  0-hal tigern  Blute  zur  Verfügung  gestellt  wird. 

Die  Erscheinungen  der  Ermüdung  sind  also  am  Centralnervensystem 
dieselben  wie  am  Muskel,  die  Lähmung  setzt  sich  auch  hier  aus  zwei  Com- 
ponenten  zusammen :  1.  Lähmung  durch  Zerfallsproducte,  2.  Lähmung  durch 
Mangel  an  neuem  Material.  Erstere  nennt  Verf.  Ermüdung,  letztere  E^ 
Schöpfung. 

Zur  Erholung  bedarf  es  also  der  Fortschaffung  der  ZerfaUsprodacte 
und  des  Hinzutretens  von  Ersatzmaterial  (hauptsächlich  des  Sauerstoffes). 
Letztere  That^ache  stimmt  gut  ttberein  mit  den  Anschauungen  von  PFLfoEx 
und  Hermann  über  die  Constitution  des  Eiweifsmoleküls,  welches  erst  durch 
Hinzutritt  von  Sauerstoff  labil  und  dadurch  zerfallsfähig  wird.  Wenn  es 
auf  äufsere  Heize  hin  zerfällt,  so  verbindet  sich  der  Sauerstoff  mit  den 
stickstofffreien  Substanzen  und  spaltet  sich  ab.  Der  zurückbleibende  Kern 
ist  dadurch  stabil  geworden  und  wird  erst  wieder  durch  Hinzutritt  von 
neuem  Sauerstoff  labil.  So  ist  es  auch  bei  dem  durch  Strychnin  vergifteten 
Rückenmark.  Das  Strychnin  erhöht  die  Erregbarkeit  seiner  Ganglienzellen, 
d.  h.  deren  Neigung  zum  Zerfall.  Solange  genügender  Sauerstoff  vorhanden 
ist,  kann  sich  das  Eiweifsmolekül  (Verf.  nennt  es  Biogen)  regeneriren  und 
von  Neuem  zerfallen;  ist  aller  Reservesauerstoff  der  Zelle  verbraucht,  so 
tritt  Lähmung  ein,  wenn  nicht  von  aufsen  neuer  Sauerstoff  zugeführt  wird. 

MosKiEwicz  (Breslau). 

V.  P.  Ossipow.    Ueber  die  physiolog^ische  Bedeutung  des  Ammonshornet.    Archiv 

für  Physiologie  (Suppl.-Bd  ),  1—32.    1900. 

Die  Ansichten  der  Forscher  über  die  physiologische  Bedeutung  des 
Ammonshornes  widersprechen  sich  sehr.  Während  die  einen  in  ihm  ein 
Centrum  für  die  tactile  und  musculäre  Sensibilität  sehen,  halten  es  andere 
für  das  Centrum  der  Riechsphäre,  das  auch  zur  Seh-  und  Hörsphäre  Be- 
ziehungen hat. 

Verf.  unterzog  daher  diese  Frage  einer  erneuten  Prüfung,  indem  er 
mehreren  Hunden  durch  sehr  vorsichtige,  völlig  aseptische  Operationen 
den  gröfsten  Theil  des  Ammonshornes  beiderseits  entfernte.  Die  Hunde 
wurden  mehrere  Tage  lang  vor  der  Operation  auf  ihren  Geruch  hin  unter- 
sucht und  in  ganz  derselben  Weise  nach  der  Operation  noch  über  einen 
Monat  lang.  Als  Riechobjecte  dienten  Fleisch  und  Origanumöl,  das  den 
Hunden  höchst  unangenehm  war. 

Die  Resultate  dieser  an  7  Hunden  vorgenommenen  Operation  waren 
folgende : 

Alle  Hunde  zeigten  Sehstörungen,  die  jedoch  durch  die  bei  der  Opera- 
tion unvermeidliche  Zerstörung  des  Hinterhauptlappens  völlig  erklärt  sind. 
Hingegen  zeigte  kein  einziger  Hund  auch  nur  die  geringste  Störung  seitens 
des  Geruchs-,  Geschmacks-  und  ( rehörssinnes  oder  des  Muskelgefühls.  Be- 
sonders ausführlich  wurde  der  Geruchssinn  geprüft,  auch  dieser  zeigte 
keinerlei  Störung.     Diese  Resultate  stehen  in  directem  Gegensatze  zu  den 


Literatwbericht.  119 

Besultaten  froherer  Forscher.  Verf.  führt  dies  auf  deren  mangelhafte 
Operationstechnik  znrOck  und  kommt  also  zu  dem  Schlüsse,  dafs  dem 
Ammonshom  eine  wesentliche  Bedeutung  fttr  den  Geruchssinn  nicht  zu- 
kommt MosKiEWicz  (Breslau). 

W.  V.  BscHTEBBw.    Uober  die  Localisation  der  Geschmackscentra  in  der  Gebinh 

rinde.    Archiv  für  Physiologie  (Suppl.-Bd.),  145—161.    1900. 

Verf.  hat  mit  seinen  Schülern  Untersuchungen  zur  genauen  Localisa- 
tion des  his  dahin  noch  strittigen  Geschmackscentrums  angestellt,  indem 
er  insgesammt  42  Hunden  verschiedene  Gehirntheile  exstirpirte  und  ihren 
4je8chmack  Tor  und  nach  der  Operation  genau  untersuchte. 

Die  Resultate  sind  folgende: 

Doppelseitige  Zerstörung  eines  Bindengehietes ,  entsprechend  dem 
vorderen  und  unteren  Abschnitt  der  dritten  und  vierten  ürwindung,  hat 
totalen  Verlust  des  Geschmackes  in  allen  Qualitäten  zur  Folge.  Ist  dieses 
Gebiet  nur  einseitig  zerstört,  so  besteht  völliger  Verlust  des  Geschmackes 
anf  der  entgegengesetzten  und  theilweiser  Verlust  auf  derselben  Seite,  wes- 
halb unvollständige  Kreuzung  der  Bahnen  bestehen  mufs.  Mit  dem  Ver- 
luste des  Geschmackes  tritt  auch  Aufhebung  der  tactilen  Sensibilität  der 
Zunge  ein.  Alle  diese  Störungen  bilden  sich,  selbst  noch  bei  doppelseitiger 
Zerstörung,  langsam  wieder  zurück. 

Partielle  Zerstörung  der  Geschmackssphäre  bedingt  Verlust  nur  ein- 
zelner Qualitäten  des  Geschmackes,  und  es  ist  Verf.  gelungen,  wenigstens 
Annähernd  die  einzelnen  Qualitäten  süfs,  sauer,  bitter,  salzig,  in  der  Ge- 
schmackssphäre von  einander  abzugrenzen. 

MosKiEwicz  (Breslau). 

3i[ax  Vebwobn.    Znr  Physiologie  der  nervösen  Hemmnngserscheinnngen.   Archiv 

für  Physiologie  (Suppl.-Bd.),  105—123.    1900. 

Die  Frage,  welche  Beziehungen  zwischen  Skeletmuskel  und  nervösem 
Centrum  bestehen,  wenn  eine  Muskelcontraction  auf  nervösem  Wege  ge- 
hemmt wird,  läfst  von  vornherein  mehrere  Antworten  zu: 

1.  Die  motorischen  Vorderhornzellen  werden  in  ihrer  Thätigkeit  ge- 
hemmt, wodurch  der  Reiz  für  die  Muskeln  aufhört,  diese  also  rein  passiv 
zar  Erschlaffung  gebracht  werden. 

2.  Es  giebt  bestimmte  Hemmungsneurone. 

3.  Die  motorischen  Vorderhornzellen  hemmen  activ,  indem  sie  bei 
ihrer  eigenen  Hemmung  dem  Muskel  direct  einen  Reiz  zuschicken,  der 
<iiei*en  hemmt. 

Zur  Entscheidung  dieser  Frage  stellt  Verf.  folgende  Ueberlegung  an: 
Wird  ein  Muskel  in  situ  durch  gleichmäfsige  Reize  erregt,  so  behalten, 
wenn  die  Zuckungen  graphisch  dargestellt  werden,  diese  dauernd  die  gleiche 
Höhe.  Wird  nun  gleichzeitig  der  Muskel  auf  nervösem  W^ege  gehemmt, 
!«o  müssen  die  Zuckungen  gleich  hoch  bleiben,  wenn  die  Hemmung  eine 
passive  ist,  d.  h.  durch  blofse  Hemmung  der  Vorderhörner  erfolgt.  Wird 
*\eT  Muskel  jedoch  durch  deren  active  Thätigkeit  oder  durch  besondere 
Hemmangsneurone  gehemmt,  so  müssen  die  Höhen  der  Zuckungscurven 
herabgehen,  sobald  die  Hemmung  eintritt. 


120  Literaturbericht. 

Auf  Grund  dieser  Ueberlegung  "hat  nun  Verf.  eine  Reihe  von  Ver- 
suchen angestellt,  die  im  Wesentlichen  darin  bestanden,  dafs  ein  Nerv 
durch  gleichinäfsige  luductionsströme  gereizt  und  die  Zuckungscnrve  des 
zugehörigen  Muskels  aufgeschrieben  wurde,  während  gleichzeitig  centrale 
Hemmungen  auf  ihn  einwirkten.  Bei  den  Versuchen  an  Fröschen  wurde 
dies  dadurch  erreicht,  dafs  auf  eine  Grofshirnhemisphäre  kleine  Kochsali- 
krystalle  aufgelegt  wurden,  welche  Hemmungen  in  der  entgegengesetzten 
Extremität  hervorrufen,  oder  durch  Decapitiren  der  Frösche,  was  völliges 
Erlöschen  der  Reflexerregbarkeit  für  die  nächsten  5—20  Min.  zur  Folge 
hat,  also  ebenfalls  stark  hemmend  wirkt.  Trotzdem  behielten  die  gleich* 
zeitig  durch  Reizung  des  Ischiadicus  gewonnenen  Muskelcurven  dauernd 
ihre  gleichen  Höhen. 

Bei  Versuchen  an  Hunden  benutzte  Verf.  die  von  Shbrringtox  ge- 
machte Beobachtung,  dafs  zwei  antagonistisch  wirkende  Muskeln  sich  nie 
gleichzeitig  contrahiren  können,  dafs  vielmehr  die  Contraction  des  einen 
reflectorisch  eine  Erschlaffung  des  anderen  hervorruft.  Wurden  nur  die 
Strecker  der  Zehen  gereizt,  so  ergaben  sie  eine  bestimmte,  immer  gleich- 
hochbleibende  Zuckungscurve.  Wurden  jetzt  die  antagonistischen  Muskeln, 
also  die  Beuger,  mit  einer  Zange  stark  gequetscht,  so  liefs  sofort  der  Tonus 
der  Strecker  nach,  das  Niveau  der  Zuckungscurv^en  sank  herab;  aber  die 
absoluten  Zuckungshöhen  blieben  während  der  Zeit  der  Hemmung  dieselben 
wie  vorher.  Also  auch  hier  zeigte  sich  kein  Einflufs  der  centralen  Hemmung 
auf  die  absolute  Höhe  der  Zuckungen. 

Verf.  zieht  daraus  den  Schlufs,  dafs  eine  durch  periphere  Reizung  er- 
folgte Contraction  eines  Skeletmuskels  vom  Centrum  her  nicht  gehemmt 
wird,  seihst  wenn  sich  die  entsprechenden  Vorderhornzellen  selbst  im 
Zustande  der  Hemmung  befinden.  Der  Procefs  der  Hemmung  wird  also 
von  der  Ganglienzelle  in  den  Axencylinder  fortgeleitet;  in  diesem  bewegt 
sich  einzig  und  allein  der  dissimilatorische  Vorgang  der  Erregung. 
Hemmungsvorgänge  in  den  Ganglienzellen  und  Erschlaffung  der  Muskeln 
stehen  also  nicht  im  Zusammenhange  von  Ursache  und  Wirkung;  wir  haben 
uns  den  Vorgang  vielmehr  so  zu  denken:  die  im  Zustande  der  Erregung 
befindliche,  d.  h.  dissimilatorisch  thätige  Vorderhornzelle  wird  gehemmt, 
die  Dissimilation  hört  auf,  es  tritt  Assimilation  ein,  die  Zelle  tritt  in  den 
Zustand  der  Ruhe.  In  Folge  dessen  erhält  der  bis  dahin  contrahirte,  also 
auch  in  der  Dissimilation  befindliche  Muskel  keine  motorischen  Impulse 
mehr,  die  Dissimilation  hört  auch  hier  auf,  es  tritt  daher  Assimilation  ein^ 
der  3Iuskel  erschlafft.  Diese  Art  der  Hemmung  nennt  Verf.  passive 
Hemmung,  im  Gegensatz  zur  activen,  die  durch  Einwirkung  eines  directen 
Hemniungsreizes  entsteht. 

Als  weitere  Consequenz  ergiebt  sich  ohne  weiteres,  dafs  der  Skelet- 
muskel  keine  eigenen  Hemmungsnerven  hat.  Seine  Hemmung  erfolgt  rein 
passiv  durch  Aufhören  der  Erregung  im  Centrum. 

MosKiEwicz  (Breslau). 


Literaturbericht.  121 

G.  H.  Pabkeb.    Tbe  fliotoiiieelianical  Gbaiiges  in  tbe  Retinal  Pigment  of  Garn- 

Bins.    The  Bulletin  ef  fhe  Afuseum  of  Comparative  Zoology  35  (6),  143 — 148. 

(From  the  Zoological  Laboratory  at  Harvard  College.)  1899. 
Die  von  P.  am  Auge  eines  Flohkrebsen,  Gammarus  omatus,  unter 
Einwirkung  des  Lichts  beobachteten  Veränderungen  reihen  sich  den  am 
Axthroi>oden  bereits  gekannten  ein:  Das  sogenannte  Rhabdom  (licht- 
brechender  Körper)  wird  scheidenförmig  von  Fortsätzen  der  retinalen  Zellen 
uSinneszellen)  umgeben,  die  sich  noch  weiter  nach  vorn,  die  am  Khabdom 
eitzenden  Coni  umschliefsend,  erstrecken.  Während  bei  im  Licht  gehaltenen 
Thieren  die  Fortsätze  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  schwärzliches  Pigment 
enthalten  und  der  Zellkörper  dichtere  Pigmentanhäufung  nur  in  der  Um- 
gebung des  Kerns  aufweist,  wird  in  der  Dunkelheit  der  das  Rhabdom  um- 
schliefsende  mittlere  Theil  der  retinalen  Zelle  von  Pigment  frei,  welches 
nun  dicht  den  Zellkörper  erfüllt.  Es  wird  hierdurch  ermöglicht,  dafs  in 
der  Dunkelheit  auch  seitliche,  sonst  vom  Pigment  absorbirte  Lichtstrahlen 
von  den  umgebenden,  ein  weifsliches  Pigment  enthaltenden  Zellen  in  das 
Khabdom  hinein  reflectirt  werden  und  so  eine  Verstärkung  des  Lichtreizes 
eintritt  G.  Abelsdorfp  (Berlin). 

A.  TscHEBMAK.    BeobachtQDgen  über  die  relative  Farbenblindheit  im  indirecten 

Sehen.    Arch.  f.  d.  g^s.  Phy»iologie  82,  559—590.    1900. 

Die  neueren  Anschauungen  über  die  Farbenempfindung  der  peripheri- 
schen Xetzhauttheile  stützen  sich  im  Wesentlichen  auf  die  einschlägigen 
Arbeiten  von  Hess  und  von  v.  Kries;  dieselben  werden  in  willkommener 
Weise  durch  die  z.  Th.  neuen  Beobachtungen  von  Tschermak  erweitert. 

T.  stellt  zunächst  die  für  das  Zustandekommen  totaler  Farbenblindheit 
auf  der  Netzhautperipherie  entscheidenden  Factoren  zusammen.  1.  Nicht 
zu  grofse  Ausdehnung  der  gereizten  Netzhautfläche.  2.  Geeigneter  Grad 
der  Sättigung  der  Farbe,  der  wiederum  durch  die  absolute  Lichtintensität 
mitbediugt  wird.  Bei  geringerer  Sättigung  tritt  Farblosigkeit  bereits  in 
geringerer  Excentricität  auf.  3.  Passende  Helligkeit  und  Farbe  des  Grundes, 
indem  durch  Simultancontrast  der  sub  2.  genannte  Factor,  die  Sättigung 
zest^igert  oder  vermindert  werden  kann.  4.  Der  Adaptationszustand  des 
Sehorgans;  durch  vorausgegangenen  Lichtabschlufs  geht  mit  der  Abnahme 
der  Sättigung  der  Farben  eine  dem  Centrum  sich  nähernde  Erweiterung 
der  Grenzen  der  farbenblinden  Netzhautzone  einher.  Chromatische  Ad- 
aptation führt  zur  Einengung  der  Grenzen  für  die  Wahrnehmbarkeit  der 
betreffenden  Farbe  und  zur  Erweiterung  der  Grenzen  für  die  Gegenfarbe. 
.'».  Die  farblose  Empfindung  macht  der  farbigen  in  den  verschiedenen  Netz- 
hautmeridianen nicht  gleichmäfsig  Platz  und  tritt  bei  Roth  und  Grün, 
gleiche  Weifsvalenz  und  Helligkeit  vorausgesetzt,  in  derselben  und  ge- 
ringeren Entfernung  von  der  Fovea  auf  als  bei  Gelb  und  Blau  (Hess). 
Nach  dieser  die  Relativität  der  peripherischen  Farbenblindheit  nochmals 
betonenden  Zusammenfassung  wird  die  Aenderung  des  llelligkeitsverhält- 
nisses  im  indirecten  Sehen  erörtert.  Bei  Helladaptation  zeigen  nacli  Ver- 
.-«uehen  mit  Pigment-  und  Spectralfarben  Roth  und  Gelb  eine  Verminderung, 
Grün  und  Blau  eine  Zunahme  der  Helligkeit  beim  Uebergang  von  centraler 
XU   mehr  und   mehr  excentrischer  Betrachtung.    (Auf  der  farbentüchtigen 


122  Liter  aturhericht, 

Netzhautzone  wurden  heterochromatische  Helligkeitsgleichungen  hergestellt) 
Für  das  helladaptirte  Sehorgan  erfahren  ferner  farblose  Gleichangen 
zwischen  Binärgemischen  bei  zunehmend  indirectero  Sehen  eine  mit  der 
bei  Dunkeladaptation  an  derselben  Netzhautstelle  auftretenden  gleichsinnige 
Aenderung.  Paracentrale  farblose  Gleichungen  bleiben  jedoch  auch  für  die 
mehr  peripherischen  Theile  bestehen,  wenn  das  Sehorgan  sich  im  Zustande 
der  Dunkeladaptation  befindet.  Nur  der  letzte  Satz  stimmt  mit  dem  Er- 
gebnifs  der  v.  KaiEs'schen  Beobachtungen  ttberein,  v.  Kries  behauptet  ganz 
allgemein  ^die  Gültigkeit  aller  paracentralen  Gleichungen  für  alle  peri- 
pheren Partien".  T.  konnte  allerdings  bei  relativ  kleinem  Felde  eine 
Aenderung  farbloser  Gleichungen  im  Zustande  der  Helladaptation  ebenfalls 
nicht  sicher  wahrnehmen,  die  Aenderung  wurde  erst  bei  Einbeziehung 
mehr  und  mehr  peripherer  Netzhautstellen  durch  Vergröfserung  des  Feldes 
deutlich.  Dem  Ref.  erscheint  jedoch  bemerkenswerth,  dafs  auch  die  zuerst 
erwähnte  von  T.  beobachtete  Aenderung  der  relativen  Helligkeit  farbiger 
Lichter  auf  verschiedenen  Netzhautstellen  nicht  ohne  Weiteres  mit  den 
Beobachtungen  von  v.  Kries  übereinstimmt.  Letzterer  hat  zwar  centrale 
heterochromatische  Helligkeitsvergleiche  vermieden  (s.  die  Begründang  in 
dieser  Zeitschr.  15,  273),  indessen  würde  sich  nach  den  von  ihm  mitgetbeilten 
„Peripheriewerthen"  keine  wesentliche  Abweichung  derselben  von  der  Ver- 
theilung  der  Helligkeitswerthe  der  Farben  auf  den  farbentüchtigen  Netz- 
hautpartien vermuthen  lassen.  Die  von  T.  später  auf  S.  584  der  vorliegen- 
den Abhandlung  gegebenen  Zahlen  zeigen  dasselbe  Yerhältnifs,  so  daDs 
Verf.  selbst  sagt,  dafs  die  Helligkeitsvertheilung  des  Spectrums  auf  der 
unter  den  gewählten  Bedingungen  farbenblinden  Netzhautzone  bei  Hell- 
adaptation „denselben  Typus  wie  jene  in  dem  central  oder  extramacular 
farbig  gesehenen  Spectrum"  zeigt;  allerdings  hebt  auch  hier  T.  als  Be- 
dingung eine  Beobachtung  auf  sehr  kleinem  Felde  hervor. 

Ein  dritter  Abschnitt  behandelt  die  ,, Bedeutung  der  Lichtstärke  und 
des  Zustandes  des  Sehorgans  für  farblose  Helligkeitsgleichungen  im  in- 
directen  Sehen".  Mit  fortschreitender  Dunkeladaptation  macht  sich  auch 
auf  der  relativ  farbenblinden  Netzhautzone  die  Erscheinung  geltend,  dafs 
im  Wesentlichen  die  langwelligen  Strahlungen  des  indirect  betrachteten 
und  farblos  erscheinenden  vSpectrums  eine  geringere,  die  kurzwelligen 
Strahlungen  eine  gröfsere  Helligkeitszunahme  aufweisen  als  unzerlegtes 
Tageslicht.  Nach  T.'s  Beobachtungen  wird  auch  hier  (vgl.  die  Arbeit  des- 
selben Autors  „lieber  die  Bedeutung  der  Lichtstärke  und  des  Zustandes 
des  Sehorgans  für  farblose  optische  Gleichungen,  Pflüger's  Archiv  70)  die 
Aenderung  der  relativen  Helligkeit  nicht  durch  den  Wechsel  der  absoluten 
Lichtintensität,  sondern  durch  Zustandsänderung  des  Sehorgans  erzeugt, 
da  bei  Constanz  des  Adaptationszustandes  und  Aenderung  der  Intensität 
Helligkeitsgleichungen  gültig  bleiben,  bei  Aenderung  des  Adaptations- 
zustandes (einzelne  Stadien  fortschreitender  Dunkeladaptation)  und  con- 
stanter  Intensität  aber  ungültig  werden.  WMe  T.  selbst  bemerkt,  hat 
V.  Kries  bereits  den  Unterschied  der  „Peripheriewerthe"  des  helladaptirten 
Auges  von  „den  Dämmerungsperipheriewerthen"  festgestellt.  Es  zeigt  sich 
hier  also  wiederum  die  bereits  in  früheren  Arbeiten  hervorgetretene 
Differenz:   T.    tritt    für    die  Abhängigkeit    der  Gleichungen    nur    von   der 


Literafurbericht  123 

Adaptation  und  nicht  von  der  Lichtstärke  ein,  während  v.  ICbies  auch  beim 
indirecten  Sehen  den  Einflufs  von  Lichtstärke  und  Adaptation  nicht  streng 
sondern  zu  dürfen  glaubt.  Abelsdorff  (Berlin). 

G.  M.  Stbatton.    A  lew  Determination  of  tbe  ■inirnnm  Yisibile  and  its  Bearing 
Ol  Localization  and  Binocnlar  Depth.    Psychol.  Review  7  (5),  429—435.    1900. 

Der  kleinste  seitliche  Ortsunterschied,  der  sichtbar  ist,  ist  bisher  als 
ein  Winkel  von  50'' — 60"  angegeben  worden.  Die  Methode,  die  zu  diesem 
Ergebnifs  führte,  besteht  darin,  dafs  man  zwei  parallele  Linien  so  nahe  zu- 
sammen bringt,  bis  sie  gerade  noch  als  zwei  unterschieden  werden  können. 
Stritton  wendet  eine  andere  Methode  an.  Er  schneidet  eine  senkrechte 
gerade  Linie  in  zwei  Theile  und  verschiebt  den  unteren  Theil  parallel  zu 
sich  selbst,  bis  man  im  Stande  ist  zu  urtheilen,  dafs  die  untere  Gerade 
nicht  mehr  in  der  Bichtung  der  oberen  gelegen  ist.  Das  Ergebnifs  ist,  dafs 
der  Schwellenwerth  für  räumliche  Unterschiede  nur  ungefähr  1**  ist. 

Stbatton  zieht  hieraus  den  Schlufs,  dafs  man  wohl  nicht  länger  anzu- 
nehmen brauche,  dafs  stereoskopische  Tiefen  Wahrnehmung  durch  einen 
unbewufsten  Conflict  der  zwei  Netzhautbilder  bewirkt  werde.  Ein 
weiterer  Schlufs  ist,  dafs  Licht,  das  auf  nur  Einen  Zapfen  der  Netzhaut 
fällt,  wahrscheinlich  nicht  nur  auf  diesen  einen,  sondern  indirect  auch  auf 
die  benachbarten  Zapfen  einwirkt.  Die  Entfernung  von  zwei  Zapfenreihen 
beträgt  30",  also  weit  mehr  als  das  obige  Minimum  von  7".  Dies  Minimum 
scheint  Dur  so  erklärbar  zu  sein,  dafs  von  dem  Lichtätreifen  nicht  nur  die 
direct  getroffenen,  sondern  auch  benachbarte  Zapfen  gereizt  werden,  und 
zwar  mit  verschiedener  Intensität,  je  nach  der  seitlichen  Entfernung  von 
dem  Lichtstreifen.  Max  Meyer  (Columbia,  Missouri). 

Leon  Boütboux.    La  giniration  de  la  gamma  diatoniqne.    Rev.  sdentif.  13  (10), 

289—299;  (11),  326—331;  (12\  359—365.  1900. 
Alle  musikalischen  Töne  lassen  sich  aus  den  numerischen  Beziehungen 
eines  Grundtones  zu  seinen  harmonischen  Obertönen  ableiten.  Beschränkt 
man  sich  auf  die  beiden  ersten  Obertöne,  Octave  und  Quinte,  so  erhält 
mun  die  regelmäfsigste  aller  Leitern,  die  pythagoreische.  Geht  man  bis 
zum  5.  Theilton  inclusive,  so  resultirt  die  ptolemäische  oder  sogenannte 
natOrliche  Tonleiter.  Die  erstere  ist  mehr  für  die  Verwerthung  in  der 
Melodie,  die  letztere  mehr  fftr  die  Harmonie  geeignet.  Eine  absolut  gültige 
Tonleiter  ist  überhaupt  unmöglich.  Die  diatonischen  Töne  besitzen  eine 
gewisse  Variationsbreite ;  man  möge  als  Richtschnur  für  die  Nomenclatur 
die  pythagoreische  Leiter  wählen,  aber  unter  Zulassung  gewisser  Nuancen 
der  Intonation.  Die  Definition  der  Mollleiter  seitens  des  Verf/s  ist  eine 
negative.  Eine  .4-Moll-Tonart  existirt  gar  nicht,  ihre  Töne  sind  die  der 
^'-Dur-Tonart.  —  Der  Bedeutung,  welche  die  Obertöne,  Schwebuugen  und 
Differenzt^ne  für  die  Consonanz  und  Dissonanz  haben,  widmet  Verf.  eine 
lanjrere  Auseinandersetzung,  wobei  er  mit  mehr  errechneten  Differenztönen 
•»perirt,  als  factisch  gehört  werden.  Die  Einwände  gegen  die  IIelmholtz- 
sche  Consonanztheorie  enthalten  kaum  Neues.  Verf.  empfiehlt,  die  Begriffe 
Consonanz  und  Dissonanz  dem  Vocabularium  der  Aesthetik  zu  überlassen ; 


124  Literaturbericht. 

während  für  den  Forscher  Helmholtz  die  Consonanz  gleichbedeutend  war 
mit  dem  Nichtvorhandensein  von  Dissonanz^  ist  für  den  Künstler  die  Con- 
sonanz eine  positive  Realität  und  die  Dissonanz  der  Mangel  derselben. 

ScHAEFER  (Gr.  Lichterfelde-Ost). 

W.  Heinrich.    lote  priliminaire  sor  la  fonction  accommodative  de  la  membrane 

tympanique.      Bulletin  intern,  de  Vacad.   des   seiendes  de  Cracovie.    (März) 

105—111.  1900. 
Verf.  hat  seine  früheren,  noch  nicht  zu  eindeutigen  Resultaten  führen- 
den Untersuchungen  über  die  Accommodationsfähigkeit  des  Trommelfells 
wieder  aufgenommen  und  sich  dazu  des  MiCHELSON'schen  Interferomet^rs 
bedient.  Die  Versuche,  am  Ohre  eben  getödteter  Hunde  angestellt,  ergaben 
Folgendes:  Jeder  Spannung  des  Trommelfells  (durch  Zug  an  der  Tensor- 
sehne) entspricht  nur  ein  einziger  Ton,  auf  den  dasselbe  reagirt;  alle 
anderen  Töne  von  verschiedener  Höhe  haben  keinen  Effect.  Die  wirksame 
Tonhöhe  wechselt  mit  dem  Grade  der  Spannung  und  ist  bei  gleicher 
Spannung  für  verschiedene  Trommelfelle  verschieden  Geräusche  haben 
keine  Reaction  zur  Folge.  Verf.  hält  hiernach  das  Trommelfell  für  ein 
Accommodationsorgan.  Sciiaefer  (Gr.  Lichterfelde-Ost). 

W.  Heinrich.    De  la  Gonstance  de  perception  des  tons  pors  k  la  limite  d'andl- 

biliti.    Bulletin  Internat,  de  Vacad.  des  sciences  de  Cracovie.    (Jan.)    37 — 15. 

1900. 

Wie  in  Bd.  21,  S.  391  dieser  Zeitschrift  berichtet,  hat  Verf.  früher  ge- 
funden, diifs  eben  noch  hörbare  Töne  keine  Intensitätsschwankungen  zeigen» 
während  dies  bei  Geräuschen  der  Fall  ist.  Er  hat  nun  seine  Beobachtungen 
wiederholt  und  zugleich  die  Angaben  von  Cook  und  Titchener,  welche 
auch  bei  Tönen  an  der  Schwelle  der  Wahrnehmbarkeit  Schwankungen  der 
Stärke  bemerkten,  controlirt.  Es  ergab  sich,  dafs  die  Versuchsanordnung 
der  genannten  Autoren  nicht  frei  von  Geräuschen  war  und  dafs  diese  die 
Intensität^schwankungen  der  Töne  vorgetäuscht  haben  müssen.  Ganz 
geräuschfreie  Töne  lassen  thatsächlich  keinerlei  Schwankungen  an  der 
Grenze   ihrer  Wahrnehmbarkoit   hören. 

Sciiaefer  (Gr.  Lichterfelde-Ost). 

G.  W.  Patrick.    On  the  Analysis  of  the  Perceptions  of  Taste,    üniversity  of 
Iowa  Studies   in  Psycholoyy  2,  85 — 127.     1899.      Bxdlctin  of  tht  Universify 
of  Towa,  New  Series,  1  (5). 
In  ihrem  ersten  Theile  enthält  die  Arbeit  wenig  Neues.     Es   werden 
nochmals  die   Fragen    nach   der   Anzahl   der   Grundempfindungen   des   Ge- 
schmackssinnes aufgeworfen,  es  wird  erwogen,  ob  es  deren  eine  unbegrenzte 
oder  nur  eine  beschränkte  Anzahl    gebe,   wie   weit  Geruch,    Getast,   Tem- 
peratur und   Gesicht  bei  der   Aufnahme  von   Geschmackssubstanzen   mit- 
wirken oder  nicht  und  es  wird  schliefslich  die  ..Hypothese'*  als  am  meisten 
den  Thatsachen  entsprechend  anerkannt,  nach  welcher  es  „nur  vier  (mög- 
licherweise nur  zwei)  Geschmacksempfindungen  giebt".    Der  Verf.  schreibt: 
„Indeed,  there  are  several  reasons  for  thinking  with  Valbnti.n  and   other» 
that  salt  and   sour  are  not  true  tastes  at  all.    Kiesow's  experimcnts   with 


Literaturbericht.  125 

eocaine,  however,  seem  to  substantiate  bis  position  that  there  are  four  tastes, 
bat  tbat  salt  and  sour  in  particular  are  attended  by  touch  sensations."  Diese 
g:inze  Darlegung  ist  nur  eine  Wiederholung  bekannter  Ausführungen,  ohne 
dafs  auf  die  ungeheure  Arbeit  der  früheren  Forschung  genügend  Bedacht 
genommen  wird.  Wenn  es  für  die  volle  Anerkennung  von  Salzig  und  Sauer 
als  Geschmacksempfindungen  nicht  genügt,  dafs  die  allgemeine  Natur  des 
änfseren  Reizmittels  auch  hier  gleich  ist  der  der  übrigen  Geschmacks- 
reize, dafs  weiter  nach  anatomischen  Befunden,  wie  nach  der  Arbeit 
Oehäwall's,  die  ich  in  dieser  Hinsicht  bestätigen  und  erweitern  konnte, 
diese  Empfindungen  auf  mit  Geschmacksbechern  versehenen  Papillen  aus- 
gelöst werden,  und  dafs  endlich  psychologisch  das  Charakteristische  dieser 
Empfindungen  dem  der  anderen  Geschmackssensationen  näher  steht  als 
dem  irgend  einer  Empfindung  anderer  Sinnesgebiete,  so  dürfte  eine  Ver- 
ständigung darüber,  ob  Salzig  und  Sauer  Geschmacksempfindungen  sind 
oder  nicht,  überhaupt  schwerlich  möglich  sein.  Den  noch  nicht  erledigten 
Fragen  nach  dem  metallischen  und  elektrischen  Geschmack  tritt  der  Verf. 
überhaupt  nicht  näher,  der  alkalische  wird  nur  gestreift. 

Der  Verf.  spricht  dann  von  Mischungen  von  Geschmacksstoffen  und 
untersucht,  ob  hieraus  neue  Qualitäten  resultiren  oder  nicht.    Er  findet, 
dafs  dies  nicht  der  Fall  ist.     „These  remain   distinct  in  consciousness,  not 
subject  to  fusion  or  mixture  with  each  other;  the  mauifold  taste  percep- 
tions  of  daily  experience  are  made  up  of  these  four  taste  sensations  with 
tbeir  grades  of  intensity,  and  Sensation  of  smell,  touch,  temperature,  sight, 
and  muscle  sensations."    Mit  dem  Letzteren  wird  dem  bisher  Bekannten 
nichts  Neues  hinzugefügt.    Mit  Bezug  auf  den  ersten  Punkt  hatte  ich  ge- 
sagt:    ^Es  entsteht  auf  diese    Weise  für  die   Wahrnehmung,   was  wir  ge- 
wöhnlich als   einen  Mischgeschmack   bezeichnen.     Derselbe  ist  dann  aber 
nicht  nur  gleich  einer  Summe  zweier  an  sich  unvergleichlicher  Qualitäten, 
sondern  es  resultirt  daraus  zugleich  bei  allen  Combinationen  ein  qualitativ 
Neaes,  das  in  die  erzeugte  Mischung  als  Grundgeschmack  eingeht,  aus  dem 
man  dann  die  denselben  verursachenden  Einzelempfindungen  je  nach  der 
verwandten  Lösungsstufe  der  letzteren  herauserkennt.    Dieser  resultirende 
(inindgescbmack  ist  bei  den  Mischungen  von  Salzig  und  Süfs,  sowie  bei  den- 
jenigen von  Salzig  und  Sauer  und  Sauer  und  Bitter  von  so  eigenartig  quali- 
tativer Färbung,  dafs  man  dafür  gar  keine  Bezeichnung  finden  kann.   Bei  den 
anderen  Zusammensetzungen  können  wir  diese  Bezeichnungen  wenigstens 
Stoffen   entlehnen,  für  deren  Ges(!hmack  die  Sprache  bereits  solche  vor- 
bereitet hat.    Wir  sprechen  von  einem  süfssauren,  einem  bittersüfsen,  einem 
bittersalzigen  Geschmack  und  associiren  denselben  mit  der  Wahrnehmung 
bestimmter  Substanzen  aus  dem  Pflanzen-  und  Mineralreiche,  die  uns  den- 
selben verursachen  können,  aber  wir  sprechen  eigentlich   nicht  von  einem 
.nalzHüfsen,  salzsauren  und  bittersauren  Geschmack  etc."    Bei  diesem  Her- 
anstönen der  Componenten  aus  dem  Grundgeschmack  kann  Wettstreit  ein- 
treten.   Diese  Beobachtungen  halte  ich  auch  jetzt  noch  aufrecht.    Der  Verf. 
prüfe  nur  verschiedene  Früchte,  Marmeladen  u.  dgl.,  und  er  wird  vielleicht 
doch  meine  Ansicht  bestätigen  können.    Der  bittersüfse  Geschmack  ist  eben 
doch  noch  etwas  Anderes,  als  die  Empfindungen,  die  man   hat,  wenn   man 
z.  B.  anf  die  eine  Zungenseite  einen  bitteren,  auf  die  andere  einen  süfsen 


126  Liter a  turberich  t. 

Geschmacksötoff  bringt.  Bei  schwächeren  Lösungen  tritt  hier,  wie  Usbis- 
T8CHITSCII  zuei»t  fand,  fast  immer  Wettstreit  ein,  aber  es  fehlt  eben  d«p 
Grund-  oder  Mischungsgeschmack.  Der  Verf.  schreibt:  „Honey  andallthe 
different  kinds  of  syrups  and  molasses  have  only  one  taste,  viz.  sweet" 
In  einer  Note  zu  dieser  Stelle  heifst  es:  „An  exception  may  be  found  in 
New  Orleans  molasses  which  has  a  slight  bitter  taste  together  with  sweet" 
Es  giebt  aber  eben  viele  Substanzen,  aus  denen  man  zwei  Geschmftcke 
herausempfindet. 

Der  Verf.  geht  dann  näher  auf  die  von  mir  [PhU<i8.  Stud,  12,  269)  mit- 
getheilten  Versuche  der  Süfs-Salzreihe  ein.  Er  sehreibt:  ,,1  selected  from 
bis  list  those  mixtures  of  sweet  and  salt  which  gave,  according  to  him, 
most  decidedly  the  new  tastes,  that  is,  the  insipid  and  alkaline  tastes.** 
Ich  hatte  geschrieben:  „an  die  Stelle  dieser  beiden  Qualitäten  war  eine 
Empfindung  getreten,  die  ich  am  besten  mit  dem  Ausdruck  «fade«  be- 
zeichnen möchte  und  die  man  dem  unbestimmt  Laugigen,  das  man  bei 
grofser  Verdünnung  von  Kali-  und  Natronlauge  erhält,  vergleichen  könnte. 
Die  Empfindung  ist  nicht  gleich  Null,  sie  entspricht  auch  nicht  völlig  der- 
jenigen des  destillirten  Wassers,  sondern  ist  von  so  eigenartig  neuer  Qualität, 
dafs  sie  unwissentlich  schwer  definirbar  und  eben  in  der  angegebenen 
Weise  am  geeignetsten  zu  bezeichnen  ist."  Es  war  mir  eben  schwer,  einen 
passenden  Namen  zu  finden  und  in  diesem  Sinne  sind  natürlich  die  Angaben  in 
der  Tabelle  zu  verstehen.  Der  Verf.  will  meine  Versuche  genau  nach  meiner 
Angabe  nachgemacht  haben.  Ich  habe  diese  mühevollen  Versuche  mit  geringen 
Ausnahmen  an  mir  selbst  angestellt  und  habe  angegeben:  ,.Al8  Scbmeck- 
Htelle  benutzte  ich  die  Zungenränder,  weil  die  oben  erwähnten  Unterschiede 
der  Perceptionszeiten  hier  weniger  stören  und  durch  Zusatz  von  Lösungen 
geringerer  Stärken  leicht  ausgeglichen  werden  können."  Der  Verf.  schreibt: 
„I  tested  four  observers,  two  men  and  two  women,  with  these  Solutions. 
They  were  blindfolded  and  '/ä  ccm  of  the  Solution  was  placed  upon  the 
tongue"  (wo,  wird  nicht  angegeben)  „by  means  of  a  glass  dropper.  They 
were  instructed  to  taste  the  material  carefully  and  swallow  it.**  Wenn  der 
Verf.  die  Schmecksubstanz  über  die  ganze  Zunge  vertheilen  und  dann  noch 
verschlucken  läfst,  so  werden  hierdurch  gerade  die  Fehler  in  die  Versuche 
eingeführt,  die  ich  vermeiden  wollte,  nämlich  dafs  Flächen  verschiedener 
Empfindlichkeit  betheiligt  waren.  Der  Verf.  sollte  aufserdem  wissen, 
dafs  bei  allen  diesen  Versuchen  auch  wohl  individuelle  Differenzen 
vorhanden  sind,  und  dafs  Schwellenwertho  und  andere  Angaben,  die 
für  eine  Versuchsperson  gelten,  nicht  mit  mathematischer  Genauigkeit 
oline  Weiteres  auch  für  alle  anderen  gelten  können,  zumal  in  einem 
Sinnesgebiete,  wo  diese  Differenzen  beträchtlich  sind.  Ich  habe  bei 
mir  selbst  bei  Constanterlialtung  des  Quantums  der  Concentrationsstufe 
einer  (Jualität  und  stetiger  Abänderung  derjenigen  der  Concentrationsstufe 
der  anderen  durch  mühevolle  Versuche  den  Punkt  herausgesucht,  wo  das 
in  Frage  stehende  Phänomen  bei  mir  auftrat.  Patrick  hat  weder  an  sich 
selbst  irgend  einen  Versuch  ausgeführt,  noch  auch  sich  Mühe  gegeben,  die 
^lischungsverhältnisse  bei  seinen  Versuchspersonen  zu  variiren,  und  doch 
lassen  seine  Angaben  vermuthen,  dafs  er  hierdurch  zum  Ziele  gekommen 
wäre;  denn  dieselben  zeigen  verglichen  mit  meinen  Angaben  mehr  Ueber- 


Literaturbericht  1 2  7 

einfitimmaDg,  als  er  selbst  herausliest,  wie  überhaupt  die  Angaben  nicht 
hinreichend  ausgenutzt  und  interpretirt  sind.  Die  betreffenden  Versuche 
worden  zudem  an  jeder  Versuchsperson  nur  ein  einziges  Mal  ausgeführt 
Ich  schlage  ihm  noch  einen  anderen  Versuch  vor.  Er  bestimme  an  sich 
selbst  die  Schwellen  für  Süfs  und  Salzig,  thue  dann  zu  einem  Quantum 
der  Flüssigkeit  von  der  Süfsschwelle  soviel  Salz,  als  seiner  Salzschwelle 
entspricht,  und  er  wird  vielleicht  die  von  mir  beschriebene  Erscheinung 
erkennen.  Er  schalte  hierbei  alle  störenden  Factoren  aus,  bringe  die  Sub- 
stanz auf  eine  begrenzte  Schmeckstelle,  aber  er  lasse  sie  nicht  herunter- 
whlncken. 

Der  Verf.  discutirt  dann  die  Frage,  dafs  Salzlösungen  unterhalb  der 
Salzschwelle  schon  fade  und  laugig  schmecken.  Dies  ist,  wie  er  auch  weifs, 
von  mir  wiederholt  betont  worden  und  diese  von  mir  gefundene  Thatsache 
ist  der  Ausgangspunkt  meiner  mit  Dr.  Höbeb  zusammen  unternommenen 
Untersuchung  über  den  Geschmack  von  Salzen  und  Laugen  gewesen 
iZritschr.  f.  phys.  Chemie  27,  4).  Der  Verf.  scheint  diese  Arbeit  nicht  zu 
kennen.  Er  mag  die  dort  mitgetheilten  umfangreichen  Versuchsreihen  und 
Ergebnisse  aber  doch  selbst  nachlesen. 

Der  Verf.  wird  wohl  nicht  im  Ernst  glauben  (es  geht  aus  seiner  Arbeit 
nicht  klar  hervor),  dafs  es  meine  Ansicht  sei,  die  ungeheure  Anzahl  der 
sogenannten  Geschmacksempfindungen  des  populären  Bewufstseins  gingen 
aus  einer  Mischung  der  vier  Geschmacksqualitäten  Süfs,  Salzig,  Sauer  und 
Bitter  hervor.  Mir  ist  wenigstens  nicht  bekannt,  wo  ich  Derartiges  gesagt 
haben  sollte.  Wo  sich  so  viel  Empfindungen  vereinigen  können,  wie  im 
Mandraum,  wo  sich,  wie  ich  zeigen  konnte,  auf  dem  engbegrenzten  Räume 
einer  einzigen  geschmacksempfindlichen  Papille  vier  Sinnesgebiete,  noch 
dazu  mit  verschiedenen  Qualitäten  vereinigen  können,  liegt  der  Schlufs  nur 
XU  nahe,  dafs  bei  der  Aufnahme  der  Nahrung  auch  alle  betheiligt  sind. 
Eine  herv'orragende  Rolle  kommt  hier,  wie  wohl  bekannt  ist,  in  erster  Linie 
dem  Geruchssinn  und  sodann  dem  Tastsinn  in  allen  seinen  Abstufungen 
(Betheiligung  der  festeren  und  weicheren  Mundtheile  u.  s.  w.)  zu,  und  be- 
sonders, wenn  man  den  Schwerpunkt  auf  die  Geftthlsseite  verlegt.  Ich 
habe  in  meinen  Arbeiten  angegeben,  von  wem  die  leichte,  auch  vom  Verf. 
benutzte  Ausschaltung  des  Geruchssinnes  stammt,  er  unterläfst  dies. 

Den  Rest  der  Arbeit  bilden  Mittheilungen  über  die  Ergebnisse  von 
Versuchsreihen,  die  an  einer  anosmotischen  Dame  angestellt  wurden.  Der 
Verf.  fafst  diese  Ergebnisse  selbst  allgemein  folgendermaafsen  zusammen: 
-On  the  whole  the  experiments  confirm,  so  far  as  they  go,  the  hypothesis 
made  in  this  article,  and,  while  not  diminishing  the  importance  which  has 
been  given  to  sensations  of  smell  in  the  „tastes"  of  common  experience,  they 
indicat«  that  touch  and  muscle  sensations  play  an  unexpectedly  important 
part."*  KiESOW  (Turin). 


E.  DE  Cton.    L'orientatlon  chez  le  pigeon  voyagenr.    Rev.  scientifique  13  (12), 

35^—359.     1900. 

Die  Brieftauben  benutzen  zur  Orieutirung  über  ihren  Weg  nicht  nur 
Gesichtseindrücke    und    Geruchswahrnehmungen     sondern     auch    Druck-, 


1 2^  /-  itrrntHrl'eririk  f.  i 

T*fn:7/«rrMtt2r-  ul<1  vielleii-lit  nri<-}j  andere  Empnndiin2<eii.  die  durch  die  Eior     ;r 
Mirkuti'j  ^]*rr  LufT'*trön:i:n2en  auf  die  Ilant  und  namentlich  auf  die  NaiMr     j 
•chWimhiiUi  aii-:;el6Ht  werden.    I>ie  Fähigkeit.  ?ioh  innerhmlh  eines  grolM     ) 
Terrain»*  zure'-htzufinden.   die   auc^  vielen  Jaedthieien  in  hohem  MmIm 
ei'.;eri  i^t.  I^eniht  ni<'}it  auf  einer  bli.iS  instiuc-:iven.  sondern  anch  auf  intdU- 
geiiter    V»rrw<-nhnn5r   der  eben    erwähnten    .Sinnesreixe.      Ke   BogengAgc 
koriirii<:n  nur  in  ho  weit  in  Betra<^ht.  als  eine  hohe  Entvickelong  denelbca 
di<-  l5<-we:rli''hkeit  de»  Thierej*  ^ün^tie  beeinänfet. 

ScHAEFEB   Gr.  LichterfeldeOst . 

B.  B'/tKiKüf.    U  perceptioi  des  monvemeits  par  le  Bfyei  4fit  smatiiH 

tactiles  des  jeix.    Her.  jJiHj«.  50  r? .  l— 17.    19C0. 

Die  Frajff-  nacli  der  Perception  der  Bewegung  eines  fixirten  Objecto 
ist  >^-reit»  von  Ai:»eBT  experimentell  studirt  worden.  Derselbe  erkl&rte 
jedor-li  dl*»  Perr-eption  uirht  durch  die  tactilen  und  musknlftren  Empfin- 
dun;fen  de«  Autren,  v,  Fli.i-«  hl  hatte  constatirt,  dafs  für  die  Schfttznng 
der  ^ieKr-liwindi^fkeit  einer  IJewejrung  es  nöthi^  ist.  dsfs  man  einen  unb^ 
wtTu\'u'h*'U  J'iinkt  des  Gesichtsfeldes  üxirt,  oder  dafs  man  mit  den  Augen 
dem  f-ji-li  lie webenden  Ohjecte  seihst  foljrt.  Aitiert  bediente  sich  aweier 
('yliiid<;r.  Vor  jedem  derselben  war  eine  rechtwinklige  Oeffnung  von 
iy)  min  Br"it«*  und  2f)  mm  Höhe  angebracht.  Der  Beobachter  war  800  mm 
von  den  <^.'yl indem  entfernt.  Letztere  drehten  sich  mit  verschiedenen 
GeM-h windigkeiten.  Vor  dem  links  befindlichen  war  in  sehr  geringer  Ent- 
fern untr  an  «rinem  Coronfaden  in  der  Mitte  der  Oeffnung  eine  kleine 
WiK-hskiigel  aufgehängt,  welche  als  Fixationspunkt  diente.  Der  Beobachter 
hatte  an  ZI]  {feinen,  welcher  der  beiden  Cvliuder  ihm  am  schnellsten  sich  in 
drehen  Hchi«'n.  Atiikkt  l^estütigte  dabei,  was  in  der  Hauptsache  schon 
V.  P'lkihciil  gefunden  hatte,  dafs  nämlich,  so  oft  man  den  Punkt  iixirte,  die 
Bewegung  ungefähr  zwei  Mal  oder  ein  wenig  mehr  als  zwei  Mal  rascher 
erfolgte,  als  wenn  man  den  Gegenstund  mit  den  Blicken  verfolgte.  Die 
»klärung  dc*H  erhaltenen  KenultatH  stöfst  jedoch  auf  Schwierigkeiten,  weil 
bei  dem  vorliegenden  Kxperiment  mehr  als  ein  Gegenstand  sichtbar  war. 
In  «'inem  anderen  Falle  liefs  Albkiit  Platindraht  auf  elektrischem  Wege 
roth  werden.  Kr  constatirte,  dafs  die  Wahrnehmung  der  Bewegung  sehr 
unsicher  wird,  dafs  man  nämlich  einerseits  dann  eine  Bewegung  xu  con- 
statiren  glaubt,  wenn  keine  vorhanden  ist  t autokinetische  Empfindungen), 
und  dafH  man  andererseits  eine  wirkliche  und  sehr  markirte  Bewegung 
nicht  wahrnimmt.  Kr  glau])t  daraus  schliefsen  zu  dürfen,  dafs  die  An- 
wesenheit von  un]>ewegli<'hen  und  im  Allgemeinen  von  bekannten  Objecten 
ebenso  für  dit^  Perception  der  Bewegung  als  für  unsere  Orientirung  im 
Kaume  von  fundamentaler  Wichtigkeit  ist,  <la  eine  isolirte  leuchtende  Linie 
in  einem  unsichtbaren  Haume  nicht  genügt,  uns  über  die  Bewegung  und 
Localisiruiig  zu  unterrichten.  Dieser  Schlufs  ist  nach  Verf.  inexact.  Denn 
erstens  macht  AriiKUT  keinen  Unters(rhied,  ob  man  das  Object  fixirt  oder 
nicht,  liäfst  man  Z/  B.  im  Dunkeln  einen  leuchtenden  Punkt  so  rasch 
kn^isiMi,  dafs  das  Aug(>  nicht  mehr  folgen  kann,  so  wird  nicht  allein  die 
Bewegung  percipirt,  sondern  auch  die  Geschwindigkeit  unterscheidet  sich 
nur  um  wenig,  wenn   man  den  Punkt   inmitten   von   unbeweglichen  sichte 


Literaturhtrich  t»  129 

teren  Objecten  kreisen  läfst.  Der  Schlufs  ist  auch  für  den  Fall  unsicher, 
4Mb  die  Augen  dem  Gegenstande  folgen.  Man  kann  auch  die  Stellung 
oder  Bewegung  eines  isolirten  Objects  percipiren,  selbst  wenn  man  dasselbe 
Izirt.  Aber  die  Beobachtung  ist  viel  schwieriger  als  bei  einer  Bewegung 
inmitten  von  sichtbaren  und  unbeweglichen  Objecten. 

Um  das  Minimum  von  Geschwindigkeit  zu  studiren,  welche  man 
einem  isolirten  Punkte  ertheilen  mufs,  damit  seine  Bewegung  bemerkt 
wird,  bediente  er  sich  eines  sich  drehenden  Cy linders,  welcher  durch  eine 
mit  einem  Spalt  versehene  Schachtel  bei  diffusem  Tageslicht  beobachtet 
wurde.  Hier  muüs  die  Geschwindigkeit,  damit  man  sie  bemerkt,  ungefähr 
zehn  Mal  gröfser  sein,  als  wenn  das  Object  sich  unter  unbeweglichen  sicht- 
baren Objecten  bewegt.  Aubert  schliefst  daraus,  dafs  wir  eine  Vorstellung 
von  dem  unbewegten  Baume  besitzen,  und  dafs  wir  mit  dieser  Vorstellung 
die  wirkliche  Bewegung  des  Baumes  verglichen.  Verf.  hält  diese  Er- 
kliruDg  fflr  bedenklich.  Vielmehr  spielen  nach  ihm  die  Bewegungen  der 
Augenlider  eine  Rolle. 

Um  dies  zu  zeigen,  gebrauchte  Verf  drei  Objecte:  einen  leuchtenden 
Punkt  von  2  mm  Durchmesser,  einen  leuchtenden  gleichförmigen  Kreis 
von  4  cm  Durchmesser  und  einen  anderen  von  derselben  Gröfse,  dessen 
Oberfläche  aber  durchbohrt  war  von  55  Oeffnungen,  jede  von  2  mm  Durch- 
messer. Die  Kreise  waren  in  schwarzes  Papier  eingeschnitten.  Hinter 
denselben  befand  sich  Papier,  welches  durch  eine  Lampe  erhellt  war.  Die 
genannten  Objecte  wurden  nun  mit  Hülfe  des  Apparats  von  Verdin  gerad- 
linig und  parallel  mit  dem  Gesicht  des  Beobachters  von  links  nach  rechts 
bewegt.  In  der  Mitte  seines  Laufes  war  ein  solches  Object  0,50  m  von  den 
Augen  entfernt.  Verf.  fand,  dafs  die  Bewegung  des  Punktes  ein  wenig 
leichter  percipirt  wurde  als  die  der  beiden  Kreise.  Also  die  Leichtigkeit 
der  Perception  einer  Bewegung  hängt  nicht  wesentlich  von  der  Zahl  der 
sich  bewegenden  Objecte  ab.  Demnach  scheinen  die  Differenzen  in  der 
Intensität  schon  keinen  Einfiufs  auszuüben.  Auch  durch  Verdunkelung 
des  Kreises  und  der  Oeffnungen  wird  keine  Veränderung  erzielt.  Alles 
dies  wird  leicht  erklärlich,  wenn  man  bedenkt,  dafs  beim  Fixiren  eines 
isolirten  Objects  mittels  der  tactilen  Empfindungen  der  Augen  die  Ver- 
änderungen in  der  Intensität  der  Netzhautempfindungen  die  Intensität  der 
tactilen  Empfindungen  nicht  modificiren.  Die  Perception  der  Bewegung 
des  Punktes  ist  leichter  als  die  Bewegung  des  Kreises,  weil  im  letzteren 
Falle  kleinere  Bewegungen  der  Augen,  welche  verschiedene  Theile  des 
Kreises  nach  einander  festhalten,  mit  den  Augenbewegungen,  welche  dem 
Object  als  Ganzem  folgen,  interferiren. 

Eine  kaum  merkliche  Bewegung  wird  besser  beobachtet  am  Ende  des 
Experiments  als  zu  Beginn.  Es  treten  bisweilen  Verzögerungen  und  auto- 
kinetische Phänomene  ein.  Bisweilen  verschwindet  das  Phänomen  auf 
Augenblicke  gänzlich.  Verf.  fand,  dafs  die  Geschwindigkeit,  bei  welcher 
die  Bewegungen  des  Punktes  und  des  Kreises  anfangen  zur  Perception  zu 
gelangen,  sich  wie  1 : 2  verhalten.  Eine  leuchtende  Linie  von  0,4  mm  Breite 
ond  5  mm  Länge  hatte  denselben  Effect  wie  der  Punkt. 

Z«itsc1irift  fOr  Psychologie  86.  9 


130  Literaturbericht 

Versuchen  wir  jetzt,  die  Ursachen  zu  ergründen.  Durch  die  Action 
der  Netzhaut  nehmen  wir  wahr,  dafs  ein  Punkt  sich  links  oder  rechts  vom 
anderen  befindet.  Bei  einem  leuchtenden  Punkt  im  Dunkeln  können  wir 
nur  in  Beziehung  zu  uns  sagen,  ob  er  rechts  oder  links,  oben  oder  ontea 
sich  befindet.  Einen  wichtigen  Antheil  an  der  Bestimmung  der  Lage  eines 
Punktes  haben  die  tactilen  Empfindungen  der  Augenlider.  Um  die  Em- 
pfindlichkeit der  Augen  an  der  Oberfiäche  zu  messen,  stellte  Verf.  ein 
Experiment  mit  einem  optischen  Apparat  an,  desgleichen  Experimente  ohne 
Apparat,  welche  sämmtlich  im  Original  nachgelesen  werden  mögen.  Verf. 
fand,  dafs  diese  Empfindlichkeit  nicht  oder  nur  zum  kleinsten  Theil  von 
der  Hornhaut,  vorherrschend  von  den  Augenlidern  herrührt.  Die  Action 
der  Augenlider  ergänzt  die  Action  der  Netzhaut  in  denjenigen  Fällen,  wo 
letztere  bei  der  Perception  keine  directe  Rolle  spielt.  — 

Es  ist  das  Verdienst  des  Verf.'s,  die  Bewegungen  der  Augenlider  lur 
Erklärung  der  Perception  von  Bewegungen  der  Körper  herangezogen  m 
haben.  Eine  vollständige  Klärung  in  dieser  Hinsicht  wird  jedoch  erst 
durch  weitere  bezügliche  Experimente  und  Beobachtungen  erzielt  werden 
können.  Giessler  (Erfurt). 

S.  Freud.    Die  Traumdeatang.    Leipzig  und  Wien,  Deuticke,  1900.    371  8. 

Das  merkwürdige  Buch  des  Wiener  Nervenarztes  sucht  dem  so  oft 
bearbeiteten  und  doch  noch  immer  nicht  geklärten  Problem  des  Traumes 
von  einer  gänzlich  neuen  Seite  her  nahe  zu  kommen.  Wie  schon  der  Titel 
ergiebt,  sieht  F.  im  Traum  nicht  ein  Phänomen,  das  lediglich  in  seiner^ 
der  Wahrnehmung  und  Erinnerung  zugänglichen,  unmittelbaren  Beschaffen- 
heit aufgefafst  und  beurtheilt  werden  will,  sondern  ein  solches,  das  auf 
irgend  etwas  nicht  direct  Gegebenes  deutet,  das  einen  wirklichen  Sinn 
hat.  Natürlich  ist  seine  Traumauslegung  nicht  mit  der  der  alten  Seher 
und  der  neuen  Traumbücher  zu  identificiren ;  sie  geht  nicht  auf  etwas 
Aeufseres,  Objectives,  Zukünftiges,  sondern  auf  etwas  Subjectives,  auf  tiefer- 
liegende, vollwichtige  und  sinnvolle  psychische  Acte,  durch  welche  der  so 
absurde,  ideenflüchtige,  verworrene  und  unzusammenhängende  Tranm- 
Inhalt  in  allen  seinen  Theilen  Bedeutsamkeit  und  innige  Beziehungen  zu 
wesentlichen  Zügen  der  träumenden  Persönlichkeit  erhalten  soll. 

Die  Hauptgedanken  des  Werkes  lassen  sich  in  folgenden  Sätzen  za> 
sammenfassen :  Jeder  Traum  stellt  eine  Wunscherfüllung  dar» 
Nicht  so  sehr  Wünsche  momentaner  Art,  sondern  chronische,  meist  schon 
von  der  Kinderzeit  her  im  Unbewufsten  schlummernde  Wunschtendenzen 
sind  es,  die  im  Traume  Verwirklichung  erfahren.  Nur  selten  freilich  ist 
der  manifeste  Trauminhalt  eine  directe  Darstellung  des  W^unschzieles  (so- 
wenn  das  Kind  den  von  den  Eltern  versagten  Genufs  als  erreicht  träumt). 
Meist  dagegen  zeigt  der  unmittelbare  Aspect  nichts  von  einem  Wunsche, 
oft  vielmehr  sehr  Unerwünschtes,  Trauriges  und  Aengstliches,  oft  auch 
gänzlich  Indifferentes;  aber  hier  läfst  eine  an  der  Traumerinnerung 
arbeitende  Analyse  erkennen,  dafs  die  scheinbar  sinnlosen  Bestandtheile 
des  Traumes  vermöge  mannigfacher  oft  höchst  krauser  Associationen  (die 
stets   an   indifferente   Eindrücke   des   letzten   Tages   anknüpfen)  auf   Vor- 


LiUraturbericht  131 

Stellungen  zurückweisen,  welche  mit  Wünschen  des  Träumenden  in  innigem 
Zusammenhang  stehen;  diese  so  nachgewiesenen  Wünsche  bilden  den 
eigentlichen  Bestimmungsgrund  und  Sinn  des  Traumes,  für  den  das  un- 
mittelbare Traumerlebnifs  daher  nur  symbolischen  Charakter  hat.  Die 
Frage,  warum  denn  aber  die  Traumwünsche  sich  meist  in  solchen  absonder- 
lichen Verstellungen  kundgeben,  beantwortet  F.  durch  Einführung  einer 
höheren  psychischen  Instanz,  die  eine  Art  von  Censur  übt  und  die  er 
schematisch  zwischen  das  Unbewufste  und  das  Bewufstsein  als  das  „Vor- 
bewulste^  einschiebt.  Sie  spielt  etwa  eine  ähnliche  Rolle  dem  latenten 
Vorstellungsinhalt  gegenüber  wie  die  WuNDT'sche  „Apperception"  und  be- 
wirkt im  Traum,  nur  im  minderen  Maafse,  das,  was  sie  beim  Wachen  in 
Tiel  vollkommeneren  Maafse  leistet:  nämlich  kritische  Unterdrückung  oder 
lam  mindesten  Unschädlichmachung  jener  Nachtseiten  des  psychischen 
Dtseins,  deren  Entfesselung  unsere  Existenz  stören  oder  entwürdigen 
mfifste.  Diese  Censur  übende  Thätigkeit  nun  ist  durch  die  besonderen 
Bedingungen  des  Schlafes  zwar  nicht  aufgehoben,  aber  doch  herabgesetzt. 
Kann  sie  daher  die  im  Unbewufsten  weilenden  Wünsche  auch  nicht  wie 
im  Wachzustande  unterdrücken,  so  ist  sie  doch  stark  genug,  sie  nicht  nackt 
and  unverhüllt  ins  Bewufstsein  passiren  zu  lassen  und  unterzieht  sie 
daher  einer  Umgestaltung,  unter  der  sie  einen  harmlosen,  ja  sinnlosen  Ein- 
druck machen  —  ähnlich  etwa  wie  die  Theatercensur  irgend  eine  in  ihren 
Beziehungen  durchsichtige  Persönlichkeit  durch  eine  mit  anderem  Namen 
oder  anderem  Kostüm  ersetzt. 

Zu  dieser  Wunschtraumtheorie  ist  F.  offensichtlich  durch  ähnliche 
Gedankengänge  hingeleitet  worden  wie  es  jene  waren,  die  ihn  schon  früher 
zam  Versuch  einer  Erklärung  und  darauf  basirten  neuen  Therapie  der  Hysterie 
^föhrt  hatten:  auch  in  den  hysterischen  Symptomen  sieht  er  die  an  ganz 
indifferent«  Aeufserlichkeiten  sich  klammernde  Symbolik  für  unbewufste 
Wunscht«ndenzen ;  es  gilt  nur,  diese  letzteren  durch  eine  vom  Patienten 
Mlbst  vorzunehmende  Analyse  seiner  seelischen  Verflechtungen  ins  Be- 
Tnistsfein  zu  ziehen,  um  sie  unschädlich  zu  machen  und  ihre  Symptome 
xn  beseitigen.  — 

Wir  müssen  gestehen,  dafs  diese  neuartige  Betrachtung  des  Traum- 
lebens und  seine  an  vielen  Stellen  vorgenommene  Analogisirung  zu  patho- 
logischen Zuständen  uns  manche  interessanten  Perspectiven  eröffnet,  ob- 
fieieh  die  Theorie  selbst  aus  gleich  zu  besprechenden  Gründen  Ablehnung 
finden  mufs.  Werthvoll  erscheint  mir  vor  Allem  das  Bestreben,  sich  bei 
der  Erklärung  des  Traumlebens  nicht  auf  die  Sphäre  des  Vorstellungs- 
lebens, des  Aflsociationsspiels,  der  Phantasiethätigkeit,  der  somatischen  Be- 
ziehungen zu  beschränken,  sondern  auf  die  mannigfachen,  so  wenig  be- 
kannten Fäden  hinzuweisen,  die  in  die  kernhaftere  Welt  der  Affecte 
hinnnterleiten  und  vielleicht  erfet  in  der  That  die  Gestaltung  und  Auswahl 
des  Vorstellnngsmaterials  verständlich  machen  werden.  Auch  sonst  enthält 
•li»  Buch  viel  Einzelheiten  von  hohem  Anregungswerth,  feine  Beobach- 
umgen  und  theoretische  Ausblicke;  vor  Allem  aber  ein  aufserordentlich 
ruchhaltiges  Material  an  sehr  genau  registrirten  Träumen,  das  jedem 
Arbeiter  auf  diesem  Gebiete  hochwillkommen  sein  mufs. 

9* 


132  Literaturbericht 

Dagegen  mufs  leider  der  Hauptinhalt  des  Buches  als  verfehlt  und 
unannehmbar  bezeichnet  werden.  Wie  nftmlich  beweist  Verf.  seine  oben 
geschilderte  Theorie?  Durch  eine  Reihe  durchgeführter  Deutungen  von 
Träumen  seiner  selbst  und  seiner  Patienten.  Diesen  Deutungen  aber  steht 
der  nüchterne  Leser  zuerst  abwartend,  dann  zweifelnd,  endlich  aber  mit 
einem  immer  energischeren  Schütteln  des  Kopfes  gegenüber.  Die  ange- 
wandte Methode  ist  die  folgende :  Zunächst  wird  der  Trauminhalt  einfach 
verzeichnet.  Dann  beginnt  die  „Psychoanalyse".  Der  Geträumthabende 
nimmt  sich  sein  Traumreferat  vor  und  läfst  bei  jedem  Punkt  desselben 
seine  Gedanken  beliebig  schweifen,  hierbei  aber  immer  sich  selbst  beobach- 
tend und  alle  auftauchenden  Associationen,  Gedankensprünge,  Einfälle, 
Anklänge,  Gleichnisse,  Wortspiele  sofort  registrirend.  Hierbei  stöfst 
irgendwo  die  sich  selbst  überlassene  Wachphantasie  auf  Wünsche,  die  man 
früher  gehabt  hat  oder  jetzt  hat.  Oft  zeigt  sich,  dafs  man  von  einem  oder 
mehreren  Bestandtheilen  desselben  Traumes  auf  den  verschiedensten  Wegen 
zu  denselben  Wunschmomenten  kommt  (was  psychologisch,  sobald  ein 
solches  Wunschmoment  nur  einmal  bemerkt  und  psychisch  betont  worden, 
ganz  natürlich  ist).  Nunmehr  wird  die  Hypothese  aufgestellt,  dafs  dieses 
freie  Associationsspiel  entsprechend,  nur  in  umgekehrter  Folge,  auch  im 
Traum  gearbeitet  hat  —  und  der  Zusammenhang  zwischen  dem  Wünschen 
und  dem  Trauminha]t  ist  hergestellt;  was  die  Wachanalyse  zufällig  ge- 
funden, wird  für  die  Traumsynthese  zum  Hauptinhalt  gemacht. 

An  diesem  Verfahren  ist  nicht  weniger  als  Alles  zu  bestreiten.  Weder 
ist  die  „Selbstbeobachtung"  eine  so  einfache  Sache,  namentlich,  wenn 
man,  wie  der  Verf.  durch  seine  Theorie,  und  wie  seine  Patienten  durch 
sehr  eindringliche  Ausfragung  und  Belehrung,  über  den  Wunsch  Charakter 
des  Traumes,  beeinflufst  ist;  noch  ist  auch  nur  die  geringste  Veranlassung 
dafür  vorhanden,  in  den  Wachphantasien  eine  Wiederholung  der  Traum- 
arbeit zu  sehen  und  das,  worauf  jene  als  £nd-  oder  Knotenpunkt  zufällig 
gestofsen,  bei  dieser  als  unbewufsten  Ausgangspunkt  anzunehmen.  Hier 
wird  einfach  eine  Behauptung  an  Stelle  des  .Beweises  gesetzt.  „^S^  i^i**^ 
nicht  aus,  so  legt  ihr's  unter.'* 

Nur  einige  wenige  Beispiele  aus  der  Fülle:  Wenn  eine  Dame  —  die 
sich  einmal  für  einen  Musiker  interessirt  hat  —  träumt,  sie  höre  ein 
Wagnerconcert,  in  welchem  Hans  Richter  von  einem  mitten  im  Saale 
stehenden,  hohen,  oben  umgitterten  Thurme  dirigirt,  so  bedeutet  dies,  daiJB 
der  Mann,  den  sie  an  Hans  Richter's  Stelle  wünscht,  der  aber  leider 
geisteskrank  ist  (das  Gitter!),  die  anderen  thurmhoch  überragen  solle.  — 
Wenn  der  Verf.  träumte,  dafs  Freund  R.,  der  vergebens  Professor  werden 
möchte,  sein  Onkel  sei,  so  fällt  ihm  bei  der  Analyse  sein  wirklicher  Onkel 
J.  ein,  von  dem  sein  Vater  einmal  gesagt  habe,  er  sei  ein  SchwachkopL 
Folglich  bedeutet  der  Traum:  ich  wünschte,  dafs  R.  (den  ich  im  Wachen 
sehr  schätze)  ein  Schwachkopf  wäre;  dann  dürfte  ich  hierin  und  nicht  in 
confessionellen  Gründen  (die  in  Wirklichkeit  bei  ihm  und  bei  mir  maDs- 
gebend  sind)  das  Motiv  seiner  Zurücksetzung  sehen ;  folglich  hätte  ich,  der 
ich  kein  Schwachkopf  bin,  Aussicht,  Professor  zu  werden.  —  Eine  specielle 
Tendenz,  nämlich  allen  möglichen  und  unmöglichen  Trauminhalten  sexuellen 
Sinn  unterzulegen,  spielt  in  dem  Buche  eine  solche  Rolle,  dafs  es  zwecklos 


Literaturbericht.  133 

i«>t,  ein  einzelnes  Beispiel  za  bringen;  wahrscheinlich  ist  das  vorwiegend 
von  Hysterikern  herrührende  Material  Schuld  daran. 

Die  Unzulässigkeit  dieser  Traumdeuterei  als  wissenschaftlicher  Methode 
mulste  mit  aller  Schärfe  betont  werden;  denn  die  Gefahr  ist  grofs,  dafs 
unkritischen  Geistern  dieses  interessante  Vorstellungsspiel  behagen  könnte 
ond  wir  damit  in  eine  völlige  Mystik  und  chaotische  Willkür  hinein- 
geriethen  —  man  kann  dann  mit  Allem  Alles  beweisen. 

Nicht  unerwähnt  will  ich  lassen,  dafs  eine  Bibliographie  von  78 
Nummern  und  eine  sehr  übersichtliche  Einleitung  über  die  bisherigen  £r- 
kl&nmgs versuche  der  Traumphänomene  orientiren.      W.  Stebn  (Breslau). 

J.  M.  VoLD.    Ueber  HallaGinationen,  vorzüglich  Gesicbts-Hallociiiationen,  auf 
der  GniBdlage  von  cntan-motorischen  Zuständen  and  auf  derjenigen  von  ver- 

gaigeien  Gesichts- Eindrücken.  Zeitschrift  für  Psychiatrie  57,  834 — 86ö. 
Nach  Ansicht  des  Verf.'s  erhalten  cutan- motorische  Latenzzustände 
<ler  der  Willkür  unterworfenen  Körperpartien  nicht  allein  im  normalen, 
sondern  auch  im  abnormen  Leben  häufig  einen  bestimmten  psychischen 
Aasdruck  nicht  in  sogenannten  Bewegungsempfindungen,  sondern  in  Ge- 
sichtsbildem,  welche  sich  auf  die  betreffenden  Körpertheile  beziehen.  Verf. 
hat  durch  Experimente  gefunden,  dafs  das  Traumleben  durch  motorische, 
weniger  durch  cutane  Reizungen  beeinflufst  wird.  Bei  cutanen  Ein- 
wirkungen nahm  der  Träumende  den  drückenden  Gegenstand  mehr  oder 
weniger  genau,  mit  guter  oder  schlechter  Localisirung  an  sich  selbst  oder 
an  einem  Anderen  wahr,  oder  der  Druck  verflüchtete  sich  in  eine  Vor- 
stellung, oder  man  hatte  einen  Gegenstand  vor  sich,  der  dem  Reizmittel 
oder  dem  gedrückten  Gliede  in  einer  Beziehung  (visuell,  phonetisch)  ähn- 
lich war.  Bei  cutan-motorischen  Einwirkungen,  z.  B.  bei  umbundenen 
Faf:*gelenk,  gekrümmter  Hand,  träumt  man,  dafs  man  selbst  Bewegungen 
aasführt,  von  denen  die  reale  Lage  des  Versuchsgliedes  ein  integrirendes 
Moment  bildet,  oder  man  sieht  Andere  solche  Bewegungen  ausführen. 
Bisweilen  treten  Passivbewegungen  im  Traume  auf,  z.  B.  träumt  man  bei 
einer  bestehenden  Plantarbeugung  beider  Füfse,  dafs  man  selbst  gefahren 
wird.  Verf.  sucht  nun  eine  Anwendung  dieser  Thatsachen  auf  Wach- 
hallurinationen  zu  machen.  Er  behauptet,  dafs  die  an  der  Grenze  des 
Si'hlafes  auftretenden  „hypnagogischen"*  Hallucinationen,  die  in  Alkohol- 
iind  anderen  Intoxicationsdelirien  sowie  in  hysterischen  und  epileptischen 
Zuständen  auftretenden  ebenfalls  auf  cutan-motorische  Spannungen  zurück- 
zuführen seien.  Bei  den  hypnagogischen  Hallucinationen  erscheinen  be- 
kannte Personen  oder  Gespenster  oder  der  eigene  Doppelgänger  oder  Thier- 
bilder.  Die  Schwebeerscheinungen,  die  Aenderungen  in  der  Heftigkeit  der 
Bewegungen  und  Volumenänderungen  sind  auf  eine  allgemeine  motorische 
Unruhe  zurückzuführen.  Selten  sieht  man  andere  Personen  in  ruhiger 
l^i^e.  Der  Grund  dafür  ist  darin  zu  suchen,  dafs  die  ruhige  Lage  gewöhn- 
lich nicht  wie  die  Bewegung  stark  gefühlsbetont  ist,  weshalb  die  Gedächt- 
nifjsbilder  der  ersteren  nicht  so  leicht  wie  die  der  letzteren  dem  Schlaf- 
bewuffltsein  zur  Verfügung  stehen.  Häufiger  ist  eine  Vertheilung  der 
eigenen  Empfindungen  an  andere  Wesen  nachweisbar,  ähnlich  wie  bei 
progressiver  Dementia  und  Paralysis   generalis.    Oft  sieht  der  Träumende 


134  Literaturbericht. 

einen  begrenzten  Abschnitt  eines  Körpers,  namentlich  wenn  bei  einem 
Körpertheil  in  Wirklichkeit  eine  motorische  Form  vorliegt.  Hier  muts 
man  ebenfalls  annehmen,  dafs  die  Gesichtsbilder  cutan-motorisch  veranlaüst 
sind,  ähnlich  wie  bei  den  an  Anästhesie  leidenden  Personen.  Von  be- 
sonderem Interesse  sind  die  Hallucinationen  von  Gesichtern  im  hypna* 
gogischen  Zustande.  Es  sind  Zeichen  von  cutan-motorischen  Faeles-Ans- 
lösungen.  Denn  warum  würden  sonst  gerade  Gesichter  erscheinen  und 
nicht  viel  mehr  andere  Gegenstände?!  Auf  den  cutan-motorischen  Ursprung 
deutet  auch  der  Umstand,  dafs  die  Gesichter  Fratzen  schneiden.  Der 
Tonus  sämmtlicher  Muskeln  des  Gesichts  wird  nicht  immer  gleichzeitig 
und  in  derselben  Weise  geändert,  z.  B.  in  dem  Augenblick,  wo  die  Mund- 
winkel vorzüglich  erregt  sind,  kann  also  ein  gesehenes  Gesicht  mit  ver- 
zogenem Munde  herbeigerufen  werden.  Aehnlich  kommen  auch  bei  Epi- 
leptikern Fratzen  vor.  — 

Die  verdienstvolle  Arbeit  bildet  eine  Fortsetzung  der  Traumexperimente, 
in  denen  Vold  bereits  Bedeutendes  geleistet  hat.  Besonders  werthvoll 
sind  die  gefundenen  Analogien  zwischen  den  Traumbildern  und  den 
Gesichtsbildern  von  Geisteskranken.  Jedoch  scheint  es  mir,  als  ob  bei  der 
causalen  Erklärung  der  Zustand  der  inneren  Organa  zu  wenig  berück- 
sichtigt wurde.  Dafs  letztere  dabei  eine  Rolle  spielen,  davon  zeugen  schon 
die  zahlreichen  Experimente  von  Weyoandt  (Entstehung  der  Träume, 
Leipzig  1893).  Giessleb  (Erfurt). 

Hans  Raeck.   Der  Begriff  des  Wirklichen.    Eine  psycbologiscbe  Untersnchnng. 

Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer,  1900.  89  S. 
Der  erste  Theil  dieser  Untersuchung,  der  sich  als  „historisch-kritische 
Betrachtung^  bezeichnet,  ist  bereits  in  dieser  Zeitschrift  angekündigt  worden. 
In  unveränderter  Gestalt  erscheint  er  hier  wieder  und  zugleich  mit  ilim 
der  zweite  Theil,  der  den  Titel  führt  „Neue  Behandlung  des  Gegenstandes*". 
Der  Grundgedanke  des  Verf.'s  ist,  dafs  das  Wirklichkeitsbewufstsein  seinem 
Wesen  nach  Selbstverlorenheit  in  Etwas  ist,  das  als  vom  Ich  verschieden 
erscheint.  Dem  scharfsinnigen  Verf.  auf  all  den  vielverschlungenen  Wegen 
der  Deduction  und  der  Vertheidigung  seines  Satzes  zu  folgen,  kann  unsere 
Aufgabe  nicht  sein.  ^   Offneb  (München). 

C.  Bos.    Les  croyances  implicites.    Rev.  phüos.  50  (7),  33 — 46.    1900. 

Der  Glaube  spielt  in  allen  Stadien  unserer  sinnlichen  Activität  eine 
Rolle.  Das  Negiren  bezw.  Zweifeln  ist  auch  eine  Form  des  Glaubens.  Es 
gehört  dazu  unter  Umständen  sogar  ein  hohes  Maafs  von  Kraft,  nach  Bac<> 
z.  B.  zum  Leugnen  der  Existenz  Gottes.  Also  unser  Glaube  erstreckt  sich 
nicht  allein  auf  das,  was  wir  bejahen,  sondern  auch  auf  das,  was  wir  ver- 
neinen. Der  willkürliche  Glaube  ist  nur  der  Kern  des  impliciten  Glaubens. 
Letzterer  bildet  die  gröfsere  Masse  unseres  Glaubens,  er  kommt  meist  erst 
dann  zur  Geltung,  sobald  er  auf  ein  Hindernifs  stöfst.  Der  implicite 
Glaube  ist  an  unseren  Instinct  gebunden.  —  Schon  auf  der  Basis  unseres 
Lebens  steht  der  implicite  Glaube  als  ein  Postulat.  Denn  wir  können 
nicht  einmal  essen,  ohne  zu  glauben.  Aufserdem  ist  er  die  Bedingung 
einer  jeden  der  psychischen  Erscheinungen,  welche  uns  nothwendig  er- 
«chienen  sind  zur  Constituirung  des  expliciten  Glaubens.    Alle  Pereeption 


Literaturbtricht.  135 

beruht  schliefslich  auf  Glauben,  denn  die  Erscheinungen  sind  unseren  Auf- 
fassungen davon  nicht  ähnlich.  Auch  beim  Gedächtnifs,  bei  allen  unseren 
Gefühlen  ist  das  Glauben  im  Spiel. 

Allgemein  ist  der  Glaube  an  das  Ich  und  an  das  Gegenwärtige.  Der 
Glaube  an  das  Ich  beruht  auf  dem  Gefühl  für  die  Existenz  unseres  Körpers, 
-welches  in  der  Permanenz  unserer  inneren  Empfindungen  wurzelt.  Hierzu 
gesellt  sich  in  zweiter  Linie  der  Glaube  an  unser  denkendes  und  wollendes 
Ich,  an  unsere  Person.  Dieser  Glaube  an  unsere  Persönlichkeit  ist  um  so 
fester,  je  fester  die  synthetische  Einheit  des  Ich  ist.  Das  Ich  unserer 
Persönlichkeit  besteht  aus  mehreren  Ich,  welche  sich  gegenseitig  behindern. 
Jedes  Alteriren  unseres  Gedächtnisses  beeinflufst  die  Idee,  welche  wir 
uns  von  unserer  Person  machen.  Zum  Glauben  an  das  Ich  gehört,  auch 
•das  Selbstvertrauen. 

An  der  Seite  des  Glaubens  an  das  Ich,  welchen  man  als  croyance 
simple  bezeichnen  kann,  steht  der  croyance  compos^e.  Das  Ich  dehnt  sich 
aus  und  projectirt  andere  Ich's,  es  verbreitet  sich  in  ihnen,  um  dadurch 
Material  zu  einer  breiteren  Synthese  zu  haben.  Dies  ist  um  so  mehr  der 
Fall,  je  mächtiger  die  Persönlichkeit  ist.  Unser  Glaube  an  die  Realität  der 
anderen  Menschen  verändert  sich  bezüglich  seiner  Intensität  je  nach 
unserem  Bedürfnifs:  Das  Genie  arbeitet  für  die  ganze  Menschheit.  Für 
wenig  entwickelte  Menschen  gelten  nur  diejenigen  Personen  als  reell, 
welche  mit  ihnen  in  Berührung  kommen. 

Der  Glaube  an  unser  Ich  ist  die  Bedingung  für  den  Glauben  an  die 
Eealität  der  äufseren  Welt.  Die  Wirklichkeit  steht  in  Beziehung  zu  unserem 
activen  Leben.  Denn  wir  antworten  auf  die  von  den  Dingen  ausgehenden 
Heize  durch  active  Bewegungen.  Bos  definirt  mit  Hinblick  hierauf  das 
Gefühl  für  die  Realität  als:  „Das  Bewufstsein,  welches  wir  von  den  wirk- 
lichen Bewegungen  haben,  durch  welche  unser  Organismus  auf  die  Er- 
regungen antwortet."  Die  Impulse  zu  solchen  Bewegungen  liefern  uns 
jedoch  nur  einen  Theil  der  Erklärung.  Hierzu  ist  noch  erforderlich,  dafs 
dieselben  auf  Hindernisse  stofsen.  Namentlich  also  die  Berichte  des  Tast- 
sinns spielen  dabei  eine  grofse  Rolle. 

Der  Glaube  an  das  Vergangene  befestigt  sich  in  jedem  Moment  durch 
unsere  gegenwärtigen  Acte,  von  denen  wir  a  posteriori  den  impliciten 
Glauben  an  das  Vergangene  ableiten.  Viel  lebhafter  indessen  ist  der 
Glaube  an  die  Realität  des  Zukünftigen.  Derselbe  wurzelt  in  unseren 
Wünschen,  Hoffnungen.  Wir  stehen  der  Zukunft  gewissermaafsen 
schöpferisch  gegenüber.  Giessler  (Erfurt). 

Hanns  Gboss.    Ein  Zauberbnch  aus  einem  modernen  Procefs.    Arch.  f.  Criminal- 

Anthropologie  3,  88—99.  1900. 
Gross  ist  in  Besitz  eines  alten  Zauberbuches,  das  noch  im  Jahre  1899 
in  einem  Procefs  eine  grofse  Rolle  spielte,  und  nicht  etwa  in  einen  welt- 
abgelegenen Winkel,  —  sondern  in  Berlin  selbst!  Es  war  im  Besitz  nicht 
etwa  eines  Bauern,  sondern  eines  Steuorbeamten,  der  die  Feldzüge  mitge- 
macht hatte  und  im  Besitze  von  fünf  Militärehrenzeichen  ist !  Die  wenigen 
mitgetheilten  Recepte  des  Buches  zeigen,  wie  zählebig  der  Aberglauben 
noch  ist.  Umpfenbach. 


136  Literaturbericht. 

Harry  Campell.     The  Feelings.    Jöurn,  of  Mental  Science  46  (193),  219—242. 
1900. 

Verf.  will  sein  Thema,  das  Sinnesempfindungen  und  Gemüths- 
bewegungen  umfafst,  vom  praktischen  Standpunkt  des  Arztes  aus  be- 
handeln, ohne  alle  psychologischen  „Subtilitäten^. 

Gemüthsbewegangen  sind  ihm  nichts  als  Accorde  von  Empfindungen, 
insbesondere  auch  der  den  Ausdrucksbewegungen  entsprechenden.  Bei 
guter  Gesundheit  ist  das  Gresammtgefühl  meist  lustvoll,  im  anderen  Falle 
das  Gegentheil;  und  können  dann  selbst  Freuden-  bezw.  Unglücksnsch- 
richten  nur  einen  vorübergehenden  Stimmungswechsel  hervorrufen.  Trotz 
der  grofsen  Unterschiede  bei  den  Individuen  mufs  der  Arzt  versuchen, 
sich  in  die  Gefühle  seiner  Patienten  hineinzudenken,  zwar  nicht  mit 
sentimentaler,  sh&r  discreter  Sympathie. 

Im  zweiten  Abschnitt  betont  C,  dafs  neben  den  speciiischen  Sinnes- 
empfindungen die  unspecificirte,  allgemeine  Körperempfindung,  die  „coen- 
aesthesia^  von  Bedeutung  sei.  Dieselbe  entstamme  den  chemischen  Reizen, 
welche  insbesondere  in  den  Flüssigkeiten  des  Körpers  stattfinden. 

Da  Empfindung  und  Gefühl  auch  Gedanken  und  Thaten  des  Menschen 
beherrschen,  sei  also  das  sich  aus  diesen  ,, zusammensetzende"  Ich  in 
weitem  Umfang  bestimmt  durch  den  Stoffwechsel  des  Organismus. 

Ettlinger  (München). 


Frank  Thillt.    Gonscience.    Fhilosophical  Review  9  (1),  1&— 29.    1900. 

Der  Verf.  sucht  in  der  vorliegenden  Abhandlung  die  Entstehung  des 
Gewissens  zu  erklären  und  die  Möglichkeit  einer  Vererbung  des  Gefühls 
der  V^erpfiichtung  begreiflich  zu  machen. 

Der  Mensch  vermag  Recht  von  Unrecht  zu  unterscheiden ;  er  besitzt 
ein  moralisches  Bewufstsein  oder  ein  Gewissen.  An  die  Vorstellung  eines 
Beweggrundes  reihen  sich  eigenthümliche  Gefühle  und  Regungen :  Gefühle 
der  Billigung  und  Mifsbilligung,  Gefühle,  die  zur  That  drängen,  oder  von 
deren  Ausführung  abhalten.  Sind  mehrere,  von  Gefühlen  der  Billigung 
und  Mifsbilligung  begleitete  Vorstellungen  im  Bewufstsein,  so  führt  die- 
jenige zu  einer  That  des  Willens,  die  zur  vorherrschenden  wurde.  Diese 
inneren  Vorgänge  drücken  sich  in  Urtheilen  über  einen  Werth  aus.  Ist 
die  That  von  einem  Anderen  ausgeführt  worden,  so  begleiten  gewisse 
Triebe  und  Gefühle  die  Vorstellung  dieser  That  und  veranlassen  uns  zu 
einem  Werthurtheil.  Durch  dieses  Urtheil  kennzeichnen  wir  uns  selbst, 
weil  das  Urtheil  sagt,  welchen  Eindruck  die  That  auf  uns  macht.  Das 
Gewissen  nämlich  ist  eine  Verbindung  von  psychischen  Elementen.  Das 
Gefühl  der  Verpflichtung,  des  Sollens  besteht  aus  einem  Gemisch  von  €re- 
fühl  und  Trieb  und  der  Begriff  der  Pflicht  führt  auf  gewisse  Gefühle  und 
Triebe  zurück,  w^elchc  das  moralische  Urtheil  veranlassen. 

Die  Beobachtung,  dafs  die  Vorstellungen  gewisser  Handlungen  von 
besonderen  Gefühlen,  welche  den  Werthurtheilen  zu  Grunde  liegen,  be- 
gleitet sind,  drängt  zur  Frage,  ob  die  Verbindung  zwischen  diesen  Vor- 
stellungen und  Gefühlen  ursprünglich  und  angeboren,  oder  ein  Ergebnifs 
der  Erfahrung  ist.    Sie  ist  das  letztere.    Schon  der  Entwickelungsgang  des 


Litcraturbericht  137 

Kindes  deutet  darauf  hin.  Die  in-  der  Familie  begonnene  Erziehung  wird 
durch  die  Schule  und  die  Welt  im  Grofsen  fortgesetzt.  Das  Kind  lernt 
Gebote  anerkennen  und  fürchten.  Die  Gefühle  der  Furcht,  welche  sich 
mit  den  Vorstellungen  gewisser  Handlungen  in  dem  Bewufstsein  des 
Kindes  einstellen,  entwickeln  sich  zu  den  Gefühlen  der  moralischen  Pflicht. 
Analog  entstehen  aus  den  Gefühlen  der  Billigung  Achtung,  Liebe,  Ehr- 
furcht. Die  Fähigkeit,  unter  gewissen  Bedingungen  moralische  Gefühle  zu 
haben,  mufs  ursprünglich  und  angeboren  sein.  Daraus  folgt  jedoch  nicht, 
dafs  die  moralischen  Gefühle  mit  den  Vorstellungen  der  Handlungen,  mit 
denen  sie  jetzt  verbunden  sind,  ursprünglich  in  Verbindung  standen.  Wird 
nicht  blos  die  Fähigkeit  überhaupt  zu  fühlen  auf  die  Nachkommen  über- 
tragen, sondern  ist  auch  die  Neigung  auf  eine  gewisse  Art  zu  fühlen  erb- 
lich, dann  könnte  auch  die  Neigung,  in  Verbindung  mit  gewissen  Vor- 
stellungen eine  Verpflichtung  zu  fühlen,  sich  zu  gewissen  Handlungen 
verpflichtet  zu  fühlen,  eine  ererbte  sein. 

Die  Entstehung  der  moralischen  Gefühle  im  Menschengeschlechte  ist 
nach  dem  Verf.  in  ähnlicher  Weise  zu  denken,  wie  im  Einzelwesen. 
Weitere  Fragen,  ob  Gott  das  Gefühl  der  Verpflichtung  erschaffen  hat,  und 
wie  der  erste  Mensch,  der  je  Verpflichtung  fühlte,  zu  diesem  Gefühle  ge- 
kommen ist,  werden  vom  Verf.  in  das  Gebiet  der  Theologie  und  Meta- 
physik verwiesen.  Saxingeb  (Linz). 

DuoAs.    Fanatisme  et  charlatanUme:  itade  psychologlqae.    Rev.  phüos.  49  (G), 

596—618.    1900. 

Die  Activität  des  Menschen  ist  nach  Verf.  ein  Mittelding  zwischen 
zwei  Extremen:  der  reinen  Idee  und  der  reinen  Handlung,  wobei  unter 
einer  reinen  Idee  eine  solche  verstanden  wird,  welcher  keine  Handlung 
folgt,  unter  einer  reinen  Handlung  eine  solche,  welche  von  keiner  reinen 
Idee  dirigirt  wird.  Die  Idee  ist  eine  Kraft,  ein  Princip  des  Handelns.  Sie 
Htrebt  danach,  den  Glauben  an  die  Wirklichkeit  ihres  Objects  zu  erzeugen 
und  nach  Acten,  welche  diesem  Glauben  entsprechen.  Wo  diese  Idee  nicht 
zur  Bethätigung  kommt,  da  wird  sie  abnorm,  als  reine  Idee.  Dieselbe  kann 
erstens  noch  Acte  in  sich  schliefsen,  aber  vergebliche,  falsche,  sie  schliefst 
zweitens  keine  Acte  mehr  in  sich,  wohl  aber  Urtheile,  aber  falsche,  drittens 
schliefst  sie  weder  Urtheile,  noch  Acte  in  sich. 

Die  chimärische  Idee  begegnet  keinen  antagonistischen  Ideen.  Sie 
ist  dem  Fanatismus  proportional.  Der  active  Fanatiker  verfolgt  rücksichts- 
los seine  Idee.  Er  giebt  sich  nur  oberflächlich  von  seiner  Handlung 
Rechenschaft,  er  verblendet  sich.  Mancher  verzichtet  auf  die  Verwirk- 
lichung seiner  Idee,  da  er  die  Unmöglichkeit  fühlt,  er  ist  zufrieden,  einen 
neuen  Impuls  gegeben  zu  haben.  Andere  erklären  Thatsachen  im  Sinne 
ihrer  Theorie,  welche  derselben  in  Wirklichkeit  widersprechen.  Diese  Um- 
wandlung des  machtlosen  Fanatismus  ist  der  Charlatanismus.  Während 
der  Fanatiker  seine  Idee  mit  allen  Mitteln  zu  verfolgen  sucht,  projectirt 
«ler  Charlatanismus  sie  nur  wie  ein  vergebliches  Schattenbild.  —  Im  zweiten 
Falle  verwirklicht  sich  die  Idee  nicht  in  Handlungen,  sondern  in  Worten. 
♦Solche  Ideen  erlangen  eine  ungeheuere  Gewalt.  Es  entsteht  der  speculative 
Fanatismus.    Der  Denker  wird  verwegen.    Er  befreit  sich  von  der  objec- 


138  Liter  aturhencht. 

tiven  und  socialen  Wahrheit.  Es  kommt  ihm  nur  auf  das  „Declamiren* 
an.  —  Eine  dritte  hierher  gehörige  Classe  von  Menschen,  die  MeditiTen, 
iinterwerfen  ihre  Ideen  keiner  Controle,  weder  der  Controle  der  Erfabrang; 
noch  der  des  Urtheils.  Sie  verschliefsen  ihre  Ideen  in  sich  und  erhöhea 
.dadurch  deren  Energie.  Das  angenehme  Spiel  des  Geistes  genügt  ihnen. 
Fanatismus  und  Charlatanismus  haben  ihre  Wurzel  im  Verachten  der 
Erfahrung.  Giesslsr  (Erfurt). 

Oskar  Vogt.    Ueber  den  Einflilfs  einiger  psychischer  Zustände  anf  Kniephiaemei 
and  Mnskeltonns.    Zeitschr.  für  Hypn.  10,  202—218.    1900. 

Vogt  ist  seit  längerer  Zeit  bemüht,  die  körperlichen  Rückwirkungen 
psychischer  Zustände  zu  erforschen.  Dieses  Mal  befafst  er  sich  mit  dem 
Kniephänomen  und  Muskeltonus  und  ihren  Veränderungen.  Er  controlirte 
dieselben  bei  Heiterkeit  und  Traurigkeit,  bei  Einwirkung  einer  Salzlösung 
und  Zuckerlösung,  die  in  concentrirter  Form  in  den  Mund  genommen 
wurden  —  bei  Schmerz,  augenehmen  Sich  gehenlassen,  willkürlicher  Er- 
wartung, intelleetueller  Arbeit,  Muskelarbeit  etc.  ^uf  die  Versuche  kann 
hier  nicht  näher  eingegangen  werden.  Vogt  fand  nun  „in  einer  bisher 
noch  nicht  möglich  gewesenen  Feinheit"  eine  Proportionalität  zwischen  der 
Stärke  des  Kniephänomens  und  der  des  Muskeltonus  der  Streckmnskulatur. 
Das  Kniephänomen  ist  vom  Muskeltonus  abhängig;  die  Intensität  des  Knie- 
Phänomens  steigt  und  fällt  mit  der  Zunahme,  resp.  Abnahme  des  Muskel- 
tonus. Die  stärkste  Intensitätszunahme  des  Kniephänomens  und  die 
stärkste  Vermehrung  des  Muskeltonus  fand  sich  bei  der  Heiterkeit,  die 
Salzlösung  rief  eine  mittelstarke  Zunahme  beider  hervor,  die  Zuckerlösung 
eine  mäfsige  Steigerung.  Die  willkürliche  Erwartung  verminderte  in  sehr 
geringem  Grade  das  Kniephänomen.  Mittelstarke  Verminderung  beider 
fand  sich  bei  Hypnose,  geistiger  Concentration,  stärkste  Abnahme  beider 
Erscheinungen  bei  Traurigkeit.  Die  Zu-  und  Abnahme  des  Muskeltonus 
ist  übrigens  gering  im  Vergleich  zu  den  betreffenden  Differenzen  beim 
Kniephänomen.  V.  glaubt  als  Vermittler  bei  der  motorischen  Rückwirkung 
der  Heiterkeit,  Traurigkeit,  Salzlösung  etc.  etc.  die  betr.  emotionellen 
Momente  in  Anspruch  nehmen  zu  müssen,  weil  der  specielle  intellectuelle 
Inhalt  bei  seinen  Versuchen  durchaus  bedeutungslos  ist.  Die  Wirkung  der 
Heiterkeit  ist  derjenigen  der  Traurigkeit  entgegengesetzt,  diejenige  des 
Unangenehmen  nur  der  angenehmen  Ruhe.  Die  Wirkung  des  Unange- 
nehmen ähnelt  derjenigen  der  Heiterkeit,  und  diejenige  der  angenehmen 
Ruhe  derjenigen  der  Traurigkeit.  Umppenbach. 


Oskar  Vogt.    Ueber  die  Erricbtnng  nenrologischer  Gentralstationen.    Zeitschr. 
f.  Hypn.  10,  170—177.    1900. 

Vogt  plant  die  Errichtung  einiger  neurologischer  Gentralstationen^ 
vorläufig  mit  zwei  Abtheilungen,  einer  hirnanatomischen  und  einer  psycho- 
logischen, —  von  der  neurophysiologischen  will  er  einstweilen  noch  ab- 
sehen. Wie  er  mit  Recht  sagt,  fehlt  dem  normalen  und  pathologischen 
Anatomen  Zeit  und  Interesse,  sich  mehr  mit  dem  Gehirn  zu  befassen,  — 
der  Psychologe  ist  immer  Philosoph,  der  meist  kein  Interesse  an  ärstlichen 


Liter  aturbericht.  139 

Fragen  hat.  So  kommt  Gelümanatomie  und  Physiologie  und  die  ärztliche 
Psychologie,  soweit  sie  das  Seelenleben  betrifft  in  Verbindung  mit  dem 
Gehirn,  nicht  recht  voran.  Anders  würde  die  Sache  sein,  wenn  Neuro- 
logen nnd  Psychiater  sich  an  den  zu  gründenden  Centralstationen  mit  den 
dann  gesammelten  Gehirnen  beschäftigen  können.  Das  Gehirnmaterial 
könnte  dann,  mit  Hinblick  auf  die  betr.  Krankengeschichte,  wirklich  exact 
verarbeitet  werden,  alle  nur  möglichen  Untersuchungsmethoden  wären  zu 
benutzen.  Der  Arzt  hätte  dort  auch  Gelegenheit,  sich  verhältnifsmäfsig 
schnell  über  die  medicinisch  wichtigen  Fragen  der  Psychologie  zu  orientiren. 

Umpfknbach. 

Sante  de  Sanctis.     Una  Yeggente.     BuUeftino  della  Societä  Lancisiatia  degli 
Ospedali  di  Roma  19  (1).    26  S.     1899. 

Der  Verf.  beschreibt  in  den  vorliegenden  Mittheilungen  die  Ergebnisse 
einer  Untersuchung,  die  er  an  dem  12  jährigen  Bauernmädchen  Sestilia 
Caldebina  zu  Migliano  in  der  Provinz  Perugia  in  Italien  anstellte, 
das  durch  seine  Predigten,  Weissagungen,  Mittheilungen  aus  der  anderen 
Welt  u.  s.  w.  vom  Januar  bis  zum  Mai  1898  die  ganze  Umgegend  seines 
Heimathsortes  in  Staunen  versetzte. 

Die  Anfangs  October  desselben  Jahres  vorgenommene  Prüfung  ergab 
folgenden  anamnestischen  Befund:  Die  Kranke  ist  blafs,  braun,  von  sym- 
pathischem Ausdruck.  Körpergröfse  1,40  m.  Schlank  und  gut  gebaut,  ob- 
wohl von  etwas  gebückter  Haltung.  Leichte  Asymmetrie  des  Gesichts. 
Zygomaticus,  Orbita  und  Stirn  rechts  mehr  hervortretend  als  links.  Leichte 
Functionsstörung  der  mimischen  Antlitzmuskeln  rechts.  Defect  in  der 
Aussprache  der  Laute  s  und  r  (das  r  wird  ein  wenig  französisch  ausge- 
sprochen). Helix  der  Ohrmuscheln  unregelmäfsig,  die  DARWiN'schen  Knöt- 
chen deutlich  erkennbar.    Das  Mädchen  ist  skrophulös. 

Die  Kranke  scheint  erblich  belastet  zu  sein,  obwohl  beide  Eltern 
gesund  sind.  Ein  Bruder  des  Grofsvaters  väterlicherseits  litt  im  Irrenhaus 
zu  Pompeji  an  Melancholie,  ein  Verwandter  der  Mutter  ist  Idiot. 

Die  angebliche  Wundergabe  der  Kranken  erregte  umsomehr  Aufsehen, 
als  sie  weder  lesen  noch  schreiben  kann,  nie  zur  Schule  ging  und  vor  dem 
Ausbruch  der  Krankheit  auch  die  Kirche  und  den  religiösen  Unterricht 
nicht  gerade  häufig  besuchte,  nur  einmal  jährlich  beichtete  und  niemals 
communicirte.  Sie  war  unwissend  wie  fast  alle  Mädchen  jener  Gegend. 
Es  konnte  ferner  constatirt  werden,  dafs  die  Kranke  bis  zum  18.  November 
1897  niemals  Anfälle  gehabt  hatte.  Am  Morgen  dieses  Tages  fühlte  sie  sich 
zum  ersten  Male  unwohl  und  verfiel  dann  in  einen  tiefen  und  langauhaltenden 
Schlaf.  Von  nun  an  entwickelt  sich  die  Krankheit.  Von  hysterischen  An- 
fällen allgemeinen  Charakters,  verflochten  mit  Schlafzuständen,  denen  voll- 
ständige Amnesie  folgte,  geht  die  Krankheit  in  einen  Zustand  des  Schlaf - 
redens  über.  Es  folgt  ein  Stadium  des  reve  d^lirant  (GrisLAiN),  das 
dann  in  den  Traum-  und  Dämmerzustand  übergeht.  Die  Amnesie  ist  jetzt 
nach  dem  Erwachen  weniger  vollständig,  die  Kranke  ist  im  Stande,  etwas 
über  den  gehabten  Anfall  auszusagen.  Endlich  dauert  der  Inhalt  des  patho- 
logischen Traumes  auch  während  des  Wachbewufstseins  fort,  die  Kranke 
befindet    sich    in    einem    Zustande    vollständigen    mystisch -prophetischen 


1 40  Li  tera  turberich  t 

Deliriums,  das  als  ^hysterische  Psychose  mit  delirirenden  Traum  anfallen" 
bezeichnet  wird. 

Fein  sind  die  psychologischen  Beobachtungen  des  Verf. 's  über  die 
allmähliche  und  stetige  Zunahme  der  Traumvorstellungen,  die  durch  das 
der  Kranken  entgegengebrachte  Interesse  der  Bevölkerung  und  die  Fragen^ 
die  man  an  sie  richtet,  sowie  durch  den  engen  Connex,  in  dem  sie  sich 
später  zur  Kirche  stellt  und  die  Wunder  der  Madonna  und  der  Heiligen, 
die  man  ihr  erzählt,  bedingt  sind.  Einen  Hauptfactor  für  die  Erklärung 
des  Falles  sieht  der  Verf.  in  der  Autosuggestion. 

Zur  Diagnose  der  Krankheit  sei  noch  erwähnt,  dafs  zu  jener  Zeit  nach 
De  Sanctis  die  vierte  Periode  (attaque  de  d^lire)  der  „grande  attaque 
hysterique"  der  Schule  Charcot's  hauptsächlich  erreicht  war. 

Ein  Verdienst  des  Verf.'s  ist  es  ohne  Zweifel,  die  einzelnen  Entwicke- 
lungsphasen  der  Krankheit  unter  Benutzung  der  modernen  psychologischen 
Erkenn tnifs,  soweit  es  die  Umstände  gestatteten,  zu  einem  klaren  Verstand* 
nifs  gebracht  zu  haben. 

Da  ich  selbst  über  diese  Abhandlung  an  anderem  Orte  {2^t8chr.  für 
Hypnotiamus  9  (5),  309)  bereits  ausführlich  berichtet  habe,  so  mag  das  Vor- 
stehende genügen.  Kiesow  (Turin). 

H.  J.  Berkley.    The  Pathological  Findings  in  a  Gase  of  General  Gntaneons  ai€ 
Sensory  Änaesthesia  witbont  Psychical  Implication.  Brain  23  (89),  111—138. 1900. 

Bei  einem  Falle,  in  welchem  durch  fast  10  Jahre  schwere  allgemeine 
Anästhesie  bestanden  hatte,  konnte  als  anatomisches  Substrat  nur  eine 
ausgedehnte  hyalin  -  fibröse  Entartung  des  Gefäfssystems  nachgewiesen 
werden.  Luetische  Infection  war  29  Jahre  voraufgegangen.  B.  nimmt  an, 
dafs  die  dadurch  bedingte  Ernährungsstörung  sowohl  das  Centralorgan  als 
die  nervösen  Endapparate  an  der  Peripherie  functionsuntüchtig  gemacht  hat. 

8cnR(')DER  (Heidelberg). 

J.  M.  Bramwell.    Hypnotic  and  Post-Hypnotic  Appreciation  of  Time;  Seeondary 
and  Mnltiplex  Personalities.    Brain  23  (90),  161—238.    1900. 

B.  hat  Experimente,  die  schon  Delboeuf  gemacht,  wiederholt  und 
})raktischer  gestaltet.  Er  hat  einer  jungen  Somnambulen  in  der  Hypnose 
den  Auftrag  gegeben,  nach  einer  bestimmten  Zeit  auf  einem  Blatt  Papier 
ein  Kreuz  zu  zeichnen  und  dazu,  ohne  nach  der  Uhr  zu  sehen,  die  augen- 
blickliche Stunde  und  Minute  zu  notiren.  Die  Zeit,  die  bis  zur  Aus- 
führung des  Auftrages  verfliefsen  sollte,  war  meist  in  Minuten  (z.  B.  21  428, 
oder  10055  Min.)  gegeben,  manchmal  aber  noch  erheblich  complicirter. 
Da  die  Person  somnambul  war,  wufste  sie  nach  der  Hypnose  nichts  von 
dem  Auftrag;  gab  man  ihr  im  wachen  Zustand  ähnliche  Aufgaben,  so  war 
nie  nicht  im  Stande,  solch  complicirte  Rechenexempel  zu  lösen.  Bei  55 
Experimenten  wurde  in  45  Fällen  zur  richtigen  Zeit  die  richtige  Stunde 
und  Minute  von  der  Patientin  aufgezeichnet  Ein  Theil  der  Ausführungen 
des  Auftrages  fiel  in  die  Nacht:  die  Patientin  hatte  neben  ihrem  Bette 
}*apier  und  Bleistift,  am  nächsten  Morgen  fand  sie  das  richtig  beschriebene 
Blatt,  wufste  aber  nicht,  dafs  sie  es  beschrieben  hatte.  In  den  übrigen 
Fällen  ganz  kleine  Fehler. 


Literaturbench  t  141 

Mit  ähnlichem  Erfolge  hat  B.  an  anderen  Personen  experimentirt. 
Verf.  bespricht  dann  die  verschiedenen  Erklärungsversuche,  speciell 
den  von  Gübney,  der  für  das  Zustandekommen  von  Leistungen  wie  den 
obigen  ein  „zweites  Bewufstsein"  annimmt,  das  die  Zeit  beobachtet  und 
im  richtigen  Augenblick  das  „gewöhnliche  Bewufstsein"  zur  Ausführung 
dee  Auftrages  veranlafst. 

Es   folgt   eine   ausführliche   Besprechung   der  Beweise   für  das   Vor- 
handensein eines  zweiten  Bewufstseins,  in  der  recht  heterogene  Dinge  zu- 
sammengeworfen    werden;    als    stärkste    Stütze    wird    das    „automatische 
Schreiben"  angeführt.     Schlufsfolgerung  ist,  dafs  das  zweite  Bewufstsein 
nicht  im  Stande  sein  kann,  die  Zeit  abzuschätzen  und  unbewufst  schwierige 
arithmetische  Aufgaben  zu  lösen,    wie  das  bei  den  Versuchspersonen  der 
Fall  war;  das  kann  nur  —  „ein  drittes  Bewufstsein".    Es  folgen  Beweise, 
dafs  multiple    Bewufstseinszustände   vorkommen;    eine   Patientin   von   A. 
Wilson  aus    Leytonstone  hatte  deren  gar  16.    Zum   Schlufs  erklärt  Verf. 
trotzdem,  dafs  die  von  ihm  angestellten  Experimente  noch  sehr  viel  Wunder- 
bares und  Unerklärliches  für  ihn  haben.    Sonderbar! 

Schröder  (Heidelberg). 

L  Laqüer.    Die  Hfilfsschnlen  ffir  schwachbefähigte  Kinder,  ihre  ärztliche  und 

sociale  Bedeutlliig-     Mit  einem  Geleitwort  von  Dr.  med.  Emil  Kraepelin, 

Professor  der  Psychiatrie  in  Heidelberg.     Wiesbaden,  Bergmann,  1901. 

64  .S.    Mk.  1,30. 

Die  vorliegende  Schrift  ist  ein  Vortrag,  den  Herr  Dr.  Läqukr  auf  der 

25.  Wanderversammlung  der  südwestdeutschen  Neurologen  und  IiTenärzte 

aiii  27.  Mai  1900  gehalten  hat.    Das  Ergebnifs  seiner  Erörterungen  fafst  er 

am  Schlüsse  in  folgenden  Thesen  zusammen: 

..1.  Der  angeborene  oder  früh  erworbene  Schwachsinn  ist  die  Grundlage 

vieler  schwerer,  zumeist  unheilbarer  Nerven-  und  Geistesstörungen,  sowie 

schwer  verbesserlicher  Neigungen  zum  Verbrechen. 

2.  Die  Einrichtung  von  Hülfsschulen  für  schwachbefähigte  Kinder  der 
Minderbemittelten  ist  nothwendig  zur  frühen  Erkennung  der  verschiedenen 
Grade  des  Schwachsinns,  zur  richtigen  Erziehung  und  Behandlung  der 
Schwachsinnigen  und  zum  Schutze  derselben  vor  sittlichem  Verfall  und 
vor  Verarmung  durch  Erwerbsunfähigkeit. 

3.  Die  gegenwärtige  Verfassung  der  mehrclassigen  selbständigen 
Hülfsschulen  ist  im  Wesentlichen  aufrecht  zu  erhalten ;  sie  ist  durch  Hülfs- 
(lassen,  die  an  die  Normalschule  sich  angliedern,  nicht  zu  ersetzen,  aber 
durch  Anfügung  von  Internaten  mit  Speisung  und  Beschäftigung  der 
Kinder  in  den  Nachmittagsstunden  weiter  auszudehnen. 

4.  Das  Zusammenwirken  zwischen  Lehrern  und  Schulärzten  ist  ge- 
eignet, die  Schwachsinnigen  von  den  Normalbefähigten  schon  in  der  Volks- 
schule rechtzeitig  zu  sondern  und  nur  die  bildungsfähigen  Imbecillen  der 
Hfilfi^schule  zuzuführen,  auch  die  Bedeutung  der  körperlichen  Verände- 
rungen für  die  Entwickelung  des  Schwachsinns  festzustellen. 

5.  Alle  Schwachsinnigen,  welche  die  Classenziele  der  Hülfsschule 
nicht  erreichen,  sind  auszuschulen  und  den  Idiotenanstalten  mit  systenia- 
tiifchem   Unterrichte   zu   überweisen.     Alle  Moralischdefecten,  Epileptiker 


142  LUeraturhericht, 

und  mit  schweren  unheilbaren  Sinnesgebrechen  Behafteten  gehören  in  be- 
sondere Anstalten. 

6.  Nur  durch  mehrjährige  weitere  Versorgung  und  Unterstützung  der 
aus  der  Hülfsschule  entlassenen  Zöglinge  wird  ihre  Selbständigkeit  und 
Erwerbsfähigkeit  im  späteren  Leben  gewährleistet.  Stellennachweis^ 
Zahlung  von  Lehr-  und  Pflegegeldern  sind  durch  private  Wohlthätigkeit 
oder  öffentliche  Mittel  zu  ermöglichen.  Leichte  Handwerke  und  ländliche 
Arbeiten  sind  als  berufliche  Ziele  für  Schwachsinnige  anzustreben. 

7.  Den  Militär-  und  Justizbehörden  sind  genaue  Berichte  über  die 
Schulleistung  und  über  das  sittliche  Verhalten  der  Hülfsschüler  zugänglich 
zu  machen,  damit  bei  Vergehungen  gegen  das  Gesetz  ihre  Unzurechnungs- 
fähigkeit bewiesen  oder  wenigstens  ihre  Bestrafung  gemildert  werden  könne." 

Der  Vortrag  begründet  diese  Thesen  eingehend  und  nach  den  ver- 
schiedensten Seiten  hin  und  liefert  so  werthvolle  Beiträge  zur  Psychologie 
und  Pädagogie  der  Schwachsinnigen,  insbesondere  der  Kinder  mit  Schwach- 
sinn geringeren  Grades,  der  sogenannten  Schwachbefähigten,  für  welche 
jetzt  überall  in  den  Städten  besondere  sogenannte  „Hülfsschulen"  errichtet 
werden.  Laqüer  beleuchtet  seinen  Gegenstand  nicht  blos  vom  medicinisch- 
psychiatrischen ,  sondern  auch  vom  psychologischen,  ethischen,  social- 
wissenschaftlichen,  criminalistischen  und  militärischen  Standpunkte  aus. 
Nach  allen  diesen  Seiten  hin  bereiten  die  Schwachsinnigen  der  Familie 
und  der  weiteren  Gesellschaft  Schwierigkeiten  und  erheischen  darum  Für- 
sorge. „Wenn  wir  die  Städte  durchmustern,  welche  Hülfsschuleinrichtungen 
haben",  sagt  er  S.  54,  „so  kommt  Jedem  der  Gedanke,  ein  wie  geringer 
Theil  aller  Schwachsinnigen  —  ich  denke  hier  auch  an  die  des  flachen 
Landes  —  überhaupt  zum  Besuche  in  Hülfsschulen  berechtigt  ist.  Wie 
viele  Hunderte  von  Imbecillen  bleiben  jetzt  noch  übrig,  die  in  ländlichen 
und  in  kleinstädtischen  Volksschulen  in  überfüllten  Classen  unter  Normal- 
befähigten mitgeschleppt  werden,  ohne  dafs  es  den  Lehrern  und  Behörden 
möglich  ist,  für  ihre  anderweitige  Unterweisung  zu  sorgen  I  Hier  liegt 
noch  ein  weites  fruchtbares  Feld  socialer  Fürsorge  und  praktischer  Päda- 
gogik. Für  alle  diese  unglücklichen,  verkannten  und  verspotteten,  oft 
genug  schlecht  behandelten  Armen  am  Geiste  zu  sorgen,  ist  wirklich 
Menschenpflicht.  Die  grofse  Zahl  kirchlicher  Wohlthätigkeitsstiftungen 
reicht  bei  Weitem  nicht  aus,  den  Bedarf  an  Schulen  und  Anstalten  für 
Schwachsinnige  zu  decken." 

Wir  brauchen  darum  noch  viele  Hülfsschulen  und  Erziehungs- 
anstalten für  die  Schwachsinnigen  der  grofsen  Bevölkerungscentren.  Wir 
brauchen  noch  mehr  Anstalten  mit  geeigneten  Einrichtungen  zu  systema- 
tischem Unterricht  als  Unterweisungsstätten  für  die  Schwachsinnigen  des 
platten  Landes  und  der  Kleinstädte.  Und  für  die  moralisch  defecten 
Kinder  und  die  jugendlichen  Verbrecher  besitzen  wir  in  unseren  Zwangs- 
erziehungsanstalten, Rettungs-  und  Besserungshäusern  ebenfalls  noch  längst 
nicht  die  hinreichenden  und  die  geeigneten  Stätten  der  Fürsorge,  wie  sie 
nicht  blos  um  der  betreffenden  Individuen  willen,  sondern  vor  Allem  auch 
zum  Nutzen  und  zum  Schutze  der  Gesellschaft  erwünscht  sind. 

Die  Schrift  bietet  nicht  blos  eine  Psychologie  des  Schwachsinns, 
sondern  beleuchtet  auch  mit  warmem  Interesse,  grofser  Belesenheit  und 


Literaturbericht  143 

umfaseeDdem  Blicke  die  eben  erwähnten  Probleme,  und  wir  können  nur 
vünschen,  dafs  die  Ausführnngen  auf  fruchtbaren  Boden  fallen  mögen. 

Obgleich  die  Schrift  durchaus  auf  der  Höhe  medicinischer  und  psychi- 
fttrischer  Wissenschaft  steht,  so  geht  doch  das  Eine  daraus  hervor,  dafs 
für  die  Erforschung  der  pathologischen  Kindesnatur  noch  eine  aufser- 
onlentliche  Arbeit  für  die  Psychologie  übrig  bleibt.  Wenn  Schulärzte  und 
Lehrer  noch  eine  gemeinsame  Arbeit  von  zwei  Jahren  gebrauchen,  um  den 
Geisteszustand  eines  abnormen  Kindes  einigermaafsen  sicher  festzustellen, 
80  zeigt  das,  dafs  bei  allen  gelehrten  psychologischen  Untersuchungs- 
methoden für  das  nothwendigste  praktische  Bedürfnifs  noch  nicht  allzuviel 
abgefallen  ist.  Es  ist  darum  angezeigt,  bei  dieser  Gelegenheit  gerade  an 
diceem  Orte  auf  diese  Lücke  hinzuweisen,  dafs  wir  neben  der  Schärfung 
and  Specialisirung  der  psychologischen  Untersuchungsmethode  auch  auf 
deren  Vereinfachung  zum  Zwecke  der  Brauchbarkeit  für  praktische  Be- 
dfirfnisse  sinnen  müssen.  Trüpbr  (Jena). 


E.  BoKBOETFEB.  Etil  Beitrag  zur  Kenntnifs  des  grorsstädtischen  Bettel-  and 
Tagibondenthiims.  Eine  psychiatrische  Untersnchnng.  Berlin,  J.  Guttentag, 
1900. 
Es  wird  behauptet,  dafs  unlängst  die  Verwaltungsbehörde  einer 
deutschen  Universität  einen  Lehrstuhl  für  physiologische  und  experi- 
mentelle Psychologie  nicht  für  nothwendig  gehalten  habe  und  darum  die 
Errichtung  eines  solchen  ablehnte.  Die  Psychiatrie  ist  doch  im  Grunde 
nnr  die  Anwendung  physiologisch-psychologischer  Kenntnisse  auf  patho- 
logische Zustände,  mufs  also  ohne  Psychologie  ihre  eigene  Psychologie  des 
Normalen  nebenbei  ausbilden,  der  darum  naturgemäfs  an  wissenschaftlicher 
Durchbildung  Manches  fehlen  mufs.  Dennoch  aber  verdanken  wir  der 
Psychiatrie  aufserordentlich  viel  für  die  Förderung  der  psychologischen 
Forschung.  Manche  Psychiater  haben  ihren  Ruf  als  Psychologen  erlangt. 
Auch  die  Pädagogik  mufs  ohne  sorgfältige  physio-psychologische  Grundlage 
ins  Blaue  hinein  arbeiten.  Da  von  den  juristischen  Verwaltungsbehörden 
»afserdem  die  Noth wendigkeit  der  pädagogischen  Lehrstühle  an  den 
deutschen  Universitäten  erst  in  allerjüngster  Zeit  hier  und  da  eingesehen 
worden  und  sie  darum  im  Allgemeinen  noch  als  Autodidactin  durchs 
wissenschaftliche  Leben  wandern  mufs,  so  liegt  auf  der  Hand,  dafs  der 
pädagogischen  Psychologie  noch  weit  mehr  fehlen  wird.  Aber  auch  die 
Jurisprudenz  und  namentlich  die  Criminalistik  waltet  ohne  sorgfältige 
psychologische  Grundlage  nicht  ihres  Amtes,  wie  sie  es  im  Interesse  ihres 
-Auftraggebers,  der  Gesellschaft,  sollte.  Das  Urtheil,  das  sie  in  den  ein- 
zelnen Fällen  fällt,  kann  nur  ein  gerechtes  sein,  wenn  das  psychologische 
Verständnifs  für  die  betreffenden  Fälle  und  vor  Allem  auch  die  Genesis 
dieses  psychopathologischen  Zustandes,  welchen  man  Rechtsbruch  nennt, 
nach  zuverlässiger  Methode  erklärt  werden  kann.  Namentlich  aber  greift 
die  Criminalistik  im  Strafvollzuge  fehl,  weil  die  pädagogische  Wirkung  der 
Strafe  auf  die  Psyche  des  Rechtsverbrechers  nicht  selten  wegen  mangel- 
hafter Psychologie  falsch  gewerthet  wird.  Der  ganze  Strafprocefs  kostet 
dann  der  Gesellschaft  viel  und  nützt  wenig  oder  nichts.    Mir  erzählte  ein- 


144  Literaturbericht 

mal  ein  Amtsrichter,  dafs  er  an  dem  betreffenden  Tage  einen  Vagabonden 
zam  100.  Male  verurtheilt  habe.  99  mal  war  also  die  Strafe  schon  fruchtlos 
gewesen.    Dennoch  erfolgte  sie  zum  100.  Male! 

Für  diese  Behauptungen  liefert  die  Schrift  von  Dr.  L aquer  nach  der 
ärztlich-erzieherischen  und  die  vorliegende  namentlich  nach  der  crimi- 
nalistisch-pädagogischen  Seite  hin  schwer  anfechtbare  Beweise.  Der  Zweck 
der  Schrift  ist  zwar  ein  anderer,  aber  es  dürfte  nicht  überflüssig  sein,  bei 
einer  solchen  Gelegenheit  auf  die  Lücken  der  im  öffentlichen  Dienste 
stehenden  Arbeit  der  Wissenschaft  und  ihrer  Anstalten  hinzuweisen.  Wenn 
hier  Wesentliches  fehlt,  so  ist  das  von  erheblich  gröfserer  Tragweite,  als 
wenn  einmal  hier  oder  da  in  der  Praxis  ein  Mifsgriff  gethan  wird.  Prak- 
tische Mifsgriffe  werden  durch  die  Erfahrungen  des  Lebens  sich  wieder 
ausgleichen.  Unzulängliche  Theorien  oder  fehlende  Einsicht  haben  oft 
unausgleichbare  Folgen  für  das  öffentliche  Leben. 

BoNHOEPFEB  beschäftigt  sich  hier  mit  einer  psychologischen  oder  wenn 
man  will  psychiatrischen  Analyse  des  grofsstädtischen  Bettel-  und  Vaga- 
bondcuthums.  Es  sind  die  in  socialer,  ethischer,  körperlicher  und  psychi- 
scher Degeneration  sich  befindlichen  Individuen,  die  immer  wieder  dem 
Bettel  und  der  Obdachlosigkeit  verfallen,  und  die  psychiatrische  Unter- 
suchung, welche  Bonhoeffeh  mit  ihnen  vorgenommen,  mufs  als  eine  ebenso 
lehrreiche  als  bedeutsame  betrachtet  werden,  sowohl  nach  der  Seite  der 
hederitären  Ursachen,  unter  denen  in  erster  Linie  Alkoholismns  und 
Geisteskrankheit  stehen,  als  auch  nach  der  Seite  der  erworbenen  und  zu- 
meist durch  das  Milieu  bedingten  Ursachen,  wo  wiederum  Alkoholismos, 
psychische  und  ethische  Defecte  und  damit  fehlerhafte  oder  mangelnde 
Erziehung  im  Vordergrunde  stehen.  Aber  auch  was  Bonhoeffeb  über  die 
Behandlung  und  Vorbeugung  dieses  gesellschaftlichen  Abhubes  sagt^  ver- 
dient vom  psychologischen  wie  vom  pädagogischen  und  criminalistischen 
Standpunkte  aus  unsere  Beachtung. 

122  Fragen  dienen  als  Leitfaden  für  die  Zergliederung  der  abnormen 
Psyche  und  ihres  leiblichen  Trägers  von  404  Individuen,  als  auch  zugleich 
zur  Erforschung  des  Milieus,  das  solche  defecte  Wesen  hervorgehen  läfst 

Tbüpeb  (Jena). 


Bemerkung. 

Um  V^erwechslungen  vorzubeugen,  sei  bemerkt,  dafs  der  Verfasser  des 
Bd.  25  S.  286  dieser  Zeitschrift  veröffentlichten  Referats  über  eine  Arbeit 
von  Oelzelt-Ne\\in  Hr.  Dr.  jur.  Berth.  Freitdenthal  zu  Breslau  ist. 


Experimentelle  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens. 

Von 
Karl  G&oos. 

L   Die  Arten  der  Denkbeziehnng  beim  Fragen. 

Das  Erkennen  erkennen  zu  wollen  ist  ein  schwieriges  Unter- 
nehmen. Wie  deutlich  zeigt  sich  das,  wenn  man  die  Beispiele 
von  ürtheilsacten  in  den  Lehrbüchern  der  Logik  ansieht  I  „Diese 
Kose  ist  roth^,  „diese  Stahlfeder  ist  spitz"  und  ähnliche  „logische 
Artefaete"  ^,  wobei  im  günstigsten  Falle  der  Bück  des  Forschers 
über  den  Schreibtisch  schweift,  um  da  allerlei  Beziehungen 
herauszugreifen,  sind  nur  der  hundertste  Abgufs  von  ursprüng- 
lichen Erkenntnifsvorgängen.  Um  sich  das  klar  zu  machen, 
mufs  man  erstens  zwischen  Neuurtheilen  und  Repetitions- 
urtheilen,  zweitens  zwischen  natürlichen  imd  künst- 
lichen Urtheilen  unterscheiden.  Unter  Neuurtheilen  ver- 
stehe ich  nicht  etwa  blos  originelle  Entdeckungen,  sondern  alle 
Denkprocesse,  wobei  der  Ausgangspunkt  ein  Stutzen  über  etwas, 
was  sich  nicht  gleich  logisch  erledigen  läfst,  der  Endpunkt  die 
gegenwärtig  erlebte  siegreiche  Bewältigung  dieser  Schwierig- 
keit ist  Bei  den  viel  häufigeren  Repetitionsurtheilen  handelt  es 
sich  darum,  dafs  wir  früher  (von  uns  oder  von  anderen)  ge- 
wonnene Neuurtheile  als  etwas  schon  Feststehendes,  was  keinen 
weiteren  Kampf  kostet,  einfach  wiederholen.  Natürliche  Urtheile 
femer  sind  solche  Denkprocesse,  die  ims  von  unseren  Erlebnissen 
abgenöthigt  werden,  während  das  künstliche  Urtheil  in  dem  Ver- 
such eines  Gelehrten  besteht,  einen  Urtheilsact  absichtlich  her- 
vorzurufen, um  sich  dabei  zu  beobachten.  Ich  will  nicht  be- 
haupten, dafs  die  hierbei  von  mir  verwendeten  Termini  völlig 


v» 


•- W*  JjwüSALiM.    „Die  Urtheilsfunction."    Wien.  1895.    S.  78. 
Z«itsehrift  für  Psychologie  26.  10 


146  ÄaW  Groos. 

zutreffend  seien;  jedenfalls  sind  die  damit  bezeichneten  Unter* 
schiede  selbst  vorhanden.  Es  ist  nun  leicht  einzusehen,  dab 
die  Neuurtheile  psychologisch  interessanter  sind  als  die  Bepetir 
tionsurtheile ;  ebenso  verständlich  ist  es  aber,  dals  die  künstlichen 
Urtheile,  solainge  nieht  ein  günstiger  Zufall  helfend  eingreift, 
meistens  der  weniger  interessanten  Kategorie  angehören.  Dab 
man  diesen  Eindruck  roth,  jenen  spitz  nennt,  hat  man  schon 
in  der  Kindheit  gelernt,  imd  so  stellen  sich  die  gewünschten 
Aussagen  ohne  jede  Denkarbeit  auf  associativer  Grundlage 
fast  mechanisch  ein.  Es  ist  von  ungeheuerem  Werth,  daCs  wir 
so  „denken"  können;  aber  als  Psychologen  möchten  wir  doch 
aufser  dieser  Maschinenarbeit  auch  die  lebensvolleren  Processe 
kennen  lernen,  in  denen  ein  gegenwärtiges  Problem  gegenwärtig 
gelöst  wird. 

Es  mag  verschiedene  Methoden  geben,  um  hier  zum  Ziel  zu 
gelangen.  Am  einfachsten  ist  es,  sich  auf  die  Lauer  zu  legen« 
bis  man  sich  selbst  einmal  bei  einem  Neuurtheil  ertappt  Dabei 
hat  man  ja  ab  und  zu  einen  Erfolg,  so  besonders,  wenn  man 
mit  der  Denkbeziehimg  auf  einen  Weg  geräth,  aus  dem  man  im 
nächsten  Augenblicke  herausspringt,  weil  man  merkt,  dalSs  er  in 
die  Irre  führt  Fast  noch  seltener  gelingt  es,  ein  richtiges 
Neuurtheil  in  der  Selbstbeobachtimg  einzufangen.  Ich  werde 
hierauf  zurückkommen.  Jedenfalls  wäre  es  gut,  weim  alle  solche 
Beobachtungen  sofort  aufgeschrieben  und  an  eine  Sammelstelle 
eingeliefert  würden. 

Auf  experimentellem  Wege  scheint  man  diesem  Gebiet 
kaum  beikommen  zu  können.  Dennoch  giebt  es  ein  Mittel,  um 
wenigstens  in  seine  Nachbarschaft  zu  gelangen.  Dieses  Mittel 
besteht  darin,  dafs  man  in  einer  —  womöglich  gröfseren  — 
Anzahl  von  Versuchspersonen  durch  Mittheilung  bestinunter 
Vorstellungsinhalte  das  Niederschreiben  von  Fragen  anregt 
Denn  in  solchen  sich  unwillkürlich  aufdrängenden  Fragen 
werden  nicht  nur  durch  die  Form  der  Fragestellung  die  als 
Antwort  gewünschten  Urtheilsarten  angedeutet,  sondern  die 
Fragen  enthalten  auch  selbst  in  grofser  Zahl  aufkeimende  Er- 
kenntnifsacte,  von  denen  wenigstens  ein  Theil  den  Charakter 
von  Neuurtheilen  besitzt  Natürlich  wird  man  in  Hinsicht  auf 
die  Ergebnisse  solcher  Versuche  keine  grofsen  Ansprüche  er- 
heben dürfen;  denn  man  betrachtet  ja  statt  des  inneren  Vor- 
gangs nur  seine  äufserliche  Fixirung.    Immerhin  wird  bei  der 


üoeperimenteUe  Btürage  zur  Psychologie  des  Erkennens,  147 

Verarbeituiig  diesies  Aeufserlichen  der  Blick  für  das  Innere  in 
mancher  Hinsicht  geschärft,  gerade  wie  ein  genaues  Studium 
emotioneller  Ausdrucksbewegungen  vieles  klarer  machen  kann, 
was  in  der  blofisen  Selbstbeobachtung  leicht  übersehen  wird. 

Aus  diesem  Grunde  habe  ich  in  dem  Wintersemester  1900/01 
mein  Psychologie-Colleg  dazu  benützt,  um  mehrere  Wochen  hin- 
durch am  Anfang  der  Stimde  den  Zuhörern  kurze  Themata  yor- 
zolesen,  auf  die  sie  mit  Fragen  zu  reagiren  hatten,  welche  sie 
direct  auf  Zettel  niederschrieben.    Als  Beispiel  sei  hier  eins  der 
kürzesten    mitgetheilt     Nr.   17    lautet:     „Ln   Schaufenster    des 
Juweliers  befindet  sich  ein  Stein  von  grofser  Schönheit".    Nach 
Vorlesung  eines  Themas  fügte  ich  jedesmal  direct  hinzu:  „Was 
wünschen  Sie  nun  zunächst  zu  wissen?"    Im  Ganzen  waren  es 
23  Themata,  die  insgesammt  479  Fragen  zum  ErgebniTs  hatten. 
Die  Zahl  der  Ablieferer  von  Zetteln  schwankte  zwischen  11  und 
2L    Vielfach  wurde  mit  mehreren  Fragen  reagirt;  ich  dachte  im 
Anfang  daran,  in  diesem   Fall  die   zuerst  gestellte  in  der  Be- 
rechnung besonders  zu  bewerthen,  gab  es  aber  auf,  als  ich  mich 
davon  überzeugte,  dafs  die  später  niedergeschriebene  Frage  gar 
nicht  selten  die  im  Bewufstsein  früher  aufgetauchte  war.    Da- 
gegen war  es  oft  nothw^ndig,   eine  sprachlich  in  einem  Satz 
ausgedrückte  Frage  in  zwei  verschiedene  Beziehungen   ausein- 
anderzulegen.   So   lautet  z.  B.   eine  Frage:    „Wo   hatte  er  das 
Messer  liegen  lassen?"    Hier  geht  eine  Tendenz  zeitlich  zurück, 
eine  zweite  auf  räumliche  Localisirung.    In  Folge  dessen  mufste 
ich  die  Berechnung  doppelt  führen,  indem  bei  solchen  Fällen 
jede  Tendenz  für  die  Anzahl  der  Fragen  =  ^2»  für  die  Anzahl 
der  „Beziehungen"  aber  =  1  angesetzt  wurde.  ^    Die  Gesammt- 
zahl  der  logischen  Beziehungen  beträgt  538  in  479  Fragen.    Im 
Folgenden  bedeutet  die  in  Klammern  beigefügte  Zahl  stets  die 
logischen  Beziehungen,  während   die   nicht  eingeklammerte  auf 
die  Menge  der  Fragen  geht    In  manchen  Fällen  ergaben  sich 
Schwierigkeiten   der  Berechnung,  auf  die  ich  zum  Theil  noch 
hinweisen  werde. 

Die  Themata  sind,  abgesehen  von  dem  ersten,  alle  so  ge- 
wählt, dafs  sie  auf  besondere  Kategorien  von  Fragen  angelegt 
sind.    Wenn  also  etwa  eines  von  ihnen  lautet:  „Als  der  junge 


^  Mehr  als  zwei  Tendenzen  aus  einer  Frage  herauszulesen  wurde  ich 
ia  diesen  Versuchen  nirgends  genöthigt. 

10» 


148  ^^^  €hroo8. 

Mann  gerade  an  einem  stattlichen  Hause  vorbeiging,  fiel  pldte- 
lich  «ine  Rose  zu  seinen  Fülsen  nieder^  —  so  ist  hier  die  Haupt- 
tendenz ^causal  rückwärts!^,  d.  h.  der  Satz  hatte  den  Zweck, 
vorwiegend  Fragen  nach  der  Ursache  anzuregen.  Die  Yersuehs- 
personen  wurden  aber  mit  dieser  Absicht  nicht  bekannt  gexbacht 
Natürlich  ist  es  in  den  meisten  Fällen  unmöglich,  alle  Neben- 
tendenzen auszuschliefsen ;  man  mufs  sich  aber  umsomehr  damit 
begnügen,  die  Haupttendenz  möglichst  in  den  Vordergrund  su 
rücken,  als  gerade  ihr  Verhältnifs  zu  den  Nebenbeziehungen  oft 
von  Interesse  ist.  —  Für  jede  Kategorie  gab  ich  mindestens 
zwei  Themata,  wovon  allemal  das  Eine  sich  mehr  als  Bruchstück 
einer  Erzählung  darstellt  (Imperfect),  während  das  Andere  ein- 
fach auf  eine  Thatsache  hinweist  (Präsens  oder  Perfect). 

Betrachten  wir  nun  die  gestellten  Fragen  zuerst  im  Allge- 
meinen, so  springt  da  sofort  ein  Unterschied  ins  Auge,  der  den 
Philologen  wenn  nicht  vertraut,  so  doch  bekannt  ist,  in  den 
psychologisch-logischen  Erörterungen  aber,  soweit  meine  —  wie 
ich  freilich  von  Anfang  an  betonen  mufs  —  beschränkte  Literatiur- 
kenntnifs  reicht,  in  der  Regel  nicht  viel  beachtet  wird,  obwohl 
er  einiges  Interesse  verdient.  —  Denken  wir  uns  einen  Menschen 
in  dem  Stadium  eines  zu  vollziehenden  Neuurtheils  (in  dem 
vorhin  angedeuteten  Sinn  des  Wortes),  so  können  wir  sagen: 
vor  der  erreichten  erkennenden  Bewältigung  des  gegebenen 
Thatbestandes  befindet  er  sich  psychologisch  in  dem  Zustand 
der  Frage.  Dieser  Zustand  läfst  aber  bei  genauer  Analyse 
drei  Phasen  unterscheiden:  1.  ein  blofses  Stutzen,  das  sich  in 
einer  plötzlichen  Hinwendung  der  Aufmerksamkeit  verräth,  ver- 
bunden mit  dem  Wunsch  oder  der  Erwartung  einer  logischen 
Beziehung,  in  deren  Erkenntnifs  das  Bewufstsein  Ruhe  finden 
wird;  2.  das  Verlangen  nach  einer  besonderen  Art  von 
logischer  Relation,  wobei  das  Bewufstsein  auf  diese  oder  jene 
Urtheilsform  eingestellt  ist,  ohne  dafs  sich  doch  die  concrete 
Lösung,  die  bestimmte  Inhaltsbeziehung  schon  ankündigte ;  3.  das 
erste,  noch  unsichere  Auftauchen  der  Lösung  selbst  in  Gestalt 
einer  Vermuthung. 

Die  erste  Phase  pflegt  sprachlich  keinen  Ausdruck  zu  finden 
(schriftlich  liefse  sie  sich  etwa  durch  ein  blofses  Fragezeichen 
symbolisiren) ;  dagegen  tritt  der  Unterschied  der  zweiten  und 
dritten  Phase  deutlich  in  zwei  Arten  von  Fragen  hervor. 
Die  eine  Art  (zweite  Phase)  läfst  sich  nicht  mit  ja  oder  nein 


EacperimmtdU  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens.  l49 

eiledigen;  denn  obwohl  sie  nach  einer  bestimmten  Urtheilsform 
hindrftngt,  enthält  sie  doch  noch  nichts  von  einer  aufkeimenden 
LOsimg  (s.  B.  was  ist  es  ?  woher  kommt  es  ?  wann,  warum,  zu 
irelchem  Zweck  geschah  es  ?).  Die  zweite  Art  (dritte  Phase)  kann 
mit  ja  oder  nein  beantwortet  werden,  weil  hier  eine  Vermuthung, 
also  ein  versuchtes  Urtheil  vorliegt,  über  dessen  Berechtigung 
die  Antwort  entscheidet.  Wie  mir  ein  philologischer  College 
mitdieilt,  ist  dieser  Unterschied  schon  von  den  antiken  Gram- 
matikem  terminologisch  durch  die  Gegenüberstellung  von  ero- 
tematischen  imd  peistischen  Fragen  fixirt  worden,  wobei 
die  peistischen  wohl  (überredend  =  „nahe  legend" :  ist  S  e  t  w  a 
P?)  der  zweiten  Art  entsprechen,  während  in  der  modernen 
Philologie  (durch  Delbbuck)  die  Bezeichnung  „Ergänzungs"- 
und  y3estätigungsfragen^  eingeführt  ist.  Diese  deutschen 
Aasdrücke  sind  philologisch  jedenfalls  sehr  gut  gewählt.  Psycho- 
logisch haben  sie  den  Nachtheil,  dafs  sie  die  Erscheinungen 
heteronom,  vom  Charakter  der  Antwort  aus  bestimmen.  Ich 
nenne  die  zweite  Art  „Fragen  mit  Urtheilskeim"  oder  „Ver- 
muthungsfragen^,  die  erste  „leere  Fragen". 

Bei  den  Versuchen  fallen  auf  479  Fragen  218  leere  und  261 
Vermuthungsfragen.  Doch  hat  sich  das  Verhältnifs  wahrschein* 
lieh  dadurch  etwas  zu  Gunsten  der  zweiten  Classe  verschoben^ 
dafs  ich  gleich  nach  dem  ersten  Versuch  auf  den  Unterschied 
beider  Arten  aufmerksam  wurde  und  den  Zuhörern  sagte,  Ver- 
muthungsfragen seien  mir  besonders  willkommen.  Wieviel  diese 
nur  im  Anfang  gegebene,  später  nicht  wiederholte  Anregung 
ausgemacht  hat,  läfst  sich  nicht  sagen.  Gegen  einen  allzugrofsen 
EinfluTs  spricht  die  Thatsache,  dafs  bei  dem  ersten  Versuch 
sogar  18  Vermuthungs-  und  nur  12  leere  Fragen  gestellt  wurden, 
obwohl  hier  von  dem  Unterschied  der  beiden  Classen  noch  nichts 
b^annt  war.  —  Im  Allgemeinen  ist  noch  als  ein  nicht  im- 
interessantes  Ergebnifs  hervorzuheben,  dafs,  abgesehen  von  dem 
ersten  Versuch,  auf  die  11  erzählenden  Themata  108  leere 
und  153  Vermuthungsfragen  auf  die  11  nicht  erzählenden  98 
leere  und  90  Vermuthungsfragen  gefallen  sind.  Wenn  die 
gröfsere  Anzahl  von  Fragen  überhaupt  bei  den  erzählenden 
Themata  auftritt,  so  mag  dies  zum  Theil  an  äufseren  Gründen 
liegen,  auf  die  ich  hier  nicht  eingehe.  Wenn  aber  bei  den  er- 
zählenden Versuchen  die  Vermuthungsfragen  fast  umdie 
Hälfte   zahlreicher  sind  als  die  leeren,   während  bei  den  nicht 


150  Korl  Groos, 

erzählenden  sogar  etwas  mehr  leere  Fragen  vorkommen,  so  ist 
das  wohl  mit  Sicherheit  darauf  zurückzuführen,  dab  die  ör- 
zählende  Form  die  Phantasie  mehr  anregt  und  dadurch  leichter 
über  die  Phase  der  leeren  Fragen  zur  selbständigen  Vermuthang 
hinüberleitet. 

Ich  gelange  nun  zu  dem  eigentlichen  Thema  meines  ersten 
^Beitrages^  —  den  Arten  der  Denkbeziehung  beim 
Fragen.  Wir  stehen  hier  vor  der  „Eategorien^frage,  dem 
Problem  einer  Lehre  von  den  besonderen  Formen  des  beziehen- 
den Denkens.  Man  kann  diese  Formen  aus  den  verschiedenen 
„Aussagen**  abstrahiren,  die  man  in  der  Sprache  antrifft  Man 
kann,  weniger  direct  aus  den  Quellen  schöpfend,  die  Urtheils- 
lehre  der  Schullogik  zur  Grundlage  seiner  Eintheilung  machen. 
Man  kann  endlich  aus  einer  obersten  Kategorie  alle  anderen  — 
etwa  nach  dialektischer  Methode  —  zu  entwickeln  suchen.  Meine 
viel  beschränktere  Aufgabe  geht  dahin,  zur  Lehre  von  den 
Denkbeziehungen  ein  paar  bescheidene  und  vielleicht  allzusehr 
am  Aeufserlichen  haftende  Anmerkungen  zu  machen,  die  sich 
aus  meinem  Material  an  Fragen  ergeben  haben.  Hierbei  kann 
ich  überdies  weder  Vollständigkeit,  noch  endgültig  gesicherte 
Ergebnisse  versprechen:  der  Zweck  dieser  ersten  Mittheilung  ist 
hauptsächlich  der,  zu  gründlicherer  Bearbeitung  eines  dem  Ex- 
periment noch  kaum  erschlossenen  Gebietes  anzuregen,  während 
die  zweite  den  Versuch  machen  wird,  etwas  tiefer  in  das  Problem 
des  Neuurtheils  einzudringen. 

A.  Die  räumlichen  Beziehungen. 

Die  Raumvorstellung,  sagt  Stumpf  einmal,  „beruhe  ihren  Ele- 
menten nach  auf  directer  Empfindung,  ihrer  Ausbildung  nach  auf 
Associationen".*  Ich  würde  (wohl  auch  im  Sinne  von  Stumpf)  der 
zweiten  Hälfte  des  Satzes  noch  hinzufügen:  und  auf  der  „bezie* 
h  e  n  d  e  n  Thätigkeit  des  Verstandes".  ^  Denn  von  der  blofsen  Ver- 
kettung der  Vorstellungen  ist  ihre  „bewufste  Beziehung"  *  zu  unter- 
scheiden. Li  dem  ursprünglich  gegebenen  Ausgedehntsein  ent- 
stehen die  bewufsten  räumlichen  Beziehungen  hauptsächlich  im 


'  „üeber  den  psychologischen  Ursprung  der  Kaumvorstellung.*'    8.  296. 
«  Ebd.  312. 

'  Vgl.  E.  ScHBADEB,  „Die  bewufste  Beziehung  zwischen  Vorsteliangeo 
als  constitutives  Bewufstseinselement^.    1893. 


ExperimenteUe  Beiträge  zur  Psychologie  des  Ericennens,  15X 

Anschlufs  an  das  Verhalten  des  leiblichen  Ich  zu  seiner  Um- 
gebung. Der  menschliche  Organismus  ist  in  eine  räumliche 
Umgebung  hineingestellt,  auf  die  er  in  Folge  von  theils  ange- 
borenen, theils  ohne  Reflection  erworbenen  Anpassungen  zweck- 
mälsig  reagirt  Das  in  diese  Reactionen  verflochtene  BewuTstsein 
hat  beim  Menschen  (und  wohl  nur  bei  diesem)  die  Fähigkeit, 
die  so  tiiatsächlich  gegebenen  Verhältnisse  in  bewufsten  Be- 
ziehungen wiederzuspiegeln  und  so  erst  unsere  Raumvorstellung 
au  dem  zu  machen,  was  sie  ist.  Aus  dieser  Ursprungsart  erklärt 
es  sich,  dafs  wir  nicht  nur  die  wissenschaftliche,  sondern  auch 
die  populäre  Unterscheidung  der  drei  Dimensionen  besitzen.  Die 
ein&chsten  räumlichen  Begriffe  sind,  wie  mir  scheint,  Ort, 
Richtung  und  Entfernung.  Von  diesen  wird  wieder  der 
Ort  gewöhnlich  als  das  Elementarste  bezeichnet^  Das  ist 
logisch  gewife  zutreffend.  Fragt  man  sich  dagegen,  was  psycho- 
logisch zuerst  als  bewufste  Beziehung  herausgehoben  wird, 
80  möchte  ich  im  Zusammenhang  mit  dem  eben  Gesagten  der 
Richtung  den  Primat  zuerkennen. 

Bei  den  Versuchen,  die  man  viel  mehr  auf  Detail  ausdehnen 
könnte,  als  es  mir  dieses  Mal  möglich  war,  stellte  sich  Folgendes 
heraus.  Von  479  Fragen  (538  Beziehungen)  gehen  im  Ganzen 
42  (45)  auf  räumliche  Bestimmungen,  also  8,77  (8,36)  %.  Dabei 
waren  zwei  Themata  mit  räumlicher  Haupttendenz  gegeben 
worden,  die  beide  auf  die  Frage  nach  dem  Ort  eingestellt  waren. 
Kr.  9  lautete:  „Vergeblich  suchte  er  in  allen  Taschen  nach 
seinem  Messer."  Nr.  22 :  „Seit  zwei  Jahren  sucht  man  vergeblich 
nach  dem  aus  der  Gemäldesammlung  gestohlenen  Rembrandt." 
Diese  beiden  Themata  waren  nun  entweder  überhaupt  schlecht 
gewählt,  oder  zu  stark  mit  Nebentendenzen  versehen.  Denn  bei 
den  anderen  Versuchssätzen  kamen  zum  Theil  mehr  Fragen 
nach  räumlicher  Beziehung  vor  als  gerade  hier.  Wegen  dieses 
Versagens  wird  man  vermuthlich  das  Interesse  für  die  räumliche 
Relation  etwas  höher  einschätzen  müssen ;  freilich,  wenn  es  sehr 
vorwiegend  wäre,  so  hätten  die  Hauptthemata  eben  doch  besser 
gewirkt.  —  Im  Allgemeinen  ist  noch  hinzuzufügen,  dafs  hier 
30  (31)  leere,  12  (14)  Vermuthungsfragen  gestellt  wurden,  ein 
dem  Gesammtergebnifs  entgegengesetztes  Verhältnifs,  das  nur 
noch  von  dem  bei  den  Benennungsfragen  übertroffen  wird.    Es 


1  Vgl.  Stumpf,  Ebd.  280. 


152  -KarZ  Qroos, 

scheint  also  hier  schwieriger  als  in  anderen  Fällen^  die  Ver* 
Suchsperson  bis  m  jene  dritte  Phase  hinüberzufahren,  die  ein 
aufkeimendes  Urtheil  enthält. 

Von  den  Unterarten  der  Raumbeziehung  treten  Ort,  Rich- 
tung und  Entfernung  hervor:  Ort  15,5  (17),  Richtung  19,5 
(21),  Entfernung  7  (7).  Unter  den  zuletzt  genannten  gehen  nur 
2  (2)  Fragen  auf  die  Distanz  zwischen  verschiedenen  Objecten, 
während  5  (5)  die  Entfernung  der  Grenzen  eines  und  desselben 
Objectes  von  einander,  also  die  Gröfse  angegeben  haben  möchten. 
Von  allen  diesen  äufserhchen  Ergebnissen  kann  höchstens  die 
starke  Betheiligung  der  auf  Richtung  gehenden  Fragen  im 
Zusammenhang  mit  dem  früher  Angedeuteten  einigermaaTsen 
beachtenswerth  sein.  Viel  interessanter  ist  der  Umstand;  dafs 
nun  innerhalb  der  Richtungsfragen  ein  überraschendes  Mifsver- 
hältnifs  zwischen  dem  Woher  und  dem  Wohin  zu  constatiren 
ist:  es  wurde  18,5  (20)  Mal  „woher"  und  nur  ein  einziges  Mal 
„wohin"  gefragt  Hier  stofsen  wir  auf  ein  Resultajt,  das  des 
weiteren  Nachprüfens  und  —  wenn  es  durch  andere  Versuche 
im  WesentUchen  bestätigt  wird  —  des  Nachdenkens  werth  ist 
Es  ist  mir  nicht  zweifelhaft,  dafs  die  Erscheinung  zum  Theil 
durch  die  hereinspielende  Causalbeziehung  erklärt  werden 
mufs;  denn  wir  werden  sehen,  dafs  fast  überall,  wo  zugleich 
causale  Relationen  anklingen,  der  Regrefs  den  Progrefs  über* 
wiegt.  Dafs  aber  hier  beim  Räumlichen  der  Unterschied  so 
ungewöhnUch  grofs  ist,  wird,  falls  es  sich  wirklich  um  eine  all- 
gemeine Erscheinung  handelt,  noch  auf  besondere  Ursachen  zu- 
rückgeführt werden  müssen. 

B.  Die  zeitlichen  Beziehungen« 

Auch  bei  der  Zeit  haben  wir  ein  ursprüngliches  Ausgedehnt- 
sein von  besonderem  Charakter,  sei  es  nun,  dafs  wir  es  concrete 
(Jegenwart  oder  psychische  Präsenzzeit  oder  wie  sonst  nennen, 
als  unmittelbar  Gregebenes  vorauszusetzen.  Man  denkt  dabei, 
wenn  man  auf  das  Elementare  zurückzugehen  sucht,  vor  AUem 
an  das  Nachklingen  des  eben  Vergangenen  im  „primären  Gre- 
dächtnifs".  Man  kann  sich  aber  fragen,  ob  nicht  vielleicht  ein 
vor  aller  Reflection  vorhandenes  Eingestelltsein  auf  das  Zu- 
künftige, ein  Gespanntsein  auf  das  Kommende  annähernd  die 
gleiche  Wichtigkeit  besitzt  Wenn  man  bedenkt,  wie  bedeutungs- 
voll das  Triebleben  für  die  Organismen  ist,  das  doch  lauter  Ein- 


ExperimentdU  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens,  153 

Stellungen  auf  das  Zukünftige  mit  sich  bringt,  wenn  man  femer 
beachtet,  dafs  sogar  im  rein  Theoretischen  das  aufmerksame 
Bewuüstsein  dieselbe  triebartige  Einstellung  zeigt,  so  wird  man 
diesen  Gedanken  nicht  ohne  Weiteres  abweisen  dürfen.  —  Die 
bewuTsten  zeitlichen  Beziehungen  sind  nicht  sehr  leicht  in  Unter- 
arten  zu  sondern,  da  die  sich  eindrängenden  Analogien  mit  dem 
Bfiomlichen  vielleicht  eher  schädlich  als  nützlich  wirken  und 
dennoch  schwer  eliminirt  werden  können.  Für  unsere  Zwecke 
genügt  es,  da&  wir  die  Beziehung  auf  die  Gegenwart  von  der 
auf  Früheres  oder  Späteres  unterscheiden  und  die  Beziehung 
auf  die  Dauer  hinzufügen. 

Unter  den  Fragen  sind  34  (40)  =  7,43  (7,l)<>/o  zeitUch,  näm- 
lich 11,5  (14)  leere  und  22,5  (26)  Vermuthungsfragen,  so  dafs 
hier  das  Verhältnifs  aufkeimender  Urtheilsacte  viel  günstiger  ist 
als  beim  Raum.  Hauptthemata  waren  Nr.  10:  „Als  er  von  seiner 
Reise  ins  elterliche  Haus  zurückkehrte,  fand  er,  dafs  man  in-* 
zwischen  den  Garten  im  englischen  Geschmack  angelegt  hatte" 
—  und  Nr.  12 :  „In  einem  bestimmten  Abschnitt  der  Entwickelüng 
der  Schwerter  tritt  die  lanzettförmige  Gestalt  der  Klinge  auf." 
Auch  diese  Themata  haben  sich  nicht  besonders  wirksam  gezeigt, 
immerhin  übertraf  der  Erfolg  den  der  auf  räumliche  Beziehungen 
angelegten  —  von  den  34  (40)  Zeitbeziehungen  fallen  10  (13) 
auf  Nr.  10  und  12  — ,  während  ich  a  priori  eher  das  Gegentheil 
erwartet  hätte.  Jedenfalls  stellt  sich  im  Ganzen  das  Interesse 
für  zeitliche  Relationen  noch  etwas  geringer  dar  als  das  nach 
räumlichen.  —  Was  die  Unterarten  der  zeitlichen  Beziehung  an- 
langt, so  kam  10  (10)  Mal  das  Verlangen  nach  zeitlicher  Be- 
stimmung im  Allgemeinen  vor,  während  7  (11)  Fragen  auf  da» 
Vorausgehende,  12  (13)  auf  das  Folgende,  1,5  (2)  auf  die  Gegen- 
wart, 3,5  (4)  auf  die  Dauer  abzielten.  Da  sich  die  Seltenheit  der 
Beziehimgen  auf  die  Gegenwart  wohl  aus  der  Natur  der  Ver- 
suche erklären  wird,  so  ist  hier  nur  ein  einziges  Ergebnifs  be- 
merkenswerth ,  nämlich  der  starke  Antheil  der  Relationen  auf 
das  zeitlich  Folgende.  Während  im  Allgemeinen  der  Progrefs 
hinter  dem  Regrefs  zurücksteht  und  bei  dem  Räumlichen  sogar 
fast  verschwindet,  ist  bei  der  Zeit  das  Interesse  für  den  Progrefs 
überwiegend.  Hier  macht  sich  also  möglicherweise  jenes  trieb- 
artige Eingestelltsein  auf  das  Kommende  geltend,  von  dem  ich 
oben  gesprochen  habe ;  aufserdem  ist  es  allerdings  denkbar,  dafs 


154  ÄaW  Groos, 

der  Regrefs  sprachlich  leichter  eine  causale  Form  annimmt  als 
der  Progrefs,  was  die  Erscheinung  auch  erklären  würde. 

C.   Die  Zahlbeziehung. 

Da  die  Versuche  hinsichtlich  der  Zahlbeziehung  nur  ihrem 
Gesammtresultat  nach  in  Betracht  kommen,  so  brauche  ich  hier 
nichts  weiter  vorauszusetzen  als  die  Bemerkung,  dafs  die  Grund- 
lage der  bewufsten  Beziehung  wohl  auch  hier  etwas  Giegebenes 
ist,  nämlich  der  gröfsere  oder  geringere  „innere  Reichthum"  beim 
simultanen  oder  successiven  Erleben  einer  Mehrheit  —  Fragen 
nach  der  Anzahl  kamen  aufserhalb  der  eigens  darauf  angelegten 
Themata  nur  zweimal  vor.  Von  den  Specialversuchen  lautet 
das  Thema  Nr.  14 :  ,.Dieser  junge  Mann  ist  schon  xäehr  als  ein- 
mal verlobt  gewesen";  und  das  Thema  Nr.  20:  „Charlottenburg 
hat  im  letzten  Jahrzehnt  an  Einwohnerzahl  aufserordentlich  stark 
zugenommen".  Nr.  20  ergab  4,5  (7)  Beziehungen  auf  Anzahl, 
Nr.  14  blos  2  (2),  Die  Gesammtsumme  beträgt  also  8,5  (11) 
=  1,77  (2,05)  7o-    Darunter  ist  1  (1)  Vermuthungsfrage. 

Das  Interesse  für  die  Zahlbeziehung  ist  den  Versuchen  nach 
am  geringsten  unter  allen  Urtheilsarten,  die  erprobt 
wurden;  höchstens  die  Existentialbeziehung  kann  mit  ihr  in 
dieser  Hinsicht  verglichen  werden,  wie  sich  später  zeigen  wird. 
Das  ist  sehr  auffallend  gegenüber  der  ungeheuren  Wichtigkeit 
der  Zahl,  die,  wie  v.  d.  Steinen  einmal  sagt,  „das  Gerüst  all 
unseres  Wissens"  darstellt.  Wir  werden  dadurch  ein  wenig  an 
das  Verhalten  primitiver  Stämme  erinnert,  die  sich  um  bestimmte 
Zahlenangaben  unglaublich  wenig  kümmern  und  in  Folge  dessen 
aus  Mangel  an  Uebung  (nicht  aus  Mangel  an  Begabung)  kaum 
über  5  oder  6  hinauskommen.  Auch  beim  Culturmenschen 
scheint  die  Bedeutung  der  Zahl  in  den  Hintergrund  zu  treten, 
sobald  man  nur  an  seine  natürliche  Wifsbegier  appellirt 

D.    Vergleichen  und  Unterscheiden. 

Zwei  Erlebnisse  a  und  b  können  hinsichtlich  ihrer  Unter- 
scheidbarkeit in  fünffacher  Weise  zum  Gegenstand  bewu&ter 
Beziehungen  gemacht  werden:  1.  die  zugleich  auf  die  Kategorie 
der  Substantialität  verweisende  Identitätsbeziehung,  2.  Gleichheit, 
3.  Aehnlichkeit,  4.  Verschiedenheit,  5.  Contrast. 

Meine  Versuche  sind  in  diesem  Gebiet  nicht  vollständig,  da 
sie,  was  die  Specialthemata  anlangt,  nur  auf  Fragen  nach  Gleich- 


Experimentdle  Beiträge  zur  Psychologie  de9  Erkennene,  155 

heit,  Aehnlichkeit  oder  Verschiedenheit  angelegt  waren,  aufser- 
dem  aber  blos  den  Gontrast  in  noch  näher   zu  besprechender 
Weise  hervortreten  liefsen.    Im  Granzen  haben  wir  hier  31  (40) 
=  6,47  (7,43)  7o  Fragen  resp.  Beziehungen  zu  verzeichnen,  wovon 
21,5  (26)  den  Vermuthungsfragen  angehören.    Es  ergab  sich  aber 
dabei  eine  gewisse  Schwierigkeit  für  die  Berechnung,  die  ich  nur 
verdeutlichen  kann,  wenn  ich  zuerst  die  Specialthemata  anführe. 
Nr.  4  lautete :  „In  der  mineralogischen  Sammlung  sind  in  einem 
besonderen    Glaskasten    (joldfunde    aus    Australien    aufgestellt. 
Links  vomen   sieht  man  einen   stattlichen   Klumpen    von   fast 
kugelförmiger    Gestalt,   dessen   Werth    6000  Frs.   betragen  soll. 
Wenden  wir  den  Bhck  weiter  nach  rechts,  so  fällt  uns  ein  zweites 
Ftmdstück   auf."     Nr.  15:    „Als   der   Tourist   auf   seiner   Grat- 
wanderung eine  Spitze  von  beträchthcher  Höhe  erklettert  hatte, 
sah  er  vor  sich  einen  weiteren  Felsgipfel  emporragen."    Wenn 
nun  hier  etwa  eine  Frage  lautete:   ^Wie  hoch  wurde  das  zweite 
Fnndstück  geschätzt?"  so  hielt  ich  es  für  richtig,   Va  a^^  die 
Vergleichung  und  ^/^   auf  attributive  Beziehung  zu  verrechnen. 
War  dagegen  in  der  Frage  ein  „auch"  oder  „gleichfalls"  (z.  B. 
„Ist  dasselbe  auch  so  viel  werth  wie  der  erste  Klumpen?")  so 
schien  mir  die  Vergleichungstendenz  vorherrschend  genug,  um 
als  1  allein  in  Rechnung  gezogen  zu  werden. 

Die  Fragen  sind  nicht  alle  so  gestellt,  dafs  man  abgesehen 
von  einer  allgemeinen  Vergleichungstendenz  auch  angeben  kann, 
ob  sie  mehr  auf  Gleichheit,  Aehnlichkeit  oder  Unterschied  gehen. 
Prüft  man  diejenigen,  bei  denen  eine  genauere  Bestimmung 
möglich  ist,  so  stöfst  man  auf  einen  jener  Punkte,  die  vom  blos 
äofeerlichen  Ergebnifs  nach  innen  weisen  und  so  allein  im  Stande 
sind,  diesen  Versuchen  eine  gewisse,  wenn  auch  bescheidene 
Bedeutung  zu  verleihen.  Wenn  man  nämlich  so  obenhin  von 
Vergleichen  und  Unterscheiden  wie  von  zwei  coordinirten  Be- 
griffen redet,  so  übersieht  man,  dafs  das  „Vergleichen"  in  den 
meisten  Fällen  gar  nichts  Anderes  als  ein  Unterschei- 
den ist.  Ein  Hervorheben  der  Gleichheit  oder  gar  der  Aehn- 
lichkeit, wird  in  „natürlichen"  Urtheilen  wohl  überwiegend  nur 
da  eintreten,  wo  die  Gleichheit  oder  Aehnlichkeit  aus  irgend 
einem  Grunde  etwas  Ueberraschendes  oder  Erfreuliches  hat,  wie 
1.  B.  beim  ästhetischen  Urtheil  gegenüber  Werken  der  nach- 
ahmenden Kunst;  ein  solcher  Fall  tritt  aber  nicht  besonders 
häufig  ein-   Im  Grofsen  und  Ganzen  ist  daher  unser  „Vergleichen" 


156  ^^*'^  Grooa. 

meistens  ein  Suchen  nach  Unterschieden^  wie  das  den  Bedach 
nissen  eii^er  fortschreitenden  und  darum  „differenzirende^"  Eifr 
kenntnifs  ja  auch  am  besten  entspricht  Damit  stimmen  taUL 
die  Fragen  gut  überein.  Auf  Gleichheit  gehen  in  ziemlich 
unbestimmter  Weise  höchstens  6,5  (8);  in  unbestimmter  Weieiei 
weil  die  Beziehung  auf  Gleichheit  meist  nur  durch  „aueh''  odtir 
^gleichfalls^'  ausgedrückt  wird.  Auf  Aehnlichkeit  zielt  vielleicht 
1  (1)  Fall.  Auf  den  Unterschied  dagegen  haben  es  16  Frag^ 
resp.  21  Beziehungen  deutlich  abgesehen. 

Für  eine  Fortsetzung  der  Versuche  würde  Folgendes  zu  be- 
achten sein.  Bei  dem  Specialthema  Nr  15  sind  nur  3  (5)  faierhejf 
gehörige  Beziehungen  hervorgetreten,  während  bei  Nr.  4  22  (26)  mild 
der  Specialtendenz  entsprechend  reagirt  wurde.  Woraus  erklftrt 
sich  dieser  auffallende  Unterschied  ?  Sollte  die  erzählende  Form 
in  Nr.  15  die  Phantasie  mehr  von  dem  nüchternen  Vergleichen 
ablenken?  Ich  glaube  dies  nicht,  sondern  sehe  die  Differenz 
darin  begründet,  dafs  in  Nr.  4  eine  gewisse  Häufung  attributiver 
Bestimmungen  nach  vielen  Richtungen  hin  zum  Vergleichen  und 
Unterscheiden  anregt,  während  Nr.  15  nur  die  eine  attributiv^ 
Bestimmung  der  Höhe  darbietet. 

Endlich  sei  noch  hervorgehoben,  dafa  auch  das  Contrftst* 
verhältnifs  in  den  Versuchen  mehrfach  sichtbar  wird,  nur  in 
besonderer  Form,  nämUch  in  einem  Theil  der  ziemlich  häufigen 
disjunctiven  Fragen,  auf  die  ich  daher  bei  dieser  Grelegen^ 
heit  verweisen  will.  Sie  gehören  begreiflicher  Weise  alle  den 
Vermuthungsfragen  an  und  machen  einen  beträchtlichen  Bruchr 
theil  derselben  aus:  47  von  261  Vermuthimgsfragen  haben  dis- 
junctive  Form,  was  ja  bei  der  Unsicherheit  der  Vermuthung, 
die  das  „Oder"  einer  anderen  Vermuthung  nahelegt,  nicht  zU 
verwiuidem  ist.  Man  darf  dabei  allerdings  nicht  einseitig  an 
die  strengste  Auffassung  der  Disjunction  denken,  wonaich  die 
Urtheile  sich  nicht  nur  ausschliefsen ,  sondern  wo  auch  eines 
richtig  sein  mufs,  wenn  das  andere  oder  die  anderen  falsch  sind; 
vielmehr  wird  man  sich  mit  der  Forderung  wechselseitige]^  Aus* 
schliefsung  begnügen  müssen.^  Es  ist  hier  wohl  nothwendig, 
zwischen  der  im  Disput  gebrauchten  Disjunction,  bei  der  die 
strengere  Auffassung  gefordert  ist,  und  der  Disjunction  von  Ver* 
muthungen  bei  der  Bildung  eines  Neuurtheils  zu  unterscheiden. 


»  Vgl.  Lipps,  „Grundztige  der  Logik",  1893,  S.  68. 


Experimentelle  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens.  157 

womit  wir  es  zu  thun  haben.  In  dem  letzteren  Fall  kommt  die 
strengere  Form  natürlich  auch  häufig  vor;  recht  oft  handelt  es 
sieh  aber,  soviel  ich  sehe,  nur  darum,  dafs  einige  sich  aus- 
schliefsende  Vermuthungen  ^  neben  einander  zur  Erwägung 
kommen,  ohne  dafs  dabei  schon  die  Sicherheit  vorhanden  wäre : 
eine  weitere  Lösung  giebt  es  nicht.  — Die  contradictorische 
Disjunction  (S  ist  entweder  P  oder  nicht  P)  kommt  nur  ein  ein- 
ziges Mal  vor.  B.  Erdbiakn  ist  also  völhg  im  Recht,  wemi  er 
sagt,  sie  sei  nicht  häufig  J  wenn  er  weiter  bemerkt,  sie  finde  ihren 
Ort  mehr  im  vorläufig  orientirenden  als  in  dem  abschliefsenden 
Denken,  so  wird  das  zweifellos  ebenfalls  richtig  sein.  Dagegen 
wäre  noch  hinzuzufügen,  dafs  sie  sehr  beliebt  im  Disput  ist.*  — 
Die  „specifische**  Disjunction,  in  der  das  „Nicht-F"  bejahend 
bestimmt  ist,  bildet  also  bei  den  Fragen  die  Regel ;  und  darunter 
sind  nun  13  Fälle  von  conträrer  Disjunction,  wobei  die  Prä- 
dicate  in  dem  Contrastverhältnifs  des  conträren  Gegen- 
satzes stehen  (lang  oder  kurz,  grofs  oder  klein,  jung  oder  alt  etc.). 
Eine  bewufste  Beziehung  auf  den  Contrast  haben  wir  hier  eigent- 
lich gar  nicht  vor  uns;  höchstens  könnte  in  dem  einen  oder 
anderen  Fall  einmal  das  Interesse  der  Phantasie  für  die  Ab- 
weichung vom  Mittelwerth  eine  Rolle  gespielt  haben.  Mein 
hauptsächlicher  Zweck  bestand  deshalb  mehr  darin ,  bei  diesem 
Anlafs  die  disjunctiven  Fragen  zu  erwähnen,  auf  die  ich  sonst 
nicht  mehr  zu  sprechen  komme.  Nur  darauf  sei  noch  hinge- 
wiesen, dafs  die  conträre  Disjunction  der  contradictorischen 
psychologisch  oft  näher  steht,  als  man  glaubt,  indem  der  conträre 
Gegensatz  das  Dazwischenliegende,  was  er  nur  äufserlich  um- 
schüefst,  auch  innerlich  zu  enthalten  scheint  (vgl.  „Arm  und 
Reich"*,  „Hoch  und  Niedrig")  und  so  wie  der  contradictorische 
für  das  Bewufstsein  die  ganze  Reihe,   nicht  nur  ihre  Enden  be- 


*  Bei  einer  Frage  war  die  sprachlich  disjunctive  Form  logisch  unbe- 
rechtigt: „War  der  zweite  Gipfel  für  den  Wanderer  auch  erreichbar  oder 
versperrte  er  ihm  die  Aussicht?" 

*  B.  Erdmann,  Logik  I  (1892),  8.400  f.  —  Eine  historische  Untersuchung 
über  das  Verhältnifs  der  Disputirlogik  und  Erkehntnifslogik,  die  gleich  bei 
Aristoteles,  ja  schon  bei  den  Sophisten  beginnen  müfste,  würde:  wohl  in 
mancher  Hinsicht  klärend  wirken.  —  Nebenbei  sei  bemerkt,  dafs  eine  Dis- 
junction im  Subject  („Er  oder  Sie")  und  eine  mehr  als  zweigliedrige  Dis 
junction  vorkam ;  in  allen  anderen  Fällen  handelte  es  sich  um  zweigliedrige 
Disjunction  im  Prädicat. 


158  Karl  Grcm. 

deutet.^    Das  scheint  mir  gerade  bei  den  betreffenden  Fragen 
der  Fall  zu  sein. 


£.  Die  Substantialbeziehung. 

Diese  Relation  ist  die  Beziehung  von  Gegebenem  auf  ein 
nicht  gegebenes  X,  das  „Ding^,  die  Substanz,  wodurch  das  Ge- 
gebene zum  jjTtd&og^  jener  nicht  wahrnehmbaren  „oöaia**  wird* 
Die  Ej*iterien  für  die  Anwendung  der  Substanzbeziehung  sind 
im  populären  BewuTstsein  räumliche  Zusammengehörigkeit  und 
ein  zeitliches  Beharren  oder  doch  eine  nur  stetige  Veränderung 
des  Zusammenhangs.  Dabei  ist  die  Substanz,  sofern  wir  etwas 
darunter  zu  denken  suchen,  kaum  ein  blofses  „Bündel''  von 
Eigenschaften  (dieses  Bild  deutet  auf  einen  äuTseren,  periphe- 
rischen Zusammenschlufs),  sondern  eher  ein  Kraftcentrum, 
das  als  innere  Einheit  die  wahrgenommenen  Eigenschaften  „hat^ 
(vergL  Jebüsalem's  „Urtheilsfimction").  Dafs  die  erlebte  Con- 
tinuität  unseres  Bewufstseins  im  Wechsel  seiner  Zustände  beim 
Zustandekommen  des  Dingbegriffes  eine  Rolle  spielt,  halten  Viele 
für  wahrscheinlich,  wie  denn  Kant  die  Kategorien  überhaupt  als 
Functionsweisen  der  Einheit  des  Selbstbewufstseins  betrachtet 

Für  die  Erörterung  der  Substantialbeziehungen  werden  wir 
unterscheiden  müssen  zwischen  solchen  Beziehungen,  die  auf  das 
Ding  selbst  und  als  Ganzes  gehen,  und  solchen,  die  auf  die  ihm 
zu  „attribuirenden"  Eigenschaften  gerichtet  sind. 

Auf  das  Ding  selbst  geht  die  schon  erwähnte  Identitäts- 
beziehung, die  in  den  Versuchen  keine  Rolle  gespielt  hat  Sie 
tritt  in  dem  Act  des  „Wiedererkennens"  auf  und  ist  ein  Neur 
urtheil,  wie  ich  glaube,  nur  da,  wo  uns  Veränderungen  des 
Dmges  stutzig  machen  und  die  Frage  der  „Dieselbigkeit"  auf- 
drängen. 

Ferner  geht  unser  Interesse  auf  das  Ding  als  Ganzes, 
wo  wir  uns  fragen:  Was  ist  das  für  ein  Ding?  Die  Antwort 
darauf  giebt  die  Bestimmung  durch  den  Individual-  oder 
Gattungsbegriff,  resp.  durch  den  Namen  des  Indi- 
viduums oder  der  Gattung. 

Bei  den  Versuchen  unterschied  ich  zwischen  solchen  Fragen, 


^  Vgl.  auch  die  Bemerkungen  bei  R.  Lbhxann,  „ Schopenhauer **.    1894^ 
S.  160  f.,  1Ö6,  184. 


Eijterimetädle  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens.  159 

die  allgemein  auf  die  BestimmuDg  durch  den  Gattungsbegriff 
und  solchen  die  ausdrücklich  auf  die  Benennung  gerichtet  sind. 

Auf   Bestimmung    durch    den    Gattungsbegriff  waren   46,6 
(52)  =  9,71  (9,67)  ^/o  der  Fragen  (Beziehungen)  abgestellt,  darunter 
29  (30)  leere.    Die  beiden  Specialthemata  Muteten :    „Im  Schau- 
fenster des  Juweliers  befindet  sich  ein  Stein  von  grofser  Schön- 
heit'' (Nr.  17)  und:   „Als  der  Botaniker  durch  das  Gebüsch  ge- 
dnmgen  war,  stiefs  er  einen  Freudenruf  aus;  denn  vor  ihm  stand 
die  langgesuchte  Blume^  (Nr.  23).  Das  erste  Thema  ergab  6  (5)  hier- 
her gehörende  Fragen  unter  16  (17)  überhaupt,  das  zweite  10  (11) 
Ton  17  (21).    Die  übrigen  31,5  (36)  öind  in  neun  anderen  Ver- 
suchen zerstreut,  woraus  man  schon  auf  die  Wichtigkeit  einer 
Beziehungsart,    die    sich    auch   ungesucht    so    häufig    einstellt, 
schlielsen  kann. 

Der  Benennung  dienten  ebenfalls  zwei  Specialthemata,  die 
zugleich  beide  auf  Individuen  eingestellt  waren,  Nr.  7  und  18: 
„Im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  lebte  in  München  ein  Schrift- 
steller, der  eine  auTserordentliche  Gewalt  über  die  Jugend  aus- 
übte". „In  Sachsen  liegt  ein  Dorf  von  22000  Einwohnern".^ 
Hier  wurden  13  (13)  unter  24  und  10  (10)  unter  14  Fragen  der 
Hauptteüdenz  entsprechend  gestellt.  Im  Uebrigen  kamen  nur 
noch  3  Benennungsfragen  vor,  von  denen  zwei  den  Namen  einer 
Gattung  (Stein,  Blume)  verlangten.  Im  Ganzen  sind  es  also  26 
(26)  =  5,43  (4,83)  ^1^  Benennungsfragen.  —  Fassen  wir  zusammen, 
so  erhalten  wir  72,5  (78)  Fragen,  die  auf  begriffliche  Bestimmung 
eines  „Dinges**  gehen. 

Die  attributiven  Beziehimgen,  wobei  wir  mehr  auf  die 
dem  Ding  zuzuschreibenden  Eigenschaften  concentrirt  sind,  bieten 
eine  aufserordentliche  Mannigfaltigkeit  dar  —  mit  der  gewöhn- 
lichen Unterscheidung  von  Eigenschaften  im  engeren  Sinn  und 
Zuständen  ist  es  nicht  gethan.  Ich  will  aber  auf  solche  Unter- 
abtheilungen nicht  eingehen,  da  das  mir  zur  Verfügung  stehende 
Material  von  Fragen  zu  klein  ist,  sondern  die  attributiven  Be- 
stimmungen nur  in  ihrer  Gesammtheit  betrachten.    Da  erhalten 


'  Ich  bemerke  y  dafs  die  Angaben  der  Themata  ein  paar  Mal  einfach 
vd  Phantasie  beruhen.  Ich  mnÜBte  eben  manchmal  wegen  Zeitmangels  mit 
dexDy  was  mir  gerade  einfiel,  vorlieb  nehmen.  —  DafB  in  Nr.  7  und  18  ab- 
sichtlich auch  die  Möglichkeit  anderer  Beziehungen  gegeben  -wurde,  erklärt 
rieh  ans  deren  ünvermeidlichkeit  in  anderen  Fällen. 


160  ÄaW  Groos, 

wir  denn  58,5  (69)  =  12,21  (12,83)  «/o  Fragen  (Beziehungen)  Von 
attributivem  Charakter,  worunter  31  (38)  Vermuthu|)ig8&agen. 
Die  Specialthemata  Nr.  2  und  19  („Auf  dep  alten  Tanne  safs  am 
Äufsersten  Endie  eines  Zweiges  ein  fremdartiger  Vogel",  »Der 
Sammler  Neumann  besitzt  ein  orientalisches  Seidentuch  ron 
herrlicher  Färbung")  ergaben  zusammen  nur  16  attributive  Be- 
ziehungen, während  die  anderen  ziemlich  gleichmäJsig  über  fast 
aUe  Themata  verbreitet  sind. 

Die  Versuche  bestätigen,  wenn  man  die  verschiedenen  Resultate 
zusammenrechnet,  die  gewöhnliche  Ansicht,  wonach  die  Kategorie 
der  Substantialität  nach  der  Causalität  am  wichtigsten  für  das 
Denken  ist.  Denn  mit  131  (147)  Fragen  resp.  Beziehungen 
nimmt  sie  über  ^4  ^^s  Gesammtergebnisses  für  sich  allein  in 
Anspruch.  Allerdings  darf  nicht  vergessen  werden,  dafs  hier 
drei  Mal  so  viele  Specialthemata  vorhanden  sind  als  in  den 
bisher  besprochenen  Fällen.  Aber  schon  die  attributiven  Be- 
stimmungen und  die  Beziehungen  auf  den  Gattungsbegriff  stehen, 
-jede  für  sich  allein  betrachtet,  allen  anderen  aufser  den  Causal- 
beziehungen  voran.  Und  wenn  wir  uns  nach  dem  Antheil. dieser 
Beziehungen  auf  serhalb  ihrer  Specialthemata  fragen,  so  er- 
halten wir  42,5  (53)  Attributive,  31,5  (36)  Gattungs-  und  3  (3) 
Namenbeziehungen,  also  zusammen  77  (92)  Substanzialrelationen, 
die  ohne  helfende  „Haupttendenz"  auftreten,  worin  die  Kategorie 
abermals  allein  durch  die  Causalität  übertroffen  wird.  (Weiter 
unten  folgt  eine  Zusammenstellung.) 

F.  Die  Causalbeziehung. 

WiNDELBzVND  hat  die  Kategorien  („Vom  System  der  Kategorien", 
Sigwartabhandlungen  1900)  in  reflexive  und  constitutive 
eingetheilt,  d.  h.  in  solche,  denen  wir  nur  eine  „vorgestellte", 
imd  solche,  denen  wir  eine  „gegenständliche"  Geltung  beilegen. 
(Denselben  Unterschied  drückt  auch  Trendelenburg's  Eintheilung 
in  modale  und  reale  Kategorien  aus).  Zu  den  constitutiven 
gehört  die  Causalität.  Sie  unterscheidet  sich  aber  von  allen 
anderen  noch  dadurch,  dafs  sie  gegenüber  den  blofsen  „Ist- 
beziehungen"  die  einzige  „Mufsbeziehung"  ist.  So  hat 
z.  B.  die  Beziehung  einer  Substanz  z^xx  einer  ihrer  Eigenschaften 
nur  dann  den  Charakter  der  Nothwendigkeit,  wenn  wir  wissen, 
warum  das  Ding  die  Eigenschaft  haben  mufs. 


Experimentelle  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens.  \Q\ 

Wenn  man  nach  der  psychologischen  Grundlage  der  be- 
wn&ten  Causalbeziehung  fragt,  so  wird  in  der  Antwort  gern  auf 
die  Willenshandlung  verwiesen.  Das  ist  nicht  ohne  weitere  Er- 
klSrung  zulässig.  Vor  Allem  ist  es  zu  betonen,  dafs  dabei  genau 
genommen  mindestens  zwei  verschiedene  Arten  von  Erlebnissen 
in  Betracht  kommen,  nämlich  das  absichtliche  „Hervor- 
bringen"  und  das  Gefühl  des  „Nöthigens"  und  „Genöthigt- 
Seins".  Beides,  auch  das  Nöthigen  und  Genöthigtsein  deutet 
nun  in  der  That  auf  das  Willensleben  hin.  Aber  der  Hinweis 
auf  die  Willenshandlung  bedarf  nicht  nur  einer  genaueren 
Analyse,  sondern  er  mufs  auch  einem  directen  Angriff  auf  seine 
Berechtigung  gewachsen  sein.  Man  sagt  etwa:  das  in  der 
ftufiseren  Causalbeziehung  nicht  wahrnehmbare  und  doch  hinein- 
verlegte „innere  Band"  zwischen  der  Ursache  a  und  der  Wirkung 
b  ist  als  thatsächliches  Erlebnifs  für  uns  da  in  dem  Streben, 
welches  das  a  setzt,  weil  es  das  b  will.  Erst  die  Abstraction  hat 
aus  der  teleologischen  die  eigentUch  causale  Beziehung  gemacht. 
Dem  gegenüber  kann  aber  der  Einwand  erhoben  werden:  das 
ist  ein  Cirkel ;  denn  wie  kann  ich,  um  b  zu  erreichen,  a  setzen, 
wenn  ich  nicht  schon  ein  Bewufstsein  von  einem  causalen  Connex 
beider  habe;  die  speciell  teleologische  setzt  also  die  allgemeine 
Causalbeziehung  voraus.  —  Einen  Ausweg  aus  dieser  Schwierig- 
keit würde  man  vielleicht  in  der  Würdigung  der  biologischen 
Thatsache  finden,  dafs  das  Bewufstsein  von  Anbeginn  durch 
das  Erleben  der  Reflex-  und  Instinctbewegungen  in  einen  zweck- 
mäfsigen  Causalnexus  verflochten  ist,  wobei  hundertfach  ein 
Drang  auf  b  hin  zu  dem  Setzen  des  a  führt,  ohne  dafs  eine 
Erkenntnifs  des  Causalzusammenhanges  zwischen  a  und  h  schon 
vorhanden  wäre.  Es  würde  das  in  gewissem  Sinne  Kant's  Ver- 
hältnifs  von  „Affinität"  und  „Association"  analog  sein:  statt  der 
transscendentalen  Affinität  hätten  wir  die  ererbte  Anpassung  des 
Organismus  zu  seiner  Umgebung,  in  die  das  erwachende  Be- 
wnüstsein  sich  hineingestellt  findet  und  die  es  dann  in  bewufsten 
Beziehungen  zur  Reflection  erhebt. 

Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  hielt  ich  es  für  nöthig,  sowohl 
die  teleologische  Beziehung  (Motiv,  Zweck,  Mittel  u.  dergl.)  als 
auch  die  eigentliche  Causalrelation  im  engeren  Sinne  zum  Gegen- 
stand von  Specialversuchen  zu  machen.  Ja  ich  ging  hierüber 
noch  hinaus,  indem  ich  bei  der  Letzteren  die  Beziehung  auf  die 
Ursache  und  die  auf  die  Wirkung  (causal  zurück  und  vorwärts, 

ZdtKhrift  mr  TsychoJiVFie  S6.  11 


162  -KaW  Groos. 

Regrefs  und  Progrefs)  wieder  sonderte  und  für  jede  der  beiden 
Richtungen  zwei  Specialthemata  verlas.  So  entstanden  die  6 
Themata  Nr.  8,  16,  5,  13,  3,  21  : 

Nr.  8  und  16  (teleologische  Beziehung) :  „Der  Techniker,  der 
das  Modell  des  neuen  Apparates  betrachtete,  deutete  auf  einen 
Theil  der  Construction  und  sagte:  „Ich  würde  Ihnen  rathen, 
hierzu  Aluminium  zu  nehmen".  —  „Am  ZEPPELiN*schen  Luftschiff 
befinden  sich  sogen,  Laufgewichte,  durch  deren  Bewegung  man 
den  Schwerpunkt  des  Ganzen  verschieben  kann." 

Nr.  5  und  13  (causal,  Regrefs  zur  Ursache):  „Als  der  junge 
Mann  gerade  an  einem  stattlichen  Hause  vorbeiging,  fiel  plötzlich 
eine  Rose  zu  seinen  Füfsen  nieder."  —  „An  der  Westküste  Eng- 
lands hat  man  ein  allmähliches  Sinken  des  festen  Landes  nach- 
gewiesen." 

Nr.  3  und  21  (causal,  Progrefs  zur  Wirkung):  „Am  Thurm 
der  Stadtkirche  löste  sich  ein  Stein,  schlug  auf  dem  schiefen 
Dach  auf  und  sprang  dann  mit  einem  gewaltigen  Satz  in  die 
freie  Luft  hinaus".  —  „Man  hat  berechnet,  dafs  die  Sonne  all- 
mählich an  Gröfse  verliert."  ^ 

Betrachten  wir  vor  Allem  das  Gesammtresultat,  so  wird  ims 
die  Uebermacht  der  Causalbeziehmig  über  alle  anderen  in  hübscher 
Weise  verdeutlicht.  Denn  70  (78)  =  14,61  (14,5)  %  teleologische 
und  150,5  (163)  =  31,42  (30,3)%  im  engeren  Sinn  causale 
Relationen  sind  hier  zu  verzeichnen,  wobei  im  ersten  Fall  48 
(55),  im  zweiten  95,5  (108)  zu  den  Vermuthungsfragen  gehören. 
W^enn  also  die  Substantialbeziehung  in  allen  ihren  Formen  zu- 
sammen 131  (147)  Fragen,  d.  h.  mehr  als  ein  Viertel  des 
Ganzen  in  Anspruch  nahm,  so  macht  die  Gesammtheit  der 
Causalfragen  220,5  (241)  aus.  Aufserdem  müssen  wir  aber  mehr 
oder  weniger  auch  noch  die  früheren  besprochenen  räumUchen 
und  zeitlichen  auf  Richtung  gehenden  Fragen  hinzurechnen, 
die  zusammen  38,5  (45)  betragen,  so  dafs  wir  sagen  dürfen:  die 
Causalität  bedeckt  etwa  die  Hälfte  des  ganzen  Gebietes.  Frei- 
Uch  mufs  auch  hier  wieder  daran  erinnert  werden,  dafs  wir  statt 
der  sonst  üblichen  2  Specialthemata  in  diesem  Falle  6  vor  uns 


^  Nr.  13  und  21  können  eigentlich  nur  als  allgemein  causal  bezeichnet 
werden,  da  mir  hierbei  die  Tendenz  auf  Regrefs  und  Progrefs  nicht  recht 
gelungen  ist. 


ExperimentdU  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens. 


163 


haben.  Dabei  bleibt  aber  das  Verhältnifs  zu  der  geradeso  ge- 
stellten Substantialbeziehung  bestehen.  Femer  ist  jede  der  beiden 
eausalen  Hauptbeziehungen  (die  teleologische  und  die  causale 
im  engeren  Sinn)  für  sich  allein  schon  die  stärkste  wie  folgender 
Ueberblick  zeigt,  ^  in  dem  wir  allerdings  die  noch  zu  erörternde 
Existentialbeziehung  vorausnehmen  müssen: 


Art  der  Relation 

Fragen  (in  %) 

Beziehungen 

(in  %) 

Bäumlich 

8,77 

8,36 

Zeitlich 

7,1 

7,43 

Anzahl 

1,77 

2,05 

Unterschied  u.  s.  w. 

6,47 

7,43 

1   Gattung 
1    Name 

9,71 

9,67 

5,43 

4,83 

'    Attributiv 

12,21 

12,83 

f   Teleologisch                              , 

14,61 

14,5 

'    Causal  vor  und  zurück            f 

31,42 

30,3 

Existenz 

2,51 

2,6 

100,00 


100,00 


Wir  besitzen  aber  auch  noch  ein  weiteres  Prüfungsmittel. 
Fragen  wir  uns  nämhch,  wie  wir  es  schon  vorher  bei  der  Sub- 
stantialbeziehung thaten,  wie  stark  die  verschiedenen  Kategorien 
abgesehen  von  den  besonders  auf  sie  eingestellten 
Versuchen  vertreten  sind,  so  erhalten  wir,  obgleich  auf  diese 
Weise  die  Causalität  in  der  Verrechnung  benachtheiligt 
ist,  abermals  das  Ergebnifs,  dafs  die  Substantialbeziehung  ein 
starkes  Viertel,  die  Causalbeziehung  schwach  die  Hälfte 
aüer  so  entstandenen  Fragen  resp.  Beziehungen  ausmacht.  Dies 
verdeutlicht  die  folgende  Tabelle: 


^  Da  bei  der  Causalität  im  engeren  Sinne  auch  noch  andere  Be- 
gebungen aufser  der  auf  Wirkung  oder  Ursache  hervortraten,  mufste  in 
der  Tabelle  Alles  zusammen  gerechnet  werden,  obwohl  hier  4  Special- 
themata vorlagen.  Es  bleibt  aber,  auch  wenn  wir  die  31,42  %  halbiren 
(vas  viel  zu  streng  gerechnet  wäre,  da  ja  ein  grofser  Theil  der  Fragen  gar 
uebt  in  die  Specialthemata  fällt)  das  Causalverhältnifs  im  engeren  Sinn 
das  stärkste  von  allen. 

11* 


164 

Karl  Groos, 

Art  der  Relation 

Anzahl 
der  Fragen 

Anzahl 
der  Beziehungen 

Räumlich 

38 

40 

Zeitüch 

24 

27 

Anzahl 

2 

2 

Unterschied  u.  s.  w. 

6 

9 

' 

Gattung 

31,5 

36 

« 

Name 

3 

3 

■ 

Attributiv 

1 

42,5 

53 

{ 

Teleologisch 

50 

58 

Causal  vor  und  zurück            i 

80,5 

85 

Existenz                                     | 

1 

1 

278,5 


314 


Innerhalb  der  teleologischen  Beziehungen  empfindet  man 
bald  das  Bedürfnifs  nach  Unterabtheilimgen ,  wobei  eine  der 
Unterscheidung  von  causalem  Progrefs  und  Regreis  entsprechende 
Division  sich  aufdrängt,  aber  natürUch  nicht  so  leicht  durchzu- 
führen ist;  denn  das  Ziel,  das  in  der  Zukunft  liegt,  ist  als 
Zweckvorstellung  zugleich  Grund  oder  Motiv  der  eintretenden 
Veränderung.  Da  mir  jedoch  daran  lag,  hier  zu  scheiden,  so 
ging  ich  in  folgender  Weise  vor.  Hatte  die  Frage  den  Sinn 
von:  warum  geschah  das?  —  so  rechnete  ich  diese  Beziehung 
auf  den  Grund  oder  das  Motiv  zum  ßegrefs.  Ebenso  natür- 
Uch eine  weitere  Kategorie  von  Fragen,  die  sich  für  das  Mittel 
interessiren,  wodurch  etwas  erreicht  wurde.  War  dagegen  die 
Tendenz  des  Fragenden  mehr  auf  den  Charakter  des  zu  er- 
reichenden Zieles  gerichtet,  so  wurde  der  Fall  dem  ProgreC» 
zugezählt.  Noch  sicherer  konnte  man  das  thun,  wenn  direct 
gefragt  wurde,  ob  das  Ziel  erreicht  worden  sei. 

Von  den  70  (78)  teleologischen  Fällen  gehen  nun  27  (30) 
auf  den  Grund,  11  (14)  auf  das  Mittel,  22  (24)  auf  den 
Charakter  des  Zieles  und  10  (10)  fragen,  ob  das  Ziel  wirklich 
erreicht  worden  sei. 

Bei  der  eigentlichen  Causalität  ist  neben  dem  Hauptunter- 
schied von  regressiven,  auf  die  Ursache  und  progressiven  auf 
die  Wirkung  gehenden  Fragen  auch  noch  das  Interesse  für 
die  Umstände,  unter  denen  etwas  stattfand,  und  vielleicht  die 
Kategorie  der  Wechselwirkung  hervorgetreten.  Auf  die  Ur- 
sache gingen  86  (96),  auf  die  Wirkung  58  (60),  auf  Umstände 


Experimentelle  Beiträge  zur  Fsycholoffie  des  Erketinetis. 


165 


5,5  (6),  als  Beziehung  auf  Wechselwirkung  konnte  möglicher- 
weise 1  Fall  aufgefafst  werden:  auf  das  Thema  der  sinkenden 
Westküste  wurde  nämlich  einmal  gefragt,  ob  gleichzeitig  die 
Ostköste  gestiegen  sei. 

Das  Hauptinteresse  Hegt  niui  hierbei  in  dem  Verhältnifs 
von  Ursache  und  Wirkung,  oder  sagen  wir  allgemeiner :  zwischen 
causalem  Regrefs  und  Progrefs.  Wollen  wir  dieses  Verhältnifs 
übersehen,  so  laüssen  wir  nicht  nur  die  teleologischen,  sondern 
auch  die  auf  Richtung  gehenden  räumlichen  und  zeitUchen  Be- 
ziehungen mit  in  die  Berechnung  ziehen,  während  wir  bei  den 
eigentlich  causalen  die  Umstände  zum  "Regrefe,  den  Fall  von 
Wechselwirkung  aber,  da  er  eben  doch  jedenfalls  Interesse  für 
die  Wirkung  zeigt,  zum  Progrefs  zählen. 

Wir  erhalten  dann  folgendes  Ergebnifs: 


Kegrefs 


Progrefs 


Ursache  +  Umstände    91,5(102) 


Grand  +  Mittel 
Zeitlich  zurück 
Räumlich  woher 


38      (44) 

7      (11) 

18,5   (20) 


Wirkung -f- Wechselwirkung  59   (61) 

Ziel  +  Ziel  erreicht  32  (34) 

Zeitlich  vor  12   (13) 

Räumlich  wohin  1     (1) 


155    (177) 


104  (109) 


Eine  gröfsere  Ausgleichung  erhält  man  allerdings,  wenn  man 
den  Antheil  an  Regrefs  und  Progrefs  aufs  erhalb  der  teleologi- 
schen und  causalen  Specialthemata  imtersucht: 


Regrefs 


Progrefs 


Ursache  -|-  Umstände  43,5(46) 

Grund  +  Mittel  20    (24) 

Zeitlich  zurück  7    (11) 

Räumlich  woher  16,5(18) 


Wirkung  +  Wechselwirkung  34  (36) 
Ziel  +  Ziel  erreicht  23  (25) 

Zeitlich  vor  10  (11) 

Räumlich  wohin  —   — 


87    (99) 


67  (72) 


Immerhin  bleibt  auch  so  das  ü  eberwiegen  des  Regresses  be- 
stehen, und  dieses  Ueberwiegen  wird  noch  bedeutsamer  durch 
die  beiden  Umstände,  dafs  erstens  die  auf  das  Ziel  gehende 
Frage  doch  das  Interesse  für  den  Grund  eher  involvirt  als  um- 
gekehrt die  auf  den  Grund  gehende  das  Interesse  für  den  Er- 
folg, und  dafs  zweitens  unter   den  33  (35)  Wirkungen  nicht 


166  Korl  GroM. 

weniger  als  18  psychische  sind  (,.war  er  erfreut,  erstaunt"  u.dgLX 
die  mehr  einem  gefühlsmälsigen  Interesse  als  dem  Erkenntnifs- 
drang  entspringen.  Nehmen  wir  zu  diesem  Ergebnisse  das  hinzu, 
was  wir  über  das  Neu-Urtheil  und  die  Phasen  des  Fragezustandes 
gesagt  habeu,  so  bestätigt  sich  uns  der  Ausspruch  von  Lipps: 
^Bezeichnen  wir  das  Gefühl,  das  das  Auftreten  des  Neuen  be- 
gleitet, als  Gefühl  der  Verwunderung,  setzen  wir  anderersdls 
voraus,  dafs  in  dem  Rückwärtsgehen  des  Denkens,  im  Auf- 
suchen von  Ursachen  und  Bedingungen  des  wahrge- 
nonmienen  Weltinhaltes,  vorzugsweise  das  Geschäft  des  Er 
kennens  bestehe,  so  hat  es  mit  dem  bekannten  Satze,  die  Ver- 
wunderung sei  Anfang  der  Erkenntnüs,  seine  psychologische 
Richtigkeit"  ^  Unter  allen  Beziehungen  sind  die  causalen,  unter 
diesen  aber  die  regressiven  am  mächtigsten. 

G.    Die  Existentialbeziehung. 

Der  Umstand,  dafs  in  dem  zweiten  Thema  (der  auf  einem 
Tannenzweig  sitzende  fremdartige  Vogel)  eine  Frage  hervortrat, 
die  die  Existenz  des  Vogels  bezweifelte  („War  es  wirklich  ein 
Vogel  oder  nur  ein  vogelähnlicher  Gegenstand?"),  veranlafste 
mich,  auch  auf  diese  Relation  einzugehen.  Bekanntlich  hat 
Bkentano  auf  Grund  seiner  Urtheilstheorie  -  gelehrt,  dafs  sich 
jedes  kategorische  Urtheil  ohne  Aenderung  des  Sinnes  in  ein 
Existentialurtheil  umwandeln  lasse.  Nun  ist  es  freilich  nicht 
völlig  deutlich,  wie  Bbentaxo  den  Ausdruck  Existenz  gefafst 
wissen  möchte.  Bei  Urtheilen  über  Aufsendinge  mufs  aber  doch 
wohl  Existenz  im  gewöhnlichen  Sinne  gemeint  sein.  Wenn  z.  B. 
das  Urtheil:  „irgend  ein  Mensch  ist  krank",  umwandelbar  ist  in: 
„es  giebt  einen  kranken  Menschen",  so  kann  dies  „es  giebt" 
doch  kaum  nur  die  Existenz  in  meiner  Vorstellung  sondern  nur 
die  Existenz  im  gewöhnlichen  Sinne  bedeuten.  In  Hinsicht  auf 
solche  Urtheile  scheint  mir  nun  folgende  Kritik  E.  Ebebhabd's 
völlig  zutreffend:  „Nur  von  Gegenständen,  deren  Existenz  uns 
selbst  fraglich  ist  oder  von  anderen  in  Zweifel  gezogen  wird, 
haben  wir  im  Allgemeinen  Veranlassung,  das  Dasein  ausdrück- 
lich zu  betonen,  und  dann  ist  der  Existentialsatz  die  einzige 
ungezwungene  und  auch  stets  zu  Gebote  stehende  Ausdrucks- 
weise.   Meist  aber  ist  es  uns  wichtiger,  über  die  Beschaffenheit, 

*  Lipps,  ^Grundthatsachen",  S.  416. 

*  Brentano,  ^Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte"  I,  S.266f.,  276 f. 


Experimentelle  Beiträge  zur  Psychologie  des  Erkennens.  167 

das  Thun  und  Treiben  des  Wirklichen  etwas  zu  erfahren  oder 
mitzutheilen,  imd  hier  sind  Eigenschafts-,  Thätigkeitsurtheileu.s.  w. 
die  geziemende  Form.    Brentano's  Umwandlung   solcher  Sätze 
rnnfs  uns  deshalb  als  unzulässig  gelten,  weil  sie  ein  untergeord- 
netes Moment  zur  Hauptsache  und  diese  zur  Nebensache  macht." ^ 
Ebrrhabd's  Ansicht  wird  nun,  wie  mir  scheint,  dadurch  be- 
stätigt,   dafs   abgesehen   von   den   eigens   darauf   eingerichteten 
Specialversuchen  die  Existentialfrage  nur  das  eine  Mal  gestellt 
worden  ist,   wo  sie  mir  zuerst  auffiel  und  dann  nie  wieder.    Es 
ist  aber  doch  auch  von  Interesse,  den  Erfolg  jener  Specialthemata 
zu  betrachten.    Nr.  6  und  11   lauteten:    „Der  in  Wolken  einge- 
hüllte Bergsteiger  hemmte  seinen  Schritt ;  denn  vor  ihm  zeichnete 
sich  in  dem  dichten  Nebel  schattenhaft  eine  Gestalt  ab,  die  wie 
ein  aufgerichteter  Bär  aussah".    „Im  Simplontunnel  befindet  sich 
an   einer  Stelle   ein  Quarzgang,    der   ganz  den   Charakter  einer 
goldführenden  Schicht  besitzt".  —  Das  erste   Thema   ergab  9^« 
\11)   auf   die   Existenz   gehende   Fragen   („Wirklich   ein   Bär?" 
•Ueberhaupt   ein   Thier?"     „Vielleicht   ein   Baumstrunk?"    etc.) 
unter  23  (30)  Fragen  resp.  Beziehungen  insgesammt.    Das  ist  ja 
gewifs   ein   nicht  unbeträchtlicher  Bruchtheil;    wenn  man   aber 
bedenkt,  in  wie  aufserordentlichem  Maafse  hier  die  Existenzfrage 
nahegelegt  ist,  so  mufs  es  doch  eher  auffallen,  dafs  beinahe  die 
Hälfte  der  Studenten,  nämlich  8  von  17  diese  Frage  überhaupt 
nicht  gestellt  haben.    Bei  dem  zweiten  Thema  aber,  wo  es  doch 
auch  scheinen   möchte,   als   sei  die  Frage,   ob  denn  thatsächlich 
Gold  in  dem  Quarzgang  vorhanden  ist,  so  ziemlich  in  den  Mund 
gelegt,  ist  nur  ein  einziger  Herr  von  elfen  auf  diesen  Gedanken 
verfallen.    Das  spricht  stark  dafür,  dafs  die  Existentialbeziehung 
in  der  Regel  beim  Urtheilen  nur  eine  untergeordnete  Bedeutung 
in  Anspruch  nehmen  darf. 

Hiermit  will  ich  diesen  ersten  Beitrag  schliefsen,  obwohl  sich 
noch  mancherlei,  so  z.  B.  das  Interesse  für  psychische  Ge- 
schehnisse imd  das  Aufkeimen  negativer  Urtheile  in  Erwägung 
ziehen  liefse.  Ein  zweiter,  noch  kürzerer  Beitrag  soll  von  dem 
Charakter  der  in  den  Vermuthungsfragen  aufgetauchten  Schlufs- 
processe  handeln. 

*  E.  Eberhard.  „Beiträge  zur  Lehre  vom  Urtheil."  Dias.,  Breslau 
1893.    S.  41. 

{Eingegangen  am   H.  April  1901.) 


(Aus  dem  Psychologischen  Institut  der  Universität  Groningen.) 


Erster  Artikel. 

Untersuchungen  über  die 
sogenannten  Aufmerksamkeitsschwankungen, 

Von 

Dr.  E.  WiEESMA, 

Privatdocenten  der  Psychiatrie  an  der  Universität  Groningen. 

(Mit  17  Fig.) 

In  dem  neulich  erschienenen  Grundrifs  der  Psychiatrie  von 
Wernicke  kann  man  lesen,  dafs  die  Psychiatrie  in  ihrer  Ent- 
wickelimg  zurückgeblieben  ist  imd  noch  jetzt  auf  einem  Stand- 
pimkt  steht,  wie  etwa  vor  einem  Jahrhundert  die  gesammte 
übrige  Medicin.  Mit  den  besseren  Kenntnissen  von  dem  Bau 
imserer  inneren  Organe  und  ihrer  normalen  Lebensverrichtungen 
imd  mit  der  Entwickelung  der  Untersuchimgsmethoden  gewann 
man  bei  der  inneren  Medicin  eine  viel  genauere  Einsicht  in  die 
krankhaften  Abweichungen. 

Das  Bestreben  des  Psychiaters  des  vorigen  Jahrhunderts  und 
auch  noch  von  heute,  so  gut  wie  möglich  bekannt  zu  werden 
mit  der  feineren  Structiu*  des  Gehirns  hat  allerdings  zu  grofsen 
Vortheilen  geführt.  Aber  ein  Nachtheil  war  auch  daran  ver- 
bunden. Man  vernachlässigte  dabei  andere  Sachen,  womit  der 
Psychiater  sich  gerade  in  erster  Linie  zu  beschäftigen  hat.  Seine 
Arbeit  ist  gewifs  für  den  Neuropathologen,  für  die  Localisations- 
lehre  von  grofser  Bedeutung  gewesen,  aber  die  Psychiatrie,  welche 
sich  in  der  Hauptsache  mit  der  Aetiologie,  dem  Wesen  und  der 
Therapie  von  krankhaften  Abweichungen  der  BewuTstseins- 
erscheinungen  beschäftigt,  konnte  nicht  in  erster  Linie  daraus 


Vntenuchuttgen  über  die  sogetiannten  ÄufmerkmmkeitsschiDankungen.  L  169 

Jfatzen  ziehen.  Viel  mehr  als  es  bis  heute  der  Fall  war,  mufs 
unser  Streben  darauf  gerichtet  sein,  besser  mit  den  normalen 
psychischen  Erscheinungen  bekannt  zu  werden.  Diese  Kenntnifs 
wird  uns  ein  besseres  Urtheil  geben  über  die  krankhaften  Er- 
scheinungen auf  jenem  Gebiete.  Auf  der  anderen  Seite  kann 
eine  genaue  Wahmehmimg  von  krankhaften  Störungen  der  Be- 
wulstseinserscheinungen  auch  für  die  Entwickelung  der  Psycho- 
logie von  Nutzen  sein.  Jede  Untersuchung  also,  die  der  normalen 
sowohl  als  die  der  abnormalen  Bewufstseinserscheinungen,  welche 
unsere  Kenntnifs  in  jener  Richtung  vermehren  kann,  mufs  von 
dem  Psychiater  mit  Freuden  begrüfst  werden. 

So  sind  auf  dem  Gebiete  der  Wahrnehmungen  noch  viele 
Untersuchungen  zu  machen,  welche  von  gröfstem  Interesse  sind. 
Es  st^ht  unbedingt  fest,  dafs  es  von  grofsem  Werth  für  die 
Psychopathologie  ist,  wenn  die  Wahrnehmungen  von  normalen 
hidividuen  besser  bekannt  werden,  aber  ebenso  nützlich  wird  es 
für  die  Psychologie  sein,  wenn  man  genauere  Untersuchungen 
anstellt  über  die  Wahrnehmungen  von  psychisch  krankhaften 
Personen.  Je  mehr  der  Psychologe  und  der  Psychopathologe 
zusammen  arbeiten  und  ihre  Resultate  mit  einander  vergleichen, 
um  so  schneller  kann  man  erwarten ,  dafs  diese  beiden  Wissen- 
schaften sich  entwickeln  w^erden. 

Welche  grofse  Bedeutung  die  Wahrnehmungen  für  die  Bil- 
dung des  Intellects  haben,  ist  deutlich.  Keine  Vorstellung,  keine 
Erinnerung,  keine  Bewegung  würde  es  geben,  wenn  die  Wahr- 
nehmungen fehlten. 

Die  Reizschwelle  ist  nicht  constant.  Man  ist  oft  in  der  Lage, 
die  Reizsehwelle  herabzusetzen,  wenn  man  seine  Aufmerksamkeit 
stark  auf  den  Reiz  richtet ;  andererseits  kann  sie  auch  bedeutend 
erhöht  werden  bei  Zerstreutheit  und  auch  unter  Umständen,  auf 
welche  ich  später  zurückkommen  werde.  Dasselbe  gilt,  wie  be- 
kannt, von  einer  anderen  Grenze  der  Wahrnehmung,  der  Unter- 
schiedsschwelle. Die  Werthe  der  Reizschwelle  und  der  Unter- 
sehiedsschwelle  sind  unter  normalen  Umständen  festgestellt 
worden,  aber  von  ihrem  Betrage  bei  krankhaften  Abweichungen 
ist  nicht  viel  bekannt.  Und  dennoch  ist  es  gewifs,  dafs  bei 
vielen  psychischen  Abweichungen  bedeutende  Störungen  darin 
zu  finden  sein  w^erden  und  es  ist  auch  sehr  wahrscheinlich,  dafs 
sie  von  grofsem  Werthe  für  die  Diagnostik  sein  können. 

Oft  bin  ich  in  der  Lage  gewesen  zu  beobachten  (und  diese 


170  E,  Wiersma, 

Wahrnehmung  gehört  nicht  zu  den  Seltenheiten),  dafs  bei  heftigen 
Angstzuständen,  sehr  ernsthafte  Verwundungen  oder  Beinbrüche, 
welche  unter  normalen  Umständen  den  betroffenen  Körpertheil 
zu  absoluter  UnbewegUchkeit  zwingen  würden,  kein  Hindemifs 
abgeben  für  jede  noch  mögliche  Bewegung.  Der  Schmerz 
kommt  nicht  zum  Bewufstsein  des  Patienten.  Die  Reizschwelle 
ist  hier  dermaafsen  erhöht,  dafs  der  Reiz  nicht  bewufst  wird. 
Auch  bei  Hysterie  kommt  es  manchmal  vor,  dafs  die  Reiz- 
schwelle für  Schmerz  oder  andere  Gefühlsempfindungen  sehr  er- 
höht  ist.  Bisweilen  gelingt  es,  indem  die  Aufmerksamkeit  des 
Patienten  auf  das  Gefühl  hingelenkt  wird,  dieselbe  bis  zur  Norm 
herabzusetzen.  Der  Patient  fühlt  dann  jeden  Reiz  wie  unter 
normalen  Umständen.  In  der  Regel  dauert  das  normale  Fühlen 
dann  nicht  lange,  weil  Hysterici  nicht  im  Stande  sind,  ihre  Auf- 
merksamkeit lange  Zeit  auf  einen  Punkt  zu  richten. 

Die  Erhöhung  der  Reizschwelle,  welche  wir  unter  krank- 
haften Umständen  auftreten  sehen,  kommt  auch  bei  gesunden 
Menschen  vor.  Wer  in  seine  Arbeit  vertieft  ist,  hört  das  Ticken 
der  Uhr  und  fühlt  die  Berührung  seiner  Kleider  nicht.  Die 
Empfindung  kommt  nicht  zum  Bewufstsein ;  sie  bleibt  unter  der 
Reizschwelle.  Und  dennoch  findet  hier  ein  unbewufstes  Wahr- 
nehmen statt;  denn  sobald  die  Uhr  zu  ticken  aufhört,  wird  dies 
oft  sogleich  bemerkt.  Auch  wenn  man  seine  Aufmerksamkeit 
willkürlich  auf  die  Gehörs-  und  Druckempfindungen  richtet, 
werden  sie  wahrgenommen. 

Das  willkürliche  Wahrnehmen,  wenn  die  Aufmerksamkeit 
mit  voller  Kraft  auf  den  Reiz  gerichtet  ist,  ist  bei  einer  Anzahl 
von  psychischen  Abweichungen  gestört.  Das  Nichtfühlen  von 
Schmerz  bei  bedeutenden  körperlichen  Verwundungen  in  Angst- 
zuständen und  viele  Erscheinungen  der  Hysterie  können  dadurch 
erklärt  werden.  Die  experimentelle  Psychologie  hat  uns  gelehrt, 
dafs  eine  starke  Vorstellung  im  Stande  ist,  eine  schwächere  auf 
den  Hintergrund  zu  schieben,  zu  verdunkeln.  Diese  psychische 
Hemmung  ist  in  der  Psychiatrie  von  grofser  Bedeutung.  Des- 
halb ist  es  meiner  Ansicht  nach  von  gi-ofsem  Interesse,  bei  den 
verschiedenen  Psychosen,  wenn  der  Krankheitszustand  es  erlaubt, 
eine  genaue  Untersuchung  anzustellen,  inwiefern  intensive  Em- 
pfindungen als  Angst,  Exaltation  u.  s.  w.  das  Wahrnehmen  von 
Reizen  hemmen.  Man  würde  dagegen  anführen  können,  dafs 
psychisch   Kranke  wenig  für  jene   Untersuchungen   zugänglich 


Untersuchungen  über  die  sogenannten  AHfmerksamkeitsschcanhmgen.  I.  171 

smd,  aber  bei  vielen  leichten  Fällen  wird  man  ganz  gut  experi- 
mentiren  können.  Auch  eine  Untersuchung  von  Hysterici,  wo 
das  Bewufstseinsfeld  sehr  erheblich  eingeengt  ist,  wird  von  grofser 
Bedeutung  sein  können. 

Als  diagnostisches  Hülfsmittel  bei  Hysterie  wird  von  Janet 
das  Aesthesiometer  verwendet.  -^An  Hautstellen,  wo  in  normalen 
Umständen  die  beiden  Spitzen  in  einer  Entfernung  von  20  bis 
26  mm  gefühlt  werden,  findet  man,  dafs  bei  Hysterie  oft,  auch 
bei  beliebiger  Entfernung  der  Spitzen  von  einander,  nur  eine 
derselben  gefühlt  wird.  Findet  man  nun  bei  einem  Kranken 
eine  Entfernung  von  90 — 120  mm,  so  können  diese  Zahlen  für 
die  Diagnose  von  Bedeutung  sein.  Janet  giebt  zu,  dafs  diese 
Untersuchung  mangelhaft  ist.  — 

Ich  meine,  dafs  unsere  Wahrnehmungen  Eigenschaften  be- 
sitzen, welche  mit  besserem  Erfolg  für  die  Diagnostik  angewendet 
w^erden  können.  Alle  psychischen  Inhalte  zeigen  eine  Tendenz, 
um  nach  und  nach  aus  dem  Bewufstsein  zu  verschwinden.  Die 
Empfindungen  sind  Anfangs  am  stärksten.  Wenn  Jemand  eine 
blaue  Brille  trägt,  so  sieht  er  nach  einiger  Zeit  die  blaue  Farbe 
nicht  mehr.  Der  Druck  unserer  Kleider  verschwindet  nach  und 
nach.  Gerüche,  welche  Anfangs  sehr  deutlich  wahrgenommen 
werden,  bemerkt  man  später  nicht  mehr.  Seeleute  nehmen  das 
Geräusch  des  Wassers  nicht  wahr  und  der  Müller  hört  den  Lärm 
der  Mühle  nicht.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dafs  diese  Er- 
scheinungen nur  auf  einer  Abstumpfung  der  Nerven  beruhen 
würden,  denn  man  kann  beweisen,  dafs  der  Nerv  bis  zum  Geliim 
fortzuleiten  vermag,  dafs  nur  das  Bewufstwerden  der  Empfindung 
fehlt.  Es  wird  dies  daraus  klar,  dafs  der  Müller  wahrnimmt, 
dafs  das  Geräusch  verschwindet  und  dafs  der  durch  seine  Arbeit 
Zerstreute  bemerkt,  dafs  die  Uhr  zu  ticken  aufhört.  Dafs  das 
Nichtwahrnehmen  in  einer  Ermüdung  der  Nerven  gesucht  werden 
sollte,  ist  auch  deshalb  unwahrscheinlich,  weil  man  den  Reiz 
sogleich  wieder  wahrnimmt,  wenn  die  Aufmerksamkeit  darauf 
gerichtet  wdrd.  Und  weiter  ist  diese  Erscheinung  nicht  nur  auf 
die  Empfindungen  beschränkt,  sondern  gehorchen  auch  Gemüths- 
erregungen  und  Erinnerungsbilder  ebenso  dem  Gesetz  der  Ab- 
fliefsung. 

Eine  andere  Erscheinung,  welche  meiner  Ansicht  nach  mit 
dieser  Abfliefsungstendenz  eng  verbunden  ist,  sind  die  sog. 
Schwankungen    der    Aufmerksamkeit.     Minimale    Sinnesem pfin- 


172  -S-  Wiersnia. 

düngen  werden  nicht  fortwährend  wahrgenommen.  Wenn  man 
mit  Aufmerksamkeit  einem  ganz  schwachen,  noch  eben  merkbaren 
Geräusch  lauscht,  so  hört  man  dasselbe  Anfangs  deutUch,  aber 
nach  einigen  Secunden  kann  man  es  nicht  mehr  wahrnehmen. 
Fährt  man  fort  mit  Aufmerksamkeit  zu  lauschen,  so  kehrt  die 
Empfindung  zurück,  um  endlich  aufs  Neue  zu  verschwinden  und 
wieder  zu  erscheinen.  Diese  Schwankungen  in  den  Empfindungen 
wiederholen  sich  unaufhörlich.  Dieselbe  Erscheinung  kann  man 
wahrnehmen  bei  Licht-  und  Gefühlsempfindungen. 

Auf  die  Frage,  wo  die  Ursache  dieser  Erscheinung  gesucht 
werden  soll,  mufs  die  Antwort  lauten,  dafs  nur  drei  verschiedene 
Organe  dafür  in  Betracht  kommen  können. 

Erstens  ist  es  denkbar,  dafs  der  Nerv  in  Folge  des  an- 
haltenden Reizes  ermüdet,  so  dafs  die  Leitung  bis  zum  Grehim 
für  eine  Weile  imterbrochen  wird.  In  dieser  Ruheperiode  würde 
es  möglich  sein,  dafs  der  Nerv  sich  dermaafsen  wieder  erholte, 
dafs  er  im  Stande  wäre,  den  Reiz  aufs  Neue  fortzuleiten. 

Zweitens  kann  man  sich  denken,  dafs  in  dem  Sinnesapparat, 
worauf  der  Reiz  einwirkt,  z.  B.  im  Auge  eine  Ermüdung  der 
Fixations-  und  Accommodationsmuskeln  eintritt  Durch  das  un- 
aufhörlich aufmerksame  Sehen  nach  einem  bestimmten  Punkte 
werden  die  Muskeln,  w^elche  die  Augen  in  einer  bestimmten 
Stellung  fixiren  müssen,  ermüdet  und  dadiu'ch  würde  eine  Ab- 
weichung in  der  Stellung  des  Auges  zu  Stande  kommen.  In 
Folge  dessen  würde  das  Bild  auf  einen  Theil  der  Retina  fallen, 
der  empfindlicher  ist  für  Licht  als  der  Macula  lutea,  wodurch 
dann  die  Empfindung  verschwinden  würde.  Zugleich  würde  eine 
Ermüdung  in  den  Accommodationsmuskeln  hier  eine  bedeutende 
Rolle  spielen. 

Diesen  beiden  Meinungen  gegenüber,  welche  den  Schwan- 
kungen periphere  Ursachen  zuschreiben,  kann  man  sich  noch 
eine  dritte  Möglichkeit  denken.  Man  kann  nämlich  die  Ursache 
central  suchen.  Es  ist  sehr  gut  denkbar,  dafs,  aus  welchen 
Gründen  denn  auch,  in  unserem  Bewufstsein  Umstände  auftreten, 
welche  das  unaufhörliche  Wahrnehmen  eines  schwachen  Reizes 
unmöglich  machen.  Ob  hierbei  Ermüdung  auftritt,  oder  ob 
andere  Einflüsse  sich  geltend  machen,  kann  man  vorläufig  bei 
Seite  lassen. 

Ueber  diese  merkwürdige  Erscheinung,   die  Schwankungen, 


Untersuckungen  über  die  sogenannttn  Anfnierksamkeitaachwankungen.  I.    173 

ist  schon  mehrmals  experimentirt  worden  und  man  kann  in  der 
Literatur  Vertreter  für  jede  dieser  drei  Meinungen  finden. 

Weil  es  mir  wichtig  erscheint,  dafs  wir  das  Wesen  dieser 
Schwankungen  mögUchst  genau  kennen  lernen,  habe  ich  eine 
neue  Untersuchung  danach  angestellt.  Nicht  nur  vom  psycho- 
logischen Standpunkte  aus,  sondern  auch  für  die  Khnik  ist, 
meines  Erachtens,  diese  Untersuchung  wünschenswerth.  Denn 
zeigt  es  sich,  wie  von  einigen  Forschern  (Lange,  Eckener,  Page 
und  Lehmann)  angenommen  wird,  dafs  wir  es  mit  einer  centralen 
Ursache  zu  thun  haben,  und  zwar  wie  einige  derselben  glauben, 
mit  Schwankungen  der  Aufmerksamkeit,  so  werden  wir  erwarten 
können,  dafs  bei  einer  Anzahl  von  Psychosen,  wo  Störungen  in 
der  Aufmerksamkeit  eine  grofse  Rolle  spielen,  die  betreffende 
Erscheinung  von  diagnostischem  Werth  ist  — 

Ich  habe  meine  Untersuchungen  in  drei  Gruppen  eingetheilt, 
wovon  ich  hier  die  erste  folgen  lasse. 

Die  erste  enthält  Forschungen  nach  dem  Verlauf  der  Schwan- 
kungen von  Licht-,  Druck-  und  Gehörsempfindungen  bei  nor- 
malen Personen  mit  Reizen  von  verschiedener  Intensität. 

Die  zweite  Untersuchung  besteht  darin,  dafs  mit  denselben 
Personen,  während  sie  in  Folge  körperlicher  und  geistiger  An- 
strengungen oder  unter  dem  Einflufs  von  Toxica  in  einem  ab- 
normalen Zustande  sich  befinden,  experimentirt  wird. 

Die  dritte  wird  vorgenommen  mit  Patienten  mit  psychischen 
Störungen. 

Wenn  die  Schwankungen  peripheren  Ursachen  ihre  Ent- 
stehung verdanken,  so  kann  man  erwarten,  dafs  die  Versuchs- 
personen bei  der  ersten  Untersuchung  mit  Ausnahme  von 
graduellen  Unterschieden  in  derselben  Weise  auf  denselben  Reiz 
reagiren,  dafs  man  wenigstens  keine  deutlichen  individuellen 
Unterschiede  finden  wird.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dafs  der 
Xerv.  opticus  des  einen  Menschen,  was  Ermüdung  oder  Uebung 
angelangt,  anderen  Gesetzen  gehorchen  würde  als  der  des  anderen, 
oder  dafs  dasselbe  gelten  würde  für  die  Accommodations-  und 
Fixationsmuskeln  des  Auges.  Kann  man  in  dieser  Hinsicht 
wichtige  individuelle  Unterschiede  constatiren,  so  ist  dies  gewifs 
eine  Hinweisung  darauf,  dafs  centrale  Ursachen  eine  Rolle 
spielen.  Wenn  man  nachher  für  Druck-  und  Gehörsempfindungen 
dasselbe  findet,  und  wenn  aufserdem  sich  zeigt,  dafs  die  Licht-, 
Druck-    und    Gehörsempfindungen    alle    bei    derselben    Person 


174  -S-   Wier8f}ia. 

gleichen  Gesetzen  folgen,  so  ist,  glaube  ich,  wohl  mit  Gewifsheit 
anzunehmen,  dafs  die  Ursache  central  gesucht  werden  mufs  oder 
wenigstens,  dafs  centrale  Einflüsse  sich  bedeutend  gelten  lassen. 
Man  würde  es  schon  als  einen  grofsen  Zufall  betrachten  müssen^ 
wenn  die  Sinnesapparate  für  Licht-,  Gehörs-  und  Druckempfin- 
dungen oder  ihre  sensorische  Nerven  denselben  (Jesetzen  von 
Uebung  und  Ermüdung  unterworfen  wären.  Diese  Meinung 
kann  man  für  unwahrscheinUch  halten;  dagegen  ist  die  Er- 
klärung leicht,  wenn  die  Wahrnehmungen  alle  von  denselben 
psychischen  Factoren  beeinflufst  werden. 

Die  Untersuchungen,  welche  ich  zweitens  und  zumal  die» 
welche  ich  drittens  anzustellen  gedenke,  werden  nicht  nur  von 
psychologischer,  sondern  auch  von  klinischer  Bedeutung  sein 
können. 

Ich  habe  mich  um  Rath  über  die  Einrichtung  der  Unter- 
suchungen an  Herrn  Prof.  Heoians  gewandt,  der  nicht  nur  so 
freundlich  war,  mir  in  allen  möglichen  Hinsichten  zu  helfen» 
sondern  auch  seine  Zeit,  seine  Person  und  sein  Laboratorium 
nur  wohlwollend  zur  Verfügung  stellte.  In  dem  psychologischem 
Laboratorium  von  Prof.  Heymans  wurden  die  folgenden  Unter- 
suchungen angestellt  und  als  Versuchspersonen  fungirten  Prof. 
Heymans  (H.)  und  der  Verfasser  (W.).  Es  ist  mir  eine  angenehme 
Pflicht,  Prof.  Heymans  meinen  besten  Dank  auszusprechen. 

Lichtempfindungen. 

Prof.  Heymans  hat  auf  beiden  Augen  eine  Myopie  von  20  2). 
Visus  ist  ^24-  Es  besteht  keine  Insufficienz  der  M.  intern. 
Uebrigens  sind  keine  Abweichungen  vorhanden. 

Meine  Augen  sind  ganz  normal. 

Als  Lichtreiz  diente  eine  schnell  rotirende  Scheibe,  welche 
aus  einem  grau  gefärbten  Carton,  auf  welchem  ein  Sector  von 
ein  wenig  hellerem  Grau  befestigt  war,  bestand.  Der  Radius 
der  Scheibe  war  5^'^  cm,  der  des  Sectoren  37«  cm.  Indem 
man  das  hellere  Grau  mehr  oder  weniger  mit  einem  anderen^ 
nicht  festen  Sector  von  dem  zuerst  genannten  Grau  bedeckte> 
war  der  innere  Lichtreiz  in  seiner  Intensität  willkürlich  zu 
variiren.  Auf  der  Scheibe  war  ein  Gradbogen  angebracht  worden, 
so  dafs  man  die  Stellung  des  verschiebbaren  Sectoren  bequem 
ablesen  konnte.  Es  wurde  hier  also  mit  Unterschiedsempfin- 
dungen experimentirt.    Die  Versuche  wurden  angestellt  mit  eben 


Unterm^chungen  über  die  soge^iannten  Aufmerksamkeitsschioanktingen,  I.   175 

merkbaren  Unterschieden  und  mit  stärkeren,  bis  zu  einem 
Intensitätsgrade,  bei  welchem  während  der  ganzen  Versuchszeit 
keine  Schwankungen  mehr  auftraten.  Zwischen  diesen  beiden 
äofsersten  Grenzen  wurde  mit  sechs  verschiedenen  Intensitäten 
experimentirt 

Das  Verhältnifs  zwischen  den  beiden  Arten  Grau  wurde 
mittels  eines  Episkopisters  festgestellt  und  ergab  sich  als  1  :  lY«. 
Der  Unterschied  ist  also  Va-  Wird  nun  vor  dem  helleren  Grau 
1  Grad,  ^/j^,,  Theil,  für  das  dunklere  Grau  substituirt,  so  beträgt 
der  Unterschied  ^'lo8o•  Wenn  9  Grade  hinzugefügt  werden,  so 
ist  der  Unterschied  ^Iiq%q  =  ^'120-  Wie  bekannt,  ist  die  mittlere 
Unterschiedsschwelle  für  Lichtempfindungen  +  ^/,.2„. 

Nachdem  wir  längere  Zeit  geübt  und  ein  genügendes  Maafs 
von  Sicherheit  im  Wahrnehmen  von  Schwankungen  bekommen 
hatten,  ergab  sich,  dafs  unter  5**  von  mir  kein  Unterschied 
wahrgenommen,  oberhalb  12 '/o®  aber  während  der  ganzen  Ver- 
suchszeit der  Unterschied  gesehen  wurde.  Zwischen  diesen 
Intensitäten  wurde  experimentirt  mit  Hinzufügung  von  6^/^  ^ 
8^  9'  2  ®  und  11  ^  Es  ist  also  klar,  dafs  bei  mir  mit  Differenzen 
experimentirt  wurde,  welche  ungefähr  gleichviel  oberhalb  wie 
unterhalb  der  Unterschiedsschwelle  liegen.  Für  die  Versuche 
mit  Prof.  Heymans  bedurften  wir  Unterschiede,  welche  gerade 
doppelt  so  stark  waren.  Sie  entstanden  also  durch  Hinzufügung 
von  10  ^  13«,  16  ^  19  ^  22"  und  25«  des  helleren  Grau.  Die 
Registrirung  der  Schwankungen  mufste  so  eingerichtet  werden, 
dafs  die  Aufmerksamkeit  der  Versuchsperson  möglichst  wenig 
abgelenkt  werden  konnte.  Deshalb  befand  sich  dieselbe  mit  der 
rotirenden  Scheibe  in  einem  abgesonderten  Zimmer,  während 
ein  Kj-niographion  in  einem  anderen  Gemach  aufgestellt  war. 
Als  Kymographion  wurde  benutzt  das  LuDwiG-BALTz.ui'sche. 

Die  Wahrnehmung  verschwand  nicht  immer  plötzlich;  oft 
wurde  sie  allmählich  schwächer  bis  sie  endlich  ganz  erlosch. 
Von  einigen  Forschern  sind  diese  Ab-  und  Anschwellungen  der 
Wahrnehmungen  in  Curven  ausgedrückt  worden;  ich  habe  aber 
gemeint  von  dieser  Registrirmethode  absehen  zu  müssen,  weil 
es  meine  Absicht  war,  die  Aufmerksamkeit  möglichst  wenig  ab- 
zulenken. Diese  Ablenkung  wird  bedeutend  gröfser  sein,  wenn 
man  sich  von  jeder  Aenderung  in  der  Wahrnehmung  genaue 
ßechenschaft  geben  mufs,  als  wenn  man  einfach  zwischen  Wahr- 
nehmen und  Nichtwahmehmen  zu  entscheiden  hat 


176  E'  Wiersma. 

Der  Cylinder,  auf  welchem  registrirt  wurde,  hatte  einen 
Umfang  von  50  cm  und  machte  genau  in  5  Min.  eine  Um- 
drehung. Mittels  eines  mit  Tinte  getränkten  Pinsels  wurde 
eine  gerade  Linie  aufgezeichnet,  welche  ungefähr  einen  halben 
Centimeter  höher  markirt  wurde,  sobald  die  Versuchsperson 
durch  einen  Druck  auf  einen  elektrischen  Knopf  angab,  dafs  er 
den  Unterschied  nicht  mehr  wahrnahm.  Wenn  die  Wahmehmimg 
zurückkam,  so  wurde  der  Druck  auf  den  Knopf  nachgelassen 
und  der  Pinsel  sank  wieder  einen  halben  Centimeter  nach  unten. 
In  dieser  Weise  wurden  Linien  aufgezeichnet,  welche  eine  genaue 
Bestimmung  der  Perioden  von  Wahrnehmen  und  von  Nicht- 
wahrnehmen  ermöglichen.  Jede  Versuchszeit  währte  5  Min. 
Von  anderen  Forschern  ist  mit  einer  kürzeren  Versuchszeit 
experimentirt  worden,  weil  man  glaubte,  dafs  es  nicht  möglich 
sei,  die  Aufmerksamkeit  so  lange  auf  einen  Punkt  zu  richten. 
Dieser  Grund  kann  jedoch  gegen  eine  Versuchszeit  von  5  Min. 
nicht  gelten,  denn  es  fiel  uns  nicht  schwer,  während  dieser  Zeit 
imsere  Aufmerksamkeit  auf  die  Wahrnehmung  zu  richten. 
Zwischen  je  zwei  Versuchszeiten  ruhten  wir  8  Min. 

Die  Experimente  wurden  so  eingerichtet,  dafs  an  den  ver- 
schiedenen Versuchstagen  die  Reihenfolge  der  V^ersuche  varürte. 
Am  ersten  Tag  wurde  mit  dem  schwächsten  Unterschiede  an- 
gefangen, dann  folgten  die  stärkeren  nach  ihrer  Intensität 
Fingen  wir  also  den  ersten  Tag  an  mit  dem  Unterschiede  o  und 
liefsen  darauf  6,  c,  d,  e  und  f  folgen,  so  wurde  am  zweiten  Tag 
mit  h  angefangen,  worauf  dann  regelmäfsig  c,  rf,  e,  f  und  a 
folgten.  Nachdem  wir  in  dieser  Weise  an  den  verschiedenen 
Versuchstagen  mit  allen  Unterschieden  angefangen  hatte,  nahmen 
wir  dieselben  Versuche  in  umgekehrter  Reihenfolge. 

Wenn  wir  die  erhaltenen  Curven  einzeln  näher  betrachten, 
so  ergiebt  sich,  dafs  die  Schwankungen  (die  Zeiten  der  Unmerk- 
lichkeit) einander  sehr  unregelmäfsig  folgen  und  dafs  auch  in 
der  Dauer  derselben  sehr  grofse  Variationen  auftreten.  MiTst 
man  diese  Perioden  und  nimmt  man  das  Mittlere  der  ver- 
schiedenen Versuchszeiten,  so  ergiebt  sich  mehr  Regelmaafs  als 
sich  ursprünglich  vermuthen  liefs.  In  verschiedenen  Hinsichten 
haben  diese  Versuche  zu  Resultaten  geführt.  Wir  konnten  ver- 
schiedene Fragen  stellen. 

Hat  die  Intensität  des  Unterschiedes  Einflufs  auf  die  Zeit 
der  Unmerklichkeit?    Um   die  Abhängigkeit  der  mittleren  Zeit 


UtttertuekHngen  über  die  togenanntea  Aufmerksamkeituchieattkungen.  I.   177 


der  Uomerkliehkeit  von  der  Intensität  des  Unterschiedes  festzu- 
stellen, werden  für  jeden  Unterschied  alle  Zeiten  der  Unmerk- 
lichkeit zusammengefügt  und  die  erhaltene  Summe  durch  die 
Anzahl  der  Versuche  getheilt  Wir  bekommen  dann  die  mittlere 
Zeit  der  Unmerklichkeit  bei  den  Versuchen  mit  diesem  Unter- 
schiede. 

Die  folgende  Tabelle  enthält  die  Resultate. 


Verholtaila 


Mittlere  Zeit  der  Unmerldichkeit 
(in  Secundeo) 


intanaitäten  , 

H. 

W. 

1           \\ 

286,1 

271,2 

1^ 

223,6 

158,3 

1,6         i 

172,8 

U1.7 

1,9 

108 

38,3 

2.2         " 

69 

8,9 

2.5         , 

12,1 

0 

Die  ersten  Ordinalen 
von  links  veranschaulichen 
die  mittleren  Zeiten  der 
l'nmerklichkeit  mit  a,  dem 
stbwächsten  Unterschied, 
Uie  zweiten  mit  b,  die  dritten 
mit  c,  die  vierten  mit  d,  die 
fünften  mit  e  und  die 
if.c'listen  mit  f.  Bei  Prof. 
Heymans  sehen  wir  eine 
ziemlich  regelmärsige,  sich 
einer  Geraden  annähernde 
Linie.  Bei  mir  verläuft 
diese  Linie  einigermaafsen 
auders.  Bei  dem  stärksten 
unterschied  nähert  sich  die 
Linie  mehr  einer  horizon- 
talen ,  aber  die  Ursache 
dafür  liegt  auf  der  Hand. 
Der  Unterschied  f  wurde 
von     mir     stets    wahrge- 

ZeitBChiid  Ar  Pajchalogie  K. 


^ 

\\ 

\^ 

\ 

\ 

\ 

\ 

K 

\ 

\ 

\, 

\ 

\ 

\ 

\ 

\ 

\ 

V 

JKm. 

r» 

Fig.  1.     Lichtempfindungen  A. 
Mittlere  Unmerkliclikeitsieit. 


178 


£.  Wiertma. 


80  daTs  die  Inteneität  des  Unterschiedes,  wo  die 
Schwankungen  zuerst  auftreten,  kleiner  ist  als  f.  Diese  Stdle 
wird  man  in  der  Curve  irgendwo  zwischen  f  und  e  Sachen 
müssen  und  damit  wird  auch  grörstentheils  die  Unregelmäfsi^Kit 
in  der  Curve  verschwinden. 

Man  kann  weiter  die  Frage  stellen,  ob  nicht  auch  die  Dauer 
der  Periodea  der  Unmerklichkeit  von  der  Intensität  des  Unte^ 
Bchiedes  abhängt  Wenn  man  für  jeden  Unterschied  die  Zeiten 
der  Unmerkhchkeit  zusammenfügt  und  die  erhaltene  Summe 
durch  die  Anzahl  der  Schwankungen  theilt,  so  bekommt  man 
die  mittlere  Dauer  der  Perioden  der  Unmerklichkeit  bei  jedem 
Unterschiede. 


VerhaltDirs   |{  Mittlere  Daner  der  UnmerklicUeita- 
ijer  I  Perioden  (in  Secnnden) 


H. 

W. 

1 

S6,6 

22,8 

1^ 

10,4 

'.8 

1,6 

6,9 

6,6 

1,3 

6,3 

2,1 

2f 

i» 

1,2 

2fi 

M 

0 

I 


,g.  2.     Lichtempfindungen 

Mittlere  Daner 

der  Unmerklichkeileperioden. 


Es  ergebt  sich,  dafs  die 
mittlere  Dauer  der  Unmerkheh- 
keitsperioden,  während  die  In- 
tensität des  Unterschiedes  sich 
vermindert ,  zunimmt.  Man 
kann  sehr  deutlich  eine  groFse 
Uebereinstimmung  zwischen  der 
Curve  von  Prof.  Hbymass  und 


üntenuehwnffen  Über  die  togenannten  Aufmerksamkeitsschtoankungen.  L  179 

der  meinigen  feststellen.  Bei  beiden  ist  die  Verlängerung  von 
der  Dauer  der  Perioden  eine  ziemlich  regelmäfsige,  allein  bei 
dem  schwächsten  Unterschiede  wird  plötzlich  die  Länge  der 
Perioden  viel  gröfser. 

Eine  dritte  Frage  ist,  ob  während  einer  Versuchszeit  von 
fünf  Minuten  die  Zeit  der  Unmerklichkeit  gleichmäfsig  über  diese 
Zeit  vertheilt  war,  oder  ob  im  Anfange  oder  in  der  Mitte  oder 
am  Ende  derselben  gröfsere  oder  geringere  Fähigkeit  für  Wahr- 
nehmung vorhanden  war.  Dieses  zu  untersuchen  wurden  alle 
Versuchszeiten  von  fünf  Minuten  in  drei  gleichen  Theilen  ver- 
theilt und  für  jeden  Unterschied  sämmtliche  Zeiten  der  Unmerk- 
lichkeit im  ersten,  zweiten  und  dritten  Theü  der  Versuchszeiten 
getrennt  zusammengezählt  Theilt  man  die  Summen  durch  die 
Anzahl  der  Versuchszeiten,  so  bekommt  man  für  jeden  Unter- 
schied die  mittlere  Dauer  der  Unmerklichkeitszeit  während  der 
drei  verschiedenen  Theile  der  Versuchszeiten. 

In  den  folgenden  Tabellen  findet  man  die  Kesultate. 


Mittlere  Zeit  der  Unmerklichkeit  während  der  ver- 

VerhäHnifB 

schiedenen  Drittel  (in  Secunden) 

der 
Int^nBitftteii 

-  —                                                  __ 

Heymahs 

erster  Theil 

zweiter  Theil 

dritter  Theil 

1 

93,5 

97,4 

95,2 

1,3 

59,4 

84,7 

79,5 

1,6 

36,6 

57,3 

78,9 

1,9 

20 

39,5 

48,5 

2,2 

8,4 

21,9 

38,7 

2,6              i 

1 

• 

i 

0,4 

4,2 

7,5 

* 

Tir-^-.-.— . 

1 

1,3 
1,6 

1,9 
2,6 


1 

erster  Theil 

zweiter  Theil 

dritter  Theil 

t 

;       91,5 

88,6 

91,1 

66,6 

44,8 

56,9 

1             36,3 

38 

37,4 

13,6 

9,9 

14,9 

4,5 

1,1 

3,3 

\              0 

IJ 

0 

0 

12* 


^ 

— 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

" 

/ 

/ 

^ 

^ 

te 

/ 

/ 

/ 

/ 

y 

y 

__ 

^ 

51g.  s. 

chtempfindungen  A. 

während  eines  Verriuchea  \ 


j  Minuten, 


ErmUdungBcun'e 

Man  sieht  sogleich,  dafs  bei  "S'ergleichung  der  Cur\-en  vou 
Prof.  Hetmaxs  unter  einander  eine  grofse  Uebereinstimmung  da- 
zwischen zu  constatiren  ist.  Bei  allen  Unterschieden  ist  hier  im 
ersten  Drittel  am  besten  wahrgenommen  worden,  im  zweiten 
wurde  schon  bedeutend  weniger  gesehen  und  im  letzten  in  den 
meisten  Fällen  wieder  viel  weniger  als  im  zweiten.  Eine  Aus- 
nahme hiervon  machen  die  beiden  seh  wachsten  Unterschiede,  wo  im 
letzten  Theile  mehr  walu-genonnnen  wurde  als  im  zweiten  Drittel. 
Bei  Vergleichung  meiner  Curven  fällt  auch  sogleich  eine  grofse 
Uebereinstimmung  auf.  Im  zweiten  Drittel  wird  immer  melir 
wahrgenommen  als  im  ersten  und  dritten ,  ausgenommen  in 
einem  Falle,  wo  im  zweiten  etwas  weniger  wahrgenommen 
wurde  als  im  ersten.  Im  letzten  Drittel  wurde  ungefähr  ebenso- 
viel wahrgenommen  als  im  ersten,  bisweilen  etwas  weniger,  bis- 
weilen etwas  mehr.  Dies  giebt  den  Curven,  wie  man  sehen 
kann,  eine  ganz  andere  Richtung,  und  wir  müssen  annehmen, 
dafs  dieser  Unterschied,  der  jedesmal  so  deutlieh  auftritt,  auf 
individuelle  Eigenschaften  hinweist.  Bei  Prof.  Hevmans  ist 
während  der  Versuchszeit  von  5  Minuten  vom  Anfange  bis  zum 
Ende  eine  zunehmende  Unfähigkeit  zur  Wahrnehmung  zu  con- 
statiren, welche  wir,  im  Gegensatz  zur  Frische  am  Anfang  des 


Untersuehungen  über  die  sogenannten  Äufmerksamkeitaschtvankungen,  L  181 

Versuches,  der  Ermüdung  zuschreiben  müssen.  Bei  mir  dagegen 
?rird  die  Fähigkeit  zur  Wahrnehmung  in  der  Mitte  des  Experi- 
ments besser  und  nachher  alhnählich  geringer.  Die  Uebung 
also  setzt  mich  in  den  Stand,  im  zweiten  Theile  besser  wahrzu- 
nehmen als  im  Anfang.  Dann  tritt  auch  bei  mir  Ermüdung 
ein,  so  dafs  ich  im  dritten  Theile  wieder  schlechter  wahrnehme 
als  im  zweiten.      ^ 

Endlich  erschien  es  mir  wichtig  zu  untersuchen,  ob  auch 
während  einer  ganzen  Versuchsreihe  Ermüdung  oder  Uebung 
festzustellen  sei.  Es  wäre  möglich,  dafs  ein  vorhergehender  Reiz- 
unterschied nach  der  Ruhezeit  von  8  Minuten  noch  Spuren  von 
Ermüdung  oder  Uebung  hinterlassen  hätte.  Die  Versuche  waren, 
wie  schon  gesagt,  so  eingerichtet,  dafs  an  den  verschiedenen 
Versuchstagen  mit  den  folgenden  Unterschieden  experimentirt 
wurde  : 

flr,  6,  c,  rf,  e,  f. 

b,  c,  rf,  e,  f,  a. 

c,  d,  e,  /;  a,  b. 

d,  e,  f,  a,  6,  c. 
€,  f,  a,  6,  c,  d. 
/•,  a,  6,  c,  d,  e. 


Am  1.  Tag 
„     2. 

0. 

6. 


« 


n 


n 


n 


n 


Wenn  man  nun  von  allen  Tagen  die  Unmerklichkeitszeiten 
der  ersten  Versuchszeiten  von  5  Minuten  zusammenfügt  und 
auch  die  der  zweiten,  dritten,  vierten,  fünften  und  sechsten  Ver- 
suchszeiten, dann  müfsten  die  Resultate  einander  ungefähr  gleich 
sein,  wenn  keine  Ermüdung  oder  Uebung  im  Spiele  wäre.  Was 
lehren  nun  die  Resultate? 

Ich  lasse  hier  die  Zahlen  folgen. 

Ermüdung  während  einer  ganzen  Versuchsreihe 


Heymans 

I 

II 

III 

IV 

:     V 

VI 

106;2  See. 

135  See. 

127,8  See. 

120  See. 

120  See. 

1 

114  See. 

WiERSMA 

I 

II 

UI                  IV 

V 

VI 

96  See. 

96  See. 

85,8  See. 

75  See. 

69  See. 

66  See. 

E.  Wierama. 


te 

— 

/ 



— 

1 

y 

1 

-^ 

L 

_ 

-U 

Fig.  4. 

Lichtempfindungen  A. 

Ermtldungscurve  wahrend  einer  ganzen  Versncbsreihe. 

Bei  Prof.  Heymanb  ergiebt  sich,  daTs  im  Anfange  joder  Keihe 
am  deutlichsten  wahrgenommen  wird.  Es  tritt  schon  nach  der 
ersten  Versucbszeit  von  5  Minuten  eine  sehr  bedeutende  Er- 
müdung ein,  nachdem  ist  wieder  eine  geringe  Besserung  in  der 
Wahrnehmung  zu  bemerken,  aber  am  Ende  jeder  Versuchsreihe 
ist  dennoch  eine  geringere  Fähigkeit  zur  Wahrnehmung  da  als 
im  Anfang.  Bei  mir  verläuft  die  Curve  in  einer  anderen  Richtung. 
Ich  nehme  im  Anfange  jeder  Versuchsreihe  am  schlechtesten 
wahr.  Nach  dem  Ende  zu  sehe  ich  immer  besser,  so  dafs  die 
Uebung  hier  die  Ermüdung  überwiegt,  — 

Nach  Beendigung  dieses  Versuches  wurden  sie  noch  einmal 
wiederholt,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dafs  die  Reihenfolge  um- 
gekehrt wurde.  Indem  wir  bei  der  ersten  Gruppe  von  Versuchen 
mit  dem  schwächsten  Reiz  begannen,  wurde  nun  gerade  mit  dem 
stärksten  angefangen.  Uebrigens  wurde  die  Ordnung  der  Ver- 
suche auf  dieselbe  Weise  gewechselt  wie  früher.  Es  genügt  hier 
die  Resultate  mitzutheilen. 


VerhältnifB 

Mittlere  Zeit  der  Unmerklich keit 

der 

(in 

See 

unden) 

Intensitäten 

Hetkanb 

WiKMMA 

1 

288,9  * 

243 

1.3 

246,2 

185,8 

1,6 

106,4 

87,8 

1,9 

89 

31,7 

2,2 

62 

3.4 

2,5 

13 

0 

Untermdumgcn  iü>er  die  gogenannlen  AufmerktamkntaaiAwanJeungen.  I.  ],g3 


Lieh  tempfiQdun  gel 


Fig.  6. 

B.    Mittlere  Unmerklichkeitsseit. 


Die  UebereinstimmuDg  der  beiden  Curven  ist  ebenso  vie  bei 
ersten  Gruppe  von  Versuchen  eine  sehr  grofse.  Hier  gut 
,  was  ich  vorher  über  die  zu  horizontale  Richtung  der  Curve 
:hen  c  und  f  bemerkt  habe. 


Mittlere  Dauer  der  UnmerUichketta- 

der 

perioden  {i 

Q  Secunden) 

Hbhuks 

Wimatu 

1 

69,6 

18,4 

1,5 

12,3 

10,7 

1,6 

7,8 

3,9 

1,9 

5,3 

1,8 

2,S 

4,5 

0.8 

2,5       ; 

2,1 

n 

Bei  der  Curve  von  Prot 
Heymans  ist  genau  dasselbe  vx 
bemerken  als  bei  der  ersten  Ver- 
suchsgmppe.  Im  Cranzen  können 
wir  feststellen,  dafs  die  Dauer 
der  Perioden  in  der  zweiten 
Gruppe  ein  wenig  gröfser  ist; 
nnr  bei  dem  schwächsten  Unter 
schied  ist  die  Differenz  be- 
deutend. Auch  meine  Curve  zeigt 
wieder  grofseUebereinstimmung 
mit  derjenigen  der  ersten  Ver- 
suchsgruppe ;  nur  ist  jetzt  nicht 
nur  bei  dem  schwächsten  Unter 
schied  die  Dauer  der  Perioden 
bedeutend  gröfser,  sondern  ist 
dies  auch  schon  bei  b  wahrzu- 
nehmen. 


MittT  Dauer  d.  Unmerklichkeitsperioden. 


Mittlere  Zeit  der  Unmerklich keit  wahrend  der  ver- 

VerhaltDib 

Bchiedenen  Drittel  (in  Secunden) 

Hbthaks 

ei-Bter  Theil 

sveiter  Theil 

dritter  Theil 

1 

93,5 

97,4 

95,2 

1,3 

69,4 

84,7 

79,6 

1,6 

36,6 

67,8 

78,9 

1,9 

20 

39,5 

48,5 

2,2 

8,4 

21,9 

38.7 

2,5 

0,4 

4,2 

•JA 

2^ 


W:ebsh,i 

erster  lliei! 

zweiter  Theil 

dritter  TlieU 

M,6 

88,6 

91,1 

56,6 

44,8 

66,9 

36,3 

38 

37,4 

13.6 

9,9 

14,9 

(               4,6 

" 

3,3 

Vntenuchungen  fiier  die  sogenannten  Äufmerksamkeitsschtcankungen.  I.  I85 


*jl 1        I 1 


\ 

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^ 

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z: 

s 

N 

/ 

•■ 

^■' 

^ 

ErmOdungecun't 


Fig,  7. 
ichtempfindungen  B. 
während  eines  Versuches  von  5  Minuten. 


Noch  deutlicher  als  bei  der  ersten  Versuchsgruppe  ist  es 
hier,  dafs  Prof.  Heymakk  bei  jedem  Unterschiede  im  Anfange 
am  besten  wahrnimmt  und  am  Ende  am  schlechtesten.  Nur  ein- 
mal, mit  dem  schwächsten  Unterschiede,  wurde  im  letzten  dritten 
Theil  ebensoviel  wahrgenommen  als  im  zweiten ;  dies  erklärt  sich 
aber  daraus,  weil  sowohl  im  zweiten  als  im  dritten  Theil  so  gut 
als  Nichts  wahrgenommen  wurde.  Die  Uebereinstimmung  in  der 
Richtung  der  Curven  ist  also  bei  der  zweiten  Versuchsgruppe 
noch  gröfser  als  bei  der  ersten.  Bei  meinen  Curven  trifft  man 
wieder  dieselbe  Erscheinung  an  wie  früher,  dafs  nämlich  die 
Fähigkeit  zur  Wahrnehmung  im  zweiten  Drittel  bedeutend 
grwfser  ist,  als  im  ersten  und  letzten.  Die  Unterschiede  sind 
hier  gröfser  als  bei  der  ersten  Versuchsgruppe.  Bei  den  Ver- 
suchen mit  denn  stärksten  Unterschiede  läfst  sich  die  betreffende 
Kegelmäfsigkeit  nicht  mehr  erkennen,  weil  der  dort  vorliegende 
L'nterschied  ohne  Unterbrechung  wahrgenommen  wurde. 


Ermadung  w&hrend  einer  ganMn  Versuchsreihe 


HaiMAaB 

I 

I     - 

Ul                 IV 

V 

VI 

118,9  See. 

1  141,3  Bec. 

148,6  See.      148,7  See 

169,9  See. 

140,3  See 

WlBBSMA 

I 

II 

m 

IV 

V 

VI 

88,3  See. 

93,8  See. 

90,6  See. 

83,8  Bec. 

98,8  See. 

84.4  8«c. 

•^ 

/ 

" 

^^ 

Fig.  8. 

Licbtempfindungen  B. 

Ennüdungeeurve  während  einer  gftnzen  VersnchBrethe. 

Auch  aus  diesen  Zahlen  ergiebt  sich,  dafs  bei  Prof.  Heyhaks 
bei  jeder  Versachsreihe  die  Ermüdung  zunimmt.  Offenbar 
genügte  die  Ruhe  von  8  Min.  zwischen  jeden  zwei  Verauchs- 
zeiten  hier  nicht,  um  die  Ermüdung  der  vorigen  Versuchszeit 
wegzunehmen.  Bei  mir  ist  es  nicht  so  deutlich  als  in  der  ersten 
Versuchsgruppe,  daTs  jeder  vorhergehende  Versuch  durch  Uebung 
die  folgenden  beeinßufst.  Im  Ganzen  können  wir  s^^n,  dafs 
die  Unterschiede  hier  klein  sind,  so  dafs  die  Curve  mehr  in  hori- 
zontaler Richtung  verläuft.  — 

Wenn  wir  nun  zusammenfassen,  was  uns  diese  Versuche 
mit  den  Lichtempfindungen  lehren,  so  können  wir  Folgendes 
feststellen. 

1.  Die  Dauer  der  Unmerklichkeitszeit  nimmt  mit  dem  Ab- 
schwächen des  Unterschiedes  regelmäfsig  zu. 

2.  Ebenso  nimmt  die  Dauer  der  Unmerklichkeitsperiode  mit 
dem  Abschwächen  des  Unterschiedes  zu. 

3.  Während  einer  Versuchszeit  von  5  Min.  tritt  bei  Prot 
Heymans    vom    Anfange    bis    zum    Ende    eine    immer   grölser 


Uniemtckimgen  über  die  sogenannten  AufmerkBanüceitsschiDahkungen.  L  187 

werdende  Unfähigkeit  zur  Wahrnehmung  auf,  während  bei  mir 
die  Wahrnehmungsfähigkeit  Anfangs  zu-  und  später  abnimmt. 
4.  Bei  Prol  Heymans  übt  eine  vorangehende  Versuchszeit 
in  den  meisten  Fällen  auf  die  folgende  einen  Einfiuls  aus,  der 
störend  auf  die  Fähigkeit  zm*  Wahrnehmung  wirkt,  während  bei 
mir  in  den  meisten  Fällen  das  Wahrnehmungsvermögen  diux^h 
die  vorangehende  Versuchszeit  zunimmt. 

In  3  und  auch  in  4  (obgleich  hier  nicht  so  constant)  sehen 
wir,  da&  die  beiden  Versuchspersonen  ganz  verschieden  reagiren. 
Es  ist  klar,  dafs  wir  hier  mit  Unterschieden  zu  rechnen  haben, 
welche  dem  Individuum  eigenthümlich  sind,  und  auch  unter  sich 
zusammenhängen.  Ich  habe  schon  darauf  hingewiesen,  dafs  ein 
bedeutender  Unterschied  in  dem  Bau  unserer  Augen  besteht  und 
dafs  auch  der  Visus  sehr  verschieden  ist.  Aus  diesen  Gründen 
halte  ich  mich  nicht  für  berechtigt  aus  dem  Resultate  dieser 
Untersuchungen  allein  Schlüsse  zu  ziehen.  Wir  werden  zunächst 
untersuchen,  welche  Resultate  wir  bekommen  bei  Druck-  und 
Gehörsempfindungen. 

Druckempfindungen. 

Bei   den  Experimenten  mit  Druckempfindungen  wirkte   der 
Reiz  ein  auf  dem  Handrücken,  und  zwar  auf  eine  kreisförmige 
Hautstelle  mit  einem  Diameter  von  2  cm,  ein  wenig  oberhalb 
des  zweiten   Phalango-metacarpalgelenkes.     Dort   war   bei  uns 
beiden  der  Handrücken  am  flachsten,  so  dafs  das  aufzusetzende 
Gewicht  gleichmäfsig  auf  alle  Theile  dieser  Oberfläche  drückte. 
Eine  mögliche  Bewegung  der  Hand  mufste  ausgeschlossen  werden, 
weil   dadurch  auch  Bewegung  des  Gewichtes  entstehen  würde, 
wodurch  dann  wieder  eine  störende  Empfindung  auftreten  könnte. 
Es  wurde  deshalb  ein  Gypsabgufs  der  Hand  gemacht,  in  welchem 
diese  bequem  ruhte.    Dieser  Gypsabgufs  konnte  mittels  vier  Stell- 
schrauben so  gestellt  werden,   dafs  die  Hautfläche,  mit  welcher 
experimentirt  wurde,  gerade  horizontal  lag.    Es  wurde  für  eine 
bequeme  Haltung*  des  Armes  und  des  ganzen  Körpers  gesorgt, 
80  dafs  störende  Empfindungen  soviel  wie  möglich  ausgeschlossen 
waren.    Auf  die  genannte  Hautstelle  wurde  eine  kleine  Kork- 
scheibe gelegt,  welche  die  ganze  Oberfläche  berührte  und  welche 
an  der  unteren   Seite  bald  die  Temperatur  der  Hand  annahm. 
Ganz  vorsichtig  wurde  dann  mittels  eines  Hebels  das  Gewicht, 
das  denselben  Diameter  hatte,  wie  die  Korkscheibe,  auf  dieselbe 


188  -E.  Wiersiua. 

niedergelassen,  so  dafs  es  gleichzeitig  alle  Theile  derselben  b»' 
rührte.  Durch  zahlreiche  Vorversuche  wurden  auch  hier  die 
Gewichte  bestimmt,  bei  welchen  der  Druck  einerseits  fast  gar 
nicht,  andererseits  beinahe  ohne  Unterbrechung  sich  bemerkHch 
machte ;  zwischen  diesen  Grenzen  wurde  mit  sechs  Terschiedenea 
Beizen  experimeutirt.  Die  Intensitäten  der  Keize  waren  für  nos 
Beide  dieselben.  Sie  betrugen:  7,4;  10,4;  13,4;  16,4;  19,4  and 
22,4  g.  Die  Versuche  wurden  genommen  im  Ende  vom  Sep- 
tember und  im  October  bei  einer  Temperatur,  welche  nur  zwischen 
17  "C.  und  19  "C.  varibi«. 

Die  Reihenfolge  der  Experimente  war  wieder  dieselbe  wie 
bei  den  LJchtversuchen.  Ich  habe  hier  nicht,  so  wie  dort,  die 
beiden  Versuchsgruppen  jede  für  sich,  aber  beide  zusammen  ge- 
nommen, der  Rechnung  zu  Gmnde  gelegt 

Ich  habe  hier  auf  die  nämlichen  Fragen,  die  bei  den  Licht- 
versuchen gestellt  wurden,  eine  Antwort  gesucht.  Es  ist  nicht 
nothwendig  dieselben  zu  wiederholen. 


\       1 

\\i 

\ 

\ 

/a> 

\ 

\ 

\ 

\ 

\ 

N 

\, 

\ 

30 

\ 

\ 

\ 

fl&T-^ 

k 

...... 

5^,2 


10,4 
13.4 

16,4 
19,4 


Mittlere  Zeit 

der  Unmerklichkeit 

(in  Secuaden) 


ji   HsnuHS 

Wissaiu 

\    u. 

281 

1       2B,6 

178,6 

,:     185 

109,4 

!!       "6.9 

68,6 

«.6 

18,5 

51,1 

1 

Wir  sehen,  dafs  auch  hier  die  Zeit  des  Wahmebmens  der 
Intensität  des  Reizes  nahezu  proportional  ist.  Auf  einen  kleinen 
Unterschied  im  Verlauf  der  Curven  will  ich  noch  hinweisen. 
Dasselbe,   was   wir  bei   der   ersten    Versucbsgnippe  mit   Licht- 


UnlerguchHngett  vber  dtt  sogmannttn  AitfmerkdamkHtsachwankungen.  I.    Ig9 

empfindungen  fanden,  ist  auch  hier  zu  bemerken;  die  Curven 
Terlaufen  nämlich  ziemlich  parallel,  während  nur  beim  schwäch- 
sten Reiz  plötzlich  eine  starke  Convergenz  entgegentritt  Dafs 
auch  bei  dem  stärksten  Reiz  eine  leichte  Convergenz  zu  be- 
merken ist,  wird  ebenso  wie  bei  den  Lichtversuchen  daraus  er- 
klärt werden  müssen,  daTs  der  Reiz  bei  mir  hier  etwas  zu  stark 
genommen  wurde,  um  noch  regelmäfsig  Schwankimgen  auftreten 
zu  lassen. 


Mittlere  Dauer  der  UnmerklichkeitB- 
perioden  (in  Secunden) 


Intenaitaten 


Auch  hier  stimmt  das  Re- 
snllat  mit  demjenigen  der  Licht- 
rersuche  überein.  Die  Stärke 
(ie=  Reizes  beeinflufst  die  Dauer 
der  Unmerklichkeitsperiodeu, 
nur  dafs  bei  mir  für  die  beiden 
stärksten  Reize  die  Perioden 
einander  gleich  sind.  DerUnter- 
scliied  zwischen  den  l'eriodeii 
Wi  den]  schwächsten  und  dem 
darauffolgenden  Reize  ist  hier 
Wel  grölser  als  bei  den  Licht- 
experimenten. 


m 


Fig.  10.   Druckempfindungei 

Mittlere  Dauer 

der  U nni erkli eil keitB Perioden. 


Mittlere  Zeit  de 

r  TJnmerkJithkeit  während  der  ver- 

Verhftltniöi 

Bchiedenen  Drittel  (in  Secunden) 

Hkyiuxs 

erster  Theil 

Bweiter  Theil 

dritter  Theil 

1.4 

91,2 

97,1 

DSU 

10,4 

60,6 

«6,4 

Xß 

13.4 

41,9 

62.2 

81 

16,4 

23 

47.7 

76,8 

19,4 

11,8 

ao,4 

64,4 

ffl.4 

7,6 

lö,8 

27,7 

WtSRSU 

erster  Theil 

iweiter  Theil 

dritter  Theil 

V 

91,4 

96,3 

94,4 

10,4 

58,8 

54,7 

663 

19,4 

37,8 

31,8 

39,8 

16,4 

22,7 

13.6 

22,3 

19,4 

8,4 

6.2 

4,9 

22,4 

0,7 

0.12 

0,1 

/ 

/ 

/ 

A 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

/ 

» 

/ 

/ 

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«t 

/ 

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, 

y 

/. 

^ 

y' 

-u 

^ 


Fig.  11.    Drackempfindnngen. 
Ermadangtcarr«  wahrend  eincB  Veranchea  von  5  Hfnaten. 


Vnhnmekmngen  über  «tte  iogtitannte»  Aufmerkaamkeittiehuiankiiugm.  I.  igi 

Bei  Pro!  Heymans  lassen  die  Curven  dasselbe  Resultat  er- 
jteimen  vie  bei  den  JE^erimenten  mit  Lichtempfindungen.  Jedes- 
mal ist  bei  allen  Reizen  im  ersten  Drittel  die  Wahmebmungs- 
Ahigkeit  am  besten,  nimmt  dann  sehr  gleichmäTsig  ab  und  ist 
im  dritten  Theil  am  schlechtesten.  Meine  Curven  verlaufen  auch 
ähnlich  wie  bei  den  Licbtempftndungen.  Im  zweiten  Drittel  wird 
besser  wahi^nommen  als  im  ersten  und  dritten,  während  im 
dritten  bisweilen  etwas  mehr,  bisweilen  etwas  weniger  bemerkt 
wird  als  im  ersten.  Nur  beim  schwächsten  Reiz  wird  im  zweiten 
Drittel  etwas  weniger  wahrgenommen  als  im  ersten  und  bei  dem 
stärksten  Reiz  wird  im  zweiten  Theil  ebensoviel  wahrgenommen 
«ie  im  dritten. 


Ermfldnng  während  einer  ganzen  VersnchBreihe 

Hethahs 

I          1          II          [        III 

IV                   V 

VI 

IM.l  See. 

166,1  See.  j  174,9  See. 

162,9  See.        179  See. 

175.6  See. 

WlBRaMi 

I 

II 

III 

IV                   V 

VI 

125,2  See. 

116  See. 

109,3  See. 

101,6  See.      103,8  See. 

96,1  See. 

J. J I 1.1      I      I 

"         r       ir      a       IT       r       n 


Fig.  12. 

DTnckempfindungen. 

Ennfldnngscnrve  während  einer  ganzen  Versnchsreihe. 

Es  ist  deutlich,  daTs  ein  groFser  Unterschied  im  Verlaufe 
dieser  Corven  vorliegt  Bei  Prot  Heymans  zeigen  die  Zahlen 
auch  hier  in  weitaus  den  meisten  Fällen,  dafs  die  Ermüdung  in 
Folge  eines  vorhergehenden  Versuches  nach  einer  Ruhe  von 
H  Min.  nicht  verschwunden  ist     Bei  mir  dahingegen  ist  im  All- 


192      .  -B.   Wiersma, 

gemeinen  zu  bemerken,  dafs  durch  den  Einflufs  eines  vorher-  f. 
gehenden  Versuches  die  Wahrnehmimg  in  dem  folgenden  Ver-  i 
suche  besser  wird.  :: 

Um  eine  kurze  Uebersicht  über  das  Resultat  der  Bzperi-  it 
mente  mit  Druckempfindungen  zu  geben,  genügt  es  zu  sagen«  i 
dafs  wir  hier  zu  vollkommen  denselben  vier  Schlüssen  gekommen  : 
sind,  die  wir  bei  den  Lichtversuchen  gezogen  haben. 

Geh  örsempfin  düngen.  \ 

Die  Versuche  mit  Gehörsempfindungen  verursachten  im  l 
Anfange  sehr  viel  Schwierigkeiten.  Bei  Licht-  und  Druck- 
empfindungen  waren  wir  im  Stande  die  Reize  so  einwirken  zu 
lassen,  dafs  wir  in  der  Wahrnehmung  das  eine  Mal  nicht  mehr 
als  das  andere  durch  Reize  gleicher  Qualität  gestört  wm^den-  - 
Sollte  dasselbe  bei  den  Gehörsexperimenten  erreicht  w^erden»  so 
mufste  ein  Ort  gesucht  werden,  wo  aufserhalb  des  anzuwenden- 
den Reizes  mögUchst  absolute  Stille  herrschte.  Es  schien  uns 
im  Anfange  unmöglich  dieser  Bedingung  zu  genügen;  deshalb 
haben  wir  versucht,  zugleich  mit  dem  Reize  ein  constantes  Ge- 
räusch von  ganz  anderer  Art  als  das  Wahrzunehmende  erkhngen 
zu  lassen.  Die  Absicht  war  hierdurch  andere  variable  störende  . 
Geräusche  unmerklich  zu  machen.  Das  gelang  auch  ganz  gut;  ; 
wenn  wir  während  der  Versuchszeit  eine  elektrische  Schelle 
klingeln  liefsen,  wurden  störende  Geräusche  ganz  maskirt,  und  , 
dennoch  war  das  Fallen  eines  Wassertropfens  auf  eine  Zink- 
platte, welches  als  Reiz  angewandt  wurde,  deutlich  hörbar.  Es 
ergab  sich  aber  nach  einigen  Experimenten,,  dafs  wir  den  auf 
diese  Weise  erhaltenen  Resultaten  nicht  trauen  konnten.  Unwill- 
kürlich wurde  die  Aufmerksamkeit  oft  auf  die  Klingel  gerichtet 
und  dann  war  es  sehr  schwierig  den  fallenden  Tropfen  wieder 
wahrzunehmen.  Diese  Methode  mufsten  wir  also  aufgeben.  Es 
blieb  nichts  anderes  übrig,  als  ein  Ort  zu  suchen,  wo  störende 
Geräusche  so  gut  wie  ausgeschlossen  waren.  Es  gelang  uns 
einen  solchen  zu  finden,  weil  Herr  Prof.  Moll  so  freundlich  war, 
ein  Zimmer  im  botanischen  Laboratorium  dafür  zur  Verfügung 
zu  stellen.  Eine  grofse  Masse  Schnee,  welche  am  Ende  von 
December  1900  und  von  Januar  1901,  als  wir  experimentirten, 
die  Erde  bedeckte,  so  dafs  keine  Geräusche  von  aufeen  zu  hören 
waren,   begünstigte  sehr  unsere  Versuche.    An  den.  ersten  zwei 


Untenuekungen  über  die  sogenannten  Aufmerksamkeitsschwankungen.  I.  193 

Versuchstagen  jedoch  lag  noch  kein  Schnee.    Ebenso  wie  bei 
den  Licht-  und  Druckexperimenten  war  auch  hier  das  Kymo- 
graphion  in  einem  anderen  Gemach  aufgestellt.    Die  Versuchs- 
person safs,   bei  fixirter  Kopflage,   auf  einem  Stuhl    Als  Reiz 
diente   das  Ticken   einer  Remontoiruhr,    die   jedesmal  vor   den 
Versuchen   aufgezogen  wurde.     Die   Uhr  befand  sich  in  einer 
hölzernen   Schachtel,   welche   mittels   einer   der  Versuchsperson 
zugekehrten  runden   Oeffnung    das  Zifferblatt    unbedeckt   Uefs. 
Die  Schachtel  war  in  solcher  Höhe  an  einem  Stativ  befestigt, 
dafe   der   Mittelpunkt    des   Zifferblattes   ungefähr    in    der   hori- 
zontalen Fläche  lag,  welche  durch  die  beiden  äufseren  Gehör- 
gänge  ging.    Indem   wir  die  Entfernung  von  der  Uhr  zu   den 
Gehörgängen  variirten,  wurde  die  Intensität  des  Reizes  geändert 
Auch  hier  suchten  wir  erst  die  Entfernung,  bei  welcher  die  Uhr 
noch  eben  hörbar  war,  sowie  diejenige,  wo  das  Ticken  immer 
wahrgenommen    wurde,    festzustellen.      Dazwischen    wurde    mit 
sechs  Intensitäten  experimentirt.    Die  betreffenden  Entfernungen 
von  den  Gehörgängen  an  gerechnet,   betrugen  14,  16,  18,  20,  22 
und  24  dm;   es  erhalten  sich  also  die  Reizintensitäten,  welche 
den  Quadraten  der  Entfernungen  umgekehrt  proportional  sind, 
ungefähr  wie  1  :  1,2  :  1,5  :  1,8  :  2,3  :  3.      Die  Einrichtung  der 
Experimente  und  ihre  Reihenfolge  wurde  hier  wieder  auf  die- 
selbe Weise  geregelt  wie  bei   den  Licht-  und  Druckversuchen. 
Dieselben  Fragen,   welche   wir  bei  den  Licht-  und  Druckempfin- 
dungen gestellt  haben,  müssen  auch  hier  beantwortet  werden. 


Verhältnifs 

Mittlere  Zeit  der  Unmerklicbkeit 

der 

(in  Secunden) 

Intensitäten 

Hetmans 

WiERSMA 

1 

197,9 

173,6 

1,2 

135,7 

86,8 

1,5 

110,1 

79,3 

1,8 

73,7 

54,6 

2,3 

42,7 

16,7 

3 

16,1 

1,1 

Zeitoclnrin  für  Psychologie  26. 


13 


SchftllempfiDdnngi 


Fig.  13. 
n.    Mittlere  Unmerk]ichk«ib»eiL 


Auch  hier  nimmt  die  Zeit  der  Unmerkhchkeit  zu  mit  dem 
Abtchwäohen  des  Reizes.  In  der  Figm-  Bind  die  Abscissen  den 
ReiEinteneitaten  (also  den  umgekehrten  Quadraten  der  Ent- 
fernungen) proportional  genommen  worden. 


Verhftltnira   f  Mittlere  Dauer  der  Unmerklicbkeits- 

jef  i'  periodeo  (in  Secundeu) 

Inten  Bitttt«ii 


Heduns 

WlBHSMi 

16,8 

16.4 

9.9 

6.3 

1.6 

6.2 

5.8 

3,9 

!              8.6 

1.9 

3,7 

0.9 

UnterKuehungm  Obtr  die  aogenaunten  Aufmerktamkeittachuiaiiktmge».  I.  195 


Was  bei  den  anderen 
Sinn  esempfinduit  gen  zu 
bemerken  war,  nämlich 
dafs  bei  dem  schwächsten 
Heize,  in  der  Nähe  der 
Reizachwelle,  die  Dauer 
der  UnmerklichkeitB- 
perioden  sich  abnorm 
Terlängert,  ist  hier  weni- 
ger gut  wahrzunehmen, 
weil,  wie  früher  bemerkt 
wurde,  dieser  Reiz  zu 
stark  genommen  wurde. 
Doch  laTst  die  Curve 
schon  erkennen ,  dafs 
unter  günstigenUmstän- 
den  die  betreffende  Er- 
scheinung auch  hiernicht 
gefehlt  haben  würde. 


r  der  ünmerklichkeitsperioden. 


Mittlere  Zeit  der  Unmeriilichkeit  wahrend  der  ver- 

Verhaltnirs 

schiedenen  Drittel  (in  Secnnden) 

Hbwumb 

ereter  Theil 

Bweiter  Theil 

dritter  Theil 

1 

48,7 

72,3 

77,9 

1,2 

24,9 

46,6 

643 

V. 

21,7 

89,1 

493 

1,8 

7,9 

21,1 

44,6 

2,3 

8,2 

12,8 

21,7 

3 

1,3 

4,1 

10,7 

1,2 
1,6 
13 


i 

WatBaMA 

erster  Theil 

iweiter  Theil 

dritter  TheU 

i|              62,1 

66,4 

66,1 

i              34,7 

213 

30,2 

!              31,6 

19,4 

28,4 

23,2 

12,4 

19,1 

1             73 

3,6 

63 

1              ».' 

0,2 

03 

5^ 


\ 

\ 

^ 

<^ 

jj; 

t. 

-^ 

" 

^ 

, - 

— ■ 

tj 

Fig.  16.    SchallempfindunKen. 
ErmOdangacurve  wahrend  eines  Versucbea  von  ö  Minuten. 

Auch  hier  wird  von  Prof.  Hbtmans  im  ersten  Drittel  am 
bestOD  wahrgenommen  und  bei  jedem  Reiz  finden  wir  eine  Ab- 
nahme der  Wahrnehmungsfähigkeit  in  dem  zweiten  und  dritten 
Theil.  Die  Resultate  stimmen  also  vollkommen  überein  mit 
denen ,  welche  bei  den  Licht-  und  Druckversuchen  erhalten 
wurden.  Aus  diesen  Curven  ergiebt  sieh,  daTs  mit  dem  schwäch- 
sten Reiz  hier  mehr  wahrgenommen  wurde  als  bei  den  Licht- 
und  Druckexperimenten.  Der  Grund  dafür  mufs  darin  gesucht 
werden,  dafs  wir  den  schwächsten  Reiz  nicht  in  der  unmittel- 
baren Nähe  der  Reizschwelle  genommen  haben.  Wie  ich  schon 
mittheilte,  lag,  als  wir  unsere  Experimente  anfingen  und  als 
die  Grenzen  festgestellt  wurden,  kein  Schnee.  Meine  Curven 
haben  eine  so  grofse  Uebereinstimmung  mit  denen  der  anderen 
Sinnesemphndungen,  dafs  ich  nur  ein  einziges  Wort  daran  zuzu- 
fügen brauche.  Hier  nämhch  ergiebt  sich  noch  deutlicher  als 
bei  den  anderen  Versuchen,  dafs  im  dritten  Theil  besser  wahr- 
genommen wird  als  im  ersten.  Bei  den  Druckempfindungen  war 
bis  auf  einige  Ausnahmen  und  bei  den  Lichtversuchen  in  bei 
weitem  den  meisten  Fällen  gerade  das  Umgekehrte  der  Fall 
Die  Ermüdung  trat  also  bei  den  Gehörsversuchen  nicht  so  bald 
auf  wie  bei  den  anderen. 


rifmKAun^m  über  die  togenannten  AufmeiletamkeitMckuiankungm.  I.  197 


Ermadnog  wahrend  einer  gansen  Versuchsreihe 

Hbykans 

I 

1          ^^ 

m 

IV         j          V 

VI 

97^  6er. 

j   102,9  See. 

83  See. 

79^  See.    |  107,1  See. 

100,6  See. 

WlKMKA 

I       !       n       1      in      1      IV 

V 

VI 

«1,4  See. 

1    78,8  9ec.    1    61,9  See.    j    61,9  See. 

60,1  See. 

B9,5  See. 

Ans  dem  Verlauf  der  Curve 
von  Prof.  Hetmans  kann  man 
nicht  viel  schliefsen.  Hier  haben 
wahrscheinlich  aufser  Uebung 
und  Ermüdung  noch  andere  Ein- 
flüsse mitgewirkt  Meine  Curve 
beweist  wieder  vollkommen,  dafs 
die  in  einer  Versuchszeit  ge- 
ronnene Uebung  sich  nach  einer 

Bnhe  von  8  Min.  noch  gelten    ~    .^   ^   i..  *■    j 

°  Flg.  16.  Geht) rsempf induugen. 

Ilfst   Bei  III  und  IV  ist  die  Wahr-  Ermüdungscurve  während  einer  ganzen 
nehmnngsfähigkeit  gleich.  Versuchsreihe. 

Ergebnissp. 
Betrachten   wir  nun   die   Kesultate   der  Experimente,    dann 
ISnnen  wir  sagen,    dafs  sich  im  Allgemeinen  für  Licht-,  Druck- 
and   Gehörsempfindungen    die   gleichen    Gesetzmäfsigkeiten    er- 
geben haben.    Wir  haben  nämlich  gefunden : 

1.  eine  mehr  oder  weniger  regelraäfsige,  im  Allgemeinen  sich 
der  Proportionalität  annähernde  Zunahme  der  Merklichkeitszeiten 
mit  der  Gröfse  der  Reizunterschiede ; 

2.  eine  mehr  oder  weniger  regelmäfsige  Verkürzung  der 
Schwankungsperioden,  wenn  die  Reizunterschiede  gröfser  werden ; 

3.  bei  Prof.  Hbymans  ein  starkes  Ueberwiegen  des  Einflusses 
der  Ermüdung  über  denjenigen  der  Uebung  während  jedes  Ver- 
snches;  bei  mir  dagegen  zunächst  ein  deutliches  Ueberwiegen 
des  Einflusses  der  Uebung  und  erst  später  ein  solches  des  Ein- 
ftnsses  der  Ermüdung; 

4.  bei  Prof.  Heymans  im  Allgemeinen  einen  merklichen  Ein- 
fiafo  der  aus  den  früheren  Versuchen  sich  ergebenden  Ermüdung 


198 


E.  Wiersma. 


auf  die  späteren  Versuche  desselben  Tages;  bei  mir  dagegen 
auch  im  Grofsen  und  Ganzen  einen  überwiegenden  EinfluTs  der 
gewonnenen  Uebung.  — 

Wie  aus  dieser  Zusammenfassung  erhellt,  hegen  auf  dem 
Gebiete  der  Aufmerksamkeitsschwankungen  auffallend  con- 
stante  individuelle  Differenzen  vor.  Jede  der  beiden 
Versuchspersonen  reagirte  auf  Druck-,  Licht-  und  Schallreize  auf 
eine  bestimmte,  für  sie  charakteristische,  auf  jenen  drei  Gebieten 
sich  nahezu  identisch  wiederholende  Weise;  selbst  bedeutende 
Abweichungen  im  Bau  und  in  der  Empfindhchkeit  einzelner  peri- 
pherer Sinnesorgane,  wie  sie  z.  B.  für  das  Gesichtsorgan  bei 
Prof.  Heymans  vorUegen,  vermögen  diese  Gesetzmäfsigkeit  nicht 
merklich  zu  verdunkeln.  Unter  diesen  Umständen  ist  es  kaum 
zulässig  anzunehmen,  dafs  die  Vorgänge,  welche  diese  Greset«- 
mäfsigkeit  erkennen  lassen,  durch  periphere  Factoren  bedingt 
sein  sollten ;  mindestens  mufs  zugestanden  werden,  dafs  centrale 
Ursachen  darauf  einen  bedeutenden  Einflufs  ausüben.  Ich  glaube 
demnach  auf  ganz  andere  Weise  als  bisher  geschah,  durch  die^ 
Versuche  bewiesen  zu  haben,  dafs  die  Schwankungen  in  deA 
Wahrnehmungen  unter  dem  Einflufs  centraler  Ursachen  stehetl. 

Auch  noch  einen  anderen  Beweis  dafür  meine  ich  in  deil 
Resultaten  meines  Experimentes  finden  zu  können.  Es  ist  uns 
nämhch  klar  geworden,  dafs  verschiedene  Umstände,  die  Ein- 
flufs haben  auf  die  Frische  unseres  Geistes,  die  UnmerkUchkeits- 
zeiten  verlängern  oder  verkürzen  können.  Als  Beweis  dafür  gebe 
ich  eine  Uebersicht  über  die  mittleren  Zeiten,  während  welcher 
die  verschiedenen  Druckreize  an  je  einem  der  12  Versuchstage 
nicht  gespürt  worden  sind. 


Mittlere  ünmerklicbkeitszeiten  (in  Secunden)  während  der  verschiedenen 

Versuchstage 

Druckexperimente 


Heymans 

I    II 

III 
127,8 

IV 
177 

V 

162,6 

VI 

VII 

VIII 
151,8 

IX 

X 

XT 

XTT 

164,4 

158,4 

149,4 

229,8 

156,8 

154,8 

148,8 

226,8 

WiERSMA 

I 

II 

III 

IV 

V 

VI 

VIT 

VIII 

IX 

X 

XT 

XTT 

115,5 

139,2 

119,4 

99 

106,8 

114,6     60,6 

103,8 

105 

106,2 

121,8 

94,2 

UnUnu^ungen  über  die  sogenannten  Äufnterkaanüttitasehieankungen.  I. 


Fig.  17. 

Druckexperimente. 

Mittlere  UnmerklichkeitsEeiten  v&hrend  der  verschiedenen  Vereuclietage. 

Ich  vill  hier  nur  auf  einzelne  Tage  hinweisen,  welche  eine 
mehr  als  gewöhnliche  Abweichung  zeigen.  Am  7.  Tag  hatte 
ProE.  Hkxmans  den  ganzen  Morgen  bis  2  Uhr,  als  wir  zu  ez- 
perimentiren  aofingeD,  sehr  angestrengt  gearbeitet,  während  ich 
gerade  den  ganzen  Morgen  in  Ruhe  verbracht  hatte.  Die  Zahlen 
und  die  Ausweichungen  der  Curve  deuten  genügend  an,  welchen 
EinfluTs  Ermüdung,  welchen  Frische  auf  die  Richtung  der  Curve 
hat  Eine  andere  starke  Abweichung  finden  wir  am  12.  Tag. 
Statt  Nachmittags  von  2  bis  4  Uhr  experimentirten  wir  an 
jenem  't'ag  Abends  von  8  bis  10  Uhr.  Es  ist  bekannt,  dafs 
einige  Menschen  in  den  Abendstunden,  andere  in  den  Morien- 
stunden  besser  im  Stande  sind,  intellectuelle  Arbeit  zu  verrichten. 
Prof.  Heymass  nun  arbeitet  Morgens  schneller,  ich  dahingegen 
habe  immer  Abends'  besser  studiren  können.  Es  ist  sehr  wahr- 
scheinlich, dafs  dieser  Umstand  auch  in  diesen  Curven  sich 
gelten  läfst  Wie  ich  schon  im  Anfange  mittbeilte,  sollen  die 
Einflüsse,  welche  verschiedene  psychischen  Zustände  auf  die 
Unmerklichkeitszeiten  ausüben  können,  näher  untersucht  werden. 

Ich  habe  schon  darauf  hingewiesen,  dafs  die  Wahmehmungs- 
schwankungen  meines  Erachtens  in  innigem  Verhältnifs  stehen 
zu  der  Neigung  aller  Bewufstseinsinbalte,  um  unbewufst  zu 
Verden.  Ich  meine  den  Beweis  dafür  ziehen  zu  können  aus 
meinen  Experimenten.  Die  Curven  von  Prof.  Heymans  zeigen 
nämlich  vom  Anfang  jeder  Versuchszeit  bis  zum  Ende  eine 
stetige  Abnahme  des  Wahrnehmungsvermögens.  Bei  den  Licht- 
und    Druckexperimenten    werden    in    den    letzten    Theilen    die 


200  ^'  Wiersnia. 

schwächsten  Reize  so  gut  wie  gar  nicht  mehr  wahrgenommen. 
Was  hei  den  schwächsten  Reizen  schon  Wirklichkeit  geworden 
ist,  ist  bei  allen  anderen,  auch  bei  den  Gehörsversuchen,  im 
Begriff  sich  zu  reaUsiren.  Auch  meine  Curven  zeigen  die  Ab- 
fliefsungstendenz,  obgleich  nicht  so  deutUch  als  die  von  Prof. 
Heymans,  weil  im  zweiten  Drittel  der  Versuchszeit  bei  mir 
immer  besser  wahrgenommen  wurde  als  im  ersten.  Bei  den 
Licht-  und  Druckversuchen  aber  ist  zu  bemerken,  dafs  in  den 
meisten  Fällen  im  dritten  Theil  schon  weniger  wahrgenommen 
wurde  als  im  ersten.  Wenn  wir  nun  Rücksicht  darauf  nehmen, 
dafs  von  Janet  und  Jelgersma  viele  Symptome  der  Hysterie 
erklärt  werden  durch  die  Neigung  der  Bewufstseinsinhalte  um 
unbewufst  zu  werden,  dann  liegt  es  auf  der  Hand,  dafs  eine 
gründUche  Untersuchung  der  Wahrnehmungsschwankungen  in 
gesundem  Zustand  und  bei  Hysterie  sehr  erwünscht  ist  Sehr 
wahrscheinlich  auch  wird  diese  Untersuchung  der  Mühe  werth 
sein  bei  allen  Psychosen,  wo  eine  deutliche  psychische  Hemmung 
in  den  Vordergrund  tritt. 

Zum  Schlufs  will  ich  noch  auf  ein  anderes  Resultat  dieser 
Experimente  hinweisen.  Es  hat  sich  gezeigt,  dafs  die  Unmerk- 
lichkeitszeit  und  die  Dauer  der  Unmerklichkeitsperioden  von  der 
Intensität  des  Reizes  abhängig  sind.  Damit  scheint  die  Behaup- 
tung einiger  Forscher,  dafs  die  Dauer  der  Schwankungen  für 
verschiedene  Sinnesgebiete  eine  verschiedene,  für  jedes  derselben 
aber  eine  fest  bestimmte  ist,  hinfällig  zu  werden.  Man  kann 
für  jedes  Gebiet  die  Intensität  der  Reize  so  wählen,  dafs 
Schwankungen  von  beliebiger,  längerer  oder  kürzerer  Zeitdauer 
sich  ergeben.  Jene  Behauptung  beruht  demnach  wohl  einfach 
auf  dem  Umstände,  dafs  die  betreffenden  Forscher  für  jedes 
Sinnesgebiet  nur  mit  einer,  mehr  oder  weniger  genau  der  Reiz- 
schwelle entsprechender  Reizintensität  gearbeitet  haben. 

Eingegmigen  am  21.  April  1901. 


Ueber  die  mechanischen  Correlate 

Ton  Baum   mid  Zeit,   mit   kritischen   Betrachtungen 

über  die  E.  HERING'sche  Theorie  vom  Ortssinne 

der  Netzhaut. 

(Auf  Grund  eines  Falles  von  monoculärem  Doppelt- 
sehen ohne  physikalische  Ursache.) 

Von 

Dr.  E.  Storch, 

Assistenten  der  Kgl.  Neurologischen  Poliklinik  zu  Breslau. 

Unter  den  mannigfachen  Theorien  über  das  Zustandekommen 
unserer  Raumvorstellungen  hat  sich  ganz  allmählich  die  Hering- 
sche  Lehre  vom  Ortsinne  der  Netzhaut  ein  immer  gröfseres  Feld 
erobert,   besonders  in   ophthalmologischen  Kreisen,   weniger  bei 
Physiologen  und  Psychologen.    Diese  Anerkennung  ist  auch  in 
vollem  Maafse   verdient,   sobald  man   das  räumliche  Sehen  des 
gesunden  Erwachsenen  in  Betracht  zieht.    Hier   kommt  man  in 
der   That    mit   der  Annahme,    dafs   jeder   Punkt   der   Netzhaut 
neben  einer  Lichtempfindung  eine  untrennbar  damit  verbundene 
Raumempfindung  (sit  venia  verbo)  vermittelt,  vollkommen   aus 
und   es    dürfte    vielleicht   innerhalb    der  physiologischen   Breite 
überhaupt  aussichtslos   sein  nach  entgegenstehenden  Thatsachen 
zu  fahnden.    Es  ist  auch  weniger   dieser  für  den  Praktiker  un- 
wichtigere Kernpunkt,  der  die  Entstehung  der  Raumvorstellungen 
angeht,  als  vielmehr  die  unleugbare  Ueberlegenheit  der  Identitäts- 
lehre über  die  Projectionstheorie,   welche  den  HERiNo'schen  An- 
schauungen zum   Siege   verhalf.    Lassen   wir  alles   Beiwerk   zu- 
nächst bei  Seite,  so  läfst  sich   die  HERiNo'sche  Lehre  vom  Ort- 
sinne der  Netzhaut  kurz  folgendermaafsen  fassen :  Wird  ein  Netz- 
hautpunkt gereizt,  so  empfinden  wir  einen  Lichtpunkt  im  Raum. 


V> 


202  E,  Storch. 

Dieser  bestimmte  Raumwerth,  welcher  jedem  einzelnen  Netzhaut- 
elemente inhärirt,  ist  ein  angeborener,  dem  einzelnen  Elemente 
eigenthümlieher. 

Nach  Heeing  ist  also  der  Raum  sinnlich  wahrnehmbar  wie 
das  Licht,  der  Schall,  oder  die  Wärme. 

Unter  Sinneselement  verstehe  ich  diejenige  organische  Ein- 
heit, welche  eine  erfahrungsgemäfs  einfache,  niemals  in  Com- 
ponenten  zerfallende  Empfindung  vermittelt;  ich  könnte  auch 
sagen,  welche  die  einfachste  Empfindung  von  einer  bestimmten 
Quahtät  auslöst,  die  überhaupt  denkbar  ist,  an  der  sich  also  nur 
eine  einzige  Dimension  (Intensität)  entdecken  läfst.  Aber  da 
eine  derartige  Definition  der  Subjectivität  einen  zu  weiten  Spiel- 
raum lassen  würde,  und  z.  B.  Hering  unter  der  einfachsten  Seh- 
empfindung den  Lichtfleck  im  Raum,  Wundt  den  raumlosen 
Lichteindruck  begreift,  so  überlasse  ich  die  psychologische  Be- 
grifEserklärung  lieber  der  Erfahrung.  Zeigt  diese  in  geeigneten 
pathologischen  Fällen,  dafs  die  bisher  für  einfach  gehaltene  Em- 
pfindung in  Componenten  auseinanderfallen  kann,  so  wäre  der 
bisher  festgehaltene  Begriff  des  Elementes  im  psychologischen 
Sinne  entsprechend  abzuändern,  die  Molekel  in  ihre  Atome  zu 
zerfallen. 

Der  Begriff  dieser  einfachsten,  reinen,  oder  elementaren 
Empfindung  ist  zunächst  eine  wesenlose  Abstraction,  die  in 
unserem  Bewufstsein  keine  Stätte  hat  Denn  alle  unsere  sinn- 
lichen Empfindungen  werden  sofort  mit  zahlreichen  anderen 
Bewufstseinsvorgängen  associirt,  die  durchaus  nicht  immer  der 
psychischen  Analyse  zugänglich  sind.  Ja  selbst  wenn  wir  ein 
Bewufstsein  als  noch  völlig  leer  voraussetzen  wollten,  würde 
der  strenge  Begriff  der  Elementarempfindung,  auch  beim  ersten 
Reize,  der  es  trifft,  nicht  verwirklicht  sein. 

Der  Begriff  des  Bewufstseins  ist  ja  überhaupt  nur  möglich 
als  der  einer  fortwährenden  Veränderung.  Ein  wirklich  ruhendes 
Bewufstsein,  d.  h.  ein  solches,  in  dem  keine  Veränderungen,  also 
keine  Bewufstseinsvorgänge  stattfinden,  wäre  kein  Bewufstsein. 
Man  sieht  schon  hieraus,  dafs  es  einen  ersten  Reiz  für  ein  Be- 
wufstsein nicht  geben  kann,  denn  als  erster  könnte  er  ja  nur 
ein  ruhendes  Bewufstsein  —  eine  Contradictio  in  adjecto  — 
treffen.  Aber  sehen  wir  von  dieser  Schwierigkeit  ab,  so  würde 
der  erste  Reiz  einer  bestimmten  Qualität,  z.  B.  ein  Lichtreiz,  der 
das    jungfräuliche    Bewufstsein    erweckt,    keinen    Dauerzustand, 


Ueber  die  mechanischen  Correlaie  von  Baum  und  Zeit.  203 

Bondem  eine  fliefsende  Veränderung  hervorrufen  müssen.  Der 
sinnliche  Eindruck  verblaXst,  wird  Erinnerung,  und  ist  in  jedem 
Moment  im  Bewufstsein  durch  ein  besonderes,  von  jedem  früheren 
und  späteren  verschiedenes  Erinnerungsbild  vertreten.  Jedes 
dieser  Augenblickserinnerungsbilder  umfafst  alle  früheren,  oder 
ist,  wie  man  sich  ausdrücken  könnte,  mit  ihnen  associirt. 

Diese  primitivste  Thätigkeit  des  Bewufstseins,  associativer 
Natur  wie  alle  Bewufstseinsthätigkeit,  ohne  welche  eine  Sinnes- 
empfindung nicht  möglich  ist,  ist  die  unumgängliche  Eigenzuthat 
der  Seele  zu  jeder,  auch  der  einfachsten  Empfindung.  Mit  ihr 
zugleich  würden  wir  den  Begriff  des  Bewufstseins  aufheben,  wir 
können  sie  also  auch  nicht  in  Gedanken  von  der  elementaren 
Empfindung  trennen. 

Diese  Urthätigkeit  der  Seele  nun  findet  eine  ganz  eigene 
Bewerthung,  jedem  unmittelbar  und  auf  das  AUergenauste  be- 
kannt, aber  eben  deswegen,  weil  sie  die  Urthätigkeit  der  Psyche 
darstellt,  nicht  weiter  erklärbar,  als  —  Zeit  — . 

Hätten  wir  eine  Stimmgabel,  welche  angeschlagen  dauernd 
den  gleichen  Ton  in  gleicher  Intensität  gäbe,  so  würde  der  Be- 
obachter immer  den  gleichen  Ton  hören  und  seine  sinnliche 
Wahrnehmung  würde  sich  nicht  ändern. 

Trotzdem  wäre  in  2  auf  einander  folgenden  Momenten  der 
Beobachtung  sein  Bewufstseinsinhalt  nicht  der  nämliche,  man  ist 
sich  nämlich  in  jedem  Augenblicke  der  Zeit  bewufst,  welche  die 
Stimmgabel  schon  tönt. 

Bezeichnen  wir  die  im  Augenblicke  7\  deui  stets  gleichen 
Reize  R  entsprechende  Wahrnehmung  als  W^  =  TF,  so  ist  im 
unmittelbar  folgenden  Zeitelement  1\^  die  Wahrnehmung 
If^j  r=  \V  4-  '^1  zu  setzen,  wobei  u\  die  in  M\  eingehende  Com- 
ponente,  das  Gedächtnifsbild  von  W^,  darstellt 

in  T.^  ist  W^  =  W  -\-  /r«,  und  h\^   ist  wieder  das   nach- 
klingende IFo. 

Wn=^    ]r+  %Cn  -  1. 

Diese  hier  durch  eine  offenbar  der  Erfahrung  entsprechende 
Formel  ausgedrückte  Aenderung  des  Bewufstseinszustandes  bei 
gleichbleibender  Wahrnehmung  ist  gar  nicht  anders  als  auf  den 
zeitlichen  Ablauf  unserer  Wahrnehmung  zu  deuten;  nur  die 
Zeit  ändert  sich  im  angegebenen  Falle,  sie  mufs  also  repräsentirt 
sein  durch  den  sichändernden  Summanden  ic. 


204  E'  Storch. 

Dieses  w  entspricht  dem  Gedächtnifs ;  und  ist  das  psychische 
Correlat  einer  unablässig  von  Statten  gehenden  materiellen  Ver- 
änderung des  Gehirns,  auch  wenn  dasselbe  zeitweise  von  äufseren 
Reizen  nicht  beeinflufst  ist. 

Ohne  diese  Veränderung,  die  in  ähnlicher  Weise  auch  in 
der  leblosen  Welt  von  Statten  geht,  kein  Gedächtnifs. 

Ohne  Gedächtnifs  —  keine  Zeit 
Ohne  Zeit  —  keine  Bewegung 
Ohne  Bewegung  —  kein  Bewufstsein. 

Daher  ist  eine  elementare  Empfindung  nur  als  zeitlich  denk- 
bar, und  diese  Zuthat  der  Psyche  ist  bei  allen  Empfindungen 
die  nämliche,  unabhängig  von  der  Natur  des  Reizes  und  des 
Sinnesorgans.  Eine  Sinnesempfindung  ohne  diese  Association 
mit  den  eigenen  Erinnerungsbildern  giebt  es  nicht,  aber  wir 
können  um  den  Begriff  der  reinen  Sinnesempfindung  aufau- 
steilen, jede  andere  Association  ausschliefsen.  Die  reinen  Sinnes- 
empfindungen liegen  wohl  in  der  Zeit,  aber  nicht  im  Raum. 

Auch  in  diesem  Sinne  kommen  reine  Empfindungen  bei 
dem  Erwachsenen  nicht  mehr  vor.  Was  wir  bei  Reizung  unseres 
Sensoriums  wahrnehmen  liegt  im  Räume,  oder  hat,  wie  wir  auch 
sagen  können  neben  dem  Zeitwerthe  auch  einen  Raumwerth, 
und  selbst  die  unbestimmtesten  Organgefühle  von  unseren  Ein- 
geweiden in  der  Bauch-,  Brust-  oder  Kopfhöhle  besitzen  eine 
deutliche  räumliche  Betonung;  sie  können  uns  höchstens  ahnen 
lassen,  was  eine  reine  Empfindung  ist.  Auch  diese  Thatsache,. 
dafs  wir  keine  Sinnesempfindung  ohne  Raumwerth  kennen  oder 
vorzustellen  im  Stande  sind,  —  denn  jeden  Gegenstand  sehen 
wir  an  einem  bestimmten  Ort,  jeden  Ton  hören  wir  aus  einer 
bestimmten  Richtung,  jede  Berührung  fühlen  wir  an  einer  be- 
stimmten Körperstelle,  jeden  Geschmack  haben  wir  im  Munde« 
den  Geruch  in  der  Nase,  oder  wir  versetzen  ihn  in  die  um- 
gebende Luft,  ja  schliefslich  ein  so  vages  Organgefühl  wie  das 
mit  dem  Denkprocefs  verbundene  haben  wir  in  uns,  diese  That- 
sache,  sage  ich,  weist  darauf  hin,  dafs  die  Raumvorstellung  nicht 
von  einem  oder  zwei  Sinnesorganen  geliefert  wird,  sondern  dafs 
sie  den  Ausdruck,  die  Objectivation  einer  Bewufstseinsthätigkeit 
darstellt,  die  ihr  mechanisches  Correlat  in  einer  bei  allen  Sinnes- 
reizungen in  gleicher  Weise  auftretenden  ßewegungsgröfse  besitzt 

Dafs  der  Ort,  an  welchem  eine  Sinnesfläche  gereizt  wird, 
nicht  im   Geringsten   eine  räumliche  Vorstellung  erregt,    dürfte 


üeber  die  mecfianiscJien  Correlate  von  Baum  und  Zeit  205 

einleuchten,  wenn  man  das  Gehörorgan  betrachtet.  Die  Er- 
regung verschiedener  Stellen  der  peripheren  Cochlearisausbreitung 
hat  durch  die  Tonhöhe  verschiedene  Empfindungen  zur  Folge, 
nicht  aber  Empfindimgen,  welche  wir  an  verschiedene  Stellen 
des  Raumes  verlegen. 

Warum  also  sollte  die  Reizung  verschiedener  Haut-  oder 
Netzhautpunkte  andere  Componenten  zum  Bewufstsein  bringen 
als  die  durch  die  zweifache  Mannigfaltigkeit  der  Qualität  und 
Intensität  gegebenen,  deren  erstere  für  jedes  Sinneselement  eine 
besondere  ist 

Allen  Lebewesen  ist  nun,  wie  wir  wissen,  die  Reizbarkeit 
eigen.  Von  der  Empfindung  der  Bewufstseinsveränderung,  die 
auf  den  Reiz  erfolgt,  vermögen  wir  aufser  aus  innerer  Erfahrung 
nichts  auszusagen;  wohl  aber  von  der  Bewegung,  der  Energie- 
abgabe, welche  der  Reiz,  die  Energieaufnahme  zur  Folge  hat 
Dieser  sogenannte  Reflex  tritt  bei  den  niedersten  und  höchsten 
Thieren  in  zweierlei  Form  auf,  der  positiven  und  der  negativen. 
Bei  ersterer  zielt  die  Bewegung  des  Thieres  auf  eine  Vergröfse- 
rang  des  Reizes  ab  und  findet  ihr  Ende,  sobald  ein  Maximum 
oder  Optimum  des  Reizes  und  damit  auch  der  Empfindung  er- 
reicht ist  Ich  erinnere  an  den  Sangreflex  Neugeborener,  an  den 
Greifreflex  kleiner  Kinder  bei  sanfter  Reizung  des  Handtellers, 
an  das  Fliegen  der  Insecten  zima  Licht  u.  A.  m.  Bei  der  nega- 
tiven Form  wird  die  erregte  Sinnesfläche  dem  Reize  entzogen. 

Diese  beiden  Formen  des  Reflexes  finden  sich,  wie  gesagt, 
bei  sämmtlichen  Lebewesen,  und  eben  deshalb  müssen  wir  an- 
nehmen, dafs  sie  nicht  erlernt  werden,  sondern  angeboren  sind. 
Es  wäre  auch  ganz  unbegreiflich,  wie  solch  ein  Reflex  erworben 
werden  sollte.  Er  ist  dem  lebenden  Protoplasma  eigen,  wie  der 
Magnetismus  dem  Eisen,  die  Fluorescenz  dem  Petroleum  und 
könnte  durch  die  Auslese  wohl  erhalten  und  verfeinert  aber 
nicht  geschaffen  werden. 

Wenn  auch  derartige  Reflexe  manchmal  sich  erst  beim 
reifen  Organismus  nachweisen  lassen,  beim  Neugeborenen  aber 
fehlen,  so  mufs  man  doch  die  Annahme,  dafs  sie  erlernt  werden, 
weit  abweisen.  Sie  treten  in  dem  Augenblicke  auf,  wo  das 
Sinnesorgan  und  der  es  bewegende  Apparat  die  Entwickelungs- 
reife  erreicht  haben. 

Das  leuchtet  besonders  bei  den  rudimentären  Reflexen, 
welche   von  dem  Cheironti'schen  Nachen  der  Heredität  aus  der 


206  E.  Storch. 

Urzeit  herübergerettet,  noch  eine  Weile  bewahrt  werden,  obgleich 
sie  für  das  betreffende  Thier  nunmehr  ohne  allen  Nutzen  sind. 

Ein  Beispiel  möge  das  erläutern:  Reizt  man  leicht  die  Fuls- 
sohle  eines  erwachsenen  Menschen,  so  krümmen  sich  die  Zehen 
nach  unten,  ein  positiver  Reflex,  der  für  Wesen,  welche  auf 
Bäumen  lebten,  nicht  ohne  Nutzen  gewesen  sein  mag.  Eigen- 
thümlicherweise  findet  sich  dieser  Reflex  nicht  beim  Neu- 
geborenen. Im  Gegentheil  krümmen  sich  hier  die  Zehen  nach 
oben,  und  dieses  Verhalten  bleibt  für  die  Dauer  des  ersten 
Lebensjahres,  vielleicht  noch  länger,  das  nämhche.  Erkrankt 
nun  aber  beim  Erwachsenen  die  Pyramidenbahn  im  Rücken- 
mark, indem  sie  z.  B.  ihre  Markscheiden  verliert,  so  wird  der 
Fufssohlenreflex  dem  des  kleinen  Kindes  gleich.  Bei  diesem 
aber  besitzt  die  genannte  Nerveubahn  ebenfalls  keine  Mark- 
scheiden. 

Wer  würde  behaupten  wollen,  dafs  dieser  Reflex  erlernt 
wird?  Er  tritt  mit  derselben  Naturnothwendigkeit  ein  wie  das 
Zuthalfliefsen  des  Wassers,  sobald  der  Organismus  seinen  völligen 
Ausbau  gefunden  hat. 

Jede  Bewegung  aber  stellt  eine  Veränderung  der  Bewegungs- 
gröfse  des  Organismus  dar  und  es  kann  a  priori  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dafs  ihr  auch  eine  Bewufstseinsveränderung  parallel 
geht  Wir  haben  ja  auch  unzweifelhaft  bei  jeder  Muskelthätig- 
keit  gewisse  Sinnesempfindungen,  die  von  den  Tastkörperchen 
der  sich  verschiebenden  Haut,  von  denen  der  Sehnen  und  Gre- 
lenke  u.  s.  w.  ausgelöst  werden;  wir  können  die  Bewegungen 
unserer  Glieder  ja  auch  sehen.  Aber  die  diesen  Empfindungen 
entsprechenden  Reize  sind  ja  nur  ein  ganz  unbedeutender  Theil 
der  Energieschwankung,  der  sich  mit  dem  Namen  des  inneren 
Wiederstandes  bezeichnen  liefse.  Der  gröfsere  Theil  wird  durch 
diese  sensoriellen  Empfindungen  nicht  psychisch  repräsentirt, 
und  doch  mufs  ihm  ein  Psychisches  entsprechen,  wenn  es  auch 
nicht  sinnlicher  Natur  ist  in  der  engeren  Bedeutung  des  Wortes.^ 


^  Dies  würde  aus  der  Theorie  des  psychophysischen  Parallelismus 
folgen,  der  gemäfs  jeder  Aenderung  der  Bewegungsgröfse  unseres  Körpers 
eine  Bewufstseinsänderung  parallel  geht  Für  solche,  denen  diese  Art  zu 
schliefsen  nicht  behagen  sollte,  kann  man  auf  andere  Thatsachen  ver- 
weisen. Bei  der  Erlernung  complicirter  Bewegungen  findet  eine  gans  all- 
mähliche Aenderung  unseres  Bewufstseins  statt,  die  sich  in  dem  Gefühl 
gröfserer  Leichtigkeit  und  Sicherheit  bei  der  Ausführung  der  Beweguog 


üeber  die  mecJMnUchai  Correlate  von  Raum  und  Zeit  207 

Wenn  man  auf  dem  Boden  theoretischer  Betrachtmigen  zu 
dem  Schlüsse  gelangt  ist,  daüs  jeder  Bewegung  unseres  Körpers 
ein  Psychisches  entsprechen  mufs,  so  hat  man  die  Aufgabe  auch 
die  Nervenbahn,  welche  es  vermittelt,  zu  suchen. 

Unter  dem  Zwange  physiologischer  und  pathologischer  Er- 
fahrungen hat  man  die  Meinung  aufgeben  müssen,   dafs  eine 
Nervenfaser  in  doppelter  Richtung  leiten  könne,  und  auch  die 
nähere  Einsicht  in  den  anatomischen  Bau  unseres  Centralnerven- 
sy«tems  hat  zu  eben  dieser  Anschauung  geführt.    Jeder  Neurit 
leitet  von  der  Zelle  hinweg,  jeder  Dendrit  zur  Zelle  hin.    Die 
motorischen  Vorderhomzellen  des  Rückenmarks  nun  haben  nur 
einen  Axenzylinderfortsatz,  welcher  durch  die  vorderen  Wurzeln 
das  Rückenmark  verläfst  und  sich  zu  den  Muskeln  begiebt;  der 
reich    verzweigte   Dendrit   bildet   einen    wichtigen    Antheil    der 
grauen  Substanz.    Wie  soll  man  sich  nun  vorstellen,   dafs   die 
Function   dieser  motorischen  Zelle  in  der  Stirnrinde  eine  ent- 
sprechende  Veränderung   hervorbringt?     Man   hat   wohl    ange- 
f    nommen,  dafs  die  functionelle  Veränderung  der  spinalen  Neurons 
mit  einem  Abflufs  von  Nervenerregung  der  corticalen  Pyramiden- 
zelle Hand  in  Hand  geht    Aber  dieser  Vorgang  wäre  ja  schon 
psychisch   durch  den  Willensact  voll  bewerthet,    und    es  wäre 
paradox    die   anatomischen  Einheiten,    die   wahrscheinlich   psy- 
chische  Elemente  darstellen,  noch  aufserdem  für  die  in  Rede 
stehende  Bewufstseinsänderung,   welche  mit  dem  Willen   nichts 
zu  thun  hat,  verantwortlich  zu  machen.    Aber  von  diesen  Pyra- 


knnd  giebt.  Diesen  Gefühlston  wird  wohl  Niemand  mit  den  bei  der 
Moskelaction  vorhandenen  Sinnesempfindungen  in  Verbindung  bringen. 
£r  hat  absolut  nichts  Sinnliches  und  ist  eine  psychische  Componente  die 
der  Erwachsene,  im  Sprechen  z.  B.  Geübte,  überhaupt  nicht  gesondert 
wahrnimmt.  Trotzdem  mufs  sie  vorhanden  sein ;  denn  wenn  derjenige  Ge- 
himtheil,  in  welchem  die  Sprechbewegungen  hauptsächlich  ihre  physische 
Veränderung  erzeugen,  das  Centrum  der  Sprechvorstellungen,  wie  man  sich 
sehr  grob  ausdrückt,  erkrankt,  so  fehlt  dieser  Gefühlston  und  das  Sprechen 
kann  bis  zur  Unmöglichkeit  erschwert  sein.  Dafs  man  im  besonderen  Falle 
das  psychische  Correlat  dieser  localisirten  physischen  Veränderung  als 
motorische  Erinnerungsbilder  bezeichnet,  mag  hingehen,  wenn  man  meine 
Eingangs  erwähnte  weite  Fassung  des  Begriffes  annimmt;  nur  darf  man 
sich  nicht  verleiten  lassen,  darunter  etwas  an  sich  Reproducibles  zu  ver- 
stehen. Die  motorische  Sprechvorstelluug  ermöglicht  erst  die  motorischen 
Si^rachfajictioneny  tritt  aber  nie  als  etwas  psychisch  Beschreibbares  allein 
iB  Ulmesem  Bewulstoein  auf. 


208  -E-  Storch. 

midenzellneuriten  gehen  Collateralen  zu  anderen  Rindengebieten 
und  diese  dürften  mit  grofser  Wahrscheinlichkeit  die  gesuchte 
Bahn  darstellen.  Man  könnte  aber  auch  an  die  Collateralen  der 
Vorderhornzellneuriten  denken. 

Man  hat  den  BewuTstseinsvorgang ,  um  den  es  sich  hier 
handelt  in  dem  Namen  des  Lage,  Muskel-  oder  Bewegungsinnes 
eine  recht  unglückliche  Bezeichnung  gegeben,  und  dadurch  ver- 
anlafst,  dafs  ihn  viele  Autoren  unter  anderem  durch  Herino  mit 
den  Spannungs-  oder  Druckempfindungen,  welche  wir  bei  Be- 
wegungen wahrnehmen  verwechselten.  Die  Bahn  dieser  Em- 
pfindungen ist  lange  bekannt,  sie  bildet  den  aufsteigenden  Ast 
eines  Reflexbogens,  dessen  Knotenpunkt  im  Kleinhirn  liegt 
Hering  hat  in  der  That  Recht,  wenn  er  hiervon  abgesehen  einen 
eigenen  Muskelsinn  in  Abrede  stellt.  Einen  Sinn  in  der  exacten 
Bedeutung,  dafs  wir  seine  Empfindungen  auf  bestimmte  Objecte 
z.  B.  Körpertheile  bezögen,  haben  wir  in  unserer  Muskulatur 
allerdings  nicht,  aber  wir  behaupten  das  auch  gar  nicht  von 
dem  hier  in  Rede  stehenden  Bewufstseinsvorgange,  welcher  das 
psychische  Correlat  unserer  Bewegungen  darstellt  Dieses  sind 
wir  vorläufig  aufser  Stande  näher  zu  analysiren,  entnehmen  aber 
aus  der  Grundthatsache  der  Reizbarkeit  der  Organismen,  dafs  es 
sich  mit  den  Elementarempfindungen  associirt.  Diese  vorläufig 
ganz  unbestimmte  psychische  Componente  verhält  sich  in  der 
subjectiven  Welt  zur  Empfindung,  wie  in  der  objectiven  der 
Reflex  zum  Reiz,  wie  die  Abgabe  einer  aufgespeicherten  Energie- 
menge zu  der  Aufnahme  einer  von  aufsen  kommenden  Be- 
wegungsgröfse.1 

^  Diese  nicht  durch  die  Pforten  unserer  Sinnesorgane  eingehenden 
psychischen  Componenten  werden  häufig  ganz  übersehen,  wenn  man  sie 
nicht  gar  —  horribile  dictu  —  als  unbewufste  Vorstellungen  brandmarkt. 
Unbewufste  Vorstellung  ist  eine  Contradictio  in  adjecto.  Diese  Bewadst- 
seinsthatsachen  sind  aber  ebensowenig  unbewufst  wie  Vorstellungen.  Ein 
Beispiel  möge  zeigen,  was  ich  meine.  Eine  aufgezogene  Spiralfeder  ans 
Stahl  befindet  sich  offenbar  in  einem  anderen  Zustande  als  die  entspannte. 
Sie  enthalt  eine  gewisse  Menge  potentieller  Energie,  die  sich  Jahrtausende 
erhalten  kann,  ohne  sich  nach  aufsen  in  Arbeit  zu  entladen.  Und  doch  ist 
dieser  Zustand  keineswegs  während  dieser  Dauer  unwirksam.  Schlägt  man 
sie  mit  einem  Metallstäbchen  an,  so  giebt  sie  einen  anderen  Ton  als  vor 
der  Spannung  u.  a.  m.  Die  potentielle  Energie,  die  sie  besitzt,  giebt  nun- 
mehr jeder  in  ihr  ausgelösten  Bewegung  eine  besondere  Zugabe. 

Aehnliche  Vorstellungen  kann  man  sich  bezOglich  des  Gehirns  and 
des  Weiteren  unserer  Seele  machen.     Während  unserer  Verdauung  wird 


lieber  die  mechanischen  Correlatc  von  Baum  und  Zeit.  209 

Versuchen  wir  nunmehr  dieser  Componente,  die  wir  vor- 
läufig mit  dem  Namen  des  psychischen  Motalitätswerthes  (M) 
belegen  wollen,  näher  zu  kommen  so  können  wir  aus  der  Aehn- 
lichkeit  ihrer  objectiven  Erscheinung,  der  Muskelconlraction, 
welche  ja  bei  allen  durch  noch  so  verschiedene  Sinnesreize  aus- 
gelösten Reflexen  im  Grunde  die  gleiche  ist,  auch  auf  eine 
psychische  Gleichheit  schliefsen,  unabhängig  von  der  Elementar- 
empfindung, der  sie  sich  zugesellt.  Dieser  Schlufs  ist  wenigstens 
auf  allen  Gebieten  unseres  Sinnenlebens  gerechtfertigt.  Die 
Function  aller  Netzhautstäbchen  und  Zapfen  hat  dem  überein- 
stimmenden Bau  aller  dieser  Elemente  und  der  wahrscheinlich 
durchgehends  sehr  ähnlichen  Form  ihrer  Lichtreaction  ent- 
sprechend eine  ganz  bestimmte  psychische  Vertretung,  deren 
Gemeinsamkeit  sich  in  umfassenden  Ausdruck  der  Lichtempfin- 
dung wiederspiegelt.  Ganz  so  steht  es  mit  der  Thätigkeit  der 
Hör-  und  Riechzellen  u.  s.  w.  Warum  also  nicht  auch  mit  den 
Muskelfasern  ? 

Nun  ist  es  klar,  dafs  der  Reizung  jeder  einzelnen  Stelle  der 
Sinnesflächen,  wenigstens  bei  den  positiven  Reflexen,  welche  im 
Weiteren  allein  in  Betracht  kommen,  immer  nur  ein  und  die- 
selbe Endstellung  als  Reflexwirkung  zukommt. 

So  wendet  der  Mensch  sein  Ohr  nach  der  Richtung,  aus 
welcher   der  Schall  kommt  und  saugt  mit  weiten  Nüstern  die 


gewifs  unser  Gehirn  energetisch  verändert.  Auch  dem  dürfte  im  Reiche 
des  Psychischen  etwas  entsprechen.  Dieses  P2twas  ist  freilich  keine  Vor- 
stellung, aber  es  giebt  den  Vorstellnngen  eine  besondere  Färbung. 

So  ist  es  zweifellos  richtig,  wenn  ich  sage :  „ich  besitze  kein  Bewufst- 
»ein  von  meiner  Bauchspeicheldrüse,  von  meinem  Herzen  u.  s.  w.",  wenn 
ich  darunter  verstehe,  ich  habe  keine  sinnliche  Vorstellung  davon.  Es  ist 
aber  total  falsch,  wenn  ich  meinen  würde,  diese  Organe  haben  keine  ihre 
Bewegungsgröfsen  subjectiv  wiederspiegelnden  Repräsentanten.  Freilich 
können  diese  Repräsentanten  nicht  objectivirt  werden,  aber  sie  sind  nichts- 
destoweniger in  unserem  Bewufstsein.  Wir  sind  hier  kaum  an  der  Pforte 
ded  Wissens  angekommen.  Wir  ahnen,  dafs  die  Angst  das  psychische 
Aeqaivalent  von  Veränderungen  unseres  Blutgefäfssystemes  ist,  dafs  der 
Altect  der  Mutterliebe  sein  physisches  Correlat  zunächst  in  gewissen  Vor- 
gängen der  Sexualsphäre  haben  dürfte ;  aber  —  das  sind  kaum  bescheidene 
Andeutungen  dafür,  dafs  man  medicinischerseits  diese  Frage  bewufst  auf- 
geworfen hat.  Im  Grofsen  und  Ganzen  aber  wissen  wir  aus  dem  Bereich 
der  physiologischen  Breite  hierüber  so  gut  wie  nichts.  Dafs  die  eingehende 
klinische  Analyse  der  Geisteskrankheiten  berufen  ist  uns  die  Wege  zu 
veisen,  ist  meine  persönliche  Ueberzeugung. 

Zeitschrift  fdr  Psychologie  26.  14 


210  E.  Storch, 

Luft  ein,  wenn  er  einen  Geruch  wittert  Trifft  ein  Lichtstrahl 
sein  Auge,  so  wird  dieses  so  bewegt,  dals  er  auf  immer  licht- 
empfindlichere Stellen  fällt,  bis  der  Reiz  endlich  auf  die  Stelle 
der  gröfsten  Sehschärfe,  auf  die  Macula,  zu  liegen  kommt 
Trifft  ein  Tastreiz  die  Körperoberfläche,  so  werden  die  Finger- 
spitzen einer  oder  beider  Hände  an  den  Ort  des  Reizes  geführt, 
und  es  wird  die  betreffende  Stelle  nochmals  )t)erührt  Dadurch 
wird  der  erste  Tastreiz  nochmals  ausgeübt,  zugleich  aber  findet 
jetzt  ein  Optimum  der  Empfindung  statt,  da  nun  auch  die  Haut 
der  Fingerspitzen,  welchen  mit  den  kleinsten  Tastkreisen  zu- 
gleich auch  die  gröfste  Tastschärfe  zukommt,  eine  Empfindung 
auslöst ;  es  wird  auch  hier,  wie  man  sagen  könnte,  die  Kemstelle 
der  Tasthaut  nach  der  Stelle  des  Reizes  hinbewegt 

Aber  wir  haben  den  Vorgang  erst  ungenügend  geschildert, 
wenn  wir  als  Wirkung  eines  Reizes  eine  für  jeden  Reiz  eigen- 
thümliche  Endstellung  des  Körpers  oder  Sinnesorganes  be- 
trachteten. Der  Weg  auf  dem  diese  Endstellung  erreicht  wird, 
ist  ebenso  ein  für  jedes  einzelne  Sinneselement  fest  vorge- 
schriebener. Das  scheint  nun  zunächst  für  die  Reizung  von 
Hautstellen  nicht  zuzutreffen;  aber  wir  haben  trotzdem  Grund 
zu  der  Annahme,  dafs  hier,  in  welcher  Stellung  der  Körper  sich 
auch  befinden  möge,  die  Reflexbewegung,  welche  einer  be- 
stimmten Hautstelle  entspricht,  nur  immer  einen  und  denselben 
psychischen  Motilitätswerth  besitzt 

Aus  welchen  Gründen  diese  Annahme  berechtigt  ist,  hier 
auszuführen,  würde  zu  weitläufig  sein.  Die  Verhältnisse  sind 
beim  Tastsinn,  durch  die  unumgänglich  nothwendige  Berück- 
sichtigung des  Gleichgewichtsorganes  sehr  complicirte.  Trotzdem 
sind  sie  im  Princip  von  denen  für  den  Gesichtssinn  nicht  unter- 
schieden, und  da  es  hier  nur  auf  die  Entwickelung  des  Principes 
ankommt,  werde  ich  mich  von  nun  an  lediglich  auf  letzteren 
beziehen. 

Für  das  Auge  nämlich  ist  die  Forderung,  dafs  jedem  ge- 
reizten Netzhautelement  nur  eine  einzige  ganz  bestimmte  Augen- 
bewegung zukommt,  genau  erfüllt,  wenigstens  für  den  Fall,  dafs 
es  sich  in  der  Ruhelage  befindet. 

Wäre  nun  die  Elementarempfindung  aller  Netzhautstellen 
wirklich  genau  die  nämliche,  so  könnte  es  trotz  allem  vorher 
Gesagten  nicht  dazukommen,  dafs  sich  die  dem  Element  a^  ent- 
sprechende Elementarempfindung  E^    mit  dem  psychischen  Mo- 


üeber  die  mechanischen  Corrclate  von  Baum  utid  Zeit.  211 

tilitätswerthe  M^  zu  einer  miauflösbaren  Einheit  verbindet.  Denn 
sind  E^,  ^,  E^  alle  untereinander  gleich,  so  mufs  natürlich  auch 
Ifj  +  jEj  =  Jfj  +  -^2  ==  -*f|  +  -^8  sein,  d.  h.  jede  von  der  Netz- 
haut ausgelöste  Elementarempfindung  könnte  sich  mit  jedem 
beliebigen  Motilitätswerthe  assocüren.  Trotzdem  würden  die 
psychischen  Resultanten  unter  einander  gleich  sein. 

Wie  aber  sattsam  bekannt  sein  dürfte  sind  E^,  E^^  E^  u.  s.  w. 
alle  untereinander  ungleich  (Localzeichen)  so  dafs  -M^  -{-  £'^  S 
M,  +  E^  ist 

Die  Verschiedenheit  von  E^,  E^^  E^  ist  experimentell  nach- 
gewiesen.   Wäre  sie  nicht  vorhanden,   so  müfsten  ja  auch  die 
ihnen     entsprechenden     Bewegungsgröfsen     in    der    Hirnrinde 
5,  =  -Bg  =  Ä,   sein  u.  s.  w.,  was  nur  möglich  wäre,  wenn  sie 
alle  an  völlig  gleich  gebauten  Stellen  vorhanden  wären,   oder, 
da  es  solche  gleichen  Stellen  in  idealer  Vollendung  in  der  Hirn- 
rinde  nicht  giebt,   wenn  sie  alle  an   derselben  Stelle  localisirt 
wären.    Dann  aber  wäre  wieder  nicht  abzusehen  wie  von  B^^  B^^ 
und  -Bg   im  absteigenden  Reflexbogen  ungleiche  Muskelactionen 
ausgelöst  werden  sollten,   welche  wir  doch  jeden  Augenblick  zu 
beobachten  in  der  Lage  sind.^    Schon  in  der  Thatsache  der  ver- 
schiedenen Localzeichen  also  liegt  eine  Gewähr  für  die  Richtig- 
keit der  bisher  entwickelten  Theorie.    Erst  also  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Localzeichen   wird   die  Zuordnung  und  unlös- 
liche Association  der  einzelnen  Elementarempfindungen  mit  ihren 
charkteristischen  Motilitätswerthen  möglich. 

Für  das  Auge  können  wir  den  Mechanismus  dieser  Zu- 
ordnung noch  etwas  genauer  verfolgen. 

Wenn  wir  den  widerspruchsvollen  Angaben  der  Autoren 
über  die  Vertheilung  des  Lichtsinnes  im  Gesichtsfelde  kein  Ge- 
wicht beilegen  dürfen,  so  ist  doch  eine  allmähliche  Zunahme  der 
Sehschärfe  von  der  Peripherie  nach  dem  Centrum  für  jeden 
Meridian  festgestellt,  und  das  Gleiche  gilt  für  den  Farbensinn. 
Mit  anderen  Worten:  Die  Empfindungen,  welche  die  einzelnen 
Elemente  eines  Netzhautmeridianes  vermitteln,  sind  um  so 
schärfer  betont  (umsomehr  optimale)  je  näher  sie  dem  Centrum 

*  Der  Satz,  dafs  2  gleiche  Bewufstseinsgröfsen  nur  in  derselben  Hirn- 
stelle ihr  mechanisches  Correlat  haben  können,  ist  ein  Analogon  zu  dem 
inaljTtischen  Satze,  dafs  wenn  2  nach  steigenden  Potenzen  von  x  geordnete 
tmendJiche  Reihen  einander  gleich  sind,  also  f  (x)  =  a  -^  bx  -\-  cx'^  .  .  .  . 


=  (.  -i-  /9x  -f-  yx^  .  .  .,  dann  auch  «  =  <■•,  6  =  .^  ..  . 


14^ 


212  E'  Storch, 

liegen.  Bewegt  sieh  daher  ein  Reiz  auf  einem  Meridiane  nach 
der  Macula  hin,  so  nimmt  die  Empfindung  successive  zu,  und 
zwar  in  jedem  kleinsten  Theilchen  der  Bewegung  um  den  denk- 
bar gröfeten  Betrag.  Jedes  Abweichen  von  dem  Meridian  würde 
die  Empfindungszunahme  verlangsamen.  Nun  wissen  wir,  dals 
sich  nach  dem  LiSTDfo'schen  Gesetze  die  Macula  stets  auf  einem 
Meridiane  nach  der  Stelle  des  Reizes  begiebt  und  verstehen 
diese  Art  der  Bewegung  als  positiven  Reflex,  der  schon  im  Be- 
wegungsdifferential  sein  Princip  deuthch  hervortreten  läfeL  Es 
ist  begreiflich  wie  ungeheuer  fest  sich  gerade  bei  dieser  Ein- 
richtung die  Association  zwischen  M  und  E  gestalten  mufs,  so 
dafs  unweigerlich  bei  jedem  E  das  zugehörige  M  mittönt,  gleich- 
gültig, ob  die  dem  M  entsprechende  Reflexbewegung  wirkUch 
ausgeführt  wird  oder  nicht.  ^  ^ 

Zugleich  mufs  aber  bemerkt  werden,  dafs  eine  andere  wenn- 
gleich weniger  feste  Zuordnung  auch  zu  Stande  kommen  könnte 
bei  anderer  Anordnung  der  Localzeichen.  Ich  habe  die  Möglich- 
keit dieser  Association  nachgewiesen  unter  der  Voraussetzung 
bestimmter  Localzeichen  überhaupt,  nicht  unter  der  bestimmten 
ihrer  natürUchen  Anordnung.  Bewegte  sich  z.  B.  aus  irgend 
einem  Grunde  nicht  der  Kernfleck,  sondern  eine  andere  Stelle, 
aber  stets  dieselbe  auf  dem  Meridian  nach  dem  Orte  des  Reizes 
hin,  so  könnte  sich  eine  neue  Reihe  psychischer  Werthe  bilden, 
z.  B.  von  der  Formel  ilfi  -f-  jE«  + 1 ,  i¥2  -f-  £„  +  2 ,  ^a  +  -E'«  +  3  u.  s.  w. 

Die  Festigkeit  dieser  Association  wird  nun  noch  durch  einen 
ganz  besonderen  Umstand  erhöht.  Das  Ende  der  Reflexbe- 
wegung nämlich,  das  mit  dem  Optimum  der  Empfindung  zu- 
sammenfällt, erhält  einen  ganz  besonderen  psychischen  Accent 
als  Correlat  des  Bewegungsabschlufses.  Dieser  Accent  kommt 
nur  als  die  Beendigung  einer  Spannung,  als  ein  Gefühl  der 
Sättigung  oder  Befriedigung  zum  Bewufstsein.  Er  findet  sich 
übrigens  bei  jeder  Eigenthätigkeit  der  Psyche,  d.  h.  einer  solchen, 
die    nicht   auf   eine    einfache   Energieaufnahme  zurückzuführen 


^  Es  leuchtet  ein,  dafs  diese  Einrichtung  eine  gewisse  Analogie  bietet 
zu  dem,  was  man  bei  Pflanzen  und  niederen  Thieren  Phototropismus  ge- 
nannt hat.  Dieser  treibt  z.  B.  viele  Insecten  zum  Hineinfliegen  in  die 
Flamme.  Dafs  es  auch  Menschen  giebt,  bei  denen  der  Lichthunger,  wenn 
auch  nicht  zur  Selbstvernichtung,  so  doch  zur  Erblindung  führt,  lehrt  jede 
Sonnenfinsternifs.  Einzelne  Individuen  starren  dabei  so  lange  in  die  Sonne, 
bis  ihre  Macula  verbrennt. 


lieber  die  mechaniscJien  Correlate  van  Raum  und  Zeit  213 

ist,   sondern  aufgespeicherte  Energiemengen  umsetzt.    Ob  diese 
Thätigkeit  reflectorisch  im  engeren   Sinne  ist,   ob  sie  in  einem 
verwickelten  Denkprozessö   besteht,    ist   principiell   gleichgültig. 
Man   kann   ihn   bei   gesteigerter  Aufmerksamkeit   wahrnehmen, 
wenn   man   z.  B.   die  Fixation   eines   peripheren  Gesichtsreizes 
ausführt,   oder  wenn  man  bei  geschlossenen  Augen  die  Spitzen 
beider  Zeigefinger   aus   gröfserer  Entfernung   einander   bis  zur 
Berührung  nähert;  er  kann  eine  ungeheure  Höhe  erreichen  bei 
schwierigen   Denkoperationen  ^    und    dürfte    dem   ihm   voraus- 
gehenden  Grefühl  der  Spannung,   dem  Gradmesser  psychischer 
Thätigkeit  parallel  gehen.    Friedmann  bringt  diesen  Affect  mit 
einem  Zustande  chemischer  Sättigung  im  Gehirn  in  Verbindung 
und  macht  ihn  verantwortlich  für  die  Festigkeit  gewisser  Asso- 
ciationen. 

Selbst  auf  die  Gefahr  hin  etwas  abzuschweifen  möchte  ich 
hier  eine  pathologische  Beobachtung  einflechten,  welche  dazu 
dienen  soll  diesen  Affect  zu  veranschaulichen.  Denn  für  ge- 
wöhnlich beachten  wir  ihn  nicht,  so  innig  ist  er  mit  der  Wahr- 
nehmung verknüpft.  Er  ist  im  Bewufstsein,  kann  aber  von  der 
Wahmehmimg  selbst  nicht  getrennt  werden,  der  er  eine  be- 
stimmte Färbung  giebt. 

Eine  etwa  40  jährige  Frau  klagte  von  ihrer  Mädchenzeit  an 
die  Gegenstände  nicht  mehr  so  wahrzunehmen  wie  früher.  Sie 
sah  aber  und  hörte,  fühlte  und  schmeckte  ausgezeichnet,  so  dafs 
die  eingehendste  Prüfung  irgend  einen  objectiven  Ausfall  nicht 
nachweisen  konnte.  Ihre  Sinnesorgane  waren  intact,  ihr  Ge- 
«lächtnifs  besser  als  beim  Durchschnittsmenschen.  Sie  hatte  nur 
Volksschulbildung  genossen  und  vermochte  nicht  sich  besonders 
gewandt  auszudrücken.  Manchmal  sei  es  ihr  als  ob  sie  gar  nicht 
selber  sehe,  fühle  oder  höre.  Sie  fühle  ihren  ganzen  Körper 
nicht,  nicht  ihre  Augen,  ihre  Ohren.  Es  war  im  Ganzen  ein 
recht  qualvoller  Zustand,  der  sehr  an  den  des  bekannten 
(  HARCOT'schen  Seelenblinden  erinnert,  nur  dafs  bei  letzterem 
sich   das    Gefühl   des   Nicht-satt-werdens  auf   die    Gesichtswahr- 


*  Von  Nbwton  erzählt  man,  dafs  er  bei  der  Berechnung  der  Be 
^(  Iileunignng  des  Mondes  in  seiner  Bahn,  als  er  voraussehen  konnte,  dafs 
«liese  Beschleunigung  die  von  seiner  Theorie  geforderte  Function  der  Erd- 
H^hwere  wäre,  vor  Erregung  die  letzten  Zahlen  kaum  mehr  hinschreiben 
konnte. 


214  E,  Storch. 

nehmungen  beschränkte,  bei  unserer  Patientin  aber  auf  allen 
Sinnesgebieten  zu  Tage  trat. 

Es  dürfte  nicht  zu  kühn  sein,  wenn  man  das  Grefühl  des 
Mangelhaften,  welches  diese  Patientin  bei  ihren  Wahrnehmungen 
schildert,  auf  den  thatsächlichen  Ausfall  einer  normalerweise 
vorhandenen,  aber  ganz  in  der  Sinneswahrnehmung  aufgegangenen 
psychischen  Componente  deutet,  nämlich  jenes  Accentes,  welchen 
das  Zusammenfallen  der  optimalen  Empfindung  mit  der  Be- 
endigung der  Motilitätswerthe  hervorbringt.  Dieser  Accent  wäre 
identisch  mit  einem  Entspannungsaffect.  Unsere  Patientin  steht 
auf  der  Grenzscheide  zwischen  Neurasthenie  und  Geisteskrank- 
heit und  es  würde  sehr  gut  mit  unseren  Vorstellungen  von 
neurasthenischer  Gehirnaffection  übereinstimmen,  wenn  die  Ent- 
spannung und  der  sie  begleitende  Affect  ausbUebe. 

Dasselbe  Manco  wie  bei  der  Wahrnehmung  empfindet 
Patientin  auch  bei  der  Reproduction ,  und  zwar  leidet  sia  an 
einem  starken  Reproductionszwange,  vielleicht  gerade  deshalb, 
weil  keine  ihrer  Wahrnehmungen  einen  befriedigenden  Abschlufe 
findet.  So  kommt  ihr  z.  B.  die  Erinnerung  an  einen  gedeckten 
Tisch.  Unter  steigender  Angst  sucht  sie  das  Gesichtsbild  mit 
sinnUcher  Deutlichkeit  vor  ihr  geistiges  Auge  zu  rufen.  Aber 
umsonst,  sie  findet  eine  unvollkommene  Art  der  Befriedigung 
erst,  wenn  sie  sich  den  wirklichen  Anblick  eines  gedeckten 
Tisches  verschafft. 

Einen  ganz  ähnlichen  Zustand  finden  wir  bei  gewissen  Zu- 
ständen von  Melancholie,  nur  ist  hier  die  Störung  eine  viel 
intensivere.  Diese  Kranken  klagen,  dafs  sie  überhaupt  nichts 
mehr  empfinden,  dafs  sie  längst  gestorben  seien;  dabei  beant- 
worten sie,  wenn  auch  zögernd,  alle  Fragen;  ihre  Bewegungen 
und  Aeufserungen  zeigen,  dafs  sie  alles  wahrnehmen.  Auch  hier 
dürfte  der  in  Rede  stehende  Affect  fehlen,  welcher  bei  jeder 
normalen  Wahrnehmung  den  ICnoten  schürzt  zwischen  der 
Elementarempfindung  —  dem  Correlat  der  Energieaufnahme, 
und  dem  Motilitätswerth,  der  Eigenthätigkeit  der  Psyche.  Ist 
dieser  Knoten  gelöst,  so  stehen  wir  unserem  psychischen  Vor- 
gängen als  etwas  Fremdem  gegenüber. 

So  haben  wir  in  groben  Zügen  für  alle  Sinnesorgane,  etwas 
eingehender  für  das  Auge  nachgewiesen,  dafs  sich  zu  jeder 
Elementarempfindung  nothwendigerweise  eine  Componente  ge- 
sellt,  die  eine   psychische  Repräsentation  der  Muskelbewegung 


Ufber  die  mechanischen  Correlate  von  Baum  und  Zeit  215 

ist.    Von  einem  Standpunkte  aus  ist  diese  Bewegung  nur  ab- 
hängig von  dem  Orte  der  Reizung,  vom  Raum,  sie  ist  in  der 
That   eine   Umsetzung   der  Raumwerthe   in  Bewegungsgröfsen, 
und  vermag  in  dieser  Eigenschaft  allein  unserem  Bewufstsein 
Kunde  zu  geben  vom  Raum.    Eine  andere  derartige  Umsetzung 
von  Raumwerthen   in  Bewegungsgröfsen,   und  damit  in  Reize 
giebt   es   nicht     Von   einem    anderen   Standpunkte   sind   diese 
Reflexbewegungen    eine    Eigenthätigkeit    des    Organismus;    ihr 
psychisches   Correlat  ist  die  Raum  Vorstellung ,   ohne  welche  es 
keine   Wahrnehmung  giebt,    und   deshalb   liegen   alle   Objecte 
unserer  Sinneswahmehmung  im  Raum. 

Die  Psyche  schafft  Zeit  und  Raum  als  Medium  unserer 
Wahrnehmungen.  Einen  treffenderen  Ausdruck  als  den  der 
^Formen"  reiner  Sinnlichkeit  hätte  Kant  dafür  nicht  finden  können. 
Bezeichnen  wir  diese  Association  der  Empfindungen  mit  den 
Raumwerthen  als  Wahrnehmungen,  so  ist  klar,  dafs  jede  Wahr- 
nehmung etwas  Räumliches  haben  mufs. 

Aber  die  einzelnen  Sinneswahrnehmungen  sind  mit  Hinsicht 
auf  die  Bestimmtheit  ihrer  Räumlichkeit,  wie  schon   angedeutet, 
sehr  verschieden.    Am   feinsten   localisiren   wir   mit  dem  Auge 
und  der  Haut    Das  hängt  eben  von  der  Beweglichkeit  dieser 
[     Organe  und  der  festen  Zuordnung  ihrer  Localzeichen   zu  ganz 
bestimmten  Motilitätswertheii  ab.    Besäfsen  wir  ein  Gehörorgan, 
das   anstatt  unbeweglich  in   den   festesten  Schädelknochen  ein- 
gebettet  zu   sein,  frei  beweglich  wäre  z.  B.  an  der  Spitze  eines 
Insectenfühlers,  und   ausgerüstet  mit  einer  Stelle  gröfster  Hör- 
schärfe,  welche   sich  stets  auf  dem  kürzesten  Wege  nach  dem 
Reize  hinbewegte,  so  würden  wir  wahrscheinlich  ein  räumliches 
Gehörsbild  der  Welt  besitzen;   doch   das  geht  über  unser  Vor- 
stellungsvermögen hinaus. 

Nun  begreifen  wir  auch,  warum  die  HERiNo'sche  Theorie 
vom  Ortsinne  allen  praktischen  Anforderungen  genügt.  Sobald 
nämlich  die  unlösliche  Verbindung  der  Netzhautelemente  mit 
den  myogenen  Raumwerthen  zu  Stande  gekommen  ist,  brauche 
ich  mich  in  der  That  nicht  darum  zu  kümmern,  ob  diese  Raum- 
werthe mittelbar  oder  unmittelbar  durch  Stäbchen  und  Zapfen 
ausgelöst  werden,  die  Beschreibung  der  optischen  Thatsachen 
wird  dadurch  nicht  berührt  werden.  Allerdings  war  ich  bis  vor 
Kurzem  der  Ueberzeugung,  es  gäbe  einen  Punkt,  wo  das  physio- 
logische Experiment  den  Irrthum  Hering's  aufdecken  könnte. 


216  E,  Storch. 

Nach  der  Theorie  der  myogenen  Raumwerthe  ist  zu  erwarten, 
dafs  die  Wahrnehmung  eines  leuchtenden  Punktes,  dessen  Bild 
auf  der  Peripherie  eines  Elementes  entsteht,  sich  unterscheidet 
von  der  des  im  Mittelpunkte  entstehenden  Bildchens.  Nach 
Hering  müfsten  beide  Wahrnehmungen  die  gleichen  sein.  Legt 
man  als  Maafs  der  Sehschärfe  den  Winkel  zu  Grunde,  unter 
welchem  die  Verbindungslinie  zweier  gerade  noch  gesondert 
wahrnehmbarer  Punkte  gesehen  wird,  so  kommt  man  auf  die 
bekannte  Winkelminute  v.  Helmholtz's.  In  dieser  Beziehung 
verlangen  beide  Theorien  denselben  Werth:  Zwischen  den 
Schenkeln  dieses  Winkels  mufs  vom  Knotenpunkt  des  Auges 
aus  gesehen  ein  Kernfleckelement  bequem  Platz  finden. 

Bekanntlich  hat  nun  Hering  nachgewiesen,  dafs  beim  bin- 
oculären  Sehact  alle  Lichtpunkte,  welche  auf  identische  Netz- 
hautstellen fallen,  einfach  und  in  einer  Ebene,  der  Kemfläche 
des  Sehraums  gesehen  werden.  Punkte,  die  auf  nahezu  identi- 
schen Stellen  sich  abbilden,  werden  auch  einfach  gesehen,  treten 
aber  körperlich  vor  oder  hinter  die  Kemfläche.  Nun  ist  ja  klar, 
dafs  bei  Hering  zwei  identische  Punkte  gleichbedeutend  sein 
müssen  mit  zwei  identischen  Netzhautelementen,  mit  anderen 
Worten,  dafs  ein  Lichtpunkt  einen  Tiefenwerth  erst  erhalten 
kann,  wenn  seine  Querdisparation  im  HERiNo'schen  Einauge 
gleich  der  Gröfse  eines  Netzhautelementes  wird.  Doch  wufste 
man  schon  lange,  dafs  eine  Tiefenwahmehmung  schon  bei  weit 
geringerer  Querdisparation  auftritt,  und  dies  verlangt  die  myo- 
gene  Raumtheorie,  denn  nach  ihr  sind  identische  Punkte  durch- 
aus nicht  von  der  Gröfse  der  Netzhautelemente  abhängig. 

Nun  hat  Heine  ganz  neuerdings  gezeigt,  dafs  die  Sehschärfe 
und  die  Tiefenwahrnehmung,  wenn  man  beide  unter  vergleich- 
baren Bedingungen  prüft,  recht  gut  harmoniren.  FreiUch  fehlt 
die  Prüfung  mit  Punktobjecten.  ^ 

So  lange  diese  aussteht,  haben  wir  im  Bereich  der  physio- 
logischen Breite  keinen  Gegenbeweis  gegen  die  HERiNo'sche 
Auffassung. 

Auch  auf  pathologischem  Gebiete  gab  es  bisher  keine 
zwingenden  Beobachtungen,  die  gegen  Hering  gesprochen  hätten, 
denn  die  wenigen  Fälle  von  Seelenblindheit,  welche  wir  kennen, 
beruhen  keineswegs  auf  dem  Ausfall  der  optischen  Raumwerthe. 

^  Gräfe^n  Archiv  für  Ot/hthalmologie  51  (1):  „Sehschärfe  und  Tiefen- 
Wahrnehmung". 


lieber  die  mechanischen  Correlate  von  Raum  U7id  Zeit  217 

In  dieser  Beziehung  sind  die  Fälle  cerebraler  Tastlähmung  viel 
belehrender;  hier  fehlen  in  der  That  die  tactilen  Raumwerthe 
bei  erhaltener  Tastempfindung.  Aber  diese  Analogie  ist  noch 
keiQ  Beweis.  Diesen  bringt  erst  der  von  Bielschowski  be- 
schriebene Fall  monoculärer  Diplopie,  welcher  im  Archiv  für 
Ophthalmologie  1897  veröffentlicht  ist. 

Der  Fall  ist  also  von  principieller  Bedeutung: 

Bei  einem  18  jährigen  Techniker,  der  von  Jugend  auf  mit 
dem  linken  schwachsichtigen  Auge  nach  einwärts  schielte,  trotz- 
dem aber  einen  leidlichen  binoculären  Sehact  besafs,  wurde 
wegen  einer  Erkrankung  die  Enucleation  des  rechten  Auges 
Dothwendig.  Als  er  sich  8  Tage  nach  der  Operation  zur  Be- 
sichtigung vorstellte,  machte  er  die  Angabe,  dafs  er  nunmehr 
mit  seinem  linken  Auge  Alles  doppelt  sehe;  links  und  etwas 
miterhalb  von  dem  fixirten  Gegenstande  befände  sich  ein  „Trug- 
bild" von  etwas  matterem  Aussehen.  Forderte  man  ihn  auf 
dieses  Trugbild  zu  fixiren,  so  machte  sein  Auge  eine  kleine, 
etwa  5  ^  betragende,  Einstellbewegung  nach  links  und  nun  ge- 
wann der  gesehene  Gegenstand  an  Deutlichkeit.  Mit  der  Zeit, 
um  dies  gleich  vorweg  zu  nehmen,  empfand  Patient  einen  immer 
gröfseren  Zwang,  auf  das  Ti'ugbild  einzustellen.  Liefs  man  ihn 
das  Flammenbild  im  Augenspiegel  fixiren,  so  beobachtete  man 
bei  der  Aufforderung,  das  Trugbild  ins  Auge  zu  fassen,  dafs  sich 
die  Macula  von  der  Schläfenseite  her  einstellte. 

Diese  ganz  einzigartigen  Erscheinungen  veranlafsten  den 
Verfasser,  Hering  um  eine  ausführUche  Untersuchung  des  Falles 
zu  bitten,  und  dieser  stellte  einwandsfrei  fest,  dafs  irgend  eine 
physikalische  Ursache  für  die  Entstehung  zweier  Netzhautbilder 
auszuschliefsen  sei,  sei  es,  dafs  diese  in  einer  doppelten  Pupillen- 
bildung oder  in  sprungweiser  Veränderung  der  Brechungs- 
coefficienten  der  Augenmedien  gesucht  wurde. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dafs  auf  der  Netzhaut  von 
jedem  Gegenstande  niu*  ein  Bild  entworfen  wurde. 

Die  Untersuchung  stellte  ferner  fest,  dafs  der  Sehwinkel, 
unter  dem  die  Verbindungslinie  der  Doppelbilder  erschien,  für 
aUe  Entfernungen  annähernd  derselbe  war,  im  Mittel  5^  28'. 

Wählte  man  als  Object  eine  kleine,  weifse,  kreisförmige 
Scheibe  von  wenigen  Millimetern  Durchmesser,  so  gelang  es, 
wenn  man  von  der  Gesichtsfeldperipherie  her  eine  zweite  eben 
solche  Scheibe   einführte,    das   natürliche  Bild   dieser  mit   dem 


218  E.  StorcL 

Trugbild  der  ersteren  zur  Deckung  zu  bringen,  und  umgekehrt 
Nahm  man  hingegen  zwei  längere  schmale  Streifen,  so  gelang 
es  bei  paralleler  Lage  derselben  nicht,  eine  genaue  Deckungslage 
zu  erreichen.  Das  „Trugbild"  des  einen  und  das  „natürliche** 
Bild  des  anderen  schnitten  sich  dann  unter  einem  annähernd 
Constanten  Winkel  von  etwa  13  ^,  Dementsprechend  gab  Patient 
auch  an,  dafs  das  Trugbild  eines  einzelnen  Streifens  gegen  diesen 
Streifen  selbst  stets  geneigt  erscheine,  und  zwar  divergirten  die 
Bilder  bei  senkrechtem  Object  nach  oben. 

Interessant  waren  noch  folgende  Beobachtungen :  Das  Trug- 
bild einer  weifsen  Scheibe  auf  schwarzem  Grunde  war  dunkler, 
dasjenige  einer  schwarzen  auf  weifsem  Grunde  heller  als  das 
natürliche.  Das  Trugbild  einer  grauen  Scheibe  auf  farbigem 
Grunde  erschien  wie  durchsetzt  von  der  Farbe  der  Umgebung, 
während  das  natürliche  Bild,  wie  man  nach  den  Gesetzen  des 
simultanen  Contrastes  erwarten  mufste,  die  Complementärfarbe 
zeigte. 

Legte  man  eine  blaue  und  eine  gelbe  Scheibe  so  vor  den 
Patienten,  dafs  sich  ein  Trugbild  und  ein  natürliches  Bild 
deckten,  so  zeigte  die  mittelste  die  gleichen  Erscheinungen, 
welche  wir  am  Stereoskop  oder  Haploskop  beobachten,  wofern 
wir  dem  einen  Auge  ein  blaues,  dem  anderen  ein  gelbes  Object 
darbieten:  den  Wettstreit  der  Gesichtsfelder.  Die  mittlere 
Scheibe  erschien  bald  blau,  bald  gelb,  oder  auch  in  einem  neu- 
tralen Grau. 

Wie  wir  gesehen  haben,  wendete  Patient  bei  der  Aufforde- 
rung, das  Trugbild  zu  fixiren,  das  Auge  so,  dafs  sich  der  Gegen- 
stand auf  der  anatomischen  Macula  abbildete.  Dann  aber  glaubte 
«r  links  am  Gegenstande  vorbei  zu  sehen.  Bemerkenswerther- 
weise beantwortete  er  die  Frage,  warum  er  denn  das  links  und 
unten  gelegene  Doppelbild  als  Trugbild  von  dem  Gegenstände 
unterscheide,  dahin,  „dafs  er  früher  mit  dem  anderen  Auge  so 
gesehen  hätte",  eine  Aeufserung,  die  doch  nur  den  Sinn  haben 
kann,  dafs  er  jetzt  beim  Fixiren  eines  Gegenstandes  das  Gleiche 
zu  thun  glaube  wie  früher.  Dieses  Gefühl  werden  wir  kaum 
auf  etwas  Anderes  beziehen  können,  als  auf  die  psychische  Re- 
präsentation der  Augenmuskelthätigkeit,  welche  bei  der  neuen 
Fixirstellung  des  Auges  thatsächlich  genau  gleich  der  vor  der 
Operation  geleisteten  Fixationsthätigkeit  w^ar.  Der  neue  Kern- 
fleck des  linken  Auges  war  nach  innen  verschoben.    Denkt  mau 


Uel>er  die  mechanischen  Correlate  von  Baum  und  Zeit,  219 

sich  bei  der  Buhelage  der  Schielstellung  die  rechte  Retina  durch 
parallele  Verschiebung  mit  der  linken  zur  Deckung  gebracht,  so 
fiel  die  rechte  Macula  auf  diesen  neuen  Kernfleck. 

Bei  etwa  einjähriger  Beobachtungsdauer  traten  wesentliche 
Veränderungen  in  den  geschilderten  Erscheinungen  nicht  ein; 
die  Sehschärfe  besserte  sich  allmählich,  während  in  dem  Maafse, 
wie  das  natürliche  Bild  immer  undeutlicher  wurde,  der  Zwang, 
das  Trugbild  zu  fixiren,  zunahm.  Immer  aber  hat  er  beim 
Fixiren  des  Trugbildes  noch  das  Gefühl,  am  Gegenstande  vorbei 
zu  sehen. 

Fügen  wir  hinzu,  dafs  der  Kranke  sich  dunkel  erinnert,  in 
früher  Jugend  eine  Periode  des  Doppelsehens  gehabt  zu  haben, 
ßo  müssen  wir  annehmen,  dafs  er  zuerst  einen  guten  binoculären 
Sehaot  besafs,  ehe  er  zu  schielen  begann.  Er  sah  die  Gegen- 
stände, welche  sich  bei  symmetrischen  Augenstellungen  auf 
seiner  linken  Macula  abbildeten,  gerade  vor  sich  auf  der  senk- 
rechten Halbirungslinie  beider  Knotenpunkte  und  vermochte  sie 
als  räumlich  nach  allen  drei  Dimensionen  ausgedehnte  Objecte 
wahrzunehmen.  Die  Correspondenz  seiner  Netzhäute  war  eine 
vollkommene. 

Durch  den  sich  entwickelnden  Schielact  wurde  das  Einfach- 
sehen mit  identischen  Netzhautstellen  eine  Unmöglichkeit.  Die 
Bildchen  derselben  Objecte  lagen  nunmehr  auf  nicht  identischen 
Stellen  und  muTsten  an  verschiedenen  Orten  erscheinen.  An 
identischen  Netzhautstellen  aber  lagen  ungleiche  Bilder,  die  zu 
einem  einheitlichen  Gesichtseindruck  unter  keiner  Bedingung 
verschmolzen  werden  konnten. 

Dieser  Zustand,  der  der  Theorie  nach  bei  allen  Schielenden 
einmal   existirt  haben  mufs,   würde  die  Orientirung  im  Räume 
natürlich  sehr  erschweren.    Es  war  bis  vor  Kurzem  strittig  und 
dürfte  Äuch  jetzt  noch  nicht  spruchreif  sein,   in  welcher  Weise 
dieser   Uebelstand    behoben   wird.    Für  den   streng  unilateralen 
Strabismus   aber  dürfte  der  hier  erwähnte  Fall  den   zwingenden 
Beweis  bringen,   dafs  aus   Gründen,    die   uns  hier  nicht  weiter 
interessiren,  die  Eindrücke  von  den  identischen  Stellen  des  nicht 
fixirenden  Auges  unterdrückt  werden  können,   während  sich  zu- 
gleich eine  neue  Correspondenz  ausbildet  zwischen  den  Punkten 
beider  Netzhäute,   welche   die  Bilder  d^r   gleichen  Gegenstände 
auffangen;  wenigstens  gilt  das  für  einen  gröfseren  mittleren  Be- 
zirk der  Netzhaut. 


220  E'  Storch. 

Der  Beweis  hierfür,  dafs  sich  an  Stelle  der  angeborenen 
anatomisch  begründeten  Correspondenz  eine  nene  unter  den  ge- 
nannten Bedingungen  entwackeln  kann,  ist  heutzutage  schon 
mehrfach  geliefert  worden.  Läfst  man  einen  Menschen  von 
normalem  binoculären  Sehact  einäugig  einen  glühenden  hori- 
zontalen Faden  in  seiner  Mitte  fixiren,  während  man  zugleich 
diese  fixirte  Stelle  durch  den  Finger  verdeckt,  dreht  darauf  den 
Faden  um  seinen  Mittelpunkt  in  die  senkrechte  Lage,  und  l&Tst 
ihn  nun  von  Neuem  mit  dem  anderen  Auge  fixiren,  so  nimmt 
die  Versuchsperson  nach  Schlufs  beider  Augen  folgendes  Nach- 
bild wahr:  Ein  Kreuz,  dessen  senkrechter  Schenkel  durch  die 
dunkel  bleibende  Mitte  des  wagerechten  geht  Genau  so  ver- 
halten sich  auch  Leute  mit  Augenmuskellähmungen  und  die 
meisten  Schielenden.  In  gewissen  Fällen  aber  geht  der  verticale 
Faden  des  Nachbildes  nicht  durch  die  dunkle  Stelle  des  hori- 
zontalen, sondern  mehr  weniger  seitlich  davon.  Es  handelt  sich 
dann  immer  um  Schielende.^  Wie  gesagt,  sind  die  Bedin- 
gungen, unter  denen  diese  Erscheinung  auftritt,  noch  nicht 
genau  bekannt. 

In  solchen  Fällen  hat  also  jedes  Element  der  Netzhaut  des 
schielenden  Auges  seinen  nach  Hebing  angeborenen  Raumwerth 
vertauscht  mit  einem  anderen  nicht  angeborenen,  also  erworbenen. 
Die  HERiNG'sche  Theorie  läfst  aber  die  Möglichkeit  einer  Er- 
werbung von  Raumwerthen  ausgeschlossen  erscheinen;  denn  ist 
der  Raumwerth  thatsächlich  eine  Function  des  Netzhautelementes, 
so  müfste  letzteres  in  Fällen  von  Pseudocorrespondenz  eine  Ver- 
änderung erfahren.  Das  ist  sehr  unwahrscheinlich.  Wir  wissen 
wenigstens  nichts  davon;  aber  wir  wissen  ganz  bestimmt,  dafs 
der  Bewegimgsapparat  des  Auges  sich  verändert  hat  und  müssen 
in  Folge  davon  veränderte  Motilitätswerthe  fordern. 

Noch  deutlicher  als  diese  Beobachtungen  zeigt  der  Fall  von 
BiELscHOwsKi,  dafs  die  Raumwerthe  unserer  Sehdinge  nicht  von 
den  Netzhautelementen  geliefert  werden  können. 

Patient  erhält  von  jedem  Lichtpunkte  im  Raum  nm:  ein 
Netzhautbild,  aber  er  nimmt  zwei  ihrem  Lichtwerthe  wie  Raum- 
werthe nach  verschiedene  Sinneseindrücke  wahr.    Der  Lichtpunkt^ 

*  Dafs  diese  so  selten  monoculär  doppelt  sehen  —  man  verfügt  audser 
dem  B. 'sehen  Fall  nur  über  wenige  Beobachtungen  —  dürfte,  wie  des 
Weiteren  klar  werden  wird,  mit  der  Gröfse  des  Schielwinkels  zusammen- 
hängen. 


lieber  die  mechanischen  Cmrelute  von  Raum  und  Zeit.  221 

den  er  zu  fixiren  meinte,  —  dem  wirklichen  Gegenstande  ent- 
^»rechend,  erregte  jene  retinalen  Elemente,  welche  vor  der 
Operation  die  gleichen  Bilder  empfingen  wie  der  Kernfleck 
seines  fixirenden  Auges.  Diese  Elemente  vermittelten,  wie  es 
nach  Hebino  sein  soll,  einen  Lichtfleck  im  Raum,  wenn  sie  ge- 
reizt wurden.  Dafs  ihre  Raumwerthe  erworbene  waren,  ist  schon 
enrähnt.  Zugleich  aber  mit  der  Reizung  dieser  Elemente  tritt 
noch  eine  andere  Lichtempfindung,  die  des  „Trugbildes"  im 
BewuGstsein  aul  Würde  diese  wirklich  das  psychische  Correlat 
des  dioptrischen  Netzhautbildchens  sein,  so  müfste  man  den 
Begriff  des  Sinneselementes  fallen  lassen,  denn  der  Annahme, 
daCs  etwa  durch  Irradiation  auch  andere  Elemente  gereizt  würden, 
steht,  abgesehen  von  dem  anatomischen  Bau  der  Netzhaut,  zu 
yiel  entgegen.  Jedes  Element  würde  zwei  Lichtempfindungen 
Termitteln,  ja  noch  mehr,  diese  beiden  Lichtempfindungen  wären 
nicht  nur  ihrer  Intensität,  sondern  auch  ihrer  QuaUtät  nach  ver- 
schieden. Der  Schlufs  ist  unabweislich,  dafs  höchstens  ein  Licht- 
werth,  und  zwar  der  zum  „wahren"  Bilde  gehörige  einer  Reizung 
der  Retina  entspricht. 

Wir  dürfen  also  die  Ursache  des  Trugbildes  nicht  in  den 
Xetzhautelementen  suchen;  denn  dann  müfsten  wir  annehmen, 
dafs  entweder 

ein   Netzhautelement   eine  Doppelwahrnehmung   auslöst, 
—  das  widerspricht  dem  Begriff  des  Elements  — 
oder 

dafs  ruhende,  nicht  gereizte  Sinueselemente  Wahrneh- 
mungen vermitteln  können  —  das  ist  ein  Unsinn. 
Ohne  Schwierigkeit  aber  löst  die  myogene  Theorie  der 
Raumwerthe  alle  Widersprüche.  Bevor  Patient  schielte,  hatte 
jedes  Netzhautelement  seinen  physiologischen  Raumwerth,  mit 
dem  es  in  Folge  der  aufserordentlich  festen  Association  auch 
dann  noch  verbunden  blieb,  als  die  Muskelbewegungen,  welche 
ihn  geschaffen  hatten,  ganz  andere  geworden  waren.  Als  nun 
Patient  zu  schielen  anfing,  war  die  Möglichkeit  gegeben,  zu 
jedem  Element  einen  neuen  Motilitätswerth  zu  schaffen,  um  so 
eher,  wenn  wir  die  hier  berechtigte  Annahme  eines  Strabismus 
concomitans  unilateralis  machen.  Die  Sinneswahmehmung  des 
linken  Auges  können  wir  nunmehr  mit  £+ilf-j-m  veranschau- 
lichen. Bei  Ausbildung  dieser  neuen  Association  ist  Folgendes 
zu  beachten.     Die  Bewegungen  des   Hnken  Auges   waren  keine 


222  E.  Storch. 

selbständigen;  sie  standen  dauernd  und  überwiegend  unter  der 
Herrschaft  des  rechten.  Die  reflectorischen  oder  gewollten  Im- 
pulse, welche  retinale  Erregungen  auslösten,  kamen  alle  von 
rechts  nach  dem  Bewegungsapparat  des  Auges  am  Boden  des 
Aquäducts;  die  linksgelegenen  Kerne  wurden  nur  durch  den 
commissuralen  Apparat  beschickt,  bezw.  durch  Vermittelung  der 
Coordinationscentren  im  Höhlengrau.  Nennen  wir  die  Stelle  der 
linken  Retina,  welche  in  der  neuen  Primärstellung  des  Schielen- 
den, der  primären  Schiellage,  das  Bild  desselben  Sternes  auffing, 
wie  der  Kernfleck  des  rechten,  die  Pseudomacula,  so  müssen 
deren  Bewegungen  im  Wesentlichen,  wenigstens  wenn  sie  eine 
gewisse  Grenze  nicht  überschritten,  gleich  denen  der  rechten 
waliren  Macula  gewesen  sein.  Freilich  mit  gewissen  Einschrän- 
kungen, denn  diese  Pseudomacula  bewegte  sich  aus  ihrer  Primär- 
Stellung  heraus  nicht  in  gröfsten  Kugelkreisen,  der  geometrische 
Ort  sämmtlicher  Drehungsaxen  des  Auges  in  die  ersten  Secundär- 
Stellungen  war  nicht  die  Aequatorialebene.  Es  ist  hier  über- 
flüssig, auf  die  unter  gewissen  Voraussetzungen  mögliche  theo- 
retische Ableitung  des  neuen  Bewegungsmechanismus  einzugehen ; 
es  genügt,  dafs  die  Drehung  der  beiden  bei  dem  Einäugigen 
beobachteten  Gesichtsfelder  gegeneinander  mit  dieser  Ableitung 
in  Einklang  ist.  Bei  der  neuen  Gleichgewichtslage  waren  die 
Ansatzpunkte  des  Rectus  superior,  inferior  und  internus  einander 
genähert,  die  des  Rectus  externus  und  der  beiden  Obliqui  von 
einander  entfernt.  Ob  man  für  die  Ableitung  ein  Ueberwiegen 
des  Internus  oder  eine  Schwäche  des  Externus  annimmt,  ist 
gleichgültig.  Die  Hauptsache  ist,  dafs  auf  Reizung  eines  be- 
liebigen Netzhautelementes  hin  die  Pseudomacula  eine  ganz  be- 
stimmte Bewegung  machte  und  die  Association  ^-j-if-f-m,  die 
neue  Gesichtswahrnehmung  des  linken  Auges  entstehen  konnte. 

Thatsache  ist,  dafs,  wie  die  Krankengeschichte  lehrt,  vor  der 
Operation  der  Werth  M  keine  Vorstellung  hervorrief,  er  hat  die 
neuen  Gesichts  Wahrnehmungen  jedenfalls  nur  in  ihrer  Färbung 
beeinflufst.  Warum  das  so  war,  wissen  wir  nicht,  wir  könnten 
sagen,  dafs  die  überwiegende  Aufmerksamkeit  auf  die  Wahr- 
nehmungen des  rechten  Auges  die  linkseitigen  Werthe  M  unter- 
drückte, würden  aber  damit  nur  eine  Umschreibung  des  That- 
bestandes  geben. 

Die  zu  beantwortende  Hauptfrage  ist  nun,  woher  bezog  nach 
'*■     Operation  M   seinen   Lichtwerth,    da   ja   das   der   retinalen' 


Ueber  die  mechanischen  Correlate  von  Raun  und  Zeit  223 

Reizung  entsprechende  E  mit  m  zu  einer  Wahrnehmung  ver- 
schmolz? Auch  hierauf  ist  eine  Antwort  möglieh.  Die  neuer- 
dings bekannter  gewordene  primäre  Endstation  des  Opticus  im 
GgL  geuiculatum  extemum  im  Puloinar  und  vorderen  Vierhügel 
leigt,  dafs  hier  jede  noch  so  circumskripte  Erregung  eine  grofse 
Ausbreitung  erfahren  mufs,  und  dafs  demzufolge  jeder  Lichtreiz 
wahrscheinlich  den  gröfsten  Theil  des  occipitalen  Lichtfeldes  der 
Rinde  mit  schwingen  läfst.  Nur  von  einem  Wellengipfel  in  der 
Occipitalrinde  kann  die  Rede  sein.  Dafs  dieser  Gipfel  in  der 
maculären  Projection  am  steilsten  ist,  dürfen  wir  aus  der 
gröfsten  Sehscharfe  der  Macula  schliefsen.  Bei  Reizung  der 
Pseudomacula  wird  er  diffuser  sein  und  auch  die  Projection 
noch  weiterer  Netzhautgebiete  mit  bemerkenswerthen  Energie- 
mengen beschicken.  Verbindet  sich  das  psychische  Correlat 
dieser  irradirenden  Energie  mit  dem  ursprünglichen  Motilitäts- 
werthe  M  des  gereizten  Netzhautelementes,  so  wdrd  jetzt  that- 
sächlich  die  Doppelwahrnehmung  bei  Reizung  einer  Netzhaut- 
stelle verständlich. 

Durch  Wilbra:ndt*s  Untersuchungen,  die  mit  den  MuNK'schen 
experimentell  fortgelegten  Beobachtungen  übereinstimmen,  steht 
es  aufser  Zweifel,  dafs  jedem  Netzhautpunkte  eine  Stelle  im 
corticalen  Lichtfelde  zugeordnet  ist  und  zwar  so,  dafs  jedem 
continuirlichen  Punktsystem  auf  der  Netzhaut  ein  continuirliches 
Punktsystem  in  der  Rinde  entspricht.  Daraus  folgt,  dafs  die 
Rindenstelle,  deren  irradiirende  Energie  mit  M  in  Verbindung 
tritt  auch  einen  Wellengipfel  erhalten  kann  und  zwar  dann, 
wenn  ein  gewisser  Punkt  der  Netzhaut  gereizt  wird. 

Nehmen  wir  an,  der  Einäugige  fixire  gerade  einen  Licht- 
punkt, so  entsteht  dessen  Bild  auf  der  Pseudomacula,  deren 
Motihtätscomponente  wir  gleich  nio  ^  setzen  können.  Das  Trug- 
bild erscheine  an  einer  beliebigen  Stelle  im  Raum  und  entt 
spricht  dem  Raumwerth  M.  Bietet  man  dem  Patienten  jetzt 
ein  zweites  kleines  Object,  welches  man  solange  verschiebt,  bis 
sein  wahres  Bild  sich  mit  dem  ersten  Trugbild  deckt,  so  wird 
jetzt  ein  Netzhautpunkt  (cf»)  gereizt,  dessen  Motilitätscomponente 

*  Dieser  Index  ,0"  deutet  an,  dafs  bei  Reizung  dieser  Stelle  reflectorisch 
keine  Bewegung  ausgelöst  wird.  Würde  ein  anderes  Element,  dessen  Mo- 
tilitätscomponente m  eine  gewisse  Bewegungsgröfse  darstellt,  gereizt,  so 
würde  der  Keiz  successive  auf  Stellen  mit  in  diesem  Sinne  kleineren  m 
gebracht,  bis  mo  erreicht  ist. 


224  E'  Sto7'ch. 

genau  der  des  ersten  Trugbildes  gleich  ist,  wir  bezeichnen. sie 
mit  w«.  Die  Stelle  der  Hirnrinde,  an  welcher  der  bei  Reizung 
von  of„  entstehende  Wellengipfel  liegt,  ist  es  also»  welche  ihre 
Lichtenergie  bei  Reizung  der  Pseudoroacula  mit  deren  zweiten 
Raumwerthe  M  verbindet ;  also  M  =  nin.  Wurde  Patient  nun- 
mehr aufgefordert,  das  zweite  Object  zu  fixiren,  so  hätte  man 
mit  Hülfe  des  Augenspiegels  constatiren  können,  dafs  die  wahre 
Macula  an  die  Stelle  der  Pseudomacula  trat.  Daraus  folgt,  dab 
die  Pseudomacula  den  Bogen  zwischen  dem  fingirten  Orte  des 
Trugbildes  und  der  Macula  anatomica  genau  halbirt  Das  Trug* 
bild  scheint  also  von  einer  Netzhautstelle  herzurühren,  welche 
in  Bezug  auf  die  Pseudomacula  symmetrisch  zum  ursprünglichen 
Kernpunkt  liegt.  Die  Entfernung  der  beiden  Kemflecke  ist 
gleich  dem  Schielwinkel;  je  gröfser  dieser  ist,  desto  weiter  aus- 
einander liegen  die  beiden  Projectionen  im  Lichtfelde  der  Rinde, 
desto  geringer  also  wird  die  für  den  Raumwerth  der  Trugbilder 
verwendbare  iri'adiirende  Energie.  Es  wäre  also  verständlich, 
wenn  bei  grofsem  Schielwinkel  trotz  vorhandener  Pseudo- 
correspondenz  statt  einer  Doppelwahmehmung  nur  eine  Un- 
sicherheit in  der  Localisation  auftritt,  wie  das  in  der  That  hin 
und  wieder  beobachtet  worden  ist. 

Ist  die  hier  entwickelte  Theorie  richtig,  so  mufs  sie  auch  die 
übrigen  beobachteten  Erscheinungen  erklären.  Es  wurde  be- 
obachtet, dafs,  wenn  man  das  Trugbild  einer  fixirten  blauen 
Scheibe  mit  dem  wahren  Bilde  einer  peripherisch  ins  Gesichts- 
feld gebrachten  gelben  zur  Deckung  brachte,  ein  Wettstreit  der 
Gesichtsfelder  eintrat.  Das  ist  genau  das  Gleiche,  was  man 
wahrnimmt,  wenn  man  im  Stereoskop  dem  einen  Auge  ein  blaues, 
dem  anderen  ein  gelbes  Object  bietet.  Im  letzteren  Falle  inter- 
feriren  an  derselben  Stelle  des  Lichtfeldes  2  qualitativ  ver- 
schiedene Wellengipfel,  das  psychische  Correlat  ist  der  Wett- 
streit. Bei  dem  BiELscHowsKi'schen  Kranken  traf  der  eine 
Wellengipfel  mit  dem  abfallenden  Schenkel  einer  Welle,  die  der 
Erregung  der  Pseudomacula  entsprach,  zusammen.  Also  auch 
hier  entstand  eine  Interferenz,  deren  psychisches  Correlat  dem 
normalerweise  auftretenden  Wettstreit  natürheh  entsprach. 

Beobachtete  Patient  eine  graue  Scheibe  auf  rothem  Grunde, 
so  erschien  ihr  wahres  Bild  ihm  nach  dem  Gesetze  des  simul- 
tanen Contrastes  grün  gefärbt,  das  Trugbild  aber  wie  durchsetzt 
von  der  Farbe  des  Grundes,   also  grauröthlich.    Ob  das  letztere 


Ueber  die  tnechaniachen  Corrdate  van  Baum  und  Zeit.  225 

genau  ist  sei  dahingestellt,  vielleicht  hätte  Patient  besonders 
anfioaerksam  gemacht,  die  Scheibe  bald  mehr  grau,  bald  mehr 
roth  gesehen.  Doch  hätte  zu  dieser  Wahrnehmung  eine  be- 
sonders geschärfte  Aufmerksamkeit  gehört  Der  Ausdruck  „wie 
durchsetzt  von  der  Grundfarbe^  läfst  auf  ein  Befremdliches  der 
Wahrnehmung  schliefsen.  Nun  hat  Hering  über  jeden  Zweifel 
sicher  gestellt,  dafs  der  simultane  Contrast  sein  physisches 
Gorrelat  in  einer  Function  der  Netzhaut  hat;  das  stimmt  mit 
unserer  Anschauung  vom  wahren  Bude  überem. 

Diese  Netzhautfunction  fehlt  nach  unserer  Auffassung  beim 
Trogbilde;  der  Contrast  trat  hier  nicht  aul  Danach  können 
wir  schlieüsen: 

Im  BiELScHowsKi'schen  Falle  kommen  jedem  Elemente  der 
Netzhaut  2  Raumwerthe  zu. 

Dieser  Veränderung  der  Wahrnehmung  entspricht  keine 
nachweisbare  Veränderung  der  Retina,  wohl  aber  eine  solche 
des  Bewegungsapparates. 

Der  Raumwerth  der  anatomischen  Macula  war  ein  einfacher, 
aber  anderer  geworden. 

Folglich  ist  der  Raumwerth  nicht  als  Function  der  Zäpfchen 
oder  Stäbchen,  sondern  als  eine  solche  der  Augenmuskeln  zu 
betrachten. 

Unter  dieser  Annahme  allein,  erklären  sich  alle  Erscheinungen 
des  sonderbaren  Falles  von  Bielschowski  ungezwungen. 

Der  physiologische  BegrifE  der  HEBiNo'schen  Lichtempfindung 
ist  also  zu  spalten  in  eine  elementare  Lichtempfindung,  die  der 
Erregung  der  Retina  entspricht,  und  in  eine  damit  allerdings 
mb  engste  verknüpfte  Raumwahmehmung,  welche  die  psychische 
Repräsentation  der  Augenmuskeln  darstellt 

In  pathologischen  Fällen  kann  eine  Trennung  dieser  Asso- 
ciation auftreten;  so  dafs  man  zur  Annahme  getrennter  Apper- 
ceptionsapparate  für  Raum  und  Licht  gezwungen  wird. 

Wie  wir  früher  sahen,  bewirkt  eine  beliebige  Wahrnehmung 
e  -f~  f^  ^^^  Reflexbewegung,  bei  deren  Beendigung  e  ein  Opti- 
mum und  fi  =  ^0  geworden  ist.  Diese  Endwahmehmung  erhält 
den  als  Affect  beschriebenen  Accent,  welcher  das  Charakteristicum 
jeder  normalen  Wahrnehmung  ist,  allerdings  aber  uns  nur  auf- 
fäUt,  wenn  er  nicht  zur  vollen  Entwickelung  kommt 

Bei  unserem  Patienten  ist  mm  die  Bedingung  einer  normalen 
Wahrnehmung  nie  erfüllt    Fixirt  er  mit  der  Pseudomacula,  so 

ZcHMhrifl  Ar  FsyokolATie  iß.  15 


226  JS.  Storch, 

ißt  W=W^  +  IF,  ==jE;+Wo  +  E  +  Jlf,  Eist  kein  Optimum 
und  mo  +  M  entspricht  nicht  genau  dem  Begriff  fi^.  Dem  xu 
Folge  fehlte  das  Gefühl  der  Sättigung  imd  Patient  fühlte  einen 
inneren  zunehmenden  Zwang,  das  Trugbild  zu  fixiren.  In  diesem 
Falle  ist  TT  =»  jE  -[-  iw  -f-  Jlf 0  •  ^  ist  hier  allerdings  ein  Optimum 
aber  m  -j-  Jfo  wieder  nicht  gleich  f^io*  Nun  hatte  Patient  zwar 
nicht  das  Grefühl,  als  ob  nicht  er  es  wäre  der  sähe,  am  Subjeet 
zweifelte  er  nicht,  wohl  aber  nannte  er  die  Wahrnehmung  ein 
Trugbild,  er  zweifelte  also  am  Object.  Der  AfEect  der  normalen 
Wahrnehmung,  welcher  den  Ejioten  schürzt  zwischen  den 
psychischen  Correlaten  des  Reizes  und  der  Bewegung^  zwischen 
äufserer  und  innerer  Energie,  oder  zwischen  Subjeet  und  Object, 
konnte  nicht  zur  Entwickelung  gelangen. 

Betrachten  wir  zum  SchluTs  nochmals  den  Wahmehmungs- 
Vorgang  bei  unserem  Einäugigen,  Wir  können  die  Wahr- 
nehmung des  linken  Auges  W  imter  dem  Schema  E ^m-^  M 
darstellen,  wobei  m  den  erworbenen,  M  den  ursprünglichen 
Raumwerthen  entspricht  Wie  dieses  Schema  vor  der  Operation 
auf  die  binoculäre  Wahrnehmung  einwirkte,  wissen  wir  nicht; 
jedenfalls  hat  Patient  binoculär  einfach  gesehen.  Vielleicht 
konnte  der  zweite  Raumwerth  der  linken  Pseudomacula  dea- 
wegen  unterdrückt  werden,  weil  die  ihm  entsprechende  Licht- 
energie  im  Vergleich  zu  dem  viel  steileren  Wellengipfel,  den  die 
Reizung  des  rechten  Kemfleckes  verursachte,  sehr  gering  ausfiel 

Sofort  nach  der  Operation  fehlte  dieser  Gipfel  und  allein 
xlie  dem  linken  Auge  entsprechende  Erregimg  trat  in  das  Licht- 
feld  über.  Dadurch  war  eben  die  Differenz  der  Erregung  der 
beiden  Rindenstellen  viel  geringer  geworden,  und  die  Wahr- 
nehmung  E-{'m-\-  M  trat  jetzt  in  2  Wahrnehmungen  aus  ein- 
ander, wobei  TTj  =  ^  -j-  m,  TF,  =  E  -|-  -'^  gesetzt  werden  kann, 
wenn  E,  wie  oben  dargelegt  wurde,  das  psychische  Correlat  der 
Irradiation  ist 

Diese  Annahme  findet  ihre  Bestätigung  darin,  dafs  Patient 
bei  Fixation  des  Trugbildes,  d.  h.  wenn  die  anatomische  Macula 
gereizt  wurde,  nur  einfach  sah,  seine  Wahrnehmung  also  der 
Formel  ^  -j-  Jf«,  +  m  entspricht.  In  diesem  Falle  war  eben  der 
Wellengipfel  zu  steU  um  an  der  m  zugeordneten  Stelle  des  Licht- 
feldes genügende  Energiemengen  zu  entwickeln. 

(Eingegangen  am  26.  März  1901.) 


Eine  Consequenz  j 

aus  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus* 

Von 

Dr.  JuiilUS  PiKLBB, 

Prof.  der  Rechtsphilosophie  an  der  Universität  Budapest. 

In  seinem  Aufsätze  „Haben  die  niederen  Thiere  ein  Bewufst- 
seinJ^  (24,  3.  4.  dmet  Zeitschr.)  hat  E.  Stobch  eine  originelle 
Darstellung  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus  ge- 
geben, welche  nach  unserer  Ansicht  jeder  Anhänger  dieser  Lehre 
mit  Freuden  begrüTsen  mnfs.  Auch  zieht  Storch  auf  den 
venigen  Seiten  seiner  Abhandlmig  einige  hochwichtige  Con* 
Sequenzen  aus  dieser  Lehre  und  deutet  andere  an;  und  es  ist 
nur  zu  bedauern,  dafs  in  Folge  der  gedrängten  Fassung  dieser 
Folgerungen  die  Richtigkeit  und  die  hohe  Bedeutung  derselben 
Manchen  vielleicht  nicht  so  einleuchtend  sein  wird,  als  dies  bei 
einer  ausführUcheren  Behandlung  der  Fall  wäre.  Ich  wage  in 
den  vorliegenden  Zeilen  aus  derselben  Auffassung  der  Lehre 
Tom  Parallelismus,  zu  welcher  Stobch  sich  bekennt,  eine  weitere, 
Yon  ihm  nicht  festgestellte,  Folgerung  zu  ziehen.  Ich  knüpfe 
hierbei  an  die  folgende  Ausführung  seines  Artikels  an: 

„Das  Bewufstsein  ist  nänüich  kein  Zustand,  sondern  eine 
Veränderung.  Es  besteht  nur,  insofern  es  sich  verändert  Denn 
das  Einzige,  was  wir  von  der  Materie  wahrnehmen,  ist  ihre  Ver- 
änderung, die  Bewegung,  und  ihr  gehen  die  Veränderungen  des 
Bewulstseins  parallel  Wie  aber  die  Bewegung  eines  Punktes 
(die  einfachste  Form  der  Bewegung,  gewissermaafsen  das  Element, 
aus  dem  sich  alle  verwickeiteren  Bewegimgen  ableiten)  nur  be- 
steht, insofern  in  jedem  Momente  die  Summe  der  verflossenen 
Bewegung  in  dem  augenblicklichen  Orte  des  Punktes  in  potentia 

Torhanden  ist,  so  ist  auch  der  einfachste  BewuTstseinsvorgang 

15* 


228  J^i^  -P^^- 

dadurch  charakterisirt,  dafs  bei  jeder  Bewufstseinsveräiidemng 
der  eben  verflossene  BewnTstseinszustand,  die  Summe  aller  vor- 
hergehenden Verändenmgen ,  mit  anklingt,  d.  h.  in  potentia 
fortbesteht. 

Man  kann  sich  von  dieser  Grundbedingung  des  Bewu&t- 
seins  leicht  an  folgendem  Beispiele  überzeugen.  Betrachtet  man 
den  sich  drehenden  Secundenzeiger  der  Uhr,  so  wissen  wir  nur 
darum,  dafs  er  sich  bewegt,  weil  wir  in  jedem  Momente  die 
Reihe  der  früheren  Stellimgen  im  Bewufstsein  haben.  Eline 
Bewegung  würden  wir  nicht  wahrnehmen  können  ohne  Ge- 
dächtnifs. 

Wir  dürfen  also  von  der  Materie  behaupten,  ihre  Elementar- 
theilchen  bewegen  sich,  insofern  sie  Object  sind,  sie  ver- 
ändern ihr  Bewufstsein,  sofern  sie  Subject  sind.  Folg- 
lich besitzt  die  Materie  ein  Gedächtnifs." 

Ich  behaupte  nun,  aus  dieser  Auffassung  ergebe  sich  con- 
sequenterweise  folgender  Schlufs:  Die  von  dem  Gedächtnils  d^r 
früheren  Bewufstseinszustände  begleiteten  und  durch  dieses  Ge- 
dächtnifs  zu  einer  Einheit,  und  zwar  zu  der  Einheit  desselben 
Bewufstseins,  desselben  Ich's  verbundenen  BewuIst8einsve^ 
änderungen  desselben  Individuums  haben  alle  ihr  physisches 
Correlat  in  Bewegungsveränderungen  derselben  Materie,  der- 
selben elementaren  Stofftheilchen.  Mit  anderen  Worten:  Das 
physische  Correlat  der  Thatsache,  dafs  ich  alle  meine  Bewufist- 
seinszustände  als  die  meinigen  erkenne,  das  physische  Correlat 
des  einheitlichen  Ichbewufstseins  oder  der  Identität  desselben 
Individuums  während  aller  Bewufstseinsverändenmgen  dieses 
Individuums  besteht  in  der  Identität  der  sich  verändernden 
Stofftheilchen  bei  allen  Bewufstseinszuständen  desselben  Indivi- 
duums. So  hätten  z.  B.  die  von  den  verschiedenen  Sinnen 
desselben  Individuums  gelieferten  Empfindungen  ihr  Correlat  in 
Bewegungsveränderungen  derselben  Theilchen  der  nervösen 
Centralmasse.  Mögen  ims  auch  experimentelle  Gründe  zu  der 
Erkenntnifs  führen ,  ;  dafs  Empfindungen  verschiedener  Sinne 
durch  das  Vorhandensein  und  durch  die  Reizung  verschiedener 
Centraltheile  oder  Zellgruppen  bedingt  seien,  eine  weitere  Be- 
dingung für  das  Zustandekommen  einer  jeden  Art  von  (durch 
ein  Ichbewufstsein  begleiteter)  Empfindung  bestünde  darin,  data 
die  Bewegung  dieser  CentraltheUe  wieder  andere  Centraltheile  in 
Bewegung  setze,  welche  bei  allen  Arten  von  Empfindungen  in 


Eine  CoH$equeng  aus  der  Lehre  vom  pBychaphysisehen  FaraUeliimua.    229 

Bewegung  gerathen  und  dadurch  das  Bewufstsein  der  Ver- 
änderung ein  und  desselben  Bewulstseins  sichern. 

Doch  dies  ist  nur  eine  approximative  Fassung  unserer  Fol- 
gerung aus  der  STOBcn'schen  Auffassung  des  psychophysischen 
Parallelismus.  Denn  dieser  Fassung  widerspricht  die  Thatsache^ 
da(s  in  Folge  des  Stoffwechsels  die  materiellen  Theilchen,  aus 
denen  ein  Individuum  besteht,  wechseln.  Die  Beobachtung, 
welche  uns  davon  überzeugt,  dals  trotz  des  Stoffwechsels  die 
Zosanmiensetzung  der  Organismen  beinahe  ganz  die  gleiche 
bleibt,  wie  auch  das  gleiche  Verhalten  der  Organismen  trotz  des 
Stoffwechsels  lehren  uns  aber,  dafs  der  neu-assimilirte  Stoff  bei- 
nahe ganz  dieselben  Bewegungen  gewinnt,  die  der  frühere  hatte, 
an  dessen  Stelle  er  tritt  Oenauer  müssen  wir  daher  unsere  Folge- 
ning  auf  diese  Weise  fassen:  Die  einander  folgenden  ver- 
schiedensten Bewufstseinszustände  —  z.  B.  Empfindungen  ver- 
schiedener  Sinne  -  desselben  Individuums  haben  ihr  physisches 
Correlat  in  weiteren  Verändenmgen  derselben  Bewegungen  oder 
Bewegungsveränderungen,  welche  die  physischen  Correlate  der 
früheren  Bewufstseinszustände  waren,  und  deren  Ueberbleibsel 
die  Correlate  des  Oedächtnisses  dieser  Bewufstseinszustände  sind. 
Dem  einheitlichen  Bewufstseinsverlauf  desselben  Individumns 
entsprechen  nicht  einander  folgende  Veränderungen  verschiedeneir 
SteUen  der  nervösen  Centralmasse,  sondern  Veränderungen 
von  Veränderungen  in  denselben  Stellen.^ 

Diese  Folgenmg  aus  der  Lehre  des  psychophysischen 
Parallelismus  ist  ein  deductives  Argument  gegen  die  so  sehr 
verbreitete  „atomistische^  Localisationstheorie.  Diese  Deduction 
kann  und  will  keineswegs  den  Anspruch  erheben  zur  Wider- 
legung dieser  Theorie  zu  genügen ;  doch  sie  kann  den  Anhängern 
derselben  vielleicht  zu  denken  geben.  Auch  dies  freilich  nur  in 
dem   Falle,    wenn   sie    die  Nothwendigkeit   der  Annahme    des 


^  Auf  die  etwaige  Einwendung,  dafs  bei  den  krankhaften  Erscheinungen 
der  ,,dopx>elten  Persönlichkeit''  nach  unserer  Auffassung  eine  abenteuerliche 
Annahme  der  Verschiebung  des  physischen  Substrates  der  Bewufstseins- 
nstftnde  nothwendig  wäre,  antworten  wir,  dafs  dies  keineswegs  der  Fall 
sei.  Denn  auch  in  diesen  abnormen  Fällen  bleibt  ja  ein  sehr  grofser 
Theil  des  Gedächtnisses  und  der  Einheit  des  Bewufstseins  vorhanden,  da 
jt  sonst  das  Individuum  jeder  erlernten  Handlung,  der  einfachsten  wie  der 
▼erwickelteren ,  unfähig  wäre.  Die  Frage,  was  physisch  der  multiplen 
Persönlichkeit  entspricht,  muTs  uns  hier  nicht  beunruhigen. 


230  J^iM  ^Uder. 

psychophysischen  ParaUelismiis  anerkennen  und  nicht  i 
Naturwissenschaft  widerstreitende  Grundauffassungen  hegen, 
Dr.  Storch  sie  in  seinem  Artikel  kritisirte. 

Zu  derselben  Folgerung,   die  ich  hier  darzulegen  best 
war,  bin  ich  in  einem  „Das  Gnmdgesetz  alles  neuropsjchisc 
Lebens^    betitelten,    im   Mai   1900   veröffentlichten  Werke 
anderem  Wege  gelangt  als  dem  hier  verfolgten,  doch  auf  Gi 
einer  ähnlichen  Auffassung  des  psychophysischen  ParalleUsi 
wie  sie  auch  Storch  eigen  ist    Ich  erlaube  mir  bezüglich 
führUcherer  Begründung  dieser  Folgerung  besonders   auf 
ersten  und  zweiten  Zusatz  in  jenem  Werke  hinzuweisen. 

{Eingegangen  am  20,  März  1901.) 


T 


Besprechung. 


Zvr  Analyse  der  TemperatBremplIiidiiiigeii. 

Besprechung  und  Entgegnung. 
Von  F.  EiBSOW  (Turin). 

8.  albutz.   Stadiaft  auf  dem  SeUeta  ter  TeaifentmiBBe.    IL  Dia  Hitia« 

empfiadiag.    Skandinav.  Archiv  für  Physiologie  10,  M^362,   1900.    (Aob 
dem  physiol.  Laboratorium  der  Universität  üpsala.) 
Der  Verf.  leitet  seine  Arbeit  mit  folgenden  Worten  ein:  „Dafs  man 
Ton  Kftltepunkten   Eälteempfindungen   erhalten   kann,  auch   wenn   dieaa 
Punkte  von   warmen   Metallspitzen  gereizt  werden,  ist  durch   die  Unter- 
snchnngen  von  Lehmann  (1892  §  42  bis  43),  der  jedoch  nähere  Details  nicht 
in^geben  hat,  von  v.  Fkey  (1895,  S.  175)  und  von  mir  (1897,  S.  332—333) 
festgestellt     Diese  Eälteempfindungen,    die   man    „paradoxe  Eälteempfin- 
dungen'' genannt  hat,  sind  nach  v.  Frey  schon  mit  Metallspitzen  von  -f-  40 
bis  45*  C.  auszulösen.    Wenn  man  sie  aber  nur  recht  deutlich  zu  be- 
kommen wünscht,  sind  dagegen  Spitzen  von  -f-  70  bis  100*  nach  meiner 
Erfahrung  anzuwenden." 

Diese  Angaben  dürften  wohl  dahin  zu  berichtigen  sein,  dafa  Alfred  Lbh- 
lAjTN  die  Thatsache  an  sich  zuerst  entdeckt  hat  (die  Hauptgesetze  des  mensch- 
lichen Gefühlslebens,  1892,  S.  35),  dafs  sie  dann  unabhängig  von  Lehmann 
lach  durch  v.  Fbet  gefunden  und  als  paradoxe  Eälteempfindung 
bezeichnet  wurde  (Beiträge  zur  Sinnesphysiologie  der  Haut,  3.  Mittheil. 
Leipziger  Berichte  1895,  S.  172)  und  dafs  sie  unter  Eenntnifs  der  v.  Fret- 
schen  Mittheilungen  auch  vom  Verf.  (Studien  auf  dem  Gebiete  der  Tem- 
peratursinnp,  Skand.  Arch,  für  Fhysid.  1897,  7,  S.  332—333)  bestätigt  ward. 
£fi  ist  ferner  nicht  richtig,  dafs  von  Lehmann  keine  näheren  Details 
angegeben  worden  sind,  falls  man  unter  Details  auch  bestimmte  Werth- 
angaben versteht.  Ich  gehe  wohl  nicht  fehl,  wenn  ich  vermuthe,  dais  der 
Verf.  anf  die  LBHMANN'schen  Befunde  erst  durch  meine  Abhandlung  Zur 
Psychophysiologie  der  Mundhöhle  (Philosophische  Studien,  1899,  14, 
S.  575)  aufmerksam  geworden  ist.  Ich  habe  aber  hier  die  LEHMANN'sche 
Werthangabe  ausdrücklich  hervorgehoben.  Lehmann's  Mittheilungen  können 
gtr  nicht  mifsverstanden  werden,  weder  was  die  Versuchsanordnung,  noch 
wis  die  Resultate  betrifft.  Er  arbeitete  mit  4  Mitarbeitern  und  kam  in  der 
ia  Rede  stehenden  Frage  zu  dem  Ergebnifs :  „Eälteempfindungen  entstehen 


232  Besprechung. 

an  den  Eältepunkten  sowohl  durch  mechanischen  und  elektrischen  StoljB, 
als  durch  Wärmereize Wärmereize  bis  -{-  60®  C.  können  Kälte- 
empfindungen auslösen.*'  Dafs  es  sich  hier  um  punktuelle  Reizung  handelt» 
geht  aus  den  voraufgehenden  Ausführungen  hervor.  Wenn  der  Verf.  dem- 
nach für  einen  höheren  Klarheitsgrad  der  paradoxen  K&lteempfindung 
-{-  70 — 100®  C.  verlangt,  so  dürfte  er  Lehmann  näher  stehen  als  v.  Fbbt. 

Es  ist  wohl  als  sicher  anzunehmen,  daüs  es  hier  individuelle  Unter- 
schiede giebt»  Soweit  ich  an  mir  selbst  Erfahrungen  sammeln  konnte,  Er- 
fahrungen, die  sich  bereits  über  eine  Reihe  von  Jahren  erstrecken,  sind  die 
durch  V.  Fbet  angegebenen  Werthe  oder  wenig  höhere  zur  Hervorrofung 
der  Erscheinung  ausreichend,  wenn  der  Reiz  auf  der  Körperoberfläche 
punktartig  mit  dem  von  mir  angegebenen  Apparate  {Philos,  SUid.  14,  S.  689) 
applicirt  wird. 

Die  weiteren  Ausführungen  des  Verf-'s  dürften  sich  zusammengefaßt 
folgendermaafsen  wiedergeben  lassen: 

AuTser  der  Warm-  und  Kaltempfindung  giebt  es  noch  eine  dritte 
„ganz  einfache,  d.  h.  durchaus  gleichartige*',  auf  introspectivem  Wege  nicht 
weiter  zerlegbare  Temperaturempfindung  von  specifischem  Charakter,  die 
Hitzeem  pfindung. 

Um  diese  rein  zu  erhalten,  muXs  der  Reiz  unterhalb  der  Schmerz- 
grenze bleiben.  Solche  Reize  nennt  der  Verf.  Hitzereize,  stärkere,  gleich- 
zeitig Schmerzempfindungen  auslösende  thermische  Schmerzrei'se. 
„Hiemach  kann  man  die  Hitzeempfindung  sozusagen  nach  unten  und  nach 
oben  negativ  definiren:  sie  ist  nicht  „sehr  warm**  und  nicht  nothwendig 
»schmerzbetont« . "  (Der  Ausdruck  „schmerzbetont"  dürfte  meiner  oben  citirten 
Arbeit  entlehnt  sein.) 

um  Hitzeempfindungen  auszulösen,  bedarf  es  der  gleichzeitigen 
Reizung  von  Elälte-  und  Wärmeorganen,  der  Reiz  mufs  daher  immer  mehr 
oder  weniger  flächenhaft  sein. 

Die  Hitzeempfindung  kann  bei  40^  C.  auftreten.  Mittels  erwärmter 
Messingcy linder,  sowie  eines  Metallrohrs  oder  einer  Metallplatte  von 
2  Vi — 3  cm  Radius,  durch  welche  letzteren  Apparate  erwärmtes  Wasser 
strömte,  konnte  der  Verf.  bei  Temperaturen  bis  zu  42—44®  reine  Hitze- 
empfindungen an  der  Stirn,  dem  Thenar,  der  Volarseite  des  Unterarms  und 
der  Ellenbeuge  erzeugen,  wenn  er  den  verwandten  Apparat  diesen  Körper- 
theilen  fest  anlegte.  Diese  Körperstellen  sind  nach  A.  „aus  verschiedenen 
Gesichtspunkten"  Musterstellen  für  Hitzeempfindungen,  obwohl  man  auch 
an  andere  Hautfiächen  gute  Hitzeempfindungen  erhalten  könne. 

Die  meisten  Menschen  bezeichnen  diese  specifischen  Empfindungen 
als  „heifs". 

Paradoxe  Kälteempfindungen  lassen  sich  auch  durch  flächenhafte 
Reizung  [von  Hautstellen  hervorrufen.  (Auf  diese  Thatsache  dürfte  ich  in 
der  citirten  Arbeit  S.  585  bereits  hingewiesen  haben.)  Mittels  Thitnbkbg- 
scher  Silberplatten  (Upsala,  Läkaref.  förhandl.  1896)  rief  der  Verf.  am  Ober» 
schenke!  unmittelbar  oberhalb  der  Kniescheibe,  in  der  Armbiege,  am 
Unterarm,  an  der  Kniescheibe  und  an  anderen  Stellen  von  stark  ent- 
wickelten Kälte-  und  schwach  entwickelten  Wärmeempfindungen  Doppel- 
empfindungen hervor,  „deren  erstes  und  kürzestes  Glied  aus  einer  scharfen 


Besprechung.  233 

und  deutlichen  Kältesensation*'  bestand,  „und  deren  zweites  Glied  eine 
mehr  oder  minder  intensive  Wärme-  oder  Hitzeempfindung*'  war.  Die 
Reiche  Erscheinung  erhält  man  nach  ihm  jedoch  auch  mittels  gewöhn- 
licher Metallcylinder. 

In  einem  Bade  von  ungefähr  37®  C.  läfst  sich  beim  Hinzutreten  von 
sehr  heifsem  Wasser  ein  gesondertes  Auftreten  von  Kälte-  und  reinen 
Schmersempfindungen  beobachten. 

Bei  Reizung  der  Yolarseite  des  Unterarms  mittels  eines  auf  45 — 47® 
OTirmten  Metallrohrs  erhält  man  als  erste  Phase  die  Hitzeempfindung. 
Diese  dauert  aber  nicht  an^  sondern  nimmt  an  Intensität  ab,  wobei  man 
^  and  zu  auch  ein  kaltes  „Strömen''  oder  „Stechen*'  herausfühlen  kann*'. 
Das  zeitlich  gesonderte  Auftreten  der  beiden  Empfindungen  ist  auf 
die  angleiche  Ermüdbarkeit  der  Organe  der  Temperaturempfindungen  zu- 
rückzuführen. 

Auf  Hautflächen  von  schlechtem  Wärme-,  aber  gutem  Kältesinn  erhält 
nukn  niemals  wirklich  starke  Warmempfindungen,  wohl  aber  Hitzeempfin- 
dnngen.  „Auch  mit  ziemlich  starken  Reizen  erhält  man  nämlich  hier  nur 
schwache  Wärmeempfindungen,  welche  bei  der  Zunahme  des  Reizgrades 
sozusagen  den  Grad  „sehr  warm"  überspringen  und  sofort  in  Hitzeempfin- 
dangen  übergehen."  Ebensowenig  ist  die  Hitzeempfindung  an  warmpunkt- 
freien  Hautstellen  auslösbar,  sie  ist  daher  mit  einer  starken  Wann- 
empfindung  nicht  identisch. 

Schmerzempfindungen  gehen  in  die  Hitzeempfindung  nicht  ein.  Auf 
Hiatstellen,  wo  sich  weder  Kälte-  noch  Wärmepunkte  finden,  lösen  „die 
Hitzereize  erstens  gar  keine  Temperaturempfindungen  aus,  dann  aber  auch 
keine  wahrnehmbaren  Schmerzempfindungen.  Wenn  solche  sich  in  der 
Hitzeempfindung  vorfänden,  sollten  sie  hier  beobachtet  werden,  da  aufser 
den  Druckempfindungen  keine  anderen  ihrer  Wahrnehmung  entgegen 
arbeiten  können". 

Es  giebt  keine  specifischen  Endorgane  für  die  Hitzeempfindung,  eben- 
«)wenig  Hitzepunkte.  Metallspitzen  lösen  daher  nur,  wenn  sie  ziemlich 
abgestumpft  sind  und  „nur  da  wo  ein  Kältepunkt  und  ein  Wärmepunkt 
einander  sehr  nahe  liegen  —  was,  wie  bekannt,  gewöhnlich  der  Fall  ist"  — 
Hitzeempfindungen  hervor.  (Hiemach  dürften  Hitzeempfindungen  denn 
auch  mit  sehr  kleinflächigen  Reizen  auslösbar  sein.  Dafs  Kalt-  und  Warm- 
pankte  immer  sehr  nahe  bei  einander  liegen,  dürfte  nicht  so  allgemein 
anerkannt  sein,  wie  der  Verf.  zu  glauben  scheint.) 

Von  Hautflächen  mit  starkem  Wärmesinn  bei  schwach  entwickeltem 
Kiitesinn  „erhält  man  eine  bedeutend  minder  intensive  und  minder  speci- 
fische  Hitzeempfindung",  als  auf  Körperstellen  von  entgegengesetzter  Ver- 
theilung  der  Temperaturorgane. 

Nach  allem  diesen  ist  zu  schliefsen,  „dafs  die  von  dem  Hitzereiz  aus- 
gelöste Kälteempfindung  in  der  That  mit  der  Wärmeempfindung  zu  einer 
neuen,  von  jenen  beiden  artlich  zu  trennenden  Empfindung  verschmilzt, 
nimlich  der  Hitzeempfindung,  in  der  die  Kälte-  und  Wärmeempfindungen 
an  sich  nicht  mehr  existiren  oder  wahrnehmbar  wird". 

An  den  Wärmepunkten  können  Wärme-  oder  Hitzeempfindungen  auch 
dorch  sehr  starke  Kältereize  ( —  70®  C.)  nicht  hervorgerufen  werden.    Wenn 


234  Besprechung. 

• 

nach  dem  Sprachgebrauch  kaltes  Metall  brennende  Empfindungen  aoalOst 
80  wird  eben  hier  zwischen  brennenden  und  rein  schmerzhaften  Empfin 
düngen  nicht  scharf  unterschieden,  da  sehr  kalte  Gegenstände  die  Kftlte 
und  Schmerzorgane  gleichzeitig  reizen.  Der  Verf.  fflgt  hinzu:  „Ee  ist  ja 
aber  nicht  unmöglich,  dafs  bei  starken  Eältereizen  Wänneempfindongen 
als  ^ecundäre  Erscheinungen  auftreten;  der  heftigen  Abkflhiung  wegen 
findet  eine  Beschädigung  statt,  die  wiederum  eine  Reizung  der  Wänaeorgane 
nach  sich  ziehen  kann.*'  (Hierzu  wäre  zu  bemerken,  dafs  die  Thatsache,  dals 
Wärmeempfindungen  durch  Kältereize  nicht  hervorgerufen  werden  können, 
nicht  neu  ist  Sie  wurde  bereits  von  Lehkann  und  mir  gezeigt.  Lbhxahn  giebt 
an,  dafs  ihm  die  Ursache  des  Ausbleibens  der  Warmempfindung  nicht  ganz 
klar  sei,  fügt  aber  folgenden  Erklärungsversuch  hinzu :  „Möglicherweise  ist 
dies  dadurch  zu  erklären,  dafs  die  Wärmepunkte  im  Ganzen  durchweg  eine 
höhere  Reizschwelle  besitzen  als  die  anderen  Sinnespu^te,  weshalb  eine 
starke  Abkühlung  erforderlich  wäre,  um  Wärmeempfindungen  zu  erregen; 
starke  Abkühlungen  (ich  habe  die  ganze  Scala  von  +  13*  bis  —  70®  ver- 
sucht) schwächen  aber  bekanntlich  das  Leitungsvermögen  des  Nerven.  Es 
ist  deswegen  nicht  undenkbar,  dafs  gerade  die  Abkühlung,  welche  die 
Empfindung  auslösen  sollte,  die  Fortpfianzitng  der  Bewegung  ins  Crehim 
unmöglich  macht."  Soweit  ich  mir  selber  ein  ürtheil  über  diese  Verhält- 
nisse erlauben  darf,  mufs  ich  seiner  Anschauung  zustimmen.  Ich  hätte 
nur  hinzuzufügen,  dafs  ich  bei  Verwendung  schwächerer  Kältegrade  an 
intensiven  Wärmepunkten  zuweilen  freilich  das  Auftreten  einer  Wärme- 
empfindung beobachten  konnte,  doch  führe  ich  die  Entstehungsursache 
derselben  auf  die  mechanische  Reizung  des  verwandten  Apparates  (zuge- 
spitzte Messingcylinder)  zurück.  Dafs  mechanische  Eindrücke  an  Tempera- 
turpunkten adäquate  Empfindungen  auslösen,  wurde  zuerst  von  Goldscheidbb 
auf  das  Glänzendste  gezeigt  und  ist  sodann  durch  Lehmann  (cit.  A.  8.  341), 
mich  u.  A.  hinreichend  bestätigt  worden.  Ich  habe  aber  später  bei  Unter- 
suchungen im  Gebiete  der  Hautsinne  vielfach  Gelegenheit  gehabt  zu  be- 
obachten, dafs,  auch  wo  es  sich  gar  nicht  um  Temperaturempfindungen 
handelte,  durch  mechanischen  Druck  oder  Stofs  solche  hervorgerufen  werden 
können.  In  hohem  Grade  vorherrschend  sind  hierbei  Kälteempfindongen, 
doch  tritt  bei  der  hervorgehobenen  Reizung  zuweilen  auch  spontan  eine 
Warmempfindung  auf. 

In  einem  letzten  Capitel  schliefslich  „Noch  zu  lösende  Aufgaben.  — 
Schlufsbe trachtungen '^  deutet  der  Verf.  an,  dafs  die  paradoxen  Kälte- 
empfindungen seines  Erachtens  auch  für  eine  richtige  Auffassung  der 
sogenannten  „perversen  Temperaturempfindungen"  von  Bedeutung  seien. 
Ein  Zurückkommen  auf  diesen  Gegenstand  wird  für  später  in  Aussicht 
gestellt. 

Sodann  werden  die  Fragen  aufgeworfen,  ob  die  Hitzeempflndnngen 
uns  über  die  Temperatur  der  uns  umgebenden  Gegenstände  genauere  Auf- 
schlüsse zu  geben  vermögen  als  die  Wärmeempfindungen  an  und  für  sich 
es  thun  könnten  und  ob,  wenn  dies  der  Fall  sei,  damit  zusammenhänge, 
dafs  gewisse  Körperstellen  Hitzeempfindungen  besser  auslösen  als  andere. 

Die  erste  Frage  wird  bejaht,  da  es  leichter  sei,  zwischen  den  qualitativ 
Feri9chiedenen  Wärme-  und  Hitzeempfindungen  als  zwischen  verschieden- 


Besprechung.  235 

W&nneempfindnngen  zu  unterscheiden,    lieber  die  zweite  Frage 
infeert  sich  der  Verf.   wie  folgt:   „Betreffs  der  zweiten  Frage  soll  hier 
wenigstens  so  viel  hervorgehoben  werden,  dafs  das  Grebiet  der  reinen,  nicht 
schmerzhaften   Hitzeempfindungen  im  Allgemeinen  nicht  grofs,  auf  ver- 
schiedenen Hautstellen  aber  verschieden  grofs  sein  muls.     Dies  Grebiet  ist 
nttfirlich  grOÜBer,  wo  das  Minimum  pereeptibile  des  Schmerzsinnes 
hodi  liegt,  wie  z.  B.  in  der  Mundhöhle  (s.  Kibsow  1898,  S.  586),  und  eben 
hier  hat  man  folglich  den   gröfsten  praktischen  Nutzen  von  den  Hitze- 
empfindangen.     Eben    für   diese   Begion   ist   aber   das  Verhältnifs   von 
grOCserer  Bedeutung  als  anderswo,  weil  es  hier  ganz  speciell  wichtig  ist, 
die  Temperatur   der  berührenden    Gegenstände,    d.  h.   die   Nahrung,   be- 
mtheilen  zu  können.     Aber  nicht  nur   das  Gebiet,    sondern    auch  die 
Stirke  der  Hitzeempfindungen  ist  an  diesen  Stellen  'grofs;  die  Ursache 
ist  die,  dals  der  Kältesinn  hier  sehr  stark  entwickelt  ist,  was  —  wie  schon 
hervorgehoben  —  von  groXser  Wichtigkeit  für  die  Stärke  der  Hitzeempfin- 
dnngen  ist.    Nähere  Untersuchungen  sind  hier  jedoch  nothwendig.^ 

Der  erste  Theil  dieser  Ausführung  dürfte  zu  dem  schon  Gesagten 
bam  etwas  Neues  hinzufügen.  Im  zweiten  ist  die  Verallgemeinerung  der 
Angabe,  dals  das  Minimum  pereeptibile  des  Schmerzsinnes  in  der  Mund- 
höhle überall  hoch  liege,  nicht  ganz  richtig.  Diese  Angabe  ist  in  dieser 
Allgemeinheit  auch  wohl  nicht  meiner  Arbeit,  die  der  Verf.  citirt,  zu  ent- 
nehmen. Aufserdem  habe  ich  diese  Verhältnisse  in  einer  anderen  Mit- 
fheilnng  {Phüos.  Stud.  9,  510)  etwas  näher  dargethan.  Es  dürfte  gerade  her- 
rorgefaoben  werden,  dals  Schmerzempfindungen  bei  der  Prüfung  der  aufzu- 
nehmenden Nahrung  eine  bedeutende  Rolle  spielen. 

Der  Verf.  schlielst  seine  Arbeit :  „Oben  habe  ich  die  Hitzeempfindung 
eine  Mischung  oder  Verschmelzung  von  Kälte-  und  Wärme  empfindungen 
genannt.  Streng  genommen  ist  dies  nicht  richtig,  oder  wenigstens  gar 
nicht  bewiesen.  Es  ist  ja  weder  wahrnehmbar,  noch  wahrscheinlich,  daüs 
Kälte-  und  Wärmeempfindungen  als  die  Factoren  einer  bestimmten 
Hitzeempfindung  gleichzeitig  mit  ihr  existiren.  Beobachten  kann 
man  nur,  dals  die  gleichzeitige  Reizung  der  peripherischen  Kälte-  und 
Wärmeorgane  die  nothwendige  Bedingung  der  Hitzeempfindung  ist.  DaÜB 
bei  zn  starken,  bezw.  zu  schwachen  Reizen  Kälte-  bezw.  Wärmeempfindungen 
nebet  der  Hitzeempfindung  zuweilen  vielleicht  existiren  können,  ist  eine 
ganz  andere  Sache,  von  welcher  ich  hoffe,  ein  anderes  Mal  mehr  sagen  zu 
können." 

Der  Arbeit  ist  die  Note  hinzugefügt,  dafs  die  Hauptthatsachen  dieser 
Mittbeilong  schon  1897  in  schwedischer  und  1898  in  englischer  Sprache 
[Mind  7,  141)  veröffentlicht  wurden.  Der  Verf.  fährt  fort:  „Zwischen  den 
beiden  früheren  Aufsätzen  und  dem  vorliegenden  bestehen  jedoch  hier 
und  da  wichtige  Unterschiede.  Neue  Beobachtungen  sind  in  dieser 
deotschen  Arbeit  hinzugekommen,  die  Temperaturangaben  sind  revidirt 
worden  u.  dgl.  mehr." 

Das  Hauptinteresse  an  dieser  Mittheilung  nimmt  natürlich  die  vom 
Verf.  als  Hitzeempfindung  beschriebene  Erscheinung  in  Anspruch.  Der 
Verf.  hat  damit  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  interessanten  Vorgang  ge- 
lenkt» den  |nan   wohl  doch  nicht  anders  als  einen   psychologiachen  b^ 


236  Besprechung. 

zeichnen  kann.  Da  auch  ich  mich  seit  geraumer  Zeit  mit  ünterBuchongen 
Ober  die  Analyse  der  Temperaturempfindungen  beschäftigt  habe,  so  mag  ef 
mir  erlaubt  sein,  einige  meiner  eigenen  Erfahrungen  denen  des  Verl'« 
gegenüber  zu  stellen. 

Die  Beobachtung,  dafs  Wärmereize  an  verschiedenen  KOrpertheikn 
nicht  nur  Empfindungen  verschiedener  Intensitätsgrade  auslosen  können^ 
sondern  auch  solche,  die  nach  der  qualitativen  Seite  hin  deutliche  XJntei^ 
schiede  zeigen,  ist  durchaus  richtig.  Wie  eine  und  dieselbe  ^izintensitlt 
an  der  einen  Eörperstelle  als  kaum  oder  nur  schwach  warm,  an  einer 
anderen  als  deutlich  warm  und  an  einer  dritten  etwa  als  sehr  wann 
empfunden  werden  kann,  so  kann  sie  je  nach  dem  Beizorte  auch  gewine 
qualitative  Veränderungen  hervorrufen.  An  einigen  Beizstellen  treten 
beide  Erscheinungen  zusammen  auf,  an  anderen  entweder  die  eine  oder 
die  andere. 

Sodann  kann  auch  die  Beizdauer  die  auftretende  Empfindung  verändern 
und  zwar  ebensowohl  nach  der  intensiven  wie  nach  der  qualitativen  Seite 
hin,  oder  die  Empfindung  kann  sich  nach  beiden  Seiten  hin  xugleich  ver- 
ändern. 

Die  Einzelempfindungen,  welche  sich  auf  diese  Weise,  d.  h.  bei  Appli- 
cation eines  Wärmereizes,  zu  einer  Gesammtempfindung  vereinigen  können, 
sind  bei  ruhiger  Lage  der  untersuchten  Eörperstelle  je  nach  dem  Intensi- 
tätsgrade des  Beizes  somit:  Wärme-,  Kälte-,  Tast-  oder  Deformationf-  nnd 
Schmerzempfindungen.  Je  nach  dem  Zusammenwirken  der  genannten  Em- 
pfindungselemente  würden  sich  folgende  Combinationsmöglichkeiten ergeben; 

Wärme-,  Kälte-,  Tast-,  Schmerzempfindungen. 

Wärme-,  Kälte-,  Schmerzempfindungen. 

Wärme-,  Kälte-,  Tastempfindungen. 

Wärme-,  Tast-,  Schmerzempfindungen. 

Wärme-,  Kälteempfindungen. 

Wärme-,  Tastempfindungen. 

Wärme-,  Schmerzempfindungen. 
Alle  diese  Combinationen  sind  je  nach  der  zu  untersuchenden  Körper- 
stelle, dem  zur  Beizung  benutzten  Apparate  und  der  verwanden  Beixinten* 
sität  möglich. 

Nach  meiner  Erfahrung  verbinden  sich  die  einzelnen  Empfindungen 
zu  einer  Gesammtverbindung,  doch  so,  dafs,  wenn  nicht  intensive  Schmerz- 
empfindungen die  übrigen  völlig  übertönen,  man  aus  der  ersteren  einzelne 
oder  alle  Componenten  herauserkennen  kann.  Und  selbst  im  Falle  des 
Vorherrschens  der  Schmerzempfindung,  in  dem  die  Empfindung  ein  be- 
sonderes Gepräge  annimmt,  kann  man  meistens  in  Folge  der  Ausstrahlung 
der  Wärme  in  benachbartes  Gewebe  den  thermischen  Schmerzreiz  als  solchen 
von  anderen  Schmerzreizen  unterscheiden.  Die  Gesammtempfindung  bildet 
nach  meiner  Erfahrung  gewissermaafsen  den  Grundton,  aus  dem  die  ein- 
zelnen Qualitäten,  sei  es  simultan  oder  successiv,  in  Schwankungen  oder 
im  Wettstreit  heraustönen. 

Um  [die  Tastempfindung  möglichst  auszuschliefsen ,  dürften  sich  an 
Körperstellen,  wo  diese  auch  bei  leisem  Aufsetzen  des  Beizrohres  nicht  zu 
vermeiden  oder  nicht  schnell  vorübergehend  sind,  strahlende  Wärme  oder 


Besprechung.  237 

die  suerst  von  v.  Frbt  verwandte  Methode,  Watte  in  erwärmtes  Vasillin 
sn  tsnchen  und  andere  Mittel,  empfehlen. 

Oftmals  kündigt  sich,  wie  bemerkt,  die  eine  Componente  früher  an^ 
als  die  andere.  Man  kann  so  sahlenmäfsig  bestimmbare  Werthe  erhalten, 
die  ich  jedoch  hier  nicht  mitzutheilen  brauche. 

Von  besonderer  Bedeutung  für  die  qualitative  Färbung  der  jeweils 
tesaliierenden  G^ndempfindung  ist  auch  nach  meinen  Beobachtungen  die 
Eahempfindang,  dann  aber  auch,  wie  bereits  erwähnt,  die  Schmerzempfin- 
dang.  Ich  finde  zunächst,  dafs  die  Schmerzschwelle  an  den  einzelnen 
KBfpei  stellen  etwas  variirt,  sie  liegt  an  der  einen  höher  als  an  der  anderen. 
Man  sieht  dies  schon  an  folgendem  einfachen  Versuch.  Tauche  ich  die 
Nagelphalange  des  linken  Zeigefingers  in  Wasser,  das  constant  auf  49*  G. 
erhalten  wird,  so  bemerke  ich  nach  wenigen  Secunden  auf  der  Dorsalseite, 
•n  den  Rändern,  vom  unter  dem  Nagel  ausgesprochenen  Schmerz,  während 
dieser  auf  der  Volarseite  des  Fingergliedes  nicht  auftritt  Lege  ich  die 
Tolarseite  der  Phalange  auf  die  Oberfiäche  des  Wassers,  so  mufs  ich  das- 
■dbe  bis  anf  61 — 52*  erwärmen,  um  hier  Schmerz  zu  empfinden.  Zuweilen 
kündigt  sich  dabei  die  Schmerzempfindung  an,  ohne  deutlich  ausgesprochen 
so  sein.  Diesen  Zustand  habe  ich  als  schmerzbetont  bezeichnet.  Dafs  auch 
dkser  Znstand  auf  die  Färbung  der  Gesammtempfindung  von  Einflufs  ist, 
bedarf  keines  weiteren  Beweises.  Bei  höheren  Temperaturen  kommt  so- 
dann die  auch  nach  der  Beizdauer  verschiedene  Entwickelung  der  Schmerz- 
empfindnng,  sowie  die  Ausbreitung  des  Reizes  innerhalb  des  Gewebes  nach 
Terschiedenen  Richtungen  hin  in  Betracht.  Es  kann  wohl  als  sicher  an- 
genommen werden,  dafs  auch  die  Empfindungen,  welche  durch  die  die  Gre- 
ftlse  begleitenden  Nerven  ausgelöst  werden,  mitwirken  und  in  die  Gesammt- 
empfindung eingehen.  Nach  den  Erfahrungen,  die  ich  bei  Unterbindung 
TOD  Blutgefälsen  gewonnen  habe,  ist  der  von  diesen  Nerven  ausgelöste 
Schmerz  von  eigenthümlicher  Qualität.  Aufserdem  scheint  es  mir  auch,  dafis 
die  an  einigen  Körperstellen  auslösbaren  Vagusempfindungen  von  eigen- 
artiger Färbnng  sind.  Je  nachdem  einzelne  oder  alle  diese  Empfindungen 
sich  an  der  Grundempfindung  betheiligen  oder  nicht,  mufs  naturgemäfs 
lach  die  qualitative  Färbung  derselben  mitbestimmt  werden. 

Obwohl  sich  nun  zwischen  den  Ergebnissen,  die  der  Verf.  mittheilt, 
and  denen,  zu  welchen  ich  durch  meine  Untersuchungen  geführt  bin,  manche 
Berührungspunkte  finden,  mag  aus  dem  Erwähnten  zur  Genüge  hervorgehen, 
dals  ich  betreffs  des  von  ihm  ausschliefslich  als  Hitzeempfindung  bezeichneten 
Vorgangs  zu  einer  anderen  Auffassung  gelangt  bin.  Ich  kann  nicht  finden, 
daüB  bei  der  Entstehung  der  Hitzeempfindung  die  Kälteempfindung  von  aus- 
schlaggebender Bedeutung  ist,  und  dafs  die  Organe  des  Schmerzsinnes  bei 
diesem  Vorgang  völlig  ausgeschlossen  sind.  Wiederhole  ich  z.  B.  den  vom 
Verl  angegebenen  Versuch,  indem  ich  ein  Reizrohr,  durch  das  bis  auf  45^  C. 
erwärmtes  Wasser  strömt,  auf  die  Volarseite  des  Unterarms,  so  beobachte 
ich  wohl,  dals  die  G^ammtempfindung  Phasen  aufweist,  und  dafs  die- 
selbe je  nach  der  Stelle,  die  man  reizt,  ihre  qualitative  Färbung  wechselt 
(die  Empfindungen  wechseln  vielfach  von  Ort  zu  Ort,  auch  an  anatomisch 
viel  enger  begrenzten  EEautstellen  wie  das  Thenar  und  Antithenar),  aber 
ich  meine    immer  die  einzelnen  Componenten  aus  derselben  herauszuer- 


238  Besprechung, 

kennen.  An  den  meisten  Stellen  empfinde  ich  hier  als  erste  Phase  eine 
ziemlich  intensive  Warmempfindung  und  fast  unmittelbar  darauf  ak  xweita 
die  paradoxe  Kälteempfindung,  die  darauf  mit  der  ersten  verschmilst  oder 
auch  in  Schwankungen  wiedererscheint.  Ebenso  beobachte  ich  aaeh  an 
den  übrigen,  vom  Verf.  als  Musterstellen  für  Hitzeempfindungen  beseidi- 
neten  Stellen  hier  und  da  Empfindungen  von  eigenartiger  Färbung,  die  ich 
aber  doch  nicht  als  specifische  Hitzeempfindungen  bezeichnen  würde. 
Ganz  eigenthümlich  gefärbte  Empfindungen  erhalte  ich  bei  Beicong  der 
inneren  Wange.    Ich  gehe  aber  auf  diese  hier  nicht  weiter  ein. 

Als  Hitzeempfindung,  heifse,  heifsartige  Empfindung  würde  ich  immer 
nur  die  durch  einen  hochgradigen  Wärmereiz  ausgelöste  Empfindung  be- 
zeichnen, die  der  Schmerzgrenze  sehr  nahe,  schmerzbetont  ist^  oder  aber 
sich  auf  der  Schmerzgrenze  befindet,  oder  diese  überschritten  hat.  In 
diesem  Sinne  ist  sie  auch  wohl  bisher  in  der  Forschung  aufgefalat  worden. 
Diese  Empfindung  ist  freilich  von  der  eigentlichen  vollwarmen  Empfindung 
verschieden,  sie  ist  aber  etwas  Anderes  als  die  vom  Verf.  ausschlielslich 
als  Hitzeempfindung  behauptete  Erscheinung.  Das  Gebiet  dieser  Hitie- 
empfindung  auf  der  Körperhaut  ist  sehr  grofs,  sie  findet  sich  auch  auf 
Hautstellen,  die  der  Kältepunkte  gänzlich  ermangeln.  Diese  Empfindung 
ist  auch  nicht  leicht  vorübergehend,  sondern  andauernd  und  steigert  sich 
meistens  bei  Constanterhaltung  des  Reizes. 

Der  Verf.  stützt  sich  bei  seiner  Argumentation  darauf,  dafs  nach  seiner 
Erfahrung  die  „überaus  meisten  Menschen  die  so  hervorgerufene  specifische 
Empfindung  eine  heifse"  nennen.  Hiergegen  dürfte  der  Einwand  erhoben 
werden,  dafs  gar  nicht  alle  Sprachen  ein  besonderes  Wort  für  heifs  besitzen. 
Prüfe  ich  die  Scala  der  verschiedenen  Wärmeintensitäten  an  meinen  italieni- 
schen Schülern  durch,  so  erhalte  ich,  mit  der  Schwelle  beginnend,  etwa  die 
folgenden  Antworten :  Caldo,  ma  pochissimo  —  un  po  caldo  —  ben  caldo  — 
piü  caldo  —  piü  ancora  —  molto  caldo  —  caldissimo  —  intensamente  caldo  — 
brucia  u.  s.  w.  In  den  letzteren  Fällen  ist  der  Reiz  jedoch  immer  schon  schmers- 
haft.  Sehen  wir  von  Einzelheiten  ab,  wie  sie  oben  beschrieben  wurden  (quali- 
tative Färbungen,  Phasen,  Schwankungen),  so  erhalte  ich  (natürlich  mit 
Variationen)  die  gleichen  Antworten,  ob  ich  die  Prüfung  an  Hautstellen 
vornehme,  wo  neben  Wärmeempfindungen  die  Kälteempfindungen  nur  sehr 
schwach  auftreten  oder  die  den  letzteren  entsprechenden  Organe  ganz 
fehlen  (gewisse  Stellen  der  Kopfhaut,  Innenseite  des  Ohrläppchens,  Lücken 
zwischen  den  Kältepunkten  u.  s.  w.),  oder  aber  wo  diese  in  gröDserer  Zahl 
vorhanden  sind.  Was  ich  hier  betonen  möchte,  ist,  dafs  die  intensiv  auf* 
tretenden  Empfindungen,  die  durch  caldissimo,  brucia  u.  s.  w.  bezeichnet 
werden,  immer  auch  auf  einen  hochgradigen  äufseren  Wärmereiz  bezogen 
werden.  Anders  sind  die  Ergebnisse  natürlich,  die  man  an  Stellen  erhält, 
wo  die  Wärmeorgane  fehlen.  Hier  geht  die  Empfindung  von  dem  Zustande 
völliger  Indifferenz  oftmals,  aber  nicht  immer  durch  die  paradoxe  Kalt- 
empfindung hindurch  nach  Schmerz  hinüber.  Sobald  die  Möglichkeit  gegeben 
ist,  dafs  sich  der  Reiz  innerhalb  des  Grewebes  auf  benachbarte  Wärmeorgane 
ausbreiten  kann,  was  sehr  oft  der  Fall  ist,  tritt  zu  dem  Schmerz  die  Wärme- 
empfindung  hinzu.  So  kommt  es,  dafs  man  auch  hier  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  den  thermischen  Schmerzreiz  als  solchen  erkennt 


Besprechtmg,  239 

80  weit  die  Er&Jirangen  reichen,  die  ich  beim  Zusammenarbeiten  mit 
deutschen  und  englisch  redenden  Beobachtern  gewonnen  habe,  bin  ich  auch 
hier  m  dem  ErgebniXis  gekommen,  dafs  mit  den  Ausdrücken  heifs,  hot, 
Hitieempfindongen  (von  heizen,  to  heat)  entweder  hochgradige,  schmerz- 
betonte,  zehmerzhafte  Wärmeempfindungen  bezeichnet  werden,  oder  aber 
solche  Gesammtempfindungen,  in  denen  jene  vorherrschen.  Die  Hitzeempfin- 
dnng  ist  zudem  immer  mehr  oder  weniger  unlustbetont^  während  die  Wärme- 
empfindnng  lustbetont  ist.  Wir  nennen  Wasser  heifs  oder  kochend  heifs, 
wenn  es  bereits  Schmerz  verursacht,  und  es  dürfte  daran  zu  erinnern 
•ein,  dafe  die  Schmerzschwelle  hier  ganz  allgemein  genommen  und  von 
einseinen  Hautstellen  abgesehen  um  60®  G.  herum  liegt.  Ich  kann  daher 
die  Bedeutung,  die  der  Verf.  der  von  ihm  als  Hitzeempfindung  bezeichneten 
Encheinung  beilegt,  nicht  sehen,  und  eben  so  wenig,  warum  gewisse  Haut- 
stellen gerade  deswegen  einen  Vorzug  vor  anderen  haben  müfsten,  zumal 
diese  Empfindung  meist  leicht  vorübergehend  und  ihr  Gebiet  nicht  grofis 
sein  solL  Wird  der  äufserlich  auf  uns  einwirkende  Wärmereiz  z.  B.  zu 
intensiv,  so  avertiren  uns  die  nach  v.  Fbby*s  Untersuchungen  in  grofser 
Zahl  in  der  KOrperhaut  vertheilten  Endigungen  der  Schmerznerven,  dafs 
der  Organismus  in  Grefahr  ist,  und  es  ist  wohl  kein  zufälliges  Zusammen- 
treffen, daÜB  die  thermische  Schmerzgrenze  sehr  nahe  dem  Punkte  liegt, 
wo  gewisse  Eiweifskörper  coaguliren.  Die  Beweisführung  des  Verf.'s,  dafs 
8e]mierzempfindungen  nicht  in  die  Hitzeempfindung  eingehen,  ist  nicht 
stichhaltig.  Wenn  er  den  Reiz  auf  Körperstellen,  die  weder  warm-,  noch 
iaitempfindlich  sind,  nicht  bis  zur  Schmerzschwelle  steigert,  können  auch 
keine  schmerzhaften  Empfindungen  auftreten. 

Die  verschiedenen  Wärmeintensitäten  und  die  daraus  resultirenden 
Empfindungen  kann  man  überdies  sehr  schön  bei  strahlender  Wärme  be- 
obachten, wenn  man  eine  Hautstelle  aus  gröfserer  Entfernung  langsam  einer 
Gasflamme,  einem  Gasgebläse  oder  einem  an  einer  Stelle  glühenden  eisernen 
Ofen  nähert. 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  Ergebnisse,  die  der  Verf.  aus 
Herrn  Thunbebg's  Untersuchungen  anführt  und  die  er  theils  einer  Ver- 
öffentlichung desselben  (Upsala  Läkare  f.  förhandl.  30),  theils  mündlichen 
Hittheilongen  entnimmt.  Indem  Herr  Thunbebg  sich  die  Aufgabe  stellte, 
die  Erscheinungen  zu  untersuchen,  die  bei  gleichzeitiger  Application  von 
Wärme-  und  Eältereizen  an  gleichen  oder  naheliegenden  Hautstellen  ent- 
stehen, bediente  er  sich  messingener  Spiralrollen,  durch  welche  er  ver- 
schieden temperirtes  Wasser  strömen  liefs.  „Als  Thunbebg  Wasser  von 
-r44*  durch  die  eine  und  solches  von  -|-24<>  durch  die  andere  Spirale 
leitete,  erhielt  er  eine  „Mischempfindung",  in  der  man  zwar  sowohl  Wärme-, 
als  Kälteempfindungen  unterscheiden  kann;  sie  sind  jedoch  in  eine  eigen- 
thOniliche  helTsartige  Empfindung  verschmolzen.  „Wenn  man  mit  dem 
Kältereiz  eben  dann  einsetzt,  wenn  die  Wärmeempfindung*'  (der  Verf.  setzt 
hierzu  die  Note,  dafs  es  wohl  Hitzeempfindung  helfsen  sollte,  „da  Messing- 
fpiralen  von  -f-  44^  wenigstens  im  Anfang  solche  auslösen*')  „am  stärksten 
ist^  empfindet  man  es  so,  als  ob  die  Temperatur  ganz  plötzlich  sich  erhöhte 
and  eine  stark  heifsartige  Empfindung  entstände,  so  dafs  man  fast  erwartet, 
man  werde  sich  verbrennen.*'    Am  besten  erhält  man  dieses  Phänomen  nach 


240  Besprechung, 

ihm  an  der  Vola  manus.  Ich  sehe  nicht  recht,  wie  der  Verf.  diesen  schönen 
Versuch  als  Stütze  für  die  von  ihm  als  specifischeHitseempfindongbeseichneto 
Sensation  Benutzen  kann.  Die  Anfangs  erwähnte  Mischempfindiing  scheliit 
mir  eher  mit  dem  übereinzustimmen,  was  ich  oben  dargelegt  habe  und 
wenn  die  zuletzt  erwähnte  heifsartige  Empfindung  mit  der  Vorstellmig; 
sich  zu  verbrennen,  verbunden  war,  so  mufs  wohl  auch  wenigstens  ein 
immaginärer  Schmerz  in  sie  eingegangen  sein. 

Ebensowenig  scheint  mir  die  folgende  Argumentation  beweiskrftftig. 
„Dafs  in  der  Hitzeempfindung  eine  Eälteempfindung  latent  vorhanden  sei» 
findet  Thunbebo  glaublich  auch  in  Folge  einer  pathologischen  Erscheinnni^ 
welche  man  „perverse  Temperaturempfindung **  benannt  hat.^  „Hierdnrdi 
ist  allerdings,''  fahrt  er  fort,  „keineswegs  erwiesen,  dals  der  specifisdie 
Charakter,  der  die  Hitzeempfindung  von  der  gewöhnlichen  Wärmeempfinr 
düng  auszeichnet,  gerade  durch  diese  Kälteempfindung  bedingt  wird.  Es 
könnte  ja  unabhängig  von  ihr  oder  gar  trotz  ihres  Vorkommens  anstatt 
dank  derselben  entstanden  sein.  Die  Frage  nach  der  Bedeutung  der  Efllfte- 
empfindung  hierbei  mafo  ich  daher  unentschieden  lassen."  Herrn  Tamf- 
BBBo*s  Arbeiten,  die  sehr  werthvoU  zu  sein  scheinen,  stehen  mir  leid« 
nicht  zur  Verfügung,  und  ich  kann  daher  nicht  recht  sehen,  was  hier  imt 
latenter  Kälteempfindung  gemeint  ist.  Soweit  ich  aber  sehe,  wäre  aadi 
diese  Stelle  mehr  zu  Gunsten  meiner  Anschauung  als  zu  Gunsten  der  des 
Herrn  Verf.*s  zu  deuten.  Wie  mir  scheint,  erkennt  auch  der  Verf.  hier 
selbst  den  Widerspruch.  Er  ist  offenbar  bemüht,  diesen  auszugleicheii, 
wenn  er  fortfährt:  „Indefs  muls  man  meines  Erachtens,  wenn  man,  wie 
Thünbbbo,  von  der  —  jetzt  als  eine  Thatsache  zu  betrachtenden  —  Vontna* 
Setzung  ausgeht,  dafs  eine,  wie  er  sagt»  „latente"  Kälteempfindung  einen 
Bestandtheil  der  Hitzeempfindung  bilde,  anerkennen,  dafis  das  oben  be- 
schriebene Experiment  einen  hübschen  synthetischen  Beweis  dafür  liefoie^ 
dafs  die  Kälteempfindung  bei  der  Entstehung  der  Hitzeempfindung  in 
günstigem  Sinne  mitwirkt  —  diese  kann  fortan  nicht  mehr  als  troti  der 
Xälteempfindung  entstanden  gedacht  werden.  Dies  gilt  natürlich  aber  nur 
unter  der  Voraussetzung,  dafs  man  auf  diese  Weise  eine  wirkliche  Hitse- 
empfindung  oder  heifsartige  Empfindung  erhalten  hat" 

Dem  Vorstehenden  sei  auch  noch  die  folgende  Ausführung  des  Verlas 
hinzugefügt:  „Ein  Umstand  betreffs  der  heifsartigen  Empfindung,  welche 
die  THijNBEBO*schen  Spiralen  liefern,  ist  der  besonderen  Hervorhebung  werth. 
Diese  Spiralen  ergeben  keineswegs  eine  Erregung  der  Temperaturorgane, 
welche  der  durch  eine  einzige  ununterbrochene  heilse  Reizfläche  bewirkten 
analog  ist.  Denn  die  letztere  reizt  jeden  Kälte-  und  Wärmepunkt  der  ganxen 
fraglichen  Hautfiäche;  die  THüNBEBO*schen  Spiralen  reizen  nur  einige 
Kältepunkte  und  einige  Wärmepunkte.  Femer  werden  offenbar  die 
zwischen  den  verschiedenen  Spiralwindungen  gelegenen  Temperaturpnnkte 
wenig  oder  gar  nicht  gereizt,  da  diese  Hauttheile  sowohl  von  den  warmen 
Spiralen  erwärmt,  als  von  den  kalten  abgekühlt  werden,  wenn  ich  mich 
dieser  Ausdrucksweise  bedienen  darf.  Da  man  nichtsdestoweniger  aof  diese 
Weise  eine  Steigerung  der  Hitzeempfindung  zu  Stande  bringt,  ist  man 
nach  meinem  Dafürhalten  berechtigt,  anzunehmen,  daCs  dieses  Experiment 
^nt  die  Bedeutung  der  Kälteempfindung  für    die  Hitseempfindnng  hin- 


Besprechung.  241 

veist.  Zugestehen  mufs  man  jedoch,  dalls  das  obige  Phänomen  gar  nicht 
leicht  zu  beobachten  ist.  Leichter  zu  constatiren  ist  die  Thatsache  bei 
{Dlgendem  Versuch,  den  Thünbbbo  mir  neulich  mitgetheilt  hat: 

^Wenn  man  Wasser  -\-45^  längs  eines  Fingers  rinnen  läfst,  und  einen 
Strahl  lOgradigen  Wassers  gegen  die  Fingerspitzen  richtet,  hat  man  oft  die 
£mpfindungy  dals  die  Temperatur  sich  steigert."    £r  fährt  fort: 

^In  der  That  finde  auch  ich,  dafs  die  Hitzeempfindung,  die  man  von 
dem  45 gradigen  Wasser  bekommt,  durch  das  Hinzutreten  des  lOgradigen 
Wassers  an  Intensität  zunimmt." 

Herr  Thunbbbg  spricht  aber  nur  davon,  dafs  die  Temperatur  sich 
steigert. 

Lassen  wir  hier  die  Hitzeempfindung  aufser  Betracht  (die  Fingerhaut 
gebort  nicht  zu  des  Verf.'s  Musterstellen  für  Hitzeempfindungen),  so  dürfte 
der  Versuch  auch  bei  einfachen  Wärmeempfindungen  gelingen.  Versuchs- 
ergebnisse,  die  ich  selbst  bei  Untersuchungen  über  Contrasterscheinungen 
im  Gebiete  der  Temperaturempfindungen  fand  und  die  nicht  veröffentlicht 
wurden,  nOthigen  mich  zu  der  Annahme,  dafs  es  sich  auch  bei  diesem 
imd  einem  der  vorstehenden  Versuche  einfach  um  den  Temperaturcontrast 
handelt.  Hierbei  darf  wohl  vorausgesetzt  werden,  dafs  die  Dauer  der  Reiz- 
einwirkung berücksichtigt  wurde ;  denn  die  Wärmeempfindung  pfiegt  nicht 
mit  der  vollen  Litensität  einzusetzen,  sondern  sich,  wie  schon  Goldschsideb 
fuid,  allmählich  zu  entwickeln,  so  dafs,  wenn  man  die  Beizdauer  nicht  in 
Betracht  zieht,  eine  Täuschung  entstehen  kann. 

Wenn  endlich  die  Empfindungen  der  Kälte  und  der  Wärme  in  so 
enger  Beziehung  zu  einander  stehen,  wie  der  Verf.  ausführt,  wenn  aus  der 
gieichzeitigen  Beizung  der  betreffenden  Endorgane,  die  wir  freilich  noch 
nicht  kennen,  die  wir  aber  nach  allen  bisher  gewonnenen  Erfahrungen 
Toraussetzen  müssen,  eine  dritte  Temperaturempfindung  von  durchaus 
inderer  Beschaffenheit  resultiren  sollte  und  die  beiden  Empfindungen,  wie 
achon  aus  Hebino*s  und  Goldscheideb's  Versuchen  hervorgeht  und  wie  ich 
aas  eigenen  Erfahrungen  vielfach  erkennen  konnte,  in  einem  Contrastver- 
hältnifs  zu  einander  stehen,  so  würde  ich  nicht  von  zwei  Temperatur- 
finnen  reden,  sondern  einen  Temperatursinn  anzunehmen  vorziehen, 
dem  zwei  verschiedene  Empfindungsqualitäten,  die  der  Kälte  und  der  Wärme 
angehören. 

Ich  benutze  gleichzeitig  diese  Gelegenheit,  um  einige  Unrichtigkeiten 
zurückzuweisen,  die  dem  Verf.  in  seiner  ersten  Mittheilung  „Studien  auf 
dem  Gebiete  der  Temperatursinne"  [ßkand.  Arch,  f.  Fhys.  10)  bei  der  Be- 
sprechung und  Beurtheilung  meiner  Arbeit  „Untersuchungen  über  Tem- 
peraturempfindungen"  (FhÜos.  Stud.  11,  135  f.)  untergelaufen  sein  dürften. 

Der  Verf.  leitet  diese  Arbeit  ein  wie  folgt:  „Bekanntlich  hat  Magnus 
Blix  (1883 — 1884)  zuerst  dargethan,  dafs  die  verschiedenartigen,  durch  die 
Haut  zu  vermittelnden  Sinnesempfindungen  nur  von  bestimmten  Sinnes- 
punkten auf  derselben  auslösbar  sind.  Demgemäfs  fand  er  unter  anderen 
Sinnespunkten  sogen.  Wärme-  und  Kältepunkte,  indem  er  nachwies,  dafs 
nur  gewisse,  genau  bestimmte  Hautpuukte  Kälteempfindungen  erregen 
(wenn  sie  durch  Inductionsströme  oder  kalte  Spitzen  gereizt  werden),  und 
Zeitfduift  für  Psychologie  26.  16 


242  Besprechung. 

dafs  gewisse  andere,  ebenfalls  genau  bestimmte  Hautpunkte  Wärmeempfin- 
dungen  liefern  können  (wenn  sie  durch  Inductionsströme  oder  warme 
Spitzen  gereizt  werden).  Diese  Beobachtungen  wurden  später  von  Gold- 
scheider  (1885),  DoNALDSON  (1885),  v.  Frey  (1895)  u.  A.  bestätigt.  IndelJB  wurde 
die  Richtigkeit  der  Bux'schen  Entdeckung  letzthin  von  anderer  Seite  mehr 
oder  weniger  bestritten  —  von  Dessoir  (1892)  und  Kiesow  (1895).  Da  deren 
Resultate  sich  aus  einer  irrigen  Methodik  und  der  Ermangelung  nöthiger 
Vors  ich  tsmaafsregeln  ergeben  haben  dürften,  finde  ich  es  zweckmälsig,  mit 
einigen  Worten  einleitungsweise  bei  den  meines  Erachtens  behufs  der  Er- 
reichung eines  richtigen  Resultates  nothwendig  zu  berücksichtigenden  Ver- 
hältnissen zu  verw^eilen." 

Uns  werden  dann  die  seines  Erachtens  nöthigen  VorsichtsmaaTsregeln 
ertheilt  und  es  wird  fortgefahren:  „Obgleich  man  meinen  wird,  dafs  die 
Vorsicht  von  vornherein  solche  Maafsregeln  gebieten  sollte,  scheinen  die 
beiden  vorerwähnten  Forscher  sie  dennoch  nicht  beobachtet  zu  haben. 
Denn  nur,  wenn  man  eine  solche  Vergefslichkeit  voraussetzt,  wäre  es  wohl 
möglich  zu  verstehen,  in  welcher  Weise  sie  zu  ihren  Behauptungen  ge- 
kommen seien.    (Ich  werde  später  wieder  hierauf  zurückkommen.)" 

Was  Dessoir  betrifft,  so  liegt  es  an  ihm,  sich,  wenn  er  es  für  nöthig 
hält,  selbst  zu  vertheidigen,  aufserdem  wurden  seine  Ausführungen  bereits 
in  ruhiger  und  objectiver  Weise  von  Goldscheider  (diese  Zeitschrift  5,  117) 
besprochen. 

Eine  andere  Frage  aber  ist  die,  wie  weit  der  Verf.  das  Recht  besitzt 
oder  es  sich  anmaafsen  darf,  mich  mit  Dessoir  ohne  Weiteres  zusammen- 
zuwerfen. Jeder,  der  unsere  Arbeiten  nur  oberflächlich  prüft,  mufs  auf  den 
ersten  Blick  erkennen,  dafs  es  sich  hier  um  gänzlich  verschiedene  Aul- 
fassungen handelt.  Dessoir  kam  durch  seine  Untersuchungen  zu  dem  Ev- 
gebnifs,  dafs  es  sich  bei  den  Kälte-  und  Wärmepunkten  um  Kunsterzeug- 
nisse  handelt,  ich  habe  die  Befunde  von  Blix,  Goldscheider  und  Donalosov 
in  allen  Einzelheiten  bestätigen  können  bis  auf  den  einen  Punkt,  dafs  man 
auch  von  den  Kältepunkten  aus  unter  Umständen  Wärmeempfindungen 
erregen  könne,  obwohl  es  mir  nicht  gelungen  sei,  von  den  Wärmepunkten 
aus  umgekehrt  Kälteempfindungen  zu  erzeugen,  wobei  die  verwandten 
Temperaturen  im  ersten  Falle  von  45 — 47  <^,  im  zweiten  von  —  5  bis  —  6®C. 
waren.  Ich  spreche  daher  dem  Verf.  das  Recht  ab,  die  Ergebnisse  Dessoib^s 
und  meine  eigenen  ohne  Weiteres  von  gleichen  Gesichtspunkten  aus  za 
beurtheilen  und  meine  Arbeit  in  ein  falsches  Licht  zu  stellen.  Wie  weit 
meine  Anschauungen  sich  in  anderen  Punkten  mit  denen  Dessoir's  berühren, 
ist  eine  Sache,  die  darzulegen  ich  mich  Herrn  Alrütz  gegenüber  nicht  für 
verpflichtet  halte. 

Der  Verf.  kommt  dann  S.  325  seiner  Arbeit  auf  mich  zurück  und 
schliefst  den  betreffenden!  Passus:  „ich  bin  weder  willens  zu  bestreiten, 
noch  vermag  ich  es,  dafs  die  von  Kiesow  entdeckten,  bezeichneten 
und  nachher  durch  inadäquate  Mittel  gereizten  Punkte  thatsächlich 
inadäquate  Empfindungen  erregten;  das  wage  ich  aber  zu  behaupten:  dies 
wäre  nicht  der  Fall  gewesen,  wenn  der  Reiz  hinlänglich  punktuell  ange- 
bracht worden  wäre  und  mit  der  wirklich  möglichen  und  nothwendigen 
Genauigkeit    den    fraglichen    Temperaturpunkt    getroffen  hätte.     Die   ab- 


Besprechung.  243 

schlielseiide  Behauptung  Kissöw's:   „Doch  glaube  ich  auf  Grund  der  ge- 
machten Erfahrung  schon  jetzt  aussprechen  zu  können,  dafs  die  grofse 
Mehrzahl    der    Eältepunkte    der    Haut   zugleich    für    Wärme 
empfindlich  isf   (8.  185,)    möchte  demnach  betreffs  einer  gröberen 
rntersuchung  sehr  wahrscheinlich  sein:  in  Bezug  auf  diejenigen  Kälte- 
punkte,  welche  mit  der  wirklich    erhältlichen   Genauigkeit   punktuell  be- 
zeichnet und  gereizt  werden,  gilt  jene  Folgerung  meines  Erachtens  nicht.*' 

Was  den  Verf.  zu  dieser  gereizten  Schreibart  getrieben  hat,  weifs  ich 
nicht  und  ist  mir  unverständlich,  sie  ist  auch  eine  Sache  für  sich,  die  auf 
ihn  selbst  zurückfällt.  Er  besitzt  aber  kein  Recht,  Unrichtigkeiten  in  die 
Controverse  einzuführen.  Ich  habe  nicht  beansprucht,  neue  Punkte  ent- 
deckt zu  haben,  die  von  mir  gefundenen  waren  mit  Methylviolett  be- 
zeichnet, einem  Färbemittel,  das  nach  mir  auch  von  Herrn  Albütz  still- 
schweigend benutzt  wurde,  und  es  handelt  sich  nicht  um  inadäquate 
Mittel,  sondern  um  ein  inadäquates  Mittel,  den  Wärmereiz. 

Was  den  Streitpunkt  selbst  betrifft,  so  behauptet  der  Verf.,  „dafs  die 
Xältepunkte  durch  keinen  einzigen  bekannten  Reiz  zur  Auslösung  einer 
Wärmeempfindung,  umgekehrt  die  Wärmepunkte  nicht  zur  Auslösung  einer 
Eälteempfindung  zu  bewegen  waren ;  schliefslich,  dafs  die  zwischen  diesen 
Punkten  gelegenen  Hautstellen  demnach  keiner  Temperaturempfindung 
fähig  sind.**  Er  fährt  fort:  „So  war  kein  einziger  Hautpunkt  auffindbar, 
welcher,  auch  wenn  er  Anfangs  unter  gröberen  Spitzen  sowohl  eine  Wärme- 
als  auch  eine  Kältesensation  lieferte,  daran  festhielt,  falls  der  Reiz  hin- 
reichend punktuell  applicirt  wurde."  Den  Kältepunkt  konnte  der  Verf. 
mit  einem  scharf  zugespitzten  BLix'schen  Rohre  reizen,  durch  welches  biff 
lof  -f- 100  ®  C.  erwärmtes  Wasser  strömte ,  ohne  dafs  hier  weder  Wärme 
noch  Schmerz  auftrat. 

Ich  habe  dagegen  gefunden,  dafs  man  von  den  Kältepunkten  Wärme- 
empfindungen  erzielen  könne.  Es  sei  nochmals  erwähnt,  dafs  dies  der 
einzige  Punkt  ist,  gegen  den  der  Verf.  seinen  Angriff  zu  richten  vermochte,  und 
(laXs  ich  im  Uebrigen  die  Annahme  getrennter  Empfindungspunkte  und  manches 
andere  durchaus  bestätigt  gefunden.  Ich  habe  hiermit  nur  ausgesprochen, 
Tss  ich  unter  den  durchaus  eindeutig  bezeichneten  Bedingungen  gefunden 
hatte,  ohne  auf  irgend  welche  Discussion  einzugehen  und  ohne  irgend  einem 
der  übrigen  Forscher  zu  nahe  zu  treten  oder  zu  beschuldigen.  Aus  dieser 
stelle  war  demnach  an  sich  nichts  Anderes  zu  entnehmen  als  die  Thatsache 
selbst,  die  der  Verf.  wohl  auch  nicht  umhin  kann  zu  bestätigen.  Sie  ist 
eben  unleugbar  gewifs,  nicht  nur  „sehr  wahrscheinlich".  Ich  irre  vielleicht 
auch  nicht,  wenn  ich  vermuthe,  dafs  der  Verf.  durch  diesen  Befund  erst 
znr  Anwendung  scharf  zugespitzter  Cylinder  geführt  ward.  Wenn  ich  da- 
nials  solche  nicht  benutzte,  sondern  die  Spitze  ein  wenig  abzurunden  suchte, 
sf>  war  ich  hier  nur  den  Vorschriften  der  Entdecker  der  vorliegenden  That- 
sachen  gefolgt,  denen  der  Verf.  wohl  kaum  Vergefslichkeit,  Ermangelung 
nOthiger  Vorsichtsmaafsregeln,  irrige  Methode  u.  s.  w.  vorzuwerfen  wagen 
dürfte.  Ich  that  dies,  um  die  bei  der  Application  des  Reizcylinders  mit  der 
Hand  leicht  auftretenden  schmerzhaften  Eindrücke,  die  mir  störend  schienen, 
tuazuschliefsen  und  ich  sah  hierin  umsoweniger  einen  Versuchsfehler,  als 

16* 


244  Besprechung. 

ich  im  Verhältnifs  zur  Anzahl  der  Kältepunkte  nur  eine  geringe  Zahl  von 
Wärmepunkten  finden  konnte,  die  gleichzeitige  direete  Beizung  eines  Wärme- 
punktes somit  ausgeschlossen  war.  Diese  Thatsache,  daüis  die  Anzahl  der 
Warmpunkte  geringer  ist  als  die  der  Kaltpunkte,  wurde  auch  von  anderen 
Forschern  hervorgehoben.  Wenn  der  Verf.  demnach  in  seiner  oben  be- 
sprochenen Abhandlung  (S.  346)  es  als  bekannt  hinstellt,  dals  die  Kälte- 
und  Wärmepunkte  einander  gewöhnlich  sehr  nahe  liegen,  so  steht  er  z.  B. 
zu  Blix  und  auch  zu  Anderen  in  einem  directen  Gegensatz.  Blix  hebt 
mehrmals  ausdrücklich  hervor,  dafs  dies  nur  ausnahmsweise  der  Fall 
ist.    Die  Temperaturpunkte  sind  zudem  noch  nicht  die  Temperatarorgane. 

Es  ist  aufserdem  von  anderen  Forschern  hervorgehoben,  dafs  man 
auch  aufserhalb  der  Sinnespunkte  Kälte-  wie  Wärmeempfindungen 
hervorrufen  kann  (Goldscheideb,  Lehmann),  bei  flächenhafter  Reizung  habe 
ich  hier  für  die  Kaltempfindung  selbst  einen  messenden  Versuch  mitge- 
theilt  (S.  139)  und  eine  Erklärung  versucht.  Der  Verf.  steht  somit  auch 
mit  diesen  Angaben  in  Widerspruch. 

Hierzu  kommt,  dafs  die  Bestimmbarkeit  der  eigentlichen  Wärmepunkte, 
d.  h.  die  Protection  der  peripherischen  Wärmeorgane  auf  die  Hautfläche 
äufserst  schwierig  ist,  und  es  ist  durchaus  noch  fraglich,  ob  wir  vor  Kennt- 
nifs  der  anatomischen  Verhältnisse  die  Vertheilung  der  Wärmepunkte  inner* 
halb  einer  Hautfläche  überhaupt  genau  werden  bestimmen  können.  Ich 
selbst  zweifle  daran.  Die  Schwierigkeiten  sind  hier  fast  unüberwindbar. 
Bei  verschiedenen  Wärmegraden  erhält  man  mit  dem  Reizrohre  eine  ver- 
schiedene Anzahl  von  Punkten.  Die  Resultate  sind  auch  verschieden  an 
verschiedenen  Tagen.  Höhere  Grade,  wie  sie  der  Verf.  angiebt,  rufen  bei 
mir  immer  Schmerz  und  Ausstrahlung  hervor.  Die  Wärmepunkte  sind 
auch  nicht  so  punktartig  wie  die  Kältepunkte,  und  die  ihnen  entspreehende 
Empfindung  ist  nicht  so  blitzartig  und  bestimmt  wie  die  der  letzteren.  Die 
gefundenen  Resultate  dürfen  daher  immer  nur  unter  Rücksichtnahme  auf 
die  Bedingungen  beurtheilt  werden,  unter  denen  sie  gefunden  wurden. 
Vor  Allem  ist  hier  auch  die  Reizdauer  und  die  Temperatur  der  Umgebung 
zu  berücksichtigen. 

Angesichts  dieser  Schwierigkeiten  und  der  Widersprüche  in  den  An- 
gaben der  Entdecker  selbst  (die  Anzahl  der  Wärmepunkte  wie  der  Tem- 
peraturpunkte überhaupt  ist  bei  Goldscheider  ungleich  gröfser  als  bei  Blec, 
ich  selbst  bin  im  Allgemeinen  immer  mehr  von  der  Richtigkeit  der  von 
ihm  angegebenen  Vertheilung  überzeugt  worden)  glaubte  ich  mich  des 
näheren  Eingehens  auf  Einzelheiten  enthalten  und  mich  mit  der  Wieder- 
gabe dessen,  was  ich  an  Anderen  und  mir  selbst  gefunden,  begnügen  lu 
dürfen.  Dafs  auf  nicht  warmempfindlichen  Hautstellen  auch  auf  den  Kälte- 
punkten keine  Warmempfindung  auftreten  kann,  ist  selbstverständlich  und 
von  mir  nicht  behauptet  worden.  Die  Thatsache  selbst  ist  ebenso  von  Herrn 
W.  Nagel  {diese  Zeitschr.  10,  277)  bestätigt  worden.  Ich  dürfte  wohl  auch 
eine  Bestätigung  in  den  unter  Herrn  A.  Könio's  Leitung  von  Kelchker  und 
RosBNBLUH  ausgeführten  Beobachtungen  (diese  Zeitschr.  21,  174)  erblicken. 
(Es  reagirten  nach  deren  Angaben  beispielsweise  von  73  Kältepunkten  63 
auf  Wärme.     In  anderen  Punkten  kann  ich  dieser  Arbeit  nicht  durchweg 


Besprechung.  245 

znetimmen  und  komme  auf  sie  in  einer  demnächst  erscheinenden  Abhandlung 
zurück.) 

Selbst  und  mit  meinen  Schülern  zusammen  habe  ich  auf  diesem  Ge- 
biete  weiter  gearbeitet  und  zwar  mit  Hülfsmitteln,  die  hinter  denen  des 
Yerf.*s  nicht  zurückstehen  dürften.  Wenn  ich  mich  bisher  nicht  ent» 
»rhlielsen  konnte»  die  Ergebnisse  zu  veröffentlichen,  so  liegt  der  Grund 
hierfür  darin,  dafs  ich  die  Arbeit  oft  unterbrechen  mufste  und  dafs  mir 
bei  den  angegebenen  Schwierigkeiten,  die  man  bei  der  Bestimmung  der 
Wftnnepunkte  antrifft,  ich  gestehe  dies  offen,  der  Muth  dazu  fehlte.  Wie 
bemerkt,  wird  das  Versäumte  in  nächster  Zeit  nachgeholt  werden. 

Ich  arbeite  seit  langer  Zeit  und  lange  bevor  ich  etwas  von  Albutz 
wafste,  mit  zugespitzten  Reizrohren,  die  ich  nicht  nur  mit  der  Hand, 
sondern  auch  durch  einen  Trieb  bei  Anwendung  des  Zimmermann 'sehen 
Ulliversalstativs  applicire.  Aber  auch  unter  diesen  Bedingungen  reagiren 
viele  Kältepnnkte  warmfund  zwar  so,  dafs  zuweilen  die  paradoxe  Kälteempfin- 
dang  aus  der  Wärmeempfindung  herausblitzt  oder  dafs  die  erstere  gleichsam 
von  einem  warmen  Nimbus  umgeben  ist  oder  aber,  dafs  die  Wärmeempfin- 
dung  allein  auftritt,  oftmals  nach  einer  Latenzperiode.  Die  Zahl  ist  bei  An- 
wendung einer  so  geringen  Reizfiäche,  wie  zu  erwarten  steht,  vermindert, 
irie  Oberhaupt  das  Auffinden  von  Warmpunkten  mit  spitzen  Rohren,  wie 
:«chon  Blix  andeutet,  erschwert  ist,  aber  die  Erscheinung  selbst  ist  nicht 
aufgehoben.    Man  müfs  zudem  die  Reizintensität  meistens  steigern. 

Nach  allen  Erfahrungen  bin  ich  der  Meinung,  dafs  man  hier  der  intra- 
eellolaren  Ausbreitung  der  Wärme  auf  die  eigentlichen  Wärmeorgane  oder 
deren  Nerven  Rechnung  zu  tragen  hat,  einer  Anschauung,  zu  der  ich  be- 
sonders auch  bei  der  Untersuchung   von  Narbengewebe  geführt  bin  (vgl. 
L  Agliardi,   Ricerche   int.  al   senso  della  temperatura,  R.  Äccad.  di  Med. 
di  TorinOy  12  maggio  1899),    Es  ist  aber  damit  nicht  jedes  Geheimnifs  ge- 
Iöj*t,  ich  komme  in  meiner  Abhandlung  darauf  zurück.    Nochmals:  die  An- 
zahl der  eigentlichen  Warmpunkte,  Punkte,  die  immer  und  auch  bei  in- 
idäquaten  Reizen  reagiren,  ist  sehr  gering.    Wahrscheinlich  liegen  aber  die 
Warmorgane,   wie  schon  Andere  vermutheten,   tiefer  als  die  Kälteorgane 
and  es  ist  anzunehmen,  dafs  wir  nicht  alle  Warmorgane  mit  Sicherheit  auf 
die  Haut  projiciren  können. 

Ungleich  besser  als  bei  Application  von  Reizrohren  gelingt  uns  die 
Bestimmung  der  Wärmepunkte  mittels  des  von  mir  beschriebenen  Thermo- 
ästhesiometers  (Philos.  Stud.  14,  Ö83).  Wie  der  Verf.  es  fertig  bringt, 
Beize  von  100®  C,  die  bereits  zerstörend  auf  das  Gewebe  einwirken 
dürften,  auf  den  Kältepunkten  nicht  schmerzhaft  warm  (brennend  heifs)  zu 
empfinden,  kann  ich  nach  Erfahrungen,  die  ich  an  meiner  Haut  gewann, 
nicht  begreifen.    Es  mag  aber  hier  individuelle  Unterschiede  geben. 

Im  Uebrigen  kann  ich  dem  Herrn  Verf.  bemerken,  dafs  ich  seit  vielen 
Jahren,  sei  es  durch  Vorlesungen,  in  praktischen  Uebungen,  bei  der  Beauf- 
ficbtignng  von  Arbeiten  im  Laboratorium  oder  durch  die  Demonstration 
vor  Freunden  und  Bekannten  vielleicht  mehr  für  die  Ausbreitung  der  vor- 
liegenden Thatsachen  gethan  habe,  als  ihm  bekannt  sein  dürfte.  Grofse 
Entdeckungen,  zu  denen  die  BLix-GoLDScHEiDER-DoNALDSON'sche  ohne  Zweifel 
gehört,    bedürfen    eben  oft  langer  Zeit,    bevor   sie  sich  der    allgemem^ii 


246  Besprechung. 

Anerkennung  erfreuen,  man  wird  sie  von  immer  neuen  Gesichtspunkten 
prüfen,  bevor  man  sie  dem  bisherigen  Schatze  des  Wissens  zuordnet,  und 
dieser  Lauf  kann  nicht  dadurch  aufgehalten  werden,  dafs  Jemand  ihm  mit 
Kedensarten  wie  irrige  Methode,  Ermangelung  nöthiger  Vorsieh tsmaaüs* 
«rgeln  u.  dgl.  entgegentritt. 

Während  diese  Abhandlung  im  Druck  war,  erhielt  ich  von  Dr.  Sommer 
den  kürzlich  von  ihm  veröffentlichten  Vortrag:  lieber  die  Zahl  der 
Temperaturpunkte  der  äufseren  Haut  {Würzburger  Berichte  1901; 
ein  Referat  darüber  aus  meiner  Feder  ist  weiter  unten  auf  S.  267  in  dem 
vorliegenden  Bande  dieser  Zeitschrift  abgedruckt).  Wie  ich  sehe,  fand  auch 
er,  wie  Agliardi  und  ich  eine  geringere  Anzahl  von  Punkten,  besonders 
von  Warmpunkten.  Ebenso  verlangt  auch  er  beim  Aufsuchen  der  Punkte 
Berücksichtigung  der  Temperatur  der  Umgebung. 

Eben,  wo  ich  die  Correctur  dieser  Arbeit  beendet  habe,  erscheint  das 
neueste  Heft  dieser  Zeitschrift  (25, 4\  in  dem  Alrutz  auf  S.  263  f.  ein  Referat 
der  in  schwedischer  Sprache  erschienenen,  scheinbar  sehr  werthvollen 
Abhandlung  Thunberg's  mittheilt. 


Literaturbericht. 


Th.  Ribot.    La  Psychologie  de  1889—1900.    Discoars  d'oavertare  da  lYe  Gongris 
iitenational  de  psycbologie.    Revue  sdoitifique  14  (12),  353—356.    1900. 

R.,  der  Präsident  des  letzten  Congresses  für  Psychologie,  giebt  in 
seiner  Eröffnungsrede  eine  knappe  üebersicht  ttber  die  Fortschritte,  welche 
die  Psychologie  seit  ihrem  ersten,  gleichfalls  in  Paris  stattgehabten  Con- 
gresse  gemacht  hat.  Er  constatirt  mit  Freuden  die  ungeheure  Entwickelung, 
zugleich  aber  auch  mit  einem  gewissen  Bedauern  das  Zerfliefsen  ins  Breite, 
die  Vereinzelung  und  Decentralisation,  welche  üebersicht,  Orientirung  und 
Zusammenfassung  immer  mehr  erschwert.  Bei  der  Durchmusterung  der  Einzel- 
gebiete fällt  ihm  die  Ungleichmäfsigkeit  auf,  mit  der  sich  die  Arbeit  auf  sie 
Tertheilt.  In  einigen  Sphären,  z.  B.  dem  Empfindungsgebiet,  herrscht  nahezu 
Hypertrophie,  während  andere,  die  Psychologie  der  höheren  Functionen 
iz.  B.  der  logischen),  die  Socialpsychologie  etc.  eine  gewisse  Zurücksetzung 
erfahren  haben.  W.  Stern  (Breslau). 

G.  Villa.    La  qaestion  des  mitbodes  en  psycbologie.    Revue  sdentifigtie  14  (12), 

357—362.    1900. 

Der  auf  dem  Pariser  Congrefs  gehaltene  Vortrag  läfst  der  Reihe  nach 

<iie  Methoden  der  experimentellen,  der  physiologischen,  der  genetischen 

Kinder-,  Völker-,  Thier)  Psychologie  Revue  passiren,  um  schliefslich  darauf 

hinzuweisen,  dafs  all  diese  Verfahrungsarten  nicht  etwa  die  einzige  Methode 

der  alten  Psychologie,  die  Selbstbeobachtung,  überflüssig  machen,  sondern 

ihrer  als  Ergänzung  ebenso  bedürfen,  wie  sie  selbst  jene  zu  ergänzen  und 

eiacter  zu  gestalten  berufen  sind.  W.  Stebn  (Breslau). 

£.  Kbetschmeb.    Die  Ideale  and  die  Seele.    Ein  psychologischer  Henernngsver- 
snchy  nebst  einem  logischen  Anbang:    Zar  Lebre  vom  Urtbeil.     Leipzig, 

Hermann  Haacke,  1900.    168  S. 

Wie  schief  das  Urtheil  über  so  manches  Buch  ausfallen  müfste,  wenn 

man  an  dasselbe  mit  einem  von  vorneherein  festgelegten  Standpunkt  und 

3{aarsstab  herantreten  würde,  kann  wiederum  einmal  an  dem  Büchlein  des 

Pfarrers    Kbetschmeb    erfahren    werden.      Von    den    Voraussetzungen    der 

heutigen  strengen  Fachpsychologie  ausgehend  würde  man  „Die  Ideale  und 

die  Seele''  mit  Bedauern  über  den  Zeitverlust  hinlegen,  als  populär-psycho- 

kigisches   Bekenntnifs  eines  nach  Orientirung    strebenden  Nichtzünitigeu 


248  Literaturberichi. 

dagegen  ist  die  Erscheinung  keineswegs  ohne  Sinn  und  Werth.  Der  Verf. 
mag  vielleicht  gegen  eine  solche  Zuordnung  protestiren:  WissenBchaftliche 
Gröfsen  von  anerkannter  Bedeutung,  Lotze,  Wündt,  Siowabt  (letzterem  ist 
das  Buch  gewidmet)  haben,  wie  sich  allenthalben  zeigt,  bei  seiner  Arbeit 
Gevatter  gestanden.  —  Doch  nun  zum  Inhalte. 

Im  ersten  Capitel  setzt  sich  der  Verf.  mit  Wundt  aus  einander  (dessen 
Anerkennung  innerer  Willenshandlungen  er  beipflichtet),  dann  durcheilt  er 
mit  grofsen  Schritten,  vielfach  von  Lotzb  geleitet,  das  „sinnliche  Seelen- 
leben", das  „höhere  Geistesleben",  die  „Erkenntnifs",  die  „Wahrnehmung 
und  Vorstellung",  das  „Gefühlsleben  und  Triebleben",  lieber  Einzelheiten 
in  diesen  Abschnitten,  wie  beispielsweise  über  die  Behauptung,  dafs  jede 
Empfindung  erst  „durch  öftere  Wiederholung  derselben  ihre  volle  Stärke 
und  Deutlichkeit"  erhalte  (S.  39),  wollen  wir  nicht  streiten,  ebensowenig 
über  die  Unklarheit  im  System  der  Stoffanordnung.  Es  sei  vielmehr  so- 
gleich über  einige  Grundgedanken  des  ersten  Theiles  berichtet.  —  Der 
Verf.  unterscheidet  zwei  Grundkräfte  der  Seele,  eine  gestaltende  Kraft 
als  das  Gemeinsame  aller  Wahrnehmungen,  Gefühle,  Triebe  und  Hand- 
lungen, und  eine  erhaltende  Kraft,  das  Gedächtnifs  im  weitesten  Sinne 
(S.  99).  Die  gestaltende  Kraft  in  der  äufseren  und  inneren  Wahrnehmung 
tritt  (wie  schon  Lotze  lehrte)  in  drei  Stufen  zu  Tage,  als  „Empfindung  (Vor- 
stellung) mit  rein  sinnlichem  Inhalte",  als  „Anschauung",  welche  sich  auf 
räumliche  und  zeitliche  Verhältnisse  bezieht,  und  als  „Erkenntnifs",  näm- 
lich der  logischen  Verhältnisse  der  Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit,  der 
Gleichheit  und  des  Gegensatzes.  „Im  Mittelpunkte  der  Seele,  entsprechend 
den  rundlichen  Ganglienzellen  der  grauen  Hirnrinde  (?),  stehen  die  Gefühle 
und  Triebe,  in  denen  sich  die  Seele  sozusagen  in  sich  selbst  bewegt  .  .  ." 
In  der  „Selbstthätigkeit"  endlich  findet  das  Triebleben  seine  Vollendung. 
Diese  Gliederung  entspricht  der  Erfahrungsthatsache,  dafs  die  Seele  im 
Ganzen  drei  Seiten,  eine  centripetale  (Empfänglichkeit),  eine  centrale 
(Gefühl-  und  Triebleben)  und  eine  centrifugale  (die  Selbstthätigkeit)  aufweise. 

In  den  folgenden  Abschnitten  der  Schrift  geht  der  Autor  daran,  „den 
psychologischen  Ort,  sowie  den  wesentlichen  Sinn  und  Inhalt"  der  altbe- 
währten ^Ideale  des  Guten,  Schönen  und  Wahren",  welche  der  „Voraus- 
setzung eines  persönlichen  Gottes"  nicht  entrathen  können,  zu  beschreiben. 
Der  im  Titel  des  Buches  angekündigte  „Neuerungsversuch"  kann  in  diesen 
Ausführungen  wohl  schwerlich  gefunden  werden,  wenn  sich  auch  hier  der 
Verf.  als  belesener,  schriftstellerisch  gewandter  Mann  erweist. 

Die  besten  Abschnitte  des  ganzen  Haupttheiles  sind  unseres  Erachtens 
jene  über  die  logischen  Gefühle  (S.  67),  über  das  Triebleben  (S.  74)  und 
über  das  sinnlich  Angenehme  (S.  112). 

Der  Anhang  über  das  Urtheil  bewegt  sich  in  der  Hauptsache  in  der 
Lehrrichtung  Siowart's,  doch  weicht  der  Verf.  von  diesem  in  einer  Herzens- 
angelegenheit durch  die  richtige  Behauptung  ab,  dafs  das  negative  Unheil 
nicht  durchwegs  ein  solches  über  ein  versuchtes  bejahendes  Urtheil 
sei  (S.  163).  Auch  die  Eintheilung  der  Urtheile  in  Urtheile  der  Einordnung 
und  räumlich  zeitlichen  Verbindung  einerseits  und  solche  der  Beiordnung 
und  Unterordnung  andererseits  ist  selbständig  entwickelt.  Als  Kesultat 
der  Untersuchung  des  Anhangs  stellt  der  Verf.  den  Satz  hin:  „Das  Urtheil 


LUeraturbericht,  249 

ist  ein  auf  der  Wahmehmung  anschaulicher  oder  logischer  Beziehungen 
zwischen  mehreren  Wahrnehmungen  oder  Vorstellungen  (auch  Urtheilen) 
bemhendeSy  anerkennendes  Denken  dieser  Verhältnisse"  (S.  167). 

Zum  Schlüsse  unseres  Berichtes  sei  die  Bemerkung  angefügt,  dafs  das 
ganze  Büchlein  eine  gewisse  naive  Frische  und  Herzlichkeit  athmet,  die 
für  den  Verf.  sympathisch  einzunehmen  geeignet  ist.  Zur  wissenschaft- 
lichen Reinlichkeit  der  Terminologie  und  zur  vollen  Strenge  in  der  Schlufs- 
Verkettung  bringt  es  der  Verf.  (mit  seinen  oft  kühnen  „oder"  und  „und") 
freilich  nur  in  einzelnen  Theilen.  Kreibig  (Wien). 

F.  Thillt.    Tbe  Theory  of  Interaction.    Fhilos.  Rev,  10  (2),  124—138.    1901. 

Th.  schildert  den  gegenwärtigen  Stand  der  Leib-Seelen- Streitfrage,  in- 
dem er  Parallelisten  und  Antiparallelisten  ihre  Argumente  abwechselnd 
vorbringen  läfst  Sodann  bekennt  er  sich  selbst  zu  den  Anhängern  der 
Wechselwirkung  und  sucht  nachzuweisen,  dafs  das  Gesetz  der  Erhaltung 
der  Energie  mit  der  Wechselwirkung  vereinbar,  dafs  aber  die  Hauptveran- 
lassüng  des  Parallelismus  —  nämlich  die  Annahme,  dafs  Physisches  nur 
mit  Physischem  causal  verknüpft  sein  könne  —  eine  in  der  Erfahrung 
nicht  begründete  und  daher  unberechtigte  Verallgemeinerung  sei. 

W.  Stern  (Breslau). 

Tel  Elsenhans.    Ueber  individaelle  and  Gattangsanlagen.   Zeitschr.  f.  pädag, 

Pfychol  1,  233—244,  334—343  (1899) ;  2,  41—49  (1900). 
Elsenhans  beginnt  mit  dem  durchaus  richtigen  Hinweis,  dafs  der  Be- 
griff der  Anlage,  den  man  im  Interesse  logischer  Klarheit  so  oft  aus  der 
vissenschaftlichen  Betrachtung  auszumerzen  versucht  hat,  für  die  Psycho- 
logie im  Allgemeinen  und  für  die  pädagogische  Psychologie  im  Besonderen 
Qnentbehrlich  sei.     Es   giebt  Gattungsanlagen,   d.  h.   allen   Menschen   zu- 
kommende Dispositionen  zu  geistigen  Aeufserungen  bestimmter  Art  und 
individuelle  Anlagen,  welche  bestimmte  Modificationen  der  Gattungsanlagen 
darstellen.    Nach  Erörterung  der  Frage,  ob  die  individuellen  Anlagen  rest- 
los auf  physische  Bedingungen  zurückftihrbar  seien,  geht  E.  zu  einer  ver- 
sündigen,   aber    wenig   Neues    bietenden    Darstellung   der    individuellen 
Differenzirungen   über,   die   uns   bei  den  Anlagen   des  Instincts,   der  An- 
schauung, des  Gedächtnisses,  der  Phantasie,  des  Verstandes,  des  Charakters 
begegnen.     Der  Schlufs,    der   die  pädagogische  Beeinflufsbarkeit  der  An- 
lagen behandelt,  führt  den  Verf.  auf  den  auch  für  die  differentielle  Psycho- 
logie nicht  unwichtigen  Satz:    „dafs  der  Einflufs  der  Anlagen  abnimmt,  je 
complicirter  die  geistige  Leistung  ist,  und  dafs  in  demselben  Verhältnifs 
der  Einflufs  der  rationellen  Ausbildung  und  Uebung  wächst". 

W.  Stebn  (Breslau). 

F.  KzMSEEs.    Die  bäaslicbe  Arbeitszeit  meiner  Schiller.   Zeitschr.  f,  päd,  PsychoL 

1,  89—95,  132—134.    1899. 

H.  Koch.    Die  bäasliche  Arbeitszeit  meiner  Scbfiler.    Ebenda  1, 192—196.    1899. 

Veranlafst  durch  eine  vom  Cultusrainisterium  ausgegangene  Anfrage, 
stellte  Kemsiks  während  einer  Januarwoche  an  den  Schülern  seiner  U III 
statistiche  Erhebungen  über  ihre   häusliche  Arbeitszeit  an,   die  Koch  in 


250  Literaturbericht 

einer  Maiwoche  wiederholte.  Es  ergab  sich  als  durchschnittliche 
Arbeitsdauer  bei  EIemsies  kurz  nach  den  Weihnachtsferien :  eine  Stunde  und 
sieben  Minuten,  bei  Koch  zu  einer  Zeit,  da  die  Classe  der  Versetzung  ent- 
gegenging: eine  Stunde  und  39  Minuten.  Bedenkt  man,  dafs  behördlicher- 
seits für  jede  Classe  eine  Maximal-Arbeitsdauer  von  zwei  Stunden  ange- 
setzt ist,  so  sieht  das  Resultat  recht  günstig  aus.  Ganz  anders  aber  wird 
das  Bild,  wenn  man  nicht  den  Durchschnitt,  sondern  die  individuellen 
Differenzen  beachtet.  Diese  sind  ganz  enorm.  Kemsies  theilt  die 
Schüler  in  vier  Kategorien,  deren  letzte  die  doppelt  so  grofse  Arbeitszeit 
zeigt  wie  die  erste.  Diese  vierte  Kategorie  nun  —  es  sind  13  %  aller 
Schüler  —  mufs  bei  Koch  täglich  159  Minuten  arbeiten,  d.  h.  überschreitet 
das  Maximal-Soll  um  39  Minuten.  Die  dritte  Kategorie  mit  26  %  der 
Schüler  erreicht  gerade  die  Maximalgrenze.  Aus  diesen  Resultaten  leitet 
Kemsies  mit  Recht  die  Forderung  ab,  dafs  entweder  die  Schale  mit  ihren 
Anforderungen  weiter  nachlassen  müsse,  oder  dafs  den  weniger  begabten 
Schülern  die  Aufnahme  zu  verwehren  sei. 

Die  ausführlichen  statistischen  Tabellen  bieten  auch  sonst  manches 
Lehrreiche.  W.  Stekn  (Breslau). 

B.  ScHMm.    Aus  dem  Seelenleben  der  Insecten.    Ein  Beitrag  xar  Thierpsycho- 

logle.  Vierteljahrsschrift  f.  wissenschafil.  Philosophie  24  (2),  173—196.  1900. 
Der  Verf.  zeigt  zunächst,  dafs  sich  der  Entwickelungsgedanke  auch 
auf  dem  Gebiete  der  Thierpsychologie  fruchtbar  erwiesen  hat.  Früher  be- 
zeichnete man  alle  seelischen  Regungen  der  Thiere  als  Instincte,  ohne  der 
Entstehung  derselben  nachzuforschen.  Die  Entwickelungstheorie  lehrt, 
dafs  das  Geistesleben  der  Thiere  ebenso,  wie  die  Arten  derselben  der  Ver- 
änderung unterworfen  ist,  und  die  geistige  Entwickelung  sieh  bis  zu  den 
einfachsten  Lebewesen  zurückverfolgen  läfst.  Die  Anwendung  des  Ent- 
wickelungsgedanken  auf  die  Thierpsychologie  brachte  aber  auch  Nachtheile 
mit  sich:  Einerseits  vermenschlichte  man  die  thierischen  Handlungen 
allzusehr,  andererseits  erblickte  man  in  allen  Thieren  nur  Reflexautomaten. 
Der  Verf.  geht  dann  nach  einigen  Bemerkungen  über  die  Entstehung  und 
physiologischen  Grundlagen  der  Instincte  zur  Besprechung  der  Ansichten 
Bethb's  und  Wasmannn's  über  und  beleuchtet  an  der  Hand  von  Beispielen 
aus  dem  Leben  der  Ameisen  die  Vorzüge  der  Theorie  des  Letzteren. 

Bei  der  Beurtheilung  des  Seelenlebens  der  Thiere  müssen  wir,  wie 
Verf.  meint,  von  unserem  eigenen  ausgehen  und  dasselbe  bis  zu  den  primi- 
tivsten Leistungen  zurück  verfolgen.  Die  psychischen  Vorgänge  eines  In- 
sectes  werden  uns  bis  zu  einem  gewissen  Grade  immer  verschlossen  bleiben, 
und  wir  können  da  höchstens  von  einer  Aehnlichkeit  der  Vorgänge  sprechen. 
Die  Sinne  eines  Käfers  müssen  seiner  Psyche  Inhalte  zuführen,  die  von 
den  unseren  in  Manchem  total  verschieden  sind.  Der  Verf.  zeigt  hierauf 
an  einem  Beispiele,  welches  gleichfalls  von  dem  Thun  und  Treiben  der 
Ameisen  handelt,  dafs  sich  die  Instincte  übrigens  manchmal  recht  un- 
zweckmäfsig  äufsern  können.  Hieran  schliefsen  sich  weitere  Beispiele, 
welche  erkennen  lassen,  dafs  die  Thiere  (Insecten)  nicht  blos  nach  Instincten 
handeln,  sondern  auch  Erfahrungen  machen  und  diese  auch  verwerthen. 
Nach  der  Anschauung  des  Verf.'s  beruhen  die  psychischen  Erscheinungen 


LUeraturberich  t  25 1 

des  Insectenleben»  auf  Associationen.  Es  liegt  nirgends  die  Noth wendig- 
keit vor,  complicirtere  Denkoperationen  anzunehmen.  Bei  höher  ent- 
wickelten Thieren  sind  allerdings  auch  die  Anfänge  der  Intelligenz,  An- 
finge von  Begriffs-  und  Urtheilsbildung  nicht  zu  verkennen. 

Saxinoeb  (Linz). 


Alsx  Hill.    Consideratioiis  opposed  to  tbe  „Kearon  Tbeory''.    Brain  23  (92), 

657-690.    1900. 
Die  Neurontheorie  nimmt  die  anatomische  Unabhängigkeit  der  Nerven 
xeUen  von  einander  an.     Sie  basirt  auf  Bildern,  die  nach  Methoden  ge- 
wonnen sind,  welche  das  Cytoplasma  färben  und  die  leitenden  Elemente 
iribrillen)  ungefärbt  lassen.    Aber  selbst  GoLOi-Präparate  lassen  erkennen, 
dafe  Fasern,  die  aus  Axonen  gewisser  gröfserer  Zellen  entspringen,   sich 
direct  mit  kleineren  Zellen  verbinden.    Verf.  nennt  als  Beispiel  die  sogen. 
Granula  des  Kleinhirns;  desgleichen  widersprechen  die  Sympathicuszellen 
dem  Schema  eines  Neurons:   sie  senden  nach  beiden  Seiten  Axone  aus. 
Bezüglich   der   vielumstrittenen  „Dornen"  an  GoLGi-Zellen   nimmt   er   an: 
das  Protoplasma  der  Dendriten  setzt  sich  eine  kurze  Strecke  weit  auf  die 
rechtwinklig   in    sie    einmündenden  Fibrillen  fort   und  erscheint  deshalb 
«of  Präparaten,  in  welchen  nur  das  Plasma  gefärbt  ist,  als  kurzes  Stäbchen. 
Verf.  macht  die  kühne  Hypothese,  dafs  die  Fibrillen,  welche  die  Zellen  ver- 
tnüpfen,  nur  die  Rolle  von  Conductoren  spielen,  längs  deren  sich  das  Plasma 
einer  Zelle  zu  einer  anderen  hinüberschiebt  in  dem  Moment  wo  beide  in 
fanctionelle  Verbindung  treten;   die  Impulse  verlaufen  dann  in  dem  die 
Zellen  verknüpfenden  Protoplasma;  eine  neue  Variante  der  Lehre  von  der 
.Plasticität  der  Neurone**.    Im  Uebrigen  erklärt  sich  H.  mit  Apathy  und 
Bethe  einverstanden.  Schröder  (Heidelberg). 

S.  Ramön  y  Cajal.    Stadien  über  die  Hirnrinde  des  Menschen.     Aus  dem 

Spanischen  übersetzt  von   Dr.  J.  Bresler,  Oberarzt  der  Prov.  Heil-  und 
Pflegeanstalt  Freiburg  i.  Schi.     2.  Heft:    Die  Bewegnngsrinde.     Leipzig, 
J.  A.  Barth,  1900.    113  S.  mit  31  Abbild.    Mk.  4,50. 
In  der  Einleitung  hebt  Verf.  hervor,  dafs,  wenn  die  graue  Hirnrinde 
ein  Aggregat  von  Organen  von  verschiedenartiger  Function  ist,  einer  jeden 
Function   eine   specifische    Structur   des    zugehörigen  Organs   entsprechen 
mufs.      Zwischen    einer   optischen,    akustischen,    tactilen   Vorstellung    be- 
stehen so  grofse  Unterschiede,  dafs  für  diese  nicht  allein  die  specifische 
Beschaffenheit  des  peripheren  Sinnesapparats,  sondern  auch  der  besondere 
Bau  der  betreffenden  Gehirncentren  in  Betracht  kommt.    Verf.  hält  es  für 
•ehr  wahrscheinlich,   dafs  innerhalb   eines   jeden   sensorischen  Centrums 
Zonen  mit  specifischen  Gewebseigenthümlichkeiten  sich  befinden,  die,  ohne 
dafo  sie   von   dem   allgemeinen  Aufbau    der   betreffenden  Oertlichkeit   ab- 
weichen, theils  einer  besonders  empfindlichen  Gegend  der  empfindenden 
Oberfläche,  theils  einer  besonderen  Qualität  der  Empfindung  entsprechen. 
Verf.  stellt   kurz   die   bisherigen  Ergebnisse   zusammen,    welche   die 
Untersuchungen  der  Structur  der  motorischen  Rinde  ergeben  haben;   ihre 
Bearbeitung  hat  sich  bei  der  schon  früh  entdeckten  besonderen  physiologi- 


252  Literaturbericht. 

sehen  Function  einer  leicht  erklärlichen  Beliebtheit  erfreut.  Verf.  berichtet 
sodann  über  seine  eigenen  Untersuchungen,  die  er  vor  Allem  an  dem  Ge- 
hirne eines  neugeborenen,  eines  15  Tage  alten  und  eines  2  Monate  alten 
Kindes  mittels  der  Chromsilberfärbung  angestellt  hat. 

Die  früheren  Beschreibungen  des  Baues  der  motorischen  Hirnrinde 
lassen  vielfach  eine  Einheitlichkeit  vermissen,  und  das  liegt  daran,  dafs 
bald  die  vordere,  bald  die  hintere  Central windung  untersucht  wurde,  ohne 
dafs  man  um  deren  verschiedene  Structur  wufste.  Die  beiden  Windungen 
behalten  ihren  verschiedenen  Bau  bei  bis  auf  den  Grund  der  RoLANBo'schen 
Furche,  in  der  sich  eine  Uebergangsregion  ausbildet.  Verf.  beschreibt  mit 
der  bei  ihm  gewohnten  Genauigkeit  und  Gründlichkeit  den  Aufbau  der 
vorderen  und  hinteren  Centralwindung  und  hebt  ihre  gegenseitigen  Unter- 
schiede sowie  ihre  principi eilen  Differenzen  von  den  anderen  Hirngegenden 
hervor. 

Von  specifischer  Bedeutung  für  die  motorische  Rinde  sind  der  sensible 
Plexus  in  der  dritten  Schicht  (der  der  mittelgrofsen  Pyramidenzellen),  so- 
wie die  Form  und  die  bedeutende  Zahl  der  Riesenpyramiden  (BETz*schen 
Zellen).  Aus  diesen  und  den  mittelgrofsen  Pyramidenzellen  stammt  voi^ 
zugsweise  die  Pyramidenbahn.  Da  sich  gerade  in  der  Schicht  der  mittel- 
grofsen Pyramiden  sensible  Fasern  vertheilen,  so  vermuthet  Verf.  eine  Be- 
ziehung dieser  Zellen  zur  Tast-,  Schmerz-  und  Temperatur-Empfindung. 

Die  Uebersetzung  ist  flüssig  und  gewandt. 

Ernst  Schultze  (Andernach). 

W.  B.  Warringtoic  und  J.  E.  Dutton.    Observations  Ott  tbe  Conne  of  thft 
Optic  Fibres  in  a  Gase  of  Unilateral  Optic  Atrophy.    Brain  23  (92),  642—656. 
1900. 
Pathologisch-anatomischer  Beitrag  für  die  Richtigkeit  der  Lehre  von 

der  partiellen  Kreuzung  der  Sehnervenfasern.       Schröder  (Heidelberg). 

Karl  Schaffer.   Anatomisch- klinische  Vorlesungen  ans  dem  Gebiete  der  Herren- 

patbologie.     Mit  5  Tafeln  und  63  Abbildungen  im  Text.     Jena,  Gustav 

Fischer,  1901.  296  S.  Mk.  12.—. 
In  der  Form  von  Universitätsvorlesungen,  in  welchen  Verf.  in  ge- 
schickter und  glücklicher  Weise  die  Mitte  zwischen  den  Le^^ons  der  fran« 
zösischen  Autoren  und  den  systematischen  Hand*  und  Lehrbüchern  h&lt^ 
berichtet  Sch.  über  seine  Studien  bezüglich  der  Tabes  und  der  Paralyse» 
mit  besonderer  Bevorzugung  der  ersteren  Erkrankung. 

ScH.  entwirft  eine  Schilderung  der  Anatomie  lind  allgemeinen  Patho- 
logie des  Neurons,  ohne  zu  verhehlen,  dafs  die  neueren  anatomischen  Unter- 
suchungen die  Keurontheorie  nicht  mehr  zu  Recht  bestehen  lassen,  bespricht 
genauer  das  sensible  Neuron,  und  im  Anschlufs  daran  und  unter  beständiger 
Bezugnahme  hierauf  giebt  er  ein  anschauliches  Bild  der  pathologischen 
Anatomie  der  Tabes.  Eine  ausführliche  Darstellung  der  Klinik  der  Tabes 
schliefst  sich  an;  an  der  Hand  der  früheren  anatomischen  und  physiologi- 
schen Erörterungen  versucht  er,  den  Mechanismus  der  wichtigsten  Symp- 
tome darzustellen.  Er  berührt  dann  die  durch  die  Hinterstrangerkrankung 
gegebenen  nahen  Beziehungen  zwischen  der  Tabes   und  der  Paralyse,  für 


Literaturbericht  253 

deren  Bestehen  er  die  ätiologisch  in  beiden  Fallen  gleich  bedeutsame  Lues 
Terantwortlich  macht,  skizzirt  dann  die  Topographie  der  der  Paralyse  zu 
Grunde  liegenden  Degeneration  der  Gehirnrinde  und  schliefst  mit  einer 
Besprechung  der  Differentialdiagnose  zwischen  Paralyse  und  Neurasthenie. 
Die  Schilderung  ist  aufserordentlich  anregend,   und  gerade  für  den 
spröden  Stoff  der  Anatomie  des  Centralnervensystems  eignet  sich   die  ge- 
wfthlte  Darstellungsform  sehr.    Das  Verständnifs  wird  weiterhin  noch  er- 
leichtert durch  die  Beigabe  von  Abbildungen  und  Krankengeschichten. 

Hoffentlich  sieht  sich  Sch.  veranlafst,  auch  andere  Capitel  aus  dem 
Gebiete  der  Neurologie  und  Psychiatrie  in  gleicher  Form  zu  erörtern;  des 
Dinkes  der  Leser  wird  er  gewifs  sein  können. 

Ernst  Schxjltze  (Andernach). 


J.  üscHAKOFF.     Das  Localisatlonsgesetz.      Elfte  psychophysiologische  Unter- 
fldlllg.  I.    Leipzig,  Otto  Harrassowitz,  1900.    204  S. 

Verf.  versucht  in  diesem  Werke  folgendes  Gesetz  zu  formuliren  und 
IQ  beweisen: 

a)  Qualitativ  mehr  oder  weniger  ungleiche  sensorische  Psychome 
(=  BewuIJBtseinserscheinungen)  oder  willkürliche  Bewegungen,  die  zu  ver- 
flchiedenen  Zeiten  bei  demselben  Individuum  hervorgerufen  bzw.  von  dem- 
selben Individuum  ausgeführt  werden,  beruhen  auf  nervösen  Processen  in 
mehr  oder  weniger  verschiedenen  corticalen  Neuroncomplexen,  ganz  dis- 
parate sensorische  Psychome  oder  willkürliche  Bewegungen  auf  Processen 
in  ganz  verschiedenen  corticalen  Neuroncomplexen.  —  Bei  Psychomen, 
deren  qualitative  Ungleichheit  nur  sehr  geringfügig  ist,  läfst  sich  doch  eine 
abweichende  Zusammensetzung  der  entsprechenden  Neuroncomplexe  nicht 
bestimmt  behaupten. 

b)  Qualitativ  gleichen  Wahrnehmungen  oder  Vorstellungen,  sowie 
qualitativ  gleichen  willkürlichen  Bewegungen  entsprechen  dagegen  jedes- 
mal Processe  in  corticalen  Neuroncomplexen,  die  zum  mehr  oder  weniger 
grofsen  Theil  aus  denselben  Neuronen  bestehen.  Bei  qualitativ  und  quanti- 
tativ gleichen  Wahrnehmungen,  Vorstellungen  oder  willkürlichen  Be- 
wegungen sind  die  entsprechenden  corticalen  Neuroncomplexe  jedesmal 
znm  gröfsten  Theil,  wenn  nicht  ganz  dieselben.  —  Das  von  gleichen  Wahr- 
nehmungen Gresagte  gilt  ebenfalls  von  gleichen  Gehörsempfindungen. 

Um  dieses  Localisationsgesetz  zu  beweisen,  giebt  Verf.  im  ersten 
Capitel  seiner  Schrift  eine  etwas  weitschweifige  Uebersicht  über  den  feineren 
Bau  des  Nervensystems,  insbesondere  über  die  physiologische  Verbindung 
imter  den  Neuronen,  sowie  über  die  Arten  der  Bewufstseinserscheinungen, 
die  den  nervösen  Personen  entsprechen.  Er  führt  hier  einige  neue  Termini 
ein,  die  indessen  leicht  entbehrt  werden  können,  bespricht  die  Hypothese 
von  den  unbewufsten  Seelenerscheinungen  in  ablehnendem  Sinne  und  tritt 
der  Vorstellung  entgegen,  dafs  „das  materielle  Substrat  einer  Vorstellung 
der  ProceJCs  in  blos  einer  einzigen  Nervenzelle  sein  sollte".  Auch  der  An- 
nahme specifisch  hemmender  Wirkungen  der  Innervation  ist  Verf.  abhold 
ond  sucht  die  vorkommender  Hemmungserscheinungen  auf  motorischem 


254  Literaturbericht 

und  sensorischem  Gebiete  auf  das  gegenseitige  Verhältnifs  der  Intensität 
zweier  Procefscomplexe  von  verschiedener  Stärke  zurückzuführen;  eine 
Theorie,  die  durchaus  bemerkenswerth  erscheint.  Im  zweiten  Capitel  folgt 
eine  ebenfalls  sehr  breit  angelegte  und  ins  Einzelne  gehende  Darstellung 
der  bisherigen  Resultate  der  Forschungen  über  die  Grofshimlocalisationen. 
Diese  Darstellung  ist  deshalb  beachtenswert!!,  weil  sie  zeigt,  wie  verworren, 
unklar  und  einander  widersprechend  noch  heutzutage  die  Anschauungen 
der  meisten  Autoreu  über  den  Begriff  und  die  Bedeutung  der  Localisation 
sind.  Ref.  vermifst  in  dieser,  im  Uebrigen  sehr  reichhaltigen  Aufzählung 
eine  Berücksichtigung  der  Lehre  Hemlk's,  dessen  Anschauungen  in  Bezug 
auf  die  Localisation  der  seelischen  Vorgänge  leider  zu  wenig  bekannt  und 
gewürdigt  sind.  Das  Ergebnifs  dieses  Capitels  fafst  Verf.  dahin  zusammen, 
„dafs  weder  die  anatomischen,  pathologischen  und  experimentellen,  noch 
die  psychophysiologischen  Argumente,  die  bisher  vorgebracht  worden,  das 
vom  Verf.  aufgestellte  Localisationsgesetz  in  befriedigender  Weise  darzuthun 
vermögen."  Darin  stimmt  Ref.  dem  Verf.  durchaus  bei.  Das  dritte  und 
letzte  Capitel  endlich  —  ein  ursprünglich  geplantes  viertes  Capitel  soll 
später  erscheinen  —  versucht  den  Nachweis  des  Localisationsgesetzes  auf 
einem  angeblich  neuen,  psychophysiologischen  Wege.  In  Wirklichkeit  ist 
dieser  Weg  weder  neu,  noch  psychophysiologisch.  Vielmehr  handelt  es 
sich  um  logisch  theoretische  Erwägungen  elementarster  und  zum  Theil  frag- 
würdigster Art,  mit  denen  U.  seine  Localisationshypothese,  besonders  gegen 
die  von  W^undt  aufgestellte  Lehre  von  der  Stellvertretung  der  Functionen 
in  der  Grofshirnrinde  zu  stützen  sucht.  Ueber  allgemeine  Redensarten, 
wie:  „es  ist  nicht  anzunehmen,  es  erscheint  zweifellos,  es  ist  unerfindlich, 
es  ist  äufserst  unwahrscheinlich"  u.  dergl.  m.,  kommt  diese  Beweisführung 
meistens  nicht  hinaus,  so  dafs  ihr  eine  überzeugende  Kraft  nicht  zugestanden 
werden  kann.  Immerhin  ist  es  ein  Verdienst  des  Verf.'s,  die  schwierige 
und  ungemein  wichtige  Frage  von  der  Localisation  der  seelischen  Vorgänge 
in  der  Grofshirnrinde  wieder  einmal  in  den  Vordergrund  des  wissenschaft- 
lichen Interesses  gerückt  und  besonders  gezeigt  zu  haben,  wie  erschreckend 
grofs  noch  immer  die  Lücken  des  zu  Beweisenden  in  der  modernen  Locali- 
sationslehre  sind.  L.  Hirschlapp  (Berlin). 


A.   RoLLETT.     Die   Localisation   psychischer   Vorgänge   im   Gehirn.     Einige 
historisch-kritische  Bemerkungen.    Arch.  f.  d.  ges.  Fhysiol  70, 303—311.   1900. 

Scharfe  Polemik  gegen  einen  Aufsatz  des  Londoner  Psychiaters  und 
Neurologen  Bsbnabd  Holländer  (Die  Localisation  der  psych.  Thätigkeiten 
im  Gehirn,  Berlin  1900),  welcher  den  Versuch  der  Wiedererweckung  des 
Organologen  Gall  macht.  Gall  hat  Verdienste  um  die  Gehirnanatomie, 
doch  sind  seine  Kenntnisse  vom  Aufbau  des  Nervensystems  sehr  ver- 
schwommene; er  ist  ein  Phantast  und  nicht  frei  von  ungründlicher  Schön- 
rednerei; seine  unhaltbar  speculative  Organologie  hat  mit  der  modernen 
Lehre  von  der  Localisation  der  Ilirnfunctionen  nichts  gemein. 

ScHRÖDBB  (Heidelberg). 


Liter aturbericht.  255 

Henry  Head  and  A.  W.  Cahpbell.    The  Pathology  of  Herpes  Zoster  and  its 
Bearing  oa  Seiisory  Localisation.    Brain  23  (91),  353—523.    1900. 
Monographische  Behandlung  des  Herpes  zoster  (Gürtelrose).    Die  Verff. 
haben  unter  21  Fällen,  die  verschieden  lange  Zeit  nach  dem  Ausbruch  resp. 
Ablauf  der  Erkrankung  zur  Section  gekommen  sind,  19  mal  frischere  oder 
altere  Veränderungen  in  einem,  seltener  mehreren  Spinalganglien  gefunden, 
and  daran  sich  anschliefsende  secundäre  Degeneration  in  den  Hinterwurzeln 
and  Hintersträngen  im  Bückenmark  aufwärts  nachweisen  können.    Herpes 
Eoster  wird  nach  ihrer  Angabe  nicht  hervorgerufen  durch  eine  Affection 
der  hypothetischen    trophischen   Nerven,    sondern    durch    eine    intensive 
Beizung  derjenigen  Ganglienzellen,  welche  normalerweise  für  die  Ueber- 
mittelung  der  Schmerzempfindungen  bestimmt  sind  (Spinalganglien).    Die 
Verff.  haben  ihre  Fälle  gleichzeitig  benutzt,  um  die  Hautgebiete  zu   be- 
stimmen, die  von  den  einzelnen  Spinalganglien  mit  Nervenfasern  versorgt 
werden.  Schrödeb  (Heidelberg). 

Ch.  Bik£t-Sanol£.    Action  da  HaGhisch  snr  les  nearones.    Rev.  scient.  15  (9)^ 

270-274.    1901. 
Dem  Titel  nach  erwartet  man  eine  experimentell-histologische  Unter- 
sucbung.    Doch  nichts  von  dem.    Der  Autor  giebt  eine  Selbstbeobachtung 
wieder  und  erklärt  sie  an  der  Hand  einer  phantastischen  Vorstellung  des 
Geschehens  innerhalb  des  Centralnervensystems. 

B.-S.  nahm  0,20  g  Hachisch  in  Form  einer  Pille  zu  sich.    Nach  einer 
halben  Stunde  stellten  sich  die  Intoxicationserscheinungen  ein.    Das  Muskel- 
gefäbl  findet  eine  Abnahme:  die  Haltung  des  Gleichgewichts  ist  erschwert,, 
die  Willkürbewegungen  sind  unsicher,  beinahe  atactisch   und  ihre  Excur- 
»onen  werden  bei  geschlossenem  Auge  falsch  beurtheilt.    Tastgefühl,  Gehör- 
nnd  Gesichtssinn  sind  sehr  stark  geschärft,  so  dafs  sie  ünlustgefühle  er- 
zeugen.  —   Die  fixirten  Gegenstände  erscheinen  ungewöhnlich  grofs,  mifs- 
^«»taltet,   in  grünen   Nebel  gehüllt  und  rufen  lang  anhaltende  Nachbilder 
hervor.  —  Es  besteht  starkes  Ohrensausen.  —  Die  Erinnerungsbilder  sind 
beäonders  lebhaft  und  tragen  den  Charakter  von  Hallucinationen.    Daneben 
kommt  Amnesie  vor.   —   Das   Symptomenbild   beherrscht  ein   starker  Be- 
wegungstrieb: Aufspringen  beim  geringsten  Geräusch,  hastiger  und  fortge- 
i^etzter  Rededrang,  continuirliche  Zwangsbewegungen  der  Finger  und  Hände. 
—  nach  einiger  2ieit  stellen  sich  Lachattacken  ein,  zuerst  vereinzelt,  dann 
fortgesetzt,  obgleich  die  Gesichtsmuskulatur  durch  die  beständige  Inanspruch- 
nahme heftig  schmerzt.    Gegen  Morgen  lassen  alle  die  Erscheinungen  nach,, 
treten  nur  ab  und  zu  anfallsweise  auf,  besonders  die  Lachausbrüche  und 
können  zuletzt  durch  kräftige  Willensimpulse  gehemmt  werden.    Dieser  Zu- 
stand hält  bis  zum  übernächsten  Morgen  an. 

Bei  einer  zweiten  Versuchsperson  traten  mehr  Athemstörungen  in  den 
Vordergrund,  begleitet  von  Angstzuständen. 

Die  Beobachtungen  stimmen  überein  mit  den  Resultaten  von  Gautier, 
LrosviLLE,  Hat  u.  A.  m. 

Der  II.  Theil  beschäftigt  sich  mit  der  Erklärung  der  Symptome.  Die 
Erklärung  gipfelt  in  dem  einen  Satze:  das  Hachischgift  verändert 
die  Form  der  Nervenzelle.  —  Es  ist  ungemein  schwer  den  Autor  zu 


256  Literaturbericht. 

begleiten  in  der  nun  folgenden  Schilderung  seiner  rein  physikalischen  Vor* 
Stellungen  über  das  Geschehen  im  Centrainer vensystem.  Seine  Theorie 
basirt  auf  die  von  ihm  als  erwiesen  angenommene  Contractibilität  der 
Ganglienzellen  und  ihrer  Fortsätze,  d.h.  auf  die  sogenannte  Plasticitftts- 
theorie.  Durch  die  Betraction  innerhalb  der  Substanz  entstehen  Ver- 
dichtungen in  den  Zellen  und  Zusammenziehungen  in  den  Forts&tzen,  welche 
die  Contiguität  derselben  mit  anderen  Fortsätzen  verändern  und  schlechte 
Leiter,  die  sogenannten  ^neuro-dielectiques"  bilden  sollen.  Auf  diese 
Weise  kommt  eine  Druckerhöhung  innerhalb  der  betreffenden  Theile  zu 
Stande,  die  eine  Druckverminderung  in  anderen  Theilen  zur  Folge  hat 

Wollte  man  sich  diesen  Vorstellungen  anschliefsen,  so  könnte  man  mit 
etwas  gutem  Willen  schliefslich  noch  Erscheinungen  der  Verminderung 
oder  Erhöhung  der  Thätigkeit  gewisser  Centraltheile  verstehen.  Wenn  aber 
B.-S.  die  für  das  Auge  scheinbare  Vergröfserung  und  Verzerrung  der  Gegen* 
stände  in  der  Hachischnarkose  zurückzuführen  sucht,  lediglich  auf  die  durch 
die  Intoxication  selbst  gröfeer  gewordene  und  deformirte  Zelle  (i^le  corps  des 
neurones  ^tait  deform^  et  augment^,  Taugmentation  de  volume  donnant  lien 
ä  la  macropsie")  so  ist  es  Ref.  unmöglich,  ihm  in  seiner  Anschauung  zu 
folgen.  Es  bestimmt  doch  schliefslich  nicht  die  Gröfse  und  die  Form  einer 
Zelle  ihre  uns  irgendwie  bewufst  werdende  Thätigkeit,  sondern  die  Com- 
bination  des  Geschehens  in  vielen  Zellen  und  Fortsätzen  zugleich  wird 
unsere  Kritik  über  die  Gröfse  eines  Gegenstandes  begründen. 

Sämmtliche  Erscheinungen  der  Hachischnarkose  deutet  B.-S.  mit  Hülfe 
seiner  Hypothese  der  Druckerhöhung  und  -Verminderung  in  einzelnen  Zellen- 
Systemen  und  der  dadurch  erfolgenden  auf-  oder  absteigenden  erschwerten 
Leitung  nach  anderen  Neuronen  hin  und  schafft  auf  diese  Weise  eine 
Theorie,  die  man  mit  vielen  Fragezeichen  ausstatten  mufs.  [Dem  Ref.  er- 
scheint es  überflüssig  des  Näheren  auf  die  in  Deutschland  so  ziemlich  über- 
wundene Plasticitätstheorie  einzugehen,  die  vollkommen  mit  den  gefundenen 
histologischen  Befunden  und  zum  Theil  physiologischen  Thatsachen  zu  dis- 
harmoniren  scheint.  Schliefslich  ist  aus  B.-S.'s  Arbeit  nicht  zu  ersehen,  ob 
er  je  seiner  Theorie  entsprechende  morphologische  Befunde  nach  Vergiftung 
des  Nervensystems  mit  Hachisch  zu  Gesicht  bekommen  hat  —  und  wäre  es 
thatsächlich  der  Fall  —  so  würde  es  auch  noch  nichts  beweisen.  Eine  ge- 
nügende Kritik  hat  die  ganze  Lehre  durch  Vebwobn  in  seinem  „Das  Neuron 
in  der  Anatomie  und  Physiologie,  Jena  1900**,  gefunden.] 

Merzdacheb  (Strafsburg  i.  £.). 

N.  E.  Wedensky.     Die  ftndamentaleA  Eigenschaften  des  Ier?eii  mter  Eil» 
wirkang  einiger  Crifte.    Pflüoer*s  Arch,  82,  134—191.    1900. 

Verf.  untersuchte  am  Nervenmuskelpräparate  des  Frosches  die  Ver- 
änderungen der  Leitungsfähigkeit  und  Erregbarkeit  unter  der  localisirten 
Einwirkung  von  Cocain,  Chloralhydrat  oder  Phenol.  Oberhalb  der  narkoti- 
sirten  Nervenstrecke  und  innerhalb  derselben  wurde  mit  tetanisirenden 
Strömen  gereizt,  der  Actionsstrom  durch  das  Telephon  gemessen  und  gleich* 
zeitig  wurden  die  Muskelcontractionen  graphisch  aufgezeichnet. 

Die  Arbeit  enthält  eine  Menge  feiner  detaillirter  Beobachtungen,  deren 


Literatlirbericht.  257 

Wiedergabe  hier  nicht  möglich  ist.  Es  sollen  nur  die  Besultate  Erwähnung 
finden,  die  weitere  Ausblicke  auf  die  allgemeine  Nervenphysiologie  gestatten. 
Im  Gregensatz  zu  den  früheren  Methoden  —  bei  denen  minimale  Reize 
an  der  nicht  narkotisirten  Stelle  angebracht  wurden  —  konnte  nach  der 
neuen  Versuchsanordnung  nachgewiesen  werden,  dafs  die  locale  Leitungs- 
fähigkeit  eine  Veränderung  erleidet,  die  sowohl  im  telephonischen  Nerventon 
als  auch  in  den  Muskelcontractionen  zum  Ausdruck  kam. 

Die  Veränderungen  der  Leitungsfähigkeit  nehmen  im  weiteren  Ver- 
lauf einen  paradoxen  Charakter  an:  starke  Erregungen  g^hen  durch  die 
narkotisirte  Stelle  nicht  hindurch,  sehr  mäfsige  Erregungen  hingegen  rufen 
teUnische  Contractionen  hervor. 

Die  Reizbarkeit  der  narkotisirten  Nervenstrecke  sinkt  allmählich  und 
besteht  noch  deutlich,  wenn  bereits  die  Leitungsfähigkeit  aufgehoben  ist 
£8  besteht  hierbei  eine  Verschiedenheit  für  die  auf-  oder  absteigenden  In- 
ductionsströme. 

Eine  Reihe  von  Versuchen  beweist  im  scharfen  Gegensatz  zu  den 
Untersuchungen  von  Hebzsn,  dafs  die  functionellen  Eigenschaften  der 
Nerven  in  reinem  Parallelismus  stehen  zu  den  Aeufserungen  der  Actions- 
»tiöme  —  wenn  man  gewisse  Cautelen  nicht  aufser  Acht  läfst. 

Nicht  nur  nach  gasförmigen  Giften,  auch  nach  Einwirkung  schwacher 
Ldsongen  von  Giften  stellt  sich  die  ursprüngliche  Function  der  Nerven 
wieder  ein,  eine  Thatsache,  die  über  die  Art  und  Weise  der  Einwirkung 
solcher  Gifte  auf  den  Nerven  neue  Untersuchungen  herausfordert. 

Belehrend  sind  die  Versuche  über  „parallele  Zeugnisse"  des  Telephons, 
Galvanometers  und  der  Muskelcontraction.  Jedes  derselben  spricht  seine 
,eigene  Sprache",  und  die  Fragen  werden  jedesmal  nach  eigener  Art  beant- 
wortet; deshalb  ist  das  Versagen  eines  dieser  Zeugen  für  die  functionelle 
Thätigkeit  des  Nerven  noch  nicht  beweisend. 

Mebzbacher  (Strafsburg  i.  E.) 

A.  BicKEL  und  P.  Jacob.    Ueber  neue  Beiiehnngei  iwischen  Himrinde  and 
Untarea  RftckeBmarkfwaneli  Miisichtlich  der  BewegnagsregiilatioA  beim 

lande.    Sitzungsberichte  d,  Kgl.  Preufs.  Äcad.  d,  Wissenschaften  z.  Berlin  35 

(12.  Juli),  763—767.  1900. 
Im  Anschlufs  an  seine  älteren  Versuche  über  sensorische  Ataxie  und 
Compensation  derselben,  untersucht  Bickel  in  Gemeinschaft  mit  Jacob  in 
dieser  Arbeit  die  Rolle  der  sensomotorischen  Zonen  als  Coordi- 
nations-  und  Regulationsorgane  atactisch  gemachter  Thiere. 
Die  Versuche  wurden  in  doppelter  Weise  angestellt:  einmal  werden  die 
hinteren  Wurzeln  durchschnitten  und  nach  Compensation  der  sich  daran 
&nschliefsenden  Beeinträchtigung  der  Motilität  die  sensomotorischen  Zonen 
entfernt,  dann  zweitens  zuerst  die  Gehirnexstirpation  vorgenommen  und 
nach  eingetretener  Ausgleichung  der  Bewegungsstörungen  die  sensiblen 
Wurzeln  durchschnitten. 

Die  Erscheinungen  nach  Durchschneidung  der  hinteren  Wurzeln  lassen 
sich  drei  Stadien  zutheilen:  1.  dem  pseudo-paraplectischen  Stadium,  2.  dem 
Stadium  der  ausgesprochenen  Ataxie,  3.  dem  Stadium  der  Compensation. 
Wartet  man  das  dritte  Stadium  ab  und  entfernt  dann  die  sensomotorischen 

Zcitfchrift  ftr  Psychologie  26.  11 


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Literaturbericht  259 

«ach  in  der  Literatur  diese  Verhältnisse  mit  hesonderer  Bevorzugung  des 
£exujilduftes  des  Weihes  erörtert  werden. 

Die  Art  des  Stoffes  hringt  es  mit  sich,  dals  vielfach  nur  vereinzelte 
Beobachtungen,  Mittheilungen,  Erfahrungen  mit  kritischer  Sichtung  neben 
einander  gestellt  werden. 

Daus  gerade  dem  Geruchssinn  eine  Bedeutung  für  die  sexuelle  Thätig- 
kdt  sugeschrieben  wird  und  auch  zukommt,  ist  zum  grofsen  Theil  wohl 
4arin  begründet,  dals  er  ein  exquisit  affectiver  Sinn  ist.     Kaum  ein  Sinn 
beherrscht  so  wie  er  die  Stimmungen  und  die  Gefühle.   Interessant  ist  der 
Ton  ZwAABDXMAKEB   erbrachte  Nachweis,    dafs    alle  thierischen   Grerüche, 
welche  die  Sexualität  beeinflussen,  einer  bestimmten  Gruppe  chemischer  Ver- 
bindungen angehören  und  zwar  der  der  Fettsäuren,  speciell  der  Caprylgruppe. 
Der  Geruchssinn  hat  an  Schärfe  bei  dem  heutigen  civilisirten  Menschen 
gegenüber  den  Naturvölkern  gewaltig  eingebüfst  und  dementsprechend  an 
Bedeutung  für  das  Geschlechtsleben  verloren.    Geruch  und  normale  Liebe 
haben  mit  einander  wenig  zu  thun.    Wo  das  doch  der  Fall  ist,  ist  es  etwas 
Känstliches,  ein  Zeichen  des  Atavismus.    Hiermit  stimmt  auch  überein,  dafs 
•die  abnormen,  oft  geradezu  unerklärlichen  Handlungen  vieler  Fetischisten 
40  einer  Deutung  zugänglich  sind.  Ernst  Schültzb  (Andernach). 

£  Hitzig.  Ueber  das  corticale  Sehen  des  Haides.  Vortrag  gehalten  in  der 
Section  für  Neurologie  des  XTTL  internationalen  medicinischen  Con- 
gresses  zu  Paris.    Ardiiv  f.  Psychiatrie  33  (3).    1900. 

-   Ueber  den  Mechanismas  gewisser  corticaler  SehstOningen  des  Hundes. 

Berliner  klin.  Wochenschr.  (45).    1900.    10  S. 

Die  Resultate  jahrelanger  Untersuchungen,  die  in  beiden  Abhandlungen 
wiedergegeben  werden,  sind  im  Stande,  ganz  neue  Gesichtspunkte  in  der 
viel  umstrittenen  Frage  über  die  cortiqale  Localisation  des  Sehens  beim 
Hunde  zu  schaffen.  Diese  Frage  ist  es  auch  vorzüglich  gewesen,  die  inner- 
halb des  Lagers  der  Anhänger  der  Localisationstheorie  neue  Meinungsver- 
schiedenheiten geschaffen  hat.  Während  Mukk  auf  der  einen  Seite  .die 
Existenz  eines  specifischen  corticalen  Sehcentrums  bewiesen  zu  haben 
glaubte,  hatten  andere  Forscher  und  vorzüglich  Hitzig  nach  Ope.rationen 
Terschiedener  Gehirntheile  Sehstörungen  sich  einstellen  sehen.  HiTzia's 
neue  Untersuchungen  sollen  nun  beweisen,  dafs  Munk*8  Theorie  nicht  auf- 
recht erhalten  werden  kann,  und  dafs  auf  der  anderen  Seite  das  geschilderte 
Verhalten  der  Sehfunction  mit  der  Lehre  der  Localisation  in  Einklang 
sich  bringen  läfst. 

Hitzig  legte  sich  zwei  Fragen  vor:  entweder  hat  der  Hund  nur  ein 
corticales  Sehcentrum  im  Hinterhauptslappen,  oder  deren  mehrere,  von 
denen  eines  im  Vorderhim  liegen  müfste.  Wäre  Letzteres  der  Fall,  so 
müfste  successive  Verletzung  der  verschiedenen  Centren  bereits  vorhandene 
Sehstörungen  erhöhen  oder  bereits  verschwundene  wieder  in  Kraft  treten 
la2»sen;  im  ersten  Falle  aber  müfsten  solche  Erscheinungen  nicht  eintreten. 

Bevor  H.  an  die  Ausführung  dieses  Versuchsplanes  ging,  prüfte  er 
verschiedene  Methoden  zur  Verletzung  des  Hirnes,  kämpfte  an  gegen 
Muint's  immer  wieder  auftretende  Behauptung,  dafs  Verletzung  des  Gyrus 
«igmoideus  seine  sogenannte  Sehsphäre  mitbeleidige,  untersuchte  schliefs- 

17* 


260  Literaturbericht. 

lieh  das  Verhältnifs  des  Gyrus  sigmoideus  und  der  sogenannten  Sehsphftre 
zum  Sehen. 

Blofse  Eröffnung  der  Schädelhöhle  in  gröfserer  Ausdehnung,  Abtragen 
der  Dura  ohne  Verletzung  der  Pia  giebt  bereits  meist  sehr  starke  nutri* 
torische  Störungen,  die  einer  Verletzung  circumscripter  Rindentheile  gleich- 
zustellen  ist,  zur  Verletzungsmethode  sich  aber  wegen  der  inconstanten 
Resultate  nicht  eignet.  Das  ist  das,  was  am  meisten  in  den  Ausführangea 
über  Methodik  interessirt.  Auf  Grund  dieser  Methode  wurde  auch  MmrK's 
beliebter  Einwand  zerstört:  einfache  Abtragung  der  Dura  Ober  den 
Gyrus  sigmoideus  bei  nachfolgender  Heilung  per  primam  ergab  unter 
8  Fällen  7 mal  Sehstörung.  Noch  entschiedenere  Verletzungen  diese» 
Gyrus  ergaben  mit  grofser  Sicherheit  Sehstörungen.  Ging  hingegen  dieeen 
Operationen  eine  Verletzung  der  „Sehsphäre"  voraus  und  waren  die  dadurch 
bedingten  Sehstörungen  ausgeglichen,  so  blieb  ein  erneutes  Auftreten  der- 
selben aus.    Aus  dieser  Versuchsanordnung  geht  hervor: 

1.  Ein  zweites  corticales  optisches  Centrum  ist  jedenfalls  nicht  im 
Gyrus  sigmoideus  gelegen. 

2.  Das  Eintreten  von  Sehstörungen  nach  primären  Verletzungen  dieses 
Gyrus  spricht  dafür,  dafs  zwischen  ihm  und  einer  hypothetischen  Sehsphäre 
directe  oder  indirecte  Beziehungen  bestehen. 

Die  in  umgekehrter  Reihenfolge  vorgenommene  Doppeloperation  ergab 
ein  überraschendes  Resultat:  wurde  zuerst  der  Gyrus  sigm.  verletzt,  so  er- 
gab secundäre  Verletzung  der  sogenannten  Sehsphäre  in  der  Regel  nicht 
einmal  eine  Spur  von  Sehstörung.    Auch  daraus  wieder  zwei  Schlüsse: 

1.  Die  Stelle  A  I  (so  bezeichnet  Munk  seine  Sehsphäre)  kann  unmög- 
lich das  eigentliche  Sehcentrum  sein,  da  seine  Verletzung  unter  allen  um- 
ständen eine  Störung  nach  sich  ziehen  müfste. 

2.  Auch  hier  müssen  gewisse  Verbindungen  mit  dem  eigentlichen  Seh- 
centrum vorhanden  sein. 

Das  Resultat  fafst  H.  mit  folgenden  Worten  zusammen:  Es  besteht 
also  ein  Mechanismus,  welcher  den  Sehact  bei  primären  Operationen  derart 
aufser  Function  setzt,  dafs  er  dadurch  gleichsam  eine  Immunität  gegen 
secundäre  Operationen  gewinnt  Dieser  Mechanismus  wird  wahrscheinlich 
durch  Vermittelung  subcorticaler  Centren  wirksam. 

Die  zweiteAbhandlung  beschäftigt  sich  mit  der  Natur  des  Mechanis- 
mus. Nachdem  bewiesen  war,  dafs  die  Sehstörung  nicht  durch  Verletzung  opti- 
scher Centren  bedingt  war,  blieb  noch  die  Annahme,  dafs  dieselbe  als  Folge 
einer  Hemmung  der  Thätigkeit  solcher  Centren  aufzufassen  sei  und  es  ergab 
sich  die  Frage:  Greift  die  Hemmung  in  den  corticalen  oder  subcorticalen 
Centren  an?  Das  Studium  einer  die  Sehstörung  begleitenden  und  mit  ihr 
in  Zusammenhang  stehenden  Erscheinung,  des  Lidschlufsreflexes,  erwies 
sich  für  die  Beantwortung  der  Frage  am  geeignetsten.  Die  Ergebnisse 
lassen  sich  kurz  dahin  zusammenfassen :  bei  Eingriffen  in  dem  motorischen 
Theil  der  Rinde  (Gyr.  sigm.)  sind  nicht  nur  die  anderweitigen,  sondern 
auch  die  mit  dem  Sehact  in  Zusammenhang  stehenden  motorischen  Func- 
tionen, d.  h.  der  optische  Lidreflex,  regelmäfsig  gestört,  während  bei  Ein- 
griffen in  dem  sensuellen  Theil  der  Rinde  die  motorischen  Functionen 
primär  ungestört  sein  können,  da  ein  Eingriff  in  den  Gyrus  sigm.  nur  un- 


Literaturbericht.  261 

erhebliche  Sehstörungen ,  dagegen  eine  erhebliche  des  optischen  Reflexes 
ergab,  so  kann  dies  nicht  auf  eine  Hemmung  optischer  Centren,  also  auch 
nicht  corticaler  optischer  Centren    beruhen.      Aus   mehreren  experi- 
menteUen   Thatsachen   geht  hervor,    dafs   auch   die   motorische   Hirn- 
rinde nicht  der  Angriffspunkt  sein  kann.    Somit  bleibt  das  subcorti- 
cale  motorische  Centrum  als  das  einzige  Organ  übrig,  welches  für  die 
Hemmung  des  optischen  Reflexes  verantwortlich  gemacht  werden  kann.    An 
der  Hand  dieser  Annahme  lassen  sich  die  gemachten  Beobachtungen  er- 
küren :   nach  Verletzung  der  Stelle  A  I  sind  Sehstörungen  vorhanden,  das 
Verhalten  des  optischen  Reflexes  hingegen  variirt.    Die  Differenz  der  Er- 
scheinungen wird  dadurch  bedingt,  dafs  der  Reiz  von  AI  ausgehend  zu- 
Qicbst  das  snbcorticale  optische  Centrum  trifft,  in  ihm  aber  eine  mehr  oder 
minder  starke  „Schranke'^  findet,  bis  er  das  snbcorticale  motorische  Centrum 
beeinflussen  kann.  —  Reize  vom  Gyrus  sigmoideus  aus  treffen  zunächst  auf 
das  Bubcorticale  motorische  Centrum,  dies  setzt  eine  mächtigere  „  Schranke" 
als  das  subcorticale  optische  Centrum,  so  dafs  der  optische  Reflex  ausbleibt, 
<iie  Hemmnng  des  Sehactes  aber  gering  bleibt. 

Fflr  die  Erklärung   der  Erscheinungen  bei   combinirten  Operationen, 

nach  denen  eine   secundäre  Hemmung  des  Sehactes  ausbleibt,  leistet  die 

Aufstellung  subcorticaler  Centren  folgendes:    Giebt  man  zu,  dafs  Läsionen 

Ton  A I  und  des  Gyrus  sigmoideus  die  subcorticalen  optischen  und  motori- 

scben  Centren  beeinflussen,  so  mufs  auch  —  nach  der  Ansicht  des  Verf.  — 

fogegeben  werden,  dafs  durch  jene  Eingriffe  in  die  Rinde  Veränderungen 

in  den  subcorticalen  Centren  hervorgebracht  werden,  vielleicht  auf  Basis 

wcondärer  Degenerationen.     Diese  Veränderungen  dehnen   sich  in  jedem 

Falle  von  dem  einen  subcorticalen  Centrum  auf  das  andere  aus,  so  dafs 

itpäter  in  umgekehrter  Leitungsrichtung  projicirte  Reize  ihre  Wirksamkeit 

aof  die  subcorticalen  Angriffspunkte  einbüfsen. 

[Verf.  giebt  selbst  zu,  dafs  diese  Erklärung  der  neu  aufgefundenen 
Thatsachen  noch  manche  Fragen  herausfordert.  Dem  Ref.  erscheint  vor 
Allem  jene  Annahme  von  degenerirten  Verbindungsbahnen  zwischen  sub- 
corticalem  motorischen  und  optischem  Centrum  noch  sehr  der  Aufklärung 
bedfirftig.  Sollten  wirklich  nacb  Eingriffen  in  der  Rinde  Degenerationen  in 
jenen  Verbindungsbahnen  der  erwähnten  Centren  sich  einstellen,  so  mtifsten 
«ierartige  Degenerationen  auch  den  optischen  Reflex  für  immer  unmöglich 
machen,  da  derselbe  doch  nothwendig  vom  optischen  Centrum  auf  das 
motorische  Centrum  überzugehen  hat.  Hitzig  erwähnt  aber  das  Verhalten 
eine»  Hundes,  der  nach  Verletzung  der  Stelle  AI  zwar  hochgradige  Seh- 
störungen, niemals  aber  Aufhebung  des  optischen  Reflexes  zeigte.] 

Mebzbacheb  (Strafsburg  i.  E.). 

Ed.  Hitzig.    Hughliigs  Jackson  and  die  motorischen  Rindencentren  im 

Lichte  pliysfologischer  Forschung.    Gelesen  in  der  Neurological  Society  of 
London  den  29.  November  1900.    Berlin,  Aug.  Hirschwald,   1901.    39  S. 

-  Inghlings  Jackson  and  the  Cortical  Motor  Oentres  in  the  Light  of 
Phyiiological  Research.   Brain  23  (92),  545—581.    1900. 

Nach  einer  Würdigung  der  Verdienste  Jackson's,  der  die  nach  ihm  be- 
nannten corticalen  Krämpfe  zuerst  zutreffend  gedeutet  und  ihre  Lage  un 


262  Literaturbericht 

gefähr  richtig  angegeben  hat,  schildert  Verf.  in  kurzen  Zügen  die  Ent- 
Trickelung  der  Lehre  von  den  motorischen  Bindencentren  seit  den  Arbeiten 
Jackson's,  soweit  die  Physiologie  an  ihr  theilgenommen  hat,  und  wirft  die 
Fragen  auf,  ob  die  Gesammtsumme  unserer  Erfahrungen  uns  wirklich  zu 
der  Annahme  von  Centren  in  der  Hirnrinde  berechtigt,  und  dann,  in  welcher 
Weise  die  Centren  etwa  functioniren  möchten.  Die  Antwort  auf  die  erste 
Frage  fällt  natürlich  im  bejahenden  Sinne  aus.  Es  wird  gezeigt,  welche 
Fehler  einer  anderen  Auffassung  zu  Grunde  liegen  und  welche  unzweideutigen 
Ergebnisse  experimenteller  Forschung  (sowohl  Reiz-  wie  Exstirpationsver- 
suche)  die  Existenz  solcher  Centren  beweisen. 

Was  die  zweite  Frage  nach  der  Function  der  Centren  angeht,  so  hatten 
schon  die  ersten  Exstirpationsversuche  beim  Hunde  ergeben,  dafs  ihnen 
niemals  eine  eigentliche  Lähmung  folgt.  Die  operirten  Thiere  haben  viel- 
mehr nur  ein  mangelhaftes  Bewufstsein  von  den  Zuständen  ihrer  Glieder 
und  entbehren  die  Fähigkeit,  sich  vollkommene  Vorstellungen  über  diese 
Glieder  zu  bilden.  An  diesen  Angaben  haben  die  Ergebnisse  späterer  Zeiten 
nichts  zu  ändern  vermocht.  Dafs  von  der  über  die  Thätigkeit  der  Centren 
herrschenden  motorischen  und  sensiblen  Theorie  mit  der  obigen  Auffassung 
nur  die  letztere  vereinbar  ist,  da  die  Gründe  für  die  nach  Zerstörung  der 
Centren  auftretenden  Störungen  auf  eine  Alteration  der  Vorstellungs- 
thätigkeit  zurückgeführt  werden  müssen,  braucht  kaum  noch  hervorgehoben 

zu  werden. 

Ebnst  Schxtltze  (Andernach). 


Matthaei.   Die  Erhöhung  der  Krie|;8tflchti|;keit  eines  Heeres  dnreh  Eithaltuf 

TOI  AlkohoL    Der  ÄUcoholismua  1  (2).    1900. 

An  zahlreichen  der  Geschichte  entnommenen  Beispielen  zeigt  M.,  dafs 
der  enthaltsame  Soldat  kräftiger  ist,  allen  Anstrengungen,  der  Kälte  und 
Hitze  besser  gewachsen  ist,  dafs  er  besser  marschirt,  besser  schiefst,  nur 
halb  so  oft  krank  ist  und  dann  noch  erheblich  weniger  Behandlungstage 
braucht,  und  nur  einhalbmal  so  häufig  wegen  Verbrechen  und  Vergehen 
bestraft  wird  wie  der  Nichtenthaltsame.  Des  genaueren  setzt  M.  aus  ein> 
ander,  worauf  das  beruht,  indem  er  seinen  Ausführungen  die  Aehnlichkeit 
der  Wirkung  von  Chloroform,  Aether  und  Alkohol  zu  Grunde  legt.  M.  ist 
Anhänger  der  völligen  Abstinenz  und  wünscht  deren  Einführung  auch  beim 
Heere,  damit  es  seiner  Aufgabe  noch  mehr  gerecht  wird,  einen  trefflichen 
Lehrmeister  für  das  Volk  abzugeben.  Doch  das  erscheint  vorläufig  noch 
nicht  durchführbar.  Für  jetzt  verlangt  er  Verbot  des  Schnaps  verkauf  es 
und  Mitwirkung  der  Militärgeistlichen,  Auditeure  und  Sanitätsofficiere  durch 
Belehrung  und  eigenes  Beispiel.  Noch  mehr  freilich  wird  die  Mitarbeit 
der  directen  Vorgesetzten  helfen.  „Nur  dadurch,  dafs  wir  ganz  Deutsch- 
land enthaltsam  machen,  bekommen  wir  ein  Heer,  das  in  der  Hand  des 
Führers  nach  jeder  Richtung  hin  eine  brauchbare  und  zuverlässige  Waffe  ist.*' 

Ernst  Schültze  (Andernach). 


Literaturhet-icht  263 

c.  Hambcbgeb.   Ueber  die  ftnellei  des  Kammerwassen.    KUn.  MoymtsU.  für 

AugenheiUc.  38,  802->823.  1900. 
H.  kommt  auf  Gmnd  experimenteller  Untersuchungen,  die  z.  Th.  be- 
reits an  anderer  Stelle  früher  vom  Verf.  mitgetheilt  sind  (Einspritzung  von 
Floorescein),  zu  dem  Schlufs,  dafs  die  allgemein  herrschende,  von  Leber 
besonders  vertretene  Anschauung,  das  Kammerwasser  sei  ein  Secret  des 
Oiliarkörpers,  eine  irrige  ist.  Der  Ciliarkörper  liefert  vielmehr  Flüssigkeit 
für  die  hinter  der  Iris  gelegenen  Qebilde,  während  die  Quelle  des  Kammer- 
wassers in  der  vorderen  Kammer  zu  suchen  ist,  indem  die  Hauptmenge 
desselben  von  der  Vorderwand  der  Iris  abgesondert  wird. 

G.  Abelsdobfp  (Berlin). 

F.  Hdcstedt  u.  W.  A.  Nagel.   Ueber  die  Einwirkang  der  Becqaerei-  and  der 

RiltgeiStraUei  auf  das  Auge.     Berichte  d.  Naturforsche^ulen  GessUschaft  z, 
Freiburg  i.  Br.  11  (3),  139—152.    1901. 

Die  von  Giesel  zuerst  gemachte  Beobachtung,  dafs  durch  Auflegen 
eines  lichtdicht  verhüllten  Radiumpräparates  auf  das  Auge  in  diesem  eine 
Lichtempfindung  erregt  wird,  wurde  von  den  Verff.  einer  genaueren  ünter- 
sttchang  unterzogen ;  das  Ergebnif»^  läfst  sich  dahin  zusammenfassen,  dafs 
die  Lichtempfindung  im  Wesentlichen  durch  Fluorescenzerzeugnng  im  Glas- 
körper und  in  der  Linse  ausgelöst  wird.  Den  ultravioletten  Strahlen, 
welche  eine  ähnliche  Empfindung  diffusen  Lichtes  wie  die  Becquerel- 
^rablen  hervorrufen,  kommt  dieselbe  Eigenschaft  der  Fluorescenzerregung 
in  Linse  und  Glaskörper  zu.  Im  Gegensatz  hierzu  konnte  bei  Röntgen- 
strahlen eine  Fluorescenz  der  brechenden  Medien  des  Auges  nicht  beob- 
achtet werden,  eine  Lichtempfindung  wird  aber  auch  durch  die  Röntgen- 
strahlen ausgelöst,  wie  bereits  Dorn  und  Brandes  gefunden.  Es  gelingt  bei 
diesen  „unsichtbaren'^  Strahlen,  eine  einer  umschriebenen  Netzhautreizung 
entsprechende  Lichtempfindung  zu  erzeugen,  während  bei  den  Becquerel- 
^rahlen  stets  „das  ganze  Auge  voll  Licht ^  erscheint.  Alle  diese  Strahlen 
werden  nur  vom  dunkeladaptirten  Auge  wahrgenommen,  und  zwar  ist  die 
Helligkeitsempfindung  am  stärksten  in  der  Peripherie,  Erscheinungen,  die 
von  den  Verff.  auf  überwiegende  Erregung  der  Netzhautstäbchen  bezogen 
werden. 

Ein  noch  nicht  erklärtes  Phänomen  tritt  bei  seitlicher  Bestrahlung 
des  Auges  mit  Becquerel-  oder  Röntgenstrahlen  auf;  die  gröfste  Helligkeit 
wird  nämlich  auf  derselben  Seite  empfunden,  auf  welcher  das  Radium- 
präparat oder  die  Röntgenröhre  gelegen  ist,  anstatt  dafs  die  Reizung  des 
betreffenden  Netzhautbezirks  durch  den  Knotenpunkt  nach  aufsen,  also 
nach  der  entgegengesetzten  Seite  projicirt  wird. 

Es  gelang  als  objectives  Zeichen  der  Einwirkung  der  Röntgen-  und 
ultravioletten  Strahlen  eine  Aenderung  des  elektromotorischen  Verhaltens 
des  Froschauges  festzustellen.  Das  von  Fuchs  und  Kreidl  erhaltene  nega- 
tive Resultat  bezüglich  der  Bleichung  des  Sehpurpurs  durch  Röntgenstrahlen 
wird  von  den  Verff.  bestätigt.  G.  Abelsdorff  (Berlin). 


264  Literaturberic/it. 

F.  HiMSTEDT  u.  W.  A.  Nagel.   Die  Yertheiliuig  der  Reiiwerthe  fir  die  Itesdi* 
netihant  im  Dlspenionsspectmm  des  Gaslichtes,  mittels  der  AetieisstrBme 

nntersncht.     Berichte  d.  Naturforschenden  Gesellsclmft  z.  Freiburg  i.  Br.  11 

(3),  153—162.  1901. 
Die  Mangelhaftigkeit  unserer  Kenntnisse  von  den  Farbenempfindongen 
der  Thiere  beruht  im  Wesentlichen  auf  der  Unbrauchbarkeit  der  nur  sehr 
problematische  Schlüsse  gestattenden  Untersuchungsmethoden.  Bei  der 
allgemein  biologischen  und  speciell  physiologischen  Wichtigkeit  des 
Problems  ist  jeder  kleine  Schritt  vorwärts  auf  diesem  Gebiete  mit  Freuden 
zu  begrüfsen;  in  der  vorliegenden  Abhandlung  scheinen  die  Verff.  einen 
noch  weitere  Erfolge  versprechenden  Weg  betreten  zu  haben.  Als  objectives 
Merkmal  der  Reizwerthe  verschiedenfarbiger  Lichter  benutzten  sie  die  von 
HoLMGREN  zuerst  beschriebenen,  bei  Lichteinwirkung  eintretenden  Schwan- 
kungen des  abgeleiteten  elektrischen  Stromes,  die  sogenannten  Actions- 
ströme  der  Retina.  Die  Versuche  wurden  zunächst  auf  das  Froschauge  be- 
schränkt, und  es  ergab  sich  ein  bemerkenswerther  Unterschied  zwischen 
im  Dunkeln  und  im  Hellen  gehaltenen  Augen.  Während  für  letztere  im 
Spektrum  des  Gaslichtes  das  Maximum  der  Reiz  Wirkung  bei  Gelb  in  der 
Gegend  der  Natriumlinie  liegt,  tritt  für  Dunkelaugen  eine  Verschiebung  des 
Maximums  nach  dem  kurzwelligen  Ende  bis  zur  Wellenlänge  544  (i(Jk  ein; 
ein  Unterschied,  der  um  so  interessanter  ist  als  das  Helligkeitsmaximum 
beim  menschlichen  Auge  eine  Verschiebung  in  demselben  Sinne  erfährt 

G.  Abelsdorpp  (Berlin). 

A.  DRUiLULT.    Rechercbes  snr  la  pathoginie  de  Tamanrose  qniniqae.    Paris, 

G.  Steinheil,  1900.    80  S. 

Die  deletäre  Wirkung,  welche  der  Gebrauch  mancher,  z.  Th.  auch  als 
Arzneimittel  verwandter  Stoffe  auf  das  Sehorgan  ausüben  kann,  hat  D. 
speciell  am  Chinin  einer  experimentellen  Prüfung  unterzogen.  Wenngleich 
die  Einzelheiten  dieser  interessanten  Monographie  mehr  das  Interesse  des 
Klinikers  und  Pathologen  in  Anspruch  nehmen,  so  sei  an  dieser  Stelle 
doch  das  wichtige  Ergebnifs  hervorgehoben,  dafs  der  schädigende  Einflufs 
von  Chininvergiftung  am  Auge  in  einer  Läsion  der  retinalen  Ganglienzellen 
mit  consecutiver  Sehnervendegeneration  zum  Ausdrucke  kommt. 

G.  Abelsdobff  (Berlin). 

M.  Meyer.    Die  Tonpsychologie,  ihre  bisherige  Entwickelniig  und  ihre  Be- 
deutung fttr  die  musikalische  Pädagogik.    Zeitschr,  f.  pädag.  Psychol.  1, 

74-85,  180—189,  245-254.  1899. 
Der  erste  Theil  giebt  eine  kurze  Uebersicht  über  den  gegenwärtigen 
Stand  der  Lehre  von  der  Klangfarbe  und  der  Consonanz,  wobei  M.  auch 
seine  eigenen,  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  bekannten  Anschauungen,  die 
zum  Theil  von  denen  Stümpf's  stark  abweichen,  zum  Ausdruck  bringt.  — 
Der  zweite  Theil  wirft  die  Frage  auf,  wie  zur  Musik  erzogen  werden  solle 
und  könne.  Mit  Recht  weist  M.  phantastische  Vorschläge  von  Theoretikern 
zurück,  die  der  Musiktheorie  und  -Geschichte  einen  ganz  abnormen  Um- 
fang im  Unterricht  zuerkennen  wollen,  und  betont,  dafs  eine  Hauptforde- 
rung zur  Erzielung  musikalischen  Verständnisses  darin  besteht,  beim  Hören 


LiteraturbericJit.  265 

mehrstinuniger  Musik  die  gesonderte  Verfolgung  der  gleichzeitigen  Töne 
und  Tonphrasen  zu  ermöglichen.     Von  den    verschiedenen  hierzu  vorge- 
schlagenen Mitteln  ist  das  wichtigste  und  interessanteste  die  vereinfachte 
grtphische  Darstellung  der  Musikstücke,  eine  allerdings  sehr  zu  ver- 
vollkommnende Idee  von  Hövkeb.     Unter  Weglassung  aller  zum  Spielen 
nothwendiger,  zum  Lesen  überflüssiger  Elemente  der  Notenschrift,  werden 
die  za  einer  Phrase  gehörenden  Noten    durch  Linien   mit  einander  ver- 
bünden ;  so  entstehen  höchst  charakteristische  geometrische  Figuren,  deren 
Wiederholung    in    verschiedenen    Höhen,    in    Verschiebungen    und    Ver- 
kürzangen  schon  dem  Auge  einen  intellectuellen  Genufs  etwa  der  Art  ge- 
währt, wie  das  Verfolgen  gewisser  Motive  in  complicirten  Arabesken,  und 
deren  Verwendung  in  der  musikalischen  Schul-  und  Volkserziehung  mehr 
tum  verständnilsvollen  Genufs  musikalischer  Werke  beitragen  könnte  als 
Harmonielehre,  Contrapunkt  und  gedruckte  programmatische  Erklärungen. 

^V.  Stern  (Breslau). 

Felix  Kbuegeb.  BeobacMuiigeii  an  Zweikläagen.  Fhilos.  Studien  16  (3  u.  4), 
307-379  u.  568—663.  1900. 
In  dieser  umfangreichen  Abhandlung  liegt  uns  eine  Arbeit  vor,  die 
zu  den  werthvollsten  Beiträgen  zu  rechnen  sein  dürfte,  die  die  Tonpsycho- 
logie in  letzter  Zeit  erhalten  hat  und  die  wegen  der  Fülle  der  mitgetheilten 
Beobachtungen,  wie  der  originellen  und  exacten  experimentellen  Durch- 
führung für  weitere  Arbeiten  lange  Zeit  von  grundlegender  Bedeutung 
bleiben  dürfte.  Da  es  in  Anbetracht  des  reichen  dargebotenen  Materials 
nicht  möglich  sein  dürfte,  dem  Verf.  durch  einen  Auszug  auch  nur  einiger- 
maaüsen  gerecht  zu  werden,  so  mag  es  der  Becension  gestattet  sein,  neben 
der  Angabe  von  Zweck  und  Ziel  der  Arbeit  sich  mit  einer  kurzen  Dar- 
stellung der  Versuchsanordnung  und  der  W^iedergabe  der  allgemeinsten 
Resultate  zu  begnügen. 

Unter  Hinweis  auf  die  verschiedenen  Theorien  des  Hörens  und  der 
Consonanz  sucht  der  Verf.  in  einer  Einleitung  zu  zeigen,  dafs  Riemann's 
Vorschlag  {diese  Zeitschrift  17,  4ö6ff.),  den  Zweiklang  aufzugeben  und  sich 
dem  Studium  der  Accorde  und  des  Dreiklangs  zuzuwenden,  verfrüht  sei 
Der  Verf.  findet  eine  Reihe  von  Fragen  von  grofser  theoretischer  Trag- 
weite, die  sich  gerade  nur  an  jenen  einfachen  Tongebilden  mit  hinreichen- 
der Genauigkeit  bearbeiten  lassen,  noch  unaufgeklärt.  Da  bei  unserer  ge- 
ringen Kenntnifs  der  physikalischen  und  chemischen  Vorgänge  im  inneren 
Ohr  der  Zweiklang  psychologisch  der  einfachste  Complex  sei,  der  dazu 
Eigenschaften  und  Elemente  besitze,  die  für  alle  anderen  Klangwahrneh- 
mungen  von  Bedeutung  sei,  so  sei  diesem  vor  Allem  zunächst  die  Auf- 
merksamkeit zuzuwenden. 

Der  Verf.  präcisirt  seine  Aufgabe  selbst  dahin:  „die  aus  dem  Zu- 
sammenklänge zweier  Töne  resultirenden  Erscheinungen 
auf  Grund  der  Beobachtung  möglichst  vollständig  und  ein- 
fach zu  beschreiben,"  und  fährt  fort:  „Durch  diese  Beobachtungen 
hoffte  ich  1.  über  alle  psychologischen  Eigenschaften  der  Zweiklänge  so 
weit  ins  Klare  zu  kommen,  dafs  eine  weitere  Zurttckführung  der  Unter- 
schiede von  Consonanz  und  Dissonanz  möglich  würde;  2.  für  die  all- 


266  Literaturbericht, 

gemeine  Theorie  des  Hörens  an  einem  entscheidenden  Punkte  einige 
sichere  Erfahrungsgrandlagen  zu  gewinnen.'' 

Die  Untersuchungen  wurden  in  Wijndt*s  Laboratorium  in  den  Jahren 
1898/99  ausgeführt.  Die  Versuchsanordnung  erstreckte  sich  auf  drei  in  einer 
Flucht  gelegene  Zimmer,  von  denen  das  mittlere  das  sogenannte  stille 
Zimmer  des  Instituts  war  und  je  eines  der  beiden  anderen  für  die  Ton- 
erzeugung  und  die  Beobachtungen  dienten.  Als  Tonerzeuger  dienten  6  noch 
von  Appünn  eigens  für  diesen  Zweck  gefertigte,  mit  Laufgewichten  versehene 
und  auf  Resonanzkästen  aufgeschraubte  Stimmgabeln,  die  eine  ununter- 
brochene Scala  von  192 — 1700  Schwingungen  gestattete.  Die  Resonanzkästen 
reichten  mit  dem  mit  einer  drehbaren  Holzklappe  versehenen  offenen  Ende  in 
Schalltrichter,  die  aus  Pappe  gefertigt  waren.  „Aus  diesen  Schalltrichtern 
trat  der  Ton  jeder  Gabel  in  ein  Messingrohr  von  1  cm  Durchmesser.  Die 
beiden  Rohre  vereinigten  sich  mit  sanfter  Biegung  nahe  vor  der  ersten 
Wand.  Von  da  ging  ein  geradliniges,  den  vorderen  gleiches  Rohr  durch 
die  beiden  Wände  des  stillen  Zimmers  und  endete  im  Beobachterzimmer 
in  einem  Schlauch  von  gleichem  Durchmesser.  Dieser  ca.  1  m  lange  Gummi- 
schlauch umgab  an  der  anderen  Seite  das  Ende  einer  kurzen  Röhre,  die  in 
ein  kleines  birnenförmiges  Hörstück  aua  Kautschuck  auslief.  Die  beiden 
Röhren  im  Tonerzeugungszimmer  waren  kurz  hinter  den  Schallaufnahme- 
kästen ausziehbar,  ebenso  das  Ende  der  Leitung  im  Beobachterzimmer. 
Im  Durchschnitt  der  Versuche  hatte  die  ganze  Leitung  von  den  Stimm* 
gabeln  bis  zum  Ohre  des  Beobachters  eine  Länge  von  8  m." 

Vor  den  Versuchen  wurden  die  Gabeln  nach  den  AppuNN'schen  Zungen- 
apparaten abgestimmt.  Erregt  wurden  die  Gabeln  durch  langsames  Streichen 
mit  dicht  und  gleichmäfsig  behaarten  Violinbögen.  Der  Verf.  zog  diese 
Art  der  Erregung  der  elektrischen  vor,  um  Obertöne  möglichst  zu  ver- 
meiden. Auch  waren  die  Gabeln  diesem  Zwecke  entsprechend  von  Appünn 
eingerichtet.  Aufserdem  dämpfte  der  Verf.  die  Gabeln,  bevor  die  Töne 
ausklingend  merklich  in  die  Höhe  gingen.  Dementsprechend  waren  die 
Klangzeiten  je  nach  den  gewählten  Gabeln  gleich  4,6  und  8  See.  „Jeder 
Klang  wurde  in  kurzen  Zwischenzeiten  so  lange  wiederholt,  wie  es  der 
Beobachter  wünschte."  „Das  Hören  geschah  durchweg  mit  einem  Ohr." 
„Der  Beobachter  schrieb  mit  vereinbarten  Abkürzungen,  was  er  auf  die 
ihm  vorher  vorgelegten  oder  nach  und  nach  zugerufenen  Fragen  zu  be« 
künden  wufste.  Für  die  am  häufigsten  wiederkehrenden  und  theilweise  den 
Fortgang  der  Versuche  bestimmenden  Mittheilungen  (ja;  nein;  stärker; 
schwächer  etc.)  wurden  Signale  (Klingelleitung)  verabredet."  Das  Verfahren 
war  unwissentlich. 

Zu  Interferenzversuchen  und  zum  Vergleichen  von  Tonhöhen  wurden 
aufserdem  KoENio'sche  Gabeln  von  64 — 2048  Schwingungen  benutzt.  Inter- 
ferenzversuche konnten  jederzeit  eingeführt  werden.  Diesem  Zwecke  diente 
ein  in  eins  der  vorderen  beiden  Leitungsrohre  eingeschalteter  Interferenz- 
apparat. 

Auf  diese  Weise  untersuchte  der  Verfasser  in  einer  ersten  Serie  die 
Intervalle  innerhalb  einer  Octave,  in  einer  zweiten  die  von  der 
Octave  bis  zur  Duodecime,  in  einer  dritten  die  von  der  Duo- 
decime  bis  zur  Doppeloctave.    Der  Gang  der  Versuche  war  innerhalb 


Literaturbericht  267 

jeder  Periode  im  Allgemeinen  die  Feststellung  der  Differenztöne,  der 
Snmmationstöne,  der  Schwebungen,  des  Gefühlseindrucks. 
Innerhalb  der  ersten  Serie  wurden  aufserdem  noch  der  Zwischenton  und 
die  primären  Töne  bei  engen  Intervallen,  sowie  die  Dauer  und  zeitliche 
Folge  der  Gombinationstöne  bestimmt.  Eine  vierte  Versuchsreihe  —  Er- 
gebnisse der  Selbstbeobachtung  während  der  Analyse  —  be- 
handelt: den  Vorgang  der  Analyse,  die  Beurtheilung  der  Theil- 
töne,  die  Auffassung  der  Schwebungen,  optische  und  andere 
Associationen,  den  Gefühlseindruck. 

Das  Gesammtergebnifs  seiner  Versuche  fafst  der  Verf.  selbst  folgender- 
maaDBen  zusammen: 

„Aus  dem  Zusammenklange  zweier  einfacher  Töne  resultiren,  neben 
einem  Summationstone,  bis  5  Differenztöne  verschiedener  Ordnung,  deren 
Tonhöhen  nach  der  Regel  zu  berechnen  sind,  dafs  man  zunächst  die 
Schwingungszahlen  der  Primärtöne  und  dann  fortgesetzt  die  beiden 
kleinsten  bereits  ermittelten  Schwingungszahlen  von  einander  subtrahirt. 
Diese  Differenztöne  verhalten  sich  zu  einander  und  zu  den  Primärtönen 
genau  wie  primäre  Töne  unter  sich;  so  vor  Allem  hinsichtlich  der 
wechselseitigen  Verstärkung,  wo  mehrere  zusammenfallen  oder  benachbart 
sind,  und  hinsichtlich  der  in  diesem  zweiten  Falle  entstehenden  Schwebungen 
nnd  Zwischentöne.'' 

In  umfangreichen  Tabellen  sind  die  einzelnen  Werthe  und  Angaben 
übersichtlich  zusammengestellt.  Kiesow  (Turin). 

G.  SoMMEB.    Ueber  die  Zahl  der  Temperatarpankte  der  Snfseren  Haut.   Sitzunffs- 

berichte  d.  Physikal.-med.  GeseUchaft  zu  Würzburg,  Jahrg.  1901. 

Der  Verf.  arbeitete  mit  dem  BLix*schen  Thermophor.  Er  bestätigt  die 
von  Agliabdi  (R.  Accademia  di  Med.  di  Tiyrina^  12.  niaggio  1899)  unter  Leitung 
des  Ref.  gefundene  Thatsache,  nach  welcher  die  Anzahl  der  Temperatur- 
pnnkte  auf  der  Haut  und  besonders  die  der  Warmpunkte  geringer  ist,  als 
vielfach  angenommen  wird.  So  fand  er  in  einem  Hautfelde  des  linken 
Handrackens  13  Kalt-  und  2  Warmpunkte  pro  Quadratcentimeter.  Die  von 
Bux  und  GoLDSCHEiDER  angegebene  eigenthttmliche  Gruppirung  der  Tempe- 
raturpunkte  konnte  er  bestätigen.  „Mit  dieser  ungleichen  Vertheilung 
hängt  die  örtlich  so  sehr  wechselnde  Kälteempfindlichkeit  zusammen,  welche 
schon  E.  H.  Weber  ausdrücklich  hervorgehoben  hat.** 

Wie  der  Ref.  in  einer  im  Druck  befindlichen  Ausführung  verlangt, 
hebt  auch  der  Verf.  die  Nothwendigkeit  hervor,  die  Temperatur  der  Um- 
gebung beim  Aufsuchen  der  Temperaturpunkte  zu  berücksichtigen.  Ebenso 
ist  die  Ermüdung  der  Temperaturorgane  nach  ihm  in  Betracht  zu  ziehen. 

Auf  der  Fingerbeere  gelang  es  dem  Verf.  die  Warmpunkte  zu  be- 
stinunen. 

Bei  Kindern  stehen  die  Temperaturpunkte  nach  dem  Verf.  in  gröfserer 
Dichte  beisammen,  als  bei  Erwachsenen  (Czermak,  Raumschwelle,  Kiesow, 
Vertheilung  der  Geschmacksorgane). 

Unter  Zugrundelegung  der  MEEH'schen  Berechnung  der  Gröfse  der 
Körperoberfläche  besitzt  die  äufsere  Körperhaut  des  Menschen  nach  den 
Befunden  Sommer's  ca.  V^  Million  Kaltpunkte  und  ca.  30000  Warmpunkte. 


268  Literaturbericht 

Die  Vertheilung  der  Temperatarpunkte,  wie  sie  der  Verf.  an  ver- 
schiedenen Körpertheilen  an  sieh  selbst  und  einem  intelligenten  9  jährigen 
Kinde  fand,  ist  in  einer  werthvollen  Tabelle  zusammengestellt. 

KiESOw  (Turin). 

•i 

L.  Heine.    Sehschärfe  and  Tiefenwahrnehmang.    v.  Gbaef£*s  Arch.  f.  Ophthalm. 

51  (1),  146—173.    1900. 

—     Ueber  Orthoskopie  oder  fiber  die  Abhängigkeit  relativer  Entfeniuigs- 
schätiuAgen  von  der  Yorstellnng  absoluter  Entfemong.    Ebenda  51, 563— 572. 

H.  hat  die  Beziehungen  der  beiden  Functionen,  der  Sehschärfe  und 
des  Tiefenwahmehmungsvermögens  einer  eingehenden  Untersuchung  unter- 
worfen. Während  die  Sehschärfe,  welche  wiederum  von  dem  Wahr- 
nehmungsvermögen für  die  seitliche  Lageverschiedenheit  (Hebino)  zu 
trennen  ist,  monocular  bestimmbar  ist,  stellt  die  feinere  Tiefen  Wahr- 
nehmung den  vollkommensten  Grad  binocularen  Sehens  dar.  Indem  Verf. 
von  der  HERiNG*schen  Erklärung  binocularer  Tiefen  Wahrnehmung  auf  Grund 
der  Disparation  der  Netzhautbilder  ausgeht,  bestimmt  er  die  kleinste  „bin- 
oculare  Querdisparation"  (Tiefen Wahrnehmung)  durch  drei  in  einer  frontalen 
Ebene  stehende  Stäbe,  deren  mittlerer  sagittal  verschiebHch  ist  und  so  die 
Messung  der  kleinsten  noch  wahrnehmbaren  Entfernungsdifferenz  gestattet 
Es  ergab  sich,  dafs  bei  normaler  Sehschärfe  und  gleicher  Refraction  auf 
beiden  Augen  Entfernungsunterschiede,  die  einer  Querdisparation  der  Netz- 
hautbilder von  1  II  entsprechen  (d.  h.  bei  Prüfung  in  5  m  eine  Verschiebung 
von  25  mm, nach  vorn  oder  hinten  vom  Nullpunkt)  erkannt  werden.  Durch 
ungleichen  Befractionszustand  beider  Augen,  sowie  verminderte  Sehschärfe 
kann  dieses  Maafs  ebenso  eine  Vergröfserung  wie  durch  Steigerung  der 
Sehschärfe  eine  Verminderung  erfahren.  Dieses  Resultat  beruht  auf  einer 
Untersuchungsmethode,  bei  welcher  das  Wahrnehmungsvermögen  von  Ent- 
fernungsdifferenzen verticaler  Contouren  (differente  Bilder  auf  verticalen 
Netzhautmeridianen)  bei  ruhendem  Blick  geprüft  wird,  da  Entfernungs- 
differenzen horizontaler  Contouren  ohne  Bewegungen  der  Augen  nicht  er- 
kannt werden  können.  H.  wies  nach,  dafs  auch  bei  einer  Uebereinander- 
stellung  der  Augen  durch  geeignete  prismatische  Anordnung  die  Differenz 
der  Bilder  in  den  horizontalen  Meridianen  das  Erkennen  von  Entfemungs- 
differenzen  horizontaler  Contouren  nicht  zu  Stande  kommen  läfst,  jenes 
Vermögen  also  auf  die  verticalen  Meridiane  beschränkt  ist.  Zur  Erklärung 
der  Feinheit  der  Tiefenwahrnehmung  nimmt  H.  eine  nervöse  Doppeltver- 
sorgung der  Macula  lutea  an,  die  durch  centrale  Commissuren  bedingt,  die 
Verschmelzung  der  zwei  differenten  Bilder  beider  Augen  zu  Einem  Bilde 
ermöglicht.  Schematische  Zeichnungen  dienen  zur  Veranschaulichung 
dieser  theoretisch  postulirten  centralen  Verbindung. 

In  einer  zweiten  Abhandlung  hat  Verf.,  einer  Anregung  Hebino*s 
folgend,  die  binoculare  Tiefen  Wahrnehmung  als  solche  untersucht,  wie  weit 
wir  im  Stande  sind,  ausschliefslich  auf  Grund  dieser  das  Verhältnifs  der 
Tiefendimensionen  eines  Gegenstandes  zu  seinen  übrigen  Dimensionen 
richtig  (orthoskopisch)  zu  sehen.  Da  mit  der  Entfernung  eines  Gegen- 
standes die  Incongruenz  seiner  Netzhautbilder  geringer  wird,  nehmen  auch 


Literaturbericht  269 

»eine  Tiefendimensionen  scheinbar  ab.    Die  einzelnen  Bedingungen  für  das 
.orthoskopische^  Sehen  wurden  in  der  Weise  ermittelt,  dafs  von  drei  ver- 
schieblichen verticalen  Stäben,  deren  Enden  abgeblendet  waren,  zwei  die 
Basis  und  der  dritte  die  vordere  mediane  Kante  eines  Prismas  bildeten 
und  die  Veruchsperson  mit  fixirtem  Kopfe  ein  gleichseitiges  Prisma  durch 
Verschiebung  der  Stäbe  herzustellen  hatte.    Im  Hellzimmer,  wo  die  Ent- 
fernung des  Prismas  richtig  beurtheilt  werden  konnte,  lag  der  Bezirk  des 
.orthoskopischen  Sehens'^  in  einer  Entfernung  von  Vs  l^is  1  m*    Int^  Dunkel- 
zimmer, wo  die  Entfernung  des  Prismas  unterschätzt  wurde,  erschien  ein 
▼irUich  gleichseitiges  Prisma  in  einer  Entfernung  von  Vs  i^  zu  flach,  in 
^3  m  Entfernung  wurde  es  in  der  Kegel  als  solches  gesehen.    Der  Versuch, 
ortboskopisches  Sehen  in  anderen  Entfernungen  dadurch  herzustellen,  dafs 
dAMelbe  Verhältnifs  des  Sehwinkels  der  Basisbreite  des  Prismas  zum  Quer- 
disparations Winkel  der  Vorderkante  wie  bei  Vs  ni  gewählt  wurde,  beispiels- 
weise die   Tiefe  des   Prismas   mit  der  doppelten   Entfernung   verdoppelt 
wurde,   mifslang.     Denn   es   ergab   sich,    dafs   die   Tiefendimensionen   im 
Verhältnifs    zu    den    Breitendimensionen    mit    zunehmender    Entfernung 
des  Objects    zwar    unterschätzt    werden,    „jedoch    nicht    in    demselben 
Maaüse,    in    welchem    mit    der    wirklichen    Entfernung    die     durch    die 
DisparationsgrOfse    gegebenen    Tiefenwerthe    abnehmen.''      Es    liefs    sich 
rahlenmäfsig  feststellen,    dafs    das  Verhältnifs  des  Sehwinkels  der  Basis 
zxun  Querdisparationswinkel  der  vorderen  Kante  in  gröfserer  Entfernung 
anch  grOfser  zu  wählen  ist  als  in  kleinerer,  um  ein  scheinbar  constantes 
Verhältnifs  zwischen  Breite  und  Tiefe  herzustellen.    Es  zeigt  sich  also  mit 
Zunehmender  Entfernung  des  Objects  eine  sich  steigernde  Ausnutzung  der 
Tiefenwerthe;  die  letztere  ist  nicht  nur  von  der  absoluten,  sondern  auch 
von  der  scheinbaren  Entfernung  abhängig,   wie   unter  Anderem   aus   der 
bereits  erwähnten  Thatsache  hervorgeht,  dafs  bei   anscheinender  Annähe- 
rung des  Prismas  im  Dunkelzimmer  die  Tiefe  scheinbar  abnahm,  so  dafs 
w  zu  flach  erschien.  G.  Abelsdorff  (Berlin). 


«lOSEPPE  Bellei.   Li  sUnchena  mentale  nei  bambini  delle  pablicbe  scnole. 

Rivista  sperimentale  di  freniatna  2«,  692—698.    19(X). 
Der  Verf.,   Schularzt  in  Bologna,  hat  an  460  Schulkindern   im  Alter 
von  durchschnittlich   11  Jahren    und   6  Monaten   Versuche   über   die   Er- 
mödnng  durch  den  Unterricht  gemacht.     Er  benutzte  als  Prüfungsarbeit 
Dietate.     Sein  Befund  war  der,   dafs  nach  der  1.  Stunde   mehr   geleistet 
Würde  als  vor  Beginn  des  Unterrichtes,  und  dafs  die  Müdigkeit  während 
des  Vormittags  nicht  zunahm.     Die  schlechteste  Leistung  fand  sich,  und 
zwar  gegenüber  dem  geringen  ermüdenden  Einflufs  des  Vormittags  in  ganz 
anfälligem  Grade,  nach  der  einen  Nachmittagsstunde,  während  nach  der 
Mittagspause  weitaus  am  besten  gearbeitet  wurde.    Gegen  die  Versuche  ist 
der  eine  Einwand  zu  machen,  dafs  es  trotz  der  Mithülfe  einer  Lehrerin 
kaum  möglich  sein  dürfte,  Dietate  von  absolut  gleicher  Schwierigkeit  her- 
zustellen, und  dafs  der  Einflufs  der  Uebung  wohl  etwas   zu  gering  veran- 
schlagt wurde.  Aschaffenbürq  (Halle). 


270  Literaturbericht. 

M.  LoBSQEN.   Ueber  die  psychologfiscb-p&dai^ogischeii  Methoden  iir  Erfendung 

der  |[ei8ti|[eil  Ermfldimi;.     Zeitschr,  f.  pädag,  Fsychol  u.  Path.  2,  273—286, 

352—367.  1900. 
L.  giebt  eine  brauchbare  Orientirung  über  die  hauptsftchliothen  xur 
Prüfung  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  und  Ermüdung  bisher  angewandten 
Yerfahrungsweisen,  insbesondere  über  die  Rechen-,  Dictir-,  Credächtnirs-  und 
Oombinationsmethode,  und  beurtheilt  in  besonnener  Kritik  ihren  methodo- 
logischen Werth.  W.  Stern  (Breslau). 

B.  Blazek.   Ermfidongsmessimi^eii  mit  dem  Federästhesiometer  an  Schtleni  des 
Frani-Joseph-Gymnasinms  iq  Lemberg.   Zeitschr,  f.  pädag.  Fsychol,  1, 311—325. 

1899. 
Mit  einem  selbstconstruirten  sinnvollen  Federästhesiometer  (die  aus- 
führliche Beschreibung  und  Gebrauchsanweisung  ist  im  Original  nachzu- 
lesen) macht  B.  Versuche  an  einer  ungenannten  Anzahl  von  Gymnasiasten 
ungenannter  Altersstufen.    Zu  Beginn  des  Unterrichts,  sowie  nach  Schluis 
jeder  Stunde  wurde  die  Tast-Distanzschwelle  am  Unterarm  geprüft.     Die 
gewonnenen  Ermüdungscurven  führt  B.  auf  drei  Grundtypen  zurück.    Der 
«rste  Typus  zeigt  in  der  ersten  Hälfte  der  Schulzeit  ein  starkes  Ansteigen 
•der  Ermüdung,  das  dann  geringer  oder  auch  negativ   wird.     Der  zweite 
Typus,  der  von  den  weitaus  meisten  Fällen  repräsentirt  wird,  weist  einen 
mehrmaligen  Wechsel  von  Ermüdung  und  Erholung  auf,  der  dritte  zeigt 
überhaupt  keine  nennenswerthe  Ermüdung  und  Erholung.     Seine  Ergeb- 
nisse deutet  nun  Verf.  zu   folgender  merkwürdigen  Weise  aus:    Die  Er- 
müdung in  einer  Stunde  ist  ein  Zeichen,  dafs  in  ihr  „gearbeitet^  worden 
ist.     Die  Erholung    zeigt  das  Gegentheil  an.     Ein   Knabe   also,   der  von 
Stunde  zu  Stunde  eine  Erhöhung  der  Tastschärfe  zeigt,  hat  während  der 
ganzen  Zeit  „nicht  gearbeitet''!     Somit  lehren  die  Versuche:    „Die  Mehr- 
zahl der  Knaben  arbeitete  bei  fünfstündiger  Schulzeit  nur  drei  Stunden. 
Fünf  Stunden  hindurch  arbeitete  kein  Schüler."    Daraus  geht  hervor,  „daGs 
die   dreistündige  Unterrichtszeit   als  Maximum   angesehen  werden    mufs." 
Derartig  voreilige  und  willkürliche  Schlufsfolgerungen  können  nur  geeignet 
«ein,  die  eben  beginnende  experimentelle  Bearbeitung  des  Schulermüdungs- 
problems  in  ihrer  Entwickelung  zu  hemmen.  W.  Stebn  (Breslau). 


H.  Gale.  Oh  tbe  PsycholOgy  Of  Ädfertising.  Fsychdogical  Studies  hy  Galt 
(1),  39—69.  1900. 
Nach  einer  wenig  erfolgreichen  Umfrage  bei  Geschäftsleuten  hat  G. 
•die  Psychologie  der  Reclame  durch  mehr  als  6000  Laboratoriumsversuche 
-ergründen  wollen,  und  zwar  hinsichtlich  ihrer  beiden  Zwecke,  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich  zu  ziehen,  und  dann:  zum  Kauf  zu  veranlassen.  Er 
benutzte  dazu  den  Anzeigentheil  von  amerikanischen  „magazines",  dessen 
Seiten  rasch  vor  dem  Auge  der  Versuchspersonen  vorübergeführt  wurden, 
indem  man  sie  im  dunklen  Zimmer  kurz  beleuchtete.  Dabei  erwiesen  sich 
u.  A.  bedeutsame  Worte  als  auffälliger,  wie  Abbildungen,  und  wurde  die 
Wirkung  der  ersteren  durch  mehrfache  Wiederholung  noch  gesteigert,  die 


Literaturbericht.  271 

der  letzteren  gesckwächt  Bei  weiblichen  Versuchspersonen  war  die  Wirkung 
Ton  Bildern  eine  gröfsere  als  bei  männlichen.  Noch  künstlicher  als  hierbei 
waren  die  Bedingungen  bei  der  Untersuchung  der  Wirksamkeit  auf  die 
Kauflust,  so  dafs  auch  hier  die  Resultate  in  praktischer  Beziehung  ebenso 
bedeutungsarm  sind  als  in  psychologischer.  Ettlinoeb  (München). 

w.  Fite.    Contiguity  aid  Similarity.    Philos.  Rev,.  9  (6),  613—629.    1900. 

F.  ist  Apperceptionist  und  sucht  als  solcher  nachzuweisen,  dafs  die 
beiden  Hauptgesetze  der  Association,  das  der  Contiguität  und  das  der 
Aebnlichkeit,  als  psychologische  Gesetze  vom  Association ismus  nicht  erklärt 
werden  können.  Sofern  Contiguität  auf  Bewufstseinsinhalte  bezogen  wird, 
gehört  zu  ihr  nicht  nur  die  Beziehung  gleichzeitiger  Vorstellungen,  sondern 
auch  das  BewuTstsein  dieser  Beziehung.  Dies  Bewufstsein  aber  ist  nicht 
al8  dritter  hinzukommender  Inhalt  denkbar,  sondern  entspringt  der  geistigen 
Activität,  welche  den  einzelnen  Elementen  übergeordnet  ist.  Ebenso  hat 
Aehnlichkeit  nur  Sinn,  sofern  nicht  nur  ähnliche  Vorstellungen,  sondern 
auch  ein  sie  constatirendes  Bewufstsein  vorhanden  ist.  —  Das  Contiguität»- 
gesetz  ist  wenigstens  als  physiologisches  Associationsgesetz  sinnvoll,  indem 
ea  raumlich-mechanische  Beziehungen  zwischen  Gehirnelementen  ausdrückt; 
das  Aehnlichkeitsgesetz  ist  dagegen  nicht  physiologisch  umdeutbar. 

W.  Stern  (Breslau). 

F.  Kemsies.  GedachtnifsQiitersQclioDgeii  an  Scbfilern.  Zeitschr.  f,  pädag.  Psychol. 
M.  Faihol,  2,  21-30,  84—95.  1900. 
Die  vorliegenden  Massenuntersuchungen  K.'s  (welche  später  auf  dem 
Wege  des  Einzelversuchs  ergänzt  werden  sollen)  gelten  hauptsächlich  der 
Frage,  welche  Lernmethode  (die  akustische,  visuelle  oder  akustisch- 
visuelle) die  geeignetste  sei.  Das  Lernmaterial  bestand  aus  Lern- 
t^tücken,  die  aus  zehn  lateinischen  zweisilbigen  Vocabeln^  mit  deren 
deutschen  zweisilbigen  Bedeutungen  zusammengesetzt  waren.  Ein  Lern- 
stück wurde  fünfmal  hinter  einander  dargeboten ;  sodann  hatten  die  Schüler 
das  Behaltene  niederzuschreiben.  Die  Darbietung  geschah  bei  einem  Lern- 
!*töck  akustisch  durch  Vorlesen,  bei  einem  zweiten  visuell  durch  Zeigen 
der  gedruckten  Worte,  beim  dritten  combinirt  durch  lautes  Vorlesen  der 
sichtbaren  gedruckten  Worte. 

Bei  der  Verwerthung  waren  die  Hauptgesichtspunkte :  Feststellung  der 
Quantität  des  überhaupt  Behaltenen,  Feststellung  der  Qualität  der  Leistung, 
d.  h.   der   richtig   verknüpften   Vocabeln   und   Bedeutungen.     Das   Haupt- 
resultat bestand  in  einem  bedeutenden  Ueberwiegen  der  rein  akustischen 
Methode  über  die  visuelle,  sowohl  der  Quantität  als  auch,  und  zwar  in 
höherem  Maafse,  der  Qualität  nach.     Die  combinirte  Methode  (die  in  der 
Praxis  häufigste)  weist,  was  überraschend  scheint,  keinen  Vorzug,  eher  eine 
gewisse  Minderwerthigkeit  gegenüber  der  rein  akustischen  auf.    Bei  dem 
Zusammenwirken    der   beiden  Hauptsinne    scheint  sich   also  gegenseitige 
Unterstützung  einerseits,  Zersplitterung  der  Aufmerksamkeit  andererseits 
die  Wage  zu   halten.    Von  weiteren  Resultaten  sei  noch  dieses  erwähnt: 
Vergleicht  man  die  Ergebnisse  verschiedener  Classen,  so  zeigt  sich  ein 
jichnelleres  Steigen  der  Qualität  als  der  Quantität  der  Gedächtnifsleistungen. 

W.  Stern  (Breslau). 


272  Literaturhericht. 

'} 

Eknst  Mallt.   Äbstractioa  ond  Aehnlicbkeits-ErkeniitBifs.    Archiv  f.  «yttanst  {• 

Philosophie  6  (3),  291—310.    1900.  | 

Nach  der  von  Meinono  und  anderen  Psychologen  vertretenen  AbstractioiiB- 
theorie  ist  die  Abstraction  als  eine  besondere  intellectaelle  Leistung  ania- 
sehen.  Mit  dieser  Auffassung  der  Abstraction  ist  Cornelius  nicht  einverstanden. 
Derselbe  bestreitet,  dafs  die  Abstraction  ein  urspr  anglich  er  Thatbestaad 
sei,  und  meint,  Abstraction  in  Aehnlichkeitsbewufstsein  auflösen  sn  können. 
Meinong  hat  in  einer  längeren  Abhandlung  (Abstrahiren  und  Vergleichen» 
diese  Zeitsch.  24,  1)  die  Abstractionstheorie  Cornelius*  einer  eingehenden 
Prüfung  unterzogen  und  deren  Unhaltbarkeit  nachgewiesen.  Beinahe  gleich- 
zeitig mit  der  erwähnten  Arbeit  ist  der  vorliegende  Aufsatz  erschienen» 
welcher  sich  ebenfalls  das  Ziel  gesteckt  hat,  die  CoRNEUus'sche  Position 
auf  ihre  Haltbarkeit  zu  prüfen. 

Mally  stellt  zunächst  die  CoRNELiü8*sche  Abstractionstheorie  den  Aus- 
sagen der  inneren  Erfahrung  gegenüber  und  weist  nach,  dafs  die  Theorie 
durch  die  Empirie  mangelhaft  beglaubigt  wird.    „Die  Theorie  will»  dab 
wir  bei  jeder  Abstraction  vergleichen;   unsere  innere  Wahrnehmung  seigt 
uns  aber  davon   nichts."    Hierauf  wendet  sich  die  MALLY'sche  Kritik  den 
Bedingungen  zu,  die  im  Sinne  der  CoRN£Lius*schen  Abstractionslehre  erfüllt 
sein  müfsten,  wenn  Abstraction  zu   Stande  kommen  soll.    Die   erste  Be- 
dingung sei  der  Eintritt  einer  Aehnlichkeitsassociation.    Dieselbe  zeige  sich 
jedoch  im  Verhältnifs  zur  Häufigkeit  der  abstracten  Vorstellungen  selten 
erfüllt.     Die    zweite    Bedingung    laute:    Vollziehung    einer    Vergleichung 
zwischen  einem  Gegenstande  und  einer  Gruppe  von  gleichsinnig  ähnlichen 
Gegenständen  oder  einer  Aehnlichkeitsreihe.     Die  verlangte  Vergleichung 
müsse  im  Sinne  der  Aehnlichkeit  ausfallen  und  sich  auf  Glieder  beziehen, 
von   denen   das  eine,  die   Aehnlichkeitsreihe  vom   Subjecte  erst  gebildet 
worden  sei.    Die  Aehnlichkeitsreihen  entstünden  durch  das  Aneinander« 
ordnen  der  Glieder.    Ein  und  dieselbe  Thätigkeit  bilde  und  führe  die  Reihe 
weiter.    Jedes  Glied  werde  durch  die  Erkenntnifs  seiner  Zugehörigkeit  zur 
Reihe  d.  h.  seiner  Aehnlichkeit  mit  jedem  der  Glieder  angefügt.    Das  sei 
aber  eben  die  Abstraction.    Folglich  verlange  die  CoRNELiüs'sche  Hypothese 
Abstraction  vor  der  Abstraction.    Bei  der  Bildung  der  Aehnlichkeitsreihen 
käme  nur  Aehnlichkeit  in  einer  und  derselben  Hinsicht  in  Betracht    In 
je  mehr  Hinsichten  die  Gegenstände  eine  Vergleichung  zuliefsen,  desto  un- 
wahrscheinlicher und  zufälliger  sei  gerade  die  associative  Bildung  einer 
bestimmten  Reihe.    Cornelius  führe  hier  eine  Hülfshypothese  ein,  nach 
welcher  wir  durch  eigenes  Zuthun  die  Richtung  der  Association  bestimmten ; 
die  Aehnlichkeitscomplexe  würden  unter  einander  wieder  verglichen.    Dieser 
Hülfssatz  sei  unhaltbar,  weil  er  nähere  qualitative  Bestimmung  der  Aehn- 
lichkeit, welche  es  nicht  gebe,  voraussetze. 

Gelegentlich  der  Erörterung  der  Frage  nach  der  Entstehung  der 
Aehnlichkeitsreihen  weist  der  Verf.  darauf  hin,  dafs  die  CoRNELius'sche 
Abstractionshypothese  bei  der  Aehnlichkeitsrelation  stehen  bleibe,  statt 
das  gesammte  Gebiet  der  Relationen  zu  umspannen.  Wenn  Erkenntnifs 
der  Aehnlichkeit  Abstraction  sei,  dann  auch  Erkenntnifs  der  Verschieden- 
heit und  überhaupt  Erkenntnifs  jeder  Relation,  deren  Glieder  nicht  in  jeder 
Hinsicht  in  sie  einbezogen  seien.    Aber  selbst  in  dieser  erweiterten  Form. 


Literaturbericht  273 

fenOge  die  H3rpothe8e  nicht  Das  ergebe  sich  ans  der  Weise,  wie  Aehnlich- 
keitsreihen  thatsächlich  vorgestellt  würden.  Alle  Glieder  der  Reihe  würden 
durch  eine  und  dieselbe  Vorstellung,  den  allgemeinen  Begriff  vorgestellt. 
Immer  mOfsten  die  Glieder  einer  Beihe  unter  einer  allgemeinen  Vorstellung 
fegeben  sein,  wenn  eine  Vergleichung  eines  Gegenstandes  mit  der  Reihe 
stattfinde.  Die  Hypothese  verlangt  also  Allgemeinheit  der  Vorstellung  vor 
der  Abstraction.  Das  ErgebniXs  der  vorliegenden  Untersuchung  ist  also 
Unhaltbarkeit  der  CoENELius'schen  Abstractionslehre. 

Allem  Anscheine  nach  bedeuten  die  Begriffe  abstract  und  allgemein 
bei  CosKSLius  so  ziemlich  dasselbe.  Die  Aufstellungen  Cornelius'  können 
in  Bezug  auf  die  Genesis  der  allgemeinen  Vorstellungen  zutreffend  sein, 
wahrend  sie  das  für  das  Abstractionsproblem  nicht  sind.  Mally  hätte  viel- 
leicht diesen  Umstand  in  seiner  Arbeit  ausdrücklich  hervorheben  sollen. 
Die  eben  ausgesprochene  Vermuthung  scheint  in  der  That  durch  die  gleich- 
seitig mit  den  Arbeiten  Meinong*s  und  Mally's  veröffentlichten  Ausführungen 
CosvELius'  (Zur  Theorie  der  Abstraction,  diese  Zeitschr,  24,  1)  bestätigt  zu 
werden.  Cobkklius  hat  zweifellos  recht,  wenn  er  bemerkt,  dafs  einem  Kinde 
an  einem  Tone  die  allgemeinen  Vorstellungen  Klangfarbe  und  Höhe  nicht 
TerstAndlich  gemacht  werden  können.  Aber  man  wird  einem  Kinde  auch 
an  mehreren  Tönen  die  Bedeutung  der  genannten  Allgemeinbegriffe  nicht 
klarlegen  können,  wenn  es  nicht  vorher  gelernt  hat,  auf  einzelne  Merkmale 
eines  Gegenstandes  zu  achten,  d.  h.  wenn  es  in  der  abstrahirenden  Thätig- 
keit  noch  nicht  genügende  Uebung  besitzt.  Was  das  Kind  auf  die  von 
CosKioJUS  beschriebene  Art  gewinnt,  das  ist  das  Verständnifs  der  allge- 
meinen Vorstellimgen :  das  Mittel  dazu  ist  aber  wohl  die  Abstraction.  Man 
kommt  eben  über  die  Thatsache,  dafs  die  Abstraction  eine  specifische  in- 
tellectuelle  Leistung  darstellt,  nicht  hinaus.  Saxinger  (Linz). 

C.  M.  GiEssLER.   Die  Identiflcining  von  PersOnlicbkeiten.    VicrteljahrsschHft  f. 

uismuschaftl,  PhUosaphie  24  (3),  299—312.  1900. 
Der  Verf.  unterzieht  in  der  vorliegenden  Arbeit  den  Vorgang  der 
Identificirung  von  Persönlichkeiten  einer  psychologischen  Analyse.  Der 
erste  Paragraph  handelt  von  den  Arten  der  Reproduction,  nämlich  der  un- 
betonten, der  emotionellen  und  der  ingeniösen  Keproduction.  Die  emotio- 
neUe  Reproduction  wird  von  emotionellen,  die  ingeniöse  von  intellectuellen 
Stimmungen  geleitet.  Bei  der  emotionellen  Reproduction  tritt  der  herr- 
Khende  Gefühlston  mit  sämmtlichen  Vorstellungen  des  gerade  verarbeiteten 
Vorstellungskreises  in  associative  Beziehung.  Hierbei  treten  diejenigen 
Vorstellnngsmerkmale ,  deren  Geftihlston  mit  dem  herrschenden  überein- 
römmt,  in  den  Vordergrund.  Bei  den  intellectuellen  Stimmungen  gelangen 
hiaptsächlich  die  Merkmale  der  der  Majorität  angehörigen  Vorstellungen 
in  den  Vordergrund.  Diese  werden  dann  unter  dem  Hinzutreten  von  Lust 
ond  Unlust  zu  einem  Stimmungscomplex  vereinigt.  Durch  Wiederholung 
der  betreffenden  Stimmungslage  entsteht  eine  gewisse  Aehnlichkeit  der 
nervösen  Betonungen,  auf  welchen  die  Vorstellungen  des  Stimmungscom- 
plexes  basiren«  Dadurch  scheinen  diese  Vorstellungen  selbst  einander  ver- 
wandt zu  sein. 

Zeitiehrift  für  Psyehologie  26.  IB 


274  Liter aturbei'^idU. 

Im  zweiten  Paragraph  zeigt  der  Verf.,  wie  sich  physikalische  Begriffe 
auf  die  Vorgänge  der  Reproduction  anwenden  lassen.  Den  Ausgangspunkt 
bildet  der  von  Höfler  in  die  Psychologie  eingeführte  Begriff  des  psychi- 
schen Kraftfeldes.  Psychische  Kraftfelder  entstehen  nach  der  Ansicht  des 
Verf.'s  nicht  nur,  wenn  Vorstellungen  in  die  Urtheils-  bezw.  Begehrungs- 
Sphäre  eintreten,  sondern  auch  in  allen  Fällen,  wo  einige  Zeit  hindurch 
Vorstellungen,  die  einem  bestimmten  Associationskreise  angehören,  heran- 
gezogen werden.  Weiters  kommt  der  Begriff  der  Flächen  gleichen  Poten- 
tiales  (Niveauflächen)  in  Betracht.  Von  den  verschiedenen  Vorstellungs- 
kreisen werden  die  einen  leicht,  die  anderen  schwerer  reproducirt.  Sie  be- 
finden sich  auf  Flächen  verschiedenen  Potentiales.  Dies  gilt  auch  von 
den  Vorstellungen  eines  bestimmten  Vorstellungskreises.  Beim  Repro- 
duciren  eines  Vorstellungskreises  befinden  sich  die  Vorstellungen  nicht  auf 
einer  einzigen  Niveaufläche,  sondern  auf  einem  Complex  benachbarter 
äquipotentieller  Flächen. 

Der  dritte  Paragraph  ist  der  Untersuchung  der  Einübung  des  Gedächt- 
nisses gewidmet.  Die  Einübung  des  Sinnengedächtnisses  kommt  durch 
wiederholtes  Fixiren  der  Persönlichkeit  in  Bezug  auf  ihre  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Eigenschaften  zu  Stande.  Je  bekannter  eine  Persönlichkeit, 
desto  leichter  werden  auf  Grund  einiger  sinnlich  wahrnehmbarer  Eigen- 
schaften die  übrigen  hinzu  ergänzt.  Die  Einübung  des  emotionellen  Gre- 
dächtnisses  auf  Persönlichkeiten  vollzieht  sich  durch  wiederholte  Ein- 
wirkung derselben  auf  unser  Ichgefühl.  Aus  dem  Grade  der  Modificationen 
des  Ichgefühles  bei  einer  Begegnung  mit  Persönlichkeiten  erkennen  wir 
den  Grad  der  Einübung.  Das  ingeniöse  Gedächtnifs  wird  dadurch  einge- 
übt, dafs  wir  die  in  einer  bestimmten  Situation  wahrgenommene  Persön- 
lichkeit zu  den  Vorstellungsgefühlen  in  associative  Beziehung  setzen,  welche 
zu  den  stimmungsbildenden  Factoren  der  betreffenden  Situation  gehören. 
Die  Einübung  des  ingeniösen  Gedächtnisses  ist  um  so  gröfser,  je  gröfser 
die  Zahl  der  Situationen  ist,  denen  die  Persönlichkeit  associirt  wurde. 

Im  vierten  Paragraph  schildert  der  Verf.  den  Verlauf  der  Identificirung. 
Zuerst  tritt  das  Sinnengedächtnis  in  Kraft.  Die  Thätigkeit  des  Sinnen- 
gedächtnisses wirkt  vorbereitend  für  die  Verwerthung  der  anderen  Rich- 
tungen des  Gedächtnisses.  Im  zweiten  Moment  kommt  das  emotionelle 
Gedächtnis  hinzu,  welches  bewirkt,  dafs  jene  Modificationen  des  Ichgefühles 
in  Verbindung  mit  reflectorischen  Veränderungen  des  Mienenspiels  und 
der  Körperhaltung  zur  Geltung  kommen,  die  beim  Antreffen  der  Persönlich- 
keit in  früheren  Situationen  aufgetreten  waren.  Mit  Hülfe  des  Sinnen- 
gedächtnisses wird  eine  weitere  mit  Hülfe  des  emotionellen  Ge- 
dächtnisses eine  engere  Wahl  von  Situationen  getroffen,  in  welche  die 
Einreihung  der  Persönlichkeit  möglich  ist.  Die  Einreihung  in  eine  be- 
stimmte Situation  wird  durch  das  im  dritten  Moment  zur  Mitwirkung  ge- 
langende ingeniöse  Gedächtnifs  vollzogen.  Dieses  gewährt  die  Möglichkeit, 
die  Spuren  jener  Vorstellungsgefühle  zu  verwerthen,  welche  zu  den 
Stimmungsmodis  für  früher  wahrgenommene  Situationen  gehört  hatten. 
Wir  suchen  nach  einem  Stimmungsmodus,  welcher  sich  den  von  der  Per- 
sönlichkeit ausgehenden  Eindrücken  leicht  associiren  läfst. 


Literaturbericht,  275 

Der  Verf.  macht  dann  auf  jene  Fälle  aufmerksam,  in  welchen  die  6e- 
dftchtniCsspnren  für  die  Situationen,  in  die  die  Persönlichkeiten  einzuordnen 
sind,  nicht  dem  neueren  Bestände  des  Gedächtnisses  angehören.  Hier  spielt 
dann  auch  die  Beproduction  der  Zeit  eine  wichtige  Bolle. 

Saxinoeb  (Linz). 

B.ESD1IANN.    OnrlMe  nr  PsychOlOgfie  des  Denkens.    Aus  den  „Philosophischen 
Abhandiungen*',  Chbistoph  Sigwabt  gewidmet,  S.  3 — 40.    1900. 

Die  Grundgedanken  dieser  scharfsinnigen  und  vielfach  anregenden 
Abhandlung  sind  die  folgenden.  Die  Bestimmung  des  Begriffs  des  Denkens 
ist  seither  hauptsächlich  aus  drei  Motiven  heraus  erfolgt,  erkenntnifstheore- 
twchen,  metaphysischen  und  logischen.  Entsprechend  wurde  die  Allgemein- 
ffiltigkeit  des  Denkens  im  Gegensatz  zur  sinnlichen  Erkenntnifs,  seine 
Spontaneität  zum  Unterschiede  von  der  Keceptivität  der  Sinnlichkeit,  oder 
das  Urtheilen  als  das  specifische  Merkmal  des  Denkens  hervorgehoben. 
Psychologische  Bestimmungen  haben  weniger  hineingewirkt;  sie  zu  geben 
ist  die  Absicht  der  vorliegenden  Abhandlung.  Zu  dem  Zweck  wird,  um 
einen  möglichst  einwandfreien  Ausgangspunkt  zu  gewinnen,  das  Denken 
als  ein  Urtheilen  angesehen,  was  insofern  unbedenklich  ist,  als  ja  doch 
jedenfalls  alles  Urtheilen  ein  Denken  ist.  Von  den  Verknüpfungen  von 
Vorstellungen,  welche  alle  Urtheile  darstellen,  werden  aber  näher  noch 
diejenigen  ausgewählt  und  zum  Ausgangspunkt  der  psychologischen  Unter- 
suchung über  das  Denken  gemacht,  denen  eine  prädicative  Beziehung  eigen 
ist  d.  h.  eine  solche,  welche  eine  Zerlegung  des  sachlichen  Inhaltes  in 
Subject,  Prädicat  und  Copula  fordert.  Solche  Urtheile  sind  typische  Re- 
prtsentanten  einer  Art  des  Denkens.  Eine  derartige  Verknüpfung  ist  stets 
zugleich  ein  „Sagen",  d.  h.  ist  an  sprachliche  Vermittelung  gebunden,  die 
freilich  auch  durch  optische  Symbole,  durch  Worterinnerungen,  Wortein- 
Inldungen  und  abstracte  Wortvorstellungen  repräsentirt  sein  kann.  Ein 
derartiges  Denken,  wie  es  z.  B.  in  dem  Urtheil:  Die  Flamme  flackert,  sich 
ausdrückt,  welches  also  einen  sachlichen,  dem  Vorstellen  gegenwärtigen 
Inhalt  in  sprachlicher,  dem  Vorstellen  ebenfalls  gegenwärtiger  Form  aus- 
drückt, nennt  £.  ein  vollständiges  formulirtes  Denken.  Die  Ver- 
knüpfung, die  es  enthält,  ist  stets  eine  unsinnliche.  Ein  solches  —  bei 
Gelegenheit  der  Wahrnehmung  einer  flackernden  Flamme  gefälltes  —  Ur- 
theil soll  nun  —  und  das  ist  der  wesentlichste  Punkt  der  Ausführungen 
E's.  —  lediglich  durch  die,  durch  associative  Verknüpfung  (der  Wortvor- 
stellnngen  mit  den  Wahmehmungsinhalten)  ausgelösten  Beproductionen 
der  Wortvorstellungen  zu  Stande  kommen.  Von  einer  Trennung  und 
Wiedervereinigung  der  Inhalte,  von  einem  Unterscheiden  und  Vergleichen, 
einer  Selbstthätigkeit,  einer  Synthesis,  die  man  dabei  hat  eine  Bolle  wollen 
spielen  lassen,  kann  keine  Bede  sein;  der  falsche  Schein,  daiJs  dem  so  sei, 
entspringt  daher,  dafs  man  das  ErgebniTs  logischer  oder  metaphysischer 
Beflexionen  in  den  psychologischen  Procefs  hineingedeutet  hat :  ein  Fehler, 
vor  dem  eine  Psychologie  des  Denkens  sich  nicht  genug  hüten  kann. 

An  das  vollständige  formulirte  Denken  schlieüsen  sich  zwei  andere 
Arten  des  Denkens  an,  von  denen  die  eine  innerhalb  der  Functionen  der 
Sprache  bleibt,  die  andere  in  entgegengesetzten  Bichtnngen  aus  dem  SptacVi- 

18* 


276  Literaturbericht. 

leben  hinausführt.  Die  erste  ist  das  unvollständige  formulirte 
Denken.  Bei  ihm  ist  die  sprachliche  Form  vorhanden  und  dem  Vor- 
stellen gegenwärtig,  der  andere  Bestandtheil  des  vollständig  formulirten 
Denkens,  der  sachliche  Inhalt  der  Aussage  aber  nicht  oder  doch  nicht  voll- 
ständig. Der  Fall  des  unvollständigen  formulirten  Denkens  liegt  da  vor, 
wo  wir  (im  entwickelten  Sprachleben)  auf  Grund  von  gehörten  oder  ge- 
lesenen Worten  urtheilen.  Hier  nimmt  die  Reproduction  den  umgekehrten 
Weg  als  in  dem  oben  angezogenen  Wahrnehmungsurtheil,  sie  geht  von  den 
Wortvorstellungen  aus,  führt  aber  die  Bedeutungsinhalte  nicht  vollständig 
herbei.  Mitunter  ist  auch  nicht  eine  Spur  der  Begriffe,  welche  die  Worte 
bedeuten,  in  unserem  Vorstellen  gegenwärtig.  Die  Bedeutungsinhalte  sind 
deshalb  doch  vorhanden,  als  unbewufst  (reproductiv)  erregte  Gedächtnils- 
dispositionen  bestehen  sie  und  vermitteln  das  Verständnifs  des  Ausdrucks. 
Das  unvollständige  formulirte  Denken  bildet  im  entwickelten  Bewufstsein 
die  Kegel,  der  gegenüber  das  vollständige  formulirte  Denken  als  ein  seltener 
Ausnahmefall  erscheint. 

Die  andere  Art  des  Denkens  ist  das  unf  or muH rte  Denken,  welches 
in  zwei  Formen,  als  hypologisches  und  als  metalogisches  Denken, 
auftritt.  Hier  fehlt  das  andere  Glied,  die  sprachliche  Vermittelung.  Das 
hypologische  Denken  besteht  in  dem,  was  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Vor- 
stellungsinhalte ohne  sprachliche  Verknüpfung  zu  leisten  vermag.  Es  geht 
d^m  formulirten  Denken  vorher  und  findet  sich  beim  Kinde  und  bei  den 
Thieren,  aber  auch  beim  erwachsenen  Menschen ;  von  ihm  unterscheidet  sich 
das  metalogische  Denken  nur  durch  den  gröDseren  Keichthum  seiner  Objecte 
und  die  Gröfse  seiner  Gesichtspunkte,  nicht  aber  durch  die  Processe,  in 
denen  es  sich  vollzieht.  Es  spielt  die  gröfste  und  bedeutsamste  Rolle  in 
unserer  intellectuellen  Thätigkeit,  insbesondere  in  den  complicirteren  und 
schwierigeren  Aufgaben  derselben.  Die  Kraft,  der  Keichthum  und  die  Art 
dieses  metalogischen  Denkens  sind  ausschlaggebend  für  die  Stärke  und 
Eigenthümlichkeit  der  intellectuellen  Begabung.  Demgemäfs  ist  seine 
Schätzung  immer  eine  hohe  gewesen.  So  erkennen  wir  es  z.  B.  in  dem 
höheren  intuitiven  Denken  wieder,  welches  seitens  der  Philosophen  so  oft 
dem  gemeinen,  sprachlich  formulirten,  abstracten  Denken  entgegengesetzt 
worden  ist.  Besitzen  es  die  einzelnen  in  verschiedenem  Maafse,  so  besitzt 
es  in  einigem  Maafse  doch  jeder. 

Aber  auch  diese  Vorgänge  sind  nach  E.  blofse  Keproductions Vorgänge, 
ohne  dafs  sich  eine  Handlung,  eine  specifische  Thätigkeit,  eine  Beziehung 
auf  das  Ich  darin  nachweisen  liefse.  Die  Inhalte  des  metalogischen  und 
hypologischen  Denkens  sind  zwar  an  sich  von  der  sprachlichen  Formulirung 
unabhängig,  können  aber  —  wenn  auch  oft  mit  Schwierigkeit  —  sprach- 
lich formulirt  werden  und  müssen  es  werden,  um  fixirt  und  festgehalten 
und  Bestandtheile  der  Wissenschaft  zu  werden.  Das  sprachlich  formulirte, 
und  zwar  das  vollständige  formulirte  Denken  bildet  denn  auch  den  eigent- 
lichen Gegenstand  der  Logik,  wenigstens  derselben  als  Elementarlehre, 
wenngleich  die  logischen  Gesetze  natürlich  auch  für  das  metalogische 
Denken  ihre  Gültigkeit  behalten.  Uebrigens  bleiben,  wie  beim  formulirten 
Denken  die  Beziehungen  zu  dem  sachlichen  Denken,  so  beim  metalogischen 
Denken  die  sprachlichen  Beziehungen  bestehen;  sie  sind  reproductiv  er- 


Literaturbericht,  277 

regt,  wenn  sie  auch  dem  Vorstellen  nicht  gegenwärtig  sind.  Das  rein 
metalogische  Denken  ist  im  entwickelten  BewuTstsein  ein  Grenzfall.  —  Für 
du  vollständige  formulirte  Denken  schlägt  E.  die  Bezeichnung  discur- 
mes,  für  das  unvollständige  formulirte  Denken  den  Namen  des  ent^yme- 
Bttischen  vor;  das  unformulirte  Denken  bezeichnet  er  als  intuitives.  Der 
Umfang  des  (formulirten  und  intuitiven)  Denkens  ist  den  Gegenständen 
ntch  unbegrenzt;  seine  logische  Grenze  bildet  der  Satz  vom  Widerspruch. 
Das  Beziehen  ist  allem  Denken  eigenthümlich,  ein  „beziehendes  Denken" 
daher  eine  Tautologie. 

Vergleichen  wir  die  Auffassung  des  Denkens,  welche  die  psychologische 
Betrachtung  ergeben  hat,  mit  den  Eingangs  erwähnten  Auffassungen,  so 
wird  auch  auf  dem  psychologischen  Standpunkt  der  Gegensatz  des  Denkens 
gegen  die  Sinnlichkeit  durchaus  gewahrt.  Die  Allgemeingültigkeit  kommt 
dagegen  nur  dem  wissenschaftlichen  Denken,  auch  diesem  nicht  ohne 
Weiteres  zu.  Die  Spontaneität  als  charakteristisches  Merkmal  des  Denkens 
fiült  fort.  Das  letzte  Wort  gebührt  in  dieser  Beziehung  freilich  der  Meta- 
physik.   Die  XJebereinstimmung  mit  der  logischen  Fassung  bleibt  eine  enge. 

Zum  SchluTs  bezeichnet  E.  seinen  Standpunkt  als  den  einer  Asso- 
ciationspsychologie  oder  vielmehr  einer  Repr  oductionspsychologie 
aof  modern-biologischer  Grundlage.  Die  Selbständigkeit  der  Psychologie 
gegenüber  der  Biologie  wird  aber  deshalb  nicht  preisgegeben;  die  sog. 
^materialistische"  Psychologie,  welche  nur  die  physischen  Processe  als 
causal  und  continuirlich  zusammenhängend,  die  Bewufstseinsvorgänge  aber 
als  discontinuirliche  Begleiterscheinungen  derselben  betrachtet,  verwirft  E, 
und  hält  an  der  psychischen  Causalität  fest.  Ebenso  lehnt  er  die  Ansicht 
ab,  dafs  die  psychologische  Erklärung  des  Denkens  auch  schon  die  logische 
and  erkenntnifstheoretische  in  sich  schliefse.  Die  Logik  behält  ihre  Selb- 
ständigkeit gegenüber  der  Psychologie,  Philosophie  darf  nicht  in  Psycho- 
logie aufgelöst  werden. 

Auf  diese  Skizzirung  der  Grundgedanken  der  trotz  ihrer  Kürze  sehr 
inhaltreichen  Abhandlung  E's.  mufs  sich  mein  Referat  nothgedrungen  be- 
schränken. Von  einer  eigentlichen  Recension  derselben,  die  in  ihrem 
polemischen  Theile  hauptsächlich  E's.  Auffassung  des  Denkens,  insbe- 
sondere des  vollständigen  formulirten  ürtheils  als  eines  blofsen  Repro- 
(Inctionsvorganges  entgegentreten,  mit  vielem  anderen  dagegen,  so  insbe- 
soDdere  auch  mit  der  von  ihm  gemachten  und  sehr  ansprechend  dar- 
gestellten Unterscheidung  der  verschiedenen  Arten  des  Denkens  sich  ein- 
verstanden erklären  würde,  glaube  ich  aus  mehreren  Gründen  absehen  zu 
sollen.  Abgesehen  davon,  dafs  es  mir  nicht  recht  passend  erscheint,  daDs 
Männer,  die  sich,  wie  es  hier  der  Fall  ist,  zu  einem  gemeinsamen  Werke, 
einer  Festschrift,  vereinigt  haben,  ihre  Beiträge  unter  einander  kritisiren, 
würde  auch  bei  der  Fülle  der  zu  beachtenden  und  in  Betracht  zu  ziehenden 
Gesichtspunkte  eine  Begründung  meiner  Ansichten  über  die  von  E.  ver- 
fochtenen  Auffassungen  weit  über  den  mir  hier  zur  Verfügung  stehenden 
Raum  hinausgehen.  Und  endlich  ist  zu  berücksichtigen,  dafs  B.  Erdhann 
oelbst  durch  das  Mifsverhältnifs,  in  welchem  der  Reichthuni  und  die 
Mannigfaltigkeit  seiner  Gedanken  zu  dem  Raum,  auf  den  er  angewiesen 
war,  standen,  genöthigt  ward,  sich,  namentlich  was  die  Begründung  seiner 


278  Ltteraturbencht 

Auffassung  anbetrifft,  grofse  Beschränkung  aufzuerlegen,  und  daher  vieles  nur 
andeuten  konnte,  was  ausführlich  darzulegen  und  zu  begründen  unmöglich 
war.  Die  Abhandlung  enthält  in  gedrängter  und  oft  sehr  concentrirter 
Form  thatsächlich  einen  ungewöhnlich  reichen  Inhalt,  von  welchem  mein 
Seferat  nur  das  nach  meiner  Ansicht  Wichtigste  und  Wesentlichste  hat 
wiedergeben  können.  Busse  (Königsberg  i.  Pr.V 

Eduard  Zelleb.  Ueber  den  Einflofs  des  Geftbls  auf  die  Thatlgkeit  der  Phan- 
tasie. Aus  den  „Philosophischen  Ahhandlwvgtii^ ,  Chbistoph  Sigwart  ge- 
widmet, S.  205—216.  1900. 
Der  ehrwürdige  Nestor  der  deutschen  Philosophen  der  Gegenwart 
bietet  in  dieser  Abhandlung  eine  anziehende  Studie  über  den  Einflufs  des 
Gefühls  auf  die  Phantasiethätigkeit.  Der  psychologische  Standpunkt,  den 
Z.  einnimmt,  ist  von  dem,  welchen  B.  Erdmann  in  seiner  gleichfalls  den 
„Philosophischen  Abhandlungen^  angehörenden  und  hier  von  mir  ange- 
zeigten Abhandlung  vertritt,  in  mehrfacher  Hinsicht  verschieden.  Steht 
E.  auf  dem  Boden  der  Reproductionspsychologie,  bemüht  er  sich,  die  von 
ihm  betrachteten  Denkvorgänge  als  blofse  Beproductionsprocesse  anter 
Ablehnung  jeder  Vorstellung  von  specifischer  Thätigkeit  oder  Spontaneität 
der  Seele  zu  erweisen,  so  liegt  den  Z.'schen  Ausführungen  unverkennbar 
die  Auffassung  zu  Grunde,  dafs  die  intellectuellen  Processe  auf  einer 
Spontaneität  der  Seele  beruhen,  welche,  auf  ihre  Zustände  lebendig  zurück- 
wirkend, bestimmend  in  den  Ablauf  derselben  eingreift.  Und  wenn  E.  die 
Einfiufs-  und  Wirkungssphäre  des  Gefühls  zu  beschränken  bestrebt  ist, 
so  möchte  Z.  ihm  vielmehr  einen  bestimmenden  Einflufs  auch  auf  dem 
Gebiete  des  Vorstellens  und  Denkens  zuschreiben;  die  Spontaneität  der 
Seele  empfängt  nach  ihm  ihre  Directive  vom  Gefühl.  Die  vorliegende  Ab- 
handlung beschränkt  sich  indes  darauf,  diesen  Einflufs  auf  dem  engeren 
Gebiete  der  Thätigkeit  der  Phantasie  aufzuzeigen. 

Nachdem  die  Phantasie  gegen  die  (äufsere  und  innere)  Wahrnehmung, 
von  der  sie  ihr  repräsentativer  Charakter  unterscheidet,  einerseits,  gegen 
das  Erkennen,  von  dem  sie  die  ihr  eigenthümliche  SubjectivitÄt  trennt, 
andererseits  abgegrenzt  ist,  wird  gezeigt,  dafs  schon  bei  der  Reproduction 
der  Vorstellungen,  in  welcher  Z.  nicht  nur  die  B^ingung  aller  Phantasie- 
thätigkeit überhaupt,  sondern  auch  eine  Leistung  derselben  als  reproduc- 
tiver  Phantasie  erblickt,  das  Gefühl  eine  sehr  wichtige  Rolle  spielt.  Schon 
die  Deutlichkeit,  Lebhaftigkeit  und  Häufigkeit  der  Wahrnehmungen,  die  ja 
für  die  Reproduction  der  ihnen  entsprechenden  Vorstellungen  von  grofser 
Wichtigkeit  sind,  sind  durch  das  Gefühl  (Interesse)  mit  bedingt.  Die 
Reproduction  selbst  wird  durch  es  beeinflufst:  was  grofsen  GrefOhlswerth 
für  uns  hat,  befestigt  sich  im  Gedächtnifs  und  haftet  an  einander.  Noch 
mehr  tritt  der  Einflufs  des  Gefühls  hervor  im  freien  Spiel  der  Phantasie. 
Nicht  nur  die  individuellen  dem  Einzelnen  eigenthümlichen  Gefühle,  die 
ja  schon  die  Reproduction  überhaupt  beeinflussen,  sondern  auch  die 
wechselnden  momentanen  Stimmungen  und  Interessen  sind  hier  von 
grofsem  Einflufs.  Bis  in  die  höchsten  Leistungen  hinein  kann  man  den 
Einflufs  des  Gefühls  verfolgen.  In  der  symbolisirenden  Phantasiethätigkeit, 
auf  der  die  Sprachbildung  beruht,  in  der  bildlichen  Denk-  und  Ausdrucks- 


Literaturbtricht.  279 

weise,  in  der  Kunst  nnd  in  der  Religion  ist  das  Gefühl  thätig.  Es  treibt 
in  dieser  Thätigkeit  hin  —  ohne  Begeisterung  kein  Dichter  und  Künstler, 
ohne  Interesse  kein  Forscher  —  und  bestimmt  die  Art  und  Bichtung  der- 
selben. 

Von  einem  kritischen  Eingehen  auf  die  Ausführungen  Z's.  mufs  ich 
tmi  denselben  Gründen,  wie  bei  B.  E&dmann,  Abstand  nehmen. 

Busse  (Königsberg  i.  P.). 

J.  Zeitler.    TtchistoskopUclie  UntersncliQiigen  über  das  Lesen.    Mit  1  Figur 

im  Text.    Fhilos.  Studien  16  (3),  380—464.    1900. 
An  der  Hand  einer  beigegebenen  Zeichnung  beschreibt  der  Verf.  zu- 
nicbst  Wundt's  neues  Tachistoskop,  mit  dem  die  Untersuchungen  ausge- 
führt wurden.     Dem  vom  Mechaniker  E.  Zimmermann  in  Leipzig  ange- 
fertigten Apparat  liegt  der  von  Cattell  angegebene  (Fhilos.  Stvd.  3,  94, 97  ff.) 
in  Grunde.     Er  besteht  im  Wesentlichen  darin,  dafs  sich  zwischen   zwei 
anf  einem  Fulsbrett  stehenden  Messingsäulen  von   80  cm  Höhe  eine  ge- 
schwärzte, 10  cm  breite,    rechteckige  Fallscheibe  bewegt,    welche  letztere 
eine  für  die  Aufnahme  der  zu  beurtheilenden  Objecte  bestimmte,  variirbare 
Oeffnnng   besitzt.      Die  Fallscheibe    wird    vor    der  Exposition    von    zwei 
Elektromagneten  gehalten  und  nach  derselben  von  zwei  Fangfedern  fest- 
gehalten.   Ein  mit.  einer  Fixirmarke  versehenes  Schutzblech  verdeckt  das 
Object  vor  der  Exposition.    Im  Momente  der  Exposition  wird  das  Schutz- 
blech von  der  Fallscheibe  so  in  ein  Fangschild  geschnellt,  dafs  das  Object 
«rfort  wieder  verdeckt  wird.    Zur  Regulirung  der  Fallbewegung  dient  eine 
ArwooD'sche   Vorrichtung.      Mit   dem   Rad   dieser   Vorrichtung    mifst    der 
Apparat   selbst   1  m  Höhe.      „Die   Fallhöhe   der   Expositionsscheibe   kann 
innerhalb  50  cm  beliebig  variirt  werden.    Die  Möglichkeit,  den  Spalt  jeder- 
leit  zu  verändern,  gestattet  aber  auch  eine  rasche  Variation  der  Expositions- 
leit,  ohne  dafs  die  Fallhöhe  geändert  zu  werden  braucht."    Der  Apparat 
gestattet  mit  Fallzeiten  von  0,2 — 0,005  See.  zu  arbeiten.    Erstere  wurden 
durch  Stimmgabelschwingungen  gemessen. 

Die  Beobachtung   geschah    durch  ein  astronomisches  Fernrohr,   das 
eine  Vergröfserung  von  2:3,3  aufwies. 

Die  Expositionszeiten  waren  kurz  genug,  um  die  Wanderung  der  Auf- 
merksamkeit auszuschliefsen  und  doch  lang  genug,  um  die  Apperception 
'les  Eindrucks  zu  gestatten. 

Für  die  Sichtbarkeit  des  Objects  unterscheidet  der  Verf.  drei  Phasen : 
1.  die  Präexpositionszeit,  d.  h.  die  kurze  Zeit  vom  Beginn  der  Ex- 
position, „an  dem  der  untere  Strich  der  Expositionsspalte  die  obere  Be- 
grenzungslinie des  Schriftbildes  passirt,  bis  zur  völligen  Sichtbarkeit  des- 
selben", 2.  die  absolute  Expositionszeit  und  3.  die  Postexposi- 
tionszeit, d.  h.  der  Zeit,  „innerhalb  deren  der  obere  Strich  der  Spalte 
die  obere  und  untere  Begrenzungslinie  des  Wortbildes  passirt." 

Da  das  Fernrohr  die  Objecte  in  der  Umkehrung  wiedergiebt,  wurden 
diese  in  umgekehrter  Stellung  eingesetzt.  Der  Verf.  sieht  hierin  eine  Com- 
pensation,  sofern  „beim  Schlufs  der  Exposition  der  charakteristische  Streifen 
zuletzt  verschwindet,  wodurch  sich  die  ohnedies  wohl  unbedeutenden  Zeit- 
nntenschiede  wieder  ausgleichen." 


280  lAteraturbericht 

Unter  Darlegung  aller  dieser  Verhältnisse  an  durch  Messung  ge- 
wonnenen Werthangaben  zeigt  der  Verf.,  dafs  die  erwähnten  Phasen  für 
den  Beobachter  subjectiv  bedeutungslos  sind.  „Daus  das  Wortbild  allmählich 
aufgedeckt  würde,  entzieht  sich  der  Beobachtung  vollständig,  für  die  es 
ebenso  plötzlich  enthüllt  als  wieder  verhüllt  wird.  Das  Vorübergleiten  der 
Scheibe  wird  überhaupt  in  keiner  Weise  wahrgenommen,  im  Gegentheil 
besteht  nur  der  Eindruck,  dafs  das  Bild  simultan  auftaucht  und  wieder 
verschwindet." 

1.  Appercipirendes  und  assimilirendes  Lesen.  Der  Verf. 
unterscheidet  zwei  Arten  der  Beobachtung,  je  nachdem  die  Vorgänge  der 
Apperception  oder  der  Assimilation  bei  derselben  Überwiegen.  Er  führt 
dann  aus,  dafs  sich  der  Apperceptionsvorgang  objectiv  inmier  auf  einer  ge- 
gebenen Vorstellungsgrundlage  vollzieht,  sofern  sich  durch  den  äofiseren 
Eindruck  hervorgerufene  rep>roductive  Elemente  mit  diesem  zum  einheit- 
lichen Wortbilde  verbinden.  Der  Verf.  unterscheidet  hier  reproductive 
Factoren  ersteren  Grades  oder  primäre  Reproductionen  von  secundären. 
Die  ersteren,  durch  die  dominirenden  Elemente  des  Eindrucks  hervorge 
rufen,  verbinden  sich  mit  der  Apperception  unmittelbar.  Dieser  Vorgang 
zeigt  sich  besonders  beim  Lesen  der  geläufigsten  Wörter.  „Denn  die  Ge- 
läufigkeit der  Wortbilder  beruht  auf  einer  entsprechend  starken  Disposition 

zu  ihrer  Wiedererneuerung Indem  der  directe  Sinneseindruck  einen 

jenen  Dispositionen  entsprechenden  Complex  von  Empfindungen  erweckt, 
werden  die  Dispositionen  selbst  zu  «actuellen  Empfindungen«  (Wündt, 
ölkerpsychologie  1, 1,  S.  540  ff.),  die  mit  dem  durch  den  äufseren  Eindruck 
rweckten  in  eine  einheitliche  Vorstellung  zusammenfliefsen.  Dieser  ob- 
jective  Vorgang  der  Apperception  wird  dabei  subjectiv  stets  von  einem 
Thätigkeitsgefühl  begleitet,  das  wir  auf  eine  Mitwirkung  von  activer  Auf- 
merksamkeit beziehen." 

Beider  secundären  Reproduction  gehen  die  durch  den  primären 
Vorgang  gehobenen  Elemente  mit  den  unbetonten,  nur  dunkel  pereipirten 
Strecken  der  Wortbilder  Verbindungen  ein,  —  Assimilation  im  engsten 
Sinne  des  Wortes.  „Eine  nachweisbare  Assimilation  tritt  erst  in  dem 
Momente  ein,  wo  reproductive  Elemente,  die  von  den  direct  erregten  ver- 
schieden sind,  zu  aactuellen  Empfindungen«  werden,  sie  vollzieht  sich  erst 
mit  dem  vollen  Eintritt  der  secundären  reproductiven  Elemente  ins  Be- 
wufstsein,  indem  diese  nunmehr  auch  auf  die  primären  zurückwirken 
können."*  Die  sich  verbindenden  Elemente  können  sich  weiter  im  Sinne 
einer  wechselseitigen  Assimilation  gegenseitig  beeinflussen  und 
sich  in  ihren  Wirkungen  leicht  in  successive  Associationen  fortsetzen,  die 
wiederum  das  Bild  assimilativ  verändern  können.  Das  subjectiv  Charakte- 
ristische dieses  ganzen  Vorganges  ist  die  passiv  schweifende  Auf- 
merksamkeit. 

„Das  Lesen  unter  vorwaltendem  Einflufs  der  Apperception  und  Aus- 
schlufs  der  secundären  Reproductionen  und  Assimilationen  vollzieht  sich 
schon  bei  minimalen  Zeiten,  und  zwar  unter  stärkerer  Spannung  und 
activer  Fixation  der  Aufmerksamkeit,  während  das  assimilative  Lesen  mit 
schweifender  fluctuirender  Aufmerksamkeit  gröfsere  Zeiten  benöthigt."  ^Bei 
kurzer  Expositionszeit  wird  daher  entweder    nur   direct  appercipirt  oder 


Litera  turherich  t  281 

überhaupt  nichts  erkannt."  Es  entsteht  ein  falsches  Wortbild,  wenn  bei 
momentanem  Nachlassen  der  Aufmerksamkeit  erhebliche  Assimilationen 
irirksam  werden. 

Obwohl  eine  absolute  Trennung  der  apperceptiven   und  assimilativen 
Vorginge  nicht  durchführbar  ist,  hält  der  Verf.  doch  dafür,  dafs  bei  tachisto- 
skopischen  Versuchen  über  das  Lesen  auf  diese   Unterschiede  Rücksicht 
genommen  werden  mufs.    Dementsprechend  suchte  er  bei  seinen  Versuchen 
die  secundären  Reproductionen   und  Assimilationen   so  viel   wie  möglich 
aosxuschalten  und  wies  seine  Versuchspersonen  an,  dem  objectiven  Ein- 
druck  selbst  den   höchsten  Aufmerksamkeitsgrad  zuzuwenden.     „Es  kam 
nicht  auf  Lesen  überhaupt,  sondern  auf  Richtiglesen  an.^    Die  Expositions- 
zeit wurde  daher  so  kurz  gewählt,   dafs  noch  gerade  eine  Apperception 
möglich  war.    Schon  die  ersten  Resultate  ergaben,  dafs  die  dominirenden 
Buchstaben  die  Apperception  bestimmten,  während  die  Assimilation  vor- 
zugsweise  an    die    Wortform    geknüpft    war.      „Das   Wortbild    wird    zwar 
secnndär  scheinbar  als    »Ganzes«    assimilirt,   aber   primär  appercipirt 
wird  es  nur  in  seinen   dominirenden  Bestandtheilen."     „Die  grundlegende 
Arbeit  im  Procefs  des  Lesens  hat  die  Apperception  und  die  mit  ihr  ver- 
bundene  primäre   Assimilation   zu    verrichten;    mit   ihr   verschmilzt   aber 
fortwährend  die  secundäre  Assimilation,  so  dafs  beide  Vorgänge,  in  ein- 
ander übergreifend,  sich  verdeckend,  sich  zu  verwirren  scheinen." 

Die  Einübung  der  Versuchspersonen  geschah  an  geläufigen  Wörtern, 
hierauf  wurden  sinnlose  Zusammensetzungen  von  Buchstaben  und  sodann 
geläufige  gröfsere  Sätze  exponirt. 

Indem  der  Verf.  zunächst  die  Frage  zu  beantworten  suchte,  in  welcher 
Weise  beim  appercipirenden  Lesen  einzelne  Buchstaben  wirkten,  konnte  er 
die  Angaben  Cattell's  bestätigen,  wonach  die  Apperceptionszeit  der  ein- 
reinen Buchstaben  eine  verschiedene  ist.  Die  Versuchspersonen  konnten 
sodann  bei  ungeläufigen  Wörtern  nur  einzelne  Buchstaben  erkennen.  „Die 
Vocale  und  kleinen  Consonanten  waren  den  meisten  Verlesungen  ausge- 
setzt, die  ober-  und  unterzeiligen  den  wenigsten.  Je  charakteristischer  die 
Buchstabenform  war,  desto  dominirender  wurde  sie  gefunden."  Der  Verf. 
macht  darauf  aufmerksam,  dafs  bei  einer  Expositionszeit  von  10 — 15  o 
Augeubewegungen  wohl  als  ausgeschlossen  zu  betrachten  w^aren. 

2.  Methode.  Der  Verf.  führt  aus,  dafs  die  Aussagen  der  Versuchs- 
personen noch  kein  Kriterium  für  die  Objectivität  ihrer  Auffassung  sind, 
und  dafs  diese  daher  in  jedem  Falle  analysirt  werden  müfsten,  wobei  aber 
darauf  Bedacht  zu  nehmen  sei,  dafs  auf  den  Beobachter  nicht  suggestiv 
eingewirkt  werde.  Sodann  empfiehlt  er  Vexirversuche.  Die  verwandten 
.Schriftzeichen  blieben  nach  Gröfse  (3—4  mm)  und  Typus  bei  den  Ver- 
suchen constant.  An  Versuche  in  der  Muttersprache  schlössen  sich  solche 
in  einer  fremden. 

3.  Die  Aufmerksamkeit.  Der  Verf.  zeigt,  dafs  das  Maximum 
der  Aufmerksamkeitsspannung  bei  kleinsten  Expositionszeiten  mit  dem 
3Ionient  der  Exposition  zusammenfallen  müsse.  Er  liefs  daher  durch  den 
Beobachter  selbst  den  günstigsten  Moment  für  das  Fallenlassen  des  Deck- 
Hchildes  des  Apparates  angeben.  Es  wird  weiter  ausführlich  gezeigt,  dafs 
bei   derartigen  Versuchen   zwischen  constanter  Aufmerksamkeit  und  Auf- 


282  Literaturbericht, 

merksainkeitsschwankung  einerseits  und  fixirter  und  fluctuirender  Auf- 
merksamkeit andererseits  zu  unterscheiden  sei.  „Die  fixirte  Aufmerksam- 
keit entspricht  in  der  Regel  dem  directen  Sehen,  die  fluctuirende  Aufmerk- 
samkeit jedoch  läfst  sich  im  Bereiche  des  indirecten  Sehens  nicht  genau 
begrenzen.''  „Je  kleiner  die  Markirung  des  Fixifpunktes,  desto  fester  ist 
die  Fixation.  Der  Aufmerksamkeitspunkt  dagegen "^  (der  mit  dem  psychi- 
schen Aequivalent  des  physiologischen  Fixirpunktes  nicht  identisch  ist) 
„fluctuirt  im  Aufmerksamkeitsumfang."  ^Die  Verschiedenheit  des  Auf- 
merksamkeitspunktes bedingt  auch  eine  Verschiedenheit  der  Exposi- 
tion," u.  s.  w. 

4.  DieSuccession.  Der  Verf.  geht  hier  auf  die  von  Cattbll,  sowie 
auf  die  von  Erdmann  und  Dodge  (Untersuchungen  üb.  d.  Lesen,  Halle  1898) 
ausgeführten  Untersuchungen  ein  und  führt  aus,  dafs  der  Grund  ihrer  Be- 
hauptung, es  werde  stets  das  »Ganze«  gelesen,  darin  liege,  dafs  der  Einflufs 
der  Assimilation  den  Schein  der  Simultaneität  des  Eindrucks  vorgetäuscht 
habe.  Er  sucht  zu  zeigen,  dafs  die  letztere  sich  höchstens  für  einen  domi- 
nirenden  Complex  von  Buchstaben  aufrecht  erhalten  lasse.  „Was  wir 
appercipiren,  sind  letzten  Endes  immer  nur  Buchstaben,  allerdings  gleich- 
sam relief artig  herausgehobene  determinirende  Buchstaben,  die  einem  be- 
stimmt gruppirten  Complex  angehören,  der  am  klarsten  aufgefafst  wird, 
wenn  auch  die  unbetonten  Buchstaben  über  die  Schwelle  gerückt  sind.** 
Dabei  können,  wie  weiter  gezeigt  wird,  die  Beobachter  selbst  durchaus 
sicher  sein,  das  iGanze«  gelesen  zu  haben.  Weitere  Beweise  für  die 
Succession  der  Auffassung  erblickt  der  Verf.  darin,  dafs  die  Beobachter 
zuweilen  wohl  Buchstaben,  aber  nicht  den  Sinn  des  Wortes  appercipiren, 
sowie  in  den  Resultaten,  die  er  bei  Anstellung  von  Vexirversuchen  gewann. 
„Der  Procefs  des  Lesens  findet  nur  beim  entwickelten  Menschen  so  rasch 
statt,  dafs  er  in  sprungweiser  Simultaneität  zu  geschehen  scheint,  aber  im 
Grunde  reihen  wir  die  dominirenden  Complexe  ähnlich  successiv  an  ein- 
ander, wie  beim  primitivsten  buchstabirenden  Lesen  der  Buchstaben.  Der 
Ablauf  des  Lesens  ist  nur  sehr  rasch,  darum  ist  er  aber  nicht  weniger 
successiv.  Mit  dem  gewöhnlichen  Buchstabiren  hat  dies  jedoch  nichts  zu 
schaffen;  wir  reihen  vielmehr  die  dominirenden  Buchstaben  und  betonten 
Complexe  an  einander.  Dies  erfolgt  möglicherweise  in  einer  Art  rhythmi- 
scher Succession,  mit  fortwährender  Variation  des  Rhythmus." 

5.  Die  Wanderungen  der  Aufmerksamkeit.  Die  Aufmerk- 
samkeitsw^anderung  steht  nach  dem  Verf.  mit  der  Succession  des  Lesens 
im  Zusammenhang.  Ist  die  letztere  mehr  objectiver,  so  ist  die  erstere 
mehr  subjectiver  Natur.  ^I^i©  Wanderung  der  Aufmerksamkeit  erweist 
sich  als  ein  sprungweises  Uebergehen  von  einem  dominirenden  Complex 
zum  anderen.  Sie  tritt  fast  stets  unter  Mitwirkung  von  Assimilation  auf. 
Bei  längeren  Expositionszeiten  (100  a)  ist  der  Vorgang  auch  subjectiv  leicht 
wahrnehmbar,  bei  kleinsten  Zeiten  ist  er  subjectiv  nicht  bemerkbar,  obwohl 
er  objectiv  vorhanden  ist.  Die  Bestimmung  der  Grenze  dieser  Wahrnehm- 
barkeit ist  einmal  dadurch  erschwert,  dafs  der  Aufmerksamkeitswechsel  bei 
jedem  Beobachter  variirt,  sodann  aber  auch  dadurch,  dafs  der  Aufmerk* 
samkeitsvorgang  bei  jedem  Worte  an  die  objective  Struktur  der  Schrift- 
bilder geknüpft  ist  und  endlich  dadurch,  dafs  die  Bemerkbarkeit  des  Vor- 


Literaturbericht.  283 

ganges  durch  die  Assimilation  verwischt  wird.  „Die  Assimilation  verhindert 
oder  erschwert  auch  hei  grofsen  Zeiten  die  Beobachtung  des  Aufmerksam- 
keitsvorganges so  sehr,  dafs  ihm  nur  mit  ganz  grofsen  und  ganz  geläufigen 
Wörtern  beizukommen  ist."  Nach  der  weiteren  Ausführung  dieser  Ver- 
hältnisse an  der  Hand  von  Beispielen  zeigt  der  Verf.,  dafs  Cattell  bei 
meinen  Versuchen  diesen  Vorgang  nicht  bemerkte,  weil  die  Beobachtung 
desi^elben  bei  den  von  ihm  verwandten  geringen  Expositionszeiten  (10  o) 
erechwert  war. 

6.  Der  Umfang  der  Aufmerksamkeit.  Bei  der  Bestimmung 
des  Umfangs  der  Aufmerksamkeit  mufs  die  Assimilation  nach  dem  Verf. 
möglichst  ausgeschlossen  werden.  Aber  auch  bei  Verwendung  von  sinn- 
losen Zusammensetzungen  von  Buchstaben  und  Silben  kann  der  Umfang 
der  Aufmerksamkeit  nicht  allgemein  angegeben  werden,  da  er  sich  hier 
TOD  einem  Minimum  zu  einem  Maximum  ändert.  „Am  engsten  ist  der  Um- 
fang bei  sinnlos  zusammengesetzten  Buchstaben"  (ohne  Vocale  4 — 7,  mit 
Vocalen  5—8).  Bei  heterogen  an  einander  gesetzten  Silben  tritt  eine  Er- 
weiterung ein  (6 — 10).  Silben  sind  aber  schon  Assimilationscomplexe.  „Mit 
dem  Uebergang  zu  Wörtern  steigert  sich  der  Umfang  ganz  beträchtlich. 
Je  nach  dem  Grad  der  Bekanntheit  und  Geläufigkeit  eines  Wortes  variirt 
der  Umfang  zwischen  15 — 25  Buchstaben."  Bei  sinnlos  neben  einander 
stehenden  Wörtern  sinkt  der  Umfang  „jäh  herunter  und  erstreckt  sich 
höchstens  auf  ein  Wort  und  die  rechts  und  links  benachbarten  Buchstaben." 
.Je  geläufiger  aber  die  Satzbildung,  desto  mehr  steigt  der  Umfang." 

7.  Die  Versuche.    Diese  erstreckten  sich  über 

I.  sinnlose  Buchstabenverbindungen, 
II.  sinnlose  Silbenverbindungen, 

III.  ungeläufige  Wörter, 

IV.  geläufige  Wörter, 
V.  ungeläufige  Sätze, 

VI.  geläufige  Sätze. 
Wir  heben  aus  den  Ergebnissen  das  Folgende  hervor. 

I.  Vocallose  sinnlose  Gebilde  sind  am  schwersten  aufzufassen."     „Die 
dominirenden  Buchstaben  werden  zuerst  erkannt  und  in  ihrer  Lage  festge- 
{«telJt,  und  am  wenigsten  umgesetzt  oder  verwechselt."     „Sobald  in  das  sinn- 
los (rebilde  ein  paar  Vocale  eingeschoben  werden,  stellen  sich  schon  Silben 
ein  nnd  werden  Assimilationen  möglich." 

II.  -Bei  Versuchen  mit  sinnlos  zusammengesetzten  sinnvollen  ge- 
läufigen Silben  von  3 — i  Buchstaben  zeigt  sich  der  Einflufs  der  Assimi- 
lation.** 

III.  Sinnlose  Silben  und  sinnvolle  unbekannte  Wörter  sind  für  die 
Versuchspersonen  von  geringem  Unterschied. 

IV.  „Die  Versuche  mit  geläufigen  Wörtern  ergaben,  dafs  der  unter 
Einfiufs  der  Assimilation  eintretende  Auf  merksamkeitsumfang  bis  zu25Buch- 
Mtaben  betragen  kann  und  zwar  schon  auf  die  erste  Exposition  hin." 

V.  VI.  „In  kurzen  Sätzen  tragen  die  den  Sinn  fixirenden  Bestand- 
theile  auch  für  die  Assimilation  dominirenden  Charakter.  Den  dominirenden 
Buchstaben  im  Wortbild  können  sonach  dominirende  Wörter  oder  Wort- 
complexe  im  Satzbild  angereiht  und  gegenübergestellt  werden." 


284  ^i  ^^'^  hirberich  t 

8.  Expositionszahl  und  Expositionszeit.  Der  Verf.  führt 
aus,  „dafs  die  Expositionsfolgen  keine  unmittelbare  Bedeutung  zum  Wort- 
erkennen haben."  Sobald  die  objectiven  Bedingungen  (dominirende  Buch- 
staben, Wortform  und  -länge,  Feststellung  des  Buchstabenbestandes)  hierfür 
erfüllt  sind,  vollzieht  sich  die  Auffassung  der  Bedeutung  des  W^ortes  in- 
stantam  in  einem  selbständigen  psychologischen  Act  „D^ls  unbekannte 
Wort  wird  nur  nach  dem  Zeichencomplex  festgestellt  ....  Das  bekannte 
Wort  hat  zwei  Erkennungsphasen:  a)  die  Apperception  der  dominirenden 
Elementengruppe,  des  dominirenden  Buchstabencomplexes  und  der  Ge- 
sammtform,  b)  daran  anschliefsend  die  Apperception  des  Granzen  und  die 
Apperception  der  Bedeutung."  „Die  Apperception  des  optischen  Bildes  ist 
an  die  Folge  der  Expositionen  gebunden,  die  Apperception  der  Bedeutung 
an  den  dominirenden  Complex."  Der  Verf.  tritt  daher  der  CATTBix'schen 
Methode,  nach  welcher  bei  kurzer  Expositionszeit  5  mal  nach  einander  ex- 
ponirt  wird,  entgegen  und  fordert  eine  einmalige  Exposition.  Die  Exposi- 
tionszeit „is^  ^in^  1*6^1^  physiologische  Zeit,  eben  die  Zeit,  die  zur  Xetz- 
hauterregung  erforderlich  ist,  wozu  dann  noch  eventuell  die  Dauer  des 
Nachbildes  hinzukommt.  Sie  variirt  bei  den  einzelnen  Beobachtern  (6  bis 
20  a),  bleibt  aber  innerhalb  der  Grenzen  von  5  a  bei  einem  und  demselben 
Beobachter  constant. 

9.  Kritik  der  CATTELL'schen  Versuche.  Der  Verf.  zeigt,  dafs 
Cattell*s  Versuche  nicht  reine  Apperceptionsversuche  waren,  und  dafs  er 
vermuthlich  für  Apperception  hielt,  was  lediglich  der  Assimilation  zuzu- 
schreiben ist.  Die  von  Erdmann  und  Dodge  mit  einer  Expositionszeit  von 
100  a  ausgeführten  Versuche  hält  der  Verf.  für  reine  Assimilationsversuche. 

10.  Die  dominirenden  Buchstaben  und  die  Wort  form.  Die 
Erkennung  der  durch  die  Zahl  der  Buchstaben  bestimmten  Wortlänge  hängt 
von  dieser  Zusammensetzung  und  von  der  Richtung  der  Aufmerksamkeit 
ab.  „Bei  gröfseren  Wörtern  constatiren  die  Beobachter  zwischen  der  Auf- 
fassung der  ersten  Worthälfte  und  der  Wortlänge  eine  deutliche  Pause.^ 
Die  Wortforni  mufs  in  ihre  Factoren  zerlegt  und  nach  ihren  dominirenden 
Bestandtheilen  beurtlieilt  werden,  die  Wortform  als  solche  verführt  zu 
Irrthümern.  Die  Gesammtform  eines  Wortes  ist  für  die  Erkennung  des- 
selben nicht  entscheidend.  „Für  die  Erkennung  des  Wortes  sind  nur  die 
im  Keizcomplex  befindlichen  dominirenden  Elemente  maafsgebend.  Diese, 
als  ober-  und  unterzeilige  Consonanten,  als  Buchstaben  erster  Ordnung 
sind  nicht  identisch  mit  den  doniiuirenden  Buchsteben  Goldschsideb's.'' 
„Die  Rolle  des  dominirenden  Complexes  wird  im  Satz  vom  dominirenden 
Wort  übernouniien,  das  den  Schlüssel  für  den  Bedeutungszusammenhang 
liefert,  an  den  die  Erkennung  von  Sätzen  gebunden  ist." 

11.  Die  Aehnlichkeits-Assimilation.  ».Dafs  die  Gesammtform 
eine  den  dominirenden  Elementen  untergeordnete  Rolle  spielt,  beweisen 
die  determinirten  falschen  Assimilationen,  in  denen  Wort  und  Assimilation 
nach  den  dominirenden  Buchstaben  völlig  übereinstimmen  und  nur  die  in- 
differenten Zwischenstücke  verschieden  sind.  Diese  Fixirung  der  richtigen 
dominirenden  Elemente  in  der  falschen  Assimilation  beweist  ihre  grund- 
legende Bedeutung   gegenüber   der  Wortform,   in   der   keinerlei   Momente 


Literaturbericht.  285 

liegen,    um  eine  wenigstens  nach  Elementen  determinirte  Aehnlichkeits- 
sssimilation  hervorzurufen.''    Der  Verf.  führt  dies  an  Beispielen  weiter  aus. 

12.  Die  Assimilationsversuche.    Die  Wirkung  der  Assimilation 
wurde  an  veränderten  Objecten  untersucht.    Der  Verf.  bespricht  die  Ver- 
tmche  PiLL8BURY*8  und  hält  diesem  entgegen,  „dafs  die  planlose  Eliminirung 
deutlichere  Veränderungen  hervorruft,  als  die  mit  bestimmter  Absicht  er- 
folgende."   Er  selbst  veränderte  die  Versuchsbedingungen  durch  Verände- 
rung (Substitution)  und  Auslassung.    Im  Allgemeinen  sei  aus  diesem  Capitel 
Folgendes  hervorgehoben:    „Solange  die  dominirenden  Buchstaben  analog 
verändert  werden,  ist  ihre  Wirkung  zu  Ende  und  die  falschen  Buchstaben 
werden  appercipirt."    Im  letzteren  Falle  kann  die  Assimilation   nicht  auf- 
kommen.   „Das  Wortbild  bleibt  unsicher,  labil,  wenn  es  nicht  sofort  seine 
Bedeutung  empfängt    Erst  durch  den  Sinn  wird  das  Bucbstabengeftige  ge- 
festigt" 

13.  Die  Suggestions-Assimilation.  Versuchsanordnung:  Es 
wurde  mit  einer  Reihe  von  richtigen  und  mit  einer  solchen  von  falschen 
Wortbildern  gearbeitet.  „Die  Substitutionen  und  Verstümmelungen  variirten 
l»ei  letzeren  zwischen  2 — 8  Buchstaben.  Der  Anfangsbuchstabe  blieb  stets 
unverändert,  auch  bei  tieferen  Eingriffen  in  das  Buchstabengefüge  wurde 
der  domin irende  Complex  möglichst  unversehrt  erhalten.**  Dabei  wurden 
die  dem  Beobachter  geläufigen  richtigen  Wortbilder  zuerst  exponirt,  diese 
beeinflufsten  suggestiv  die  darauf  in  einem  Abstand  von  drei  Expositionen 
folgenden  falschen  Objecto.  Im  Allgemeinen  sei  aus  den  Resultaten  hervor- 
gehoben, dafs  die  Versuchspersonen  bei  einer  ersten  Gruppe  von  Ver- 
«achen  (z.  B.  Irronumstatt— Irrenanstalt)  Anfangs  zufriedenstellend  assimi- 
lirten,  dann  aber  unruhig  wurden  und  falsche  Buchstaben  erkannten.  Bei 
den  weiteren  Versuchen  ergaben  sich  individuelle  charakteristische  Unter- 
schiede, auf  die  wir  nicht  eingehen. 

14.  Assimilationsversuche  mitAuslassungen.  „Auslassungen 
von  Buchstaben  im  Wortbild  haben  eine  verschiedene  Wirkung,  je  nach- 
dem es  dominirende  oder  unbetonte  Buchstaben,  stark  hervortretende  Con- 

f  ^onanten  oder  Vocale  sind."  Bei  Auslassung  unbetonter  Buchstaben  trat 
nrich  die  richtige  Assimilation  ein.  Bei  Auslassung  dominirender  Buch- 
staben ergab  sich  Folgendes:  „1.  Die  Fehler  bleiben  unerkannt  und  es 
wird  assimilirt.  Dagegen  wird  angegeben,  dafs  Vocale  fehlen.'*  „2.  Die 
Auslassung  wird  erkannt  und  nach  einer  merkbaren  Pause  tritt  die  Assi- 
milation ein."  „3.  Die  Auslassung  wird  erkannt  und  es  stellt  sich  eine 
falsche  oder  überhaupt  keine  Assimilation  ein." 

15.  Inversionen  und  Permutationen.  Die  Fälle,  in  denen  In- 
versionen vorkommen,  geben  über  die  Bewegungen  der  Buchstaben  einigen  Auf- 
«chlufs.  „Die  Beobachter  sagen  oft  aus,  sie  befänden  sich  einer  verwirrenden 
Fülle  von  Buchstaben  gegenüber,  in  die  sie  erst  Ordnung  zu  bringen  hätten. 
!;^obald  es  ihnen  nicht  gelänge,  die  chaotische  Masse  von  Eindrücken  sinn- 
voll zu  gruppiren,  verschwände  ihnen  ein  grofser  Theil  davon  wieder  aus 
dem  Gedächtnifs.**  Der  Verlauf  des  Auffassungsvorganges  ist  nach  dem 
Verf.  im  Umrifs  der  folgende:  ,,Die  erste  Phase  der  Apperception  giebt 
die  dominirenden  Buchstaben;  sie  sind  das  Rohmaterial  für  die  folgenden 
Vorgänge.     Das   Weitere  hängt  von  zwei   Umständen    ab:    a)  sobald  fticVv 


286  Liter  aturbericht. 

eine  Assimilation  aufdrängt,  modificirt  sie  den  Sachverhalt,  d.  h.  die  ob- 
jective  Anordnung  der  Buchstaben  zu  ihren  Gunsten;  b)  aber  schon  an 
sich  können  die  Buchstaben  in  verschiedener  Zeit  aufsteigen  und  sich  dem- 
gemäfs  ordnen,  dann  wird  die  daran  anschliefsende  Assimilation  schon 
dieser  Anordnung  Rechnung  tragen  .  .  .  Diese  beiden  Momente  setsen, 
mannigfach  in  einander  übergreifend,  die  zweite  Phase  des  Vorganges  zu- 
sammen." „Mit  der  Inversion  verband  sich  häufig  noch  eine  Substitution." 
An  der  Hand  von  Beispielen  wird  dies  des  Näheren  ausgeführt. 

Die  Arbeit  wurde  in  Wündt's  Laboratorium  in  seinem  Auftrage  und 
unter  seiner  Leitung  ausgeführt.  Kessow  (Turin). 

A.  Hüther.   Die  psychologischen  Gnmdpriiicipieii  dinr  Pidagog^lk.    Zeitschr.  f, 

pädag.  Psychol  u.  Path.  2,  121—132,  192—209,  287—302,  367—383.  1900. 
Der  Aufsatz  enthält  der  Hauptsache  nach  eine  ausführliche  Besprechung 
des  Apperceptionsbegriffs.  Die  Herbart  -  ERDMANN*sche  Anschauung,  dafii 
Apperception  eine  rein  mechanisch  sich  vollziehende  Eingliederung  des 
neuen  Eindrucks  in  eine  herrschende  Apperceptionsmasse  sei,  wird  nur  dem 
objectiven  Thatbestande,  nicht  dem  subjectiven,  gerecht;  Wcndt's  Lehre 
von  einem  willkürlichen  Eingreifen  eines  spontanen  Acts  in  den  passiv- 
mechanischen  Vorstellungsverlauf  erscheint  zu  dualistisch.  H.  sucht  nun, 
in  theilweisem  Anschlufs  an  Lipps,  nachzuweisen,  dafs  Apperception  nor 
eine  höhere  Bethätigungs weise  derselben  psychischen  Activität  sei,  die  sich 
auch  in  den  einfachsten  Formen  geistigen  Lebens,  im  Erzeugen  von  Em- 
pfindungen und  Bilden  von  Vorstellungen  ausspricht.  Die  logischen  Apper- 
ceptionsverbindungen  und  -leistungen  werden  von  diesem  Standpunkt  aus 
erörtert.  —  Der  Schlufstheil  bringt  dann  eine  Willenstheorie,  die,  in  ähn- 
licher Weise  zwischen  Wundt  und  Lipps  die  Mitte  haltend,  den  Willen 
nicht  als  selbständigen  Bewufstseinsfactor,  sondern  nur  als  eine  besondere 
Erscheinungsweise  psychischer  Activität  auffafst.       W.  Stern  (Breslau). 


H.  Davies.  Hethod  Of  Aesthetics:  &  Hote.  Phüos.  Revietc  10(1),  28—35.  1901. 
Damit  Aesthetik  eine  Wissenschaft  werde,  mufs  sie  sich  der  drei 
wissenschaftlichen  Methoden:  der  Classification,  des  Auffindens  von  Oe- 
setzen  und  der  Kritik  bedienen.  Wie  die  Anwendung  dieser  Methoden  an 
den  Problemen  der  Aesthetik  durchgeführt  werden  könne,  wird  kurz  ange- 
deutet. W.  Stern  (Breslau). 

Havelock  Ellis.    Geschlechtstrieb  ond  SchamgeffihL   Autorisirte  Uebersetzong 

von  Julia  E.  Kötscheb  unter  Redaction   von   Dr.  med.  Max  Kötscheb. 

Leipzig,  G.  Wigand,  1900.    364  S.    13  Tafeln. 

Es  fehlt  uns  nicht  gerade  an  Abhandlungen  über  den  Geschlechtstrieb 

und  seine  Verirrungen  sowie  über  ähnliche  Dinge,  und  im  Allgemeinen 

kann  etwas  Vorsicht  beim  Herantreten  an  diese  Erzeugnisse  der  Literatur 

nichts  schaden. 

Bei  Havelock  Ellis  ist  man  indes  sicher,  auf  eine  ernste  und  wissen- 
schaftliche Behandlung  seines  Gegenstandes  zu  stoDsen,  was  sich  nicht 
gerade  von  Jedem  behaupten  läfst. 


Literaturbericht.  287 

In  dem  vorliegenden  Bande  giebt  er  uns  drei  Studien,  die  ihm  noth- 
endige  pProlegomena"  für  eine  Analyse  des  geschlechtlichen  Instinctes 
sein  scheinen,  welche  Analyse  die  Hauptrolle  bei  einer  Erforschung  der 
Geechlechtspsychologie  spielen  mufs.  Die  erste  Studie  enthält  eine  Schilde- 
ning  des  Schamgefühls,  die  zweite  sucht  das  Phänomen  der  Sexualperiodi- 
citftt  zu  erklären,  und  die  dritte  endlich,  die  den  Auto-Erotismus  behandelt, 
TeTsacht  uns  darüber  zu  belehren,  dafs  wir  selbst  auf  Gebieten,  wo  wir 
unsere  Kenntnisse  für  ausreichend  halten,  bei  genauerer  Betrachtung  unser 
Endartheil  noch  aufschieben  müssen  und  gut  thun,  eine  vorsichtigere 
Haitang  einzunehmen. 

Der  Geschlechtstrieb  hat  die  Tendenz,  in  einer  spontanen  und  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  periodischen  Weise  aufzutreten,  und  dabei  auf  Mann 
und  Weib  in  verschiedener  Weise  zu  wirken.  Besonders  ist  es  das  Scham- 
gefühl, d.  h.  eine  instinctive  und  gewöhnlich  auf  sexuellen  Vorgängen  be- 
gründete Furcht,  das  beim  Weibe  vorzugsweise  ausgebildet  ist.  Es  geht 
der  Bekleidung  voraus  und  ist  von  ihr  unabhängig.  Vielmehr  entspringt 
die  Bekleidung  dem  Schamgefühl  und  wird  als  Schmuck  zum  Anzieh ungs- 
nnd  Lockmittel. 

Das  ErrOthen  ist  die  Weihe  des  Schamgefühls,  und  der  vasomotorische 
Mechanismus  des  Erröthens  seine  physiologische  Grundlage. 

Daher  auch  der  Einflufs  der  Dunkelheit  auf  das  Schamgefühl,  obwohl 
«ich  die  schon  von  Lichtenberg  aufgeworfene  Frage,  ob  die  Frauen  im 
Dankein  errOthen,  bis  heute  der  Entscheidung  entzieht,  da  sie  bei  Licht 
nicht  wohl  entschieden  werden  kann. 

Von  der  allmählichen  Entwickelung  des  Schamgefühls  giebt  uns  u.  A. 
die  Literatur  Kunde,  und  die  derben  und  ihrer  Zeit  unbeanstandeten  Er- 
tfhlungen  eines  Chaucer,  Boccaccio  u.  A.  m.  würden  heute  kaum  für  hof- 
Ähig  erachtet  werden. 

Das  Schamgefühl  wandelte  sich  durch  die  Civilisation  in   Anstands- 
gefühl um.    Wie  sehr  aber  auch  dieses  der  Allgewalt  der  Mode  unterworfen 
ist,  beweist  u.  A,  die  für  die  Hofbälle  vorgeschriebene  Toilette  der  Damen, 
die  ohne  diese  Vorschrift  und   am  hellen  lichten  Tage  sicherlich  für  un- 
anständig gehalten  würde. 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  ausführlichen  Untersuchungen 
über  das  Phänomen  der  geschlechtlichen  Periodicität. 

In  der  pflanzlichen  und  Thierwelt  ist  das  Geschlechtsleben  durchweg 
an  bestimmte  Perioden  gebunden,  und  die  Brunst  der  Thiere  und  die  Men- 
struation der  Frauen  sind  in  Wirklichkeit  ein  und  dasselbe  Phänomen.  Be- 
steht nun  beim  Manne  eine  gleiche  oder  ähnliche  Periodicität?  Ellis  ver- 
sucht dies  an  der  Hand  einer  ganz  aufserodentlichen  Belesenheit  klar  zu 
legen,  und  daüs  ein  gewisser  Rhythmus  unser  ganzes  Leben  durchzieht  und 
die  grofsen  athmosphärischen  Spannungen,  die  Frühjahrs-  und  Herbstphasen 
anser  geschlechtliches  Leben  nicht  unberührt  lassen,  ist  schon  von  vorn- 
herein nicht  unwahrscheinlich.  In  einem  Anhange  B.  wird  diese  Unter- 
suchung von  Pebby  Coste  weiter  geführt. 

PsBBY  Coste  fand,  dafs  der  Puls  beim  Manne  einen  deutlichen  monat- 
lichen Bhythmus  zeige,  und  da  Puls  und  Menstruation  bei  den  Frauen  iii 
üebereinstimmung  stehen,  so  spreche  dies  stark  für  das  Bestehen  einer 


288  Literaturbericht. 

monatlichen  physiologischen  Periode  bei  dem  Manne.  Dies  führte  ihn  dazu 
über  seine  nächtlichen  Samenergiefsungen  zehn  Jahre  hindurch  Buch  zu 
führen,  da  sie  das  Uebermaafs  an  geschlechtlichen  Absonderungen  dar- 
stellen, wo  eine  normale  Erleichterung  versagt  wird.  Er  fand  nun  als  jähr- 
liches Mittel  36,  und  er  konnte  ferner  einen  bestimmten  jährlichen,  lunar- 
monatlichen,  und  selbst  einen  wöchentlichen  Khythmus  nachweisen.  Die 
socialen  Schlüsse,  die  er  daraus  zieht,  sind  recht  interessant.  Die  Pollution 
bedeutet  selbstverständlich  nur  ein  Minimum,  dessen  Vielfaches  gefunden 
werden  mufs.  Jedenfalls  würde  ein  dreimaliger  Geschlechtsgenufs  im  Monat 
das  Minimum  sein,  um  das  physiologische  Gleichgewicht  des  Mannes  in 
dieser  Beziehung  aufrecht  zu  erhalten,  und  dies  stimmt  mit  der  alten  Fest- 
setzung von  SoLON  überein,  der  „drei  Zahlungen  für  den  Monat"  bestimmte. 
CosTE  fand  eine  nicht  erwartete  Symmetrie  seiner  Curven,  was  in  ihm  den 
Wunsch  anregte,  ein  gröfseres  Material  für  fernere  Beobachtungen  zur  Ver- 
fügung zu  haben.  Er  fordert  zu  Sammelforschungen  auf,  deren  Schwierig- 
keit er  im  Uebrigen  nicht  verkennt. 

Ein  Haupttheil  des  Buches  ist  den  Erscheinungen  des  Auto-ErotismuB 
gewidmet,  d.  h.  der  spontanen  geschlechtlichen  Erregung  ohne  irgend  welche 
Anregung  von  aufsen.  Als  solche  spielt  er  überall  seine  Rolle.  Er  ist  ein 
wichtiger  Antrieb  zu  allerhand  Manifestationen  und  ein  unvermeidliches 
Nebenproduct  des  gewaltigen  Processes,  auf  dem  die  ganze  animalische 
Welt  beruht. 

Der  AutoErotismus  ist  keineswegs  immer  Masturbation;  er  kann  alle 
Arten  der  Selbstbefriedigung  umfassen,  bis  zu  den  Tagesträumen.  Ellis 
benutzt  dies  zu  einem  langen  Excurse  auf  das  Gebiet  der  Hysterie,  ohne 
dafs  wir  gerade  viel  klüger  dadurch  würden.  Ihm  ist  die  Hysterie  ein 
auto-erotisches  Phänomen,  und  Breuer  und  Freud  müssen  ihm  dabei  als 
Taufpathen  dienen. 

Die  Frage,  welches  Geschlecht  der  Masturbation  mehr  ergeben  sei, 
bleibt  ungelöst,  so  massenhaft  das  Material  auch  ist,  das  er  hierüber  zu- 
sammengetragen hat ;  was  er  über  die  Folgen  der  Gewohnheit  sagt,  ist  ver- 
ständig. Unsere  erste  Pflicht  ist  es,  die  Natur  und  die  Folgen  dieser  Mani- 
festation bei  allen  Classen  der  Bevölkerung  zu  untersuchen.  Das  ist  eine 
vorbereitende  Bedingung  für  jene  Fragen,  und  so  lange  sie  nicht  endgültig 
entschieden  sind,  gilt  es,  ihnen  keine  Gleichgültigkeit,  aber  doch  auch  keinen 
übertriebenen  Abscheu  entgegenzutragen,  der  nur  zur  Verheimlichung  führen 
und  das  üebel  künstlich  vergröfsern  würde.  In  dem  Anhange  A.  behandelt 
er  den  Einflufs  der  Menstruation  auf  die  Stellung  des  Weibes,  und  zwar 
in  Bezug  auf  die  Gefühlsathmosphäre,  worin  die  Männer  die  Frau  gewöhn- 
lich sehen. 

Die  Menstruation  des  Weibes  gilt  im  Allgemeinen  als  eine  Art  Minder- 
werthigkeit.  Das  Weib  ist  während  dieser  Zeit  unrein,  zugleich  aber  von 
Geistern  besessen  und  mit  geheimen  Kräften  begabt.  Daher  gewinnt  die 
Unreinheit  den  Nebenbegriff  des  tabu,  d.  h.  des  heiligen,  geheiligten.  Man 
sucht  die  menstruirte  Frau  zu  vermeiden,  um  sich  vor  Schaden  zu  hüten. 
Aehnlich  ist  es  mit  dem  Menstrualblut.  Es  schützt  vor  Hieb  und  Stich, 
es  tritt  in  viele  Heilmittel  ein  und  ist  besonders  in  Liebestränken  wirksam. 


Literaturbericht.  289 

Im  Christenthum  blieb  nur  das  Böse  zurück,  und  die  Frau  wurde 
wirklich  unrein.  Wd  eine  menstruirte  Frau  sich  sehen  läfst,  wird  die  Milch 
sauer  und  geht  das  Kraut  um,  und  chirurgische  Operationen  waren  zur  Zeit 
der  Begeln  veri)önt.  Hatte  man  die  Frau  früher  überschätzt  und  in  ihr  ein 
Zwischenglied  zwischen  Mensch  und  Gottheit  verehrt,  so  mied  man  sie 
jetzt,  dank  den  Anschauungen  des  Mönchthums,  als  eine  Art  von  Teufel. 
Erst  die  moderne  Civilisation  drängt  dazu,  den  socialen  Unterschied  der 
Geschlechter  zu  verwischen  und  sie  nach  Möglichkeit  gleichzustellen. 

Ein  dritter  Appendix  endlich  behandelt  den  auto-erotischen  Factor  in 
der  Religion.  Dafs  zwischen  beiden  Gefühlen,  der  Liebe  und  der  Religion, 
innige  Beziehungen  bestehen,  kann  nicht  bestritten  werden.  Sie  sind  die 
beiden  leidenschaftlichsten  Gemüthsbewegungen ,  denen  der  menschliche 
Organismus  unterworfen  ist.  Daher  kann  eine  Störung  der  einen  sofort 
auf  das  Gebiet  der  anderen  übergehen  und  dort  Veranlassung  zu  weiteren 
Störungen  abgeben.  Dieses  leugnen  zu  wollen  widerspricht  jeder  Erfahrung, 
und  es  zu  verkennen  war  und  ist  die  Quelle  unendlichen  Unheils. 

Je  mehr  man  versucht,  die  sinnliche  Liebe  zu  unterdrücken,  um  so 
höher  steigert  sich  die  geistige  Inbrunst,  bis  sie  sich  in  den  Erscheinungen 
der  Exstase  und  des  Mysticismus  schrankenlos  Bahn  bricht.  Das  Leben 
der  Heiligen  liefert  hierfür  massenhaftes  Material,  sofern  es  hierfür  über- 
haupt eines  Beweises  bedürfen  würde.  Der  Mensch  ist  nun  einmal  ein 
Mensch  und  als  solcher  menschlichen  Gesetzen  unterworfen.  Lehnt  er  sich 
dagegen  auf,  dann  mufs  er  den  Schaden  mit  in  den  Kauf  nehmen,  und  da- 
gegen schützt  ihn  sogar  die  Heiligkeit  nicht. 

In  dieser  Weise  eröffnet  uns  das  Buch  mannigfache  Ausblicke  und 
eine  Anregung  zu  weiterem  Nachdenken,  und  dies  um  so  mehr,  je  mehr 
man  gewahrt,  wie  die  Hand  des  Meisters  dem  spröden  Stoffe  neue  und 
bisher  unbekannte  Seiten  abgewonnen  hat.  Pelman. 

£.  RiTCHiE.    The  Eflsential  in  Religion.    Philos.  Bev.  10  (1),  1—11.    1901. 

Es  wird  versucht,  das  Wesen  der  Religion  in  ihrem  weitesten  Um- 
fang, vom  Fetischismus  bis  zum  Spinozismus,  zu  definiren.  Das  Ergebnifs 
ist,  dafs  Religion  weder  durch  irgend  welchen  bestimmten  Inhalt,  noch 
'lurch  ein  bestimmtes  Gefühl  definirt  werden  kann.  Vielmehr  liegt  Religion 
überall  dort  (und  nur  dort)  vor,  wo  eine  wie  auch  immer  beschaffene  Auf- 
fassung der  Wirklichkeit  dem  Individuum  so  zum  inneren  Erleben  ge- 
worden ist,  dafs  all  sein  Fühlen  und  Handeln  dadurch  bedingt  und  bestimmt 
ist.  [Wir  Deutschen  würden  es  etwa  ausdrücken  können:  Religion  ist  die 
zur  Lebensanschauung  gewordene  Weltanschauung.    Ref.] 

W.  Stern  (Breslau). 


K2.  B.  R.  Aabs.    Analyse  de  l'idie  de  1&  morale.    Videmkatsselskabets  Skr.  2, 

Hist-filo8.  Kl.  (5).    27  S.    1899. 

Der  Verf.  geht  davon  aus,  dafs  die  Gefühle  die  Grundlage  der  Moral 
bilden.  Das  moralische  Urtheil  ist  der  Ausdruck  der  moralischen  Gefühle. 
Diese  sind  zusammengesetzter  Natur,  und  die  Bedingung  ihrer  Entstehung 
ist  das  Vorhandensein  mehrerer  einfacher  Gefühle.   Von  den  sympathischen 

Zeitschrift  fdr  Ysychologie  26.  1^ 


290  lAteraturbericht 

Gefühlen  unterscheiden  sich  die  moralischen  Grefühle  einmal  durch  die 
Verschiedenheit  ihrer  Objecte:  die  Objecte  dieser  sind  Handlungen,  die 
Objeete  jener  aber  GefOhle  anderer.  Weiters  sind  die  beiden  Gefühle  noch 
verschieden  hinsichtlich  der  Intensität  und  des  Umfanges.  Der  umfang 
der  moralischen  Gefühle  deckt  sich  nicht  mit  dem  der  sympathischen. 

Die  Frage,  ob  die  Suggestion  bei  der  Entstehung  der  moralischen  Ge- 
fühle mitwirke,  entscheidet  der  Verf.  dahin,  dafs  zwar  in  vielen  Fällen  sugge- 
rirte  Gefühle  vorkommen,  das  moralische  Gefühl  aber  jedenfalls  spontanen 
Ursprunges  ist.  Hieran  schliefst  sich  eine  Besprechung  des  egoistischen 
Utilitarismus,  sowie  des  Gegensatzes  zwischen  egoistischer  und  altruistischer 
Moral.  Egoistisch  urtheilen  wir,  wenn  wir  eine  That  nur  nach  dem  be- 
urtheilen,  ob  sie  uns  angenehm  oder  unangenehm  ist.  Eine  altruistische 
Beurtheilung  liegt  dann  vor,  wenn  die  Folgen  der  ins  Auge  gefafsten  That 
in  Rücksicht  auf  andere  beurtheilt  werden.  •.  . 

Gelegentlich  der  Ausführungen  über  den  Einflufs  der  Religion  auf  die 
Moral  macht  der  Verf.  auf  die  zweifache  Bedeutung  des  Pflichtbegriffes 
aufmerksam.  Derselbe  kann  sich  einmal  auf  ein  moralisches  Ideal,  ein 
andermal  auf  eine  bestimmte  Handlung  beziehen.  Sodann  wird  die  Frage 
in  Erwägung  gezogen,  ob  und  inwieweit  wir  anorganischen  Körpern  und 
Thieren  moralische  Gefühle  zuwenden.  Hierauf  folgen  genauere  Darlegungen 
über  die  Objecte  und  Subjecte  jener  Handlungen,  die  einer  moralischen 
Schätzung  unterworfen  Verden.  Der  Verf.  erörtert  dann  die  verschiedenen 
Stufen  der  moralischen  Unverantwortlichkeit,  sowie  das  Problem  der  Willens- 
freiheit. Den  Schlufs  der  Abhandlung  bilden  eine  Charakteristik  der  Werthe 
in  Bezug  auf  ihre  Qualität,  und  Ausblicke  über  die  Zukunft  und  Weiter- 
entwickelung der  Moral.  Saxingeb  (Linz). 


WncDscHEiD.   Die  Prophylaxe  in  der  Hervenheilkniide.    München,  Seitz  und 

Schauer,  1900.    47  S.    Mk.  1.50. 

Die  sehr  flüssig  geschriebene  Arbeit,  die  gleich  der  von  Fuchs  einen  Theii 
des  Handbuchs  der  Prophylaxe  von  Nobilinq-Jankaü  bildet,  zerfällt  in  einen 
allgemeinen  und  einen  speciellen  Theil.  Im  allgemeinen  Theil  bespricht 
Verf.  die  Prophylaxe  der  Prädisposition  und  die  der  verschiedenen  Schäd- 
lichkeiten, welche  den  einzelnen  Lebensaltern  zukommen.  Der  specielle 
Theil  behandelt  die  Verhütung  der  Erkrankungen  des  Gehirns,  des  Kücken- 
marks, der  peripheren  Nerven  und  dann  die  der  functionellen  Neurosen. 
Unter  ihnen  bespricht  er  besonders  eingehend  die  Prophylaxe  der  Neura- 
sthenie. Bei  der  Gelegenheit  warnt  er  vor  dem  heute  vielfach  üblichen 
und  doch  so  übel  angebrachten  Humanitätsdusel.  Sicherlich  hat  er  auch 
Recht,  wenn  er  darauf  hinweist,  dafs  viele  Neuerungen  im  modernen  Leben, 
denen  man  für  gewöhnlich  bei  der  Entstehung  der  Neurosen  eine  Rolle 
beimifst,  uns  auch  nicht  zu  unterschätzende  Annehmlichkeiten  und  Vor- 
theile  verschaffen  und  so  wieder  indirect  zur  Stärkung  unseres  Nerven- 
Systems  dienen.  Ernst  Schultze  (Andernach). 


Literaturbericht  291 

Obkbstkinbb.    taictIoAelle  und  organische  HerreBkranklieitea.    Heft  II  der 

Grenzfragen  de»  Nerven-  und  Seelenlebens  von  Löwbnfeld  und   Kurslla. 
Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann,  1900.    Mk.  1.—. 

Nicht  nur  aus  wissenschaftlichen,  sondern  auch  aus  praktischen  Gründen 
▼ird  man  organische  Nervenkrankheiten  mit  sichtbaren  krankhaften  Ver- 
Änderungen  am  Nervensystem  und  functionelle,  bei  denen  ein  solcher  Nach- 
weis nicht  gelingt^  unterscheiden.  Wenn  nun  auch  dank  neuerer  Methoden 
(NiasL,  Marchi)  und  Forschungen  das  Gebiet  der  functionellen  Störungen 
«ingeengt  ist  und  wenn  die  Ergebnisse  experimenteller  Untersuchungen 
eine  weitere  Einschränkung  versprechen,  so  bleibt  doch  noch  eine  Reihe 
von  Störungen  übrig,  die  so  bezeichnet  werden  mufs.  Freilich  bleibt  uns 
<lAmit  deren  Wesen  verschlossen,  und  die  Annahme,  es  handle  sich  bei 
ihnen  um  moleculare  Alterationen,  um  Ernährungsstörungen,  wird  uns  auch 
nicht  Honderlich  weiter  bringen. 

0.  legt  sich  dann  die  Frage  vor,  ob  nicht  den  functionellen  Störungen 
ein  gemeinsames  Characteristicum  zukommt  gegenüber  den  organischen 
Formen ;  er  präcisirt  die  Frage  noch  weiter  und  nimmt  nur  auf  functionelle 
Symptome  im  Gegensatz  zu  functionellen  Erkrankungen  Bezug,  da  den 
meisten  anscheinend  rein  organischen  Krankheiten  auch  ein  functioneller 
Factor  zukommt. 

Die  Erfahrungen  der  Anatomie  und  Physiologie  und  die  Beobachtungen 
am  Krankenbette  geben  uns  keinen  völlig  sicheren  Aufschlufs  darüber,  in 
welchen  Himtheilen  und  wo  sich  psychische  Processe,  die  Bewufstseins- 
vorgänge,  abspielen.    Wenn  auch  von  den  meisten  Autoren  die  Grofshirn- 
rinde  als  der  Sitz  der  Vorstellungsthätigkeit  angesprochen  wird,  so  mahnt 
uns  doch,  wie  O.  meint,  ein  historischer  Rückblick  zu  aller  Vorsicht.    Den 
bisher    bekannten   Rindencentren    kommen   vielmehr   mit   Sicherheit  nur 
Leistungen  zu  auf  mehr  materiellem  Gebiete,  wie  z.  B.  dem  der  Bewegung, 
dem  des  Fühlens,  Sehens,  Hörens  etc.    Es  sind  das  Leistungen,  wie  sie  auch 
von  den  peripheren  Nerven  oder  von  den  Sinnesorganen  aus  erzielt  werden 
können.    Zur  Zeit  fehlt  es  uns  noch  an  einer  ausreichenden  anatomischen 
ErJciäning  für  die  Erscheinungen  des  gesunden  wie  des  kranken  psychischen 
Lebens.    Es  ist  allen  rein  functionellen  Symptomen  oder*  Symptomgruppen 
ron  Seiten  des  Nervensystems  gemeinsam,  „dafs  sie  in  das  Bereich  der 
psychischen  Symptome  gehören,  wenn  auch  ihre  Manifestation  nach  aufsen 
hin  oft  eine  materielle  wird,  wie  beispielsweise  eine  hysterische  Lähmung". 
Wir  müssen   uns   mit  einer  physiologischen  Erklärung  dieser  Symptome 
begnügen,  die  psychisch  bedingt  und  psychisch  beeinflufsbar  sind.    Wenn 
auch  bei  vielen  Psychosen  sich  Hirn  Veränderungen  nachweisen  lassen,  so 
wird  damit  ihr  directer  Zusammenhang  mit  den  psychischen  Symptomen 
durchaus  noch  nicht  erwiesen.    Neben  den  functionellen   Störungen  wird 
das  Seelenleben  der  Kranken  meist  auch  noch  andere  Abweichungen  er- 
kennen lassen.    Auf  der  anderen  Seite  sind  Symptome  aus  Gebieten,  die 
der  Psyche  und  dem  Willen  entzogen  sind,  meist  als  Aeufserungen  einer 
anatomischen   Läsion  des  Nervensystems  anzusehen,  w*ie  Muskelschwund» 

gewisse  Haatveränderungen  n.  s.  w. 

E.  ScHULTZE  (Andernach). 

19* 


292  Literaturhericht. 

Gramer,   üeber  die  anrserhalb  der  Schale  liegenden  Ursachen  der  Herrositit 

der  Kinder.    Schiller-Ziehen  2  (6),  1—25.    1899. 

Die  Nervosität  beruht  auf  einem  gestörten  Functioniren  des  Gehirns. 
Man  trennt  die  Nervösen  in  Hysterische,  Neurasthenische,  Uebergänge 
zwischen  beiden  und  in  eigentlich  Nervöse.  Das  Hauptsymptom  der 
Neurastheniker  int  die  leichte  Ermüdbarkeit.  Das  neurasthenische  Kind 
ist  nicht  so  leistungsfähig,  seine  Aufmerksamkeit  ermüdet  bald.  Unter 
Hysterie  haben  wir  eine  Erkrankung  der  Vorstellungen  zu  verstehen: 
aufserordentlich  leichte  Beeinflussung  der  Vorstellungen,  hiermit  verbunden 
eine  gesteigerte  Einbildungskraft.  Das  hysterische  Kind,  dessen  Vor- 
stellungsinhalt noch  gering  ist,  zeigt  psychisch  bedingte  Lähmungen, 
Schmerzen,  Krämpfe,  desgl.  krankhaften  Eigensinn,  gesteigerte  Reizbarkeit 
un<l  Neigung  zum  Lügen.  Zur  Nervosität  im  engeren  Sinne  gehören  ab- 
norme Reizbarkeit,  hypochondrische  Veranlagung,  Muthlosigkeit  Rein 
nervöse  Kinder  sind  selten.  Zu  ihnen  kann  man  auch  solche  mit  ausge- 
prägter Lebhaftigkeit  oder  Schüchternheit  rechnen. 

Die  Ursachen,  welche  bei  Kindern  nervöse  Zustände  hervorrufen,  sind 
endogene  oder  exogene.  Beide  können  jedoch  auch  gleichzeitig  bestehen. 
Zu  den  endogenen  Ursachen  gehört  in  erster  Linie  die  erbliche  Belastung. 
Kino  solche  ist  vorhanden,  wenn  innerhalb  der  Blutsverwandtschaft  Geistes- 
oder Nervenkrankheiten  vorgekommen  sind.  Ein  erblich  Belasteter  braucht 
aber  nicht  geisteskrank  zu  werden.  Hierzu  sind  gewöhnlich  noch  exogene 
I^rsachen  nöthig.  Geisteskranke  oder  hochnervöse  Personen  üben  leicht 
auf  ihre  Umgebung  einen  inducirenden  Einflufs  aus.  Nervöse  Mütter  ver- 
erben schon  während  der  Schwangerschaft  auf  ihre  Kinder  Dispositionen 
zur  Nervosität  und  (leisteskrankheit.  Zu  den  exogenen  Ursachen  gehören 
vor  Allem  die  Kinderkrankheiten.  Gewöhnlich  lassen  die  Eltern  den 
Kin<lern  während  ihrer  Reconvalescenz  nicht  die  nöthige  Ruhe  zur  Kräfti- 
gung. Sie  suchen  sie  auf  alle  Weise  zu  amüsiren.  Auch  schicken  sie  die- 
selben zu  bald  wieder  zur  Schule.  Eine  zweite  Gruppe  exogener  Ursachen 
ist  gegeben  «lurch  ein  physisches  oder  psychisches  Trauma.  Pressungen^ 
guetschungen,  Stofs  und  Fall  auf  den  Kopf  wirken  ungünstig  auf  die 
<Jchirnentwickelung.  Auch  von  den  psychischen  Traumen,  durch  Schreck,. 
Furcht,  Angst  hervorgerufen,  mufs  man  ein  Kind  nach  Möglichkeit  be- 
wiihr(«n.  I>as  Anliören  von  Teufels-  und  Gespenstergeschichten  hat  in 
«lii'ser  Hey.iehung  oft  schädlich  gewirkt  und  schon  ganze  Schulclassen  in 
v'wwu  «»rregt  psychischen  abnormen  Zustand  versetzt.  Jedoch  richtet  sich 
ili(«  Srhlhllirlikeit  <lieser  veranlassenden  Momente  nach  der  Disposition  der 
KiinliT.  Durch  vieles  Fragen  nach  dem  Befinden  des  Kindes  können 
hvHlprisi'he  Störungen  suggestiv  hervorgerufen  werden.  Körperliche 
'/nrlititfuugen  sin<l  bei  gesunden  Kindern  nach  Ansicht  des  Verf.'s  über- 
thtMMijir.  bei  nervösen  Kindern  schädlich.  Eine  wichtige  Ursache  für  die 
NiMv«»Mltat  der  Kin<ler  liegt  namentlich  in  den  unzweckmäfsigen  und  ver- 
kehrU'ii  Verhältnissen,  unter  denen  die  Kinder  grofs  gezogen  werden.  Die 
n  Kliwler  wenlen  zu  oft  in  ihrer  Ruhe  gestört,  sie  werden  mit  Licht- 
ihHllreizen  förmlich  überschüttet,  mit  sprachlichem  Dressiren  gor 
MUbon    ihnen  Vergnügungen  den  nöthigen  Schlaf,  namenti' 


Literaturbericht.  293 

Fnbertätsalter.  Alkoholika  sind  den  Kindern  nicht  zu  reichen.  Ueber  das 
Schädliche  der  Onanie  sind  die  Kinder  nicht  generell,  sondern  einzeln  auf- 
xoklären.  Für  geistig  zurückgebliebene  Kinder  sind  besondere  Schulclassen 
finznrichten. 

Möchten  die  Schulmänner  die  Ausführungen  des  Verf. 's  recht  gründ- 
lich Studiren  und  beherzigen!  Zum  Glück  ist  ja  die  grofse  Mehrzahl  der 
Kinder  nicht  nervös.  Andererseits  aber  recrutiren  sich  gerade  aus  der 
Zahl  der  Nervösen  die  geistig  bedeutenderen,  welche  für  die  höchsten 
Leistungen  disponirt  sind.  Unter  ihnen  möglichst  viele  vor  den  schäd- 
lichen Folgen  der  Nervosität  zu  bewahren,  dazu  möge  die  Leetüre  der  vor- 
liegenden Schrift  beitragen!  Giessler  (Erfurt). 

LöwEXFELD.    Somnambolismas  and  Spiritismus.      Heft  I  der   Grenzfragen  des 
Xercen-  und  Seelenlebens,   herausgegeben  von  Löwenfeld  und  Kürella. 
Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann,  1900.    57  S.    Mk.  1. — . 
Die  vorliegende  Arbeit  eröffnet  in  der  glücklichsten  Weise  eine  zwang- 
lose Reihe  von  Abhandlungen,  ^in  welchen  Fragen  von  allgemeinem  In- 
teresse aus   dem   Bereiche  der  Nerven-    und  Seelenheilkunde    und  deren 
wissenschaftlichen  Qrenzgebieten,  insbesondere  der  Psychologie,  Pädagogik, 
Hygiene,  Fthnologie,  Anthropologie,  Sociologie  und  gerichtlichen  Medicin 
in  durchaus  vollständiger  und  origineller  Weise  behandelt  werden"  sollen. 
L.  unterscheidet  den  spontan  auftretenden  und  den  künstlich  herbei- 
geführten Somnambulismus ;  der  erstere,  der  sich  nur  bei  kranken  Individuen 
findet,   zerfällt  wieder  in   das   sog.   Schlaf-   oder  ;Nachtwandeln   und   den 
hysterischeu  Somnambulismus.    Die  Sinne  des  Nachtwandlers  erfassen  nur 
^,  ^as  mit  dem  ihn  beschäftigenden  Gedankengange  zusammenhängt; 
dem  Schlafwandeln  liegt  ein  Traumvorstellen  zu  Grunde,  das  mehr  ein 
ptrtielles  systematisches  Wachsein  ist,  und  das  macht  die  Annahme  mysti- 
«cher  Kräfte  unnöthig.     Gelegentlich   der    Besprechung   des  hysterischen 
Somnambulismus  hebt  L.  auch  die  interessante  Erscheinung  des  sog.  zweiten 
Zostandes  hervor,  der,  möchte  man  sagen,  zu  einer  Spaltung  des  geistigen 
Wesens  in  zwei  gesonderte  Existenzen  führen  kann.    Auch  die  vielartigen, 
befremdlichen,  in  ihrer  Bealität  vielfach  angezweifelten  Erscheinungen  des 
hypnotischen  Somnambulismus  lassen  sich  leicht  ei  klären  durch  ein  Neben- 
1  einander  von  partiellem  Schlaf  und  partiellem  Wachsein,  durch  anhaltende 
Concentration  der  Aufmerksamkeit,  durch  den  ständigen  Rapportverkehr 
mit  dem  Hypnotiseur. 

Der  zweite  gröfsere  Abschnitt  ist  den  aufsergewöhnlichen  Erscheinungen 
des  Somnambulismus  gewidmet,  die  eine  besonders  beweiskräftige  Stütze 
des  Spiritismus  sein  sollen.  L.  bespricht  der  Reihe  nach  das  Hellsehen, 
die  Sinnesverlegung  (Transposition  der  Sinne),  das  räumliche  Fernsehen 
tmd  Femhören,  die  Gedankenübertraguug  ohne  Vermittelung  der  Sinne 
^Telepathie),  das  zeitliche  Fernsehen  (Clairvoyance) ,  Vorahnungen,  Weis- 
sagungen und  schliefslich  das  Reden  in  fremden,  nicht  erlernten  Sprachen. 
Unter  Heranziehung  einer  Reihe  interessanter  Beobachtungen  weist 
er  nach,  dafs  entweder  der  blofse  Zufall  eine  Rolle  mitspielte,  oder  es  wirkte 
Taib^chang,  sei  es  gewollte  oder  ungewollte,  mit,  oder  die  Beobachtung 
▼tr  nicht  einwandsfrei  und  stammte  von  wenig  glaubwürdigen  AMtoietv, 


294  Literaturbericht 

Eine  vierte  Gruppe  von  Erscheinungen  war  einer  natürlichen  Erklärung 
(durch  Steigerung  der  Combi nationsgabe  und  Phantasie  bei  zeitlichem 
Fernsehen,  unwillkürliche  Flüstersprache  bei  einzelnen  Fällen  von  Tele- 
pathie) zugänglich.  Es  bleiben  aber  noch  einige  wenige  Erscheinungen^ 
wie  die  Möglichkeit  einer  geistigen  Fem  Wirkung  übrig,  welche  noch  der 
Aufklärung  harren. 

Jedenfalls  bedarf  es  aber  zu  der  Erklärung  solcher  BeobachtungeD 
nicht  der  Hinzuziehung  des  Spiritismus,  da  mit  ihm  nur  wieder  eine  neue 
und  völlig  unbekannte  Gröfse  in  die  Rechnung  eingeführt  wird. 

E.  ScHüLTZE  (Andernach). 

V.  ScHRENCK-NoTziNQ.     DcF  Fall  Sauter.     (Hordfersnch  and  snggerirte  An- 
stiftang  zu  neanfachem  Horde.)    Zeitschr.  f.  Hypnotismus  9  (6),  321—352. 

.       1900. 

Vor  demselben  oberbayerischen  Schwurgerichte  in  München,  vor  dem 
im  Jahre  1896  der  Fall  Czynski,  im  Jahre  1896  der  Fall  Berchtold  zur  Ver- 
handlung kam,  wurde  am  2.  Oct.  1899  ein  Procefs  verhandelt,  bei  dem  die 
Angeklagte,  Kathabina  Sauter,  unter  dem  suggerirten  Einflüsse  einer  an- 
deren  Person  das  Strafgesetz  verletzt  hatte.  Es  hudelt  sich  am  die 
44jährige  Frau  eines  Metzgermeisters,  welche  des  versuchten  Mordes  an- 
geklagt war,  weil  sie  ihrem  Ehemanne  ein  nach  ihrer  Meinung  todbringende» 
Pulver  —  geschabte  Enzianwurzel  —  in  die  von  ihm  benutzten  Socken  ge- 
streut und  aufserdem  eine  Wahrsagerin,  Katharina  Gänzbaüer,  unter  Zu- 
sicherung einer  kleinen  Belohnung  aufgefordert  hatte,  noch  acht  weitere 
ihr  mifsliebige  Personen,  darunter  ihre  drei  Kinder,  aus  dem  Leben  zu 
schaffen,  v.  Schrenck-Notzinq  reproducirt  in  seinem  interessanten  Aufsatze- 
die  Anklageschrift,  die  Verhandlung  und  die  ausführlichen  Gutachten  der 
drei  Sachverständigen,  unter  denen  Verf.  sich  selbst  befand.  Die  Verhand- 
lung entrollt  das  typische  Bild  des  bekannten  Milieus,  in  dem  eine  raffi- 
nirte  Karten  schlägerin  und  Wahrsagerin  auf  der  einen,  eine  abergläubische, 
beschränkte  Person  auf  der  anderen  Seite  sich  gegenüberstehen.  Während 
der  eine  Sachverständige,  Prof.  Messerer,  die  Angeklagte  für  vollständig 
zurechnungsfähig  erklärte,  betonte  der  zweite  Sachverständige,  Oberarzt 
Dr.  VocKE,  dafs  die  freie  Willensbestimmung  zwar  nicht  ausgeschlossen 
gewesen  sei,  trotzdem  aber  die  Angeklagte  zweifellos  unter  dem  psychischen 
Bann  der  Wahrsagerin  gestanden  habe.  In  sehr  ausführlicher,  kritischer  und 
exact  psychologischer  Weise  zergliedert  dann  Verf.  selbst  den  körperlichen 
und  seelischen  Zustand  der  Angeklagten.  Auf  Grund  einer  einwandsfreien 
Analyse  kommt  er  zu  dem  Resultate :  „dafs  die  Angeklagte  an  einer  nervösen 
und  psychischen  Widerstandsunfähigkeit  im  Sinne  der  Hysterie  leide  in 
Folge  einer  offenbar  auf  erblicher  Anlage  beruhenden  neuropathi sehen  Dis- 
position, sowie  in  Folge  zahlreicher  schwerer  Unterleibsleiden  und  des  seit 
Vjo  Jahren  eingetretenen  Klimakteriums."  Die  Zurechnungsfähigkeit  der 
Fr.  Sauter  erschien  daher  nicht  aufgehoben,  wohl  aber  erheblich  herab- 
gesetzt. Das  Gericht  erkannte  unter  Würdigung  dieser  Ausführungen  auf 
Freisprechung.  Die  criminalpsychologischen  Bemerkungen,  die  Verf.  an 
diesen  Fall  knüpft,  sind  aufserordentlich  lesenswerth.  Der  Wunsch,  dafs 
die  Lehre  von  den  suggestiven  Erscheinungen  auch  auf  dem  Gebiete  der 


Literaturbericht.  295 

Criminalpsychologie  mehr  BerQcksichtignng  finden  möchte  als  hisher,  er> 
(icheint  durchaus  gerechtfertigt.  Nur  möchte  Ref.  den  Wunsch  hinzufügen, 
daüs  die  forensische  Bedeutung  der  Suggestionslehre  stets  so  kritisch  und 
wissenschaftlich-psychologisch  aufgefafst  werden  möge,  als  es  von  Seiten 
des  Verf/s  im  vorliegenden  Aufsatze  geschieht. 

L.  HiBSCHLAFF  (Berlin). 

Th.  Ziehen,    üeber  die  Bexiehnngen  der  Psychologie  nur  Psychiatrie.    Rede 

gehalten  bei  dem  Antritt  der  ord.  Professur  für  Psychiatrie  an  der  Uni- 
versität Utrecht  am  10.  Oct.  1900.    Jena,  G.  Fischer,  1900.    32  S. 

Ziehen  unterwirft  in  seiner  Antrittsrede  die  Beziehungen  der  Psycho- 
logie zur  Psychiatrie  einer  Besprechung,  und  es  ist  ihm  gelungen,  auf 
engem  Baum  und  trotz  aller  Kürze  vor  seinen  Zuhörern  ein  klares  Bild 
dieser  Beziehungen  aufzurollen  und  sie  von  der  Bedeutung ,  ja  mehr  noch 
von  der  Unentbehrlichkeit  der  Psychologie  zu  überzeugen. 

Für  die  Leser  dieser  Zeitschrift  bedarf  es  dieser  Belehrung  allerdings 
nicht  Aber  Ziehen  sprach  zu  Studenten,  und  die  Ueberzeugung  von  der 
Nothwendigkeit  experimentell  -  psychologischer  Untersuchungen  und  von 
psychologischen  Kenntnissen  überhaupt,  ist  eine  verhältnifsmäfsig  junge 
und  keineswegs  schon  überall  absolut  feststehende. 

Ziehen  hat  nun  mit  grofsem  Geschick  die  praktischen  Ergebnisse  her- 
vorgehoben und  gezeigt,  wie  man  die  Befunde  der  experimentellen  Methode 
mit  der  klinischen  Beobachtung  verbinden  und  sie  zur  Gewinnung  einer 
Diagnose  selbst  da  verwenden  kann,  wo  die  klinische  Beobachtung  allein 
ans  im  Stiche  läfst. 

DaTs  er  dabei  über  die  vielfachen  Schwierigkeiten  und  Längen  einer 
psychophysischen  Untersuchung  mit  leichter  Hand  hinweggeht,  soll  dem 
Zwecke  der  Anregung  zu  Gute  gehalten  werden. 

An  meiner  eigenen  Empfindung  kann  ich  gewissermaafsen  die  Beaction 
nachprüfen,  die  er  bei  seinen  Zuhörern  hervorgerufen  hat,  den  Wunsch 
nimlich,  dem  anregenden  Lehrer  in  die  geöffneten  Bahnen  zu  folgen  und 
reichen  Gewinn  daraus  zu  ziehen.  Pelman. 

Walter  Fuchs.    Die  Prophylaxe  in  der  Psychiatrie.    München,  Seitz  u.  Schauer, 

1900.    52  S.    Mk.  1.60. 

Heute  beansprucht  in  der  Behandlung  der  Krankheiten  die  Prophylaxe 

dank  unserer  erweiterten  Kenntnifs  über  das  Wesen  vieler  Leiden  mit  Recht 

mehr  Beachtung  denn  je.    Das  giebt  sich  auch  in  dem  rein  äufserlichen 

Umstand  kund,  dafs  ein  besonderes  Handbuch  der  Prophylaxe  von  Nobiling- 

Jaxkau  herausgegeben  wird,  von  dem  obige  Abhandlung  einen  Theil  darstellt. 

Die  Prophylaxe  in  der  Psychiatrie  wird  sich  hier  auf  den  Gesunden 

and  auf  den  bereits  Erkrankten  erstrecken;  im  ersteren  Falle  ist  sie  mehr 

^ache  des  Hausarztes,  im  letzteren  mehr  des  Psychiaters.    Der  Hausarzt 

kennt  die  ganze  Persönlichkeit  des  Individuums  am  besten,  und  sein  Wirken 

wird  um  so  erspriefslicher  sein,  je  gröfser  sein  psychiatrisches  Wissen  ist. 

Indem  Verf.  den  natürlichen  Werdegang  des  Individuums  von  der  Geburt 

an  verfolgt,  bespricht  er  die  einzelnen  Phasen  (Zeugung,  Schwangerschaft, 

Geburt,  Kindheit,  Pubertät,  Rückbildungsalter)  und  Punkte  (^Erziehung,  Be- 


296  Literaiurbericht. 

rufswahl),  die  in  Betracht  kommen.  Die  Besprechung  der  Prophylaxe  der 
schwer  Erkrankten  schliefst  sich  einmal  an  an  die  verschiedenen  Erank- 
heitsformen,  wobei  die  Entarteten  und  die  auf  dem  Boden  der  Entartung 
erwachsenen  Psychosen  besonders  eingehend  berücksichtigt  werden,  und 
dann  an  mannigfache,  besonders  in  die  Augen  springende  Symptome  von 
Geistesstörung  überhaupt. 

Gerade,  weil  es  uns  in  der  Therapie  der  Psychosen  an  speeifischen 
Heilmitteln  fehlt,  verdient  die  Prophylaxe  unsere  volle  Beachtung.  Freilich 
müfste,  um  sie  in  Wünschenswerther  Weise  zu  ermöglichen  und  durchzu- 
führen, der  Staat  einschreiten  und  im  Interesse  seiner  selbst  und  der  Ge- 
sunden zu  Maafsregeln  greifen,  die  selbst  für  Amerika  zu  hart  erscheinen. 

Die  klar  geschriebene  Abhandlung  ist  naturgemäfs  in  erster  Linie 
für  den  Arzt  bestimmt.  Gleichwohl  möchte  man  ihr  eine  weitere  Ver- 
breitung in  Laienkreisen  wünschen,  nicht  nur,  um  die  Eltern,  besonders 
die  Mütter  und  die  Lehrer  auf  ihre  Aufgaben  auch  nach  dieser  Richtung 
hin  und  die  dabei  zu  erzielenden  Erfolge  hinzuweisen,  als  auch,  um  dem 
alten  Institute  des  Hausarztes  als  eines  fachmännisch  vorgebildeten  Freundes 
und  Berathers  der  Familie  das  Wort  zu  reden. 

Ernst  Schültze  (Andernach). 

M.  Fbiedmann.    Ueber  Wahnideen  im  YSlkerleben.   Heft  VI  u.  VII  der  Gmiz- 

fragen  des  Nerven'  und  Seelenlebens,  herausgegeben  von  Löwenfeld  und 
Kürella.    Wiesbaden,  Bergmann,  1901.    100  S. 

In  der  geistigen  Geschichte  der  Menschheit  haben  wiederholt,  ja  eigent- 
lich zu  jeder  Zeit  Vorstellungen  in  grofsen  und  kleinen  Kreisen  eine  starke 
Herrschaft  ausgeübt,  welche  theils  in  ihrer  Folge  sich  grauenhaft  und  ver- 
derblich erwiesen  haben,  theils  mehr  lächerlich  und  kindisch  uns  anmuthen. 
Man  bezeichnet  sie  heute  ziemlich  allgemein  als  Wahnidee,  als  Wahngebilde 
im  Völkerleben,  und  man  hatte  sich  gewöhnt,  sie  direct  als  epidemische 
Geisteskrankheiten,  als  wirklichen  Wahnsinn  aufzufassen.  So  leitet  Fried- 
mann seine  Studie  über  Wahnidee  im  Völkerleben  ein,  um  sich  sofort  gegen 
diese  Anschauungsweise  zu  wenden. 

An  sich  sind  Psychosen  nicht  ansteckend,  und  eine  eigentliche  Geistes- 
störung kann  sich  nur  dort  entwickeln,  wo  bei  dem  einzelnen  Individuum 
der  Boden  durch  eine  specifische  constitutionelle  Anlage  geebnet  ist.  Mau 
kann  daher  eben  so  wenig  von  epidemischen  Geistesstörungen  reden,  wie 
etwa  von  einer  epidemischen  Gicht  oder  Diabetes,  und  wenn  wir  auch 
unter  den  Tausenden  und  Abertausenden  von  Besessenen  und  in  anderen 
Geistesepidemien  hin  und  wieder  auf  Geisteskranke  stofsen,  so  unterlag 
doch  die  Mehrzahl  einer  ganz  anderen  Störung. 

Ein  Verständnifs  für  diese  Störungen  ist  uns  erst  durch  die  Kenntnifs 
von  der  Suggestion  und  ihrer  Bedeutung  im  Volksleben  aufgegangen,  und 
Suggestion,  Nervosität  und  Hysterie  heifsen  die  drei  Factoren,  die  hier  un- 
beschränkt zur  Wirkung  kommen.  Diese  suggestive  Wirkung  einer  Idee 
wird  sich  um  so  üppiger  entfalten,  je  mehr  sie  auf  die  festgefügte  Asso- 
ciation einer  vorgebildeten  Ueberzeugung  trifft,  und  eine  je  geringere  in- 
tellectuelle  Hemmung  und  keine  contrastirende  Vorstellung  ihr  gegen- 
übersteht. 


Literaturbericht  297 

Wir  sehen  nun,  wie  überall  und  zu  allen  Zeiten  im  Leben  der  Völker 
derselbe  Aberglaube  wirksam  ist  und  bis  auf  den  heutigen  Tag  als  Unter- 
fftrömung,  als  ein  früher  erworbener  und  daher  festerer  Besitz  jede  spätere 
religiöse  Bewegung  begleitet  und  durchzieht.  Bei  dieser  Uebereinstimmung 
bedarf  es  nur  eines  verhältnifsmäfsig  kleinen  Anstofses,  um  ganze  Massen 
nach  der  gleichen  Richtung  hin  in  Bewegung  zu  setzen  und  zu  Handlungen 
ansofachen,  die  der  Einzelne  nicht  unternommen  hätte. 

Mit  der  zunehmenden  Bewegung  der  Masse  steigert  sich  die  Erregbar- 
keit des  Einzelnen,  und  die  Suggestion  wächst  zur  krankhaften  Nachahmung, 
ZQ  hypnotischen  nnd  exstatischen  Zuständen  hervor,  die  überreizte  Phan- 
tasie ergeht  sich  in  Bildern  von  visionärer  Deutlichkeit,  und  es  kommt  zu 
iTfthren  Paroxismen,  zu  rein  automatischen  Handlungen. 

Die  Geschichte  liefert  hierfür  zahllose  Beispiele,  und  es  gelingt  un- 
schwer, an  der  Hand  dieser  Beispiele  die  Richtigkeit  der  vorstehenden  £r- 
klämngsart  zu  beweisen.  Dafs  wir  es  hierbei  kaum  nöthig  haben,  in  die 
Vergangenheit  zurückzugreifen,  dafs  uns  auch  die  Gegenwart  hinreichendes 
Material  zur  Verfügung  stellt,  hat  eigentlich  etwas  Beschämendes. 

Wenn  wir  aber  die  Erregung  der  Masse  betrachten,  wie  sie  z.  B.  noch 
Tor  Kurzem  in  Konitz  stattgefunden  hat,  und  wie  sie  sich  morgen  in  einem 
beliebigen  anderen  Orte  wiederholen  kann,  dann  werden  wir  finden,  wie 
e«  stets  derselbe  Boden  ist,  auf  dem  sich  diese  Sumpfpflanze  entwickelt. 

Unter  anderem  Aberglauben  steckt  auch  der  des  Ritualmordes  dem 
Volke  so  tief  im  Blute,  dafs  es  nur  eines  Anstofses  bedarf,  um  zur  vollsten 
üeberzeugung  aufzulodern,  die  ebenso  wie  vormals  bei  den  Hexenprocessen 
gegen  die  Beschuldigten  keine  Untersuchung,  sondern  einen  wirklichen, 
blutigen  Krieg  führt.  Diese  üeberzeugung  bedarf  keiner  logischen  Be- 
gründung, und  so  lange  die  Erregung  anhält  ist  es  unmöglich,  mit  Gründen 
der  Vernunft  gegen  sie  vorzugehen. 

Friedmann  hofft  von  einer  besonnenen  Handhabung  der  Vernunft  und 
einer  Erziehung  des  Volkes  zu   einer  verständigen  Weltanschauung  eine 
Besserung.    Gewifs  wäre  es  von  dem  allerhöchsten  Werthe,  wenn  wir  die 
thörichten  Ideen  der  Masse  durch  bessere  ersetzten  könnten.    Vorderhand 
aber  wird  dies  noch  auf  lange  hinaus  ein  frommer  Wunsch  bleiben,  und 
da  wir  uns  darauf  gefafst  machen  müssen,  auch  fernerhin  im  Völkerleben 
auf  Wahnideen   zu   stofsen,   so   ist  es  von  Werth,  ihr  Wesen  an  hervor- 
ragenden Beispielen  zu  studiren  und  uns  einen  Einblick  in  ihren  Organis- 
jnus  zu  verschaffen,  wozu  uns  Friedmann  hier  eine  günstige  Gelegenheit 
geboten  hat.  Pelman. 

BicuHOLz.    Aufgaben  bei  Beartheilong  Imbeciller.    Allgem.  Zeitschr,  f.  Psychiatr. 

u.  jjsychisch-gerichtl.  Medicin  57,  340—396.     1900. 

Die  Arbeit  befafst  sich  vorzugsweise  mit  den  leichteren  Formen  des 
angeborenen  Schwachsinns,  die  gerade  wegen  der  fliefsenden  Uebergänge 
zar  Breite  des  Normalen  im  Gegensatz  zu  der  scharfen  Scheidelinie,  die 
das  Gesetz  vorschreibt, .  dem  Gutachter  besondere  Schwierigkeiten  bereiten. 
Die  Grenze  zwischen  krankhafter  geistiger  Schwäche  und  mangelhafter 
Begabung  ist  nicht  identisch  mit  der  vom  Gesetz  durch  den  §  51  Str.G.B. 


298  lAteraturbericht 

verlangten  Linie,  vielmehr  mufs  letztere  noch  eine  Strecke  in  das  Gebiet 
der  krankhaften  Schwäche  hinein  verschoben  werden. 

Besonders  heikel  sind  die  von  B.  anschaulich  geschilderten  Fälle,  in 
denen  der  Imbecille  auffallend  viel  Wissen  aufgespeichert  hat,  das  er  je- 
doch nicht  zu  verarbeiten  versteht.  Meist  tritt  dabei  ein  Mangel  an  den 
entsprechenden,  begleitenden  Gefühlstönen  zu  Tage;  zugleich  herrschen 
niedere  Gefühle  vor,  die  auf  dem  Nahrungs-  und  Geschlechtstrieb  beruhen. 

Bei  der  Begutachtung  ist  die  ganze  Entwickelung  des  Falls  zu  berück- 
sichtigen, vor  Allem  die  Verhältnisse  der  Erblichkeit,  die  Umstände  der 
Geburt  und  das  Auftreten  der  frühesten  Störungen,  dann  die  Leistungen 
der  Schulzeit  und  die  Vorgänge  des  Pubertätsalters.  Aus  der  Anamnese 
ergeben  sich  oft  schon  Anhaltspunkte  für  den  vorwiegenden  Egoismus,  die 
Selbstüberschätzung,  die  ethischen  Defecte. 

Die  Zustandsprüfung  mufs  eingehend  die  intellectuellen  Fähigkeiten, 
den  Wissensschatz  und  die  Merkfähigkeit  für  neue  Eindrücke  prüfen, 
fernerhin  die  Aufmerksamkeit,  die  Begriffsbildung  und  die  Urtheilsfähigkeit 

In  irgendwie  zweifelhaften  Fällen  ist  klinische  Beobachtung  zu  ver- 
langen. Kein  bestimmter  Symptomencomplex  giebt  den  Ausschlag  für  die 
Anwendbarkeit  der  Grenze  des  §  51,  vielmehr  mufs  die  Gesammtheit  der 
psychischen  Erscheinungen  im  Auge  behalten  werden.  Neben  den  intellec- 
tuellen Defecten  sind  ganz  besonders  die  gemüthlichen  Mängel  zu  betonen. 
Laien  fassen  oft  fehlerhafterweise  irgendwelche  Raffinirtheit  bei  der  Be- 
gehung der  That  als  Beweis  gegen  die  Annahme  des  Schwachsinns  auf. 

Gerichtlich  können  in  Bezug  auf  Schwachsinnige  wohl  alle  möglichen 
Paragraphen  des  Strafgesetzbuchs  in  Betracht  kommen,  aber  doch  handelt 
es  sich  vorzugsweise  um  bestimmte  Delicte:  Vagabundage,  Entwendung, 
Diebstahl,  Unterschlagung,  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt,  Sittlichkeits- 
verbrechen, besonders  gegen  Minderjährige,  Päderastie,  Sodomie.  Vorzugs- 
weise Subordinationsvergehen  beim  Militär  bilden  oft  den  ersten  Anlafs 
zur  Erscheinung  angeborener  Schwachsinnszustände  leichteren  Grades. 

Manchmal  gelangt  §  56  zur  Geltung,  der  bei  Personen  unter  18  Jahren 
den  Nachweis  der  zur  Erkenntnifs  der  Strafbarkeit  einer  Handlung  erforder- 
lichen Einsicht  verlangt.  Grelegentlich  steht  auch  §  176  in  Frage,  der  den 
Beischlaf  mit  willenlosen  oder  geisteskranken  Frauenspersonen  betrifft. 

Givilrechtlich  ist  zu  betonen,  dafs  Imbecillität  wohl  im  ärztlichen  Sinne 
vielfach  als  Schwachsinn  oder  Geistesschwäche  bezeichnet  wird,  womit 
aber  nicht  die  Geistesschwäche  des  §  6  B.G.B.  gemeint  ist.  Bei  stärkeren 
Defecten,  vor  Allem  auch  auf  moralischem  Gebiet,  empfiehlt  B.  die  Ent- 
mündigung wegen  Geisteskrankheit.  Nur  sehr  leichte  Fälle  lassen  Ent- 
mündigung wegen  Geistesschwäche  zu,  während  die  auf  geistig  gebrech- 
liche Personen  anwendbare  Pflegschaft  des  §  1910  nach  der  Ansicht  von  B. 
nur  ganz  aufserordentlich  selten  angewandt  werden  darf. 

Es  war  dem  Zweck  der  besprochenen  Untersuchung,  die  ein  Referat 
in  einer  Psychiatorv'ersammlung  darstellt,  durchaus  entsprechend,  dafs  die 
complicirte  Frage  nach  den  Beziehungen  zwischen  der  angeborenen  Geistes- 
schwäche und  dem  Delinquente  nato  aufser  Betracht  blieben.  Im  Uebrigen 
ist  die  Darstellung  der  schwierigea  Stellungnahme  zwischen  klinischer  und 
gerichtlicher  Betrachtung  des  angeborenen  Schwachsinns  anschaulich  and 


Literaturbericht  299 

erHchöpfend  darchgeführt.  Vielleicht  hätten  die  mannigfachen  Versuche, 
intellectuelle  Defecte  durch  Fragebogen  und  mittels  psychophysischer 
Methoden  festzulegen,  noch  eine  Erwähnung  verdient.  Fernerhin  würde 
die  Frage  der  forensischen  Beurtheilung  eine  ungemeine  Erleichterung  er- 
fahren, wenn  die  moderne,  segensreiche  Bewegung  der  Hülfsschulen  allge- 
mein aufgenommen  würde,  welche  für  minderbeanlagte  Kinder  bestimmt 
sind  und  ihren  Schulgang  mit  einem  auch  die  psychischen  Leistungen 
berücksichtigenden  Gesundheitsschein  begleiten,  der  bei  späteren  Con- 
flicten  ein  äufserst  werthvolles  Actenstück  zur  Feststellung  angeborener 
geistiger  Defecte  darbieten  wird. 

In  der  fast  völligen  Abweisung  der  Pflegschaft  (§  1910  B.G.B.)  für 
Oreirtesschwäche  stimmt  Ref.  nicht  mit  dem  Verf.  überein;  in  einzelnen 
Fällen,  besonders  bei  anergetischen  Imbecillen,  hält  er  diese  Form  mildester 
gesetzlicher  Fürsorge  vielmehr  ab  und  zu  für  ganz  angebracht,  so  z.  B.  wenn 
eine  schwach  beanlagte  Person,  die  Jahre  lang  im  Schutz  der  Familie,  bei 
Eltern,  Gatten  oder  Geschwistern  lebte,  in  vorgerückten  Jahren  durch 
Tod  der  Angehörigen  plötzlich  auf  sich  allein  angewiesen  ist. 

Weyoandt  (Würzburg). 

G.  Ofiia.   Osservasioiii  Aosologiche  e  cliniche  sol  cosi  detto  „delirio  di  Aega* 

Xione".    Rivist^i  speriment^ile  di  fre^iiatria  28,  1—29.    1900. 
Obici,  der  in  seinen  Anschauungen  Kraepelin  aufserordentlich  nahe- 
steht, hält  die  nihilistischen  Ideen  für  eine  Erscheinung,  die  zwar  in  den 
verschiedensten  Formen  geistiger  Erkrankungen  sich  zeigen  kann,  haupt- 
sächlich aber  in  solchen,  die  auf  Involutions-  und  Degenerationsprocessen 
beruhen.     Am  meisten  zusammenhängend  und   systematisirt  (CoTARD*sche 
Krankheit)  sind  diese  Verneinungs-  und  Vernichtungsideen  in  den  Melan- 
cholien  des  Rückbildungsalters;   bei  der  periodischen  Melancholie  treten 
iie  erst  in  höherem  Alter  stark  in  den  Vordergrund.    Die  Melancholie  des 
Käckbildungsalters,  deren  Sonderexistenz  Obici  mit  Kraepelin  annimmt,  ist 
ein  Zeichen  der  beginnenden  Abnahme  der  Geisteskräfte.     Der  Verf.  be- 
nutzt weiter  seine  Beobachtungen  um  der  Frage  der  Paranoia  näher  zu 
treten.    Chronische,  systematisirte  Verfolgungsideen  entstehen  nur  auf  dem 
Boden  einer  tiefgreifenden  Veränderung  der  Persönlichkeit  und  einer  ün- 
znlänglichkeit  der  Intelligenz.    Dagegen  pflegt  die  geistige  Schwäche  bei 
der  Paranoia  im  engsten  Sinne  nicht  fortzuschreiten,   während  bei  jugend- 
lichen Individuen  (Dementia  praecox)  ein  vollständiger  Verfall  der  Geistes- 
kräfte eintritt.  Ascuaffenbüro  (^Halle). 

X.  Vaschide  e  L.  Marchaud.    Ufflcio  che  le  condizioni  mentali  hanno  stille 
modüetzioiii  della  respirazione  e  della  circolazione  perlferlca.     Rivista 

sperimeutale  di  freniatria  20,  512 — 528.  1900. 
Die  Verff.  haben  Gelegenheit  gehabt,  einen  ungewöhnlich  ausgeprägten 
Fall  von  Erythrophobie  (Erröthungsfurcht)  genauer  zu  untersuchen.  Bei 
dem  Kranken  genügte  schon  der  Gedanke,  dafs  Jemand  das  Zimmer  be- 
treten könne,  ja  schon  allein  ein  Blick  in  den  Spiegel,  um  lebhafteste 
Angstempfindungen  wachzurufen.  Er  hatte  die  Erfahrung  gemacht,  dafs 
Absinth  diese  Angstzustände  erleichterte,  und   war  dadurch  zum  Trinker 


300  Literaturbericht 

geworden.  Untersucht  wurden  mit  graphischen  Methoden  die  Athmung,  der 
Radial-  und  Capillarpuls,  der  Blutdruck  und  die  dynamometrische  Leistung. 
Die  Unterschiede  ^wischen  dem  Normalzustand  und  der  Erregung  durch 
die  Erröthungsangst,  sowie  die  kaum  merkhare  Beeinflussung,  sobald  der 
Kranke  Absinth  getrunken  hatte,  sind  in  Curven  wiedergegeben  und  sehr 
deutlich.    Der  Fall  beweist  die  psychische  Genese  der  Erröthungsfurcht. 

ASCHAFFENBUBG  (Halle). 


P.  J.  MöBius.  Ueber  Entartang.  Heft  ni  der  Grenzfragen  des  Nerven-  und 
SeelenlehenSj  herausgeg.  v.  Löwenfeld  u.  Kurella.  Wiesbaden,  J.  F.  Berg- 
mann.   Mk.  1. — .    1900. 

Ein  anziehend  und  anregend  geschriebener  Essay  über  Entartung. 
Unter  ihr  versteht  M.  die  Abweichung  vom  Typus  im  ungünstigen  Sinne, 
wenn  sie  nur  von  gewisser  Gröfse,  wesentlich  und  dauernd  ist.  Die  Ab- 
weichung mufs  die  Nachkommenschaft  schädigen  können.  Die  Entartung 
kann  ererbt  oder  erworben  sein.  Im  letzteren  Falle  ist  die  Möglichkeit  der 
Vererbung  gebunden  an  die  gleichzeitig  bedingte  Veränderung  der  Keim- 
drüsen. Der  Einflufs  der  erworbenen  Entartung  auf  die  Nachkommenschaft 
erlischt  aber  auf  die  Dauer  durch  die  Zuführung  frischen  Blutes.  Unsere 
Kenntnisse  hinsichtlich  der  ererbten  Entartung  sind  weniger  sicher.  Von 
der  Entartung  wird  am  häufigsten  das  Nervensystem  betroffen;  dabei  in- 
teressiren  uns  auch  noch  andere  Veränderungen  als  Signale  einer  abnormen 
Gehifnbeschaffenheit. 

Im  concreten  Falle  mufs  man  erstens  die  Abweichungen  und  zweitens 
ihre  Bedeutung  feststellen.  Die  Grenzen  der  Normalen  lassen  sich  aber 
bei  der  individuellen  Verschiedenheit  nur  schwer  ermitteln,  und  das  gilt 
insbesondere  in  geistiger  Beziehung.  Für  die  körperlichen  Abweichungen 
kann  man  schon  einen  Kanon  aufstellen  und  hat  es  nach  dieser  oder  jener 
Richtung  hin  gethan.  An  einer  Proportionslehre  der  geistigen  Fähigkeiten, 
die  übrigens  den  verschiedenen  Geschlechtern,  Altersstufen,  Berufsarteu  etc. 
Rechnung  tragen  und  mehr  die  Triebe  als  die  sog.  rein  intellectuellen 
Leistungen  berücksichtigen  müfste,  fehlt  es  uns  aber  noch.  An  einem 
Beispiele  leichter  Entartung  zeigt  M.  des  Ausführlicheren,  wie  die  Bedeu- 
tung einzelner  Abnormitäten  untersucht  werden  kann  und  welche  Fülle 
von  Fragen  dabei  dem  Untersucher  entgegentritt. 

Beim  Geisteszustand  der  Entarteten  unterscheidet  M.  mit  Maonan  den 
Geisteszustand,  das  labile  Gleichgewicht,  die  Disharmonie  oder  Instabilität 
auf  der  einen  Seite  und  auf  der  anderen  die  auf  jener  erwachsenen  secun- 
dären  Symptome,  die  Syndrome,  die  als  Formen  geistiger  Störung  bekannt 
sind,  wie  die  Paranoia,  das  intermittirende  Irresein,  die  Obsessions  der 
Franzosen  u.  s.  w.  Einer  richtigen  Auffassung  des  Wesens  der  Instabilität 
steht  vielfach  noch  die  verbreitete  Anschauung  von  der  „Einheit  der 
geistigen  Thätigkeit"  hindernd  im  Wege.  Der  Charakter  des  Menschen 
ist  aber  keine  Einheit.  Die  einzelnen  Eigenschaften  haben  vielmehr  eine 
gewisse  Selbständigkeit,  und  dem  entspricht  auch  die  Anschauung  und 
Sprache  des  Volkes.  Von  ihnen  unterscheidet  sich  das  wissenschaftliche  Ver- 
fahren nur  durch  gröfsere  Sorgfalt  und  Vollständigkeit.    Die  Disharmonie 


Literaturbericht  301 

beruht  im  GroDsen  und  Ganzen  mehr  auf  quantitativen  als  qualitativen 
Abweichungen,  und  Ueberschüsse  in  der  einen  Richtung  werden  Lücken 
in  der  anderen  entsprechen.  Zwei  Fragen,  die  nach  dem  verbrecherischen 
und  die  nach  dem  genialen  Menschen,  erregen  dabei  besonderes  Interesse. 

Ebnst  ScnuLTZE  (Andernach). 

Edcard  Reich.    Griminalität  und  Ältruismiu.    Studien  Aber  abnorme  Entwicke- 
Ing  und  nonnale  Gestaltung  des  Lebens  und  Wirkens  der  Gesellschaft. 

2  Bde.  490  bezw.  424  S.  Arnsberg,  F.  W.  Becker,  1900. 
Der  erste  Band  betrifft  die  Entwickelung  des  Verbrecherthums  und 
das  System  der  Verhütung,  der  zweite  die  Entwickelung  der  national-öco- 
Domischen  Idee  und  das  System  der  Gegenseitigkeit.  Entsprechend  dem 
Programm  der  vorliegenden  Zeitschrift  wird  es  genügen,  nur  auf  den  ersten 
Band  Bezug  zu  nehmen. 

Verf.  definirt  Verbrechen  als  diejenige  Handlung,  welche  mit  bewufstem 
Wollen  ausgeübt  das  Dasein  des  Nächsten  in  Gefahr  bringt,  und  zwar  das 
physische  ebenso  wie  das  moralische,  unmittelbar  oder  mittelbar.  Das 
gröfste  Verbrechen  ist  ihm  der  Krieg;  den  Krieg  verherrlichen  heifse  von 
TV'ahnsinn  befallen  oder  ein  gekaufter  Schurke  sein.  Er  bespricht  darauf 
die  ursächlichen  Factoren  des  Verbrecherthums  wie  den  Alkoholismus,  die 
psychische  Ansteckung,  das  gesellschaftliche  und  wirthschaftliche  Elend, 
Vernachlässigung  der  Erziehung,  Trägheit  und  Müfsiggang,  Ausschlufs  aus 
der  Gesellschaft,  den  Einflufs  des  Klimas,  der  Kasse,  Berufsarbeit,  Erblich- 
keit, des  Milieus,  der  Ehe,  der  Prostitution;  dann  erörtert  er  die  mannig- 
fachen körperlichen  und  psychischen  Abweichungen,  schildert  eingehender 
«iie  Verbrecher  gegen  das  Eigenthum  und  gegen  das  Leben  und  kommt 
schliefslich  auf  die  Verhütung  und  Heilung  des  Verbrecherthums.  Von 
den  heute  üblichen  Sühnen  und  Strafen  verspricht  auch  er  sich  nicht  das 
Geringste.  Neben  einer  Vertiefung  der  Religiosität  sowie  einer  wahren 
physischen  und  geistig-sittlichen  Erziehung  redet  er  vor  Allem  dem  üm- 
tansch  der  Güter  und  Dienste  allein  durch  den  Staat  das  AVort. 

In  vielen  Punkten  wird  man  mit  dem  Verf.  einer  Meinung  sein  können ; 
in  anderen  Punkten  —  und  deren  Zahl  ist  nicht  gering  —  wird  er  sicher- 
lich auf  energischen  Widerspruch  aus  den  Kreisen  der  Fachleute  rechnen 
Diflgsen-    Das    ist   beispielsweise   der  Fall,  wenn  er  dem  Mifsbrauch  des 
Quecksilbers,  des  Jods  etc.  eine  Rolle  bei  der  Entstehung  des  Verbrecher- 
thums zuspricht  oder  wenn  er  von  dem  bildenden  Wollen  der  Seele  schreibt 
und  so  die  bei  den  specifischen  Verbrechern  beobachteten  Abweichungen 
im  anatomischen  Bau  als  eine  Folge  des  Criminalismus  auffafst.    Auch  die 
Tuberkulose  soll  die  plastische  Seelenkraft  lähmen  und  so  zur  Vermehrung 
des  Verbrecherthums  beitragen.    „Der  Geist  des  Verbrechens  .  .  .  verhält 
sich  als  moralisches  Pestgift,  welches   physiognomisch   und  magisch  auch 
die  anderen  Gruppen  ansteckt".    Die  blofse  Anwesenheit  magisch  starker 
Verbrechematuren  genügt,  auf  magisch  schwache,  erblich  belastete  Naturen 
verhängnifsvollen  Einflufs  auszuüben,  durch  Stockwerke  und  Wände  hin- 
durch.   Der  magische  Einflufs  spielt  überhaupt  eine  grofse  Rolle,  auch  bei 
den    Arbeitern    der   Eisenindustrie.     Dem  Verbrecher   kommen  specifische 
Dnftstoffe  zu,  die  die  Effecte  des  Magischen  bedeutend  unterstützen.    Diese 


302  Literaturbericht 

Duftstoffe  werden  in  gröfserer  Menge  durch  Zersetzung  einer  eigenartigen 
Substanz  gebildet  und  ausgestofsen.  „Es  sind  ganz  einfach  Zustände  Ton 
Entartung,  und  es  ist  gleichgültig,  ob  letztere  vorwaltend  physisch  oder 
überwiegend  moralisch  sich  bekundet."  Gauner,  Heuchler,  Schurken,  Be- 
trüger stinken  teuflisch.  Auch  ohne  diesen  Duft  kann  das  Individuum  als 
Verbrecher  von  dem  Sensitiven  magisch  erkannt  werden.  Die  Fleisch- 
fresserei  soll  u.  A.  Neigung  zu  Gewaltthätigkeiten  und  cynischen  Hand- 
lungen erzeugen.  Er  spricht  von  einem  Wahnsinn  des  Morphium gebrauches. 
Das  möge  genügen.  Ernst  Schültze  (Andernach). 

O.  Anoiolella.   Solle  tendenze  snicide  negli  alienati  e  siUa  pslcologii  del 

SlicidlO.  Rivista  sperimentale  di  freniatria  26,  336—355.  1900. 
Angiolella  glaubt,  dafs  uns  die  Psychologie  des  Geisteskranken  werth- 
volle  Hinweise  für  die  Psychologie  der  socialen  Erscheinungen  geben  könne. 
In  gleicher  Weise,  wie  das  Verständnifs  des  Verbrechers  durch  die  Psy- 
chiatrie gewonnen  habe,  sei  aus  den  Selbstmordneigungen  Geisteskranker 
eine  Aufklärung  über  das  sociale  Phänomen  des  Selbstmordes  zu  versuchen. 
Er  veröffentlicht  zu  diesem  Zweck  die  Krankengeschichte  von  20  Geistee- 
kranken mit  Suicidneigungen  und  kommt  zu  folgenden  Schlüssen :  Die  Er- 
krankungen sind  entweder  mehr  melancholischer  oder  ängstlicher  Art  mit 
Verfolgungsideen;  demnach  die  Charakterveranlagung  der  Selbstmörder  — 
im  Gegensatz  zu  der  der  Verbrecher  —  mehr  eine  leidende.  Die  Versuche 
erfolgten  meist  impulsiv,  nicht  vorbedacht  und  vorbereitet;  es  gehört  folg- 
lich dazu  eine  gewisse  Lebhaftigkeit  des  Temperamentes.  Bei  2  Kranken 
mit  vorwiegend  paranoischen  Symptomen  war  der  Selbstmord  nicht  ernst 
gemeint,  diese  stehen  also  nicht  der  suicidalen  Veranlagung  nahe,  sondern 
der  verbrecherischen.  Selbstmord  und  Verbrechen  gehören  zu  den  de- 
generativen Formen  und  bilden  ein  Mittel  der  socialen  Auslese. 

ASCHAFFENBUBO. 

Samter.    Älkobolismis  und  Öffentliche  Ärmeiipflege.    Der  Alkoholismw  1  (3). 

1900.    257  S. 

Dafs  das  Trinken  als  mittelbare  oder  unmittelbare,  ausschliefsliche 
oder  mitwirkende  Ursache  der  Hülfsbedürftigkeit  in  zahllosen  Fällen  eine 
Rolle  spielt,  steht  fest.  Die  bisher  vorliegenden  statistischen  Ergebnisse 
können  aus  den  verschiedensten  Gründen  nicht  verwerthet  werden,  weil 
sie  weit  hinter  der  Wirklichkeit  zurückbleiben.  Die  bisherigen  gesetzlichen 
Maafsregeln  haben  nichts  genutzt.  Nun  hat  sich  aber  die  ErkenntniÜB 
Bahn  gebrochen,  dafs  die  Trunksucht  eine  Krankheit  ist,  die  eine  Behand- 
lung erfordert  und  in  mindestens  25%  der  Fälle  einer  Heilung  fähig  ist 
Daher  ist  die  Armenverwaltung,  falls  eine  durch  Trunksucht  bedingte 
armenrechtliche  Hülfsbedürftigkeit  vorliegt,  verpflichtet,  die  Kosten  für 
eine  Anstaltsbehandlung  des  Trunksüchtigen  aufzuwenden.  Diese  schon 
vorbauende  Thätigkeit  liegt  auch  durchaus  in  ihrem  fiskalischen  Interesse. 

Würde  sich  ein  solcher,  von  den  Medicinern  nur  mit  Freuden  zu  be- 
grüfsender  Standpunkt  auch  bei  anderen  Behörden  geltend  machen,  so  wäre 
damit  bald  die  Frage  gelöst,  mit  welchen  Geldern  die  Trinkerheilanstalten 
erbaut  werden  sollen.  Deren  bedürfen  wir  aber  dringend,  falls  überhaupt 
die  Möglichkeit  der  Entmündigung  wegen  Trunksucht  Nutzen  stiften  soll. 

"EiBS^T  ^CH.\i\*TZE  (Andernach). 


,\ 


Literaturbericht  303 

Wilhelm  Rüdbck.    Syphilis  nid  Gonorrlioe  vor  Gericht.   Die  sexnellen  Krank* 
hdtei  in  Ihrer  Jnriitlschen  Tragweite  nach  der  Rechtsprechnng  Dentsch- 
lands,  Oesterrelchs  nnd  der  Schwell.     Jena,  Hermann  Costenoble,  1900. 
148  S. 
Gegenüber  der  Syphilis  wurde  die  Bedeutung  der  Gonorrhoe  für  die 
Gesundheit   des   an  ihr  erkrankten   und   des  anderen  Ehegatten  vielfach 
unterschätzt.    Erst  den  Forschungen  der  letzten  Jahrzehnte  war  es  vorbe- 
halten, ihren  wahren  Werth  zu  erkennen.     Es  kommt  somit  beiden  Ge- 
schlechtskrankheiten   eine    ganz    gewaltige   und   weittragende    sociale   Be- 
deutung zu,  und  in  der  Hauptsache  wird  es,  wie  so  oft,  so  auch  hier  bei 
ihrer  wirksamen  Bekämpfung  auf  eine  geeignete  Prophylaxe  ankommen. 
8oweit  eine  solche  mit  den  heute  zu  Recht  bestehenden  Bestimmungen  des 
öffentlichen  und  bürgerlichen  Hechts  möglich  ist,  und  wie  sich  unter  ihrem 
EinflnÜB  die  Einwirkung  der  Geschlechtskrankheiten  auf  das  eheliche  Ver- 
hiltniCs  aufsert,   setzt  Verf.  in  einer  auch  dem  Nichtmediciner  verständ- 
lichen Weise  aus  einander,  unter  Heranziehung  vieler  einschlägiger  Bei- 
spiele.    Die   ünkenntnifs   der  verschiedenen    gesetzlichen  Bestimmungen 
trägt  die  Schuld  daran,  dafs  von  ihnen  im  praktischen  Leben  so  wenig 
Gebrauch  gemacht  wird,  und  dafs  von  Zeit  zu  Zeit  gesetzgeberische  Vor- 
schläge zur  Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten  auftauchen,  obwohl 
diese  kaum  mehr  leisten  als  die  schon  bestehenden  Vorschriften.    Ob  in 
Tirklichkeit  eine  Ehe  von  einem  Ehegatten  so  oft  angefochten  wird,  der 
um  die  bei  der  Eheschliefsung  bestehende  Geschlechtskrankheit  des  anderen 
Gatten  nicht  wufiste,  wie  Verf.  glaubt  und   auch  wohl  mit  Recht  wünscht, 
möchte  Ref.  bezweifeln. 

Dafs  bei  der  Therapie  der  Sexualleiden  der  Aberglaube  eine  grofse 
Bolle  mitspielt,  ist  bekannt,  und  die  Ansicht  ist  auch  heute  noch  weitver- 
breitet, dafs  das  beste  Mittel  gegen  solche  Affectionen  der  Beischlaf  mit  einem 
jungen,  unbescholtenen  Mädchen  ist.  Weniger  bekannt  dürfte  sein,  dafs 
dieser  Aberglaube  zu  den  verschiedensten  Zeiten  und  in  den  verschiedensten 
Ländern  sich  vorfindet.  Ernst  Schultze  (Andernach). 

A.  BASTiAif.    Die  ¥61kerkinde  und  der  ¥61kerverkebr  unter  seiner  Rfickwirkung 
aif  die  Yolksgescbicbte.   Ein  Beitrag  znr  Volks-  nnd  Menschenkunde.    171  s. 

Berlin,  Weidemann'sche  Buchhandlung,  1900. 
In  seinem  bekannten,  jeder  Beschreibung  spottenden  Stile,  der  ein 
seltsames  Gemisch  darstellt  von  streng  wissenschaftlichen  Anschauungen 
und  grenzenlos  trivialen  Redensarten,  und  der  den  Leser  an  den  meisten 
Stellen  wie  eine  mifslungene  Uebersetzung  aus  dem  Chinesischen  anmuthet, 
behandelt  der  greise  Verf.  das  gesammte  Stoffgebiet  der  Anthropologie  und 
Ethnologie  im  Abrifs.  Von  der  Erschaffung  der  Welt  bis  zum  neuesten 
Berliner  Giftmordprocefs  Jaenicke  giebt  es  kein  Problem,  das  er  nicht, 
mindestens  in  einigen  Klammern  oder  Anmerkungen,  zur  Sprache  bringt; 
und  das  „feinest  zerkrümelte  Lebewesen"  bis  zum  Pithecanthropus  erectus, 
der  „Wildling"  bis  zum  „Uebermenschen  in  modernster  Frisur**  wird  mit 
gleicher,  unparteiischer  Liebe  zum  Gegenstande  der  Betrachtungen  gemacht. 
Dabei  ist  es  völlig  gleichgültig,  ob  es  sich  um  wissenschaftliche  Erfahrungen 
handelt,  oder  um  die  ältesten,  naivsten  und  unmöglichsten  Anschauungen, 


304 


'-^    «.>*»v 


kuaufln.   mit:   #fl*-   ,:,   *■. ir*-- .iiifsö.  r':naaAäL  —  i^  knoM    nnd  graufle) 
-^t^uwel^i*•ter-     «    '^'kz    i.ti«  *r_zi*r  iziiüraL    3WCi-5ÜjK*:h«i    Weh   —  die 
Literat  nr  c  üt  .  L:.  -  *  'z*z.    :  •■  1  li^r>*-':  Ir*  ii3i_3ii*r.  :•?-:  r»»rxiiafs  Terkrflppelter 
KurzattLiieke::  "     '•*'**    i_^  Xrcir>i*  -iirr  iiXiir:c*:i>:tEidvb«i  FoTscbnng  an- 
btrlansrt,   «:*  jrLz.:   rr    il-*-  r  .'^ "  _.  - 1*.-  7."*  -.«■  •  '*»»  St^s^iilas*:-«!  ab  ZtZ^i  empfiehlt  die 
iiaiurmis«*r:*^.i.Ai-.l:  i*.  . :  :LTaTxrT-r*c.-KLf.:l*  Mrti.i?.  .r^trSamrforscher-, 
HO  erklän  tr.  .Li.:  '^:  .v-^^-^-  n  T^r:.>f:.Ki.  r-K  fei=*r   Mutter   Xatur, 
ohntf  mit  .>.:Lii-     .i^_z  .LZri  i-  A^La^^icl  x*ifcL«r=.  Helene    xu  buhlen, 
Wfil  IfgiiiiiL   l-rrr:i»     er:   iia  Er*-:  ni:  ier-et.    i:^  -iirrh  Xaznensbereich- 
nuiijr   «hvn    cr-iiTriirxr-:  i-r-T   si-i.   al*   üir?   ,L:*>Lah*r-     Philo  »ophen  .- 
Ktwas  freur..!::  Ler  «-.^1:   -irr  V^rf.  der  Psyibx^re  ««saber.    Er  nennt 
sif  dt-r  AntLr  >. :  -rir-   .>ri*ere   Hilf:^*  i=.i  iiefir^:««  «iu  Studium  der 
MTflisK-hm   En:T:.kr:-:ir    öer  XarzirT.i.lker.    ii*:*Si:c-iere   der  Entstehung 
ihrer   rriici'.-sen  Ar.«- :ii--::iren,  ari^r  ■•hne  ,-iiJ*  ein*  the»:«»>phi»che  Ethik 
ihren   Sen:   Linz-rr'-r::   «ilrfr-.     I»;r  sj^ridaiive,  rad-rsjhle  und  mTstische 
P^y ^ h.-ii..rle  Yrnrirf:  er.  -ni  l-rkenni  #::b  xz.  der  Ac2a«!Siing.  die  Rehiiee, 
LiJBiy'.-HAr*  un«i  Avfv^i::"«  vrnreten.    .Bcnt  sohillers  und  flimmert  es  in 
dtrii  Vi.lkeri^-ianker..  -äLier  cea  GIol-u«  hin,  :n  Iniferenjirungen  gebrochen; 
aWr  harmonisch  ^- hw:n:n-:  e*  rusammen,  wenn  'aus   Hzucholtz's    akusto- 
optischer    Onoi.rdanz     in    -Farbienacconien-     s.    üy^tz     dem    Auge     auf 
'.Ca stell'?    -FarlienL-iavier-    musicirt   wird    im  Ailerweirsconcert ,  und  der 
Menschheit    ihr   <fe*lanie    zum    Aas<lruek    kommt    jetiem   Menschen    und 
Mensohlein  der  seine  ."     Auf  dieser  «irun^ilage  f'.«n1ert  B.  zur  Mitarbeit  an 
den   Problemen   der   Eti:nOi"2ie   und   Anthrop-C'logie  auf.     Denn   .nicht  zu 
(t  et  räum    und    quietistist^hem    .Schiafgedusel    ist    der    Mensch    erschaffen, 
tJondern  um  selbst thäti^  mitzuschaffen  am  -Bau  der  Ewiekeiten"    in   des 
l>ii'hters  Lied  .-     Es  ist   unm»:.;jlich,   im  Rahmen  eines  Referates  von   der 
^  iel8eiti>;keit  der  Ge^ianken,  die  Verf.  zur  Darstellung  bringt,  einen  Begriff 
r.u  jrobon.    Ji*«lenfalls  ist  diese  Darstellung  selbst  ein  so  eigenartiges  Durch- 
einander von  lielehrsamkeit  und  «Geschmacklosigkeit  in  ihrer  -letzt  höchsten* 
'  tei^erunj;.  dafs  die  Lektüre  des  Werkes  nur  Denjenigen  empfohlen  werden 
kann,  die  für  llindernirsrennen  auf  dem  Gebiete  der  Sprachverständigung 
das  KenüKcnde  Verständnifs  besitzen.  L.  Hirschlaff    Berlin  . 


Bericht  igmng. 


In  dem  vnii  mir  im  vorliegenden  Bande  flicser  Zeitschrift  auf  S.  1:^1 
verfalHten  Kefcrate  ülu.r  die  Arbeit  Tschermaks  ^Beobachtungen  über  die 
relative  Karl>enl)lindheit  im  indirecten  Sehen"  ist  auf  Zeile  20  statt  der 
Worte  ^Klei<-lie  WeiiHvalenz  un<i  Helligkeit-  zu  lesen  ^gleiche  Weifsvalenz 
imi  chromaÜHclie  Aeciuivaienz".  G.  Abelsdorff  (Berlins 


/ 


Untersuchungen  über  psychische  Hemmung. 

Von 
G.  Heymans. 

Zweiter  Artikel.^ 

Inhalt.  Seite 

ni.  Die  Verdrängung  von  Empfindungen  durch  andere, 
qualitativ  gleiche,  aber  local  von  jenen  verschie- 
dene Empfindungen 305 

1.  Druckempfindungen 306 

2.  Lichtempfindungen 321 

IV.  Folgerungen 335 

1.  Die  Beziehung  zwischen  Reiz  und  Empfindung 335 

2.  Die  Verdrängung  von  ünterschiedsempfindungen  durch 
Empfindungen  (das  WEBER'sche  Gesetz)       341 

3.  Die  Abschwächung  von  ünterschiedsempfindungen  durch 
Empfindungen  (die  MERKEL'schen  und  AMENT'schen  Ver- 
suche)    358 


III.  Die  Terdrängnug  Ton  Empfindungen  durch 
andere,  qualitatir  gleiche,  aber  local  yon  jenen  yerschiedene 

Empfindungen. 

Auch  hier  richtete  sich  die  Untersuchung  auf  die  Fest- 
stellung der  durch  gleichzeitig  einwirkende  Reize  verursachten 
Erhöhung  der  Reizschwelle  für   bestimmte  Empfindungen;  statt 


>  8.  duse  Zeitschrift  21,  321—359. 
Zeitschrift  für  Psychologie  26. 


20 


306  O.  Heymans. 

aber  Activ-  und  Passivreize  von  verschiedener  Qualität  gemischt 
auf  Einen  Theil  der  entsprechenden  Sinnesfläche  einwirken  zu 
lassen,  wurden  jetzt  verschiedene  Theile  einer  Sinnesfläche  durch 
Activ-  und  Passivreize  gleicher  QuaUtät  getroffen.  Es  eignen 
sich  zu  dieser  Untersuchung  hauptsächUch  zwei  Sinnesgebiete: 
diejenigen  der  Druck-  und  der  Lichtempfindungen. 


1.  Druckempfindungen. 

Der  Apparat,  mittels  dessen  die  einschlägigen  Hemmungs- 
verhältnisse untersucht  wurden,   war  folgenderweise  eingerichtet 

(Fig.  1). 

Ein  am  Rande  des  Experimentirti3ches  festgeschraubtes 
Holzbrett  trägt  erstens  drei  feste  Stative  ABC  mit  Metallkapseln, 
in  welchen  zwei  horizontale  MetaUachsen  DE  frei  und  xmab- 
hängig  von  einander  drehen  können.  An  jeder  Achse  ist  in 
beliebig  variirbarer  Entfernung  von  den  Stativen  ein  Hebel  be- 
festigt; einer  derselben  FG  trägt  an  einem  Arme  eine  Schale  G 
mit  Pelotte,  am  anderen  ein  verstellbares  Laufgewicht  jP,  mittels 
dessen  der  Hebel  bei  unbeschwerter  Schale  in  einen  Zustand 
indifferenten  Gleichgewichts  gebracht  werden  kann;  der  zweite 
Hebel  HI  besteht  aus  zwei  Armen  von  ungleichem  Gewichte, 
von  denen  der  schwerere  /  ein  an  dünnen  Seidenfädeu  aufge- 
hängtes Papierschälchen  trägt.  Pelotte  und  Papierschälchen  lassen 
sich  über  eine  Strecke  von  etwa  1  cm  auf-  und  niederschrauben. 
Bei  den  Versuchen,  über  welche  hier  berichtet  werden  soll,  war 
der  Apparat  so  eingestellt,  dafs  das  halbkugelförmig  abgerundete 
imtere  Ende  der  Pelotte  und  die  Untenseite  des  Papierschälchens 
sich  in  gleicher  Höhe  befanden;  während  die  horizontale  Ent- 
fernung zwischen  denselben  zunächst  constant  4  cm  betrug. 
Unter  denselben  lag  auf  einem  mit  Stellschrauben  versehenen 
Brettchen  in  einem  genau  passenden  Gypsabgufs  die  Hand  der 
Versuchsperson,  deren  Vorderarm  in  bequemer  Lage  auf  einem 
Polster  ruhte.  Wurden  also  die  in  der  Figur  rechts  liegenden, 
mit  beliebigen  Gewichten  beschwerten  Hebelarme  gleichzeitig 
niedergelassen,  so  wurde  der  Handrücken  an  zwei,  4  cm  von 
einander  entfernten  Stellen  gleichzeitig  gedruckt,  und  es  konnte 
durch  Variiren  der  Gewichte  untersucht  werden,  inwiefern  die 
Merklichkeit  des  einen  durch  das  gleichzeitige  Auftreten  des 
anderen  Druckes  beeinflufst  wurde.  —  Damit  ist  das  Princip  der 


Vtttertuchungen  Über  piychUche  Hemmung. 


307 


Versnchseinrichtmig  erkl&rt;  es  erübrigt  noch,  auf  einige  weitere 
MaafBnahmen  aufmerksam  zu  machen,  durch  welche  hauptsäch- 
lich möglichst«  Gleichheit  der  Umstände  and  möglichste  Aus- 


Fig.  1. 

schliefsung  störender  Factoren  gewährleistet  werden  sollte.  An 
erster  Stelle  muTste  dafür  gesorgt  werden,  die  eigentlichen  Druck- 
empfindungen von  begleitenden  Temperatur-  und  Berührungs- 
empfindungen (etwa  durch  Biegung  der  Hauthärchen  u.  dergl.) 

20« 


308  Ö-  Seymans. 

frei  ZU  erhalten,  oder  wenigstens  Variationen  der  beiden  letzteren 
auszuschliefsen ;  zu  diesem  Zwecke  wurden  Pelotte  und  Papier- 
•schälchen  nicht  unmittelbar  auf  die  Hand  der  Versuchsperson, 
sondern  auf  kleine,  während  einer  Versuchsreihe  auf  der  Hand 
liegen  bleibenden  Korkscheibchen,  deren  Durchmesser  15  mm 
und  deren  Dicke  3  mm  betrug,  niedergelassen ;  eine  Einrichtung, 
wodurch  aufserdem  noch  vollständige  Gleichheit  der  Druckflächen, 
über  welche  die  Einwirkungen  der  beiden  Gewichte  sich  ver- 
theilen,  gesichert  wurde.  Sodann  erschien  es  wünschenswerth, 
sowohl  die  Geschwindigkeit,  mit  welcher  Pelotte  und  Papier- 
schälchen  auf  die  Hand  niedergelassen  wurden,  als  die  Dauer 
des  von  denselben  ausgeübten  Druckes  constant  zu  erhalten; 
zu  diesem  Zwecke  wurde  der  Apparat  so  eingerichtet,  dafs  die 
betreffenden  Hebelbewegungen  nicht  durch  Manipulationen  des 
Experimentators,  sondern  durch  einen  einfachen  Mechanismus 
regulirt  wurden.  Es  sind  nämlich  auf  dem  oben  erwähnten 
Holzbrett  noch  zwei  weitere  Stative  K  L  angebracht,  zwischen 
welchen  ein  Metallreifen  M  um  eine  Längsseite  drehen  kann; 
diese  Drehung  besorgt  ein  etwa  80  cm  langes  und  1,7  kg  schweres 
Pendel  NO,  welches  mit  dem  Metallreifen  fest  verbunden  ist, 
und  seine  Drehungsachse  mit  demselben  gemein  hat.  Befindet 
sich  das  Pendel,  wie  in  der  Figur  dargestellt,  in  seinem  höchsten 
Stand  nach  rechts,  so  drückt  der  Metallreifen  M  die  darunter 
befindlichen  Hebelarme  nieder ;  macht  aber  jenes  eine  Schwingung 
von  rechts  nach  links,  so  läfst  dieser  Druck  nach,  und  die  Ge- 
wichte senken  sich  auf  die  unterliegende  Hand.  Indem  nun  bei 
jedem  Versuch  die  Höhenlage  der  Pelotte  und  des  Papier- 
schälchens  so  reguUrt  wird,  dafs  beide  die  auf  der  Hand  liegenden 
Korkscheibchen  beinahe  berühren,  tritt  der  doppelte  Druckreix 
sofort  ein,  nachdem  die  zunächst  vom  Experimentator  festge- 
haltene Pendelstange  losgelassen  wird,  und  dauert  fort,  bis  die 
zurückschwingende  Pendelstange  seinen  höchsten  Stand  wieder 
erreicht  hat,  und  hier  vom  Experimentator  aufgefangen  wird. 
Die  Einwirkung  der  Druckreize  auf  die  Hand  der  Versuchs- 
person dauert  also  so  lange  wie  eine  Doppelschwingung  des 
Pendels,  nämlich  etwas  mehr  als  Vj^  See;  sie  tritt  fast  momentan 
in  ihrer  vollen  Stärke  ein,  indem  einerseits  der  linke  Arm  des 
Hebels  FG  sogleich  beim  Anfang  der  Schwingung  durch  die 
Aufwärtsbewegung  der  darauf  drückenden  Kante  des  Metall- 
reifens von  der  Einwirkung  desselben  befreit  wird,   andererseits 


üntenuchungen  über  psychische  Hemmung.  309 

der  linke  Arm  des  Hebels  HI  jener  Aufwärtsbewegung  folgt, 
und  eine  Entspannung  der  Seidenfäden,  woran  das  Papier- 
schälchen  aufgehängt  ist,  zu  Stande  bringt ;  und  sie  hört  ebenso 
momentan  wieder  auf.  —  Schliefshch  ist  noch  zu  erwähnen,  dafs 
bei  sämmtlichen  hier  zu  besprechenden  Versuchen  die  Haut- 
stellen, auf  welche  die  Reize  einwirkten,  in  der  Längsachse  der 
Hand  lagen;  dergestalt,  dafs  das  leichtere,  auf  dem  Papier- 
schälchen  liegende  Gewicht  nahe  an  den  Fingerwurzeln,  das 
schwerere,  die  Pelotte  belastende  näher  am  Pulsgelenk  seinen 
Drack  ausübte.  Die  Einrichtung  des  Apparates  empfahl  die 
entsprechende  Handlage  als  die  bequemere  und  einfacher  herzu- 
stellende; doch  habe  ich  mich  durch  einige  Versuche  davon 
überzeugt,  dafs  bei  transversaler  Lage  der  Druckflächen  sich  die 
Resultate  im  w^esentlichen  identisch  gestalten. 

Gröfsere  Schwierigkeiten  als  die  Einrichtung  des  Apparates 
ergab    die    Wahl    der    Forschungsmethode.      Anfangs    war    die 
Methode    der   Minimaländerungen,    welche    bei   den    früher   be- 
sprochenen Versuchen   über  Schall-,   Farben-  und   Geschmacks- 
empfindungen  ausschhefslich   zur   Verwendung   gelangte,    auch 
für  das  jetzt  vorliegende   Gebiet  in  Aussicht  genommen;   bald 
jedoch  stellte  sich  heraus,  dafs  in  dieser  Weise  keine  irgendwie 
befriedigende  Resultate  zu   erreichen  waren.    Wurden  nämlich, 
wie  bei  den  Farben-   und  Schallempfindungen   geschah,   die  zu 
einer  Schwellenbestimmung  erforderten  einzelnen  Entscheidungen 
über  MerkUchkeit  oder  Unmerklichkeit  in  einem  Zuge  nachein- 
ander   absolvirt,    so    erwies    sich    die    bei    Druckempfindungen 
schneller  als  sonst  eintretende  Abstumpfung  als  äufserst  störend  :• 
je  nachdem   nämlich  aufsteigend   von   einem   schwächeren  oder 
stärkeren,  bezw.  absteigend  von  einem  stärkeren  oder  schwächeren 
Reize  ausgegangen  wurde,  ergaben  sich  bedeutend   höhere  oder 
niedrigere   Schwellenwerthe.    Wurden   dagegen,    wie  früher   bei 
den   Geschmacksempfindungen ,    die    einzelnen    Entscheidungen 
durch    längere   Zwischenzeiten  getrennt,    so   war  es   unmöglich, 
auch  nur  annähernd  die  unentbehrliche  Gleichheit  der  Umstände 
aufrecht  zu  erhalten.    Wärme  und  Kälte,  Arbeit  und  Ruhe,  be- 
quemere   oder  weniger   bequeme    Stellung   und  Handlage,   All- 
gemeinbefinden und  Stimmung  beeinflufsten  nämlich  die  Empfind- 
lichkeit   in    auffallendem    Grade;    demzufolge    es   vorkam,    dafs 
beispielsweise  ein  Reiz  mehrere  Male  als  unmerklich,  einen  Tag 
gpäter  aber  als  entschieden  übermerklich,   und  bei   bedeutender 


310  (^'  Heymans. 

Abschwächung  noch  immer  als  merklich  beurtheilt  wurde.  Unter 
solchen  Umständen  liefs  sich  von  der  Methode  der  Minimal- 
änderungen weiter  nichts  erwarten,  und  erschien  es  als  angezeigt, 
die  Methode  der  richtigen  imd  falschen  Fälle  an  die  Stelle  der- 
selben treten  zu  lassen.  Allerdings  fehlten  auch  hier  die 
Schwierigkeiten  nicht  ganz:  steht  doch  die  Theorie  der  mathe- 
matischen Verarbeitung  der  mittels  dieser  Methode  gewonnenen 
Resultate  noch  keineswegs  auf  soUden,  wenigstens  nicht  auf  all- 
gemein als  solid  anerkannten  Füfsen.  So  überzeugend  mir 
demnach  persönlich  die  G.  E.  MüLLEB*schen  Formeln,  von 
welchen  ich  nachher  auch  noch  einmal  Gebrauch  zu  machen 
beabsichtige,  vorkommen  mögen,  so  schien  es  mir  dennoch,  um 
jeden  Schein  der  Willkür  und  der  Unsicherheit  auszuschliefeen, 
besser,  auf  die  Hülfe  der  Rechnimg  überhaupt  zu  verzichten, 
und  die  Versuche  so  einzurichten,  dafs  die  Ergebnisse  derselben 
an  und  für  sich  eine  directe  Vergleichung  des  Einflusses  ver- 
schiedener hemmender  Factoren  gestatten.  Dieses  zu  ermög- 
lichen, win-de  vom  Principe  ausgegangen,  dafs  zwei  Reize  gleich- 
merkKch  sind,  wenn  sie  in  einer  gleichen  Procentzahl  sämmt- 
licher  Fälle,  in  welchen  sie  zur  Anwendung  gelangen,  gemerkt 
werden;  und  es  win-den  nim  diu-ch  vielfaches  Herumprobiren 
diejenigen  Verhältnisse  ausgesucht,  wo  die  betreffende  Gleichheit 
thatsächlich  sich  ergab.  Selbstverständüch  erforderte  dieses  Ver- 
fahren zahlreiche  Vorversuche,  welche,  da  nicht  nur  täglich 
oder  stündlich  wechselnde  Umstände,  sondern  auch  relativ  con- 
staute  wie  Jahreszeit  u.  dergl.  die  Empfindlichkeit  merklich  be- 
einflussen, vor  jeder  neuen  Versuchsgruppe  wiederholt  werden 
mufsten ;  es  gelang  aber  auf  diesem  Wege  Resultate  zu  erreichen, 
welche,  wie  mir  scheint,  die  vorliegenden  Verhältnisse  mit  ge- 
nügender Deutlichkeit  erkennen  lassen. 

Es  wurde  damit  angefangen,  durch  vorläufige  Versuche  eine 
Reizgröfse  zu  bestimmen,  welche,  ohne  Hemmungsreiz  ein- 
wirkend, ungefähr  ebenso  oft  bemerkt  als  nicht  bemerkt  wurde; 
es  fand  sich,  dafs  dies  annähernd  der  Fall  war,  wenn  das  mit 
einem  Gewichte  von  160  mg  beschwerte  Papierschälchen  auf  die 
Hand  niedergelassen  wurde.  In  gleicher  Weise  wurde  nun 
untersucht,  wieviel  zu  diesem  Betrage  hinzugefügt  werden  mufste, 
imi  bei  gleichzeitiger  Einwirkung  von  Hemmungsreizen  von  50, 
100,  150,  ....  500  gr  ein  gleiches  Resultat  zu  erzielen.  Die  bei 
dem    hierzu    erforderten    Herumprobiren    gewonnenen    Zahlen 


Untersuchungen  übei'  psychische  Hemmung.  311 

machten  es  bald  wahrscheinlich,  dafs  auch  die  jetzt  vorliegenden 
Verhältnisse   dem   früher  festgestellten   Hemmungsgesetze   sich 
unterordnen;    dafs   also   die   dem   Passivreize   hinzuzufügenden 
Betrage    der    Intensität    der    Activreize    proportional   verlaufen 
müssen,  um  die  erforderte  Gleichheit  der  sich  ergebenden  Ver- 
hütnisse zwischen  richtigen  und  falschen  Fällen  zu  Stande  zu 
bringen.      Demzufolge    konnte    sich   die  Voruntersuchung   jetzt 
darauf   beschränken,   für   Einen,   und   zwar  für   den   stärksten 
Activreiz  von  500  gr,  den  Betrag  des  Passivreizes  zu  bestimmen, 
welcher  ebenso  oft,  wie  ein  solcher  von  160  mg  ohne  Hemmung, 
gespürt  wurde;   und  da  solches  einzutreffen  schien,   wenn  die 
Belastung  des  Papierschälchens  360  mg,  also  die  Erhöhung  der- 
selben 200   mg   betrug,    wurde   das   entsprechende   Verhältnifs 

Uix-  =  oRno)  ^^^  Versuchen  einer  ersten  Gruppe  zu  Grunde 

gelegt 

Diese  Versuche,  im  Ganzen  3250  der  Anzahl  nach,  erstrecken 
sich  mit  einigen  Unterbrechungen  über  eine  Zeit  von  1^/^  Jahren 
(25.  August  1894  bis  15.  Januar  1896),  indem  nur  einmal  täglich 
(sofort  nach   dem  Frühstück)   experimentirt,   und  jedesmal  nur 
10  Einzelversuche   angestellt  wurden;   jenes  um  störende  Ein- 
flüsse  verschiedener    Art,     dieses    um    die    Wirkung    der    Ab- 
stumpfung möglichst  auszuschliefsen.    Bei  sämmtlichen  10  Ver- 
suchen Eines  Tages   wirkte  der  nämliche  Activ-  und  der  näm- 
liche Passivreiz ;  von  Tag  zu  Tag  wurden  Activ-  und  Passivreize, 
abwechselnd  in  auf-  und  absteigender  Reihenfolge,  jedesmal  mit 
50  gr  bezw.   20  mg   vermehrt   oder  vermindert.    Es  gelangten 
demnach   als  Activreize  Gewichte  von  0,  50,  100,  150,  200,  250, 
300,  350,  400,  450  und  500  gr,  als  Passivreize  (da  das  Gewicht 
des  Papierschälchens  80  mg  betrug)   solche  von  240,   260,  280, 
300,  320,  340,  360,  380,  400,  420  und  440  mg  zur  Verwendung; 
nennen  wir    den  Activreiz  A,   so   hatte  also  jedesmal  der  ent- 
sprechende   Passivreiz    einen   Worth  =  240  -f-  0,0004  A.     Das 
Verfahren  war  ein  durchaus  unwissentliches.    Die  Resultate  sind 
in  Tab.  I  zusammengestellt  worden. 


312 


6r.  Heymans, 


Tabelle  I. 


Activreiz 
in  gr 

Passivreiz 
in  mg 

Anzahl 

der 

Versuche 

Anzahl 

der 
r-Fälle 

Procentzahl 

der 

r-Fälle 

0 

240 

300 

117 

39,0 

50 

260  ' 

300 

104 

34,7 

100 

280 

300 

106 

35,3 

150 

300 

300 

107 

35,7 

200 

320 

300 

102 

34,0 

250 

340 

300 

101 

33,7 

300 

360 

300 

97 

32,3 

350 

380 

300 

100 

33,3 

400 

400 

300 

98 

32,7 

450 

420 

300 

97 

32,3 

500 

440 

300 

104 

34,7 

Ein  Blick  auf  diese  Tabelle  lehrt  zuerst,  dafs  für  sämmtliche 
verwendete  Reizpaare  die  Anzahl  der  MerklichkeitsfäUe  im  Laufe 
der  Versuche  weit  unter  50%  gesunken  ist.  Die  Vorversuche 
scheinen  in  einer  Zeit  übemormaler  Empfindlichkeit  der  Ver- 
Suchsperson  stattgefunden  zu  haben  ^;  jedenfalls  wurde  schon 
während  der  ersten  100  Versuchstage  im  Ganzen  nur  388  auf 
1000  mal  der  Druck  gefühlt,  welche  Zahl  für  die  folgenden  und 
für  die  letzten  100  Versuchstage  nur  noch  unbedeutend  (auf  379, 
bezw.  366)  herunterging.  Wichtiger  ist,  dafs  die  resultirenden 
Procentzahlen,  vorläufig  von  der  ersteren  abgesehen,  fast  voll- 
ständig mit  einander  übereinstimmen ;  von  oben  nach  unten 
durchgesehen,  lassen  sie  höchstens  eine  schwache  Tendenz  zur 
Abnahme  erkennen,  welche  darauf  hinweist,  dafs  die  Differenzen 
der  Passivreize  um  ein  Geringes  gröfser  hätten  genommen  werden 
sollen.  Hiervon  abgesehen,  findet  sich  also  dafs,  trotz  der  herab- 
gesetzten Hautempfindlichkeit,  die  verwendeten  Passivreize  bei 
gleichzeitiger  Einwirkung  der  denselben  zugeordneten  Activreize 
in  einer  Entfernung  von  4  cm  gleichmerklich  gebUeben  sind; 
die    Hemmungswirksamkeit    der    letzteren,    an    die 


*    Man    vergleiche    jedoch    die    Bemerkungen    S.   320,   welche 
andere  Erklärung  nahelegen. 


eine 


Untersuchungen  über  psychische  Hemmung.  313 

Erhöhung    der    Reizschwelle    für    die    ersteren    ge- 
messen, ist  demnach  auch  hier,   ebenso  wie  früher  für 
Empfindungsmischungen  gefunden  wurde,  proportional  ihrer 
Intensität   —  Dafs   bei   Anwendung    eines  Passivreizes   von 
240  mg  ohne  Activreiz  ein  bedeutend  höherer  Procentsatz  von 
Merklichkeitsfällen  erhalten  wurde  als  sonst,   läfst  sich  vielleicht 
aus  der   früher   besprochenen,   nur   theilweise    eliminirten   Mit- 
wirkung von  Berühnmgsempfindungen  (S.  307 — 308)  erklären.   Ob- 
gleich nämlich  bei  den  betreffenden  Versuchen  an  der  Stelle,  wo 
sonst  der  Activreiz  einwirkte,  ein  Korkscheibchen  aufgelegt  wurde, 
kam  dasselbe  in  Ermangelung  jedes  Druckes  nur  sehr  lose  mit 
der  Hand  in  Berührung;   demzufolge   sich  diese  Fälle  von  den 
anderen   nicht   nur   durch    den  Wegfall    der  Druckempfindung, 
sondern   auch   durch    eine   Herabsetzung   der  begleitenden  Be- 
rührungsempfindungen   unterscheiden.      Man    kann    versuchen, 
diese  Ungleichheit  dadurch  aufzuheben,   dafs  man  bei  den  be- 
treffenden Versuchen  den   die  Einwirkung   des  Activreizes  ver- 
mittelnden Hebel  nicht  ganz  aufser  Function  setzt,  sondern  den- 
selben mit  einem  unbedeutenden  Gewicht  von  1  oder  2  gr  be- 
lastet; in  welchem  Falle  auch  ein  Verschwinden  der  Ungleich- 
heit in  den  Resultaten  festgestellt  wurde  (s.  Tab.  HI  S.  315).    Doch 
ist  allgemein  zu  bemerken,   dafs  die  reinen   Schwellenversuche 
viel  weniger  regelmäfsige  Resultate  lieferten  als  die  anderen,  bei 
welchen  Hemmungsreize  einwirkten ;  was  nach  unseren  früheren 
Erörterungen    über    die    Reizschwelle    wohl    aus    der    gröfseren 
Variabilität    der    in    ersterem    Falle    vorliegenden    hemmenden 
Factoren  zu  erklären  ist. 

Eine  zweite  Versuchsgruppe  hatte  den  Zweck,  einen 
möglichen  Einwand  gegen  die  Beweiskraft  der  ersteren  zu  be- 
seitigen. Man  könnte  nämlich  fragen,  ob  nicht  die  Gleichheit 
der  damals  gewonnenen  Zahlen  einfach  von  der  geringen  Ver- 
schiedenheit der  Passivreize  herrühren,  und  von  der  Einwirkimg 
der  gleichzeitig  angreifenden  Activreize  durchaus  unabhängig 
sein  könne.  Um  hierüber  zu  entscheiden,  wurde  bei  den  jetzt 
2U  besprechenden  Versuchen  ein  unveränderlicher  Passivreiz 
von  440  mg  (das  Papierschälchen  mit  360  mg  Belastung)  mit 
verschiedenen  Activreizen  (100,  200,  300,  400  und  500  gr)  gleich- 
zeitig zur  Verwendung  gebracht.  Es  wurden  jetzt  allmorgend- 
lich zwei  Versuchsreihen,  jede  zu  10  auf  Einen  Activreiz  sich 
beziehenden  Einzelbestimmungen,  absolvirt ;  und  es  wurde  dafür 


314  (r.  Heymant. 

gesorgt,  dafs  die  beiden  nach  einander  verwendeten  Activreize 
stets  entweder  gleich  oder  möglichst  wenig  (also  100  gr)  ver- 
schieden waren,  sowie  dafs  die  V^ersuche  mit  jedem  Activreiz 
ebenso  oft  die  erste  als  die  zweite  Stelle  einnahmen.  Die  Gre- 
sammtzahl  der  Versuche  beträgt  für  jeden  Activreiz  100,  also 
500  im  Ganzen;  die  Tab.  II  giebt  die  Anzahlen  (zugleich  die 
Procentzahlen)  der  Merklichkeitsfälle. 

Tabelle  IL 


I 

Activreiz      Passivreiz  | 


Anzahl        Procentzahl 
der  der 


in  gr  m  mg      I    yerguehe  r-FäUe 


100  440  I  100  38 

200  440  =  100  I  24 

300  440  >  100  1  21 

400  440  100  j  15 

500  440         i         100         1  12 

1 

Diese  Zahlen  entsprechen  wenigstens  insofern  durchaus  der 
Erwartung,  als  sie  die  Thatsache  einer  mit  der  Intensität  des 
Activreizes  zimehmenden  Hemmungswirkung  aufser  Zweifel 
setzen.  Dagegen  erregen  die  im  Vergleich  mit  den  in  Tab.  I 
verzeichneten  Ergebnissen  äufserst  niedrigen  Procentzahlen  einige 
Verwunderung;  auf  diesen  Punkt  komme  ich  später  zurück. 

In  einer  dritten  und  letzten  Versuchsgruppe  wurde 
diu  Kragestellung  der  ersten  mit  derjenigen  der  zweiten  Gruppe 
V(Tl)un<len,  indem  von  4  Activreizen  und  ebensoviel  Passivreizen 
je  zwei  rogelmäfsig  mit  einander  zur  Verwendung  gelangten. 
Diu  Zeit  zu  ersparen,  und  zugleich  einen  Einblick  in  die  Er- 
inüdungsverhältnisse  zu  gewinnen,  wurden  von  diesen  Versuchen 
allniorgendlich  sechs  Reihen,  jede  zu  10  auf  Einem  Activ-  und 
Einoni  Passivreiz  sich  beziehenden  Einzelbestimmungen,  durch- 
gononnucn.  Die  Gesanuntzahl  der  Versuche  für  jede  der  16 
müglichen  (.'ombinationen  betrug  180;  es  wurde  dafür  gesorgt, 
dafs  jede  (-onibination  in  regelmäfsiger  Abwechslung  ebenso  oft 
wie  die  anderen  die  erste,  zweite  ....  sechste  Stelle  in  der 
Tagesordnung  einnahm.  Im  Ganzen  liegen  also  16  X  180  =  2880 
'^ersuche  vor.  Die  Activreize  betragen  2  (vgl.  S.  313),  100,  300 
id  500  gr,  die  Passivroize  280,  360,  520  und  680  mg,  welche 
träge  durch  neue  Vorversuche  als  jetzt  den  Activreizen  an- 


Untertuchwngen  über  psychische  Hemmung. 


315 


n&hemd  entsprechende  erkannt  waren. 
Resultate. 

Tabelle  HL 


Die  Tab.  m  giebt  die 


Activreiz 
in  gr 

Passivreiz 
in  mg 

Anzahl 

der 

Versuche 

Anzahl 

der 
r-FäUe 

Procentzahl 

der 

r-Fälle 

2 

280 

180 

44 

24,4 

2 

360 

180 

54 

30,0 

2 

520 

180 

80 

44,4 

2 

680 

180 

129 

71,7 

100 

280 

180 

27 

15,0 

100 

360 

180 

46 

25,6 

100 

520 

180 

54 

30,0 

100 

680 

180 

81 

45,0 

300 

280 

180 

27 

15,0 

300 

360 

180 

25 

13,9 

300 

520 

180 

44 

24,4 

300 

680 

180 

61 

33,9 

500 

280 

180 

16 

8,9 

oOO 

360 

180 

24 

13,3 

500 

520 

180 

B2 

17,7 

500 

680 

180 

45 

1 

25,0 

Eine  übersichtliche  Zusammenstellung  der  in  der  letzten 
i'erticalspalte  dieser  Tabelle  enthaltenen  Procentzahlen  giebt 
Tab.  IV: 

Tabelle  IV. 


Pa&sivreize 
in  mg 


Activ reize  in  gr 


100 


300 


500 


280 
360 
520 
680 


24,4 

30,0 
44,4 

71,7 


15,0 
25.6 
30,0 
45,0 


15,0 
13,9 
24,4 
33,9 


8,9 
13,3 
17,7 
25,0 


316  (^'  Heynians, 

Mit  wenigen  Ausnahmen  zeigen  auch  diese  Zahlen,  daTs 
Einführung  oder  Verstärkung  von  Hemmungsreizen  die  Em- 
pfindUehkeit  für  andere  herabsetzt,  während  dagegen  der  Pro- 
centsatz  der  Merklichkeitsfälle  im  Grofsen  und  Gunzen  sich 
gleich  bleibt,  wenn  die  eingeführten  Hemmungsreize  durch  pro- 
portionale Incremente  der  Passivreize  aufgewogen  werden.  — 
Vergleicht  man  die  jetzt  gewonnenen  Zahlen  mit  denjenigen  der 
Tab.  I,  so  ergiebt  sich  wieder,  ähnlich  wie  bei  den  Versuchen 
der  zweiten  Gruppe,  eine  bedeutende  Abnahme  der  Reizempfind- 
lichkeit imd  eine  entsprechende  Zunahme  der  Henunungswirk- 
samkeit.  Während  nämlich  dort  ein  Druckreiz  von  240  mg 
ohne  Hemmungsreiz  in  39  %  d^r  Fälle  gespürt  wurde,  und  nach 
Analogie  der  sonstigen  damals  gewonnenen  Zahlen  bei  Einführung 
der  die  Activreize  begleitenden  Berührungsempfindungen  ver- 
muthlich  noch  in  ungefähr  34®/o  der  Fälle  gespürt  sein  würde, 
macht  sich  hier  ein  stärkerer  Reiz  von  280  mg  bei  unbedeuten- 
dem, kaum  mehr  als  jene  Berührungsempfindungen  erzeugendem 
Activreize  nur  in  24,4%  der  Fälle  bemerklich;  und  während 
dort    zur    Aufrechterhaltung    der    gröfseren    Procentzahl    Reiz- 

incremente  zum  Betrag  von   örnfr  der  Activreize  genügten,  sind 

hier   zur  Handhabung    der   geringeren  Procentzahl  solche  von 

TT^^rpr  der  Activreize  erfordert.    Um  die  Verschiedenheit  der  Er- 
12o0 

gebnisse  in  den  drei  Versuchsgruppen  zur  Anschauung  zu  bringen, 

stelle   ich   die   für  die  erste  und  zweite  Gruppe  experimentell 

festgestellte,  für  die  dritte  durch  Interpolation  bestimmte  Frequenz 

der  Merklichkeitsfälle  für  Activ-  und  Passivreize  von  500  gr  bezw. 

440  mg  zusammen : 

in  der  1.  Gruppe 34,7 

in  der  2.  Gruppe 12,0 

in  der  3.  Gruppe  —^-^ — ^=15,5 

• 

Die  Verschiedenlieit  dieser,  unter  vollkommen  gleichen 
äufseren  Versuchsbedingungen  gewonnenen  Resultate,  erläutert 
in  schlagender  Weise  die  Variabilität  der  EmpfindUchkeit  auf 
dem  vorliegenden  Gebiete.  Die  Erklärung  für  die  niedrigen 
Procentsätze  richtiger  Fälle  in  der  zweiten  und  dritten  Gruppe 
ist  nicht  so  leicht  zu  geben.    Die  Versuche  der  zweiten  Gruppe 


Untersuchungen  über  psychische  Hemmung.  317 

fallen  zwischen  16.  Januar  und  24.  Februar  1896;  man  könnte 
dennoch  zunächst  geneigt  sein,  hier  an  den  Einflufs  der  Winter- 
zeit auf  die  Beschaffenheit  der  Oberhaut  zu  denken,  wodurch 
naturgemäfs  die  EmpfindHchkeit  herabgesetzt  werden  mufs.  Doch 
kann  dieser  Umstand  kaum  entscheidend  gewesen  sein,   da  die 
ersten  sowie  die  letzten  lOQ  Tage  der  ersten  Versuchsgruppe 
im  Winter,   die  mittleren   100  Tage  dagegen  im  Sommer  fielen, 
ohne   dafs    dennoch    ein    durchgreifender    Unterschied    iu    den 
Resultaten  festzustellen  wäre  (s.  S.  312).   An  zweiter  Stelle  könnte 
versucht  werden,  ein  im  Protokoll  verzeichnetes  allgemeines  Un- 
wohlbefinden  der  Versuchsperson  während   jener  Zeit   für   die 
herabgesetzte  EmpfindHchkeit  verantwortlich  zu  machen ;  dem  steht 
aher  gegenüber,  dafs  die  Versuche  der  dritten  Gruppe,  welche 
in  bestem  Gesimdheitszustande  absolvirt  wurden,  kaum  höhere 
Zahlen  ergaben.    Endhch  könnte  man  noch  fragen,  ob  nicht  die 
Verdoppelung   bezw.   Versechsfachung   der   täglichen  Versuchs- 
zahl  in  der  zweiten   und   dritten  Gruppe,   wodurch  der  Einflufs 
von  Abstinnpfung  und  Ermüdung  nothwendig  verstärkt  werden 
mufste,  die  Verschiedenheit  der  Ergebnisse  erklären  könne.   Diese 
Frage  läfst  sich  aus  den  Versuchsresultaten  der  dritten  Gruppe 
selbst   mit   leichter   Mühe   beantworten;    dieselben   ergeben   als 
Procentzahl   der  richtigen  Fälle  im  Durchschnitt  für  die  ersten 
Versuchsreihen  jedes  Tages  30  7o»   für   die   ersten  und  zweiten 
zusammengenommen  27  %,    für  die  sämmtlichen  sechs  Reihen 
27,4  *'o-     Ermüdung    und    Abstumpfung   haben    demnach   ganz 
sicher  zur  Herabsetzung   der  mittleren  EmpfindHchkeit  bei  den 
Versuchen  aus  der  zweiten  und  dritten  Gruppe  etwas  beigesteuert ; 
ihr  Einflufs  ist  aber  ebenso  sicher  viel  zu  schwach  gewesen,  um 
von  den  festgestellten  Differenzen  auch  nur  annähernd  genügende 
Rechenschaft  ablegen  zu  können.  —  Die  geforderte  Erklärung 
mufs  also  irgendwo  sonst,  und  zwar  vermuthlich  in  Umständen, 
welche    der    zweiten   und    dritten   Versuchsgruppe   in   gleichem 
Maafse  anhaften,  gesucht  werden.    Auch  können  diese  Umstände 
kaum  solche   gewesen  sein,   welche  blos  zufällig  während  jener 
Versuche  stärker  als  während  derjenigen  der  ersten  Gruppe  auf- 
traten.   Es  wurden  nämlich  die  Versuche  der  ersten  Gruppe  am 
15.  Januar  1896  abgeschlossen  und  diejenigen  der  zweiten  Gruppe 
am  16.  Januar  1896  angefangen ;  zeitlich  schUefsen  sich  demnach 
diese  immittelbar  an  jene  an;  sofort  nach  der  Veränderung  der 
Versuchseinrichtung  tritt  aber  auch   der  Umschlag  ein,   indem 


318 


G.  JSeyniafis, 


beispielsweise  die  letzten  fünf  Versuchsreihen  aus  der  ersten 
Gruppe  mit  Reizen  von  500  gr  und  360  mg  im  Ganzen  14,  die 
ersten  fünf  Versuchsreihen  aus  der  zweiten  Gruppe  mit  den 
nämlichen  Reizen  im  Ganzen  nm*  6  Merklichkeitsfälle  ergaben. 
Es  mufs  also  gefragt  werden,  dm-ch  welche  für  das  yorliegende 
Problem  in  Betracht  kommende  EigenthümUchkeiten  sich  die 
Versuchsbedingungen  der  zweiten  und  dritten  von  denjenigen 
der  ersten  Gruppe  unterscheiden;  auf  diese  Frage  aber  finde 
ich  nur  Eine  Antwort:  die  Passivreize  aus  der  ersten 
Gruppe  waren  in  Folge  ihrer  Verbindung  mit  proportional 
anwachsenden  Activreizen  alle  ungefähr  gleichmerklich; 
diejenigen  der  beiden  anderen  Gruppen  dagegen, 
von  welchen  jeder  mit  Activreizen  sehr  verschiedener  Intensität 
combinirt  wurde,  erwiesen  sich  demzufolge  auch  als  merk- 
lich in  durchaus  verschiedenem  Grade.  Dafs  in  der 
That  die  auffallende  Verschiedenheit  der  Ergebnisse  aus  diesem 
Umstände  zu  erklären  ist,  wird  durch  eine  weitere  Versuchs- 
gruppe,  über  welche  ich  schUefsUch  noch  zu  berichten  habe, 
in  schlagender  Weise  bestätigt.* 

Während  nämUch  bei  allen  bisher  besprochenen  Versuchen 
nur  die  Intensitäten  der  Activ-  und  Passivreize  variirt,  die  Ent- 
fernung zwischen  den  Angriffsstellen  derselben  aber  constant  er- 
halten wurde,  schien  es  mir  interessant,  jetzt  auch  über  die  Art 
und  Weise,  wie  sich  die  Hemmimgswirkung  mit  der  Entfernung 
ändert,  Einiges  zu  erfahren.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  zunächst 
die  Versuchseinrichtung  dahin  verändert,  dafs  ein  constanter 
Passivreiz  zum  Betrage  von  500  mg  an  der  nämlichen  Haut- 
stelle wie  früher  einwirkte,  während  ein  gleichfalls  constanter 
Activreiz  von  500  gr  in  wechselnden  Entfernungen  von  3  bis 
7  cm  von  jener  seinen  Druck  ausübte.  Für  jede  Entfernung 
wurden  100,  im  Ganzen  500  Versuche  angestellt;  das  Resultat 
war  folgendes: 

Tabelle  V. 


Entfernungen  in  cm:             3 

4 

5 

6 

7 

Procentzahl  der  r-Fälle: 

7 

15 

22 

37 

46 

Aus  diesen  Zahlen  ergiebt  sich  zunächst,  dafs  bei  zunehmender 
Entfernung  die  Hemmungswirkung  ziemlich  rasch  hinuntergeht. 


ünUrsuehungm  über  psychische  Hemmung. 


319 


wie  dies  mit  Rücksicht  auf  die  mit  der  Entfemmig  zunehmende 
Leichtigkeit,  die  Aufmerksamkeit  vom  Activreiz  abgelenkt  zu 
erhalten,  nicht  anders  zu  envarten  war.  Des  weiteren  sieht  man, 
dafs  die  jetzt  ermittelten  Zahlen  mit  denjenigen  aus  der  zweiten 
und  dritten  Gruppe  von  gleicher  Ordnung  sind,  indem  bei 
gleichzeitiger  Einwirkung  eines  Activreizes  von  500  gr  in  der 
zweiten  Gruppe  ein  Passivreiz  von  440  mg  12  mal,  in  der  dritten 
ein  solcher  von  520  mg  17,7  mal,  jetzt  aber  ein  dazwischenliegen- 
der von  500  mg  15  mal  in  100  Versuchen  (alle  mit  einer  Ent- 
fernung von  4  cm)  gespürt  wurde ;  auch  hier  geht  demnach  mit 
der  ungleichen  Merklichkeit  der  Reize  eine  bedeutende  Herab- 
setzung der  mittleren  Empfindlichkeit  einher.  Nun  wurden  aber 
die  zuletzt  besprochenen  Versuche  noch  einmal  unter  durchaus 
unveränderten  Umständen  wiederholt,  nur  dafs  diesmal  mit  dem 
Constanten  Activreize  von  500  gr  abwechselnd  Passivreize  von 
500  und  1000  mg  zur  Verwendxmg  gelangten.  Das  Ergebnifs 
aus  1000  Versuchen  (100  mit  je  einem  Passivreiz  in  je  einer 
Entfernung),  wie  früher  in  Procentzahlen  der  r-Fälle  ausgedrückt, 
ist  in  Tab.  VI  zu  ersehen: 


Tabelle  VI.i 


Passivreiz  in  mg 


500 
1000 


0 
0 


Entfernungen  in  cm 


1 
5 


12 
32 


31 
43 


39 
53 


Wie  man  sieht,  hat  jetzt  eine  neue,  und  zwar  keineswegs 
unbedeutende  Herabsetzung  der  EmpfindHchkeit  stattgefunden. 
Die  Reize  zu  500  mg  sind  diesmal,  unter  genau  den  nämlichen 
Bedingungen  wie  vorher,  nur  etwa  '%  so  oft  wie  damals  wahr- 
genommen worden;   und   zwar  sind  es  ganz  besonders  die  Ver- 


*  Aus  diesen  Zahlen  lassen  sich  nach  den  von  G.  E.  Müller  {Pflüg er's 
Archiv  19,  191  ff.)  vorgeschlagenen  Formeln  leicht  die  Keizschwellen  bei 
Einwirkung  eines  Hemmungsreizes  von  500  g  in  verschiedener  Entfernung 
berechnen ;  es  ergeben  sich  dabei  für  Entfernungen  von  4,  5,  6  bezw.  7  cm 
Reizschwellenwerthe  von  2414,  1H31,  1277  bezw.  894  mg.  Doch  ist  nach 
dem  Vorhergehenden  klar,  dafs  diesen  Zahlen  nur  eine  durchaus  relative 
Bedeutung  beigelegt  werden  darf. 


320  ö.  Heymam. 

suche  mit  wenig  entfernten  Activreizen  gewesen,  welche  diesen 
Zurückgang  verschuldet  haben.  Indem  nun  die  jetzt  vorliegen- 
den Versuche  sich  von  den  früheren  niu'  durch  die  (jeden  zweiten 
Tag  erfolgende)  Unterbrechung  derselben  durch  Versuche  mit 
intensiveren  und  deshalb  merkUcheren  Reizen  unterscheiden,  und 
indem  dieser  Wechsel  zwischen  merklicheren  und  weniger  meric- 
lichen  Reizen   auch   überall   sonst,   wo   ein   starker  Abfall  der 

.  Merklichkeitsurtheile  festgestellt  wurde,  gegeben  war,  darf  der- 
selbe wohl  mit  Recht  als  die  Hauptursache  der  herabgesetzten 
Empfindlichkeit  angesehen  werden.^  Auch  ist  es  nicht  unmög- 
lich, die  betreffende  Wirkung  wenigstens  einigermaafsen  begreif- 

"^lich  zu  machen.    Wenn  nur   annähernd  gleichmerkliche  Beize 
dargeboten  werden,  so  bildet  sich  alsbald  ein  scharf  bestimmtes 
Erinnerungsbild  von  dem  eigenthümlichen  Charakter  des  jedes- 
mal   zu   erwartenden  Eindrucks;    dieses  Bild  kommt   dem  Ein- 
drucke  selbst  entgegen,  und  erleichtert  die  Wahrnehmung  des- 
selben.    Wechseln   dagegen   die  Reize   dem  MerkUchkeitsgrade 
nach  fortwährend,  so  weifs  die  Versuchsperson  nicht  was  sie  zu 
erwarten  hat,    und  braucht  demnach,   um  mit  Sicherheit  ent- 
scheiden zu  können  ob  eine  vom  Passivreiz  herrührende  Druck- 
empfindung  dagewesen   ist,   eine   gröfsere   Intensität   desselben- 
Dafs  die  allgemeine  Herabsetzung  der  EmpfindHchkeit  sich  bei 
den  weniger  merklichen  Reizen  am  stärksten  offenbart,  läfst  ver- 
muthen,  dafs  aufser  den  vom  Activreiz  herrührenden  Hemmungs- 
wirkungen  noch  andere,  welche  von  den  Erinnerungsbildern  der 
stärkeren  Passivreize  ausgehen,   die  Sache  compliciren.     Indem 
nämlich  diese  Erinnerungsbilder  sich  auf  die  gleiche  Hautstelle 
beziehen,   auf  welche  später  die   schwächeren  Reize   einwirken, 
läfst  sich  verstehen,  dafs  die  auf  diese  Hautstelle  concentrirte 
Aufmerksamkeit   dieselben   in   einem    solchen   Grade   verstärkt» 
dafs  sie  auf  jene  nachkommenden  schwächeren  Reize  eine  merk- 
liche  hemmende  Wirkung  ausüben  können.    Doch  wird  dieseir 
Punkt  erst  später,  wenn  wir  von   den  Erscheinungen   des  suc— 
cessiven  Contrastes   zu  reden  haben,   genauer  zu  erläutern  seia.- 


^  Nach  einer  von  Dr.  E.  Wiersma  in  meinem  Laboratorium  angestellt» 
Untersuchung  über  Aufmerksamkeitsschwankungen,  deren  erster  Theil  In. 
diesei'  Zeitschrift  26,  168  ff.  veröffentlicht  wurde,   werden  auch  die  MerkiicVt- 
keitszeiten  bei  dauernden  schwachen  Reizen  in  hohem  Grade  durch  den 
im  Text  erwähnten  Factor  beeinflufst. 


Untentichungen  über  psychische  Hemmung,  321 

Wie  dem  aber  auch  sei,  das  Hauptergebnifs  dieses  Theiles 
unserer  Untersuchung    wird   nicht  davon  berührt.     Indem  ich 
dasselbe  kurz  zusammenfasse,  erinnere  ich  daran,  dafs,  trotz  er- 
heblicher durch  verschiedene  Umstände  bedingter  Schwankungen 
der  Empfindlichkeit,   nicht  nur  überall  wo  Hemmungsreize  ein- 
geführt oder  verstärkt  wurden,   sich  eine   Abnahme   der  Merk- 
lichkeitsfälle  ergab,  sondern  dafs  auch  die  Anzahl  dieser  Merk- 
lichkeit^älle  sich  im  Grofsen  und  Ganzen  constant  erhalten  liefs, 
wenn  mit  der  Einführung  oder  Verstärkung  des  Hemmungsreizes 
eine  proportionale  Erhöhung  des  dieser  Hemmung  ausgesetzten 
Passivreizes  einherging.    Das  betreffende  proportionale  Verhält- 
nife,    also    nach    der    früher    eingeführten    Terminologie    der 
Hemmungscoefficient  unter  den  vorliegenden  Umständen, 
beträgt  0,0004  bis  0,0008.    Von   den  drei  Gesetzen,   welche  wir 
früher  für  den  Fall  einer  Vermischung  von  Activ-  und  Passiv- 
reiz festgestellt   haben  (diese   Zeitschr,  21    S.   356),    findet   dem- 
nach das  erste  auch  hier,  wo  active  und  passive  Druckreize  ge- 
sondert einwirken,  volle  Bestätigung:   die  an  der  Erhöhung  der 
Reizschwellen   gemessenen  Hemmungswirkungen   sind    den   In- 
tensitäten der  hemmenden  Reize  proportional.   Die  beiden  anderen 
Gesetze  finden,  da  sie  qualitative  Verschiedenheit  der  Reize  vor- 
aussetzen, auf  das  vorliegende  Gebiet  keine  Anwendung.    Wohl 
aber  ergiebt,    wie  S.  316   schon    bemerkt    wurde,    eine    Ver- 
;     gleichung  der  Tabb.  I  und  HI  die  wichtige  Thatsache,   dafs  bei 
Herabsetzung  der  Empfindlichkeit  für  Druckreize  ohne  Hemmung, 
auch  eine   stärkere  Zunahme   der  Passivreize  erfordert  ist,  um 
der  Einführung   bestimmter   Activreize   die   Waage    zu    halten. 
Nicht  nur  der  durch  qualitative  Verschiedenheit,   sondern  auch 
der  durch    andere  Ursachen  bedingten   Ungleichheit  der  Reiz- 
schwellen  scheint  demnach  eine   in  umgekehrter  Richtung  ver- 
laufende Ungleichheit  der  Hemmungswiderstände  zu  entsprechen ; 
was  als   eine  Bestätigung    der  früher  dargelegten  Theorie   der 
Reizschwelle  angesehen  werden  kann. 


2.   Lichtempfindungen. 

Es  wurde  hier,  analog  der  Fragestellung  des  vorigen  Ab- 
schnittes, untersucht,  ob  und  in  welchem  Maafse  sich  die  Reiz- 
schwelle für  farblose  Lichtempfindungen  erhöht,  wenn  gleich- 
zeitig in   einiger   Entfernung   stärkere   farblose   Lichtreize    ein- 

Zeitschrift  für  Psychologe  26.  21 


u*r  T* 


Hr.vaör.T^arz  A  BCD  toc  ±  2.  ffege  onti  35  cm  Breite  ist  dmdi 

«sne  Tatzcale.  40  cm  iM^ie,  hä- 
zerce  Waibi  IT/*  der  Lfti^e  nadi 
in.  xvei  Hälften  gecheilt;  zu 
c«id«i  Säten  der  Wand  ist  ein 
Arssndbrenner  GG,  dessen  ücht 

'    i_     K_^ \        durrfi  einoi  Gssdmckregolator 

■T^  ^  coQätJuit  effamhen  wnrde,  an^ge- 

r  «teilt.    Das  Brett  wird  an  einem 

Ende  doreh  einen  Terticalen, 
iSO  cm  hohen  und  60  cm  breiten 
Holzschirm  £f /abgeschlossen,  in 
dessen  Mine  ein  rechtwinkliger 
AusscJmitt  JK  von  4  cm  Höbe 
and  12  cm  Breite  angebracht 
ist.  Vor  diesem  Ausschnitt  ist 
eine  Mattglasplatte  zwischenzwei 
metallenen  Diaphragmen  be- 
festigt; jedes  Diaphragma  hat 
zwei,  mit  denjenigen  des  ande- 
ren Diaphragmas  sich  deckende 
kreisförmige  Oeffnungen,  deren 
Minelpmikte  auf  einer  Horizon- 
tallinie 6  cm  von  einander  ent- 
fernt, und  zwar  svTnmetrisch  zur 
^  v*  ^  Schnittlinie  des  Schirmes  mit  der 

hölzernen  Scheidewand  liegen. 
Die  eine  dieser  Oeffnungen  hat 
einen  Durchmesser  von  1  cm,  die 
iu\t\(iri',  i''\\\tir\  solchen  von  2  cm;  jede  derselben  wird  durch  einen 
iWr  Argftrulbnjnuer  beleuchtet,  welche  zu  beiden  Seiten  der 
^v.\n'\(\iiviiiu(\  in  beliebig  zwischen  30  und  190  cm  variirbarer, 
iinrl  rriittcln  eiiior  an  der  Wand  angebrachten  Centimeter- 
ifintlujilun^  abzulesender  Entfernung  von  der  Mattglasplatte 
iiuf^<?Ht4j||t  wenhjn.  Jeder  der  beiden  Argandbrenner  trägt  um 
den  (iluHcylinrlor  einen  Metallcylinder  mit  lichtdichtem  Schorn- 


3 


¥W.  2. 


Untenuchufigen  über  psychische  Hemmung,  323 

Stein;  in  dem  Metallcylinder  ist  auf  Flammenhöhe  eine  kreis- 
fönnige  OefEnung  von  1  cm  Durchmesser  angebracht;  sodann 
vor  dieser  Oeffnung  (zur  Abbiendung  des  seitlichen  Lichtes  und 
rar  Compensation  der  gelben  Farbe  der  Flamme)  in  10  cm  Ent- 
femung  von  der  Flamme  ein  kleiner  Metallschirm  mit  kreis- 
nmder,  durch  eine  blaue  Glasplatte  verschlossener  Oeffnung, 
deren  Durchmesser  2  cm  beträgt  Das  Licht  des  einen,  die 
gröüsere  Diaphragmaöffnung  beleuchtenden  und  den  Activreiz 
liefernden  Brenners  wird  blos  durch  Veränderung  des  Abstandes 
zur  Mattglasplatte  verstärkt  oder  geschwächt;  die  Intensität  des 
anderen,  auf  die  kleinere  Diaphragmaöffnung  fallenden  und  den 
Passivreiz  liefernden  Lichtes  mufste  durch  weitere  Maafsnahmen 
der  Schwelle  nähergebracht  werden.  Zu  diesem  Zwecke  wurde 
erstens  die  LichtöfEnung  des  Metallcylinders  mittels  einer  kleinen, 
vor  derselben  drehbaren,  mit  verschiedenen  Löchern  versehenen 
Scheibe  auf  4  mm  Durchmesser  reducirt;  sodann  zwischen  dem 
kleinen  Metallschirm  und  dem  blauen  Glase  eine  weifse  Milch- 
glasscheibe geklemmt,  welche  also  von  der  Flamme  beleuchtet 
wurde,  und  von  welcher  ein  kreisförmiges,  mit  der  Oeffnung 
des  Metallschirmes  sich  deckendes  Stück  die  directe  Lichtquelle 
bildete.  Die  Latensität  dieses  Lichtes  kann  schliefslich  noch 
mittels  einer  vor  der  kleineren  Diaphragmaöffnung  rotirenden- 
Episkotisterscheibe  L  beliebig  herabgesetzt  werden.  Die  Intensi- 
täten des  von  der  Milchglasscheibe  ausgestrahlten  und  des  von 
dem  anderen  Brenner  geUeferten  Lichtes  verhielten  sich,  wie  die 
photometrische  Bestimmung  als  Mittel  aus  25  Beobachtungen 
ergab,  wie  1  :  832. 

Bei  der  Ausführung  der  Versuche  safs   nun   die  Versuchs- 
person hinter  dem  Holzschirm,    und  beobachtete  aus   einer  con- 
stanten,  durch  eine  Holzleiste  mit  Gucklöchern  bestimmten  Ent- 
fernung von  25  cm  binoculär  die  beiden   beleuchteten  Mattglas- 
scheiben,   indem    sie   die    kleinere    und    schwächer    beleuchtete 
fixirte.  Es  wurden  demnach  die  Mittelpunkte  der  beiden  Scheiben 
unter    einem    Gesichtswinkel    von    beinahe    13,5  ^    die    inneren 
Ränder  derselben  unter  einem   solchen  von  etwas  mehr  als  10*^ 
wahrgenommen.    Sammttücher,   welche   die  Holzleiste   mit  dem 
>k?hirm  verbinden,  schlössen  jeden  Lichtreflex  auf  die  Mattglas- 
scheiben aus;   ein   grofses  an   den  Holzschirm  befestigtes  Stück 
8ammt  umhüllte  Kopf  und  Oberkörper  der  Versuchsperson,  und 

Jiefs  von  dem  spärlichen  im  Zimmer   anwesenden  Lichte   nichts 

21* 


324  ^-  HeymatkM. 

zn  ihr  dorchdringeiL  Jeder  einzelne  Versuch  bestand  darin, 
daTs  bei  einer  bestimmten  Intensität  des  Actirreizes  der  Passiv- 
reiz  durch  allmähliche  Verkleinerung  der  EpiskotisterOfiEnung  so 
l^uige  geschwächt  wurde  bis  er  nicht  mehr  zur  Wahrnehmung 
gelangte,  und  dafs  dann,  nachdem  die  EpiskotisteröfEnung  noch 
um  eine  Strecke  yerkleinert  worden  war.  durch  allmähliche  Ver- 
gröfserung  derselben  der  Punkt  bestimmt  wurde,  wo  sich  der 
Reiz  wieder  bemerklich  machte.  Das  arithmetische  Mittel  der 
beiden  den  betreffenden  Episkotisteröffnungen  entsprechenden 
Intensitäten  des  Passivreizes  lieferte  dann  die  Reizschwelle  unter 
den  betreffenden  Umständen;  aus  mehreren  in  solcher  Weise 
unter  gleichen  Umständen  gewonnenen  Schwellenwerthen  wurde 
wieder  das  arithmetische  Mittel  gezogen,  und  der  wahrschein- 
liche Fehler  desselben  berechnet.  Es  wurden  im  Granzen  zehn 
verschiedene  Reizschwellen  bestimmt:  einmal  ohne  Hemmungs- 
reiz, sodann  während  die  den  Hemmungsreiz  liefernde  Flamme 
sich  in  Entfernungen  von  160,  110,  90,  80,  70,  60,  50,  40  und 
30  cm  von  der  beleuchteten  Mattglasscheibe  befand.  Nimmt 
man  das  Lichtquantum,  welches  das  von  dem  anderen  Brenner 
beleuchtete  Milchglasscheibchen  aus  einer  Entfernung  von  172  cm 
auf  die  Mattglasscheibe  wirft,  als  Einheit,  so  sind  nach  dem 
Vorhergehenden  die  Intensitäten  der  Hemmungsreize  =  961, 
2034,  3039,  3846,  5023,  6837,  9846,  15384  und  27349  zu  setzen. 
Die  Intensitäten  der  jeweilig  angewandten  Reize  waren  der  Ver- 
suchsperson unbekannt  Jeder  Versuchsreihe  (von  drei  bis  fünf 
Einzelversuchen)  ging  eine  Vorbereitungszeit  von  10  Min.  im 
Dunkeln  voran.  In  den  folgenden  Tabellen  sind  die  Intensitäten 
der  Activreize  und  der  Passivreizschwellen  in  der  oben  er- 
wähnten Einheit  ausgedrückt.  Die  wahrscheinlichen  Fehler  der 
mittleren  Schwellenwerthe,  die  Hemmungscoefficienten  und  die 
daraus  berechneten,  mit  den  beobachteten  zu  vergleichenden 
Schwellenwerthe  sind  in  der  nämlichen  Weise  wie  die  ent- 
sprechenden Zahlen  für  die  Untersuchungen  des  ersten  Artikels 
ermittelt  worden  (vgl.  diese  Zeitschr.  21,  S.  328  und  334). 

Tabb.  VII  und  VIII  enthalten  die  Resultate  zweier  Ver- 
sucliHgruppen ,  welche  auf  die  Feststellung  der  nämlichen 
Schwellenwerthe  unter  den  nämlichen  Bedingungen  ausgingen, 
deren  Ergebnisse  ich  aber  gesondert  vorführe,  weil  bei  den  Ver- 
suchen der  zweiten  noch  etwas  genauer  als  bei  denjenigen  der 


ünterauchwigen  über  psychische  Hemmung. 


325 


ersten  Gruppe  auf  die  Ausschliefsung  störender  Lichtreflexe  ge- 
achtet wurde.  Die  grofse  Verschiedenheit  zwischen  den  Intensi- 
täten der  Activ-  und  der  Passivreize  liefs  es  nämlich  als  mögUch 
erscheinen,  dafs,  obgleich  die  Zimmerwände  sowie  auch  sämmt- 
Uche  Apparate  und  Möbel  schwarz  angestrichen  waren,  dennoch 
ein  geringer  Bruchtheil  des  den  Activreiz  Uefernden  Lichtes  auf 
Umwegen  zur  kleineren  Diaphragmaöffnung  gelangen,  und  den 
Passivreiz  in  nicht  ganz  zu  vernachlässigender  Weise  verstärken 
könnte.  Dieser  Möglichkeit  vorzubeugen,  wurden  nun  zwischen 
den  Brennern  und  den  durch  sie  zu  beleuchtenden  Flächen 
mehrere  Metallschirme  M  aufgestellt,  von  welchen  jeder  mit 
einer  kreisförmigen  Oeffnung  versehen  war,  welche  zwar  das 
für  die  betreffende  Fläche  bestimmte  Licht  durchliefs,  allem 
anderen  Lichte  aber  den  Zutritt  verwehrte.  Dafs  diese  Maafs- 
nahmen  nicht  ganz  überflüssig  waren,  ergiebt  sich  daraus,  dafs 
die  in  Tab.  VIII  enthaltenen  Schwellenwerthe  fast  sämmtUch 
etwas  höher  sind  als  diejenigen,  welche  aus  den  der  Tab.  VII 
zu  Grunde  hegenden  Versuchen  hervorgingen. 


Tabelle  VIL 


Intensität 

des 
Activreizes 


0 

961 

2034 

3039 

3846 

5023 

6837 

9846 

15:^84 

27  349 


Anzahl 

der 

Versuche 


18 
18 
18 
18 
18 
18 
18 
18 
18 
18 


Mittlere 

Keiz- 
schwelle 


Wahr-      i 
scheinlicher  Hemmungs- 


Fehler 
derselben 


0,054 

0,074 

0,093 

0,135 

0,150 

0,189 

0,225 

0,297 

(0,894) 

(1,437) 


0,003 
0,003 
0,004 
0,004 
0,006 
0,005 
0,005 
0,023 
0,066 
0,072 


coefficient 


0,000025 


Berechnete 
Reiz- 
schwelle 


0,053 
0,077 
0,104 
0,129 
0,149 
0,179 
0,224 
0,297 
0,438 
0,737 


326 

G.  Heyman*. 

Tabe 

Ue  VIII. 

Intensitlt  • 

de« 
Actirreixes 

Anzahl 

der 

Veraache 

Mittlere 

Beiz 
schwelle 

Wahr                               Berf^hnete 
scheinlicher  Hemmnng»-         ^^^ 

Fehler        coefficient 
derselben                              "^^^^"^ 

0 

18 

0,077 

OfiOö 

r        0,065 

961 

18 

0.093 

O.OCÖ 

0.094 

20S4 

18 

0,120 

0,003 

0,126 

3039 

18 

0,149 

ojyob 

0,156 

3846 
5023 

18 
18 

0,180 
0,216 

0,008 
0,009 

0,000090 

0.180 
0,216 

6837 

18 

0,270 

0,012 

0,270 

9816 

18 

0,359 

0,014 

0350 

L'i384 

18 

(0,575) 

0.023 

0,527 

27349 

18 

(1,188) 

0.039          ' 

l         0,885 

Ein  Blick  auf  diese  Tabellen  (wobei  wir  vorläufig  von  den 
beiden  höchsten,  für  Activreize  von  15384  und  27349  ermittelten 
Schwellenwerthen  absehen)  läfst  sofort  erkennen,  nicht  nur  dafs, 
sondern  auch  wie  die  Zahlen  aus  der  ersten  und  aus  der  dritten 
Verticalspalte  mit  einander  zusammenhängen :  auch  hier  ist  die 
durch  Einwirkung  eines  Hemmungsreizes  erfol- 
gende Erhöhung  der  Reizschwelle  der  Intensität 
dieses  Hemmungsreizes  proportional.  In  der  That 
ergiebt  die  unter  Zugrundelegung  dieser  Annahme  erfolgte  Be- 
rechnung der  wahrscheinhchen  Hemmungscoefficienten  und  Reiz- 
schwellen Zahlen,  welche  in  sehr  genügender  Weise  zu  den 
Versuchsergebnissen  stimmen,  wie  in  den  Tabellen  nachzusehen 
ist.  Nur  bei  den  stärksten  zur  Verwendung  gelangten  Hemmungs- 
reizen zeigt  sich  eine  erhebliche  Abweichung,  indem  hier  die 
Reizschwelle  viel  höher  ansteigt  als  die  Formel  erwarten  läCst. 
Eben  hier  ist  aber  auch  eine  der  Bedingungen,  welche  wü*  am 
Anfang  unserer  Untersuchung  für  die  Zuverlässigkeit  der  Ver- 
suchsergebnisse gestellt  haben  (diese  Zeitschr,  21  S.  324)  nicht 
mehr  erfüllt:  es  fangen  nämlich  jetzt  merkliche  Gefühlstöne  an, 
die  Sache  zu  compliciren.  Die  starken  Lichtreize  in  der  dunkeln 
Umgebung  und  nach  der  langen  Vorbereitung  in  völUger  Dunkel- 


Untersuchungen  über  psychische  Hemmung.  327 

heit  siud  zwar  nicht  immer,  aber  doch  oft  dem  Auge  sehr  un- 
angenehm; sie  müssen  demnach  das  BewuTstsein  mehr  in  An- 
sprach nehmen  und  stärker  hemmend  wirken  als  sonst  der  Fall 
I  sein  würde.  Die  Einmischung  dieses  fremden  Factors  giebt  sich 
aach  in  der  auffallenden  Steigenmg  des  wahrscheinlichen  Fehlers 
kund ;  wo  diese^  weniger  stark  hervortritt  (in  Tab.  VIII),  ist  auch 
die  Differenz  zwischen  den  beobachteten  und  den  berechneten 
Reizschwellen  am  geringsten. 

Des  Weiteren  habe  ich  versucht,  ähnlich  wie  für  die  Druck- 
empfindungen, auch  für  das  vorliegende  Gebiet  wenigstens  in 
groben  Zügen  die  Abhängigkeit  der  Hemmungswirkimg  von  der 
Entfernung  zwischen  den  gereizten  Netzhautstellen  zu  bestimmen« 
Hierzu  war  nur  nöthig,  die  beiden  vor  dem  Ausschnitt  des  Holz- 
schirms angebrachten  sich  deckenden  Diaphragmen  durch  andere 
lu  ersetzen,  in  welchen  die  OefEnimgen,  bei  gleicher  Gröfse  wie 
,  früher,  4  cm,  bezw.  2  cm  von  einander  entfernt  waren,  so  dafe 
die  Mittelpunkte  derselben  jetzt  unter  Gesichtswinkeln  von  9®  5' 
bezw.  4*^34',  die  inneren  Ränder  unter  solchen  von  5^34'  bezw. 
1*9'  zur  Beobachtung  gelangten.  Mit  Rücksicht  auf  die  be- 
deutend stärkere  Hemmungswirkung,  welche  sich  unter  diesen 
Bedingungen  ergab,  mufsten  die  Grenzen,  zwischen  welchen  der 
Passivreiz  variirt  werden  konnte,  entsprechend  erhöht  werden; 
lu  welchem  Zwecke  bei  den  Versuchen  mit  4  cm  Entfernung 
die  Lichtöffnung  des  Metallcylinders  auf  7  mm  Durchmesser 
vergröfsert,  bei  denjenigen  mit  2  cm  Entfernung  zwar  diese 
Lichtöffnung  wieder  auf  2  mm  verkleinert,  dagegen  aber  an  die 
Stelle  des  die  directe  Lichtquelle  bildenden  Milchglasscheibchens 
ein  Mattglasscheibchen,  welches  bedeutend  mehr  Licht  durch- 
scheinen liefs,  verwendet  win-de.  Die  bei  diesen  Versuchen  auf 
die  kleinere  Diaphragmaöffnung  geworfenen,  mittels  des  Epi- 
skotisters  noch  weiter  herabzusetzenden  Lichtquanta  erwiesen 
sich  als  2,8  bezw.  15,2  mal  so  stark  als  bei  der  früheren  Ein- 
richtung; in  den  nachfolgenden  Tabellen  sind  die  ursprünglich 
mit  diesen  veränderten  Maafsen  gemessenen  Reizschwellen  je- 
doch wieder  auf  die  früher  (S.  324)  angegebene  Einheit  zurück- 
geführt 


328 


G.  Heymans. 


Tabelle  IX. 
(MittelpunktBentfemung  der  Diaphragmaöflnangen  4  cm.) 


Intensität 

des 
Activreizes 

Anzahl 

der 

Versuche 

Mittlere 

Reiz- 
schwelle 

Wahr- 
scheinlicher , 
Fehler 
derselben 

Henunungs- 
coefficient 

Berechnete 
Reiz- 
schwelle 

0 

8 

0,068 

0,001 

1                 / 

0,045 

961 

8 

0,152 

0,013 

0,144 

2034 

8 

0,247 

0,016 

0,255 

3039 

8 

0,348 

0,015 

0,358 

3846 
5023 

8 
8 

0,416 
0,555 

0,027 
0,050 

0,000103 

0,441 
0,562 

6837 

8 

0,758 

0,081 

0,749 

9  846 

8 

1,072 

0,010 

1,059 

15384 

8 

1,560 

0,063 

1,630 

27349 

8 

(3,076) 

0,318 

. 

2,862 

Tabelle  X.^ 

(Mittelpunkteentfernung  der  Diaphragmaöfinungen  2  cm.) 


Intensität 

des 
Activreizes 

Anzahl 

der 

Versuche 

Mittlere 

Reiz- 
schwelle 

Wahr- 

scheinlicher 

Fehler 

derselben 

Hemmungs- 
coefficient 

Berechne 
Reiz 

schwelL 

961 

8 

0,689 

0,054 

" 

1 

0,771 

2034 

8 

1,366 

0,109 

1,352 

3039 

8 

1,840 

0,150 

1,895 

3846 

8 

2  424 

0 

0,128 

2,333 

5  023 

8 

2,931 

0,131 

0,000541 

2,969 

6  837 

8 

4,167 

0,132 

3,951 

9846 

8 

5,436 

0,209 

5,579 

15  384 

8 

6,514 

0,188 

7,575 

27  349 

8 

9,687 

0,989 

, 

.      15,048 

*  Die  gröfsere  Intensität  des  bei  diesen  Versuchen  zur  Erzeugung  d 
Passivreizes  verwendeten  Lichtes  (s.  o.)  machte  es  unmöglich,  dassell 
mittels  des  Episkotisters  so  weit  zu  verdunkeln,  als  zur  direkten  B 
Stimmung  der  einfachen  (ohne  Hemmung  sich  ergebenden)  Reizschwel 
erforderlich  gewesen  wäre. 


üniersuehungeti  über  psychische  Hemmurig,  329 

Die  abnormal  niedrigen  Werthe,  welche  für  die  letzten  zwei 
Reizschwellen  in  Tab.  X  gefunden  wurden,    sind  schwer  zu  er- 
klären ;  am  nächsten  liegt  wohl  die  Vermuthung,  dafs  trotz  aller 
Vorsichtsmaafsregeln,  bei  der  geringen  Entfernung  zwischen  den 
Diaphragmaöffnungen  und   dem   nahen  Stande   der  das  starke 
Licht  liefernden  Lampe,   ein  Bruchtheil  dieses  Lichtes  zur  Er- 
hellung der  kleineren,  den  Passivreiz  abgebenden  Diaphragma- 
öffnung  hat  mitwirken  können.    Die  übrigen  Zahlen  bestätigen 
in  sehr   befriedigender  Weise   das   Proportionalitätsgesetz;    des 
weiteren  ergiebt  sich  aus  denselben,  dafs  der  Hemmimgscoefficient, 
welcher  bei  6  cm  Entfernung  der  Diaphragmaöffnungen  rund  ein 
Dreifsig-  bis  Vierzigtausendstel    betrug,    sich  bei  Entfernungen 
von  4   bezw.   2   cm    auf   ein   Zehntausendstel   bezw.  ein   Zwei- 
tausendstel erhöht.    Die  Hemmungswirkung  nimmt  also,  ähnlich 
wie  für  Druckempfindungen  festgestellt  wurde,  bei  abnehmender 
Entfernung  zwischen  den  gereizten  Theilen  der  Sinnesfläche  rasch 
zu,  was  hier  wie  dort  auf  die  gröfsere  Schwierigkeit,   die  Auf- 
merksamkeit von  einer  dem  Fixirpunkte   näherliegenden  Stelle 
abgelenkt  zu  erhalten,  zurückzuführen  sein  wird. 

Sohliefslich  habe  ich  noch  über  einige  Controlversuche  zu 
berichten,  durch  welche  naheliegende  Zweifel  an  der  Berechtigung, 
die  vorliegenden  Resultate  dem  allgemeinen  Begriffe  der  Hemmimg 
unterzuordnen,  auf  ihre  Stichhaltigkeit  geprüft  werden  sollten. 
Mit  Rücksicht  auf  den  grofsen  Intensitätsunterschied  zwischen 
Activ-  und  Passivreiz  wäre  es  nämlich  denkbar,  dafs  das  von 
jenem  (der  gröfseren  Diaphragmaöffnung)  ausstrahlende  Licht 
durch  Reflexion  oder  Zerstreuung  im  Apparate  oder  im  Auge 
der  Versuchsperson  eine  dem  schwachen  Passivreiz  gegenüber 
nicht  zu  vernachlässigende  Erleuchtung  des  ganzen  Sehfeldes 
zu  Stande -brächte;  wenn  dem  aber  so  wäre,  so  könnte  die  fest- 
gestellte Erhöhung  der  Reizschwelle  einfach  als  eine  durch  jene 
Erhellung  des  Hintergrundes  nach  dem  WEBER'schen  Gesetz  zu 
erklärende  Erhöhung  der  absoluten  Unterschiedsschwelle  gedeutet 
werden,  und  die  Annahme  einer  Hemmungswirkung  bei  Licht- 
empfindungen wäre  eine  überflüssige  Hypothese.  Allerdings 
müfste  in  jenem  Gedankengange  Eines  sonderbar  erscheinen, 
welches  sich  für  die  Hemmungstheorie  leicht  erklären  läfst, 
nämlich  die  in  Tabb.  VH,  VHI  und  IX  regelmäfsig  zurück- 
kehrende weit  überproportionale  Erhöhung  der  Reizschwelle  bei 
Verwendung  stärkster  Activreize;    denn  dafs  hier  das  reflectirte 


330  ö^-  Heymans. 

und  zerstreute  Licht,  obgleich  es  für  die  Versuchsperson  völlig 
unmerklich  bleibt,  schon  stark  genug  sein  würde  um  die  be- 
kannte „obere  Abweichimg"  vom  WEBER'schen  Gesetze  eintreten 
zu  lassen,  ist  doch  wohl  ausgeschlossen.  Zur  Erklärung  der  be- 
treffenden Thatsache  würde  demnach  jene  Theorie  doch  wieder 
80  wie  so  eine  Hemmungswirkung  gelten  lassen  müssen,  während 
die  hier  vertretene  Auffassung  für  die  Erklänmg  des  ganzen 
vorUegenden  Thatbestandes  mit  der  Hemmimg  allein  auskommt 
Trotz  alledem  kommt  jedoch  jenen  beiden  Factoren,  wenn  auch 
nur  als  möglichen  Fehlerquellen,  von  vornherein  eine  gewisse 
Wahrscheinlichkeit  zu ;  und  so  habe  ich  denn  geglaubt,  dieselben 
nicht  unberücksichtigt  lassen  zu  dürfen. 

Was  nun  zuerst  die  Lichtreflexion  innerhalb  des 
Apparates  betrifft,  so  liefs  sich  der  etwaige  Einflufs  derselben 
ohne  Schwierigkeit  experimentell  bestimmen.  Allerdings  war 
nicht  daran  zu  denken,  das  äufserst  geringe,  durch  die  Augen 
der  Versuchsperson  und  die  sie  umgebenden  schwarzen  Sammt- 
tücher  zurückgeworfene  Lichtquantum  direct  zu  messen;  wohl 
aber  konnte  untersucht  werden,  ob  und  inwiefern  dasselbe  für 
sich  eine  Erhöhung  der  Reizschwelle  bewirken  könne.  Zu 
diesem  Zwecke  wurde  innerhalb  des  von  dem  Holzschirm  und 
den  Sammttüchern  eingeschlossenen  Raumes  auf  einem  Stativ 
ein  kleiner  schwarzer  Papierschirm  so  aufgestellt,  dafs  das  von 
der  gröfseren  Diaphragmaöffnung  ausstrahlende  Licht  von  den 
Augen  der  Versuchsperson  abgeblendet  wurde,  überall  sousthin 
sich  aber  frei  verbreiten  konnte;  und  sodann  bei  verschiedenen 
Litensitäten  dieses  Lichtes  die  Reizschwelle  für  das  andere  in 
der  vorhin  angegebenen  Weise  bestimmt.  Es  war  also  bei  diesen 
Versuchen  nur  die  Wirkung  des  Activreizes  im  Auge  und  im 
Bewufstsein  der  Versuchsperson  ausgeschaltet,  während-  die  Licht- 
reflexion im  Apparate  sich  in  gleichem  Maafse  wie  früher  geltend 
machen  konnte;  hätte  also  jene  Lichtreflexion  ganz  oder  zum 
Theil  die  früher  festgestellte  Erhöhung  der  Schwelle  verursacht, 
so  müfste  eine  solche  sich  auch  jetzt  ergeben  haben.  Statt 
dessen  war  aber  genau  das  Umgekehrte  der  Fall:  bei  Ver- 
stärkung des  Activreizes  von  961  bis  15384  ging  die  Reizschwelle 
allmählich  von  0,067  bis  auf  0,025  zurück,  während  bei  Ein- 
führung des  stärksten  Activreizes  (zu  27349)  selbst  ohne  jede 
Beleuchtung  von  aufsen  die  kleinere  Diaphragmaöffnung  erkannt 
wurde.    Auch  läfst  sich  dieses  Ergebnifs  unschwer  erklären :  die 


Untersuchungen  übei'  psychische  Hemmung,  331 

beobachtete  Mattglasscheibe  wirft  nämUch  mehr  Licht  zurück 
als  die  umgebende  schwarze  Fläche  des  Diaphragmas;  das  von 
innen  auffallende  Licht  begünstigt  denmach  die  Unterscheidung 
beider  statt  dieselbe  zu  erschweren.  Jedenfalls  beweisen  diese 
Versuche,  dafs  Lichtreflexion  innerhalb  des  Apparates  die  früher 
beobachtete  Erhöhung  der  Reizschwelle  nicht  verschuldet  haben 
kann;  vielmehr  würden  ohne  dieselbe  sämmtliche  Schwellen- 
werthe  noch  um  ein  Geringes  höher  ausgefallen  sein  als  jetzt 
der  Fall  gewesen  ist. 

Die  zweite  Fehlerquelle,  welche  wir  womöglich  auszuschhefsen 
hätten,  bezieht  sich  auf  Verhältnisse  innerhalb  des  Auges. 
BekanntHch  sieht  man  in  der  Umgebung  eines  sehr  hellen,  von 
dunkelm  Grunde  sich  abhebenden  Lichtes  einen  nebligen  weifsen 
Schein ;  wenn  man  mit  Helmholtz  *  dieses  Phänomen  auf  diffuse 
Zerstreuung  und  Reflexion  des  Lichtes  innerhalb  des  Auges 
zurückführt,  so  wird  es  wahrscheinlich  bei  schwächerem  Lichte, 
nur  in  geringerem  oder  selbst  gar  nicht  merklichem  Maafse, 
gleichfalls  vorkommen;  wollte  man  nun  schhefslich  noch  an- 
nehmen, dafs  bei  den  oben  besprochenen  Versuchen  sich  dieser 
den  Activreiz  umgebende  Nebelschein  bis  in  die  Gegend  des 
Passivreizes  verbreitet  habe,  so  käme  wieder  eine  Erhellung  des 
Hintergrundes  heraus,  aus  welcher  in  oben  angedeuteter  Weise 
die  scheinbare  Erhöhung  der  Reizschwelle  erklärt  werden  könnte. 
Hier  ist  es  nim,  da  wir  nicht  einen  Schirm  innerhalb  des  Auges 
aufzustellen  vermögen,  nicht  so  leicht  wie  vorher,  festzustellen 
was  die  Zerstreuung  ohne  Hemmung  leisten  kann;  wohl  aber 
kann  umgekehrt  untersucht  werden,  was  die  Hemmung  ohne 
Zerstreuung  zu  Stande  bringt.  Wenn  wir  nämUch  unsere  Ver- 
suchseinrichtung so  modificiren,  dafs  der  Activreiz  auf  das  eine, 
der  Passivreiz  auf  das  andere  Auge  der  Versuchsperson  einwirkt, 
so  kann  jene  vermuthete  objective  Erhellung  eines  gröfseren 
Theiles  der  Netzhaut  nur  in  jenem  Auge  stattfinden,  und  der 
Hintergrund,  auf  welchem  der  Passivreiz  dem  anderen  erscheint, 
bleibt  völlig  dunkel;  die  Bedingungen,  unter  welchen  die  oben- 
erwähnte Erkläi-ung  zulässig  erscheinen  könnte,  sind  also  auf- 
gehoben. Dieses  zu  bewerkstelligen,  wurde  zwischen  den  Augen 
der  Versuchsperson  und  dem  Diaphragma  ein  stereoscopf  örmiger, 
vorn  lind  hinten  offener,   durch  eine  verticale  Scheidewand  in 


»  Physiologische  Optik,  2.  Aufl ,  S.  178. 


332 


G.  Heymans. 


zwei  Hälften  vertheilter  Kasten  aufgestellt,  wie  in  der  Figur 
durch  Strichellinien  angedeutet  ist;  die  Scheidewand  erstreckte 
sich  bis  unmittelbar  an  das  Diaphragma,  so  dafs  der  Activreiz 
nur  dem  linken,  der  Passivreiz  nur  dem  rechten  Auge  sich 
irgendwie  bemerklich  machen  konnte.  Uebrigens  waren  die 
Versuche  genau  so  wie  diejenigen,  über  welche  in  Tabb.  VU 
und  VIII  Bericht  erstattet  wurde,  eingerichtet.  Das  Ergebnifs 
war  folgendes: 

Tabelle  XL 


Intensität 

des 
Activreizes 

Anzahl 

der 

Versuche 

Mittlere 

Reiz- 
schwelle 

Wahr- 
scheinlicher 
Fehler 
derselben 

Hemmongs- 
coefficient 

1 
Berechnete 

Reiz- 
schwelle 

0 

961 

2034 

•       3039 

3846 

5023 

6837 

9846 

15384 

27  349 

12 
12 
12 
12 
12 
12 
12 
12 
12 
12 

0,048 
0,051 
0,054 
0,058 
0,070 
0,068 
0,068 
0,082 
0,096 
0,119 

0,002        1 

0,002 

0,002 

0,002 

0,004 

0,003 

0,003 

0,004        1 

0,004 

0,004 

0,0000027 

0,051 
0,054 
0,056 
0,059 
0,061 
0,065 
0,069 
0,078 
0,093 
0,125 

Von  diesen  Zahlen  darf  wohl  mindestens  soviel  mit  gutem 
Gewissen  behauptet  werden,  dafs  sie  deutlich  die  Tendenz  be- 
kunden, sich  dem  Proportionalitätsgesetze  zu  fügen.  Uebrigens 
sind  hier  die  Hemmungswirkungen  bedeutend  schwächer  als  bei 
den  früheren  binocular,  sonst  aber  unter  gleichen  Bedingungen 
angestellten  Versuchen;  was  zu  erwarten  war.  Denn  schon 
während  der  Experimente  erklärte  die  Versuchsperson  wieder- 
holt, dafs  der  Activreiz  jetzt  kaum  noch  störend  wirken  könne, 
da  sie  denselben  bei  der  angestrengten  Fixirung  des  Passiv- 
reizes fast  ganz  aus  dem  Auge  verliere ;  welche  Aussage  dadurch 
eine  interessante  Bestätigung  erhielt,  dafs  einmal  während  eines 
Versuches  durch  eine  zufällige  Verschiebung  der  Lampe  der 
Activreiz  für  die  eine  Hälfte  verdunkelt  und  für  die  andere  gelb 
statt  weifs  gefärbt  wurde,  ohne  dafs  die  Versuchsperson  etwas 
davon  bemerkte.    Vermuthlich  haben  iustinctive,  kaum  bewufste 


Untersuchungen  über  psychische  Hemmung.  333 

und  schwer  auszuscbliefsende  Augenbewegungen  die  geringere 
Merklichkeit  des  störenden  Lichtes  verschuldet;  jedenfalls  genügt 
dieselbe  vollständig  um  die  schwächere  Wirkung  dieses  Lichtes 
zu  erklären.  Dafs  trotz  derselben  dennoch  fast  jede  Verstärkung 
des  Activreizes  eine  entsprechende  Erhöhung  der  Schwelle  für 
den  Passivreiz  mit  sich  führte,  macht  es  in  hohem  Grade  wahr- 
scheinlich, dafs  auch  die  früher  besprochenen  Hemmimgs- 
wirkungen  von  der  Lichtzerstreuung  im  Auge  wesentlich  unab- 
hängig waren. 

Dennoch  wäre  es  interessant,  wenn  wir  nun  auch  noch  die 
umgekehrte  Probe  machen,  also  untersuchen  könnten,  was  die 
Lichtzerstreuung  im  Auge,  für  sich  allein,  zu  leisten  vermag. 
Ich  sagte  vorhin,  dazu  wäre  eigentUch  erfordert,  einen  Schirm 
innerhalb  des  Auges  aufzustellen;  durch  diese  FormuUrung  des 
Problems,  welche  scheinbar  nur  seine  Unlösbarkeit  zum  Aus- 
druck bringt,  wurde  schliefsUch  der  Weg  zu  einer  einfachen 
Lösung  desselben  gewiesen.  Die  Herstellung  eines  solchen 
Schirmes,  welche  uns  allerdings  unmöglich  sein  würde,  hat 
nämlich  die  Natur  selbst  besorgt,  indem  sie  das  Auge  mit  dem 
blinden  Fleck  ausstattete:  werden  die  Versuche  so  eingerichtet, 
dafs  das  hemmende  Licht  auf  den  blinden  Fleck  fällt,  so  sind 
ja  die  Verhältnisse  durchaus  die  nämhchen,  wie  wenn  wir  inner- 
halb des  Auges  vor  dem  beleuchteten  Netzhauttheile  einen 
undurchsichtigen  Schirm  aufgestellt  hätten;  Reflexion  und  Zer- 
streuung des  Lichtes  im  Auge  sowie  im  Apparate  findet  in 
gleicher  Weise  wie  früher  statt,  die  hemmende  Lichtempfindung 
aber  ist  ausgeschaltet.  Dieses  zu  erreichen,  war  nur  nöthig,  die 
früher  verwendeten  Diaphragmen  durch  andere  zu  ersetzen,  in 
welchen  die  den  Activreiz  liefernde  Oeffnung  verkleinert  (Durch- 
messer 1  cm)  und  etwas  nach  links  und  nach  unten  verschoben 
war  (Mittelpunktsentfernung  der  beiden  OeflPnungen  7  cm),  und 
schliefslich  die  Beobachtung  monocular  stattfinden  zu  lassen. 
Bei  den  betreffenden  Versuchen  war  mir  Dr.  E.  Wiersma,  Privat- 
docent  der  Psychiatrie  an  der  hiesigen  Universität,  als  Versuchs- 
person behülflich,  wofür  ich  ihm  hier  meinen  besten  Dank  aus- 
spreche. Die  Versuche  fanden  in  dreifacher  Weise  statt :  einmal 
so,  dafs  der  Activreiz  durch  einen  schwarzen  Papierschirm  für 
das  Auge  der  Versuchsperson  verdeckt  erhalten,  und  also  die 
einfache  Reizschwelle  bestimmt  wurde ;  sodann  indem  der  Papier- 
schirm  entfernt,    und    der   Kopf   so   gestellt  wurde,   dafs   beim 


334 


G.  Heyniatis. 


Fixiren  des  Passivreizes  der  Activreiz  den  blinden  Fleck  traf 
und  also  nicht  gesehen  wurde;  schUefsUch  so,  dafs  die  beiden 
Diaphragmen  umgekehrt  (auf  den  Kopf  gestellt)  wurden,  dem- 
zufolge das  Licht  des  Activreizes  auf  einen  empfindlichen  Theil 
der  Netzhaut  fiel  und  zur  Wahrnehmung  gelangte.  Bei  aUen 
diesen  Versuchen  wurde  mit  dem  linken  Auge  beobachtet  und 
das  rechte  geschlossen  gehalten;  da  überall  das  nämliche  Paar 
Diaphragmen  verwendet  wurde,  blieben  auch  Gröfse  und  Ent- 
fernung der  Reize  sich  vollkommen  gleich.  Die  Versuche  ver- 
theilten  sich,  von  mehreren  Vorversuchen  abgesehen,  auf  drei 
Abende;  an  jedem  Abend  wurden  nach  einer  Viertelstunde 
Vorbereitung  im  Dunkeln,  aus  jeder  Gruppe  6  Versuche  ab- 
solvirt;  die  Ordnung  der  Versuche  war  so  bestimmt,  dafs 
diejenigen  aus  je  einer  Gruppe  einmal  zuerst,  einmal  zuzweit 
und  einmal  zuletzt  an  die  Reihe  kamen.  —  Im  Anfang  er- 
wies es  sich  als  nicht  ganz  leicht,  den  zu  beobachtenden, 
mittels  des  MARBE'schen  Apparates  bis  zur  Unmerklichkeit  sich 
verdimkelnden  Passivreiz  unausgesetzt  im  Fixationspunkte,  und 
damit  das  Bild  des  Activreizes  auf  dem  blinden  Fleck  zu 
erhalten,  und  auch  später  machte  sich  bei  unwillkürlichen  Augen- 
bewegungen der  Activreiz  noch  bisweilen  bemerklich;  es  wurde 
dann  aber  stets  mit  der  Abgabe  eines  Urtheils  gewartet,  bis  es 
gelungen  war,  denselben  wieder  auf  den  bUnden  Fleck  zurück- 
zubringen. Indem  letzteres  bei  stärkeren  Reizen,  welche  sobald 
sie  bemerkt  werden,  fast  unwiderstehlich  den  BUck  ajif  sich 
ziehen,  etwas  Zeit  kostete,  demzufolge  hier  eine  Complication 
durch  die  Nachwirkung  des  wahrgenommenen  hellen  Lichtes  zu 
befürchten  war,  wurde  nur  mit  einem  schwachen  Activreiz 
(=  118  mal  die  früher  eingeführte  Einheit)  experimentirt  Das 
Resultat  war  folgendes: 

Tabelle  XII. 

(Activreiz  =  118.) 


VersuchseinrichtuDg 

Anzahl 
der 

Mittlere 
Reiz- 

Wahr 
scheinlicher 

Fehler 
derselben 

Versuche 

schwelle 

Activreiz  verdeckt 

18 

0,115 

0,011 

Activreiz  beleuchtet  bl.  Fleck 

18 

0,109 

0,008 

Activreiz  wahrgenommen 

18 

0,221 

0,009 

Untersuchungen  über  psychische  Hemmung.  335 

Es  stellt  sich  also  heraus,  dafs,  während  die  Reizschwelle 
durch  den  wahrgenommenen  Activreiz  nahezu  verdoppelt  wird 
I  welche  in  Vergleich  mit  unseren  früheren  Ergebnissen  uner- 
wartet starke  Wirkung  wohl  auf  die  geringere  Uebung  der  jetzigen 
Versuchsperson  zurückgeführt  werden  muTs),  sie  durch  den  nicht 
wahrgenommenen,  den  blinden  Fleck  beleuchtenden  Activreiz 
keine  merkliche  Steigerung  erfährt.  Damit  scheint  mir  aber  die 
Annahme,  dafs  die  oben  besprochenen  Hemmungserscheinungen 
auf  Reflexion  und  Zerstreuung  des  Lichtes  im  Auge  beruhen 
sollten,  endgültig  zurückgewiesen  zu  sein. 


IT.  Folgerungen. 

1.  Die  Beziehung  zwischen  Reiz  und  Empfindung. 

Lidem  wir  jetzt  versuchen  wollen,  aus  den  in  diesem  und  in 
dem  vorhergehenden  Artikel  besprochenen  Thatsachen  einige 
weitere  theoretische  Folgerungen  abzuleiten,  wird  uns  an  erster 
SteDe  die  Frage  zu  beschäftigen  haben,  ob  diebetreffenden 
Thatsachen,  deren  Zusammengehörigkeit  durch  das  gemein- 
same Gesetz,  welches  sie  beherrscht,  verbürgt  zu  werden  scheint, 
als  rein  physiologische  oder  als  psychologische  ge- 
dacht werden  müssen.  Man  wolle  den  Sinn  dieser  Frage 
nicht  mifsverstehen.  Ich  bin  sehr  weit  davon  entfernt,  psycho- 
logische und  physiologische  Auffassungen  als  ein  Entweder-Oder 
einander  gegenüberstellen  zu  wollen;  vielmehr  halte  ich  es  für 
höchst  wahrscheinlich,  dafs  alles  Psychische  seine  physiologische 
„Kehrseite"  hat,  das  heifst,  nach  den  Principien  des  an  anderer 
J^telle  von  mir  vertheidigten  idealistischen  Monismus  S  dafs  es 
unter  günstigen  Umständen  durch  Vermittelung  der  Sinnes- 
organe die  Wahrnehmung  physiologischer  Erscheinungen  er- 
zeugen kann.  Durch  dieses  Zugeständnifs  verliert  jedoch  die 
oben  aufgeworfene  Frage  keineswegs  ihre  Bedeutung.  Denn  von 
sömratlichen  in  meinem  Körper  wahrzunehmenden  physiologi- 
schen Processen  entsprechen  vermuthlich  nur  wenige  (die  oder 
einige  Hirnprocesse)  in  der  angedeuteten  Weise  den  mir  gleich- 
zeitig gegebenen  Bewufstseinserscheinungen,  während  den  anderen 


*  Zur  Parallel  ism  lief  rage,  diese  ZiUs-hri/t  17,  62—105. 


336  ö^-  Heymans. 

unbekannte  reale  Processe  zu  Grunde  liegen,  welche  jedenfalls 
in  „meinem"  Bewufstsein  nicht  vorliegen,  wenn  sie  auch  mit 
dem  Inhalte  desselben  vielfach  ursächhch  zusammenhängen. 
Die  Frage  nach  der  physiologischen  oder  psychologischen  Natur 
irgendwelcher  gegebener  Verhältnisse  kann  demnach  überall 
nur  folgenden  Sinn  haben :  sind  diese  Verhältnisse  in  Processen 
begründet,  von  welchen  uns  nur  die  physiologische  Seite  ge- 
geben sein  kann,  oder  aber  in  solchen,  welche  wir  im  eigenen 
Bewufstsein  als  psychische  vorfinden?  Praktisch  fällt  diese  Frage 
mit  der  anderen,  ob  die  betreffenden  Processe  sich  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  als  solche  in  den  peripheren  Sinnesorganen  oder 
den  nervösen  Leitungsbahnen,  oder  aber  als  solche  im  Central- 
nervensystem  darbieten,  nahezu  zusammen.  Nur  wo  jene  Frage 
in  letzterem  Sinn  beantwortet  werden  mufs,  gehören  die 
Thatsachen,  auf  welche  sie  sich  bezieht,  zum  Forschungsgebiet 
des  Psychologen;  allerdings  hat  sich  derselbe  als  solcher  blos 
mit  der  psychischen  Seite  dieser  Thatsachen  zu  befassen,  während 
das  Suchen  nach  körperlichen  Begleiterscheinungen  principiell 
dem  Physiologen  zu  überlassen  ist. 

Dafs  wir  es  nun  im  vorliegenden  Falle  mit  in  diesem  Sinne 
psychologischen  Verhältnissen  zu  thun  haben,  halte  ich  aus 
mehrfachem  Grunde  für  äufserst  wahrscheinlich.  Erstens  scheint 
mir  die  gemeinsame  Gesetzmäfsigkeit,  welche  die  gesammten 
festgestellten  Thatsachen  beherrscht,  eher  auf  einen  psychischen 
bezw.  centralen  Ursprung  derselben,  als  auf  einen  solchen  aus 
Verhältnissen  in  den  verschiedenartig  eingerichteten  und  in  ver- 
schiedener Weise  die  Reize  verarbeitenden  Sinnesorganen  hinzu- 
weisen. Sodann  ist  von  vornherein  schwer  einzusehen,  warum 
die  Einführung  des  einen  Reizes  die  Wirksamkeit  des  anderen 
herabsetzen  sollte.  Die  Reize,  welche  in  den  vorUegenden  Ver- 
suchen zur  Verwendung  gelangten,  waren  entweder  quaUtativ 
verschieden  oder  räumlich  getrennt;  in  diesem  Falle  ist  sicher, 
in  jenem  mit  gröfserer  oder  geringerer  WahrscheinUchkeit  an- 
zunehmen, dafs  sie  verschiedene  Theile  der  Sinnesflächen  afficiren, 
und  auf  verschiedenen  Wegen  zum  Gehirn  gelangen.  Wollte 
man  aber  Ausstrahlungen  der  nervösen  Processe  auf  benachbarte 
Elemente  oder  Bahnen  annehmen,  durch  welche  diese  gereizt, 
und  also  die  Unterscheidung  eines  hinzugefügten  äufseren  Reizes 
erschwert  werden  sollte,  so  wäre  dagegen  zu  bemerken,  dafe 
nach   dieser  Auffassung,   wenn   beispielsweise  nach  Tab.  111  des 


Unter9%ichungen  übet'  psychische  Hemmung.  337 

ersten  Artikels  die  Rothempfindung  durch  blau  oder  weifs  mehr 
als  durch  roth  gehemmt  wird  \  die  Wirkung  dieser  Ausstrahlung 
der  Blau-  oder  Weifsreizung  auf  die  rothempfindenden  Fasern 
diejenige  einer  directen  Reizimg  durch  roth  übertreffen  müfste, 
was  doch  kaum  glaubUch  ist.    Aufserdem  wird  sich  bald  ergeben, 
dafs  wir,   statt  die  Hemmung  mittels  Hülfshypothesen  aus  dem 
WEBER'schen  Gesetze   zu   erklären,    einfacher  und  ohne  Hülfs- 
hypothesen das  WEBEB'sche  Gesetz  aus  der  Hemmung  erklären 
können.  —  SchliefsUch  aber  und   hauptsächhch   läfst   sich    die 
tiefgehende  Analogie  nicht  verkennen,  welche  zwischen  den  hier 
besprochenen  Hemmungswirkungen  und  anderen,   welche  ganz 
sicher  der  psychischen  Sphäre  angehören,   besteht.    Ich  denke 
hierbei  besonders  an  alle   diejenigen  Erscheinungen,  welche  in 
der  älteren  Psychologie  unter  dem  Begriff  der   „Enge  des  Be- 
wufstseins"    zusammengefafst   wurden,    und    mittels    derer   sich 
zwischen  den  einfachsten   sensorischen  und  den  complicirtesten 
iQtellectuellen  oder  emotionalen  Hemmungsvorgängen  mit  leichter 
Mühe  ein  continuirlicher  Uebergang  herstellen  läfst.    Oder  wäre 
es  vielleicht   möglich,    hier   irgendwo    eine    scharfe   Grenze   zu 
ziehen  ?    Man  vergleiche  zunächst  die  im  Vorhergehenden  unter- 
suchten Hemmungswirkungen  mit  anderen,   in  der  Einleitung 
[diese  Zeitschr.  21  S.  322)  genannten :   etwa  mit  der  Verdrängung 
einer    schwächeren    elektrischen    Hautempfindung    oder    eines 
schwächeren  körperlichen  Schmerzes   durch  stärkere,  jedoch  an 
ganz  verschiedenen  Körperstellen  auftretenden  Eindrücken  gleicher 
Natur.    Für   diese  Fälle  ist  eine  Erklärung  aus  peripherischen 
Processen  bereits  vollständig  ausgeschlossen ;  indem  sich  dieselben 
aber  durch  Verringerung  des  Abstandes  zwischen  den  gereizten 
Körperstellen   allmählich    in    die   im   vorhergehenden  Abschnitt 
besprochenen  Erscheinungen  überführen  lassen,  wird  man  sich 
kaum  veranlafst  fühlen,  sie  scharf  von  diesen  zu  trennen.    Nun 
denke  man  sich  aber  den  Fall,  jener  starke  körperliche  Schmerz 
mache  es  einem  Maler  oder  einem  Mathematiker  unmöglich,  be- 
stimmte Farben-  oder  Linienverbindungen  in  der  Vorstellung  zu 
Stande  zu  bringen  oder  zu  erhalten;  oder  auch  umgekehrt:   die 
intensive  Beschäftigung  mit  interessanten  Farben-  oder  Linien- 
verbindungen bringe  beim  Maler  oder  beim  Mathematiker  einen 
leichten  Schmerz  zum  Verschwinden :  liegt  nun  irgend  ein  Grund 
vor    um   anzunehmen,    dafs   jener  Schmerz    in   anderer  Weise 

*  Diese  Zeitschrift  21,  335. 
Zeitschrift  für  Psychologie  26.  2'2 


338  G.  Htynmm. 

hemmend   wirken,   dieser    in   anderer   Weise   gehemmt   werden 
sollte  als  früher,  weil  denselben  jetzt  Vorstellungen  statt  sinn- 
Ucher    Empfindungen    und    Gefühle    gegenüberstehen?      Und 
sehliefslich  hält  es  nicht  schwerer,   diese   gemischten  Fälle  mit 
der   rein   ideationellen  Hemmung   einerseits,    wie  mit  der  rein 
sensorischen   andererseits,   in   Verbindung   zu  bringen:    der  in 
seinen  Büchern  vertiefte  Gelehrte  überhört  nicht  nur  den  Strafsen- 
lärm,  sondern  vergifst  auch  einer  getroffenen  Verabredung  Folge 
zu    leisten;    der    verwundete   Krieger    spürt   in    der   Hitze   des 
Kampfes  nicht  nur  keinen  Schmerz,  er  denkt  auch  nicht  an  die 
Gefahr   für   das   eigene  Leben;    dem  beglückten  Liebhaber  ist 
nicht  nur  sein  Kopfweh,  sondern  auch  seine  pessimistische  Welt- 
auffassung spurlos  verschwunden.    Es  wäre  allerdings  voreiüg, 
mit  Sicherheit  zu  behaupten,  dafs  alle  diese  Fälle  einer  identischen 
psychischen  Gesetzmäfsigkeit    unterliegen;    das   wird   erst   nach 
sehr  vielen  weiteren  Untersuchungen  möglich  sein.    Soweit  aber 
unsere  jetzigen  Kenntnisse  reichen,  liegt  kein  Grund  vor,  einige 
derselben  principiell  von  den  anderen  zu  trennen;  insbesondere 
wird  man  kaum  die  psychische  Natur  der  letzteren  zugestehen 
können,  ohne  auch   diejenige  der  ersteren* mindestens  für  sehr 
wahrscheinlich  zu  halten.    Nur  auf  Einen  Punkt,  welcher  gegen 
diese  Gleichsetzung   geltend   gemacht   werden   könnte,    ist   hier 
noch  kurz  einzugehen.    Auf  dem  Londoner  Psychologencongrefs 
von   1892,   wo  die  hier  vertretene  Auffassung  zuerst  im  Unnrifs 
vorgetragen  wurde,  vertheidigte  Prof.  Sully  die  Nothwendigkeit 
einer  scharfen  Sonderung  zwischen  sensorischer  und  ideationeller 
Hemmung  mit  einer  Berufung  auf  das  angeblich  durchaus  ver- 
schiedene Verhältnifs  beider  zur  willkürlichen  Aufmerksamkeit: 
„the  very  fact,  that  in  the  former  domain  an  effort  of  voluntary 
attention   was   (save  within  certain  narrow  limits)  inoperative  in 
rendering  the   unperceived  differences  observable,   appeared   to 
him   sufficiently  to  differentiate  the  two  groups  of  phenomena."  * 
Ich  kann   die   Berechtigung  dieses  Schlusses   nicht  zugestehen: 
denn  einmal  kann  ja  auch  bei  ideationeller  Hemmung  die  Arbeit 
der  willkürlichen  Aufmerksamkeit  erfolglos  bleiben  (so  wenn  der 
von   tiefem  Leid   oder  hohem  Glück  Betroffene   vergeblich  ver- 
sucht,  die  für   die  tägliche  wissenschaftliche   oder  Berufsarbeit 
erforderten    Vorstellungen   im    Bewufstsein   gegenwärtig    zu    be- 

*  International  Congrefs  of  Experi mental  Psychology,  Seeond  Session, 
London  1892,  S.  114. 


Untermchungen  über  psychische  Hemmutig.  339 

halten);  und  andererseits  gelingt  es  oft  ohne  Mühe,  eine  rein 
sensorische  Hemmung  (z.  B.  die  Verdrängung  der  Wahrnehmung 
des  ührtickens  durch  das  Tagesgeräusch)  mittels  willkürlicher 
Anspannung  der  Aufmerksamkeit  zeitweilig  ihrer  Wirksamkeit 
zu  berauben.  Die  Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit,  einer  ge- 
gebenen Hemmung  durch  willkürliche  Anspannung  der  Auf- 
merksamkeit mit  Erfolg  entgegenzuarbeiten,  hängt  also  nicht 
davon  ab,  ob  die  betreffende  Hemmung  ideationeller  oder  sen- 
sorischer Natinr  ist,  sondern  einfach  davon,  ob  die  Aufmerksam- 
keit während  der  eingetretenen  Hemmung  schon  mit  maximaler 
Intensität  auf  die  gehemmten  Bewufstseinsinhalte  gerichtet  war 
oder  nicht  In  ersterem,  bei  allen  hier  besprochenen  Versuchen 
gegebenem  Falle  kann  der  gehemmte  Inhalt  durch  eine  Steigerung 
der  Aufmerksamkeitsspannung  unmöglich  zur  MerkUchkeit  ver- 
helfen werden;  nicht  deshalb  aber,  weil  eine  solche  Steigerimg 
unwirksam  wäre,  sondern  weil  sie  ex  hypothesi  unmöghch  ist. 
Im  zweiten  Falle  dagegen  kann  sich  die  Aufmerksamkeit  dem 
gehemmten  Inhalte  zuwenden,  bezw.  die  diesem  Inhalte  bereits 
zugewendete  Aufmerksamkeit  sich  verstärken,  wodurch  derselbe 
dann  unter  Umständen  wieder  merküch  werden  kann.  —  Die 
Gesanmitheit  der  einschlägigen,  oben  durch  einige  typische  Bei- 
spiele erläuterten  Fälle  läfst  sich  demnach,  wie  mir  scheint,  am 
einfachsten  nach  folgendem,  in  seiner  Allgemeinheit  allerdings 
noch  durchaus  hypothetischem  Schema  überschauen.  Jeder  Vor- 
stellung im  weitesten  Sinne  des  Wortes  kommt,  anderen  Vor- 
stellungen gegenüber,  eine  gewisse  Hemmungskraft  und  ein  ge- 
wisser Hemmungswiderstand  zu,  welche  von  verschiedenen  Um- 
ständen, jedenfalls  von  der  Intensität  und  dem  Gefühlston  der- 
selben, abhängen,  und  durch  willkürliche  Zuwendung  der  Auf- 
merksamkeit verstärkt  werden  können.  Ob  Hemmuugskraft  und 
Hemmungswiderstand  immer,  wie  in  unserem  ersten  Artikel  für 
bestimmte  Fälle  festgestellt  wurde,  einander  proportional  ver- 
laufen, mufs  vorläufig  dahingestellt  bleiben.  Ist  nun  die  In- 
tensität und  der  Gefühlston  einer  Vorstellung  gering,  so  wird 
dieselbe  nur  wenn  man  die  Aufmerksamkeit  derselben  zuwendet, 
merklich  hemmend  wirken  können;  bei  einem  etwas  höheren 
Grade  der  Intensität  oder  des  Gefühlstones  wird  sie  auch  ohne- 
dies, bei  einem  noch  höheren  Grade  selbst  wenn  man  die  Auf- 
merksamkeit   auf    eine    bestimmte    andere    Vorstellung    richtet, 

diese   zu    hemmen   im   Stande    sein.     Und   schliefslich  kann  es 

22* 


340  Cr-  Heymans. 

vorkommen,  dafs  eine  Vorstellmig,  kraft  ihrer  Intensität  oder 
ihres  Gefühlstons,  solchermaafsen  das  Bewufstsein  in  Ansprach 
nimmt,  dafs  sie  die  Motive,  welche  zu  einer  willkürlichen  Ab- 
wendimg der  Aufmerksamkeit  führen  könnten,  selbst  nicht  auf- 
kommen läfst,  und  so  zeitweilig  die  Alleinherrschaft  an  sich 
reifst.  Nimmt  man  noch  hinzu,  dafs  selbstverständUch  associativ 
verbundene  Vorstellimgen  auch  in  dieser  Verbindung  hemmen 
und  der  Hemmung  wiederstehen,  so  braucht  man,  wie  mir 
scheint,  keine  weiteren  Gesichtspunkte,  um  die  Gesammtheit  der 
vorüegenden  Thatsachen,  soweit  wir  sie  überhaupt  kennen,  ver- 
ständlich zu  machen. 

Wenn  nach  alledem  die  in  dieser  Arbeit  untersuchten 
Hemmungserscheinungen  als  psychische  Thatsachen,  also,  ob- 
gleich sie  an  den  Reizen  gemessen  wurden,  doch  als  Wirkungen 
zwischen  Empfindungen  gedacht  werden  müssen,  so  ergiebt  sich 
daraus  eine  wichtige  Folgerung  für  die  allgemeine  Empfindungs- 
lehre.  In  Bezug  auf  die  viel  ventilirte  Frage,  ob  die  Empfindungen 
proportional  den  Reizen,  oder  ob  sie  proportional  den  Logarithmen 
der  Reize  anwachsen,  scheinen  nämlich  die  hier  gewonnenen 
Resultate  sehr  bestimmt  der  ersteren  Auffassung  das  Wort  zu 
reden.  Es  haben  uns,  wie  ich  kurz  erinnere,  fünf  verschiedene, 
auf  vier  Sinnesgebiete  sich  erstreckende  Untersuchungen  über- 
einstimmend gelehrt,  dafs  die  Hemmimgskraft  eines  beliebigen 
Reizes,  an  die  durch  denselben  bewirkte  Erhöhrmg  der  Schwelle 
für  einen  gleichzeitig  einwirkenden  anderen  Reiz  gemessen, 
seiner  Intensität  proportional  zu  setzen  ist;  werden  nun  des 
Weiteren  die  Empfindungen  proportional  den  Reizen  gesetzt,  so 
ist  das  ganze  Verhältnifs  ein  überaus  durchsichtiges:  die  zu  er- 
klärende Proportionalität  zwischen  dem  hemmenden  und  dem 
ebengehemmten  Reize  beruht  einfach  darauf,  dafs  den  Reiz- 
intensitäten die  Empfindungsintensitäten,  und  den  Empfindungs- 
intensitäten die  zugehörigen  Hemmungswirkungen  proportional 
sind.  Hätte  dagegen  die  logarithmische  Hypothese  Recht,  so 
müfste  der  vorliegende  Sachverhalt  in  imgleich  complicirterer 
Weise  gedeutet  werden.  Nennt  man  den  hemmenden  Reiz  J?, 
den  ebengehemmten  r,  und  stellen  c,  c\  &*  Constanten  vor,  so 
wären  nach  jener  Hypothese  die  zugehörigen  Empfindungen 

E  =  c  log  B  e  =  c  log  r 

zu  setzen;  ferner  haben  unsere  Versuche  ergeben: 


üntersuchwigol  über  psychische  Hemmung.  341 

Daraus  folgt  aber: 

E  =  e  +  c  " 
Das  heifst  also :  wenn  die  logarithmische  Beziehung  zwischen 
Reiz  und  Empfindimg  gelten  sollte,  so  müfste  die  Empfindungs- 
hemmung, um  den  vorUegenden  Thatsachen  zu  genügen,  nach 
dem  Gresetze   stattfinden,   dafs   immer   die  hemmende   und   die 
eben  gehemmte  Empfindung  um  einen  constanten  Betrag  diffe- 
rirten.    Nun  ist  aber  erstens  kaum  anzimehmen,   dafs  eine   so 
einfache  Gesetzmäfsigkeit  wie  die  vorliegende  in  so  verzwickter 
Weise  begründet  sein  sollte ;  und  zweitens  wird,  wenn  eine  starke 
Empfindung    E    eine    viel    schwächere    e    unmerklich    macht, 
Niemand  es  für  wahrscheinlich  halten,   dafs  E  nur  um  den  ge- 
ringen Betrag  e  verstärkt  zu  werden  brauchte,  um  eine  doppelt 
so  starke  Empfindung  wie  früher  verdrängen  zu  können.    Soviel 
darf  nach  alledem  wohl  getrost  behauptet  werden,   dafs,   soweit 
die   in    dieser    Arbeit    besprochenen    Thatsachen    reichen,    die 
Proportionalitätshypothese    als    die   weitaus    näherliegende    imd 
wahrscheinlichere   anzusehen  ist.    Wäre   aus  der  Empfindimgs- 
lehre  nichts  mehr  bekannt  als  dieses,  dafs  Empfindungen  anderen 
Empfindungen  gegenüber  Hemmungswirkungen  ausüben,  welche 
den  Intensitäten  der  verursachenden  Reize  proportional  sind,  so 
würde  daraus  mit  vollstem  Rechte  auf  die  hohe  WahrscheinUch- 
keit  einer  proportionalen  Beziehung  zwischen  Reiz  und  Empfin- 
dung geschlossen  werden.    Nun  ist  uns   aber  aus   der  Empfin- 
dungslehre  mehr  bekannt,  und   darunter  solches,   woraus  nach 
der  Ansicht  Vieler   in    mehr   oder   weniger    zwingender  Weise 
(las   Gegebensein    einer    logarithmischen    Beziehimg    gefolgert 
werden  kann.    Wir  wollen  also  jetzt  die  betreffenden  Thatsachen 
—  diejenigen  des  WEBER'schen  Gesetzes  —  etwas  genauer 
ins  Auge  fassen,   und  fragen,    ob   sie  in  der  That  unseren  bis- 
herigen Resultaten    schnurstracks    zuwiderlaufen,   oder  aber  ob 
sie  mit  denselben  vereinbar,   vielleicht  selbst  aus   denselben  ab- 
zuleiten sind. 

2.  Die  Verdrängung  von  Unterschiedsempf  indunge-n 
durch  Empfindungen  (das  WEBER'sche  Gesetz). 

Das  WEBER*sche  Gesetz  ist  (wie  öfters,  aber  doch  kaum 
zu  oft,  hervorgehoben  wurde)  von  der  zur  Erklärung  desselben 
aufgestellten  Fechner' sehen  Hypothese  scharf  und  prin- 
zipiell zu   trennen.     Ersteres    sagt   nur  aus,   dafs   die   Differenz; 


342  G^-  Heynians^ 

zweier  Reize,  welche  zur  Unterscheidbarkeit  der  zugehörigen 
Empfindungen  erfordert  ist,  innerhalb  bestimmter  Grenzen  der 
Intensität  jener  Reize  proportional  verläuft;  es  ist  ein  rein 
empirisches,  nichts  mehr  als  einen  gegebenen  Thatbestand  zum 
Ausdruck  bringendes  Gesetz.  Zur  Erklärung  dieses  Thatbestandes 
machte  nun  Fechner  die  Annahme,  dafs  die  Empfindungen 
proportional  den  Logarithmen  der  Reize  anwachsen;  eine  An- 
nahme welche,  wenn  ihr  weiter  nichts  im  Wege  stünde,  ohne 
Zweifel  als  eine  mögliche  Erklärung  des  WEBER'schen  Gresetzes 
volle  Beachtung  verdienen  würde.  Mit  Unrecht  aber  hat  man 
oft  geglaubt,  dieselbe  als  eine  nothwendige  Folgerung  aus  dem 
WEBER'schen  Gesetze  darstellen  zu  dürfen;  nur  wenn  voraus- 
gesetzt wird,  dafs  die  eben-  (und  als  solche  gleich-)  merklichen 
Empfindungsunterschiede  auch  gleiche  Empfindungsunterschiede 
sind,  ist  der  Schlufs  auf  die  Richtigkeit  der  logarithmischen 
Formel  nicht  mehr  zu  vermeiden.  Thatsächüch  ist  aber  jene 
Voraussetzimg  nichts  weniger  als  sicher:  die  Möglichkeit,  dafs 
ungleiche  Empfindungsunterschiede,  in  Folge  der  ungleichen 
Umstände  unter  welchen  sie  auftreten,  sich  dem  Bewufstsein  in 
gleichem  Maafse  bemerklich  machen,  darf  von  vornherein  keines- 
wegs als  ausgeschlossen  betrachtet  werden. 

Des  Weiteren  ist  bekannt,  dafs  im  Laufe  der  Zeit  gegen 
die  Zulässigkeit  der  FECHNER'schen  Hypothese  mehrere,  imd 
zum  Theil  schweraäegende  Bedenken  laut  geworden  sind.  Einige 
derselben  beruhen  auf  Thatsachen,  welche  an  imd  für  sich 
aufserhalb  des  WEBER'schen  Gesetzes  liegen:  so  die  m.  A.  n. 
noch  immer  nicht  entscheidend  widerlegten  Einwürfe  Hering's, 
und  die  Zweifel,  welche  sich  an  die  von  Merkel  und  neuerdings 
von  Amext  mittels  der  Methode  der  mittleren  Abstufungen  ge- 
wonnenen Ergebnisse  festknüpfen ;  in  diesem  Kreise  finden  auch 
die  oben  erörterten,  auf  den  Inhalt  des  Hemmungsgesetzes 
fufsenden  Schwierigkeiten  ihren  Platz.  —  Kaum  geringeren  Werth 
möchte  ich  einer  zweiten  Gruppe  von  Bedenken  zugestehen, 
welche  sich  auf  den  Gültigkeitsumfang  des  WEBER'schen  Ge- 
setzes selbst  beziehen.  Das  Weber'scIic  Gesetz  gilt,  wie  man 
weifs,  nicht  nur  für  die  Yergleichung  von  Empfindungsintensi- 
täten, sondern  auch  für  die  von  Raum-  und  Zeitstrecken,  Lust- 
und  Unlustgefühlen,   Urtheilsintensitäten  ^ ;   wenn    auch   für   die 

*  Beispiele  (aufser  dem  allbekannten  von  der  fortune  physique  und 
der  fortune  morale):    bei    zunehmendem  Ruf    kümmert   man  sich  immer 


Untersuchungen  über  psychische  Hemmimg.  343 

beiden  letzteren  Gebiete  der  zahlenmäfsige  Beweis   noch  nicht 
geführt  werden  kann.    Nun   ist  aber   auf   alle  diese  Fälle    die 
FECHXER'sche  Erklärung  im   Princip   unanwendbar;   man   steht 
also  vor  der  Wahl,  entweder  die  Einheit  des  WEBER*schen  Ge- 
setzes aufzugeben,  oder  die  FECHNER'sche  Hypothese  fallen  zu 
lassen.  —  Schliefslich  wäre   noch   zu   bemerken,    was   bisweilen 
übersehen  worden  ist,  dafs  die  FECHNER'sche  Hypothese,   selbst 
für  das  Gebiet  der  Vergleichung  von  Empfindungsintensitäten, 
nicht   den    gesammten  vorliegenden   Thatbestand,    sondern  nur 
eine  einzige  Seite  desselben  zu  erklären  vermag,  für  das  Uebrige 
aber  ohne  Hülfshypothesen  nicht  auskommt.    Zu  erklären  sind 
an  dem  WEBEB'schen  Gesetze  mindestens  drei  relativ  selbständige 
und  dennoch  eng  verbundene  Thatsachencomplexe :  die  Existenz 
der  Unterschiedsschwelle,  die  Proportionalität  derselben  mit  der 
Reizintensität,  und  die  unteren  und  oberen  Abweichungen.    Die 
logarithmische    Hypothese    erklärt    nicht    die    Thatsache    der 
ünterschiedsschwelle :   indem  ihr  zufolge  die  Empfindung  zwar 
langsamer   als  der  Reiz,   aber  doch  regelmäfsig  mit  dem  Reize 
anwächst,  könnte  sie  nichts  dagegen  haben,  wenn  die  kleinste 
Differenz   zwischen   den   Reizen  noch   eine  Unterscheidung  der 
Empfindungen    ermöglichte.    Sie   mufs    also    die  Thatsache    der 
Unterschiedsschwelle    voraussetzen,    und    kann    dann    die   Pro- 
portionalität derselben  mit  der  Reizintensität  erklären ;  zum  Ver- 
stäudnifs  der  oberen  und  unteren  Abweichungen  kann  sie  aber 
nur  wieder  mittels  weiterer,  physiologischer  oder  anderer  Hülfs- 
annahmen    gelangen.     Ein   solcher   Sachverhalt   kann    offenbar 
einer  Erklärungshypothese  nicht  zur  Empfehlung  gereichen. 

Wenn  nach  alledem  die  logarithmische  Hypothese  den  ge- 
sicherten Platz,  den  sie  noch  vor  wenigen  Jahren  in  der  Wissen- 
schaft einzunehmen  schien,  kaum  mehr  behaupten  kann,  so  habe 
ich  nicht  den  Eindruck,  als  ob  etwas  ebenso  Klargedachtes  und 
Scharfumrissenes,  welches  an  ihre  Stelle  zu  treten  berufen  wäre, 
in  der  Literatur  irgendwo  fertig  vorläge.  Wir  haben,  allerdings, 
das  WuNDT'sche  Beziehungsgesetz,  nach  welchem  „wir  in  unserem 

veniger  um  eine  einzelne  günstige  oder  ungünstige  Beurtheilung ;  eine 
feine  Bemerkung  in  einem  mittelmäfsigen  Buch  macht  gröfsere  Freude  als 
eine  solche  bei  einem  durchwegs  geistreichen  Schriftsteller;  Alles  verliert 
seinen  Reiz,  wenn  es  in  all  zu  grofser  Ueberfluth  gegeben  ist;  ein  neuer 
Wahrscheinlichkeitsgrund  bringt  eine  um  so  weniger  merkliche  Verstärkung 
des  üeberzeugungsgefühls  zu  Stande,  je  mehrere  Gründe  schon  vor- 
lagen; u.  8.  w. 


344  G'  Heynians. 

Bewufstsein  kein  absolutes,  sondern  nur  ein  relatives  Maafs 
besitzen  für  die  Intensität  der  in  ihm  vorhandenen  Zustände**, 
und  ,,also  je  einen  Zustand  an  einem  anderen  messen,  mit  dem 
wir  ihn  zimächst  zu  vergleichen  veranlafst  sind"  \    Aber  es  will 
mir  scheinen,  als  ob  dieses  „Gesetz"   seinen  Hauptvorzug,  auch 
auf  Erscheinungen*  aufserhalb    des  Gebietes   der  Empfiudungs- 
messimg  anwendbar  zu  sein,  durch  sein  vollständiges  Verzicht- 
leisten auf  quantitative  und  qualitative  Bestimmtheit  doch  etwas 
zu  theuer  erkauft  hätte.    Fragen  wir  kurz:  welche  von  den  im 
WEBER'schen  Gesetz  zusammengefafsten  Thatsachen  hätte  man 
auf    Grund    jenes    Gesetzes    vorhersagen    oder    auch    nur    ver- 
nünftigerweise   erwarten    können?     Die   Thatsache   der   Unter- 
schiedsschwelle? die  scheinbare  Gleichheit  also  der  aus  wenig 
verschiedenen  Reizen  sich  ergebenden  Empfindungen?     Gewifs 
nicht.    Dann  vielleicht  doch  die  Constanz   der  relativen  Unter- 
schiedsschwelle?   Man  könnte  es   fast  glauben;   nur  wäre  dann 
mit   gleichem  Recht  das  Nämliche  auch  bei  der  Vergleichung 
von  Tonhöhen  zu  erwarten  gewesen,    wo   es   aber   bekanntüch 
nicht  zutrifft.     Von   den  oberen   und   unteren  Abweichungen  ist 
ganz    zu    schweigen.      Sicher   bedarf   das  Relativitätsgesetz    der 
näheren  Präcisirung,   wenn   es  mehr  als  ein  bequemer  Schlupf- 
winkel für  unsere  Unwissenheit  werden  soll. 

An  dieser  Stelle  ist  nun,  wie  mir  scheint,  der  Hemmungs- 
begriff berufen,  ergänzend  einzutreten.  Ich  betrachte  näm- 
lich, kurz  gesagt,  die  Unterschiedsschwelle  als  eine 
Hemmungserscheinung,  und  das  WEBER'sche  Gesetz 
als  einen  Special-,  bezw.  als  einen  Grenzfall  zum 
ersten  (auf  die  ProportionaUtät  zwischen  hemmenden  und  ge- 
hemmten  Reizgröfsen   sich  beziehenden)   Hemmungsgesetz. 

Die  hiermit  ausgesprochene  und  im  Folgenden  zu  be- 
gründende Auffassung  ist  nicht  ganz  neu;  vielmehr  finden  sich 
Anklänge  an  dieselbe  durch  die  ganze  psychologische  Literatur 
zerstreut  vor.  Ich  erinnere  an  das  von  Hering  dem  Fechxer- 
schen  gegenübergestellte  „allgemeine  psychophysische  Grund- 
gesetz", nach  welchem  „die  Reinheit,  DeutUchkeit  oder  Klarheit 
irgend  einer  Empfindung  oder  Vorstellung  abhängt  von  dem 
Verhältnifs,  in  welchem  das  Gewicht  derselben,  d.  i.  die  Gröfse 
des  entsprechenden  psychophysischen  Processes,  steht  zum  Ge- 
sammtgewichte  aller  gleichzeitig  vorhandenen  Empfindungen  und 

^  Physiologische  Psychologie  I  *,  8.  393. 


Untersuchungeyi  über  psychische  Hetnmwig.  345 

Vorstellungen  (oder  wie  man  sonst  die  psychischen  Zustände 
nennen  will),  d-  i.  zur  Summe  der  Gröfsen  aller  entsprechenden 
psychophysischen  Processe"  ^ ;  sodann  an  die  von  Höfler  befür- 
wortete Annahme,  „dafs  es  uns  um  so  schwerer  fällt  (verhältnifs- 
m&feig  mehr  „psychische  Arbeit  kostet"),  Vergleichungen  anzu- 
stellen, je  stärker  das  Organ,  genauer :  das  empfindende  Bewufst- 
sein,  schon  in  Anspruch  genommen  ist"  - ;  schliefslich  an  das 
Wu^'DT'8che  Kelativitätsgesetz.  In  allen  diesen  und  in  mehreren 
anderen  Aeutserungen  ist  der  Grundgedanke  der  nachfolgenden 
Erörterungen  bereits  enthalten;  allerdings  bedürfte  dieser 
Grundgedanke  der  genaueren  Kenntnifs  der  Hemmungser- 
scheinungen, um  zu  einer  discutirbaren  Theorie  sich  entwickeln 
zu  können. 

Wir  wollen  jetzt,  indem  wir  nichts  weiter  als  jenes  erste 
und  bestbegläubigte  Hemmungsgesetz,  sowie  die  Proportionalität 
zwischen  Reiz  und  Empfindung  voraussetzen,  versuchen  ob  es 
nicht  möglich  ist,  von  hier  aus  zum  WEBER'schen  Gesetze  zu 
gelangen. 

Um  eine  erste,  wenn  auch  nur  vorläufige  Brücke  zu  schlagen, 
erinnere  ich  an  die  in  meinem  ersten  Artikel  besprochenen 
Untersuchungen  über  die  Hemmungsverhältnisse  bei  Farben- 
empfindungen (I.  1;  diese  Zeitschr,  21,  S.  326—338).  Es  wird 
rielleicht  einigen  Lesern  aufgefallen  sein,  dafs  ich  bei  jen,en 
Untersuchungen  mich  insofern  nicht  genau  an  das  aufgestellte 
IVogramm  gehalten  habe,  als  nicht  nur  die  Reizschwellen- 
erhöhungen  welche  durch  Beimischung  heterogener,  sondern 
auch  diejenigen  welche  durch  Beimischung  gleichartiger  Farben- 
reize erfolgten,  ermittelt  wurden;  oder  mit  anderen  Worten:  ich 
habe  damals  nicht  nur  Mischungs-,  sondern  gleichzeitig  Unter- 
schiedsschwellen im  altbekannten  Sinne  bestimmt,  nicht  nur 
das  Hemmungsgesetz,  sondern  gleichzeitig  das  WEBER'sche  Gesetz 
auf  seine  Gültigkeit  für  Farbenempfindungen  geprüft  und  gültig 
befunden.  Sofern  die  bei  jener  Untersuchung  ermittelten 
Hemmungscoefficienten  sich  auf  Verhältnisse  zwischen  gleich- 
artigen Activ-  und  Passivreizen  beziehen,  sind  sie  dementsprechend 
auch  nichts  weiter  als  relative  Unterschiedsschwellen  im  Sinne 
der  üblichen  Terminologie.  Nun  wolle  man  aber  in  der  Tab.  HI 
{diese    Zeitschr.    21,     S.    335)    nachsehen,     ob     die    betreffenden 

*  Zur  Lehre  vom  Lichtsinne,  Wien  1878,  S.  84—85. 

*  Vierteljahrsschr.  f.  wissensch.  Phil.  11,  369. 


346  ^'  Jl^ymans. 

Zahlen  zu  den  anderen  stimmen,  sich  der  allgemeinen  Gresetz- 
mäfsigkeit  derselben  unterordnen,  oder  ob  denselben  von  ihrer 
Sonderstellung  etwas  anzumerken  ist.  Ist,  wie  ich  glaube, 
letzteres  nicht  der  Fall,  können  sich  also  die  Erscheinungen 
des  WEBEE'schen  Gesetzes  unter  diejenigen  des  Hemmungs* 
gesetzes  mischen  ohne  sich  irgendme  fremdartig  auszunehmen, 
so  wird  w^ohl  auch  der  Schlufs,  dafs  die  beiden  Erscheinungs- 
gruppen wesentlich  zusammengehören,  kaum  zu  umgehen  sein. 
Oder  um  ein  concretes  Beispiel  zu  nehmen :  in  der  erwähnten 
Tab.  III  hat  die  relative  Unterschiedsschwelle  für  Weifs  auf  Weifs 
aus  allen  Zahlen  der  betreffenden  Verticalcolumne  den  höchsten, 
aus  allen  Zahlen  der  betreffenden  Horizontalcolumne  den 
niedrigsten  Werth ;  Ersteres  gilt  aber  auch  von  den  Hemmungs- 
coefficienten  in  allen  Fällen  wo  Weifs  als  Activreiz,  das  zweite 
von  den  Hemmungscoefficienten  in  allen  Fällen  wo  Weifs  als 
Passivreiz  auftritt.  Das  w^äre  aber  ein  durchaus  unerklärlicher 
Zufall,  w^enn  die  Weifsempfindung  in  anderer  Weise  und  aus 
anderen  Gründen  durch  Weifs  unmerklich  gemacht  würde  als 
die  Grünempfindung  durch  Weifs  oder  die  Weifsempfindung 
durch  Grün. 

Ein  anderer,  nicht  weniger  naheliegender  Gedankengang 
führt  von  einigen  Ergebnissen  des  gegenw'ärtigen  Artikels  zmu 
gleichen  Resultat.  Wir  haben  nämlich  oben  (S.  318—319, 327—329) 
gefunden,  dafs  sowohl  bei  Licht-  als  bei  Druckempfindungen  die 
Hemmungswirkung  stärker  wird,  wenn  die  Entfernung  zwischen 
den  Angriffsstellen  des  Activ-  und  des  Passi\Teizes  abnimmt; 
was  sich  auch  durchaus  ungezwungen  aus  dem  Umstand  erklärt, 
dafs  es  bei  geringerer  Entfernung  stets  schwieriger  wird,  die 
Aufmerksamkeit  auf  den  Passivreiz  zu  fixiren  ohne  dieselbe 
gleichzeitig  dem  Activreiz  zuzuwenden.  Was  wird  nun  ge- 
schehen, wenn  wur  die  Entfernung  zwischen  Activ-  und  Passiv- 
reiz noch  weiter,  und  schliefslich  bis  auf  Null,  verringern? 
Mehrere  Umstände  gestatteten  nicht,  dieser  Frage  bei  unver- 
änderter Versuchseinrichtung  experimentell  genauer  auf  den 
Leib  zu  rücken;  nach  Analogie  der  vorliegenden  Resultate  ist 
aber  zu  vermuthen,  dafs,  sofern  Complicationen  ausgeschlossen 
bleiben,  der  Hemmungscoefficient  dabei  fortwährend  steigen,  und 
endlich  beim  Zusammenfallen  des  Activ-  und  Passivreizes  einen 
Maximalwerth  erreichen  würde.  Dieser  Maximalwerth  aber  ist 
wieder  nichts  Anderes,  als  die  altbekannte  relative  Unterschieds- 


VntfrBuchiinffen  über  paydiische  Hemmung. 


347 


schwelle:  der  Satz,  dafs  die  relative  Unterschiedsschwelle  für 
Lichtempfindungen  '/loo  beträgt,  kann  auch  ao  formulirt  werden, 
d&Ts  eine  Lichtempändung  von  der  Intensität  E  einen  gleich 
localisirten  Empändungsunterschied  von  Vioo  -^  unmerklich  zu 
machen,  also  zu  hemmen  vermag.  Stellen  wir  die  a.  a.  0.  er- 
mittelten Hemmungscoefficienten  für  Druck-  und  Lichtreize, 
welche  in  verschiedenen  Entfernungen  einwirken,  mit  den  be- 
kiuinten  relativen  Unterschiedsschwellen  für  die  betreffenden 
Gebiete  graphisch  zusammen,  so  ergeben  sich  Curven,  welche, 
soweit  unsere  Daten  reichen,  einen  ganz  regelmäfsigen  Verlauf 
erkennen  lassen,  so  zwar,  dafs  die  Hemmungswirkung  bei  Ört- 
lichem Zusammenfallen  von  Äctiv-  und  Passivreiz  am  gröfsten 
ist,  bei  zunehmender  Entfernung  zwischen  beiden  aber  zunächst 
sehr  schnell,  dann  immer  langsamer  heruntergeht  (Figg.  3  u.  4). 


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( 

Fig.  3.  (Dmckeuipfindungen.) 

yig.4.  (Lichtem pflndungen.) 
Doch  können  offenbar  diese  Curven,  wegen  der  geringen  Anzahl 
der  experimentell  ermittelten  Werthe,  der  geringen  Zuverlässig- 
lieit  der  S.  319  ermittelten  Druekreizschwellen,  und  der  Ver- 
schiedenheit der  Umstände,  unter  welchen  die  Bestimmung  der 
l'nterschiedsschwellen  und  der  Hemmungscoefficienten  statt- 
gefunden hat,  nur  eine  durchaus  provisorische  Bedeutung  be- 
anspruchen. 

Versuchen  wir  nun  die  hiermit  angedeuteten  Gedanken  zu 
Ende  zu  denken,  so  gelangen  wir  zum  Begriff  einer  Hemmung 
von  ünterschiedsempf indungen  durch  Reizempfin- 
dungen.    Es   ist   nämlich    daran    zu  erinnern,   dafs   bei  Ver- 


348  ^-  Heymans, 

suchen  über  Unterschiedsempfindlichkeit  stets  und  nothwendig 
im  Momente  der  Entscheidung  ein  Doppeltes  im  Bewuistsein 
gegenwärtig  ist:  erstens  die  Wahrnehmung  bezw.  Vorstellung 
der  zu  vergleichenden  Empfindungsinhalten,  sodann  die  Wahr- 
nehmung bezw.  Vorstellung  des  Unterschiedes  zwischen  den- 
selben. Dieser  letztere  Bewufstseinsinhalt  setzt  zwar  jenen 
ersteren  voraus,  schliefst  sich  auch  unter  gewissen  Bedingungen 
demselben  sofort  an,  aber  ist  doch  keineswegs  schon  in  dem- 
selben enthalten:  wir  nehmen  ja  oft  genug  succedirende  oder 
auch  gleichzeitige  Empfindungsinhalte  wahr  ohne  an  dfiis  In- 
tensitätsverhältnifs  zwischen  denselben  zu  denken ;  auch  verläuft 
bei  Versuchen  über  Unterschiedsempfindlichkeit  oft  eine  merk- 
liche Zeit  zwischen  dem  fertigen  Vorliegen  zweier  wenig  ver- 
schiedener Empfindungen  und  dem  auf  das  Intensitätsverhältnils 
beider  sich  beziehenden  Urtheil.  Das  Bewufstwerden  des  Unter- 
schiedes ist  also  etwas,  welches  zum  Bewufstwerden  der  Empfin- 
dungen hinzutritt;  es  bezieht  sich  ferner  auf  einen  Inhalt,  der 
ebenso  wie  derjenige  der  Empfindungen  des  Mehr -oder -Weniger 
fähig  ist :  wir  können  uns  gröfserer  oder  geringerer  Unterschiede 
bewufst  sein,  ebenso  wie  wir  uns  stärkerer  oder  schwächerer 
Empfindungen  bewufst  sein  können.  Und  schliefsUch  wird, 
wenn  wir  mit  Recht  angenommen  haben,  dafs  die  wahrge- 
nommene Empfindung  dem  zu  Grunde  hegenden  Reiz  pro- 
portional ist,  auch  wohl  der  wahrgenommene  Empfindungsunter- 
schied dem  zu  Grunde  liegenden  Reizunterschied  proportional 
zu  setzen  sein.  Wird  aber  soviel  zugestanden,  so  bedürfen  wir 
nur  noch  der  durch  die  Erörterungen  des  vorigen  Abschnittes 
als  sehr  wahrscheinlich  erwiesenen  Annahme,  dafs  dem  Hemmungs- 
begriff und  den  Hemmungsgesetzen  Gültigkeit  für  alle  psychische 
Phänomene  zukommt,  um  das  WEBER'sche  Gesetz,  wenigstens 
seinem  allgemeinen  Inhalte  nach,  als  eine  nothwendige  Folgerung 
aus  diesen  Voraussetzungen  deduciren  zu  können.  Die  be- 
treffende Argumentation  verläuft  dann  f olgendermaafsen :  Im 
Momente,  wo  zwei  ungleiche  Empfindungen  der  Intensität  nach 
mit  einander  verglichen  werden,  ist  stets,  aufser  jenen  Empfin- 
dungen, noch  ein  anderes  psychisches  Phänomen  gegeben, 
welches  mit  denselben  im  Fixationspunkte  der  Aufmerksamkeit 
liegt,  und  welches  wir,  ohne  damit  über  seine  eigentliche  Natur 
zu  präjudiciren ,  die  Unterschiedsempfindung  nennen  wollen. 
Sind  nun,   wie  bei  den  betreffenden  Versuchen   regelmäfsig   der 


üntersucJmngen  über  psychische  Hemmung.  349 

Fall  ist,  die  Empfindungen  im  Vergleich  mit  den  Unterschieds- 
empfindungen stark,    so   können  sie  diese   unmerklich   machen 
oder  henmien ;  und  zwar  wird  nach  unserem  ersten  (erweiterten) 
Hemmungsgesetz  die  Intensität  der  eben  zu  hemmenden  Unter- 
schiedsempfindung derjenigen  der  hemmenden  Reizempfindmig 
proportional  sein.     Nun   haben   wir   aber  weiter   vorausgesetzt, 
dafs   die  Unterschiedsempfindung  dem  Reizunterschiede,   sowie 
die  Reizempfindung  dem  Reize,  proportional  verläuft ;  es  werden 
also  auch  die  eben  gehemmten  (oder  die  ebenmerklichen)  Reiz- 
unterschiede  den   Intensitäten   der  Vergleichsreize   proportional 
sein  müssen.    Dafs  dem  so  ist,  besagt  aber  eben  das  WEBEK'sche 
Gesetz,    imd    ist,    innerhalb    bestimmter  Grenzen    und   mit   be- 
stimmten Abweichungen    auf  welche  ich  später  zurückkomme, 
durch  alle  auf  dasselbe  sich  beziehende  Untersuchungen  regel- 
mäfeig  bestätigt  worden. 

Dafs  in  der  That  durch  Hemmungs Wirkungen,   welche  von 
Empfindungen    ausgehen ,     sonst    merkliche    Empfindungsimter- 
schiede  unmerkUch  gemacht  werden  können,  läfst  sich  nicht  nur 
durch   Analogieschlüsse   wahrscheinlich   machen,    sondern   auch 
auf  experimentellem  Wege  direct  nachweisen.     Ueber  eine  ganze 
Reihe   hierhergehöriger  Versuche    habe    ich   in    1892   auf   dem 
Londoner   Psychologencongrefs  Bericht   erstattet;    dieselben    be- 
zogen   sich    auf    Druckempfindungen,    und    suchten    nach    der 
Methode  der  richtigen  imd   falschen  Fälle   die  Frage   zu  beant- 
worten, inwiefern  bei  der  Vergleichung  zweier  successiver  Druck- 
reize die  Frequenz  der  r-Fälle  durch  die  gleichzeitige  Anwendung 
stärkerer,    in    4  cm    Entfernung    einwirkender    Hemniungsreize 
beeinflufst  wird.    Der  bei  diesen  Versuchen  verwendete  Apparat 
war  dem  früher  (S.  306 — 309)  beschriebenen  ähnlich,  nur  etwas 
unbehülflicher  eingerichtet,  indem  das  Niederlassen  und  Aufheben 
der  Grewichte  durch  Manipulationen  des  Experimentators  besorgt 
wurde,   die   Hand  der  Versuchsperson   ohne  Gypsunterlage  auf 
dem  Tisch  ruhte  u.  s.  w.     Durch  zahlreiche  Vorversuche  wurden 
diejenigen  Differenzen   zwischen  je  zwei  successiven  Reizen  be- 
stimmt,  welche  mit,  bezw.  ohne  Hemmungsreiz  in  ungefähr  75  *Vo 
sämmtlicher  Fälle  richtig  erkannt  wurden,  und  dann  mit  diesen 
Differenzen   weiter  experimentirt.    Indem  nun   die  sich  hierbei 
ergebenden   Procentzahlen    der  r-Fälle    in   der  That   nur  wenig 
und  unregelmäfsig  von  jenem  angestrebten  Verhältnifs  abweichen, 
beweisen  dieselben  wenigstens  annähernd  die  Gleichnierklichkeit 


350 


6r.  Heymaixs, 


der  Unterschiede  bei  allen  untersuchten  Combinationen,  und 
kann  ohne  grofsen  Nachtheil  auf  die  (durch  das  seltene  Vor- 
kommen von  Gleichheitsurtheilen  in  exacter  Weise  kaum  mög- 
liche) Bestimmung  der  entsprechenden  Unterschiedsschwellen 
verzichtet  werden.  ^  Die  Resultate  sind  in  Tab.  XIII  zusammen- 
gestellt worden ;  in  Bezug  auf  dieselbe  ist  nur  noch  zu  bemerken, 
dafs  die  in  der  zweiten  Versuchsgruppe  verwendeten  Hemmungs- 
reize, wie  übrigens  leicht  ersichtlich,  in  der  dritten  zu  den  Ver- 
gleichsreizen zugesetzt  worden  sind. 

Tabelle  XIU. 


Halbe  Summe 

der 
Vergleichsreize 

in  gr 

Differenz 

der 

Vergleichsreize 

in  gr 
3 

Hemmungsreiz 

in  4  cm 

Entfernung 

in  gr 

Anzahl 

der 

Versuche 

Anzahl 

der 
r-FftUe 

10 

0 

160 

99 

20 

4 

0 

160 

113 

40 

6 

0 

160 

113 

80 

10 

0 

160 

118 

120 

14 

0 

160 

116 

180 

20 

0 

160 

114 

10 

6 

50 

160 

116 

20                       10 

100 

160 

117 

40                       14 

200 

160 

112 

80                       28 

400 

160 

116 

120                       40 

600           1 

160 

114 

180                       56 

ÜOO 

160 

115 

1 
60                         8 

0 

160 

121 

120                       14 

0 

160 

116 

240                       20 

0 

160 

105 

480                       40 

1 

0 

160 

115 

720           i             60 

0         i 

160 

108 

1080                        90 

0 

160 

115 

^  In  meinem  Londoner  Vortrag  war  eine  Berechnung  der  Unterschieda- 
schwellen nach  der  KRÄPELiN-jASTROw'schen  Methode  vorgenommen  worden; 
indem  ich  aber  die  Berechtigung  der  gegen  die  Zuverlässigkeit  dieser 
Methode  erhobenen  Einwürfe  anerkenne,  schien  es  mir  besser,  mich  hier 
auf  die  Veröffentlichung  der  rohen,  an  und  für  sich  deutlich  genug  redenden 
Versuchsergebnisse  zu  beschränken. 


üntfrsuehwigen  über  psychisdie  Hemmung.  351 

Im  Durchschnitt  mufsten  also  die  Differenzen  zwischen  den 
Vergleichsreizen  fast  auf  das  Dreifache  gesteigert   werden,  um 
bei    gleichzeitiger   Verwendung    von   Hemmungsreizen,    welche 
fünfmal  stärker  waren  als  die  Vergleichsreize  und  in  4  cm  Ent- 
fernung von  denselben  einwirkten,  die  ursprünglichen  Procent- 
zahlen  aufrecht   zu   erhalten.    Wurden    dagegen    jene  5  fachen 
Hemmungsreize  einfach  den  Vergleichsreizen  zugesetzt,   so  war 
zu  dem  gleichen  Zwecke  eine  Erhöhung  der  Differenzen  auf  das 
4-  bis  5  fache   ihres    ursprünglichen   Betrages   erforderlich   und 
genügend  (ein  Resultat,  welches  darauf  hinweist,   dafs  die  Ver- 
suche der  ersten  Gruppe  sich  bereits  im  Gebiete  der  „unteren 
Abweichungen**   vom  WEBER'schen   Gesetz   bewegten).     Ueberall 
sind  also    die  Erhöhungen   der  Differenzen  zwischen   den  Ver- 
gleichsreizen   den   Hemmungsreizen    nahezu    proportional;    und 
zwar   betragen    die    Hemmungscoefficienten    bei    Entfernungen 
von  4   bezw.    0  cm,    wie    eine    leichte    Rechnung    ergiebt,    im 
Durchschnitt  0,048  bezw.  0,083.    Diese  Verhältnisse  ordnen   sich 
dem  früher  aufgestellten  Schema  wieder  ohne  Mühe  unter:  die 
Merklichkeit  der   Unterschiede   wird,    wie    die  Merklichkeit  der 
Reize,     umsomehr     durch     Hemmungsreize     herabgesetzt,     je 
schwieriger  es   wird,   die  ersteren  ohne   die  letzteren   im  Blick- 
punkte   der    Aufmerksamkeit    zu    erhalten;    sie    wird    minimal, 
«renn  jene   Schwierigkeit,    durch    das    örtliche   Zusammenfallen 
beider,  zur  Unmöglichkeit  geworden  ist. 

Aehnliche  Resultate  ergab  eine  allerdings  vereinzelt  gebliebene 
Untersuchung  auf  dem  Gebiete  der  Lichtempfindungen.    Dieselbe 
fand    mittels   des  früher  (S.  322 — 323)   beschriebeneu  Apparates 
statt ;  nur  war  die  früher  den  Passivreiz ,  jetzt  die  Vergleichsreize 
liefernde  Diaphragmaöffnung  so  angebracht,    dafs  sie  durch  das 
vor  derselben  rotirende  Episkotister  nicht  ganz,  sondern  nur  zur 
Hälfte  verdunkelt  wurde.    Es  wurde  nun  untersucht,  in  welchem 
Maafse  diese  Verdunkelung  stattfinden  mufste,  damit  der  Hellig- 
keitsunterschied  zwischen   den  beiden  Hälften,   sowohl  für  sich 
als  bei  gleichzeitiger  Einwirkung  eines  4  cm  entfernten  Hemmungs- 
reizes  von   verschiedener  Intensität,   noch   eben   gespürt   wurde. 
Es  zeigte  sich  aber  alsbald,   dafs   die   betreffende  Untersuchung 
mit  den   vorliegenden  Mitteln  nur  für  schwache  Vergleichsreize 
durchgeführt    werden    konnte;    für    stärkere    ist    die    (absolute) 
Cnterschiedsschwelle  an  und  für  sich  bereits  zu  hoch,  um  durch 
hinzugefügte  Hemmungswirkungen  noch  in  exact  bestimmbarer 


352 


G.  Hqpnans, 


Weise  gesteigert  zu  werden.  Bei  den  (nach  der  Methode  der 
Minimaländerungen  angestellten)  Versuchen,  deren  Ergebnisse 
in  Tab.  XIV  mitgetheilt  werden,  betrug  die  Intensität  des  stärkeren 
Vergleichsreizes,  in  der  S.  324  eingeführten  Einheit  ausgedrückt, 
constant  38. 


Tabell 

le  XIV. 

Intensität 
des 
Hemmungs- 
reizes 

Anzahl 

der 

Versuche 

Mittlere 
Unter- 
schieds- 
schwelle 

1 

Wahl- 
scheinlicher Hemmungs- 
Fehler        coefficient 
derselben   j 

Berechneta 

Unter- 

Bchiedft- 

schweüe 

0 

ö 

7,72 

0,24          .                  , 

7,91 

2034 

10 

7,62 

0,27 

8,14 

3039 

12 

8,34 

0,22        i 

8,25 

3846 

12 

8,46 

0,22 

8,34 

5023 

12 

8,69 

0,21 

0,000111 

8,47 

6837 

12 

8,88 

0,20 

8,67 

9846 

12 

9,11 

0,22 

9,00 

15384 

12 

9,70 

0,25 

9,62 

27  349 

12 

10,77 

0,21          J 

k 

10,95 

Was  an  dieser  Tabelle  zuerst  auffällt,  ist  der  abnorm  hohe 
Betrag  der   ohne  Hemmung  sich    ergebenden   relativen   Unter- 
schiedsschwelle (etwa  ^5),   welcher  vermuthüch  auf  die  geringe 
Intensität  und  besonders  auch  auf  die  geringe  Ausdehnung  der 
Vergleichsreize  zurückzuführen  ist.    Sodann  ist  interessant,  dafs 
der  jetzt  ermittelte  Hemmungscoefficient  fast  genau  demjenigen 
gleich  ist,  welchen  nach  Tab.  IX  die  Versuche  über  Hemmung 
von  Lichtempfindungen,  bei  gleicher  Entfernung  zwischen  Activ- 
und  Passivreiz  wie  hier,  ergaben.    Ob  wir  hier  einer  zufäUigen 
Coincidenz    gegenüberstehen,    oder  aber   ob   allgemein  Empfin- 
dungen und  Empfindungsunterschiede  unter  gleichen  Umständen 
in  gleichem  Maafse  gehemmt  werden,  ist  eine  theoretisch  wichtige 
Frage,  deren  Beantwortung  aber  weiteren  Untersuchungen  über- 
lassen bleiben  mufs.    Die  für  Druckempfindungen  und  für  Druck- 
empfindungsunterschiede erhaltenen  Resultate  sind  für  die  Be- 
antwortung jener  Frage  ohne  Werth,  weil  die  letzteren,  wie  oben 
bemerkt  wurde,  durch  successive  Reize  erzeugt  wurden,  und  also 
die    Wahrnehmung  derselben    mit   der    momentanen   Reizwahr- 
nehmung nicht  vergleichbar  ist. 


üntermchungen  über  psychische  Hemmung,  353 

Wie  dem  aber  auch  sei,  durch  die  beiden  zuletzt  besprochenen 
Untersuchungen  scheint  mir  die  Thatsache  einer  Hemmung  von 
Unterschiedsempfindungen  durch  gleichzeitige  Reizempfindungen 
sichergesteUt,  und  die  ProportionaHtät  zwischen  den  entsprechen- 
den Reizdifferenzen  und  Reizgröfsen  wenigstens  als  sehr  wahr- 
scheinlich nachgewiesen  worden  zu  sein.    Die  hier  vorgetragene 
Erklärung  des  WEBE»*schen  Gesetzes  gewinnt  damit  eine  neue 
Stütze,  indem  der  von  ihr  vorausgesetzte  Erklärungsgrund  nun- 
mehr nicht  nur  nach  Analogie  erschlossen  imd  an  die  zu  er- 
klärenden  Thatsachen  verificirt,   sondern  auch   aufserhalb  des 
Gebietes  dieser  Thatsachen  als  eine  „vera  causa"  nachgewiesen 
werden  kann. 

Wir   dürfen   jedoch  unsere  Untersuchung  nicht  für   abge- 
schlossen halten,  ehe  wir  noch  einige  weitere,  auf  die  Leistungs- 
fähigkeit der  aufgestellten  Hypothese  sich  beziehende  Fragen 
lu  beantworten  versucht  haben.    Im  Vorhergehenden  haben  wir 
nämlich  zwar  gesehen,  dafs  diese  Hypothese  die  Gültigkeit  des 
WEBEB'schen  Gesetzes  im  Grofsen   und  Ganzen  zu  erklären  im 
Stande  ist,  nicht  aber  ob  sie  auch  über  den  Umfang  des  von 
demselben  beherrschten  Gebietes,  sowie  über  die  innerhalb  dieses 
Gebietes  festgestellten  Abweichungen  und  Besonderheiten  Rechen- 
schaft abzulegen  vermag.    Eben  hierin,   dafs  sich  ohne  irgend- 
welche Hülfshypothesen  die  wichtigsten  der  betreffenden  That- 
sachen als  nothwendige  Folgerungen  aus  ihrem  Princip  ableiten 
lassen,  sehe  ich  aber  einen  Hauptvorzug  der  hier  vertretenen 
Auffassung. 

Ich  erwähne  an  erster  Stelle  die  wichtige  Thatsache,  dafe 
das  WEBEB'sche  Gesetz  überall  da,  wo  intensive  oder  extensive 
Gröfsen  mit  einander  verglichen  werden,  sich  innerhalb  weiter 
Grenzen  trefflich  bewährt;  dafs  es  aber,  der  anfänglichen  Er- 
wartung schnurstracks  entgegen,  für  qualitative  Unterschiede  in 
keiner  Weise  gilt.  Jene  erste  Thatsache,  also  die  Constanz  der 
relativen  Unterschiedsschwelle  nicht  nur  für  Empfindungs- 
intensitäten sondern  auch  für  Raum-  und  Zeitgröfsen  sowie 
annähernd  für  Ueberzeugungs- ,  Lust-  und  Unlustgefühle,^  hat 
stets  den  physiologischen  Theorien  Schwierigkeiten  bereitet ;  diese 
zweite,  also  die  Nichtbestätigung  jenes  Gesetzes  für  Unterschiede 
der  Tonhöhe  imd  des  Farbentons,  ist  für  diejenige  psychologische 
Theorie,  welche  das  Gesetz  als  eine  Folge  der  allgemeinen 
Relativität  innerer  Zustände  deutet,   schwer  zu  erklären.    Beide 

Zeitsehrift  für  Psychologie  i»6.  '^^ 


354  ^-  Heynians. 

Thatsachen  sind  aber  für  die  hier  gebotene  Erklärung  durchaus 
verständlich.  Die  eben  zu  hemmenden  Unterschiede  steigern 
sich  überall  da,  wo  die  hemmenden  Bewufstseinsinhalte  intensiv 
oder  extensiv  einen  Zuwachs  erfahren,  und  demzufolge  mehr 
als  früher  das  Bewufstsein  in  Anspruch  nehmen;  aber  sie 
brauchen  sich  keineswegs  zu  steigern,  wo  jene  blos  qualitativ 
verändert  werden.  Im  ersteren  Falle  sind  ja  mehr  hemmende 
Theilinhalte  da  als  früher,  und  setzen  sich  die  Hemmungskräfte 
der  neu  hinzugekommenen  mit  denjenigen  der  früher  anwesenden 
zu  vereinter  Wirksamkeit  zusammen ;  im  zweiten  sind  die  früheren 
hemmenden  Inhalte  blos  durch  andere  ersetzt  worden,  und  es 
hegt  kein  Grund  vor,  eher  eine  Zunahme  als  eine  Abnahme  der 
Hemmungswirksamkeit  zu  erwarten.  Es  scheint  nicht  nöthig, 
über  diese  fast  selbstverständlichen  Folgerungen  ausführlicher 
zu  reden. 

Eine  zweite,  nicht  weniger  interessante  Frage  betrifit  die 
unteren  und  oberen  Abweichungen  vom  WEBEB'schen  Gesetz. 
Bei  Anwendung  sehr  schwacher  Reize  hat  man  regelmäfsig  eine 
Abnahme,  bei  Anwendung  sehr  starker  Heize  in  den  meisten 
Fällen  eine  Abnahme,  bisweilen  aber  auch  eine  Zunahme  der 
relativen  Unterschiedsempfindlichkeit  festgestellt;  alle  diese  Er- 
scheinungen sind  meistentheils  störenden  Umständen  physio- 
logischer Natur,  welche  mit  den  zur  Erklärung  des  WEBEE'schen 
Gesetzes  aufgestellten  Hypothesen  nicht  nothwendig  zusammen- 
hängen, zugeschrieben  worden.  Die  hier  vorgetragene  Erklärung 
bedarf  solcher  Hülfshypothesen  nicht;  die  Nothwendigkeit  der 
unteren,  sowie  wenigstens  die  MögUchkeit  der  oberen  Al)- 
weichungen  läfst  sich  aus  ihren  Voraussetzungen  logisch  ableiten. 
Was  nämlich  zunächst  die  unteren  Abweichungen  betrifft, 
so  ist  in  Betracht  zu  ziehen,  dafs  dieselben  uneUminirbaren  Be- 
wufstseinsinhalte, auf  welche  wir  früher  die  Thatsache  der  Reiz- 
schwelle zurückgeführt  haben,  auch  bei  den  Unterschieds- 
schwellenbestimmungen auftreten,  und  hier,  neben  den  in  den 
Vergleichsreizen  gegebenen  vaiiabeln  hemmenden  Factoren,  einen 
Constanten  hemmenden  Factor  darstellen.  Indem  jedoch  diese 
uneliniinirbaren  Bewufstseinsinhalte,  während  sich  die  Aufmerk- 
samkeit auf  die  Vergleichsreize  richtet,  nur  eine  schwache 
hemmende  W^irkung  ausüben,  kann  diese  die  ProportionaUtät 
zwischen  den  Intensitäten  stärkerer  Vergleichsreize  und  den  ent- 
sprechenden   Hemmungswirkungen    nicht    merklich    stören;    je 


Untersuchungen  fiber  psychische  Hemmung,  355 

schwächer  aber  die  Vergleichsreize  werden,  um  so  deutlicher 
wird  sich  der  betreffende  Einflufs  in  den  Versuchsergebnissen 
erkennen  lassen.  Setzen  wir  etwa  die  Hemmungswirkungen  ver- 
schiedener sich  wie  die  natürlichen  Zahlen  verhaltender  Reize  = 
a,  2a,  3a  ....  na,  und  diejenige  der  imeliminirbaren  Bewufst- 
seinsinhalte  =  d,  so  betragen  die  in  den  Unterschiedsschwellen 
sich  offenbarenden  Totalhemmungen: 

a  +  ^1  2a  +  ^1  3a  +  ^j na  +d, 

und  es  ist  klar,  dafs  diese  Werthe  für  hohe  Betrage  von  n  an- 
nähernd proportional  den  Vergleichsreizen  verlaufen,  für  kleinere 
jedoch  merklich  langsamer  als  im  Verhältnifs  zu  den  Vergleichs- 
reizen abnehmen  müssen.  —  Man  wird  übrigens  leicht  einsehen, 
dafs  die  Reizschwelle  und  die  untere  Abweichung  vom  Webeb'- 
schen  Gresetz  nicht  zwei  verschiedene,  einander  coordinirte  That- 
sachen  sind,  sondern  dafs  die  erstere  als  ein  Specialfall  der 
letzteren,  genauer  als  derjenige  Specialfall,  in  welchem  die  untere 
Abweichung  ein  Maximum  erreicht,  aufzufassen  ist.  Wäre  das 
WBBEB'sche  Gesetz  absolut  gültig,  so  müfste  für  einen  Normal- 
reiz 0  auch  die  Unterschiedsschwelle  0  betragen ;  dafs  dem  nicht 
so  ist,  bringt  eben  der  Satz  von  der  Reizschwelle  zum  Ausdruck. 
Die  Gründe  welche  früher  (II ;  diese  Zeiischr.  21,  S.  357—358)  für 
die  Auffassung  der  Reizschwelle  als  eine  Hemmungserscheinung 
angeführt  worden  sind,  unterstützen  demnach  auch  die  hier  ge- 
botene Erklärung  der  imteren  Abweichung. 

Was  sodann  die  oberen  Abweichungen  vom  Webe»*- 
schen  Gesetze  anbelangt,  so  wird  für  die  Erklärung  derselben 
wohl  hauptsächlich  auf  die  Verstärkung  der  Hemmungswirkung 
durch  den  Gefühlston  der  Empfindungen  Rücksicht  zu  nehmen 
sein.  Sehr  starken  Empfindungen  kommt  bekanntlich  ein  aus- 
geprägter Unlustcharakter  zu;  und  ebenso  wie  dadurch  nach 
unseren  früheren  Versuchen  (diese  Zeiischr,  21,  S.  346,  26,  S.  326) 
die  hemmende  Wirkung  derselben  anderen  Empfindungen 
gegenüber  verstärkt  wurde,  werden  auch  die  Unterschieds- 
empfindungen, mehr  als  sonst  der  Fall  sein  würde,  dieser 
hemmenden  Wirkung  unterliegen;  m.  a.  W.  die  Unterschieds- 
empfindlichkeit wird  für  die  betreffenden  Reize  herabgesetzt 
werden.  Eine  solche  Herabsetzung  der  relativen  Unterschieds- 
empfindlichkeit für  starke  Reize  hat  denn  auch  die  Untersuchung 
für  die  meisten  Sinnesgebiete,  besonders  für  Licht-  und  Farben- 


356  (^'  Heymana. 

einpfindungen ,  ergeben;  für  Druckempfindungen  dagegen  hat 
Merkel  bei  stärkeren  Reizen  umgekehrt  eine  Steigerung  der 
relativen  Unterschiedsempfindlichkeit  beobachtet.^  Indem  die 
betreffende  Steigenmg  ungefähr  bei  derjenigen  Reizstärke  auf- 
trat, wo  die  Empfindung  anfing  schmerzhaft  zu  werden  ^  wird 
auch  hierbei  der  Gefühlston  wohl  eine  Rolle  spielen.  Ich  gebe 
Folgendes  als  eine  mögliche  Erklänmg:  im  Gebiete  des  Druck- 
sinnes wächst  bekanntlich  der  Unlustcharakter  der  Empfindung 
nicht  allmähUch  mit  der  Stärke  des  Reizes,  sondern  derselbe 
tritt  ziemlich  plötzlich  als  Schmerzgefühl  auf;  demzufolge  kann 
es  aber  leicht  geschehen,  dafs  von  zwei  Reizen,  welche  nach 
ihrer  Intensität  nicht  hätten  unterschieden  werden  können,  der 
stärkere  sich  durch  eben  dieses  Schmerzgefühl  als  solcher  zu  er- 
kennen giebt.  Dafs  die  Steigerung  der  Unterschiedsempfindlich- 
keit für  ein  verhältnifsmäfsig  ausgedehntes  Gebiet  festgestellt 
wurde,  ist  hiermit  nur  scheinbar  im  Streit,  da  das  Auftreten  des 
Schmerzgefühls  aufser  von  der  Reizstärke  noch  von  mehreren 
anderen  Umständen  (Hautstelle,  Richtung  des  Druckes  u.  s.  w.) 
abhängt,  und  je  nach  diesen  Umständen  einmal  bei  geringeren, 
das  andere  Mal  erst  bei  gröfseren  Reizstärken  erfolgt.  Bei  jedem 
Versuche  hat  aber  der  stärkere  Reiz  die  gröfsere  Chance, 
Schmerz  hervorzurufen;  wodurch  die  mittlere  Unterschieds- 
schwelle für  Reize  aus  jenem  Uebergangsgebiet  nothwendig  etwas 
nach  unten  verschoben  werden  mufs.  —  Uebrigens  gilt  von 
diesen,  wie  von  den  früheren  Bemerkungen  zur  Reizschwelle, 
dafs  selbstverständlich  die  Mitwirkimg  physiologischer  Factoren 
zur  Entstehung  der  Abweichungen  durch  dieselben  keineswegs 
ausgeschlossen  wird.  Nur  soviel  kann  behauptet  werden  imd 
wird  behauptet,  dafs  die  Auffassung  der  Unterschiedsschwelle 
als  Hemmungserscheinung  an  imd  für  sich  genügt,  um  Ab- 
weichungen vom  WEBER'schen  Gesetz,  im  Sinne  derjenigen  welche 
thatsächlich  vorliegen,  von  vornherein  nothwendig  oder  wahr- 
scheinlich zu  machen. 

In  Bezug  auf  eine  dritte  Frage,  diejenige  von  der  Ungleich- 
heit der  Ergebnisse,  welche  bei  Untersuchungen  mit  simultanen 
und  mit  successiven  Reizen  gewonnen  werden,  kann  eine  kurze 
Bemerkung  genügen;  ich  glaube   nämlich  nicht,   dafs   hier  die 


*  Philosoph  Mie  Studien  5,  257—262. 

*  a.  a.  0.  S.  286. 


üfUersuchungen  iU>er  psychische  Hemmwig,  357 

Hemmungstheorie   bestimmte  Erwartimgen  nach  einer  oder  der 
anderen  Seite  begründen  kann.     Allerdings  ist  zu  vermuthen, 
dalSs  zwei  gleichzeitige  Empfindungen  eine  stärkere  Hemmungs- 
wirkung ausüben  als  eine,  imd  könnte  daraus  gefolgert  werden, 
dafs   nur   eine  Steigerung   der   Unterschiedsempfindlichkeit  bei 
successiver  Reizung  (welche  bekanntUch  auch  die  Versuche  über 
Dmckempfindungen   thatsächUch   ergeben   haben)   den    Voraus- 
setzungen  der   Hemmimgstheorie    entspricht.    Dem   steht   aber 
g^enüber,  dafs  auch  während  eines  kurzen  Intervalls  die  Klar- 
heit und  Deutlichkeit   des   vom   ersteren    Eindrucke  zurückge- 
lassenen Erinnenmgsbildes  eine  Abnahme  erfährt,  welche  die 
exacte  Vergleichung  mit  dem  folgenden  Eindruck  nothwendig 
erschweren  mufs;  ob  aber  dieser  ungünstige  oder  jener  günstige 
EinfluTs  überwiegen  wird,  ist  von  vornherein  schwer  zu  sagen. 
Wenn    also    die    Versuche    mit   Lichtempfindungen   regelmäfsig 
niedrigere  Unterschiedsschwellen  bei  simultaner  als  bei  successiver 
Reizung  ergeben  haben,    so  kann  dieser  Thatsache  schwerlich 
ein  begründeter  Einwurf  gegen  die  Hemmungstheorie  entnommen 
werden. 

Schliefslich  scheint  mir  ein  Hauptvorzug  der  hier  gebotenen 
Erklärung  des  WEBEB*schen   Gesetzes  darin  zu  liegen,   dafs  sie 
den  scheinbaren  Widerspruch  zwischen  den  nach  der  Methode 
der  ebenmerklichen  Unterschiede   und   nach  der  Methode  der 
mittleren   Abstufungen   erhaltenen   Versuchsresultaten  beseitigt 
Nach    den    in    jüngster    Zeit    veröffentUchten    Untersuchungen 
Aicent's^   kann  es   nämlich  kaum  mehr  zweifelhaft  erscheinen, 
dafs  die  mittels  der  letzteren  Methode  gewonnenen  Zahlen  nur 
unter  ganz   besonderen  Versuchsbedingungen    (auf   welche  ich 
später  noch  zurückkomme)  sich  der  logarithraischen  Hypothese 
fügen  wollen,  während  bei  allen  übrigen  Verfahrungsweisen  stets 
wieder  Werthe  sich  ergeben,  welche  dem  nach  der  Proportionali- 
tätshypothese zu  erwartenden  arithmetischen  Mittel  'der  Grenz- 
reize wenigstens  sich  annähern.    Nach  der  hier  vertretenen  Auf- 
fassung besteht  zwischen  diesen  Resultaten  imd  den  Thatsachen 
des  WEBER'schen  Gesetzes  nicht  im  geringsten  Streit :  eben  Aveil 
die    Empfindungen    proportional    den    Reizen    verlaufen,   mufs 
einerseits   die   mittlere  Empfindung,   sofern  nicht  störende  Um- 
stände eingreifen,    dem   mittleren  Reize   entsprechen;  und  mufs 


>  Philosophische  SUidien  1«,  135—196. 


358  ö^-  Heymans. 

andererseits  der  Unterschied  zweier  Reize,  welcher  eben  stark 
^genug  ist,  um  trotz  der  Hemmimgswirksamkeit  der  zugehörigen 
Empfindungen  wahrgenommen  zu  werden,  mit  der  Intensität 
dieser  Reize  und  dieser  Empfindungen  sich  vergröfeem.  Wir 
können  aber,  wie  mir  scheint,  noch  einen  Schritt  weiter  gehen. 
Sowie  wir  nämlich  früher  nicht  nur  den  allgemeinen  Inhalt  des 
WEBER'schen  Gesetzes,  sondern  auch  die  Abweichungen  von  dem- 
selben mit  Hülfe  der  Hemmungstheorie  aus  der  Proportionalitäts- 
hypothese erklärt  haben,  so  wollen  wir  jetzt  versuchen,  neben 
der  Annäherung  der  MEBKEL-AMENx'schen  Ergebnisse  an  das 
arithmetische  Mittel,  auch  die  systematischen  Abweichungen  vom 
arithmetischen  Mittel,  welche  diese  Ergebnisse  erkennen  lassen, 
mit  Hülfe  der  Hemmungstheorie  aus  der  Proportionalitäts- 
hypothese abzuleiten.  Mit  diesem  Versuch  wird  sich  der  nächst- 
folgende Abschnitt  beschäftigen. 

3.  Die  Abschwächung  von  Unter schiedsempfin- 
dungen    durch    Empfindungen    (die    MERKEL'schen 

und  AMENT'schen  Versuche). 

Wenn  wirklich,  wie  wir  im  Vorhergehenden  angenommen 
und  durch  unsere  Versuche  bestätigt  gefunden  haben,  Reize  und 
Empfindungen  sich  durchgehend  proportional  verhalten,  wie  er- 
klärt es  sich  dann,  dafs  in  den  MERKEL'schen  und  AMENT'schen 
Versuchen  die  nach  subjectiver  Beurtheilung  mittlere  Empfindung 
nicht  genau  dem  arithmetischen  Mittel  der  Grenzreize,  sondern 
regelmäfsig  einem  niedrigeren,  zwischen  arithmetischem  und 
geometrischem  Mittel  liegenden  Werthe  des  Reizes  entsprach? 
Ich  glaube,  dafs  wir  auch  für  die  Lösung  dieses  Problems  auf 
Hemmungsverhältnisse  Rücksicht  nehmen  müssen. 

Wenn  wir  nämlich  den  Erörterungen  des  vorigen  Abschnittes 
entsprechend  annehmen,  dafs  unter  Umständen  Unterschieds- 
empfindungen durch  gleichzeitige  Empfindungen  unmerkUch  ge- 
macht werden,  so  können  wir  die  Frage  auf  werfen,  was  ge- 
schehen wird,  wenn  die  unmerklichen  Unterschiede,  bei  unver- 
änderter Intensität  der  hemmenden  Empfindungen,  allmähUch 
bis  zur  Ebenmerklichkeit  und  dann  bis  zur  UebermerkUchkeit 
verstärkt  werden.  Oder  genauer:  werden  die  hemmenden 
Empfindungen,  welche  die  Unterschiedsempfindung  bis  zu  einem 
bestimmten  Betrage  vollständig  aus  dem  Bewufstsein  zu  ver- 
drängen vermochten,  bei  Ueberschreitung  dieses  Betrages  plötz- 


ünteriuchungen  über  psychische  Hemmung,  359 

lieh   ihre   Wirksamkeit  einstellen,   und   den  jetzt  vorliegenden 
•Unterschied  voll  und  ganz  zur  Wahrnehmung  gelangen  lassen? 
DaGs  dem  so  wäre,  ist  aus  mehrfachen  Gründen  durchaus  un- 
wahrscheinüch.     Erstens    widerspräche    es    den    allgemeinsten 
Gesetzen  der  Erfahrung  und  des  Denkens,   wenn  eine  wirkende 
Kraft,  bei  Zunahme  des  zu   überwindenden  Widerstandes  über 
einen  bestimmten  Punkt  hinaus,   auf  einmal  aller  Wirkung  ver- 
lustig gehen  sollte.    Sodann  lehrt  die  Erfahrung  in  Bezug  auf 
den  analogen  Fall   der  Empfindimgshemmung,   dafs  nicht  nur 
bei  gleichzeitiger  Einwirkung  sehr  starker  Reize  schwache  Reize 
keine,  sondern  auch  stärkere  Reize  abgeschwächte  Empfindimgen 
hervorrufen :  bei  spätem  Tageslicht  werden  die  Sterne  nicht,  aber 
^eichzeitig  der  Mond  blafs  und  lichtarm  gesehen,  im  Fabrik- 
getöse wird  eine  schwache  Menschenstimme  nicht,   eine  starke 
aber  als  eine  schwache  wahrgenommen.    Drittens  aber  läfst  sich 
auch  durch  directe  Wahrnehmung  feststellen,  dafs  etwa  der  eben- 
merkliche  Unterschied  zwischen  Schallreizen  von  300  imd  400 
kleiner  erscheint  als  der  gleich  grofse  aber  übermerkUche  zwischen 
Schallreizen  von  50  und   150.    Mit  Rücksicht  auf  alledem  darf 
die  Annahme  dafs,  sowie  kleine  Unterschiede  durch  die  hemmende 
Wirksamkeit  der  zu  Grunde  liegenden  Empfindungen  gar  nicht, 
gröfsere   durch    die    nämUche   Ursache    wenigstens    geschwächt 
wahrgenommen   werden,    sicher   als   eine  wohlbegründete  ange- 
sehen  werden;    imd   es   ist  nach   sämmtlichen   vorhergehenden 
Untersuchungen   wohl    mindestens  als   plausibel  zu  betrachten, 
dafe  auch  diese  Abschwächung  proportional  den  Intensitäten  der 
hemmenden  Empfindungen  stattfinden  wird.  Nehmen  wir  also  ver- 
suchsweise einmal  an,  dafs  jeder  Unterschied  zweier  Empfindungen 
E  und  jET  um  einen  der  Summe  oder  dem  Mittel  dieser  Empfin- 
dungen proportionalen  Betrag  H  (E -^^  N)  abgeschwächt  wird,  so 
lassen  sich  die  auf  Grund  dieser  Annahme  bei  Versuchen  nach  der 
Methode  der  mittleren  Abstufungen  zu  erwartenden  Resultate  in 
einfacher  Weise  berechnen  und  an  die  vorhegenden  Thatsachen 
verificiren.    Nennen  wir  nämlich  von  den  äufseren  Reizen  den 
kleineren  ß  und  den  gröfseren  pB,  die  entsprechenden  Empfin- 
dungen E  und  pE,   die   als   gleich  weit  von  beiden  entfernt  ge- 
schätzten Reize   und   Empfindungen  xR  und  xE^   so  betragen 
abgesehen  von  der  Hemmung  die  gleichgeschätzten  Empfindungs- 
diEFerenzen 

xE—E  und  pE—xE 


360  G^.  Heynuins. 

Werden  aber  nach  Obigem  beide  um  einen  den  Summen 
der  einschlägigen  Empfindungen  proportionalen  Betrag  herald 
gesetzt,  so  gelangen  als  Differenzen  thatsächlich  zur  Wahr- 
nehmung : 

xE—E—H  (xE  +  E)  und  pE  —  xE—H  (pE+xE) 

Werden  diese  einander  gleichgesetzt,  so  ergiebt  sich  des 
Weiteren  : 

xE—E  —  H{xE'\-E)  =  pE  —  xE  —  H(pE  +  xE) 

2xE  =  pE  —  HpE+E^  HE 

Daraus  folgt  aber  Verschiedenes: 

1.  Da  2)  >  1,  mufs  der  als  in  der  Mitte  liegend  geschätzte 
Reiz  xR  kleiner  sein  als  das  arithmetische  Mittel 
aus  den  äufseren  Reizen  {^Up+  V2)  -^' 

2.  Sofern  der  Werth  H  constant  bleibt  (wie  dieses  für  ein 
bestimmtes  Sinnesgebiet  und  bei  unveränderter  Versuchsein- 
richtung vorauszusetzen  ist),  ist  x  durch  p  vollständig  be- 
stimmt; wo  also  das  Verhältnifs  zwischen  den  äufseren  Reizen 
constant  bleibt,  mufs,  trotz  beUebiger  Variation  der  absolutea 
Intensitäten  derselben,  auch  das  Verhältnifs  des  als  in  der  Mitte 
liegend  geschätzten  Reizes  zum  kleineren  (und  ebenso  zum 
gröfseren)  der  äufseren  Reize  sich  constant  erhalten. 

3.  Sofern  der  Werth  H  constant  bleibt,  mufs  a;einelineare, 
also  geometrisch  durch  eine  gerade  Linie  darzu- 
stellende Function  von  p  sein. 

Eben  diese  Gesetzmäfsigkeiten  nun,  welche  wir  als  noth- 
wendige  Folgerungen  aus  der  aufgestellten  Hypothese  deducirt 
haben,  lassen  sich  aus  den  Versuchsergebnissen  Merkel's  tmd 
Ament's,  sowie  schUefsUch  auch  aus  denjenigen  Angell's,  mit 
leichter  Mühe  und  in  unzweideutigster  Weise  herauslesen;  wie 
im  Folgenden  nachgewiesen  werden  soll. 

In  Bezug  auf  den  ersten  Punkt  brauchen  wir  keine  Worte 
zu  verUeren.  Dafs  der  geschätzte  mittlere  Reiz  überall,  mit  sehr 
wenigen  Ausnahmen  (welche  später  auch  ihre  Erklärung  finden 
werden),  hinter  das  arithmetische  Mittel  der  äufseren  Reize 
zurückbleibt,  ist  von  allen  erwähnten  Autoren  übereinstimmend 
festgestellt  und  wiederholt  hervorgehoben  worden. 


Untersuchungen  über  psychische  Hemmung. 


361 


Was  den  zweiten  Punkt  anbelangt,  mnTs  auf  die  Tabellen 
IV  bis  XXn  verwiesen  werden,  in  welchen  sämmtliche  ein- 
ehlägige,  von  den  genannten  Autoren  mitgetheilte  Versuchs- 
rgebnisse  mit  Angabe  der  Herkimft  zusammengestellt  und  nach 
len  Werthen  von  p  geordnet  worden  sind.  Es  bedeuten  darin 
Rj,  £,,  Rm,  wie  gebräuchlich,  die  äuTseren  Reize  und  den  ge- 
schätzten mittleren  Reiz;  über  Ursprung  und  Bedeutimg  der  in 
ien  letzten  zwei  Verticalcolumnen  enthaltenen  Zahlen  wird  S.  375 
ÄufschluXs  gegeben;  der  Sinn  der  übrigen  Zahlen  erklärt  sich 
aus  den  Aufschriften  von  selbst  Vorläufig  hat  man  sich  nur 
davon  zu  überzeugen,  dafs  für  gleiche  Werthe  von  p  überall 
auch  nahezu  gleiche  Werthe  von  x  vorliegen. 

Tabelle  XV. 

(Lichtempfindungen.    Merkel's  Tabellen  IX — XIII.    Philosophische 

SiudUn  4,  567—568.) 


Nr.  der 

1 

x» 

H 

X 

Tab.  bei 
Merkel 

Bi 

12» 

Mm 

1 

1 

Rm 

be- 
rechnet 

be- 
rechnet 

IX 

0,5 

1 

0,721 

2 

1,4 

X    14 

IX 

24 

48 

39,79 

2 

1,2 

IX 

0,5 

2 

1,166 

2,8 

' 

XI 

0,5 

2 

1,18 

2,4 

XIII 

0,5 

2 

1,17 

2,3 

XJ 

2 

8 

4,70 

2,4 

X 

8 

32 

18,61 

2,4 

XI 

IX 

8 
24 

32 

96 

19,80 
58,21 

2,5 
2,4 

2,1 

XI 

24 

96 

61,08 

2,5 

XI 
X 

96 
384 

384 
1536 

248,5 
1040 

2,6 

0,27 

XT 

384 

1536 

1032 

2,7 

XII 

384 

1536 

999 

2,6 

1 

IX 

0,5 

4 

1,86 

8 

3,7 

}    3,6 

IX 

24 

192 

93,6 

8 

3,9 

IX 

0,5 

8 

2,98 

16 

6,0 

« 

XTTI 

0,5 

8 

3,56 

16 

7,1 

X 

IX 

2 
24 

32 
384 

1     12,04 
157,7 

16 
16 

6,0 
6,6 

6,5 

X 

96 

1536 

675,5 

16 

7,0 

XII 

i      96 

1536 

736,7 

16 

7,7 

t 

362 


&,  Heyman». 


Nr.  der 
Tab.  bei 

Bi 

B2 

B>m 

Rm 

H 
be- 

X 

be- 

Merkel 

rechnet 

rechnet 

IX 

0,5 

16 

5,45 

32 

10,0 

}      12,3 

IX 

24 

768 

293,8 

32 

12,2 

xn 

32 

1536 

580,3 

48 

18,1 

18,2 

IX 

0,5 

32 

8,3 

64 

16,6 

^ 

X 

0,5 

32 

8,93 

64 

17,9 

xm 

0,5 

32 

10,44 

64 

20,9 

\      25,0 

IX 

24 

1536 

472,3 

64 

19,7 

0,27 

X 

24 

1536 

517,6 

64 

21,6 

1 

xin 

0,5 

96 

24,8 

192 

49,6 

}      70,7 

XII 

8 

1536 

399,6 

192 

49,7 

XIII 

0,5 

384 

68,5 

76S 

137,0 

}    281,0 

xn 

2 

1536 

289 

768 

144,5 

xn 

0,5 

1536 

211,7 

3072 

423,4 

]  1121,9 

xni 

0,5 

1536 

194,9 

3072 

389,8 

< 

Tabelle  XVL 

(Dnickempfindungen.    Merkel's  Tabellen  XXIII— XXVc.    Phüosophischt 

Studien  5,  269—271.) 


Nr.  der 
Tab.  bei 
Merkel 


Rt 


Ä9 


B 


m 


p  = 


Bi 


X  = 


"ST 


H 

be- 
rechnet 


X 

be- 
rechnet 


XXIVa 

1 

2 

1,481 

2,0 

1,5 

g 

XXVa 

1 

2 

1,466 

2,0 

1,5 

XXI  Vb 

2010 

4010 

3361 

2,0 

1,7 

XXVb 

2010 

4010 

3316 

2,0 

1,6 

XXIVa 

51 

110 

78,5 

2,2 

1,5 

XXVa 

51 

110 

78,79 

2,2 

1,5 

XXIVb 

21 

51 

35,60 

2,4 

1,7 

XXVb 

20 

50 

34,50 

2,5 

1,7 

0,13  1 

XXIVc 

6 

21 

12,37 

3,5 

2,1 

XXIVc 

510 

2010 

1257 

3,9 

2,5 

XXVc 

510 

2010 

1268,5 

3,9 

2,5 

XXVc 

5 

20 

11,44 

4,0 

2,3 

XXIVb 

1010 

4010 

2664 

4,0 

2,6 

XXVb 

1010 

4010 

2714 

4,0 

2,7 

XXIVa 

51 

210 

116,3 

4,1 

2,3 

\ 

1.4 


}    1.5 

1,6 

1.7 
•2.1 

}    2,3 

2,3 
2.3 


Untenuckungen  über  ptychitche  Hemmung. 


363 


Nr.  der 
Tib.bei 

A 

Ä» 

Rm 

4,1 

Rm 

2,4   " 

H 
be- 

X 

be- 

MOKKL 

rechnet 

rechnet 

XXVa 

51 

210 

121,9 

- 

j    2,3 

XXTVc 

51 

210 

123,5 

4,1 

2,4 

XXVc 

51 

210 

126,5 

4,1 

2,5 

XXIVb 

11 

51 

30,03 

4,6 

2,7 

^ 

WTVc 
XJÜVc 

11 
110 

51 

510 

29,03 
283,3 

4,6 
4,6 

2,6 
2.« 

2,6 

XWc 

110 

510 

300,7 

4,6 

2,7 

- 

XXIVc 

210 

1010 

572,7 

4,8 

2,7 

1    2,7 

XXVc 

210 

1010 

598,7 

4,8 

2.8 

xxrv'a 

1 

5 

2,721 

5,0 

2,7 

' 

XXV» 

1 

5 

2,784 

5,0 

2,8 

xxn^c 

1 

5 

2,52 

5,0 

2,5 

XXVc 

1 

5 

2,52 

5,0 

2,5 

XXVc 

2 

10 

5,19 

5,0 

2,« 

2,7 

XWT) 

10 

50 

28,80 

5,0 

2,9 

XXVc 

10 

50 

28,20 

5,0 

2,8 

XXIVc 

1010 

5025 

3157 

5,0 

8,1 

XXVc 

1010 

5025 

3186 

5,0 

3,2 

1 

XXIVc 
XXVc 

21 
21 

110 
110 

59,44 
60,6 

5,2 
5,2 

2,8 
2,9 

0,13 

}    2,8 

XXIVc 

2 

11 

5,55 

5,5 

2.8 

3,0 

XXIM) 
XXVb 

510 
510 

4010 
4010 

2397 

2388 

7,9 
7,9 

4.7 

4,7 

}    4,0 

XXT\T) 

6 

51 

27,34 

8,5 

4.« 

4,3 

xxm 

1 

10 

4,689 

10,0 

4,7 

' 

XXVa 

1 

10 

4,839 

10,0 

4,8 

XXIII 

2 

20 

9,801 

10,0 

4,9 

xxni 

5 

50 

21,97 

10,0 

4,4 

XXVb 

5 

50 

25,15 

10,0 

5,0 

xxm 

10 

100 

46,36 

10,0 

4,6 

XXIII 

20 

200 

92,37 

10,0 

4,« 

(    *'* 

XXIU 

50 

500 

215,3 

10,0 

4,9 

XXIVa 

51 

510 

230,4 

10,0 

4,5 

XXVa 

51 

510 

247,5 

10,0 

4,9 

XXIII 

100 

1000 

430,7 

10,0 

4.8 

XXITT 

200 

2000 

948,3 

10,0 

4,7 

xxin 

500 

5000 

2435 

10,0 

4,9 

1 

XXIVa 

1 

11 

5,263 

11,0 

5.3 

. 

5,4 

364 


G.  Heymans, 


Nr.  der 

T> 

T> 

H 

X 

Tab.  bei 

i?i 

i?2 

Mm 

^ 

^-R. 

be- 

be- 

Merkel 

51 

rechnet 

rechnet 

XXIVb 

3 

23,87 

17,0 

7,* 

8,0 

XXIVb 

210 

4010 

2132 

19,1 

10,2 

}    8,9 

XX  Vb 

210 

4010 

2176 

19,1 

10,4 

XXIVa 

51 

1010 

425,2 

19,8 

8,3 

9,2 

XXVa 

1 

20 

8,885 

20,0 

8,9 

}    9.3 

XXVa 

51 

1020 

465,4 

20,0 

9,1 

XXIVa 

1 

21 

9,255 

21,0 

9,3 

9,7 

XXVb 

2 

50 

22,02 

25,0 

11,0 

11,4 

XXIVb 

110 

4010 

2061 

36,5 

18,7 

1 

}l6,4 

XXVb 

110 

4010 

2050 

36,5 

18,6 

>  0,13  < 

XXIVa 

51 

2010 

793 

39,4 

15,6 

}l7,7 

XXVa 

51 

2010 

887,4 

39,4 

17,4 

XXVa 

1 

50 

20,8 

50,0 

20,8 

}22.3 

XXVb 

1 

50 

20,57 

50,0 

20,6 

XXIVa 

1 

51 

21,12 

51,0 

21,1 

}22,8 

XXIVb 

1 

51 

20,96 

51,0 

21,0 

XXIVb 

51 

4010 

1998 

78,6 

39,2 

}34,8 

XXVb 

51 

4010 

1934 

78,6 

37,9 

XXIVa 

51 

5025 

2232 

98,4 

43,8 

\  43,4 

XXVa 

51 

5025 

2101 

98,4 

41,2 

i 

Tabelle  XVII. 

(Druckempfindungen.'    Merkel's  Tab.  XXVI.    Phüosophitche  Studien  5,  271.) 


Nr.  der 

-Tk 

-ry 

H 

X 

Tab.  bei 

n. 

i4 

Um 

Jtim 
X  =-^- 

be- 

be- 

Merkel 

Mi 

rechnet 

rechnet 

XXVI 

1 

10 

5,040 

10 

5,0 

' 

n 

2 

20 

10,71 

10 

5,4 

n 

0 

50 

23,65 

10 

4,7 

T) 

10 

100 

49,35 

10 

4,9 

^ 

r> 

20 

200 

101,5 

10 

5,1 

0,11 

6,0 

r 

50 

500 

240,1 

10 

4,8 

r> 

100 

1000 

475,6 

10 

4,8 

r 

200 

2000 

1063 

10 

5,3 

t 

« 

400 

4000 

3541 

10 

8,8 

^  Wegen  erheblicher  Verschiedenheit  der  Versuchseinrichtung  mufsten 
diese  Zahlen,   ebenso   wie  diejenigen   der   beiden   folgenden  Tabellen,   ge- 


Untenuchungen  über  psychische  Hemmung, 


365 


Tabelle  XVm. 

(Dmekempfindungen.    Mebkel's  Tabelle  XXVIL    Philosophische 

Shidien  5,  271.) 


Nr.  der 

Tab.  bei 
Merkel 

Ri 

R^                Rm 

1 

Rm 

H 

be- 
rechnet 

X 

be- 
rechnet 

xxvn 

m 

n 

1 

2 

5 

10 

20 

50 

100 

200 

400 

10 

20 

60 

100 

200 

500 

1000 

2000 

4000 

4,547 
9,498 
22,12 
46,25 
93,47 
223,9 
415,2 
991,8 
3022 

10 
10 
10 
10 
10 
10 
10 
10 
10 

4,5 
4,7 
M 
4,6 
4,7 
4,5 
4,5 
5,0 
7,6 

0,20 

4,6 

Tabelle  XIX. 

(Dmckempfindungen.    Mebkel's  Tabelle  XXVIII.    Philosophische 

Shtdien  5,  271.) 


Xr.  der 

Tab.  bei 

R, 

B^ 

Rm 

B2 

Rm 

^  =      D 

H 
be- 

X 

be- 

Mebkel 

-Bi 

Ri 

rechnet 

rechnet 

xxvm 

1 

10 

4,770 

10 

4.8 

«• 

2 

20 

10,08 

10 

5,0 

•• 

5 

50 

22,93 

10 

4,6 

j" 

10 
20 

100 

200 

47,88 
97,15 

10 
10 

4,8 

4,9 

0,16 

4.8 

1* 

50 

500 

231,3 

10 

4,6 

w 

100 

1000 

460,9 

10 

4,« 

r 

200 

2000 

1019 

10 

6,1 

m 

400 

4000 

3365 

10 

8.4 

sondert  von  den  vorhergehenden  dargestellt  werden,  obgleich  sie  inhaltlich 
gut  zu  denselben  passen. 


366 


G.  Heymans. 


Tabelle  XX. 


Studien  5, 

Ö19-Ö20.) 

—  "—"^j" 

Nr.  der 

1 

H             X 

Tab.  bei 

B. 

i«. 

Rm 

^9 

■Bf» 

be-            be- 

MSRKEL 

Äi 

Ri 

1 

rechnet  '  rechnet 

XIX 

5,062 

10,12 

7,563 

2,0 

1,6 

1.4 

XVI 

2,025 

6,075 

4,060 

3,0 

2,0 

XVI 

4,993 

14,98 

9,911 

3,0 

2,0 

XVI 

9,886 

29,66 

19,88 

3,0 

2,0 

XVI 

39,73 

119,2 

80,39 

3,0 

2,0 

' 

XVI 

77,89 

233,7 

155,0 

8,0 

2,0 

,     1,8 

XVI 

146,6 

439,8 

305,4 

3,0 

2,1 

XVI 

260,8 

782,4 

524,6 

3,0 

2,0 

1 

XVI 

795,2 

2386 

1600 

3,0 

2,0 

1 

XVI 

1234 

3702 

2461 

3,0 

2,0 

XIX 

5,062 

24,% 

14,73 

4,9 

2,9 

1        2,6 

XVII 

2,025 

10,12 

6,146 

5,0 

3,0 

XVII 

4,993 

24,96 

14,93 

5,0 

3,0 

XVII 

9,886 

49,43 

29,15 

5,0 

2,9 

xvn 

39,73 

198,7 

118,1 

5,0 

3,0 

2,6 

XV  IT 

77,89 

389,5 

231,7 

5,0 

3,0 

1 

XVII 

146,6 

733,0 

435,8 

5,0 

3,0 

XVII 

260,8 

1304 

773,3 

5,0 

3,0 

0,20 

XVII 

795,2 

4771 

2551 

6,0 

3,2 

1                 t*   £\ 

XVII 

1234 

7404 

3915 

«,o 

3,2 

1 } 

XIX 

5,062 

49,43 

25,90 

9,8 

6,1 

4.5 

XVIII 

2,025 

20,25 

11,39 

10,0 

5,(t 

xvin 

4,993 

49,93 

27,89 

10.0 

5,6 

1 

XVIII 

9,886 

98,86 

55,89 

10,0 

5,6 

xvni 

39,73 

397,3 

210,8 

10,0 

5,3 

4,6 

XVIII 

77.89 

778,9 

411,8 

10,0 

5,3 

1 

i 

XVIII 

146,6 

1466 

757,3 

10,0 

5,2 

XVIII 

260,8 

2608 

1330 

10,0 

6,1 

XVIII 

2,025 

30,37 

15,16 

15,0 

7,6 

■        6,fi 

XVIII 

4,993  '     74,89 

38,25 

15,0 

7.7 

XVIII 

9,886 

148,3 

75,9 

15,0 

7,7 

j 

XIX 

5,062 

98,86 

44,59 

19,5 

S,8 

8,4 

XIX 

5,062 

198,7 

79,25 

39,2 

15,6 

,       16,3 

XIX 

5,062  !   389,5 

141,6 

70.9 

28,0 

)               !      30,8 

XIX 

5,062      733,0 

244,8 

144,8 

48,4 

1      58,5 

XIX 

5,062    1304 

384,7 

257,6 

76,0 

103,6 

XIX 

5,062  '2386 

604,2 

471,4 

110,4 

185,2 

XIX 

5,062 

3702 

893,9 

731,3 

176,7 

293,1 

Untersuchungen  über  psychische  Hemmung. 


367 


Tabelle  XXL 

challempfindimgen.'    Meb]U(i.'8  Tab.  XX— XXI.    Philos.  Stud.  5,  621—622.) 


Nr.  der 

rab.  bei 

Ri 

Ä» 

Merkel 

XXI 

1590 

2468 

XX 

5,062 

10,12 

XXI 

869,5 

2468 

XX 

5,062 

24,96 

XXI 

488,6 

2468 

XXI 

259,6 

2468 

XX 

5,062 

49,43 

XXI 

132,5 

2468 

XX 

5,062 

132,6 

XXI 

49,43 

2468 

XX 

5,062 

259,6 

XX 

5,062 

488,6 

XXI 

24,% 

2468 

XX 

5,062 

869,5 

XXI 

10,12 

2468 

XX 

5,062 

1590 

XX 

5,062 

2468 

XXI 

5,062 

2468 

H 

X 

Rm 

Rm 

be- 

be- 

2043 

Ri 

1,6 

Ri 

1,8 

rechnet 

rechnet 

' 

1,2 

7,560 

2,0 

1,5 

1,4 

1675 

2,9 

1,9 

1,8 

14,89 

4,9 

2,9 

2,6 

1479 

5,1 

3,0 

2,7 

1340 

9,5 

5,2 

4,5 

26,70 

9,8 

5,3 

4,7 

1207 

18,6 

9,1 

0,17 

8,3 

65,58 

26,2 

13,0 

11,5 

1109 

49,9 

22,4 

21,3 

121,6 

51,3 

24,0 

21,9 

216,9 

96,5 

42,8 

40,7 

1015 

«W,c> 

41,5 

41,6 

354,9 

171,8 

70,1 

71,9 

946,5 

248,9 

98,5 

101,8 

596,0 

314,1 

117,7 

130,9 

831,8 

487,6 

164,3 

1 201,9 

875 

487,6 

172,9 

Tabelle  XXIL 

i^duülempfindungen.     Ament's  Tabelle  XJ.'     Philosophische  Studien  16,  177.) 


Nr.  der 

Tab.  bei  i 

1 

Ament 

Ä. 

s* 

Rm 

1 

1^- 

X  = 

Rm 

Ri 

H 
be- 
rechnet 

X 

be- 
rechnet 

^_r_  :  .. 

_. 

—         —  .     . 

—  — = 

^ — ^^ 

_  ^ 

-- 

—     — — -   -a 

XI 


11,24 

46,95 

24,00 

4,2 

4,50 

32,78 

14,19 

7,3 

4,50 

46,95 

20,91 

10,4 

1 

11,24 

4,14 

11,2 

1 

20,76 

6,75 

20,8 

1 

32,78 

9,34 

32,8 

1 

46,95 

14,78 

47,0 

2,0 

•1  o 

2,9 

4,6 

3.8 

4,1 

0,40  < 

4,1 

6,8 

6,9 

9,3 

10,5 

14,8 

. 

14,8 

^  Die  Zahlen  dieser  Tabelle  sind  aus  Zweckmäfsigkeitsrücksichten,  weil 
riämlich  die  Curv-e  derselben  etwas  anders  verläuft  als  diejenige  der  Zahlen 
108  Tab.  XX,  gesondert  von  den  letzteren  dargestellt  worden.  (Vgl.  Figg. 
-11,  S.  373.) 

'  Da  die  vier  Tabellen  Ament's  sich  auf  Versuche  beziehen,  welche 


368 


G.  Heyntans. 


Tabelle  XXIH. 

(Schallempfindungen.    Amemt's  Tab.  XII.    Phüosophische  Sivditn  16,  177.) 


Nr.  der 

Tab.  bei 

Ament 

Rt 

R^ 

Rm 

R% 

^-^  R. 

Rm  ; 

be- 
rechnet 

■r 

be- 
rechnet 

XTI 

n 
n 
« 
» 
n 
n 

11,24 
4,50 
4,50 

1 
1 
1 

1 

46,95 
32,78 
46,95 
11,24 
20,76 
32,78 
46,95 

26,12 
15,11 
23,32 
4,88 
8,16 
11,94 
19,47 

4,2 

7,3 

10,4 

11,2 
20,8 
32,8 
47,0 

2,8 
8,4 
5,2 
4,9 
8,2 
11,9 
19,5 

►  0,24  . 

1                           k 

2,2 
3,4 
4,6 
4,9 
8,5 
13,1 
18,5 

Tabelle  XXIV. 

(Schallempfindangen.    Ahekt's  Tab.  XIEE.    Philosophisclie  Studien  16,  181.1 


Nr.  der 

Tab.  bei 

Ament 

Ri 

R^ 

Rm 

Rm 

'^  R. 

H 

be- 
rechnet 

1 

X 

be- 
rechnet 

xin 

n 
n 
n 
n 
n 
n 

11,24 
4,50 
4,50 
1 

1 

1 
1 

46,95 
32,78 
46,95 
11,24 
20,76 
32,78 
46,95 

25,28 
17,15 
23,79 
4,15 
7,23 
10,53 
14,34 

4,2 

7,3 

10,4 

11,2 
20,8 
32,8 
47,0 

2,2 
3,8 
5,3 
4,2 
7,2 
10,5 
14,3 

>  0,36 

2,0 
3,0 
4.0 
4,3 
7,3 

11,2 
15,7 

Tabelle  XXV. 

(Schallempfindungen.    Akent's  Tab.  XIV.    Philosophische  Studien  16,  181.) 


Nr.  der 

T* 

T^ 

R 

X 

Tab.  bei 

Ri 

R, 

Jim 

Ri 

Rm 

be- 

be- 

Ament 

Ri 

Äl 

rechnet 

rechnet 

XIV 

11,24 

46,95 

25,86 

4,2 

2,3 

* 

2,1 

n 

4,50 

32,78 

16,04 

7,3 

3,6 

3.1 

n 

4,50 

46,95 

22,17 

10,4 

4,» 

4.2 

n 

1 

11,24 

3,98 

11,2 

4,0 

'  0,33  V 

4,5 

» 

1 

20,76 

6,93 

20,8 

6,9 

7.7 

n 

1 

32,78 

12,25 

32,8 

12,3 

11,8 

n 

1 

46,95 

15,75 

47,0 

15,8 

^ 

16,6 

entweder  mit  verschiedenen  Versuchspersonen  oder  mit  verschiedenei 
Versuchseinrichtungen  ausgeführt  wurden,  mufsten  die  Ergebnisse  derselbei 
gesondert  zusammengestellt  werden. 


Untersuchungen  Über  psychische  Hemmung. 


369 


Tabelle  XXVI. 

(SchaUempfindongen.    AxeELL's^  Tab.  IIa.    Philosophische  Studien  7,  441.) 


Nr.  der 

Tab.  bei 

AirOIET.T« 

Ri 

R^ 

Rm 

Ä2 

^=1^ 

Rm 

H 
be- 
rechnet 

X 

be- 
rechnet 

na 

r 
r 

40 
20 
20 
20 

120 

79 

111 

144 

75,8 
55,5 
61,7 
84,8 

3,0 
4,0 
5,6 

7,2 

1.9 
2,8 
8,1 
4,2 

1           1 

^  0,00 

'                                                 1 

1      2,0 
2,5 
3,3 
4,1 

Tabelle  XXVIL 

(Schallempfindungen.    Ansell'b  Tab.  IIb.    Philosophische  Studien  7,  441.) 


Xr.  der 

Tab.  bei 

A56ELL 

Bi 

Ä» 

Rm 

H 
be- 
rechnet 

X 

be- 
rechnet 

nb 

n 

40 
20 
20 
20 

120 

79 

111 

144 

56 

60,5 

86,8 

3,0 
4,0 
5,6 
7,2 

1,9 

2,8 

8.0 
3,« 

0,08 

1,9 
2.4 
3,1 

i      3,8 

Tabelle  XXVHI. 

I  Schallempfindungen.    Anoell's  Tab.  III.    Philosapkische  Studien  7,  443.) 


Xr.  der  ; 
Tab.  bei  | 

A5GELL  1 

m 


B. 


Bs 


Rm 


P 


X  = 


Rm 


H 

be- 
rechnet 


X 

be- 
rechnet 


20 

50 

33,6 

2,5 

20 

60 

37,2 

3,0 

20 

70 

38,9 

3,5 

20 

79 

44,6 

4,0 

20 

90 

52,9 

4,5 

20 

102 

63,6 

5,1 

20 

144 

84,4 

7,2 

1,7 

1,9 
1,9 
2,2 
2,6 

3,2 
4,2 


■    0,06 


1,7 
1,9 
2,2 
2,4 
2,6 
2,9 
3,9 


'  Anch  die  AKOELL'schen  Tabellen  erfordern  mit  Rücksicht  auf  die 
Verschiedenheit  der  Versuchspersonen  und  Versuchseinrichtungen  eine 
gesonderte  Darstellung.  Zu  denselben  ist  noch  zu  bemerken,  dafs  die  drei 
TBteren  (unsere  Tabellen  XXVI,  XXVII  und  XXVIII)  nur  der  Vollständig 
:eit  halber  hier  aufgenommen  sind,  da  sie  nach  Akobll's  eigener  Aussage 
1.  a.  O.  S.  447)  als  wenig  zuverlässig  zu  betrachten  sind. 
Zeittchrift  fBr  Psychologie  26.  24 


370 


G.  Htymans, 


Tabelle  XXIX. 

(Schallempfindungen.    Anobll's  Tabellen  IV— VI.    PhHos.  Siud.  7,  468—454.) 


Nr.  der 
Tab.  bei 
Angell 


Rt 


s. 


R 


m 


p= 


Ri 


X  = 


Rm 


H 
be- 
rechnet 


X 

be- 
rechnet 


IV 
VI 
IV 

V 
VI 
IV 

V 
VI 
IV 

V 


10 

40 

21,3 

10 

40 

21,4 

15 

60 

32,2 

15 

60 

32,2 

15 

60 

31,1 

20 

80 

43,5 

20 

80 

46,6 

20 

80 

41,2 

25 

100 

52,5 

25 

100 

53,9 

4,0 
4,0 
4,0 
4,0 
4,0 
4,0 
4,0 
4,0 
4,0 
4,0 


2,1 
2,1 
2,1 
2,1 
2,1 
2,2 
2,3 
2,1 
2,1 
2,2 


0,24 


2,1 


Tabelle  XXX. 

(Schallempfindungen.  Anokix's  Tabellen  VII— Villa.  PAito».  SA«A  7, 457— 466.) 


Nr.  der 
Tab.  bei 
Amorix 

AI 

R^ 

Rm 

^    -r; 

R 
be- 
rechnet 

X 

be 
rechnet 

08 
i-i 
i-i 

> 
OD 

> 

20 
10 
15 
20 
20 

60 
40 
60 
80 
100 

35,00 
19,62 
28,60 
41,61 
43,77 

3,0 
4,0 
4,0 
4,0 
5,0 

1,8 
2,0 
1,9 
2,1 

2,2 

1 

0,33 

1,7 
2,0 
2,3 

Tabelle  XXXI. 

(Schallempfindungen.  Angell's  Tabellen  VII— VUI  b.  Fhilos.  Stud.  7, 457-465.) 


Nr.  der 
Tab.  bei 
Angell 


IS 


20 
10 
15 
20 
20 


60 
40 
60 
80 
100 


35,75 
20,49 
32,33 
43,71 
51,11 


3,0 
4,0 
4,0 
4,0 
5,0 


x  = 


Rm 

's: 


1,8 
2,0 

2,2 
2,2 
2,6 


H      j       X 
be-  be- 

rechnet !  rechnet 


0,22 


I  ' 


1,8 
2,2 
26 


Untersuchungen  über  psychische  Hemmung.  371 

Man  braucht  diese  Tabellen  nur  durchzusehen,  um  überall 
bestätigt  zu  finden,  dafs  nicht  nur  x  unter  allen  Umständen 
legelmäCdg  mit  p  ansteigt,  sondern  dafs  auch,  wo  für  ein  be- 
stimmtes Sinnesgebiet  und  bei  unveränderter  Versuchseinrichtung, 
aber  bei  beliebiger  Variation  der  verwendeten  Reizintensitäten^ 
p  constant  oder  nahezu  constant  erhalten  wird,  sich  für  x  merk- 
lich gleiche  Zahlen  ergeben.  Den  entscheidendsten  Beweis  hier- 
für liefern  wohl  die  obigen  Tabb.  XVII — XIX,  wo  die  für  Grenz- 
reize von  1  und  10  gr  erhaltenen  Werthe  x,  bei  proportionaler 
Verstärkung  jener  bis  über  die  Beträge  von  100  und  1000  gr 
hinaus,  nur  unbedeutende  und  unregelmäfsige  Schwankungen 
erkennen  lassen.  Aber  wie  gesagt,  die  nämliche  Gesetzmäfsigkeit 
findet  sich  in  allen  übrigen  Tabellen  ohne  Ausnahme  wieder; 
die  aus  der  aufgestellten  Hypothese  S.  360  abgeleitete  zweite 
Folgerung,  nach  welcher  x  durch  p  bestimmt  sein  mufs,  findet 
also  in  den  Versuchsergebnissen  Merkel's,  Ament's  und  Angell's 
ihre  volle  Bestätigimg. 

An  dritter  und  letzter  Stelle  wurde  aus  jener  Hypo- 
these abgeleitet,  dafs  für  ein  bestimmtes  Sinnesgebiet  und  bei 
unveränderter  Versuchseinrichtung  x  eine  lineare,  durch  eine 
gerade  Linie  darzustellende  Function  von  p  sein  mufs.  Um  sich 
zu  überzeugen,  inwiefern  die  vorliegenden  Versuchsergebnisse 
dieser  Forderung  genügen,  wolle  man  die  nachfolgenden  Dia- 
granune  (Figg.  5 — 15),  in  welchen  die  Abscissen  ^Werthe,  die 
Ordinaten  a:- Werthe  veranschaulichen,  zu  Rathe  ziehen.  In 
Bezug  auf  dieselben  ist  noch  zu  bemerken,  dafs  einzelne  von 
den  Zahlen  der  Tabb.  XVI,  XX  und  XXI  so  nahe  auf  einander 
gedrängt  sind,  dafs  sie  in  den  entsprechenden  Figuren  keinen 
Platz  haben  finden  können;  der  Inhalt  der  übrigen  Tabellen  ist 
vollständig  dargestellt  worden.  Wo  für  Einen  Werth  von  p 
mehrere  Werthe  für  x  vorlagen,  ist  selbstverständlich  das  Mittel 
aus  denselben  zur  graphischen  Darstellung  verwendet. 


24* 


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Fig.  6.    (Tabelle  XV,  kleinere  Werthe.) 


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««A 

VO 

Fig.  6.    (TabeUe  XV.  gröfaere  Wertho.) 


Üntenuchwigm  über  pgyehitehe  Hemmung.  3^3 


w 

3t -T« 

X — -7* 

at -y^ 

jt . -7^- 

u 1^ 

s  ~-^— 


Fig.  7.    (Tabelle  XVI.) 


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V 

Rf8,  (Tab.  XX,  kleinere  Werthe.)         Fig.  9.  (Tab.  XX,  grafeere  Werthe.) 


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%10,  {Tab.XXI,kleinereWerthe.)      Fig.ll.  (Tab. XXI, gröfaere Werthe.) 


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' 

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/ 

t  — 

/ 

/ 

/ 

^ 

v 

tO    Z3    M     . 

Fig.  12.    (Tab.  XXU.) 


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y- 

^ 

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' 

■/ 

Ya 

_ 

■    i:   M   i 

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Fig.  13.    (Tab.  XXm.) 


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9 _____ -^ 

* -^ 

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D<J      »     IS     ZO    a    X    3S      W     K     so 


' 

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' 

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/ 

/ 

/ 

/ 

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_ 

^ 

n — 

< — 

n 



s-s 

L 

Fig.  14.    (T»b.  XXIV.) 


Fig.  15.    {Tab.  XXV.) 


Auch  über  die  Deutung  dieser  Figuren  kann  kein  Zweifel 
bestehen:  in  jeder  derselben  vertheilen  sich  die  durch  schwarze 
Tüpfel  angegebenen  Endpunkte  der  Ordinaten,  mit  gerii^n 
und  unregelmäTsigen  Abweichungen,  auf  die  beiden  Seiten  einer 
die  Ordinatenaxe  etwas  oberhalb  des  Nullpunktes  schneidenden 
Geraden;  nur  für  die  höchsten  p-Werthe  zeigen  einige  dieser 
Geraden  eine  Tendenz,  weniger  steil  als  Anfangs  zu  Terlaufeo, 
was  spater  (S.  375—377)  seine  Erklärung  finden  soll.  Hiervon 
abgesehen,  zeigen  also  die  betreffenden  Punktsysteme  eben  den- 
jenigen Verlauf,  welchen  sie  nach  der  hypothetischen  Formel 
von  S.  360: 

oder: 


üntcrnichungen  über  psychische  Semmung,  375 

besitzen  sollen ;  es  bleibt  nur  noch  zu  untersuchen,  ob  der  durch 
^/g  (1  —  B)  bestimmte  Neigimgswinkel  der  Curven  zum  Anfangs- 
punkte derselben,  welcher  durch  Va  (1  +  -^  bestimmt  wird,  pafst» 
Zu  diesem  Zwecke  ist  für  jede  der  Tabb.  XV — XXXI  aus  den 

gegebenen  Werthen  von  p  =  — ^  und  x  =  —f^-  der  wahrschein- 
liche Werth  von  H  berechnet,  und  dm*ch  Substitution  dieses 
Werthes  in  der  obigen  Formel  für  jeden  Betrag  von  p  der  zu- 
gehörige Betrag  von  x  ermittelt  worden;  die  solcherweise  ge- 
wonnenen Zahlen  habe  ich  in  die  letzten  zwei  Verticalcolumnen 
der  betreffenden  Tabellen  eingetragen,  und  in  den  entsprechenden 
Figuren  dm*ch  ausgezogene  Linien  dargestellt.  Die  Ueberein- 
stimmung  der  berechneten  mit  den  experimentell  ermittelten 
Werthen  läfst,  von  jener  Abweichung  für  höhere  p-Werthe  ab- 
gesehen, nur  wenig  zu  wünschen  übrig. 

Zusammenfassend  können  wir  also  sagen,  dafs  die  nach 
Analogie  unserer  früheren  Ergebnisse  von  uns  auf- 
gestellte Hypothese  einer  der  Intensität  zweier 
verglichener  Empfindungen  proportional  ver- 
laufenden Verkleinerung  des  zwischen  denselben 
wahrgenommenen  Unterschiedes  durch  die  Resul- 
tate Mebkel's,  Ament's  und  Angell's  überein- 
stimmend und  in  exaoter  Weise  bestätigt  wird.  Die 
Zuverlässigkeit  dieses  Ergebnisses  wird  noch  dadm*ch  erhöht, 
dafs  die  beiden  zuletzt  besprochenen  Gesetzmäfsigkeiten  den 
Forschem  selbst,  aus  deren  Untersuchungen  wir  sie  ans  Licht 
gefördert  haben,  durchaus  verborgen  geblieben  sind ;  demzufolge 
die  Möglichkeit,  dafs  Erwartungstäuschungen  zum  Zustande- 
kommen derselben  mitgewirkt  haben  sollten,  vollständig  aus- 
geschlossen ist 

Wir  haben  jetzt  noch  auf  einige  specielle  Punkte  kurz  ein- 
zugehen. 

Erstens  auf  die  mehrfach  erwähnten  Abweichungen  vom 
linearen  Charakter  der  Function  x  =  F  {p\  welche  sich  mit  be- 
sonderer Deutlichkeit  in  den  Tabb.  XV,  XX — XXI  und  XXTV 
als  ein  Zurückbleiben  der  beobachteten  hinter  den  berechneten 
a;- Werthen  bei  höheren  Beträgen  von  p  offenbaren,  und  auch  in 
den  entsprechenden  Figg.  5—6,  8 — 9,  10 — 11  imd  14  als  eine 
merkliche  Abbiegung  der  Curve  nach  der  Abscissenaxe  hin  her- 
vortreten. Für  die  Hemmungstheorie  können  diese  Abweichimgen 


376  G^.  JSeymans, 

nur  den  Sinn  haben,  dais  in  den  betreffenden  Fällen  entweder  eine 
der  (oder  die  beiden)  äufseren  Empfindungen  eine  Abschwächung 
^erfährt,   oder  aber   dafs   die   stärkeren  Empfindungen  J?»  und 
J?,  in   höherem  Maafse   als   ihrer  Stärke   entspricht  die  Wahr- 
nehmimg  ihres  Unterschiedes  beeinträchtigen,  demzufolge  dieser 
Unterschied  abnorm  verkleinert  erscheint,   imd  erst  nach  ent- 
sprechender Herabsetzung  von  ßm  demjenigen  zwischen  jK^  und 
J2m  gleichgeschätzt  werden  kann.    Es  läijst  sich  nun  in  den  vor- 
liegenden Verhältnissen  das  Gregebensein  der  Bedingungen  für 
diese  beiden  Möglichkeiten  imschwer  nachweisen.    In  Bezug  auf 
die  erstere  wäre  auf  Contrastwirkungen  Rücksicht  zu  nehmen, 
«denen  zufolge  von  zwei  weit  auseinanderliegenden  Empfindungen 
die  schwächere  noch  weiter  herabgesetzt  erscheinen  mufs;  mit 
dieser  Erklärung  stünde  in  Einklang,  was  sowohl  Merkel  ^  als 
Ament*   gefunden   haben,    dafs  nämlich   Rm  bei  aufsteigendem 
Verfahren    dm*chwegs    mehr   als    bei    absteigendem     sich   dem 
stärksten  der  drei  Reize   nähert,   ein  Ergebnifs,   welches    auch 
schon  von  Mbhkel^   auf  den   Einflufs   des   (Kontrastes   zurück- 
geführt wurde.    Was  sodann  die  zweite  Möglichheit  anbelangt, 
so  wäre  auch  hier,  ähnlich  wie  bei  den  oberen  Abweichungen  vom 
WEBEB*schen  Gresetz  (S.  355 — 356),  an  Complicationen  durch  Ge- 
fühlswirkungen zu  denken,  welche  entweder  auf  den  intensiveren 
Empfindungen  an  und   für   sich   anhaftenden  Unlustcharakter, 
oder   auf   das  Ueberraschungsgefühl,    welches    ihre    starke  Ab- 
weichung von  den  vorhergegangenen  Empfindimgen  hervorruft, 
beruhen  können,  in  beiden  Fällen  aber  eine  Verstärkimg  ihrer 
Hemmungswirkimg  ergeben  müssen.    Für  diese  Erklärung  würde 
sprechen,  dafs  die  genannte  Abweichung  bei  Druckempfindungen 
entweder  (Tab.  XVI,  Fig.  7)  nicht  vorkam,  oder  selbst  (Tabb. 
XVn,  XVin,  XIX)  in  entgegengesetzter  Richtung  verlief;   was 
.den  Ergebnissen  Merkel's  in  Bezug  auf  die  oberen  Abweichungen 
vom  WEBER*schen  Gesetz  vollständig  entspricht,  imd  in  gleicher 
Weise  wie  dort  zu  deuten  wäre  (S.  356).    Welche   der  beiden 
Erklärungen   die  richtige   ist,  oder  inwiefern  beide   zusammen 
gelten,  mufs  späteren  Untersuchungen  zu  entscheiden  überlassen 
werden;   uns  kann  die  Einsicht  genügen,   dafs  Abweichungen 


*  Philosophische  Studim  5,  269. 
'  FhilosophiscJie  Studien  16,  196. 

•  Philosophische  Studieti  5,  273. 


Vntenudmngea  über  psychische  Eemmung. 


377 


von    der   beschriebenen    Art   von    vornherein,    und    zwar   aas 
doppeltem  Grunde,  zu  erwarten  waren. 

Sodann  sind  noch  einige  GesetzmäTsigkeiten  von  unter* 
geordneter  Bedeutung  zu  besprechen,  welche  die  mehrfach  ge- 
nannten Autoren  in  ihren  VersucbBresultaten  vorgefunden  haben, 
and  welche  sich  sämmtlich  auf  das  VerhältniTs  des  geschätzten 
mittleren  Reizes  zum  geometrischen  und  zum  aritbmetiacben 
Mittel  aus  den  beiden  äulsereu  Reizen  beziehen.  Zur  Erläuterung 
der  Art  und  Weise,  wie  sich  nach  der  hier  vertretenen  Auffassung 
dieses  VerhältniTs  mit  dem  Werthe  von  p  ändern  mufs,  sind  in 
Fig.  16  die  Curven  für  /p'  V,  p  +  »/a  "»^  Vi  P  +  Vj  —  Vs  -H (P  —  1) 


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J       ,    ! 

Fig.  16. 

(letztere  für  H  =  0,3,  während  die  Curven  für  kleinere  Werthe 
von  B  sämmtlich  gerade  Linien  sind,  welche  durch  A  gehen 
und  zwischen  der  Curve  für  H  =  0,3  und  derjenigen  für  das 
arithmetische  Mittel  Sa  verlaufen)  zusammengestellt  worden;  es 
läfst  sich  also  aus  dieser  Figur  für  jeden  Werth  von  p  das  ent- 
sprechende Gröfsenverhältnifs  zwischen  dem  geometrischen  Mittel 
Y  Ä,  Äj  =  /-Bi  ■  i>-fij  =Äi  Yp,  dem  arithmetischen  Mittel 
V*  (Äi  +  Äj)  =  Vs  {Äi  +i'Äi)  =  B^  (V,  j)  +  '/j)  und  dem  nach 
der  Theorie  als  in  der  Mitte  liegend  zu  schätzenden  Reiz 
Ä,  iT  =  Äj  (V,  p  +  Va  —  'li  S  {p  —  1))  ohne  Weiteres  ablesen. 
Ein  Blick  auf  diese  Figur  kann  nun  Mehreres ,  was  sonst 
sonderbar  oder  zufällig  erscheinen  müfste,  als  durchaus  in  der 
Ordnung  oder  selbst  nothwendig  erkennen  lassen.  Erstens  die 
vielbesprochene  Thatsache,  dafs,  während  nach  Merkel  und 
Amemt  bei  Schallempfindmigen  der  geschätzte  mittlere  Reiz  sich 


378  (^'  Scymans, 

dem  arithmetischen  Mittel  aus  den  äufseren  Reizen  annähert, 
Angell   dafür   in  denjenigen  Versuchsreihen,  welche   allein  er 
als  zuverlässig  gelten  liefs,  Werthe  fand,  welche  sich  nahezu  mit 
dem    geometrischen    Mittel    aus    den    äufseren    Reizen    decken. 
Dieser  scheinbare  Widerspruch  löst  sich  sofort,  wenn  man  er- 
wägt, dafs  (auch  nach  den  Versuchen  Mebkel's  und  Ament's) 
H  für    Schallempfindungen   um    den    der    mittleren   Curve  in 
Fig.  16  zu  Grunde  gelegten  Werth  0,3  oscillirt,    dafs  in  den  be- 
treffenden Versuchen  Angell's  p  niemals  höhere  Werthe  als  5 
erreichte,  und  dafs  nach  der  Figur  für  diese  Werthe  von  p  die 
imtere   imd   die   mittlere    Curve   nahezu   zusammenfallen.     Die 
Vermuthung    Ament's^,    dafs    die    kleinen    Reizintervalle,    mit 
welchen  Angell  arbeitete,  sein  abweichendes  Resultat  verschuldet 
haben,    findet  also   volle  Bestätigung.    Büerzu  ist   noch  zu  be- 
merken, dafs  das  althergebrachte,  auf  die  subjective  Eintheilung 
der  Sterne  in  Gröfsenclassen  sich  stützende  Argument  für  die 
logarithmische  Hypothese  durch   eine  analoge  Betrachtung  als 
nicht   entscheidend   nachgewiesen   werden   kann.    Es   verhalten 
sich    nämlich   die   mittleren    Intensitäten    zweier   auf  einander 
folgender  Gröfsenclassen  ungefähr  wie  1 :  2,5,  also  die  Intensi- 
täten zweier  durch  eine  mittlere  getrennter  Gröfsenclassen  wie 
1  :  6,25 ;  nun  beträgt  nach  Mebkel's  Versuchen  für  Lichtempfin- 
dungen H  etwa  0,27 ;  für  diese  Werthe  gehen  aber  in  der  Figur 
die  untere  und  die  mittlere  Curve  nur  noch  wenig  aus  einander. 
—   In    gleicher    Weise    lassen    sich    einige    weitere    Aussagen 
Ament's  mit  leichter  Mühe  aus  der  Figur  bestätigen,  oder  auch 
als  einer  Correctur  bedürftig  nachweisen.    Dafs  z.  B.,  wie  Ament 
für  Licht-  und  Schallreize  festgestellt  hat,  Rm  um  so  mehr  in 
der  Richtung  nach   dem  stärkeren  Reiz  hin  von  Rg  differirt,  je 
gröfser  die  Intervalle  der  Grenzreize  werden  ^  läfst  sich  aus  dem 
linearen  Charakter  der  mittleren  gegenüber  dem  paraboUschen 
der  unteren  Curve  sofort  als  nothwendig  erkennen.    Ein  Gleiches 

gilt  von  seiner  Bemerkung,  dafs  die  Function  i^«  =  1 jf- 

theils  unregelmäfsig  verläuft,  theils  eine  gewisse  Constanz  auf- 
weist ^ :  indem  nämlich  Ra  und  Rm  beide  lineare  Fimctionen  von 


*  Philosophische  Studien  16,  195. 
«  Philosophische  Studiai  16,  179. 
»  a.  a.  O.  180. 


Unterguckungen  über  psychische  Hemmung.  379 

p  bedeuten,  sind  die  Zuwächse  beider  bei  beliebiger  Verstärkung 
von  p  einander  proportional,  woraus  sich  wenigstens  für  nicht 
allzukleine  Beträge  von  p  eine  annähernde  Constanz  von  F^  er- 
giebt    Genauer  gesprochen,  ist  nach  dem  Vorhergehenden: 

F         1   —  -^  Jgg  —  Bfn    _  'I,  H(p—1)   _        p  —  1 

•^^  Ba      ^  Ra  ~        V2P+V2         ~  P'\'V 

•  es  muls  also  bei  zunehmendem  p  Fa  gegen  H  limitiren:  eine 
Folgerung,  welche  durch  die  Tabellen  Mebkel's  und  Ament's 
im  Grofsen  und  Ganzen  bestätigt  wird.  —  Auch  eine  andere 
sich  aus   diesen   Tabellen   ergebende   Thatsache,    dafs   nämlich 

Fg^=  -^ 1  mit   wachsendem  p   regelmäfsig   und   ziemlich 

schnell  zunimmt,  hätte  man  aus  der  Figur  oder  aus  den  der- 
selben zu  Grunde  hegenden  Formeln  vorhersagen  können.  Denn 

F,  =    -g»>       1^  Bn^-B,    _  V>l>  +  V. -V.  fl(p-l)-l/p 

Bg  Bg  Yp 

1  -4- jy 
dieser   Betrag    mufs    aber    offenbar,    da  — _ —  nur    zwischen 

ip 

einem  die  Einheit  wenig  übersteigendem  Werthe  und  Null 
variiren  kann,  mit  p  regelmäfsig  anwachsen.  —  Dagegen  würde 
eine  letzte  Bemerkung  Ament's,  wenn  dieselbe  richtig  wäre, 
Allem  zuwiderlaufen,  was  wir  im  Vorhergehenden  vorausgesetzt 
und  stets  wieder  bestätigt  gefunden  haben.  Er  ist  nämlich  der 
Ansicht,    dafs    nicht    nur    die    absolute   Abweichung   vom   geo- 

•tint 

metrischen  Mittel  B^  — Bg,  sondern  auch  die  relative  Fg  =  -p 1, 

aufser  von  dem  Verhältnifs  der  äufseren  Reize  p,  noch  von  den 
absoluten  Intensitäten  derselben  abhängt  ^ ;  während  nach  obiger 
Erörterung  Fg  ausschliefslich  durch  H  und  p  bestimmt  sein 
müfste.  Nun  beruht  aber  die  Behauptung  Ament's  nur  auf  die 
Ergebnisse,  welche  er  einmal  bei  Versuchen  mit  äufseren  Reizen 
von  1  und  11,24,  sodann  bei  solchen  mit  äufseren  Reizen  von 
4,50  und  46,95  gewonnen  hat:  es  verhalten  sich  nämUch  diese 
beiden  Reizpaare  annähernd  gleich,  während  doch  merklich  ver- 
schiedene Beträge  von  Ig  herauskommen.  Zieht  man  aber  die 
obigen,     sämmtliche     Versuche     Ament's     zusammenfassenden 

«  a.  a.  O.  180. 


380  G.  Heyniam, 

Figg.  12—15  oder  die  entsprechenden  Tabb.  XXn—XXV  zu  Rathe, 
80  ergiebt  sich,  dafs  eben  die  Versuche  mit  den  äufseren  Reizen 
1  und  11,24  einen  Ausnahmefall  darstellen,  indem  sie  allein  die 
überall  sonst  vorliegende  regelmäfsige  Zunahme  von  x  mit  p  doich 
einen  mehr  oder  weniger  jähen  Abfall  unterbrechen.   Da  diese  Er- 
scheinimg  in   allen   vier   Versuchsreihen  Ament's  in   durchaus 
gleicher  Weise  zurückkehrt,  analoge  Erscheinungen  aber  so  got« 
wie  nirgends  sonst  nachweisbar  sind  (man  vergleiche  die  sämmt- 
liehen   Figg.   5 — 15),    so   mufs   die   Ursache   derselben  wohl  in 
irgend  einer  Unvollkommenheit  des  Versuchsapparates  oder  d» 
Versuchseinrichtung  zu  finden  sein;  jedenfalls  eignen  sich  die 
betreffenden  Ergebnisse   nicht   dazu,    allgemeine    Gesetzmälsig- 
keiten  auf  dieselben  aufzubauen.    Leider  hat  Abient  sonst  nicht 
mit  Reizpaaren  von  verschiedener  Intensität  aber  gleichem  oder 
nahezu  gleichem  Verhältnifs  experimentirt ;  Merkel  aber  um  so 
mehr.    Bei  den  Versuchen  des  letzteren  hat  sich  aber  dm*chweg8 
X,   und   demnach   auch    Fg,    von  der  absoluten  Intensität  der 
äufseren  Reize  unabhängig  gezeigt ;  wie  denn  ersteres  aus  unseren 
darauf   bezüglichen   Tabellen,    und   das    andere   aus    den   ent- 
sprechenden Tabellen  von  Merkel  selbst,  direct  zu  entnehmen  ist 
SchHefslich  haben  wir  uns  noch  einen  Augenbhck  bei  den 
früher  ermittelten  und  in  die  vorletzten  Verticalcolumnen  der 
Tabb.  XV — XXXI  eingetragenen  Ä-Werthen  aufzuhalten.    Aller- 
dings haftet  denselben,  indem  wir  die  für  hohe  jp-Werthe  ge- 
fimdenen  Zahlen  von  der  Berechnimg  ausschHefsen  und  hierbei 
mehr  oder  weniger  willkürlich  die  Grenze  ziehen  mulsten,  eine 
gewisse  Unsicherheit  an ;  trotzdem  darf  nicht  unbeachtet  bleiben, 
dafs    sie   sämmtlich   eine    ausgesprochene   Tendenz 
bekunden,  sich  den  relativenUnterschiedsschwellen 
für  die  betreffenden  Gebiete  anzunähern.    Für  Schall- 
empfindungen ergiebt  sich  als  Durchschnittswerth  für  H  aus  den 
MERKEL'schen  Tabellen  0,19,  aus  den  AMENT'schen  0,33,  aus  den 
ANGELL'schen,  sofern  dieselben  von  ihm  als  zuverlässig  anerkannt 
wurden,  0,26 ;  die  relative  Unterschiedsschwelle  für  das  betreffende 
Gebiet  beträgt  etwa  0,30.    Für  Druckempfindimgen  fand  Merkel 
bei   verschiedenen   Versuchseinrichtimgen    die    relativen   Unter- 
schiedsschwellen  0,09,   0,10    und   0,08  ^    denen    die    oben    fest- 
gestellten fi-Werthe  0,13,  0,11   und  0,20  entsprechen.     Endhch 


'  Philosoplmche  Studien  5,  267—262. 


üfUenuehungen  über  psychiscJie  Hemmung,  381 

for  Lichtempfindungen  beträgt  H  nach  den  MEHKEL'schen 
TabeUen  0,27,  während  die  unter  gleichen  Umständen  von  ihm 
ennittelten  relativen  Unterschiedsschwellen  zwischen  0,04  imd 
0,66  sich  bewegen*  Auf  so  rohen  Uebereinstimmungen  weit- 
tragende Folgerungen  zu  bauen,  wäre  offenbar  gefährlich;  doch 
schemt  es  mir  für  die  Beurtheilung  der  hier  vorgetragenen 
Theorie  nicht  ohne  Bedeutung  zu  sein,  dafs  die  beiden  Werthe, 
welche  von  ihr  als  das  Maafs  der  Verdrängimg  und  als  das 
Maafs  der  Abschwächung  von  Unterschiedsempfindimgen  durch 
gleichzeitige  und  gleichlocaUskte  Empfindungen  gedeutet  werden, 
wenigstens  nicht  zu  weit  auseinandergehen. 


Welche  wären  also  imsere  Resultate,   imd   welchen  Werth 
«hätten  wir  denselben  beizulegen? 

Wir  haben  erstens  für  vier  Sinnesgebiete,  und  zwar  so- 
wohl bei  Mischung  als  bei  gesonderter  Anwendung  der  Reize, 
gefunden,  dafs  schwache  Empfindungen  durch  stärkere  in  einem 
den  Intensitäten  der  letzteren  proportionalen  Maafse  aus  dem 
Bewufstsein  verdrängt  werden; 

sodann,  dafs  eine  Erweiterung  dieses  Gesetzes  auf  die 
Verdrängung  von  schwachen  Unterschiedsempfindungen  genügt, 
um  die  Thatsache  der  Unterschiedsschwelle,  den  allgemeinen 
Inhalt  des  WEBEB'schen  Gesetzes,  den  Umfang  in  welchem  das- 
selbe gilt,  sowie  die  oberen  und  imteren  Abweichungen  von 
demselben  zu  erklären; 

und  zuletzt,  dafs  eine  abermalige  Erweiterung  dieses  Ge- 
setzes auf  die  Abschwächung  von  stärkeren  Unterschiedsempfin- 
dungen uns  befähigt,  von  den  bei  Anwendimg  der  Methode  der 
mittleren  Abstufungen  durch  Merkel,  Ament  und  Angell  er- 
haltenen Versuchsresultaten  durchgängige  und  exacte  Rechen- 
schaft zu  geben. 

Der  Werth  dieser  Ergebnisse  scheint  mir  zunächst  darin  zu 
liegen,  dafs  sie  die  Vielheit  der  vorliegenden  Erscheinungen  in 
einfacherer  und  übersichtlicherer  Weise,  als  bis  jetzt  möglich 
war,  zu  beschreiben  gestatten.  Aufserdem  weisen  sie  auf  eine 
innere  Zusammengehörigkeit  dieser  Erscheinungen  hin,  und 
fordern    einen    gemeinsamen    Erklärungsgrund    für    dieselben. 


>  Philosophische  Studien  4,  557—561. 


f 


382  ^'  HeymaM, 

Dagegen  ist  die  Art  und  Weise,  wie  im  Vorhergehenden  diese 
Zusammengehörigkeit  formulirt  wurde,  als  eine  durchaus  pro- 
visorische zu  betrachten;  Begriffe  wie  Unterschiedsempfindung, 
Intensität  der  Unterschiedsempfindung  u.  dergL  sind  sicher  nicht 
dazu  angethan,  unzergliedert  und  unverändert  ihren  Platz  in  der 
Wissenschaft  ;«  behlupten.  Ich  mufs  demnach  ausdrücküch 
bitten,  in  jenen  von  mir  verwendeten  Ausdrücken  keinen  tieferen 
Sinn  zu  vermuthen;  sollte  man  mich  auffordern  dieselben  zu 
definiren,  so  könnte  ich  nm*  antworten:  ich  meine  damit  das- 
jenige quantitativ  abstufbare  Psychische,  welches  durch  den  ge- 
gebenen Unterschied  zweier  verghchener  Empfindungen  oder 
Reize  hervorgerufen  wird,  und  in  unseren  Aussagen  über  wahr- 
genommene Unterschiede  seinen  naturgemäfsen  Ausdruck  findet 
Das  ist  allerdings  keine  Definition  welche  sich  sehen  lassen 
darf;  aber  ich  habe  keine  bessere,  und  glaube  auch,  daCs  wir 
vorläufig  einer  besseren  entrathen  können.  Es  scheint  mir  nicl^t 
nm*  möglich  sondern  auch  nützHch,  ehe  wir  mit  dem  begriff- 
lichen Oberbau  anfangen,  den  thatsächlichen  Unterbau  zu  prüfen, 
zu  befestigen  upd  zu  Ende  zu  führen:  wird  doch  dieser  jenen 
zu  tragen  haben.  Wenn  wir  über  die  Gesetze  einig  sind,  werden 
die  Begriffe  sich  finden. 

(Eingegangen  am  29,  Mai  1901.) 


(Ans  der  von  Dr.  Kiesow  geleiteten  Abtheilung  für  experimentelle  Psychologie 
des  physiologischen  Instituts  der  Universität  Turin.) 


Beobachtungen  über  die  Empfindlichkeit 

der  hinteren   Theile  des  Mundraumes  für  Tast-, 

Schmerz-,  Temperatur-  und  Geschmacksreize/ 

Von 

F.  Kiesow  und  R.  Hahn.^ 
(Mit  3  Fig.) 

Die  in  dieser  Mittheilung  vorzugsweise  in  Betracht  kommen- 
den  Mundtheile    sind    die  Gaumenpfeiler,   die  Tonsillen 
und    die   Uvula,    vergleichsweise   sind   daneben   auch    andere 
Theile    des    Mundraumes    mitberücksichtigt    worden.      An    den 
vorderen     Gaumenbögen    wiu*den    aufserdem    noch    einige   Be- 
obachtungen über  die  EÄUmwahmehmung  angestellt  und  ebenso 
haben  wir   diese  Gebilde  auf  ihre  EatzelempfindUchkeit  geprüft. 
Wir  arbeiteten   mit   der   Projectionslampe   und   dem  Stirn- 
spiegel.   Die  Zunge  wurde  mit  einem  aus  Hartgummi  oder  Glas 
gefertigten  Zungenhalter  niedergehalten.  Wir  vermieden  metallene 
Zungenhalter,    um    die   durch    diese    verursachten    Geschmacks- 
empfindungen,   sowie    die    bei    elektrischen    Reizen    leicht    auf- 
tretende Leitung  nach  anderen,  der  Prüfung  nicht  unterworfenen 
Mundtheilen  hin  auszuschUefsen.    Personen  mit  stark  steigender 


^  üeber  einige  der  in  dieser  Arbeit  mitgetheilten  Thatsachen  wurde 
im  Allgemeinen  bereits  der  K.  Accademia  di  Medicina  zu  Turin  in 
to  Sitzungen  vom  26.  April  und  31.  Mai  1901  kurz  berichtet,  sie  sind 
in  der  vorliegenden  Abhandlung  nochmals  revidirt  worden. 

'  Specialarzt  für  Oto-rhino-laryngologie  und  Sprachstörungen  zu  Turin. 


384  F'  Kiesow  und  B.  Hahn. 

Zunge  wurden  bei  den  Untersuchungen  über  die  Tast-,  Tem- 
peratur- und  Schmerzempfindlichkeit  nicht  benutzt  und  bei  den 
Geschmacksuntersuchungen  thunlichst  ausgeschlossen. 

Die  Bestimmung  der  Tastempfindlichkeit  geschah 
mittelst  dünner  und  nicht  zu  weicher  Haarpinsel,  sowie  mit 
Wattebäuschchen,  der  von  FfiEY'schen  Reizhaare  und  dem 
Inductionsstrom.  Um  die  AppUcation  des  Reizes  auf  die  hinteren 
Mundtheile  möglich  zu  machen,  wurden  die  Haarpinsel  einem 
längeren  Glasstabe  aufgesteckt,  während  die  Wattebäuschchen, 
die  Reizhaare  und  die  für  die  Prüfimg  der  Raumwahmehmung 
benutzten  Reizmittel  dem  einen  Ende  eines  Strohhalmes  (Virginia- 
halm) von  ca.  19  cm  Länge  aufgeklebt  waren.  Das  Reizhaar 
(Pferdehaar)  wm*de  auf  diese  Weise  applicirt  dm*ch  Scheeren- 
schnitt  so  lange  verkürzt,  bis  eine  Empfindung  auftrat  und  dann 
gemessen.  ^ 

Als  Inductionsapparat  diente  uns  ein  Schütten  nach  du  Bois- 
Reymond  aus  der  Fabrik  von  G.  Hasler  in  Bern,  der  nach 
Kronecker  geaicht  und  bei  einer  Skalenlänge  von  52  cm  in 
14000  Einheiten  getheilt  war.  Die  Anzahl  der  Windungen  der 
secundären  Spule  ist  leider  nicht  angegeben.  In  den  Apparat 
wurde  constant  ein  Strom  gesandt,  der  beim  Durchgang  durch 
die  primäre  Rolle  eine  Intensität  von  0,5  Ampere  besafs.  Als 
Stromquelle  dienten  Danielelemente.  Die  Stromintensität  wurde 
vor  und  nach  jeder  Versuchsreihe  am  Ampöremeter  abgelesen 
und,  wenn  nöthig,  durch  Vei'änderung  einer  eingeschalteten 
Resistenz  regulirt.  Die  Reizung  war  in  diesem  Falle  eine  unipolare 
und  geschah  mittelst  einer  Kupferdrahtelektrode  von  16  cm 
Länge  und  1  mm  Durchmesser,  an  deren  freiem  Ende  in  der 
Gebläseflamme  ein  kleines  Knöpfchen  angeschmolzen  war. 
Diese,  durch  ein  Glasrohr  gezogene  imd  so  isolirte  Elektrode 
wurde  wie  bei  früheren  Versuchen  von  Frey's  und  Kiesow's  zur 
Kathode  der  Oeffnungsschläge  gemacht  imd  der  andere  Pol  zu 


^  Als  eine  bequeme  Methode,  den  Querschnitt  eines  Beizhaares  unter 
dem  Mikroskop  zu  messen,  erwies  sich  mir  die  folgende :  Man  benutze  das 
letzte  vor  dem  Auftreten  der  Empfindung  abgeschnittene  Stückchen  und 
stecke  von  diesem  ein  etwa  1 — 2  mm  langes  Endchen  in  ein  dünnes 
Hollundermarkscheibchen,  das  mit  dem  Kasirmesser  geschnitten  ist.  Legt 
man  das  so  zugerichtete  Scheibchen  auf  den  Objectträger  des  Mikroskops, 
so  hat  die  weitere  Bestimmung  keine  Schwierigkeit.  Elissow. 


EmpfiindUchkeit  der  hinteren  Theüe  des  Mundraumes  für  Tost-  etc,  Beize.  385 

einer  dem  einen  Unterarm  umgelegten  breiten  Metallmanschette 
geleitet 

Die  Schmerzempfindlichkeit  wurde  faradisch,  thermisch 
und    mechanisch  geprüft.    Als  mechanische   Reizmittel   dienten 
neben  den  Reizhaaren  auch  feine  und  zugeschlifEene  Nähnadeln, 
die  dem  freien   Ende    eines   Glasstabes  von  20  cm  Länge  ein- 
geschmolzen waren. 

Die  thermischen  Prüfungen  wurden  auf  zweierlei 
Weise  angestellt.  Wir  verfuhren  zunächst  so,  dafs  wir  in  ein 
mit  erwärmtem  Wasser  gefülltes  Gefäfs  mit  einem  Thermometer 
zusammen  einen  gut  leitenden  Metallstab  von  19  cm  Länge  und 
5  mm  Durchmesser  thaten,  dessen  Applicationsende  glatt  ab- 
geschüfEen  und  dessen  freies  Ende  mit  einem  Stück  dickwandigen, 
als  Handgriff  dienenden  Gummischlauches  überzogen  war.  Nach- 
dem wir  das  Wasser  auf  eine  ziemlich  hohe  Temperaturstufe 
(ca.  65 — 70  ®  C.)  erwärmt  hatten,  begannen  wir  die  Versuche  imd 
folgten  in  kurzen  Zeitabständen  der  Abkühlung  des  Wassers  bis 
zu  dem  Punkte,  wo  eine  ausgesprochene  Kaltempfindung  auftrat 
Neben  der  Empfindlichkeit  für  Wärme-  und  Kältereize  konnte 
so  zugleich  annähernd  die  Schwelle  des  Wärmeschmerzes  be- 
stimmt werden.  Die  Application  des  Metallstabes  geschah  sehr 
schnell,  nachdem  die  Versuchsperson  den  Mund  geöffnet  hatte 
und  die  Zunge  mit  dem  erwähnten  Zungenhalter  niederge- 
halten war. 

Sodann  benutzten  wir  ein  Thermoästhesiometer,  wie  Kiesow 
auf  VON  Fket's  Vorschlag  construirte  und  bereits  beschrieben 
hat  ^  Für  den  vorliegenden  Fall  war  dasselbe  dahin  abgeändert, 
dafs  die  Kupferstäbe  isolirt  durch  ein  ca.  16  cm  langes  Glasrohr 
gezogen  waren.  Ebenso  besafs  dasselbe  keinen  Kurzschlufs. 
Oeffnung  imd  SchUefsung  des  Stromes  wurden  durch  einen  in 
den  Stromkreis  eingeschalteten  Contactschlüssel  bewirkt. 

Für  die  Prüfung  der  Geschmacksempfindlichkeit  der  er- 
wähnten Mundtheile  benutzten  wir  starke  Lösungen  von  Rohr- 
zucker, Kochsalz,  Salzsäure  und  Quassin,  die  mittelst  passender 
Pinsel  und  Wattebäuschchen  aufgetragen  wurden.  Hierbei  waren 
aber  weitere  Vorsichtsmaafsregeln  nöthig,  die  im  Zusammenhang 
mit  den  Versuchsergebnissen  unten  beschrieben  sind. 

Aufser    dieser    Methode     benutzten    wir    die    zuerst    von 


*  F.  EliEsow,  Zur  Psychophysiologie  der  Mundhöhle.  Fhilos.  Stud.  14,  583. 
Zeitschrift  för  Psychologie  26.  2b 


386 


J^.  Kiesoio  und  R,  H<ihn, 


E.  Neümann^  und  kürzlich   auch  wieder  von  R.  Zander^  mit 
Erfolg  für  diesen  Zweck  angewandte  elektrische  Reizung.    Die 
beiden  Elektroden  wurden  isolirt  durch  ein  16  cm  langes  Glas- 
rohr gezogen  und  endeten  bei  einer  sehr  geringen  Entfernung 
von  einander  in  kleinen  angeschmolzenen  Knöpfchen.    Wir  be- 
nutzten  wie   Neümann   einen   constanten  Strom,    der  die  Tast- 
xmd  Schmerzapparate  der  Mundschleimhaut  beim  Oeffnen  und 
Schhefsen  nicht  erregte,  wohl  aber  den  eigenartigen  elektrischen 
Geschmack    an    den   Geschmackspapillen    deutlich  hervortreten 
liefs.    Durch   leises  Hin-  und  Herbewegen  der  Elektroden  auf 
den  Schmeckflächen  tritt  der  Geschmack,  wie  schon  Neümau» 
angegeben  hat,  noch  deutlicher  hervor. 


Fig.  1. 


Fig.  2. 


Für  die  Untersuchung  der  Raum  Wahrnehmung  be- 
nutzten wir  Carton-  und  Papierstückchen,  die  ebenfalls  einem 
Virginiahalm  aufgeklebt  waren.  Die  Stückchen  waren  für  die 
Wahrnehmimg  von  Linien  am  freien  Ende  glatt  abgeschnitten, 
für  die  Schätzung  auf  Pimktdistanzen  eingekerbt  (Siehe  die 
Figuren  1  und  2.)  Von  jeder  Art  hatten  wir  eine  gröfsere  Serie 
angefertigt.  * 


^  E.  Neumann,  Die  Elektricität  als  Mittel  zur  Untersuchung  des  Ge- 
schmackssinnes im  gesunden  und  kranken  Zustande  etc.  Königsberger  med. 
Jahrb.  4,  1—22.  1864.  Citirt  nach  v.  Vintschgau,  Hermann's  Handbuch  der 
Physiologie  III,  2,  S.  153. 

*  R.  Zander,  Ueber  das  Verbreitungsgebiet  der  Gefühls-  und  Geschmacks- 
nerven in  der  Zungenschleimhaut.    AiiatomiscJtcr  Anzeiger  14,  131.     1898. 

'  Ueber  das  bei  Untersuchungen  über  Raumwahrnehmungen  ziemlich 
gute  Dienste  leistende  Princip,  mit  Carton  und  Papierstreifen,  deren  Reiz- 
werthe  mefsbar  sind,  zu  arbeiten,  werde  ich  später  ausführlicher  berichten. 

KlESOW. 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theüe  des  Mundraumes  für  Tost-  etc.  Beize.  387 

Die  Kitzelempfindungen  wurden  durch  Streichen  mit 
Haarpinseln,  Wattebäuschchen  imd  Glasstäben  hervorzurufen 
gesucht 

Die  weitere  Versuchsanordnung  war  so  getroffen,  dafs  die 
Versuchsperson  bequem  auf  einem  Stuhle  safs  und  angewiesen 
war,  mit  der  Hand  ein  Zeichen  zu  geben,  sobald  eine  Sensation 
erfolgte.  Nachdem  der  Mimd  wieder  geschlossen  war,  wurde  das 
Urtheil  abgegeben  und  notirt 

Ausdrücklich  hervorgehoben  sei  noch,  dafs  wir  besonders 
für  die  bei  den  thermischen  Reizungen  erhaltenen  Resultate 
nicht  die  Gültigkeit  absoluter  Werthe  beanspruchen  und  ims 
wohl  bewufst  sind,  mit  diesen  Messungen  keine  Exactheit  im 
absoluten  Sinne  befolgt  zu  haben.  Da  es  uns  mehr  auf  die 
Feststellung  der  Thatsachen  an  sich  imd  auf  ein  ungefähres 
Maafs  der  Empfmdlichkeit  ankam,  so  haben  wir  ims  angesichts 
der  noch  zu  überwindenden  technischen  Schwierigkeiten  mit 
diesen  relativen  Werthen  begnügt.  Bemerkt  sei  noch,  dafs 
empirisch  ermittelte  Verlustwerthe  bei  diesen  Messungen  in 
Abzug  gebracht  wurden.  —  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  gilt 
das  Vorstehende  auch  für  die  übrigen  Werthangaben.  Unser 
Hauptzweck  war  auch  hier,  zu  einer  allgemeinen  Orientirung  zu 
gelangen  imd  möglichst  getreue  Annäherungswerthe  zu  erhalten. 

Wir  begannen  die  Untersuchung  mit  der  Prüfung  der  ge- 
nannten Mundtheile  auf  ihre  Tastempfindlichkeit  mittelst 
des  faradischen  Stroms.    AppUcirt  man  die  Drahtelektrode  auf 
die  Tast-  und  Haarpimkte  der  Körperhaut  oder  auf  die  übrigen 
Theile  des  Mundraimis,  so  erhält  man  die  mehrfach  beschriebene 
intermittirende,  von  Anderen  als  schwirrend  bezeichnete   Tast- 
empfindung.   Diese  Empfindung  ist  für  die   äufsere  Körperhaut 
und  die  übrigen  Mundtheile  (Zunge,  Lippen,  Wangenschleimhaut, 
harter   und    weicher  Gaumen,    Zahnfleisch)   so    charakteristisch, 
dafs  sie  hier  niemals  ausbleibt.    Die  Methode  dürfte  daher  ein 
gutes   Mittel    abgeben,    diejenigen    Körpertheile   zu    bestimmen, 
welche  tastempfindlich  sind.    Auf  den  in  Rede  stehenden  Mund- 
theilen  fanden  wir  nun  Verhältnisse,    die   von   den   bisher  be- 
kannten zum  Theil  abweichen.     Unsere  Versuche  zeigten,   dafs 
die    intermittirende   Tastempfindung   auf  den  Tonsillen,   der 
Mitte  der  hinteren  und  der  Mitte  der  vorderen  Gaumen- 
bögen ausblieb,  auch  wenn  die  Stromintensität  unter  den  an- 

25* 


388  ^'  Kiesotc  und  B.  Hahn. 

gegebenen   Bedingungen   bis   zu   einem   sehr  hohen  Grade  ge- 
steigert   wiu*de.     Bei    sehr    intensiven    Reizen    treten   aber  so 
starke,  von  imangenehmem   Gefühlston  begleitete  ContractioDS- 
und    Reflexempfindung    auf   und    aufserdem    mehrt    sich    die 
Speichelsecretion   in   solchem   Maafse,    dafs    der  Versuch  nicht 
mehr  rein  bleibt    Da  der  Reiz  durch   den  Speichel  überhaupt 
leicht  nach  mit  Tastorganen  versehenen  Stellen  hin  fortgeleitet 
wird,  so  braucht  kaum  hervorgehoben  zu  werden,  dafs  dieser 
Factor  bei  den  Versuchen  in  Rücksicht  gezogen   wurde.    Wir 
haben  vor  jedem  Versuche  den  Mund  gründlich  spülen  lassen 
und   aufserdem   die    zu   untersuchenden  TheUe  und    ihre  Um- 
gebung  mit  Watte  abgetrocknet. 

An  den  erwähnten  Stellen  der  beiden  Gaumenbögen  traten 
nun  freilich  bei  einer  Stromintensität  von  ca.  600 — 900  Einheiten 
und  an  den  Tonsillen  bei  einer  solchen  von  ca.  700 — 800  Einheiten 
bereits  schwache  Empfindungen  auf,  aber  diese  waren  nicht  Tast- 
empfindungen, sondern  schlössen,  wie  weiter  unten  beschrieben 
ist,  bereits  die  Schmerzqualität  in  sich.  Die  Empfindungen  sind 
stichartig  und  auf  diesen  Flächen  punktförmig  vertheUt.  In  diesen 
Punkten  wird  man  daher  Schmerzpunkte  anzuerkennen  haben. 
Ebenso  dürften  wir  nach  den  dargelegten  Erfahrungen  zu  dem 
•Schlüsse  berechtigt  sein,  dafs  eigentliche  Tastorgane  auf  den 
angegebenen  Flächen  nicht  vorhanden  sind.  Bemerkt  sei  aber 
schon  hier,  dafs  das  Aufsetzen  der  Elektrode  an  den  genannten 
Stellen  oftmals  als  schwacher  und  vager  Tasteindruck  empfunden 
wird.  Wir  kommen  auf  diese  Erscheinung  imten  zurück.  Die 
Beobachtungen  wurden  an  mehreren  Versuchspersonen  mit  stets 
gleichem  Erfolge  angestellt. 

Abweichend  von  diesen  Befunden  verhielten  sich  die  oberen 
und  unteren  Enden  der  vorderen  Gaumenbögen.  Hier  gaben 
mehrere  Versuchspersonen  bei  intensiven  Reizen  von  2000 — 3000 
Einheiten  und  darüber  an,  dafs  sie  ein  schwaches  Schwirren 
beobachteten.  Wir  haben  dieser  Erscheinung  viel  Aufmerksam- 
keit geschenkt,  haben  aber  nicht  mit  absoluter  Sicherheit  er- 
mitteln können,  ob  es  sich  hier  um  directe  Reizung  von  Tast- 
organen handelt,  die  auf  diesen  Stellen  selbst  vertreten  sein 
könnten,  oder  um  Ausbreitung  des  Stromes  nach  dem  weichen 
Gaumen  und  der  Zunge  hin.  Ist  das  erstere  auch  wahrschein- 
lich (s.  Note  2  auf  S.  389),  so  dürfte  doch  auch  die  letztere  An- 
schauung nicht  ohne  Weiteres  von  der  Hand  zu  weisen  sein. 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theile  des  Mundraumes  für  Tast-  etc,  Beize.   389 

Abgesehen  davon,  dafs  die  Mundflüssigkeit  leitet,  steht  der 
Tordere  Gaumenbogen  durch  den  M.  palato-glossus  (Fort- 
setzung des  M.  transversus  linguae)  sowohl  mit  der  Zunge  als 
auch  mit  dem  Gaumensegel  in  Verbindung  und  ebenso  finden 
sich  hier  gleichfalls  Nervenfasern  aus  dem  Trigeminus.  Die 
Leitung  durch  die  Mundflüssigkeit  haben  wir,  wie  bereits  be- 
merkt, durch  Abtrocknen  thunlichst  zu  beseitigen  gesucht,  aber 
es  bleibt  dann  immer  noch  eine  Leitung  durch  die  Muskel-  oder 
die  Nervenfaser  nach  den  sehr  nahe  liegenden  Tastflächen  hin 
möghch.  Durch  Contraction  des  Muskels,  die  bei  dieser 
Reizrmg  stark  hervortritt,  wird  das  Gaumensegel  nach  abwärts 
gezogen  und  sodann  hat  v.  Frey  in  hohem  Grade  wahrscheinlich 
gemacht,  dafs  durch  den  elektrischen  Reiz  nicht  direct  die 
Endorgane ,  sondern  vielmehr  die  zuführenden  Nerven  ge- 
troffen werden.*  Diese  Vorstellung  haben  auch  wir  bei  den 
vorliegenden  Beobachtungen  vielfach  bestätigen  können.  Man 
merkt  oft  deuthch,  wie  der  Reiz  sich  unter  der  Haut  fortpflanzt 
Die  Leitung  durch  die  Muskel-  und  Nervensubstanz  nach  Zunge 
und  Gaumen,  Gebilde,  die  mit  Tastorganen  versehen  sind,  dürfte 
somit  nicht  ausgeschlossen  sein,  zumal  die  Stromintensität  zur 
Hervorrufung  dieser  Erscheinimg  beträchtlich  ist  imd  die  Em- 
pfindung andererseits  schwach  bleibt.  Dazu  kommt,  dafs  auch 
auf  der  äufseren  Körperhaut  ganz  ähnliche  Erscheinungen  durch 
Ausstrahlung  des  Reizes  hervorgerufen  werden  können. 

Trotzdem  haben  wir  diese  Frage  unentschieden  gelassen. 
Wir  kommen  nochmals  darauf  zurück.  Was  aber  als  sicher 
aus  unseren  Versuchen  hervorging,  ist  dies,  dafs  wenn  hier 
Tastorgane  vorkommen,  sie  hier  nur  in  minimaler  Anzahl  vor- 
handen sein  können  und  schwer  zu  treffen  sind.  Unmöglich 
ist  auch  nicht,  dafs  hier  individuelle  Differenzen  vorkommen. 

Die  hinteren  Gaumenbögen  wurden  aus  leicht  ersichtlichen 
Gründen  nur  an  ihrem  medialen  Rande  untersucht,  ihre  oberen 
und  unteren  Enden  blieben  der  möglichen  Fehlerquellen  wegen 
von  der  elektrischen  Prüfung  ausgeschlossen. - 


'  M.  VON  Frey,  Beiträge  z.  Phys.  d.  Schmerzsinnes.  Leipziger  Berichte 
18W,  2.  Mittheil.,  S.  292. 

'  Zu  einer  endgültigen  Beantwortung  dieser  und  anderer  Fragen  wird 
neileicht  eine  histologische  Bearbeitung  der  Gebilde  führen,  die  einer 
meiner  8chüler  auf  meinen  Wunsch  unternommen  hat  und  über  die  er 
spftter  selbst  berichten   wird.    AVie  mir  Herr  Prof.  v.  Frey  schreibt,  den 


390  F-  Kiesow  und  R.  Hahn. 

Am  oberen  Theile  der  Uvula  wurde  von  den  meisten, 
am  obersten  von  allen  Versuchspersonen  Schwirren  angegeben, 
der  imtere  drüsige  Theil  des  Organs  scheint  ebenso  individuellen 
Differenzen  zu  unterliegen.  Bei  Keesow  ist  der  untere  Theil 
für  Tast-  und  Schmerzreize  vöUig  unempfindUch. 

Um  einen  näheren  Einblick  in  diese  Verhältnisse  zu  g^ 
winnen,  haben  wir  sie  messend  weiter  verfolgt  und  mit  der 
Empfindlichkeit  anderer  Mundtheile  zu  vergleichen  gesucht 
Diese  wie  alle  anderen  Messungen  wurden  vorzugsweise  an 
KiESOw  angestellt.  Für  einige  Controlversuche  leisteten  uns  die 
Herren  DDr.  Cüshing,  und  N.,  sowie  Herr  stud.  med.  Fontana  u.  A. 
ihre  Hülfe.  Letzterer  ist  ims  aufserdem  beim  Experimentiren 
vielfach  behülflich  gewesen.  Wir  versäumen  nicht,  diesen 
Herren,  wie  allen  anderen  Personen,  die  uns  behülflich  waren, 
auch  an  dieser  Stelle  unseren  besten  Dank  für  ihre  Theilnahme 
an  den  Versuchen  auszusprechen. 

Wir  stellen  in  den  nachfolgenden  Tabellen  die  Werthe  zu- 
sammen, die  an  Kiesow  als  Tast-  und  Schmerzschwellen  ge- 
funden wurden.  Diejenigen  der  übrigen  Herren  wichen  nicht 
erhebUch  von  diesen  ab. 

I.   Intermittirende  Tastempfindung. 


Zungenspitze : 

25  Einheiten 

Harter  Gaumen: 

25—30 

n 

Mitte  der  Zunge: 

ca.    100 

r 

Mundwinkel: 

ca.    100 

r 

Weicher  Gaumen: 

ca.    800 

n 

Uvula: 

ca.  1250 

r 

Oberes  Ende  des  vord 

eren 

Gaumenbogens: 

ca.  2500 

r 

Unteres    Ende    des 

vorde- 

ren  Gaumenbogens: 

ca.  2000 

r 

II.    Schmerzempfindung. 

Zungenspitze:  100 — 200  Einheiten 

Harter  Gaumen:  50 — 100  „ 

Mundwinkel:  300-400  „ 


ich  um  Nachprüfung  dieser  physiologisch  schwer  festzustellenden  That- 
sache  bat,  konnte  auch  er  an  sich  selbst  gegen  den  oberen  Rand  und 
zwar  sowohl  des  vorderen  wie  des  hinteren  Bogens  durch  faradische 
Reizung  beliebiger  Frequenz  und  ohne  Muskelreizung  vereinzelte  isolirte 
Tastpunkte  nachweisen.  Kiesow. 


n 
r 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theile  des  Mundraumes  für  Tctst'  etc,  Reize.   391 

Mitte  der  Zunge:  ca.  500  Einheiten 

Weicher  Gaumen:  ca.  500 — 600         „ 

Vorderer  Gaumenpfeiler,  oben:  ca.  600 

Vorderer  Gaumenpfeiler,  Mitte:         ca.  900 
Hint.  Gaumenpfeiler,  Mitte:         ca.  600—700         „ 
Oberer  Theil  der  Uvula:  ca.  600— 700         „ 

Tonsillen:  ca.  700—800 

Es  sei  nochmals  hervorgehoben,  dafs  diese  Werthe  nur  An- 
näherungswerthe  sein  können.  Sie  sind  die  niedrigsten,  die  ge- 
funden wurden  und  dürften  somit  für  die  empfindlichsten  Punkte 
des  jeweils  untersuchten  Körpertheils  gelten.  Da  diese  Punkte  auf 
den  vorderen  Mundtheilen  besser  auffindbar  sind  als  an  den  hinteren, 
so  kann  der  Vergleich  zwischen  beiden  im  absoluten  Sinne 
keine  Exactheit  beanspruchen.  Dennoch  dürften  die  Angaben 
nicht  ohne  Werth  sein,  da  sie  ein  ungefähres  Verhältnifs  der 
EmpfindUchkeit  der  einzelnen  Mundtheile  deutUch  erkennen 
lassen.  Sehr  schwer  bestimmbar  ist  die  Schwelle  für  die  inter- 
mittirende  Tastempfindung  an  der  Zungenspitze,  sofern,  wie 
KrEsow  bereits  in  einer  anderen  Arbeit  hervorgehoben  hat  ^,  das 
Organ  selbst  fortwährend  Bewegungen  ausführt  und  diese  Em- 
pfindung auch  ohne  Stromdurchgang  so  leicht  vorgetäuscht 
werden  kann.  Man  kommt  hier  aber  zum  Ziele,  wenn  man  den 
inducirten  Strom,  während  die  Elektrode  bei  minimalster  In- 
tensität der  Zungenspitze  anliegt,  öffnet  und  schliefst.  Auf  diese 
Weise  wurde  der  oben  angegebene  Werth  gefunden.  Kaum  ver- 
schieden von  der  EmpfindUchkeit  der  Zungenspitze  ist  die  des 
harten  Gaumens,  besonders  am  hinteren  Rande,  wo  er  in  den 
w^eichen  Gaumen  übergeht.  In  der  Schmerzempfindlichkeit  über- 
trifft der  harte  Gaumen  noch  die  Zungenspitze.  Die  letztere  hat 
aber  durch  ihre  grofse  Beweglichkeit  für  die  Auffassung  von 
Reizgröfsen  Vortheile  vor  allen  anderen  Organen.  Im  Uebrigen 
bedürfen  die  vorstehenden  Tabellen  keiner  weiteren  Interpretation. 
Es  geht  aus  denselben  deutlich  hervor,  dafs  die  vorderen  Mund- 
theile sowohl  für  Tast-  als  für  Schmerzreize  bedeutend  empfind- 
licher sind  als  die  hinteren.  Was  die  letzteren  betrifft,  so  ist 
der  hintere  Gaumenpfeiler  in  seinem  mittleren  Theile  schmerz- 
empfindlicher als  der  vordere  und  ebenso  ist  dieser  hier  etwas 
weniger  empfindlich  als  die  Tonsillen.    Bei  ihrem  Uebergange  in 


*  F.  KiEsow.    Zur  Psychophysiologie  der  Mundhöhle.    Philos.  Stiid.  14. 


392  ^'  Kiesow  und  R,  Hahn. 

den  weichen  Gaumen,  nehmen  die  Gaumenbögen  allmählich  die 
Empfindlichkeit  dieses  Mimdtheiles  an. 

Bevor  der  Schmerz  erscheint  und  noch  etwas  über  diesen 
Pimkt  hinaus,  hatten  einige  Versuchspersonen  namentUch  auf 
den  Gaumenpfeilem  den  Eindruck,  als  ob  ein  auf  den  Körper- 
theil  ausgeübter  Druck  anwachse  und  sich  in  die  Tiefe  fort- 
pflanze. Diese  Erscheinung  wird  vielleicht  durch  die  Zimahme 
der  erwähnten  Contractionsempfindung  vorgetäuscht. 

EigenthümUch  ist  ferner  die  Thatsache,  dafs  die  Grenze  bis 
zur  Unerträglichkeit  des  Schmerzes   auf  den  einzelnen 
Theilen  der  Mundhöhle  verschieden  ist.   Man  erträgt  den  Schmerz 
auf  den  hinteren  Mimdtheilen  länger  als  auf  den  vorderen  und 
auf  den  Tonsillen  z.  B.  wieder  weit  länger  als  auf  den  Gaumen- 
pfeilem und  dem   weichen  Gaumen.    Kiesow  gewann  schon  in 
einer  früheren  Arbeit  über  die  Empfindlichkeit  des  Mundraums 
„den  Eindruck,  dafs,  von  inneren  Organen  abgesehen,  die  Wangen- 
schleimhaut wie   die  hinteren  Theile  des  Mundraumes  mit  Ein- 
schlufs  der  hinteren  Zungenhälfte  von  allen  Körpertheilen  viel- 
leicht   die    geringste    Schmerzempfindhchkeit    besitzen."  *      Die 
Wangenschleimhaut  besitzt  aufserdem,   wie  er  zuerst  fand,   eine 
schmerzfreie  Stelle.*-   Er  bezeichnete  die  auf  der  hinteren  Wangen- 
schleimhaut   auftretenden    Empfindungen     nicht    geradezu    als 
schmerzhaft,  sondern  als  schmerzbetont.    Es  darf  jedoch  diesem 
hinzugefügt  werden,  dafs  im  hinteren  Mundraume  die  Schmerz- 
empfindungen  wie    auf   einzelnen  Theilen,    so   auch  auf  einem 
und  demselben  Theile  der  Mundcavität  noch  wieder  verschieden 
sind.^    Im  Einzelnen  ist  die  Analyse  hier  aber  sehr  erschwert 
Die  durch  die  erwähnten  Contractionen  und  Reflexe,  sowie  durch 
Ausstrahlung  in  benachbartes  Gewebe  und  durch  elektrolytische 
Zersetzimgen  hervorgerufenen  Empfindungen'  verschmelzen  zu- 
sammen mit  Temperaturempfindungen    oder  direct  und  indirect 
ausgelösten  Geschmacksempfindungen  mit  der  Schmerzempfindung 


1  Citirte  Arbeit,  S.  578. 

«  Ebenda.    Aufserdem  Philos.  Stitd.  9,  510  ff. 

•  Die  Verallgemeinerung,  welche  S.  Alrutz  (Skandin.  Ärch.  f.  Physio- 
toyic  10,  361)  aus  den  in  meiner  oben  eitirten  Arbeit  mitgetheilten  Angaben 
gexogen  hat,  dafs  das  minimum  perceptibile  des  Schmerzes  im  Mund- 
rniunv  hoch  liege,  ist  nicht  richtig.  Ich  hatte  diese  Angabe  nur  für  die 
hinteren  Mundtheile  gemacht.  Schmerzempfindungen  spielen  bei  der  Auf- 
uiilune  der  Nahrung  eine  bedeutende  Rolle.  Kibsow. 


Bnj^ndliehkeit  der  hinteren  Theile  des  Mundraumes  für  Tost-  etc.  Beize.  393 

lu  einem  Empfindungscomplex,  der  dem  Schmerz  namentlich 
bei  höheren  Reizintensitäten  eine  ganz  eigenartige  Färbung  ver- 
leiht Der  Totaleindruck  ist  dann  meistens  von  einem  höchst 
unangenehmen  Gefühlseindruck  begleitet  Würgbewegungen 
setzen  der  Untersuchung  gewöhnlich  ein  Ende. 

Eine  weitere  Erfahrung,  die  wir  bei  diesen  und  früheren 
Untersuchungen  gewannen,  ist  die  Thatsache,  dafs  auf  dem 
vorderenGaumenpfeiler  bei  unipolarer  faradischer  Reizung 
zuweilen  deutUch  eine  Geschmacksempfindung  auftrat,  die  aber 
nicht  hier,  sondern  nach  der  Zungenbasis  hin  locaUsirt  ward. 
Erwähnt  sei  ferner  noch,  dafs  die  durch  die  elektrische 
Reizung  erzeugte  Temperaturempfindung  immer  eine  Kalt- 
empfindung, niemals  eine  Warmempfindung  war.  Die  so  her- 
vorgerufene Kaltempfindung  nahm  mit  anwachl^ender  Strom- 
stärke meistens  zu. 

Es  wurde  schon  hervorgehoben,  dafs  auf  den  Gamnenpfeilern 
und  den  Tonsillen  das  Aufsetzen  der  Elektrode  selbst  als  Tast- 
eindruck empfunden  wird.    Dies  gilt  auch  für  solche  Stellen  des 
vorderen  Gaumenbogens,  wo  sicher  keine  Tastorgane  vorhanden 
sein    können.     Diese   Thatsache   hat   uns   Anfangs   überrascht, 
durch  eine  sorgfältige  Prüfung  glauben  wir  aber  zu  einer  voll- 
gültigen Erklärung  gelangt  zu  sein.    Die  Empfindung  ist  immer 
bedeutend    schwächer   als    an   den   mit   Tastflächen  versehenen 
Körperstellen,  sie  bleibt  dazu  immer  vage  und  vor  allem  schlecht 
localisirbar.    Man  erkennt  schlecht  oder  gar  nicht  die  Reizstelle, 
sondern  kann  meistens  nur  im  Allgemeinen  angeben,  ob  an  der 
rechten  oder  an  der  Unken  Körperseite,  und  ob  hier  am  oberen 
oder  unteren   Theil   der  Mundcavität   gereizt   wurde.     Um   die 
Empfindung   hervorzurufen,    mufs   hier   eine   ungleich   gröfsere 
Kraft  angewandt  werden,  als  bei  Reizung  der  eigentüchen  Tast- 
flächen.     Dies   ist  leicht  nachweisbar  bei  Benutzimg  von  abge- 
rundeten  Glas-    und  Metallstäben    oder    von  Haarpinseln  und 
Strohhalmen,   denen   ein  kleines  Wattebäuschchen  angesetzt  ist 
Individuelle  Differenzen  traten  hier  nur  insofern  auf,  als  manche 
Personen    etwas   intensiver   zu  empfinden  schienen   als  andere, 
mit  dem  Vorbehalt  jedoch,   dafs  auch  im  letzteren  Falle  die  In- 
tensität  der  Empfindung  weit  hinter  der  an  Tastflächen  hervor- 
zurufenden zurückblieb.    In  Anbetracht  der  vielfachen  Factoren, 
die  hier  eine  Rolle  spielen  können,  ist  dies  auch  wohl  nicht  auf- 
fallend.   Wir  arbeiteten  zwar  nur  an  Personen,  bei   denen  die 


394  ^.  Kiesow  und  IL  Hahn, 

in  Rede  stehenden  Mundtheile  anscheinend  durchaus  normal 
waren,  aber  es  dürfte  doch  daran  zu  erinnern  sem,  dafs  leichtere 
Insulte,  denen  gerade  die  hinteren  Mundtheile  vielfach  ausge- 
setzt sind,  auch  wenn  sie  anscheinend  spurlos  verlaufen,  auf  die 
fernere  Empfindlichkeit  dieser  KörpertheUe  von  nachhaltigem 
Einflüsse  bleiben  können.  Dazu  kommt,  dafs  auch  die  Form 
dieser  Körpertheüe  mannigfach  variirt  und  daher  die  AppUcation 
des  Reizes  in  einem  Falle  leichter  ist  als  im  anderen. 

Nach  allen  von  uns  gewonnenen  Erfahrungen  kamen  wir 
zu  der  sicheren  Ueberzeugung,  dafs  es  sich  bei  dieser  schwachen 
und  ihrer  Qualität  nach  immer  mehr  vage  bleibenden  Tastempfin- 
dung, wenn  auch,  wie  nach  v.  Frey's  Angabe  sehr  wahrschein- 
hch  ist,  an  den  oberen  Enden  der  vorderen  Gaumenbögen  wenige 
Tastorgane  in  Frage  kommen,  doch  besonders  um  Ausbreitung 
des  Reizes  nach  den  Tastflächen  hin  oder  vielleicht  auch  um 
Muskelempfindungen  handelt.  Letzteres  gilt  natürlich  nur  für 
die  Gaumenpfeiler.  Schon  bei  nicht  sehr  starken  Reizen  sieht 
man  das  Ausweichen  dieser  Gebilde  nach  hinten,  wendet  man 
stärkere  Reize  an,  so  treten  Contractionen  und  Reflexe  auf. 
Nimmt  man  nicht  abgerundete  Reizstäbe,  wie  etwa  Virginiahalme, 
denen  kein  Wattebäuschchen  aufgesetzt  ist,  so  wird  die  Em- 
pfindung schon  bei  mäfsigem  Drücken  schmerzhaft. 

Diese  durch  Contraction  und  Ausbreitung  hervorgerufenen 
Empfindungen  beobachtet  man  gut,  wenn  man  mit  Inductions- 
stöfsen  reizt,  die  nicht  so  schnell  aufeinander  folgen,  dafs  Tetanus 
eintreten  kann.  Wir  haben  hierüber  einige  Versuchsreihen  an- 
gestellt und  theilen  im  Folgenden  eine  solche  mit,  die  an  Kiesow 
bei  6  Inductionsschlägen  in  der  Secunde  gewonnen  wurde.  Wir 
benutzten  für  diesen  Zweck  Kronecker's  Unterbrechimgshammer, 
der  mit  dem  erwähnten  Inductorium  verbunden  wurde.  Im 
Uebrigen  waren  die  Bedingungen  die  gleichen,  unter  denen  die 
oben  mitgetheilten  Werthe  gefunden  wurden. 

Vorderer  Gaumenbogen,  Mitte: 
2500  Einheiten  —  Schmerzhaft,  kein  Zucken. 
3000         ,.  —  Ebenso. 

3250         „  —  Schmerzhaft.   Stöfse.  Die  Empfindung  ist  bei  den  Stöfsen 

tastartig  schmerzhaft. 

Vorderer  Gaumenbogen,  oberes  Ende: 
2600  Einheiten  —  Sclimerzhaft,  kein  Stofs. 
3000         „  —  Ebenso. 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theile  des  Mundraumea  für  Tost-  etc.  Beize.   395 

iS50  Einheiten  —  StöIJse  tastartig  schmerzhaft.    Der  Reiz  breitet  sich  bis 

znr  Uvula  aus,  die  in  Contractionen  den  Intermissionen 
des  Beizes  folgt. 

Vorderer  Gaumenbogen,  hart  am  weichen  Gaumen: 

SOO  Einheiten  —  Kalt  und  stichartig. 
3800        „  —  Leise  stichartige  Stöfse. 

Hinterer  Gaumenbogen,  Mitte: 

1000  Einheiten  —  Schmerzhaft. 

1250         „  —  Geringes  Zucken. 

ISOO        „  —  Die  Uvula  folgt  den  Intermissionen  des  Beizes. 

Tonsille: 

3500  Einheiten  —  Sehr  leiser  Stich. 
3000        „  —  Ebenso,  fast  nichts. 

3500        „  —  Stich  ohne  Stöfse. 

4000        „  —  Der  Versuch  ist  nicht  mehr  rein,  da  man  die  Zuckungen 

bereits  im  Arm  spürt. 

Diese  Versuche  wurden  an  der  linken  Körperseite  angestellt, 

die  an  der  rechten  gefundenen  Werthe  weichen  aber  kaum  von 

den  vorstehenden  ab.    Dafs  es  sich  hier  neben  der  durch  die 

Ausbreitung  des  Reizes  und  durch  die  Contractionen  als  solchen 

an  den  Tastflächen  hervorgerufenen  Empfindungen,  wohl  auch  noch 

um  wirkhche  Muskelempfindungen  handelt,  geht  aus  der  That- 

sache  hervor,   dafs  man  den  Stofs  mehr  in  der  Tiefe  empfindet, 

nicht  wie  bei  der  intermittirenden  Tastempfindung  oberflächlich. 

Man  erkennt  dies  auch,  wenn  man  die  Elektrode  auf  die  äufsere 

Körperhaut,  etwa  auf  die  Fingerbeere,  den  Daumenballen  oder 

die  Rückseite  der  Hand  applicirt.    Hier  merkt  man  deutUch  den 

Stofs   im  Muskel  und  hat  bei  grofsen  Intensitäten  sogar  oft  den 

Eindruck,  als  werde  ein  Stofs  auf  den  Knochen  ausgeübt.    Dies 

ist    bei    schnell    folgenden    Reizunterbrechungen   anders.     Hier 

kann   an   den  Tastflächen,   wie   z.  B.  an  der  inneren  Wange  bei 

hohen  Intensitätsgraden  ein  hochgradiger  Tetanus  hervorgerufen 

werden,  trotzdem  aber  folgt  die  Empfindung  den  Intermissionen 

des  Reizes. 

Die  beträchtliche  Differenz  der  Stromintensität,  welche  nöthig 
ist,  um  bei  dieser  Reizung  die  Uvula  in  Mitleidenschaft  zu  ziehen, 
erklärt  sich  hinreichend  aus  der  ungleichen  musculären  Ver- 
bindung der  Gaumenpfeiler  mit  diesem  Organ. 


-^r  F-  Kiesoic  und  R.  Hahn, 

-1   -rr  'rviila  kann  man  mit  stärkeren  mechanischen  Reizeü 

-jz    zz   -rr  oberen  Hälfte  arbeiten,  die  Spitze  weicht  dem  Reize 

L     -r^-ir   xZs.  aJs  dals  man  hier  zu  irgend  einem  sicheren  Er- 

-■::_^  ::.::nait;n  könnte.    Am  oberen  Theile  wird  der  Reiz  meist 

_s    *-=rr-2';nek  empftinden  und  dann  ungleich  deutlicher  und 

r-:    _r  .iH  'ien  vorstehend  erwähnten  Theilen.    Dafs  es  sieh 

_!-_-  ZI.  *ir«rt:Te  Reizung  von  Tastorganen  handelt  oder  weni^>Te:i? 
ZI  -Jir  !t:!LütmogIiche  Ausbreitung  nach  solchen  hin,  l>edan' 
j_i—  Teueren  Be^veises- 

.'llll  Feststellung  dieser  Verhähnisse  haben  wir  die  in  Rede 

-;^-_lri:  K'3rT>irr?:eIIen   auf  ihre   Empfindlichkeit  für  punkt- 

__:■:  Reize  ieprüf:,  die  in  der  oben  angegeben  Weise  hrr- 

_.*:>:_-   vurieu.    Die  Er^rebnisse  dieser  Untersuchungen  sind  für 

-    -t.:::.rub«}gen  ujii  Tonsillen  im  Ganzen  die  folgenden: 

.--  :iiim  Jur.!::  ;=.l>.nählicho  Verkürzung  des  Reizhaares  bis 

T—  Punkt  i^eldiiiTr-   wo  eben  eine  Empfindung   auftritt,   so 

_     _-^   iehr  s.'hv.Ä.h  und   ihrer  (Jualität  nach   nicht   gut  zu 

.  -■   -w:i,     <ie    '.vir.:    als    vage ,    schwache ,    unbestimmte    Tast- 

.::.'>^:iü  bezcichr.e:,   es  wird  aber  dabei  angegeben,   dafs  sie 

-^         11    ier.    i:^"   :::an  auf  Tastpunkten  erhält,   unterscheidet. 

-r    :I:i:pnnd'.i:::;    verschwindet    auch    fast    sogleich    nach    der 

-^ ■_.^_   iiuch    'Vru::   diese  andauert,    wie   dies   bei   schwacher 

j^ ^.^  .Jt-r  Tis::  ".'.'.kTo  goseliieht.    Verstärkt  man  den  Reiz  all- 

.-«:.:=,  :i.  =<^   ^*i^-  ^••^"  Emptindung   stichartig,   ohne   aber  ausge- 

^  -  viieii  scirr.c  ri-.ÄT: :::  sein.    Man  findet  jedoch  Punkte,  bei  deren 

,     :^<r  die  >:x'r.Ar::o-  Empfindung  erst  eintritt,  wenn  man  den 

»^  .    viir/e  l^ci:   s::äs::ini  läist,   und  andere,   bei  denen  sie  fast 

-t  ■    .iritii:  •::""   ^'•^"   Keirung  einsetzt.    Im  ersten  Falle   ist    die 

7t-     - :.,-r"*'    Vv.i&i-sTS   sohwaoh   und   vage  und   wird   dann   fast 

ra   ..:   sricl'Är'a;^.     Pioso   stiohartige  Empfindung  könnte   man 

.^  •-'•vr'*;::    v.^'v.r.t::.     Sie    schlielst    zweifellos    die    Schmerz- 

.^;  s^-*  ::<  ::;  <:oh.  ohne  dals  der  Schmerz  klar  ausgesprochen 

'rslieüisch^'  IWobci^^hter  priogen  hier  anzugeben:    ^.Piunje  un 

^1   <«m   '■(   .6'<>'>5  /ÄitiV,"     Bei    der   gleichen   Reizintensität 

^H,^«  uidüt  fertuT  l\::ikte.  auf  denen  die  stichartige  Empfindung 

Mic^iü^    tait    der  Abnahme   des    äufseren    Reizes    ver- 

ttud  Äiidtrrv.  Äuf  denen  sie  mehr  oder  weniger  lange 

Verstärkt  man  den  Reiz  in  der  erwähnten  Weise 

so  verringert  sich  die  Latenzzeit  bis  zum  Auf- 

gly^rtigvn  Empfindung  imd  zugleich  nimmt   diese 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theile  des  Mundraumes  für  IVwf-  etc,  Reize.    397 

in  immer  ausgesprochenerer  W«ise  die  Schmerzqualität  an. 
Ebenso  vermehrt  sich  die  Anzahl  der  Punkte.  Weitere  Ver- 
stärkerungen des  Reizes  führen  dann  zu  immer  intensiveren  und 
nachdauemden  stichartigen  Schmerzempfindungen  und  nur  zu 
solchen,  bis  auf  noch  höheren  Reizstufen  der  Versuch  in  Folge 
der  bereits  hervorgehobenen  Stönmgen  nicht  mehr  rein  bleibt 

Zu  beachten  ist  hier  besonders,  dafs  das  Reizhaar  nicht 
gleiten  imd  bei  der  Biegung  nicht  Tastflächen  wie  Zunge  und 
Wangenschleimhaut  streifen  darf.  Die  Körpertheile  müssen 
wirklich  punktartig  getroffen  werden,  was  nicht  immer  leicht  ist 
und  von  Seiten  der  Versuchspersonen  eine  grofse  Hingabe  an 
den  Versuch  erfordert. 

Es  resultirte  weiter  aus  unseren  Versuchen,  dafs  auch  an 
den  Gaumenbögen  die  einzelnen  Abschnitte  dieser  Mundtheile 
noch  wieder  von  verschiedener  Empfindlichkeit  sind. 

Das  sind  die  allgemeinen  Resultate,  zu  denen  uns  die  Unter- 
suchung führte.  Wir  haben  dann  versucht  (und  zwar  auch  am 
oberen  Theile  des  hinteren  Gaumenbogens),  einige  genauere  An- 
gaben zu  erhalten,  die  wir  in  den  nachstehenden  Tabellen  über- 
sichtlich zusammenstellen : 

Für  die  erste  Phase  der  Empfindung,  wie  sie  oben  be- 
schrieben wurde,  ergaben  sich  an  den  rechten  Mundtheilen  bei 
KiESOw  rund  die  folgenden  Werthe: 


Vord.  Gaumenbogen,  oben: 
Vord.  Gaumenbogen,  Mitte: 
Hint.  Gaumenbogen,  oben: 
Hint.  Gaumenbogen,  Mitte: 
Tonsille: 


Quer- 
schnitt d. 
Haares 

Mittl. 
Radius 

Kraft 

Spannung  Druck 

mm* 

mm 

gr 

grmm   gr.mm* 

0,04 

0,11 

0,45 

4            11 

0,038 

0,11 

0,85 

8           22 

0,f>41 

0,11 

0,28 

3             7 

0,04 

0,11 

0,64 

6           Itf 

0,035 

0,11 

1,05 

10           30 

Bei  den  in  der  folgenden  Tabelle  zusammengestellten  Werthen 
zeigen  die  Stiche  bereits  die  iSchmerzqualität.  Der  Schmerz  ist 
aber,  obwohl  ausgesprochen,  doch  erträglich. 


398  ^-  Kiesow  und  B.  Hahn, 


Quer- 
schnitt 

MittL 
Bad. 

Kraft 

Spannung 

Druck 

mm' 

mm 

Kr 

gr/mm 

gr/mm' 

0,035 

0,11 

1,56 

14 

45 

0,025 

0,088 

2,00 

23 

80 

0,035 

0,11 

0,9 

8 

26 

0,028 

0,10 

1,41 

14 

50 

0,029 

0,10 

1,71 

17 

58 

Vord.  Gaumenbogen,  oben: 
Vord.  Gaumenbogen,  Mitte:    0,025 
Hint.  Gaumenbogen,  oben: 
Hint.  Gaumenbogen,  Mitte:    0,028 
Tonsille: 

Nach  Aufnahme  dieser  Versuchsreihen  wurden  für  die  erste 
Empfindungsphase  am  mittleren  Theile  des  rechten  vorderen 
Gamnenbogens  an  Herrn  Fontana,  sowie  an  dem  fünfzehnjährigen 
Hülfsdiener  unseres  Instituts,  Michele  Giordano,  einige  Control- 
versuche  mit  verschiedenen  Reizhaaren  angestellt.  Diese  Ver- 
suche ergaben  für  Herrn  Fontana  folgende  Werthe: 


Querschnitt  des  Haares 

Mittl.  Kadius 

Kraft 

Spannung 

Druck 

mm' 

mm 

gr 

gr/mm 

gr/mm* 

0,030 

0,10 

0,66 

7 

22 

0,04 

0,11 

0,76 

7 

19 

0,04 

0,11 

0,95 

9 

24 

Bei  dem  letzten  Reizwerthe  wurde  die  Angabe  hinzugefügt: 
Appena^  appena  pungentel 

An  Michele  Giordano  liefsen  sich  für  jene  Empfindimgs- 
phase  folgende  Reizgröfsen  bestimmen: 


Querschnitt 

Mittl.  Badius 

Kraft 

Spannung 

Druck 

mm' 

mm 

gr 

gr/mm 

gr/mm* 

0,035 

0,10 

0,5 

5 

14 

0,044 

0,12 

0,58 

5 

13 

In  Anbetracht  der  individuellen  Unterschiede,  die  sich 
überall  finden,  dürfte  eine  gröfsere  Uebereinstimmimg  der  Reiz- 
werthe kaum  zu  erzielen  sein.  Die  niedrigeren  Werthe  im 
letzteren  Falle  erklären  sich  wohl  zum  Theil  aus  dem  jüngeren 
Alter  der  Versuchsperson.  Dann  kommt  aber  dazu,  dafs  der 
Reiz  bei  ihr  besonders  leicht  applicirt  werden  konnte,  da  die 
Zunge  nur  leise  niedergehalten  zu  werden  brauchte. 

Was  die  Interpretation  der  vorstehenden  Werthe  betrifft,  so 
steigt  hier  wiederum  die  Frage  auf,  was  für  Hautorgane  gereizt 
wurden,  ob  Tast-  oder  Schmerzapparate.  Soweit  die  Tonsillen 
und  die  Mitte   der  Vorderseite  der  Gaumenbögen  in  Betracht 


EmpfindUchkeit  der  hinteren  Uieile  des  Mundraumes  für  Tost-  etc.  Reize.   399 

kommen,  glauben  wir  auch  durch  die  vorstehend  mitgetheilten 
Ergebnisse  zu  der  Annahme  berechtigt  zu  sein,  dafs  es  sich  hier 
ausschliefslich  um  Reizung  von  Schmerzapparaten  handelt    Der 
Cliarakter  der  auftretenden  Empfindung  wie  besonders  die  hohen 
Reizschwellen  weisen  durchaus  hierauf  hin.    Nicht  mit  Bestimmt- 
heit l&fst  sich  sagen,  ob  die  auf  den  oberen  Enden  des  vorderen 
und  hinteren  Gaumenbogens  bei  Kiesow  gefundenen  Werthe  sich 
auf  directe  oder  indirecte  Reizung  von  Tast-  oder  von  Schmerz- 
punkten  beziehen.  Die  Werthe  entsprechen  freilich  den  maximalen 
Reizschwellen    weniger    Tastpunkte    der    äufseren    Körperhaut, 
andererseits  aber  weist  die  bei  stärkeren  Reizen  auftretende  Empfin- 
dungsquahtät  auf  eine  directe  oder  indirecte  Reizimg  von  Schmerz- 
apparaten hm.    Die  Empfindung  ist  dann  immer  schmerzhaft. 
Sollten  hier  somit,  was  die  histologische  Untersuchung  ergeben 
mufs  und  nach  v.  Frey  wahrscheinhch  ist,  auch  Tastapparate 
vorbanden    sein,    so    dürfte   ihre   Zahl   auch    nach   diesen   Er- 
gebnissen    nur   sehr   gering   sein   und    sie    dürften  ebenso   bei 
mechanischer    Erregung    schwer    zu    treffen    sein.     Wie    dem 
auch   sein    möge,    so    geht    aus    unseren    Untersuchungen  be- 
reits so  viel  hervor,   dafs  die  Mundhöhle  neben  Stellen, 
die     wohl     tast-,     aber     nicht    schmerzempfindlich 
sind,     auch     solche    Gebilde     besitzt,     die    bei    er- 
haltener Schmerzempfindlichkeit  umgekehrt  keine 
Tastempfindlichkeit    besitzen.      Es    dürften   hier   somit 
zum  Theil  wenigstens  analoge  Verhältnisse  vorliegen,  wie  v.  Frey 
für  die  Conjunctiva  bulbis  imd   die  Cornea  feststellen  konnte.^ 
Gehen  wir  auf  v.  Frey's  Untersuchungen  etwas  näher  ein, 
so  wäre   hervorzuheben,    dafs   es    nach    seinen   aufserordentlich 
gründUchen    und    bahnbrechenden    Arbeiten    kaum    noch    als 
zweifelhaft   angesehen   werden    kann,    dafs   die  Schmerzempfin- 
dungen  der  Hautoberfläche  von    specifisch  adaptirten   Organen 
ausgelöst  werden.    Diese  Schmerzorgane  der  Hautoberfläche  sind 
nach  V.  Frey  die  in   die  Intercellulärräume   der  Epidermis  auf- 
steigenden freien  Nervenendigungen,  und  ihre  Erregung  ge- 
schieht nicht  durch   directe  Wirkimg  des   mechanischen  Reizes, 


*  M.  V.  Frey,  Beiträge  zur  Physiologie  des  Schmerzsinnes.  Ijcipziyer 
Btridite,  Sitzung  vom  2.  Juli  1894,  S.  192. 

Derselbe,  Untersuchungen  über  die  Sinnesfunctionen  der  mensch- 
lichen Haut.    Leii}Z.  Ahhandl.  23  (3;,  250. 


400  ^-  Kiesmc  und  B.  Hahn, 

sondern,  wie  v.  Fbey  in  hohem  Maafse  wahrscheinlich  macht, 
durch  einen  chemischen  Zwischenprocefs,  indem  die  in  diesen 
Räimien  vorhandene  Flüssigkeit  ihre  Zusammensetzung  ändert 
und  so  auf  das  Nervenende  wirkt  Auf  diese  Weise  erklärt  sich 
nach  ihm  sowohl  die  Latenzzeit  und  das  baldige  Verschwinden 
der  Empfindung  bei  schwächsten  Reizen,  als  auch  ihre  Con- 
tinuität  bei  stärkeren  Deformationen.  Uns  erscheint  die  durch 
V.  Frey  auf  Grund  seiner  Erfahrungen  aufgestellte  Theorie  von 
allen  bisher  aufgestellten  die  plausibelste. 

V.  Frey  hat  dann  weiter  gezeigt,  dafs  die  Messung  der 
Schmerzempfindung  in  Drücken,  nicht  in  Spannungsein- 
heiten  zu  geschehen  hat.  Letztere  geben  die  Reizwerthe  für 
die  Erregung  der  Tastorgane  ab.  Auch  diese  stellen,  wie  v.  Feet 
zuerst  dargethan  hat  und  wie  durch  ihn  und  Kiesow^  noch 
wahrscheinlicher  gemacht  wurde,  nicht  eine  Vorrichtung  dar, 
durch  welche  der  äufsere  Druck  als  solcher  auf  den  Nerven 
übertragen  wird,  sondern  es  handelt  sich  hier  um  eine  Erregung, 
die  durch  eine  in  dem  Tastorgan  vor  sich  gehende  Störung  des 
chemischen  Gleichgewichts  zu  Stande  kommt. 

Wir  haben  in  den  Tabellen  neben  den  Constanten  der  Reiz- 
haare beide  Werthe  vergleichsweise  zusammengestellt  Da  es 
sich  hier  aber,  wie  oben  gezeigt  wurde,  auf  der  Mitte  der 
Gaumenbögen  zweifelsohne  um  die  Erregung  von  Schmerzorganen 
handelt,  so  dürften  hier  nur  die  in  Drücken  angegebenen 
Werthe  in  Betracht  zu  ziehen  sein.  Wollte  man  die  an  diesem 
Theile  der  Gaumenbögen  gefundenen  Spannungswerthe  als 
die  eigentlich  verwerthbaren  ansehen,  so  würden  diese  Werthe 
im  Vergleich  zu  denen,  die  an  den  eigentUchen  Tastflächen  ge- 
funden werden,  zu  hoch  seien.  Es  ist  wenigstens  gar  kein 
Grund  vorhanden,  warum  die  Tastorgane  hier  plötzlich  eine 
so  hohe  Schwelle  haben  sollten,  v.  Frey  fand  die  mittlere 
Schwelle  des  Tastpunktes  auf  der  Wade  =  1,44  gr/mm,  am 
Handgelenk  =  1,28  gr/mm-,  Kiesow^  fand  diese  auf  den  ein- 
zelnen Körpertheilen  innerhalb  der  Grenzen  von  1,02 — 1,93  gr/mm 
variiren;    und   unter  denselben   Bedingungen,    wie  die   Werthe 

*  M.  V.  Frey  und  F.  Kiesow,  Ueber  die  Function  der  Tastkörperchen. 
Diese  Zeitschrift  20. 

*  M.  V.  Frey,  Cit.  Arbeit  233,  235. 

'  F.  Kiesow,  Contributo  alla  psico-fisiologia  del  senso  tattile.  Giornak 
della  R.  Accademia  di  Medicina  di  Torino  6.     1900. 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theile  des  Mundrawnes  für  Tost-  etc.  Beize.    401 

an    den   in   Rede    stehenden    Körperstellen    gefunden    wurden, 
konnte    er    an    den   Fingerbeeren,   den    behaarten   Stellen    der 
Vorderseite    des    linken    Unterarms    und    der    Wangenschleim- 
haut   Werthe    bestimmen,     die    innerhalb    der    Grenzen    von 
0,5 — 1  gr/mm  hegen.     Diesem  kann  noch  hinzugefügt  werden, 
dafe  KiEsow  bei  neueren  Untersuchungen  am  harten  Gaumen 
unter  gleichen  Bedingimgen  den  Spannimgswerth  von  0,5  gr/mm 
noch  überschweUig  fand  und  dafs  er  am  weichen  Gaumen 
und  dem  oberen  Ende  der  Uvula  Tastwerthe  von  0,5 — 0,76, 
resp.  1,5  gr/mm    bestimmen   konnte.     Es   ist   somit  (von  Aus- 
nahmen wie  Zimgenspitze  und  Lippenroth  abgesehen)  sehr  wahr- 
scheiohch,  dafs  die  mittlere  Schwelle  für  die  Tastorgane  inner- 
halb gewisser  Grenzen  constant  bleibt  und  es  ist  nicht  gut  ein- 
insehen,   warum  hier  eine  Ausnahme  von  der  Regel  vorUegen 
sollte.   Diese  Angaben  nehmen  wir  somit  als  Reizwerthe  für  die 
8chmerzapparate  in  Anspruch.   Diese  variiren  auf  der  Körperober- 
fläche in  weit  höherem  Grade  als  die  Tastwerthe,  und  die  von  uns 
gefundenen  fallen  durchaus  in  die  Grenzen   hinein,   innerhalb 
deren  sich  die  Reizschwellen  für  die  Schmerzpunkte  nach  v.  Fbby 
bewegen.^     Die  äufsersten  Grenzen  sind  nach  ihm  0,2  gr/mm* 
für  die   Cornea  und  300  gr/nmi^  für   die   Fingerspitzen, 
die  mittleren  Werthe  bewegen  sich  zwischen  den  Grenzen  von 
10   gr,mm^    (Augenlider)    und    50   gr/mm-    (Fufsrücken). 
Unser  Ideal  wäre  gewesen,   die  Untersuchung  in  gleich  gründ- 
licher Weise   durchzuführen,    wie    dies   von   ihm   an   der   Con- 
junctiva  seines  rechten  Auges  geschehen  ist.    Wir  mufsten  aber 
bald  einsehen,  dafs  dies  eine  Sache  der  Unmöglichkeit  war.  Das 
Offenhalten    des    Mimdes,     das   Niederhalten    der    Zunge,     die 
Schwierigkeit  der  Reizapphcation,  die  UnmögUchkeit,  die  Punkte 
zu  fixiren  und  sicher  wieder  zu  treffen,  sie   in   ein  Kartennetz 
einzutragen   und   manche    anderen   Umstände  zwangen  uns  zu 
der  Nothwendigkeit,  uns  mit  der  Feststellung  der  Verhältnisse 
im  Allgemeinen  zu  begnügen. 

Ein  Vergleich  dieser  Angaben  unter  einander  führt  mit 
Bezug  auf  die  EmpfindUchkeit  dieser  Theile  zu  denselben  Er- 
gebnissen, die  wir  oben  bei  Besprechung  der  elektrischen 
Reizung  mitgetheilt  haben.    Diese  Ergebnisse  konnten  auch  noch 


^  M.  V.  Frey,  Leipz.  Ber.  3.  Dec.  1894,  284. 
ZeiUchrift  für  Psychologie  26.  26 


402  F'  Kiesow  und  R.  Hahn. 

durch  Reizung  mit  den  eingangs  erwähnten  zugeschliffenen  Näh- 
nadehi  verificirt  werden. 

Gewisse  Berührungspunkte  dürften  die  vorstehenden  Aus- 
führungen auch  mit  den  Beobachtungen  haben,  die  Goldscheideb 
bei  der  Reizung  „punktfreier  Hautstellen"  machte,  and 
die  er  so  beschreibt^:  „An  den  punktfreien  Hautstellen  da- 
gegen wird  erst  bei  relativ  stärkeren  punktförmigen  Berührungs- 
reizen  ein  Berührungsgefühl  hervorgebracht;  dasselbe  ist  nicht 
scharf  und  distmct  ausgeprägt  wie  bei  den  Druckpunkten,  son- 
dem  stumpf,  pelzig,  unbestunmt  Es  geht  bei  Verstärkung  des 
Reizes  über  in  ein  stechendes  oder  besser  stichähnliches,  aber 
nicht  schmerzhaftes  Gefühl,  d.  h.  in  eme  Empfindung,  welche 
punktförmig,  dabei  dünn  und  matt  in  ihrem  Ausdruck  ist  und 
—  wenn  sie  auch  quantitative  Unterschiede  in  sich  wohl  er- 
kennen läfst,  doch  ein  unmittelbares,  objectivirendes  Wahr- 
nehmen der  aufgewendeten  Druckstärke  nicht  gestattet  Dieses 
Gefühl  geht  weiterhin  über  in  ein  schmerzhaft  stechendes,  welches 
durchdringend,  lancinirend  und,  meist  im  Moment  des  Ent 
Stehens  am  stärksten  ist,  um  trotz  Fortdauer  des  Reizes  schnell 
zu  erlöschen  und  im  Allgemeinen  einen  schwächeren  Eindruck 
auf  das  Sensorium  ausübt,  als  die  schmerzhafte  Erregung  eines 
Druckpunktes  etc."  Wir  finden  hier  Berührungspunkte,  obwohl 
sich  unsere  Beobachtungen  nach  anderen  Seiten  hin  unter- 
scheiden- Die  Empfindimg  entwickelt  sich  und  ist  bei  stärkeren 
Reizen  auch  nach  dem  Aufhören  der  letzteren  oft  lange  Zeit 
andauernd.  Im  Uebrigen  können  wir,  wie  aus  dem  Vorstehenden 
bereits  erhellt,  auf  Grund  unserer  Erfahrungen  nur  v.  Fbey  zu- 
stimmen, der  die  Schmerzpunkte  der  Haut  wohl  „nach  dem  Vor- 
gange Goldscheideb's,  aber  nicht  in  seinem  Sinne"  als  solche 
bezeichnete. 

Es  erübrigt  noch,  auf  jene  auf  der  Mitte  der  Gaumenbögen 
bei  schwächsten  Deformationen  auftretende  und  als  vage,  un- 
bestimmte, aber  im  Ganzen  doch  als  Tasteindruck  bezeichnete 
Empfindung  einzugehen.  Für  ims  liegt  es  aufser  allem  Zweifel, 
dafs  diese  Sensation  nichts  Anderes  ist,  als  eine  Vorstufe  der 
Schmerzempfindung  und  dafs  sie  nicht  als  eigentliche  Tast- 
qualität classificirt  werden  darf.  Wir  haben  es  hier  vielleicht 
mit   ähnlichen   Verhältnissen   zu   thun,    wie  Kiesow  bei   seinen 


*  A.  Goldscheideb,  Gesammelte  Abhandlungen  1,  198. 


Empfindlichkeit  der  hinteren  TheUe  des  Mundraiunes  für  Tost-  etc.  Beize.   403 

Geschmacksuntersuchungen  beobachten  konnte.  Auch  bei  Appli- 
cation gewisser  Geschmacksstoffe  auf  die  Zunge  beobachtet  man, 
bevor  die  Schwelle  erreicht  ist,  das  Auftreten  von  Empfindungen, 
die  bereits  als  Geschmackseindrücke  bezeichnet  werden,  ohne  dafs 
sie  nach  ihrer  Qualität  erkannt  werden.  Es  könnte  hier  ähn- 
lich sein.  Die  Erregung  wäre  somit  vieUeicht  stark  genug,  um 
über  die  SchweUe  des  Bewufstseins  zu  treten,  aber  nicht  stark 
genug,  um  neben  ihrer  Existenz  auch  noch  eine  QuaUtät  wahr- 
nehmen zu  lassen.  Dieses  erste  Stadium  der  Vorstufe  der 
Schmerzempfindung  ist,  wie  oben  gezeigt  wurde,  sehr  bald 
überschritten.  Verstärkt  man  den  Schwellenwerth  nur  um 
ein  sehr  Geringes,  so  wird  die  Empfindung  stichartig  (vergl. 
die  an  Fontana  gefundenen  Werthe).  Weitere  und  be- 
stimmtere Angaben  hierüber  seien  einer  späteren  Mittheilung 
vorbehalten,  es  sei  nur  noch  darauf  hingewiesen,  dafs  man 
eine  ähnhche  EmpfindungsquaHtät  oftmals  bei  isoUrt  auf- 
tretenden Juckempfindungen  beobachtet.  Was  als  sicher  aus 
unseren  Versuchen  hervorgmg,  ist  dieses,  dafs  wo  die  beiden 
Empfindungen  zum  klaren  Ausdruck  kommen,  sie  auch  bei  ge- 
ringsten Intensitätsgraden  von  einander  unterschieden  werden. 
Es  ist  femer  ebenso  gewifs,  dafs  die  stichartige  Schmerzempfin- 
dung nicht  sogleich  mit  der  vollen  Unlustbetonung  einsetzt, 
sondern  dafs  ihre  Gefühlscurve,  bevor  sie  sich  zu  ausgesprochener 
Unlust  senkt,  zunächst  gewisse  Stadien  der  Indifferenz  und  der 
Schmerzbetonung  durchläuft. 

Schliefslich  sei  noch  erwähnt,  dafs  auch  diese  Beobachtungen 
Beweise  für  die  noch  nicht  völlig  anerkannte  Thatsache  liefern 
dürften,  dafs  der  Schmerz  ein  Empfindungselement  ist  und  nicht 
lediglich  als  Gefühl  aufgefafst  werden  kann.  Die  Gefühlscurve 
ist  hier  von  der  Empfindungscurve  durchaus  verschieden  imd 
hat  ihre  besondere  Form.  Eine  Darstellung  dieser  Curve  soll 
später  mitgetheilt  werden. 

Bei  der  IJntersnchnng  der  Raumwahrnehmnng  der  Torderen 
Ganmenbögen  hat  ims  besonders  Herr  Dr.  Cushing  seine  Hülfe 
geliehen.  Die  Versuche  ergaben,  dafs  die  Raumwahrnehmung 
hier  in  hohem  Grade  herabgesetzt,  ja  zum  Theil  so  gut  wie  auf- 
gehoben ist.  Es  wurde  oben  bereits  ausgeführt,  dafs  die  Tast- 
eindrücke schlecht  localisirt  wurden.  Diesem  sei  hinzugefügt, 
dafs  beim   Streichen    der    Vorderseite    des    Gaumenbogens    mit 


404  ^'  Kicsmc  und  R.  Hahn, 

intensiven  überschwelligen  Reizen  von  oben  nach  unten  mi 
umgekehrt,  wie  quer  von  links  nach  rechts  und  umgekehrt  dio 
Richtung  meistens  nicht  erkannt  wurde.  Etwas  besser  gelingt  j 
die  Auffassung  successiver  punktförmiger  Eindrücke,  die  in  1 
gleicher  Weise  hervorgerufen  wurden,  obwohl  auch  diese  von  der  ■ 
Versuchsperson  als  sehr  schwierig  bezeichnet  und  die  Richtungai 
der  Eindrücke  nur  ziemlich  selten  richtig  angegeben  wurden. 
Dem  gegenüber  wurde  auf  der  Wangenschleimhaut,  sowie 
auf  dem  weichen  und  harten  Gaumen  beim  Bestreichen  dieser 
Gebilde  sowie  bei  Application  successiver  Eindrücke  in  jedem  Falle 
die  Richtung  ziemlich  erkannt.  Es  ergab  sich  femer,  d&b, 
.während  auf  der  Wangenschleimhaut  Punktdistanzen  von 
2 — 2,4  cm,  auf  dem  harten  Gaumen  solche  von  1,2 — 1,4  cm  und 
auf  dem  Zungenrücken  solche  von  0,5 — 0,7  cm  bestimmt  ab 
zwei  Eindrücke  erkannt  wm-den,  auf  dem  Gaumenbogen  Punkt- 
distanzen von  der  ganzen  Länge  und  Breite  dieses  Gebildes  nur 
als  ein  Eindruck  empfunden  wurden.  Dasselbe  gilt  von  linearen 
Ausdehnungen.  Auf  der  Wangenschleimhaut  wurden  solche  von 
ca.  2,5  cm  bereits  als  eben  sich  ausbreitend  aufgefafst  ADe 
diese  Eindrücke  wurden  in  der  oben  angegebenen  Weise  her- 
vorgerufen. Diese  Versuche  wurden  dann  an  mehreren  Ve> 
Suchspersonen  wiederholt.  Individuelle  Unterschiede  ergaben  die 
Angaben  nur  insofern,  als  Einige  bei  einer  Punktdistanz  von 
der  ganzen  Länge  des  Gebildes  nicht  sicher  angeben  konnten, 
ob  sie  zwei  Eindrücke  oder  nur  einen  empfangen  hatten.  Bw 
linearer  Ausdehnung  gaben  dieselben  Versuchspersonen  an,  nur 
einen  Eindruck  zu  empfinden,  dafs  dieser  aber  nicht  punkt- 
förmig, sondern  stumpf  sei. 

Für  die  Feststellung  der  Empfindlichkeit  dieser  Gebilde 
für  thermische  Beize  wurden  mittelst  der  oben  beschriebenen 
Metallstäbe  aufser  an  Kiesow  auch  an  Herrn  Dr.  N.  aus- 
gedehnte Versuchsreihen  aufgenommen.  Diese  Reihen  wurden 
zwei  bis  drei  Mal  wiederholt  und  ergaben  ziemlich  überein- 
stimmende Werthe.  Wir  geben  im  Folgenden  die  bei  den  zu- 
letzt aufgenommenen  Reihen  erhaltenen  Angaben  ausführlich 
wieder : 

Kiesow:    Rechter  vorderer  Gauinenbogen. 

69  •  C.  —  Im  ersten  Momente  etwas  Schmerz,  der  aber  ertragbar  ist,  dant 
Warmempfindung. 


EmpfindliMeit  der  hinteren  Thcile  des  Mut^raumes  für  Tost-  etc.  Beize,   405 

56®  C.  —  Warmempfindung. 

53®  C.  —  Sehr  schwache  Warmempfindung. 

50®  C.  —  Indifferente  Empfindung.  Dieses  Stadium  der  Indifferenz  blieb 
constant  bis  zu 

34®  C.  —  wo  leichte  Kühlempfindung  auftrat.  Auch  die  Zone  der  Kühl- 
empfindung ist  ziemlich  ausgedehnt.    Erst  bei 

27®  C.  —  ist  die  Empfindung,  obwohl  noch  schwach,  doch  ausgesprochen 
kalt. 

Linker  vorderer  Gaumenbogen. 

62®  C.  —  Nicht  starker  Schmerz  mit  Warmempfindung. 

59®  C.  —  Warmempfindung. 

55®  C.  —  Merkwürdige  Mischempfindung.     Die  paradoxe  Kaltempfindung 

tönt  heraus. 
54®  C.  —  Indifferente  Empfindung.    Dieses  Stadium  bleibt  bestehen  bis  zu 
35®  C.  —  wo  der  Uebergang  nach  kühl  zu  constatiren  ist.    Erst  bei 
27—28®  C.  —  tritt  obwohl   schwache,   doch   ausgesprochene   Kälteempfin- 
dung auf. 

Dr.  N.:    Vorderer  rechter  Gaumenbogen. 

65®  C.  —  Schmerzhafte  Warmempfindung. 

50®  C.  —  Warmempfindung. 

54®  C.  —  Desgleichen. 

49®  C.  —  Schwache  Warmempfindung,  fast  indifferent.    Bei 

30®  C.  —  Kühlempfindung,  erst  bei 

28®  C.  —  kalt. 

Linker   vorderer  Gaumenbogen. 

65®  C.  —  Sehr  schmerzhafte  Warmempfindung,  die  lange  anhält 

59®  C.  —  Schmerzhaft  warm. 

53®  C.  —  Ebenso. 

47®  C.  —  Warm. 

43®  C.  —  Geringe  Warmempfindung. 

40®  C.  —  Indifferente  Empfindung,  erst  bei 

30®  C.  —  kühl,  erst  bei 

24®  C.  —  kalt. 

KiESOw:    Rechter  hinterer  Gaumenbogen. 

63®  C.  —  Schwache  schmerzhafte  Hitzeempfindung. 

57®  C.  ~  Merkwürdig,  kalt  gemischte  Hitzeempfindung. 

50®  C.  —  Eigenartige  Mischempfindung. 

45®  C.  —  Leichte  eigenthümlich  gefärbte  Warmempfindung. 

43®  C.  —  Völlg  indifferente  Empfindung.    Dieses  Stadium  der  Indifferenz 

bleibt  bis  zu 
34®  C.  —  Hier  giebt  die  Versuchsperson  an:    Vielleicht  ein  wenig  kalt. 
33®  C.  —  Kalt. 


406  F'  Kiesow  und  R.  Hahn. 

Linker  hinterer  Gaumenbogen. 

60®  C.  —  Schmerzhafte  Hitzeempfindnng. 

58"  C.  —  Hitzeempfindung. 

54»  C.  —  Ebenso. 

60®  C.  —  Schwache  Warmempfindung. 

46®  C.  —  Sehr  schwache  Warmempfindung. 

42®  C.  —  Vielleicht  noch  schwach  warm. 

40®  C.  —  Indifferenz  bis  zu 

30®  C.  —  Hier  ist  die  Empfindung  kühl,  erst  bei 

24®  C.  kalt. 

Dr.  N.:    Bechter  hinterer  Gaumenbogen. 

66®  C.  —  Starke  Wärme  mit  leichtem  Schmerz. 
53®  C.  —  Warmempfindung. 
50®  C.  —  Warmempfindung. 

44®  C.  —  Sehr  geringe  Wärmeempfindung.    Fast  indifferent.    Die  Empfin- 
dung bleibt  indifferent  bis  zu 
38®  C.  —  wo  sie  als  kühl  angegeben  wird.    Erst  bei 
27®  C.  —  war  die  Empfindung  ausgesprochen  kalt. 

Als  Annäherungswerthe  dürften  sich  nach  den  vorstehenden 
Versuchsreihen  für  die  einzehien  Empfindungsqualitäten  folgende 
Schwellen  zusammensteUen  lassen: 

Schmerzempfindung:  ca.  54  —  60®  C. 

Warmempfindung:  ca.  44  —  50®  C. 

Kühlempfindung:  ca.  30—35®  C. 

Kaltempfindung:  ca.  24  — 28®  C. 

An  den  Tonsillen  war  die  Untersuchung  der  Temperatur- 
empfindlichkeit bei  diesen  Versuchspersonen  wegen  der  Kleinheit 
der   Organe   erschwert.      Mit  Hülfe   von  umgebogenen   Metall- 
stäbchen konnte  im  Allgemeinen  festgestellt  werden,   dafs  auch 
diese  kalt-  warm-  und  schmerzempfindUch  waren.     Die  Grem- 
werthe  für  die  einzelnen  EmpfindungsquaUtäten  dürften  nahezu 
mit  den  an  den  Gaumenbögen  gefundenen  Werthen  zusammen- 
fallen,  doch  ist  auch  der  Wärmeschmerz  hier  längere  Zeit  er- 
träghch.     Es    sei    ferner    hervorgehoben,    dafe    auch    hier    die 
paradoxe  Kälteempfindung  beiflächenhaftenReizen  deutUch 
auftritt. 

Die  Untersuchung  der  Uvula  ergab  bei  Kiesow,  dafs  die 
untere  Hälfte,  wie  für  mechanische  und  elektrische  Tast-  und 
Schmerzreize,  so  auch  für  Wärmereize  unempfindlich  war, 
während  Kaltreize  adäquat  empfunden  wurden.     Eine  an  ihm 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theile  des  Mundraumes  für  Tost-  etc.  Beize,    407 

k  aufgenommene  Versuchsreihe  ergab  für  die  untere  Hälfte  des 

Organs,  die  mit  der  Vorderseite  auf  dem  erwähnten  Instrumente 
ruhte,  die  folgenden  Resultate: 

60®  C.  —  Eigenthümlich  metallisch  kalt  gemischte  Schmerzempfindung, 
die  aber  nicht  an  der  Uvulaspitze,  sondern  nach  dem  Velnm 
hin  localisirt  ward.  (Verschmelzung  der  paradoxen  Kalt- 
empfindung mit  der  durch  Ausstrahlung  nach  oben  hin  her- 
vorgerufenen Schmerzempfindung. 

57®  C.  —  Ebenso. 

65®  C.  —  Im  ersten  Moment  leichte,  nach  oben  hin  sich  ausbreitende 
Schmerzempfindung. 
50—49  •  C.  —  Fehlt  jede  Sensation.    Erst  bei 

35®  C.  —  leichte  Kühlempfindung. 

33®  C.  —  Ebenso. 
32—31®  C.  —  Kalt. 

Die  obere  Hälfte  zeigte  alle  drei  Empfindtmgsqualitäten. 
Die  einzelnen  Schwellenwerthe  dürften  annähernd  die  folgen- 
den sein: 

Schmerzschwelle:  ca.  55®  C. 

Warmschwelle:  ca.  49—50®  C. 

Kühlschwelle:  ca.  35®  C. 

Kaltschwelle:  ca.  32®  C. 

An  Dr.  N.  ergaben  die  Prüfungen  folgende  Werthe: 

Untere  Hälfte  der  Uvula. 

63®  C.  —  Schmerzhafte  Wärmeempfindung. 

60®  C.  —  Gemäfsigte  schmerzhafte  Warmempfindung. 

56®  C.  —  Warmempfindung  ohne  Schmerz. 

51®  C.  —  Schwache  Warmempfindung. 

48®  C.  —  Indifferente  Empfindung.    Dies  Stadium  währt  bis  zu 

31®  C.  —  wo  die  Empfindung  als  kühl  bezeichnet  wird.    Bei 

29®  C.  —  ist  die  Empfindung  kalt. 

Obere  Hälfte  der  Uvula. 

60®  C.  —  Starke  schmerzhafte  Warmempfindung. 

58®  C.  —    Schmerzhaft  warm,  heifs. 

54®  C.  —  Ziemlich  intensiv  warm. 

50®  C.  —  Schwach  warm. 

47®  C.  —  Vielleicht  noch  etwas  warm,  dann  ist  die  Empfindung  indifferent 

bis  zu 
36®  C.  —  wo  die  Kühlempfindung  auftritt.    Bei 
30®  C.  —  ist  die  Empfindung  ausgesprochen  kalt. 


408  ^'  Kiesow  und  R.  Hahn, 

Fassen    wir    die    an   beiden   Versuchspersonen  gefundenen 
Werthe  zusammen,  so  ergeben  sich  für  die  Uvula  die  nach-  ^ 
stehenden  Grenzwerthe : 

Schmerzempf indung:  ca.  55 — 60®  C. 

Warmempfindnng:  ca.  47 — 51**  C. 

Kühlempfindung:  ca.  31—35®  C.  I 

Kaltempfindung:  ca.  29—31®  C.  j 

% 

Im  Allgemeinen  dürften  zunächst  auch  diese  Prüfungen  be- 
stätigt  haben,    was    schon   die   obigen   Beobachtungen   gezeigt    ; 
hatten,    dafs    die    SchmerzempfindUchkeit    dieser    Körpertheile 
herabgesetzt  ist.    Sodann  dürfte  sich  weiter  ergeben  haben,  daCs 
auch    die  WarmempfindUchkeit   hier   in  beträchtiichem  Maafse 
vermindert    ist.     Dieses   Ergebnifs    stimmt    durchaus   mit  dem 
überein,    das    aus    den    Untersuchungen   Göldscheideb's ^  und 
EiESOw's  über  die  Temperaturempfindlichkeit  des  Mundraumes 
resultirte.    So  hat  Kjesow  die  Beobachtungen  Gtoldschbider's  be- 
stätigen können,  „dafs  der  ganze  Mimdraum  nur  eine  schwache 
Warmempfindlichkeit  besitzt."  -    Auffallend  ist  femer  das  grofse 
Stadium  der  Indifferenz,   wie   das  der  Kühlzone.    Nimmt  man 
als  Schwelle  der  Kaltempfindung  denjenigen  Punkt  an,   wo  die 
Empfindung  ausgesprochen  kalt  ist,   so  mufs  zugegeben  werden, 
dafs   auch    die  EmpfindUchkeit  für  Kaltreize  hier  herabgesetzt 
ist.    Hervorzuheben  dürfte  weiter  sein,  dafs  auch  die  paradoxe 
Kälteempfindung  (A.  Lehmann,  v.  Frey)  bei  flächenhafter 
Reizung  mehrmals  deutlich  hervortrat.    Auf  diese  Erscheinung, 
dafs  die  von  v.  Frey  als  paradoxe  Kälteempfindung  bezeichnete 
Sensation  auch  bei  flächenhafter  Reizung  hervortritt,  ist  bereits 
von  KiEsow  aufmerksam  gemacht  ^  imd  sie  ist  ebenso  auch  von 
Alrutz  gezeigt  worden.* 

Sodann  sei  noch  bemerkt,  dafs  die  in  den  TabeDen  als  schmerz- 
hafte Warmempfindung  und  Hitzeempfindung  oder  heifse  Em- 
pfindung sich  findenden  Ausdrücke  identisch  sind.  Wir  weichen 
in   diesem  Punkte  von  Alrutz*  ab,  der  die  Hitzeempfindung 


*  A.  GoLDscHEiDER,  Gcs.  Abhandl.  1,  171. 

*  F.  KiEsow,  Zur  Psychophysiologie  der  Mundhöhle.  Fhilos,  Stud.  14, 585. 

*  Ebenda  585. 

*  S.  Alrutz,    Studien  auf  dem  Gebiete  der  Temperatursinne,    II.  Die 
Hitzeempfindung.    Skand.  Ärch,  f.  Physiologie  10,  340  ff. 

**  Ebenda. 


Empfiiidlichkeit  der  hinteren  TJieUe  des  Mundraumes  für  Tost-  etc.  Reize.    409 

aus  der  gleichzeitigen  Reizung  von  Kalt-  und  Wärmeorganen 
entstehen  läfst.  Nach  uns  entsteht  die  Hitzeempfindung  auch 
auf  HautsteDen,  wo  die  Kaltorgane  fehlen  und  nur  Wärme- 
punkte  gefunden  werden,  sowie  durch  Ausbreitung  nach  Wärme- 
organen hin  bei  thermischer  Reizung  von  Schmerzapparaten. 
Die  sich  der  Hitzeempfindung  leicht  beimischende  paradoxe 
Kfilteempfindung  giebt  der  Hitzeempfindung  nur  eine  besondere 
Färbung.^ 

Man  könnte  versucht  sein  zu  glauben,  dafs  den  in  Rede 
stehenden  Körpergebilden  die  Empfindlichkeit  für  Wärmereize 
ganz  abgeht  und  dafs  die  Warmempfindimg  hier  in  Anbetracht 
der  hohen  Reize,  die  man  anwenden  n^ufs,  nur  durch  Aus- 
strahlimg  nach  mit  specifisch  adaptirten  Warmorganen  versehenen 
Theilen  hin  zu  Stande  kommt.  Wir  haben  hierüber  einige  Ver- 
rache  angestellt,  indem  wir  mit  der  oben  beschriebenen  Platina- 
schlinge  diese  Körperflächen  mehr  punktförmig  zu  reizen  ver- 
suchten. Wir  liefsen  hierbei  durch  den  Apparat  einen  Strom 
flielsen,  dessen  Intensität  auf  der  äufseren  Körperhaut  eben  die 
Schmerzpunkte  erregte  und  der  daher  einen  Wärmereiz  von 
ca.  50^  C.  entsprach.  Dieser  Reiz  war  niedrig  genug,  wm  auf 
den  in  Rede  stehenden  Gebilden  keine  Schmerzempfindung  zu 
erzeugen  und  doch  hoch  genug,  um  einen  maximalen  Wärme- 
reiz abzugeben.  Mit  diesem  Wärmereiz  ist  es  uns  an  drei  Ver- 
suchspersonen nicht  ein  einziges  Mal  gelungen,  an  diesen  Körper- 
stellen punktförmig  eine  Warmempfindung  hervorzurufen.  Sollte 
somit  die  Warmempfindung  in  den  oben  beschriebenen  Fällen 
auf  Ausstrahlung  beruhen,  so  wären  diese  Gebilde  denjenigen 
Theilen  des  Mundraumes  zur  Seite  zu  stellen,  denen  Goldscheider 
die  Warmempfindung  abspricht.-  Es  ist  diese  Frage  aber  sehr 
schwer  zu  entscheiden,  da,  wie  Kiesow  gezeigt  hat,  auch  auf 
gewissen  Stellen  der  äufseren  Körperhaut  die  Temperatur- 
empfindung nicht  mit  punktförmigen,  wohl  aber  mit  flächen- 
haften Reizen  auslösbar  ist.^  Wir  müssen  diese  Fragen  daher 
unentschieden  lassen.  Da,  wie  oben  gezeigt  wurde,  die  Warm- 
empfindlichkeit hier  zweifellos  in  hohem  Grade  herabgesetzt  ist, 


*  Vergl.    F.   Kiesow,    Zur   Analyse    der    Temperaturempfindung,    Be- 
sprechung und  Entgegnung.    Diese  Zeitschrift  26,  231. 

*  A.  Goldscheider,  Cit.  Arbeit,  171. 

*  Auf  der  Fingerbeere   ist  es   kürzlich  G.   Sommer  gelungen,   Warm- 
punkte zu  bestimmen.    Sitztmgsber.  d.  Physik.-med.  Ges.  zu  Würzburg  1901. 


410  ^'  ^i^ow  und  R.  Hahn. 

SO  können  die  noch  unbekannten  Wäxmeorgane  hier  nur  in 
sehr  geringer  Zahl  vertreten  sein  und  es  wäre  nicht  unmöglich, 
dafs  sie  angesichts  der  Schwierigkeit  und  Unbequemlichkeit  der 
AppUcation  des  Reizes  punktförmig  nicht  zu  bestimmen  sind. 
Wie  dem  aber  auch  sei,  so  ergeben  auch  diese  Versuche  mit 
Sicherheit,  dafs  die  Warmempfindlichkeit  hier  wenigstens  stark 
vermindert  ist,  und  man  könnte  nur  hinzufügen,  dafs  die  Warm- 
organe hier  vielleicht  fehlen. 

Fassen  wir  die  bisher  beschriebenen  Thatsachen  zusammen, 
so  gelangen  wir  zu  dem  Ergebnifs,  dafs  die  Empfindlichkeit  dieser 
Theile  an  gewisse  pathologische  Fälle  erinnern,  wie  einen  solchen 
L.  F.  Barker  unter  v.  Frey's  Leitung  an  sich  selbst  beschrieben 
hat.^    Die  Störung  war  in  seinem  Fall  auf  das  Gebiet  der  Nervi 
cutanei   brachii   et   antibrachii    mediales    des    linken 
Unterarmes  beschränkt  und  die  Ausfallserscheinungen  betrafen 
die  EmpfindUchkeit  für  „Warm,  Kalt,  Druck  imd  Berührung" 
(Tastreize),    während  die  „Schmerzempfindung",   obwohl  in  ge- 
ringem Grade  vermindert,  hier  intact  war.    Die  Fälle  sind  nicht 
identisch  (abgesehen  davon,   dafs  es  sich  bei  uns  um  normale, 
bei  Barker  aber  um  anormale  Verhältnisse  handelt),  sondern  sie 
ähneln  sich  nur.    Bei  uns  ist  die  Kaltempfindung  vermindert, 
es  fehlen  hier  zum  Theil  sicher  die  Tastorgane,  vielleicht  auch 
die  Warmorgane,  in  jedem  FaDe  können  sie  nur  in  sehr  geringer 
Anzahl  vertreten  sein,   während  die  Schmerzempfindung  auch 
hier,  obwohl  herabgesetzt,  intact  ist. 

Interessante  Beobachtungen  lassen  sich  hier  mit  Bezug  auf 
die  Kitzelempfindung  anstellen.  Wir  haben  dieser  von 
Anfang  an  unser  Interesse  zugewandt.  Da  aber  hierüber  später 
eine  besondere  Arbeit  veröffentlicht  werden  soll,  so  sei  hier  nur 
so  viel  angedeutet,  dafs  die  Kitzelempfindung  an  unseren  Körper- 
stellen zum  Theil  ganz  fehlt,  zum  Theil  sehr  stark  herabgesetzt 
ist.  Mit  schwachen  Reizen  gelingt  es  niemals,  sie  hervorzurufen, 
mit  starken  (Reiben  mit  ziemUch  starken  Pinseln  und  mit  ab- 
geschliffenen Glasstäben)  tritt  sie  an  vereinzelten  Stellen,  wie 
den  oberen  Enden  der  vorderen  Gaumenbögen  schwach  her- 
vor. Wahrscheinlich  handelt  es  sich  hier  um  durch  starkes 
Ausweichen  nach  hinten  bedingte  Ausstrahlung  nach  oben  und 


*  L.  F.  Barker,  Ein  Fall  von  einseitiger,  umschriebener  und  elektiver 
sensibler  Lähmung.    Deutsche  Zeitachr,  für  Nervenheilkunde  8. 


Empfindlichkeit  der  hinteren  TJieile  des  Mundraumes  für  Tost-  etc,  Beize.    411 

unten.  Auffallend  ist  eben,  dafs  die  Kitzelempfindung  hier  nur 
durch  starke  Reize  und  erst  nach  langem  Reiben  auftritt  An 
anderen  Mundtheilen,  wie  harten  Gaumen  und  Zahnfleisch,  tritt 
sie  schon  bei  leisem  Reiben  auf.  Nach  allen  unseren  Er- 
&hrungen  ist  die  reine  Kitzelempfindung  immer  an  das  Vor- 
handensein der  Tastorgane  gebunden  (Goldscheideb,  v.  Fbey  u.  a.), 
sie  tritt  aber  verstärkt  hervor,  wenn  die  mit  Tastorganen  ver- 
sehenen weichen  Körpertheile  festeren  Gebilden  aufliegen.  Wir 
beschränken  uns  auf  diese  kurzen  Andeutungen  und  geben 
später  ausführlichere  Berichte.  Bemerkt  sei  nur  noch,  dafs  auch 
im  BABKEB'schen  FaDe  die  Kitzelempfindung  ausblieb. 

Unsere  letzten  Versuche  stellten  wir  Über  die  Oeschmacks- 
empflndlichkeit  dieser  Gebilde  an.^  Diese  Untersuchungen  he- 
gten hier  mancherlei  Schwierigkeiten,  durch  welche  das 
ürtheil  leicht  getrübt  wird.  Schling-  und  andere  Reflexe,  Würg- 
bewegungen, Speichelsecretionen,  Diffusion  und  Abtröpfeln  der 
Geschmacksstoffe  auf  benachbarte  Schmeckflächen,  alle  diese  und 
andere  Factoren  können  als  FehlerqueDen  in  die  Untersuchung 
eingehen  und  zu  Täuschungen  Anlafs  geben.  Hieraus  sind  auch 
sicherlich  die  vielfach  sich  widersprechenden  Angaben  zu  er- 
klären, die  sich  über  die  Geschmacksempfindlichkeit  dieser  Ge- 
bilde in  der  Literatur  vorfinden.-  Unser  Ziel  war,  zu  sehen,  ob 
es  angesichts  der  vielfachen  Widersprüche  in  den  Angaben  der 
einzelnen  Forscher  unter  Benutzung  einer  grofsen  Anzahl  von 
Versuchspersonen  und  bei  möglichster  Ausschaltung  von  Fehler- 
quellen nicht  möglich  sei,  zu  eindeutigen  und  abschliefsenden 
fiesultaten  zu  gelangen.  Soweit  Erwachsene  im  Alter  von 
13  Jahren  und  darüber  in  Betracht  kommen,  glauben  wir  unser 
Ziel  erreicht  zu  haben.    Ausgeschlossen  bleiben  von  dieser  Mit- 


*  Ich  habe  bereits  in  einer  früheren  Arbeit  diese  Fragen  behandelt 
iPhilos.  Siud.  10).  Da  mir  aber  im  Laufe  der  Jahre  bei  Wiederholungen, 
dieser  Versuche  über  die  damals  verwandte  Methode  Zweifel  aufgestiegen 
waren,  so  entschlofs  ich  mich,  hierüber  neue  Erfahrungen  zu  sammeln.  Die 
hier  mitgetheilten  Ergebnisse  sind  diejenigen,  welche  ich  jetzt  vertrete. 

KlESOW. 

*  Ueber  die  Literaturangaben  vergl.  M.  v.  Vintschgau,  Physiologie  des 
Geschmackssinnes,  Hermann's  Handbuch  der  Physiologie  III,  2;  F.  Kiesow, 
Beiträge  zur  physiol.  Psychologie  des  Geschmackssinnes,  Fhilos.  Stud,  10, 
sowie  die  physiologischen  und  psychologischen  Lehrbücher. 


412  ^'  Kiesow  und  R.  Hahn, 

theilung  die  an  Personen  unter  13  Jahren  angestellten  Prüfungen. 
Diese  ergeben,  wie  bereits  Kiesow  gezeigt  hat  und  wie  auch 
aus  anatomischen  Befunden  erheUt,  zum  Theil  abweichende  Ver- 
hältnisse. Da  wir  diese  an  jüngeren  Individuen  vorgenommenen 
Prüfungen  noch  zu  keinem  Abschlüsse  bringen  konnten,  bleiben 
auch  die  hieraus  resultirenden  Befunde  einer  späteren  Mittheilung 
vorbehalten.  Nur  soviel  sei  hier  angegeben,  dafs  die  Schmeck- 
flächen im  jüngeren  Lebensalter  bestimmt  gröfser  sind,  als  im 
späteren. 

Wir  begannen  unsere  Prüfungen  an  der  Uvula.     Kiesow 
hatte  wie  Uebantschitsch  diesem  Gebilde  Geschmacksfähigkeit 
zugeschrieben,  hatte  hier  aber  eine  bedeutend  längere  Percep- 
tionszeit  für  die  einzelnen  Geschmacksqualitäten   bemerkt.   Es 
mufs    nun    hervorgehoben    werden,    dafs    die    hier    mögHchen 
Fehlerquellen  ganz  bedeutende  sind.   Trägt  man  den  Geschmacks- 
stoff mit  zu  dünnen  Pinseln  auf,  so  läuft  man  Gefahr,  dafs  kein 
hinreichend  grofses  Quantum  aufgetragen  wiurde,  verwendet  man 
zu  grofse  Pinsel,  so  tröpfelt  in  Folge  zu  starker  Füllung  leicht 
etwas   auf  die  für  Geschmacksreize  sehr  empfindliche  hintere 
Zungenpartie.    Aber  auch  wenn  durch  sorgfältige  Auswahl  der 
Pinsel  diesen  Fehlerquellen  vorgebeugt  wird,  bleibt  immer  noch 
der  Umstand  in  Betracht  zu  ziehen,  dafs  durch  eine  unbemerkte 
leise   Berührung  der  Uvulaspitze   mit   der  Zunge,   oder  durch 
Contractionen   des   Gebildes   nach   dem    weichen    Gaumen  hin 
intensiv  empfindUche  Geschmacksflächen  indirect  gereizt  werden 
können.    Diese   Fehlerquellen  haben  wir  mehrfach  beobachten 
können.    Hierbei  traf  es  sich  —  es  seien  diese  Beobachtungen 
gleich  eingefügt  — ,  dafs  in  einem  Falle,  in  dem  die  erwähnte 
Berührung  von  Uvula  und  Zunge  zweifelsohne  zu  constatiren 
war,  sowie  in  einem  anderen,  in  dem  eine  Fehlerquelle  nicht 
mit  absoluter  Gewifsheit  nachgewiesen  werden  konnte,  eine  mehr 
als  20  procentige   Lösung  von  Rohrzucker  nicht  süfs,  sondern 
bitter  empfunden  wiurde.    Die  Versuchsperson  zählte  im  ersten 
Falle   16,   im  zweiten  24  Jahre.    Auf  diese  und  ähnliche,  mehr 
fach   beobachteten  FäDe   hat  jedoch  Kiesow  bereits  in  seiner 
Arbeiten   in    eingehender  Weise  hingewiesen.     Ganz  besondere 
Schwierigkeiten  erwachsen  der  Untersuchung  der  Uvula  in  Fällen 
in  denen   die  Versuchspersonen  eine  steigende  Zunge  besitzen 
In  solchen  Fällen  lassen  die  Pinselversuche  fast  gar  keine  sichert 
Deutung  der  Ergebnisse  zu.    Um  die  hervorgehobenen  Fehler 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theilc  des  Mimdraimes  für  Tast-  etc.  Beize.   413 

quellen  zu  vermeiden,  haben  wir  daher  die  alte  Methode  des 
Auftragens  der  Schmecksubstanz  mittelst  Haarpinsel,  Schwämm- 
chen  oder  Wattebäuschchen  hier  gänzlich  aufgegeben,  sondern 
für  die  Application  ein  kleines  Instrument  construirt,  dessen 
Verwendung  zu  einwurfsfreien  Ergebnissen  führen  mufste.  Es 
ist  dies  ein  ziemlich  langgestielter  Löffel,  in  dessen  mit  einer 
Schmeckflüssigkeit  gefüllten  Gefäfs  die  Uvula  frei  eintauchen 
konnte.  Nachdem  wir  für  die  Anfertigung  desselben  das  ver- 
schiedenartigste Material  versucht  hatten,  haben  wir  es  schUefs- 
lich  einfach  aus  Glas  herstellen  lassen.  In  der  Form,  in  der 
die  beigegebene  Figur  3  diesen  „Uvulalöffel"  zeigt,  ist  er 
für  alle  hier  mitgetheilten  Schmeckversuche  verwendet  worden. 


Fig.  3. 

Der  Stiel  ist  bei  einem  Durchmesser  von  3  mm  der  Mundcavität 
entsprechend  geschwungen  und  16  cm  lang.  Das  Gefäfs,  das 
einen  Inhalt  von  ca.  1,1  cm  ^  und  einen  oberen  Durchmesser  von 
ca.  1,5  cm  besitzt,  verjüngt  sich  der  Form  des  Organs  ent- 
sprechend konisch  nach  unten.  In  dieser  Form  hat  sich  das 
Instrument  bei  allen  Versuchen  bewährt.  Man  ist  bei  einer 
solchen  Applicationsweise  nicht  nur  sicher,  dafs  keine  Berührung 
der  Uvula  mit  der  Zunge  entstehen  kann,  sondern  es  lassen  sich 
durch  die  wässerige  Lösung  hindurch  auch  alle  etwaigen  Be- 
wegungen des  Organs  genau  verfolgen.  Aufserdem  besitzt  es 
den  Vortheil,  dafs  es  leicht  gereinigt  werden  kann. 

Die  verwandten  Schmecksubstanzen  waren  die  oben  bereits 
namhaft  gemachten,  sie  bestanden  in  wässerigen  Lösungen  von 
ca.  40  procentigem  Rohrzucker,  von  ca.  10  procentigem  Kochsalz, 
ca.  0,2  procentiger  Salzsäure,  und  fast  concentrirtem  Quassin. 
Wenn  irgend  welche  Geschmacksfähigkeit  an  der  Uvula  vor- 
handen war,  so  mufsten  diese  Lösungsstufen  hinreichen,  um  die 
adäquate  Empfindung  auszulösen.  Alle  Lösungen  hatten  thun- 
lichst  die  Temperatur  des  Mundraums. 

Um  dem  Einwände  zu  begegnen,  dafs  es  zuweilen  und  be- 
sonders bei  einer  immerhin  schwach  empfindlichen  Schmeck- 
fläche  nicht  genüge,   dieselbe  einfach  in  die  Geschmacksflüssig- 


414  F-  Kiesow  und  B.  Hahn. 

keit  einzutauchen,  sondern  dafs  die  letztere,  um  Empfindungen 
hervorzurufen,  wie  bei  den  Pinselversuchen  in  die  einzelnen 
Organe  hineingerieben  werden  müsse,  so  wurde  der  Uvulalöffel 
während  des  Versuchs  derart  leicht  auf-  und  abwärts  bewegt, 
dafs  zwischen  den  einzelnen  Rändern  imd  Flächen  des  Organs 
und  den  Innenflächen  des  Bechers  eine  Reibung  entstand.  Für 
einige  Controlversuche  wurde  auch  noch  ein  wenig  Watte  am 
Boden  und  an  den  inneren  Wänden  des  Löffels  befestigt  und 
mit  Schmeckstoffen  getränkt. 

Die  weitere  Versuchsanordnung  ist  oben  angegeben.  Es  sei 
hier  nur  noch  daran  erinnert,  dafs  alle  Versuche  mit  reflectirten 
Licht  angestellt  wurden,  der  Mundraum  somit  gut  erleuchtet  war. 
Die  Versuche  wurden  an  einer  und  derselben  Versuchsperson 
mehrmals  nach  einander  wiederholt.  Das  Verfahren  war  stets 
ein  unwissentliches.  Wenn  nach  einem  Zeitraum  von  ca. 
1  Minute  keine  Reaction  erfolgte,  sahen  wir  den  Versuch  als 
beendet  an. 

Diese  Versuche  wurden  an  über  60  Personen  männlichen 
und  weiblichen  Geschlechts  angestellt,  von  denen  die  jüngsten 
13,  die  älteste  51  Jahre  alt  waren.  Sie  waren  so  ausgewählt, 
dafs  alle  Altersstufen  vertreten  waren,  doch  lag  das  Alter  der 
meisten  zwischen  18  und  30  Jahren.  Wir  hatten  aufserdem  da- 
für Sorge  getragen,  dafs  nur  intelligente  Versuchspersonen  ver- 
wandt wurden,  auf  deren  Aussagen  man  sich  verlassen  konnte. 
Bevor  endgültige  Resultate  verzeichnet  wurden,  waren  die  Ver- 
suchspersonen femer  zuvor  durch  einige  Probeversuche  eingeübt 
worden. 

Unter  den  hervorgehobenen  Vorsichtsmaafsregeln  ist  es 
uns  nun  bei  den  erwähnten  Personen  auch  nicht  ein 
einziges  Mal  gelungen,  eine  klar  erkennbare  Ge- 
schmacksempfindung irgend  welcher  Qualität  her- 
vorzurufen. 13  Mal  findet  sich  in  unseren  Protokollen  die 
Angabe,  dafs  eine  undefinirbare  Sensation  erfolgte,  welche  die 
betreffenden  Versuchspersonen  als  stark  (fotie)  bezeichneten. 
Dies  ist  aber  keine  Geschmacksempfindung.  Derartige  unbe- 
stimmbare Empfindungen  sind  bei  Geschmacksversuchen  mehr- 
fach beobachtet  worden,  und  es  liegt  wohl  aufser  allem  Zweifel, 
dafs  diese  Empfindung  eben  diejenige  Sensation  ist,  die,  wie 
Kjesow  ^  gezeigt  hat,  auch  auf  wirklichen  Schmeckflächen  unsere 

*  F.  KiEsow,  Cit.  Arbeit.    Fhilos.  Shid.  10. 


Emi^indlicKkeii  der  hinteren  Tlieile  des  Mundraumes  für  Tost-  etc.  Reize,   415 

Geschmacksempfindungen  begleitet  Vielleicht  handelt  es  sich 
auch  hier  um  eine  schwache  Erregung  der  Schmerzorgane  im 
oben  angedeuteten  Sinne. 

Nach  diesen  Erfahrungen  glauben  wir  uns  berechtigt, 
den  Satz  aufstellen  zu  dürfen,  dafs  die  Uvula  bei  Er- 
wachsenen nicht  geschmacksempfindlich  ist 

Diese  allgemeine  Regel  schliefst  natürlich  nicht  aus,  dafs 
auch  einmal  Geschmacksempfindungen  auf  der  Uvula  entstehen, 
mit  anderen  Worten,  dafs  hier  einmal  Geschmacksorgane  vor- 
kommen könnten.  Derartige  Fälle  aber  dürften,  wenn  sie  über- 
haupt vorkommen,  doch  nur  sehr  vereinzelt  auftreten,  also  in 
sehr  hohem  Grade  selten  sein. 

Da  diese  Methode  an  den  Gaumenbögen  und  den  Ton- 
sillen   nicht   anwendbar   war,    so   mufsten   wir   nach   anderen 
Hülfemitteln  suchen.    Nach  vielfachen  Versuchen  sind  wir  für 
die  Untersuchung   dieser  Gebilde  wieder  zur  Anwendung   von 
mittelgrofsen  Pinseln  und  kleinen  Wattebäuschchen  zurückgekehrt 
Uasere  Vorsicht  bestand  aber  darin,  dafs  wir  die  oben  erwähnten 
Lösungen  mit   ein  wenig  Methylblau  leicht  färbten.    Auf  diese 
Weise  war  es  nicht  nur  möglich,  die  berührten  Stellen  genau  zu 
erkennen,  sondern  auch  zu  beobachten,  ob  und  wann  etwas  von 
der  aufgetragenen   Substanz   auf  eine  Schmeckstelle  der  Zunge 
abgetröpfelt  war.    Es  wurde  aufserdem  der  Mund  vor  und  nach 
jedem  Versuch  gründlich   gespült   und    das   zu   untersuchende 
Organ  mit  Watte  sorgfältig  abgetrocknet.    Im  Uebrigen  war  die 
Versuchsanordnung   gleich   der  oben    beschriebenen.     Die   Ver- 
suche wnirden  an  25  Personen  angestellt.   Diese  waren  in  gleichem 
Alter,  wie  die,  welche  uns  ihre  Hülfe  für  die  Untersuchung  der 
Uvula  liehen. 

Soweit  hier  die  Tonsillen  und  die  hinteren  Gaumen- 
pfeiler in  Betracht  kommen,  führten  diese  Beobachtungen  zu 
absolut  negativen  Ergebnissen.  Es  ist  uns  bei  sorg- 
fältigster Application  hier  auch  nicht  ein  einziges  Mal  gelungen, 
ein  positives  Ergebnifs  zu  erzielen.  Wir  schliefsen  daher,  dafs 
die  Tonsillen  und  die  hinteren  Gaumenpfeiler  bei 
Erwachsenen  in  der  Regel  nicht  geschmacks- 
^jmpfindlich   sind. 

Diese  Regel  gilt  im  Allgemeinen  auch  für  die 
rorderen  Gaumenbögen.  Auch  diese  Gebilde  sind,  man 
wann    dies   ohne   Vorbedacht    sagen,    bei  Erwachsenen  in  der 


416  F'  Kiesotü  und  R.  Hahn. 

Regel  nicht  geschmacksempfindlich.  Es  scheinenaber 
hier  Ausnahmen  vorzukommen.  Wir  fanden  einen  Fall,  in  dem 
auf  dem  äufsersten  obersten  Theil  der  vorderen  Gaumenbögen  die 
vier  Geschmacksqualitäten  empfunden  wurden.  Die  Versuchs- 
person war  ein  intelligentes  Mädchen  von  15  Jahren.  Die  Reaction 
erfolgte  sicher  und  schnell,  so  dafs  hier  kaum  eine  Täuschung 
vorUegen  dürfte.  In  einem  anderen  Falle  (Mädchen  von 
13  Jahren)  wurde  angegeben,  dafs  ein  Geschmack  vorhanden 
sei,  dafs  er  aber  nicht  erkannt  werde.  In  einem  dritten  wurde 
der  angegebene  Bitterstoff  am  oberen  Ende  des  rechten  vorderen 
Gaumenbogens  adäquat  empfunden,  aber  nicht  am  linken.  Es 
dürften  hier  demnach  Ausnahmen  zuzugeben  sein.  Bei  ana- 
tomischen Untersuchungen  fand  ABxmjB  Hoffmann  ^  am  vorderen 
Gaumenbogen  des  Menschen  bei  Embryonen  und  Neugeborenen 
Papillen  dicht  gedrängt  stehen,  die  denen  des  weichen  Gaumens 
ähnüch  waren,  es  ist  aber  aus  seinen  Angaben  nicht  genau  er- 
sichtlich, ob  diese  oder  einige  von  ihnen  Schmeckbecher  enthielten, 
obwohl  wahrscheinUch.  Nach  den  Untersuchungen  von  ükbak- 
TSCHiTSCH  und  KiESOW  sind,  wie  mehrfach  hervorgehoben,  die 
Geschmacksflächen  des  Mundraums  in  der  früheren  Jugend  ver- 
gröfsert,  und  es  ist  nicht  unwaJirscheinlich,  dafs  durch  das  Nach- 
wachsen des  Parenchyms  die  Schmeckbecher  nicht  immer  gleich- 
mäfsig  vom  Gaumenbogen  verdrängt  werden  oder  vielleicht 
untergehen.  Die  angegebene  Regel  bedarf  somit  nach  unseren 
Erfahrungen  der  Einschränkung,  dafs  man  mit  Schiff  annimmt, 
dafs  „die  vorderen  Pfeiler  manchmal  Geschmack  besitzen."* 

Nach  Abschlufs  dieser  Versuche  haben  wir  die  gefundenen 
Resultate  nochmals  an  10  anderen  Versuchspersonen  mittleren 
Lebensalters  nach  der  eingangs  angegebenen  NEUMANN'schen 
Methode  controlirt.  Wir  Uefsen  durch  die  Elektroden  einen  Strom 
fliefsen,  der,  wie  oben  angegeben,  die  Tast-  und  Schmerzapparate 
nicht  erregte,  wohl  aber  den  elektrischen  Geschmack  auf  den 
Schmeckflächen  der  Zunge  deutlich  erzeugte. 

Auch  bei  Anwendung  dieser  Methode   kamen  wir  bei  der 
erwähnten    10   Herren    für   die    Geschmacksempfindlichkeit   de: 


*  A.  Hoffmann,   Ueber  die  Verbreitung  der  GeschmacksknoBpen  beir 
Menschen.     Virchow^s  Archiv  62,  516. 

*  Schiff,   Le^ons  sur  la  Physiologie  de  la  digestion  1867.    Citirt  nac! 

V.  ViNTSCHOAÜ    8.  160. 


Empfindlichkeit  der  hinteren  Theile  des  Mundraumes  für  Tost'  etc.  Reize,   417 

Uvula,  der  Tonsillen  und  der  vorderen  und  hinteren 
Gaumenbögen  zu  absolut  negativen  Resultaten. 

Schon  V.  ViNTSCHGAü  glaubte  bei  der  Besprechung  der  sich 
widersprechenden  Vereuchsergebnisse  der  einzelnen  Forscher 
„vor  der  Hand  den  negativen  Angaben  mehr  Werth  beilegen 
zu  müssen  als  den  positiven,  da  der  Verdacht  nicht  ausge- 
schlossen werden  kann,  dafs  die  schmeckende  Substanz  längs 
der  Schleimhaut  herabgeflossen  sei  und  mit  der  Zunge  in  Be- 
rührung kam".^  Er  fügt  hinzu,  dafs  dieser  Verdacht  nicht  für 
Neumann's  Versuche  gelte,  der  dem  unteren  Theil  des  vorderen 
Gaumenbogens  Geschmacksfähigkeit  zusprach,  da  er  schwache 
elektrische  Ströme  verwandt  habe.  Es  ist  aber  auch  daran  zu 
denken,  dafs  bei  Anwendung  der  NEUMANN'schen  Elektroden 
der  am  unteren  Ende  des  vorderen  Gaumenbogens  sich  leicht 
anhäufende  Speichel  zersetzt  oder  durch  diesen  das  elektro- 
lytische ßeizproduct  nach  den  Schmeckflächen  hin  übertragen 
werden  kann.  Wir  haben  diese  Stelle  vor  jedem  Versuche  sorg- 
fältig abgetrocknet  und  hier  nie  Geschmack  beobachtet. 

Im  Uebrigen  konnte  durch  unsere  Versuche  nur  weiter  be- 
stätigt werden,  was  schon  bekannt  ist.  Wir  fanden  den  weichen 
Gaumen  durchaus  schmeckfähig,  den  harten  in  der  Regel 
nicht,  die  Mitte  der  Zunge  bei  Erwachsenen  nicht,  bei  Kindern 
dagegen  häufig.  Gerne  hätten  wir  gröfsere  Versuchsreihen  an 
der  hinteren  Rachenwand  angestellt,  aber  wir  mufsten  hiervon 
absehen,  da  es  uns  nicht  immer  gelang,  störende  Reflexe  auszu- 
schliefsen.  Soweit  wir  aber  eindeutige  Resultate  erzielen  konnten, 
konnte  auch  durch  diese  Erfahrungen  bestätigt  werden,  dafs  die 
hintere  Rachenwand  Geschraacksfähigkeit  besitzt.  Ueber 
die  Geschmacksempfindlichkeit  der  Epiglottis  folgt  umgehend 
eine  weitere  Mittheilimg. 

*  V.  ViNTSCHGAu,  Cit.  Arbeit,  160. 

(Eingegangen  am  18.  Juni  1901.) 


Zeitschrift  für  Psychologie  26.  27 


Literatlirbericht. 


£.  König.    Die  Lehre  vom  psychophysisGheA  Parallelismiii  ead  ihre  ttegier. 

Zeitschnft  für  Fhüos,  u.  phüos.  Kritik  115,  161—192. 

M.  Wentscher.    Der  psychophysische  Parftllelismes  in  der  Gegenwart  (Zweiter 

Artikel.)    Ebenda  117,  70—93. 

Indem   ein   grofser  Theil   der   zuzweitgenannten  Arbeit   sich   auf  die 
erstere  bezieht,   empfiehlt  es  sich,   die  beiden  zusammen  zu  besprechen. 
König  vertritt  den  WuNDx'schen,  rein  empirischen,  nichts  Metaphysisches 
voraussetzenden  Parallelismus,  welcher  nicht  einmal  für  alle  psychischen 
Daten,  sondern  nur  für  die  sinnlichen  Empfindungen  und  Gefühle,  physio- 
logische Begleiterscheinungen  fordert.    Der  dieser  Auffassung  zu  Grunde 
liegende  Satz  von  der  geschlossenen  Naturcausalität  sei  eine  nothwendige 
Verallgemeinerung  der  Erfahrung,  welche  überall  lehre,  dafs  Veränderungen 
in  der  Körperwelt  von  Bedingungen  abhängen,  welche  selbst  in  der  Körper- 
welt nachweisbar  sind ;  eine  Argumentation,  gegen  welche  Wentscher  nicht 
mit  Unrecht  anführt,  dafs  das  betreffende  Erfahrungsmaterial  vorläufig  nur 
in  Bezug  auf  Vorgänge,  welche  nicht  nachweislich  mit  Psychischem  zu- 
sammenhängen, in  genügender  Exactheit  gegeben  sei,  und  demnach  kaum 
eine  zuverlässige  Grundlage  für  die  Verallgemeinerung  auf  Gehirnprocesse, 
wo  eben  dieser  Zusammenhang  vorliegt,  abgeben  könne.    Auch  dafs  eine 
exacte    Naturwissenschaft    ohne    die    Geschlossenheit    der    Naturcausalität 
nicht  bestehen  könne,  wird  von  Wentscher  mit  der  Bemerkung,  dafs  doch 
auch  eine  exacte  Optik  oder  Elektricitätslehre  keine  geschlossene  optische 
oder  elektrische  Causalität  erfordert,  in  durchaus  zutreffender  Weise  wider- 
legt.   In  Bezug  auf  den  von  Paulsen,  dem  Referenten  u.  A.  vertretenen 
idealistisclien  Parallelismus  beschränkt  sich  Wentscher  auf  eine  Erörterung 
der  Frage,  ob  derselbe  zur  Abwehr  materialistischer  Consequenzen  genügen, 
dem  Geiste  nach  über  den  Materialismus  hinausführen  könne.    Diese  Frage 
wird   besonders   mit  Rücksicht  darauf  verneint,   dafs  für  die  betreffende 
Auffassung   die   ganze   Welt   doch   den    „automatenhaft^n**   Charakter  bei- 
behalte; wogegen  Referent  eich  nur  zu  bemerken  erlaubt,  dafs  es  bedenk- 
lich ist,  für  ein  Psychisches,  welches  als  Physisches  erscheint,  einen  Namen 
zu  verwenden,   mit  welchem  gewöhnlich  genau  das  Umgekehrte,  nämlich 
ein  Physisches,  welches  als  Psychisches  erscheint,  bezeichnet  wird. 

Heymans  (^Groningen). 


Literaturbericht  419 

L.  Edikokb.     Hinaiatomie  end  Psychologie.     Berliner  klinische  Wochenschriß 
37  (26),  561—564;  (27),  600-604.    1900. 

Nach  einem  kurzen  geschichtlichen  Ueberblick  über  die  Lehren  des 
Zusammenhanges  zwischen  den  Bewufstseinserscheinungen ,  insbesondere 
der  sogenannten  höheren  Lebensthätigkeit,  und  den  physiologischen 
Organen,  d.  h.  anatomischen  Verhältnissen  der  Himsubstanz,  wirft  Eoinobb 
die  Grundfrage  auf,  wie  sich  die  Anatomie  zur  Welt  der  psychologischen 
Begriffe  mit  Rücksicht  auf  die  unmittelbare  Förderung  ihrer  eigenen  Auf- 
gabe zu  verhalten  habe.  —  Der  Verf.  stellt  zunächst  fest,  dafs  die  allge- 
meine Frage  nach  den  physiologischen  Bedingungen  des  Bewufstseins 
überhaupt  vorläufig  als  müssig  bei  Seite  zu  setzen  ist,  weil  ja  die  ana- 
tomischen und  physiologischen  Befunde  nur  als  Bewufstseinsinhalte  studirt 
werden  können,  uns  nur  als  Empfindungen  gegeben  sind,  eine  Ursache  an 
sich  der  Empfindung  daher  niemals  erkennbar,  sondern  höchstens  mit  der 
Geltung  einer  metaphysischen  Hypothese  aufstellbar  sein  kann.  Für  den 
Naturforscher  kann  es  sich  nach  dem  Vorgange  von  Wundt,  Mach  u.  A. 
nur  darum  handeln,  Parallelismen  zwischen  den  Reihen  der  psychischen 
und  physischen  Objecte,  Gesetzmäfsigkeiten  in  dem  durch  die  Sinnes- 
organe Gegebenem  aufzufinden.  Von  hier  aus  liegt  die  Gefahr  nahe,  im 
Sinne  Häck£L*s  aus  physiologischen  Vorgängen  im  thierischen  Organismus 
zu  weitgehende  Analogieschlüsse  auf  das  Vorhandensein  und  Mitwirken 
von  Bewufstsein  zu  ziehen.  Gerade  die  bewufst  einseitige  Erklärung 
physiologischen  Verhaltens  bei  Menschen  und  Thieren  „aus  der  Kenntnifs 
der  anatomischen  Unterlagen  und  ihrer  Eigenschaften  heraus,  das  Studium 
der  nach  dem  Reflextypus  arbeitenden  Mechanismen"^,  muls  die  Anatomie 
als  ihre  ausschliefsliche  Aufgabe  festhalten,  während  die  Betheiligung  von 
Bewufstseinsvorgängen  an  motorischen  Lebensäufserungen  für  jeden  Fall 
erst  zu  beweisen  wäre,  tiberall  da  aber,  wo  der  Vorgang  ohne  ihre  An- 
nahme erklärbar  ist,  als  nicht  vorhanden  anzunehmen  ist.  Der  Physio- 
logie verbleibt  in  inniger  Fühlung  mit  der  anatomischen  Forschung  die 
Untersuchung  der  Leistungsfähigkeit  der  Elementarorgane  und  ihrer  Ver- 
bindungen mit  einander. 

Bei  einigen  niederen  Thieren  ist  es  gelungen,  Handlungen  derselben 
direct  auf  bekannte  chemisch  -  physikalische  Vorgänge  zurückzuführen,  ja 
ee  konnten  auf  diesem  Wege  sogar  künstliche  Amöben  (Rumbler*s  künstl. 
Amöben)  construirt  werden.  Für  die  Functionen  des  Nervensystems  bietet 
das  Studium  der  Reflexvorgänge  eine  Reihe  von  Anhaltspunkten  zur 
Zurückführung  anscheinend  zweckmäfsiger  Handlungen  auf  anatomische 
Anordnungen.  Durch  die  fortschreitende  Kenntnifs  der  die  Associations- 
möglichkeiten  bedingenden  nervösen  Bahnen  und  unter  Zuhttlfenahme  der 
Vererbung  lassen  sich  sodann  auch  complicirtere  Reflexmechanismen  ohne 
die  Annahme  des  Bewufstseins  verstehen.  Schon  jetzt  sind  die  Handlungen 
niederer  Vertebraten  zum  grofsen  Theil  aus  dem  Hirnbau  erklärbar;  nur 
darf  man  nicht  den  menschlichen  ähnliche  Gefühle  und  Ueberlegungen  da 
Sehen  wollen,  wo  ein  rein  reflectoriscber  Ablauf  noch  irgend  zu  er- 
weisen ist. 

27* 


420  lAteraturbenchi. 

Das  eifrige  Studium  des  sogen.  Seelenlebens  bei  niederen  Thieren  mit 
verhältnirsmäfsig  einfachem  Grehirn  mufs  den  psychologischen  Fragen  nach 
der  Bedeutung  und  dem  Zusammenhang  cerebraler  Bildungen  mit  psychi- 
schen Erscheinungen  höherer  Ordnung  vorangehen. 

Mebzbacheb  (Strafsburg  i.  £.) 

Otto  Wiener.  Die  Erweiterang  BIIBerer  Sinne.  (Hab.)  Leipzig,  Barth,  1900. 
43  S. 
Im  Anschlufs  an  eine  Aufzählung  zahlreicher  feinster  Instrumente, 
welche  die  moderne  Technik  auf  Grund  der  entwickelten  physikalischen 
Erfahrungen  herstellen  konnte,  wirft  Verf.  die  Frage  auf,  welche  Bedeutung 
die  dadurch  gewonnene  Erweiterung  unserer  Sinne  für  die  Erkenntnifs- 
theorie  gewinnen  kann  und  giebt  einen  Ausblick  auf  die  Möglichkeit,  uns 
mit  Hülfe  einer  einheitlichen  und  erweiterten  Theorie  einstmals  frei 
machen  zu  können  von  der  Beschränkung,  die  uns  die  besondere  Natur 
unserer  Sinne  auferlegt.  Den  Versuch  zu  einer  solchen  Theorie,  die  alle 
physikalischen  Erscheinungen  auf  Bewegungen  gleichartigen  Stoffes 
zurückführt,  hat  Herz  in  seinen  „Principien  der  Mechanik"  hinterlassen. 

Merzbacheb  (Strafsburg  i.  E.). 

Preter.    Die  Seele  des  Kindes.     5.  Auflage.    Nach  dem  Tode  des  Verfassers 
bearbeitet  u.  herausgegeben  v.  Karl  L.  Schaefer.    Leipzig,  Th.  Grieben, 
1900.    448  S. 
Der   neue   Herausgeber,  ein  Schüler   des  Verf.'s,   bezeichnet   das   vor 
zwanzig  Jahren  zum  ersten  Male  erschienene  Werk  mit  Recht  als  die  noch, 
immer   reichlich   fliefsende  Quelle,   aus   der   andere  Autoren   zu   schöpfen, 
pflegen,   und  auch  darin  mufs  man  ihm  Hecht  geben,   dafs  er  den  Text, 
soweit  irgend  thunlich,  unverändert  gelassen  hat.    Am  meisten  haben  die 
Abschnitte    über    die    Entwickelung    der    Sinne    Verbesserungen    und   Er- 
gänzungen durch  den  Herausgeber  erfahren,  wobei  die  neueren  Forschungs- 
ergebnisse berücksichtigt  worden  sind.    Auch  die  Ausführungen  über  das 
Sprechenlernen   weisen   Zusätze  aus  der  neueren   und   neuesten   Literatur 
auf  (Lindner,  Ament,  Oltuszewsky  u.  A.). 

Ob  die  Zusätze  des  Herausgebers  nicht  noch  etwas  reichlicher  hätten 
ausfallen  können,  kann  dahingestellt  bleiben,  denn  was  man  in  dem  Pebter- 
schen  Werke  vor  allen  Dingen  sucht,  das  sind  die  Beobachtungsergebnisse 
von  Preyer  selbst.  Ihnen  verdankt  es  seine  Stellung  in  der  Geschichte 
der  Kinderpsychologie  und  seinen  dauernden  Werth. 

Da  wir  einmal  die  Greschichte  der  Kinderpsychologie  erwähnt  haben, 
so  mag  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dafs  auch  in  der  5.  Auflage  des 
PREYER'schen  Buches  (S.  353)  noch  von  Tiedemann's  „Memoiren"  die  Rede 
ist.  Aus  der  Benennung,  die  Preyer  von  Perez  übernommen  hat,  geht  her- 
vor, dafs  das  Original  Preyer  nicht  zu  Gesicht  gekommen  ist.  Da  es  sich 
hier  um  die  ersten  Anfänge  der  biographischen  Methode  auf  dem  Gebiete 
der  Kinderpsychologie  handelt,  so  mag  auf  Folgendes  hingewiesen  werden. 
Die  TiEDEMANN 'sehen  Aufzeichnungen  erschienen,  wie  ich  aus  Tiedemakn*s 
Psychologie  ermitteln  konnte,  1787  in  den  „Hessischen  Beiträgen  zur  Ge- 
lehrsamkeit  und  Kunst"    unter  dem  Titel  „Beobachtungen  über  die  Ent- 


Literaturbericht. .  421 

wickelang  der  Seelenfähigkeiten  bei  Kindern",  wurden  1863  in  französischer 
Sprache  im  Pariser  Journal  g^n^ral  de  Tlnstruction  publique  und  1881  nach 
dieser  üebersetzung  auszugsweise  von  Pebez  als  besondere  Schrift  ver- 
öffentlicht. Pr£T£b  und  andere  haben  die  Schrift  offenbar  nur  in  Gestalt 
des  Auszugs  von  Peeez  gekannt.  Nachdem  dieser  Auszug  auch  ins  Englische 
übersetzt  worden  war  (Boston  1891),  veranstaltete  ich  selber  die  erste  voU- 
sUlndige  Sonderausgabe  des  Originaltextes  (Altenburg,  Bonde,  1897),  nach 
der  dann  eine  ungarische  Ausgabe  bearbeitet  wurde.  Soviel  zur  Geschichte 
der  TiEDEXAirN'schen  „Memoiren".  Ufer  (Altenburg). 

M.  C.  u.  Harlow  Gale.  The  Yocabnlurles  of  two  Ghildren  of  one  Family  to 
two  and  a  half  Tears  of  Age.    Fsychol.  Studies  by  Gale  (1),  70—117.   1900. 

Von  3  Kindern  derselben  Familie  hatte  am  Ende  des  zweiten  Lebens- 
jahres das  erstgeborene  einen  Wortschatz  von  ca.  400,  die  späteren  von 
Aber  700.  Bei  allen  dreien  fand  bis  zum  Alter  von  2 ^'2  Jahren  ungefähre 
Verdoppelung  statt.  DaTs  die  meisten  anderen  Kinderpsychologen  auch 
ungefähr  die  Zahl  400  fanden,  erklärt  G.  daraus,  dafs  solche  Untersuchungen 
mit  Vorliebe  bei  den  „wunderbaren"  Erstgeborenen  gemacht  werden.  An 
Beine  Ergebnisse  knüpft  G.  berechtigte  Bedenken  gegen  die  häufige  geringe 
Einschätzung  des  Wortschatzes  „ungebildeter"*  Erwachsener. 

An  einem  Tag  gebrauchten  die  Kinder  o — 10000  Worte,  darunter 
50-ß5®'o  ihres  gesammten  Wortschatzes;  dabei  freilich  auch  wohl  theil- 
weise  angeregt  und  offenkundig  amüsirt  durch  das  Gebahren  ihrer  Eltern, 
die  ihnen  von  Zeit  zu  Zeit  einen  ganzen  Tag  mit  dem  Notizblei  folgten ; 
an  den  anderen  Tagen  aber  immer  nur  die  neuen  Worte  anmerkten ;  diese 
Methode  hält  G.  für  die  zuverlässigste. 

Beachtenswerth  sind  die  grofsen  individuellen  Differenzen  im  Wort- 
schatz; trotz  der  grofsen  Aehnlichkeit  der  äufseren  Bedingungen  hatten  die 
drei  Kinder  weniger  als  die  Hälfte  der  Worte  gemeinsam,  und  jedes  über 
ein  Viertel  ganz  für  sich.  G.  will  dies  aus  einem  biologischen  Lust-Ünlust- 
gesetz  erklären.  Ettlinger  (München). 


0.  Kalischer.    Ueber  GrofshirAezstirpatlOAeA  bei  Papageien.     Sitzungsberichte 
d.  königl,  preufs.  Akadem.  d.  Wissensch.  zu  Berlin  34  (5.  Juli),  722 — 726.    1900, 

-  Weitere  HlttheilnngeA  inr  GrorshirnezstirpatiOA  bei  Papageien.  Fort- 
schritte der  Med.  18  (33),  641—644.  1900. 
Die  Exstirpationen  des  Grofshirnes  bei  Papageien  (Sittiche,  Amazone, 
Cacadu)  ergeben  Störungen  analog  denen  bei  Affen  und  Hunden.  Totale 
ExBtirpation  einer  Hemisphäre  oder  gröfserer  Theile  derselben  ergiebt 
complete  gekreuzte  Lähmungen,  doch  sterben  die  Thiere  nach  kurzer 
Frist,  da  die  Nahrungsaufnahme  aufhört.  Entfernungen  oberflächlicher 
Gehimtheile  haben  Störungen  der  Motilität  und  Sensibilität  auf  der  ge- 
kreuzten Seite  zur  Folge,  die  bei  älteren  Individuen  bedeutend  länger 
nachzuweisen  sind  als  bei  jüngeren.  Bei  letzteren  können  nach  drei  bis 
vier  Wochen  nur  Reste  der  ursprünglichen  Schädigungen  nachgewiesen 
werden. 


422  Literaturbericht 

Es  liefs  sich  auch  eine  gewisse  Localisation  nachweisen.  Bei  Zer- 
störungen nach  vorne  zu  waren  mehr  die  Flügel  beiheiligt,  wfthrend  Bein 
und  Fufs  mehr  durch  die  Exstirpation  eines  weiter  nach  hinten  gelegenen 
Hirntheiles  in  Mitleidenschaft  gezogen  wurden. 

Noch  unsicher  ist  die  Frage,  ob  bei  Schädigung  des  Occipitallappens 
auch  Sehstörungen  sich  einstellen,  und  es  stehen  femer  noch  histologische 
Untersuchungen  aus. 

Die  zweite  Abhandlung  beschäftigt  sich  mit  den  Ergebnissen  elek- 
trischer Reizung  der  Hirnrinde  und  mit  Localisationsbestrebungen.  Der 
Verf.  glaubt  auch  bestimmte  motorische  Centren  festgestellt  zu  haben,  die 
im  Allgemeinen  die  bekannten  Thatsachen  aus  den  analogen  Versuchen  an 
Säugethieren  wiedergeben.  Für  Zunge-  und  Kieferbewegungen  fand  er  an 
symmetrischen  Punkten  beider  Hemisphären  Erregungscentren.  Vom 
Hinterhauptslappen  liefsen  sich  Augenbewegungen  auslösen.  Besonders 
erwähnenswerth  erscheint  die  Thatsache,  dafs  eine  Abhängigkeit  der  Er- 
regbarkeit von  gewohnten  Thätigkeiten  erkannt  werden  konnte,  so  dafs 
besonders  geübte  Bewegungen  besonders  leicht  von  der  Hirnrinde  aus 
ausgelöst  werden  konnten.  L.  Mebzbacher  (Strafsburg  i.  E.) 

H.  E.  Hering.    Ueber  Grofshimreiinng  nach  Dorchschneidang  der  Pjruddti 
oder  anderer  Theile  des  centralen  Henrensystems  mit  besonderer  Bertd- 

Sichtignng  der  Rindenepilepsie.  Wieyiej-  kUn.  Wochenschr.  12  (33),  831—833. 
1899. 

Nach  Reizung  der  Extremitätenregionen  der  Hirnrinde  bei  durch- 
schnittenen Pyramiden  konnte  Hering  bei  Hunden  Bewegungen  in  der 
ungleichseitigen  und  bei  Verstärkung  des  Reizes  in  sämmtlichen  Extremi- 
täten hervorrufen.  Auf  diese  Weise  gelang  es  ihm,  die  Existenz  einer 
zweiten  corticofugalen  Bahn  nachzuweisen,  die  in  ihren  topographischen 
Verhältnissen  durch  Combination  von  Hemisectionen  in  der  MeduUa  oblongata 
oind  Rückenmark  näher  bestimmt  werden  konnte.  Sie  zieht  demnach  durch 
die  Capsula  interna,  kreuzt  sich  oberhalb  der  Medulla  oblongata  und  ver- 
läuft in  den  Seitensträngen  des  Rückenmarks. 

Durch  Vermittelung  eben  derselben  corticofugalen  Bahnen  konnte  be- 
stehender Strecktonus  gehemmt  und  klonische  Krämpfe  („Rindenepilepsie", 
d.  h.  den  Reiz  überdauernde  klonische  Krämpfe)  ausgelöst  werden. 

Analoge  Versuche  am  Affen  brachten  bezüglich  der  Function  der 
corticofugalen  Bahnen  wesentliche  Unterschiede  dem  Hunde  gegenüber: 

1.  Die  Pyramidenbahnen  vermitteln  beim  Affen  hauptsächlich  die 
isolirten  Bewegungen  der  contralateralen  Seite;  die  contralaterale  Bahn 
des  Affen  ist  schwerer  erregbar  und  functionirt  nur  associirt  mit  der 
homolateralen,  während  die  analoge  Bahn  des  Hundes  leicht  erregbar  ist 
und  isolirte  Bewegungen  vermittelt; 

2.  die  homolaterale  Bahn  des  Affen  besitzt  eine  detaillirte  Function 
und  ist  leichter  erregbar  als  beim  Hunde. 

Als  allgemeines  Resultat  aus  den  Untersuchungen  beider  Thierarten 
ergiebt  sich: 

Specifische  Hemmuugsbahnen  lassen  sich  nicht  aufstellen,  sondern  es 


LiteraturbericJU.  423 

leigt  rieh,    dafs    ein    und   dieselbe  Bahn   Muskelcontraction  und  Muskel- 
erachlaffnng  vermitteln  kann. 

Specifische  Leitungsbahnen  zur  Vermittelung  der  ^^Rindenepilepsie'' 
sind  nicht  nachweisbar ;  auf  jeder  corticof ugalen  Bahn  ist  es  möglich  von 
der  Rinde  aus  klonische  Krämpfe  auszulösen,  nur  ist  die  Erregbarkeit  der 
Terschiedenen  Bahnen  eine  verschiedene.  Die  Pyramidenbahnen  erweisen 
sich  besonders  leicht  erregbar.  Mebzbacher  (Strafsburg  i.  E.). 


H.  Magnus.    Die  Anatomie  des  Auges  in  ihrer  geschichtlichen  Entwickelnng 

13  farbige  Tafeln  mit  28  S.  Text.     (Avgenärztliche  Unternchtstafeln^  hrsg. 

von  H.  Magnus,  Heft  XXI.)     Breslau  1900.     J.  U.  Kern's  Verlag  (Max 

MnUer). 
Bereits  im  Jahre  1877  hat  der  Verf.  als  Beilageheft  zu  Zehendrb's 
Id.  Moiuitshlättern  elf  ^Historische  Tafeln  zur  Anatomie  des  Auges"  veröffent- 
licht Jetzt  läfst  er  als  weitere  Frucht  seiner  verdienstlichen  Studien  in 
der  von  ihm  selbst  herausgegebenen  Reihe  „Augenärztlicher  Unterrichts- 
Ufeln^  eine  von  einem  Texthefte  begleitete  Sammlung  von  13  Tafeln  er- 
scheinen, welche  die  geschichtliche  Entwickelnng  der  Anatomie  des  Auges 
von  Demokkit  von  Abdera  an  bis  zu  der  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts 
veröffentlichten  allgemein  bekannten  und  benutzten  Unterrichts- Wandtafel 
von  Flemmino  zeigen. 

Aus  diesen  Tafeln  geht  hervor,  dafs  unsere  Erkenntnifs  von  dem  Bau 
des  menschlichen  Auges  sich  nicht  in  einer  aufsteigenden  Linie  vollzogen 
hat,  sondern  dafs  ein  erstes  Maximum  bei  Galen  im  zweiten  Jahrhundert 
nach  Chr.  Geb.  liegt,  dessen  Anschauungen  geltend  blieben,  bis  die  Wissen- 
schaft in  die  Hände  der  Araber  gerieth.  Mit  dieser  Periode  begann  im 
8.  nachchristlichen  Jahrhundert  dann  eine  rückläufige  Bewegung:  Man  machte 
selbst  keine  Zergliederungen  des  Auges  mehr,  sondern  beschränkte  sich 
darauf  die  Darstellungen  zu  wiederholen,  welche  man  bei  den  älteren  vor- 
galenischen  lateinisch-griechischen  Autoren  fand.  Das  ganze  abendländische 
Mittelalter  und  auch  der  Beginn  der  neueren  Zeit  bis  zur  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts stehen  noch  unter  dem  Einflufs  dieses  Rückschlages.  Eine  neuere, 
bessere  Erkenntnifs  der  Ophthalmo- Anatomie  wird  nun  aber  nicht  von  den 
Medicinern  herbeigeführt,  sondern  es  sind  die  Mathematiker  und  Physiker, 
die  durch  das  Studium  der  Vorgänge  beim  Sehen  auf  die  Anatomie 
des  Anges  gewiesen  werden  und  nun  hier  den  endgültigen  Umschwung 
herbeiführen,  der  dann  in  stetem  Anstieg  zu  dem  unzweifelhaft  gesicherten 
Wissen  der  Neuzeit  über  die  makroskopische  Anatomie  des  Auges  führt. 
Um  jedoch  völlig  gerecht  zu  sein,  mufs  bemerkt  werden,  dafs  anfänglich 
auch  noch  Mathematiker  und  Physiker  auf  den  falschen  Bahnen  wandelten. 
Macbolyccs  und  Baptista  Porta  waren  von  einer  richtigen  Auffassung  noch 
weit  entfernt;  erst  die  Abbildung,  welche  der  bekannte  Jesuitenpater 
ScHEiNER  in  seinem  Werke:  „Oculus"  (1621)  bringt,  „zeigt  uns  wieder  die  mit 
Messer  und  Pincette  frisch  und  fröhlich  am  Secirtisch  thätige  Anatomie", 
nachdem  Jahrhunderte  lang  vorher  alles  in  Dogmatismus  erstarrt  war. 

Während  Magnus  in  der  älteren  oben  erwähnten  Studie  (1877)  die 
antike  Ophthalmo-Anatomie  nur  insofern  berücksichtigte,  als  er  einige  aus 


424  Literaturberickt 

dem  Mittelalter  stammende  Zeichnungen  reprodacirt,  welche  die  Anschauungen 
der  Alten  darzustellen  beabsichtigen,  hat  er  in  der  neueren  jetzt  vorliegenden 
Tafelsammlung  aus  den  Beschreibungen  von  Demokrtf  von  Abdera,  Hifpo- 
KRATKS  und  Ajustoteles,  Celsus,  Rufus  und  Galen  die  Figuren  selbst 
angefertigt  und,  soviel  sich  beurtheilen  läfst,  Zeichnungen  geliefert,  die 
mit  den  Anschauungen  der  betreffenden  Autoren  übereinstimmen.  Bei 
der  auf  Galen  bezüglichen  Zeichnung  macht  Magnus  selbst  darauf  aufmerk- 
sam, daÜB  er  eigentlich  ohne  innere  Berechtigung  die  Linse  zu  groDs  ge- 
zeichnet habe,  es  sei  dieses  nur  geschehen,  „um  die  verwickelten  An- 
lagerungsverhältnisse  all  der  Häute  des  Auges  im  Corpus  ciliare,  wie  eie 
Galen  schildert,  klar  zur  Darstellung  zu  bringen''.  Dem  Referenten  will 
es  scheinen,  daDs  auch  bei  einer  der  Wirklichkeit  entsprechenden  Darstellong 
der  Linsengröüse  jene  Anlagerungsverhältnisse  sich  noch  hätten  deutlich 
machen  lassen.  Er  möchte  es  beinahe  als  ein  Unrecht  gegenüber  der  doch 
zweifellos  ungemein  scharfen  Auffassungsgabe  Galen*s  ansehen,  wenn  man 
ohne  absolut  zwingenden  Grund  etwas  Unrichtiges  in  eine  solche  Zeichnung 
hineinträgt. 

Den  Tafeln  kann  im  Interesse  der  Wiederbelebung  des  zur  Zeit  bei 
den  Naturwissenschaftlern  leider  noch  immer  sehr  wenig  regsamen 
historischen  Sinnes  eine  recht  weite  Verbreitung  gewünscht  werden.  Für 
eine,  hoffentlich  in  nicht  zu  langer  Zeit  erforderliche  zweite  Auflage 
möchten  wir  dem  Verf.  den  Wunsch  unterbreiten,  neben  anderen  Er- 
weiterungen auch  die  beiden  Tafeln  VI  und  VIII  seiner  früheren  (1877) 
Sammlung  aufzunehmen.  £s  ist  nicht  recht  ersichtlich,  weshalb  dieselben 
in  der  jetzigen  demselben  Zwecke  dienenden  erweiterten  Sammlung  fehlen. 

Arthub  König. 

■ 

F.  Best.    Uebw  die  Crreuen  der  Sehsehirfe.    Bericht  der  ophtli.  Ge8.  in  Heidd- 
herg  1900,  28,  129—135.    1901. 

—    Ueber  die  Grenze  der  Erkennbarkeit  von  UgenntorsGhieden.    Archiv  für 

Ophth.  51  (3),  453—460.    1900. 

Verf.  falst  in  kurzer  und  klarer  Darstellung  das  zusammen,  was  wir 
unter  Bestimmung  der  Sehschärfe  verstehen.  Er  unterscheidet  eine  drei- 
fache Methode: 

1.  Welche  kleinsten  Einzelobjecte  können  wir  sehen? 

2.  Unter  welchen  Bedingungen  vermögen  wir  2  kleinste  Objecte  noch 
eben  getrennt  zu  sehen? 

3.  Welche  kleinsten  Lage-  bezw.  Gröfsenunterschiede  vermögen  wir 
eben  zu  erkennen? 

Ad  1  wird  die  Berechnung  der  Zapfengröfse  aus  dem  Aubebt 'sehen 
„Physiologischen  Punkt"  als  unhaltbar  nachgewiesen.  Wir  bestimmen  mit 
Meth.  1  nur  die  Lichtunterschiedsempfindlichkeit  eines  oder  wahrscheinlich 
einer  Gruppe  von  Zapfen. 

Ad  2  wird  ausgeführt,  dafs  die  HELMHOLTz'sche  Winkelminute  der 
Eigenthümlichkeit  der  H.'schen  Berechnung  wegen  eigentlich  auf  40 — 50*' 
reducirt  werden  mufs.  Es  wird  dargelegt,  dafs  wir  nach  dieser  Methode 
nur    die  Maxi  mal  wert  he    für    die  Zapfengröfse  (bezw.  -dicke)    erhalten. 


Literaturbericht,  425 

welche  Übrigens  mit  den  anatomisch  gewonnenen  Zahlen  (4  fi)  gut  über- 
einstimmt. 

Ad  3:  Wieder  etwas  ganz  Anderes  wird  bestimmt,  wenn  wir  nach 
WÖLFiKG  2  vertical  übereinander  stehende  Linien  noniusartig  gegeneinander 
Terschieben.  Hier  benutzen  wir  die  Wahmehmbarkeit  kleinster  Lagen- 
bezw.  GröÜBenunterschiede.  Für  letztere  konnte  B.  bis  auf  einen  Winkel- 
werth  von  2,5"  herabgehen  (0,184  fi  Netzhautbild).  Er  erklärt  diese  hohe 
^Sehschärfe"  ähnlich  wie  Hering  in  seinen  „Grenzen  der  Sehschärfe**, 
worüber  schon  in  dieser  Zeitschr.  berichtet  wurde.  Die  Sehschärfe  war  für 
verticale  Striche  am  gröfsten,  für  horizontale  schon  geringer,  für  solche 
Yon  45^  Neigung  am  geringsten.  Ein  Optimum  in  den  3  Richtungen, 
welche  dem  Mosaik  der  sechseckigen  Zapfenquerschnitte  entsprechen,  liefs 
sich  also  nicht  nachweisen.  Heine  (Breslau). 

Rot.  W.  Tall3£ann.  Taste  and  Smell  in  Artides  Of  Diet.  Mit  Nachwort  von 
Hablow  Gale.    Psychol.  Studiea  hy  Qale  (1),  118—139.    1900. 

Die  vermeintlichen  Verschiedenheiten  des  Geschmacks  sind  in  Wirk- 
lichkeit fast  alle  solche  des  Geruchs;  und  aufserdem  wird  der  Geschmack- 
nim  Tom  Tastsinn  sehr  beeinflufst.  Verkleidet  man  eine  Speise  derart, 
d&CB  sie  den  Tasteindruck  einer  anderen  macht,  so  stellt  sich  meist  auch 
der  betreffende  Geschmack  ein,  wie  überhaupt  hier  Suggestion  sehr  wirk- 
sam ist.  Nach  Ausschaltung  aller  Hülfswahrnehmungen  bleiben  nur  die 
4  fundamentalen  Geschmacksrichtungen:  süfs,  sauer,  salzig,  bitter.  Die 
Fähigkeit  ihrer  Wahrnehmung  ist  ungleich ;  süfs  wird  am  leichtesten,  bitter 
am  unsichersten  unterschieden.  Auch  die  individuellen  Unterschiede  sind 
beträchtlich,  besonders  bei  süfs,  am  wenigsten  für  sauer. 

(jale  weist  in  seiner  Nachschrift  besonders  darauf  hin,  dafs  die  Lust- 
betonung von  süfs,  sauer  und  salzig,  wie  die  Unlustbetonung  von  bitter 
ans  biologischen  Principien  abzuleiten  sei.  Die  betreffende  Lustbetonung 
trete  beim  Kind  immer  erst  dann  ein,  wenn  die  entsprechende  Speise 
nützlich  sei,  zuerst  bei  süfs,  im  zweiten  Jahr  bei  salzig,  und  erst  in  der 
letzten  Hälfte  des  dritten  bei  sauer.  —  Wohlgefallen  an  bitterem,  das 
weniger  schädlich  ist,  erkläre  sich  aus  der  Gewöhnung,  so  bei  den  geistigen 
Getränken.  Ettlinger  (München). 


Ragnar  Vogt.   Ueber  Ablenkbarkeit  and  GewShnaAgsfähigkeit.    Kraepelin's 

Psychol  Arbeiten  3,  62—201.  1890. 
Um  das  Wesen  der  Ablenkbarkeit,  welche  in  vielen  Geisteskrankheiten, 
z.  B.  Manie,  Katatonie,  Erschöpfungspsychosen,  einen  sehr  hohen  Grad  an- 
nehmen kann,  in  exacter  Weise  zu  untersuchen,  stellte  Verf.,  zumeist  an 
Bich  selbst,  eine  grofse  Zahl  verschiedengestaltiger  Versuche  unter  den  in 
der  Kkaepelin 'sehen  Schule  üblichen  Rücksichten  und  Vorsichten  an.  Die 
ablenkenden  Störungen  waren  zunächst  unterbrochener  Art.  So  mufsten 
bei  den  „Auffassungsversuchen"  sinnlose  Silben,  die  auf  einer 
rotirenden  Tronraiel  mittelst  eines  3  mm  weiten  Spaltes  ins  Gesichtsfeld 
traten,  aufgefafst  und  hergesagt  werden,  während  gleichzeitig  von  den  19 
idingenden  Metronom  seh  lägen   in  der  Minute  —  jeder  zweite  Metronom- 


426  Literaturbericht. 

schlag  war  ein  Klingelschlag  —  entweder  nur  jeder  durch  eine  einätdie 
klopfende  Fingerbewegung  {A  +  H)  oder  aufserdem  noch  jeder  vierte  dorch 
eine  Doppelbewegung  {A-}-  R  -\-  G)  markirt  wurde.    Vorher  und  zwischen* 
durch  wurden  natürlich  Auffassungen  ohne  Störungen  vorgenommen.   Es 
ergab  sich  nun,  dafs  weder  R  noch  R-^  O  die  Auffassung  beeintrftchtigte, 
dafs  dagegen  die  Anzahl  der  fehlerhaften  Reactionen  bei  R-\-  G  gröÜBer 
war  als  bei  R.    Den  Grund  für  den  ungestörten  Ablauf  der  Hauptarbeit 
erblickt  Verf.  in  den  leeren  Pausen  zwischen  den  einzelnen  Silben  (331  in 
6  Min.),  in  welche  die  Markirungen  von  selbst  fielen  oder  bequem  verlegt 
werden  konnten,  so  dafs  eine  etwaige  Beeinträchtigung  der  Auffassung  bei 
dieser   Versuchsanordnung   nur   zu   einer  Verkürzung   der  Pausen  führte. 
Aber  auch  bei  einer  mehr  continuirlichen  Auffassungsarbeit,  bei 
der  in  einem  völlig  unverstandenen,   finnischen  Texte  jedes  »,  I  und  s  bei 
gleichzeitigem  Reagiren  auf  jeden  einzelnen  und  jeden  vierten  Metronom- 
schlag durchstrichen  wurde  (A  -\-  D  -}-  R  -\-  G),  ergab  sich  nur  eine  Herab- 
setzung der  Leistung  um  ca.  8%,  die  um  so  weniger  in  Betracht  kommt, 
als  sich  bereits  bei  störungsfreien  Versuchen  m  i  t  Durchstreichen  eine  Ver- 
minderung der  Leistung  um  16%,  gegenüber  solchen  o  h  n  e  Durchstreichen 
herausstellte    und    andererseits    bei   den   letzteren   mit   der   gleichzeitigen 
Nebenarbeit    R -\-  G    keine    merkliche   Beeinträchtigung    der   reinen   Auf- 
fassung sich  zeigte.    Diese  leidet  also  jedenfalls  viel  weniger  unter  einer 
Nebenarbeit    als    die   Reactionsbewegungen ,    zu    denen    auch   das   Durch- 
streichen  gehört.     Ganz   deutlich  zeigte  sich  dies  bei  den  gleichen  Ve^ 
suchen  an  einer  anderen  Person.  —  Bei  den  Additionen  ergab  sich  ein 
sehr  wesentlicher  Unterschied  zwischen  dem  fortlaufenden  Addiren  bi» 
100  ohne  Niederschreiben  der  Summen   (a-Addition)  und  dem  Addiren  je 
2  einziffriger  Zahlen   mit  jedesmaligem  Niederschreiben  der  Summen 
(6-Addition).    Dort  verursachte  R  +  G  eine  weitaus  gröfsere  Abnahme  der 
Leistung  als  hier,   wo  die  Reaction  —  auf  ungefähr  4 — 5  Additionen  kam 
immer  ein  Klingelschlag  —  in  den  leeren  Pausen  stattfand,  während  das 
nothwendige  Merken   der  Summen  die  fortlaufende  Addition  zu  einer  con- 
tinuirlichen Arbeit  machte.    Dieser  Umstand  kam  umsomehr  in  Betracht, 
als  diese  Gedächtnifsarbeit  ebenso  wie  das  Merken  der  Metronomschläge 
bei  dieser  Versuchsperson  ursprünglich  sich  in   musculär-akustischer  Art 
vollzog,  so  dafs  letzteres  auf  dem  ungewohnten,  mehr  optischen  Wege  all- 
mählich   versucht    wurde,    natürlich    auf    Kosten   der    Additionen.     Auch 
handelte  es  sich  bei  der  fortschreitenden  Addition  um  überwiegend  zwei- 
stellige Zahlen;  allerdings  fällt  dieser  Umstand,  selbst  abgesehen  von  dem 
hohen  Uebungsgrade,  schon  deshalb  nicht  sehr  ins  Gewicht,  weil  die  Ver- 
suchsperson instinktiv  das  Reagiren  wie  das  Merken  der  Klingelschläge  in 
die  Zeiten  zwischen  den  eigentlichen  Additionen  verlegte.    Wodurch  nun 
die  Abnahme  der  Leistung  beim  zifferweisen  Addiren  bedingt  war,  suchte 
Verf.  dadurch  zu   entscheiden,  dafs  er  dieses  ohne  Niederschreiben  und 
ohne  Störung  vornahm ;  auch  bestimmte  er  die  einfache  Schreibgeschwindig- 
keit.   Im  letzteren  Falle  war  natürlich  die  Leistung  am  gröfsten,   während 
sie  bei   den   Additionen   mit  Niederschreiben   der  Summen   am   kleinsten 
war,  so  dafs  auch  hier  der  störende  Einflufs  des  R  +  G  wohl  mehr  auf  die 
Reactionsbewegung ,    auf    das    Niederschreiben,    als    auf    das    eigentliche 


Literaturbericht.  427 

Addiren  kommt.  —   Neben  dem  Einflüsse  von  R-^  G  untersuchte  Verf. 
tnch  den  des  blofsen  Anhörens  der  Metronomschläge  auf  die  fortschreitende 
Addition  {Ad  -{-  M);  in  diesem  Falle  blieb  jede  Beeinträchtigung  aus,  viel- 
leicht weil  complicirtere  Nebenarbeiten  schon  vorausgegangen  waren.    Da- 
gegen seigte  sich  eine  Verminderung  der  Leistung  sowohl  beim  Reagiren 
aaf  Metronomschläge  durch  das  Niederschreiben  eines  Punktes  {Ad  -\-  B) 
als  beim  Reagiren  auf  diese  Punkte  durch  Hinzusetzen  eines  2.  Punktes 
{Ad  -|-  Bi),  als  beim  Markiren  jedes  4.  Metronomschlages  durch  ein  Kreuz 
{Ai  +  Q).    Im  letzteren  Falle  war  die  Störung  am  gröfsten  und  nur  ein 
wenig  geringer  als  bei  Ad  +  R+G,  während  zwischen  Ad-^-R  und  Ad-\-Ri 
kein  unterschied  war.    Im  Verlaufe  der  Versuche  trat  jedoch  nach  Abzug 
des  Uebungszuwachses  beim  einfachen  Addiren  eine  sehr  bedeutende  Ge- 
wöhnung an   die  Störung  ein,  die  namentlich   in  den  ersten  Tag  stark 
anstieg,  um  sich  schliefslich  in  constanter  Höhe  zu  erhalten,  und  die  durch 
Isnge    Unterbrechung    nicht   besonders    beeinträchtigt,    jedenfalls    schnell 
wiedergewonnen    wurde.     In   der  Tagescurve  zeigten  die  Störungsver- 
Buche,  dafs  ihre  höchste  Leistung  nur  in  den  letzten  Tagen  auf  die  ersten 
5  Min.  fiel,    während  bei  den  ungestörten    Additionen  die   Leistung  fast 
stets  im  Verlaufe  des  Tages  stetig  sank,  um  allerdings  selbst  durch  1  Min. 
Pause   wieder   zu   steigen.     Selbst   beim   blofsen  Anhören   der  Metronom- 
•chläge  trat  diese  Erscheinung  auf,  am  deutlichsten  aber  zeigte  sie  sich 
beim  einfachen  Registriren  derselben,  während  bei  Ad-^  G  und  Ad-\-R'{'G 
die  Ermüdung  sich  stark  geltend  machte;  diese  war  hier  gröfser,   beim 
blolsen  Anhören  oder  Markiren  der  Schläge  geringer   als  beim   einfachen 
Addiren.     Die   Uebung    endlich    wuchs    trotz    bereits    anfänglich    hohen 
.Grades  beim  einfachen  Addiren  sehr  bedeutend,  ging  jedoch  schnell  wieder 
rerioren  und  zwar  nach  kurzen  Unterbrechungen  in  nicht  viel  geringerem 
Grade  als  nach  langen,  zeigte  aber  von  Tag  zu  Tag  keine  so  grofse  Ein« 
baÜBe  wie  die  Gewöhnung.    Ziffernmäfsige  Angaben  vermochte  jedoch  Verf. 
auf  Grund  dieser  Versuche  trotz  complicirter  Berechnungen  weder  in  Be- 
zug auf  Ermüdung,  noch   auf  Uebung,  noch  auf  Gewöhnung  zu  machen. 
Daher  stellte  er  an  seiner  Frau,  die  um  den  Zweck  der  Experimente  nichts 
wufste  und  an  Störungen  nicht  gewohnt  war,  fortlaufende  Additionen  der- 
art an,  dals  sie  die  Summen  abwechselnd  motorisch  durch  halblautes 
Sprechen  und  sensorisch  als  Klangbilder  sich  merkte.    Die  Leistungs- 
abnahme   im  Verlaufe    des   1  \'t  stündigen   Arbeitens   war   allerdings   dort 
grölser  als  hier,  aber  nicht  nur  in  Folge  der  Ermüdung,  sondern  auch  da- 
durch, dafs,  wie  schon  die  Selbstbeobachtung  lehrte,  das  sensorische  Addiren 
luerst  schwieriger  fiel  als  das  motorische.     Uebrigens  nahm  auch  hier  die 
Ermüdung   mit   der  fortschreitenden   Uebung  ab;   diese   wiederum   zeigte 
keinen  Unterschied  zwischen  den  beiden  Additionsarten.    Dagegen  war  die 
i^tdrung  durch  die  Reproduction  des  Alphabets  beim  motorischen  Addiren, 
wo  die   Buchstaben  als  Gesichtsbilder  auftauchten,  gröfser  als  beim  sen- 
Borischen,   wo  die  Buchstaben  hergesagt  wurden;  auch  war  im  letzteren 
Falle  die   Zahl  der  reproducirten  Buchstaben  gröfser.     Kein  Unterschied 
zwischen    den   beiden   Additionsarten   zeigte   sich   bei   gleichzeitigem   Re- 
gistriren der  Metronomschläge   durch  Punkte.    Auch  hier  ergab  sich  also, 
dals  selbst  2  motorische  Vorgänge  sich  nicht  stören,  wenn  sie  verschiedener 


428  Literaturbericht. 

Art  sind.    Die  Gewöhnung  war  in  diesen  Versuchen  eine  schnelle,  ja  blieb 
nicht  auf  diese  beschränkt,  sondern  als  nach  ihnen  die  Additionen  mit 
Reproduction  des  Alphabets  wiederum,  nach  zwölftägiger  Unterbrechung; 
aufgenommen  wurden,   war  die  Grewöhnung  an  diese  Störongsart  unver 
ändert,  wenn  nicht  gröfser.    Ebenso  zeigte  sich,  dafs  das  Lernen  12  stellig« 
Zahlen   b^i   gleichzeitigem   Reagiren   auf  Metronomschlftge  schneller  von 
statten    ging,    nachdem   eine  Einübung  des   Addirens   bei   gleichzeitigem 
Registriren  der  Metronomschläge  oder  Reproduciren  des  Alphabets  statt- 
gefunden hatte,  als  vorher.    Ja,  am  letzten  Tage  störte  das  Reagiren  das 
Zahlenlernen  überhaupt  nicht  mehr.    Wie  die  Versuchsperson  selbst  be- 
merkte, schwand  schon  am  2.  Störungstage  überhaupt  das  lästige  Gefflbl 
der  Verdriefslichkeit  über  die  Schwierigkeit,   2  Arbeiten  zu  combiniren. 
Es  findet  also  eine  „Mit Übung"  der  einen  Arbeit  durch  die  andere  statt, 
die  natürlich  um  so  gröfser  ist,   je  ähnlicher  die  Arbeiten  sind.    Dals  nun 
bei  dieser  Versuchsperson  im  Gegensatze  zu  der  vorigen  die  Störung  dei 
Zahlenlernens  durch  das  Registriren  am  letzten  Tage  gänzlich  schwand, 
erklärt  Verf.  damit,  dafs  die  erstere  die  Zahlen  optisch,  also  mit  längeren 
Pausen,  die  letztere  dagegen  motorisch,  also  schneller  lernte ;  daher  worden 
auch  die  Zahlen  von  dieser  3  mal  so  schnell  wiederholt  als  von  jener.  — 
Die  dritte  Hauptarbeit,  deren  Beeinflussung  durch  die  Metronomschlflge 
Verf.  an  sich   untersuchte,   war  das  Lernen  12  stelliger  Reihen  tos 
Zahlen   und   sinnlosen  Silben.     Hier   ergab   bereits  das  blofse  An- 
hören der  Schläge  eine  Herabsetzung  der  Leistung  und  das  Reagiren  auf 
dieselben  sowohl  als  einfaches  R  wie  als  £  -f~  ^  ^^^^  gröfsere  als  bei  den 
Addition.    Dieses  zeigte  sich  jedoch  beim  Lernen  der  Zahlen  in  höherem 
Grade  als  bei  dem  der  Silben,  trotzdem  dafs  dieses  schwerer  war  als  jenek 
Den  Grund  findet  Verf.  in  der  Lernmethode.    Diese  war  zunächst  musculto- 
akustisch;   allmählich  aber  erlangte  bei  den  Zahlen  das  motorische,  bei   ; 
den  Silben  das  akustische  mit  seinen  längeren  Pausen  das  üebergewicht   : 
In   Folge   dieser   wechselnden   Lernweise   und   des   fortgesetzten   Suchens 
nach  der  zweckmäfsigsten  Arbeitsweise,  das  namentlich  bei  den  Zahlen 
hervortrat,   war   die   im  Verlaufe   eines  Tages   erlangte   Gewöhnung  sehr 
flüchtiger  Natur.    Auch  die  Thatsache,  dafs  der  üebungszuwachs  bei  den 
Zahlen  siebenmal  gröfser  war  als  bei  den  Silben  und  auch  die  Anzahl  der 
Wiederholungen  d.  h.  die  Schnelligkeit  des  Ablesens  bei  den  Zahlen  nicht 
nur  von  vornherein  gröfser  war,  sondern  noch  stetig  wuchs,  während  sie 
bei  den  Silben  stetig  abnahm,  ist  in  der  Lern  weise  begründet.    Mit  dieser 
hängt  es  endlich  auch  zusammen,  dafs  im  Verlaufe  des  einzelnen  Tages 
nur  bei  den  Silben  die  Leistung  wie  bei  den  Additionen  allmählich  sank, 
während  bei  den  Zahlen  die  beste  Leistung  häufig  nicht  auf  die  ersten 
5  Min.   fiel.     Dementsprechend    zeigte   auch   die   Selbstbeobachtung  beim 
Addiren  grofse  Willensanspannung  mit  starker  Muskelbewegung,  während 
beim   Zahlenlernen   dies   hinderte   und   eine   mehr   gleichmäfsige   Arbeits- 
weise, eine  Vereinigung  der  akustischen    und  motorischen  Leruweise  mit 
wachsendem  Üebergewicht  der  letzteren  nöthig  war.    Erfolgte  jedoch  das 
Lernen   unter  Störung,  dann  trat  auch  bei  den  Silben,  abgesehen  von  den 
letzten  Tagen,  eine  erhebliche  Leistungszunahme  im  Laufe  des  Tages  ein; 
aber  auch  dann  war  diese  Erscheinung  bei  den  Zahlen  ausgeprägter.    In 


Literaturbericht,  429 

Besag  auf  die  Ermüdung  zeigte  ein  Vergleich  der  letzten  Viertelstunde 
mit  der  ersten,  dafs  sie  beim  schwierigen  Lernen,  namentlich  bei  dem  der 
Zahlen,  kleiner  ist  als  beim  leichten  Addiren.  Allerdings  erfolgte,  wie  be- 
reits erwähnt,  das  Addiren  unter  grofser  Willensanstrengung;  trotzdem 
pebt  Verf.  selbst  zu,  dafs  dieses  auffällige  Resultat  den  Werth  der  ange- 
windten  Berechnungsweise  fraglich  macht.  Ebenso  läfst  sich  ein  ein- 
deutiger Einflufs  der  Störung  auf  die  nachfolgende  Normalarbeit  weder 
beim  Lernen  noch  beim  Addiren  ermitteln. 

Ununterbrochene  Störungen  suchte  Verf.  durch  das  leise  Her- 
Bftgen   Ton   wohl  eingeübten  Gedichten,   dessen  Geschwindigkeit 
besonders  bestimmt  wurde,  herbeizuführen.    Hierbei  kam  auch  in  Wegfall 
die  Einübung  der  störenden  Arbeit  ebenso  wie  die  Hauptarbeiten  bereits 
gDt  eingeübt   waren.    Aus   all    diesen  Gründen  ist  eine  Gewöhnung  hier 
uugeschlossen.     Die   Hersagegeschwindigkeit    war    bei    der   zifferweisen 
Addition  die  nämliche  wie  bei  der  fortschreitenden  und  betrug  in  beiden 
AUen  40^/0  der  normalen,  wobei  jedoch  zu  berücksichtigen  ist,  dafs  die 
Versuchsperson  der  Vergleichbarkeit  wegen  absichtlich  in  beiden  Additions- 
irten  die  nämliche  Geschwindigkeit  innezuhalten  sich  bemühte.    In  Bezug 
mf  die  Leistung  wies  dagegen  das  zifferweise  Addiren  mit   den   optisch 
gegebenen  Summanden  und   niederzuschreibenden  Summen  keinerlei  Be- 
einflussung, das  fortlaufende  Addiren  eine  sehr  bedeutende  Beeinträchtigung 
auf.    Denn   hier  waren  Haupt-  und  Nebenarbeit  normalerweise  musculär- 
akustischer  Art,  also  sehr  ähnliche  Vorgänge,  so  dafs  sich  das  ungewohnte, 
zu  hohen  Spannungsempfindungen  in  den  Augen  führende  Streben  geltend 
machte,   die  Summen   optisch   zu   merken.    Noch  störender  wirkte  dieser 
mühsame  Ausweg  auf  das  Zahlenlernen.    Da  aber  hier  das  optische  Ein- 
prägen   vollständig   gelang,   so   zeigte   sich   das  Hersagen    weniger   beein- 
trächtigt als  beim  Addiren.  —  Wurde  ein  Gedicht  leise  hergesagt,  während 
ein  anderes  niedergeschrieben  wurde,   und   in  Parallelversuchen  die  Ge- 
schwindigkeit beider  gesonderter  Thätigkeiten  bestimmt,  dann  zeigte  sich 
d*8  Schreiben  weniger  beeinflufst  als  das  Hersagen,  weil,  wie  Verf.  meint, 
jenes  mehr  unbewufst  sich  vollzieht  und  ein  flüchtiges  unklares  Sprech- 
Uangbild  oder  optisches  Bild  der  zu  schreibenden  Zeile  ausreicht,  um  das 
langwierige   Niederschreiben    derselben    auszulösen.      Der    Gewöhnungszu- 
▼achs  war  beim  Niederschreiben  gröfser  als  beim  Hersagen  und  in  beiden 
Fällen    bedeutender   als  der   Uebungszu wachs.   —  Die  Vereinigung  von  2 
noch  mechanischeren  Vorgängen,  das  Niederschreiben  des  Alpha- 
bets während  des  Zählens  von  200  ab  ergab  nur  eine  Herabsetzung 
des  Schreibens   und  auch  diese  nur  in  den  ersten  Tagen;  dagegen  gelang 
es  nicht  Zahlen  und  Buchstaben  gleichzeitig  als  Sprechklangbilder  zu  re- 
produciren;  wurden  die  Buchstaben  nicht  niedergeschrieben,  dann  wurden 
aie  als   optische  Schriftbilder   reproducirt,  und  zwar  in   10  mal  so  langer 
Zeit  als  für  das  einfache  Aussprechen  erforderlich  ist. 

Eine  dritte  Störungweise  war  dadurch  charakterisirt,  dafs  wie  im  ge- 
wöhnlichen Leben  die  Möglichkeit  vorhanden  war,  die  Störung  zu  um- 
gehen. Es  wurden  daher  bestimmte  Buchstaben  beim  Durchlesen  eines 
deutschen  und  eines  völlig  unbekannten,  flnnischen  Textes  durchstrichen. 
Auf  diese  Weise  glaubte  Verf.  die  Empfänglichkeit  für  eine  Störung 


430  Literaturbericht 

im  Unterschiede  von  der  Sammlungsfähigkeit  zu  bestimmen.    Wurde 
nun  nur  jedes  n  durchstrichen,  dann  war  die  Zahl  der  übersehenen  n  im 
sinnvollen  Texte  wohl  etwas  gröfser  als  im  sinnlosen,  aber  auch  dort  sehr 
gering.    Selbst  als  jedes  Z,  n  und  8  bezw.  jedes  l,  n,  o,  8  und  v  zu  durch- 
streichen war,  war  nur  die  Fehlerzahl  anfangs  im  deutschen  Texte  merklich 
gröfser,  um  zuletzt  ebenfalls  nur  7«%  zu  betragen.    Erst  als  jedes  2.  n  und 
8  durchstrichen  wurde,  ergab  die  Zahl  der  durchstrichenen  wie  der  durch- 
suchten Buchstaben  eine  quantitative  Herabsetzung  im  deutschen  Texte; 
noch  deutlicher  trat  diese  bei  der  Dnrchstreichung  jedes  2.  l,  n  und  8  her- 
vor.   Um  nun  das  Verhältnifs  von  Empfänglichkeit  und  Sammlungsfilhig- 
keit  zu  einander  zu  bestimmen,  wäre  es  nunmehr  erforderlich,  die  letit- 
genannte  Arbeit  bei  sinnlosem  Texte  während  verschiedener  Störungen  la 
untersuchen.    Vorher  jedoch    wäre  noch  nöthig,  das  obige  ErgebniTs  bei 
2  Texten  nachzuprüfen,  in  denen  das  Verhältnifs  der  zu  durchstreichenden 
Buchstaben   zu   allen   vorhandenen   das   nämliche   ist.     Auch   weist  VerL 
darauf  hin,  dafs  dieses  Ergebnifs  wenigstens  theilweise  vielleicht  dadurch 
bedingt  ist,  dafs  man  den  sinnvollen  Text  mehr  in  Form  von  Wörtern  als 
Buchstaben   auffafst,   so   dafs   es   rathsam   wäre   an  Stelle   des  sinnvollen 
Textes  zusammenhangslose  Reihen  einzelner  muttersprachlicher  Wörter  zn 
gebrauchen. 

Endlich  stellte  Verf.  noch  Versuchsgruppen  unter  pathologischen 
Bedingungen  an.  In  der  einen  wurde  das  zifferweise  Addiren  während 
gleichzeitigen  Anhörens  oder  einfachen  Registrirens  der  Metronomschläge 
bei  einem  Paralytiker  und  Epileptiker  untersucht;  nur  der  letztere^ 
der  sehr  gewissenhaft  und  langsam  arbeitete,  zeigte  eine  beträchtliche  , 
Herabminderung  der  Leistung;  aber  der  Paralytiker  markirte  nur  in  den 
Pausen  und  vernachlässigte  Vs  der  Schläge.  —  In  der  2.  Gruppe  wurde  der 
Einflufs  von  30  gr  Alkohol  untersucht.  Nur  die  einfache  fortschreitende 
Addition  erwies  sich  etwas  beeinträchtigt.  Wurden  gleichzeitig  Metronom- 
schlage  angehört,  so  ergab  sich  gar  keine  Störung  und  wurden  sie  durch 
R  oder  E  +  G  markirt,  so  zeigte  sich  sogar  eine  geringe  Förderung  im 
Vergleiche  mit  den  nämlichen  Versuchen  ohne  vorherigen  Alkoholgenuft, 
offenbar  in  Folge  der  erleichterten  Auslösung  von  Bewegungsvorgftngen 
nach  letzterem;  Versuche  mit  Durchstreichung  jedes  2.  l,  n  und  8  in  sinn- 
vollem und  sinnlosem  Texte  unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols  führten  m 
keinem  brauchbaren  Ergebnisse. 

Diese  Angaben,    welche   den   wesentlichsten  Inhalt  der  vorliegenden 
Arbeit  enthalten,  dürften  bereits  zur  Genüge  zeigen,  dafs  wir  es  hier  mit 
einer  sowohl  in  den  Versuchsbedingungen   wie  in  der  Verwerthung  der 
gewonnen  Resultate  sehr  sorgfältigen  und  wohldurchdachten  Untersuchung 
zu  thun  haben.    Man  kann  dem  Verf.  nur  beistimmen,  wenn  er  seine  Aus- 
führungen mit  den  Bemerkungen  schliefst:    „Zum  Schlüsse  ist  zu  betonen, 
dafs   die   StörungHversuche   uns   tiefe  Einblicke    in    die   natürliche  Veran- 
lagung der  Versuchspersonen  gestatten.    Bei  der  entschieden  grofsen  Be- 
deutung der  Arbeitsweise  für  die  Ausgleichung  von  bestimmten  Störungen 
werden  wir  in  der  Verbindung  verschiedenartiger  Haupt-  und  Nebenarbeiten 
ein  Mittel  besitzen,  um  theils  aus  der  Gröfse  der  stattfindenden  Ablenkung, 
theiis  aus  der  Schnelligkeit  und  aus  dem  Umfange  der  eintretenden  Ge- 


L%teraturbet*icht.  431 

wöhnang  Schlüsse  auf  die  besondere  Art  zu  ziehen,  mit  welcher  der  Ein- 
zelne die  verschiedenen  Hülfsmittel  des  optischen,  akustischen  oder  psycho- 
motorischen Gebietes  zur  Lösung  der  gestellten  Aufgaben  gewohnheits- 
mäOsig  verwendet.  Niemand  aber  wird  bezweifeln,  dafs  ohne  tieferen  Ein- 
blick in  diese  persönlichen  Arbeitsbedingungen,  in  die  Eigenart  der  Ver- 
anlagung, ein  grofser  Theil  der  Versuche  unverständlich  bleiben  mufs, 
durch  die  wir  Aufschlüsse  über  das  entwickelte  Getriebe  unseres  Seelen- 
lebens erhoffen"  (S.  198).  Um  so  bedauerlicher  aber  ist  es,  dafs  Verf.  die 
Versuche  zum  weitaus  gröfsten  Theile  nur  an  sich  anstellte.  Denn  ab- 
gesehen von  der  Einbufse  an  Allgemeingültigkeit,  welche  die  Resultate 
hierdurch  erleiden  —  Verf.  selbst  betont  ja  wiederholt  die  Eigenart 
seiner  Arbeits-  und  Lemweise  —  hört  das  Verfahren  dadurch  auf,  ein  u  n  - 
wissentliches  zu  sein.  Hierzu  kommt  noch,  dafs  die  Resultate  zuweilen 
aus  einer  zu  geringen  Anzahl  von  Versuchen  gewonnen  sind.  Wurden 
doch  manche  Versuchsarten  nur  an  1  oder  2  Tagen  angestellt,  z.  B.  das 
Hersagen  von  Gedichten  beim  Addiren  und  beim  Zahlenlemen.  Auch  das 
nöthige  üebungsstadium  war  noch  nicht  erreicht;  steigt  doch  selbst 
eine  so  alltägliche  Thätigkeit,  wie  das  einfache  Addiren  noch  innerhalb 
von  ca.  2  Monaten  von  1007  Aufgaben  bis  zu  3568.  —  Das  gegenseitige 
Verhältnifs  von  üebung  und  Gewöhnung  ist  nicht  genügend  scharf  heraus- 
gearbeitet, vielmehr  sind  beide  Erscheinungen  so  unabhängig  von  einander 
behandelt,  als  ob  sie  in  keinerlei  verwandtschaftlicher  Beziehung  zu  ein- 
ander ständen.  Bei  beiden  wurde  femer  der  Unterschied  zwischen  der 
vorübergehenden  Tagesübnng  oder  —  Gewöhnung  und  der  dauernden 
Uebung  oder  Gewöhnung  nicht  ausreichend  beachtet,  obgleich  dort  ganz 
andere  psychologische  Faktoren  in  Betracht  kommen  als  hier.  Auch  sonst 
stellt  Verf.  häufig  Behauptungen  über  die  Wirkungsweise  der  Uebung  an, 
die  nicht  frei  von  Bedenken  sind.  So  nimmt  er  an,  dafs  „der  Uebungszu- 
wachs  während  der  Störungsarbeit,  wo  viel  langsamer  addirt  worden  ist, 
kleiner  gewesen  ist,  als  während  der  Normalarbeit*^.  Das  scheint  mir  gar 
nicht  so  „natürlich*^.  Zum  mindesten  denkbar  ist  es,  dafs  man  durch  lang- 
sames Arbeiten  mehr  eine  Fertigkeit  erlangt  als  durch  schnelles.  Im 
Ganzen  verfährt  Verf.  bei  der  Berechnung  der  Uebung  wie  auch  der  Er- 
müdung und  Gewöhnung  viel  zu  constructiv  und  mathematisch-deductiv. 
Daher  auch  die  sonderbaren  und  widerspruchsvollen  Ergebnisse,  zu  denen 
er  gelangt,  und  das  schliefnliche  eigene  Zugeständnifs,  dafs  die  angewandte 
Berechnungsweise  zu  keinem  sicheren  Urtheil  z.  B.  über  die  Ermüdungs- 
erscheinungen führt.  Endlich  noch  einige  Kleinigkeiten.  Aus  den 
Tabellen  über  die  AuffasHungsversuche  an  der  Kymographiontrommel 
scheint  mir  hervorzugehen,  dafs  die  Verlesungen  zunehmen,  wenn  die 
Markirungsfehler  abnehmen.  Von  Interesse  wäre  es,  wenn  die  Art  und 
Weise  angegeben  wäre,  wie  die  AuffasHung  der  Buchstaben  Z,  n  und  « 
controlirt  wurde,  t«obald  sie  nicht  durchstrichen  wurden ;  ebenso  hören  wir 
nicht,  wie  die  zifferweisen  Additionen  geprüft  wurden,  wenn  die  »Summen 
nicht  niedergeschrieben  wurden.  Ganz  unerfindlich  ist  mir,  wie  Verf.  auf 
S.  156  je  6  Werthe  für  die  m-  und  «Tage  erhält,  obgleich  es  nur  je  4  Tage 
giebt,  an  denen  das  reine  m-  und  «-Addiren  nur  während  der  dritten  halben 
Stunden  vorgenommen   wurde.  —  Auf  S.  107  mufs  es  für   100 :  G6,2  l>ezw. 


1 


432  Liter  aturbericht. 

100  :  64,4  heifsen  66,2  :  100  bezw.  64,4  :  100.  Endlich  wäre  es  rathsam  m 
yermeiden,  dafs  R  -{-  Q  bei  den  Auffassungsversuchen  eine  etwas  anders 
geartete  Störung  bedeutet,  als  bei  den  Additionen. 

Abthur  Wbeschneb  (Zürich). 


Jacopo  Finzi.    Zar  Untenachnng  der  Anffftssangsfähigkeit  amd  ■erklihigkett 

Kraepelin's  Psychol.  Arbeiten  3,  289—384.    1900. 

Die  bisherigen  Gedächtnifsuntersuchungen,  wie  z.  B.  die  an  Geistes- 
kranken constatirten  nur  den  vorhandenen  Besitzstand  von  Erinnerungen 
ohne  Rücksicht  auf  die  überhaupt  erworbenen  und  die  noch  zu  erwerbenden 
Kenntnisse,  oder  sie  sind  für  die  klinische  Beobachtung  zu  complicirt  wie 
z.  B.  die  von  Ebbinghaus  ausgeführten,  oder  sie  sind  zu  oberflächlich  nnd 
unsicher  wie  die  nach  der  Methode  der  „mental  tests."     Verf.  wandte  da- 
her ein  neues  Verfahren  an,  um  die  Auffassungsfähigkeit  und  Merk&hig- 
keit,   letztere   im   Sinne  Wernickes   als   die   Fähigkeit   „willkürlicher  Ein- 
prägung   und  Beherrschung  dargebotener  Eindrücke   und   Vorstellungen," 
also  als  Maafs  der  augenblicklichen  Leistungsfähigkeit  des  Gedächtnisses 
gegenüber  frischen  Eindrücken  zu  untersuchen.    Er  bot  nämlich  Buchstaben 
(im  grofsen  lateinischen  Alphabet),  Zahlen  und  Sbuchstabige  sinnlose  Silben 
(aus  dem  kleinen  lateinischen  Alphabet),  die  auf  durchsichtigem  Papier  mit      ■ 
der  Schreibmaschine  gedruckt  waren,  vermittelst  eines  eigens,  nach  dem  Vor-     ^ 
bilde  des  Schufsmyographions  construirten,  näher  beschriebenen  Apparates      ■ 
als  Gesichts  reize  bei  durchscheinendem  Lichte  dar.    Die  Lichtquelle  war      : 
ein  Auerbrenner.    Die  Anzahl  der  Beize,  die  so  geordnet  waren,  dafs  ent«      j 
weder  je  1  oder  je  2  oder  je  3  unter  einander  standen,  wechselte;  jeder      j 
Punkt  des  Reizes  war  16,76  a  sichtbar.    Die  Gesanamtzahl  der  Auffassungs-  ^  7 
versuche  war  2630,  die  der  Merkversuche  7080 ;  sie  wurden  an  12  akademisch      ■ 
gebildeten  Personen  zwischen  20  und  35  Jahren  unter  den  üblichen  Cautelen 
gewonnen,  aber  nicht  an  allen  in  gleicher  Zahl. 

Die  Auffassungsversuche,  bei  denen  die  Kärtchen  mit  9  Buch- 
staben zur  Anwendung  kamen   und   das  Gesehene   sofort  laut  hergesagt 
wurde,  mit  gleichzeitiger  Bezeichnung  der  Stelle  auf  einem  Quadrat  mit 
9  leeren  Abtheilungeu,  ergaben,  dafs  im  Gesammtdurchschnitte  von  allen 
Personen  2  Va  Buchstaben  richtig  und  3  überhaupt  genannt  wurden.   Die 
Irrthtimer  schwanken  in  ihrer  Anzahl  je  nach  der  Versuchsperson  und  be- 
standen  in  Verstellungen  und  Verkennungen  d.  h.  Buchstaben,   die  sich 
überhaupt  nicht  in  der  Vorlage  fanden;  die  Zahl  der  letzteren  ist  durch- 
gängig die  gröfsere.    Gleiche  Versuche  mit  4  und  6  Buchstaben  zeigten, 
dafs  die  richtigen  Angaben  im  Procentsatz  zur  Zahl  der  dargebotenen  Reize 

stets  und  im  absoluten  Werthe  mehrfach  mit  der  Zahl  der  Reize  abnimmt ; 

* 

dagegen  bleibt  die  Zahl  der  überhaupt  wiedergegebenen  Buchstaben  un- 
beeinflufst  von  der  Reizzahl;  es  wächst  also  mit  dieser  vor  allem  die 
Fehlerzahl,  namentlich  die  der  Verstellungen,  wozu  ja  auch  die  Möglichkeit 
steigt;  nur  ist  die  Fehlerzahl  bei  9  Buchstaben  geringer  als  bei  6,  weil 
jene  weitaus  am  häufigsten  vorkamen  und  wie  die  4  Buchstaben  in  einem 
Quadrat,  die  6  Buchstaben  dagegen  in  einer  senkrechten  Säule  angeordnet 
waren.    Ein  Vergleich  der  Buchstaben  und  Zahlen,  die  zu  je  6  dargeboten 


Literaturbericht  433 

wurden,  ergiebt»  dals  im  Grsnzen  von  jenen  mehr  genannt  wurden  als  von 
diesen,  daÜB  aber  die  Zahlen  mehr  richtige  Angaben  liefern;  es  giebt  eben 
mehr  Buchstaben  als  Zahlen  und  die  Möglichkeit  der  Verlesungen  ist  dort 
gröÜBer  als  hier.  Bei  Versuchen  mit  je  2  Silben,  so  dafs  Beagent  wufste, 
dafs  er  es  mit  Silben  ku  thun  hatte,  war  die  Anzahl  der  aufgefalsten  Buch- 
ftaben  grOfser  als  selbst  bei  4  einzelnen  Buchstaben,  jedenfalls  weil  diese 
im  grofsen,  jene  im  kleinen  Alphabet  und  mit  der  Möglichkeit  der  Silben- 
bildang  gedruckt  waren;  immerhin  aber  erkannte  keine  Person  im  Durch- 
schnitt eine  volle  Silbe  richtig;  die  Fehler  waren  hier  fast  nur  Ver- 
kennungen. Die  Reizstelle,  bei  den  Versuchen  mit  9  Buchstaben  bestimmt, 
leigte  sich  bei  den  verschiedenen  Personen  von  verschiedenem  Einflüsse; 
lameist  wurden  allerdings,  in  Folge  des  gewöhnlichen  Lesens,  die  3  obersten 
Bachstaben,  zuweilen  auch  unter  Bevorzugung  der  links  stehenden,  am 
besten  gelesen;  nicht  selten  aber  auch  war  der  Gesammteindruck  mit  Be- 
Torzugung  bald  dieses,  bald  jenes  Feldes  mafsgebend;  jedenfalls  traten 
diese  individuellen  Differenzen  deutlicher  an  den  richtig  erkannten,  als  an 
den  überhaupt  aufgefafsten  Buchstaben  hervor.  Auch  die  Form  der  Buch- 
stiben,  unabhängig  von  der  Stellung,  war  nicht  gleichgültig :  L,  M  und  8 
Würden  am  häufigsten  genannt,  gleich  nach  ihnen  kamen  C,  H  und  Z;  aber 
Aach  hier  giebt  es  persönliche  Liebhabereien;  im  Gegensatz  zur  Stellung 
zeigt  sich  jedoch  die  Form  von  gröfserem  Einflüsse  bei  den  überhaupt  ge- 
nannten, als  bei  den  richtig  angegebenen  Buchstaben;  war  ja  doch  der 
Seagent  bei  den  letzteren  mehr  durch  das  Gregebene  gebunden.  Berechnet 
mtn  daher  die  durchschnittliche  Häufigkeit  der  Verkennungen,  so  erhält 
man  einen  Einblick  in  die  Lesbarkeit,  die  natürlich  bedeutende  per- 
sönliche Differenzen  zeigt.  Die  Ursache  der  Verkennungen  liegt  zumeist 
in  der  Formähnlichkeit  {L  und  J,  V  und  Y,  W  und  M,  C  und  0) ;  im 
Ganzen  ist  der  Vorgang  der  Falschlesung  sehr  verwickelt,  so  dafs  der  Unter- 
«chied  zwischen  Verkennungen  und  Verstellungen  sehr  schwierig  ist  und 
letztere  nur  20  mal  überhaupt  mit  Sicherheit  zu  constatiren  waren.  Hierzu 
tritt  noch  der  sehr  erhebliche  Einflufs  früherer  Eindrücke.  Einmal  er- 
kannte Buchstaben  werden  bei  Wiederkehr  derselben  Karte  leichter  auf- 
gefafst,  oft  in  ihrer  Gesammtheit,  oft  auch  nur  theilweise,  die  anderen 
dann  durch  Association  reproducirend.  Trotzdem  zeigte  sich  die  That- 
sache,  dafs  unter  den  9  Buchstaben  immer  3,53  von  der  letzten  und  3,68 
von  der  vorletzten  Elarte  wiederkehrten,  zumeist  sogar  von  ungünstigem 
Einflüsse  und  zwar  die  letzte  Karte  in  höherem  Grade  als  die  vorletzte ;  aller- 
dings ist  bei  dieser  Berechnung  die  Lesbarkeit  und  Stellung  unbeachtet 
^blieben.  Jedenfalls  zeigt  eine  Berücksichtigung  nur  der  in  der  letzten 
und  vorletzten  Karte  erkannten  Buchstaben  einen  unterstützenden  Ein- 
fluls,  und  zwar  dort  mehr  als  hier.  Allerdings  stellten  sich  hierdurch  oft 
auch  Fälschungen  ein,  namentlich  durch  die  vorletzte  Karte,  aber  in 
gleichem  Grade  durch  die  genannten,  wie  durch  die  nicht  genannten  Buch- 
staben. 

Bei  den  Merkversuchen  mit  2,  4,  8,  15  und  30  See.  zum  Theil  auch 
2  und  5  Min.  Zwischenzeiten  von  Darbietung  bis  Wiedergabe  des  Reizes, 
während  deren  Beagent  stumm  und  unbeweglich,  die  Augen  dauernd  auf 
Zeitschrift  tai  Psychologie  26.  28 


434  LiteraturberichL 

die  Reizstelle  gerichtet,  dasafs,  stieg  die  Zahl  der  Angaben  überhaupt  wie 
auch   der   Fehler,    der   Verkennungen    wie   der  Verstellungen,  mit  dem 
Intervall   an;  beide  Werthe  sind  bei  2  See.   bereits  gröCser  als  bei  dea 
blofsen  Auffassungen ;  auch  die  Zahl  der  richtigen  Angaben  ist  dort  gröÜBer 
als  hier,  bei  etwa  4  See.  aber  am  gröfsten.     Der  Einflols  von  Stellaag, 
Form  und  Lesbarkeit  war  hier  der  nämliche  wie  bei  den  Auffassungen, 
nur  scheinen  D,  G  und  E  in  der  Erinnerung  besonders  bevorzugt,  L,  C, 
M  und  Z  besonders  vernachlässigt  zu  werden,  offenbar  in  Folge  unberechen- 
barer    persönlicher    Eigenthümlichkeiten.      Einzelne    Buchstabengmppen 
blieben  bewufst  oder  unbewufst  besonders  leicht  im  Gedächtnils  haften, 
so  dafs  sie  bei  Wiederholung  der  Kärtchen  richtig  erkannt  wurden :  an  sie 
gliederten    sich   dann   nach   und   nach   andere   Buchstaben   dauernd  oder 
vorübergehend  an.     Einige  Kärtchen   wurden   in  dieser  Weise  von  allen 
Personen  bevorzugt,   entweder  weil  in  ihnen  die  nämlichen  Buchstaben, 
zuweilen  sogar  an  den  gleichen  Stellen  relativ  häufig  wiederkehrten  oder 
weil  der  Reichthum  an  Vocalen  zur  Silbenbildung  führte.    Die  Anzahl  der 
sich  festsetzenden  Gruppen  wächst  natürlich  mit  der  der  Wiederholungen, 
jedoch  wechselt  die  Schnelligkeit,  in  der  dies  geschieht,  je  nach  den  Per- 
sonen.   Die  Bevorzugung  gewisser  Stellen   ist  dabei   nicht   immer  maaüs- 
gebend,  sondern  zuweilen  auch  sprachliche  Anknüpfung,  namentlich  wenn 
nur   ein   Theil   der   Gruppe   deutlich   aufgefafst   worden  war.     Auf  diese 
Weise    stellte    sich    auch    oft   eine   fehlerhafte   Bereicherung    der   Wahr- 
nehmungen oder  Einprägungen  ein.    Die  vorletzte,  noch  mehr  die  letzte 
Karte  zeigte  sich  von  merklichem  Einflüsse,  und  zwar  nicht  nur  in  Bezug 
auf  die  Auffassung,  sondern  auch  in  Bezug  auf  die  Einprägung  für  sich. 
Allerdings  wirkt  dieser  Einflufs  oft  im  Sinne  einer  Verfälschung,  der  der 
vorletzten   Karte   bei  Auffassung   und  Einprägung   gleich   stark,   der  der 
letzten  hier  stärker  als  dort;  im  Ganzen  führte  er  in  Vs  ^^^  Fälle  irre.    Er 
ist  femer  gröfser  in  den  genannten  als  in  den  nicht  genannten,  und  bei 
den  letzteren  wiederum  absolut  wie  relativ  genommen  bedeutender  durch 
die  letzte  als  durch  die  vorletzte  Karte.    Der  Zwischenzeit  nach  wächst  er 
bei  beiden  Karten  für  die  richtigen  wie  für  die  Einprägungen  überhaupt 
bis   zu   8  See,   um  dann  deutlich  abzunehmen;   er  ist  also  nicht  bedingt 
durch  das  Hineinfallen  des  neuen  Reizes  in  das  allmähliche  Schwinden 
des  alten  sondern  durch  die  einige  Zeit  benöthigende  Neuerregung  der  be- 
reits versunkenen  Erinnerungsbilder  auf  associativem  W^ege.    Die  Anzahl 
der  Buchstaben  erwies    sich    bei    einem   mit   lautem  Zählen   ausgefüllten 
Intervall   von  30  See.  ohne  Einflufs  auf  die  absolute  Zahl  der  richtigen 
Einprägungen;    das    Zählen    verminderte    die   Leistung    den    Auffassungs- 
wie  einfachen  Merkversuchen  gegenüber  und  vermehrte  die  Fehler,  nament- 
lich die  Verstellungen.    Zahlen  werden  durchweg  schlechter  eingeprägt  als 
aufgefafst,  sowohl  in  Hinsicht  auf  die  Einprägungen  überhaupt  wie  auf  die 
richtigen   insbesondere;   dagegen   weisen  sie  weniger  Fehler  auf  wie  die 
Buchstaben.    In   sinnlosen  Silben   wurden  so  viele  Buchstaben  eingeprägt 
wie  aufgefafst,  dagegen  war  die  Fehlerzahl  dort  gröfser;  im  Ganzen  war 
diese  Einprägung  leichter  als  die  einzelner  Buchstaben;  trotzdem  wurde 
nie   eine  Silbe   richtig  eingeprägt,   namentlich   in  Folge   theil  weiser  Um- 
wandlungen.   Die   Art  des  Einprägens  wurde  bei  einem  Interwall  derart 


Literaturbericht,  435 

nntersacht,  dafs  die  eingeprägten  Buchstaben  am  Ende  des  Intervalls 
Biedergeschrieben  oder  hergesagt  oder  anf  einem  Alphabet  gezeigt  oder 
■ofort  hergesagt  und  nach  15  See.  wiederholt  oder  sofort  niedergeschrieben 
und  nach  15  See.  ausgesprochen  wurden.  £s  ergab  in  Hinsicht  auf  die 
liehügen  Einprägungen  wie  auf  die  Fehler  das  Niederschreiben  nach  dem 
Intervall  ein  besseres  Besultat  als  das  Aussprechen ;  auch  das  unmittelbare 
Aussprechen  wirkte  in  beiden  Hinsichten,  wenn  auch  in  geringerem  Grade, 
fOfderlichy  während  bei  dem  unmittelbaren  Niederschreiben  dies  nicht  der 
Fall  war.  Das  mehr  optische  Verfahren  scheint  besonders  zu  Verstellungen, 
das  sprachliche  zu  Verwechslungen  zu  führen.  Das  Zeigen  auf  dem 
Alphabet  lieferte  kein  eindeutiges  Ergebnifs;  übrigens  zeigten  auch  die 
anderen  Arten  der  Einprägung  individuelle  Differenzen. 

Ablenkungen  durch  Addiren  oder  Lesen  oder  lautes  Zählen  oder 
dorch  einen  neuen  Auffassungsversuch  nach  15  See.  bei  Versuchen  mit 
9  Buchstaben  und  30  See.  Intervall  bedingten  eine  bedeutende  Herab^ 
setsang  der  richtigen  Angaben;  am  stärksten  störte  das  Addiren«  während 
die  übrigen  Arten  deutliche  persönliche  Unterschiede  aufwiesen.  Das 
lAote  Zählen  störte  weniger,  wenn  es  bereits  vor  dem  Versuche  einsetzte. 
Die  Fehler  waren  gegenüber  den  Auffassungen  vermehrt,  aber  nicht  gegen- 
Ober  den  einfachen  Merkversuchen  bei  30  See.  Intervall. 

Die  subjeetive  Sicherheit  wurde  durch  1  Va  stündiges  Auffassen 
und  Merken  mit  mehreren  Zwischenzeiten  theilweise  auch  mit  Ablenkungen 
durch  Zählen  oder  Lesen  während  3  Tage  untersucht ;  sie  war  am  gröfsten 
mmittelbar  nach  dem  Auffassen,  um  dann  mit  Zunahme  des  Intervalls  zu 
sinken;  das  gleiche  gilt  von  ihrer  Bichtigkeit.  Wie  das  Wachsen  des 
Intervalls  wirkte  auch  die  Ablenkung.  Unter  den  unsicheren  Angaben 
waren  '/^  richtig;  der  Einflufs  der  Länge  der  Zwischenzeit  ist  hier  mehr 
persönlichen  Differenzen  ausgesetzt. 

Die  Uebung  während  4  Tage  erstreckte  sich  bei  der  einen  Versuchs- 
person mehr  auf  den  Umfang,  bei  der  anderen  mehr  auf  die  Güte  der  Auf- 
itssangen  und  führte  so  zu  einer  allmähligen  Verwischung  der  anfänglichen 
Unterschiede;  insgesammt  aber  steigert  sie  mehr  die  Zuverlässigkeit  als 
den  Umfang;   bei  den  Merkversuchen  erhöhte  sie  die  Richtigkeit  mehr, 
den  Umfang  weniger  als  bei  den  Auffassungen.    Die  Gewöhnung  an  die 
Störung  erfolgte  bald  schnell,  bald  langsam,  und  zwar  ohne  Beziehung  zur 
Grölse  der  Ablenkung;  wo  sie  eintrat,  pflegte  sie  die  Richtigkeit  mehr  als 
die  Zahl  zu   heben.    Ermüdungserscheinungen  traten  in  Folge  der 
Tielen  Pausen   kaum  ein;  waren  sie  vorhanden,  dann  führten  sie  bei  dem 
einen   zur   Einschränkung   des    Umfangs,    bei    dem    anderen    zu    der   der 
Richtigkeit.    Ein  Antrieb  machte  sich  nur  bei  einzelnen  und  dann  nur 
bei  den  richtigen  Angaben  geltend.    Was  die   sonstigen  persönlichen 
Verschiedenheiten  anlangt,  so  geht  ihnen  Verf.  sehr  eingehend  nach, 
ohne  jedoch  zu  besonders  gesicherten  Ergebnissen  zu  gelangen  als  zu  dem, 
dafs   selbst    bei   so   einfachen    Vorgängen    die    persönliche   Eigenart    sehr 
mannigfaltig  ist.    Höchstens  wäre  noch  erwähnenswerth,  dafs  der  Umfang 
der  Auffassung  wie  der  Einprägung  bei  den  3  Frauen  am  kleinsten  war, 
während  die  Zuverlässigkeit  relativ  gröfser  war;  die  Uebungsfähigkeit  war 

2H» 


1 
.J 


436  Literaiwrhericht 

bei   ihnen   gering,   die  Ermüdbarkeit   grofs;  die  Einpr&gung  erfolgte  bei 
ihnen  vornehmlich  visuell. 

So  gewissenhaft  und  sorgfältig  auch  die  vorliegende  Arbeit  ist,  so 
wenig  dürfte  sie  das  letzte  Wort  über  dieses  Thema  sein.    Ihr  wichtigstes 
Ergebnifs  scheint  mir  der  Einblick  in  die  aufserordentliche  Complicirtheit 
dieser  scheinbar  einfachen  Vorgänge  zu  sein.    Auch  muls  man  dem  Verf. 
unbedingt  zugeben,  dafs  sein  Verfahren  sich  als  fruchtbar  und  leicht  aus- 
führbar erwiesen  hat  und  dafs  „eine  Fortsetzung  derartiger  Untersuchnngen 
uns  ein  brauchbares  Werkzeug  zur  genaueren  Zergliederung  bisher  nur  in 
ihren   gröbsten  Umrissen  bekannter  Störungen   liefern   und  damit  unser 
Verständnifs  krankhafter  Seelenzustände  wesentlich  zu  fördern  im  Stande 
«ein  wird."    Trotzdem  wird  es  mancherlei  Verbessungen  unterzogen  werdei\ 
müssen.    Namentlich  erscheint  mir  die  durch  die  geringe  Zahl  der  Buch- 
staben wie  Ziffern  bedingte  Wiederkehr  der  nämlichen  Beize  höchst  be- 
denklich ;  jedenfalls  muijB  die  Wiederkehr  der  nämlichen  Gonstellation  der- 
selben Beize,  obenein  noch  an  denselben  Stellen  unter  allen  Umständen 
vermieden   werden.     Nicht  genügend  berücksichtigt  ist  der  Einflafs  des 
Aussprechens  der  aufgefafsten   oder  gemerkten  Beize  auf  die  Leistung. 
Bei  dem  Vergleich  zwischen  Auffassungen   und  Einprägungen  in  Beng     :^ 
auf  den  Einflufs  früherer  Eindrücke  ist  die  Thatsache  des  Merkens  nicht     | 
beachtet,  obgleich  es  doch  natürlich  einen  grofsen  Unterschied  macht,  ob 
ich  einen  Eindruck  sofort  abthue  oder  mich  mit  ihm  angestrengt  2  bis 
30  See.  lang  beschäftige,  um  ihn  im  Gedächtnifs  zu  behalten ;  auch  sonst 
ist  der  Vergleich  zwischen  Merken  und  Auffassen  zu  schablonenhaft.  In 
der  Beizzahl  wäre  ein  gröfserer  Wechsel  bei  Constanz  der  Versuchssahl 
wünschenswerth.    Schliefslich  wäre  in  der  Darstellungsweise  gröüsere  Ein- 
fachheit und  Durchsichtigkeit  willkommen ;  es  kostet  viel  Mühe,  sich  durch 
diese  Arbeit  durchzuwinden.  Wbbschneb  (Zürich). 

L£oN  Bbunschvico.    Introdaction  k  la  vie  de  Tesprit    Paris,  Alcan,  1900. 

175  S. 
Der  mehr  philosophische  als  psychologische  Gehalt  dieses  anregenden 
Buchs  gestattet  hier  nur  eine  kurze  Notiz.    B.  behandelt  im  ersten  Capitel 
das  Bewufstseinsleben  im  Allgemeinen,  in  den  folgenden  das  wissenschaft- 
liche, ästhetische,  moralische  und  religiöse  Leben  des  Geistes;  dies  Alles 
vom   Standpunkt  des  französischen  Neukriticismus  aus.     Dem   entspricht 
bereits  im  ersten  Capitel  eine  Vernachlässigung  des  Crefühls-  und  Willens- 
lebens gegenüber  dem  Vorstellungsleben  und  in  den  weiteren  Darlegungen 
eine  einseitig  intellectualistische  Auffassung.    Trotzdem  und  obgleich  über 
der  populären  Absicht  die  zureichende  Begründung  oft  unterbleibt»  machen 
Eigenart  und  Wärme  der  Darstellung  die  Lektüre  genufsreich. 

Ettlinobb  (München). 

VON  Feldego.     Beiträge  zar  Philosophie  des  Gefühls.     Leipzig,  J.  A.  Barth, 

1900.    122  S. 

Die  geistvolle  Schrift  behandelt  vom  idealistischen  Standpunkte  aus 

einige  Fragen  aus  dem  Gebiete  der  Psychologie,  Metaphysik,  ErkenntniCs- 

theorie  und  Ethik.    Es  wird  viel  Anregendes  geboten.    Verf.  beabsichtigt. 


Literaturbericht  437 

an  Stelle  des  Willens  ein  neues  metaphysisches  Princip  zu  setzen,  welches 
fogleieh  die  subjective  und  objective  Wesenheit  der  Welt  in  sich  zu  fassen 
vermag,  nämlich  das  Gefühl.  Nur  schade  ist,  dafs  die  Schrift  sogleich  mit 
heftigen  Angriffen  auf  die  so  hochverdiente  Wissenschaft  der  physio- 
logischen Psychologie  beginnt. 

Die   bezQgliche   Kritik   wird  an    Ziehen's   Leitfaden   vollzogen.    Verf. 
wirft  ZiEHSM  vor,  dafs  das  BewuTstsein  bei  ihm  erst  mit  der  Empfindung 
auftaucht,  nicht  schon  beim  Reflex,  obwohl  doch  die  Reflexe  aus  ursprüng- 
lich psychischen  Acten  hervorgegangen  sind.    Die  Selbstbeobachtung  be- 
weise nicht  die  Existenz   eines   psychischen  Vorganges,  da  es   der  nicht 
beobachteten   psychologischen   Thatsachen  Tausende   gäbe.    Verf.   vergifst 
dabei,  dafs  das  Bewufstsein  mit  einer  Art  von  Anpassung  verbunden  ist» 
welche  zu  ihrer  Entwickelung  eine  gewisse  Zeit  braucht  und  beim  Reflex 
nicht  zu  Stande  kommt    Weiter  wird  getadelt,  dafs  Z.  behauptet,  das  Ent- 
stehen der   Empfindungen   aus   äufseren   Reizen   verfolgt  zu   haben.    Das 
psychische  Correlat  der  Empfindung  könne  man  nicht  aus  Reizen  ableiten. 
Auch  dünkt  es  dem  Verf.  unpsychologisch  zu  sein,  wenn  Z.  die  Spuren 
als  etwas  Materielles  auffafst    Bezüglich  beider  Punkte  möchte  Ref.  darauf 
aufmerksam  machen,  dafs  die  physiologische  Psychologie  keinen  besonderen 
Werth  darauf  legt,  die  Grenzen  zwischen  dem  Physiologischen  und  Psychi- 
schen festzustellen  bezw.  Grenzstreitigkeiten  zu  schlichten,   sondern  dafs 
es  ihr  vor  Allem  darauf  ankommt,  die  Berührungspunkte  d.  h.  die  Punkte 
der  Wechselwirkung  zwischen  beiden  nachzuweisen.    Ferner   glaubt  Verf. 
an  den  zweifellos  richtigen  Behauptungen,  dafs  die  Gefühle  der  Lust  und 
Unlust,  desgleichen  dafs  der  Wille  nichts  Selbständiges  sei,  sofern  beide 
nnr  mit  Beziehung  auf  etwas  mehr  oder  weniger  Vorgestelltes  hervortreten, 
rütteln  zu  müssen.    Er  sieht  in  letzterer  Behauptung  eine  Gefahr  für  die 
Willensfreiheit.    Offenbar  hängt  aber  gerade  die  Willensfreiheit  mit  einem 
rejren  Wechsel    der  Vorstellungskreise   eng   zusammen.      Endlich    berührt 
Verf.  die  Ichthatsache.     Er  bezweifelt,   dafs   ein   Gesammtempfinden   ent- 
^hen  könne  aus  einer  Summe  von  Bewegungen,  welche  keine  Empfindung 
hervorrufen.     Jedenfalls   aber   versteht   auch  Z.   unter   diesen  Einzelbewe- 
gnngen  nichts  rein  Materielles,  sondern  Vorgänge,  welche  bereits  mit  Vor- 
Stadien  der  Empfindung  verknüpft  sind,  denen  jedoch  der  Name  „Empfin- 
dung"  noch    nicht   zuerkannt   werden    kann.      Z.    sagt    am   Schlufs   seines 
Baches,    dafs    das    häufige    Auftreten    der    Ichvorstellung    und    der   jeder 
Handlung  vorausgehenden  Vorstellungsreihe  den  Grund  dafür  bildet,  dafs 
wir  unsere    Ichvorstellung    als  Ursache   unserer   Handlungen    betrachten. 
Verf.  behauptet,  dafs  wir  dadurch  aus  uns  herausgehen  und  unsere  eigenen 
ZuHchauer  geworden  sind.    Und  doch  haben  wir  auch  innerhalb  der  thieri- 
f'chen   Entwickelung   zuerst   Bewegungen   ohne  Bewufstsein.     Erst   später 
kommt  das  Bewufstsein   hinzu.     Dieser  Folge   der  Thatsachen   kann   sich 
auch  unser  menschliches  Sein  nicht  entziehen. 

Es  folgen  allgemeinere  Erörterungen:  Eine  Verbindung  zwischen  der 
Welt  als  Materie  (Realgrund)  und  als  Bewufstsein  (Idealgrund)  besteht  im 
<je!ühl.  Verf.  wirft  Spinoza,  Kant,  Ficute,  Hegel,  Schkllino  und  von  Hart- 
man» vor,  dafs  sie,  statt  von  einer  concreten  Vorstellung  auszugehen,  von 
einem  abstracten  Bewufstseinsbegriff  ausgingen.      Feldeog   geht  vom  Ge- 


438  LiteraturberMt 

fahlflbewa&tsein  aas.    Er  stimmt  mit  du  Pbel  darin  flberein,  data  der  Za- 
sammenhang  zwischen  dem  Metaphysischen  und  dem  Real-Empirischen  an 
keiner  Stelle  unterbrochen  ist,  nnr  für  unser  Vorstellen,  und  zwar  da,  wo 
das  zeit-  und  raumfreie  Princip  zur  zeitlichen  und  rftumlichen  Erscheinung 
wird,  da  wo  für  unser  Selbstbewufstsein  das  Gefühl  einerseits  zum  Willens- 
act   sich  verdichtet,   andererseits   zur  Vorstellung   sich   erweitert.     Diese 
Grenze  wird  für  höhere  Wesen,  als  wir  sind,  eine  andere  sein,  sie  wird 
zum  Theil  die  transcendente  Sphäre  umfassen,  welche  für  uns  noch  aolser- 
halb  liegt.    Bei  ihnen  wird  ein  gröfeerer  Theil  des  Gefühlslebens  in  an- 
schauliches Verstandes-  und  Vernunftbewufstsein  umgesetzt  sein.     Solche 
Wesen  werden  daher  von  der  Welt  mehr  erkennen,  wiewohl  nicht  mehr 
fühlen  als  wir.    Diese  Verschiebung  wird  sich  im  Verlaufe  des  biologischen 
Processes  so  lange  erneuem,  bis  das  letzte  Residuum  des  Gefühls  erschöpft 
und  in  erkennendes  BewulJstsein  umgesetzt  sein  wird.     Im   Sinne  seiner 
Theorie  fortfahrend  weist  F.  am  entgegengesetzten  Ende  des  geschilderten 
biologischen  Processes  dem  Thiere  ein  unvermindertes  GefühlsbewufBtsein 
zu   als   latentes   Erkenntnifsbewufstsein.  —  Die  Wirklichkeit   ist   nach  F 
„realphänomenale  Causalität",   die,    soweit   sie   mit   dem   Subjecte  in  Ver- 
bindung tritt,  zum  Wahmehmungsprocefs  wird.    In  letzterem   giebt  es  ob- 
jective  und  subjective  Elemente.    Wo  liegt  die  Grenze  zwischen  beiden? 
Die  Empfindung  ist  einerseits  ein  subjectives  Element,  andererseits  rührt   j 
sie  von  ^An  sich"  der  Wirklichkeit.    Dies  ist  nur  dann  möglich,  wenn  das    : 
„An  sich"  der  Wirklichkeit  selbst  ein  subjectives  Element  ist.    Dieses  „An 
sich"  ist  die  Kraft.     Sie   ist  nichts  Materielles,   nichts  Gegenständliches, 
sondern  etwas  Zuständliches   und  kann   daher  mit   dem  Bewufstsein,  das 
ebenfalls  etwas   Zuständliches  ist,   in  Beziehung  treten.    Das  Bewufstsein 
ist  das  „An  sich"  im  Subject.    Mit  mehrfacher  Bezugnahme  auf  Kaitt  und 
mit  einem  Seitenhieb  auf  Brentano  wird  die  Subject-Objectgrenze  erörtert. 
Man  mufs  annehmen,  dafs  wir  schon,  bevor  ein  Reiz  sich  in  Empfindung 
umsetzt,  psychisch  zwar  nicht  afficirt,  aber  constituirt  sind.     Das  Wesen 
dieser    unserer    metaphysischen    Constitution    besteht    im    Reizvermögen. 
Ferner  ist  wahrscheinlich,   dafs  die  psychophysische  Schwelle  sich  allmäh- 
lich   verschiebt,    dafs    allmählich    mehr   vom  transcendentalen    Weltsttick 
erkannt    wird.      Die    Subject-Objectgrenze    liegt    somit    im    erkennenden 
Wesen  selbst. 

Diese  Ausführungen  des  Verf.'s  enthalten  viel  AVahres.  Dafs  das 
Gefühl  das  Urphänomen  ist,  bestätigt  die  Psychologie  ohne  Weiteres.  Es 
bildet  so  recht  den  Durchgangspunkt  vom  Physiologischen  zum  Seelischen, 
von  da  zu  höheren  seelischen  Aeufserungen.  Denn  jeder  physiologische 
Vorgang,  der  eine  seelische  Wirkung  hervorbringen  soll,  mufs  eine  Ver- 
bindung mit  dem  Gefühl  eingehen.  Alle  Einwirkungen  der  Aufsenwelt  sind 
ursprünglich  gefühlsmäfsig  erfafst  worden,  woraus  sich  erst  allmählich 
differentientere  Auffassungs weisen  entwickelt  haben. 

Es  folgen  noch  drei  Aufsätze  aus  dem  Gebiete  der  Ethik :  Die  ethische 
Bewegung  der  Gegenwart  erstrebt  einerseits  Unabhängigkeit  vom  Dogma, 
andererseits  Toleranz  gegen  die  bestehenden  Religionen.  Der  erste  Grund- 
gedanke der  ethischen  Bewegung  ist  der:  „Suche  zu  ergründen,  was  deine 
höchste  Pflicht  und  Schuldigkeit  ist."    Dieses  Motiv  der  Moral  mufs  höherer 


Literaturbericht.  439 

tnmscendental-endämonologischer   Natur   sein.     Ein    nur   durch    Utilitäts- 
grfinde  geleitete  Moral  ist  armselig  gegenüber  einer  Moral,  welche  von  dem 
Glauben  an   eine   übersinnliche  Ordnung   geleitet  wird,   von  der  Ansicht, 
dafs  die  Moral  nicht  nur  menschliche  Gültigkeit  habe,  sondern  übermensch- 
liche. —  Ein  wichtiges   Moment   ist   hierbei   der  Glaube   an   eine  Seelen- 
wanderung.   Eine  solche  ist  unter  der  Voraussetzung  einer  blos  empiri- 
«chen  Fassung  dieses  Ich  schlechterdings  undenkbar.    Das  Ganze  unseres 
Seelenlebens    bildet    eine    Beihe    aufeinanderfolgender    Bewufstseinsacte. 
^Unsere  transcendentale  Seelenhälfte  ist  Träger  einer  uns  zukommenden 
transcendentalen  Individualität  und  durchläuft  in  einer  Anzahl  empirischer 
Beincamationen,  indem  sie  jedesmal  mit  einer  neuen  empirischen  Seelen- 
hftlfte,  als  Trägerin  unserer  empirischen  Erscheinung,  verbindet,  eine  Beihe 
▼on  Daseinsstufen.''    DaTis  dazu  die  Erinnerbarkeit  keine  nothwendige  Be- 
dingung ist,  zeigt  die  Thatsache,  dafs  auch  die  Träume  derselben  Nacht 
susammenhangslos  sind  (?).  —  Die  Beziehung  auf  fremdes  Wohlergehen  ist 
kein  erschöpfendes  Kriterium  der  moralischen  That.    Es  ist  nicht  richtig, 
wenn  man  das  handelnde  Subject  nur  als  Beflex  der  fremden  Person  gelten 
lassen  will.     Jede  moralische  Bewerthung  mufs   vielmehr  im   Sinne  des 
transcendentalen  Egoismus  erfolgen.    Den  Beweis  für  die  Existenz  einer 
höheren  moralischen  Weltordnung  bildet  das  Gewissen.    Was  empirisch  als 
Verneinung  des  Willens  erscheint,  kann  zugleich  eine  Bejahung  im  trans- 
cendentalen Sinne  bedeuten.    Das  in  Entwickelung  begriffene  transcenden- 
tale Subject  kann  nur  auf  dem  Wege  der  Steigerung  befindlich   gedacht 
werden  (?)    „Jede  spätere  Incarnation  des  Subjects  kann  in  diesem  Sinne 
nur  als  eine  weitere  Vollendungsphase  dieses  Subjects  im  Vergleiche  zur 
vorhergehenden  angesehen  werden." 

Verf.  verräth  in  diesen  Erörterungen  einen  hohen  ethischen  Schwung. 
Seine  Auffassungsweise  zeigt  Berührungspunkte  mit  der  christlichen.  Je- 
doch ruhen  die  erbrachten  Beweise  offenbar  auf  unsicheren  Füfsen. 

GiEssLER  (Erfurt). 

Warxeb  Fite.     Art,   Indastry   and   Science.      Fsychol.  Revieic  8  (2),  128—144. 
ISOl. 
Der    Verf.    versucht    eine    „psychologische"    Begriffsbestimmung   des 
Schönen    als   verschieden  vom  Guten  und  Wahren.     Er  betont,  dafs  der 
Mensch   eine  Reihe   von  Dingen   als   zum  Leben  absolut  nothwendig  be- 
trachtet, dafs  diese  nothwendigen  Dinge  jedoch  gänzlich  verschieden  sind 
auf  verschiedenen  Culturstufen.    Ein  civilisirter  Mensch  könnte  nicht  ohne 
Kleider  leben,  während  der  Feuerländer  trotz  seines  kalten  Klimas  sie  als 
einen  Luxusgegenstand  betrachtet.    Dinge,  die  zuerst  nur  um  ihrer  ästhe- 
tischen Wirkung  willen  geschätzt  wurden,  gehören  schliefslich  zur  Lebens- 
nothdurft   und   verlieren  dann  nach   Fite  ihre  ästhetische  Wirkung.    Die 
Grenze  zwischen  dem  Schönen  und  Guten  ist  daher  keine  absolute,  sondern 
abhängig  vom  Culturzustand  des  Individuums.     Aehnlich  unterscheidet  er 
das  Schöne  vom  Wahren.    Aesthetischer  Genufs  ist  möglich  nur  unter  der 
Bedingung,  dafs  das  Object  des  Genusses  keine  Stelle  im  wissenschaftlichen 
System  der  Wirklichkeit  hat.    Das  Vergnügen,  das  der  Duft  von  Blumen 
uns   gewährt,  würde  nicht  mehr  ästhetisch  sein,  wenn  wir  eine  deutliche 


440  Literaturbericht. 

Beziehung   dieses   Vergnügens   zu   unserm   körperlichen   Wohlsein  zo   er- 
kennen vermöchten. 

Dem  Keferenten  erscheint  dieser  Versuch  einer  psychologischen  Be- 
griffsbestimmung des  Schönen  nicht  als  gelungen,  weil  er  zu  einseitig,  zu 
unpsychologisch  ist.  Nach  Fite  ist  es  ein  „Cremeinplatz^,  daÜB  diejenigen, 
die  am  tiefsten  durch  ein  Kunstwerk  afficirt  werden,  nicht  identisch  mit 
den  besten  Kennern  des  Kunstwerks  sind.  Ein  Gremeinplatz  mag  das  sein, 
aber  eine  allgemeingültige  psychologische  Wahrheit  ist  es  sicherlich  nicht 
Wenn  es  uns  gelingen  sollte,  die  psychologischen  Wirkungen  einer 
Symphonie  Beethovens  bis  in  jede  Einzelheit  zu  verstehen,  so  sollte  das 
den  ästhetischen  Genufs  der  Symphonie  unmöglich  machen?  Den  Beweis 
dieser  Behauptung  hat  Fitb  noch  nicht  geführt.  Sollten  wirklich  Teppiche, 
bemaltes  Porzellan  und  Bilder  an  den  Wänden  ästhetisch  unwirksam  sein, 
weil  man  sie  als  Noth wendigkeiten  betrachtet,  ohne  die  man  gar  nicht 
leben  könnte?  Dafs  ein  Gegenstand  auf  einer  gewissen  Culturstufe  un- 
entbehrlich wird,  schliefst  doch  seinen  ästhetischen  Genufs  nicht  aus.  Es 
ist  natürlich  eine  gewisse  Wahrheit  in  Fite*s  Behauptung,  aber  er  scheint 
sie  ohne  genügenden  Grund  verallgemeinert  zu  haben.  In  einer  Anmerkung 
am  Schlufs  weist  er  darauf  hin,  dafs  seine  Begriffsbestimmung  nahezu  alle 
früheren  Definitionen  des  Schönen  in  wechselseitige  Beziehung  setze,  worin 
er  einen  Vorzug  zu  sehen  scheint.  Aber  andererseits  könnte  man  daraus 
schliefsen,  dafs  seine  eigene  Definition  nicht  das  ganze  Grebiet  des  Schönen 
nmfafst,  sondern  nur  denjenigen  Theil,  der  in  allen  jenen  anderen  Defini- 
tionen zufällig  enthalten  ist.  Max  Meyer  (Columbia,  Missouri). 


E.  W.  ScRiPTURE.  Observations  on  Rhythmic  Äction.  Science,  N.  S.,  10  (257), 
807—811.    1899. 

Es  giebt  zwei  Formen  regelmäfsig  wiederholter  Handlungen ;  entweder 
die  Versuchsperson  wählt  die  Zwischenräume  selbst;  oder  sie  sind  gegeben. 
Danach  unterscheidet  S.  „freie  rhythmische  Thätigkeit"  und  „geregelte". 
Finde  sich  bei  letzterer  ein  Urtheil  des  Subjects  über  das  Zusammentreffen 
seiner  Bewegungen  mit  den  Signalen,  so  beseitige  dies  alle  physiologische 
Theorie  hierfür,  insbesondere  die  EwALD'sche  Tonustheorie.  In  der  That 
hat  S.  beobachtet,  dafs  die  meisten  Personen  schon  unmittelbar  vor  dem 
Signal  die  Bewegung  ausführen;  zudem  spricht  für  die  subjective  Natur, 
dafs  sich  die  Versuchsperson  in  einen  neuen  Rhythmus  erst  finden  mufs. 
Also  sei  die  „geregelte''  rhythmische  Thätigkeit  nur  eine  modificirte  „freie". 

Bei  dieser  nun  giebt  es  je  nach  der  Person  und  den  Umständen 
immer  ein  Intervall,  welches  am  leichtesten  ausgeführt  wird.  Ist  T  diese 
natürliche  Periode  und  P  ihr  wahrscheinlicher  Fehler,  so  glaubt  S.  für 
den  wahrscheinlichen  Fehler  p  eines  Intervalls  t  das  Gesetz  aufstellen  zu 
können : 


.p(.+.[-a-). 


wobei  c  eine  persönliche  Constante.    Daraus  würde  sich  dann  ergeben,  dafa 
kleine  Abweichungen  von  der  natürlichen  Periode  die  Schwierigkeit  nicht 


Literaturbericht.  441 

sehr  erhöhen  und,  dafs  diese  schneller  für  kleinere  als  für  gröfsere  Inter- 
valle wächst.  Alles  Genauere  hierüber  wäre  einer  früheren  Abhandlung 
S.*8  {Scietice  N.  S.  4,  536)  zu  entnehmen,  welche  Ref.  nicht  auftreiben  konnte. 

Ettlinobb  (München). 

A.  DiEHL.    Ueber  die  Eigenschaft  der  Schrift  bei  Gesanden.    Kraepeiin's 

PsycM.  Arbeitai  3,  1—61.  1899. 
Als  Versuchspersonen  dienten  je  4  Wärter  und  Wärterinnen  der  Heidel- 
berger Universitätsirrenklinik,  die  an  Bildung  dem  Durchschnitt  der  Patienten 
nahe  standen.  Denn  mit  Recht  erblickt  Verf.  in  der  Schriftuntersuchung 
eine  wichtige  Handhabe  zur  Erforschung  der  Willensstörungen,  die  bisher 
noch  viel  weniger  wissenschaftlich  ergründet  sind  als  die  Krankheiten  des 
Intellects.  Die  den  Experimenten  vorausgegangene.  Arbeit  war  zwar  nicht 
immer  die  nämliche,  erwies  sich  aber  ohne  Einflufs.  Auf  gleiche  Wieder- 
holung des  Auftrages  wurde  peinlichst  geachtet ;  letzterer  bestand  darin,  auf 
der  Schriftwaage  mit  einem  stets  gleichmäfsig  gespitzten  Kohinoorstifte 
Nr.  H.  B.  die  Zahlen  von  1 — 10  auf  ein  gut  geleimtes  Kärtchen  zu  schreiben, 
und  zwar  an  5  Tagen  zunächst  2  mal  hinter  einander  langsam  und  sorg- 
sorgfältig  (Z)  und  dann  nach  2  Min.  Pause  2  mal  so  schnell  wie  möglich  (S). 
An  weiteren  5  Tagen  wurden  die  Zahlen  nochmals  4  mal  hinter  einander 
so  schnell  wie  möglich  geschrieben  und  an  allen  10  Tagen  bildete  den 
Schlufs  die  umgekehrte  Reihe  von  10 — 1  in  der  bequemsten  Weise  (R),  Es 
ergab  sich  nun,  dafs  der  Schreibweg,  der  mit  einem  eigens  construirten, 
genau  beschriebenen  und  auf  dem  Principe  der  Aehnlichkeit  von  Figuren 
mit  parallelen  Umfassungslinien  beruhenden  Curvimeter  bestimmt  wurde, 
bei  L  am  längsten  und  bei  R  am  kürzesten  war.  Es  wurden  also  die 
Schriftztige  um  so  kleiner,  je  schwieriger  die  Aufgabe  war.  Ebenso  nimmt 
der  Weg  unter  allen  3  Versuchsbedingungen  von  Tag  zu  Tag  ab.  Die 
Wiederholung  des  Versuches  an  demselben  Tage  vergröfserte  ihn  bei  L 
und  verkürzte  ihn  bei  S.  Die  Tagesschwankungen  waren  unbedeutend,  bei 
S  am  gröfsten.  Die  Schreibdauer  —  gemessen  durch  die  Zeitschreibung, 
welche  die  Fünftelsecundenuhr  an  der  rotirenden  Trommel  lieferte  —  war 
bei  Nichtberücksichtigung  der  Binnenpause  am  längsten  bei  X,  am  kürzesten 
bei  S\  durch  die  AViederholung  der  Aufgabe  verkürzte  sie  sich,  namentlich 
bei  L.  Die  Schwankungen  der  einzelnen  Tage  waren  hier  bei  S  am  ge- 
ringsten, bei  L  am  gröfsten.  —  Die  Millimeterzeit  d.  h.  die  Zeit  für 
1  mm  Schreibweg  ausgedrückt  in  hundertstel  Secunden  {^),  wurde  durch 
Division  des  Schriftwegs  in  die  Schriftdauer  gewonnen  und  liefert  ein 
Maafs  für  die  Schreibgeschwindigkeit.  Sie  ist  bei  L  fast  um  ein 
Viertel  gröfser  als  bei  S,  aber  nur  wenig  gröfser  als  bei  R;  durch  die 
Wiederholung  des  Versuchs  wird  sie  bei  L  kleiner,  bei  S  etwas  gröfser; 
im  Laufe  der  Versuchstage  wächst  sie,  vielleicht  in  Folge  einer  gewissen 
Erregung  am  Anfange.  Die  Tagesschwankungen  sind  am  gröfsten  bei  i?, 
am  kleinsten  bei  S.  —  Die  Pausendauer  zwischen  den  einzelnen  Zahlen 
ist  bei  L  am  gröfsten,  bei  S  am  kleinsten,  wird  durch  die  Wiederholung 
verkürzt  und  nimmt  im  Laufe  der  Versuchstage  ab,  namentlich  vom  1.  zum 
2.  Tage.  Sehr  grofs  sind  ihre  Tagesschwankungen.  —  Die  Binnen - 
pausen  bei  den  Zahlen  4,  5  und  10  sind  durchschnittlich  halb  so  lang  >Ni^ 


442  Literaturberickt 

die  Pausen  zwischen  den  Zahlen,  verhalten  sich  aber  sonst  wie  diese.    Die 
von  10  ist  die  kürzeste  bei  L  und  S,  die  längste  bei  R,  wahrsckeüüicli  in 
Folge  der  Stellung;   zeigte  doch  beim  Vorwärtsschreiben  die  10  oft  eine 
theilweise  Verbindung  der  beiden   Ziffern.     Die  Binnenpause  von  4  ist 
meist  länger  als  die  von  5,  jedenfalls  in  Folge  der  schroffen  Richtangs- 
änderung   und   der   Wichtigkeit  des   2.  Bestandtheils.    —    Der  Schreib- 
druck, gemessen  an  dem  höchsten  Drucke  bei  jedem  Schriftzug  und  zwar 
vermittelst  der  Schriftwaage  in  der  von  Gross  {Psychol.  Arbeiten  2,  450ff.) 
angegebenen  Weise,  war  am  geringsten  bei  L,  am  gröfst^n  bei  R;  darch 
die  Wiederholung  der  Aufgabe  wurde  er  gröfser  bei  L  und  geringer  bei  8. 
Im  Verlauf  der  Tage  nimmt  er  ab.     Die  Tagesschwankungen  sind  bei  B 
und  S  gröfser  als  bei  L,  nehmen  bei  der  Wiederholung  von  L  zu,  bei  der 
von  S  ab.  —  Die  einzelnen  Zahlen  zeigen  in  der  Dauer  bedeutende 
Verschiedenheiten,   so   dafs    die   kürzeste   zur  längsten   sich   verhält  wie 
100  :  242.    Ihre  Ordnung,  nach  dem  arithmetischen  Mittel  bestimmt  (Ord.  l\ 
ist:    1,  6,  9,  8,  3,  2,  7,  5,  4,  10  und  nach  dem  Durchschnittswerthe  für  die 
einzelnen  Personen  (Ord.  II) :    1,  6,  3,  9,  8,  7,  2,  4,  10,  5.     Ein  Unterschied 
zwischen  der  vorwärts  oder  rückwärts  geschriebenen  Keihe  ist  nicht  vor- 
handen, was   gegen  den  Finflufs  der  Stelle  spricht;   dagegen  scheint  die 
Pause  von  Einflufs  zu  sein.    Dem  AV  e  g  nach  ergab  Ord.  1 :   1,  5,  4,  6,  3,  7, 
2,  8,  9,  10  und  Ord.  II :  1,  5,  4,  3,  6,  7,  8,  2,  9,  10.    Offenbar  kommt  hier  der 
Wechsel  des  Einflusses  der  Pause  und  der  schroffen  Richtungsänderung  4 
und  ö   zu   statten,   während  6,  9,  8   wegen   ihrer  Bundung   einen  relativ 
grofsen  Weg   bei   geringer   Dauer   haben.     Die   Millimeterzeit,  deren 
kleinste  sich  zu  der  gröfsten  nur  wie  100 :  145  verhält,  ist  am  kleinsten  bei 
10  und  9,  am  gröfsten  bei  4  und  5;   auch  3  und  1   wurden  langsam  ge- 
schrieben.   Es  werden  also  die  Zahlen  mit  kurzem  Weg  verhältniXiBin&&ig 
langsam  geschrieben.  —  Das  Geschlecht  zeigte  sich  insofern  von  Ein- 
flufs, als  der  Weg  bei  L  bei  Männern  kleiner  war  als  bei  den  Frauen,  die 
Schnörkeleien   liebten;   bei  S  und  R  drehte   sich   dagegen  das  VerhältniÜB 
um.    Die  Wiederholung  war  ohne  Einflufs.     Die  persönlichen  Differenzen 
sind  hier  bei  den  Frauen  gröfser.     Die  Dauer   des  Schreibens  wie  der 
Pausen   war   bei   den   Frauen   geringer  als  bei  den  Männern,   namentlich 
zeigte  sich  dieses  bei  L.    Auch  hier  ist  die  Wiederholung  ohne  Einflufs; 
dagegen  sind  die  persönlichen  Differenzen  hier  bei   den  Männern  gröfser, 
namentlich  bei  -S  und  B.    Die  Millimeterzeit  ist  bei  den  Frauen  kürzer 
und  weist  zwischen  L  und  »S  geringere  Unterschiede  auf.    Für  R  liegt  sie 
bei  den  Männern  zwischen  L  und  8,  während  sie  bei  den  Frauen  hier  am 
gröfsten  ist.    Die  persönlichen  Differenzen  sind  hier  bei  den  Frauen  gröfser, 
namentlich  bei  S.    Der  Druck  ist  bei  den  Frauen  kaum  halb  so  grofs  wie 
bei  den  Männern;  der  Unterschied   ist   gröfser  bei   8  als  bei  L;   auch  die 
persönlichen  Differenzen  sind  hier  bei  den  Männern  gröfser.     Bei  R  wird 
der  Druck  noch  gröfser  als  bei  ^',  namentlich  aber  bei  den  Männern.    Ad 
persönlichen    Eigenthümlichkeiten    ergab   sich,    dafs   die   Tages 
Schwankungen  des  Weges  und  der  Dauer  bei  L  für  die  einzelnen  Personen 
annähernd  gleichmäfsig  sind,  während  bei  S  die  der  Dauer  und  Millimeter 
zeit  abnehmen   und  die  des  AVeges  zunehmen;  nur  1  Versuchsperson,  die 
bei  L  die  gröfste  und  bei  8  die  kürzeste  Dauer  aufwies,  zeigt  bei  S  eine 


Literatarbericht.  443 

Btirke  VergrOfserung  der  Schwanknngen  bei  der  Dauer  und  auffällige 
Gleichm&Tsigkeit  und  Vergröfserung  des  Weges.  R  führte  im  Allgemeinen, 
abgesehen  von  der  eben  erwähnten  Person,  zur  Abnahme  und  gröfseren 
Gleichmäfslgkeit  der  Dauer  im  Vergleich  mit  L;  auch  der  Weg  nahm  hier 
ab,  ohne  dafs  aber  die  Gleichmäfsigkeit  gröfser  wurde.  Am  gröfsten  sind 
die  Tagesschwankungen  der  Pausendauer  und  zwar  besonders  bei  L  und 
am  wenigsten  bei  R.  Die  Reihenfolge  der  Personen  in  Bezug  auf  die 
Schwankungen  der  Tage  wechselt  mit  den  Versuchsbedingungen.  Bildet 
man  aus  den  Werthen  für  die  letzteren  wieder  einen  Mittelwerth  und  be- 
rechnet die  mittlere  Variation,  so  sind  die  so  erhaltenen  Schwankungen 
am  geringsten  beim  Weg,  etwa  10  mal  so  grofs  bei  der  Dauer  des  Schreibens 
und  noch  gröfser  bei  der  Pausendauer.  Bestimmt  man  die  Reihenfolge 
der  Personen  nach  den  Werthen  für  die  einzelnen  Eigenschaften  der  Schrift, 
so  bleibt  sie  im  Grofsen  und  Ganzen  in  Bezug  auf  Weg,  Dauer  des 
Schreibens  und  der  Pause,  und  Druck  unter  den  verschiedenen  Bedingungen 
die  n&mliche,  während  sie  in  Bezug  auf  die  Millimeterzeit  weit  weniger 
feststehend  ist;  diese  ist  also  mehr  von  der  persönlichen  Veranlagung  ab- 
hängig, während  jene  unter  den  verschiedenen  Bedingungen  für  die  ver- 
schiedenen Personen  in  annähernd  gleichmäfsiger  Weise  sich  verändern. 
Jedenfalls  dürfen  nur  Schriften  unter  möglichst  gleichen  Bedingungen  mit 
einander  verglichen  werden. 

Wie  Verf.  selbst  zugiebt,  erblickt  er  den  eigentlichen  Werth  dieser 
Untersuchung  weniger  in  den  noch  „unsicheren"  Ergebnissen,  als  in 
dem  Einblick  in  die  Bedingungen  des  Schreibens.  Diesen  Erfolg  hat 
er  sicherlich  erreicht.  Je  mehr  sich  auf  graphologischem  Gebiete  der 
Dilettantismus  breit  macht,  um  so  dankenswerther  sind  derart  exacte, 
nflchterne  und  von  jeder  Sensation  freie  Arbeiten.  Nicht  unbedenklich 
scheint  mir  die  Vereinigung  der  Werthe  für  alle  Zahlen  und  für  alle  Per- 
sonen, um  Mittelwerthe  für  den  AVeg,  die  Dauer  etc.  zu  gewinnen.  Aller- 
dings wird  das  Bedenken  dadurch  geschwächt,  dafs  hinterher  die  einzelnen 
Zahlen  und  Personen  auch  wieder  getrennt  betrachtet  werden.  Eine  Er- 
mftdung  nimmt  Verf.  bei  diesen  kurzen  Versuchen  nicht  an;  es  will  mir 
scheinen,  als  ob  sie  namentlich  beim  schnellen  Schreiben  doch  nicht  so 
ganz  auszuschliefsen  ist;  sie  erklärt  vielleicht  die  Wiederholungs- 
erecheinungen  besser  als  der  „Nachlafs  des  Antriebes".  Auch  die  Zeit- 
folge der  Reihen  hätte  beachtet  werden  müssen;  manches  Ergebnifs  bei 
den  rückläufigen  Reihen  dürfte  in  dem  Umstände  seine  Erklärung  finden, 
dafs  diese  immer  am  Schlüsse  der  Sitzung  vorgenommen  wurden.  Ebenso 
hätte  das  schnelle  Schreiben  nicht  immer  nach  dem  langsamen  erfolgen 
»ollen.  —  Tabelle  XX  auf  S.  34  ist  offenbar  die  der  Pausendauer  und  XIX 
die  der  Schreibdauer  schon  für  auf  —  und  absteigende  Reihe;  dem- 
entsprechend ist  auch  der  Zusatz  „Tab.  XX "*  in  der  letzten  Zeile  von  S.  33 
am  falschen  Platze ;  er  gehört  auf  S.  35.  A.  AVbeschneb  (Zürich). 

Harlow  Gale.    A  Gase  of  Älleged  Loss  of  Personal  Identity.    Psychol.  studier 

by  Gale  (1),  140—156.    1900. 
In  einem  Fall,  wo  einige  Zeit  hindurch  völliger  Verlust  des  Gedächt- 
nisses vorgegeben  wird,  liegt  wegen  früherer  Verbrechen  der  Verdacht  der 


444  Literaturbertcht 

Simulation  nahe,  znmal  bei  der  allmählichen  Wiederkehr  gerade  alles  Nach- 
theilige verleugnet  wird;  und  dies  auch  in  der  Hypnose,  deren  Ek^htheit 
G.  deshalb  (?)  bezweifelt.  Trotzdem  schliefst  G.  aus  deutlichen  Anzeichen 
Yon  „Gröfsen-  und  Verfolgungswahn*'  auf  Unzurechnungsfähigkeit ;  dafs  mit 
dieser  ein  sehr  hoher  Grad  von  Verlogenheit  verbunden  sein  kann,  würdigt 
er  zu  wenig.  Mehr  thut  dies  in  einem  beigegebenen  Gutachten  der  Irren- 
arzt Dr.  ToMLiNsoN,  der  den  Fall  als  einen  solchen  von  Epilepsie  bezeichnet, 
bei  dem  ,,die  Krampfanfälle  durch  das  Auftreten  des  sog.  Doppelbewufst- 
seins  ersetzt  seien''.  Ettlinger  (München). 


Erwiderung. 


Die  auf  S.  134  des  vorliegenden  Bandes  dieser  Zeitschrift  erschienene 
kurze  Besprechung  meiner  Abhandlung  über  den  Begriff  des  Wirklichen 
hat  bei  der  Angabe  dessen,  was  nach  mir  das  Wesen  des  Wirklichkeits- 
bewufstseins  ausmacht,  nur  einen  Theil  der  von  mir  betrachteten  Fälle  von 
Wirklichkeitsbewufstsein  berücksichtigt,  indem  sie  sagt:  „Der  Grundge- 
danke des  Verf.'s  ist,  dafs  das  Wirklichkeitsbewufstsein  seinem  Wesen  nach 
Selbstverlorenheit  in  etwas  ist,  das  als  vom  Ich  verschieden  erscheint. '^ 
Schon  die  an  der  Spitze  der  ganzen  Abhandlung  stehende  Gliederung  läfst 
das  in  die  Augen  fallen,  da  für  den  zweiten  Theil  als  Abschnitte  ange- 
geben sind: 

I.  Es  besteht  Selbstverlorenheit  in  etwas,  das  vom  Ich  verschieden 
erscheint. 

IL  Es  besteht  keine  Selbstverlorenheit  in  etwas,  das  vom  Ich  ver- 
schieden erscheint. 

Dementsprechend  beginnt  der  zweite  Abschnitt  (S.  78)  mit  den  Worten : 
„Damit  sind  die  Hauptfälle  erledigt,  wo  für  den  Wirklichkeitsbegriff  Selbst- 
verlorenheit in  etwas  wesentlich  ist,  das  vom  Ich  verschieden  erscheint." 
In  diesem  zweiten  Abschnitt  werden  dann  neben  Fällen,  wo  überhaupt 
noch  Selbstverlorenheit  besteht,  andere  angeführt,  wo  solche  gar  nicht 
besteht. 

Erst  dadurch  wird  übrigens  verständlich,  weshalb  es  bei  den  vorher 
besprochenen  Fällen  heifst,  „Selbstverlorenheit  in  etwas,  das  vom  Ich  ver- 
schieden erscheint",  und  nicht  einfach  „Selbstverlorenheit"  sei  da  für  den 
Wirklichkeitsbegriff  wesentlich ;  das  läfst  die  in  Rede  stehende  Besprechung, 
weil  sie  den  zweiten  Abschnitt  nicht  berücksichtigt,  zugleich  im  Unklaren. 

Auch  hätte  wenigstens  mit  ein  paar  Worten  zu  erwähnen  nahe  ge- 
legen, dafs  in  meiner  Abhandlung  die  Schilderung  der  mannigfachen 
Nuancen,  welche  der  Wirklichkeitsbegriff  von  Fall  zu  Fall  annimmt,  neben 
„der  Deduction  und  der  Vertheidigung"  des  Grundgedankens  einen  breiten 
Kaum  einnimmt.  H.  Raeck  (Eisleben). 


Namenregister. 


FettEedraakUSelMnuhlen  bexiehan  sich  *of  denTerfunr  einer OriginiUbhandlDDg,  SaltM- 

Mahlen  mit  t  >af  dsn  Terfunr  elnu  rcferirten  Bachea   oder  einer  leterirten  Abhutdloug, 

Seit«iu»lilen  mit  *  tut  den  VertUaet  eines  Belentes. 


A. 
A»rB,  B.R.  Kr.  289.t 
Äbelsdorfl,  G.  121.*  123.« 

263.«  263.'  264."   264.« 

269.»  3M.» 
Airutt,  8.  231.t 
Angiolellft,  G..  302.t 
Aschaffenbarg  269.*  299.« 

aOO.*  302.' 

B. 

Bastian,  Ä.  303.t 
Bechterew,  W.  v.  119.t 
Beilei,  G.  269.t 
Berkley,  H.  J.  I40.t 
Beet,  F.  424.t 
Bickol,  A.  267.t 
Binet-SangliS  Ch.  265-1 
Sirch&eichenwald  Aara, 

Kr.  289,t 
Blozek,  B.  2T0.f 
Bois-Be  ymonil,R.dn  117.f 
BonhöEfer  K.  143.t 
Boe,  C.  l34.-i- 
Bourdon,  B.  128.f 
Boutrouz,  L.  123.t 
Bramwell,  J.  M.  140.t 
Brilckner,  A.  88. 
BraDschwicg  436,f 
Buchhol«  297.+ 
Busse  278.  •■  279.- 


Csjal,  8.  Ramon  y  251. f 
Campbell,  A.  W.  266.+ 


Campell,  H.  136.+ 
Cramer  292.+ 
Cyon,  E.  de  127.+ 

D. 
Dantec,  F.  le  107.+ 
Davies,  H.  2S6.+ 
Diehl,  A,  441.+ 
Druault,  A.  264.+ 
Dagaa  137.+ 
Button,  J.  E.  252.+ 

E. 

Edinger,  L.  419.+ 
Ellie,  H.  2B6.+ 
Elsenhans,  Th.  249.+ 
Erdmann,  B.  276.+ 
Ettünger  1;«.*27I.*421,* 

425.*  436.»  441.«  444.' 
F. 
Feldegg,  v.  436.+ 
Finzi,  J.  432.+ 
Fite,  W.  271.+  139.+ 
Forel  112.+ 
Freud,  S.  130.+ 
Frendenthal,  B.  144.* 
Friedmann,  M.  296.+ 
Fuchs,  W.  296.+ 

G. 
Gale,  H.  270.+  421.+  443.+ 
Gale,  M.  C.  421.+ 
Görard-Varet  I08.+ 
Giefsler  108.*  109.'  130.» 

134.»  136,*  138.«   273.+ 


Grofs,  H.  136,+ 
GroOB,  K.  145. 

H. 

Httcker,  V.  116  + 
Hagen,  A.  268+ 
Hahn,  R.  283. 
Hamburger,  C.  263.+ 
Read,  H.  266.+ 
Heine,  L.  268.+  425.« 
Heinrich,  TV.  124+  124  + 
Heller,  Th.  111.*  112.* 
Hering,  H.  E.  422+ 
Heymans,  G.  805.  418.* 
Hill,  A.  251.+ 
Himstedt,  F.  263.+  264.+ 
Hirscblaö,  L.  254.*  296.« 

301.« 
Hitzig,  E.  269.+  261.+ 
Hohenemser,  R.  61. 
Hnther,  A.  286.+ 


Kalischer,  0.  421.+ 
Keraeies,  F.   111.+  249+ 

271.+ 
KiesoK  116.*  127.«  140.* 

231.'267.«268.*286.*288. 
Koch,  H.  249.+ 
König,  A.  424.* 
König,  E.  I09.+  418.+ 
Kreibig  249.« 


446 


Namenregister. 


Kretschmer,  E.  247.t 
Krüger,  F.  265.t 

L. 

Laquer,  L.  141.f 
Le  Dantec,  F.  107.t 
Lobsien,  M.  270.t 
Löwenfeld,  293.t 

M. 

Magnus,  H.  423.t 
Mally,  E.  212.f 
Marchand,  L.  299.t 
Matthäi  262.t 
Mayer,  A.  1. 
Merzbacher    256  *    257  * 

258*  261  *  420.*  420* 

422  *  422  * 
Meyer,  M.  123*264.t440* 
Möbins,  P.  J.  300.t 
Moskiewicz    117*    118* 

119.*  119  *  120  * 

N. 
Nagel,  W.  A.  263.t  264.t 

0. 

Obersteiner  291.f 
Obici,  G.  299.t 
Offner  134  * 
Oelzelt-Newin  144.t 
Orth,  J.  1. 
Ossipow,  V.  P.  118.t 

P. 

Parker,  G.  H.  121.t 
Patrick,  G.  W.  124.t 
Pelman  289.*  295  *  297  * 


Pikler,  J.  227. 
Preyer  420.t 

R. 

Raeck,  H.  134.t  444.t 
Ramön  y  Cajal,  S.  261.t 
Reich,  E.  SOl.f 
Ribot,  Th.  247.t 
Ritchie,  E.  289.t 
RoUett,  A.  254.t 
Rudeck,  W.  303.t 

S. 

Samter  302.t 
Sanctis,  S.  de  139.t 
Saxinger  137  *  251.*  273  * 

275.*  290.* 
Schäfer  116  *  124.*  124.* 

128.* 
Schaffer,  K.  252.t 
Schmid,  B.  250.t 
Schrenck-Notzing,v.  294.f 
Schröder  140.*  141.*  251.* 

252.*  254.*  255.* 
Schnitze,   E.   252.*   253.* 

259.*  262.*   262.*  290.* 

291.*  294.*   296.*  301.* 

302.*  302.*  303* 
Scripture,  E.  W.  440.t 
Seashore,  G.  E.  Il3.t 
Sommer,  G.  267.t 
Stern,  W.  133.*  247.*  247.* 

249.*  249.*   250.*   265.* 

270.*   270.*  271.*  271.* 

286.*  286.*  289.* 
Storch,  E.  105.  200. 
Stratton,  G.  M.  123.t 


T. 

Tallmann,  R.  W.  425.t 
ThiUy,  F.  136.i  249.t 
Trüper  143  *  144.* 
Tchermak,  A.  121.t  dOLf 
Tschisch,  W.  v.  14. 

u. 

Ufer  421.* 

Umpfenbach   113.*  135.* 

138.*  139.* 
Uschakoff,  J.  253.t 

V. 

Vaschide,  N.  299.t 
Verwom,  M.   llT.f  119.t 
Villa,  G.  247.t 
Vogt,  O.  138.t  138.t 
Vogt,  R.  425.t 
Vold,  J.  M.  133.t 

w. 

Warrington,  W.  B.  252.t 
Wedensky,  N.  E.  2ö6.t 
Wentscher,  M.  418.t 
Weygandt  299.* 
Wiener,  O.  420.t 
Wiersma,  E.  168. 
Windscheid  290.t 
Wreschner,  A.  432.*  436.*^ 
443.* 

z. 

Zeitler,  J.  279.t 
Zeller,  E.  278.t 
Ziehen,  Th.  295.t 


Druck  von  Lippert  &  Co.  (G.  Pätz'sche  Buchdr.),  Naamburg  a.  S. 


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In  Gemeinschaft  mit 

S.  Exner,  E.  Hering,  J.  v.  Kries,  Th.  Lipps, 
G.  E.  Müller,  C.  Pelman,  C.  Stumpf,  Th.  Ziehen 

herausgegeben  von 

Henn.  Ebbinghans  nnd  Arthur  König. 


27.  Band. 


Leipzig,  1902. 
Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth. 


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Inhaltsverzeichnifs. 


Abhandlungen.  seit« 

-Vbthub  König  f 146 

0.  Hess.    Zur  Kenntnifs  des  Ablaufes  der  Erregung  im  Sehorgan  .    .  1 
RoBEBT  Saxingbb.    Uebor  den  Einflufs  der  Gefühle  auf  die  Vorstellungs- 

bewegung 18  u.  224 

Mabx  Lobsien.    Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Gedächtnifs- 

entwickelung  bei  Schulkindern 34 

Wilhelm  Sternbero.    Geschmacksempfindung  eines  Anencephalus   .    .  77 

F.  KiKsow  u.  B.  Hahn.    Ueber  Geschmacksempfindungen  im  Kehlkopfe  80 
0.  Stumpf.    Ueber  das  Erkennen  von  Intervallen  und  Accorden  bei 

sehr  kurzer  Dauer 148 

Helen  B.  Thompson    und  EIatharina  Sakijewa.      Ueber  die  Flächen- 
empfindung in  der  Haut 186 

Kabl  Marbb.    Bemerkung  zu  der  Arbeit  von  Wiersma,  diese  Zeitschrift 

26,  168  ff 200 

Theod.  Lipps.    Zur  Theorie  der  Melodie 225 

^V.  A.  Naoel.    Stereoskopie  und  Tiefenwahrnehmung  im  Dämmerungs- 
sehen        264 

^V.  4..  Nagel.    Ueber  die  Wirkung  des  Santonins  auf  den  Farbensinn, 

insbesondere  den  dichromatischen  Farbensinn 267 

^^  A.  Nagel.    Zwei  optische  Täuschungen.    Nach  Beobachtungen  von 

Prof.  Danilewsky 277 

^H.  Ziehen.    Erkenntnifstheoretische  Auseinandersetzungen     ....  305 
^'-  Uhthopp.    Ein  weiterer  Beitrag  zur  angeborenen  totalen  Farben- 

.  blindheit 344 

£.  Storch.    Ueber  die  Wahrnehmung  musikalischer  Ton  Verhältnisse  .  9^1 

A.  BoEscHKE  u.  L.  Hescheles.    Ueber.  Bewegungsnachbilder 387 

^.  DU  Bois-Betmond.    Zur  Lehre  von  der  subjectiven  Protection  .    .    .  399 

Heyma>'8.    Berichtigung 144 

Llteratnrbericht  und  Besprechungen. 

L  Allgemeines. 

^-  J.-  MöBius.    Stachyologie.    Weitere  vermischte  Aufsätze 106 

^-  V.  Habtmann.    Die  moderne  Psychologie 95 

^*  Hollakdbb.    The  Present  State  of  Mental  Science 412 


IV  Inhaltaverzeidinifs, 

Seite 

JuL.  Bergmann.    Seele  und  Leib 104 

W.  B.  B.  GiBSON.    The  Principle  of  Least  Action  as  a  Psycbological 

Principle 202 

J.  Jastrow.    Some  Currents  and  Undercurrents  in  Psychology     ...  103 

6.  Hiemann.    Taubstumm  und  blind  zugleich.    Vortrag 287 

Paul  Biemann.    Beeinflussung  des  Seelenlebens  durch  Taubheit  .    .    .   411 
Benno  Ebdmann.    Die  Psychologie  des  Kindes  und  die  Schule     .    .    .   412 

J.  GoHN.    Was  lernt  die  Psychologie  von  der  Pädagogik? 288 

A.  Moll.     lieber  eine  wenig  beachtete  Grefahr  der  Prügelstrafe  bei 

Kindern 20ä 

W.  Ch.  Bagley.    On  the  Correlation  of  Mental  and  Motor  Ability  in 

School  Children 416 

Alb.  Liebmann.  Die  Sprachstörungen  geistig  zurückgebliebener  Kinder  28^ 
W.  Ament.  Die  Entwickelung  von  Sprechen  und  Denken  beim  Kinde  285 
K.  Pappenheim.  Die  Kinderzeichnung  im  Anschauungsunterricht  .  .  288 
L.  William  Stern.    Ueber  Psychologie  der  individuellen  Differenzen. 

(Ideen  zu  einer  „differentiellen  Psychologie") 282 

Sophia  Bbtant.    The  Double  Effect  of  Mental  Stimuli;  a  Ck)ntra8t  of 

Types 125 

F.  V.  LüscHAü.    Ueber  kindliche  Vorstellungen  bei  den  sogen.  Natur- 

völkern    203 

Th.  Ziehen.    Das  Verhältnifs  der  HERBART*schen  Psychologie  zur  physio- 
logisch-experimentellen Psychologie 105 

Th.  Flournot.    Observations  psychologiques  sur  le  spiritisme ....  204 

H.  Wegener.    Die  psychischen  Fähigkeiten  der  Thiere 289 

W.  S.  Small.  Experimental  Study  of  the  Mental  Processes  of  the  Rat.   II .  415 
L.  W.  Stern.    Die  psychologische  Arbeit  des  19.  Jahrhunderts,  insb. 

in  Deutschland 201 

IL  Anatomie  der  nervösen  Centralorgane. 

JoLES   SoüRY.     Le  Systeme   nerveux   central,  structure  et   fonctions. 

Histoire  critique  des  th^ories  et  des  doctrines 40S 

J.  Turner.   Observations  on  the  Minute  Structure  of  the  Cortex  of  the 

Brain    as    revealed   by   the   Methylene  Blue  and  Peroxide   of 

Hydrogen  Method  of  Staining  the  Tissue  ....*....  416 
M.  Probst.   Ueber  den  Verlauf  der  Sehnervenfasern  und  deren  Endigung 

im  Zwischen-  und  Mittelhirn 416 

W.  Barratt.    On  the  Changes  in  the  Nervous  System  in  a  Oase  of 

Old-Standing  Amputation 417 

m.  Physiologie  der  nervösen  Centralorgane. 

G.  von  Bunge.    Lehrbuch  der  Physiologie  des  Menschen.    Erster  Band : 

Sinne,  Nerven,  Muskeln,  Fortpflanzung  in  28  Vorträgen  ...  203 
R.   Müller.     Ueber    Mos80*s   Ergographen    mit   Bücksicht    auf   seine 

physiologischen  und  psychologischen  Anwendungen 106 

J.  Orchansky.    Le  m^canisme  des  ph^nomänes  nerveux 106 

Th.  Beer,  A.  Bethe  u.  J.  v.  Uexküll.   Vorschläge  zu  einer  objectivirenden 

Nomenclatur  in  der  Physiologie  des  Nervensystems    .    .    •    .    •  112 


Inhaltsverzeichnifs,  V 

Seite 
0.  Fkbrikb  and  W.  A.  Tcbmbb.    Experimental  Lesion  of  the  Corpora 

Qnadrigemina  in  Monkeys 418 

H.  Pbobst.    Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Anatomie  und 

Physiologie  des  Sehhügels 417 

—  Zur  Anatomie  und  Physiologie  experimenteller  Zwischenhirnver- 

letzungen   417 

—  Physiologische,  anatomische  und  pathologisch-anatomische  Unter- 

suchungen des  Sehhügels 417 

A.  BiNBT.    Nouvelles  recherches  sur  la  consommation  du  pain,  dans 

ses  rapports  avec  le  travail  intellectuel 111 

rv.  Sinneaempfindungen.    Allgemeines. 

Ts.  Bbsb.    Ueber  primitive  Sehorgane 112  u.  294 

B.  Hesse.     Untersuchungen  über  die  Organe  der  Lichtempfindung  bei 

niederen  Thieren 112 

0.  EüLpB.    Ueber  das  Verhältnifs  der  ebenmerklichen  zu  den  über- 
merklichen Unterschieden  289 

V.  Fhyslologiscbe  und  psychologisohe  Optik. 

GrsTAV  Fbitsch.    Vergleichende  Untersuchungen  menschlicher  Augen    207 

—  Rassenunterschiede  der  menschlichen  Netzhaut 207 

Ä.  Tschbbmak.     Ueber  physiologische   und   pathologische   Anpassung 

des  Auges 419 

J.  Piltz.    Sur  les  nouveaux  signes  pupillaires  dans  le  tabes  dorsal .    .  426 

L  Pnx}Biii.    Einige  Aufgaben  der  Wellen-  und  Farbenlehre  des  Lichtes  418 

W.  H.  R.  BivBBS.    Primitive  Color  Vision 419 

A.  Pick.    Kritik  der  HERXNo'schen  Theorie  der  Lichtempfindung .    .    .  422 

M.  F.  McClcbp.    A  ^Color  Illusion" 423 

M.  B.  BoüBDON.    La  distinction  locale  des  sensations  correspondantes 

des  deux  yeux 119 

A.  BiELSCHOwsKY.    Ueber  die  sogen.  Divergenzlähmung  und  Discussion 

dieses  Vortrags 425 

W.  A.  Nagel.    Ueber  das  BELL'sche  Phänomen 424 

Ratmoxd  Dudob  and  T.  S.  Cline.   The  Angle  Velocity  of  Eye  Movements  119 
A,  TüYL.    Ueber  das  graphische  Kegistriren  der  Vorwärts-  und  Rück- 
wärtsbewegungen des  Auges 423 

Fb.  Schbnck.    Ueber  intermittirende  Netzhautreizung.    8.  Mitth. .    .    .  420 

—  n.  W.  Just.    Ueber  intermittirende  Netzhautreizung.    9.  Mitth.   .    .  420 
Wilhelm  Wibth.    Der  FECHNEB-HELMHOLTz'sche  Satz  über  negative  Nach- 
bilder und  seine  Analogien 290 

JcsE  E.  DowNEY.    An  Experiment  on  getting  an  After-Image  from  a 

Mental  Image 119 

J.  M.  Gillettb.    Multiple  After-Images 119 

Büke.    Hydrophthalmus  und  Myopie 425 

J.  B.  Hofmann  u.  A.  Bielschowsky.    Die  Verwerthung  der  Kopfneigung 
zur  Diagnostik  von  Augenmuskellähmungen  aus  der  Heber-  und 

Senkergruppe 424 

W.  A.  Naosl.    Der  Farbensinn  der  Thiere 421 


VI  InhalUverzeiehnifi. 

Seite 
VX  Physiologisohe  und  psychologische  Akustik« 

C.  Stumpf.    Tonsystem  und  Musik  der  Siamesen.    Mit  einer  Belage: 

Partitur  und  Melodie  eines  siamesischen  OrchesterstÜcks  .    .    .  810 

F.  A)70BLL.    Discrimination  of  Clangs  for  Different  Intervals  of  Time. 

Part,  n 426 

Mabage.    Formation  des  voyelles 121 

F.  Kbübger.    Zur  Theorie  der  CombinationstOne 296 

G.  Lange.    Zur  Geschichte  der  Solmisation 120 

vn.  Die  übrigen  specifischen  Sinnesempflndungen. 

A.  M.  Pastore.  Sülle  oscillazioni  delle  sensazioni  tattili  prodotte  con 
stimolo  meccanico,  e  sulle  oscillazioni  nella  percezione  della 
figura  di  Schroeder 20B 

F.  KiESOw.    Contributo  alla  psico-fisiologia  del  senso  tattile 206 

Annibale  M.  Pastore  e  Luioi  Aqliardi.  Sulle  oscillazioni  delle  sen- 
sazioni di  deformazione  cutanea 206 

A.   BiNBT.     Kecherches    sur   la   sensibilit^   tactile    pendant  l'^tat  de 

distraction 121 

A.  J.  KiNNAMAN.    A  Comparison  of  Judgments  for  Weights  Lifted  with 

the  Hand  and  Foot 427 

H.  ZwAARDEHARER.     Les  scusations  olfactives,  leurs  combinaisons  et 

leurs  compensations 297 

F.  KiBsöw.   Das  Verhältuifs  der  Geschmacksempfindungen  zu  einander  406 
Hjalmar   Oehrwall.     Die   Modalitäts-   und    Qualitätsbegriffe    in   der 

Sinnesphysiologie  und  deren  Bedeutung 406 

VIIL    Baum«    Zeit.    Bewegung  und  Veränderung.    ZahL 

L.  Heupstead.    The  Perception  of  Visual  Form 429 

E.  J.  Swift.    Visual  and  Tactuo-Muscular  Estimation  of  Length  ...  490 

Klaudia  Mabkota.    Contribution  de  la  perception  st^röognostique  .    .  428 

J.  R.  Angell  u.  W.  Fite.    The  Monaural  Localization  of  Sound  ...  122 

C.  E.  Seashore  u.  M.  C.  Williams.    An  Illusion  of  Length 122 

H.  JüDD.    A  Study  of  Geometrical  Illusions 122 

IX.  BewuDstsein  und  UnbewuTstes.    Aufmerksamkeit.    Schlat 

Ermüdung. 

A.  Einet.    Attention  et  Adaptation 1 

E.  Thorndike.    Mental  Fatigue 1 

X.   Hebung,  Association  und  GedachtniDi. 

G.  Cordes.    Experimentelle  Untersuchungen  über  Associationen.    .    . 
N.  Triplett.    The  Psychology  of  Conjuring  Deceptions 

XI.  Vorstellungen. 

Raymond  Dodoe.    The  Psychology  of  Reading 

S.  H.  Mellone.    The  Nature  of  Self-Knowledge 

R.  EisLBR.    Das  Bewufstsein  der  Aufsenwelt.    Grundlegung  zu  einer 

Erkenn  tnifstheorie 

H.  R.  Marshall.    Oonsciousness^  Self-Oonsciousness  and  the  Seif    .    . 


Inhaltwerzeichnifa.  VII 

Seite 
A.  Pick.    CUnical  Stodies  in  Pathological  Dreaming 433 

W.  Ch.  Bjlolbt.    The  Apperception  of  the  Spoken  Sentence.    A  Study 

in  the  Psychology  of  Langnage 430 


Gefühle. 

(k.  S.  Mtkbs.    Experimentation  on  Emotion 132 

C.  H.  SniBBiNGTOir.    Experimentation  on  Emotion 132 

GioBOBs  DüMAs.    La  tristesse  et  la  joie 215 

Ch.  TtBk.    L*in8tinct  sexuel,  Evolution  et  dissolution 134 

F.  H.  Sakdsbs  and  Stanlbt  Hall.    Pity 433 

M.  W.  Calkiks.  An  Attempted  Experiment  in  Psychological  Aesthetics  131 
l  LiBouiEBS  DES  Bancels.   Los  m^thodes  de  l'esth^tique  exp^rimentale. 

Formes  et  couleurs 132 

Tuö  HntN.    The  Origins  of  Art.  —  A  Psychological  and  Sociologieal 

Inquiry 434 

-  The  Psychological  and  Sociologieal  Study  of  Art 213 

Sjlttesoise.    Religion  et  folie 133 

Xm.  Bewegungen  und  Handlungen. 

L  HntscHLAPF.    Zur  Methodik  und  Kritik  der  Ergographenmessungen  299 

A.  W.  Trettisn.    Creeping  and  Walking 441 

HnrBT  HüOHES.    Die  Mimik  des  Menschen  auf  Grund  voluntarischer 

I^sychologie 218 

Alfred  EChtmamn.    Maine  de  Biran.    Ein  Beitrag  zur  Geschichte 

der  Metaphysik  und  Psychologie  des  Willens 439 

J.  Türkheim.    Zur  Psychologie  des  Willens 437 

HsEMAKN  ScHWABz.  Psychologie  des  Willens  (zur  Grundlegung  der  Ethik)  437 

St.  Sh.  Colvik.    The  Fallacy  of  Extreme  Idealism 432 

S.  T.  W.  Patbick.    The  Psychology  of  Profanity 136 

^  Näcke.    Zur  Pathogenese  und  Klinik  der  Wadenkrämpfe     ....  442 

XTV.   Neuro-  und  Psychopathologie. 

LowETfFELD.     Der   Hypnotismus.     Handbuch  der   Lehre    von   der 
Hypnose   und  der  Suggestion  mit  besonderer  Berücksichtigung 

ihrer  Bedeutung  für  Medicin  und  Bechtspflege 444 

.  Baginsky.    lieber  Suggestion  bei  Kindern 210 

MOV.    Exp^riences  de  suggestious  sur  les  debiles 137 

.  Gaupp.  Die  Entwickelung  der  Psychiatrie  im  19.  Jahrhundert  .  .  299 
MiL  Kbapelik.     Einführung  in  die  Psychiatrische  Klinik.     Dreifsig 

Vorlesungen 137 

.  Stürrino.     Vorlesungen  über  Psychopathologie  in  ihrer  Bedeutung 

für  die  normale  Psychologie  mit  Einschlufs  der  psychologischen 

Grundlagen  der  Erkenntnifstheorie 443 

"b.  SmoK.    Becherches  anthropom^triques  sur  223  gar^ons  anormaux 

ag^s  de  8  ä  23  ans 138 

V-  Robertson.     Unilateral  Hallucinations ;   their  Belative  Frequency, 

Associations^  and  Pathology 303 


VIII  InhaifsverzeichnifB. 

Seite 

Bernabd  Holländer.    The  Cerebral  Localisation  of  Melancholia  ...  447 

A.  PiLEZ.    Die  periodischen  Geistesstörungen.    £ine  klinische  Studie  .  220 

J.  MicKLE.    Mental  AVandering 303 

K.  KöLLE.    Der  erste  Unterricht  bei  Schwachsinnigen 302 

ToBiE  JoMCKHEEBE.    lieber  den  Einflufs  der  Musik  auf  die  Bewegungen 

bei  schwachsinnigen  Kindern 302 

Hegab.    Zur  Frage  der  sog.  Menstrualpsychosen.    Ein  Beitrag  zur  Lehre 

der  physiologischen  Wellenbewegungen  beim  Weibe  .....  303 
N.    Vaschide    e    Cl.    Vurpas.     Di    alcune    attitudine    caratteristiche 

d'introspezione  somatica  patologica 302 

Wachsmuth.    Cerebrale  Einderlähmung  und  Idiotie 447 

P.  SoLLiER.    Psychologie  de  Tldiot  et  de  l'Imb^cile 447 

Baron  Mourbe.    Les  causes  psychologiques  de  l'aboulie 139 

H.   LiEPMANN.    Das   Krankheitsbild  der   Apraxie   („motorische   Asym- 

bolie^)  auf  Grund  eines  Falles  von  einseitiger  Apraxie  ....  300 

E.  CLAPARiiDE.    Revue  g^n^rale  sur  Tagnosie  (c^cit^  psychique  etc.)     .  139 

—    Bibliographie  sur  l'agnosie 139 

XV.   Sooialpayohologie. 

Novicow.    Les  castes  et  la  sociologie  biologique 142 

E.  DE  BoBEBTY.    Morale  et  psychologie 140 

Palante.    Le  mensonge  de  groupe:  ^tude  sociologique 142 

Sydney  Ball.    Current  Sociology 304 

A.  Grotjahn.     Die   Trunksucht   unter  den   deutschen   Landarbeitern 

nach  der  Enquete  des  Vereins  für  Socialpolitik  im  Jahre  1892  .  144 
A.  N.  KiÄR.      Ueber   die   Ergebnisse   des   „Samlags"-Systems   in  den 

norwegischen  Städten 143 

A.  T.  Ormond.    The  Social  Individual 140 

Klaüsbneb.    Ursachen   der   Trunksucht   und   Mittel   zur  Bekämpfung 

derselben 143 

A.  Baer.    Der  Selbstmord   im   kindlichen   Lebensalter.     Eine   social- 

hygienische  Studie 222 

Näcke.    Drei  criminalanthropologische  Themen 448 

J.  M.  Baldwin.     Das    sociale   und  sittliche  Leben   erklärt   durch   die 

seelische  Entwickelung.    Deutsch  von  Ruedemann 449 

P.  Beroemann.      Sociale    Pädagogik    auf   erfahrungs wissenschaftlicher 

Grundlage  und  mit  Httlfe  der  inductiven  Methode 449 

Berichtigung  (Kiesow) 224 

Berichtigung  (Saxinoer) 224 

Namenregister 455 


1 


Zur  Kenntnifs  y 

des  Ablaufes  der  Erregung  im  Sehorgan. 

Von 

Prof.  C.  Hess  in  Würzburg. 
(Mit  1  Fig.) 

I.  Eine  bisher  unbekannte  Nachbilderscheinung. 

Bewegt  man  eine  ca.  20  cm  lange,  1  mm  breite,  rothgelbe 
Lichtlinie  ^,  die  in  ihrem  mittleren  Theile  auf  einer  Strecke  von 
^'«  cm  unterbrochen  ist,  in  einem  Abstände  von  30 — 50  cm  mit 
mäfsiger  Schnelligkeit  vor  dem  ohne  Fixirobject  geradeaus  ge- 
richteten Auge  vorüber,  so  sieht  man  leicht  Folgendes  (S.  Ab- 
bildung 1): 

Zunächst  erscheinen  (Phase  1 ;  vergl.  auch  Capitel  II)  zwei 
rothgelbe  Linien,  durch  einen  dunklen  Zwischenraum  von  ein- 
ander getrennt;  danach  folgt  (Phase  2)  eine  schmale,  dunkle 
Strecke,  die  unter  den  einen  Bedingungen  continuirlich  erscheint, 
unter  anderen  Verhältnissen  aber  an  der  der  Unterbrechung  des 
primären   Bildes   entsprechenden  Stelle   einen   röthlichen   Fleck 


^  Zur  Herstellung  dieser  Linie  benutzte  ich  einen  20  cm  langen  Kohle- 
glühfaden, dessen  Glasliülse  von  einem  schwarzen  Blechmantel  umschlossen 
war ;  aus  letzterem  war  parallel  zum  Glühfaden  ein  ca.  20  cm  langer,  1  mm 
breiter  Schlitz  ausgeschnitten,  der  mit    weifsem  Papier  hinterlegt  wurde; 
der  Schlitz  erschien  dann  als   gleichmäfsig  helle  Linie,  deren  Lichtstärke 
durch   einen  passend  angebrachten   Rheostaten    innerhalb  ziemlich   weiter 
Grenzen   beliebig  variirt  werden  konnte.     lieber    die  Mitte    des   Schlitzes 
'Wurde  ein  schwarzer  Reif  gelegt,  dessen  Breite  gleichfalls  beliebig  variirbar 
^ar  und  im  Mittel  ca.  ^'a  cm   betrug.    Es  wurde  zum  Theile   mit  farbigen 
Gläsern  beobachtet,  zum  Theile  ohne  solche. 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  \ 


2  C.  Hefs. 

zeigt  (im  Folgenden  „Kopf"  genannt),  der  heller  als  die  seitliche 
Umgebung  ist.  (Genaueres  siehe  weiter  unten) ;  es  folgt  Phase  3 
als  ein  blaugrüner  Streif,  der  entsprechend  der  Unterbrechung 
des  primären  Bildes  eine  meist  deutliche  dunkle  Lücke  zeigt,  die 
aber  unter  gewissen  Versuchsbedingungen  zum  Theile  von  einem 
röthlichen  Nachbilde  eingenommen  werden  kann  (s.  u.).  Phase  4 
stellt  sich  als  ein  um  sehr  viel  breiteres  dunkles  Intervall  dar; 
entsprechend  der  Unterbrechung  im  primären  Bilde  tritt  hier  fast 
unmittelbar  nach  Abklingen  der  Phase  3  ein  schmaler  heller 
Streif  auf,  dessen  Helligkeit  zunächst  eine  nicht  unbeträchtliche 
ist,  nach  rückwärts  aber  allmählich  abnimmt,  so  dafs  er  eine 
gewisse  Aehnlichkeit  mit  einem  Kometenschweife  erhält  Seine 
Färbung  ist  im  Allgemeinen  zu  jener  des  ReizUchtes  complementär, 
doch  trifft  dies  nicht  in  so  ausgesprochener  Weise  zu,  wie  für 
die  Phase  3.  In  der  That  unterscheidet  sich  dieser  „Komet" 
(wie  wir  der  Kürze  halber  das  fragliche  inducirte  oder  Contrast- 
nachbild  nennen  wollen)  in  seiner  Farbe  meist  merklich  von  jener 
der  Phase  3.  Er  ist  aufserdem  etwas  weniger  hell  als  diese  Phase, 
seine  Farbe  weniger  gesättigt.  Bei  gelbrothem  Reizlicht  fand  ich 
den  Kometen  meist  leicht  gelblich  grün,  bei  leuchtend  rothera 
Reizlichte  grünlich.  Bei  Benutzung  der  weniger  gesättigten  gelben 
und  grünen  Gläser  war  die  Färbung  des  Kometen  zu  wenig  aus- 
gesprochen, um  eine  sichere  Beurtheilung  zu  gestatten.  Der 
Komet  erscheint  etwa  4 — 8  mal  so  lang  als  Phase  3.  Indem  seine 
Helligkeit  beständig  abnimmt,  entwickelt  sich  aus  ihm  schliefs- 
lich  eine  tiefdunkle  Furche,  die  in  etwas  hellerer  Umgebung 
sehr  deutlich  sichtbar  ist ;  diese  hellere  Umgebung  entspricht  der 
Phase  5  auf  den  vom  Reizlichte  getroffenen  Netzhautstellen. 
Mit  abnehmender  Helligkeit  dieser  Phase  wird  auch  die  mittlere 
Furche  dauernd  unsichtbar. 

Dieser  Komet  und  die  ihm  folgende  Phase  sind  so  leicht 
zu  sehen,  dafs  mehrere  Laien,  welchen  ich  den  Versuch 
zeigte,  sie  sofort  wahrnahmen.  Etwas  schwieriger  ist  die 
Beobachtung  der  dem  Kometen  vorausgehenden  Phasen,  die 
der  Unterbrechung  der  leuchtenden  Linie  entsprechen.  Bei 
passender  Helligkeit  und  geeigneter  Breite  dieser  Lücke  seh( 
ich  vor  Auftreten  des  gegenfarbigen  Kometen  eine  kurze,  ziem 
lieh  helle  Strecke  von  ähnlicher  Färbung,  wie  das  Reizlicht.  E; 
ist  schwer,  genauer  den  Zeitpunkt  des  Auftretens  dieses  Nach 
bildes   zu  bestimmen.    Es   wird   meist  etwas  früher  sichtbar  al 


Zur  Kenntnifs  des  Ablaufes  der  Erregung  im  Sehorgati.  3 

die  Phase  3,  so  dafs  es  zum  Theil  in  dem  der  Phase  2  ent- 
sprechenden dunklen  Intervall  erscheint.  Ob  es  von  dem  gegen- 
farbigen „Kometen"  regelmäfsig  durch  eine  dunkle  Strecke  ge- 
trennt ist  oder  continuirlich  in  sie  übergeht,  konnte  ich  nicht 
immer  sicher  unterscheiden.  Bei  etwas  höheren  Lichtstärken 
schien  ersteres,  bei  geringeren  letzteres  der  Fall  zu  sein. 

Bei  sehr  geringer  Lichtstärke  eines  röthlichen  Reizlichtes  sehe  ich 
inscheinend  in  unmittelharem  Anschlösse  an  die  Phase  3  einen  schwach 
dankelrothen,  ziemlich  kurzen  Schweif,  der  schon  dicht  bei  der  Lücke  der 
Phase  3  sichtbar  ist  und  ca.  2— 3 mal  so  lange  dauert  als  diese  Phase. 

Das  Wesentliche  der  ganzen  Erscheinung  besteht  nach  dem 
Geschilderten  darin,  dafs  eine  von  keinem  Lichtreize  ge- 
troffene Netzhautstelle  etwa  ^^ — '/o  Secunde  nach 
Erregung  benachbarter  Stellen  durch  mäfsig  helles 
Licht,  eine  Lichtempfindung  von  ansehnlicher 
Helligkeit  und  Dauer  vermitteln  kann. 

Man  kann  die  Unterbrechung  der  leuchtenden  Linie  so  breit 
nehmen,  dafs  bei  geeigneter  Bewegung  derselben  diese  Unter- 
brechung den  fovealen  Bezirk  annähernd  oder  vollständig  deckt 
Ich  fixirte  ein  feinstes,  schwach  leuchtendes  Pünktchen  im 
Dunkelziramer  und  bewegte  in  25  cm  Abstand  die  Lichtlinie, 
deren  Unterbrechung  1  cm  breit  war,  so  am  Auge  vorüber,  dafs 
die  Mitte  der  letzteren  über  das  Fixirpünktchen  glitt.  Unter 
solchen  LTmständen  wird  foveale  Netzhaut  gar  nicht  oder 
höchstens  nahe  ihren  äufsersten  (nasalen  und  temporalen) 
Grenzen  vom  ßeizlichte  getroffen:  Trotzdem  sind  der  gleich- 
farbige kurze  Kopf  und  der  gegenfarbige  Komet  auch  jetzt  mit 
der  fovealen  Netzhaut  deutlich  und  ohne  Unter- 
brechung zu  sehen. 

Im  Hinblicke  auf  etwaige  spätere  theoretische  Erörterungen 
bebe  ich   hervor,   dafs  also  auch  der  foveale  Bezirk  ohne  selbst 
durch    objectives    Licht    erregt    zu    sein,    lediglich    nach    kurz 
dauernder  Reizung   der  Umgebung  ein   helles,    zum   Reizlichte 
gegenfarbiges  Nachbild  von  merklicher  Dauer  zu  vermitteln  ver- 
mag, das  einen  Bruchtheil  einer  Secunde  nach  der  Reizung  auf- 
tritt.   Ebenso   hat  die   Adaptation   keinen   wesentlichen  Einflufs 
auf   die  Erscheinung,   sofern   selbstverständlich   der  gesteigerten 
Erregbarkeit  des   dunkeladaptirten    Auges   durch  Verminderung 
der  Lichtstärke  des  Reizlichtes  Rechnung  getragen  ist.    Die  zur 

Erzeugung  des  fraglichen  Nachbildes  geeignetesten  Lichtstärken 

1^- 


4  C.  Hefs. 

sind  im  Grofsen  und  Ganzen  die  gleichen  —  verhältni&mäfsig 
geringen  —  die  zur  Erzeugung  einer  deutlichen  Phase  3  hin- 
reichen. Während  aber  diese  letztere  bei  zunehmender  Licht- 
stärke oft  weniger  klar  und  deutlich  wird,  kann  man  den 
^Kometen"  auch  dann  noch  in  seiner  charakteristischen  Form 
sehen,  wenn  die  Lichtstärke  des  ReizUchtes  eine  beträchtlichere 
geworden  ist.  Zur  thunlichen  Vermeidung  von  Mifsverständ- 
nissen  betone  ich  aber,  dafs  er  auch  bei  geringer  Lichtstärke  des 
Reizlichtes  schon  deutlich  hervortritt.  Am  schönsten  fand  ich 
die  Erscheinung,  wenn  die  Unterbrechung  der  Glühlinie  bei 
einem  mittleren  Abstände  von  25 — 30  cm  vom  Auge  ca.  ^  j  cm 
breit  war;  doch  sah  ich  sie  einerseits  noch  bei  einer  Breite  der 
Unterbrechung  von  nur  1 — 2  mm  andererseits  auch  bei  einer 
solchen  von  mehr  als  1  cm. 

Nach  V.  Helmholtz  sollen  die  hierher  gehörigen  Er- 
scheinungen auf  „Urtheilstäuschungen"  zurückzuführen  sein  und 
es  giebt  noch  immer  Anhänger  dieser  Erklärungsweise.  Grerade 
für  sie  dürfte  der  vorstehend  beschriebene  Versuch  besonders 
lehrreich  sein,  da  wohl  bei  wenigen  Erscheinungen  jene  psycholo- 
gische Deutung  so  vollständig  versagt,  wie  hier:  Zu  emer  Zeit 
wo,  nach  v.  Kries,  der  Erregungsvorgang  bereits  vollständig  ab- 
geklungen sein  soll  (s.  d.  folgenden  Abschnitt)  tritt  an  Sehfeld- 
stellen, die  überhaupt  von  keinem  objectiven  Licht- 
reize getroffen  waren,  eine  Erregung  auf,  welche  als  lichter 
Streif  in  dunkler  Umgebung  zum  Ausdrucke  kommt. 

Unter  Berücksichtigung  der  Lehre  von  der  Wechselwirkung 
der  Sehfeldstellen  (Heking,  Mach)  wird  die  eigenartige  Erscheinung 
leicht  verständlich. 

IL    Ueber  die  Nachbilder  und  die  sogenannte 

V.  KRiEs'sche  Theorie. 

Im  25.  Bande  dieser  Zeitschrift  (S.  239)  macht  v.  Kries  einige 
Bemerkungen  über  eine  Arbeit  von  mir,  die  den  Ablauf  des 
Erregungsvorganges  nach  kurzdauernder  Reizung  des  Sehorgans 
beim  Normalen  und  beim  total  Farbenblinden  zum  Gegenstand 
hatte.    {Arch,  f.  Ophth.  51  (2),  225.) 

Da  die  v.  KRiEs'schen  Bemerkungen  dem  mit  meinen  Arbeiten 
nicht  Vertrauten  ein  vielfach  unzutreffendes  Bild  der  Sachlage 
geben  und  da  meine  in  den  letzten  7  Jahren  über  diesen  Gegen- 
stand veröffentlichten  Abhandlungen  alle  in  einer  anderen  Zeit— 


Zur  Kenntnifs  des  Ablaufes  der  Erregung  im  Sehorgan,  5 

Schrift  ^  erschienen  sind,  so  halte  ich  es  für  nothwendig,  auch  dem 
Leser  dieser  Zeitschrift  einen  kurzen  UeberbHck  über  die  wich- 
tigsten Punkte  in  dieser  Frage  zu  geben. 

Als  „V.  KniEs'sche  Theorie"  sind  in  der  letzten  Zeit  vielfach 
Anschauungen  bezeichnet  worden,  welchen  dieser  Name  in  keiner 
Weise  zukommt.  Diese  Theorie  setzt  sich  aus  2  von  einander 
unabhängigen  und  wohl  zu  sondernden  Annahmen  zusammen : 
Die  erste  Annahme  ist  die,  dafs  die  Stäbchen  die  Empfin- 
dung farbloser  Helligkeit  vermitteln  sollen  und  dafs  die  Farben- 
empfindung nur  durch  die  Zapfen  vermittelt  werde.  Diese  An- 
nahme ist  es  insbesondere,  die  oft  als  .,v.  KßiEs'sche"  bezeichnet 
wird.  Sie  ist  wohl  discutirbar,  stammt  aber  nicht  von  v.  Kuies, 
sondern  wurde  zuerst  1866  von  Max  Schültze  aufgestellt,  später 
wiederholt,  so  von  Kühne  und  von  Haab,  dann  von  Parinaud 
(1881 — 84)  in  einer  der  v.  KRiEs'schen  auffallend  ähnlichen  Form 
und  grofsentheils  auf  Grund  der  gleichen  Thatsachen  wie  später  von 
V.  Kries  eingehend  erörtert  und  physiologisch  zu  begründen  ge- 
sucht. (Die  bezüglichen  Angaben  der  genannten  Forscher  habe 
ich  in  der  Einleitung  zu  meiner  Arbeit  „Experimentelle  und 
kritische  Untersuchungen  über  die  Nachbilder  rasch  bewegter 
leuchtender  Punkte'*  (Arch,  f.  Ophth.  44,  3)  zusammengestellt.) 

Die    zweite    Annahme    hat   v.    Kries    selbst   zum    Urheber. 
Nach  ihr   soll  die  Erregung  in   den  Zapfen   sich  im  Sinne  der 
YocxG-HELMHOLTz'schen    Theorie    abspielen.     Danach    soll    also 
unter  Anderem  die  Empfindung  Weifs  auf  2  verschiedene  Arten 
zu  Stande   kommen ,   es  soll  zweierlei  Weifs   geben ,   ein   seiner 
Entstehung  nach  einfaches  (wie  es  auch  die  Theorie  der  Gegen- 
farben  annimmt)  und  ein  in  Gemäfsheit  der  Young-Helmholtz- 
schen  Theorie   entstehendes   „trichromatisches**  Weifs.    Die  Un- 
vereinbarkeit dieser  v.  KRiEs'schen  Hypothese   mit  einer  Reihe 
wichtiger  Thatsachen   ist   wiederholt   betont  worden;   sie  ergiebt 
sich   auch   aus    der    Untersuchung    der    Nachbilder   nach    kurz- 
dauernder Reizung  des  Sehorgans.    Als  .,v.  KniEs'sche  Theorie** 
schlechtweg  ist  im  Folgenden  nur  diese  letztere  Annahme  be- 
zeichnet,  während   die  erstere  richtiger  als  Max  ScHULTZE'sche 
Theorie  zu  bezeichnen  ist. 

Seine  Annahme  sucht  v.  Kries  unter  Anderem  durch  einige 
Beobachtungen  zu  stützen,  die  er  bei  Untersuchung  der  Nach- 
bilder bewegter  farbiger  Lichter  gemacht  hatte. 

'  Archiv  f  Ophthalm.  40  (2),  1894;  44  (3),  1897;  51  i2),  IJKX). 


6  C.  Eefs. 

Wird  eine  farbige,  nicht  zu  helle  Lichtquelle  am  Auge  vorüber- 
geführt, so  folgt  der  primären  Erregung  (Phase  1)  ein  kurzes 
dunkles  Intervall  (Phase  2),  darauf  eine  complementär  gefärbte 
helle  Strecke  (Phase  3),  dann  ein  längeres  dunkles  Intervall  (Phase  4), 
danach  eine  langdauernde  helle,  zur  primären  Erregung  gleich- 
farbige Strecke  (Phase  5)  und  darauf  wieder  ein  längeres  dunkles 
Intervall  (Phase  6). 

Ich  hatte  nun  in  meiner  letzten  Abhandlung  den  Nachweis 
geliefert,  dafs  v.  Kries  bei  seinen  Untersuchungen  die  ganzen, 
bei  mäfsiger  Lichtstärke  meist  mehrere  Secunden  lang  dauernden 
Phasen  4,  5  und  6  völlig  übersehen  hat.  v.  Kjiies  sucht  dies  zu 
bestreiten  mit  der  Behauptung:  „Die  gesammten  Erscheinungen, 
deren  Uebersehen  Hess  mir  vorwirft,  sind  unter  den  von  mir 
eingehaltenen  Beobachtungsbedingungen  in  der  That  nicht  vor- 
handen." Indem  v.  Kries  dem  Leser  vorenthält,  dafs  ich  die 
Irrigkeit  einer  solchen  Annahme  schon  in  meiner  letzten  Ab- 
handlung mit  schlagenden  Beweisen  dargethan  habe,  nöthigt 
er  mich,  meine  Widerlegungen  zum  Theil  wenigstens  eingehender 
zu  erörtern: 

Bei  einem  Theile  der  v.  KRiEs'schen  Beobachtungen  schlofs 
sich  die  Versuchsanordnung  „fast  genau"  der  von  Bidwell  ge- 
übten an.  Von  einer  runden  Thüröffnung,  die  mittels  einer 
elektrischen  Bogenlampe  mit  weifsem  oder,  durch  Entwerf  ung  eines 
reellen  Spectrums,  mit  farbigem  Lichte  erleuchtet  werden  konnte, 
wurde  auf  einem  weifsen  Schirme  mittels  Objectiv  und  Spiegel  ein 
reelles  Bild  entworfen,  das  bei  Rotation  des  Spiegels  auf  dem 
Schirme  eine  kreisförmige  Bahn  durchlief.  Bei  solcher  Versuchs- 
anordnung ist  nach  Bidwell  ein  (der  Phase  5  entsprechender) 
langer  lichter  Schweif  sichtbar,  der  fast  die  ganze  Bahn  ausfüllt.  Nun 
giebt  V.  Kries  aber  ausdrücklich  an,  dafs  er  ,.um  die  Farben  von 
gröfserer  Lichtstärke  zu  erhalten"  „in  vielen  Fällen  auch  farbige 
Gläser  unter  Verzicht  auf  die  spectrale  Zerlegung  verwendet 
habe".  Da  mit  zunehmender  Lichtstärke  Dauer  und  Deutlichkeit 
der  Phase  5  zunehmen,  so  geht  schon  hieraus  mit  Sicherheit 
hervor,  dafs  v.  Kries  die  Phasen  4,  5  und  6  wirklich  ganz  über- 
sehen hat.  Seine  vorher  citirte  Behauptung  war  um  so  imvor- 
sichtiger,  als  jeder  Anfänger  sich  leicht  von  ihrer  Irrigkeit  über- 
zeugen kann,  so  z.  B.  mittels  des  folgenden,  auf  S.  242  und  243 
meiner  letzten  Arbeit  ausführlich  geschilderten  Versuches :  Durch 
allmähliche    Abschwächung    der    Lichtstärke    des    als    Reizlicht;ii- 


Ztir  Kenntnifs  des  Ablaufes  der  Erregimg  im  Sehorgan.  7 

dienenden  Milchglasglühlämpchens  mittels  Rheostaten  suchte  ich 
die  geringste   zur  Erzeugung  einer  deuthch  sichtbaren  Phase  3 
nöthige  Lichtstärke  auf;   bei  sehr  geringer  Lichtstärke  erscheint 
diese  Phase  3  deutUch  sichtbar,  aber  farblos.    Ich  konnte  leicht 
feststellen,  dafs  „selbst  bei  den  geringsten  für  das  Sichtbarwerden 
der  dritten  Phase  eben   hinreichenden  Lichtstärken  stets  auch 
die  drei  folgenden  Phasen  sichtbar  sind,   und  dafs   ihr  Ablauf 
auch  jetzt  noch  mehrere  Secunden  in  Anspruch  nimmt.    Damit 
diese   dritte    Phase    deutlich   gegenfarbig   gesehen    werde,    sind 
höhere  Lichtstärken   nöthig;    dann   sind    aber   die   drei   letzten 
Phasen  beträchtlich  länger  sichtbar,  sofern  das  Auge  vor  weiterem 
Liehteinfall  geschützt  wird."     Diese  letztere,  eigentlich  selbstver- 
ständliche  Vorsichtsmaafsregel   hat  v.  Kries  ganz  aufser  Acht 
gelassen,  trotzdem  ich  ihn  wiederholt  auf  deren  Wichtigkeit  auf- 
merksam  gemacht  habe.    Denn  er  läfst  die  einzelnen  Reize  in 
Intervallen  von  1,5 — 2  Secunden  auf  einander  folgen;  zudem  sind 
Reiz-  und  Fixirlicht  beständig  sichtbar.    Es  ist  wohl  verständlich, 
dafs  V.   Kries   die   fraglichen  3  Phasen  (4,  5  und  6)  in  Folge 
dieses  Fehlers  übersehen  hat.    Dafs  sie  aber  bei  den  von  ihm  im 
Allgemeinen   benutzten   Lichtstärken   thatsächlich  vorhanden 
waren,  geht  schon  aus  den  oben  erwähnten  Versuchen  schlagend 
hervor.     (Dafs    eine   qualitative  Aenderung   des  Reizlichtes  bei 
seiner  Abschwächung  für  das  Typische  der  Erscheinung  bei 
den  fraglichen  Versuchen  nicht  in  Betracht  kommen  kann,  ist 
selbstverständlich,  soll  aber  im  Hinblick  auf  einen  von  v.  Kries 
erhobenen  Einwand  weiter  unten  eingehender  dargethan  werden). 
Auch  die  folgende  irrige  Angabe  von  v.  Kries  ist  darauf  zu- 
rückzuführen, dafs  er  die  fraglichen  3  Phasen  ganz  übersehen  hat 
Er  schreibt:    „Das  günstige  Stadium   für  die  Beobachtung  des 
Springens,  für  die  Bestimmung  der  Farbe,  für  die  Vergleichung 
der  Stärke  bei  verschieden  gefärbtem  primären  Bilde  u.  s.  w.  ist 
jenes,   in   dem   das  secundäre  Bild  noch  kurz  ist,   höchstens  wie 
es  etwa  die  von  mir  gegebene  Abbildung  zeigt  ....    In  diesen 
Fällen  dauert  also  der  ganze  Effect  der  Reizung  etwa  ^o  Secunde 
oder   noch   w^eniger   und   nicht   wie  Hess  für  die  von  mir  be- 
nutzten  Lichter  ausrechnet,   3 — 4  Secunden."    Diese  letzte  Be- 
hauptung ist  durchaus  unrichtig.    Selbst  bei  so*lichtschwachen 
Reizlichtern,   bei  welchen  die  Phase  3  nur  ganz  schwach  und 
farblos   gesehen  wird,   dauert  „der  ganze  Effect  der  Reizung" 
schon  mehrere  Secunden.    Bei  solcher  Erscheinungsweise   aber, 


8  C.  Hefs. 

wie  sie  v.  Kries  abgebildet  hat,  (wo  die  Phase  3  deutlich  gegen- 
farbig   erscheint),    dauert    dieser    Effect    meist    noch    mehrere 
Secunden  länger.    Die  viel  zu  rasche  Aufeinanderfolge  der  ein- 
zelnen Reize   bei   den  v.  KitiEs'schen  Versuchen  macht  also  die 
Beobachtung  des  ganzen  Verlaufes  unmöglich,    v.  Kries  schreibt 
femer:    „Bezüglich   der  sonstigen,  von  H.  erhobenen  Einwände 
sei    erwähnt,    dafs   die  Wiederholung   der   Reizung   durch    den 
rotirenden  Apparat  sicher  nicht  in  der  von  ihm  angenommenen 
Weise   als  Fehlerquelle  zu  betrachten  ist;   denn  es  versteht  sich 
ja  von  selbst,  dafs  man  die  Erscheinung  auch  sofort  bei  Fixirung 
der  Marke  nach  zuvor  abgewandtem  Auge,  also  bei  erstmaligem 
Vorübergang  des  Lichts  beobachten  kann."    Auch  dieser  Irrtum 
erledigt  sich  durch  das  vorher  Gesagte,    v.  Kjeües  kann  bei  der 
Wiederholung  der  Reizung  die  Phase  3  wohl  wahrnehmen,  nicht 
aber    die  3    folgenden  Phasen,    die    einen   integrirenden 
Bestandtheil    des    ganzen   Nachbildverlaufes   bilden 
und  unter  keinen  Umständen  bei  der  theoretischen  Betrachtung 
von  den  ersten  Phasen  getrennt  werden  dürfen. 

Es  ist  unverständlich,  wie  v.  Kries  immer  wieder  den  Ver- 
such machen  kann,  die  Verschiedenheit  unserer  Versuchsergeb- 
nisse durch  die  Annahme  der  Benutzung  zu  hoher  Lichtstärken 
meinerseits  zu  erklären,  angesichts  der  Thatsache,  dafs  ich  durch 
systematische  Abschwächung  der  Lichtstärke  des 
ReizHchtes  bis  zu  solchen  Stadien  gekommen  bin,  bei  w^elchen 
die  Phase  3  nicht  mehr  farbig,  sondern  farblos  gesehen  wird, 
während  die  v.  KRiEs'schen  Angaben  sich  auf  solche  Stadien  be- 
ziehen, in  welchen  die  Phase  3  farbig  erschien,  wozu  doch  be- 
trächtlich höhere  Lichtstärken  nöthig  sind,  als  zu  Erzeugimg 
einer  farblosen  Phase  3.  Einen  thatsächlichen  Irrthum  enthält 
auch  die  folgende  Behauptung  von  v.  Kries  :  „Hess  hat  aus  der 
von  Samojlow  gegebenen  Beschreibung  eines  von  ihm  und  über- 
haupt in  meinem  Institut  benutzten  Apparates  geschlossen,  dafs 
ein  Milchglas,  aus  einer  Entfernung  von  ca.  50  cm  durch  2  oder 
3  Auerbrenner  transparent  beleuchtet  eine  für  unsere  Beobach- 
tungen angemessene  und  von  uns  im  Allgemeinen  benutzte 
Lichtstärke  darbiete."  Meine  Abhandlung  giebt  nirgends  einen 
Anhalt  für  die  Aufstellung  einer  solchen,  nur  aus  sehr  flüchtiger 
Lektüre  zu  erklärenden  Behauptung;  der  aufmerksame  Leser 
wird  sich  leicht  von  ihrer  Irrigkeit  überzeugen,  v.  Kries  scheint 
sich  auf  einen  Versuch  zu  beziehen,  den  ich  unter  vielen  anderen 


Zur  Kmutnifs  des  Ablaufes  der  Erregu7ig  im  Sehorgan,  Q 

angestellt  habe,  um  zu  sehen,  wie  bei  den  höchsten  mit  dem 
SAMOJLOFF'schen  Apparate  erhältlichen  Lichtstärken  die  Nach- 
bilder sich  verhalten.  Dafs  ich  ausführlich  Versuchsreihen  ge- 
schildert habe,  bei  welchen  nur  ein  einziger  Auerbrenner  benutzt 
wurde,  sowüe  solche,  bei  welchen  farbige  Gläser  (mit  Milchglas) 
mit  2  oder  3  Auerbrennern  benutzt  wurden,  und  dafs  ich  diese 
Versuche  ausdrücklich  als  die  wichtigeren  bezeichnet  habe, 
—  das  unterläfst  v.  Kries  anzuführen  und  giebt  durch  diese 
partielle  Erwähnung  meiner  Beobachtungen  dem  Leser  ein  un- 
zutreffendes Bild  der  Thatsachen.  Nun  konnte  ich  aber  zeigen, 
dafs  auch  bei  diesen  geringeren  Lichtstärken  der  Ablauf  der  Er- 
regungsvorgänge 4—7  Secunden  und  mehr  in  Anspruch  nimmt, 
i?ofern  nur  die  Fehler  der  v.  KßiEs'schen  Versuchsanordnung 
vennieden  sind. 

Dafs  V.  Kries  auch  bei  den  Versuchen  mit  adaptirtem  Auge 
vermuthlich  verhältnifsmäfsig  höhere  Lichtstärken  angewendet 
hat,  als  ich,  geht  u.  A.  daraus  hervor,  dafs  er  auf  die  gesteigerte 
Lichtempfindlichkeit  des  dunkeladaptirten  Auges  Rücksicht  zu 
nehmen  nicht  für  nöthig  gefunden  hat,  während  ich  diesem 
Umstände  selbstverständlich  stets  Rechnung  getragen  habe. 

V.  Kries  hatte  angegeben,   dafs  die  Phase  3  auf  der  Fovea 
fehle  und  hatte  dies  —  auffälligerweise  —  mit  seiner  Hypothese 
in  Einklang  gefunden.    Bei  Vermeidung  der  Fehlerquellen   der 
V.  KRiEs'schen  Versuchsanordnung  konnte   ich   mich  von    dem 
angeblichen   Ausfalle    jener   Phase    im    fovealen   Bezirke   nicht 
überzeugen,    v.  Kries  übt  nun   an  verschiedenen   der  von  mir 
angegebenen    Versuchsanordnungen    Kritik,    ohne    diese    einer 
Nachprüfung  unterworfen  zu  haben.    Wenn  er  sich  der  kleinen 
Mühe   unterzogen   hätte,    die    einfachsten    meiner  Versuche    zu 
wiederholen,  so  würde  er  es  z.  B.  nicht  „für  zweifelhaft  halten^ 
können,   dafs  es  möglich  ist,   „die   selbst  nicht  sichtbare  Mitte" 
zwischen  zwei  leuchtenden  Fixirzeichen  „mit  genügender  Sicher- 
heit zu  fixiren,  zumal  wenn  ein  relativ  helles  Objeet  im  Gesichts- 
feld bewegt  wird**.    Etwas  eingehender  mufs  ich  den  folgenden 
Einwand  besprechen:  v.  Kries  sagt:  „Für  empfehlenswerth  kann 
ich   auch   die   von  Hess  versuchte   Methode  nicht   halten,   eine 
längere  Lichtlinie  als  Objeet  zu  benutzen,  deren  mittleres  Stück 
über  die  Fovea  läuft  und   nun   zu   sehen,   ob  im  Nachbild  die 
Linie  unterbrochen  erscheint.    Es  ist  doch  klar,   dafs  man   hier 
mit  all  den  bekannten  Schwierigkeiten  zu  rechnen   hat,   die  der 


10  C,  Hefs. 

subjectiven  Wahrnehmung  eines  kleinen  Scotoms  immer  ent- 
gegenstehen. Wenn  man  eine  Lichtstärke  herstellt,  die  central 
nicht  gesehen  wird,  bei  der  man  also  ein  kleines  Object  zum 
centralen  Verschwinden  bringen  kann,  und  dann  eine  gröfsere 
Fläche  von  derselben  Helligkeit  betrachtet,  so  weifs  man,  wie 
schwer  es  ist,  die  centrale  Lücke  sicher  wahrzunehmen.  Es 
gelingt  wohl,  wie  Hess  selbst  angiebt,  im  ersten  Moment  der 
Beobachtung;  aber  selbst  diese  Beobachtung  erfordert  schon 
grofse  Aufmerksamkeit  und  eine  gewisse  üebung.  Was  will  es 
also  besagen,  wenn  man  die  centrale  Unterbrechung  eines  Nach- 
bildes nicht  constatiren  kann.'* 

Gegen  diese  Argumentirung  ist  eine  Reihe  von  Einwänden 
zu  erheben.  Zunächst  erscheint  es  unzulässig,  die  Verhältnisse 
bei  Beobachtung  einer  hellen  Fläche  ohne  W^eiteres  auf  jene 
bei  Beobachtung  einer  Lichtlinie  zu  übertragen.  Ein  ein- 
facher Versuch  zeigt  ferner,  dafs  eine  noch  viel  kleinere 
Unterbrechung  der  Nachbildlinie,  als  dem  fovealen  Bezirke  ent- 
sprechen würde,  deutlich  und  leicht  wahrnehmbar  ist. 

Ich    schiebe    über    die    Mitte   der   zur    Reizung    benutzten 
leuchtenden  Linie  (s.  die  vorhergehende  Abhandlung)  einen  matt- 
schwarzen  Ring  von  5  mm  Breite.    Bewege   ich   nun   die  Licht- 
Unie  in   '^ — 1  m  Abstand  vor  dem  Auge  vorbei,  so  fällt  im  Vor" 
wie  im  Nachbilde  die  betreffende  Strecke  aus;  dieser  Ausfall  is** 
als  deutliche  Unterbrechung  der  Nachbildhnie  auffällig  sieht;  ^ 
bar.    Nun  beträgt  nach  den  früheren  Angaben  von  v.  Kries  de:^ 
horizontale  Durchmesser  des  dem  stäbchenfreien  Netzhautbezirk^^ 
entsprechenden  Gesichtsfeldbezirkes,   auf  1  m  Abstand   projicirt;-^ 
35 — 38  mm  für  das  Auge  eines  seiner  Schüler,  55  mm   für  seir»- 
eigenes  Auge.    Nehmen  wir  nur  36  mm  für  diesen  Durchmesset 
an,  so  müfste  bei  den  fraglichen  Versuchen  (wenn  die  Linie  z.  B- 
von  oben  nach  unten  am  Auge  vorübergeführt  wird)  die  foveale 
dunkle  Unterbrechung  der  Nachbildlinie  mehr  als  5-,  bezw.  7  mal 
länger  sein  als  jene  bei  Benutzung  des  Ringes  von  5  mm  Breite; 
da  im  letzteren  Falle  die  Nachbildunterbrechung  noch  mit  voller 
Deutlichkeit  sichtbar  ist,  wird  man  nicht  wohl  einwenden  können, 
es  sei  zu  schwer,  die  5 — 7  mal  längere  Unterbrechung  im  ersteren 
Falle  wahrzunehmen.    Noch  überzeugender  ist  der  folgende  Ver- 
such: Wenn  man  einen  Draht  von   weniger  als  ^L,  ^^^^  Durch- 
messer über  den   leuchtenden  Schlitz   legt,   so  sieht   man   selbst 
jetzt  bei  Bewegung  des  Rohres  an  der  dem  Drahte  entsprechen- 


Zur  Kennfnifs  des  Ablaufes  der  Ei'regung  im  Sehorgan.  H 

den  Stelle  des  Nachbildes  deutlich  eine  dunkle  Unterbrechung; 
man  kann  die  Lichtstärke  des  Reizlichtes  so  wählen,  dafs  die 
Unterbrechung  der  Vorbildlinie  durch  den  Draht  in  Folge  der 
Irradiation  kaum  oder  gar  nicht  bemerkt  wird;  so  ist  dem 
etwaigen  Einwände  vorgebeugt,  dafs  die  sichtbare  Unterbrechung 
des  Vorbildes  die  Sichtbarkeit  jener  des  Nachbildes  erleichtern 
könne.  Im  Nachbilde  ist  bei  diesem  Versuche  die  Unterbrechung 
deutlich  sichtbar  und  doch  ist  ihr  Durchmesser  kaum  den 
siebzigsten  Theil  so  grofs  als  die  angebliche,  dem  fovealen 
Bezirke  entsprechende  Unterbrechung,  von  der  v.  Kbies  meint, 
dafs  sie  bei  diesen  Versuchen  zu  leicht  übersehen  werden  könne ! 

Ferner  läfst  v.  Kries  aufser  Acht,  dafs  bei  meinen  Versuchen 
die  Beobachtung  des  fovealen  Theiles  der  Nachbildlinie  leicht 
und  sicher  genug  ist,  um  in  vielen  Fällen  festzustellen,  dafs  das 
foveale  Nachbild  eine  kurze  Zeit  später  auftritt,  als  das  extra- 
foveale,  was  sich  in  einer  entsprechenden  schwachen  Einbuchtung 
der  vorderen  Grenzlinie  des  fovealen  Nachbildtheiles  kund  giebt. 
Solche  Erscheinungen  kann  man  doch  wohl  nur  wahrnehmen, 
wenn  der  fragliche  Nachbildtheil  wirklieh  sichtbar  ist. 

Endlich  möge  mir  v.  Kries  gestatten,  darauf  aufmerksam 
zumachen,  dafs  er  selbst  das  jetzt  von  ihm  so  scharf  ver* 
urtbeilte  Princip  der  bewegten  Lichtlinie  empfohlen  hat,  um  die 
von  ihm  behauptete  foveale  Unterbrechung  des  Nachbildes  nach- 
zuweisen, und  dies  sogar  in  einem  Falle,  wo  die  Wahrnehmung 
der  Erscheinung  schwieriger  ist  als  gewöhnlich.  Er  schreibt  im 
XII.  Bande  dieser  Zeitschr,  S.  93,  bei  Besprechung  der  mit  starjc 
dunkeladaptirtem  Auge  wahrnehmbaren  Erscheinungen :  „Das 
Fehlen  an  der  Stelle  des  deuthchsten  Sehens  ist  freilich  hier, 
wo  der  Schweif  sich  dem  primären  Bilde  unmittelbar  anschliefst, 
schwieriger  zu  sehen.  Doch  kann  man  sich  auch  davon  ganz 
wohl  überzeugen.  Ich  fand  es  dazu  am  vortheilhaftesten,  dem 
laufenden  Lichtbilde  die  Gestalt  eines  Streifens  zu 
geben  ^,  der  z.  B.  horizontal  liegt  und  den  Fixationspunkt 
vertical  aufsteigend  passirt.  Ueberdies  hält  man  zweckmäfsig 
einen  Schirm  mit  seinem  oberen  horizontalen  Rande  derart  vor 
die  Augen,  dafs  der  blaue  Streifen  erst  dicht  am  Fixationspunkte 
dahinter  auftaucht.  Alsdann  sieht  man  recht  gut,  dafs  das  blaue 
Bild  rechts  und  links  zwei  weifse  Schwänze  hinter  sich  herzieht. 


*  Bei  V.  Kries  nicht  gesperrt  gedruckt. 


12  C.  Hefs, 

welche  gegen  den  Fixationspunkt  zu  unscharf  begrenzt  sind, 
diesen  aber  selbst  frei  lassen.  Erst  etwas  über  dem  Fixations- 
punkte  erstreckt  sich  der  weifse  Schein  von  rechts  nach  links 
continuirhch." 

V.  Kriks  hat  hier  den  (bei   dem  Principe   der  leuchtenden 
Linie  besonders  leicht  zu  vermeidenden)  Fehler  begangen,  einen 
leuchtenden  Fixirpunkt  zu  benutzen  und  sich   die  Beobachtung 
durch  den  vorgeschobenen  Schirm  unnöthig  erschwert.   Trotzdem 
hat  ihm  die  Methode  gute  Dienste  geleistet.    Wir  begegnen  also 
der    bemerkenswerthen    Thatsache,    dafs    v.    Kries    ein    Unter- 
suchungsprincip   als  besonders   vortheilhaft  empfiehlt,   wenn  die 
damit  gewonnenen  Ergebnisse   seine  Anschauungen   zu  stützen 
scheinen,   dafs  er  aber  dieses  Princip   scharf  verurtheilt,  wenn 
damit   Ergebnisse    erzielt   werden,    die    seinen   Ansichten   nicht 
entsprechen. 

Man  kann  gegen  das  Gesagte  nicht  einwenden,  dafs  die  Einzelheiten 
des  Versuches  bei  v.  Kries  etwas  andere  waren  als  bei  mir.  Die  Benutzung 
eines  Schirmes  sowohl,  wie  die  eines  Fixirpunktes  macheu  die  Beobachtung 
nur  schwieriger.  Denn  wenn  der  blaue  Streifen  erst  dicht  am  Fizations- 
punkte  hinter  dem  Schirme  auftaucht,  so  kann  ein  mehr  oder  minder 
grofser  Theil  des  fovealen  Bezirkes  durch  den  Schirm  ausgeschaltet  sein, 
ein  eventueller  Ausfall  des  Nachbildes  also  immer  in  kleinerer  Ausdehnung 
statthaben,  als  ohne  Schirm.  Ein  leuchtender  Fixirpunkt  ist  auch  hier 
durchaus  zu  verwerfen,  da  der  foveale  Bezirk  dadurch  ermüdet  wird  und 
da  die  dauernde  Sichtbarkeit  dieses  Lichtpunktes  die  Wahrnehmung  des 
fovealen  Nachbildes  stören  mufs.  Der  Vorzug  der  Beobachtung  mit  be- 
wegter Lichtlinie  ist  ja  eben,  dafs  ein  Fixirpunkt  ganz  überflüssig  ist. 
Dafs  die  hier  von  v.  Kkies  erwähnten  blauen  Lichter  wegen  der  macularen 
Absorption  für  diese  Versuche  vorzugsweise  ungeeignet  sind,  sei  nur  bei- 
läufig erwähnt. 

V.  Kries  erhebt  gegen  die  von  mir  angegebenen  Methoden 
noch  den  folgenden  sonderbaren  Einwand:  „Insbesondere  ist 
die  Regulirung  der  Lichtstärke  durch  Rheostaten  ein  äufserst 
bedenkliches  Verfahren,  weil  man  stets  mit  der  Stärke  des 
Lichtes  auch  seine  Qualität  resp.  Zusammensetzung  in  erheb- 
lichstem Maafse  ändert  ....  Ohne  Anwendung  von  Rauch- 
gläsern u.  dergl.  ist  in  der  That  die  Glühlampe,  wie  es  scheint, 
zu  diesen  Beobachtungen  ganz  vorzugsweise  ungeeignet,  weil 
bei  der  Abschwächung  des  Glühens  das  Licht  roth  wird;  es  ist 
wohl  denkbar,  dafs  ein  für  die  Beobachtungen  qualitativ  und 
quantitativ  geeignetes  Licht  auf  keinem  Punkte  der  Glühstärke 
erreicht  wird.**     Es  ist  unverständlich,  was  dieser  Einwand   soll: 


Zur  Kenntnifs  des  Ablaufes  der  Blrregimg  im  Sehorgan.  13 

Die  fragliche  Versuchsanordnung  erfüllt  ihren  Zweck  vollständig, 
sobald  sie  die  Phase  3  deutlich  zur  Anschauung  bringt.  Eine 
-Abschwächung  und  damit  verbundene  Aenderung  der  Zusammen- 
setzung des  Reizlichtes  kann  doch  höchstens  eine  Aenderung  in 
der  Farbe  oder  bei  genügender  Abschwächung  ein  Farblos-  oder 
Tölliges  Unsichtbarwerden  der  3.  Phase  zur  Folge  haben. 

Solange  man  die  Phase  3  auf  ihre  Farbe,  ihr  Verhalten  im 
fovealen  Bezirke  oder  bei  Dunkeladaptation  untersucht,  wird 
man  selbstverständlich  nicht  das  Reizlicht  bis  zum  Unsichtbar- 
werden der  Phase  abschwächen.  Solange  sie  aber  sichtbar  ist, 
kommt  die  Qualitätsänderung  des  Reizlichtes,  insoferne  durch 
sie  nur  die  Farbe  der  dritten  Phase  geändert  wird,  für  unsere 
Erörterungen  gar  nicht  in  Betracht;  v.  Kries  hat  bisher  nichts 
darüber  angegeben,  dafs  die  Phase  3  bei  verschiedener  Färbung 
derselben  sich  auf  der  Fovea,  im  adaptirten  Auge  etc.  ver- 
schieden verhalte,  solange  sie  überhaupt  sichtbar  ist.  (Das  von 
mir  benutzte  Licht  war  auch  bei  der  äufsersten  Abschwächung, 
die  ich  anwandte,  noch  deutlich  gelbroth;  die  brechbareren 
Strahlen  waren  also  stets  in  für  unsere  Zwecke  zureichendem 
Maafse  vorhanden.) 

Dieser  v.  KRiEs'sche   Angriff,    dessen   Unhaltbarkeit   durch 
das  Gesagte   schon  genügend   dargethan  ist,    mufs   um  so   selt- 
samer erscheinen,  wenn  man  sich  erinnert,   dafs  v.  Kuies  selbst 
bei  seinen  Versuchen  zur  Abschwächung  des  Reizlichtes  Rauch- 
gläser etc.  benutzt.    Sollte  es  ihm  wirklich  ganz  unbekannt  sein, 
'     dafs   die   gebräuchlichen   Rauchgläser   keineswegs   nur    auf   die 
Quantität   einer  Lichtquelle  von  Einflufs   sind,   sondern  im  All- 
gemeinen auch  die  Qualität  merklich  verändern?    Der  spectro- 
skopische    Vergleich    einer    beliebigen    Lichtquelle    bei    directer 
Betrachtung  und  bei  Betrachtung  durch  einige  rauchgraue  Gläser 
genügt  zum  Nachweise  dieser  übrigens  wohl  allgemein  bekannten 
Thatsache.    Was  also  der  Einwand  gegen  die  von  mir  benutzte 
Methode  der  Abschw^ächung  des  Reizlichtes   soll,   ist  nicht  ein- 
zusehen. 

Es  ist  einleuchtend,  dafs  für  systematische  Versuche  die 
Methode  der  allmählichen  Abschwächung  des  Reizlichtes  in 
jeder  Hinsicht  den  Vorzug  verdient  vor  der  v.  KßiEs'schen  Ab- 
schwächung mittels  Rauchgläsern;  denn  die  letzteren  gestatten 
doch  immer  nur  eine  eng  begrenzte  Zahl  von  Abstufungen  der 
Lichtstärken. 


14  C.  Hefs. 

Ueber  den  Einflufs  der  Adaptation  auf  die  fraglichen  Nadi- 
bilderscheinungen  finden  wir  bei  v.  Kries  dreierlei  mit  einander 
in  Widerspruch  stehende  Angaben:  In  seinen  ersten  Aufsätzen 
gab  er  an,  dafs  das  fragliche  Nachbild  (Phase  3)  „bei  dunkel- 
adaptirtem  Auge  bei  Weitem  am  schönsten  zu  sehen  sei".  In 
den  folgenden  Aufsätzen  hiefs  es  im  Gegentheil,  dafs  „die 
schönste  und  eleganteste  Erscheinungsweise  bei  hell-  oder 
schwach  dunkeladaptirtem  Auge  gesehen  werde",  ja  dafs  durch 
lange  Dunkeladaptation  die  Phase  3  ».wirklich  fortfällt".  Nach- 
dem ich  die  Unrichtigkeit  dieser  letzteren  Angaben  in  einer  be- 
sonderen Untersuchungsreihe  mit  langdauernder  Dunkeladaptation 
nachgewiesen  hatte,  wurde  der  fragliche  Punkt,  obschon  ihn 
V.  KiiiEs  früher  als  „besonders  wichtig"  bezeichnet  hatte,  in 
einer  gegen  meine  Untersuchungen  gerichteten  Abhandlung  eines 
V.  KßiEs'schen  Schülers  (Samoiloff)  vollständig  mit  Stillschweigen 
übergangen.  In  seiner  letzten  Arbeit  wiederum  macht  v.  Kries 
über  den  Einflufs  der  Adaptation  folgende  Angaben: 

„Das  secundäre  Bild  (sc.  Phase  3),  w^elches  ca.  ^^  See.  nach 
dem    primären    beginnt,    zeigt   eine    mit   zunehmender   Dunkel- 
adaptation beständig  zunehmende  Länge,  ist  aber   zuerst  gan^ 
kurz,  um  sich  erst  allmählich   in  einen   längeren   und  längerer^ 
Schweif  auszuziehen.     Von  der  Lichtstärke  hängt  es  ab,   ob  d3^ 
secundäre  Bild   sogleich  nach  Verdunkelung  des  Beobachtung'^* 
raumes    sichtbar   ist   oder   erst   nach    kürzerem    oder    längerei^^ 
Dunkelaufenthalt  sichtbar  wird.    Nach  längerer  Adaptation  i^'^ 
der  Schweif  so  lang,  dafs  die  ganze  Peripherie  mit  einem  Lich'i^' 
nebel  erfüllt  erscheint." 

Nach  diesen  so  verschiedenen  Angaben  kann  kein  Leser 
sich  ein  Bild  davon  machen,  welches  nun  eigentlich  v.  Kries' 
Ansicht  über  den  Einflufs  der  Adaptation  ist,  noch  viel  weniger  von 
den  Thatsachen  selbst.  Es  ist  daher  vielleicht  nicht  überflüssig, 
wenn  ich  betone,  dafs  der  Typus  des  Verlaufes  der  Nachbilder 
bei  allen  Graden  von  Dunkeladaptation  der  gleiche  ist,  wie  im  hell- 
adaptirten  Auge,  sofern  nur  der  gesteigerten  Lichtempfindlichkeit 
des  dunkeladaptirten  Auges  durch  entsprechende  Minderung  der 
Lichtstärke  des  Reizlichtes  Rechnung  getragen  ist.  Auch  diese 
Vorsiclitsmaafsregel  hat  v.  Kries  aufser  Acht  gelassen ;  ich  mufs 
es  dahingestellt  sein  lassen,  ob  hierauf  seine  von  den  meinigen 
abweichenden  Angaben  bezogen  werden  können.  Jedenfalls 
kann  man  oft  beobachten,   dafs   bei   einer  für  das   helladaptirte 


Zur  Kenntnifs  des  Ablaufes  der  Erregung  im  Sehorgan,  15 

Auge  passenden  Lichtstärke  des  Reizlichtes  das  gut  dunkel- 
adaptirte  die  Phase  3  nicht  mehr  deutlich  wahrnimmt,  dafs  aber 
dann  eine  entsprechende  Verminderung  dieser  Lichtstärke  genügt, 
um  die  fragliche  Phase  wieder  mit  voller  Deutlichkeit  hervor- 
treten zu  lassen.  Auch  die  Angabe,  dafs  „nach  längerer  Adap- 
tation der  Schweif  so  lang  sei,  dafs  die  ganze  Peripherie  von 
einem  Lichtnebel  erfüllt  erscheint"  beweist,  dafs  v.  Kkies  hier 
zu  hohe  Lichtstärken  benutzt  hat,  jedenfalls  viel  höhere  als  ich 
bei  meinen  Versuchen  mit  adaptirtem  Auge.  Denn  wenn  man 
der  gesteigerten  Lichtempfindlichkeit  entsprechend  die  Licht- 
stärke des  Reizlichtes  mindert,  so  erscheint  auch  nach  viel- 
stündiger  Dunkeladaptation  die  Form  der  Phase  3  im  Wesent- 
lichen genau  so,  wie  dem  helladaptirten  Auge  bei  gleicher  Ge- 
schwindigkeit der  Bewegung,  nicht  aber  in  einen  langen  Schweif 
ausgezogen.  Die  Dauer  der  Sichtbarkeit  dieser  Phase  übertrifft 
auch  im  adaptirten  Auge  jene  der  Sichtbarkeit  des  Vorbildes 
nur  wenig. 

Endlich  hatte  ich  in  meiner  Arbeit  den  Nachweis  geliefert, 
dafs  die  v.  KuiKs'schen  Beobachtungen,  selbst  wenn  sie  richtig 
wären,  nicht  als  Stütze  für  die  von  ihm  gemachte  Annahme 
aufgeführt  werden  könnten,  wonach  sich  die  Erregung  in  den 
Zapfen  in  Gemäfsheit  der  YouNO-HELMHOLTz'schen  Theorie  ab- 
spielen soll  und  dafs  die  Erklärung  in  einer  anderen  als  der 
von  V.  KiiiEs  gewollten  Richtung  gesucht  werden  müsse.  Als 
Beispiel  führte  ich  (unter  eingehender  Begründung)  an,  nach 
seiner  Theorie  wäre  zu  erwarten,  dafs  die  Phase  3  im  fovealen, 
stäbchenfreien  Bezirke  nicht  ausfiele,  sondern  dafs  hier  eine  sehr 
gesättigte  farbige  Strecke,  dunkler  als  die  Umgebung,  sichtbar 
werden  müfste  und  dafs  ein  Gleiches,  aus  anderen  Gründen,  für 
das  dunkeladaptirte  Auge  zu  vermuthen  wäre. 

v.  Kries  fafst  in  seiner  Entgegnung  seine  Ansicht  noch 
einmal  dahin  zusammen,  „dafs  eine  eigenartige  Function  nach- 
gewiesen werden  kann,  hinsichtlich  deren  auch  bei  schwach  oder 
gar  nicht  dunkeladaptirtem  Auge  die  Reizwerthe  der  ver- 
schiedenen Lichter  sich  wie  die  Dämmerungswerthe  verhalten 
und  dafs  diese  Function  in  einem  centralen  Bereich  fehlt  .  .  . 
üeber  ihre  (sc.  dieser  C'Onstatirung)  theoretische  Bedeutung  weiter 
zu  streiten,  dürfte  kaum  von  Nutzen  sein." 

Ich  bedauere  auch  hier  einen  von  dem  v.  KniEs'schen  durch- 
aus verschiedenen  Standpunkt  einnehmen   zu  müssen.    Solange 


16  C,  Hefs, 

man  eine  Theorie  vertritt,  sollte  man,  wie  mir  scheint,  auch 
bemüht  sein,  auffällige  Widersprüche  zwischen  dieser  und  einer 
Reihe  fundamentaler,  leicht  zu  constatirenden  Thatsachen  zu 
erklären,  wenn  letztere  ursprünglich  zur  Stütze  der  Theorie  her- 
angezogen worden  waren.  Denn  wer  auf  eine  Lösung  solcher 
Widersprüche  verzichtet,  kann  leicht  in  den  Verdacht  kommen, 
eine  befriedigende  Erklärung  der  Thatsachen  nicht  geben  zu 
können. 

Die  Hypothese,  die  von  Kries  vertheidigt,  stellt  insofern 
eine  wesentliche  Annäherung  an  die  von  Hering  seit  langer 
Zeit  vertretenen  Anschauungen  dar,  als  sie  eine  von  der  farbigen 
mehr  oder  weniger  unabhängige  farblose  Empfindungsreihe  an- 
nimmt. In  seinen  ersten  Abhandlungen  machte  v.  Kries  diese 
Annahme  nur  für  die  extrafoveale  Netzhaut,  später,  auf  die  von 
Hering,  Tschermak,  mir  u.  A.  gemachten  Einwendungen  hin, 
hat  er  die  Möglichkeit  einer  solchen  von  der  farbigen  mehr  oder 
weniger  unabhängigen  farblosen  Empfindungsreihe  auch  für  den 
fovealen  Bezirk  zugegeben,  wo  der  „Dunkelapparat"  „nur  in 
äufserst  reducirtem  Maafse"  vorhanden  sein  soll.  v.  Kries  nimmt 
also  hier  nur  noch  quantitative  Unterschiede  zwischen  fovealem 
und  extrafovealem  Gebiete  an.  In  seiner  letzten  Abhandlung 
aber  spricht  er  wieder  von  dem  „Fehlen"  der  fraglichen  Function 
in  einem  centralen  Bereich.  Es  ist  also  auch  hier  schwer  zu 
ersehen,  welches  eigentlich  die  v.  KRiEs'sche  Ansicht  ist ;  für  die 
Theorie  ist  dies  insofern  gleichgültig,  als  die  Thatsachen  mit 
der  einen  wie  mit  der  anderen  Fassung  der  Hypothese  in  Wider- 
spruch stehen. 

Aus  meinen  Beobachtungen  geht  hervor,  dafs  v.  Kries  in 
Folge  der  mehrerwähnten  Fehler  seiner  Untersuchungsmethoden 
die  drei  der  Zeit  nach  längsten  Phasen  des  nach  kurzdauernder 
Reizung  des  Sehorgans  wahrnehmbaren  Nachbild  verlauf  es  ganz 
übersehen  hat,  die  einen  integrirenden  Bestandtheil  des  Phäno- 
mens bilden,  bei  den  von  ihm  in  der  Regel  benutzten  Licht- 
stärken stets  vorhanden  und  bei  richtiger  Versuchsanordnung 
leicht  wahrnehmbar  sind;  ferner,  dafs  seine  Angaben  über  das 
Fehlen  der  Phase  3  im  fovealen  Gebiete  und  bei  längerer 
Dunkeladaptation  den  Thatsachen  nicht  entsprechen.  Weiter 
zeigte  sich,  dafs  die  fraglichen  von  mir  mitgetheilten  Thatsachen 
und   Beobachtungen   an   Normalen  wie   an  total  Farbenblinden 


Zur  Kenntnifs  des  Ablaufes  der  Erregung  im  Sehorgan^  17 

in  Widerspruch   stehen   mit  der  v.  KaiEs'schen  Hypothese  so-  , 
wohl  in  deren  älterer,  wie  in  der  neueren  Fassung,  insoweit 
diese  Hypothese  neu  und  v.  Keies  eigenthümlich  ist 

Erklärung  der  Abbildung. 

In  der  Figur  habe  ich  versucht,  eine  annähernde  Vorstellung  der 
vorstehend  geschilderten  Erscheinungen  zu  geben,  wie  sie  bei  mäCsiger 
Lichtstärke  des  Reizlichtes  wahrnehmbar  sind.  Der  mit  solchen  Versuchen 
Vertraute  weifs,  wie  schwierig  es  ist,  eine  so  flüchtige  Erscheinung  natur« 
^treu  wiederzugeben;  ich  betone  daher  ausdrücklich,  dafs  die  Abbildung 
vorwiegend  zu  dem  Zwecke  angefertigt  wurde,  das  Verständnifs  der  Be* 
Schreibung  zu  erleichtern  und  für  Nachprüfungen  einen  Anhaltspunkt  zu 
geben.  Ich  habe  von  den  Nachbildern  des  bewegten  gelbrothen  Objectes  nur 
die  ersten  5  Phasen  wiedergegeben ;  der  Phase  5  folgt  an  den  von  objectivem 
Lichte  getroffenen  Stellen  stets  (auch  bei  sehr  geringen  Lichtstärken  des 
Reizlichtes)  eine  6.  Phase  als  sehr  dunkles  Band  in  weniger  dunkler  Um- 
gebung, das  meist  mehrere  Secunden  lang  sichtbar,  und  ebenso  wie  Phase  4 
und  5  von  v.  Kbibs  ganz  übersehen  worden  ist. 

(Eingegangen  am  15.  Juni  1901.) 


Zeitschrift  für  Psychologie  27.  ^1 


(Aus  dem  philosophischen  Seminar  der  Universität  Graz.) 

J        lieber  den  Einflufs  der  Gefühle  auf  die  Vorstellungs- 

bewegiing. 

Von 

Dr.  Robert  Saxinqeb. 

§  1. 

Die  Erkenntnifs,  dafs  das  Gefühl  auf  den  Vorstellungslauf 
einen  Einflufs    ausübe,    stammt    keineswegs   aus  jüngster  Zeit 
Man  hat  längst  eingesehen,  dafs  das  Auftreten  von  Gefühlen  für 
die  Vorstellungsbewegung  nicht  gleichgültig  sei ;  aber  im  Grofsen 
und  Ganzen  ist  man  über  allgemeine  Formulirungen  dieses  Ge- 
dankens nicht  hinausgekommen.    Erst  bei  Ehbenfels  findet  sich 
eine  zusammenhängende  Darstellung  und  eingehende  Schilderung 
der    Einwirkung   der  Gefühlsmacht   auf   den  Vorstellungslauf.* 
Begreiflicherweise    werden    die   Ansichten    darüber  auseinander 
gehen  können,  erstens  inwieweit  sich  die  Einwirkung  des  Ge- 
fühles auf  den  Vorstellungsverlauf  geltend  macht,  und  zweitens 
in  welcher  Weise  die  Einwirkung  des  Gefühles  zu  charakterisiren 
ist.    Ist  es  doch  von  vornherein  denkbar,  dafs  die  Einwirkung 
des  Gefühles   auf   den  Vorstellungslauf  sowohl  durch  längeres 
Verweilen   der  betreffenden  Vorstellungen  im  Bewufstsein,  als 
auch  durch  öfteres  Auftauchen  derselben  zu  Tage  tritt.    Femer 
wird  auch  die  Art  und  Weise  der  Charakterisirung  des  Einflusses 
der   Gefühle    auf    die   Vorstellungsbewegung    naturgemäfs   eine 
verschiedene  sein,  je  nachdem  man  die  Qualität  oder  Intensität 
der  Gefühle  zum  leitenden  Gesichtspunkte  macht    So  liegt  den 


»  System  der  Werththeorie,  I,  188  ff. 


Uis&fT  den  Einfluß  der  Gefühle  auf  die  Vorsteüwigshewegung,  19 

Aufstellungen  Ehrenfels'  offenbar  die  Anschauung  zu  Grunde» 
dafs  einerseits  die  Gefühle  nur  ein  längeres  Beharren  der  Vor- 
stellungen im  Bewufstsein  bewirken,  und  dafs  andererseits  die 
Qualität  der  Gefühle  dad  ausschlaggebende  Moment  bildet  Der 
Standpunkt  Ehbenfels'  erhellt  am  besten  aus  dem  von  ihm  auf- 
gestellten Gesetze  der  relativen  Glücksförderung :  „Die  Differenz 
der  Gefühlszustände,  welche  sich  an  zwei  beliebige  Vorstellungen 
knüpfen  würden  und  nicht  etwa  positive  Gefühle  oder  eine  stete 
Glückszunahme  giebt  den  Grund  ab,  weshalb  immer  die  an- 
genehmere in  Bezug  auf  die  unangenehmere  Vorstellung  einen 
Kraftzuschufs  erhält"  ^ 

Hier  kann  selbstverständlich  auf  das  Gesetz  der  relativen 
Glücksförderung  nur  soweit  eingegangen  werden,  als  es  durch 
die  Natur  der  Sachlage  unbedingt  geboten  erscheint^  Vor  Allem 
ist  hervorzuheben,  dafs  unter  der  „angenehmeren"  „Vorstellung" 
sowohl  die  lustvollere  als  auch  die  minder  unlustvolle  Vorstellung 
gemeint  ist^  Beachtet  man  dies,  dann  werden  sich  sofort  nahe- 
liegende Bedenken  aufdrängen.  Nach  diesem  Gesetze  müfsten 
pämHch  die  von  starken  Unlustgef  ühlen  begleiteten  Vorstellungen 
gegenüber  den  von  schwachen  Gefühlen  getragenen  und  weiters 
gegenüber  den  indifferenten  Vorstellungen  zurückstehen.  Die 
schwach  unlustbetonten  und  die  nicht  betonten  Vorstellungen 
würden  im  Kampfe  um  die  Enge  des  Bewufstseins  den  Sieg 
über  die  stark  unlustbetonten  Vorstellungen  davontragen.  Jeder- 
mann weifs  nun,  dafs  in  Wirklichkeit  gerade  das  Umgekehrte 
stattzufinden  pflegt:  Vorstellungen  mit  starken  Unlustgef  ühlen 
überwiegen  im  Bewufstsein  entschieden  über  indifferente  oder 
nur  mit  schwachen  Gefühlen  verbundene  Vorstellungen.  Die 
Neigung  zum  Beharren  tritt  also  gerade  dort  am  deutlichsten 
hervor,  wo  sie  nach  dem  in  Rede  stehenden  Gesetze  am  geringsten 
Bein  sollte.  Das  ist  Ehrenfels  auch  keineswegs  entgangen. 
Allein  er  giebt  nicht  zu,  dafs  die  Fälle,  in  welchen  „die  schmerz- 
lichen Vorstellungen  im  Kampfe  um  die  Enge  des  Bewufstseins 


»  System  der  Werthth.  I,  197. 

*  Vgl.  Schwarz,  Die  empiristische  Willenspsychologie  nnd  das  Gesetz 
der  relativen  Glttcksförderung.  Vierteljahrsschrift  f.  wisaensch,  Philosophie  23, 
205—234,  und  Ehrenfels,  Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  der  enipi risti- 
schen Willenspsychologie  und  des  Ges.  d.  rel.  Glücksförderung.  Vierteljahrs- 
Bchrift  f.  wissensch.  Philos.  23,  261—284. 

»  System  d.  Werthth.  I,  190. 

2* 


20  Robert  Saxinger. 

«ine  besondere  Uebermacht  besitzen/  ^  wirkliche  Gegeninstanzen 
^egen  das  Gesetz  der  relativen  Glücksförderung  bilden:  Denn 
<lie  Yon  der  relativen  Glücksförderung  herstammenden  Ein- 
wirkungen würden  oft  durch  ^anderweitige  Einflüsse'*  paralysiit» 
und  es  gäbe  aufser  den  bekannten  noch  andere,  wahrscheinlich 
rein  physiologische  Theilursfiwjhen,  welche  den  Vorstellungslauf 
beeinflufsten.'  Da  Ehrenfels  femers  behauptet,  dalB  „lebhafte 
Eindrücke  aller  Art,  also  auch  schmerzUche,  sich  mit  grober 
Beharrlichkeit  erhalten,  ^^  «o  ist  anzunehmen,  dafs  er  die  schmerz- 
lichen Eindrücke  zu  den  lebhaften  rechnet,  und  dafs  nach  seiner 
Meinung  die  „anderweitigen  Einflüsse^  sich  eben  bei  den  leb- 
haften Eindrücken  geltend  machen. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  von  Eheenfels  angedeutete  Er- 
klärung des  Ueberwiegens  unlustvoller  Vorstellungen  in  den  mit 
«dem  Gesetze  der  relativen  Glücksförderung  nicht  in  Einklang 
ÄU  bringenden  Fällen  eine  ausreichende  ist  Vergleicht  man 
beispielsweise  den  Fall,  in  welchem  eine  Frau  ihr  eigenes  Kind 
sterben  sah  *,  mit  dem,  in  welchem  sie  dem  Sterben  eines  Nach- 
barkindes beiwohnte,  so  zeigt  sich,  dafs  den  Erinnerungsbildern, 
welche  von  den  beim  Sterben  des  eigenen  Kindes  empfangenen 
Eindrücken  herrühren,  gegenüber  den  anderen  gröfsere  Beharr- 
lichkeit zukommt.  Wie  ist  das  Ueberwiegen  jener  Vorstellungen 
zu  erklären?  Nach  Ehbenfels  zählt  der  Anblick  des  im  Sterben 
liegenden  eigenen  Kindes  jedenfalls  zu  den  lebhaften  Eindrücken, 
und  daher  das  Beharren  der  Vorstellungen.  Die  Lebhaftigkeit 
des  Eindruckes  oder  genauer  die  dadurch  begründete  Disposition 
ist  es,  auf  welche  das  Beharren  zurückgeht.  Zu  dieser  Auf- 
fassung ist  vor  Allem  zu  bemerken,  dafs,  wenn  man  von  leb- 
haften Eindrücken  spricht,  die  Lebhaftigkeit  auf  den  Eindruck 
selbst,  oder  aber  auch  auf  das  begleitende  Gefühl  bezogen  werden 
könnte.  Bei  Ehbenfels  ist  unzweifelhaft  das  Erstere  der  Fall. 
Es  ist  nämlich  nicht  anzunehmen,  dafs  der  Genannte  die  Leb- 
haftigkeit auf  das  Gefühl  beziehen  wollte;  denn  damit  hätte  er 
ja   selbst   das  Gesetz   der  relativen  Glücksförderung  von  vom- 


1  System,  d.  Werthth.  I,  193. 

«  Ebenda  194. 

»  Ebenda  194. 

*  Vgl;  Ehrenfels,  Syst.  d.  Werthth.  I,  182.  Ich  habe  diesen  Fall,  der 
bei  Ehrenfels  als  Beispiel  angegeben  ist,  absichtlich  zu  dem  Vergleich 
Lerangezogen. 


üeher  den  Einflufs  der  Gefühle  auf  die  VorsteUungshewegung.  2t 

herein  preisgegeben.  Sieht  man  nun  von  den  emotionelleiit, 
Elenienten  ab,  und  betrachtet  man  nun  die  bezüglichen  Wahr- 
nehmungsvorstellungen, so  mufs  zugegeben  werden,  dafs  diese^ 
in  beiden  Fällen  gleiche  Anschaulichkeit  und  Lebhaftigkeit  auf* 
weisen.  Da  den  in  Frage  kommenden  Dispositionen  sohia 
gleiche  Energie  beizulegen  ist,  so  müfste  also  die  Beharrlichkeit 
den  beiden  Vorstellungskreisen  in  gleichem  Maafse  zukommen» 
Das  letztere  ist  bekanntlich  nicht  der  Fall.  Man  könnte  nun-, 
vielleicht  daran  denken,  die  bevorzugte  Stellung  der  einen  Vor^ 
Stellungsgruppe  aus  einer  durch  die  hinzutretenden  Wahr- 
nehmungsurtheile  bewirkten  Hebung  der  Anschaulichkeit  und 
Lebhaftigkeit  zu  erklären.  Lidefs,  wenn  man  nicht  etwa  die  auf 
die  Urtheile  zurückgehenden  Gefühle  in  Betracht  ziehen  will,  so 
ist  nicht  einzusehen,  warum  in  dem  einen  Fall  die  Urtheils-. 
function  mehr  leisten  sollte  als  in  dem  anderen.  Auch  so  läfst 
sich  also  keine  Erklärung  des  Ueberwiegens  der  einen  Vor-, 
Stellungsgruppe  gewinnen.  Somit  ist  es  naheUegend,  gerade  auf 
die  bisher  nicht  berücksichtigte  Gemüthsbeschaffenheit  das  Augen- 
merk zu  richten.  Die  Verschiedenheit  der  Gefühlslage  ist  in 
der  That  in  beiden  Fällen  eine  auffallende.  Auf  der  einen  Seite 
intensive  Unlustgefühle,  auf  der  anderen  mehr  oder  weniger  an- 
klingende Mitleidsregungen.  Das  Beharren  der  Vorstellungen 
vom  Tode  des  eigenen  Kindes  steht  also  offenbar  mit  dem  Auf- 
treten der  intensiven  Unlustgefühle  in  Verbindung.  Auch  der 
Ausnahmsfall,  dafs  einer  Mutter  der  Tod  des  eigenen  Kinde» 
nicht  sonderlich  zu  Herzen  ginge,  kann  als  Bestätigung  des  be- 
haupteten Zusammenhanges  zwischen  dem  Beharren  jener  Vor- 
stellungen und  dem  Vorhandensein  der  intensiven  Unlustgefühle, 
gelten :  Denn  in  diesem  seltenen  Falle  würden  die  Vorstellungen 
vom  Tode  des  eigenen  Kindes  vor  den  Vorstellungen,  die  den 
Tod  eines  Nachbarkindes  betreffen,  rücksichtlich  der  Beharrlich- 
keit wohl  kaum  etwas  voraus  haben.  Der  angestellte  Vergleich 
lehrt  also,  dafs  zur  Erklärung  des  Beharrens  der  Vorstellungen' 
unter  Umständen  die  Berufung  auf  die  Lebhaftigkeit  der  Ein- 
drücke nicht  genügt. 

Die  Beharrlichkeit  unlustvoller  Vorstellungen  läfst  sich  auch 
in  Fällen  beobachten,  wo  weder  äufsere  Eindrücke  noch  so  ge- 
waltige Gef ühlsreactionen ,  wüe  die  in  dem  oben  angeführten 
Beispiele,  vorhanden  sind.  Mancher  wird  sich  vielleicht  an  einen 
kleinen  Formfehler  (Unterlassung  einer  geziemenden  Handlung) 


22  Robert  Saxinger, 

erinnern,  den  er  sich  einer  Persönlichkeit  gegenüber,  an  deren 
Wetthschätzung  ihm  gelegen  ist,  zu  schulden  kommen  liefs.  Es 
ist  solchen  Falles  leicht  zu  beobachten,  wie  gerade  der  Gedanke^ 
sich  nicht  correct  benommen  zu  haben,  eine  grofse  Beharrlich- 
keit besitzt.  Weiters  ein  anderes  Beispiel :  Jemand  hat  mehrere 
Besuche  zu  machen,  von  welchen  ihm  ein  Besuch  peinlich  ist 
Auch  hier  kann  es  nun  Niemand  entgehen,  wie  sich  der  Gedanke 
an  diesen  peinlichen  Besuch  mit  besonderer  Zähigkeit  im  Be- 
wufstsein  erhält.  Ich  wüfste  nicht,  was  in  den  eben  angeführten 
Beispielen  den  Vorstellungen  die  Beharrlichkeit  verleihen  sollte, 
wenn  nicht  die  actueUen  ünlustgefühle.  Streichen  wir  die  ün- 
lust,  die  der  Gedanke  an  den  Formfehler  oder  an  den  unange- 
nehmen Besuch  mit  sich  bringt,  so  ist  nicht  auszudenken,  warum 
gerade  diese  Gedanken  im  Bewufstsein  beharren. 

Aus  den   besprochenen  Fällen  folgt  also,   dafs   das  Gesetz 
der  relativen  Glücksförderung  auf  Seite  der  Ünlustgefühle  nicht 
gilt.     Günstiger  gestaltet   sich  die  Sachlage  für   das   erwähnte 
Gesetz,  wenn  man  nur  die  Lustgefühle  in  Betracht  zieht.    Hier 
kann  das  Gesetz  nicht  widerlegt  werden,  weil  eine  von  intensiver 
Lust  begleitete  Vorstellung  in  der  Regel  auch  relativ  angenehmer 
sein  wird,  als  eine  mit  minder  starkem  Lustgefühl  verbundene. 
Wenn    sich    beispielsweise   ein   mittelmäfsiger   Schüler  auf  die 
kommenden  Ferien  freut,  so  sind  die  bezüglichen  Vorstellungen 
von    Lustgefühlen    getragen.     Diese    Vorstellungen    sind    dann 
natürlich    angenehmer    als    die   Gedanken   an   die   Zeugnifsver- 
theilung,  welche  etwa  nur  schwache  Lustgefühle  mit  sich  bringen. 
Erfahrungsgemäfs   beharren  solche  von  kräftigen  Lustgefühlen 
begleitete  Vorstellungen  länger  im  Bewufstsein  als  andere  von 
minder  starker  Lust  getragene  Vorstellungen.    Der  Schüler  denkt 
beharrlicher  an  die  Ferien  als  an  andere  Dinge,  die  ihm  weniger 
Lust    bereiten.     Der   Grund    des   Beharren    des    ersteren    Vor- 
stellungskreises könnte  ebensogut  in  der  relativen  Annehmlich- 
keit   der  Vorstellung,    wie   in  dem   actueUen   Gefühle   gesucht 
werden.    Indefs,   ist  einmal  nachgewiesen,   dafs  das  längere  Be- 
harren  der  Vorstellungen   mit   dem  Vorhandensein  mehr  oder 
minder  intensiver  Ünlustgefühle  im  Zusammenhang  steht,  dann 
ist  anzunehmen,   dafs  dies   auch  bei  den  Lustgefühlen  der  Fall 
ist.    Und  es  ist  nur  consequeht,   wenn  man  sich  das  Beharren 
lustvoller  Vorstellungen  in  analoger  Weise,  wie  das  Beharren 
der  unlustvollen  Vorstellungen,  nämlich  durch  die  Bezugnahme 


lieber  den  Einfiufs  der  Gefühle  avf  die  VorsteUwngshewegung,  23 

%d  die  actviellen  Grefühle  begreiflich  zu  machen  sucht,  zumal 
ja  auch  die  Erfahrung  damit  nicht  in  Widerspruch  stehti  Wollte 
man  aber  im  Bereiche  der  Lustgefühle  an  der  Einwirkung  durch 
die  relative  Glücksförderung  noch  immer  festhalten,  dann  müfste 
man,  um  die  Sache  bei  den  Unlustgef ühlen  conf orm  zu  gestalten, 
annehmen,  dafs  die  von  der  relativen  Glücksförderung  her- 
rührenden Einflüsse  in  Wahrheit  zwar  vorhanden  sind,  durch 
die  Einwirkung  des  actuellen  Unlustgefühles  jedoch  jedesmal 
aufgehoben  werden  1 

•     §  2. 

EHRE^FELS  erblickt  in  den  Zuständen  der  Melancholiker 
eine  Bestätigung  seines  Gesetzes  von  der  relativen  Glücksförderung. 
^Das  psychische  Verhalten  jener  Melancholiker,"  —  sagt  Ehbek- 
PELS,  —  „läfst  sich  am  ungezwungendsten  gerade  als  ein  Er- 
gebnifs  der  Tendenz  der  Phantasie  nach  den  angenehmeren 
Vorstellungen  begreifen.  Die  Vorstellungen  trüben  oder  traurigen 
Inhaltes  sind  ihnen  thatsächlich  die  angenehmeren."  ^  Ich  meine 
nun,  dafs  sich  die  psychische  Verhaltungsweise  der  Melancholiker 
auch  ohne  Gesetz  der  relativen  Glücksförderung  verständlich 
machen  läfst.  Deshalb,  und  weil  sich  dabei  einige  Ausblicke, 
welche  für  das  Gefühlsleben  überhaupt  nicht  ohne  Bedeutung 
sind,  ergeben,  glaube  ich,  von  einer  kurzen  Erörterung  dieses 
Gegenstandes  nicht  Umgang  nehmen  zu  sollen. 

Die  Erfahrung  zeigt,  dafs  die  gleichen  Vorstellungen  je  nach 
üinständenverschiedene  Gefühlswirkungen  in  einem  und  demselben 
Subjecte  hervorbringen.  Besehen  wir  uns  den  Seelenzustand  eines 
Menschen,  dem  ein  schwerer  Unglücksfall  begegnet  ist:  Während 
der  Betreffende  früher  an  vielerlei  Dingen  Freude  hatte,  sind 
ihm  jetzt  solche  Dinge  gleichgültig,  und  es  ist  für  Freude  in 
seiner  Seele  kein  Platz.  Der  Schmerz  über  die  widerfahrene 
Unbill  beherrscht  ihn  gänzlich.  In  diesem  Falle  verbleiben  Vor- 
stellungen, die  sonst  Lustgefühle  hervorriefen,  wirkungslos  in 
Bezug  auf  das  Gemüth.  Erscheinungen  dieser  Art  sind  durch- 
aus nichts  seltenes.  Sie  lassen  sich  im  Allgemeinen  an  PersoneUi 
welche  intensive  Unlustgefühle  mit  sich  herumtragen,  beobachten. 
Solche  Menschen  werden  dieser  Gefühle  auch  dann  nicht  ledig, 
wenn  sich   andere  Vorstellungen   einstellen,   die   mit  den  Ein- 


'  System  d.  Werthth.  I,  194. 


24  Robert  Saxinger, 

drücken,  von  welchen  die  Unlustgefühle  herrühren,  gar  nichts 
zn  thun  haben,  und  die  normalerweise  Lustgefühle  erregt  h&tten. 
Alles  ereignet  sich  gleichsam  unter  dem  Trauergefühl;  dasselbe 
ergreift  sozusagen  auch  alle  anderelQ  Vorstellung;en.    Auch  die 
sonst  lustvollsten  Vorstellungen  versagen  vollständig  und  nifen 
keine  Freude  hervor.    Es  ist  in  Wahrheit  die  Fähigkeit,  anders 
als  mit  ünlustgef  ühlen  zu  reagiren,  verloren  gegangen,   üebrigens 
bedarf  es  gar  nicht  immer  besonders  intensiver  Unlustgefühle; 
um  den  Gemüthszustand  eines  Menschen  in  dem  Sinne  zu  ändern, 
dafs  er  freudigen  Eindrücken  unzugängUch  wü-d.    Das  bringen 
auch  schwächere  Gefühle  zu  Stande;  freilich  müssen  sie  dann 
längere  Zeit  dauern.    So  vermag  beispielsweise  das  in  anhalten- 
dem,   wenn   auch  schwachem   Kopfschmerz  sich   kundgebende 
Unlustgefühl  jede  Lebensfreude  zu  vernichten.    Die  Ursache  der 
verschiedenen  Weise,  in  der  die   Seele  die  gleichen  Eindrücke 
durch  Gefühlsregungen  beantwortet,  kann  natürlich  nicht  auf 
intellectuellem  Gebiete  liegen,  sondern  sie  mufs  in  der  Gemüths- 
beschaffenheit  der  Person  gesucht  werden.    Wie  lassen  sich  nun 
diese  Veränderungen  des  Gefühlslebens   verständlich   machen? 
Wie   fängt   es  sozusagen   ein  Gefühl  an,   dafs   andere  Gefühle 
neben  ihm  nicht  aufkommen  können? 

Bekanntlich  bezieht  sich  jedes  Gefühl  auf  einen  Gegenstand, 
der   natürlich   zugleich  Gegenstand  einer  Vorstellung  ist,  und 
insofern  bildet  diese  die  psychologische  Voraussetzung  des  Ge- 
fühles.^   Die  Gegenstände  werden  durch  bestimmte  Inhalte  *  vor- 
gestellt, und  auf  diese  gehen  die  begleitenden  Gefühle  zurück. 
Der  Inhalt,   durch  den  ein  Gegenstand  vorgestellt  wird,  ist  also 
eine    Theilursache   des   Auftretens   eines   bestimmten   Gefühles. 
Offenbar  mufs  aber  noch  eine  zweite  Theilursache  vorausgesetzt 
werden,  wenn  überhaupt  eine  Gefühlsreaction  zu  Stande  kommen 
soll.     Der    Vorstellungsinhalt    vermöchte    kein    Gefühl    hervor- 
zubringen,   wäre    nicht   die   Möglichkeit  vorhanden,    dafs   eine 
Person   durch   einen   gewissen  Vorstellungsinhalt  gefülilsmäfsig 
äfficiil;    würde.     Mit    anderen   Worten :    Die   Person   muCs   die 
Eigenschaft  besitzen,  auf  bestimmte  Eindrücke  oder  Vorstellungen 


*  Vgl.  Meinono  ,    Psychologisch-Ethische   Untersuchungen   zur    Werth- 
theorie,  S.  34. 

*  Vgl.  Meinono,  Ueber  Gegenstände  höherer  Ordnung  und  deren  Ver- 
hältnifs  etc.    Zeitschnft  für  Psychologie  21  (3  u.  4),  18öff. 


üeher  den  Einflufs  der .  Gefiüile  auf  die  VorsteUungshewegufig,  25.' 

mit  gewissen  Gefühlsregungen  zu  antworten.  Diese  EigehBchäft 
kann  nun  eine  vorübergehende  oder  eine  dauernde  sein;  jeden^ 
falls  ist  sie  die  zweite  Theilursache.^  Den  Vorstellungsinhalt, 
der  das  Gefühl  erzeugt,  bezeichnen  wir  als  Dispositionserreger, 
die  vorübergehende  oder  dauernde  Eigenschaft  der  Person,  durch 
gewisse  Inhalte  gefühlsmäfsig  erregt  zu  werden  als  Dispositions-^ 
gtundlage  und  das  Gefühl  als  das  Dispositionscorrelat.  Die  Ge- 
fühlsdisposition wird  actualisirt  d.  h.  das  Dispositionscorrelat 
ausgelöst,  wenn  zur  Dispositionsgrundlage  der  Dispositionserreger 
hinzutritt^  Hiermit  wäre  also  dem  Dispositionsgedanken  im- 
Bereiche der  Gefühle  eine  möglichst  präcise  Fassung  gegeben.  ; 
Nun  ist  es  klar,  daüs  die  Actualisirung  der  Disposition 
zu  einem  Gefühle  in  verschiedener  Weise  ausfallen  kann,  und 
zwar  je  nach  der  Beschaffenheit  der  Disposition  und  des  Dispo- 
sitiönserregers.  Bei  ungeänderter  Disposition  werden  gleichen 
oder  ähnlichen  Dispositionserregern  gleiche  oder  ähnliche  Dis- 
positionscorrelate ,  d.  h.  Gefühlsregungen  entsprechen.  Rufen 
also  die  gleichen  Vorstellungsmhalte  zu  verschiedenen  Zeiten 
verschiedene  Gefühle  hervor,  so  mufs  der  Grund  hiefür  in  einer 
vor  sich  gegangenen  Veränderung  der  Gefühlsdisposition  ge- 
sucht werden.  Ebenso  mufs  eine  Aenderung  der  Gefühls- 
disposition auch  dann  angenommen  werden,  wenn  auf  eine 
Vorstellung,  die  bisher  Gefühlsregungen  zur  Folge  hatte,  die  et- 
wartete  Gefühlsreaction  ausbleibt  Wenn  wir  sehen,  dafs  mit 
dem  Auftreten  von  ühlustgefühlen  in  vielen  Fällen  der  Ver- 
lust oder  wenigstens  die  Herabsetzung  der  Fähigkeit,  Lustr 
gefühle  zu  haben,  verbunden  ist,  so  müssen  wir  uns  dies  durch 
eine  Veränderung  der  Gefühlsdispositionen  erklären.^  Und  zwar 
ist  anzunehmen,  dafs  die  betreffenden  Unlustge  fühle  die  Ver- 
änderung der  Gefühlsdispositionen  herbeigeführt  haben.  Da  also 
unter  Umständen  die  Actualisirung  gewisser  Gefühlsdispösitionen 
unter  der  Einwirkung  der  conträren  Gefühle  entweder  gar  nicht 
oder  doch  nur  schwer  möglich  ist,  so  ist  es  begreiflich,  dafs  sich 
trauernde  Personen  oder  zuweilen  auch  solche,   die  mit  einem 


*  Vgl.  Meixong,  Phantasievorstellung  und  Phantasie.  Zeitschrift  f  Philos, 
95,  165. 

*  Vgl.  WiTASEK,  Beiträge  zur  speciellen  Dispositionspsychologie.   Archio 
f.  systematische  rhilos.  3,  273—293. 

'  Vgl.  Ehkekfels,  System  der  Werththeorie  I,  117  ff. 


26  Robert  Saxinger. 

körperlichen  Leiden  behaftet  sind,  selten  oder  überhaupt  nicLt 
EU  freuen  vermögen. 

Noch  sei  darauf  hingewiesen,  dafs  mit  der  Abnahme  der 
Unlustgefühle  auch  die  Fähigkeit  zu  Lustgefühlen  nach  und 
nach  wiederkehrt.  Die  Gefühle  gehorchen  dem  (xesetze  der  Ab- 
stumpfung; Abstumpfung  ist  aber  nichts  anderes  als  eine  Dis- 
positionsveränderung. Während  dem  Auftreten  der  Unlust- 
gefühle eine  Herabsetzung  der  Lustgefühlsdispositionen  zu  folgen 
pflegt,  scheint  mit  der  Abstumpfung  der  Unlustgefühle  bezw. 
der  Herabsetzung  ihrer  Dispositionen  eine  Bjräftigung  der  Dispo- 
sitionen zu  Lustgefühlen  einzutreten.^ 

Wir  haben  in  der  Veränderung  der  Gefühlsdispositionen  durch 
Gefühle  einen  Gesichtspunkt  gewonnen,  von  dem  aus  sich  das 
psychische  Verhalten  des  Melancholikers  ohne  Weiteres  verstehen 
läfst,  ohne  an  das  Gesetz  der  relativen  Glücksförderung  appelliren 
zu  müssen.  Gewifs  sind  psychologische  Vorgänge  häufig  der  Grund 
der  anhaltenden  Unlustgefühle  des  Melancholikers.-  Aber  das 
psychische  Verhalten  des  Melancholikers  ist  eben  doch  eine  Folge 
dieser  dauernden  Unlustgefühle.  Wir  haben  oben  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  wie  sehr  anhaltende  Unlustgefühle  auf  die  Gemüths- 
beschaffenheit  eines  Menschen  einzuwirken  vermögen.  Sowie 
bei  einem  an  dauerndem  Kopfschmerz  Leidenden  eine  Ver- 
änderung der  Gefühlsdispositionen  vor  sich  geht,  so  erfahren 
analog  auch  die  Gefühlsdispositionen  des  Melancholikers  ejne 
Veränderung.  Auf  diese  Weise  erklärt  sich  die  Thatsache,  dafs 
solche  Menschen  Alles  im  trüben  Lichte  erblicken  und  stets 
düstere  Vorstellungen  haben ;  ihnen  ist  eben  die  Fähigkeit  anders 
als  mit  Unlustgefühlen  zu  reagiren  verloren  gegangen. 

§3. 

Es  ist  bereits  an  früherer  Stelle  angedeutet  worden,  data 
sich  die  Einwirkung  des  Gefühles  auf  die  Vorstellungsbewegung 
nach  zwei  Richtungen  hin  geltend  machen  könnte.  Einmal  in 
der  Weise,   dafs  den  betreffenden  Vorstellungen  eine  Tendern 


*  Von  der  Erörterung  der  Frage,  ob  auch  Lustgefühle  eine  Verändc 
rung  der  Gefühlsdispositionen  bewirken  können,  kann  hier  Umgang  gi 
noromen  werden.    In  gewissem  Sinne  wäre  die  Frage  zweifellos  zu  bejahet 

•  Natürlich  könnte  der  Zustand  des  Melancholikers  auch  ein  rei 
psychisch  bedingter  sein.  Auch  in  diesem  Falle  wären  die  dauernden  Ci 
lustgefühle  die  Ursache  der  Veränderung  der  Gefühlsdispositionen. 


Ueber  den  Einflufs  der  Gefühle  auf  die  Voratellungsbewegung.  27 

tum  Beharren  verliehen  würde,  und  dann  in  dem  Sinne,  dafs 
die  von  gewissen  Gefühlen  begleiteten  Vorstellungen  sich  ohne 
associativen  Anlafs  häufiger  im  BewuTstsein  einstellten  als  andere. 
Von  der  Beharrungstendenz  war  oben  die  Rede.  Nun  handelt 
€8  sich  darum,  festzustellen,  ob  nicht  die  Gefühle  ein  öfteres 
Auftauchen  der  betreffenden  Vorstellungen  zu  bewirken  ver- 
mögen. 

Nach  Ehkenfels  findet  eine  Einwirkung  des  Gefühles  rück- 
sichtlich des  Auftauchens  der  Vorstellungen,  wie  schon  erwähnt, 
nicht  statt:     „Solange   es   sich   um   das   Auftauchen   der   Vor- 
stellungen  handelt,   herrscht   blos   das  Gesetz  der  Gewöhnung 
und  bedingungsweise  das  der  Ermüdimg."  ^    Ehrekfels  würde 
2.  B.   den  Umstand,   dafs  jemand   auch   ohne   associative   An- 
knüpfung   häufig   an   den   Abschied    von  einer  nahestehenden 
Person  denkt,  aus  der  Lebhaftigkeit  des  Eindruckes  und  der 
dadurch  bedingten  physischen  Disposition  erklären.    Unzweifel- 
haft  ist  richtig,  dafs  die  Lebhaftigkeit  des  Eindruckes  für  die 
Reproduction  nicht  gleichgültig  ist.    Aber  damit  ist  nicht  aus- 
geschlossen, dafs  nicht  in  vielen  Fällen  noch  ein  anderer  Factor 
sich   wirksam    zeigt.      Gerade    das    angeführte   Beispiel    deutet 
daraufhin,    dafs   die  Beschaffenheit  des  Eindruckes  nicht  aus- 
reicht, um   das  oftmalige  Auftauchen  der  Vorstellungen  im  Be- 
wufstsein  zu  erklären.    Man  braucht  nur  den  Fall,   in  welchem 
jemand  von  einer  nahestehenden  Person  Abschied  nimmt,  mit 
dem,  wo   es  den  Abschied  von  einem  gleichgültigen  Menschen 
gilt,  zu  vergleichen,  um  die  Richtigkeit  des  Gesagten  einzusehen. 
Die  Situation  beim  Abschiednehmen  (z.  B.  am  Bahnhofe)  kann 
in  beiden  Fällen,  mit  Ausnahme  der  Gemüthsstimmung,  als  voll- 
ständig gleich  angenommen   werden.     Die   betreffenden   Wahr- 
nehmungsvorstellungen sind  dann  hinsichtlich  der  Anschaulich- 
keit und  Lebhaftigkeit  gleichwerthig  und  man  sollte  erwarten, 
dafs  die   betreffenden  Vorstellungsdispositionen  gleiche  Energie 
besäfsen.    Eine  ähnliche  Ueberlegung  wie  oben  führt  auch  hier 
zur  Erkenntnifs,   dafs  das,  was  den  Vorstellungen  des  einen  Er- 
eignisses das  Uebergewicht  verleiht,  eben  doch  nur  die  intensiven 
Unlustgefühle  sind.     Ehrekfels   ist  selbst  einmal  nahe  daran, 
das    öftere   Auftauchen  der   Vorstellungen  im  Bewufstsein  von 
dem    actuellen  Gefühlen  in  Abhängigkeit  zu  bringen.     Er  be- 


»  System  der  Werththeorie  I,  190. 


28  Robert  Scmnger. 

hauptet  nämlich  von  den  lebhaften  Eindrücken,  dafs  sie  ^desto 
häufiger  auftauchen,  je  erschütternder  sie  sich  geltend  gemacht 
haben."  ^  Was  anders^  macht  aber  wohl  ein  Ereignifs  zu  einem 
erschütternden  als  ijas  begleitende  Gefühl? 

Nicht  immer  bedarf  es  so  starker  Gefühle,  wie  solche  im 
TrennungsBchmerze  zu  Tage  treten,  um  die  Vorstelltingsbeweguiig 
im  Sinne  eines  öfteren  Auftauchens  der  Vorstellungen  zu  be 
einflussen.  Auch  Gefühle  schwächeren  Grades  scheinen  untei 
Umständen  die  Macht  zu  besitzen,  die  wiederholte  Wiederkehl 
der  Vorstellungen  im  Bewufstsein  zu  erzwingen.  Man  brauch 
daraufhin  nur  die  früher  angegebenen  Beispiele  zu  prüfen,  un( 
man  wird  das  Behauptete  bestätigt  finden.  Der  Gedanke  ai 
den  Formfehler  beharrt  nicht  nur  im  Bewufstsein,  er  kehrt  aucl 
öfters  dahin  zurück,  als  es  geschehen  würde,  wenn  er  nicht  ei; 
Unlustgefühl  hervorgerufen  hätte.  Ebenso  drängt  sich  die  Voi 
Stellung  des  widerwärtigen  Besuches  wiederholt  ins  Bewufstseii 
während  die  Vorstellungen  der  übrigen  Besuche  diese  Tenden 
nicht  zeigen.  Der  Grund,  warum  man  oftmals  an  den  eine 
Besuch  denkt  und  an  den  anderen  nicht,  kann  angesichts  de 
sonst  gleichen  Verhältnisse  wiederum  nur  in  dem  den  eine 
Fall  auszeichnenden  Unlustgefühle  gelegen  sein. 

Was  von  den  Unlustgefühlen  gilt,  das  trifft  auch  bei  de 
Lustgefühlen  zu.  Der  Schüler ,  der  sich .  auf  die  kommende 
Ferien  freut,  denkt  öfters  an  diese,  als  mit  einem  gedeihUche 
Fortschritte  des  Unterrichts  vereinbar  ist  Aehnliche  Fälle  sin 
wohl  jedermann  bekannt.  Es  wäre  zwecklos  die  Beispiele  zi 
häufen,  da  die  diesbezüglichen  Erfahrungsthatsachen  so  band 
greiflich  $ind,  dafs  sie  nicht  leicht  übersehen  werden  können. 

Das  längere  Beharren  der  Vorstellungen  und  das  öfter 
Auftauchen  derselben  im  Bewufstsein  beruht,  wie  wir  gesehe 
haben,  insoweit  überhaupt  Gefühle  in  Betracht  kommen,  .  stet 
auf  einer  Eiilwirkung  actueller  Gefühle.  Diese  Einwirkung  gel 
sowohl  von  Lust-  als  auch  von  Unlustgefühlen  aus.  Und  zw( 
sind  die  Lustgefühle  in  dieser  Beziehung  nicht  anders  gestel 
als  die  Unlustgefühle.  Nicht  die  Qualität  sondern  die  Intensiti 
der  Gefühle  ist  das  für  den  Einflufs  der  Gefühle  auf  die  Vo 
Stellungsbewegung  maafsgebende  Moment  Fragt  man  nun,  c 
die  Neigung  der  Vorstellungen  zum  Beharren  und  Auftauche 
im  Bewufstsein  mit  dem  Grade  der  Intensität  der  Gefühle   z 

'  System  d.  Werthth.  I,  194. 


üeber  den  Einfiufs  der  Q^fühle  auf  die  Vorsteüungabetoegung,  29 

und  abnehme ,  so  ist  zu  antworten ,  dafs  ein '  durchgängiger 
Parallelismus  nicht  nachweisbar  ist.  Ueberblickt  man  die  in 
Betracht  kommenden  Erf ahrungsthatsachen,  so  läfst  sich  zwar 
sagen,  dafs  im  Allgemeinen  bei  intensiven  Gefühlen  sich  die 
beiden  Tendenzen  in  erhöhtem  Maafse  geltend  machen,  aber  es 
ist  auch  nicht  zu  verkennen,  dafs  schon  schwächere  Gefühle  ein 
längeres  Beharren  und  öfteres  Auftauchen  der  Vorstellungen 
bewirken  können.  Eine  genaue  Bestimmung  jedoch,  ob  die 
Leistung  des  Gefühles  in  Rücksicht  auf  das  Beharren  und  Auf- 
tauchen der  Vorstellungen  in  einem  constanten  Verhältnisse  zur 
Intensität  des  Gefühles  steht,  ist  schon  deshalb  nicht  gut  mög- 
lich, weil  wir  keinen  festen  Maafsstab  für  Gefühlsintensitäten 
besitzen ;  zudem  hängt  die  Vorstellungsbewegung  auch  noch  von 
anderen  veränderlichen  Factoren  ab,  die  in  jedem  einzelnen 
FaU  bestimmt  werden  müfsten. 

§4. 

Es  ist  eine  auffallende  Erscheinung,  welche  in  den  oben 
angeführten  Beispielen  zu  Tage  tritt  und  durch  Erfahrungsthat- 
cachen  im  weitesten  Umkreis  bestätigt  wird,  dafs  die  Beharrungs- 
tendenz   und   die  Neigung   der  Vorstellungen   zu   öfteren  Auf- 
tauchen im  Bewufstsein  stets  zusammen  vorkommen.    Sollte  dies 
nicht  auf  einen  inneren  Zusammenhang  der  beiden  Tendenzen 
hindeuten?     Um  einen  Einblick  in   diesen  Zusammenhang  zu 
gewinnen,    müssen    wir   untersuchen,    wie   es   denn   überhaupt 
möglich  wird,  dafs  Gefühle  auf  die  Vorstellungsbewegung  in  den 
angedeuteten   Richtungen   Einflufs    nehmen    können.     Die   bis* 
herigen  Ausführungen  haben  ergeben,  dafs  die  gedachten  Eigen- 
thümlichkeiten    des    Vorstellungsverlaufes ,    insofern    überhaupt 
Gefühle  mit  in  Betracht  zu  ziehen  sind,  auf  der  Einwirkung 
actueller  Gefühle  beruhen.    Dabei  war  die  Frage  offen  gelassen 
worden,   ob  das  Hereingreifen  der  Gefühle  etwa  in  der  Weise 
zu  denken  sei,  dafs  das  mit  der  betreffenden  Vorstellung  jedes- 
mal auftretende  Gefühl  das  Auftauchen  und  das  Ueberwiegen 
der   Vorstellung   bewirke.     Ist    V  die   intellectuelle   Grundlage, 
genauer  die  Vorstellung,   die  die  psychologische  Voraussetzung 
des  Gefühles  G  bildet,  sind  V^    V^    F,  die  betreffenden  Repro- 
ductionsvorstellungen  und  G^   G«  G^   die  zu  den  letzteren  ge- 
hörigen Gefühlsregungen,  so  fragt  es  sich  also  zunächst,  ob  das 
Gefühl  G^   das  Auftauchen  und  Beharren  der  Vorstellung    V^ 


30  Robert  Saxingert 

bewirke,  und  weiters  ob  G^  und  G^  in  dei^elben  Weise  auf  7^ 
bezw.  Fj,  Einflufs  nehmen. 

Was  zunächst  die  Beharrungstendenz  anbelangt,  so  erscheint 
die  Annahme,   die  den  betreffeliden  Vorstellungen  zugeordneten 
Gefühle  bewirkten   das  Beharren  derselben,  zweifellos  als  die 
einfachste.    Allein  näher  besehen,  zeigt  es  sich,  dafs  bei  dieser 
Annahme  die  Gefahr  besteht,  ein  aufserhalb  der  Gefühlssphäre 
liegende^    Element     hereinzutragen.      Jedermann    weifs,    dafs 
interessante  Dinge  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken  pflegen. 
Die  Vorstellungen  von  Gegenständen,  die  zu  unserem  Gefühls- 
leben in  naher  Beziehung  stehen,  werden  vielfach  absichtlich  im 
Bewufstsein    festgehalten.     Das,    was    das   Beharren    der  Vor- 
stellungen bewirkt,  ist  also  streng  genommen  dann  nicht  das 
Gefühl,  sondern  der  Wille..  Freilich  wird  man  immerhin,  insofern 
der  Wille  als  durch  das  Gefühl  in  Bewegung  gesetzt  gedacht 
wird,  wenigstens  von  einer  indirecten  Einflufsnahme  des  Gefühles 
auf    die   Vorstellungsbewegung   sprechen    können.     Indes   hier 
handelt  es  sich  um  eine  andere  Art  der  Gefühlswirkung.    Das 
erhellt  sofort  aus  der  Erwägung,   dafs  es  Vorstellungen  giebt, 
die  selbst  gegen  unseren  Willen  im  Bewufstsein  beharren.    Da 
solche  Fälle  mit  in  den  Kreis  der  Betrachtung  gezogen  werden 
müssen,  so  müsste  sich  also  die  von  den  mit  den  betreffenden 
Vorstellungen  verbundenen    Gefühlen    ausgehende    Einwirkung 
jedenfalls  ohne  Mithülfe  des  Willens  vollziehen.    Erinnern  wir 
uns  nun,  wie  Gefühlsdispositionen  actuahsirt  werden,  so  ist  er- 
sichtlich, dafs  ein  Vorstellungsinhalt,  der  als  Dispositionserreger 
fungirt,  nicht  selbst  wiederum  in  irgend  einer  Beziehung  von 
dem   Dispositionscörrelate ,    dem   Gefühle   abhängig  sein   kann. 
Die    psychologische    Voraussetzung    bedingt    zwar    das   (Jefühl, 
nicht    aber    ist   umgekehrt    erstere   dem   letzteren   luiterworfen. 
Die  Annahme,  dafs  das  Beharren  der  Vorstellungen  auf  dem 
Einflufs  der  zugehörigen  Gefühle  beruhe,   erweist  sich  sonach 
als  eine  unhaltbare. 

Sehen  wir  nun,  wie  es  mit  der  Einwirkung  der  zugehörigen 
Gefühle  in  betreff  des  Auf tauchens  der  Vorstellungen  bestellt  isU 
Der  gleiche  Einwand,  der  der  Anschauung,  als  könne  das  Be- 
harren der  Vorstellungen  auf  der  Einwirkung  der  ihnen  zu- 
gehörigen Gefühle  beruhen,  entgegensteht,  begegnet  uns  auch 
hier.  Bedenkt  man,  dafs  die  Reproductionen  der  ursprünglichen 
intellectuellen  Grundlage  eines  Gefühles  die  jeweiligen  psycho* 


JJeher  den  Einflu/s  der  Gefühle  auf  die  Vorateüungahewegung,  31 

logiscben  Voraussetzungen  der  zugeordneten  Gefühlsregungen 
birden;  die  Voraussetzungsvorstellungen  die  Gefühle  erst  hervor- 
rufen, so.  ist  ohne  Weiteres  einleuchtend,  dafs  die  zu  den  Vor- 
stellungen gehörigen  Gefühle  nicht  das  Auftauchen  derselben 
bewirken .  können. 

Die  Ablehnung  einer  Einflufsnahme  der  zugehörigen  Gefühle 
in  dem  obgedachten  Sinne  leitet  naturgemäfs  zu  einer  anderen 
Auffassung.  Nunmehr  soll  untersucht  werden,  ob  nicht  das 
durch  die  Vorstellung  V  hervorgerufene  Gefühl  G  für  die  Re- 
productionen  F,   Fj  V^  irgendwie  von  Bedeutung  ist. 

Die  Dispositionspsychologie   lehrt,    dafs  die  Reproductions- 
vorgänge   im  Wesentlichen   von  dem  Bestände   diesbezüglicher 
(psychischer)  Dispositionen^   abhängig  sind.    Veränderungen  in 
der  Beschaffenheit  der  Vorstellungsdispositionen  werden  sich  in 
.den  Vorgängen  der  Reproduction  widerspiegeln;  und  umgekehrt 
deuten  Besonderheiten  des  Reiproductionsvorganges  auf  eine  be- 
sondere Gestaltung  der  Disposition  hin.    Verstärkung  der  Dis- 
positionen  einerseits   und   Herabsetzung   derselben   andererseits 
bezeichnen  die  Richtungen,  in  welchen  sich  die  Veränderungen 
der  Dispositionen  bewegen.    Die  Verstärkung  einer  Vorstellungs- 
disposition verräth  sich  sowohl  durch  die  gröfsere  Leichtigkeit, 
mit  der  der  Actualisirung  entgegenstehende  Hindemisse  beseitigt 
werden,  als  auch  durch  eine  gröfsere  Widerstandskraft  der  be- 
treffenden  Vorstellungen.     Die  Herabsetzung   einer  Disposition 
äufsert   sich   dann    selbstverständlich   durch   die  gegentheiligen 
Erscheinungen.   Der  leichteren  Actualisirbarkeit  der  Vorstellungs- 
disposition  entspricht  naturgemäfs  ein   öfteres  Auftauchen   der 
Vorstellungen,  der  gröfseren  Widerstandskraft  der  letzteren,  ein 
längeres  Beharren  im  Bewufstsein.    Erschwerte  Actualisirung  der 
Vorstellungsdisposition  und  geringe  Widerstandskraft  der  Vor- 
stellungen   dagegen    bedingen    seltenes    Vordringen    der    Vor- 
stellimgen  zum  Bewufstsein  und  eine  gewisse  Flüchtigkeit  der- 
selben.    Wie  also  ersichtlich  ist,  bilden  die  Beharrungstendena 
und  die  Neigung  zum  öfteren  Auftauchen  im  Grunde  genommen 
gar  nicht  zwei  für  sich  bestehende  Tendenzen.    Mit  der  Tendenz 
zum  Auftauchen  ergiebt  sich  nämlich  zugleich  auch  die  Neigung 
zum.  Beharren  von  selbst,  und  die  letztere  ist  sozusagen  nur  die 
andere  Seite  der  ersteren.    Das  Auftauchen  und  Beharren  der 
Vorstellungen  sind  also  zwei  Bethätigungsweisen  einer  und  der- 

*  Vgl.  HöPLER,  Psychologie,  S.  165. 


32  Bobert  Saxinger. 

selben  Disposition.^  Wenn  sich  sohin  aus  der  vergleichenden 
Beobachtung  empirischer  Fälle  ergiebt,  dafs  dort,  wo  gewisse 
Gefühle  ins  Spiel  kommen,  die  Vorstellungen  ohne  associative 
Anlässe  öfters  auftauchen  und  länger  im  Bewufstsein  yerhairen 
als  dort,  wo  die  Gefühle  fehlen  oder  zu  schwach  sind,  um  eine 
bemerkbare  Wirkung  auszuüben,  so  kann  dies  nur  so  erklärt 
werden,  dafs  die  betreffenden  Vorstellungsdispositionen  durch 
die  Einwirkung  des  Gefühles  eine  Verstärkung  erfahren  haben. 
Die  Vorstellung  F,  welche  das  Gefühl  G  erzeugt,  begründet  die 
Disposition  D,  Diese  letztere  erfährt  durch  das  Gefühl  0  eine 
Verstärkung,  welche  sich  in  dem  Auftauchen  und  längerem  Be- 
harren der  Reproductionsvorstellungen  Fj  V^  Fj  etc.  äufeert 
So  bewirkt  z.  B.  der  Schmerz  der  Mutter  beim  Anblick  des 
sterbenden  Kindes  eine  Verstärkung  der  durch  die  betreffende 
Wahmehmungsvorstellung    begründeten    Vorstellungsdisposition. 

Nicht  unwichtig  erscheint  die  Frage,  ob  die  Veränderung 
der  Vorstellungsdispositionen  durch  das  Gefühl  nur  bei  der  Be-  .| 
gründung  der  betreffenden  Dispositionen  mögUch  ist,  oder  auch  { 
nachträglich  während  des  Bestandes  derselben  erfolgen  kann. 
Soviel  ich  sehe,  giebt  es  in  der  That  Fälle,  in  welchen  wir  eine 
.  Veränderung  einer  schon  bestehenden  Vorstellungsdisposition 
durch  den  Einflufs  des  Gefühles  annehmen  müssen.  So  l&fot 
sich  beobachten,  dafs  nicht  selten  Erinnerungsbilder  früherer 
Erlebnisse,  wenn  sie  nach  längerer  Zeit  durch  irgend  einen 
associativen  Anlafs  wieder  einmal  ins  Bewufstsein  gehoben 
werden,  unter  dem  Hinzutritte  hinlänglich  starker  Gefühle 
wenigstens  für  kürzere  Zeit  die  Tendenz  zeigen,  ohne  associative 
Beihülfe  öfters  im  Bewufstsein  aufzutauchen  und  daselbst  länger 
2U  verweilen.  Dabei  kann  dahin  gestellt  bleiben,  ob  die  Er- 
innerungsbilder vielleicht  erst  jetzt  in  Folge  geänderter  Gtefühls- 
dispositionen  Gefühle  auslösen,  während  etwa  das  Erlebnifs 
selber  gleichgültig  war,  oder  ob  es  sich  um  alte,  zum  Wieder- 
aufleben gebrachte  Gefühlswerthe  handelt,  da  das  Resultat  das- 
selbe ist:  eine  nachträgliche  Veränderung  der  Vorstellungs- 
disposition im  Sinne  einer  Verstärkung. 

Die  Möglichkeit  der  späteren  Veränderung  der  Vorstellungs- 

^  Vgl.  G.  E.  MüLLEB  und  A.  Pilzecker,  Experimentelle  Beiträge  zur 
Lehre  vom  Gedächtnifs.  Zeitschrift  f,  Psychologie^  Erg.-Bd.  1,  1900.  Daselbst 
"vrird  die  Tendenz  der  Vorstellungen,  frei  ins  Bewufstsein  zu  steigen,  als 
Persdverationstendenz  bezeichnet. 


lieber  den  Mnfiufs  der  Gefühle  auf  die  Vorstellungsbewegung.  33 

dispositionell  ist  nun  nach  einer  Richtung  hin  nicht  ohne  Belang. 
Da  die  Vorstellungen  F,  F,  Fg  etc.  von  ähnlichen  Gefühlsreac- 
tionen,  wie  die  Voretellung  F  begleitet  sind,  und  weiter  Verände- 
rungen schon  bestehender  Vorstellungsdispositionen  durch  Gefühle 
einmal  möglich  sind,  so  ist  eine  Einwirkung  der  Gefühle  G,  G^ 
6j  etc.  auf  die  Disposition  />,  vorausgesetzt,  dafs  sie  hinlängliche 
Intensität  besitzen,  meines  Erachtens  nicht  auszuschhefsen. 
Diese  Annahme  widerstreitet  keineswegs  den  früheren  Auf- 
stellungen. Während  dort  der  Gedanke,  dafs  das  Beharren  und 
Auftauchen  einer  Vorstellung  jedesmal  diirch  das  begleitende 
Gefühl  bewirkt  werde,  in  dem  Vordergrund  stand,  handelt  es 
sich  jetzt  um  eine  Einflufsnahme  des  Gefühles,  nicht  auf  die  zu- 
gehörige Vorstellung,  sondern  auf  nachfolgende  Reproductionen. 
Die  von  dem  Gefühl  ö,  ausgehende  Kräftigung  der  Disposition 
D  äufsert  sich  natürUch  erst  bei  den  Reproductionen  F^  F3  etc. 
Dasselbe  gilt  dann  mutatis  mutandis  von  Einflüssen,  die  von 
den  Gefühlen  G^  G^  etc.  herstammen. 

Einem  Bedenken  soll  hier  Raum  gegeben  werden:    Wenn 
nämlich   von   den   Gefühlen   G^   G^   G^   etc.  Einwirkungen  aus- 
gehen, so  Aüfste  eigentlich  die  Disposition  D  eine  fortlaufende 
Verstärkung  erfahren,  was  offenbar  in  einem  steten  Auftauchen 
und  endlosen  Beharren  der  betreffenden  Vorstellungen  zu  Tage 
treten  würde.    In  WirkUchkeit  findet  aber  weder  das  eine  noch 
das  andere  statt.    Die   anscheinenden  Schwierigkeiten,  die  sich 
der  Annahme  einer  von  den  Gefühlen  G^  G^  Gg'etc.  ausgehenden 
Verstärkung  der  Vorstellungsdisposition  D  entgegenstellen,  sind 
leicht    zu    beseitigen.     Aus   der  Erwägung,   dafs   Dispositionen 
kaum  unendlich  steigerungsfähig  sein  werden,  folgt,  dafs  die 
Vorstellungsdispositionen    nur    bis    zu   einem   gewissen   Punkte 
eine  Verstärkung   erfahren    können.     Wenn   bereits   durch    das 
Gefühl  G  die  Grenze  der  möglichen  Verstärkung  erreicht  wurde, 
dann    kann   natürlich   der    betreffenden    Vorstellungsdisposition 
durch  die  Gefühle  G^  Gc,  Gq  etc.  keine  neue  Energie  mehr  zugeführt 
werden.     Sowie    aber    die   Stärke   der   Disposition   unter   diese 
Grenze   sinkt,   mufs  eine  Energievermehrung  der  Disposition  als 
möglich  gedacht  werden.    Vielleicht  ist  es  die  Hauptaufgabe  der 
den  Reproductionsvorstellungen  zugeordneten  Gefühle  die  natur- 
^emäfse  Herabsetzung  der  Vorstellungsdispositionen  aufzuhalten. 

{Eingegangen  am  S.  Juli  1901.) 


Zeitschrift  fOr  Psychologie  27. 


r 


Experimentelle  Untersuchungen 
über  die  Gredächtnifsentwickelung  bei  Schulkindern, 

Von 

Marx  Lobsien,  Kiel. 

I. 
Alexandeb  Netschajeff  hat  über  experimentelle  Unter- 
suchungen in  gleichem  Sinne  in  dieser  Zeitschrift  (24,  321  flE.)  im- 
längst  berichtet.  Trotzdem  halte  ich  nicht  für  überflüssig,  nach* 
stehend  die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  aufzuzeichnen» 
Zunächst  kann  ja  eine  ev.  Bestätigung  der  dort  gegebenen  Re- 
sultate nur  erwünscht  sein,  sodann  aber  habe  ich  den  Versuch 
gemacht,  die  Beobachtungsweise  Netschajeff's  in  manchen,  und 
wie  mir  scheint  nicht  unwesentlichen  Punkten  klarer  zu  um- 
zeichnen. In  einer  Beziehung  zwar  geht  seine  Versuchstechnik 
weiter,  als  mir  zu  gehen  vergönnt  war.  Herr  Netschajeff's  Be- 
obachtungen erstrecken  sich  über  sechs  verschiedene  Lehr- 
anstalten in  St.  Petersburg:  Volksschule  für  Knaben,  Volks- 
schule für  Mädchen,  Realschule,  Mädchengymnasium,  Mädchen- 
stift und  Lyceum,  insgesammt  über  eine  Schüleranzahl  von  687 
im  Alter  von  9 — 18  Jahren.  Dem  gegenüber  beschränken  sich 
meine  Experimente  auf  Schüler  und  Schülerinnen  Kieler  Volks- 
schulen im  Alter  von  9 — 14,  bew.  14Vo  Jahren.  Diesem  Mangel 
in  der  zeitlichen  Ausdehnung  steht  eine  wesentlich  gröfsere  An- 
zahl von  Versuchsergebnissen  innerhalb  des  angegebenen  Zeit- 
raumes gegenüber.  Ich  stellte  Versuche  an  mit  462  Schülern, 
238  Knaben  und  224  Mädchen.  Nktschajeff  beobachtete 
88  Volksschüler,  47  Knaben  und  41  Mädchen  im  Alter  von 
bezw.  9,  10  und  11  Jahren.  Den  Löwenantheil  beansprucht  eine 
Realschule   mit  335  Schülern.     Ich  bitte   die  Tabelle  I   (S.   32) 


Experim.  Unterauchutigen  üb,  d,  Gedäch^ifsetiücickelufig  bei  Schulkindern,  35 

sorglich  zu  vergleichen!  Zunächst!  die  Versuche  in  Mädchen- 
klassen sind  so  sehr  in  der  Minderzahl  gehalten,  daTs  ich  leb- 
haft Bedenken  trage,  zumal  wo  sie  zum  Vergleich  mit  solchen 
an  den  Knabenklassen  herangezogen  werden,  sie  in  allen  Theilen 
zu  unterschreiben.  Für  das  9.  bis  11.  Schuljahr  kommen  ins- 
gesammt  41  Volksschülerinnen  in  Betracht,  und  zwar  für  das 
neunte  9,  das  zehnte  15,  das  elfte  13,  für  die  Zeit  vom  12.  bis 
14.  aber  60,  bis  zum  15.  60  +  19  =  79.  Die  Zöglinge  emes 
Mädchengymnasiimis  und  eines  Mädchenstifts,  gesammt  23  im 
Alter  von  15 — 18  Jahren,  bleiben  für  die  vorliegenden  Unter- 
suchungen aufser  Rechnung.  Somit  stehen  den  60  +  41  =  101 
Versuchen  mit  Mädchen,  solche  mit  343  Knaben  im  Alter  von 
9 — 15  Jahren,  gegenüber.  Dazu  kommt  femer:  die  Mädchen 
gehören  wesentlich  verschiedenen  Bildungsanstalten  an  (41  der 
Volksschule,  60  dem  Gymnasium),  die  Versuchsergebnisse  er- 
fahren an  ihrem  Werth  damit  noch  eine  bedeutende  Einbufse. 
Denn  deren  ganze  Unterrichts-  und  Erziehungsweise  bedingt  noth- 
wendig  Verschiedenheiten  in  der  Entwickelung  der  Gedächtnifs- 
arten,  eme  quantitativ  verschiedene  Inanspruchnahme  dieser  oder 
jener  Gedächtnifsweise.  Dieser  Unterschied  bleibt  gewifs  auch 
bestehen  innerhalb  der  verschiedenen  Classen  solcher  Bildungs- 
anstalten, die  gleiche  Ziele  verfolgen,  und  wird  immer  ein  nicht 
ganz  tarirbarer  Fehlerwerth  ähnlicher  Versuchsweisen  bleiben. 
Wenn  man  aber  in  der  Weise  Netschajeff's,  eine  geringe  An- 
zahl Versuche  mit  Mädchen  verschiedenartiger  Bildungsanstalten, 
mit  einer  überwiegend  grofsen  Anzahl  Knaben,  die  derselben 
Schule  angehören,  vergleicht  —  dann  multiplicirt  man  den 
Fehler  anstatt  ihn  zu  verringern  und  gelangt  zu  Ergebnissen, 
die  nicht  einwandfrei  sein  können.  Ich  achte  die  Experimente 
Netschajeff's,  soweit  sie  Knaben  angehen,  für  weit  werthvoUer 
als  diejenigen  mit  Mädchen.  —  Ich  suchte  dem  Experiment  und 
seinen  Ergebnissen  eine  gröfsere  Gleichmäfsigkeit  dadurch  zu 
verleihen,  dafs  ich  die  Anzahl  der  Versuche  mit  Knaben  und 
Mädchen  annähernd  gleich  gestaltet  und  den  Vergleich  zunächst 
beschränkte  auf  Unterrichtsanstalten,  die  in  ihren  Classen-  und 
Gesammtzielen  und  Mitteln  wenigstens  theoretisch  gleich  ge- 
stellt sind. 

Die  ferneren  versuchstechnischen  Umstände  gestalteten  sich 
^Um  Theil  den  von  Netschajeff  angestellten  ähnlich.  Die  Ver- 
buche wurden  angestellt,  theils  vor  Beginn  des  Unterrichts^  theila 


gß    .  Marx  Lohsien. 

nach  der  zweiten  gröfseren  Unterrichtspause,  die  15  Minuten 
dauerte.  Ich  wählte  diese  Zeiten  in  Uebereinstimmung  mit  den 
Ergebnissen  meiner  Untersuchungen  über  die  geistige  Ermüdung  \ 
um  Einflüsse  der  Ermüdung  auf  die  Versuchsergebnisse  möglichst 
unwirksam  zu  machen.  Ein  weiteres,  diese  Fehlerquelle  zu  ver- 
stopfen, kann  bei  der  vorliegenden  Art  des  Experimentirens 
nicht  imtemommen  werden.  Man  kann  höchstens  bei  abnormen 
äufseren  Einflüssen  den  Versuch  aussetzen,  mufs  aber  im 
Uebrigen  auf  eine  möglichst  grofse  Anzahl  von  Einzelversuchen 
seine  Hoffnung  setzen.  Den  Ermüdungserscheinungen  gegenüber 
sah  sich  Netschajeff  durch  äufsere  Umstände  gezwungen,  den 
Schaden  dadurch  gut  zu  machen,  dafs  er  in  jeder  neuen  Classe 
die  Reihenfolge  der  Versuche  änderte.  Es  erschien  ein  Versuch, 
„der  in  einer  Classe  zuerst  ausgeführt  worden  war,  als  letzter  in 
einer  anderen  u.  s.  w.  So  konnten  die  Schüler  vom  gleichen 
Alter  und  verschiedenen  Classen  unter  gänzlich  verschiedenen 
Bedingungen  hinsichtlich  der  Ermüdung  beobachtet  werden. 
Das  gab  den  Vortheil,  bei  Beobachtung  der  Ergebnisse  die  Frage 
über  die  Ermüdung  gänzlich  unbeachtet  lassen  zu  können" 
(323)  —  eine  Folgerung,  die  man  schwerlich  ohne  Weiteres  wird 
zugeben  wollen. 

Die  Versuche  wurden  mit  einer  ganzen  Classe  zugleich  an- 
gestellt und  dabei  die  äufseren  Umstände  sorglich  in  Rücksicht 
gezogen,  die  Störungen  des  Versuchs  veranlassen  könnten. 

An  den  Versuchsreihen  nahm  ich  einige  Aenderungen  vor. 
Zunächst  kürzte  ich  ihre  Länge;  statt  12  einzelner  Eindrücke 
benutzte  ich  9.  Dazu  wurde  ich  bestimmt,  theils  durch  die 
praktische  Erwägung,  dafs  nur  das  Alter  von  8— 14\'2  Jahren 
für  mich  in  Frage  kam,  theils  durch  Ergebnisse,  die  bekannte 
Untersuchungen  über  das  Gedächtnifs  festgelegt  haben. 

Das  „Gedächtnifs  für  abstracte  Begriffe"  liefs  ich  aufser 
Rechnimg,  denn  ich  sah  keine  Möglichkeit:  1.  sie  reinhch  zu 
sondern  von  den  Wörtern,  die  Gefühls-  und  Gemüthszustände 
bezeichnen,  es  sei  denn,  dafs  ich  mich  auf  eine  kurze  Reihe  be- 
schränkte, die  den  jüngeren  Zöglingen  niemals  geboten,  aber 
von  den  älteren,  anderen  Vorstellungen  gegenüber,  durch  den 
Unterricht  erzwungen,  jeweils  so  oft  wiederholend  durch- 
laufen   worden,    dafs   kein    reinUches   Ergebnifs    möglich    war. 


*  Unterricht  und  Ermüdung.    Herrn.  Beyer  u.  S.,  Langensalza. 


Experim.  UnterstMhufigen  Üb,  d.  Gedächtnifstiitmckelnng  hei  Schulkindern,  37 

Auch  die  von  Netschajeff  gebotenen  Wörter  leiden  an  diesem 
Mangel;  sie  lassen  der  Versuchsperson  oft  in  der  Deutung  so 
viel  Spielraum,  dafs  man  nicht  versichert  ist,  ob  wirklich  ein 
Abstractum  oder  an  seiner  statt  ein  Concretum  durch  die  jugend- 
liche Phantasiethätigkeit  in  das  Kianggebilde  hineingedeutet 
wird.  Diese  Erwägung  bestimmte  mich  zu  weiteren  Aenderungen 
an  den  Versuchsreihen  Netschajeff's.  Nicht  wenige  seiner  „Ein- 
drücke" sind  durchaus  nicht  eindeutig,  greifen  vielmehr  in  ihrer 
Deutung  in  verschiedene  Gedächtnifsgebiete  so  über,  dafs  man 
nicht  sicher  ist,  ob  dasjenige  überwiegt,  das  der  Experimentator 
im  Auge  hatte.  Wird  z.  B.  das  Wort  „Huhn"  vorgesprochen, 
so  ist  durchaus  nicht  ausgemacht,  dafs  es  eine  Gesichtsvor^ 
Stellung  weckt,  wie  beabsichtigt  war,  es  ist  im  Gegentheil  sehr 
wohl  mögUch,  wenn  nicht  wahrscheinlich,  dafs  Laut  Vorstellungen 
—  oder  auch  das  wohlschmeckende  Ei  —  reproducirend  so  sehr 
dominirt,  dafs  diese  unbeabsichtigte  Gedächtnifsfunction  sich 
ebenbürtig,  wenn  nicht  überwiegend  neben  das  gewollte  Ergebnifs 
stellt.  Ich  bin  weit  davon  entfernt,  zu  behaupten,  dafs  bei 
meinem  Material  gelungen  ist,  dieses  zweite  Fehlergebiet  der 
vorliegenden  Untersuchungen  scharf  zu  umgrenzen,  ich  wünsche 
nur,  dafs  es  um  einiges  genauer  geschehen  sein  möchte  als 
bei  Netschajeff. 

Die  von  Netschajeff  benutzten  Wörter  sind  durchgehends 
dreisilbig.  Die  russische  Sprache  ist  an  solchen  reicher  als 
unsere,  und  so  war  es  ihm  leichter,  ein  äufserlich  überein- 
stimmendes Material  zu  construiren,  ein  Material,  an  dem  die 
visuelle,  akustische,  motorische  Form  des  Gedächtnisses  reinlich 
zum  Ausdruck  gelangen  kann.  So  sehr  ich  wünschte,  ähnUche 
Gleichmäfsigkeit  in  der  äufseren  Wortgestaltung  construiren  zu 
können,  so  wenig  unentschlossen  war  ich,  als  sich  mir  die 
Unmöglichkeit  offenbarte,  ohne  die  oben  gerügten  Mängel  zu 
vermeiden,  dieses  Moment  aufser  acht  zu  lassen.  Es  ist 
mir  zwar  nicht  unwesentlich,  aber  doch  bedeutsamer,  unter  den 
Uebeln  das  kleinere  zu  wählen.  Zwar  scheint  dieser  Umstand 
einer  besonderen  Betonung  werth,  wo  es  sich  um  die  Erkundung 
des  typischen  Unterschiedes  zwischen  visuellem  und  akustischem 
Gedächtnifs  handelt,  aber  in  allen  anderen  Fällen  steht  der 
Klanginhalt,  die  durch  den  Ausdruck  umschlossene  Vorstellung 
durchaus  im  Vordergrunde  des  Interesses.  Dieser  Unterschied 
prägt  sich  offenbar  weit  reiner  aus  bei  dem  Vergleich  mit  sinn- 


38  Marx  Lobsien. 

losen  Zeichenhäufungen,  die  sich  eben  äufserlich  mit  kleiner 
Mühe  zu  vergleichenden  sinnvollen  Wörtern  gleich  gestalten 
lassen.  Endlich  noch  spielt  das  akustische  Moment  eine  sehr 
bedeutsame  Kolle,  nicht  sowohl  bei  der  Summe  dessen,  was 
von  den  Schülern  reproducirt  wird,  als  vielmehr  bei  der  Form, 
in  der  das  geschieht,  also  für  die  Genauigkeit  des  Reihenablaufs. 
Diese  Seite  der  Betrachtung  läfst  Netschajeff  ganz  aufser  Rück- 
-sicht,  während  doch,  laut  viel  und  oft  bezeugter  Erfahnmg,  bei 
solchen  Wortreihen,  zumal  von  bedeutender  Länge,  wo  man 
nicht  durch  Ausschliefsen  des  Wortsinnes  allein  das  auditive 
Moment  wirken  lassen  will,  der  lebendige  Wortinhalt  gar  leicht 
die  Spinnfäden  zerreifst,  welche  etwa  das  LautgedächtniJGs  zwischen 
den  einzelnen  Gliedern  knüpfte.  In  Verfolg  dieser  Erwägungen 
nahm  ich  es  mit  der  äufseren  Textgestaltung  solcher  Eindrücke, 
die  ihre  Absicht  lediglich  auf  das  Gedächtnifs  des  Wortinhaites 
richten,  nicht  zu  streng,  wenn  ich  auch  ohne  Noth  von  einer 
annähernden  Gleichstellung  nicht  abgewichen  bin. 

Folgende  Reihe  von  Eindrücken  benutzte  ich: 
A.  I. 


1.  Zeitung 

6.  Kasten 

2.  Schlüssel 

7.  Buch 

3.  Taschentuch 

8.  Hand 

4.  Glas 

9.  Kreide 

5.  Tafel 

Diese  Dinge  wurden  den  Kindern  je  während  einer  Secunde 
gezeigt,  nachdem  sie  zu  scharfem  Hinsehen  aufgefordert  worden 
waren.  Selbstverständlich  mufste  dabei  Sorge  getragen  werden, 
dafs  weder  vor  noch  nach  der  jeweiligen  Vorführung  ein  früherer 
oder  späterer  Gegenstand  noch  sichtbar  war.  Nachdem  alle 
9  Gegenstände  in  Zwischenräumen  von  1  Secunde  gezeigt  worden 
waren,  erfolgte  das  Commando:  Schreibt!  und  unter  scharfer 
Controle,  die  jede  Anleihe  eines  Schülers  bei  dem  Nachbar  aus- 
schlofs,  erfolgte  die  Niederschrift  auf  die  bereit  gehaltene  Schreib- 
fläche 

n.      1.  Händeklatschen  6.  Klingeln 

2.  Klopfen  7.  Rollen  einer  Kugel 

3.  Zerreifsen  von  Papier  8.  Klirren  mit  Schlüsseln 

4.  Stampfen  9.  Brummen. 

5.  Pfeifen 


Experim,  üntentichungen  Üb,  d.  Qedächtnifsentwickelung  hei  SehuXkindem.  39 


Diese  Geräusche  wurden  in  der  Weise  erzeugt,  dafs  die 
Schüler  die  nothwendigen Bewegungen  der  Hände,  des  Mundes  tu  s.  w. 
nicht  sahen,  sondern  nur  das  Greräusch  wahrnahmen  und  zu  deuten 
suchten.  Dabei  war  ihnen  anheimgegeben  es  onomatopoetisch 
oder  auch  durch  Bezeichnung  der  Umstände,  unter  denen  es 
hervorgebracht  wird,  zu  charakterisiren. 

B.  m. 


1. 

37 

6. 

96 

2. 

68 

7. 

45 

3. 

54 

8. 

28 

4. 

27 

9. 

17 

5. 

63 

Diese  neun  Zahlwörter  wurden  den  Schülern  langsam  und 
deutlich  vorgesprochen. 

C.  IV.    Folgende  Wörter,  die  mit  Gesicbtsvorstellungen  veiw 
knüpft  sind,  wurden  mit  deutlicher  Articulation  vorgesprochen: 

1.  Blitzstrahl  6.  Mondscheibe 

2.  Wandkalender  7.  Sonnenstrahl 

3.  Zifferblatt  8.  Feuerschein 

4.  Fensterbank  9.  Himmelsblau. 

5.  Wandteller 

V. 


VI. 


Dann  folgende: 

1. 

Schutz 

6. 

Krachen 

2. 

Gekreisch 

7. 

Gebrüll 

3. 

Gebell 

8. 

Pfeifen 

4. 

Donner 

9. 

Geknall 

5. 

Gebraus 

[.           1. 

kalt 

6. 

rauh 

2. 

weich 

7. 

spitz 

3. 

rund 

8. 

kühl 

4. 

glatt 

9. 

scharf. 

5. 

heifs 

I.          1. 

Sorge 

6. 

Angst 

2. 

Feigheit 

7. 

Freude 

3. 

Hoffnung 

8. 

Reue 

4. 

Zweifel 

9. 

Neid. 

5. 

Hunger 

40  Marx  Lobsieti.. 

Vin          1.  auditiv  6.  QuantitÄt 

2.  simultan  7.  Integral 

3.  subjectiv  8.  Diffusion 

4.  Transaction  9.  Attraction. 

5.  Lyceum 

Diese  letzte  Gruppe  enthält  für  Schüler  der  Volksschule,  die 
fremdsprachlichen  Unterricht  nicht  geniefsen,  nur  sinnlose  Zeichen- 
häufungen. — 

Bei  der  Werthung  der  Versuchsergebnisse  benutzte  ich  wie 
Netschajeff  nur  die  Zahl  der  richtigen  Aufzeichnungen. 
Fehler  kamen  bei  den  Versuchen  in  so  verschwindend  geringer 
Menge  vor,  dafs  sie  ohne  Nachtheil  aus  der  Rechnung  fort- 
gelassen werden  konnten,  andererseits  würde  eine  Fehlerwerthung» 
—  wie  ich  sie  zu  Beginn  im  Auge  hatte  —  aus  nahe  liegenden 
«runden  auf  nicht  geringen  Widerspruch  stofsen. 

Eine  Weiterführung  der  Versuche  Netschajeff's  endlich^ 
suchte  ich  besonders  dadurch,  dafs  ich  auch  die  Form,  die 
Beihenconstruction ,  in  der  die  Eindrücke  reproducirt  wm-den, 
einer  näheren  Betrachtung  imterzog.  Netschajeff  gestattete  den 
Schülern,  die  Vorstellungen  „in  beUebiger  Reihenfolge  mitzu- 
theilen".  Ich  gab  eine  solche  Erlaubnifs  nicht  ausdrückUch, 
sondern  überliefs  die  Mittheilung  der  Reihenfolge  stillschweigend 
dem  Einzelnen  in  der  Hoffnung,  auch  dort  über  das  Gredächtnifs 
Aufschlüsse  zu  erhalten.  Es  handelt  sich  sowohl  um  die  Menge 
des  vom  Gedächtnifs  aufbewahrten,  als  auch  um  die  Form,  in  der  es 
reproducirt  wird.  Die  letztere  gerade  bietet,  soweit  man  sie 
innerhalb  des  Experiments  zahlenmäfsig  schätzen  kann,  neue 
und  intimere  Werthe  für  die  Bestimmung  des  Reichthums  au 
Reproductionsvermögen  dieser  oder  jener  Seite  des  Gedächt- 
nisses, reichere  als  ausschliefslich  in  den  Angaben  über  den  Um- 
fang des  Behaltenen  vorhanden  sind.  Die  durch  die  Weise 
Netschajeff's  gewonnenen  Werthe  müssen  genauer  bestimmt 
werden  im  Sinne  und  in  Consequenz  des  allgemein  zugestÄudenen 
Satzes:  die  Congruenz,  die  volle  üebereinstimmung  nach  Form 
und  Inhalt  der  reproducirte  Reihe  von  Eindrücken  mit  der  ge- 
gebenen, bedeutet  höchste  Energie  des  Gedächtnisses.  Die 
Etappenwerthe  von  o  bis  zu  diesem  Kulminationspunkte  sind 
dann  zu  bestimmen  nach  der  Erwägung,  dafs  zuerst  das  Was, 
dann  das  Wie,  zunächst  der  Inhalt,  erst  hernach  die  Form,  weil 


Experim.  Untersuchungen  Üb.  d.  Gedächtni/sefitunckdung  bei  Sdiulkindem.  41 


eben  diese  von  jenem  schlechterdings  abhängig  ist,  über  Werth 
und  Unwerth  entscheidet  Immer  aber  bleibt  die  Werthabgrenzung 
innerhalb  allgemeiner  Angaben,  denn  selbst  dann,  wenn  man 
beachtet,  dafs  jeweilige  Umstände  gar  wohl  eine  Höherwerthung 
der  formalen  Seite  bedingen  können,  so  bleibt  doch  mit  den 
Mitteln  des  vorliegenden  Experiments  ungemein  schwer,  ja  un- 
möglich, zu  bestimmen,  ob  bei  der  gegebenen  Reihe 

a  b  c  d  e  f  ff  h^ 


die  reproducirte  Reihe 
oder 


bacfdehg^ 


a  b  c  d  €  f  g  — 
höher  zu  werthen  ist.  War  die  Absicht  gerichtet  auf  formale 
Genauigkeit,  dann  möchte  man  geneigt  sein,  die  letztere,  ging 
das  Absehen  aber  auf  quantitative  Vollständigkeit,  die  erstere 
vorzuziehen,  ein  bestimmter  ziffernmäfsiger  Werth  fehlt  aber 
auch  dann. 

IL 
Tersuchsergebnisse. 

A.  Mit  Bezug  auf  den  Umfang  der  reproducirten 

Reihen. 

Die  nachstehende  Tabelle  giebt  eine  Uebersicht  über  die  Ge- 
sammtergebnisse ;  ich  gebe  die  Werthe  in  %. 

Tabelle  L 

Knaben: 


■r* 


Alter: 


II 


IV 


13—14  V«  i     12—13 


11—12 


10—11 


9—10 


a 

Reihe: 

Zeitung 

100 

91 

Schlüssel 

95 

91 

Tuch 

98 

81 

Glas 

81 

65 

Tafel 

93 

74 

Kasten 

98 

93 

Buch                     , 

96 

41 

Hand 

76 

67 

Kreide 

96 

85 

90 

92 

66 

78 

92 

72 

100 

74 

90 

100 

88 

92 

88 

92 

96 

88 

98 

96 

54 
14 
67 
64 
72 
76 
43 
64 
62 


42 


Marx  Lohnen. 


Alter: 


n 


m 


13—14  Vi 


12-13 


11—12 


IV 


10—11    !    9-10 


Klatschen 

i 

74 

50 

40 

54 

87 

Klopfen 

81 

76 

80 

76 

81 

Reifsen 

67 

54 

32 

48 

51 

Stampfen 

91 

70 

52 

74 

64 

Pfeifen 

80 

43 

68 

66 

70 

Klingen 

54 

1 

14 

46 

32 

11 

Rollen 

64 

35 

40 

48 

15 

Klirren 

,    " 

100 

80 

46 

37 

c 

37 

89 

100 

80 

74 

16 

68 

93 

96 

78 

78 

42 

54 

74 

74 

78 

54 

40 

27 

67 

50 

48 

22 

5C 

73 

80 

50 

54 

24 

42 

96 

76 

65 

72 

12 

57 

45 

80 

59 

54 

42 

1» 

28 

93 

65 

76 

58 

ao 

17 

74 

93 

92 

• 

90 

^ 

d 

Blitz 

96 

93 

90 

72 

50 

Kalender 

76 

57 

62 

28 

26 

Zifferblatt 

83 

65 

54 

22 

15 

Bank 

70 

93 

80 

76 

76 

TeUer 

61 

54 

40 

38 

9 

Mondscheibe 

83 

70 

66 

90 

45 

Sonnenstrahl 

72 

74 

54 

70 

62 

Feuerschein 

42 

57 

28 

50 

24 

Himmelsblau 

74 

64 

62 

50 

52 

Untersuchungen  Üb,  d,  Gedächtnifsentwickdung  bei  Schüüeindem.  43 


Liter: 

I 

II 

m 

IV 

V 

13—14  Va 

12—13 

11—12 

10—11. 

9—10 

91 

1 

91 

94 

48 

54 

3Ch 

80 

65 

72 

32 

30 

76 

74 

60 

62 

67 

• 

'        83 

83 

80 

80 

80 

.8 

48 

39 

36 

38 

14 

in 

50 

43 

50 

18 

11 

1 

91 

57 

74 

42 

64 

' 

80 

65 

68 

30 

24 

1 

74 

67 

48 

86 

50 

98 

93 

86 

80 

59 

76 

76 

64 

46 

19 

70 

59 

88 

62 

33 

76 

59 

90 

58 

21 

65 

57 

48 

52 

26 

76 

65 

76 

52 

50 

65 

1 

74 

76 

52 

41 

1        74 

70 

68 

60 

72 

76 

80 

64 

52 

74 

96 

87 

72 

34 

11 

it 

91 

76 

84 

38 

11 

ng              ! 

74 

65 

56 

58 

50 

l 

39 

39 

12 

14 

9 

r 

81 

62 

72 

34 

52 

70 

50 

42 

36 

15 

76 

54 

80 

48 

43 

1 

72 

33 

34 

18 

9 

80 

62 

56 

64 

45 

1 

'_.  _ 

. 



-. — 

44 


Marx  Lohnen.. 


I 

II 

m 

IV 

V 

Alter- 

■ 

13-14  V2 

12—13 

11    12 

10-11 

9-10 

auditiv 

76 

91 

66 

1 
36 

39 

simultan 

13 

54 

18 

2       ! 

4 

subjectiv 

98 

70 

16 

46       ^ 

2 

Transaction 

24 

15 

8 

20       1 

0 

Lyceuin 

7 

13 

0 

0 

0 

Quantität 

62 

26 

8 

2       ' 

2 

Integral 

7 

11 

14 

2 

2 

Diffusion 

45 

33 

14 

8 

0 

Attraction 

33 

26 

26 

6 

16 

Ich  berechne  hieraus  zunächst  den  Gesammtdurchschnitt  aus 
allen  Altersstufen  für  die  verschiedenen  Gebiete. 


Tabelle  2. 

Art  des  Gedächtnisses 

1 

Werth  in  '>o 

Reale  Dinge 

82,2 

Geräusche 

59,0 

Zahlen 

64,8 

Wörter:    visuelle  Vorstellungen       ! 

60,6 

Lautvorstellungen 

59,4 

Tastvorstellungen 

64,2 

Gefühlsvorstellungen 

31,2 

Lautgedächtnifs                   ! 

24,0 

Diese   Zahlen   bieten    also    den    zu    vergleichenden   Dur 
schnittswerth  für  die  verschiedenen  Seiten  des  Gedächtnisses 
Knaben. 

Die  Curve  offenbart  deutlich  eine  sehr  verschieden  aus 
prägte  Gedächtnifsenergie.  Weil  sie  gewonnen  wurde  aus  all 
Versuchen  unter  möglicher  Ausmerzung  individueller  Besonc 
heiten,  möchte  ich  sie  mit  der  aus  den  Mädchenversuchen  gle 
zu  entwickelnden  als  Normalcurve  bezeichnen  und  die  na 
folgenden  Ergebnisse  nicht  nur  unter  sich,  wie  Netschaj: 
allein  vorhat,  sondern  besonders  auch  mit  dieser  vergleichen. 


Ejperlm.  UntersuchMngtn  üS.  d.  Oedächtnifsenturickrluiig  bei  Schwlkindem.  46 

Ein  Vergleich  der  Curve  mit  dem  entsprechenden  Gesammt- 
ergebDÜs  Netschajeff's  (vgl,  S.  332)  zeigt  im  Grofsen  und  Ganzen 
in  der  jeweiligen  Tendenz  zum  Steigen  oder  Falten  Ueberein- 
stimmung,  nor  in  betreff  des  Zahlengedächtnisses  zeigt  sich  eine 
bemerkenswerthe  Abweichung.  Trotzdem  bedeutet  sie  keines- 
wegs ein  falsch  oder  richtig  da  oder  hier,  sondern  das  Ergebnifs 
entspricht  in  beiden  Fällen  den  Thatsachen.  Der  Unterschied 
erklärt  sich  dem  Kundigen  ohne  Weiteres  aus  der  Verschieden- 
heit der  Lehranstalten,  der  verschiedenen  Pflege  des  Zahlen- 
gedächtnisses besonders  im  elementaren  Rechenunterrichte. 

Die  nachstehenden  Tabellen,  aus  den  vorhergehenden  be- 
rechnet ,  sollen  die  Weise  der  Entwickelung  der  ver- 
schiedenen Gedächtnifaarten  auf  den  in  Fr^e  kommenden 
Altersstufen  offenbaren.  Die  Werthe  sind  auf  "/„  berechnet. 
Altersstufen :  V  =  9-10,  IV  =  10-11,  III  =  11—12,  n  =  12—13, 
I  =  13— 14V.. 

Tabelle  3. 


Art  des  Gedächtnisses 


Stufe 

1 

1 
1 

1 

.2  ■ 
> 

s  1 

> 

J 
'1 

I 

92^ 

71,89 

80,8, 

73,00 

74,78 

75,33 

75,44 

40,56 

U 

je,46 

57,33 

72,33 

fia,ti7 

1)4,89 

73,67 

68,67 

37,67 

UI 

89,78 

57,19 

70,22 

59,67 

63.00 

73,33 

50,33 

19,99 

IV 

87,12 

65,33 

49,33 

65,11 

48,44 

57,11 

38,m 

12,44 

V 

64,(» 

53.33 

49,1)9 

46,.t6 

43,78 

43,67 

27,22 

7.22 

Normal- 
werth 

82,2 

Öif,02 

64,8 

fiO,fi 

59,4 

64,2 

31,2 

24.0 

Ein  Vei^leich  bezeugt  in  manchen  Punkten  volle  Ueber- 
«instimmung  mit  den  Ergebnissen  Netschajeff's.  DeutUcli 
offenbart  sich  ein  allmähliches  Ansteigen  des  Gedächtnifsumfangs 
in  den  auf  einander  folgenden  Stufen.  Der  Grad  des  Wachs- 
ttun« ist  für  die  Altersstufen  und  verschiedenen  Gedäehtnifs- 


46  Jiarx  Lobsieni 

arten  recht  verschieden.    Die  Differenz  für  die  Gr^ammtentwic 
long  von  der  jeweiligen  I.  bis  V.  Stufe  beträgt: 

für  Gegenstände  92,56 

—  64 


28,56 

für  Geräusche 

71,89 

53,33 

18,56 

für  Zahlen 

80,67 

49,09 

31,58 

für  Worte:   visuelle  Vorstellungen  einkleidend 

73,00 

—  46,56 
26,44 

für  Worte:   akustische  Vorstellungen  einkleidend 

74,78 

—  43,78 

31,00 

für  Worte:   Tastvorstellungen  einkleidend 

75,33 

—  43,67 

31,66 

für  Worte:   Gefühlsvorstellungen  weckend 

75,44 

—  27,22 

48,22 
Gesammtdurchschnitt  für  Wörter:    34,33. 

Endlich  für  Laute  40,56 

—  7,22 


33,34 
Gesammtdurchschnitt:   29,27   der  Anfangshöhe. 

Am  weitesten  wächst  das  Gedächtnifs  für  Gefühlsvorstellu 
und  Zahlen,  am  geringsten  für  Geräusche.    Volle  Bedeutun 


Experim,  Untersuchungen  üb.  d,  Qedächtnifaentwidcelung  bei  Schulkindem.  47 


halten  diese  Differenzwerthe  aber  erst  im  Vergleich  zu  der  oben 
angedeuteten  Normalcurve. 

Die  Höhe  in  der  die  Normale  die  Differenzwerthe  durch- 
schneidet, zeigt  in  noch  deutUcherem  Maafse  die  Entwickelung 
der  verschiedenen  GedächtniTsgebiete  und  zwar  in  negativem 
Sinne  in  dem  Abstände  von  Curve  V,  positiv  in  den  Entfernungen 
von  Curve  L  Je  näher  der  gesammte  Durchschnittswerth  der 
dem  entsprechenden  Werth  auf  der  Curve  5  hegt,  desto  bedeut- 
samer ist  die  Entwickelung  bei  sonst  gleicher  Entfernung  von 
Curve  I. 

Das  führt  zugleich  auf  eine  speciellere  Betrachtung  der 
Steigerungsunterschiede  unter  den  einzelnen  Altersstufen. 

Tabelle  4. 

Differenz  in  dem  Umfange  der  Gedächtnifsentwickelung  auf 


d 

ien  verschied 

enen  Altersst 

uf  en. 

1 

Differenz 

zwischen 

1 
1 

Gegen- 
stände 

00 

u 

0 

d 

visuelle  Vor- 
stellungen 

akustische 

Vor- 
stellungen 

1 

Tast- 
stellungen 

Gefühlövor- 
Stellungen 

I  u. 

II 

+  16,11 

1 

+  14,56   +   8,34 

+  3,33 

+   9,89 

+   1,66 

+ 16,77 

+  2.89 

II  u. 

in 

1 

!  — 12,73 

+  0,14 

+  2,11 

+  10,00 

+   1,89 

+  0,34 

+  3,34 

+  17,68 

IM  u. 

IV    +   2,06 

+   1,86 

+  20,89 

+   4,56 

+  14,56 

+ 16,22 :+ 17,00 

+  7,56 

IV  u 

.  V 

1 
1 

1  +  23,12 

1 

+   2,00 

+  0,24 

+   8,55 

+   4,66 

+ 13,44 

+  11,11 

+  6,22 

Die  Tabelle  bezeugt  für  das  13.  Lebensjahr  eine  bedeutende 
Zunahme  für  Gegenstände,  Geräusche  und  Gefühlsvorstellungen, 
ganz  besonders  im  Vergleich  zu  der  voraufgegangenen  Alters- 
stufe, wo  sich  sogar  ein  nicht  unwesentlicher  Rückgang  ver- 
zeichnet findet.  Dafür  zeigt  dieses  Alter  eine  bedeutende 
Zunahme  des  Gedächjtnisses  für  Wörter  visuellen 
Inhalts  und  für  sinnlose  Lauthäufungen,  Wort- 
klangbilder. Um  das  10.  Lebensjahr  herum  zeigt  sich  die 
gröfste  Zunahme  überhaupt  im  Zahlengedächtnifs,  für 
akustische,  Tast-  und  Gefühlsvorstellungen.  Wir 
haben  hier,  abgesehen  von  den  Differenzen  im  Gedächtnifs  für 
Gegenstände  und  Geräusche  zwischen  Stufe  I  und  II  überhaupt 
den  relativ  bedeutendsten  Gedächtnifszuwachs  zu 
verzeichnen.  In  der  Zeit  vom  9,  bis  10.  Lebensjahre  findet  sich 
eine   —   relativ   die  bedeutendste  überhaupt   —  Steigerung  des 


48 


Marx  Lohnen. 


Gedächtnisses  für  Gegenstände  und  damit  für  Wörter,  die  visaelle 
Vorstellungen  bezeichnen. 

Ohne  Weiteres  offenbart  sich  femer,  dafe  der  jeweilige  Zu- 
wachs an  GedächtniTsstärke  auf  verschiedenen  Altersstufen  keines- 
wegs gleich  grofs  ist,   es  zeigt  sich  vielmehr,  dals  die  Zunahme, 
die  Energie  sich  gleichsam  auf  einzelne  Gredächtnilsseiten  con- 
centrirt  und  andere  sehr  viel  weniger  berücksichtigt    So  ersieht 
man  auch  innerhalb  der  Entwickelung  derselben  GredäehtniTsait 
ein  nahezu  regelmäfsiges  Auf-  und  Absteigen  der  Werthe.    Das  ^ 
wird  noch  wesentlich  deutlicher,  wenn  man  die  absoluten  Unter- 
schiedswerthe,  d.  h.  diejenigen  gegen  Curve  5,  anstatt  der  oben 
angedeuteten  relativen  vergleicht. 

Tabelle  5. 


Differenz 

zwischen 

Stufen 

Gegen- 
stände 

1 
Geräusche 

Zahlen 

i 

vifluelleVor- 
stellungen 

akustische 

Vor- 
stellungen 

Tastvor- 
stellungen 

Geftihlflvor- 
Stellungen 

lu.II 

28,56 

18,56 

31,58 

26,44 

31,00 

31,66 

48,22 

33,a4 

II  u.  III 

;   12,45 

4,00 

23,44 

23,11 

21,11 

30,00 

31,45 

30,45 

ni  u.  IV 

25,18 

3,86 

21,13 

13,11 

19,22 

29,66 

28,11 

12,77 

IV  u.  V 

23,12 

2,00 

0,24 

8,55 

4,66 

13,44 

11,11 

5,2? 

1   64,00 

53,39 

49,09 

46,06 

43,78 

43,67 

27,22 

1 

7,22 

Die  Tabelle  6  zeigt  deutlich,  dafs  der  relative  Gedächtnifs- 
zuwachs  für  die  Gesammtentwickelung  der  einzelnen  Gedächtnifs- 
weisen  nicht  stark  variirte,  mit  Ausnahme  des  Gedächtnisses  für 
Gefühlsvorstellungen  und  Laute,  wenn  auch  die  Etappen  dieser 
Entfaltung  von  recht  ungleich  verschiedener  Länge  sind.  Der 
Gesammtzuwachs  betrug  bei  Knaben: 

Gedächtnifs  für  Gegenstände:  etwa  V- 

Geräusche : 

Zahlen :  „       ,5 

Worte:  visuelle  Vorstellungen :  ^ 

:  akustische  Vorstellungen : 
:  Tastvorstellungen: 
des  Umfangs  um  das  9.  Lebensjahr  herum.    Dagegen  stieg  di^ 
Gesammtzunahme  im 


n 


n 


n 


n 


»> 


Vs 

S: 


«i 


3 


>? 


n 


n 


n 


H 


8 


Gedächtnifs  für  Gefühlsvorstellungen  um  etwa  1 


/5 


„  „     Lauthäufungen 

der  ursprünglichen  Energie. 


»j 


n 


4». 


Eocperim.  Untersuchungen  Üb,  d.  Qedächtnifaentwickdung  bei  SchüOnndem,  49 


Tabelle  6. 

(1  Gegenstände,  2  Gremische  etc.,  in  der  Beihenfolge  von  Tabelle  8.) 


so 

9J 

90 

JJ 

SO 

6     j^ 

ZJ 

ß 

20 

rf}-- 

<S/'' 

1 

y  /    /     i 

//\. 

/J 

J 

/:       /         / 

y 

/u^/ 

JO 

/ 

l'S^ 

A 

/     2// 

/ 

S 

1  A^a, 

V 

l/^^f(^ 

^ 

ü^^^rTTi 

.j 

^^                ^ 

/7/ 

^n             m 

.71' 

•>    .'  • 


.v- 


^\  i' 


///- 


!U'X' 


n' 


Tabelle  7. 

Gedächtnifsversuche  mit  Mädchen. 


Alter- 

i 

I 

II 

m 

IV 

V 

13—14 

12—13 

11—12 

10—11 

9    10 

Reihe: 

1 

Zeitung 

98 

92 

100 

40 

92 

Schlüssel 

1       100 

96 

97 

81 

92 

Tuch 

100 

96 

95 

83 

84 

Glas 

100 

94 

97 

83 

88 

Tafel 

100 

98 

97 

91 

94 

Kasten 

100 

98 

97 

83 

84 

Buch 

98 

82 

78 

89 

92 

Hand 

100 

84 

97 

72 

92 

Kreide 

100 

i 

96 

88 

60 

1 

86 

Zeitschrift  für  Psychologie  27. 


Klatsch  en 

EJopfen 

Seiffleu 

Stampfen 

Pfeifen 

Klingeln 

RoUen 

Brummen 


Blitzstrahl 

100 

Kalender 

100 

Zifterbktt 

98 

Fensterbank 

95 

WandteUer 

95 

Mondscheibe 

98 

Sonnenstrahl 

93 

Feuerschein 

93 

Himmelsblau 

98 

SchuTe 

GekreiBch 

Gebell 

Donner 

Gebraus 

Kratrhen 

Gebrüll 

Pfeifen 

Gekaall 


IjlL 


Experim.  Untersuchungen  üb.  d.  Gedächtnifsentwickelung  bei  ScJiuOcindem.  51 


I 

11 

III 

IV 

V 

AltAr* 

Xx  1  •  O  A  • 

13—14 

12-13 

11    12 

10-11 

9—10 

kalt 

i       95 

1 

90 

91 

81 

74 

weich 

!        86 

58 

85 

76 

64 

rund                  ' 

80 

76 

91 

38 

68 

glatt 

!        77 

34 

63 

24 

23 

rauh                  ; 

;  ^^ 

92 

68 

32 

38 

heifs                  i 

68 

68 

49 

62 

38 

spitz                   ; 

98 

96 

91 

76 

74 

kühl 

75 

80 

49 

67 

50 

scharf 

1 

82 

68 

71 

74 

30 

Sorge 

77 

68 

93 

42 

66 

Feigheit 

!        71 

84 

63 

49 

24 

Hoffnung 

91 

84 

61 

58 

56 

Zweifel 

56 

20 

56 

12 

12 

Hunger 

61 

84 

93 

42 

58 

Angst 

61 

78 

79 

32 

44 

Freude 

!        71 

1 

70 

88 

74 

64 

Heue 

'       72 

40 

54 

40 

10 

Neid 

86 

1 
1 

96 

t 

73 

40 

22 

auditiv 

70 

96 

75 

40 

16 

simultan 

27 

16 

15 

0 

2 

subjectiv 

74 

40 

41 

7 

4 

Transaction 

23 

12 

11 

7 

4 

Lyceum 

32 

2 

3 

1 

6 

Quantität 

22 

1 

44 

0 

7 

0 

Integral 

31 

26 

22 

5 

0 

Diffusion 

'        43 

12 

13 

5 

2 

Attraction 

47 

1 

66 

24 

25 

28 

Hieraus    ergiebt    sich    als    Gesammtdurchschnitt    aus    allen 
Altersstufen  für  die  verschiedenen  Gedächtnifsgebiete : 


4* 


52 


Marx  Lob9im. 


Tabelle  8. 


Art  des  Ged&chtnisses 

Werth  in  % 

Reale  Dinge 

91,4 

Geräusche 

62,2 

Zahlen 

71,8 

Wörter:    visuelle  Vorstellungen 

71,0 

akustische  Vorstellungen 

60,2 

TastTorstellungen 

67,2 

Gefühlsvorstellungen 

^        59,4 

LautgedftchtnilJB 

23,8 

Auch  hier  offenbart  sich,  wie  bei  den  obigen  Berechnungen, 
bei  den  Knaben  im  Allgemeinen  Uebereinstimmung  mit  den 
Versuchsergebnissen  Netschajeff's  ;  die  Ursache  des  Unter- 
schiedes im  Zahlengedächtnifs  ist  schon  dort  erläutert  worden, 
für  sonstige  Abweichungen  möchte  ich  auf  das  grölsere  [Beob- 
achtungsmaterial hinweisen,  das  mir  zu  Grebote  stand. 

Die  nachstehende  Tabelle  giebt  eine  Uebersicht  über  die 
Weise  der  Gedächtnifsentwickelung  auf  den  verschiedenen  Alten- 
stufen  der  Mädchen. 

Tabelle  9. 


Stufe 


I 

II 

III 

IV 

V 


Art  des  Gedächtnisses 


OD 
0) 

O 


C3 


99,56 

82,67 

87,22 

96,67 

71,44 

82,00 

1 
70,22 

92,89 

75,56 

74,89 

77,22 

63,11 

74,67 

67,33 

94,00 

56,00 

73,56 

72,78 

72,11 

70,89 

73,33 

75,78 

46,22 

62,44 

56,22 

54,78 

58,78 

43,22 

89,33 

46,22 

50,44 

54,22 

38,22 

51,11 

32,89   1 

41,33 
34,89 
23,2ä 
10,44 
6,89 


Normal- 
werth 


91,4 

62,2 

71,8 

71,0 

60,2 

67,2 

59,4 

23,8 


Auch   diese  Tabelle   offenbart   eine   allmähUche  Steigerung 
des  Gedächtnisses  von   der  V.  bis  zur  L  Stufe,   wenn   auch  ii 


Experim.  Untenuehungen  äi.  d.  Gedächtniflentwiclcelung  bei  ScImOändem.  53 

ungleichen  Geschwindigkeiten.     Die  Differenz  für  die  Gesammt- 
entwickelung  zwischen  diesen  Stufen  beträgt 

für  reale  Gregenstände :      99,56 

—  89,33 


10,23 

für  Geräusche:  82,67 

—  46,22 


36,45 

für  Zahlen:  87,22 

—  50,44 


36,78 

für  Wörter:   visuelle  Vorstellungen: 

96,67 

—  54,22 

42,45 

für  Wörter:   akustische . Vorstellungen : 

71,44 

—  38.22 
33,22 

für  Wörter:    Tastvorstellungen: 

82,00 

—  51,11 


30,89 

für  Wörter:   Gefühlsvorstellungen: 

70,22 

—  32,89 

37,33 

für  Laute:  41,33 

—  6,89 

34,44 

Gesammtdurchschnitt  für  Wörter:    33,49 

Gesammtdurchschnitt     der     Gedächtnifsentwickelung     von 
Stufe  V— I  überhaupt:    30,28, 

also  fast  um  '/j  der  Anfangshöhe. 


M 


ilarx  Lobiien. 


Es  offenbart  sich  die  bedeutendste  Gedächtnifszunahme  für 
Wörter,  die  -visuelle  Vorstellimgen  bezeichnen,  die  geringste  für 
reale  Gegenstände. 

Eine  speciellere  Betrachtung  der  Steigerungsunterschiede 
innerhalb  der  einzelnen  Altersstufen  der  Mädchen  zeigt 


Tabelle  10. 
Sie  enthält  sowohl  die  relativen,  wie  die  absoluten  Unter- 
schiede, die  in  Tabelle  4  und  5  für  Knaben  angegeben  wurden. 


Differens 
twiflchen 

II 

1 

1 
1 

H 
li 

1      g 

^1 
II 

11 

(itbB. 

+  6,67 

+  7,11 

+12,33 

+19,45  +  8,33 

+  7,33 

+  2,89 

+  6,31 

+10,23 

+36.4& 

36,78 

42,45 

33,18 

30,89 

27,33 

34.« 

labe. 

-  1,11 

+19,56 

+  1,33 

+  4.44 

-9,00 

+  3,78 

-6,00 

+11,67 

3,66 

29,33 

24,45 

23 

18,89 

23,56 

34,44 

28,00 

—11 

+18,22 

+  9,78 

+l*i,56 

+17,33 

+17,32' +12,11 

+30,11 

+12,78 

4,Ö7 

S,78 

23,11 

18,56 

33,89 1    19,78 

40.44 

lß.33 

-«-{:: 

-13,05 '      0,00 

i 

+12,00 

+  2,00 

+16,56 

+  7,67 

+10.33 

+  3.55 

89,:-i3 

«.- 

50,44 

W,22 

38.22 

61,11 

33.89 

23.8 

(Zugehörige  Gurve  nebenstehend.) 


Die  Tabellen  und  Curven  offenbaren  ein©  bedeutende  Ge- 
dächtnirssteigerung  für  Mädchen  für  alle  GcdächtniTsweisen,  um 
das  12.  Lebensjahr  herum.  Uebertroffen  wird  diese  relative 
Steigerung  nur  im  14.  Lebensjahr  bezüglich  des  Gedächtnisses 
für  visuelle  Vorstellungen.  Um  das  13,  Jahr  zeigt  sich  die 
weitaus  gröfste  Steigerung  des  Gedächtnisses  für  Geräusche  und, 
damit  zusammenhängend,  für  Lauthäufungen.  Ein  auffallender 
Rückgang  im  GredächtniTs  für  Gegenstände  zeigt  sich  bei  dem 
Uebergang  von  der  V.  zur  IV.  Stufe.  Die  durchschnittliche  Ge- 
aammtzimahm©  zwischen  den  einzelnen  Stufen  beträgt  (Tab.  12)  :. 


Experim,  Untersuchungen  Üb.  d.  Gedächtnifsentwickekmg  bei  Schulkindern.  55 


Tabelle  11. 


Tabelle  12. 


zwischen 


% 


I  u.  II 
II  u.  III 

m  u.  IV 

IV  u.  V 


8,69 

3,08 

16,75 

4,82 


Der  Gesammtzuwachs  von  der  V.  bis  zur  I.  Stufe  bedeutet 
Vergleich    zu    dem    Anfangswerthe    des    Gedächtnisses   bei 
dchen : 

für  Gegenstände:  etwa  % 


für  Geräusche: 

für  Zahlen: 

für  Wörter ;  visuelle  Vorstellungen : 

für  Wörter :  akustische  Vorstellungen 

für  Tastvorstellungen: 

für  Gefühlsvorstellungen: 

für  Lauthäufungen: 


n 


n 


n 


n 


n 


rt 


n 


das  6  fache. 


56 


Marx  Lobaien, 


B.  Vergleich  der  üntersuchungsergebnisse  an 

Knaben  und  Mädchen. 

1.  Der  Gesammtdurchschnitt  der  Gedächtnifszunahme  li^ 
bei  den  Mädchen  etwas  höher,  als  bei  den  Knaben.  Die  6^ 
sammtzunahme  von  der  V.  bis  zur  I.  Stufe  beträgt: 

Mädchen  30,28 

Knaben  29,27 


Differenz    1,01 

7o 

2.  Das  Verhältnifs  der  Durchschnittswerthe  für  die  einzelnen 

Stufen  zeigt 

Tabelle  13. 

Zwischen 

Knaben 

Mädchen 

Durchschnitt 

I  u.  II 

7,81 

8,69 

8,25 

n  u.  III 

2,53 

3,08 

2,80 

III  u.  IV 

10,60 

16,75 

13,67 

IV  u.  V 

6,91 

4,82 

5,86 

Diese  Uebersichten ,  nach  denen  mit  gröfster  Deutlichkeit 
hervorgeht,  dafs  die  relative  Gedächtnifszunahme  am 
gröfsten  ist  zwischen  der  IV.  und  HI.  Altersstufe,  widersprechen 
nicht,  wie  es  den  Anschein  haben  könnte,  den  oben  (S.  47  und 
35)  gezogenen  Folgerungen.  Diese  an  einander  gefügt  erst  geben 
ein  Bild  von  dem  Umfange  des  Gedächtnisses  auf  der  nächst 
höheren  Stufe. 


Mädchen. 


Tabelle  14. 

Knaben. 


Durchschnitt. 


/  u.jr 


JltLjH 


} 


mu.TV 


Wuu  V 


In   der  Energie   des   relativen  Wachsthums   des  Gesamnv'* 
gedächtnisses  zeigen  sich  die  Elnaben  den  Mädchen  gegenüb^ 


Experim.  UttUntKhunijeit  üb.  d.  Gfdäihlnifaentieickeltmg  bei  Scbvtkindem.  57 


nur  zwischen  dem  9.  und  10.  Lebensjahre  im  Verhältnifa  von 
annähernd  6  :  5  überlegen,  auf  allen  anderen  sind  die  Mädchen 
den  Knaben  überlegen.  Diese  Grörse  in  der  Zunahme  aber  be- 
rechtigt offenbar  nur  im  Vergleich  zu  dem  Gedächtnifs- 
umfange  zu  Beginn  der  Untersuchungen  zu  SchlüBsen 
über  die  Verschiedenheit  des  Gedächtnisses  zwischen  Knaben 
und  Mädchen. 

Tabelle  15. 
Gesammthohe  des  GedftcbtnisBes  bei  Knaben   nnd  M&dchen. 


:1 

Knaben 

Mädchen 

Gegenstände                  ' 

92.56 

99,56 

1    +  ',00 

Gertnsche 

71,89 

82,67 

+10.78 

Zahlen                           .| 

80,67 

87,22 

-h  6,55 

Visuelle  VorBtellangen.; 

73,00 

96.67 

;     +23,67 

Akuat.  Vorstellungen    | 

74,78 

71,44 

-  3.34 

Taatvorstellongen         '' 

76,33 

82,00 

+  6.67 

76,44 

70.22 

—  4,78 

Laut« 

40,66 

41,33 

+  0.7? 

Im  Alter  von  13 

-UV,  Je 

hxen  zeigl 

sich  das  GedächtniTs 

der  Mädchen  dem  der  Knaben  insgesammt  um  5,91  %  überlegen. 
Besonders  bemerkenswerth  ist  das  Uebergewicht  in  betreff  des 
Gedächtnisses  für  Zahlen,  Geräusche  imd  besonders  für  visuelle 
Vorstellungen.  Das  Uebergewicht  für  Worte  überhaupt  betri^ 
5,5%,  liegt  also  wenig  unter  dem  Durchschnitt 

Tabelle  16. 


M 

■ 

'     \\     -'    Z 

'        l    ^^^     i,''S- 

» 

it  J 

T 

T 

J^    31 

Jlfara;  Lobaien. 


Vergleich  zwi 


Tabelle  17. 

chen  Knaben  nnd  Mftdci 
12—13  Jahren. 


Gedachtnira  für 

Knaben 

Madchen 

76,45 

92,89 

+16,44 

Geräusche                         ! 

67,33 

75,66 

+18,23 

Zahlen 

72,33 

74,89 

+  2,56 

Wörter:  visuelle  Voret 

69,67 

77,22 

+  8,55 

„      ;  akust.  Vorst. 

61,89 

63,11 

-  1,78 

„      :  Tastvorst. 

73,67 

74,67 

+  1,00 

„      :  Gefühlavorst. 

68,67 

67,33 

+  8,66 

Laute 

37,67 

34,89 

-  3,78 

Tabelle  18  (Curve). 


„  '~-.=  -\ 

«   S     v--^     ?k     ^ 

V  '^     -id-^; 

"    ^^         Tt' 

'    "  ^i 

X 

Gedächtnifs  für        I 

Oegen  stände 

GerüuBche 

Zahlen 

Wörter:  visuelle  Vorst. 

„      ;  akust.  Vorst. 

„       :  TftBt vorst. 

„      :  GefOhlsvorst. 


Äiif  dieser  Altersstufe  ist  der 
Unterschied  zwischen  dem  Ge- 
dachtnira der  Knaben  und  Mäd- 
chen zu  Gunsten  der  letzteren 
noch  gröfser  als  auf  der  höheren, 
6,22";.  Das  Gedachtnifs  für 
Zahlen  überwiegt  nicht  so  sehr, 
als  wieder  das  für  visuelle  Vor- 
stellungen, und  dann  das  für 
Gegenatände,  Geräusche  und  Ge- 
fühlsvorstellungen.  Das  Gedächt- 
nifs  für  Wörter  überhaupt  ist 
—  4,17  ";'p  —  geringer  als  auf 
der  höheren  Altersstufe  und  dem 
der  Knaben  überlegen. 
Tabelle  19. 
Alter:  11—12  Jahre. 

Knaben        M&dchen    |    Differenz    I  Durchschnitt 


70,22 
r>9,67 


94,00 
56,U0 
73,56 
72,78 
72,11 
70,89 
73,33 


+  4,12 

—  1,19 
+  SM 
+13,11 
+  '.',11 

—  2,44 
+18,00 
+  3,23 
+  9,45 


Experim.  üntertwAwtgm  i&.  d.  GediüAMßenttBV^lung  bei  Schtükindem.  { 
Tabelle  20  (Curve). 


Die  nachstehende  Tabelle 
bietet  einen  Vergleich  zwi- 
schen Knaben  und  Mädchen 
im  Alter  von  10 — 11  Jahren. 


"°:r::::;::::::::: 

^-\ j_ 

-^-A-^^zzptrv---- 

r  n  ml  H 

-:::::::::::::^:: 

«, iv-- 

j                          1 

"::::::::::::::$ 

Gedttchtnißi  für 

Knaben 

Mädchen 

DiUerenB    DurchBchnitt 

87,12 

76,78 

—11,34 

Geraasche 

56,33 

46,-22 

-  9,11 

Zahlen 

49,33 

62,44 

+13,11 

■Wörter:  viBuelle  Voret. 

66,11 

66,22 

+  1,11 

+  0,67 

„      :  akust.  Vorst. 

48,44 

54,78 

+  6,34 

,       ;  TMtvorat. 

57,11 

58,78 

+  i,ö' 

,      :  GefOhlBvorat. 

38.33 

43,22 

+  4,89 

Laute 

12,44 

10,44 

-2,00 

GeeammtmehT  für  Wörter: 
Auch  hier  weisen  die  Re- 
sultate der  Versuche  mit  Mäd- 
chen ein  Plus  auf,  aber  nur 
ein  geringes  von  0,57  %. 


Tabelle  22  (Curve). 


l^t~6^: 


Die  letzte  Tabelle  dieser  Gruppe  weist  die  Schwankungen 
des  Umfangs  verschiedener  Gedächtnifsarten  zwischen  Knaben 
und  Mädchen  auf  für  Stufe  V,  das  Älter  von  9 — 10  Jahrea 


GwiÄchtniTB  far 

Knaben 

M&dchen 

Ditferen«    j  Dnrchaehciitl 

64,00 

89,33 

+25,33      ! 

Gerftnecbe 

53,33 

46,22 

-  7,11      j 

Zahlen 

49,09 

60,44 

+  1,36 

Wörter:  viBuelle  Vorst. 

46,56 

64,22 

1+8,34      ! 

+*>3S% 

„      :  aknat.  Vorst. 

43,78 

36,22 

~    5,66 

„      :  Taatvorst. 

43,67 

61,11 

+  7,« 

„      :  Geffiblsvorat. 

27,22 

32,89 

1     +  6,67 

Laute 

7,22 

6,89 

-  0,33     1 

Datchechnittsplua  der  Mädchen  für  Wörter:    3,97. 


Tabelle  24  (Curve). 


', 

^1 

, 

~~ 

^, 

,■ 

l 

', 

"v 

N 

, 

\ 

\ 

- 

Es  erübrigt  sich  noch  der  Vergleich  zwischen  der  Gedächtni 
entwickelung  für  Küaben  und  Mädchen  der  verschiedenen  Alle 
stufen  innerhalb  der  verschiedenen  GedächtniTsarten. 


£xpmM.  UnterM^vngen  iä>.  d.  Oedäelitnifienlvnekelung  bei  Schitlkindem.  61 


1.    Ged&chtnifB  fftr 
Tabelle  25. 


Alter 

Madchea 

Knaben 

I 

99,56 

92,56 

II 

92,89 

70,15 

m 

94,00 

89,78 

IV 

75,78 

87,12 

V 

89,33 

64,00 

Tabelle  26  (Curve). 
Knaben.    Mltdchen. 


-, 

■=; ,-  - 

5       ^     ^ 

^7     ^^ 

:s 

2.  GedachtnifB  fa 
Tabelle  27. 


'li 


82,67 
57,33  !  75,56 
67,19  '  56,00 
55,33  I  46,32 
6333       I       46,22 


Geranache. 
Tabelle  28  (Oorve). 


"=p:::::: 

J  Jl'iflJ 

3.   Gedächtnifa  füi 
Tabelle  29. 


Alter 

Knaben 

Mädchen 

I 

80,67 

87,22 

n 

72,33 

74,89 

III 

70,22 

73,36 

IV 

49,33 

62,41 

V 

49,09 

50,44 

Tabelle  30  (Curye). 


^ 

N^ 

\"" 

v"^^ 

3  ^ 

4.   Gedächtnirs  für  WOrter: 
Tabelle  31. 


Alter 

Knaben 

Mädchen 

I 

73,00 

96,67 

II 

69,67 

77,22 

ni 

59,67 

72,78 

IV 

55,11 

66,22 

V 

46,56 

64,22 

saelle  Voratellnngen. 
Tabelle  32  (Carve). 


1 

\ 

-- 

( 

--, 

1 

Tf 

i  1 

'^s 

, 

-^,"1      1 

"1 

1 

.   GeHächtnirs  fOr  aku 
Tabelle  33. 


Alter 

1     Knaben 

Madchen 

1 

74,78 

71,44 

II 

i       64,89 

63,11 

III 

63,00 

72,11 

IV 

48,44 

54,78 

V 

43,78 

38,22 

che  VorstelluDgen. 
Tabelle  34  fCurve). 


I     s     m     w     V 


6.    Gedachtnirs  fUr 

Tabelle  35. 


Alter 

Knaben 

Mftdchen 

I 

7r>.a') 

82,00 

11 

!        43,67 

74,67 

III 

73.33 

70,8Ü 

IV 

57,11 

58,78 

V 

43,67 

5i,n 

tvorstellungen. 
Tabelle  36  (Curve). 


Eiperim.  UntenuchungeH  ti6.  d.  Oedächtniftenfvndtelitng  bei  SchvJkindem.  ■ 


7.   Gedkchtaifs  fQr  GefOhlsvocetelllaitgen. 


VUer 

Knaben 

Mltdchen 

I 

75,44 

70,22 

11 

68.67 

67,33 

III 

55.33 

73,33 

IV 

38,K 

43,22 

V 

27.22 

33,89 

Tabelle  38  (Carre). 

»     U--'^' 

^      ^   _2 

3v 

^1^ 

Jö                          \ 

8.   Gedächtnifs  fflr  ai 
Tabelle  39. 

Ali«r      l     Knaben     ]    MAdcben 

I               40,56 
II               37,67 

41,33 

M,ö9 

ee  Lanth&nfangen. 
Tabelle  40  (Curve). 


Tabelle  41. 

Knaben. 

Alter 

i     sinnvoll 

sinnlos 

I 

!        74,64 

40,56 

II 

1        66,72 

37,67 

III 

1        62,83 

19,99 

IV 

!        4»,75 

12,44 

V 

■10,31 

7,22 

Die  Tabelle  zeigt  ileutlich  den  Einäufs  des  Worteinnea  für 
^  Behalten,  je  niedriger  das  Alter,  desto  geringer  die  Fähig- 
^ii  sinnlose  Zeichenhäufungen  zu  behalten.  Setzen  wir  den 
'enh  für  die  erste  Colonne  =  1,  dann  ergeben  sich  für  die 


zweite  etwa  folgende  Bnichwerthe :  l:*l,,  II :  '/t  t  IH '■  '/• .  IV :  V„ 
V:  '/e-  —  Bei  Mädchen  ist  das  Gedächtnife  für  Wörter  durch- 
sclmittlich  etwas  höher  entwickelt. 


T 

ahelle 

42. 

H&dche 

Alter      j 

eianvoll 

sinnlos 

I        i! 

79,83 

j       «,33 

II    ; 

70,58 

34,89 

III    i 

69,78 

23.22 

IV        1 

50,75 

10.44 

Die  Bruchwertlie  sind  dementsprechend  niedriger:  I:  Vi. 
11:  %,  III:  Vs)  IV:  '/»,  V:  */,.  Das  Ergebnifß  möge  folgende 
Curvenzeichnung  veranschaulichen: 


Ta 

b 

e 

I 

e 

43 

., 

■■ 

nn 

' 

' 

• 

''« 

- 

?r 

\ 

\ 

1    1 

fr 

\~ 

Interessant  endlich  noch  ist  der  Ver- 
gleich zwischen  den  Versuchen  mit  Wörtern 
akustischen  und  visuellen  Vorstellungs- 
inhalts einerseits  und  den  realen  Dingen 
und  Geräuschen  andererseits. 


89,78 
«7,12 
«4,00 


Tabelle  44. 


1,     (.Je- 
!|  rausch 


■\Vort 

71,89  I  74,78 

.-i?,:«  i  64.89 

57,19  !  63 

5r>,3.1  j  48,41 

03,33  I  43,78 


!(9,56 
92,89 
04,00 


Mftdchen 


Wort 


Ge 


96,67  1  82,67 

77,22  :,  75,56     '. 

72,78  :,  5(i,00    1 

56,22  \  46,22 

54,22  i  46,22    ; 


fseperim.  Untenudiuiyen  üb.  d.  GedäehtnißenhFkkdung  bä  SdmO»nderH.  i 


\  ^  '  '  ■ 

_s-:25:-::_ 

'—^t'  —  '^A-— 

«    ~-"~v       V 

•■    j      5 

■=S- 

w' 

f'TI  "1   1   1  1  T  1 

■  ^ 

X        i,       ^    ^ 

^-^¥i\-i 

Tabelle  46a  (Curve). 

K 

Gegenstaude:  

Gegenstände:  ..   .^ 


Tabelle  45b  (Curve). 


Visnelle  Vorstellungen: 
Mftdchen: 

Vieuelle  Vorstellungen: 


Die  Tabelle  oSenbart  als  eigentbümlicbes  Ergebnifs,  dafs 
zwar  die  unmittelbare  Beobachtung  der  durch  das  Wort  ver- 
anlaTsten  Keproductiou  einer  visuellen  Vorstellung  für  die 
Energie  des  Gedächtnisses  von  sehr  grofser  Bedeutung  ist, 
keineswegs  aber  immer  das  wirkliche  Geräusch  dem  durch  das 
Wort  reproducirten  gegenüber.  Nicht  nur,  dafs  der  Abstand 
zwischen  beiden  Curven,  sowohl  bei  Knaben  wie  Mädchen  ein 
weit  geringerer  ist,  nein,  das  Verhältnifs  ist  geradezu  umgekehrt 
Und  zwar  weist  die  Curve  der  Knaben  für  aJcustische  Vor- 
stellungen gegenüber  den  realen  im  Älter  von  9 — 11  Jahren  zwar 
einen  Vortheil  der  ersteren  nach;  um  das  12.  Jahr  aber  kreuzen 
sich  die  Curven  und  es  überwiegt,  wenn  auch  nicht  sehr  be- 
deutend, das  Wortgedächtnifs.  Auch  bei  den  Mädchen  kreuzen 
sich  die  Curven  um  dieselbe  Zeit,  hier  aber  überwiegt  —  umge- 
kehrt wie  oben  —  bei  älteren  Kindern  das  Gedächtnifs  für 
akustische  Reize  gegenüber  dem  entsprechenden  Wortgedächtnifs, 
während  bei  den  kleineren  der  Umfang  des  Gedächtnisses  für 
Wörter  mit  akustischem  Vorstellungsinhalt  gegenüber  dem  an- 
deren ;  nur  für  das  Alter  von  9 — 10  Jahren  findet  sich  ein  Ueber- 
gewicht.  In  der  ersten  Curvenzeichnung  M)  finden  wir  durch- 
gehends  ein  Ueberwiegen  des  Gedächtnisses  für  reale  Dinge. 
Die  Differenz  zwischen  den  Curven  ist  keineswegs  constant. 
Zwischen  Knaben   und    Mädchen   besteht  der  charakteristische 

ZeilachriA  tUr  FsychDios'e  ^'  ^ 


66 


Marx  Lobsien, 


Unterschied,  dafs  die  Differenz  zwischen  beiden  von  unten  nach 
oben  consequent  geringer  wird  und  zwax  ist  das  zurückzuführen 
auf  die  bedeutende  Zunahme  des  Wortgedächtnisses  zumal  in 
13  — 14  V2  Lebensjahre.  Bei  den  Knaben  ist  die  Distanz  von 
ungleicher  Gröfse.  Am  bedeutendsten  überragt  das  Gedächtnils 
für  reale  Dinge  in  der  Zeit  vom  10.  — 12.  Jahre,  am  wenigsten 
um  das  13.  heruuL 

m. 

Die  formale  Seite  der  Ergebnisse. 

Die  neun  GUeder  jeder  Versuchsreihe  bilden  eine  psychische 
Reihe,  die  aber  nur  lose  gefügt  ist  nach  dem  bekannten  Gesetze 
der  Gleichzeitigkeit.  Aber  gerade  diese  lose  Fügung  gewährt  den 
Vortheil,  dafs  sich  eigenartige  Gedächtnifserscheinungen  deutlicher 
ausprägen. 

Ich  gebe  zunächst  eine  Uebersicht  über  die  Gesammt- 
zahl  der  reproducirten  Gliederanzahl  innerhalb  der 
verschiedenen  Gedächtnifsuntersuchungen. 

Tabelle  46. 

1.   Knaben. 


Gedächtnils 


Gliederanzahl 

4    I    ö    !    6 


Alter:   13  — I4V2  Jahre. 


Gegenstände 

(Geräusche 

Zahlen 

visuelle  Vorstellungen 

akustische  Vorstellungen 

Tastvorstellungen 

Gefühlsvorstellungen 

Laute 

Gegenstände 

Geräusche 

Zahlen 

visuelle  Vorstellungen 

akustische  Vorstellungen 

Tastvorstellungen 

Gefühlsvorstellungen 

Laute 


— 

3 

2 

— 

2 

7 

14 

14 

4 

4 

5 

9 

— 

— 

— 

5 

17 

15 

— 

1 

4 

18 

18 

1 

6 

6 

17 

— 

— 

0 

15 

14 

2 

3 

14 

16 

7 

1 

1 

23  I  20 


0 
11 

8 
11 
11 

7 


1 

12 
1 

6 
3 


Alter:   12—13  Jahre. 


» 

— 

5  • 

'  '■ 

1 

8 
2 

1 

11 
7 

1 

— 

■  '  1 

4 

5 

1 

l 

1 

10 

1 

9 

9 

16 

14 
10 
17 
16 

8 
11 

4 


8 
7 
11 
11 
16 
12 
10 
2 


19 

am 

O 

8 
8 
7 
8 
6 
1 


7 

6     - 
3 


10 
1 


3 
1 


Experim.  ünteratichungen  üb.  d,  Gedächtniflentwickdung  bei  SchüOcindem.  67 


Gredächtnifs 


Gliederanzahl 


8 


Alter:   11—12  Jahre. 


Gegenstände 

— 

2 

12 

20 

17 

Geräusche 

1 

2 

4 

11 

11 

19 

2 

1 

Zahlen 

1 

5 

2 

9 

7 

10 

9 

6 

visuelle  Vorstellungen 

3 

9 

12 

12 

10 

—  • 

akustische  Vorstellungen 

2 

9 

8 

13 

16 

2 

Tast  Vorstellungen 

1 

2 

8 

16 

9 

7 

7 

Gefühlsvorstellungen 

1 

4 

8 

16 

12 

8 

Laute 

17 

14 

11 

4 

1 

Alter:   10—11  Jahre. 


(Gegenstände 

Geräusche 

Zahlen 

visuelle  Vorstellungen 

akustische  Vorstellungen 

Tastvorstellungen 

Gefühlsvorstellungen 

Laute 


1 
3 

17 


1 
4 
2 

11 
17 


4 
1 
o 

8 

f) 

14 

8 


12 
2 

12 

12 
7 

15 
2 


1 

5 

7 

18 

19 

12 

12 

4 

2 

10 

12 

14 

6 

5 

15 

16 

2 

— 

14 

5 

6 

12 

12 

5 

5 

0 

2 

1 



Gegenstände 

Geräusche 

Zahlen 

visuelle  Vorstellungen 

akustische  Vorstellungen 

Tastvorstellungen 

Gefühlsvorstellungen 

Laute 


— 

1 

1 

2 

2 

3 

6 

2 

7 

4 

9 

18 

21 

10 

Alter:    9—10  Jahre. 

3 

6 

7 

14 
11 
18 

6 

1 


3 

14 

13 

8 

3 

7 

15 

10 

4 

10 

0 

11 

4 

9 

12 

1 

10 

14 

2 

1 

— 

10 

10 

4 

1 

7 

2 

2 

— 

Tabelle  47. 
Mttdchen. 


Gliederanzahl 


'  1  M  M 


Alter:    13— U>/i  Jahre. 


GcgennULnile  , 

Gerftaiche 

Zahlen  , 

vienelle  Voratellnngen 

akuBtieche  Vorstell  angen  . 

Taatvorstellangen  , 

Gefühls  vors  tellangen  j 

Gegenstände 

Gerftasche 

Zahlen 

vienelle  VorBtellungen 

akustische  Vorstellungen 

Tastvorstellangen 

Gefuhlsvoretellangen 


—  1  — 

— 

_ 

— 

— 

2 

42 

„  ■  _ 

— 

l 

6 

19 

17 

1 

—  .  — 

- 

1 

1 

3 

1 

8 

1 

11 
8 

19 
34 

_  _ 

1 

2 

8 

10 

11 

4 

4 

_  1  _ 

— 

1 

2 

6 

16 

14 

6 

—  — 

2 

6 

10 

8 

13 

4 

1 

4   10 

9 

7 

7 

3 

4 

- 

- 

Alter:    12—13  Jahre. 


— 

— 

— 

— 
7 

3 
11 

— 

2 

4 

6 

11 

— 

— 

— 

11 

12 

— 

-. 

2 

16 

18 

_ 

— 

— 

6 

16 

— 

„ 

2 

2 

5 

12 

7 

17 

16 

8 

3 

1 

Gegenstände 

Geräusche 

Zahlen 

visuelle  Vorstellungen 

akustische  Vorstellungen 

Tast  V  orstellungen 

Gef U  hls  vorstel  1  uu  gen 


Alter:    11—12  Jahre. 


1 

: 

1 

10 

12 

4 
2 

_ 

^ 

1 

1 

— 

— 

— 

2 

7 

— 

\ 

1 

4 

4 

— 

— 

6 

6 

12 

11 

10 

2 

1 

Gegenstände 

Geräusche  ; 

Zahlen 

visuelle  Vorstellungen 

akustische  Vorstellungen 

Taetvorstellungen 

Getühlsvorstellungen 


Alter;    10—11  Jahre. 


— 

2 

2 

14 

14 

8 

3 

14 

7 

9 

5 

1 

_ 

— 

8 

8 

9 

9 

4 

3 

12 

13 

4 

3 

1 

_ 

8 

19 

6 

3 

1 

— 

7 

11 

15 

9 

1 

_ 

6 

16 

12 

6 

1 

1 

1 

5 

6 

- 

~ 

- 

-  ; 

Expertin,  Unterauckungen  Üb.  d.  Oedächtnißenhoidcdung  bei  Schulkindem,  69 


Gedächtnifs 

Gliederanzahl 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

.    7 

8 

9 

Alter:    9 

-10  Jahre. 

Gegenstände                       ! 

1 

■   — 

— 

3 

4 

8 

6 

19 

Geräusche 

1 

6 

11 

8 

0 

11 

3 

3 

— 

Zahlen 

2 

3 

14 

8 

9 

7 

3 

1 

3 

visuelle  Vorstellungen 

— 

2 

5 

16 

15 

7 

3 

2 

1 

-akustische  Vorstellungen   1 

4 

8 

15 

13 

11 

1 

— 

Tastvorstellungen 

— 

2 

3 

18 

8 

14 

3 

— 

Gefülilsvorstellungen 

2 

11 

13 

17 

o 

2 

Traute 

1 

20 

7 

— 

— 

— 

Aus  diesen  Werthen  greife  ich  die  höchsten  heraus  und 
stelle  sie  vergleichend  neben  einander,  um  so  von  der  Fonn  des 
Reproducirten  aus  einen  MaaTsstab  an  die  verschiedenen  Gre* 
dächtnifsgebiete  zu  legen.  Ich  multiplicire  die  Gliederanzahl  mit 
der  Zahl  der  gefundenen  Reihen.  Es  ergeben  sich  dann  folgende 
Werthe: 

Tabelle  48. 

Knaben. 


Alter 


Gegen- 
stände 


Ge- 
räusche 


Zahlen 


visuelle 
Vorst. 


akust. 
Vorst. 


Tast- 
vorst. 


Gefühls- 
vorst. 


Laute 


I 
II 

in 

IV 
V 


192 

84 

108 

102 

108 

119 

90 

133 

70 

50 

85 

80 

72 

•  55 

133 

114 

70 

60 

112 

96 

80 

1      171 

60 

98 

% 

70 

66 

60 

78 

1 

1 

75 

66 

42 

70 

54 

36 

64 
64 
17 
17 
20 


Tabelle  49. 

Mädchen. 


Alter 

Gegen- 
,  stände 

Ge- 
räusche 

Zahlen 

visuelle 
Vorst. 

akust. 
Vorst. 

Tast- 
vorst. 

Gefühls- 
vorst. 

Laute 

1 

I 

378 

133 

171 

306 

77 

112 

91 

20 

II 

192 

98 

70 

72 

108 

133 

91 

34 

III 

252 

60 

120 

78 

112 

65 

71 

12 

VI 

91 

42 

57 

65 

95 

75 

48 

18 

V 

1 

171 

66 

42 

65 

45 

72 

68 

20 

1 

10 


Marx  Lohsien. 


Diese  Werthe  geben  aber  kein  richtiges  Bild,  dieses  gewinnt 
man  nur  im  Zusammenhang  mit  dem  folgenden.  Die  Uebersicht 
zeigt,  wie  oft  eine  Reihe  ganz  evolvirte.  Ein  Beihenablauf  rückwärts 
kam  so  selten  vor,  dafs  dieser  Fall  ganz  auTser  Betracht  bleiben 
kann.  Ich  unterscheide  den  durchaus  correcten  Reihenablauf = r 
von  demjenigen,  da  zwar  auch  alle  zugehörigen  Glieder  repro- 
ducirt  wurden,  aber  mit  einzelnen  Umstellungen  =  n. 

Tabelle  50. 

Mädchen. 


Gedächtr 

I 

II 

'          ITT 

1 

IV 

V 

nifs 

n 

r 

n 

r 

!     n          r 

1  '' 

r 

n    ;    r 

1 

42 

23 

26 

1 

1    ^^ 

0 

26 

0   • 

:'    24    '   - 

2 

5 

0 

4 

0 

0 

0 

1 

1 

1          1 

'        i  ~ 

3 

19 

6 

1 
7 

2 

5 

0 

1 

1 

i 

2        1 

4 

34 

8 

3 

0 

2 

0 

— 

1       - 

5 

4 

0 

0 

0 

I      2 

0 

1 

1 

— 

— 

6 

6 

1    i 

2 

0 

3 

0 

' 

— 

7 

2 

0 

9 

0 

4 

0 

■         "^ 

8 

0 

0    . 

0 

0 

0 

0 

. 

1 

t 

— 

Tabelle  51. 

Knaben. 


Gedächt- 
nifs 


1 
2 
3 
4 
5 
6 
7 
8 


II 


III 


71 


r 


71 


r 


w 


IV 


V 


li 


?i 


21     '     - 
1 
12 


19 


1 
o 
3 


3 

1 


—        16 


8 


1   :|     3 

—    :       3 


3  17 

-    ■■      1 

4  '      9 


n 
19 


—    :     5 


1       - 


In  der  Genauigkeit  des  Reihenablaufs  zeigen  sich  die  Mädchen 
den  Knaben  durchweg  und  recht  bedeutend  über- 
legen. Am  besten  steht  bei  beiden  das  Gedächtnifs  für  p' 
sehene  Gegenstände,  aber  die  Mädchen  übertreffen  die  Knaben  um 
das  Doppelte.  Dafür  gelang  der  Reihenablauf  bei  demZahle^^' 
gedächtnifs  den  Knaben  besser  als  den  Mädchen- 
Dem  ausgeprägten  Gedächtnifs  für  gesehene  Dinge  entspricht  a^ 


Experim,  Untersuchungen  üb,  d.  Gedächtnißentwickdung  bei  Schuücindem.  7I 


den  oberen  Stufen  der  Mädchen  die  grofse  Genauigkeit  der  Reihen- 
construction  für  Gesichtsvorstellungen,  während  darin  die  Knaben 
ganz  versagten.  Dieses  Ergebnifs  stimmt  mit  dem  früher  ent- 
wickelten, nämlich,  dafs  die  Mädchen  durchweg  ein  ausgeprägteres 
Gedächtnifs  für  visuelle  Vorstellungen  haben  als  Knaben,  überein ; 
es  ist  leicht  erklärlich,  warum  dasselbe  Resultat  sich  bei  dieser 
Art  der  Werthung  der  Versuchsergebnisse  deutlicher  ausdrückt 
Ein  fernerer  Vergleich  mit  früheren  Resultaten  zeigt  weiter, 
dafs  die  Genauigkeit  in  der  Reihenreproduction  innerhalb 
gewisser  Grenzen  mit  dem  Maafse  des  Gedächtnifs- 
umfangs  zu-  und  abnimmt,  aber  keineswegs  direct 
proportional.  Das  zeigen  noch  deutlicher  folgende  Be- 
trachtungen. Die  Tabelle  giebt  eine  üebersicht  über  die  Anzahl 
der  Fälle,  da  ein  Glied  in  der  Reproduction  den  Ort  zugewiesen 
erhielt,  der  ihm  nach  der  zu  reproducirenden  Reihe  zukam.  Die 
AVerthe  sind  in  Procent  angegeben.  Die  Tabelle  bildet  zu  der 
obigen  die  nothwendige  Ergänzung. 

Tabelle  52. 

Mädchen. 


11  Gegen-       Ge-     !  „     ,       visuelle 
Alter         ^  ,  '  Zahlen 

stände    rausche 


Vorst. 


akust.  ;    Tast-    'Gefühls- 
Vorst.  ;   vorst.   '   vorst. 


Laute 


I 

II 

III 

IV 

V 


72,4 
32,8 
19,3 
17,3 
13,1 


'    18,45 

40,9 

36,8 

23,8 

24,4 

16,6 

10,9 

28,9 

12,4 

12,3 

16,9 

14,7 

9,01 

17,1 

6,7 

9,6 

10,8 

6,2 

3,9 

6,8 

2,8 

5.1 

4,7 

2.7 

5,8 

7,1 

5,8 

4,5 

5,8 

3,5 

11,3 
8,9 
3,3 

1,5 
0,8 


Tabelle  53. 

Knaben. 


Alter 


Gegen-  •     Ge- 
stände   rausche 


Zahlen 


visuelle    akust. 
Vorst.      Vorst. 


I 
II 

in 

IV 
V 


37,4 
28,3 
13,1 
13,7 
16,2 


16,4 

10,3 

4.2 

6,9 

9,6 


34,9 
35,2 
15,1 
8,0 
11,3 


23,5 

14,8 

6,5 

3,1 

4,3 


24,1 

18,6 

6,7 

3,7 

7,2 


Tast- 
vorst. 

26,5 

25,6 

7,8 

6,7 

8,3 


I 


Gefühls 
vorst. 

18,5 
16,4 

6,7 
1,3 

2,7 


Laute 


13,3 

17,7 

3,0 

1,6 
2,9 


72 


Marx  LobaUn, 


Bevor  ich  jedoch  diese  Tabellen  einer  eingehenderen  Be- 
trachtung unterwerfe,  möchte  ich  das  wichtige  Ver- 
halten des  ersten  zum  letzten  Reihengliede  beider 
Reproduction  untersuchen.  Die  Untersuchung  berieht 
sich  nur  auf  ganz  reproducirte  Reihen,  verkürzte  sind  ausge- 
schieden. Bei  einer  so  losen,  so  ausschliefslich  mechanischen 
Reihenconstruction,  wie  sie  vorliegt,  steht  zu  erwarten,  dafe  das 
erste  und  letzte  Glied  eine  bedeutendere  Rolle  spielen  als  die 
anderen.  Ja  man  möchte  erwarten,  dafs  wenigstens  in  sehr 
vielen  Fällen,  das  letzte  Glied,  der  letzte  Eindruck,  der  den 
Kindern  entgegentrat,  an  den  Anfang  gestellt  werde. 

Tabelle  54. 

Mädchen. 


Alter 


9 

®  'S 
o  g 


Zahlen 


<D       .     ' 

• 
CO 

^  ^     akußt 

Tast- 

3  "g 

o  £ 

Laute 

1  ^     Vorst. 

vorst. 

>        : 

1 

O 

Tabelle  55. 

Knaben. 


s 


I 

1 

3 

1 

3 

6 

— 

14 

II    |: 

1 

10 

11 

10 

6 

16 

17 

71 

m    \ 

O 

3 

1 

10 

5 

8 

7 

38 

IV    : 

2 

2 

6 

14 

8 

11 

6 

10 

59 

V 

2 

1 

9 

10 

8 

8 

6 

12 

55 

Insges. : 

5 

8 

29 

39 

37 

33 

41 

46 

m 

I 

* 


Alter 


1 


5  'S 


0) 

O   § 


Zahlen 


I 

:ii 
III 

IV 

v 


13 


1 

8 

2 

14 

1 

0 

3 

4 

9 

!     31 

15 

3 

6 
10 

6 
10 


akust. 
Vorst. 


Tast- 
vorst. 


10    c 


0) 


o 


Laute 


5 
3 
8 
11 
8 


3 
4 

11 
7 

11 


2 

3 

10 

14 

15 


Insges. :  li     22 


35 


35 


36 


44 


Die  Einwirkung  des  letzten  Gliedes  ist  nachdiö^^^ 
Tabellen  nur  gering  und  es  sind  noch  weitere  Abstriche  ^^ 
machen,  weil  weitaus  nicht  in  allen  Fällen  mit  der  ersten  -R^' 
production  des  Endgliedes  ein  Ablauf  der  Reihe  in  umgekehrter 


Experim.  Untermchunyeu  üb.  d.  OtdächtHifatntwickdwig  bei  SehuBtindtm.  73 


Folge  gegeben  ist  Bezeichnend  bleibt  aber  immer  doch,  1.  dafs 
die  Einwirkung  des  letzten  Gliedes  bei  rein  mecha- 
nischer ßeihenconstruction  sich  bei  den  Knaben  in 
höherem  Maafse  bemerkbar  macht,  als  bei  den 
Madchen,  2.  dafs  sie  bei  höherer  Credächtnifsent- 
wickelung  geringer  wird  und  3.  auch  im  Allge> 
meinen  parallel  geht  der  GröTse  des  Gedächtnifs- 
umfange  9. 

Am  geringsten  erweist  sich  sein  Einflufs  bei  Knaben  bezüg- 
lich der  Zahlenreihen,  sodann  des  Gedächtnisses  für  reale  Dinge 
und  Geräusche,  am  bedeutendsten  bei  GefühlBTorstellungen  und 
Lautcompositionen.  In  Uebereinstimmung  damit  gestalten  sich 
die  Verhältnisse  bei  den  Mädchen,  nur  das  Gedächtnifs  fOr  Zahlen- 
reihen bildet  eine  Ausnahme. 

Jetzt  zurück  zur  Tabelle  52.  Sie  zeigt  durchgehends  ein 
Aufsteigen  in  der  Fähigkeit  der  genauen  Beihenreproduction. 
Es  würde  hier  zu  weit  führen  in  Form  von  Curven  und  Tabellen 
alle  Ergebnisse  nebeneinander  zu  stellen.  Ich  begnüge  mich 
mit  den  wesentlichsten.  Zunächst  möge  untersucht  werden,  in 
welchem  Verhältnifs  diese  Tabelle  zu  den  früheren  Ei^ebniseen 
steht,  sodann  die  Unterschiede  zwischen  Knaben  und  Mädchen 
ebenfalls  im  Vergleich  zu  jenen  hervorgehoben  werden. 

Folgende  Tabelle  giebt  die  Genauigkeit  derReihen- 
reproductiou  in  %  für  die  verschiedenen  Seiten 
des  Gedächtnissesan,  für  Knaben  sowohl  wie  für  Mädchen. 

Tabelle  56. 


Gegen-       Ge-     j  zahlen  I  ^'""«"^ 
\  Stande    TttuBche  '  Vorat. 


Madchen 
Knaben  j 


30,9 
21,6 


9,45 
ll,i8 


103 
10,44 


Tast    |GefOhlB-j 
vorat      vorat  | 


11,06 
12,06 


5,14 

7.70 


Tabelle  57  (Curve). 


* 

K   '' 

V^/ 

-^>. 

^ 

-  — 

LLL 

1 

-L- 

ilü 

74 


Harx  Lobaien. 


Die  DifEereuz  zwischen  den  Knaben  und  Mädchen  im  Ge- 
sammtei^ebnlTs  ist  nicht  sehr  bedeutend,  auffallend  ist,  dafs  in 
der  Genauigkeit  der  Reihenreproduction  die  Knaben  nur  bezüg- 
lich des  Gedachtniasea  für  wirkliche  Dinge  erheblicher  über- 
troffen  werden,  sonst  stehen  sie  ihnen  nicht  nach,  sondern  fiber- 
treffen sie.  Das  offenbaren  auch  die  Tabellen  Ö8  und  69,  die  die 
Differenz  zwischen  der  ersten  und  letzten  Altersstufe  veran- 
schaulichen. 


_:-__,:r:::::::: 

-^ t-,r 

':i::::::?^::s::: 

j 

m!          N^ 

'rrx'z-'---t^- 

10 L_, v- , 

-:::::::::":eV 

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1 4__ 

~V ',\~. —-^ — h 

"■  — V ^i- 

-=---,-:. -s;:". 

Die  Cur\'en  weisen  eine  rapide  Steigerung  für  Mädchen  im 
Alter  von  13  — 14  ',  j  Jahren  auf. 

Um  einen  Vergleich  zu  ermöglichen  zwischen  dem  Gesamnit- 
wachsthum  in  der  Energie  der  Reihenproduction  und  der  Zu- 
nahme des  Gedächtnifsumfanges  trage  ich  die  entsprechenden 
Curven  in  obigen  Tabellen  nach. 

Sie  offenbaren  deutlich,  dafs  Gedächtnifs umfang  und 
Energie  in  der  genauen  Reihenproduction  pro- 
portional wachsen,  wenn  auch  nicht  direct    Die  letztere 


Ecperim.  Unfersucltvngtn  üb.  d.  Gedächtnißenhtickehing  bei  Schulkindern.  7Ö 

rt  des  Gedächtnisses  wird  durch  ungleich  niedri- 
ire  Werthe  bezeichnet  als  die  erstere. 

Dieses  Ergebnifs  erleidet  in  der  Entwickelung  von  Stufe  zu 
Me  nur  geringe  Modißcationen.  Ich  begnüge  mich  damit,  die 
iirven  mit  den  entsprechenden  nachzutragenden  hinzuzeicbnen. 

Reihenconstruction  bei  den  verschiedenen 

GedächtniTs  arten. 

Knaben.     Mtkdchen. 


1 

r~                       ; 

»                            ~^ 

±  ^  t 

«            ^  t 

J~  <<         "^-'' 

!       i 

Tabelle  60. 
Gegenstände. 


1 

«:         Zi" 

i' 

«j' 

— 1 

n 

— 1 

— 1 

~-\ 

— 1 

— 1 

— 1 

' 

2 

^ 

- 

*= 

— 

— 

' 

Tabelle  63. 
Visuelle  Vorstelluoge 


^ 


Tabelle  64. 

[»tische  Vorstellunge 


Tabelle  65. 
Taetvoratellung 


I^^ 

n 

:?* 

-- 

ffi 


m 


Tabelle  66, 
GefahlBvorBtellu 


Tabelle  67. 
GedachtniTe  für  Lsnte. 


Die  Entwickelung  des  Gedächtnisses  für  genaue  Reihen- 
reproduction  folgt  in  weitem  Abstände  der  Entfaltung  des  Ge- 
dächtnifsumfangs.  Die  Mädchen  werden,  wenn  auch  nur  um 
ein  Geringes,  von  den  Knaben  ühertroSen  im  Gebiete  der  Zahlen, 
Wörter,  Tastvorstellungen  und  Laute,  diese  bleiheu  aber  beträcht- 
lich hinter  ihnen  zurück  im  Gebiete  der  realen  Dinge.  Hiemach 
wird  nach  dem  weiter  oben  ausgesprochenen  Gedanken  der  Unter- 
schied im  GedächtniTs  zwischen  Knaben  und  Mädchen  in  den  ge- 
nannten Gebieten  um  Einiges  zu  Gunsten  der  ersteren  gemindert, 
in  einem  aber  erweitert  Es  ist  unmöglich,  diesen  Werth  in 
Zahlen  auszudrücken,  man  mufs  sich  mit  einer  Schätzung  be- 
gnügen —  und  kann  das  um  so  eher,  als  es  sich,  wie  eben 
gezeigt,  um  minimale  Gröfsen  handeln  würde. 

(Eingegangen  am  6.  Juli  1901.) 


Geschmacksempfindung  eines  Anencephalus.    ^ 

Von 

Dr.  Wilhelm  Stebnbeeg,  pract  Arzt  in  Berlin. 

Da  sich  in  der  Gesammtliteratur  nur  eine  kurze  Angabe 
über  die  Geschmacksempfindung  eines  ohne  Gehirn  geborenen 
Kindes^  vorfindet,  glaubte  ich,  die  Gelegenheit  nicht  imgenützt 
lassen  zu  dürfen,  einen  neugeborenen  Anencephalus  auf  seine 
Geschmacksempfindung  hin  zu  prüfen. 

Diese  Mifsbildung,  wie  die  meisten  Mifsbildungen  eine 
Hemmungsbildung,  fand  sich,  wie  dies  mit  Mifsbildungen  ge- 
wöhnlich der  Fall  ist,  bei  einem  Kande  weibHchen  Geschlechtes ; 
seine  Eltern  sind  mit  einander  verwandt  und  zwar  in  der  Weise, 
dafs  der  Ehemann  und  der  Vater  der  Ehefrau  Geschwisterkinder 
sind;  fünf  Jahre  zuvor  hatte  sich  ebendieselbe  Mifsbildimg 
merkwürdigerweise  schon  einmal  bei  einem  Kinde  dieser  Frau 
gezeigt.  26  Stunden  nach  der  Geburt  nahm  ich  die  Gelegenheit 
wahr,  die  Geschmacksprüfung  vorzunehmen. 

Es  wurden  süfs,  bitter,  salzig  und  sauer  schmeckende  Flüssig- 
keiten verwandt,  die  vorher  erst  ein  wenig  erwärmt  wurden  und 
mittels  verschiedener  Haarpinsel  auf  die  Zunge  in  den  Mund 
eingetragen  wurden.  Die  süfse  Flüssigkeit  bestand  in  einer  ge- 
sättigten Rohrzuckerlösung,  die  bittere  in  einer  2  %  Lösung  von 
salzsaurem  Chinin,  welche   deutUch  und  stark  bitter  schmeckte, 


*  W.  Pkeyer,  Die  Seele  des  Kindes.  4.  Aufl.,  S.  79.  Herr  Prof.  Bins- 
WANGER  theilt  mir  freundlichst  auf  Befragen  mit,  dafs  jene  Untersuchung 
von  ihm  ausgeführt  mündlich  mitgetheilt  ist,  ohne  dafs  eine  Puhlication 
darüber  stattgefi^iden  hat. 


78  WiUielm  Stemberg. 

die  salzige  in  einer  concentrirten  Lösung  von  Kochsalz,  die  saure 
in  einer  Essiglösung,  welche  deutUch  sauer  schmeckte.  I 

Die  Mifsgeburt  führte  nicht,  wie  dies  normale  Kinder  schon 
im  Mutterleibe  stets  thun,  Saugbewegungen  beim  Einfähren  des 
Fingers  in  den  Mund  aus,  so  dafs  dasselbe  trotz  mehrfach  aus« 
geführter  Bemühungen  seitens  der  Eltern  den  ganzen  Tag  noch 
gar  keine  Nahrung  hatte  zu  sich  nehmen  wollen.  Nachdem  die 
süfse  Lösung  auf  die  Zunge  gebracht  war,  schlug  das  Kind  die 
Augen  auf,  spitzt  den  Mund,  schluckt  zum  ersten  Mal  und  mit 
sichtlichem  Behagen,  führt  Saugbewegungen  aus  und  beifst  sogar 
auf  den  Pinsel,  denselben  mit  den  Kiefern  festhaltend,  so  dafs  der- 
selbe nur  mit  einiger  Mühe  aus  dem  Munde  entfernt  werden  kann. 
Wurde  alsdann  die  bittere  Chininlösung  auf  die  Zunge  gebracht, 
so  verzieht  sich  sofort  das  Gesicht,  das  Kind  wendet  den  Kopf 
ab,  hebt  denselben  wiederholt  etwas  hoch,  öffnet  den  Mund  weit, 
speichelt  stark  und  bringt  mit  dem  Speichel  einen  Theil  der 
eingebrachten  Flüssigkeit  mit  Würgbewegungen  zurück,  dabei 
fängt  das  Kind  an  zu  wimmern  und  öffnet  bei  Wiederholung 
dieses  Versuchs  den  Mund  nicht  so  leicht.  Wurde  hiernach  mit 
der  Zuckerlösung  die  Zunge  eingepinselt,  so  wehrte  das  Kind 
bei  den  erstmaUgen  Versuchen  zunächst  stets  ab,  sodann  aber 
schluckt  es  wieder,  beifst  wiederum  mit  Behagen  zu  und  be- 
ruhigt sich. 

Die  saure  Essiglösung  hatte  zur  Folge,  dafs  das  Kind  kläg- 
lich das  Gesicht  zu  dem  „sauren  Gesicht"  verzieht,  speichelt, 
unruhig  wird,  den  Kopf  in  die  Höhe  hebt  und  bei  Seite  wendet, 
so  dafs  es  Mifsbehagen  zu  empfinden  scheint.  Auch  jetzt  weicht 
dasselbe  einem  behaglichen  „süfsen  Gesichtsausdruck"  bei  mehr- 
maligem Bepinseln  mit  der  Zuckerlösung. 

Auch  die  stark  salzig  schmeckende  Kochsalzlösung  bewirkt, 
dafs  das  Kind  unruhig  wird,   den   Mund   zusammenprefst,  bald 
wieder   weit  offen  hält  und  nicht  schluckt.     Wurde  mehmial* 
Zuckerlösung    darauf  eingepinselt,    so   beruhigt   das   Kind  sieb 
wieder  und  fängt  wieder  an,  mit  sichtlichem  Behagen  zu  schlucken- 

Die  süfse  Zuckerlösung  rief  also  bei  jedesmaligen  Versuchen 
regelmäfsig  dieselben  mimischen  Reflexbewegungen  bei  dieser 
Mifsbildung  hervor,  die  wir  beim  Erwachsenen  als  den  „süfse^ 
Gesichtsausdruck",  die  bittere  Chininlösung  dieselben  Bewegungen, 
die  wir  als  „bitteren  Ausdruck"  anzusehen  gewohnt  sind.  Suis 
wurde  auch  hier  als  angenehm  zusagend,  die  anderen  (Jeschmäclvß 


Geschmacksempfindung  eines  Änencephalus.  79 

als  nicht  angenehm  wahrgenommen,  wie  dies  Kussmaul^  imd 
Genzmer*  bei  neugeborenen  normalen  Kindern  bereits  nachge- 
wiesen haben. 

Das  Band  blieb  10  Tage  am  Leben,  eine  für  derartige  Mifs- 
bildungen  ungewöhnlich  lange  Lebensdauer.  Bei  der  Section 
zeigte  sich  die  wenig  ausgebildete  Schädelhöhle  mit  einer  geringen 
kleinhimartigen  Masse  erfüllt.  Die  Nebennieren  fehlten  zwar 
nicht,  wie  gewöhnlich  bei  Anencephalen ,  sie  waren  aber  nur 
minimal  entwickelt. 

Zum  Schlufs  sage  ich  Herrn  Geheimrath  OiiSHAUSEN  für  die 
freundliche  Ueberlassimg  des  Falles  meinen  Dank. 


^  Kussmaul,  Untersuchnngen  über  das  Seelenleben  des  neugeborenen 
Menschen.    Leipzig  u.  Heidelberg  1859. 

^  Genzmeb,  Untersuchungen  über  die  Sinneswahmehmungen  des  neu- 
geborenen Menschen.    Halle  1882. 

{Eingegangen  am  1.  August  1901.) 


! 


(Aus  der  von  Dr.  Ejesow  geleiteten  Abtheilung  für  experimentelle  Psycho- 
logie des  physiologischen  Instituts  der  Universität  Turin.) 


üeber  Geschmacksempfindungen  im  Kehlkopf. 

Von 

F.  KiEsow  und  R.  Hahn. 

Im  J.  1868  beschrieb  E.  Verson^  im  zweiten  Viertel  der 
hinteren  Epiglottisfläche  des  Menschen  Gebilde,  die  er  mit 
einigen  Abweichungen  in  allen  wesentUchen  Punkten  als  mit 
denen  übereinstimmend  erkannte,  die  kurz  zuvor  von  G.  Schwalbe- 
und  Ch.  LoviiN  *  gleichzeitig  und  unabhängig  von  einander  m 
der  Zunge  des  Menschen  und  einiger  Säugethiere  gefunden  und 
von  diesen  Forschem  als  die  Elementarorgane  des  Greschmacks- 
Sinnes  gedeutet  waren,  nachdem  schon  F.  E.  Schulze  *  1863  die 
1851  von  Leydig  ^  im  geschichteten  Epithel  der  Süfswasserfische 
gesehenen  ähnUchen  Gebilde  als  Geschmacksorgane  erkannt  und 
diese  mit  den  von  ihm  selbst  in  der  Gaumenschleimhaut  der 
Fische,  sowie  1861  von  Axel  Key  •  in  den  pilzförmigen  Papillen 
der  Froschzunge  entdeckten  Organen  als  in  functioneller  Hinsicht 
gleichbedeutend  bezeichnet  hatte.  Auf  Grund  der  erwähnten 
Beobachtung  leugnete  Vebson  die  Auffassung  dieser  Grebüde  als 
Geschmacksorgane,  da  sie  eben  auch  an  einer  Stelle  gefunden 
würden,  wohin  keine  Geschmacksstoffe  gelangen.  So  auch  nocli 
FOSTER  1881  (s.  u.). 


*  E.  Verson,   Wienn'  Sitzungsberichte  57  (1),  1093. 

-  G.  Schwalbe,  Arch.  f.  mikroskop.  Anat.  3,  504;  4,  154. 

*  Ch.  Lov£n,  Ebenda  4,  96. 

*  F.  E.  Schulze,  Zeitschr.  f.  tciss.  Zoologie  12,  218. 
'^  Leydig,  Ebenda  3,  1. 

*  A.  Key,  Arch.  von  Reichert  u.  Du  Bois-Reymond  1861,  346. 


üeber  Geschmacksempfindungen  im  Kehlkopf.  81 

Die  von  Verson  an  der  Epiglottis  des  Menschen  gefundenen 
Gebilde  wurden  am  gleichen  Körpertheil  von  Kbause  ^  beim  Schaf 
und  Kaninchen,  von  Hönigschmied  *  beim  Reh  und  Kalbe,  von 
Shofield^  bei  der  Katze  und  dem  Hund,  von  Davis*  aufser  bei  der 
Katze,  dem  Hund,  dem  Kaninchen,  dem  Kalb  und  dem  Schwein 
auch  beim  Menschen,  von  Rabl  *  ebenfalls  beim  Menschen  (manch- 
mal Papillen  aufsitzend)  gesehen,  während  Arthüb  Hoffmann  •,  der 
seine  histologischen  Untersuchungen  auf  alle  Schmeckflächen  des 
Menschen  ausdehnte,  an  der  Epiglottis  niemals  „wirkhche  Ge- 
schmacksknospen"  aufzufinden  vermocht  hatte.  Er  giebt  aber  an, 
dafs  seine  Erfahrungen  für  die  Feststellimg  dieser  Verhältnisse 
auf  der  Epiglottis  nicht  vollständig  ausreichend  waren.  Davis 
sah  die  Becher  beim  Menschen  wie  bei  Thieren  in  den  Larynx 
hineinreichen.  Er  fand  aber  die  Vertheilung  bei  den  einzelnen 
Thierarten  noch  wieder  verschieden.  Beim  Hund  sah  er  sie 
auch  in  der  Schleimhaut  des  Lig.  epigl.  aryt.  und  auf  der 
Innenfläche  des  Giefskannenknorpels,  ebenso  zeigten  sich  „einige 
Male  Becher  auf  den  Stimmbändern,  und  zwar  in  mäfsiger 
Zahl  auf  dem  oberen,  spärlicher  auf  dem  unteren  Band";  bei 
der  Katze,  dem  Kaninchen,  dem  Kalb  und  dem  Schwein  waren 
sie  auf  die  hintere  Fläche  der  Epiglottis  und  die  Giefskannen- 
knorpel  beschränkt  Ueber  die  am  Menschen  gefundenen  Ver- 
hältnisse schreibt  Davis  :  „Beim  erwachsenen  Menschen  beginnen 
die  Becher  bereits  3,5  mm  unter  der  Spitze  des  Kehldeckels  und 
erstrecken  sich  soweit  als  die  nicht  flimmernde  Auskleidimg  des 
Larynx  reicht,  mit  Ausnahme  der  Stimmbänder.  Sie  finden  sich 
hier  also  mehr  in  den  oberen  Partieen  der  Hinterfläche.  Die 
Innenfläche  der  Schleimhaut  der  Ligamenta  epiglottideo 
arytaenoidea  besitzt  keine  Becher,  wenigstens  nicht  in  den 
oberen  Partieen,  dagegen  enthält  die  Innenfläche  des  Processus 
arytaenoideus  deren  eine  grofse  Zahl,  und  einige  trägt  dessen 
AuTsenseite  dicht  imter  der  Spitze.  Solche  finden  sich  auch  auf 
dem  Kehldeckel,   an  den  rings  vom  Flimmerepithel  umgebenen 


»  W.  Krause,  Handb.  d.  Anat.  1876,  198. 
'  J.  HöNiGSCHMiED,  Zcttsckr.  f.  u'iss.  Zoologie  23,  433. 
'  Shofield,  Joum.  of  Atiat.  and  Fhysiol.  10.    1876.     Cit.  nach  den  ange- 
gebenen Arbeiten  von  Michelson  und  Davis. 

*  C.  Davis,  Ärch.  f.  mikroskop.  Anatomie  14,  158.    1877. 

*  H.  Rabl,  Anat.  Anzeigei'  11,  153.     1896. 

*  A.  Hoffmann,  Yirchow'a  Archiv  6*2,  516.    1875. 
Zeitschrift  für  Psychologie  27.  6 


82  ^'  Kiesow  und  R.  Hahn, 

Inseln  aus  platten  Zellen.  Kommen  die  Becher  vereinzelt  im 
Flimmerepithel  vor,  so  sind  sie  immer  mit  mehreren  Lagen 
platter  imd  kubischer  nicht  flimmernder  Zellen  bedeckt  Sie 
reichen  in  diesem  Fall  nicht  bis  zum  Niveau  des  FUmmerüber- 
zuges,  es  finden  sich  in  diesen  also  kleine  Vertiefungen,  in  deren 
Grund  die  Becher  münden."  ^  In  ihrem  Bau  fand  Davis  diese 
becherförmigen  Gebilde  des  Kehlkopfes  sehr  übereinstimmend 
mit  denen  der  Zunge.  Die  von  Vebson  gefundenen  Abweichungen 
sucht  er  daraus  zu  erklären,  dafs  von  jenem  Forscher  wahr- 
scheinUch  Präparate  benutzt  wurden,  bei  denen  bereits  cadaveröse 
Veränderungen  eingetreten  waren.  Die  Vertheilung  der  Becher 
ist  somit  nach  Davis  im  Kehlkopf  gröfser  als  nach  Verson.  In 
der  flimmerlosen  Epiglottisschleimhaut  des  Menschen  zählte  er 
20 — 25  Becher  pro  mm-.  Obwohl  im  Kehlkopf  in  der  Gröfse  der 
Becher  erhebliche  Differenzen  vorkamen,  überschritt  die  Gröfee 
der  einzelnen  Gebilde  doch  niemals  die  der  Zunge. 

Von  SiMANowsKY-  eudUch  wurden  die  in  Rede  stehenden 
Gebilde  auch  auf  den  wahren  Stimmbändern  des  Menschen  ge- 
funden. 

Während  somit  die  von  Verson  gemachte  Entdeckung 
des  Vorhandenseins  jener  becherförmigen  Organe  im  Kehlkopf 
theils  bestätigt,  theils  erweitert  ward,  hat  die  Forschung  der  hieraus 
gezogenen  Schlufsfolgerung  nicht  zustimmen  können.  Namentlich 
die  überaus  verdienstvollen  Arbeiten  von  Vintschgau's  imd  Hokig- 
schmied's^  erbrachten  im  Jahre  1877  durch  das  physiologische 
Experiment  endgültig  den  Beweis,  dafs  jene  Gebilde  der  Zunge 
in  der  That  die  wahren  peripherischen  Organe  des  Geschmacks- 
sinnes seien,  und  schon  1874  konnte  A.  Hoffmann  schreiben: 
„An  allen  Stellen,  welche  der  physiologischen  Er- 
fahrung nach  Geschmacksempfindungen  besitzen, 
existiren  Geschmacksknospen."*  Wenn  aber  somit  die 
Aeufserung  M.  Foster's  * :   „Die  sogenannten  G^schmacksknospen 

^  Cit.  Arbeit  163. 

'  N.  SiMANOwsKY,  Arch.  f.  mikr.  Anat.  22,  709.   1883. 
'  M.  V.  ViNTSCHGAu  u.  J.  HöNiGSCHMiED,  Pflüger's  Archiv  14,  443. 
M.  V.  ViNTScHGAU,    ebenda  23,  1.    1880.      Vgl.    auch  Ranyier,  Traite 
technique  d'histologie,  949.    1882. 

*  Citirte  Arbeit  528.  Vgl.  auch  J.  Hönioschmied,  Zeüschr.  f.  tciss.  Z(-^ 
29,  255.  1877;  34,  452.  1880. 

*  M.  FosTEB,  Lehrbuch  der  Physiologie,  deutsche  Uebersetzong  von 
N.  Kleinenbebg  1881,  493. 


Ueber  Geschmackaempfinduyigen  im  Kehlkopf.  83 

sind  nicht  als  specifische  Geschmacksorgane  aufzufassen,  da  sie 
auch  an  Stellen  (z.  B.  an  der  Epiglottis)  vorkommen,  welche 
durchaus  nichts  mit  dem  Geschmackssinn  zu  thim  haben",  zurück- 
gewiesen werden  mufste,  so  enthielt  sie  andererseits  noch  im- 
beantwortete  Fragen,  nämlich  die,  ob  die  hier  gefundenen  becher- 
förmigen Organe  Geschmackssensationen  vermitteln  imd  welchen 
Zweck  sie  hier  erfüllen.  Dafs  solche  Organe  hier  regelrecht  vor- 
kommen, konnte,  wie  im  Vorstehenden  gezeigt,  nicht  mehr  be- 
zweifelt werden.  Und  wenn  A.  Hoffmann  sie  hier  nicht  fand, 
so  dürfte  der  Grund  dafür  aufser  in  dem  erwähnten,  von  ihm 
selbst  zugestandenen  Umstände  wohl,  wie  Rabl  hervorhebt,  be- 
sonders darin  zu  suchen  sein,  dafs  er  Präparate  von  Regionen 
anfertigte,  wo  sich  überhaupt  keine  Becher  finden  (Spitze,  Bereich 
des  flimmernden  Ueberzugs).  Die  Thatsache  an  sich  war  nach 
allen  sonstigen  Beobachtern  unzweifelhaft  erwiesen.  Aber  sind 
diese  Gebilde  geschmacksfähig?  Diese  Frage  war  immer  noch 
zu  beantworten.  Einen  erstön  Versuch  mit  positivem  Ergebnifs 
stellte  hierüber  Gottschau  ^  an  sich  selbst  an.  Sodann  hat 
i.  J.  1891  P.  MiCHELSON  -  auf  Langendorff's  Anregung  und  unter 
seiner  Mitwirkung  mit  Hülfe  des  laryngoskopischen  Experiments 
versucht,  hierüber  zu  entscheidenden  Ergebnissen  zu  gelangen. 
MiCHELsoN  benutzte  eine  passend  gebogene  ScHRöTTER'sche  Kehl- 
kopfsonde, deren  Spitze  mit  Geschmackslösungen  versehen  war 
und  berührte  mit  dieser  unter  Leitimg  des  Kehlkopfspiegels  vor- 
sichtig den  oberen  Theil  der  Innenfläche  der  Epiglottis.  Hierbei 
wurde  aufserdem  ein  NoLTENius'scher  Demonstrationsspiegel  als 
Gegenspiegel  benutzt,  um  den  Vorgang  durch  einen  zweiten 
Beobachter  controliren  zu  lassen.  Nach  der  Application  der 
Schmecksubstanz  wurde  die  Sonde  dann  mit  gleicher  Vorsicht 
schnell  wieder  herausgezogen.  Er  giebt  weiter  an,  dafs  diese 
Berührung  bei  den  meisten,  aber  nicht  bei  allen  Personen  von 
einem  kurzen  Hustenstofs  gefolgt  war.  Michelson  untersuchte 
auf  diese  Weise  an  25  Versuchspersonen,  die  im  Alter  von  15 
bis  zu  60  Jahren  standen,  die  Schmeckfähigkeit  der  Innenseite 
des  Kehldeckels  für  Süfs-  und  Bitterstoffe  (concentrirte  Saccharin- 
iind   Chininlösungen   unter  Zusatz    eines   minimalen  Quantums 


*  Gottschau,  Verhandl.  der  phys.-med.  GesellscJiaft  in  Würzburgj  N.  F.  15. 
Citirt  nach  Rabl,  Anat  Anzeiger  11,  153.    1896. 

«  P.  Michelson,  Virchow's  Archiv  123,  389.    1891. 


g4  F.  Kiesow  und  B.  Hahn. 

von  Salicylsäure  und  zwei  Tropfen  von  Mucilago  gummi  arab.l 
An  einer  Person  wurde  aufserdem  festzustellen  gesucht,  ob 
auch  die  bei  elektrischer  Reizung  auftretenden  Greschmacks- 
empfindungen  hier  stattfänden.  Die  Resultate  des  Verl's  lassen 
sich  kurz  dahin  zusammenfassen,  dafs  die  weitaus  grofse 
Mehrzahl  der  untersuchten  Personen  den  Ge- 
schmacksstoff in  beiden  Fällen  empfand,  und  dab 
auch  bei  der  elektrischen  Prüfung  die  betreffende  Versuch?- 
person  den  sowohl  an  der  Anode  wie  an  der  Kathode  auftreten- 
den Geschmack  bestimmt  erkannte  imd  unterschied.  Auf 
Einzelheiten  der  Angaben  kommen  wir  weiter  unten  zurücL 
MiCHELSON  selbst  schliefet  diesen  Theil  seiner  Mittheilimgen  mit 
den  Worten:  „Auf  Grund  des  Ergebnisses  der  soeben 
mitgetheilten  Versuche  halten  wir  —  O.  Lakgendobff 
und  ich  —  es  für  erwiesen,  dafs  die  Innenfläche  des 
Kehldeckels  Geschmacksempfindung  en  besitzt 
Die  Auffassung  der  Schmeckbecher  als  Endorgane 
der  geschmackpercipirenden  Nerven  erhält  durch 
dievonunsconstatirteThatsacheeine  weitere  Stütze.* 

Es  schien  uns  werth  zu  sein,  diese  sehr  interessanten  Ver- 
suche Michelson's  einer  Nachprüfung  zu  unterziehen  und  zugleich 
zu  versuchen,  über  ihn,  wenn  möglich,  noch  etwas  hinauszu- 
kommen. Wir  haben  daher  die  Innenfläche  der  Epiglottis  auf 
alle  vier  Geschmacksqualitäten  hin  geprüft  und  dann,  soweit  dies 
möglich  war,  das  Minimum  perceptibile  einiger  der  ver- 
wandten Reizstoffe  festzustellen  versucht  Aufserdem  wurden  Ver- 
suche im  Innern  des  Larynx  angestellt.  Die  erhaltenen  qualita- 
tiven Befunde  wurden  dann  noch  durch  die  elektrische  Reizung  zum 
Theil  controlirt.  Die  Anzahl  unserer  Versuchspersonen  war  für 
die  Prüfung  mit  Geschmacksstoffen  leider  keine  so  grofse  wie  die, 
über  welche  Michelson  verfügte,  wir  mufsten  uns  hier  auf  im 
Ganzen  drei  beschränken,  die  im  Alter  von  15  bis  zu  42  Jahren 
standen,  und  im  Larynx  selbst  konnten  wir  nur  an  einer  Ver- 
suchsperson arbeiten.  Glücklicher  waren  wir  bei  den  elektrischen 
Prüfungen,  die  wir  an  sechs  Personen  anstellen  konnten.  So 
glauben   auch   wir  zur  Lösung  der  Frage  beigetragen  zu  haben. 

Die  verwandten  Schmecksubstanzen  waren  wässerige  Lösungen 
von  Rohrzucker  (ca.  40%),  Kochsalz  (ca.  10%),  Salzsäure 
(ca.  0,4  %),  Schwefelsäure  (ca.  0,2  %)  und  Quassin  (Concentrin). 

^  Citirte  Arbeit  399. 


üeber  Qeachmacksetnpfindungen  im  Kehlkopf.  g5 

Die  Versuche  wurden  an  Kiesow  mit  den  erwähnten  Lösungen 
von  Rohrzucker  und  Quassin  begonnen.  Wir  benutzten  wie  Michel- 
SON  eine  passend  gebogene  ScHROETTBK'sche  Kehlkopfsonde,  deren 
vorderstes  Ende  mit  ein  wenig  Watte  fest  umhüllt  war.  Diese 
wurde  mit  der  Schmeckflüssigkeit  getränkt,  die  bei  einigen  Control- 
versuchen  noch  mit  ein  wenig  Methylenblau  gefärbt  war,  und  die 
Sonde  dann  unter  Leitung  des  Kehlkopfspiegels  und  unter  Benutzung 
eines  Reflectors  in  die  Mundhöhle  eingeführt  Nachdem  die  zu 
untersuchende  Stelle  einmal  damit  bestrichen  war,  wurde  die 
Sonde  schnell  wieder  herausgezogen.  Die  Versuchsperson  hatte 
mit  der  Hand  oder  dem  Fufs  ein  verabredetes  Zeichen  zu 
geben,  wenn  bei  der  Berührung  mit  der  Sonde  eine  Geschmacks- 
sensation erfolgte  und  den  Vorgang  später  zu  beschreiben. 
Tränkt  man  auf  diese  Weise  die  Sondenspitze  vorsichtig  mit 
der  Schmecksubstanz,  so  ist  ein  Abtröpfeln  der  letzteren  ausge- 
schlossen. Eine  Fehlerquelle  kann  nur  durch  hervorgerufene 
Reflexe  oder  den  Speichel  verursacht  werden.  Ein  in  der  Laryngo- 
skopie einigermaafsen  erfahrener  Beobachter  wird  aber  der- 
artige Fehlerquellen  erkennen.  Wo,  wie  bei  unseren  Control- 
versuchen,  die  Schmeckflüssigkeit  aufserdem  noch  gefärbt  ist, 
ist  dies  noch  erleichtert  Versuche,  die  uns  nicht  völlig  rein 
imd  unzweifelhaft  erschienen,  wurden  verworfen.  Mit  einer  Ge- 
schmackslösung wurde  eine  Versuchsreihe,  die  sich  oft  auf  viele 
Tage  erstreckte,  nie  abgeschlossen,  bevor  sie  uns  zu  absolut 
überzeugenden  Resultaten  geführt  hatte. 

Bei  den  ersten  Versuchen,  die  an  Kiesow  mit  der  oben  er- 
wähnten Rohrzuckerlösung  angestellt  wurden,  haben  wir  noch 
ein  Uebriges  zu  thun  versucht,  indem  wir  den  ganzen  Mund- 
raum, soweit  hier  Geschmacksflächen  nachweisbar  sind  und 
dies  möglich  war,  mit  Gymnemasäure  (5%  ^  58  procentigem 
Alkohol)  ^  wiederholt  pinselten ,  um  jede  Süfsempfindung  im 
Mundraum  selbst  auszuschalten  und  dann  die  erwähnte  Epiglottis- 
fläche  in  der  angegebenen  Weise  mit  der  Sonde  untersucht. 
Die  allerersten  Versuche  führten  wegen  auftretender  Reflexe  zu 
keinen  sicheren  Ergebnissen.  Nachdem  sich  die  Versuchsperson 
aber  an  die  Experimente  gewöhnt  und  die  nöthigen  Vorsichts- 
maafsregeln  (Herausholen  und  Festhalten  der  Zunge,  richtiges 
Athmen  u.  s.  w.)  gelernt  hatte,  gelangen  die  Versuche  eindeutig 


»  Vgl.  A.  RoLLETT,  Pflüg er's  Archic  74,  399.    1899. 


86  F.  Kiesoto  und  B,  Hahn, 

mit  durchaus  positiven  Ergebnissen.  Die  Empfindung 
wurde  hierbei  so  tief  localisirt,  wie  dies  gewöhnlich  nicht  zu 
geschehen  pflegt.  Bei  den  weiteren  Versuchen  haben  wir  aber 
die  Pinselungen  mit  Gymnemasäure  unterlassen  und  ebensowenig 
haben  wir  bei  AppUcation  der  Quassinlösung  den  Mundraum  mit 
Cocain  behandelt,  wie  wir  Anfangs  beabsichtigten.  Wir  kamen 
hiervon  zurück,  weil  wir  uns  überzeugten,  dafs  durch  jene 
Pinselungen  den  Versuchspersonen  unnöthige  Belästigimgen  auf- 
erlegt wurden,  da  auch  ohne  diese  Mittel  die  Versuche  eindeutig 
und  rein  gelingen.  Ebenso  sei  schon  hier  bemerkt,  dafs  uns  ein 
Gegenspiegel,  wie  Michelson  verwandte,  nicht  zur  Verfügung 
stand.  Die  Reinheit  der  Versuche  dürfte  deswegen  aber  nicht 
im  Mindesten  zu  beanstanden  sein. 

Die  Versuche  mit  der  Rohrzuckerlösung  wurden  demnach 
auch  an  Kiesow  ohne  voraufgegangene  Pinselung  mit  Gymnema- 
säure wiederholt.  Hervorgehoben  sei  hier  noch,  dafs  auch  bei 
unseren  Versuchen  die  Berührung  der  Innenseite  der  Epiglottis 
besonders  zu  Anfang  oft,  wie  bei  Michelson's  Experimenten, 
von  einem  kurzen  Hustenstofs  gefolgt  war.  Dies  war  aber 
nicht  immer  der  Fall.  Es  gelang  manchen  Personen  vielmehr 
zuweilen,  den  Reflex  ganz  zu  unterdrücken.  Solche  Versuche 
waren  für  ims  von  ganz  besonderem  Werth.  Kaum  erwähnt  zu 
werden  braucht,  dafs  auch  die  übrigen  Personen  zuvor  eingeübt 
wurden.  Die  ersten  Resultate  sind  von  keiner  einzigen  als  end- 
gültig angenommen  worden. 

Aufser  den  angegebenen  Personen  nahmen  an  diesen  Ver- 
suchen mit  Lösungen  noch  Herr  Cereüti  und  der  15  jährige 
Hülfsdiener  unseres  Instituts  Michele  Giorda^^o  theil.  Letzterem 
sind  wir  für  seine  stete  Bereitwilligkeit  und  Hingabe  an  unsere 
Arbeit  zu  besonderem  Danke  verpflichtet. 

Blicken  wir  auf  die  zahlreichen  Versuche  zurück,  die  in  der 
angegebenen  Weise  angestellt  wurden,  so  können  wir  kurz  zu- 
sammenfassend sagen,  dafs  sowohl  bei  Kiesow,  wie  bei  Herrn 
Cehruti  imd  Giobdano  in  den  weitaus  meisten  Fällen  alle 
verwandten  Geschmacksstoffe  an  der  laryngealen  Seite  der 
Epiglottis  Geschmacksempfindungen  auslösten.  Die  Empfindung 
blieb  freilich  mitunter  aus,  aber  diese  Thatsache  erklärt  sich 
wohl  hinreichend  daraus,  dafs  man  bei  der  gebotenen  Vor- 
sicht nicht  in  jedem  Falle  absolut  sicher  sein  kann,  die  be- 
treffenden   Organe    zu    treffen    oder    die    Epiglottisfläche  Bit 


Ueber  Geschmacksempfindungen  im  Kehlkopf.  Q^ 

einem  hinreichenden  Quantum  der  Schmecksubstanz  zu  be- 
feuchten, zumal  die  Watte  nicht  so  stark  benetzt  werden 
durfte,  dafs  die  Flüssigkeit  abtröpfeln  konnte.  Ebensowenig 
dürfte  die  weitere  Thatsache  etwas  Auffallendes  an  sich  haben, 
dafs  die  auftretenden  Empfindungen  manchmal  von  stärkerer, 
manchmal  von  geringerer  Intensität  waren.  Im  Ganzen  aber, 
dies  sei  schon  hier  bemerkt,  waren  die  Empfindungen  hier  immer 
von  geringerer  Intensität,  als  die,  welche  die  gleichen  Lösungs- 
stufen an  der  Zunge  hervorriefen.  Was  die  Angaben  über  die 
Localisation  der  erzeugten  Geschmacksempfindungen  betrifft,  so 
konnten  diese  nur  eine  weitere  Bestätigung  der  erhaltenen 
positiven  Ergebnisse  sein.  Die  Versuchspersonen  gaben  aus- 
nahmslos an,  dafs  sie  nie  zuvor  in  einer  solchen  Tiefe  Ge- 
schmacksempfindungengehabt hätten.  Sie  waren  nach  Beendigung 
des  Versuches  angewiesen,  an  der  Aufsenseite  des  Halses  die 
Stelle  zu  bezeichnen,  wohin  sie  den  Geschmack  locaUsirten. 
Diese  Angaben  entsprachen  durchaus  dem  untersuchten  Ort 

Was  die  Erkennung  der  einzelnen  Geschmacksreize  betrifft, 
so  sei  erwähnt,  dafs  die  Versuchspersonen  den  Süfs-  und  den 
Bitterstoff  ohne  Schwierigkeiten  adäquat  empfanden.  Die  Salz- 
und  Säurelösungen  wurden  Anfangs  von  Herrn  Cekrutti 
und  GiORDANO  verwechselt,  nach  einiger  Uebung  aber  hörte 
diese  Verwechselung  mehr  und  mehr  auf.  Anders  war  dies  bei 
Klesow.  Während  er  die  Salzlösung  adäquat  empfand,  war 
dies  bei  der  Salzsäurelösung  niemals  der  Fall.  Dieser 
Schmeckstoff  wurde  in  allen  Fällen,  in  denen  eine  Empfin- 
dung auftrat,  immer  und  ausnahmslos  als  salzig  empfunden. 
Wir  haben  hierauf  statt  der  Salzsäure  Schwefelsäure  applicirt 
Aber  auch  bei  diesem  Schmeckstoff  zeigte  sich  dieselbe  Er- 
scheinung. Dabei  sei  hervorgehoben,  dafs  beide  Substanzen  an 
der  Zunge  ausgesprochen  sauer  und  brennend  empfunden  wurden. 
Eine  Nachprüfung  der  Epiglottisfläche  mit  Schwefelsäure  an 
G10ED.VN0  ergab,  dafs  auch  diese  Substanz  hier  von  ihm  sauer 
empfunden  ward.  Auf  die  Verwechselung  von  Salz-  und  Sauer- 
stoffen (namentlich  bei  Kindern)  hat  Kiesow  in  seinen  Arbeiten 
wiederholt  hingewiesen.  Worauf  aber  die  eben  angeführte  Er- 
scheinung zurückzuführen  ist,  ist  schwer  zu  entscheiden.  Nach 
dem  gegenwärtigen  Stand  der  Forschung  dürfte  man  anzunehmen 
geneigt  sein,  dafs  die  für  saure  Stoffe  adaptirten  becherförmigen 
Organe  hier  bei  Kiesow  fehlen,   und   dafs  auf  die  Reizung  mit 


gg  F,  Kiesow  und  B.  Hahn. 

diesen  Substanzen  die  für  Salz  adaptirten  reagirten.^  Die 
Sache  soll  hier  aber  nicht  endgültig  entschieden  werden. 
Wir  finden  bei  Michelson  einen  Fall,  wo  die  applicirte 
Chininlösung  am  Kehldeckel  als  „etwas  gesalzen"  angegeben 
ward.^  In  zwei  weiteren  Fällen  wurde  an  der  Kehldeckel- 
innenfläche Chinin  als  „bitterlich"  resp.  bitter  empfunden, 
während  Saccharin  hier  keine  Geschmacksempfijidungen  aus- 
löste.^ Von  diesen  Versuchspersonen  war  die  eine,  ein 
17 jähriges  Mädchen,  „das  früher  lange  an  Coordinations- 
störungen  im  Bereich  der  Kehlkopfmuskulatur,  dann  an  überaus 
hartnäckigen,  ebenso  wie  jene  Affection  auf  hysterischer  Basis 
entstandenen  hypokinetischen  MotiUtätsstörungen  geUtten  hatte; 
zm*  Zeit  der  Untersuchung  bestand  Aphonie  in  Folge  von 
Lähmung  der  Glottisschliefser".  Die  andere  Versuchsperson, 
ein  16  jähriges  Mädchen  war  gesund.  Beide  schmeckten  Saccharin 
auf  der  Zungenspitze  süfs.  Wenigstens  der  erste  wüe  der  dritte 
dieser  Fälle  gehören  wohl  in  dieselbe  Kategorie.  In  einem  vierten 
Fall  (30  jähr.  Mann)  berichtet  Michelson,  dafs  die  Chininlösung 
an  der  Innenfläche  des  Kehldeckels  eine  süfsbitterliche  Empfin- 
dung hervorrief,  aber  in  diesem  Falle  trat  der  gleiche  Geschmack 
bei  der  gleichen  Lösung  auch  auf  der  Zungenspitze  auf,  wenn 
diese  mit  der  Sonde  berührt  ward.  Michelson  fügt  hinzu,  dafs 
der  betreffende  Geschmack  aber  „intensiv  bitter*^  war,  sobald  die 
Versuchsperson  die  Zunge  gegen  den  Gaumen  drückte.* 

Was  die  Perceptionszeiten  der  einzelnen  Qualitäten  betrifft, 
so  wurde  bei  Rohrzucker,  Salz  und  Säure  angegeben,  dafe  das 
Auftreten  der  Empfindung  mit  der  Berührimg  zusammenfiel,* 
nur  bei  der  Bitterlösung  wurde  zuweilen  eine  geringe  Verzögerung 
der  Perception  angegeben.  Ohne  Zweifel  sind  auch  hier  wie 
sonst  auf  den  Schmeckflächen  Unterschiede  in  den  Perceptions- 
zeiten der  einzelnen  Geschmacksempfindungen  vorhanden,  die 
eben  imter  den  gegebenen  Bedingungen  nur  nicht  bemerkt 
werden.     Ebenso    ist   bekannt,    dafs    die   Bitterempfindung  die 


^  Vgl.  H.  Oehrwall,  Skand.  Arch.  f.  Physiologie  2,  1;  ferner  F.  Kiesow, 
Phüosaphlsche  Studien  14,  591. 
«  Citirte  Arbeit  397. 
3  Ebenda  397  u.  398. 

*  Ebenda  398. 

*  Zum  selben  Ergebnifs  kam  auch  Michelson,  Cit.  Arb.  398. 


üeber  Oeschmacksempfifidutigen  im  Kehlkopf.  89 

längste  Perceptionszeit  hat.*  Besondere  Messungen  hierüber  an- 
zustellen, war  uns  aus  leicht  ersichthchen  Gründen  nicht  möglich. 
Nach  Feststellung  dieser  Verhältnisse  haben  wir  unsere  Auf- 
merksamkeit einigen  quantitativen  Bestimmungen  zugewandt, 
um  zu  erfahren,  bis  zu  welchem  Grade  die  Schmeckfähigkeit 
des  Kehldeckels  reiche.  Diese  Prüfungen  wurden  fast  ausschliefs- 
lich  an  Michele  Giobdano  angestellt,  für  einige  wenige  Nach- 
prüfungen zeigte  sich  uns  Herr  Cebrüti  gefällig.  Hierzu  sei 
aber  bemerkt,  dafs  wir  die  Prüfung  der  Schmeckfähigkeit  für 
Säuren  von  diesen  Bestimmungen  ausschlössen,  um  die  Versuchs- 
person nicht  gar  zu  viel  zu  belästigen.  Es  wurde  bereits  er- 
wähnt, dafs  die  am  Kehldeckel  hervorgerufenen  Geschmacks- 
empfindungen nach  unseren  Beobachtungen  in  ihrer  Intensität 
gegen  diejenigen  zurückstanden,  die  von  den  gleichen  Reiz- 
werthen  auf  der  Zunge  ausgelöst  wurden.  Die  Bestimmungen 
ergaben  nun  bei  Giordano  unter  den  hervorgehobenen  Be- 
dingungen für  die  hintere  Epiglottisfläche  folgende  Schwellen- 
werthe : 

Rohrzucker:  4—5% 

Kochsalz:  ca.  2";o 

Quassin:  0,00005%  - 

Diese  Werthe  wurden  durch  viele  Bestimmung  und  unter 
Zuhülfenahme  von  Controlversuchen  mit  destillirtem  Wasser 
scliliefslich  als  die  niedrigsten  gefunden.  Bei  Herrn  Cereuti 
lag  die  Schwelle  für  Salz  ebenfalls  bei  2%,  für  Zucker  und 
Quassin  war  sie  imgleich  höher.  Da  wir  an  ihm  aber  nur 
wenige  Versuche  anstellen  konnten,  so  liegt  die  Vermuthimg 
nahe,  dafs  sich  bei  Fortsetzung  dieser  Bestimmungen  auch  die 
Schwellenwerthe  für  diese  Substanzen  noch  vermindert  hätten. 

Nachprüfungen,  die  unter  völlig  gleichen  Bedingungen  an 
KiEsow  (Selbstversuch)  und  Giordano  am  vorderen  Zungenrande 
angestellt  wurden,  ergaben  folgende  Schwellenwerthe: 

Rohrzucker:    0,4 — 0,5  ^j^y 
Kochsalz:  0,3—0,4% 

Quassin:   0,000001—0,000002  %  - 


*  Vgl.  hierzu  M.  v.  Vintschgau,  Hermann's  Handbuch  III,  2,  205. 

-  Abgeleitet  aus  dem  Verhältnifs  von  0,01  :  100,  soviel  sich  hier  von 
reinem  Quassin  in  Wasser  von  Zimmertemperatur  löste. 


90  F'  Kiesotc  U7id  R.  Hahn. 

Wir  sind  uns  wohl  bewufst,  dafs  bei  diesen  Messungen  von 
einer  Exactheit  im  eigentlichen  Sinne  keine  Rede  sein  kann. 
Aber  auch  zugegeben,  dafs  selbst  der  Vergleich  der  gefundenen 
Werthe  unter  einander  noch  keine  exacte  Deutung  zuläfst,  lassen 
sie  doch  erkennen,  dafs  in  der  Schmeckfähigkeit  der  hinteren 
Epiglottisfläche  gegenüber  den  sonstigen  Schmeckflächen  des 
Mundraumes  eine  Herabsetzung  bestehen  dürfte.^  Diese  Herab- 
setzung erstreckt  sich  wahrscheinlich  auch  auf  die  Umgebung 
des  Kehldeckels.  Schleim,  der  aus  dem  Halse  aufsteigt,  pflegt 
man  erst  zu  schmecken,  wenn  er  in  den  eigentUchen  Mundraum 
gelangt. 

Nachdem  die  Arbeit  soweit  gediehen  war,  haben  wir  die 
Geschmacksempfindlichkeit  dieser  Epiglottisfläche  noch  elektrisch 
geprüft.  Die  Reizung  war  eine  unipolare.  Wir  benutzten  wie 
MiCHELSON  eine  bis  zur  äufsersten  Spitze  isohrte  Sonde  als 
Elektrode.  Der  andere  Pol  wurde,  wie  bei  v.  Feey's  und  Kiesow's 
Versuchen  über  den  Tastsinn  mit  einer  breiten  Metallmanschette 
verbunden,  die  dem  einen  Unterarm  der  Versuchsperson  um- 
gelegt ward.  Als  Stromquelle  dienten  drei  kleinere  Daniel- 
elemente. Durch  Umschaltung  des  Stroms  mittelst  einer  Pohl- 
schen  Wippe  konnte  die  Sondenspitze  das  eine  Mal  als  Anode 
und  ein  anderes  Mal  als  Kathode  fungiren.  Dieses  Umschalten 
des  Stromes  geschah  stets  ohne  Wissen  der  Versuchspersonen, 
wie  überhaupt  unser  Versuchsverfahren  überall  und  stets  ein 
unwissentliches  war. 

Wir  konnten  hierbei  natürlich  nicht  auf  alle  die  Einzelheiten 
eingehen,  die  seit  dem  zuerst  von  Sülzer  (1752)  beobachteten 
und  dann  von  Volta  (1792)  wieder  entdeckten  elektrischen  Ge- 
schmack von  den  einzelnen  Forschern  beschrieben  worden  sind. 
Hierzu  waren  die  uns  auferlegten  Versuchsbedingungen  nicht 
geeignet.  Wir  mufsten  uns  vielmehr  lediglich  auf  die  Be- 
obachtung der  Erscheinungen  beschränken,  die  auftraten,  wenn 
die  Sondenspitze,  wie  angegeben,  entweder  als  Anode  oder  als 
Kathode  zur  Verwendung  kam.  Wir  bezweckten  mit  diesen 
Versuchen  daher  nichts  weiter,  als  eine  einfache  Nachprüfung 
der  von  Michelson  mitgetheilten  Ergebnisse.  Er  fand  an  der 
Anode  einen  säuerlichen,  an  der  Kathode  einen  schwach  laugen- 
artigen Geschmack. 


1    \T 


Vgl.  F.  KiESOw,  Fhilos.  Studien  10,  362. 


Ueber  Geschmacksempfindungen  im  Kehlkopf.  91 

Unsere  elektrischen  Prüfungen  konnten,  wie  bereits  angegeben, 
an  im  Ganzen  sechs  Versuchspersonen  angestellt  werden.  Diese 
waren  aufser  Herrn  Cekruti,  Giordano  und  Kjesow  drei  Patienten 
im  Alter  von  15,  24  und  40  Jahren. 

Herr  Cebbuti  gab  an,  wenn  die  Sonde  als  Anode  fungirte, 
einen  eigenartig  bitterUchen,  wenn  sie  als  Kathode  verwandt 
ward,  einen  salzigen  Geschmack  zu  verspüren. 

Bei  Giordano  erhielten  wir  in  wiederholten  Versuchen 
folgende  Ergebnisse :  Anode:  Kein  Geschmack,  bitterlich  sauer 
(5 mal),  Geschmack,  aber  nicht  erkannt  (2 mal),  säuerlich  bitter; 
Kathode:  Eigenartiger,  undefinirbarer  Geschmack  (mehrere 
Male),  eigenartig  salzig  (mehrere  Male).  Die  Prüfung  an  Kiesow 
ergab  an  der  Anode  einen  eigenartig  gemischten  Geschmack 
mit  unangenehmer  Gefühlsbetonung,  an  der  Kathode  war  der- 
selbe ausgesprochen  laugenartig.  Die  Empfindung  salzig  bei  C. 
und  G.  ist  wohl  mit  dem  Laugenartigen  anderer  Beobachter 
identisch. 

Von  den  drei  Patienten  erhielten  wir  von  dem  15  jährigen 
kein  sicheres  Resultat.  Die  beiden  anderen  gaben  in  jedem 
Falle  an,  einen  schwachen  Geschmack  zu  verspüren,  den  sie  aber 
nicht  definiren  konnten. 

Wie  bemerkt,  kann  hier  auf  die  Analyse  des  elektrischen 
Geschmacks  nicht  eingegangen  werden.  Dazu  sind  aufserdem 
auch  die  Angaben  der  meistens  nicht  hierauf  eingeübten  Personen 
zu  ungenau.  Uns  genügt  aber  die  Feststellung  der  Thatsache, 
dafs  die  elektrische  Reizung  an  der  Epiglottis  Geschmack  erzeugt 
und  dafs  die  durch  die  Stromrichtungen  hervorgerufenen  quali- 
tativen Unterschiede  im  Allgemeinen  als  solche  erkannt  werden. 

Somit  halten  auch  wir  es  auf  Grund  unserer  Er- 
fahrungen für  erwiesen,  dafs  die  hintereEpiglottis- 
fläche  geschmacksempfindlich  ist. 

Die  Versuche  im  Larynx  wurden  nur  an  Kiesow  an- 
gestellt.  Anfangs  wurde  die  mit  dem  SchmeckstofE  armirte  Sonde 
unter  den  angegebenen  Vorsichtsmaafsregeln  einfach  in  den 
Larynx  eingeführt,  wobei  alle  erwähnten  Geschmackssubstanzen 
aufser  der  Schwefelsäure  verwandt  wurden.  Da  aber  diese  Ver- 
suche nicht  annähernd  so  rein  sein  konnten  wie  die  vorhin 
beschriebenen,  sofern  in  Folge  der  auftretenden  Reflexe  eine  Be- 
rühnmg  der  Innenfläche   des  Kehldeckels  nicht  ausgeschlossen 


92  F'  Kiesou)  U7id  R.  Hahn. 

blieb,  und  aufserdem  ein  mit  Salzsäure  angestellter  Versuch 
eine  lang  anhaltende  schmerzhaft  kratzende  imd  unangenehme 
Empfindung  wachrief,  so  sind  wir  für  diese  Prüfungen  zur  Be- 
nutzung von  Cocain  und  Gymnemasäure  zurückgekehrt  und 
haben  ims  auf  die  Reizung  von  Rohrzucker,  Kochsalz  und 
Quassin  beschränkt. 

Die  mit  Cocain  und  Gymnemasäure  angestellten  Versuche,    \ 
resp.   Versuchsreihen,    beschränken   sich  auf  im   Ganzen  vier.    ; 
Wir  beschreiben  die  Versuche  im  Nachstehenden  so,  wie  sie  an- 
gestellt wurden: 

1.  Versuch.  Die  Versuchsperson  sucht  Mund  und  Rachen 
mögUchst  von  Schleim  zu  reinigen.  Dann  werden  die  beiden 
oberen  Drittel  der  Innenfläche  des  Kehldeckels  mit  lOproc.  C'Ocain- 
lösung  bestrichen.  Es  tritt  hier  die  vom  Cocain  hervorgerufene 
Bitterempfindung  auf,  die  ca.  3 — 4  Minuten  anhält  Ebenso 
erscheint  die  ziemlich  andauernde  adstringirende,  pappige,  dem 
Cocain  charakteristische  Tastempfindung.  Nachdem  die  Bitter- 
empfindung vorüber  ist,  wird  die  gleiche  Fläche  ein  zweites  Mal 
mit  der  gleichen  Cocainlösung  bestrichen.  Es  tritt  hier  wiederum 
die  Bitterempfindung  auf,  die  ca.  2  Minuten  anhält.  Die  Em- 
pfindung dauert  zusammen  mit  einer  eigenartigen  Lähmungs- 
empfindung  fort.  Nachdem  die  Bitterempfindung  vorüber  ist, 
wartet  man  kurze  Zeit  und  es  wird  dann  die  mit  der  Quassin- 
lösimg  armirte  Sonde  vorsichtig  in  den  Larynx  bis  auf  die  in 
Phonationsstellung  sich  befindenden  wahren  Stimmbänder 
herabgeführt,  wobei  wahrscheinlich  auch  die  Schleimhaut  der 
Arytänoidknorpeln  mit  berührt  wird.  Gemäfs  der  verlängerten 
Perceptionszeit  der  Bitterempfindung  tritt  nach  kurzer  Zeit  tief 
im  Larynx  unzweideutig  die  Bitterempfindung  hervor.  Nach 
einiger  Zeit  diffundirt  die  Empfindimg,  wohl  in  Folge  auf- 
steigenden Schleims  und  Speichels  in  den  hinteren  Mundraum. 
Die  beiden  Phasen  sind  aber  sehr  deutlich  von  einander  zu 
unterscheiden. 

2.  Versuch,  angestellt  am  folgenden  Vormittage.  Die 
Versuchsperson  sucht  wiederum  Mund  und  Rachen  vom  Schleim 
möglichst  zu  reinigen.  Dann  wird  in  einem  Zeitraum  von 
10  Minuten  der  gleiche  Theil  der  Innenfläche  des  Kehldeckels 
mit  lOproc.  Cocainlösung  7  mal  kräftig  gepinselt,  wobei  natürlich 
auch  der  Kehlkopf eingang  sowie  indirect  auch  Theile  des  Pharynx 
mitcocainisirt  werden.    Die  Epiglottis  ist  bei  Berührung  mit  der 


Ueber  Geschmacksempfindungen  im  Kehlkopf.  93 

Sonde  unempfindlich  für  Tast-  und  Geschmacksreize.  Die  mit 
Quassm  armirte  Sonde  wird  vorsichtig  bis  auf  die  in  Phonation&- 
stellung  sich  befindenden  wahren  Stimmbänder  herabgeführt 
Plötzlich  tritt  tief  im  Larynx  eine  Bitterempfindung  auf.  Kehl- 
deckel und  Umgebung  sind  für  Bitterreize,  auch  nachdem  die 
erste  Empfindung  verschwunden  ist,  unempfindlich.  Erst  nach 
längerer  Zeit  verbreitet  sich  langsam  eine  schwache  Bitterempfin- 
dung im  Mundraum. 

3.  Versuch,  angestellt  am  Spätnachmittage  des  gleichen 
Tages.  Mund  und  Rachen  werden  vom  Schleim  zu  reinigen 
gesucht.  Dann  wird  die  Epiglottis  und  deren  Umgebung  mit 
der  oben  erwähnten  Lösimg  von  Gymnemasäure  2  mal  kräftig 
bestrichen  und  darauf  die  nun  mit  einer  40proc.  Rohrzucker- 
lösung armirte  Sonde  in  gleicher  Weise  in  den  Larynx  eingeführt 
Tief  im  Larynx  tritt  die  Süfsempfindung,  wenn  auch  nicht  sehr 
intensiv,   so  doch  unzweifelhaft  und  klar  hervor. 

4.  Versuch.  Die  beiden  oberen  Drittel  der  hinteren  Epi- 
glottisfläche  werden  wie  früher  7  mal  mit  lOproc.  Cocainlösung 
gepinselt.  In  Folge  der  durch  den  Reflex  auftretenden  Con- 
traction  wird  der  Kehlkopfeingang  mitcocainisirt.  Die  Sonde 
wird  mit  der  lOproc.  Kochsalzlösung  armirt  und  bis  auf  die 
Stimmbänder  herabgeführt,  die  sich  in  der  Phonationsstellung 
befinden.  Es  erfolgt  keine  Sensation.  Der  Versuch  wird  in 
gleicher  Weise  wiederholt.  Es  tritt  tief  unten  im  Kehlkopf  eine 
sehr  schwache  Salzempfindung  auf.  Die  Sonde  wird  mit  der 
Quassinlösung  armirt  und  zw^eimal  in  der  beschriebenen  Weise 
eingeführt.  Beide  Male  tritt  die  Bitterempfindung  auf.  Ein 
viertes  Mal  wird  die  Sonde  mit  der  Rohrzuckerlösung  armirt 
eingeführt.    Es  tritt  tief  unten  eine  schwache  Süfsempfindung  auf. 

Welche  Theile  des  Kehlkopfinnern,  von  der  Epiglottisfläche 
abgesehen,  beim  Herausziehen  der  Sonde  etwa  mitberührt  wurden, 
konnte  nicht  sicher  controlirt  werden. 

Hier  haben  wir  diese  Versuche  abgebrochen.  Nach  der 
Lösung  der  principiellen  Frage  glaubten  wir  von  gesonderten 
und  immer  schwierig  auszuführenden  Untersuchungen  darüber, 
^^elche  Theile  der  Knospen  tragenden  Innenflächen  des  Larynx 
^^ü  auftretenden  Geschmack  vermittelten,  absehen  zu  können. 

Wollte  man  diese  Versuche  nicht  als  entscheidend  ansehen, 
^^  würde  man  den  aus  ihnen  gewonnenen  Ergebnissen  doch 
^'^nigstens  einen  im  höchsten  Grade  wahrscheinlichen  positiven 


94  F'  Kiesow  und  B.  Bahn, 

Werth  zugestehen  dürfen.  Wir  haben  aus  diesen  Versuchen  die 
Ueberzeugung  gewonnen,  dafs  auch  die  im  Innern  des 
Larynx  gefundenen  knospenf örmigen  Gebilde  ge- 
schmacksfähig sind. 

Mit  dem  Vorstehenden  ist  freilich  die  Frage  noch  nicht  ge- 
löst, welchen  Zweck  diese  Organe  auf  der  hinteren  Kehldeckel- 
fläche und  im  Innern  des  Larynx  haben ;  denn  so  gewifs  es  sein 
dürfte,  dafs  sie  geschmacksfähig  sind,  so  gewifs  ist  es  auch,  daß 
für  gewöhnUch  und  normalerweise  keine  Geschmackssubstanzen 
dorthin  gelangen.  Man  hat  geglaubt,  auf  die  Oberfläche  der 
Epiglottis  die  intensiven  Nachgeschmäcke  verlegen  zu  dürfen  ^ 
aber  für  die  normalen  Nachgeschmäcke  kann  die  Innenfläche 
des  Kehldeckels,  wie  auch  das  Innere  des  Larynx  nicht  in  An- 
spruch genommen  werden.  Wir  haben  es  hier  wohl  mit  Ueber- 
resten  der  phylogenetischen  Entwickelungsreihe  zu  thun,  die  sich 
vielleicht  erhalten  haben,  weil  sie  zum  Reflexmechanismus  in  be- 
sonderer Beziehimg  stehen.  Wir  betrachten  aber  hiermit  die  Frage 
noch  nicht  als  gelöst,  sie  sei  vielmehr  im  Zusammenhang  mit 
anderen  einer  besonderen  Bearbeitimg  vorbehalten. 


^  W.  Krause,  Handb.  d.  Anatomie  1876,  190  u.  198.  Kr.  giebt  ebenso 
an,  dafs  sich  die  Becher  auch  auf  der  oberen  Fläche  und  auf  den  Rändern 
finden,  obwohl  in  geringerer  Anzahl  als  auf  der  unteren  Fläche  (S.  197). 
Auch  hierüber  erfolgen  später  genauere  Angaben. 

H.  Karl,  cit.  Arbeit  154. 

F.  KiESOw,  Fhilos.  Stud.  12,  276  (lies  Hönigschmied,  Krause!). 

(Eingegangen  am  22.  Juli  1901.) 


Literaturbericht. 


E.  y.  Habtmann.    Die  moderne  Psychologie.    Leipzig,  H.  Haacke,  1901.    458  S. 

In  dem  gegenwärtigen  Stadium  der  psychologischen  Forschung,  in 
welchem  sich  nach  langer,  rein  empiristischer  Richtung  wieder  das  Be- 
dQrfnifs  nach  metaphysischer  Fundamentirung  regt,  mufs  es  lebhaftes 
Interesse  erwecken,  wenn  ein  Mann,  der  alle  Zeit  durch  und  durch  Meta- 
physiker  war  und  ist,  seinerseits  die  Brücke  schlägt  zur  specialwissen- 
schaftlichen Psychologie,  und  ihre  Principien  und  Meinungen  von  einem 
möglichst  umfassenden  Betrachtungsstandpunkte  aus  einer  kritischen 
Musterung  unterzieht.  Ein  solcher  Versuch  liegt  vor  in  dem  neuesten 
Werk  E.  v.  Hartmann's,  des  fleifsigsten  aller  philosophischen  Schriftsteller. 

Leider  mufs  man  sich  diese  eigentlich  werthvollen  und  fruchttragenden 
Seiten  aus  dem  sehr  voluminösen  Buche  erst  mit  Mühe  heraussuchen,  weil 
die  Anlage  des  ganzen  Werkes  eine  nicht  glückliche  ist.  Bei  der  Lektüre 
des  weitaus  gröfsten  Theils  der  458  Seiten  kann  man  sich  des  Eindrucks 
nicht  erwehren,  dafs  man  gar  nicht  ein  fertig  durch-  und  ausgearbeitetes 
Buch,  sondern  eine  ungeheure  Materialsammlung  zu  einem  solchen  vor 
sich  habe ;  und  wir  glauben,  die  Bedeutung,  die  w4r  den  hierin  verstreuten 
Ideen  Hartmann's  zuschreiben,  gar  nicht  besser  kennzeichnen  zu  können, 
als  durch  den  aufrichtigen  Wunsch,  dafs  der  Verf.  bald  einmal  die 
Quintessenz  aus  diesem  Buche  ziehe,  d.  h.  eine  zusammenhängende  positive 
Darstellung  seiner  eigenen  Anschauung  in  den  grundlegenden  psycholo- 
gischen Streitfragen  gebe. 

Das  Buch  nennt  sich  im  Untertitel:  „eine  kritische  Geschichte 
der  deutschen  Psychologie  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhundert",  und 
gerade  darin  steckt  sein  Grundmangel,  dafs  es  nicht  nur  Kritik,  sondern 
auch  Geschichte  sein  will  —  und  doch  nicht  ist.  H.  ist  viel  zu  sehr  der 
Mensch  der  eigenen  Weltanschauung  und  der  begeisterte  Kämpfer,  als  dafs 
ihm  die  kühl  betrachtende,  anschmiegsame,  reconstructive  Art  des  Historikers 
nicht  innerlich  völlig  fremd  sein  sollte.  Das  zeigt  jede  Seite  des  Buches. 
Man  kann  den  Begriff  Geschichte  auffassen,  wie  man  mag  —  dafs  er  einen 
Werdegang  und  zwar  einen  irgend  wie  zusammenhängenden  Werdegang 
bedeute,  wird  niemand  bezweifeln.  Hiervon  finden  wir  bei  Habticahm 
nichts.  Zur  Gesammtcharakteristik  der  modernen  Psychologie  fflh'^ 
vier  Eigenschaften  an:   dafs  sie  hinter  das  Bewniatsein  an^ 


96  Literaiurbericht 

welchem  Sinne  ünbewufstes  zurückgehe,  dafs  sie  naturwissenschaftlich  ge- 
färbt, geschichtlich  fundamentirt  und  in  sich  weit  stärker  gespalten  sei 
als  irgend  eine  frühere  Periode  psychologischer  Forschung,  und  stellt  fest, 
welche  Probleme  abgethan,  überwunden  und  vor  Allem  brennend 
seien;  aber  eine,  wenn  auch  nur  einleitende  Schilderung  der  grobeQ 
Züge  der  psychologischen  Entwickelung  in  den  letzten  50  Jahren  fehlt 
vollständig.  Vielmehr  wird  die  Psychologie  sofort  zerschnitten  in  ein« 
Keihe  einzelner  Probleme,  von  denen  nun  jedes  für  sich  bebandelt  wird: 
Aufgaben  und  Methoden;  das  ünbewufste;  Association  und  Reprodaction; 
Empfindung,  Gefühl,  Wille ;  Einheit  des  Bewufstseins ;  der  psycho-physische 
Parallelismus.  Nun  kann  man  ja  Greschichte  auch,  wie  Wikdelbani)  am 
gezeigt  hat,  als  Geschichte  der  Probleme  behandeln,  aber  auch  das  thnt 
Hartmann  nicht.  Denn  der  Charakter  des  einzelnen  Capitels  ist  nun  im 
Grofsen  der  eines  Massenreferates  über  alles,  was  die  Hauptpsychologen 
in  den  letzten  50  Jahren  über  das  betreffende  Problem  geschrieben  haboi, 
oder  noch  mehr  der  eines  Massenexcerptes ;  denn  Habtmann  sucht  sie,  mit 
steter  Angabe  der  Stellen,  möglichst  selbst  reden  zu  lassen.  So  folgen  sich 
denn  in  ermüdender  Eintönigkeit  auf  einander :  „ Jodl  wünscht . . ."  „Höir- 
DING  lehrt  .  .  .  ."  „Stumpf  meint  .  .  ."  u.  s.  w.,  ohne  dafs  also  auch  nur 
innerhalb  der  Capitels  selbst  irgend  etwas  wie  ein  Zusammenhang  geboten 
würde.  Und  nun  wiederholt  sich  dieses  Referiren  und  Aufzählen  Capitel 
für  Capitel ;  immer  wieder  begegnen  uns  dieselben  Männer,  nur  mit  anderen 
Seiten  ihrer  Werke,  so  dafs  uns  also  in  dieser  Geschichte  der  Psychologie 
weder  die  Wissenschaft  selbst,  noch  die  Entwickelung  der  einielnen 
Probleme,  noch  die  Persönlichkeiten  als  etwas  Ganzes  entgegentreten. 

So  ist  denn  dieser  historisch-referirende  Theil  des  Buches  für  den, 
der  erst  eingeführt  sein  will,  überhaupt  nicht  brauchbar,  denn  er  wird 
durch  die  unorganische  Aufreihung  nur  verwirrt  und  abgeschreckt;  für  den 
aber,  der  schon  als  Fachmann  in  der  Bewegung  steht,  giebt  er  einen 
ungeheuren  Ballast  von  unverarbeitetem  und  zum  gröCsten  Theil  ihm  be- 
kannten Stoff,  was  wenig  zu  einer  Vertiefung  in  das  Werk  anreizen  kann. 

Noch  einmal  ein  Referat  dieser  Referate  zu  geben,  ist  unmöglich  und 
unnöthig ;  erwähnt  sei  daher  nur,  dafs  die  Darstellung  sich  auf  die  deatschen 
Psychologen  und  zwar  nur  auf  diejenigen  erstreckt,  die  in  einer  der 
Principien fragen  etwas  Eigenes  gegeben  haben.  Dankenswerth  ist,  dife 
man  auf  manche,  jetzt  wenig  beachtete  Psychologen  aus  der  ersten  Hälfte 
des  besprochenen  Zeitraums  aufmerksam  gemacht  wird,  wie  Gbobgx,  Fobt- 
LAGE,  ÜLRici,  J.  H.  Fichte,  IIorwicz.  Dafs  Hartmann  seine  eigene  „Philo- 
sophie des  ünbewufsten"  in  die  Liste  der  besprochenen  Werke  einreiht, 
ist  natürlich  und  gerechtfertigt.     Vermifst  habe  ich  Avenabiüs  und  Mach.  — 

Die  eigentliche  Bedeutung  des  Buches  liegt,  wie  schon  bemerkt,  nsch 
der  Seite  des  Kritischen  hin.  Auch  diesen  kritischen  Betrachtungen 
ist  es  nicht  förderlich,  dafs  sie  zum  Theil  in  die  oben  genannten  Referate 
eingestreut  sind;  was  zu  unendlichen  Variationen  der  gleichen  Themtt* 
führt.  Zu  diesen  Einzelkritiken  Stellung  zu  nehmen,  mufs  den  behandelten 
Verfassern  selbst  überlassen  bleiben.  Wir  werden  uns  hier  dagegen  vor 
Allem  halten  an  die  Zusammenfassungen,  die  am  Schlufn  jedes  Capitel^r 


Literaturbericht  97 

und,  unter  dem  Titel  „die  Bilanz  der  modernen  Psychologie",  als  letztes 
Capitel  des  ganzen  Werkes  gegeben  werden. 

Der  eigenartige  Zug  in  der  Stellungnahme  H.'s,  ein  Zug,  der  sicher 
auf  das  psychologische  Denken  befruchtend  und  anregend  wirken  wird, 
ist  die  mit  eiserner  Consequenz  durchgeführte  Unterordnung  aller  Probleme 
und  Lehrmeinungen  unter  einen  Gesichtspunkt,  der  sonst  in  der  Psychologie 
nur  als  einer  unter  vielen  Berücksichtigung  findet:  unter  die  Alternative: 
Bewufst  —  Unbewufst. 

Schon  in  der  Einleitung  nennt  er  als  ersten  aller  Hauptstreitpunkte 
der  modernen  Psychologie :  „Die  Bedeutung  und  Tragweite  des  UnbewulÜBten 
und  der  genetische  Zusanmienhang  der  bewufst  psychischen  Phänomene 
mit  ihnen."  —  Und  in  seinem  Schlufswort  formulirt  er  als  Resultat  seiner 
Kritik  die  Aufgabe  einer  „vollständigen,  allumfassenden  Psychologie"  also: 
„eine  vollständige  Psychologie  wird  von  den  bewufst  psychischen  Phänomenen 
als  Grundlage  der  weiteren  Erkenntnifs  ausgehen,  sie  ins  Gebiet  des  relativ 
Unbewufsten  erweitern  und  sie  sowohl  als  central  bewufste  wie  als  relativ 
unbewufste  genetisch  aus  dem  Zusammenwirken  physiologischer  Vorgänge 
mit  unbewufst  psychischen  Thätigkeiten  erklären." 

Wir  versuchen  zunächst,  die  Grundgedanken  H.*s  zu  formuliren.  Er- 
schwert wird  diese  Arbeit  durch  die  Ueberlastung  der  Sprache  mit  schwer 
flüssigen  Terminis,  z.  T.  auch  selbstgeschaffenen,  (wie  „allotrope  Causalität^, 
„synthetische  Categorialfunctionen^',  „homologe  Correspondenz'')  deren 
Kenntnifs  aus  früheren  Schriften  H.'s  vorausgesetzt  wird.  Die  folgende 
Zusammenfassung  wird  ohne  sie  auszukommen  suchen. 

Das  Problem  der  Psychologie  ist  Erklärung  der  im  Bewufstsein  ge- 
gebenen psychischen  Phänomene.  Diese  Erklärung  ist  aber  nicht  aus  den 
Kategorien  und  Eigenschaften  des  Bewufstseins  selbst  möglich;  vielmehr 
ist  eine  Deutung  der  Bewufstseinsphänomene  und  ein  Zusammenhang 
zwischen  ihnen  nur  herstellbar,  wenn  man  mitwirkende  Factoren  annimmt, 
in  deren  Wesen  es  liegt,  selber  nicht  bewufst  zu  sein.  Diese  Annahme  des 
„Unbewufsten"  ist  nur  eine  Hypothese,  ja  eine  niemals  direct  verificirbare 
Hypothese,  dennoch  ist  sie  ebenso  unentbehrlich,  wie  etwa  die  physicalische 
Hypothese  des  Atoms.  Unter  dem  Namen  des  „Unbewufsten"  ist  nun  eine 
Mannigfaltigkeit  von  Bedingungen  zum  psychischen  Leben  zu  verstehen, 
welche  sich  des  Näheren  auf  drei  Gruppen  reduciren  lassen,  auf  das 
„physiologisch  Unbewufste",  das  „relativ  Unbewufste"  und  das  „absolut 
Unbewufste".  Das  physiologisch  Unbewufste  besteht  aus  rein  materiellen 
Dispositionen  gewisser  nervöser  Organe;  es  ist  die  Bedingung  für  Repro- 
duction  und  Association.  Das  relativ  Unbewufste  beruht  darauf,  dafs  es 
eine  Uebereinanderschichtung  von  Bewufstseinsindividuen  giebt,  und  dafs 
etwas  für  ein  niederes  Bewufstsein  schon  bewufst  sein  kann  (z.  B.  für  das 
Bücke nmarksbewufstsein,  das  Bewufstsein  eines  Ganglions,  einer  Zelle), 
was  für  ein  höheres  Bewufstsein  (z.  B.  des  Menschen)  unter  der  Schwelle 
liegt.  Ist  das  relativ  Unbewufste  doch  für  irgend  ein  Bewufstsein  bewufst, 
80  ist  das  „absolut  Unbewufste"  ein  Factor,  der  schlechthin  niemals  und 
nirgend  die  Form  des  Bewufsten  annehmen  kann.  Dieser  Factor  tritt  uns 
entgegen  in  dem,  was  wir  psychische  Thätigkeit  nennen,  in  einer 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  1 


98  lÄteraturhericht 

Thätigkeit,  die  als  Theilf anction  des  universellen  Weltgmndes  im  Individamn 
sich  bethätigt,  die  im  Wollen,  im  Denken,  in  der  Aufmerksamkeit  auf  die 
Bewufstseinsphänome  wirkt,  sich  ihrer  bedient,  sie  teleologisch  dirigixt, 
die  —  in  der  Form  des  Gefühls  —  sich  im  Bewufstsein  reflectirt^  die  die 
Vielheit  der  Bewufstseinsinhalte  zur  Einheit  des  Ich  zusammenfafst  —  die 
aber  nie  selbst  bewufst  ist.  Nur  durch  das  Zusammenwirken  aller  dreier 
Arten  des  Unbewufsten  kann  die  Psychologie  wirklich  das  Entstehen  and 
den  Zusammenhang  der  Bewufstseinsphänomene  erklären ;  ungenfigend  sind 
daher  alle  Versuche,  die  entweder  gar  keinen  oder  nur  einen  der  genannten 
Factoren  gelten  lassen.  Ohne  die  Annahme  yon  irgend  etwas  ünbewnllBtem 
sucht  die  „Bewufstseins-Psychologie"  auszukommen,  welche 
„psychisch"  und  „bewufst '^  identificirt  und  daher  dem  BewuTistsein  &lle 
möglichen  Eigenschaften  und  Fähigkeiten  zuerkennen  mufs,  (Actiyittt, 
Fähigkeit  der  Einheitsbildung,  Aufspeicherung  yon  Vorstellungen)  die  in 
Wahrheit  unbewufst  sind.  Mit  dem  physiologisch  Unbewufsten  begnflgt 
sich  die  „psychologische  Physiologie**,  die  verkappter  Materialismos 
ist  und  die  restlose  Erklärung  der  psychischen  Phänomene  in  der  Reduction 
auf  materielle  Dispositionen  sieht;  ihr  Gegenstück  ist  die  „antiphysio- 
logische Psychologie  des  Unbewufsten"  (vertreten  durch  den 
speculativen  Idealismus),  die  aus  einer  schöpferisch  psychischen  Thätigkeit 
alles  Bewufste  hervorzaubern  will,  auch  dasjenige,  was  nur  durch  die 
materiell-physiologischen  Seiten  der  Welt  bedingt  sein  kann.  Als  höhere 
Synthese  all  dieser  Einseitigkeiten  sieht  H.  in  seiner  oben  skizzirten  Auf- 
fassung die  „allseitige,  allumfassende  Psychologie''. 

Im  Zusammenhang  findet  der  Leser  diese  Grundanschauung,  wenn 
auch  nur  sehr  knapp,  in  dem  letzten  Capitel  dargestellt ;  ich  nahm  sie  vor- 
weg, weil  nur  so  die  Kritik,  die  H.  an  allen  einzelnen  Problemlösungen 
der  modernen  Psychologie  übt,  verständlich  werden  kann.  — 

Ref.  bekennt  gern,  dafs  er,  wie  er  in  manchen  Punkten  der  oben 
skizzirten  Lehre  zustimmt,  so  auch  die  geübte  Einzelkritik  an  zahlreichen 
Stellen  für  zutreffend  und  aufserordentlich  fruchtbar  hält.  An  dieser  Stelle 
mufs  er  sich  mit  dem  Herausgreifen  einiger  Hauptpunkte  begnügen. 

Nach  dem  1.  Capitel  (Einleitung),  das  über  die  Absicht  des  Verf.'fl 
orientirt  und  ein  chronologisches  Verzeichnifs  der  behandelten  Schriften 
bringt,  behandelt  das  2.  Capitel  AufgabenundMethoden  der  Psychologie, 
constatirt  die  erfreuliche  Uebereinstimmung  der  modernen  Psychologie  in 
Bezug  auf  die  Methoden  und  sucht  in  Bezug  auf  die  Aufgabe  nachzuweisen, 
dafs  sie  ohne  Berücksichtigung  des  Unbewufsten  nicht  richtig  formulirt  werden 
kann.    „Innerhalb  des  unmittelbar  gewissen,  thatsächlich   gegebenen  com- 
plexen  und  veränderlichen  Bewufstseinsinhalts  ist  weder  erschöpfende  und 
sachgetreue  „Beschreibung",  noch  „Kunde",   noch  „Wissenschaft"  möglich. 
Zugleichsein  und  Veränderung  werden  im  Bewufstseinsinhalt  erlebt  und 
erfahren,  Zusammenhänge  und  Beziehungen  nicht,  also  auch  nicht  ursäch- 
liche und  Zweckbeziehungen  u.  s.  w." 

Cap.  III.  hat  das  Unbewufste  zum  Gegenstand.  H.  schildert,  wie 
der  Begriff  des  Unbewufsten,  der  in  der  ersten  Jahrhunderthälfte  in  der 
Metaphysik  heimisch  geworden  war,  seit  Beginn  der  zweiten  auch  in  die 
Psychologie  Eintritt  zu  erlangen  sucht.    Dieser  Procefs  sei  jäh  unterbrochen 


] 


Literaturbericht  99 

worden  durch  H.'s  Philosophie  des  Unbewufsten  (1868),  welche  durch  die 
metaphysische,  die  antimechanistisch-teleologische  und  die  antitheistische 
Verwerthung  des  Begriffs  auf  die  in  jener  Zeit  allein  herrschenden  ent- 
gegengesetzten Strömungen  abschreckend  wirkte;  die  Folge  war  bei  der 
Psychologie  eine  „Selbstcastration  aus  lauter  unsachlichen  Rücksichten^'. 
(Hierbei  scheinen  mir  die  Einflüsse  des  Buches  doch  erheblich  überschätzt, 
die  Forschungsmotive  unserer  Wissenschaft  ebenso  erheblich  unterschätzt 
zu  werden.)  Es  trat  nun  nämlich  seitdem  die  Tendenz  auf,  den  Begriff  des 
ünbewursten  in  der  Psychologie  möglichst  einzuschränken,  entweder  indem 
man  wie  Wundt  psychisch  und  bewufst  identificirte  und  unbewuTste 
psychische  Thätigkeiten  für  einen  Widerspruch  in  sich  selbst  erklärte,  oder 
indem  man,  wie  Jodl,  zwar  die  ünbewufstheit  gewisser  in  der  psychischen 
C&asalität  betheiligter  Elemente  anerkannte,  aber  diese  ünbewufstheit  nur 
als  eine  physiologische  betrachtet  wissen  wollte.  Es  folgt  eine  Zusammen- 
stellung dessen,  was  in  Bezug  auf  das  Problem  des  Unbewufsten  heute  als 
gesichert  gelten  kann,  und  worüber  noch  wesentliche  Meinungsverschieden- 
heiten bestehen. 

Cap.  IV.  Association  und  Beproduction.  Hier  ist  besonders 
<lie  Stellung  bemerkenswerth,  die  H.  zu  dem  Gegensatz  von  Associations- 
nnd  Apperceptionstheorie  einnimmt.  Association  beruht  auf  physiologisch- 
mechanischen Grundbedingungen,  aber  es  ist  nichts  falscher,  als  hieraus 
niin  alles  an  den  Vorstellungen  sich  vollziehende  Geschehen  erklären  zu 
trollen.  Vielmehr  hat  gegenüber  dieser  Mechanisirungstendenz  diejenige 
Anschauung  Recht,  welche  eine  schöpferische  Synthese,  eine  auswählende 
Thätigkeit  des  Geistes  unter  den  zur  Verfügung  stehenden  Reproductionen . 
annimmt.  Aber  hieran  ist  wiederum  nichts  falscher,  als  diese  psychische 
Thätigkeit  selbst  wieder  zu  einem  Bewufstseinsinhalt  zu  machen,  sie 
dadarch  dem  passiven  Vorstellungsinhalte,  dem  sie  eben  übergeordnet 
vurde,  sogleich  wieder  neben  zu  ordnen,  ja,  für  sie  sogar  nach  einenr 
gesonderten  physiologischen  Substrat  zu  suchen  und  sie  dadurch  ihres 
hypermechanischen  Charakters  ganz  zu  entkleiden.  „Die  Apperceptions- 
pnchologie,  die  nur  mit  physiologischen  und  bewufst  psychischen  (im  Text 
"teht  hier  der  schlimme  Druckfehler  „unbewufst")  Factoren  arbeitet  und 
loch  die  mechanische  Associationspsychologie  überwinden  will,  ist  eine 
)hnmächtige  Velleität,  ein  Versuch  mit  absolut  untauglichen  Mitteln" 
•^.  177).  Mir  scheint,  dafs  diese  Charakteristik  die  Schwäche  des  Wündt'- 
chen  Apperceptionsbegriffs  vorzüglich  präcisirt. 

In  einem  ähnlich  treffenden  Gedankengang  nimmt  das  5.  Cap.: 
•Empfindung,  Gefühl  und  Wollen  zum  Problem  des  Willens  Stellung, 
bleiben  wir  zunächst  bei  dem  stehen,  was  uns  das  BewuTstsein  zeigt,  so 
riebt  es  keinen  Willen.  Es  ist  ein  Vorurtheil  des  naiven  Denkens,  dafs 
las  Wollen  ein  besonderer  innerlich  direct  erlebbarer  Inhalt  des  Bewufst- 
seins  neben  Gefühl,  Vorstellung  und  Empfindung  sei.  Vielmehr  haben 
Analytiker  wie  Münstebberg  und  Ebbinghaüs  vollständig  Recht,  wenn  sie 
fien  unter  dem  Namen  Willen  einhergehenden  Bewufstseinsbestand  restlos 
in  jene  anderen  Inhalte  auflösen.  Dennoch  ist  das  Wollen  mehr  als  eine 
^^genstandlose  Illusion,  ja  wesenhafter  als  alle  die  Elemente,  in  die  es  eben 

■  •\ 


100  Literaturbet'icht 

aufgelöst  worden.  Jene  Inhalte  sind  nämlich  nichts  anderes  als  die  in- 
activen  Bewufstseinsrepräsentanten  für  eine  psychische  Thätigkeit,  die  aber 
als  solche  unbewufst  ist  und  bleibt.  Die  Inactiyität  jener  BewoIiBtseinB- 
phänomene  ist  die  Wiederspiegelung  einer  kemhafteren  Activitftt,  für  die 
der  alte  Namen  Wille  die  natürliche  Bezeichnung  darbietet.  —  Eine  eigen- 
thümliche  Folgerung  aus  dieser  Anschauung  ist  es,  dafs  die  Grefühle  ihres 
Amtes,  wirkliche  Willensmotive  zu  sein,  enthoben  werden.  Motive  sind 
Vorstellungen,  sie  werden  hierzu  erhoben  durch  die  allgemeine  charaktero- 
logische  Willensveranlagung;  und  was  wir  Gefühl  nennen,  ist  nichts  anderes 
als  eine  rein  passive  Bewufstseinsspiegelung  dieser  vom  Willen  vollzogenen 
Werthschöpfung.  Auf  diesem  Wege  glaubte  H.  die  eudämonistische 
Motivation  und  die  darauf  gegründete  Ethik  überwinden  zu  können.  — 
Durchaus  metaphysischen  Charakter  trägt  endlich  die  Anschauung,  6iSs 
die  Empfindungen  in  unserem  Bewufstsein  nichts  anderes  sind  als  Synthesen 
aus  den  für  uns  unterschwelligen  Gefühlen  der  zu  uns  zugehörigen  niederen 
Bewufstseinsstufen. 

Die  Einheit  des  Bewufstseins  (Cap.  VI.)  ist  nach  H.  mehr  als 
blofser  Zusammenhang,  d.  h.  als  Summationsphänomen  der  bewnDsten 
Phänomene  oder  Correlat  der  physischen  Einheit  des  Organismus,  sondern 
nur  verständlich  durch  eine  die  Einheit  herbeiführende  Thätigkeit  (der 
Genitiv  „des  BewuDstseins"  ist  nicht  gen.  subjectivus,  sondern  objectivns. 
Bef.).  Für  jede  individuelle  Bewufstseinseinheit  ist  aber  diese  synthetische 
Thätigkeit  nach  H.  nicht  eine  substantiell  getrennte  selbständige,  sondern 
nur  concreto  Sonderbethätigung  einer  absoluten  Substanz.  Dieses  Absolute 
ist  aber  wiederum  nicht  aufzufassen  in  Gestalt  eines  höchsten  transoen- 
deuten  Bewufstseins,  sondern  als  unbewufstes,  absolutes,  alleines  Sabject 

Dem  psychophysischen  Parallelismus  ist  das  VU.  Cap.  ge- 
widmet, das  umfangreichste  (106  S.)  und  auch  das  weitaus  bedeutendste  des 
Ruches.  Ich  halte  es  in  der  That  für  geeignet,  dem  nun  schon  seit  Jahren 
in  wenig  veränderten  Bahnen  dahinwogenden  Streit  eine  neue  und  aos- 
sichtsvolle  Wendung  zu  geben.  Zwei  Gresichtspunkte,  mit  denen  Bef.  in 
letzter  Zeit  an  dieses  Problem  heranzugehen  sich  gewöhnt  hatte,  findet  er 
zu  seiner  Freude  von  H.  gleichfalls  angewendet:  erstens  die  Ueberzengong, 
dafs  das  Problem  des  Verhältnisses  von  Physischem  zu  Psychischem  nicht 
zum  ursprünglichen  Ausgangspunkt  des  Philosophirens  erwählt  werden 
dürfe,  sondern  nur  von  einer  noch  allgemeineren  metaphysischen  Be- 
trachtungsweise her  seine  Lösung  finden  könne,  zweitens  die  Ansicht,  dafo 
diese  zu  erhoffende  Lösung  weder  in  dem  Parallelismus,  noch  in  der 
Wechselwirkung,  sondern  in  einer  Synthese  von  Beiden  zu  suchen  sei. 
Freilich  in  der  specielleren  Anwendung  dieser  Gresichtspunkte  kann  ich  mich 
nicht  mit  H.  identificiren. 

Schon  der  rein  referirende  Theil  ist  in  diesem  Capitel  weit  nuti- 
bringender  als  in  den  anderen,  einestheils  weil  er  die  gesammte  Neuttit 
von  NicoLAüs  von  Cues  an  umfafst,  anderntheils,  weil  er  nicht  nur  den 
Inhalt  der  leicht  zugänglichen  Lehrbücher  wiederholt,  sondern  (und  zwar 
gerade  für  die  letzte  Zeit)  auch  die  Zeitschriften-  und  Monographien-Literatur 
(Wentscher,  Erhabdt,  Busse,  König,  Heymans,  Paulsen)  excerpirt,  so  dafs 
wir  hier  ein  so  ziemlich  lückenloses  und  bis  zur  Gregenwart  durchgeführtes 


Liter  atwrhtrichi,  101 

Material  für  dieses  so  wichtige  Problem  vor  uns  haben.  Dann  aber  ist  der 
kritische  Theil  hier  besonders  weitzügig  angelegt.  H.  zeigt,  dafs  das  schein- 
bar so  einfache  Problem  und  vor  Allem  die  scheinbar  so  durchsichtige 
Liösung  des  Parallelismus  in  Wirklichkeit  in  eine  grofse  Beihe  von  Fragen 
(er  formulirt  etwa  ein  Dutzend)  zerfällt,  die  sämmtlich  erst  einer  sorgsamen 
Durcharbeitung  bedürfen.  Ich  erwähne  hier  nur  einige  der  Fragen:  was 
soll  parallel  gehen?  Phänomene,  Veränderungen  von  Phänomenen,  Thätig- 
keiten,  Dispositionen  oder  essentielle  metaphysische  Attribute?  —  Welches 
Materielle  geht  den  Bewulstseinsphänomenen  parallel?  (Hier  macht  er  mit 
vollstem  Kecht  auf  die  Verwirrung  aufmerksam,  die  daraus  entsteht,  dafs 
man  den  Parallelismus  bald  psychophysisch  meint  als  Parallellaufen 
von  Bewufstseinsinhalten  und  nervösen  Processen,  bald  erkenntnifs- 
theoretisch  als  Parallellaufen  von  Vorstellungen  und  den  ihnen  ent- 
sprechenden Dingen).  —  Wie  unterscheidet  sich  parallelistische  Abhängig- 
keit von  Causalität?  —  Wie  verhält  sich  die  innere  Gesetzmäfsigkeit  jeder 
Beihe  zu  der  der  anderen?  —  Welches  ist  der  Umfang  der  Greltung  des 
Parallelismus  und  wo  sind  seine  Grenzen  ?  (Hier  giebt  es  nur,  wie  H.  richtig 
betont,  die  Alternative :  entweder  wird  der  Parallelismus  consequent  durch- 
geführt, dann  kommt  man  zur  Allbeseelung  und  mufs  auch  aufserhalb  des 
Bewulistseins,  also  auch  in  Molecülen,  in  Atomen,  Psychisches,  annehmen. 
Oder  man  scheut  den  Begriff  des  Unbewufst-Psychischen,  dann  ist  der 
Parallelismus  ein  begrifflicher  Torso,  der  nicht  zu  Ende  gedacht  werden 
darf).  —  Die  wichtigste  Frage  lautet:  welches  sind  die  Beweisgründe  für 
die  metaphysische  Hypothese  des  Parallelismus?  Sie  sind  wesentlich 
negative,  nämlich  solche,  die  die  Wechselwirkung  widerlegen  wollen.  Als 
Argumente  werden  angeführt  a)  die  Unmöglichkeit  der  Causalität  zwischen 
Heterogenem,  b)  das  Axiom  der  geschlossenen  Xaturcausalität,  c)  das  Gresetz 
der  Erhaltung  der  Energie,  d)  das  Beharrungsgesetz. 

a)  Das  erste  Argument  ist  nach  H.  hinfällig,  denn  „alles,  was  auf- 
einander wirkt  ist  mehr  oder  minder  verschieden  und  die  Leichtigkeit  und 
Stärke  der  causalen  Beziehungen  hat  mit  dem  Mehr  oder  Minder  dieser 
Verschiedenheit  keinen  Zusammenhang" ;  b)  „das  Axiom  der  geschlossenen 
Naturcausalität  im  Sinne  der  mechanistischen  Weltanschauung  ist  ein  Vor- 
urtheil  unserer  Zeit."  Es  sind  nicht  alle  Bewegungen  eines  materiellen 
Systems  restlos  aus  den  Gesetzen  der  Bewegungen  ihrer  Theile  zu  erklären, 
bei  den  organischen  Individuen  treten  zu  den  Atomgesetzen  noch  höhere 
Naturgesetze  hinzu,  c)  und  d)  Das  Energiegesetz  bezieht  sich  lediglich  auf 
das  Quantum  der  vorhandenen  Energie,  bestimmt  aber  das  Geschehen  ein- 
deutig nur  in  anorganischen  Körpern.  Für  die  organische  Welt  dagegen 
gilt  das  Energieprincip,  ohne  darum  die  Möglichkeit  auszuschliefsen,  „dafs 
bei  der  Art  und  Weise  der  Umwandlung  der  mechanischen  materiellen 
Energie  nicht-mechanische  nicht-materielle  Kräfte  bestinmiend  mitgewirkt 
haben".  Denn  sie  ist  denkbar,  ohne  dafs  dadurch  das  Quantum  der  vor- 
handenen Energie  selbst  vermehrt  oder  vermindert  würde. 

Trotz  seiner  Bekämpfung  des  Parallelismus  vermag  sich  H.  auch  nicht 
den  gegenwärtigen  Vertretern  der  Wechselwirkungslehre  anzuschliefsen, 
einerseits  weil  sie  mit  ihrem  Dualismus  und  ihrer  Tendenz,  die  Seele  als 
etwas   Selbständiges   und   darum   Unsterbliches   hinzustellen,   elw^t   x^Ot- 


102  Literaturbericht, 

ständigen  Bichtung  angehören,  andererseits,  weil  sie  für  dasjenige  Psychuche, 
das  auf  den  Körper  zu  wirken  im  Stande  sei,  das  BewnÜBtsein  halten, 
während  dies  selbst  völlig  inactiv  ist  Die  leider  nirgend  klar  heraus- 
gearbeitete Anschauung  H.*s  selbst  glaube  ich  so  verstanden  zu  haben, 
dafs  er  Parallelismus  annimmt  zwischen  Bewufstseinsinhalten  und  materiellen 
Vorgängen,  ihn  aber  nicht  als  letztes  Weltgesetz,  sondern  nur  als  phftno- 
menale  Folge  einer  indirecten  Causalität  auffafst.  In  directer  Wechsel- 
wirkung stehen  nämlich  nur  die  einander  übergeordneten  unbewaüsten 
Thätigkeiten  des  Ich  und  seiner  Theilindividuen  (der  Zelle  u.  s.  w.)  So 
wirken  die  physiologischen  Reize  auf  die  einheitliche  Thätigkeit  des  Ich, 
welche  darauf  dann  wieder  mit  den  Acten  des  Auffassens  oder  des  Willens 
antwortet  und  auf  seine  ihm   untergeordnete  Theilindividuen  einwirkt 

Da  das  letzte  Capitel  (die  Bilanz  der  modernen  Psychologie)  schon 
oben  Besprechung  fand,  so  habe  ich  den  Bericht  nur  noch  durch  die  Be- 
merkung zu  vervollständigen,  dafs  ein  chronologisches  und  ein  alphabetisches 
Autorenverzeichnifs,  sowie  ein  Sachregister  das  Buch  beschlieüst  — 

£.  V.  H.  ist  trotz  seiner  Fruchtbarkeit  und  trotz  des  zeitweisen  stariien 
literarischen  Erfolges  seiner  Philosophie  des  Unbewufsten  bisher  aaf  die 
wissenschaftliche  Arbeit  der  Zeit  ohne  grofsen  Einflufs  geblieben.  Allein 
er  hat  nicht  so  Unrecht,  wenn  er  mit  einem  gewissen  TriumphgefOlü 
darauf  hinweist  (S.  117),  dafs  manche  Punkte,  um  derentwillen  er  seiner- 
zeit verlacht  und  bekämpft  worden  ist,  jetzt  nach  Jahrzehnten  von  anderen 
Seiten  her  in  die  wissenschaftliche  Betrachtung  Eingang  gefunden  haben. 
Dafs  Pflanzen  beseelt  seien,  dafs  man  den  niederen  Himtheilen  and  dem 
Rückenmark,  ja  auch  den  Molecülen  und  Atomen  in  irgend  welcher  Weise 
Bewufstsein  zuschreiben  könne,  gilt  heute  längst  nicht  mehr  als  absurd 
In  der  Physik  steht  gegen  den  Materialismus  ein  Dynamismus,  in  der 
Biologie  gegen  den  Mechanismus  eine  immer  stärker  anschwellende  teleolo- 
gische Richtung  auf,  und  der  Parallelismus  wird  hart  bedrängt  —  Stellung- 
nahmen, die  H.  in  der  That  schon  vor  drei  Jahrzehnten  vertreten  hatte. 

So  wird  H.  sicherlich  für  alle  diejenigen,  welche,  wie  der  Ref.,  glauben, 
dafs  die  Weltanschauung  der  kommenden  Zeit  eine  anti-  oder  sagen  wir 
lieber  eine  hyper-mechanistische  sein  wird,  als  ein  früher  und  einsamer 
Verkünder  zu  gelten  haben.  Und  so  bin  ich  denn  auch  überzeugt,  dafe 
die  Psychologie  auf  ihrem  Zukunftswege  davon  so  manchen  Nutzen  ziehen 
wird,  dafs  E.  v.  H.  sich  entschlossen  hat,  in  ihre  Discussionen  einzugreifen. 
Er  that  es  hier  kritisch  und  seine  Kritik  wird  in  vielen  Punkten  frucht- 
tragend sein;  aber  sie  wird  erst  ihre  Wirkung  ganz  zeigen  können,  wenn 
H.  —  ich  wiederhole  den  Wunsch  hier  nochmals  —  seine  eigene  psycho- 
logische Lehre,  statt  sie  durch  die  Kritik  nur  durchschimmern  zu  lassen, 
zu  einer  zusammenhängenden  positiven  Darstellung  gestalten  wird.  — 

Wenn  H.  bisher  speciell  innerhalb  der  Psychologie  mit  seinen  früheren 
Schriften,  deren  Inhalt  doch  an  so  vielen  Stellen  zu  ihr  Beziehung  hat, 
wenig  Beachtung  gefunden  hat,  so  liegt  dies  allerdings,  ganz  abgesehen 
von  der  metaphysikfeindlichen  und  mechanistischen  Richtung  der  jüngsten 
Vergangenheit,  an  einem  schweren  Grundmangel  der  H.'schen  Philosophie: 
an  einem  gewissen  Wortcultus.  An  nur  allzu  vielen  Stellen  glaubt  er 
durch  Anwendung  schwer  dahinfliefsender  Termini  die  Erklärung  bestreiten 


Literaturbericht  103 

zu  können  und  ganz  und  gar  in  die  Scholastik  gehört  die  Verwendung, 
die  der  Grundbegriff  seiner  gesammten  Philosophie,  der  des  „ünbe- 
wufsten"  findet.  Dieses  negative  Neutrum,  welches  zunächst  nur  aus- 
sagt, dafs  eine  bestimmte  Eigenschaft  nicht  vorhanden  ist,  wird  nun  zum 
ens  realissimum  hypostasirt;  zugleich  aber  wird  alles  und  zwar  das 
Disparateste,  in  den  Begriff  hineingeworfen,  sobald  es  jener  „bewufsten" 
Eigenschaft  ermangelt :  die  absolute  Thätigkeit  des  Weltgrundes  ebenso  wie 
die  physiologischen  Vorgänge  im  Nerven.  Aber  ist  denn  jemals  das  Nicht- 
hab en  einer  Eigenschaft  ein  Grund  gewesen  zu  einer  metaphysischen 
Identification?  Umfafst  der  Begriff  des  Nicht-Schwarzen  noch  irgend  eine 
sachliche  Einheit,  wenn  ich  das  Weifse,  die  Liebe  und  den  Bosenduft  — 
denn  alle  drei  sind  nicht  schwarz  —  hereinnehme?  Was  vielleicht  unter 
einem  speciellen  methodologischen  Gresichtspunkt  gerechtfertigt  ist: 
gegenüber  einem  bestimmten  Erscheinungscomplez  (z.  B.  dem  des  Be- 
wufstseins)  alles  andere  unter  einem  gemeinsamen  Begriff  zusammenzu- 
fassen —  es  ist  völlig  ungerechtfertigt  als  metaphysische  Synthese.  Der 
Begriff  des  Unbewufsten,  den  die  Psychologie  und  die  Philosophie  so 
nöthig  brauchten,  er  war  in  der  H.*schen  Verallgemeinerung  für  sie  einer 
wirklichen  Verwendbarkeit  baar  geworden.  Wenn  auch  H.  dann  wieder 
den  so  postulirten  Begriff  in  seine  verschiedenen  Arten  zerlegt,  es  bleibt 
doch  die  Scheidung  das  Secundäre,  die  Identification  das  Primäre  und  der 
Grundfehler  ist  dadurch  nicht  wieder  gut  zu  machen. 

In  dem  vorliegenden  Buche  ist  in  dieser  Beziehung  ein  grofser  Fort- 
schritt zu  constatiren.  H.  giebt  selbst  zu,  dafs  er  jetzt  die  verschiedenen 
Categorien  des  Unbewufsten  viel  schärfer  und  principieller  gegen  einander 
abgrenzt  als  früher,  wo  es  ihm  ausgesprochener  Maafsen  auf  die  Betonung 
des  Gemeinsamen  ankam.  Die  positiveren  Unterscheidungsmerkmale: 
synthetische  Thätigkeit,  Wollen,  materielle  Erregungen  tauchen  doch  schon 
viel  häufiger  aus  dem  negativen  Nebelmeer  des  Unbewufsten  heraus.  Je 
weiter  der  geschätzte  Denker  auf  diesem  Wege  fortschreitet,  um  so  mehr 
Ertrag  wird  die  Metaphysik  im  Allgemeinen  und  die  Psychologie  im 
Besonderen  aus  seiner  Gedankenarbeit  erhoffen  dürfen. 

W.  Stern  (Breslau). 

j.  Jastrow.     Some  Garrents  and  ündercarrenU  in  Psychology.    (President*s 

Address,  Amer.  Psychol.  Ass.)  Psychol  Revieio  8  (1),  1 — 26.  1901. 
Jastrow  bespricht  in  diesem  Artikel  verschiedene  Strömungen,  die 
sich  gegenwärtig  in  der  Psychologie,  namentlich  in  Amerika,  bemerkbar 
machen.  Er  drückt  den  Wunsch  aus,  dafs  dem  functionellen  Gesichts- 
punkte in  der  Psychologie,  besonders  im  psychologischen  Einführungs- 
unterricht, ein  bedeutenderer  Platz  zugewiesen  werde.  Er  illustrirt  diesen 
Gesichtspunkt  durch  Hinweis  auf  die  Vorzüge  gröfserer  Sehschärfe  in  der 
Gentralgrube  im  Vergleich  zu  einer  mehr  diffusen  Gesichtsempfindung 
ohne  Fovea;  auf  die  wunderbaren  Coordinationen  des  binocularen  Sehens, 
die  zweifellos  ein  spätes  Entwickelungsproduct  sind.  Er  erwähnt  ferner 
die  dreifache  Weise,  in  der  psychologische  Probleme  in  neuerer  Zeit  in 
Angriff  genommen  zu  werden  pfiegen,  nämlich  als  Probleme  der  genetischen, 
normalen    und   abnormen   Psychologie,    und   zeigt  die   Bedeutung  dieser 


104  lAteraturbericht, 

Trinität  am  Studium  der  „Intelligenz".  Er  betont  die  Gefahr,  die  der 
Psychologie  von  populären  Strömungen  droht.  Das  populäre  Interesse  ist 
besonders  leicht  durch  das  Mystische  gefesselt,  und  so  ist  es  kein  Wunder, 
wenn  man  vielfach  unter  Nicht-Psychologen  die  Ansicht  verbreitet  findet, 
dafs  die  Hauptaufgabe  der  Psychologie  in  Untersuchung  der  Telepathie 
und  ähnlicher  Phänomene  bestehe.      Max  Meter  (Columbia,  Missouri). 

Jttl.  Beromann.     Seele  and  Leib.     Archiv  für  systeniat  Philosophie  N.  F.  4  (4j, 
401—437  u.  5  (1),  25—68. 

Verf.  beabsichtigt  „den  Begriff  der  Seele  so  zu  bestimmen,  wie  es 
vor  dem  Versuche,  ihre  Natur  zu  ergründen,  möglich  und  zum  Zweck  eines 
solchen  Versuches  erforderlich  ist".  Dazu  genügt  ihm  das  Merkmal  des 
„Bewufstseins^^  Dies  Bewufstsein  wird  unter  Berufung  auf  den  -Sprach- 
gebrauch mit  Denken  gleichgesetzt  und  die  so  definirte  Seele  mit  dem  Ich; 
denn  „jedes  mit  Bewufstsein  begabte  Wesen  ist  sich  auch  seines  Bewolst- 
seins  bewufst,  und  zwar  als  des  seinigen,  und  so  hat  es  die  Vorstellong 
Ich  und  ist  einerlei  mit  dem  von  ihm  vorgestellten  Ich".  Nun  erst  fragt 
Verf.,  ob  es  wirklich  auch  solche  so  definirte  Seelen  giebt.  Die  scholasti- 
schen Schwierigkeiten,  in  welche  sich  der  Verf.  hierbei  verstrickt,  sind  im 
Original  nachzulesen,  ebenso  der  kurze  „Beweis",  den  Verf.  8.  413  für  die 
Existenz  an  sich  seiender  Dinge  giebt,  die  einst  Seelen  sind. 

Nachdem  Verf.  so  „die  allgemeine  Natur  der  Seelen"  erledigt  hat, 
wendet  er  sich  zur  „allgemeinen  Natur  der  Körper".  Diese  Erörterungen 
können  in  dieser  Zeitschr.  übergangen  werden.  Verf.  sucht  nun  weiter  an 
beweisen,  dafs  jedenfalls  nur  ein  Körper,  der  einheitlich  ist  und  in  der 
Veränderung,  insbesondere  im  Stoffwechsel  mit  sich  identisch  bleibt,  Snb- 
ject  eines  Bewufstseins  sein  kann,  und  weist  nach,  dafs  solche  Körper 
„denkbar"  sind.  Nunmehr  steht  der  „Vermuthung,  dafs  das  Bewulstsein 
eine  Eigenschaft  von  Körpern  sei",  aufser  einigen  Zweifeln,  die  später  er- 
ledigt werden,  nichts  mehr  im  Wege.  Da  nun  ferner  aus  Geschwindigkeits- 
Veränderungen  kein  Bewufstsein  entstehen  kann,  so  schreibt  Verf.  kuner- 
band  „der  Form  (der  Organismen)  zwei  ganz  verschiedene  Bedeutungen, 
organische  Kraft  und  Subject  des  Bewufstseins  zu  sein,  zu.  Zwischen  beiden 
besteht  ein  gegenseitiges  Abhängigkeitsverhältnifs.  Damit  glaubt  Verl  die 
„empirische"  Auffassung  ausgeführt  zu  haben.  Dieser  stellt  er  schlieMch 
die  metaphysische  Auffassung  gegenüber  und  deutet  im  Dienst  der  letzteren 
die  empirische  Auffassung  des  Verhältnisses  der  Seele  zum  Leib  um:  ^ 
existirt  ein  unendliches  absolutes  Bewufstsein,  die  körperliche  Welt  ist 
sein  Inhalt  u.  s.  f.  Nur,  „wie  ein  Wahmehmungsact  dieses  absoluten  Be- 
wufstseins, der  die  individuell  eigenthümliche  Form  eines  einheitlichen 
Körpers  oder  eine  die  Materie  zur  Hervorbringung  eines  Körpers  von 
solcher  Form  befähigende  Eigenschaft  zum  Inhalt  hat,  das  Dasein  einer 
diesen  Körper  fühlenden  und  sich  mit  ihm  identificirenden  Seele  zur  Folge 
haben  könne,  und  auf  welche  Weise  die  Seelen  in  dem  absoluten  Be- 
wufstsein enthalten  seien",  diese  Fragen  vermag  Verf.  nicht  (doch  wohl. 

noch  nicht)  „genügend  zu  beantworten". 

Ziehen  (Utrecht). 


LiteraturberichL  105 

Ziehen.  Das  Yerhältnifs  der  H  e  r  b  a  r  t '  sehen  Psychologie  iwt  physiologisch- 
experimentellen  Psychologie.  Sammlung  von  Ahlmnälunge^i  aus  de^n  Gebiete 
der  pädagogischen  Psychologie  u.  Physiologie  herausgegeben  von  H.  Schiller 
n.  Th.  Ziehen,  3  (5).    79  S.    1900. 

Der  physiologischeste  —  sit  verbo  venia  —  unter  den  physiologischen 
fchologen,  Th  Ziehen,  hat  sich  der  dankenswerthen  Arbeit  unterzogen, 
j  Verhältnifs  der  von  ihm  vertretenen  Richtung  in  der  Psychologie  mit 
•  HERBART'schen  zu  vergleichen,  wie  sie  uns  vorliegt  in  den  Schriften 
RBART*8  und  der  bedeutendsten  seiner  Schüler.  In  erster  Linie  bespricht 
die  beiderseitigen  Principien.  Die  moderne  Psychologie  —  womit  im 
Igenden  der  Kürze  halber  lediglich  die  experimentell-physiologische  be- 
chnet  wird  —  geht  rein  empirisch  vor.  Die  Empirie  hat  Hebbart  ja 
ichfalls  zur  Grundlage  genommen,  dann  aber  die  Metaphysik  zu  Hülfe 
rufen,  um  die  Widersprüche  zwischen  den  einzelnen  aus  der  Erfahrung 
R^onnenen  Sätzen  zu  lösen.  Hinsichtlich  der  Methode  bedeutet  Hebbabt*s 
rnachlässigung  des  Physiologischen  und  Verwerfung  des  Experimentes 
ausgenommen  in  der  Tonlehre  —  einen  Rückschritt  gegen  frühere 
ychologen.  Dagegen  ist  es  ein  grofses  Verdienst  Herbabt's,  die  Möglich- 
it  und  Nothwendigkeit  der  mathematischen  Behandlung  der  Psychologie 
abgewiesen  zu  haben,  wenn  auch  die  Durchführung  dieser  Forderung 
t  Fechnbr  und  der  physiologischen  Psychologie  gelungen  ist.  Die  Thier- 
rchologie  erkennt  er  in  ihrem  vollen  Werthe,  weniger  die  psychopathischen 
ächeinungen.  Den  zweiten,  umfangreichsten  Abschnitt  bildet  die  Ver- 
ichung  der  beiderseitigen  Lehren  und  Ergebnisse.  Die  Lehre  von  den 
ipfindungen,  die  in  der  modernen  Psychologie  eine  so  hohe  Ausbildung 
ahren,  fand  durch  Herbabt  auffallend  geringe  Beachtung.  Lediglich  den 
lempfindungen  widmete  er  eingehenderes  Studium.  Darauf  hatte  ihn 
1  grofses  Interesse  für  Musik  —  Herbabt  war  selbst  vorzüglicher 
Vierspieler  und  hat  auch  componirt  —  geführt.  Aber  seine  Ergebnisse 
ieten,  wie  Stumpf  nachgewiesen,  vielfach  in  Widerspruch  mit  den  That- 
aen  der  unmittelbaren  Beobachtung.  Um  so  bedeutungsvoller  ist  seine 
re  von  der  Raumanschauung,  insofern  er  gegen  die  KANT*sche  Lehre 
der  apriorisch-subjectiven  Natur  der  Raumvorstellung,  die  Abhängigkeit 
selben  von  den  Reizen  und  die  Unerläfslichkeit  einer  Erforschung  der 
chischen  Bedingungen  ihrer  Entstehung  betont  hat.  Hier  baute  die 
lerne  Psychologie  nur  weiter,  indem  sie  die  Bedingungen  der  räum- 
en Anordnung  unserer  Empfindungen  empirisch  ermittelte,  vornehmlich 
Bewegungsempfindungen,  auf  deren  Mitwirken  die  Schüler  Hebbabt*s 
jn  hingewiesen,  eingehender  würdigte.  Nicht  gering  ist  Hebbabt's  Ver- 
ist  um  die  Lehre  von  den  Vorstellungen  (=  Erinnerungs-  und  Phantasie- 
Heilungen),  trotz  seiner  ungenügenden  Scheidung  zwischen  Empfindung 
.  Vorstellung,  besonders  durch  richtigere  Feststellung  des  Wesens  der 
itraction  und  durch  Beseitigung  des  sog.  inneren  Sinnes  der  früheren 
chologen.  Am  eigenartigsten  und  folgereichsten  war  bekanntlich 
iBABT*8  Lehre  von  der  Ideenassociation.  Während  die  moderne  Psycho- 
ie  wie  er  festhält  an  der  Gesetzmäfsigkeit  unseres  Gedankenablaufes, 
dem  Unterschied  zwischen  latenten  und  actuellen  Vorstellungen  und 
den  Begriffen  Hemmung  und  Verschmelzung,   die  Begriffe  Hülfe  und 


106  Literaturbericht 

.Schwelle  aber,  mittelbare  und  unmittelbare  Reproduction  und  die  Weiter- 
bildung und  eine  erhebliche  ELlärung  des  Begriffes  Apperception  ihm  allein 
verdankt,  lehnt  sie  aufs  entschiedenste  seine  Verstellungs-Mechanik  und 
•Dynamik  ab.  Aehnlicherweise  bringt  Hbrbabt  in  der  Lehre  von  den  Ge- 
fühlen manche  glückliche  und  werthvoUe  Beobachtung,  in  der  theoretifichen 
Deutung  und  Herleitung  der  Gefühle  und  Affecte  jedoch  kann  ihm  die 
moderne  Psychologie  nicht  folgen.  Der  letzte  Abschnitt  endlich  ist  HESBin's 
Willenslehre  gewidmet,  in  der  manch  ein  bedeutender  Orundsatz  der 
modernen  Psychologie  schon  zur  Geltung  gekommen  ist.  AbschlieÜBend 
kennzeichnet  Z.  nochmal  die  unterschiede,  welche  trotz  vielfacher  Heber- 
einstimmung  in  wichtigen  Punkten  die  beiden  Richtungen  trennen.  Dabei 
kann  Bef.  freilich  nicht  verhehlen,  d&ÜB  seines  Erachtens  Verf.  den  Werth 
der  Physiologie,  von  ihrem  noch  unbefriedigenden  Stand  ganz  abgefiehen, 
für  die  Psychologie  etwas  überschätzt,  die  Thatsache  aber,  dals  die  physio- 
logischerseits  beobachteten  Vorgänge  ihre  Deutung  doch  erst  erhalten  dnick 
die  Psychologie,  nicht  hinreichend  würdigt.  Mit  dem  sehr  beachtenswertben 
Hinweis,  dafs  auch  die  grofsen  Verdienste  Hebbart's  um  die  Pädagogik 
kein  Grund  sein  können,  seine  Psychologie  der  modernen  vorzuziehen,  ein- 
fach deshalb  weil  sich  sein  pädagogisches  System  auch  mit  den  letzteren 
recht  gut  in  Einklang  bringen  läfst,  schliefst  diese  werthvolle,  zum  gegen- 
seitigen Verständnifs  nicht  wenig  beitragende  Untersuchung. 

Offneb  (München). 

P.  J.  MöBiüs.  Stachyologie.  Weitere  vermischte  Aufsätze.  Leipzig,  J.  A.  Barth, 
1901.    219  S. 

Die  vorliegende  „Aehrenlese**  der  wie  immer  anregend  geschriebenen 
Aufsätze  widmet  Verf.  dem  Andenken  Fecuner's  zu  seinem  demnächstigen 
100  jährigen  Geburtstage.  Ein  Theil  der  Aufsätze  liegt  aufserhalb  des 
Kahmens  der  vorliegenden  Zeitschrift;  andere  wie  z.  B.  der  über  Entartang 
ist  bereits  hier  referirt.    Folgendes  möge  daher  genügen. 

Dafs  dem  Psychiater  mit  so  viel  Mifetrauen  begegnet  wird,  liegt  nach 
Verf.  unter  Anderem  daran,  dafs  er  sich  zu  sehr  für  sich,  fern  von  der 
Welt  hält.  Der  Psychiater  sollte  vielmehr  sein  Reich  ausdehnen  und  auf 
Eroberungen  ausziehen;  er  sollte  die  Literaturbetrachtung  in  den  Kreis 
seiner  Arbeit  ziehen  und  vor  Allem  weniger  die  Minder^'erthigen  als  viel- 
mehr die  Mehrwerthigen  studiren,  um  so  unser  Wissen  von  den  Talenten, 
ihrer  Abhängigkeit  von  der  Organisation  des  Individuums,  von  dem  Ein- 
flüsse der  Vererbung  etc.  aufzuklären.  Das  ist  der  Inhalt  seiner  Aus- 
führungen über  „Psychiatrie  und  Literaturgeschichte". 

Wie  sehr  die  Psychiatrie  geeignet  ist,  uns  über  das  Wesen  von  Persön- 
lichkeiten aufzuklären,  das  hat  M.  selbst  mit  seiner  bekannten  Arbeit  be- 
wiesen, die  die  Krankengeschichte  Roüsseaü's  betrifft,  von  seinen  anderen 
Studien  gar  nicht  zu  reden.  Hier  („Ueber  J.  J.  Roüsseaü's  Jugend")  berichtet 
er  des  Genaueren  über  Roüsseaü's  Jugend,  und  beweist  damit,  dalis  seine 
spätere  Paranoia,  der  wir  seine  Bekenntnisse  verdanken,  nur  der  Ausdruck 
der  ererbten  Entartung  war.  Die  Art  und  Weise,  wie  Rousseau  seine 
Jugend  zubrachte,  ebnete  den  Boden  für  die  spätere  Paranoia,  aber  sie 
schuf  auch  die  Eigenartigkeit  seiner  Persönlichkeit. 


LiterattMrbericht  107 

In  einem  weiteren  Aufsatze  („lieber  das  Studium  der  Talente")  tadelt 
er  die  Methode  des  Vorgehens  Lohbroso's  bei  seinen  Studien  über  den 
genialen  Menschen.  Verf.  verlangt  Einzeluntersuchungen  und  ein  Ausgehen 
von  bestimmten  Fähigkeiten.  Bei  der  Besprechung  des  Talents  soll  die 
möglichst  sorgfältige  Prüfung  des  Menschen,  bei  dem  das  Talent  im  höchsten 
Grade  beobachtet  worden  ist,  den  Kern  der  Arbeit  ausmachen.  Wie 
Bchwierig  freilich  die  Begriffe  des  Talents  und  des  Genies,  die,  da  sie  nur 
quantitativ  verschieden  sind,  nicht  scharf  von  einander  getrennt  werden 
können,  gegebenenfalls  abzugrenzen  sind,  zeigt  Verf.  an  den  Beispielen  der 
Musik,  Malerei  und  Bildhauerkunst,  Architektur,  Dichtkunst.  Auch  die 
Uebergänge  müssen  natürlich  studirt  werden,  sowie  Heredität,  die  Jugend- 
zeit, die  anderen  Eigenschaften  der  Begabten.  Insofern  ist  das  Talent 
immer  etwas  Pathologisches,  als  es  einer  Störung  des  normalen  Gleich- 
gewichts der  geistigen  Fähigkeiten  entspricht. 

Das  Talent  zu  den  bildenden  Künsten  und  zur  Musik  ist,  wie  M.  im 
folgenden  Aufsätze  („Ueber  die  Vererbung  künstlerischer  Talente")  ausein- 
andersetzt, gleich  dem  mathematischen  Talent  angeboren  und  findet  sich 
oft  mehrfach  in  einer  Familie.  Die  Vererbung  gehe  in  erster  Linie  vom 
Vater  aus.  Die  Mutter  spiele  dabei  nur  eine  untergeordnete  Bolle,  ohne 
dafs  ihre  Beschaffenheit  gerade  gleichgültig  wäre.  Das  weibliche  Talent 
findet  sich  nur  recht  selten.  Das  künstlerische  Talent  des  Mannes  ver- 
gleicht er  geradezu  mit  einem  secundären  Geschlechtszeichen,  wie  es  der 
Bart  ist. 

In  naher  Beziehung  zu  diesen  Aufsätzen  stehen  die  beiden  folgenden 
Abhandlungen  („Ueber  einige  Unterschiede  der  Geschlechter",  „Ueber  den 
physiologischen  Schwachsinn  des  Weibes"),  in  denen  das  Weib  wenig  gut 
wegkommt  Worauf  er  hinaus  will,  sagt  M.  selbst  mit  folgenden  Worten: 
„Die  Aufgabe  des  Mannes  ist,  zu  zeugen,  die  des  Weibes,  zu  gebären  und 
das  Kind  zu  pflegen.  Die  männliche  Thätigkeit  ist  sehr  rasch  erledigt,  die 
weibliche  füllt  einen  grofsen  Theil  des  Lebens  aus.  Es  ist  daher  nicht 
erstaunlich,  wenn  auch  im  geistigen  Sinne  das  Geschlechtliche  den  Kern 
und  das  Wesen  des  weiblichen  Lebens  bildet,  während  es  für  das  Bewufst- 
sein  des  Mannes  eine  Episode  ist."  Ohne  Mann  keinen  Fortschritt,  sondern 
allgemeine  Stagnation.  In  dem  zweiten  Aufsatze  wird  die  geistige  In- 
feriorität des  Weibes  im  Vergleich  zum  Manne  noch  schärfer  zum  Ausdruck 
gebracht.  Er  hebt  darin  weiter  hervor,  dafs  die  dem  Weibe  karger  zu- 
bemessenen Geistesgaben  viel  schneller  abblassen  als  beim  Manne.  Der 
Schwachsinn  des  Weibes  ist  nicht  nur  ein  physiologisches  Factum,  sondern 
auch  ein  physiologisches  Postulat.  Daher  weg  mit  dem  Intellectualismus 
des  Weibes.  Auf  die  Nachschrift,  in  der  er  sich  mit  seinen  Kritikern  aus- 
einandersetzt, sei  besonders  hingewiesen;  hier  genüge  nur,  die  eine  Be- 
merkung mitzutheilen,  dafs  noch  Niemand  den  Muth  gefunden  habe,  ihm 
öffentlich  zuzustimmen.  — 

In  einem  letzten  Aufsatze,  betitelt  „Ueber  Mäfsigkeit  und  Enthaltsam- 
keit" sucht  er  die  Gegensätze  auszugleichen,  die  zwischen  den  zwei 
Kichtungen  der  directen  Bekämpfung  des  Alkoholismus,  den  Mäfsigen  und 
den  Enthaltsamen,  bestehen,  und  den  Nachweis  zu  erbringen,  dafs  ange- 
sichts der  Uebereinstimmung  beider  Parteien  über  die  Schädlichkeit  und 


108  LiteraturberichL 

Nutzlosigkeit  des  Alkohols  eine  Einigung  in  diesem  höchst  onnöthigen 
Streite  wohl  zu  erzielen  sei.  Es  komme  vor  Allem  mehr  auf  die  Energie 
als  auf  die  letzte  Ahsicht  des  Handelns  an,  mehr  auf  das  positive  Thnn 
des  einzelnen  Streiters  als  auf  sein  Verhalten.  Verf.  theilt  auch  seine 
Antwort  auf  die  ihm  darauf  gewordenen  Entgegnungen  mit.  Er  betont 
darin,  dafs  die  Nutzlosigkeit  der  Mäfsigkeit  bisher  noch  nicht  erwiesen  so, 
und  beweist,  warum  davon  keine  Rede  sein  kann,  dafs  es  ebensowenig 
sicher  gestellt  sei,  dafs  die  Mäfsigen  die  Verführer  abgäben,  dafs  viel- 
mehr die  Trinksitten  und  die  Unwissenheit  des  Volkes  in  erster  Linie 
schuld  sind  an  der  weiten  und  weiteren  Verbreitung  der  Trunksucht. 

Ernst  Schültze  (Andernach). 


J.  Orchansky.    La  micanisme  des  pbinomines  nerveaz.    Bösum^  et  conclosionB 

g^n^rales  (Ouvrage  publik  par  l'Acad.  des  Sciences  de  St.  Petersbonrg). 

Ä7i7ialen  dei'  Univ.  Charkow.  38  S.  1898. 
Verf.  versucht  eine  allgemeine  chemisch-physikalischbiologische  Theorie 
der  Erregungsvorgänge  im  Nervensystem  zu  construiren.  Als  vielleicht 
erwähnenswerth  und  charakteristisch  führe  ich  folgende  Einzelsätze  dieser 
Theorie  an.  Verf.  nimmt  neben  den  chemischen  Processen  physikalische 
(ondes,  vibrations)  an.  Die  Höhe  der  Erregbarkeitsschwelle  soll  dem 
Durchmesser  der  gereizten  Nervenfasern  umgekehrt  proportional  sein.  Das 
Gedächtnifs  bezw.  die  Uebung  und  Association  beruht  auf  der  Verlängernng 
(und  damit  Verschmälerung)  der  Endverästigungen  der  Fasern  und  Zellen 
und  auf  der  temporären  Bildung  neuer  Verästigungen.  Das  Hinzukommen 
eines  psychischen  Parallelprocesses  hängt  nicht  allein  von  der  In- 
tensität des  Reizes  (Höhe  der  Eeizschwelle),  sondern  namentlich  anch 
von  den  zeitlichen  Verhältnissen  und  der  speciellen  Form  der  Er 
regungswelle  ab.  Bewufst  wird  der  Procefs  dann,  wenn  alle  Erregung»- 
wellen  zu  einem  Ganzen  vereinigt  werden,  und  die  neue  Erregungswelle 
mit  allen  alten  verbunden  wird ;  deshalb  ist  das  BewuTstsein  vor  Allem  an 
eine  gewisse  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erregung  in  den  Centren 
geknüpft  u.  s.  f. 

In  einem  Anhang  versucht  Verf.  eine  mathematische  Ableitung  der 
Beziehungen  zwischen  Reiz,  Erregung  und  Empfindung  zu  geben.  D& 
Hauptfehler  der  Ableitung  liegt  in  der  Escamotage  des  Functionszeichens 
(S.  29  unten).  Ziehen  (Utrecht). 

R.  Müller,    üeber  Mosso's  Ergographen  mit  Rficksicht  anf  seiie  pljikH 
logischen  and  psychologischen  Anwendungen.    WundVs  Philos.  Studien  \1 

(1),  1—29.    1901. 

In  dieser  werthvollen  und  sehr  interessanten  Studie  unterwirft  der 
Verf.  auf  Grund  von  Beobachtungen,  die  in  Wundt's  Institut  ausge- 
führt wurden,  die  Leistungsfähigkeit  des  Mosso'schen  Ergographen  einer 
eingehenden  Kritik.  Er  fügt  seiner  Darstellung  hinzu,  dafs  die  Ve^an^ 
wortlichkeit  für  ihren  polemischen  Inhalt  ausschliefslich  auf  ihn  allein  falle. 

Der  Verf.  sucht  zunächst  zu  zeigen,  „dafs  nicht  ein  Muskel  oder  eine 
kleine  scharf  bestimmte  Muskelgruppe  bei  der  Entstehung  des  Ergogramms 


Literaturbericht.  109 

thätig  sind,  sondern  eine  ganze  Anzahl  von  Muskeln"  und  ^dafs  Mosso's 
Annahmen  über  die  physiologischen  Vorgänge  bei  der  Fingerbeugung  und 
-steckung  theils  unzulänglich,  theils  falsch  sind**.  „Demjenigen,  der  zum 
ersten  Male  ohne  genügende  Vorsicht  und  Vorkenntnisse  an  die  Be- 
nutzung des  Ergographen  herantritt,  könnte  es  scheinen,  ....  als  ob  das 
Werth volle  der  Versuchstechnik  mit  dem  Ergographen  darin  bestehe,  dafs 
die  Isolirung  der  langen  Fingerbeuger  durchgeführt  sei,  dafs  also  die  Ver- 
hältnisse in  der  Weise  vereinfacht  seien,  wie  wenn  man  an  einem  isolirten 
Froschgastrocnemius  arbeite.    Dem  ist  aber  nicht  so.'' 

Bei  aufmerksamer  Beobachtung  des  Handrückens  während  der  Arbeit 
mit  dem  Ergographen  wurden  Bewegungen  in  den  Interstitien  der  Meta- 
carpalknochen  bemerkt,  die  der  Verf.  auf  eine  Betheiligung  der  Interossei 
zurückführt.  Er  erinnert  an  die  bekannten  Arbeiten  von  DucheniiE  (Physio- 
logie der  Bewegungen,  übersetzt  von  C.  Webnicke  1885)  und  führt  aus,  dafs 
die  Extens.  dig.  und  die  langen  Fingerbeuger  wohl  nicht  alle  Phalangen 
gleichmäfsig  bewegen,  ja  gewisse  Phalangen  sich  der  Thätigkeit  dieser 
Muskeln  ganz  entziehen  und  dafs  gerade  auf  die  Wirkung  der  anderen 
eingreifenden  Muskeln  die  gröfste  Bedeutung  zu  legen  sei.  ,,Dabei  handelt 
es  sich  nicht  nur  um  die  Betheiligung  eigentlicher  Beuger,  sondern  auch 
um  synergistische  und  wohl  auch  antagonistische  Bewegungsvorgänge.*' 
Es  wird  ferner  gezeigt,  dafs  bei  jeder  Volarflexion  der  Grundphalange 
des  belasteten  Mittelfingers  auch  die  Extensoren  und  Flexoren  der 
Handwurzel  ,,mit  immer  wachsenden  Beträgen'*  mitwirken  und  dafs  sich 
dieselben  Verhältnisse  bei  der  Streckung  wiederholen,  ,. indem  die  Beuge- 
muskeln der  Hand  gegen  den  Vorderarm  bei  der  willkürlichen  Contraction 
des  Extensor  communis  und  der  Extensores  digitor.  propra  eine  syn- 
ergistische Function  zu  erfüllen  haben,  die  derjenigen  vollkommen  ent- 
spricht, welche  die  Streckmuskeln  der  Hand  gegen  den  Vorderarm  bei  der 
willkürlichen  Contraction  des  Flexor  digitorum  comm.  sublimis  und  pro- 
fundus zu  leisten  haben  (Duchenne)."  Der  Verf.  sucht  dann  weiter  die 
Function  der  beiden  langen  Fingerbeuger  festzustellen  und  gelangt  zu  dem 
Ergebnifs:  „Die  Interossei  wirken  nicht  nur  nebensächlich 
mit,  sondern  sie  sind  beinahe  die  wichtigsten  Muskeln  für 
die  Entstehung  des  Ergogramms",  und  er  fügt  hinzu,  dafs  auch 
durch  eine  nähere  Untersuchung  der  Sehnen  Verhältnisse  die  Behauptung 
einer  physiologischen  Isolirung  der  langen  Fingerbeuger  hinfällig  werde. 

Die  bei  fortschreitender  Ermüdung  angestellten  Beobachtungen  ergaben 
dann  weiter,  dafs  auch  die  langen  Daumenmuskeln,  der  Brachial is  internus, 
die  Tricepsgruppe  und  der  Biceps  bei  der  Bewegung  mitwirkten,  ja  dafs 
die  ganze  Schultermuskulatur  bis  zum  Omohyideus  daran  betheiligt  sein 
kann  und  dafs  bei  hohen  Belastungen,  die  mit  Anstrengung  ausgeführt 
werden  müssen,  sogar  Bewegungen  in  den  Wirbelgelenken  stattfinden. 
y.Das  Ergogramm  ist  also  kurz  gesagt,  die  Resultante  einer 
Beihe  sich  superponirender  Wirkungen  verschiedener 
Muskelgruppen,  die  in  ganz  verschiedener  Weise  ermüdet 
werden."*  Diese  Thatsache,  dafs  der  Ermüdungszustand  der  einzelnen 
mitwirkenden  Muskeln   bei  Aufnahme   eines  Ergogramms   ein   ungleicher 


HO  Literaturbericht 

sein  mufs,  klar  erkannt  und  gezeigt  zu  haben,  ist  ein  nicht  geringes  Ver- 
dienst des  Verf. 's. 

Die  Verwendbarkeit  des  Apparates  in  der  experimentellen  Schal- 
psychologie wird  vom  Verf.  —  und  zwar  mit  vollem  Kecht  —  verworfen. 
Der  Ergograph  ist  zur  Gewinnung  von  Ermüdungscurven  nach  Mclub 
immerhin  brauchbar,  aber  die  Deutung  der  Curven  kann  in  zuverlässiger 
Weise  nur  von  Jemand  unternommen  werden,  dem  die  genauere  Anatomie 
und  die  Mechanik  des  Bewegungsapparates  hinreichend  bekannt  sind. 

Interessant  sind  die  Faradisirungsversuche  des  Verf. 's.  Mosso  hatte 
geschrieben :  „L'excitation  ^lectrique  t^tanisante  du  nerf,  continude  jasqa' 
a  r^puisement  de  la  force  du  muscle,  laisse  encore  chez  celui-ci  un  reste 
d'^nergie,  qui  peut  ötre  utilis^e  par  la  volonte,  et  vice  versa,  la  volonte 
laisse  un  reste  de  force  qui  peut  6tre  utilis^e  et  mise  en  action  par  T^lectri- 
cit^."  Dagegen  zeigt  Müller,  dafs  in  beiden  Fällen  verschiedene  Moskeh 
ermüdet  werden,  indem  die  bei  willkürlicher  Contraction  in  Wirksamkeit 
tretenden  Interossei  bei  der  Faradisirung  vom  Medianus  aus  (wie  im  Mosso- 
sehen  Fall)  unbetheiligt  bleiben.  Durch  gleichzeitige  Ermüdung  der  langen 
Fingerbeuger  und  der  Interossei  durch  den  faradischen  Strom  erhielt  der 
Verf.  Curvenbilder,  die  von  den  Mosso'schen  abwichen.  Verf.  glaubt,  dafii 
hierdurch  auch  die  Mosso'sche  Folgerung  widerlegt  werde:  „D'apres  ce§ 
recherches  la  fatigue  centrale  ou  nerveuse  apparait  avec  ^vidence.  Noni 
voyons  en  effet,  que  durant  le  repos  de  la  volonte  la  fonction  des  mou?e- 
ments  volontaires  s*am^liore;  et  l'am^lioration  ne  peut  6tre  p^riphöriqne 
parce  que  nous  ne  laissons  pas  au  muscle  le  temps  de  se  reposer."* 

Durch  ein  näheres  Eingehen  auf  die  muskelphysiologischen  Arbeiten 
von  Mosso,  Wedenski,  Maschek,  Bowditch,  Funke,  Marey,  Rollstt,  Wüsdt, 
Volkmann,  Maooiora,  Kronecker,  Hermann,  Tiegel,  Rossbacu  und  Hartkack 
sucht  der  Verf.  weiter  zu  zeigen,  wie  complicirt  diese  Verhältnisse  sind 
und  welche  Factoren  hier  vor  Allem  mitwirken  und  in  Betracht  in 
ziehen  sind. 

In  einem  zweiten  Theile  der  Arbeit  sucht  der  Verf.  dann  auf 
einige  vorwiegend  psychologische  Gesichtspunkte  hinzuweisen,  die  für  die 
Beurtheilung  des  Ergogramms  von  Bedeutung  sind,  hebt  aber  hervor,  dafe 
diese  Ausführungen  nicht  erschöpfend  sein  können  (—  es  sind  die  letiten 
fünf  Seiten  der  Arbeit  — ),  sondern  dafs  in  denselben  nur  auf  das  für  die 
Kritik  des  Ergogramms  Wichtige  aufmerksam  gemacht  werden  soll.  Es 
wird  des  Weiteren  daneben  ausdrücklich  betont,  dafs  an  der  in  dieser  Be- 
ziehung in  der  Psychologie  eingetretenen  Begriffsverwirrung  Mosso  nnbe- 
theiligt  und  völlig  schuldlos  ist. 

Diese  Ausführungen  lassen  sich  kurz  vielleicht  folgendermalaen 
wiedergeben:  Es  sind  vorläufig  alle  jene  Theorien  zu  verwerfen,  welche 
zwischen  der  centralen  Ermüdung  und  der  im  Ergogramm  zum  Ausdmck 
kommenden  peripheren  irgendwelche  Kelation  herzustellen  suchen.  Ve^ 
wendbar  ist  der  Ergograph  zur  Zeit  allenfalls  „nur  für  die  Muskelphysio- 
logie,  zum  Studium  der  Muskelermüdung  und  der  diese  beeinflussenden 
Factoren.  Dabei  sind  wieder  die  allgemeinen  Stoffwechselverh&ltnisse  dee 
Muskels  ebenso  zu  berücksichtigen,  wie  die  besonderen  in  den  Versuchen 
zu  variirenden  Factoren  der  Belastung,  des  Tempos  u.  a.  m."    Nicht  unbe- 


Literaturbericht  111 

achtet  bleiben  darf  das  Eingreifen  subjectiver  Vorgänge,  wie  Ermüdungs- 
empfindungen und  die  rhythmische  Betonung  und  Gruppirung  der  das 
Arbeitstempo  markirenden  Sinnesreize.  Die  subjectiven  und  die  physio- 
logischen Ermüdungserscheinungen  stehen  zwar  in  enger  Beziehung  mit 
einander,  aber  sie  sind  keinesfalls  zu  identificiren.  Als  rein  psychologische 
Fragestellungen  bleiben  die  folgenden  bestehen:  „1.  Wie  verhalten  sich 
die  Ermüdungsempfindungen  bei  der  Muskelermüdung  zu  andersartigen  Er- 
müdungsvorgängen (etwa  der  Ermüdung  durch  intellectuelle  Thätigkeit)? 
nnd  2.  wie  verhält  sich  der  als  Anstrengung  bezeichnete  Complex  von 
Empfindungs-  und  Willensvorgängen  (?)  zu  den  Gomponenten  in  den  Er- 
müdungsempfindungen, sind  diese  selbst  verstärkte  Innervationsempfin- 
dungen  (?)  oder  von  der  Peripherie  aus  bedingt?^'  „Mit  dieser  zweiten 
Frage  ist  dann  unmittelbar  die  verknüpft,  ob  die  Ermüdungsempfindungen 
eine  Veränderung  von  Bewegungsempfindungen  erhalten.*' 

Es  ist  wohl  das  erste  Mal,  dafs  die  Analyse  des  Ergogramms  und  der 
dasselbe  bedingenden  Verhältnisse  in  so  klarer  und  überzeugender  Weise 
durchgeführt  wurde.  Ohne  die  Verdienste  des  Erfinders  des  Ergographen 
in  irgend  einer  Weise  vermindern  zu  wollen,  wird  man  diese  Arbeit  Robert 
Müller's  nur  mit  Dank  und  Genugthuung  lesen  können.  Es  mag  mir 
erlaubt  sein,  schon  hier  auf  eine  demnächst  erscheinende  umfangreiche  ergo- 
graphische  Arbeit  aufmerkam  zu  machen,  die  von  meinem  Ck)llegen  Z.  Treves 
ausgeführt  wurde,  dessen  Anschauungen  und  Ergebnisse  sich  mannigfach 
mit  denen  des  Verf.*s  berühren.  Kiesow  (Turin). 

A.  BiNET.    Hoovelles  recbercbes  sar  la  consommation  da  paln,  dans  ses  rapporta 
avec  le  travail  intellectoel.    Annee  paychologique  6,  1—73.    1900. 

Im  vierten  Jahrgang  der  Ann^e  psychologique  hatte  Binet  eine  Statistik 
des  Brotconsums  in  einigen  Lehrerseminaren  gegeben,  aus  welcher  sich, 
wie  er  meinte,  eine  Abhängigkeit  dieses  Consums  von  der  Intensität  der 
geistigen  Leistungen  ergab:  in  den  Monaten  angestrengter  Examensarbeit 
war  der  Consum  ein  geringerer.  Da  eingewandt  wurde,  dafs  hier  andere 
Factoren  mit  von  Einflufs  gewesen  sein  könnten,  so  nimmt  Binet  dies 
Mal  die  Untersuchung,  auf  einer  viel  specialisirteren  statistischen  Grund- 
lage auf  und  sucht  sämmtliche  Factoren,  die  Einflufs  auf  den  Brotconsum 
haben  könnten,  gesondert  zu  bestimmen. 

Das  Material  wurde  geliefert  von  einem  Pariser  Seminar  mit  etwa  120 
Schülern,  in  welchem  ein  Jahr  hindurch  Tag  für  Tag  einerseits  das  Gewicht 
des  consumirten  Brotes,  andererseits  Temperatur,  Barometerdruck,  Speise- 
zettel und  besondere  physische  oder  psychische  Leistungen  der  Schüler 
(wie  Spaziergänge  und  Examensarbeiten)  registrirt  wurde.  Die  Tabellen 
füllen  allein  20  Seiten  der  Arbeit.  Verwerthet  sind  die  Zahlen  von  Januar 
bis  Juli. 

Die  Ergebnisse  stehen  in  keinem  Verhältnifs  zur  angewandten  Mühe. 
Das  Hauptresultat  ist  eine  starke  Abnahme  des  Consums  vom  Winter  zum 
Sommer  hin.  Anfang  Februar  werden  pro  Tag  und  Kopf  800  g,  Anfang 
Juli  700  verzehrt.  Der  letztere  Termin  bezeichnet  in  dem  Seminar  die 
Prüfungen;  so  dafs  in  der  That  der  starken  Steigerung  der  intellectuellen 
Arbeit  zum  Sommer  hin  eine  Abnahme  des  Brotverbrauchs  parallel  läuft. 


1 12  lAteratmrberiekt 

Dennoch  M,  wie  B.  mit  Becht  herrorhebt,  ein  caosmler  Zuaunmenhing 
zwischen  beiden  Momenten  noch  nicht  erwiesen :  denn  Ton  Jannsr  bis  JdU 
ändert  sich  noch  ein  anderer  sehr  wichtiger  Factor:  die  Tempeimtnr,  ond 
data  aie  anf  den  Brotconanm  Kinflofa  hat,  geht  aas  der  Statiadk  zweüelk» 
hervor.  Werden  nämlich  immer  diejenigen  Tage,  welche  gleiche  Tempentor 
hatten,  zu  einem  3Iittelwerth  vereint,  so  ergiebt  sich  eine  Tabelle,  ans  der 
nur  folgende  2^hlen  heraosgegriffen  seien :  Brotconsom  pro  Kopf  bei  0* 
794  g,  bei  W  780,  bei  20»  742,  bei  30»  650  g.  Der  reine  Einfluis  der  inteUo^- 
toellen  Arbeit  wäre  daher  nnr  aas  solchen  Tagen  an  entnehmen,  an  welchflB 
bei  gleicher  Temperatur  sehr  verschieden  intensive  geistige  LeiBtunget 
vollbracht  wurden;  hierfür  liefert  die  Statistik  nur  sehr  wenig  Miteritl, 
aas  dem  immerhin  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  au  entndimes 
ist,  dafs  stärkere  geistige  Anspannung  eine  gewisse  Abnalune  des  Brot* 
consums  zur  Folge  hat. 

Die  Versuche,  zwischen  Luftdruck  und  Brotverbrauch  eine  Bedehong 
herzustellen,  fielen  negativ  aus.  —  Der  Tagesausgang  am  Sonntag  brachte 
für  den  Abend  eine  Herabsetzung  des  Consums,  der  regelmft£sige  Donnersti^* 
Spaziergang  für  diesen  Tag  selbst  eine  Ztmahme,  für  den  Folgetag  eine 
Minderung.  —  Erwähnt  sei  noch  der  EinfluUs  starker  physischer  An* 
Htrengungen:  turnerische  Wettkämpfe,  die  sich  durch  eine  Aprilwoch« 
hindurchzogen,  vermehrten  den  Consum  an  Brot  ganz  beträchtlich,  nämlich 
um  etwa  45  g  pro  Kopf. 

Ref.  mufs  zum  Schlufs  bekennen,  dafs  er  den  Werth  dieser  seit- 
raubenden Zahlenzusammenstellungen  für  die  psychologische  Wissenschaft 
nicht  recht  einzusehen  vermag.  W.  Stebn  (Breslau). 


Tu.  Beer,  a.  Bethe  und  J.  v.  Uexküll.  Yonchlige  n  eimer  objactiflreita 
Homendatar  in  der  Physiologie  des  Henrensystems.  CcntralhL  f,  Phyml.  C, 
137—141.    1899. 

Th  Beer,  üeber  primitive  Sehorgane.  Wienei-  klinische  Wochenschrift  (11—13). 
1901. 

K.  IIe88e.    üntersnchnngen  fiber  die  Or|;ane  der  Lichtempllnduig  hei  niedsm 

Thieren.    I-TI.    Zeitschr.  f.  tdss.  Zool.  61,   S.  39^-419;  62,  S.  527-582; 
62,  8.  671-707;  63,  S.  456—464;  65,  S.  446—516:  68,  S.  379-477.  1896-1900. 

Jedes  gröfsere  Gebiet  des  Wissens  und  Könnens  bildet  natnrgem&fs 
im  Laufe  der  Zeit  seine  eigene  Nomenclatur  heraus ;  sie  entspringt,  je  mehr 
sich  neue  Begriffe  häufen,  je  mehr  alte  erweitert  oder  eingeschränkt  werden, 
ganz  von  selbst  aus  dem  unabweisbaren  Bedürfnifs  nach  präciser,  jedes 
Mifsverständnifs  nach  Möglichkeit  ausschliefsender  Ausdrucksweise.  Es 
niufs  daher  als  durchaus  berechtigt  angesehen  werden,  wenn  auch  die 
junge  Wissenschaft  der  vergleichenden  Physiologie  des  Nervensystems  und 
der  SinneHorgane  danach  strebt,  die  alte  psychologische,  anthropomorphe 
Ausdrucksweise,  die  ihren  Zwecken  nicht  mehr  genügt,  durch  eine  nene 
^objectivirende"  Nomenclatur  zu  ersetzen. 

Beer,  Bkthe  und  üexKÜLL  haben  den  ersten  Entwurf  einer  solchen  ge- 
geben, der  zunächst  in  grofsen  Zügen  ein  Gerüstwerk  bietet,  in  das  auf 


Literaturbericht  113 

jedem  Specialgebiet  der  vergleichenden  Physiologie  die  nenen  Bezeichnungen, 
•deren  noch  eine  Menge  nöthig  sein  werden,  eingefügt  werden  können. 

Die  neue  Nomenclatur  trennt  in  der  Bezeichnung: 

1.  Den   objectiven  Reiz,   2.  den   physiologischen  Vorgang   und  3.  die 
(eventuelle)  Empfindung. 

Die  vergleichende  Physiologie  hat  sich,  nach  Anschauung  der  Autoren, 
t  nur  mit  dem  physiologischen  Geschehen  vom  Auftreten  des  Beizes  bis  zur 
Vollendung  der  eventuellen  Beaction  zu  befassen.  Für  den  objectiven  Beiz 
bestehen  zum  Theil  schon  unzweideutige  Bezeichnungen,  für  doppelsinnige 
«■  wie  „Licht"  oder  „Schall"  andere  einzuführen,  erscheint,  solange  die  Physik 
eich  ihrer  bedient,  nicht  noth wendig.  Jede  Möglichkeit  einer  subjectiven 
Deutung  könnte  durch  einen  Zusatz  wie  z.  B.  objectives  Both,  oder  Both- 
wellen  ausgeschlossen  werden. 

Für  den  physiologischen  Vorgang  sind  neue  Ausdrücke  erforderlich. 
Die  „Beizbeantwortungen"  werden  zunächst  danach  eingetheilt,  ob 
sie  durch  ein  Nervensystem  vermittelt  werden,  oder  nicht.  Diejenigen,  die 
ohne  Nervensystem  zu  Stande  kommen,  wie  alle  Beactionen  bei  einzelligen 
Organismen,  bei  Pflanzen  und  in  manchen  Organen  der  vielzelligen  Thiere, 
eollen  als  „Antitypien"  [avTirvTcla  =  Bück  Wirkung)  bezeichnet  werden, 
alle  übrigen  durch  ein  Nervensystem  vermittelten,  als  „Antikinesen" 
{dmxitnjaie  =>  Bückbewegung).  Die  Antikinesen  kehren  entweder  stets  in 
der  gleichen  Weise  wieder,  dann  werden  sie  Beflexe  genannt,  oder  sie 
sind  modificirbar,  dann  heifsen  sie  „Antiklisen".  Der  Aufnahme  der 
Reize,  der  „Beception",  dienen  „Beceptionsorgane"  oder  „Beceptoren".  Die 
Verff.  unterscheiden  „anelective  Beceptionsorgane",  bei  denen  eine 
Reizauswahl  nicht  zu  constatiren  ist,  von  „electiven  Beceptions- 
organe n",  d.  h.  solchen,  bei  denen  von  den  sie  treffenden  Beizen  nur 
eine  bestimmte  Art  im  Stande  ist,  Zustandsänderungen  hervorzurufen. 
Die  Election  kann  entweder  durch  die  Lage  des  Organs  bewirkt  werden, 
die  unter  normalen  Bedingungen  nur  einer  bestimmten  Gruppe  von  Beizen 
den  Zutritt  zu  dem  Organ  gestattet,  dann  spricht  man  von  „topoelec- 
tiven"  Beceptoren,  oder  es  handelt  sich  um  „transformatorisch- 
elective"  Beceptoren,  um  „Umwandlungsorgane",  bei  denen  Beize, 
die  an  sich  für  den  Nerven  unwirksam  sind,  z.  B.  Licht,  Anziehungskraft 
der  Erde  u.  s.  w.,  in  wirksame  Beize  umgewandelt  werden.  Solcher  Üm- 
wandlungsorgane  zählen  die  Verff.  7  Gruppen  auf,  die  im  Original  nach- 
gelesen werden  mögen,  hier  soll  nur  eine  derselben  näher  besprochen 
werden,  für  die  eine  detaillirte  Ausgestaltung  der  Nomenclatur  von  Th.  Bkbb 
vorliegt:  Die  Photo-Beceptionsorgane,  Photoreceptoren  oder  Pho- 
toren, Sehorgane  d.  h.  die  Organe,  bei  denen  Lichtwellen  in  wirksamen 
Reiz  umgestaltet  werden.  Ihre  Function  wird  Photorecipiren  genannt. 
Ks  giebt  zunächst  zwei  grofse  Gruppen  solcher  Organe,  die  Beer  als 
..Photirorgane"  und  „Idirorgane"  unterscheidet.  Die  Photirorgane 
Bind  blos  geeignet,  quantitative  Verschiedenheiten  der  Belichtung  (und 
Beschattung,  wie  selbstverständlich  stets  zu  ergänzen  ist)  zu  signalisiren 
—  eventuell  also  auch  Bewegungen  und  Bewegungsrichtungen  —  wie  etwa 
unser  Auge  bei  geschlossenen  Lidern  (Motoperception,  Motophotiren).    Die 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  ^ 


114  Literaturbericht 

recipirenden  Elemente  heif8en„Photirzellen",  ihre  Function  „photiren", 
der  Spielraum  ihrer  Function  „Photirfeld."  Die  Idirorgane  sind  g^ 
eignet,  ein  Bild  der  Aufsenwelt  zu  entwerfen.  Je  nach  dem  Princip  ihres 
Baues  sind  (zusammengesetzte,  facettirte)  Comp  lex-  und  (einfache) 
Oameraaugenzu  unterscheiden.  Ihre  Function  heifst  „i d  i r e n",  eventuell 
„sehen",  die  Gesammtheit  der  photorecipirenden  Elemente  Betina,  der 
Einzeltheil  der  convexen  Complexaugen  „Omma",  die  einfachen  Augen 
der  Insecten  „Simpelaugen".  Nervi  optici  sind  die  aus  den  Photoren 
hervorgehenden  Nerven,  welche  die  vom  Lichtreize  hervorgerufene  Er- 
regung dem  Nervensystem  zuleiten. 

Drei  „hohle  Vorurtheile"  sind  es  nach  Beeb's  Ausführungen,  die  dem 
Fortschritt  der  Erkenntnifs  vom  Bau  und  den  Leistungen  primitiver  Seh- 
organe hemmend  im  Wege  standen. 

I.  „Der  physiologische  Irrthum,  dafs  mehr  oder  minder  dunkles 
Pigment  —  wie  man  es  vom  Innern  des  Wirbelthierauges  her  gewohnt 
war  —  ihr  wesentlichster  Bestandtheil  sei  und  speciell  den  Umsatz  von 
Lichtreizen  in  Nervenerregung  („die  eigentliche  Lichtempfindnng")  ver- 
mittle." „Die  einleuchtende  Thatsache,  dafs  Albinos  doch  nicht  blind  sind, 
hätte  immer  laut  dagegen  sprechen  müssen."  Pigment  tritt  zwar  sehr  oft 
in  Verbindung  mit  primitiven  Photoren  auf,  aber  bei  ganzen  Ordnungen 
von  Thieren  kommen  auch  völlig  pigmentlose  Photoren  vor  (z.  B.  Lumbri* 
ciden,  Hirudineen,  Salpen). 

IL  „Der  physikalische  Irrthum,  dafs  brechende  Medien  („Cornea*', 
„Linsen",  „Krystall",  „Glaskörper"  etc.)  wesentliche  Bestandtheile  eines 
Belichtungsänderungen  signalisirenden  Apparates  seien."  In  der  näheren 
Erörterung  dieser  These,  in  der  der  Nachweis  erbracht  wird,  dafs  gerade 
die  Licht  recipirenden  Elemente,  die  Photirzellen,  früher  als  „Linsen" 
angesprochen  wurden,  entrollt  der  Verf.  ein  überaus  ergötzliches  Bild  der 
massenhaften  Irrthümer,  die  eine  einseitig  morphologische  Behandlung  der 
primitiven  Sehorgane  mit  sich  brachte,  in  Verbindung  mit  dem  anthropo- 
morphen  Bestreben,  die  Theile  des  Wirbelthierauges  auch  in  den  ein- 
fachsten Photoren  nach  Möglichkeit  wiederzufinden.  Wer  von  „Augen''  er- 
fahren will,  die  nur  aus  „Linse  und  Chorioidea"  bestehen,  oder  von  solchen 
mit  „mehreren  Linsen"  (NB. !  einzelligen  Linsen  von  ganz  unregelmälsiger 
Form  I)  oder  gar  von  solchen,  bei  denen  „Retinazellen"  oder  ein  „Ganglion 
optivum"  vor  der  Linse  liegen  sollten,  der  mag  das  Original  durchsehen, 
in  dem  reichliches  Material  dieser  Art  zusammengetragen  ist.  Auf  den 
Beweis  näher  einzugehen,  dafs  durch  primitive  Photoren  keine  Formen 
„gesehen"  werden,  dafs  vielmehr  nur  durch  Belichtung  und  Beschattung 
Reactionen  ausgelöst  werden,  die  gröfste  Aehnlichkeit  mit  den  Photo- 
tropien  nervenloser  Organismen,  z.  B.  der  Pflanzen  haben,  würde  hier  w 
weit  führen. 

Der  III.  Irrthum,  der  grofsen  Schaden  in  der  Lehre  von  den  primitiven 
Photoren  angerichtet  hat,  ist  „der  speculative  Fehler  —  ein  solcher 
mindestens  im  heuristischen  Sinne  —  dafs  der  Umsatz  von  Lichtreizen  in 
Nervenerregung  sehr  oft  nicht  durch  specifische  Sehorgane  geleistet  werde, 
sondern  auch  durch  im  Uebrigen  Anderes  (Getast,  Geruch  etc.)  leistende 


Literaturbericht  115 

Apparate,  etwa  durch  die  ganze  (*dermatoptische«)  Haut,  durch   »Ueber- 
gangs-«  oder  »Wechselsinnesorgane«  u.  dgl.  bewerkstelligt  werden  könne.** 
„Geht  man  den  Veranlassungen  zu  solchen  Annahmen  auf  den  Grund, 
so  ergeben  sich  ihrer  vorwiegend  drei: 

1.  „Das  Dogma,  dafs  *bei  den  niedersten  Thierformen  die  ganze 
Körperfläche  allen  Sinnesreizen  Einwirkung  auf  die  Empfindungsnerven 
gestattet«  (Ranke),  eine  Anschauung,  die  nicht  einmal  für  den  Protisten- 
körper  völlig  gültig  ist;  kennen  wir  doch  z.  B.  bei  Euglena  einen 
distincten  Bezirk  stärkster  Lichtreizbarkeit  „Auch  die  Hegen  wurmhaut 
hat  einmal  als  Universalsinnesorgan  gegolten,  und  doch  kennt  man  jetzt 
gesonderte  Tango-,  Chemo-  und  Photoreceptoren." 

2.  „Die  Annahme,  dafs  relativ  rasche  Reizbeantwortungen  nur  durch 
Sinnesorgane  und  Nervensystem  vermittelt,  also  blos  als  Reflexe 
( —  nicht  auch  als  Antitypien  — )  aufgefafst  werden  können."  Demgegenüber 
bleibt  die  Annahme  directer  Lichtmuskelreizbarkeit  immer  noch  als  wahr- 
scheinlichere Erklärung  für  viele  Fälle,  besonders  seit  in  neuerer  Zeit 
Steinach  nicht  nur  für  die  Muskulatur  der  Iris  bei  Amphibien  und 
Fischen,  sondern  auch  für  die  Cephalopoden-Chromatophoren- 
Muskeln  solche  directe  Reizbarkeit  nachgewiesen  hat.  Auch  die  Mög- 
lichkeit liegt  vor,  dafs  specifische  Sinnesorgane  vorhanden,  zur  Zeit  aber 
noch  nicht  aufgefunden  sind;  sollten  aber  solche  auch  nicht  gefunden 
werden,  so  liegt  es  zur  Erklärung  rascher  Reizbeantwortungen  immer  noch 
näher,  an  Reizbeantwortung  ohne  Vermittelung  des  Nervensystems,  an 
Phot-Antitypien  zu  denken,  als  an  „Wechselsinnesorgane". 

3.  „Das  Vorurtheil,  dafs  in  allen  Fällen,  wo  bis  jetzt  keine  »Augen« 
bekannt  oder  die  bekannten  entfernt  worden  sind  und  doch  Lichtreactionen 
zu  beobachten  waren,  auch  in  Zukunft  »keine  specifischen  Organe  des 
Lichtsinnes«  gefunden  werden  könnten."  Die  Consequeuzen,  die  aus  dem 
Fehlen  solcher  Organe  zu  ziehen  sind,  wurden  schon  oben  berührt,  höchst- 
wahrscheinlich aber  kommen  bei  niederen  Thieren  „anelective"  Sinnes- 
organe vor,  d.  h.  Sinnesorgane,  bei  denen  keine  Reizauswahl  stattfindet. 
Solche  Sinnesorgane  wären  dann  das  directe  Gegentheil  der  „Wechsel- 
sinnesorgane". Während  diese  im  Stande  sein  sollten,  durch  dieselbe  Zelle 
qualitativ  verschiedene  „Sinnes"eindrücke  aufzunehmen,  besteht  das  Wesen 
der  anelectiven  Sinnesorgane  darin,  dafs  sie,  was  für  Reize  sie  auch  treffen 
mögen,  stets  in  der  gleichen  Weise  reagiren. 

Seinen  entschiedenen  Kajupf  gegen  die  Annahme  der  „Wechsel- 
sinnesorgane" schliefst  Beer  mit  folgender  Zusammenfassung:  „Der 
Haut  als  solcher  ist  vorläufig  keine  Photoreception  zuzuschreiben,  wie  so 
lange  geschah,  weil  in  der  Haut  mancher  Thiere  Photoreceptoren  liegen, 
und  weil  solche  und  auch  andere  Thiere  Phototropien  oder  Phot-Antitypien 
aufweisen,  oder  weil  in  der  Haut  Aenderungen  der  Pigmentirung,  thera- 
peutische Wirkungen  etc.  durch  Lichteinflufs  beobachtet  werden;  es  wäre 
höchste  Zeit,  dafs  die  „Dermatoptik"  („Vision  dermatoptique ,  photo- 
dermatique,  Somatoptik"  etc.)  begraben  würde  und  definitiv  aus  der  Literatur 
verschwände." 

Als   Beispiele   zu   diesen   theoretischen  Ausführungen   mögen   einige 


O-k 


116  Literaturbericht 

Mittheilungen  aus  den  umfangreichen  Arbeiten  R.  Hesse's  gemacht  werden, 
denen  wir  eine  sehr  bedeutende  Erweiterung  und  Vertiefung  unserer 
Kenntnisse  vom  Baue  primitiver  Sehorgane  verdanken.  Die  Anwendung 
der  neuen  Nomenclatur  auf  die  von  Hesse  beschriebenen  Befunde  scheint 
umsomehr  berechtigt,  als,  wie  Beer  mittheilt,  der  Verf.  selbst  sich  mit 
derselben  einverstanden  erklärt  hat. 

Die  Photirorgane  der  Plattwürmer:  Es  sind  nach  Bm'i 
Ausdruck  fast  alles  „invertirte  Pigmentbecherocellen'*.  Ali 
O  c  e  1 1  e  n  bezeichnet  er  pigmentumgebene  Photirzellen  oder  PhotineU- 
gruppen.  Eine  Anordnung,  bei  der  das  Licht  erst  die  Photirzelle  und  diu 
den  Nerv  trifft,  heifst  vertirt,  trifft  das  Licht  zuerst  die  Opticusfasem 
und  dann  die  Photirzellen,  so  ist  die  Anordnung  invertirt. 

Den  wichtigsten  und  allein  unentbehrlichen  Bestandtheil  der  Ocellei 
bilden  natürlich  die  Photirzellen.  Bei  fast  allen  Platt  Würmern  sind 
diese  Zellen  durch  einen  Saum  von  protoplasmatischen  Stiftchen  ausge- 
zeichnet, die  dem  Licht  abgewandt  sind.  In  dem  Stiftchensaum  iit 
der  recipirende  Apparat  der  Photoren  zu  sehen.  Das  ganze  Plasma  seigt 
fibrillären  Bau  und  diese  Photirfibrillen,  die  je  mit  einem  Photii- 
stiftchen  in  Verbindung  stehen,  bilden  durch  ihren  Zusammentritt  da 
optischen  Nerv.  Den  zweiten  Bestandtheil  des  Ocells  bildet  der  Pigment- 
becher, der  die  Photirzellen  kappenförmig  umfaTst,  so  dafs  das  lidit 
dieselben  nur  von  einer  Seite  aus  treffen  kann.  Im  einfachsten  Falle  be- 
steht der  Pigmentbecher  nur  aus  einer  einzigen  Zelle,  und  enthält  nur  eine 
Photirzelle  (Tristomum  molae).  Die  Entwickelung  der  Photoren  inne^ 
halb  des  Stammes  geht  zwei  Wege,  die  aber  beide  darauf  abzielen,  die  An- 
zahl der  Photirstiftchen  im  Ocell  zu  vermehren.  Der  erste  Weg,  auf  dem 
keine  Formenmannigfaltigkeit  erreicht  ist,  ist  der,  dafs  die  Stiftchen  tragende 
Seite  der  Zelle  gefaltet  und  dadurch  ihre  Oberfläche  vergröfsert  wird  (Tri- 
stomum  papillosu m).  Viel  reichere  Entwickelungsmöglichkeiten  bietet 
der  zweite  Weg:  Durch  Vermehrung  der  Photirzellen  das  Ocell  functions- 
kräftiger  zu  machen.  Eine  Vermehrung  der  Photirzellen  bei  gleichbleibender 
Dicke  würde  bald  eine  solche  Verflachung  des  Pigmentbechers  (der  andi 
mehrzellig  wird)  zur  Folge  haben,  dafs  er  nicht  mehr  genügend  das  Licht 
abblenden  könnte ;  es  tritt  daher  mit  der  Vermehrung  der  Photirzellen  in- 
gleich eine  Differenzierung  in  einen  voluminöseren  kernhaltigen  Theil,  der 
aus  dem  Pigmentbecher  heraus,  vor  denselben  verlegt  wird,  und  in  einen 
schmalen  Theil  innerhalb  des  Pigmentbechers  ein.  Diese  im  Pigmentbecb» 
gelegenen  Zelltheile  gestalten  sich  zu  Photirzellkolben,  und  tragen  d» 
Saum  der  Photirzellstiftchen,  der  entweder  nur  an  ihrem  trichter 
förmig  verbreiterten  Ende,  dem  Licht  abgewandt  liegt  (Euplanarii 
gonocephala),  oder  den  ganzen  Photirkolben  allseitig  umgiebt  (D endro- 
coelum  lacteum).  Die  Zahl  der  Zellen  innerhalb  eines  Pigmentbechers 
kann  bei  dieser  Anordnung  bis  auf  über  200  steigen.  Hesse  hat  bei  Platt- 
Würmern  keine  Photirkolben  frei  im  Körperparenchym,  ohne  Beziehung 
zu  Pigmentbechern  gefunden,  dagegen  beschreibt  Jänichen  *  solche  Befunde 


^  Jänichen,   Beiträge  zur  Kenntnifs  des  Turbellarienauges.    Zeitfchr.  (- 
wies,  Zool.  62.    1897. 


Literaturbericht.  117 

(bei  Polycelis  nigra).  Eine  wichtige  Beobachtung  machte  Hesse  an 
den  Ocellen  mehrerer  Plattwürmer,  er  fand  häufig  bei  frischen  Präparaten 
den  Saum  der  Photirstiftchen  röthlich  gefärbt.  Die  Farbe  ver- 
schwindet nach  und  nach,  besonders  lebhaft  ist  sie  bei  Polystomum 
(dem  bekannten  Parasiten  in  der  Harnblase  des  Frosches),  was  vielleicht 
mit  seinem  dunklen  Aufenthaltsorte  in  Beziehung  gebracht  werden  kann. 
£8  liegt  nahe,  in  diesem  Farbstoff  ein  Analogon  des  Sehpurpurs  der 
Wirbelthiere  zu  sehen. 

Ein  Photirorgan,  das  mit  dem  der  Plattwürmer  grofse  Aehnlichkeit 
hat,  zeigt  der  Amphioxus.  Es  liegen  bei  ihm  die  Ocelle  zu  beiden 
Seiten  und  ventral  vom  Centralcanal  des  Bückenmarks,  in  diesem  selbst. 
Sie  sind  sehr  einfach  gebaut  und  bestehen  nur  aus  je  einer  Photirzelle  mit 
Stiftchensaum,  die  von  einem  einzelligen  Pigmentbecher  kappenartig  be- 
deckt ist. 

Die  Photoren  der  Hirudineen  und  Lumbriciden.  Ein 
wesentlich  anders  gestaltetes  Element  liegt  den  sämmtlichen  Photoren  der 
Hirudineen  und  Lumbriciden,  der  Egel  und  Begenwürmer  zu 
Grunde.  Es  ist  eine  Photirzelle,  die,  meist  in  ihrem  dem  Licht  abge- 
wandten Ende,  eine  oder  mehrere  Vacuolen  enthält.  Die  Vacuolen  sind 
wohl  mit  Flüssigkeit  gefüllt  und  häufig,  doch  nicht  ausnahmslos,  von  einem 
verdichteten  Plasmasaum  umgeben.  In  der  dem  Licht  zugewandten  Seite 
der  Zelle  liegt  der  Kern,  hier  entspringt  auch  die  Nervenfaser.  Die 
Vacuolen  müssen  als  die  Vermittler  der  Photoreception  angesehen 
werden.  Ihre  Gestalt  ist  nicht  selten  äufserst  unregelmäfsig,  mit  vielen 
Ein-  und  Ausbuchtungen,  wodurch  natürlich  die  Fläche  der  Vacuolenwand 
wesentlich  vergröfsert  wird.  Bei  den  Egeln  läfst  sich  fast  Schritt  für 
Schritt  verfolgen,  in  welcher  Weise  dieser  primäre,  wichtigste  Bestundtheil 
des  Photirorganes  mit  dem  zweiten,  accessorischen  Bestandtheil,  dem  ab- 
blendenden Pigment  in  Verbindung  tritt. 

Das  primitivste  Verhalten  zeigt  Pontobdella  muricata  Lam.  Sie 
hat  die  gröfsten  Photirzellen  unter  allen  Egeln,  und  diese  liegen  im 
Körpergewebe  ohne  irgend  welche  Beziehung  zu  dem  Pigment  des  Thieres. 
Das  Licht  kann  also  die  Photirzellen  von  allen  Seiten  reizen  und  dement- 
sprechend sind  auch  die  Vacuolen  nicht,  wie  bei  den  meisten  Egeln  nur 
auf  einer  Seite  der  Zelle  vorhanden,  sondern  umgeben  den  central  gelegenen 
Kern  von  allen  Seiten. 

Ein  weiteres  Stadium  zeigt  Branchellion  torpedinis  Sav.  Hier 
ist  das  Pigment  zu  einer  Wand  angeordnet  und  die  Photirzellen  liegen  vor 
und  hinter  derselben,  die  vorderen  sind  also  vor  Belichtung  von  hinten, 
die  hinteren  vor  solcher  von  vorne  geschützt. 

Dann  sehen  wir  echte  Pigmentbecher  auftreten,  die  nur  Licht  von 
einer  bestimmten  Bichtung  zu  den  Photirzellen  gelangen  lassen.  Und 
wiederum  macht  sich  das  Bedürfnifs  geltend,  eine  möglichst  grofse  Anzahl 
Zellen  in  einem  Ocell  zu  vereinigen.  Auch  hier  ist  die  Lösung  angebahnt, 
die  sich  bei  den  P 1  a  1 1  w  ü  r  ui  o  r  n  als  so  praktisch  erwies :  die  Differenzierop«* 
der  Zellen  in  einen  schlanken  Theil,  der  den  recipirenden  Apparat  ei 
alw  hier  die  Vacuolen,  und  im  Pigmentbecher  steckt,  und  in  «5« 
nösen  Theil,   der   den   Kern   enthält   und   aufserhalb  dl 


118  Literaturbericht 

liegt.    Aber  diesen  Modus  finden  wir  nur  bei  wenigen  Formen  (Clepsine., 
die  Mehrzahl  der  Photoren  hat  eine  andere  Entwickelung  genommen:    Die 
Anordnung  der  Photirzellen  in  einer  Schicht,  die  bei  den  Plattwürmern 
durchgängig  gewahrt  blieb,   wird   aufgegeben,   und   die  Zellen   werden  in 
vielen   Schichten  innerhalb  des  tiefen  Pigmentbechers   über   einander  ge- 
lagert.   Zugleich  mit  dieser  Zunahme  der  Zahl  der  Photirzellen  vollzieht 
sich  der  UebergAng  des  invertirten  Ocells  in  ein  vertirtes.    Der 
optische  Nerv,  der  bisher  (auch  bei  allen  Plattwürmern)  von  vorne  her 
an  das  Ocell  herantrat,  durchbricht  zunächst  die  Seitenwand  des  Pigment- 
bechers  (Haementeria  officinalis)  und  tritt  endlich   beim  Blutegel 
von  hinten  an  das  Ocell  heran,  in  dessen  Axe  er  nach  vorne  zieht,  und 
sich  durch  Abgabe  der  Fasern,  die  zu  den  Photirzellen  gehen,  allmählich 
erschöpft. 

Das  meiste  Interesse  dürften  aber  die  Photoren  der  Be  gen  Würmer 
in  Anspruch  nehmen.  Da  es  eine  sicher  bekannte  Thatsache  war,  daCs  der 
Regenwurm  durch  Licht  reizbar  sei,  man  aber  keinerlei  Organe  kannte, 
denen  man  die  Function  der  Photoreception  zuschreiben  konnte,  so  nahm 
man,  wie  z.  B.  auch  noch  Nagel  thut,  hier  „Wechselsinnesorgane' 
an.  Es  war  daher  von  grofeer  Bedeutung,  als  Hesse  Zellen  auffand,  für 
die  er  den  Beweis  erbringen  konnte,  dafs  sie  Photoreceptoren  seien.  Es 
soll  hier  nicht  dieser  ganze  mit  grofser  Umsicht  geführte  Beweis  erbracht 
werden.  Nach  dem,  was  über  die  Photoren  der  Egel  vorausgeschickt 
wurde,  genügt  wohl  schon  die  eine  Thatsache  als  Beweis,  dafs  die  Photir- 
zellen des  Begenwurmes  fast  ganz  den  gleichen  Bau  zeigen,  wie  die  der 
Egel.  Sie  enthalten  eine,  häufig  sehr  unregelmäfsig  gestaltete  Vacuole 
(Hesse  bezeichnet  sie  in  seiner  ersten  Arbeit  mit  dem  indifferenten  Namen 
„Binnenkörper"),  die  von  einem  verdichteten  Plasmasaum  umgeben  ist,  nnd 
entsenden  eine  Nervenfaser.  Sehr  interessant  ist  ihre  Vertheilung  im 
Körper.  Eine  grofse  Anzahl  liegt  in  der  Epidermis,  sie  erreichen  hier  nie 
die  Cuticula,  sondern  haben  meist  nur  die  halbe  Höhe  der  Epithelzellen, 
oft  sind  sie  noch  niedriger,  dabei  aber  von  bedeutend  gröfserer  Breite,  als 
ihre  Nachbarzellen.  Am  zahlreichsten  sind  sie  in  der  Oberlippe;  in  den 
zunächst  darauf  folgenden  Segmenten  sind  sie  bei  Weitem  seltener,  am 
Schwanzende  findet  sich  wieder  eine  stärkere  Anhäufung  der  Zellen,  die 
aber  nicht  so  bedeutend  ist,  wie  an  der  Oberlippe.  Bei  einigen  Arten 
beschränken  sich  die  Zellen  nicht  auf  die  Epidermis,  sondern  sie  finden 
sich  auch  im  Innern  des  Wurmkörpers,  besonders  im  Kopflappen.  Sie 
liegen  hier  unter  anderem  auch  zahlreich  im  Schlundganglion  (Gehirn- 
ganglion).  Im  Gehirnganglion  liegen  die  Photirzellen  in  besonderer  Weise 
vertheilt.  „Wir  finden  diese  Ganglien  bei  den  Regenwürmern  zusammen- 
gesetzt aus  einem  äufseren  zelligen  Theil,  der  eine  innere  „Punktsubstanz" 
umgiebt.  In  der  äufseren  Zellhtille  liegen  unsere  Zellen,  und  zwar  ziemlich 
weit  nach  der  Oberfläche  des  Ganglions  zu."  Sie  sind  auch  hier  nicht 
gleichmäfsig  vertheilt,  sondern  liegen  im  hinteren  oberen  Ende,  in  den 
nach  aufsen  gekehrten  Theilen  des  Doppelganglions.  Von  Wichtigkeit  ist 
auch  die  Thatsache,  dafs  die  Photirzellen  der  Regenwürmer  keine  Be- 
ziehung zu  Pigmentansammlungen  haben,  ein  schlagender  Beweis  für  die 
auch  von  Beer  vertretene  Anschauung,  dafs  das  Pigment  durchaus  kein 


Literaturbericht  119 

nothwendiger  Bestandtheil  eines  Photirorgans  sei.     Wir  fanden  ja  auch 
bei  Hirudineen  Photirzellen  ohne  Pigmentblendung. 

Die  Augen  der  polychäten  Anneliden  und  einiger  Mollusken,  die  Hesse 
in  seinen  letzten  Arbeiten  behandelt,  zeigen  auch  viele  interessante  Ver- 
hältnisse, doch  wird  es  am  besten  sein,  mit  einem  Bericht  über  sie  zu 
warten,  bis  die  zusammenfassende  allgemeine  Arbeit  über  die  primitiven 
Sehorgane  vorliegt,  die  Hesse  verspricht.  Pütteb  (Breslau). 

JcNE  £.  DowKET.    An  Experiment  on  getting  an  After-Image  flrom  a  Mental 

Image.  Psychol.  Review  8  (1),  42—55.  1901. 
Die  Versuche  wurden  an  einer  Studentin  angestellt,  die  von  der 
Theorie  der  Nachbilder  nichts  wufste  und  erst  nach  Beendigung  der  Ver- 
suche darüber  belehrt  wurde.  Sie  hatte  auf  einem  dargebotenen  Grunde 
(gewöhnlich  Schwarz  oder  Weifs)  eine  farbige  Fläche  20  bis  40  See.  lang 
vorzustellen  und  dann  anzugeben,  was  für  ein  Nachbild  ihr  erschien.  Die 
Ergebnisse  dieser  Versuche  sind  in  mehreren  Tabellen  ausführlich  darge- 
stellt. Sie  scheinen  zu  beweisen,  dafs  eine  lebhafte  Farbenvorstellung  ein 
Nachbild  erzeugt.  Max  Meyeb  (Columbia,  Missouri). 

J.  M.  Gillette.    Multiple  After-Images.    Fsychol  Remeio  8  (3),  279—280.   1901. 

Gillette  beschreibt  hier,  wie  man  durch  wiederholtes  Sehen  in  die 

Sonne  eine  Reihe  (bis  fünfzehn)  gleichzeitiger,  theils  positiver,  theils 

negativer,  theils  durch  „Mischung"  erklärbarer  Nachbilder  hervorrufen  kann. 

Max  Meyeb  (Columbia,  Missouri). 

M.  B.  BouRDON.    La  distinction  locale  des  sensations  correspondantes  des  deox 

yeox.  Bull,  de  la  80C.  scierit.  et  med.  de  Vouest  9  (1),  1—20.  1900. 
Verf.  untersuchte  die  Frage,  ob  es  möglich  sei,  rechtsäugige  Wahr- 
nehmungen von  linksäugigen  zu  unterscheiden.  Er  kommt  in  dieser  Frage 
zu  einem  positiven  Ergebnifs,  doch  erscheint  dem  Ref.  dieses  der  Technik 
der  Versuchsanordnung  wegen  nicht  hinreichend  gesichert.  Den  Grund 
für  die  Möglichkeit  der  Unterscheidung  sucht  B.  in  Muskelempfindungen, 
ohne  indes  diesbezügliche  Versuche  mitzutheilen.  Auch  dieser  Punkt  be- 
dürfte noch  weiterer  Untersuchung.  Heine  (Breslau). 

Raymond  Dodge  and  T.  S.  Cline.    The  Angle  Yelocity  of  Eye  Movements. 

R^ychol.  liev^iew  8  (2),  145—157.  1901. 
Die  Bestimmung  der  Geschwindigkeit  von  Augenbewegungen  ist 
wichtig  für  das  Verständnifs  der  psychologischen  und  physiologischen* 
Processe  beim  Lesen.  Dodge  und  Cline  haben  die  Winkelgeschwindigkeit 
ies  Auges  vermittelst  einer  neuen  Methode  gemessen.  Sie  liefsen  einen 
Lichtstrahl  von  der  Cornea  auf  eine  photographische  Platte  reflectiren. 
Die  Platte  wurde  senkrecht  bewegt,  so  dafs  Augenbewegungen  eine  Kurve 
auf  der  Platte  beschrieben.  Die  Durchschnittszeit  von  Lesebewegungen 
Qach  rechts  war  22,9  a  für  "Winkel  von  2°  bis  7^  Die  Durchschnittszeit 
ron  Lesebewegungen  nach  links  war  40,7  ö  für  Winkel  von  12®  bis  14®. 

Max  Meter  (Columbia,  Missouri). 


120  Literaturhericht 

G.  Lange.    Zur  Geschichte  der  Solmisation.    Sammelbd.  d,  LUernat  Munkgaeü, 
4  (Aug.— Oct.),  535—622.    1900.    Selbstanzeige. 

Solmisation  bedeutet  die  Lautirung  der  (gesungenen)  Töne.  Ihr  Organ 
ist  die  einfache  Silbe  bestehend  aus  Vocal  und  dazu  tretendem  als  Lao^ 
stütze  dienenden  Consonanten.  Die  Solmisation  stellt  also  die  Tonsymbolik 
für  das  Ohr  dar  und  steht  der  Tonbezeichnung  (durch  Buchstaben,  Noten, 
Ziffern)  gegenüber,  der  Tonsymbolik  für  das  Auge. 

Wie  die  geschichtliche  Untersuchung  ergiebt,  sind  die  beiden  Dar- 
stellungsweisen getrennte  Wege  gegangen.  Die  Solmisation  insbesondere 
diente  dem  Sänger  dazu  das  Tonsystem  nach  Maafseinheiten  (Tetrachord-, 
Hexachord-,  Oktochord-,  Heptachordlehre)  zu  gliedern,  in  denen  die  Ent- 
fernung der  Töne  von  einander  durch  die  ihnen  zukommenden  bestimmten 
Silben  erkannt  wurde.  Die  Bedeutung  solcher  Tonsymbolik  beruht  in  der 
Leichtigkeit,  mit  welcher  Associationen  zwischen  Sprach-  und  Tonvor- 
Stellungen  zu  Staude  kommen;  es  spielen  deshalb  die  Tonsilben  beim 
Sänger  zur  Erweckung  der  Tonvorstellung  dieselbe  Bolle,  nur  in  noch  weit 
höherem  Grade,  wie  die  Muskelempfindungen  beim  Instrumentalisten. 

Nach  einer  langen  Zeit  der  Unsicherheit  bot  die  Hexachordsolmisation 
des  Mittelalters,  deren  Erfindung,  eine  musikgeschichtliche  That  ersten 
Banges,  auf  Guido  von  Atrezzo  zurückgeht,  dem  Sänger  die  ersehnte  feste 
Handhabe  zu  seiner  Orientirung  im  Tonsystem.  Ihr  Nutzen  ftlr  den 
Unterricht  war  so  grofs,  dafs  sie  Jahrhunderte  lang  im  ganzen  Abendlande 
als  alleinige  Bichtschnur  galt,  an  der  man  nicht  das  Geringste  verändern 
durfte.  Befangen  von  den  Vorurtheilen  seiner  Zeit  verwechselte  man  anf 
diese  Weise  das  in  der  Methode  zum  Ausdruck  gelangte,  dem  damaligen 
Stande  der  Kunst  entsprechende  System  (Hexachordlehre)  mit  der  Methode 
selber.  Dies  gab  Veranlassung  zu  einem  länger  als  zwei  Jahrhunderte 
währenden  Streit  über  die  Abschaffung  der  alten  Maafseinheit  und  Ein- 
führung einer  moderneren  und  bequemeren  nämlich  des  Oktochords,  später 
des  Heptachords  durch  Hinzufügung  einer  siebenten  Silbe  8%  zu  den  sechs 
alten  do,  re,  mi,  fa^  solj  la.  Die  endgültige  Abstellung  des  mittelalterlichen 
Solmisationsverfahrens  und  die  in  Deutschland  erfolgte  Abschaffung  auch 
der  neuen  Einheit  c2o,  re,  mi^  fa,  soly  la,  si  und  ihre  Ersetzung  durch  die 
Namen  der  Tonzeichen  (c,  d,  e,  /*,  g,  a,  6,  h)  ist  also  nicht  das  Besultat  einer 
der  obigen  widersprechenden  besseren  Einsicht  in  die  psychologischen  Vor- 
gänge, sondern  findet  ihre  Erklärung  allein  darin,  dafs  dos  einfachen  Be- 
dürfnissen angepafste  alte  Solmisationssystem  in  seiner  Entwickelung  hinter 
dem  sich  zur  12  stufigen  Chromatik  ausreifenden  Tonsystem  zurückgebheben 
war  und  sich  darum  selbst  im  Licht  stand.  ^ 

Man  schüttete  das  Kind  mit  dem  Bade  aus  und  wandte  sich  einer 
ganz  anderen  Methode  zu,  der  Ziffrirung  der  Töne,  die  dem  Auge  allein 
die  Erweckung  der  Tonvorstellung  zuschiebt.  Allmählich  fand  jedoch  auch 
bei  den  Ziffristen  die  Silbe  wieder  Würdigung,  der  beste  Beweis  für  ihre 
Leistungsfähigkeit.  Voll  und  ganz  kommt  sie  in  der  Tonica  Solfa  Methode 
zur  Geltung,  die  zur  Zeit  in  England  allgemein  verbreitet  ist.  Besonders 
interessant  ist  diese  Methode,  weil  sie  in  ihrem  Anfangsstadium  den  kühnen 
Versuch  wagte,  dem  natürlich  reinen  Stimmungsprincip  gerecht  zu  werden. 
Das  zu  diesem  Zw^ecke  den  alten  Silben  hinzugefügte  nothwendige  Flick- 


Literaturbericht  121 

werk   machte  aber  die   Durchführung  dieses  für  den   Gesang  wichtigen 
Principes  so  verwickelt,  dafs  man  sich  schliefslich  mit  einem  vereinfachten 
System  ähnlich  der  pythagoräischen  Notirungsweise  der  Töne  begnügte. 
Was  der  Tonica  Solfa  Methode  durch  künstlichen  Ausbau  des  alten  Silben- 
stockes nicht  gelang,  das  ist  von  C.  Eitz  aus  Eisleben  durch   eine  völlig 
neue   sinnreiche  Ausnützung   des    gesammten    Vocal-    und    Konsonanten- 
materials  erreicht  worden.    Die  6  Fliefs-  und  6  Stofslaute  r,  m,  »,  h  fj  n  — 
^»  *»  9i  Pi   ^y  ^  vermitteln  die   Darstellung   der   chromatisch   temperirten 
Stimmung,  die  5  Vocale   ff,   e,  iy  o,  ti,   bringen   in   Verbindung   mit   den 
Consonanten  die  siebenstufige  Diatonik  zur  Anschauung,  indem  die  Halb- 
tonschritte  durch  Liegenbleiben  des  Vocales  ausgezeicl^et  werden.    Die 
Beeultate  des  jetzt  in  die  Wege  geleiteten  vom  Königlich  Preufsischen 
Kultusministerium  genehmigten  Unterrichtsverfahrens  nach  dieser  Methode 
an  der  zweiten  Bürgerschule  zu  Eisleben,  versprechen  für  die  wissenschaft- 
liche Erörterung  der  Frage,  welch  hohen  Werth  Tonsilben  zur  begrifflichen 
Aneignung  des  Toncomplexes  besitzen,  wichtiges  Material  zu  liefern. 

MiBAOE.    Formation  des  voyelles.    AnnSe  psychologique  6,  485 — 492.    1900. 

M.  war  im  Stande,  die  verschiedenen  Vocale  künstlich  zu  erzeugen, 
indem  er  die  Mundhöhle  durch  einen  nach  ihr  geformten  Besonator,  die 
Stimmbänder  durch  eine  Sirene  ersetzte.  Ein  durch  den  Besonator  allein 
geführter  Luftstrom  ergiebt  den  Vocal,  dessen  Mundhöhlenform  durch  die 
Resonatorform  dargestellt  wird,  als  geflüsterten.  Mittels  der  Sirene  konnten 
klingende  Vocale  dadurch  hergestellt  werden,  dafs  durch  Verstopfung  von 
Löchern  zusammengehörige  Gruppen  von  3  Schwingungen  (für  a),  zwei 
Schwingungen  (für  e  und  o)  etc.  erzeugt  wurden.  Doch  damit  die  Sirenen- 
töne als  Vocale  deutlich  werden,  müssen  sie  durch  die  auf  sie  abgestimmten 
Resonatoren  geleitet  werden.  Bei  Durchleitung  durch  andere  Resonatoren 
entstehen  andere  Vocale.  W.  Stebn  (Breslau). 

A.  BmsT.    Recherches  snr  la  sensibiliti  tactile  pendant  Titat  de  distnction. 

Annee  psychologique  6,  405 — 440.    19(X). 
B.  untersucht,  ob  die  Tastschärfe  im  Zustande  der  Ablenkung  und  in 
^em  der  Aufmerksamkeit  merklich  verschieden  sei.    Als  Ablenkung  diente 
fortgesetzte  Addition,  während  deren  geurtheilt  werden  mufste,  ob  die  Be- 
^^hrung  von  einer  oder  zwei  Spitzen  empfunden  worden  sei.    Die  Methode 
"^rar   die  der   richtigen    und   falschen   Fälle.     Das    vor    Allem    an    einem 
X4 jährigen  Mädchen  gefundene  Ergebnifs  besagt,  dafs  zwischen  den  Zu- 
ständen der  Aufmerksamkeit  und  der  Zerstreuung  ein  verschiedenes  Ver- 
halten gegenüber  den  Tasteindrücken  bestehe,  dafs  aber  diese  Verschieden- 
heit nicht  die  Hautempfindlichkeit  selber  betreffe.    In   der  Ablenkung  ist 
«ine  starke  Tendenz  zu  einem  generalisirenden  Automatismus  im 
Antworten    vorhanden.     Eine    Versuchsanordnung,    die    an    sich    eine 
stärkere  Häufigkeit  des  Urtheils   „zwei"   provocirte,   erhöhte  diese  Häufig- 
keit noch  im  Zustande  der  Abgelenktheit  (so  dafs  hier  der  paradoxe  Schein 
einer  gesteigerten  Empfindlichkeit  geweckt  wurde);  eine  andere  Versuchs- 
anordnung, bei  der  das  Urtheil  „eins"  häufiger  war,  steigerte  wieder  in  der 


122  lAteraturbericht 

Ablenkung  die  Zahl  dieser  Antworten.  —  Bei  einer  zweiten  Versnchsperson 
zeigte  sich  keine  Verschiedenheit  im  aufmerksamen  und  abgelenkten  Ve^ 
halten.  W.  Stebn  (Breslau). 


C.  E.  Seashore  und  M.  C.  Williams.    An  Illusion  of  LOAgth.    Psychol.  Beviev 

7  (6),  592—599.    1900. 

Wenn  man  eine  gerade  Linie  doppelt  so  lang  zu  machen  sucht  wie 
eine  gegebene  Grade,  so  macht  man  die  längere  Linie  etwas  zu  kurz,  d.  h. 
man  überschätzt  ihre  Länge.  Diese  Täuschung  wird  in  speciellen  FftUeo 
untersucht.  1.  Iq^  Falle  eines  Doppelquadrats  ist  die  Täuschung  wirksam 
sowohl  für  horizontale  als  für  verticale  Lage ;  sie  ist  stärker  als  die  be- 
kannte Ueberschätzung  verticaler  Linien  im  Vergleich  zu  horizontalen. 
2.  Im  Falle  der  Schenkel  eines  rechten  Winkels,  von  denen  der  eine  doppelt 
so  lang  ist  wie  der  andere,  tritt  die  Täuschung  ebenfalls  auf.  3.  In 
parallelen  Linien,  von  denen  die  eine  doppelt  so  lang  wie  die  andere  ist, 
wird  die  längere  ebenfalls  überschätzt;  aber  die  Täuschung  ist  in  diesem 
Falle  nicht  sehr  stark.  4.  Keine  Täuschung  ist  zu  beobachten,  wenn  an 
Stelle  der  parallelen  Linien  Punktdistanzen  verglichen  werden.  Die  Verff. 
erklären  diese  Täuschungen  durch  Augenbewegungen  und  Contrast. 
Letztere  Bedingung  scheint  ihnen  besonders  wirksam  bei  Kindern. 

Max  Meyeb  (Columbia,  Missouri). 

H.  JuDD.  A  Study  of  Geometrical  lUusions.  Paycholog^ical  Eevietc  6,  241—261 
1899. 
Der  Verf.  glaubt  (wesentlich  in  Uebereinstimmung  mit  der  1897  vom 
Referenten  entwickelten  Anschauung)  die  PoooENDORFF'sche  und  die 
ZÖLLNEB'sche  Täuschung  primär  auf  eine  Fehlschätzung  linearer  Distanzen, 
genauer  auf  eine  Verschiebung  von  Punkten  in  Bezug  auf  andere  Punkte 
im  Gesichtsfelde,  zurückführen  zu  müssen ;  so  zwar,  dafs  Augenbewegungen 
von  einem  zum  anderen  Punkte,  und  damit  die  entsprechenden  Distawen, 
über-  bezw.  unterschätzt  werden,  je  nachdem  der  weitere  Inhalt  des  Ge- 
sichtsfeldes dazu  angethan  ist,  Bewegungstendenzen  entgegengesetzter  beiv. 
gleicher  Richtung  zu  erregen.  Quantitative  Versuche  über  die  Vergleichuug 
von  Theilen  einer  horizontalen  Linie,  welche  entweder  durch  verticale  oder 
durch  schiefe  Parallellinien  begrenzt  werden,  sowie  mehrfache  Modificationen 
der  PoGGEinjORFF'schen  Figur  scheinen  diese  Ansicht  zu  bestätigen. 

Heymans  (Groningen). 

J.  R.  Angell  u.  W.  Fite.   The  Monaural  Localization  of  Sound.    Fsychol  Ret. 

8  (3),  225—246.    1901. 

Angell  und  Fite  machten  Versuche  über  Schalllocalisation  mit  einem 
Mann,  der  auf  dem  einen  Ohre  völlig  taub  war.  Wenn  der  Schall  von  der 
Seite  des  tauben  Ohres  kam,  war  die  Localisation  schlecht,  ziemlich  gut 
dagegen,  wenn  von  der  Seite  des  gesunden  Ohres.  Die  Localisation  scheint 
in  diesem  Falle  durch  qualitative  Verschiedenheiten  ermöglicht  zu  sein,  je 
nachdem  der  Schall  von  der  einen  oder  anderen  Richtung  kommt.  Wie 
diese  qualitativen  Verschiedenheiten  zu  Stande  kommen,  darüber  machen 


Literaturbericht  123 

lie  Verff.  nur  sehr  allgemein  gehaltene  Angaben.  Sie  sehen  die  Ursache 
ier  qualitativen  Verschiedenheiten  einfach  in  einer  Verstärkung  oder 
Dämpfung  von  Obertönen.  Diese  Behauptung  wird  insofern  durch  die 
experimentellen  Ergebnisse  gestützt,  als  obertonreiche  Töne  in  der  That 
viel  leichter  als  einfache  Töne  einohrig  localisirt  werden.  Trotzdem  scheint 
dem  Referenten  diese  Erklärung  nicht  ganz  überzeugend.  Die  Sache  dürfte 
doch  wohl  nicht  so  einfach  sein.  Die  Verff.  suchten  festzustellen,  ob  Tast- 
empfindungen irgend  welche  Bolle  bei  der  SchalUocalisation  spielen.  Die 
Localisation  war  jedoch  ebenso  gut,  wenn  Tastempfindungen  unmöglich 
gemacht  oder  wenigstens  sehr  erschwert  waren.  Die  Bedingungen  der 
Localisation  dürften  demnach  gänzlich  auf  dem  Gebiet  des  Gehörsinns  zu 
suchen  sein.  Der  Artikel  enthält  eine  Anzahl  anregender  Thatsachen,  aber 
von  einer  Lösung  des  Problems  sind  wir  noch  weit  entfernt. 

Max  Meteb  (Columbia,  Missouri). 


A.  Btnet.    Attention  et  Adaptation.    Armee  psychologique  6,  248 — 404.    1900. 

Die  Untersuchungen  dienten  einem  differentiell-psychologischen  Zwecke. 
Ihre  Absicht  war,  einfache  Methoden  zu  finden,  durch  welche  die  willkür- 
liche Aufmerksamkeit  des  Einzelnen  in  ihrer  Leistungsfähigkeit  gemessen 
wrerden  konnte.  Versuchspersonen  waren  11  Schüler  einer  Elementarschule 
im  durchschnittlichen  Alter  von  11  Jahren.  Diese  waren  nach  Angabe  der 
Lehrer  so  ausgesucht,  dafs  5  eine  Gruppe  recht  intelligenter  und  6  eine 
solche  recht  wenig  intelligenter  Schüler  bildeten.  An  diesen  Schülern 
Wurden  der  Reihe  nach  die  verschiedensten  ,tests'  angewendet:  1.  Raum- 
empfindlichkeit der  Haut,  2.  einfache  und  Wahlreactionen,  3.  Zählung  von 
Punkten,  die  regelmäfsig  in  Linien  oder  unregelmäfsig  in  Haufen  vertheilt 
waren,  4.  Wahrnehmung  kleiner  Aenderungen  in  der  Geschwindigkeit  von 
Metronomschlägen,  5.  Zählung  rhythmischer  Metronomschläge,  6.  Copiren 
von  Ziffern,  Sätzen  und  geometrischen  Figuren,  7.  Maximalgedächtnifs  für 
Buchstaben  und  Zahlen,  8.  Wahrnehmung  und  Wiedergabe  momentan  dar- 
l^ebotener  Worte  und  Zeichnungen,  9.  Anstreichen  bestimmter  Buchstaben 
in  einem  Text.  Alle  Versuche  sind  mehrmals  in  gewissen  Zwischenräumen 
wiederholt  worden. 

Als  erfolgreich  galten  diejenigen  Versuche,  bei  denen  deutliche  Unter- 
schiede zwischen  den  Gruppen  der  Intelligenten  und  ünintelligenten  zu 
constatiren  waren.  Hauptergebnifs :  obgleich  die  Versuche  in  keiner  Weise 
die  Intelligenz,  d.  h.  die  Auffassungsfähigkeit  der  Prüflinge,  sondern  nur 
eine  bestimmte  Anspannung  der  Aufmerksamkeit  zum  Gegenstande  hatten, 
zeigten  sie  doch  fast  alle  eine  deutliche,  oft  sehr  beträchtliche  Differen- 
zining  zwischen  den  Intelligenten  und  Nicht-Intelligenten,  und  zwar  zu 
Gunsten  der  Ersteren.  Keinen  Erfolg  nach  dieser  Richtung  hatten  nur 
die  unter  2  und  4  genannten  Versuche  und  die  Erkennung  momentan  dar- 
gebotener Worte.  Als  besonders  charakteristisch  seien  erwähnt  die  Copir- 
ver.su che  (6).  Das  Maafs  war  hier  gegeben  durch  den  Umfang  und  Inhalt 
derjenigen  Elemente,  welche  in  einen  einzelnen  Copirungsact  zusammen- 
gefafst  wurden;  die  Intelligenten  fafsten  im  Durchschnitt  3,6,  die  Un- 
intelligenten 2,8  Ziffern  zusammen;   jene  zerlegten  einen  Satz  vorwiegend 


124  Literaturbericht. 

nach  seiner  logischen  Structnr,  diese  nicht.  Beim  Anstreichen  bestimmter 
Buchstaben  im  Text  (9)  ist  zwar  das  Quantum  der  I/eistungen  bei  beiden 
Gruppen  ziemlich  gleich,  dagegen  das  Quäle  bei  den  Intelligenten  auÜBer- 
ordentlich  besser. 

Das  zweite  Hauptresultat,  welches  B.  nicht  mit  Unrecht  für  noch 
wichtiger  hält,  besteht  darin,  dafs  diese  bedeutende  Differenz  zwischen  den 
beiden  Gruppen  bei  ferneren  Wiederholungen  stark  abnimmt,  so  dals  die 
Unintelligenten  den  Intelligenten  an  Leistungsfähigkeit  dann  sehr  nahe 
kommen.  Charakteristisch  für  den  Unterschied  der  beiden  Gruppen  ist 
also  nicht  sowohl  ein  constantes  Minus  der  Aufmerksamkeitsleistung  bei 
den  Unintelligenten,  als  eine  erschwerte  Adaptation  der  Aufmerksamkei 
an  neue  Anforderungen.  W.  Stern  (Breslau). 

E.  Thorndike.    Mental  Fatigne.    Fsychol.  Review  7  (6),  547—579.    1900. 

Dies  ist  die  Fortsetzung  einer  Abhandlung,  die  bereits  in  dieser  Zeit- 
schrift (25  (4),  269)  besprochen  wurde.  Thorndike  berichtet  nun  über  Ver- 
suche an  Schulkindern,  die  nach  einer  theilweise  neuen  Methode  angestellt 
wurden.  Um  den  Einflufs  der  Uebung  zu  vermeiden,  wurden  dieselben 
Versuche  nie  zw^eimal  an  denselben  Kindern  angestellt,  sondern  an  einer 
Gruppe  von  Kindern  früh  am  Tage,  an  einer  anderen  Gruppe  spät.  Die 
folgenden  Aufgaben  wurden  gestellt:  1.  Multiplication  vierstelliger  Zahlen. 
2.  Markirung  von  Druckfehlern.  3.  Eine  zehnstellige  Zahl  wurde  10  See, 
gezeigt  und  dann  von  den  Kindern  aus  dem  Gedächtnifs  niedergeschrieben. 
4.  Fünf  sinnlose  Silben,  jede  bestehend  aus  einem  Vocal  und  einem  Con- 
sonanten,  wurden  10  See.  gezeigt  und  dann  aus  dem  Gedächtnils  nieder- 
geschrieben. 5.  Sechs  ganz  einfache  Zeichnungen  wurden  10  See.  geieigt 
und  dann  aus  dem  Gedächtnifs  wiederholt.  6.  Zehn  Buchstaben  wurden 
gezeigt  an  Stelle  der  zehn  Ziffern.  7.  Die  Schüler  zählten  in  5  See.  Punkte 
auf  einer  Karte.  Das  Ergebnlfs  dieser  Versuche  war,  dafs  die  Schüler  sp&t 
am  Vormittage  oder  Nachmittags  ebensogut  arbeiteten  als  am  frühen 
Morgen.  Alles  was  nöthig  ist,  um  sie  dazu  zu  veranlassen,  ist  die  richtige 
Anregung  zur  Arbeit.  Thorndike  behauptet  nun,  dafs  die  Anforderungen, 
die  hier  an  die  Schüler  gestellt  wurden,  äquivalent  seien  mit  den  An- 
forderungen, die  das  gewöhnliche  Schulleben  an  die  Schüler  stelle;  doch 
giebt  er  keine  Gründe  für  diese  überaus  wichtige  Behauptung  an.  Es 
scheint  dem  Ref.  zweifellos,  dafs  man  Schüler  sehr  leicht  —  selbst  am 
Nachmittag  —  dazu  anregen  kann,  für  ein  paar  Minuten  mit  aller  Energie 
einer  speciellen,  verhältnifsmäfsig  einfachen  Thätigkeit,  wie  der  hier  ver- 
langten, sich  hinzugeben ;  aber  nicht  so  leicht,  eine  ganze  Stunde  lang 
ihre  Aufmerksamkeit  auf  die  gewöhnliche  Schulthätigkeit  zu  concentriren. 
Ob  man  das  ^inability"  der  Schüler  nennen  soll  oder  nicht,  ist  einfach  eine 
Frage  der  Definition.  Thorndike  leugnet  eine  Abnahme  der  „ability* 
während  des  Schultages,  weil  seine  Experimente  beweisen,  dafs  die 
Schüler  am  Nachmittag  ebensogut  arbeiten  „können"  wie  am  Vormittag. 

Er  wirft  dann  die  Frage  auf,  ob  stundenlang  fortgesetzte  Thätigkeit 
einer  und  derselben  Art  nach  einiger  Zeit  eine  Abnahme  erfährt  Einer 
der  Versuche  bestand  darin,  dafs  in  einem  Buch  von  151  Seiten  jedes  Wort 


.  Literaturbericht.  125 

mgestrichen  wurde,  das  sowohl  e  als  t  enthielt  (8  Stunden  Arbeit).  Im 
w^anzen  wurde  bei  diesen  Versuchen  keine  Abnahme  der  Leistung  bemerkt 
Ferner  wurden  Versuche  gemacht,  um  festzustellen,  ob  die  musculftre 
Leistungsfähigkeit  Abends  geringer  ist  als  Morgens.  Diese  sowie  die  zu< 
letzt  erwähnten  Versuche  wurden  an  erwachsenen  Personen  angestellt. 
Man  machte  Morgens  nach  dem  Aufstehen  und  Abends  nach  Beendigung 
der  gewöhnlichen  (vorwiegend  geistigen)  Thätigkeit  100,  200  oder  300  Con- 
tractionen  an  einem  Federdynamometer,  je  eine  Contraction  in  1  See.  Kein 
Unterschied  zwischen  der  Morgen-  und  Abendleistung  wurde  bemerkt. 

Max  Meyeb  (Columbia,  Missouri). 

Sophia  Bbyant.    The  Donble  Effect  of  Mental  Stimnli;  a  Contraat  of  Tjpea. 

Mhid,  N.  S.  9  (35),  305—318.    1900. 

Unter  Mental  Stimulus  versteht  die  Verf.  einen  Vorgang,  der  sowohl 
in  unserem  Bewufstsein  eine  Veränderung  hervorruft,  als  auch  in  unserem 
Körper.  Der  Procefs  ist  also  doppelter  Art.  Er  kann  aber  unter  Um- 
ständen einfach  werden,  insofern  eine  Veränderung  zurücktritt,  ausfällt. 
So  fällt  bei  der  Befiexhandlung  das  Bewufstsein  aus,  bei  aufmerksamem 
Hören  und  Sehen  hingegen  fehlt  jegliche  Bewegung.  Zwischen  diesen 
beiden  extremen  Formen  giebt  es  natürlich  Mittelstufen.  Viele  Beobach- 
tungen machen  es  wahrscheinlich,  dafs  die  Körperbewegungen  umsomehr 
zurücktreten,  je  breiteren  Raum  der  zugehörige  psychische  Vorgang  im 
Bewufstsein  einnimmt  und  umgekehrt.  Dem  entspricht,  dafs  Menschen, 
welche  tief  empfinden,  lebhaft  vorstellen,  langsam  sind  im  Handeln  und 
amgekehrt.  Selbst  im  Bewufstseinsleben  allein  zeigt  sich  dieser  Gegen- 
satz. Lebhafter  Vorstellende,  tiefer  Fühlende  haben  einen  langsameren 
Wechsel  der  Vorstellungen,  ihre  Phantasie  ist  ärmer,  im  Vergleich  mit  den 
weniger  tief  Empfindenden,  weniger  gründlich,  aber  rascher  Vorstellenden 
und  Denkenden.  Ersteren  Typus  nennt  Verf.  ästhetisch,  den  anderen 
kinetisch,  ein  Gegensatz,  der  sich  auch  beim  rein  mechanischen  Erinnern 
wiederfinden  läfst.  Offneb  (München). 


G.  Cordes.    Experimentelle  Untersncliiingeii  ttber  Associationen,    Philos.  Studien 

17  (1),  30—77.    1901. 

Der  Verf.  stellt  sich  die  Aufgabe,  zu  bestimmen,  „ob  psychische 
Verläufe,  die  als  mittelbare  Associationen  zu  bezeichnen 
wären,  experimentell  nachgewiesen  werden  können,  und 
sodann  —  vorausgesetzt,  dafs  jeneFrage  eine  bejahende  Ant- 
wort fände  und  ein  genügend  grofses  Material  gesammelt 
würde  —  die  Abhängigkeitsbeziehungen  dieser  mittelbaren 
Associationen  festzustellen.^  Er  theilt  seine  Arbeit  nach  einer 
kurzen  einleitenden  Vorbemerkung  in  z  w  e  i  Abschnitte,  von  denen  der  erste 
die  einfache  Association  und  der  zweite  die  mittelbare  Asso- 
ciation behandelt.  Hieran  schliefsen  sich  dann  einige  Folgerungen  für 
die  Theorie  der  mittelbaren  Associationen. 

In  der  Einleitung  legt  der  Verf.  kurz  die  angewandte  Versuchstechnik 
dar.    Diese  war  im  Ganzen  die  folgende:  Die  Versuchsperson  befand  sich 


126  Literaturbericht 

in  einem  schwarzen  Kasten  (Scbifture,  Phü,  Stud,  7,  53)  und  blickte  durch 
einen  in  einer  Wand  desselben  befestigten  vierkantigen  Taboa  anf  die  in 
einer  gewissen  Entfernung  auf  einem  schwarzverbüllten  Tisch  befindliche 
und  hier  gegen  einen  schwarzen  Pappständer  gelehnte  Beiiobject  Das 
vordere  Ende  des  Tubus  war  während  der  Ruhepausen  durch  einen  Vor- 
hang verdeckt.  Die  Expositionszeit  des  Reizwortes,  bezw.  -bildes  betrag 
3  See.  Die  Versucheperson  hatte  die  Karte  während  dieser  Zeit  anio- 
blicken  und  darauf  über  ihre  Erlebnisse  zu  berichten.  „Für  den  Experimen- 
tator war  nicht  die  Absicht  leitend»  für  gewisse  Theorien  experimentelle 
Verificirung  zu  finden,  sondern  einfach  die,  die  psychischen  Geschehens- 
folgen,  die  man  Associationen  nennt,  kennen  zu  lernen;  die  planmä(isige 
Anordnung  der  Reize  verfolgte  den  Zweck,  günstige  Verhältnisse  fflr  dis 
Zustandekommen  von  mittelbaren  Associationen  herzustellen."  Verf.  £Üirt 
fort:  ,,Dars  thatsächlich  solche  Associationsverläufe ,  die  man  mittelb&re 
Associationen  nennen  kann,  vorkommen,  schien  mir  zu  Beginn  der  Ve^ 
suche  gewifs,  wurde  mir  in  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Semesters  zweifel- 
haft und  ist  für  mich  jetzt  in  das  Gebiet  der  beobachteten  Thatsachen 
gerückt." 

I.  Die  einfache  Association.  Der  Verf.  führt  zunächst  aus,  d&b 
sich  in  den  älteren  Associationsversuchen  zwei  irrige  Vorstellungen  geltend 
machen.  „Die  eine  ist  die,  dafs  man  unter  Association  allgemein  nur  die 
Verknüpfung  von  zwei  oder  mehr  »Vorstellungen«  verstand;  den  Begrif 
Vorstellung  gebraucht  als  übergeordneten  Begriff  zu  Wahmehmungs-,  Er 
innerungs-  und  Phantasievorstellung^*,  wobei  der  Begriff  Vorstellung  wohl 
im  Sinne  complexer  Verläufe  verwandt  war,  doch  aber  „diejenigen  Theile 
des  an  einem  von  aufsen  gegebenen  Eindruck  sich  knüpfenden  psychischen 
Geschehens,  die  sich  der  Selbstbeobachtung  der  Vp.*  zwar  als  für  sich 
wahrnehmbare,  von  anderen  Theilen  dieses  Geschehens  unterscheidbare 
Theile  gaben,  ihrerseits  aber  nicht  Vorstellungscharacter  tragen,  nur  als 
Begleitserscheinung  gelegentlich  erwähnt,  wenn  nicht  ganz  vernachlässigt 
oder  gar  als  nicht  zur  Klarheit  des  Bewufstseins  gelangende  Vorstellongen 
verkannt  wurden."  Als  zweiten  Irrtum  führt  der  Verf.  den  auf,  „daiJs  man 
ohne  Weiteres  als  das  Anfangsereignifs  eines  durch  ein  Reizwort  angeregten 
Associationsverlaufes  eben  dieses  Reizwort  nahm." 

Der  Verf.  bespricht  dann  die  einzelnen  Glieder  der  Versuchs- 
associationen.  Das  erste  ist  ihm  dasjeniges  psychische  Phänomen,  das 
unmittelbar  durch  den  äufseren  Reiz  angeregt  wird.  „Um  als  erstes  Glied 
einer  beobachteten  Association  tauglich  zu  sein,  mufs  dies  Phänomen  der 
nachfolgenden  Erinnerung  der  Vp.  zugängig  sein  und  ihr  als  ein  unmittelbar 
nach  Eintritt  des  Reizes  gegebenes,  von  den  zeitlich  nachfolgenden  Be- 
wufstseinsvorgängen  wohl  unterscheidbares  Geschehnifs  erscheinen."  Dieses 
erste  Glied  entsprach  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  dem  Vorstellungsinhalte, 
als  dessen  Symbol  das  Reizwort  dient.  „Die  meisten  Fälle  entsprechen  also 
thatsächlich  der  fälschlich  oft  als  allgemein  gültig  gemachten  Annahme, 
dafs  eine  Vorstellung  des  Sinnes  des  Reizwortes  erstes  Glied  der  in  Frage 


Hier  wie  immer  Versuchsperson. 


LiteraturberichL  127 

stehenden  Verläufe  sei."    Meistens,  aber  nicht  immer,  fielen  Apperception 
des  Schriftbildes  und  Innewerden  des   Wortsinnes  in  einen  Act,  in  dem 
bald  die  Auffassung  des  Wortsinns,  bald  die  Auffassung  des  Wortes  im 
Vordergrunde  stand,  bald  beides  in  innigster  Verschlingung,  in  völligem 
In-  und  Miteinander   zum  Bewufstsein   kam.    Es  kamen  aber  auch  Fälle 
vor,  in  denen  der  Sinn  des  Wortes  merklich  später  erfafst  wurde  als  das 
Wortbild   und  die  Vorstellung  des  Wortes  (Association  des  Wortsinnes). 
Noch  seltener  waren  Fälle,   in  denen  der  Sinn  des  Wortes  erfafst  wurde, 
bevor  das  Wort  fertig  gelesen  war.    Der  Verf.  fügt  dem  Vorstehenden  die 
Ausführungen  hinzu,  dafs   schon  hier  „angesichts  eines  Wortes  innerhalb 
des   durch    den    Wortsinn    gegebenen    Rahmens    thatsächlich    sehr    Ver- 
schiedenes vorgestellt  werden  kann."    Die  Auffassung  des  Sinnes  ist  häufig 
verschieden,  je  nachdem  das  Reizwort  ein  Abstractum  oder  ein  Verbum, 
oder  ob  es  ein  concretes  Object  repräsentirt.    In  diesen  Fällen  handelt  es 
sich  nach  C.  um  Assimilationen,  „die,   mag  man  sie  theoretisch  auch  dem 
Begriff   »Associationen«   unterordnen,   hier   doch   nicht  als   solche   gelten 
können."    „Es  ist  nicht  so,  dafs  bei  diesen  Versuchen  etwa  erst  das  Wort- 
bild irein«  appercipirt  wäre  und  daran  sich  dann  reproductive  Elemente 
angeschlossen  hätten,  sondern  so,  dafs  im  Appercipiren  reproductive  Elemente 
mitwirken  zum  Zustandekommen  einer  subjectiv  mitbedingten  Vorstellung." 
Erinnert  wird  hier  an  die  bei  tachistoscopischen  Versuchen  gewonnenen 
Erfahrungen,  nach  welchen  häufig  mehr  gesehen  wird,  als  exponirt  wurde. 
«Aehnlicherweise",  fährt  der  Verf.  fort,  „wird  bei  Associationsversuchen 
häufig  beim  Anblick  eines  Wortes  unmittelbar  eine  Vorstellung  ausgelöst, 
die  durchaus  subjectiv  gefärbt  ist,   d.  h.  Elemente  enthält,  die  sich  nicht 
aus  dem  vom  Experimentator  gegebenen  Reiz  erklären  lassen,  sondern  nur 
aus  der  Eigenart  des  Gesammtcomplexes  der  Vorstellungsdisposition  der  Vp." 
In  anderen  Fällen  kam  es  zu  einer  Auffassung  des  Wortsinnes  über- 
haupt nicht  (sinnlose  Silben)  oder  erst  nach  Eintritt  eines  anderen  Phänomens. 
Im  letzten  Fall  kann  entweder  die  Aufmerksamkeit  am  Schriftbild  haften 
bleiben  ( —  verwandt  damit  sind  Fälle,   „in  denen  ein  erster  Eindruck  des 
tiesammtbildes  des  weder  in  seiner  Totalität  noch  in  einzelnen  Teilen  klar 
uppercipirten  Reizwortes  eine  Vorstellung  heraufführte,  die  von  der  Vp. 
nicht  als  Wortsinn  angenommen  wurde",  kein  Verlesen  also,  sondern  eine 
Unterbrechung  des  Apperceptionsprocesses  — ),   oder  die  Wortvorstellung 
wird  durch  den  Leseprocefs   herbeigeführt.    Aeufserst  schwer  war  es  oft 
auch,   wie  C.  weiter  zeigt,  bei  der  Exposition  sinnloser  Silben,   zwischen 
Apperception  und  nachfolgender  Association  eine  scharfe  Grenze  zu  ziehen. 
-Aber  in  vielen  Fällen  war  die  Beobachtung,   dafs  z.  B.  das  sinnlose  Wort 
sofort  zu  einem  sinnvollen  ergänzt  sei  und  dabei   selbst  vollkommen  im 
Hintergründe  des  Bewufstseins  gestanden  habe,  so  weit  ich  sehe,  unan- 
fechtbar." 

Complicirter  gestalteten  sich  die  Versuche,  wenn  das  Reizwort  statt 
anf  weifsem  auf  farbigem  Grunde  gezeigt,  oder  wenn  gleichzeitig  acustische 
oder  andere  Sinnesreize  gegeben  wurden.  „Zu  diesen  Fällen  . .  .  wird  man 
sich  sehr  oft  mit  negativen  Feststellungen  begnügen  müssen,  mit  der  Con- 
statirung,  dafs  der  »Nebenreiz«  nicht  zum  Bewufstsein  gekommen  sei  oder 
cioch  die  Auffassung  des  Reizwortes  nicht  gestört  habe  u.  s.  w.  —  Für  die 


128  Literaturbericht 

Fälle,  in  denen  Beizwort  und  Nebenreiz  klar  zum  BewnÜBtsein  kam,  ist  n 
bemerken,  dafs  solches  gewöhnlich  succesaiv,  manchmal  auch  altemiTCod 
geschah,  in  anderen  Fällen  aber  nach  Angabe  der  Vp*en  simultan.  In  wttt- 
aus  den  meisten  Fällen  stand  das  zu  appercipirende  Reizwort  darduraB  im 
Vordergrunde  des  Bewufstseins." 

War  das  Reizwort  in  farbiger  Schrift  geschrieben,  so  kam  es  hinfig 
zur  Auslösung  von  Gefühlen  oder  es  wurde  das  Reizwort  als  Aufforderung 
oder  Befehl  aufgenommen.  Ein  mit  rother  Tinte  geschriebenes  Wort  er- 
weckte z.  B.  das  Gefühl  des  „Unheimlichen",  des  „hart  Unangenehmen.' 
Diese  Momente  wirkten  dann  auch  bei  anderen  Associationsverläufra  mit 

Der  Verf.  bespricht  dann  das  zweite  Glied  in  Versuchs- 
associationen.  „So  wenig  wie  das  auf  die  Reizung  eintretende 
Phänomen  .  .  .  jedenfalls  eine  Vorstellung  oder  gar  eine  durch  das  Reis» 
wort  eindeutig  bestimmte  Vorstellung  ist,  ist  das  associirte  Phänomen  . . . 
stets .  eine  durch  ein  Wort  ....  eindeutig  bestimmte  Vorstellung  —  ge- 
schweige denn  dieses  Wort  selbst."  Der  Verf.  zeigt,  dafs  allerdings  Wort- 
associationen  (namentlich  sogenannte  Klangassociationen)  vorkommen,  diis 
diese  aber  durch  eine  planmäfsige  Versuchsanordnung  zurückgedringk 
werden  können.  Häufiger  konnten  Vorstellungen,  im  günstigsten  Falk 
„bildartige,  scharf  umrissene  Phantasie-  und  Erinnerungsvorstellnngen* 
constatirt  werden,  denen  sofort  eine  mehr  oder  weniger  lebhafte  O^flhli' 
.betonung  eigen  war  oder  durch  die  Vorstellung  erweckt  wurde,  in  seltenei 
Fällen  auch  ihr  voraufging.  Hierbei  kann  das  die  associirte  VorsteDong 
(immer  im  Sinne  spontaner  Vorgänge  verstanden)  characterisirende  Wort 
nach  dieser  oder  aber  sie  begleitend  und  mit  ihr  einen  Gomplex  bildend 
zum  Bewufstsein  kommen.  Nicht  selten  wurden  auch  sogen.  Doppä- 
associationen  beobachtet  u.  s.  w.  Aber  allen  diesen  Aecociationen  stellt 
C.  die  grofse  Menge  derjenigen  gegenüber,  in  denen  das  associirte  Phänomen 
„ganz  oder  in  bedeutsamen  Theilen  unklar  und  undeutlich  blieb  oder  aber 
durch  eine  Fülle  verschiedener  Vorgänge  gebildet  wurde,  der  gegendber 
die  Selbstbeobachtung  der  Vp.  versagte."  —  Interessant  sind  die  Awh 
führungen  des  Verf.'s  über  die  sogenannten  »Urtheilsassociationen«.  Er 
zeigt,  dafs  er  diese  nicht  gefunden  habe,  in  zwei  Fällen,  in  denen  er  de 
constatiren  zu  dürfen  glaubte,  reichte  sein  Material  zu  endgültiger  Be- 
stimmung nicht  aus.  C.  schreibt  selbst:  „Die  Mehrzahl  der  Fälle,  in  denen 
ich  erst  Urtheilsassociationen  glaubte  erkennen  zu  dürfen,  hielt  bei  ein- 
gehender Prüfung  nicht  stand.  Es  handelte  sich  dabei  erstens  um  FiUe. 
in  denen  ein  dem  ^-Phänomen"  (das  auf  die  Reizung  eintretende  Phänomen) 
„angehörender  psychischer  Theilvorgang  (ästhetisches  Gefühl,  Bekannt- 
heitsqualität)  die  Aufmerksamkeit  erregte  und  zu  einem  Urtheil  über  den 
Reiz  führte,  das  als  apperceptiver  Vorgang  anzusprechen  ist.  Zweitens  waren 
es  Fälle,  in  denen  sich  einem  Reizoilde  als  -B- Phänomen"  (associirtes 
Phänomen)  „die  Vorstellung  oder  der  Name  des  entsprechenden  Objecto 
associirte  und  die  Vp.  dann  apperceptiverweise  die  Identification  volliog. 
Endlich  gehört  hierher  noch  die  gelegentlich  beobachtete  Association  der 
Schlufsvorstellung  eines  eingeübten  apperceptiven  Vorgangs,  der  selbst 
nicht  reproducirt  wurde.  In  allen  diesen  Fällen  wird  man  von  Urtheilfl- 
associationen   zu   sprechen   nicht    berechtigt    sein."      Auf    Grund   der  ge- 


Literaturbericht,  129 

Tonnenen  Erfahrungen  warnt  der  Verf.  sodann  einmal  vor  einer  Eintheilung 
der  Associationen,  die  in  irgend  einer  Weise  zu  dem  Verhältnifs  in  Be- 
riehung  tritt,  in  dem  das  Reactionswort  zum  Reizwort  steht  und  sodann 
vor  Messungen  von  Associationszeiten.  Er  will  nicht  leugnen,  dafs  solche 
Messungen  bei  seinen  Wort-  und  Vorstellungsassociationen,  unter  gewissen 
Gantelen  vorgenommen,  Werth  haben  können,  bestreitet  aber,  dafs  für  alle 
ftbrigen  Associationen  exacte  Zeitmessungen  möglich  sind. 

Das  allgemeine  Bild,  das  C.  von  psychischer  Association  gewann,  be- 
schreibt er  selbst,  wie  folgt:   „Ein  einzelnes  Element  des  ^-Phänomens'' 
(s.  0.)  „(Empfindung,  Gefühl)  oder  ein  Complex  von  Elementen  ....  tritt 
im  Apperceptionsact   besonders    hervor Während   nun    nach    ge- 
schehener Apperception  die  übrigen  Bestandtheile  des  A-Phänomens  schnell 
ablaufen,  verharrt  der  betonte  Bestandtheil  länger;  reproductive  Elemente 
assimiliren  sich  ihm  und  in  ihrem  Zusammengehen  kommt  es  zu  einem 
mehr  oder  weniger  klaren  und  deutlichen  -B-Phänomenen"  (s.  o.)  „das  nach- 
folgender Erinnerung  zugängig  ist.    Wie  also  das  A-Phänomen  durch  Zu- 
tritt reproductiver  Elemente  zu  den  durch  den  Reiz  angeregten  Empfindungs- 
elementen zu  Stande  kommt,  so  entsteht  das  ^Phänomen  dadurch,  dafs 
sich  einem  perseverirenden  Bestandtheile  des  ^-Phänomens  neue  reproduc- 
tive Elemente  anschliefsen.''    Ebenso  können  sich  im  jB-Phänomen  mehrere 
Kiemente  oder  Theilgebilde  des  il-Phänomens  finden,  wodurch  der  Vorgang 
complicirter  wird.    In  vielen  Fällen  werden  die  im  ^-Phänomen  sich  wieder- 
findenden Elemente  des  ^-Phänomens  von  der  Vp.  als  »Vermittelung«  der 
Association  empfunden.    Ueber  die  Gesetzmäfsigkeit  dieses  Verlaufs  äuTsert 
rieh  der  Verf.  dahin,   dafs  die  Vermuthung,  jene  reproductiven  Elemente, 
iie  zur  Assimilation  mit  den  perseverirenden  wach  wurden,  seien  Vorzugs- 
(reise  solche,   die  sich  mit  den  letzteren  häufig  im  Bewufstsein  fanden,  in 
seinen   Versuchen  Bestätigung  fand.    C.  fügt  aber  hinzu,   dafs  diese  Er- 
klärung nicht  für  jene  oft  ziemlich   „phantastischen  und  doch  scharf  um- 
rissenen   Phantasievorstellungen'^   ausreiche,    die    bei    manchen    Personen 
bäufig  seien,   er  enthält  sich  jedoch  eines  weiteren  Urtheils    über  diese 
NTorgänge.    Der  Abschnitt  schliefst  mit  der  nochmaligen  Betonung,  dafs  es 
sich  in   der  vorliegenden  Arbeit  nur  um  psychische   Vermittelung  der 
Associationen  handle,  es  wird  anerkannt,  dafs  auch  physische  Factoren, 
wie  die  momentane  Lage  und  die  durch  üebung  erworbenen  Dispositionen 
des  Articulationsmechanismus,  die  Association  mit  bestimmen  können. 

II.  Die  mittelbareAssociation.  Der  Verf.  bespricht  die  Versuche 
von  ScBiPTURE,  Ziehen,  Aschaefenbubo,  Smith,  Howe,  Münstebberg.  Das 
Wort  „unbewufst"  wird  im  Sinne  von  „unbemerkt"  genommen.  Bei  An- 
stellung von  Versuchen  nach  ScBiPTURE'schem  Muster  konnte  C.  keine 
einzige  mittelbare  Association  beobachten.  Ebenso  verhält  sich 
ier  Verf.  zum  gröfsten  Theil  ablehnend  gegenüber  den  von  Ziehen  ge- 
sogenen Folgerungen.  Eine  ausführlichere  Besprechung  ist  den  von 
V  SCHAFFENBURG  Veröffentlichten  Versuchen  gewidmet.  Ablehnend  steht  C. 
»uch  den  Versuchen  Aschaffenburg's  gegenüber,  in  denen  ein  durch  Klang- 
«sociation  angeregtes  Wort  als  Mittelglied  angenommen  wird.  Der  Verf. 
•chreibt:   „Ich  sträube  mich  gegen  die  AscHAFFBNBURo'sche  Deutung  dieser 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  ^ 


130  Jjiteratwrherkht, 

Fälle  nicht  deswegen,  weil  sie  mir  gegen  irgend  eine  Theorie  YeratieÜMii, 
sondern  nur  deswegen,  weil  ich  in  meinen  Versuchen  keinen  einiigen  der- 
artigen Fall  beobachtete,  wohl  aber  nicht  ganz  selten  Fftlle,  in  denen  die 
ersten  Bestandtheile  des  Reizwortes  vor  Apperception  de«  Ganzen  für  sich 
psychische  Phänomene  zu  Wege  brachten.  Ich  glaube  um  so  mehr  be- 
rechtigt zu  sein,  diese  Fälle  Aschaffenbubo's  zu  beanstanden,  als  die  £ik^ 
mit  der  die  Reaction  zu  erfolgen  hatte,  die  Selbstbeobachtung  der  Vp. 
überaus  erschweren  mufste."  Ueber  diejenigen  Versuche  AacHAFFXNBi7B6*8» 
in  denen  das  Reactionswort  dasselbe  ist  wie  in  einer  früheren  Association, 
deren  Reizwort  dem  jetzigen  verwandt  ist,  sagt  der  Verf. :  „Es  ist  zo  be- 
dauern, dafs  AscHAFFSNBUBG  nicht  mittheilt,  ob  die  Mittelglieder  überhzapt 
nicht  im  Bewufstsein  waren;  auch  bei  Aufnahme  dieser  Fälle  mag  manch- 
mal der  gleiche  Beobachtungsfehler  mitgespielt  haben Aber  da fg 

Fälle  characterisirter  Art  überhaupt  vorkommen,  ist  un- 
zweifelhaft." Ueber  Aschaffenbubo's  «paraphasische  Associa- 
tionen« äufsert  sich  C.  dahin,  dafs  diese  nicht  zu  den  mittelbaren 
Associationen  zu  zählen,  sondern  meistens  auf  Rechnung  des  Articulatiom- 
mechanismus  zu  setzen  seien.  Bei  der  Beschreibui;ig  seiner  eigenen  Xer- 
suche  zwecks  Erlangung  mittelbarer  Associationen  betont  C,  dala  aar 
„völlig  freie  Associationen"  von  ihm  gewünscht  wurden.  Er  moliti 
daher  um  seinen  Zweck  zu  erreichen,  möglichst  günstige  Versuchsbe« 
dingungen  einführen  und  benutzte  zunächst  „Doppelreihen  von  Worten, 
deren  erste  Hälfte  sämmtlich  einem  Gebiete  angehörten,  während  die 
zweite  Hälfte  aus  jenem  Gebiete  fremden  Worten  oder  sinnlosen  Silben, 
Zahlen  und  dergl.  bestand."  Bei  mannigfacher  Variirung  dieser  Versuche 
ergab  sich  ein  völlig  negatives  Resultat,  es  war  mit  Sicherheit  keine 
einzige  mittelbare  Association  zu  constatiren.  Bei  weiteren  Versuchen  mit 
starkem  Nebenreiz  ohne  Doppelreihen  ergaben  sich,  wie  C.  schreibt,  einige, 
obwohl  im  Verhältnifs  zu  der  hohen  Gesammtzahl  der  Versuche,  nur 
wenige  programmgemäfse  Fälle,  aus  denen  der  Verf.  aber  doch  nicht  das 
Vorkommen  mittelbarer  Associationen  zu  behaupten  wagt.  Er  fügt 
hinzu:  „Da  nun  aber  das  Vorkommen  mittelbarer  Associationen  ander 
weitig  sicher  gestellt  wurde,  bin  ich  nicht  geneigt,  die  Vorsicht  so  weit  lu 
treiben,  die  wenigen  bisher  gehörigen  Fälle,  die  der  schärfsten  uns  mög- 
lichen Kritik  stand  hielten,  nachträglich  wieder  in  Zweifel  zu  ziehen. 
Schliefslich  wurden  noch  andere  Methoden  versucht.  Hierüber  schreibt  C: 
„Die  Versuche  ....  ergaben,  dafs  neben  den  Fällen,  wo  auf  das  Reizwort 
einfach  das  zugehörige  sinnvolle  Wort  ....  »associirt«  wurde,  neben  den 
anderen  Fällen,  in  denen  das  Reizwort  nur  wiedererkannt  wurde,  ohne  n 
einer  Association  zu  führen,  auch  solche  vorkamen,  in  denen  das  zugehörige 
Wort,  ohne  selbst  für  sich  zum  Bewufstsein  zu  kommen,  den  Gang  des 
associativen  Verlaufs  bestimmt  hatte."  Die  Anzahl  dieser  Fälle  war  frei- 
lich gering,  doch  aber  glaubt  C.  aus  den  gewonnenen  Erfahrungen  die 
«mittelbare  Association«  im  Allgemeinen  psychologisch  characterisiren  in 
können.  Er  schliefst  hiervon  diejenigen  dreigliedrigen  Associationen  aus, 
„in  denen  das  mittlere  Glied  nur  flüchtig,  undeutlich  und  unklar,  aber  doch 
für  sich  bewufst  wird."  Diese  sind  den  dreigliedrigen  directen  Associationen 
zuzuzählen.    Als  mittelbare  Associationen  bezeichnet  C.  vielmehr  „nur  als 


Literaturherieht.  131 

sweigliedrigbewafst  gewordene  Associationen,  Associationen,  in  denen 
sich  dem  ^-Phftnomen  sofort  ein  J^fh&nomen  anschliefst,  das  dem  Er- 
lebenden deshalb  anffftllig  ist,  weil  es  nicht  mit  dem  ^-Phänomen  in  einem 
Zosammenhange  steht,  wie  er  sonst  bei  Associationen  beobachtet  zu  werden 
pflegt.**  Nach  C.  „ist  die  mittelbare  Association  an  verstehen  als  ein 
Specialfall  der  directen  zweigliedrigen  Associationen,  in  denen  das  J^Phftnomen 
ein  Vorstellnngen-Complex  (Begriffssphäre)  isf  Der  Verf.  sucht  dann  za 
zeigen,  dafs  die  Bildung  des  Terminus  «mittelbare  Association«  auf  einem 
MifsverständniXis beruht.  „»Vermittelt«  wird  die  in  Frage  stehende  Association 
durch  das  aus  dem  ^.-Phänomen  perseverirende  Moment;  auf  diese  Ver- 
mittelung  kann  das  Wort  «mittelbar«  nicht  gehen;  denn  gleiche  Ver- 
mittelung  ist  auch  bei  jeder  directen  Association  der  Fall.  Der  Unterschied 
zwischen  den  beiden  Associationsformen  liegt  nicht  in  der  Verknüpfung 
des  A'  mit  dem  ^Phftnomen,  sondern  darin,  welcher  Bestandtheil  des 
^Gomplexes  klar  und  deutlich  wird.  Sind  in  den  meisten  Fällen  die 
Elemente,  die  sich  innerhalb  des  jB-Complexes  zu  einer  deutlichen  Vor- 
stellung zusammenschlieÜBen,  unmittelbar  auf  den  perseverirenden ,  den 
i^-Complex  anregenden  Bestandtheil  des  il-Phänomens  bezogen,  so  haben 
in  unserem  Specialfall  die  zu  einer  Vorstellung  zusammenschlielsenden 
reproductiven  Elemente  ihren  Assimilationsmittelpunkt  aufserhalb  jenes 
perseverirenden  Bestandtheils.  Es  ist  also  im  ersteren  Falle  die  Verwandt- 
schaft der  hervortretenden  Vorstellung  mit  dem  A-Phänomen  thatsächlich 
eine  nähere,  unmittelbarere,  als  im  letzteren.  Und  deshalb,  meine  ich,  ist  der 
nun  einmal  eingeführte  Ausdruck  «mittelbare«  Association  als  Gegensatz 
von  «unmittelbar«  oder  «direct«  erträglich."* 

Die  Arbeit  wurde  in  Wundt's  Laboratorium  während  eines  Zeitraums 
von  3  Semestern  ausgeführt.  Sie  ist  in  hohem  Grade  interessant.  Beich 
an  mitgetheiltem  Versuchsmaterial  wie  an  neuen  Gesichtspunkten,  wird 
sie  zu  mannigfachen  weiteren  Arbeiten  auf  diesem  noch  viel  umstrittenen 
Gebiete  Anlaüs  geben.  Der  Verf.  bedauert,  dafs  er  seine  Arbeit  aus  Mangel 
an  Zeit  unterbrechen  mufste,  hofft  aber  mit  dem  vorliegenden  anderen 
Arbeitern  unnöthige  Mühe  erspart  zu  haben.  Wie  man  den  Folgerungen  des 
Verf. 's  auch  gegenüberstehen  mag,  so  wird  man  ihm  für  die  sorgfältige 
Durchführung  der  Untersuchung  und  die  Anregungen,  die  sie  bietet,  immer 
zu  grofsem  Danke  verpflichtet  bleiben.  —  Kiesow  (Turin). 


M.  W.  Calkins.   Ab  Attempted  Experiment  in  PsychologicU  Aesthetics.   PaychoL 

BevUw  7  (6),  580—591.    1900. 

Mifs  CALxnrs  suchte  festzustellen,  wie  und  warum  Personen  von  ver- 
schiedenem Lebensalter  gegenüber  verschiedenen  bildlichen  Darstellungen 
sich  verschieden  verhalten.  Zwei  Bilder  wurden  gezeigt,  eine  farbige 
Lithographie,  darstellend  ein  junges  Mädchen,  und  eine  farblose  Photo- 
graphie von  Chantron's  Souvenir.  Das  Bild,  das  der  Versuchsperson  besser 
gefiel,  wurde  dann  noch  einmal  mit  einem  dritten  Bilde  verglichen,  einer 
Photographie  eines  violinspielenden  Engels.  Die  Versuchspersonen  wurden 
o  Classen  entnommen,  1.  dem  Kindergarten,  2.  dem  vierten  Schuljahr, 
3.  dem  neunten  Schuljahr,  4.  dem  ersten  Collegejahr,  5.  dem  vierten  College- 


132  Literaturbericht 

jähr.  Die  Collegestudenten  waren  weiblichen  Greschlechte,  die  Schüler 
Knaben  sowohl  wie  Mädchen.  Nach  vollzogener  Wahl  wurden  alle  drei 
Bilder  zusammen  gezeigt  und  Gründe  für  die  Wahl  verlangt.  Ans  den 
KindergartenzOglingen  war  natürlich  in  dieser  Hinsicht  nicht  viel  heraas- 
zubringen;  etwas  mehr  aus  den  übrigen  Versuchspersonen.  Die  kleinen 
Kinder  scheinen  weniger  dem  ganzen  Bilde  als  einzelnen  Theilen,  die 
ihnen  bekannte  Gegenstände  darstellen,  ihre  Aufmerksamkeit  zu  schenken 
und  demgemäfs  ihre  Wahl  zu  vollziehen.  Ein  Kind  sagt  z.  B.,  der  Engel 
sei  am  schönsten,  denn  er  habe  ,, Locken  wie  ich".  Aufserdem  macht  die 
Farbe  einen  starken  Eindruck  auf  diese  kleinsten  Studenten.  Die  älteren 
Kinder  betonen  den  Ausdruck  einer  Gemüthsbewegung,  oder  geben  die 
Natürlichkeit  des  Bildes  als  Grund  ihrer  Wahl  an.  Für  die  Collegestndenten 
ist  die  Zeichnung,  Pose  und  Bedeutung  der  Figuren  von  gröjCstem  Einflois. 

Max  Meyer  (Columbia,  Missouri). 

C.  H.  Shebrinoton.    Experimentätion  on  Emotion.   Nature  (2.  Aug.),  32&-330. 

1900. 
Verf.  bringt  gegen  die  bekannte,  von  Lange,  James  und  Sebgi  Ter- 
tretene  Theorie,  dafs  die  Gefühle  nicht  die  Ursache  der  sog.  Ausdmcks- 
bewegungen  seien,  sondern  umgekehrt  die  Wirkung  derselben,  das  Be- 
wufstwerden  der  durch  Wahrnehmungen  oder  Vorstellungen  ausgelosten 
Vorgänge  in  den  Muskeln,  der  Haut  und  den  Eingeweiden,  Experimente 
vor,  die  er  an  einem  Hunde  gemacht  hat.  Er  hatte  den  Hund  anästhetinrt 
und  glaubte  damit,  für  diesen  eine  Wahrnehmung  jener  inneren  VorgSnge 
ausgeschlossen  zu  haben.  Trotzdem  beobachtete  er  sämmtliche  Bewegungen, 
welche  unter  normalen  Umständen  auf  bestimmte  Gefühlserregungen  ge- 
deutet werden.  Und  so  scheint  ihm  die  in  Frage  stehende  Theorie  durch 
das  Experiment  widerlegt  zu  sein.  Offneb  (München). 

Ch.  S.  Myebs.    Ezperimentation  on  Emotion.    Mind,  N.  s.  10  (37),  114-115. 

1901. 
Diesen  Ausführungen  hält  Mtebs  entgegen,  dafs  alle  diese  Ausdmcb- 
bewegungen  auch  von  einem  Hunde  gemacht  werden  können,  der  die  von 
uns  aus  ihnen  erschlossenen  Gemüthsregungen,  Grefühle  nicht  hat.  Es 
gehe  zu  weit  anzunehmen,  der  Hund  müsse  in  jedem  Falle,  wo  wir  diese 
Bewegungen  an  ihm  sehen,  auch  die  entsprechenden  Gefühle  haben.  Mig 
der  Hund  anästhetisch  sein  oder  nicht,  mag  seine  Gehirnrinde  vorhanden 
sein  oder  nicht,  geeignete  Reize  bewirken  jederzeit  ein  Schweifwedeln, 
Zurücklegen  der  Ohren,  eine  Erweiterung  der  Pupillen  und  ein  zwingend« 
Beweis  für  —  oder  gegen,  fügen  wir  hinzu  —  jenen  begleitenden  psychischen 
Factor,  das  Gefühl,  ist  in  keinem  Fall  gegeben.  So  findet  Myers  die  Lakgi- 
jAME'sche  Theorie  durch  Sherbington's  Experiment  keineswegs  geföhrdet 

Offneb  (München). 

J.  Labgüiers  des  Bakcels.   Las  mitbodos  de  restbitfqne  ezp irlmentale.  Ftniei 

et  COalenrs.    Annie  psychologique  6,  144—190.    1900. 
Die  Arbeit  ist  ein  ausführliches  kritisches  Referat  über  die  experi- 
mentellen Untersuchungen  zur  Aesthetik  der  Formen  und  Farben  (Fechksb, 
WiTMBB^  CoHN,  Majob,  Piebce).     Sie  kann  als  orientirende  Uebersicht  gnte 
Dienste  leisten.  W.  Stebn  (Breslau). 


JjiteratwrberichL  133 

Santbnoise.    Religion  et  folie.    Bev.  philos,  50  (8),  142—164.    1900. 

Die  Beziehungen  zwischen  Keligion  und  Wahnsinn  sind  bisher  nur 
ungenügend  studiert  worden,  sofern  man  dabei  nur  den  religiösen  Wahn 
ins  Auge  gefafst  hat  Es  existirt  aber  nach  S.  kein  wesentlicher  Unter- 
schied zwischen  normalem  und  pathologischem  religiösem  Gefühl,  sondern 
nur  ein  Gradunterschied.  Und  es  sind  mehrere  psychische  Phänomene, 
welche  man  bei  der  normalen  Religion  trifft,  identisch  mit  einigen  von 
denjenigen,  welchen  man  bei  den  Krankheiten  der  Sinne  begegnet. 

Man  kann  die  Wahnideen  nach  Ball  und  Ritti  in  8  Classen  eintheilen  : 
Ideen  von  Genugthuung,  Gröfse,  Reichthum,  Ideen  von  Erniedrigung,  Yer- 
zweifelung,  Verfall,  Verfolgungsideen,  hypochondrische,  religiöse,  erotische, 
Ideen  von  der  körperlichen  Umwandlung  des  eigenen  Ich  oder  der  Um- 
gebung, Wahnideen  mit  Bewufistsein  z.  B.  Agoraphobie,  Topophobie, 
Claustrophobie,  Zweifelsucht,  Berührungsdelirium.  Der  religiöse  Glaube  — 
speciell  der  katholischen  Religion  —  enthält  von  diesen  Ideen  die  der 
Gröfse,  Demuth,  Verfolgung.  Hierzu  kommt  die  Idee  des  Schutzes.  Verf. 
bespricht  dies  nun  im  Einzelnen.  Die  Idee  der  Gröfse  findet  man  bei  den 
Priestern.  Im  Gegensatz  hierzu  wird  der  Masse  der  Gläubigen  Demuth  als 
Tugend  gepredigt :  Das  Leben  ist  voller  Thränen  und  Elend,  nichts  als  eine 
Vorbereitung  auf  den  Tod.  Der  Christ  wird  dadurch  in  eine  Art  religiöser 
Melancholie  versetzt.  Er  glaubt  femer,  fortwährend  vor  dem  Teufel  auf 
seiner  Hut  sein  zu  müssen:  also  die  Idee  der  Verfolgung.  Alle  diese  Er- 
scheinungen können  von  Hallucinationen  begleitet  sein :  Erscheinen  Gottes, 
der  heiligen  Jungfrau,  der  Engel,  des  Teufels. 

Dies  waren  die  positiven  Phänomene,  welche  die  Religion  hervor- 
bringt. Die  negativen  gehören  theils  dem  Sensoriellen,  theils  dem  Affectiven 
an.  Die  Religion  polarisirt  gleichsam  das  seelische  Leben.  Denn  das 
religiöse  Gefühl  in  seiner  höchsten  Entwickelung,  der  Zustand  der  religiösen 
Exstase  besteht  darin,  dafs  die  Gläubigen  mit  offenen  Augen  nichts  sehen, 
nichts  hören,  nichts  fühlen.  Sie  werden  gefühllos,  sie  sollen  ja  Jesu  zu  Liebe 
auf  Vater,  Mutter,  Gattin,  Kinder,  Brüder  und  Schwestern  verzichten. 
Alles  dies  hat  nun  einen  krankhaften  Charakter  als  Folge.  Der  Christ  soll 
auf  die  Freuden  der  Erde  verzichten,  er  quält  sich  mit  Fasten, 
Kasteiungen  u.  s.  w.  und  schädigt  dadurch  seinen  Organismus. 

Immerhin  aber  ist  die  Religion  weder  eine  nothwendige,  noch  hin- 
reichende Ursache  des  Wahnsinns.  Sie  schafft  nicht  die  Ideen  der  Gröfse 
oder  der  Verfolgung,  sondern  sie  giebt  ihnen  nur  eine  Form.  Andererseits 
mufs  man  zu  Gunsten  der  Religion  anerkennen,  dafs  die  Religion,  wie 
Taibe  ausführt,  einen  heilsamen  moralischen  Einflufs  ausgeübt  hat,  und 
dafs  sie  den  Menschen  zu  einem  hohen  Grad  von  Reinheit  führt.  In  den 
Zeiten  der  Irreligiosität  sank  auch  der  Mensch  von  seiner  sittlichen  Höhe. 
Religion  kann  durch  nichts  ersetzt  werden.  — 

Die  Ausführungen  des  Verf.'s  haben  Ref.  nicht  davon  überzeugen 
können,  dafs  die  normale  Religion  Elemente  des  Irrseins  enthält.  Denn 
was  die  gefährlichste  der  drei  genannten  Ideen  anbetrifft,  die  Idee,  dafs 
der  Christ  allezeit  vor  den  Verführungen  des  Satans  auf  seiner  Hut  sein 
mufs,  so  wird  ein  Mensch  mit  gesundem  Gehirn  diese  Idee  niemals  bis 
zu  einer  Verfolgungsidee  ausarten  lassen.    Dasselbe  gilt  noch  viel  raabct 


134  LiteraturberichU 

von  den  beiden  anderen  Ideen.  Allerdings  ist  nicht  zu  leugnen,  dafs  die 
katholische  Religion  mit  ihren  übertriebenen  Bet-  und  BuDsttbungen  all- 
mählich im  Gläubigen  einen  pathologischen  Zustand  erzeugen  kann,  nnter 
dessen  Einflufs  dann  die  religiösen  Ideen  zu  pathologischen  werden.  Im 
Uebrigen  kann  sehr  leicht  ein  zur  Geisteskrankheit  neigender  Mensch  die 
religiöse  Idee  zu  seiner  Wahnidee  erheben,  aber  ebensogut  auch  jede 
andere  Idee,  so  dafs  man  von  einer  speciellen  Disposition  der  reli^ 
Beanlagten  zur  Geisteskrankheit  nicht  gut  reden  kann.  Die  ähnlichen  Be- 
ziehungen zwischen  Religion  und  Wahnsinn  liegen  meiner  Ansicht  nzch 
vielmehr  in  der  allgemeinen  Richtung  auf  das  üeberschwängliche,  die  sich 
bekanntlich  bei  gewissen  Formen  des  Wahnsinns  findet.  Der  Volksmiud 
bezeichnet  ja  auch  wohl  das  Verrückt  werden  als  das  „Steigen  in  die  vierte 
Dimension."  —  Der  letzte  Theil  der  Arbeit  bildet  einen  merkwürdigen 
Contrast  zu  dem  Geiste,  der  die  vorausgehenden  beseelt,  obwohl  seine 
Richtigkeit  anerkannt  werden  mufs.  Gisssleb  (Erfurt). 


Gh.  ¥tB&,  L'instiiiet  soxnel,  ivolation  et  dissolntion.  Paris,  Alcan,  1899. 
340  S. 
Instinct  ist  nach  FtRt  ein  complicirter  Reflex,  durch  welchen  ange- 
borene Fähigkeiten  auf  äufseren  Reiz  ausgelöst  werden.  Der  geschlecht- 
liche, der  Rassenerhaltung  gewidmete  Instinct  entwickelt  sich  beim 
Menschen  später  als  der  Selbsterhaltungstrieb.  FtsA  unterscheidet  dtrin 
zwei  Formen,  1.  Instincte,  die  sich  auf  sexuelle  Anlockung  und  Verfolgong 
beziehen  und  2.  solche,  die  eine  dauernde  Vereinigung  und  den  Schutz  der 
Nachkommenschvft  erstreben.  Alle  peripheren  Reizungen,  alle  Vorstellungen, 
Gemüthsbewegungen,  welche  auf  den  Organismus  einwirken,  beeinflussen 
auch  das  Geschlechtsleben.  Bei  civilisirten  Wesen  sind  Erregung  der 
Sinne,  wie  moralische  und  intellectuelle  Eigenschaften  für  die  (reschlechtB- 
wahl  von  grofser  Bedeutung.  Nach  der  Ansicht  des  Verf.'s  erwächst  m 
der  Vereinigung  zweier  mittelmäfsiger  Menschen  oft  eine  werthvollere 
Kachkommenschaft  als  aus  der  unglücklichen  Ehe  zwischen  hochbegabten 
Individuen.  Jedes  Mal  wenn  eine  Gattung  aufhört,  durch  ihre  Fruchtbar 
keit  zu  kämpfen,  bringt  sie  besser  entwickelte  Nachkömmlinge  hervor  and 
läfst  ihnen  mehr  Sorgfalt  angedeihen.  Die  Vervollkommnung  der  Er 
Ziehung  vermindert  die  Nothwendigkeit  der  Anzahl.  Das  ist  eine  Thateache, 
die  man  bei  Fischen,  Reptilien  und  allen  nieder  organisirten  Thieren  wahr- 
nehmen kann.  Die  Vögel,  deren  Nest  am  sorgfältigsten  gemacht  ist,  legen 
die  wenigsten  Eier.  Ebenso  bei  den  Menschen.  Die  Töchter  der  wilden 
Rassen  verheirathen  sich  sehr  früh.  In  dem  Maafse  wie  die  Givilisation 
vorrückt,  wird  das  Heirathsalter  hinausgeschoben,  obgleich  der  Greschlechts- 
trieb  schon  früher  erwacht.  Die  Anzahl  der  Nachkommen  vermindert  »ich, 
wobei  die  Erziehung  des  einzelnen  wächst. 

Interessant  ist  die  allerdings  nicht  einwurfsfreie  atavistische  Auf- 
fassung der  Entartung  des  Geschlechtstriebes.  Nach  FtRt  werden  Tendern 
zu  regelloser  Polygamie,  zu  geschlechtlicher  Zügellosigkeit  und  Neigung 
zur  Prostitution  bei  der  senilen  und  pathologischen  Regression  geistes- 
schwacher Individuen  vorzugsweise  beobachtet.    Jedes  noch  so  geringe  ib- 


Literaturberieht  135 

weichen  verrftth  nach  dem  Autor  einen  Fehler  in  der  Entwickelung.  Dieser 
atavistische  Entwickelongsfehler  drückt  sich  für  den  ganzen  Organismus 
als  ein  Mangel  der  Anpassungsfähigkeit  an  das  actuelle  Milieu  aus.  Für 
den  Greschlechtstrieh  bildet  die  vorzeitige  oder  verspätete  Entwickelung 
die  Basis  su  Perversionen.  Die  erste  Stufe  der  Entartung  beginnt  damit, 
dafs  der  Familieninstinct,  das  Interesse  am  Schutz  der  Neugeborenen,  an  der 
dauernden  ehelichen  Verbindung  zurücktritt.  Als  noch  ernsteres  Symptom 
fafst  FtRt  den  Verlust  des  sexuellen  Anlockungs-  und  Verfolgungstriebes 
auf,  weil  dadurch  die  Chancen  der  Zuchtwahl  verringert  werden.  Wenn 
das  unbefriedigte  Verlangen  psychisch  defecter,  mit  mangelhaften  Instincten 
und  mangelhaften  Mitteln  der  Verfolgung  begabten  Individuen  zur  defini- 
tiven Resignation  führt,  so  ist  das  ein  anderer  Procefs  der  Entartung.  In 
vielleicht  übertriebener  Auffassung  dieses  Princips  geht  FtBA  so  weit,  selbst 
den  Nothzuchtsact  als  atavistisches  Phänomen  hinzustellen. 

Die  Entartung  des  Geschlechtstriebes  kann  sich  äufsem  einerseits  im 
^Fehlen  des  Anlockungs-  und  Paarungsinstinktes  (bei  getrennter  Entwickelung 
und  Ernährungsstörungen),  in  absoluter  sexueller  Apathie,  in  asexueller 
mechanischer  Onanie,  andererseits  in  sexueller  Perversion  und  in  der 
Eliminirung  der  geschlechtlichen  Tendenzen,  welche  beim  Mann  in  Ver- 
weiblichung  und  beim  Weib  in  Vermännlichung  bestehen.  Die  Effemination 
beg^nt  mit  der  Thatenlosigkeit  und  dem  Mangel  an  Initiative,  die  Viragi- 
nität  tritt  in  den  Bestrebungen  der  Frauenbewegung  deutlich  hervor. 
Diese  Bewegung  selbst  ist  ebenfalls  nach  FtRt  ein  bedeutender  Factor  der 
Entartung. 

In  logischer  Weiterführung  seines  Standpunktes  verlangt  der  Verf., 
dafs  Individuen  mit  perversen  Neigungen  an  der  Fortpflanzung  gehindert 
würden,  da  sie  die  Zukunft  der  Rasse  bedrohen.  Die  Aufgabe  der 
Suggestionstherapie  sei  hier,  völlige  Enthaltsamkeit  zu  erziehen  anstatt  der 
Herstellung  normaler  sexueller  Rapporte. 

Wenn  die  ärztliche  Intervention  auch  hier  den  Privatinteressen  dient, 
so  geschieht  das  nach  Fftiut  auf  Kosten  der  Gesellschaft. 

Gewifs  steckt  in  der  atavistischen  Lehre,  wie  sie  vom  Verf.  in 
geistreicher  Weise  dem  ganzen  Werke  zu  Grunde  gelegt  wird,  ein  Wahr- 
heitskem.  Indessen  sind  andere  Erklärungsmöglichkeiten  für  zahlreiche 
Formen  sexueller  Abweichungen  kaum  berücksichtigt;  so  werden  z.  B.  das 
Streben  der  Natur  nach  Variabilität,  die  grofse  Anpassungsfähigkeit  des 
menschlichen  Trieblebens,  die  Neigung  zur  Abwechselung,  die  Bestimmbar- 
keit derselben  durch  äufsere  Einflüsse  etc.  kaum  berücksichtigt.  Solange 
es  nicht  wissenschaftlich  feststeht,  welcher  Antheil  in  einer  entwickelten 
psycho-sexuellen  Erkrankung  der  Vererbung,  welcher  Antheil  der  An- 
passung, dem  Milieu  zukommt,  solange  erscheint  es  verfrüht,  weitgehende 
Theorien  über  die  hereditären  Folgen  des  perversen  Geschlechtslebens  sowie 
über  sexuelle  Rassenverbesserung  aufzustellen.  Die  Gefahren,  welche  nach 
FtBA  die  Zukunft  unserer  Rasse  bedrohen,  bedürfen  vorläufig  noch  selbst 
eines  Beweises!  Seine  Vorschläge  dürften  auch  kaum  durchführbar  sein, 
so  z.  B.  gegenüber  der  Prostitution,  die  nachgewiesenermaafsen  so  alt  ist, 
wie  die  Menschheit  überhaupt.  Dafs  sexuelle  Zwangsrichtungen  sich  stets 
vererben,  ist  vorerst  nicht  bewiesen;  dagegen  ist  bewiesen,  daüs  sexuelle 


136  Literatiirbericht 

Abweichungen,  die  nach  F£r£  und  v.  Krafft-Ebino  zu  der  im  Embryo  prä- 
formirten  Entartungsform  gehören  sollen,  vollkommen  eorrecturfähig  eind, 
bis  zu  einem  solchen  Grade,  dafs  derartige  Individuen  im  Stande  sind, 
eine  Familie  zu  gründen  und  normale  Kinder  zu  erzeugen.  Sobald  der 
Arzt,  wie  Ftiuk  es  wünscht,  anfinge,  als  Reformator  auf  socialem  Gebiet 
nur  im  Interesse  der  Allgemeinheit,  das  ja  oft  genug  dem  des  In- 
dividuums widerstreitet,  aufzutreten,  so  kämen  ganz  unhaltbare  Zustände. 
Höchstens  ein  Viertel  aller  Menschen  dürften  sich  fortpflanzen !  Denn  e« 
giebt  wohl  heute  kaum  eine  Familie,  in  der  sich  nicht  eine  Yererbnngs- 
tendenz  nach  irgend  einer  pathologischen  Richtung  hin  nachweisen  lieOse. 
Völlige  sexuelle  Enthaltsamkeit  von  Individuen  zu  verlangen,  die  erfahrongs- 
gemäfs  neben  ihrer  perversen  Geschmacksrichtung  oft  auch  unter  einer 
anormalen  Stärke  ihres  Geschlechtstriebes  (bis  zu  Zwangshandlangen) 
leiden,  ist  ebenfalls  ein  undurchführbares  Ideal!  Und  aufserdem  ist 
sexueller  Rapport  noch  durchaus  nicht  immer  identisch  mit  Befruchtung. 
Es  mag  Fälle  geben,  in  denen  der  Geschlechtsverkehr  wünschenswerth  ist, 
dagegen  die  Fortpflanzung  besser  vermieden  wird  1  Gegen  Anwendung  eines 
sicheren  anticonceptionellen  Mittels  bei  solchen  Individuen  dürfte  vom 
Standpunkt  einer  vernünftigen  sexuellen  Hygiene  kaum  etwas  einzu- 
wenden sein. 

Mit  den  hier  kurz  besprochenen  Grundlagen  des  F£B£*schen  Werkes 
steht  und  fällt  der  Inhalt  der  übrigen  Capitel,  welcher  lediglich  die  ein- 
zelnen Hypothesen  weiter  ausbaut  und  im  Ganzen  sich  eng  an  die  bekannte 
Lehre  und  Eintheilung  von  v.  KIbafpt-Ebing  anschliefst.  Da  die  letztere 
hinreichend  bekannt  ist,  so  kann  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  darauf  ein- 
gegangen werden.  von  Schbenck-Notzing  (München). 

G.  T.  W.  Patmck.    The  Psycbology  of  Profanity.    Psychol.  Review  8  (2),  llS-127. 
1901. 
Der  Verfasser  stellt  sich  die  beiden  Fragen:    Warum  flucht  man  und 
warum   gebraucht  man  dazu  die  besonderen  Worte,  die  man  gebraucht? 
Er  weist  darauf  hin,  dafs  die  Beantwortung  dieser  Fragen  von  Wichtigkeit 
ist  für  die  Probleme  des  Ursprungs  der  Sprache  und  der  Beziehung  zwischen 
Gemüthsbewegungen  und  ihrem  Ausdruck.    Er  unterscheidet  zunächst  die 
beiden  Arten  von  swearing  (das  englische  Wort  ist  doppeldeutig),  nämlich 
feierliche  Versicherung  und   blofsen  Ausruf.     Die   zweite  Art  (profanity) 
will  er  näher  untersuchen.    Er  unterscheidet  sieben  Classen  von  Flüchen: 
1.  Namen  von  Gottheiten,  Engeln  und  Teufeln.    2.  Namen,  die  zur  Religion 
irgendwie   in  Beziehung   stehen,   wie  Sacrament,   Kreuz.     3.  Namen  von 
heiligen  und  biblischen  Personen,  wie  Maria  und  Joseph.    4.  Namen  von 
heiligen  Orten.    5.  Wörter,  die  zum  künftigen  Leben  in  Beziehung  stehen, 
wie  Himmel,  Hölle,  verdammt.    6.  Vulgäre  Ausdrücke,  die  man  in  guter 
Gesellschaft  nicht  gebraucht.    7.  Wörter,  die  aus  verschiedenen  Gründen 
eine  starke  Wirkung  haben,  wie  tausend.    Solche  Wörter  haben  jedoch  ge- 
wöhnlich auch  eine  Beziehung  zu  religiösen  Begriffen.    Die  Greschichte  des 
Fluchens  lehrt  uns,   dafs  ein  gewisser  Zusammenhang   besteht  zwischen 
diesem  Laster  und  der  Religiosität  eines  Volkes.    Bei  den  alten  Israeliten 
war  es  so  gewöhnlich,  dafs  ein  besonderes  Verbot  dagegen  nothwendig  war. 


LUerahirbericht  137 

Bei  den  weniger  ernsten  Griechen  war  es  verhältnirsmäfsig  selten.  Aehn« 
liehe  Verhältnisse  findet  man  in  neueren  Zeiten.  Goddam  war  zeitweilig 
der  Spitzname  des  religiösen  Engländers. 

Man  ist  leicht  geneigt  die  Frage  nach  dem  Zweck  des  Fluchens  dahin 
zu  beantworten,  dafs  es  eine  Art  von  xa&a^is  sei :  Man  wird  die  Spannung 
los,  die  unerträglich  geworden  ist  Der  Verf.  lehnt  jedoch  diese  Theorie 
ab,  oder  will  ihr  wenigstens  nur  untergeordnete  Bedeutung  beimessen.  Die 
Sprechorgane  sind  kein  besonders  geeigneter  Canal  zur  Ableitung  über- 
schüssiger Energie.  £r  zieht  es  vor,  die  Gewohnheit  des  Fluchens  genetisch 
zu  erklären.  Der  Urmensch,  der  einen  Gegner  abzuwehren  hatte,  bediente 
sich  aller  möglichen  Mittel,  um  ihm  Schrecken  einzujagen.  Hierzu  sind 
natürlich  die  Namen  von  Naturgewalten  (Donnerwetter)  und  Gottheiten 
ganz  besonders  geeignet.  Je  gröfser  der  shock  ist,  den  die  Worte  her- 
vorrufen, um  so  besser  für  den,  der  sie  gebraucht.  Die  Entwickelung  der 
religiösen  Anschauungen  macht  dann  die  Wahl  der  Fluchworte,  wie  wir 
sie  jetzt  finden,  leicht  verständlich.        Max  Meyer  (Columbia,  Missouri). 

Katmond  Dodoe.  The  Psycbology  of  Reading.  Fsychol.  Review  8  (1),  56—60. 
1901. 
Dodoe  kritisirt  Zeitlbr*8  Artikel  „Tachistoskopische  Versuche  über 
das  Lesen'^  in  Wündt's  Studien,  Bd.  16.  Er  hält  Zbitler*s  Unterscheidung 
zwischen  Lesen  mit  Apperception  und  mit  Assimilation  für  nicht  glücklich 
und  wendet  sich  namentlich  gegen  die  Behauptung  Zbitleb's,  dafs  seine 
Versuchspersonen  während  der  kurzen  Darbietungszeit  von  0,01"  bis  0,1'' 
eine  Bewegung  der  Aufmerksamkeit  über  einzelne  Buchstaben  der  gelesenen 
Wörter  wahrgenommen  hätten.  Max  Meyeb  (Columbia,  Missouri). 


Simon.    Ezpiriencos  de  snggestions  snr  les  dibiles.    Ännee  psychologique  6, 

441--484.  1900. 
Eine  Reihe  von  ,tests',  welche  Binbt  zur  Prüfung  der  Suggestibilität 
in  seinem  Buch  „la  Suggestibilit^"  beschrieben  und  unter  Anderem  an 
normalen  Schulkindern  angewandt  hat,  werden  von  Simon  an  27  geistig 
schwachen  Kindern  executirt.  Diese  Kinder  zeigten  ebenfalls  einen  hohen 
Grad  suggestiver  Beeinflufsbarkeit ,  doch  blieben  sie  hierin  hinter  den 
normalen  Kindern  zurück.  S.  analysirt  die  Ergebnisse  im  Einzelnen  und 
sucht  nach  ihnen  die  Kinder  in  eine  Reihe  von  Typen  einzutheilen. 

W.  Stern  (Breslau). 

Emil  Kräpelin.   EiBführang  in  die  Psychiatrische  Klinik.   Dreifsig  forlesnngen. 

Leipzig,  J.  A.  Barth,  1901.  328  S. 
In  manchen  Kliniken  ist  es  Sitte,  dafs  der  Lehrer  am  Schlüsse  des 
Semesters  seinen  Zuhörern  eine  gedruckte  Uebersicht  über  die  im  Laufe 
des  Semesters  vorgestellten  Krankheitsfälle  mit  besonderer  Hervorhebung 
der  wichtigsten  Gesichtspunkte  zukommen  läfst.  Das  ist  entschieden  nach- 
ahmenswerth;  der  jedesmalige  Gebrauch  des  Heftes  wird  den  Studenten 
an  die  in  der  Klinik  empfangenen  Eindrücke  lebhaft  erinnern  und  eine 
Wiederholung  der  Anschauung  ermöglichen. 


138  Literaiurbericht 

Eine  ähnliche  Absicht  schwebte  Verf.  vor,  als  er  das  xa  bespiecheiide 
Buch  schrieb.  Es  soll  und  kann  sein  Lehrbuch  der  Psychiatrie  lüchttt- 
setzen,  sondern  es  soll  den  Neuling  in  die  psychiatrische  Klinik  einfOhnt 
und  ihm  eine  Anleitung  zur  klinischen  Beobachtung  Geisteskranker  gdwn 
Dieser  Aufgabe  wird  das  Buch  in  vollem  Maafse  gerecht 

An  der  Hand  prägnant  geschilderter  und  vortrefflich  ausgesachter 
Krankheitsbilder  erörtert  Verf.  die  Klinik  der  verschiedenen  Psychom 
und  legt  ganz  besonderen  Werth  auf  die  Stellung  der  Diagnose  and  die 
eingehende  Begründung  der  Differentialdiagnose.  Mit  besonderem  Nach- 
druck wird  immer  wieder  auf  die  Bedeutung  des  Satzes  verwiesen,  dals  du 
einfache  Zustandsdiagnose,  wie  z.  B.  Blödsinn,  Stupor,  Melancholie,  um 
nicht  genügen  dar^  dafs  wir  vielmehr  versuchen  müssen,  an  der  Hand 
dieser  oder  jener  wesentlichen,  charakteristischen  Erscheinungen,  onter 
Berücksichtigung  des  bisherigen  Verlaufs,  unter  Verwerthung  der  Itio- 
logisch  bedeutsamen  Momente  zu  einer  exacten  Diagnose  zu  gelang». 
Damit  wird  uns  auch  die  Möglichkeit  gegeben,  eine  Prognose  zu  Btelkn, 
was  um  so  wichtiger  ist,  als  unser  therapeutisches  Können  oft  versagt 
Jede  Form  von  Psychose,  die  zu  einem  Zustand  geistiger  Schwäche  fahrt, 
endigt  mit  einem  gerade  für  diese  Form  charakteristischen  Schwachsinn; 
Verlauf  und  Ende  der  Krankheit  stimmen  in  den  grundlegenden,  nidit 
nur  vorübergehend  auftretenden  Störungen  überein,  und  das  ermöglicht 
die  Prognostik. 

In  anziehender  Weise  und  anregender  Form,  mit  didactischem  G^ 
schick,  mit  einer  feinen  Beobachtungsgabe,  die  auch  ganz  unscheinbue 
Züge  zu  verwerthen  weifs,  begründet  K.  in  jeder  der  mitgetheilten  Krank* 
heitsgeschichten  die  Diagnose  und  berichtet  über  das  weitere  Schickstides 
Kranken.  Offen  bekennt  auch  Verf.,  wo  und  wann  er  früher  zu  einer 
falschen  Auffassung  dieses  oder  jenes  Falles  gekommen  ist.  Nebenher  sind 
sociale  und  gerichtsärztliche  Bemerkungen,  vor  Allem  aber  therapeütiaefae 
Winke  und  Rathschläge  eingestreut. 

Ref.  glaubt  nicht  fehlzugehen  in  der  Annahme,  dals  sich  auch  vor- 
liegendes Buch  bald  einer  ebenso  grofsen  Beliebtheit  und  Verbreitung 
erfreuen  wird  wie  des  Verf.'s  Lehrbuch.  Jedenfalls  ist  heute  wohl 
kaum  ein  Buch  geeigneter,  den  Studenten  in  die  Klinik  einzuführen,  ihm 
Interesse  für  die  Psychiatrie  einzuflöfsen  und  ihn  zu  selbständigem  Denken 
anzuregen.  Ernst  Schultzb  (Andernach). 

Th.  Simon.   Recbercbes  antbropomitriqnes  snr  223  garfons  anormaoz  agis  <il 

i  23  ans.  Anne^  psychologique  6,  191—247.  1900. 
Um  die  Beziehung  zwischen  geistiger  und  körperlicher  Entwickelnng 
festzustellen,  untersuchte  S.  an  223  geistig  zurückgebliebenen  Knaben  ver- 
schiedenen Alters  Gröfse,  Brustumfang,  Schultembreite ,  Kopf  umfang, 
Gewicht  und  Spannweite  der  Arme.  Von  den  durch  zahlreiche  Tabellen 
und  Curven  belegten  Ergebnissen  seien  erwähnt:  Das  physische  Wach»- 
thum  des  Körpers  verlangsamt  sich  von  Jahr  zu  Jahr  und  weist  eigenthflm- 
liehe  Oscillationen  auf,  indem  in  den  Alterstufen  von  10  zu  11  und  von 
12  zu  13  Jahren  fast  stationäre  Zustände  bestehen.  Zum  Wachsthum  der 
Gröfse  steht  das  Wachsthum  aller  anderen  Maafse  in  ziemlich  gleichmäfnger 


Literaturbericht  139 

Proportionalitftt.  Ein  Vergleich  der  S/schen  Statistik  mit  den  an  normalen 
Kindern  aufgenommenen  Statistiken  anderer  Anthropologen  ergiebt  eine 
Inferiorität  der  geistig  abnormen  in  Bezug  auf  Gröfse,  Brust-  und  Kopf- 
umfang. Wurden  die  von  S.  untersuchten  Kinder  in  Idioten  einerseits, 
geistig  Zurttckgebliebene  andererseits  eingetheilt,  so  zeigten  die  Letzteren 
durchweg  beträchtlich  höhere  Durchschnittsmaafse  als  die  Idioten  gleichen 
Alters.  £s  besteht  also  hier  eine  unleugbare  Parallelität  zwischen  körper- 
licher und  geistiger  Entwickelung.  W.  Stkrn  (Breslau). 

E.  Clapar^de.    Reme  gfoiralo  snr  ragnosio  (cidti  psychiqne  etc.).    Ann^e 

psychologique  6,  74—118.    1900. 

—    BlbliograpUe  snr  Fagnoiio.   Ebda,  119—143.    1900. 

C.  fafst  unter  dem  Namen  „Agnosie"  alle  jene  pathologischen  Er- 
scheinungen zusammen,  in  denen  bei  intactem  Sehorgan  die  Auffassung 
und  Verwerthung  der  Gresichtseindrücke  gestört  ist:  Seelenblindheit, 
Asymbolie,  optische  Aphasie  etc.  Er  giebt  im  ersten  Artikel  einen  orien- 
tirenden  Ueberblick  Ober  die  Arten  der  Agnosie,  die  bisher  bekannten 
Thatsachen  (namentlich  nach  der  psychologischen  Seite  hin)  und  den  Stand 
der  Theorien.  Der  zweite  Artikel  enthält  eine  alphabetische  Bibliographie 
von  177  Nummern,  welche  besonders  dadurch  nutzbringend  ist,  dafs  jedem 
Titel  eine  knappe  Inhaltsangabe  angefügt  ist.  W.  Stkrn  (Breslau). 

Baron  Moürre.    Lei  caoses  psjcbologiqves  de  Taboalie.    Rev.  pUlos.  50  (9), 

277—285.   '1900. 

Verf.  behandelt  in  der  vorliegenden  Arbeit  eine  Erscheinung,  welche 
in  ihren  niedersten  Graden  von  der  weitesten  Verbreitung  ist.  Bekanntlich 
besteht  bei  Abulie  die  Unmöglichkeit,  eine  Idee  durch  den  Sieg  über 
antagonistische  Ideen  in  einen  Act  umzusetzen.  Man  findet  die  Abulie  bei 
den  psychischen  Paralysen.  Manche  haben  als  Ursache  das  Vorhandensein 
einer  Idee  von  einem  Act,  welcher  verschieden  ist  von  demjenigen,  welchen 
das  Subject  beabsichtigt,  aber  ihm  nicht  entgegengesetzt.  Bei  anderen 
wird  der  Kranke  paralysirt,  weil  er  fürchtet  es  zu  werden.  Diese  zweite 
Art  von  Paralyse  führt  zur  Abulie.  Bei  der  Abulie  fragt  es  sich,  ob  die 
Contrastassociation  primär  oder  secundär  ist,  ob  die  entgegengesetzte  Idee 
an  und  für  sich  eine  hinreichende  Ursache  zur  Verhinderung  des  Actes 
ist,  oder  ob  sie  von  anderen  sie  beschränkenden  Ideen  bezw.  von  affectiven 
Zuständen,  welche  ihre  Intensität  erhöhen,  begleitet  werden  mufs.  Wie  es 
Verf.  scheint,  ist  bei  Abulie  die  Contrastassociation  nicht  primär.  Denn 
wenn  die  Furcht,  abulisch  zu  sein,  welche  sich  auf  diese  Contrastassociation 
zurückführt,  früher  als  jeder  Act  von  Abulie  vorhanden  ist,  so  wird  es 
unerklärlich,  dafs  diese  Furcht  jemals  hat  entstehen  können.  Wie  sollte 
eine  solche  Idee  in  die  Seele  des  Kranken  gelangen?!  Vielmehr  kommen 
zunächst  im  Individuum  Acte  der  Faulheit  vor.  Allmählich  entsteht  in 
ihm  die  Idee,  dafs  es  faul  ist.  Dieselbe  kann  so  mächtig  werden,  dafs  sie 
jede  willkürliche  Anstrengung  unmöglich  macht.  Die  Furcht  nicht  handeln 
zu  können  bildet  die  Faulheit  zur  Abulie  um.    Die  Schwierigkeit  des  will- 


140  Literaturbericht 

ktirlichen  Effects  bei  Abulie  beruht  auf  einer  organischen  Störung  desGt- 
hirns,  deren  Art  unbekannt  ist.  Bisweilen  kann  man  den  nöthigen  Ad 
nicht  erfüllen,  weil  der  GenuTs  am  gegenwärtigen  Zustand  Einen  dam 
hindert,  diesen  Zustand  zu  verändern.  Vollzieht  sich  ein  solcher  Kampf 
öfters,  so  entsteht  als  krankhafter  Zustand  die  Abulie.  Jeder  von  uns  hit 
schon  Stunden  erlebt,  in  denen  alle  äufseren  und  inneren  Erregungen,  alle 
Empfindungen  und  Ideen  ohne  Action  bleiben,  uns  kalt  lassen.  Dies  sind 
Anzeichen  von  Abulie.  Zu  den  psychologischen  Ursachen  gehört  eine  tieli 
moralische  Depression  und  ein  Ueberdrulis  am  Leben.  Der  Kranke  hat  dii 
Idee,  dafs  Alles,  was  er  unternimmt,  unnütz  ist.  Hierzu  gesellt  sich  all- 
mählich das  Gefühl  der  Traurigkeit,  welches  den  Zerfall  der  Sinnesthiti^' 
keit  befördert. 

Die  mannigfaltigen  Ausführungen  des  Verf.'s  bezüglich  der  Unmög- 
lichkeit, andere  Erklärungsgründe  anzunehmen,  mögen  im  Original  nach- 
gelesen werden.  — 

Nach  Ansicht  des  Ref.  haben  alle  Arten  von  Abulie  das  organische 
Gefühl  der  Unfähigkeit  gemeinsam.  Dies  bildet  bei  einer  bestimmten  Classe, 
zu  welcher  der  vom  Verf.  erwähnte  Fall  von  dem  Stellmacher  gehört^  bei 
dem  die  Abulie  eine  Folge  des  Typhus  war,  und  wohin  auch  die  Aboüe 
des  Traumzustandes  zu  rechnen  ist,  das  einzige  begleitende  seelische 
Phänomen.  Bei  einer  anderen  Classe  kommen  noch  die  geschilderteD 
Phänomene  hinzu,  vor  Allem  die  Abneigung  gegen  die  Veränderung  dei 
gegenwärtigen  dem  Individuum  angenehmen  körperlichen  und  seelischen 
Zustandes.  Giessleb  (Erfurt). 


A.  T.  Obmond.    The  Social  Individnal.    Psychol.  Revieio  8  (1),  27—41.    190L 

Ormond  stellt  sich  die  Frage,  wie  das  Individuum  den  Begriff  des 
Selbst  als  eines  „Socius"  erwerbe.  Er  illustrirt  das  Problem  durch  das 
Beispiel  eines  Knaben,  der  seinem  Vater,  einem  Zimmermann,  dessen  ge- 
werbliche Thätigkeit  nachahmt.  Zunächst  besteht  hier  nur  eine  Nach- 
ahmung von  äufseren  Bewegungen,  die  zu  einem  gewissen  materiellen  Er- 
folge führen.  Aber  während  der  nachahmenden  Thätigkeit  macht  das 
Kind  dieselben  inneren  Erfahrungen,  die  der  Vater  in  seiner  Thätigkeit 
macht;  es  wird  auf  diese  Weise  bekannt  mit  dem  Bewufstseinszastand 
eines  anderen  Individuums  in  einem  bestimmten  Fall.  Association  and 
Imitation  sind  die  Bedingungen  der  Entwickelung  des  socialen  BewuCstseins. 

Max  Meyer  (Columbia,  Missouri). 

E.  DE  RoBERTY.  Montle  et  Psychologie.  Rev.  phUos.  50  (10),  329—345.  1900. 
Manche  Psychologen  legen  auf  Definitionen  und  Eintheilungen  keinen 
Werth :  Die  seelischen  Vorgänge  seien  zu  innig  mit  einander  verwoben  und 
die  Uebergänge  von  einer  Erscheinung  zur  nächst  complicirteren  zu  wenig 
merkliche.  Und  doch  erfordert  der  wissenschaftliche  Verkehr  eine  Ver- 
ständigung bezüglich  der  Grundbegriffe,  ohne  einen  genügenden  Ueberblick 
über  die  zu  einer  Erscheinung  gehörigen  Phänomene  kann  eine  Bearbeitung 
derselben  nicht  auf  Gründlichkeit  rechnen.    Dabei  dürfte  eine  von  Zeitn 


lAteraturberidit  141 

Zeit  erfolgende  Erneuerung  solcher  Feststellungen  für  die  Wissenschaft  von 
Nutzen  sein.  In  der  vorliegenden  Abhandlung  nun  bemüht  sich  Verf.,  für 
Biologie,  Sociologie,  Altruismus,  Moral  und  Psychologie  die  bezüglichen 
Begriffsbestimmungen  und  Festsetzungen  der  Grenzlinien  vorzunehmen. 
£r  entwickelt  f olgendermaafsen : 

Die  Umwandlung  der  organischen  oder  biologischen  Vielheit  (Art, 
Kace)  in  eine  überorganische  oder  sociale  Einheit  (Gemeinschaft,  Gesell- 
schaft) und  die  Umwandlung  der  organischen  Einheit  (Egoismus,  Isolirung, 
Kampf  um  das  Leben)  in  eine  überorganische  Vielheit  (Altruismus,  Zu- 
sammenwirken, Moralität)  bildet  nach  B.  den  Ausgangspunkt  der  Sociologie. 
Der  Altruismus  ist  eine  neue  Complication  des  Lebens.  Man  beobachtet 
ihn  auf  allen  Stufen  der  biologischen  Leiter  (als  Symbiose,  Parasitismus, 
Commensalismus  u.  s.  w.).  Verf.  hält  daher  die  Moral  und  Sociologie  für 
identisch.  In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um  s^ries  de  conduite.  Auch 
der  Charakter  ist  nur  ein  aspect  de  conduite.  Die  Moral  ist  eine  abstracto 
Sociologie,  sie  ist  das  exacte  Gorrelat  der  Sitte,  Gewohnheiten,  Rechte, 
socialen  Beziehungen. 

Die  Welt  der  Ideen  entspringt  aus  zwei  Quellen,  aus  den  Gesetzen 
und  Bedingungen  des  organischen  Lebens  und  aus  den  Gresetzen  und  Be- 
dingungen der  socialen  Existenz.  Die  Biologie  ist  die  Wissenschaft  der 
Ersteren,  die  Sociologie  und  Moral  die  Wissenschaft  der  Letzteren.  Ueber 
dieser  doppelten  Basis  erhebt  sich  die  Psychologie,  welche  mit  der  Biologie 
und  Sociologie  nicht  verwechselt  werden  darf. 

Die  Moral  einiger  niederer  Thiere,  der  Bienen  und  Ameisen,  hat 
bereits  Aehnlichkeit  mit  der  menschlichen.  Beim  Menschen  treten  die 
socialen  Gewohnheiten  in  Beziehung  zum  Denken.  Verf.  führt  den  etwas 
ungeheuerlichen  Ausdruck  „coUectiver  Psychismus"  ein.  Bleibt  derselbe 
inactiv,  wie  bei  den  meisten  Thierspecies  und  bei  allen  PflanzenspecieSy 
so  erwacht  die  Socialität  nicht  aus  ihrem  tiefen  Schlafe,  sie  bleibt  im  Zu- 
stande der  Tendenz.  Wird  er  dagegen  activ,  so  entstehen  Societäten  von 
Individuen. 

Die  organische  Function  ist  eine  Coordination  von  unbewufsten  Be- 
wegungen, welche  zur  Erhaltung  des  Lebens  nöthig  sind.  Dagegen  die 
sociale  Function  ist  eine  Coordination  von  psychischen  Elementen  (Vor- 
stellungen, Emotionen,  Wünsche  oder  Bedürfnisse),  welche  zur  Erhaltung 
der  Allgemeinheit  nöthig  sind.  Indem  die  sociale  Function  sich  der 
organischen  Function  nähert,  nähert  sie  sich  noch  mehr  dem  biologischen 
Instinct.  Aber  dank  ihrer  psychischen  Natur  vermag  sie  aus  dem  unbe- 
wufsten Zustande  in  den  bewufsten  überzugehen.  Die  seelische  Differen- 
tiirung  dient  dazu,  das  Band  zwischen  den  Gliedern  der  thierischen  Gemein- 
schaften zu  befestigen.  Zwischen  der  Wissenschaft  von  den  Associations- 
Phänomenen  und  den  Phänomenen  der  Verwandtschaft,  zwischen  Sociologie 
und  Chemie  giebt  es  so  viele  Analogien,  dafs  man  die  Sociologie  mit  einer 
Chemie  des  Geistes  und  die  Chemie  mit  einer  Sociologie  der  Materie  ver- 
gleichen könnte. 

Zum  Schlufs  kommt  Verf.  auf  die  Beziehungen  zwischen  dem  mora- 
lischen und  intellectuellen  Fortschritt  zu  sprechen.  Der  Begriff  ,.Moral'' 
ist  ein  ganz   unbestimmter.     Man  kann  darunter  sowohl  den.  eolV^cXVs^xi 


X42  LUeratwrberieht. 

Pej^chisrnne  verstehen  als  auch  die  ethischen  Concept«,  welche  das  Product 
der  eigentlichen  ethischen  Erfahrung  bilden.  Die  raschen  Fortachritte  der 
intellectuellen  Cultnr  werden  vom  collectiven  Psychiamue  erat  hervo^ 
bracht.  Dabei  mufs  man  bedenken,  dafe  die  ethischen  Erfahrnngen  den 
biologischen,  phyaico-chem lachen  nnd  mechanischen  Erkenntnieseu  nicht 
vorausgehen  können.  Auch  die  wildeste  Gesellschaft  besitit  bereiti  «ine 
rudiment&ie  Ideologie.  Der  intellectueUe  and  moralische  Fortschritt  erfolgts 
nur  auf  Grund  einer  Verbesserung  der  materiellen  Existeu. 

Qncaai.MK  (Eite^. 

Novicow.   In  oastes  it  I«  McloloKle  Uolvgl^u.   £<-<'-  phih».  50  (lO),  m-3?i 

1900. 
Die  guise  Abhandlung  bildet  eine  Polemik  gegen  eine  Arbelt  ron 
BoüolS:  8ur  la  sociologie  biologique  et  le  regime  des  ca.'iteB  (Kn.  yUn 
April  1900).  B.  hatte  die  Frage  aufgeworfen,  ob  die  GeHell9cbuft«ii0ix>i)>< 
men  seien,  und  ob  die  Gesetze  der  Biologie  nich  auf  die  Socicdogie  «n- 
wenden  Hefaen.  Er  macht  darauf  aufmerksam,  dars  die  biologiedie  Eni 
Wickelung  in  der  Weise  geschieht,  dafa  die  einaelnen  Tbeile  eines  thierisrh^n 
OrganismuB,  welche  Anfangs  in  einer  gewissen  Unabhängigkeit  von  elnandtr 
exiatiren,  allmählich  sich  einheitlich  dem  Gehirn  unterordnen,  ümgrtahn 
verläuft  die  sociale  Entwickelung.  UrsprOngüch  sind  die  IndivldtMH  eof 
mit  einander  vereinigt,  mit  dem  annehmenden  L^infang  der  G«aeltocblftec 
werden  die  Individuen  freier.  Ein  Orgonismuf  int  um  so  vollkomnwMr, }' 
diSerentiirter  seine  Functionen  sind.  Dies  Ailfs  ist  richtig.  Jedoch  d«rf 
man  nach  N.  im  socialen  Organismue  Functionen  und  Ka3t«a  nidit  tu- 
wechseln,  wie  B.  dies  thut.  Denn  die  Fähigkeiten,  neicfae  die  AngehOHgen 
einer  Kaste  haben,  brauchen  nicht  dieselbe  Qualität  /.u  besitzen:  E.B.kacu 
sehr  leicht  ein  der  Kaste  der  Priester  angehörigei  .Sprörsling  kaufmftniiiKlie 
Fähigkeiten  besitzen.  Freiheit  ist  im  Grunde  niclit«  Anderes  als  Difleni 
tiirung  der  Function  in  Unabhängigkeit  vom  (Staate.  Der  Staat  moTa  ili^ 
Rechte  seiner  Bürger  echfltzeu.  B.  hat  also  tlnretbl,  wenn  er  behanptH. 
dafe  die  organische  Theorie  sich  mit  der  Freiheit  nicht  verträgt.  Fttnti 
verquickt  B.  die  politische  Gleichheit  mit  <1«r  socialen.  In  einer  fui 
organisirten  Gesellschaft  mufs  politische  Gleielitieit  bestehen.  Im  Otfi« 
satz  hierzu  je  vollkommener  die  Gesellschaft  ist,  um  so  grofser  die  sociil'' 
Ungleichheit,  ebenso  die  moralische  und  finaiKielle.  N.  niacht  weiterhii; 
darauf  aufmerksam,  dafs  beim  menschlichen  Eürper  die  Arbeitsleistnog  ü> 
zum  äufeersten  getrieben,  die  Anpassung  dar  (!)rguiie  an  die  Function. 
ebenso  das  Gleichgewicht  zwischen  der  centralen  Kraft  und  den  einicJitec 
Theilen  vollendet  ist.  Könnten  die  menseUirlien  Gesellschaften  dies* 
Modell  nachahmen,  so  wQrde  die  Summe  des  Glocke  sich  versehnfubeo- 
Auch  dies  verkennt  B.  Gikssiak  (Ertnit). 

Palaktu.     Le  meuoBge  de  gronpe:   6ta4e  aoelDlo^qve.     Sev.  philo».  iO  i», 
165—173.    1900. 
Die  verhältnifsmäfsig  dürftige  Studie  führt  im  Anschlurs  an  Schope>- 
HAüBS  3  Beispiele  von  gesellschaftlichen  Lügen  an:  Die  optimiaUscbe  LB^ 


I  ''fi 


1-. 


*     — 


Litßraturbericht  143 

hat  ihren  Grand  darin,  dafs  jede  G^ellschaft  bei  ihren  Mitgliedern  einen 
Grad  von  Optimismus  erhalten  mnfs,  um  sie  zum  Handeln  anzustacheln 
und  das  Maximum  von  Anstrengung  zu  erzielen.  Sie  umgiebt  sich  daher 
mit  einem  Glanz,  der  bei  vielen  Dingen  unmotivirt  ist.  Eine  zweite  Art 
der  gesellschaftlichen  Lüge  entsteht  dadurch,  daCs  der  Einzelne  die  Ent- 
scheidungen der  öffentlichen  Meinung  respectirt  und  sein  eigenes  Urtheil 
unterordnet.  Drittens  liegt  es  im  Interesse  der  guten  Gesellschaft,  die 
ungefährliche  Mittelmäüsigkeit  zu  begünstigen  und  intelligente  Leute  nicht 
in  die  Höhe  kommen  zu  lassen. 

Der  allen  diesen  Lügen  gemeinsame  Zug  besteht  in  dem  Widerspruch 
zwischen  den  Gedanken  und  den  Worten  bezw.  Handlungen  dessen,  der 
ihnen  huldigt  Die  Ursachen  der  gesellschaftlichen  Lügen  sind  nach  Sselet 
vor  Allem  die,  dafs  für  das  Bestehen  einer  Gruppe  von  Wesen  die  Gleich- 
förmigkeit ein  wichtiger  Factor  ist,  auch  schon  der  Glaube  daran.  Auch 
überschätzen  manche  Gesellschaften  ihren  Werth.  Das  Individuum  erkennt 
jedoch  die  Ungereimtheiten  durch  Vergleichen,  Urtheilen,  Ueberlegung: 
In  dem  Maafse,  als  die  gesellschaftliche  Entwickelung  vorwärts  schreitet, 
wird  das  individuelle  Bewufstsein  umfangreicher,  freier  und  dadurch  ge- 
schickter, die  Ungereimtheiten  zu  entdecken,  namentlich  je  gröfser  die  Zahl 
der  gesellschaftlichen  Kreise  ist,  in  denen  das  Individuum  verkehrt.  Den 
Gegenstand  mehrerer  Dramen  Ibsen's  bildet  der  Kampf  gegen  die  gesell- 
schaftlichen Lügen.  GiESSLER  (Erfurt). 

A.  N.  KiÄR.    Ueber  die  Ergebnisse  des  „Samlags^-Systems  in  den  norwegischen 

Städten.    Der  Alkoholisnucs  1  194.    1900. 

Das  durch  die  Gesetze  von  1871  und  1894  in  Norwegen  eingeführte 
Samlag-System  besteht  darin,  dafs  unter  gewissen  Bedingungen  das  Monopol 
des  Branntweinausschanks  und  des  Detailverkaufs  in  einer  Stadt  einer  für 
gemeinnützige  Zwecke  gebildeten  Actiengesellschaft  zugestanden  werden 
kann.  Man  wollte  so  den  Branntweinconsum  einschränken,  Ordnung  in 
den  Schankstätten  einführen  und  die  reichlichen  Einnahmen  für  gemein- 
nützige Zwecke  verwenden.  Neuerdings  wird  die  Einführung  des  Samlag- 
Systems  von  der  Volksabstimmung  abhängig  gemacht.  Spricht  diese  sich  da- 
gegen aus,  so  ist  damit  in  der  betreffenden  Stadt  überhaupt  jeder  Ausschank 
und  Kleinverkauf  für  die  nächsten  ö  Jahre  verboten.  In  der  That  verhält 
eich  die  Volksabstimmung  recht  oft  ablehnend  dank  der  Thätigkeit  der 
Enthaltsamkeitsvereine  und  besonders  dank  der  Mitwirkung  der  Frauen. 
Daraus  aber  schliefsen  zu  wollen,  das  System  habe  sich  nicht  bewährt,  ist 
nicht  berechtigt,  wie  Verf.  an  der  Hand  der  bisher  mit  dem  System  ge- 
machten Erfahrungen  darthut.  Ernst  Schultze  (Andernach). 

Klausener.    Ursachen  der  Tmnksncht  nnd  Mittel  znr  Bekämpfung  derselben. 

Der  Alkoholismus  1  201.    1900. 

Kurze  Skizze  über  einige  Ursachen  und  Mittel  zur  Bekämpfung  der 
Trunksucht.  Mit  Recht  wird  darauf  besonderer  Werth  gelegt,  dafs  eine 
zweckmäfsige    Erziehung    des    weiblichen    Geschlechts    in    Haushaltungs- 


144  Jjiteraturbericht 

schulen  für  den  zukünftigen  Beruf  der  Hausfrau  eine  gewaltige  Rolle  apieU^ 
da  sie  der  Trunksucht  beim  Manne  vorzubeugen  vermag. 

Ebkst  Schultze  (Andernach). 

A.  Gbotjahn.    Die  Tranksiicht  unter  den  deutschen  Landirbeitera  nach  te 
Enquete  dei  Yereini  für  Socialpolltik  im  Jahre  1892.   Der  AlkohoUamut  1 

186.    190a 

G.  stellt  zum  Zweck  des  Studiums  des  Alkoholismus  vom  socialen  und 
nationalökonomischen  Standpunkte  aus  die  Berichte  des  Vereins  für  Social- 
politik  zusammen,  wenngleich  in  ihnen  der  Alkoholismus  eine  nur  neben- 
sächliche Berücksichtigung  erfahren  hat.  Daraus  ergiebt  sich,  daSa  in  den 
Ländern  des  nördlichen  und  östlichen  Deutschlands  der  Mifsbrauch  geistiger 
Getränke  zurückgeht,  in  den  südlichen  und  westlichen  Theilen  des  Keichee 
dagegen  in  Zunahme  begriffen  ist.  Es  sei  noch  bemerkt,  daüs  von  den  Be- 
richterstattern oft  die  Abnahme  der  Trunksucht  auf  die  durch  die  Brannt- 
weinsteuer bedingte  Preiserhöhung  zurückgeführt  wird. 

Ebnst  Schxjltzs  (Andernach). 


Berichtigung. 

Von 
G.  Heymans. 

Durch  ein  Versehen  sind  in  meinem  Artikel  „Untersuchungen  über 
psychische  Hemmung  II",  diese  Zeitschr.  26,  S.  374  die  oberen  und  die  unteren 
Figuren  verwechselt  worden.  Es  gehört  demnach  zu  Tab.  XXIT  die  Fig.  14, 
zu  Tab.  XXIII  die  Fig.  15,  zu  Tab.  XXIV  die  Fig.  12  und  zu  Tab.  XXV 
die  Fig.  13,  was  man  bei  der  Lektüre  gefälligst  berücksichtigen  wolle. 


Arthur  König  f. 


Unser  lieber  und  treuer  Arbeitsgenosse  an  dieser  Zeit- 
schrift ist  uns  am  26.  October  1901  durch  den  Tod  ent- 
rissen worden.  Bedrohliche  Anzeichen  einer  schweren  Er- 
krankung hatten  ihn  ein  frühzeitiges  Ende  schon  lange 
voraussehen  lassen,  und  es  war  überaus  schmerzlich,  ihn 
gegen  diesen  lähmenden  Gedanken  immer  wieder  kämpfen 
und  zugleich  sich  ihm  unterwerfen  zu  sehen.  Noch  im 
Laufe  des  Sommers  war  er  voll  Hoffnung,  seinen  Zustand 
durch  selbst  ersonnene  Mittel  bessern  zu  können.  Aber 
eine  plötzliche  Verschlimmerung  seiner  Krankheit  hat  ihn 
dann  rasch  hinweggerafEt  und  ihm  schwerere  Leiden  er- 
spart.   Nur  45  Jahre  zu  vollenden  war  ihm  beschieden. 

König  ist  von  physikalischen  Studien  ausgegangen  und 
ihnen  Zeit  seines  Lebens  mit  seinen  Interessen  zugethan 
und  durch  selbständige  Arbeiten  verbunden  geblieben. 
Aber  durch  Helmholtz,  der  zu  Anfang  der  80  er  Jahre 
auf  seine  Begabung  aufmerksam  wurde  und  ihn  zu  seinem 
Assistenten  machte,  wurde  er  früh  auch  in  andere  Gebiete 
hineingezogen.  Er  hatte  seinem  Lehrer  bei  der  Neuheraus- 
gabe seines  grofsen  Handbuchs  der  physiologischen  Optik 
zur  Hand  zu  gehen,  Uterarisch  durch  Sichtung  des  unge- 
heuren, seit  etwa  20  Jahren  auf  gehäuf ten  gedruckten  Materials, 


ZeiUehrift  für  Psychologie  27. 


und  experimentell  durch  Bearbeitung  einzelner  wichtiger 
Fragen  im  Laboratorium.  So  wurde  sein  eigentHches  Arbeits- 
gebiet mehr  und  mehr  die  physiologische  Optik,  indem  seine 
Aufmerksamkeit  sich  zugleich  auch  den  mit  ihr  zusammen- 
hängenden psychologischen  und  erkenntnifstheoretischen 
Fragen  zuwandte.  Eine  glückliche  äufsere  Stellung  zur  Ver- 
folgung dieser  Interessen  fand  er  als  Vorsteher  der  physikali- 
schen Abtheilung  des  Berliner  physiologischen  Instituts,  zumal 
seit  ihm  mit  der  Berufung  Engelmanns  nach  Berlin  die  Ver- 
tretung der  gesammten  Sinnesphysiologie  und  die  Abhaltung 
der  Vorlesungen  über  sie  übertragen  wurde. 

Zahlreiche  psychophysiologische  Arbeiten  sind  hier  seiner 
eigenen  Thätigkeit  wie  auch  seiner  anregenden  Wirkung  auf 
Andere  entsprungen.  UeberbHckt  man  ihre  ganze  Reihe,  so 
wird  man  als  die  wichtigsten  wohl  seine  Untersuchungen 
zur  Klarstellung  von  5  Problemen  bezeichnen  müssen:  die 
Arbeiten  über  das  WEBEß'sche  Gesetz,  über  die  Mischung 
von  Farben,  über  die  Helligkeitsvertheilung  der  Farben  im 
Spectrum,  über  den  Sehpurpur  und  über  die  Sehschärfe. 
Sie  gehören  uneingeschränkt  zu  dem  Ersten,  was  wü'  über 
die  von  ihnen  behandelten  Gegenstände  überhaupt  besitzen, 
theilweise  sind  sie  das  einzig  Zuverlässige.  Was  sie  charak- 
terisirt,  sind  überall  die  gleichen  Vorzüge:  sichere  Be- 
herrschung auch  der  verwickeltesten  physikalischen  Hülfs- 
mittel,  weiteste  Ausdehnung  der  Untersuchung  über  die 
extremsten  Lichtintensitäten,  die  verschiedensten  Wellen- 
längen ,  die  mannigfachen  AnomaUen  des  Farbensehens, 
sorgfältige  Berücksichtigung  aller  in  Betracht  kommenden 
psychophysiologischen  Factoren,  Exactheit  der  Resultate  und 
vorsichtige  Zurückhaltung  in  ihrer  Verwerthung.  So  sind 
namenthch  unsere  genaueren  Kenntnisse  der  verschiedenen 
Formen  der  Farbenblindheit  durch  König  aufs  Wesent- 
lichste gefördert,    die  wichtige  Thatsache,   dafs  die  Total- 


Farbenblinden  mit  dem  Centrum  ihrer  Netzhaut  nichts  sehen, 
ist  durch  ihn  gefunden  worden. 

Den  eigenthchen  Anstofs  zur  Gründung  dieser  Zeit- 
schrift hat  König  gegeben.  Im  Anschluls  an  seine  Thätig- 
keit  fafste  er  zu  Ende  der  80er  Jahre  den  Plan,  ein 
Centralorgan  für  physiologische  Optik  oder  auch  für  Sinnes- 
physiologie im  Allgemeinen  zu  schaffen,  imd  fand  für  die 
VerwirkUchung  seiner  Absicht,  unterstützt  durch  das  Interesse 
und  die  Autorität  von  Helmholtz,  bald  die  äufsere  MögKch- 
keit  Der  Wunsch  nach  einem  Genossen  des  Unternehmens 
führte  dann,  unter  Festhaltung  des  ursprüngUchen  Gedankens, 
zugleich  zu  seiner  Ausdehnung  über  die  ganze  Psychologie, 
wie  ja  beides  in  dem  Doppeltitel  unserer  Zeitschrift  sich 
ausprägt.  Auch  um  den  Fortbestand  der  Zeitschrift,  als  er 
einmal  vorübergehend  bedroht  erschien,  hat  König  sich  das 
maafsgebende  Verdienst  erworben.  Aber  was  sie  ihm  wesent- 
lich zu  danken  hat,  bleibt  doch  seine  nimmer  ermüdende 
tägliche  Arbeit  an  ihr.  Ungeachtet  des  dunklen  Schattens, 
der  über  ihm  schwebte,  hat  er  ihr  bis  in  seine  letzten  Tage 
mit  stets  gleicher  Freudigkeit  seine  besten  Kräfte  gewidmet, 
musterhaft  durch  seinen  Fleifs,  seine  Gewissenhaftigkeit  imd 
seine  Pünktlichkeit  Wir  werden  wenige  Schritte  thim  können, 
ohne  ihn  schmerzUch  zu  vermissen,  aber  um  so  dankbarer 
in  Ehren  halten,  was  er  ims  gewesen  ist 


Ebblnghaus. 
Johann  Ambroslus  Barth. 


nI 


Ueber  das  Erkennen  von  Intervallen  und  Aecorden 

bei  sehr  kurzer  Dauer. 

Von 

C.  Stumpf. 

Verkürzung  der  Dauer  von  Toneindrücken  kann  in  manchen 
Beziehungen  Beiträge  liefern  zur  Lösung  theoretischer  Fragen. 
Man  hat  sie  zur  Untersuchung  der  physiologischen  Bedingungen 
des  Hörens,  aber  auch  der  psychologischen  Vorgänge  bei  der 
Tonwahmehmung  herangezogen.  In  letzterer  Beziehung  bleibt 
allerdings  immer  zu  bedenken,  dafs  die  Kriterien,  an  die  sich 
der  Beobachter  im  Nothfall  wie  an  einen  Strohhalm  klammert, 
nicht  nothwendig  dieselben  sein  müssen,  die  imter  gewöhnlichen 
Umständen  die  Hauptrolle  spielen.  Ein  Merkmal  kann  wesent- 
lich sein,  aber  längere  Zeit  gebrauchen,  um  wirksam  zu  werden, 
ein  anderes  ist  vielleicht  nur  auxiUär,  aber  rascher  zu  erfassen. 
Eben  darum  können  aber  solche  Versuche  dienen,  KriterieD,  die 
unter  gewöhnlichen  Umständen  in  einer  nicht  genau  erkennbaren 
Weise  blos  mitwirken,  isolirt  zu  beobachten  und  die  Thatsache 
und  Richtung  ihrer  Wirksamkeit  genauer  festzustellen. 

Die  Aufgaben  der  Beobachter  bei  den  bisherigen  Versuchen 
waren,  soweit  psychologische  Fragen  in  Betracht  kamen: 
1.  Schnellste  Reaction  auf  Töne  verschiedener  Höhen,  sobald 
überhaupt  ein  Ton  wahrgenommen  oder  sobald  ein  tiefer  von 
einem  hohen  vorher  bekannten  unterschieden  worden  war 
(AüEEBACH  und  V.  Kbies,  G.  Mabtiüs),  2.  Reaction  nach  Erkennung 
von  Dur-  und  Molldreiklängen  (Tanzi),  3.  Erkermen  der  absoluten 
Tonhöhe  (Abeaham  und  Bbühl),  4.  Unterscheidimg  mehrerer 
Töne  imd  Bestimmung  ihrer  Reihenfolge  und  der  durch  sie 
gebildeten  Melodie  bei  schnellstem  Wechsel  (Abraham  und 
K.  L.  Schaefeb)  ;  5.  Urtheil  über  Einheit  oder  Mehrheit  der  ge- 
hörten   Töne    bei    Zweiklängen    von    verschiedenem    Intervall 


üd>er  das  Erkennen  v.  Intervallen  ii.  Accorden  bei  sehr  kurzer  Dauer,  149 

(M.  Meyee);  6.  Schnellste  Reaction  auf  Grund  solcher  Urtheile 
(M.  Meter)  ;  7.  Erkennung  des  Intervalls  bei  Zweiklängen,  deren 
tieferer  Ton  verstärkt  war  (M.  Meyeb);  8.  Urtheil  über  Einheit 
oder  Mehrheit  bei  harmonischen  Zusammenklängen  bis  zu 
6  Tönen  (R.  Schulze);  9.  Dasselbe  Urtheil  bei  Zweiklängen  von 
verschiedenem  Intervall  mit  fortschreitender  Verkürzung  der 
Zeitdauer  bis  zum  Minimum  (R.  Schulze).^ 

In  näherer  Beziehimg  zu  den  im  Folgenden  zu  beschreiben- 
den Versuchen  stehen  nur  die  zuletzt  erwähnten  5  Versuchs- 
reihen.^ Und  da  die  Veranlassung  zu  den  meinigen  theilweise 
in  Bedenken  lag,  welchen  diese  Versuche  mir  ausgesetzt  scheinen, 
so  will  ich  diesen  Bedenken  zuerst  Ausdruck  geben. 

Auf  die  Folgerungen,  welche  Meyee  an  seine  Ergebnisse 
knüpft,  will  ich  hierbei  nicht  zurückkommen,  da  ich  das  Un- 
logische darin  früher  genug  gekennzeichnet  zu  haben  glaube. 
BezügHch  der  Versuche  selbst  aber  scheint  es  mir  ein  Fehler,  sich 
mit  einem  einzigen  Beobachter  zu  begnügen.  In  psychologischen 
und  psychophysischen  Dingen  sind  der  individuellen  Verschieden- 
heiten so  viele  auch  unter  den  Geübten,  auch  unter  den  so- 
genannten MusikaUschen,  dafs  nur  die  Untersuchung  einer 
gröfseren  Zahl  vor  einseitigen  und  schiefen  Theorien  schützt 
Speciell  bei  Zeitverkürzungen  zeigt  sich,  dafs  mancher,  der  sich 


^  Auf  welche  Versuche  Wüwdt  in  seinem  „Grundrifs  der  Psychologie** 
1896,  S.  116  hindeutet,  ist  mir  nicht  klar.  Nachdem  er  die  Verschmelzungs- 
grade der  Intervalle  angeführt  und  sogar  der  kleinen  und  der  grofsen  Terz 
verschiedene  Grade  zuerkannt  hat,  fährt  er  fort :  „Ein  Maafs  für  den  Grad 
der  Verschmelzung  erhält  man  in  allen  diesen  Fällen,  wenn  man  während 
einer  gegebenen,  sehr  kurzen  Zeit  einen  Zusammenklang  einwirken  und 
den  Beobachter  entscheiden  läfst,  ob  er  blos  einen  Klang  oder  mehrere 
Klänge  wahrgenommen  hat.  Wird  dieser  Versuch  öfter  wiederholt,  so  er- 
giebt  die  relative  Anzahl  der  für  die  Einheit  des  Klangs  abgegebenen  Ur- 
theile ein  Maafs  für  den  Grad  der  Verschmelzung." 

Auf  diese  Methode  als  eine  zu  versuchende  habe  ich  zwar  selbst 
schon  1890  hingewiesen;  aber  eine  so  bestimmt  hingestellte  Behauptung 
über  ihre  Leistungsfähigkeit,  wonach  man  sogar  den  Unterschied  in  der 
Verschmelzung  der  beiden  Terzen,  der  bisher  niemals  festgestellt  wurde, 
dadurch  bestimmen  könnte,  mufs  sich  doch  wohl  auf  ausgedehnte  Er- 
fahrungen gründen,  deren  Veröffentlichung  demnach  zu  erwarten  steht. 

*  Max  Meyer.  Ueber  Tonverschmelzung  u.  die  Theorie  der  Consonanz. 
ZHtschr.  f.  PsychoL  17,  401  f.    1898. 

RuDOLP  Schulze.  Ueber  Klanganalyse.  Wundt*8  Philosoph,  Studien 
U,  471  f.    1889. 


150  .  C,  Stumpf. 

für  musikalisch  hält  und  es  in  der  gewöhnlichen  Praxis  auch 
wirklich  ist,  gegen  anscheinend  weniger  Musikalische  zurück- 
tritt üeber  Meyeb's  Versuchsperson  G.,  von  ihm  als  „gut 
musikalisch  gebildeter  imd  vielfach  bewährter  Beobachter**  be- 
zeichnet, will  ich  nur  erwähnen,  dafs  ich  denselben  gleichfalls 
nebenbei  zu  den  unten  zu  beschreibenden  Versuchen  heran- 
gezogen habe.  Es  fand  sich,  dafs  er  in  einer  Versuchsreihe 
mit  sehr  kurzen  Zeiten,  wo  die  Aufgabe  gestellt  war,  das  ge- 
hörte Intervall  zu  bezeichnen,  imter  19  Fällen  nur  3  richtige 
Urtheile  abgab  (sie  fielen  jedesmal  auf  die  Terz),  während  ein 
wirkUch  gut  musikahscher  und  geübter  Beobachter  unter  genau 
gleichen  Umständen  imter  17  Fällen  nur  3  verfehlte. 
Die  sonstige  Beobachtimgsfähigkeit  dieses  unseres  geschätzten 
Mitarbeiters  wird  dadurch  natürHch  nicht  bestritten.  Auch 
war  Meyeb's  Fragestellung  leichter  (nur  „Einheit  oder  Meh^ 
heit?")  und  die  Zeiten  länger.  So  werden  wir  denn  auch 
Mehreres  aus  seinen  Ergebnissen  bestätigt  finden,  während 
Anderes  mit  den  erweiterten  Erfahrungen  im  Widerspruch  steht 
Aber  eben  die  Entscheidung  darüber,  was  ein  individueller  und 
was  ein  allgemeinerer  Zug  ist,  läfst  sich  nur  durch  Vermehrung 
deü  Versuchspersonen  gewinnen.  Und  dabei  zeigen  sich  dodi 
auch  noch  andere  mehr  formelle  Unterschiede :  in  Hinsicht  der 
Constanz  der  Ergebnisse,  der  Durchsichtigkeit  der  Tabellen 
überhaupt,  endlich  auch  Unterschiede  in  der  Fähigkeit  und  den 
Ergebnissen  der  Selbstbeobachtung  der  Einzelnen  während  der 
Versuche,  die  für  die  nachherige  Verwerthung  von  grofser  Be- 
deutung werden  können. 

Durch  Meyeb's  Publikationen  wurde  R  Schulze  verankK 
Versuchsreihen  zu  veröffenthchen ,  welche  er  bereits  1891—93 
im  Leipziger  psychologischen  Institut  auf  Grund  ähnlicher  Frage- 
stellungen gemacht  hatte.  Auf  diese  muTs  ich  etwas  näher  ein- 
gehen. 

In  der  ersten  Versuchsreihe  wurden  Zusammenklänge  ein- 
facher Töne  (von  Gabeln),  welche  im  Verhältnifs  der  ersten 
sechs  harmonischen  Theiltöne  zu  einander  standen,  in  ver- 
schiedenen Combinationen  (bald  nur  einer  davon,  bald  drei, 
vier  etc.)  in  wechselnder  Anordnung  angegeben.  Der  Eindruck 
dauerte  jedesmal  2  Secunden.  Drei  Beobachter,  darunter  ein 
sehr  musikahscher,  hatten  die  Aufgabe,  zu  sagen,  ob  sie  einen  oder 


Ud>er  das  Erkermen  v.  Intervallen  u.  Accorden  hei  sehr  kurzer  Dauer,   151 

mehrere  Töne  hörten  (nicht  aber,  wie  viele  und  welche).  In  den 
Tabellen  werden  die  Urtheile  „Ein  Ton"  zusammengestellt. 

Schulze  zieht  mm  aus  diesen  Tabellen  in  erster  Linie  den 
SchluTs,  dafs  ein  Zusammenklang  blos  zweier  Töne, 
z.  B.  der  Töne  1:6  oder  5:6,  durch  allmäliche 
Hinzufügung  der  übrigen  harmonischen  Theiltöne 
immer  einheitlicher  werde.  In  der  That  zeigt  zum  Bei- 
spiel die  Abtheilung  3  der  zweiten  Tabelle  beim  Zusammenklang 
der  fünf  Töne  von  den  Verhältnilszahlen  2:3:4:5:6  folgende 
Urtheilszahlen  der  drei  Beobachter :  4, 13, 18  (so  oft  erklärte  also 
jeder  den  Zusammenklang  für  Einen  Ton).  Dagegen  beim  Zu- 
sammenklang der  sechs  Töne  1:2:3:4:5:6  waren  die  be- 
züglichen Urtheilszahlen:  48,  17,  22.  So  erheblich  stieg  also 
durch  blofse  Hinzufügung  des  Grundtons  die  Schwierigkeit,  den 
Zusammenklang  als  eine  Mehrheit  von  Tönen  zu  erkennen. 

Nun  aber  drängen  sich  starke  Einwendimgen  bezügUch  der 
ganzen  Versuchseinrichtung  auf.  Zimächst  ist  eine  nicht  un- 
beträchtliche Ungleichheit  unter  den  gebrauchten  Intervallen  in 
Hinsicht  der  Tonregion.  Die  Octave  gehört  noch  der  tiefen 
Region  an  {A — a).  Die  Terzen  liegen  schon  in  der  mittleren 
(a^ — cis^^  eis- — e-).  Das  macht  einen  Unterschied  in  Bezug  auf 
die  Analysirbarkeit,  der  nichts  mit  dem  Intervall  als  solchem  zu 
thun  hat  Femer  —  und  das  erweckt  am  meisten  Bedenken  — 
ist  nirgends  in  der  ganzen  Abhandlung  von  der  Intensität 
und  von  den  Mitteln,  genau  gleiche  Intensitäten  herzustellen,  die 
Rede.  Es  heifst  nur:  „Der  Experimentator  schlägt  zwei  oder 
mehrere  Stimmgabeln  an  und  giebt  dann  ein  Klingelzeichen, 
worauf  der  Reagent  (Beobachter)  den  Gummischlauch  dem  Ohr 
nähert"  Wer  bürgt  nun  dafür,  dafs  die  sechs  Gabeln  mit 
gleicher  Stärke,  und  zwar  nicht  nur  mit  gleicher  physischer 
Stärke,  sondern  so,  dafs  gleiche  Ton  stärke  resultirte,  angeschlagen 
wurden?  Bei  Tönen  verschiedener  Höhe  ist  es  schwer  genug, 
auch  nur  zu  sagen,  ob  ihre  Stärke  als  Empfindimg  genau  gleich 
ist  oder  nicht.  Noch  viel  schwieriger  ist  es  natürlich,  sie  durch 
Anschlag  mit  freier  Hand  gleich  stark  für  die  Empfindung  zu 
erzeugen.  Dazu  kommt  weiter,  dafs  Gabeln  von  so  beträchtlicher 
Höhe  imgleich  schnell  verkKngen,  selbst  wenn  sie  auf  Resonanz- 
kästen stehen.  Das  Experiment  begann  immer  erst  2  See. 
nach  dem  Anschlagen  der  Gabeln  imd  dauerte  seinerseits  auch 
noch  2  See.    Während  4  See.  können  sich  aber  solche  Unter- 


152  C.  Stumpf. 

schiede  des  Verklingens  schon  geltend  machen.  Femer  kommt 
es  auf  die  Stellung  der  Gabeln  zur  Schallröhre  an  und  auf  die 
Fortpflanzimg  innerhalb  derselben,  in  welcher  Beziehung  auch 
Unterschiede  sein  können.  EndUch  sind  die  Stimmgabeln  jeden- 
falls nach  einander  angeschlagen  worden;  denn  6  Gabeln 
gleichzeitig  anzuschlagen  und  dazu  gleich  stark,  das  wird  keinem 
geUngen.  Aber  beim  Anschlagen  nach  einander  ist  die  erste 
LhUcn  eimgermafen  «hw.ch,r  geworden,  wenn  die  1*. 
angeschlagen  wird.  Es  ist  also  auch  die  Dauer  des  Abklingens 
nicht  die  gleiche,  imd  es  wird  sehr  darauf  ankommen,  welche 
zuletzt  angeschlagen  wurde. 

Solange  nichts  angegeben  wird,  wie  alle  diese  —  nach 
meiner  Meinung  unter  den  angegebenen  Umständen  theilweise 
geradezu  unüberwindKchen,  bei  Gabeln  etwa  nur  durch  elektrische 
Erregung  lösbaren  —  Schwierigkeiten  experimentell  beseitigt 
wurden,  solange  bleiben  die  Versuche  ohne  alle  Beweiskraft, 
und  man  kann  sehr  leicht  sich  eine  Erklänmg  für  die  an- 
gegebenen Resultate  ausdenken,  die  mit  psychologischen  Dingen 
gar  nichts  zu  thun  hätte. 

Verfasser  zieht  aber  aus  seinen  Tabellen  aufser  dem  obigen 
allgemeinsten  Ergebnifs  auch  die  Folgerung,  dafs  gewisse  Per- 
sonen leichter  durch  die  ungeradzahhgen ,  andere  durch  die 
geradzahligen  Theiltöne  zu  Einheitsurtheilen  verleitet  werden, 
dafs  es  also  für  jedes  Individuum  einen  Normal-Obertonklang 
gebe,  d.  h.  einen,  welcher  die  gröfsten  Schwierigkeiten  der 
Analyse  bietet.  Ich  kann  nicht  finden,  dafs  die  dafür  heran- 
gezogenen Zahlen  der  Tabelle  HI  hinreichend  starke  Unter- 
schiede zeigen,  um  diese  merkwürdige  Folgerung  zu  stützen. 
Aus  Tabelle  IV  aber  geht  überhaupt  nichts  derartiges  hervor, 
sie  lehrt  nur,  dafs  Vergröfserung  des  Intervalls  die  Einheits- 
urtheUe  verringert,  was  sich  ja  leicht  versteht.^ 


*  Wenn  übrigens  der  Verf.  S.  472  sagt:  „Von  solchem  Verhalten  ist  keinem 
Musiker  oder  Tonpsychologen  etwas  bekannt^,  so  darf  ich  wohl  auf  mebe 
Tonpsychologie  11,  319  f.  verweisen,  wo  als  erste  unter  den  Bedingungen 
für  die  Analyse  gleichzeitiger  Töne  ihre  Distanz  angeführt  ist,  wie  es  auch 
sonst  bei  jeder  Gelegenheit  von  mir  betont  wurde. 

Aufserdem  ist  es  aber  ein  grofses  Mifsverständnifs  der  Helmholtz' 
sehen  Lehre  vom  Mechanismus  des  Hörens,  dafs  aus  dieser  die  genannte 
Folgerung  fliefse,  die  erst  der  Verf.  bestätigt  zu  haben  glaubt.  Nach 
Helmholtz  wird,  wie  jeder  weiTs,  der  Zusammenklang  nur  dann  „gestörtS 


Ueber  das  Erkennen  v.  Intervallen  u.  Accorden  bei  sehr  kurzer  Dauer.   153 

In  Schulzens  zweiter  Versuchsreihe  wurden  immer  nur  zwei 
Töne  zugleich  angegeben,  dagegen  die  Zeitdauer  immer  mehr 
verkürzt,  imd  zwar  von  0,14''  bis  auf  0,004''.  Es  wurden  sämmt- 
liche  Intervallarten  der  chromatischen  Leiter  innerhalb  der  ein- 
gestrichenen Octave  vorgelegt.  Hier  functionirte  nur  Ein  Be- 
obachter, der  aber  an  Feinheit  des  musikalischen  Gehörs  den 
früheren  noch  überlegen  war.  Er  versuchte  immer  zuerst  den 
Klang  nachzusingen  und  gab  dann  an,  ob  es  ein  oder  zwei  Töne 
waren.  In  den  Tabellen  (VII  und  VIII)  werden  nun  die  Zahlen 
der  falschen  Urtheile  (Ein  Ton)  zusammengestellt  und  daraus 
geschlossen,  dafs  die  wachsende  Entfernung  der  Töne  von  ein- 
ander hauptsächlich  die  Analyse  erleichtert,  während  die  Ver- 
wandtschaft nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielt. 

Nun  ist  es  richtig,  dafs  die  kleine  Secunde  45  falsche  Fälle 
aufweist,  die  Octave  nur  7.  Aber  dazwischen  ist  der  Gang  der 
entsprechenden  Zahlen  für  die  Intervalle  mit  fortschreitender 
Vergröfserung  dieser:  12,  18,  12,  8,  10,  12,  7,  10,  9,  8  (unter 
je  60  Fällen).  Ich  kann  hierin  keine  irgendwie  regelmäfsige 
Abnahme  erkennen.  Das  einzige  Bemerkenswerthe  an  der 
ganzen  Reihe  ist  die  grofse  Zahl  bei  der  kleinen  Secunde,  aber 
dieses  Intervall  liegt  ja  eben  nahe  an  der  Unterscheidungs- 
schwelle für  gleichzeitige  Töne  überhaupt  und  kann  nicht  aus 
demselben  Gesichtspunkte  wie  die  übrigen  Intervalle  betrachtet 
werden. 

In  einer  weiteren  Tabelle  (IX)  sind  die  Zeiten  zusammen- 
gestellt, in  denen  das  Zweiheitsurtheil  überhaupt  unmögHch 
wurde.  „Diese  Tabelle  zeigt"  —  nach  dem  Verfasser  — ,  „dafs 
die  kleine  Secunde  e — f  [sc.  e^ — P]  bereits  bei  einer  Einwirkimgs- 
dauer  von  0,14  Secunden  nicht  mehr  analysirt  werden  konnte, 
während  erst  bei  0,007  Secunden  ...  die  Fähigkeit  aufhörte,  die 
Octave  c — c^  [sc.  c^ — c^]  zu  analysiren."  Aber  eine  genauere 
Besichtigung  zeigt,  dafs  eine  deutliche  Abnahme  überhaupt  nur 
stattfindet  bis  zur  grofsen  Terz.  Von  da  an  bis  zur  Octave  be- 
wegen sich  die  Zeiten  zwischen  0,009  und  0,006  unregelmäfsig 
hin  und  her,  und  obendrein  sind  dies  doch  Unterschiede,  die  rein 


wenn  die  Töne  sehr  nahe  beisammen  liegen.  Ueber  diese  Grenze  hinaus 
hat  die  Entfernung  der  Fasern  von  einander,  bez.  ihre  Gröfsendifferenz,  als 
solche  mit  der  Leichtigkeit  oder  Schwierigkeit  der  Analyse  nach  Helmholtz 
absolut  nichts  mehr  zu  schaffen. 


154  C.  Stumpf. 

zufällig  d.  h.  durch  die  unvermeidlichen  Schwankungen  der  ob- 
jectiven  Zeitmessung  bedingt  sein  können. 

Ganz  unverständlich  ist  mir  aber  die  Behauptung  des  Ver 
fassers,  dafs  die  Schwebungen  bei  diesen  Versuchen  eine 
wichtige  Rolle  für  die  Analyse  gespielt  hätten,  insofern  die  Ver- 
suchsperson daraus  auf  das  Vorhandensein  zweier  Töne  ge- 
schlossen hätte.  Er  berechnet  die  Anzahl  der  Schwebungen,  die 
bei  jedem  der  gebrauchten  Intervalle  noch  in  den  erwähnten 
Minimalzeiten  stattfanden.  Sie  hegt  zwischen  3,1  und  0,6 
Schwebungen  und  nimmt  mit  der  Erweiterung  des  Intervalls  zu- 
nächst ab,  dann  wieder  zu  (kleine  Secunde  3,1,  Quarte  0,6, 
Octave  1,8). 

Da  nun  der  Gang  der  Schwebungszahlen  hiemach  nicht 
correspondirt  mit  dem  der  Minimalzeiten  selbst,  und  noch 
weniger  mit  der  Regel,  dafs  die  weiteren  Intervalle  leichter 
analysirt  werden  sollen,  so  sieht  man  nicht  ein,  wie  er  dafür 
als  Erklärung  dienen  soll.  Vollends  in  der  eigens  beigefügten 
Rubrik,  wo  die  Schwebungen  auf  ganze  Zahlen  abgerundet  sind, 
werden  ja  beinahe  alle  Intervalle  einander  hierin  gleich,  indem 
sie  bis  auf  vier  unter  ihnen  sammt  und  sonders  Eine  Schwebun|f 
üefem. 

Ferner  werden  Schwebungen  in  dieser  Region,  in  der  ein- 
gestrichenen Octave,  überhaupt  nur  bis  zu  etwa  150  in  der 
Secunde  noch  vernommen ;  und  an  dieser  Grenze  natürlich  nur 
unter  den  günstigsten  Umständen,  namentUch  bei  längerer  Ton- 
dauer, bei  starktönenden,  immittelbar  ans  Ohr  gehaltenen  Gabeln, 
als  eine  letzte  Spur  von  Rauhigkeit.^  Nun  sollten  aber  hier  selbst  bei 
der  Sexte  d^  A^,  wo  sie  198  betragen,  ja  bei  der  Octave  c^  c\  wo 
sie  264  betragen,  noch  Schwebungen  vernommen  werden;  und 
dies  noch  dazu  bei  Tönen,  die  durch  eine  Röhre  geleitet  waren, 
und  innerhalb  eines  so  winzigen  Bruchtheils  einer  Secunde,  dafe 
nur  1 — 2  dieser  raschen  Schwebungen,  ja  öfters  nicht  einmal 
eine  ganze  Schwebung  (0,6  etc.)  ins  Ohr  gelangen  konnte.  Der 
Beobachter  mag  sehr  musikalisch  und  sehr  geübt  gewesen  sein. 
Aber  um  dies  zu  vollbringen,  müfste  er  schon  fast  das  Gras 
wachsen  hören. 


*  Herr  Dr.  K.  L.  Schaefeb  hat  die  kleine  und  die  eingestricheoe 
Octave  auf  meinen  Wunsch  in  dieser  Hinsicht  durchgeprüft.  In  der  kleinei 
liegt  die  Grenze  etwa  bei  70  Schwebungen. 


lieber  das  Erkennen  v.  Intervallen  u.  Äccorden  bei  sehr  kurzer  Dauer.    166 

Wenn  nun  auch,  nach  der  sogleich  zu  begründenden  Ver- 
muthung,  die  Empfindungsdauer  thatsächUch  länger  gewesen  sein 
dürfte,  als  es  der  Verfasser  annimmt:  immer  bleibt  es  doch  un- 
inögHch,  so  rasche  Schwebungen  in  dieser  Tonregion  überhaupt 
wahrzunehmen.  Man  mag  die  reine  Octave  c^  c-  beobachten, 
bis  einem  Hören  und  Sehen  vergeht:  sie  ist  glatt  wie  poHrter 
Marmor. 

Dafs  die  Versuchsperson  öfters  angab,  den  Ton  „mit  einem 
Vorschlag"  gehört  zu  haben,  und  zwar  besonders  bei  der  Octave, 
mag  jeden  anderen  Grund  haben,  auf  Schwebungen  kann  es 
sich  nicht  beziehen.  Nur  in  einem  einzigen  Falle  mögen  sie 
eine  Rolle  gespielt  haben,  nämUch  wieder  bei  dem  Intervall  des 
Halbtons,  wo  auf  0,14  See.  3  Schwebungen  kamen.  Sie  scheinen 
hier  aber  die  Analyse  vielmehr  erschwert  zu  haben,  denn 
gerade  hier  ist  die  Minimalzeit,  bei  welcher  Analyse  nicht  mehr 
möglich  war,  wesentlich  gröfser  als  bei  allen  übrigen  Intervallen. 

Auf  die  an  die  Versuche  geknüpfte  Theorie  der  Tonverwandt- 
schaft, die  auch  in  sich  betrachtet  der  Schwächen  genug  ent- 
hält, will  ich  nun  nicht  mehr  eingehen.  Dagegen  sei  ein  Be- 
denken erwähnt,  das  sich  an  die  Zeitangaben  knüpft.  Zeiten 
wie  4  oder  auch  7  oder  9  Tausendstel  einer  Secunde  sind  so 
kurz,  dafs  hier  jede  Art  von  Tonwahrnehmung  an  der  Grenze 
anlangt  Es  fanden  ja  nur  1  bis  2  Schwingungen  währenddessen 
statt  Bei  Einer  Schwingung  hört  man  überhaupt  keinen  Ton 
sondern  höchstens  ein  knallartiges  Geräusch.  Bei  zweien  kann 
eine  Gehörsempfindung  entstehen,  die  von  einem  ganz  exceptio- 
nellen  Gehör  (O.  Abraham)  sogar  als  Ton  von  bestimmter  ab- 
soluter Höhe  erkannt  wird.  Aber  dafs  ein  gleichzeitiges  Ton- 
gemisch von  einer  und  zwei  Schwingungen  oder  von  einer 
und  Vlf^  Schwingungen  noch  analysirt,  ja  sogar  die  Töne  in 
vielen  Fällen  richtig  nachgesungen  würden,  wie  hier  behauptet 
wird,  ist  eine  kaum  glaubliche  Leistung.  Man  sieht  sich  daher 
auf  die  Vermuthung  geführt,  welche  M.  Meyer  bereits  äufserte 
(Zeitschr.  f.  Psychol.  20,  446)  und  auch  Prof.  KtJLPE  mir  mündhch 
aussprach,  dafs  die  chronographisch  gemessene  OefEnungszeit 
des  Schlauches  nicht  zusammenfiel  mit  der  wirkHchen  Empfin- 
dungsdauer, dafs  vielmehr  durch  Reflexion  in  den  Röhren  die 
Dauer  der  Tonempfindung  verlängert  wurde.  Wir  werden  weiter 
unten  bei  unseren  eigenen  Versuchen  Bestätigungen  dafür  finden^ 
War  dies  aber  der  Fall,  dann  verlieren  die  Zeitunterschied 


156  C-  Stumpf. 

Schlauchöffniing  und  die  weiter  daraus  berechneten  Schwebungs- 
unterschiede  für  die  verschiedenen  Intervalle  vollends  jede  Basis. 
Denn  man  kann  natürlich  nicht  voraussetzen,  dafs  diese  physi- 
kalischen Nachwirkungen  in  genauer  Proportion  zur  Zeit  der 
SchlauchöfEnung  selbst  stehen. 

Sonach  muTs  ich  diese  Untersuchung  in  ihren  Haupttheilen 
für  verfehlt  halten,   wenn  auch  Einzelnes  zu  beachten  bleibt 
Ich  rechne  dahin  die  letzte  Tabelle  XI,  worin  angegeben  wird, 
wie  oft  jedes  Intervall  richtig  nachgesungen  wurde  (Verfasser 
unterscheidet  die  Analyse  überhaupt  oder  das  Mehrheitsurtheil 
und  die   „genaue  Analyse",  d.  h.  das  richtige  Heraushören  und 
Nachsingen  der  Töne).    Die  gröfste  Zahl  weist  in  dieser  Hin- 
sicht die  Octave  auf.    Dann  folgen  in  merklichen  Abständen  die 
übrigen  Intervalle,  unter  denen  allerdings  eine  bemerkenswerthe 
Reihenfolge,  etwa  eine  mit  dem  Consonanzgrad  oder  dem  Ton- 
abstand  übereinstimmende,  nicht  zu  erkennen  ist    Die  Octave 
zeigte  sich  also  als  das  Intervall,   welches  am  leichtesten  zu  er- 
kennen war,  sobald  überhaupt  zwei  Töne  darin  unterschieden 
wurdeu.    Dies  werden  wir  bestätigt  finden,  wie  es   denn  auch 
aus  der  überragenden  musikaHschen  Bedeutung  der  Octave  ohne 
Weiteres  zu  verstehen  ist.    Das  heifst  aber  nicht  so  viel,  dafe 
sie  am  leichtesten  zu  analysiren  wäre;  in  welcher  Beziehung 
vielmehr  das  Gegentheil  stattfindet,  da  sie  am  öftesten  mit  dem 
Einklang  verwechselt  wird.  — 

Ich  habe  nun  im  Sommer  1899  zwei  Versuchsreiheu  mit 
ähnKchen  Fragestelluugen  gemacht,  doch  wurde  nicht  die  Frage 
nach  Einheit  oder  Mehrheit  überhaupt  gestellt,  sondern  die  be- 
stimmtere Frage  nach  dem  Intervall  zweier  gleichzeitiger 
Töne  in  der  einen  Serie,  und  nach  der  AnzahlundOrdnungs- 
zahl  der  augenblicklich  gehörten  unter  6  vorherbestimmten 
Tönen  in  der  auderen  Serie.  Die  Frage  nach  Einheit  oder 
Mehrheit  sollte  man  in  so  unbestimmter  Weise  überhaupt  nur 
bei  sehr  unmusikalischen  Menschen  stellen,  bei  denen  billiger- 
weise nicht  mehr  zu  verlangen  ist.  Bei  Musikalischen  ist  es 
zweckmäfsig,  die  Frage  concreter  zu  formuliren,  um  ihren  Be- 
wufstseinszustand  so  vollständig  als  mögKch  zu  übersehen. 


Ud>er  das  Erkennen  v,  Intervallen  u.  Äccorden  bei  sehr  kurzer  Dauer.    157 

Erste  Untersuchung: 
Bestimmung  des  Interralls  gleichzeitiger  Tone. 

Von  drei  in  einer  Flucht  liegenden  Zimmern  dienten  die  beiden 
äufseren  als  Tonerzeugungs-,  beziehungsweise  Tonbeobachtungs- 
zimmer, das  grofse  mittiere  zur  Durchleitung  des  Schalles  ver- 
mittelst  weiter  Röhren  imd  zur  Regulirung  der  Zeitdauer.  Die 
letztere  versuchten  wir  auf  sehr  verschiedenen  Wegen,  gelangten 
aber  schHefslich  zu  dem  Princip,  dessen  sich  auch  R.  Schulze 
bedient  hatte:  es  wurde  ein  Hahn  in  der  Schallleitung  auf 
kurze  Zeit  geöffnet  Um  die  Herstellung  der  nötigen  Ein- 
richtungen, die  sich  mit  vielen  Schwierigkeiten  verknüpft  zeigten, 
haben  sich  die  Herren  Dr.  F.  Schumann  und  Dr.  K.  L.  Schaefer 
verdient  gemacht,  der  letztere  überdies  durch  die  grofse  Geduld 
und  Genauigkeit,  mit  welcher  er  während  sämmtlicher  Versuche 
die  Auslösung  besorgte. 

Es  wurde  in  die  Schallleitung  ein  Metallröhrenstück  von 
l^/o  cm  Durchmesser  eingesetzt,  das  einen  sehr  leicht  drehbaren 
Hahn  enthielt.  An  dem  Hahngriff  war  eine  dünne  Stange  be- 
festigt Diese  trug  vermittelst  eines  kleinen  Hakens  an  einer 
daran  befestigten  über  eine  Rolle  laufenden  Schnur  ein  Gewicht 
Wurde  die  Stange,  die  Dr.  Schaefer  vor  jedem  Versuch  fest- 
hielt, losgelassen,  so  drehte  das  fallende  Gewicht  den  Hahn  und 
MHirde  dann,  um  jedes  störende  Geräusch  zu  vermeiden,  von 
Dr.  ScH.  mit  der  Hand  aufgenommen.  Kurz  vorher  und  nach- 
her gab  er  dem  Tonerzeuger  und  den  Beobachtern  die  nöthigen 
Signale.  Die  Oeffnungsdauer  wurde  durch  das  Chronoskop  ge- 
messen, indem  bei  jeder  der  beiden  Stellungen  der  Stange,  die 
dem  Beginn  und  Schlufs  der  Röhrenöffnung  durch  den  Hahn 
entsprachen,  elektrische  Contacte  angebracht  wurden,  die  den 
durch  das  Chronoskop  gehenden  Strom  öffneten  und  schlössen. 

Der  Ton  mufs  nun  allerdings  in  Folge  der  Bewegung  des 
Hahnes  während  der  kurzen  Dauer  noch  anschwellen  und  ab- 
nehmen, und  insofern  hegen  die  Bedingungen  für  das  Urtheüen 
nicht  ganz  so  günstig,  als  wenn  er  während  der  vollen  Zeit  die 
ganze  Stärke  hätte,  doch  kommt  es  hier  ja  überhaupt  nur  darauf 
an,  sehr  kleine  Zeiten  zu  erhalten  und  sie  während  einer  Ver- 
suchsreihe  mögUchst  imverändert  }       lw»lifi]ton. 

Bis  zur  vierzehnten  Ve  b  Dauer  0,225  See., 

von  da  wurde  sie  a^  ^  edhe,  bei  der 


158  C-.  Stumpf. 

nur  ich  allein  beobachtete,  auf  0,075,  und  bei  einer  letzten  Reihe 
noch  darunter  durch  Verengung  des  Schlauches  und  des  Hahnes 
verringert.  Die  Messung  ergab  Schwankungen  innerhalb  einer 
Reihe  bis  zu  0,01  See.  Die  Constanz  darf  also  als  eine  be- 
friedigende gelten. 

Bei  der  Verringerung  der  Zeit  zeigte  sich  nun  aber  keine 
Verschlechterung  des  Urtheils,  im  Gegentheil  waren  die  Er- 
gebnisse in  den  zwei  letzten  Reihen  gerade  besonders  gut  Unter 
den  30  Urtheilen  bei  0,075  See.  waren  nur  9  falsche,  und  unter 
den  30  bei  weniger  als  0,075  See.  nur  7  falsche :  eine  so  geringe 
Zahl,  wie  ich  sie  nur  sehr  selten  erreichte.  Natürlich  kommt 
in  Betracht,  dafs  die  Uebung  gewachsen,  vielleicht  auch  die 
Disposition  besonders  gut  war,  aber  höchst  wahrscheinlich 
war  die  wirkliche  Empfindungsdauer  überhaupt  nicht  kürzer 
geworden.  Ich  hatte  auch  subjectiv  diesen  bestimmten  Eindruck 
(obschon  ja  daraus  allein  nichts  zu  schliefsen  wäre).  Hier  dürften 
die  obenerwähnten  Reflexionen  in  der  Leitung  in  Betracht  kommen. 
Es  kann  aber  auch  angenommen  werden,  dafs  die  subjective 
Nachdauer  eines  Toneindruckes  unabhängig  sei  von  seiner  ob- 
jectiven  Dauer  und  somit  bei  sehr  kurzen  Eindrücken  relatiy 
grofs  sei,  so  dafs  die  Fortsetzung  über  eine  gewisse  Grenze  hinaos 
überhaupt  keinen  merklichen  Einflufs  mehr  auf  die  Empfindungs- 
dauer  gewänne. 

Als  Tonquelle  diente  die  früher  schon  öfters  benutzte 
Flaschenorgel,  auf  welcher  innerhalb  der  mittleren  Regionen 
eine  gröfsere  Anzahl  von  Tönen  sorgfältig  ausgesucht  und 
nöthigenfalls  noch  adaptirt  wurden,  so  dafs  sie  möglichst  genau 
ansprachen  und  gleich  stark  in  dem  Beobachtungsraum  Te^ 
nommen  wurden.  Der  letztere  Punkt  mufs  immer  besonders 
geprüft  werden,  weil  oft  genug  zwei  Töne,  die  im  Erzeugungs- 
raum gleich  stark  scheinen,  in  Folge  ungleicher  Fortpflanzungs- 
verhältnisse in  den  Schallröhren  im  Beobachtungsraum  nicht 
gleich  stark  vernommen  werden.  Auf  diesen  Punkt  ist  auch  in 
der  Durchführung  der  Versuche  beständig  in  erster  Linie  Be- 
dacht genommen  worden ,  indem  immer  wieder  von  den  Beob- 
achtern die  Töne,  welche  kurzdauernd  gehört  werden  sollte, 
zwischendurch  auch  mit  längerer  Dauer  auf  ihr  Stärkeverhältnife 
geprüft  wurden,  sowohl  einzeln  als  auch  in  verschiedenen  Com- 
binationen  mit  einander. 

Die  Töne  wurden  im  Schallerzeugungszimmer  durch  einen 


Ud>er  das  Erkennen  v.  Intervallen  u.  Äccorden  bei  sehr  kurzer  Dauer.    159 

Schalltrichter  in  die  3  cm  weite  Röhre  geleitet ,  welche  in  den 
Beobachtungsraum  führte.  Hier  endigte  die  Leitung  in  einen 
eben  so  weiten  Gummischlauch,  an  welchem  vier  rechtwinklige 
eben  so  weite  Ansätze  von  gleicher  Länge  angebracht  wurden, 
so  dafs  bis  zu  fünf  Beobachter  gleichzeitig  den  ^Eindruck 
empfangen  konnten.  Wir  versicherten  uns,  dafs  an  jeder  der 
fünf  Oeffnungen  die  Töne  gleich  mäfsig  gut  zum  Vorschein  kamen. 
Eine  solche  Multiplication,  mit  der  gehörigen  Vorsicht  durchge- 
führt, kann  bei  akustischen  Versuchen  dieser  Art  nicht  genug  em- 
pfohlen werden,  nicht  nur,  weil  man  dadurch  eine  gröfsere  Anzahl 
von  Beobachtungsreihen  auf  einmal  erhält,  sondern  auch,  weil  man 
sicher  ist,  dafs  sie  bei  ganz  gleichen  Reizeinwirkungen  gemacht 
sind,  imd  weil  überdies  mehr  Chancen  gegeben  sind,  dafs  einer  der 
Beobachter  irgend  einen  übersehenen  Nebenumstand  bemerkt,  der 
zu  Modificationen  in  weiteren  Versuchen  Anlafs  giebt. 

Es  währte  lange,  bis  die  Einrichtung  so  gelungen  war,  dafs 
die  Töne  einerseits  nicht  unabhängig  von  der  Leitung  hinübeiv 
drangen,  andererseits  stark  genug  durch  die  Leitung  kamen, 
um  nicht  schon  durch  die  Schwäche  Unsicherheit  des  Urtheils 
zu  bewirken.  Aber  schliefslich  wurden  diese  beiden  Bedingungen 
doch  in  befriedigendem  Maafse  erfüllt. 

Die  Erzeugung  der  Toncombinationen  an  der  Orgel  besorgte 
mit  dankenswerther  Ausdauer  und  Sorgfalt  Herr  Dr.  Schweitzer 
abwechselnd  mit  Herrn  stud.  Pfungst.  Die  einzelnen  Serien  um- 
f afsten  20 — 30  Versuche.  Es  wurden  benutzt :  grofse  Terz,  Quarte, 
übermäfsige  Quarte,  Quinte,  kleine  und  grofse  Sexte,  kleine  Septime, 
Octave,  grofse  None,  grofse  Decime,  Undecime,  übermäfsige  Un- 
decime  und  Duodecime,  aufserdem  aber  auch  Fälle  mit  nur  Einem 
Ton  eingeschaltet  Mit  dem  Intervall,  aber  auch  mit  der  absoluten 
Höhe  der  Töne  wurde  innerhalb  der  mittleren  Region  (zwischen 
a  und  g^)  und  unter  den  vorher  ausgesuchten  gleichstarken 
Tönen  beständig  gewechselt  Bis  zur  7.  Serie  fehlten  die  Sexten, 
Sieptime  und  Undecime,  von  da  ab  wurden  sämmtliche  genannten 
Intervalle  gebraucht  Die  Beobachter  hatten  in  einem  Heft  zu 
jeder  Versuchsnummer  ihr  Urtheil  über  das  gehörte  Intervall 
hinzuschreiben.  Sie  wufsten,  was  für  Intervalle  überhaupt  vor- 
kamen. Zuweilen  glaubten  sie  dennoch,  andere  Intervalle  zu 
hören,  z.  K  statt  der  grofsen  die  kleine  Terz,  was  dann  natürlich 
ebenfalls  registrirt  wurde.  Die  Hauptbeobachter  waren  Prof.  Dr. 
Kbigab-Menzel  (K),  als  physikaUscher  Beobachter  von  beson- 


160  ^-  Stumpf, 

derer  Genauigkeit  durch  seine  langjährigen  Messungen  über 
die  Erdschwere  bekannt,  aber  auch  ausgezeichnet  als  Musiker, 
Prof.  Heineich  Barth  (B.),  der  berühmte  Clavierkünstler,  und 
ich  selbst  (St.).  Ejugak-Menzel  hat  21  Serien  mitgemacht  (alle 
bis  auf  die  zwei  letzten),  Babth  Serie  1 — 8,  12—14,  ich  selbst 
Serie  3 — 11  und  13 — 23.  Ich  bin  diesen  beiden  Herren  für  ihre 
langwierige  Mühewaltung  besonders  dankbar.  Aufserdem  wirkten 
bei  einzelnen  Reihen  mit:  Dr.  Schweitzeb,  von  hervorragender 
musikaUscher  und  experimenteller  Begabimg,  Dr.  Abraham,  durch 
sein  ungewöhnliches  Gehör  und  eigene  akustische  Beobachtungen 
bereits  bekannt,  Frl.  Hutzelmann  und  stud.  Münnich,  beide 
bereits  als  gut  musikalische  Beobachter  erprobt  Die  Ergebnisse 
dieser  Beobachter  werde  ich  aber  wegen  ihrer  geringeren  Anzahl 
nur  in  zweiter  Reihe  heranziehen. 

K.  notirte  regelmäfsig,  Dr.  Abraham  meistens  nicht  blos  das 
Intervall,  sondern  auch  die  absolute  Höhe  der  gehörten  Töne. 
Abbaham  giebt  an,  dafs  er  bei  gröfseren  Intervallen  durch  sein 
ausgeprägtes  absolutes  Tonbewufstsein  auch  in  der  Schätzung 
des  Intervalls  beeinflufst  wird,  indem  er  aus  den  beiden  absoluten 
Höhen  eben  das  Intervall  bestimmen  kann.  EL  stellt  für  seine 
Person  eine  solche  Beeinflussung  durchaus  in  Abrede.  Das 
absolute  Höhenurtheil  stellt  sich  ihm  gleichzeitig  mit  dem  Inter- 
vallurtheil  ein,  aber  jedes  unabhängig  vom  anderen,  wie  denn 
auch  das  eine  richtig  und  das  andere  unrichtig  sein  konnte. 

Ich  gebe  nun  im  Folgenden  in  Tabelle  A  zunächst  in  extenso 
die  Uebersicht  der  Urtheile  K.'s,  dessen  Aufzeichnungen  sowohl 
der  Menge  nach,  als  der  Form  und  der  systematischen  Durch- 
führung nach  die  anderen  überragen.  Seine  Tabelle  ist  als  die 
am  meisten  typische  und  maafsgebende  zu  betrachten.  £s  sind 
hierbei  alle  21  Reihen  zusammengerechnet,  obschon  von  der  15. 
an  die  Ton-(Reiz-)Dauer  auf  0,15  See.  reducirt  wurde ,  da  dieser 
Umstand  auf  das  Ergebnifs  keinen  Einflufs  hatte.  Horizontal 
über  der  Tabelle  stehen  die  Bezeichnungen  der  gebrauchten 
Intervalle  (die  kleinen  Intervalle  sind  mit  arabischen  Ziffern  aus- 
gedrückt), vertical  links  die  Bezeichnungen  derjenigen,  welche 
der  Beobachter  zu  hören  glaubte.  Die  erste  Horizontalreihe  giebt 
also  die  Verwechslimgen  mit  dem  Einklang,  die  zweite  die  Ve^ 
wechslungen  mit  der  Terz,  u.  s.  w.  Die  Fälle,  in  welchen  Ve^ 
wechslungen  mit  einem  nicht  unter  unseren  Versuchsintervallen 
vorkommenden  Intervall  stattfanden,  sind  besonders  eingetragen. 


ber  das  Erkennen  v.  Intervallen  u.  Accorden  bei  sehr  kurzer  Dauer,    161 


Tabelle  A. 

(Absolute  Urtheilszahlen  für  Kmgab  -  Menzel.) 


TTT 

IV 

#IV 

V 

6 

VI 

7 

VIIT 

IX 

X 

XT 

#XI 

XII 

B 

2, 

ItkITi. 

2 

4 

2 

1 
11 

8 
9 

2 

o 

8 

2, 
1 

1, 

9. 

1 
2, 

13. 

Irr.Stft. 

4 

2 

37 

4 
4 

9 

7 

4 

V. 

1 
4 

6, 

24. 

v. 

35 

1 

1 

22 

V. 

1 

4 

29 

21, 

1 
1 

20 

1, 

38, 

ikl. 
None 

25. 

1 

V« 

1 

25, 

1 
1 

1 

3, 

1 

14, 

6 

1 

20 
10, 
2 

4 

29 

>  z.  B.  die  Quarte  wurde  2  mal  für  Einen  Ton,  4  mal  für  die 
se  Terz,  Imal  für  die  übermäfsige  Quarte  gehalten,  35  mal 
tig  beurtheilt.  „  ^/o  mal"  kommt  dadurch  heraus,  dafs  in  manchen 
en  (bei  K.  in  ziemlich  vielen,  bei  anderen  nur  in  wenigen)  ein 
rvall  für  eins  von  zweien  erklärt  wurde,  z.  B.  für  None  oder 
üme,  in  welchem  Falle   das  Urtheil  beiden   zur  Hälfte  zu- 

^twlirin  fUr  Psychologe  «7.  -y^Y 


C.  Stwnpf. 


gerechnet  wurde.  Das  verechiedenen  Zahlen  angefügte  Komma 
bedeutet  gleichfalls  Vt-  ^^  (zweifelhaft)  sind  die  Fälle,  in  deneo 
überhaupt  kein  UrtheU  zu  Stande  kam,  obschon  der  Klang- 
eindruck  deutlich  Temommen  wurde. 

Tab.  B  iBt  aus  Tab.  Ä  gebildet  Sie  enthält  statt  der  ^ 
soluten  Zahlen  Procentzahlen  und  stellt  zugleich  die  richtigen, 
falschen  und  zweifelhaften  Fälle  überBichtlich  zusammen.  Die 
Rubrik  für  den  Einklang  ist  weggelassen,  da  er  ja  ausnahmsloä 
richtig  erkannt  wurde.  Die  Anzahlen  der  richtigen  Urtheile  über 
jedes  Intervall  stehen  in  der  Horizontalreihe  r,  die  Fälle  der 
Verwechslung  mit  kleineren  Intervallen  in  der  Reihe  fc,  die  der 
Verwechslung  mit  gröfseren  Intervallen  in  der  Reihe  g. 

Tab.  C  giebt  das  Nämliche  für  den  Beobachter  Stc»f, 
Tab.  D  für  Bakth.  In  Tab.  E  sind  die  Ei^ebnisse  der  ersten 
14  Reiben ,  wo  gleiche  Reizdauer  stattfand,  für  diese  drei  Be- 
obachter zusammengerechnet.  Tab.  F  endlich  stellt  die  Ergeb- 
nisse aus  allen  Reihen  aller  Beobachter  in  Procenten  zusanuuen. 

Tabelle  B. 
(Frocente  für  Kriqib-Mbhzel.) 


theilef™ 

IV 

itiv 

V 

S 

Vi 

7 

VUI 

IX     X 

xilifxi 

xn 

SniMK 

EinTon 

g 

- 

5 

17 

6 

, 

a 

33 

9 

10, 

33, 

9 

16 

14£ 

k 

se 

10    30 

20 

33|  33 

8 

2, 

6 

10. 

19. 

13 

11 

m. 

r 

&3 

83I    55 

63 

55 

66 

88 

62 

84 

G7 

38 

48 

73 

m 

g 

5 

2I  10 

0 

7 

4 

2 

0 

0 

9 

16 

25 

0 

80 

0 

ol    0!    0 

0 

0 

0 

2, 

2 

3 

3 

5 

0 

15, 

100 

100   100  j 100 

100 

100 

100 

100 

100 

100 

100 

100 

100 

1300 

Tabelle  C 
(Procente  ftlr  Sun 

(wirkliche  Summe  =  519) 
ß.p.) 

theile    ^ 

IV 

Jfiv 

V      6 

VI 

7 

vnilix 

X    XI 

ifxixu 

SnmiH 

EinTon     12 

ö 

6|     9 

4 

8 

0 

3 

2 

3;  16 

0 

6 

TS 

k          17 

17 

19  j   18 

33 

27 

24 

0 

12 

61    24 

69 

18 

364 

r         Ö4 

S9 

«1   ßÖ 

42 

53 

7t 

94 

57 

58,    50 

2!t 

77 

769 

g         17 

19 

2fi'      7 

21 

12 

5 

0 

27 

33     10 

12 

0 

189 

E«               0 

0 

0.     0|     0 

0 

0 

3 

2 

ü;      0 

0 

0 

5 

100 

100 

100 1 100   100 

100 

100 

100 

1()0|100[]00,100 

100 

1300 

(l- 

drUi 

che 

Suhl 

me  = 

=  m 

n^tr  da»  Efiaitien  v.  InUrtaUen  n.  Aceorilen  bei  »ehr  htrzer  Dawr.    163 

Tabelle  D. 
(Frocente  fär  Babth.) 


Or 

llwUe 

III 

IV 

trv 

V 

fi 

VI 

7 

vm 

IX 

X 

XI 

txi 

XII 

Sninme 

XinTon 

21 

4 

19 

36 

34. 

t 

14 

67 

33 

23 

&, 

14 

2a 

294 

k 

le 

9 

62 

22 

34, 

63 

77 ;  0 

6 

27 

63 

60 

38 

466, 

r 

68 

73 

19 

40 

25 

30 

4, 

22 

62 

SO 

21 

23 

36 

433, 

g 

ö 

11 

0 

8 

6 

0 

4, 

11 

0 

30 

ä. 

9 

0 

93 

zw 

0 

0 

0 

4 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

fi 

4 

0 

13 

100 

100 

100 

lOÜ 

100 

100 

100 

100 

100 

lüO 

100 

100 

KJI) 

laoo 

(virkliche  Bnmme  = 


Tabelle  E. 

(Procente  fDr  K.  -|-  St.  -|-  B.  sub  den  14  ersten  Reihen.) 


Ür 
theile 

ni 

IV 

»IV 

V 

6      VI 

7 

vm  IX 

X 

XI  #xilxii 

Summe 

EinTon 

10 

3 

6 

15 

13 

9 

4 

38     13 

16 

26 1     9     21 

188 

k 

IB 

9 

40 

20 

33 

4ä 

33 

2     11 

16 

34     40     20 

323 

f 

68 

77 

47 

60 

39 

37 

60 

55 

67 

49 

28  i    37     59 

678 

e 

9 

11 

7 

4 

16 

9 

3 

3 

8 

18 

10     12       0 

109 

o;    0 

0 

1 

0 

0 

0 

2 

1 

O]     2       2       0 

8 

100 

100 

100 

100 

lOÖ 

100 

100 

100 

100 

100 

100 1 100   KXI 

1300 

(wirkliche  Bnmme  = 


Tabelle  F. 
(Procente  fUr  Blkmmtliche  Beobachter.) 


'^'-      1  TTT 

IV 

jfiv 

vie 

VI 

7 

vm  IX  j  X 

xiJtxi 

XU 

Summe 

EinTon 

12 

3 

7 

16 

6 

6 

3 

24 

11 

6 

13       6 

11 

127 

k 

12 

12 

28 

18 

.32 

31 

27 

3 

10 

10 

32     31 

20 

266 

r 

67 

70 

53 

£9 

51 

63 

66 

66 

65 

62 

42|  4ä 

69 

766 

K 

9 

16 

11 

6 

9 

8 

4 

5 

12 

18 

..1           0 

127 

-     1     Ö 

0 

1 

1 

0 

3 

Oj      2 

16 

100 

lOO 

lÜO 

100 

100 

100 

IQO 

iff^ 

164  C.  Stumpf. 

Wir  wollen  nun  die  Ergebnisse,  welche  theils  aus  diesen 
Tabellen  hervorgehen,  theils  sonst  in  den  Versuchen  hervor- 
traten, zusammenstellen. 

1.  Der  einfache  Ton  wurde  als  solcher  fast  ausnahmslos 
richtig  erkannt  und  fast  niemals  mit  einem  Intervall  verwechselt. 
Wie  in  Tab.  A  bei  K.,  so  verhält  es  sich  ähnlich  in  allen  anderen 
Urtabellen.  Es  sind  insgesammt,  alle  Beobachter  zusammenge- 
rechnet, 93  Beobachtungen  für  den  Einklang  angestellt,  und  unter 
diesen  sind  89  richtig,  3  falsch  (einmal  gleich  Quinte,  einmal 
gleich  Septime  und  einmal  gleich  None) :  offenbar  Producte  einer 
zufälUgen  Unaufmerksamkeit,  wie  sie  selbst  bei  den  sichersten 
Urtheilen  in  längeren  Reihen  nicht  fehlen.  Bei  Unmusikalischen 
würde  dies  anders  gewesen  sein.  Sie  pflegen  schon  bei  längerer 
Tondauer  nicht  selten  einen  einfachen  Ton  für  eine  Mehrheit  zu 
erklären.  Auch  Herrn  G.,  mit  dem  Meyer  experimentirte,  und 
der  bei  der  Klangdauer  von  0,265  See.  unter  70  Fällen  in 
16  Fällen  2  Töne  zu  hören  angab,  können  wir  daher  nicht  mehr 
zu  den  wirklich  musikalisch  Hörenden  rechnen. 

2.  Betrachten  wir  die  Fälle,  in  denen  ein  Intervall  für 
Einen  Ton  erklärt  wurde,  also  die  erste  Querreihe  unserer 
Tabellen,  so  fällt  sogleich  die  besondere  Stellung  der  Octave 
in  die  Augen.  K.,  der  sonst  die  besten  Leistungen  hat,  erklärte 
sie  in  Vg  ^Uer  Fälle  für  einen  Ton,  während  er  sie  in  fast  allen 
übrigen  Fällen,  wo  er  sie  überhaupt  analysirte,  richtig  als  Octave 
erkannte.  Bei  den  übrigen  Beobachtern  ist  das  Verhältnifs  theil- 
weise  noch  imgünstiger.  B.  hat  unter  18  Fällen  die  Octave  12  mal 
für  einen  Ton  erklärt  und  nur  4  mal  richtig  erkannt.  St.  dagegen 
hat  33  richtige,  nur  1  falsches  und  1  zweifelhaftes  Urtheil.  Bei 
ihm,  ebenso  bei  Münnich,  Abraham,  Schweitzer  enthält  die 
horizontale  Rubrik  „Ein  Ton"  überhaupt  nur  sehr  wenige  Fälle. 
In  Tab.  E  imd  F  sind  diese  individuellen  Unterschiede  ausge- 
glichen (sie  sind  in  keinem  anderen  Pimkte  so  grofs,  sonst 
würde  sich  auch  das  Zusammenrechnen  nicht  rechtfertigen).  Man 
mufs  hier  also  die  erste  Rubrik  hauptsächlich  auf  den  Einflufs 
von  K.  und  B.  beziehen. 

Diese  Unterschiede  erklären  sich  daraus,  dafs  die  zuletzt- 
genannten Individuen  und  besonders  ich  selbst  durch  die  fort- 
gesetzten akustischen  Studien,  bei  denen  die  Analyse  eine  Haupt- 
rolle spielt  (und  man  ist  natürlich  gerade,  weil  man  die  Gefahr 
bei  der  Octave  kennt,  besonders  darauf  bedacht  gewesen,  sich 


Ueber  d<i8  Erkennen  i\  IntervalUn  u.  Accorden  hei  sehr  kurzer  Dauer.    165 

von  ihr  zu  emancipiren),  hierin  eine  solche  Fertigkeit  erlangt 
haben,  dafs  Täuschungen  auf  ein  Minimum  reducirt  werden. 
Die  „Verschmelzung^  der  Octave  bewirkt  ja  nicht  immer  imd 
überall  ihre  Nichtunterscheidung.  Aber  dafs  sie  selbst  bei  aufser- 
ordentlich  musikahschen  Menschen  die  Analyse  in  viel  höherem 
Grade  als  bei  den  übrigen  Intervallen  verhindert,  zeigt  uns  be- 
sonders das  Beispiel  B/s,  aber  auch  das  K/s. 

Die  übrigen  Intervalle  bilden  keine  ganz  deutlich  hervor- 
tretende Reihe  in  Hinsicht  ihrer  Verwechslung  mit  dem  Einklang. 
Es  ist  wohl  nicht  zu  verkennen,  dafs  die  consonanteren  im  All- 
gemeinen günstiger  gestellt  sind  (siehe  besonders  die  Gesammt- 
tabelle  F :  die  höchsten  Zahlen  bei  der  Octave,  Quinte,  Undecime, 
Terz,  Duodecime,  ebenso  für  K.  in  Tabelle  B  bei  der  Octave, 
Undecime,  Quinte,  Duodecime,  in  dieser  Reihenfolge).  Aber 
es  sind  zu  bedeutende  individuelle  Abweichungen,  um  mit  irgend 
welcher  Genauigkeit  eine  Reihenfolge  der  Verschmelzungen 
hieraus  zu  erschliefsen.  Bei  St.,  der  sonst  wenig  Einheitsurtheile 
fällt,  hat  die  Undecime  relativ  viele,  bei  B.  die  None  auffallend 
viele  Einheitsurtheile  u.  s.  w.  Und  es  machen  sich  dann  diese 
Abnormitäten  in  den  Gesammtzahlen  geltend.  Man  müfste  die 
Versuche  auf  noch  viel  mehr  Individuen  ausdehnen,  damit  sie 
sich  genügend  ausglichen ,  aber  die  Mühe  wäre  zu  grofs,  als  dafs 
sie  sich  lohnte.  Bei  der  Undecime  scheint  es  übrigens  nach  den 
beigefügten  Bemerkungen  im  Protokoll  öfters  an  einer  wirklichen 
Ungleichheit  der  Tonstärke  gelegen  zu  haben,  so  sehr  wir  be- 
müht waren,  sie  fern  zu  halten.  Auch  K.  zeigt  hier  ungewöhn- 
lich viel  falsche  Urtheile. 

Man  kann  fragen,  ob  nicht  die  Gröfse  der  Distanz  eineu 
Unterschied  macht.  In  gewöhnlichem  Falle  wirkt  vergröfserte 
Distanz  günstig  für  die  Analyse,  was  man  besonders  bei  Un- 
musikalischen eclatant  beobachten  und  auch  leicht  psychologisch 
begreifen  kann.  Wenn  aber  die  Zeitdauer  so  minimal  ist, 
könnte  die  Distanz  eher  im  umgekehrten  Sinne  wirken :  denn  die 
äuTserst  concentrirte  Aufmerksamkeit  ist  naturgemäfs  auch  nur 
auf  ein  einzelnes  Gebiet  der  Tonreihe  concentrirt.  Man  stellt  hier, 
wie  mir  scheint,  seine  Aufmerksamkeit  immer  auf  eine  gewisse 
mehr  oder  weniger  enge  Tonregion  ein,  innerhalb  deren  man 
das  Phänomen  erwartet,  in  unserem  Falle  auf  die  mittlere  Ab- 
theüung  innerhalb  des  gebrauchten  Tonbezirkes.  Wenn  nun  ein 
besonders  grofses  Intervall,  Duodecime,   Undecime,  auftritt,   so 


166  G'  Stumpf. 

kann  es  leicht  vorkommen,  dafs  man  nur  den  unteren  Ton  oder 
nur  den  oberen  wahrnimmt,  weil  die  Aufmerksamkeit  nicht  so 
schnell  wandern  kann.  Ich  will  damit  nicht  8agen>  dafs  zur 
Analyse  überhaupt  ein  Wandern  nöthig  ist,  vielmehr  können  sich 
bei  sonst  günstigen  Umständen  zwei  Töne  als  zwei  und  als 
dieses  bestimmte  Intervall  ohne  jede  Veränderung  der  Auf- 
merksamkeitseinstellung aufdrängen.  Aber  unter  so  exeeptionellen 
Umständen  könnte  die  erforderUche  Concentmtion  der  Aufmerk- 
samkeit geradezu  nachtheilig  wirken,  indem,  was  dem  ehoien  Ton  zu 
gute  kommt,  dem  anderen  entzogen  und  dieser  so  überhört  wird 

Ob  nun  unsere  Tabellen  wirklich  in  diesem  Sinne  sprechen, 
läfst  sich  nicht  unzweideutig  erkennen.  Bemerkenswerth  ist 
allerdings  die  Zunahme  der  zw  bei  den  grofsen  Intervallen 
(aufser  XII).  Aber  in  der  Einheitsrubrik  ist  eine  deutliche  Zu- 
nahme, auch  wenn  man  ein  Intervall  mit  seiner  Erweiterung 
(Terz  mit  Decime,  Quinte  mit  Duodecime  etc.)  vergleicht,  nicht 
zu  constatiren,  allerdings  auch  nicht  eine  durchgängige  Abnahme. 
Bald  findet  das  eine,  bald  das  andere  Statt. 

Wichtig  ist  nun  die  Frage,  was  eigentlich  im  Falle  eines 
Einheitsurtheils  wahrgenommen  wurde.  Bei  Unmusikali- 
schen sind  wir  schlimm  daran,  sie  können  es  eben  nicht  näher 
angeben.  Dagegen  sind  die  Musikalischen  häufig  dazu  im  Stande, 
und  zumal  K.  hat  fast  immer  in  seinem  Protokoll  den  gehörten 
Ton  namhaft  gemacht:  es  war  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  der 
tiefere,  in  einzelnen  auch  der  höhere,  niemals  ein  zwischen- 
liegender. Hierbei  sehe  ich  davon  ab,  dafs  er  bei  der  Ton- 
bezeichnung fast  immer  um  einen  halben  Ton  nach  der  Höbe 
fehlging,  denn  dieser  constante  Fehler  lag  offenbar  an  einer 
etwas  tieferen  Abstimmung  seines  absoluten  Tonbewuüstseins 
gegenüber  unserer  Klangquelle. 

3.  Wenn  wir  nun  die  erste  Horizontalrubrik  bei  Seite  lassen 
und  ims  also  nur  an  die  Fälle  halten,  wo  die  Urtheilenden  ein 
Intervall  zu  hören  glaubten,  so  können  wir  zunächst  die  An- 
zahl der  richtigen  im  Verhältnifs  zu  den  falschen  Urtheilen  ins 
Auge  fassen,  unter  den  falschen  (f)  also  jetzt  verstanden  die 
g  -f-  k  (die  wenigen  zw  können  wir  hier  bei  Seite  lassen). 
Zweierlei  kommt  hier  in  Betracht: 

a)  die  grofse  Sicherheit  des  Urtheils  überhaupt, 
welche  sich  hieraus  ergiebt,  und  die  indivi- 
duellen Unterschiede  hierin. 


lieber  das  Erkennen  v.  Intervallen  u.  Äccorden  hei  sehr  kurzer  Dauer,    167 

Man  sieht  sogleich  aus  den  Tabellen,  dafs  die  r  bei  K. 
weitaus,  auch  bei  St.  noch  bedeutend  die  f  überwiegen.  Bei  B. 
allerdings  sind  mehr  f  als  r.  Aber  in  den  G^sammttabellen 
überwiegen  wieder  die  r.  Bei  K.  findet  sich  dieses  Uebergewicht 
auch  für  jedes  einzelne  Intervall,  nur  bei  der  Undecime  ist  eine 
minimale  Abweichung.  Bei  St.  findet  es  sich  gleichfalls  überall, 
nur  mit  Ausnahme  zweier  Intervalle  (kleine  Texte  und  über- 
mäfsige  Undecime).^ 

Hierbei  ist  mm  noch  zu  bedenken,  dafs  der  Fall  nicht  so 
liegt  wie  etwa,  wenn  man  über  die  Frage  zu  urtheilen  hätte: 
welcher  von  zwei  aufeinanderfolgenden  Tönen  ist  der  höhere? 
Denn  hier  wären  überhaupt  nur  zwei  Urtheile   möglich   (vom 
zweifelhaften  imd  vom  Gleichheitsurtheil  abgesehen).    Der  zweite 
ist  der  höhere,  oder  er  ist  der  tiefere.    Dagegen,  wo  es  sich  um 
die  richtige  Benennung  eines  Intervalls  handelt,  sind  natürlich 
mindestens  so  viele  falsche  Urtheile  möglich,  als  andere  Inter- 
valle vorgelegt  werden.    Eigentlich  aber  noch  mehr,  da  auch  die 
übrigen  musikaUsch  gebräuchlichen  Intervalle  wenigstens  bis  zur 
Duodecime  in  Frage  kommen  und  zuweilen  auch  wirkUch  ge- 
nannt wurden.    Während  also  dort,  bei  der  Höhenvergleichung 
zweier  aufeinanderfolgender  Töne,  das  Verhältnifs  r :  f  :=  50  :  50  7o 
ein  absolutes  Schwanken,  reine  Zufälligkeit  des  Urtheils  bedeutet 
xmd  mindestens  75  \  r  verlangt  werden  müssen,  imi  dem  Urtheil 
einen  anständigen  Grad  von  Sicherheit  zuzuschreiben,  aus  dem 
sich  etwas  schliefsen  läfst,  bedeutet  hier  Gleichheit  der  r  und  f 
schon  eine  erhebliche  Sicherheit  des  Urtheils.    Hiemach  betrachte 
ich  beispielsweise  B.'s  Leistung,  obschon  die  f  sogar  schon  über- 
wiegen, immer  noch  als  ein  Zeichen  bemerkenswerther  Urtheils- 
fähigkeit. 


'  Man  könnte  es  für  richtig  halten,  bei  der  Zählung  der  r  und  f  die 
Duodecime  auÜBer  Betracht  zu  lassen,  da  hier  g-ürtheile  ohnedies  ausge- 
schlossen seien,  insofern  die  Urtheilenden  wufsten,  dafs  kein  gröfseres 
Intervall  vorkam.  Doch  würden  sich  die  Ergebnisse  dadurch  nicht  irgend 
wesentlich  verändern.  Auch  ist  zu  erinnern,  dafs  hiemach  ebenso  bei  der 
groÜBen  Terz  die  k-Urtheile  ausgeschlossen  wären,  während  doch  factisch 
Öfters  die  kleine  Terz  als  das  gehörte  Intervall  bezeichnet  wurde,  femer 
dals  auch  sonst  zuweilen  Intervalle  von  den  urtheilenden  angegeben 
wurden,  von  denen  sie  recht  wohl  wufsten,  dafs  sie  nicht  zu  den  vorgelegten 
gehörten,  z.  B.  Secunde,  kleine  None. 


168  C'.  Stumpf. 

b)  Die   Unterschiede    unter    den   Intervallen  in 
Bezug  auf  ihre  Erkennbarkeit 

Vergleichen  wir  das  Verhältnifs  der  r  und  f  bei  den  ve^ 
schiedenen  Intervallen.  Folgende  Reihenfolge  der  Intervalle  in 
Bezug  auf  die  Gröfse  des  Quotienten  ergiebt  sich  aus  Tab.  B, 
C,  E  und  F  (denen  mit  gröfseren  absoluten  Zahlen). 

Tab.  B:  VEI,  IX,  7,  IV,  XII,  V;  X,  III,  VI,  #IV,  6,  #  XI,  XL 

„    C:  VIII,  XII,  m,  V,  7,  IV;  X,  XI,  IX,  VI,  #iv,  6,  t^:^ 

„     E:  Vm,  IV,  IX,  XII,  V,  ni;  7,  X,  jflV,  6,  Jxi,  VI,  XL 
„     F:  VIII,  XII,  m,  IX,  IV,  V;  7,  X,  VI,  #IV,  6,  XI,  fXL 

Durchgängige  Constanz  zeigt  sich  nur,  insofern  überall  und 
immer  die  Octave,  und  zwar  weitaus,  an  der  Spitze  bleibt 
Man  kann  sagen,  dafs  sie  so  gut  wie  immer  richtig  beurtheilt 
wird,  wenn  sie  überhaupt  als  Intervall,  als  Zweiheit  von  Tönen 
erkannt  wird.  Hierin  stimmen  auch  M.  Meyeb's  und  R.  Schülze's 
Ergebnisse  mit  den  meinigen  überein.^ 

Im  Uebrigen  aber  ist  eine  ganz  bestimmte  Reihenfolge  nicht 
aufzustellen.  Dies  hängt  theilweise  an  gewissen  Abnormitäten 
oder  besser  individuellen  EigenthümHchkeiten,  die  sich  auch  an 
den  besten  Beobachtern  finden.  So  stehen  namentlich  bei  K 
die  None  und  Septime  auffallend  günstig,  was  dann  auch  bei  der 
grofsen  Anzahl  von  K.'s  Urtheilen  auf  die  Summentabellen  E 
und  F  erhebUchen  Einflufs  gewinnt. 

Nur  soviel  läfst  sich  noch  deutUch  erkennen,  dafs  in  der 
ersten  Hälfte  der  Intervallreihe  aufser  der  Octave  allgemein  auch 
die  Duodecime,  Quarte  und  Quinte  zu  stehen  kommen.*  Man 
kann  darin  einen  Einflufs  der  Consonanz,  beziehungsweise  Ver- 
schmelzimg erkennen ;  aber  es  wäre,  wie  man  sieht,  verfehlt,  ans 
Versuchen  dieser  Art  den  Consonanzgrad  überhaupt  bestimmen 
zu  wollen.  Wahrscheinlich  hat  aufser  ZufälHgkeiten  und  indivi- 
duellen Constanten  Eigenthümlichkeiten  (die  auf  habituellem  Merk- 
hchkeits-  oder  Gefühlsüberge  wicht  gewisser  Intervalle  für  eine  Pereon 

1  Meyer  a.  a.  0.  407,  Schulze  a.  a.  0.  487  (Tab.  XI). 

*  Auch  in  einer  Versuchsreihe  Meyeb's,  bei  welcher  die  Aufgabe  einer 
Benennung  des  Intervalls  gestellt,  das  Urtheil  überdies  dadurch,  dafs  der 
tiefere  Ton  immer  stärker  als  der  höhere  angegeben  wurde,  erschwert,  da- 
gegen die  Zeitdauer  auf  0,52  See.  verlängert  war,  ergab  sich,  dals  die 
dissonanten  Intervalle  weniger  gut  erkannt  wurden.  Doch  enthält  die 
Tabelle  nur  geringe  Versuchszahlen  (a.  a.  0.  408). 


Ucber  das  Erkennen  v.  Intervallen  u.  Accordeti  hei  sehr  kurzer  Dauer,   169 

beruhen  mögen)  besonders  auch  der  Umstand  Einflufs,  ob  ein 
Intervall  in  harmonischer  Beziehung  einen  mehr  oder 
weniger  ausgesprochenen  Charakter  trägt.  Die  Un- 
decime  und  die  übermäfsige  Undecime  haben  wenig  mit  Accord- 
bildungen  zu  thun.  Man  kann  wohl  von  einem  Undecimen- 
accord  reden,  aber  er  gehört  zu  den  seltensten  Bildungen.  Da- 
gegen spielen  die  Septime  und  None  als  Begrenzung  von  Accorden 
eine  bedeutende  Rolle.  Damit  mag  ihre  erleichterte  Erkennbar- 
keit namentlich  bei  K.  zusammenhängen. 

Ob  die  Distanz  der  Intervalltöne  auch  einen  maafsgebenden 
Einflufs  hat  auf  ihre  Erkennbarkeit  (Analyse  überhaupt  voraus- 
gesetzt), läfst  sich  nach  diesen  Zusammenstellungen  nicht  sagen, 
wenn  man  auch  im  Allgemeinen  vermuthen  mag,  dafs  gröfsere 
Intervalle  schwerer  erkennbar  werden. 

4.  Vergleichen  wir  endlich  die  falschen  Urtheile  unter- 
einander, so  bieten  sich  zwei  wichtige  Züge  dar. 

a)  Die  Verwechselungen  betreffen  in  den  weitaus 
meisten  Fällen  benachbarte  Intervalle,  solche,  die 
sich  nur  um  einen  halben  oder  ganzen  Ton,  auch  wohl  um 
zwei  Tonstufen  vom  wirklich  gehörten  Intervall  unterscheiden. 

Man  sieht  dies  in  der  Tabelle  A,  aber  auch  in  den  hier 
nicht  in  extenso  mitgetheilten  Urtabellen  von  St.  und  B.  Bei 
den  übrigen  Personen  zerstreuen  sich  die  Verwechselimgen  mehr, 
aber  diese  haben  eben  geringere  absolute  Urtheilsziffern ;  bei  der 
Zusammenrechnung  läfst  sich  auch  hier  einigermaafsen  dasselbe 
erkennen. 

Es  geht  hieraus  hervor,  dafs  unter  solchen  Versuchs- 
umständen  die  Distanz  der  Intervalltöne  für  die 
Erkennung  sehr  wesentlich  seinmufs.  Denn  nach  dem 
reinen  Consonanzprincip  hätte  man  erwarten  müssen,  dafs  die 
Verwechselung  vorzugsweise  die  in  der  Consonanzreihe 
benachbarten  Intervalle  beträfen;  dass  also  z.  B.  Sexten  mit 
Terzen  verwechselt  würden,  Dissonanzen  unter  sich,  nicht  aber 
mit  Consonanzen.  Hier  wurde  hingegen,  um  besonders  markante 
Beispiele  aus  den  Urtabellen  anzuführen,  von  B.  die  Septime 
13  mal  mit  der  VI  verwechselt ,  2  mal  mit  der  6,  und  nur  je 
einmal  mit  drei  nichtbenachbarten  Intervallen.  Die  XI  ver- 
wechselte B.  8  mal  mit  der  X,  2  mal  mit  der  IX,  xmd  nur  je 
einmal  mit  zwei  anderen  nichtbenachbarten  (viel  kleineren)  Inter- 
vallen.    Die  JflV   wurde  von  demselben  10  mal  mit  der  IV  ver- 


170  G,  Stumpf. 

wechselt,  niemals  mit  irgend  einem  anderen  Intervall  Die  |  XI 
wurde  von  St.  18  mal  mit  der  XI,  5  mal  mit  der  Xu,  3  mal  mit 
der  X  verwechselt,  imd  nur  je  einmal  mit  drei  anderen  nicht- 
benachbarten  Intervallen.  Das  nämliche  Intervall  wurde  von  K. 
4  mal  mit  der  XI,  lOVgDial  niit  der  XU,  einmal  mit  der  X  und 
niemals  mit  einem  der  anderen  Intervalle  verwechselt  Von 
demselben  Beobachter  wurde  die  j(IV  11  mal  mit  der  IV,  4 mal 
mit  der  V  verwechselt,  einmal  mit  der  DI,  sonst  mit  keinem 
Intervall.  Ebenso  verwechselte  Schweitzer  die  j^  XI  6  mal  mit 
der  Xn  imd  nur  einmal  mit  einem  nichtbenachbarten  Intervall, 
MüNNicH  die  XI  4  mal  mit  der  X,  imd  nur  je  einmal  mit  drei 
nichtbenachbarten  Intervallen.    U.  s.  1 

Man  sieht  zugleich,  dafs  die  auffallendsten  Beispiele  meist 
Dissonanzen  betreffen  und  besonders  die  übermäfsige  Quarte  und 
ihre  Octavenerweiterung  (überm.  Undecime).  Dies  hängt  indessen 
wohl  damit  zusammen,  dafs  bei  diesen  Intervallen  überhaupt 
besonders  viele  falsche  Urtheile  stattfinden  (s.  u.). 

Auch  dieses  Ergebnifs  stimmt  überein  mit  Befunden 
Meyeb's  an  dem  Beobachter  G.,  welche  ich  damals  auch  schon 
an  mir  selbst  gelegentlich  mehrfach  bestätigt  fand.*  Aber  es 
ist  nun  in  gröfserem  Umfang  bei  ausgesuchten  Beobachtern  fest- 
gestellt und  mufs  als  eine  allgemeingültige  Eigenthümlichkeit 
der  Tonurtheile  unter  solchen  Umständen  gelten. 

Theoretisch  ist  es  unstreitig  von  Interesse.  Man  kann  es 
nachträglich  verstehen,  konnte  es  aber  apriori  nicht  erwarten. 
Verstehen :  denn  ein  bestimmtes  Intervall  besitzt  zwar  im  Allge- 
meinen nicht  eine  ganz  bestimmte  Distanz  seiner  Töne,  wohl 
aber  gilt  dies  innerhalb  eines  gewissen  relativ  engen  Tonbezirks. 
Die  Quinte  c — g  und  die  Quinte  d — a  unterscheiden  sich  hin- 
sichtlich der  Distanz  ihrer  Töne  natürlich  nur  äufserst  wenig, 
und  in  unseren  Versuchen  wurden  ja  wenigstens  die  gröfseren 
Intervalle  nur  unter  sehr  geringen  Veränderungen  der  absoluten 


^  Meyer  a.  a.  0.  407:  „Die  Fehler  bestanden  gewöhnlich  darin. 
dafs  Intervalle  von  wenig  verschiedener  Distanz  mit  einander  verwechselt 
wurden ;  so  die  Quarte  mit  der  Quinte  oder  die  grofse  Terz  mit  der  Quarte. 
AeuTserst  merkwürdig  jedoch  ist,  dafs  der  schauerlich  dissonante  Tritonus 
sehr  häufig  als  Quarte  oder  Quinte  bezeichnet  wurde,  sehr  selten  als  Tri- 
tonus.  Diese  Beurtheilung  des  Tritonus  als  Quarte  oder  Quinte  zeigte  sich 
auch  bei  Prof.  Stumpf,  als  dieser  unter  denselben  Versuchsumstftnden  (mit 
etwas  längerer  Elangdauer)  einige  Beobachtungen  machte.'^ 


Ueber  das  Erkennen  v.  Intertalleii  u.  Accorden  bei  sehr  kurze}'  Dauer,   171 

Höhe  angewandt.  Begreiflich  ist  also  das  Ergebnifs  wohl  und 
ohne  Widerspruch  mit  meinen  früheren  Anfstellimgen,  zumal 
da  derEinflufs  des  Distanzprincips  sich  gerade  in  Verwechse- 
lungen, also  falschen  Urtheilen  zeigt  Aber  imerwartet  war 
es  dennoch,  weil  man  apriori  nicht  wissen  konnte,  dafs  das 
Consonanzmerkmal  bei  so  starker  Zeitverkürzung  so  sehr  an 
Wirksamkeit  verlieren  würde.  Unter  gewöhnlichen  Umständen 
werden  z.  B.  Terzen  und  Sexten  in  der  That  eher  miteinander 
verwechselt,  als  Sexten  und  Septimen  (ich  erinnere  mich  ent- 
sprechender Erfahrungen),  obwohl  Verwechselung  von  Inter- 
vallen bei  musikalisch  Gebildeten  überhaupt  selten  vorkommt 

Man  mufs  hieraus,  scheint  mir,  schUefsen,  dafs  das  Consonanz- 
merkmal, obgleich  es  das  primäre  und  essentielle  für  die  Definition 
des  Intervallbegriffs  ist,  eine  gröfsere  Zeit  gebraucht,  als  wir  sie 
anwandten,  um  für  das  Urtheil  als  untrügUcher  Leitfaden  zu 
dienen,  während  das  Distanzmerkmal  weniger  von  der  Zeitver- 
kürzung beeinflufst  wird. 

Dies  kann  man  wohl  daraus  erklären,  dafs  wir  uns  in  der 
Musik  in  den  Consonanzcharakter  eines  isolirten  Intervalls  um 
so  mehr  vertiefen,  auch  seine  Gefühlswirkung  um  so  intensiver 
erleben,  je  länger  der  Eindruck  dauert.  Bei  allzu  kurzen  Ein- 
drücken, wo  das  Bewufstsein  schon  durch  die  Aufgabe,  die 
Töne  überhaupt  auseinanderzuhalten,  stark  in  Anspruch  genommen 
ist,  bleibt  uns  so  zu  sagen  nur  so  viel  intellectuelle  Kraft  übrig, 
als  eben  hinreicht,  um  noch  den  Abstand  der  Töne,  ihren  rein 
quaUtativen  Unterschied,  annähernd  zu  erfassen. 

Doch  zeigt  immerbin  die  relativ  grofse  Zahl  der  r  gegenüber 
den  f  namentlich  bei  K.  und  St.  und  vor  Allem  in  den  Fällen 
der  Octave,  dafs  der  Consonanzcharakter  auch  hier  keineswegs 
ganz  verloren  geht  und  bei  der  vollkommensten  Consonanz  sogar 
sehr  wesentlich  mitwirkt 

b)  Die  Verwechslungen  erfolgen  in  weit  höherer 
Anzahl  gegenüber  kleineren  als  gegenüber  gröfse- 
ren  Intervallen. 

In  allen  unseren  Tabellen  springt  dieser  Zug  ohne  Weiteres 
in  die  Augen.  Auch  die  hier  nicht  mitgetheilten  Tabellen  von 
MüNNiCH  und  von  Schweitzer  ergeben  denselben  Zug :  M.  hat  30  k, 
112  r,  16  g,  ScHw.  hat  41  k,  135  r,  27  g.  Bei  Frl.  H.  und 
Dr.  A.  halten  sich  k  und  g  allerdings  die  Wage,  aber  diese  B€' 
hatten  überhaupt  nur  sehr  kleine  Urtheilszahlen. 


172  <^'  Stumpf. 

Auch  dies  ein  Ergebnifs,  das  man  nicht  hätte  voraussagen 
können,  sicherlich  nicht  in  diesem  Maafse.  Eine  überzeugende 
Erklärung  hierfür  weifs  ich  nicht  zu  geben.  Man  kann  ja  an- 
führen, dafs  im  Allgemeinen  die  kleineren  Intervalle  die  gewöhn- 
licheren sind.  Aber  dies  gilt  doch  vor  Allem  für  den  melodischen 
Gebrauch,  für  die  Aufeinanderfolge,  während  wir  hier  gleich- 
zeitige Töne  hatten. 

Für  die  gleichzeitigen  Töne  kann  man  nur  etwa  so  argumen- 
tiren.  Da  die  Accorde  sich  aus  Terzen  und  Secunden  aufbauen, 
so  kommen  diese  Intervalle  nothwendig  in  Accorden  öfter  vor 
als  alle  anderen.  Aber  auch  Quarten  kommen  öfter  vor  als 
Sexten,  Septimen  öfter  als  Nonen,  und  diese  öfter  als  Unde- 
cimen:  weil  das  folgende  Intervall  immer  durch  Hinzufügung 
einer  neuen  Terz  in  den  Accord  hineinkommt  und  also  das 
frühere  immer  schon  mit  dabei  ist  (ausgenommen,  wenn  Elision 
stattfindet).  Es  ist  mögUch,  dafs  hierin  die  Erklärung  liegt 
Aber  in  Ermangelung  weiterer  stützender  Anhaltspunkte  —  die 
Selbstbeobachtung  und  die  Erinnerung  bei  den  übrigen  Herren 
giebt  mir  hierüber  keinen  näheren  Aufschlufs  —  wage  ich  sie 
nicht  für  sicher  auszugeben. 

Soviel  ist  gewifs,  dafs  es  sich  nicht  um  ein  allgemeines 
Gesetz  für  die  Schätzung  von  Tondistanzen  handelt.  Denn  bei 
sehr  kleinen  Tonunterschieden  (unter  einer  halben  Tonstufe) 
sind  vielmehr  Ueberschätzungen  die  Regel.  Man  kann  beide 
Fälle  insofern  unter  einen  Gesichtspunkt  bringen,  als  man  auch 
hier  wieder  die  Schätzung  nach  der  Seite  des  Gewöhnlichen 
erfolgen  läfst ;  was  dann  zugleich  als  eine  Art  theoretischer  Be- 
stätigung der  eben  versuchten  Erklärung  dienen  könnte.  Auch 
an  das  Ergebnifs  unserer  Versuche  über  Reinheitsurtheile  könnte 
man  hierbei  zurückdenken,  wonach  man  bei  Verstimmungen  für 
Verkleinerung  eines  Intervalls  empfindlicher  ist  als  für  Ver- 
gröfserung.  Doch  glaube  ich  nicht,  dafs  eine  wirkliche  Beziehung 
unseres  gegenwärtigen  Falles  zu  diesem  besteht.  — 

Ich  füge  noch  einige  gelegentliche  Bemerkungen  hinzu, 
welche  sich  bei  diesen  Versuchen  aufdrängten: 

Besonders  viel  hängt  bei  Versuchen  mit  sehr  kurzen  Ein- 
drücken von  der  nervösen  Disposition,  Frische  oder  Ermüdung 
u.  s.  w.  ab;  wie  ich  dies  an  meinen  eigenen  Reihen  constatiren 
konnte. 


( 


Heber  das  Erkennen  v.  Inte%'vnllen  «.  Accorden  bei  sehr  kurzer  Datier.   173 

Aber  auch  die  momentane  zufällige  Richtung  und  Bereit- 
schaft der  Aufmerksamkeit  bei  jedem  einzelnen  Versuch  ist  von 
besonderem  Einflufs.  Es  kam  vor,  dafs  einer  einen  Eindruck 
ganz  überhörte,  welchen  die  anderen  so  deutlich  wie  immer  ver- 
nommen hatten.  Die  Aufmerksamkeit  brauchte  nicht  überhaupt 
abgelenkt  zu  sein,  sie  war  vielleicht  nur  auf  eine  andere  Octave 
eingestellt. 

Ferner  zeigten  sich  hier  wie  bei  anderen  Versuchsreihen  eigen- 
thümliche  Strömungen  des  Urtheils,  nicht  blos  derart,  daXs  z.  B. 
14 mal  hintereinander  nur  richtige,  6 mal  hintereinander  nur 
falsche  Urtheile  abgegeben  wurden,  was  natürlich  mit  der 
nervösen  Disposition  zusammenhängt,  sondern  auch  derart,  dafs 
eine  temporäre  Vorliebe  für  die  Angabe  irgend  eines  Intervalls 
eintrat,  dessen  Wortbild  oder  Tonbild  gerade  im  Bewufstsein  in 
den  Vordergrund  getreten  war,  oder  endlich  so,  dafs  bestimmte 
Verwechslungen  zeitweise  das  Uebergewicht  hatten ;  wie  z.  B.  K. 
in  der  Serie  13  und  14  regelmäfsig  die  Decime  als  None  be- 
urtheilte,  sonst  niemals. 

Die  Urtheilsbildung  erfolgte  erst  nach  dem  Eindruck  und 
bedurfte  einer  gewissen  Zeit,  während  deren  keine  Störung  durch 
Sprechen  eines  Anderen  u.  s.  w.  stattfinden  durfte,  ohne  dafs 
alle  Möglichkeit  der  Urtheilsbildung  aufgehoben  wurde.  Alle 
stimmten  darin  überein,  dafs  das  Urtheil  sich  an  dem  „Er- 
innerungsbild" vollzieht,  wie  man  übrigens  dieses  auch  näher 
definiren  mag.  In  schwierigeren  Fällen  nahm  ich  ein  inneres 
Nachsingen  zu  Hülfe,  fand  dann  allerdings  auch  hierbei  Schwierig- 
keiten. 

Einmal  war  ein  Tonreiz  durch  einen  Versuchsfehler  zu  lange 
gerathen :  diese  unerwartete  Dauer  setzte  uns  alle  so  in  Bestürzung, 
dafs  sie  das  Urtheil  verhinderte.  Ebenso  wurde  das  Urtheil 
nicht  gefördert,  sondern  gestört,  wenn  einmal  einer  der  Töne 
schon  vorher  hörbar  war.  NatürUch  wurde  in  solchen  Fällen 
der  Versuch  nicht  gerechnet. 

Mehrere  Beobachter  hatten  ein  ausgesprochenes  Gefühl 
Bubjectiver  Leichtigkeit  gegenüber  der  Terz.  Nur  sie  wurde 
zugleich  in  der  ersten  Reihe  als  angenehm  empfunden,  „wie 
eine  Oase  in  der  Wüste"  (K.)  In  späteren  Reihen  auch  noch  die 
Decime  und  die  beiden  Sexten.  Sonst  war  von  Annehmlichkeits- 
unterschieden bei  diesen  kurz  dauernden  Eindrücken  und  der  auf 
das  Erkennen  gerichteten  Gemüthsverfassung  nichts  zu  bemerken. 


174  ^'  Stumpf. 

Zweite  Untersuchung: 
Bestimmung  Ton  Accordtonen. 

Diese  Untersuchung  wurde  mit  der  ausdrücklichen  Absicht 
der  Nachprüfung  von  Schulzens  Resultaten  angestellt  Ich 
wünschte  mir  ein  Bild  von  den  dabei  vorkommenden  experimen- 
tellen und  psychologischen  Verhältnissen  zu  machen  imd  zu 
sehen,  ob  nicht  das  eine  oder  andere  von  seinen  Ergebnissen 
sich  auch  unter  einwandfreieren  Versuchsumständen  doch  be- 
wahrheitete. 

Wundt's  Theorie  von  der  einsmachenden  Ejraft  des  Tones  1 
und  seine  Ableitung  der  Verschmelzungsthatsachen  aus  der  Ge- 
wöhnung an  die  harmonischen  Obertöne  (Nachklang  der  Helm- 
HOLTz'schen  Lehre  von  der  psychologischen  Klangzerlegung,  die 
Helmholtz  aber  später  selbst  aufgegeben)  habe  ich  früher  als 
eine  unbegründete  bezeichnet.  Ich  würde  aber  natürhch,  wenn 
Versuche  etwas  davon  bestätigten,  nicht  zögern,  es  anzuerkennen. 
Es  wurden  daher  wie  bei  Schulze  die  6  ersten  harmonischen 
Theiltöne  eines  Klanges  als  Tonmaterial  benützt.  Diese  ^^urden  in 
verschiedener  Anzahl  und  verschiedenen  Combinationen  vorgelegt 
und  die  Aufgabe  dahin  formulirt:  bei  kurzdauernden  Ein- 
drücken zu  sagen,  welche  von  den  6  Tönen  im  gegebenen  FaD 
in  dem  Tongemisch  vorhanden  waren.  Die  Beurtheilenden 
wufsten,  dafs  es  sich  nur  um  diese  Töne  handle,  und  hatten 
sie  vor  den  Versuchen  einzeln  gehört 

Die  Aufgabe  war  also  erhebUch  schwerer  gestellt  als  bei 
Schulze,  wo  sie  nur  zu  sagen  hatten,  ob  sie  einen  oder  mehrere 
Töne  überhaupt  hörten,  nicht  einmal  wie  viele.  Es  hat  aber, 
wie  schon  bemerkt,  keinen  rechten  Zweck,  bei  sehr  musikalischen 
Menschen  —  und  nur  solche  können  unter  so  erschwerten  Um- 
ständen einigermaafsen  übersichtliche  Resultate  geben  —  die 
Frage  so  unbestimmt  zu  stellen,  weil  bei  der  Zeitdauer  von 
einer  Secunde  und  darüber  wirküch  musikalische  Individuen 
thatsächlich  genauere  Urtheile  abzugeben  in  der  Lage  sind, 
vorausgesetzt  dafs  es  sich  um  gleich  starke  Töne  handelt 

Es  wurden  nicht  so  kurze  Zeiten  angewendet  wie  bei  der 
vorangehenden  Untersuchung,  aber  auch  nicht  so  lange  wie  bei 
Schulze,  der  die  Eindrücke  2  Secunden  lang  wirken  Uefs.  Die 
Dauer  betrug  etwa  eine  Secunde  und  wurde  regulirt  durch  ein 
Pendel  von  entsprechender  Länge,   welches  den   Hahn  drehte. 


Ueber  das  Erkennen  v,  Intemaüen  ti.  Accorden  bei  sthr  kurzer  Datier,   175 

Als  Ellangquelle  benutzte  ich  zuerst  wie  Schulze  Stimmgabeln 
auf  Resonanzkästen,  um  zu  probiren,  ob  nicht  auf  irgend  eine 
Weise  doch  möglichst  gleich  bleibende  und  unter  sich  gleiche 
Intensitäten  herzustellen  wären.  In  die  Besonanzkästen  der 
Gabehi  von  100,  200,  300,  400,  500,  600  Schwingungen  wurden 
Schläuche  geleitet,  welche  durch  ein  System  von  dreiarmigen 
Glasröhren  zuletzt  in  den  Hauptschlauch  mündeten,  der  den 
Klang  in  das  Beobachtungszimmer  leitete.  Durch  langes  Probiren 
wurde  diejenige  Lage  der  Schlauchendigungen  in  jedem  Kasten 
ermittelt,  welche  für  jede  Gabel  unter  Voraussetzung  eines  gleich 
starken  Anschlages  eine  mögUchst  gleich  starke  Tonstärke  im 
Beobachtungszimmer  ergab.  Aber  alles  half  nichts.  Wir  mufsten 
darauf  verzichten,  durch  angeschlagene  Gabeln  zu  Accorden  von 
hinreichend  gleicher  Stärke  der  Töne  zu  gelangen.^ 

Hierauf  wählte  ich  als  Klangquelle  wieder  unsere  Flaschen- 
orgel und  zwar  die  Töne  c,  c\  g^,  c^,  e-,  g^  (nebst  einigen 
dissonanten  Zusammenstellungen).  Durch  einen  grofsen  Schall- 
trichter, der  einige  Schritte  vor  der  Orgel  stand,  wurde  der 
Klang  in  die  Röhre  geleitet,  die  zum  Beobachtungszimmer 
führte.  Jeder  dieser  Töne  wurde  durch  kleine  Veränderungen 
an  dem  Anblaseröhrchen  zu  einer  möglichst  gleichen  Stärke  mit 
den  übrigen  gebracht,  und  zwar  zu  einer  gleichen  Stärke  im 
Beobachtungszimmer  an  der  Röhrenmündung.  Vollkommen  ist 
dieses  Ziel  freilich  auch  hier  kaum  zu  erreichen,  aber  es  fanden 
jetzt  wenigstens  keine  gröberen  Ungleichheiten  statt. 

Nun  ist  aber  noch  ein  Uebelstand  in  Hinsicht  der  Stärke, 
der  bei  solchen  Versuchen  überhaupt  nicht  ausgeschlossen  werden 
kann,  so  lange  man  Töne  von  diesen  Verhältnifszahlen  wählt, 
den  man  also  nur  eben  bei  der  Interpretation  der  Ergebnisse 
berücksichtigen  mufs.  Fügen  wir  zum  Ton  1  die  Töne  2  und  3 
hinzu,  so  bilden  diese  unter  sich  einen  Differenzton  1,  verstärken 
also  den  Ton  1.    Ebenso  3  und  4,  4  und  5,  5  und  6.    Ebenso 


^  Bei  Versuchen  über  Unterschiedsempfindlichkeit  fflr  aufeinander- 
folgende Töne  kann  man,  gehörige  Uebung  des  Experimentators  voraus- 
gesetzt^ mit  angeschlagenen  Gabeln  auskommen,  weil  jeder  mifslingende 
Fall,  wo  nur  die  geringste  Stärkeungleichheit  zu  bemerken  ist,  durch  einen 
anderen  ersetzt  werden  kann.  Gegenüber  6  Tönen  aber,  die  gleichzeitig 
gleichstark  erklingen  sollen,  ist  der  Experimentator  nicht  in  der  Lage,  den 
Erfolg  seiner  Bemühung  in  jedem  Einzelfall  zu  controliren  und  Mifs- 
lingendes  auszuschalten. 


176 


C.  Stumpf. 


wird  auch  2  verstärkt,  sobald  es  durch  andere  Töne,  wie  3  und 
5,  4  und  6,  als  Differenzton  miterzeugt  wird.  Kurz,  es  werden 
mannigfache  Verstärkungen  entstehen,  die  den  tieferen  Tönen 
mehr  als  den  höheren  zu  Gute  kommen,  weitaus  am  meisten 
aber  dem  Ton  1.  Das  ist  ein  Umstand,  der  immer  noch  an 
Schulze's  merkwürdigen  Ergebnissen  Schuld  sein  kann,  wenn 
auch  sonst  alle  Vorsichtsmafsregeln  getroffen  wären.  Es  scheinen 
allerdings  Differenztöne  eine  gewisse  kurze  Zeit  zu  gebrauchen, 
um  überhaupt  im  Ohr  aufzutreten  (nicht  blos,  um  wahrgenommen 
zu  werden).  Aber  bei  zwei  Secunden  Hördauer,  wie  er  sie  an- 
wandte, dürfte  diese  Zeit  schon  überschritten  sein. 

Als  Versuchspersonen  dienten  bei  diesen  Versuchen  haupt- 
sächlich Herr  Pastor  Fehl,  seit  mehreren  Semestern  Theilnehmer 
unserer  Uebungen,  und  Herr  stud.  H.  Beide  sind  nicht  so 
hervorragend  musikaUsch  wie  die  Versuchspersonen  der  vorher- 


Tabelle  I. 


Vorgelegte 
Toncombinationen 

Beobachter  H. 

1.  Reihe                    2.  Reihe 

1          3.  Reihe 

a)  1 

b)  1  6 

c)  12  3  4  5 

d)  12  3  4  5  6 

e)  2  3  4  5  6 

f)  13  4  5  6 

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135 

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135 

2345 

13456(?) 

Vorgelegte 
Toncombinationen 


Beobachter  F. 


1.  Reihe 


2.  Reihe 


3.  Reihe 


a)  1 

b)  1  6 

c)  12  3  4  5 

d)  12  3  4  5  6 

e)  2  3  4  5  6 

f )  13  4  5  6 


1 

16 

123456 

125 

1345 

1246 


1 

15 

123 

124 

236 


1  1 

16  |16 

1235        1234 
123456J146 
2346      il2456 


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1 

16 

146 

12346 

2456 

1456 


1 

12(?i6 

1245 

123456 

12456 

1456 


Vtter  das  Erkennen  v.  Interwiüen  u.  Accorden  hei  sehr  kurzer  Daner,   177 


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Zeitschrift  für  Psychologie  87. 


178  ^-  Stumpf. 

gehenden  Untersuchung,  aber  immerhin  gut  ausgebildet  Der 
erste  spielt  Orgel,  Ciavier,  Violine,  der  zweite  Ciavier.  Im 
Hören  von  Obertönen  war  H.  nicht  geübt  Au&erdem  betheiligten 
sich  auch  wieder  Herr  Dr.  Abraham  und  Herr  stud.  Munnich,  aber 
nicht  regelmäfsig  und  lange  genug,  als  daTs  ihre  Ergebnisse 
verwerthet  werden  könnten.  Die  Ergebnisse  der  beiden  ersten 
Herren  dagegen  führe  ich  in  extenso  an. 

In  Tabelle  I  giebt  die  erste  Rubrik  die  vorgelegten,  mit  a) 
bis  f)  bezeichneten  Toncombinationen,  wobei  die  Ordnungszahlen 
1  bis  6  die  oben  genannten  Theiltöne  bedeuten.  Die  übrigen 
Rubriken  geben  die  von  den  Beobachtern  wahrgenommenen 
Töne.  Analog  ist  die  Einrichtung  der  Tabelle  H,  deren  letzte 
Gruppen  auch  dissonante  Zusammenstellungen  enthalten.  Die 
einzelnen  Toncombinationen  wurden  in  stets  wechselnder  und 
unregelmäfsiger  Reihenfolge  vorgelegt. 

Ein  eingeschaltetes  Fragezeichen  bedeutet,  dafs  der  ihm 
voranstehende  Ton  nicht  sicher  wahrgenommen  wurde.  Ein 
freistehendes  Fragezeichen  bedeutet,  dafs  der  Urtheilende  an  eben 
dieser  Stelle  selbst  (also  z.  B.  bei  12?  jenseits  der  beiden  ersten 
sicher  wahrgenommenen  Töne  nach  der  Höhe  zu)  noch  einen 
Ton  zu  hören  glaubte,  dessen  er  aber  nicht  sicher  war  oder  den 
er  nicht  näher  bestimmen  konnte. 

Wir  verstehen  nun  im  Folgenden  unter  „wahrgenommenen* 
Tönen  diejenigen,  welche  die  Beobachter  zu  hören  glaubten. 
Sie  konnten  sich  täuschen  und  haben  sich  öfters  getäuscht 
Aber  im  Allgemeinen  lehrt  schon  der  Anblick  der  Tabellen,  dafe 
es  sich  nicht  blos  um  Schätzungen  auf  Grund  irgendwelcher 
mittelbarer  Kriterien  handeln  konnte,  sondern  dafs  der  Zusammen- 
klang ihnen  als  eine  wirkliche  Mehrheit  empfundener  Töne  er- 
schien. Ich  wüfste  kein  secundäres  Kriterium  anzuführen,  das 
so  genaue  Urtheile  liefern  könnte.  Die  Beobachter  sprachen  sieh 
aber  auch  selbst  in  diesem  Sinne  aus. 

Die  Betrachtung  der  Tabellen  ergiebt: 
1.  Es  wurden  im  Allgemeinen  um  so  mehr  Töne  wahr- 
genommen, je  mehr  ihrer  da  waren;  während  bei  Schulze 
im  Allgemeinen  das  Umgekehrte  stattfand,  insofern  der  Zu- 
sammenklang um  so  öfter  für  einen  Ton  gehalten  wurde,  je 
mehr  er  sich  in  der  Zusammensetzung  dem  sog.  normalen  Ober- 
tonklang näherte.  Von  solchem  Verhalten  läfst  sich  hier 
schlechterdings  nichts  bemerken. 


( 


Ueber  das  Erkennen  v,  Intervallen  u.  Accorden  bei  sehr  kurzer  Dauer.   179 

Bilden  wir  die  Gresammtsumme  aller  vorgelegten  und  die 
aller  wahrgenommenen  Töne  bei  den  verschiedenen  Ton- 
combinationen,  so  erhalten  wir  folgende  Uebersicht: 


Tabelle  I: 

Vorgelegt:                a)  12     b)  24           c)  60        e)  60 

f)  60 

d)  72 

Wahrgenommen:     „12       „  23—24     „   4ö        „  4ö— 46 

„  50- 

-53         „  50 

Tabelle  II: 

Vorgelegt:                a)  8     b)  16         c)     f)  je  24       g)  32 

h)  40 

i)  48 

Wahrgenommen:     „  8      ^   13—15      „    16—27*      „  32 

„   35 

„  35—36 

Mit  der  Anzahl  der  vorgelegten  Töne  wächst  also  im  Allge- 
meinen auch  die  der  wahrgenommenen,  wenngleich  nicht  in 
demselben  Grade,  sondern  abnehmend,  was  sich  leicht  versteht. 
Speciell  kann  man  noch,  mit  Rücksicht  auf  die  Frage,  wie 
das  Hinzutreten  des  Tones  1  wirkt,  die  Fälle  e)  und  d)  in  der 
Tab.  I,  sowie  h)  und  i)  in  der  Tab.  II  vergleichen.  Die  Gesammtzahl 
der  wahrgenommenen  Töne  erfährt  auch  hier  nicht  eine  Ver- 
minderung, sondern  (wenigstens  in  Tab.  I)  eine  Steigerung,  wenn 
der  Ton  1  zu  den  Tönen  2  3  4  5  6  hinzukommt.  Und  dies  ist 
um  so  beweiskräftiger,  als  in  Folge  des  schon  erwähnten  Um- 
standes  bei  2  34  5  6  nothwendig  1  als  starker  Differenzton  auf- 
tritt imd  andererseits  bei  12  3  4  5  6  der  bereits  vorhandene  Ton 
1  verstärkt  wird.  Dies  mufs  dahin  wirken,  dafs  im  ersten  Fall 
leicht  mehr  Töne,  im  zweiten  leicht  weniger  Töne  (in  Folge 
Ueberhörens  der  schwächeren)  wahrgenommen  werden.  Trotzdem 
nimmt  selbst  hier  die  Gesammtzahl  der  wahrgenommenen  Töne 
mit  der  der  objectiv  vorhandenen  zu,  wenn  auch  nicht  in  gleichem 
Maafse. 

Sondert  man  die  Ergebnisse  beider  Beobachter,  was  hier 
Wohl  richtiger,  so  tritt  die  Zunahme  bei  H.  um  so  stärker  in  die 
Erscheinung,  während  diese  bei  F.  in  Tab.  I  fast  verschwindet, 
in  Tab.  II  sich  umkehrt.  Bei  H.  steigt  die  Summe  durch  Hin- 
zutritt des  Tones  1  zu  2  3  4  5  6  in  Tab.  I  von  21  auf  24,  in 
Tab.  II  von  20  auf  24.  Bei  F.  steigt  sie  in  Tab.  I  nur  von  25 
auf  26  und  sinkt  in  Tab.  II  von  18  auf  14  Vo.  Dies  Uegt  aber 
nach  Ausweis  unserer  Tabellen  daran,  dafs  eben  F.  bei  I  in  3  von 


*  Hier  hat  F.  öfters  Töne  hinzugehört.  Bei  H.  allein  ergeben  sich  für 
ciiese  Rubriken  auf  je  12  vorgelegte  Töne  je  8 — 12  wahrgenommene  [8  für  c), 
11-12  für  cD  — f)]. 

12* 


180  C'.  Stumpf. 

6  Fällen,  bei  II  in  3  von  4  Fällen  den  DiSerenzton  1  zu  der  Com- 
bination  2  3  466  hinzuhörte.  Selbst  die  Ausnahme  also  wird 
zur  Bestätigung. 

Wenn  wir  femer  die  Reihen  c)  und  d)  in  Tab.  11  vergleichen, 
also  die  Combinationen  12  3  und  2  34,  so  werden  allerdings  bei  d) 
im  Ganzen  mehr  Töne  wahrgenommen  als  bei  c).  Aber  eine 
vollkommen  genügende  Erklärung  hierfür  liegt  darin,  dafs  man 
die  tiefere  Octave  c^  :  c^  (Ton  1  und  2)  schwerer  auseinanderhält 
als  die  höhere  Octave  c^ :  c*  (Ton  2  und  4),  und  dafe  wiederum 
bei  234  der  Ton  1  als  Differenzton  hinzukommt. 

Hiemach  darf  man  wohl  hoffen,  dafs  die  Legende  von  der 
vereinheitlichenden  Wirkung  des  Tones  1  als  solchen  und  von 
dem  EinfluTs,  den  das  häufige  Hören  obertonreicher  Klänge  auf 
die  Analyse  von  Zusammenklängen  haben  soll,  nicht  weiter  fort- 
gepflanzt werde. 

2.  Es  wurde  im  Allgemeinen  ein  um  so  gröfserer 
Procentsatz  der  Töne  überhört,  je  mehr  Töne  ge- 
geben wurden. 

Ein  Verhalten,  das  ja  gleichfalls  sehr  leicht  begreiflich  ist 
und  besondere  Versuche  nicht  erfordert  hätte,  wenn  nicht  die 
Paradoxien  Schulzens  vorlägen.  Bezüglich  Tab.  I  ersieht  man 
dieses  Verhalten  ohne  Weiteres  aus  der  Zusammenstellung 
auf  der  vorigen  Seite.  Bezüglich  Tab.  II  kommt  in  Betracht 
dafs  Fehl  hier  häufig  Töne  hinzuhörte,  so  dafs  man  natürlich 
die  Zahl  der  überhörten  nicht  aus  der  Zahl  der  angeblich  ge- 
hörten erkennen  kann.  Wenn  wir  aus  den  Urtabellen  nur  ab- 
zählen, wie  viele  von  den  jedesmal  vorgelegten  Tönen  überhört 
wurden,  so  ergiebt  sich 

für  a)  (1  Ton)  0  der  Gesammtsumme 
„  b)  (2  Töne)  \  « 
„  c)-f)  (3  Töne)  Ve  „ 
.  g)  (4  Töne)  Vie  ^ 
„  h)  (5  Töne)  V.  . 
„     i)     (6  Töne)    V4     „ 

Die  Brüche  nehmen  regelmäfsig  zu,  nur  den  Fall  g)  aus- 
genommen. Da  die  Unterschiede  in  der  Zahl  der  vorgelegten 
Töne  ebenso  wie  der  Versuchszahlen  überhaupt  nur  gering  sind, 
kann  ja  eine  solche  Ausnahme  leicht  vorkommen. 


lieber  da$  Erkennen  v,  Intervaüen  u.  Äccordeti  bei  sehr  kurzer  Dauer.  181 

3.  In  Bezug  auf  die  Ordnungszahl  der  überhörten 
Töne  gilt: 

a)  Der  jeweiUg  tiefste  Ton  eines  Zusammenklanges  wird 
nur  äulserst  selten  überhört 

b)  Im  Uebrigen  besteht  ein  Unterschied  zwischen  H.  und  F. 
in  der  Art,  dafs  ersterer  mehr  die  g  e  r  a  d  zahligen,  letzterer 
mehr  die  ungeradzahUgen  Töne  überhört 

ad  a)  In  der  ganzen  Tab.  I  sind  nur  2  Fälle  von  Ueber- 
hören  des  tiefsten  Tones.  In  Tab.  11  finden  sich  unter  81  Fällen 
—  die  Fälle  a)  zählen  wir  natürlich  nicht  mit,  wohl  aber  dies- 
mal die  Fälle  m)  und  diejenigen  von  k)  und  1),  in  denen  die 
ürtheilenden  bestimmte  Töne  angegeben  haben  —  nur  7  dieser 
Art,  wobei  aber  auch  noch  zu  bemerken  ist,  dafs  F.  in  einigen 
dieser  Fälle  einen  noch  tieferen,  subjectiv  auch  vorhandenen, 
Ton  an  Stelle  des  wirklichen  angab. 

ad  b)  Wenn  wir  aus  Tab.  I  Reihe  b) — f)  und  aus  Tab.  II 
Reihe  b) — i)  die  Anzahl  der  Ueberhönmgen  für  jeden  der  6  ersten 
Theiltöne  zusammenstellen,  so  erhalten  wir  folgende  Uebersicht : 


Tabelle  HL 

T 

abelle  IV. 

Ton 

kam  vor 

wurde  flberhOrt 

kam  vor 

wurde  tIberhOrt 

in  Tab.I 

von  H.        von  F. 

in  Tab.  II 

von  H.         von  F. 

1 

24  mal 

2  mal 

Omal 

12  mal 

Omal           Omal 

1 

2 

18    „ 

6    -, 

1     « 

24    „ 

10-12  „                   2      r. 

3 

24    „ 

2    . 

13    „ 

24    „ 

1    „      .      13    . 

4 

24    „ 

12    „ 

4    „ 

24    „ 

i  .    '  1-2  „ 

ö 

24    „ 

0      r 

10    , 

20    „ 

0  ,    :    4  . 

6 

24    „ 

13    . 

4    „ 

12    „ 

1      n         1           ß      r 

Besonders  die  Tabelle  III  zeigt  in  auffallender  Weise,  dafs 
bei  H.  vorzugsweise  die  geradzahligen,  bei  F.  die  ungeradzahligen 
Theiltöne  überhört  wurden  (natürlich  mit  Ausnahme  des  Tones  1, 
welcher  als  jedesmal  tiefster  Ton  unter  die  Regel  a;  fällt;. 

In  Tab.  IV  ist  das  Nämliche  nur  für  die  ersten  zwei  Ober- 
töne (Ton  2  und  3;  ersichtlich. 


182  C'.  Stumpf. 

Dies  erinnert  nun  in  der  That  an  eine  der  Anfetellungen 
Schulze's.  Wenn  auch  der  behauptete  Sachverhalt  gem&fs  der 
Verschiedenheit  der  Fragestellung  nicht  der  nämliche  ist  (denn 
dort  sollen  von  dem  einen  Beobachter  die  aus  überwiegend 
geradzahligen,  von  dem  anderen  die  aus  imgeradzahligen  Theil- 
tönen  bestehenden  Theilklänge  vorwiegend  für  einen  Ton  ge- 
halten werden),  und  überdies  der  von  ihm  behauptete  Unter- 
schied aus  seinen  eigenen  Tabellen  nicht  irgend  zuverlässig 
folgt,  so  scheint  doch  nach  meinen  Ermittelungen  etwas  Wahres 
daran  zu  sein. 

Die  Ursache  dieses  interessanten  Unterschiedes  dürfte,  wenn 
er  nicht  doch  zufällig  ist,  in  individuellen  Erfahrungen  und  Ge- 
wöhnungen liegen.  Vielleicht  dafs  Orgelspieler  wie  F.  in  Folge 
der  Zusammensetzung  gewisser  viel  gebrauchter  Register  sich 
solche  Urtheüsdispositionen  aneignen.  Jedenfalls  wäre  es  ver- 
kehrt, daraus  für  die  allgemeine  Theorie  der  Tonverwandtschaß 
Schlüsse  ziehen  zu  wollen.  Die  Duodecime  ist  für  solche,  die 
den  Ton  3  zu  überhören  geneigt  sind,  doch  um  deswillen  nicht 
stärker  verwandt  als  die  Octave.  Damit  haben  diese  individuellen 
Eigenheiten  nichts  zu  thun,  und  eine  Theorie,  aus  welcher  man 
solche  Folgerungen  ziehen  müfste,  würde  dadurch  nur  ihre  Un- 
möglichkeit beweisen. 

4.  Die  dissonanten  Dreiklänge  d^  P  h^  imd  d^  f^  c\ 
wurden  fast  in  allen  Fällen,  in  welchen  überhaupt  genauere 
Angaben  erfolgten,  richtig  erkannt,  in  7  Fällen  wenigstens,  im 
Allgemeinen  als  Septimenaccorde  bezeichnet.  Bei  dem  dissonanten 
Dreiklang  4:5:7  wurde  von  H.  regelmäfsig  die  Septime  über- 
hört, von  F.  fast  immer  noch  ein  Ton  der  Reihe  hinzugehört 
Hier  ist  jedoch  zu  bemerken,  dafs  der  Ton  7  nur  schwach  durch 
den  Schlauch  kam,  so  dafs  ich  selbst  ihn  gar  nicht  hören  konnte. 
Auch  hatte  H.  keine  Kenntnifs  davon,  dafs  dieser  Ton  in  den 
Versuchen  vorkam,  während  F.  es  wufste. 

Etwas  Allgemeineres  läfst  sich  bei  der  geringen  Zahl  der 
Versuche  in  diesen  Punkte  nicht  erschliefsen,  ich  hatte  sie  nur 
der  Abwechslung  halber  eingefügt. 

In  früheren  Versuchen  am  Ciavier,  wobei  die  Dauer  nicht 
gemessen  wurde,  aber  gleichfalls  sehr  kurz  war,  wie  sie  eben 
bei  einem  ganz  kurzen  Anschlag  resultirt,  habe  ich  gefunden, 
dafs  consonante  wie  dissonante  Vierklänge  auch  von  Musika- 
lischen noch  leicht  als  Duraccorde,  verminderte  Septimenaccorde 


üd)€r  das  Erkennen  v,  Intervallen  u.  Accorden  bei  sehr  kurzer  Dauer,    lg3 

u.  8.  w.  erkannt,  tind  daXs  von  Solchen,  die  absolute  Tonhöhen 
erkennen,  auch  diese  bezeichnet  werden,  ja  sogar  leichter,  als 
wenn  die  Töne  isolirt  erklingen.  Auch  über  besondere  Leistungen 
in  Hinsicht  ganz  ungewöhnlicher,  ausgesucht  schwieriger  Auf- 
gaben habe  ich  damals  berichtet  (Tonpsychologie  11  369).  Ver- 
suche dieser  Art,  wobei  auch  Beispiele  aus  der  praktischen 
Musik  benutzt  werden  können,  wären  mit  genaueren  Hülfs- 
mitteln,  als  ich  sie  damals  hatte,  durchzuführen  und  zu  syste- 
matischen Reihen  zu  erweitem.  Ob  etwas  besonderes  dabei 
herauskommen  wird,  kann  man  freilich  nicht  wissen,  aufser 
etwa,  daXs  die  Grenzen  der  musikaUschen  Leistungsfähigkeit  in 
dieser  Hinsicht  festgestellt  und  dafs  ermittelt  würde,  wo  secundäre 
Kriterien  an  die  Stelle  der  wirklichen  Analyse  treten  und  welcher 
Art  sie  sind.  — 

Schliefslich  muTs  ich  aber  eine  eigenthümüche  Erscheinung 
erwähnen,  die  sich  bei  dem  Beobachter  H.  in  einigen  oben  nicht 
aufgenommenen  Versuchsreihen  einstellte  und  die  sich  stark  den  Ver- 
suchsergebnissen von  Schulze  annähert  Zwischen  den  Reihen 
der  Tab.  I  und  denen  der  Tab,  H  nämüch  fanden  zwei  Ver- 
suchsreihen statt,  bei  denen  ich  nur  unter  drei  Zusammen- 
stellungen wechselte:  1  23456  —  23456—1345  6. 
Jede  kam  in  jeder  Reihe  viermal  vor.  Ich  gedachte  dadurch 
besonders  die  in  den  Reihen  der  Tab.  I  hervorgetretene  That- 
sache  zu  prüfen,  dafs  bei  EL  mehr  die  geradzahligen,  bei 
F.  mehr  die  ungeradzahligen  Theiltöne  überhört  werden.  Die 
beiden  Reihen  wurden  zunächst  nur  H.  vorgelegt  Die  Um- 
stände waren  sonst  wie  vorher.  Aber  das  Ergebnifs  war  ein 
sehr  unerwartetes:  H.  glaubte  jetzt  beständig  nur  den 
Ton  1  zu  hören.  Nur  in  3  Fällen,  dem  ersten  der  einen,  dem 
zweiten  der  anderen  Reihe  schrieb  er  noch  den  Ton  2  (c^)  mit 
einem  Fragezeichen  hin,  in  zwei  Fällen  das  Beiwort  „voller"  (beide 
Male  war  es  die  Combination  13  4  5  6),  in  einem  Falle 
„schwächer"  (es  war  2  3  4  5  6). 

Daraufhin  ging  ich  zum  umgekehrten  Verfahren  über,  statt 
die  Anzahl  der  vorkommenden  Zusammenstellungen  zu  ver- 
mindern, sie  zu  vermehren  und  auch  gelegentlich  dissonante 
Combinationen  einzuschalten,  wie  es  in  den  Reihen  der  Tab.  H 
geschehen  ist  Denn  ich  vermuthete,  dafs  die  Fälle  unter- 
einander zu  gleichartig  gewesen  waren ;  wie  denn  auch  H.  selbst 


184 


a  stumpf. 


nach  Beendigung  der  Reihe  äufserte:  „Es  ist  ja  immer  das- 
selbe^. In  der  That  lieferten  die  nun  (Tags  darauf)  folgenden 
vier  Beihen  H/s  die  wohlunterschiedenen  und  übersichtlichen  Er 
gebnisse,  wie  sie  oben  mitgetheilt  wurden. 

Dennoch  kann  dies  nicht  der  einzige  Grund  gewesen  sein. 
Denn  1.  bleibt  es  unklar,  warum  schon  der  erste  Fall  in  den 
beiden  wunderUchen  Reihen  unanalysirt  bUeb,  während  bei  Za* 
sammenstellungen  von  5  Tönen  niemals  in  den  Reihen  der  Tab.  I 
und  U  nur  Ein  Ton  von  H.  aufgezeichnet  wurde;  2.  habe  ich 
nach  den  Versuchen  der  Tab.  11  wieder  eine  Reihe  mit  H.  allein 
xmtemommen,  bei  welcher  ich  6  Zusammenstellimgen  vorlegte, 
die  aber  auch  sämmtlich  aus  mindestens  4  und  höchstens  6  der 
harmonischen  Töne  bestanden  (immer  vom  1.  oder  2.  anfangend), 
die  also  ebenfalls  sehr  gleichförmig  waren,  aber  dennoch  wohl- 
unterschiedene  und  der  wirklichen  Zusammensetzung  ent- 
sprechende Ergebnisse  lieferten. 

In  drei  weiteren  Reihen,  die  ich  nun  unternahm,  um  diesem 
seltsamen  Verhalten  näher  auf  die  Spur  zu  kommen,  legte  idi 
zuerst  wieder  nur  die  3  obigen  Zusammenstellungen  vor  und 
erhielt  wieder  dasselbe  Resultat  wie  in  den  zwei  anormalen 
Reihen.  Dann  aber  12  verschiedene  Fälle,  die  zwischen  1  Ton 
und  allen  6  in  mannigfachen  Combinationen  wechselten.  Auch 
hier  fand  sich  die  nämhche  Unfähigkeit:  immer  wurde  der 
Ton  1  mit  oder  ohne  2  angegeben,  einige  Male  auch,  wo  1  wirk- 
lich fehlte,  nur  2,  und  einmal  1  und  3  (statt  1  2  3).  Eine  letzte 
Reihe  endlich  enthielt  7  Fälle,  die  wiederum  zwischen  1  und 
den  volleren  Zusammenklängen  wechselten.  Diesmal  liels  ich 
auch  Herrn  F.  theilnehmen,  um  zu  sehen,  ob  nicht  ein  un- 
bemerkter Versuchsumstand  auf  ihn  in  gleicher  Weise  nivellirend 
einwirkte.  Aber  wieder  volle  Unfähigkeit  bei  H.,  normale 
Leistungen  bei  F.,  der  nur  wieder  öfters  Töne  hinzuhörte. 


Vorgelegte  Töne: 
Urtheile   von  F.: 

H.: 


n 


1456 

13456 

1 

345 
2345 

1(?)2 

12 

1 

1 

23456 
12345 
2 

456 
456 
2 

1 
1 
1 

135 

1345 

123 


Diesmal  machen  die  Urtheile  H.'s  sogar  den  Eindruck  des 
rein  Zufälligen. 

Es  bleibt  also  nur  noch  übrig,  zu  schUefsen,  daCs  der 
intelligente  Beobachter  H.   (trefflicher  Mathematiker),  der  von 


IJtbtr  dca  Erkennen  v.  Intervallen  u.  Aceorden  hei  sehr  kurzer  Datter.  185 

nervösen  Stimmungen  auch  sonst  sehr  abhängig  ist  (er  muTste  später 
einmal  wegen  nervöser  Störungen  eine  Heilanstalt  aufsuchen), 
zeitweise  zur  Analyse  überhaupt  unfähig  wurde.  Er  analysirte 
nicht  das  eine  Mal  besser,  das  andere  Mal  schlechter,  sondern 
einmal  analysirte  er,  und  zwar  besonders  sicher  und  genau,  das 
andere  Mal  analysirte  er  nicht,  wenigstens  nicht  bei  consonanten 
Zusammenklängen  m  der  hier  angewandten  Lagerung.  Es  ist 
als  wenn  —  um  mich  m  einem  physiologischen  Büd  auszu- 
drücken —  das  durch  Uebung  erworbene  gesonderte  Functioniren 
der  einzelnen  HörgangUen  oder  Processe  durch  einen  über  die 
ganze  Hörsphäre  ausgebreiteten  Hemmungsvorgang  beeinträchtigt 
wäre.  Erklärt  ist  mit  physiologischen  Bildern  freilich  nichts, 
da  wir  von  solchen  Mechanismen  nichts  wissen. 

Es  mag  dabei  noch  eine  Art  Autosuggestion,  anders  gesagt 
eine  Urtheils-  oder  Aufmerksamkeitsträgheit  hinzukommen,  die 
in  der  gleichen  nervösen  Disposition  wurzelt.  Wenn  einmal  im 
ersten  oder  in  den  ersten  Fällen  der  Eindruck  der  EinheitUch- 
keit,  vielleicht  nur  in  Folge  ungenügender  Concentration  der 
Aufmerksamkeit,  entstanden  war,  so  konnte  schon  dadurch  die 
Richtung  der  folgenden  Urtheile  mit  bestimmt  werden,  wenn  dies 
auch  in  normaler  Verfassung  bei  einem  guten  Beobachter  nicht 
der  Fall  ist  Begünstigt  mufste  dieser  Erfolg  natürUch  werden 
durch  die  in  den  2  ersten  abnormen  Reihen  angewandten  geringen 
Unterschiede  der  Toncombinationen. 

Ich  erinnere  noch  an  ein  eigenes  Erlebnifs.  Als  es  sich  um 
feinste  Abstimmungsverschiedenheiten  der  Terzen  handelte,  lag 
für  mich,  solange  kleine  Terzen  ausschliefsUch  vorgelegt  wurden, 
der  subjective  Reinheitspunkt  unterhalb  der  physikalischen  Rein- 
heit Als  aber  in  einer  späteren  Untersuchung  grofse  Terzen 
vorgelegt  wurden,  bei  denen  er  auf  der  Plusseite  liegt,  rückte 
er  auch  bei  der  kleinen  Terz  während  dieser  Zeit  auf  dieselbe 
Seite.  Von  Nervenstimmungen  war  hierbei  nicht  die  Rede,  die 
erkannten  Unterschiede  waren  auch  nicht  geringer  als  vorher. 
Aber  es  war  doch  auch  eine  Art  Autosuggestion  entstanden,  die 
sich  auf  ganze  Urtheilsreihen  erstreckte.* 

Ob  nur  irgend  etwas  von  dem  hier  zuletzt  Beobachteten  und 
Vermutheten  auch  auf  die  Ergebnisse  Schulzens  Anwendung 
findet,  will  ich  dahingestellt  lassen,  möchte  es  aber  eher  be- 


»  Zeitschr.  f,  Psychol.  18,  340  t 


186  C".  stumpf, 

zweifeln,  da  die  oben  erwähnten  Bedenken  in  Bezug  auf  seine 
Versuchseiniichtungen  die  Aufsuchung  von  Erklarungsgründen 
zunächst  überflüssig  machen.  Es  war  ja  in  den  abnormen  Reihen 
H.'s  auch  nicht  etwa  eine  zunehmende  Zahl  der  Einheitsurtheile 
mit  zunehmender  Zahl  der  Töne  und  mit  Annäherung  an  den 
harmonischen  Obertonklang  aufgetreten,  sondern  es  waren  fast  nur 
Einheitsurtheile,  es  war  Unfähigkeit  zur  Analyse  überhaupt  ein- 
getreten. Doch  ist  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dals 
eine  ähnliche  Verfassung  bei  den  Beobachtern  Schulze's  mit- 
gewirkt habe ;  in  welchem  Falle  aber  die  Ergebnisse,  auch  wemi 
die  Versuchseinrichtung  einwandsfrei  wäre,  nicht  als  Ausdruck 
der  normalen  UrtheilsbeschaSenheit  musikalischer  Menschen 
gelten  dürften. 

(Eingegangen  den  2.  August  1901.) 


(Aus  der  physikalischen  Abtheilung  des  Physiologischen  Instituts 

der  Universität  zu  Berlin.) 


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lieber  die  Fläclienempfindiing  in  der  Haut. 

Von 

Dr.  Helen  B.  Thompson  und  Kathaeina  Sakijewa. 

(Mit  1  Fig.) 

§1. 

Durch  die  experimentelle  Untersuchung,  über  welche  im 
Nachstehenden  berichtet  wird,  sollte  die  Fähigkeit  zur  Unter- 
scheidung der  Gröfse  von  Flächen,  welche  die  Haut  berühren, 
geprüft  und  dabei  insbesondere  der  Einflufs  des  bei  der  Be- 
rührung ausgeübten  Druckes  auf  die  Feinheit  dieser  Unter- 
scheidung bestimmt  werden.  Dieses  Ziel  haben  wir  zwar,  zum 
Theil  aus  Mangel  an  Zeit,  nicht  vollkommen  erreicht;  wir 
glauben  aber,  dafs  es  uns  wenigstens  gelimgen  ist,  einen  Fort- 
schritt in  der  psychologischen  Analyse  des  Urtheils  über  die 
Gröfse  der  berührenden  Fläche  und  den  Einflufs  des  Druckes 
zu  machen. 

Zimächst  haben  wir  zwei  bereits  früher  ausgeführte  Unter- 
suchungen zu  erwähnen,  die  unserem  Thema  nahe  stehen. 

L  Dieselbe  Frage  ohne  Berücksichtigung  des  Druckes  hat 
M.  Eisneb  zu  lösen  versucht.^  Er  benutzte  zur  Berührung 
kreisrunde  Flächen  und  suchte  den  Unterschied  zwischen  den 
Durchmessern  von   zwei  derselben  zu   bestimmen,    die  bei  der 


*  M.  Eisner.  „üeber  die  Beurtheilung  der  Gröfee  und  der  Gestalt  von 
Flächen,  welche  die  Haut  berühren."  Inaugural-Dissertation  zur  Erlangung 
der  medicinischen  Doctorwürde.    Erlangen  1887. 


Igg  Helen  B,  Thompson  und  Katharina  Sakijewa. 

Berührung  als  eben  merklich  verschieden  in  ihrer  Gröfee  em- 
pfunden wurden.  Das  Verfahren  dabei  war  das  folgende:  man 
berührte  bei  einer  Versuchsperson,  welche  die  Augen  schloft, 
mit  zwei  verschieden  grofsen  Flächen  dieselbe  Hautstelle  und 
die  Versuchsperson  mufste  entscheiden,  ob  die  Flächen  von  ver- 
schiedener Gröfse  waren  und  gegebenen  Falls,  welches  die 
gröfsere  war.  Zu  diesen  Versuchen  benutzte  M.  Eisnee  aus 
Hartgummi  hergestellte  Scheiben,  die  zur  bequemen  Handhabung 
mit  einem  Metallstäbchen  versehen  waren,  „damit  sie,  wenn  man 
damit  die  Haut  berührte,  nicht  drückten,  sondern  nur  deutliche, 
reine  Berührungsempfindung  hervorbrächten."  Es  zeigte  sich 
nun  eine  ziemlich  grofee  Verschiedenheit  in  der  Unterscheidungs- 
fähigkeit  der  Haut  an  verschiedenen  Körperstellen.  So  ergab 
es  sich,  dafs  auf  der  Zungenspitze  zwei  Flächen  noch  als  Ter- 
schieden  grofs  empfunden  wurden,  deren  Diu'chmesser  nur  V« 
und  1  mm  betrug;  auf  dem  Rücken,  Oberarm,  Oberschenkel 
und  Unterschenkel  dagegen  mufsten  zwei  als  verschieden  grofe 
empfundene  Flächen  die  Durchmesser  von  2  und  25  mm  haben. 
Wie  wir  später  sehen  werden,  war  ein  so  grofser  Unterschied  bei 
unseren  Versuchen  z.  B.  auf  dem  Rücken  imd  dem  Oberarm 
durchaus  nicht  erforderUch.  Es  ist  mm  zweifelhaft,  ob  es 
M.  EiSNEE  wirklich  gelungen  ist,  mit  seiner  Versuchsmethode 
immer  nur  eine  reine  Berührungsempfindung  hervorzurufen,  und 
ob  das  Urtheil  der  Versuchsperson  sich  immer  ausschliefelich 
auf  die  Grö&e  der  berührenden  Fläche  gründete ;  denn  das  Auf- 
setzen der  Scheiben  vermittelst  der  Hand  konnte  immöglich 
immer  und  überall  in  derselben  Art  geschehen;  es  war  wohl 
unvermeidlich,  dafs  dabei  eine  mehr  oder  minder  starke  Druck- 
empfindung oder  eine  verschiedene  Art  der  Berührungsempfin- 
dimg entstand.  Diese  Factoren  spielen,  wie  wir  später  sehen 
werden,  eine  sehr  wichtige,  sogar  entscheidende  Rolle  in  der 
Beurtheilung  der  Gröfse  der  berührenden  Fläche. 

Von  den  sonstigen  Resultaten  Eisnek's  können  wir  die  von 
ihm  gefimdene  Wirkung  der  Uebung  bestätigen,  femer  die 
feinere  Empfindung  an  denjenigen  Körperstellen,  die  gewöhnlich 
zur  LocaUsation  vermittelst  der  Tastempfindung  benutzt  werden. 
Doch  haben  wir  selbst  hierüber  keine  besonderen  ausgedehnten 
Versuchsreihen  angestellt,  sondern  können  imser  Urtheil  nur  auf 
gelegentlich  eingeschobene  Einzelversuche  gründen.  Die  Er- 
müdung an  den  Extremitäten,  in  Folge  deren  die  Tastempfind- 


Ueber  die  Flächenempfindung  in  der  Haut.  189 

lichkeit  bei  längerer  Thätigkeit  geschwächt  erscheint,  können  wir 
wenigstens  am  Oberarm  nicht  bestätigen.  Am  Unterarm,  sowie 
am  Ober-  und  Unterschenkel  haben  wir  selbst  keine  Versuche 
gemacht 

IL  Die  erste  von  uns  (H.  Th.)  hatte  gelegentlich  einer 
früheren  experimentellen  Arbeit  die  nachfolgenden  Beobachtungen 
gemacht : 

a)  Um  die  Unterscheidungsfähigkeit  der  Haut  für  die  Gröfse 
einer  berührenden  Fläche  zu  prüfen,  wurde  ein  Satz  von 
quadratischen  imgefähr  3  mm  dicken  Korkstücken  hergestellt, 
deren  Seitenlänge  von  10  bis  20  mm  anstieg.  Durch  aufgeklebte 
Bleistückchen  wurden  sie  alle  zu  dem  gleichen  Gewicht  von 
20  g  gebracht.  Legte  man  nun  zwei  dieser  Korkplatten  nach 
einander  in  wechselnder  Folge  auf  dieselbe  Stelle  der  Haut  auf, 
80  wurde  im  Allgemeinen  die  kleinste  Korkplatte  des  betreffen- 
den Paares  als  schwerer  empfunden,  ausnahmslos  erschien  aber 
allen  Versuchspersonen  die  kleinste  Platte  (10  mm  Seitenlänge) 
viel  schwerer,  als  die  gröfste  (20  mm).  Manche  Versuchspersonen 
hielten  die  kleinsten  Korkplatten  nicht  nur  für  schwerer,  sondern 
auch  für  gröfser,  als  die  gröfste;  Andere  hielten  es  fast  für  un- 
möglich, überhaupt  irgend  ein  Urtheil  über  die  Gröfse  der  be- 
rührenden Fläche  abzugeben. 

b)  Da  die  vorstehenden  Erfahrungen  zu  der  Vermuthung 
führten,  dafs  die  Intensität  einer  Druckempfindung  durch  das 
auf  der  Flächeneinheit  lastende  Gewicht  bestimmt  wird,  so 
wurde  ein  ähnlicher  Satz  von  Korkplatten  wie  bei  den  eben 
beschriebenen  Versuchen  angefertigt,  jetzt  aber  die  Belastung 
durch  Bleistückchen  in  der  Art  ausgeführt,  dafs  das  Gesammt- 
gewicht  jedesmal  der  Gröfse  der  Fläche  proportional,  d.  h.  der 
Druck  auf  die  Flächeneinheit  stets  derselbe  war.  Das  absolute 
Gewicht  wurde  so  gewählt,  dafs  es  bei  der  gröfsten  Korkplatte 
(20  mm  Seitenlänge)  20  g  betrug.  Wäre  die  oben  ausgesprochene 
Vermuthung  richtig,  so  hätten  alle  Korkplatten  dieser  neuen 
Reihe  beim  Auflegen  auf  die  Haut  dieselbe  Druckempfindung 
verursachen  müssen;  jetzt  aber  erschienen  die  kleinsten  Kork- 
platten leichter,  als  die  gröfseren. 

Aus  dieser  Beobachtung  ergiebt  sich  daher: 
1.  Wenn  auf  zwei  verschieden  grofsen  Flächen  an  derselben  Stelle 
des  Körpers  eine  gleichstarke   Druckempfindung  hervorgerufen 
werden  soll,   so  sind  die  dazu  erforderlichen  Belastungen   weder 


190 


Hden  B,  Thompson  und  Katharina  SaJdjewa, 


dem  absoluten  Gewicht  nach  gleich,  noch  proportional  der  GrröCse 

der  Flächen,  sondern  sie  hegen  zwischen  diesen  beiden  Grenzen. 

2.    Die   Empfindung    der    Gröfse    der    berührenden    Fläche 

wird  beeinflufst  durch  die  Gröfse  des  auf  ihr  lastenden  Gewichtes. 


Da  nun  die  früheren  Arbeiten  über  die  Unterscheidungs- 
fähigkeit für  die  Gröfse  einer  die  Haut  berührenden  Fläche 
nicht  die  MögUchkeit  einer  Beeinflussung  des  Urtheils  durch  die 
Verschiedenheit  des  Druckes  berücksichtigten,  so  bedürfen  sie 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus  einer  Nachprüfung.  In  den 
nachfolgend  beschriebenen  Versuchen  ist  dieses  nun  zum 
Theil  geschehen.  Doch  ist  mit  ihnen  keineswegs  das  genannte 
Gebiet  erschöpft  und  das  ganze  Problem  gelöst  Wir  hoffen 
jedoch,  dafs  eventuell  andere  Beobachter  für  die  Fortsetzung 
und  Vollendimg  dieser  Versuche  aus  dem  Nachfolgenden  Nutzen 
ziehen  können. 

§2. 

Zu  unseren  Versuchen  wurde  der  nebenstehend  abgebildete 
Apparat  benutzt,  der  von  dem  Mechaniker  des  Physiologischen 
Instituts  Herrn  W.  Oehälke  für  unsere  Untersuchung 
besonders  hergestellt  war.  Er  besteht  aus  einem 
Metallcylinder  AB,  an  dessen  einem  Ende  zur  be- 
quemen Handhabung  der  Griff  H  angesetzt  ist. 
Durch  eine  Oeffnung  an  dem  anderen  Ende  ist 
eine  Nadel  N  verschiebbar,  die  sich  auf  eine  in 
dem  Cylinder  AB  befindliche  Spiralfeder  stützt  und 
diese  beim  Einschieben  zusammendrückt.  Damit 
dieses  Verschieben  möglichst  glatt  und  reibungslos 
geschieht,  ist  die  Nadel  mit  einer  langen  Führung 
versehen,  zu  welchem  Zwecke  über  den  Handgriff  H 
die  Büchse  C  herausragt.  Der  von  der  Nadel  aus- 
geübte Druck  läfst  sich  durch  einen  mit  ihr  ver- 
bundenen Index  I  auf  der  seitlich  angebrachten 
Scala  S,  welche  bis  zu  einem  Drucke  von  250  g 
anstieg,  ablese  n. 

An  die  Spitze  der  Nadel  N  wurde  ein  Kork  K 
aufgespiefst.  Drückte  man  diesen  nun  auf  die 
imtersuchte  Körperstelle  auf,  so  konnte  man  an  der 
Scala  sehen,  wie  hoch  der  ausgeübte  Druck  war. 
Um  für  den  kleinen  Druck  von  20  g  eine  gröfsere 


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Üeber  die  Flächenempfindwng  in  der  Haut  191 

Genauigkeit  zu  erzielen,  wurde  für  ihn  eine  andere  schwächere 
Spiralfeder  mit  der  entsprechenden  Scala  eingesetzt  In  unserer 
Figur  ist  das  Instrument  mit  der  schwächeren  Feder  und  der 
zugehörigen  Scala  abgebildet 

Es  wurden  für  die  Versuche  nur  Korke  verwandt,  welche 
mögUchst  ebene,  nmde  Flächen  besafsen.  Die  Durchmesser  der 
benutzten  Korke  waren :  24,75  mm,  22,5  mm,  20,5  mm,  17,75  mm, 
15,5  mm,  12,75  mm,  10,25  mm,  8,25  mm.  Der  Kork  mit  dem 
Durchmesser  von  24,75  mm  wurde  als  constante  Gröfse  ge- 
nommen, mit  welcher  alle  anderen  vergHchen  wurden. 

Aus  der  nunmehr  folgenden  Beschreibung  imserer  Versuchs- 
methode geht  hervor,  dafs  stets  zwei  gleiche  derartige  Apparate 
benutzt  wurden. 

Der  Kork  von  24,75  mm  Durchmesser  wurde  auf  die  Nadel- 
spitze des  einen  Apparates,  der  Kork  von  22,5  mm  Durchmesser 
auf  die  Nadelspitze  des  anderen  aufgespiefst.  Dieses  Paar  setzte 
man  nach  einander  mit  demselben  Drucke,  z.  B.  70  g,  auf  eine 
imd  dieselbe  Körperstelle  der  Versuchsperson  auf.  Die  gegebenen 
Antworten  wurden  als  richtige,  falsche  und  unbestimmte  notirt 
Im  letzten  Falle  wurde  der  Versuch  öfters  wiederholt,  um  zu 
sehen,  ob  die  Ursache  der  undeuthchen  Empfindung  bei  der  Ver- 
suchsperson oder  beim  Experimentator  lag  (ungeschicktes,  schiefes 
Aufsetzen  des  Korkes,  gelindes  Zittern  der  Hände  u.  s.  w.).  Ein  und 
dasselbe  Paar  von  Korken  wurde  an  einer  und  derselben  Region 
des  Körpers  12  mal  aufgesetzt  und  wenn  %  der  Antworten 
richtig  waren,  wurde  der  betreffende  Unterschied  zwischen  den 
Durchmessern  als  Unterschiedsschwelle  der  betreffenden  Region 
angesehen.  Wenn  dieser  Bruchtheil  nicht  erreicht  war,  wurde 
der  Kork  von  22,5  mm  durch  einen  kleineren  (von  20,5  mm, 
17,75  mm,  15,5  mm  u.  s.  w.)  ersetzt  und  die  Versuche  wurden 
auf  die  beschriebene  Weise  wiederholt,  indem  immer  der- 
selbe Druck  angewendet  wurde,  bis  sich  die  Unterschieds- 
schwelle ergab. 

Die  Versuchsreihen  wurden  an  sieben  Körperstellen  aus- 
geführt : 

1.  auf  dem  rechten  Oberarm; 

2.  auf  der  rechten  Seite   des  Brustkorbes,   5 — 10  cm  unter 
der  Achsolhöhle; 

3.  auf  der  Brust  —  rechte  Mamma; 

4.  auf  dem  Bauch  —  unterhalb  des  Nabels; 


192  Helen  B,  Thompson  und  Katharina  Sak^ewa, 

5.  auf  dem  Rücken  etwas  unterhalb   des  linken  Schulter- 
blattes ; 

6.  auf    dem    Rücken    imgefähr   in    der    Höhe    der   ersten 
Lendenwirbel ; 

7.  auf  dem  Glutäus. 

Die  verschiedenen  Drucke  wurden  nicht  in  stets  au&teigender 
Gröfse  genommen,  sondern  in  nachstehender  Folge :  70  g,  20  g, 
150  g,  100  g  und  250  g.  Die  Versuchsreihen  mit  dem  Drad 
von  20,  70  und  150  g  wurden  an  zwei  Personen  dreimal  aus- 
geführt; die  anderen  Reihen  nur  je  einmal.  Um  die  gewonnenen 
Resultate  nachzuprüfen,  wurden  noch  zwei  Personen  heran- 
gezogen, an  denen  fünf  Versuchsreihen  mit  den  verschiedenen 
Drucken  je  einmal  ausgeführt  wurden.  Die  Ergebnisse  dieser 
Versuche  sind  in  den  weiter  imten  folgenden  Tabellen  dargesteDt 

Jede  Versuchsreihe  dauerte  mit  Einschlufs  kleinerer  Er 
holungspausen  1^/^ — 2  Stunden.  Dabei  wurden  noch  folgende 
Vorsichtsmaafsregeln  beachtet.  Die  Temperatur  des  Zimmen 
wurde  immer  so  hoch  gehalten,  dafs  die  Versuchsperson,  troti 
der  Entblöfsung  ihres  Körpers  auch  nicht  die  geringste  Eälte- 
empfindimg  hatte,  da  sonst  die  Empfindlichkeit  der  Haut  un- 
günstig beeinflufst  und  auch  die  Aufmerksamkeit  gestört  wurde 
Nach  je  4—6  abgegebenen  Urtheilen  wurde  die  betreffende 
Hautstelle  leicht  mit  der  Hand  überstrichen,  um  die  eventuellen 
Nachempfindungen  zu  löschen,  welche  die  deutUche  Wahr- 
nehmung des  folgenden  Reizes  hinderten.  Die  Versuchszeit  für 
die  ersten  zwei  Personen  wurde  fast  immer  Vormittags  gewählt 
weil  zu  dieser  Tageszeit  die  Versuchspersonen  frischer  warea 

Die  ersten  Versuche  stiefsen  fast  bei  allen  Versuchspersonen 
auf  Schwierigkeiten ;  die  Flächenempfindung  war  sehr  undeutlich 
oder  vielmehr  gar  nicht  vorhanden ;  sogar  die  Flächen  mit  dem 
Durchmesser  von  17,75  mm,  selbst  von  20,5  und  24,75  mm 
wurden  nur  als  Punkte  empfunden.  Bei  den  Versuchspersonen 
H.  Th.  und  K.  S.  trat  die  Flächenempfindung  ziemlich  bald  anf : 
bei  der  Versuchsperson  S.  Sch.  ergaben  dagegen  die  drei  ersten 
Versuchstage  keine  Resultate,  alle  Flächen  wurden  als  Punkte 
empfunden;  erst  am  vierten  Tage  konnte  diese  Versuchsperson 
verschiedene  Flächen  unterscheiden,  ohne  dafs  aber  ein  Gröfsen- 
urtheil  möglich  war;  bald  nachher  wurde  aber  die  Unterscheidungs- 
fähigkeit sehr  fein,  wie  es  auch  unten  aus  der  Tabelle  III 
(Seite  26)  zu  sehen  ist.    Der  Factor,  der  dabei  die  entscheidende 


Ue&er  die  Fläehenempfindung  in  der  Harnt  193 

Rolle  spielte,  wird  später  besprochen  werden«  Nur  die  Ver- 
suchsperson N.  A.  zeigte  eine  Abweichung  von  dem  eben  Ge- 
sagten; bei  ihr  trat  die  reine  Flächenempfindung  sofort  deutUch 
auf  imd  war  von  Anfang  an  für  ihr  Urtheil  maafsgebend. 

Die  Thatsache,  dafs  die  Unterscheidimg  der  Flächen  an« 
fänglich  nur  sehr  schwankend  und  unsicher  war,  hat  veranlaGst, 
dafs  wir  die  Versuche  zimächst  mit  Korken  von  ziemUch  grofsen 
Durchmessern  begannen,  und  als  dann  später  die  Unterscheidung 
mit  der  Uebung  feiner  geworden  war,  hat  Mangel  an  Zeit  uns 
nicht  erlaubt,  die  Versuche  mit  den  klemeren  Durchmessern,  wie 
sie  EksNEB  benutzte,  anzustellen. 

Die  Schwankungen  der  Zahlen,  die  besonders  in  den  Reihen 
1 — 6  und  8 — 10  der  Tabellen  I  imd  II  für  einzelne  Körperstellen 
zu  sehen  sind,  haben  ihre  Ursache  zum  Theil  im  Experimentator, 
denn  das  Au&etzen  der  Korke  geschah  nicht  immer  in  einer 
für  die  betreffende  Körperstelle  passenden  Weise,  d.  h.  es  wurde 
wohl  manchmal  der  Kork  etwas  schief  aufgesetzt,  wodurch  un« 
deutliche  Empfindungen  erzeugt  wurden,  die  falsche  Beurtheilung 
hervorriefen.  Mit  der  steigenden  Geschicklichkeit  des  Ex* 
perimentators  wurden  auch  die  Antworten  der  Versuchsperson 
consequenter. 

In  den  nachfolgenden  Tabellen  sind  die  Gröfsen  derjenigen 
Durchmesser  angegeben,  die  beim  Vergleich  mit  dem  Kork  von 
24,75  mm  bei  dreiviertel  der  Antworten  richtig  als  die  kleineren 
erkannt  wurden. 

Die  Versuchspersonen  waren  alle  ungefähr  gleichen  Alters 
und  standen  im  Anfang  der  zwanziger  Jahre. 

Wie  sich  aus  den  nachstehenden  Tabellen  ergiebt,  hatte  die 
Verschiedenheit  des  Druckes  nicht  viel  Bedeutimg  für  die  Be- 
urtheilimg  der  Flächengröfse.  Doch  schien  der  mittlere  Druck 
von  70  g  und  100  g  fast  allen  Versuchspersonen  der  beste  für 
das  Zustandekommen  einer  wirkUchen  Flächenempfindimg  imd 
die  Beurtheilung  ihrer  Gröfse  zu  sein.  Der  gröfste  Druck  von 
250  g  störte  dadurch,  dafs  er  die  Aufmerksamkeit  der  Versuchs- 
person auf  den  starken  Druck  hinwenden  und  damit  von  der 
Gröfse  der  berührenden  Fläche  ablenken  liefs.  Der  kleinste 
Druck  von  20  g  schien  zuerst  allen  Versuchspersonen  zu  klein 
zu  sein,  und  die  Berührung  der  Haut  mit  Korken  bei  der 
Ausübung  dieses  Druckes  rief  eine  sehr  undeutliche  Flächen- 
empfindung  hervor;   nach   einigen   Versuchen   aber   wurde   sie 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  IB 


194 


Helen  B.  Thomf»on  und  Ka^haritM 


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Ueber  die  Fläckenetnpfindung  in  der  Haut. 


195 


Tabelle  m. 

VersnchBperson  Frl.  Stud.  pbil.  S.  8ch. 


20  g 

70  g 

Druck 
100  g 

150  g 

1 

250  g 

Körperstelle 

1.  Reihe 

2.  Reihe 

3.  Reihe 

4.  Reihe 

6.  Beihe 

Unterschiedsschwelle 

Oberann 

Brust 

Seite  des  Brustkorbes 

%auch 

Hucken  oben 

Rücken  Mitte 

Olutäus 


17,75 

17,75 

17,75 

17,75 

20,5 

20,5 

20,5 


17,75 

17,75 

17,75 

20,5 

17,75 

22,5 

22,5 

17,75 

20,5 

20,5 

20,5 

17,75 

22,5 

20,5 

17,75 

22,5 

17,75 

17,75 

20,5 

20,5 

20,5 

17,75 

20,5 

20,5 

17,76 

20,5 

20,5 

22,5 


Tabelle  IV. 

Versuchsperson  Frl.  Stud.  phil.  N.  A. 


20g 


70  g 


Druck 
100  g 


150  g  250  g 


Körperstelle 


1.  Reihe 


2.  Reihe     3.  Reihe 


4.  Reihe 


5.  Reihe 


Unterschied  sschwelle 


Oberarm 

Brust 

Seite  des  Brustkorbes 

Bauch 

Rücken  oben 

Rücken  Mitte 

Glutäns 


15,5 
15,5 
15,5 
15,5 
15,5 
15,5 
17,75 


20,5 

20,5 

20,5 

17,75 

20,5 

20,5 

17,75 

17,75 

20,5 

20,5 

20,5 

20,5 

20,5 

17,75 

20,5 

17,75 

17,75 

17,75 

17,75 

17,75 

17,75 

1 

20,5 

20,5 

20,5 

17,75 

20,5 

17,75 

20,5 


gewöhnlich     ziemlich    gut    und    deutlich;    die    Versuchsperson 

S.  ScH.  fand  sogar,   dafs   dieser  Druck  der  geeignetste  sei,  um 

die  Gröfse   der  Flächen  deutUch  wahrnehmen  zu   können;   nur 

die  Versuchsperson  N.  A.  fand   ihn  immer  zu  klein,   um  die 

Fläche  vollkommen  deutlich  wahrnehmen  zu  können. 

Aus  den   Tabellen   ergiebt  sich  ferner,   dafs  nach  unseren 

Versuchen  keine  grofse  Verschiedenheit  in  der  Unterscheidungs- 

1^* 


196  Helen  B,  Thompson  und  Katharina  Sakyewa, 

fähigkeit  der  Haut  an  den  verschiedenen  von  uns  untersuchten 
Körperstellen  besteht,  wie  dieses  M.  Eisneb  gefunden  hatte.  Bei 
uns  scheint  die  Unterscheidungsfähigkeit  auf  dem  ganzen  Körper 
zienüich  gleichmäfsig  vertheilt  zu  sein.  Zum  Theil  können  wir 
dieses  wohl  darauf  zurückführen,  dafs  der  entscheidende  Fiactor 
für  das  gefällte  Vergleichungsurtheil ,  wie  wir  sogleich  noch 
näher  sehen  werden,  nicht  die  unmittelbare  Gröfsenempfindung 
der  berührenden  Fläche  war,  sondern  in  anderen  Begleitum- 
ständen lag. 

§3. 

Nachdem  wir  im  Vorstehenden  imsere  Versuche  und  Er- 
gebnisse systematisch  dargelegt  haben,  wollen  wir  nunmehr  die- 
jenigen Resultate  mittheilen,  welche  aus  den  gemachten  Be- 
obachtungen gewissermaafsen  nur  beiläufig  gewonnen  wurden. 
Wie  in  §  1  schon  erwähnt  ist,  beziehen  sie  sich  zima  Theil  auf 
die  psychologische  Analyse  des  von  den  Versuchspersonen  bei 
dem  Vergleich  der  Berührungsflächen  vollzogenen  Urtheils. 

1.  Sehr  wenige  der  Urtheile  erschienen  den  Versuchspersonen 
als  reine  Urtheile  über  die  Gröfse  der  Flächen.  In  vielen  Fällen 
war  es  immöglich  hierüber  ein  Urtheil  zu  fällen,  ohne  gleich- 
zeitig den  Factor  des  Druckes  mit  in  Erwägung  zu  ziehen.  Da 
zwei  von  den  Versuchspersonen  (H.  Th.  und  K.  S.)  einerseits 
wufsten,  dafs  die  beiden  ihrer  Gröfse  nach  zu  vergleichenden 
Flächen  mit  demselben  absoluten  Druck  aufgesetzt  wurden  imd 
da  andererseits  nach  den  (in  §  1  unter  IIa)  angegebenen  Et- 
fahrungen  die  kleinere  Fläche  bei  thatsächUch  gleichem  Drucke 
subjectiv  als  stärker  gedrückt  empfunden  wurde,  so  bestand 
stets  die  Neigung,  einen  wirklichen  Flächenvergleich  völlig  zu 
unterlassen  und  von  dem  subjectiv  stärker  empfimdenen  Druck 
auf  die  geringere  Gröfse  der  Fläche  zu  schliefsen.  Das  Ergebnife 
dieses  Schlusses  war  zwar  richtig,  aber  das  Urtheil,  welches 
eigentlich  hätte  gebildet  werden  sollen,  war  in  Wirklichkeit  gar 
nicht  vollzogen  worden.  Die  Versuchsperson  S.  Sch.,  welche 
diese  Thatsache  (§  1,  IIa)  nicht  wufste,  unterschied  die  Gröfse 
nach  einigen  Versuchen  sehr  fein;  bei  der  näheren  psycho- 
logischen Analyse  ergab  es  sich  aber,  dafs  es  bei  der  Beurtheilung 
nicht  auf  die  Gröfse  der  Flächen,  sondern  auf  die  Art  der  Be- 
rührungsempfindung ankam.  Die  gröfsere  Fläche  (mit  dem 
Durchmesser  von  24,75  mm)  rief  die  Empfindung  einer  weichen 


üeber  die  Flächenempfindung  in  der  Haut  197 

zarten  Berührung  hervor,  die  sich  auf  eine  ziemUch  grofse,  aber 
doch  nicht  sehr  deutUch  begrenzte  Fläche  erstreckte ;  es  ist  nicht 
gelungen,  näher  zu  analysiren,  warum  der  betreffende  Kork  als 
gröfser  beurtheilt  wurde,  obgleich  die  Gröfsenempfindung  bei 
der  vorhandenen  Flächenempfindung  undeutlich  war.  Die  Art 
der  Berührungsempfindimg,  die  durch  den  Kork  von  24,75  mm 
hervorgerufen  wurde,  war  bei  den  Versuchspersonen  K.  S.  und 
S.  SoH.  schliefslich  so  ausgeprägt,  dafs  in  den  Fällen,  wo  dieser 
Kork  zuerst  aufgelegt  wurde,  sich  das  Urtheil  öfters  ohne  Ver- 
gleich vollzog,  indem  die  Versuchsperson  dann  diesen  Kork  als 
den  gröfseren  bezeichnete,  noch  ehe  der  andere  Kork  aufgesetzt 
wurde.  Bei  der  Versuchsperson  N.  A.  trat,  wie  schon  erwähnt,  die 
Flächenempfindung  von  Anfang  an  deutlich  hervor,  und  die 
gröfsere  Fläche  wurde  fast  immer  richtig  erkannt,  und  merk- 
würdig war  es  dabei,  dafs  die  betreffende  Versuchsperson  die 
gröfsere  Fläche  auch  manchmal  als  die  stärker  drückende 
empfand;  das  Urtheil  wurde  in  diesen  Fällen  zwar  nach  dem 
Druck  vollzogen,  war  aber  doch  richtig,  denn  die  als  stärker 
drückend  empfundene  Fläche  war  auch  objectiv  die  gröfsere. 

2.  Der  psychologische  Character  des  Urtheils  war  bei  den 
Versuchspersonen  H.  Th.,  K.  S.  und  S.  Sch.  abhängig  von  der 
Beschaffenheit  der  Körpergegend,  auf  welche  die  Korke  auf- 
gedrückt  wurden. 

a)  An  Körperstellen,  wo  weiche  Substanz  in  gröfserer  Menge 
gleichmäfsig  vorhanden  war,  z.  B.  auf  den  Glutäen  und  den 
Mammae,  war  die  Unterscheidungsfähigkeit  gering  und  es  war 
schwer  zu  sagen,  auf  welche  Factoren  das  Urtheil  eigentlich  be- 
gründet war.  Im  Ganzen  schien  es  etwas  mehr  vom  Druck 
mittelbar  abgeleitet,  als  unmittelbar  auf  die  Empfindung  der  Be- 
rührungsfläche begründet  zu  sein.  Die  kleinere  Fläche  machte 
nänüich  bei  absolut  gleichem  Drucke  einen  tieferen  Eindruck 
an  der  betreffenden  Körperstelle  und  rief  dadurch  ein  gröfseres 
Gtefühl  der  Spannung  hervor,  welches  dann  zur  richtigen  Unter- 
scheidung benutzt  wurde,  da  ja  die  Versuchspersonen  H.  Th. 
und  K.  S.  bewufst  erwarteten,  dafs  es  die  kleinere  Fläche  sein 
sollte,  die  diesen  Eindruck  machte.  Bei  der  Versuchsperson 
N.  A.  trat  diese  Abhängigkeit  von  der  untersuchten  Körper- 
gegend für  das  Urtheil  nicht  hervor.  Obwohl  die  kleineren 
Flächen  bei  den  Versuchen  mit  den  gröfseren  Drucken  von  150 
und  250  g  einen  tieferen  Eindruck  auf  den  weicheren  Körper- 


198  Helen  B,  Thompson  und  Katharina  SaSajewa. 

stellen,  wie  den  Glutäen  und  den  Mammae  machten,  so  wurde 
dadurch  die  Flächenempfindung  doch  nicht  beeinflufist  und  das 
stets  richtige  Urtheil  stützte  sich  auf  die  Empfindung  der 
Flächengröfse. 

b)  Bei  einer  Region,  welche  im  WesentUchen  aus  einer 
dünnen  Muskelschicht  ohne  Knochenunterlage  bestand,  wie  auf 
dem  Bauche,  beruhte  die  Unterscheidung  fast  gänzUch  auf  der  Ver- 
schiedenheit der  Druck-  und  Berührungsempfindung  und  zwar 
zum  Theil  durch  Vermittelimg  der  in  §  1  in  IIa  erwähnten 
falschen  ßeurtheilung  des  Druckes :  der  scheinbar  kleinere  Druck 
der  gröfseren  Fläche  wurde  leicht  bemerkt  und  ihre  weichere 
Berührung  sehr  deutHch  empfunden;  von  den  beiden  wurde 
dann  auf  die  geringere  Gröfse  der  anderen  Fläche  geschlossea 
Bei  der  Versuchsperson  N.  A.  wurde  diese  Art  der  Schluß- 
folgerung nie  oder  nur  sehr  selten  gemacht;  sie  meinte  das 
Urtheil  immer  auf  die  reine  Flächenempfindung  zu  gründen. 

c)  Auf  Körperstellen,  wo  die  Haut  nur  diu'ch  eine  dünne 
Muskelschicht  von  den  darunterUegenden  Knochen  getrennt  war, 
z.  B.  an  der  Seite  des  Brustkorbes  und  auf  dem  Rücken  unter 
dem  Schulterblatt,  war  das  Urtheil  in  viel  höherem  Grade  ein 
reines  Urtheil  über  die  Flächengröfse;  aber  es  beruhte  nicht 
allein  auf  den  Empfindungen  in  der  Haut,  sondern  es  wurde 
unterstützt  durch  die  Differenzirung  der  Knochenunterlage.  Die 
Ränder  der  Druckfläche  konnten  besonders  bei  den  starken 
Drucken  durch  die  Knochen  localisirt  werden  und  die  Vor- 
stellung der  Flächengröfse  wurde  darauf  gegründet. 

3.  Von  anderen  Beobachtungen,  welche  aber  noch  weiter 
bestätigt  und  genauer  verfolgt  werden  müssen,  führen  wir  hier 
folgende  an: 

a)  Dieselbe  Fläche  erschien  zu  verschiedenen  Zeiten  der 
subjectiven  Empfindung  nach  sehr  verschieden  deuthch.  Der- 
selbe Kork,  der  das  eine  Mal  als  ein  blofser  Druckpimkt  ohne 
merkbare  Flächenausdehnung  empfunden  wurde,  erzeugte  an 
derselben  Stelle  zu  einer  anderen  Zeit  das  ganz  bestimmte  Ge- 
fühl einer  berührenden  Fläche.  Ein  analoger  Unterschied  bot 
sich  bei  unmittelbar  auf  einander  folgender  Berührung  mit  dem- 
selben Kork  an  verschiedenen  Körperregionen  dar,  indem  er  auf 
der  einen  als  blofser  Druckpunkt,  auf  der  anderen  als  Fläche 
empfunden  wurde.  Da,  wo  nahe  unter  der  Hautoberfläche  ein 
Knochen  lag,  trat  im  Allgemeinen  leichter  ein  bestimmtes  Gefühl 


Uthtr  die  Flächenempfindung  in  der  Haut  199 

der  Flächenberührung  auf,  als  an  weicheren  fleischigeren  Stellen. 
Einige  Versuchspersonen  glaubten,  dafs  sie  an  einigen  Körper- 
stellen besonders  deutlich  die  Flächen  und  ihre  Gröfsen  unter- 
scheiden könnten ;  als  solche  Stelle  gab  z.  B.  die  Versuchsperson 
S.  ScH.  die  Seite  des  Brustkorbes  die  Versuchsperson  N.  A.  den 
Oberarm  an.  Doch  geht  aus  unseren  Tabellen  lH  imd  FV 
(Seite  195)  hervor,  dafs  hier  hinsichtlich  der  Feinheit  der 
Unterscheidung  eine  subjective  Täuschimg  vorlag. 

b)  Aber  wenn  auch  eine  deutUche  Fläehenempfindung  ent- 
stand, so  wurde  derselbe  Kork  an  verschiedenen  Körperstellen 
doch  verschieden  grofs  empfunden. 

Anfänglich  erschien  uns  derselbe  Kork  um  so  gröfser  zu 
sein,  je  weiter  die  mit  ihm  berührte  Körperstelle  nach  unten 
lag.  Bei  einer  kurzen  zur  Prüfung  dieser  Erscheinung  besonders 
angestellten  Versuchsreihe  ergab  sich  aber  keine  durchgängige  Be- 
stätigung dafür.  Doch  wäre  es  sehr  wünschenswerth,  dafs  weitere 
systematische  Beobachtungen  nach  dieser  Richtung  hin  angestellt 
würden,  da  die  Empfindung  in  den  entsprechenden  Fällen 
Aufserordentlich  deutlich  war. 


Zusammenfassung  der  Ergebnisse. 

1.  Auf  die  Unterschiedsempfindlichkeit  der  Haut  für  die 
Gröfse  sie  berührender  Flächen  übt  eine  Aenderung  des  Be- 
Tührungsdruckes  zwischen  den  Grenzen  von  20  und  250  g  nur 
einen  geringen  Einflufs  aus,  solange  die  beiden  zu  vergleichenden 
Flächen  mit  demselben  Druck  angelegt  werden. 

2.  Die  absolute  Unterscheidungsfähigkeit  der  Haut  für  die 
Gröfse  sie  berührender  Flächen  ist  an  allen  im  Tasten  nicht  ge- 
schulten Stellen  des  Körpers  beinahe  die  gleiche. 

3.  Das  Urtheil  über  die  Verschiedenheit  der  Gröfse  zweier 
die  Haut  berührender  Flächen  ist  selten  auf  einfache  Flächen- 
empfindimg  gegründet,  sondern  gewöhnlich  auf  mehrere  andere 
Factoren  in  zusammengesetzter  Weise  aufgebaut,  z.  B.  Druck- 
empfindung, Spannung  der  Haut  und  Locahsation  durch  die 
unter  der  betreffenden  Hautstelle  hegenden  Knochen« 

Zum  Schlüsse  erlauben  wir  uns  Herrn  Prof.  Dr.  Arthüe 
König,  unter  dessen  Leitung  die  Arbeit  ausgeführt  wurde,  für 
sein  stetiges  Interesse  und  seine  Rathschläge  unseren  besten 
Dank  auszusprechen. 

{Eingegangen  am  16»  September  1901.) 


Bemerkung 

zu  der  Arbeit  von  Wiersma,  diese  Zeitschrift  26,  168fL 

Von 
Karl  Marbe. 

Gegenüber  den  Ausführungen  von  Wiersma  in  seiner  Arbeit 
„Untersuchungen  über  die  sogenannten  Aufmerksamkeitsschwan- 
kungen.  L^  gestatte  ich  mir  zu  bemerken,  dafs  das  Hauptproblem 
dieser  Untersuchungen,  die  Frage  der  Abhängigkeit  der  Schwan- 
kungen von  den  Reizimterschieden ,  von  mir  schon  vor  einer 
Reihe  von  Jahren  für  Gesichtsreize  untersucht  wurde,  \md  dafs 
ich  zu  imgefähr  denselben  Resultaten  gelangt  bin  wie  Wiersma. 
Ich  habe  die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  in  den  PhHo- 
soplmchen  Studien  8,  615  fE.  mitgetheilt 


Literatlirbericht. 


L.  W.  Stern.   Die  psychologische  Ärheit  des  19.  Jahrhanderts,  inshesondere  in 

Deatschland.     Zeitschr.  f.  pädag,  Psychol.  u.  Pathol.  2,  329—352,  413—436. 

Zugleich  separat  erschienen  als  Nr.  I/II  des:    Vortragscyklus  der  Psycho^ 

logischen  Gesellschaft  zu  Breslau  über  die  Entunckelung  der  Psychologie  etc, 

im  19.  Jahrhundert.    Berlin,  H.  Walther,  1900.    48  S.    (Selbstanzeige.) 

Als    standigem  Ref.    über    die  in  der  Zeitschrift  für  pädagogische 

Psychologie  erscheinenden  Abhandlungen  liegt  es  mir  diesmal  ob,  über 

eine  eigene  Arbeit  zu  berichten. 

Die  psychologische  Gesellschaft  zu  Breslau  hat  in  den  letzten  Wintern 
einen  Cyklus  von  Vorträgen  veranstaltet,  in  welchem  Jahrhundertrück- 
blicke über  die  Entwickelung  der  Psychologie  und  wichtiger  zu  ihr  in  Be- 
ziehung stehender  Gebiete  (Psychiatrie,  Gehirnphysiologie,  Sprachpsycho- 
logie, Religionspsychologie,  Kriminalanthropologie  u.  s.  w.)  gegeben  wurden. 
„Diese  Vorträge,  von  Fachleuten,  aber  nicht  für  Fachleute  gehalten,  sollen 
zur  Orientirung  des  wissenschaftlich  gebildeten  Publikums  dienen.''  Die 
Vorträge  erscheinen,  aufser  in  der  genannten  Zeitschrift,  auch  als  Einzel- 
broschüren und  werden  später  in  einem  Sammelband  vereinigt  ausgegeben 
werden. 

Die  beiden  Vorträge  über  die  psychologische  Arbeit  des  19.  Jahr- 
hunderts, welche  den  Cyklus  eröffneten,  habe  ich  in  der  vorliegenden 
Publication  zu  einer  knappen,  aber  wenigstens  alles  Wesentlichste  an- 
deutenden Übersicht  über  Entwickelungsgang  und  Charakter  der  modernen 
Psychologie  auszugestalten  versucht.  Hierbei  ist  allerdings  mit  Absicht 
die  Betrachtung  nur  auf  die  Psychologie  als  Specialwissenschaft  be- 
schränkt worden,  da  ihre  philosophische  Seite  in  einem  besonderen,  noch 
nicht  veröffentlichten  Vortrage  („Das  Problem  der  Seele  im  19.  Jahrhundert*') 
zur  Darstellung  kam. 

Der  Gang  der  Betrachtung  ist  der  folgende:    Aus  der  ersten  Hälfte 
des  Jahrhunderts  hat  die  Psychologie  als  Fachwissenschaft  nur  zwei  be- 
deutende Namen  aufzuweisen,  Hebbabt  und  Beneks,  deren  Lehren  kr 
skizzirt  werden.   Die  zweite  Jahrhunderthälfte  bringt  innerhalb  e^ 
zwölf ts  (1851—63)  die  völlige  Physiognomieveränderung  der 
Schaft  zu  Stande:   neue  Männer,  neue  Probleme,  neue  MeUv 
die  herrschende  Tendenz  in  dieser  Bewegung  ist  der  Zug 


202  Literaturhericht 

wissenschaftlichung^.  Dieser  Zug  gliedert  sich  sofort  in  drei  dentlich 
unterscheidbare  Bichtungen:  die  physiologische,  die  psychophysische  und 
die  eigentlich  psychologische.  An  der  Spitze  einer  jeden  steht  je  ein 
bahnbrechender  Forscher :  Helmholtz,  Fbchneb,  Wukdt  ;  ihr  Werk  und  ihre 
Lehre  füllt  die  zweite  Hälfte  des  ersten  Vortrags. 

Der  zweite  Vortrag,  der  die  psychologischen  Bestrebungen  and 
Leistungen  der  letzten  Jahrzehnte  zum  Gegenstand  hat,  verläfist  die  bis- 
herige Betrachtungsweise ;  nicht  mehr  nach  einzelnen  Psychologen,  sondern 
nach  psychologischen  Tendenzen,  Disciplinen,  Methoden  und  Anschauungen 
mufste  hier  der  Stoff  gegliedert  werden.  Mit  einem  lachenden  und  einem 
weinenden  Auge  wird  als  die  Eigenart  der  modernen  Psychologie  constatirt: 
multum  et  multa:  ungeheure  Betriebsamkeit,  schärfste  Analyse,  aber- 
wältigende  Materialfülle,  aber  auch  ungeheure  Buntscheckigkeit,  Klein- 
staaterei und  Zerfahrenheit,  Mangel  an  grofsen  Gesichtspunkten  und  an 
synthetischer  Kraft. 

Es  ziehen  zunächst  die  einzelnen  Unterdisciplinen  an  uns  vorfiber. 
die  physiologische,  die  genetische  (nebst  Kindespsychologie)  die  Gemein- 
'schafts-(Völker-  und  Social-jPsychologie,  die  der  individuellen  Differenxen, 
die  Psychopathologie.  Es  folgt  eine  Betrachtung  der  modernen  Behand- 
lungsweisen:  die  Ausdehnung  des  Experiments  auf  immer  centralere  Ge- 
biete der  Seele,  die  Selbstbeobachtung,  der  scholastische  Formalismns 
(Bbentano  nebst  Schule,  Rehmkb).  Die  Schlufsausführungen  gelten  den 
theoretischen  Grundanschauungen,  soweit  sie  heut  die  specialwissenschaft- 
liche Arbeit  beeinflussen.  Als  Hauptscheidungsmerkmal  wird  hier  die  An- 
nahme oder  Leugnung  eines  einheitlichen  Seelen-  oder  Subjectsprincipd 
eingeführt;  es  stehen  sich  die  „subjectlosen"  und  die  „Subject-Psychologen* 
gegenüber. 

Da  es  bisher  an  einem  historischen  Abrifs  über  die  Psychologie  des 
19.  Jahrhunderts  fehlte,  so  wird  die  kleine  Arbeit  vielleicht  nicht  ganz  un- 
nütz sein,  um  Studirenden  und  anderen  Interessenten  eine  orientirende 
Uebersicht  zu  gewähren.  L.  W.  Stebn  (Breslau). 

W.  B.  B.  GifisoN.    The  Principle  of  Least  Action  as  a  Psychological  Priaciple. 

Mind,  N.  S.  9  (36),  469-495.    1900. 

Das  Princip  der  kleinsten  Wirkung  (least  action,  cf.  Helmholtz),  ein 
Grundprincip  der  Mechanik,  wurde  bekanntlich  auch  auf  die  Psychologie 
ausgedehnt.  Mit  welchem  Becht,  das  will  der  Verf.  prüfen.  Die  mathe- 
matische Fassung  des  Gesetzes  ist  ebenso  verschieden  wie  sein  Name. 
Im  Allgemeinen  wird  damit  die  Thatsache  bezeichnet,  dals  ein  Körper, 
der  sich  von  einem  Punkt  zu  einem  anderen  bewegt,  auf  dem  Weg  sich 
bewegt,  welcher  die  geringste  Gesammtsumme  von  Wirkung  einschliefst, 
wobei  Wirkung  (action)  in  LBiBNiz'schem  Sinne  als  Product  von  Masse, 
Geschwindigkeit  und  Weg  verstanden  ist. 

Dieses  mechanische  Princip,  über  dessen  ganze  Tragweite  und  ent- 
sprechenden Bang  in  der  Beihe  der  Principien  die  Physiker  keineswegi 
eins  sind,  wurde  gelegentlich  mutatis  mutandis  auch  zu  einem  psycho- 
logischen Principe  erhoben  und  zwar  in  drei  Fassungen,  als  Princip  kleinst- 


Literaturbericht  203 

möglicher  Arbeit  (inertia),  als  Princip  abnehmender  Arbeit  (facilitation),  als 
Princip  gröfstmöglichen  Arbeitserfolges  (economy). 

In  der  ersten  Form,  als  priucipium  inertiae,  vertritt  es  Ferbkro  an- 
geregt durch  LoMBBOSo:  das  allgemeine  menschliche  Streben  geht  dahin, 
möglichst  wenig  geistige  wie  körperliche  Anstrengung  zu  leisten.  Abgesehen 
von  der  unhaltbaren  Voraussetzung,  dafs  das  Gehirn  in  absoluter  Unthätig- 
keit  ruhe,  wenn  äufsere  Reize  fehlen,  widerspricht  Febrebo's  Auffassung 
die  Thatsache  der  spontanen  Bewegungen.  Sie  mauste  sich  mindestens 
eine  ganz  erhebliche  Umformung  gefallen  lassen,  etwa:  geistiger  Fortschritt 
hängt  ab  von  dem  Ausschlufs  aller  derjenigen  Interessen,  welche  den 
Interessen  ferne  liegen,  die  dem  geistigen  Leben  Einheit  verleihen;  das 
menschliche  Streben  geht  also  dahin,  möglichst  wenig  zweck-  oder  werth- 
lose  Arbeit  zu  leisten.  —  Auch  in  der  zweiten  Fassung,  als  Princip  der 
Arbeitserleichterung,  kommt  ihm  nicht  dieselbe  Bedeutung  zu,  wie  seinem 
physikalischen  Vorbild  im  Gebiete  des  Mechanischen.  Die  Thatsache,  daHs 
durch  Ausscheidung  des  minder  Wichtigen  und  Herausarbeitung  des 
Wichtigen,  die  Denkprocesse  sich  verkürzen,  die  Denkarbeit  sich  ver- 
mindert, giebt  nach  Ansicht  des  Verf.  noch  kein  Recht  zu  der  Annahme, 
dafs  sämmtliche  geistigen  Processe  auf  eine  Verminderung  der  Denkarbeit 
hinzielen.  Nur  als  ein  werthvoUer  Gesichtspunkt  zur  Zusammenfassung 
bestimmter,  empirisch  gefundener  Thatsachen  —  Verf.  verweist  auf  die 
Veränderungen  der  Sprachen  hin  —  kann  es  dienen.  Endlich  auch  in  der 
dritten  Fassung,  als  Princip  der  Oekonomie,  in  welcher  es  Mach  und 
AvENARius  zum  Grundprincip  alles  wissenschaftlichen  Denkens  erhoben 
und  H.  CouNELius  wie  James  es  aufgenommen  haben,  spricht  ihm  Gebson 
nur  untergeordnete  Bedeutung  zu.  So  sieht  der  sehr  kritische  Verf.  in 
diesem  Princip  nur  ein  Princip  zweiten  Ranges,  ein  Ergebnifs,  das  uns 
lebhaft  erinnert  an  die  Streitfragen,  wie  etwa,  ob  Herr  X.  hochwohlgeboren 
ist  oder  nur  wohlgeboren.  Ofpnbb  (München). 

F.  v.  LuscHAü.     Ueber  kindlicbe  Yorstellnngen  bei  den  sogen.  Naturvölkern. 

Zcitschr.  f.  pädag.  Psychol.  i«.  Pathol.  3  (2),  89—96.  1901. 
Der  im  V^erein  für  Kinderpsychologie  gehaltene  Vortrag  ist  vor  Allem 
eine  Kritik  der  Kritiklosigkeit,  mit  der  häufig  „Psychologie  der  Natur- 
völker"* getrieben  wird.  So  ist  auch  die  Behauptung,  dafs  der  psychische 
Habitus  der  Naturmenschen  dem  des  Kindes  gleiche,  in  vielen  Fällen  nur 
Folge  falscher  Beobachtung,  verfehlter  Ausfragung  und  ungerechtfertigter 
Deutung.  L.  illustriert  dies  an  zwei  Eigenschaften,  die  man  den  Natur- 
völkern zugeschrieben  hat:  der  Schwäche  im  abstracten  Denken  und  der 
Unfähigkeit  zu  zählen.  W  Stern  (Breslau) 

A.  Moll.    Ueber  eine  wenig  beachtete  Gefahr  der  Prügelstrafe  bei  Kindern. 

Zcitschr.  f.  pädag.  Psychol.  n.  Pathol  3  (3),  215—219.  19()1. 
M.  führt  in  die  Discussion  über  die  Prügelstrafe  den  sehr  bemerkens- 
werthen  Gesichtspunkt  ihrer  sexuellen  Gefahr  ein.  Diese  Gefahr  ist  eine 
dreifache.  1.  Es  sind  Fälle  beobachtet  worden,  in  denen  Lehrer  und 
Lehrerinnen  in  der  Prügelstrafe  ein  Mittel  sehen,  sich  sinnliche  Erregung 
zu  verschaffen.    2.  Bei  dem  geschlagenen  Schüler  können  Schläge  (nament- 


'204  Literaturbericht. 

lieh  solche  auf  das  Sitzfleisch)  sexuelle  Empfindungen  erwecken  und  da- 
durch das  Geschlechtsleben  vorzeitig  wecken.  3.  Bei  den  zuschauenden 
Schülern  kann  der  Anblick  des  Schiagens  erregend  wirken. 

W.  Stebn  (Breslau). 

Th.  Flocbmoy.   Obserratlons  psycbologiqnes  snr  le  spiritlsme.  Comptes-Bendu» 

du  TVe  Congres  intemat  de  Psychol,  22  acut  1900.  Paris,  ^Ican.  11  8. 
Der  letzte  Psychologencongrefs  brachte  auf  dem  Grebiete  des  Spiritis- 
mus und  Occultismus  viele  kritiklose,  anekdotenhafte  Mittheilungen.  Aber 
zuweilen  verrieth  sich  doch  das  Bedürfnifs  nach  einem  streng  wissen- 
schaftlichen Prüfen  und  Begreifen,  wozu  noch  in  letzter  Stunde  O.  Voot, 
und  vor  ihm,  in  mehr  allgemeiner  Weise,  Floubnoy  fruchtbare  Vorschlage 
machten.  —  Mit  gutem  Humor  schilderte  dieser  die  Verlegenheit,  die  vielen 
Gelehrten  durch  die  „angeblich  supranormalen"  d.  h.  spiritistischen 
Phänomene  bereitet  wird.  Gerade  die  „officiellen"  Vertreter  der  Psychologie 
müfsten  ihre  Abneigung  dagegen  überwinden  und  die  behaupteten  Er- 
scheinungen selbst  prüfen ;  das  sei  ihre  wissenschaftliche  wie  pädagogische 
Pflicht,  zuletzt  auch  die  beste  Politik  gegenüber  den  Angriffen  der  Gläubigen. 
Der  Genfer  Psychologe  hat  mehrere  Jahre  hindurch  in  Spiritistenkreisen 
eigene  Anschauungen  und  Mittheilungen  aus  erster  Hand  gesammelt.  Noch 
ist  er  keiner  einzigen  Thatsache  begegnet,  die  „zu  Gunsten  des  Supra- 
normalen"  spreche.  Sein  Mifstrauen  in  Sachen  des  Spiritismus  wuchs  mit 
der  ErkenntniTs,  wie  zahlreich  und  mächtig  die  Quellen  der  Selbsttäuschung 
auch  für  die  ehrlichen  Medien  fliefsen,  wi^  wenig  der  einmal  überzeugte 
Spiritist  zu  nüchterner  Selbstkritik  fähig  und  geneigt  zu  sein  pflegt.  Den 
Hauptantheil  an  den  Offenbarungen  und  den  zu  Grunde  liegenden  Erleb- 
nissen der  Medien  haben  unbewufste  Factoren  des  Seelenlebens.  Aus  un- 
bemerkten Perceptionen  und  latenten,  d.  h.  für  gewöhnlich  nicht  heraus- 
analysirten  Erinnerungsbildern  flechten  sich  die  Gewebe  der  unterbewufsten 
Phantasie  (Imagination  subliminale).  Und  was  so  dem  regellosen  Spiele 
der  eigenen  Vorstellungen  unbewufst  entstammt,  erscheint  dem  Medium 
selbst,  ähnlich  wie  dem  Träumenden,  dem  Hypnotisirten,  dem  Hailuciniren- 
den,  als  Mittheilung  einer  fremden,  objectiv  gegenwärtigen  Person.  Aus 
seinem,  anderweitig  ausführlicher  mitgetheilten,  Material  hebt  Floürnoy 
hier  den  Fall  einer  träumerisch  veranlagten  Dame  hervor,  die  nach  einander 
mit  den  Bewohnern  dreier  Planeten  in  Verbindung  zu  stehen  angab. 
Cagliostro's  Geist  vermittelte  ihr  Sprache  und  Schrift  jener  Planetenbe- 
wohner. Zuerst  liefs  sich  die  Bevölkerung  des  Mars  durch  Mund  und 
Hand  des  Mediums  vernehmen.  Auf  die  Aehnlichkeit  der  Schriftzeichen, 
der  Laute  und  ihrer  Bedeutung  mit  dem  Französischen  aufmerksam  ge- 
macht, producirte  Frl.  S.  eine  Reihe  von  fremdartigen,  unter  sich  ähn- 
lichen, kindlichen  Diagrammen  für  einzelne  concrete  Begriffe,  die  der 
unentwickelten  Cultur  eines  der  kleinen  Planeten  zwischen  Jupiter  und 
Mars  entstammen  sollten;  diese  Begriffe  erinnern  an  die  Vorstellungswelt 
der  Abenteuerromane.  Schliefslich  erschienen  drei  grofse  Buchstaben  und 
ein  geschriebener  und  gesprochener,  aber  nicht  übersetzter  Satz  vom 
Uranus,  dessen  Idiom  dem  französischen  weit  überlegen  sei.  Der  ge- 
sprochene Satz  enthielt  12  Silben,  deren  jede  aus  einem  Consonanten  und 


Literaturbericht  205 

«inem  Vocale  oder  nar  aaB  einem  Vocal   bestand.^    Floübnoy  betont  das 
Kindische  aller  dieser  Offenbarungen   und  den  naiv-feierlichen  Ernst,  mit 
dem  sie  ohne  jede  Kritik  vorgetragen  werden.    Es  sei  wie  ein  vorüber- 
gehendes Wiederaufleben  des  kindlichen  Zustandes.    Die  Frage  der  Gut- 
gläubigkeit  habe  hier  so  wenig  Sinn  wie  bei   einem   Jungen,  der,  den 
hölzernen   Säbel   in   der   Hand,   einen   General    vorstellt,    oder   bei   dem 
Mädchen,  das  seine  Puppe  reden  lä&t;  „sie  betrügen  nicht  und  wollen 
nicht    betrügen;    sie    spielen    einfach."    —    Für   die   nähere,    womöglich 
experimentelle    Erforschung    der    mediumistischen   Vorgänge    verspricht 
Floubnoy  sich  viel   von   dem   systematischen   Zusammenarbeiten   des   in 
Paris  neu  gegründeten  Institut  psychique.    Zwei  alte  und  gute  methodische 
Grundsätze  empfiehlt  er  ihm  zur  Beachtung:   1.  dafs  nichts  a  priori  für 
unmöglich  zu  halten  ist ;  2.  dafs  das  Ungewöhnlichste,  das  unserem  gegen- 
wärtigen Wissen  am  meisten  Widerstreitende  auch  am  vorsichtigsten  ge- 
prüft werden  mufs.    Floübnoy  zweifelt  nicht,  dafs  alle  spiritistischen  Er- 
scheinungen bei  strenger  Analyse  ihrer  Elemente  und  Bedingungen  einer 
psychologischen  Erklärung  nach  bekannten  Erfahrungen  und  Gresetzen 
zugänglich  seien.  —  Was  er  selbst,  im  Hinblick  auf  jene  verhältnifsmäfsig 
einfachen  Fälle,  an  Erklärungsgründen  vorbringt,  ist  gewifs  geeignet,  das 
Dunkel  vielfach  zu  erhellen.    Natürlich  reicht  es  nicht  für  alle  Fälle  aus; 
z.   B.    nicht   für   die    erstaunlichen   Leistungen    der    „Hellseherin*'   Mrs. 
Thompson,  von  denen  Myebs  und  van  Eeden  in  Paris  erzählten.    Schliefslich 
müssen  auf  diesem  Felde  die  Erfahrungen  der  Physiologen,  der  Psychologen 
und  ganz  besonders  der  Psychopathologen  mit  dem  guten  Willen  intelligenter 
Medien  kritisch  zusammenwirken.  Krueoeb  (Kiel). 


G.  VON  Bunge.    Lehrbach  der  Physiologie  des  Menschen.    Erster  Band :  Sinne, 
lerven,  Mnskeln,  Fortpflanxnng  in  achtnndzwanxig  Vorträgen.    Mit  67  Ab- 
bildungen im  Text  und  2  Tafeln.    381  S.    Leipzig,  F.  C.  W.  Vogel,  1901. 
Mk.  10.—. 
Vorliegendes  Lehrbuch  der  Physiologie  ist,  wie  der  Herausgeber  in 
dem  Vorwort  bemerkt,  dadurch  entstanden,  daüs  er  sich  durch  den  Wunsch 
seiner   Schüler   zur  Veröffentlichung   seiner  Vorlesungen   veranlalst  sah, 
wenngleich  er  sich  dabei  nicht  verhehlen  konnte,  dafs  es  heutzutage  un- 
möglich sei,  das  ganze  weite  Gebiet  des  vorliegenden  Faches  zu  beherrschen. 
Dafs  er  mit  Bücksicht  darauf  die  von  ihm  benutzten  einschlägigen  Quellen 
aberall  citirt,  ist  dankbar  zu  begrüfsen. 

Der  bisher  erschienene  erste  Band  erörtert  die  Physiologie  der  Sinnes- 
organe, des  Nervensystems,  der  Muskeln  und  der  Fortpflanzung.  Die  hier 
gewählte  Form  der  Darstellung  kommt  dem  Buche  sehr  zu  gute,  was  bei 
einem  Manne,  der  das  Wort  mündlich  und  schriftlich  so  beherrscht  wie 
Verf.,  kaum  noch  besonders  hervorgehoben  zu  werden  verdient. 

Was  besonders  betont  werden  mufs,  das  ist  der  Umstand,  dafs  Verf. 


^  Unter  den  Consonanten  waren  7  t  und  ein  d;  von  den,  durchweg 
mit  einander  verbundenen,  Schriftzeichen  dieses  Satzes  ähneln  die  meisten 
dem  lateinischen  t. 


206  Literatwrbericht 

Auf  die  aus  den  Lehren  der  Physiologie  für  die  Praxis  sich  ergebenden 
Folgerungen  überall  hinweist,  und  dafs  er  so  vielfach  die  thatsftchliche  Be- 
deutung der  Physiologie  vor  Augen  führt.  Das  tritt  insbesondere  in  der 
18.  und  19.  Vorlesung  zu  Tage,  wo  er  den  Schlaf  und  den  Hypnotigniiu 
bespricht,  und  in  der  letzten,  die  Vererbung  behandelnden  Yorlesong,  in 
der  er  zu  einer  Vermeidung  der  Ehe  zwischen  Blutsverwandten  in  «Ben 
Fällen  räth,  weil  kein  Mensch  ganz  gesund  sei,  und  weil  eine  geringe 
krankhafte  Beanlagung  beider  Eltern  sich  bei  der  Nachkommenschaft 
summire  und  potenzire,  und  weil  wir  über  den  Stammbaum  und  die  Ge- 
brechen aller  Vorfahren  niemals  genau  orientirt  seien. 

Ebenso  folgt  Verf.  dem  Zuge  der  Zeit,  wenn  er  auch  die  Geschichte 
der  Medicin  berücksichtigt,  und  dafs  er  Gall's  nicht  zu  bestreitenden  Ver- 
diensten gerecht  wird,  soll  nicht  verschwiegen  werden.  Nachdrücklich  hebt 
er  hervor,  dafs  Gmia^  schon  1825  vor  Dax  und  vor  Bboca  das  Sprich- 
vermögen  mit  den  untersten  Windungen  des  Stimlappens  in  Zusammen- 
hang brachte.  Uebrigens  hält  Verf.  es  für  möglich,  dafs  die  Angaben 
Gall's  über  die  Beziehungen  des  Kleinhirns  zur  Geschlechtstunction  xu- 
treffen. 

Natürlich  bespricht  Verf.  auch  actuelle  Fragen ;  so  hält  er  —  nm  nor 
dies  zu  erwähnen ;  denn  ein  genaueres  Eingehen  auf  den  Inhalt  des  Bachei 
verbietet  sich  schon  von  selbst  —  die  Angaben  von  Fi«schsig  über  die 
Function  der  Grofshimrinde  trotz  der  stichhaltigen  Einwendungen  tob 
Dj&jerine,  Monakow,  Sachs,  Vogt  und  Sibmerlino,  der  hierbei  ebenfalls  hätte 
erwähnt  werden  dürfen,  nicht  für  widerlegt.  Das  Gleiche  gilt  auch  von 
der  Neurontheorie.  Im  Gegensatz  zu  deren  Gegnern  hält  er  es  nicht  fflr 
ausgeschlossen,  dafs  die  Vorgänge,  welche  das  Wesen  der  Nervenfonction 
ausmachen,  nicht  in  den  Fibrillen,  sondern  in  dem  diese  umgebenden 
Protoplasma,  in  der  Ferifibrillärsubstanz,  sich  abspielen;  ja,  er  hält  dies 
mit  Bücksicht  auf  deren  Aggregatzustand  für  wahrscheinlicher.  Einen 
triftigen  Einwand  gegen  diese  Annahme  kann  er  darin  nicht  erblicken, 
dafs  an  den  RANviER'schen  Einschnürungen  nur  die  FibriUen  keine  Unter- 
brechung erleiden,  da  wir  über  die  Art  und  Fortpflanzung  der  Bewegungs- 
vorgänge  bei  der  Nervenleitung  noch  nichts  wissen  und  da  es  nicht  fest- 
gestellt sei,  wie  weit  es  sich  bei  den  BAi7viER*schen  Einschnürungen  am 
Kunstproducte  handele.  Freilich  spricht  Verf.  später  von  einer  in  den 
einzelnen  Fibrillen  ablaufenden  Erregung. 

Schliefslich  schneidet  Verf.  auch  neue  oder  bisher  nur  wenig  discatirte 
Fragen  an,  z.  B.  die,  ob  in  der  Retina  bereits  Licht-  und  Farbenempfindnngen 
uns  zum  Bewufstsein  kommen  können,  was  mit  Rücksicht  darauf  nicht 
unmöglich  wäre,  dafs  die  Retina  entwickelungsgeschichtlich  nur  ein  Theil 
des  primären  Vorderhirns  ist. 

üeber  den  zweiten  Band  des  Lehrbuchs  soll  demnächst,  wenn  er  er- 
schienen ist,  an  dieser  Stelle  kurz  berichtet  werden. 

Ernst  Schultze  (Andernach). 


Literaturbericht.  207 

Gustav  Fritsch.   Yer gleichende  Untersncbimgeii  menschlicher  Angen.    Sitzung»" 

berichU  d,  Akademie  d.  Wissensch.  zu  Berlin  1900,  63&— 663. 

—    Rassennnterschiede  der  menschlichen  Netshant.    Ebenda  1901,  614—631. 

Die  hervorragenden  Leistungen,  deren  die  Augen  der  Naturvölker 
nach  den  Berichten  der  Beisenden  fähig  sind,  haben  in  neuester  Zeit  zwar 
etwas  an  Erstaunlichkeit  eingebüfst,  indem  man  die  Leistungsfähigkeit  zum 
guten  Theile  auf  Gewöhnung  und  Schulung  der  Aufmerksamkeit  zurück- 
führen konnte,  thatsächlich  wurde  jedoch  auch  häufig  eine  über  die  Norm 
hinausgehende  Sehschärfe  von  zuverlässigen  Untersuchem  zahlenmäfisig 
festgestellt,  so  dafs  die  von  F.  in  Angriff  genommene  Frage,  ob  die  materielle 
Basis  hierzu  in  dem  besonderen  Baue  der  Netzhaut,  speciell  der  Stelle  des 
schärfsten  Sehens,  der  Fovea  centralis  gelegen  ist,  nicht  nur  auf  das 
Literesse  der  Anthropologen,  sondern  auch  der  Physiologen  und  Augenärzte 
in  hohem  Maafse  Anspruch  hat.  Wer  die  Schwierigkeit  in  der  Beschaffung 
frischer  menschlicher  Augen  nur  in  Europa  aus  eigener  Erfahrung  kennt, 
wird  begreiflich  finden,  dafs  Verf.  in  den  beiden  vorliegenden  Abhandlungen 
die  Frage  noch  nicht  zur  Entscheidung  bringen  konnte.  Er  erörtert  zunächst 
die  technische  Behandlung  der  Augäpfel,  welche  behufs  Erzielung  guter 
vollständiger  Bilder  von  der  Fovea  centralis  zu  den  schwierigsten  Gebieten 
der  mikroskopischen  Technik  und  gehört  durch  Kunstproducte  leicht  zu 
falschen  Anschauungen  über  den  anatomischen  Aufbau  führen  kann.  F.  hat, 
von  einigen  Beobachtungen  Koster's  abgesehen,  zum  ersten  Male  in 
systematischer  Weise  das  Verhalten  der  Stäbchen-Zapfenschicht  der  mensch- 
lichen Netzhaut  an  Flachschnitten,  nicht  den  üblichen  dem  Längsdurch- 
messer parallel  geführten  Schnitten  studirt.  Das  hierbei  deutlich  hervor- 
tretende Mosaikbild  der  quergetroffenen  Stäbchen  und  Zapfen  gestattet 
Zählungen  und  ein  Urtheil  über  die  Vertheilung  der  einzelnen  Sehelemente, 
dessen  Einzelheiten  einer  späteren  Arbeit  vorbehalten  werden.  In  den  vor- 
liegenden werden  auf  Grund  der  Untersuchung  von  60  „Kassenaugen" 
(afrikanische  und  europäische,  wie  viel  von  jeder  einzelnen  Basse  vor- 
lagen, wird  leider  nicht  mitgetheilt)  vier  schon  bei  Lupenvergröfserung 
erkennbare  Typen  der  Fovea,  von  welchen  auch  Uebergangsformen  vor- 
kommen, aufgestellt:  1.  Die  fein  und  scharf  umrandete  Fovea  mit  ebenem 
Grunde  (Berberiner).  2.  Die  fiache,  seitlich  verstreichende,  glatte  Fovea 
(Sudanesen).  3.  Die  ebene  Fovea  mit  strahliger  Umwallung  (Aegypter,  d.  h. 
ägyptisch-arabische  Mischrasse}.  4.  Die  unregelmäfsige,  häufig  stark  um- 
wallte Fovea  (europäische  Rassen).  Gerade  bei  den  letzteren  ist  durch 
Rassenvermischung  der  Typus  mehr  und  mehr  verwischt  worden,  so  dafs 
Verf.  die  Noth wendigkeit  betont,  auch  Lebensweise  und  Beschäftigung 
„womöglich  sogar  der  Eltern"  zu  berücksichtigen.  Nach  Ansicht  des  Ref. 
wäre  dann  auch  die  freilich  meist  sehr  erschwerte  Berücksichtigung  der 
Refraction  und  Sehschärfe  des  anatomisch  untersuchten  Auges  wünschens- 
werth. 

Der  Grundtypus  der  genannten  Varietäten  ist  nach  F.  bei  den  Affen 
und  zwar  nicht  bei  den  höheren,  sondern  bei  den  niederen  Formen  ».  ^ 
den  Meerkatzen  zu   finden.     Bei   ihnen  ist  die  relativ  fgtotß^ 
abgerundete  Fovea  mit  glatten  Rändern  ausgestattet,  im 
die  regelmäfsig  gebildete  Foveola  sichtbar.    Auch  die  Ztt 


208  Literaturberichi. 

keit  der  einzelnen  Elemente  l&fst  F.  vermuthen,  dafs  die  Angen  dieeer 
Thiere  die  menschlichen  an  Sehschärfe  übertreffen,  während  die  Angen 
der  Anthropoiden  dem  Menschen  ähnlicher,  in  diesem  Sinne  bereits  re- 
gressiv metamorphosirt  sind.  Abslsdobff  (Berlin). 


A.  M.  Pastorb.   Sülle  oscillazioni  delle  sensaiioni  tattiU  prodotte  con  itiaelo 
meccanico,  e  inlle  oscillaxioni  nella  percexione  della  flgora  diSchroeder. 

QiofTMle  della  reale  accademia  dt  medicina  di  Torino  68,  Volnme  VI,  fasc.  6. 

1900. 
F.  KiBsow.  Gontribnto  alla  psico-flsiologia  del  lenso  tattile.  Ebenda  fasc.  9—12. 
Aknibale  M.  Pastobe  e  Luioi  Agliabdi.   Sülle  oscillaiioni  delle  aeiaaxloiii  di 

deformasione  cutanea.    AtH  della  r.  accademia  deUe  Scienze  di  Torino.  YoL 
36.    10.  März  1901. 

Die  Arbeiten  sind  der  Anregung  Kiesow's  zu  verdanken.  Als  Apparat 
wurde  eine  Präcisionswage  benutzt;  der  längere  Arm  lief  in  eine  Karte 
von  3,5  mm  Durchmesser  aus ;  ein  am  gleichen  Arm  angebrachtes  Grewicht 
bestimmte  die  Intensität  des  Beizes.  Die  Karte  berührte  die  Haut  ober- 
flächlich vor  Beginn  des  Versuches.  Pastobe  fand  bei  seinen  Experimenten, 
die  er  auf  der  Beugefläche  des  rechten  Vorderarmes  und  auf  der  Pulpa 
des  Mittelfingers  machte,  dafs  die  Tastempfindungen,  hervorgerufen  durch 
mechanischen  Beiz,  deutlich  schwanken,  und  zwar  nicht  in  der  Nähe  der 
BeizschweUe,  sondern  oberhalb  derselben ;  ferner  daüs  diese  Schwankungen 
nicht  periodisch  sind. 

KiBSOw  stellte  mit  Hülfe  von  Haarreizen  nach  Frey  die  Zahl  der,  den 
MEissNEB'schen  Tastkörperchen  entsprechenden,  Tastpunkte  für  verschiedene 
Körperregionen  überaus  sorgfältig  fest.  Am  inneren  Bande  des  linken 
Vorderarms  fanden  sich  in  der  Nähe  des  Handgelenks  auf  1  Quadratcenti- 
meter  28,53  Tastpunkte,  in  der  Mitte  16,  im  oberen  Theile  9,33,  an  der 
inneren  Seite  des  Ellbogengelenks  12,16,  in  der  Mitte  des  Oberarms  9;  die 
Bückseite  des  linken  Vorderarms  zeigte  28,  der  Processus  styloides  der 
linken  Ulna  20,5,  die  Bückseite  des  Daumens  25,75,  in  der  Mitte  der  Knie- 
scheibe 8,  der  Oberschenkel  unmittelbar  oberhalb  der  Kniescheibe  innen 
13,5,  aufsen  15,3  Tastpunkte  auf  den  Quadratcentimeter.  Die  Zahlen  stellen 
den  Durchschnitt  eines  4  Quadratcentimeter  umfassenden  Baumes  dar. 

In  einer  weiteren  Beihe  von  Experimenten,  deren  Besultate  aber  nur 
vorläufige  sind,  suchte  Kiesow  die  Empfindlichkeit  der  Tastpunkte  festza* 
stellen.  Die  mittlere  Empfindlichkeit  war  1 — 2  Grammmillimeter.  Fast 
10  mal  so  empfindlich  war  Zunge  und  Unterlippe. 

Die  Verff.  der  3.  Arbeit  bedienten  sich  des  oben  erwähnten  Apparates. 
Das  Signal  der  wahrgenommenen  Empfindung  bestand  theils  in  der  Auf- 
zeichnung auf  einem  Kymographion  mit  Hülfe  eines  Tasters,  theils  in  dem 
Aussprechen  bestimmter  vorher  verabredeter  einsilbiger  Worte.  Es  konnte 
mit  Sicherheit  festgestellt  werden,  dafs  bei  gleichbleibendem  Beiz  und 
gleichbleibender  Beizstelle  die  Schwankungen  in  verschiedener  Weise  auf- 
traten. In  der  1.  Minute  traten  die  meisten  Schwankungen  auf  und  zwar 
solche  der  Deutlichkeit;  in  der  2.  häuften  sich  die  fehlenden  Eindrücke. 


Literaturheri^t  209 

Auch  bei  Iftngerer  Ansdehnung  fehlten  die  SchwAnknngen  nicht;  bei  G^- 
irichten  jenseits  der  Beisschwelle  nahmen  sie  ab  und  bestanden  bei  6  gr 
-Gewichten  nnr  noch  in  seltenen  Yerändemngen  der  Deutlichkeit.  Die 
Verff .  echlieHsen  nach  eingehender  Besprechung  det  einschlftgigen  Literatur : 
Auch  die  Empfindung  der  Hautverschiebung  (durch  Druck)  seigt^  innerhalb 
^r  Grenzen  einer  gewissen  Intensit&t,  Schwankungen  von  unregelmftfsigem 
Verlauf  und  sehr  verschiedener  Dauer.  Die  Sinnesorgane  spielen  eine  Rolle 
beim  Zustandekommen  dieser  Erscheinung,  aber  nicht  die  einsige  und  nicht 
die  ausschlaggebende.  Sie  mufs  auf  andere,  centrale  Ursachen,  die  nicht 
festzustellen  sind,  zurückgeführt  werden.  Die  Selbstbeobachtung  Iftfst  die 
complicirte  Zusammensetzung  der  studirten  Erscheinung  erkennen;  von 
dieser  rührt  wahrscheinlich  auch  die  Unregelmftfisigkeit  her.  Die  festge- 
steUte  Verschiedenheit  der  einzelnen  Empfindungsschwankungen  macht 
eine  genaue  Feststellung  der  Schwankungen  selbst  unmöglich. 

ASCHAFFENBVRG  (Halle). 

H.  R.  BiABSHALL.    Oonsclevs&en,  Self-Oonseioasiisss  and  ^e  Seif.    Müid,  N.  8. 

10  (37),  98—113.    1901. 
Verf.   geht   aus   vom   psychophysischen   Parallelismus   und  von   der 
Thatsache,  dafs  das  Gehirn  nicht  sowohl  eine  Summe  von  selbständigen 
Einzelelementen  ist,  sondern  vielmehr  ein  nervöses  System,  in  welchem 
die  einzelnen  Elemente  als  unterscheidbare,  aber  nicht  trennbare  Bestand- 
theile  mit  einander  und  auf  einander  wirkend  vereinigt  sind.    Nun  ist  aber 
das  Bewufstsein  eine  Erscheinung,  welche  Vorgängen  in  diesem  System 
parallel    geht.     Also    müssen    wir    es    gleicherweise    nicht   als    Summen 
psychischer  Atome  ansprechen,  sondern  als  ein  System,  ein  Ganzes,  be- 
stehend aus  unterscheidbaren,  aber  nicht  trennbaren  Bestandtheilen,   die 
unter  geeigneten  Umständen  die  Centren  neu  auftretender  Bestimmtheiten 
des  Bewufstseins  werden  können.    Bedeutungsvoll  ist  diese  Auffassung  für 
das  Verständnifs  dessen,   was  wir  Selbstbewufstsein  heifsen.     In  diesem 
Zustand  der  Selbstbeobachtung,  der  Reflexion,  erscheint  das  Bewnüstsein 
halbirt    Es  tritt  uns,  den  Wissenden,  gegenüber  als  eine  Vorstellung,  ein 
Inhalt,  und  zwar  als  ein  Zuwachs  zum  Ich  (increment),  eine  Unterscheidung, 
welche  bei  den  meisten  anderen  Bewufstseinsvorgängen  unterbleibt.    Das 
Ich,  Selbst,  ist  Bestandtheil  des  Bewufstseins  und  doch  nicht  vorstellbar 
(vgl.  WüNDT :  Ich  —  keine  Vorstellung  sondern  ein  Gefühl,  und  ähnlich  Lipps 
in  seiner  scharfsinnigen  Untersuchung:  „Das  Selbstbewufstsein;  Empfindung 
und  Gefühl**).    Diesem  reinen,  absoluten  Ich  wächst  im  Fall  der  Reflexion 
zu,  tritt  entgegen  eine  Vorstellung,  die  selbst  wieder  aus  zwei  Elementen  be- 
steht,  aus  der  Vorstellung  des  empirischen  Ich,  dem  das  empirische  loh 
ausmachenden,  begründenden  Inhalt,  worüber  uns  freilich  die  Untersuchung 
nicht  hinreichend   aufklärt,   und   dem  Zuwachs  (incremen tum),   die  Vor- 
stellung,   welche   dieses    empirische    Ich    hat,   den    es   ausfüUenden,   be- 
schäftigenden Inhalt.    Solch  ein  Zuwachs  zum  empirischen  Ich  wäre  z.  B. 
ein  Lichteindruck,  also  eine  bestimmte  Vorstellung.    Dem  entspräche  im 
nervösen  System  ein  Vorgang  in  einem  Theile  des  Systems,  im  optischen 
Centram.     Diejenigen  Vorgänge  aber  im  nervösen  System,   welche  nicht 
ZeiUchiift  (Or  Psychologie  27.  14 


210  Literaturbericht. 

als  momentane  Reiznngsvorgänge  in  bestimmten  Gentren  sich  erweiaen, 
entsprechen  dem,  was  wir  Ich,  Selbst  nennen,  das  nicht  als  Vorstellnngs- 
Inhalt  gegeben  ist.  Seine  Eigenart  ist  bedingt^  begründet  durch  die  Nach- 
wirkung früherer  Erlebnisse,  solcher  der  Vorfahren  wie  eigener,  und  durch 
eine  von  Individuum  zu  Individuum  wechsehide  besondere  Wirksamkeit 
der  Centren  in  dieser  oder  jener  Richtung.  Dieses  Ich  tritt  in  die  Er- 
scheinung als  eine  Summe  von  instinctiven  Gefühlen  und  gewinnt  so  auf 
unser  concretes  Denken,  Urtheilen  und  Handehi  groüsen  Einflufa,  oft  im 
Widerspruch  mit  den  im  Moment  gegebenen  Bewufstseinsinhalten. 

Offneb  (München). 

B.  Eisler.    Das  Bewufstsein  der  Anfsenwelt.    Gmndlegniig  xn  einer  ErkeBmtnirs- 

theorie.  Leipzig,  Dürr,  1901.  106  S. 
Der  Verf.  untersucht  zunächst  das  Verhältnifs  von  Empfindung  und 
Wahrnehmung  (deren  Plus  er  in  assimilirten  Elementen  früherer  Wahr- 
nehmungen erblickt),  dann  den  Gegenstand  der  Wahrnehmung,  die  Kategorie 
der  Dingheit  (Dingheit  ist  ein  Refiex  der  Ichheit,  also  Introjections- 
Leistung)  und  die  KAxx'schen  Kategorien,  endlich  den  naiven  und  kriti- 
schen Realismus  und  die  Beziehung  von  Bewufstsein  und  Sein  („Sein'' 
heifst  in  letzter  Linie:  sich  wie  ein  Ich  verhalten).  Als  ErgebnillB  seines 
wissenschaftlichen  Nachdenkens  bezeichnet  der  Verf.  einen  kritischen 
Realismus  und  Positivismus.  —  Die  dem  Haupttexte  beigefügten  An- 
merkungen sind  Zeugnisse  eines  seltenen  Fleilses  und  verleihen  dem  Büch- 
lein einen  speciellen  Gebrauchswerth  als  Orientirungsbehelf.  In  der 
Problemstellung  und  Lösung  selbst  scheint  dem  Ref.  die  Arbeit  einen 
eigentlichen  Fortschritt  nicht  zu  begründen.  Kreibiq  (Wien). 

A.  Baoinsky.     üeber  Suggestion  bei  Kindern.     Zätschr.  f,  päda^,  Fsydiol  u. 

Pathol.  3  (2),  97—103.    1901. 
Der   im  Verein  für  Kinderpsychologie   gehaltene  Vortrag   beschreibt 
eine  Reihe  von  klinischen  Beobachtungen,   in  welchen  Kinder  von  zimi 
Theil  recht  schweren  pathologischen  Zuständen  auf  rein  suggestivem  Wege 
geheilt  wurden.  W.  Stern  (Breslau). 


C.  Stumpf.    Tonsystem  und  Musik  der  Siamesen.    Mit  einer  Beilage:  Partitir 
und  Melodie  eines  siamesischen  Orchesterstücks.    Beiträge  zur  Akustik  und 

Musikunssemchaft  (3),  69—138.  1901. 
A.  J.  Ellis  hatte  im  Jahre  1885  beiläufig  mitgetheilt,  dafs  der 
siamesischen  Musik  eine  Leiter  von  7  gleich  grofsen  Stufen  zu  Grunde 
liege.  Die  principielle  Wichtigkeit  dieser  Angabe  veranlaÜBte  Stumpf  zu 
einer  Nachprüfung,  wozu  die  Anwesenheit  eines  guten  siamesischen 
Orchesters  in  Berlin  Gelegenheit  bot.  Seine  umfassenden  Untersuchungen 
beschränkten  sich  nicht  auf  die  (bestätigende)  Feststellung  jener  7  stufigen 
Tonleiter;  sie  erstreckten  sich  auf  alle  Instrumente  der  Truppe,  auf  das 
musikalische  Gehör  der  Künstler,  auf  die  producirten  Musikstücke;  sie 
führten  zu  einer  Analyse  und  psychologischen  Interpretation  der  siamesischen 
Musik  überhaupt.  —  Die  regelmäfsig  und  zugleich  benutzten  Instrumente 


Literaturbericht  21 1 

waren  2  Harmonikas  verschiedener  Höhe  aus  Bambusholzstäben  (Banat), 
2  ebensolche  ans  Metallglocken  (Kong)  nnd  2  Labialflöten;  dasn  kamen 
2  Pauken  nnd  mehrere  Becken.  Der  Umfang  dieser  Instrumente  reichte 
von  Ab  106  bis  e$*  1520.  Die  ein  für  alle  Mal  festliegenden  Töne  der 
Banats  nnd  Kongs  wurden  ihrer  Höhe  nach  sämmtlich  genau  bestimmt: 
durch  alle  Tonlagen  hindurch  wiederholte  sich  eine  temperirte  Octaven- 
l^^r  von  7  geometrisch  gleich  grofsen  Stufen;  dabei  war  die  Abstimmung 
so  fiin,  dafs  die  unmittelbare  Tonvergleichung  Abweichungen  von  der 
Gleichotafigkeit  nur  bis  zu  B  Schwingungen  ergab.  Selbst  die  Schlag- 
instrumente waren  nach  diesem  Principe  gestimmt.  Das  Schwingungsver- 
hältnifs  zweier  benachbarter  Töne  ist  also  bei  den  Siamesen  überall  gleich 
und  steht  in  der  Mitte  zwischen  dem  Halbton  und  dem  Ganzton  der 
europäischen  Leitern.  Aufser  der  Octave  enthält  das  siamesische  Ton- 
system keines  unserer  Intervalle,  „weder  rein,  noch  in  den  für  uns  zu- 
lässigen Grenzen  temperirt".  Zur  Erklärung  dieser,  wie  auch  der  5  stufigen 
Tonleiter  der  Javaner  ist  nach  Stumpf  die  Voraussetzung  unausweichlich, 
dafs  [ursprünglich]  „die  auf  einander  folgenden  geometrisch  gleichen  Stufen 
auch  in  der  Empfindung  als  gleiche  Tonabstände  sich  darstellen".  Das 
entgegenstehende  Versuchsergebnifs  von  Luft  und  Lorenz,  wonach  gleiche 
Schwingungsdifferenzen  und  nicht  -Verhältnisse  als  gleiche  Ton- 
abstände aufgefafst  würden,  beruhe  auf  unseren  musikalischen  Gewohn- 
heiten, auf  der  Bedeutung  des  harmonisch-musikalischen  „Schwerpunkts'' 
für  unser  Urtheil. 

Diese  Erklärung  pafst  auf  den  von  Stumpf  herangezogenen  Fall,  dafs 
die  Quinte  in  die  Mitte  der  Octave  verlegt  wird ;  sie  würde  auch  die  grofse 
Terz  als  Mitte  der  Quinte,  die  Quarte  als  Mitte  der  grofsen  Sexte  begreiflich 
machen.  Aber  damit  sind  nicht  alle  abweichenden  Beobachtungen  erledigt. 
Stumpf's  technische  Bedenken  kann  ich  auf  Grund  eigener,  wiederholter 
Versuche  mit  Stimmgabeln  wie  mit  Zungen  nicht  als  erheblich  anerkennen. 
Die  harmonische  Gewöhnung  beeinflufste  unverkennbar  auch  die  Auf- 
fassung meiner  Versuchspersonen,  besonders  der  musikalischen ;  sie  lenkte 
das  Urtheil  in  den  angeführten  Fällen  nach  der  arithmetischen  Mitte  hin, 
in  anderen,  z.  B.  bei  der  Doppeloctave  nach  der  geometrischen  (hier  der 
Octave).  Reiner  und  daher  entscheidender  sind  natürlich  die  Mittenbe- 
stimmungen bei  unharmonischen,  musikalisch  ganz  ungebräuchlichen 
Schwingungsverhältnissen.  Ich  fand  hier  freilich  das  Urtheil  schwieriger 
und  unsicherer,  ebenso  wie  bei  weiten,  über  eine  Octave  hinausreichenden 
Intervallen.  In  allen  Fällen  erhielt  ich  Durchschnittswerthe,  die  tiefer 
als  die  arithmetische  und  höher  als  die  geometrische  Mitte,  d.  h.  zwischen 
beiden  lagen.  Die  wichtige  Frage  muls  noch  weiter  untersucht  werden. 
Benrtheilung  und  Vergleich  übermerklicher  Abstände  sind  auf  dem  Gebiete 
der  Tonqualitäten  keineswegs,  wie  manche  glauben,  unmöglich;  aber  die 
Urtheile  sind  mannigfacher  bedingt  und  vermittelt,  als  die  ersten  Bearbeiter 
annahmen.  Zu  Gunsten  einer  arithmetischen  Proportion  bleiben  noch  die 
zahlreichen  Versuche  über  ebenmerkliche  Unterschiede  der  Tonhöhe  im 
Felde,  auf  Grund  deren  fast  alle  Beobachter  Schwellenwerthe  von  absoluter 
Constanz  angeben.    Meine  eigenen,  noch  unzureichenden  Beobachtni 

14* 


212  Literahirbeneht 

auf  diesem  Gebiete  sind  nicht  so  eindeutig  wie  die  von  Pbbtxb  und  seinen 
Naclifolgem  mitgetheilten. 

Nach  Stumpf  gilt  also  für  die  ursprüngliche»  von  harmonischer 
Gewöhnung  freie  Auffassung  qualitativer  Tonabetftnde  Fbohxkb*! 
logarithmische  Formel;  nur  in  der  Begründung  weicht  Stumpf  von 
der  psycbophysischen  Ansicht  Wbbbb's  und  Fbohkbb*s  ab,  wie  er  auch 
deren  apriorische  Verallgemeinerung  ablehnt.  Bei  der  Entstehung  der 
gleichstufigen  Leitern  muXs  in  gewissem  Umfang  auch  das  Consonani- 
bewuTstsein  mitgewirkt  haben:  neben  der  Octave  kommen  in  der  Musik 
der  Siamesen  simultane  Quarten  häufig  vor,  —  die  freilich  gegen  die 
unserige  erheblich  vergröljBert  sind ;  auch  die  Quarte  hat  einen  besonderen 
Namen,  und  sie  wird  zum  Abstimmen  der  Instrumente  gebraucht.  Es 
könnte,  vermuthet  Stumpf,  durch  den  reinen  Quartenrirkel  zunächst  eine 
Leiter  von  pythagoreischer  Stimmung  in  Slam  entstanden  und  allmählich 
durch  die  „Tendenz  nach  Gleichstufigkeit**  umgebildet  worden  sein.  Alle 
gleichstufigen  Leitern  haben  ja  für  den  Grebrauch  den  Vortheil,  dals  jede 
Melodie  ohne  Aenderung  ihres  Charakters  mit  jedem  beliebigen  Tone  be- 
ginnen kann ;  und  thatsächlich  fand  Stumpf  Transpositionen  als  etwas  sehr 
Gewöhnliches  in  der  siamesischen  Musikpraxis.  Die  scheinbar  willkürlich 
gewählte  Zahl  von  7  (bei  den  Javanern  6)  Tonstufen  innerhalb  der  Leiter 
führt  er  auf  die  Heiligkeit,  die  religiöse  Bedeutung  dieser  Zahlen  für  die 
asiatischen  Völker  zurück.  Diese  Motive  der  Leiterbildung  einmal  ange- 
nommen, sei  die  weitere  Entwickelung  des  siamesischen  Tonsystems  — 
Analoges  gilt  für  Java  —  so  zu  denken:  das  Abstandsurtheil  verfeinerte 
sich  immer  mehr,  im  Sinne  der  Gleichstufigkeit;  zugleich  gewöhnte  man 
sich  mehr  und  mehr  an  die  noth wendig  gewordene  Temperirung  (Ver- 
gröfserung)  der  Quarte,  und  es  entwickelte  sich  ein  specifisches  Reinheits- 
gefühl für  die  neuen  Intervalle,  besonders  für  die  vergröfserte  Quarte  und 
für  die  einfache  Tonstufe  des  gleichstufigen  Systems.  Im  Gebrauche  der 
so  entstandenen  Leitern  macht  sich  das  Consonanzprineip,  das  für  ihre 
Entstehung  eine  so  durchaus  secundäre  Bedeutung  hat,  noch  dahin  geltend, 
dafs  die  Melodie führung  sieh  im  Wesentlichen  auf  gewisse,  dem  Con- 
sonanzbewuTstsein  weniger  anstöfsige  Intervalle  beschränkt,  die  störendsten 
dagegen  —  in  Siam  die  Quarte  und  Septime  —  fast  nur  als  Durchgangs- 
punkte verwendet. 

Akustische  Versuche,  die  der  Verf.  mit  den  siamesischen  Musikern 
anstellte,  hatten,  wie  die  von  Ellis,  keinen  befriedigenden  Erfolg.  Auf- 
gefordert, am  Tonmesser  ihre  Leiter  herzustellen,  wählten  sie  die  einfachen 
Tonstufen  zu  klein,  so  dafis  8  Töne  statt  7  herauskamen;  stimmten  auch 
die  Octave  ziemlicli  unrein  ab.  Vor  einer  Guitarre  und  einer  Zither  ver- 
sagten sie  völlig.  Zur  Erklärung  verweist  Stumpf  auf  das  Ungewohnte  der 
Instrumente  und  vermuthet  eine  gröfsere  Bedeutung  der  absoluten  Ton- 
höhe für  das  siamesische  als  für  unser  Gehör.  Die  beiden  Terzen  und  die 
Quarte  unseres  Tonsystems,  successive  angegeben,  wurden  als  unschön  em- 
pfunden ;  es  gelang  aber  den  Musikern,  unsere  einfachsten  Duraccorde  nachzu- 
singen. Einer  der  begabtesten  erkannte  an  dem  gewohnten  Ranat  mit  Sicher- 
heit eine  Mehrzahl  (bis  4)  gleichzeitig  angeschlagener  Töne.  Von  verschie- 
denen Zusammenklängen  des  Claviers  war  ihm  der  Mollaccord  regelmäfsig 


Idttraturberiehl.  213 

nn  an  genehm ,  der  Unraccord  angenehm,  „and  Ewar  nmeomebr,  je  mehr 
•ich  die  Zusammenstellung  derjenigen  der  barmoiiiecheD  Theiltäne  eines 
Klanges  nHherte".  An  der  Geige  vermochte  er  bei  gleichzeitigem  Streichen 
der  beiden  oberen  Saiten  die  reine  Quinte  genau  zu  bestimmen.  —  Die 
Proben  und  Analysen  aiameBischer  Musik  bestätigen  vielfach  frühere  Be- 
obachtungen auch  an  anderen  exotischen  Tonwerken:  die  stetige  Be- 
schleunigung des  Tempo  im  Verlaufe  der  StQt^ke,  das  ritardando  am 
Schlnfs;  die  anaschlierBliche  Herrschaft  des  *.V  bezw.  '/,-TacteB;  den  aus- 
giebigen Gebranch  der  Schlaginstrumente ;  die  Betonung  (<chlechter  Tact' 
theile;  die  Vorliebe  fUr  AViederholungen  und  Nachahmungen  der  kurzen 
Motive;  das  häufige  Vorkommen  des  SextenschlnsseB.  Der  melodische 
Oeearomteindruck  war  regelmarsig  der  des  Durgescblecbtes.  Der  letzte 
Ton  oder  Accord  eiuea  Stflckee  fiel  stets  auf  das  1.  oder  3.  Viertel. 
Dyiuunieche  Unterschiede  liers  die  Natur  der  Instrumente  nur  in  geringem 
Umfange  zu.  Beim  Stadium  der  mitgetheilten  Koten  bei  epiele  ist  zu  be- 
achten, daCs  die  fObrenden  Instrumente,  also  „die  Ranats  und  Kongs  jede 
llngare  Note,  vom  Viertel  angefangen  durch  ein  Tremolo  wiedergeben". 
Die  Hnsik  der  Siamesen  besteht  durchweg  aus  kurzen  Tönen  und  kurzen 
ZOHanunenklikngen.  Diese  Thatsaclie  scheint  mir  keineswegs  gleichgQttig 
m  aein  Iflr  die  Frage  nach  der  Entstehung  des  »inmeBiHchen  Tom^ystema 
nad  der  fiberraachend  geringen  Bedeutung,  die  der  Consonanc  und  Dissonanz 
dabsi  ankommt  —  Rein  rnnsikgescbicbtlicbe  Erörterungen,  zu  denen  einige 
dar  Stflcke  Anlafs  geben,  können  hier  Qbergangen  werden.  Die  zunehmende 
T«bicdtimg  enropftiecber  Einflüsse  Urst  auch  auf  musikalischem  Gebiete 
die  FeatstflUnog  des  e  igen  w  fleh  ei  gen  Fremden  doppelt  wünacheuswerth  er- 
aehelnen.  Den  Schlafs  der  reichhaltigen  Monographie  bilden  methodische 
■atbachllge  fOr  die  Erforschung  exotischer  Musik,  die  Beschaffung  des 
ÜBterlala  (woan  der  Phonograph  empfohlen  wird')  und  seine  Ueben>etzuiig 
is  nnaei«  maeikaliechen  Vorstellungen.  Die  vorliegende  Untersuchung  ist 
da  Hnater  solcher  methodiacli  sicheren  Forschung,  deren  Noth wendigkeit 
und  Werth  dem  Psychologen  und  Aesthetiker  ebenso  einleuchten  mnfa 
le  dem  Unaikhiatoriker  und  dem  Ethnologen.  Kkueukr  (Kieli. 

i  Btix.    TbB  PijcholOKlckl  and  SociolOKlc&l  Study  of  Art.    Jfi>i'/,  N.  ä.  9 

1.  6U-582.    1900. 

ileiteud   erinnert   der  Verf.   (lieses   sehr  nnspret'b enden  Artikels  an 

•elnde  Werth  Schätzung,  welche  die  AeHthetik  erfahren  hat.    Bald 

''e  durch  Badhuahten  im  Kreise  der  WiBsenechafteu  einen  Platz 

'angte  ata  laach  zu  hohem  Ansehen,  besonders  seitdem  sie  von 

Kritik  der  UrUieilskraft''  als  Vermittlerin  z1^'iHchen  Vernunft 

't   hWlHlHIBfc^Mfr     ^    war.     Als    aber   dieser   <iegeusatz   als 

ier   Dualimnufi   durch   den    Monismus 

T  Vermittlerin  nicht  mehr  und  die 

«physiker.    Die  Kunnit  aber,  die  zu 

^chloBsen   si'bien   und   darum   zum 

et  war,  gewann  bald  wieder  neue 

)  aas  viel  Deduction  nn<l  wenig 

■k  au  Schanden    machte   und 


214  Literaturbericht. 

diese  auch  bei  den  Nicht-Metaphysikern  in  Mifscredit  brachte.  Der  Kflnstler 
kümmert  sich  nicht  um  sie,  sowenig  wie  der  Kunstfreund,  der  Kunst- 
gelehrte  wurde  Kunsthistoriker  und  zerbricht  sich  nicht  mehr  den  Kopf 
über  die  Begriffe  Kunst  nnd  Schönheit.  Und  doch  spielen  diese  Begriffe 
eine  grolse  Bolle  im  menschlichen  Leben,  ganz  besonders  im  modernen 
Leben,  eine  so  grofse,  dafs  es  sich  wohl  verlohnt,  den  Beziehungen  forschend 
nachzugehen,  welche  künstlerische  Thätigkeit  und  ästhetisches  Urtheil  zu 
den  übrigen  Factoren  des  individuellen  und  socialen  Lebens  haben.  Hat 
so  heute  die  Aesthetik,  die  moderne  Aesthetik,  eine  neue,  eigenartige  Auf- 
gabe, so  hat  sie  auch  ihre  neue  Methode,  statt  der  mehr  dialektischen  die 
historisch-psychologische,  welche  die  Kunst  betrachtet  als  eine  menschliche 
Thätigkeit  und  das  Schöne  als  einen  Gegenstand  menschlichen  Verlangens 
und  eine  Quelle  menschlicher  Freude. 

Was  speciell  die  Kunst  angeht,  so  ist  —  um  einige  Gesichtspunkte 
dieser  neuen  Behandlung  der  Kunstphilosophie  zu  geben  —  ihre  erste  Auf- 
gabe, die  verschiedenen  Begriffsbestimmungen  oder  Auffassungen  derselben, 
wie  sie  in  Sprache,  Literatur  und  Wissenschaft  vorliegen,  festzustellen  und 
zu  prüfen.  Dabei  zeigt  sich  dann,  dafs  sie  alle  einseitig  sind,  daüs  die  eine 
diese,  die  andere  jene  Kunstgattung  bevorzugt  und  daraus  natürlich  eine  un- 
genügende Bestimmung  des  Wesens  der  Kunst  entnimmt.  So  entstanden  die 
widersprechendsten  Definitionen,  denen  schliefslich  nur  ein  einziges  gemein- 
sames Merkmal  bleibt,  das  rein  negative  Kriterium  der  Kunst,  dafs  sie  Seibet- 
zweck sei,  keinen  Nutzen  anstrebe,  kein  anderes  Interesse  verfolge  als  einzig 
und  allein  das  ästhetische.  Kant's  Definition  des  Schönen  ist  ja  bekannt. 
Und  selbst  diesen  letzten  Punkt  der  Uebereinstimmung  stellt  Guyau  in 
Frage.  Gerade  die  Beobachtung  der  Kunstübung  tieferstehender  Völker 
zeigt  ihm,  dafs  alles,  was  wir  hier  als  Kunstleistungen  zu  betrachten  pflegen, 
von  diesen  Völkern  selbst  in  durchaus  aufserästhetischer  Absicht,  nur  aus 
Nützlichkeitsgrtinden  hervorgebracht  ist.  Trotzdem  kann  dieses  Ergebnifs 
der  rein  historischen  Kunstbetrachtung  Güyau's  mit  jenem  so  allgemein 
vertretenen  negativen  Kriterium  der  Kunst  in  Einklang  gebracht  werden. 
Beide  Parteien  sind  einseitig.  Der  Selbstzweck  hat  freilich  nicht  jene 
grofse,  entscheidende  Rolle  gespielt,  wie  von  jenen  angenommen  wird;  aber 
er  kann  trotzdem  nicht  aus  dem  Begriff  des  Künstlerischen  verdrängt  werden, 
wie  dieser  möchte.  Es  kann  vielmehr  als  Grundsatz  aufgestellt  werden: 
In  der  sog.  künstlerischen  Thätigkeit,  die  anfänglich  rein  praktischen 
Zwecken  diente,  drängt  sich  beim  Schaffenden  wie  beim  Betrachtenden 
der  Selbstzweck  immer  mehr  vor,  tritt  die  Nützlichkeit  immer  mehr  zurück. 
Das  Verhältnifs  dieser  beiden  Factoren,  des  Fremdzweckes  —  es  sei  dem 
Ref.  dieses  Wort  gestattet  —  und  des  Selbstzweckes,  in  den  Kunst- 
schöpfungen und  in  der  Thätigkeit  des  Künstlers  zu  bestimmen,  ergiebt 
sich  als  Aufgabe  der  Kunstphilosophie,  die  zu  lösen  ist  durch  kunst 
psychologische  und  kunstgeschichtliche  Betrachtung.  Das  sind  die  leitenden 
Gedanken  für  eine  moderne  Philosophie  der  Kunst,  wie  sie  der  Verf.  in 
einem  ausführlicheren  Werke  demnächst  darlegen  wird.  Diese  orientirende 
Einleitung  mit  ihrem  vorsichtigen  Abwägen  und  ihrem  klaren  Scheiden 
des  Thatsächlichen  und  des  Theoretischen  lassen  uns  seinem  gröfseren 
Werke  mit  Interesse  entgegen  sehen.  Offner  (München). 


JUtmvturhericht.  215 

Georges  DmuB.     lA  tristesse  et  la  Joie.     Biblioth^'ue   de  philosophie   con- 
iamjmrame,    Paris,  Alcan,  1900.    426  S.    7,50  Frcs. 

Diese  Monographie  dürfte  die  Bücher  der  modernen  romanischen 
Psychologie  in  Manchem  übertreffen.  Zwar  strebt  Verf.  als  Mediciner  auch 
gleich  wieder  auf  die  Erfassung  des  ganzen  psychophysiologischen  Lebens- 
zusammenhanges hinaus  und  kehrt  daher  überall  den  physiologischen  Ge- 
sichtspunkt besonders  hervor.  Doch  erstrebt  er  daneben  in  bewuTst 
methodischer  Weise  einen  rein  psychologischen  Ausgangspunkt  der  Analyse 
Ton  Vorstellungen  und  Grefühlen  als  solchen.  Die  allgemeinsten  Gesetze 
des  Gefühlslebens  will  er  erst  nach  einer  ähnlichen  monographischen  Be- 
handlung anderer  specieller  Gremüthsbewegungen,  wie  Zorn,  Furcht  etc. 
geben,  doch  ist  auch  schon  diese  Schrift  nicht  ein  amüsant  zu  lesendes 
Allerlei,  sondern  überall  auf  jenen  letzten  Endzweck  systematisch  zuge- 
spitzt Deshalb  wird  man  ihr  auch  nicht  zum  Vorwurf  machen,  dafs  an 
I>sychologischer  Detailanschauung  trotz  der  Methode  der  ausführlichen 
Einzelbeobachtung  und  des  Experimentes  nichts  wesentlich  Neues  gefunden 
werden  konnte.  Wie  u.  a.  vor  Allem  aus  dem  letzten  Capitel  und  dem 
SchlnÜB  hervorgeht,  haben  auch  dem  Verf.  die  ^Lücken"  der  Lanob-Jambs'- 
schen  Theorie  die  Wichtigkeit  jener  psychologischen  Analyse  besonders 
nahe  gebracht.  In  dieser  Hinsicht  will  er  in  dem  Streit  jener  Physiologen 
gegen  die  sog.  „Intellectualisten'*  der  HEasABT'schen  Schule  auf  Seiten  der 
Letzteren  stehen.  Wenn  er  auch  zugiebt,  dafs  wenigstens  die  „passiven*' 
Stimmungen  nur  Correlate,  nicht  Ursachen  der  von  jener  Theorie  genannten 
physiologischen  Vorgänge  sind,  so  fragt  er  doch,  wie  solche  unter  sich 
direct  entgegengesetzte  Abweichungen  von  einer  Mittellage  gerade  durch 
bestimmte  Vorstellungsthatbestände  ausgelöst  werden  und  sucht  (im  4.  Gap.) 
den  psychologischen  „Grundmechanismus  von  Trauer  und  Freude '^  darauf- 
hin zu  analysiren.  Zur  Erklärung  mufs  auf  die  letzten  „Tendenzen^  zur 
Activität  zurückgegangen  werden,  auf  deren  freiem  Spiel  die  Freude  und 
auf  deren  Hemmung  die  Unlust  beruhe.  Die  verschiedenen  Möglichkeiten 
der  Befriedigung  oder  Hemmung  angeregter  Tendenzen  werden  durch  Auf- 
stellung einer  negativen,  positiven  und  gemischten  Form  zu  classificiren 
gesucht  Ganz  im  Geiste  Leibniz's  wird  zur  richtigen  Auffassung  von 
jenen  Tendenzen  ein  hypothetisches  Hinausgehen  über  das  „klare"  Be- 
wuHstsein  gefordert.  Die  Wichtigkeit  des  Dispositionellen  wird  auch  bei 
Erklärung  der  Ueberraschungs Wirkung  anerkannt,  wie  sie  jeden  neuen 
Gefühlsthatbestand  einleitet  und  nicht  etwa  intellectualistisch  aus  bereits 
bewufsten  Associationen  erklärt  werden  kann.  Dieses  erste  Stadium, 
Welches  die  Unterscheidung  der  Lust  und  Unlust  noch  nicht  enthalte, 
müsse  von  dem  späteren  speciellen  Gefühlsverlauf  ausdrücklich  unter- 
schieden werden,  der  unter  dem  Begriffe  des  ^motion-choc  häufig  mit  ihm 
confandirt  werde,  soweit  es  sich  um  acut  verlaufende  Gemüthsbewegungen 
bandelt.  Verf.  selbst  aber  will  aus  methodischen  Gründen  vor  Allem  die 
rorm  des  ^motion-sentiment,  d.  h.  den  längeren  stimmungsartigen  Verlauf 
bearbeiten.  Diese  Absicht  unterstützt  noch  sein  psychiatrisches  Vorurtheil 
im  Sinne  Ribot's,  wonach  er  sich  vor  Allem  an  die  pathologischen  Fälle 
tiillt,  die  gerade  jenen  Verlauf  am  häufigsten  zeigen.  Eine  öfters  vor- 
lonunende  Vermischung  der  Begriffe  des  Gefühles  und  der  Ursache  des- 


21:6  IdUraturberiehl^, 

gelben  zeigt  dabei  seine  Behanptnng,  dafe  auf  dem  Gebiete  de«  Geftthlf« 
lebens  die  Grenze  zwischen  Normal  und  Abnorm  Oberhaupt  viel  schwerer 
zn  ziehen  sei.    Allerdings  treten  innerhalb  dee  Baches  selbst  öfters  auch 
die  eigenen  Klagen  heryor>  daTs  der  geistige  Zustand  des  Kranken  di« 
Ezactheit  der  Analyse  erschwere ,  während  andererseits  gerade  der  er- 
wähnte „Grundmechanismus"  vom  Normalen  abgeleitet  wird.     WerihvoU 
ist  daneben  wenigstens  sein  Princip,  einige  wenige  Personen  möglichst 
continuirlich   in   den   verschiedenen   Stimmungslagen   zu   beobachten.   — 
Eine  principielle  Unklarheit  über  das  Wesen  des  Gefühles   Oberhaupt  ver- 
birgt sich  in  der  oftmals  wiederkehrenden  Gregenüberstellung  von  doulear, 
bezw.  plaisir  physique,  organique  etc.   einerseits  und  moral»  mental  etc. 
andererseits.    Beide  Gefühlsarten  seien  nicht  ihrem  Wesen»  sondern  nur 
der  Ursache  nach  verschieden.    Die  erstere  sei  eine  Art  von  Verschmelzong 
peripherer  Empfindungsmomente,  die  Letztere  entstehe  auch  unter  Mit- 
wirkung der   Vorstellungen   unmittelbar  in   den    centralen  Regionen   als 
Sensation  centrale.    So  komme  ihnen  auch  eine  verschiedene  Stellung  zur 
Localisation  zu,    indem  die  erstere   geradezu  peripher,   die  letztere  nur 
„vage  im  Gehirn"  localisirt  wird.    Diese  Unterscheidung  wird  nun  von  Be- 
deutung in  der  Analyse  der  verschiedenen  Unterarten  der  ,,Traurigkeit'^ 
und  „Freude";  für  beide,  insbesondere  aber  für  die  erstere  ist  nämlich  der 
€fegensatz  des  „passiven"  und  „activen"  Zustandes  durchgeführt,  der  einem 
Zustande  der  Depression  und  der  Excitation  entspricht.    Er  macht  sich 
schon  bei  douleur,  bezw.  plaisir  physique  geltend  und  wird  auf  verschiedene 
Grundanlagen  der  Erregbarkeit,   Reactionsfähigkeit  oder  Empfindlichkeit 
zurückgeführt.     Tristesse   morbide  passive  unterscheidet  sich  von  T.  m. 
active  vor  Allem  durch  douleur  morale  und  Deliriumsvorstellungen,  wie 
Selbstanklagen    etc.,    und    wird    dieser    ganze    Unterschied    wiederum    im 
Engeren  auf  dos  Vorhandensein  von  douleur  morale  (souffrance)  zurück- 
geführt, wodurch  das  Delirium  selbst  erst  entstehe.    Auch  bei  Joie  morbide 
ist  die  ruhigere  Form  mit  einfachem  Gefühl  des  Wohlbefindens  von  einer 
activen  Form,  die  allerdings  in  Folge  der  Activität  der  Freude  überhaupt 
schwerer  abtrennbar  ist,  vor  Allem  durch  den  Mangel  an  Projectmacherei, 
Wahnvorstellungen  etc.  unterschieden.    Dabei  soll  aber  nun  das  „Delirium" 
der  Melancholie  von  dem  letzteren  dem  ganzen  psychologischen  Mechanis- 
mus  nach   verschieden   sein.     Bei   ersterem    soll    eine    im    Anschluls    an 
Griesinqee   noch    sehr    intellectualistisch    formulirte    Synthese    vorliegen, 
wonach  der  Kranke  auf  Grund  des  seelischen  Schmerzes  (d.  mor.)  sich  ab- 
quält und  über  die  Ursache  nachsinnt ;  es  sei  nicht  etwa  ein  „automatisches'' 
Auftreten  von  Vorstellungen  auf  Grund  des  Associationsmechanismus,  wie 
es  für  das  Delirium  des  freudig  bewegten  Zustandes  zugegeben  wird,  bei 
dem  nur  aus  den  automatisch  beiströmenden  Vorstellungen  „ausgewählt" 
zu  werden  brauche.    Es  ist  aber  natürlich  positiv  unrichtig,   dafs  bei  dem 
erregten  Melancholiker  nicht  auch  ein  Herzudrängen  von  Angstvorstellungen 
auf  Grund  der  nämlichen  Aehnlichkeitsassociation  stattfinde,  und  aulser- 
dem  ist  die  ganze  Unterscheidung  zwischen  bewufst  und  unbewufst  vor- 
bereiteter Synthese  niemals  eine  principielle.    Ein  Verständnifs  für  die  All- 
gemeinheit der  Aehnlichkeitsassociation  hätte  auch  sonst  Manches  verein- 
facht.   Diese  Detailbeschreibung  der  pathologischen  Erscheinungen  an  der 


Literaturberickt  217 

H«nd  yoB  Krmkewgegwhichteo,  •xperiinenteUen  üntersachtmgen  etc.  bringt 
den  Verf.  an  die  nA^^tCBerste  Grense,  bis  zn  der  die  Psychologie  überhaupt 
führen  kann.''  Die  eigentliche  Physiologie  dieemr  Gefühle  schildert 
dann  die  bekannten  sphygmographischen  (Mabby)»  pneamognraphischen 
(Mabbt),  spirometrischen  (Dupoirr),  plethysmographischen  (Luft-PL  nach 
HAiiiioM-CoMTB,  doch  ein  Baum  für  alle  Finger  zugleich)  manometrischen 
Untersuchungen.  Die  zuletzt  genannten  Blutdruckmessungen  wurden  durch 
Aufdrücken  eines  Luftschlauches  auf  die  Badialis  vorgenommen  (Abänderung 
der  Methode  BlochChebbon  auf  Mabet's  Rath).  Nach  der  erwähnten  Fest- 
stellung von  douleur  physique  ohne  douleur  morale  bei  tristesse  passive 
soll  sich  nun  rein  periphere  Vasoconstriction  ohne  wesentliche  Veränderung 
der  Herzthätigkeit  finden  lassen,  so  dafs  hier  auch  innerhalb  des  Kreislaufis 
jene  Trennung  von  physique  und  morale  wiederholt  wird.  Zwischen  trist 
pass.  und  joie  bestehen  die  bekannten  symptomatischen  Gegensätze,  hin- 
gegen ist  tr.  a.  bei  entsprechend  hohen  Graden  von  joie  nach  dieser  Hin- 
sicht kaum  zu  unterscheiden.  AuDserdem  bestätigen  sich  die  Gleichartig- 
keit der  Symptome  für  den  ^motion-choc  im  engsten  Sinne,  sowie  der  vor 
Allem  von  Lehmann  gefundene  unterschied  für  die  acuten  Grefühlsverläufe 
der  Lust  und  Unlust.  Aufserdem  folgen  Messungen  der  Secretion  und  der 
Zahl  der  Blutkörper.  Die  sog.  Psychophysique  bringt  in  einer  ganz  anderen 
als  der  gewöhnlichen  FECHNEB'schen  Bedeutung  die  secundären  Momente 
jener  physiologischen  Variationen,  wie  Temperatur,  Farbe  und  sogar  Geruch. 
In  der  Psychomechanik  folgen  dann  die  bekannten  dynamometrischen 
Experimente  über  die  Muskelleistung  in  den  verschiedenen  Stimmungen, 
ohne  Bestätigung  der  MüNSTEBBEBo'schen  Unterscheidung  hinsichtlich  der 
Beuger  und  Strecker.  Betont  ist  dabei  die  vermittelnde  Bedeutung  der 
verschiedenen  Lebhaftigkeit  des  Vorstellungslebens  überhaupt  auf  die 
speciell  motorischen  Vorstellungen.  Besonders  wichtig  ist  dem  Verf.  das 
6.  Kap.  über  „Psychochimie'*  d.  h.  über  die  nutritiven  Verhältnisse,  Ge- 
wichtsveränderungen etc.  bei  den  beiden  Gefühlen.  Hier  wird  vor  Allem 
die  physiologische  Unterscheidung  der  in  den  übrigen  Aeufserungen 
schwerer  unterscheidbaren  Zustände  der  tr.  active  und  joie  in  dem  be- 
kannten Rückgang  des  Ernährungszustandes  bei  der  Melancholie  gewonnen, 
wobei  die  active  die  passive  naturgemäfs  auch  noch  übertrifft.  In  der  be- 
kannten Art  der  Verallgemeinerung  wird  dann  das  Spiel  der  nutritiven 
Verhältnisse  mit  Beziehung  auf  das  in  der  psychologischen  Analyse  ge- 
wonnene Material  überhaupt  als  das  entsprechendste  physiologische  Correlat 
betrachtet.  Hinsichtlich  der  symptomatischen  Aeufserungen  des  Gefühles 
werden  schliefslich  die  peripheren  und  centralen  Vorgänge,  welche  schon 
zu  Anfang  als  vollständig  correlativ  bezeichnet  wurden,  von  den  eigent- 
lichen und  wirklich  von  Gefühl  causal  abhängigen  Aeufserungen  unter- 
schieden, welche  eine  charakteristische  Eigenthümlichkeit  eben  der  activen 
Formen  der  Gemüthsbewegungen  ausmachen.  Diese  Auffassung  des  Schreiens, 
Händeringens  etc.  beim  activen  Melancholiker  als  activer  Beaction  gegen 
sein  Leiden  bringt  also  endlich  auch  noch  die  strebungsartige,  voluntarische 
Gefühlsfärbung  ausdrücklich  mit  in  die  Analyse  herein,  welche  neben  dem 
mehr  quantitativen  Moment  der  Depression  und  Erregung  vorher  fort- 
während unanalysirt  mitgedacht  war.    So  wäre  denn  überhaupt  wohl  noch 


218  Literaiurbericht 

mehr  Einheitlichkeit  und  System  in  das  Ganze  gekommen,  wenn  der 
phänomenologische  Gesichtspunkt,  der  im  letzten  Kapitel  gelegentlich  der 
Frage  nach  der  Allgemeinheit,  hezw.  Ahstractheit  oder  speciellen  Ooncret- 
iMtl  ^wn  Tr—ngkeit  and  Prende  beiläufig  gestreift  wurde,  von  ▼ome  JmsbIa 
die  Frage  der  Analyve  von  €toffihleB  JKwh  jnafar  jpkürt  JfltfeB. 

WiBTH  (Leipzig). 

Henbt  Hüohbs.    Die  Mimik  des  Menschen  auf  Grand  foltutariseher  Psychologie. 

Frankfurt  a.  M.,  Joh.  Alt,  1900.  42ö  S.  Mk.  14.—. 
Die  Ausführungen  über  die  Mimik,  welche  auch  die  Pantomimik  zu 
umfassen  bestrebt  sind,  können  von  der  Behandlung  der  „yoluntarischen 
Grundlage",  dem  Versuche  einer  ganzen  Grefühls-  und  Willenspsychologie, 
leicht  abgetrennt  werden.  Von  kurzen  Hinweisen  abgesehen,  erfüllen  die- 
selben zunächst  8.  88 — 209,  wo  die  einzelnen  Bewegungen  des  Gesichtes 
und  des  übrigen  Körpers  an  der  Hand  der  Muskelanatomie  beschrieben 
werden,  femer  den  Schlufs  des  Buches  S.  343 — 419,  wo  die  eigentliche 
Psychologie  der  Mimik  behandelt  wird  und  die  Gremüthsbewegungen  als 
Eintheilungsgrund  für  die  typischen  Ausdrucksformen  festgehalten  sind. 
Zahlreiche  Abbildungen,  vor  Allem  die  bekannten  nach  Pidbbit  etc.  sind 
besonders  in  diesen  letzten  Theil  eingefügt.  Der  Werth  des  Buches  dürfte 
vor  Allem  in  der  zuerst  genannten  Gruppe  zu  suchen  sein.  Wenn  auch 
nichts  Neues  geboten  wurde,  so  ist  doch  alles  wesentliche  Material  an  Aus- 
drucksbewegungen systematisch  geordnet.  Zunächst  werden  die  einzelnen 
Muskelgruppen  der  Sinneswerkzeuge,  der  übrigen  körperlichen  Organe  und 
Glieder  in  ihrer  ursprünglichen,  äufserlichsten  Function  dargelegt  und 
dann  bereits  die  „Verinnerlichung'^,  d.  h.  die  eigentliche  mimische  Be- 
deutung der  ähnlichen  Combinationen  angeschlossen;  es  wird  also  bereits^ 
nur  unter  einem  anderen  Gesichtspunkt,  dem  letzten  Theile  vorgegriffen. 
Als  Erklärungsprincip  gilt  hier  vor  Allem  im  Anschlufs  an  Wundt  die  Ge- 
fühlsverwandtschaft des  dargestellten  Seelenzustandes  einerseits  und  der 
darstellenden  Bewegung  bei  jener  ursprünglichen  Function  andererseits. 
Doch  scheint  Verf.  bei  dem  Bestreben,  möglichst  viele  unter  sich  ver- 
schiedene Gemüthsbewegungen  verschiedenen  Coordinationen  ein  und  der 
nämlichen  Muskelgruppe  eindeutig  zuzuordnen,  vor  Allem  bei  den  Augen- 
bewegungen nach  Schema  S.  138  zu  weit  zu  gehen.  Bei  der  Mimik  des 
Mundes  darf  die  rein  asthenische  Oeffnung  in  Folge  von  Ueberraschung 
und  anderweitiger  Beschäftigung  der  Aufmerksamkeit  kaum,  wie  auf  S.  151, 
mit  der  willkürlichen  Oeffnung  des  Mundes  zur  Aufnahme  von  Speise  iu 
Zusammenhang  gebracht  werden.  Die  Verschiebung  des  psychologischen 
Thatbestandes  wird  noch  klarer  im  letzten  Theile  S.  372.  Verf.  setzt  hier 
bei  dem  „Erstaunen"  nicht  die  Absorption  der  Energie  durch  das  Neue 
und  die  hiermit  gegebene  Hemmung  anderweitiger  Functionen  dem  Oeffnen 
des  Mundes  parallel,  sondern  ein  zweites  Stadium  der  positiven  Ergreifung 
des  Neuen,  um  jene  Analogie  mit  der  Aufnahme  von  Speise  zu  erlangen. 
Doch  betont  Verf.  selbst  auch,  dafs  jenes  Offenstehen  des  Mundes  nur  bei 
relativer  Schwäche  vorkomme.  Noch  schwieriger  wird  die  Zurückführung 
natürlich  bei  den  Reflexbewegungen,   und  dürfte  z.  B.  die  angedeutete  Be- 


Literaturbericht  219 

»ehung    zwischen    dem    willkürlichen   oder    triebartigen    Aufrei£isen    des 
Mundes  (bei  gleichzeitiger  Betheiligung  der  Lippenmuskeln  etc.),  wie  es 
der  Vorbereitung  oder  Androhung  des  Verschlingens  entspricht,  und  dem 
reflectorischen  Aufreifsen  beim  Gähnen  doch  sehr  gewagt  sein.    Die  häufige 
Verbindung  des  letzteren  mit  sonstigem  Dehnen  und  Recken,  das  krampf- 
artige Auftreten  bei  Hysterie  etc.,  das  auch  Verf.  erwähnt,  weisen  doch  u.  a. 
auf  die  Bedeutung  hin,   die  allen  ähnlichen  Muskelvorgängen  als  solchen 
zukommt.    Zur  ZurückfOhrung  des   Lächelns   wird   nur  auf  eine  zweck- 
mäfsige  Verschiebung  der  Wangen  bei  behaglichem  Kauen  verwiesen  und 
scheint  die  Komik  im  Verhältnifs  zum  gegenwärtigen  Stande  ihrer  theo- 
retischen Behandlung  ganz  besonders  zu  kurz  gekommen  zu  sein.    Von  der 
eigentlich   psychologischen   Mimik  am   Schlüsse  mufs   vor  Allem   lobend 
hervorgehoben  werden,  dafs  Verf.  sich  nicht  auf  zu  wenige  Qualitäten  des 
Gemflthslebens   einschränken   liefs,   sondern   der   ganzen   Mannigfaltigkeit 
desselben  gerecht  zu  werden  versuchte.    Seine  Coordination  von  Stimmung, 
Aufmerksamkeit,  Neigung  und  Achtung,  von  denen  die  erste  und  dritte  als 
„intellectuelle^  Affecte  den  anderen  als  „Gefühlsaffecten''  gegenüberstehen 
and  deren  jede  wieder  in  zwei  Gegensätze  sich  scheidet,  dürfte  allerdings 
kaum   glücklich  gewählt  sein.    In  den   verschiedenen  Schemen  für  diese 
paarweise   gegenüberstehenden  Qualitäten^   in   denen   möglichst  viele  Ge- 
fühlsbegriffe (zu  je  elf  und  in  fünf  verschiedenen  Intensitätsstufen)  unter- 
gebracht   sind,    tritt   jene    Unzulänglichkeit    deutlich    hervor.     Unter    die 
Stufen   der   „Aufmerksamkeit"   ist  z.  B.  jegliche  Thätigkeit  und  endlich 
auch  Zorn,   Wildheit  und  Wuth  gerechnet,  so  dafs  schliefslich  nur  noch 
irgend   eine  Intensitätssteigerung  überhaupt  als  die   eine  Dimension   des 
Schemas  festgehalten   ist,   oft  aber  sogar  nicht  einmal  diese.    Die  zweite 
Dimension  der  schematischen  Darstellung  soll  der  fortschreitenden  »Ver- 
innerlichung"   oder  Vergeistigung  der   rein   physiologischen   Vorgänge   zu 
Gemüthsbewegungen  entsprechen  und  geht  ihr  Sinn  aus  der  „voluntarischen 
Grundlegung"    hervor.      Wenn   nun   auch   eine   Unterscheidung    zwischen 
eigentlichen   Gefühlen    und    mehr    körperlich    localisirbaren   Stimmungen, 
welche  den  Organempfindungeu  verwandt  sind,  versucht  werden  kann,  so 
ist  doch  damit  niemals  der   psychologische   Gesichtspunkt  der  „Innerlich- 
keit"   überhaupt    verlassen,    während    andererseits    die     physiologischen 
Aeufserungen  auch  für  die  „geistigsten"  Vorgänge  stets  „äufserlich"  bleiben. 
Zudem  ist  jener  relativ  berechtigte  Gesichtspunkt  oft  gar  nicht  als  zweite 
Dimension  beibehalten,  z.  B.  in  der  Reihenfolge   „Energielosigkeit,  Theil- 
nahmslosigkeit,  Nervosität"  oder  „Zaghaftigkeit,  Aufregung,  Ungeduld",  zwei 
Unterabtheilungen  der  „Achtlosigkeit".    S.  31  f.  u.  a.  zeigen  eine  ähnliche 
Verschiebung  der  Begriffe  zur  Fixirung  an  sich  berechtigter  Unterscheidungen. 
Dort  wird  der  Gegensatz  von  Trieb  und  Willkürhandlung  so  bezeichnet, 
als  ob  bei  den  Trieben  noch  ein  im  Körper  localisirter  Vorgang  gegeben 
sei,   während  bei  der  Willkür  die  Verinnerlichung  so  weit  stattgefunden 
habe,  dafs  der  Vorgang  in  die  Seele  verlegt  werde.  Für  jeden  der  schematisch 
geordneten    Gefühlsbegriffe    ist    dann    eine    einfache    Beschreibung    des 
typischen   äufseren  Verhaltens   gegeben,   wobei  die  Darstellung  sich  vor 
Allem  an  die  allgemein  anerkannten  Aeufserungen  der  oberen  Intensitäts- 
stufen   hält.  —  Die  bereits   zu  Anfang   erwähnte  allgemeine  Gefühls-  und 


220  Literaturbericht 

\¥111en8p8ycbologie  bringt  zunächst  in  dem  ersten  Abschnitt  bis  8.  SBwn 
Zurüokführung  der  Willens-,  Instinct-  nnd  Reflexvorgftnge  auf  die  Tmli 
in  Anlehnung  an  die  WuNDT'sche  Psychologie.  Doch  ist  mit  Absicht  benüi 
viefe  Metaphysik  über  die  Entstehung  von  Bewuüstsein  ans  Körperiiefata 
in  die  wissenschaftlichen  Darlegungen  eingemengt  Im  zweiten  allgMMb 
psychologischen  Theil  S.  210--d43  wird  dann  der  Aufbau  der  BewnÜBtsei]» 
einheit  mit  ihrer  einheitlichen  Gemüthsbewegung  aus  „EinaelimpiilMi* 
systematisch  durchzuführen  versucht,  um  die  Grundlegung  zu  der  B» 
Schreibung  der  Aeufserung  jener  entwickelten  Einheit  zn  gewinnen.  Bv 
„Einzelimpuls'*  ist  aber  keineswegs  als  psychologische  Hypothese  auf  Gnuri 
der  Bewufstseinsanalyse  gewonnen,  sondern  rein  physiologisch  als  V» 
gang  in  einer  Muskelfaser  (bezw.  als  Analogon  hierzu)  gedacht.  Die  Yo*' 
allgemeinerung  des  Begriffes,  die  Verf.,  wenigstens  nach  der  Vorred«,  ak 
etwas  Neues  anzusehen  scheint,  geschieht  durch  eine  ganz  auiserlidie 
Analogie  des  motorischen  Vorganges  zur  Actualität  überhaupt,  wie  sie  auch 
bei  der  Empfindung  vorliegt;  da  aber  nun  Verf.  für  das  Bewulstsein,  du 
jederzeit  einem  Zusammenarbeiten  solcher  Einzelimpulse  entspricht,  kam 
andere  Grundqualität  als  die  Empfindung  kennt,  so  wird  schliefslich  du 
Bewufstsein  der  Thätigkeit  doch  wiederum  den  Muskelempfindungen  bexw. 
„Anschauungen'',  etc.  gleichgesetzt.  Daneben  besteht,  nicht  recht  T«r 
arbeitet,  der  Gegensatz  von  Intellectus  und  Voluntas.  An  der  Hand  vider 
und  umfangreicher  Schemen  und  nach  Aufzählung  vieler  Principien  werden 
dann  alle  einzelnen  Qualitäten,  Baum-  und  Zeitvorstellung,  die  Erkenntnii% 
„Fühlung"  und  Strebung  auf  das  Zusammenarbeiten  von  EinzelimpiÜMi 
zurückgeführt,  häufig  sogar  unter  Anwendung  mathematischer  FonnelB 
über  Veränderungsrichtungen.  Verf.  fühlt  sich  vor  Allem  mit  Hinweis  «rf 
Schopenhauer  berufen,  die  Fachwissenschaft  auf  die  voluntarische  Psycho- 
logie hinzuweisen  und  das  „wüste  und  leer  liegende''  Gebiet  der  Völker 
Psychologie  zu  cultiviren.  Wundt's  Völkerpsychologie  I,  1  war  erst  toi 
vor  Herausgabe  des  Buches  erschienen  und  nicht  mehr  berücksichtigt 
Auch  wer  mit  der  Methode  des  Verf. 's  principiell  nicht  einverstanden  u^ 
wird  seinem  ernsten  Streben  nach  einheitlicher  Gestaltung  einer  Psycho- 
Physiologie  auf  Grund  eigener  Intuition  die  Anerkennung  nicht  verssgen 
können  und  sich  über  das  Interesse  freuen,  das  von  einem  nicht  herab' 
mäfsigen  Psychologen  den  Fragen  entgegengebracht  wird,  die  auch  di« 
Fachwissenschaft  in  neuerer  Zeit  immer  mehr  beschäftigen. 

WiBTH  (Leipzig). 

Alexander  Pilez.    Die  periodischen  Geistesstörungen.    Eine  klinische  Stiili. 

Mit  57  Curven  im  Texte.  Jena,  Gustav  Fischer,  1901.  210  S. 
Da  seit  dem  1878  erschienenen  Werk  von  Kirn  die  periodischen 
Psychosen  keine  monographische  Bearbeitung  erfahren  haben,  so  ist  die 
vorliegende  Arbeit  sicherlich  ein  berechtigtes  Unternehmen,  zumal  sie  ein- 
gehend die  bisher  verhältnifsmäfsig  wenig  studirten  somatischen  StOrongen 
berücksichtigt  und  hinsichtlich  der  meisten  zur  Discussion  stehenden  Fragen 
sich  auf  eigene  Beobachtungen  stützen  kann. 
,        Es  sei  im  Voraus  bemerkt,  dafs  P.  unter  periodischen  Psychosen  aus- 


lAteratwbericht  221 

schliefslich  solche  'Krankheitsformeai  versteht,  deren  einselne  Anfftlle  ohne 
brannte  Aalsere  Veranlaesungsursache  in  ihrer  eigenthümlich^  Er- 
scheinungsweise regelmäXsig  i>eriodisch  wiederkehren ;  es  ist  somit  sweierlei 
nothwendig,  eine  mehr  oder  minder  regehnftlsige  Wiederholung  und  eine 
gewisse  Aehnlichkeit  der  einzelnen  Anfidle  anter  einander. 

Nach  einem  erschöpfenden  und  kritischen  Ueberblick»  der  auf  manches 
bereits  Vergessene  wieder  hinweist,  bespricht  Verf.  die  allgemeine  und 
individuelle  Disposition.  Das  weibliche  Geschlecht  und  nach  des  Verf/s 
persönlichen  Beobachtungen  die  jödische  Bevölkerung  überwiegt  bei  dem 
periodischen  Irresein.  Als  die  hauptsächlichsten  Factoren  spricht  er  an 
die  angeborene  Degeneration  durch  hereditäre  Belastung,  bei  welcher  das 
Individuum  gerade  zur  Zeit  der  Pubertät  oder  des  Klimakteriums  besonders 
gefährdet  ist,  und  eine  erworbene  Veranlagung  durch  Schädeltraumen  oder 
cerebral-organische  Läsionen,  vor  Allem  Grehirnnarben.  Diese  letstere 
Gruppe,  welche  oft  durch  besondere  Schwere  der  Symptome  und  durch 
stärkeres  Hervortreten  der  sog.  „him-cong^iven  Erscheinungen"  (allerlei 
Halbseitensymptome ,  vorübergehende  Sprachstörungen,  Convulsionen, 
Lähmungen  etc.)  ausgezeichnet  ist,  führt  eher  zu  einer  Demenz,  während 
bei  den  auf  dem  Boden  der  angeborenen  Degeneration  entstandenen 
periodischen  Psychosen  die  intellectuellen  Fähigkeiten  meist  intact  zu 
bleiben  pflegen. 

Die  auslösenden,  determinirenden  Ursachen  sind  von  Belang  vorzugs- 
weise bei  den  sogenannten  reflectorisch-periodischen  Psychosen ;  hier  genügt 
die  Disposition  allein  nicht,  es  bedarf  noch  eines  veranlassenden,  äufseren 
Moments  wie  der  Menstruation,  einer  Neuralgie.  Diese  secundär  ausge- 
lösten periodischen  Psychosen  verdienen  eine  Sonderstellung  nur  mit  Bück- 
sicht auf  ihre  Aetiologie  und  ihre  durchweg  günstigere  Prognose. 

Verf.  unterscheidet  bei  dem  periodischen  Irresein  folgende  Formen: 

1.  Circuläres  Irresein  (Aufeinanderfolge  von  melancholischen  und  mani- 
schen Phasen);  2.  periodische  Manie;  3.  periodische  Melancholie;  4.  peri- 
odische Amentia,  bei  der  keine  affectiven  und  associativen  Störungen, 
sondern  vielmehr  massenhafte  Sinnestäuschungen,  ein  den  Delirien  ent- 
sprechender Stimmungswechsel,  Verworrenheit  das  Krankheitsbild  be- 
herrschen ;  ö.  periodische  Paranoia  (primäre  Wahnbildung,  klares  Sensorium, 
fehlende  oder  nur  dem  Inhalte  der  Wahnideen  entsprechende,  secundär 
bedingte  Stimmungsanomalien) ;  6.  periodisches  Irresein  in  der  Form  krank- 
hafter Triebe  wie  Dipsomanie,  Psychopathia  sexualis  periodica,  wobei 
gebührend  hervorgehoben  wird,  dafs  die  Stellung  dieser  Form  in  der 
psychiatrischen  Nosologie  noch  strittig  ist,  und  7.  periodische  delirante 
Verworrenheitszustände  (kurzdauernde  Anfälle  schwerer  Bewufstseinsstörung, 
)nassenhafte,  meist  schreckhafte  Sinnestäuschungen,  heftige  motorische  Ent- 
ladungen, eine  Form,  welche  in  naher  Beziehung  zur  Epilepsie  steht). 

Allen  diesen  verschiedenen  Störungen  ist  gemeinsam  eine  Differenz 
der  Persönlichkeit  des  erkrankten  Individuums  während  des  Anfalls  und  im 
anfallfreien  Zwischenraum  ein  periodischer  Charakter  des  Verlaufs,  brüskes 
Einsetzen  und  eine  meist  kritische  Lösung  des  Anfalls,  gewisse  Aehnlichkeit 
der  einzelnen  Anfälle  unter  einander,  bestimmte,  für  jeden  Anfall  stereotype 
Prodromi,  die  körperlichen  Begleiterscheinungen  und  die  Aetiologie.  Gerade 


222  Literaturbericht. 

in  den  ersten  drei  Gruppen  finden  sich  bei  der  jeder  Schildenmg  spottenden 
Mannigfaltigkeit  alle  möglichen  üebergangsformen,  so  daüs  eine  scharfe 
Grenze  zwischen  den  einzelnen  Grnppen  nicht  zn  ziehen  ist. 

An  der  Hand  von  Krankheitsgeschichten  entwirft  Verf.  ein  anschaa- 
liches  Bild  der  Symptomatologie  jeder  Form,  ihres  Verlaufs  und  ihres  Aus- 
gangs, ihrer  Aetiologie,  Diagnose  und  Therapie;  besonders  eingehend  wird 
das  circul&re  Irresein  behandelt,  welches  die  anderen  Formen  in  der  Praxis 
an  Bedeutung  bei  Weitem  überragt.  Die  den  periodischen  Störungen  ge- 
meinsamen körperlichen  Symptome  werden  eingehend  gewürdigt;  auiser 
der  Beschaffenheit  des  Pulses  und  dem  Verhalten  der  Menstruation  ver- 
dienen gewisse,  vom  Verf.  zuerst  erhobene  Hambefunde  sicherlich  alle 
Beachtung.  Bemerkungen  über  den  Einflufs  intercurrenter  körperlicher 
Krankheiten,  über  die  Combination  von  periodischem  Irresein  mit  anderen 
Psychosen  und  Neurosen,  die  pathologische  Anatomie  beschlielsen  die 
anregend  geschriebene  Abhandlung.  Welcher  Fleifs  darin  steckt,  möge 
schon  daraus  erhellen,  dafs  das  beigegebene  und  im  Text  auch  ausgiebig 
benutzte  Literaturverzeichnifs  mehr  denn  700  Nummern  aufweist. 

Ernst  Schultzb  (Andernach). 


A.  Baer.    Der  Selbstmord  im  kindlichen  Lebensalter.    Eine  social -hygienische 

Stndie.    Leipzig,  Georg  Thieme,  1901.    84  S.    Mk.  2.—. 

Versteht  man  unter  Kinderselbstmord  nur  den  Selbstmord,  der  von 
Personen  unter  15  Jahren  ausgeführt  wird,  so  lehrt  die  Statistik,  dafs  auch 
die  Zahl  des  Kinderselbstmordes  in  den  letzten  Jahrzehnten  erheblich  zu- 
genommen hat,  so  dafs  es  nicht  nur  berechtigt,  sondern  nothwendig  ist, 
den  Ursachen  dieser  Erscheinung  nachzuforschen.  Das  thut  B.  in  der  vor- 
liegenden Broschüre  in  der  bei  dem  Verf.  bekannten  streng  sachlichen  und 
kritischen  Weise. 

Verf.  bespricht  zunächst  die  Häufigkeit  des  Selbstmordes  im  kindlichen 
Lebensalter  und  weist  nachdrücklich  darauf  hin,  dafs  er  noch  zu  Anfang  des 
19.  Jahrhunderts  wenig  verbreitet  und  wenig  bekannt  war.  Das  hat  sich, 
wie  zahlenmäfsig  nachgewiesen  wird,  wie  bei  den  verschiedensten  Cultur- 
völkern,  so  auch  in  Deutschland  geändert,  welches  Siegert  geradezu  das 
klassische  Land  des  Selbstmordes  genannt  hat.  Nach  den  amtlichen 
statistischen  Angaben  für  das  Königreich  Preufsen,  welche  natürlich  auf 
Vollständigkeit  keinen  Anspruch  machen  können  und  hinter  den  wirklichen 
Verhältnissen  noch  zurückbleiben,  ist  bei  den  1708  Kinderselbstmorden  in 
der  Zeit  von  1869—1898  das  männliche  Geschlecht  mit  fast  79%  betheiligt 
Die  unverkennbare  Zunahme  zeigt  sich  darin,  dafs  der  jährliche  Durch- 
schnitt in  der  ersten  fünfjährigen  Periode  38,  in  der  letzten  68  beträgt; 
oder  es  kommt,  wenn  man  die  Bevölkerungsziffer  zu  Grunde  legt,  in  der 
Zeit  von  1869—1873  ein  Selbstmord  auf  666022,  in  der  Zeit  von  1894—1898 
ein  Selbstmord  auf  497815.  Die  Zahl  der  Selbstmorde  überhaupt  ist  in  den 
30  Jahren  etwas  stärker  gestiegen  als  die  der  Kinderselbstmorde.  Ein  Par- 
allelismus oder  irgend  eine  Abhängigkeit  zwischen  diesen  beiden  Zahlen 
l&fet  sich  nicht  erweisen,  und  das  spricht  dafür,  dafs  dem  Kinderselbstmord 


Literaturhericht.  223 

andere  Beweggründe  and  Ursachen  zu  Grunde  liegen,  wie  dem  Selbstmorde 
der  Erwachsenen. 

Hinsichtlich  der  Ursachen  des  Selbstmordes  mufs  man  zwei  Gruppen 
unterscheiden,  solche,  welche  aus  den  Lebensbedingungen  des  ganzen  Ge- 
sellschaftsorganismus  hervorgehen,  und  solche,  welche  in  den  besonderen 
Verhältnissen  der  Einzelnen  gelegen  sind.  Begreiflicherweise  werden  uns 
beim  Kinderselbstmorde  die  letzteren  mehr  interessiren,  wenn  wir  uns 
auch  die  Schwierigkeit  des  Nachweises  des  wirklichen  Beweggrundes  in 
jedem  einzelnen  Falle  nicht  verhehlen  dürfen. 

Von  den  individuellen  Momenten  erörtert  Verf.  den  Einflufs  der 
Greistesstörung,  der  minderwerthigen  Organisation,  der  Abstammung  und 
Vererbung  und  des  krankhaften  A^ects.  Man  wird  seiner  Annahme 
sicherlich  beipflichten,  dafs  Geistesstörung  bei  Kindern  in  einer  noch 
gröfseren  Zahl  zum  Selbstmorde  führt  als  bei  Erwachsenen,  und  diese  An- 
nahme trifft  auch  für  die  ungleich  verbreitetere  psychopathische  Minder- 
werthigkeit  zu.  Der  Einflufs  des  Alkohols  in  der  Ascendenz  verdient  eine 
eingehendere  Prüfung  und  Würdigung,  als  bisher  geschehen  ist.  Meist  ist 
der  Selbstmord  das  Ergebnifs  eines  krankhaft  gesteigerten,  schmerzhaften 
Unlustaffects.  Bei  936  Selbstmorden  im  Kindesalter  aus  den  Jahren  1884 
bis  1898  werden  in  76  Fällen  Geisteskrankheit,  in  78  Fällen  Zustände  von 
einer  lang  andauernden  depressiven  Wirkung,  in  410  Fällen  acuter  Affect 
(Scham,  Reue,  Gewissensbisse,  Aerger)  als  Motiv  angeführt;  und  sicherlich 
wird  noch  mancher  der  Fälle  mit  unbekannten  Gründen  hierzu  gehören. 

Von  den  auDserhalb  des  Individuums  gelegenen  Ursachen  erörtert  Verf. 
zunächst  die  Einwirkung  der  weiteren  Umgebung.  Die  meisten  Selbstmorde 
hat  die  Provinz  Sachsen,  die  wenigsten  die  Provinz  Posen  zu  verzeichnen. 
Industrie  und  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  sind  aber  hierbei  nicht  aus- 
schlaggebend; und  ebensowenig  spielt  die  gewerbliche  Beschäftigung  der 
Kinder  selbst  hierbei  eine  Bolle.  Die  Annahme,  dafs  gerade  in  den  Grofs- 
städten  die  Zahl  der  Selbstmorde  auffällig  grofs  sei,  trifft  nicht  zu. 

Von  ungleich  gröfserer  Bedeutung  sind  die  Einwirkungen  der  engeren 
Umgebung,  welche  die  Erziehung  des  Kindes  ausmachen  und  vornehmlich 
von  der  Familie  und  der  Schule  ausgehen.  Ein  Ueberwiegen  der  Selbst- 
morde in  den  verschiedenen  Classen  der  Bevölkerung  läfst  sich  nicht  nach- 
weisen. Nur  wird  die  Art  der  Ursachen  und  Motive  in  den  armen  und 
reichen  Gesellschaftskreisen  eine  andere  sein:  dort  schlechte  Ernährung, 
Hunger,  Mifshandlung,  Fehlen  einer  geordneten  Erziehung  und  des 
Familienlebens,  Verwahrlosung,  Ueberanstrengung  bei  der  Arbeit;  hier 
Wohlleben,  Ueppigkeit,  frühzeitige  Gewöhnung  an  für  das  Kindesalter 
nicht  bestimmte  Genüsse,  unzweckmäfsige  Erziehung,  einseitige  Berück- 
sichtigung der  Entwickelung  des  Verstandes  bei  Vernachlässigung  der  Ent- 
faltung des  Gemüths.  Beiden  gemeinsam  ist  die  Ausbildung  einer  Früh- 
reife, die  zur  Ursache  vielen  Uebels  wird. 

Es  liegt  sicherlich  sehr  nahe,  die  Schule  mit  dem  Selbstmorde  in 
ursächlichen  Zusammenhang  zu  bringen,  und  besonders  wird  die  moderne 
Schule  mit  der  fast  übergrofsen  Menge  des  Lehrstoffs  und  der  Ueberbürdung 
angeschuldigt.  Das  ist  aber  nicht  berechtigt.  Höchstens  kann  die  Schule 
eine  Mitursache  sein.    Die  wesentliche  wirkliche  Ursache  für  die  Ueber- 


224  LUeraturberidtt, 

tyttrdiiiig  and  Alles,  was  damit  sasamttenhftngt,  ist  in  der  Oonstitiitien  dee 
Kindes  und  dessen  socialen  Verhältnissen  zu  suchen.  Fehler  der  haasUchea 
£rziehnng  (hierbei  n.  ▲.  Alkoholdarreichung)  berechtigen  fast  daan,  eher 
von  einer  Ueberbürduag  auüMrhalb  der  Schule  als  durch  die  Schule  su 
reden.  Auf  der  anderen  Seite  soll  gewiüi  nicht  geleugnet  werden,  dab  die 
höhere  Schule  mit  den  häufigeren,  bisweilen  ganz  überflfissigen  CSensuren, 
dem  Inspiciren  und  Ezaminiren  mitwirkt^  da  diese  Momente  auch  Schaler 
mit  normalen  F&hi^eiten  schadigen  können.  Nimmt  doch  %  aller  Kinder 
zur  PrOfungszeit  an  Gewicht  ab.  Mit  grof^er  Genugthuung  begrOlst  daher 
Verf.  die  Reform  unseres  höheren  Schulwesens,  welche  eine  Verminderung 
des  Examenwesens  bezweckt  Wenn  so  oft  gekränkter  Ehrgeiz  als  Beweg- 
grund angefahrt  wird,  so  liegt  dies  auch  daran,  dafs  man  heutzutage  dem 
Fortkommen  in  der  Schule  einen  zu  grofsen  Werth  beimilst^  sowie  an  der 
üeberschätzung  der  eigenen  Persönlichkeit  durch  das  jugendliche  Individuum, 
der  kfinstlichen  Zachtung  des  Ehrgeizes.  Aehnlich  steht  es  um  das  verletzte 
Ehrgefühl,  harte  oder  unwürdige  Behandlung,  Furcht  vor  der  Strafe.  Ißt 
<ler  Schule  haben  diese  Momente  immerhin,  wie  schon  oben  gesagt,  oft 
genug  gar  keinen  directen  Zusammenhang,  und  wenn  doch,  so  fahrt  vor 
Allem  die  Eigenart  des  Individuums  in  vielen  Fällen  zum  Selbstmorde. 

Schliefslich  berührt  Verf.  noch  kurz  das  suggestive  Moment  der  Naeh- 
ahmung,  indem  er  auf  die  Gefahr  der  Lektare  der  Tageeblätter  hinweist, 
sowie  das  Moment  der  Spielerei  und  Eitelkeit,  der  Sucht  Andere  zu  argem 
und  der  unzutreffenden  Vorstellung  des  kindlichen  Alters  vom  Tode. 

Da  Degeneration  und  Geistesstörung  auf  der  einen,  schlechte  Er- 
ziehung und  Frühreife  auf  der  anderen  Seite  die  relative  Häufigkeit  der 
Selbstmorde  und  ihre  Zunahme  erklären,  so  hat  hier  die  Prophylaxe  ein- 
zusetzen und  sich  frühzeitig  mit  der  Erforschung  der  körperlichen  und 
geistigen  Fähigkeiten  des  Kindes  und  mit  einer  auf  dieser  Erkeimtnils  sich 
aufbauenden  Erziehung  und  Behandlung  abzugeben. 

Ebnst  Schültzb  (Andernach). 


Berichtigung. 


In  meiner  im  26.  Bd.  dieser  Zeitschr.  erschienenen  Besprechung  1.  saf 
S.  236,  Z.  6  V.  u.  Gesammtklang,  auf  S.  237,  Z.  1  Vaselin,  Z.  7  Gesammt« 
empfindung.  F.  Kissow. 

Berichtigung. 


Durch  ein  Versehen  ist  in  meinem  Aufsatze  „Ueber  den  EinfluDs  der 

Gefühle  auf  die  Vorstellungsbewegung",  diese  Zeitschrift  27,   S.  26,  Zeile  16 

ein  Druckfehler  stehen  geblieben.    Daselbst  soll  es  statt  ,, psychologische 

Vorgänge"  richtig  „physiologische  Vorgänge"  heiften. 

Saxinorb. 


^ 


'      :    . 


Zur  Theorie  der  Melodie. 

Von 

Theodob  Lipps. 


Max  Meyee's  Theorie. 

Ich  bin  zu  den  folgenden  Bemerkungen  veranlafst  durch 
Max  Meyeb's  „Contributions  to  a  Psychological  Theory  of  Music", 
die  das  erste  Heft  des  ersten  Bandes  der  „Universüy  of  Missouri 
Studies^,  Juni  1901,  füllen.  Max  Meyeb  giebt  in  dieser  Abhand- 
lung insbesondere  Grundzüge  einer  neuen  Theorie  der  Melodie. 

Diese  Theorie  beruht  zunächst  auf  dem  Satze:  Wenn  zwei 
Töne  sich  verhalten  wie  2"  :  3,  5,  7,  9,  15,  —  wobei  2"  jede 
Potenz  von  2  einschliefslich  2**  =  1  bezeichnet  —  so  ist  mit  dem 
Fortgang  vom  ersten  zum  zweiten  dieser  beiden  Töne  eine  Ten- 
denz der  Rückkehr  zum  ersten  verbunden. 

Dieser  Satz  wird  dann  alsbald  erweitert  und  gesteigert  zu 
der  Regel :  Wenn  in  einer  Melodie  ein  Ton  vorkommt,  der  sich 
zu  allen  übrigen  Tönen  der  Melodie  verhält  wie  2"  :  3,  5,  7, 
oder  zu  einem  Product  aus  2,  3,  5,  7,  so  ist  der  Hörer  befriedigt, 
nur  wenn  dieser  Ton  am  Schlufs  der  Melodie  wiederkehrt.  Einen 
Ton  von  der  bezeichneten  Art  nennt  M.  „Tonica"  der  Melodie. 
Wir  können  also  auch  kurz  sagen:  Die  „Tonica"  einer  Melodie, 
in  diesem  MEYER'schen  Sinne,  mufs  nach  M.  den  Schlufston  der 
Melodie  bilden. 

Hieraus  ergiebt  sich  dann  ohne  Weiteres  folgende  Con- 
sequenz :  Für  alle  Töne  der  „diatonischen  Leiter"  ist  die  Quarte, 
nach  Meyer's  Terminologie,  „Tonica".  D.  h.  die  Quarte  verhält 
sich  zu  allen  übrigen  Tönen  der  Leiter  wie  2"  :  3,  5,  7  oder  zu 
einem  Product  aus  den  Zahlen  2,  3,  5,  7.  Also  müfste  nach  M. 
jede   aus  den  Tönen  der   diatonischen  Leiter  gebildete  Melodie 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  15 


r '••  . 


226  Ilieodor  Lipps. 

mit  der  Quarte  abschliefsen.  Dieser  SchluCs  müfste  der  einzig 
befriedigende  sein.  Nun  pflegen  die  Melodien,  die  nach  der  ge- 
wöhnlichen Ansicht  auf  der  diatonischen  Leiter  beruhen,  nicht 
mit  der  Quarte  abzuschliefsen.  Trotzdem  ist  ihr  Abschlag  be- 
friedigend. Also  beruhen  diese  Melodien  in  Wahrheit  nicht 
auf  der  diatonischen  Leiter.  Der  Glaube  an  die  diatonische 
Leiter  als  Grundlage  unserer  Melodien  ist  überhaupt  ein  Aber- 
glaube. Wir  müssen  die  „diatonische  Leiter",  um  die  wirkliche 
Grundlage  aller  dieser  Melodien  zu  gewinnen,  umwandeln.  Wir 
müssen  insbesondere  an  die  Stelle  der  Quarte  die  natüriiche 
Septime  der  Quint,  und  weiterhin  an  die  Stelle  der  Sexte  die 
Secunde  der  Quint  (8:9)  setzen.  Nehmen  wir  hier,  wie  im 
Folgenden  immer,  an,  der  Grundton  der  Leiter,  aus  deren  Tönen 
die  Melodie  gebildet  ist,  sei  C,  so  mufs  der  vierte  Ton  der  Leiter,  • 
F^  gef afst  werden  als  natürliche  Septime  von  ö,  der  sechste  Ton, 
A,  als  Secunde  von  G.  Es  mufs,  mit  anderen  Worten,  dasVer- 
hSitnifs  von  0:  F  gedacht  werden  nicht  als  3:4,  sondern  als 
16  :  21,  das  VerhSitnifs  C :  Ä  nicht  als  3  :  5,  sondern  als  16 :  27. 
Damit  ist  erreicht,  dafs  der  Grundton  der  Leiter,  also  C,  für  die 
ganze  Leiter  „Tonica",  nämlich  Tonica  im  MsYEB'schen  Sinne 
ist  Erst  auf  Grund  dieser  Annahme  sind  nach  M.  die  nadi 
gemeiner  Auffassung  auf  der  diatonischen  Leiter  beruhenden 
Melodien  psychologisch  verständlich. 

Diese  „neue  Theorie"  setzt  M.  in  scharfen  Gegensatz  zu  der 
„alten  Theorie".  Dabei  fällt  zunächst  auf,  dafs  M.  sich  den 
Kampf  gegen  die  alte  Theorie  etwas  leicht  macht  Für  die  alte 
Theorie  ist  nach  M.  eine  Melodie  einfach  eine  beliebige  Fdge 
von  Tönen  der  diatonischen  Leiter.  Eine  solche  „alte  Theorie' 
kenne  ich  nicht.  Zweitens:  In  weniger  einfachen  Melodkn 
kommen  auch  Töne  vor,  die  der  diatonischen  Leiter,  auf  weldw 
die  Melodie  nach  gemeiner  Meinung  aufgebaut  ist,  fremd  sind, 
z.  B.  in  C-Dur  der  Ton  Fis.  Diese  Töne  sind  nach  Mets*! 
Meinung  für  die  alte  Theorie  nur  dazu  da  „to  make  the  melodj 
more  like  howling^^  Nun  mag  diese  Anschauung  wohl  dieean 
oder  jenen  Anhänger  haben.  Aber  Meyer  redet  von  der  „ahen 
Theorie"  in  Bausch  und  Bogen. 

Auf  Grund  dieser  Vorstellung  von  der  „alten  Theorie"  findet 
M.  überall  in  Melodien  Töne,  oder  er  findet  ganze  Melodien,  mit 
denen,  seiner  Ueberzeugung  nach,  die  alte  Theorie  gar  nichts 
anzufangen  weifs.    Das  sind  Phantasien.    Li  jedem   der  Fülle, 


Zmt  Theorie  der  Mdodie.  227 

die  M.  anführt,  ist  die  Deutung  für  die  „alte  Theorie"  voll- 
kommen klar.  Die  alte  Theorie  hat  ihre  darauf  bezügUchen  und 
Jedermann  bekannten  Regeln.  Ich  weifs  nicht,  warum  M.  von 
diesen  Regeln  keine  Notiz  nimmt. 

Die  Theorie  der  „Tonrhythmen". 

Indessen  davon  wUl  ich  hier  nicht  weiter  sprechen.  Etwas 
gnädiger  als  mit  den  sonstigen  Vertretern  der  alten  Theorie  ver- 
fährt Meyeb  mit  mir.  Ich  habe,  so  findet  M.,  einen  Anfang  zu 
einer  richtigen  Theorie  gemacht  Doch  hat  auch  mir  das  Haften 
an  der  diatonischen  Leiter  den  Weg  zu  weiteren  Einsichten  ver- 
sperrt. 

In  der  That  hegt  in  jenem  ersten  Satze  Meyeb's  —  Wenn 
zwei  Töne  sich  verhalten,  wie  2* :  3,  5,  7,  9,  15,  so  sei  mit  dem 
Fortgang  vom  ersten  zum  zweiten  dieser  Töne  die  Tendenz  der 
Rückkehr  zum  ersten  verbunden  —  die  Anerkennung  einer 
Grundlage  der  Melodiebildung,  auf  die  ich  seit  lange  aufmerksam 
gemacht  habe.  Ich  kann  dieselbe  kurz  so  bezeichnen:  Wenn 
in  dem  durch  möglichst  kleine  ganze  Zahlen  ausgedrückten 
Schwingungsverhältnisse  zweier  genügend  nahe  verwandter  Töne 
das  eine  VerhältniTsglied  2  oder  eine  Potenz  von  2  ist,  so  ist 
der  diesem  Verhältnifsglied  entsprechende  Ton  gegenüber  dem 
anderen  der  „Zielton".  Folgt  etwa  auf  ein  O  ein  C,  das  sich 
zu  dem  vorangegangenen  G  verhält  wie  2:3,  so  ist  in  diesem 
Granzen  oder  in  dieser  als  Einheit  aufgefafsten  Folge  das  C 
Zielton  des  G.  Dies  will  heifsen:  Der  Fortgang  von  6  zu  C 
bat ,  im  Vergleich  mit  dem  Fortgang  von  C  zu  G,  den  Charakter 
des  Uebergangs  zur  Ruhe,  der  in  sich  zum  Abschlufs  gelangen- 
den Bewegung,  der  Gewinnimg  einer  natürUchen  Gleichgewichts- 
lage, des  Einmündens  einer  Bewegung  in  ihren  natürlichen  End- 
punkt Das  G  —  C,  so  habe  ich  dies  auch  wohl  ausgedrückt, 
klingt  wie  eine  Antwort,  während  das  C —  G  wie  eine  Frage  sich 
ausnimmt  Ich  fügte  hinzu,  in  gewissem  Grade  verhalte  sich  das 
C  auch  zu  seiner  höheren  Octave  c  analog  wie  C  zu  G. 

Meyer   tadelt   nun   zunächst   diesen    letzteren   Zusatz.     Er 

meint,  er  könne  nicht  finden,  dafs  die  Folge  c  —  C  in  höherem 

Grade  den  Eindruck  des  Fortgangs  zur  Ruhe  mache,   als  die 

umgekehrte    Folge.      Dazu    bemerke    ich,    dafs    es    bei    mir 

zweifellos  sich  so  verhält    Im  Uebrigen  ist  dieser  Punkt  für 

die  Theorie  der  Melodie  nebensächlich. 

15* 


228  Theodor  Lipps. 

Meyer  tadelt  weiter  die  Art,  wie  ich  jene  besondere  Be- 
deutung der  2  bezw.  der  Potenzen  von  2erkläre.  Er  thut  meine 
Erklärung  kurz  ab  mit  der  Bemerkung,  die  Rauhigkeit  der 
tiefen  Töne  gebe,  wie  er  nachgewiesen  habe,  kein  Recht  zu  der 
Meinung,  Tonempfindungen  seien  nicht  stetige  Empfindungen, 
sondern  eine  Reihe  kurzer  Empfindungen,  die  durch  kurze  leere 
Zwischenräume  getrennt  seien. 

Mit  dieser  Bemerkung  mag  Meyer  Recht  haben.  Nur  kann 
er  gewifs  nicht  Recht  haben  gegen  mich.  Denn  eine  so  thörichte 
Ansicht  vom  Wesen  der  Tonempfindung  habe  ich  niemals  aufge- 
stellt. Auf  die  Rauhigkeit  tiefer  Töne  habe  ich  mich  freilich, 
als  ich  meine  Anschauung  zum  ersten  Male  äufserte,  berufen. 
Ob  mit  Recht  oder  mit  Unrecht,  ist  aber  für  die  Anschauung 
selbst  gleichgültig.  Späterhin  bin  ich  übrigens  auf  diese  Rauhig- 
keit geflissentUch  nicht  wiederum  zurückgekommen. 

In  Wahrheit  ist  meine  Anschauung  die  folgende.  Ich  gebe 
sie  möglichst  kurz  in  einer  Reihe  von  Sätzen  wieder. 

Erstlich:  Das  im  psychischen  Leben  Wirkende  imd  Wir 
kungen  Empfangende  sind  jederzeit  nicht  die  Bewufstseinsinhalte, 
sondern  die  diesen  zu  Grunde  liegenden  psychischen  oder,  wenn 
man  lieber  will,  „centralen**  Vorgänge.  Also  mufs  auch  die 
Wechselwirkung  zwischen  Tönen  als  eine  Wechselwirkung  der 
psychischen  Vorgänge  betrachtet  werden,  die  den  Bewufstseins- 
inhalten.  Töne  genannt,  zu  Grunde  liegen. 

Zweitens:  Diese  Vorgänge  sind,  wie  alle  psychischen  Vot- 
gänge,  zu  denken  —  nicht  als  sich  gleichbleibende  Zustände, 
sondern  eben  als  —  Vorgänge,  nämlich  als  Vorgänge  im 
Sinne  wechselnder  Zustände,  oder  im  Sinne  eines  Wechsels 
von  Zuständen. 

Drittens :  Wir  müssen  annehmen,  dafs  dem  Rhythmus  der 
physikalischen  Schwingungen,  die  einen  Ton  erzeugen,  ein 
analoger  Rhythmus  in  den  zugehörigen  Tonempfindimgsvor- 
gängen,  oder  in  dem  zugehörigen  Wechsel  psychischer  oder 
centraler  Zustände  entspricht,  dafs  also  der  psychische  oder 
centrale  Vorgang  der  Tonempfindung  in  eine,  der  Folge  der 
physikalischen  Theil  Vorgänge ,  d.  h.  der  einzelnen  Ton  wellen, 
analoge  Folge  von  Elementen  oder  elementaren  Theilvorgängen 
sich  zerlegt. 

Viertens:  Einem  G  mögen  300  Schwingungen  in  der  Se- 
cunde  entsprechen;  dann  entsprechen  dem  C  200  Schwingungen 


Zwr  Theorie  der  Melodie,  229 

in  der  gleichen  Zeit.  Diese  Folgen  von  Schwingungen  haben 
etwas  Gremeinsames :  die  physikalischen  „Rhythmen"  der 
beiden  Töne  —  der  Rhjrthmus  der  Folge  von  300  und  der 
Rhythmus  der  Folge  von  200  Schwingungen  —  haben  einen 
Grundrhythmus  gemein.  300  ist  100  X  3,  und  200  ist  100  X  2. 
Damit  ist  der  gemeinsame  Grundrhythmus  bezeichnet  Es  ist  der 
Rhythmus  der  Folge  von  100  im  Uebrigen  gleichen,  niur  beim 
einen  Ton  jedesmal  in  3,  beim  anderen  jedesmal  in  2  Elemente 
zerlegten  Einheiten. 

Dies  nun  müssen  wir  nach  dem  Gesagten  tibertragen  auf 
die  Rhythmen  der  Folgen  von  elementaren  Theilvorgängen  der 
Tonempfindungsvorgänge,  oder  kurz  auf  die  „Tonrhythmen".  Auch 
die  Tonrhythmeo  von  G  imd  C  haben  einen  gemeinsamen  Grund- 
rhythmus. 

Fünftens:  Treffen  zwei  solche  Töne  in  der  Psyche  zu- 
sammen, so  bilden  sie  ein  Ganzes,  das  diesen  gemeinsamen 
Grundrhythmus  zum  Einheitspunkte  hat  Sie  büden  ein  rhyth- 
misches  System,  mit  diesem  gemeinsamen  Grundrhythmus  als 
Basis.  Dieser  Grundrhythmus  ist,  a  1  s  Basis,  einerseits  etwas  für 
sich,  psychisch  relativ  selbständig.  Andererseits  differenzirt  er 
sich  in  beiden  Tönen  in  entgegengesetzter  Weise,  d.  h.  so,  dab 
das  rhythmische  Element  dieses  Grundrhythmus  im  einen  Tone 
jedesmal  als  Einheit  von  drei,  im  anderen  jedesmal  als  Einheit 
von  zwei  Elementen  sich  darstellt  Oder  umgekehrt  gesagt :  Die 
beiden  Töne  sind  innerhalb  dieses  rhythmischen  Systems  einer- 
seits diese  beiden  von  einander  verschiedenen  Töne,  oder  diese 
beiden  qualitativ  auseinandergehenden  Tonrhythmen;  anderer- 
seits sind  sie  doch  nicht  mehr  die  beiden  qualitativ  auseinander- 
gehenden Tonrhythmen,  die  sie  sonst  sind,  sondern  sie  sind  in 
dem  einheitUchen  Grundrhythmus  beschlossen  oder  zusammenge- 
schlossen. Dieser  Grundrhythmus  unterliegt  nur  in  beiden  einer 
verschiedenen  Gliederung,  nämlich  im  einen  einer  Dreigliederung, 
im  anderen  einer  ZweigUederung,  d.  h.  in  jenem  findet  eine  Zu- 
sammenfassung von  je  drei,  in  diesem  eine  Zusammenfassung 
von  je.  zwei  Elementen  zu  im  Uebrigen  gleichen  Einheiten  statt 

Die  hiermit  bezeichnete  Einheit  eines  Mannigfaltigen  ist  ein 
Fall  der  ästhetischen  Einheit  eines  Mannigfaltigen.  Als  solche 
ist  sie  begleitet  von  einem  Gefühl  der  qualitativen  Einheitlich- 
keit, der  inneren  Zusammengehörigkeit,  der  Einstimmigkeit,  kurz 
der  Consonanz. 


230  Theodor  Liftps, 

Endlich  sechstens:  Unter  allen  Theilungen  des  in  der  Zeit 
Verlaufenden  ist  die  Theilung  in  z  w  e  i  gleiche  Theile,  wiederum 
die  Theilung  jedes  Theiles  in  zwei  gleiche  Theile,  fär  uns  die 
natürlichste.  Oder:  —  Unter  allen  Gliederungen  ist  die  Zwei- 
gliederung und  die  potenzirte  ZweigUedenmg,  d.  h.  die  Zusammen- 
fassung von  je  zwei  Elementen  zur  Einheit,  dann  wiederum  die 
Zusammenfassung  von  je  zwei  solchen  Einheiten  zur  Einheit,  für 
ims  die  natürlichste.  Oder  vielmehr,  solche  auf  der  Zweizahl 
beruhende  Theilung  und  Gliederung  ist  für  uns  die  zunftchst 
natürliche.  Der  ZweigUedenmg  am  nächsten  steht  die  Vier- 
gUederung,  die  dem  Bedürfnifs  der  ZweigUederung  in  minderem 
Grade  genügt ;  dieser  die  Achtgliederung  u.  s.  w.  Diese  auf  der 
Zweizahl  basirenden  Gliederungen  sind,  so  kann  ich  dies  auch 
genauer  bestimmen,  die  in  sich  relativ  gegensatzlosen.  Dag^en 
trägt  die  DreigUederung,  noch  mehr  die  Fünf-,  SiebengUederong 
IL  s.  w.  in  sich  ein  Moment  der  ausgesprochenen  Gegensätzlich- 
keit. Jenen  GUedenmgen  eignet  demgemäfs  ein  Charakter  der 
Ruhe  oder  des  in  sich  Beruhenden,  des  Gleichgewichtes,  diesen 
in  wachsendem  Maafse  ein  Charakter  relativer  Unruhe,  der  Be- 
wegtheit, des  aufgehobenen  Gleichgewichtes. 

—  Daraus  wird  mir  der  verschiedene  Eindruck  des  Fort- 
ganges von  G  zu  C,  und  andererseits  des  Fortganges  von  CtaG 
verständUch. 

Ich  füge  noch  hinzu:  Die  hier  kurz  angedeutete  An- 
schauung ist  nicht  eine  von  mir  ad  hoc  ersonnene  Hypothese, 
sondern  sie  ist  die  Anwendung  allgemeinster  psychologischer 
Grundanschauungen  auf  den  bestimmten  Fall.  Diese  Grand- 
anschauungen finden  im  Uebrigen  ihre  Anwendung  auf  allen 
möghchen  Gebieten  des  psychischen  Lebens. 

Meyeb's  Theorie  und  die  Thatsachen. 

Kehren  wir  nun  aber  zu  Meyeb  zurück.  Er  tadelt,  wie  ge- 
sagt, meine  Erklärung  des  besonderen  Vorzuges  der  Zwei- 
theilung oder  Zweigliederung,  kurz  der  ZweizahL  Dies  hind^ 
doch  nicht,  dafs  er  das  Wesentlichste  an  dieser  Erklärung  selbst 
voraussetzt.  Dies  thut  er  unmittelbar,  indem  er  mit  der  Zweixahl 
und  andererseits  der  Dreizahl,  Fünf  zahl  etc.  überhaupt  operirt, 
und  indem  er  sie  insbesondere  für  die  Gesetzmälüsigkeit  der 
Melodie  verantwortUch  macht.  Alle  diese  Zahlen  sind  ja  zunächst 
Schwingungszahlen.     Offenbar    können    sie    psychologische  Be- 


Zur  Theorie  der  Melodie.  231 

deutung  haben,  nur  wenn  der  Rhythmus  der  Schwingungsfolgen 
irgendwie  auch  psychisch  existirt.  Das  ist  aber  eben  die  Grund- 
lage meiner  Anschauimg. 

Im  Uebrigen  könnte  ich  damit  zufrieden  sein,  dafs  Meter 
den  von  mir  behaupteten  Vorzug  der  Zweizahl  anerkennt.  Aber 
Mkyeb  erkennt  ihn  nicht  einfach  an,  sondern  er  schränkt  ihn 
einerseits  ein,  andererseits  steigert  er  ihn. 

Dies  Beides  thut  Meyeb  willkürUch  und  im  Widerspruch 
mit  den  Thatsachen.  Meyeb  sagt:  Wenn  in  einer  Folge  ver- 
wandter Töne,  oder  in  einer  „Melodie"  ein  Ton  vorkomme,  der 
sich  zu  den  anderen  Tönen  der  Melodie  verhalte  wie  2"  :  3,  6,  7 
oder  zu  einem  Producte  aus  2,  3,  5,  7,  so  bestehe  das  Bedürfnis 
der  Rückkehr  zu  2"  imd  des  Abschlusses  in  2".  Hier  ist  un- 
richtig die  Annahme,  dafs  2"  innerhalb  der  Folge  von  Tönen 
vorkommen,  also  irgendwelchen  dieser  Töne  vorangehen 
müsse,  wenn  die  Tendenz  des  Ueberganges  zu  2  bestehen  solle, 
oder  kurz,  dafs  dieser  U ebergang  eine  Rückkehr  sein  müsse. 

Man  vergleiche  mit  der  Tonfolge  G — c — H — d — f — G — c 
die  Tonfolge  G  —  H —  d — f —  G  —  c.  Es  ist  kein  Zweifel,  in  beiden 
Tonfolgen  entspricht  der  Abschlufs  in  c  einem  fühlbaren  Be- 
dürfnifs.  Bei  der  ersten  Tonfolge  nun  kann  Meyer  dies  Be- 
dürfnifs  ableiten  aus  jener  eben  wiederholten  allgemeinen  Regel 
Vielmehr  er  mufs  es  nach  seiner  ganzen  Anschauung  und  nach 
Analogie  der  von  ihm  eingehender  besprochenen  Fälle  daraus 
ableiten.  D.  h.  zunächst,  er  mufs  hier,  ebenso  wie  bei  den  nach 
gemeiner  Meinung  auf  der  diatonischen  Leiter  aufgebauten  Me- 
lodien, das  f  als  natürliche  Septime  von  G  fassen,  also  f  zn  c 
sich  verhalten  lassen  wie  21  :  16.  Thut  er  dies,  dann  ist  c  die 
„Tonica"  jener  Tonfolge.  Und  daraus  ergiebt  sich,  der  Meyer- 
schen  Regel  zufolge,  das  Bedürfnifs  der  Rückkehr  zu  c. 

Natürlich  müfste  dann  aber  M.  bei  der  zweiten  Tonfolge  den 
gleichen  Sachverhalt,  d.  h.  das  bei  ihr  in  gleicher  Weise  be- 
stehende Bedürfnifs  des  Abschlusses  in  c  in  gleicher  Weise  er- 
klären. Hier  aber  geht  dem  abschliefsenden  c  innerhalb  der 
Tonfolge  kein  C  voraus. 

Sehen  wir  indessen  davon  ab.  Achten  wir  nur  auf  die 
Fälle,  in  denen  die  gemeinsame  „Tonica"  einer  Reihe  von  Tönen 
innerhalb  der  Reihe  vorkommt  Dann  frage  ich  zunächst: 
Wie  eigentUch  kommt  M.  zu  seiner  Regel,  ich  meine  zu  der  Regel, 
dafs  in  solchen  Fällen  die  Tonica  den  Schlufston  bilden  müsse? 


232  Theodor  JÄpps, 

Meyeb  geht  aus  von  der  Bemerkung:  Wenn  ich  von  2  zu 
3,  also  etwa  von  C  zu  (r  fortgehe,  so  habe  ich  ein  fühlbares  Be- 
dtirfnifs  der  Rückkehr  zu  2.  Aber  wieso  folgt  hieraus  der  Satz, 
dafs  in  jeder  Folge  von  Tönen,  oder  jeder  „Melodie",  in  der 2 
als  Tonica  vorkommt,  die  Tendenz  der  Rückkehr  zu  2  be- 
stehe. Soll  hier  nach  Meyer  jeder  der  Töne  die  Tendenz  der 
„Rückkehr'^  in  sich  schliefsen.  Dann  bedenke  man,  dab  unter 
den  Tönen  einer  Melodie,  in  denen  die  Tonica  2  vorkommt,  nach 
Meyeb  auch  Töne  sich  finden  können,  die  sich  zur  Tonica  wie 
21  zu  2"  oder  wie  405  :  2"  oder  gar  wie  675  :  2»  verhalten;  kurz, 
dafs  in  Melodien  Töne  vorkommen  können,  die  mit  der  „Tonica* 
auch  nach  M.  gar  nicht  verwandt  sind.  So  sind  insbesondere 
in  jener  Tonfolge  G — c — H — d — f — G  —  c  die  Töne  f  und 
c,  wenn  f  als  natürliche  Septime  von  G  gefafst  wird,  nach 
M.  nicht  verwandt  M.  sagt  aber  selbst  an  einer  Stelle,  das 
BedürfniTs  der  Rückkehr  von  3  zu  2  sei  stärker  als  das  Bedarf- 
nifs  der  Rückkehr  von  7  zu  8,  oder  von  9  zu  8;  und  fügt 
hinzu,  dieser  Sachverhalt  scheine  durch  den  Grad  der  Ver- 
wandtschaft bedingt  Daraus  müssen  wir  schliefsen,  dab  in 
unserer  Tonfolge  G — c — H — d — f — G — c  das  /*,  das,  wie  ge- 
sagt, für  Meyeb  mit  c  nicht  verwandt  ist,  keine  Tendenz  der 
Rückkehr  zu  o  in  sich  schUefst. 

Darnach  müssen  wir  Meyer's  Regel  anders  interpretiren, 
als  wir  soeben  versuchsweise  thaten.  Nicht  alle  Töne  der 
„Melodien*',  die  in  ihrer  Tonica  befriedigend  abschliefisen,  tragen 
die  Tendenz  der  Rückkehr  zur  „Tonica"  in  sich,  sondern  nur 
einige  derselben.  Oder  umgekehrt  gesagt:  Es  genügt,  dals 
einige  Töne  diese  Tendenz  in  sich  schUefsen,  damit  dieselbe  für 
die  ganze  Melodie  bestehe,  damit  also  die  ganze  Melodie  in  der 
Tonica  befriedigend  abschliefse.  Aber  wenn  es  nim  so  sich  ver- 
hält, wenn  also  in  unserem  Falle  f  für  die  Tendenz  der  Rück- 
kehr zu  c  vöUig  bedeutungslos  ist,  was  hat  es  dann  für 
einen  Sinn  zu  fordern,  dafs  f  sich  zu  c  verhalte  wie  21  zu  2"? 
Was  für  einen  Sinn  hat  es  zu  sagen,  dies  Verhältnifis  müsse 
angenommen  werden,  weil  sonst  die  Tendenz  der  Rückkehr  zu 
c  nicht  bestehen  könne  ?  Warum  soll  ein  /*,  das  mit  der  Tendenz 
der  Rückkehr  zu  c  gar  nichts  zu  thun  hat,  nicht  auch,  unbe- 
schadet dieser  Tendenz,  Quart  das  c  sein?  Woher  überhaupt 
Meyer's  Eifer  gegen  die  Quart  und  ihr  Verhältnifs  4:3  zur 
Tonica  ? 


Zur  Theorie  der  Melodie.  233 

Wenn  f  die  Quart  von  c  wäre,  würde  nach  M.  in  unserer 
Tonfolge  an  die  Stelle  der  Tendenz  der  Rückkehr  zu  c  die 
Tendenz  der  Rückkehr  zu  f  treten.  Betrachten  wir  die  Sache 
auch  von  dieser  Seite.  Ich  frage:  Warum  ist  es  so?  M.  ant- 
wortet: Weil  jetzt  f  „Tonica"  ist  Dies  ist  f  in  der  That  nach 
Mbyer's  Terminologie.  Aber  Terminologien  haben  doch  nicht 
die  Kraft,  eine  bestimmte  Art  des  Abschlusses  einer  Melodie  zu 
erzwingen.  Nur  die  Töne  der  Tonfolge  können  diese  Kraft 
haben.    Die  Frage  lautet  also:  Wie  ist  es  damit  bestellt? 

Wenn  in  der  Tonfolge  G  —  c  —  H — d — /*,  /*als  Quart  von 
c,  also  nach  Meyer's  Terminologie  als  Tonica  genommen  wird, 
so  hat,  trotz  dieser  Terminologie,  aber  nach  Meyeb's  eigener 
Angabe,  nur  ein  einziger  Ton,  nämlich  c,  die  Kraft  auf  den 
AbschluTs  in  f  hinzudrängen,  c  hat  diese  Kraft  vermöge  seines 
Verhältnisses  zu  /'=3:4.  Dagegen  verhält  sich  O  zur  Quart 
/*  wie  9  :  16;  jBT  wie  45  :  64;  d  wie  27  :  32.  Und  alle  diese  Verhält- 
nisse begründen  nach  Meyeb  keine  Tendenz  der  Rückkehr  dieser 
Töne  (?,  jBT,  d  zu  f. 

Dagegen  liegt  in  (r,  H  und  d  die  stärkste  Tendenz  der 
Rückkehr  zu  dem  Tone  c;  in  G  wegen  des  Verhältnisses  3:4, 
in  IT  und  d  wegen  der  Verhältnisse  15  :  16  und  9  :  8  zusammen 
mit  der  besonderen  Nähe  der  beiden  Töne  H  und  d  an  c. 

Wir  haben  also  innerhalb  der  Folge  G  —  c — H — d — f  im 
Ganzen  einerseits  eine  einfache  Tendenz  des  Abschlusses  in  /*, 
andererseits  eine  dreifache  Tendenz  des  Abschlusses  in  c.  Natür- 
lich wird  jene  Tendenz  durch  diese  überwunden.  Das  Resultat 
ist,  trotz  der  Quart  /*,  die  Tendenz  der  Rückkehr  zu  c.  So 
verhält  es  sich,  wohlverstanden,  nach  der  Consequenz  der  Meyer*- 
schen  Theorie. 

Dies  alles  nun  übersieht  Meyer,  verführt  durch  seinen  Ge- 
brauch des  Wortes  „Tonica".  2  ist  ihm  Tonica  auch  für  21,  405  etc., 
lediglich  weil  diese  Zahlen  Producte  sind  aus  3,  5,  7.  Aber  die 
Frage  ist  doch  nicht,  ob  man  einen  Ton  vermöge  einer  willkürlich 
erweiterten  Terminologie  als  Tonica  eines  anderen  Tones  be- 
zeichnen kann,  sondern  ob  er  diesem  anderen  Tone  gegenüber 
Tonica  ist,  d.  h.  ob  er  als  solcher  wirkt  Thut  er  dies  nicht, 
so  ist  die  „Tonica'^  ein  leeres  Wort,  und  auf  leere  Worte  aoll 
man  keine  Theorien  bauen. 

Aber  die  von  Meyer  aufgestellte  B^ 
unmittelbar  den  Thatsachen.    Wie  ge« 


234  Theodor  Lipps. 

der  Auffassung  der  „alten  Theorie^  auf  der  diatonischen  Leiter 
beruhenden  Melodien  dadurch  mit  seiner  Regel  in  Ueberein- 
stimmimg,  dafs  er  an  die  Stelle  der  Verhältnisse  3 : 4  und  3 : 5 
die  Verhältnisse  16 :  21  und  16 :  27  setzt.  Er  erklärt  jene 
„Intonationen"  für  falsch,  diese  für  richtig.  Aber  wenn  ich  mich 
nun  darauf  capricire,  trotz  Meyeb  nach  der  alten  Theorie  zu 
intoniren,  also  in  C-dur  das  F  als  Quart,  das  A  als  Sext  er- 
klingen zu  lassen?  Dann  ist  nach  M.  das  F  die  Tonica. 
Dann  müTsten  also,  wiederum  nach  M.,  alle  jene  Melodien  in 
F^  und  nur  in  F  befriedigend  abschliefsen.  Aber  man  mache 
einmal  den  Versuch,  d.  h.  man  lasse  die  Melodien  thatsächlich 
in  F  abschUefsen.  Man  wird  finden,  dafs  der  Versuch  mifslingt 
Der  Abschlufs  in  F  klingt  nicht  befriedigend.  —  Ich  frage, 
warum  hat  M.  diesen  Versuch  nicht  gemacht?  Und  wenn  er 
ihn  gemacht  hat,  wie  kann  er  bei  seiner  Theorie  bleiben? 

Fassen  wir  aber  die  Sache  einfacher.  Kehren  wir  noch 
einmal  zur  zweiten  der  oben  einander  gegenübergestellten  Ton- 
folgen, d.  h.  zur  Tonfolge  G — H — d — f — O  zurück.  In  ihr 
sei  f  die  natürUche  Septime  von  G;  das  f  werde  als  solche 
„intonirt".  Dann  verhält  sich  G:H:d:f  wie  4:5:6:1.  Es 
ist  also  hier  für  M.  zweifellos  das  G  die  Tonica  für  alle  übrigen 
Töne.  Die  Tonfolge  müfste  also  in  G  befriedigend  abschlielsen, 
und  sie  könnte  nur  in  6  befriedigend  abschhefsen.  Aber  diee 
ist  n  i  c  h  t  der  Fall.  Die  Reihe  schliefst  befriedigend  ab  einzig  in  c. 
Meyer's  Theorie  ist  also  falsch. 

Hiermit  komme  ich  nun  gleich  zum  zweiten  Hauptpunkte 
der  MEYER'schen  Theorie.  Für  Meyeb  ist  die  7  innerhalb  der 
Melodie  der  3  und  der  5  coordinirt.  Das  Verhältnifs  2" :  7  hat 
der  Art  nach  dieselbe  Bedeutung  wie  das  Verhältnifs  2":  3  und 
2" :  5.  Auch  diese  Annahme  wird  durch  die  Folge  G — H — d — /"— Ö, 
in  der  wir  wiederum  f  als  natürliche  Septime  des  G  betrachten, 
also  f  zu  G  wie  7  : 4  sich  verhalten  lassen,  widerlegt  Lassen 
wir  in  dieser  Folge  für  einen  AugenbUck  das  f  weg,  dann 
finden  wir:  Die  Folge  G  —  H — d  schliefst  —  zwar  in  erster  Linie 
gleichfalls  in  c,  sie  schliefst  aber  auch  in  G  befriedigend  ab. 
Auch  in  G  kommt  die  Bewegung  zur  Ruhe.  Und  dieser  Sach- 
verhalt bleibt  derselbe,  vielmehr  er  steigert  sich  noch,  d.  L  der 
Abschlufs  in  G  ist  ein  vollkommenerer,  wenn  die  grofse  Septime 
von  G,  Fis,  hinzutritt,  also  etwa  in  der  Folge  G  —  H — d — F«— Ö. 


Zur  Theorie  der  Melodie.  235 

Dagegen  ist  in  dem  Augenblick,   wo  die  natürliche  Septime  des 
G  hinzutritt,  ein  befriedigender  Abschlufs  in  O  unmöglich. 

Wie  man  sieht,  ist  bei  diesem  Sachverhalt  ein  Doppeltes  zu 
unterscheiden.  Einmal:  —  Die  natürliche  Septime  F  trägt  zu 
dem  BedürfniTs  des  Abschlusses  in  der  „Tonica"  G  nichts  bei, 
während  die  grofse  Septime  Fis  allerdings  dazu  beiträgt  Und 
doch  ist  die  natürliche  Septime  der  Tonica  verwandter  als  die 
grofee  Septime.  Damit  aber  ist  es  nicht  genug:  Die  natürliche 
Septime  hebt  auch  den  befriedigenden  Abschlufs  in  der  Tonica 
auf.    Wie  verträgt  sich  das  mit  Meyeb's  Theorie? 

Die  Melodie  nach  Max  Meyeb. 

Auf  diese  Frage  der  „natürlichen  Septime  der  Quint^  komme 
ich  weiter  unten  zurück.  Zunächst  wenden  wir  uns  jetzt  zu 
dem  Punkte,  der  in  unserem  Streit  mit  Meyeb  der  eigentlich 
entscheidende  ist  Meyer  will  eine  neue  Theorie  der  Melodie 
begründen.  Da  fragen  wir  denn  biUig:  Was  eigentlich  ist  für 
M.  eine  Melodie  ?  Was  macht  ihr  Wesen  aus  ? 

Bei  Beantwortung  dieser  Frage  halten  wir  wohl  den  Meyeb- 
schen  Begriff  der  Tonica  fest,  und  erinnern  uns  des  MEYER'schen 
Dogmas:  Die  „Tonica^  der  Melodie,  nämlich  die  Tonica  im 
MEYEB'schen  Sinne,  muTs  am  Schlüsse  wiederkehren.  Ist  dies 
der  Fall,  dann  und  nur  dann  schliefst  die  Melodie,  in  welcher 
die  Tonica  vorkommt,  befriedigend  ab. 

Daraus  mm  müssen  wir,  so  scheint  es,  zunächst  schliefsen: 
Eine  Melodie  ist  für  M.  eine  Folge  von  Tönen,  die  eine  Tonica 
hat,  und  mit  der  Tonica  endigt  Eine  Melodie  ist  ja  doch  in 
jedem  Falle  eine  abgeschlossene  und  in  befriedigender  Weise 
abschUefsende  Folge  von  Tönen.  Die  einzige  Antwort  aber,  die 
uns  Meyeb  auf  die  Frage  giebt,  wie  ein  solcher  befriedigender 
Abschlufs  erreicht  werde,  ist  die  soeben  bezeichnete:  Die  Me- 
lodie schliefst  befriedigend  ab,  wenn  die  Tonica  am  Ende  wieder- 
kehrt 

Dieser  Schlufs  scheint  noch  zwingender  zu  werden,  wenn 
wir  sehen,  dafs  Meyeb  jene  Regel  auch  als  das  elementarste 
Gesetz  der  melodischen  Tonfolge  bezeichnet  Es  scheint, 
eine  Tonfolge,  auf  welche  dies  elementarste  Gesetz  gar  keine  An- 
wendung findet,  kann  unmöglich  den  Anspruch  erheben  eine 
Melodie  zu  sein. 


236  Theodor  Lipps, 

Nun  giebt  es  aber  thatsächlich  Melodien,  die  nicht  mit  der 
Tonica  abschliefsen,  weder  mit  einer  Tonica  im  Sinne  Meters, 
noch  mit  der  Tonica,  welche  die  alte  Theorie  in  diesen  Melodien 
statuirt.  Trotzdem  sind  diese  Melodien  richtige  Melodien.  Sie 
sind  insbesondere  befriedigend  abschliefsende  Melodien. 

Diese  Melodien  nun  kann  M.  nicht  leugnen.  So  bleiben  für 
ihn  nur  zwei  Möglichkeiten:  Entweder  das  MEYER*sche  Dogma 
ist  falsch,  oder  es  giebt  Melodien  ohne  Tonica  Da  ein  Dogma 
nie  falsch  sein  kann,  so  erübrigt  für  Meyee  nur  die  letztere  An- 
nahme. Zu  ihr  entschliefst  er  sich  denn  auch.  Ks  giebt  für  ihn 
zwei  Gattungen  von  Melodien.  Die  einen  haben  eine  Tonica; 
diese  schliefsen  nothwendig  mit  der  Tonica  ab.  Die  anderen 
schliefsen  mit  keiner  Tonica  ab;  diese  haben  also  auch  keine 
Tonica. 

Natürlich  fragt  man,  nach  welcher  Regel  denn  diese  Me- 
lodien befriedigend  abschliefsen,  da  der  einzige  Grund  für  einen 
befriedigenden  Abschlufs,  den  M.  anzuführen  weifs,  für  sie  nicht 
in  Frage  kommt.    Diese  Frage  bleibt  ohne  Antwort 

Indessen  lassen  wir  dies,  imd  kehren  zurück  zur  oben  ge- 
stellten Frage.  Wenn  für  Meyer  die  Tonica  und  der  Abschluls 
in  derselben  nicht  die  Melodie  constituirt,  was  ist  dann  für  ihn 
die  Melodie? 

Hier  begegnen  wir  einer  neuen  Unterscheidung  von  Gattun  gen 
der  Melodie :  Die  einen  heifsen  einfache  Melodien.  In  diesen  sind 
alle  Töne  mit  allen  verwandt.  Die  anderen  heifsen  „complexe'^ 
Melodien.  In  diesen  finden  sich  auch  Töne,  die  nicht  mit  einander 
verwandt  sind,  „oder  besser.  Töne,  die  mit  einander  nicht  direct, 
sondern  durch  Vermittelung  eines  dritten  Tones  verwandt  sind". 
Meter  fügt  hinzu,  diese  complexen  Melodien  müTsten  denmach 
theoretisch  in  „partial  melodies^^  aufgelöst  werden.  Später  sagt 
Meyer,  speciell  mit  Rücksicht  auf  die  Melodien  ohne  Tonica,  in 
diesen  Melodien  „finden  sich  allerlei  Beispiele  —  many  in- 
stances  —  partialer  Melodien".  Jede  dieser  partialen  Melodien 
ist  in  sich  zusammengehalten  durch  eine  secundäre  Tonica.  Die 
partialen  Melodien  sind  in  der  Gesammtmelodie  mit  einander 
„verwoben". 

Damit  haben  wir  die  Antwort  auf  unsere  Frage.  Melodien 
sind  für  Meyer  Folgen  von  Tönen,  die  verwandt  oder  nicht 
verwandt  „oder  genauer"  indirect  verwandt  sind.  Aufserdem 
scheint   zur  Melodie   dies   zu   gehören,    dafs   in   ihnen    „partial 


Zur  Theorie  der  Melodie,  237 

melodies'^  sich  finden,  die  mit  einander  verwoben  sind.  Dabei 
ist  zu  berücksichtigen,  dafs  zu  den  indirect  verwandten  Tönen 
auch  solche  gehören,  die  sich  etwa  wie  2":  405  oder  wie  2":  675 
verhalten. 

Dieses  Ergebnifs  ist  sehr  verwunderlich.  Meybb  wirft,  wie 
wir  sahen,  der  alten  Theorie  vor,  eine  Melodie  sei  für  sie  nichts 
weiter  als  eine  beUebige  Folge  von  Tönen,  die  der  diatonischen 
Leiter  angehören.  Dieser  Vorwurf  ist  ungerecht  Aber  der  Vor- 
wurf, der  Meyer  trifft,  ist  schümmer.  Die  Töne  der  diatonischen 
Leiter  sind  doch  wenigstens  enger  verwandt  als  gar  manche  der 
indirect  verwandten  Töne  Meyeb's. 

Die  Melodie  und  ihre  Tonica. 

In  jedem  Falle  genügt  Meyeb's  Begriffsbestimmung  der  Me- 
lodie nicht.  Eine  „Melodie"  ist  weder  eine  Folge  indirect,  noch 
eine  Folge  direct  verwandter  Töne.  Sie  ist  auch  nicht  eine 
Folge  einzelner  Melodien,  die  mit  einander  verwoben  sind,  aber 
keinen  Einheitspunkt  haben.  Sondern  eine  Melodie  ist  zunächst 
eine  ästhetische  Einheit.  Und  dies  besagt  hier,  was  es  überall 
besagt,  nämlich  dafs  ein  Mannigfaltiges  sich  unterordnet  einem 
Gremeinsamen,  sich  selbst  Gleichen,  dafs  das  Mannigfaltige  sich 
darstellt  als  eine  Vermannigfaltigung,  Ausgestaltung,  Differenzi- 
mng  dieses  Einen,  als  ein  Aussichherausgehen  dieses  Einen  und 
Auseinandergehen  desselben  in  Verschiedenheiten  und  Gregen- 
sätze.  Das  ästhetisch  Einheitliche  ist  ein  „Organismus'^  in  diesem 
Sinne. 

Bei  der  Melodie  nun  kann  dies  Eine  oder  dieser  Einheits- 
punkt niu:  bestehen  in   einem  einzigen  „Tonrhythmus".    Dabei 
ist   unter  dem   Tonrhythmus  nicht  ein  Rhythmus   einer  Reihe 
von  Tönen  verstanden,  sondern  ein  Rhythmus  von  der  Art,  wie 
er  nach  oben  Gesagtem  in  jeder  Tonempfindung  oder  jedem  Ton- 
empfindungsvorgang  verwirklicht  ist.    Jede  Tonempfindung  ist 
eine   psychische  Bewegung    von   bestimmtem   Rhythmus.     Und 
auch  daran  erinnere  ich,  dafs  dieser  Rhythmus  dem  Schwingungs- 
Aythraus  analog  gedacht  werden  mufs.    Einem  solchen  Rhyth- 
tnus  ordnet  sich  die  Melodie  unter,   in  ihm  hat  sie  ihren  Ein- 
heitspunkt.   Sie  ist  ein  in  der  Zeit  sich  verwirklichendes  System 
von   Tonrhythmen,    das   in    einem    einzigen  Alles   beherrschen- 
den Grundrhythmus  seinen  Einheitspunkt  hat  und  in  ihm,   als 
seiner  Basis,  abschUefsend  sich  zusammenfafst.    Indem  sie  diesen 


238  Theodor  Lipps. 

zusammenfassenden  Abschlufs  gewinnt,  kommt  die  Bewegung  in 
sich  zur  Ruhe.  —  Dieser  Grundrhythmus  ist  die  wahre  und  eigent- 
liche „Tonica". 

Dies  führe  ich  im  Folgenden  etwas  näher  aus.  Zunächst 
aber  mache  ich  zwei  Vorbemerkungen.  Einmal:  Ich  setze  hier 
voraus,  dafs  die  Melodie  aus  einfachen  Tönen,  nicht  aus  Klängen 
besteht  Klänge  sind  selbst  schon  simultane,  in  einem  Einheit»- 
punkte  zusammengefafste  oder  auf  einem  einheitlichen  Grand- 
rhythmus,  als  ihrer  Basis,  aufgebaute  rhythmische  Systema  Be- 
steht die  Melodie  aus  Klängen,  so  complicirt  sich  das  Bild  der 
Melodie.  Aber  es  kommt  kein  principiell  neuer  Factor  in  dasselbe 
hinein. 

Die  zweite  Vorbemerkung  ist  eine  terminologische.  Auf  die 
Frage,  welches  die  Tonica  einer  Melodie  in  C-Dur  sei,  antwortet 
die  „alte  Theorie" :  C  sei  diese  Tonica.  Dabei  ist  aber  unter  dem 
C  nicht  das  grofse  C  oder  das  kleine  c  oder  C|  oder  c^  gemeint, 
sondern  einer  dieser  Töne.  C  hat  also  hier  eine  allgemeinere  Be- 
deutung. Diese  allgemeinere  Bedeutimg  mm  soll  in  der  folgen- 
den Darlegung  das  „C^  jederzeit  haben.  Ich  vermeide  die 
Verwechselung  mit  dem  grofsen  C,  also  mit  dem  bestimmten 
Tone  C,  der  zwischen  C^  und  c  in  der  Mitte  liegt,  indem  ich 
diesen  mit  Cq  bezeichne,  so  dafs  also  die  verschiedenen  C  der 
Reihe  nach  die  Namen  C^,  C, ,  C^,  c,  c^  etc.  tragen.  Das 
Gleiche  gilt  mit  Rücksicht  auf  2),  E  etc. 

Nehmen  wir  nun  an,  eine  Melodie  bestehe  aus  den  Tönen 
c,  e  und  g.  Diese  Töne  seien  Töne  von  bezw.  400,  500  und  600 
Schwingungen.  Dann  stellt  sich  der  im  Ton  c  verwirklichte 
Rhythmus  dar  als  Rhythmus  einer  Folge  von  400  Elementen  in 
der  Secunde,  oder  kurz  als  „Rhythmus  400",  ebenso  der  Rhyth- 
mus der  Töne  e  und  g  bezw.  als  „Rhythmus  500"  und  ab 
„Rhythmus  600".  Alle  diese  Rhythmen  nun  haben  den  Rhyth- 
mus 100  gemein.  Die  drei  Töne  c,  e,  g  haben  in  diesem  „Rhyth- 
mus 100"  ihren  Einheitspunkt  oder  ihre  einheitUche  Basis;  ihre 
Rhythmen  sind  verschiedene  Diflferenzirungen  dieses  Grund- 
rhythmus. Sie  bilden  ein  einheitliches  rhythmisches  System,  das 
auf  diesem  Grundrhythmus  sich  aufbaut  Alle  diese  Ausdrücke 
kann  ich  durch  den  einen  ersetzen :  Der  Rhythmus  100  ist  die 
eigentliche  „Tonica"  der  Melodie. 

Dieser  Rhythmus  ist  identisch  mit  dem  Rhythmus  des 
Tones  Cj.    Demnach  können  wir,  wenn  einem   bestimmten  ein- 


Zur  Theorie  der  Melodie.  239 

seinen  Ton  der  Name  „Tonica^  der  Melodie  zuerkannt  werden 
soll^  auch  dies  C^  —  nicht  etwa  Cq  oder  c  —  für  die  eigentliche 
Tonica  der  fraglichen  Melodie  erklären. 

Indessen  zu  diesem  C^  steht  nun  C^  und  c  in  einer  be- 
sonderen Beziehung.  Q,  nächst  ihm  c,  trägt  den  Rhythmus  100 
also  den  Rhythmus  von  C^,  in  besonderem  MaaTse  in  sich.  Die 
Rhythmen  200  und  400  sind,  wie  wir  sahen,  die  einfachsten 
Differenzirungen  des  Rhythmus  100.  Sie  sind,  wie  bereits  oben 
gesagt  wurde,  diejenigen  Differenzirungen  desselben,  durch  die 
in  den  Grundrhythmus  keine  eigentUche  Gegensätzlichkeit  hinein 
kommt  Der  Grundrhythmus  100  wird,  so  können  wir  auch 
sagen,  durch  diese  Differenzirungen  sich  selbst  am  wenigsten 
entfremdet  Er  bleibt  relativ  als  das,  was  er  an  sich  ist,  be- 
stehen. Kurz,  der  Rhythmus  300  und  der  Rhythmus  400,  weiter- 
hin auch  der  Rhythmus  800  etc.,  ist  mit  dem  Rhythmus  100,  ob- 
zwar  in  abnehmendem  Grade,  relativ  identisch.  Dies  findet  in 
unserem  Bewufstsein  seinen  unmittelbaren  Ausdruck  darin,  daTs 
uns  Cf,  und  c  in  gewisser  Weise  als  „Dasselbe"  erscheinen,  wie  C^, 
nur  in  höherer  Lage.  Wir  erkennen  diesen  Sachverhalt  unmittel- 
bar an,  indem  wir  sie  mit  gleichartigen  Namen  bezeichnen. 

Und  demgemäfs  können  nun  auch  die  Töne  Cq  und  c  die 
Stelle  der  Tonica  C^  vertreten.  Sie  können  als  stellvertretende 
Toniken  auftreten.  Damit  rechtfertigt  sich  jene  Gepflogenheit 
der  „alten  Theorie"  von  einer  Tonica  C  zu  sprechen  in  der 
Weise,  dafs  dabei  zwischen  Cj,  C^,  c  etc.  nicht  unterschieden 
wird. 

Immerhin  müssen  wir  dabei  bleiben:  Im  strengen  Sinne 
„Tonica"  ist  in  unserem  Falle  nur  der  Ton  Cj,  oder  noch  ge- 
nauer der  Tonrhythmus  100.  Die  Töne  Cq  oder  c  können  nur 
Tonica  sein,  sofern  sie  in  der  bezeichneten  Beziehung  zu  C^ 
stehen.  Dafs  sie  durch  diese  Beziehung  stellvertretende  Toniken 
werden  können,  dies  wird  noch  verständlicher,  wenn  wir  uns 
erinnern,  dafs  beim  Abschlufs  der  Melodie  auch  die  Quinte  oder 
die  Terz  die  Stelle  der  Tonica  vertreten  kann.  Daraus  ergiebt 
sich  ein  minder  vollkommener  Abschlufs,  aber  doch  ein  Ab- 
schlufs, der  uns  genügen  kann.  Dies  ist  möglich,  weil  eben 
doch  auch  die  Quinte  und  die  Terz  die  Tonica  in  sich  schliefsen, 
nur  minder  vollkommen  als  die  höheren  Octaven  der  Tonica. 
Die  wirkUche  Tonica  schwebt  der  abschliefsenden  Melodie, 
die  nicht  bis  zur  Tonica  fortschreitet,  sondern  mit  G  oder  E  als 


240  Theodor  Lipps. 

Schlufston  sich  begnügt,  doch  sozusagen  vor.  Sie  liegt  iraplicüe 
darin.  So  liegt  auch  in  den  höheren  Octaven  der  eigentlichen 
Tonica  die  Tonica  implicite,  nur  vollkommener,  unmittelbarer, 
reiner,  mit  Fremdem  relativ  unvermischt. 


Dominanten  und  Tonica. 

Betrachten  wir  nun  die  Töne  der  diatonischen  Leiter  von 
G-Dur  mit  Rücksicht  auf  ihre  Fähigkeit,  in  einer  aus  diesen 
Tönen  gebildeten  Melodie  Tonica  zu  sein.  Offenbar  ist  diese 
Fähigkeit  am  gröfsten  bei  den  Tönen  C,  G  und  F.  Diese  also 
heben  wir  speciell  heraus.  Wir  können  sie  von  vornherein  iet 
Reihe  nach  als  mittlere,  obere  und  untere  „Dominant"  be- 
zeichnen. —  „F"  hat  hier  natürlich  den  Sinn,  den  es  in  d» 
diatonischen  Leiter  hat,  d.  h.  es  ist  damit  die  Quart  von  C  ge- 
meint. Dies  gilt  mit  Rücksicht  auf  die  ganze  folgende  Uebe^ 
legung. 

C  nun  hat  in  G  seine  Quinte,  in  E  seine  grofse  Terz.  Di- 
mit  ist  zugleich  gesagt,  dafs  diese  beiden  Töne  sich,  von 
den  verschiedenen  Höhenlagen  des  C  selbst  abgesehen,  am 
unmittelbarsten  in  das  auf  C  aufgebaute  rhythmische  System 
einordnen.  Sie  sind  die  nächsten  und  einfachsten  Differenri- 
rungen  des  in  C  enthaltenen  Grundrhythmus.  Auch  als  Diffe- 
renzirungen,  nur  nicht  eben  als  einfache  Differenzirungen  dieses 
Grundrhythmus  stellen  sich  die  Secunde  und  die  grofse  Septime, 
D  und  i/,  dar.  Die  noch  übrigen  Töne  der  Leiter,  F  und  i, 
dagegen  stehen  aufserhalb  des  auf  C  aufgebauten  oder  sich  auf- 
bauenden rhythmischen  Systems.  Dies  drücken  wir  mit  An- 
wendung jenes  Terminus  „Dominant"  zunächst  so  aus,  dafe  wir 
sagen:  C  ist  ».Dominant"  für  E  und  G,  weiterhin  für  H  undA 
und  es  ist  Dominant  nur  für  diese  Töne.  Eine  Dominant  ist 
wie  der  Name  sagt,  ein  herrschender  Ton.  Und  für  uns  kann 
dies  nur  heifsen :  Sie  ist  ein  Ton,  dessen  Rhythmus  herrschender 
oder  Grundrhythmus  ist  für  andere  Töne.  Dominant  ist  für  uns, 
kurz  gesagt,  die  Basis  eines  rhythmischen  Systems.  Dabei  lassen 
wir  aber  dahingestellt,  ob  die  Basis  wirksame  oder 
nur  ideelle  Basis  ist.  Nur  die  wirksame  Basis  nennen  wir, 
wie  schon  angedeutet,  Tonica.    Davon  sogleich  ein  Weiteres. 

Vergleichen  wir  nun  mit  dem  Grundton  C  der  diatonischen 
Leiter    die   Quinte   6r,    so    finden    wir:     G    ist  Dominant  oder 


Zur  Theorie  der  Melodie.  241 

Basis  nur  für  zwei  Töne,   nämlich   für  ihre  grofse   Terz  und 
Quinte,  also  für  die  Töne  H  und  D. 

Die  Quarte  F  endlich  ist  Basis  zunächst  für  den  Grundton  C 
und  die  Sexte  A.  Sie  hat  wiederum  in  diesen  beiden  ihre  Quint 
und  grofse  Terz.  Sie  ist  dann  weiter  Dominant  oder  Basis  für 
alle  die  Töne,  die  C  zur  Dominant  oder  Basis  haben,  also  für 
G  und  E  und  für  H  und  D.  Sie  ist  mit  einem  Worte  die  alle 
Töne  der  Leiter  umfassende  Dominant 

Hiermit  ist  zunächst  gesagt,  wiefern  die  Töne  C,  O  und  I 
als  Dominanten  der  diatonischen  Leiter  bezeichnet  werden 
können.  Zugleich  rechtfertigt  sich  in  einfacher  Weise  die  Be- 
zeichnung des  F  als  „untere",  des  G  als  „obere  Dominant".  Das 
rhythmische  System  auf  der  Basis  C  ist  in  dem  gesammten  rhyth- 
mischen System,  das  F  zur  Basis  hat,  eingeschlossen.  F  ist  für 
das  rhythmische  System  auf  C  die  tiefer  liegende  Basis.  An- 
dererseits schliefst  das  auf  C  sich  aufbauende  rhythmische  System 
das  Gy  und  damit  auch  das  rhythmische  System,  das  G  zur  Basis 
hat,  in  sich.  C  ist  die  tiefer  liegende  Basis  oder  Dominant  dieses 
letzteren  rhythmischen  Systems.  Das  rhythmische  System  auf  G 
hat  C  zur  tieferen,  G  zur  höheren  und  nächsten  Basis. 
—  Die  Dominant  C  kann  nach  dem  Gesagten  im  Vergleich  mit 
Fund  G  mittlere  Dominant  heifsen. 

Indem  wir  die  Quart  F  als  die  alle  Töne  der  diatonischen 
Leiter  umfassende  Basis  oder  Dominant  charakterisiren,  sind  wir 
nun  wieder  auf  den  Punkt  gestofsen,  auf  den  Meyeb  bei  seiner 
Theorie  alles  Gewicht  legt.  Weil  die  Quart  die  allumfassende 
Dominant  ist,  soll  sie  zugleich  die  Tonica  der  Leiter  sein,  und 
müfste  darum  zugleich,  nach  Meyek,  als  die  Tonica  aller  aus 
den  Tönen  dieser  Leiter  gebildeten  Melodien  betrachtet  werden. 

Indessen  ich  gab  schon  zu  verstehen:  Dafs  ein  Ton  für 
andere  Basis  oder  Dominant  sei,  schliefse  nicht  ohne  Weiteres 
in  sich,  dafs  er  wirksame  Basis  oder  wirksame  Dominant  der- 
selben sei.  Statt  dessen  kann  ich  nach  einer  gleichfalls  bereits 
oben  gemachten  Bemerkung  auch  sagen:  Es  liegt  darin  nicht  ein- 
geschlossen, dafs  der  Ton  für  die  anderen  Töne  Tonica  sei. 
Denn  so  unterscheiden  wir  Dominant  und  Tonica:  Beides  sagt, 
dafs  der  Rhythmus  eines  Tones  für  andere  Töne  Grund- 
rhythmus ist.  Das  Wort  Tonica  aber  besagt,  dafs  er  wirk- 
samer Grundrhythmus  oder  wirksame  Basis  für  andere 
Töne  ist. 

Zeitschrift  fdr  Psychologie  27.  16 


242  Theodor  Lipps. 

Es  bestehe  nun  weiter  eine  Melodie  aus  den  Tönen  c,  d,  9,  f. 
Dann  bestimmt  sich  die  unterste,  alle  diese  Töne  umfassende 
Dominant  genauer  als  F^.  Zugleich  ist  F^  speciellere  Dominant 
für  die  Töne  c  und  f.  Hier  nun  ist  nur  Fj,  nicht  Fg,  wirksame 
Dominant  F^,  das  im  Toncontinuum  gar  nicht  vorkommt,  ist 
ideelle  Basis  des  rhythmischen  Systems,  das  alle  jene  vier 
Töne  in  sich  schliefst.  Aber  es  wirkt  nicht  als  Basis,  d.h.  der 
Tonrhythmus,  der  in  F^  verwirkUcht  ist,  ist  zwar  allen  jenen 
Tönen  gemein,  oder  alle  die  Töne,  c,  d,  /*,  g,  sind  einfache  Diffe- 
renzirungen  oder  Theilungen  desselben,  aber  er  ist  nicht  wirk- 
samer, nämlich  ästhetisch  wirksamer  Einheitspunkt  derselben. 
Er  bindet  die  Töne  nicht  ästhetisch  an  einander.  —  Die  Wirkung, 
um  die  es  sich  hier  überall  handelt,  ist  aber  eben  die  ästhe- 
tische Wirkung.  —  Dagegen  bindet  der  Rhythmus,  der  in  F^ 
verwirkUcht  ist,  die  Töne  c  und  f  allerdings  ästhetisch  an  einander. 
Fl  ist  also  für  diese  Töne  wirksame  Basis  oder  Dominant 

Dafs  es  so  sich  verhält,  das  giebt  sich  uns  zu  erkennen  im 
Vorhandensein  bezw.  Nichtvorhandensein  des  Consonanzgefühls. 
Das  Intervall  c — f  ist  consonant,  d.  h.  nach  früher  Gesagtem, 
wir  haben  angesichts  desselben  ein  Gefühl  der  Einheitlichkeit 
oder  der  inneren  Zusammengehörigkeit  Dies  Gefühl  nun  be- 
ruht auf  dem  Aneinandergebundensein  der  beiden  Töne  durch 
den  ihnen  gemeinsamen  Grundrhythmus.  Dieser  Grundrhythmus 
ist  in  unserem  Falle  der  Rhythmus  des  Tones  F, .  Durch  diesen 
sind  also,  nach  Ausweis  des  Consonanzgefühls,  die  Töne  c  und  f 
ästhetisch  an  einander  gebunden.  Dieser  Rhythmus  ist  nicht  nur 
thatsächlich  und  für  unser  reflectirendes  Denken,  sondern  er  ist 
für  unser  Gefühl  der  Einheitspunkt,  oder  die  Basis  für  diese  beiden 
Töne.  Er  ist  mit  einem  Worte  wirksamer,  nämlich  ästhetisch 
wirksamer  Einheitspunkt  oder  er  ist  wirksame,  nämlich  ästhetisch 
wirksame  Basis  der  beiden  Töne.  Es  ist  Dasselbe,  wenn  ich 
sage,  der  Ton  -F,  ist  wirksame  „Dominant"  der  beiden  Töne,  oder, 
er  ist  für  die  beiden  Töne  Toni  ca. 

Dagegen  ist  das  Intervall  f — g,  erst  recht  das  Intervall  /*— rf, 
dissonant.  D.  h.  wir  haben  ein  Gefühl  der  Nichtzusammen- 
gehörigkeit  Der  diesen  Tönen  gemeinsame  Grundrhythmus  — 
der  in  dem  Tone  F^  bezw.  F^  sich  verwirklicht  oder  verwirklichen 
würde  —  bindet  also  die  Töne  für  unser  Gefühl  nicht  an  einander. 
Er  ist  demnach  nicht  wirksamer  Einheitspunkt  oder  wirksame 
Basis  der  beiden  Töne,  oder  er  ist  für  sie  nicht  ästhetischer  Ein- 


Zwr  Theorie  der  MdodU.  243 

heitspunkt  oder  ästhetische  Basis.  Wiederum  ist  es  Dasselbe, 
wenn  ich  sage,  der  Ton  F^  bezw.  F^  ist  nicht  wirksame  „Domi^ 
nant",  oder  er  ist  nicht  Tonic a  für  g  oder  gar  für  d. 

Verallgemeinem  wir  dies,  so  gelangen  wir  zu  der  Regel: 
Töne  können  eine  gemeinsame  Tonica  haben,  nur  wenn  sie  ge- 
nügend eng  verwandt  d.  h.  wenn  sie  consonant  sind.  Tritt  zu 
zwei  verwandten  Tönen  ein  dritter  Ton,  so  verschiebt  sich  der 
gemeinsame  Grundrhythmus  oder  die  gemeinsame  Basas  der  drei 
Töne  nach  der  Tiefe;  und  ist  der  dritte  Ton  zu  einem  der 
beiden  ersten  dissonant,  so  verschiebt  sich  der  gemeinsame 
Grundrhythmus  so  weit  in  die  Tiefe,  dafs  er  aufhört  für  die 
drei  Töne  wirksamer  ästhetischer  Einheitspunkt,  kurz  Tonica 
zu  sein. 

Dazu  ist  nun  freilich  ein  Zusatz  erforderlich.  H  und  D  sind 
zu  C  dissonant,  d.  h.  sie  haben  dazu  geringe  Verwandtschaft; 
ihr  gemeinsamer  Grundrhythmus  genügt  nicht,  sie  ästhetisch  zu 
vereinheitiichen.  Aber  H  und  D  sind  unter  gewisser  Voraus- 
setzung die  dem  C  nächst  benachbarten  Töne.  H^  und  d 
etwa  sind  unmittelbar  benachbart  dem  C^.  Und  diese  Nachbar- 
schaft vermag  bei  der  Aufeinanderfolge  der  Töne,  also  in  der 
Melodie,  den  Mangel  der  Verwandtschaft  zu  ergänzen.  Sie  ist 
sozusagen  eine  eigene  Art  der  Verwandtschaft,  durch  welche  die 
Wirkung  der  eigentlichen  Tonverwandtschaft  unterstützt  wird. 
Hq  und  d  sind  für  Cq  „Leittöne". 

Ebenso  hat  die  Quarte  F  unter  Voraussetzimg  einer  be« 
stimmten  Lage  ihre  Leittöne  in  E  und  <?.  Dagegen  hat  die 
Quint  G  in  der  diatonischen  Leiter  keine  Leittöne. 

Danach  ist  also  die  Quart,  was  die  Fähigkeit  Tonica  zu  sein 
angeht,  zunächst  dem  Grundton  C  völlig  gleichgestellt,  und  nur 
die  Quint  benachtheüigt.  Und  dabei  bleibt  es  auch,  so  lange  wir 
niu:  jeden  der  drei  Töne:  Grundton,  Quart  und  Quint,  für  sich 
betrachten  und  nach  seiner  Stellung  zu  den  Tönen  der  Leiter 
fragen. 

Die  Melodie  aus  der  diatonischen  Leiter. 

Innerhalb  des  Ganzen  der  Melodie  ist  mm  aber  aufserdem 
wichtig  das  Verhältnifs  der  Identität  oder  Verwandtschaft  bezw. 
der  Dissonanz,  in  welchem  die  Töne  der  drei  im  Vorstehenden 
betrachteten  rhythmischen  Systeme,  nämlich  der  rhythmischen 
Systeme  mit  C,  G  und  F  als  Basis,   zu  einander  stehen. 


244  Theodor  lApps. 

Hierbei  ist  zunächst  noch  einmal  daran  zu  erinnern,  daüsG 
zugleich  der  erste  Ton  des  auf  C,  C  zugleich  der  erste  Ton  des 
auf  F  aufgebauten  rhythmischen  Systems  ist;  damit  ist  zugleich 
die  enge  Verwandtschaft  zwischen  F  und  C  und  C  und  G  betont 

Weiter  ist  zu  beachten,  dafs  die  Töne  des  rhythmischen 
Systems  auf  (?,  d.h,  H  und  i>,  zusammenfallen  mit  den  Leit- 
tönen für  C,  ebenso  die  Töne  des  rhythmischen  Systems  auf  C, 
die  Töne  E  und  G ,  zusammenfallen  mit  den  Leittönen  für  F. 
Es  ist  endlich  besonders  zu  berücksichtigen  die  volle  Dissonanz 
zwischen  t  einerseits,  und  H  imd  Z),  die  für  C  Leittöne  sind, 
oder  sein  können,  andererseits. 

Damit  kommen  wir  nun  endlich  zur  Betrachtung  der  Melodie, 
die  aus  den  Tönen  der  diatonischen  Leiter  überhaupt  gebildet  ist 
Die  Melodie,  so  sagte  ich,  ist  eine  ästhetische  Einheit  Sie  wird 
dazu  durch  den  das  Ganze  der  Melodie  beherrschenden  Grund- 
rhythmus.  Dieser  ist  die  eigentUche  Tonica.  Betonen  wir  hier 
noch  speciell  das  Negative  an  dieser  „Einheit^  der  Melodie :  Die 
Melodie  ist  nicht  eine  Folge  von  Tönen,  sondern  sie  ist  im 
Vergleich  damit  ein  Neues.  Daraus  folgt,  dafs  ein  Ton  nicht  ein- 
fach dadurch  Tonica  der  Melodie  wird,  dafs  er  Tonica  ist  für 
alle  Töne  der  Melodie.  Sondern  eine  Melodie  kann  da  xmd  dort 
diese  oder  jene,  und  sie  kann  doch  zugleich  im  Ganzen  oder  als 
Einheit  eine  einzige  Tonica  haben.  So  hat  auch  ein  Ornament  hier 
diese,  dort  jene  Richtung ;  imd  doch  ist  im  Ganzen  seine  Richtung 
eine  einzige.  Oder  eine  Rede  verfolgt  hier  diesen,  dort  jenen 
Gedanken  und  entwickelt  doch  im  Ganzen  nur  einen  einzigen 
Gedanken. 

Dem  fügen  wir  hinzu:  —  Die  Melodie  entsteht  Und  in- 
dem sie  entsteht,  wird  auch  erst  ihre  Tonica  zu  der  das  Ganze 
beherrschenden  Tonica,  d.  h.  das  rhythmische  System,  als  welches 
die  Melodie  zu  betrachten  ist,  gewinnt  erst  in  seinem  Entstehen 
in  einem  einzigen  Rhythmus  seine  einheitlich  wirksame  Basis. 
Und  indem  es  dieselbe  gewinnt,  kommt  zugleich  die  Bewegung 
der  Melodie  in  sich  zur  Ruhe.  Die  Gewinnung  dieser  Basis  ist 
die  wahre  „Rückkehr  zur  Tonica". 

Dieser  Procefs  vollzieht  sich  aber  durch  Gegensätze.  Je 
mannigfaltiger  die  Rhythmen  sind,  die  in  die  Melodie  eingehen, 
je  reicher  also  die  Melodie  ist,  desto  mannigfaltiger  und  gröfeer 
sind  die  Gegensätze.    Die  Gegensätze   sind   genauer  Gegensatz« 


Zur  Theorie  der  Meiodie, 


2^5 


zwischen  den  Ansprüchen  verschiedener  Tonrhythmen,  Grund- 
rhythmen oder  Tonica  des  Ganzen  zu  sein. 

An  sich  betrachtet  nun  erhebt  jeder  Ton  diesen  Anspruch. 
Innerhalb  der  Melodie  in  C-Dur  können  ihn  aber  aus  den  oben 
bezeichneten  Gründen  vorAllem  erheben  C,  F  und  Ö.  Soll  aber 
einer  dieser  Töne  Tonica  werden,  so  müssen  die  Ansprüche  der 
anderen  überwunden  werden. 

Verläuft  nun  die  Melodie  in  C-Dur,  so  ist  damit  ohne  Weiteres 
gesagt,  dafs  C  bestimmt  ist  Tonica  zu  sein  oder  dazu  zu  werden. 
Darauf  wird  also  die  Melodie  von  vornherein  angelegt  sein.  Sie 
mufs  in  ihrem  ganzen  Verlauf  umso  einheithcher  erscheinen,  je  ent- 
schiedener von  vornherein  auf  diese  Tonica  hingewiesen  wird. 
Dies  geschieht  am  wirksamsten  durch  die  Folge  G — C.  Damit 
ist  bereits  in  ihrem  einfachsten  Grundzuge  die  Melodie  mit  C  als 
Tonica  gegeben:  Wir  haben  ein  rhythmisches  System,  das  in 
seine  Basis  C  einmündet 

Aber  es  handelt  sich  hier  um  die  reicher  sich  entfaltende, 
insbesondere  um  die  alle  Töne  der  diatonischem  Leiter  in  sich 
aufnehmende  Melodie.  Indem  diese  Töne  successive  auftreten, 
entstehen  jene  Gegensätze,  und  beginnt  die  Aufgabe  ihrer 
Ueberwindung. 

Noch  auTserhalb  des  Kampfes  um  die  Stellimg  als  Tonica 
steht  K  Indem  E  zu  C  und  G  hinzutritt,  wird  nur  der  Hinweis 
auf  C  als  Tonica  gesteigert,  also  die  Stellung  der  Tonica  befestigt 
Nicht  blos  darum,  weil  auch  E  zum  rhythmischen  System  C 
hinzugehört,  imd  mit  G  zusammen  C  zur  wirksamen  Basis  hat, 
sondern  auch  vermöge  der  relativen  Dissonanz  zwischen  E  und  G. 
Hier  schon  gewinnt  die  allgemeine  Regel  Bedeutimg  —  die  auch 
auf  anderen  Gebieten  ihr  Analogen  hat:  —  Treten  zwei  Töne 
sich  gegenüber,  die  zu  einander  dissonant,  aber  zugleich  mit 
einem  dritten  Tone  nahe  verwandt  sind,  so  vermindert  jeder 
der  beiden  Töne  den  selbständigen  Anspruch  des  anderen  zu 
Gunsten  des  dritten,  d.  h.  es  steigert  sich  der  Hinweis  auf  den 
dritten  und  die  Geneigtheit  der  Töne  diesem  dritten  als  herrschendem 
Tone  sich  unterzuordnen. 

Dagegen  beginnt  jener  Kampf,  indem  zu  G  die  auf  G  als 
Basis  sich  aufbauenden  H  und  D  hinzutreten.  Es  entfernt  sich 
jetzt  die  Melodie  von  der  Tonica  C,  und  stellt  sich  auf  die 
Tonica  G.  Zugleich  bleibt  sie  doch  durch  (?  an  C  gebunden, 
und  zwar  umsomehr,  je  mehr  G  in  seinem  rhythmischen  System 


^46  Theodor  Lippt. 

dominirt,  oder  die  H  und  D  sich  ihm  unterotdneiL  Die  Ent- 
fernung von  C  ist  also  nicht  eine  Loslösung.  Die  Melodie  schwebt 
zunächst  nur  zwischen  C  und  6,  obzwar  mit  grö&erem  oder 
geringerem  üebergewicht  des  G, 

Andererseits  weist  die  Bewegung,  wenn  H  und  D  als  Leit- 
töne des  C  auftreten,  wiederum  unmittelbar  auf  C  hin  und  kann 
in  C  übergehen.  Dann  wird  die  Entfernung  von  C  in  ihrem 
eigenen  Verlaufe  zur  Rückkehr  zu  C,  und  ebendamitzur 
volleren  Anerkennung  des  C  als  Tonica. 

Anders,  wenn  nun  F  in  die  Melodie  eintritt.  F  ist,  wie 
gesagt,  für  C  Basis.  Und  die  auf  C  unmittelbar  sich  aufbauenden 
Töne  E  und  G  sind  für  F  Leittöne.  Und  tritt  zu  i^"  das  A  so 
weist  auch  A  auf  F  als  seine  Basis  hin.  Damit  ist  zunächst  ge- 
sagt, wie  die  Melodie  durch  sich  selbst,  in  ihrem  natürlichen 
Verlauf,  zu-Fhingeleitet  werden,  imd  zugleich,  wie  F zu  seinem 
Anspruch  auf  die  Stellung  als  Tonica  gelangen  kann. 

Aber  wir  verstehen  ebensowohl,  wie  dieser  Anspruch,  und  zwar 
zu  Gunsten  des  C,  überwunden  werden  kann.  Da  alle  die  soeben  be- 
zeichneten Töne  zu  C  hinführen,  und  seinen  Anspruch  Tonica 
zu  sein  unterstützen,  da  andererseits  keiner  der  auf  jP als 
Basis  sich  aufbauenden  Töne  L  e  i  1 1  o  n  für  C  oder  auch  nur  für 
G  ist,  also  keiner  dieser  Töne  direct  oder  indirect  von  F  zum 
Grundton  C  hinführen  kann^  so  kann  diese  Ueberwindung  nur 
auf  einem  Wege  geschehen.  Dieser  Weg  ist  bezeichnet  durch 
die  Töne  H  imd  Ä 

Die  Melodie  sei  von  C  irgendwie,  etwa  auf  dem  einfachsten 
Wege,  d.  h.  immittelbar  von  C  aus,  oder  durch  G  oder  E  oder 
durch  diese  beiden  Töne  hindurch,  zu  F  gelangt,  —  in 
jedem  Falle  erscheint  F  zunächst  als  Tonica.  Oder  die  Melodie 
schwebt  zwischen  der  Tonica  F  imd  der  Tonica  C.  Die  Folge 
c  —  e — g  etwa  kann  befriedigend  abschliefsen  in  c;  aber  sie 
schliefst  ebensowohl  befriedigend  ab  in  /".  Li  j  e  n  e  m  befriedigenden 
Abschlufs  zeigt  sich  die  Kraft  der  auf  C  unmittelbar  aufgebauten 
Töne,  in  diesen  die  Kraft  der  Leittöne.  Und  fügen  wirdas 
F  thatsächlich  hinzu,  bilden  also  die  Folge  c  —  e — g  —  /",  und 
lassen  darauf  wieder  einen  oder  mehrere  der  Töne  C,  G,  E 
folgen,  so  ist  gar  die  Möglichkeit  unmittelbar  zu  C  überzugehen 
und  in  C  abzuschliefsen,  aufgehoben.  Cist  also  jetzt  nicht 
mehr  Tonica.  Dagegen  ist  F  Tonica  gebHeben.  Es  ist  jetzt 
ausschliefsliche  Tonica:   Die  Reihe  c — e  —  g — f — e  etwa 


Zw  Theorie  der  Melodie,  247 

Dder  c — e — g~f — g  kann  nur  in  einem  nachfolgenden  f  un- 
mittelbar zum  befriedigenden  AbschluiB  kommen. 

Nun  folge  aber  auf  F  ein  H  oder  2),  oder  es  folgen 
beide  Töne.  Ein  vorangegangenes  C,  an  das  diese  Töne  als 
Leittöne  gebunden  sind,  oder  ein  vorangegangenes  (?,  auf  das 
sie  sich  unmittelbar  aufbauen,  kann  in  natürlicher  Weise  zu 
ihnen  hinleiten.  Damit  ist  die  Situation  völlig  verändert.  Jetzt 
ist  nicht  mehr  F^  sondern  nur  noch  C  Tonica.  Die  Reihe 
c  —  e — g — f — d  etwa,  oder  c — e — g — f — H^  kann  nicht  un- 
mittelbar befriedigend  abschUefsen  in  f.  Sie  kann  auch  nicht 
befriedigend  abschliefsen  in  d  oder  in  H^^  oder  in  einem  sonstigen 
von  C  verschiedenen  Tone,  sondern  einzig  in  C,  und  genauer 
in  dem  C,  dessen  Leittöne  die  H^  und  d  sind,  in  unserem  Falle 
also  in  c. 

Dies  nun  geschieht  nach  der  Regel,  die  uns  schon  oben  be* 
gegnete.  Ich  wiederhole  dieselbe  theilweise  in  etwas  anderer 
Form:  Treten  sich  zwei  dissonante  Töne  gegenüber,  die  aber 
einem  und  demselben  dritten  Tone  genügend  eng  verwandt  sind, 
BD  drängt  die  Bewegung  von  ihnen  nach  diesem  dritten  Tone  hin 
und  die  dissonanten  Töne  selbst  verlieren  mehr  oder  minder  die 
Bedeutung  und  Wirkung  für  den  Verlauf  der  Tonbewegung,  die 
sie  an  sich  betrachtet,  d.  h.  als  diese  von  einander  ver- 
schiedenen Töne,  haben  würden.  —  Das  Letztere  ist  eine 
genauere  Bestimmung  dessen,  was  ich  oben  als  Tendenz  der 
Unterordnung  bezeichnet  habe.  Die  eigene  Wirkung  der  dissonanten 
Töne  ordnet  sich  unter  ihrer  gemeinsamen  Wirkung.  Diese  ge- 
meinsame Wirkung  ist  aber  eben  der  Hinweis  auf  den  dritten  Ton. 

Damit  ist  angedeutet,  was  in  unserem  Falle  das  Entscheidende 
ist,  nämUch  die  volle  Dissonanz  zwischen  F  einerseits  und  H 
und  D  andererseits,  und  der  Umstand,  dafs  diese  Töne  gemein- 
sam zu  C  in  dem  innigen  Verhältnisse  stehen,  wie  es  in  ihrer 
Bezeichnung  als  Leittöne  des  C  ausgesprochen  liegt 

Aus  diesem  Sachverhalt  ergiebt  sich  zunächst  ein  Doppeltes, 
nämlich  einmal  der  entschiedene  Hinweis  auf  C.  Dieser  Hinweis 
besagt  noch  nicht  ohne  Weiteres,  dafs  C  Zielton  der  Bewegung 
ist  C  ist  zwar  Zielton  für  die  —  als  Leitton  auftretenden  — 
H  und  2),  aber  nicht  für  F,  Indessen  hier  ist  der  Umstand 
wichtig,  dafs  das  H  oder  D  auf  F  folgt,  oder  zwischen  F 
und  das  abschliefsende  C  tritt.  Durch  dies  dem  Fnachfolgende 
H  oder  D  wird  F  in  den  Hintergrund  gedrängt.    Es  ordnet  sich 


248  Theodor  Lipp8. 

dem  H  oder  i>,  das  dem  C  zeitlich  unmittelbar  yorangeht, 
hinsichtlich  seiner  Wirkung  unter.  D.  h.  als  die  zunächst  auf 
C  hinweisenden  Töne  erscheinen  H  oder  D;  das  F  dient  nur, 
diesen  Hinweis  zwmgender  zu  machen.  So  geschieht  es,  dalk 
der  Fortgang  von  F — D  oder  F — H  zu  C  im  Ganzen  den 
Charakter  hat,  den  der  Fortgang  des  H  oder  2>  zu  C  in  sidi 
schliefst,  d.  h.  den  Charakter  des  befriedigenden  Abschlusses. 

Dafs  es  in  der  That  so  ist,  zeigt  leicht  der  Versuch.  Man 
lasse  das  H  oder  D  dem  F  vorangehen,  bilde  also  etwa  die  Folge 
c — e  —  g  —  JETo — /*,  und  gehe  von  da  zu  C  über.  Dies  ist  nichts 
weniger  als  ein  befriedigender  AbschluTs.  Soll  ein  solcher  erreicht 
werden,  so  mufs  zwischen  f  und  c  wiederum  ein  Hq  oder  d  ein- 
treten, oder  es  mufs  —  dies  leistet  die  gleichen  Dienste  —  ein 
anderer  Ton,  für  den  C  Zielton  ist,  also  g  bzw.  G^  oder  e  einge- 
schoben werden. 

Das  Zweite,  was  aus  diesem  Gegeneinanderwirken  von  F  und 
einem  nachfolgenden  H  oder  D  sich  ergiebt,  ist  dies,  dafs  nun 
keine  Tendenz  mehr  besteht,  von  dem  abschliefsenden  C  wiedenim 
zu  F  fortzugehen.  Oben  war  davon  die  Rede,  dafs  die  Folge 
c — e — ginf,  ebensowohl  aber  auch  in  c  befriedigend  abschliefeen 
könne.  Wir  müssen  jetzt  hinzufügen:  Angenommen,  ich  gehe 
zu  c,  so  hindert  doch  der  damit  erreichte  befriedigende  Abschlols 
nicht,  dafs  ich  von  c  zu  f  weitergehe  und  hier  von  neuem  be- 
friedigend abschliefse.  c  —  e — g — c  schliefst  befriedigend  ab. 
Aber  c — e  —  g  —  c  —  f  nicht  minder.  Jener  erste  Abschlols  ist 
also  kein  endgültiger.  Ich  mufs  nicht  bei  c  bleiben.  Da- 
gegen ist  der  durch  die  Dissonanz  zwischen  f  und  einem  nach- 
folgenden H^^  oder  d  bewirkte  Abschlufs  in  c  —  nicht  blos  ein 
wirkUcher  befriedigender  Abschlufs,  sondern  er  hat  den  Charakter 
des  endgültigen  Abschlusses. 

Dies  hat  seinen  Grund  wiederum  in  jener  Dissonanz,  f  ist 
an  sich  natürUcher  Zielton  des  C,  d.  h.  die  Bewegung  C— f  ist 
eine  in  F  zur  Ruhe  kommende.  Aber  F,  auf  das  H  oder  D  folgt, 
ist  eben  nicht  mehr  das  F,  das  es  an  sich  ist,  sondern  es  ist  ein  jP, 
das  der  Einwirkimg  des  zu  ihm  dissonanten  H  oder  D  unterlegen 
ist.  Dadurch  ist  in  F  eine  Störung,  ein  Moment  der  Unruhe,  der 
Entzweitheit  hineingekommen,  das  auch,  wenn  das  F  verklungen 
ist,  und  von  Neuem  auftritt,  noch  nachwirkt.  Und  in  einem 
solchen  F  kann  keine  Bewegung  ztir  Ruhe  kommen.  Wir  können 
dies  auch  kurz  so  ausdrücken :  Die  Nachwirkung  der  Dissonanz, 


Zw  Theorie  der  Melodie.  249 

durch  welche  das  Fortdrängen  der  Bewegung  von  F  nach  C  be- 
wirkt wurde,  schliefst  ohne  Weiteres  die  Aufhebung  der  umge- 
kehrten Tendenz,  d.  h.  der  Tendenz  der  Rückkehr  von  C  zu  F  in 
sich.  Wir  können  die  allgemeine  Regel  aufstellen:  Ein  Ton, 
der  an  sich  Zielton  für  einen  anderen  Ton  wäre,  kann  dieser 
Eigenschaft  durch  einen  zu  ihm  dissonanten  Ton,  der  vorher 
erklungen  ist  und  nachwirkt,  beraubt  werden. 

Function  der  Quart. 

Hieraus  ist  nun  auch  schon  theilweise  die  besondere  Be- 
deutung der  Quart,  und  damit  auch  der  unmittelbar  zu  ihr  ge- 
hörigen Sext,  für  das  Ganze  der  Melodie  deutlich.  Sie  besteht 
einmal  darin,  dafs  die  Quart,  und  mit  ihr  die  Sext,  nicht  nur 
die  Melodie  vermannigfaltigt,  sondern  in  sie  den  stärksten  Gegen- 
satz zur  Tonica  hineinbringt  Indem  dieser  Gegensatz  auftritt 
und  überwunden  wird,  kommt  in  die  Melodie  ein  eigenartiges 
neues  Leben.  Dabei  ist  immer  zugleich  zu  bedenken,  dafs  das 
zeitweiUge  Auftreten  des  F  als  Tonica,  und  das  Uebergewicht 
dieser  secundären  Tonica  über  die  primäre  Tonica  C,  ebenso 
wie  das  Auftreten  der  Tonica  G  und  ihr  Uebergewicht  über  die 
Tonica  C,  ganz  abgesehen  von  der  Ueberwindung,  doch  insofern 
die  Einheitlichkeit  der  Melodie  wahrt,  als  F^  ebenso  wie  G^ 
nächster  Verwandter  der  Tonica  C  ist. 

Dazu  kommt  der  zweite  Punkt:  Die  Töne  H  und  D  sind, 
wie  wir  sahen,  auch  ohne  die  Quart,  Vermittler  des  Fortgangs 
zu  C  als  Tonica.  Aber  dieser  in  sich  natürliche  Fortgang  wird 
nun  durch  die  hinzutretende  Quart  zwingender.  Und  zwar  in 
doppeltem  Sinne.  Einmal  in  dem  schon  oben  bezeichneten: 
Die  Bewegung  drängt  vermöge  der  Dissonanz  der  Quart  —  und 
der  Sext  —  einerseits,  und  H  und  i>  andererseits,  intensiver 
nach  C  hin.  Man  lasse  etwa  erst  die  Folge  c  —  e  —  g — Hq  oder 
c — e — g — Hq — d  mehrmals  hinter  einander  erklingen,  und  gehe 
dann  über  zur  Folge  c — e — g — f — Hq  bzw.  c — e — g — f — Hq — d. 
Es  ist  dann  kein  Zweifel,  dafs  die  beiden  letzteren  Folgen 
energischer  zum  Fortgang  zu  C  auffordern.  Und  gehorchen 
wir  in  beiden  Fällen  dieser  Aufforderung,  lassen  also  c  thatsäch- 
lich  folgen,  so  erscheint  der  Fortgang  im  zweiten  Falle  be- 
gründeter, innerlich  noth wendiger.  Die  Nöthigung  zum  Fort- 
gang hat  sich  durch  das  Eintreten  des  F  fühlbar  vervollständigt, 
ist  sozusagen  voller  geworden. 


250  Theodor  Lippa, 

Und  wir  verstehen  auch,  warum  es  so  sich  verhält  Wir 
sind  eben  jetzt  von  zwei  deutlich  entgegengesetzten  Seiten  her 
zu  C  hingedrängt  Wir  fühlen  darum  in  höherem  Grade,  als 
wenn  F  fehlt :  Hier  ist  kein  Ausweg  mehr ;  die  Bewegung  mab 
zu  C  fortschreiten. 

Oder  man  vergleiche  die  Folge  c  —  e — g  —  Hq  mit  der  Folge 
c — e — g  —  Af^ — Hq,  Hier  ist  an  die  Stelle  der  Quart  die  Seit 
getreten.  Aber  die  Wirkung  ist  eine  gleichartige.  Sie  verstärkt  sich, 
wenn  Quart  und  Sext  zusammenwirkte,  wie  in  c — e — g — f — Ä^—H^^ 
oder  c  —  e — g — f — Aq  —  Hq—cI. 

Auf  diesen  Punkt  habe  ich  schon  früher,  an  anderer  SteUe, 
Gewicht  gelegt  Meyer  sagt  mit  Bezug  darauf,  ich  stelle  das 
psychologische  Gesetz  auf,  der  Grundton  C  werde  in  höherem 
Grade  Zielpunkt  der  Bewegung,  weil  die  Quart  vorangehe,  und 
fügt  hinzu :  „Dies  wäre,  als  ob  man  von  Napoleon  sagen  woUte, 
Elba  wurde  für  ihn  in  höherem  Grade  Zielpunkt,  weil  er  erst 
Kaiser  war."  Ich  bemerke  auch  hier,  dafs  ich  eine  solche 
thörichte  Behauptimg  nicht  aufgestellt  habe. 

Aber  die  Bewegung  von  H  und  D  nach  C  hin  wird  durch  die 
Quart  zwingender  nicht  nur  in  dem  Sinne,  dafs  wir  weniger  bei 
H  und  D  bleiben  können,  sondern  auch  noch  in  dem  besonderen 
Sinne,  dafs  wir  mit  besonderer  Ausschliefslichkeit  eben 
zu  diesem  Ton,  also  zu  0,  fortgedrängt  werden. 

Hier  komme  ich  zurück  zu  unserem  früheren  Beispiel 
Gq — Hq—cI — f—  G,  Wir  sahen  schon  damals:  Die  Folge  GQ—H^^d 
schliefst  befriegend  ab  in  C,  aber  auch  in  G.  Tritt  nun  aber 
das /'hinzu,  so  ist  der  befriedigende  Abschlufs  in  G  ausgeschlossen. 
Es  bleibt  nur  der  Abschlufs  in  C  übrig. 

Dies  können  wir  jetzt  auch  so  ausdrücken:  Der  Ansprach 
des  G,  Tonica  zu  sein,  wird  aufgehoben,  und  die  Tonica  C  in 
ihr  Recht  eingesetzt  Ebenso  also,  wie  nach  Obigem  durch  B 
und  D  das  F,  so  wird  durch  F  die  Basis  des  H  und  2),  das  G, 
zu  Gunsten  des  C  aus  seiner  vorübergehenden  Tonica-Stellnng 
verdrängt  Der  Grund  liegt  wiederum  in  der  Dissonanz.  Ich 
sagte  oben,  das  in  die  dissonante  Beziehung  zu  H  oder  D  ge- 
rathene  F  sei  nicht  mehr  das  F,  als  das  es  sonst  sich  darstelle. 
Ebenso  nun  ist  das  H  oder  2>,  nachdem  es  in  die  dissonante  Be- 
ziehung zu  F  gerathen  ist,  nicht  mehr  das  H  oder  D,  oder  wirirt 
nicht  mehr  als  das  H  oder  Z>,  das  es  sonst  ist  Beide  üb^ 
nicht  mehr  die  selbständige  Wirkung,  die  sie  als  diese  von 


Zwr  TKeorie  der  Melodie,  261 

I  verscbiedenen  Töne  üben  würden,  sondern  diese  Wirkung  ist 
der  gemeinsamen  Wirkung  auf  C  untergeordnet  Zu  dieser  selb- 
ständigen Wirkung  des  H  oder  D  gehört  aber  vor  Allem  ihr  Ab- 
zielen auf  G.  Dies  wird  also  aufgehoben.  Dadurch  ist  G  seines 
Anspruchs,  Tonica  zu  sein,  verlustig.  —  Die  der  Wirkung  der 
Quart  gleichartige  Wirkung  der  Sext  ist  ersichtlich  etwa  aus  der 
Folge  öo  —  ^0  —  ^^--^0  —  ^0  —  ^>  diö  verstärkte  Wirkung  des 
Zusammen  von  Quart  und  Sext  aus  der  Folge  Öq  —  ^o — ^  — 
A^—f—H^  —  c. 

Endlich  hat  die  Quart  ihre  eigenartigste  Bedeutung  darin,  dafs 
sie,  wiederum  auf  Grund  jener  Dissonanz  mit  H  oder  2),  oder 
beiden,  in  besonderem  Maafse  einen  endgültigen  AbschluTs 
herbeizuführen  vermag.  Ich  wiederhole:  H  und  D  vermögen 
in  durchaus  natürUcher  Weise  von  ö  zu  C  hinzuleiten  und  C 
den  Charakter  der  Tonica  zu  geben.  Aber  nicht  jede  Hin- 
führung zu  C  als  Tonica  ist  abschliefsend.  Es  giebt  —  in  der 
Melodie  in  C-Dtir  —  einleitende  Hinführungen  zu  C  als 
Tonica,  imd  es  giebt  solche,  bei  denen  C  als  Durchgangs- 
punkt  oder  als  vorübergehender  Ruhepunkt  erscheint. 
Die  Verbindimg  des  H  oder  D  mit  F  aber  schafft  in  besonderem 
Maafse  solche  Hinführungen  zu  G  als  Tonica,  die  C  als  end- 
gültigen Abschlufs  erscheinen  lassen.  Die  Folge  g  —  H^  —  c 
etwa  führt  zweifellos  zu  C  als  Tonica  hin;  aber  vielleicht  dient 
sie  damit  nur  der  Einführung  der  Tonica  C  In  der  That 
ist  diese  Folge  zur  bestimmten  Einführung  der  Tonica  trefflich 
geeignet  Dagegen  geht  die  Folge  g — f-^H^  —  c  über  die  blofse 
Einführung  hinaus.  Sie  ist  specifisch  geeignet  zum  Abschlufs 
des  Granzen.  Noch  mehr  klingt  etwa  g — f — A^  —  U^ — c  oder 
g — a — f — e — d — c  als  endgültiger  Abschlufs.  Man  vergleiche 
mit  der  letzteren  Folge  die  Folge  g — e — d — c,  die  wiederum  zur 
Einführung  der  Tonica  und  damit  zur  Einleitung  der  Melodie 
specifisch  geeignet  erscheint. 

Wiederum  hat  dieser  Sachverhalt  seinen  Grund  in  der  Dis- 
sonanz F — H  oder  F — Z).  Ich  sagte,  diese  dissonanten  Töne 
ordnen  sich  oder  ihre  Wirkung  in  besonderer  Weise  unter  dem 
C  oder  der  Wirkung  auf  C.  Hier  kommt  es  mir  darauf  an,  dafs 
sie  sich  dem  C  in  besonderer  Weise  unterordnen.  Dabei  be- 
denken wir:  Das  ztir  Ruhe  Kommen  einer  Folge  von  Tönen  in 
der  Tonica  ist  Unterordnung  unter  die  Tonica.  Es  besagt,  dafs 
die  Tonica  der  sicher  herrschende  Factor  geworden  ist  in  einem 


252  Theodor  Lipps, 

rhythmischen  System,  dafs  das  ganze  System  sich  in  der  Tonica 
zusammenfafst  und  zusammenschliefst,  dafs  die  Töne,  die  sich 
unterordnen,  nicht  Geltung  beanspruchen  als  diese  so  be- 
schaffenen Töne,  nicht  für  sich  etwas  sein  wollen,  sondeni 
^dienen",  zu  dienenden  Momenten  werden  in  dem  herrschenden 
Factor,  also  in  der  Tonica  oder  dem  in  ihr  reprä43entirten  Grund* 
rhythmus,  dafs  sie  in  der  Tonica  relativ  aufgehen.  Demgem&Ts 
ist  jedes  Moment,  das  irgendwelche  Töne  zu  solcher  Unter- 
ordnimg  unter  einen  dritten  Ton  nöthigt,  geeignet,  das  zur  Ruhe 
Kommen  der  Bewegung  in  diesem  dritten  Tone  zu  steigern. 

Ein  solches  Moment  ist  nun  aber  eben  jene  Dissonanz 
zwischen  F  einerseits  imd  H  und  D  andererseits.  Die  dis- 
sonanten  Töne  widerstreiten  sich  oder  wirken  gegen  einander; 
sie  bestreiten  sich  das  Recht  des  Daseins  und  wirken  damit  auf 
die  gemeinsame  Unterordnung  unter  die  Tonica  C  hin.  Nach 
oben  Gesagtem  geht  mit  dieser  gemeinsamen  Unterordnung  zu- 
gleich eine  Unterordnung  des  F  oder  seiner  Wirkung  auf  C 
imter  die  H  oder  D  und  ihren  Hinweis  auf  C,  Hand  in  Hand. 
—  Nebenbei  bemerkt:  Meyeb  meint,  Tonempfindungen  streiten 
nicht  mit  einander.  Das  ist  eben  ein  Irrthum.  Im  Uebrigen 
läfst  auch  Meyeb  gelegentlich  die  Tonica  „win  the  battle**.  ich 
verstehe  nicht,  wie  man  eine  Schlacht  gewinnen  kann  ohne 
Streit 

Ich  füge  noch  hinzu :  Auch  bei  dem  Aufbau  der  Terz  und 
Quint  auf  der  Tonica  läfst  der  relative  Widerstreit  zwischen 
Terz  imd  Quint  nicht  Hur,  wie  bereits  betont,  den  Hinweis  anf 
die  Tonica  zwingender  erscheinen,  sondern  er  bewirkt  auch,  dafe 
die  Tonica  in  höherem  Maafse  der  feste  und  sichere  Ruhepunkt 
innerhalb  des  aus  Tonica,  Terz  und  Quint  gebildeten  rhythmi- 
schen Systems  ist.  Das  Gleiche  nun  geschieht  in  unserem  Falle, 
nur,  wegen  der  stärkeren  Dissonanz,  mit  höherer  Wirkung. 

Rückkehr  zu  Meyeb's  Intonationen   der  Quart 

und  Sext. 

Mit  dem  oben  über  die  Stellung  der  Quart  und  der  Sext 
Gesagten  bin  ich  in  sehr  bestimmten  Gegensatz  zu  Meyeb  ge- 
treten. Meyeb  sind  in  der  Melodie  mit  primärer  Tonica  Quart 
und  Sext  der  Tonica  unverständlich.  Uns  erschienen  sie  als 
verständlich  und  nothwendig.    Diesen  Gregensatz  zu  Meyeb  muüs 


Zur  Theorie  der  Melodie.  253 

ich  nun  zunächst  noch  weiter  rechtfertigen.    Zugleich  aber  wird 
sich  dabei  eine  Art  von  Annäherung  an  Meyer  ergeben. 

Die  Abweisung  der  Quart  und  Sext  wird  von  Meyeb  in  der 
Eingangs  angegebenen  Weise  theoretisch  begründet.  Diese 
theoretische  Begründung  ist,  wie  wir  sahen,  nicht  stichhaltig. 
M.  verkennt  das  Wesen  der  Melodie. 

Aber  auch  die  gegebenen  oder  möglichen  einzelnen  Me- 
lodien werden  aus  Meyeb*s  Theorie  nicht  verständlich.  Wo  Ein- 
heit und  Natürlichkeit  des  Fortgangs  herrscht,  würde  Meyeb's 
Theorie  mitunter  die  vollste  Zusammenhangslosigkeit  an  die 
Stelle  setzen.  Was  dies  betrifft,  so  genüge  ein  Beispiel  Ich 
wiederhole :  Immer,  wenn  C  Tonica  ist,  soll,  nach  Meyeb,  F  zu 
C  im  Verhältnifs  von  21:16,  A  zu  C  im  Verhältnifs  27:16 
stehen.  Eine  Melodie  in  C-Dur  nun  könnte  vollkommen  be- 
friedigend abschliefsen  in  der  Folge  c  — /" — Aq  —  Hq — c.  Diese 
Töne  müssen  sich  nach  M.  verhalten  wie  32:42:27:80:32. 
Hier  ist  der  zweite  Ton,  auch  für  Meyeb,  nicht  verwandt  mit 
dem  ersten,  also  auch  nicht  mit  der  Tonica;  der  dritte  nicht 
verwandt  mit  dem  zweiten  und  ebensowenig  mit  der  Tonica; 
der  vierte  nicht  verwandt  mit  dem  dritten.  Die  einzige  in  der 
Tonfolge  vorkommende  Beziehung,  die  Töne  musikalisch  an 
einander  binden  kann,  ist  die  zwischen  dem  vierten  und  dem 
Schlufston.  Im  Uebrigen  erscheinen  in  jener  Tonfolge  einfach 
Töne,  die  einander  und  der  Tonica  fremd  sind,  neben  einander 
gestellt. 

Und  doch  haben  wir  angesichts  dieser  Folge  das  Gefühl  des 
natürlichsten  Fortgangs  und  des  natürlichsten  Aufbaus  auf  der 
Tonica.  Die  „alte  Theorie"  nun  sagt,  warum  es  so  sein  mufs. 
Für  sie  ist  der  zweite  Ton  dem  ersten,  der  dritte  dem  zweiten 
und  der  Tonica  aufs  Engste  verwandt.  Der  vierte  ist  zum 
dritten  dissonant,  aber  beide  sind  durch  die  Tonica  an  einander 
gebunden. 

Nun  beruft  sich  aber  Meyeb  auf  die  Erfahrung.  Er  hat 
eine  Reihe  Melodien  untersucht  und  überall  Töne  gefunden,  die 
die  alte  Theorie  als  Quarten  und  Sexten  fafst,  bei  denen  aber 
diejenige  Intonation  als  die  richtige,  oder  als  die  bessere,  oder 
ästhetisch  wirkungsvollere  erschien,  die  seiner  Auffassung  dieser 
Töne  als  Septime  bezw.  Secunde  der  Quint  entsprach.  Ich 
wiederhole,  dafs  hierbei  F  zur  Tonica  C  wie  21:16,  A  zur 
Tonica  C  wie  27 :  16   sich  verhält.    Setzen  wir  statt  21 :  16  das 


254  Theodor  Lipps, 

Verhältnifs  63 :  48,  statt  27  :  16  das  Verhältnifs  81 :  48,  so  ergiebt 
sich,  dafs  Meter  bei  seiner  Intonation  F  etwas  tiefer,  nämlich 
um  Vsi  tiefer,  und  A  etwas  höher,  nämlich  um  Vso  höher  nahm 
als  Diejenigen  thun,  die  die  diatonische  Leiter  festhalten.  Für 
diese  verhält  sich  ja  F  zu  C  wie  4 : 3  =  64 :  48,  und  A  zu  C  wie 
5  :  3  =  80  :  48. 

Ich  gedenke  nun  nicht  die  Sorgfalt  der  Untersuchungen 
Meteb's  oder  sein  musikaUsches  Gefühl  in  Zweifel  zu  ziehen. 
Aber  ich  bezweifle  die  Beweiskraft  seiner  Ergebnisse.  Meyer 
selbst  hat  in  Gemeinschaft  mit  Stumpf  höchst  sorgfältige  und 
dankenswerthe  Untersuchungen  darüber  angestellt,  welche  In- 
tonation der  grofsen  Terz,  der  Quint,  der  Octave,  andererseits 
der  kleinen  Terz  eines  gegebenen  Tones  als  die  richtige  oder 
ästhetisch  wirksamere  erscheine,  und  das  ErgebniCs  war,  dafs  — 
nicht  Unmusikalischen,  sondern  musikalisch  Hochbegabten  als 
richtige  Intonationen  diejenigen  erschienen,  bei  denen  die  grolse 
Terz,  die  Quint,  die  Octave  in  zunehmendem  Grade  zu  hoch, 
d.  h.  höher  als  es  die  Verhältnisse  4:5,  2:3,  1:2  vorschrieben, 
die  kleine  Terz  dagegen  zu  tief,  d.  h.  tiefer  als  es  das  Verhält- 
nifs 5  : 6  vorschrieb,  genommen  wurden. 

Dies  nun  hat  Meyeb  nicht  etwa  veranlafst,  in  der  Tonleiter, 
aus  welcher  unsere  Melodien  gebildet  sind,  die  Verhältnisse  4: 5« 
2:3,  1:2  und  5 : 6  zu  streichen  und  andere,  die  jener  richtigen 
Intonation  entsprechen,  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Sondern  er  hat 
theoretisch  die  diesen  Verhältnissen  entsprechenden  Intervalle 
festgehalten,  nur  mit  dem  Zusatz,  dafs  die  musikalische  Intona- 
tion praktisch  davon  abweiche. 

Hier  müssen  wir  zunächst  fragen:  Wie  kommt  Meter  ju 
dieser  Stellungnahme?  Wie  kann  man  theoretisch  die  Musik 
auf  Verhältnisse  aufbauen,  die  das  musikahsche  Grefühl  durch 
andere,  sei  es  auch  wenig  davon  abweichende  ersetzt? 

Aesthetische  Abweichungen  von  Normalformen. 

Auf  diese  Frage  nun  ist  schon  in  jener  Abhandlung  von  Stumpi 
und  Meyer  eine  Antwort  gegeben,  die  mir  zutreffend  scheint 
Ich  formulire  dieselbe  aber  hier  in  meiner  Weise,  zugleich  an 
einem  Punkte  etwas  genauer. 

In  kunstgewerblichen  Erzeugnissen,  etwa  Majolicagefäfsen, 
begegnen  wir  allerlei  geometrischen  Formen,  wie  Kreisen, 
geraden  Linien.    Die  ästhetische  Wirkung  dieser  Formen  beruht 


Zwr  ThecriB  dmr  Melodie.  255 

darauf,  dafs  sie  diese  geometrischen  Formen  sind.  Und  doch 
wäre  auch  wiederum  die  ästhetische  Wirkung  der  Formen  ver- 
mindert, ja  es  wäre  das  Beste  an  ihr  zerstört,  wenn  die  geo- 
metrischen  Formen  rein,  in  mathematischer  Strenge  gegeben 
wären.  Die  Formen  wären  „charakterlos".  Das  ästhetische  Ge- 
fühl fordert  leichte  Abweichungen. 

Dies  nun  hat  seinen  Grund  darin,  dafs  die  Formen  nicht 
als  solche  ihre  ästhetische  Wirkung  üben,  sondern  vermöge  des 
Lebens,  das  sie  bekunden,  oder  das  wir  in  sie  hineinfühlen.  Dies 
Leben  ist  zunächst  gebunden  an  die  geometrische  Form,  d.h. 
an  die  wirklichen  Kreise  und  Geraden.  Auch  die  thatsächlich 
gegebenen,  also  geometrisch  ungenauen  Kreise  und  Geraden 
rufen  dies  Leben  für  uns  ins  Dasein,  sofern  sie  eben  doch 
Kreise  und  Gerade  sind,  sofern  sie  also  trotz  der  Ab- 
weichung von  der  reinen  geometrischen  Form  diese  Form  oder 
das  Gesetz  derselben  in  sich  schUefsen ;  sie  haben  ihre  Bedeutung 
nicht  als  diese  in  sich  selbst  so  oder  so  beschaffenen  und  von 
den  Kreisen  und  Geraden  der  Geometrie  verschiedene 
Linien,  sondern  als  Kreise  und  Gerade. 

Dann  aber  fordert  die  Eigenart  jenes  Lebens  ihr  selb- 
ständiges Recht.  Dies  Leben  ist  in  unserem  Falle  speciell  Leben 
eines  bestimmten,  technisch  in  bestimmter  Weise  behandelten, 
also  bestimmte  Charakterzüge  zur  Schau  tragenden  Materials. 
Wir  können  demgemäfs  auch  sagen:  Material  und  Technik 
fordern  ihr  Recht.  Bestimmter  gesagt :  Sie  fordern  ihre  relative 
Freiheit  Diese  nun  bekundet  sich  —  nicht  in  anderen 
Formen,  wohl  aber  in  einer  relativen  Durchbrechung  jener 
Formen.  Das  will  sagen:  Auch  die  Wirkung  der  Abweichung 
von  den  geometrischen  Formen  beruht  nicht  darauf,  dafs  durch 
die  Abweichung  andere  Formen  entstehen,  sondern  darauf, 
dafs  diese  Formen  Abweichungen  sind,  dafs  sie  also  zu  einer 
„Norm"  in  Gegensatz  treten.  Die  geometrischen  Formen 
erscheinen,  eben  in  diesen  Abweichungen,  als  Norm.  Auch 
in  ihnen  sind  die  geometrischen  Formen  nicht  geleugnet,  son- 
dern vielmehr  als  die  zu  Grunde  hegenden  Formen  voraus- 
gesetzt, oder  als  die  Norm  anerkannt  Lidem  die 
thatsächlich  vorliegenden  Formen  als  Abweichungen  von  der 
Norm  erscheinen,  statuiren  sie  diese  Norm,  oder  was 
Dasselbe  sagt:  Ich  statuire  die  Norm  oder  erkenne  die  reinen 
geometrischen  Formen  als  Norm   an,   indem   ich  die  Wirkung 


256  Theodor  Lipps. 

der  thatsächlich  gegebenen  Formen  als  die  Wirkung  einer  Ab- 
weichung von  der  Norm  verspüre;  gerade  so  wie  Derjenige,  der 
sich  über  eine  Handlung  freut,  weil  sie  ein  Gesetz  übertritt,  da- 
mit das  Dasein  des  Gesetzes  anerkennt. 

Daraus  ergiebt  sich  für  die  wissenschaftliche  Betrachtang 
der  thatsächlich  vorliegenden  Formen  eine  doppelte,  klar  m 
scheidende  Fragestellung.  Die  Frage  lautet  das  eine  Mal:  Als 
was  wirken  die  Formen,  wenn  zunächst  abgesehen  wird  von 
den  besonderen  Forderungen,  welche  die  Eigenart  des  in  ihnen 
flieh  verkörpernden  Lebens  stellt.  Welches  sind  die  Formen,  die 
dies  Leben  für  uns  ins  Dasein  rufen,  abgesehen  von  der 
Rückwirkung,  welche  dies  Leben  übt,  wenn  es  einmal  ins 
Dasein  gerufen  ist?  Statt  dessen  können  wir  auch  kun 
sagen:  Welches  sind  die  der  gegebenen  Form  zu  Grunde 
liegenden  oder  welches  sind  ihre  Normalformen?  —  Und 
dazu  tritt  dann  die  zweite  Frage:  Wie  und  warum  wirkt  die 
Eigenart  des  in  den  Formen  verkörperten  Lebens  auf  die 
Formen,  die  es  ins  Dasein  gerufen  haben,  modificirend  zurück? 

Analog  nun,  freiUch  auch  wiederum  anders,  verhält  es  sich 
mit  den  musikalischen  Formen.  Auch  sie  sind  nicht  blos  diese 
Formen,  sondern  sie  sind  für  uns  Träger  eines  von  ihnen  selbst 
ganz  und  gar  verschiedenen  Lebens.  Wir  pflegen  dies  Leben 
wohl  kurz  als  Stimmungen  zu  bezeichnen.  Auch  hier  wirken  die 
Formen  zunächst  als  Formen  von  bestimmter  GesetzmäCsigkdt 
Sie  werden  vermöge  dieser  Gesetzmäfsigkeit  Träger  dieses 
Lebens.  Dann  aber  fordert  dies  Leben  die  volle  Ausprägung 
seiner  Eigenart.    Und  daraus  ergeben  sich  die  Abweichungen. 

Der  Fortgang  etwa  von  einem  Ton  zu  seiner  Octave  ist  für 
mich  nicht  blos  die  Aufeinanderfolge  eines  Tones  von  n  und 
eines  anderen  Tones  von  2n  Schwingungen,  sondern  in  ihm 
liegt  zugleich  für  mich  eine  eigenthümliche  Weise  mein« 
Lebensbethätigung  überhaupt,  ein  aus  mir  Herausgehen,  bei 
dem  ich  doch  mit  mir  nicht  in  Zwiespalt  gerathe,  sondern  mit 
mir  vollkommen  einstimmig  bleibe.  Dies  Erlebnifs  ist  ge- 
bunden an  jenes  Verhältnifs  1:2,  an  die  dadm-ch  bedingte 
rhythmische  Einstimmigkeit,  kurz  an  die  Consonanz.  Auch 
wenn  das  Octavenintervall  nicht  rein,  sondern  verstimmt  ist,  so 
übt  es  doch  diese  Wirkung  —  nicht  als  ein  anderes  Intervall 
etwa  als  das  Intervall  100 :  102,  sondern  als,  obzwar  verstimmtes 
Octavenintervall.    Es  übt  die  Wirkung  nach  dem  Gesetz,  dafe 


Zur  Theorie  der  Melodie,  257 

verstimmte  Intervalle  innerhalb  gewisser,  in  den  einzelnen  Fällen 
variabler  Grenzen  als  reine  wirken,  also  hinsichtlich  ihrer 
Wirkung  als  reine  betrachtet  werden  können  und  müssen;  es 
übt  sie,  sofern  in  seiner  Wirkung  die  Wirkung  des  reinen 
Intervalls,  oder  sofern  in  ihm,  seiner  Wirkung  nach,  das  reine 
Intervall  steckt,  oder  darin  als  Grundform  enthalten  liegt. 

Nun  ist  aber  jenes  „aus  mir  Herausgehen^,  das  im  Octaven- 
schritt  liegt,  nicht  blos  ein  solches,  in  dem  ich  mit  mir  ein- 
stimmig bleibe,  sondern  es  ist  zugleich  ein  aus  mir  Herausgehen 
in  einem  specifischen  Sinne,  insbesondere  ein  aus  mir  Heraus- 
gehen von  ganz  anderer  Art  oder  ganz  anderem  Charakter  ab 
dasjenige,  das  auch  im  Fortgang  zur  kleinen  Terz  liegt,  nämlich 
ein  solches  von  eigenthümlicher  Freiheit,  Entschlossenheit,  Un- 
bekümmertheit Daraus  gewinnt  die  Octave  ihren  specifischen 
and  zugleich  specifisch  erfreulichen  Charakter. 

Und  nun  liegt  mir  daran,  diesen  Charakter  in  der  Octave 
möglichst  vollkommen  und  ausgeprägt  zu  erleben.  Jemehr  er 
in  der  Octave  schon  von  Hause  aus  gegeben  ist,  umsomehr  er^ 
scheint  er  für  mich  dazu  gehörig,  umsomehr  fordere  ich  ihn, 
wenn  mir  die  Octave  als  eine  richtige  Octave  erscheinen  soll 

Und  zur  Erfüllung  dieser  Forderung  ist  nun  die  Er- 
weiterung des  Intervalls,  die  Vergröfserung  des  Tonschrittes, 
die  Steigerung  des  Fortganges  innerhalb  des  Toncontinuums  das 
Mittel.  Indem  ich  die  Erweiterung  vollziehe,  erfährt  das  Gefühl 
des  freien  aus  mir  Herausgehens  einen  Zuwachs;  und  es  er- 
leidet zugleich,  soweit  die  verstimmte  Consonanz  als  reine  zu 
wirken  vermag,  der  Eindruck  der  Einstimmigkeit  keine  Ein- 
bofse. 

Auch  hier  aber  mufs  hinzugefügt  werden:  Nicht  dies  er- 
weiterte Intervall,  das  an  die  Stelle  des  reinen  tritt,  sondern 
dafs  dies  Intervall  eine  Erweiterung  des  reinen  Interv€dls 
ist,  und  ein  Hinausgehen  über  die  damit  gegebene  Norm,  bedingt 
jenen  Zuwachs.  Oder,  was  Dasselbe  sagt:  Nicht  dafs  das  In- 
tervall gröfser,  sondern  dafs  es  zu  grofs  genommen  ist,  er- 
zeugt die  erhöhte  ästhetische  Wirkung.  Dafs  es  zu  grofs  ge- 
nommen wird,  dies  besagt  aber  eben,  dafs  es  gröfser  genommen 
wird,  als  es  normalerweise,  oder  auf  Grund  der  Schwingungs- 
verhältnisse genommen  werden  dürfte. 

Und  man  sieht  auch,  wiefern  dies  „zu  grofs^  thatsächlich  zu- 
trifft.   Gehe  ich  von  einem  Ton  zu  seiner  höheren  Octave,  so  ist  es 

Zeitschrift  für  Psycholoffie  27.  17 


.258  Theodor  Lippe, 

mir  zunächst  natürlich,  es  besteht  also  für  mich  eine  Art  yon 
Nöthigung,  zur  reinen  Octave  fortzugehen.  Der  tiefere  Ton  weist 
mich  hin  —  nicht  auf  die  verstimmte,  sondern  auf  die  reine  Octave. 
Er  weist  mich  darauf  hin  vermöge  des  Schwingungsverhältnisses 
1:2.  Die  Intonation  der  verstimmten  Octave,  d.h.  des  höher 
Hegenden  Tones,  geschieht  demgemäXs  im  Gegensatz  zu  diesem 
Hinweis.  Aber  eben  dies  Hinausgehen  über  das  zunächst  mir 
vorgeschriebene  Ziel,  im  Widerstreit  mit  dem  Antrieb 
dabei  zu  bleiben,  die  darin  hegende  Spannung,  das  ^Forciren*^ 
der  Höhe,  bedingt  jenen  Eindruck.  Er  bringt  in  jenes  aus  mir 
Herausgehen  ein  Moment  der  inneren  Anspannung,  der  kraft- 
vollen Activität.  —  Es  giebt  ja  keine  Activität  ohne  Gregensatz, 
ohne  Spannung,  ohne  Ueberwindung  einer  Hemmung. 

Daraus  erst  ist  die  fragUche  Wirkung  erklärUch.  Ergäbe  sie 
sich  einfach  aus  dem  Umstand,  dafs  der  Tonschritt  ein  weiterer 
ist  und  doch  die  Consonanz  bestehen  bleibt,  so  mülste  die 
Doppeloctave  den  gleichen  Eindruck  in  sehr  viel  höherem  Grade 
machen,  auch  wenn  hier  das  Intervall  statt  zu  grols,  zu  klein 
genommen  würde.  Es  wäre  ja  noch  immer  sehr  viel  gröfser  als 
der  einfache  Octavenschritt  Es  wäre  nur  nicht  „zu  grofe". 
Es  liegt  also  auch  der  ästhetischen  Wirkung  des  vergröfserten 
Intervalls  die  Wirkung  des  reinen  zu  Grunde  oder  hat  diese  zur 
Voraussetzung. 

Durchaus  Gleichartiges  gilt  mit  Rücksicht  auf  die  Neigung, 
die  kleine  Terz  zu  niedrig  zu  nehmen,  oder  eine  kleine  Terz, 
die  niedriger  intonirt  ist,  als  es  das  Schwingungsverhältnifs  5 : 6 
vorschreibt,  für  eine  richtige  kleine  Terz  zu  erklären.  Der 
kleinen  Terz  eignet  ein  Charakter  —  nicht  des  freien,  unbe- 
kümmerten, ,,flotten**  aus  sich  Herausgehens,  sondern  des 
relativen  in  sich  Bleibens,  des  innerlichen  „ Arbeitens** ,  des 
Sinnens,  Grübelns,  Sehnens.  Wiederum  wünschen  wir  diesen 
Charakter  ausgeprägt,  nämlich  nach  seiner  positiven  Seite  hin. 
Wir  wünschen  das  Sinnen,  Grübeln,  Sehnen,  das  Bleiben  in  der 
Innerlichkeit  des  Gemüthes,  das  innerliche  Arbeiten  —  oder  mit 
welchem  Namen  sonst  wir  diesen  Charakter  der  kleinen  Terz  zu 
bezeichnen  versuchen  mögen  —  nicht  matt,  leer,  nichtssagend, 
sondern  bedeutsam,  kraft-  und  inhaltvoll.  Und  auch  hier  ist 
dies  nicht  möglich,  ohne  dafs  in  diesen  ästhetischen  Inhalt  der 
Terz  ein  Moment  der  Activität,  also  der  Spannung  hineinkommt 
Dazu   ist   aber   offenbar   wiederum   das  Hinausgehen    über   die 


Zur  Theorie  der  Melodie.  259 

„Norm",  d.  h.  über  die  reine  Consonanz,  und  die  daraus  sich 
ergebende  Spannung  das  Mittel.  Nur  diesmal  nicht  das  Hinaus- 
gehen im  Sinne  der  Erweiterung  des  Tonschrittes,  des  freieren 
Fortganges  innerhalb  des  Toncontinuums,  sondern  im  Sinne  des 
geflissentlichen  Zurückhaltens,  der  gewaltsamen  Ein« 
engung  der  Bewegung  in  sich  selbst. 

Die   „richtigen  Intonationen"   der  Quart  und   Sext. 

Verhält  es  sich  nun  aber  so  mit  den  „richtigen"  Intonationen 
der  Octave,  Quinte,  grofsen  Terz,  kleinen  Terz,  so  ist  bei  der 
wissenschafthchen  Betrachtung  der  richtigen  oder  der  ästhetisch 
wirkimgsvolleren  Intonationen  der  Intervalle  überhaupt,  ebenso 
wie  bei  der  wissenschaftlichen  Betrachtung  jener  vorhin  er- 
wähnten Formen,  die  Aufgabe  eine  doppelte.  Es  handelt  sich 
einmal  um  die  Feststellimg  der  „Norm",  zum  anderen  um  die 
Beantwortung  der  Frage  nach  den  Bedingungen,  Arten,  Wir- 
kungen des  Hinausgehens  über  die  Norm.  Es  ist  Dasselbe,  wenn 
ich  sage,  es  handelt  sich  das  eine  Mal  darum,  aus  welcher  in 
den  Tönen  und  Ton  Verbindungen  selbst  liegende  Gesetzmäfsig- 
keit,  uns  das  Zusammen  der  Töne  und  der  Fortgang  vom  einen 
zum  anderen  und  schliefslich  der  Zusammenschlufs  vieler  zu 
einer  ästhetischen  Einheit  begreiflich  werden  kann,  das  andere 
Mal  um  die  ganz  anders  geartete  G^setzmäfsigkeit,  die  sich  er- 
giebt  aus  den  specifischen  Forderungen  des  ästhetischen  Inhaltes 
im  engsten  Sinne  dieses  Wortes.  Wir  kennen  aber  nur  eine 
Gesetzmäfsigkeit  der  ersteren  Art,  nämlich  diejenige,  die  aus  der 
rhythmischen  Verwandtschaft  und  in  secundärer  Weise  aus  der 
Nachbarschaft  innerhalb  des  Toncontinuums  sich  ergiebt. 

Meyer  nun  erinnert  sich  in  seinen  Beiträgen  zur  Theorie 
der  Musik  wohl  jener  Erweiterungen  bezw.  Verengerungen  der 
Intervalle,  und  der  durch  sie  bedingten  Erhöhung  der  ästhetischen 
Wirkung.  Und  er  stellt  die  Frage,  ob  nicht  vielleicht  die  höhere 
Wu-kung,  die  in  den  von  ihm  untersuchten  Melodien  aus  der  In- 
tonation des  F  als  natürliche  'Septime  der  Quint,  und  der  In- 
tonation des  A  als  Secunde  der  Quint  sich  ergiebt,  gleichfalls 
aus  einem  solchen  Hinausgehen  über  das  normale  Schwingungs- 
verhältnifs  zu  erklären  seL  Aber  er  meint  diese  Frage  ver- 
neinen zu  müssen.  Die  Abweichung  sei  hier  zu  grofs.  Er 
statuirt  darum  seine  neuen  Intervalle. 

Indessen  Meyer  übersieht    hier   einen  wichtigen  Umstand. 

17* 


260  Theodor  Lipps. 

Die  Versuche,  die  die  Neigung  zur  Vergröfserung  des  Ten-, 
Quinten-,  Octavenintervalls,  und  die  Neigung  zur  Verkleinenmg 
des  Intervalls  der  kleinen  Terz  ergaben,  operirten  mit  zwei 
Tönen.  Einem  Ton  ¥nirde  ein  anderer  hinzugefügt.  Aber 
darum  handelt  es  sich  ja  bei  den  von  Meyeb  untersuchten  Me- 
lodien gar  nicht  Sondern  hier  treten  zu  Tönen,  die  einer 
Melodie,  also  einem  mehr  oder  minder  reichen  rhythmischen 
System  angehören,  andere  Töne  hinzu.  Und  diese  Töne  treten 
ebendamit  selbst  ein  in  die  Melodie.  Hier  sind  demgemäfs  die 
einzelnen  Intervalle  nicht  mehr  diese  isolirten  Intervalle,  sondern 
Theile  einer  Melodie,  in  ihrer  Wirkung  dem  Einfluüs  der  ganzen 
Melodie,  und  damit  dem  EinfluTs  alles  dessen,  was  die  Melodie 
ausdrückt,  des  in  ihr  pulsirenden  reichbewegten  Lebens,  der  in 
ihr  verkörperten  Stimmungen  und  des  Fortgangs  von  Stinmmng 
zu  Stimmung  unterworfen.  Es  ist  vorauszusehen,  dafe  hier  da 
und  dort  in  ganz  anderer  und  sehr  viel  intensiverer  Weise  eine 
Abweichung  von  der  Norm  ästhetisch  gefordert  sein  wird.  Es 
ist  die  Frage  erlaubt:  Sollte  nicht  Meter  mit  den  „richtigen^, 
d.  h.  ästhetisch  besonders  wirksamen  Intonationen,  die  er  ge- 
funden hat,  und  in  denen  F  zur  natürlichen  Septime  der  Quint 
erniedrigt,  Ä  zur  Secunde  der  Quint  erhöht  erschien,  eben  dafür 
den  Beweis  geliefert  haben? 

Ich  zweifle  nicht,  dafs  es  in  einigen  Fällen  in  der  That  sich 
so  verhält. 


Doppelbedeutung   der  Quart  und  Sext 

In  anderen  Fällen  scheint  mir  Meyer  mit  seiner  Statuirung 
der  Verhältnisse  16 :  21  und  16 :  27  Recht,  und  doch  auch  wiederum 
Unrecht  zu  haben.  Oder  warum  sollte  nicht  ein  F  Beides  zu- 
gleich sein,  natürliche  Septime  der  Quint  und  Quart? 

Nennen  wir  der  Kürze  halber  das  F,  das  Septime  der  Quint 
ist,  F, ,  das  F,  das  Quart  von  C  ist,  Fq,  Und  erinnern  wir  uns  nun 
noch  einmal  der  Folge  (?o  —  ^o — ^ — f — ö^o — ^-  I^  dieser  Folge 
scheint  mir  das  f  zunächst  allerdings  als  F,,  also  als  natürUche 
Septime  des  G  gefafst  werden  zu  müssen.  Es  scheint  mir  so, 
weil  ich  nicht  verstehe,  wie  wir,  mit  dem  Gefühl  der  vollen 
Natürlichkeit  des  Fortganges,  von  Gq  —  i/^ — ^ —  zu  f  gelangen 
sollten,  wenn  dies  f  zu  den  vorangehenden  Tönen  Hq  und  d  sich 
verhält  wie  64  :  45  bezw.  wie  32  :  27.    Dagegen  ist  der  Fortgang 


Zur  Theorie  der  Melodie,  261 

wohl  verständlich,  wenn  die  vier  ersten  Töne  jener  Reihe  sich 
veriialten  wie  4:5:6:7. 

Damit  ist  nicht  gesagt,  dafs  das  f  in  der  bezeichneten  Folge 
tfaatsächlich  F,  sein  müsse.  Vielleicht  ist  es  Fg.  Dann  wirkt 
ea  doch  in  ■  diesem  Zusammenhange  zunächst  als  ein  ver- 
stimmtes Fg.  Vielleicht  ist  sogar  die  Intonation  als  Fq  die 
richtigere,  d.  h.  die  ästhetisch  befriedigendere.  Auch  in  diesem 
Falle  würde  das  F  wirken,  d.  h.  zunächst  in  natürUcher  Weise 
in  diesen  Zusammenhang  sich  einfügen,  sofern  es  annäherungs- 
weise Fg  ist  und  demgemäfs  innerhalb  gewisser  Grenzen  als  F,  zu 
wirken  vermag. 

Aber  eben  dieses  -F,  der  Beihe  G© — ^o — ^ — f  wirkt  dann 
ebenso  gewifs  auf  das  nachfolgende  C  als  Fg.  Es  „gleicht^  sich 
dem  nachfolgenden  C  „an^.  Solche  Doppelwirkung  scheint  M. 
an  einer  Stelle  als  völlig  unmöghch  anzusehen.  Er  denkt  dabei, 
wie  es  scheint,  an  eine  gleichzeitige  Wirkung.  Aber  darum 
handelt  es  sich  ja  hier  nicht  Auf  f  folgt  erst  Gq  und  dann  erst  c. 
Schon  während  Gq  eintritt,  besteht  f  nur  noch  in  der  Erinnerung, 
und  solche  „Angleichung^  in  der  Erinnerung  ist  uns  eine  sehr 
geläufige  Sache.  Zwei  sehr  ähnliche  Farben,  die  ich  gleichzeitig 
sehe,  erscheinen  mir  vielleicht  deutlich  verschieden.  Nim  sehe 
ich  sie  aber  nach  einander.  Dann  kann  es  geschehen,  dafs  ich 
keine  Verschiedenheit  mehr  erkenne.  Es  ist  eben  dadurch,  dafs 
bei  der  Wahrnehmung  der  zweiten  Farbe  die  erste  für  mich  nur 
noch  als  Erinnerungsbild  besteht,  der  thatsäcbUch  bestehende 
Unterschied  der  beiden  Farben  wirkungslos  geworden.  Die  erste 
Farbe  wirkt  in  meinem  Vergleichungsurtheil  jetzt  nicht  mehr 
als  die  von  der  zweiten  Farbe  deutlich  verschiedene,  sondern  sie 
wirkt  wie  eine  ihr  gleiche.  Dies  ist  es,  was  ich  auch  so  aus« 
drücke:  Die  erste  Farbe  hat  sich  der  zweiten  angeglichen.  — 
Und  ebenso  nun  kann  bezw.  mufs  das  F  dem  nachfolgenden  C 
sich  angleichen. 

Den  Hergang  dieser  Angleichung  müssen  wir  aber  genauer  be- 
stimmen. Dabei  müssen  wir  zugleich  das  ganze  G^  —  Hq  —  d — f —  c 
noch  von  anderer  Seite  her  betrachten.  Oben  wurde  Grewicht 
darauf  gelegt,  dafs  die  Quart  F  mit  H  und  D  dissonire,  und 
dafs  diese  Dissonanz  zur  Fortbewegung  nach  dem  ihnen  gemein- 
sam verwandten  C  hindränge.  Eine  Dissonanz  geringeren  Grades 
zwischen  F  einerseits  und  H  und  D  andererseits  besteht  nun  aber 
auch,   wenn  F  als  F,  genommen  wird.    Sie  besteht  also  insbe- 


262  Theodor  Lipps. 

sondere  auch  in  unserem  Gq — Hq — d — f — c.  Die  Verhältnisse 
5  : 7  und  6 : 7  schliefsen  zweifellos  eine  solche  Dissonanz  in  sicL 
Der  Hinzutritt  des  f  zu  den  vorangehenden  Tönen  erscheint 
deutlich  als  der  Büneintritt  eines  eigenthümUch  fremdartigen 
Elementes  in  die  Tonfolge.  Auch  hier  besteht  demgem&fe  die 
Tendenz  des  Fortganges  zu  einem  allen  diesen  Tönen  gemein- 
sam verwandten  Ton.  Und  auch  hier  ist  dieser  Ton  der  Ton  c 
Zunächst  weist  die  Folge  Gq  —  H^  —  d  in  ihren  sämmtlichen 
Elementen  auf  c  hin.  Dann  hegt  der  gleiche  Hinweis  noch  ein- 
mal in  dem  zweiten  G^. 

Eben  dadurch  nun  vollzieht  sich  jene  Angleichung.  c,  oder 
genauer  der  Rhythmus  des  c,  wird  durch  die  ffo»  -ö^,  d  in  ge- 
wisser Weise  vorausgenommen.  Diesem  vorausgenommenen  e 
gleicht  sich  das  f  an.  Es  ist  Dasselbe,  wenn  ich  sage :  Es  folgt 
dem  Hindrängen  auf  c.  Indem  ihm  c  sozusagen  als  Ziel  vor- 
gehalten wird,  wird  die  in  ihm  liegende  Möglichkeit,  als  F^,  zu 
wirken,  in  Anspruch  genommen.  Und  eben  dadurch  wird  sie 
zur  Thatsache. 

In  allem  dem  liegt  nichts,  was  der  „alten  Theorie"  wider- 
stritte. Diese  Theorie  kennt  unter  Anderem  die  Ausweichung 
einer  Melodie  in  C-Dur  nach  G-Dur.  Gesetzt  mm,  es  kommt  in 
der  Melodie,  solange  sie  in  6r-Dur  sich  bewegt,  ein  Ä  vor,  so 
mufs  die  alte  Theorie  dies  als  Secunde  von  G  fassen,  also  genau 
so,  wie  M.  das  A  in  allen  Melodien  mit  C  als  Tonica  gefälst 
wissen  will.  Offenbar  ist  es  aber  nur  consequent,  wenn  sie  unter 
der  gleichen  Voraussetzung  auch  F  als  natürliche  Septime  des 
G  fafst.  Die  Melodie  in  C-Dur  weicht  aber  nach  G-Dur  aus  nicht 
erst,  wenn  Fis  auftritt,  sondern  auch  schon  in  solchen  Folgen, 
wie  die  eben  erwähnte.  Sie  weicht  überhaupt  jederzeit  nach 
G-Dur  aus,  wenn,  und  in  dem  Maafse,  als  G  den  Charakter  der 
Tonica  gewinnt.  —  Und  nicht  minder  geläufig  ist  der  alten 
Theorie  jene  Doppel  Wirkung  und  Angleichung  eines  Tones. 

Das  Bild  der  Melodie. 

Auf  Grund  des  Vorstehenden  mm  läfst  sich,  wie  mir  scheint, 
ein  verständliches  Bild  der  Melodie  aus  den  Tönen  der  diatonischen 
Leiter  gewinnen.  Die  Melodie  oscillh*t,  nachdem  ihre  Tonica 
mehr  oder  minder  bestimmt  eingeführt  ist,  um  die  in  dieser 
Tonica  gegebene  Gleichgewichtslage.  Sie  oscillirt  insbesondere 
zwischen  Quint  und  Quart.    Sie  mündet   vermöge  des  Gegen- 


Zur  Theorie  der  Melodie,  263 

einanderwirkens  dieser  beiden  secuDdären  Toniken  und 
ihrer  rhythmischen  Systeme  schliefslich  endgültig  in  jene  Gleich- 
gewichtslage ein.  Die  Quart  hat  dabei  die  vierfache  oben  be- 
zeichnete Bedeutung.  Jetzt  mufs  noch  hinzugefügt  werden  jene 
Doppelnatur  des  vierten  Tons  der  Leiter,  d.  h.  die  Fähigkeit 
desselben,  zuerst  als  natürliche  Septime  der  Quint  und  dann  als 
Quart  zu  wirken  und  so  in  flüssiger  Form  von  der  Quint  zur 
Tonica  hinzuführen. 

Nur  von  der  Melodie  in  Dur  war  die  Rede  und  nur  gelegent- 
lich von  ihren  Ausweichungen.  Diese  letzteren  bieten  nichts 
principiell  Neues,  sondern  vermannigfaltigen  und  steigern  nur, 
was  auch  in  den  einfacheren  Melodien  schon  gegeben  ist 

In  der  Melodie  in  Moll  kommt  zu  den  beiden  Nebentonikert 
G  und  F  die  dritte  Nebentonica  As  hinzu.  Auch  Es  spielt  in. 
gewissem  Grade  —  schon  in  der  einfachen  Folge  C — Es — G 
die  Rolle  einer  Nebentonica.  Dagegen  hat  der  Grundton  C  den 
einen  der  Töne,  die  sich  in  Dur  unmittelbar  auf  ihm  aufbauen, 
die  Terz  E,  andererseits  aber  auch  die  Quart  ihren  Secundanten 
A  verloren.  Damit  hat  in  der  Melodie  in  Moll  die  Geschlossenheit 
des  Aufbaues  auf  einem  einzigen  Tonrhythmus  eine  Minderung 
erfahren.  Ein  Schweben,  man  könnte  sagen  eine  Sehnsucht 
nach  solcher  einfachen  Geschlossenheit,  bleibt  ihr.  Ich  erinnere 
noch  an  das  Mittel,  dem  Abschlufs  den  Charakter  gröfserer  Sicher- 
heit zu  geben,  die  Einführung  der  Dur-  statt  der  Mollterz.  Im 
Uebrigen  sind  aber  hier  die  allgemeinen  Principien  für  ein 
psychologisches  Verständnifs  dieselben  wie  bei  der  einfachen 
Melodie  in  Dur. 

Diese  Principien  bleiben  auch  dieselben  bei  der  harmonisirten 
Melodie,  und  schliefslich  beim  beliebig  reichen  Tonkunstwerk. 

(Eingegangen  am  1.  October  1901.) 


Stereoskopie 
und  Tiefenwahrnehmung  im  Dämmerungssehen. 

Von 

Prol  Dr.  W.  A.  Nagel  (Preiburg  i.  Br.). 

HEDfE  hat  unlängst  in  seiner  Abhandlung  über  „Sehschftife 
und  Tiefenwahmehmung'' '  gezeigt,  wie  überraschend  fein  anter 
geeigneten  Bedingungen  die  Tiefenwahmehmung  mittels  beider 
Augen  sein  kann.  Das  sehr  einfache  und  elegante  Versuchfl* 
verfahren,  von  y.  HelmhoiiTz  herrührend,  besteht  darin,  dab  drei 
verticale  Stäbehen  in  einer  frontalen  Ebene  vor  einem  gleich* 
mäfsig  hellen  Hintergrund  aufgestellt  und  binocular  betrachtet 
werden,  und  nun  festgestellt  wird,  um  wie  weit  das  mitdeie 
Stäbchen  vor  oder  hinter  die  durch  die  beiden  äulseren  Stäbchen 
gegebene  Ebene  verschoben  werden  muTs,  damit  die  Verschiebung 
erkannt  wird  xmd  der  Eindruck  verschiedener  Entfernung  vom 
Beobachter  eintritt 

Ohne  auf  die  theoretischen  Folgerungen  fiüuNs's  über 
„Doppelvereorgung'^  des  macularen  Netzhautbezirks  näher  eum- 
gehen,  möchte  ich  hier  nur  erwähnen,  dafs  die  Ausführungen 
Heine's  mir  den  Gedanken  nahe  legten,  ob  eine  derartige  HefeD- 
Wahrnehmung  und  stereoskopisches  Sehen  auch  den  Netzhant- 
stäbchen zukommt,  oder  etwa  nur  durch  die  Zapfen  vermittelt 
wird.  Von  vorneherein  möchte  man  vielleicht  sagen,  es  sei 
selbstverständlich,  dafs  auch  mittels  der  Stäbchen  allein  stereo- 
skopisch gesehen  werden  könne  und  Tiefenwahmehmung  mög- 
lich sei.  Selbstverständlich  ist  dies  indessen  keineswegs  und  auch 
meines  Wissens  bis  jetzt  nicht  bewiesen.  Die  Verschiedenheit 
der  Bedingungen,  unter  denen  Stäbchen  und  Zapfen  functioniren, 
und  die  Verschiedenheit  ihrer  anatomischen  Beziehungen  zum 
Sehnerven  lassen  gewifs  an  die  Möglichkeit  denken,  dafe  die 
Stäbchen  hinsichtlich  des  binocularen  Zusammenwirkens  gewisse 

^  L.  Heine.  Sehschärfe  und  Tiefenwahmehmung.  Arch.  f,  Ophthalm. 
51,  146. 


Stereoskopie  und  Tiefenwüyrnehmung  im  Dämmerungesehen.  265 

Unterschiede  gegenüber  den  Zapfen  zeigen.  Auch  Hsn^B  sieht 
sich  ja  veranlafst,  für  die  besonders  feine  Tiefenwahrnehmung 
im  macularen  Gebiete  Besonderheiten  der  Innervation  anzur 
nehmen. 

Dafs  man  im  reinen  Dämmerungssehen,  wo  die  Stäbchen 
allein  functioniren,  z.  B.  bei  nächtlichem  Gang  auf  schlecht- 
beleuchtetem Wege,  körperlich  zu  sehen  glaubt,  beweist  nicht 
allzuviel;  man  weüs  ja,  wie  man  sich  hierüber  täuschen  kann,. 
Dnd  auch  körperlich  zu  sehen  glaubt,  wenn  man  ein  Auge 
schUefst  Der  kürzlich  von  mir  gemeinsam  mit  Herrn  Professor 
E.  V.  Hippel  untersuchte  total  farbenblinde  Herr  konnte,  wie  es 
bei  einigen  allerdings  nur  flüchtigen  Versuchen  schien,  mittels 
des  Stereoskops  kern  körperUches  Sehen  erzielen.  So  wenig  ich. 
hieraus  den  Schlufs  ziehen  wollte,  dafs  die  Stäbchen  zum  Stereo« 
skopischen  Sehen  ungeeignet  seien,  so  war  diese  Beobachtung 
doch  mit  ein  Anlafs  für  mich,  die  nachstehend  beschriebene 
Versuchsreihe  auszuführen,  in  welcher  ich  feststellen  wollte,  ob 
unter  den  Bedingungen  des  reinen  Dämmerungssehens  oder 
Stäbchensehens  in  analoger  Weise  körperlich  gesehen  wird  und. 
Tiefenwahmehmung  möglich  ist,  wie  mit  helladaptirten  Augen. 

Die  Versuche  ergaben  aufs  Unzweideutigste,  dals  dies  in 
der  That  der  Fall  ist 

Zunächst  läfst  sich  zeigen,  dafs  die  gut  dunkeladaptirten 
Augen  StereoskopbUder  gut  vereinigen  und  körperUch  sehen, 
wenn  die  Beleuchtung  derselben  unter  der  fovealen  Schwelle 
bleibt  Die  Figur  einer  vierseitigen  abgestumpften  Pyramide  z.  B., 
von  oben  gesehen,  wkd  ausgesprochen  körperUch  gesehen,  ja 
wie  mir  scheint,  mit  noch  gröfserer  Tiefe  als  bei  Betrachtung 
im  Hellen.  Sie  war  durch  dicke  weiTse  Linien  auf  schwarzem 
Grunde  hergestellt 

Mit  nur  einem  Auge  betrachtet,  erscheint  sie  natürlich  völlig 
flach. 

Beleuchte  ich  das  eine  Halbbild,  wie  in  dem  eben  erwähnten 
Versuche,  so  schwach,  dafs  es  foveal  unsichtbar  ist,  das  andere 
dagegen  stärker,  so  dafs  es  foveal  sichtbar  ist,  und  betrachte 
nun  das  erstere  mit  einem  dunkeladaptirten,  das  andere  mit 
helladaptirtem  Auge,  so  wird  ebenfalls  ganz  deutlich  körperlich 
gesehen.  Dabei  war  durch  geeignete  Regulirung  der  Helligkeit 
Sorge  getragen,  dafs  dem  Hellauge  sein  Bild  in  der  gleichen 
Helligkeit  erschien,  wie  dem  Dunkelauge  das  seinige. 


266  ^'  ^-  ^<HI^^' 

Ich  habe  mir  sodann  eine  Versuchsanordnung  hergerichtet, 
entsprechend  derjenigen  von  Heine,  und  mich  zunächst  davon 
überzeugt,  dafs  ich  bei  Beobachtung  im  Hellen  Resultate  erhielt, 
die  mit  denjenigen  Heine's  gut  übereinstimmen.  Die  Stäbchen 
waren  2,25  m  von  meinen  Augen  entfernt,  die  beiden  äufseren 
hatten  einen  Abstand  von  10  cm  von  einander,  das  mittlere  war 
durch  Schnurlauf  verschiebUch ;  die  Stäbchen  erschienen  schwan 
auf  weifsem  Grunde,  ihre  Enden  waren  abgedeckt  Meine  Seh- 
schärfe beträgt  2^4  bis  272,  meine  Pupillardistanz  64  mm. 

Unter  diesen  Bedingungen  lag  die  Grenze  der  Tiefenwahr- 
nehmung für  mich  bei  einer  Verschiebung  des  Mittelstäbchens 
um  3  mm  vor  oder  hinter  die  Ebene  der  Seitenstäbchen.  Führte 
ich  den  Versuch  im  Dunkelzimmer  aus  und  liefs  die  Stäbchen 
auf  monochromatisch  rothem  Grunde  erscheinen,  so  war  die 
Tiefenwahmehmung  etwas  weniger  vollkommen,  die  Grenze  bei 
+  5  bis  6  mm. 

Nun  schwächte  ich  die  Helligkeit  des  Hintergrundes  (nach 
Entfernung  der  Rothscheibe)  so  ab,  dafs  sie  unter  der  fovealen 
Schwelle  war  und  beobachtete  wiederum  in  gleicher  Weise. 
Auch  in  diesem  Falle,  wobei  also  die  Bedingungen  des  reinen 
Dämmerungssehens  eingehalten  waren,  war  Tiefenwahmehmung 
in  deutlichster  Weise  möglich,  die  Grenze  war  weniger  ver- 
schoben, als  ich  erwartet  hatte,  sie  lag  bei  +  10  bis  12  mm. 

Es  verdient  noch  erwähnt  zu  werden,  dafs  ich  auf  denselben 
Werth  (10  bis  12  mm)  kam,  wenn  ich  im  Hellen,  mit  hell- 
adaptirten  Augen  beobachtete,  aber  durch  unvollkommene  Cor- 
rection  meiner  Myopie  V  auf  ^/j  bis  Vio  herabdrückte,  also  etwa 
auf  den  Betrag,  der  dem  Sehen  mit  der  paracentralen  Zone  des 
dunkeladaptirten  Auges  entspricht. 

Alle  die  hier  angegebenen  Werthe  würden  vielleicht  durch 
längere  Uebung  noch  ein  wenig  heruntergehen ;  mir  kam  es  je- 
doch nur  auf  eine  ungefähre  Orientirung  über  die  quantitativen 
Verhältnisse  an,  nicht  auf  die  Gewinnimg  genauer  absoluter 
Werthe  für  die  Feinheit  der  Tiefenwahmehmung. 

(Eingegangen  am  18,  Odober  1901.) 


lieber  die  Wirkung  des  Santonins 
auf  den  Farbensinn,  insbesondere  den  dichromatischen 

Farbensinn. 

Von 

Prof.  Dr.  W.  A.  Nagel  (Freiburg  i.  Br.). 

Die  interessante  Wirkung  des  Santonins  auf  den  Gesichts- 
sinn ist  zur  Zeit  noch  wenig  verständlich,  ja  auch  über  die  that- 
sächlich  zu  beobachtenden  Erscheinungen  ist  man  sich  noch 
recht  wenig  einig.  Der  Grund  hierfür  hegt  jedenfalls  grofsen- 
theüs  in  der  sehr  ungleichen  Empfindlichkeit  verschiedener  Per- 
sonen für  die  Wirkung  des  Santonins.  Nicht  nur  brauchen  ver- 
schiedene Individuen  verschieden  grofse  Dosen,  um  überhaupt 
eine  Wirkung  zu  erzielen,  sondern  die  Wirkung  ist  auch  quali- 
tativ ungleich.  Beispielsweise  hat  die  Dosis  von  0,5  gr  Natrixun 
santonicum  bei  mir  schon  recht  starke  AUgemeinwirkungen  un- 
angenehmer Art,  die  subjective  Geruchsempfindung  (Geruchs- 
hallucination)  erreicht  eine  fast  unerträgliche  Intensität,  die 
Wirkung  auf  den  Gesichtssinn  tritt  schon  nach  5 — 10  Minuten 
auf,  während  von  Anderen  bei  dieser  Dosis  keine  unangenehmen 
Allgeraeinerscheinungen  beobachtet  werden  und  die  Wirkung  auf 
den  Farbensinn  erst  nach  einer  Stunde  eintritt;  die  Geruchs- 
hallucination  scheint  bei  manchen  anderen  Beobachtern  weit 
weniger  intensiv  oder  gar  nicht  aufzutreten.  Bei  solchen  Ver- 
schiedenheiten ist  es  begreiflich,  wenn  auch  die  theoretisch  in- 
teressanteste Wirkung  auf  den  Farbensinn  verschiedenen  Beob- 
achtern sich  ungleich  darstellt. 

Der  Entscheidung  harren  noch  die  Fragen,  was  von  den 
beachteten  Wirkungen  des  Santonins  auf  den  Gesichtssinn  auf 
Reizung,  was  auf  Lähmung  zurückzuführen  sei,  und  wo  der  An- 
grifEsort  der  Santoninwirkung  zu  suchen  sei,  im  Centrum  (Gehirn) 
oder  in  der  Peripherie  (Netzhaut). 


268  ^-  ^'  ^<^^' 

Ich  habe  während  der  letzten  Jahre  öfters  an  mir  selbst 
Beobachtungen  über  die  Santoninwirkung  angestellt,  und  will, 
yeranlafst  durch  die  neuen,  diesen  Gegenstand  behandelnden 
Arbeiten  von  Rählmann  ^,  Knies  ^  und  Filehne  ',  die  Ergebnisse 
meiner  Versuche  hier  kurz  mittheilen  und  zu  den  Ergebnissen 
der  genannten  Forscher  in  Beziehung  setzen.  Ein  gewisses  In- 
teresse dürfte  meinen  Beobachtungen  deshalb  zukommen,  weil 
es  die  ersten  sind,  die  den  Farbensinn  eines  Deuteranopen  (Grün- 
blinden) betreffen.  Der  meines  Wissens  einzige  bisher  unter- 
suchte Dichromat,  über  den  Rählmann  (1.  c.)  berichtet,  war  Pro- 
tanop  (Rothblinder). 

Für  die  Anhänger  der  Dreicomponententheorie  des  Farben- 
sinnes muTste  es  von  vorneherein  naheUegen,  die  Santoninwirkung 
in  der  verhältnifsmäTsig  einfachen  Weise  zu  deuten,  dals  das 
Gift  zunächst  die  der  Violettcomponente  entsprechende  Seh- 
substanz erregte  imd  sie  dann  ganz  oder  theilweise  aufeer 
Function  setzte  beew.  lähmte.  Bei  genauerer  Betrachtung  stellen 
sich  jedoch  die  Verhältnisse  anders  und  zwar  wesentlich  com- 
plicirter  dar.  Wäre  jene  Auffassung  zutreffend,  so  wäre  zu  err 
warten,  dafs  beim  Dichromaten,  der  aufser  der  Violettcomponente 
nur  noch  eine  weitere  besitzt,  im  Zustande  hochgradiger  San- 
toninwirkung nur  diese  eine  Gomponente  seines  farbenpercipi- 
renden  Apparates  functionsfähig  bleibe,  sein  Sehen  also  durch 
Ausschaltung  der  Violettcomponente  monochromatisch  werde. 
Das  ist  aber  entschieden  nicht  der  Fall,  weder  für  den  Prota- 
nopen  Rählmann's,  noch  für  mich  trifft  es  zu. 

RÄHLMANN  spricht  allerdings  davon,  dafs  durch  das  Santonin 
das  Farbensystem  des  Dichromaten  monochromatisch  werde,  doch 
bleibt  nach  seinen  Beobachtimgen  gerade  das  Blau  erhalten, 
die  langwellige  Spectralhälfte  dagegen  wird  farb- 
los, grauweifs. 

Mich  haben  meine  Beobachtungen,  obgleich  sie  mit  den 
RÄHLMANN'schen  in  gewisser  Hinsicht  übereinstimmen,  doch 
zu  anderen  Schlüssen  geführt.  Ich  habe  nicht  an  einem  in  toto 
sichtbaren  Spectrum  beobachtet,  sondern  ich  erleuchtete  das  Ge- 
sichtsfeld des  HELMHOLTz'schen  Farbenmischapparates  mit  dem 


*  Zeitschr.  f.  Augenheilk.  2. 

*  Ärch.  f,  Augenheiüc.  37. 

'  Ärch.  f.  d.  ges.  Physiologie  80. 


Wirkung  des  Santonins  auf  den  Farhensinnf  inebes,  den  dichromatiachen, .  269 

betreffenden  homogenen  Licht,  dessen  Aussehen  ich  prüfen 
wollte.  Die  Farbe  erschien  auf  tiefschwarzem  Grunde  als 
halbmondförmiges  Feld  mit  etwa  3  —  4  ^  gröfstem  Durch- 
messer. Violett  und  Blau,  überhaupt  alle  Töne  der  kalten 
Spectralhälfte  erschienen  mir  in  jedem  Stadium  der  Santonin- 
vergiftimg^  vollkommen  in  ihrem  normalen  gewöhnlichen  Aus- 
sehen. Das  gilt  auch  für  das  kürzestwellige  Violett,  das  mir  in 
unvergiftetem  Zustande  noch  gesättigt  farbig  erschien.  Es  tritt 
also  bei  mir  weder  eine  absolute,  noch  eine  relative  Violett- 
blindheit ein.  Da  auch  nicht  einmal  die  Anfänge  einer  solchen 
zu  constatiren  sind,  ist  es  mir  einigermaafsen  zweifelhaft,  ob 
noch  gröfsere  Dosen  Violettblindheit  erzeugt  haben  würden. 

Sehr  auffallende  Veränderungen  erUtt  dagegen  das  Aussehen 
der  warmen  Farben,  vom  (Jelbgrün  bis  zum  äufsersten  Roth. 
Sowie  die  Vergiftung  deutlich  einsetzte,  erschienen  sie  zuerst 
blafs  und  ungesättigt,  dann  schliefshch  rein  weifs,  oder  bei  ge- 
ringerer Intensität  grau,  ganz  wie  es  auch  Rählmank  angiebt 

Trotzdem  ist  mein  Farbensystem  in  diesem  Zustande 
keineswegs  ein  monochromatisches,  nur  unter  ganz 
besonderen  Bedingungen,  imter  denen  am  Spectralapparat  beob- 
achtet wird,  werden  die  warmen  Farben  weifs  gesehen.  Pigment- 
farben, farbige  Gläser,  Flüssigkeiten  und  Papiere  erscheinen  mir 
durchaus  in  ihrer  gewöhnlichen  Farbe;  anWollproben 
und  Farbentafeln  mache  ich  genau  dieselben  Unterscheidimgen, 
die  mir  auch  in  unvergiftetem  Zustande  möglich  smd. 

Dieser  scheinbare  Widerspruch  klärt  sich  in  einfacher  Weise 


^  Ich  habe  bei  diesen  Versuchen  0,2—0,5  gr  Natrium  santonicum 
innerlich  genommen;  0,2  wirkt  bei  mir  auf  den  Gesichtssinn  noch  gar 
nicht,  nur  auf  den  Greruchssinn ,  0,3  dagegen  macht  schon  starkes  Gelb- 
sehen  und  merkliches  Unwohlbefinden.  Bei  0,5  treten  die  Erscheinungen 
rasch  und  stürmisch  auf,  nach  10  Minuten  ist  die  G^ruchsempfindung  und 
das  Gelbsehen  schon  deutlich.  Der  Höhepunkt  ist  nach  etwa  einer  Stunde 
erreicht.  Dabei  tritt  Schwindel,  Uebelkeit,  zuweilen  mit  Erbrechen,  und 
hochgradige  nervöse  Unruhe  auf. 

Die  Geruchsempfindung  ist  eine  widerlich  brenzliche;  zu  einer  Zeit, 
wo  sie  spontan  noch  nicht  auftritt,  bemerke  ich  sie  beim  Cigarrenrauchen, 
ebenso  am  Tage  nach  einem  San  tonin  versuch.  Offenbar  enthält  der  Misch- 
geruch des  Gigarrenrauches  eine  Componente,  die  dem  durch  Santonin  aus- 
gelösten subjectiven  Geruch  entspricht.  Seitdem  ich  diesen  genau  kenne, 
bemerke  ich  ihn  öfters  auch,  wenn  ich  den  Rauch  schlechter  Cigarren 
rieche. 


270  ^'  ^'  Nagd. 

auf.  Bekanntlich  tritt  das  Gelbsehen  nur  beim  Betrachten 
gröfserer  heller  Flächen  auf  (für  mich  am  deuthchsten  beim 
Blick  auf  das  helle  Fenster),  das  Violett-  oder  Blausehen  dagegen 
im  gleichen  Stadium  der  Vergiftung  stets  nur  beim  Blick  auf 
tiefschwarze  Flächen.* 

Das  EigenthümUche  nun  an  diesem  Violettsehen  ist  es,  dab 
die  Empfindung  einer  leuchtenden,  gesättigten  Farbe  nur  vorüber- 
gehend intensiv  auftritt,  in  dem  AugenbUck,  wo  ich  die  schwane 
Fläche  ansehe.  Betrachte  ich  sie  längere  Zeit,  so  bedarf  es  be- 
sonderer Aufmerksamkeit,  um  zu  erkennen,  dafs  ich  nicht  eigent- 
Hch  Schwarz,  sondern  ein  tiefes,  dunkles  Violett  oder  Blau- 
sehe.  In  dieser  Farbe  erscheint  nun  auch  das  sonst  tiefsehwarze 
Gesichtsfeld  beim  Hineinsehen  in  das  Ocular  des  Spectroskopes, 
und  in  diesem  dunkelblauen  Felde  erscheint  dann  das  kleine, 
mit  Roth,  Orange  oder  G^lb  beleuchtete  Farbenfeld  weifs,  und 
zwar  um  so  sicherer,  je  kleiner  es  ist  Offenbar  erstreckt  sich 
der  beim  Betrachten  der  schwarzen  Fläche  fortbestehende 
Reizungszustand,  der  zur  Violett-  oder  Blauempfindung  führt, 
auch  über  das  kleine  helle  Feld  und  ergänzt  sich  mit  der  von 
diesem  ausgehenden  „warmen"  Farbe  zu  Weifs,  gerade  wie  wenn 
objectives  Blau  zugemischt  würde. 

Es  ist  bemerkenswerth,  dafs  bei  gröfserem  farbigen  Felde 
das  Weifs  nicht  rein  wird,  sondern  einen  gelblichen  Ton  bei- 
behält. Bei  gröfseren  farbigen  Flächen,  sowie  bei  kleinen  (rothen 
oder  gelben)  Farbenflecken  auf  hellem  Grimde  fehit  jene 
Farbenveränderung,  jenes  Abblassen  zu  Weifs,  vollständig. 

Ich  bin  hiernach  entschieden  der  Ansicht,   dafs  der  Verlust 


^  Von  Anderen  wird  ein  dem  Gelbsehen  vorausgehendes  „Stadium  dee 
y iolettsehens"  angegeben,  in  welchem  helle  Flächen  violett  gesehen  werden. 
Ich  habe  bei  meinen  zahlreichen  Versuchen  niemals  etwas  Derartiges  be- 
merkt. Die  erste  Erscheinung  war  immer  plötzliches  Violett- (Blau) sehen 
beim  Blick  auf  eine  schwarze  Fläche,  namentlich  wenn  diese  im  indirectea 
Sehen  erschien.  Nun  war  aber  auch  sofort  das  Tageslicht  schwach  gelb- 
lich, ähnlich  etwa,  wie  wenn  die  Sonne  bei  nicht  ganz  klarem  Wetter  sich 
zum  Untergehen  anschickt. 

Es  mufs  dahin  gestellt  bleiben,  ob  das  Fehlen  des  primären  Violett- 
sehens mit  meiner  partiellen  Farbenblindheit  zusammenhängt  oder  nicht 
Einzelne  Beobachter  mit  normalem  Farbensinn  scheinen  es  auch  nicht  be- 
merkt zu  haben. 

"  Blau  und  Violett  ist  für  mich  als  Deuteranopen  natürlich  eines  nnd 
dasselbe. 


Wirkung  des  Santonins  auf  den  Farhensinnj  inshes,  den  dichramatiachen,  271 

aller  anderen  Farbenempfindungen  aufser  der  Blauempfindung, 
den  ich  ebenso  wie  Rählmann's  Fall  constatire,  nicht  auf  dem 
temporären  Ausfall  einer  der  Componenten  des  dichromati- 
schen Farbensinnes  beruht,  sondern  im  Gegentheil  auf  einem 
Reizungszustand  der  Blaucomponente  des  farbenpercipiren- 
den  Apparates. 

Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  dafs  eine  ganz  analoge  Täuschung 
über  die  im  Farbenmischapparat  gesehenen  Farben  auch  unter 
anderen  Umständen,  ohne  Santoninvergif tung,  auftritt, 
und  zwar,  wie  es  scheint,  ebenfalls  nur  beim  Dichromaten. 
Blicke  ich  einige  Zeit,  etwa  10  bis  20  Secunden,  gegen  eine  recht 
hell  mit  gemischtem  Licht  beleuchtete  Fläche,  am  besten  gegen 
den  hellen  Himmel,  und  richte  dann  schnell  den  Blick  in  das 
Ocularrohr  des  Farbenmischapparates,  in  welchem  ein  nicht  zu 
grofses  Feld  (2 — 3®)  mit  einer  der  warmen  Spectralfarben  er- 
leuchtet ist,  so  sehe  ich,  genau  wie  im  Santoninrausch,  Anfangs 
reines  Weifs^statt  Gelb,  Orange  oder  Roth;  nach  einigen  Se- 
cunden beginnt  ein  gelblicher  Ton  aufzutreten,  die  volle  Sätti- 
gung erreichen  die  Farben  jedoch  erst  nach  etwa  einer  halben 
Minute,  vorausgesetzt,  dafs  die  vorherige  Belichtung  des  Auges 
genügend  intensiv  war. 

Die  Farben  der  kalten  Spectralhälfte  bleiben  bei  dem  gleichen 
Versuche  gänzlich  unverändert. 

Von  einer  Anzahl  anderer  Beobachter,  die  auf  meine  Ver- 
anlassung den  Versuch  ebenfalls  ausführten,  sah  nur  einer  die 
Erscheinung,  und  zwar  auch  in  voller  Deutlichkeit.  Dieser  eine 
aber  ist  der  einzige  Dichromat  unter  den  betreffenden  Beob- 
achtern (mein  Bruder  Dr.  O.  Nagel). 

Diese  Beobachtung  erklärt  sich  in  ganz  derselben  Weise,  wie 
die  oben  erwähnte,  durch  Santonin Wirkung  bedingte.  Nach 
starker  Reizung  der  Retina  mit  diffusem,  weifsem  Licht  besteht 
noch  nach  dem  Aufhören  der  Lichteinwirkung  ein  Reizungs- 
zustand fort,  der  sich  in  intensiver  Blauempfindung  äufsert. 
In  der  That  sehe  ich  den  schwarzen  Hintergrund  im  Ocularrohr 
in  prachtvoll  leuchtendem  Dunkelblau.  Auf  dem  kleinen  hellen 
Farbenfelde  ergänzt  sich  wieder  die  Blauempfindung  mit  der 
Gelbempfindung  zu  Weifs. 

Genau  wie  beim  Santoninversuch  gilt  es  auch  hier,  dafs  das 


272  '^'  ^-  ^<^^' 

Farbenfeld  nicht  zu  grofs  sein  darf,  wenn  es  nach  der  Blendung 
wirklich  rein  weifs  oder  grau  aussehen  solL^ 

Ich  habe  untersucht,  ob  bei  kurzdauernder  Reizung  der  Re- 
tina mit  hellem  Himmelslicht  ebenfalls  ein  blaues  Nachbild 
auftritt  und  dieses  in  der  That  gefunden.  Ich  brachte  einen 
MomentverschluTs  vor  das  eine  Auge,  schloüs  das  andere  und 
löste  nun  den  Momentverschluls  mit  langsamem  Gang  (Vio  See) 
aus,  während  der  Blick  nach  dem  Himmel  gerichtet  war.  Das 
bekannte  „PuRKi^jE'sche  Nachbild"  ist  unter  diesen  Umständen 
mäfsig  deutlich  sichtbar,  dann  folgt  eine  Uchtlose  Pause  von 
mehreren  Secunden,  und  nun  entwickelt  sich  das  eigentliche 
Nachbild  in  gesättigtem,  tiefem  Dunkelblau,  auf  dem  sich  die 
Nachbilder  dunkler  Objecto,  z.  B.  des  Fensterkreuzes,  in  dunkel- 
gelber Farbe  abhoben. 

Bedingung  für  das  Eintreten  dieser  Erscheinung  ist,  dafis 
die  Helligkeit  des  Reizlichtes  genügend  grofs  und  die  Dauer 
seiner  Einwirkung  nicht  zu  kurz  ist.  Anderen^ls  erscheint  das 
Nachbild  wohl  auch,  jedoch  in  farblosem,  neutralem  Grau,  oder 
höchstens  mit  schwach  bläulichem  Tone. 

Unter  den  gleichen  Bedingungen,  imter  denen  ich  das  Nach- 
bild lebhaft  blau  sehe,  sehen  andere  Beobachter,  mit  normalem 
Farbensinn,  das  Nachbild  farblos.  Auch  frühere  Beobachter  er- 
wähnen, so  weit  mir  bekannt  ist,  nichts  von  einem  blauen  Nach- 
bild nach  so  kurzdauernder  Reizimg  mit  weifsem  Licht.  Ob,  wie 
ich  vermuthe,  andere  Deuteranopen  die  Erscheinung  eb^so  wie 
ich  sehen,  konnte  ich  noch  nicht  feststellen. 

Ein  dritter  Fall  endlich,  in  welchem  mir  ebenfalls  schwarze 
Objecto  in  leuchtendem  Blau  erscheinen  können,  ist  gegeben, 
wenn  ich  bei  durch  Homatropin  erweiterter  Pupille  kleine 
schwarze  Objecto  auf  sehr  hellem  Grunde  sehe,  z.  B.  wenn  ich 
aus  der  Feme  dunkel  gekleidete  Menschen  auf  sonnenbeschienener 
Strafse  sehe. 


Dafs  zwischen  den  hier  beschriebenen  Erscheinungen  ein 
gewisser    innerer   Zusammenhang    besteht,    scheint    mir    aufser 

*  Erwähn enswerth  dürfte  sein,  dafs  eine  für  mich  gültige  Gleichung 
zwischen  spectralem  Roth  und  Gelbgrün  gültig  bleibt,  wenn  ich  sie  nach 
vorgängiger  Blendung  durch  helles  weifses  Licht  betrachte.  Beide  Seiten 
der  Gleichung  erscheinen  dann  farblos,  weifs  bis  grau,  je  nach  der 
Helligkeit. 


Wirkung  des  Santanins  auf  den  Farbennnnf  insbes,  den  dichramaÜachen,  273 

Zweifel  zu  stehen.  Das  Blau-  (oder  Violett-)  Sebeu  schwarzer 
Objecte  neben  sehr  hell  beleuchteten  grofsen  weiüsen  Objecten, 
oder  nach  dem  Betrachten  sehr  heller  weifser  Objecte  ist 
im  Santoninrausch  gewissermaafsen  in  einen  Dauer- 
zustand übergeführt.  Es  fehlt  noch  die  Entscheidung  darüber, 
ob  das  Santonin  den  Reizzustand  der  Blau- (Violett-)  Ck)mponente 
direct  herbeiführt,  oder  ob  nur  unter  seinem  Einflufs  die  Nach- 
wirkung eines  jeden  durch  weifses  Licht  bewirkten  Reizes  be- 
deutend in  die  Länge  gezogen  wird.  Zum  Zwecke  dieser  Ent- 
scheidung müfste  untersucht  werden,  ob  für  einen  mit  Santonin 
behandelten  Dichromaten  die  warmen  Spectralfarben  auch  dann 
SU  Weifs  verblassen,  wenn  die  Augen  längere  Zeit  zuvor  vor 
jedem  Lichteinfall  geschützt  waren.  Ich  habe  diesen  Versuch 
nicht  mehr  ausgeführt,  weil  bei  den  bisherigen  Versuchen  mit 
Einführung  von  0,5  gr  Natriumsantonat  die  Allgemeinwirkungen 
SU  unangenehmen  Charakter  annahmen. 

Das  wesentliche  Ergebnifs  meiner  Beobachtungen  scheint 
mir  in  dem  Beweis  zu  liegen,  dalis  das  Verblassen  der  lang- 
welligen Spectralhälf  te  und  das  damit  zusammenhängende  Violett- 
(Blau-)  Sehen  dunkler  Flächen  (auch  während  des  Stadiums  des 
Gelbsehens)  nicht  auf  einer  Lähmungs-  oder  Ausfalls- 
erscheinung beruht,  sondern  auf  einem  Reizzustand 
des  Sehorgans.  Für  mich  ist  eine  Lähmungserscheinimg  auf 
Grund  der  Santoninwirkung  (Violettblindheit)  überhaupt  in  keinem 
Stadium  der  Vergiftung  festzustellen. 

Da  eine  Reihe  weiterer  hieran  sich  knüpfender  Fragen  nicht 
ohne  fortgesetzte  eingehende  Experimentalimtersuchimgen  zur 
Ekitscheidung  zu  bringen  sind,  mub  ich  es  mir  versagen,  sie 
hier  zu  besprechen  und  hoffen,  dafs  es  entweder  mir  möglich 
werden  wird,  die  Frage  gelegentlich  von  Neuem  aufzunehmen, 
oder  dafs  meine  Erfahrungen  von  anderer  Seite  nachgeprüft  und 
ei^änzt  werden,  wozu  es  bei  der  grofsen  Häufigkeit  der  Deutera- 
nopen  an  Gelegenheit  nicht  fehlen  dürfte. 

Jedenfalls  mufs  immer  die  Möglichkeit,  ja  Wahrscheinlich- 
keit im  Auge  behalten  werden,  dafs  die  Abweichungen  zwischen 
einem  Theil  meiner  Ergebnisse  und  denjenigen  anderer  Beob- 
achter mit  der  Verschiedenheit  der  Farbensysteme  zusammen- 
hängt. 


Zeitschrift  für  Psychologie  27.  18 


274  ^'  ^'  ^<^^' 

Von  anderen  Gesichtspunkten  aus,  als  sie  den  vorstehenden 
Ausführungen  zu  Grunde  liegen,  hat  kürzlich  Filehne  (1.  c.)  die 
Frage  der  Wirkimg  des  Santonins  auf  den  Farbensinn  behandelt 
Filehne  wollte  den  Angriffspunkt  des  Giftes  feststellen;  er  theilt 
mit,  dafs  er,  obgleich  von  vorneherein  mehr  der  Annahme  cen- 
traler Wirkung  zugeneigt,  durch  neue  Versuche  zu  der  An- 
schauung gebracht  worden  sei,  dafs  das  Santonin  auf  die  Netz- 
haut wirkt. 

Fn^EHNE  nimmt  als  gegeben  an:  ein  primäres  Violettsehen, 
worauf  Gelbsehen  mit  Violettblindheit  folgt,  und  findet  diese 
Erscheinungen  am  besten  erklärt  durch  die  Annahme  einer 
sensibilisirenden  Wirkung  des  Santonins  auf  die  violett- 
empfindliche Sehsubstanz.  Die  Empfindlichkeitssteigerung  dieser 
Substanz  hat  die  Folge,  dafs  anfänglich  das  weifse  Licht  mit 
violettem  Tone  erscheint;  durch  die  grofse  Empfindlichkeit  ver- 
braucht sich  aber  die  Violettsubstanz  auch  rascher  und  nun 
ist  sie  in  ungenügender  Menge  vorhanden,  das  weifse  Licht  er- 
scheint in  der  complementären  grüngelben  Farbe.  Das  ist  die- 
selbe Auffassung,  die  auch  von  früheren  Autoren  vertreten 
wurde,  so  z.  B.  von  Hüfneb  im  Jahre  1867  {Arch.  f.  OphthalmclX 
Um  eine  derartige  sensibilisirende  Wirkung  des  Santonins 
wahrscheinlich  zu  machen,  theilt  Filehne  Versuche  über  die  Be- 
einflussung der  Sehpurpurregeneration  durch  jenes  Gift  mit 

Für   den    Sehpurpur   soll    Santonin   nachweisbar  als   Sensi- 
bilisator  wirken,  und  hieraus  dann  per  analogiam  entsprechende 
Wirkung  auf  die  violettempfindliche  Sehsubstanz  zu  schliessen  sein. 
Filehne's  Beweisführung   erscheint  in  diesem  Punkte  nicht 
überzeugend.     Wenn    F.    zunächst  sich    auf   eine    Angabe   von 
Knies  beruft,  nach  welcher  unter  Santonineinwirkung  die  Dunkel- 
adaptation „erschwert  und  stark  verzögert"  sein  soll  (1.  c.  p.  103), 
so    ist   es    mir   nicht   möglich   gewesen    zu   finden,    auf   welche 
Angabe  von  Knies*  sich  hier  F.  stützt.    In  der  einzigen  mir  be- 
kannten Arbeit  von  Knies   über  Santonin  (1.  c.)  wird  im  Gegen- 
teil  ausdrücklich   an   mehreren  Stellen  hervorgehoben,   dafs  der 
Lichtsiiin  während  der  ganzen  Dauer  der  Vergiftung  normal 
bleibe,     auch    die    Adaptationszeit    nicht    verlängert 
sei  und  deshalb  an  Betheiligung   des  Sehpurpurs  nicht   gedacht 
w^erden  könne. 

FiLEiiNf:   giebt   nun   allerdings   an,    dafs   er   diese   vermeint- 
liche  KNiEs'sche   Beobachtung   bestätigen   könne,    theilt   jedoch 


Wirkung  des  Santonins  auf  den  Farheminny  inshes,  den  dichramaHsehen.  2.7.5 

über  die  Art  und  Weise,  wie  er  die  „Verlängerung  der  Adap- 
tationszeit'' nachgewiesen  hat,  nichts  mit,  ebensowenig  über 
das  MaaTs  dieser  Verlängerung.  Die  Sache  bleibt  also  einst- 
weilen mindestens  fraglich. 

Bei  Fröschen  fand  Filehne  den  Vorrath  des  vor  der 
Santoninvergiftung  gebildeten  Sehpurpurs  in  den  Netzhäuten 
durch  nachherige  Santoningaben  nicht  beeinflufst,  wohl  aber  die 
Regeneration  des  vorher  ausgebleichten  Purpurs  ganz  aufgehoben 
oder  doch  stark  beeinträchtigt.  Obgleich  ausdrückHch  angegeben 
wird,  dafs  die  Frösche  „nicht  etwa  gelähmt,  circulationslos, 
moribund  auf  ihre  Purpur -Wiedererzeugungs-Fähigkeit  geprüft 
wurden",  kann  ich  mich  der  Vermuthung  doch  nicht  enthalten, 
dafs  die  Versuchsthiere  doch  durch  die  colossalen  Dosen  des 
Giftes  eine  schwere  Schädigung  erlitten  haben  müssen,  die  sich 
nicht  allein  auf  das  Pigmentepithel  beschränkt  haben  wird.  Sie 
erhielten  zum  Theil  Gaben,  die  diejenigen  noch  erheblich  über- 
treffen, die  beim  erwachsenen  Menschen  schon  starke  Allgemein- 
störungen bewirken.  Dabei  beträgt  das  Durchschnittsgewicht 
eines  Frosches  etwa  den  tausendsten  Theil  von  dem  des  Menschen. 

Zum  Ausgangspunkt  weitergehender  Schlüsse  scheinen  danach 
die  FiLEHNE'schen  Versuche  wenig  geeignet 

Ich  habe  nun  übrigens  einen  Versuch  angestellt,  dessen  Aus- 
fall eine  Entscheidung  der  Frage  Uefem  konnte,  ob  Filehne*s 
auf  die  Froschversuche  gegründete  Auffassung  von  der  Wirkung 
des  Santonins  auf  die  Violettsubstanz  zutreffend  ist.  Wenn  das 
Gelbsehen  die  Folge  eines  zu  raschen  Verbrauchs  violettempfind- 
licher Substanz  ist,  mufs  ein  Auge,  das  vor  Lichteinfall  vom 
Beginn  der  Vergiftung  an  geschützt  war,  beim  ersten  Licht- 
einfall zunächst  entweder  gar  nicht  gelb  sehen,  oder  doch  jeden- 
falls weniger  intensives  Gelb,  als  ein  Auge,  das  schon  einige 
Zeit  durch  Lichteinfall  gereizt  war.  Ich  habe  diesen  Versuch 
ausgeführt,  fand  jedoch,  dafs  das  dunkelgehaltene  Auge,  wenn 
es  auf  dem  Höhepunkt  der  Vergiftung  von  weifsem  Licht  ge- 
troffen wurde,  dieses  sogar  ungemein  viel  gesättigter  gelb 
sah,  als  das  Hellauge. 

Auf  Grund  vorstehender  Erwägungen  und  Beobachtungen 

finde  ich  die  Frage  nach  dem  Angriffsort   des  Santonins  durch 

Filehne's  Versuche  nicht  entschieden,   sondern   nach   wie  vor 

offen. 

In   diesem  Zusammenhange  verdient  noch  ein  Versuch  Er- 

18* 


276  ^'  ^'  Nf^' 

wähnung,  den  ich,  angeregt  durch  Filehke^s  Arbeiten,  mehrmals 
ausgeführt  habe.  Filehne  hat  in  einer  anderen  Arbeit  ^  kürzM 
mitgetheilt,  dafs  er  die  Erweiterung  der  Gesichtsfeldgrenzen  durch 
Strychnin  auf  nur  einem  Auge  habe  erzielen  können,  indem 
er  Strychnin  in  wässeriger  Lösung  in  den  Conjunctivalsack 
träufelte.  Ich  habe  dasselbe  mit  santonsaurem  Natron  versucht 
Ich  tröpfelte  in  kurzen  Zwischenräumen  (von  2 — 3  Minuten) 
jedesmal  mehrere  Tropfen  einer  starken  wässerigen  Lösung  ein, 
was  ohne  jegUche  lästige  Reizerscheinung  möglich  ist  Der  Er- 
folg war  jedoch  ein  negativer,  d.  h.  es  traten  nach  etwa  einer 
Stunde  die  ersten  Allgemeinvergiftungserscheinungen  (Geruchs- 
hallucination)  auf,  ohne  dafs  es  zu  einseitigen  Farbensinns- 
stönmgen  gekommen  wäre. 

Bei  diesem  Ausfall  beweist  der  Versuch  natürUch  gar  nichts 
für  oder  wider  die  direkte  Wirkung  des  Santonins  auf  die  Retina 


*  Arch,  f,  d,  ges,  Physiol.  88. 

(Eingegangen  am  18,  October  1901.) 


Zwei  optische  Täuschungen. 

Nach  Beobachtungen  von  Prof.  Dakilewsky 

mitgetheilt  von 

Prof.  Dr.  W.  A.  Nagel 

in  Freibarg  i.  Br. 

(Mit  3  Fig.) 

Bei  seinem  Aufenthalte  in  Freiburg  i.  Br.  im  Sommer- 
semester 1901  zeigte  mir  Herr  Prof.  Danilewsky  zwei  optische 
Erscheinungen,  die  man  unter  den  Begriff  der  „optischen 
Täuschungen''  rechnen  müssen  wird  und  die  ich,  seinem 
Wunsche  entsprechend,  hier  mittheile  und  zu  erklären  versuche. 

L  Der  eine  Versuch  stellt  eine  Ergänzung  einer  bekannten 
Beobachtung  von  S.  Thompson  dar. 

Wenn  man  auf  weifser  Papierfläche  eine  Anzahl  concentri- 
scher  Ringe  mit  dicken  schwarzen  Strichen  und  in  nicht  zu 
grofsem  gegenseitigen  Abstände  gezeichnet  hat  und  nun  der 
ganzen  Scheibe  eine  leichte  Drehbewegung  ertheilt  (wobei  das 
Centrum  der  Scheibe  einen  Kreis  von  etwa  1  cm  Durchmesser 
beschreibt  und  die  ganze  Scheibe  stets  sich  selbst  parallel  ver- 
schoben wird  (Thompson's  rinsing  movement),  so  hat  man  be- 
kanntlich den  deutlichen  Eindruck,  dafs  sich  auf  der  Scheibe 
ein  heller  Streifen  uhrzeigerartig  dreht.  Der  Zeiger  geht  durch 
den  Mittelpunkt  der  Scheibe  und  an  beiden  Seiten  bis  an  deren 
Rand.  Seine  Drehungsrichtung  ist  derjenigen  der  ganzen  Scheibe 
gleich. 

Herr  Prof.  Danilewsky  hat  nun  beobachtet,  dafe,  wenn  man 
zwei  derartige  Scheiben  Ä  und  B  neben  einander  legt,  den 
Mittelpunkt  von  A  fixirt  und  nun  diese  Scheibe  Ä  bewegt,  die 
Zeigerdrehung  sowohl  auf  der  bewegten  wie  auf  der  ruhenden 
Scheibe  B  in  gleicher  Weise  sichtbar  ist  Wird  dagegen  A  fixirt, 
aber  B  bewegt,  so  erscheint  die  Zeigerdrehung  niu*  auf  der  (ir 


278  ^^'  -^^  ^^agcl 

direct  gesehenen)  Scheibe  Ä  Wird  durch  eine  vor  das  Gesidit 
(sagittal)  gehaltenen  Scheidewand  dafür  gesorgt,  dafs  das  eine 
Auge  nur  die  eine,  das  andere  Auge  die  andere  Scheibe  sieht, 
so  ändert  das  an  der  beschriebenen  Erscheinung  nichts. 

Die  Erklärung  dieser  Beobachtung  ist  einfach  und  knüpft 
an  die  Erklärung  der  Thompson 'sehen  Täuschung  an.*  Letztere 
kommt  bekanntlich  dadurch  zu  Stande,  dafs  das  Auge  dem  rins- 
ing  movement  4er  Scheibe  nicht  rasch  genug  folgen  kann  und 
in  Folge  dessen  das  Bild  der  Kreise  auf  der  Netzhaut  fort- 
während Verschiebungen  erleidet  Diese  haben  wiederum  zur 
Folge,  dafs  nur  diejenigen  Partien  der  Ringe  schwarz  und  scharf- 
begrenzt  wie  bei  ruhender  Scheibe  erscheinen,  die  annähernd  in 
der  Bewegungsrichtimg  liegen;  bei  Bewegung  des  Kreises  ABCD 
(Fig.  1)  der  in  Richtung  C  A  wären  dies  die  Stellen  D  und  Ä  Die 
anderen  Kreispartien  müssen  bei  genügend  rascher  Verschiebung 

des  Netzhaütbildes  mehr  oder  weniger  ver- 
schwommen erscheinen,  am  meisten  die 
Stellen  A  imd  C.  Umgekehrt,  bei  Be- 
wegung der  Figur  in  der  Richtung  DK 
scheinen  B  und  B  am  meisten  verschwom- 
men. Bei  der  Kreisbewegung  der  Scheibe 
nun  läuft  diese  hellste  Stelle  der  Kreis- 
peripherie rund  um  den  ganzen  Bieis- 
umfang  und  bei  Combination  mehrerer  c^n- 
centrischer  Ringe  in  der  THOMPsoK'schen 
Figur  entsteht  der  Eindruck  eines  sich 
drehenden  Zeigers. 
Dafs  nach  Danilewsky's  Beobachtung  nicht  nur  eine  direct 
betrachtete  bewegte,  sondern  auch  gleichzeitig  eine  excentrisch 
gesehene  stillstehende  TnoMPsoN'sche  Scheibe  die  Zeigerdrehung 
zeigt,  erklärt  sich  offenbar  daraus,  dafs  das  Auge  der  bewegten 
Scheibe  zwar  nicht  völlig  folgen  kann  (daher  die  TnoMPsoK'sche 
Täuschung),  aber  auch  nicht  völlig  stille  zu  stehen  vermag,  son- 
dern ihre  Bewegungen  in  verkleinertem  Maafsstabe  mitmacht; 
daher  verschiebt  sich  auch  das  Bild  der  stillstehenden  Scheibe 
auf  der  Netzhaut,  und  auch  diese  scheint  sich  zu  drehen. 

Fixirt  man  andererseits  die  stillstehende  Scheibe,  so  ist  der 


*  Vgl.  H.  P.  BowDiTCH  and  Stanley  Hall.    Optical  lUusions  of  Motion. 
Joumu  of  Fhysiology  3,  297.    1880—1882. 


Zwei  optische  Täuschungen.  279 

Einflufs  der  im  peripheren  Gesichtsfeld  wahrgenommenen  be- 
wegten  Scheibe  nicht  stark  genug,  um  auch  das  Auge  zu  Be- 
wegungen zu  zwingen.  Die  fixirte  Scheibe  zeigt  keine  Zeiger- 
drehungen,  sondern  nur  die  excentrisch  gesehene  bewegte  Figur. 

Nicht  ohne  Weiteres  ist  zu  sagen,  wie  der  Eindruck  sein 
raufs,  wenn  man  die  eine  Scheibe  rechts  herum  und  die  andere 
links  herum  bewegt  und  eine  von  beiden  zu  fixiren  sucht  Ich 
sehe  in  diesem  Falle  auf  der  Scheibe,  die  ich  ansehe,  deutlich  die 
Zeigerbewegung,  auf  der  anderen  dagegen  fehlt  sie  völlig,  diese 
sieht  verwaschen  grau  aus. 

Herr  Professor  DANn^EwsKY  beobachtet  folgende  Erscheinung, 
die  für  mich  nicht  wahrnehmbar  ist :  Fixirt  man  einen  zwischen 
zwei  Thompson *schen  Scheiben  gelegenen  Punkt  und  bewegt 
die  eine  derselben,  am  besten  nur  in  kurzen  Kreisbewegungen 
bald  rechts,  bald  links  herum,  so  tritt  jeweils  auf  der  anderen 
Scheibe  die  entgegengesetztgerichtete  Zeigerdrehung  auf. 

Ich  sehe  in  diesem  Falle  auf  der  ruhenden  Scheibe  entweder 
überhaupt  keine  Bewegung  oder  nur  imdeutliche  Bewegungen, 
an  denen  ich  eine  bestimmte  Richtung  nicht  erkennen  kann. 


II.  Die  zweite  von  Professor  Danilewsky  beobachtete  und 
unseres  Wissens  bis  jetzt  nicht  beschriebene  Erscheinung  ist  die 
folgende:  Wird  eine  recht  stark  schwingende  Stimmgabel  durch 
eine  mit  radiären  Schlitzen  versehene  (einem  Episkotister  ähnliche) 
Scheibe  beobachtet,  die  mit 
passender  Geschwindigkeit 
rotirt,  so  sieht  man  unter  ge- 
wissen Umständen  die  Zinken 
der  Stimmgabel  wellenförmig 
gekrümmt,  wie  es  Fig.  2  ver-  ^^^  '^' 

anschaulicht. 

Die  nähere  Untersuchung  der  frappanten  Erscheinung  zeigt 
zunächst,  dafs  das  Bild  der  Stimmgabel  sich  wesentlich  verändert, 
je  nachdem  man  die  rotirende  Scheibe  dicht  vor  das  Auge 
bringt  oder  von  demselben  weiter  entfernt.  Im  ersteren  Falle 
sind  die  einfachen  Bedingungen  der  Stroboskopie  gegeben,  und 
man  sieht  dann  bei  passendem  Verhältnifs  der  Umdrehungs- 
periode der  Scheibe  zur  Schwingungsperiode  der  Gabel  die 
letztere  ihre  Schwingungen  in  verlangsamtem  Tempo  ausführen, 
eventuell  in  irgend  einer  Phase  stillstehen. 


2g0  W.  A.  Nagd. 

Entfernt  man  dagegen  die  rotirende  Schlitzscheibe  weiter 
vom  Auge,  so  sieht  man  die  Stimmgabel  durch  den  Spalt  hin- 
durch nicht  nur  während  eines  einzigen  bestimmten  Momentes 
in  jeder  Umdrehungsperiode,  sondern  während  eines  gröfsereo 
Bruchtheiles  der  gesammten  Umdrehungszeit  Da  nun  während 
dieser  Zeit  die  Stimmgabel  selbst  sich  bewegt,  moTs  sie  doioh 
die  Scheibe  hindurch  nothwendigerweise  gekrümmt  erscheinen. 


Fig.  3. 

Nehmen  wir  beispielsweise  eine  Scheibe  wie  in  Fig.  3,  mit 
zwei  radiären  Schlitzen,  die  in  ihrer  gegenseitigen  Verlängerung 
liegen  und  setzen  wir  voraus,  daTs  die  Umdrehungsperiode  der 
Scheibe  und  die  ganze  Schwingungsperiode  der  Stimmgabel 
gleich  lang  seien,  so  werden  wir  auf  dem  hinter  der  Scheibe 
gelegenen  Stück  der  Stimmgabelzinken  gerade  eine  halbe  Sinues- 
Schwingung  sehen.  Wenn  in  dem  Augenblick,  in  dem  die 
Spedten  AB  und  CD  horizontal  stehen,  die  Stimmgabelzinke 
gerade  durch  ihre  Ruhelage  geht,  wird  die  letztere  unter  den 
gemachten  Voraussetzungen  sich  im  Maximum  ihres  Ausschlages 
befinden,  wenn  die  Scheibe  sich  um  90®  weiter  gedreht  hat; 
nach  weiteren  90®  Drehung  schwingt  die  Gabel  wieder  durch 
die  Ruhelage  u.  s.  w. 

Ist  die  Umdrehungszahl  der  Scheibe  halb  so  grofs,  wie  die 
Schwingungszahl  der  Stimmgabel,  so  kommt  auf  eine  Scheiben- 
breite  eine  ganze  Sinusschwingung ;  auf  diese  Art  hängt  in 
leicht  ersichtlicher  Weise  die  Gestalt  der  gekrümmten  Summ- 
gabelzinken  von  der  Periodenlänge  der  beiden  reellen  Bewegungs- 
Vorgänge  ab. 

Bei  geeignetem  Abstand  von  Auge,  Scheibe  und  Stimmgabel 
kann  man  beide  Zinken  der  Stimmgabel  wellenförmig  gekrümmt 
sehen,  wie  es  Fig.  2  veranschaulicht 

Ist  die  Geschwindigkeit  der  Scheibendrehung  eine  wechselnde, 
so  sieht  man  an  der  Gabel  fortschreitende  Wellen. 


2!wei  optische  Täuschungeti,  281 

Natürlich  kann  man  ähnliche  Bilder  bei  jeder  anderen 
oscillirenden  Bewegung  erhalten.  Besonders  frappant  ist  die 
Erscheinung  bei  kleinen  Dampfmaschinen  mit  oscillirendem 
Cylinder  und  recht  langer  Kolbenstange.  Hier  sieht  man  durch 
die  Schlitzscheibe  die  Kolbenstange  und  den  Cylinder  in  der 
seltsamsten  Weise  schlangenförmig  gekrümmt.  Die  Erscheinung 
ist  hier  noch  auffallender  als  bei  der  Stimmgabel,  weil  die 
Ausschläge  der  oscillirenden  Kolbenstange  weit  gröfsere  sind, 
als  bei  einer  Stimmgabel. 

Um  die  ganze  Erscheinung  deutlich  sichtbar  zu  machen, 
empfiehlt  es  sich,  auf  den  oscillirenden  Körper  (Stimmgabelzinke, 
oder  Kolben)  einen  Streifen  weifsen  Papiers  aufzukleben  und  die 
Schlitzscheibe  zu  schwärzen,  so  dafs  sie  kein  Licht  reflectirt 

(Eingegangen  am  18.  October  1901,) 


Literaturbericht. 


L.  William  Stebn.    Ueber  Psychologie  der  individveUen  Differenieft.   (Ideei  n 
einer  „differentiellen  Psychologie".)    Schriften  der  Gesdlachaft  für  ptycho- 

logische  Forschung  3  (12).  146  S.  1900.  Mk.  4.50. 
Es  ist  ein  begrüfsenswerthes  Buch,  das  Verf.  als  12.  Heft  der  rasch 
zu  Ansehen  gelangten  „Schriften  der  Gesellschaft  für  psychologische 
Forschung"  veröffentlicht  hat.  Wie  schon  der  Titel  sagt,  will  das  Buch 
keine  differentielle  Psychologie  als  festbegründete  Wissenschaft  mit  ge- 
sicherten Ergebnissen  bieten  —  das  macht  der  gegenwärtige  Stand  der 
psychologischen  Wissenschaft  von  vorn  herein  noch  unmöglich  —  ledig- 
lich Ideen  zu  einer  solchen,  die  das  Erforschenswerthe  aufzeigen  and  ein 
Programm  künftiger  Arbeit  aufstellen.  Es  zerfällt  in  zwei  Abschnitte. 
Der  erste  kürzere  Abschnitt  handelt  vom  Wesen,  den  Aufgaben  und  den 
Methoden  der  differentiellen  Psychologie.  Während  die  bisherige  Psychologie 
generell  war,  nur  den  allgemeinen  Gesetzen  nachging,  nach  welchen  die 
Seelenphänomene  sich  vollziehen,  untersucht  die  differentielle  Psychologie 
die  individuellen  Eigenarten  und  Unterschiede,  bemüht  sich  festzustellen, 
in  welchen  besonderen  Formen  bei  verschiedenen  Individuen  die  psychischen 
Elemente  auftreten  und  wie  sie  sich  zu  complexen  Gebilden  und  Zusammen- 
hängen vereinen,  in  welcher  besonderen  Weise  die  allgemeinen  psychischen 
Gesetze  functioniren,  in  welchen  verschiedenen  Formen,  Stärkegraden  und 
Verbindungsweisen  die  psychischen  Thätigkeiten  und  die  Dispositionen 
zu  ihnen  vorhanden  sind  (S.  9).  So  gliedert  sich  die  Aufgabe  der  differen- 
tiellen Psychologie  in  folgende  drei  Fragen:  1.  Worin  bestehen  die  psychischen 
Differenzen,  welche  Individuen,  Völker  etc.  unterscheiden?  (Differenxen- 
lehren).  2.  Wodurch  sind  diese  Differenzen  bedingt?  Wie  wirken  Ver- 
erbung, Klima,  Stand,  Erziehung,  Anpassung  u.  dgl.?  (psychische  Aetiologie 
und  differentielle  Psychophysik).  3.  Worin  äufsern  sich  die  Differenxen, 
etwa  in  Gesichtsbildung  und  Mienen,  Handschrift  und  ähnl.  (psychische 
Symptomenlehre  und  Diagnostik  (S.  4  f.).  In  die  bei  solcher  Betrachtung 
sich  ergebende  überreiche  Mannigfaltigkeit  wird  aber  Uebersicht  und 
Ordnung  gebracht  mit  Hülfe  des  Typenbegriffes,  unter  welchem  jeweils 
die  einfachste  oder  die  häufigst  auftretende  Form  einer  einzelnen 
psychischen  Function  festgehalten  erscheint.  Eine  und  dieselbe  Psyche 
gehört  demnach  je  nach  dem  Gesichtspunkt  verschiedenen  Typen  an,  die 


Literaturhericht  283 

bald  als  blos  neben  einander  stehend  auftreten  (Typencomplex),  bald  als 
sich  gegenseitig  bedingend  und  beeinflussend  (complexe  Typen).  Das 
Individuum  ist  somit  ein  Kreuzungspunkt  einer  Zahl  von  Typen.  Da  der 
Verf.  auch  nach  der  Häufigkeit  des  Vorkommens  den  Typus  bestimmt,  so 
kann  er  der  Begriffe  „normal"  und  „abnorm"  entbehren.  Aber  es  ist  doch 
fraglich,  ob  es  nicht  vortheilhafter  gewesen  wÄre,  dem  älteren  Gebrauche  treu 
bleibend,  für  die  Feststellung  des  Typus  lediglich  die  Einfachheit  und 
Klarheit  der  betr.  Erscheinung  mafsgebend  sein  zu  lassen  und  daneben  die 
Begriffe  „normal"  und  „abnorm"  als  Ausdrücke  für  die  Häufigkeit  des 
Vorkommens  im  Gebrauch  zu  behalten.  An  diese  Ausführungen  über 
Wesen  und  Aufgabe  der  differentiellen  Psychologie  schliefst  sich  eine  Be- 
sprechung ihrer  Methoden,  wobei  unseres  Erachtens  besondere  Anerkennung 
der  scharfen  Kritik  der  Mental  tests  gebührt. 

Auf  diese  allgemeinen  Erörterungen  folgen  im  zweiten  Abschnitte 
ins  Einzelne  eingehende  Darlegungen  über  die  hauptsächlichen  Richtungen 
der  individuell  differenten  seelischen  Functionen  und  über  ihre  Unter- 
suchung durch  das  Experiment,  wobei  sich  jetzt  schon  manche  Ergebnisse 
vermuthen  lassen.  So  führt  die  scharfe  Unterscheidung  zwischen  natür- 
licher Sinnesempfindlichkeit  und  wirklicher  Sinnesempfindlichkeit  {S.-E. 
im  engeren  Sinne)  —  Ref.  würde  übrigens  lieber  sagen:  scheinbare  S.-f. 
und  reine  S.-E.  —  zu  der  Annahme,  dafs,  wenn  die  natürliche  S.-E.  durch 
Uebung  und  Ausbildung  des  Urtheilens  und  der  übrigen  psychischen  Be- 
dingungenn  auf  die  wirkliche  «S-'-E.  reducirt  ist,  die  übrigbleibenden  indivi- 
duellen Differenzen  der  wirklichen  und  reinen  S.-E.  relativ  gering  sind, 
ümsomehr  dagegen  unterscheiden  sich  die  Individuen  je  nach  dem  An- 
schauungstypus, dem  sie  angehören,  der,  wenngleich  er  innerhalb  gewisser 
Grenzen  wandelbar  ist,  doch  als  angeborene  Vorherrschaft  eines  bestimmten 
Sinnesgebietes  zu  betrachten  ist.  Bei  Besprechung  des  Gedächtnisses 
nimmt  Verf.  Stellung  gegen  die  seit  Ribot  häufig  gewordene  Anschauung, 
dafs  man  eigentlich  nicht  von  einem  Gedächtnifs,  sondern  von  Gedächtnissen 
reden  dürfe.  Das  Gedächtnifs  sei  hier,  meint  St.,  zu  sehr  als  Reservoir 
und  zu  wenig  als  Function  betrachtet.  Ganz  abgesehen  von  den  Bevor- 
zugungen dieses  oder  jenes  Vorstellungsgebietes  gebe  es  in  der  Art,  wie 
man  lerne,  behalte,  sich  erinnere,  sich  besinne  und  vergesse,  bestimmte 
formale  Bedingungen,  welche  die  gröfsere  oder  geringere  Güte  des  Gedächt- 
nisses charakterisiren.  Unseres  Erachtens  legt  hier  der  Verf.  in  das  Wort 
Gedächtnifs  mehr  hinein,  als  man  sonst  zu  thun  pfiegt.  Binet  und  Henri, 
gegen  die  er  sich  speciell  wendet,  bleiben  hier  mehr  auf  dem  Boden  des 
allerdings  geläuterten  Sprachgebrauches.  Freilich  scheinen  sie  jenen 
formalen  Bedingungen,  welche  St.  sehr  mit  Recht  hervorhebt,  nicht  ge- 
nügend Rechnung  zu  tragen.  Wir  möchten  hier  einen  Vermittelungsvor- 
schlag  machen.  Wie  oben  bei  der  Sinnesempfindlichkeit  liefsen  sich  auch 
hier  ein  natürliches  oder  lieber  scheinbares  Gedächtnifs  (Gedächtnifs  im 
weiteren  Sinne,  wie  der  unwissenschaftliche  Sprachgebrauch  das  Wort 
gerne  anwendet)  und  ein  wirkliches  oder  lieber  reines  Gedächtnifs  (Ge- 
dächtnifs im  engeren  Sinne,  entsprechend  dem  geläuterten  Sprachgebrauch) 
unterscheiden,  bei  welch  Letzterem  die  formalen  Bedingungen  als  Unter- 
schiede in  den  Leistungen  begründende  Faktoren  in  Abrechnung  gebracht  sind. 


284  Literatlirbericht 

Stern's  abweichende  Auffassung  des  Wortes  GredächtniTs  tritt  dann 
wieder  zu  Tage  bei  Besprechung  der  Gedächtnilstreue.  Uebrigens  fürchten 
wir,  daTs  sein  Experiment  zur  Bestimmung  dieser  Function,  schriftliche 
Wiedergabe  vorgelesener  kleiner  Prosastocke  unter  ungleichen  zeitlichen 
Bedingungen,  in  seinem  Werthe  nicht  unerheblich  herabgemindert  wird 
durch  den  von  sehr  vielen  anderen  Dingen  abhängigen  Faktor  der  ungleichen 
stilistischen  Fähigkeit,  den  Verf.  zu  unterschätzen  scheint.  Ganz  mit  ihm 
einverstanden  aber  sind  wir  in  der  Ablehnung  von  Philippb's  Vorschlis, 
an  Nachzeichnungen  aus  dem  Gedächtnifs  dessen  Treue  zu  messen.  Ab- 
gesehen davon,  dafs  damit  besten  Falles  nur  ein  einziges  Sinnesgebiet  ge- 
prüft werden  kann,  macht  schon  die  grofse  Ungleichheit  der  techniichea 
Geschicklichkeit  diesen  Versuch  werthlos.  Und  auch  des  Verf/s  MiüBtraoen 
gegen  die  Associationsversuche  theilen  wir.  Selbst  die  UntersuchangeD 
ZiEHEK*s,  die  übrigens  St.  auffallenderweise  hier  nicht  erwähnt,  haben 
unser  Mifstrauen  nicht  gemindert. 

Bei  Besprechung  der  BmsT'schen  Prüfung  der  Auffassungstypen  durch 
Beschreibung  eines  Gegenstandes  und  eines  Bildes,  das  freilich,  wie  St. 
sehr  berechtigt  rügt,  keine  Geschichte  darstellen  darf,  welche  den  einen 
bekannt  ist,  den  anderen  nicht  und  so  ungleiche  Bedingungen  schafft  und 
obendrein  bei  den  sie  schon  Kennenden  die  Beobachtung  mit  Erinnerongi- 
elementen  durchsetzt,  hätten  wir  abermals  einen  Hinweis  gewünscht  tnf 
die  das  Ergebnifs  trübende  Ungleichheit  der  Fähigkeit,  sich  schriftlich 
auszudrücken.  Sehr  ansprechend  sind  die  Versuche  zur  Prüfung  der  Auf- 
merksamkeit mit  Hülfe  sich  allmählich  verändernder  Reize,  während  bei 
denen  zur  Prüfung  der  Combinationsfähigkeit  neben  der  sprachlichen  Ge- 
wandtheit auch  das  erworbene  Wissen  mitspielt,  so  dafs  bestenfalles  nicht 
die  reine  Combinationsfähigkeit^  sondern  die  natürliche  oder  scheinbare 
gemessen  wird.  Auf  sicherem  Boden  bewegen  wir  uns  wieder  im  zehnten 
Kapitel,  das  vom  Urtheilen  handelt,  und  im  elften,  das  die  Beactionstypen 
bespricht.  Das  nächste  giebt  Einblicke  in  die  Individualität  des  Gefühle- 
lebens und  weist  mit  guten  Gründen  die  tests  zurück,  welche  Shabp  snr 
Bestimmung  des  ästhetischen  Geschmackes  aufgestellt  hat.  Zur  Aufdeckung 
des  psychischen  Tempos  fand  St.  ein  allem  Anschein  nach  vorzügliche« 
Prüfungsmittel,  das  Klopfen  eines  dreitheiligen  Tactes,  ein  Experiment, 
das  nicht  nur  sehr  leicht  auszuführen  und  zu  controliren  ist,  sondern  eich 
auch  eignet  zur  Feststellung  der  psychischen  Energie,  vieUeicht  sogar  eine 
ganz  praktische  Mefsmethode  der  Ermüdung  abgiebt. 

Das  sind  die  Grundlagen  einer  Individualitätspsychologie  oder  einer 
difterentiellen  Psychologie,  wie  sie  bis  jetzt  noch  nicht  in  solcher  Aus- 
dehnung und  Vollständigkeit  geboten  wurden,  wenngleich  schon  von  ver- 
Bchiedenen  Seiten  ihr  Wesen  und  ihre  Ziele  und  theilweise  auch  ihre 
Wege  angegeben  worden  sind.  Die  verschiedenen  Ansätze  und  Versoche 
sorgfältig  zusammengefafst,  übersichtlich  geordnet,  kritisch  beleuchtet  und 
vielfach  erweitert  und  verbessert  zu  haben,  ist  das  Verdienst,  das  St.  für 
sich  in  Anspruch  nehmen  darf.  So  kann  sein  Buch  Anregung  und  Aus 
j^angspunkt  für  mannigfache  Forschungen  werden,  der  beste  Erfolg,  den 
wir  dem  Verf.  zu  wünschen  wissen.  Offner  (München). 


lAteraturberi^Jit  285 

w.  AxBNT.   Die  EntwiekeUng  ?oii  Spredien  und  Denken  beim  Kinde.    Leipzig, 

E.  Wunderlich,  1899.    Vni  u.  213  S. 

Eine  Monographie  der  Entwickelung  von  Sprechen  und  Denken  beim 
Kinde  umfaTst,  wie  Amekt  S.  1  klar  formulirt,  „eine  vollständige  Be- 
schreibung des  Entwickelungsganges  der  Worte  und  ihrer  Verknüpfungen 
und  des  Weges,  auf  welchem  diese  zur  Keprftsentation  von  Vorstellungen 
und  Vorstell ungs Verknüpfungen  emporgehoben  werden,  Begriffe,  Urtheile 
und  Schlüsse  bedeuten.'*  Der  Verf.  schickt  eine  kurze  Erörterung  über 
die  Quellen  und  die  Methoden  und  eine  recht  dankenswerthe  Greschichte 
der  Forschung  und  Litteratur  voraus  (S.  7—28).  Hierauf  behandelt  er  I.  die 
Theorie  der  Beziehungen  zwischen  Sprechen  und  Denken  (29—33),  II.  die 
Entwickelung  der  Worte  und  ihrer  Bedeutungen  mit  einem  Anhang  über 
Kinderzeichnungen  (33—161),  III.  die  Entwickelung  der  Sätze  und  ihrer 
Bedeutungen  (162—183)  und  IV.  die  Entwickelung  der  Stilistik  und  Gre- 
sammtbedeutung  des  kindlichen  Denkens  und  der  kindlichen  Weltanschauung 
(183 — 195).  Beigegeben  ist  ein  Litteratumachweis ,  ein  Namen-  und  ein 
Sachregister. 

In  dem  I.  theoretischen  Abschnitte  hält  sich  A.  im  Grofisen  und 
Ganzen  an  Benno  Ebdmank:  er  verwirft  die  Identität  von  Sprechen  und 
Denken,  er  scheidet  Sachvorstellungen,  Wortvorstellungen  und  die  beides 
verknüpfenden  Associationen.  Doch  wird  das  Granze  so  knapp  mit  einigen 
Worten  abgethan,  daÜB  man  von  einer  „Theorie"  kaum  sprechen  kann.  In 
dem  einzigen  Punkte,  wo  er  von  Ebdmann  abweicht,  in  der  Fassung  des 
Begriffes  „Begriff",  liegt  nicht  sosehr  ein  sachlicher  als  ein  terminologischer 
Dissens  vor,  den  ich  gar  nicht  erwähnen  würde,  wenn  es  nicht  doch  als 
recht  bedauerlich  bezeichnet  werden  müfste,  dafs  man  in  so  fundamentalen 
Terminis  noch  immer  nicht  zu  endgültigen  Festlegungen  kommen  will. 

Ambnt  scheidet  Begriff  im  weiteren  Sinne = Bedeutung  eines  jeden 
Wortes  überhaupt  und  Begriff  im  engeren  Sinne  =  Inhalt  einer  wissenschaft- 
lichen Definition.  Hierbei  identificirt  er  einerseits  Begriff  und  Begriffs- 
inhalt, und  ignorirt  andererseits  das  Auseinanderfallen  von  Vorstellungs- 
inhalt und  -Gegenstand  und  schafft  sich  so  selbst  eine  störende 
Unklarheit. 

Der  II.  Abschnitt  ist  sowohl  dem  Umfange  als  dem  Inhalte  nach  der 
wichtigste.  Die  Disposition  —  1.  Entwickelung  der  Wortform,  2.  Statistik 
der  ersten  Begriffe  eines  Kindes,  3.  Entwickelung  der  Wortbedeutung  — 
ist  insofern  nicht  glücklich,  als  die  Natur  der  Sache  doch  wohl  verlangt 
hätte,  wenn  schon  das  in  der  Wirklichkeit  so  mannigfach  Durcheinander- 
spielende aus  Gründen  der  wissenschaftlichen  Darstellung  getrennt  werden 
mnfste,  einerseits  die  Wort  form  als  solche,  andererseits  die  Bedeutungs- 
vorstellung als  solche  und  schliefslich  deren  associativen  Zusammenschluis 
zu  behandeln.  Der  Verf.  aber  bespricht  schon  unter  1.  durchaus  nicht  blos 
die  Wortform,  sondern  schon  bei  der  ^dritten  Stufe"  wird  die  Bedeutungs- 
vorstellung herangezogen;  ebenso  später  in  der  Wortbildungslehre.  Der 
Uebergang  von  der  zweiten  Stufe,  dem  ^Lallen",  zur  dritten  Stufe,  der 
Wortbildung,  ist  S.  35  etwas  rasch  abgethan.  Grerade  hier  bei  der  dritten 
Stufe  wird  auch  erst  völlig  klar,  was  A.  ganz  besonders  anstrebt.  Durch 
Vergleichung  der  Gresetzmäfsigkeiten  der  Kindersprache  bei  verschiedenen 


286  Literaturhericht 

Völkern,  und  andererseits  durch  Beleuchtung  des  Verhältnisses  der  Kinder- 
spräche  zur  Volkssprache  gelangt  der  Verf.  nicht  nur  zu  dem  durchaus 
nicht  einwurfsfreien  Satze,  dafs  auch  auf  diesem  Gebiete  die  ontogenetische 
Entwickelung  eine  kurze  Wiederholung  der  phylogenetischen  sei,  sondern 
geradezu  zur  Forderung,  es  müsse  eben  deshalb  die  Grammatik  der  Kinder- 
spräche  Gegenstand  einer  eigenen  Disciplin,  einer  „Kindersprachwissen- 
schaft" werden. 

Werthvoll  durch  das  empirische  Material  ist  die  nun  folgende  descriptive 
Darstellung  der  Kindersprache,  obwohl  sie  sich  der  Disposition,  wie  schon 
früher  erwähnt,  nicht  durchaus  fügt.  Die  oft  recht  kühn  und  weit  aus- 
greifenden sprachwissenschaftlichen  Schlüsse  sind  hierbei  nicht  immer  völlig 
überzeugend.  Die  S.  76  - 131  gegebene  Statistik  der  ersten  200  Begriffe  des 
Kindes  ist  wohl  der.  Kernpunkt  der  ganzen  Arbeit  zu  nennen.  Leider  hat 
A.,  sowie  noch  allerneuestens  A.  Waag  in  seiner  „Bedeutungsentwickelung 
unseres  Wortschatzes"  (Lahr  i.  B.  Schauenburg,  1901),  die  rein  logische 
Kategorie  der  Umf  angserweiterung  und  -Verengerung  zum  Hauptmerkmal 
seiner  Darstellung  gewählt,  auf  deren  Mangelhaftigkeit  der  um  die  Be- 
deutungslehre so  verdiente  K.  Schmidt  jüngst  (Berliner  Zeitschrift  für  da;s 
Gymnasialioesen  1901,  S.  667)  so  treffend  hingewiesen  hat.  Hier  sollten  nur 
psychologische  Gesichtspunkte  entscheidend  sein.  —  Li  dem  Capitel  „Ent- 
wickelung der  Wortbedeutung"  begegnen  einige  Flüchtigkeiten.  Die  bei 
Kindern  beobachtete  Verwechselung  von  auf  und  ab,  warm  und  kalt,  u.  ä. 
mit  Abel's  „Gegensinn  der  Urworte"  direct  in  Parallele  zu  stellen,  ist  eine 
mifsliche  Sache,  müfste  jedenfalls  reichlicher  empirisch  belegt  werden,  ja 
Abkl's  These  selbst  bedürfte  hierbei  wohl  der  üeberprüf ung.  Trefflich  und 
fundamental  wichtig  ist  der  Hinweis  auf  die  inhaltliche  Armuth  der  kind- 
lichen „Begriffe".  Hierbei  ist  es  jedoch  mindestens  schief  ausgedrückt, 
wenn  A.  (S.  141)  sagt,  dafs  das  Kind,  welches  z.  B.  mit  „medi"  nur  seine 
Schwester  bezeichnet,  dem  Begriffe  einen  „zu  reichen  Inhalt"  ertheile. 
Dies  ist  nur  äufserlich  richtig,  psychologisch  dürfte  die  Sache  wohl  besser 
so  zu  beschreiben  sein:  das  Kind  wendet  dieses  Wort  in  dem  engeren 
Sinne  von  Schwester  an,  da  es  den  allgemeineren  Begriff  Mädchen  über- 
haupt noch  nicht  kennt.  —  Sehr  lehrreich  sind  die  Darlegungen  über 
die  verschiedenen  Ursachen  der  Umfangserweiterungen  (S.  144  ff.);  ebenso 
mufs  dankend  entgegengenommen  werden  die  wichtige  und  treffende  Auf- 
stellung der  „Urbegriffe",  jenes  mehr  minder  chaotischen  Vorstadium:* 
schärferer  Abgrenzung  von  Einzel-  oder  Allgemeinbegriffen.  —  Bei  Be 
spreehung  der  Entwickelung  der  Sätze  und  ihrer  Bedeutungen  wird  manch- 
mal vielleicht  etwas  zu  äufserlich  registrirt;  die  Thatsache  z.  B.,  dafs  ein 
Kind  irgend  einen  Redetheil  gebraucht,  beweist  noch  nicht,  dafs  es  ihu 
als  solchen  anwendet  und  darauf  kommt  es  hierbei  doch  an.  —  Sehr  in- 
teressantsind die  unter  „Entwickelung  der  Stilistik"  gebrachten  Einzelnheiten. 

Das  Buch  ist  reich  an  Belehrung,  insbesondere  für  die  Durchforschung 
des  kindlichen  Denkens.  Im  Allgemeinen  ist  der  Verf.  vielleicht  noch  etwas 
zu  sanguinisch  in  der  Hoffnung  auf  eine  bald  erblühende  „Kinderspraoh- 
Wissenschaft".  Für  das  Thatsächliche,  das  er  uns  bietet  und  die  vielen 
lichtvollen  Einblicke  in  die  Kindesseele  mufs  ihm  auch  die  Psychologie 
Dank  wissen.  Martinak  (Graz). 


Literaturhericht  287 

G.  RiKMANN.  Tavbstomm  und  blind  zvgleiclL  Tortraf^.  Zeitschrift  für  pädaq, 
Psychol  u.  Fathol  2  (4),  257-273.  1900. 
Die  Zahl  der  für  die  Psychologie  so  wichtigen  Fälle  von  Taubstumm- 
blindheit wird  hier  um  einen  vermehrt,  der  hoffentlich  bald  noch  aus- 
führlichere Analyse  und  Darstellung  erfahren  wird.  Hebtha  Schulz,  ge- 
boren 1876,  verlor  im  vierten  Jahre  nach  einer  Gehirnhautentzündung  Ge- 
sicht und  Gehör  und  verlernte  bald  völlig  die  Sprache.  Seit  ihrem 
11.  Jahre  ist  sie  im  Oberlinhause  zu  Nowawes  bei  Berlin  untergebracht, 
seit  ihrem  15.  Jahre  geniefst  sie  den  Unterricht  des  Taubstummenlehrers  R. 
R.  schildert  nun  in  obigem  Vortrag  den  Unterrichtsgang;  dieser  begann 
mit  Articulationsübungen  (wobei  sich  herausstellte,  dafs  die  frühere  Sprech- 
periode des  Kindes  keine  Erinnerungen  hinterlassen  hatte,  während  optische 
Gedächtnifsbilder  aus  jener  Zeit  später  wieder  auftauchten).  War  die 
Articulation  eines  Wortes  geübt,  so  trat  Schrift  (gewöhnliche  und  Blinden- 
schrift) und  Gebärde,  endlich  das  Handalphabet  der  Taubstummen  hinzu. 
Durch  diese  vielseitige  Verknüpfung  verschiedener  Verständigungsmittel 
gelang  es  in  erfreulichem  Maafse,  ihr  concrete  und  abstracte,  ja  auch 
moralische  und  religiöse  Vorstellungen  beizubringen  und  eine  Verkehrs- 
möglichkeit mit  der  Umgebung  herzustellen.  In  Bezug  auf  die  zum  Theil 
recht  interessanten  Einzelheiten   mufs  auf  das  Original  verwiesen  werden. 

W.  Steen  (Breslau). 

Alb.  Liebhann.    Die  SprachstOrnngeii  %e\Mg  zorfickgebllebener  Kinder.    Samm- 

lung  Schiller-Ziehen  4  (3).    1901.    78  S. 

Die  Sprachstörungen  geistig  zurückgebliebener  Kinder  sind  in  den 
meisten  Fällen  secundärer  Natur  und  haben  ihre  nächste  Ursache  in  der 
geistigen  Inferiorität  der  Patienten.  Unter  diesen  kommt  völlige  Stumm- 
heit am  häufigsten  vor.  Die  Idioten  sprechen  nicht,  weil  sie  uns  nichts 
zu  sagen  haben.  Es  wäre  verfehlt,  bei  diesen  sofort  mit  der  Sprachtherapiie 
zu  beginnen ;  vielmehr  erwächst  dem  Lehrer  die  Pflicht,  die  Intelligenz  des 
Kindes  soweit  zu  fördern,  bis  es  von  selbst  den  Versuch  macht,  zu  sprechen. 
Verf.  stellt  die  Methode,  die  er  bei  der  Behandlung  idiotisch  stummet 
Schüler  befolgt,  an  einigen  Fällen  ausführlich  dar;  es  würde  zu  weit  führen, 
an  dieser  Stelle  auf  alle  Einzelheiten  einzugehen.  Im  Laufe  der  Behand- 
lung nahmen  die  Sprachäufserungen  der  Kinder  vorübergehend  den 
Charakter  des  Agrammatismus  an,  einer  Sprachstörung,  die  bei  vielen 
schwachsinnigen  Kindern  als  constante  Erscheinung  angetroffen  wird. 
Sehr  häufig  wird  auch  Stammeln  beobachtet,  die  Unfähigkeit,  alle  Laute 
und  Lautverbindungen  in  correcter  Weise  zu  bilden.  Als  eine  weitere 
Form  von  secundärer  Sprachstörung  führt  der  Verf.  gewisse  Fälle  von 
Stottern  und  Poltern  an,  „die  auf  einer  Disharmonie  zwischen  mechanischer 
und  formaler  Sprache  beruhen". 

Seltener  kommen  primäre  Sprachstörungen  bei  geistig  zurückge- 
bliebenen Kindern  vor ;  sie  haben  zumeist  eine  organische  Ursache  (Gaumen- 
lefecte,  Gaumensegellähmungen,  Behinderung  des  Gaumensegels  durch 
Nasenrachentumoren  oder  Herabsetzung  des  Gehörs).  Schwerhörigkeit  hat 
[läufig  nicht  blos  eine  Beeinträchtigung  des  Sprach  Vermögens ,  sondern 
luch  secundäre  intellectuelle  Defecte  im  Gefolge,  deren  Behebung  mit  nicht 
anbeträchtlichen  Schwierigkeiten  verbunden  ist.        Th.  Helleb  (Wien). 


2gg  Literaturbericht 

K.  Pappenheim.    Die  KiftdeneiclllIVlIg  iffl  Ä]k8Clia««ng8«lterrkllt    Zeit$ekr.  für 
pädag,  Psychol.  u.  Pathol  2  (3),  161—190.    1900. 

Die  Arbeit  ist  wesentlich  praktisch-pädagogischer  Natur.  Sie  bespricht 
eine  Reihe  von  Methoden,  durch  welche  die  Kinder  zum  Zeichnen  tob 
Lebensformen  in  linearer  und  flftchenhafter  Darstellung  angeleitet  werden 
können  und  hebt  hervor,  wie  auf  diesem  Gebiet  Schulpraxis  und  Kindes- 
psychologie auf  einander  angewiesen  sind  und  gegenseitige  Forderung  er- 
hoffen lassen.  W.  Stern  (Breslau). 

J.  CoHN.    Wu  lernt  die  Piyeliologle  ?ob  4er  Pldigegik?    Zeitackr.  für  pädof 
Fsychol  1  (1),  20-27.    1899. 

Seitdem  die  Pädagogik  sich  der  Fesseln  der  HKBBABr'schen  Seelen* 
lehre  2U  entledigen  beginnt,  eröffnet  sich  der  vom  Geiste  exacter  Forschong 
durchdrungenen  Psychologie  ein  wichtiges  Anwendungsgebiet.  Aber  such 
der  Psycholog  kann  von  der  Mitarbeit  des  Lehrers  eine  unabsehbare  FOUe 
von  Anregungen  erwarten,  die  wiederum  befruchtend  auf  seine  eigene 
Wissenschaft  einzuwirken  im  Stande  ist. 

Aufser  den  in  seinen  Methoden  verborgen  liegenden  allgemeinen  Ein- 
sichten verfügt  der  Lehrer  über  ein  ungeheueres  Material  psychologiiclier 
Experimente.  Der  Verf.  hat  hierbei  jene  Versuche  im  Auge,  welche  lich 
aus  dem  Unterrichtsbetrieb  selbst  ergeben.  Allerdings  wird  es  zuvor  nöthig 
sein,  die  Gesichtspunkte  zu  entwickeln,  unter  denen  die  Dictate,  Extem- 
poralien, Antworten  etc.  als  psychologisches  Material  benutzt  werden 
können.  Dies  scheint  nach  drei  Bichtungen  hin  möglich  zu  Bein:  für  ge- 
wisse Fragen  der  allgemeinen  Psychologie,  für  die  ErkenntniÜB  der  Ent- 
wickelung  des  Geistes  und  für  die  Charakteristik  der  IndivldualitftteiL 

Unter  den  allgemein  psychologischen  Problemen  ist  das  der  ErmOdang 
und  in  engem  Zusammenhang  damit  das  der  Uebung  bereits  behandelt 
worden.  Eine  Reihe  anderer  Fragen  harrt  noch  der  Bearbeitung.  Von 
besonderer  Wichtigkeit  wird  die  entwickelungsgeschichtliche  Verwerthnag 
des  im  Unterrichte  gegebenen  Materials  sein.  Grenaue  Anhaltspunkte  fflr 
den  Fortgang  einer  derartigen  Untersuchung  lassen  sich  freilich  a  priori 
nicht  aufstellen,  sie  müssen  sich  in  der  Arbeit  selbst  ergeben,  die  nur  von 
einem  psychologisch  gebildeten  Lehrer  mit  Aussicht  auf  Erfolg  durchge- 
führt werden  kann. 

Die  Psychologie  der  Altersstufen  führt  naturgemäfs  hinüber  zu  den 
Problemen  der  individuellen  Unterschiede.  „Dieser  Zweig  der  Psychologie 
hat  es  mit  zwei  Arten  von  Gruppenbegriften  zu  thun:  Einmal  mit  denen, 
welche  die  Wissenschaft  selbst  nach  den  von  ihr  erkannten  Verschieden- 
heiten bildet  —  hierher  gehören  die  Gruppen  der  visuell,  akustisch  ood 
motorisch  behaltenden  und  vorstellenden  Menschen  —  dann  aber  auch  mit 
den  anderweitig  gegebenen  Gruppen  der  Geschlechter,  Altersstufen,  Bemf»- 
unterschiede,  Stammesverwandtschaften  u.  s.  w.''  Solche  Verschiedenheiten 
müssen  sich  in  einer  durchschnittlichen  Verschiedenheit  der  geistigen 
Funktionen  und  Leistungen  abspiegeln,  und  nach  beiden  Seiten  hin  ergeben 
sich  wichtige  Fragen  für  die  psychologische  Bearbeitung.  Ueber  den  Zo- 
sammenhang  der  Variation  verschiedener  geistiger  Eigenschaften  kann  der 
Lehrer,  wie  nicht  leicht  ein  anderer  Beobachter,  AufschlaEs  geben,  di  er 


Literaturbericht  289 

die  Fähigkeiten  seiner  Schüler  nach  verschiedenen  Seiten  hin  kennen  zu 
lernen  Grelegenheit  hat  und  daher  in  der  Lage  ist,  auch  innerhalb  jener 
Complexe,  die  man  als  mathematische,  sprachliche  Begabung  etc.  zu  be- 
zeichnen pflegt,  feinere  Unterschiede  aufzufinden. 

Von  besonderem  Interesse  wäre  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  die 
Uebungs-  und  Ermüdungstypen,  die  sich  aus  der  Beurtheilung  der  Fehler 
innerhalb  gröDserer  Classenarbeiten  ergeben,  für  den  einzelnen  Menschen 
constant  bleiben.  Auch  wäre  festzustellen,  ob  und  in  welcher  Weise  das 
Vorwiegen  akustischer,  motorischer  oder  visueller  Vorstellungen  Ver- 
änderungen unterworfen  ist,  in  wie  weit  bestimmte  Gedächtnifstypen  mit 
anderen  geistigen  Begabungen  zusammenhängen,  schlielJslich  auch,  in 
welcher  Beziehung  Begabungen  und  Mängel  der  Schüler  zu  ihrer  Ab- 
stammung und  der  Erziehung  in  der  Familie  stehen. 

Die  vorliegende  Arbeit  will  keineswegs  ein  Programm  für  die  psycho- 
logische Bethätigung  des  Lehrers  aufstellen;  es  ist  dem  Verf.  vielmehr 
darum  zu  thun,  die  Pädagogen  zur  Mitarbeit  in  den  angegebenen  Richtungen 
anzuregen.       «  Th.  Helleb  (Wien). 

H.  Wbgsner.    Die  psycliiscilen  Fähigkeiten  der  Thiere.    Zeitschrift  für  pädag. 

Fsychol  u.  Fathol  2  (5),  383—398;  (6),  457—480.    1900. 

Als  Hauptproblem  der  modernen  Thierpsychologie  bezeichnet  W.  die 
Frage,  ob  den  Thieren  nur  Instinct  oder  auch  Intelligenz  zugesprochen 
werden  darf.  Während  die  meisten  Forscher  das  Vorhandensein  von  In- 
telligenz behaupten,  wird  sie  vom  Jesuitenpater  Wasmann  für  alle,  und  von 
Bbthe  für  bestimmte  scheinbar  sehr  intelligente  Thiere  (Ameisen  und 
Bienen)  bestritten.  Verf.  führt  den  Streit  zum  Theil  darauf  zurück,  dafs 
die  von  ganz  verschiedenen  psychologischen  Standpunkten  herkommenden 
Forscher  mit  den  Worten  Instinct  und  Intelligenz  sehr  abweichenden  Sinn 
verbinden;  sodann  weist  er  an  zahlreichen  Beispielen,  die  zumeist  dem 
Bienen-  und  Ameisenleben  entnommen  sind,  nach,  dafs  Intelligenz  als 
„Fähigkeit  zur  Ueberlegung  und  darauf  basirender  zweckmäfsiger  Handlungs- 
weise*^ bei  der  Erklärung  zahlreicher  thierischer  Functionen  unentbehrlich 
sei,  während  andere  eine  mechanische  Analyse  erlauben. 

W.  Stern  (Breslau). 

0.  Küi;pE.    Ueber  das  Terhältiiifs  der  ebenmerkliclieft  zv  den  übermerUiclieii 

Unterschieden.     Congr^  de  Psychologie,   Aoüt  1900.     Paris,   F61ix  Alcan, 

1900.    10  S. 
Der  Verf.  vertheidigt  die  Verhältnifshypothese  gegenüber  der  Unter- 
schiedshypothese.   Er  weist  darauf  hin,  dafs,  wenn  auch  Unterschiede  von 
gleicher  Merklichkeit  oder  Deutlichkeit   gefunden   werden   sollten, 
doch  damit  über  die  Bedeutung  und  den  Werth  der  ebenmerklichen  oder 
gleichmerklichen  Unterschiede  noch  nichts  Bestimmtes  ausgesagt  sei.    „Das 
Ebenmerkliche  hat  also  an  sich  keineswegs,  wie  Fbchnsb  meinte,  eine  noth- 
wendige  Beziehung  zur  Gleichheit  der  entsprechenden  Empfindungen  oder 
Empfindungsunterschiede."    Der  Verf.  geht  dann  auf  die  bekannten  Arbeiten 
von  MsBKEL,   Anoell   und  L.  Lange  ein  und  kommt  auf  Grund  der  von 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  19 


290  Literaturbericht 

Amsnt  im  Gebiete  von  Licht-  und  Schallinteiisit&ten  anter  seiner  Leitung 
ausgeführten  Versuche  {Philas,  Stud.  16,  135)  zu  der  Ueberzeugung,  „dafis 
die  ebenmerklichen  Unterschiede  mit  der  Intensität  der  sie 
begrenzenden  Empfindungen  wachsen.*'  Vermuthungsweise  spricht 
der  Verf.  die  Ansicht  aus,  daÜB  die  gefundene  Gresetzmftisigkeit  auch  für 
andere  Grebiete  GOltigkeit  habe. 

Aus  den  erbrachten  Resultaten  folgert  Külpb,  dais  das  WsBSB'sche 
Gesetz  für  ebenmerkliche  Unterschiede  etwas  anderes  bedeute,  als  für 
übermerkliche.  „Wahrend  es  dort  nur  besagt,  daüs  das  merkliche  Vor- 
handensein eines  Empfindungsunterschieds  bei  gleichen  relativen  Reiz- 
unterschieden gleich  bleibt,  würde  es  hier  bedeuten,  dafs  gleichen  Reiz- 
Verhältnissen,  beziehungsweise  relativen  Reizunterschieden  gleiche  Em- 
pfindungsunterschiede  entsprechen.^  Wegen  der  Zweideutigkeit  des 
Terminus  Constanz,  der  relativen  Reizunterschiede,  der  relativen  Unter- 
schiedsempfindlichkeit empfiehlt  es  sich  nach  K.,  „von  einer  Gonstans 
der  relativen  Unterschiedsbestimmung  bei  ebenmerklichen,  von 
einer  Constanz  der  relativen  Unterschiedsvergleichung  bei 
übermerklichen  Unterschieden  zu  reden. **  Das  WBBBB*sche  Gesetz  kann  man 
somit  nach  K.  auch  als  eine  „Abhängigkeitsbeziehung  zwischen 
der  Merklichkeit  von  Unterschieden  und  deren  objectiver 
Gröfse  bezeichnen  oder,  da  es  nur  psychologisch  gedeutet  werden 
kann,  als  ein  Apperceptionsgesetz,  womit  die  Function  der  Maafi- 
einheit  des  ebenmerklichen  Unterschiedes  und  somit  auch  Fbchnbb*8 
psychophysisches  Formelsystem  hinfallen.  Unter  Merken  versteht  K. 
Constatiren,  Auffassen,  Beurtheilen  von  Empfindungen  oder 
Empfindungsunterscbieden.  Die  Ausdrücke  Merken  und  Vorhandensein 
sind  hiemach  nicht  identisch.  Es  kann  psychisch  etwas  vorhanden  und 
wirksam  sein,  ohne  dafs  es  bemerkt  wird.  Nur  in  diesem  Sinne  ist  der 
Ausdruck  „unbewufst"  in  der  Psychologie  nach  K.  brauchbar. 

Der  Verf.  schliefst  die  werthvolle  Mittheilung,  indem  er  darauf  hin- 
weifst,  dafs  für  ebenmerklicheReize  bezw.  Empfindungen  dasselbe 
gelte,  was  für  ebenmerkliche  Empfindungsunterschiede  wahrscheinlich  ge- 
macht worden  sei.  Kiesow  (Turin). 

Wilhelm  Wibth.    Der  Feclmer-Helmlioltz'gclie  Satx  Aber  negati?e  lieh- 

bilder  und  seine  Analogien.  Mit  9  Figuren  im  Text  und  1  angehängten 
Tafel.  Wundt'8  Fhiloa,  Studien  16  (4),  465—567.  1900. 
Die  in  Wündt's  Institut  ausgeführte  umfangreiche  Arbeit  theilt  sich, 
soweit  sie  uns  bis  jetzt  vorliegt,  nach  einer  Einleitung  (Historisch- Kritisches, 
Fragestellung)  in  zwei  Kapitel.  Von  diesen  trägt  das  erste  die  lieber- 
Schrift:  Prüfung  des  Fechner  -  Helm  holtz  *  s  c  h  e  n  Satzes  für  den 
Helligkeitswerth  farbloser  Nachbilder  durch  Pigmentver- 
suche.   Das  zweite  behandelt  Episkotisterversuche. 

Der  Verf.  beanstandet,  dafs  die  hier  vorliegende  Gesetzmäfsigkeit 
(Proportionalität  zwischen  der  durch  Ermüdung  eingetretenen  Herab- 
minderung der  Erregung  und  dem  objectiven  Reiz)  mit  von  Kribs  als 
HELMHOLTz'scher  Satz  benannt  wird,  er  will  sie,  da  sie  auf  Fschneb  zurück- 


Literaturberieht  291 

gehe  und  unter  sein  Parallelgesetz  falle,  als  F£CHKEBHELMHOLTz*schen  Satz 
bezeichnet  wissen.  Helmholtz  übernahm,  wie  er  zeigt,  diesen  aprioristi- 
sehen  Satz  von  Fbchneb  und  suchte  ihn  mathematisch  zu  formuliren, 
wobei  er  den  neuen  Begriff  des  „reagirenden  Lichtes"  einführte  (d.  h.  des- 
jenigen Reizes,  der  auf  eine  Sehfeldstelle  einwirkt,  nachdem  ihre  Erregbar- 
keit modificirt  ist)  und  die  genauere  Beobachtung  hinzufügte,  ,.dafs  die 
negativen  Nachbilder  nicht  nur  bei  intensivem  reagirenden  Lichte  schneller 
hervortreten,  sondern  auch  in  denjenigen  Helligkeitsstufen  am  deutlichsten 
sind,  in  welchen  eben  ein  proportionaler  Gewinn  oder  Verlust  neben  der 
vollen  Reizwirkung  am  besten  hervorzutreten  pfiegf  In  einer  muster- 
gültigen Darstellung  entwickelt  der  Verf.  auf  36  Seiten  die  ganze  Geschichte 
der  quantitativen  Bestimmung  der  Nachbilder  und  sucht  ihre  einzelnen 
Phasen  kritisch  zu  beleuchten.  Ein  besonderes  Gewicht  fällt  hier  zunächst 
auf  die  verdienstvolle  Arbeit  C.  F.  Müllsb*s  —  Versuche  über  den 
Verlauf  der  Netzhautermüdung  (Züricher  Dissertation  1866)  — , 
durch  welche  zum  ersten  Male  eine  ex  acte  Messung  dieser  Erscheinungen 
in  die  Wissenschaft  eingeführt  ward.  Es  werden  dann  die  bekannten 
Arbeiten  Schobn's  {Archiv  für  Ophthalmologie  20,  1874)  und  von  Kbibs'  be- 
handelt und  betont,  wie  nach  letzterem  auch  in  Schobn's  Versuchen  ein 
directer  Beweis  für  oder  gegen  den  F.-H.'schen  Satz  nicht  enthalten  sein 
könne;  denn  „überall  sei  das  ermüdende  Licht  zugleich  das  reagirende  ge- 
wesen, und  niemals  habe  man  gemessen,  welche  Veränderung  die  ver- 
schiedenen Helligkeitsstufen  unter  constanten  Ermüdungsbedingungen 
erleiden.**  Der  Verf.  bespricht  femer  die  mit  v.  Hklmholtz'  Spectral- 
apparat  sowie  die  von  Exnbb  und  besonders  von  Hess  ausgeführten 
Arbeiten  und  geht  dann  ausführlicher  auf  die  von  Mabtius  aufgestellte 
Theorie  ein,  nach  welcher  die  Nachbilder  als  secundäre  Erregungselemente 
aufzufassen  sind,  „welche  die  normale  Thätigkeit  der  Netzhaut  als  selb- 
ständige Componenten  unverändert  bestehen  lassen  und  nur  unter  günstigen 
Umständen  als  besondere  Factoren  hinzutreten,  um  den  Gesammteindruck 
nach  einer  festen  Gesetzmäfsigkeit  mit  zu  bestimmen.*'  Die  hierbei  zu 
Tage  tretende  Veränderung  der  Helligkeit  bezeichnet  Mabtiüs  als  „Hellig- 
keitswerth  der  negativen  Nachbilder".  Aus  der  Kritik  der  MABTius'schen 
Auffassung  sei  hervorgehoben,  dalÜB  Mabtius  bei  seinen  Versuchen  nach  dem 
Verf.  das  Hauptgewicht  auf  Momente  legt,  in  welchen  eine  Concentrirung 
der  Aufmerksamkeit  erschwert  ist.  Der  Verf.  macht  femer  darauf  auf- 
merksam, dafs  der  Begriff  der  „normalen  Function"  beim  Sehorgan  keip 
so  eindeutiger  ist  wie  auf  anderen  Gebieten  und  dafs,  da  das  absolute  Gre- 
dächtnifs  für  Lichtreize  im  Allgemeinen  wenig  ausgebildet  sei,  man  meistens 
nur  Unterschiede  innerhalb  des  momentanen  Sehfeldes  selbst  genauer  be- 
stimmen könne.  Mit  Bezug  auf  das  momentane  Verschwinden  der  Nach- 
bilder führt  der  Verf.  aus,  dafs  die  HEBiMO*sche  Auffassung  über  diese  Er- 
scheinung in  seiner  eigenen  mit  enthalten  sei,  dafs  ihm  aber  die  ExNsa'sche 
zu  intellectualistisch  und  constructiv  erscheine.  W.  will  vor  aller  Erklärung 
de6  relativen  Zurücktretens  der  Nachbilder  zwei  wesentliche  Erscheinungs- 
weisen derselben  auseinander  gehalten  wissen,  und  zwar  „erstens  die 
Veränderungen  der  Gesichtsempfindungen  auf  Grnnd  der  Nachbildwirkung 

10* 


292  Literaiurbericht 

überhaupt  und  zweitens  die  Auffassung  des  negativen  Nachbildes  als 
eines  gesonderten,  dem  primären  Object  analogen  Flftchenstflckes/  welche 
letztere  nur  unter  besonders  günstigen  Bedingungen  vorzukommen  scheine, 
während  eine  modificirende  Wirkung  immer  vorhanden  sei,  solange  nur 
der  Werth  des  Nachbildes  nicht  völlig  verschwinde.  Der  Verf.  fügt  hinzu, 
dafs  zur  Unterscheidung  dieser  beiden  Gesichtspunkte  farbige  Nachbilder 
besser  geeignet  seien  als  die  von  Martiüs  beobachteten  farblosen.  Es  wird 
dann  weiter  auf  die  apperceptive  Heraushebung  der  Nachbilder  Gewicht 
gelegt  und  gezeigt,  dafs,  wie  diese  schon  beim  ruhenden  Auge  Schwierig- 
keiten begegne,  die  letzteren  bei  Augenbewegungen  noch  vergröfisert 
werden.  Der  Verf.  sucht  zu  zeigen,  dafs  hierbei  vielleicht  nicht  die  Em- 
pfindungsdifferenzen im  Sehfelde  fehlten,  sondern  nur  die  Apperception 
auf  eine  falsche  Stelle  gerichtet  und  die  richtige  keiner  genaueren  Analyse 
unterzogen  wurde:  Das  Nachbild  ist  für  uns  ein  ebenso  selbständiger 
Gegenstand,  wie  jede  andere  räumliche  Wahrnehmung,  auch  hier  läfst  sich 
die  dreidimensionale  Localisation  nicht  aufheben,  —  alle  bei  Augen- 
bewegungeu  gemachten  Erfahrungen  übertragen  sich  unmittelbar  auch  auf 
das  Nachbild,  in  Folge  der  Verschiebung  der  Wahrnehmungsgegenstände 
mufs  bei  Augenbewegungen  das  Nachbild  scheinbar  zunächst  verschwin- 
den etc.  Neben  diesen  Ortsveränderungen  rechnet  der  Verf.  hierher  auch 
die  scheinbaren  Gröfsenveränderungen.  „Man  erkennt  hierbei  am  aller* 
deutlichsten,  dafs  ein  Nachbild  nicht  vielleicht  schon  mit  der  blofsen  Em- 
pfindungsdifferenz gegeben  zu  sein  braucht,  sondern  daüs  man  auch  wissen 
mufs,  wo  und  in  welcher  Form  sich  diese  Differenzen  als  Flächencontouren 
befinden,  damit  man  sich  eines  Nachbildes  bewufst  werden  könne." 
(Schwierigkeit  im  Wiederfinden  von  Nachbildern  auf  einer  entfernteren 
Projectionsfläche ,  die  man  auf  einer  näheren  bereits  klar  erfafst  hatte). 
„Wer  also  die  Nachbilder  nicht  gerade  auf  einen  bestimmten  Projections- 
effect  hin  studirt  hat,  wird  niemals  in  der  Weise  auf  das  Kommende  ge- 
fafst  sein,  dafs  ihm  das  Nachbild  nach  einer  fortschreitenden  Augen- 
bewegung wie  ein  objectiver  Gegenstand  sofort  wieder  klar  vor  Augen 
stände",  wenn  dieser  Ausdruck  für  Nachbilder  gestattet  ist."  —  Der  Verf. 
zeigt  weiter,  dafs  die  Schwierigkeiten,  ein  Nachbild  nach  raschen  Augen- 
bewegungen wiederzufinden,  durch  die  Bedingungen  der  gewöhnlichen 
binocularen  Gesichts  Wahrnehmungen  noch  gesteigert  werden  und  dafs  die 
Apperceptionsbedingungen  während  der  Bewegung  selbst  noch  viel  un- 
günstiger werden,  da  die  Apperception  durch  den  Bewegungsimpuls  selbst 
in  ihrer  Leistungsfähigkeit  beschränkt  sei.  „In  allen  Fällen,  in  denen  die 
Bewegungen  nicht  durch  das  Streben  nach  Fixation  eines  zunächst  indirect 
gesehenen  Gegenstandes  ausgelöst  werden,  sondern  durch  das  Erstreben 
der  entsprechenden  Bewegungsempfindungen  überhaupt,  fallen  sämmt- 
liche  Gegenstände  des  Sehfeldes  im  Momente  der  Bewegung  aus  dem 
Mittelpunkt  der  Apperception  heraus."  Es  wird  dann  noch  des  Weiteren 
darzuthun  gesucht,  dafs  jene  apperceptiven  Momente  hierbei  allein  in  Frage 
kommen  und  gezeigt,  dafs  die  Erscheinungen,  welche  Martiüs  zu  seiner 
Theorie  führten,  sich  auch  durch  die  alte  Anschauung  erklären  lassen, 
nach   welcher  die  Nachbilder  in  Erregungsdifferenzen  ihre  Ursache  haben. 


Literaturbericht.  293 

Für  die  Festhaltung  dieser  älteren  Anschauung  sucht  der  Verf.  schliefslich 
auch  noch  allgemeinere  Gesichtspunkte  geltend  zu  machen. 

Die  Aufgahe  der  vorliegenden  Arbeit  bezeichnet  der  Verf.  selbst  als 
„eine  Untersuchung  über  die  Abhängigkeit  der  negativen 
Nachbilder  vom  reagirenden  Reize.^  Er  hebt  aber  hervor,  dafs 
seine  Arbeit  nur  ein  erster  Versuch  sein  könne,  allmählich  zu  ezacteren 
Anordnungen  durchzudringen. 

I.  Verwandt  wurde  der  MASBE*sche  Apparat,  der,  wie  bekannt,  eine 
Veränderung  der  Sectorenverhältnisse  während  der  Rotation  gestattet.  Der 
Verf.  hebt  besonders  hervor,  dafs  mit  Hülfe  dieses  werthvoUen  Apparates 
eine  annähernd  exacte  Nachbildmessung  auch  durch  einen  einzigen  Ver- 
such erzielt  werden  kann.  Eine  einfache,  von  dem  Beobachter  selbst  zu 
handhabende  Zugvorrichtung  machte  dies  möglich.  Diese  Einrichtung 
diente  vorzugsweise  zur  Nachprüfung  früherer  Arbeiten  (v.  Kbies),  für  die 
Abhängigkeit  einer  bestimmten  Nachbildwirkung  von  der  reagirenden 
Helligkeit  waren  weitere  Vorrichtungen  nöthig.  Im  Ganzen  kam  es 
namentlich  bei  Verwendung  von  Pigmentfarben  darauf  an,  störende  Con- 
traste  auszuschliefsen,  es  mufste  daher  neben  der  Variirung  der  rotirenden 
Scheibe  auch  eine  solche  ihrer  Umgebung  erstrebt  werden.  Diese  sinn- 
reichen Einrichtungen  werden  ausführlich  beschrieben.  Aus  den  zahlreich 
ausgeführten  Versuchen,  deren  Resultate  in  besonderen  Tabellen  und 
Curven  dargestellt  sind,  konnte  für  eine  mittlere  Region  eine  annähernd 
ideale  Gültigkeit  des  FECHNEB-HELMHOLTz'schen  Satzes  nachgewiesen  werden. 
Der  Verf.  zeigt,  „dafs  in  einer  breiten  Mittelzone  der  Werth  des 
Nachbildes  in  dem  oben  bezeichneten  Sinne  thatsächlich 
zur  absoluten  Helligkeit  der  reagirenden  Fläche  in  einem 
annähernd  constanten  Verhältnifs  steht,"  dafs  ,.also  für  diese 
Region  die  jeweilige  Nachbildwirkung  mit  jenem  Satze  in  bester  Ueber- 
einstimmung  steht." 

II.  Für  die  Untersuchung  des  Rückganges  der  Nachbildwirkung  unter 
verschiedenen  Bedingungen,  führte  der  Verf.  eine  durchaus  neue  Versuchs- 
anordnung ein,  indem  er  unter  Benutzung  einer  elektrischen  Projections- 
lampe  dem  MARBE'schen  Rotationsapparat  einen  Episkotister  aufsetzte. 
Wie  eine  stetige,  annähernd  gleichmäfsige  Erhellung  des  ganzen  Sehfeldes, 
gestattete  diese  Anordnung  neben  der  Verwandlung  des  gesammten  Seh- 
feldes auch  die  gleichzeitige  Einstellung  auf  subjective  Gleichheit,  so  daüs 
für  die  Abwechslung  der  reagirenden  Umgebung  kein  besonderer  Mechanis- 
mus erforderlich  war.  Diese  Beobachtungen  wurden  im  Dunkelzimmer 
angestellt,  wobei  die  Projectionslampe  als  einzige  Lichtquelle  diente.  Als 
Projectionsschirm  wurde  farbloses  Transparentpapier  benutzt,  weswegen  die 
Beobachtungen  nicht  nur  ungestört  von  der  entgegengesetzten  Seite  aus  ge- 
sehen, sondern  die  Beobachter  selbst  auch  symmetrisch  zu  der  erleuchteten 
Kreisfläche  placirt  werden  konnten.  Auch  bei  dieser  Anordnung  konnte 
der  Rotationsapparat  durch  eine  Zugvorrichtung  vom  Beobachter,  wenn 
nothwendig,  selbst  eingestellt  werden.  Eine  besondere  Schwierigkeit  bot 
bei  diesen  Versuchen  die  Herstellung  der  Episkotisterscheiben.  Dem  Verf. 
ist  diese  Einrichtung  aber  trefflich  gelungen.  Die  von  ihm  getroffene 
Scheibencombination,  liefs  freilich  keine  Variation  der  Helligkeit  im  ganzen 


294  Literaiurhericht 

Umfang  vom  tiefsten  Dnnkel  bis  zum  Maximalgrade  derselben  zn,  aber  W. 
sieht  hierin  keinen  Nachtheil  seiner  Anordnung,  da  das  elektrische  Bogen- 
licht  so  blendend  wirkte,  dafs  der  störende  Blendungsfactor  erst  bei  starker 
HerabsetEung  der  maximalen  Helligkeit  ausgeschlossen  erschien.  Durch 
diese  Anordnungen,  die  des  Weiteren  ausführlich  beschrieben  sind,  suchte 
der  Verf.  den  FBCHNER-HELMHOLTZ*schen  Satz  auch  für  das  Nachbild  eines 
farbigen  Helligkeitsunterschiedes  zu  erproben.  Statt  des  Schwarz  wurde 
hier  Grün  verwandt.  Auch  die  Resultate  dieser  Versuchsanordnung  sind 
in  besonderen  Tafeln  und  graphisch  in  einer  Curve  dargestellt.  Auch  aas 
diesen  Versuchen,  "die  der  Verf.  an  sich  selbst  anstellte,  resultirte  „in  der 
That  eine  sehr  gute  Uebereinstimmung  mit  dem  F.-H.*schen  Satze." 

Der  Verf.  suchte  dann  noch  die  Frage  zu  entscheiden,  „ob  sich  das 
Nachbild  einer  farbigen  Helligkeitsdifferenz  auch  hinsichtlich  seines 
absoluten  Werthes  ebenso  verhält,  wie  ein  Nachbild,  das  durch  die 
Fixation  einer  Differenz  entsprechender  farbloser  Helligkeiten  ent- 
standen ist,**  da  erst  durch  eine  solche  Uebereinstimmung  die  allgemeinere 
Regel  für  die  Thatsachen  gefunden  sei,  die  Martius  als  Ausgangspunkt  für 
seine  Methode  der  Bestimmung  der  Helligkeit  einer  Farbe  dienten.  Die 
Aufgabe  bestand  hier  darin,  ein  Grau  von  der  gleichen  Helligkeit  des  ver- 
wandten Grün  zu  finden,  das  dann  an  die  Stelle  des  letzteren  gesetzt  ward. 
Der  Verf.  führte  auch  diese  Versuche  an  sich  selbst  aus;  es  ergab  sich, 
wie  man  auch  aus  der  betreffenden  Tabelle  ersieht,  eine  gute  Ueberein- 
stimmung. W.  fügt  hinzu:  „Bei  der  Genauigkeit,  die  vorläufig  erreicht 
worden  ist,  kann  natürlich  kein  absolutes  Zusammenfallen  beider  Cnrven 
erwartet  werden,  auch  wenn  die  Wirkungen  selbst  thatsächlich  vollkommen 
zusammenfielen.''  „Diese  nahe  Uebereinstimmung  des  Helligkeitswerthes 
eines  farbigen  Nachbildes  mit  dem  Nachbild  einer  entsprechenden  farb- 
losen Helligkeitsdifferenz,  bildet  zugleich",  wie  hinzugefügt  wird,  „eine 
wichtige  Bestätigung  für  die  Selbständigkeit  des  Helligkeitsfactors  in  der 
Lichterregung  überhaupt,  welche  in  allen  neueren  Farbentheorien  auf  Grund 
allgemeiner  Erfahrungen  angenommen  ist." 

Die  Arbeit  schliefst:  „Wie  schon  erwähnt,  gebührt  G.  Mabtics  das 
Verdienst,  diese  Selbständigkeit  des  farbigen  Helligkeitsnachbildes  zu  einer 
Methode  der  indirecten  Helligkeitsbestimmung  von  Farben  verwerthet  xu 
haben,  und  bilden  meine  Versuche  dieses  letzten  Abschnittes  zugleich  eine 
volle  Bestätigung  derselben  von  einem  allgemeinen  Gesichtspunkte  aus  etc." 
—  Die  Einzelheiten  der  inhaltreichen  Arbeit  müssen  hier  selbst  nach- 
gesehen werden.    Ein  Schlufs  wird  folgen.  Kiesow  (Turin). 

Th.  Beeb.  Ueber  primitive  Sehorgane.  Wiener  klinische  Wochenschr,  Nr.  11. 
12  u.  13.  73  S.  1901. 
Nach  einleitenden  kritischen  Vorbemerkungen,  welche  die  bisherigen 
speculativen,  Lichtempfindung  und  Sehorgane  bei  niederen  Thieren  oft  nur 
auf  Grund  eines  Vorurtheils  supponirenden  Bezeichnungen  rügen,  schlägt 
B.  eine  mehr  „objectivirende"  Nomenclatur  vor.  Dieselbe  verdient  wegen 
des  Bestrebens,  nicht  jede  Reaction  auf  Lichtreiz  sogleich  als  Licht- 
empfindung zu  deuten,  allgemeine  Berücksichtigung  auf  dem  Gebiete  der 
Sinnesphysiologie. 


Literaturberickt.  295 

Sehorgane  oder  Fhoto-Receptoren  oder  Fhotoren  nennt  B.  alle  fflr  Um- 
setEung  der  Lichtreize  in  Nervenerregung  geeignete  Gehilde.  Gerade  weil 
ihre  Function,  das  Photorecipiren,  durchaus  nicht  mit  Sehen  identisch  zu 
sein  braucht,  scheint  dem  Ref.  der  Begriff  des  Sehorgans  dem  der  rPhotoren^ 
untergeordnet  und  das  ,,Oder^  an  dieser  Stelle  nicht  glücklich  gewählt  zu  sein. 

Solche  Photoren,  die  nur  quantitative  Verschiedenheiten  der  Belichtung 
anzeigen,  werden  Photirorgane,  die  recipirenden  Elemente  Fhotirzellen  ge- 
nannt. Idir-Organe  resp.  Augen  sind  hingegen  diejenigen  Photoren,  die 
Bilder  der  Aufsenwelt  entwerfen  und  je|nach  ihrem  Baue  Complex —  (facettirte) 
oder  einfache  (Camera)  Augen  sind. 

Zu  der  Schwierigkeit,  Photirorgane  bei  niederen  Thieren  aus  der 
Function  zu  erschliefsen ,  gesellte  sich  noch  erschwerend  die  weit  ver- 
breitete Annahme  hinzu,  dafs  stark  absorbirendes  Pigment  der  unentbehr- 
liche Bestandtheil  eines  jeden  Sehorgans  sei.  Wenngleich  zuzugeben  ist, 
dafs  dem  Pigmente  häufig  ein  heuristischer  Werth  für  den  Nachweis  licht- 
recipirender  Theile  zukommt,  so  führt  B.  doch  Beispiele  pigmentloser 
Fhotirzellen  bei  Lumbriciden  und  Hirudineen,  die  durch  das  Vorhanden- 
sein gitterumsponnener  Vacuolen  charakterisirt  sind,  an.  Indem  man  ferner 
niederen  Thieren  die  Sehleistungen  eines  Wirbelthieres  zusprach,  glaubte 
man  in  den  Photirorganen  jener  auch  den  dioptrischen  Apparat  des  Wirbel- 
thierauges  wiederfinden  zu  müssen  und  sprach  von  bilderzeugenden  Linsen, 
während  bei  der  Mehrzahl  der  niederen  Thiere  von  einem  bildmäfsigen 
Sehen  gar  keine  Bede  sein  kann.  So  hat  man  zuweilen  die  Fhotirzellen 
selbst  als  Linsen  und  die  dieselben  umgebenden  Becherzellen  als  „Retina'' 
beschrieben. 

Eine  principielle,  der  Erkenntnifs  von  der  Leistung  primitiver  Seh- 
organe sich  hindernd  entgegenstellende  Ansicht,  glaubt  B.  besonders  be- 
kämpfen zu  müssen :  in  Fällen  von  unzweifelhafter  Lichtreaction  darf  man 
nicht  einen  universellen,  Geruch,  Tasten,  Photiren  etc.  vermittelnden  Sinnes- 
apparat, etwa  eine  „dermatoptische"  Haut  annehmen,  sondern  hat  nach 
Bpecifischen  Photoren  zu  suchen.  Sogar  bei  einigen  Protozoen  ist  es  be- 
reits gelungen,  distincte  photorecipirende  Stellen  nachzuweisen,  so  konnte 
Enoelhann  zeigen,  dafs  bei  Euglena  eine  Beschattung  nur  dann  Reactionen 
hervorruft,  wenn  der  Vordertheil  getroffen  wird.  Wenn  aber  auch  andere 
Protozoen  wirklich  am  ganzen  Leibe  für  verschiedenartige  Reize  empfäng- 
lich sein  sollten,  so  liegt  noch  kein  Grund  vor,  wegen  der  Verschieden- 
artigkeit der  einwirkenden  Reize  auch  qualitativ  verschiedene  Erregungen 
anzunehmen.  Man  hat  ferner  in  solchen  Fällen  von  Lichtreactionen,  in 
welchen  bisher  der  Nachweis  von  Photoren  nicht  geglückt  ist,  nicht  nur 
an  die  Möglichkeit  des  zukünftigen  Nachweises,  sondern  auch  an  diejenige 
einer  directen  Licht-Muskelreizbarkeit  zu  denken,  wie  sie  thatsächlich  in 
den  Irismuskeln  der  Amphibien  und  Fische  vorhanden  ist.  Es  giebt  auch 
„Reizbeantwortungen"  ohne  Vermittelung  des  Nervensystems,  im  vor- 
liegenden Falle  also  Phototropien  (Heliotropismus).  Nach  dieser  Be- 
kämpfung der  Annahme  von  „Wechselsinnesorganen",  in  der  B.  der  Lehre 
von  den  specifischen  Sinnesenergien  eine  gewissermaafsen  erweiterte  An- 
wendung verleiht,  giebt  er  eine  referirende  üebersicht  neuer  Erfahrungen 
aber  primitive  Photoren.    Man   findet  1.  Pigmentlose  Fhotirzellen.    2.  Pig- 


296  Literaturbericht 

mentirte  oder  mit  pigmentirten  Zellen  alternirende  Photirzellgruppen 
3.  Pigment  umgebene  Photirzellen.  2.  und  3.  werden  Ocellen  genannt  und 
zwar  sind  solche,  bei  welchen  das  Licht  zuerst  die  Photirzelle,  dann  den 
optischen  Nerven  trifft,  als  vertirt,  solche,  wo  das  Licht  umgekehrt  erst 
den  Nerven  und  dann  die  Photirzelle  wie  in  der  Wirbelthiernetzhaat  trifft, 
als  invertirt  zu  bezeichnen.  Das  Verständnils  der  verschiedenen  Anordnung 
und  des  für  die  einzelnen  Thiergruppen  charakteristischen  Aufbaus  kann 
nur  durch  die  Anschauung  der  im  Original  beigegebenen  Abbildungen  er- 
worben werden  und  mufs  in  dieser  Beziehung  auf  die  Lektüre  der  auch 
im  übrigen  äufserst  lesenswerthen  und  lehrreichen  Abhandlung  selbst  ver- 
wiesen werden.  Abelsdobff  (Berlin). 


F.  Kbüegbb.    Zar  Theorie  der  OombinationstSne.  Philos.  SUidien  17  (2),  185—310. 
1901. 

In  dieser  umfangreichen  Arbeit  sucht  der  Verf.  die  Thatsachen 
historisch  zu  beleuchten  und  theoretisch  zu  verwenden,  die  er  bereits  in 
seinen  werthvollen  Abhandlungen  „Beobachtungen  an  Zweiklängen' 
im  16.  Bande  der  Philos.  Studien  (S.  307—379  und  568—664)  veröffent- 
licht hat.  üeber  diese  Untersuchungen  ist  bereits  in  dieser  Zeitschr^ 
eingehend  berichtet  worden.  Es  gebührt  dem  Verf.  das  Verdienst,  durch 
Ausbildung  und  Benutzung  exactester  Methoden  das  bisher  vorliegende 
Beobachtungsmaterial  um  ein  ganz  Beträchtliches  vermehrt  und  ergänzt  la 
haben.  —  Der  leitende  Gesichtspunkt  für  die  vorliegende  Abhandlung 
bildet  die  Bedeutung  der  Combinationstöne  für  die  Theorie  des  Hörens. 
Der  Verf.  giebt  an,  dafs  viele  irrthümlichen  Beschreibungen  der  Com- 
binationserscheinungen  und  weitreichende  theoretische  Abweichungen  auf 
lückenhafte  Beobachtungen  zurückzuführen  seien,  ja  dafs  viele  Theoretiker 
die  Ergebnisse  ihrer  Vorgänger  nur  ungenau  kannten  und  die  meisten 
scheinbar  von  vornherein  auf  einen  kritischen  Ausgleich  der  bestehenden 
Differenzen  verzichteten. 

Die  sich  in  3  Capitel  gliedernde  Arbeit  behandelt  in  den  beiden  ersten 
alle  in  der  Literatur  sich  vorfindenden  Angaben  über  die  Combinationfl- 
erscheinungen,  die  hier  mit  den  eigenen  Befunden  des  Verf.  zusammen- 
gestellt und  kritisch  verglichen  werden.  Das  dritte  behandelt  in  5  Sonder- 
abtheilungen die  physiologischen  Theorien.  Die  leitenden  Gesichtspunkte 
für  diesen  Theil  der  Abhandlung  sind  die  folgenden:  „Wie  verbalten  eich 
die  bisher  versuchten  Zusammenfassungen  und  Erklärungen  zu  den  That- 
sachen? Welche  Consequenzen  ergeben  sich  aus  den  Beobachtungen  über 
Combinationstöne  und  verwandte  Erscheinungen  für  die  physiologische 
Akustik?"*  Der  Verf.  fügt  in  einer  Fufsnote  hinzu,  dafs  die  in  der  oben 
angegebenen  Arbeit  angekündigte  Untersuchung  über  das  Consonanzproblem 
den  Gegenstand  einer  dritten  Abhandlung  bilden  wird. 

Da  es  unmöglich  ist,  auf  alle  Einzelheiten  der  Arbeit  einzugehen  (sie 
umfafst  das  ganze  Heft  der  Zeitschrift),  so  sei  es  gestattet,  die  Haupt- 
resultate wiederzugeben,  wie  der  Verf.  sie  selbst  am  Schlüsse  zusammen- 
gestellt hat: 


Literaturbericht  297 

„1.  Der  Zusammenklang  zweier  Töne  enthält  für  die  Wahrnehmung 
in  der  Regel  einen  Summationston  und  vier  bis  fünf  Differenztöne.  Alle 
diese  Combinationstöne  mit  ihren  Folgeerscheinungen  (Schwebungen, 
Zwisehentönen  u.  a.)  sind  an  das  Dasein  von  Obertönen  des  primären 
Klanges  nicht  gebunden. 

2.  Alle  Schwebungen  sind  auf  das  Vorhandensein  von  mindestens 
zwei  benachbarten,  d.  h.  um  höchstens  eine  grofse  Terz  von  einander 
entfernten  Tönen  zurückzuführen;  es  giebt  keine  multiplen  Schwebungen 
im  Sinne  Koenio*s. 

3.  Die  von  Koenig  sogenannten  ,,Storstöne"  sind  nicht  die  einzigen 
Combinationstöne.  Es  giebt  insbesondere  auch  zwischen  den  Primärtönen 
gelegene  Differenztöne. 

4.  Es  giebt  nur  zwei  Arten  Combinationstöne:  Differenztöne  und 
Summationstöne.  Die  Unterscheidung  von  Stofstönen  und  Differenztönen 
ist  durch  die  Thatsachen  nicht  gefordert.  Sie  erklärt  sich  historisch  aus 
einer  unzureichenden  Berücksichtigung  der  Dissonanzen  und  einer  damit 
zusammenhängenden  irrthümlichen  Verallgemeinerung  bestimmter  Stärke- 
verschiedenheiten der  Differenztöne. 

5.  HsKMANN'sche  Mitteltöne,  RiEMANN'sche  üntertöne  und  subjective 
Obertöne  existiren  nicht. 

6.  Alle  bis  jetzt  hervorgetretenen  Versuche,  die  OHM*sche  Zerlegungs- 
theorie und  die  darauf  gegründete  Hblmholtz  -  HEN8EN*sche  Resonanz- 
hypothese principiell  aufzugeben  und  durch  andere  Annahmen  zu  ersetzen, 
leiden  an  grofsen  inneren  Schwierigkeiten  oder  (und)  widerstreiten  der 
akustischen  Erfahrung. 

7.  Die  gegen  die  HELMHOLTz'sche  Theorie  des  Hörens  erhobenen  Ein- 
wände, auch  der  der  Unterbrechungstöne,  sind  nicht  stringent. 

8.  Hklmholtz'  Erklärung  der  subjectiven  Combinationstöne  ist  un- 
befriedigend. 

9.  Die  physiologische  Theorie  dieser  Töne  braucht  den  Boden  der 
Resonanzhypothese  nicht  zu  verlassen.  Es  empfiehlt  sich  vielmehr  zunächst 
der  Versuch,  Helmholtz*  Theorie  der  objectiven  Combinationstöne  auf  die 
Vorgänge  anzuwenden,  die  bei  der  Wahrnehmung  subjectiver  Combinations- 
töne im  inneren  Ohr  stattfinden.'' 

Ein  vom  J.  1743  bis  auf  die  Gegenwart  reichender  Literaturbericht 
ist  der  Arbeit  angehängt.  EJrnsow  (Turin). 

H.  ZwAARDEMAKEB.    Los  seiisatioiis  olfactives,  lenrs  combinaisons  et  leors  com- 

pensatlOAS.  Utrecht,  :^vreuz.  1898.  24  S. 
Verf.  hat  sich  bereits  durch  eine  ganze  Reihe  von  Abhandlungen  um 
die  Erforschung  der  physiologischen  Beziehungen  der  Gerüche  hoch  ver- 
dient gemacht.  Man  kann  wohl  behaupten,  dafs  erst  durch  ihn  die 
Forschungen  über  Gerüche  in  sichere  Bahnen  gelenkt  worden  sind.  In 
der  vorliegenden  Abhandlung  behandelt  er  speciell  die  Combinationen  und 
Compensationen. 

Die  Geruchsempfindungen  erwecken  in  uns  vage  Empfindungen,  welche 
von   sehr   starken    Emotionen   begleitet   sind.     Letztere   beherrschen    uns, 


298  Literaturbericht 

während  die  Ursache  selbst  unbemerkt  bleibt.  Die  Gerüche  vermögen 
grofse  Veränderungen  in  den  seelischen  Dispositionen  hervorsubringen. 
Die  Di^sionszeit  für  verschiedene  geruchliche  Substanzen  ist  sehr  ver- 
schieden, bei  manchen  dauert  es  Tage  lang,  bevor  man  sie  wahmimmt 
Für  das  Thier  sind  die  Gerüche  mit  langsamer  Diffusion  wichtig,  da  sie 
in  Beziehung  zur  Erhaltung  der  Species  stehen.  Derartige  Gase  haben  ein 
grofses  specifisches  Grewicht  und  halten  sich  in  Folge  dessen  am  längsten 
am  Boden.  In  der  Natur  begegnet  man  fast  ausschlieÜBlich  solchen  Ge- 
rüchen. Bei  ruhigem  Athmen  erreichen  die  Düfte  nicht  das  eigentliche 
Creruchsorgan ,  da  letzteres  in  einer  Grube  verborgen  liegt,  bewahrt  vor 
Staub,  Kälte  und  Trockenheit.  Bei  aufmerksamem  Riechen  dagegen  wird 
die  Luft  in  Stöfsen  in  die  Nasenhöhle  getrieben  und  vertical  nach  oben 
gestofsen,  wo  sie  das  Geruchsorgan  erreicht.  Wir  nehmen  die  Gerüche 
auch  beim  Ausathmen  war.  Beim  Essen  und  Trinken  nämlich  werden  die 
geruchlichen  Moleküle  durch  die  Ausathmung  aus  der  Kehle  in  die  Mund- 
höhle befördert  und  gelangen  von  da  aus  in  die  Nasenhöhle. 

Bezüglich  einer  Eintheilung  der  Grerüche  weist  Verf.  darauf  hin,  daüs 
es  ganze  Gruppen  von  Gerüchen  giebt,  deren  Zugehörige  etwas  Gremein- 
sames  haben,  so  z.  B.  die  Küchengerüche,  Fruchtgerfiche,  Aromas.  Zw.  hat 
im  Anschlufs  an  LiNNift  ein  natürliches  System  der  Gerüche  aufgestellt,  d.  h. 
ein  solches,  welches  sich  historisch  und  ohne  vorgefafste  Meinungen  ent- 
wickelt hat. 

Bestimmte  chemische  Elemente  führen  durch  ihre  Gegenwart  in  be- 
stimmten Mischungen  eine  gewisse  Aehnlichkeit  bezüglich  des  Geruches 
dieser  Mischungen  herbei. 

Die  durch  Gerüche  hervorgerufenen  Aetherschwingungen  sind  weder 
mit  denen  der  Wärme,  noch  mit  denen  des  Lichtes  identisch,  möglicher- 
weise haben  sie  kleinere  Wellenlängen.  Wenn  wir  annehmen,  daXiB  der 
Geruch  von  einer  molekularen  Bewegung  herrührt,  so  folgt  daraus  noch 
nicht,  dafs  diese  Bewegung  sich  im  Baume  auf  eine  Weise  verbreitet, 
welche  für  unsere  Sinne  wahrnehmbar  ist.  Im  Gegentheil  ist  der  Geruch 
wahrscheinlich  ein  Attribut  der  Materie. 

Der  letzte  Theil  der  Arbeit  schildert  Experimente  mit  dem  Doppel* 
Olfactometer.  Gibsslbr  (Erfurt). 


S.  H.  Mellonb.    The  Katore  of  Self-Knowledge.   Mind  N.  S.  10  (39),  Sia-SSö. 

1901. 
Die  Meinungsverschiedenheit,  die  über  Begriff  und  Wesen  des  Selbst- 
bewufstseins,  der  Selbsterkenntnifs  besteht,  veranlafste  den  Verl  zu  er- 
neuter Untersuchung  dieser  Erscheinung.  Unter  Selbsterkenntnifs  versteht 
er  jede  Kenntnifs  irgend  welcher  Art,  soweit  sie  unser  inneres  Leben  be- 
trifft und  sich  gründet  auf  directe  Analyse  desselben,  mag  sie  nun  auf- 
treten unter  dem  Namen  der  Selbstcharakteristik  oder  als  sog.  Kenntniüs 
der  menschlichen  Natur  (Menschenkenntnifs)  oder  in  der  psychologischer, 
logischer  oder  philosophischer  Verallgemeinerung.  Die  besonders  von  H. 
Spencer  betonten  Schwierigkeiten,  die  sich  hierbei  ergaben,  insofern  bei 
der  Selbsterkenntnifs  Object  und  Subject  des  Erkennens    zusammenfallen, 


Literaturbericht.  299 

während  sie  sich  in  allen  anderen  Fällen  des  Wissens  gegenüberstehen, 
löst  Verf.,  indem  er  sie  als  selbstgeschaffen,  als  nur  eingebildet  und  in 
Wirklichkeit  gar  nicht  bestehend  erklärt.  Die  Trennung  zwischen  em- 
pirischem und  transcendentem  oder  reinem  Ich  lehnt  er  ffir  die  Psychologie 
ebenso  ab  wie  für  die  Metaphysik  und  läfst  nur  gelten  das  empirische  Ich, 
das  erkannt  wird,  sich  äufsert  nur  in  und  durch  die  wirklichen  Vorgänge 
des  BewuTstseins,  in  und  durch  seine  Inhalte.  Auch  wenn  wir  Ausdrücke 
gebrauchen  wie  Noumenon  und  Phaenomenon,  Realität  und  Erscheinung, 
müssen  wir  uns  vor  Augen  halten,  dafs  das  Erstere  jederzeit  nur  erkannt 
wird,  Gegenstand  des  Wissens  wird  durch  das  Letztere.  Und  ähnlich  ist 
sa  fassen  das  Verhältnifs  zwischen  Subject  und  Object.  Die  weitere  Aus- 
führung und  Verfolgung  dieses  Gedankens  zeigt  den  Verf.  in  vielfacher 
Uebereinstimmung  mit  den  Ideen,  welche  Bbadley  in  „Defence  of  Pheno- 
menalism  in  Psychology"  vorträgt.  Offner  (München). 


L.  HiBscHLAFF.   luT  lethodlk  und  Kritik  der  ErgogriphenmessmigeB.   Zeitschr, 

f.  pädag.  Fsychol.  u.  Fathol  3  (3),  184—198.    1901. 

Die  kleine  Arbeit  discutiert  in  besonnener  Weise  Werth  und  Bedeutung 
von  Ergographenmessungen,  und  führt  sowohl  die  absprechenden  Urtheile 
einiger  Gegner,  als  auch  die  zu  weit  gehenden  Schlufsfolgerungen  einiger 
Experimentatoren  auf  das  rechte  Maafs  zurück.  H.  bespricht  die  Methodik, 
wobei  namentlich  auf  die  von  Kemsieb  eingeführten  Verbesserungen  hin- 
gewiesen wird,  erörtert  sodann  den  Sitz  der  physiologischen  Ermüdung, 
welche  der  Ergograph  mifst,  und  geht  dann  zu  den  psychologischen  Er- 
gebnissen über,  wo  er  mit  Recht  die  gröfste  Vorsicht  anempfiehlt.  Das 
einzige,  was  bis  jetzt  mit  Wahrscheinlichkeit  anzunehmen  ist,  ist  die 
Existenz  einer  quantitativen  Beziehung  zwischen  geistiger  Arbeitsleistung 
und  Ergographenleistung ;  zu  Schlufsfolgerungen  über  die  Ermüdung  und 
gar  zu  schulhygienischen  Reformen  bietet  aber  jene  Constatirung  noch 
keine  Anhaltspunkte  dar. 

Dankenswerth  ist  eine  der  Arbeit  angehängte  Bibliographie  von  36 
Nummern.  W.  Stebn  (Breslau). 

R.  Gaüpp.    Die  Entwickelmig  der  Psychiatrie  im  19.  Jahrhundert.    Zeitschr,  f, 

pädag.  Psychol.  u.  Fathol.  2  (3),  209—226.  Zugleich  separat  erschienen  als 
Nr.  IV  des :  Vortragscyklus  der  Fsychologiachen  OeseUachaft  zu  Breslau  über 
die  Entwickdung  der  Fsychologie  etc.  im  19.  .Jahrhundert. 

Der  Vortrag  Gaüpp's,  der  nichtfachliche  Leser  in  knapper  Form  über 
die  wichtigsten  Momente  im  Entwickelungsgang  der  Psychiatrie  unter- 
richten soll,  unterscheidet  zwei  Perioden,  die  durch  das  Jahr  1846  getrennt 
werden.  In  der  ersten  Periode  dominirte  die  Frage  nach  Wesen  und  Sitz 
der  Geisteskrankheiten.  Zwei  entgegengesetzte  Antworten  zeigt  uns  der 
Anfang  des  Jahrhunderts:  die  Psychiker,  wesentlich  unter  dem  Einflufs 
der  grofsen  Philosophen  stehend,  sehen  in  den  Geisteskrankheiten  Wirkungen 
der  Seele  selbst,  die,  wenn  sie  sündhaft  sei,  sich  und  den  Leib  krank  mache 
(Heikboth);  für  die  Somatiker  sind  stets  körperliche  Ursachen  vorhanden, 
in  deren  Aufstellung  allerdings  sehr  unkritisch  verfahren  wurde  (Gall  etc.1 


300  Literaturbericht. 

Allmählich  reifte  die  Einsicht  in  die  8x>ecielle  Beziehang  dee  Ciehirns  n 
den  Geisteskrankheiten ,  und  damit  war  die  moderne  Periode  der  Ent- 
wickelung  eingeleitet. 

G.  führt  nun  aus,  wie  sich  durch  Esquirol,  Batlb,  Pbitchabd,  Gsnsaeii, 
Morel,  Metkebt  und  die  grofse  Schaar  der  heute  wirkenden  Psychiat« 
eine  immer  detaillirtere  Kenntnifs  der  verschiedeneu  geistigen  Erkranknngeo, 
ihrer  Ursachen  und  ihrer  somatischen  Correlate  ausbildete,  schildert  dam 
die  merkwürdige  Buntscheckigkeit  in  den  Versuchen  zur  Systematik  und 
Classification  und  schliefst  mit  einem  Blick  auf  die  ungeheure  Umwilnnig 
„von  Scheiterhaufen,  Gefängnifs  und  Ketten  zur  modernen  HeilaIlBtllt^ 
die  die  praktische  Irrenpflege  unt«r  dem  Einflufs  der  Mediciner  wihiend 
des  19.  Jahrhunderts  durchgemacht  hat.  W.  Stbrn  (Breslao). 

II.  LiEPMANN,    Das  Krankheitsbild  der  Apraxie  („motorische  Asjmbolie")  uf 
Gmiid  eines  Falles  von  einseitiger  Apraxie.    Monatsschr.  f.  Fsi^ckiatrii  % 

Xeurol  8,  15—44,  102—132  u.  182—197.  1900. 
Verf.  theilt  einen  höchst  interessanten  Fall  mit,  dessen  Symptome  auf 
dem  Höhepunkt  der  Krankheit  die  folgenden  waren.  Vor  Allem  besteht  eijie 
fast  absolute  motorische  Aphasie.  Pat.  kann  keinen  Laut  nachsprechen, 
aufser  zuweilen  a.  Das  Sprachverständnifs  ist  erhalten.  Das  Leseverstind- 
nifs  ist  für  einzelne  Worte  erhalten,  versagt  aber  für  Sätze  von  einiger 
Länge.  Kopf-,  Gesichts-  und  Zungenbewegungen  werden  auf  Befehl  nicht 
ausgeführt.  Bewegungen  mit  der  linken  Hand  werden  auf  Verlangen 
prompt  und  richtig  ausgeführt,  dagegen  ist  Pat.  völlig  rathlos,  wenn  min 
eine  rechtsseitige  Bewegung  von  ihm  verlangt.  Auch  vorgezeigte  Be- 
wegungen vermag  Pat.  nur  mit  den  linksseitigen  Extremitäten  nach- 
zuahmen. Auf  Hautreize  wird  nur  mit  der  linken  Hand  reagirt  Werden 
5  Gegenstände  vor  ihn  auf  den  Tisch  gelegt  (Bleistift,  Carreaukönig,  Cigane, 
ühr  und  Schlüsselbund)  und  wird  er  aufgefordert,  mit  der  rechten  Hand 
z.  B.  den  Schlüsselbund  zu  zeigen,  so  irrt  er  sich  meistens.  Mit  der  linken 
Hand  zeigt  er  den  verlangten  Gegenstand  meist  sofort  richtig.  Wiederhoh 
kam  es  vor,  dafs  er,  während  er  noch  mit  der  rechten  Hand  rathlos  an 
falschen  Gegenständen  herumtappte,  mit  der  linken  Hand  den  verlangten 
Gegenstand  reichte.  Seelenblindheit  bestand  nicht  (auch  keine  halbeeitigej, 
ebensowenig  Hemianopsie.  Sobald  es  sich  nicht  um  eine  Wahl  handelte, 
sobald  also  der  Kranke  z.  B.  nach  einem  einzigen  Gegenstand  zu  greifen 
hatte,  verfehlte  er  sein  Ziel  niemals.  Für  die  rechte  Hand  besteht  auch 
eine  schwere  Schreibstörung :  sowohl  beim  Dictatschreiben  wie  beim  Copiren 
werden  die  Buchstaben  sinnlos  durch  andere  ersetzt.  Links  schreibt  Pat 
richtig,  aber  in  Spiegelschrift.  Auch  Nachzeichnen  gelingt  nur  mit  der  linken 
Hand.  Im  Uebrigen  vermag  Pat.  einzelne  sehr  einfache  Bewegungen  aoch 
mit  der  rechten  Hand  auszuführen  (z.  B.  Zuknöpfen,  Führen  des  Löffels 
zum  Mund  etc.).  Viele  Handlungen  gelingen  auf  Aufforderung  oft  nicht, 
während  sie  bei  Gelegenheit  einmal  spontan  richtig  zur  Ausführung 
kommen.  Bei  zweihändigen  Bewegungen  mifslingen  oft  die  einfachsten 
Aufgaben  dadurch,  dafs  die  rechte  Hand  durch  fehlerhafte  Hülfe  die 
Lösung  der  Aufgaben  behindert.  Alle  höheren  Sinnesorgane  zeigten  keine 
erheblichen   Abweichungen.     Auf    mittelstarke   Berührungen   der   rechten 


Literaturbericht  301 

Körperhälfte,  namentlich  der  Extremitäten,  hleiht  jede  Reaction  aus.  Starke 
Stiche  werden  auch  rechts  empfunden,  aher  ganz  verkehrt  localisirt.  Gröbere 
Gewichtsunterschiede  wurden  auch  rechts  erkannt.  Im  Allgemeinen  wurden 
Gewichte  in  der  rechten  Hand  unterschätzt.  Die  Lage  seines  rechten 
Arms  vermag  Fat.  bei  verbundenen  Augen  mit  dem  linken  nicht  nachzu- 
ahmen, ebensowenig  umgekehrt.  Das  Erkennen  von  Gegenständen  durch 
Betasten  war  äufserst  beeinträchtigt.  Lähmungen  lagen  aufser  einer  Parese 
des  linken  Mundfacialis  nicht  vor.  Gang  normal;  Verlust  der  Geberden- 
sprache.  —  Gedächtnifs,  Merkfähigkeit  und  Orientirung  erwiesen  sich  als 
ziemlich  gut.  Die  spontane  Aufmerksamkeit  ist  gering;  auf  äufseren  An- 
trieb wurde  sie  annähernd  normal,  ermüdete  aber  rasch.  Schriftlich  addirt 
P.  mit  der  linken  Hand  dreistellige  Zahlen  in  Spiegelschrift  richtig,  hin- 
gegen ist  er  auch  mit  der  linken  Hand  nicht  im  Stande  z.  B.  „2  X  3"  Streich- 
hölzer hinzulegen. 

Die  Störungen  in  den  Bewegungen  der  rechten  Körperhälfte  fafst  Verf. 
als  halbseitige  Apraxie  auf.  Er  glaubt  ausschliefsen  zu  können,  dafs 
sein  Pat.  lediglich  in  Folge  der  Störungen  der  Hautsensibilität  und  des 
Muskelsinns  apraktisch  ist.  Er  stützt  sich  dabei  namentlich  auf  die  That- 
sacbe,  dafs  bei  dem  Kranken  keine  dauernde  Ataxie  besteht  und  dafs 
Angenschlufs  bei  ihm  weder  die  Beweglichkeit  der  Glieder  noch  die  ele- 
mentare Coordination  der  Bewegungen  aufhebt.  Zugleich  schöpft  er  hieraus 
die  Vermuthung,  dafs  bei  dem  Kranken  überhaupt  kein  Verlust  des  rechts- 
seitigen Muskelgefühls  bestand  (sonst  hätte  man  eben  Ataxie  erwarten 
mflssen],  dafs  vielmehr  die  Unfähigkeit  Stellungen  des  rechten  Arms  mit 
dem  linken  nachzuahmen  bedingt  ist  durch  die  Unterbrechung  der  Leitungs- 
bahn vom  Muskelsinncentrum  der  linken  Hemisphäre  zum  übrigen  Gehirn. 
Ueberhaupt  glaubt  Verf.  die  wesentlichen  Störungen  in  seinem  Fall  durch 
eine  Zerstörung  derjenigen  Bahnen  erklären  zu  können,  welche  die  senso- 
motorischen  Felder  der  linken  Hemisphäre  mit  dem  übrigen  Gehirn,  also 
den  motorischen  Centren  der  linken  Hemisphäre  und  den  beiderseitigen 
optischen  und  akustischen  Centren  verknüpfen.  Durch  interessante,  aber 
nicht  ganz  einwurfsfreie  Ueberlegungen  sucht  Verf.  speciell  auch  nachzu- 
weisen, dafs  kein  zwingender  Grund  vorliegt  einen  wirklichen  Verlust  der 
Bewegung»-  und  Tast  vor  st  eilungen  anzunehmen.  Die  Aphasie  wird  in 
analoger  Weise  als  Apraxie  der  Sprachmuskulatur  gedeutet.  Auf  Grund 
aller  dieser  Erwägungen  vermuthet  Verf.  einen  linksseitigen  Krankheits- 
herd, welcher  sich  von  der  dritten  Stirnwindung  durch  die  Insel  nach 
hinten  zieht,  im  Wesentlichen  die  Centralwindungen  verschont,  aber  Rinde 
und  vorwiegend  Mark  des  Gyrus  supramarginalis  und  des  oberen  Scheitel- 
lappens zerstört  hat.  Aufserdem  ist  für  die  linksseitige  Facialislähmung 
ein  kleinerer  Herd  rechts  anzunehmen.  Eine  Mitbetheiligung  der  linken 
Thalamusregion  scheint  Verf.  nicht  anzunehmen. 

Bei  entsprechender  Behandlung  besserte  sich  der  Zustand  erheblich. 
Die  Apraxie  blieb  trotz  der  Wiederkehr  eines  fast  normalen  Verhaltens  der 
Sensibilität  bestehen. 

Das  Wesen  der  Apraxie  findet  Verf.  nach  eingehender  Erörterung 
der  Literatur  darin,  dafs  „der  gesammte  Erwerb  an  Erfahrungen  auf  allen 
Sinnesgebieten  und  die  frischen  Wahrnehmungen  dem  Bewegungsapparat 


302  Literaturbericht 

nicht  zu  Gute  kommen''  und  in  Folge  dessen  eine  Unfähigkeit  zu  zweck- 
gemälsen  Bewegungen  besteht.  Sein  Fall  scheint  zu  zeigen,  d&fs  ein  circnm- 
skripter  Herd  im  Gehirn  die  Verwerthung  jenes  Gesammtbeeitzes  für  die 
Bewegung  bestimmter  Theile  des  Körpers  aufheben  kann. 

Sowohl  wegen  mancher  interessanter  Untersuchungsmethoden  wie  wegen 
zahlreicher  theoretischer  Erörterungen  verdient  die  Arbeit  im  Original  stodirt 
zu  werden.  Zibhev  (Utrecht). 

N.  Vaschide  e  Cl.  Vübpas.   Di  Alcttiie  atütadlie  ciratteristlclie  dlAtrMpeiiiM 

somatica  patologlca.  Rivista  sperimentale  di  freniatria  27,  179—186.  190L 
Verfif.  schildern  eingehend  ihre  an  einer  öO jährigen  Frau  gemachten 
Beobachtungen.  Die  Kranke  war  mit  49  Jahren  eine  starke  Trinkerin  ge- 
worden und  dann  in  ein  delirio  di  negazione,  wir  würden  sagen  eine 
Involutionsmelancholie  mit  Kleinheitsideen,  verfallen.  Die  Entwickelnng 
der  Vorstellung,  sie  sei  von  Eisen,  wird  auf  die  Selbstbeobachtung  der 
Patientin  zurückgeführt,  die  das  an  sich  Wahrgenommene,  insbesondere 
ihre  Gefühllosigkeit,  immer  in  dem  Sinne  verarbeitete.  Ein  verunglfickter 
Selbstmordversuch  ruft  die  Idee  wach,  sie  könne  nicht  sterben  und  dieser 
Gedanke  wiederum  die  Vorstellung,  sie  sei  verwandelt.  Die  genaue  Unter- 
suchung der  verschiedenen  Empfindungsqualitäten  liefs  nichts  Abnormes 
erkennen.  Die  in  ö  Bildern  wiedergegebene  Haltung  der  Kranken  zeigt 
sehr  hübsch,  wie  sie  sich  selbst  beobachtet  und  nachdenkt.  Verfif.  schlagen 
vor,  bei  der  Bedeutung,  die  der  Selbstbeobachtung  zukommt,  diese  Formen 
als  introspectives  Delirium  zu  bezeichnen.  Aschaffekbubo  (Halle). 

1.  K.  KöLLE.   Der  erste  üäterricht  bei  Schwachsiäiiige«.   Die  Kindtrfthkr  I 

(3),  101—112.    1901. 

2.  ToBiE  JoNCKHEEBE.   üeber  den  Einflafs  der  losik  aif  die  Bevepuigei  M 
schwachtiänigen  Kindern.   Ebendaselbst  113^-120. 

1.  Der  verdienstvolle  Verf.,  welcher  in  einem  leider  zu  wenig  ge- 
würdigten Vortrag:  „Das  Erwachen  der  Psyche"  (1898)  sein  von  den  her- 
kömmlichen Anschauungen  in  wesentlichen  Punkten  abweichendes  heil- 
pädagogisches System  begründete,  nimmt  in  der  vorliegenden  Arbät 
Stellung  gegen  jene  Bichtung  des  Idiotenunterrichtes,  welche  sich  der 
Hauptsache  nach  mit  der  Uebung  der  Sinnesorgane  begnügt.  Verf.  erblickt 
in  der  Weckung  und  Uebung  der  Verstandesfunctionen  die  wichtigste  Auf- 
gabe des  Schwachsinnigenunterrichtes  und  spricht  sich  daher  entschieden 
gegen  jene  Methode  aus,  welche  den  sprachlosen  Idioten  durch  mechanische 
Beibringung  von  Lauten  und  Lautverbindungen  in  den  Besitz  der  Sprache 
bringen  will. 

2.  Die  Bedeutung  gymnastischer  Uebungen  für  den  Unterricht  ond 
die  Erziehung  schwachsinniger  Kinder  ist  schon  von  dem  Altmeister  der 
Heilpädagogik,  Itard,  gewürdigt  worden.  Ebenso  ist  es  längst  bekanot, 
dafs  diese  Uebungen  am  erfolgreichsten  sind,  wenn  sie  von  möglichst  ein- 
fachen Tactformen  unterstützt  werden.  Diese  Erfahrungen  veranlaüsten 
den  Verf.  zur  Einführung  gymnastischer  Uebungen  mit  Musikbegleitong 
als  besonderen  Lehrgegenstand  in  der  Schwachsinnigenschule  zu  Brflseel- 


Literaturbericht  303 

Wenn  Verf.  aber  empfiehlt,  „in  diesen  Stunden  den  eigentlichen  Tanz  zu 
lehren**,  so  drängt  sich  die  Frage  auf,  ob  die  Schwachsinnigenlehrer  die 
Unterrichtszeit  nicht  mit  Wichtigerem  auszufüllen  habe. 

Tbbodob  Heller  (Wien). 

A.  BoBEBTsoN.  Unilateral  Hallnciiations;  their  Relative  Frequency,  Aasociationi 
and  Pathologie.  The  Joum,  of  Mental  Science  47  (197),  277—293.  1901. 
B.  berichtet  von  15  Fällen,  wo  bei  Geisteskranken  Hallucinationen 
(sicher  nur  bei  Gehörstäuschungen  festgestellt)  einseitig  waren;  die  linke 
Seite  war  bevorzugt  (12  Fälle);  ätiologisch  kam  bei  fast  allen  Alkohol  in 
Betracht.  B.  stellt  dieselben  in  Parallele  mit  den  Hemianästhesien  bei 
Hysterie  und  mit  den  organisch  bedingten  Krämpfen  und  Lähmungen.  Er 
knüpft  daran  eine  Beihe  pathologischer  üeberlegungen ,  kommt  aber  za 
keinem  abschliefsenden  Urtheil.  Schbödbb  (Heidelberg). 

J.  MicKLE.   Mental  Vandering.    Brain  24  (93),  1—26.    1901. 

Unter  dem  Namen  „Mental  Wandering''  werden  „subdeliriöse  und 
deliriöse  Zustände,  sowie  gewisse  Traummodificationen^  zusammengefafst 
und  als  Beispiel  die  Beobachtung  eines  solchen  Zustandes  im  Verlaufe  eines 
Typhus  mitgetheilt.  Verdoppelung,  Vervielfachung  des  Bewufstseins  und 
Aehnliches  mehr  spielt  darin  eine  grofse  Bolle.     Schbödeb  (Heidelberg). 

Hbgab.    Znr  Frage  der  sog.  lenstnialpsychoten.    Ein  Beitrag  nr  Lehre  der 
phyiiologiachen  Vellenbewegnngen  beim  Veibe.   Aüg.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie 

58,  307—390. 
Neuere  Untersuchungen  scheinen  die  GooDMANN*sche  Theorie  zu  be- 
stätigen, deren  Hauptsatz  lautet :  Das  Leben  des  Weibes  verläuft  in  Stadien, 
deren  Zeitlange  der  Dauer  einer  Menstruationsepoche  entspricht;  jedes 
dieser  Stadien  zerfällt  in  zwei  Hälften,  in  denen  die  Lebensprocesse  wie 
Ebbe  und  Fluth  verlaufen.  Die  Energie  dieser  vitalen  Vorgänge  erreicht 
ihren  Höhepunkt  vor  Eintritt  der  menstruellen  Blutung.  Bei  den  Heoab- 
schen  Kranken  handelt  es  sich  um  einen  regelmäfsigen  Ablauf  von  Krank- 
heitserscheinungen, der  in  seiner  Dauer  jeweils  einer  Menstruationsepoche 
entspricht.  Innerhalb  dieser  Abgrenzung  kommt  es  zu  einer  meist  im 
Intermenstruum  erfolgenden  Scheidung,  so  dafs  die  beiden  Krankheits- 
phasen der  ersten  und  zweiten  Hälfte  des  Intervals  entsprechen  und  ein 
regelmäüsiges  Auf-  und  Niedergehen  zeigen.  Die  gröfste  Intensität  dieser 
Bewegung  wird  erreicht  kurz  vor  dem  Umschlag,  der  auf  den  Beginn  der 
menstruellen  Blutung  fällt.  Das  regelmäfsige  Ablaufen  der  Wellenbewegung 
wird  auch  bei  schweren  Störungen  des  Allgemeinbefindens  nicht  erschüttert; 
auch  beim  geisteskranken  Weibe  bleibt  die  Form  der  Welle  im  Wesent- 
lichen erhalten,  weil,  wie  Hbqab  meint,  diese  Lebenserscheinung  eine  viel 
zu  starke,  den  Organismus  viel  zu  energisch  durchdringende  ist,  als  dafis 
sie  selbst  durch  schwere  nervöse  und  circulatorische  Störungen  verändert 
würde.  Die  Frage:  Sind  diese  Wellenbewegungen  in  der  psychischen 
Krankheitscurve  abhängig  von  den  periodischen  Functionen  der  Sexual- 
organe? und  haben  die  Schwankungen  ihren  Grund  in  den  Hauptbedin- 
gungen des  Lebens  des  Weibes  überhaupt?  läfst  sich  zur  Zeit  noch  nicht 


304  Literaturbericht 

entscheiden.  Wellenförmige  Bewegungen  im  Krankheitsverlauf  lassen  sich 
bereits  constatiren  vor  den  Pubertäts jähren.  Vieles  spricht  daffir,  dafs  wir 
es  bei  diesen  kurz  dauernden  Schwankungen  der  Lebenserscheinungen  mit 
einem  biologischen  Gesetz  zu  thun  haben,  und  dafs  die  dem  Weibe  zq- 
kommeude  periodische  Thätigkeit  der  Ovarien  nur  eine  Theilerscheinung 
des  ganzen  Processes  ist.  Die  menstruellen  Blutungen  bezeichnen  nar  die 
Abschnitte,  in  denen  sich  die  Lebenscurve  bewegt.  Je  gesunder  das  In- 
dividuum, desto  gleichmäfsiger,  unbewufster,  verläuft  der  periodische 
Wechsel,  desto  ruhiger  das  An-  und  Abschwellen  der  Welle;  je  neoro- 
pathischer,  desto  peinlicher  und  störender  werden  die  Veränderungen  em- 
pfunden; die  Geistesstörung  schlieüslich  bringt  mit  ihrem  jähen  Umschlag, 
dem  brflsken  Abheben  der  beiden  Phasen,  die  Welle  pathologisch  schroff 
zum  Ausdruck.  Uhpfenbach. 


Sydney  Ball.    Garrent  Sodology.    Mind  N.  S.  10  (38),  145—171.    1901. 

In  diesem  von  allgemeinsten  Gesichtspunkten  ausgehenden  Artikel 
bespricht  Verf.  die  Grundsätze,  Ziele  und  Voraussetzungen  der  neaeren 
Sociologie,  wie  sie  zum  Ausdruck  kommen  in  Werken,  wie 

Fb.  Alengby  :  Essai  historique  et  critique  sur  la  Sociologie  chez  Augaste 

Comte.    Paris,  1900, 
G.  Tabde  :  Social  Laws :  an  Outline  of  Sociology  (translated).  London,  1900, 
G.  Tabdb:  Les  Transformations  du  Pouvoir.    Paris,  1899, 
J.  M.  Baldwin:  Social  and  Ethical  Interpretations  in  Mental  Develop- 
ment.   Second  Edition.    London,  1899, 
B.  Bosanqüet:   The  philosophical  theory  of  the  State.     London,  1899, 
Fb.  H.  Giddings  :  The  Elements  of  Sociology.    A  Text-Book  for  Colleges 

■ 

and  Schools.  New-York,  1899. 
Eingehender  beschäftigt  sich  B.  mit  der  besonders  von  Tabde  and 
Baldwin  verfochtenen  Ansicht,  dafs  das  grundlegende  Phänomen  aller 
gesellschaftlichen  Entwickelung  die  Nachahmung  sei,  und  findet  diese  An- 
schauung, ganz  abgesehen  von  der  dabei  angewendeten  übermäCBigen  Er- 
weiterung des  Begriffes  Nachahmung,  völlig  unzureichend.  GrofsenWerth 
legt  der  Kritiker  auch  auf  reinliche  Scheidung  der  einzelnen  bei  Er- 
forschung der  menschlichen  Gesellschaft  in  Betracht  kommenden  Gebiete, 
auf  scharfes  Auseinanderhalten  der  Sociologie  und  socialen  Philosophie, 
der  Psychologie,  der  Ethik,  deren  Grenzen  die  modernen  Sociologen  nicht 
selten  vermischten.  Offneb  (München). 


•  /       Y       .' 


*.C    .>r'. 


Erkenntnifstheoretische  Auseinandersetzungen.    ^ 

Von 

Prof.  Th.  Ziehen  in  Utrecht. 

In  den  folgenden  Abhandlungen  werde  ich  meine  erkenntnifs- 
theoretischen  Sätze,  wie  ich  sie  kürzlich  systematisch  entwickelt 
habe^,  mit  solchen  älteren  und  neueren  erkenntnifstheoretischen 
Lehren  vergleichen,  welche  dank  ihrer  Begründung  Beachtung 
verdienen.  Ich  werde  dabei  mannigfach  Gelegenheit  finden, 
meine  eigenen  erkenntnifstheoretischen  Sätze  bis  in  speciellere 
Konsequenzen  zu  verfolgen.  Die  Thatsache,  dafs  diese  Er- 
kenntnifstheorie  —  wenigstens  nach  meiner  Absicht  und  nach 
meiner  Ansicht  —  ausschliefslich  auf  psychophysiologischen  That- 
sachen  aufgebaut  ist,  mag  den  folgenden  Auseinandersetzungen 
als  Pafs  für  diese  psychophysiologische  Zeitschrift  dienen.  Es 
wird  sich  nämlich  allenthalben  darum  handeln,  zu  welchen  all- 
gemeinsten Vorstellungen  die  Gesammtheit  unserer  Empfin- 
dungen führt,  und  dies  ist  meines  Erachtens  schliefslich  noch 
Psychophysiologie.  Um  eine  Erkenntnifskritik  oder  Erkenntnifs- 
theorie  im  alten  Sinne,  um  eine  Feststellung  der  Kriterien 
einer  Gewifsheit,  Selbstevidenz  etc.  handelt  es  sich  hier  nicht 
Der  Erkenntnifstheoretiker,  der  eine  solche  herausklaubt,  kommt 
mir  vor  wie  ein  Beamter,  der  sich  selbst  Vollmachten  aus- 
stellt Die  Bezeichnung  ^Erkenntnifstheorie^  ist  für  das  Folgende 
sonach  nur  insofern  gerechtfertigt,  als  der  Ausgangspunkt  stets 
das  Ursprünglich-Gegebene  und  das  Ziel  die  Feststellung  der 
aus  dem  Ursprünglich-Gegebenen  hervorgehenden  Vorstellungen 
ist:  der  Gang  dieser  Vorstellungsentwickelung,  wie  er  sich  voll- 
ziehen muTs,  wenn  wir  die  Gesammtheit  des   Ursprünglich- 


*  Psychophysiologiii'.'he  KrkeiintnifHthcKirie.  Jena,  G.  Fi8<:her,  IKfH.   Im 
Folgenden  citire  ich  nt^to:    Tm.  Krk.th. 

Zeitachrift  för  Ptychologi«  /7.  ^^ 


306  Th,  ZUKen. 

Gregebenen  ohne  Zathaten  zu  allgemeinen  Vorstellungen  ver- 
arbeiten, wird  dargelegt  Eine  solche  ErkenntnilSstheorie  nuib 
daher  mehr  sein  als  eine  ErkenntniTskritak :  allenthalben  mnb 
sie  auch  zu  positiven  Sätzen  in  allgemeiner  Form  führen.  Dabei 
stöfst  sie  allenthalben  auf  andere  Erkenntnüstheorien,  weldie 
denselben  Anspruch  erheben,  und  ist  daher  verpflichtet,  sich  mit 
ihnen  auseinanderzusetzen.  Dieser  Verpflichtung  komme  ich 
jetzt  nach.  Die  Reihenfolge  dieser  Auseinandersetzungen  mag 
zunächst  als  willkürlich  gelten.  Der  Verlauf  wird  ergeben,  dals 
sie  für  den  Aufbau  des  Ganzen  nicht  gleichgültig  ist 

1.   AvENABius.     Die    Kritik    der    reinen   Erfahrung* 

und   der  Empiriokriticismus. 

Das  System  von  Atenabius  setze  ich  als  bekannt  voraus. 
Auf  die  Versuche  seiner  Schüler,  dies  System  weiter  zu  ver 
breiten  und  auszubilden,  gehe  ich  niu"  gelegentlich  kurz  ein* 
Ich  erhebe  daher  sofort  die  für  die  Ejitik  in  erster  Linie  maals- 
gebende  Frage:  welches  ist  für  Avekabius  der  erkenntnils- 
theoretische  Fundamentalbestand?  Sein  Hauptwerk  giebt  darauf 
eine  unzweideutige  Antwort  in  dem  ersten  ^empiriokritischen 
Axiom"",  dem  ^Axiom  der  Erkenntnifsinhalte^.  Dasselbe  lautet: 
„Jedes  menschliche  Individuum  nimmt  ursprünglich  sich  gegen- 
über eine  Umgebung  mit  mannigfaltigen  Bestandtheilen,  andere 
menschliche  Individuen  mit  mannigfaltigen  Aussagen  und  das 
Ausgesagte  in  irgendwelcher  Abhängigkeit  von  der  Umgebung 
an :  alle  Erkenntnifs-Inhalte  der  philosophischen  Weltanschauungen 
—  kritischer  oder  nicht-kritischer  —  sind  Abänderungen  jener 


*  Der  erste  Band  ist  1888,  der  zweite  1890  erschienen.  Auf  einfr 
frühere  Schrift  von  Avenastüs  „Philosophie  als  Denken  der  Welt  nach  dem 
Princip  des  kleinsten  Kraftmaafses.  Prolegomena  zu  einer  Kritik  der  reinen 
Erfahrung.  1876"  gehe  ich  nicht  ein ;  sie  ist  für  die  Entwickelangsgeschichte 
des  AvENARiüs'schen  Systems  sehr  interessant,  aber  ihre  Hauptsätze  sind 
von  AvENARius  in  seinen  späteren  Werken  fast  geflissentlich  unerwähnt  ge- 
blieben und  stehen  auch  in  der  That  zu  seinem  späteren  System  z.  Th.  itt 
Widerspruch. 

"^  Oefters  werde  ich  auf  die  kritische  Bsprechung  des  Empiriokriticis- 
mus durch  WuNDT  (Philosoph.  Stiidten  13  (1);  1896)  hinweisen.  Die  wesent 
liehe  Verschiedenheit  meiner  Besprechung  von  der  WuNDr'schen  ergiebt 
sich  aus  der  absoluten  Verschiedenheit  des  erkenntnifstheoretischen  Stand- 
punktes. 


Erkenntnifatheoretische  Auseinandersetzungen.  307 

ursprünglichen  Annahme."*  Schon  hier  scheiden  sich  die  Wege. 
AvENAKius  geht  nicht  von  dem  ursprünglich-gegebenen  That- 
bestand  aus,  sondern  von  einer  allerdings  weit-verbreiteten  An- 
nahme, welche  an  den  ursprünglichen  Thatbestand  angeknüpft 
wird.  Ursprünglich  gegeben  sind  uns  zunächst  niur  zahllose 
Empfindungen  und  zahllose  an  sie  angeknüpfte  Vorstellungen. 
Er  greift  aus  den  letzteren  willkürlich  eine  einzelne  Vorstellung 
(„Annahme")  heraus.  Der  alte  Gegensatz  von  Subject  (Indi- 
viduum) und  Object  (Umgebung)  schleicht  sich  hier  sofort  unter 
einer  neuen  Maske  wieder  ein.  Das  Willkürliche  verräth  sich 
schon  in  der  Ausdrucksweise,  ein  Umgebimgsbestandtheil  sei 
„gesetzt".*  Mit  diesem  „gesetzt"  l&fst  sich  gar  keine  Vorstellung 
verbinden.  Das  alte  „esse"  erscheint  hier  doch  wieder.  Für  den 
erkenntnifstheoretischen  Fundamentalbestand  existirt  nur  „em- 
pfunden" oder  „vorgestellt"  und  auch  dies  nicht  im  Sinne  eines 
Passivs  oder  einer  Thätigkeit,  sondern  schlechthin  als  Erlebnifs. 
Von  einem  Dritten  wissen  wir  noch  gar  nichts.  Alles  Folgende 
ergiebt,  dafs  Avenarius  schon  hier  dem  Umgebungsbestandtheil 
ein  geheimnifsvolles,  erklärungsbedürftiges,  aber  nicht-erklärtes 
Esse  zuschreibt,  was  von  Empfindung  und  Vorstellung  ver- 
schieden ist.  Während  uns  in  Wirklichkeit  —  aufser  den  Vor- 
stellungen —  nur  Empfindungen  und  unter  den  letzteren  Gehörs- 
empfindungen der  Aussagen  unserer  Mitmenschen  gegeben  sind, 
zweigt  A.  von  den  Empfindungen  hypothetische  Umgebungs- 
bestandtheile  (Ä-Werthe)  ab,  und  setzt  an  die  Stelle  der  Gehörs- 
empfindungen der  Aussagen  meiner  Mitmenschen  Werthe,  welche 
der  Aussage  eines  Individuums  als  Ausgesagtes  zugeordnet  werden 
(iS-Werthe).  Die  schönen  Auseinandersetzungen  S.  21/22  erwecken 
allerdings  nochmals  die  Hoffnung,  dafs  Avenarius  unter  den 
-B's  nur  die  Empfindungen  und  unter  den  -B-Werthen  niur  die 
Aussage-Empfindungen  (sit  venia  verbo)  versteht,  aber  die  folgen- 
den Auseinandersetzungen  zerstören  diese  Hoffnimg  sehr  bald. 
Dadurch,  dafs  A.  die  Ich's  anderer  Individuen  statt  seines  eigenen 
einschiebt  ^  wird  die  Enttäuschung  nur  etwas  länger  hingehalten. 
Es  bleibt  nämlich   bei  der  Grundvoraussetzung  von  Avenarius 


*  Kr.  d.  r.  Erf.  Bd.  I,  S.  VII. 
«  Ebda.  8.  3. 

'  Eine  ausreichende  Kritik  dieser  Einschiebung  selbst  hat  Wundt  a.  a.  0. 
8.  53  ff.  gegeb0n. 

20* 


308  ^^-  ^»«Äen. 

zunächst  noch  immer  die  Auffassungsmöglichkeit  offen,  dafs  die 
ganze  Veränderungsreihe  B  —  C — E  lediglich  sich  darstelle  als 
-die  Reihe  der  Empfindungsänderungen,  welche  ich  selbst  erlebe, 
wenn  —  um  mit  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  zu  reden  — 
ein  Object  R  auf  die  Hirnrinde  C  eines  Mitmenschen  wirkt  und 
.diesen  zu  Aeufserungen  E  veranlafst  Man  sollte  erwarten,  dafe 
AvENAiiius  alsbald  auf  diese  dringende  erkenntnifstheoretische 
Frage  einginge.  Statt  dessen  erfolgt  jene  weitausholende  meta- 
physisch-biologische Speculation  über  die  Selbsterhaltung,  Vital- 
differenz u.  s.  w.  des  Systems  C.^  Für  die  Erkenntnifs- 
theorie  sind  diese  Erörterungen  belanglos. 

Weder  hat  Avenarius  den  erkenntnifstheoretischen  Funda- 
mentalthatbestand  selbst  richtig  dargestellt  noch,  wie  es  wohl 
eigentUch  in  der  Absicht  der  Kritik  der  reinen  Erfahrung  lag, 
die  Aussagen  der  Mitmenschen  über  den  erkenntnifstheoretischen 
Fundamentalthatbestand  richtig  wiedergegeben.  Das  Individuum 
sagt :  ich  sehe  einen  Baum  oder  das  ist  ein  Baum.  Damit  ist 
ein  Erlebnifs  gegeben,  welches  ich  als  Empfindung  bezeichnet 
habe  (warum,  wird  sich  später  zeigen),  welches  man  aber  natür- 
lich ebensogut  als  „Umgebungsbestandtheil"  bezeichnen  kann; 
-es  kommt  nur  darauf  an,  dafs  man  bei  dem  Wort  „Empfindung" 
und  bei  dem  Wort  „Umgebungsbestandtheil"  nichts  insgeheim 
hinzudenkt,  sondern  bei  dem  Erlebnifs  selbst  stehen  bleibt* 

Aufser  dem  Erlebnifs  „Baum"  ist  nur  die  Aussage  des  Indivi- 
duums und  auch  diese  nur  als  Erlebnifs  gegeben.  Hätte  Avenamts 
das  erstere  als  JK-Werth,  die  letztere  als  JE-Werth  bezeichnet,  so  wäre 
nichts  einzuwenden  gewesen.  Die  weitere  Analyse  hätte  dann  er- 
geben, dafs  bei  der  Beschränkung  der  Betrachtung  auf  die  eigene 
Person  die  J5-Werthe  überflüssig  werden  xmd  die  Erlebnisse  selbst, 
meine  Empfindungen,  die  Ä-Werthe  von  Avenarius  (wie  er  sie  hätte 
formuliren  müssen)  allein  übrig  bleiben.  Statt  dessen  schiebt 
nun  Avenarius  den  Aussagen  (den  JE-Werthen,  wie  er  sie  hätte 
formuliren  müssen)  Aussageinhalte  (Ausgesagtes)  unter  (Nr.  27), 
identificirt  diese  Aussageinhalte  mehr  und  mehr  mit  den  Er- 
lebnissen selbst  und  übersieht,   dafs  diese  Aussageinhalte  nichts 

*  Ich  darf  bezügl.  dieser  Erörterungen  auf  die  Kritik  Wündt's  s.  a.  0. 
S.  49,  165  etc.  und  die  Antikritik  von  Gabst anjen  Viertdjahrsschr.  f.  wiu. 
Philos.  22,  S.  76  verweisen. 

'  Auch  Bewufstseinsinhalt  hat  man  dies  Erlebniüs  oft  genannt»  nur 
verbindet  man  damit  erst  recht  Nebenvorstellungen. 


Erkenntnifstheoretische  AtisehiaTulersetzwigen.  309 

anderes  sind  als  die  schon  mit  einem  Namen  bedachten 
ümgebungsbestandtheile.  Damit  ist  der  Dualismus  gegeben. 
Unvermerkt  verwandeln  sich  jetzt  die  Ümgebungsbestandtheile, 
die  eigentlich  mit  den  Erlebnissen  identisch  waren  und  auch 
vom  gewöhnlichen  Menschen  mit  diesen  vollkommen  identificirt 
werden  (Ps.  Erkth.  S.  105),  in  die  materiellen  Objecte  oder  Reize 
der  Naturwissenschaft,  und  so  wird  der  Dualismus  unheilbar. 

BeztigUch  der  biologischen  Speculationen  läfst  sich  leicht  nach- 
weisen, dafs  es  sich  um  scheinbar  rein  logische  Constnictionen 
handelt,  welche  nur  soweit  zutreffen,  als  sie  insgeheim  durch 
physiologische  Erf  ahrungsthatsachen  beeinflufst ,  also  nicht 
rein  logisch  sind.^  Ebenso  sind  auch  die  Erörterungen-  über 
Systeme  C  höherer  Ordnung  für  die  Erkenntnifstheorie  gleich- 
gültig ;  sociologische  Erfahrungsthatsachen  haben  hier  den  Mentor 
für  die  logische  Analyse  —  allerdings  in  der  Tarnkappe  —  ge- 
spielt. Der  Werth  aller  dieser  Erörterimgen  liegt  nur  in  der 
consequenten  Durchführung  einer  Darstellung  der  ^Aenderungen 
des  Menschen**  „ohne  Hinzuziehung  der  weiteren  Annahme  eines 
Bewufstseins".  Die  Erkenntnifstheorie  kommt  dabei  insofern 
zu  kurz,  als  Avenarius  vergifst,  dafs  alle  diese  Vitalreihen  nur 
als  Bewufstseinsthatsachen  gegeben  sind. 

Der  2.  Band  ist  der  Untersuchung  der  abhängigen 
Vitalreihe  gewidmet.  =^  Die  Erörterungen  über  die  Abhängigkeit 
der  Schwankungsform  und  -gröfse  liegen  wiederum  der  allge- 
meinen Erkenntnifstheorie  fem.  Nur  der  in  Nr.  481  eingeführte 
Begriff  des  „Existentials"  könnte  wieder  eine  Perspective 
in  allgemein-erkenntnifstheoretisches  Gebiet  eröffnen.  Das  Exi- 
stential  soll  eine  Componente  des  „Fidentials"  darstellen.  Eine 
scharfe  Definition  wird  nicht  gegeben;  der  Hinweis  auf  das 
„Seiende",  die  „Wirklichkeit"  ist  nur  eine  Umschreibung.  Zu- 
sammengestellt wird  das  Existential  mit  dem  Notal  und  Secural, 

*  Es  kann  daher  auch  nicht  zugegeben  werden,  dafs  sich  der  Empirio- 
kriticismus  mit  diesen  Ausführungen,  wie  Carstanjkn  sagt  {Vierteljahrsschr, 
f.  tciss.  Fhilos.  22,  84;  1898),  „über  die  Naturwissenschaft  erhebt  und  ihren 
Resultaten  durch  allgemein-logische  Aufstellungen  vorgreift^. 

'  I,  S.  153 ff.  Vgl,  die  vollkommen  zutreffende  Kritik  Wündt^s  a.a.O.  S.66. 

'  Nebenbei  sei  bemerkt,  daüs  die  Deduction  Bd.  II,  S.  4  ff.  auch  insofern 
lückenhaft  ist,  als  nicht  nachgewiesen  wird,  dafs  ohne  Vitaldifferenz  -E-Aus- 
sagen  nicht  vorkommen;  ebenso  wird  nicht  nachgewiesen,  sondern  ohne 
Nachweis  vorausgesetzt,  dafs  speciell  die  sich  ausgleichenden  Vitaldifferenzen 
zu  i'J-Aussagen  Anlafs  geben. 


310  ^'  Ziehen, 

obwohl  die  Beziehung  zu  den  beiden  letzteren  nur  eine  häufige« 
keine  durchgängige  ist.  Allerdings  sind  wir  oft  geneigt  das  uns 
Unbekannte  und  Unheimliche  als  scheinhaft,  als  nicht-seiend, 
als  nicht-wirklich  zu  betrachten,  aber  nicht  selten  erscheint  ims 
auch  das  Unbekannte  und  Unheimliche  als  durchaus  wirklich. 
A.  scheint  dies  auch  selbst  anzuerkennen  (vgl.  Nr.  482),  bringt 
aber  trotzdem  keine  zureichenden  Gründe  für  die  Zusammen- 
fassung der  drei  Fidentiale  bei.^  Man  kann  sogar  noch  weiter 
gehen  und  gegen  die  Ausfühnmgen  von  Avenabius  einwenden, 
dafs  das  Existential  durchaus  nicht  immer  ein  Fidential  ist: 
denn  nicht  selten  erscheint  uns  etwas  als  wirklich,  was  durchaus 
keinen  relativ  grofsen  Uebungswerth  hat.  Ich  weifs  wohl,  dafs 
AvENARiüs  sich  —  wenigstens  Nr.  473  —  gegen  eine  directe 
logische  Rubricirung  seiner  Begriffe  verwahrt,  aber  er  selbst 
giebt  —  wenigstens  scheinbar  —  bei  der  Darstellung  des  Exi- 
stentials  diesem  Begriff  allenthalben  durchaus  das  logische  Ge- 
präge, statt  den  eigenartigen,  an  einzelnen  Beispielen  von  ihm 
so  ausgezeichnet  geschilderten  psychologischen  Zustand  des  Exi- 
stentials  auch  psychologisch  zu  analysiren.  Eine  solche  Analyse 
hätte  ihn  eben  gelehrt,  dafs  das  Existential  durchaus  nicht  stets 
mit  einem  relativ  hohen  Uebungswerth  zusammenhängt,  sondern 
an  ein  eigenartiges  Merkmal  gebunden  ist,  welches  man  in  Ueber- 
einstimmxmg  mit  den  Aussagen  der  Umgebimgspersonen  als 
sinnliche  Lebhaftigkeit  bezeichnen  kann  und  der  später  zu  er- 
wähnenden „Sachhaftigkeit"  sehr  nahe  steht. 

In  den  Erörterungen  Nr.  509 ff.,  welche  die  Aussage  von 
„Sachen"  behandeln,  wird  die  erkenntnifstheoretische  Frage  nicht 
berührt.  Die  von  Avenakius  Nr.  533  aufgestellte  Reihe  der 
Satzungsformen  „Sache,  Nachbild,  Gedanke,  Nach- 
gedanke" ist  nicht  zutreffend.  In  der  Regel  setzen  die  Indi- 
viduen die  Nr.  510  gemeinten  ausgezeichneten  j&Werthe  gar 
nicht  als  Sachen  (Nr.  511),  sondern  als  -&Werth  tritt  die  Aussage 
von  Sachen  auf.  Den  i^Werthen  selbst  kommt  die  Sachhaftig- 
keit  ebensowenig  zu  wie  die  grüne  Farbe.  Wenn  man  aber  selbst 
direct  für  die  Aussage  den  zu  Grunde  liegenden  psychischen 
Zustand  setzt,  so  müfste  A.  von  Anfang  an  berücksichtigen,  dafe 
die  Aussagen  eine  doppelte  Reihe  bilden,   welche  beispielsweise 


*  Die  in  Nr.  492  behauptete  Gemeinsamkeit  der  Grundbedingung  ihrer 
Entwickelung  trifft,  wie  oben  erwähnt,  nicht  zu. 


ErkenntnifstheoretUche  Auseinandersetzungen,  311 

SO  auszudrücken  wäre:  hier  ist  ein  grüner  Baum  und  hier  sehe 
ich  einen  grünen  Baum.  „Die  Sache  besitzt  nicht  ihr  Positionai 
in  der  Wahrnehmung"  (Nr.  538),  sondern  die  Analyse  der  Aus- 
sagen der  Individuen  ergiebt  als  erstes  Glied  der  obigen  Reihe 
die  Empfindung  bezw.  nach  Avenabius  terminologischem  Vor- 
schlag (Nr.  536)  eine  Wahrnehmung ,  die  sich  vor  der  Vor- 
stellung durch  die  sinnliche  Lebhaftigkeit  auszeichnet,  und  erst 
die  Empfindung  oder  Wahrnehmung  empfängt  sehr  oft  den 
positionalen  Charakter,  welchen  A.  als  Sachhaftigkeit  bezeichnet. 
Davon  ist  nun  aber  wieder  das  Verhältnifs  zu  unterscheiden,  in 
welchem  sich  der  Aussagende  zu  dem  betreffenden  j&Werth 
findet.  Nach  Avenabius  (Nr.  538)  soll  der  Aussagende  „die 
Sache  wahrnehmen"  und  „den  Gredanken  vorstellen".  Das  ent- 
spricht weder  den  Aussagen  schlechthin  noch  ihrer  Analyse. 
Avenabius  verwechselt  das  afficirte  und  das  efficirte  Object 
Die  Aussage  schlechthin  lautet:  ich  nehme  die  Sache  z.  B.  den 
Baum  wahr  und  stelle  auch  die  Sache  z.  B.  den  Baum  vor.  Der 
Unterschied  des  positionalen  Charakters  in  beiden  Fällen  ist  die 
sinnliche  Lebhaftigkeit,  wie  sie  die  Individuen  bald  mit  diesem 
bald  mit  jenem  Wort  beschreiben.  Die  Einführimg  des  Terminus 
Sache  in  die  Reihe  der  Setzungsformen  ist  also  vom  erkenntnifs- 
theoretischen  Standpunkt  zum  Wenigsten  äufserst  gefährlich. 
Gerade,  weil  Avenabius  sonst  mit  Bezeichnungen,  welche  durch 
den  seitherigen  Gebrauch  präjudiciren  könnten,  so  vorsichtig  ist, 
ist  die  Unvorsichtigkeit  an  dieser  Stelle  doppelt  auffällig.  End- 
lich ist  wenigstens  anzumerken,  dafs  A.  die  Frage,  wieso  der 
Aussagende  sich  in  einem  Verhältnifs  zu  den  JE-Werthen  finden 
kann,  gar  nicht  berührt  A.  verläfst  mit  der  Annahme  eines 
solchen  Verhältnisses  den  erkenntnifstheoretischen  Fundamental- 
thatbestand  und  damit  den  reinen  empiriokritischen  Standpunkt 
vollständig:  dieser  kennt  nur  i?,  C  und  JE-Werthe,  aber  keinen 
Aussagenden  als  Werth  aufserhalb  der  Ä,  C  und  ^-Werthe.  Das 
Ich-Bezeichnete  seiner  späteren  Lehren  wirft  hier  bereits  seine 
Schatten  voraus. 

Dieser  Mangel  an  Unterscheidungsschärfe  tritt  denn  in  der 
That  auch  in  Avenabius'  eigenen  Beispielen  sehr  deutlich  hervor. 
Der  in  Nr.  518  angeführte  Fremde,  welcher  in  Rom  weilt,  wird 
wahrscheinlich  nicht  stets  sagen:  Vor  mir  habe  ich  Rom  und 
denke  an  seine  Gründung,  sondern  ebenso  oft:  „Vor  mir  sehe 
ich  Rom  und  denke  an  seine  Gründung."    Jedenfalls  meint  er 


312  Th,  Ziehen, 

auch  mit  dem  „haben"  im  Wesentlichen  das  „Sehen**.  Der 
Inhalt  seiner  Aussage  —  und  dieser  macht  den  -E-Werth 
aus  (vgl.  Nr.  27  u.  29)  —  ist  also  in  den  meisten  Fällen  gar 
nicht  schlechthin:  „Rom  —  Sache",  wie  Avenabius  annimmt, 
sondern  erheblich  complicirter :  der  Fremde  sagt  in  erster  Linie 
eine  Empfindung  aus.  Hier  rächt  es  sich,  dafs  Avenabius  die 
JS^Werthe  nicht  eindeutig  definirt  hat.  „Inhalt  einer  Aussage" 
ist  vieldeutig.  Aus  dem  Inhalt  wird  hier  ein  hypothetisches 
Empfindungsobject.  Avenabius  behandelt  daher  auch  die  beiden 
Aussagen:  „ich  sehe  Rom"  und  „ich  denke  an  Rom"  in  ganz 
ungerechtfertigter  Weise  verschieden.  Bei  der  ersteren  Aussage 
soll  die  Sache  Rom  den  JE-Werth  darstellen  (statt  der  Gesichts- 
empfindung), bei  der  zweiten  Aussage  hingegen  soll  das  Denken 
Roms,  der  „Gedanke  Rom"  den  JE-Werth  darstellen.  Im  ersteren 
Fall  wird  das  Verbum  ignorirt,  im  letzteren  nicht  Nur  durch 
diesen  Fehler  gelangt  A.  zu  der  merkwürdigen  oben  angeführten 
Reihe,  in  welcher  auf  die  „Sache"   sofort  das  „Nachbild"  folgt 

A.  hat  wohl  selbst  gefühlt,  dafs  seine  Erörterung  nicht  ge- 
nügend sei,  aber  seine  in  Nr.  534 — 539  folgenden  Ergänzungen 
machen  den  Fehler  nicht  wieder  gut.  Die  Thatsache,  dafs  Rom, 
zugleich  als  ein  Gesehenes  charakterisirt  ist,  ist  nicht  ein  Ad- 
ditament,  sondern  ist  ein  wesentlicher  Inhaltsbestandtheil  der 
Aussage. 

Richtig  gestellt  müfste  die  AvENAKius'sche  Deduction  folgender- 
maafsen  lauten.  Bei  gegebenem  JK-Werth  (im  Sinne  von  Avenabius) 
treten  vier  verschiedene  ^'-Werthe  auf,  die,  um  nichts  zu  präju- 
diciren,  S^,  Sg,  Sg  und  S^  heifsen  mögen.  Sj  unterscheidet  sieh 
von  Sg  (d.  h.  in  der  incorrecten  Terminologie  von  Avenarits 
die  Sache  von  dem  Gedanken)  durch  ein  nicht-definirbares,  aber 
aus  den  Aussagen  der  Umgebungspersonen  durchweg  zu  ent- 
nehmendes Merkmal,  welches  man  z.  B.  als  sinnliche  Lebhaftigkeit 
oder  auch  durch  einen  beliebigen  Buchstaben  bezeichnen  kann. 
Als  afficirtes  bezw.  recipirtes  Object  wird  für  S^  eine  hypo- 
thetische Sache,  für  Sg  dieselbe  Sache  oder  oft  auch  S,  aus- 
gesagt. Als  efficirtes  Object  der  Thätigkeit  der  Person  wird  für 
»S,  Empfindung  bezw.  Wahrnehmung,  für  S^  Gedanke  bezw. 
Vorstellung  ausgesagt.  Endlich  als  Subject  sowohl  des  Afficirens 
bezw.  Recipirens  als  auch  des  Efficirens  wird  ein  Jch  ausgesagt. 
So  und  nicht  anders  hätte  die  Deduction  von  dem  eigenen  Stand- 
j)unkt  A.'s   lauten   müssen.     Die  weitere  Analyse  hätte   alsdann 


ErkenntnifstJieoretiache  Ausehiandersetzungen,  313 

bald  ergeben,  dafs  alle  diese  Aussagen  aus  dem  einen  That- 
bestand,  welchen  die  Person  selbst  zum  efficirten  Object  um- 
deutete, also  aus  der  Empfindungs-  und  Vorstellungsreihe  hervor- 
gegangen sind.  Zugleich  wären  dabei  die  i?-\Verthe  entlarvt 
worden  als  eigenartig  umgearbeitete  Vorstellungen, 
also  als  iSg's,  welche  wir  den  S/s  substituiren.  DieÄ-Werthe, 
welche  A.  ursprünglich  vorfindet,  hätten  sich  im 
Sinne  von  AvENARius  als  eineSetzungsform  entpuppt 
DieReihe  der  JE-Werthe  wäre  alleinübrig  geblieben. 
Damit  ist  man  aber  zu  dem  erkenntnifstheoretischen  Funda- 
mentalbestand gelangt,  welchen  ich  meinen  Erörterungen  zu  Grunde 
gelegt  habe.^ 

Es  ist  natürlich,  dafs  Avenariüb  für  die  Wahrnehmung 
(Empfindung  vgl.  Nr.  53ß)  keinen  Raum  behält  Sie  wird 
zum  „positionalen  Charakter"  der  „Sache"  (Nr.  536 — 538).  Auf 
Gnmd  hinzukommender  „uneigentlicher  Gefühle"  werden  die  als 
Sachen  gesetzten  Elemente  oder  Charaktere  zugleich  als  „Wahr- 
genommenes" charakterisirt,  und  „die  Auflösung  des  Wahr- 
genommenen als  Bestand  in  die  fliefsenden  Werthe  des  Actes  er- 
giebt  dann  die  Wahrnehmung".*-  Avenajriüs  scheint  unter 
jenen  uneigentlichen  Gefühlen  besondere  Organempfindungen 
zu  verstehen.  Diese  spielen  jedoch  thatsächlich  eine  äufserst  ge- 
ringe Rolle.  In  der  That  beruht  vielmehr  z.  B.  die  „Charakteri- 
sirung"  eines  Lichts  (einer  Lichtempfindung)  als  „gesehener" 
(als  optischer  Empfindung)  erstens  auf  der  speciellen  optischen 
Empfindungsmodalität  (im  Sinne  von  Helmholtz),  zweitens  auf  der 
durch  andere  Sinnesorgane  controlirten  Erfahrung,  dafs  bei  Augen- 


*  Bei  dieser  Polemik  gegen  Avenabius  möchte  ich  nur  kurz  hervor- 
heben, dafs  ich  andererseits  die  kurzen  Ausführungen  Nr.  532  und  533  für 
sehr  bedeutsam  halte;  mit  dem  oben  erörterten  Streitpunkt  stehen  sie  in 
keiner  Verbindung. 

'  Die  Erläuterung,  welche  Carstanjen  für  den  AvENARius'schen  Wahr- 
nehmungsbegriff giebt  a.a.O.  S.273,  deckt  sich  vielleicht  mit  den  Intentionen 
von  AvENARius,  jedenfalls  aber  nicht  ganz  mit  dem  Wortlaut  und  Sinn 
seines  Werkes,  wie  es  vorliegt.  Nach  Carstanjen  handelt  es  sich  bei  der 
Sache  um  die  peripherisch  bedingte  Abhängigkeit  von  einem  Umgebungs- 
bestandtheil  R,  bei  der  Wahrnehmung  um  die  peripherisch  bedingte 
Abhängigkeit  vom  Individuum.  Da  nach  A.  jeder  A'-Werth  von  i^  und 
vom  Individuum  abhängig  ist,  so  ist  in  jedem  Fall  die  Unterscheidung  von 
Sache  und  Wahrnehmung  erst  das  Ergebnifs  besonderer  Keflexionen,  deren 
Untersuchung  nicht  hätte  unterlassen  werden  dürfen. 


314  Th,  Ziehen, 

schlufs  die  Lichtempfindung  verschwindet  u.  AehnL  Die  modale 
Bestimmtheit  als  Cbarakterisirung  zu  bezeichnen,  ist  überflüssig, 
sie  ist  kein  Additament,  sondern  wesenthch  für  das  ErlebniTs; 
die  Erfahrungen  über  die  Unerläfslichkeit  eines  bestimmten 
Sinnesorgans  als  Cbarakterisirung  zu  bezeichnen,  ist  geradezu  ge- 
fährlich, weil  diese  Bezeichung  dazu  verführt,  zu  übersehen,  welch 
ein  immerhin  nicht  ganz  einfacher,  jedenfalls  untersuchungs- 
bedürftiger Vorstellungsprocefs  hier  im  Spiele  ist.  Gerade, 
wenn  Avenabius,  wie  er  selbst  und  seine  Schüler  behaupten,  in 
der  Elritik  der  reinen  Erfahrung  nur  schildern  will,  wie  die  Indi- 
viduen thatsächlich  ihre  Erfahrungen  beschreiben,  ohne  ent- 
scheiden zu  wollen,  ob  ihre  Beschreibung  zutreffend  ist,  hätte  es 
einer  exacteren  Darstellung  dieser  „Positionalcharaktere"  bedurft 
Der  eben  hervorgehobene  Irrthum  der  AvENAKius'schen  Dar- 
stellung rächt  sich  bei  der  Feststellimg  des  „analytischen  Be- 
griffs der  reinen  Erfahrung".  Dieser  leidet  überhaupt  im  Gegen- 
satz zu  dem  synthetischen  Begriff  der  reinen  Erfahrung,  wonach 
diese  ein  Ausgesagtes  ist,  welches  in  allen  seinen  Componenten 
nur  Umgebungsbestandtheile  zu  seiner  Voraussetzung  hat,  an 
einer  bemerkenswerthen  Unklarheit.  Nr.  5  wurde  er  definirt  als 
Begriff  einer  Erfahrung^,  welcher  nichts  beigemischt  ist,  was 
nicht  selbst  wieder  Erfahrung  wäre  —  welche  mithin  in  sich 
selbst  nichts  anderes  als  Erfahrung  ist.  Damit  scheint  A.  voraus- 
zusetzen, dafs  es  noch  etwas  giebt,  was  nicht  Erfahrung  ist.  Um 
festzustellen,  was  dies  sein  könnte,  müssen  wir  hören,  was  A.- 
unter  Erfahrung  versteht  bezw.  was  die  Individuen  selbst  als 
Erfahrung  aussagen.  Nr.  932  ff.  versucht  hierauf  eine  Antwort 
zu  geben.  Diese  Antwort  fällt  nun  sehr  unpräcis  aus,  wie  das 
bei  einem  so  schwankenden  Wortbegriff  vorauszusehen  war. 
Aus  den  von  ihm  angeführten  Beispielen  glaubt  A.  zunächst 
schliefsen  zu  können,  dafs  nicht  jedwede  Erfahrung  qua  j&Werth 
als  von  einer  Complementärbedingung  der  Gattung  ß  abhängig 
angenommen  werden   darf.     Dieser  Satz   ist  nur  richtig,    wenn 


^  Nachträglich  hat  Avenarius,  wie  Krebs  mittheilt  ( Viertel jahrsachr.  f. 
wis8.  Fhilos.  20)  diese  Definition  folgendem) aafsen  abgeändert:  ^als  eines 
Ausgesagten,  welchem  nichts  beigemischt  ist"  u.  s.  f.  Fttr  die  obige  Er- 
örterung ist  diese  Correctur  belanglos. 

*  Ob  Avenarius  mit  der  Erweiterung  des  Begriffs  „Erfahrung",  welche 
sich  bei  Willy  findet  {Vierteljahrsschr.  f.  miss.  Fhilos.  20,  1896,  S.  62),  einver- 
standen wäre,  ist  mir  sehr  zweifelhaft. 


Erkenntnif8theoreti8(^  Aweinanderaetzungen,  315 

man  statt  „Complementärbedingung^  gegenwärtige  „Comple- 
mentärbedingung"  einsetzt  Ebenso  sind  die  drei  positiven 
Merkmale,  welche  A.  für  die  Erfahrung  angiebt,  nicht  stichhaltig. 
„Gemeiniglich",  sagt  Avenajrius  (Nr.  936),  wird  in  den  Fällen, 
in  denen  -E-Werthe  als  Erfahrung  bezeichnet  werden,  ausgesagt 

1.  ein  Seiendes  bezw.  Gewesen-Seiendes ; 

2.  eine  Kenntnifsnahme  seiner  Existenz  oder  irgend  eines 
existirenden  Bestandtheils  bezw.  Zusammenhangs  iL  s.  w. 
desselben ; 

3.  eine  blofse  Kenntnifsnahme ,  eine  Kenntnifsnahme 
schlechtweg. 

A.  selbst  kommt  denn  auch  bald  zu  dem  Ergebnifs,  dafs  zu 
^vermuthen"  bleibe,  dafs,  wenn  überhaupt  Erfahrung  ein  eigen- 
thümUches  Merkmal  besitzt,  dasselbe  niur  mit  der  dritten  der 
eben  aufgezählten  analytischen  Bestimmungen  „zusammenfallen" 
oder  „wenigstens  darin  irgendwie  stecken  möchte"  (Nr.  938). 
Also  die  „blofse  Kenntnifsnahme"  (im  Sinne  von  Nr.  489  u.  490) 
bleibt  übrig.  Diese  Kenntnifsnahme  ergiebt  aber  bei  genauerer 
Analyse  wieder  nur  eine  negative  Bestimmimg  (als  das  „Nicht- 
Erfundene"  u.  s.  w.).  Daraus  wäre  nun  meines  Ermessens  der 
Schlufs  zu  ziehen,  dafs  eine  positive  Charakteristik  des  hypo- 
thetisch von  AvENARius  aufgestellten  analytischen  Begriffes  der 
reinen  Erfahrung  nicht  möglich  ist,  dafs  man  entweder  alle  Aus- 
sagen als  Erfahrung  bezeichnen  oder  im  Sinne  des  syntheti- 
schen Erfahrungsbegriffes  die  Beziehung  auf  -B-Werthe  fordern 
mufs.  Statt  dessen  schlägt  Avenajrius,  um  zu  einer  positiven 
Bestimmung  zu  gelangen,  den  bedenklichen  Weg  ein,  „zunächst 
nur  auf  solche  Fälle  ausgesagter  Erfahrung  zu  reflectiren,  in 
welchen  das  Seiende  zugleich  als  Sache  charakterisirt  ist" 
(Nr.  939).  Bedenklich  ist  dieser  Weg  schon  wegen  der  damit 
gegebenen  Restriction,  noch  viel  bedenklicher  aber,  weil  nun- 
mehr der  oben  berührte  Irrthum  zu  vollem  Einflufs  gelangt 
Statt  die  Erfahrung  in  diesem  beschränkten  Sinne  (^die  Er- 
fahrung xoT*  i^oxt^  Nr.  959  u.  965)  einfach  als  Empfindung 
bezw.  Wahrnehmung  zu  fassen,  wie  es  Avenabius  Nr.  942  zu- 
nächst auch  thut,  fluthen  nun  zahlreiche  Hyothesen  herein,  die 
gegen  die  sonstige  Methode  des  Werks  grell  abstechen:  Aende- 
rungen  der  nächsten  Umgebung  des  Systems  C,  die  Functionen 
und  Reactionen  der  mit  sensiblen  Nerven  versehenen  Organe 
bedingen  den  Ich  -  J5J-Werth,  durch  Miterregung  der  Sinnesorgan- 


316  Th.  Ziehen, 

nerven  wird  mit  jeder  Wahrnehmung  das  Individuum  mitgesetzt, 
Sache  und  Individuum  treten  sich  gegenüber,  erstere  wird  zum 
Activ-Seienden,  letzteres  zum  Passiv-Seienden  u.  s.  1  Ich  weife 
natürlich  sehr  wohl,  dafs  A.  hiermit  nur  den  Gang  der  Aussagen 
darstellen  will,  aber  ich  behaupte  gerade,  dafe  er  eben  diesen 
falsch  darstellt.  Die  physiologischen  Annahmen  schweben  in  der 
Luft,  die  thatsächliche  Entwickelung  der  Aussagen  ist  eine  ganz 
andere.  Die  so  allgemeine  und  erkenntnifstheoretisch  so  ver- 
hängnifsvolle  Gegenüberstellung  von  Sachen  und  Ich  entwickelt 
sich  auf  einem  ganz  anderen  Weg  und  in  einem  anderen  Sinne : 
maafsgebend  für  diese  Scheidung  von  Sachen  imd  Ich  war  viel- 
mehr Folgendes.  Anfangs  lautet  der  Gegensatz  nur :  eigener  Leib 
und  fremde  Gegenstände,  und  ersterer  sowohl  wie  letztere  haben 
reinen  Empfindungscharakter.  Die  Sachen  des  Kindes  sind  seine 
Empfindungen.  Sprachlich  werden  dann  von  den  Empfindungen 
die  Vorstellungen  ^  unterschieden.  Zunächst  nehmen  nur  letztere 
eine  Sonderstellung  ein.  Man  denke  z.  B.  an  ein  zweijähriges 
Kind,  das  einen  abwesenden  Gegenstand  verlangt.  Eine  analoge 
Bedeutung  gewinnen  die  Gefühlstöne  und  Affecte,  insofern  sie 
die  Anwesenheit  des  ursächlichen  Gegenstandes  oft  überdauern. 
Weiter  werden  nun  aber  die  Bewegungen  des  eigenen  Körpers 
mit  den  Bewegungen  anderer  Körper  verglichen.  Für  die  ersteren 
wird  nach  Analogie  der  letzteren  eine  Ursache  und  zwar  im 
eigenen  Körper  gesucht.  Diese  Ursache,  dies  Ich,  ist  zunächst 
bei  dem  Kind  noch  rein  körperlich.  Bald  stellt  sich  jedoch 
heraus,  dafs  kein  einzelner  Körpertheil  speciell  und  allein  diese 
Ursache  darstellt,  und  dafs  unsere  Vorstellungen  dabei  betheiligt 
sind.  Damit  ist  der  erste  Schritt  zur  Sonderung  des  Ichs  vom 
Körper  geschehen.  Dazu  kommt  nun,  dafs  die  Empfindungen 
wechseln,  je  nachdem  ich  die  Augen  schliefse,  den  Kopf  drehe, 
die  Hand  wegziehe  u.  s.  f.,  kurzum,  dafs  die  primären  Empfindungs- 
sachen von  meinem  Körper  (speciell  von  meinen  Sinnesorganen) 
abhängig  sind.  Ebenso  aber  beobachten  wir,  dafs  diese  primären 
Empfindungssachen  sich  auch  unabhängig  von  unserem  Körper 
ändern.  Nur  wird  der  von  unserem  Körper  und  unseren  Vor- 
stellungen abhängige   Bestandtheil   der   Empfindungssachen    als 

^  Vgl.  hierzu  und  zum  Folgenden  namentlich  auch  die  5.  Auflage 
meines  Leitfadens  der  physiologischen  Psychologie  S.  148  und  die  Be- 
sprechung der  „Reflexionsbegriffe*'  Schuppe's  in  der  zweiten  dieser  Abhand- 
lungen. 


Erkenntnifatheoretiscke  Auseinandersetzungen,  317 

Empfindimgeu  zu  den  Vorstellungen  und  zum  Ich  geschlagen, 
also  secundär  in  das  Psychische  einbezogen,  während  der  unab- 
hängige Bestandtheil  als  Sachen  den  Empfindungen  gegenüber- 
gestellt wird. 

Der  thatsächliche  Verlauf  der  Entwickelung  des  dualistischen 
Erfahrungsbegriffes  „Sache"  und  „Ich"  ist  also  ein  ganz  anderer, 
als  ihn  Avenariüs  darstellt.  An  diesem  entscheidenden  Punkt 
hat  ihn  seine  geniale  Construction  der  Erfahrung  aus  Ä-,  C-  und 
£^Werthen  im  Stich  gelassen.  Die  Positionale  sind  andere,  als 
er  annimmt.  Die  specifische  Modification  des  Positional- 
charakters  „Wahrnehmung",  welche  die  Erfahrung  darstellen 
soll  (Nr.  941  und  Nr.  957),  ist  überhaupt  nicht  präcisirt  worden 
(auch  nicht  durch  eine  Bedingungsdefinition). 

Die  thatsächliche  Entwickelung,  wie  ich  sie  oben  abgekürzt 
gegeben  habe,  wäre  nunmehr  auf  ihre  Richtigkeit  oder  Be- 
rechtigung zu  prüfen  gewesen.  Einer  solchen  enthält  sich 
Avenariüs,  dem  Plan  (nicht  aber  dem  Titel)  seines  Werkes  ent- 
sprechend, durchaus.  Ich  bemerke  daher  nur  kurz,  dafs  eine 
solche  Prüfung  ergiebt,  dafs  die  populäre  eben  dargestellte 
Sonderung  berechtigt  ist,  insofern  sie  sehr  allgemeine  Eigen- 
schaften der  Empfindungsthatsachen  richtig  unterscheidet,  und 
nur  in  der  Terminologie  aus  praktischen  Gründen  mifsverständ- 
liche  Bezeichnungen  gewählt  hat;  speciell  ist  in  der  Termino- 
logie der  einheitliche  Ursprung  der  Empfindungen  und 
Sachen  verloren  gegangen.  Praktisch  war  der  Unterschied 
viel  wichtiger,  so  dafs  das  Gemeinsame  unbezeichnet  blieb. 
Bei  dem  gewaltigen  Einflufs  der  Sprache  auf  die  Begriffsbildimg 
Jiat  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  diese  Auffassung  mehr 
und  mehr  fixirt.  Der  terminologische  Fehler  wird  zum  logischen. 
Der  Gegensatz  wurde  immer  schärfer.  Die  Philosophie  trug  zur 
Verschärfung  wesentlich  bei.  So  traten  die  Sachen  schliefslich 
als  Materie  den  psychischen  Empfindungen  und  Vorstellungen 
gegenüber.  Die  Erkenntnilstheorie  hat  die  Aufgabe,  diese  Ent- 
wickelung nachzuprüfen  und,  unbeirrt  durch  praktische  Gesichts- 
punkte, terminologisch  und  logisch  die  populäre  Auffassung  zu 
corrigiren. 

Der  letzte  Theil  des  AvENABius'schen  Hauptwerks  behandelt 
^die  abhängige  Multiponible  denkbar  höchster 
Ordnung"  und  damit  die  Frage,  in  welchem  Sinne  imd  Um- 
fang  der   synthetische   und   der   analytische  Begriff  reiner  Er- 


318  ^-  Ziehen. 

fahrung  auseinanderfallen  und  ihr  Zusammenfallen  angenonoimen 
werden  kann.  Diese  Fragestellung,  ganz  abgesehen  davon,  dals 
beide  Begriffe  den  nicht-legitimirten  Begriff  der  Umgebungs- 
bestandtheile  enthalten,  ist  nach  den  vorausgegangenen  Erörte- 
rungen unklar.  Die  Feststellung  eines  analytischen  Begriffes 
reiner  Erfahrung  ist  nicht  gelimgen.  Ueber  eine  rein  tauto- 
logische  Definition  ist  A.  nicht  hinausgelangt  Eine  positive 
Charakteristik  ist  vergeblich  versucht  worden.  Die  Fragestellung 
könnte  also  nur  folgenderma^afsen  lauten:  giebt  es  überhaupt 
reine  ^  Erfahrungen,  deren  Unabhängige  (d.  h.  deren  zugehörige 
Beschaffenheiten  des  Systems  C)  nicht  durch  die  Umgebung 
complementär  bedingt  sind?  Diese  Fragestellimg  hätte  weiter 
sofort  dazu  geführt  zu  untersuchen,  welcher  Antheil  bei  dem 
Zustandekommen  der  einzelnen  Erfahrungsaussagen  der  Um- 
gebung und  welcher  Antheil  den  im  System  C  gelegenen  Vor- 
bedingungen zukommt.  Damit  sind  wir  wieder  bei  dem  alten 
Problem  der  primären  und  secundären  Qualitäten  angelangt,  bei 
der  Binomie,  wie  ich  sie  in  meiner  erkenntnifstheoretischen  Schrift 
zu  begründen  versucht  habe. 

Trotz  der  Unklarheit  der  Fragestellung  ist  im  Einzelnen 
gerade  dieser  letzte  Theil  auch  reich  an  richtigen  und  wichtigen 
erkenntnifstheoretischen  Ergebnissen.  Dabei  hat  die  Darstellung, 
so  seltsam  es  klingen  mag,  etwas  Ergreifendes:  sie  wendet  sich 
auch  an  das  Gefühl  und  findet  bei  diesem  wohl  einen  milderen 
Richter  als  bei  dem  kritischen  Verstand.  Aber  auch  der  letztere 
wird  vor  Allem  ein  Hauptergebnifs  anerkennen  müssen,  welches 
ich  von  meinem  Standpunkt  so  ausdrücken  möchte:  unter  dem 
fortgesetzten  Einflufs  der  Umgebungsbestandtheile  kommen 
Beschaffenheiten  des  Systems  C  und  dementsprechende  Gedanken 
bezw.  Aussagen  (populäre  Anschauungen,  philosophische  Systeme) 
zu  Stande,  welche  sich  nicht  nur  auf  diesen  oder  jenen  Um- 
gebungsbestandtheil,  sondern  auf  jeden  beliebigen  Umgebungs- 
bestandtheil  beziehen.  Dies  eben  ist  die  Multiponibilität  höchster 
Ordnung.^  So  entsteht  der  „Weltbegriff'*.  Er  deckt  sich  etwa 
mit  dem,   was  ich  (S.  97)   als   „allgemeinste   Vorstellungen   der 

*  Ich  will  dabei  für  „rein"  die  von  Carstanjen  (a.  a.  O.  S.  59)  gegebene 
Erklärung  gelten  lassen. 

*  Vgl.  auch  WüNDT  (a.  a.  0.  S.  83),  welcher  sich  namentlich  gegen  die 
präsumptive  Einfachheit  des  Weltbegriffs  wendet,  während  mir  seine 
Allgemeinheit  wesentlicher  scheint. 


Erkenntnifatheoretische  Auseinandersetzungen,  319 

Empfindungen  und  Empfindungsbeziehungen  ^  bezeichnet  habe. 
A.  drückt  dasselbe  aus,  wenn  er  von  Aenderungsformen  des 
Systems  C  spricht,  welche  von  den  denkbar  meist  sich  wieder- 
holenden Beschaffenheiten  der  Systeme  C  und  der  Umgebungs- 
bestandtheile  abhängig  sind.  Die  Entwicklung  eines  solchen 
Weltbegriffes  vollzieht  sich  im  Individuum  (ontogenetisch),  aber 
auch  in  der  Greschichte  des  ganzen  Menschengeschlechtes  ^  (phylo- 
genetisch). 

A.  versucht  auch  (Nr.  1002  ff.)  die  historische  Entwickelung 
des  Weltbegriffes  in  drei  Entwickelungsstufen  (Nr.  1024  ff.)  zu 
skizziren.  Die  Erkenntnifstheorie  hat  hieran  kein  immittelbares 
Interesse.  Wohl  aber  mufs  sie  Einspruch  erheben,  wenn  A.  die 
definitive  Lösung  des  Welträthsels  nur  von  einem  Weltbegriffe 
erwartet,  „welcher  vollständig  dem  synthetischen  und  dem  ana- 
lytischen Begriffe  reiner  Erfahrung  entspricht"  (Nr.  1033). 
Welchem  analytischen  Begriff  reiner  Erfahrung  soll  der 
hypothetische  Weltbegriff  entsprechen?  Etwa  dem  unklaren, 
den  A.  Nr.  931  ff.  (siehe  oben)  vergeblich  zu  charakterisiren  ver- 
sucht hat?  Die  Unklarheit  wird  dadurch  noch  gröfser,  dafs  A. 
jetzt  nochmals  einen  Versuch  macht,  den  analytischen  Begriff 
reiner  Erfahrung  zu  charakterisiren.  Hierbei  habe  ich  die 
Schlufssätze  von  Nr.  1031  im  Auge,  deren  wörtliche  Anführung 
unerläfslich  ist:  „Diese  Bedingungen  genügen  indefs  auch  dem 
analytischen  Begriffe  reiner  Erfahrung ;  denn,  da  der  Erfahrungs- 
Charakter  (doch  wohl  der  analytische  ?I)  von  Systemänderungen 
abhängt,  welche  ihrerseits  in  Aenderungen  peripherischer  Sinnes- 
Organe  die  nächste  Bedingimg  ihrer  Setzung  haben,  diese  Be- 
dingung aber  durch  das  gewahrte  Abhängigkeitsverhältnifs  zu 
den  Uragebungsbestandtheilen  durchgehends  erfüllt  bleibt,  so 
bleibt  auch  den  Componenten  jener  abhängigen  ^-Werthe  durch- 
gehends die  Charakteristik  als  Erfahrung  gewahrt"*  Ist  das 
wirklich  derselbe  analytische  Begriff  reiner  Erfahrung,  der 
Nr.  931  ff.  u.  Nr.  5  aufgestellt  wurde?  oder  nicht  vielmehr  der 
synthetische  in  etwas  anderem  Umhang  1?  Die  Berufung  auf 
Nr.  509 f.  u.  Nr.  535 ff.  ist  ganz  unstatthaft;  denn  die  Abhängig- 
keit von  Systemänderungen,  welche  ihrerseits  in  Aenderungen 
peripherischer  Sinnesorgane  die  nächste  Bedingung  ihrer  Setzung 
haben,  kann  doch  keineswegs  als  allgemeines  Merkmal  des  ana- 


^  Vielleicht  ist  auch  das  noch  zu  anthropistisch  ausgedrückt. 


320  ^A-  ^^i^n, 

lytischen  Erfahrungsbegriffes  gelten;  denn  es  erwies  sich  nur 
für  einen  Theil  der  Erfahrung  im  analytischen  Sinne  als  zu- 
treffend. Die  Lehre  vom  Zusammenfallen  des  synthetischen  und 
des  analytischen  Begriffes  reiner  Erfahrung  im  Universalbegriff 
giebt  nach  meinem  Dafürhalten  dem  Buch  einen  architectoniscben 
Abschlufs  auf  Kosten  der  Klarheit,  ja  sogar  der  Universalbegriff 
selbst  wird  dabei  verschoben.  Es  ist  nicht  richtig,  dafs  die  Welt- 
begriffe (Nr.  1032)  in  dem  Maafse,  als  sie,  von  beliebigen 
Anfangswerthen  aus,  sich  dem  Universalbegriffe  annähern,  auch 
dem  synthetischen  und  dem  analytischen  Begriffe  reiner  Er- 
fahrung entsprechen.  Die  höchste  Multiponibihtät,  welche  für 
den  Universalbegriff  charakteristisch  ist  (Nr.  973),  läuft  der  aus- 
schliefslichen  Abhängigkeit  von  „Umgebungsbestandtheilen",  welche 
für  den  synthetischen  Erfahrungsbegriff  charakteristisch  ist  und 
schliefslich  auch  für  seinen  unklaren  Doppelgänger,  den  analy- 
tischen Erfahrungsbegriff  charakteristisch  sein  soU,  kemeswegs 
einfach  parallel.  Der  Universalbegriff  ist  nicht  nur  von  den 
meist  sich  wiederholenden  Beschaffenheiten  der  Umgebungs- 
bestandtheile  abhängig,  sondern  auch  von  den  meist  sich  wieder- 
holenden systematischen  Vorbedingungen  des  Systems  C.^  Es 
liegt  durchaus  nicht  im  Interesse  des  Universalbegriffes,  diese 
letzteren  wegzulassen  oder  wenigstens  in  den  Hintergrund  zu 
stellen.  Nach  meinen  Dafürhalten  führt  dies  nur  zu  einer  künst- 
lichen Ignorirung  der  factisch  vorhandenen  Binomie. 

Es  bleibt  also  der  Universalbegriff  in  zwei  Beziehungen  un- 
haltbar: erstens  wird  ihm  eine  Abhängigkeit  von  ganz  hypothe- 
tischen Umgebungsbestandtheilen  zugemuthet,  welche  als  solche 
gewifs  nicht  zu  dem  Sich-Meist- Wiederholenden  gehören,  sondern 
hypothetische  Vorstellungen  darstellen,  und  zweitens  wird  ro 
Gunsten  dieser  Abhängigkeit  sogar  die  Multiponibihtät  höchster 
Ordnung  eingeschränkt.  Dazu  kommt  die  Unklarheit  der  Rolle 
des  Systems  C  und  des  Nr.  863  ff.  aufgetauchten  Ichs.  Ersteres 
ist  uns  in  Wirklichkeit  ebenso  wie  der  Baum  auch  nur  als 
JE-Werth  gegeben,  letzteres  ist  nur  eine  sehr  vieldeutige  Vor- 
stellung.   Was  bedeuten  beide? 


^  Dafs  AvEKARius  hier  nicht  etwa  überall  —  wie  Carstanjen  a.  a.  0. 272 
Anm.  auf  Grund  von  Nr.  62  behaupten  zu  können  glaubt  —  das  System  (' 
in  den  Umgebungsbeslaiidtheilen  eingeschlossen  denkt,  geht,  wie  mir  scheint, 
aus  der  Fassung  z.  B.  nou  'S^t.^'W  ^-wca  \«ia»^«s\s5öa»SX.\ÄTSQT. 


Erkenntnifstheoretische  Auseinandersetzungen.  321 

Vollständiger  wird  das  Bild  der  Erkenntnifstheorie  von 
AvENAMüs  erst  durch  die  Betrachtung  seines  zweiten  Haupt- 
werkes „Der  menschliche  Weltbegriff^,  welches  1891,  3  Jahre 
nach  dem  ersten  Band  und  1  Jahr  nach  dem  zweiten  Band  der 
Elritik  erschien,  jedoch  nach  dem  Zeugnifs  Cabstanjen's  in 
manchen  Theilen  älter  als  die  Kritik  ist.  A.  beschäftigt  sich 
hier  nochmals  mit  dem  Welträthsel,  mit  dem  philosophischen 
Weltbegriff.  Er  will  angeben,  was  aller  Anschauung  der  Ge- 
sammtheit  des  Vorgefundenen  gemeinsam  ist.  In  der  That  aber 
ist  das  Buch  gröfstentheils  einer  viel  specielleren  Aufgabe  ge- 
widmet, nämlich  der  erkenntnifstheoretischen  Bewerthimg  der 
Aussagen  der  Mitmenschen.  Gegenüber  dem  vorwiegend  formalen 
Charakter  der  Kritik  versucht  A.  hier  eine  materiale  Lösung  der 
-erkenntnifstheoretischen  Probleme. 

Aus  der  Beweisführung  im  Einzelnen  ist  Folgendes  hervor- 
zuheben.    AvENABiüs  geht   auch   hier   bei   der  Darstellung  des 
natürUchen  Weltbegriffs  von   der  Stufenleiter  ^Sache  —  Nach- 
bild —  Gedanke"  aus,  deren  Bedenklichkeit  oben  erörtert  wurde. 
Auch  hier  wird  ohne  Weiteres  vorausgesetzt,  dafs  Subjecte  (ich, 
Mitmenschen)   Umgebungsbestandtheile    „vorfinden**,   ohne   dafs 
dies  Vorfinden  näher  präcisirt  wird.    Das  Hauptproblem  der  Er- 
kenntnifstheorie wird  gar  nicht  discutirt,  sondern  eine  bestimmte 
Lösung  von  Anfang  an  vorausgesetzt.    Der  erkenntnifstheoretische 
Fundamentalbestand  ist  nicht  der,   dafs   ein  oder  gar  mehrere 
Subjecte  Sachen  und  Gedanken  vorfinden,   sondern  ausschliefs- 
lich    der,    dafs   Empfindungs-  und    Vorstellungsreihen   gegeben 
sind.     Jede  Erkenntnifstheorie,  welche  nicht  von  diesem  Funda- 
mentalbestand ausgeht,  geht  am  Hauptproblem  der  Erkenntnifs- 
theorie vorüber.    Aber,   wird   man   einwenden,   Avenarius  will 
gar     nicht    den    erkenntnifstheoretischen    Fundamentalbestand, 
sondern   nur   den    ^.natürlichen  Weltbegriff"    darstellen.     Damit 
könnte   man  sich  zufrieden  geben,  wenn  nicht  dieser  natürliche 
AVeltbegriff   so   sehr   hypothetisch   wäre.    Was  der  ,,natürliche" 
Mensch  meint,  wenn  er  sagt:  ,.hier  ist  ein  Baum",  ist  noch  sehr 
strittig.    Es  müfste  doch  erst  noch  untersucht  werden,  ob  er  da- 
mit etwas  anderes  meint  als:  ich  sehe,  fühle  etc.  hier  einen 
Saum  und  kann  ihn  unter  bestimmten  Bedingungen  noch  öfters 
^eder  sehen,  fühlen  etc. 

Die  Variation  des  natürlichen  Weltbegriffs,  welche  A.  nun- 
mehr specieJJ  untersucht,  ist   die  von  ihm  sogenaimXA  ^tiXi^c^" 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  ^ 


322  ^Ä-  Ziehen, 

jection",  durch  welche  „die  natürliche  Einheit  der  empirischett 
Welt  nach  zwei  Richtungen  gespalten  wird:  in  eine  Aufeenwelt 
und  in  eine  Innenwelt,  in  das  Object  und  das  Subject"  (Nr.  47). 
Diese  Spaltung,  diese  Introjection  soll  dadurch  zu  Stande  kommen, 
dafs  das  eine  Individuum  (M)  in  das  andere  (T)  Wahrnehmungen, 
Denken,  Gefühl  imd  Wille  „hineinlegt".  Diese  Thatsache  ist 
zweifelsohne  zuzugeben,  nur  vergifst  A.^,  dafs  seine  empiriokritische 
Voraussetzung  die  Abspaltung  transpsychischer  Objecte  in  Ge- 
stalt der  i?-Werthe,  welche  dem  vorfindenden  Ich  gegegenäber 
gestellt  werden,  bereits  involvirt ;  die  Introjection  ist  also  nicht  die 
alleinige  Sünderin.  Dadurch,  dafs  Jf  nun,  wie  Avenarius  es  darstellt, 
den  Standpunkt  der  Introjection  verwechselt  und  auch  sich  selbst 
Wahrnehmungen  etc.  einlegt  und  Objecte  gegenüberstellt,  fügt 
M  zu  der  empiriokritischen  Voraussetzung,  wie  sie  die  Kritik  der 
reinen  Erfahrung  darstellt,  kaum  etwas  hinzu:  die  U-Werthe 
werden  auch  bei  Avenaeius  als  Object  vorausgesetzt  und  in 
einen  principiellen  Gregensatz  zu  dem  vorfindenden  Individuum 
imd  den  J5-Werthen  gestellt.  Nur  die  grobe  räumliche  Trennung» 
die  Introjection  im  wörtlichen  Sinn  hebt  Avenabiüs  auf,  mid 
hierin  sehe  ich  allerdings  ein  imsterbliches  Verdienst 

Die  ausgezeichnete  Darstellung  der  concreten  Formen,  in 
welchen  sich  die  Introjection  thatsächlich  verwirklicht  hat  mid 
noch  verwirklicht  (Nr.  55  fE.),  ist  erkenntnifstheoretisch  belanglos. 
Um  so  wichtiger  ist  die  Kritik  der  Introjection  (Nr.  118  ff.),  auf 
welche  ich  ausführlich  eingehen  will. 

A.  findet  keinen  Anlafs  zu  Bedenken,  solange  die  Annahme  der 
^-Werthe  auch  für  M  nichts  weiter  besagt,  als  dafs  Bewegungen 
des  Mitmenschen  T  im  Sinne  seiner  eigenen  Erfahrung  in  Be- 
ziehung zu  Sachen  und  Gedanken  stehen  und  mithin  eine  ,.mehr 
als  nur  mechanische  Bedeutung"  haben  (Nr.  120).    Die  Annahme 
von  jE-Werthen  wird  für  M  „erst  bedenklich",  wenn  der  Inhalt 
dieser  Annahme  zu  etwas  prijicipiell  Anderem  wird  als  der  In- 
halt seiner  eigenen  Erfahrung,'  bezogen  auf  ein  zweites  mensch- 
Uches  Individuum,   und  letzteres  tritt  unvermeidlich  ein,  wenn 
M  die  -B-Werthe  schlechthin  in  den  Mitmenschen  T  hineinverseüt 
und  damit  behauptet,  dafs  das  System  C  des  Mitmenschen  T  die 
JE'-Werthe   „habe"   (Nr.   121).    Zweifelsohne  hat  A.   damit  einen 
Krebsschaden  vieler  Erkenntnifstheorien,  den  Introjectionsfehler 


1  x: 


Nr.  111  eiiüTifeTt  «t  »\^V  NC>\^^x^<^^\A  ^^^^x  Beziehung. 


Erkenntnifatheoretische  Auseinandersetzungen,  323 

richtig  aufgedeckt,  während  er  den  anderen  Krebsschaden,  die 
Projectionshypothese  in  vielen  Punkten  bestehen  läfst.  Zur  Be- 
seitigung des  Introjectionsfehlers  untersucht  A.,  „was  denn  eigent- 
lich das  Haben  der  -B-Werthe  bedeute."  Das  negative  Ergebnifs 
dieser  Untersuchung  ist  zweifellos  richtig:  das  Gehirn  „hat"  die 
Gedanken  nicht  Um  so  zweifelhafter  ist,  was  A.  an  die  Stelle 
setzt:  die  „empiriokritische  Principialcoordination".  A.  versteht 
hierunter  die  principielle  Coordination  (gleichwerthige  Zuordnung) 
des  Ich-Bezeichneten  und  eines  Umgebungsbestand theils.^  Dieser 
^^empiriokritische"  Befund  ist  jedoch  unklar.  A.  sagt  uns  nicht, 
was  er  mit  dem  Ich-Bezeichneten  und  mit  den  Umgebungs- 
bestandtheilen  meint  Offenbar  denkt  er  bei  den  letzteren  an 
die  „iJ-Werthe"  der  Kritik.  Diese  „iJ-Werthe"  aber  werden  gar 
nicht  vorgefunden,  sondern  nur  Empfindungen  und  Vorstellungen, 
welche  wir  auf  -B-Werthe  beziehen,  oder  —  im  Sinn  von 
AvENAKiüs  Aussagen  und  Aussageinhalte,  d.  h.  jE-Werthe.  Ich 
finde  nicht  den  Uragebungsbestandtheil  Baum  vor,  sondern 
meine  nach  Gröfse  etc.  sehr  variable  Empfindung  „Baum"  und 
die  zugehörige  Vorstellung  „Baum".  Ebenso  wird  nicht  ein 
„Ich-Bezeichnetes"  schlechthin  vorgefunden,  sondern  die  Em- 
pfindung „mein  Körper"  und  die  Vorstellung  „mein  Körper." 
Dazu  kommen  weitere  Vorstellungen  wie  Ich- Vorstellung,  Gott- 
Vorstellimg,  Kraft- Vorstellung  etc.,  welche  allenthalben  sich  ein- 
stellen. Die  Analyse  ergiebt,  dafs  alle  diese  Vorstellungen 
secundär  aus  den  Empfindungen  entstehen,  hier  und  heute  diese, 
dort  und  morgen  jene.  Die  Aufgabe  der  Erkenntnifstheorie 
kann  nur  eine  Kritik  aller  dieser  Vorstellungen  (Sach- Vorstellung, 
Ich- Vorstellung -,  Gott- Vorstellung ,  Kraft- Vorstellung  etc.)  sein. 
Der  einzige  Ausgangspunkt  sind  die  gegebenen  Empfindungen. 
Für  die  Auswahl  unter  den  aus  den  Empfindungen  gezogenen 
Vorstellungen  giebt  es  nur  ein  Kriterium:  die  bez.  Vorstellungen 
müssen    aus   dem    Ges am mt bestand   der   Empfindungen   ent- 


^  Man  beachte  auch  die  nicht  ganz  unwesentliche  Differenz  gegenüber 
i^r.  1  ff.  der  Kritik. 

'  Nr.  143  setzt  Avenariüs  sehr  schön  auseinander,  dafs  das  „Ich-Be- 
zeichnete**  ganz  im  selben  Sinn  ein  Gegebenes  ist  wie  das  als  Baum  Be- 
zeichnete. Er  hätte  nur  noch  richtiger  sich  ausgedrückt,  wenn  er  „das  Ich- 
"Bezeichnete"  als  Vorstellung  charakterisirt  hätte  und  nicht  als  „Elementen- 
complex'*  (Nr.  140),  zu  dem  auch  Erinnerungsbilder  der  Umgebung  gehören 
^Nr.  141). 


324  ^*-  Zi^^' 

wickelt  werden,  sie  müssen  —  in  diesem  Sinne  —  die  all- 
gemeinsten sein  (vgl.  Ps.  Erkenntnifstheorie  S.  92).  Avknabius 
kommt  daher  denn  auch  in  der  That  von  seinem  Standpunkt 
doch  nicht  über  die  Introjection  und  erst  recht  nicht  über  die 
Selbstintrojection  hinaus.  Die  Introjection  wird  nur 
scheinbar  beseitigt. 

Dazu  kommt  eine  weitere  Lücke.  A.  führt  mit  Recht  aus, 
dafs  das  Gehirn  die  Empfindungen  imd  die  Gredaiiken  nicht 
„hat".  Hingegen  bleibt  er  uns  eine  Aufklärung  schuldig  über 
die  besondere  Rolle,  welche  das  Gehirn  bezw.  das  System  C  — 
auch  nach  Avenaeius'  Darstellung  —  mm  eben  doch  einmal  mit 
Bezug  auf  imsere  Empfindungen  und  Vorstellungen  spielt. 
Gerade  durch  die  Ausschaltung  der  Introjection  wird  diese  Frage 
brennend.  Leider  aber  hat  A.  sich  den  Weg  zu  dieser  Frage 
und  ihrer  Lösung  verbaut  Indem  er  nämlich  den  Empfindungs- 
charakter der  Umgebungsbestandtheile  übersah,  ignorirte  er  ihre 
VariabiUtät,  wie  wir  sie  allenthalben  unter  dem  Einflufs  unseres 
Nervensystems  beobachten.  Ein  grünes  Glas  vor  meinem  Auge, 
eine  Chorioiditis  in  meinem  Auge  etc.  ändert  die  Empfindungen. 
Zu  der  von  A.  Nr.  157  ganz  richtig  erörterten  Einwirkung 
auf  das  System  C  kommt  eine  merkwürdige,  den  Duahsmus 
immer  wieder  fordernde  Rückwirkung  des  Systems  C  auf  die 
Empfindungen.  Natürlich  ist  A.  diese  Rückwirkung,  d.  h.  diese 
Abhängigkeit  der  Empfindungen  vom  System  C,  nicht  unbekannt 
gelegentlich  erwähnt  er  sie  ausdrücklich,  aber  an  der  ent 
scheidenden  Stelle,  im  wichtigsten  Zusammenhang  übersieht  er 
sie.  Daher  die  Enttäuschung,  welche  wohl  aufmerksame  Leser 
bei  Nr.  160  stets  erfahren  werden.  Alle  vorher  besprochenen 
Fehler  und  Unklarheiten  wirken  hier  zusammen.  Da  ist  vor 
Allem  der  Umgebungsbestandtheil  R.  R  ist  z.  B.  für  3/,  der 
einen  Baum  durch  ein  rothes  Glas  betrachtet,  roth.  Sieht  auch 
T  den  Baum,  so  genügt  es  nicht  für  T  die  bez.  Aendermig 
seines  Systems  Cr  durch  R  einzusetzen,  sondern  erst  mufs  B 
selbst  substituirt  oder,  wie  ich  es  genannt  habe,  reducirt  werden, 
d.  h.  der  Einflufs  des  Nervensystems  von  M  bezw.  des  rothen 
Glases  vor  Jlf  s  Auge,  die  rothe  Farbe  mufs  eUminirt  werden. 
Diese  Reduction  ist  von  entscheidender  Bedeutung.  A.  hat  sie 
nur  deshalb  übersehen,  weil  sein  Umgebungsbestandtheil  R  ein 
Zwitter  zwischen  dem  hypothetischen  extrapsychischen  Object 
und   der  U-Empfindung   ist    Avenaeius  sagt  uns  wohl,  dafs  die 


Erkefintnifstheoretische  Auseinandersetzungoi.  325 

^-Werthe  des  Mitmenschen  T  nicht  von  ü,  sondern  von  den 
durch  R  hervorgerufenen  Schwankungen  des  Systems  Cr  un- 
mittelbar abhängig  sind,  aber  er  sagt  uns  nicht,  dafs  das  Ä, 
welches  die  Schwankungen  des  Systems  Cr  hervorruft,  ein 
reducirtes  R  ist,  eine  Reductionsvorstellung  aus  Empfindungen 
von  M.  Am  nächsten  kommt  A.  dem  Problem  in  Nr.  162.  Er 
erklärt  hier  selbst,  dafs  wohl  im  Allgemeinen  die  Annahme  zu- 
lässig sei,   dafs  in  den  beiden  Principialcoordinationen  IJÜf  \J\ 

und  (T  R)  das  Gegenglied  R  der  Zahl  nach  eines  sei,  dafs 
aber  darum  „freilich  noch  nicht  sofort  die  weitergehende  An- 
nahme zulässig  sei,  dafs  das  Gegenglied  R  in  beiden  Principial- 
coordinationen der  Beschaffenheit  nach  dasselbe  sei."  Auf  eine 
Kritik  dieser  weitergehenden  Annahme  geht  er  nicht  ein.  Das 
ist  ja  eben  gerade  das  Problem:  wir  sehen  uns  gedrängt  durch 
Eliminationen  ein  nicht  nur  numerisch  identisches,  sondern  auch 
qualitativ  identisches  R  vorzustellen;  welche  Eliminationen  voll- 
ziehen wir  dabei  und  was  ist  diese  reducirte  -ß- Vorstellung?  Das 
sind  zugleich  die  Fragen,  welche  ich  zum  Ausgangspunkt  meiner 
Untersuchungen  gewählt  habe.  Die  Antwort  ergab  sich  dahin, 
dafs  die  individuellen  Empfindungen  (Erlebnisse,  das  sinnlich 
lebhafte  Vorgefundene)  nach  2  Gesetzen  reducirt  werden,  nach 
dem  Gesetz  der  Causalf ormel  und  dem  Gesetz  der  Parallelformel. 
Die  Causalformel  giebt  an,  wie  das  reducirte  R  auf  das  Nerven- 
system wirkt,  die  Parallelformel,  wie  dieses  auf  jenes  im  Sinn 
der  specifischen  Energie  (im  weitesten  Sinn)  zurückwirkt.  Die 
individuellen -ß-Empfindungen  sind  die  Resultanten  dieses  doppelten 
Processes  und  sind  daher,  wie  auch  Avenabius  sagt,  nicht  in 
unserem  Gehirn.  Die  -ß's  haben  durch  die  Reduction  nicht  etwa 
ihren  psychischen  Charakter  verloren,  sondern  nur  die  Abänderung 
durch  die  individuellen  Rückwirkungen  der  einzelnen  individuellen 
C-Systeme  (d.  i.  Nervensysteme).  Die  Vorstellung  reducirter  R's 
ist  also  nicht  die  Vorstellung  einer  nicht-psychischen  (materiellen, 
extrapsychischen)  ReaUtät,  sondern  nur  die  Vorstellung  einer 
von  bestimmten  individuellen  Beziehungen  befreiten  Realität. 
Der  Naturforscher  substituirt  aus  heuristischen  Gründen,  der 
gewöhnliche  Mensch  um  der  Einfachheit  des  Ausdrucks  willen 
eine  neue  „materielle'*  Realität,  die  Erkenntnifstheorie  mufs  diese 
ablehnen.^ 


^  Hbymans  (diese  Zeitschr.  22,  222)  versteht  nicht,  ^\^o  «vc\i  ^\^  KxAr 


326  ^*  Ziehen, 

Vielleicht  hat  Avenabius  selbst  gefühlt,  dafs  seine  bis  jetzt 
allein  berücksichtigteii  beiden  Hauptwerke  über  die  Stellung  der 
B  und  über  das  Verhältnifs  der  Schwankungen  des  Systems  C 
zu  den  ^-Werthen  und  über  die  Natur  der  letzteren  und  auch 
über  das  Verhältnifs  der  „vorfindenden  Individuen**  noch  keine 
genügende  Auskunft  geben  und  hat  diese  Lücke  durch  seine 
„Bemerkungen  zum  Begriff  des  Gegenstandes  der 
Psychologie"^  auszufüllen  versucht  Auch  in  diesen  Abhand- 
lungen hält  AvENARiüs  fest,  dafs  sich  die  „Mannigfaltigkeit  von 
thatsächlich  Vorgefundenem"  in  zwei  Haupttheile  scheidet,  das 
Ich-Bezeichnete  und  die .  Umgebungsbestandtheile.  Die  Analyse 
des  Ich-Bezeichneten  soll  ferner  „ein  Mehreres  als  einen  reinen 
Mechanismus  imd  mithin  für  meine  Bewegungen  eine  mehr- 
als   -mechanische  Bedeutung  ergeben",  welche  Avenabius  auch 


fassung  der  reducirten  Empfindungen  als  blofser  Abstractionen  aus  den 
concreten  Wahrnehmungen  mit  dem  Zusammenwirken  von  reducirten  Object- 
und  •'-Empfindungen  vor  der  concreten  Wahrnehmung  vereinbaren  lasse. 
Darauf  mufs  ich  einfach  erwiedern,  dafs  alle  unsere  metaphysischen,  e^ 
kenntnifstheore tischen,  religiösen  Vorstellungen  nur  Abstractionen  aus  den 
concreten  Empfindungen,  also  Vorstellungen  sind..  Auch  die  von  mir  ver- 
tretene Vorstellung,  dafs  in  den  concreten  Empfindungen  reducirte,  allge- 
meine (d.  h.  von  den  individuellen  Rückwirkungen  der  individuellen  Nerven- 
systeme befreite)  Empfindungen  (d.  h.  psychische  Realitäten)  enthalten  sind, 
ist  und  bleibt  nur  eine  Vorstellung,  aber  selbstverständlich  stelle  ich  mir 
nicht  vor,  dafs  diese  reducirten  Empfindungen  etwa  wieder  als  Vor- 
stellungen oder  Abstractionen  in  meinen  concreten  Empfindungen  enthalten 
sind,  sondern  als  reducirte  Empfindungen.  Ich  wollte  nur  dem  skeptischen 
Standpunkt  treu  bleiben,  dafs  auch  meine  Reductionen  wie  alle  anderen 
Speculationen  nur  Vorstellungen  sind,  die  wir  aus  den  Empfindungen 
abstrahiren:  ich  wollte  ihre  ihnen  wie  allen  erkenntnifstheoretischen  etc. 
Vorstellungen  allezeit  anhaftende  Entstehungsweise  betonen.  Wenn  ich 
mir  vorstelle,  dafs  morgen  ein  Blitz  irgendwo  zündet  oder  gestern  ge- 
zündet hat,  so  will  ich  damit  nicht  sagen,  dafs  der  Blitz  nur  als  Vorstellung 
gezündet  hat  oder  zünden  wird.  Oder:  wenn  ich  mir  vorstelle,  dafs  die 
Erde  vor  Jahrmillionen  eine  glühende  Kugel  war  oder  nach  Jahrmillionen 
völlig  erkaltet  sein  wird,  so  will  ich  damit  nicht  sagen,  dafs  die  Erde  als 
Vorstellung  beides  erlebt,  sondern  nur,  dafs  die  entsprechende  Empfindung 
mir  fehlt.  Dasselbe  gilt  auch  von  meinen  reducirten  Empfindungen:  ali« 
solche  werden  sie  nie  erlebt,  meine  concreten  Empfindungen  sind  immer 
von  ihnen  verschieden.  Ich  kann  und  —  wie  ich  glaube  —  mufs  mir  nur 
die  Vorstellungen  solcher  reducirter  Empfindungen  bilden. 

1  VicrteljaJirsschr.  f.  ms8,  Philos.  18,   S.  137   und  400  (1894)   sowie  1», 
S.  1  und  129  (1895). 


ErkenntnifstheoreHsche  Auseinandersetzungen.  327 

äIs  „aniechanisch"  bezeichnet  Wenn  auch  Avenabius  bei  allen 
-diesen  Aufstellungen  zunächst  nur  „seinen  natürlichen  Welt- 
begriff" zu  schildern  angiebt  und  es  dem  Leser  „überläfst,  ob 
und  inwieweit  er  das,  was  er  (Avenabius)  von  sich  aussagt,  als 
Auch  für  sich  (den  Leser)  gültig  anerkennt",  so  geht  doch  aus 
-dem  Zusammenhang  hervor,  dafs  Avenabius  diesen  Aufstellungen 
■eine  allgemeinere  Gültigkeit  vindicirt.  Nun  kann  man  wohl  zu- 
geben, dafs  der  thatsächliche  imd  allgemeingültige  erkenntnifs- 
theoretische  Fimdamentalthatbestand ,  wie  ich  ihn  dargestellt 
habe,  also  die  Gesammtreihe  der  Empfindungen  und  Vorstellungen 
(mitsammt  ihren  Gefühlstönen)  von  vielen  Individuen  in  ein 
Ich-Bezeichnetes  und  in  eine  Umgebung  zerlegt  wird,  dem  ist 
Aber  sofort  zuzufügen,  dafs  diese  Zerlegung  sehr  schwankt,  dafs 
die  Grenze  zwischen  dem  Ich-Bezeichneten  und  der  Umgebung 
bald  hier  bald  dort  gezogen  wird,  und  dafs  von  vielen  In- 
-dividuen  aufser  dem  Ich-Bezeichneten  und  der  Umgebung 
noch  anderes  als  coordinirt  unterschieden  wird  (z.  B.  Gott) 
xind  dafs  wir  sehr  häufig  bei  imserem  Empfinden  imd  Denken 
unser  Ich  nicht  hinzudenken.  ^  Es  ist  also  eine  kritische 
Prüfung  einer  solchen  Unterscheidung  ganz  unerläfslich.  Diese 
Unterscheidung  mufs  scharf,  für  alle  Menschen  verständlich  und 
durchführbar  sein;  ferner  mufs  ein  die  beiden  Classen  imter- 
scheidendes  Merkmal  angebbar  sein;  sonst  behält  die  Unter- 
scheidung, wenn  sie  auch  noch  so  verbreitet  ist,  nur  Interesse 
als  häufig  auftretende  Unterschiedsvorstellung  innerhalb  der 
Reihe,  d.  h.  also  wegen  ihres  Vorkommens;  aber  nicht  als  ver- 
-werthbare  Classification  wegen  ihrer  erschöpfenden  und  allge- 
meinen Beziehung  zu  allen  Gliedern  der  Gesammtreihe.  Diese 
Anforderungen  erfüllt  die  Unterscheidung  der  Gesammtreihe  in 
Empfindimgen  und  Vorstellungen,  nicht  aber  die  Unterscheidung 
in  Ich-Bezeichnetes  und  Umgebungsbestandtheile.  Avenabius 
wird  hiergegen  einwenden,  dafs  diese  letztere  Unterscheidung 
•doch  wenigstens  für  einige  Menschen,  z.  B.  ihn  selbst  zu  Recht 
besteht  und  also  trotz  ihrer  Unzweckmäfsigkeit  doch,  da  sie 
nicht  geradezu  falsch  ist,  auch  als  Ausgangspunkt  in  Betracht 
gezogen  werden  kann.  In  der  That  kann  man  auch  von  dieser 
AvENABius'schen   „empiriokritischen  Principialcoordination"   aus- 


*  Diesen  Punkt  hat  auch  Wundt  in  seiner  Kritik  des  Empiriokriticis- 
mus  hervorgehoben,  Philos.  Sind.  13,  43. 


328  ^*-  Ziehen. 

gehen,  nur  mufs  man  dann  wegen  der  Unbestinimtheit  und  Un- 
zweckmäXsigkeit  des  Ausgangspunktes  bei  den  weiteren  Schritten 
doppelt  vorsichtig  sein,  zumal  auch  die  Namen  „Ich-Bezeichnetes^ 
und  „Umgebungsbestandtheile"  leicht  zu  falschen  Folgerungen 
verführen.  Diese  Vorsicht  aber  hat  Avenaeius  in  einem  Haupt- 
punkt versäumt,  nämlich,  wenn  er  weiterhin  bei  der  Analyse 
des  Ich-Bezeichneten  ein  Amechanisches  d.  h.  „ein  Mehreres  als 
einen  reinen  Mechanismus"  zu  finden  behauptet  —  Was  versteht 
Avenaeius  unter  „Mechanismus"  imd  „mechanisch"  ?  Man  wird 
in  den  beiden  Hauptwerken  ^  vergeblich  nach  einer  genaueren 
Erklärung  suchen,  dagegen  giebt  Avenaeius  eine  solche  in 
Nr.  30  fE.-  seiner  Bemerkungen  zum  Begriff  des  Gegenstandes 
der  Psychologie.  Meine  Bewegimgen,  sagt  Avenaeius,  haben 
eine  mechanische  Bedeutung,  insofern  die  Bewegungen  meiner 
Glieder  wieder  die  Bewegungen  anderer  Sachen  im  Sinn  des 
Gesetzes  der  Erhaltung  der  Energie  zur  Folge  haben,  dagegen 
eine  amechanische  Bedeutung  \  sofern  sie  zugleich  z.  B.  eben  ein 
„Gefühltes"  sind,  mit  welcher  Bestimmung  nicht  eo  ipso  die- 
jenige einer  mechanischen  Arbeitsleistung  verbunden  ist.  Diese 
Sätze  enthalten  eine  Fülle  von  Hypothesen,  deren  sich  gerade 
die  Erkenntnifstheorie  enthalten  soll.  Vor  Allem  ist  im  Auge 
zu  behalten,  dafs  das  Ich-Bezeichnete  und  die  Umgebungsbestand- 
theile  nur  „Erlebnisse"  sind.  Von  einem  Ich,  das  erlebt,  und 
von  einem  Baum,  der  erlebt  wird  oder  gar  auch  existirt,  wenn 
er  nicht  erlebt  (z.  B.  gesehen)  wird,  wissen  wir  noch  garnichts. 
In  dem  Fundamentalthatbestand  sind  u.  A.  noch  alle  die  sog. 
Täuschungen  enthalten,  welche  wir  erst  nachträglich  corrigii*en: 
der  Baum  wird  kleiner,    wenn  wir  uns  entfernen,   der  Stein  ist 


>  Vgl.  der  menschliche  Weltbegriff  Nr.  12  und  120. 

2  Vgl.  auch  Nr.  157  und  148. 

^  Carstanjkn  behauptet  in  seiner  Antikritik  {Vierteljahrsschr,  f.  iciss. 
Philos.  22,  1898;  69)  unter  Berufung  auf  Nr.  27  der  Bemerkungen  z.  Begr. 
d.  Gegenst.  d.  Psych.,  dafs  Avenaeius  gesagt  habe,  thatsächlich  komme 
den  mitmenschlichen  Bewegungen  nur  eine  mechanische  Bedeutung  zu,  die 
amechanische  legten  wir  ihnen  erst  bei.  Mit  dem  Wortlaut  von  Nr.  27 
stimmt  dies  doch  wohl  nicht  überein,  da  Avenarius  den  mitmenschlichen  Be- 
wegungen die  amechanische  Bedeutung  insofern  abspricht,  als  sie  „nur  von 
meinem  örtlichen  Standpunkt  aus  als  Vorgefundenes  betrachtet  werden.*' 
Sowohl  die  mechanische  als  die  amechanische  Bedeutung  der  menschlichen 
Mitbewegungen  ergiebt  sich  also  jeweils  nach  dem  Standpunkt  der  Be- 
trachtung. 


Erkenntnifatheoretische  Ämeinanderaefzungen.  329 

Wärmer,  wenn  unsere  eigene  Hand  kalt  ist,  die  Umgebung  ist 
gelb,  wenn  wir  eine  Santonindosis  verschluckt  haben  u.  s.  f. 
Gerade  die  Anwesenheit  solcher  „Täuschungen"  ist  für  den 
Fundamentalthatbestand  charakteristisch.  Für  diesen  imreducirten 
Fundamentalthatbest£uid  nun  existirt  kein  Gesetz  der  Erhaltung 
der  Energie,  weder  für  denjenigen  Theil,  den  A.  als  Umgebungs- 
bestandtheil  bezeichnet,  noch  innerhalb  des  Ich -Bezeichneten. 
AvENAMüs  übersieht  an  dieser  Stelle  wiederum  ganz,  dafs  erst 
compUcirte  Reductionen  erforderlich  sind,  bevor  das  Gesetz  der 
Erhaltung  der  Energie  nachgewiesen  werden  kann.  Ohne  diese 
Reductionen  ausgeführt  zu  haben,  kann  man  weder  bei  den 
Umgebungsbestandtheilen  noch  bei  dem  Ich -Bezeichneten  von 
mechanisch  oder  amechanisch  sprechen.  Führt  man  aber  diese 
Reductionen  aus,  so  ergiebt  sich  auch  bei  den  Umgebungs- 
bestandtheilen eine  amechanische  Bedeutung  neben  der  mecha- 
nischen. Solange  ich  dem  Baum-Erlebnifs  seine  grüne  Farbe 
belasse  und  das  Grün  nicht  durch  mechanische  Vorgänge  ersetze 
d.  h.  eben  die  Baumempfindung  reducire,  kann  ich  das  Gesetz 
der  Erhaltung  der  Energie  nicht  nachweisen.  Es  ist  also  mit 
den  Umgebungsbestandtheilen  nicht  anders  als  mit  dem  Ich- 
Bezeichneten.  Wohl  aber  ergiebt  sich  bei  Berücksichtigung  dieser 
Reductionen  eine  Sonderstellung  für  unsere  Erinnerungsbilder 
oder  Vorstellungen,  insofern  diese  Träger  der  Reductionen  sind, 
aber  selbst  als  solche  keiner  weiteren  Reductionen  (im  passiven 
Sinn)  fähig  sind.^  Man  gelangt  also  auch  vom  Standpunkt  der 
„empiriokritischen  Principialcoordination"  von  Avenariüs  aus  zu 
der  von  mir  an  die  Spitze  der  Analyse  des  Fimdamentalthat- 
bestands  gestellten  Unterscheidung  von  Empfindungen  und  Vor- 
stellungen und  zu  Reductionsvorstellungen  der  ersteren,  d.  h. 
Zerlegung  der  Empfindungen  imd  zwar  aller  Empfindungen  in 
zwei  Componenten  entsprechend  der  Causal-  und  der  Parallel- 
formel. 

AvENARiüs  behauptet  zunächst,  wie  sich  aus  Nr.  26  ergiebt, 


^  Wir  müssen  an  Stelle  der  Vorstellungen  die  Empfindungen  setzen, 
und  auf  die  letzteren  beziehen  sich  unsere  Reductionen.  Thatsächlich  aus- 
führbar ist  diese  Umwandlung  der  Vorstellungen  in  Empfindungen  nicht. 
Es  ist  der  inverse  Procefs  der  Abstraction  und  kann  als  Sensification  be- 
zeichnet werden.  Ein  pathologisches  Beispiel  bietet  die  Hallucination. 
Durch  technische  oder  künstlerische  Darstellung  wird  sie  auf  Umwegen 
erreicht. 


330  ^-  Ziehen. 

dafs  das  ganze  Ich-Bezeichnete  ein  Mehreres  als  einen  reinen 
Mechanismus  darstellt;  für  seine  weitere  Untersuchung  kommt 
es  ihm  aber  hauptsächlich  auf  die  amechanische  Bedeutung  eines 
Theils  des  Ich-Bezeichneten,  nämlich  „meiner  Bewegungen"  an. 
Zu  Gunsten  der  amechanischen  (d.  h.  also  nicht-nur- mechanischen) 
Bedeutung  der  letzteren  führt  er  in  erster  Linie  an,  dafs  meine 
Bewegungen  nicht  nur  Arbeit  leisten,  sondern  auch  gefühlt 
werden.  Dabei  erfahren  wir  jedoch  nicht,  was  dies  „gefühlt 
werden"  bedeutet.  Alle  primären  Erlebnisse  „werden  gefühlt", 
d.  h.  von  diesem  oder  jenem  Sinnesorgan  vermittelt.  In  diesem 
Sinn  wird  auch  die  Arbeitsleistung  meiner  Bewegimgen  „gefühlt", 
und  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie  beruht  nur  auf 
solchen  „gefühlten"  Wahrnehmungen.  Die  soeben  besprochene 
Vernachlässigung  unserer  Reductionen  rächt  sich  hier  wiederum. 
Weiter  beruft  sich  A.  zu  Gimsten  der  amechanischen  Bedeutung 
meiner  Bewegungen  auch  auf  ihre  Beziehungen  zu  Lust -Unlust, 
Gedanken,  Bedürfnissen  etc.  (Nr.  31),  die  keine  mechanische,  unter 
dem  Gesetz  der  Erhaltung  der  Energie  stehende  Arbeit  leisten, 
so  wie  dies  meine  Bewegungen  thun  (Nr.  32).  Hiergegen  ist  nur 
anzuführen,  dafs  eine  Beziehung  eines  Vorgangs  a  zu  amecha- 
nischen Vorgängen  doch  wohl  noch  nicht  eine  amechanische 
Bedeutung  des  Vorgangs  a  beweist  Gerade  die  Bewegungen 
meines  Körpers  stehen  erkenntnifstheoretisch  den  Umgebungs- 
bestandtheilen  viel  näher  als  den  Erinnerungsbildern  oder  Vor- 
stellungen, deren  Sonderstellung  wir  anerkannt  haben. 

Die  folgenden  Argumentationen  von  Avenarius  gegen  die 
Introjection  (Nr.  35 — 63)  sind  vollständig  correct  Nur  wenn  er 
glaubt,  mit  der  Introjection  auch  den  Gegensatz  zwischen  Subject 
und  Object  aufgehoben  zu  haben,  irrt  er.  Dieser  Gegensatz 
wird  nur  etwas  verdeckt.  Centralglied  und  Gegenglied  sind 
schliefslich  doch  nur  andere  Namen  für  Subject  imd  Object 
Ich  kann  durchaus  nicht  finden,  dafs,  wie  Avenabius  Nr.  55  Anm. 
annimmt,  die  Introjection  für  diese  Gegenüberstellung  w^esentUch 
ist  Ich  glaube  vielmehr,  dafs  erst  durch  meine  Einführung  der 
v-Empfindungen  diese  Gegenüberstellung,  s  o  w  e  i  t  sie  unzutreffend 
ist,  wirklich  beseitigt  worden  ist 

Avenabius    führt    sein    Ich-Subject^    durch    ganz    ähnliche 


*  WuNDT,  Fhihsophische  Studien  12,  1896;  319  hat,  wie  mir  scheint,  die 
allgemeine   Grundanschauung   der   immanenten  Philosophie   nicht   richtig 


Erkenntnifstheoretische  Aviseinandersetzungen.  331 

Hinterthüren  ein  wie  so  viele  Metaphysiker.  Die  verdächtige 
Hinterthür  ist  bei  Avenabius  die  „volle  Erfahrung".  Avenarius 
bemerkt  wohl,  dafs  in  zahlreichen  Erfahrungen  —  als  Erfahrung 
wird  Nr.  66  viel  präciser  als  in  den  Hauptwerken  einfach  das 
„Vorgefundene"  bezeichnet  —  das  Ich-Bezeichnete  fehlt.  Darum 
scheidet  er  solche  Erfahrungen  einfach  aus,  indem  er  Nr.  72 
den  ganz  künstlichen  Begriff  einer  „im  vollen  Sinne  concreten" 
oder  „vollen"  Erfahrung  construirt.  Um  als  „voll"  gelten  zu 
können,  mufs  die  Erfahrung  nach  Avenabius  zwei  Bedingungen 
erfüllen.  Sie  mufs  erstens  ein  Individualbegriff  sein,  und  zweitens 
mufs  der  Inhalt  der  Erfahrung  „ohne  Abstractionen  auch  in  dem 
Sinn  gesetzt  sein,  dafs  darin  nicht  von  analytisch  bestimmbaren 
Inhalten,  welche  in  ihr  eingeschlossen  sind,  abstrahirt  worden 
ist".  Grerade  gegen  die  zweite  Bedingung  erheben  sich  schwere 
Bedenken.  Diese  volle  Erfahrung  enthält,  wie  Avenabius  selbst 
sagt,  „auch  alles  das,  was  an  ihr  wohl  unterschieden  werden 
kann,  was  aber  nicht  geschieden  vorkommt;  was  in  ihr  wohl 
übersehen  werden  kann,  aber  nie  ganz  fehlt".  Warum  läfst 
Avenabius  die  Erfahrung,  den  empiriokritischen  Befund  nicht 
so,  wie  er  ist?  Warum  unterscheidet  er  gewissermaafsen  eine 
Erfahrung  erster  Classe,  die  volle  Erfahrung,  und  eine  Er- 
fahrung zweiter  Classe,  die  partielle  Erfahrung?  Wer  soll 
entscheiden,  ob  eine  thatsächliche  Erfahrung  dieser  oder  jener 
Classe  angehört,  ob  an  ihr  noch  etwas  und  was  an  ihr  fehlt? 
Aus  der  weiteren  Darstellung  (Nr.  73  ff.)  ^  ergiebt  sich,  dafs  nach 
Avenabius  die  Erfahrungen  des  gewöhnlichen  Sprachgebrauchs 
gröfstentheils  wegen  dieser  oder  jener  Abstractionen  als  partiell 
gelten  müfsten.  Die  Erfahrung  „der  Zucker  schmeckt  süfs"  soll 
partiell  sein,  weil  sie  vom  menschHchen  Individuum,  das  den 
Zucker  geniefst,  und  von  der  Lust  oder  Unlust  beim  Greschmack 
des  Süfsen  absieht.  Man  darf  doch  hier  Avenabius  fragen, 
warum  einer  Erfahrung,  die  beispielsweise  allein  im  Süfsgeschmack 


wiedergegeben,  wenn  er  den  Gegensatz  zwischen  dem  denkenden  Ich  und 
dem  Empfindungsinhalt  als  einen  wesentlichen  Bestandtheil  der  immanenten 
Lehre  betrachtet.  Wesentlich  ist  nur  für  die  letztere,  dafs  aufser  dem 
gegebenen  Bewufstseinsinhalt  keine  andere  qualitativ  verschiedene 
Realität  angenommen  wird. 

^  Ich  vermuthe  übrigens  am  Schlufs  des  1.  Absatzes  von  Nr.  78  einen 
Druck-  oder  Schreibfehler.  Der  Sinn  wird  durch  die  gehäuften  Negationen 
entstellt. 


332  ^-  -^Ä«»« 

besteht,  gewaltsam  noch  solche  Ergänzungen  auf genöthigt  werden 
sollen,  und  wo  die  Grenze  für  solche  Ergänzungen  gegeben  ist 
Was  meint  ferner  Avenarius  mit  den  Abstractionen,  welche  die 
Erfahrungen  des  gewöhnhchen  Sprachgebrauchs  „enthalten*" 
sollen  ?  Meint  er  Abstractionen,  die  thatsächlich  einmal  bei  dem 
Erfahrenden  stattgefunden  haben,  dann  muTs  ich  sagen,  dafs  in 
dem  angeführten  Beispiel  die  Vorstellung  des  den  Zucker  ge- 
niefsenden  menschlichen  Individuums  nicht  nachträglich  weg- 
gelassen, sondern  vielmehr  nachträglich  zugefügt  worden  ist; 
denn  der  erste  Süfsgeschmack  des  Kindes  war  gewifs  nicht  von 
der  Vorstellung  eines  den  Zucker  geniefsenden  Individuums  be- 
gleitet. Oder  meint  Avenabius  Abstractionen  von  Nebenempfin- 
dungen ^  oder  Nebenvorstellungen,  die  bei  entsprechender  Auf- 
merksamkeit und  Ausdehnung  der  Beobachtung  stets  neben  der 
ausgesagten  Empfindung  („der  Zucker  schmeckt  süfs")  nachge- 
wiesen werden  können  und  deshalb  mitgedacht  werden  müssen? 
Dann  aber  würden  zu  diesen  Abstractionen  auch  die  Geschmacks- 
Papillen  und  ihre  feinsten  mikroskopischen  Structuren  gehören» 
und  die  volle  Erfahrung  würde  niemals  gegeben  sein.  Ich  frage 
daher  nochmals :  wo  ist  die  Grenze  ?  und  wer  schützt  uns  davor, 
dafs  das  Fehlen  dieser  oder  jener  hypothetischen  Vorstellung, 
welche  wir  z.  B.  gewohnheitsmäfsig  oft  früher  an  die  ausgesagte 
Empfindung  geknüpft  haben,  es  sei  nun  die  Annahme  eines 
empfindenden  Ich  oder  in  bestimmter  Weise  zusammengesetzter 
Zuckermoleküle,  als  eine  Abstraction  gedeutet  wird,  die  wir 
schleunigst  revociren  müssen,  und  dafs  uns  schliefslich  als  ^voUe* 
Erfahrung  nun  eine  mit  Hypothesen  versetzte  Erfahrung  be- 
scheert  wird. 

In  der  That  bewahrheitet  sich  diese  Befürchtung  bei  Avenabius 
durchaus.  Nr.  77  wird  unter  dem  Deckmantel  der  vollen  Er- 
fahrung das  Ich-Subject  und  die  Umgebung  eingeführt.  Jede 
volle  Erfahrung  gliedert  sich,  heifst  es  da,  in  zwei  Hauptbestand- 
theile,  das  Ich-Bezeichnete  und  die  Umgebung.  Es  wird  also 
vorausgesetzt,  dafs  das  Ich-Bezeichnete  zu  den  Inhalten  gehört, 
von  welchen  bei  den  partiellen  Erfahrungen  des  gewöhnlichen 
Sprachgebrauchs    oft   abstrahirt    wird.      Würde    Avekarius    uns 


*  Das  Vorwort  „Neben"  soll  hier  keine  Unterordnung  ausdrücken, 
sondern  nur  das  Auftreten  neben,  d.  h.  zugleich  mit  der  ausgesagten  Em» 
pfindung  G,tler  Zucker  schmeckt  sttfs"). 


Erkenntnißiheoretische  Auseinandersetzungen.  333 

sagen:  ich  will  eine  Erfahrung,  welche  in  diese  beiden  Glieder 
zerfällt,  als  volle  Erfahrung  bezeichnen,  so  könnte  man  sich, 
wie  jede  Terminologie,  so  auch  diese  schliefslich  trotz  der  Gefahr 
arger  Mifsdeutungen  noch  gefallen  lassen.  Aber  Avenabius 
will,  wie  der  Zusammenhang  und  der  Wortlaut  ergiebt,  mehr 
sagen,  nämlich  dafs  auch  in  den  Erfahrungen,  welche  das  Ich- 
Bezeichnete  nicht  enthalten,  dieses  Ich -Bezeichnete  nur  in 
Folge  einer  Abstraction  fehlt  und  zu  ergänzen  ist  Ausdrücklich 
sagt  AvENAEius  (Nr.  78),  eine  Erfahrung  „Umgebung**  komme 
nicht  vor,  ohne  dafs  in  dieser  Erfahrung  das  Ich-Bezeichnete 
^eingeschlossen"  wäre.  Das  wäre  aber  doch  erst  noch  nachzu- 
weisen. Die  Berufung  auf  Nr.  21  (in  Nr.  77)  ist  nicht  stichhaltig. 
In  Nr.  21  hat  A.  behauptet^  dafs  der  thatsächlich  vorge- 
fundene Bestandtheil  seines  natürlichen  WeltbegrifEes  in  Ich- 
Bezeichnetes  und  Umgebung  zerfällt,  jetzt  will  er  in  Nr.  21 
nachgewiesen  haben ^  dafs  jede  volle  Erfahrung  eine 
zunächst  zweifach  bestimmte  Mannigfaltigkeit  sein  mufs,  welche 
sich  in  Ich-Bezeichnetes  und  Umgebung  gliedert.  Da  hat  sich 
doch  zwischen  den  Seiten  der  harmlose  Satz  des  §  21  in  sehr 
bedenkUcher  Weise  umgestaltet.  An  keiner  Stelle  hat 
AvENARius  ein  klar  unterscheidendes  Merkmal  oder 
eine  scharfe  Grenzbestimmung  zwischen  dem  Ich- 
Bezeichneten  und  der  Umgebung  gegeben,  an  keiner 
Stelle  die  Triftigkeit  dieser  Gliederung  begründet. 
In  dieser  Beziehung  tritt  er  fast  ebenso  dogmatisch  auf,  wie 
irgend  ein  Systembildner,  der  den  Gegensatz  „Subject  —  Object" 
oder  „Psychisch  —  Materiell"  ohne  Weiteres  als  gegeben  ansieht 
Er  kehrt  damit  auch  in  dieser  neuesten  Abhandlimg  auf  den 
principiellen  Anfangsstandpunkt  zurück,  den  er  in  der  Kritik 
der  reinen  Erfahrung  und  namentlich  im  Weltbegriff  einge- 
nommen hatte. 

Es  verlohnt  sich  noch  etwas  näher  zu  verfolgen,  wie  A.  die 
Abgrenzung  des  Ich-Bezeichneten  gegen  die  Umgebung  ver- 
sucht hat.  Gemeinsam  im  logischen  Sinn  soll  dem  Ich-Be- 
zeichneten imd  den  Umgebungsbestandtheilen  in  gewissem  Um- 
fang die  allgemeine  Bestimmung  als  „Sache"  oder  „Sachhaftes^ 
sein  (Nr.  80).    Ich  vermag  diesen  Satz  nicht  mit  Nr.  509  fE.  der 


'  Der  gesperrte  Druck  in  diesem  Satz  stammt  von  mir. 
*  Im  Text  heifst  es:  wir  „wissen"  nun  schon. 


334  ^Ä-  Ziehen. 

Kritik  der  reinen  Erfahrung  in  Uebereinstimmung  zu  bringen. 
Dort  (Kr.  d.  r.  Erf.  Nr.  509)  sind  es  die  Abhängigen  der  peri- 
pherisch bedingten  Aenderungen  des  Systems  C,  welche  als 
Sachen  gesetzt  sind,  mithin  nach  dem  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauch die  Empfindungen  oder  Wahrnehmungen.  Die  Er- 
innerungsbilder oder  Vorstellimgen  sind  jedenfalls  nach  der  dort 
gegebenen  Definition  von  der  Sachhaftigkeit  ausgeschlossen. 
Jetzt  (Nr.  80)  wird  die  Sachhaftigkeit  auch  dem  Ich-Bezeichneten 
ganz  allgemein  zugesprochen;  zu  diesem  Ich-Bezeichneten  ge- 
hören aber  auch  die  Gedanken  (Nr.  22  u.  81);  also  wären  diese 
nun  auch  sachhaft?!  Doch  man  wird  den  Satz  des  Avenabiüs 
vor  diesem  Widerspruch  vielleicht  dadurch  bewahren  wollen, 
dafs  man  seine  Worte  „in  gewissem  Umfang"  als  eine  Ein- 
schränkimg auffafst  AvENABius  könnte  gemeint  haben,  dafs  nur 
einem  Theil  des  Ich-Bezeichneten  die  Sachhaftigkeit  mit  den 
ümgebungsbestandtheilen  gemeinsam  ist.  Dann  kann  jedoch 
erstens  von  einer  logischen  Gemeinsamkeit  nicht  mehr  ge- 
sprochen werden,  und  zweitens  wird  damit  zugegeben,  dafs  die 
natürliche  Grenze  nicht  zwischen  dem  Ich-Bezeichneten  und  den 
Ümgebungsbestandtheilen ,  sondern  zwischen  dem  Sachhaften, 
als  Sache  Gesetzten  und  den  Gedanken  oder  —  nach  meiner 
Bezeichnungsweise  —  zwischen  Empfindungen  und  Vorstellungen 
verläuft,  dafs  sie  also  mitten  durch  das  Ich-Bezeichnete  hindurch- 
geht. 

Aufserdem  ist  es  höchst  befremdlich,  dafs  die  Bestimmung 
als  Sache  oder  Sachhaftes  nun  den  Ä-Werthen  zugeschrieben 
wird,  während  sie  in  der  Kritik  den  jE-Werthen  zukam. 

Auch  scheint  mir  unzweifelhaft,  dafs  A.  noch  in  einer 
anderen  Beziehung  seinen  Standpunkt  bezügUch  des  Ich-Be- 
zeichneten etwas  verschoben  hat.  In  der  Kritik  der  reinen  Er- 
fahrung wird  der  menschliche  Leib  und  speciell  auch  das 
System  C  nicht  so  schlechthin  zum  Ich-Bezeichneten  gerechnet 
wie  in  den  Bemerkungen  zum  Begriffe  des  Gegenstandes  der 
Psychologie.  Vgl.  z.  B.  Kritik  Nr.  62  und  Cabstanjen  L  c.  S.  272 
Anm.  In  der  Kritik  der  reinen  Erfahrung  schimmert  die  richtige 
Grenzlinie  noch  öfter  durch,  Avenamus  bleibt  sich  noch  theil- 
weise  bewufst,  dafs  der  Leib  'einschhefsHch  des  Systems  C  uns 
zunächst  durchaus  in  derselben  oder  sehr  ähnlichen  Weise  ge- 
geben ist  wie  die  Umgebungsbestandtheile ,  nämlich  in  Gestall 
von    sinnHch    lebhaften    Empfindungscomplexen.     In    den   Be- 


Erkenntnifstheoretische  Aiueinandersetzungen.  335 

merkungen  tritt  diese  Erkenntnifs  schon  ganz  in  den  Hinter- 
grund. 

Wenn  nach  diesen  Ausführungen  das  gemeinsame  Merkmal, 
welches  A.  für  das  Ich-Bezeichnete  und  die  Umgebungsbestand- 
theile  angiebt,  schon  höchst  zweifelhaft  ist,  so  gilt  dies  noch 
mehr  von  dem  Unterschied,  welchen  er  zwischen  beiden  auf- 
stellt (Nr.  81).  Dieser  Unterschied  läuft  nämlich  darauf  hinaus, 
dafs  in  der  Erfahnmg  „Ich"  weit  mehr  Erfahrungen  einge- 
schlossen seien  als  in  der  Erfahrung  „Baum",  „Stein"  u.  s.  f. 
Also  der  einzige  Unterschied,  den  A.  für  seine  principielle 
Hauptgliederung  angiebt,  ist  ein  quantitativer.  Und  wie 
schwach  begründet  ist  noch  dazu  dieser  quantitative  Unterschied  I 
Dadurch,  dafs  Avenabius  das  gesammte  Ich-Bezeichnete  einem 
einzelnen  Umgebungsbestandtheil,  wie  Baum  oder  Stein  gegen- 
überstellt, wird  einen  Augenblick  ein  solcher  quantitativer  Unter- 
schied vorgetäuscht  Sobald  ich  mir  aber  die  Gesammtheit 
meiner  Sachempfindungen,  d.  h.  der  Umgebungsbestandtheile 
vergegenwärtige  und  ihr  die  karge  Zahl  meiner  Vorstellungen, 
Gefühle  u.  s.  f.  gegenüberstelle,  so  wird  das  Resultat  des  Ver- 
gleichs schon  sehr  zweifelhaft  Und  ein  solch  zweifelhafter 
quantitativer  Unterschied  soll  eine  principielle  Zweitheilimg  des 
erkenntnifstheoretischen  Fundamentalthatbestandes  begründen 
können?!  Gerade  aus  diesem  verunglückten  Versuch  einer 
Unterschiedsbegründung  mufs  man  schliefsen,  dafs  die  Avenarius'- 
sche  Zweitheilung  nicht  richtig  ist,  d.  h.  vor  Allem  nicht  im 
Stande  ist,  erkenntnifstheoretisch  weiter  zu  führen. 

Die  AvENAEiüs'sche  Principialcoordination  „Ich-Bezeichnetes 
und  Umgebungsbestandtheile"  kann  daher  nicht  als  „die  all- 
gemeinste formale  Bestimmung  der  vollen  Erfahrung  ihrer  all- 
gemeinen Form  nach"  (Nr.  90)  anerkannt  werden,  wenn  man 
unter  der  vollen  Erfahrung  nicht  geradezu  eben  ausschliefsUch 
die  Erfahrung  versteht,  wo  gelegentlich  einmal  —  z.  B.  bei 
AvENABirs  selbst  —  diese  Gegenüberstellung  von  einem  Menschen 
gedacht  wird.  Unter  keiner  Bedingung  aber  darf  man  die  Er- 
fahiningen  des  gewöhnlichen  Sprachgebrauchs  sämmtlich  als  die 
„materialen  Bestimmungen"  dieser  vollen  Erfahrung  (Nr.  91) 
bezeichnen.  Der  Nachweis,  dafs  in  diesem  Sinne  die  gewöhn- 
lichen Erfahrungen  alle  der  AvENABius'schen  Principialcoordination 
subsumirt  werden  können,  ist  nicht  geführt 

Die  weitere  Ausführung  der  Lehre  von  den  partiellen  Er- 


336  ^-  Ziehen. 

fahrungen  verwickelt  Avenarius  in  neue  Schwierigkeiten.  Er 
theilt  die  partiellen  Erfahrungen  ein  in  Elemente  bezw.  Elementen- 
complexe  und  Charaktere.  Ich  will  hier  mich  nur  gegen  die 
Avenarius 'sehe  Besprechung  der  ersteren  wenden,  weil  sie  für 
die  Erkenntnifstheorie  unmittelbar  bedeutsam  ist.  Die  Elemente 
theilt  Avenarius  nämlich,  je  nachdem  sie  sachhaft  oder  gedenken- 
haft  sind,  in  die  „körperlichen  Dinge"  und  die  „nichtkörperlichen 
Dingerinnerungen  und  -phantasien"  (Nr.  93).  Hier  erhebt  sich 
nun  die  Frage,  was  A.  unter  den  körperlichen  Dingen  versteht: 
die  Empfindungserlebnisse  selbst  mit  allen  ihren  sogenannten 
subjectiven  Zuthaten  und  Täuschungen  (also  die  Empfindimgen 
meiner  Erkenntnifstheorie)  oder  Dinge,  die  von  diesen  Em- 
pfindungen verschieden  sind?  Im  letzteren  Fall  hat  Avenarius 
ganz  vergessen  uns  zu  erläutern,  wieso  er  zu  diesen  „Dingen** 
kommt.  Die  Reductionen  und  Eliminationen  werden  übergangen. 
Man  wird  vielleicht  im  Hinblick  auf  die  Kritik  der  reinen  Er- 
fahrung die  Meinung  von  Avenarius  dahin  erläutern  wollen, 
dafs  wir  die  Empfindungserlebnisse  „als  Sachen  setzen".  Aber 
auch  damit  ist  nichts  gebessert.  In  der  Kritik  der  reinen  Er- 
fahrung werden  die  Sachen  nur  charakterisirt  dm'ch  ihre  Ab- 
hängigkeit von  direct  peripherisch  beanspruchten  Partialsystemen 
(Nr.  509).  Sie  sind  noch  ganz  mit  unseren  uncorrigirten  Em- 
pfindungserlebnissen identisch.  Das  „setzen"  wird  gar  nicht 
näher  erläutert.  Man  wird  sich  also  wohl  doch  zu  der  anderen 
Alternative  entschliefsen  müssen,  dafs  A.  mit  den  körperlichen 
Dingen  unsere  uncorrigirten  Empfindungserlebnisse  meint.  Dann 
aber  ist  ganz  unverständlich,  mit  welchem  Recht  er  dieselben 
ausschliefslich  den  Naturwissenschaften  zuAveist  und  vom  Gegen- 
stand der  Psychologie  ausschliefst.  Warum  sollte  die  Empfindungs- 
lehre ganz  der  Psychologie  entzogen  werden  ?  Nach  meiner  Auf- 
fassung ergiebt  die  Analyse  der  Empfindungserlebnisse  zwei  Be- 
standtheile:  einen  dem  Causalgesetz  unterworfenen  Reductions- 
bestandtheil,  mit  dem  sich  die  Naturwissenschaften  beschäftigen, 
und  einen  dem  Parallelgesetz  folgenden  subjectiven  d.  h.  von 
individuellen  v  -  Empfindungen  abhängigen  Bestandtheil ,  mit 
dem  sich  die  Psychologie  beschäftigt.  Avenarius  begnügt  sich 
nicht  vom  Gegenstand  der  Psychologie  Abhängigkeit  vom  aus- 
sagenden Individuum  zu  fordern  (Nr.  101),  sondern  er  verlangt 
auch  Gedankenhaftigkeit.  Offenbar  kam  A.  zu  dieser  Forderung, 
weil   er  die  Erfahrung  der  Pendelschwingungen,  der  Fallgesetze 


Erkenntnifstheoreti^che  Auseinandersetzungen,  33? 

und  anderer  Eznpfindungsthatsachen  mit  Recht  aus  der  Psycho- 
logie fernhalten  wollte«  Aber  dabei  hat  er  vergessen,  daXs  ii^ 
den  Empfindungserlebnissen  (ebenso  wie  in  den  Erinnerungen) 
auch  ein  yom  aussagenden  Individuum  abhängiger  Factor  steckt, 
von  dem  die  Naturwissenschaft  bei  ihren  Gesetzen  geradezu  ab- 
sieht. Unbemerkt  haben  sich  für  Avenabius  die  Empfindungs- 
erlebnisse doch  in  rein  materielle  Dinge  verwandelt  Die  weiteren 
Ausführungen  Nr.  103 — 106  berühren  darum  so  seltsam,  weil  die 
Gedankenhaftigkeit,  die  kurz  vorher  (Nr.  101)  noch  von  dem 
Gegenstand  der  Psychologie  als  Bedingung  gefordert  wiu*de,  nun 
plötzlich  weggelassen  wird.  In  der  Kritik  der  reinen  Erfahrung 
wird  man  solche  Inconsequenzen  nicht  finden.^  Die  Definition 
des  Gegenstandes  der  empirischen  Psycholc^e,  wie  sie  Nr.  111 
und  113  gegeben  wird,  erwähnt  ebenfalls  die  Gedankenhaftigkeit 
nicht  und  beschränkt  sich  mit  Recht  auf  die  individuelle  Ab- 
hängigkeit bezw.  die  Abhängigkeit  vom  System  C.  Man  kann 
nur  zweifeln,  ob  es  nützlich  ist  die  letztere  Abhängigkeit  an  die 
Stelle  der  ersteren  zu  setzen. 

A.  glaubt  freilich  mit  diesen  Erörterungen  seinen  Weltbegriff 
vom  metaphysischen  Dualismus  befreit  zu  haben.  „Der  absolute 
Gegensatz  von  Leib  und  Seele,  Materie  und  Geist,  kurz  von 
Physischem  und  Psychischem^  soll  nunmehr  ausgeschaltet  sein. 
In  der  That  ist  jedoch  die  Ausschaltung  dieses  Gegensatzes 
AvENABius  nicht  gelungen.  Etwas  verschleiert  kehrt  derselbe 
Cregensatz  wieder  in  der  Unterscheidimg  des  Ich-Bezeichneten 
und  der  Umgebungsbestandtheile ,  in  der  Unterscheidung  der 
i?-Werthe  und  der  -E-Werthe,  in  der  Unterscheidimg  des 
Amechanischen  und  des  Nur -mechanischen  und  in  der  Unter- 
scheidung der  Sachen  und  der  Gedanken.  Wir  haben  gegen 
den  einen  Gegensatz  des  Materiellen  und  Psychischen  vier 
noch  dazu  nicht  klar  von  einander  geschiedene  Gegensätze  ein- 
getauscht 

A.  gründet  seineu  Anspruch  den  Gegensatz  zwischen 
Psychischem  und  Physischem  ausgeschaltet  zu  haben  auf  ein 
seltsames  Argument  (Nr.  119).  „Innerhalb  der  geläuterten  vollen 
Erfahrung  giebt  es,  sagt  Avenakiüs,  Psychisches-Materie  im 
metaphysischen    absoluten   Begriff    nicht,    weil   die   Materie   in 


*  Dabei  ist  zuzugeben,  dafs  A.  durcli  das  Wörtchen  „scheint"  in  Nr.  i)4 
0ich  einen  Rückxug  offen  gehalten  hat. 

Zeitsclirift  för  Psychologie  27.  22 


33g  Th.  Ziehen. 

jenem  Begriff  nur  ein  Abstractum  ist :  sie  wäre  die  Gesammtheit 
der  Gregenglieder  unter  Abstraction  von  jedem  Centralglied.*' 
Die  volle  Erfahrung,  jetzt  sogar  die  „geläuterte*^  volle  Et&hrong 
wai*  ein  gekünstelter,  anfechtbarer  Begriff.  Weil  nun  hypothetisch 
jede  partielle  Erfahrung  zu  einer  solchen  vollen  ergänzt  werden 
kann,  versichert  A.,  wo  eine  partielle  Erfahrung  wie  Materie 
vorliege,  habe  eine  Abstraction  stattgefunden,  und  nennt 
deshalb  eine  solche  Materie  im  metaphysischen  absoluten  Begriff 
ein  Unding.  In  dem  Ergebnifs  stimme  ich  völlig  überein,  die 
Gründe  aber,  welche  Avenabiüs  hier  vorbringt,  sind  nicht  stich- 
haltig. 

Dafs  in  seinem  System  der  Gegensatz  „.B-Werthe  und 
-B-Werthe"  und  der  Gegensatz  „Ich-Bezeichnetes  und  Umgebungs- 
bestandtheile"  in  den  meisten  Punkten  dem  vermeinthch  aus- 
geschalteten Gegensatz  „Psychisches  und  Physisches''  entspricht^ 
scheint  Avenarius  entgangen  zu  sein.  Wohl  aber  fühlt  er  selbst,, 
dafs  der  von  ihm  acceptirte  Gegensatz  „Sachhaftes  und  6e- 
dankenhaftes^  (zwischen  dem  Baum  als  körperlichen  Ding  und 
dem  Baum  als  nicht-körperlichen  Gedanken)  den  alten  Gegensatz 
zwischen  Physischen  und  Psychischen  doch  wieder  ins  Leben  zu 
rufen  scheint  (Nr.  121  ff.),  und  versucht  darum  ausdrücklieh 
nachzuweisen,  dafs  dieser  Unterschied  durchaus  nicht  derjenige 
ist,  welcher  Physisches  und  Psychisches  absolut  scheidet.  In  der 
That  hat  auch  dieser  Unterschied  zwischen  dem  Sachhaften 
„Baum"  und  dem  Gedankenhaften  „Baum"  mit  dem  Unterschied 
zwischen  Physischem  und  Psychischem  gar  nichts  zu  thun,  so- 
lange man  den  Empfindungscharakter  des  Sachhaften  „Banm" 
durchaus  walirt,  also  unter  dem  Sachhaften  „Baum"  nur  das 
Empfindungserlebnifs  mit  den  charakteristischen  sogenannten 
subjectiven  Zuthaten,  Täuschungen  bezw.  Modificationen,  kurz 
das  Empfindungserlebnifs  so  wie  es  ist  versteht.  Aber  schon  die 
Bezeichnung,  „körperliches  Ding"  welche  A.  diesem  Empfindungs- 
erlebnifs giebt,  führt  irre,  und  erst  recht  lehrt  die  oben  gegebene 
genauere  Verfolgung  seiner  Lehre,  dafs  er  diesen  Erlebnifs- 
charakter  in  keiner  Weise  wahrt. 

Auch  wenn  Avekabius  (Nr.  123)  sich  dagegen  verwahrt,  dafs 
sein  Begriff  des  Mehr-als-Mechanischen  etwa  versteckt  den  Begriff 
des  Psychischen  wieder  einführe,  kann  er  sich  nur  auf  die  oben 
hervorgehobene  Unklarheit  dieses  Begriffes  berufen. 

Endlich   legt   sich  A.   (Nr..  124  ff.)  noch   die  Frage  vor,   wie 


Erkenntnifsthearetische  Auseinandersetzungen,  339 

nach  seiner  Lehre  sich  das  Ich,  das  einen  Nadelstich  empfindet, 
unterscheidet  von  einem  leblosen  Umgebungsbestandtheil,  welchem 
man  ein  Empfinden  des  Nadelstichs  abspricht?  .  Damit  ist  in 
der   That   das  Problem   bis   zu   einem   gewissen  Grade   richtig 
wiedergegeben.    A.  formulirt  diese  Frage  des  Weiteren  dahin: 
wie  unterscheidet  sich  ein  CentralgUed  von  einem  Gegenglied, 
welches  nur  als  solches  d.  h.  nicht  auch  als  Centralglied  einer 
zweiten   Principialcoordination   angenommen   wird  ?     Avenasiüs 
glaubt    nun,    dafs    ein    solcher    Unterschied    bezüglich    Gröfse, 
Schwere,  Form,    Farbe  etc.  nicht  in  Betracht  kommt.     Einen 
anderweitigen  Unterschied  könnte  er  sich  nur  denken  mit  Bezug 
auf  die  Hypothese,   welche  den  mitmenschlichen  Bewegungen 
eine  mehr-als-mechanische  Bedeutung  zuspricht  (Nr.  27)  und  so- 
mit das  Gegenglied  der  ersten  Principialconstruction  als  Central- 
glied  einer  zweiten  auffasst    Ein  Vergleich  in  dieser  Richtung 
ist  aber  nach  Ayenarius  logisch  ausgeschlossen,  da  ja  die  Ab- 
wesenheit einer  zweiten  Principialcoordination  vorausgesetzt  wird. 
Ich  kann  diese  genaueren  Ausführungen  in  Nr.  130  und   131 
nur  als  sehr  gekünstelt  bezeichnen  und  mufs  ihr  Ergebnifs  be- 
streiten.   Weshalb  ist  es   „sofort  klar",  dafs  ein  Unterschied  in 
Gröfse,    Schwere  etc.  nicht  in  Betracht  kommt  für  den  Unter- 
schied zwischen  mir  und  einem  leblosen  Umgebungsbestandtheil 
z.  B.   einem  Stein?    Gerade  die  natürliche  Auffassung  giebt  die 
einfache  Antwort:    ich  habe   ein   Centralnervensystem   und  der 
Stein  nicht    An  die  Anwesenheit  des  ersteren,  bezw.  bestimmter 
Theile  des  ersteren  ist  das  Empfinden  des  Nadelstichs  geknüpft. 
Dies   Centralnervensystem  gehört  doch  wohl  zum  „thatsächUch 
Vorgefundenen".     Avenariüs    erkennt    auch    sonst  seine   Rolle 
aUenthalben  an^;  warum  wird  es  hier  übergangen? 

Vom  Standpunkt  meiner  Erkenntnifstheorie  erledigt  sich  die 
Frage  von  Avenariüs  sehr  einfach.  Meine  Empfindungserlebnisse 
zerlegen  sich  in  Componenten,  welche  nach  den  Gesetzen  der 
mechanischen  Causalität  aufeinander  wirken,  und  in  Componenten, 
welche  dem  Parallelgesetze  folgen.  Durch  Reduction  der  Em- 
pfindungserlebnisse bezw.  durch  Elimination  der  zweiten  Com- 
ponenten erhalte  ich  die  ersten  Componenten,  die  Reductions- 
bestandtheile.    Die  Anwesenheit  der  Parallelcomponenten  ist  an 


'  So  tritt  in  Nr.  141  ff.  und  167  ff.  seine  Bedeutung  schon  wieder  hervor. 

22» 


g40  ^-  Z^^f^^- 

die  Anwesenheit  eines  Nervensystems^  geknüpft  und  kann  als 
eine  „Rückwirkung^  eines  solchen  Nervensystems  aufgefaCsl 
werden.  Der  Stein  hat  kein  Nervensystem  und  bedingt  daher 
keine  Rückwirkungen.  Insofern  hat  der  populäre  Ausspruch 
recht,  wenn  er  dem  Stein  Empfinden  abspricht  Irrthümlich  ist 
nur  die  mit  diesem  Ausspruch  meist  verknüpfte  Ansicht,  daüs 
ich  meine  Empfindungen  in  mir  trage  und  dafs  diese  Empfin- 
dungen zum  Stein  in  dem  Gegensatz  von  „psychisch^  und 
„materiell'^  stehen.  Alles  ist  Empfindungserlebnifs  und  insofern 
psychisch.  Indem  ich  die  Reductionsbestandtheile  herauslöse, 
eliminiere  ich  nicht  das  Psychische,  sondern  nur  die  individuellen 
Rückwirkungen.  Nur  diese  letzteren  unterscheiden  den  Reductions- 
bestandtheil  meines  Gentralnervensystems  von  dem  Reductions- 
bestandtheil  des  Steins. 

Am  nächsten  kommt  Avenabius  dieser  Auffassung  in  den 
Ausführungen  Nr.  143 — 146.  Was  er  hier  als  logische  Abhängig- 
keit^ der  partiellen  Erfahrung  „schmerzhafter  Stich"  von  der 
anderen  partiellen  Erfahrung  „System  C"  bezeichnet,  deckt  sich 
im  Wesentlichen  mit  dem,  was  ich  Parallelgesetz  genannt  habe.  * 
Die  Bezeichung  ,,logi8che  Abhängigkeit"  ist  hier  jedenfalls  irra- 
führend;  A.  ersetzt  sie  selbst  später  (Nr.  155)  durch  die  Be- 
zeichnung ,, psychologische  Abhängigkeit".  Vor  Allem  aber  hat 
AvENARius  auch  an  dieser  Stelle  den,  wie  mir  scheint,  ent- 
scheidenden Punkt  übersehen,  nämlich  die  Thatsache,  dafs  unsere 
Objectvorstellungen    durch    fortschreitende   Elimination    indivi- 


*  Dieses  zerfällt  natürlich,  wie  ich  dies  ausführlich  erörtert  habe,  auch 
selbst  in  einen  Reductionsbestandtheil  und  eine  Parallelcomponente. 

'  WuNDT  (a.  a.  O.  z.  B.  S.  62)  scheint  mir  in  diesem  Punkte  Avbhabics 
nicht  ganz  gerecht  zu  werden.  W.  behauptet  nämlich,  Avenabius  „nehme 
von  vornherein  eine  Abhängigkeit  aller  psychischen  Werthe  von  den 
Aenderungen  des  Systems  C  an*'.  Thatsächlich  behauptet  dies  AvENARirs 
nicht  von  allen  psychischen  Werthen,  sondern  von  allen  iiJ-Werthen; 
schwerlich  würde  er  sich  die  Einsetzung  des  Terminus  „aller  psychischen 
Werthe"  für  alle  £?- Werthe  gefallen  lassen.  In  der  ursprünglichen  Avrnarit^ 
sehen  Form  ist  der  Satz  empirisch,  wie  mir  scheint,  völlig  genügend  be 
gründet.  Auch  der  WuNirr'schen  Kritik  S.  88  und  89  vermöchte  ich  nicht 
beizupflichten. 

^  Nur  wird  in  meinem  Gegensatz:  Causalgesetz-Parallelgesetz  zugleich 
ein  anderer  (Jegensatz  von  Avenarius  mit  eingeschlossen,  nämlich  derjenijfe 
zwischen  Coniplementärbedingung  und  systematischen  Vorbedingungen. 
Vgl.  Krit.  d.  r.  Erf.  Nr.  485,  450  und  29. 


ErkenrUnifstheoreüsche  Ausünandersetzungen,  341 

dueller  dem  Pafallelgesetz  folgender  Rückwirkungen  entstehen; 
Er  hat  nicht  erkannt,  dals  die  £-Werthe^  (^Aussageinhalte^, 
^Erfahrungen^)  nichts  Anderes  sind  als  Componenten  der  ^Um^ 
gebungsbestandtheile^  (jR-Werthe''),  dafs  sie  losgelöst  von  den 
letzteren  gar  nicht  existiren,  dafs  sie  nur  die  „Rückwirkungen^ 
des  Reductionsbestandtheiles  unserer  Centralnervensysteme  auf  die 
Reductionsbestandtheile  anderer  Empfindungserlebnisse  sind,  wo- 
mit denn  auch  der  Gegensatz  Centralglied  und  Gregenglied  eine 
ganz  andere  Bedeutung  bekommt.  So  kommt  es  auch,  dafs 
AvENABius  schliefslich  (Nr.  148  u.  149)  nicht  nur  den  Dual  ist 
m  u  s  nicht  definitiv  überwunden  hat,  sondern  auch  zwei  Formen 
des  Parallelismus  übrig  behält,  den  Parallelismus  zwischen 
der  mechanischen  und  der  amechanischen  Bedeutung  der 
menschlichen  Bewegungen  und  den  Paralielismus  zwischen  be- 
stimmten Aenderungen  des  Systems  C  und  ihren  „logischen  Ab- 
hängigen^ (im  Sinne  der  oben  erwähnten  logischen  Abhängig« 
keit).  Er  glaubt  diese  Parallelismen  gewissermaafsen  dadurch 
entschuldigen  zu  können,  dafs  er  sie  empirische  Parallelismen 
nennt  und  den  „gewöhnlich  angenonmienen*'  Parallelismus  als 
metaphysisch  bezeichnet,  doch  vermisse  ich  eine  klare  Be- 
stimmung und  Rechtfertigung  dieser  beiden  Attribute  ganz  und 
gar;  ich  wüfste  nicht,  inwiefern  beispielsweise  der  Parallelismus 
der  mechanischen  und  amechanischen  Bedeutung  der  mensch- 
lichen Bewegungen  weniger  metaphysisch  wäre  als  der  gewöhn- 
liche Parallelismus.* 

AvKNARius  versteht  ursprünglich  unter  den  j&Werthen  die 
Aussagen.  Allmählich  aber  schieben  sich  den  Aussagen  die 
Aussageinhalte  unter,  und  letztere  werden  ganz  mit  den  Bewufst- 
Seinsinhalten  identificirt.  Wenn  Avenahius  die  letztere  Bezeichnung 
perhorrescirt ,  so  ist  sein  Motiv  die  Furcht  vor  introjectio- 
nistischen  Mißverständnissen.  Hütet  man  sich  vor  diesen,  so 
ist,  wie  auch  Garst  an  jen  ausdrücklich  sagt  -,  „gar  nichts  dagegen 


'  Ich  gehe  in  dieser  vorwiegend  erkenntnifstheoretischen  Fragen  ge- 
widmeten  Arbeit  nicht  näher  auf  die  positive  Bezeichnung  des  Gegenstandes 
der  Psychologie  bei  AvENARa's  (Nr.  161  ff.)  ein  und  hebe  nur  beiläufig 
hervor,  dafs  seine  Definition  der  Psychologie  zu  eng  ist,  wenn  er  die 
Psychologie  auf  die  Betrachtung  der  Erfahrungen  unter  dem  besonderen 
Gesichtspunkt  ihrer  Abhängigkeit  vom  Individuum  (vom  System  C)  he- 
schränkt. 

•  A.  ».  0.        192  Anm.  1. 


342  '    Tk.  Ziehen, 


I  '■■••. ,  •• 


einshiwenden^  V  däfe  mia'n  rbn  :  BäirafstseUielinfaiCl^ 
^ Werthex^'  ^richt.  Wo&l  inuis :  mäH '  d^nii  i.  aber  r  cfragexL!  i '.  mü 
welchem  Recht  darf  Avenabit7&  befaiiipten;  dafa  wir-  E^eräkQ 
und  Umgebungsbestandtheile  vorfindeli^?  Lefs^tere  süid.  :d6^ 
in  den  ersteren  enthalten  oder,  'werden^  wenn? man: ;:i;inter  dtei 
i{-Werthen  die  Reduötiönsbestandtheilä  Tersteht/  eist  wa.  .deh 
ersteren  durch  Reduction  abgeieite^t.  Ein:' Hauptmangel.,  der 
AvENABius'schen  Lehre  liegt  auf  ierkenntnifstheoretifichem' Gebiet 
eben  in  der  Annahme  von  Umgebungsbe^tandtheilen  (U-^Wertben) 
neben  den  JS-Wertheh  und  in  der  Unbestimmtheit  dieser  Umr 
gebungsbestandtheile.  Anfangs  konnte  man  glauben ,  dals 
AvENARius  als  -R-Werthe.  unsere  Euipfhiduhgen  bezeichnet  so  wie 
sie  sind,  aber  seine  späteren  Ausführungen  zeigen .  zweifelloB 
(vgl.  z.  B.  die  Erörterungen  über  die  Abhängigkeit  der.  akustit 
sehen  Aussagewerthe  von  den  physikalischen  Schwingungen), 
dafs  er  die  von  der  Naturwissenschaft  substituirten  Reductions- 
bestandtheile  als  i2-Werthe  bezeichnet.  Hier  hätte  es  doch  jeden- 
falls einer  Kritik  und  Bedeutungserklärung  dieser  Reductionen 
und  Substitutionen  bedurft. 

Die  Frage,  welche  Avenarius  im  letzten  Abschnitt  behandelt, 
lautet  in  ihrer  definitiven  Fassung  (Nr.  164) :  Welche  Bedingung 
mufs  durch  die  Gegenglieder  erfüllt  sein,  um  dieselben  —  von 
meinem  örtlichen  Standpunkt  aus  betrachtet  —  zugleich  als 
Centralglieder  annehmen  zu  dürfen?  Von  meinem  Standpunkt 
aus  würde  dieselbe  Frage  lauten :  welche  Reductionsbestandtheile 
üben  Rückwirkungen  im  Sinne  des  Parallelgesetzes  aus?  Die 
Antwort  von  Avenarius  ist  ungenügend.  Er  behauptet,  dafs  ein 
Gegenglied  nur  dann  auch  zugleich  als  CentralgUed  anzunehmen 
ist,  wenn  ihm  der  Wert  „bestimmte  Aenderimg  des  Systems  C" 
substituirt  werden  kann.  Diese  Antwort  ist  jedoch  ohne  jeden 
Werth,  da  wir  gar  nicht  wissen,  was  das  System  C  ist  Es  ist 
nur  definirt  worden  auf  Grund  seiner  Rolle  in  der  Principial- 
coordination.  Die  Antwort  von  Avenarius  läuft  also  auf  eine 
Diallele  hinaus.  Wohl  hat  er  gelegenlich  als  Beispiel  für  das 
System  C  das  Centralnervensystem  angeführt,  nirgends  aber  be- 
stimmt gesagt,  geschweige  denn  bewiesen,  dafs  nur  dieses  im 
Stande  ist  die  bez.  Rolle  in  der  Principialcoordination  zu  spielen. 
Auch    der   Ergänzungsversuch   (Nr.   176  ff.)   ist  nicht   gelungen. 

V 

*  Vgl.  aufser  der  Krit.  d.  r.  Erf.  selbst  auch  Carstan        ^  a.  O.  S.  190. 


Erkenntnifstheoretische  Auseinandersetzungen,  343 

Man  kann  ihn  kurz  so  resumiren:  das  System  C  ist  bei  dem 
wachenden  erwachsenen  Menschen  das  Centralnervensystem :  hier 
ist  es  actuelles  Centralglied.  Bei  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit 
(Nr.  177),  im  Schlaf  (Nr.  182),  vor  der  Geburt  (Nr.  183)  ist  es 
potentielles  Centralglied,  desgleichen  dürfen  beliebige  Umgebungs- 
bestandtheile,  auch  anorganische,  sofern  sie  als  befähigt  ange- 
nommen werden 'müssen  ÄtT' Systemen  £?  werden  ^zu  können,  in 
Bezug  auf  eine  künftige  individuelle  Umgebung  als  potentielle 
Oentralglieder  angenommen  werden.  Auch  diese  Antwort  ist 
•durchaus  unbefriedigend :  wir  woileti  wisscüa,  welche  Beschaffen- 
lieit,  Zusammensetzung  u.  s.  f  die  Umgebungsbestandtheile  haben 
müssen,  um  als  Centralglied  gelten  zu  können.  Ist  z.  B.  das 
Nervensystem  der  Medusen  schon  als  Centralglied  zu  betrachten 
oder  gar  schon  die  Neuromuskelzellen  der  Polypen  oder  etwa 
auch  das  contractile  Protoplasma  der  Amöben  und  die  reizleiten- 
den Grewebesysteme  mancher  Pflanzen  oder  endlich  (mit  Haeckel) 
jedes  organische  und  anorganische  i^Iolekül  und  Atom  ?  Die  rein 
formale  Antwort  von  Avenarius,  führt  uns  dem  Problem  .keinen 
Schritt  näher,  da  das  System  C  nur  bezüglich  seiner  FunctioijL 
in  der  Principialcoordination  definirt  und  im  Uebrigen  nur  durch 
Beispiele  erläutert  worden  ist.  Durch  die  Zuhülfenahme  der 
Entwickelungshypothese  (Nr.  188)  wird  die  Inhaltlosigkeit  der 
-Antwort  nur  oberflächUch  verschleiert 

Leider  ist  es  Avenarius  nicht  vergönnt  gewesen,  in  einem 
vierten  Werk  sein  System  zu  vollenden.  Es  ist  ein  Torso  ge- 
blieben. Die  gewaltige,  vorher  kaum  jemals  versuchte  Inventar- 
aufnahme der  menschlichen  Aussagen  und  die  Bekämpfung  der 
Introjection  sind  die  beiden  unsterblichen  Vei*dienste  von  Avenarius 
um  die  Erkenntnifstheorie.  Die  positive  Grundlegung  der  letzteren 
ist  ihm  hingegen  mifslungen.  Schon  den  erkenntnifstheoretischen 
Fundamentalbestand  hat  er  nicht  klar  und  auch  thatsächUch  nicht 
lichtig  wiedergegeben. 

(Eingegangen  am  13.  November  1901.) 


(Aus  der  Breelauer  Universitäts- Augenklinik.) 


-  Ein  weiterer  Beitrag 

^^  zur  angeborenen  totalen  Farbenblindheit. 

Von 

Prof.  W.  Uhthopp  in  Breslau. 

(Mit. 3  Fig.) 

Die  folgenden  Mittheilungen  schliersen  sich  an  meine^ 
früheren  über  einen  Fall  von  congenitaler  totaler  Farbenblind- 
heit {diese  Zeitschr.  20,  1899)  an  und  berichten  kurz  über  3  weitere 
Fälle,  welche  im  letzten  Jahr  in  unserer  Klinik  zur  Beobachtung 
kamen  und  die  einerseits  eine  willkommene  Gelegenheit  boten, 
früher  gemachte  Erfahrungen  nachzuprüfen  und  zu  bestätigen, 
auf  der  anderen  Seite  aber  auch  einige  neue  Daten  zu  Tage 
förderten,  die  bei  der  Discussion  der  ganzen  Frage  nicht  ohne 
Interesse  sein  dürften. 

Ich  werde  die  einzelnen  Fälle  nur  kurz  besprechen,  zumal 
da,  wo  sie  mit  den  früheren  in  Uebereinstimmung  stehen,  die 
wichtigeren  Punkte  aber,  soweit  sie  Neues  bieten,  sollen  etwas 
eingehender  beschrieben  werden. 

Fall  I. 

Am  7.  October  1901  stellte  sich  der  41jährige  Lehrer  F.  K. 
aus  Z.  in  der  Klinik  vor  mit  der  Klage  über  schlechtes  Sehen 
im  Allgemeinen  und  besonders  bei  greller  Beleuchtung.  Bei 
herabgesetzter  Beleuchtung  sehe  er  entschieden  besser,  dagegen 
sinke  seine  Sehschärfe  bei  directer  Sonnenbeleuchtung,  er  be- 
komme dabei  ein  lästiges  Gefühl  von  Lichtscheu,  ja  sogar  ein 
Thränen  der  Augen.  Die  Farben  habe  er  von  jeher  schlecht 
unterscheiden  können.  Schlechter  sei  sein  Sehen  im  Laufe  der 
Zeit  nicht  geworden  und,   wenn  auch  mit  Mühe,   so  sei  er  doch 


Ein  »eitertr  Beitrag  t\tr  a»§Aormm  totalen  Farbetibliiidheit. 


345 


bisher  in  der  Lc^  gewesen,  seinem  Berufe  als  Lehrer  Dacbzu> 
gehen.  Er  trägt  eine  mftTsig  dunkle,  rauchgraue  Brille,  von  der 
er  behauptet,  dafs  sie  ihm  nicht  nur  wegen  seiner  Liebtscheu 
angenehm  sei,  sondern  dafs  sie  sogar  direct  bei  beller  Beleuchtung 
seine  Sehechftrfe  verbessere. 

Patient  ist  verheirathet ,  er  bat  3  lebende  Kinder,  welche 
angeblich  gut  sehen,  3  seiner  Kinder  sind  im  starten  Alter  ge- 
storben. Er  bat  6  Geschwister,  von  denen  nur  1  Schwester 
aogeblicb  nicht  gut  siebt,  ahnlich  wie  er  selber,  sie  sei  wohl 
„korzsicbtig"  und  könne  die  Farben  nicht  gut  unterscheiden; 
die  Uebrigen  sehen  gut  Keine  Blutsverwandtschaft  der  Eltern. 
Das  Kind  dieser  schwachsichtigen  Schwester  soll  gut  sehen. 

Die  objective  Untersuchung  ergiebt: 

Die  Sehschärfe  beträgt  bei  möglichBter  Correction  mit 
—  1,5  D  und  raucbgrauen  Gläsern  nur  Vio  cl^r  normalen.  Rechts 
bei  der  objectiven  Ke&actionsbestimmung  Myopie  1,5,  links 
Myopie  1  D  mit  1  D  Astigmatismus  nach  der  Regel,  jedoch  ver^ 
bessert  eine  Cylindercombination  die  Sehschärfe  nicht  weiter. 
Bei  sehr  beller  Beleuchtung  der  Sehproben  ist  die  Sehschärfe 
beiderseits  noch  etwas  geringer. 

Das  Gesichtsfeld  ist  für  ein  weiises  Object  im  Wesent^ 
liehen  frei,  die  peripheren  Grenzen  sind  nach  aufsen  und  innen 
cöne  Spur  enger  als  normal  (um  ca.  10").  Die  Lage  des  blinden 
Fleckes  ist  keine  ganz  normale,  sondern  derselbe  zeigt  sich  beider- 
seits um  5°  nach  innen  verschoben.  Nach  innen  vom  Fixirpunkt 
ist  beiderseits  ein  kleines  centrales  absolutes  Scotom  sicher  nach- 
weisbar, in  dessen  Bereich  ein  weifses  Quadrat  von  5  mm  Seite 
vollkommen  verschwindet. 


846  .i''^"v-:v'-.:^'t;3^-.  -^-^y::'      W.\ßMfyfff,  .'..^.r' 


\  •« 


Der  sichere  Nachweis  diesiesr  kleinen  i  absoluten  t  OBntnQeif 
Skiotoms  geläng  erdt  nach'  vielen  Tefgeblicheb  Betnüfaimgen  am 
Viertieh  tJtitersuchunggtage/ obwohl  der  intelligente  .Patient!  mit 
grofsem  Interesse  und  viel  gutem  WiHen  sich,  diesen  wiederholten 
eingehenden  Untersuchungen  unterzog.  /  i 

^  * Üö  -handelte  sich  auch  bei  ihm  um. jenen  eigentbümlichen 
Nystagmus  von  kleinen  Excursionen,  wie  ich  ihn  in  liieSnem 
früheren  =  Falle  fand^  und  wieder  durchweg  in  einschlägigen 
Italien  beschrieben  wotden  ist  Forderte  man  ijm  auf,  einein  bet 
stimmten  Punkt  ruhig  zu  fixiren,  so  war  es  ihm  nur  mit  grofiser 
Mühe  möglich,  die  Augen  in  der  fixirenden  Stellung  eine  Zeit 
ganz  ruhig  zu  halten,  es  bestand  fortwährend  die  Neigung  kleine 
seitliche  ruckweise  Bewegtingen  auszuführen  und  so  abwechselnd 
mit  Verschiedenen  Netzhaütstellen  zu  fixiren*        ^ 

War  es  dem  Untersuchten  schon  beim  directen  Fixiren  nur 
mit  Mühe  Und  vorübergehend  möglich  die  Augen  ganz  unbeweg- 
lich zu  halten,  so  wuchsen  diese  Schwierigkeiten  noch  bedeutend, 
wenn  man  rnit  einen!  kleinen  Object  (weifs  auf  dunklem  Grunde^ 
oder  schwarz  auf  hellem  Grunde)  den  Patienten  in  den  der 
fixirenden  Netzhautstelle  benachbarten  Partien  gleichzeitig  prüfte. 
Schon  die  Enlirung  der  Lage  des  blinden  Fleckes  war  aus  diesem 
Grunde  schwierig,  gelang  jedoch  bald  mit  aller  Sicherheit,  zumal 
wenn  man  das  Prüfungsobject  nur  ganz  momentan  durch  schnelles 
Umdrehen  auftauchen  liefs,  und  hatte  man  erst  die  blinde  Stelle 
aufgefunden,  so  dafs  das  weifse  Object  am  schwarzen  dünnen 
Draht  gar  nicht  gesehen  wurde,  so  liefs  sich  auch  die  Gröfse 
des  blinden  Fleckes  in  normaler  Ausdehnung  nachweisen  und 
hielt  Patient  das  Auge  wenigstens  eine  kurze  Zeit  lang  absolut 
ruhig.  Suchte  man  dagegen  den  blinden  Fleck  so  zu  bestimmen, 
dafs  man  das  kleine  Object  von  den  sehenden  Netzhautpartien 
in  den  nicht  sehenden  Theil  des  Sehnerveneintritts  überführte, 
so  konnte  Patient  leichte  nystagmusartige  Seitwärtsbewegungen 
absolut  nicht  unterdrücken  und  vereitelte  dadurch  die  Abgrenzung 
des  blinden  Fleckes.  Er  hatte  offenbar  die  gröfsten  Schwierig- 
keiten das  Auge  auch  nur  ganz  vorübergehend  still  zu  halten, 
sobald  seine  Aufmerksamkeit  durch  ein  gleichzeitig  neben  dem 
fixirten  Punkt  auftauchendes  Object  in  Anspruch  genommen 
wurde. 

Waren  diese  Schwierigkeiten  für  die  Bestimmung  deö  blinden 
Fleckes  schon  erhebliche,  so  kamen  sie  erst  recht  zum  Ausdruck 


Ein  Knittrer  Beitrag  eur^w^Aimen  tofolm  Farbenblindheit.         ^4"? 

bei  dem  Aufsuchen  des -ftfeh^t^eu  Scotoms,  auch  bei  AnweDdung 
eines  ringförmigen  Fixirzöfchens  wollte  es'liÄht''geUngen. 

Erst  am  vierten  TagS'^r  UntertööKtörigten  wurde  es  sicher 
atifgefunden,  auf  denr'  linfeen  -Äugte  "'ifctf' horizontalen  Meridian, 
liegend  oval  in  einer^Aüsdehnung  von -3 — 8*  (also  5*  Durch- 
messer) nach  innen  vom  Fixirpunkt  und  auf'  dem  rechten  Auge 
ebenf^llß  DAch  innen  voni.äxirtei)  Punkte  in.-einer'Ausdefanuüg 
von  3P.\Dm7;hme9ser  und  ziemlich  gleiohmiiXsig  .kreisförÄdger 
.Gestalt,..  (8,.ri«.i).  ;t.:  ■.    .-■. 

Abgesehen  von  diesem  eben'  erwtöint^  Ißicbten  NjntAemus, 
waren  die  Augenbewegungen  frei.  -         .  .  ;  ■  ■>    :! 

Was  den  .Lichtsinn  des  Patienteit  anlangt <  .so  wurde 
schon  Eingangs  auf  die  ausgesprochene  Ldcbtaebeu  uäddijs  Herab- 
eetzung  seiner  Sehschärfe  dwrch  grelle .  Beleuchtung  verwiesen, 
ganz  wie  jn  meiner  früheren  Beobachtung ,  ]und  io;  den  anderen 
mitgetheilten  Fällen. 

Dagegen  war  bei  diesem  Untersuchten'  die  Adaptatii^  in  der 
Dunkelheit  in  keiner  Weise  eine  schbellere  wie  beim  noxmaten 
Aoge,  und  ebenso  ist  er  in  Bezug  auf  die  Unterscheidung  von 
Helligkeitsdifferenzen  bei  verschiedener  objectiver  Beleuchtungs- 
intensität in  keiner  Weisg.  dem  normalen  Auge  überiegen,  sondern 
bleibt  noch  etwas  IjifiteT  .d^uiselbei^,  zurück,  wie  Versuche  am 
FoEESTEB'schen  PbotoniBter  und  an  der  MASSos'schen  Scheibe 
lehren.  In  dieser  Hinsicht  weicht  der  Fail  von  meiner  früheren 
Beobachtung  ab,  wo  gerade  eine  ftbnoyiii  schnelle  Dunkel^daptation 
und  ein  hervorragendes  Helligkeitsiinteracheidungsvennügen  con- 
statirt  werdem  konnte.  Demfeiifsprechenti  macht  auch  unser 
Patient  durch(Hig  nicht  die  Erfahrung,  daTs  er  sich  io  der 
Dämmerung  beisei'  orientiren  k^nne  wie  ein  oorniaier  Mensch; 
eine  Angabe,  die  u^jr^  «rster^EüUmit  greise^  Sicherheit  machte 
und  die  auch  durch  die ,  opJMliv^' tjritersuchtung  bestätigt  werden 
konnte.  ' ' 

In  Bezug  auf  den  Farbeneiriu  des  Patienten  will  ich  mich 
kurz  fassen,  weil  die  verschieden«!' Proben  ganz  wie  in  meinen 
übrigen  Fällen  ein  völliges  Fehlen  des  Farbensinnes  ergeben. 
Alle  Farben  lassen  sich  am  Farbenkreisel  aus  Weifs' und  Schwarz 
för  ihn  mischen. 

Schwäre     ^WeilB 
360  Roth  =350-1-10 

■  „     Orange  ^323+37 


348 


w.  mthoff. 


Schwarz      Wafe 
360  Gelb  -=  140  +  220 

„    Hellgrün         =  185  +  175 

„     Dunkelgrün    =255-1-  105 

„    Blau  =280-1-    80 

(von  Dr.  DepRmk  iiafiEenniiimeii). 
Die  für  meine  erste  Beobachtung  hergestellte  Farbentafel  mit 
Hülfe  der  HBBiNG'schen  grauen  Papiere  nach  dem  Vorgehen 
von  Hivpel's  (cf.  „Ueber  totale  angeborene  Farbenblindheit". 
Festscbr.  z.  200j6hrigeD  Jubelfeier  der  Universität  H«Ue)  erkennt 
auch  dieser  Patient  mit  kleinen  Abweichungen  als  ganz  für  ihn 
zutreffend  an.  Im  Spectmm  hat  er  analog  wie  der  frühere  Fall 
das  Helligkeitsmaximum  im  Grün.  Das  rothe  Ende  des  SpectrumB 
erscheint  ihm  ausgesprochen  verkürzt  dem  normalen  Auge 
gegenüber,  eine  geringe  Verkürzung  ist  auch  am  violetten  Ende 
nachweisbar.  Kurz  gest^,  die  Analogie  im  Verhalten  des  Farben- 
sinnes ist  mit  meinen  früheren  und  meinen  folgenden  Beobach- 
tungen eine  so  weitgehende,  dafs  ich  glaube,  auf  detaillirtere 
Mittheilungen  in  dieser  Hinsicht  verzichten  zu  können. 


Sehr  bemerkenswcrth  erscheint  mir  nun  in  diesem  Falle 
das  ophthalmoskopische  Verhalten  der  Gegend  der 
Macula  lutea  und  speciell  der  Fovea  centralis.  Nach 
künsthcher  Erweiterung  der  Pupillen  ergiebt  sich  auf  beiden 
Augen  bei  Untersuchung   im   aufrechten   und  im  umgekehrten 


J^ifi  weiterer  Beitrag  zur  angeborenen  totalen  Farbenblindlieit.         349 

Bilde  folgendes :  Die  Papillen  zeigen  beiderseits  eine  etwas  auf- 
recht ovale  Gestalt,  aber  sonst  normale  Färbung  und  scharfe 
Begrenzung.  Congenital  anomal  erscheint  der  Verlauf  der 
Betinalgefäfse,  dieselben  entspringen  etwas  stärker  excentrisch 
nach  innen  auf  den  Papillen  und  verlaufen  Anfangs  nicht  gerade 
in  verticaJer  Richtung,  sondern  abnorm  nach  innen,  um  dann 
mit  einer  etwas  winkligen  Knickung  mehr  in  die  äufsere  Netz- 
hauttheile  überzubiegen.  Es  ist  das  jene  Verlaufsanomalie,  wie 
wir  sie  nicht  selten  bei  dem  sogen.  Conus  nach  unten  an  der 
Papille  (dieser  ausgesprochenen  congenitalen  Anomalie)  sehen. 
Wenn  ich  diesem  Befunde  auch  keine  besondere  Bedeutung  bei- 
legen möchte,  so  zeigt  er  meines  Erachtens  doch  ein  gewisses 
<5ongenital  anomales  Verhalten  des  Sehnerveneintritts  und  der 
Netzhautgefäfse. 

Wichtiger  nun  aber  ist  der  Befund  in  der  Gegend  der  Fovea 
•centrahs,  der  beiderseits  gleichartig  ist,  und  den  ich  ebenfalls 
^Is  einen  congenital  anomalen  ansehen  möchte,  zumal  nach  der 
bestimmten  Angabe  des  Patienten  sich  das  Sehen  im  Verlaufe 
■des  Lebens  nicht  verschlechtert  hat. 

Die  ganze  Gegend  der  fovea  centralis  und  ihrer  nächsten 
Umgebung  stellt  sich  dar  als  ein  ausgesprochen  hellgelbröthlicher, 
ziemlich  scharf  begrenzter  Fleck  von  ca.  ^'^  Papillengröfse.  (s.Fig.2). 
Im  aufrechten  Bild  bei  stärkerer  Vergröfserung  zeigt  dieses  Terrain 
-ein  fein  chagrinirtes  Aussehen  in  Folge  von  Pigmentatrophie  in 
Form  von  zahlreichen  kleinen  hellen  Herden,  die  wieder  unter- 
mischt sind  mit  vielen  kleinen  schwärzlichen  Pigmentpunkten 
und  zwischen  diesen  eingestreut  eine  Anzahl  kleiner  hellglänzender 
Herde.  Die  Veränderung  ist  so  ausgesprochen,  dafs  sie  im 
umgekehrten  Bilde  sich  schon  als  auffallender  gelblich  röthlicher 
Herd  von  oben  beschriebener  Gröfse  und  in  ziemlich  scharf  ab- 
gegrenzter Weise  repräsentirt  Der  Befund  ist  ein  zweifellos 
pathologischer  und  etwa  mit  einer  physiologiscljen  Varietät  im 
Aussehen  der  Fovealgegend  gar  nicht  zu  verwechseln.  Auf  dem 
linken  Auge  ist  der  Befund  analog  wie  auf  dem  rechten,  nur 
von  etwas  geringerem  Umfang. 

Wenn  man  die  Lage  dieser  Stelle  gerade  in  der  Gegend  der 
Fovea  und  ihre  Lage  zum  Sehnerveneintritt  in  Betracht  zieht, 
so  entsprechen  meines  Erachtens  die  centralen  kleinen  Scotome 
diesen  pathologisch  veränderten  Netzhautstellen. 


350  ^-  ^thoff, 

Fall  IL 

Bertha  F.,  15  Jahre  alt,  aus  Breslau  stellt  sich  zum  ersten 
Mal  am  29.  Januar  1901  in  der  Klinik  vor ,  mit  der  Klage  über 
schlechtes  Sehen,  welches  von  jeher  bestfiUQden  habe,  ujid  be- 
sonders auch  über  grofee  Empfindlichkeit  gegen  grelle  Be- 
leuchtung, wodurch  ihre  Sehschärfe  noch  mehr  vermindert  werde. 
Sie  wünscht  eine  Brille  zur  Verbeöserung  der  SeJikraft  Sie 
macht  sonst  einen  gesunden  Eindruck,  ist  normal  körperlich 
und  geistig  entwickelt  und  zeigt  keine  anderweitigen  con- 
genitalen Anomalien.  Die  Eltern  sollen  ebenfalls  gesund  sein 
und  auch  in  jeder  Hinsicht  gut  sehen.  Keine  Blutsverwandt- 
schaft der  Eltern.  Patientin  hat  3  Geschwister,  von  denen  das 
Jüngste,  jetzt  5  Jahre  alt,  angeblich  gut  sieht,  während  die  beiden 
anderen,  Fritz  und  Margarethe,  8  und  6  Jahre  alt,  an  derselbeji 
Sehstörung  leiden  wie  Patientin.  Diese  letzteren  beiden  Ge- 
schwister, sonst  normal  entwickelte  Kinder,  welche  ebenfalls 
wiederholt  genau  in  der  Klinik  untersucht  wurden,  zeigen  das- 
selbe Verhalten,  wie  die  ältere  Schwester  und  sind  wie  diese 
typische  Fälle  von  congenitaler  totaler  Farbenblindheit  Ich  will 
auf  diese  beiden  jüngeren  Geschwister  hier  nicht  näher  eingehen, 
weil  ihre  Angaben  noch  in  vielen  Beziehungen  unzureichend 
waren  und   ihr  Verhalten   ein   dem  der  Schwester  analoges   ist 

Was  nun  die  15  jährige  Bertha  F.  anbetriflFt,  so  hat  sie 
auf  dem  rechten  Auge  einen  einfach  myopischen  Astigmatismus 
von  3  D  und  links  einen  solchen  von  4  D  nach  der  Regel. 

Die  Sehschärfe  beträgt  mit  entsprechender  Cylinder- 
correction  =  Vi'Sn.  0,5  wird  in  12  cm  mühsam  gelesen. 

Es  besteht  eine  ausgesprochene  Lichtscheu  der  Patientin 
und  durch  intensive  Beleuchtung  wird  ihre  Sehschärfe  nachweis- 
bar verschlechtert,  sie  trägt  deshalb  eine  rauchgraue  Schutzbrille. 

Ferner  findet  sich  ein  mäl'siger  concomitirender  Strabismus 
divergens  alternans.  Die  Augenbewegungen  sind  sonst  frei,  auf- 
fällig aber  ist  aubh  bei  ihr  ein  Nystagmus,  wenn  sie  einen  Gegen- 
stand genau  fixirt  Sieht  sie  mit  beiden  Augen  ruhig  in  die  Ferne, 
so  verschwindet  zeitweise  dieser  Nystagmus,  wird  sie  aber  aufge- 
fordert, scharf  einen  Gegenstand  für  die  Nähe  zu  fixiren,  nament- 
lich beim  Sehen  mit  einem  Auge,  so  stellen  sich  auch  sofort, 
diese  ruckweisen  kleinen  nystagmusartigen  Bewegungen  in  seit- 
licher Richtung  ein,  die  Patientin  trotz  aller  Mühwaltung  nur 
ganz  vorübergehend  zu  vermeiden  vermag. 


Ein  tctittrer  Bätrag  mi*  angdiorenen  tetahn  Farbenblindheit. 


301 


In  Bezug  auf  ihren  Licbtsinn  mticbt  sie  die  Angabe,  dab 
sie  sich  bei  stark  herabgesetzter  Beleuchtung  schneller  zu  orientirea 
vermöge,  wie  ihre  normal  sehenden  Familienangehörigen.  Eine 
Untersuchung  im  Dunkelzimmer  und  die  Prüfung  mit  dem 
FoEBSTERschen  Photometer  bestätigen  diese  Angaben  sowohl  für 
sie  als  auch  für  ihren  Sjäbrigen  Bruder  Fritz,  der  gleichzeitig 
mit  untersucht  wird.  Es  besteht  hei  beiden  eine  schnellere 
Adaptation  als  für  das  normale  Auge. 

Die  Gesichtsfelder  sind  für  ein  weifses  Object  im 
Wesentlichen  frei  Bei  der  monoculären  Prüfung  desselben  am 
Perimeter  bekommt  man  ganz  deutlich  den  Eindruck,  dafs 
Patientin  etwas  excentrisch  fixirt.  Nach  der  Bestimmung  am 
Perimeter  beträgt  der  -^  y  zwischen  Visirlinie  und  Homhaut- 
mittellinie  rechts  ca.  10",  links  ca.  7"  in  positivem  Sinne.  Patientin 
fixirt  offenbar  mit  einer  etwas  excentrisch  nach  aufsen  von  der 
Fovea  gelegenen  Stelle.  Nach  längerem  Bemühen  gelingt  es 
anch  die  Lage  des  blinden  Fleckes  mit  Sicherheit  festzustellen. 
Derselbe  liegt  rechts  ungefähr  horizontal  um  5"  zu  weit  nach 
aafsen  der  normalen  Lage  des  blinden  Fleckes  gegenüber,  auf 
dem  linken  Auge  ebenso  nur  etwas  unterhalb  der  Horizontalen 
(b.  Fig.  3).     Diese  Feststellungen  sind  durch  den  oben  erwähnten 


Ltnkee  Ange. 


Rechtee  Auge. 


Nystagmus  ganz  aufserordentlich  erschwert,  und  die  Patientin  ist 
durchweg  nicht  im  Stande  bei  der  monoculären  Prüfung,  wenn 
ihre  Aufmerksamkeit  neben  der  centralen  Fixation  gleichzeitig  auf 
ein  excentrisch  gehaltenes  Object  gelenkt  wird,  die  wechselnden 


352  ^y  ühthoff. 

tiystagmusartigen  Bewegungen  des  Auges  auch  nur  für   kurze 
Zeit  zu  unterlassen. 

Es  ist  uns  auch  bisher  bei  dieser  Untersuchten  nicht  ge- 
lungen trotz  eingehender  Bemühungen,  ein  centrales  Scotona 
entsprechend  der  Fovea  centralis  nachzuweisen.  Jedenfalls 
möchte  ich  glauben,  dafs  ein  absolutes  Scotom,  wie  im  vorigen 
Falle,  hier  wohl  nicht  existirt ;  ein  relatives  sicher  auszuschliefsen, 
möchte  ich  nicht  wagen  bei  der  grofsen  Schwierigkeit  der  Untei> 
suchung  und  bei  der  Unmöglichkeit  für  die  Patientin,  auch  nur 
vorübergehend  bei  der  Untersuchung  die  nystagmusartigen  Hin- 
und  Herbewegungen  des  Auges  zu  unterdrücken. 

In  Bezug  auf  den  Farbensinn  kann  ich  auch  hier  nur 
das  für  die  früheren  Fälle  Gesagte  wiederholen.  Absolute  Un- 
möglichkeit für  die  Patientin  Farben  zu  differenziren ,  wie  sich 
bei  den  verschiedenen  Versuchen  ergiebt  (Wahlproben,  Farben- 
kreisel u.  s.  w.).  Auch  läfst  sich  jede  Farbe  aus  Weifs  und 
Schwarz  mischen.  Die  Patientin  erkennt  die  für  meinen  ersten 
Fall  entworfene  Farben -Tafel  mit  den  HEEiNo'schen  grauen 
resp.  schwarzen  Papieren  auch  für  sich  als  durchweg  zutreffend 
an.  Die  hellste  Stelle  im  Spectrum  liegt  ebenfalls  bei  ihr  im 
Grün,  das  rothe  Ende  des  Spectrums  ist  deutlich  verkürzt  u.  s.  w. 
Mit  einem  Worte  es  ähnelt  der  Fall  in  dieser  Hinsicht  so  absolut 
den  früheren,  dafs  ich  lediglich  darauf  verweisen  kann. 

Die  ophthalmoskopische  Untersuchung  ergiebt  im 
Uebrigen  normale  Verhältnisse,  doch  zeigen  sich  in  der  Gegend 
der  Fovea  centralis  auch  hier,  wenn  auch  geringfügige,  so  doch, 
meines  Erachtens ,  sicher  pathologische  Veränderungen.  Auf 
beiden  Augen  findet  sich  in  der  Gegend  der  Fovea  (links  etwas 
mehr  als  rechts)  ein  deutlich  marmorirtes  Aussehen,  d.  h.  zahl- 
reiche kleinere  hellere  Fleckchen  abwechselnd  mit  kleinen  dunklen 
l^igmentpunkten,  die  Veränderungen  setzen  sich  gegen  die  sonst 
normale  periphere  Partie  der  Macula  lutea  ziemlich  scharf  ab. 
Wenn  ich  diese  Veränderungen  bei  unserer  Patientin  doch  als 
pathologisch  in  Anspruch  nehme,  so  bin  ich  mir  dabei  wohl 
bewurst,  dafs  auch  die  physiologische  Fovea  centralis,  namentlich 
im  späteren  Leben  leichte  Unregelmäfsigkeiten  in  der  Pigmen- 
tirung  zeigen  kann,  doch  nicht  in  dem  Maafse,  wie  hier  in 
unserem  Falle.  Die  Patientin  wurde  wiederholt  bei  Mydriasis 
auch  im  aufrechten  Bilde  von  mir  und  von  verschiedenen  geübten 


Ein  vreiterer  Beitrag  «i«r  angeborenen  totalen  Farbenblindfieit,        353 

Ophthalmoskopikem    untersucht   und   ebenso    der   Befund    mit 
normalen  Fällen  verglichen. 

Fall  III. 

Es  handelt  sich  um  den  jetzt  25jährigen  Stud.  H.,  der  sich 
Anf€uig  Januar  1901  zu  wiederholten  eingehenden  Untersuchimgen 
vorstellte  imd  ebenfalls  den  Symptomencomplex  der  typischen  con- 
genitalen Farbenblindheit  bietet  wie  mein  erster  Patient  Ich 
will  hier  auf  die  ganzen  übrigen  Erscheinungen  nicht  näher  ein- 
gehen, da  Stud.  H.  seiner  Zeit  schon  von  Herrn  Collegen  A,  von 
Hippel  eingehend  untersucht  wurde.  Ueber  die  Ergebnisse  dieser 
Untersuchungen  hat  derselbe  damals  auf  dem  Heidelberger 
ophthalmologischen  Congrefs  1889  (s.  den  Congrefsbericht)  in  ge- 
nauer Weise  berichtet. 

Wenn  ich  mir  erlaube,  über  diesen  Fall  noch  einige  Be- 
obachtimgen  kurz  zu  erwähnen,  so  »geschieht  es  mit  gütiger  Zu- 
stimmimg des  Herrn  Collegen  von  Hippel,  dem  gegenüber  ich 
mündhch  dieser  Beobachtungen  Erwähnung  that  Ich  glaube 
auch,  dafs  es  sich  hier  weniger  um  neue  von  mir  -gefundene 
Thatsachen  handelt,  als  vielleicht  um  eine  etwas  andere  Deutimg 
der  gemachten  Beobachtungen. 

Mit  Rücksicht  auf  meine  erste  Beobachtung  interessirte  mich 
besonders  der  Punkt,  ob  auch  bei  diesem  Patienten  centrale 
Scotome  nachweisbar  wären. 

Ich  habe  mich  auch  in  diesem  Falle  zunächst  des  ring- 
förmigen Fixirzeichens  um  den  Mittelpunkt  des  Perimeterbogens 
bedient  und  damit  nach  längerem  Bemühen  mit  aller  Sicherheit 
ein  centrales  relatives  Scotom  an  der  Stelle  des  Fixirpunktes 
nachweisen  können.  Die  Form  des  Scotoms  ist  auf  beiden  Augen 
etwas  liegend  oval  und  hat  einen  Durchmesser  von  ca.  3  ^  Ein 
schwarzer  runder  Fleck  von  2,5  mm  im  Durchmesser  auf  weifsem 
Grund  verschwand  im  Bereich  des  Scotoms  zwar  nicht  voll- 
kommen, wurde  aber  viel  undeutUcher  daselbst  gesehen  als 
aufserhalb  desselben.  Für  diese  Prüfung  am  Perimeter  in  33  cm 
Entfernung  wurde  eine  mäfsig  herabgesetzte  Beleuchtung  ge- 
wählt, das  Optimum  der  Beleuchtung  für  die  Sehschärfe  des 
Untersuchten,  so  dafs  er  gar  kein  Gefühl  von  Blendung  empfand. 
Die  Beleuchtungsintensität  betrug  ca.  50  Meterkerzen,  wie  mit 
dem    WEBER'schen   Photometer    festgestellt    wurde.     Bei   voller 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  2S 


354  ^-  ^^^ff- 

Tagesbeleuchtung  litt  die  Grenauigkeit  dieser  Feststellung,  da 
dann  die  Sehschärfe  überhaupt  schon  beeinträchtigt  wurde. 

Die  Versuche  wurden  sodann  in  mannigfacher  Weise  modi- 
ficirt,  es  wurde  auch  ein  weifiser  Punkt  auf  dunklem  Grunde 
imd  ebenso  ein  System  von  dunklen  Punkten  auf  hellem  Grunde 
imd  von  hellen  Pimkten  auf  dunklem  Grimde  verwendet,  sowohl 
bei  momentaner  als  bei  längerer  secundenlanger  Beleuchtung  der 
Probeöbjecte  imd  bei  verschiedener  objectiver  allgemeiner  Be- 
leuchtungsintensität 

Ich  möchte  bemerken,  dafs  Stud.  H.  in  Folge  der  früheren 
imd  der  jetzigen  eingehenden  Untersuchimgen  allmählich  sehr 
genau  zu  beobachten  gelernt  hatte  und  seine  Angaben  mit  grofser 
Präcision  und  voller  Ueberzeugung  machte.  Ich  habe  ihn  des- 
halb auch  wiederholt  gebeten  seine  Wahrnehmungen  selbst  schrift- 
Uch  niederzulegen. 

Ueber  die  Versuche  mit^inem  System  dunkler  Punkte  auf 
hellem  Grunde  imd  einem  solchen  heller  Pimkte  auf  dunklem 
Gnmde  berichtet  er  selbst  Folgendes. 

„Die  Beobachtung  war  nur  bis  zu  einer  Entfernung  von 
ca.  23  cm  möglich,  bei  gröfserer  Entfernung  erschien  das  Bild 
überhaupt  verschwommen  (diese  Versuche  wurden  nicht  am 
Perimeterbogen  angestellt). 

Bei  der  angegebenen  Entfernung  erschien  auf  der  Scheibe 
mit  den  Punkten  ein  Raum  von  nicht  ganz  1  qcm  unklarer  als 
die  Umgebung,  wofern  dieser  Raum  fixirt  wurde,  es  konnte 
daher  nicht  constatirt  werden,  ob  die  in  oben  bezeichneten  Raum 
fallenden  Pimkte  rund  oder  eckig  waren,  während  die  weiter 
vom  Fixirpunkt  entfernt  liegenden  Punkte  ihrer  Gestalt  nach 
genau  erkannt  werden  konnten. 

Die  Beobachtung  blieb  die  gleiche  bei  Moment-  und  Zeit- 
beleuchtung, desgleichen  bei  Object  1  und  2,  wenn  auch  bei 
Objeet  2  (d.  h.  helle  Punkte  auf  dunklem  Grunde)  die  Wahr- 
nehmung leichter  zu  machen  war.  Verschiedene  Beleuchtungs- 
stärken der  Objecte  gaben  gleichfalls  keine  Veränderung.  Es 
blieb  die  Beobachtung  eben  die  gleiche  bei  verschiedener  Be- 
leuchtungsintensität bis  zu  der  für  die  Beobachtungen  am  Peri- 
meter festgestellten  Maximalgrenze"  (also  ca.  50  Meterkerzen). 

Erschwerend  bei  all  diesen  Untersuchungen  auf  das  Vor- 
handensein des  centralen  Scotoms  wirkte  natürlich  auch  in 
diesem   Falle    der  vorhandene   typische  Nystagmus    namentHch 


Ein  weiterer  Beitrag  zur  angeborenen  totalen  Farbenblindheit         355 

bei  monoculärer  Fixation,  aber  gerade  das  grofse  Interesse  an 
der  Sache  von  Seiten  des  Patienten  und  seine  Intelligenz  liefsen 
diese  Hindernisse  relativ  leicht  überwinden. 

Alle  diese  Versuche  bei  diesem  Patienten  sowie  auch  in  den 
früheren  Fällen  sind  stets  unter  Mitwirkung  und  Zeugenschaft 
mehrerer  Herren  (DDr.  Heike,  Setdel,  DiipfeuE  u.  A.)  ausgeführt, 
die  mich  versicherten  ebenso  wie  die  Patienten  selbst,  dafs  sie 
von  den  oben  mitgetheilten  Versuchsergebnissen  überzeugt  seien. 

Die  Sehschärfe  betrug  Vs»  ©s  bestand  mittlere  Myopie  mit 
3  I)  Astigmatismus  nach  der  Regel  auf  beiden  Augen. 

Die  Dunkeladaption  des  Patienten  am  FoERSTEB'schen  Photo- 
meter erfolgte  erheblich  schneller  wie  am  normalen  Auge. 

Der  Nystagmus  war,  beim  Fixiren  mit  beiden  Augen  gleich- 
zeitig, relativ  wenig  wahrnehmbar,  beim  Verdecken  Eines  Auges 
tritt  er  sehr  deutlich  ein,  auch  beim  binoculären  Sehen  wird  der 
Nystagmus  deutlicher  bei  intensiverer  Beleuchtung. 

Die  Pupillen  sind  relativ  eng  (2,5  mm),  auch  bei  stark  herab- 
gesetzter Beleuchtung  erweitern  sie  sich  wenig,  während  ihre 
Reaction  auf  Licht  und  Convergenz  sonst  gut  erhalten  ist. 

In  Bezug  auf  die  nähere  Analyse  des  Farbensinnes  gestatte 
ich  mir,  auf  die  genauen  von  HiPPEL^schen  früheren  Angaben 
zu  verweisen  und  möchte  nur  erwähnen,  dafs  die  Farbensinn- 
anomalie mit  der  unserer  anderen  Beobachtungen  die  weit- 
gehendsten Analogien  bietet 

Für  das  dunkeladaptirte  Auge  des  Patienten  beschreibt  auch 
Herr  College  von  Hippel  (S.  154)  die  centrale  Undeutlichkeit  im 
Gesichtsfeld  den  peripheren  Netzhautpartien  gegenüber,  indem 
der  Untersuchte  bei  einem  kreuzförmigen  Punktsystem,  den 
gerade  fixirten  schwächer  und  stärker  beleuchteten  Punkt  un- 
deutlicher sieht  als  die  übrigen,  während  eine  solche  centrale 
Undeutlichkeit  bei  hellerer  Beleuchtimg  mit  kreuzförmig  an- 
geordneten weifsen  Scheiben  auf  schwarzem  Grunde  nicht  nach- 
gewiesen werden  konnte.  A.  von  Hippel  fafst  demnach  die  bei 
dem  dunkeladaptirten  Auge  nachgewiesene  centrale  Undeutlich- 
keit lediglich  als  ein  Adaptationsphänomen  auf,  indem  die  Fovea 
des  Patienten,  analog  wie  bei  dem  normalen  Auge  sich  lang- 
samer adaptire  und  dadurch  die  centrale  UndeutUchkeit  entstehe. 

Bei  meinen  Untersuchungen  aber  gab  der  Patient  auch  für 
das  hell  adaptirte  Auge  diese  centrale  Undeutlichkeit  in  der- 
selben Weise  an. 

23* 


356  ^-  IJhthoff, 

Stud.  H.  ist  nun  ferner  schon  früher  von  Prof.  E.  Dorn 
(Halle)  in  Bezug  auf  das  Sehen  von  Röntgenstrahlen  eingehend 
untersucht  worden  und  sind  die  interessanten  Resultate  über 
diese  Versuche  in  Wiedemann*s  Annalen  f.  Physik  66,  S.  1171, 
1898,  niedergelegt  worden.  Wir  nahmen  Veranlassung  auch  in 
dieser  Hinsicht  noch  eine  theilweise  Nachprüfung  vorzunehmen, 
welche  die  Dokn 'sehen  Resultate  durchaus  bestätigte.  Wurde  der 
Untersuchte  vor  einem  Röntgenapparat  in  die  Richtung  der 
reflectirten  Strahlen  gebracht,  so  hatte  er,  wenn  auch  Kopf  und 
Augen  mit  einem  achtfach  liegenden  schwarzen  Tuch  verdeckt 
waren,  eine  allgemeine  Helligkeitserscheinung,  jedoch  ohne  eine 
bestimmte  Form  der  Erscheinung  angeben  zu  können.  Durch 
zeitweiliges  Vorschieben  eines  Stanniolschirmes  ohne  Kenntnils 
des  Untersuchten  wurde  die  Thatsächlichkeit  der  Erscheinung 
geprüft.  Wurde  der  Schirm  von  imten  nach  oben  vor  das  Auge 
geschoben,  so  erschien  die  Verdunkelung  von  oben  nach  unten 
fortschreitend  und  umgekehrt.  Ein  in  der  Stanniolplatte  befind- 
Ucher  Spalt  gab  am  Auge  vorüber  bewegt  eine  Lichterscheinung, 
die,  je  weiter  von  der  Mitte  des  Auges  entfernt,  einen  um  so 
stärker  gekrümmten  Bogen  bis  zum  geschlossenen  Kreise  dar- 
stellte, in  der  Mitte  des  Auges  dagegen  als  gerade  Linie  wahr- 
genommen wurde.  Die  Erscheinung  war  bei  horizontaler  und 
verticaler  Lage  des  Spaltes  die  gleiche  und  bewegte  sich  in  um- 
gekehrter Richtung  als  der  Spalt  des  Stanniolschirmes  bewegt 
wurde.  Ein  in  den  Schirm  eingeschnittenes  Kreuz  ergab  die  zu 
erwartende  Combination  der  vorher  bei  horizontalem  und  verti- 
calem  Spalt  wahrgenommenen  Erscheinungen.  Die  Beobachtungen 
wurden  mehrfach  mit  dem  gleichen  Erfolg  wiederholt,  strengten 
jedoch  die  Augen,  nach  Aussage  des  Untersuchten,  verhältnifs- 
mäfsig  stark  an. 

Vergleichsversuche  mit  unseren  normalen  Augen  fielen  im 
Wesentlichen  negativ  aus.  Ebenso  gaben  analoge  Versuche  mit 
meinem  zuerst  untersuchten  total  Farbenblinden  keine  sicheren 
Resultate,  was  aber  wohl  mit  der  schlechteren  Beobachtungsgabe 
dieses  Patienten  in  Zusammenhang  stehen  mag. 

Ich  möchte  nicht  unterlassen  auf  die  weiteren  interessanten 
Ausführungen  und  Versuche  von  Prof.  Dorn  in  betreff  imseres 
Patienten  an  dieser  Stelle  noch  besonders  hinzuweisen,  speciell 
auch  in  betreff  der  relativen  Empfindlichkeit  der  Stäbchen  und 
Zapfen  gegen  Röntgenstrahlen  u.  s.  w. 


Ein  weiterer  Beitrag  zur  angeborenen  totalen  Farhenhlvidheit         357 

Der  ophthalmoskopische  Befund  bei  Stud.  H.  ergab  keine 
direct  pathologischen  Veränderungen,  doch  will  ich  bemerken, 
dafs  ich  in  diesem  Falle  keine  genaue  Untersuchung  der  Macula 
lutea  im  aufrechten  Bild  bei  erweiterter  Pupille  vorgenommen 
habe  und  möchte  mir  eine  solche  noch  vorbehalten,  wenn  Patient 
später  nach  Breslau  zurückkehrt. 

Im  Hinblick  auf  die  vorstehenden  Beobachtungen  erscheint 
mir  Folgendes  hervorzuheben: 

1.  Zimächst  finden  sich  bei  eingehender  ophthalmoskopischer 
Untersuchung  im  aufrechten  Bilde  und  bei  erweiterter  Pupille 
in  zwei  Fällen  pathologische  Veränderungen  in  der 
Gegend  der  Fovea  centralis,  welche  sehr  wohl  eine  aus- 
gesprochene Functionsstörung  an  der  Stelle  des  deutlichsten 
Sehnes  erklären.  Namentlich  in  Fall  I  mit  den  absoluten  cen- 
tralen Scotomen  waren  diese  Erscheinungen  sehr  ausgesprochen 
(s.  Fig.  2).  Dieselben  zeigen  den  Charakter  älterer  atrophischer 
Veränderungen  und  keine  Zeichen  frischer  Entzündung.  Da  die 
Sehschärfe  der  Patienten  nach  ihren  bestimmten  Angaben,  so 
weit  sie  zurückdenken  können,  sich  im  Laufe  des  Lebens  nicht 
verschlechtert  hat,  so  liegt  jedenfalls  die  Annahme  am  nächsten, 
dafs  es  sich  um  schon  angeborene  abnorme  Fovealveränderungen 
handelt;  zumal  in  Fall  I  auch  das  Verhalten  der  Papillen  und 
der  Retinalgefässe  als  ein  congenital  etwas  abnormes  bezeichnet 
werden  mufs. 

Wenn  somit  auch  natürlich  in  diesen  relativ  geringfügigen 
und  räumUch  beschränkten  pathologischen,  schon  mit  dem  Augen- 
spiegel nachweisbaren  Retinalveränderungen  noch  keine  Er- 
klänmg  für  die  Form  der  Sehstörung  bei  der  congenitalen  totalen 
Farbenblindheit  gegeben  ist,  so  liegt  doch  inmier  in  diesen  Be- 
obachtungen der  Hinweis,  dafs  in  einem  Theil  der  Fälle  doch 
auch  greifbare  pathologische  Netzhautverändenmgen  nachweisbar 
sind  und  zwar  ebenfalls  congenitale,  wie  ich  glaube.  Wir  können 
uns  sehr  wohl  vorstellen,  dafs  eine  sehr  ausgedehnte  abnorme 
Beschaffenheit  der  Retina  und  ihrer  Elemente  vorhanden  sein 
kann,  die  sich  der  Feststellung  mit  dem  Augenspiegel  intra  vitam 
vollkommen  entzieht.  Gerade  die  positiven  Befunde  geben  uns  einen 
Hinweis  auf  ein  anatomisch  abnormes  Verhalten  der  Netzhaut. 

Es  erscheint  mir  bemerkenswerth,  dafs  auch  Nagel  in  seiner 
letzten  Mittheilung  („Einige  Beobachtungen  an  einem  Falle  von 


358  ^-  mthoff. 

totaler  FarbenbUndheit",  Arch  f.  Äugenhk.  44  (2),  S.  153;  1901) 
über  abnorme  Veränderungen  in  der  Fovealgegend  sowohl  in 
seiner  jetzigen  als  in  der  früheren  Freiburger  Beobachtung  be- 
richtet. 

Bei  unserem  Fall  II  war  auch  zuerst  der  ophthalmoskopische 
Befund  nicht  als  pathologisch  gerechnet  worden,  erst  die  letzte 
Untersuchung  im  aufrechten  Bilde  bei  erweiterter  Pupille  und 
unter  gleichzeitiger  Correction  des  Astigmatismus  wies  diese 
pathologischen  Veränderungen  nach,  während  ich  bei  dem 
jüngeren,  ebenfalls  total  farbenblinden  Bruder  der  Patientin,  der 
allerdings  erheblich  stärkeren  Nystagmus  zeigte,  derartige  Ver- 
änderungen nicht  auffinden  konnte.  Auch  bei  meiner  ersten 
Beobachtung  und  bei  Fall  III  (Stud.  H.)  ist  kein  pathologisch 
ophthalmoskopischer  Befund  notirt,  aber  auch  in  beiden  Fällen 
wurde  die  Untersuchung  nicht  bei  erweiterter  Pupille  vor- 
genommen, ich  möchte  mir  eine  nachträgliche  Controle  in  dieser 
Hinsicht  noch  vorbehalten.  Ob  nicht  doch  noch  öfter  bei  ein- 
gehender ophthalmoskopischer  Untersuchung  pathologische  Ver- 
änderungen der  Fovea  centralis  gefunden  werden,  als  man  bisher 
angenommen  ? 

2.  In  zweiter  Linie  hat  sich  die  Zahl  der  Fälle,  welche  ein 
centrales  Scotom  aufwiesen,  durch  meine  neuen  Beobachtungen 
um  zwei  vermehrt  und  zwar  waren  die  Scotome  in  dem  Fall  I 
absolut,  d.  h.  es  wurde  ein  weifses  Quadrat  von  5  mm  Seite  über- 
haupt nicht  wahrgenommen;  es  coincidirte  diese  intensive 
Functionsstörung  mit  sehr  ausgesprochenen  pathologischen  Ver- 
änderungen in  der  fovea  centralis.  In  Fall  III  möchte  ich  die 
Scotome  auch  heute  als  relativ  bezeichnen,  da  bei  den  an- 
gewendeten relativ  kleinen  Prüfungsobjecten  kein  vollständiges 
Verschwinden,  sondern  ledigUch  ein  Undeutlicherwerden  ein- 
trat Es  ist  wohl  anzunehmen,  dafs  bei  hinreichend  weiterer 
Verkleinerung  des  Prüfungsobjectes  und  somit  Verminderung 
des  Reizes  für  die  Netzhaut,  schliefslich  das  centrale  Scotom  ein 
absolutes  geworden  wäre,  doch  glaubte  ich,  die  Gröfse  der 
Prüfungsobjecte  gerade  mit  Rücksicht  auf  die  relativ  geringe 
Sehschärfe  überhaupt  nicht  weiter  vermindern  zu  dürfen  und 
mufs  somit  die  Scotome  in  Fall  III  als  nur  relative  bezeichnen. 
In  Fall  II  gelang  der  Nachweis  circumscripter  Scotome  nicht; 
wohl  konnte  sicher  erwiesen  werden,  dafs  Patientin  nicht  central, 
sondern  mit  einer  Stelle  nach  aufsen  neben  der  Fovea  centralis 


Ein  weiterer  Beitrag  zur  angeborenen  totalen  Farbenblindkeit.        359 

hauptsächlich  fixirte.  Hierfür  sprach  auch  die  ermittelte  Lage 
des  blinden  Fleckes,  der  im  Gesichtsfeld  ca.  5^  zu  weit  nach 
aufsen  gefunden  wurde  dem  normalen  Auge  gegenüber  und  dem- 
entsprechend der  abnorm  grofse  positive  Winkel  y.  Es  zeigte 
dieses  Factum  jedenfalls  auch,  dafs  die  Sehschärfe  in  der  Fovea 
cenWU  eine  geringe"  »in  mufete,  .1»  in  den  benachbarten 
Partien  der  Netzhaut,  wenn  auch  diese  Undeutlichkeit  nicht  in 
Form  eines  circumscripten  Scotoms  abgegrenzt  werden  konnte. 
Gerade  dieser  Fall  lehrte  uns  wieder,  wie  enorm  schwierig  die 
Beurtheilung  dieser  Dinge  für  den  Patienten  sein  kann,  wenn 
er  die  leichten  nystagmusartigen  Zuckungen  gar  nicht  zu  unter- 
drücken im  Stande  ist,  sobald  neben  dem  Fixirpunkt  seine 
Aufmerksamkeit  gleichzeitig  für  ein  excentrisch  gehaltenes  Ob- 
ject  in  Anspruch  genommen  wird. 

Auch  in  Fall  I  war  die  Feststellung  des  blinden  Fleckes  an 
einer  falschen  Stelle  zu  weit  nach  innen  dasjenige,  was  uns  den 
Fingerzeig  gab,  wo  das  centrale  Scotom  zu  suchen  sei,  und  wo 
€8  dann  auch  in  absolut  sicherer  Weise  nachgewiesen  werden 
konnte.  Koenig's  erster  Nachweis  des  centralen  Scotoms  bei 
congenitaler  totaler  Farbenblindheit  hat  somit  auch  wieder  durch 
zwei  unserer  neuen  Beobachtungen  Bestätigung  gefunden. 

Aber  auch  schon  die  Auffindimg  des  doch  absolut  sicher 
vorhandenen  blinden  Fleckes  macht  bei  den  congenital  total 
Farbenblinden  gelegentlich  grofse  Schwierigkeiten,  eben  wegen 
der  nystagmusartigen  Bewegungen,  die  sofort  eintreten,  wenn 
vom  Untersuchten  die  Beachtung  zweier  Punkte  (des  Fixir- 
objectes  und  des  excentrisch  gehaltenen  Zeichens)  gleichzeitig 
gefordert  wird.  Man  versteht  schon  imter  diesen  Umständen, 
dafs  noch  vielmehr  die  Auffindung  kleiner  centraler  absoluter 
oder  relativer  Scotome  Schwierigkeiten  machen  mufs,  ja  bei 
weniger  intelligenten  Beobachtern  zur  UnmögUchkeit  werden 
kann. 

3.  In  diesen  drei  neuen  Beobachtimgen  habe  ich  die  mühe- 
vollen und  aufserordentlich  zeitraubenden  Untersuchungen  über 
die  zahlenmäfsige  Abnahme  der  excentrischen  Seh- 
schärfe je  nach  dem  Grade  der  Excentricität  nicht  in  der 
Weise  wiederholt,  wie  in  Fall  I;  glaube  jedoch  sicher  sagen  zu 
können,  auf  Grund  der  Prüfungen,  dafs  auch  bei  ihnen  die  peri- 
phere Sehschärfe  mit  dem  Grade  der  Excentricität  stetig  abnahm, 
analog  wie  in  meinem  früheren  Falle.    Ich  glaube  auch,  dafs 


360  ^'  Vhthoff. 

dieses  Moment  noch   nicht  gegen  die  Theorie   des   „Stäbchen- 
sehens" direct  zu  verwerthen  ist 

4.  Es  erscheint  mir  bei  unserem  Fall  I  bemerkenswerth, 
dafs  derselbe  wohl  ganz  analog  wie  die  sonstigen  Fälle  von 
einem  lästigen  Blendungsgefühl  geplagt  wurde  und  durch  grelle 
Beleuchtung  eine  directe  Verschlechterung  seiner  Sehschärfe  er- 
fuhr, dagegen  in  keiner  Weise  für  die  Dimkelheit  schneller 
adaptirte  als  das  normale  Auge,  auch  war  seine  Wahrnehmung 
für  HelUgkeitsunterschiede  in  keiner  Weise  eine  bessere  als  die 
des  normalen  Auges.  Schnellere  Adaptation  aber,  als  beim  nor- 
malen Auge  trat  in  allen  unseren  anderen  Beobachtungen  deut- 
lich zu  Tage. 

5.  Die  Sichtbarkeit  der  Röntgenstrahlen  war  in  unserem 
Fall  ni  eine  sehr  exquisite  und  konnten  die  eingehenden  An- 
gaben von  Dorn  über  diesen  Untersuchten  nur  bestätigt  werden. 
In  meiner  früheren  Beobachtung  konnte  bei  einer  nachträglichen 
Untersuchung  daraufhin  diese  Thätsache  nicht  sicher  festgestellt 
werden.  Es  scheint  demnach  wohl,  dafs  dieselbe  keine  constante 
bei  allen  congenital  total  Farbenblinden  ist.  Dieser  Punkt  be- 
darf jedenfalls  noch  der  weiteren  Untersuchung. 

In  Bezug  auf  das  Literaturverzeichnifs  sei  auf  meine  frühere 
Mittheilung  verwiesen. 

(Eingegangen  am  17.  November  1901.) 


lieber 
die  Wahrnehmung  musikalischer  Tonverhältnisse. 

Von 

Dr.  E.  Stoech. 

Betrachte  ich  emen  Lichtpunkt  A  und  unmittelbar  darauf 
einen  anderen  B,  von  derselben  Helligkeit  und  Farbe,  so  werden 
iu  beiden  Fällen  genau  die  gleichen  Netzhautelemente  in  der 
gleichen  Stärke  gereizt  Trotzdem  ist  in  beiden  Wahrnehmungen 
ein  räumlicher  Unterschied:  den  Punkt  A  sehe  ich  in  einer 
anderen  Richtung,  an  einer  anderen  Stelle  im  Raum,  als  den 
Punkt  B. 

Betaste  ich  erst  die  rechte  Ecke  einer  Stuhllehne  und  un- 
mittelbar darauf  die  völlig  gleich  geformte  Unke,  so  ist  wiederum 
die  Erregung  der  tastenden  Sinneselemente  in  beiden  Fällen  ab- 
solut gleich ;  in  den  Wahrnehmungen  aber  besteht  auch  hier  ein 
räumUcher  Unterschied:  die  linke  Ecke  liegt  in  einer  anderen 
Richtung  als  die  rechte. 

Wäre  in  dem  optischen  Beispiel  in  A  erst  ein  weifses  und 
dann  ein  blaues  Licht  erschienen,  so  würde  kein  Physiologe 
daran  gezweifelt  haben,  dafs  der  Verschiedenheit  der  sinnlichen 
Wahrnehmungen  eine  Verschiedenheit  der  auf  den  Reiz  er- 
folgenden Netzhautveränderung  entspricht,  und  diesen  selben 
Schlufs  würde  man  hinsichtlich  der  Tastfläche  gezogen  haben, 
falls  in  dem  zweiten  Beispiel  sich  die  eine  Ecke  rauh,  die  andere 
glatt  angefühlt  hätte. 

Und  sicher  ist  man  zu  diesem  Schlüsse  berechtigt,  ob  man 
sich  mit  vollem  Bewufstsein  zu  der  Lehre  vom  psychophysischen 
Parallelismus  bekennt  oder  nicht;  denn  solange  Menschen  ge- 
dacht haben,  haben  sie  immer  nur  von  psychisch  Verschiedenem 
auf  physische  Verschiedenheiten  geschlossen. 

Trotzdem  ist  die  Annahme,  dafs  der  Wahrnehmung  eines 
blauen  Lichtes  ein  anderer  Vorgang  in  der  Netzhaut  entspricht, 


\j 


362  ^-  Storch. 

als  der  eines  gelben,  bis  zum  heutigen  Tage  eine  unerwiesene 
Hypothese,  und  dürfte  es  auch  noch  für  absehbare  Zeiten  bleiben- 

Vor  Aller  Augen  liegt  aber  diese  von  unserer  Vernunft  un- 
abweisbar geforderte  körperliche  Verschiedenheit,  sobald  es 
sich  um  die  räumlichen  Verschiedenheiten  der  Wahrnehmungen 
handelt. 

Betrachte  ich  erst  den  Punkt  A  und  dann  den  Punkt  B,  so 
treten  meine  Augenmuskeln  oder  auch  die  Muskeln  meines 
ganzen  Körpers  in  Thätigkeit,  und  es  ist  darum  wohl  der  Mühe 
werth  zu  untersuchen,  ob  sich  das  räumUche  Moment,  welches 
mit  all  unseren  Wahrnehmungen  aufs  Engste  verknüpft  ist,  nicht 
in  letzter  Linie  zurückführen  läfst  auf  unsere  Muskelthätigkeit 

In  gröfserer  Ausführlichkeit  habe  ich  diesen  Gedanken  in 
einer  kleinen  Abhandlung^  entwickelt.  Hier  kann  ich  den  Ge- 
dankengang nur  andeuten. 

Das  neugeborene  Kind  verharrt  in  den  ersten  Tagen  und 
Wochen  seines  Lebens  in  einer  ganz  bestimmten  Ruhelage,  die 
es  nur  auf  Sinnesreize  verläfst.  Die  Gliedmafsen  sind  an  den 
Leib  gezogen,  die  Fäustchen  geballt  Streckt  man  bei  einem 
solchen  Kinde  z.  B.  den  kleinen  Finger,  so  schlägt  es  ihn 
maschinenmäfsig  wieder  ein,  sobald  man  ihn  losläfst.  Kurz  zu 
jedem  Reize,  den  man  durch  passive  Bewegungen  auf  die 
Sinneselemente  der  Sehnen  und  Gelenke  ausübt,  gehört  eine 
ganz  bestimmte  Reflexbew^egung. 

Bewegt  man  ihm  den  Kopf  hin  imd  her,  so  sieht  man  lange 
bevor  an  eine  Fixation  zu  denken  ist,  wie  die  Augen  hinter  der 
passiven  Kopfdrehung  zurückbleiben;  d.  h.  zu  jeder  einzelnen 
Reizung  des  Bogengangapparates  gehört  reflectorisch  eine  ganz 
bestimmte  Augenbewegung. 

Nicht  durchaus  so  regelmäfsig,  so  automatenhaft,  aber  immer 
noch  deutlich  genug  läfst  sich  beobachten,  dafs  der  Berührung 
einer  bestimmten  Stelle  der  Haut  eine  eigene  Reflexbewegung 
kleinerer  oder  gröfserer  Muskelgebiete  folgt.  Und  wir  brauchen 
nur  an  juckende  Reize  zu  denken,  um  uns  darüber  klar  zu 
werden,  dafs  auch  beim  Erwachsenen,  die  Reizung  gewisser 
Sinneselemente  specifische  Bewegungen  reflectorisch  auslöst 

Wir  können  den  Zeitpunkt  nicht  genauer  angeben,  zu 
welchem  das  Kind  aus  seinem  Reflexleben   erwacht;   aber  eines 


*  Muskelfunction  und  Bewufstsein.    Wiesbaden,  F.  J.  Bergmann,  1901. 


üeber  die  WcJimehmung  musikalischer  TonverhäUnisse.  363 

Tages  beobachten  wir,  dafs  es  die  Faust  in  den  Mund  steckt, 
und  immer  öfter  kommen  Bewegungen  vor,  die  ganz  den  Ein- 
druck des  Willkürlichen  machen. 

Die  meisten  Bewegungen  beim  Erwachsenen  sind  will- 
kürliche. Will  ich  meinen  rechten  Arm  erheben,  so  geht  der 
Ausfühi'img  dieser  Bewegung  eine  räumUche  Vorstellung  voran. 
Ich  habe  ein  Bild  von  meinem  Körper,  dem  ich  gleich  werden 
will.  Diese  räumliche  Vorstellung  aber  genügt  um  die  Be- 
wegung, auszuführen  um  gerade  die  Muskelfasern  zur  Contraction 
zu  bringen,  diejenigen  Ganglienzellen  im  Rückenmarke  zu 
innerviren,  welche  meine  räumliche  Vorstellung  verwirklichen. 

Es  mufs  also  der  cerebrale  Vorgang,  welcher  als  materielles 
Correlat  jener  räumlichen  Vorstellung  meines  Körpers  zu  be- 
trachten ist,  alles  in  sich  enthalten,  was  zur  Innervinmg  jener 
Muskeln,  von  deren  Dasein  ich  keine  Ahnung  habe,  gehört. 
Dieser  cerebrale  Vorgang  mufs  ein  genaues  Abbild,  eine  Art 
Photographie  sein  der  von  ihm   erzeugten   spinalen  Innervation. 

Das  Verständnifs  hierfür  aber  eröffnet  einzig,  dafs  dem  Be- 
wufstsein  vorangehende  Reflexleben. 

Jeder  Reiz,  der  zu  dieser  Zeit  ein  Sinneselement  erregt,  ruft 
auch  eine  Muskelaction  hervor,  und  es  ist  durchaus  folgerichtig 
zu  schliefsen,  dafs  sowohl  die  Veränderung  der  Sinneselemente, 
wie  auch  der  muskuläre  Vorgang  im  Gehirn  Spuren  hinterlassen. 
Dem  würde  entsprechen,  dafs  eine  Wahrnehmung  sich  aus  zwei 
Factoren  zusammensetzt.  1.  Dem  reinsinnlichen  Elemente,  das 
ein  Abbild  des  Vorganges  im  Sinnesorgane  darstellt,  und  2.  einem 
Symbol,  einer  Art  Photographie  der  reflectorischen  Bewegung. 
Ob  diese  Reflexbewegung  späterhin  wirklich  eintritt  oder  nicht, 
ist  gleichgültig,  sobald  eine  sehr  feste  Association  zwischen  der 
cerebralen  Sinneserregung  und  dem  Erinnerungsbild  des  zu- 
gehörigen Reflexes  gebildet  ist.  Es  wird  dann  jeder  Sinnesreiz 
unweigerlich  dieses  motorische  Erinnerimgsbild  zum  Anschwingen 
bringen. 

Wir  haben  gesehen,  dafs  die  räumliche  Vorstellung,  welche 
-der  willkürlichen  Erhebung  des  Armes  vorhergeht,  unbedingt 
«ine  Art  Photographie  der  zugehörigen  Muskelaction  im  Gehirne 
voraussetzt,  und  haben  den  Weg  kennen  gelernt,  auf  welchem 
diese  cerebrale  Vertretung  der  Muskelthätigkeit  zu  Stande 
kommt.    Psychisch  wird  sie  räumlich  bewerthet  und  wir  können 


364  ^-  Storch. 

den  Satz  aufstellen :  Der  Raum  ist  die  psychische  Repräsentation 
unserer  Bewegungen. 

Jede  Raumvorstellung  aber,  auch  die  aller  complicirteste 
läfst  sich  auf  das  Element  der  Richtungsvorstellung  zurück- 
führen. Ein  Wagen  den  ich  an  mir  vorüberfahren  sehe  er- 
scheint mir  nach  einander  in  verschiedenen  Richtungen,  ein 
Buchstabe,  ein  Körper,  irgend  eine  Form,  all  das  ist  auflösbar  in 
eine  Summe  von  in  verschiedenen  Richtungen  gelegenen  Raum- 
punkten. Alle  Formen  die  wir  an  den  Objecten  wahrnehmen 
beruhen  auf  mehr  minder  verwickelten  Richtungscomplexen. 

Wenn  ich  ein  Gewicht  von  10  Balo  vom  Boden  erhebe  und 
unmittelbar  darauf  ein  solches  von  20  Kilo,  so  ist  die  Richtung 
in  welcher  ich  einen  Widerstand  durch  Muskelkraft  überwinde 
in  beiden  Fällen  dieselbe,  die  Anstrengung  aber,  welche  ich  als 
Masse  objectivire,  eine  verschiedene.  Der  gleichen  Richtungs- 
wahrnehmung wird  man  die  in  beiden  Fällen  gleiche  Combination 
der  thätigen  Muskeln,  der  verschiedenen  Masse  die  verschiedene 
Stärke  ihrer  Innervation  parallel  setzen. 

Nehme  ich  zunächst  einen  Gummiball  in  die  Hand  und 
schliefse  diese  mit  immer  gröfserer  Kraft  zur  Faust,  so  bemerke 
ich  die  Weichheit  des  Objectes.  Im  Gegensatze  dazu  würde  ich 
eine  Holzkugel  hart  empfinden.  Im  letzteren  Falle  ändert  sich 
trotz  zunehmender  Innervationstärke  die  Form  meiner  Hand 
nicht,  es  bleiben  dieselben  Muskelfasern  mit  der  vergleichsweise 
nämlichen  Kraft  contrahirt,  während  die  Gesammtsumme  der 
Innervation  steigt. 

Dem  entsprechend  ändert  sich  denn  auch  das  räumliche 
Moment  der  Wahrnehmung,  die  Form  der  Holzkugel,  durchaus 
nicht,  wohl  aber  bemerke  ich  bei  zunehmenden  Kraftaufwand 
ihre  Härte.  Ein  Gegenstand  ist  um  so  härter,  je  gröfser  der 
Widerstand  den  er  dem  Versuche  seine  Form  zu  verändern 
entgegensetzt 

Es  würde  hier  zu  weit  führen  den  Beweis  zu  erbringen, 
dafs  für  alle  Sinnesgebiete  das  räumliche  Moment  der  Wahr- 
nehmung allein  abhängig  ist  von  den  Innervationsverhältnissen 
der  in  Action  tretenden  Muskelgruppen,  die  Quantität  der 
Empfindung  bei  gleichem  Innervationsverhältnifs,  aber  nur  ab- 
hängt von  der  Gesammtsumme  der  Innervation. 

Nenne  ich  daher  die  bei  einem  Wahrnehmungsacte  thätigen 
Muskelelemente  m^,  w«,   Wg  .  .  .  ihre   zugehörigen  Innervations- 


Ueber  die  Wahrnehmung  musikalischer  Tanverhältnisse.  365 

stärken  aber  ij,  l^,  ig ,  so  würde  die  Formel  t»  wij  +  u 

iWj  +  *8  ^s  •  •  •  •  das  periferische  Correlat  aller  räumlichen  und 
quantitativen  Elemente  in  einer  Wahrnehmung  darstellen.  Würde 
in  dieser  Formel  ein  allen  i  gemeinsamer  Factor  n  wachsen,  so 
würde  die  Quantität  der  Empfindung  zunehmen. 

w  ih  *^i  +  «9  ^  +  h  ^h  '  •  •) 
Quantität  imd  Raum   aber  ist  an  unseren  Wahrnehmungen 

alles,  was  die  Objecte  zu  einander  in  Beziehung  setzt.  In  Be- 
ziehung setzen  aber  heifst  erst  Denken,  wahrnehmen,  BewuTstsein 
haben,  und  so  ist  Quantität  und  Raum,  die  psychische  Repräsen- 
tation unserer  Muskelfunction,  das  Material  all  unserer  BewuTst- 
seinsthätigkeit.  Alles  Vorstellen,  alle  Begriffe  sind  in  letzter 
Linie  auf  Raum-  und  Quantitätsgröfsen  zurückzuführen.  Von 
dem  rein  Sinnlichen  tritt  nichts  in  unsere  Denkthätigkeit  ein; 
es  ist  nur  vorhanden  im  Augenblicke  der  Wahrnehmung.  Und 
wenn  der  Physiker  über  Farben,  Geräusche  oder  sonst  welche 
Thatsachen  sinnlicher  Erfahrung  nachdenkt,  so  kann  er  das  nur 
indem  er  für  sie  Raum-  und  Quantitätsgröfsen  setzt,  denn  die 
rein  sinnlichen  Empfindungen  an  sich  sind  durchaus  beziehungslos. 

Auch  hier  mufs  ich  mich  mit  diesem  Hinweise  begnügen, 
dals  alle  Beziehungen  in  unserem  Wahrnehmen  und  Denken, 
also  auch  alle  Beziehungen,  welche  die  Objecte  zu  einander  be- 
sitzen, nichts  aber  auch  gar  nichts  weiter  sind  als  die  psychische 
Repräsentation  unserer  Muskelthätigkeit. 

Und  doch  kennen  wir  unter  den  Objecten  imserer  Wahr- 
nehmung Beziehungen,  die  freilich  im  Denkprocesse  keine  Rolle 
fq>ielen,  die  aber  ebenso  bestimmt  und  eindeutig  geordnet  er- 
scheinen, wie  die  Massen  im  Raum.  Ich  meine  die  Wahr- 
nehmung der  acustischen  Objecte,  und  unter  diesen  wieder 
greife  ich  diejenigen  heraus,  welche  musikalische  Verwendung 
finden. 

Was  die  musikalischen  Töne  in  eine  eindeutige  Reihe  ordnet 
iat  ihre  Höhe  oder  Tiefe.  In  Bezug  auf  einen  beliebigen 
«Husikalischen  Ton  ist  irgend  ein  anderer  höher  oder  tiefer. 

Es  ist  ein  ähnliches  Verhältnifs  wie  wir  es  bei  den  quanti- 
Ibcttiven  Beziehungen  irgend  einer  specifischen  Sinnesempfindimg 
^I^Xaben.  In  Bezug  auf  irgend  eine  Lichtempfindung  ist  irgend 
ine  andere  dunkler  oder  heller. 

Aber  es  besteht  zwischen  der  Wahrnehmung   der  Tonhöhe 

der  der  Helligkeiten  doch  ein   gewaltiger  Unterschied.    Es 


366  ^-  Storch. 

ist  ganz  unmöglich  sich  einen  bestimmten  Helligkeitsunterschied 
vorzustellen,  man  kann  ihn  nur  wahrnehmen,  und  ganz  unmög- 
lich ist  es  diesen  Unterschied  der  Quantität  wiederzuerkennen, 
wenn  ich  von  einer  anderen  Lichtquelle  als  Vergleichsobject 
ausgehe.  Niemand  vermag  aus  sich  selbst  heraus  zu  sagen,  ob 
die  Veränderung  der  Lichtempfindung  die  gleiche  ist,  wenn  die 
Leuchtkraft  einer  Lichtquelle  von  1  auf  2,  und  wenn  sie  von 
2  auf  4  steigt. 

Dagegen  vermag  ich  mir  sehr  wohl  einen  bestimmten  Höhen- 
unterschied vorzustellen  und  erkenne  denselben  auch  mühelos 
in  jeder  Höhenlage  wieder. 

Dadurch  erhalten  die  Beziehungen  der  musikalischen  Töne 
eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  den  im  Raum  gültigen  Gresetzen. 
Wie  ich  mir  an  jeder  beUebigen  Stelle  im  Raum  einen  Winkel 
von  bestimmter  Gröfse  denken  kann,  so  ist  auch  zu  jedem  be- 
Uebigen Ton  ein  anderer  vorstellbar,  der  zu  ihm  in  einem  be- 
stimmten HöhenverhältniTs  steht.  Das  Intervall  eines  halben 
oder  ganzen  Tones,  der  Quinte  oder  Octave  ist  ganz  unabhängig 
von  der  Tonhöhe,  wie  der  Richtungsunterschied,  der  Winkel  den 
zwei  Linien  mit  einander  bilden  ganz  unabhängig  besteht  von 
der  Lage  desselben  im  Raum.  Ist  aber  die  eine  beider  Richtungen 
gegeben,  so  ist  es  auch  die  andere,  ebenso  wie  bei  Festlegung 
des  Grundtones  die  Octave  ebenfalls  bestimmt  ist. 

Die  Uebereinstimmung  geht  noch  weiter.  Habe  ich  in  einem 
Kreise  einen  Radius  als  Schenkel  eines  Centriwinkels  von  der 
Gröfse  a  bestimmt,  so  giebt  es  zwei  Radien,  welche  diesen 
Richtungsunterschied  mit  ihm  einschliefsen ;  denn  ich  kann  mir 
den  Winkel  a  entstanden  denken  durch  Drehung  des  Radius 
aus  seiner  ursprünglichen  Lage  entweder  in  der  einen,  oder  der 
entgegengesetzten  Richtung.  Ebenso  kann  ich  von  einem  be- 
liebigen Grundtone  entweder  zur  nächst  höheren  oder  nächst 
tieferen  Octave  gelangen. 

Sehe  ich  irgend  eine  Form,  so  fasse  ich  sie  simultan  auf 
als  Complex  von  Richtungen,  und  sehe  ich  dieselbe  Form,  z.  B. 
einen  Buchstaben  schreiben,  so  nehme  ich  sie  wahr  als  successive 
Folge  verschiedener  Richtungen.  Ohne  Weiteres  erkenne  ich 
die  Identität  beider  Richtungscomplexe. 

Höre  ich  den  Zusammenklang  c  e  g  und  dann  c  e  und  g 
in  der  Aufeinanderfolge  einer  Melodie,  so  erkenne  ich  unschwer 
die  Identität  der  Intervalle. 


lieber  die  Wahrnehmung  musikdlischer  TonverJUUtnisse.  3g7 

Die  Beziehungen  zwischen  den  musikalischen  Tönen  haben 
also  eine  deutUche  Aehnlichkeit  mit  den  quantitativen  und  räum- 
lichen Verhältnissen  im  Reiche  der  körperUchen  Objecte,  so  dafs 
der  Gredanke  nahe  liegt  auch  sie  als  psychische  Spiegelung 
unserer  Muskelthätigkeit  aufzufassen. 

Wie  unser  logisches  Denken  auf  räumUchen  und  quantitativen 
Verhältnissen  basirt,  so  unser  musikalisches  auf  der  Tonhöhe 
und  der  Intervallvorstellung,  und  wäre  die  eben  ausgesprochene 
Vermuthung  richtig,  so  würde  imsere  gesammte  geistige  Thätig- 
keit,  auch  die  nicht  verstandesmäfsige,  musikalische,  sich  zurück- 
führen lassen  auf  die  psychische  Repräsentation  unserer  Muskel- 
action.  Unser  Bewufstsein  wäre  das  Combinationsvermögen 
dieser  Erinnerungsbilder  unserer  Bewegungen. 

Dafs  all  unsere  Kenntnifs  acustischer  Phänomene  und 
musikalischer  Verhältnisse  auf  der  Wahrnehmung  basirt,  ist 
selbstverständUch,  und  wir  werden,  um  imser  Problem  zu  lösen, 
uns  an  die  ersten  Gehörseindrücke  halten  müssen,  welche  das 
neugeborene  Kind  empfängt,  an  die  Zeit  der  reflectorischen  Be- 
wegungen. 

Das  erste  Lebenszeichen,  mit  welchem  das  neugeborene  Kind 
die  Welt  begrüfst,   ist  ein  lebhaftes  Geschrei,  also  eine  Muskel- 
thätigkeit   Das  wirklich    schallerzeugende  Organ  hierbei  ist  der 
Kehlkopf,  und  wenn  wir  an  unserer  Annahme  festhalten,  dafs 
die   Muskelcontractionen   wenigstens  in   dem  ersten   Abschnitte 
unseres  Lebens  einen  cerebralen  Vorgang  auslösen,  der  in  engste 
Association   mit  der  cerebralen  Spur  eines  bestimmten  Sinnes- 
reizes tritt,  so  wird  sich  auch  die  Wahrnehmung  dieses  Geschreis, 
eines  jeden  Lautes  überhaupt  zusammensetzen  aus  zwei  psychischen 
Oo.,Anen«o.    Die  eine  ^pr^nüri  die  p,ych»che  Lwerftm,g 
der  Veränderung  des  Gehörorganes,  die  zweite  die  der  den  Laut 
erzeugenden  Kehlkopfbewegung.    Die  Association  zwischen  diesen 
beiden  Bewufstseinselementen  müssen  wir  uns  wieder  als  so  eng 
vorstellen,   dafs  jede  Erregung  unseres  acustischen  Organes  im- 
weigerlich  ein  ganz  specifisches  motorisches  Erinnerungsbild  an- 
schwingen läfst.    Ohne   dieses  wären  die   einzelnen  Töne  ohne 
Jede   Beziehung,    sie   wären    einfach    verschieden,    so   wie    die 
Empfindungen  blau  und  schwarz  und  wohlriechend  imvermittelt 
und  beziehungslos  neben  einander  stehen. 

Dafs  diese  motorischen  Erinnerungsbilder  thatsächlich  vor- 
handen sind,  beweist  die  Erfahrung,  dafs  ich  jede  Tonfolge  zu 


368  ^'  Storch. 

singen  vermag.  In  der  Vorstellung  des  TonverhältnlBses  c  c\ 
oder  des  Tones  c^  nach  c,  mufs  also  alles  liegen  was  zur  "Et- 
Zeugung  des  Tones  c^  gehört.  Es  mufs  die  Vorstellung  c^  that- 
sächlich  alles  enthalten,  was  zur  spinalen  Innervation  des  Kehl- 
kopfes gehört,  oder  wie  ich  auch  sagen  könnte,  die  Vorstellung 
c^  mufs  eine  Art  seelischer  Photographie  dieser  Innervation  sein. 

Die  Beziehungen  nun,  welche  zwischen  den  musikalischen 
Tönen  bestehen,  sind  uns  unmittelbar  gegeben,  in  ihnen  denken 
wir  wenn  wir  eine  Melodie  vor  unserm  geistigen  Ohr  vorüberziehen 
lassen,  mit  ihnen  operirt  der  Componist.  Diese  Beziehungen 
aber  vermögen  wir  uns  auch  unabhängig  von  ihrem  Material 
abstract  zu  denken,  imd  wenn  wir  das  thun,  wenn  wir  sie  also 
nicht  naiv  sondern  verstandesmäfsig  zergUedem,  müssen  wir  sie 
uns  räumlich  vorstellen.  Da  das  thatsächUch  in  groCser  Voll- 
kommenheit möglich  ist,  wie  z.  B.  die  HELMHOLXz'sche  Lehre 
von  den  Tonempfindungen  zeigt,  müssen  wir  annehmen,  dafe 
alle  musikalischen  Beziehungen  in  unseren  Raumvorstellungen 
schon  enthalten  ist,  dafs  abgesehen  von  dem  eigenen  acustischen 
Material  diese  Beziehungen  einen  Specialfall  der  Summe  aller 
räumlichen  Beziehungen  bilden.  Sind  aber  letztere  auf  die 
Combination  unserer  Muskelthätigkeit  zurückzuführen,  so  gilt 
naürtlich  auch  dasselbe  von  den  musikalischen  Tonverhältnissen. 

Unsere  Theorie  aber,  der  zu  Folge  die  musikalischen  Be- 
ziehungen als  psychische  Bewerthung  der  durch  die  Kehlkopf- 
bewegungen erzeugten  cerebralen  Veränderungen  aufzufassen 
sind,  gestattet  uns  diese  nämlichen  Beziehungen  auch  auf  anderem 
Wege  abzuleiten. 

Statt  nämlich  diese  Beziehungen  selbst  verstandesmäfsig,  d.  h. 
räumlich  auszulegen,  können  wir  auch  ihr  peripheres  Substrat, 
die  Muskelthätigkeit  des  Kehlkopfes,  zum  Ausgangspunkte  unserer 
Betrachtung  machen  und  untersuchen,  wie  sich  die  auf  sie  zurück- 
zuführenden räumlichen  Vorstellungen  gestalten  müssen.  Das 
heifst,  wir  machen  die  Annahme,  dafs  wir  unsere  Kehlkopf- 
bewegungen räumlich  auffassen,  dafs  wir  also,  ebenso,  wie  wenn 
wir  den  rechten  Arm  heben  wollen,  auch  von  jeder  Kehlkopf- 
Innervation  wohl  eine  räumliche  Vorstellung,  aber  keine  akustische 
besäfsen. 

Ist  es  wichtig,  dafs  jedem  räumlichen  Elemente,  jeder  Rich- 
tungsvorstellung, ein  peripheres  Substrat  von  der  Formel 


Ueber  die  Wahrnehmung  muiikalischer  TanverhaUnisse.  369 

ZU  Grunde  liegt,  cL  h.  eine  bestimmte  Innervation  gewisser 
Muskelelemente,  so  leuchtet  ein,  dafs  imser  Raum  so  viel  Rich- 
tungen besitzt,  als  es  verschiedene  Innervationsmechanismen  giebt, 
cL  h.  unendlich  viele. 

Für  unsem  Kehlkopf  aber  kommen  nicht  unendlich  viele, 
sondern  nur  drei  Innervationsmechanismen  in  Betracht.  Er  hebt 
und  senkt  sich,  er  dreht  sich  um  eine  fronto- horizontale  Axe, 
und  die  Stimmbänder  entfernen  oder  nähern  sich  einander.  Jedem 
dieser  Bewegungsmechanismen  entspricht  eine  einzige  Formel 

in  welcher  sich  nur  der  gemeinsame  Factor  n,  die  Gesammt- 
innervation  ändern  kann. 

Die  psychische  Repräsentation  dieser  drei  Mechanismen  kann 
natürUch  nur  drei  verschiedene  räimiUche  Elemente,  drei  Rich- 
tungen Uefem,  die  ich  mit  1.  2  und  3  bezeichne,  und  wie  wir 
bei  der  Lautbildung  diese  drei  Mechanismen 

ftj  («1*^1«  +  ij^mg«  .  .  .) 
und    W3  («1«  m/  -f  ig»  wig»  -f  ig»  wig«  .  .  .) 

in  mannigfaltigster  Weise  combiniren,  so  combiniren  wir  auch 
beim  musikalischen  Denken  ihre  psychischen  Werthe  in  jeder 
nur  möghchen  Weise.  Bleiben  wir  bei  unserer  Fiction,  dafs  sie 
TäumUch  bewerthet  werden,  so  heifst  das,  dafs  imser  räumUches 
Denken,  wofern  es  ausschhefsUch  auf  den  motorischen  Erinne- 
rungsbildern der  Kehlkopfbewegungen  beruht,  sich  völlig  erschöpft 
in  der  Combinatorik  dreier  verschiedener  Richtungen. 
Die  möglichen  Combinationen  sind  also  folgende: 

1.  2         imd        1.  2.  3 
1.  3  1.  3.  2 


2.  3  2.  1.  3 

2.  1  2.  3.  1 

3.  1  3.  1.  2 
3.  2  3.  2.  1 


Die  Combination  zweier  Richtungen  ergiebt  offenbar  einen 
Richtungsimterschied,  einen  Winkel  von  bestimmter  Gröfee,  und 
wenn  ich  die  Richtung  1  als  Ausgangsrichtimg  wähle,  wie  ich 
ja  in  unserem  wirklichen  Räume  auch  stets  eine  bestimmte 
Richtung,  die  gerade  nach  vorn,  für  die  Orientirung  verwende, 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  24 


370  ^'  Storch, 

SO  erhalte  ich  im  Ganzen  vier  Combinatipneu   und   ihre   Um- 
kehrungen. 

I  =  1.  2,  (2.  1)  III  =  1.  2.  8,  (3.  2.  1) 

II  =  1.  3,  (3.  1)  IV  =  1.  a  2,  (2.  3.  1) 

Die  Beziehungen,  welche  zwischen  den  Gröfsen  unseres 
fingirten  Raumes  bestehen,  lassen  sich  also  auf  vier  bezw. 
acht  gegen  eine  Ausgangsrichtung  gemessenene  Winkel  zurück- 
führen. 

I  =  1,2  =  ^a,  (2.  1  =  —  -$  aj 
n  =  1.  3  =  -^  o,  (3.  1  =  —  -4  a^) 
ni  =  1.  2.  3  =  -4  (a,)  (3.  2.  1)  =  —  -?  (a,) 
IV  =  1.  3.  2  =  -5  (aj  (3.  2.  1)  =  —  ^  (aj 

Da  nun  bei  jeder  lautlichen  Aeufserung  sämmtliche  drei 
Mechanismen  des  Kehlkopfes  in  Fimction  treten,  so  werden  auch 
mit  jeder  Tonwahmehmung  ihre  psychischen  Correlate,  die  Com- 
binationen  miterregt.  Ganz  ähnUch,  wie  bei  der  Wahrnehmung 
irgend  eines  räumlichen  Objectes  in  einer  Richtung,  diese  nur 
einen  Sinn  hat  in  Bezug  auf  alle  übrigen  Richtimgen,  auf  den 
gesammten  Raum,  so  wird  auch  die  Vorstellung  einer  Richtung 
in  unserem  fingirten  „phonetischen  Räume"  nur  durch  ihre  Be- 
ziehung zu  den  übrigen  phonetischen  Richtungen,  durch  das  An- 
schwingen der  Combinationen  möglich  sein. 

Nehme  ich  in  diesem  phonetischen  Räume  einen  Ton,  also 
ein  Object,  in  einer  der  drei  Richtungen  wahr,  so  geschieht  das 
imweigerlich  in  Beziehung  zu  den  beiden  anderen.  Ohne  diese 
Beziehung  wäre  ja  der  Begriff  der  Richtung  illusorisch. 

Wenn  es  nun  möglich  wäre  die  Gröfse  der  Winkel  a,,  a„ 
«g  und  a^  zu  bestimmen,  so  würde  ich  alle  Beziehungen  im 
phonetischen  Räume  genau  kennen,  und  diese  Beziehungen 
müfsten,  wenn  unsere  Theorie  richtig  ist,  die  nämlichen  sein, 
welche  die  musikalischen  Töne  zu  einander  haben.  Denn  nach 
unserer  Theorie  sind  ja  diese  Beziehungen  nichts  anderes  als  die 
psychische  Spiegelung  der  phonetischen  Kehlkopfbewegungen. 

Sei  die  Ausgangsrichtung  1  peripherisch  durch  die  Hebung 
und  Senkung  des  Kehlkopfes,  durch  die  Formel: 

repräsentirt,  so  ist  klar,  dafs  die  zweite  Richtung,  welche  der 
Drehung  um  eine  transverso  -  frontale  Axe  entspricht,  durch  voll- 
kommen verschiedene  Muskelelemente  ausgeführt  wird,  und  dafs 


lieber  die  Wahrnehmung  musikaliacher  TonverhäUnisse, 


371 


ebenso  wie  zwischen  den  beiden  Mechanismen  keinerlei  Ueber- 
gänge  bestehen,  auch  ihre  psychischen  Spiegelbilder  ganz  unver- 
mittelt neben  einander  stehen.  Entspricht  die  zweite  Richtung  J/, 
der  Formel  «2  {^1  ^h^  -i'^i^h^  •  •  O?  so  wird  eine  Vergröfserung 
von  W2  der  positiven  Richtung  +-M1,  eine  Verringerung  der 
negativen  oder  entgegengesetzten  —  M^  zugehören,  und  ebenso 
hängt  -(-  -äfi  und  —  M^  von  der  Zu-  oder  Abnahme  des  Factors 
n^  ab. 

Da  nun  diese  beiden  Richtungen  absolut  keine  Beziehimgen 
zu  einander  haben,  ebensowenig  wie  ihre  physischen  Correlate, 
d.  h.  da  der  Unterschied  +  Jlf  1  +  J^a  psychisch  nicht  anders 
bewerthet  werden  kann  als  +  -Mj  —  M^^  oder  —  Jfcf j  +  Jfg  ^^^ 
—  Jtfi  —  Jfg ,  so  kann  ich  diesen  Bedingungen  nur  dadurch  ge-. 
recht  werden,  dafs  ich  Richtung  2.  senkrecht  auf  1.  annehme. 

FolgUch  ist  -4  1. 2  =  «1  =  90  =  ~^!^-. 


■=T 


jjß 


^ 


3frJ 


'f 


'JUJ 


Fig.  1. 


Fig.  2. 


Die  Richtung  3.  werde  durch  die  Formel: 

^8  (*/  ^1*  +  h^  ntj«  .  .  .)  =  ifg 
symbolisirt  und  es  ist  zunächst  ohne  Weiteres  klar,  dafs  1. 2  =  a^ 
unmögUch  gleich  1.  3  =  ag   sein  kann.     Denn  Ungleiches  mit 
Gleichem    in    derselben   Weise   combinirt   mufs   Ungleiches   er- 
geben. 

Es  ist  also  z.  B.  unrichtig  die  Richtung  (3)  wie  in  Figur  1 
als  Halbirungslinie  des  Winkels  «j  zu  zeichnen,  denn  dann  wäre 
3.  1  =  3.  2. 

Andererseits  ist  aber  der  Richtungsunterschied  1.  3  psychisch 

ebensowenig  bewerthet  wie  der  Richtimgsunterschied  2.  3,  sie 

müssen  also  ihrem  absoluten  Werthe  nach  gleich  sein;  aber  die 

Richtung  3  in  Bezug  auf  1  mufs  eine  andere  sein,  als  in  Bezug 

24* 


372 


E,  Storch, 


auf  2.    In  Figur  2  werde  sie  in  ihrem  Verhältnifs  zu  1  durch 

3  (1),  zu  2  durch  3  (2)  dargestellt,  so  dafs 

-4  1.3(1)  =  a,  =  -4  2.3(2) 
st,  mithin 

^  Sa).  3(2)  =  -4  1.2  =  ^"^ 


«1  = 


Aufser  der  Combination  1.  3  =  ^  a^  existirt  aber  auch  noch 
3.  1  =  —  «o ,  wie  ich  es  in  Figur  3  durch  die  Linie  3'  dar- 
gestellt habe,  und  wir  haben  uns  zu  fragen,  was  uns  zur  psychi- 
schen Bewerthung  der  drei  Winkel  1.  3 ,  3.  3' ,  3'.  1  gegeben  ist 

Nun  wissen  wir  von  jedem  dieser  Winkel  genau  das  näm- 

7t 


liehe  Negative,  keiner  darf  gleich  45  ® 


oder  ein  Vielfaches 


davon  betragen.  Weitere  Bedingungen  für  die  Gröfsenbestinunung 
liegen  nicht  vor;  die  drei  Combinationen  müssen  demnach  psychisch 
auch  gleich  bewerthet  werden;  also: 


-4  1.  3  =  3.  3'  =  3'.  1  =  a,  = 


2  TT 


=  120^* 


Fig.  3. 

Wir  haben  die  Beziehungen   zwischen   den  Richtungen  des 
phonetischen  Raumes  kennen  gelernt  und   können  nunmehr  die 


^  Man  gelangt  auch  durch  folgende  Ueberlegung  zu  dem  gleichen  Re 
sultat.  3  mufs  zur  Ausgangsrichtung  eine  andere  psychische  Gröfse  geben 
als  2.  Die  beiden  Richtungen  1  und  3  aber  können  nur  einen  einsigen 
Kichtungsunterschied  ergeben,  einen  einzigen  Winkel,  der  auf  1  bezogen 
zwei  verschiedene  Lagen  haben  kann;  der  absolute  Werth  dieses  Winkels 
ist  natürlich  derselbe,  wenn  ich  1  auf  3  als  Ausgangsrichtung  beziehe,  so 
dafs,  wenn  ich  alle  möglichen  Lagen  von  a^  zu  1  und  3  darstelle,  auf  der 
einen  Seite  von  1  ^cca,  auf  der  anderen  — «2  liegen  muls;  ebenso  aber 
auch  auf  beiden  Seiten  von  3.  Dafs  das  bei  einer  beliebigen  Gröfse  von 
««5  in  der  Ebene  nicht  der  Fall  ist,  liegt  offenbar  daran,  dafs  ich  bei  dieser 
Darstellung  nicht  die  beiden  Kichtungen  1  und  3  in  ihren  möglichen  Be- 


Ueber  die  Wahrnehmung  mu8ikal%8cher  TonverhiUtnUae,  373 

möglichen  vier  (acht)  Combinationen  in  Bezug  auf  die  Ausgangs- 
richtung bestimmen. 

+    1  =  1.2  =  «.  =90<^  =  l^., 

TOI               2?!              .    2n 
—     1  =  2.1= -. n-\ -r-; 


+  II  =  1. 3  =  o,  =  120»  =  ^ 


II  =  3.1  =  --^  =  ^+f; 


+  ni  =  1.2.3  =  a,^a,  =  210«  =  1^+2'^ 


4       '       3    ' 

TTT        Q01  i2it  2n\  2n  n 

-m  =  3.2.1  =.  -  (.^  +  ^  =  -^     +  _; 

+  IV  =  1.3.2  =  a,+a,  =  210«  =  -^  +  iii, 

-IV  =  2.3.1  =  -(-^  +  -^)  =  Y+f. 

Figur  4  veranschaulicht  diese  Beziehungen  und  zeigt,  dafs 
die  Combinationen  III  und  IV  in  eins  zusammenfallen. 

Mit  jeder  Wahrnehmung  in  diesem  Räume  klingen  also  un- 
weigerlich diese  Combinationen  an.  Halte  ich  unsere  Fiction 
aufrecht,  so  heifst  das,  dafs  jedes  in  diesem  Räume  wahrge- 
nommene Object  (jeder  Ton)  neben  seiner  eigenen,  der  Aus- 
gangsrichtung, sechs  andere  Richtimgsvorstellungen  ins  Bewufst- 
sein  erhebt 

Nun  stellt  zwar  der  phonetische  Raum,  wie  ihn  Figur  4 
wiedergiebt,  die  Beziehungen  zwischen  den  psychischen  Spiegel- 
bildern der  Kehlkopfbewegungen  vollständig  dar,  aber  der  Kehl« 
köpf  ist,  wenn  schon  ein  sehr  wichtiger  Theil  des  lautbildenden 
Organes,  so  doch  immer  nur  ein  Theil.   Die  gesammte  Muskulatur 

Ziehungen  darstelle,  sondern  auch  in  Beziehung  zu  den  unendlich  vielen 
Richtungen  der  Ebene.  Die  Eigenschaften  der  Ebene  dürfen  also,  als  nicht 
in  unserer  Voraussetzung  gelegen,  die  Bedingung  nicht  stören,  dafs  1  und 
3  nur  einen  einzigen  Kichtungsunterschied  ergeben,  sondern  müssen  hier- 
mit in  Einklang  gebracht  werden.  Das  ist,  wie  man  sieht,  aufser  in  Figur  1 
nar  noch  in  Figur  3  geschehen. 


374  ^-  Storch. 

des  Halses  und  der  Brust  nimmt  an  der  Lauterzeugung  Theil, 
und  wir  werden  nicht  fehl  gehlen,  wenn  wir  die  Summe  der  von 
diesen  Organen  erzeugten  Richtungsvorstellungen  als  unendlich 
ansehen.  Der  von  ihnen  dargestellte  phonetische  Raum  enthält 
also  unendlich  viele  Richtungen  und  wir  werden  ihn  also  als  Ebene 
auffassen.  Jedenfalls  sind  aber  in  ihm,  die  von  dem  musikali- 
schen Organe  Kat  Exochen,  dem  Kehlkopf  abzuleitenden  Rich- 
tungen ganz  besonders  bevorzugt.  Sie  spielen  etwa  dieselbe  Rolle, 
wie  im  wirklichen  Räume  die  Richtungen,  vom  imd  hinten,  rechts 
und  links,  oben  imd  unten. 

Wie  uns  im  wirkUchen  Räume  die  Orientirung  von  Objecten 
desto  leichter  fällt,  je  genauer  sie  in  einer  dieser  Hauptrichtungen 
liegen,  so  wird  ein  Aehnliches  auch  mit  den  Objecten  unseres 
fingirten  Raumes  (mit  den  Tönen)  der  Fall  sein. 

Denke  ich  mir  eine  Scheibe  von  der  Gestalt  der  Figur  4,  auf 
welcher  ich  im  Mittelpunkte  stehe,  das  Gesicht  in  der  Richtung 
von  1,  so  wird  ein  beliebiges  Object,  das  in  der  Ebene  erscheint, 
desto  leichter  seiner  Lage  nach  bestimmt  werden,  je  genauer  es 
mit  einem  der  Strahlen  I,  11,  HI  zusammenfällt,  am  leichtesteo, 
wenn  es  auf  1  selber  liegt,  In  Figur  4  sind  die  Strahlen  ver- 
schieden dick  gezeichnet,  1  am  stärksten,  dann  HI  ( — III),  II 
( —  II)  und  I.  Das  hat,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  seine  Be- 
rechtigung. Zunächst  aber  ist  klar,  dafs  die  Orientirung  eines 
Objectes  desto  gröfsere  Schwierigkeiten  machen  müfste,  je  un- 
deutlicher der  Strahl,  auf  welchem  es  erscheint,  hervortritt,  und 
dafs  ich  die  Objecte  auf  1  denen  auf  III,  diese  denen  auf  II 
und  diese  endlich  denen  auf  I  vorziehen  würde. 

Hätte  ich  aber  die  Aufgabe,  auf  dieser  Scheibe  herum- 
zugehen, und  dürfte  immer  nur  auf  den  gezeichneten  Strahlen 
mich  bewegen,  so  würde  ich  offenbar  auch  wieder  die  deutlichsten 
(gangbarsten)  am  meisten  betreten. 

Stellen  wir  uns  ferner  vor,  über  der  festen  Scheibe  von  der 
Form  der  Figur  4  sei,  um  den  gemeinsamen  Mittelpunkt  drehbar, 
eine  zweite  aus  Glas  angebracht  mit  derselben  Zeichnung.  Dreht 
sich  nun  die  gläserne  Scheibe,  deren  Strahlen  ich  mit  1',  I',  11', 
Iir  bezeichne,  so  dafs  1'  nach  einander  auf  I,  II,  HI  der  festen 
Scheibe  zu  liegen  kommt,  so  kommt  III'  nach  einander  in  die 
Richtungen  als,  h,  eis  u.  s.  w.  zu  liegen,  welche  durch  punktirte 
Linien  angedeutet  sind,  und  man  bemerkt,  dafs  die  Combinationen, 
welche  auf  die  Richtungen  1,  2  und  3  sich  zurückführen  lassen, 


Ueber  die  Wahrnehmung  musikalischer  Tanverhältnisse.  375 

sämmtlich  gegeben  sind  durch  ein  zwölffaches  Strahlenbüschel, 
in  welchem  je  zwei  einander  benachbarte  Strahlen  sich  unter 
-einem  Winkel  von  30®  schneiden.  Auf  irgend  einem  dieser 
Strahlen  mufs  ein  Object  liegen,  das  sicher  und  mühelos  in  dem 
phonetischen  Räume  orientirt  werden  kann. 

Aber  die  Orientining  ist  offenbar  nicht  für  jeden  Strahl 
gleich  mühelos.  Liegt  ein  Object  auf  der  Grundrichtung  1,  fällt 
%.  B.  V  der  gläsernen  Scheibe  mit  1  zusammen,  so  ist  die 
psychische  Arbeit  offenbar  sehr  leicht  Das  Object  1'  verstärkt 
einfach  die  Wahrnehmung  der  vorhandenen  Grundrichtung.  Fiele 
1'  auf  ni,  so  wäre  die  psychische  Arbeit,  welche  nöthig  ist 
dieses  neue  Object  auf  1,  die  Grundrichtung  zu  beziehen,  zwar 
gröfser  als  im  ersten  Falle,  aber  doch  noch  sehr  leicht  und  sicher. 
Denn  die  Richtung  III,  in  welcher  das  neue  Object  liegt,  ist  ja 
schon  mit  der  Grundrichtung  gegeben,  es  ist  in  ihr  schon  ent- 
halten. Ja  die  Richtung  III  hat  vor  I  und  11  einen  gewissen 
Vorzug;  sie  ist  ihnen  gegenüber  doppelt  bewerthet,  da  sie  den 
Oombinationen  1.  2.  3  und  1.  3.  2  entspricht.  Erscheint  auf  ihr 
«in  Object,  so  kann  ich  es  also  ganz  besonders  genau  orientiren, 
insofern  ich  auf  zwei  Wegen  zu  ihm  gelangen  kann,  durch  die 
Schritte  a^  und  a^  oder  «.,  und  a^.  Es  ist  also  eine  Art  Probe 
möglich. 

Es  steht  demnach  III  in  engerer  Beziehung  zu  1  als  I  und  II ; 
es  ist  die  Intensität,  mit  welcher  das  III  einer  beliebigen  Grund- 
richtung stets  anschwingt,  gröfser  als  die  des  I  und  IL  Man 
könnte  auch  sagen,  dafs  ein  Object,  das  auf  III  wahrgenommen 
wird,  die  Vorstellung  der  Grundrichtung  mehr  verstärkt  als  ein 
auf  I  oder  II  gelegenes. 

Offenbar  ist  die  gröfste  psychische  Anstrengung  nothwendig 
bei  einer  vollständigen  Umkehr  der  Grundrichtung,  wenn  1'  auf 
—  1  fällt;  dann  fällt  I'  auf  —I  und  —  I'  auf  I,  während  11'  und 
ni'  gar  keine  auf  der  festen  Scheibe  vorgezeichneten  Richtungen 
finden.  Die  Richtung  —  1  hat  daher  unter  allen  zwölf  möglichen 
Richtungen  die  geringsten  Beziehungen  zur  Grundrichtung,  sie 
wird  im  Stande  sein,  die  Vorstellung  derselben  am  meisten  zu 
verdimkeln. 

Diese  Bemerkung  giebt  uns  ein  Mittel  an  die  Hand,  zu  ent- 
scheiden, in  welcher  Reihenfolge  die  einzelnen  zwölf  Richtungen, 
je  nach  dem  Grade,  in  welchem  Ihre  Wahmehmimg  die  Vor- 
stellung der  Grundrichtung  verstärkt,  zu  ordnen  sind. 


376  -S-  Storch, 

Liegt  nämlich  1'  auf  I,  so  liegt  I'  auf  —  1,  und  es  ist  klar^ 
dafs  diese  Lage  von  I'  die  Vorstellung  oder  „Kinese**  von  1  etwas 
verwischen  mufs. 

Liegt  dagegen  1'  auf  11,  so  bleibt  —  1  frei ,  während  V  auf 
m,  ir  auf  —  II  und  IW  auf  —  I  fällt.  Ein  Object  auf  U  wird 
demnach  die  Vorstellung  der  Grundrichtung  1  mehr  verstärken 
als  ein  solches  auf  I. 

Fällt  1'  auf  eis  oder  A,  so  fällt  III'  oder  —  HI'  auf  —  1,  so 
dafs  die  hierdurch  bedingte  grofse  Intensität,  mit  welcher  — 1 
anschwingt,  ungünstig  auf  die  Kinese  von  1  wirken  muTs. 

Deckt  sich  1'  endhch  mit  d  oder  ais,  so  fällt  II'  ( — 11)  mit 
—  1  zusammen,  und  die  ungünstige  Wirkung  auf  die  Vorstellung 
der  Grundrichtung  wird  sich  bedeutend  geringer  bemerkUch 
machen  als  im  vorhergehenden  Falle. 

Der  Intensitätszuwachs,  welchen  die  Vorstellung  der  Grund- 
richtung, durch  die  Wahrnehmung  eines  Objectes  auf  einer  der 
zwölf  vorhandenen  Richtungen  erfährt,  nimmt  also  ab  von  dem 
ersten  bis  zum  letzten  Gliede  folgender  Reihe: 

1,   m  (—  III),   II  (—  H),   I  (—  I),   d  (ais)    eis  (h)  fis. 

Das  sind  die  Beziehungen,  welche  zwischen  den  psychischen 
Correlaten  der  drei  Bewegungsmechanismen  des  Kehlkopfes,  wenn 
ich  sie  räumlich  auffasse,  bestehen. 

Ist  es  wahr,  dafs  die  uns  unmittelbar,  d.  h.  nicht  vernunft- 
mäfsig,  gegebenen  Beziehungen  zwischen  den  musikalischen 
Tönen,  ebenfalls  auf  diese  drei  Mechanismen  zurückgeführt 
werden  können,  so  mufs  die  verstandesmäfsige,  d.  h.  räumliche 
DarstelUung  dieser  Beziehungen  zu  dem  gleichen  Resultat  führen, 
wie  die  eben  gegebene  Ableitung.  Führen  aber  umgekehrt  beide 
Ableitungen  zu  dem  gleichen  Resultat,  so  liegt  darin  ein  zwingen- 
der Beweis  für  die  Richtigkeit  der  Theorie. 

Zu  jedem  Tone  giebt  es  einen,  der  sich  durch  seine  Höhe 
gerade  merklich  von  zwei  anderen  unterscheidet,  deren  einer 
tiefer,  der  andere  höher  ist  als  das  Vergleichsobject  Gehe  ich 
von  einem  beliebigen  Tone  immer  zu  dem  nächst  höheren,  so 
komme  ich  schliefslich  an  eine  Grenze,  an  welcher  eine  Steige- 
rung der  Höhenempfindung  nicht  möglich  ist,  ebenso  wie  ich, 
von  einer  beliebigen  Lichtempfindung  ausgehend,  zu  immer  in- 
tensiveren Lichtern  gelangen  kann,  bis  das  Maximum  erreicht 
ist.  Bewege  ich  mich  in  der  entgegengesetzten  Richtung  zu 
immer  tieferen  Tönen,   so  gelange  ich   ebenfalls  bald   zu  einer 


lieber  die  WaJirfiehmung  musikalischer  Tonverhältnisse.  377 

GrenzempfindiiDg,  und  diese  Beziehung  läfst  sich  wie  jede 
quantitative  Reihe  einer  QuaUtät  als  gerade  Linie  darstellen,  an 
deren  einem  Ende  das  Minimum,  am  anderen  das  Maximum 
steht,  oder  auch,  wenn  ich  an  der  Stelle  der  Vergleichsempfin- 
dung den  Nullpunkt  setze  als  Gerade,  auf  welcher  vom  Null- 
punkte aus  nach  der  einen  Richtung  die  positiven,  nach  der 
anderen  die  negativen  Werthe  wachsen. 

Offenbar  aber  habe  ich  auf  diese  Weise  die  Beziehungen 
zwischen  den  Tönen  nicht  erschöpft.  Von  welchem  Punkte  der 
Reihe  ich  ausgehe,  wenn  ich  eine  Melodie  singen  will,  ist  zwar 
gleichgültig.  In  dieser  Hinsicht  hat  kein  Punkt  einen  Vorzug 
vor  dem  anderen:  sobald  ich  aber  einen  Punkt  als  Ausgangs- 
station festgelegt  habe,  kommen  für  unser  musikaUsches  Denken 
und  Empfinden  nur  noch  gewisse  Punkte  in  Betracht  und  zwar, 
wenn  ich  die  gleichschwebend  temperirte  Stimmung  unserer 
kaviere  zu  Grunde  lege,  lauter  Pimkte,  die  in  gleichen  Ab- 
ständen von  einander  liegen ;  sie  entsprechen  Tönen,  welche  um 
das  Intervall  eines  halben  Tones  von  einander  entfernt  sind, 
also  um  das  30-  bis  40  fache  des  gerade  noch  ivahrnehmbaren 
Höhenunterschiedes. 

Und  bei  allen  Völkern,  zu  allen  Zeiten  hat  man  in  der 
Musik  das  continuirliche  Anschwellen  der  Tonhöhe  abgelehnt, 
und  sich  in  Tonstufen  bewegt,  deren  kleinste  etwa  dem  Intervall 
des  halben  Tones  entspricht. 

Bezeichne  ich,  dem  allgemeinen  Brauche  folgend,  die  Töne 
der  temperirten  Stimmung  mit  c,  cis^  d,  dis^  e,  /",  /&,  g,  gis,  a,  ais^ 
c^  und  so  weiter,  so  entsprechen  ihnen  auf  der  geraden  Linie 
Punkte,  die  alle  um  ein  gleiches  Stück  von  einander  entfernt  sind. 

Schlage  ich  nun  nach  einander  erst  c  dann  eis,  c  dann  d,  c 
dann  dis  u.  s.  w.  an,  so  bemerke  ich,  dafs  einige  dieser  Ton- 
folgen ganz  besonders  ins  Gehör  fallen,  imd  zwar  in  der  auf- 
steigenden Linie  c  dis,  c  e,  c  g,  in  der  absteigenden  c^  a,  c^  gis, 
c^  /*,  vor  Allem  aber  c  c*  und  c^  c. 

Gehe  ich  über  c^  nach  aufwärts  hinaus,  so  erkenne  ich  in 
den  Tonfolgen  c  dis^,  c  e^,  c  g^  sehr  deutlich  die  AehnUchkeit 
mit  den  Intervallen  c  dis,  c  e  und  c  g  heraus,  und  nicht  anders 
ist  es,  wenn  ich  über  c  nach  c,  hinuntersteige. 

Ganz  identisch  aber  erscheinen  mir  die  Intervalle  c  dis  imd 
c^  dis\  c  e  und  c^  e^,  c  g  und  c^  ^f^  so  dafs  sich  stets  nach  einer 
ganzen  Octave  die  Intervalle  in  derselben  Weise  wiederholen. 


378 


E,  Storch, 


Will  ich  diese  Wiederkehr  der  gleichen  Wahrnehmung  bei 
verschiedener  Tonhöhe  räumlich  veranschauUchen ,  so  ist  das 
offenbar  nur  dadurch  mögUch,  dafs  ich  die  Punkte,  die  die  Töne 
versinnlichen,  nicht  auf  einer  Geraden,  sondern  auf  einer  sich 
in  immer  weiteren  Windungen  um  einen  Mittelpunkt  legenden 
Spirale  aufzeichne,  und  jeden  Umlauf  mit  einer  Octave  bewerthe. 
In  dem  inneren,  gröfser  werdenden  Radiusvector  ist  dann  die 
zunehmende  Tonhöhe,  in  dem  Winkel,  den  zwei  Radiusvectoren 
bilden,  die  sich  bei  jedem  Umlauf  wiederholende  Folge  der 
gleichen  Intervalle  symbohsirt.  Lege  ich  einen  Punkt  für  den 
Orundton  c  fest,  so  würde  c,,  Cj  »  .  .  ebenso  wie  c*,  c*  .  .  .  auf 
der  gleichen  Richtung  liegen,  und  dasselbe  würde  von  jeder  be- 
liebigen andern  Octavenfolge  gelten.  Die  zwölf  Halbtöne  der 
Octave  aber  würden  auf  einen  Umlauf  in  gleichen  Winkel- 
abständen zu  liegen  kommen,  wie  Figur  5  zeigt. 


Da  nun  offenbar  der  Unterschied  der  Höhenempfindung  für 

das  gleiche  Intervall  stets  derselbe  ist,  also  c^  c*  =  dis  dis^  und 

so  weiter,  so  mufs  ich  für  jeden  Zwölftel-Umlauf,  d.  h.  für  jeden 

halben  Ton  den  Radiusvector  um  ein  Zwölftel  seiner  Zunahme 

beim  ganzen  Umlauf  wachsen  lassen.    Es  leuchtet  ein,   dafs  die 

Spirale  eine  sogenannte  archimedische  ist,   deren  Polargleichung 

ß 
durch  -^ —  =  r  wiedergegeben   werden  kann.    Ist  ß  der  Centri- 

^  TT 


Ueber  die  Wahrnehmung  mtisikalischer  Tonverhältnisae.  379 

Winkel  =  0,  so  ist  r,  welches  die  Tonhöhe  repräsentirt,  ebenfalls 
gleich  0.  Einen  Ton  von  dieser  Höhe  giebt  es  nicht,  da  jeder 
Ton  zu  jedem  anderen  in  einem  bestimmten  Höhenverhältnifs 
steht  Setze  ich  aber  die  Höhe  des  tiefsten  musikalischen  Tones 
als  Vergleichseinheit  gleich  1 ,  so  ist  6  =^2n,  d.  h.  der  tiefste 
musikalische  Ton  ist  an  das  Ende  des  ersten  Umlaufes  zu 
setzen ;  dann  steht  bei  8  =  2  '2n,  am  Ende  des  zweiten  Umlaufes, 
die  Octave  des  tiefsten  Tones  von  der  Höhe  r  =  2,  bei  ö  =  3  •  2  tt 
die  dritte  Octave  von  der  Höhe  3  und  so  weiter. 

Wir  haben  schon  darauf  aufmerksam  gemacht,  daTs  in  der 
aufsteigenden  Octave  von  den  zwölf  auf  c^bezogenen  melodiösen 
Schritten  vier  sich  besonders  auszeichnen:    Der  Reihe  nach 

die  Octave,  einem  ganzen  Umlauf  entsprechend  =2n^  cc^, 
die  Quint,    7i2  Umläufe  =  — -^ 1 ö— i  c  g, 

die  grofse  Terz,  ^,3  Umläufe  =  — 0— 1  <^  ^1 

und  die  kleine  Terz,  ^^  Umläufe  =  —j-  ,  c  dis. 

In  der  absteigenden  Octave  waren  es: 

die  Octave  c^  c, 

die  Unterquint,  die  Quart  der  tieferen  Octave 

die  grofse  Unterterz,  die  kleine  Sext  der  tieferen  Octave 

,        .  27t 

c^  gts  = g- , 

die  kleine  Unterterz,   die  grofse  Sext  der  tieferen  Octave 

2n 


c^  a  =  — 


4    • 


Auf  die  tiefere  Octave  von  c\  auf  c  als  Gnmdton  bezogen 
heifsen  diese  Intervalle  Quart,  kleine  und  grofse  Sext.  Sie  sind 
einfach  die  Umkehr  der  Quint  und  der  Terzen. 

Wenn  wir  uns  nunmehr  erinnern,  dafs  die  Beziehungen  der 
musikalischen  Töne  zurückgeführt  werden  sollten  auf  die  bei 
jeder  Tonwahmehmung  anklingenden  motorischen  Erinnerungs- 
bilder des  Kehlkopfes,  so  wäre  nach  unserer  Fiction  des  phoneti- 


380  E'  Storch, 

sehen  Raumsehemas  der  Grundton  einer  Melodie  das  auf  der 
Hauptrichtung  gelegene  Object.  In  der  Wahrnehmung  dieses 
Grundtones  sowohl  wie  in  seiner  Vorstellung,  die  während  der 
Dauer  der  Melodie  wach  bleibt,  ist  enthalten  mit  abnehmender 
Deuthchkeit  —  als  Partialwelle  der  Grundwelle  —  die  Vorstellung 
der  Quint,  der  grofsen  und  kleinen  Terz,  sowie  die  nächst  höheren 
Octaven  der  Umkehrungen  dieser  Intervalle. 

Folgt  nun  auf  den  Grundton  c  die  Octave  c^,  so  werden 
absolut  keine  neuen  Richtungsvorstellungen  erregt,  c^  sagt  mir 
nichts  Anderes  als  c.  Und  wie  wir  aus  dem  Vorhergehenden 
leicht  entnehmen  können,  wird  die  Vorstellung  des  Grundtones, 
der  Tonica,  in  abnehmendem  Maafse  verstärkt  durch  die  Wahr- 
nehmung der  Quint  (Quart),  der  grofsen  Terz  (kleinen  Sext)  und 
der  kleinen  Terz  (grofsen  Sext).  Das  sind  die  harmonischen 
Intervalle  nach  ihrem  Verwandtschaftsgrad  zum  Grundtone  ge- 
ordnet. Es  folgen  die  unharmonischen  c  rf,  c  dis,  c  fis^  von  denen 
letzteres  die  Vorstellung  des  Grundtones  am  meisten  abschwächt 

Die  hier  gegebene  Reihenfolge  der  Verwandtschaft  der  Töne, 
wie  sie  sich  aus  der  Fiction  des  phonetischen  Raumes  ergiebt, 
wird  nun  auf  das  Glänzendste  durch  unsere  unmittelbaren  musi- 
kalischen Empfindungen  und  Erfahrungen  bestätigt 

Aufser  der  Octavenbegleitung  kannte  man  im  Alterthum  nur 
die  homophone  Musik,  den  melodiösen  Fortschritt  in  einfachen 
Tönen. 

Nach  der  Octave  bevorzugten  die  Alten  als  zweites  Intervall 
die  Quint,  und  wenn  musikalisch  ungeschulte  Sänger  eine  Melodie 
mitsingen  wollen,  singen  sie  häufig,  wenn  ihnen  die  Octaven- 
begleitung zu  hoch  ist,  in  Quinten  mit. 

Später  erst  hat  man  die  grofse  Terz  und  noch  später  die 
kleine  Terz  zu  den  harmonischen  Intervallen  gerechnet 

Je  nach  dem  Verwandtschaftsgrade,  den  das  Intervall  zum 
Grundtone  bestimmt,  verhält  es  sich  nämUch  mit  der  Mühe, 
einen  Ton  zu  einem  Grundtone  zu  treffen.  Am  leichtesten  ist 
die  Octave,  am  schwersten  fis  oder  eis  nach  c.  Freilich  ist  das 
durch  die  Kenntnifs  der  Tonleitern  etwas  verdunkelt,  tritt  aber 
gerade  in  den  beiden  Tonarten  unserer  Systeme  sehr  schön  zu 
Tage. 

In  beiden  Tonleitern,  C-Dur  und  C-Moll,  fehlt  fis,  welches 
den  Grundton  zu  sehr  verdunkeln  würde. 

Die  beiden  halben  Töne,   welche  in  der  Diu'-Tonleiter  vor- 


Ueher  die  Wahrnehmung  mtisikalischer  Tanverhaltnisse,  381 

kommen,  e  f  und  h  c,  liegen  an  Stellen,  wo  die  Beziehung  auf 
die  Tonica  eine  sehr  deutliche  ist  f  ist  die  Quart  von  c,  h  die 
grofse  Terz  der  Quint,  und  ähnlich  steht  es  mit  der  Moll-Ton- 
leiter. Offenbar  hat  die  Tonfolge  c  e  g  etwas  bestimmteres  als 
c  dis  ^,  auch  wird  sie  in  volksthümlichen  Melodien  mehr  bevor- 
zugt. Auch  Helmholtz  rühmt  dem  C-Dur-Accord  eine  gröfsere 
Bestimmtheit  und  Kernigkeit  nach. 

Woher  kommt  das?  Nur  im  Moll-Accorde  wird  durch  die 
kleine  Terz  fis  ins  Bewufstsein  erhoben,  so  dafs  in  der  That  die 
Grundrichtung  etwas  verdunkelt  werden  kann.  (Man  erinnere 
sich  an  den  Versuch  mit  der  Glasscheibe.)  Die  grofse  Terz  des 
Dur-Accordes  dagegen  ruft  diese  Vorstellung  des  Gegensatzes 
zur  Grundrichtung  nicht  hervor. 

Weiter  auf  die  musikalischen  Verhältnisse  einzugehen,  halte 
ich  für  überflüssig.  Ich  glaube  gezeigt  zu  haben,  dafs  die  musi- 
kalischen Beziehungen  in  der  That  die  nämUchen  sind,  wie  die 
des  phonetischen  Raumes. 

Das  Substrat  des  musikalischen  Denkens,  das  was  die  Töne 
zu  einander  in  Beziehung  setzt,  und  ein  musikalisches  Gedächt- 
nifs  erst  ermöglicht,  sind  in  der  That  die  Erinnerungsbilder  der 
Kehlkopfbewegungen.  Je  nachdem  ein  neuer  Ton  in  einer  Me- 
lodie die  Tonica  (Ausgangsrichtung)  mehr  weniger  belebt  oder 
^ar  verdunkelt,  wird  der  ästhetische  Werth  der  Tonfolge  mehr 
weniger  beruhigend  oder  verwirrend  wirken. 

In  jedem  einzelnen  Falle  wird  man  sich  die  ästhetische 
Wirkung  klar  machen  können  an  dem  Beispiel  mit  der  gläsernen 
Scheibe.  Jede  neue  Lage  derselben  bedeutet  die  Wahrnehmung 
eines  neuen  Tones,  während  die  feste  Scheibe  die  Vorstellung 
der  Tonica,  welche  während  der  Dauer  der  Melodie  anhält,  ver- 
sinnlichen sollte. 

Handelt  es  sich  um  mehrstimmige  Musik,  so  kann  man  sich 
durch  mehrere  gläserne  Scheiben  ein  Bild  davon  machen,  in 
welche  Beziehimgen  die  Tonica  tritt,  wie  sie  immer  in  neuen 
Verhältnissen  erscheint 

Ist  das  motorische  Erinnerungsbild,  welches  mit  jeder  Ton- 
wahmehmung  anklingt  =  itf^  +  Mg  -|-  Jtfg,  also  zurückzuführen 
auf  die  Formel 

so  ist  klar,  dafs  das  Verhältnifs  w^  :  n^  :  n^   ganz  allein  für  die 


382  ^'  Storch, 

Beziehung  dieses  Tones  auf  einen  anderen  in  Betracht  kommen 
kann,  da  die  Klammerausdrücke  sich  nicht  ändern  können, 
während  die  Summe  n^  +  w^  -f-  Wg ,  die  Gesamtinnervation  als 
Quantität,  als  Höhenempfindimg  bewerthet  wird. 

Werfe  ich  nun  einen  BHck  auf  Figur  4,  so  sehe  ich,  da& 
der  Radiusvector  zwar  von  Halbton  zu  Halbton  um  die  gleiche 
Gröfse  '■/la  wächst ,  dafs  also  auch  n^  -|-  n^  +  Wg  in  derselben 
Weise  zimimmt,  dafs  aber  zugleich  die  RichtungsvorsteUung  oder 
Intervallempfindung  bei  jedem  Zuwachs  um  7i2  sich  ändert,  bis 
sie  bei  der  zwölften  Zunahme  wieder  dieselbe  geworden  ist  Es 
besteht  also  ein  Gesetz,  derart,  dafs  die  drei  Summanden  n^,  n^ 
und  tig  nicht  gleichmäfsig  zunehmen  können,  sondern  nur  un- 
gleichmäfsig ,  so  dafs  das  Verhältnifs  Wj  :  »2  :  n^  während  des 
Wachsthums  der  Summe  zwölf  Werthe  durchläuft.  Es  ist  also 
Wj  -f-  Wo  +  Wg  eine  stetig  zunehmende,  «^ :  Wj :  Wg  eine  periodische 
Function. 

In  unsere  Tonempfindungen  übersetzt  heifst  das,  dafs  zu 
jeder  Tonhöhe,  zu  jeder  Quantität  der  Tonempfindung  eine  be- 
sondere Intervallvorstellung  gehört.  Der  Radiusvector  von  Figur  4 
versinnbildlicht  die  Quantität  der  Höhenempfindung,  die  zwölf 
Strahlen  des  phonetischen  Raumes  die  Intervallvorstellungen. 
So  haben  wir  für  die  Töne  einer  beliebigen  Octave  folgende 
Quantitätswerthe  der  Höhenempfindung 


eis  =  m+  Vi«  /"  =  ^  +  '^/la  «     =  m  + 


18 


9! 


ili 


11, 
.12 


wobei  m  für  die  tiefste  Octave  gleich  1  und  für  die  nächst  höheren 
=  2,  3,  4  .  .  .   zu  setzen  ist.    Das  Bildungsgesetz   dieser  Reihe 

ist  durch  die  Polargleichung  der  archimedischen  Spirale  r  =    - 

gegeben,   wenn   8  der  Reihe  nach   die   Werthe   2/1,    27r  +  -^, 

2  TT  -| — - ,    2  TT  -| ^—  .  .  .   ertheilt. 

Nach  dem  sogenannten  psychophysischen  Grundgesetz  ent- 
spricht aber  der  arithmetischen  Progression  der  Empfindungs- 
gröfsen  eine  geometrische  der  zugehörigen  Reizgröfsen. 


lieber  die  Wahrnehmung  nmmMücher  Tanverhältnisse,  383'. 

Ist  also  die  Ekzipfindungsreihe  für  die  Octaven:  1,  2,  3,  4, 
d.  h.  ist  c  gegen  c^  um  ebensoviel  verschieden  wie  c*  gegen  c*u.  s.  w., 
so  ist  die  zugehörige  Reizreihe  a:\  a;*,  x^,  x^  ....  und  giebt  uns 
die  archimedische  Spirale  das  Bildungsgesetz  der  Empfindungs- 
reihe, so  die  geometrische  e^^^  =  JR,  das  der  Reizreihe. 

Diese  Spirale  nähert  sich  in  unendlich  vielen  Windungen 
dem  Mittelpimkte.  Setze  ich  den  Radiusvector,  welcher  der  Reiz- 
gröfse  des  tiefsten  Tones  entspricht,  gleich  1,  also  exO  z=l^  so 
beginnt  von  hier  aus  mit  wachsendem  6  der  positive  Theil  der 
Spirale,  deren  jeder  Punkt  einen  Tonreiz  repräsentirt 

Für  den  Reiz  des  tiefsten  Tones  habe  ich  also 

l  =  exe 

X  '  6  =  0 

Da  X  aber  nicht  0  sein  kann,  weil  sonst  alle  Reizgröfsen  von 
der  Formel  e^-^  =  1  wären,  so  mufs  ich  Ö  =  0  setzen. 

Für  die  Octave  dieses  tiefsten  Tones  ist  folgerichtig  Ö  =  2  tt, 
und  wenn  ich  den  Unterschied  der  Reizgröfse  des  tiefsten  Tones 
und  seiner  Octave  mit  1  bezeichne,  so  ergiebt  sich  für  diesen 
Reiz 

Äi  =  1  +  1  =  2  =  eX'2n 

oder  log  nat  2  =  27t  -  x 

.^,  .  log  nat  2 

mithin  x  =  — ^ 

2n 

Die  Gleichung  der  Exponentialspirale  ex(^  =  R  geht  also 
über  in 

(  log  nat  2  .  ^-) 

oder  _^ 

i?  =  2^" 

Setzt  man  hier  für  6  der  Reihe  nach  -^,      -^    ,    — ß~i   so 

dafs  man  für  die  Octave  des  tiefsten  Tones  2  /r,  für  die  nächste 
4 TT,  Ott  .  .  .  setzen  mufs,  so  steht  der  Reihe  der  Höhenempfin- 
dungen folgende  der  zugehörigen  Reizgröfsen  gegenüber: 

Quantitätsreihe : 

J.  ,      X    Ii2  1      A    /i2    •    •    •      ^ »      ^    /i2    .    .    •      D    •    .    .      4:    .    .    . 

Reizreihe : 

1,    2V..,   2''"  ...   2\   2^'/i.  ...   2»  .  .  .   23  .  .  .   2*  .  .  . 


384  ^'  Storch, 

und  ich  kann  demnach  das  Verhältnifs  jedes  Intervalles  zum 
Grundtone  aus  den  Verhältnissen  der  Reizgröfsen  berechnen. 
Es  wird,  da  2*":  2"'*/"  unabhängig  von  m  =  2^'«  ist,  durch  die 
Höhenlage  nicht  beeinflufst. 

Setze  ich  also  den  Grundton  1,  so  ist  die  Reizgröfse 

der  klemen  Terz  =  2"/"  =  1,1893, 
der  grofsen  Terz  =  2*1»  =  1,2589, 
der  Quart  =  2  V«  =  1,3348, 

der  Quint  =  2'/».  =  1,4983, 

der  kleinen  Sext  =  2'/'«  =  1,5874, 
der  grofsen  Sext  =  2*/"  =  1,6818, 
der  Octave  =  2^    =  2,0000, 

des  Halbtones       =  2*/"  =  1,0595. 

Ueberlegen  wir  uns,  dafs  diese  Reizgröfsen  den  bezüglichen 
Innervationssummen  des  Kehlkopfes  (w,  +  Wg  +  w»)  entsprechen, 
also  der  Spannung  der  Stimmbänder  oder  auch  deren  Schwingungs- 
zahlen proportional  sein  müssen,  so  müssen  diese  Zahlen  wenigstens 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  mit  den  aus  den  Seitenlängen  oder 
Schwingungszahlen  der  Tonwellen  berechneten  übereinstimmen, 
und  wir  werden  eine  imi  so  gröfsere  Uebereinstimmung  für  die 
Intervalle  vermuthen,  bei  welchen  die  Beziehung  oder  Verwandt- 
schaft mit  dem  Grundtone  am  stärksten  ist  Erinnem  wir  uns 
an  den  phonetischen  Raum,  so  war  die  Orientirung  eines  Objectes 
am  leichtesten  und  sichersten  auf  der  Grundrichtimg  selbst  möglich, 
sodann  mit  abnehmender  Sicherheit  auf  den  Strahlen  HI  ( —  III), 
II  ( —  II)  und  I  ( —  I).  Eine  Abweichung  der  Stimmung  eines 
Instrumentes  von  dem  hier  entwickelten,  organisch  begründeten 
Schwingungsverhältnifs,  die  beim  Halbton  bei  der  kleinen  und 
selbst  der  grofsen  Terz  noch  erträglich  wäre,  müfste  bei  der  Quart, 
der  Quint  und  gar  der  Octave  eine  sehr  beunruhigende  Wirkung 
hervorrufen. 

Folgende  Tabelle  giebt  eine  Uebersicht  über  die  Verhältnife- 
zahlen  der  „reinen",  der  gleichschwebend  temperirten  und  meiner 
„physiologischen"  Stimmimg. 

Rein      Gleichschwebend        Physiologisch 

Kleine  Terz     1,2000  1,1902  1,1893    (—0,7%) 

Grofse  Terz      1,2500  1,2589  1,2589    (+0,6%) 

Quart  1,3333  1,3348  1,3348    (+0,13%) 


Ueber  die  Wahmehmtmg  musikalischer  TonverJiältnisse,  385 


Rein 

Gleichschwebeud 

Physiologisch 

Qtiint 

1,5000 

1,4983 

1,4983    (-0,12%) 

Kleine  Sext 

1,6000 

1,5874 

1,5874    (-0,6«/o) 

Grofse  Sext 

1,6666 

1,6804 

1,6818    (+0,7»/„) 

Octave 

2,0000 

2,0000 

2,0000    (0%) 

Die  in  Klammem  beigefügten  Procentzahlen  geben  die  Ab- 
weichung der  physiologischen  Stimmung  gegen  die  sogenannte 
reine  an  und  man  sieht,  dafs  in  dieser  thatsächhch  die  Annähe- 
rung von  der  kleinen  Terz  zur  grofsen,  zur  Quint  und  endlich 
zur  Octave  zunimmt 

Bei  den  Völkern  der  mittelländischen  Cultur^  hat  nun  von 
je  her  die  Ansicht  bestanden,  dafs  die  sogenannte  reine  Stim- 
mung und  die  aus  ihr  abgeleiteten  Saitenlängen  in  der  That 
genau  einem  in  unserem  Empfinden  begründeten  Gesetze  ent- 
sprächen, und  Helmholtz  hat  in  seinem  genialen  Werke  „Die 
Lehre  von  den  Tonempfindungen"  dieser  Anschauung  eine 
scheinbar  unerschütterliche  Stütze  gegeben.  Dafs  diese  reine 
Stimmung  aber  thatsächhch  weniger  natürUch  ist  als  die  tem- 
perirte,  dürfte  nach  meinen  Ausführungen  kaum  bezweifelt 
werden.  Die  Begründung,  die  Helmholtz  seiner  Lehre  giebt, 
hier  zu  kritisiren,  würde  zu  weit  führen.  Ich  will  nur  fest- 
stellen, dafs  eine  objective  Stimmung  der  Instrumente  erst  mög- 
lich wurde,  nachdem  die  Zahlenverhältnisse  bekannt  waren,  und 
möchte  femer  darauf  hinweisen,  mit  welch  ungeheurer  suggestiver 
Wucht  die  gefundenen  einfachen  Zahlen  1:2,  2:3,  3  :  4,  4  :  5, 
5  :  6  gewirkt  haben.  Diese  Einfachheit  nahm  man  als  Sanction 
der  Richtigkeit,  und  das  Gefühl  war  bei  der  verhältnifsmäfsig 
grofsen  Annäherung  an  die  Wahrheit  unfähig  die  Vernunft  zu 
corrigiren. 

Wäre  die  reine  Stimmung  wirkhch  die  natürüche,  es  wäre 
unfafsbar,  warum  die  heutigen  Culturvölker  bei  einer  noch  nie 
dagewesenen  Bethätigung  der  musikalischen  Psyche,  darauf  imd 
daran  sind  sie,  gegen  die  gleichschwebend  temperirte  zu  ver- 
tauschen. 

Ebenso  haben  die  Perser  in  dem  Maafse,  wie  der  fremde 
Einflufs,  der  bei  ihnen  die  reine  Stimmung  eingeführt  hatte,  er- 

'  Aas  Helmholtz,  Lehre  von  den  Tonempfindungen,  4.  Ansgabe,  1877, 
S.  444  Anm.  geht  hervor,  dafs  die  ältesten  anf  uns  gekommenen  Instrumente 
der  Aegypter  die  zwölfstufige  Halbtonscala  aufweisen. 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  25 


386  E'  Storch, 

losch,  beim  Verfall  ihrer  mittelalterlichen  Cultur,  d.  h.  als  die 
natürlichen  Instincte  des  Volkes  zur  Geltimg  gelangten,  sich  der 
gleichschwebend  temperirten  Stimmimg  wieder  zugewandt 

Es  ist  natürUch  kein  blinder  Zufall,  dafs  mein  räumUches 
Tonschema  die  Gestalt  der  Cochlea  acustica  zeigt  Meine  Theorie 
verlangt,  dafs  die  Reizung  jedes  akustischen  Elementes  neben 
der  rein  qualitativ  akustischen  Empfindung  E  ein  motorisches 
Erinnerungsbild  M  wachruft,  so  dafs  jede  Tonwahmehmung  unter 
dem  Schema  E  -{-  M  dargestellt  werden  mufs. 

Jedes  Element  der  Schnecke,  oder  auch  eine  Anzahl  be- 
nachbarter steht  für  eine  Tonwahmehmung;  da  diese  Elemente 
räumlich  sind,  müssen  sie  auch  räumlich  angeordnet  sein.  Mein 
Schema  ist  aber  nichts  als  die  räumliche  Anordnung  der  Ton- 
wahmehmung imd  diese  mufs  mit  der  räumlichen  Anordnung 
der  Schneckenelemente  übereinstimmen. 

Die  weiteren  sehr  interessanten  anatomischen  Folgerungen 
mufs  ich  hier  bei  Seite  lassen.  Nur  dafs  der  Kuppelblindsack 
in  der  ersten,  von  Tönen  freien  Windung  der  archimedischen 
Spirale  sein  Gegenstück  findet,  sei  zum  Schlüsse  bemerkt 

(Eingegangen  am  15.  September  1901.) 


(Aus  dem  physiologischen  Institute  der  üniversitftt  in  Wien.) 

Ueber  Bewegungsnachbilder,  ^ 

Von 

A.  BoRSCHKE  und  L.  Hescheles,  stud.  med. 

(Mit  3  Fig.) 

Während  das  Studium  der  Nachbilderscheinungen  auf  dem 
Gebiete  des  Licht-  und  Farbensinnes  seit  Jahren  eifrigst  betrieben 
wurde,  die  Zahl  der  darüber  verfafsten  Arbeiten  grofs  und  unsere 
Kenntnifs  der  betreffenden  Phänomene,  was  ihre  descriptive  Seite 
anlangt,  eine  ziemHch  weit  vorgeschrittene  ist,  ist  die  Kenntnifs 
der  analogen  Erscheinungen  im  Bereiche  der  optischen  Bewegungs- 
empfindungen weniger  weit  ausgebildet.  Dies  erklärt  sich  aus 
dem  Umstände,  dafs  erst  einer  verhältnifsmäfsig  späten  Zeit  die 
Einsicht  vorbehalten  war,  dafs  die  Perception  von  Licht-  und 
Farbenempfindungen  nicht  die  einzige  Leistung  des  zweiten 
Himnerven  sei,  sondern  dafs  auch  die  optische  Empfindung  von 
Bewegungen,  die  als  eine  specifische  Empfindung  aufzufassen  ist, 
durch  den  Sehnerv  vermittelt  werde;  das  eingehende  Studium 
dieser  und  der  entsprechenden  Nachbilder  nach  dem  Erlöschen 
des  auslösenden  Reizes  wurde  erst  ziemlich  spät  in  Angriff  ge- 
nommen, und  darum  ist  unsere  Kenntnifs  und  theoretische 
Deutung  derselben  von  einem  befriedigenden  Abschlufs  noch 
weit  entfernt. 

Schon  Purkinje,  der  gleichzeitig  mit  Goethe  das  Studium 
subjectiver  Gesichtserscheinungen  systematisch  betreiben  lehrte, 
hatte,  ohne  den  Gegenstand  einem  genaueren  Studium  zu  unter- 
ziehen, gelegentlich  die  Beobachtung  gemacht,  dafs,  wie  bei 
Licht-  und  Farben-,  ebenso  auch  bei  Bewegungseindrücken  die 
Art  der  Empfindung  unter  Umständen  in  ihr  Gegentheil  um- 
schlägt, d.  h.  wie  wir  heute  sagen,  ein  negatives  Nachbild  zurück- 

25* 


388  ^-  BoracJike  u.  X.  Heacheka. 

läfst.  Er  £and^  „daXs,  wenn  man  eine  Zeitlang  eine  vorüber- 
gehende Reihe  formell  individualisirter  Gegenstände,  z.  B.  einen 
langen  Zug  von  Reitern,  vorüberziehende  Wellen,  die  Speichen 
eines  nicht  zu  schnell  sich  umdrehenden  Rades  ansieht,  eine  den 
reellen  Bewegungen  der  Gegenstände  ähnliche  Scheinbewegung 
im  Gesichtsfelde  zurückbleibe,  die  auf  dem  durch  temporelle 
Eingewöhnung  erworbenen  Bewegungsbestreben  der  Augen- 
muskeln beruhe."  Plateau,  der  sich  eingehend  mit  dem  Studium 
der  Nachbilder  beschäftigte  und  ein  allgemeines  Gesetz  ihres 
Ablaufes  aufstellen  zu  können  glaubte,  erhob  Pubkü^je's  Be- 
obachtung zum  wissenschaftlichen  Versuch.  Er  zeichnete  eine 
ARCHiMEDEs'sche  Spirale  auf  eine  weifse  Scheibe,  liefs  sie  unter 
dauernder  Fixation  des  Centrums  rotiren  und  konnte  nach  plötz- 
lichem Einhalten  der  Rotation  beobachten,  dafs  die  Spirale,  deren 
Windungen  sich  früher  zu  erweitem  schienen,  nun  gegen  das 
Centrum  zu  schrumpfte.*  Oppel  construirte  zum  Studium  des- 
selben Phänomens  einen  eigenen  Apparat,  den  er  Antirrheoskop 
nannte:  fünf  nebeneinander  liegende  Walzen,  die  mit  weifsem 
Papier  überzogen  waren  und  je  eine  schwarzgezeichnete  Spirale 
trugen;  alle  drehten  sich  gleichsinnig  und  gleich  rasch,  nur  die 
mittlere  lief  rascher.*  Im  Nachbild  zeigten  die  Spiralen  alle  das 
Plateau 'sehe  Phänomen,  die  mittlere  in  rascherem  Tempo  als 
die  anderen,  womit  die  Aufmerksamkeit  auf  eine  bis  dahin  un- 
berücksichtigt gebliebene  Eigenschaft  des  Nachbildes  gelenkt 
wurde,  seine  Geschwindigkeit.  Bei  Oppel  finden  wir  auch  be- 
reits die  Angabe,  die  auch  wir  und  alle  anderen  Beobachter, 
Helmholtz  ausgenommen*,  bestätigen,  dafs  zum  Gelingen  dies- 
bezüglicher Versuche  festes  Fixiren  nothwendig  sei,  gröfsere 
Augenbewegungen  störend  wirken.  Später  nahm  Dvobak  die 
PLATEAü-OppEL'schen  Versuche  wieder  auf,  um  den  Nachweis  zu 
führen,  dafs  die  Scheinbewegungen  als  locale  Netzhautvorgänge 
zu  betrachten  seien.  Er  legte  auf  eine  grofse,  weifse  Scheibe 
mit  einer  Spirale  eine  kleinere,  concentrische  mit  einer  entgegen- 
gesetzt laufenden  und  endlich  eine  noch  kleinere  dritte,  eben- 
falls concentrische  Scheibe   mit  einer  der  ersten   gleichsinnigen 

*  J.  Purkinje.    Beiträge   zur   Kenntnife   des   Schwindels   aus   heauto 
gnostischen  Daten.    MediciniscJie  Jahrbücher  des  östnT.  Staates  6.    1820. 

'  Mhnoires  de  VÄcademie  de  Bruxelles  8. 
»  Foggendorff's  Annalcn  80,  287. 

*  H.  V.  Helmholtz,  Handbuch  der  physiologischen  Optik,  2.  Aufl.,  S.  764. 


Ueber  Bewegungsnachbilder.  389 

Spirale  auf,  rotirte  und  sah  nachher  auf  emem  Schirm  das  Nach- 
bild der  Spirale  in  drei,  theils  schwellende,  theils  schrumpfende 
Ringe  getheilt.*  Der  Ansicht  Dvorak's  hinsichtlich  der  Lokali- 
sation schlofs  sich  G.  Zehfuss  an^  der  auch  eine  Hypothese  für 
die  Entstehimgsweise  der  Nachbilder  aufstellte  und  femer  hervor- 
hob, daJs  man  nach  dem  Anschauen  einer  Bewegung  im  ge- 
schlossenen Auge  „eine  chaotische  Masse  von  schwachen  Licht- 
funken sehe,  deren  Bewegungsrichtung  der  ursprünglichen 
entgegengesetzt  ist".  Es  hafte  somit  die  Erscheinung  an  der  Netz- 
haut u.  zw.,  wie  aus  weiteren  Versuchen  hervorgeht,  nur  an  der 
von  der  Bewegung  erregten  Stelle,  über  deren  Rahmen  sie  nicht 
hinausgehe. 

Den  Ausgangspunkt  unserer  Untersuchungen,  die  eine  mög- 
lichst exacte  Beschreibung  des  Phänomens  imd  insbesondere  das 
Studium  der  Nachbildgeschwindigkeit  zum  Ziele  hatten,  bildeten 
die  Arbeiten  E.  Büdde's*  und  Sigm.  Exneb's*;  des  letzteren 
Versuchsanordnung,  der  bei  seinen  Studien  über  Bewegungs- 
nachbilder sich  theils  rotirender  Scheiben,  theils  äquidistanter 
Liniensysteme  bediente,  die  auf  die  Trommel  des  LüDwio'schen 
Kymographion  oder  auf  einen  breiten,  über  zwei  Walzen  laufen- 
den Papierstreifen  ohne  Ende  gezeichnet  waren,  kam  mit  ent- 
sprechenden Modificationen  auch  bei  unseren  Experimenten  in 
Anwendung. 

Von  vornhinein  konnte  die  scheinbare  Geschwindigkeit  des 
negativen  Bewegungsnachbildes  als  abhängig  vermuthet  werden 

1.  von  der  Geschwindigkeit  des  Vorbildes, 

2.  von  der  Zahl  der  eine  Netzhautstelle  in  der  Zeiteinheit 
treffenden  Contouren, 

3.  von  deren  Deutlichkeit, 

4.  von  der  Dauer  der  Vorbilder. 


*  Dvorak.  Ueber  die  Nachbilder  von  Reiz  Veränderungen.  Sitzungs* 
btrichte  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien  61. 

*  G.  Zehfuss.  Ueber  Bewegungsnachbilder.  Ännale7i  der  Physik  und 
Chemie,  hrsg,  «?.  G.  Wiedemann,  N.  F.  9,  672—676. 

'  E.  BüDDE.  Ueber  metakinetische  Scheinbewegungen  und  über  die 
Wahrnehmung  der  Bewegungen.  Archiv  f.  Anatomie  u.  Physiologie,  PhysioL 
Abth.f  hrsg,  v,  E.  Du  Bois-Rcymond,    1884. 

*  S.  ExNER.  Einige  Beobachtungen  über  Bewegungsnachbilder.  Central- 
blatt  f,  Physiologie,  1887.  —  Derselbe.  Ueber  optische  Bewegungsempfin- 
dungen.   Biologisches  Centralblatt,    1888. 


390  ^'  BoTBchke  u,  L,  Heaehdes, 

Da  vorherzusehen  war,  dafs  eme  durch  Zahlen  ausdrückbare 
Schätzung  der  Geschwmdigkeit  des  Nachbildes  blofs  nach  dem 
Augenschein  zu  unsicher  sein  werde,  mufsten  wir  darauf  bedacht 
sein,  eine  genauere  Methode  für  diese  Geschwindigkeitsbestimmung 
ausfindig  zu  machen.  Anknüpfend  an  die  Erfahrungen  Sigm. 
Exner's,  nach  welchen  zwei  rechtwinkelig  gekreuzte  Linien- 
Systeme,  die  sich  senkrecht  auf  die  Richtung  der  Linien  gleich- 
zeitig durch  dasselbe  Sehfeld  bewegen,  ein  Nachbild  liefern, 
dessen  Bewegung  in  der  Diagonalen  erfolgt,  versuchten  wir  die 
Wirkung  eines  Liniensystems  auf  die  Geschwindigkeit  des  Nacb- 
bildes  nach  der  Richtung  zu  beurtheilen,  um  welche  das  Nach- 
bild von  jener  Richtung  abweicht,  die  es  bei  ausschliefsUcher 
W^irkung  des  anderen  Liniensystems  als  Vorbild  haben  würde. 
Zu  diesem  Zwecke  brachten  wir  hinter  einem  kreisförmigen 
Ausschnitt  (eines  senkrechten  Schirmes)  von  etwa  5  cm  Durch- 
messer zwei  getrennte,  auf  einander  senkrecht  stehende  Stab- 
systeme an,  von  denen  das  eine,  aus  verticalen  Stäben  —  Strick- 
nadeln —  bestehende  in  horizontaler,  das  andere  aus  wagrechten 
Stäben  Zusammengesetze  in  senkrechter  Richtung  fortschritt 
Die  Stäbe  waren  mit  ihren  Enden  an  Bändern  ohne  Ende  be- 
festigt, die  um  je  zwei  senkrecht,  beziehungsweise  wagrecht  ge- 
stellte Walzen  liefen.  Die  beiden  Stabsysteme  lagen  hart  hinter 
einander;  ihre  Geschwindigkeit  liefs  sich,  die  des  einen  unab- 
hängig von  der  des  anderen,  mit  Hilfe  von  Kegel-Uebersetzungen  ^ 
beliebig  variiren ;  ein  Elektromotor  setzte  dieselben  in  Bewegung. 
Zum  Fixiren  diente  der  Kopf  einer  in  der  OefEnung  des  Schirmes 
angebrachten  Stricknadel.  Die  Stäbe  waren  von  mattschwarzer 
Farbe,  hatten  eine  Dicke  von  etwa  IV2  ^^  ^^^  ^^^^  Distanz 
von  5  mm  und  hoben  sich  von  einem,  dahinter  befindlichen, 
mattweifsen  Hintergrund  deutlich  ab,  welchen  zwei  Glühlampen 
von  der  Seite  her  derart  beleuchteten,  dafs  die  Stäbe  keinen 
Schatten  auf  ihn  warfen. 

Die  Oeffnung  des  Schirmes,  durch  die  man  die  Stäbe  sah, 
konnte  in  jedem  Augenblicke  durch  einen  Klappdeckel  ge- 
schlossen werden,  auf  dem  zur  Erleichterung  der  Nachbild- 
beobachtung ein  Gitter  senkrechter  und  wagrechter  Linien  ge- 
zeichnet war.    Blickte  man   durch  den  Ausschnitt,   so   sah  man 


^  Vgl.  V.  Stern.    Studien  über  den  Muskelton.   Pflüg  er  ^8  Archiv  für  die 
ges.  Physiologie  82,  S.  45.    1900. 


lieber  BewegungsncLchhüder,  391 

«in  Gitter  sich  rechtwinklig  kreuzender  Stäbe.  Es  konnten  sowohl 
die  verticalen  Stäbe  für  sich  allein  in  horizontaler  Richtung  als 
auch  die  horizontalen  Stäbe  in  verticaler  Richtung  bewegt  werden. 
Liefs  man  beide  zu  gleicher  Zeit  laufen,  so  sah  man,  je  nach  der 
Deutung  des  gegebenen  Netzhauteindruckes,  eine  scheinbare 
Verschiebung  eines  quadratischen  Gitters  in  der  Richtung,  die 
der  Diagonale  des  Geschwindigkeitsparallelogrammes  entsprach, 
bei  gleicher  Geschwindigkeit  in  beiden  Systemen  also  unter 
einem  Winkel  von  45®;  oder  man  sah  gleichzeitig  die  beiden 
Stabsysteme  in  ihrer  wirklichen  Bewegung,  oder  nach  Art  eines 
^Wettstreites  der  Sehfelder"  ein  Stabsystem  in  seiner  Bewegung, 
während  das  andere  der  Aufmerksamkeit  mehr  oder  weniger 
entzogen  war. 

Jedes  der  Stabsysteme  mufste  ein  seiner  wirklichen  Be- 
wegung entgegengesetzt  gerichtetes  Nachbild  erzeugen,  und 
beide  Nachbilder  sich  zu  einem  neuen  combiniren,  dessen 
Richtung  in  der  Diagonale  des  Geschwindigkeitsparallelo- 
grammes  beider  Nachbildcomponenten  gelegen  ist.  Bei  unseren 
Versuchen  erstreckten  sich  alle  Variationen,  die  wir  hin- 
sichtlich Geschwindigkeit,  Zahl  der  Stäbe,  Intensität  der  Be- 
leuchtimg und  Dauer  der  Einwirkung  vornahmen,  natürlich 
blos  auf  ein  Stabsystem,  so  dafs  die  Geschwindigkeit  des  Be- 
wegungsnachbildes, die  das  zweite  lieferte,  constant  blieb  und 
wir  daher  aus  der  Richtung  der  resultirenden  Nachbildbewegung 
«inen  Schlufs  auf  die  relative  Geschwindigkeit  der  variablen 
Componente  ziehen  konnten.  Diese  liefs  sich,  da  die  in  Betracht 
kommenden  Parallelogramme  immer  rechtwinkUg  waren,  durch 
die  Formel  aty  x  ausdrücken,  wo  a  die  constante  Geschwindig- 
keit des  Nachbildes  des  einen  Systems,  das  von  allen  Variationen 
ausgeschlossen  blieb,  bedeutet  und  x  den  Winkel  bezeichnet, 
welchen  die  Richtung  der  Resultirenden  mit  der  Richtimg  der  con- 
stanten  Componente  einschliefst.  Läfst  man  die  Stäbe  beider  Systeme 
gleichzeitig  mit  gleicher  Geschwindigkeit  laufen,  so  müssen  auch 
die  Componenten  des  Nachbildes  unter  einander  gleiche  Ge- 
schwindigkeit haben,  und  die  resultirende  Nachbildrichtung  mufs 
einen  Winkel  von  45®  mit  der  Horizontalen  einschliefsen.  Dies 
bestätigte  der  Versuch. 

Hierbei  bot  das  Nachbild  einige  interessante  Erscheinungen, 

Nach  einer  sehr  kurzen  und  nicht  ganz  constanten  Phase, 

in  der  das  Nachbild  sich  gleichsam  zu  rühren  anfing,   sah  man 


392  ^'  Borschke  u.  L.  Heschdea. 

es  mit  einer  Geschwindigkeit  einsetzen,  die  offenbar  im  weiteren 
Verlauf  allmäMich  abnahm,  um  endlich  in  Ruhe  auszuklingen. 
Der  Uebergang  in  Ruhe  erfolgt  jedoch  nie  scharf  bestimmbar, 
so  dafs  man  manchmal  im  Ungewissen  sein  kann,  ob  das  Gitter 
schon  stehe  oder,  dafs  man  es  einen  Moment  für  ruhend  hält, 
und  es  dann  noch  eine  kurz  dauernde  Bewegung  zu  machen 
scheint.  Am  ehesten  liefse  sich  wohl  das  Gleiten  und  Wallen 
des  Nachbildes  mit  einem  Fliefsen  im  Strome  vergleichen.  Aus 
der  vorstehenden  Schilderung  könnte  der  Leser  vielleicht  ver- 
muthen,  es  seien  im  Ablaufe  des  Phänomens  mehrere,  wohlge- 
trennte Phasen  zu  unterscheiden;  eine  solche  Eintheilung  wäre 
aber  gezwungen,  da  die  erste  Phase  sehr  kurz  und  nicht  immer 
mit  Sicherheit  zu  constatiren,  der  Uebergang  der  einen  Phase 
in  die  andere  oft  verschwommen  und  unbestimmt  ist  Blick- 
bewegungen während  der  Beobachtung  von  Vor-  oder  Nachbild, 
ungleichmäfsiger  Gang  des  Apparates,  der  die  Bewegung  der 
Stäbe  besorgte,  störten  das  Zustandekommen  des  Nachbildes. 
Oftmalige  Wiederholung  dieses  Grundversuches  überzeugte  uns, 
dafs  eine  verhältnifsmäfsig  genaue  Angabe  der  Richtung,  in  der 
das  Nachbild  abläuft,  nur  unter  Benützung  der  im  ersten 
Momente  auftretenden  Bewegungsrichtung  zu  gewinnen  ist 
Später  herrscht  ein  beständiges  Schwanken  in  dem  Phänomen, 
und  glauben  wir  jetzt,  deutlich  eine  Bewegung  unter  dem  Winkel 
von  45^  zu  sehen,  so  ist  im  nächsten  AugenbUck  die  Richtung 
bereits  um  einige  Grade  verändert,  eine  Weile  scheint  dann  die 
Bewegung  sich  nur  in  einer  Richtung  fortzusetzen,  um  dann 
neuerdings  ins  Schwanken  zu  gerathen.  Wir  haben  den  Ein- 
druck, als  würden  hier  zeitweilig  die  Einzelnachbilder  der  beiden 
Stabsysteme  getrennt  zur  Geltung  kommen,  wenigstens  entsprechen 
die  Grenzen  dieser  Schwankungen  näherungsweise  denselben. 
Bei  unseren  folgenden  Versuchen,  wo  es  uns  auf  eine  möglichst 
exacte  Angabe  der  Bewegungsrichtung  ankam,  machten  wir  es 
uns  daher  zur  Regel,  immer  nur  die  ersten  Secunden,  in  denen 
das  Nachbild  deutlich  und  unzweideutig  auftauchte,  zur  Be- 
urtheilung  der  Richtung  zu  benützen  und  von  den  späteren 
Schwankungen  abzusehen.  In  manchen  Fällen  konnte  man  den 
Eindruck  gewinnen,  dafs  die  Schwankungen  immer  in  dem 
gleichen  Sinne  erfolgen  und  eine  Abnahme  des  anfänglichen 
Winkels  bewirken,  doch  war  dies  nur  ausnahmsweise  der  Fall, 
viel  häufiger  folgten  die  verschiedensten  Richtungen   unter  bald 


üeher  Bewegungsnachbüder,  393 

gröfseren,  bald  kleineren  Winkeln  in  buntem  Wechsel  auf  einander*. 
Von  diesen  Schwankungen  abgesehen  war  im  Grofsen  und 
Ganzen  die  Nachbildrichtung  nicht  viel  von  45*'  abweichend. 

Es  lag  nahe,  diese  immer  nachweisbaren  Schwankungen  auf 
die  Construction  unserer  bewegten  Liniengruppen  zu  beziehen, 
und  so  dachten  wir,  dieselben  würden  möglicherweise  ausbleiben, 
wenn  wir  die  Zusammenstellung  aus  Componenten  vermieden 
und  ein  rechtwinkhges  Gitter  unter  einer  Neigung  von  45«  sich  so 
bewegen  liefsen,  dafs  ein  Stabsystem  stets  vertical  blieb.  Wir 
stellten  daher  die  Trommel  des  HERiNo'schen  Kymographion  so 
auf,  dafs  seine  Achse  mit  der  Horizontalen  einen  Winkel  von 
45«  einschlofs,  und  überzogen  sie  mit  Papier,  auf  welchem  Linien 
gezogen  waren,  die  unsere  Stabsysteme  nachahmten.  Bei 
Rotation  der  Trommel,  die  von  dem  Uhrwerk  des  Apparates 
tadellos  besorgt  wurde,  und  nachherigem  Anhalten  sah  man  diö 
Nachbildschwankungen  mit  gleicher  Deutlichkeit  wie  bei  der 
ersten  Versuchsanordnung. 

Nachdem  wir  so  durch  unseren  Grundversuch  uns  über  den 
Verlauf  des  Nachbildes  näher  unterrichtet  hatten,  wendeten  wir 
uns  dem  Studium  seiner  Geschwindigkeit  zu. 

1.  Inwiefern  wird  die  Geschwindigkeit  des  Nachbildes  von 
der  Geschwindigkeit  des  Vorbildes  beeinflufst? 

Unser  Versuch  zeigte,  dafs  die  Geschwindigkeit  des  Nach- 
bildes der  des  Vorbildes,  bis  zu  einer  gewissen  Grenze,  direct 
proportional  ist.  Dies  geht  daraus  hervor,  dafs  bei  Aenderung 
der  Geschwindigkeit  in  beiden  Stabsystemen  die  Richtung  des 
Nachbildes  immer  der  Diagonale  des  Geschwindigkeitsparallelo- 
grammes  beider  Vorbilder  entgegengesetzt  war,  was  nur  dann  mög- 
lich ist,  wenn  die  Zunahme  der  Geschwindigkeit  der  Nachbild- 
componenten  proportional  der  Zunahme  in  den  Componenten  des 
Vorbildes  erfolgt.  So  bald  wir  aber  ein  Stabsystem  so  rasch  laufen 
liefsen,  dafs  sein  Eindruck  ein  verschwommener  war,  nahm  die  Ge- 
schwindigkeit seines  Nachbildes  wieder  ab.  Lief  das  System  der  hori- 
zontalen Stäbe  rascher  als  das  der  verticalen,  so  bildete  die  Richtung 
des  Nachbildes  mit  der  Horizontalen  einen  Winkel,  der  gröfser  war 
als  45«.  Dieses  Verhältnifs  änderte  sich  aber  bei  zu  grofser  Ge- 
schwindigkeit der  horizontalen  Stabreihe  so,  dafs  die  Richtung 
des  Nachbildes  der  erwarteten  nicht  mehr  entsprach  und  schliefs- 
lich  horizontal  wurde,  wenn  das  System  der  wagrechten  Stäbe 
liegen  allzu  bedeutender  Geschwindigkeit  überhaupt  nicht  mehr 


394  '^'  BoTBcKke  u.  X.  Heschdes. 

deutlich  unterschieden  werden  konnte.  Es  ist  selbstverständlich, 
dafs  man  die  geschilderte  Bewegung  der  Stabsysteme  im  Vor- 
bilde auch  in  der  Form  sehen  kann,  dafs  sich  anscheinend 
Quadrate  in  einer  geneigten  Richtung  bewegen.  Das  Nachbild 
entspricht  dann  natürlich  dieser  scheinbaren  Richtung. 

2.  Inwiefern  wird  die  Geschwindigkeit  des  Nachbildes  von 
der  Zahl  und  DeutHchkeit  der  Stäbe  beeinflufst? 

Wir  entfernten  zunächst  aus  der  Reihe  der  senkrechten,  in 
horizontaler  Richtung  fortschreitenden  Stäbe  jeden  zweiten  Stab, 
so  dafs  die  Distanz  jetzt  näherungsweise  doppelt  so  grofs  war 
wie  früher.  Die  Geschwindigkeit  der  senkrechten  und  wag- 
rechten Stäbe  bUeb  vorläufig  die  gleiche.  Wurde  jetzt  das  Vor- 
bild beobachtet,  der  Klappschirm  gesenkt  und  das  Nachbild 
studirt,  so  zeigte  sich,  dafs,  abgesehen  von  den  Schwankungen, 
die  jedes  Nachbild  bot,  der  Winkel,  den  seine  Bewegungsrichtung 
mit  der  Horizontalen  einschlofs,  unverkennbar  gröfser  war  als 
bei  gleicher  Zahl  der  Stäbe.  Zu  seiner  Schätzung  brachten  wir 
an  unserer  Klappvorrichtung  einen  beweglichen  Zeiger  an,  der 
über  einer  Gradeintheilung  spielte,  und  den  wir,  so  genau  wie 
möglich,  in  die  Richtung  des  Nachbildes  einzustellen  suchten. 
Aus  einer  grofsen  Anzahl  von  Beobachtungen  ergab  sich  uns 
ein  Winkel  von  50 — 55^  Da  sich  die  beiden  Stabsysteme  senk- 
recht auf  einander  gleich  schnell  bewegten,  erschien  die  Ver- 
schiebung des  Gitters  im  Vorbilde  unter  45".  Durch  Erhöhung  der 
Geschwindigkeit  der  weit  abstehenden  Stäbe  auf  weniger  als  das 
Doppelte  konnte  im  Nachbilde  ein  Winkel  von  45®  erzielt  werden. 
Wir  fügten  nun  die  herausgenommenen  verticalen  Stäbe  wieder  ein, 
entfernten  jetzt  jeden  zweiten  von  den  horizontalen,  in  senkrechter 
Richtung  fortschreitenden  Stäben  und  machten  die  Geschwindig- 
keit der  Stabsysteme  wieder  gleich.  In  diesem  Falle  erfolgte  die  Be- 
wegung des  Nachbildes  unter  einem  Winkel  von  etwa  40  ^^ ;  durch 
entsprechende  Vergröfserung  der  Geschwindigkeit  der  weit- 
gestellten Stäbe  erzielten  wir  wieder  einen  Winkel  von  45^ 
Um  die  besprochene  Erscheinung  noch  eclatanter  zu  gestalten, 
machten  wir  den  Abstand  z.  B.  der  senkrechten  Stäbe  viermal 
so  grofs  wie  den  der  wagrechten.  Bei  gleicher  Geschwindigkeit 
in  senkrechter  und  wagrechter  Richtung  nahm  das  Nachbild 
einen  bedeutend  steileren  Weg  als  in  den  bisherigen  Versuchen 
und  hatte  etwa  eine  Neigung  von  65 — 70®.  Vergröfserung  der 
Geschwindigkeit  der  weiter  gestellten  Stäbe  gab  dem  Bewegungs- 


üeber  Bewegungsnachbilder.  395 

nachbild  wieder  eine  Richtung  von  45^.  Die  Resultate  waren 
natürlich  analog,  wenn  nicht  die  senkrechten,  sondern  die  wag- 
rechten Stäbe  sich  in  dem  vierfachen  Abstand  befanden. 

Diese  Ergebnisse  bewiesen,  dafs  in  unserer  Versuchs- 
Anordnung  die  Richtung  und  damit  im  Allgemeinen  die  Ge- 
schwindigkeit jedes  Bewegungsnachbildes  mit  der  Zahl  der  Reize 
in  der  Zeiteinheit  zunimmt. 

3.  Inwiefern  wird  die  Geschwindigkeit  des  Nachbildes  von 
der  DeutUchkeit  des  Vorbildes  beeinflufst? 

Es  liefs  sich  vermuthen,  dafs  auch  die  Intensität  der  Reize 
eine  entscheidende  Rolle  für  die  Richtung  des  Nachbildes  spielen 
würde,  dafs  also  schärfer  vom  Hintergrunde  sich  abhebende 
Stäbe  die  Richtung  des  Nachbildes  mehr  beeinflussen  würden 
als  weniger  deutlich  hervortretende.  Wir  halfen  uns  in  der 
Weise,  dafs  wir  das  eine  Stabsystem,  und  zwar  das  der  horizon- 
talen Stäbe,  mit  einer  grauen  Farbe  bestrichen ;  die  Geschwindig- 
keit war  in  beiden  Systemen  gleich.  Wir  verwendeten  zu  diesem 
Versuche  einen  schwarzen  Hintergrund;  von  demselben  hoben 
sich  die  schwarzen  Stäbe  bedeutend  weniger  ab  als  die  grauen. 
Erstere  durften  nicht  vor  den  grauen  Stäben  angebracht  werden, 
da  diese  sonst  als  heller  Hintergrund  wirkten;  überdies  wären 
die  grauen  Stäbe  von  den  sie  kreuzenden  schwarzen  scheinbar 
in  eine  Anzahl  von  Abschnitten  zerlegt  worden.  Das  Bewegungs- 
nachbild verlief  in  diesem  Versuche  unter  einem  Winkel  von 
70 — 80^  Es  war  also  die  Nachbildgeschwindigkeit  der  grauen 
Stäbe  bedeutend  gröfser,  obwohl  beide  Systeme  sich  gleich  rasch 
bewegten.  Es  ist  dies  ein  Beweis  dafür,  dafs  unter  sonst  gleichen 
Umständen  die  Geschwindigkeit  des  Nachbildes  durch  die  Deut- 
lichkeit des  Vorbildes  beeinflufst  wird. 

4.  Inwiefern  wird  die  Geschwindigkeit  des  Nachbildes  von 
der  Dauer  der  Beobachtung  einer  Bewegung  beeinflufst? 

Zur  Entscheidung  dieser  Frage  gingen  wir  so  vor,  dafs  wir 
das  eine  Stabsystem  in  den  einzelnen  Versuchen  verschieden 
lange  Zeit  früher  anlaufen  Uefsen  als  das  andere;  die  Zahl  der 
Stäbe  war  in  beiden  Systemen  die  gleiche,  ebenso  die  Geschwindig- 
keit War  unsere  Vermuthung  richtig,  so  mufste  das  durch 
längere  Zeit  vorbeibewegte  Stabsystem  bewirken,  dafs  das  Nach- 
bild entsprechend  seiner  Richtung  rascher  lief  als  in  der 
Anderen,  es  mufste  somit  eine  Abänderung  der  Nachbildrichtung 
in   seinem  Sinne   erfolgen.     In  unserer   ersten    diesbezügUchen 


396 


A.  Borschke  u.  L.  Hetch^. 


Versuchsi'eihe  betrug  die  Gesaiumtdauer  der  Beobachtung  30  Se- 
cunden,  später  fanden  wir  es  aber  zweckmäfeiger,  blofs  lö  Se- 
cunden  lang  zu  beobachten.  Dieser  Theil  unserer  Untersuchui^en, 
in  dem  es  ganz  besonders  auf  Genauigkeit  der  Beobachtungen 
ankam,  war  mit  den  gröfsten  Schwierigkeiten  verbunden.  Figur  1 
und  2  steUen  die  Resultate  der  ersten,  beziehungsweise  zweiten 


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Versuchsreihe  dar.  Zu  ihrem  Verständnisse  sei  hervorgehoben, 
dafs  wir  als  Abscisse  die  Zeit  auftrugen,  während  der  das  eine 
Stabsystem  lief,  dessen  Bewegungsdauer  wir  variirteu,  als  Ordi* 
nate    die  Tangente   jener   Winkel,    unter    welchen    die  Nach- 


üebtr  BewegungsnacJibildei',  397 

bildbewegiing  erfolgte.  Das  zweite  Stabsystem  lief  in  der  ersten 
Versuchsreihe  immer  30,  in  der  zweiten  immer  15  Secunden, 
die  Geschwindigkeit  seines  Nachbildes  war  sonach  in  jeder  Reihe 
für  sich  constant,  und  die  Ordinate  ist  daher  direct  proportional 
jener  Geschwindigkeitscompenente,  die  das  variable  Stabsystem 
lieferte.  Stand  das  eine  Stabsystem  während  der  ganzen  Dauer 
der  Beobachtung  still,  so  war  seine  Wirkung  natürlich  gleich 
Null,  und  das  Nachbild  bewegte  sich  in  der  Richtung,  die  dem 
Nachbild  des  zweiten  Systems  zukam.  Je  länger  wir  das  eine 
System  laufen  liefsen,  umsomehr  wurde  die  Richtung  des  Nach- 
bildes von  jener  des  zweiten  abgelenkt,  bei  gleichdauemder  Ein- 
wirkung beider  Stabsysteme  erreichte  diese  Ablenkung  als  Maxi- 
mum den  Winkel  von  45  ^  Verbindet  man  nun  die  beiden 
Extreme  von  0  ®  und  45  ®  durch  eine  gerade  Linie,  so  findet  man, 
dafs  bei  kurzer  Einwirkung  des  einen  Stabsystems  die  Mehrzahl 
der  für  die  Nachbildrichtung  gefundenen  Resultate  unterhalb, 
bei  längerer  Einwirkung  oberhalb  der  Geraden  liegt.  Bei  Zu- 
nahme der  Zeit,  innerhalb  deren  das  variable  Stabsystem  lief, 
liefse  sich  also  die  Zunahme  der  Geschwindigkeit  des  Nachbildes 
durch  eine  mit  der  Convexität  nach  oben  gewendete  Curve  dar- 
stellen, wofern  man  es  überhaupt  unternehmen  wollte,  aus  den 
mitgetheilten  Daten  eine  Curve  zu  construiren.  Bei  unserer 
Versuchsanordnung  und  Beobachtungsweise  hatte  Beobachtung  des 
einen  Stabsystems  durch  4  Secunden  in  der  ersten  Versuchs- 
reihe, durch  2  bis  3  Secunden  in  der  zweiten  auf  die  Richtung 
des  Nachbildes  keinen  merklichen  Einflufs,  was  auffällt,  da  unter 
anderen  Umständen  schon  sehr  kurzdauernde  Bewegungen  Nach- 
bilder hervorzurufen  vermögen.  So  fand  Sigm.  Exneb,  dals  bei 
Beobachtung  eines  in  Drehung  befindlichen  Rades,  wenn  man 
während  der  Fixation  rasch  nacheinander  blinzelt  und  die  Augen 
immer  nur  kurze  Zeit  geöffnet  läfst,  der  Eindruck  einer  Rotation 
schwindet  und  man  eine  Scheibe  vor  sich  zu  haben  glaubt,  die 
bei  jeder  Blinzelbewegung  anstatt  in  der  wahren  Drehungs- 
richtung sich  fortzubewegen,  ruckweise  hin-  und  hergeschleudert 
wird.  Unter  diesen  Umständen  scheint  also  schon  die  kurze 
Zeit,  während  welcher  die  Augen  geöffnet  waren,  zur  Entstehung 
eines  Bewegungsnachbildes  ausgereicht  zu  haben. 

5.  Eine  der  besprochenen  Versuchsanordnung  ähnliche  schien 
uns  ein  Mittel  an  die  Hand  zu  geben,  über  die  Dauer  des  Nach- 
bildes Aufschlufs  zu  gewinnen.    Läfst   man   beide   Stabsysteme 


398 


Ä.  Bomchke  u.  L.  HucheU». 


gleichzeitig  anlaufen,  das  eine  aber  früher  stille  stehen  als  das 
andere,  so  mufs  nach  einer  gewissen  Zeit  sein  Einflufs  auf  die 
Nachbildrichtung  erloschen  sein.  Diese  Zeit  mufs  der  Dauer  des 
Nachbildes  entsprechen.  Wir  beobachteten  in  diesem  Versuche 
durch  30  Seeunden.    Figur  3  veranschaulicht  die  diesbezüglichen 


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Resultate.  Ordinaten  sind  hier  wieder  die  Tangenten  der  Winkel, 
unter  denen  das  Nachbild  ablief,  als  Abscissen  trugen  wir  dies- 
mal die  Anzahl  der  Seeunden  auf,  während  welcher  das  eine 
Stabsystem  bereits  ruhig  stand.  Je  gröfser  diese  wurde,  umso- 
mehr  nahm  die  demselben  zugehörige  Componente  der  Richtung 
des  Bewegungsnachbildes  ab,  woraus  folgt,  dafa  die  Geschwindig- 
keit des  Nachbildes  räch  abnimmt  und,  wie  die  Figur  zeigt,  nach 
ca.  15  Seeunden  erloschen  ist  Die  Abnahme  der  Geschwindigkeit 
erfolgte  übrigs  anfangs  schneller,  da  die  Zeit,  während  der  das 
eine  Stabsysteme  stillstand,  noch  kurz  war,  später,  bei  längerer 
Ruhe,  langsamer,  einer  Curve  entsprechend,  deren  Convexität 
der  Abscissenachse  zugewendet  ist.  Selbstverständlich  hat  die 
hier  angeführte  Dauer  des  Bewegungsnachbildes  von  15  Seeunden 
nur  für  die  im  Versuche  gegebenen  Verhältnisse  Gültigkeit,  da 
ja  bekanntermaafsen  unter  anderen  Umständen  die  Dauer  des- 
selben weit  gröfser  sein  kann. 

Vergleichende  Beobachtungen  im  directen  und  indirecten  Sehen 
ergaben  hinsichtlich  der  Dauer  des  Nachbildes  keinen  Unterschied. 
(Eingeßangen  ant  31.  Ociober  1901.) 


Zur  Lehre  von  der  subjectiven  Projection. 

Von 

Dr.  R.  DU  Bois-Reymond, 

Privatdocent  in  Berlin. 

Bei  den  meisten  Säugethieren  stehen  die  Augen  nicht  wie 
beim  Menschen  parallel  nach  vom  gerichtet,  sondern  mehr  oder 
weniger  seitlich,  mit  divergenten  Blickaxen.  Das  binoculare 
Sehen  spielt  deshalb  bei  diesen  Thieren  eine  geringe  Rolle. 
Dagegen  müssen  sich  diese  Thiere,  namentlich  die,  deren  Blick- 
axen in  gestrecktem  Winkel  nach  aufsen  divergiren,  im  Räume 
nach  den  beiden  vollständig  von  einander  verschiedenen  An- 
sichten ihrer  beiden  Augen  orientiren,  etwa  wie  ein  Schiff,  das 
nach  den  Angaben  zweier  nach  beiden  Seiten  auslugender 
Lootsen  gesteuert  würde. 

In  dem  Wunsche,  mir  von  diesem  Vorgange  eine  deutliche 
Anschauung  zu  verschaffen  und  gewissermaafsen  die  Welt  durch 
eine  „Thierbrille"  zu  sehen,  fertigte  ich  mir  eine  Vorrichtung, 
die  die  Blickaxen  der  Augen  nach  beiden  Seiten  ablenken  sollte. 
Sie  bestand  einfach  aus  einer  vierkantigen  Röhre  von  schwarzer 
Pappe,  die  quer  vor  beiden  Augen  befestigt  wurde.  In  die  den 
Augen  zugekehrte  Seitenwand  waren  zwei  Gucklöcher  geschnitten 
und  mit  einem  vorstehenden  Rande  versehen,  der  sich  an  den 
Rand  der  Augenhöhlen  anlegte  und  störendes  Aufsenlicht  ab- 
schlofs.  Im  Inneren  der  Röhre  war  vor  jedem  der  beiden  Guck- 
löcher ein  Stückchen  senkrecht  und  unter  45^  ziu*  Axe  der  Röhre 
stehendes  Spiegelglas  angebracht.  Die  beiden  Spiegel  warfen 
also  die  beiden  Bilder  der  vor  den  Enden  der  Pappröhre  befind- 
lichen Gegenstände  je  in  ein  Auge  des  Trägers  der  „Thierbrille". 

Obschon  auf  diese  Weise  der  beabsichtigte  Zweck  erreicht 
wurde,  mit  jedem  Auge  eine  Ansicht  der  seitlich  vom  Körper 
gelegenen  Gegenstände  zu  erhalten,  blieb  die  weitere  Absicht, 
auf  diesem  Wege  der  Weltanschauung  der  Thiere  näher  zu 
kommen,  wie  sich  leicht  hätte  voraussehen  lassen,  unerfüllt. 
Denn  während  das  Thier  bei  der  Wahrnehmung  seines  seitlichen 
Gesichtsfeldes  die  wahrgenommenen  Gegenstände  ohne  Zweifel 
auch  subjectiv  dahin  versetzt,  wo  sie  sich  wirklich  befinden, 
projicirt    der    Mensch    das    vom    Spiegel    der    Thierbrille    auf- 


400  -K-  ^^  Bois-Beymond. 

genommene  seitliche  Gesichtsfeld  in  der  Richtung  seiner  natür- 
lichen Blickaxe  hinter  den  Spiegel.  Wenn  man  die  Thierbrille 
aufsetzt,  nimmt  man  also  die  links  vom  Kopfe  befindlichen 
Gegenstände  gerade  vor  dem  linken  Auge,  die  rechts  vom  Kopfe 
befindhchen  Gegenstände  gerade  vor  dem  rechten  Auge  wahr. 
Die  beiden  verschiedenen  Bilder  können  aber  nicht,  wie  sonst 
die  Blickfelder  beider  Augen,  vereinigt  werden,  sondern  es  env 
steht  ein  Wettstreit  zwischen  ihnen.  In  diesem  Wettstreite  siegt 
im  Allgemeinen  das  besser  beleuchtete  Gesichtsfeld.  Es  empfiehlt 
sich  daher  bei  diesem  Versuch  mögUchst  einen  Standpimkt  ein- 
zunehmen, der  auf  beiden  Seiten  ungefähr  gleich  helle  Blick- 
felder gewährt.  Ist  der  Beobachter,  etwa  durch  den  Gebrauch 
des  Mikroskops,  daran  gewöhnt  das  Gesichtsfeld  eines  Auges  zu 
vernachlässigen,  so  ist  es  dagegen  vortheilhaft,  wenn  die  Seite 
dieses  Auges  eine  etwas  hellere  Beleuchtung  erhält  Unter  diesen 
Bedingungen  sieht  also  der  mit  der  Thierbrille  versehene  Mensch, 
in  Folge  der  subjectiven  Projection  und  der  Gewöhnung  an  den 
binocularen  Sehact,  vor  sich  ein  einfaches  Gesichtsfeld,  in  dem 
einzelne  Stücken  der  rechts  und  links  vor  den  Spiegeln  befind- 
lichen Aufsenwelt  durcheinandergewirrt  um  seine  Aufmerksam- 
keit zu  ringen  scheinen.  Geht  der  Beobachter  vorwärts,  so  rücken 
die  beiden  unvereinigten  wettstreitenden  Gesichtsfelder  von  rechts 
und  hnks  her  durch  einander  hindurch,  wobei  ein  äusserst  ver- 
wirrender,  ja  schwindelerregender  Eindruck  entsteht 

Dieser  Versuch  bildet  eine  geradezu  schlagende  Demonstration 
des  Princips  von  der  Projection  der  Sinneseindrücke, 

Es  ist  aber  natürlich  nicht  daran  zu  denken,  dafs  den  Thieren 
mit  divergenten  Blickaxen  die  Aufsenwelt  in  dieser  Form  er- 
scheinen könnte,  vielmehr  ist  in  dieser  Beziehung  der  Versuch 
als  von  vornherein  verfehlt  zu  bezeichnen.  Dafür  aber  fühne 
er  noch  in  einer  anderen  Richtung  auf  eine  nicht  unintesersante 
Erscheinung. 

Man  kann  diese  Erscheinung  am  besten  beobachten,  wenn 
man  von  der  beschriebenen  Vorrichtung  nur  die  eine  Hälfte  be- 
nutzt, indem  man  ein  Auge  schliefst,  oder  auch,  wenn  man  über- 
haupt nur  ein  Stück  Spiegelglas  in  passender  Stellung  vor  das 
eine  Auge  hält.  Es  mag  im  Folgenden  angenommen  werden, 
dafs  der  Beobachter  das  rechte  Auge  unbenutzt  läfst,  und  sich 
also  ausschliefslich  des  linken  Auges  mit  dem  davor  befindlichen 
Spiegel  bedient.    Die  Blickrichtung  ist  also  nach  links  abgelenkt 


Zur  Lehre  von  der  aubjectiven  Projectiofi,  401 

Oeht  nun  der  Beobachter  vorwärts,  so  sieht  er  die  zu  seiner 
linken  Seite  befindlichen  Gegenstände  im  Spiegel  von  schläfen- 
wärts  nach  nasenwärts  wandern.  Hierbei  fällt  auf,  dafs  alle  per- 
spectivischen  Verschränkungen,  die  im  Blickfelde  vor  sich  gehen, 
deuthch  bemerkt  werden.  Geht  man  z.  B.  an  einem  Fenster 
vorüber,  so  sieht  man  das  Fensterkreuz  sich  vor  der  Landschaft 
vorbeibewegen  und  gleichsam  an  alle  hervortretenden  Punkte 
der  Landschaft  einzeln  anstofsen.  Nimmt  man  dagegen  die  Brille 
ab,  und  geht  mit  seitlich  gewendetem  Kopfe  in  ganz  derselben 
Weise  am  Fenster  vorbei,  so  mufs  sich  zwar  das  Fensterkreuz 
im  Netzhautbilde  in  ganz  derselben  Weise  vor  der  Landschaft 
verschieben,  aber  dieser  Umstand  kommt  für  die  bewufste  Wahr- 
nehmung gar  nicht  zur  Geltung. 

Man  könnte  nun  einwenden,  es  sei  zwischen  den  beiden 
Fällen  deswegen  ein  Unterschied,  weil  die  Bewegung  des  Bildes 
auf  der  Netzhaut  nicht  in  beiden  Fällen  in  gleichem  Sinne  er- 
folgt. Denn,  wenn  man  sich  mit  links  gewendetem  Kopf  vor- 
wärts bewegt,  wandert  das  Netzhautbild  des  Gesichtsfeldes  (des 
linken  Auges)  von  schläfenwärts  nach  nasenwärts,  wenn  man  da- 
gegen die  Thierbrille  aufhat  und  (mit  geradeaus  gerichtetem  Ge- 
sicht) vorwärts  geht,  bewegt  sich  das  Bild  im  Spiegel  von 
schläfenwärts  nach  nasenwärts,  das  Netzhautbild  also  in  entgegen- 
gesetzter Richtung.  Um  diesem  Mangel  abzuhelfen,  könnte  man 
den  Spiegel  diu'ch  ein  System  von  Prismen  ersetzen,  das  die 
Blickrichtung  ablenkt,  ohne  das  Bild  umzukehren.  Es  läfst  sich 
aber  auch  auf  andere  Weise  mittelbar  zeigen,  dafs  die  Um- 
kehrung der  Bewegung  für  den  Unterschied  in  der  Auffassung 
des  Netzhautbildes  nicht  maafsgebend  ist 

Sobald  man  nämlich  die  Thierbrille  aufsetzt,  bemerkt  man, 
dafs  sich  beim  Neigen  des  Kopfes  das  Gesichtsfeld  scheinbar 
mit  neigt,  so  dafs  alle  Senkrechten  schräg  zu  stehen  scheinen. 
Nur  bei  aufrechter  Kopfhaltung,  also  bei  horizontaler  Augenaxe 
und  senkrechtem  Spiegel,  erscheinen  die  senkrechten  Linien  des 
Blickfeldes  auch  im  Spiegel  senkrecht.  In  diesem  Falle  ,#werden 
sie  auf  ebenfalls  senkrechten,  dem  Meridian  parallelen,  Strecken 
der  Netzhaut  abgebildet.  Es  läfst  sich  leicht  zeigen,  dafs,  wenn 
die  Brille  durch  Senken  des  Kopfes  geneigt  wird,  die  senkrechten 
Linien  des  Blickfeldes  auf  der  Netzhaut  nicht  mehr  senkrecht, 
sondern  schräg  abgebildet  werden.  Das  obere  Ende  jeder  Senk- 
rechten erscheint  (für  das  linke  Auge)  im  Spiegel  nasenwärts 

Zeitachrift  für  Psj'cliologie  27.  26 


402  -ß*  ^M  Bois-Reymond, 

verschoben,  das  untere  schläfenwärts.  Auf  der  Netzhaut  selbst 
muTs  also  beim  Neigen  des  Kopfes  das  Bild  der  Senkrechten 
in  der  umgekehrten  Richtung  verschoben  werden.  Genau  die 
gleiche  Drehung  des  Bildes  muTs  aber  eintreten,  wenn  man  beim 
gewöhnlichen  Gehen  den  Kopf  seitwärts  neigt.  Um  die  gleich- 
sinnige  Drehung  zu  erhalten,  mufs  in  dem  betrachteten  Falle 
der  Kopf  nach  rechts  geneigt  werden.  Bei  dieser  seitlichen 
Kopfneigung,  bei  der  das  Netzhautbild  genau  dieselbe  Bewegung 
macht,  wie  beim  Senken  des  Kopfes  mit  aufgesetzter  ThierbriUe, 
hat  man  aber  durchaus  nicht  den  Eindruck,  als  neigten  sich  die 
senkrechten  Linien  des  Blickfeldes  mit 

Es  handelt  sich  also  hier  um  einen  Fall,  der  dem  vorher 
besprochenen  ganz  gleich  ist,  und  für  den  der  Einwand  betreffend 
die  Richtung  der  Bewegung  des  Netzhautbildes  nicht  zutrifft 
Die  gleiche  Drehung  des  Netzhautbildes  erweckt,  wenn  sie  durch 
Senken  des  Kopfes  bei  aufgesetzter  Thierbrille  erzeugt  wird,  die 
Vorstellung,  als  drehe  sich  die  Aufsenwelt,  wenn  sie  aber  durch 
seitliche  Neigung  des  Kopfes  bei  freiem  Auge  hervorgebracht  ist, 
kommt  sie  überhaupt  nicht  zum  Bewufstsein. 

In  letzterem  Falle  mufs  also  eine  vorhandene  Sinnes- 
empfindung vernachläfsigt  werden,  und  dies  geschieht  offenbar 
deshalb,  weil  die  Erfahrung  lehrt,  dafs  mit  bestimmten  Be- 
wegungen des  Kopfes  bestimmte  Verschiebungen  des  Netzhaut- 
bildes verbunden  sind,  denen  keine  wirkliche  Verschiebung  der 
Gegenstände  der  Aufsenwelt  entspricht.  Auf  diese  Weise  ist  also 
die  bewufste  Wahrnehmung  des  Netzhautbildes  abhängig  von  der 
Wahrnehmung  der  gleichzeitigen  Bewegung  des  Kopfes.  Für 
den  Fall  der  seitlichen  Neigung  des  Kopfes  ist  dieser  Zusammen- 
hang leicht  verständlich  und  wohl  allgemein  bekannt  Die  vor- 
her besprochene  Beobachtung  über  die  Wahrnehmung  der  per- 
spectivischen  Verschiebungen  weist  aber  darauf  hin,  dafs  die 
Auffassung  des  Netzhautbildes  in  derselben  Weise  von  der  Vor- 
stellung gleichzeitiger  Ortsbewegung  überhaupt  abhängig  ist 
Geht  njan  mit  seitlich  gewendetem  Kopf,  so  vernachläfsigt  man 
die  Verschränkungen,  die  durch  die  Ortsbewegung  entstehen. 
Gehen  dagegen  dieselben  Verschiebungen,  durch  Vermittlung 
des  Spiegels,  scheinbar  in  einer  Richtung  vor  sich,  die  der  gleich- 
zeitigen Ortsbewegung  nicht  entspricht,  so  werden  sie  mit  auf- 
fälliger Deutlichkeit  wahrgenommen. 

(Eiyujc(jangen  am  19.  November  1901.) 


Besprechungen. 


JüLEs  SoüBT.  Le  systime  nerrenx  central,  strnctiure  et  fonctions.  Histoire 
critiqoe  des  thiories  et  des  doctrines.  Paris,  Garr^  et  Naud,  1899.  1867  S. 
40.    60  Frcs. 

Beim  Studium  der  immensen  neueren  Literatur  über  das  Nerven- 
system hat  sich  mehr  als  auf  anderen  Grebieten  das  Bedürfnifs  nach  Zu- 
sammenfassung und  Ordnung  geltend  gemacht.  Diesem  Bedürfnifs  sind 
denn  auch  für  den  einen  und  anderen  Theil  der  Nervenanatomie  die 
Autoren  entgegengekommen  und  Lehrbücher  wuchsen  aus  dem  Boden,  wie 
Pilze.  Aber  auch  die  besten  derselben  brachen  mit  der  Tradition  und  ihre 
historischen  Einleitungen  beschrankten  sich  auf  Budimente  von  Chrono- 
logieen.  Ein  Buch  zu  schaffen,  worin  die  gesammte  Nervenlehre  im  Zu- 
sammenhang mit  der  Biologie  überhaupt,  ja  in  ihren  Voraussetzungen  mit 
den  psychologischen  Grundlagen  der  Kulturgeschichte  dargestellt  ist,  das 
blieb  einem  einsamen  Gelehrten  vorbehalten,  der  durch  frühere  Studien 
auf  dem  Gebiet  der  Geschichte  der  Physiologie  und  Psychologie  gründlich 
vorbereitet,  durch  keine  praktischen  Verpflichtungen  gebunden  und  mit 
einer  dem  Gregenstand  entsprechenden  Arbeitskraft  ausgerüstet  war,  Julbs 
SoüBY,  dem  Professor  der  Geschichte  unserer  Disciplinen  an  der  Sorbonne. 

Das  Werk  Souby's  reicht  in  seiner  Bedeutung  weit  über  den  engen 
Bahmen  unserer  Fachwissenschaften  hinaus.  Es  ist  ein  werthvolles  Symptom 
für  eine  Wendung  in  der  Behandlung  biologischer  Probleme  überhaupt,  die 
eintreten  mufste,  die  Wendung  zur  Geschichte.  Was  war  vorangegangen? 
Auf  dem  Gebiete  der  Nervenforschung  hat  das  Mikroskop  und  die  Färbe- 
technik  nicht  die  an  anderen  Objecten  erzielten  Erfolge  gehabt.  GrOLOi's 
Entdeckung  einer  specifischen  Färbung  für  die  Elemente  des  Nervensystems 
war  fünfzehn  Jahre  lang  unbeachtet  geblieben  und  begann  erst  Aufsehen 
zu  erregen  zu  einer  Zeit,  da  gleichzeitig  Ehrliches  Methylenblau  auf  den 
Plan  trat.  Eine  fieberhafte  Aufregung  unter  den  Neurologen:  Monat  um 
Monat  fördert  die  neue  Technik  längst  erhoffte  Thatsachen  zu  Tage,  alles 
„versilbe^",  die  Zeitschriften  schwellen  an  und  der  Niederschlag  des  ganzen 
Gährungsprocesses  wird  in  Lehrbücher  überdestillirt.  Und  wie  die  Mode 
kam,  so  ging  sie  wieder.  Rasch  wurde  es  unheimlich  still  und  nur  wenige 
Beharrliche  begnügen  sich  nicht  mit  der  Umsetzung  ihrer  Forschungs- 
energie in  Hausbedarf.  Unsere  Anschauungen  über  die  Anatomie  des 
Nervensystems  hatten  sich  radical  umgestaltet.  Seine  Elemente  waren 
durchsichtig  geworden  und  jetzt  trat  die  Aufgabe  heran,  auf  Grund  dieser 
Elemente  die  Auffassung  von  Bau  und  Functionen  des  Nervensystems  um- 
zugestalten. Viel  Anerkennenswerthes  ist  von  allen  Seiten,  namentlich  von 
Pathologen  und  Anatomen  nach  dieser  Hinsicht  gethan  worden  und  doch 
•  26* 


404  Besjn'echungen. 

fehlte  das  eine,  das  erst  das  Zeichen  der  Wissenschaftlichkeit  ist,  das  Be- 
wufstsein  des  Zusammenhanges  unserer  Vorstellungen  mit  denen  voran- 
gegangener Zeiten,  denen  eine  Technik  geläufiger  war,  als  uns  Modernen, 
nämlich  das  Denken.  Es  fehlte  das  Verständnifs  für  die  ganze  BegrifFs- 
weit,  aus  der  die  neurologische  Sprache  entstanden,  und  fUr  ihren  Zu* 
sammenhang  mit  Philosophie  und  Theologie  —  kurz  für  die  geschichtliche 
Bedingtheit  unseres  Forschungsgebietes.  An  diesem  Punkte  Hetzt  SorBY 
ein  mit  seinem  einzigartigen  Werk. 

Einen  gründlichen  Kenner  der  antiken  Biologie  mufste  die  Aehnlich- 
keit  moderner  Theorieen  mit  alten  und  längst  vergessenen,  schlagen;  aber 
nicht  minder  die  neuen  Thatsachen,  welche  einen  Einblick  in  das  Nerven- 
system gewährten.  „Die  Geschichte  der  Lehren  und  Theorieen  von  der 
Structur  und  den  Functionen  des  Nervensystems  aller  Lebewesen  ist  die 
Naturgeschichte  des  menschlichen  Geistes.  Das  vergleichende  Studium 
der  Sinnesorgane  und  der  nervösen  Centren  bleibt  die  erhabenste  Quelle 
für  unsere  Vorstellung  der  Welt  als  eines  Hirnphänomens".  Diese  Natur- 
geschichte sucht  unser  Werk  zu  geben  und  verräth  uns  schon  durch  diesen 
Standpunkt,  dafs  wir  es  mit  einem  Autor  zu  thun  haben,  der  ebenso  wohl 
durch  den  Positivismus,  wie  durch  Schopenhauer  hindurchgegangen  ist. 
Beides  ohne  Schaden,  denn  der  überreiche  Stoff  setzt  der  allzu  prononcirten 
Betonung  eines  speculativen  Standpunktes  ganz  natürliche  Grenzen. 

Das  erste  Fünftel  von  Soury's  Werk  ist  den  antiken  Erfahrungen  und 
Theorieen  über  das  Nervensystem  gewidmet.  Seine  Darlegungen  gehen 
aus  von  der  antiken  Psychologie,  deren  empirisches  Substrat  Soury  prüft 
und  die  mit  den  modernen  Philosophen  im  Einzelnen  zu  vergleichen  ihm 
besonderen  Reiz  gewähren  mufste.  Naturgemäfs  kommt  ein  besonders 
grofser  Raum  den  aristotelischen  Anschauungen  zu  (S.  110—249).  Mit 
einer  Sicherheit,  die  nur  aus  eigenstem  Quellenstudium  zu  holen  ist,  hat 
es  hier  Soüry  verstanden,  alle  Fehler  zu  vermeiden,  die  sonst  in  der 
herrschenden  Beurtheilung  von  Aristoteles  Biologie  stereotyp  wiederkehren. 
SocHY,  im  Anschlufs  an  Lewes,  weifs  die  Schriften  de  partibus  und  de 
generatione  animalium  zu  schätzen  und  zu  verwerthen,  im  Gegensatz  zum 
traditionellen  Glauben  der  Biologen,  dafs  nur  die  historia  animalium 
classisch  sei,  während  sie  doch  gerade  das  untergeordnetste  der  drei  Werke 
ist.  Der  ganze  Kampf  um  den  Sitz  der  Seele,  der  die  psychologische 
Forschung  des  Alterthums  beherrschte,  wird  uns  im  Zusammenhang  mit 
den  übrigen  Anschauungen  jener  Periode  ausführlich  dargelegt.  Fügen 
wir  bei,  dafs  dieser  Theil,  sowie  die  folgenden  von  einer  LiTTRfi'schen  Be- 
lesenheit und  Exactität  zeugt  und  mit  philologischer  Genauigkeit  alle 
Quellen  wiedergiebt,  die  dem  Leser  wichtig  sein  könnten. 

„Galen  war  Teleologe  und  empfand  religiös,  bei  jedem  Anlasse  hebt 
er  Weisheit  und  Walten  der  Götter  hervor,  er  findet  im  Weltregiment  eine 
Vorsehung.  Er  hat  nichts  von  der  kühlen  und  ruhigen  üeberlegung 
Plato's,  Aristoteles',  oder  Theophrasts,  auch  wo  er  sie  anruft  und  von  ihrem 
Denken  zu  leben  glaubt.  Ein  gewiegter  Arzt,  ein  beispielloser  Experimen- 
tator, von  übermäfsig  polemischem  Geschmack,  einem  geradezu  intoleranten 
Doctrinarismus,  ein  temperament-  und  geräuschvoller  Rhetor,  so  hatte  ei 
mehr  das  Zeug  zu  einem  Professor,  als  zu  einem  Gelehrten  und  Philosophen".  • . 


Besprechungen,  405 

^Für  ihn  war  die  ganze  Welt  eine  weite  Bühne,  auf  der  det  göttliche 
Impresario  sich  ein  Schauspiel  vorführte,  das  er  mit  bewundemswerther 
Kunst  aufs  Letzte  vorbereitet  hatte.  Man  hätte  glauben  sollen,  Galen  stecke 
beständig  hinter  den  Coulissen  dieser  Bühne."  Im  Einzelnen  geht  Sourt 
darauf  ein,  die  Vergröberung  der  Hirnanatomie  zu  schildern,  welche  Gale» 
im  Vergleich  zu  den  Alexandrinern  charakterisirt.  Vielleicht  ist  daneben 
der  Nachweis  etwas  zu  kurz  gekommen,  wieso  Galen  der  Anatora  werden 
mufste,  der  der  mittelalterlich-christlichen  Psychologie  diente.  Während 
dann  wiederum  die  Geschichte  der  ausgehenden  mittelalterlichen  Hirn- 
forschung, die  ja  besonders  an  das  Aufblühen  der  Anatomie  in  Paris  an- 
knüpft, zu  ausführlicherer  Behandlung  gelangt,  kommt  der  Beginn  der 
Neuzeit  bei  Soürt  entschieden  zu  kurz.  Das  geschichtlich  wichtige  Factum, 
dafs  Achillini,  die  GALSN'sche  Zählung  der  Nerven  durchbrechend  und  ent^ 
gegen  besserem  Wissen  der  Alexandriner  den  Biechkolben  als  Nerven  mit- 
zählte, ist  nicht  erwähnt.  (Wie  S.  richtig  anführt,  war  es  Theophilub,  der 
ihn  zuerst  zwar  als  Riechnerven  bezeichnete,  aber,  um  mit  Galen  nicht  in 
Conflict  zu  gerathen,  mi#  dem  Opticus  zusammen  als  ersten  Nerven  zählte.) 

Wir  vermissen  femer  eine  ausführlichere  Behandlung  Vebals,  Eustachis 
und  Fallopias,  die,  wenn  schon  in  ihren  Grundanschauungen  über  das 
Nervensystem  völlig  im  Banne  Galen's  geblieben,  doch  in  ihrer  allgemeinen 
Bedeutung  auch  der  Hirnforschung  zur  Förderung  dienten.  Speciell  das 
Verdienst  der  bildlichen  Darstellung  des  Gehirns  und  ihres  Fortschrittes  — 
man  vergleiche  nur  Berengab  von  Cabpi  (den  Sourt  gar  nicht  erwähnt)  und 
Vesal,  —  hätte  als  geschichtlich  bedeutungsvoll  zu  Beginn  der  Neuzeit 
Stelle  finden  sollen. 

Einen  breiten  Spielraum  gönnt  dann  Sourt  der  Darstellung  von 
Descartes*,  Gassendi's  und  Hobbe's  psychologischen  Theorieen.  Sorgfältige 
Behandlung  findet  Willis,  „dont  la  grande  Imagination,  l'öclat  du  style 
et  la  profondeur  des  pens^es  fönt  songer  ä  Shakespeare**.  Bei  Halleb 
durften  wohl  die  vortrefflichen  vergleichend-anatomischen  Schriften  in  den 
Opera  minora  Erwähnung  finden,  wie  denn  überhaupt  die  Geschichte  des 
Problems  vom  Seelensitz  bei  Sourt  so  sehr  in  den  Vordergrund  tritt,  dafs 
die  Entwickelung  der  Anatomie  des  Nervensystems  vom  16. — 18.  Jahrhundert 
etwas  zu  kurz  kommt. 

Gall  und  Spurzheim,  die  ja  neuerdings  wieder  gelesen  und  gewürdigt 
werden,  erscheinen  auch  Sourt  als  Neuerer,  dadurch,  dafs  sie  die  Hirn- 
thätigkeit  nicht  mehr  in  den  Ventrikeln  sondern  in  der  Hirnrinde  localisiren. 
Wie  spät  erst  die  Kenntnifs  Gall's  verloren  ging,  beweist  die  von  Flourens 
citirte  Stelle:  „Gall,  der  das  wirkliche  Gehirn  studirt  und  es  so  gut  ge- 
kannt hat,  hat  uns  seine  wirkliche  Anatomie  erst  gegeben."  Hier  wird 
denn  auch  einmal  der  Streit  zwischen  Gall  und  Cuvier  erwähnt,  der  für 
Letzteren  so  schmählich  abgelaufen  ist,  ein  geschichtliches  Ereignifs  ersten 
Hanges  und  der  Controverse  Cuvier-Geoffrot  St.  Hilaire  mindestens  eben- 
bürtig. Häser  weifs  allerdings  nichts  davon.  Nun  wird  aber  auch  Sourt 
Gall  nur  theilweise  gerecht  und  wir  vermissen  hier  die  Thatsache,  dafs 
Gall  vor  Allen  es  war,  der  eine  genetische  Betrachtung  des  Nervensystems 
durchführte,  der  das  anatomische  Problem  vom  psychologischen  insofern 
trennte,  als  er  in  seinen  Betrachtungen  von  den  niederen  Centren  zu  den 


406  Besprechungen. 

höheren  hinaufstieg:  Sympathische  Knoten,  Spinalknoten,  Rackenmark, Ge- 
hirn, entsprechend  der  Entwickelung  der  psychischen  Organe  in  der  Thierreihe. 

Mit  einer  übersichtlichen  Darstellung  der  ^Salpetri^re**  und  einem 
Abschnitt  über  die  Himlocalisation  von  Fbitsch  und  Hrrzio  schlieÜBt  der 
eigentlich  historische  Theil  des  Werkes  ab  (p.  631)  und  beginnt  die  kritische 
Darstellung  der  heute  bestehenden  Himforschung,  welche  die  übrigen  zwd 
Drittheile  des  Werkes  füllt. 

Als  grofse  Gliederung  sind,  wenn  wir  dem  Druck  des  Inhaltsyeraeich- 
nisses  folgen,  sieben  Ueberschriften  anzunehmen.  Himbahnen,  Hirnrinde, 
Hirnlappen,  motorische  Centren,  Theorie  der  Gemüthsbewegungen,  sen- 
sorische Centren,  Neuronentheorie.  Das  hierbei  angewandte  Eintheilungs- 
princip  ist  keineswegs  durchsichtig ;  ebenso  wenig  die  Untergliederung  der 
einzelnen  Abschnitte  und  darin  dürfte  bei  dem  Umfange  des  Werkes  sein 
wesentlichster  Nachtheil  zu  erblicken  sein.  Dieser  Mangel  an  Architectnr, 
der  bei  der  Ungleichheit  in  der  vorliegenden  Bearbeitung  des  Stoffes  ebenso 
verzeihlich,  wie  der  Klarheit  hinderlich  ist,  verbietet  denn  auch  dem  Vexl 
am  Ende  der  Abschnitte  Zusammenfassungen  zu  g^ben.  Andererseits  treteo 
die  Vorzüge  Soubt's  innerhalb  der  einzelnen  Abschnitte  aufe  Deutlichste 
hervor  und  erheben  ihn  zu  einem  höchst  werthvollen  Berather  für  Jeden, 
der  sich  Über  das  eine  oder  andere  Thema  möglichst  vielseitig  orientiren 
will.  In  Bezug  auf  Vergleichung  der  verschiedenen  Ansichten  modemer 
Autoren  bis  ins  Einzelne  dürfte  wohl  keine  andere  Anatomie  und  Physiologie 
des  Nervensystems  dasselbe  leisten,  was  die  Soüby's  und  vollends  nicht  in 
einem  so  anziehenden  und  lesbaren  Stil. 

Eine  Inhaltsangabe  des  ganzen  Bandes  findet  sich  auf  6ö  eng  gedruckten 
Seiten;  schon  daraus  erhellt,  dafs  hier  eine  solche  auch  nur  annähernd 
wiedergeben  zu  wollen,  ein  Ding  der  Unmöglichkeit  ist.  Sourt  hat  nicht, 
wie  so  viele,  nur  zusammengefafst,  was  man  am  Ende  des  19.  Jahrhunderte 
wufste;  mit  seiner  Einführung  des  historischen  Gesichtspunktes  in  die 
Discussion  der  obwaltenden  Theorieen  hat  er  gleichzeitig  für  die  Zukunft 
gearbeitet  und  ein  Postulat  aufgestellt,  das  seit  Langem  nicht  mehr  snr 
Geltung  gekommen  war.  Das  war  doppelt  nöthig,  bei  einem  so  complicirten 
Organsystem,  aber  es  war  nur  möglich  einem  Manne,  der  sich  ebenso  gern 
und  geschickt  ins  letzte  empirische  Detail  der  Gregenwart  einarbeitete,  wie 
er  durch  umfassende  philosophische  und  historische  Studien  berufen  wät, 
den  Wurzeln  alles  Denkens  über  Gehirn  und  Seele  nachzuspüren.  Damit 
behält  auch  Soury*s  Werk  neben  seiner  praktischen  Bedeutung  den  Werth 
des  Ausdrucks  einer  selbständigen,  originellen,  dabei  gründlichen  und 
erstaunlich  vielseitigen  Forschernatur.  Run.  Bitbckhabdt  (Basel). 


Das  Terhältnlss  der  GeBchmaoksempflndiiiigen  ca  einander. 

Vorläufige  Entgegnung. 
Von  F.  KiBSOw,  Turin. 

Hjalmar  Oehbwall.     Die  Hodaütöts-  ond  aaaliUtsbegriffe  in  der  Stuei- 

Physiologie    und    deren    Bedeatnng.     Skandinuv.  Archiv  für  Physiologie  It 
245—272.    1901.    (Aus  dem  physiol.  Institut  der  Universität  Upsala.) 
Die  vorliegende  Arbeit  steht  in  engem  Zusammenhang  mit  dem,  was 
der  Verf.  zum  Theil   bereits   in  seinen  „Untersuchungen  über  den 


Besprechungen.  407 

<7e8chmackssinn"  {Skandinav.  Arch,  für  Fhys.  2,  1 — 69)  mitgetheilt  hat. 
-Sie  bildet  die  Weiterführung  des  theoretischen  Inhaltes  der  letzteren. 

Oehbwall  geht  aus  von  dem  Hinweis,  dafs  bei  einer  grofsen  Detail- 
-arbeit  innerhalb  der  einzelnen  physiologischen  Forschungsgebiete,  deren 
Werth  er  nicht  herabsetzen  wolle,  gewisse  principielle  Fragen  vernachlässigt 
würden,  durch  welche  den  Einzeluntersuchungen  erst  „Richtung,  Meinung 
und  Werth'^  verliehen  werde.  Zu  diesen  Fragen  rechnet  er  die  nach  der 
Anzahl  der  Sinne,  sowie  die  andere,  welche  Empfindungen  einem  Sinnes- 
^gebiete  zuzurechnen  seien  und  welche  nicht.  Die  alte  Eintheilung  in  fünf 
Sinne  wird  als  dem  gegenwärtigen  Umfange  unserer  Erfahrungen  nicht 
mehr  entsprechend  verworfen.  Bei  einer  Neueintheilung  der  Sinnesgebiete 
darf  zunächst  weder  von  den  makroskopisch-,  noch  von  den  mikroskopisch- 
anatomischen Verhältnissen  ausgegangen  werden,  da  histologische  Merk- 
male hier  zu  keiner  Entscheidung,  sondern  höchstens  zu  Analogien  von 
sweifelhaftem  Werthe  führen  könnten.  Ebensowenig  aber  ist  hierfür  nach 
Oe.  das  „sogenannte  adäquate  BeizmitteP  als  Eintheilungsgrund  in 
Anspruch  zu  nehmen,  da  ein  und  derselbe  äufsere  Vorgang  ein  Beizmittel 
für  verschiedene  Sinne  abgeben  könne.  Zusammenfassend  sagt  der  Verf., 
<lafs  als  Eintheilungsgrund  für  die  Sinne  weder  ein  anatomischer,  noch  ein 
physikalischer  oder  chemischer,  sondern  nur  ein  physiologischer  ange- 
nommen werden  dürfe,  nämlich  die  Function  des  Organs.  „Ob  ein  gewisses 
Organ  ein  Sinnesorgan  ist,  oder  nicht,  hängt  davon  ab,  ob  es  Empfin- 
•düngen  erzeugt,  und  ob  es  zu  dem  einen  oder  anderen  Sinne  gehört, 
kommt  auf  die  Beschaffenheit  dieser  Empfindungen  an."  Femer  ist 
hei  der  Classification  der  Empfindungen  von  den  einfachen  auszugehen, 
-die  zusammengesetzten  sind  in  solche  zu  zerlegen. 

Einen  ersten  Eintheilungsgrund  findet  der  Verf.  darin,  dafs  man 
flftmmtliche  Empfindungen  in  äufsere  und  innere  theilt.  Die  ersteren 
sind  objectivirbar  und  werden  „als  Eigenschaften  von  äufseren  Gegen- 
ständen aufgefafsf*,  die  inneren  sind  nicht  objectivirbar  und  werden  von 
uns  „als  Zustände  unserer  selbst  aufgefafst."  „Die  einfachen  Empfindungen 
können  in  vielen  Hinsichten  verschieden  sein:  nach  ihrer  Intensität, 
Dauer,  Localisation  (Localzeichen),  ihrem  Gefühlston,  vor  allem 
nach  ihrer  Qualität."  „Die  Qualität  ist  das  Eigenthümliche,  wodurch 
«ine  Farbe  sich  von  einem  Tone  oder  Geschmack  unterscheidet,  oder  eine 
Farbe  von  einer  anderen,  ein  Ton  von  einem  anderen  u.  s.  w."  Als  eigent- 
liches Eintheilungsprincip  für  die  Sinne  ist  nach  Oehbwall  einzig  und 
•allein  der  von  von  Helmholtz  aufgestellte  Unterschied  nach  Qualitätskreisen 
und  Modalitäten  zulässig.  Hiemach  gehören  zu  einem  Sinnesgebiete  die- 
jenigen Empfindungen,  welche  in  Folge  continuirlicher  Uebergänge  von 
«iner  zur  anderen,  wie  Licht-  und  Tonempfindungen  eine  Qualitätenreihe 
bilden.  Wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  hat  man,  selbst  wenn  Contrast-  und 
CJompensationserscheinungen  zwischen  gewissen  einfachen  Empfindungen 
nachgewiesen  werden  können,  von  Modalitäten,  also  von  Einzelsinnen,  nicht 
'von  Qualitätsdifferenzen  zu  reden.  Hieraus  ergiebt  sich  für  den  Geschmacks- 
sinn, dafs  die  Empfindungen  Süfs,  Sauer,  Salzig  und  Bitter  nicht  Qualitäten 
•eines  Sinnesgebietes,  sondern  Modalitäten,  d.  h.  vier  Einzelsinne  sind. 
^Der  Gefühlssinn  zerfällt  in  mindestens  vier:  Kälte-,  Wärme-,  Druck-  (bei 


408  Besprechungen. 

welchen  Qualitätsdifferenzen  fehlen)  und  Schmerzsinn,  vielleicht  mehrere. 
Den  Geruchssinn  betreffend/'  fährt  Oehbwall  fort^  „ist  es  schwer  zu  sagen^ 
was  für  ein  Besultat  eine  eingehendere  Untersuchung  ergeben  würde.  Die 
Anzahl  der  verschiedenen  Geruchsarten  scheint  fast  unendlich  grofs  zu 
sein;  dieser  in  Rückgang  begriffene  Sinn  ist  trotzdem  der  reichste  von 
allen;  vielleicht  aber  würde  die  Menge  der  verschiedenen  Geruchsempfin- 
dungen weniger  unübersichtlich  erscheinen,  wenn  sie  sich  in  ein  oder 
mehrere  ,,Spectren''  ordnen  liefsen."  „In  derselben  Weise  würde  man  mit 
den  inneren  Empfindungen  verfahren,  wo  in  diesem  Falle  fast  noch  Alles 
zu  thun  übrig  ist/'  Der  Verf.  tadelt  ferner,  dalis  der  sogenannte  „Ortssinn^' 
in  der  Sinnesphysiologie  als  Unterabtheilung  des  Tastsinnes  behandelt 
werden  kann. 

Die  Anzahl  der  Sinne,  zu  w^elcher  diese  Eintheilung  führt,  ist  somit 
eine  recht  grofse,  „und  es  ist  gewifs,  dafs  die  Anzahl  (wie  die  der  Elemente 
in  der  Chemie)  immer  noch  wachsen  wird."  Hierin  erblickt  Oehbwall 
aber  keinen  Nachtheil.  „Dafs  eine  vermehrte  Differenzirung  während  der 
Entwickelung  der  Wissenschaft  stattfindet,  ist  eine  normale  Erscheinung 
und  ist  immer  als  vortheilhaft  betrachtet  worden  (bene  docet,  qui  bene 
distinguit)." 

Die  Vortheile  einer  solchen  Differenzirung  sieht  der  Verf.  „unter 
Anderem  im  Wegfall  einer  Menge  veralteter  Zusammenkoppelungen  von 
Empfindungen,  welche  nichts  mit  einander  zu  schaffen  haben."  Ebenso 
sucht  er  darzulegen,  dafs  auch  die  Praxis  in  der  Klinik  Nutzen  daraus 
ziehen  werde.  „Es  ist  ja  einleuchtend,  dafs  der  klinische  Beobachter 
bessere  Resultate  erhalten  würde,  wenn  es  ihm  z.  B.  klar  wäre,  dab  er 
anstatt  eines  Gefühlssinnes  mindestens  vier  zu  untersuchen  hat  ...  Es 
gilt  hier  factisch  nicht  einen  Streit  um  Wörter,  sondern  um  Principien, 
oder  richtiger,  es  gilt  ein  Princip,  einen  wirklichen  Eintheilungsgnind  ein- 
zuführen, wo  man  bisher  gar  keinen  befolgt  hat." 

Den  möglichen  Einwand,  dafs  sein  System  für  die  vergleichende 
Physiologie  nicht  passe,  sucht  der  Verf.  dadurch  zu  entkräften,  dafs  er  auf 
eine  indirecte  Beobachtung  der  Function  der  Sinnesorgane  der  Thiere 
verweist,  „wobei  wohl  auch  die  Kenntnifs  unserer  eigenen  Empfindungen 
(Sinnesphysiologie  des  Menschen)  in  allen  anwendbaren  Fällen  einen  ent- 
scheidenden Einflufs  auf  unsere  Auffassung  erhalten  wird." 

Oehrwall  mufs  einräumen,  dafs  (was  er  an  Anderen  so  sehr  tadelt j 
VON  Helmholtz  selbst  „hie  und  da"  noch  von  unseren  fünf  Sinnen  redet 
und  dafs  er  aus  dem  von  ihm  aufgestellten  Satze  keine  Consequenzen  zog 
(vielleicht  mit  mehr  Absicht  und  Vorbedacht  als  der  Verf.  glaubt).  Diet» 
erklärt  sich  nach  Oehrwall  daraus,  „dafs  er  sich  ausschliefslich  mit  dem 
Gesicht  und  Gehör  beschäftigte  (I) ;  in  Bezug  auf  diese,*'  fährt  Oehrwall 
fort,  „kommt  man  zu  demselben  Resultat,  gleichviel,  ob  man  die  Modalität 
der  Empfindungen,  oder  das  Organ  selbst  als  Eintheilungsgrund  wählt." 
In  einer  Fufsnote  wird  hinzugefügt,  dafs  hierbei  vorauszusetzen  sei,  dafs 
man  von  den  zu  jener  Zeit  noch  nicht  hinreichend  anerkannten  Functionen 
der  Bogengänge  und  Säcke  absehe. 

Während  der  Durchführung  des  im  Vorstehenden  Mitgetheilten,  wo- 
durch  der  Inhalt   der  Arbeit   in   seinen  Hauptzügen   wiedergegeben   sein 


Besprechungen,  409 

dürfte,  kommt  der  Verf.  noch  anf  die  Theorie  von  der  specifischen  Energie 
der  Sinnesorgane,  sowie  auf  die  Einwände  zu  sprechen,  welche  ich  gegen 
seine  Forderung,  die  Geschmäcke  in  vier  Einzelsinne  zu  trennen,  vorge- 
bracht habe.  Der  Verf.  sucht  meine  Einwände  zu  entkräften  und  leugnet 
nach  wie  vor  das  Vorhandensein  contrastirender  Verhältnisse  bei  den  Ge- 
schmäcken.  Die  Thatsachen  der  von  mir  als  theilweise  Compensation  be« 
zeichneten  Erscheinung  werden,  soweit  ich  sehe,  zugegeben,  obwohl  der 
Ausdruck  verworfen  wird.  Da  ich  in  einer  besonderen  Abhandlung  auf 
diese  Fragen  zurückkommen  werde,  so  beschränke  ich  mich  hier,  ohne  auf 
Einzelheiten  näher  einzugehen,  vorläufig  auf  das  Folgende: 

Ich  gebe  Oehrwall  gerne  zu,  dafs  die  Eintheilung  in  fünf  Sinne  so 
wie  sie  uns  aus  dem  Alterthume  überliefert  ist,  nicht  mehr  haltbar  ist. 
Ich  selbst  vertrete  diese  alte  Eintheilung  nicht.  Andererseits  dürfte  aber 
auch  seine  Classification  Widerspruch  begegnen  und,  wie  ich  später  zeigen 
werde,  zu  unannehmbaren  Consequenzen  führen.  Die  einzelnen  Geschmäcke, 
wie  die  Temperatur-  und  die  Greruchsempfindungen  unter  einander  als 
disparate  Empfindungen,  als  von  einander  getrennte  Einzelsinne  aufzu- 
fassen, widerstreitet  nach  meiner  Auffassung  der  unmittelbaren  Erfahrung. 
Ich  will  hier  nur  noch  hinzufügen,  dafs  bei  den  Geschmäcken  theilweise 
Uebergänge  thatsächlich  nachweisbar  sind. 

Ich  gebe  ferner  zu,  dafs  ich  den  Zusammenhang,  den  ich  zwischen 
des  Verf. 's  Eintheilungsprincip  und  der  Theorie  der  specifischen  Energie 
der  Sinnesorgane  sah,  vielleicht  überschätzt  habe.  In  Bezug  aber  darauf, 
dafs  ich  nach  seiner  Darstellung  annehmen  mnfste,  er  sehe  in  dem  mög- 
lichen Vorhandensein  von  Contrast-  und  Compensationserscheinungen  bei 
den  Geschmäcken  selbst  einen  triftigen  Grund  gegen  seine  Auffassung,  sie 
als  Modalitäten  zu  betrachten,  erinnere  ich  Okhrwall  daran,  dafs  die  von 
ihm  selbst  angeführte  Stelle  seiner  ersten  Arbeit:  „Schliefslich  würde  man 
vielleicht  gegen  diejenige  Auffassung  der  Geschmackskategorien,  die  ich  in 
dem  Vorigen  geltend  zu  machen  versucht,  das  Dasein  von  Contrast  und 
Compensation  zwischen  den  verschiedenen  Geschmacksempfindungen 
anführen^  — so  fortlautet:  „Giebt  es,  wie  oft  angegeben  wird,  der- 
gleichen Contrast-  und  Compensationsphänomene  unter  den 
verschiedenen  Geschmackskategorien  in  demselben  Sinne, 
wie  zwischen  den  verschiedenen  Farben,  so  zeigt  dieses,  dafs 
sie  nahe  mit  einander  verbunden  sind,  und  bildet  einen 
wichtigen  Grund  dagegen  sie  als  verschiedenen  Sinnen 
angehörend  zu  betrachten."^  Diesen  letzten  Satz  läfst  Oehrwall 
jetzt  fort.  Wenn  Oehrwall  ferner  auf  die  Temperaturempfindungen  ver- 
weisend zu  zeigen  sucht,  dafs  er  die  vorgetragene  Meinung  schon  damals 
gehabt  habe,  so  kann  ich  auch  hier  nur  erwidern,  dafs  mich  kein  Vorwurf 
treffen  kann,  wenn  ich  dies  aus  der  von  ihm  angezogenen  Stelle  nicht  er- 
sehen konnte.  Hier  wird  kurz  zuvor  davon  gesprochen,  dafs  bei  den  Ge- 
schmäcken keine  Uebergänge  nachweisbar  seien,  und  es  wird  dann 
ganz  im  Vorübergehen  gesagt,  dafs  die  Geschmäcke  sich  ebenso  zu  ein- 
ander  verhielten,   wie   die  Wärme-,  Kälte-   und   Druckempfindungen,   „die 


*  Im  Ori^rinaJ  ist  die8e  Stelle  nicht  gespeirl  gedt\3Lc\LV. 


410  Besprechungen, 

auch  früher  für  Qualitäten  desselben  Sinnes  gehalten  wurden,  welche  aber 
demselben  Grundsatze  gemäfs  ohne  Zweifel  als  Modalitäten  zu  betrachten 
sind."  In  Parenthese  wird  dann  sogar  noch  von  einem  wahrschein- 
lichen Mangel  von  Qualitätsdifferenzen  bei  den  lezteren  gesprochen.  Von 
Contrast  und  Compensation  ist  hier  gar  keine  Bede  und  es  werden  in  der 
weiteren  Ausführung,  in  welcher  Obhbwall  den  Nachweis  zu  führen  sucht, 
dafs  diese  Erscheinungen  bei  den  Geschmäcken  nicht  existiren,  die  Tempe- 
raturempfindungen nicht  einmal  wieder  erwähnt.  Es  ist  mir  daher  unbe- 
greiflich, wie  Obhbwall  sich  jetzt  damit  entschuldigen  kann,  er  habe  keine 
Einleitung  zur  Sinnesphysiologie  schreiben  wollen  und  ebensowenig  ver- 
stehe ich,  wie  er  schreiben  kann,  ich  habe  gemeint,  über  ihn  einen  leichten 
Sieg  zu  gewinnen  und  ihn  mit  seinen  eigenen  Waffen  zu  schlagen,  wo 
es  sich  einfach  um  Feststellung  von  Thatsachen  handelt.  Was  die  Form 
meiner  eigenen  Ausführungen  gegen  und  für  Oe.  betrifft,  so  verweise  ich 
auf  meine  Darstellung  in  Philo».  Stud.  10,  533  ff.,  wie  auf  meine  übrigen 
Schriften,  in  denen  ich  mit  ihm  in  Berührung  gekommen  bin. 

Was  die  Geschmackscontraste  betrifft,  so  sind  diese  für  mich 
eine  so  feststehende  Thatsache,  dafs  ich  noch  nicht  die  Hoffnung  aufge- 
geben habe,  ein  Forscher  wie  Prof.  Oehrwall  werde  sich  von  deren  that- 
sächlichem  Vorhandensein  schliefslich  überzeugen.  Wenn  der  Verf.  aber 
die  mühevoll  durchgeführte  Versuchsanordnung  nicht  zuverlässig  findet, 
so  dürfte  ich  wohl  auch  zu  fragen  berechtigt  sein,  inwiefern  die  seinige 
der  meinigen  vorzuziehen  ist.  Die  Einwände  der  geringen  Intensität  und 
des  theilweisen  Ausbleibens  sind  hinfällig.  Bei  Versuchen  über  Farben- 
contrast,  an  denen  ich  vor  Jahren  theilnahm,  hatte  ich  mit  anderen  Beob- 
achtern in  der  Erkennung  der  Erscheinung  bei  schwachen  Reizen  eine 
solche  üebung  gewonnen,  dafs  wir  den  Contrast  bereits  auf  einer  Stufe 
erkannten,  wo  Andere  ihn  noch  lange  nicht  sahen.  Die  Geschmacks- 
contraste, wie  ich  sie  mitgetheilt  habe,  sind  mir  unaufgefordert  von  ver- 
schiedenen Forschern  bestätigt  worden.  Diese  Herren,  die  die  Erscheinung 
zum  Theil  auch  in  ihren  praktischen  Uebungen  demonstriren,  haben  mich 
autorisirt,  ihre  Namen  zu  nennen.  Ich  unterlasse  dies  aber  hier,  um  sie 
nicht  unnöthig  in  die  Polemik  hineinzuziehen. 

Der  Geschmackscontrast  ist  übrigens  auch  sonst  bestätigt  worden 
(vergl.  W.  A.  Naoel,  Ueber  die  Wirkung  des  chlorsauren  Kali 
auf  den  Geschmackssinn.    Diese  Zeitschr.  10,  235 ff.). 

Weitere  Erfahrungen  haben  mich  gelehrt,  dafs  man  hier  zwischen 
peripheren  und  centralen  Vorgängen  zu  unterscheiden  hat.  Die  damals 
mitgetheilten  Ergebnisse  beziehen  sich  auf  centrale  Vorgänge.  Ich  werde 
hierauf  später  ebenfalls  zurückkommen. 

Was  die  Lehre  von  der  specifischen  Energie  betrifft,  so  stellt  sich  Oe. 
mit  mir  auf  den  entwickelungsgeschichtlichen  Standpunkt.  Ich  will  hier 
nur  hervorheben,  dafs  ich  in  dieser  Lehre  kein  eigentliches  Erklärungs- 
princip  sehe.  Im  Uebrigen  behalte  ich  mir  vor,  in  der  ausführlicheren  Ab- 
handlung  darauf  zurückzukommen. 

Die  besprochene  Arbeit  wurde  nach  einem  auf  der  Naturforscher- 
versammlung zu  Stockholm  am  11.  Juli  1898  gehaltenen  Vortrage  verfafst. 


Literaturbericht. 


Paul  Ribmann.   Beeinflossviig  des  Seelenlebens  durch  Taubheit   Einderfehle 

5  (6),  241—269.    1900. 

Ueber  die  seelischen  Eigenthümlichkeiten  der  Taubstummen  werden 
verschiedene  Behauptungen  aufgestellt,  die  einander  häufig  widersprechen. 
Am  deutlichsten  zeigt  sich  dieser  Widerstreit  der  Meinungen  in  der  Be- 
antwortung der  Frage,  ob  die  Geberden-  oder  die  Lautsprache  die  Grund- 
lage für  den  Taubstummenunterricht  bilden  solle.  Verf.  weist  nach,  dafs 
die  Geberdensprache  wohl  eine  gewisse  geistige  Entwickelung  ermögliche. 
^yMancher  ohne  Unterricht  aufgewachsene  Taubstumme  hat  schon  im 
Mechanischen  Bewundernswürdiges  zu  Tage  gefördert,  wozu  ohne  Zweifel 
eine  richtige,  zusammenhängende  Anschauungsfertigkeit,  ein  geübtes 
Combinations vermögen  gehören.''  Aber  abgesehen  davon,  dafs  das  Denken 
des  Taubstummen,  der  sich  lediglich  der  Geberdensprache  bedient,  niemals 
Aber  das  Gebiet  der  sinnlichen  Anschauung  hinausreicht,  erhält  sein 
Seelenleben  ein  eigenthümliches,  egoistisches  Gepräge,  soferne  er  von  sich 
selbst  auf  andere  Menschen  schliefst  und  ihren  Handlungen  oft  eigennützige 
Gesinnungen  und  Absichten  unterschiebt.  Aber  auch  der  unterrichtete 
Taubstumme  bleibt  quantitativ  und  qualitativ  in  seinem  Denken  zurück, 
flein  Urtheilen  und  Schliefsen  ist  einseitig,  lückenvoll  und  unsicher.  „Es 
kann  bei  ihm  von  einer  über  die  Mittelbildung  der  Vollsinnigen  hinaus- 
reichenden  Förderung  nie  und  nimmer  die  Bede  sein." 

Es  wird  vielfach  behauptet,  dafs  die  Bildung  des  Gemüthes  und  des 
Willens  durch  den  Mangel  des  Gehörs  beeinträchtigt  werden.  Dies  trifft 
nicht  einmal  für  den  ungebildeten  Taubstummen  in  vollem  Umfange  zu; 
seine  Fehler  erklären  sich  zum  gröfsten  Theil  aus  seiner  geistigen  Verein- 
samung und  der  verkehrten  Behandlung,  die  ihm  häufig  seitens  seiner 
hörenden  Mitmenschen  zu  Theil  wird.  Der  Taubstummenlehrer  hat  Ge- 
legenheit, durch  den  Unterricht  nicht  blos  auf  die  Geistes ,  sondern  auch 
auf  die  Gemüthsbildung  fördernd  einzuwirken. 

Für  die  Willensbildung  des  Taubstummen  kommen  vor  Allem  der 
Unterricht  und  die  Schulzucht  in  Betracht.  Es  läfst  sich  nicht  in  Abrede 
stellen,  „dafs  auch  der  Taubstumme  durch  Unterricht  zu  einem  verständigen, 
sittlichen  und  in  gewissem  Sinne  charaktervollen,  vernünftigen  Wollen 
gelangt ;  wenn  dasselbe  auch  naturgemäfs  nie  zu  einem  höheren  Grade  von 
VoUkommenheit  ausreift/* 


412  Literaturbericht. 

Dem  Wirken  des  Taubstummenlehrers  sind  Grenzen  gezogen,  die  sich 
nach  Ansicht  des  Verf.'s  lediglich  aus  den  psychischen  Eigenthamlich- 
keiten  des  Taubstummen  ergeben.  Die  Frage  mufs  aber  noch  unbeant- 
wortet bleiben/  ob  man  die  UnvoUkommenheiten,  welche  dem  Taubstummen 
trotz  allen  Unterrichtes  anhaften,  nicht  späterhin  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  durch  eine  Vervollkommnung  der  Methoden  wird  beheben  können. 
Solange  es  aber  an  einer  exacten  Taubstummenpsychologie  fehlt,  kann  an 
eine  solche  Ausgestaltung  der  Taubstummenpädagogik  nicht  gedacht 
werden.  Th.  Heller  (Wien). 

B.  HoLLAMDER.    The  Presoiit  State  of  Mental  Science.    The  Joum.  of  Mentd 

Sci^ce  47  (197),  293—317.  1901. 
Eine  Arbeit  mit  vielversprechendem  Titel  und  seh wung\' ollen  Capitel- 
überschriften.  Der  Hauptnachdruck  wird  auf  den  Nachweis  gelegt,  dafs 
das  Stirnhirn  der  Sitz  der  Verstandesthätigkeit  und  damit  das  ^Hemm- 
centrum  gegen  die  niederen  und  mehr  instinctiven  Triebe^  ist;  auch  die 
Affecte  erhalten  ihre  eigenen  Centren.  Schröder  (Heidelberg). 

Benno  Erdmann.  Die  Psychologie  des  Rindes  nnd  die  Schnle.  Bonn,  Cohen» 
1901.  51  S.  Mk.  1.—. 
Eine  wie  grofse  Gefahr  für  .die  wissenschaftliche  Arbeit  der  Gegen- 
wart in  dem  Scheine  der  Exactheit  liegt :  davon  legt  auch  der  gegenwärtige 
Betrieb  der  Kinderpsychologie  beredtes  Zeugnifs  ab.  Statt  sich  den  Be» 
wufstseinsthatsachen  des  Kindes  mit  den  Mitteln  der  Psychologie  anzu* 
nähern,  ziehen  die  Kinderpsychologen  vielfach  physiologische  und  biologische 
Begriffe  und  Gesichtspunkte  in  der  Voraussetzung  heran,  dafs  durch  sie 
die  kindlichen  Bewufstseinsvorgänge  unmittelbar  festgestellt  und  erklärt 
werden  können.  Der  Schein  der  Exactheit,  der  für  Viele  von  Allem  aus- 
geht, was  von  Physiologie  und  Biologie  herkommt,  läfst  leichten  Herzens 
die  einfache  Thatsache  übersehen,  dafs  das  üntersuchungsgebiet  der  Kinder- 
psychologie das  Bewufstsein  des  Kindes  ist.  So  vergifst  man,  dafs  die 
Methoden  dieser  Wissenschaft  doch  wohl  den  eigenthümlichen  Forderungen 
anzupassen  sein  werden,  die  durch  die  Aufgabe  der  Bewufstseins- 
forschung  gegeben  sind.  Der  einzige  Erfahrungsstoff,  der  dem  Kinder- 
psychologen zur  Beobachtung  gegeben  ist,  liegt  weitab  von  den  kindlit-heu 
Bewufstseinsvorgängen  als  solchen;  und  es  kommt  nun  darauf  an,  Mittel 
und  Wege  zu  ersinnen,  durch  die  es  möglich  ist,  von  dem  andersartigen 
Erfahrungsstoffe  aus  unter  Beachtung  der  mannigfaltigen  Schwierigkeiten 
und  Unsicherheitsquellen  dennoch  einigermaafsen  die  Bewufstseinsvorgänge 
des  Kindes  nach  Elementen  und  Entwickelung  zu  erschliefsen.  Statt  dieses 
langwierigen  und  dornigen  Weges  wird  nun  von  vielen  ein  kürzerer  und 
sich  aufserdem  durch  scheinbare  Exactheit  empfehlender  W'eg  gewählt: 
der  Kinderpsychologe  glaubt  in  gewissen  der  Physiologie  und  Biologie  ent- 
nommenen Begriffen  oder  wohl  gar  „Gesetzen"  unmittelbar  den  Schlüssel 
zu  den  Fragen  und  Räthseln  des  kindlichen  Seelenlebens  in  der  Hand  zu 
haben.  Indem  er  von  etwas  völlig  anderem  spricht,  glaubt  er  doch  schon 
von  dem  kindlichen  Bewufstsein  zu  sprechen.  Heinrich  Eber  bat  die 
Schädigung  der  Kinderpsychologie  durch  biologische  Begriffe  besonders  an 


Literaturbericht  413 

dem  Beispiele  des  BxLDwiN'schen  Buches  „Mental  Development  in  the  Child 
and  the  Race'^  trefiend  dargelegt  („Zur  Kritik  der  Kinderpsychologie*'  in 
Wundt's  Philos.  Stud.  12,  587  ff.). 

Noch  in  anderer  Weise  übt  der  verlockende  Schein  der  Exactheit  in 
der  Kinderpsychologie  verderbliche  Wirkungen  aus.  Wem  drängt  sich  nicht 
die  Wahrnehmung  auf  von  dem  mannigfachen  Nutzen,  den  die  Psychologie 
aus  der  Anwendung  des  Experiments  gezogen  hat!  Da  bemächtigte  sich 
nun  Vieler  die  unkritische  Ueberzeugung,  es  werde  sich  auch  auf  dem 
besonderen  Gebiet  des  kindlichen  Seelenlebens  das  Experiment  in  ähnlichem 
Umfang  und  mit  ähnlichem  Erfolge  anwenden  lassen.  Dabei  legte  sich 
zugleich  der  Gedanke  nahe,  dafs  sich  aus  gewissen  experimentellen  Ergeb- 
nissen der  Kinderpsychologie  für  die  Pädagogik  eine  exactere  Grundlage 
werde  gewinnen  lassen.  So  wird  denn  von  zahlreichen  Stimmen  mit  über- 
schwenglicher Kritiklosigkeit  eine  neue  Pädagogik  auf  experimenteller 
Grundlage  in  Aussicht  gestellt.  Es  wird  nicht  bedacht,  in  welch  hohem 
Grade  für  das  Experimentiren  mit  Kindern  die  (refahr  unentwirrbarer  und 
unausschaltbarer  Unsicherheitsquellen  besteht,  und  eine  wie  dürftige  und 
unzureichende  Grundlage  für  Folgerungen  auf  den  lebendigen  und  vollen 
Unterricht  die  Experimente  mit  ihren  künstlichen,  einförmigen,  unpädago- 
gischen Bedingungen  in  den  allermeisten  Fällen  bilden. 

Bei  solcher  Lage  der  Dinge  ist  es  hocherwünscht,  wenn  sich  gewicht- 
volle Stimmen  erheben,  die  die  schweifenden  Geister  zur  Ordnung  rufen. 
Es  ist  daher  zu  begrüfsen,  dafs  Benno  Erdmann  den  Vortrag,  den  er  über 
die  Psychologie  des  Kindes  in  den  Lehrerinnenvereinen  zu  Frankfurt  a.  M. 
und  Bonn  gehalten  hat,  in  ausgeführter  Form  weiteren  Kreisen  zugänglich 
gemacht  hat.  Man  ist  berechtigt,  von  dem  Schriftchen  eine  klärende, 
zügelnde,  luftreinigende  Wirkung  zu  erwarten.  Denn  jeder  seiner  knapp 
gefafsten,  gedrängt  inhaltsvollen  Sätze  läfst  den  Leser  fühlen,  dafs  ein 
Forscher  zu  ihm  spricht,  der  der  gegenwärtigen  Arbeit  auf  dem  Gebiet  der 
Kinderpsychologie  mit  freiem,  beherrschendem  Ueberblick  gegenübersteht, 
und  der  in  die  Aufgabe,  Methoden,  Schwierigkeiten  der  Kinderpsychologie 
eine  Einsicht  besitzt,  in  der  alles  klar  eindringend,  streng  erarbeitet,  wohl- 
begründet ist.  In  den  meisten  Fällen  erscheinen  mir  seine  Darlegungen 
unwidersprechlich. 

Durch  den  ganzen  Vortrag  geht  die  Mahnung :  die  kinderpsychologische 
Strömung  sei  viel  zu  sehr  in  die  Breite  gegangen;  sie  müsse  überall  mehr 
tief  als  breit  werden.  Erdilvnn  findet,  dafs  man  überaus  häufig  der  Neigung 
zu  unklaren  Formulirungen,  mangelhaft  durchdachten  Methoden  und 
schweifenden  Deductionen  nachgegeben  habe.  Besonders  in  Lehrerkreisen 
sei  vielfach  ein  ideal  gerichteter  Eifer  in  Uebereifer  ausgeartet,  dem  die 
Voraussetzungen  ernsthaften  Gelingens  fehlten.  Vor  allem  müsse  sich  der 
Kinderpsychologe  über  die  verschiedenen  Methoden  und  das  durch  sie 
Erreichbare  klar  werden.  Nichts  aber  sei  in  dieser  Beziehung  mehr  vom 
Uebel,  als  sich  weitgehenden  Hoffnungen  enthusiastisch  hinzugeben.  Habe 
sich  doch  sogar  „keine  der  weittragenden  Hoffnungen"  erfüllt,  die  auf  die 
Psychologie  überhaupt  in  den  Anfängen  ihrer  modernen  Entwickelung  ge- 
setzt wurden  I  Jeder  Fortschritt  der  psychologischen  Erkenntnifs  enthalte 
^die  Keime  zu  mehr  und  schwierigeren  Problemen",  als  er  löse.    Durch  das 


41 4  Literaturbericht. 

unleugbare  Wachsthum  der  wohlgeordneten  und  sorgfältig  analysirten  That- 
Bachen  des  seelischen  Lebens  seien  die  unterschiede  der  Auffassung  and 
Deutung  keineswegs  geringer  geworden.  Trotzdem  sei  es  die  erste  Be> 
dingung  für  alle  kinderpsychologische  Forschung,  sich  streng  an  die 
Methoden  der  allgemeinen  Psychologie  anzuschliefsen.  Was  nun  diu 
Besondere  in  den  Methoden  der  Kinderpsychologie  betrifft,  so  unterscheidet 
Ebdmann  zunächst  die  Methode  der  Rückerinnerung  von  der  objectiven 
Methode.  Jene  gewinne  nur  in  seltenen  Fällen  einige  Bedeutung.  Die 
objective  Methode  gründe  sich  entweder  auf  directe  oder  auf  experimentelle 
Beobachtung.  Von  der  directen  Beobachtung  erkennt  Erdmann  an,  dafii 
mit  ihr  in  den  letzten  Jahrzehnten  für  die  ersten  Lebensjahre  des  Kindes 
nicht  Unbeträchtliches  geleistet  worden  ist.  Mit  dieser  Eintheilung  der 
objectiven  Methode  kreuzt  sich  eine  andere:  die  Beobachtung  des  Kindes 
ist  entweder  „still"  oder  „formell".  In  dem  zweiten  Fall  weilia  sich  du 
Kind  beobachtet,  in  dem  ersten  nicht.  Die  formelle  Beobachtung  hält  Ebd- 
HASN  mit  Recht  für  etwas  sehr  Fragwürdiges.  Wieder  unter  einem 
anderen  Gesichtspunkt  ergibt  sich  der  Unterschied  der  biographischen  und 
statistischen  Methode.  Jener  giebt  er  bei  Weitem  den  Vorzug.  In  der 
Statistik  des  kindlichen  Seelenlebens  erblickt  er  „fast  die  unsicherste  aller 
der  unsicheren  Statistiken,  durch  die  wir  die  gemeinsamen  Züge  ver- 
wickelter Reactionen  zu  finden  und  zu  deuten  suchen".  Endlich  scheidet 
sich  die  Beobachtung  des  Kindes  darnach,  ob  die  zu  beobachtenden 
Reactionen  natürlich  oder  künstlich,  unwillkürlich  oder  willkürlich  sind. 
Nachdrücklich  weist  Erdmann  auf  das  schwer  Deutbare  der  willkürlichen 
Reactionen  hin.  Aber  auch  „die  unwillkürlichen  reagirenden  Bewegungen 
des  Kindes  zu  deuten",  sei  „so  unsicher  wie  schwierig". 

Reich  an  beherzigenswerthen  Wahrheiten  sind  auch  die  letzten,  den 
Folgerungen  für  die  Schule  gewidmeten  Betrachtungen  Erdmann's.  Eine 
officielle  Einrichtung  kinderpsychologischer  Institute  hält  er  mit  vollem 
Recht  nicht  für  wünschenswerth.  „Der  berufene  Lehrer  und  der  berufene 
Kinderpsychologe  fallen  eben  nicht  zusammen ;  die  Arbeit  an  der  Ausbildung 
der  Kinderpsychologie  bleibe  das  Vorrecht  derer,  die  sich  dazu  in  be- 
sonderem Maafse  eignen.  Es  wäre  nicht  eine  wünschenswerthe  Vertiefung 
oder  Ergänzung,  sondern  eine  sehr  wenig  wünschenswerthe  Verschiebung 
der  pädagogischen  Vorbildung,  solche  Schulung  allgemein  zu  machen.  Es 
schlösse  das  zugleich  ein  fast  völliges  Verkennen  der  Aufgaben  des  Lehrers 
und  eine  sehr  unzweckmäfsige  Mehrbelastung  seiner  verantwortungsvollen 
Thätigkeit  ein."  Auch  zur  Gründung  von  Vereinen  zum  Zweck  des  Kinder- 
studiums verhält  sich  Erdhann  zweifelnd  und  zurückhaltend.  Er  fürchtet; 
dafs  dadurch  jenes  lästige  Wuchern  der  kinderpsychologischen  Literatur, 
das  schon  verderblich  genug  geworden  ist,  noch  zunehmen  werde.  Ins- 
besondere aber  warnt  er  vor  den  maafs-  und  sorglosen  Folgerungen,  die 
aus  den  Ermüdungsversuchen  für  den  Schulunterricht  gezogen  zu  werden 
pflegen.  Es  ist  mir  aus  der  Seele  gesprochen,  wenn  er  hervorhebt,  d*ö 
für  die  Entscheidung  in  der  Ueberbürdungsfrage  und  verwandten  Fragen 
neben  jenen  Ermüdungsversuchen  und  unter  Umständen  auch  gegen  sie 
die  Erfahrungen  in  der  Schule,   die  Würdigung  der  Unterrichtsergebnisse, 


Literaturbericht  415 

die  pädagogische  Erwägung,   wie  sie  seit  lange  geübt  wird,  ihr  Recht  be- 
balten. Johannes  Volkelt  (Leipzig). 

W.  Ch.  Baoley.    On  the  Oorrelation  of  Mental  and  Motor  Ability  In  School 

Ohildren.  Amer.  Joum,  of  Psych.  12  (2),  193—205.  1901. 
Zur  experimentellen  Prüfung  der  körperlichen  Geschicklichkeit  dienten 
fünf  verschiedene  Apparate  und  zwar  zur  Messung  der  Stärke,  Schnellig- 
keit, Stetigkeit^  der  Genauigkeit  und  Constanz  der  willkürlichen  und  des 
ümfanges  der  unwillkürlichen  Bewegungen.  Aufserdem  kamen  für  die 
Beurtheilung  in  dieser  Hinsicht  die  Qualificationen  seitens  der  Lehrer  in 
Betracht.  Die  geistige  Geschicklichkeit  wurde  ebenfalls  sowohl  nach 
letzterem  Gesichtspunkt  unter  Einführung  gewisser  Correcturen  bestimmt, 
als  auch  wiederum  experimentell  mit  Reactionsversuchen  an  Jastrow's 
Card-Sorting  Apparat  (Bericht  der  Am.  Psych.  Association  1897),  die  von 
Mifs  Chaphan  durchgeführt  wurden.  Aufserdem  wurden  die  persönlichen 
Verhältnisse  der  Kinder  in  Betracht  gezogen  und  anthropometrische 
Messungen  über  Gewicht,  Gröfse  und  Schädelumfang  angestellt.  Zur 
Klärung  der  Versuchsergebnisse  wurden  fünf  verschiedene  Altersclassen 
zwischen  8  und  17  Jahren  für  sich  betrachtet.  Es  zeigte  sich  nun  im  All- 
gemeinen ein  reciprokes  Verhältnifs  zwischen  geistiger  und  körperlicher 
Geschicklichkeit,  allerdings  mit  individuellen  Ausnahmen.  Die  geistige 
Geschicklichkeit,  für  sich  betrachtet,  scheint  als  Reactionsgeschicklichkeit 
zur  Classenqualification  in  keiner  weiteren  Beziehung  zu  stehen.  Mit  dem 
Alter  nimmt  die  körperliche  Gewandtheit  mehr  zu  als  die  geistige,  und 
scheinen  die  Knaben  in  jener,  die  Mädchen  in  dieser  den  Vorzug  zu 
haben.  Zwischen  Schädelumfang  und  geistiger  Geschicklichkeit  wurde 
diesmal  ein  umgekehrtes  Verhältnifs  festgestellt.  Wibth  (Leipzig). 

W.  S.  Small.    Ezperimental  Stndy  of  the  Mental  Processes  of  the  Rat.   IL 

Atntr.  Joum.  of  Psych.  12  (2),  206—239.  1901. 
Wie  in  den  früheren  Versuchen  wurde  auch  hier  die  an  den  thieri- 
schen  Verstand  gestellte  Forderung  möglichst  den  natürlichen  Lebens- 
gewohnheiten angepafst  und  beobachtete  Verf.  diesmal  die  Orientirung  der 
Ratten  in  den  vielfach  gewundenen  und  mit  blinden  Seitengassen  ver- 
sehenen Gängen  eines  Labyrinthes  aus  Drahtgeflecht.  Der  Ausblick  auf 
das  im  mittleren  Erdraum  liegende  Futter  bildete  für  die  hungrigen  Thiere 
jedesmal  einen  gleichmäfsigen  Antrieb.  Nach  dem  Versuche  am  Abend 
blieben  die  Thiere  auch  Nachts  über  in  dem  Räume.  Nach  Vorversuchen 
mit  wilden  Ratten  folgten  die  Hauptversuche  wieder  mit  zahmen  weifsen 
Ratten  beiderlei  Geschlechts.  Das  Maafs  des  Fortschrittes  giebt  wieder 
die  bis  zum  Ziel  gebrauchte  Zeit,  die  Herabsetzung  der  Fehler  etc.  Die 
Männchen  zeigten  sich  den  Weibchen  dabei  etwas  überlegen,  auch  die 
wilden  Thiere  den  zahmen,  allerdings  nur,  was  die  jeweils  gebrauchte  Zeit, 
nicht  die  Stetigkeit  der  Einübung  für  die  späteren  Versuche  anbetraf. 
Verf.  hält  in  beiden  Fällen  nur  die  gröfsere  Dreistigkeit,  nicht  den  besseren 
Verstand  für  die  Ursache.  Die  Nachahmung  hat  überall  wieder  nur  sehr 
geringe  Bedeutung.  Wenn  alte  Fehler  auch  lange  Zeit  immer  wieder- 
holt   werden,    so    findet    sich    doch    als   Anzeichen    höherer   psychischer 


416  Literaturbericht 

Functionen  vor  Allem  eine  Art  von  Ueberlegung  an  den  kritischen  Stellen 
und  schliefslich  wird  vollkommene  Sicherheit  in  der  Erreichung  des  Ziele»^ 
erlangt.  Weiterhin  soll  nun  aufgezeigt  werden«  welche  psychischen  Ele- 
mente die  Orientirung  eigentlich  ausmachen.  Der  Geruch  kann  hierbei 
zwar  unter  den  gegebenen  Bedingungen  nicht  einfach  als  Wegweiser  auf 
Grund  der  bereits  vorhandenen  Spuren  helfend  eingreifen;  doch  zeigt  sich 
seine  Wichtigkeit  darin,  dafs  ein  neues,  im  Uebrigen  völlig  gleich  ge- 
arbeitetes Labyrinth  zunächst  wieder  mit  ganz  den  nämlichen  Fehlem 
durchsucht  wird.  Verf.  glaubt  jedoch,  dafs  hier  vor  Allem  nur  die  allge- 
meine, allerdings  vor  Allem  dem  Geruchssinn  entstammende  Enttäuschung 
vorsichtig  und  verwirrt  mache,  zumal  die  Einübung  sich  sehr  bald  wieder 
geltend  macht.  Dafs  der  Gesichtssinn  nicht  die  eigentliche  Grundlage 
liefere,  soll  zunächst  aus  der  vollständigen  Belanglosigkeit  der  Entfernung 
auffälliger  Wegmarkirungen  nach  der  Einübung  hervorgehen,  femer  durch 
die  grofse,  fast  normale  Leistungsfähigkeit  erblindeter  Katten.  Auch  die 
Abkürzung  des  Weges  durch  später  eingeführte  Zwischenthüren  werde 
von  diesen  letzteren  vorgezogen.  Eine  Instanz  für  den  Gesichtssinn 
bilde  höchstens  die  etwas  schnellere  Orientirung  der  normalen  Batten  in 
dem  nach  der  Einübung  umgestürzt  aufgestellten  Gehäuse,  dessen  Boden 
und  Decke  aus  dem  nämlichen  Drahtgeflecht  bestehen.  So  sollen  also  vor 
Allem  die  Tast-  und  Bewegungsempfindungen  ein  in  sich  geschlossenes 
Aösociationssystem  für  die  Orientirung  bilden,  dem  eventuell  die  anderen 
Empfindungen  nur  helfend  zur  Seite  stehen.  Wenn  nun  auch  im  Natur- 
leben  der  Ratten  diese  Sinne  vor  Allem  in  den  dunklen  Gängen  die 
Führung  müssen  übernehmen  können,  so  ist  doch  aus  den  Fällen  der  Er- 
blindung ebenso  wenig  wie  in  der  Menschenpsychologie  der  Nachweis 
sicher  durchzuführen,  dafs  sehende  Ratten  im  Hellen  nicht  auch  aus  der 
Summe  der  optischen  Eindrücke  die  Situation  wiedererkennen. 

WiRTH  (Leipzig!. 

J.  Turner.  Observations  on  the  Minnte  Stractare  of  the  Cortez  of  the  BriiB 
as  revealed  by  tbe  Methylene  Blne  and  Peroxide  of  Hydrogen  Hethod  of 
Staining  the  Tissae  direct  on  its  Removal  from  the  Body.    Brain  24  (94), 

238-256.  1901. 
T.  färbt  mit  einer  Mischung  von  Methylenblau  und  Wasserstoffsuper- 
oxyd. Die  Methode  ist  sehr  launenhaft  und  gelingt  auffallenderweise  nie 
an  frischen  Stücken.  Trotzdem  hält  T.  seine  Befunde  für  zwingend 
genug,  wieder  einmal  „eine  bedeutende  Aenderung  in  unserer  Auffassung 
von  der  Anordnung  der  nervösen  Elemente  der  Hirnrinde"  herbeizuführen. 
Das  Hauptresultat  ist  das,  dafs  die  Dendriten  bestimmter  Zellarten  um 
andere  Zellen  herum  grobmaschige  Netze  bilden.     Schröder  (Heidelberg). 

M.  Probst.    Ueber  den  Verlauf  der  Sehnervenfasem  nnd  deren  Endlgnng  im 

Zwischen-  nnd  Hittelhim.    Monatsschr.  f.  Psychmtr.  u.  Neurol  8(3),  165—181. 
1900. 

Die  Sehnervenfasern  entspringen  in  der  Retina,  kreuzen  partiell  im 
Chiasma  und  enden  blind,  der  gröfsere  Theil  gekreuzt  im  äufseren  Knie- 
höcker, im  Pulvinar  und  im  vorderen  Zweihügel.    Schröder  (Heidelberg). 


Literaturbericht.  417 

W.  Barratt.    On  the  Cbanges  in  the  Hervotis  System  in  a  Oase  of  Old-Standi&s 
Ampntation.    Brain  24  (94),  318—328.    1901. 

Anatomische  Beschreibung  der  Centralorgane  eines  Mannes,  dem  mit 
19  Jahren  der  rechte  Oberarm  amputirt  worden  war,  und  der  mit  61  Jahren 
«tarb.  Die  Befunde  sind  nicht  eindeutig,  da  gleichzeitig  senile  Atrophie 
des  ganzen  Grehirns  und  eine  alte  Erweichung  im  linken  Hinterhauptlappen 
bestand.  Es  fand  sich  Verschmälerung  des  rechten  Cervicalmarkes,  wesent- 
lich bedingt  durch  Schwund  der  grauen  Vorderhömer,  aber  keine  gröberen 
Veränderungen  an  den  vorderen  und  hinteren  Wurzeln,  sowie  an  den  Spinal- 
ganglien.   Pyramidendegeneration,  rechts  stärker  wie  links. 

ScHBÖDEB  (Heidelberg). 


M.  Pbobst.    Experimentelle  Untersnchungen  ttber  die  Anatomie  nnd  Pliysiologie 

des  Sehhttgels.    Monatsschr.  f.  Psychiatr,  u.  Neurol.  7  (5),  387—404.    1900. 

—  Zar  Anatomie  nnd  Physiologie  experimenteller  Zwlschenbirnverletinngei. 

Dmtsclie  Zeitschr.  f.  NervenheUk.  17,  141—168.    1900. 

—  Physiologische,  anatomische  nnd  pathologisch -anatomische  Untersnchnngen 

des  Sehhttgels.    Ärch.  f.  Psychiatr,  33  (3),  721—817.    1900. 

Unsere  ersten  genaueren  Kenntnisse  von  den  Faserverbindungen  der 
SehhOgelregion  mit  der  Grofshirnrinde  stammen  von  v.  Monakow,  der  die 
Veränderungen  der  einzelnen  Sehhügelkerne  nach  verschieden  localisirten 
Bindenabtragungen  bei  Thieren  studirte.  Pbobst  hat  den  umgekehrten 
Weg  eingeschlagen  und  schon  seit  längerer  Zeit  einer  grofsen  Anzahl  von 
Hunden  und  Katzen  mit  einem  eigenen  Instrument  Verletzungen  des  Seh- 
hügels  und  seiner  Umgebung  gesetzt.  Die  Thiere  sind  nach  der  Operation 
physiologisch  genau  beobachtet  und  die  Gehirne  dann  auf  Serienschnitten 
sorgfältig  mit  Hülfe  der  MABCHi-Methode  untersucht,  die  sehr  viel 
eclatantere  Bilder  giebt,  als  die  von  Monakow  noch  angewendete  Carmin- 
färbung.  Leider  sind  die  Arbeiten  an  recht  verschiedenen  Stellen  ver- 
-öffentlicht  und  deshalb  nicht  frei  von  zahlreichen  Wiederholungen.  Ueberall 
«ind  eingehende  anatomische  und  physiologische  Details  gegeben  und 
Zeichnungen  beigefügt.  Von  den  Resultaten  seien  nur  die  hauptsäch- 
lichsten und  allgemeineren  hervorgehoben.  Wie  schon  v.  Monakow  gezeigt 
hatte,  sind  die  Verknüpfungen  zwischen  Sehhügel  und  Rinde  ungemein 
zahlreiche  und  zwar  leiten  sie  sowohl  von  der  Rinde  zum  Sehhügel  wie 
umgekehrt.  P.*s  Arbeiten  berücksichtigen,  gemäfs  der  Anordnung  seiner 
Experimente,  ausschliefslich  die  letzteren.  Er  konnte  nachweisen,  dals 
jeder  Kern  des  Sehhügels  ein  bestimmtes  umschriebenes  Einstrahlungs- 
gebiet in  die  Rinde  hat.  Der  Sehhügel  empfängt  ferner  eine  ungemein 
^ofse  Zahl  von  Fasern  aus  tiefer  gelegenen  Centren,  er  mufs  als  „eine 
Hauptumschaltungsstation  für  alle  peripherwärts  kommenden  Erregungen, 
die  von  den  verschiedenen  peripheren  Sinnesorganen  kommen*',  angesehen 
werden;  dagegen  sendet  er  abwärts  nur  sehr  wenige  Fasern  zu  einigen 
nahegelegenen  Kernen  (rother  Kern,  vorderer  Vierhügel,  Substant.  reticul.). 

Die  physiologischen  Erscheinungen  nach  der  Operation  werden  ein- 
gehend besprochen.    Sie  bestehen  hauptBächlich  vn  Sfe\\r«^tV»\i«^^^\^%^Ti. 

Zr^imcbrift  für  Psychologie  27.  ^ 


418  Literaturbericht, 

und  sind  verschiedenartig  bei  Verletzung  verschiedener  Kerne.    Bei  doppel- 
seitigen  Zerstörungen  treten  ganz  andere  Symptome  auf. 

ScHBÖDBB  (Heidelberg). 

D.  Fbrbibb  and  W.  A.  Tubnbr.  Kxperimental  Lesion  of  the  Oorpon  duadri- 
gemina  in  Honkeys.  Brain  24  (93),  27—46.  1901. 
Die  Vierhügel  stellen  ein  Organ  dar,  das  im  Grehim  der  niederen 
Vertebraten  eine  wichtige  Rolle  spielt,  während  seine  Ausbildung  und  Be- 
deutung bei  den  höheren  Wirbelthieren  parallel  der  Entwickelung  der 
Grofshirnrinde  zurücktritt,  üeber  die  Function  der  Vierhügel  beim 
Menschen  sind  zahlreiche,  widerspruchsvolle  Angaben  gemacht  worden. 
Febbier  und  Türneb  haben  deshalb  einer  Reihe  von  Afien  das  Grau  der 
Vierhügel  experimentell  entfernt  und  haben  dabei  constatiren  können,  dafs, 
wenn  benachbarte  Theile  nicht  mitverletzt  wurden,  irgend- 
welche dauernden  Symptome  nicht  auftraten,  dafs  auch  jedenfalls  die  Be- 
ziehungen zum  Seh-  und  Höract  nur  sehr  lockere  und  wenig  wesent- 
liche sind.  ScHBÖDEB  (Heidelberg). 


L.  PiLOBDc.    Einige  Aufgaben  der  Wellen-  and  Farbenlehre  des  Lichtes.    Beilage 

z,  Frogr,  der  Bealanstalt  in  Cannstadt  IdOOjlOOl,    68  S.    Mit  zwei  grofsen 

farbigen  Tafeln. 
Die  äufserst  reichhaltige  Programmabhandlung  behandelt  sowohl  rein 
physikalische  wie  auch  ein  farbenphysiologisches  Problem.  Nur  das  letztere 
kommt  für  uns  an  dieser  Stelle  in  Betracht.  Es  handelt  sich  darum  die 
Farbe,  Sättigung  und  Helligkeit  von  Interferenz-  und  Polarisations- 
erscheinungen auf  Grund  der  bisher  angestellten  Versuche  über  die 
Mischung  von  Spectralfarben  zu  bestimmen.  Im  Wesentlichen  werden 
hierbei  die  Versuche,  welche  Maxwell  im  Jahre  1860  und  dann  diejenigen, 
welche  der  Ref.  zum  gröfsten  Theile  gemeinsam  mit  Herrn  C.  Dietebici 
ausgeführt  hat,  benutzt.  Aufserdem  kam  noch  ein  Verfahren  in  Anwendung,^ 
das  von  Lommel  zum  gleichen  Zwecke  (1891)  vorgeschlagen  und  in  dieser 
Zeitschrift  (5,  407)  besprochen  und  kritisirt  worden  ist.  Die  Resultate  der 
zum  Theil  nur  mit  grofsem  mathematischen  Küstzeug  durchführbaren 
Rechnungen  stimmen  mit  der  Erfahrung  befriedigend  überein,  woraus  sich 
also  ergiebt,  dafs  zur  Zeit  die  Analyse  normaler  Farbensysteme  bereits  hin- 
reichend genau  durchgeführt  ist,  um  Farbe,  Helligkeit  und  Sättigung  jeder 
Farbenmischung  aus  den  Componenten  mit  einer  beträchtlichen  Genauig- 
keit im  Voraus  berechnen  zu  können.  Völlige  Uebereinstimmung  ist 
übrigens  auch  wegen  der  Schwierigkeit  oder  vielmehr  Unmöglichkeit,  das 
der  Rechnung  zu  Grunde  gelegte  „weifse"  Licht  genau  zu  deäniren, 
principiell  ausgeschlossen. 

Im  Einzelnen  gäbe  die  reichhaltige  Abhandlung  noch  zu  manchen, 
sowohl  zustimmenden  wie  kritisirenden  Bemerkungen  Anlafs.  Wir  wollen 
hier  aber  davon  absehen,  weil  sie  einen  zu  grofsen  Raum  erfordern  und 
doch  nur  demjenigen  ganz  verständlich  sein  würden,  der  die  Abhandlung 
selbst,  sowie  alle,  auf  welche  sie  sich  stützt,  völlig  durchgearbeitet  hätte. 

Arthur  Könio. 


Liieraturbericht  419 

A.  Tschebmax.    üeber  physiologischt  und  pathologische  Anpassang  des  Äoges. 

Leipzig,  Veit  u.  Co.,  1900.  31  S.  0,80  Mk. 
T.  definirt  in  diesem  Vortrage  den  Begriff  der  Anpassung  als  ^eine 
durch  Abänderung  der  Aufsenbedingungen  ausgelöste  Reaction,  welche  auf 
einen  gerade  unter  den  geänderten  Bedingungen  nützlichen  Effect  gerichtet 
ist.*'  In  diesem,  die  Zweckmäüsigkeit  schon  in  der  Tendenz  und  nicht  im 
ausnahmslosen  Erreichen  erblickenden  Sinne  sind  die  Anpassungsphänomene 
des  Sehorgans  unter  physiologischen  und  pathologischen  Verhältnissen 
sehr  mannigfaltiger  Art  Die  Erscheinungen,  die  T.  unter  diesem  Gesichts- 
punkt mehr  auf  frühere,  z.  Th.  eigene  Untersuchungen  verweisend  als  im 
Einzelnen  schildernd  aufzählt,  lassen  sich  im  Wesentlichen  folgendermaafsen 
Knsammenfassen : 

I.  physiologische.  1.  Die  Aenderungen  der  Pupillengröfse  bei  wechseln- 
der Lichtintensität  und  ihre  Abhänirigkeit  von  der  scheinbaren  Helligkeit 
der  Lichter.  2.  Die  Accomodation  des  bilderzeugenden  Apparates.  3.  Auf 
dem  Gebiete  des  Licht-  und  Farbensinnes  die  achromatische  und  chroma- 
tische Adaptation  (Heriko).  4.  Die  am  Bewegungsapparate  ausgelösten 
Fusionsbewegungen  zur  Verschmelzung  von  Doppelbildern. 

II.  pathologische  Anpassungserscheinungen.  1.  Die  Lösbarkeit  der 
angeborenen  Association  zwischen  bestimmten  Graden  der  Accomodation 
nnd  Convergenz  bei  Kurz-  und  Weitsichtigen.  2.  Bei  Schielenden  lassen 
sich  verschiedene  Phänomene  nachweisen,  die  gegen  Doppeltsehen  bezw. 
auf  binoculares  Einfachsehen  gerichtet  sind,  hierher  sind  die  Unterdrückung 
^innere  Hemmung''  der  Eindrücke  des  schielenden  Auges,  sowie  die  anomale 
Lage  der  beiden  Einzelsehfelder  zu  einander,  die  anomale  Sehrichtungs- 
gemeinschaft  zwischen  Fovea  des  fixirenden  und  excentrischen  Theilen  des 
schielenden  Auges  zu  rechnen. 

Der  adaptative  Charakter  dieser  Erscheinungen  gewinnt  dadurch  ein 
um  so  höheres  allgemeines  biologisches  Interesse,  als  er  ein  aufs  höchste 
differencirtes  Organ  betrifft  und  sonst  Organe  sowie  Organismen  im  Allge- 
meinen mit  fortschreitender  Differenzirung  eine  Einbufse  an  Anpassungs- 
fähigkeit erleiden.  G.  Abelsdobff  (Berlin). 

W.  H.  R.  RiVBRS.    PrimitiTe  Oolor  Ylsion.    The  FoptUar  Science  Monthly  50  (1), 
44—58.    May  1901. 

B.  hatte  Gelegenheit  in  NeuGuinea  und  der  Torresstrafse  eingehende 
Untersuchungen  an  den  Eingeborenen  über  Farben-Bezeichnung  und  Em- 
pfindung anzustellen.  Von  4  papuanischen  verschiedensprachigen  Stämmen 
hatte  der  eine  nur  besondere  Namen  für  Roth,  Weifs  und  Schwarz,  der 
«weite  auch  für  Gelb,  der  dritte  ferner  für  Grün  und  einen  dem  Englischen 
entlehnten  Ausdruck  für  Blau  (Bulu  Bulu),  während  bei  dem  vierten  Grün 
und  Blau  als  solche,  aber  mit  häufiger  Verwechselung  bezeichnet  wurden. 
Hach  R.  entspricht  dieser  zunehmende  Reichthum  an  Farbennamen  auch 
der  sonstigen  culturellen  und  intellectuellen  Entwickelung  der  vier  Stämme, 
l^ach  der  auch  hier  hervortretenden,  vielen  Naturvölkern  gemeinsamen 
mangelhaften  Bezeichnung  für  Blau  fassen  sich  die  betreffenden  Sprachen 
in  zwei  Gruppen  theilen :  solche,  die  dasselbe  Wort  für  Blau  und  Schwarz, 
«nd  solche,  die  dasselbe   Wort  für  Blau  und  Grün   haben.    Ein   weiteres 


420  Literaturbericht 

Charakteristicum   der  Farbenterminologie   primitiver  Sprachen  bildet  die 
Abwesenheit  eines  Namens  für  Braun. 

R.  konnte  die  Frage,  ob  dieser  mangelhaften  Bezeichnung  auch  ein 
mangelhafter  Farbensinn  bei  den  australischen  Stämmen  entspräche,  dahin 
entscheiden,  dafs  Blau  und  Grün  sowie  Blau  und  Violett  häufig  verwechselt 
wurden.  Es  wurden  auch  „quantitative"  Beobachtungen  mit  Lovibokd's 
Tintometer  angestellt,  das  eine  Abstufung  der  Farbenintensität  durch  Vor- 
schieben einer  Keihe  verschieden  stark  gefärbter  Gläser  gestattet  Ein 
Vergleich  mit  Europäern  ergab,  dafs  die  Eingeborenen  zwar  nicht  blaublind 
aber  relativ  unempfindlich  gegen  Blau  sind.  Wie  K.  mit  Recht  hervorhebt, 
braucht  diese  Unempfindlich keit  nicht  auf  einer  Verschiedenheit  der 
percipirenden  Elemente  zu  beruhen,  sondern  kann  durch  die  stärkere 
Pigmentirung  der  Macula  lutea  erklärt  werden,  zumal  da  die  Bilder  der 
Beobachtungsfelder  über  die  Gröfse  der  Macula  nicht  hinausgingen  und 
die  Eingeborenen  bei  indirecter  Betrachtung  Blau  peripherisch  prompt  er- 
kannten. 

Wenn  man  bei  diesen  Ergebnissen  in  Betracht  zieht,  dafs  die  Farben- 
bezeichnungen  der  alten  Sprachen,  im  besonderen  diejenigen  Homeb's 
ebenso  wie  der  Farbensinn  kleiner  Kinder  Defecte  ganz  ähnlicher,  wenn 
nicht  der  gleichen  Art  aufweisen,  so  braucht  man  zwar  nicht  so  weit  wie 
Gladstone  und  Geiger  zu  gehen  und  von  einer  Farbenblindheit  Homeb'b 
zu  sprechen,  mau  kann  indessen  die  Möglichkeit  nicht  von  der  Hand 
weisen,  dafs  in  der  Farbennomenclatur  Homeb^s  noch  ein  früherer,  zu 
seiner  Zeit  bereits  überwundener  Entwickelungszustand  menschlicher 
Farbenempfindungen  zum  Ausdruck  kommt;  jedenfalls  soll  man  die  aller- 
dings zu  weitgehenden  Ansichten  Gladstone's  und  Geiger's  nicht  als  völlig 
undiscutirbar  aufser  Acht  lassen,  nur  von  der  vereinten  Arbeit  arch&o- 
philologischer  und  psycho-phy Biologischer  Forschung  erwartet  R.  die  Lösung 
des  Problems  der  Entwickelung  des  menschlichen  Farbensinnes. 

G.  Abelsdorff  (Berlin). 

Fr.  Schenck.    Ueber  intermittirende  Netzhaatreiznng.    8.  Mitth.    Pflüg  er' 8 

Archiv  77,  44—52.    1899. 

—  u.  W.  Just.    Ueber  intennittire&de  NetzhaatreizQng.    9.  Mitth.    Pflüg  er '$ 

Archiv  82,  192—198.    1900. 

In  der  achten  Mittheilung  kommt  Verf.  auf  die  schon  in  der  siebenten 
Mittheilung  (Referat  vgl.  diese  Zeitschr.  Itf,  439)  erwähnte  Beobachtung  zurück, 
dafs  eine  ganz  mit  schwarzen  und  weifsen  Sectoren  erfüllte  Kreieelscheibe 
eine  geringere  Umdrehungsgeschwindigkeit  nöthig  hat,  um  gleichmäfsig 
auszusehen,  als  eine  nur  zur  Hälfte  von  den  Sectoren  bedeckte,  zur  anderen 
Hälfte  mit  (dem  Sectorengemisch  gleich  hellem)  Grau  erfüllte  Scheibe. 
Schenck  gelangt  zum  Resultat,  dafs  diese  Beobachtung  mit  der  von  Exneb 
u.  A.  vertretenen  Theorie  der  Netzhauterregung  bei  successiv-periodischen 
Reizen  unverträglich  ist  und  er  ersetzt  deshalb  die  ExNER'sche  sägeförmige 
Curve  durch  eine  andere  Erregungscurve,  die  mit  dem  fraglichen  Beobach- 
tungsresultat nicht  im  Widerspruch  steht. 

Ref.  ist  der  Meinung,  dafs  wir  z.  Z.  über  den  Verlauf  der  Ketzhaul- 
erregung  bei  successiv-periodischen  Reizen  speciellere  Aussagen   nicht 


Literaturberich  L  42 1 

xn  machen  vermögen  und  er  kann  deshalb  auch  der  neuen  ScHENCK'schen 
Ourve  keinen  besonderen  Werth  beilegen.  Denn  dafs  die  Erregungen  bei 
successiv-periodischen  Reizen  im  Sinne  einer  bestimmten  Curve  verlaufen, 
nur  weil  diese  Curve  den  Versuchsergebnissen  nicht  widerspricht,  wird 
doch  wohl  niemand  behaupten  wollen. 

unabhängig  von  Schenck  hat  Dürr  {Fhilos.  Stud.  15,  502)  die  Beobach- 
tung mitgetheilt,  dafs  von  zwei  in  je  sechs  gleich  grofse  Sectoren  einge- 
theilten  rotirenden  Scheiben  die  eine  eher  verschmilzt  als  die  andere, 
wenn  bei  jener  die  einzelnen  Sectoren  abwechselnd  schwarz  und  weifs  und 
wenn  sie  bei  dieser  abwechselnd  schwarz,  grau  und  weifs  sind.  Dürr 
Bchlofs  aus  dieser  Beobachtung  mit  Recht,  dafs  die  Zahl  der  von  einander 
verschiedenen  Reize  auf  die  Verschmelzung  successiv  -  periodischer 
Reize  ungünstig  wirkt.  Die  ScH£NCK*sche  Beobachtung  erklärt  sich  offen- 
bar aus  dieser  allgemeinen  von  Dürr  abgeleiteten  Thatsache,  was  Dürb 
selbst  schon  (a.  a.  0.  S.  505)  dargelegt  hat 

Des  Ref.  Theorie  des  TALBOT'schen  Gesetzes  suchte  im  Gegensatz  zu 
der  üblichen  Behandlungsweise  die  bisher  bekannten  Thatsachen  des 
TALBOT'schen  Gesetzes,  ohne  die  Frage  der  speciellen  Netzhautvorgänge  im 
Einzelnen  zu  tangiren,  aus  gewissen  allgemein  anerkannten  Voraussetzungen 
und  einer  eigen thümlichen  Betrachtung  der  Reize  abzuleiten.  (Referate 
vgl.  diese  Zeitschr.  13,  116  ff.  u.  20,  197  ff.)  Alle  neuen  Thatsachen  des 
TALBOT*schen  Gesetzes  müssen  sich,  wenn  diese  Theorie  richtig  ist,  ohne 
Weiteres  aus  ihr  ableiten  lassen.  Dafs  dies  für  die  Schenck  -  DüRR'sche 
Thatsache  zutrifft,  hat  Dürr  (a.  a.  0.  p.  503  ff.)  ausführlich  gezeigt. 

In  der  neunten  Mittheilung  berichtet  Schenck  und  Jüst  über  eine 
Beobachtung  bei  einer  rotirenden  Scheibe  mit  zwei  concentrischen  Ringen, 
deren  äufserer  aus  acht  und  deren  innerer  aus  sechszehn  abwechselnd 
weifsen  und  schwarzen  Sectoren  bestand.  Es  zeigte  sich,  dafs  für  den 
äufseren  Ring  trotz  schnellerer  Contourenbewegung  und  schnellerer  Reiz- 
folge die  kritische  Periodendauer  kürzer  war  als  für  den  inneren.  Schenck 
bringt  diese  Beobachtung  mit  den  Ungleichmäfsigkeiten  der  Scheiben- 
partien, die  eigentlich  homogen  sein  sollten,  in  Zusammenhang  und  er 
erblickt  in  diesen  unvermeidlichen  Ungleichmäfsigkeiten  eine  methodische 
Schwierigkeit  von  allgemeiner  Tragweite.        Ejlrl  Marbe  (Würzburg). 

W.  A.  Nagel.  Der  Farbensinn  der  Thiere.  Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann.  32  S. 
In  diesem  in  der  Naturforschenden  Gesellschaft  zu  Freiburg  i.  Br.  ge- 
haltenen Vortrage  giebt  N.  eine  ausführliche  kritische  Uebereicht  über  die 
bisherigen  Untersuchungen  des  Farbensinns  der  Thiere  und  hebt  u.  a.  mit 
Recht  hervor,  wie  wenig  eindeutig  in  dieser  Beziehung  die  Ergebnisse  der 
vielfach  citirten  GRASER'schen  Versuche  des  „Zweikammerprincips"  (Grund- 
linien zur  Erforschung  des  Helligkeits-  und  Farbensinnes  der  Thiere  (1884) 
sind.  Andererseits  wendet  er  sich  gegen  einen  übertriebenen  Skepticismus, 
der  in  den  Farbenempfindungen  der  Thiere  nur  ein  jenseits  der  Grenzen 
unseres  Erkenntnifs Vermögens  liegendes  subjectives  Element  sieht.  Schon 
unsere  allgemein  biologischen  Anschauungen  zwingen  uns  zu  der  Annahme 
eines  weit  im  Thierreiche  verbreiteten  Farbenunterscheidungsvermögens; 
die  Schutzfärbungen  und  sexuellen  Lockfarben  könnten  sonst  weder  zum 


422  lAteratwrbericht 

Schutze  noch  zur  Warnung  noch  zur  Anziehung  dienen.  Wenn  die  Thiere 
total  farbenblind  wären,  würde  ein  einziges  Pigment  z.  B.  Braun  in  Te^ 
schiedenen  Helligkeitsabstufungen  als  Schutzfärbung  ausreichen. 

Aufser  diesem  von  der  Natur  selbst  angestellten  Experimente  können 
die  Beobachtungen  des  lebenden  Thieres  bei  Einwirkung  farbiger  Strahlungen 
über  das  Farbenunterscheidungsvermögen  Aufschlufs  geben,  nur  müssen 
dieselben,  wie  N.  ausführt,  mehr  als  bisher  mit  Berücksichtigung  der  Ton 
der  physiologischen  Optik  neuerdings  klar  gelegten  Thatsachen  angestellt 
werden. 

Einer  experimentellen  Prüfung  sind  femer  die  durch  den  Beu  ver- 
schiedenfarbiger Lichter  am  Auge  eintretenden  objectiyen  Veränderungen 
zugänglich.  Hauptsächlich  zwei  Erscheinungen  kommen  hier  in  Betracht: 
1.  Die  Pupillarreaction.  2.  Die  Actionsströme  der  Netzhaut.  Beide  Unter- 
Buchungsmethoden  sind  bereits  erfolgreich  benutzt  worden,  die  sub  1  ge- 
nannte vom  Ref.,  die  sub  2  genannte  vom  Verf.,  über  deren  Ergebnisse 
bereits  in  dieser  Zeitschr.  (26,  264)  berichtet  worden  ist.  N.  betont  zum 
Schlüsse,  dafs  diese  die  Reizwerthe  der  verschiedenen  Spectralfarben  für 
die  betreffende  Netzhaut  feststellenden  Experimente  trotz  ihrer  grdlJBeren 
Exactheit  natürlich  die  Beobachtung  der  Reaction  des  lebenden  Thieres 
nicht  entbehrlitfh  machen,  da  sie  ja  an  sich  über  das  Farbenunterscheidnngs- 
vermögen  des  Besitzers  der  Netzhaut  keine  Auskunft  geben. 

G.  Abelsdobff  (Berlin). 


A.  FicK.    Kritik  der  Heri&g'schen  Theorie  der  Lichtempflndang.    Sitzungd>er, 

d,  FhysikaL'fned.  Gesdlach.  zu  Würzburg,    1900.    Separatabdr.  6  S. 

F.  wendet  sich  gegen  die  Grundannahmen  der  HsaiNo'schen  Licht- 
empfindungstheorie:  vor  Allem  träfen  die  Kriterien  der  Empfindung  ftir 
den  „mit  dem  Worte  Schwarzsehen  bezeichiCeten  Bewufstseinszustand''  nicht 
zu;  so  sind  z.  B.  die  Grenzen  des  mit  Lichtempfindungen  erfüllten  Ge- 
sichtsfeldes scharf  bestimmt,  die  Grenzen  eines  dunklen,  schwarz  erfüllten 
Gesichtsfeldes  sind  nicht  nur  nicht  bestimmt,  sondern  entziehen  sich  der 
Vorstellung. 

Für  die  biologisch  teleologische  Betrachtung  widerspricht  femer  die 
grundlegende  Hypothese,  dafs  nicht  nur  die  Dissimilirung  sondern  anch 
die  der  Regeneration  dienende  Aasimilirung  als  Empfindung  ins  Bewnüst- 
sein  trete,  dem  Principe  organischer  Zweckmäfsigkeit.  Während  nun  die 
Dissimilirung  in  allen  drei  Sehsubstanzen  durch  Reize,  gewöhnlich  Aether 
Schwingungen  hervorgerufen  wir^  äoU  nach  der  H£RiNo*schen  Theorie  die 
Assimilirung  in  den  farbigen  Sehsubstanzen  nicht  wie  in  der  Schiran- 
Weifs-Substanz  durch  die  Abwesenheit  von  Lichtstrahlen  sondern  in  der 
Regel  durch  die  Einwirkung  bestimmter  Strahlungen  verursacht  werden. 
Eine  weitere  ünwahrscheinlichkeit  sieht  F.  in  der  sich  hieraus  ergebenden 
Folgerung,  dafs  von  zwei  nur  durch  einen  relativ  geringen  Unterschied 
in  der  Wellenlänge  von  einander  abweichenden  Strahlungen,  die  eine 
dissimilirend,  die  andere  assimilirend  auf  dieselbe  Sehsubstanz  wirken  solL 

G.  Abelsdobff  (Berlin). 


Literaturbericht  423 

M.  F.  McGlübs.    ä  „Oolor  IllQSion''.    Amer,  Jtmm,  of  Psych.  12  (2),  178—184. 
1901. 

Wie  kaum  anders  zu  erwarten  war,  wandte  man  sich  also  in  Amerika 
«elbst  baldmöglichst  gegen  G.  T.  Ladd's  Artikel  in  den  „Studiea  from  the 
Yale  Fsycholagical  Laboratory"*  VI:  „A  Colour  Illusion",  in  welchem  all- 
bekannte, schon  von  Fechmeb  ausführlich  beschriebene  Erscheinungen  der 
gleichfarbigen  Induction  als  eine  neue  Art  von  „Täuschungen"  behandelt 
worden  waren.  Verf.  variirte  nun  die  Farben  nicht  nur  für  die  schmalen 
Streifen,  sondern  auch  für  den  Hintergrund  in  gröfserem  Umfange  und 
liels  jedesmal  bis  zur  gröfstmöglichen  Ausgleichung  fixiren.  Es  bestätigten 
■sich  die  bisherigen  Anschauungen,  insbesondere  auch  eine  gewisse  Un- 
abhängigkeit der  Helligkeits-  von  der  Farbenausgleichung,  sowie  eine  Art 
von  Reciprozität  der  scheinbaren  Veränderung  zum  AusdehnungsverhältniDs 
der  benachbarten  Farben.  Verf.  ist  zwar  immer  noch  bei  dieser  rein 
•qualitativen  Betrachtung  stehen  geblieben,  hält  jedoch  insbesondere  für  die 
zuletzt  genannte  Frage  quantitative  Bestimmungen  für  nothwendig. 

WiBTH  (Leipzig). 

A.  TuYL.    üeber  das  graphische  Registriren  der  Vorwärts-  and  Rttckwärts- 

bewegnngen  des  Aoges.  v.  Graefe's  Ar  eh.  f.  Ophthalm.  52  (2),  233—262. 
1901. 

Um  die  unter  physiologischen  Verhältnissen  stattfindenden  Bewegungen 
•des  Auges  nach  vorn  und  rückwärts  zu  untersuchen,  bediente  sich  T.,  da 
die  Stellungsänderungen  für  directe  Beobachtung  zu  gering  sind,  eines 
Apparates  zur  graphischen  Registrirung.  Derselbe  besteht  im  Wesentlichen 
aus  einem  Hebel  mit  einem  sehr  langen  und  einem  kurzen  Arm.  Der 
letztere  ist  mit  einer  Contactfläche  versehen,  die  ohne  Ausübung  eines 
nennenswerthen  Druckes  auf  die  Vorderfläche  des  Auges  gesetzt  werden 
kann,  während  der  lange  Hebel  die  Bewegungen  an  einer  in  verticaler 
Richtung  fortgeschobenen  Fläche  aufschreibt. 

Es  liefs  sich  so  feststellen,  dafs  die  Cornea  durch  die  Herzthätigkeit 
0,01—0,02  mm  hervortritt;  der  Einflufs  der  Respiration  macht  sich  ebenfalls 
geltend  und  ist  bei  willkürlich  verstärkter  Athmung  besonders  markant, 
bei  forcirter  Ausathmung  konnte  eine  Vorwärtsbewegung  von  0,06  mm 
registrirt  werden.  Anstrengung  der  Bauchpresse  wirkt  durch  Erhöhung 
-des  intrathoracalen  Druckes  und  gröfsere  Füllung  der  Venen  in  demselben 
Sinne,  der  Augapfel  konnte  hierdurch  0,3  mm  nach  vom  gedrängt  werden. 
Eine  Verschiebung  des  Bulbus  nach  hinten  (0,15—0,2  mm)  tritt  bei  gleich- 
zeitiger Anspannung  des  Rectus  externus  und  internus  ein. 

Bei  Feststellung  dieser  Ergebnisse  war  darauf  zu  achten,  dals  keine 
Aenderung  in  der  Stellung  der  Augenlider  vorgenommen  wurde.  Bei  Er- 
weiterung der  Lidspalte  wird  der  Augapfel  nämlich  nach  vorn  (im 
Maximum  —  0,8  mm)  und  unten,  beim  Schliefsen  der  Lider  nach  hinten 
und  oben  verschoben.  Die  erste  Stellungsänderung  erfährt  ihre  einfachste 
Erklärung  durch  die  Annahme  eines  vom  Musculus  levator  palpebrae 
4Buperioris  auf  den  oberen  hinteren  Abschnitt  des  Bulbus  ausgeübten 
Druckes,  die  letztere  wird  durch  den  Druck  des  die  Lider  schliefsenden 
Jfusculus  orbicularis  hervorgerufen.  G.  Abelsdobff  (Berlin). 


424  Literaturbericht. 

W.  A.  Naqbl.    Ueber  das  Beirsche  Phlnomen.    Arch,  f.  AugenheWc.  43  (3)^ 

199—206.  1901. 
Als  B£LL*8che8  Phänomen  wird  die  nach  ihrem  Entdecker  {^nannte 
Erscheinung  bezeichnet,  dafs  bei  activem  Lidschlufs  der  Augapfel  sich 
nach  oben  bewegt,  um  bei  geschlossenen  Lidern  in  dieser  Stellang  zu  ver- 
harren. Zur  Erklärung  dieses  Phänomens  zieht  N.  aufser  der  bisher 
supponirten  Verknüpfung  der  entsprechenden  Hirnrindengebiete  eine 
reflectorische  Erregung  in  Betracht,  indem  er  annimmt,  dafs  die  mechanische 
Reizung  der  sensiblen  Hornhautnerven  durch  den  Druck  des  Oberlides  die 
Aufwärtsbewegung  des  Bulbus  auslöst  und  so  den  Scheitel  der  Comeawölbung 
vor  maximalem  Druck  seitens  der  Mitte  der  Tarsusplatte  bewahrt.  Zur  Stütze 
dieser  Anschauung  führt  N.  die  an  sich  selbst  gemachte  Beobachtung  an, 
dafs  auch  passiver  Lidschlufs  das  BELL'sche  Phänomen  hervorruft.  Wenn 
nämlich  ein  Auge  durch  einen  Verband  geschlossen  gehalten  und  das 
andere  frei  bleibende  zum  Lesen  oder  Schreiben  benutzt  wird,  so  wird 
unwillkürlich  das  Kinn  auf  die  Brust  gesenkt  und  das  vorliegende  Buch 
mit  aufwärts  gewandter  Blickebene  betrachtet:  d.  h.  es  wird  entsprechend 
der  vom  geschlossenen  Auge  ausgeführten  Bewegung  nach  oben  die, Blick- 
ebene erhoben  und  demgemäfs  die  Kopfhaltung  verändert. 

G.  Abelsdorff  (Berlin). 

F.  B.  Hofmann  u.  A.  Biblschowsky.    Die  Yerwerthang  der  RopfaeigHBg  xur 
Diagnostik  von  Angenmnskelläbmüttgen  ans  der  Heber-  nnd  Senkergrnppe. 

V.  Graefe'8  Arch.  f.  Ophthalm.  51,  174—185.    1900. 

Seit  Naoel*s  Untersuchungen  ist  bekannt,  dafs  die  Kopfneigung,  d.  h. 
Drehung  des  Kopfes  um  die  sagittale  Axe  eine  gleichsinnige  Rollung  beider 
Augen  um  die  Gesichtslinie  nach  der  der  Kopfneigung  entgegengesetzten 
Richtung  bewirkt.  N.  nahm  an,  dafs  diese  Rollung  durch  die  gemeinsame 
Thätigkeit  eines  oberen  Muskelpaares  (Rectus  und  Obliquus  superior)  in 
dem  einen  und  eines  unteren  Muskelpaares  (Rectus  und  Obliquus  inferior) 
in  dem  anderen  Auge  zu  Stande  käme. 

Verff.  haben  nun  den  thatsächlichen  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser 
Annahme  dadurch  erbracht,  dafs  sie  bei  Patienten,  die  an  Lähmung  eines 
der  an  der  Rollung  betheiligten  Muskeln  litten,  bei  entsprechender  Kopf- 
neigung die  theoretisch  postulirten  Doppelbilder  erhielten.  Die  ünter- 
suchungsmethode  mufste,  um  Aenderungen  der  Blickrichtung  bei  am 
gleichen  Orte  bleibenden  Objecte  und  hierdurch  entstehende  Täuschungen 
über  die  Lage  der  Doppelbilder  zu  vermeiden,  dafür  sorgen,  dafs  das  Seh- 
object  die  Kopfneigung  in  gleichem  Umfange  und  in  gleicher  Richtung 
mitmachte ;  es  geschah  dieses  mit  Hülfe  einer  leichten  Vorrichtung,  die  als 
Fixationsobject  einen  Streifen  schwarzen  Papiers  auf  weifsem  Carton  trug 
und  sich  durch  Einbeifsen  halten  liefs. 

Das  mittels  dieser  Methode  erhaltene  und  bereits  erwähnte  Ergebnifs 
bildet  nicht  nur  einen  neuen  Beitrag  zur  Kenntnifs  der  Physiologie  der 
Augenbewegungen,  sondern  läfst  sich  auch  klinisch  diagnostisch  verwerthen, 
indem  das  Verhalten  der  Doppelbilder  bei  Neigung  des  Kopfes  in  compli- 
cirten  Fällen  von  Augenmuskellähmung  die  Diagnose  entscheiden  kann. 

G.  Abelsdorff  (Berlin). 


Literaturbericht,  425 

A.  BiBLscHowsxY.    üober  die  sogenannte  Dlvergensl&bmnng  and  Discnssion 

dieses  Vortrags.    Bericht  über  die  J28.  Vtrsamml  der  Ophthalwol  Gesellsch. 
Heidelberg  1900,  110—124. 

Auf  Grund  von  drei  gemeinsam  mit  Dr.  F  B.  Hopmann  beobachteten 
Fftllen  stellt  B.  die  Symptome  des  Krankheitsbildes  der  Divergenzlähmung 
der  Augen  fest.  1.  Bei  freier  Beweglichkeit  der  Augen  Unfähigkeit  zur 
Parallelstelinng  der  Gesichtslinien.  2.  Die  bestehende  Convergenz  wird 
nicht  durch  Seitenwendung  des  Blickes  geändert,  sondern  nimmt  erst  bei 
Senkung  desselben  zu  und  bei  Hebung  ab.  3.  Binoculares  Einfachsehen 
kann  durch  adducirende  Prismen  hergestellt  werden.  4.  Binoculare  Fixation 
ist  innerhalb  eines  nahegelegenen  Bezirkes  möglich. 

Gegen  die  Erklärung  dieses  Symptomencomplexes  durch  einen  Con- 
vergenzkrampf  sprechen  die  Stabilität  der  Ablenkung  und  die  Möglichkeit 
binocularer  Fixation;  B.  nimmt  vielmehr  an,  dafs  mit  dem  Convergenz- 
centrum  ein  antagonistisches  Divergenzcentrum  innervirt  wird,  so  dafs 
beim  Blick  in  die  Ferne  ein  gleichstarker  Tonus  beider  Centren  vorhanden 
ist  und  mit  der  Erschlaffung  der  Convergenz  eine  entsprechende  Zunahme 
der  Divergenzinnervation  einhergeht.  — 

Aus  der  sich  anschliefsenden  Discussion  sind  die  Ausführungen  Hof- 
kann's  bemerkenswert,  der  auf  die  physiologischen  Voraussetzungen  für  die 
Deutung  der  Krankheitsfälle  als  einer  Divergenzlähmung  auf  Grund  der 
Annahme  einer  besonderen  Divergenzinnervation  hinweist.  Wie  für  die 
gleichsinnigen  Lateralbewegungen  der  Augen  mit  der  Contraction  der 
Agonisten  ein  Nachlafs  des  Tonus  des  Antagonisten  erfolgt,  so  kann  man 
freilich  zunächst  nur  auf  Grund  einer  Analogie,  auch  auf  ähnliche  Ver- 
bältnisse bei  der  Convergenz-  und  Divergenzbewegung  schliefsen,  d.  h.  es 
ist  bei  Parallelstellung  der  Gesichtslinien  die  gleichzeitige  Erregung  eines 
subcorticalen  Convergenz-  und  Divergenzcentrums  anzunehmen,  bei  Con- 
yergenzimpuls  Verstärkung  der  Convergenz-  und  Hemmung  der  Divergenz- 
innervation und  endlich  beim  Divergenzimpuls  Verstärkung  der  Divergenz- 
nnd  Nachlassen  der  Convergenzinnervation.  Nach  dem  alten  Schema  da- 
gegen nahm  man  beispielsweise  beim  Uebergang  von  Convergenz  zur 
Parallelstellung  der  Gesichtslinien  nur  eine  Erschlaffung  der  Intemi  an, 
der  erst  eine  Contraction  der  Extern!  folgt,  das  neue  ordnet  sich  dem  vom 
Sherbington  ausgesprochenen  Principe  der  „reciproken  Innervation"  ein. 

G.  Abblsdorff  (Berlin). 

L.  Heine.  Hydrophthalmas  a&d  Myopie.  Bericht  aber  die  28.  Versammlung  der 
Ophthalmol.  Gesellsch.  Heidelberg  1900,  176—180. 
Man  hat  die  Entstehung  der  Kurzsichtigkeit  durch  intraoculare  Druck- 
Steigerung  erklären  wollen ;  die  Veränderungen,  die  eine  solche  hervorbringt, 
kann  man  an  Augen  mit  Hydrophthalmus  acquisitus,  der  anerkannter- 
maafsen  durch  intraoculare  Drucksteigerung  entsteht,  studiren.  Die  Unter- 
suchungen H.'s  haben  nun  ergeben,  dafs  gerade  solche  Augen  entweder 
gleichmäfsig  oder  in  den  vorderen  Teilen,  wo  die  Sclera  normalerweise 
dünner  ist,  gedehnt  werden,  während  die  Messungen  kurzsichtiger  Augen 
eine  Dehnung  ausschliefslich  in  der  hinteren  Bulbushälfte  nachwiesen. 
Man  hat  demnach  weniger  in  der  intraocularen  Drucksteigerung  als  in  an- 


426  Literaturberichi. 

geborener  Schwäche  der  Sclera  in  der  hinteren  Hälfte  das  entscheidende 
Moment  für  die  Entwickelung  der  Kurzsichtigkeit  zu  suchen. 

G.  Abelsdobff  (Berlin). 

J.  Piltz.    Sor  les  noaveaux  signes  papillaires  dans  le  Ubes  dorsaL    Eevw 

neurologique  595—599.  1900. 
Aufser  dem  Licht-,  Accomodations-  und  Vorstell  ungs-  (Haab's  Hirnrinden) 
Reflex  der  Pupille  sind  in  neuerer  Zeit  folgende  Pupillarreflexe  beschrieben 
worden :  1.  Nach  energischem  Lidschlufs  tritt  Pupillenverengung  ein  (Verl) 
2.  Beim  Versuche  die  auseinander  gehaltenen  Lider  gewaltsam  zu  schlieDsen, 
verengt  sich  die  Pupille  des  sich  nach  oben  richtenden  Augapfels  (West- 
PHAL  u.  A.).  Nach  den  Beobachtungen  des  Verf/s  kann  diesen  beiden 
Keflexen  ein  entscheidender  klinisch  diagnostischer  Werth  noch  nicht  zu- 
gesprochen werden.  Allerdings  trifft  man  den  sub  1  genannten  Reflex  nur 
selten  bei  normalen  Individuen,  bei  welchen  unter  diesen  Umständen  die 
Tendenz  zur  Pupillenerweiterung  überwiegt,  während  bei  an  Tabes  oder 
Paralyse  leidenden  Personen  mit  lichtstarren  Pupillen,  die  die  Orbicularis- 
contraction  begleitende  Mitbewegung  der  Iriscontraction  rein  zum  Ausdruck 
kommen  kann  und  sich  daher  häufig  findet.  Der  sub  2  genannte  Reflex 
ist  dagegen  entsprechend  der  gröfseren  Energie,  die  auf  die  Contraction 
des  Orbicularis  verwendet  wird,  häufig  auch  bei  normalen  Individuen  nach- 
weisbar. Zuweilen  konnte  P.  bei  Personen,  die  an  Tabes  dorsalis  leidend 
lichtstarre  Pupillen  hatten,  trotzdem  bei  activem  sowie  passivem  Lidschlaüs 
statt  ^upillenverengung  eine  Erweiterung  feststellen.  Es  handelt  sich 
hierbei  wahrscheinlich  um  einen  Reflex,  der  durch  Reibung  des  Lides  aof 
der  Conjunctiva  oder  Cornea  ausgelöst  wird,  er  fehlte  demgemäfs  bei  einem 
Patienten  mit  Hemianästhesie  des  Gesichtes  auf  der  entsprechenden  Seite. 

G.  Abelsdorff  (Berlin). 


F.  Angsll.    Discrimination  of  Clangs  for  Different  Interrals  of  Time.    Part  U. 

Amer.  Joum.  of  Psych.  12  (1),  58—79.  1900. 
Diese  Fortsetzung  der  Untersuchungen  aus  Bd.  XI,  1.,  welche  der 
Analyse  der  allgemeinen  Factoren  des  Vergleichsurtheiles  überhaupt  dienen 
sollen,  bringt  zunächst  Vergleichungen  von  Tonhöhen  (in  der  Region  360 
bis  768  Schw.)  nach  der  Methode  der  richtigen  und  falschen  Fälle 
mit  objectiver  Gleichheit  oder  Differenz  von  4  und  8  Schw.  Dabei  werden 
die  von  10  bis  60  See.  variirten  Zeiten  zwischen  den  Vergleichstönen  mit 
verschiedenen  und  ungleich  wirksamen  Zerstreuungen  ausgefüllt,  wie 
Addition  von  Zahlen,  Lesen,  Anhören  von  Metronomschlägen  oder  Vor- 
lesungen, anderweitigen  Tonvergleichungen  etc.  Das  interessante  Hanpt* 
ergebnifs  besteht  in  der  geringen  und  häufig  sogar  vortheilhaften  Beein- 
flussung der  Genauigkeit  und  der  Sicherheit  des  Vergleichsurtheiles,  soweit 
objective  Verschiedenheit  vorhanden  war.  Bei  objectiver  Gleich- 
heit zeigt  sich  hingegen  wirklich  eine  geringere  Genauigkeit  bei  jenen 
Zerstreuungen,  ohne  dafs  jedoch  hier,  oder  sonst  irgendwo,  eine  Proportio 
nalität  zwiscYieii  d^t  GtöIä^  d«t  7i«t^\.\^\i>\TL^  und  der  Urtheilsmodification 
festgestellt  YreTden  ^öxoiXä.   OVitv»  \i«t^\\a  «v\3ä  xsS^cv^x^  ^^^k^&xns!ö%  ^^asi«a 


LUeraturhericht  427 

Unterschiedes  zu  geben,  betont  Verf.  die  Wahrscheinlichkeit  einer  wesent- 
lichen Verschiedenheit  der  Beurtheilnng  objectiver  Gleichheit  und  Ver- 
schiedenheit, und  die  Unvergleichbarkeit  der  beiderseitigen  Resultate.  Von 
hier  aus  nimmt  Verf.  Stellung  zu  derjenigen  Anschauung  über  das  Wesen 
des  Vergleichens,  welche  mehr  „physikalisch^  ein  Aneinandermessen  des 
auftauchenden  Gedächtnifsbildes  vom  ersten  Reize  an  der  zweiten  Empfin- 
dung annimmt  (Lbhmann,  Stabke  etc.)  und  insbesondere  den  Fehler  der 
Zeitlage  aus  der  allmählichen  Abschwftchung  jenes  Gedächtnifsbildes  er- 
klärt. Dagegen  spreche  vor  Allem  die  introspective  Feststellung  des  sog. 
„freien^  Urtheiles  („absolut"  nach  Mabtin  und  Müller),  welches  ohne  ein 
Abwenden  des  inneren  Blickes  vom  zweiten  Reiz  auf  irgend  welche  Ge- 
dächtnifsbilder,  gerade  am  besten  bei  Zerstreuung  in  der  Zwischenzeit,  mit 
voller  Sicherheit  frei  aufsteigt.  Aufserdem  fand  Verf.  den  Zeitfehler  bei 
Vergleichung  von  Tonhöhen  keineswegs  im  Sinne  einer  Herabsetzung 
oder  irgend  einer  bestimmten  Qualitäts Veränderung  des  ersten  Reizes. 
Beim  Vergleich  von  Tonstärken  aber  wechselt  der  im  Sinne  jener 
Theorie  thatsächlich  vorhandene  Zeitfehler  so  aufserordentlich  je  nach  der 
Zeitlage  der  variirten  Gröfse,  dafs  die  Zeitlage  als  solche  nicht  entscheidend 
sein  kann.  SchlieÜBlich  wird  auch  noch  auf  die  Ungereimtheit  bei  Ueber- 
tragung  auf  die  „mittlere  Abstufung"  verwiesen.  Gerade  wenn  man  nun 
im  Sinne  des  Verf.*s  daran  festhält,  dafs  eine  schwache  Erinnerung  [an 
einen  starken  Ton  keine  Erinnerung  an  einen  schwachen  Ton  ist,  dafs  also 
dies  Bewufstsein  von  den  „gemeinten"  Qualitäten  von  den  Qualitäten,  die 
dem  Auftreten  des  Erinnerungsbildes  als  solchen  zugesprochen  werden, 
Bcharf  unterschieden  werden  mufs,  wird  man  zunächst  auch  zugeben,  dafs 
die  subjective  „Sicherheit"  dieser  Erinnerung  von  diesen  letzteren 
Qualitäten  zu  unterscheiden  ist.  Dann  wird  man  aber  auch  zugeben 
können,  dafs  allerdings  ein  Bewufstsein  von  den  früher  wahrgenommenen 
Qualitäten  die  Grundlage  von  sicheren  Vergleichsurtheilen  bildet,  mag  jene 
Lebhaftigkeit,  Frische  etc.  noch  so  gering  sein.  Auch  ist  ein  Hin-  und 
Hergehen  im  Sinne  des  Aneinandermessens  zum  wirksamen  Dasein  jenes 
Srinnerungsbewufstseins  ebenfalls  nicht  nothwendig.  Nicht  gegen  die  An- 
nahme dieses  jederzeit  auch  im  „freien"  Vergleichsurtheil  mitgegebenen 
Bewufstseins,  sondern  nur  gegen  jene  Verwechselung  der  genannten  Quali- 
täten hat  wohl  auch  Verf.  in  seiner  werthvoUen  Arbeit  vorgehen  wollen. 

WiBTH  (Leipzig). 

A.  J.  KiNNAMAN.    A  Comparison  of  Judgmeiits  for  Weigbts  Lifted  witb  tbe 
Hand  and  Foot.    Amer.  Jotim.  of  Psych.  12  (2),  240—263.    1901. 

Nach  einer  Variation  der  FECHNEB*schen  Methode  wurden  die  Gewichte 
(9  verschiedene  von  100  bis  3200  g)  und  die  procentual  nach  Sanfobd's 
Tabelle  gewählten  Zusatzgewichte  auf  einem  Brett  gehoben,  das  wie  eine 
Wagschaale  an  einem  doppelten  Muft  aufgehängt  war,  der  theils  auf  die 
Hand,  theils  auf  den  Fufs  genau  pafste.  Zur  Milderung  des  Anfangswider- 
standes stand  das  Brett  zunächst  auf  einem  Polster.  Die  Methode  der 
r.  u.  f.  F.  war  beibehalten.  Nur  20  Versuche,  incl.  eines  gleichmäfsigen 
Wechsel  der  Zeitlage  (ohne  Correctur  des  VeT\iiaAtma»^B  \)«v  ^«t  ^V^tsäw^k^ 


428  LiteraturbericJit. 

bildeten  eine  Gruppe,  die  dann  sogleich  mit  dem  anderen  Gliede  wieder^ 
holt  wurde.  Augen  und  Ohren  waren  verschlossen,  die  Reihenfolge  war 
theilweise  bekannt.  Es  wurde  jederzeit  irgend  ein  Urtheil  verlangt.  Vor 
Allem  zeigte  sich  eine  etwas  höhere  U.-£.  fflr  die  Hand,  zumal  in  der 
unteren  Region,  keine  Constanz  der  relativen  U.-E.,  sondern  ein  Maximum 
für  2000  bis  2400  g.  Verf.  sucht  nun  die  Erklärung  hierfür  nach  dem 
Vorgange  Herino*s  in  einer  genauer  analysirten  Verschiedenheit  der  je- 
weiligen Empfindungsgrundlage  des  Vergleichsurtheiles ,  deren  Elemente 
bei  verschiedener  Schwere  ihre  Lage  zum  Blickpunkt  des  Bewufstseins 
wechseln  sollen.  Das  Bewufstsein  der  geringen  Schwere  bestehe  vor  Allem 
in  Tastempfindungen  der  Haut,  deren  Sinn  bei  der  Hand  viel  besser  ent- 
wickelt ist  als  beim  Fufse.  Erst  mit  Zunahme  des  Gewichtes  treten  die 
Bewegungsempfindungen  und  andere  „Hülfsempfindungen"  unter  gleich- 
zeitigem Zurücktreten  der  Tastempfindungen  stärker  hervor,  und  jene  zu- 
nächst hülfreichen  Nebenempfindungen  werden  dann  in  der  obersten 
Region  sogar  störend.  Haben  aber  einmal  die  Bewegungsempfindungen 
die  Führung  übernommen,  so  schiebt  sich  auch  noch  die  Hebung  des 
Armes,  dessen  Ausbalancirung  vom  Verf.  in  Vorversuchen  vergeblich  an* 
gestrebt  wurde,  in  den  beurtheilten  Complex  hinein,  so  dafs  also  auch  das 
Zusatzgewicht  einer  gröfseren  absoluten  Reizhöhe  entsprechen  mufs.  Gegen 
diese  ganze  Auffassung  vom  Bewufstsein  der  Schwere  bleibt  freilich  immer 
wieder  die  Einheitlichkeit  und  Continuität  desselben  in  den  verschiedenen 
Reizhöhen  einzuwenden,  wie  sie  ohne  absichtliche  Hereinziehuug  der 
secundären  Begleitempfindungen  in  der  Analyse  thatsächlich  vorhanden 
ist.  Durch  ausdrückliche  Analyse  dieser  „Htilfsempfindungen"  wird  aller- 
dings das  eigentlich  beachtete  Object  der  U.E.  überhaupt  und  damit  natür- 
lich auch  deren  Betrag  verschoben  werden  können.  Zum  Schlüsse  bringt 
Verf.  einen  Auszug  aus  einem  noch  umfangreicheren  Literaturverzeichnifs 
über  die  U.E.  hinsichtlich  der  Schwere.  Wirth  (Leipzig). 


Klaudia  Marko va.    Gontributioa  ä  l'itade  de  la  perception  steräognostiqne. 

(Thöse  inaugurale.)    Genöve  1900.    82  S. 

Verf.  verstellt  unter  Stereognosie  in  Uebereinstimmung  mit  Hoffmanx 
(Stereognostische  Versuche  etc.  Dias,  inaug.  Strafsburg  1883)  die  Wahr- 
nehmung der  körperlichen  Gestalt  der  Objecte.  Die  hierher  gehörigen 
Thatsachen  werden  in  der  fleifsigen  Untersuchung  auf  Grund  der  bisherigen 
(auch  klinischen)  Literatur  zusammengestellt.  Auch  hat  Verf.  interessante 
eigene  Versuche  ausgeführt. 

In  der  ersten  Abtheilung  der  Experimente  wurden  der  mit  geschlosseneu 
Augen  beobachtenden  Versuchsperson  complicirtere  kleine  Gegenstände 
(ein  kleines  Holzhäuschen,  ein  kleiner  Schuh  aus  Porcellan  und  vieles 
Andere)  vorgelegt.  Diese  Gegenstände  wurden  dem  Beobachter,  dessen 
Hand  sich  bei  einem  Theil  der  Versuche  zur  Abschwächung  der  Tast- 
empfindungen in  einem  wollenen  Handschuh  befand,  bald  auf  die  flache 
Hand  gelegt,  bald  mufste  er  sie  mit  der  Hand  umschliefsen,  bald  mit  den 
Fingern  befühlen  u.  s.  w.  Nach  jedem  Versuch  mufste  der  Beobachter 
seine  Erlebnisse  zu  Protokoll  geben  und  wenn  möglich,  die   untersuchten 


Literaturbericht  429 

Oegenstände  zeichnen.  Dabei  ergab  sich,  dafs  die  Berührangs-  und  Muskel- 
empfindungen  (les  sensations  tactilo-musculaires)  sich  unmittelbar  in  Ge- 
siehtsbilder  umsetzten.  Die  Berührungsempfindungen  erschienen  sehr 
unsicher  und  das  Gedftchtnifs  für  sie  sehr  schwach.  Bei  den  verhältniüs- 
mäfsig  einfachen  Gegenständen  waren  die  Beobachtungen  mit  Handschuhen 
nicht  wesentlich  verschieden  von  denen  ohne  Handschuhe.  Bei  den 
complicirtesten  Gegenständen  zeigte  sich,  dafs  die  Beobachtungen  ohne 
Handschuhe  zuverlässiger  waren. 

£ine  zweite  Abtheilung  von  Versuchen  bezog  sich  auf  die  Beobachtung 
ganz  einfacher  Formen.  Verf.  benützte  Cartonstücke,  deren  eine  Seite 
convex  oder  concav  zugeschnitten  war.  Der  Beobachter  mufste  mit  ge- 
schlossenen. Augen  die  Pulpa  des  Zeigefingers  auf  diesen  Curven  hin  und 
her  bewegen.  Bei  einem  Theil  der  Versuche  ward  auf  den  Zeigefinger 
ein  Fingerhut  aufgesetzt,  wodurch  Tast-  und  Druckempfindungen  eliminirt 
wurden.  Aus  allen  diesen  Experimenten  ergab  sich,  dafs  die  concaven 
Curven  viel  unsicherer  erkannt  wurden  als  die  convexen.  Die  Zahl  der 
falschen  Antworten  des  Beobachters  bei  den  Versuchen  ohne  Fingerhut 
betrug  13,9%,  bei  denen  mit  Fingerhut  22,5^|^^. 

In  der  dritten  Abtheilung  von  Versuchen  arbeitete  Verf.  mit  zehn 
kleinen  Würfeln  und  Parallelepipeda,  die  in  Gruppen  von  dreien  benutzt 
wurden.  Der  Beobachter  mufste  zunächst  mit  geschlossenen  Augen  einen 
der  drei  Körper  während  ein  bis  zwei  Secunden  beftlhlen.  Dann  mufste 
er  mit  offenen  Augen  entscheiden,  welchen  der  drei  Körper  er  vorher  in 
den  Händen  hatte.  Dann  mufste  der  Beobachter  die  Augen  wieder 
schliefsen,  um  nun  die  drei  Körper  der  Beihe  nach  in  die  Hand  zu  nehmen 
und  zu  entscheiden,  welchen  er  bei  Beginn  des  Versuches  befühlt  hatte. 
Es  zeigte  sich,  dafs  die  Körper  unter  107  Fällen  42  mal  auf  Grund  des 
Gesichts-  und  Tastsinns,  26  mal  nur  auf  Grund  des  Tastsinns  und  39  mal 
nur  auf  Grund  des  Gesichtssinns  wiedererkannt  wurden. 

BIakl  Mabbe  (Würzburg). 

L.  Hkmpsteai).    The  Perception  of  Yisiial  Form.    Amer.  Joum.  of  Psych.  12  (2), 
185—192.    1901. 

Verf.  will  die  Auffassung  von  Figuren  untersuchen,  deren  Zeichnung 
sich  kaum  merklich  vom  (dunkleren)  Grunde  abhebt.  Hierzu  werden  die 
deutlich  hellgrau  auf  dunkelgrau  gezeichneten  Figuren  (71,  bezw.  incl.  der 
Umkehrung  142),  die  durch  ein  geschwärztes  Rohr  betrachtet  werden,  noch 
hinter  einen  Episkotister  mit  dem  Dunkelgrau  des  Grundes  gebracht,  dessen 
fast  rechteckige  Ausschnitte  in  den  verschiedenen  Kreisringen  verschieden 
stark  abdämpfen.  Es  wurde  von  der  gröfstmöglichen  Dämpfung  ausge- 
gangen und  in  den  folgenden  Versuchen  durch  Hebung  der  Scheibe  relativ 
immer  gröfsere  Ausschnitte  vor  das  Bohr  gebracht.  Jede  Exposition  währte 
5  See.  Es  zeigte  sich  u.  A.  eine  Neigung  zur  Fortsetzung  von  Linien,  zur 
Vervollständigung  oder  Umformung  der  Figuren  nach  dem  Princip  der 
Aehnlichkeit  und  Symmetrie,  zur  Abrundung  von  Winkeln  u.  A.  m.  Be- 
sonders abweichende  Auffassungen  will  Verf.  in  einer  Fortsetzung  der  Ver- 
suche als  peripher  bedingt  nachweisen.  Den  Erwartungsfehler,  der  aus  der 
zusammenhängenden  Wiederholung   der  Figur  bei  der  zunehmenden  Ver- 


430  Literaturbericht 

deutlichung  entsprang,  glaubt  Verf.  aasdrücklich  vernachlässigen  zn  dürfen. 
Und  doch  ist  aus  Versuchen  mit  wiederholter  instantaner  Beleuchtung  der 
nämlichen  (allerdings  „übermerklichen")  Figur  u.  dergl.  der  grofise  Einfluls 
dieser  Wiederholungen  bekannt.  Wollte  also  Verf.  die  Auffassung  von  dem 
unsicheren  Einflüsse  einer  beliebig  langen  Exposition  vollständig  befreien, 
wie  er  es  doch  innerhalb  jeder  Deutlichkeitsstufe  anstrebte,  so  konnte  zwar 
die  Stetigkeit  der  Deutlichkeitsstufen  überhaupt  beibehalten  werden,  inner* 
halb  einer  Stufe  waren  aber  die  Figuren  beliebig  zu  wechseln.  Allzuviel 
mag  ja  schliefslich  dieses  Moment  unter  den  speciellen  Umständen  an 
jenen  Hauptergebnissen  wenigstens  kaum  zu  ändern.  Eine  beigefügte  Tafel 
zeigt  die  verwendeten  Figuren  und  die  subjectiven  Substitutionen. 

WiBTH  (Leipzig). 

E.  J.  SwiPT.    Visual  and  Tactuo-Hfisciilar  Estimation  of  Length.    Amer,  Joum. 

of  Psych.  11  (4),  527—529.  1900. 
Holzstücken  von  verschiedener  Länge  wurden  das  eine  Mal  bei  ver- 
schiedenen Augen  nur  durch  Abtasten  geschätzt,  das  andere  Mal  nur  mit 
dem  Augenmaafse,  bald  mit  continuirlich,  bald  mit  sprunghaft  wechselnder 
Normallänge  innerhalb  der  einzelnen  Versuchsgruppen  und  jedesmal  mit 
beliebiger  Schätzungszeit.  Es  ergab  sich  ein  geringerer  und  regelmäfsigerer 
Fehler  des  Augenmaafses,  ein  besseres  Gedächtnifs  für  letzteres,  und  beide 
Male  eine  Unterschätzung  kleiner  Strecken.  Verf.  scheint  nicht  besonders 
berücksichtigt  zu  haben,  worin  denn  eigentlich  jene  „Schätzung"  bestand 
und  ob  und  inwieweit  sie  in  allen  Fällen  visueller  Natur  war,  bezw.  über 
solche  Vorstellungen  ihren  Weg  nahm.  Wirth  (Leipzig). 


W.  Ch.  Baglby.  The  Äpperception  of  the  Spoken  Sentence.  Ä  Stady  iä  tbe 
Psyebology  of  Langnage.  Amer.  Joum.  of  Psych.  12  (1),  80—130.  1900. 
Im  ersten  Haupttheile  finden  sich  in  Analogie  zu  den  bekannten  Ver- 
suchen über  visuelle  Wortauffassung  entsprechende  Experimente  über  die 
akustische  -Auffassung  von  Worten  ohne  Zusammenhang,  mit  einem 
„Minimum  von  Zusammenhang"  (d.  h.  unter  vorhergehendem  Aussprechen 
begriffsverwandter  Worte)  und  endlich  innerhalb  einer  Sentenz,  und  zwar 
wiederum  entweder  am  Anfang,  in  der  Mitte  oder  am  Ende  derselben.  Das 
betreffende  Wort  war  dabei  jedesmal  durch  Auslassung  eines  Consonanten 
am  Anfang,  in  der  Mitte  oder  am  Ende  objectiv  verstümmelt  Sämmtliche 
Worte,  mit  Ausnahme  jenes  „minimalen"  Zusammenhanges  vor  dem  Worte, 
wurden  vom  Phonographen  wiedergegeben.  Das  Hauptergebnifs  dieser 
Versuche  ist  unter  These  9  zusammengestellt:  Die  zeitliche  SteUung  eines 
verstümmelten  Wortes  innerhalb  eines  Zusammenhanges  bestimmt  den 
Nachtheil  der  Verstümmelung  für  die  Auffassung.  Und  Aehnliches  gilt 
auch  wieder  innerhalb  der  einzelnen  Worte  selbst.  Es  waren  nun  auch 
die  ausgelassenen  Consonanten  möglichst  variirt  und  hierzu  im  Ganzen 
850  Sentenzen  ausgewählt  worden.  Dabei  zeigte  sich  die  verschiedene 
Wichtigkeit  der  Consonanten,  insofern  die  Muta  für  die  richtige  Auffassang 
am  unerläfslichsten  erschienen,  die  sog.  Semivocale  uj,  Z,  r  und  g  am  ent- 
behrlichsten.    Letztere    wurden    dafür    am    häufigsten    irrthümlicher weise 


LUeraturbericJU,  431 

substituirt.    Verf.  will  hierdurch  die  Regel  bestätigt  finden,  daüs  die  am 
schwersten  erworbenen  Semivocale  später  am  leichtesten  gebraucht  werden. 
Allerdings  kommen  bei  dieser  Substitution  die  am  „leichtesten  erworbenen" 
Muta  gleich  an  zweiter  Stelle.    AuTserdem  aber  mnfs  wohl  doch  noch  be- 
rücksichtigt werden,  dafs,  trotz  der  innigen  Beziehung  zwischen  Sprechen 
and  Hören,  leichter  Gebrauch  und  Hineinhören  in  einen  objectiven  That- 
bestand  verschiedene  Dinge   sind.     Zwei  ohne  Zwischenconsonanten  auf- 
einanderfolgende Vocale  schränken  doch  durch  die  rein  akustische  Be- 
stimmung dessen,  was  so  ähnlich  und  was  sicher  nicht  gehört  wurde,  den 
Bereich  der   kinästhetisch   unterstützten  Associationen   ein,   so  dafs  z.  B. 
alleinstehendes  pj  tj  8  etc.,  abgesehen  vom  Zusammenhang,  trotz  des  leichten 
Gebrauches,   nicht  leicht   hineingehört  wird.    Im  Allgemeinen  wäre  noch 
hinzuzufügen,   dafs  überhaupt  jedes  Auslassen  von  Buchstaben,  falls  die 
Aenderung   nicht  am  fertigen  Wortbild  des  Phonographen  künstlich  vor- 
genommen, sondern  das  Wort  gleich  als  neuer  Lautcomplex  ausgesprochen 
wird,   keineswegs   ein   so   einfaches  Moment  ist,   wie   die  Auslassung   ge- 
druckter Buchstaben   in   den   analogen   visuellen  Versuchen.    Im   zweiten 
Haupttheile   geht  nun   Verf.   zur   centraleren  Psychologie   der  Wortapper- 
ception  unter  den  gegebenen  Bedingungen  über.    Angreifbar  ist  wohl  gleich 
die  erste  Behauptung,  dafs  nur  im  Falle  des  sofortigen  richtigen  Hörens 
eines  verstümmelten  Wortes  eine  simultane  Association  vorliege,  während 
beim    sofortigen  Heraushören  des  Fehlers  auf  Grund   der   richtigen   Sub- 
stitution bereits  immer  eine  successive  Association  gegeben  sei,  als  ob  bei 
hinreichender  Wirksamkeit  des  Zusammenhanges  nicht  gleich  die  ganze 
Vorstellungsgrundlage  für  das  abgegebene  ürtheil  simultan  gehoben  werden 
könnte.    Mit  gröfster  Sorgfalt  sind  sodann  alle  visuellen,  akustischen  etc. 
Vorstellungselemente  beschrieben,  welche  den  Versuchspersonen  —  lauter 
geübten  Psychologen  —  während  des  apperceptiven  Vorganges  aufstiegen. 
Das    Bewufstsein   des    ^ Sinnes^'    von  Worten,    insbesondere   auch    des   ab- 
stracten,  soll  hiermit  analysirt  und  auf  die  (je  nach  dem  Sinne  auf  Grund 
einer  Art  von  innerer  „Adaptation"  wechselnden)  marginal  factors  im  Sinne 
des  psychologischen  Nominalismus  reducirt  sein,  ohne  dafs  man  mit  Stout 
ein  besonderes  Bewufstsein  des  abstracten  „Meinens"  anzunehmen  brauche. 
Das  vor  Allem  von  Stout,  wenigstens  in  der  angelsächsischen  Psychologie, 
vertretene  „structurelle"  Bewufstseinsmoment  wird  freilich  umsomehr  über- 
sehen werden  können,  je  mehr  die  Häufung  von  Tausenden  verschiedener 
Einzelfälle   den   interessanten  Wechsel   der   auftauchenden   Elemente   von 
Einzelvorstellungen  beachten  läfst.  Wirth  (Leipzig). 

N.  Triplett.    The  Psychology  of  Gonjuring  Deceptions.   Amer.  Joum,  of  Psych, 

11  (4),  439—610.  1900. 
Das  einleitende  Capitel  holt  bei  der  biologischen  Bedeutung  der  un- 
beabsichtigten oder  zielbewufsten  Täuschung  der  Umgebung  überhaupt  aus, 
behandelt  die  Vorspiegelung  höherer  Kräfte  dem  unwissenden  Volke  gegen- 
über und  bringt  endlich  die  historische  Entwickelung  der  eigentlichen 
Taschenspielerei  und  Zauberkunst.  Die  einschlägigen  Kunststücke  unserer 
Variet^e-Theater  werden  zunächst  aus  einer  umfangreichen  Literatur  zu 
Hunderten  einzeln  aufgezählt,  zum  Theil  genauer  beschrieben  und,  so  gut 


432  lÄteraturhericht. 

es  eben  geht,  nach  theilweise  psychologischen  Gesichtspunkten  zu  ordnen 
versucht.    Das  psychologische  Material,  das  in  dem  Verhalten  des  Zauber- 
künstlers einerseits  und  in  der  Täuschung  des  Publikums  andererseits  mit- 
halten ist,  kommt  sodann  in  einer  umfangreichen  Plauderei  zur  Darstellnns, 
vielfach  angeregt  durch  die  bereits  vorhandenen  Arbeiten  von  Dessoib  nnd 
BiNET  über  den  gleichen  Gegenstand.    Den  optischen,  akustischen,  elektri- 
schen, chemischen  und  mechanischen  Kunststücken,  welche  vor  Allem  die 
Paradoxa    gegenüber   der    alltäglichen    Erfahrung    und    die    rein   sinnlich 
wirkenden  Knalleffecte  ausnützen,  folgen  die  Künste  auf  Grund  „einer  be- 
sonderen Geschicklichkeit  des  Zauberers.''    Auf  letztere  beziehen  sich  ins- 
besondere die  Ausführungen  des  dritten  Capitels  über  die  „ Vorbereitang  dei 
Zauberkünstlers"  selbst  als  einer  Steigerung  bezw.  Uebung  seiner  körper- 
lichen   und   insbesondere   seiner   geistigen  Fähigkeiten   zur  absoluten  Be- 
herrschung von  Auge  und  Hand  und  seines  Talentes  als  Schauspieler  and 
Hypnotiseur.    Die  folgende  Gruppe  der  Kunststücke,  deren  Gelingen  aof 
festgewordenen  Associationen  des  Zuschauers  beruht,  bietet  weiterhin  dis 
Hauptmaterial    für   die   psychologische   Analyse   der  Täuschung.    Was  in 
diesem  Capitel  aufser  der  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  von  der  kritischen 
Stelle  durch   irgendwelche  Betonung   einer  entfernten    Stelle   seitens  dee 
Taschenspielers,  insbesondere  durch  dessen  Beden,  gesagt  wird,  gehört  vor 
Allem  zu  jenen  Associationswirkungen,  die  eine  Art  von  Illusion  erzeugen, 
am  besten  durch  systematische  Erzeugung  einer  entsprechenden  Association 
durch  Wiederholung   von   vorläufig  thatsächlich   vorgeführten  Vorgängen. 
Unter   Berücksichtigung   der   sonstigen   Umstände   findet   der  Begriff  der 
r Suggestion"  dabei  ausführliche  Verwendung.    Eigene  Versuche  des  Vert's 
mit  Schulkindern  über  die  bekannte  Vortäuschung  des  Werfens  einer  Kugel 
nach  mehrfach  vorangehendem  wirklichen  Werfen  zeigt  bei  40%  der  Knaben 
und  bei  60**/o  der  Mädchen   eine   individuell  verschieden  weit   gelungene 
Illusion.    Die  zuletzt  behandelten  Fälle  der  Suggestion  des  sog.   „forcing^ 
d.  h.   die   beliebige   Lenkung    des   Ausfalles    einer  Auswahl    wären   noch 
systematischer  gleich  mit  unter  die  beliebige  Lenkung  der  Aufmerksamkdt 
eingereiht  worden.    Die  „sociologischen  und  pädagogischen  Bemerkungen'' 
des  Schlusses  behandeln  u.  A.  die  bekannten  Gründe  für  das  Interesse  an 
derartigen  Zauberkunststückchen,  die  spätere  Entwickelung  des  kindlichen 
Interesses  hierfür  und  schliefslich,  wegen  der  entfernten  Aehnlichkeit  aDer 
psychologischer    Beeinflussungen    überhaupt,    eine  kurze   Ausführung  dee 
recht  mifsverständlichen  Grundsatzes :  Every  teacher  is  in  some  sort  a  con- 
jiirer.  Wibth  (Leipzig). 

St.  Sh.  Colvin.    Tbe  Fallacy  of  Extreme  Idealism.    Amer.  Jow-n.  of  Fsffd. 

11  (4),  511-526.  1900. 
Neben  einem  historischen  Rückblick  polemisirt  Verf .  vor  Allem  gegen 
zwei  moderne  Vertreter  eines  „extremen"  Idealismus,  Bradlby  (Appearance 
and  Reality)  und  Josiah  Royce  (The  world  and  the  Individual).  Ersterem, 
der  den  Erkenntnifswerth  der  allgemeinsten  Anschauungsformen  und  der 
Kategorien  wegen  ihres  inneren  Widerspruches  verneint  und  als  Vertreter 
des  „logisch"  begründeten  Idealismus  erscheint,  wird  die  Bedeutungslosig 
keit  dieser  Methode  des  ausgeschlossenen  Dritten  entgegengehalten.   Bei 


LiteratwrberiekL  43g 

SoTd  wird  henrorgehoben,  dals  er  doch  auch  zur  Abgrensang  des  Wirk- 
HehkeitsbemiiktaeiiiB  innerhalb  des  IndlTidnums  auf  ein  Wiliensmoment  im 
üitheil,  und  rar  Definition  der  Wirklichkeit  überhaupt  auf  ein  Abeolntee 
in  der  Welt  .zurückgreife  und  damit  den  Inhalt  der  gegenwärtigen  Vor- 
«tellung  überschreite.  Diese  Ueberschreitung  hftlt  er  auch  schon  für  den 
fertigen  Beweis  gegen  die  ganze  zweite  Form,  den  „ psychologisch '^  be- 
gründeten Idealismus,  insofern  dieser  doch  auch  vergangene  Vorstellungen 
anerkenne,  als  ob  es  dem  Idealismus  auf  etwas  Anderes  ankäme,  als  den 
Inhalt  des  Wirklichen  eben  nur  auf  ideelle  Momente  überhaupt  einzu- 
schrftnken.  Mit  des  Verf.'s  eigener  Annahme  eines  Systemes  activer 
Momente  in  gegenseitiger  Cansalrelation,  von  denen  unsere  Vorstellungeii 
nur  einen  Theil  bilden,  steht  seine  Polemik  gegen  den  „extremen"  Realis- 
mus der  Annahme  des  ,, Dinges  an  sich"  nicht  ganz  im  Einklang.  Die  Bei- 
ziehung der  KAKT'schen  y,Postulate''  Gott  etc.  als  einer  dritten  Form  des 
^religiös  und  ethisch  begründeten"  Idealismus  dürfte  eine  Verschiebung 
des  Themas  bedeuten.  Wenn  auch  das  Postuliren  kein  Erfassen  des 
Transcendenten  ist,  wie  es  der  Realist  in  der  Wahrnehmung  und  Erkennt- 
nifs  zu  thun  glaubt,  so  kann  doch  auch  der  extremste  Realist  etwas  in 
seinem  Sinne  über  den  Inhalt  der  Wirklichkeit  postuliren.  Kurz,  diese 
ganze  Frage  bezieht  sich  nur  auf  die  Genesis,  nicht  auf  den  Inhalt  des 
Wirklichkeitsbewufstseins.  Wibth  (Leipzig). 

A.  Pick  (Prag),  dialeal  Stidies  in  Patkologlcil  Dreamiftg.  Joum,  of  Merd. 
Science  47  (198),  485—499.  1901. 
P.  schildert  3  Fälle  und  kommt  zu  folgenden  Schlüssen :  Träumereien 
kommen  besonders  häufig  bei  Hysterischen  vor,  aber  gelegentlich  auch  bei 
Nenrasthenischen.  In  bei  weitem  der  Mehrzahl  der  Fälle  beginnen  sie  in 
<der  Jugend  und  zeigen  oft  eine  Verwandtschaft  zu  dem  Havelock  ELLis'schen 
^^Auto-erotism*'.  Der  Bewufstseinszustand  zeigt  die  verschiedensten  Ueber- 
l^ftnge,  von  einem  lebhaften  Spiel  der  Phantasie  bis  zu  den  deliri^Vsen  Traum- 
zuständen der  Hysterischen.  Sghrödbb  (Heidelberg). 


F.  H.  Sandebs  and  Stanlet  Hall.  Pity.  Amer.  Joum.  of  P9ycli.  11  (4), 
Ö34-Ö91.  1900. 
Auch  diese  Abhandlung  sucht  wieder,  wie  a  study  of  anger,  das  Heil 
in  der  statistischen  Methode,  nach  Ausgabe  von  Fragebogen  über  die 
physiologischen  Begleiterscheinungen  des  Mitleides,  über  den  Gegenstand, 
der  im  Leben,  in  Kunst  und  Literatur,  vor  Allem  aber  im  Leben  des 
Heilandes  als  der  „rührendste''  befunden  wurde,  dann  über  Mitleid  für 
Thiere,  Pflanzen,  leblose  Dinge,  neugeborene  Kinder,  Arme,  Verbrecher, 
Kranke,  Soldaten  etc.  In  den  eingelaufenen  Berichten,  die  im  1.  und  2. 
Oapitel  verarbeitet  sind,  mischen  sich  die  gewöhnlichen,  allbekannten  Ur- 
sachen des  Mitleides  mit  deutlichen  Symptomen  krankhafter  Zustände.  In 
der  psychologischen  und  pädagogischen  Verwerthung  des  Ganzen  (Oapitel 
3  und  4)  wird  zunächst  wieder  die  Hülfslosigkeit  der  Psychologie  diesem 
Chaos  der  Thatsachen  gegenüber  beklagt,  so  dafs  sich  die  „Psychologen 
selbst  am  meisten  bemitleiden  sollten".  Die  präcise  psychologische  Frage- 
Zeitschrift  fOr  Psychologie  27.  28 


434  Literaturbericht, 

Stellung  ist  eben  hinter  jenen  Detailbeschreibungen  fast  verloren  gegangen, 
80  dafs  neben  dem  eigentlich  sympathisirenden  Mitleid  auch  die  natflrliche 
oder  krankhaft  übertriebene  Abneigung  gegen  Wahrnehmung  fremden 
Leides,  die  schon  von  Hüvs  als  unvollständige  Sympathie  abgetrennt 
worden  war,  behandelt  wird,  femer  allerlei  rührselige  Herbst-  und  Dämmer- 
stimmung, die  nur  mit  einer  speciellen  Ablaufsweise  des  Mitleides  eine 
gewisse  Stimmungsverwandtschaft  besitzt,  dann  auch  SelbstbemiÜeidung, 
endlich  jedwede  Stellungnahme  zu  fremdem  Leide,  welche  nicht  gerade,  wie 
die  Grausamkeit,  am  fremden  Schmerz  selbst  Genufs  findet,  also  z.  B.  die 
Freude,  dafs  man  selbst  nicht  so  schlecht  daran  sei.  Mit  der  mangelnden 
Analyse  des  eigentlichen  Mitleides  bleiben  aber  natürlich  auch  die  gegen- 
seitigen Beziehungen  solcher  Abarten  wenig  aufgeklärt.  Der  Cregenstand 
unserer  Sympathie  wird  insbesondere  durch  den  Satz  allzusehr  einge- 
schränkt, daüs  wir  nur  mit  solchem  Leide  Mitleid  haben  könnten,  das  wir 
für  uns  selbst  fürchteten.  Im  letzten  Capitel  wird  u.  A.  gegenüber  den 
Verächtern  des  Mitleides  die  Anerziehung  eines  richtigen  Maalses  von  Mit- 
leid den  Pädagogen  empfohlen,  wobei  natürlich  nicht  an  einen  quanti- 
tativen Maafsstab  gedacht  werden  darf.  Ueberall  blickt  eine  menschen- 
freundliche, selbst  für  Mitleid  reich  empfängliche  Persönlichkeit  des  Verf. 's 
hindurch,  und  finden  sich  im  Einzelnen  viele  treffliche  Bemerkungen. 

WiBTH  (Leipzig). 

Ybjö  Hirn.    The  Origins  of  4rt.  —  Ä  Psycbologlcal  aid  Sociolegical  Inqiiry.  — 

London,  Macmillan  and  Co.,  1900.  331  S.  10  sh. 
Wie  ist  die  Menschheit  dazu  gekommen,  so  viel  Kraft  und  Eifer  der 
Kunst  zu  widmen,  „einer  Thätigkeit,  die  fast  gänzlich  ohne  einen  praktischen 
Zweck  sein  kann?"  —  (S.  15)  Die  Lösung  dieses  „sociologischen  und  psycho- 
logischen Bäthsels''  ist  die  Hauptaufgabe  des  Buches.  H.  richtet  daher 
seine  Untersuchung  vor  Allem  auf  die  Natur  des  „Kunsttriebes**  (art- 
impulse),  den  er  mit  Recht  nicht  als  ein  Privilegium  einzelner  Individuen, 
sondern  als  ein  Gemeingut  unseres  ganzen  Geschlechts  ansieht.  Zunächst 
kritisirt  er  einige  frühere  Ansichten  über  das  Wesen  dieses  Triebes.  Der 
durch  ScHiLLKR,  Spencer  und  Grogs  vertretenen  „Spieltheorie";  die  er  dabei 
noch  am  ausführlichsten  bespricht,  gesteht  er  zwar  zu,  dafs  „sie  wohl  das 
negative  Kriterium  der  Kunst  erklären  möge;  sie  sei  aber  nicht  im  Stande 
uns  irgend  einen  positiven  Aufschlufs  über  die  Natur  der  Kunst  zu  geben.'* 
(S.  29).  —  In  Wirklichkeit  ist  jene  Theorie  freilich  doch  nicht  so  unvoll- 
kommen, als  H.  glaubt.  Schiller  und  Groos  wenigstens  charakterisiren 
das  „künstlerische  Spiel"  durchaus  nicht  nur  negativ  als  eine  äufserlich 
zwecklose  Thätigkeit,  sondern  zugleich  sehr  positiv  als  die  freieste  und 
vollste  Bethätigung  der  Persönlichkeit.  „Der  Mensch  ist  nur  da  ganz 
Mensch,  wo  er  spielt."  —  Die  positive  Erklärung,  durch  welche  H.  die 
„negative"  Bestimmung  seiner  Vorgänger  ergänzt,  ist  auf  die  „allgemeine 
Psychologie  des  Gefühls"  gegründet.  Lustgefühle  erhalten  und  erhöhen 
sich  in  dem  Maufse,  in  dem  sie  Ausdruck  durch  Bewegungen  finden.  Un- 
lustgefühle  dagegen  werden  durch  activen  Ausdruck  abgeschwächt  und 
überwunden.  „Die  lebenerhaltende  Tendenz,  die  uns  unter  einem  Lust- 
gefühl zu  Bewegungen  führt,  welche  die  Empfindung  verstärken  und  klarer 


Literaturbericht,  435 

zum  Bewurstsein  bringen,  zwingt  uns  im  Schmerze,  Erleichterung  und  Be- 
freiung durch  heftige  motorische  Entladung  zu  suchen"  (S.  42).  Dieses 
unmittelbare  emotionale  AusdrucksbedürfniTs  ist  gleichsam  der  Keim  des 
Kunsttriebes;  er  würde  sich  jedoch  nicht  entwickeln,  wenn  der  Mensch 
nicht  ein  sociales  Wesen  wäre.  Wir  fühlen  uns  stets  als  Glieder  eines 
socialen  Körpers;  und  wie  unsere  Empfindung  an  Stärke  und  Deutlichkeit 
durch  die  Bewegung  unseres  individualen  Körpers  gewinnt,  so  erhält  sie 
noch  gröfsere  Intensität  und  Klarheit,  wenn  sich  die  Bewegung  auf  den 
socialen  Körper  ausdehnt,  wenn  das  Gefühl  eines  Individuums  eine  ganze 
Gruppe  ergreift,  die  seine  Ausdrucksbewegungen  theilnehmend  wiederholt 
(S.  82).  „Als  das  wirksamste  Mittel  aber,  welches  das  Individuum  befähigt, 
einen  emotionalen  Zustand,  von  dem  es  selbst  beherrscht  wird,  weiteren 
und  immer  weiteren  Kreisen  von  Anderen  mitzutheilen,  —  stellt  sich  das 
Kunstwerk  dar''  (S.  8ö).  Das  Kunstwerk  ist  also  das  Erzeugnifs  und  zu- 
gleich das  Mittel  des  unmittelbaren  emotionalen  Ausdrucksbedürfnisses, 
des  Strebens  nach  einer  Verstärkung  oder  Erleichterung  der  individualen 
Emotion  durch  die  „sociale  Resonanz. "^  Dafs  die  Kunst  als  eine  sociale 
Erscheinung  aufgefafst  werden  mufs,  ist  sicherlich  eine  Wahrheit,  aller- 
dings keine  ganz  neue.  Aber  wenn  H.  sagt,  dafs  „selbst  die  Production 
der  individuellsten  und  einsamsten  Künstler  nur  durch  sociologische  Be- 
trachtungen erklärt  werden  kann"  (S.  101) ;  so  darf  man  vielleicht  mit  noch 
gröfserem  Rechte  behaupten,  dafs  selbst  die  populärste  und  vulgärste  Pro- 
duction nicht  nur  aus  sociologischen  Betrachtungen  erklärt  werden  kann. 
Der  erste  und  gewifs  nicht  unwesentlichste  Theil  der  künstlerischen  Pro- 
duction, die  eigentliche  Schöpfung  im  Gegensatze  zu  der  späteren  Aus- 
führung liegt  durchaus  innerhalb  der  Grenzen  des  individualen  Lebens; 
ganz  aufserhalb  des  Bereiches  „sociologischer  Erwägungen."  H.  hat  in  der 
That  nicht  sowohl  die  Schöpfung  als  die  auf  sociale  Wirkung  berechnete 
„Elaboration"  im  Auge,  wenn  er  den  beruhigenden  und  befreienden  Ein- 
flufs  rühmt,  den  die  productive  Arbeit  auf  den  emotional  erregten  Künstler 
ausübt.  —  7,Nur  in  ganz  directen  Bethätigungen  wie  in  den  einfachsten 
Gesängen,  Tänzen  und  Dichtungen"  giebt  sich  der  Kunsttrieb  unmittelbar 
als  das  lebenerhaltende  emotionale  Ausdrucksbedürfnifs  zu  erkennen. 
„Aber  es  lälJBt  sich  nicht  verbergen,  dafs  diese  Auffassung,  soweit  die 
Malerei,  die  Sculptur  und  die  höheren  Formen  der  Poesie  in  Betracht 
kommen,  ausschliefslich  auf  hypothetischer  Grundlage  ruht"  (S.  114).  Die 
Annahme  kann  jedoch  bewiesen  werden,  indem  man  zeigt,  dafs  auch  die 
höchsten  Manifestationen  der  Kunst  allgemein  und  wesentlich  nach  ihrem 
emotionalen  Ausdrucks werthe  beurtheilt  und  geschätzt  werden  (S.  115). 
Dieser  Beweis  ist  denn  auch  versucht  worden ;  allein  um  auch  nur  einiger- 
maafsen  überzeugend  zu  wirken,  hätte  er  mit  ganz  anderem  Ernste  durch- 
geführt werden  müssen.  Indessen  der  Satz,  der  bewiesen  werden  soll,  ist 
falsch:  —  die  emotionale  Ausdrucksfähigkeit  ist  keineswegs  die  „distinctif 
quality"  eines  Kunstwerkes,  denn  diese  theilt  die  Kunst  mit  anderen  nicht 
künstlerischen  Ausdrucksformen;  ihre  wesentliche  Eigenart  besteht  viel- 
mehr darin,  dafs  sie  die  Emotionen  in  einer  ästhetischen  Form  aus- 
drückt.   Der  „Kunsttrieb"   ist  Nichts  weniger  als   emotionales  Ausdrucks- 

28* 


436  UieratwHfericht 

und  Mütheiltingsbedürfixirs  schlechthin;  aondem  er  richtet  «ich  «vf  eine 
besondere,  nämlich  die  ästhetische,  Form  des  Ansdruckes.    U<dM9ens  ftklk 
und  gesteht  H.  selbst  die  Unzulänglichkeit  seiner  Brklftntng.    „Wir  kOuMi 
einen  lyrischen  Tanz,  oder  selbst  einen  lyrischen  Gesang  als  UBmitteU)ta 
Ausbrüche  eines  emotionalen  Druckes  betrachten,  der  ohne  Ableitung  &tm 
Organismus   gefährlich  werden  würde.     Aber  wir  können  uns  kaum  vor 
stellen,  daHs  irgend  ein  Mensch  im  Stande  sein  sollte  z.  B.  ein  voU  an- 
gebildetes Drama  zu  erfinden,  nur  um  dadurch  in  der  wirksamsten  Weiie 
das  Grefühl  mitzutheilen,  von  dem  er  beherrscht  ist.    Und  noch  acbwierigv 
ist  es  zu    verstehen,  wie  das  Bedürfnifs  nach  socialem  Ausdrucke,  Pein  n 
seiner  eigenen  Befriedigung,  so  hoch  entwickelte  Kunstformen  wie  Makiei 
und  Sculptur  hätte  schaffen  können."  —  n^i^  0in<l  daher  gezwungen,  bm 
anderwärts    nach    dem   Ursprung    und   der  Entwickelung   des   concretea 
technischen   Mediums   umzusehen,   dessen   sich  der  Künstler  für  seiaeii 
Zweck  bedienf*   (S.  145).    H.  meint  die  Entstehung  und  Entwickelung  der 
künstlerischen  Formen  „aus  den  Beziehungen  der  künstlerischen  Thidgkdt 
zu  den  wichtigsten  biologischen  und  sociologischen  Aufgaben  des  Lebens' 
erklären  zu  müssen  (S.  147) ;  und  er  glaubt  am  Schlüsse  seiner  Untersuchung; 
dafs  es  ihm  gelungen  sei,  „auf  diese  äufseren  »Ursprünge«  (origins)  einige 
der  wichtigsten  Eigenschaften  zurückzuführen,  die  wir  an  einem  Kmiel- 
werke  schätzen.    Auf  diesem  Wege  ist  es  uns  möglich  zu  erklären,  wie 
verschiedene  Vorzüge  der  Kunst,  wie  sie  uns  bekannt  ist,  von  den  primi- 
tiven Bedürfnissen   abgeleitet  sein  mögen,  denen  sie  diente ;  wie  z.  B.  die 
Klarheit  (lucidity)  der  Kunst  ihren  Ursprung  in  der  Verwendung  der  Kunst, 
Belehrung   zu  vermitteln ,   haben   kann ;   wie   sich   die   sinnlichen  und  an- 
ziehenden Eigenschaften  aller  Kanst  aus  dem  Bedürfnisse  €rnnst  zu  ge- 
winnen herleiten  lassen;  wie  die  Macht  der  Kunst,  den  Geist  an  stftrka 
und  zu   erregen,  ein  Erbtheil  aus  den  Tagen  sein  kann,  als  der  Künskkr 
berufen  war,  seine  Genossen  zur  Arbeit  oder  zum  Kampfe  zu  ermuthigen. 
Und  endlich  könnte  man  geltend  machen,  daüs  eine  höchst  charakteristische 
Eigenschaft  der  Kunst,  die  Einbildung  (imagination),  die  in  einem  gewissen 
Sinne   Glaube   an   die   Wirklichkeit  des   Unwirklichen   ist   (mag  sie  den 
menschlichen  Geiste  angeboren  sein  oder  nicht),  ungeheuer  durch  die  Ver- 
wendung der  Kunst  für  die  Zwecke  der  Magie  erhöht  sein  mag,  die  dse 
Sichtbare  und  das  Unsichtbare  verschmilzt"  (S.  305).    In  Wirklichkeit  findet 
man  in  den  Ausführungen  über  die  Beziehungen  der  Kunst  zu  verschiedenes 
praktischen  Zwecken,   welche  die  zweite  Hälfte  des  Buches  füllen,  Nichli 
von  einem  solchen  Nachweise;  wohl  aber  eine  Menge  von  intereesanteo 
und  theil weise  werth vollen  Bemerkungen,  die  allerdings  weniger  für  die 
Kunstwissenschaft  als  für  die  Biologie  und  Sociologie  Bedeutung  haben. 
Namentlich   die  Capitel  über  „Animal  Display"  und  „Art  and  Sexual  8e- 
lection"   sind  lesenswerth.   —   Als  kunstwissenschaftliche  Leistung  gehftt 
dieses  Buch  in  die  neuerlich  häufig  werdende  Gattung  von  Arbeiten,  weldie 
die  Kunst  zu  begreifen  glauben,  indem  sie  um  die  Kunst  hemmtasten. 

Ebnst  Gbossb  (Freiburg  i.  B.). 


LiUraturbeHcht  437 

J.  TtBUBOL  Xir  Piyciolagia  des  WUltlS.  Wünbnr?,  Stahel'Bcke  VerHtg»^ 
anstalt,  1900.    181  S.    Mk.  1,80. 

lyw  V«rl.  behandelt  im  ersten  Theil  des  Buches  die  Frage  naeh  dem 
Wesen  des  Willens.  Der  Wille  soll  mit  dem  Schmers  (Schmerzgefühl) 
identisch  sein.  Das  ist  der  Grundgedanke  des  Buches,  auf  den  die  weiteren 
Ansfilhrungmi  immer  wieder  surückkommeu.  Ich  glaube  nicht,  dafs  diese 
Anlfassang  Anklang  finden  wird.  Ebensowenig  wird  die  Ansicht  des  Verf.*s 
dafs  der  Schmers  positiver,  Lust  dagegen  negativer  Natur  sei,  durchdringen. 
TüBKHSDf  sucht  uns  vergeblich  einzureden,  dafs  das,  was  wir  innerlich  als 
L«st  erleben,  eigentlich  nichts  anderes  als  aufhörender  Schmerz  oder  unter- 
gehender Wille  sei. 

Der  zweite  Theil  des  Buches  hat  die  Aufgabe  die  Beziehungen  darzu- 
stellen, in  welchen  die  GefQhle  zu  dem  übrigen  Bewufstseinsinhalt  stehen. 
Der  Verf.  untersucht  hier  insbesondere  die  Frage  nach  dem  Einflufs  der 
Grefühle  auf  die  Entwickelung  der  geistigen  Gebilde.  Weiters  bespricht  er 
die  Ursachen,  welchen  die  einzelnen  Gefühle  ihre  Anwesenheit  im  Bewufst* 
sein  verdanken.  Es  sind  die  physiologischen,  die  pathologischen,  und 
intellectnelle  Vorgänge  aller  Art,  welche  bei  der  Hervorbringung  der  Ge-- 
fflhle  betheiligt  sind.  In  betreff  des  Problemes  der  Willensfreiheit  vertritt 
der  Verf.  die  Ansicht,  dafs  es  keine  Willensfreiheit  giebt  An  die  Unter« 
snchung  dieses  Problems  reiht  sich  dann  eine  Erörterung  über  die  Ent* 
stehung  des  Charakters  und  die  Bedeutung  desselben  für  den  Lebenslauf 
des  Individuums.  Hier  steht  der  Verf.  auf  dem  Standpunkt,  dafs  der 
Charakter  angeboren  ist,  und  dafis  Erziehung  und  Umgebung  nur  im  be- 
schränkten Maalse  Einflufs  auf  die  Ausgestaltung  desselben  gewinnen 
können.  Den  Schlufs  des  Buches  bilden  Ausführungen  über  den  Begriff 
der  Glückseligkeit. 

Bemerkenswerth  erscheint  noch,  dafs  in  dem  Buche  vielfach  auch 
metaphysische  Aufstellungen  vorkommen.  Die  metaphysischen  Anschauungen 
des  Verf.*s  sind  nicht  ohne  Einflufs  auf  die  Behandlung  psychologischer 
Fragen  geblieben.  Saxinoer  (Linz). 

Hbbmann  Schwarz.  Psychologie  des  Willens  (zur  Grandlegnng  der  Ethik). 
Leipzig,  Engelmann,  1900.  381  S. 
Das  Buch  ist  anziehend  geschrieben  und  bietet  dem  Psychologen  viel- 
seitige Anregung.  In  übersichtlicher  Weise  werden  die  Erscheinungen 
des  Willenslebens  behandelt  und  durch  glücklich  gewählte  Beispiele  er- 
läutert. Ebenso  flnden  Fragen  aus  dem  Bereiche  der  Gefühle  im  engen 
Anschlufs  an  die  Darstellung  der  Willensvorgänge  ihre  Erörterung.  Be- 
merkenswerth erscheint  auch  der  metaphysische  Standpunkt  des  Verf. 's. 
Schwarz  zeigt  sich  als  ein  entschiedener  Gegner  einer  rein  naturwissen- 
schaftlichen Betrachtung  des  Menschen.  Während  man  sich  in  der 
Psychologie  zumeist  gewöhnt  hat,  unter  Seele  die  Gesammtheit  der  seelischen 
Vorgänge  zu  begreifen,  vollzieht  sich  bei  Schwarz  wieder  eine  bedeutsame 
Annäherung  an  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Seelenbegriffes.  Die 
Annahme  einer  geistigen  Persönlichkeit  als  Trägerin  der  geistigen  Functionen 
und  weiteres  deren  Beziehung  zu  einem  persönlichen  Gotte  bildet  wohl 
den  wichtigsten  Punkt  der  Metaphysik  Schwarz.    Wir  müssen  es  uns  hier 


438  Literaturbericht. 

versagen,  den  metaphyBiflchen  Ausführungen  des  Verf.*s  ins  Einzelne  in 
folgen. 

In  der  Einleitung  behandelt  der  Verf.  den  Gregensatz  zwischen  Natur- 
zwang und  Normzwang.  Der  Naturzwang  ist  entweder  ein  physischer  oder 
ein  psychischer.  Auch  im  letzteren  Falle  ist  die  psychische  Person  causal 
beeinflufst  (z.  B.  Motivzwang).  Ist  dagegen  die  psychische  Person,  insofern 
sie  aus  sich  nach  selbständigen  Gesetzen  zu  wirken  vermag,  die  alleinige 
Ursache  gewisser  seelischer  Acte,  dann  spricht  man  vom  Normzwang. 
Gewisse  Denkvorgänge  stehen  nun,  wie  die  Logik  zeigt,  unter  dem  Norm- 
zwang. Vielleicht  giebt  es  analog  auch  Acte  des  Willens,  die  eigenen  Ge- 
setzen gehorchen.    Das  ist  die  Frage,  die  das  Buch  l(Vsen  wilL 

Der  erste  Theil  des  Buches  (Lehre  vom  unteren  BegehrungsvermOgen] 
handelt  von  den  Naturgesetzen  des  Willens  und  zeigt,  wie  weit  im  Gebiete 
des  Willens  der  naturgesetzliche  Mechanismus  reicht.  Er  umfafst  die  Acte 
des  Gefallens  und  Mifsfallens,  Gefallen  und  Mifsfallen  sind  keine  Gefühle. 
Lust  ist  ein  Gewertetes,  kein  Werten.  Lust  ist  Object  des  Grefallens. 
Aehnlich  verhält  es  sich  mit  Unlust  und  Mifsfallen.  Gefallen  und  Mifs- 
fallen, die  Acte  des  niederen  Begehrungsvermögens  sind  die  einfachsten 
und  ursprünglichsten  Willensregungen.  Sie  haben  ihren  Ursprung  in  den 
allgemeinen  Willensanlagen.  Alles  Gefallen  und  Mifsfallen  läfst  Sättigungs- 
unterschiede zu.  Das  Begehrte,  das  wir  haben,  sättigt  unser  Grefailen; 
iBolange  wir  es  begehren,  ohne  es  zu  haben,  bleibt  unser  Gefallen  unge- 
sättigt. Ungesättigt  nennen  wir  jenes  Gefallen,  das  uns  mit  Wünschen 
erfüllt,  gesättigt  jenes,  bei  dem  das  Wünschen  aufhört.  Entgegengesetzt 
wie  das  Gefallen  zum  Wünschen,  verhält  sich  das  Mifsfallen  zum  Wider- 
streben.   Letzteres  schwindet,  wenn  das  Mifsfallen  ungesättigt  wird. 

Wir  können  hier  die  Frage,  ob  die  von  Schwarz  vorgenommene  Um- 
stellung der  Begriffe  vor  der  bisher  waltenden  Ansicht,  nach  welcher  Ge- 
fallen und  Mifsfallen  für  Gefühlsreactionen  gehalten  werden,  den  Vorzug 
verdient,  auf  sich  beruhen  lassen.  Jedenfalls  ist  aber  daran  zu  erinnern, 
dafs  als  gemeinsames  Merkmal  aller  Willensregungen  gilt,  dafs  sie  auf 
Nieht-Daseiendes  gerichtet  sind.  Ein  Umstand,  der  beim  Gefallen  und 
Mifsfallen  nicht  von  Belang  ist. 

Die  Aufgabe  des  zweiten  Theiles  des  Buches  (Lehre  vom  oberen  Be- 
gehrungsvermögen) besteht  in  der  Aufdeckung  der  Normgesetze  des 
Willens.  Das  Vorziehen  ist  keine  intellectuelle  Operation;  es  ist  vielmehr 
ein  höherer  Willensact.  Die  Acte  des  Vorziehens  (Lieberwollen)  sind  ebenso 
wie  die  des  Gefallens  und  Mifsfallens  ursprüngliche  Aeufserungen  des 
W^illensvermögens.  Während  aber  diese  unter  dem  Naturzwange  stehen, 
vollziehen  sich  jene  nach  autonomen  Gesetzen.  Hier  ist  die  Grenze  des 
naturgesetzlichen  Mechanismus  im  Willensleben.  Das  Vorziehen  ist  ent- 
weder ein  analytisches  oder  ein  synthetisches.  Dem  analytischen  Vor- 
ziehen wird  durch  die  Acte  des  Gefallens  und  Mifsfallens  die  Richtung 
gewiesen.  Diese  lassen  schon  vorher  erkennen,  wo  das  Bessere  liegt.  Das 
analytische  Vorziehen  tritt  stets  zu  Gunsten  des  satter  Gefallenden  und 
minder  satt  Mifsfallenden  ein.  Synthetisch  ist  das  Vorziehen,  das  durch 
seinen  eigenen  Act  anzeigt,  wo  das  Bessere  liegt.  Durch  das  synthetische 
Vorziehen  werden  wir  uns  bewufst,   was  besser  und  was  schlechter  ist. 


Literaturbericht.  439 

Das  synthetische  Vorziehen  prägt  Würdeunterschiede.  Das  Bessere,  das 
flieh  darch  den  Act  dieses  Vorziehens  kundgiebt,  ist  das  sittlich  Bessere. 
Wir  stellen  das  Wollen  persönlicher  Werthe  höher  als  das  zuständlicher 
Werthe  und  setzen  das  Wollen  der  Fremd-Werthe  über  das  von  allen 
£igenwerthen.  Mit  der  Elarlegung  der  Normen  des  analytischen  und 
synthetischen  Vorziehens  gewinnen  wir  den  Begriff  eines  voluntaristischen 
Apriorismus,  der  sich  dem  rationalistischen  Apriorismus  Kant's  ergänzend 
zur  Seite  stellt.  Die  Anerkennung  eigener  Normgesetze  im  Gebiete  des 
Willens  bringt  auch  die  Lösung  des  Problems  der  Willensfreiheit.  Sie  ist 
einerseits  eine  deterministische,  denn  sie  lehrt  Determinirung  der  höheren 
Willensacte  durch  Normzwang;  und  andererseits  ist  sie  aber  eine  in- 
deterministische, denn  sie  leugnet  die  Determinirung  der  höheren  Willens- 
acte durch  Motivzwang.  Es  widerspricht  keineswegs  dem  physikalischen 
Gesetze  der  Energieerhaltung,  dafs  freie  Wesen  mit  spontanen  Acten  das 
Gewebe  der  natürlichen  Ursachen  durchbrechen.  Das  Gesetz  der  Energie- 
erhaltung besagt  nichts  anderes,  als  dafs  es  kein  perpetuum  mobile  giebt, 
oder  dafs  es  unmöglich  ist,  mit  vorhandener  physischer  Energie  neue  zu 
erzeugen. 

Das  Buch  beschliefsen  zwei  Excurse,  von  denen  der  erste  einen  allge- 
meinen Beitrag  zur  Lehre  von  den  Gefühlen  bringt,  der  zweite  von  der 
Oentrirung  der  Vorstellungen  durch  das  Gefallen   und  Mifsfallen  handelt. 

Saxingeb  (Linz). 

Alfred  Eühtmann.  Haine  de  Biran.  Ein  Beitrag  xnr  Geschichte  der  Meta- 
physik und  Psychologie  des  Willens.  Bremen,  M.  Nöfsler,  1901.  195  S. 
Das  historische  Interesse  unter  den  gegenwärtigen  Psychologen  ist  im 
Allgemeinen  nicht  sehr  stark.  Man  ist  zu  sehr  mit  der  wachsenden  Fülle 
-von  Problemen  und  ihrem  grofsen  Anhang  von  Einzelfragen  beschäftigt, 
als  dafs  man  sich  um  deren  Vorgeschichte  viel  kümmern  könnte.  Und 
doch  liefse  sich  wohl  manche  Mühe  sparen,  wenn  man  die  Geschichte  mehr 
zu  Rathe  zöge.  Denn  nicht  wenige  Fragen  sind  von  den  Früheren  weiter 
gefördert  worden,  als  wir  anzunehmen  gewohnt  sind,  und  mancher  frucht- 
bare Gedanke,  zu  dem  wir  erst  auf  langen  Umwegen  gelangt  sind,  ist  schon 
früher  ausgesprochen  worden.  Es  ist  darum  sehr  zu  begrüfsen,  dafs  Küht- 
MANN  sich  der  keineswegs  geringen  Mühe  unterzogen  hat,  die  Psychologie 
Maine  de  Biran's,'  deren  Grundgedanke  in  der  voluntaristischen  Psychologie 
unserer  Tage  eine  Art  Auferstehung  feiert,  in  zusammenfassender  Dar- 
stellung uns  Deutschen  näher  zu  bringen.  Kühtmakn's  Absicht  ist  dabei 
keineswegs,  die  gesammten  Gedankengänge  des  französischen  Denkers  in 
allen  ihren  Einzelheiten  darzulegen  und  kritisch  zu  erörtern.  Vielmehr 
beschränkte  er  sich  darauf,  die  geschichtlichen  Anknüpfungspunkte  der 
BiRAM'schen  Philosophie,  sowie  ihren  Entwickelungsgang  nur  in  den  Grund- 
zügen darzulegen,  nicht  ohne  Leben  und  Lebenskreis  des  Philosophen  zu 
beschreiben.  Dagegen  behandelt  er  diejenigen  Fundamentalprobleme  seiner 
Philosophie  ausführlicher,  deren  Ausprägung  M.  de  B.  selbst  als  seine 
werthvollste  Gedankenarbeit  betrachtet  hat,  wie  das  Verhältnifs  des  Wollens 
zum  Empfinden  und  Vorstellen,  Apperception  und  Aufmerksamkeit,  die  Ur- 
sächlichkeit des  Willens  und  das  Causalproblem  und  den  WUletv  «As  C^wtx^- 
punkt  des  ethischen  Problems. 


440  LUeratwrbencht. 

Als  Ausgangspunkt  M.  i»  B/s  ist  der  auf  Locxb  sich  stütacad»  Co*- 
KiLAC  XU  betrachten,  nicht  sowohl  in  positiTem,  alsrielBaehr  m  negstiTsn 
Sinne.  Dieser  consequenteste  Vertreter  des  Sensualismus  ist  ihm  „die  all- 
gemein anerkannte  Autorität,  der  wichtigste  (Gegner,  in  dessen  psyehdogi- 
schem  Ausgangspunkte  alle  IrrthAmer  der  sensualistischen  Biehtungen  ein- 
geschlossen liegen.''  Gegen  ihn  erhebt  er  den  Vorwurf,  ndtkSa  er  allein  aoi 
der  sinnlichen  Empfindung,  die  der  Menseh  mit  den  Thieren  theilt,  alle 
weitere  seelische  und  geistige  Thfttigkeit  ableitet  und  die  ActiTitftt  des  Bt* 
wufstseins  vemachlftssigt"  und  damit  „den  Willen  den  Empfindungen  unter- 
ordnet, von  denen  er  Anstofs  und  Bichtung  empfangen  soll."  CoMnnjjurs 
Grundsatz,  dafs  alle  seelischen  Erscheinungen  im  Grrunde  nur  umgewandelt» 
Empfindungen  seien,  ist  ihm  „nichts  weiter  als  eine  abstracte  Hypothese; 
und  wenn  dieser  Philosoph  alle  Seelenkrftfte  und  die  primitiven  Erkennt- 
nisse aus  der  transformirten  Empfindung  ableiten  zu  können  glaubt»  wo 
setzt  er  eben  stillschweigend  das  Persönlichkeitsbewufstsein  oder  das  Ich 
als  in  der  Natur  der  Seele  selbst  oder  des  empfindenden  Snbjects  pii- 
existirend  voraus^.  M.  de  B.  sieht  seinerseits  die  psychische  Grundthat* 
Sache  in  einer  anderen  Erscheinung.  Die  keines  Beweises  bedürftige,  vos 
Jedem  anerkannte  Thatsache  des  Selbstbewnüertseins  ist  fflr  ihn  die  Fähig- 
keit, eine  Muskelbewegung  willkürlieh  ausführen  zu  können,  die  gewollte 
Anstrengung,  der  effort  voulu.  In  der  Sinnesempfindung,  GoiimLLAc's  Ur* 
phänomen,  fühlen  wir  uns  nur  passiv ;  unsere  Activität  kommt  dabei  nicht 
zur  Geltung.  „Den  effort  voulu  bilden  zwei  Glieder  eines  VerbftltnisseB^ 
die  nicht  von  einander  getrennt  werden  können,  ohne  ihre  Natur  zu  ändern, 
un  seul  rapport  ä  deux  termes,  oder  zwei  Elemente,  die  gleichzeitig  wahr- 
genommen werden  und  demnach  die  ursftchliche  Verbindung  des  Willeni 
mit  der  Bewegung  in  der  unmittelbaren  inneren  Apperception  unzweifelhaft 
machen."  „Aber  ebenso  sicher  unterscheidet  die  innere  Apperception  die 
beiden  Glieder  (termes)  von  einander.  Jeder  freiwillige  Bewegungaact 
trennt  sich  in  den  Widerstand  des  Muskels  (rösistance  organique,  Sensation 
musculaire)  und  in  eine  hyperorganische  Kraft  (force  hyperorganiqae)."^ 
„Die  Kraft,  die  angewandt  wird,  um  den  Körper  zu  bewegen,  ist  eine 
thätige  Kraft,  die  wir  Willen  nennen.  Das  Ich  identificirt  sich  mit  ihr 
vollständig'^  und  „unterscheidet  sich  daim  als  Ursache  von  der  ansgeführten 
Bewegung  als  Wirkung."  „Dieses  Ichbewufstsein  =  Persönlichkeitsbewolit- 
sein  =  Wille  ist  toto  genere  von  dem  einfachen  Bewufstsein  einer  Sinnee- 
empfindung  verschieden"  und  geht  dem  Thiere  ab.  Allen  psychologischen 
Thatsachen  entsprechen  stets  physiologische,  „aber  sie  laufen  nur  parallel, 
sind  nicht  aus  einander  ableitbar." 

Für  dieses  Grundprincip  suchte  M.  db  B.  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie theils  übereinstimmende  Anschauungen,  die  ihm  als  Bestätigong 
dienten,  theils  gegensätzliche  Auffassungen,  an  denen  er  die  Festigkeit 
seiner  Ansicht  prüfen  konnte.  In  knapper  Form  zeigt  der  Verf.,  wie  M.  db  B. 
sich  zu  Cabtbsiüs  stellte,  wie  zu  Hobbes  und  Gassbndi,  zu  'M.äusbkxscee, 
Locke,  Bacon,  Hume,  Leibniz,  zu  den  Philosophen  der  Berliner  Akademie, 
zu  Kant,  Schelling,  Bouterwek  und  zu  der  Physiologie  seiner  Zeit 

Dieses  IcVibe^w^Xae^ü  \a\»  ^%  ^tvo^x^  ^v»yci3:V<^M  di<d  ErkenntnüsqueUe 
für  die  abstracten  TXi^\A^\iiÄ\ac\3Ä\v  ^^^^^  ^«t  "^x^^Naxa.^  ^isst  ^'LssJss^^»^ 


lAteraiurbericht  441 

Identitit»  der  Urssebe  und  Wirkung,  welche  durch  die  Analyse  der  Vernunft 
mm  der  ursprünglichen  BewnÜBtseinsthatsache  als  dem  nächstliegenden  und 
b«0tgekannten  Erfahrungsmaterial  abstrahirt  werden. 

An  diese  Darlegung  der  BmAN'schen  Psychologie  und  Metaphysik  reiht 
BL  eine  Biographie  des  Philosophen,  die  uns  ein  anschauliches  Bild  von 
der  auch  rein  menschlich  interessanten  Persönlichkeit  dieses  feinsinnigen 
Denkers  geben.  Im  darauffolgenden  Abschnitte  wird  die  Literatur  über 
ihn  zosammengestellt,  nicht  ohne  gelegentliche  kritische  Stellungnahme. 
Entgangen  ist  der  Findigkeit  des  Verf.*8  nur  der  von  Ernbst  Navillk 
stammende  umfangreiche  Artikel  über  M.  de  B.  im  Dictionnaire  des  sciences 
phüosophiques,  herausgegeben  von  Ad.  Franck,  und  damit  auch  die  daselbst 
mitgetheilte  Literatur,  welche  neben  einigen  von  K.  aufgeführten  Er- 
scheinungen noch  einen  Artikel  von  Jules  Simon  in  der  Revue  des  deiuß 
mandes,  16.  Nov.  1841^  und  ein  Buch:  M.  de  B.,  sa  vie  et  ses  pens^es,  1857 
(2.  ed.  1874)  enthält,  dessen  Autor  aus  dem  Zusammenhang  nicht  deutlich 
ersichtlich  ist.  In  Gumposch,  Die  philosophische  Literatur  der  Deutschen, 
Regensbnrg  1851,  fand  ich  endlich  noch  erwähnt  L.  A.  Gbüter,  Du  spiri- 
tnalisme  du  XIX.  siäcle  on  examen  de  la  doctrine  de  M.  de  B.,  Brux.  1840 
(TissoT,  Observations  critiques).  Die  nächsten  Capitel  bringen  sehr  inter- 
essante Hinweise  auf  übereinstimmende  Ansichten  bei  englischen  Philo- 
sophen, wie  Bbid  und  anderen  Edinburgern,  Bain  und  Spencer,  und  auf 
die  Kritik,  welche  besonders  Hamilton  an  M.  de  B.'s  Theorie  geübt,  sowie 
auf  die  Wiederkehr  und  Umbildung  seiner  Gedanken  bei  Schopenhauer  und 
WuNDT,  welchen  Beiden  gemeinsam  ist  die  Bedeutung,  die  sie  der  psycho- 
logischen Betrachtung  des  Verhältnisses  zwischen  der  äufseren  und  inneren 
Willenshandlung  beilegen,  bei  M.  de  B.  der  einzigen  Strafse,  bei  Sch.  und  W. 
der  wichtigsten  Strafse,  welche  zu  einer  metaphysischen  Weltanschauung 
führt  (S.  8). 

Den  Schlufs  des  Buches  bildet  eine  Prüfung  der  „inneren  Folgerichtig- 
keit der  theoretischen  Probleme  und  der  Festigkeit  ihrer  Fundamente",  so- 
wie eine  Schlufsbetrachtung,  in  welcher  der  Verf.  seine  eigene  philosophische 
Stellung  skizzirt.  Um  unser  Urtheil  zusammenzufassen,  sehen  wir  in  dem 
anziehend  und  meist  klar  geschriebenen  Buche  einen  dankenswerthen  Bei- 
trag zur  Greschichte  der  Psychologie.  M.  Offner  (München). 

A.  W.  Tbbttibn.  Creepiftg  and  Walking.  Amef\  Jaum,  of  Psych.  12  (1),  1—57. 
1900. 
Auch  diese  von  Stanley  Hall  angeregte  Arbeit  erwirbt  ihr  Material 
über  die  Entwickelung  des  Kindes  bis  zur  Erlernung  des  Gehens  vor  Allem 
aus  Fragebogen,  die  allerlei  Beobachtungen  des  ganzen  motorischen  Ver- 
haltens des  Kindes  von  der  Geburt  bis  zu  jener  Periode  sammeln  wollen. 
Wo  es  sich  um  die  äufseren  Bewegungen  handelt,  ist  diese  Methode  natür- 
lich hier  sehr  gut  am  Platze.  Mifslich  wird  die  Sache  schon  wieder,  wenn 
die  Analyse  des  Willensvorganges  der  Kinder  in  Frage  kommt.  Nach  Zu- 
sammenstellung der  Anatomie  und  Physiologie  über  Maafse,  Stellung  und 
Bewegungen  des  Embryo  etc.  und  Darlegung  der  BALDwiM*schen  Theorie 
über  die  Entwickelung  der  Willkürbewegung,  werden  an  der  Hand  jener 
Mittbeilnn^eii  das  Liegen,  Sitzen,  Kriechen  und  fioiv«\i%<&  ^^TVtEAVVH^  ^^\\r 


442  Literaturhericht 

bewegangsmittel  incl.  der  ersten  Gehversuche  beschrieben.  Anch  wird  tot 
Allem  die  schliefsliche  Hauptfrage  discutirt,  ob  dieses  erste  Grelingen  immer 
willkürlich  sei  in  dem  Sinne,  dafs  die  Aufmerksamkeit  dabei  der  Bewegong 
zugewandt  ist,  oder  ob  der  Mechanismus  nicht  schon  gleich  im  alleinigen 
Hinblick  auf  einen  höheren  Zweck,  z.  B.  Erreichung  femliegender  Gegen- 
stände, nach  entsprechender  Entwickelung  der  Anlagen  ohne  auf  die  B& 
wegung  gerichtete  Aufmerksamkeit  nebenbei  wie  sonst  nach  der  Einübung 
ablaufen  könne,  was  vom  Verf.  behauptet  wird.  Natürlich  ist  der  sichere 
Nachweis  für  ein  solches  ausschliefsendes  Urtheil,  zumal  auf  Grund  fremder 
Beobachtungen,  immer  schwer.  Auch  ist  die  Einübung  von  Associationen 
motorischer  Vorstellungen  mit  ausdrücklicher  Beachtung  derselben  in  der 
aufmerksamen  Betrachtung  anderer  Personen  der  Umgebung  vielleicht 
nicht  hinreichend  berücksichtigt,  welche  Vorstellungen  von  Bewegungen, 
die  im  Einzelnen  schon  grofsentheils  geübt  sind,  ebenfalls  zu  einem  neuen 
Ganzen  combiniren  hilft.  Gerade  für  diese  Frage  sind  ja  die  gleichfalls 
beigezogenen  Kückfälle  in  die  primitiveren  Fortbewegungen  lehrreich, 
welche  in  der  Eile  eintreten,  wo  thatsächlich  die  Aufmerksamkeit  gans 
vom  Zwecke  absorbirt  wird.  Die  Arbeit  schliefst  mit  philosophischen 
Betrachtungen  über  den  rückläufigen  Abschluls  der  höchsten  Entwickelang 
in  der  Rückkehr  zur  kriechenden  Stellung  im  Gebete. 

WiRTH  (Leipzig). 

P.  Näcke.    Zar  Pathogenese  and  Klinik  der  Wadenkrimpfe.    Ncurologvschei 

Centralblatt  (7),  1—7.    1901. 
Den  Wadenkrämpfen  hat  besonders  F£b£  seine  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt.   Er  nimmt  als    Ursachen  heftige  Verkürzung  der  Muskeln  oder 
eine  Entspannung  an,  wobei  Ermüdungszustände,  nämlich  nervöse,  hysterische, 
epileptische,  namentlich  paralytische  begünstigend  wirken.    Nach  N.  tragen 
heftige  Verkürzungen  und  fehlerhafte  Bewegungen  die  Schuld.    Sie  treten 
vorwiegend  des  Nachts  auf,    ferner   nach   langen  Märschen,   Schwimmen, 
Tanzen,  bei  heftigem  Stiefelanziehen.    Dafs  chemische  Heize  eine  grofse 
Rolle  dabei  spielen,  sehen  wir  aus  den  häufigen  Wadenkrämpfen  bei  Cholera, 
Diarrhoe,  Typhus,  Diabetes,  Blei-,  Arsen-,   Schwefel  Vergiftung,    desgl.  bei 
Magenüberfüllung,  Obstipation,  Schwangerschaft,  ebenso  bei  Hysterie,  Epi- 
lepsie.   Das  allen  Beiden  Gemeinsame  liegt  in  der  abnormen  Beschaffenheit 
des  Blutes:  Blutverdickungen  und  Stauungserscheinungen.    Doch  ist  nicht 
erklärlich,  weshalb  die  entsprechenden  Wirkungen  sich  gerade  in  der  Wade 
fühlbar  machen  sollten.    N.  zeigt,  dafs  die  Theorie  der  Wadenkrämpfe  über- 
haupt noch  wenig  ausgebildet  ist.    Jedenfalls  sind  die  Crampi  peripher  be- 
dingt, central  gewifs  nur  selten.    N.  hält  die  von  Vold  angeführten  Fälle 
über  die  Beziehungen  zwischen  Wadenkrämpfen  und  Traumhallucinationen 
für  wenig  zuverläfslich,  da  der  Krampf  so  urplötzlich  und  heftig  einsetse, 
dafs  man  gewöhnlich   sofort  aufwacht,  so  dafs  also  die  Auslösung  irgend 
eines  Traumes  unwahrscheinlich  wird.  —  * 

Dafs  ein  gefühlsbetonter  Körpertheil  in  der  Traumwelt  des  Besitzers 
dessen  Vorstellungen  und  Bilder  beeinflufst,  gehört  ja  zu  den  Grundthat- 
Sachen  des  TTa\xmi.\XÄ\ÄXi^^^.  \i^^^  v^^doeh  Wadenkrämpfe  oder  Abortir- 
krämpfe  (Kr&mpie  m  N^^da  xxxA'BwV^  ^\^  ^  ^x^\!\a»«.\iXij^  \^ä  ^s^^«;§«%s^^de 


Literaturbericht  443 

Traumbildär  geben,  hat  Ref.,  der  häufig  an  Abortivkrämpfen  leidet,  trotz 
seiner  umfassenden  Traumbeobachtungen  noch  nicht  feststellen  können, 
weshalb  er  N.  Recht  geben  muls.  Gibssleb  (Erfurt). 


G.  Stöbrino.   Yorlesingen  ttber  Psychopathologie  in  ihrer  Bedeatang  für  die 
normale  Psychologie  mit  Einschlnfs  der  psychologischen  Grandlagen  der 

Erkenntnifstheorie.    Leipzig,  Engelmann,  1900.    468  S. 

Mit  dem  vorliegenden,  Wilhelm  Wundt  gewidmeten  Werke  wird  uns 
eine  werthvolle  Arbeit  dargeboten,  die  auf  eine  jahrelange  Beschäftigung 
mit  dem  Gegenstande  zurückschliefsen  läfst  und  die  nicht  verfehlen  wird, 
nach  manchen  Seiten  hin  Anregung  zu  neuen  Studien  zu  erwecken.  In 
25  Vorlesungen  sucht  der  Verf.  darzulegen,  was  der  Titel  verheifst.  Dabei 
handelt  es  sich  um  die  Bedeutung,  welche  die  allgemeine  Psycho- 
pathologie für  die  normale  Psychologie  hat,  die  specielle,  welche  nur  ein 
rein  medicinisches  Interesse  darbietet,  bleibt  von  der  Behandlung  ausge- 
schlossen. Da  es  unmöglich  ist,  auf  alle  Einzelheiten  des  reichhaltigen, 
durch  eigene  und  fremde  Erfahrungen  illustrirten  Inhaltes  einzugehen,  so 
beschränken  wir  uns  darauf,  im  Allgemeinen  den  Standpunkt  zu  charakteri- 
siren,  den  der  Verf.  vertritt,  ohne  uns  auf  Kritik  einzulassen. 

Die  Psychologie  ist  dem  Verf.  die  Wissenschaft  von  den  Bewufstseins- 
vorgängen.  Sie  hat  diese  zu  analysiren  und  die  Gesetze  ihrer  causalen 
Beziehungen  festzustellen.  Bei  der  Feststellung  der  letzteren  kann  von 
den  sogenannten  unbewufsten  Vorstellungen  nicht  abgesehen  werden,  ob- 
wohl diese  nicht  im  selben  Sinne  Gegenstand  der  Psychologie  sein  können 
wie  die  Bewufstseinsvorgänge.  Grundbedingung  für  die  Analyse  und  Fest- 
stellung der  Abhängigkeitsbeziehungen  ist  das  klare  und  deutliche  Piervor- 
treten der  zu  untersuchenden  psychischen  Phänomene.  Die  Analyse  kann 
eine  subjective,  introspectiv  sich  vollziehende  oder  eine  objective,  das 
Experiment  und,  wie  bei  Gefühlen  und  Willensacten,  die  körperlichen  Be- 
gleit- und  Folgeerscheinungen  zu  Hülfe  nehmende  sein.  Bei  den  Abhängig- 
keitsbeziehungen sind  solche  von  physischen  und  andere  von  psychischen 
Vorgängen  zu  unterscheiden.  Im  ersten  Falle  wird  die  experimenteile  Be- 
handlung um  so  mehr  erschwert,  je  complexer  der  Vorgang  ist.  Hier  sind 
die  pathologischen  Fälle  heranzuziehen,  in  denen  die  Natur  für  uns  experi- 
mentirt,  und  die  mehr  die  complexen  psychischen  Phänomene  betreffen  als 
die  einfachen.  In  diesem  Sinne  stehen  Psychopathologie  und  normale 
Psychologie  in  Wechselbeziehung  zu  einander,  die  eine  kann  nicht  von  der 
anderen  absehen.  Wie  pathologische  Fälle  einerseits  psychologische  That- 
sachen  zu  erklären  im  Stande  sind,  giebt  es  andere,  die  selbst  der  Er- 
klärung seitens  der  Psychologie  bedürfen.  So  eröffnet  die  Psychopathologie 
zugleich  oft  neue  Fragen  zu  neuen  Problemen. 

Ueber  die  Frage,  welche  Bedeutung  der  anatomisch -physiologischen 
Betrachtungsweise  hier  zukommt,  äufsert  sich  der  Verf.  nach  einer  längeren 
Ausführung  zusammenfassend  dahin,  „dafs  die  Verfolgung  der  psychischen 
Vorgänge  vorDehmUch   auf  der  psychiBchen  8ft\lft  %,feftcYÄ\ÄXi  \siw^%,  ^^Sa 


444  LüeratwfberickL 

lü^er  die  Analyse  hftaflg  anteratütrt  wird  durch  Zahfilfonahjne  pkyeiolec^iBcber 
Fftctcren  und  in  einaelnen  Fällen  ohne  dieselbe  anmöglich  ist^ 

Dem  Vorstehenden  sei  noch  hinzugefügt,^  daüs  der  Arbeit  ein  naifaiig- 
reiches  Literaturverzeichnifs  angehängt  ist.  Kibsow  (Turin). 

L.  Löwenfeld.    Der  Hypnotismiu.    Handbacb  der  Lebre  ioa  der  HypBeta  ul 
der   Snggestiom   mit   besenderer  BerttcksicbtlgttiiK   ibrar    BedMtug  flr 

ledicil  and  Rechtspflege.    Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann,  1901.    522  S. 

Nach  einem  lehrreichen  Ueberblick  über  die  Geschichte  des  Hypnotis- 
mus  geht  Verf.  zum  eigentlichen  Thema  über.  Dabei  setzt  er  ein  bei  dem 
mehrsinnig  gebrauchten  und  deshalb  leicht  zu  Irrthümer  führenden  Begriff 
der  Suggestion,  die  er  selber  definirt  als  „die  Vorstellung  eines  psychischen 
oder  psychophysischen  Thatbestandes,  welche  in  Folge  von  Beschränkung 
oder  Aufhebung  der  associativen  Thätigkeit  durch  Herbeiführung  dieses 
Thatbestandes  eine  aufsergewöhnliche  Wirkung  äuüsert."  Je  nach  dem 
Entstehungsmodus  können  wir  directe  und  indirecte,  Fremd-  und  Anto* 
Suggestionen  unterscheiden,  je  nach  dem  Verhalten  zum  Bewulstsein  be- 
wuTste  und  unbewufste  (oder  unterbewufste) ;  scblielslich  trennt  man  noch 
Wach-  von  hypnotischen  und  posthypnotischen  Suggestionen.  Nachdrück- 
lich hebt  er  hervor,  dafs  der  Suggestion  ein  gewisser,  verschieden  aus- 
geprägter Zwangscharakter  anhaftet.  Suggestibilität  umschreibt  Verf.  als 
die  Neigung  zur  Bildung  von  Suggestionen  auf  äufsere  oder  innere  An- 
regungen; sie  ist  eine  Disposition  der  Psyche,  welche  sich  im^  Ausfall  oder 
in  einer  Abschwächung  der  associativen  Thätigkeit  gewissen  Vorstellungen 
gegenüber,  d.  h.  in  kritikloser  Annahme  gewisser  Vorstellungen  äulsert. 
Man  mufs  hier  die  normale  von  der  abnormen  oder  gesteigerten  Suggesti- 
bilität trennen.  Der  Typus  der  letzteren  ist  die  Hypnose,  die  keinen 
krankhaften,  insbesondere  hysterischen,  sondern  nur  einen  arteÜcieU  er- 
zeugten, eigenartigen,  physiologischen  Zustand  darstellt,  der  durch  g^ 
steigerte  Suggestibilität  ausgezeichnet  ist  und  dem  natürlichen  Schlafe 
nahe  steht.  L.  bezeichnet  die  Hypnose  geradezu  als  einen  Zustand  par- 
tiellen Schlafes.  Jeder  geistig  gesunde  Mensch  läfst  sich  hypnotisiren» 
d.  h.  durch  Hypnotisirungsproceduren  in  irgend  einen  Grad  des  hypnoti- 
schen Zustandes  versetzen,  wie  zuerst  und  mit  Nachdruck  Fobel  betonte. 
Natürlich  ist  die  Hypnotisirbarkeit  individuell  recht  verschieden  und  von 
den  verschiedensten  äufseren  und  inneren  Momenten  abhängig.  Zutreffend 
wird  dabei  hervorgehoben,  dafs  Geisteskranke  sich  schwer  hypnotisiren 
lassen. 

Bei  der  Technik  der  Hypnotisirung  unterscheidet  Verf.  trotz  der 
scheinbar  aufserordentlichen  Mannigfaltigkeit  der  hypnosigenen  Mittel 
sensorielle  Reize  (Fixation,  mesmerische  Striche)  und  die  directe  Erwecknn^ 
von  Schlafvorstellungen  (durch  verbale  Eingebung  oder  auf  anderem  Wege". 
Die  letztere,  die  suggestive  Methode,  ist  gegenwärtig  am  meisten  verbreitet. 
Die  für  die  Einleitung  der  Hypnose  zutreffenden  Vorbereitungen  und  ihre 
verschiedenen  Modificationen  werden  ausführlich  geschildert,  insbesondere 
die  Methode  von  Bern  heim,  die  vom  Verf.  und  die  sogenannte  fractionirte 
Methode  von  Vogt. 

Sehr  eingeYi^tvd  -^'^x^eu  \i'öääi\\\Ocv  ^\^  -s^wÄäKvsÄÄxsfija.  ^^^^dci^s^^i^^  und 


Literaturberiekt  446 

«taaatMcflien  firscbeiiiiiiigeii  der  normalen  Hypnose  abgehandelt ;  besonders 
ietenswerth  ^werden  für  die  Leser  dieaer  Zeitschrift  die  Ausfflhnmgen  über 
&ftpfindiing88töningen,  Hallucinationen  and  negative  Hallacinationen  sein, 
"welch*  letztere  Verf.  „selective  Anästhesie"  zu  benennen  vorschlagt. 

Den  Erscheinungen  der  normalen  Hypnose  stehen  gegenüber  die  der 
IMkthoIogischen  Hypnose,  die  im  Grolsen  und  Ganzen  als  Mischformen 
von  Hypnose  und  hysterischen  Zuständen  aufgefafst  werden  können. 
Natürlich  giebt  es  flielsende  Uebergänge  zwischen  normalen  und  patho* 
logischen  Hypnosen  wie  die  hypnotischen  Zustände,  in  deren  Verlauf  som- 
nambule Träume  auftraten. 

Von  besonderem  Interesse  sind  auch  für  den  Laien  die  posthypnoti- 
flchen  Erscheinungen  und  hier  vor  Allem  die  mit  längerer  Verfallzeit 
(Suggestion  k  ^ch^ance).  Seine  Ausführungen  belegt  Verf.  mit  einer  Keihe 
von  zum  Tbeii  geradezu  frappanten,  fremden  und  eigenen  Beobachtungen. 
Das  Experiment  gelang  hierbei,  auch  wenn  die  Verfallzeit  Monate  dauerte, 
und  die  suggerirte  Handlung  noch  so  fremd  und  eigenartig  war.  In  einem 
mitgetheilten  Falle  realisirte  sich  die  Eingebung  genau  nach  4335  Min.,  wie 
suggeriert  war. 

Die  weiteren  Capitel  über  au fserge wohnliche  Erscheinungen  des 
Somnambulismus  und  der  Hypnose  verwandte  Zustände  können  wir  hier 
füglich  übergehen,  da  die  vom  Verf.  geschriebene  und  das  gleiche  Thema 
behandelnde  Arbeit  „Somnambulismus  und  Spiritismus"  bereits  früher  hier 
eine  eingehende  Besprechung  erfahren  hat.  Er  weist  hierbei  besonders 
scharf  die  Meinung  zurück,  als  ob  die  Hypnose  eine  Art  von  arteficiell  er- 
zeugter Psychose  sei;  gegen  eine  Gleichstellung  mit  der  Demenz  spreche 
die  Möglichkeit  geistiger  Thätigkeit  und  das  Verhalten  des  Gedächtnisses; 
von  der  Verrücktheit  unterscheide  sich  die  Hypnose  dadurch,  dafs  wahn- 
hafte Vorstellungen  bei  ihr  nach  Belieben  erzeugt  und  beeinÜufst  werden 
können.  Die  gesteigerte  Suggestibilität  ist  das  Hauptcharakteristicum 
hypnotischer  Zustände,  und  die  finden  wir  nur  bei  wenigen  Geistes- 
störungen und  auch  da  nur  in  beschränktem  Maafse. 

Wie  schon  oben  bemerkt  ist,  fafst  Verf.  die  Hypnose  als  eine  Form 
partiellen  Schlafs  auf.  Er  nimmt  dementsprechend  auch  an,  dafs  ihr  die 
gleichen  physiologischen  Veränderungen  in  dem  functionellen  Verhalten 
der  corticalen  Elemente  zu  Grunde  liegen  wie  dem  natürlichen  Schlafe. 
Nun  giebt  es  eine  Reihe  von  Schlaftheorien.  Wie  Verf.  aber  ausführt, 
kann  nun  die  Annahme  zutreffen,  dafs  für  das  Einschlafen  ein  Zustand 
corticaler  Anämie  erforderlich  ist,  der  gegenüber  die  Ermüdung  eine  weniger 
vrichtige  Rolle  spielt.  Sehr  wahrscheinlich  wird  jene  Schlaf anämie  des 
Gehirns  durch  Erregung  eines  vasomotorischen  Centrums  in  der  Medulla 
oblongata,  dem  Schlafcentrum  Voot's,  zu  Stande  kommen.  Bei  der  Hypnose 
durch  verbale  Suggestion  werden  die  dem  Einschlafen  vorhergehenden  Vor- 
stellungen erweckt,  und  diese  erregen  in  Folge  eines  erworbenen  func- 
tionellen Connexes  jenes  vasomotorische  Centnim.  Eintönige  Reize  rufen 
Ermüdung  und  damit  Schlafvorstellung  hervor.  Mit  dieser  Auffassung 
lassen  sich  die  drei  Hauptpbänomene  auf  psychischem  Gebiete,  die  Ein- 
schränkung der  associativen  Thätigkeit,  die  Herabsetzung  der  Willenaenergie 
and  die  erhöhte  Suggestihilit&t,  erklären. 


446  Literaturberieht 

Zwei  ansführliche  Capitel  sind  der  Bedeutung  der  Suggestion  und 
Hypnose  für  die  Medicin  und  die  Rechtspflege  gewidmet,  auf  die  an  dieier 
Stelle  nicht  eingegangen  zu  werden  braucht,  da  sie  eben  vorwiegend  deä 
Praktiker  und  den  Sachverständigen  interessiren. 

An  dieser  Stelle  kommt  mehr  die  Bedeutung  des  Hypnotismus  für  die 
Psychologie  in  Betracht,  die  von  den  verschiedenen  Autoren  eine  recht 
verschiedene  Beurtheilung  erfahrt.  Indes  mufs  man  doch  zugeben,  dab 
durch  den  Hypnotismus  die  Psychologie  nicht  nur  um  ein  neues  Capitel 
bereichert  ist,  sondern  auch  unsere  Erkenntnifs  in  den  verschiedenen 
psychologischen  Gebieten  erheblich  gefördert  wurde.  Hinsichtlich  der 
normalen  Psychologie  haben  wir  mannigfache  Aufklärung  erhalten  über  die 
Sinnespsychologie,  in  der  Lehre  von  der  Willensthätigkeit,  vom  Gedächtnüii, 
von  den  un-  oder  unterbewufsten  psychischen  Thätigkeiten,  sowie  in  der 
Kenntnifs  von  den  körperlichen  Wirkungen  seelischer  Zustände.  Noch 
fruchtbarer  wirkte  der  Hypnotismus  auf  die  pathologische  Psychologie,  in- 
dem er  das  Verständnifs  anbahnte  für  den  autosuggestiven  Ursprung  zah^ 
reicher  hysterischer  und  anderer  nervöser  Symptome.  Letzthin  ist  von 
VooT  die  Anwendung  der  directen  psychologischen  Experimentalmethode 
in  gewissen  hypnotischen  Zuständen  empfohlen  worden,  und  die  bereits 
erzielten  Resultate  lassen  noch  manche  bedeutsame  Förderung  erhoffen. 

Schliefslich  haben  auch  unsere  Ansichten  über  Massen-  und  Völker- 
psychologie aus  der  Lehre  der  Suggestion  und  der  Hypnose  reichen  Nutzen 
gezogen.  Warum  freilich  die  Massenpsyche,  wenn  wir  die  Masse  als  eine 
geistiger  Thätigkeit  fähige  Einheit  betrachten,  in  der  Regel  suggestibler  ist 
als  die  Einzelpsyche,  kann  bisher  noch  nicht  befriedigend  erklärt  werden. 
Verf.  legt  grofsen  Werth  auf  die  Art  der  Suggestion.  Die  Suggestion  der 
Massen  sei  keine  allgemein  gesteigerte,  sagt  Verf. ;  sie  gehe  nur  in  gewiesen 
Richtungen  über  die  Durchschnittssuggestibilität  der  sie  bildenden  Einzel- 
individuen hinaus;  sie  sei  mit  anderen  Worten  im  Wesentlichen  electiver 
Natur.  So  zeigen,  um  das  an  einem  Beispiele  darzuthun,  die  OonservaÜTen 
in  der  Regel  für  die  socialistischen  Eingebungen  nicht  die  geringste 
Empfänglichkeit  und  umgekehrt.  In  Versammlungen  wird  die  geistige 
Persönlichkeit  der  einzelnen  Theilnehmer  eingeschränkt,  und  dem- 
entsprechend ihr  geistiger  Horizont  eingeengt;  weiter  wirken  mit  Vor- 
eingenommenheit, die  Gemüthsverfassung,  der  Mangel  des  Gefühls  persön- 
licher Verantwortlichkeit,  die  Nachahmungssucht.  Kurz  und  prägnant 
werden  Erscheinungen  der  Massensuggestion  auf  religiösem,  politischem, 
wirthschaftlichem  Gebiete,  auf  dem  der  Mode,  Literatur  und  Kunst  skizziri 

Das  dürfte  genügen,  um  den  Beweis  zu  erbringen,  dafs  Verf.  das  Ziel 
erreicht  hat,  welches  ihm  bei  der  Abfassung  der  vorliegenden  Arbeit  vor 
Augen  schwebte,  nämlich  eine  möglichst  vollständige  Darstellung  des  That- 
sächlichen  und  Wissenswerthen  auf  dem  Gebiete  des  Hypnotismus  zu  geben. 
In  der  That  fehlte  es  uns  an  einer  dem  derzeitigen  Stande  der  Wissen- 
schaft entsprechenden  Darstellung,  und  Verf.  war  mit  seiner  reichen  Er- 
fahrung sicherlich  der  Berufene,  diese  Lücke  auszufüllen.  Die  Form  der 
Darstellung  ist  anife^^Ti^*,  ^\^  ^\\s>Kt\«v^«v!L  >M\d  Beobachtungen  anderer 
Autoren   weiden  ^ieT^eY«vc^\i\^^^.  wxA  YxSJCä^^  ^«^^^t'Cörx.x  ^\ää  ^^^««»«Js«. 


Literaturbericht  447 

der  wichtigeren,  seit  dem  Jahre  1890  publicirten  Literatur  ist  beigefügt. 
Bomit  wird  die  Arbeit  die  gute  Aufnahme  finden,  die  sie  verdient. 

Ernst  Schtjltzr  (Andernach). 

P.  SoLLisB.  Psychologie  de  Tldiot  et  de  rimbicile.  II.  Edition.  Paris,  Felix 
Alcan,  1901.  236  S. 
Auf  das  interessante  Werk  von  Sollieb  wurde  bereits  im  dritten  Band 
dieser  Zeitschr.  des  Näheren  hingewiesen  gelegentlich  der  Uebertragung  ins 
Deutsche  durch  Bbib  (Bd.  UI,  S.  240  f.).  Sollibr*s  Werk  erschien  in  erster 
Auflage  im  Jahre  1891,  die  deutsche  Uebertragung  im  selben  Jahre.  Später 
wurde  es  durch  Gtoldbauh  1893  ins  Polnische  übersetzt.  Jetzt  ist  die  zweite 
französische  Ausgabe  erschienen,  die  übrigens  im  Wesentlichen  nur  ein 
Abdruck  der  ersten  Ausgabe  ist.  Von  der  deutschen  Uebertragung  ist  bis- 
her die  zweite  Auflage  nicht  erschienen.  Mit  Unrecht.  Das  Werk  verdient 
wirklich  weiteren  Kreisen  bekannt  zu  werden.  Umpfenbach. 

Wachsmüth.    Cerebrale  Kinderläbmang  und  Idiotie.    Arch.  für  Psychiatrie  34, 

787—841. 

An  der  Hand  von  22  Krankengeschichten  kommt  W.  zu  dem  Resultat, 
daCs  Idiotie  und  cerebrale  Kinderlähmung  in  Aetiologie,  Symptomatologie 
und  vielleicht  auch  pathologischer  Anatomie  eine  so  grofse  Zahl  von  Be- 
rührungspunkten haben,  dafs  wir  diese  Thatsache  nicht  als  zufällig  und 
oberflächlich  auffassen  dürfen.  Belastung,  Infectionskrankheit  und  Trauma 
bilden  in  vielen  Fällen  für  Idiotie  und  cerebrale  Kinderlähmung  die  Aetio- 
logie. Nicht  jede  Idiotie  läfst  sich  aus  der  cerebralen  Kinderlähmung,  resp. 
deren  Initialläsion,  die  Encephalitis  ableiten,  —  doch  mufs  man  annehmen, 
dafs  die  cerebrale  Kinderlähmung  viel  häufiger  ist,  als  durchschnittlich 
angenommen  wird.  .Die  Lähmung  verschwindet  häufig  ganz.  Lähmung 
und  geistige  Schwäche  laufen  nicht  parallel.  Es  giebt  Fälle,  die  in  geistiger 
und  körperlicher  Beziehung  zu  einer  restitutio  ad  integrum  führen,  — 
andere,  die  psychisch  keine  dauernden  Schädigungen  erkennen  lassen,  wohl 
aber  auf  körperliche  Gebiete  Lähmungen  zeigen.  Wieder  andere  Fälle 
weisen  psychische  Schädigungen  auf,  aber  keine  somatischen,  —  während 
schliefslich  eine  vierte  Reihe  von  Fällen  psychische  und  somatische 
dauernde  Störungen  erkennen  lassen.  Umpfbnbach. 

Bbbnabd  Hollandeb.    The  Cerebral  Localisation  of  lelancholia.    Joum.  of 

Ment  Science  47  (198),  458-4a5.  1901. 
Herr  Hollandeb  hat  die  Psychiatrie  um  eine  wichtige  Erkenntnifs  be- 
reichert: die  Melancholie  sitzt  im  Scheitellappen.  Melancholie  wird  ein- 
gangs als  eine  Geisteskrankheit  definirt,  die  ausschliefslich  das  Ge- 
müthsleben  afficirt,  die  Intelligenz  aber  unberührt  läfst;  dann  wird  jedoch 
ganz  kritiklos  jeder  als  melancholisch  bezeichnet,  der  deprimirt,  traurig, 
apathisch,  ängstlich  ist;  doch  H.  thut  ja  nur,  was  viele  Andere  auch  thun: 
mit  dem  Worte  Melancholie  ist  von  jeher  Unfug  getrieben  worden.  Es 
werden  eine  grofse  Menge  von  Fällen  aus  der  neueren  und  älteren  Lite- 
ratur referirt,  eigene  Beobachtungen  scheinen  H.  nicht  zur  Verfügung  zu 
stehen.    Darunter  ßndet  sich  alles  Mögliche*.  ScYv^^\\m^T^«.%\öTk«ii,  '^äStcl- 


448  Literaturbericht 

abscesse,  Tumoren,  Erweichungen,  Hämatome  der  harten,  Cysten  der  wefclMD 
Hirnhaut,  Leute,  die  „nebenbei"  an  progressiver  Paralyse  litten  u.  v.  a.«.: 
daneben  wirklich  Geisteskranke  verschiedenster  Art.  Bei  allen  diesen 
„Melancholischen''  war  irgendwie  der  Scheitellappen  des  Gehirns  oder  die 
darüber  befindlichen  Hüllen  makroskopisch  grob  verändert. 

Schröder  (Heidelberg). 


NicKB.    Drei  crlmintUmtbropolegiiclia  TbemeiL   Ärekkf  für  CriminaUmtiirüpd. 
6,  360—371.    1901. 

N.  beantwortet  die  erste  Frage:  ob  die  Oriminahinthropologie  mehr 
zur  Anthropologie  oder  zur  forensischen  Psychiatrie  gehört^  gegen  Lombiom 
und  sein  Grefolge,  welche  dieselbe  für  eine  Disciplin  für  sich  erklären,  die 
offenbar  am  Nächsten  zur  Anthropologie  gehört,  —  dahin,  dafis  das  Ver 
brechen  eine  antisociale  Handlung  ist,  dals  es  keinen  Verbrechertypiw 
giebt,  dafs  zwischen  Normalen  und  Verbrechern  nur  Quantitätsunterscbiede 
aller  Qualitäten  bestehen,  dals  die  Entartungszeichen  keinerlei  regelrechte 
Combination  zeigen,  und  dafs  der  Verbrecher  als  specieller  Gegenstand  der 
eigentlichen  Anthropologie  ausscheidet.  Die  Criminalanthropologie  gehört 
der  Methodik  und  der  Untersuchung  nach  zwar  zur  Anthropologie,  ihren 
Hauptzweck  nach  aber  zur  forensen  Psychiatrie.  Dadurch  .wird  auch  du 
Hauptgewicht  auf  die  Erforschung  der  physiologisch-psychischen  Seite  dei 
Verbrechers  gelegt.  — 

N.  fragt  dann  weiter:  giebt  es  zur  Zeit  praktische  Mittel  und  Wege, 
um  Intellect,  Affectsphäre  und  Moral  zu  messen?    Intellect,  Affecte  und 
Moral  spielen  beim  Verbrechen  eine  Hauptrolle,  meist  wegen  der  Defe^ 
tuosität  dieser   drei  Dinge.    Ein   specifisches  Verhalten   dieser  Qoalititeii 
iäfst  sich  nicht  nachweisen.    Den  Normalen  gegenüber  handelt  es  sich  ov 
um  Quantitätsunterschiede.    Es  kommt  nur  darauf  an,  wann  obige  Qnih- 
täten  so  beschaffen   sind,  dafs  eine  Zurechnungsfähigkeit  ansgescbloeeen 
oder  beschränkt   ist.     Ein    sicherer  Maafsstab  für  Intellect,  Aifecte  and 
Moral  fehlt   uns,  die  Begriffe  sind  vieldeutig,  nicht  genau   definiit   Sie 
stellen  keine  einfachen,  sondern  recht  complexe  Dinge  vor.    Beim  Intellect 
spielt  die   richtige  Wahrnehmung  des   Keizes,  die  weitere  Verarbeitong, 
Association  und  Schlufsbildung  eine  grofise  Rolle,  ebenso  das  Gedächtnib- 
Sichere  Methoden  für  die  Schlufsbildung  fehlen  uns  noch,  ebenso  fflr  den 
sog.  Willen.     In  Folge  unserer  stets  unmerklich  sich   ändernden  K()rpe^ 
beschaff enheit  schwanken  stets  unsere  Bewufstseinshelle  und  -weite,  ebenso 
unser  Intellect,  Gedächtnifs,   Affect,  Moral  und  Wille.     Der  Charakter  ist 
den  gleichen  Schwankungen  unterworfen  wie  das  Bewufstsein.    Die  Gefühle, 
Affecte,  das  Temperament,  der  Untergrund  alles  seelischen  Getriebes  laseefi 
sich  nicht  fixiren.    Die  affective  Sphäre  ist  vielleicht  im  Geistesleben  über 
haupt  das  Ausschlaggebende,  im  Leben  des  Verbrechers  spielt  sie  sich«' 
die  Hauptrolle.    Geringe  Affecte,  verkümmertes  Triebleben    zeugen  keise 
Verbrecher.    Affecte   und   Triebleben  bestimmen,  ob  die  Moral  angelernt 
oder  in  Fleisch   und  Blut  übergeht.    Sie  beherrschen   auch  den  Intdlect 
Abetractes  Denken,  ^.  Vi.  o\vtv^  Qi^VMi3Ä«a^\«tv>\Tk%,  vat  unmöglich.  Viele  Seite« 
der  Affectöp\\Ä.Te  ftm^  wtä  xiwtV  \mkiä^t\^^.  ^^^^t  >^s5wj&sw^gpSL  vcfe^  ^iIöl 


Literaturbericht.  449 

schwankend,  ein  sicherer  MaaXisstab  fehlt  bisher.  Meist  laufen  Intellect 
und  Moral  einander  parallel,  doch  nicht  immer ;  ersterer  unterstützt  letztere ; 
letstere  geht  daher  als  das  psychogenetisch  spätere  Gebilde  eher  verloren. 
Eine  streng  wissenschaftliche  Messung  des  sog.  Charakters  des  Menschen 
ist  zur  Zeit  unmöglich,  wird  es  wahrscheinlich  immer  bleiben. 

Die  dritte  Frage  betrifft  die  Unterbringung  geisteskranker  Verbrecher. 

Umppknbach. 

J.  M.  Baldwin.    Das  sociale  uid  sittliche  Leben  erklirt  durch  die  seelische 

Entwickelmig.     Nach    der    zweiten   englischen   Auflage    übersetzt   von 

Dr.  BtTBDBMANN.    Durchgesehen  und  mit  einem  Vorwort  eingeleitet  von 

Dr.  Paul  Barth.    Leipzig,  Barth,  1900.    461  S.    Mk.  12.—. 

Nachdem  die  erste  Auflage  des  Werkes  bereits  in  dieser  Zeitschrift 

besprochen  erscheint,  wäre  eine  nochmalige  Inhaltsangabe  überflüssig,  und 

es  sei  daher  auf  das  diesbezügliche,  von  P.  Barth  verfafste  Referat  (19 

(2.  u.  3.),  239)  hingewiesen. 

Die  Herausgabe  des  BALDWiN'schen  Werkes  in  mustergültiger  deutscher 
Uebersetzung  ist  jedenfalls  ein  verdienstliches  Unternehmen.  In  dieser 
Form  ist  das  Buch  auch  einem  gröfseren  Kreise  von  Lesern,  die  sich  mit 
den  Gedanken  Baldwin^s  vertraut  machen  wollen,  zugänglich. 

SAxnfGER  (Linz). 

P.  BsROBHANif.    Sociale  Pädagogik  auf  erfahrangswissenschaftlicher  Grundlage 
nnd  mit  Hfllfe  der  indnctif en  Methode  als  aniforsalistische  oder  Kaltv- 

Pädagogik  dargestellt  Gera,  Hof  mann,  1900.  615  S.  Geb.  11,60  Mk. 
Socialpädagogik,  Culturpädagogik  —  neue  Namen,  ob  auch  neue  Dinge  ? 
Klingt  es  doch  beinahe,  als  wäre  die  bisherige  Pädagogik  unsocial  und 
unculturell  gewesen,  und  Bbrqemann  ist  wohl  im  Stillen  auch  davon  über- 
zeugt. Denn  er  stellt  sich  die  ideale  und  hohe  Aufgabe,  das  gesammte 
Leben  eines  Volkes  zu  versittlichen,  womit  doch  wohl  gesagt  sein  will,  dafs 
es  bisher  nicht  so  gewesen  sei,  sondern  dafs  man  sich  nur  einzelnen 
Theilen  oder  einzelnen  Seiten  dieses  Lebens  zugewandt  habe.  Er  denkt 
dabei  hauptsächlich  daran,  dafs  die  Pädagogik  sich  in  der  Regel  nur  mit 
den  Unerwachsenen  befasse,  die  Socialpädagogik  aber  auch  über  die  Schule 
hinaus  mit  den  Erwachsenen.  Des  Pudels  Kern  liegt  aber  anderswo.  Ein- 
mal ist  es  in  unserer  socialistischen  Literatur  aus  den  Verhältnissen  er- 
wachsene Sitte,  für  die  Massen  gegen  die  Besitzenden  und  Gebildeten 
einzutreten;  dazu  lenkte  der  Einflufs  der  collectivistisch- positivistischen 
Philosophie  Condovcet's  und  Comte's,  sowie  ihrer  Schüler,  durch  Darwin*s 
Lehren  verstärkt,  ebenfalls  die  Geschichte  und  andere  Wissenschaften  in 
die  Bahnen  der  Massenbewegung  und  des  Generischen  gegen  das  Indivi- 
dualistische. BoüRREAU  bestritt  bekanntlich,  dafs  man  ein  Recht  habe,  von 
^führenden  Geistern"  zu  reden,  und  wollte  nur  eine  führende  Massen- 
bewegung anerkennen,  deren  Erzeugnisse  auch  eben  diese  sogen,  führenden 
Geister  seien.  Berqemann  gehört  dieser  Richtung  an;  doch  zieht  er  die 
änfsersten  Consequenzen  nicht.  So  wird  das  „Genie"  nicht  gänzlich 
eliminirt,  „aber  in  allen  den  Stücken,  wo  das  Genie  nicht  Genie  ist"  — 
kurz  vorher  tadelt  B.  die,, verschwommene  AllgemeVnheW."  wi ^«iiTi%Är!^.N^SiT!Äfö. 

Zeitschrift  für  Psychologie  27.  ^ 


450  Literaturbericht. 

der  Pädagogik  —  ,,i8t  es  ganz  Kind  seiner  Zeit  und  seines  Volkes»  reprisen- 
tirt  es  dessen  Eigenthümlichkeiten  ebenso  wie  jeder  andere  Mensch  und 
teilt  die  Schwächen  und  Vorzüge,  die  Vorurtheile  und  die  Aufgeklärtheit 
seiner  Zeitgenossen."     Die  „Volksseele"  oder  die  „sociale  Psyche"  spielt 
zwar  eine  grofse  Rolle,  und  wir  werden  versichert,  dafs  „die  CoUectivseele 
oder  die  sociale  Psyche  ebenso  wirklich  ist  wie  die  Einzelseele."    Freilich 
nur  in  bildlichem  Sinne :  „was  für  die  Einzelseele  Hirn  und  Nervensystem, 
das   sind    für  die   Collectivseele,    für  die  sociale  Psyche  die  natfirHchen 
Lebensbedingungen."    Nun,  jeder  Vergleich  hinkt,  dieser  aber  gleich  auf 
zwei  Beinen.    Bald   darauf  erfahren   wir,   „dafs   die  Volksseele  von  deo 
individualen    Seelen    variirend    und    modificirend    beeinflufst   wird"  und 
schliefiBlich  erhalten  wir  sogar  das  Zugestand nifs :   „und  jedenfalls  bedarf 
die  sociale  Psyche  überhaupt  einiger  Individuen"  —  dies  sind  eben  die 
führenden  Greister,  —  „um  sich  sammeln  und  selbstbewulst  und  energisch 
auf  bestimmte  Ziele  concentriren  zu  können."    Man  darf  es   uns  Anderen 
nicht  verdenken,  wenn  wir  zunächst,  wenn  es  sich  um  Erziehung  handelt, 
mit  dieser  „socialen  Psyche"   als  Abstractum  noch  als  mit  einer  X-Grö6e 
rechnen.    Denn  in  unserer  Erfahrungswelt  —  B.  will  ja  nur  auf  dieser 
seine  Socialpädagogik  aufbauen  —  „findet  sich  Cresellschaftsseele  als  Be 
wufstseinsindividuum  nicht".    Das  naturwissenschaftliche  Denken  hat  eben 
auch  seine  Metaphysik.    Im  Ganzen  ist  es  nicht  richtig,  daCs  die  bisherige 
Pädagogik  den  Menschen  nicht  als  Mitglied  der  Gesellschaft  {^ähv  Troliuxör 
des  Aristoteles)   betrachtet  und  gewerthet  hat    Sie  hat  sich  von  Ueber 
treibungen  ferngehalten   wie   „der  einzelne  Mensch  ist  nur  als  abstracter 
Begriff  denkbar,  er  existirt  in  Wirklichkeit  nicht"  oder  „nur  sociale  Er- 
ziehung kann   ein  sinnvolles  Thun  genannt  werden".    Aber  sie  war  sich 
stets  die  Beziehungen  des  Individuums  zur  Gesellschaft  bewufist,  und  indem 
sie  mit  Recht  allein  das  Individuum  für  erziehbar  hielt  —  anders  wird  es 
künftig  auch  nicht  werden  —  hat  sie  doch  die  Ziele  dieser  Erziehung  stets 
mit  Rücksicht  auf  das  Gemeinschaftsleben  gesteckt  und  bestimmt. 

Der  Verf.  legt  besonderes  Gewicht  darauf,  „dafs  er  die  sociale  Pädagogik 
auf  die  breite  Basis  der  Erfahrungswissenschaft  stellt  und  durchgehende 
auf  dem  sicheren  Wege  der  Induction  weiterschreitet  Nicht  aus  irgend- 
welchen kritisch-philosophischen  oder  sonstigen  Voraussetzungen  werden 
pädagogische  Principien  hergeleitet,  sondern  die  für  die  Erziehungslehre 
in  Betracht  kommenden  Grundsätze  werden  gewonnen  als  Ergebnisse,  als 
Consequenzen  von  Erfahrungsthatsachen,  und  zwar  von  Thatsachen  der 
äufseren  Erfahrung." 

Die  Pädagogik  auf  den  Boden  der  Erfahrung  zu  stellen  ist  gewiCs 
richtig  und  kann  fruchtbar  sein,  und  inductiv  denken  ist  meist  ein  sicherer 
Weg ;  aber  diese  Gedanken  sind  doch  nicht  neu,  namentlich  so  weit  es  die 
psychischen  Processe  und  ihre  Beobachtung  im  unterrichte  betrifft;  diese 
Zeitschrift,  die  von  Ziehen  und  mir  herausgegebene  Sammlung  und  andere 
Schriften  und  Zeitschriften  enthalten  dafür  Beweise  in  Hülle  und  Fülle. 
Dafs  wir  aber  trotzdem  heute  schon  im  Stande  seien,  ein  System  der 
Pädagogik,  ich  sage  absichtlich  nicht  der  socialen  Pädagogik,  rein  auf  Er 
fahrungen  und  Beobachtungen  in  ausreichender  Menge  aufzurichten,  diese 
Frage  wird  ^edei  ktSnuen  bestimmt  verneinen.    Da  in  BxBonAXN's  Buch 


Literaturbericht.  451 

wie  bei  den  meisten  Erziehung sreformen  der  (Jnterricht  bedeutend 
hinter  die  Erziehung  zurücktritt,  so  ist  auch  nicht  daran  zu  denken,  dafs 
er  etwa  den  Versuch  gemacht  hätte,  den  Unterricht  anders  als  in  grofsen 
Zügen  auf  Erfahrungsthatsachen  zu  begründen.  Diese  Erfahrungsthatsachen 
kommen  vielmehr  da  in  Betracht,  wo  es  sich  um  Dinge  wie  den  Aufbau 
der  geistigen  und  körperlichen  Entwickelung  handelt;  dabei  galten  aber 
den  Anthropologen  vielfach  Hypothesen,  selbst  umstrittene  —  und  welche 
^äre  hier  nicht  umstritten?  —  als  Thatsachen,  auf  die  Schlüsse  begründet 
werden,  die  allerdings  ganz  sicher  correct  sind,  wenn  man  —  nur  erst  ihre 
Unterlage  zugiebt.  Nicht  vereinzelt  werden  aber  dabei  Beobachtungen  und 
ihre  Ergebnisse  als  Thatsachen  verwandt,  die  lange  nicht  ausgedehnt  und 
umfangreich  genug  sind,  um  auf  Allgemeingeltung  Anspruch  zu  haben. 
Selbstverständlich  soll  nicht  bestritten  werden,  dafs  in  anderen  Fragen  der 
Sachverhalt  weit  günstiger  liegt,  und  dafs  Bkrgemann  auch  recht  hübsche 
Dinge  mit  seinem  Verfahren  erarbeitet  hat.  Meines  Erachtens  hätte  er 
viel  richtiger  gehandelt,  wenn  er  Fragen  wie  die  Abstammung  des  Menschen 
vom  Affen  noch  nicht  als  wissenschaftliche  Thatsachen  verwerthet,  und 
wenn  er  so  wenig  begründete  Hypothesen,  wie  dafs  des  Wachsthum  des 
Gehirns  gröXsere  körperliche  Zartheit  und  eingeschränkte  Fortpflanzungs- 
kraft mit  sich  gebracht  habe,  und  seiner  Social pädagogik  weggelassen  hätte; 
denn  für  diese  ist  es  doch  gänzlich  einerlei,  ob  der  Mensch  vom  Affen 
stammt,  oder  ob  das  Wachsthum  des  Grehirns  die  Fortpflanzung  beein- 
trächtigt hat:  Das  System  wird  dadurch  nicht  haltbarer,  und  die  heutige 
„Individual-  und  Volksseele'^  dadurch  nicht  anders. 

Seine  materialistische  Ansicht  über  Seele  und  Gottheit  drängt  er  in 
schroffer  Weise  hervor;  dies  ist  ja  allerdings  seine  Sache,  er  hält  es  für 
seine  Pflicht,  und  gar  mancher  wird  den  „Muth  der  Ueberzeugung"  preisen, 
der  freilich  heute  nicht  grofs  zu  sein  braucht.  Aber  B.  darf  sich  auch  nicht 
wundern,  wenn  sein  Werk  nicht  die  Verbreitung  findet  und  die  Wirkung 
übt,  die  vielen  Partieen  desselben  zu  wünschen  wäre.  Denn  die  natur- 
wissenschaftliche Methode  vermag  die  eigentlich  geistigen  Vorgänge  auch 
nicht  befriedigend  zu  erklären,  und  sie  setzt  mannigfach  nur  eine  neue 
Metaphysik  an  Stelle  der  bisherigen.  Jedenfalls  wird  B.  nicht  viel  Zu- 
stimmung finden,  wenn  er  die  Forderung  absoluter  Religionsfreiheit  seitens 
des  modernen  Culturmenschen  damit  begründen  will,  „weil  er  weifs,  dafs 
in  dieser  Hinsicht  Alles  Gefühlssache  und  Phantasiewerk  ist,  dafs  wir  über 
die  letzten  Dinge  nichts  wissen  können,  dafs  die  Religion  nur  eine  Rand- 
verzierung für  das  Leben  bedeutet".  Auch  die  geradezu  feindselige  Art, 
wie  er  sich  über  Christus  und  Christenthum  äufsert,  erscheint  mir  insofern 
ungerecht,  als  er  selbst  doch  Duldung  für  seine  von  denen  der  meisten 
Menschen  weit  abweichenden  Ansichten  fordert.  Warum  die  verletzen,  die 
hierin  anderer  Meinung  sind?  Das  Christenthum  —  und  sagen  wir  auch 
die  Kirche  —  hat  auf  socialem  Gebiete  grofse  Verdienste,  und  wenn  es 
hier  nur  langsam  falsche  Ueberlieferungen  beseitigt  hat,  so  hat  es  jeden- 
falls weiser  und  erfolgreicher  gehandelt,  als  unsere  ^Socialpädagogen",  die 
neue  ideelle  Verhältnisse  so  schroff  construiren,  dafs  sie  ihre  Ausführung 
selbst  so  lange  für  unmöglich  erklären,   bis  die   ^vorhandene  Gesellschaft 

10* 


452  Literaturbericht. 

erst  hinweggefegt  und  durch  eine  Gesellschaft  ersetzt  sein  wird,  die  atif 
ihre  Fahne  das  Lösungswort  geschrieben  hat:  alle  für  einen  und  einer  fftr 
alle."  Für  einen  ruhigen  Denker  ist  dieser  Tag  doch  wohl  noch  unabsehbti 
fem  —  übrigens  im  Wesentlichen  nichts  anderes  als  die  Idealfordernng 
des  alten  Christenthums. 

Ebenso    utopistisch   ist   meines    Erachtens   das    Steckenpferd   dieser 
Socialpädagogen,  die  allgemeine  Volksschule.    B.  fafist  in  sehr  maaflBvollem 
Sinne  Vererbung  und  Variation  auf,  er  unterschätzt  nicht  die  Bedeotnng 
der  Dispositionen  und  das  Milieus  für  die  Erziehung  und   natürlich  auch 
für  den   Unterricht.     Trotzdem   ist  aber  die   allgemeine  Volksschule  sein 
Ideal.    Das  allgemeine  Gerede  von  dem  grofsen  socialen  Werte  der  allge- 
meinen  Volksschule  mit  ihrer  versöhnenden   Ausgleichung  der  Ciasseti- 
gegensätze sollte  man  doch  endlich  einmal  ruhen  lassen,   da  es  jeder  that- 
sächlichen  Unterlage  entbehrt.    Der  Süden  Deutschlands  hat  im   19.  Jahr- 
hundert nie  eine  andere  als  die  allgemeine  Volksschule  gekannt,  und  in 
ganz    Deutschland    besitzt    überhaupt  nur    V5  ^^^  höheren   Schulen  Vor- 
schulen, in  %   gelangen   die  Kinder  nach  dem  3— 4  jährigen  Besuch  der 
allgemeinen  Volksschule.    Ist  es  denn  nun  etwa  im  Süden  oder  im  Norden 
gelungen,   die  Ciassengegensätze  aus  der  Welt  zu   schaffen?    Nein,  und  es 
wird  der  allgemeinen  Volksschule  nie  gelingen,   so  lange  nicht  der  social- 
demokratische  Zwangsstaat  existirt,  und  selbst  dieser  wird  es  nicht  können, 
wenn   er   nicht   die   Cultur  vernichten   will.    Dazu   kommen   aber  gerade 
neuerdings  noch  sehr  interessante  Erfahrungen,  die  jenem  Gerede  jeden 
Boden  entziehen.    In  Mannheim  hat  man,  dem  Phantom  der  allgemeinen 
Volksschule   zu   Liebe,   den   Lehrplan   in   Rechen-   und   Realien  Unterricht 
etwas  erweitert.    Die  Folge  war,  wie  nach  15  jähriger  Erprobung  festgestellt 
wurde,   „dafs  66%  ^^^  Schüler  die  Oberclasse  nicht  erreichten  oder  nicht 
absolvirten.    Da  suchte  man  zu   helfen  mit  der  Gründung  von  Qualitftts- 
schulen  d.  h.  von  4.,  spätestens  5.  Schuljahre  ab  sollten  die  besseren  Schüler 
jeder  Classe  ausgesondert,   zu  Eliteclassen  vereinigt  und  nach   einem  er- 
weiterten Lehrplan  unterrichtet  werden,  während  der  grofsen  Masse  eine 
bescheidenere  Kost  servirt  würde."    Kann  es  eine  schlagendere  Kritik  för 
die  Utopie   der  allgemeinen  Volksschule  geben?    Noch  interessanter  sind 
die  in  München  mit  der  allgemeinen  Volksschule  gemachten  Erfahrungen. 
Diese  ist  hier  besonders  rein  durchgeführt;  es  giebt  weder  Vorschulen  noch 
Mittelschulen.     „Die  Münchener  Volksschulen   zählten  in  der  IV.  Classe 
(4.  Schuljahr)  im  Durchschnitt  der  letzten  ö  Jahre  ungefähr  3000  Knaben 
und  in  der  VII.   (letztes   Schuljahr)  1000,   d.  h.  '/»  *ller   unserer   Knaben 
wendet  sich  zunächst  den  Mittelschulen  (Gymnasien  und  Realschulen)  in. 
Nun  nimmt  jedes  Gymnasium  in  München  in  den  letzten  5  Jahren  im 
Durchschnitt  160  Kinder  auf.  Die  4.  Klassen  (Tertien)  zählen  mit  auffallender 
Uebereinstimmung  bereits  nur  mehr  */»  der  Aufgenommenen,    und  an  das 
Endziel  der  Oberclassen  gelangt  nur  Vi*    Noch  ungünstiger  steht  es  an  den 
Realschulen,  an   welchen  bei  einer  mittleren  Aufnahme  von  230  Schülern 
per   Anstalt   und   Jahr   in   der   4.   Classe   (Tertia)   nur   mehr    %  <^er  ^^ 
genommenen  und  in  der  Oberclasse  nur  mehr  Vs— Ve  zu   finden  ist"    Was 
hilft  es,  daCs  „d\^«e  \  o\kA^O[iN2\<^TL  ^\<^  ^vcLdfikT  oller  Gesellschaftselemente 
Aufnehmen,  vom  ¥^TÄ\feTv\yva  T»>axö.  'I^.^^^^jät^^  ^^t^ssl  ;^'5asXfe\i5KxsÄ. ^^s^ 


Literattirbericht  453 

TAglOhnerskind"  daraas  weglauft,  sobald  es  überhaupt  nur  möglich   ist? 
Ist  hier  der  Name  »^allgemeine  Volksschule"  nicht  geradezu  ein  Hohn? 

Ich  habe  vorhin  von  dem  socialdemokratischen  Zukunftsstaate  ge- 
sprochen ;  der  Zwang  in  dem  socialpädagogischen  wäre  nicht  minder  grofs. 
Hier  sollen  die  Lehrer  der  allgemeinen  Volksschulen  die  Entscheidung  er- 
halten, ob  die  Schüler  in  eine  höhere  Schule  übertreten  dürfen  oder  nicht. 
Und  diese  Tyrannei  der  Lehrer  noch  obendrein  in  einer  Sache,  in  der 
jeder  vorsichtige  Mensch  gerne  sich  ein  Urtheil  erspart  sieht,  nämlich  in 
der  Entscheidung  über  die  mälsige  Entwicklung  eines  Kindes.  Diese 
Tyrannei  der  Schule  ist  überhaupt  heute  eine  grofse  Gefahr,  gerade  wie 
die  der  Aerzte.  Unsere  Socialmänner  scheinen  über  ihren  Utopien  gar 
nicht  zu  bemerken,  dafs  sie  dabei  nur  für  die  Socialdemokratie  oder  für 
die  Kirche  arbeiten;  denn  diese  werden  sich  der  geschaffenen  Machtmittel 
eines  Tages  zu  ihren  Zwecken  bemächtigen.  Mit  nicht  geringerer  Macht 
wird  die  „Gesellschaft"  ausgestattet.  Sie  darf  den  Eltern,  die  ihre  Kinder 
nicht  richtig  erziehen,  diese  wegnehmen,  und  da  die  Erziehung  mit  der 
Schule  nicht  aufhört,  so  darf  sie  auch  das  Halten  von  Dienstboten  und 
Lehrlingen  verbieten,  wenn  Dienstherrschaften  und  Lehrherren  nicht  richtig 
erziehen.  Ja  sogar  die  Ehe  soll  allen  nicht  völlig  gesunden  Personen  von 
der  „Gesellschaft"  verboten  werden.  Leider  wird  das  Eheverbot  nicht  die 
Kindererzeugung  hindern,  und  darum  ist  es  nicht  nur  thöricht,  sondern 
geradezu  unsittlich;  denn  den  Kindern  wird  der  Makel  der  Unehelichkeit 
und  der  Nachtheil  einer  jedenfalls  nicht  besseren  Pflege  als  bei  ihren  ver- 
heiratheten  Eltern  zugefügt.  Vielleicht  kommt  ein  späterer  Sozialreformer 
noch  einmal  zu  dem  Vorschlage  der  Castration ;  der  wäre  wenigstens  wirk- 
samer und  —  consequenter.  Dafs  es  auch  ein  Recht  der  Freiheit  giebt, 
davon  weifs  der  echte  Socialist  nichts.  Und  wer  ist  diese  „Gesellschaft", 
die  mit  dieser  Dictatur  ausgestattet  wird?  Worauf  wird  die  Unfehlbarkeit 
ihrer  Entscheidung  begründet?  In  letzter  Linie  stets  auf  die  Machtfrage 
des  sie  volo  sie  jubeo,  stat  pro  ratione  voluntas. 

An  Erziehern  fehlt  es  allerdings  der  socialpädagogischen  Gesellschaft 
nicht;  dann,  sagt  B.,  alle  Menschen  sind  Erzieher;  er  scheidet  nur  zwischen 
beruf smäfsigen  und  gelegentlichen.  Alle  berufsmäfsigen  Erzieher  (Schul- 
und  Anstaltserzieher)  stehen  sich  in  Hang  und  Gehalt  gleich,  müssen  ein 
Gymnasium  absolvirt  und  auf  der  Universität  Pädagogik  studirt  haben. 
Gewifs  ein  freundliches  Bild,  aber  „es  war  zu  schön  gewesen"  etc.  Und 
die  gelegentlichen?  Wie  sollen  sie  auf  die  Höhen  der  Social pädagogik  er- 
hoben werden  ?  Durch  die  Presse  und  freie  Vereinigungen  zu  Erziehungs- 
zwecken. Wieder  ein  schöner  Optimismus,  der  nur  leider  die  Frage  nicht 
beantwortet,  wie  man  eine  Presse  mit  solchem  Verständnifs  für  das  Er- 
ziehungswerk und  solch'  normativem  Charakter  schafft  und  —  wer  sie  liest. 

Bei  der  Erziehung  wird  dem  Weibe  eine  bedeutende  Rolle  zugewiesen, 
gewifs  mit  Recht.  Aber  die  Begründung  klingt  seltsam  „weil  es  dem  kind- 
lichen Typus  näher  stehe."  Und  nun  kommen  die  anatomischen,  physiolo 
gischen  und  psychologischen  angeblichen  Minderwerthigkeiten  des  Weibes, 
die  man  zum  grofsen  Theile  doch  nicht  als  erwiesene  Thatsachen  betrachten 
kann,  da  darüber  die  gröfsten  Meinungsverschiedenheiten  bestehen. 
Würde  ein   verständiger  und   erfahrener  Mensch   etwa  die  erzieherische 


454  Literaturbericht 

Veranlagung  des  Weibes  insbesondere  für  bestimmte  Altersstufen  in  Abrede 
stellen,  wenn  auch  hundertmal  bewiesen  wäre,  dafs  dessen  Gehimstructiir 
und  Gehimgewicht  anders  sei  als  die  des  Mannes? 

Auch  sonst  lieCse  sich  über  gar  vieles  streiten.  B.  hat  zwar  ganz  mit 
Recht  die  Ueberschätzung  der  Phantasiethätigkeit  im  frühen  Kindesalter  ver 
worfen.  Aber  er  geht  nach  der  anderen  Seite  viel  zu  weit,  wenn  er  i.  B. 
die  Kindersprache  lediglich  ein  Werk  der  Ammen  und  Mütter  neoot; 
denn  zweifellos  erfinden  Kinder  mit  ihren  eigenartigen  Wortschatz.  Eben» 
ist  es  Uebertreibung,  wenn  er  behauptet,  das  Kind  sei  in  seinen  ersten 
Lebensjahren  reiner  Empirist,  besitze  gar  keine  Phantasie.  Denn  es  ist 
gar  nicht  zu  bestreiten,  dafs  nicht  wenige  Kinder  schon  sehr  früh  die  com- 
binirende  Thätigkeit  üben. 

Aber  ich  will  nicht  mit  dem  Bestreitbaren  schliefsen.  Abgesehen  too 
dem,  was  freilich  für  den  Verf.  das  Wesentlichste  ist,  von  den  unsicheren 
allgemeinen  Grundlagen,  auf  denen  das  System  ruht,  ist  das  Buch  dnrchaoB 
werthvoll.  Es  enthalt  einen  reichen  Schatz  an  erfahrungsmäüsigem  Wissen, 
und  zwar  an  Wissen,  wie  es  in  den  meisten  Lehrbüchern  der  Pädagogik 
fehlt.  Es  stellt  eine  Menge  von  Problemen,  zu  denen  der  Leser  SteUung 
nehmen  mufs,  es  ist  dabei  klar  und  leicht  verständlich;  freilich  die  Schni- 
terminologie,  hier  die  naturwissenschaftliche,  erhöht,  wie  in  philosophisch» 
Schriften  die  philosophische,  öfter  das  Verständnifs  nicht  Es  giebt  end- 
lich viele  Lösungen  von  Erziehungsfragen,  denen  ich  nur  beistimmen  kinn, 
so  sehr  sie  der  gedankenlosen  Routine  in  unseren  Schulen  und  in  unserer 
Erziehung  widersprechen;  der  Verf.  sieht  dabei  weder  rechts  noch  links, 
sondern  er  sucht  einfach  die  Wahrheit. 

Die  äuCsere  Anlage  ist  durchaus  übersichtlich.  In  4  Theilen  werden 
zuerst  die  pädagogischen  Grundbegriffe  in  ihrer  erfahrungswissenschaft- 
liehen  Ableitung,  dann  die  socialen  Grundlagen  der  Erziehungslehre  ent- 
wickelt. Der  3.  Theil  giebt  den  theoretischen  Aufbau  der  socialen  Er- 
ziehungslehre als  Culturpädagogik ,  der  4.  behandelt  Kinderschntx  und 
Volkserziehung.  Der  1.  Theil  hätte  erheblich  kürzer  sein  können,  dt  er 
meist  selbstverständliche  Fragen  mit  unnöthiger  Breite  behandelt;  dasselbe 
gilt  grofsentheils  von  dem  2.  Theile,  wo  ebenfalls  nicht  selten  mit  Kanonen 
nach  Spatzen  geschossen  wird.  Schiller  (Leipzig). 


Namenregister. 


Fettgedruckte  Seitenzahlen  beziehen  sich  auf  den  Verfasser  einer  Oiiginalabhandluug,  Seiten« 
ziüilen  mit  f  auf  den  Verfasser  eines  referirten  Buches  oder  einer  referirten  Abhandlung. 

Seitenzahlen  mit  *  auf  den  Verfasser  eines  Referates. 


A. 

Abel8dorfl208.*296.*419.* 
420.*  422.*  422.*  423.* 
424  *  424*  425.*   426.* 

Agiiardi,  L.  208.t    [426* 

Ament,  W.  285.t 

Angell,  F.  426.t 

Angell,  J.  R.  122.t 

Aßchaffenburg  209.*  302.* 

B. 

Baginsky,  A.  210.t 
Bagley,  W.  Ch.  415.t  430.t 
Baldwin,  J.  M.  449.t 
Ball,  S.  304.t 
Bancels,  J.  Largaier  des 
Baer,  A.  222.t  [132.t 

Barratt,  W.  417.t 
Beer,  Th.  112.t  294.t 
Bergemann,  P.  449.t 
Bergmann,  J.  104.f 
Bethe,  A.  112.t       [425.t 
Bielschowsky,    A.    424.f 
Binet,  A.  llLf  121.  tl23.t 
Bois-Reymond,  R.  da  399. 1 
Borschke,  A.  387. 
Bourdon,  B.  119.t 
Bryant,  8.  125.t 
Bunge,  G.  v.  205.t 
Burckhardt,  R.  406.* 

c. 

Calkins,  M.  W.  IBl.f 


ClaparMe,  E.  139.t 
Cline,  T.  S.  119.t 
Cohn,  J.  288.t 
Colvin,  St.  Sh.  432.t 
Cordes,  G.  126.t 

D. 

Dodge,  R.  119.t  137.t 
Downey,  J.  E.  119.t 
Dumas,  G.  215.t 

E. 

Eisler,  R.  210.t 
Erdmann,  B.  412.t 


F6r6,  Ch.  134.t 
Ferrier,  D.  418.t 
Fick,  A.  422.t 
Fite,  W.  122.t 
Floumoy,  Th.  204.t 
Fritsch,  G.  207.t 

G. 

Gaupp,  R.  299.t 
Gibson,  W.  R.  B.  202.t 
Giefsler  134.*  140.*  142.* 
142.*  143.*  298.*  443.* 

Gillette,  J.  M.  119.t 
Grofoe,  E.  436.* 
Grotjahn,  A.  144.t 


H. 

Hahn,  R.  80. 
Hall,  Stanley  433.t 
Hartmann,  E.  y.  95. f 
Hegar  303.t 
Heine  119.*  425.t 
Heller,   Th.    287.*   289.* 

303.*  412.* 
Hempstead,  L.  429.t 
Heymans  122.*  144. 
Hescheles,  L.  387. 
Hefs,  C.  1. 
Hesse,  R.  112.t 
Hirn,  Y.  213.t  434.t 
Hirschlaff,  L.  299.t 
Hofmann,  F.  B.  424.t 
Hollander,  B.  412.t  447.t 
Hughes,  H.  218.t 

J. 

Jastrow,  J.  lOS.f 
Jonckheere,  T.  302.t 
Judd,  H.  122.t 

K 

Klär,  A.  N.  143.t 
Kiesow,  F.  80.  111.*  131.* 

208.t    224.    290.*   294.* 

297.*  406.*  444.* 
Kinnaman,  A.  J.  427.f 
Klausener  143.f 


456 


Namenregister. 


König,  A.  418  * 
Krapelin,  E.  137.t 
Kreibig  210* 
Krüger,   F.    205.*    213* 

296.t 
Kühtmann,  A.  439.t 
Külpe,  O.  289.t 

L. 

Lange,  G.  120.t* 
Larguiere  des  Bancels,  J. 

132.t 
Liebmann,  A.  287.f 
Liepmann,  H.  SOO.f 
Lippe,  Th.  225. 
Lobsien,  M.  84. 
Löwenfeld,  L.  444.f 
Luschan,  F.  v.  203.t 

BL 

Marage  121.f 
Marbe  200.  421.*  429.* 
Markowa,  K.  428.t 
Marshall,  H.  R.  209.t 
Martinak  286* 
McClure,  M.  F.  423.t 
Mellone,  S.  H.  298.t 
Meyer,  M.  104.*  119.*  119.* 

122.*  123.*  125.*   132.* 

137.*  137.*  140.* 
Mickle,  J.  303.t 
Möbins,  P.  J.  106t 
Moll,  A.  203.t 
Mourre,  B.  139.t 
Müller,  ß.  108.t 
Myers,  Ch.  S.  132.t 

N. 

Näcke,  P.  442 1  448.t 
Nagel,   W.   A.   264.   267. 

277.  421.t  424.t 
Novicow  142.f 

0. 

Offner  106.*  125.*  132.* 
132.*  203.*  210.*  214.* 
284.*  299.*  304.*  441.* 


OehrwaU,  H.  406.t 
Orchansky,  J.  108.t 
Ormond,  A.  T.  140.t. 

P. 

Palante  142.t 
Pappenheim,  K.  288.t 
Pastore,  A.  M.  208.t 
Patrick,  G.  T.  W.  136.t 
Pick,  A.  433.t 
Pilez,  A.  220.t 
Pilgrim,  L.  4l8.t 
Pütz,  J.  426.t 
Probst,  M.  416.t  417.t 
Pütter  119.* 

R. 

Riemann,  G.  287.t 
Riemann,  P.  411.f 
Rivers,  W.  H.  R.  419.t 
Robertson,  A.  303.t 
Roberty,  E.  de  140.t 

S. 
Sakijewa,  K.  187. 
Sanders,  F.  H.  433.t 
Santenoise  133.t 
Saxinger,  R.  18.  224.  437.* 

439.*  449.* 
Schenck,  Fr.  420.t 
Schiller,  H.  464.* 
Schrenck-Notzing,  v.  136.* 
Schröder  303.*  303.*  412.* 

416.*  416.*  417.*  418.* 

418.*  433.*  448.* 
Schnitze,  E.   108.*   138.* 

143.*   144.*   144.*  206.* 

222.*  224*  447.* 
Schwarz,  H.  437.t 
Seashore,  0.  F.  122.t 
Sherrington,  C.  H.  132.t 
Simon  137.t  138.t 
Small,  W.  8.  41ö.t 
Sollier,  P.  447.t 
Soury,  J.  403.t 
Stern,  L.  W.  103.»  112.* 

121.*  122.*   124.*  132.* 


137.*  139.*  139.*  201.*t 
203.*  204.*  210.*  282.» 
287.*  288.*  289.*  299.* 
300.* 

Sternberg,  W.  77. 

Storch,  E.  361. 

Störring,  G.  443.t 

Stumpf,  C.  148.  210.t 

Swift,  E.  J.  430.t 

T. 

Thompson,  H.  B.  187. 

Thomdike,  E.  124.t 

Trettien,  A.  W.  441.t 
!  Triplett,  N.  431.t 
j  Tschermak,  A.  419.t 
'  Türkheim,  J.  437.t 
I  Turner,  J.  416.t 
!  Turner,  W.  A.  418.t 

Tuyl,  A.  423.t 

ü. 

ühthoff,  W.  344. 
Umpfenbach  304.*  447.* 

447.*  449.* 
üexküU,  J.  V.  112.t 

Y. 

Vaschide,  N.  302.t 
Volkelt,  J.  415.* 
Vurpas,  C.  302.t 

w. 

Wachsmuth  447.f 
Wegener,  H.  289.t 
Williams,  M.  C.  122.t 
Wirth,    W.    218.*    220.* 
290.t  415.*  416.*  423.* 
427.*  428.*   430.*  431.* 
432.*  433.*   434.*  442.* 

z. 

Ziehen,  Th.  805. 104.*  lOö.f 

108.*  302.* 
Zwaardemaker,  H.  297.1 


Druok.  'VOU  liVg^xK.  U  ^q.  VJi.  Y"ÄXai%«äBÄ'Ä^<ööft::t>kN'^%!aas^^«%'w'^ 


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JUN    2  2   1938