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Full text of "Zeit- und Streitfragen der Biologie"

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Zeit-  und  Streitfragen 


de 


Biologie. 


Von 


Professor  Dr.  Oscar  Hertwig, 

Direktor  des  zweiten  anatomischen  Instituts  der  Universität    Berlin. 


Heft  2. 


Mechanik  und  Biologie. 

Mit  einem  Anhang: 

Kritische  Bemerkungen  zu  den  entwicklungsmechanischen 

Naturgesetzen  von  Roux. 


»  y"fr^.  * 


rt 


Jena. 

Verlag    von    Gustav    Fischer 
1897. 


Verlag-   von   GUSTAV   FISCHER    in   JENA. 

tt  i  •  Dr.  Oscar,   o.  ö.  Professor  der  Anatomie  und  Direktor  des  II.  anatomischen 

AlCrtWl^,     Institutes  an  der  Universität  Berlin,     Zeit-      Und      Streitfragen      der 

DiOlOgie«     Heft   l.     Präformation   oder  Epigenese?    Grundzüge   einer  Entwicklungstheorie 

der  Organismen.    Mit  4  Abbildungen  im  Texte.    1894.    Preis :   3  Mark. 

Inhalt:  Einleitung.  —  Erster  Teil.  Die  Keimplasmatheorie  und  die  Determinanten- 
lehre von  Weismann.  Kritik  der  Keimplasmatheorie.  A)  Erster  Abschnitt.  Einwände 
gegen  die  Hypothese  einer  erbungleichen  Teilung.  1)  Die  Einzelligen.  2)  Niedere  vierzellige 
Organismen.  3)  Die  Erscheinungen  der  Zeugung  und  der  Regeneration  bei  Pflanzen  und  Tieren. 
4)  Die  Erscheinungen  der  Heteromorphose.  5)  Die  Erscheinungen  der  vegetativen  Affinität. 
Zusammenfassung  der  Ergebnisse  des  ersten  Abschnitts.  Bemerkungen  zur  Unsterblichkeits- 
lehre der  Einzelligen  und  des  Keimplasma.  B)  Zweiter  Abschnitt.  Einwände  gegen  die  Deter- 
minantenlehre. —  Zweiter  Teil:  Gedanken  zu  einer  Entwicklungstheorie  der  Organismen. 
Die  Zellteilung,  eine  Ursache  für  Entstehung  neuer  Mannigfaltigkeit.  Beziehungen  zwischen 
organischem  Wachstum  und  Formbildung.  Die  Zelle  in  ihren  Wechselbeziehungen  zu  anderen 
Zellen  und  zum  Gesamtorganismus  (als  Teil  eines  Ganzen)  Einschränkung  des  cellularen 
Princips.  Die  Differenzierung  der  Zelle,  eine  Funktion  des  Ortes.  Bedeutung  der  korrelativen 
Entwicklung  Erklärung  des  Geschlechtsdimorphismus.  Erklärung  des  Polymorphismus.  Be- 
deutung der  specifischen  Anlage  für  den  Entwicklungsprozess.  Vergleich  der  Staatenbildung  mit 
der  Entwicklung  eines  Organismus.    Schlufs.    Anmerkungen  und  Litteraturnachweise. 

Die  Symbiose  oder  das  Genossenschaftsleben  im  Thierreich.  Vortrag 

in  der  ersten  öffentlichen  Sitzung  der  5.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte 
zu  Freiburg  i.  Br.  am  18.  September  1883  gehalten.  Mit  1  Tafel  in  Farbendruck.  1884. 
Preis:  1  Mark  80  Pf. 

Ueber  die   physiologische  Grundlage  der  Tuberkulinwirkung.  Eine 

Theorie  der  Wirkungsweise  bacillärer  Stoffwechselprodukte.     1891.     Preis:   80  Pf. 
Die    Zelle     Und     die    Gewebe.       Grundzüge  der  allgemeinen  Anatomie  und  Physio- 


logie.   Mit  168  Abbildungen  im  Texte.    1893.    Preis:  8  Mark. 

Inhalt:  Erstes  Kapitel.  Die  Geschichte  der  Zelleptheorie.  Die  Geschichte  der  Proto- 
plasmatheorie. —  Zweites  Kapitel.  Die  chemisch-physikalischen  und  morphologischen  Eigen- 
schaften der  Zelle.  —  Drittes  Kapitel.  Die  Lebenseigenschalten  der  Zelle.  —  I.  Die  Bewegungs- 
erscheinungen. —  Viertes  Kapitel.  Die  Lebenseigenscliaften  der  Zelle.  II  Die  Reizerschei- 
nungen. —  Fünftes  Kapitel.  Die  Lebenseigenschaften  der  Zelle.  III.  Stoffwechsel  und  for- 
mative  Thätigkeit.  —  Sechstes  Kapitel.  Die  Lebenseigenschaften  der  Zelle.  IV.  Die  Fort- 
pflanzung der  Zelle  auf  dem  Wege  der  Teilung.  —  Siebentes  Kapitel.  Die  Lebenseigenschaften 
der  Zelle.  V.  Die  Erscheinungen  und  das  Wesen  der  Befruchtung.  —  Achtes  Kapitel.  Wechsel- 
wirkungen zwischen  Protoplasma,  Kern  und  Zellprodukt.  —  Neuntes  Kapitel.  Die  Zelle  als 
Anlage  eines  Organismus  (Vererljungsthoorieen). 

-  Lehrbuch    der    Entwicklungsgeschichte    des   Menschen    und    der 


Wirbeltiere. 


Fünfte,  teilweise  umgearbeitete  Auflage.    Mit  384  Abbildungen  im  Text  und 


2  lithographischen  Tafeln.    189b'.    Preis:  brosch.     11  Mark  50  Pf.,  geb.  13  Mark 
XT  i.  •  Dr.  Oscar,  Professor  an  der  Universität  Berlin,    und  Dr.  Richard, 

rieriWlCJ,  an  der  Universität  München    Studien  zur  Blättertheorie 


Dr.  Oscar,  Professor  an  der  Universität  Berlin ,   und  Dr.  Richard,  Professor 

Heft    1. 

Die  Actinien  anatomisch  und  histologisch  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Nervensystems 
untersucht.  Mit  In  Tafeln.  Preis:"  12  Mark  -  Hett  2.  Die  Chaetognathen ,  ihre  Anatomie, 
Systematik  und  Rntwiekeluntsgeschichte  Eine  Monographie  von  Dr.  O.  Hertwig.  Mit 
6  Tafeln.  Preis:  fi  Mark.  -  lieft  :-;.  Ueber  den  Bau  der  Ctenophoren.  Von  Dr.  R.  Hertwig. 
Mit  7  Tafeln.  Preis:  6  Mark.  Heft  4.  Die  Coelomtheorie.  Versuch  einer  Erklärung  des  mitt- 
leren Keimblattes.  Von  Dr.  O.  Hertwig.  Mit  ;i  Tafeln.  Preis:  4  Mark  50  Pf.  —  Heft  5. 
Die  Entwickelung  des  mittleren  Keimblattes  der  Wirbeltiere.    Von  Dr.  O.  Hertwig.    Preis:  8Mark. 

-  Untersuchungen  zur  Morphologie  und  Physiologie  der  Zelle.    Heft  1. 

Die  Kerntheilung  bei  Actinosphaerium  Eichhornii.  Von  R.  Hertwig.  Mit  2  lithographischen  Tafeln. 
1884.  i  r.is:  i  Mark.  —  Heft  t.  Welchen  Einfluss  übt  die  Schwerkraft  auf  dieTheilung  der  Zellen? 
Von  O.  Hertwig.  Mit  l  lithographischen  Tafel  18*4.  Preis:  1  Mark  .SO  Pf.  —  Heft  3.  Das 
Problem  der  Befruchtung  und  der  Isotropie  des  Eies,  eine  Theorie  der  Vererbung.  Von  O.  Hert- 
wig,  1885.  Preis:  1  Mark  5»  Ff.  ■  Heft  4.  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Bedingungen 
der  Bastardbefruchtung.  Von  <>.  und  R.  Hertwig.  1-85.  Preis:  1  Mark  60  Pf.  -  Heft  5.  Ueber 
den  Befruchtungs-  und  Theilungsvorgang  des  thierischen  Eies  unter  dem  Einfluss  äusserer  Agentien. 
Von  O  und  K.  Hertwig.  Mit  7  Lithographischen  Tafeln  1887  Preis:  8  Mark.  —  Hett  6. 
Experimentelle  Studien  am  thierischen  Ei  vor,  während  und  nach  der  Befruchtung  I.  Von  O. 
Hertwig.     Mit  3  lithographischen  Tafeln.     Preis:    3  Mark. 


FLORENCE  PEEBLES,  S     . 

THE  WOMAI\T<=  COLLEGE, 
BALTIMORE. 


Zeit-  und  Streitfragen 


dei 


Biologie. 


Von 


Professor  Dr.  Oscar  Hertwig, 

Director  des  zweiten  anatomischen  Instituts  der  Universität  Berlin. 


Heft  2. 


Mechanik  und  Biologie. 

Mit  einem  Anhang: 

Kritische  Bemerkungen  zu  den  entwicklungsmechanischen 
Naturgesetzen  von  Roux. 

J2~      < 


+-^>&<L«- 


Jena. 

Verlag    von    Gustav    Fischer, 

1897. 


Inhaltsverzeichniss. 


Seite 

Einleitung 1 

Erfolge  der  Naturwissenschaft  auf  dem  Gebiete  der  Mechanik  1 
Bestrebungen,    alle   Naturwissenschaft    in   Mechanik    umzu- 
wandeln      2 

Die  neue  Wissenschaft  der  Entwicklungsmechanik     .  7 

1.  Ziel  und  Aufgabe  der  Entwicklungsmechanik 9 

a)  Die  tendenziöse  Verwendung  des  Begriffes  Mechanik   in 
der  Biologie  durch  Lotze 23 

b)  Die    tendenziöse    Verwendung    des    Begriffes    Mechanik 
durch  ßoux 29 

Descriptive  und  causale  Forscher 33 

Der  Begriff  der  Causalität  (Lotze,  Schopenhauer),'  ...  39 
Der  Begriff  der  Kraft  (L  o t  z  e ,   Schopenhauer,   Nägeli, 

Du  Bois-Reymond) 45 

2.  Die  Methoden  der  Entwicklungsmechanik 62 

Beobachtung  und  Experiment 63 

Urtheil   von  Johannes   Müller   über  den  Werth  des  bio- 
logischen Experiments 80 

Zusammenfassung  und  Schlussbetrachtung 83 

Verschiedenartige  Verwendung   des  Wortes  Mechanik  ...  83 
Frühere  Versuche  der  mechanischen  Erklärung  des  Lebens  85 
Ueberschätzung    des    Werthes    mechanischer    Betrachtungs- 
weisen in  der  Biologie 90 

Uebertriebene  Werthschätzung  der  Mathematik  für  die  Bio- 
logie (Fechner) 94 


—    IV    — 

Seite 

Anhang 98 

Kritische    Bemerkungen    zu    den    entivicklungsmechanischen 

Naturgesetzen  von  Ronx 98 

Erste  Studie.    Die  Mosaiktheorie 107 

Zweite  Studie.     Die  Copulatiousbahn 132 

Dritte  Studie.     Definitionen 146 

Normale  und  anormale  Entwicklung 147 

Selbstdifferenzirung.     Abhängige  Differenzirung 151 

Vierte  Studie.    Der  Cytotropismus 160 

Schlussbetrachtungen 170 

Das  Ei   als   Zelle    und    als   Anlage    eines    vielzelligen 

Organismus 170 

Zusätze  und  Literaturnachweise 197 


Einleitung. 

Die  Entdeckungen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  auf 
dem  Gebiete  der  Mechanik,  die  Feststellung  der  Fall- 
und  der  Pendelgesetze  durch  Galilei  und  seine  Nachfolger, 
vor  allen  Dingen  aber  die  Entdeckung  der  Bewegungs- 
gesetze der  Himmelskörper  durch  Newton  haben  auf  die 
ganze  naturwissenschaftliche  Forschung  einen  so  tiefen  Ein- 
fluss  ausgeübt,  dass  wir  ihn  noch  bis  in  unsere  Zeit  ver- 
spüren. Es  ist  dies  leicht  erklärlich.  Wer  sich  mit  der 
Mechanik  des  Himmels  beschäftigt,  wird  es  auch  jetzt  noch 
als  einen  hohen  Triumph  menschlicher  Geisteskraft  em- 
pfinden, dass  es  möglich  ist,  die  Bahnen  und  Umlaufszeiten 
der  gewaltigen  planetarischen  Massen  in  Vergangenheit, 
Gegenwart  und  Zukunft  mit  mathematischer  Sicherheit  auf 
das  Genaueste  zu  berechnen.  Aber  auch  abgesehen  von 
der  Grossartigkeit  dieses  Naturgegenstandes  zeigt  sich 
die  Mechanik  in  ihren  verschiedenen  Zweigen  anderen 
Forschungsgebieten  in  vieler  Hinsicht  weit  überlegen,  in 
der  Einfachheit  und  Sicherheit  ihrer  Gesetze,  in  der 
Möglichkeit,  die  durch  Beobachtung  und  Experiment  ge- 
wonnenen Ergebnisse  einer  mathematischen  Betrachtungs- 
weise zugänglich  zu  machen  und  sie  in  feste,  mathematische 
Formeln  einzukleiden.     Daher  wurde  vielen  Naturforschern 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.     II.  1 


—     2     — 

die  Mechanik  das  Vorbild  auch  für  andere  Wissenschafts- 
zweige, sie  erschien  ihnen  als  das  Muster  naturwissenschaft- 
lichen Erkennens,  welches  man  mit  allen  Kräften  überall 
nachzuahmen  habe;  es  bildete  sich  häufig  eine  Auffassung 
aus,  welche  Kant  in  den  öfters  genannten  Ausspruch  zu- 
sammengefasst  hat,  dass  in  jeder  besonderen  Naturlehre  nur 
so  viel  eigentliche  Wissenschaft  sei,  als  darin  Mathematik 
angetroffen  werde. 

Doch  hiermit  ist  der  weitgehende  Einfluss  der  Mecha- 
nik noch  nicht  erschöpft;  er  zeigt  sich  auch  in  der  Philo- 
sophie und  hat  hier  zu  der  philosophisch-naturwissenschaft- 
lichen Weltauffassung  geführt,  welche  als  die  mecha- 
nische bezeichnet  wird.  Die  Mechanik  hat  sich  mit  der 
alten  Hypothese  des  Demokrit  von  den  Atomen  und  mit 
der  Corpuscularphilosophie  von  Descartes  verbunden 
und  den  Versuch  unternommen,  die  gesammte  Natur  aus 
den  verschiedenen  Bewegungen  kleinster,  verschieden  ge- 
formter Körper,  der  Atome,  mechanisch  zu  erklären 
und  so  die  uns  sichtbare  Welt  der  Erscheinungen  aus 
einer  für  uns  freilich  unsichtbaren  Welt  bewegter  Atome 
abzuleiten. 

„Die  mechanische  Erklärung  der  Natur,"  bemerkt  Kant 
(Bd.  IV  S.  427),  „hat  zu  Materialien  ihrer  Ableitung  die 
Atome  und  das  Leere.  Ein  Atom  ist  ein  kleiner  Theil  der 
Materie,  der  physisch  untheilbar  ist.  Physisch  untheilbar 
ist  eine  Materie,  deren  Theile  mit  einer  Kraft  zusammen- 
hängen, die  durch  keine  in  der  Natur  befindliche  bewegende 
Kraft  überwältigt  werden  kann.  Ein  Atom,  sofern  es  sich 
durch  seine  Figur  von  anderen  specifisch  unterscheidet,  heisst 
ein  erstes  K  ö  r  p  e  r  c  h  e  n.  Ein  Körper  (oder  Körperchen), 
dessen  bewegende  Kraft  von  seiner  Figur  abhängt,  heisst 
Maschine.    Die  Erklärungsart  der  specifischen  Verschieden- 


—     3     — 

heit  der  Materien  durch  die  Beschaffenheit  und  Zusammen- 
setzung ihrer  kleinsten  Theile,  als  Maschinen,  ist  die 
mechanische  Naturphilosophie." 

Ein  berühmter  Vertreter  der  mechanischen  Natur- 
philosophie in  der  Gegenwart,  Du  Bois-Reymond 
(Bd.  I  S.  105),  fasst  ihre  Aufgabe  in  kurzen  Sätzen  dahin 
zusammen : 

„Naturerkennen  —  genauer  gesagt  naturwissenschaft- 
liches Erkennen  oder  Erkennen  der  Körperwelt  mit  Hülfe 
und  im  Sinne  der  theoretischen  Naturwissenschaft  —  ist 
Zurückführen  der  Veränderungen  in  der  Körperwelt  auf 
Bewegungen  von  Atomen,  die  durch  deren  von  der  Zeit 
unabhängige  Centralkräfte  bewirkt  werden,  oder  Auflösen 
der  Naturvorgänge  in  Mechanik  der  Atome.  Es  ist  psycho- 
logische Erfahrungsthatsache ,  dass,  wo  solche  Auflösung 
gelingt,  unser  Causalitätsbedürfniss  vorläufig  sich  befriedigt 
fühlt.  Die  Sätze  der  Mechanik  sind  mathematisch  darstell- 
bar und  tragen  in  sich  dieselbe  apodiktische  Gewissheit, 
wie  die  Sätze  der  Mathematik."  „Denken  wir  uns  alle 
Veränderungen  in  der  Körperwelt  in  Bewegungen  von 
Atomen  aufgelöst,  die  durch  deren  constante  Centralkräfte 
bewirkt  werden,  so  wäre  das  Weltall  naturwissenschaftlich 
erkannt.  Der  Zustand  der  Welt  während  eines  Zeit- 
differentiales  erschiene  als  unmittelbare  Wirkung  ihres  Zu- 
standes  während  des  vorigen  und  als  unmittelbare  Ursache 
ihres  Zustandes  während  des  folgenden  Zeitdifferentiales. 
Gesetz  und  Zufall  wären  nur  noch  andere  Namen  für 
mechanische  Notwendigkeit.  Ja,  es  lässt  eine  Stufe  der 
Naturerkenntniss  sich  denken,  auf  welcher  der  ganze  Welt- 
vorgang durch  Eine  mathematische  Formel  vorgestellt 
würde,      durch     Ein     unermessliches     System     simultaner 

Differentialgleichungen,    aus    dem    sich    Ort,    Bewegungs- 

1* 


richtung    und  Geschwindigkeit  jedes  Atoms   im  Weltall  zu 
jeder  Zeit  ergäbe." 

In  den  angeführten  Sätzen  von  Kant  und  Du  Bois- 
ßeymond  findet  sich  Aufgabe  und  Ziel  der  mechanischen 
Naturauffassung,  welche  aus  dem  Bunde  von  Mechanik 
und  Atomistik  hervorgegangen  ist,  klar  und  scharf  aus- 
gesprochen. 

Nicht  ohne  Interesse  ist  es,  zu  verfolgen,  wie  die 
mechanische  Naturerkenntniss  häufig  als  das  höchste  an- 
zustrebende Ideal  für  die  verschiedensten  Gebiete  der 
Naturforschung  hingestellt,  wie  der  Schöpfer  der  Mechanik 
des  Himmels,  Isaak  Newton,  als  das  Ur-  und  Vorbild 
eines  naturwissenschaftlichen  Denkers  verherrlicht  und  die 
Zeit  herbeigewünscht  oder  prophezeit  wird,  in  welcher  auch 
auf  den  anderen  Gebieten  der  Naturwissenschaft  einmal  ein 
Newton  erscheinen  werde. 

Seitdem  Kant  den  Ausspruch  gethan  hat,  es  sei  für 
Menschen  ungereimt,  zu  hoffen,  dass  noch  dereinst  ein 
Newton  aufstehen  könne,  der  auch  nur  die  Erzeugung 
eines  Grashalms  nach  Naturgesetzen,  die  keine  Absicht 
geordnet  hat,  begreiflich  machen  werde,  treten  uns  ähn- 
liche Redewendungen  häufig  entgegen,  welche  dieselbe 
Frage  allerdings  in  gerade  entgegengesetztem 
Sinne  beantworten. 

In  seinen  Erörterungen  über  die  Aufgaben  der  Botanik 
(Bd.  I  S.  53  u.  58)  bezeichnet  Matthias  Schieiden  als 
ihre  allgemeinste  naturwissenschaftliche  Aufgabe,  allen 
Wechsel  der  Erscheinungen  auf  Bewegungen  zurückzuführen 
und  nach  mathematischen  Gesetzen  aus  Grundkräften  der 
Anziehung  und  Abstossung  zu  erklären  und  hierauf  die 
„Construction  des  Bildungstriebes"  auszuführen. 
„Allerdings,"    so  fügt  er  hinzu,    „sei  man  von  der  Lösung 


dieser  Aufgabe  noch  so  weit  entfernt,  wie  man  von  der  Con- 
struction  der  Gravitationsprocesse  vor  Newton,  vielleicht 
selbst  vor  Kepler  entfernt  war;  das  thue  aber  der  Richtig- 
keit der  Aufgabe  keinen  Abbruch."  „Denn  bedenke  man, 
welchen  Zeitraum  (nämlich  von  der  Alexandrinischen  Schule 
bis  auf  Newton)  man  gebraucht  habe,  um  in  den  so  ein- 
fachen Verhältnissen  der  kosmischen  Formen  von  der 
Beobachtung  der  Erscheinungen  bis  auf  die  Erkenntniss 
der  Grundkräfte  vorzudringen,  so  werde  man  sich  nicht 
wundern  dürfen,  wenn  man  bemerke,  dass  man  in  der 
Lehre  vom  Leben  noch  kaum  über  die  ersten  Anfänge 
hinaus  sei,  da  hier  die  Verhältnisse  so  unendlich  viel  com- 
plicirter  werden."      „Hier  fehle  noch   ein  Newton." 

In  einer  seiner  kleineren  akademischen  Reden  (Bd.  II 
S.  563)  hebt  Du  Bois-Reymond  von  der  modernen 
Chemie  hervor,  dass  von  ihr  auf  ihrer  stolzen  Höhe  gelte, 
was  Kant  von  der  Chemie  seiner  Zeit  sagte.  „Sie  ist  eine 
Wissenschaft,  aber  nicht  Wissenschaft;  in  dem  Sinne  nicht, 
in  welchem  es  überhaupt  nur  Wissenschaft  giebt,  nämlich 
im  Sinne  des  zur  mathematischen  Mechanik  gediehenen 
Naturerkennens."  „Wissenschaft  in  jenem  höchsten  mensch- 
lichen Sinne  wäre  Chemie  erst,  wenn  wir  die  Spannkräfte, 
Geschwindigkeiten,  stabilen  und  labilen  Gleichgewichts- 
lagen der  Theilchen  ursächlich  in  der  Art  durchschauten, 
wie  die  Bewegungen  der  Gestirne.  Hierin  ist  freilich  die 
Astronomie  der  Chemie  weit  voraus,  welche,  seit  sie  auf 
B  e  r  z  e  1  i  u  s'  naive  Erklärung  verzichten  musste ,  in  ab- 
wartender Entsagung  auf  einer  Stufe  verharrt,  noch  unter 
der  Astronomie  zu  Kopernicus  und  Kepler's  Zeit." 
Hierauf  bezeichnet  Du  Bois-Reymond  „die  mathe- 
matisch-mechanische Darstellung  eines  einfachen  chemischen* 
Vorgangs  als  die  Aufgabe,  die  der  Newton  der  Chemie 


—    6     — 

anzugreifen  habe,  und  er  fügt  hinzu:  „Wann  dieses 
Ziel  erreicht  wird,  wer  kann  es  sagen?  Vielleicht  übt  jener 
Newton  schon  irgendwo  auf  Schulbänken  jugendliche 
Kräfte  5  vielleicht  auch  befinden  sich  nach  hundert  Jahren 
noch  unsere  Nachfolger  der  Umwandlung  der  Chemie  in 
Mechanik  gegenüber  so  rathlos  wie  wir." 

In  seiner  Rede:  „Die  Entwicklungsmechanik  der 
Organismen"  macht  Roux  (G.  A.  Bd.  II  S.  29)  den  Versuch, 
in  der  Entwicklungslehre  der  Thiere  eine  mechanische 
Richtung  der  Forschung  zu  begründen,  und  er  bemerkt 
hierbei:  „Die  Ursachen  der  organischen  Gestaltungen  sind 
uns  gegenwärtig  weit  weniger  bekannt,  als  die  Ursachen 
der  Bewegung  der  Himmelskörper  der  Menschheit  vor 
Newton.  Und  der  zukünftige  Newton  der  Be- 
wegungen der  den  Organismus  aufbauenden 
T  h  e  i  1  e  wird  wohl  nicht  in  der  glücklichen  Lage  sein, 
diese  Bewegungen  blos  auf  drei  Gesetze  und  zwei  Com- 
ponenten  zurückführen  zu  können." 

Die  Citate,  welche  sich  bei  einiger  Belesenheit  wohl 
noch  leicht  werden  vermehren  lassen,  werden  genügen,  um 
eine  Richtung  in  der  Naturwissenschaft  zu  kennzeichnen, 
deren  Alpha  und  Omega  die  mathematische  Darstellung  der 
Naturerscheinungen  als  Bewegungen  grösserer  und  kleinster 
Stoffmassen  ist;  eine  Richtung,  welche  nach  dem  Newton 
der  Astronomie  noch  einen  Newton  der  Botanik,  einen 
Newton  der  Chemie,  einen  Newton  der  Entwicklungs- 
geschichte erscheinen  und  erst  die  wahre,  eigentliche  Natur- 
erkenntniss  auch  auf  diesen  Gebieten  begründen  lässt. 

Bei  dem  beherrschenden  Einfluss  der  Naturwissen- 
schaften im  wissenschaftlichen  Leben  der  Gegenwart  und 
Angesichts  der  Bestrebungen  von  Benedikt  und  Lom- 
broso  wäre    es    nicht  so  unmöglich,   dass  auch  einmal  ein 


naturwissenschaftlich  geschulter  Historiker  auftreten,  mecha- 
nische Principien  in  die  historische  Forschung  einzuführen 
versuchen  und  die  Zeit  voraussagen  wird,  wo  auch  die 
Geschichte  und  Socialwissenschaft  ihren  Newton  erhalten 
werden. 

Nach  dieser  allgemeinen  Kennzeichnung  einer  in 
unserem  Jahrhundert  weit  ausgebreiteten  Gedankenrichtung 
wollen  wir  uns  etwas  eingehender  mit  dem  Thema  dieser 
Schrift:  „Mechanik  und  Biologie",  das  heisst:  mit  dem 
Verhältniss  der  Mechanik  zur  heutigen  Biologie,  beschäf- 
tigen. Den  Anlass  zur  Beschäftigung  mit  unserem  Thema 
und  zur  Einreihung  desselben  in  die  Sammlung  der  Zeit- 
und  Streitfragen  gibt  eine  zeitgenössische  Richtung, 
welche  das  Wort  „Mechanik"  mit  einer  gewissen  Osten- 
tation auf  ihre  Fahne  geschrieben  hat.  Einer  ihrer 
eifrigsten  Wortführer  ist  Wilhelm  Roux,  an  dessen 
Schriften  wir  uns  daher  im  Folgenden  auch  besonders 
halten  wollen. 

Seit  Jahren  ist  Roux  bestrebt,  in  der  Morphologie 
eine  besondere  Wissenschaft  zu  begründen,  welcher  er  den 
Namen  „Entwicklungsmechanik"   gegeben  hat. 

In  einer  Festrede,  gehalten  zur  Feier  der  Eröffnung  des 
neuerbauten  anatomischen  Instituts  zu  Innsbruck  (G.  A.  Bd.  II 
S.  25)  handelt  er  von  ihr  und  nennt  sie  die  „anatomische 
Wissenschaft  der  Zukunft".  „Freilich  ist  diese  Wissen- 
schaft, von  der  ich  sprechen  werde,"  so  leitet  er  seinen  Vor- 
trag ein,  „in  keinem  Stück  diesem  in  Anlage  und  Ausführung 
gleich  vollendeten  Baue"  (nämlich  dem  anatomischen  Institut 
in  Innsbruck)  „zu  vergleichen;"  „denn  sie  ist  nicht  nur 
nicht  vollendet  oder  der  Vollendung  nahe,  sondern  es  fehlt 
zu  ihr  überhaupt  noch  der  Bauplan;  und  was  wir  von  ihr 
zur  Zeit  haben,  ist  nicht  viel  mehr  als  eine  Anzahl  regellos 


—     8     - 

gelagerter,  zum  Theil  behauener,  zum  Theil  auch  noch  un- 
behauener Steine."    . 

„Sie  erkennen  daraus,  dass  es  eine  Wissenschaft  der 
Zukunft  ist,  von  der  ich  zu  sprechen  beabsichtige;  diese 
Wissenschaft  ist  die  Entwicklungsmechanik  der 
Organismen;"  „eine  junge  Wissenschaft,  die,"  wie  es 
an  anderer  Stelle  heisst,  „einen  neuen  Weg  der  Erkenntniss 
des  Organischen  anbahnt." 

Neue  Wege  und  neue  Ziele  der  Forschung,  die  dem 
menschlichen  Wissensdrang  gewiesen  werden,  erregen  Hoff- 
nungen, wecken  Interessen.  Besonders  gross  aber  muss  für 
die  Morphologen  das  Interesse  in  diesem  Falle  sein,  da  es 
sich  für  sie  nicht  bloss  um  eine  neue  Richtung,  sondern 
überhaupt  um  die  Wissenschaft  der  Zukunft,  um  die 
„Zukunftswissenschaft"  handelt.  Denn  nach  Roux  wird 
„eine  Zeit  kommen,  von  der  an  dieser  jetzt  von  Vielen 
gering  geachtete,  scheinbare  Nebentrieb  am  Baume  der 
anatomischen  Wissenschaften  zum  Haupttrieb,  zur  Fort- 
setzung des  Stammes  werden  wird.  Die  Entwicklungs- 
mechanik wird  alsdann  einen  Stamm  darstellen ,  welcher 
rasch  in  die  Höhe  strebt  und  gegenwärtig  noch  nicht 
geahnte  neue  Seitenzweige  treibt,  deren  Blätter  die  vier 
ersten  Aeste  in  ihren  Schatten  nehmen  und  Nahrungsstoff 
zur  Entfaltung  neuer  Knospen  für  sie  bilden  werden." 

So  lade  ich  denn  den  freundlichen  Leser  ein,  mit  mir 
die  nähere  Bekanntschaft  der  neuen  „Zukunftswissenschaft" 
zu  machen. 

Eine  neue  Wissenschaft  muss  ein  neues  Ziel  haben. 
Neu  ist  ein  Ziel,  wenn  es  wesentlich  verschieden  von  den 
Zielen  ist,  welches  die  Forscher  bisher  verfolgt  haben. 
Um  zu  einem  neuen  Ziel  zu  gelangen ,  werden  auch  neue 
Woge,   die  zu  ihm  hinführen,  gezeigt  werden  müssen;    des- 


—    9    — 

gleichen  die  Hilfsmittel  und  Methoden,  die  uns  auf  den 
neuen  Wegen  vorwärts  und  zum  Ziel  zu  kommen  ermög- 
lichen. So  fragen  wir  denn :  Erstens,  welches  ist  das  neue 
Ziel  oder  die  Aufgabe  der  neuen  Zukunftswissenschaft? 
Zweitens,  welches  sind  die  neuen  Wege,  die  neuen  Hilfs- 
mittel und  die  neuen  Methoden  ? 


1.    Ziel  und  Aufgabe  der  Entwicklungs- 
mechanik. 

Als  das  allgemeine  Ziel  der  Entwicklungsmechanik  be- 
zeichnet Roux  (A.  f.  Entw.  Bd.  I  S.  1)  „die  Ermittelung 
der  Ursachen  der  organischen  Gestaltungen" 
oder  „der  gestaltenden  Kräfte  und  Energieen". 
Er  nennt  sie  daher  auch  „die  causale  Morphologie 
der  Organismen". 

Das  Wort  Mechanik  hat  Roux  gewählt,  weil  man 
„in  der  Philosophie  jedes  der  Causalität  unterstehende  Ge- 
schehen seit  Spinoza's  und  Kant's  Definition  des  Mecha- 
nismus als  mechanisches  Geschehen  bezeichnet"  (A.  f.  Entw. 
Bd.  I  S.  1),  und  er  dabei  voraussetzt,  dass  „bei  dem  mate- 
riellen Ablaufe  der  Entwicklungsvorgänge  des  Embryo 
nichts  Metaphysisches  in  Betracht  zu  kommen  habe, 
dass  vielmehr  diese  Vorgänge  durchaus  ein  dem  Gesetze 
der  Causalität  unterstehendes  Geschehen  dar- 
stellen" (G.  A.  Bd.  II  S.  11).  „Da  nur  letzteres,"  so  führt 
Roux  (A.  f.  Entw.  Bd.  I  S.  1)  des  Weiteren  aus,  „erforsch- 
bar ist,  also  allein  Gegenstand  einer  exacten  Lehre  sein 
kann,  und  da  die  Production  von  Gestaltung  das  Wesen 
der  Entwicklung  ausmacht,  so  ist  es  wohl  zulässig,  die  Lehre 
von  den  Ursachen  der  Gestaltungen  als  Entwicklungs- 
mechanik  zu  bezeichnen.    Da  ferner  die  Physik  und  Chemie 


—     10     — 

alles,  auch  das  scheinbar  verschiedenartigste,  z.  B.  magne- 
tische, elektrische,  optische,  chemische  Geschehen  auf  Be- 
wegungen von  Theilen  zurückführen,  resp.  zurückzuführen 
sich  bestreben,  so  hat  der  frühere  engere  Begriff  der 
Mechanik  im  Sinne  des  Physikers,  als  der  ursächlichen 
Lehre  von  den  Massenbewegungen,  eine  Erweiterung  er- 
fahren, welche  sich  mit  dem,  alles  causal  bedingte  Geschehen 
umfassenden,  philosophischen  Begriff  der  Mechanik  begegnet, 
so  dass  somit  das  Wort  „Entwicklungsmechanik"  auch  den 
neueren  Begriffen  der  Physik  und  Chemie  entsprechend  die 
Lehre  von  den  Ursachen  alles  gestaltenden  Geschehens  zu 
bezeichnen  vermag." 

Aus  diesen  Sätzen  stellen  wir  zunächst  fest,  dass  Roux, 
abweichend  von  dem  Standpunkt,  welchen  er  ursprünglich 
im  ersten  Heft  seiner  Beiträge  zur  Entwicklungsmechanik 
des  Embryo  eingenommen  hat  (G.  A.  Bd.  II  S.  1 — 4)  zur 
Charakteristik  sein  er  Zukunftswissenschaft  das 
Wort  „M echanik"  nicht  in  seiner  physikalischen, 
sondern  in  einer  allgemein  philosophischen  Be- 
deutung gebraucht.  Er  will  damit  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  ausdrücken,  als  dass  alle  Entwicklungsvorgänge 
(und  Roux  beschränkt  dies  sogar  sehr  vorsichtig  nur  auf 
ihren  materiellen  Ablauf)  dem  Causalitätsgesetz  unterworfen 
sind,  daher  im  Verhältniss  von  Ursache  und  Wirkung  oder 
in  einem  Causalnexus  zu  einander  stehen  und  dass  man 
daher  auch  nach  den  Ursachen  forschen  könne. 

Roux  selbst  wird  wohl  schwerlich  glauben,  dass  er  in 
diesen  Sätzen  etwa  eine  neue  Wahrheit  gesagt  oder  der 
Forschung  ein  neues  Ziel  gesteckt  habe.  Wo  sind  denn 
die  Forscher,  welche  sich  bisher  mit  Entwicklungslehre  be- 
schäftigt haben,  zu  finden,  welche  nicht  von  dem  Satz  aus- 
gingen, dass,  wie  alle  Naturprocesse,  so  auch  die  thierische 


—   11   — 

Entwicklung  allein  dem  Gesetz  der  Causalität  unterliege 
und  dass  die  Forschung  nach  den  Ursachen  der  Form- 
bildung eine  ihrer  Hauptaufgaben  ist?  Wer  theilte  etwa 
nicht  die  Ansicht,  dass  „bei  dem  materiellen  Ablauf  der 
Entwicklungsvorgänge  des  Embryo  nichts  Metaphy- 
sisches in  Betracht  zu  kommen  habe?"  Ist  nicht  in 
einer  Zeit,  welche  so  durch  und  durch  von  der  mecha- 
nistischen ,  materialistischen  Naturphilosophie  beherrscht 
wird,  ein  derartiger  Ausspruch  schon  an  sich  eine  Trivia- 
lität? Was  glaubt  man  denn  überhaupt  dadurch  gewonnen 
zu  haben,  dass  man  dem  Wort  Entwicklung  anstatt  des 
gebräuchlichen  Zusatzes  Lehre  jetzt  plötzlich  das  Wörtchen 
„Mechanik"  im  philosophischen  Sinne  (!)  anhängt?  Worin 
soll  nach  Roux's  Definition  fernerhin  der  Unterschied 
zwischen  Entwicklungslehre  und  Entwicklungsmechanik 
bestehen?  Soll  etwa  fortan  die  Entwicklungslehre  darauf 
verzichten,  nach  den  Ursachen  der  organischen  Formbildung 
zu  forschen ,  also  ihrer  eigentlichen  Aufgabe  abtrünnig 
werden,  eine  Lehre  von  den  Gesetzen  der  Entwicklung 
darzustellen? 

Durch  die  Vertauschung  der  Worte  Lehre  und  Mechanik 
wird  anstatt  Nutzen  nur  Verwirrung  angestiftet.  Denn  das 
Wort  Mechanik  wird  in  der  Naturwissenschaft,  in  der  Philo- 
sophie und  im  gewöhnlichen  Leben  in  so  verschiedenem 
Sinne  gebraucht,  dass  es  auch  in  der  Verbindung  mit  dem 
Worte  Entwicklung  die  verschiedensten  Vorstellungsreihen 
wachrufen  kann. 

Schon  in  der  Philosophie  ist  der  Begriff  des  Mechanismus 
und  der  Mechanik  durchaus  kein  scharf  begrenzter  und  ein- 
deutiger. Kant  selbst  gebraucht  die  Begriffe  in  einer  engeren 
und  in  einer  allgemeinen  Fassung.  Während  er  im  vierten 
Band  seiner  Werke,   wie  schon  in  der  Einleitung  (S.  2)  an- 


—     12     — 

geführt  wurde,  die  mechanische  Erklärung  der  Natur  auf 
die  Lehre  von  den  Atomen  und  ihrer  Bewegung  gründet, 
bemerkt  er  im  vierten  Band  (S.  101):  „Eben  um  deswillen 
kann  man  auch  alle  Nothwendigkeit  der  Begebenheiten  in 
der  Zeit  nach  dem  Naturgesetze  der  Causalität  den  Mecha- 
nismus der  Natur  nennen,  ob  man  gleich  darunter  nicht 
versteht,  dass  Dinge,  die  ihm  unterworfen  sind,  wirklich 
materielle  Maschinen  sein  müssten.  Hier  wird  nur  auf 
die  Nothwendigkeit  der  Verknüpfung  der  Begebenheiten 
in  einer  Zeitreihe,  so  wie  sie  sich  nach  dem  Naturgesetze 
entwickelt,  gesehen,  man  mag  nun  das  Subject,  in 
welchem  dieser  Ablauf  geschieht,  Automaton 
m  a t  e r  i  a  1  e ,  da  das  Maschinenwesen  durch  Ma- 
terie, oder  mit  L e i b n i z  spirituale,  da  es  durch 
Vorstellungen  betrieben  wird,    nennen." 

Philosophisch  versteht  man  ferner  auch  unter  Mechanis- 
mus (Kuno  Fischer  S.  485)  ein  jedes  System  von  Objecten, 
die  räumlich  und  zeitlich  in  einer  nothwendigen  Beziehung 
zu  einander  stehen.  Hier  kann  man  das  Wort  in  der  weit- 
gehendsten Weise  verwenden.  Man  kann  die  ganze  Natur 
als  einen  Mechanismus  bezeichnen  und  in  ihr  wieder  jede 
zu  einem  System  mehr  oder  minder  abgeschlossene  Gemein- 
schaft von  Objecten-,  man  kann  endlich  auch  von  einem 
Mechanismus  des  Staats,  von  einem  Mechanismus  der  Güter- 
vertheilung  und  Geldcirculation,  sogar  von  einem  Mecha- 
nismus der  Ideenbildung  etc.  sprechen. 

Philosophisch  kann  man  also  f a s t  j e d e  Natur- 
wissenschaft, insofern  nur  ihre  Gegenstände  als 
ein  System  not  h  wendig  verbundener  T  h  e  i  1  e 
untersucht  und  dargestellt  werden,  zu  einer 
mechanischen  Wissenschaft  stempeln. 

Die  Geologie  wächst  sich  zur  Geomechanik  aus; 


—     13     — 

denn  sie  ist  ja  —  um  bei  Roux's  Definition  zu  bleiben  — 
die  „Lehre  von  den  Ursachen  der  Gestaltungen"  der  Erde, 
welche  „durchaus  ein  dem  Gesetze  der  Causalität  unter- 
stehendes Geschehen  darstellen"  und  „bei  deren  materiellen 
Ablauf"  „nichts  Metaphysisches  in  Betracht  zu  kommen  hat". 

Die  schon  alt  gewordene  Bi  ologie  tritt  uns  in  neuem 
Kleide  verjüngt  als  Biomechanik  entgegen.  Dieser  Name 
ist  schon  zweimal  und,  wie  ich  glaube,  unabhängig  von 
einander  in  Vorschlag  gebracht  worden ,  schon  vor  Jahren 
von  Benedikt(l)  und  ganz  neuerdings  wieder  von  Yves 
Delage  (5). 

Vielleicht  wird  nach  solchen  Vorgängen  die  Psycho- 
logie sich  ebenfalls  entschliessen,  ihr  Logos  gegen  Mecha- 
nik umzutauschen.  Denn  giebt  es  nicht  auch  hier  ein 
Gesetz,  nach  dem  sich  die  Vorstellungsreihen  bilden?  Von 
einer  „Mechanik  des  Geistes"  hat  schon  der  Philosoph 
Her  bar t  gesprochen  (Eucken  (10)  S.  164).  Die  anato- 
mischen Grundlagen  der  Hirnanatomie,  die  Anordnung  der 
Ganglienzellen  und  ihrer  Leitungsbahnen  bezeichnet  man 
immer  häufiger  als  Mechanismen.  Einer  der  letzten  Auf- 
sätze des  um  die  Erforschung  des  Nervensystems  so  hoch- 
verdienten Ramon  Y.  Cajal(43)  lautet:  Einige  Hypo- 
thesen über  den  anatomischen  Mechanismus  der  Ideen- 
bildung, der  Association  und  der  Aufmerksamkeit. 

Es  bedarf  nur  eines  Schrittes,  und  man  bezeichnet  die 
Lehre  vom  feineren  Autbau  des  Gehirns,  insbesondere  die 
Lehre  vom  Faserverlauf  etc.  nicht  mehr  als  Hirnanatomie, 
sondern  als  Hirnmechanik. 

Dass  in  den  Fächern  der  Staatenlehre,  der  National- 
ökonomie, der  Statistik,  der  Geschichte  sich  auch  grosse 
Gebiete  befinden,  deren  Lehre  sich  als  Mechanik  darstellen 
Hesse,  wenn  wir   das  Wort   in    einem    allgemeineren   philo- 


—     14    — 

sophischen  Sinne  gebrauchen,    mag  nur  nebenbei  noch  an- 
gedeutet sein. 

Durch  die  oben  erwähnten  Taufen  werden  allerdings 
die  von  ihr  betroffenen  Wissenschaften  an  innerem  Werthe 
nichts  gewinnen.  Denn  mit  der  Etiquette  verändert  sich 
von  heute  auf  morgen  ihr  Inhalt  nicht.  Unter  dem  Namen 
der  Astronomie,  bei  der  man  wohl  niemals  daran  gedacht 
hat,  sie  Astromechanik  zu  nennen,  birgt  sich  als  Kern 
der  Inhalt  der  Newton'schen  Gesetze,  in  der  That  eine 
Mechanik  des  Himmels,  Avie  sie  Laplace  genannt  hat; 
dagegen  sind  die  Entwicklungslehre  und  Biologie,  die 
Geologie  und  Psychologie  und  welche  Fächer  man  ihnen 
sonst  noch  anreihen  will,  auch  wenn  sie  sich  Entwick- 
lungsmechanik und  Biomechanik,  Geomechanik  und  Psycho- 
mechanik  etc.  nennen ,  jetzt  ebenso  wenig  wie  zur  Zeit 
Kant 's  im  Stande,  nach  Newton'schen  Gesetzen  die 
Gegenstände  ihrer  Erforschung  zu  begreifen. 

Mir  scheint  es  daher  nicht  zu  billigen  und 
von  keinem  Nutzen  für  die  Entwicklung  der 
Naturwissenschaft  zu  sein,  wenn  man  in  ihrem 
Bereich  den  Begriff  Mechanik  nicht  in  der 
engeren  und  schärferen  Fassung  der  Physik, 
sondern  im  allgemeineren  und  allumfassenden 
philosophischen  Sinne  verwendet. 

Wer  mit  mir  diese  Meinung  theilt,  der  wird  mir  auch 
beipflichten,  dass  in  der  Biologie  nur  sehr  beschränkte  Ge- 
biete sich  wirklich  als  Mechanik  auch  nur  annäherungsweise 
darstellen  lassen.  Die  meisten  Angriffspunkte  bietet  hier  für 
mechanische  Untersuchungen  das  Skeletsystem  mit  seinen 
wie  Hebelarme  wirkenden  Knochen;  auch  der  feinere  Bau 
der  Knochen  selbst,  vornehmlich  die  Architectur  der 
Spongiosa   mit  ihren  Zug-  und  Druckeurven.     Auf  diesem 


—     15     — 

Gebiete  hat  sich  denn  auch  wirklich  eine  strengeren  An- 
sprüchen genügende,  auf  mathematische  Berechnungen  ge- 
gründete Mechanik  der  Gelenke  und  Gehwerkzeuge  aus- 
gebildet. Nächstdem  kommt,  obwohl  in  geringerem  Maasse, 
das  Muskelsystem  mit  seinen  Sehnen  und  das  Gefässsystem 
mit  seiner  Flüssigkeitscirculation  als  Gegenstand  mecha- 
nischer Untersuchungsweise  und  Berechnung  in  Betracht. 
Desgleichen  finden  sich  in  der  Botanik  in  das  Bereich 
der  Mechanik  fallende  Capitel.  Ich  erinnere  an  die  von 
Schwenden  er  (56)  begründete  Lehre  der  mechanischen 
Gewebe,  die  in  den  Wurzeln  auf  Zug  und  in  den  Aesten 
und  Zweigen  auf  Biegungsfestigkeit  eingerichtet  sind;  ich 
erinnere  an  die  durch  Osmose  erzeugten  oder  durch  Theilung 
der  Zellen  hervorgerufenen  Druckkräfte,  die  sich  in  vielen 
Fällen  in  exacter  Weise  messen  und  berechnen  lassen. 

Inwiefern  bietet  nun  die  Entwicklung  der  Thiere  Kaum 
für  mechanische  Betrachtungsweisen?  Die  durch  Theilung 
des  Eies  sich  rasch  in 's  Unzählbare  vermehrenden  Zellen 
gleiten  und  schieben  sich  in  fest  geordneten  Bahnen  an 
einander  vorbei,  hierbei  vielfach  den  Plateau'schen  Ge- 
setzen folgend.  Fast  alle  Organe  entstehen  durch  Faltung 
und  Ausstülpung  von  Zellenlamellen,  innerhalb  deren 
durch  ungleiche  Zellenvermehrung  und  ungleiches  Wachs- 
thum  an  bestimmten  Stellen  bestimmt  gerichtete  Zug-, 
Druck-  und  Schubkräfte  in's  Leben  gerufen  werden.  In 
den  Augen  des  Media  nikers  löst  sich  das  ganze 
Problem  der  thierischen  Gestaltbildung  auf  in 
die  nach  Gesetz  geordnete,  in  genau  bestimm- 
ten Bahnen  und  in  wechselnden  Geschwindig- 
keiten erfolgende  Bewegung  kleinerer  und 
grösserer  Rau  mg  rossen,  der  embryonalen  Zellen. 
Somit  könnte   man  hier  wenigstens  theoretisch 


—     16    — 

sich    die    Möglichkeit    einer    wahren    „Mechanik 
der  Gestaltbildung"   construiren. 

Gleichwohl  wird  der  mathematische  Physiker  sofort  ein- 
sehen, dass  hier  kein  Feld  für  ihn  ist  und  dass  er  für  ab- 
sehbare Zeit  die  Mechanik  der  Gestaltbildung  nicht  weiter 
und  in  anderer  Weise,  als  es  von  Seiten  der  Biologie  ge- 
schieht, wird  ausbauen  können.  Gewiss  linden  in  der 
Embryonalentwicklung  Bewegungen  kleinster  StofFmassen 
in  ganz  gesetzmässigen  Bahnen  statt.  Aber  mit  welchen 
Mitteln  und  in  welcher  Weise  wollte  man  die  Bewegungen 
dieser  kleinsten  Massen,  ihre  genaue  Grösse,  die  Kraft  ihrer 
Bewegung  und  ihre  Bahnen  in  Raum  und  Zeit  berechnen  ? 
Und  was  sind  das  für  complicirte  Bewegungen,  die  zwar 
auch  gesetzmässig,  aber  ganz  discontinuirlich  erfolgen?  Und 
was  sind  das  für  complicirte  eigenthümliche  StofFmassen, 
die  sich  fortwährend  durch  chemische  Processe,  durch  Um- 
wandlung von  Reservestoffen  in  Protoplasma  oder  sogar 
durch  Aufnahme  von  neuen  Stoffen  verändern  und  wachsen, 
Massen,  die  dann  ab  und  zu  in  zwei  kleinere  Massen,  in 
zwei  Tochterzellen,  zerfallen  und  von  da  ab  neue,  zwar 
auch  gesetzmässige ,  aber  oft  sich  trennende  Bahnen  in 
gleicher  oder  auch  in  ungleicher  Geschwindigkeit  ein- 
schlagen? Wie  soll  man  ferner  die  bewegenden  Kräfte  in 
den  kleinen  Massen  bestimmen  und  messen?  Schon  bei 
der  Aufstellung  einer  mathematischen  Formel  für  die  ersten, 
noch  gut  übersehbaren,  embryonalen  Zellen  wird  der  mathe- 
matische Physiker  seinen  Versuch  scheitern  sehen.  Wie 
häufen  sich  aber  die  Schwierigkeiten  von  da  ab  Schritt  für 
Schritt.  Die  Zahl  der  zu  verfolgenden,  in  eigenen  Bahnen 
discontinuirlich  sich  bewegenden,  wachsenden,  sich  theilen- 
den  kleinen  Stoffmassen,  deren  Grösse,  Bewegungsbahn 
und  Intensität    der  Bewegung    bestimmt    werden    soll,  ver- 


—     17    — 

mehrt  sich  in's  Ungemessene,  sie  steigt  auf  100 ,  auf  1000, 
auf  Millionen  und  viele  Millionen,  sie  entziehen  sich  dem 
Auge  des  Beobachters,  indem  sie  durch  Einstülpung  sich  in 
übereinander  gelegene  Schichten  anordnen.  Der  mathe- 
matische Physiker  aber  hat  kein  Mittel,  die  seinem  Auge  in 
tieferen  Schichten  entschwindenden  Körperchen  sich  wieder 
sichtbar  zu  machen;  denn  wollte  er  das  Verfahren  des 
Embryologen  einschlagen  und  das  den  Gegenstand  seiner 
mathematischen  Berechnungen  bildende  System  in  Alcohol 
oder  Chromsäure  einlegen ,  färben  und  schneiden ,  dann 
würde  er  das  System  zur  Ruhe  bringen,  während  er  doch 
gerade  es  in  seiner  Bewegung  untersuchen  und  messen  will ; 
und  selbst  von  dem  in  gewaltsame  Ruhe  gebrachten  System 
würde  er  noch  nicht  einmal  Gelegenheit  erhalten,  die  Ver- 
hältnisse während  des  Moments,  wo  es  zur  Ruhe  kam, 
genau  berechnen  zu  können,  denn  er  hat  nur  noch  die 
Trümmer  des  Systems  vor  sich,  lauter  Bestandteile,  die 
aus  ihrer  Lage  gebracht,  in  ihrer  Form  und  Grösse,  in 
ihrem  Aggregatzustand  und  ihrer  chemischen  Zusammen- 
setzung tief  verändert  sind. 

Der  mathematische  Physiker  der  Gegenwart,  den  wir 
um  seine  Hülfe  gebeten  haben,  wird  sich  mit  dem  ihm  vor- 
gelegten Problem  gewiss  nicht  lange  den  Kopf  zerbrechen, 
sondern  diese  Aufgabe  getrost  und  neidlos  dem  ,, zukünftigen 
Newton  der  Entwicklungsgeschichte"  überlassen;  auch  wird 
er  gewiss  keinen  Einwand  gegen  den  Ausspruch  von  Roux 
erheben:  „Der  zukünftige  Newton  der  Bewegungen  der 
den  Organismus  aufbauenden  Theile  wird  wohl  nicht  in  der 
glücklichen  Lage  sein,  diese  Bewegungen  blos  auf 
drei  Gesetze  und  zwei  Componenten  zurück- 
führen zu  können."  Bis  dahin  wird  dem  Embryologen 
wohl  nichts  Anderes    übrig  bleiben,    als    nach  seinem  Ver- 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.     II.  2 


—     18     — 

mögen  und  mit  seinen  Methoden,  die  er  hie  und  da  noch 
verbessern  wird,  die  Erkenntniss  der  thierischen  Gestalt- 
bildung weiter  zu  fördern. 

In  noch  höherem  Maasse  als  die  eben  erörterten  ent- 
ziehen sich  alle  übrigen  Vorgänge  der  Entwicklungsgeschichte 
einer  physikalisch  -  mechanischen  Behandlungsweise,  so  fast 
ausnahmslos  das  grosse  und  wichtige  Gebiet  der  histologischen 
Differenzirung,  die  Umwandlung  der  einzelnen  Zellen  in  die 
specifischen  Arbeitsorgane  des  Organismus,  in  Nerven-  und 
Muskelzellen,  in  Drüsen-,  Epithel-,  Sinnes-  und  Bindegewebs- 
zellen u.  s.  w.  Hier  haben  wir  wohl  eine  viel  grössere  und 
tiefere  Bereicherung  unserer  Erkenntniss  in  der  Zukunft  von 
der  Seite  der  Biochemie,  wenn  sie  sich  mit  der  mikrosko- 
pischen Analyse  enger  als  zur  Zeit  verbindet,  als  von  Seiten 
der  Biophysik  zu  erwarten. 

Somit  drängt  Alles  zu  dem  Schluss,  dass  die  Biologie 
ein  Gebiet  ist,  auf  welchem  Mechanik  im  Sinne  des  Physikers 
nur  in  sehr  beschränkter  Weise  verwendbar  ist,  und  dass 
die  Entwicklungslehre  der  Organismen  sich  am  allerwenigsten 
für  eine  exact  mechanische  Behandlungsweise  geeignet  er- 
weist. Von  diesem  Standpunkt  aus  wird  es  den  Biologen 
dann  sonderbar  anmuthen,  wenn  er  in  der  modernen  bio- 
logischen Literatur  eine  Umschau  hält  und  liest,  wie  in 
manchen  Schriften  die  Namen  Mechanik  und  Mechanismus 
und  ihre  Varianten  sich  gehäufter  finden,  als  in  einem  Lehr- 
buch oder  in  einer  Abhandlung  der  physikalischen  Mechanik, 
so  dass  ein  der  Sache  ferner  stehender  Leser  in  der  That 
auf  den  Gedanken  kommen  könnte,  unsere  Biologie  habe  es 
jetzt  schon  herrlich  Aveit  gebracht  und  sei  im  besten  Zuge, 
eine  mechanische  Wissenschaft  zu  werden. 

Denn  wie  häufig  liest  man  vom  Mechanismus  der  Zelle, 
vom  Mechanismus  des  Eies,  sogar  selbst  vom  „Mechanismus 


—     19     — 

des  Cytotropisnius",  wobei  freilich  Niemand  uns  zu  sagen 
weiss,  was  diese  Mechanismen  eigentlich  sind,  und  in  welcher 
mechanischen  Anordnung  von  Theilchen  sie  bestehen,  Oder 
man  liest  von  der  Mechanik  der  Kern-  und  Zelltheilung,  der 
Protoplasmamechanik,  von  den  Mechanismen  der  Selbst- 
regulation, von  den  Mechanismen  der  Bildung  der  Individuen 
aus  Keimplasma  und  vom  Mechanismus  der  Vererbung. 
Dabei  ist,  was  das  Wesen  des  Keimplasma  und  der  Ver- 
erbung betrifft,  unsere  thatsächliche  Kenntniss  bei  Lichte 
besehen  eine  derartige,  dass  hier  wie  dort  ganz  entgegen- 
gesetzte Hypothesen  bestehen,  dass  die  complicirte  Archi- 
tektur, welche  Weismann  seinem  Keimplasma  gibt,  nur 
in  der  Idee  existirt,  von  anderer  Seite  aber  als  unbegründet 
bestritten  wird,  dass  ferner  die  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften  von  einem  Theil  der  Forscher  in  Abrede 
gestellt  und  wieder  von  einem  anderen  Theil  mit  Zähigkeit 
festgehalten  wird.  Wissen  vielleicht  die  exacten  Natur- 
forscher, welche  den  Namen  gebrauchen,  uns  den  Mecha- 
nismus der  Vererbung  etwas  genauer  zu  beschreiben?  In 
allen  diesen  Fällen  wird  der  Name  Mechanismus  angewandt, 
nicht  weil  man  von  dem  Mechanismus  der  Zelle,  des  Eies, 
des  Keimplasma,  der  Vererbung  etc.  etwas  wüsste,  sondern 
weil  man  in  bequemer  Weise  mit  einem  Wort  das  Nicht- 
wissen einhüllend,  voraussetzt,  dass,  wie  in  allen  Natur- 
objecten,  so  auch  hier  am  guten  Ende  ein  Mechanismus 
vorliegen  müsse.  Als  Entschuldigung  für  den  Missbrauch 
eines  Begriffes,  mit  welchem  man  in  den  Naturwissenschaften 
sonst  einen  ganz  scharf  begrenzten  und  bestimmten  Sinn  zu 
verbinden  pflegt,  kann  nur  der  Umstand  dienen,  dass  man 
ja  gar  nicht  die  Mechanik  des  Physikers,  sondern  nur  die 
Mechanik  des  Philosophen  meint.  Man  will  damit,  so  ge- 
winnt   es    den    Anschein,    nicht    mehr    als    das    Glaubens- 


—     20     — 

bekenntniss,  was  übrigens  auch  wir  theilen,  öffentlich  ab- 
legen, dass  in  der  Biologie  Alles  in  natürlicher,  das  heisst 
philosophisch-mechanischer  Weise  hergeht,  und  dass  gewiss 
„dabei  nichts  Metaphysisches  in  Betracht  zu  kommen  habe". 

Da  also  die  Worte  Mechanik  nnd  Mechanismus  in  den 
meisten  Fällen,  wo  sie  in  der  Biologie  angewandt  werden, 
keinen  realen  Inhalt  haben,  da  sie  für  keine  wirklichen, 
sondern  nur  für  eingebildete  Systeme  mechanisch 
verbunden  gedachterT  heile  gebraucht  werden,  sind 
sie  für  den  Sinn  biologischer  Abhandlungen  gewöhnlich  über- 
flüssig und  können  beim  Lesen  ohne  Schaden  für  das  Ver- 
ständniss  weggelassen  oder  durch  andere  Worte,  wie  Process 
und  Organismus  ersetzt  werden;  so  völlig  inhaltsleer  sind 
sie,  dass  sie  keine  Lücke  im  Verständniss  hinterlassen.  Ver- 
erbung sagt  genau  so  viel  wie  Mechanismus  der  Vererbung, 
Entwicklung  oder  Entwicklungsproeess  so  viel  wie  Ent- 
wicklungsmechanismus ;  für  Mechanismus  von  Ei  und  Zellen 
können  wir  ebensogut  das  Wort  Organismus  gebrauchen 
oder  noch  kürzer    und  schlichter  von  Ei  und  Zellen  reden. 

Wie  schon  früher  erwähnt,  will  Roux  das  Wort  „Mecha- 
nik" in  seiner  Verbindung  mit  Entwicklung  in  einem  weiteren, 
philosophischen  Sinne  gebrauchen  •  dadurch  hat  er  aber  den 
Begriff  „Mechanik"  für  den  Gebrauch  des  Naturforschers 
so  verwässert,  dass  man  unter  dem  Namen  Entwicklungs- 
mechanik die  allerverschiedenartigsten  und  sonderbarsten 
Bestandteile  von  ihm  abgehandelt  findet.  Wem  es  Ver- 
gnügen macht,  sich  darüber  zu  unterrichten,  braucht  nur 
in  einigen  Bänden  der  anatomischen  Jahresberichte  die  von 
Roux  geschriebenen  Referate  über  Entwicklungsmechanik 
zu  durchblättern.  Als  Mechanik  findet  er  dort  abgehandelt 
(54  Bd.  IG  und  17):  Henking,  Giebt  es  freie  Kern- 
bildung'?     Baumeyer,  Das  künstliche  Ausbrüten  und  die 


—     21     — 

Hühnerzucht  nach  zwanzigjährigen  Erfahrungen  aus  prak- 
tischem Betriebe  der  künstlichen  Ausbrütung  und  der 
Hühnerzucht.  Seh  wink,  Weisse  Froschlurche  im  Freien. 
Steudel,  Zur  Kenntniss  der  Regeneration  der  quer- 
gestreiften Musculatur.  Vahl,  Mittheilungen  über  das 
G  ewicht  nicht  erwachsener  Mädchen.  N  e  i  s  s  e  r ,  Zur 
Kenntniss  der  antibakteriellen  Wirkung  des  Jodoforms. 
v.  Bergmann,  Ueber  Echinocokken  der  langen  Röhren- 
knochen. Korscheit,  Ueber  einen  Fall  von  Hahnen- 
fedrigkeit  bei  der  Hausente.  Strassmann,  Experimen- 
telle Untersuchungen  zur  Lehre  vom  chronischen  Alkoho- 
lismus. Arndt,  Ueber  einige  Ernährungsstörungen  nach 
Nervenverletzungen.  Miller,  Der  Einfluss  der  Nahrung 
auf  die  Zähne.  Gras  er,  Ueber  Klumpfussbehandlung. 
Barfurth,  Versuche  über  die  parthenogenetische  Furchung 
des  Hühnereies. 

Ferner  erfahren  wir  noch  an  anderer  Stelle  von  Roux, 
dass  vergleichende  Anatomie  und  vergleichende  Embryo- 
logie ebenfalls  unter  den  Begriff  der  Entwicklungsmechanik 
fallen,  allerdings  mit  einer  gewissen  Einschränkung  (47  Bd.  I, 
S.  24).  „Soweit  diese  Disciplinen  ursächliche  Erkenntniss 
zu  Tage  fördern,"  heisst  es  nämlich,  „so  weit  sind  sie  selber 
Entwicklungsmechanik ;  und  da  sie  dies  in  aus- 
giebigem M'aasse  thun  und  gethan  haben,  so 
stellen  sie  nur  historisch  von  letzterer  geson- 
derte Disciplinen  dar."  Mit  diesem  wohl  etwas  un- 
bedachtsam ausgesprochenen  Satz  scheint  mir  der  Begründer 
der  Zukunftswissenschaft  mit  anderen  seiner  Aussprüche 
in  ernstlichen  Widerspruch  gerathen  zu  sein  und  sich  selbst 
zwei  nicht  leicht  zu  lösende  Aufgaben  gestellt  zu  haben. 
Die  eine  Aufgabe  ist,  anzugeben,  welchen  Bestandtheilen 
der   vergleichenden   Anatomie   und    Entwicklungsgeschichte 


—     22     — 

die  Ehre  der  Aufnahme  in  die  Entwicklungsmechanik  zu 
Theil  werden  soll  und  welchen  nicht.  Denn  bei  der  Auf- 
nahmeberechtigung muss  er  prüfen,  ob  sie  „ursächliche  Er- 
kenntniss"  zu  Tage  gefördert  haben  oder  nicht.  Hoffen 
wir,  dass  bei  diesem  Examen  das  „Approbatur"  recht  frei- 
gebig ertheilt  wird.  Haben  doch  auch  das  künstliche  Aus- 
brüten und  die  Hühnerzucht,  Mittheilungen  über  das  Ge- 
wicht nicht  erwachsener  Mädchen,  ein  Fall  von  Hahnen- 
fedrigkeit  bei  der  Hausente  etc.  in  das  Gebiet  der  Entwick- 
lungsmechanik Aufnahme  gefunden. 

Noch  schwieriger  aber  ist  vielleicht  die  zweite  Aufgabe, 
deren  Lösung  wohl  allen  Scharfsinn  des  Sophisten  erfordern 
wird.  Wenn  vergleichende  Anatomie  und  Entwicklungs- 
geschichte zum  grossen  Theil  schon  selber  Entwicklungs- 
mechanik sind,  in  wie  fern  ist  dann  letztere  eine  erst  jetzt 
neu  geborene  Wissenschaft?  Mit  wrelchem  Recht  wird  dem 
Leser  der  Roux'schen  Abhandlungen  fast  in  einer  jeden  mit 
allem  Ernst  versichert,  dass  wir  überhaupt  erst  jetzt  „am 
Anfang  causaler  Forschung"   stehen? 


Wir  haben  bisher  festgestellt,  dass  man  in  der  bio- 
logischen Literatur  seit  einigen  Jahren  den  Worten  Mechanik, 
Mechanismus,  mechanisch  etc.  häufiger  begegnet,  dass  man 
sie  mit  einer  gewissen  Liebe  anwendet,  als  ob  eine 
besondere  Kraft  von  diesen  Wörtern  aus- 
ginge und  sie  daher  auch  in  Fällen  gebraucht,  wo  sie 
gar  keinen  Inhalt  haben.  Wie  erklärt  sich  diese  Er- 
scheinung? Nach  meiner  Meinung  daraus,  dass  viele 
Forscher  halb  bewusster,  halb  unbewusster  Weise  mit  dem 
Worte  „Mechanik"  eine  Tendenz  verbinden  oder 
dass  sie,  was  nicht  weniger  häufig  geschieht,  eine  Mode 
mitmachen.     In    tendenziöser  Weise    hat  das  Wort 


-     23    — 

Mechanik  in  der  Mitte  unseres  Jahrhunderts 
gedient  und  dient  jetzt  wieder,  in  beiden  Fällen 
allerdings  in  einem  etwas  verschiedenen  Sinn. 
Ein  kleiner  historischer  Excurs  mag  dazu  dienen,  uns  mit 
diesem  besonderen  Verhältniss,  in  welchem  Mechanik  und 
Biologie  zu  einander  stehen,  bekannt  zu  machen. 

a)  Die  tendenziöse  Verwendung-  des  Begriffes  Mechanik 
in  der  Biologie  durch  Lotze. 

In  der  Mitte  unseres  Jahrhunderts  ist  es  der  berühmte 
Philosoph  Lotze  gewesen,  welcher  sich  des  Wortes  Mechanik 
in  philosophischem  Sinne  als  Kampfmittel  gegen  die  unter 
Biologen  und  Aerzten  weit  verbreitete  Richtung  des  Vita- 
lismus bedient  hat.  Seine  Kampfesschriften  sind:  sein  1842 
erschienenes  Buch  „Allgemeine  Pathologie  und  Therapie  als 
mechanische  Naturwissenschaften"  (33),  sein  Artikel  „Leben 
und  Lebenskraft"  in  Wagner's  Handwörterbuch  der 
Physiologie  (1842)  (34)  und  schliesslich  seine  „Allgemeine 
Physiologie  des  körperlichen  Lebens"  (1851)  (35).  An  die- 
selben schliesst  sich  an,  nach  gleicher  Richtung  wirkend,  Du 
Bois-Reymond's  Vorrede  zu  den  Untersuchungen  über 
thierische  Electricität,  betitelt  „Ueber  Lebenskraft"  (9  Bd.  2). 

Alle  diese  Schriften  haben  den  klar  ausgespi-ochenen 
Zweck ,  den  Vitalismus  durch  die  Leuchte  des 
Mechanismus  aus  der  Wissenschaft  zu  vertreiben. 
Wegen  der  ausserordentlichen  Complication  der  Lebens- 
erscheinungen, welche  von  den  Erscheinungen  der  un- 
organischen Körper  auf  den  ersten  Blick  so  grundver- 
schieden und  durch  eine  weite  Kluft  getrennt  zu  sein 
scheinen,  hatte  sich  unter  Naturforschern  vielfach  die 
Meinung  ausgebildet,  dass  die  Kräfte  der  unbelebten  Natur 
nicht  ausreichten   zur  Erklärung  der  Lebensprocesse ;    man 


—     24     — 

müsse  daher  hier  noch  besondere  Lebenskräfte  oder  auch 
e  i  n  e  Lebenskraft  voraussetzen,  die  nur  in  den  Organismen 
wirksam  sei  und  das  Eigenthümliche  des  Lebens  ausmache. 
Sie  war  es7  die  zur  Erklärung  von  Allein  und  Jedem  diente, 
welche  dem  kranken  Körper  wieder  zur  Genesung  ver- 
half, welche  in  den  Stoffwechsel  in  besonderer  Weise  ein- 
griff und  die  Ursache  war,  dass  die  organischen  Substanzen 
von  denen  der  unbelebten  Natur  so  verschieden  sind;  sie 
ist  es  ferner,  welche  sich  bei  der  Entwicklung  des  Eies  zum 
Embryo  regt  und  die  Formbildungen  hervorruft,  durch 
deren  Aufeinanderfolge  aus  dem  scheinbar  Einfachen  das 
complicirte  Geschöpf  hervorgeht. 

Der  unklare  und  für  die  Wissenschaft  wenig  förder- 
liche Begriff  Lebenskraft  spielt  selbst  in  den  Schriften 
von  J  o  h.  Müller  und  von  L i  e b  i  g  eine  Rolle.  „Die 
Lebenskraft,"  heisst  es  bei  Letzterem  (31,  S.  200),  „giebt  sich 
in  einem  belebten  Körpertheil  als  eine  Ursache  der  Zu- 
nahme an  Masse,  sowie  des  Widerstandes  gegen  äussere 
Thätigkeiten  zu  erkennen,  welche  die  Form,  Beschaffenheit 
und  Zusammensetzung  der  Elementartheilchen  ihres  Trägers 
zu  ändern  streben."  „Die  Lebenskraft  bewirkt  eine  Zer- 
setzung dieser  Nahrungsstoffe,  sie  hebt  die  Kraft  der  An- 
ziehung auf,  die  zwischen  ihren  kleinsten  Theilchen  unaus- 
gesetzt thätig  ist,  sie  ändert  die  Richtung  der  chemischen 
Kräfte  in  der  Art,  dass  die  Elemente  der  Nahrungsstoffe 
sich  in  einer  andern  Weise  ordnen,  dass  sie  zu  neuen,  den 
Trägern  der  Lebenskraft  gleichen  oder  unähnlichen  Ver- 
bindungen zusammentreten;  sie  ändert  die  Richtung  und 
Stärke  der  Cohäsionskraft ,  sie  hebt  den  Cohäsionszustand 
der  Nahrungsmittel  auf  und  zwingt  die  neuen  Verbindungen 
zu  Formen  zusammenzutreten,  welche  keine  Aehnlichkeit 
mit  den  Formen  haben,  welche  durch  die  frei  (ohne  Wider- 
stand) wirkende  Cohäsionskraft  gebildet  werden"   etc. 


—    25    — 

In  dieser  Weise  spielte  die  Lebenskraft  in  der  Biologie 
die  Rolle  „eines  Mädchens  für  Alles";  sie  war  ein  unklarer, 
mystischer  Begriff,  der  wohl  die  Forschung  irre  zu  leiten 
im  Stande  war. 

Hier  klärend  gewirkt  zu  haben  ist  ein  grosses  Ver- 
dienst von  Lotze,  indem  er  die  mechanische  Theorie  als 
ein  leitendes  Regulativ  gegen  den  Vitalismus  in's  Feld 
führte.  Denselben  Weg,  auf  welchem  die  mathematische 
Physik  ihre  Erfolge  erreicht  hat,  will  Lotze  auch  bei  den 
Betrachtungen  der  Lebenserscheinungen  eingeschlagen 
wissen.  Er  erblickt  in  den  lebenden  Körpern  nichts  Anderes 
als  „ein  System  von  zusammen  geordneten  Massen  mit 
ihren  proportionalen  Kräften,  aus  deren  Ineinanderwirken 
verbunden  mit  den  Einwirkungen  des  Aeusseren  eine  Reihe 
von  Bewegungen  hervorgeht"  (33,  S.  8).  Den  eigenthüm- 
lichen  Charakter  des  Organischen  erklärt  er  aus  der  Art 
der  Zusammenfassung  und  Anordnung  der  allgemeinen 
Hilfsmittel,  die  ebenso  sehr  der  todten  Natur  als  der  Kunst, 
sowie  den  Zwecken  des  Lebens  dienen.  Alles  Organische 
bezeichnet  er  daher  als  eine  bestimmte  Form  der 
Vereinigung  des  Mechanischen  (33,  S.  9).  „Wenn 
irgend  in  der  als  ruhend  vorausgesetzten  Combination  von 
Massen,  die  den  Körper  bilden,  ein  Anstoss  geschehe,  so 
sei  es  gewiss,  dass  er  nur  dadurch  in  ihm  andere  Wirkungen 
hervorbringen  könne,  dass  er  sich  dieser  physikalischen 
Instrumentation  bediene,  die  durch  den  Zusammenhang  der 
Massen  und  ihre  mechanischen  Gegenwirkungen  gegeben  ist, 
und  nie  und  nirgends  werde  eine  körperliche  Veränderung 
vorgehen,  ohne  dass  ihr  Zustandekommen  genau  den  Ge- 
setzen der  allgemeinen  Physik  folge".  „Das  Geschehen  im 
lebenden  Körper  unterscheide  sich  von  dem  unbelebten 
physikalischen  Geschehen  nicht  durch  die  principielle  Ver- 


—     26     — 

schiedenheit  der  Natur  und  Wirkungsweise  der  vollziehen- 
den Kräfte ,  sondern  durch  die  Anordnung  der  An- 
griffspunkte, die  diesen  dargeboten  seien,  und  von  denen 
hier  wie  überall  in  der  Welt  die  Gestalt  des  letzten  Erfolges 
abhänge"   (33,  S.  7). 

Durch  derartige  Betrachtungen  sucht  Lotze  den  Weg 
zu  einer  „exacten  Physiologie"  anzubahnen,  welche  er  aller- 
dings noch  sehr  fernliegend  erachtet.  Den  Entwurf  zu 
einer  solchen  will  er  in  seiner  „allgemeinen  Physiologie  des 
körperlichen  Lebens"   (1851)  geben. 

Für  die  Tendenz  des  Buches  sind  schon  die  Ueber- 
schriften  der  einzelnen  Capitel  kennzeichnend:  Von  der 
Mechanik  des  Lebens  und  dem  Haushalt  der  lebendigen 
Körper,  vom  Mechanismus  des  Stoffwechsels,  von  der 
Mechanik  der  ersten  und  zweiten  Wege,  der  Mechanik  der 
Assimilation  und  Secretion,  von  der  Mechanik  der  Be- 
wegungen, von  der  Mechanik  der  Gestaltbildung.  In  letz- 
terem Capitel  besonders  behandelt  Lotze  ein  Thema,  welches 
seitdem  das  Leitmotiv  zu  Roux's  Entwicklungsmechanik 
geworden  ist.  Das  Ei  bezeichnet  er  als  eine  grössere 
Substanzmasse,  aus  welcher  sich  im  Beginn  der  Entwick- 
lung die  Anlagen  aller  Hauptabtheilungen  des  Körpers 
bilden.  „Aber  diese  ersten  Keime,"  heisst  es  dann  weiter, 
„sind  nicht  nur  innerlich  noch  ungegliedert  und  erwarten 
erst  von  der  Zukunft  eine  Zerfällung  in  feinere  Organi- 
sationselemente, sondern  auch  ihre  gegenseitige  Lage  ist  nur 
in  weiten  Umrissen  bestimmt.  Erst  eine  grosse  Mannigfaltig- 
keit mechanischer  Verschiebungen,  Dehnungen,  Verwachs- 
ungen ,  aus  der  ungleichförmigen  Fortbildung  einzelner 
Theile  entspringend,  rückt  sie  allmählich  in  die  Lagever- 
hältnisse ,  die  sie  später  einnehmen  sollen  •  und  umgekehrt 
wirkt  jeder    dieser   mechanischen    Processe    mitbestimmend 


—     27     — 

auf  die  Möglichkeit  noch  weiter  fortschreitender  Organisation 
der  verschobenen  Theile  zurück.  Hierin  nun  ist  der  Thier- 
körper  während  seiner  ersten  Bildung  der  Erdrinde  einiger- 
maassen  zu  vergleichen ;  nur  sind  es  nicht  ungeordnete,  vul- 
kanische Eruptionen,  welche  die  Schichten  seines  Bildungs- 
materiales  in  die  unregelmässige  Mannigfaltigkeit  einer 
Landschaft  verwerfen;  sondern  geordnete  Impulse,  die  von 
einigen  Bildungsherden  ausgehen,  bringen  zuerst  das 
gleichförmige  Entwicklungsmaterial  in  differente  Lagen,  in 
denen  es  sich  fernerhin  auch  zu  differenten  Gestalten  um- 
wandelt" (Nr.  35,  S.  342). 

Und  an  einer  anderen  Stelle  (Nr.  35,  S.  353)  heisst  es: 
„Da  alle  Theile  unter  einander  zusammenhängen,  so  er- 
zeugt dieser  primäre  Vorgang  eine  Menge  secundärer 
Lageveränderungen ,  die  theils  als  Verschiebungen,  Aus- 
buchtungen, Einstülpungen  oder  Dehnungen  nur  erscheinen, 
theils  wirklich  auf  diesem  Wege  durch  mechanischen  Zug 
und  Druck  hervorgebracht  werden.  Diese  Ortsveränderungen 
sind  in  der  ersten  Entwicklung  von  grosser  Weite,  und  sie 
führen,  indem  sie  früher  entfernte  Theile  nähern,  andere 
entfernen,  wiederum  Gelegenheiten  zu  Einwirkungen  her- 
bei, durch  welche  bald  die  Verwachsung  der  ersteren,  bald 
eine  Trennung  der  Continuität  in  den  letzteren  entsteht. 
Ein  grosser  Theil  der  spätem  Gestaltsverhält- 
nisse ist  deshalb  gar  nicht  auf  irgend  eine  a  c  - 
tuelle  Weise  in  der  ersten  Anlage  begründet, 
sondern  der  Effect  der  Bewegungen,  in  welche 
das  Gebildete  durch  den  Fortgang  seiner  Ent- 
wicklung gerät  h." 

Im  Uebrigen  fielen  Ideengänge,  wie  sie  Lotze  ent- 
wickelte, schon  zu  seiner  Zeit  auf  einen  sehr  empfänglichen 
und  vorbereiteten  Boden.  Seit  Kant,  seit  Casp.  Fr.  Wolf f 's 


—     28     — 

Theorie  der  Generation,  seit  La  Mettrie's  Buch  „L'hoinme 
machine",  welches  bei  seinein  Erscheinen  so  viel  Entrüstung 
hervorrief,  seit  der  Schule  der  französischen  Encyclopädisten 
hatte  die  materialistisch-mechanische  Naturauffassung  nicht 
nur  unter  Naturforschern,  sondern  auch  im  Laienpublicum 
kräftige  Wurzeln  geschlagen.  Alle  bahnbrechenden  Forscher 
weisen  auf  dies  Ziel.  So  erkennt  Carl  Ernst  von  Baer 
als  die  Aufgabe  der  Entwicklungslehre,  „die  bildenden 
Kräfte  des  thierischen  Körpers  auf  die  allgemeinen  Kräfte 
oder  Lebensrichtungen  des  Weltganzen  zurückzuführen". 
Desgleichen  geht  Schwann  in  seinen  mikroskopischen 
Untersuchungen  von  der  Voraussetzung  aus  (35,  S.  226) : 
„Einem  Organismus  liegt  keine  nach  einer  bestimmten  Idee 
wirkende  Kraft  zu  Grunde,  sondern  er  entsteht  nach 
blinden  Gesetzen  der  Nothwendigkeit  durch 
Kräfte,  die  ebenso  durch  die  Existenz  der 
Materie  gesetzt  sind,  wie  die  Kräfte  in  der  an- 
organischen Natur.  Da  die  Elementarstoffe  in  der 
organischen  Natur  von  denen  der  anorganischen  nicht  ver- 
schieden sind,  so  kann  der  Grund  der  organischen  Er- 
scheinungen nur  in  einer  anderen  Combination  der  Stoffe 
liegen"  etc.  Jedenfalls  hält  es  Schwann  „für  den  Zweck 
der  Wissenschaft  viel  erspriesslicher,  nach  einer  physikali- 
schen Erklärung  wenigstens  zu  streben". 

Auf  Schlei  den's  Auffassung  wurde  schon  in  der  Ein- 
leitung hingewiesen.  Und  so  bemerkt  denn  Du  Bois-Rey- 
mond  schon  1848  in  seinen  Untersuchungen  über  thierische 
Electricität  wohl  mit  Hecht,  wie  das  der  Lebenskraft  zu- 
geschriebene Gebiet  von  Erscheinungen  mit  jedem  Tage 
mehr  zusammenschrumpfe,  wie  immer  neue  Landstriche  unter 
die  Botmässigkeit  der  physikalischen  und  chemischen  Kräfte 
gerathen,  wie  zu  erwarten  sei,  dass  dereinst  die  Physiologie 


—     29     — 

„ganz  in  die  grosse  Staateneinheit  der  theoretischen  Natur- 
wissenschaften aufgehe,  ganz  sich  auflöse  in  organische 
Physik  und  Chemie"  (9  Bd.  II,  S.  23). 

b)   Die  tendenziöse  Verwendung  des  Begriffes  Mechanik 

durch  Koux. 

Aussprüche  von  W.  Roux :    „Wir  dürfen  uns  nicht  verhehlen ,    dass    die    causale 

Erforschung  der  Organismen  eine  der  schwierigsten, 
wenn  nicht  die  schwierigste  Aufgabe  ist,  an  die  der 
Menschengeist  sich  gewagt  hat." 

Wilhelm  Koux,  A.  f.  E.  S.  21. 

„Die  Entwicklungsmechanik  rnuss  sich,   wie  jede 
neue  Richtung  in  der  Wissenschaft,  die  ihr 
gebührende  Stellung  erst  nach  uud  nach  erwerben." 
Wilhelm  Eoux,  Ges.  Abh.  S.  90. 

Nachdem  im  Jahre  1880  die  Aufmerksamkeit  auf 
Lotze's  „Mechanik  der  Gestaltbildung"  durch  Rauber 
(Zusatz  1)  neu  hingelenkt  worden  ist,  hat  wieder  ßoux, 
welcher  uns  in  seinen  ersten  entwicklungsmechanischen 
Schriften  selbst  mittheilt,  eine  grosse  Anregung  aus 
Lotze's  „allgemeiner  Physiologie  des  körperlichen  Lebens" 
erhalten  zu  haben,  das  Wort  Mechanik  in  tendenziöser  Weise 
benutzt.  Allein  die  Tendenz  ist  jetzt  eine  ganz 
andere  geworden! 

Lotze  hat  in  seinen  oben  angeführten  Schriften  die 
Stellung  und  Beziehung  der  Biologie  zur  Physik  und  Chemie 
erörtern  und  klarlegen  wollen,  dass  im  gesammten  Er- 
scheinungsgebiet der  Natur  dieselben  allgemeinen  Natur- 
kräfte wirksam  sind.  Er  bekämpfte  daher  den  V  i  t  a  1  i  s  - 
mus,  eine  zu  seiner  Zeit  noch  weit  verbreitete  Richtung, 
welche  zur  Erklärung  des  Lebens  die  Annahme  besonderer, 
der  Welt  des  Unorganischen  fremder  Lebenskräfte  glaubte 
annehmen  zu  müssen.  Im  Gegensatz  zur  vitalistischen 
kennzeichnete  Lotze  seine  Auffassung  im  philosophischen 
Sinne  als  eine  mechanistische.    Die  mechanistische 


—     30     — 

Auffassung  von  Lotze  hat  sich  rasch  den  Sieg 
in  der  biologischen  Forschung  errungen.  Ohne 
auf  Widerspruch  zu  stossen,  kann  ich  wohl  be- 
haupten, dass  die  gesammte  Biologie  seit  vielen 
Decennien  auf  dem  Standpunkt  von  Lotze 
steht,  dass  das  Organische  nur  eine  höhere 
Form  des  Mechanischen  ist.  Hat  doch  diese  mecha- 
nistische Auffassung  eine  mächtige  Verstärkung  ihrer 
Stellung  durch  die  darwinistische  Richtung  er- 
fahren, welche  gleichfalls  stets  die  Einheit  aller  Natur- 
vorgänge (den  Monismus)  und  den  Ursprung  der  Lebewelt 
aus  dem  Anorganischen  lehrt  und  sogar  den  Versuch  ge- 
macht hat,  die  Anpassung  der  Lebewesen  an  ihre  Um- 
gebung, die  „Zweckmässigkeit"  und  die  Vervollkommnungs- 
möglichkeit ihrer  Organisation  ohne  Zuhilfenahme  von 
Teleologie  durch  den  Kampf  um's  Dasein  „mechanisch"  zu 
erklären.  Es  hiesse  daher  offene  T huren  ein- 
rennen, wollte  man  jetzt  noch,  wie  es  Lotze  g  e  - 
than  hat,  für  eine  mechanistische  Auffassung 
der  Lebewelt  zu  Felde  ziehen. 

Darum  sage  ich:  die  Tendenz,  die  Roux  mit  dem 
Worte  Mechanik  verbindet,  ist  eine  andere  geworden !  Aber 
welche ?  Die  Tendenz  besteht  jetzt  darin,  dass 
Roux  eine  neue,  höhere  Art  der  entwicklungs- 
geschichtlichen Forschung  inauguriren  will, 
im  Vergleich  zu  welcher  ihm  die  bisher  herr- 
schende Arboitsrichtung  in  der  Anatomie  nur 
als  eine  u  ntergeordnete  Vorstufe  und  als  nicht 
mehr  recht  wissenschaftlich  erscheint. 

In  jeder  seiner  Schriften  spricht  Roux  diese  Tendenz 
sehr  unverblümt  aus;  so  auch  in  folgendein  charakteristi- 
schem Satz  (47  Bd.  I  S.  29): 


—     31     — 

„Carl  Gegenbaur  hat  in  der  Einleitung  zu  seinem 
„morphologischen  Jahrbuch"  die  erkenntnissvollen  Worte 
gesprochen : 

»Wohl  wird  die  Zeit  kommen,  da  auch  für  die  Mor- 
phologie   das  Wandelbare  der  Ziele  und  damit  auch    des 
Strebens  sich  erweist  und  da  andere  Probleme  und  andere 
Methoden  an  die  Stelle  der  gegenwärtigen  treten  werden.« 
Dieses  neue  Ziel  ist  das  der  Entwicklungsmechanik." 

Das  Wort  Mechanik,  welches  Lotze  als 
Waffe  gegen  den  Vitalismus  benutzte,  will 
Roux  zur  Fahne  machen,  unter  welcher  sich 
Alles,  was  höhere  biologische  Wissenschaft, 
was  Zukunfts  wissen  schaft,  was  Entwicklungs- 
mechanik treiben  will,  sammeln  soll. 

Analoge  Erscheinungen  sind  in  der  Biologie,  welche 
sich  in  unserem  Jahrhundert  wie  wenig  andere  Wissen- 
schaften in  lebhaften  Gärungsprocessen  befindet,  auch  früher 
schon  zu  Tage  getreten.  Es  sei  an  die  Zeitschrift  für 
wissenschaftliche  Zoologie  erinnert,  in  deren  Titel 
das  Wort  „wissenschaftlich"  als  Prädicat  der  Zoologie  uns 
jetzt  sonderbar  anmuthet,  da  es  doch  selbstverständlich  er- 
scheint, dass  die  Wissenschaft  „Zoologie"  als  solche  nicht 
unwissenschaftlich  ist.  Auch  hier  tritt  in  dem  Titel  eine 
Tendenz  zu  Tage,  eine  Opposition  gegen  die  systematische 
Zoologie.  Lassen  sich  aber  etwa  beide  Forschungsrichtungen 
als  wissenschaftlich  und  als  unwissenschaftlich  unterscheiden? 
Fast  könnte  jetzt  der  Tag  schon  nahe  gerückt  erscheinen, 
wo  die  in  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie 
niedergelegten  Arbeiten  in  den  Augen  einer  jüngeren  Schule 
als  unwissenschaftlich  gelten  werden,  und  wo  an  Stelle 
der  unwissenschaftlich  gewordenen  „wissen- 
schaftlichen Zoologie"    sich   eine  Zoouiechanik   an 


—    32     - 

den  Tisch  der  Wissenschaften  setzen  wird.  Der 
Anfang  ist  gemacht.  Vorläufig  hat  sich  in  der  Anatomie 
die  Entwicklungsmechanik  gemeldet.  Noch  muss  sie,  wie 
Roux  an  einer  Stelle  bemerkt,  „sich  die  ihr  gebührende 
Stellung  erst  nach  und  nach  erwerben"  (s.  Aussprüche  S.  29). 
Wohin  ihre  Ansprüche  gehen,  haben  wir  erfahren.  Es  wird 
jetzt  unsere  Aufgabe  sein,  dieselben  noch  auf  ihre  Berech- 
tigung zu  untersuchen.  Wir  fragen  daher:  Worauf 
soll  die  höhere  Werthung  der  Entwicklungs- 
mechanik gegenüber  der  bisher  gepflegten  Ent- 
wicklungslehre beruhen? 

Ro  ux  will  uns  hierüber  nicht  in  Zweifel  lassen,  sondern 
hat  sich  mehrfach  hierüber  deutlich  ausgesprochen. 

Für  ihn  bezeichnet  die  Entwicklungsmechanik  die 
denkbar  höchste  Stufe  der  biologischen  For- 
schung, weil  sie  die  „causale  Wissenschaft  der 
Organismen  ist",  „die  Wissenschaft  von  den 
wirklichen  Bildungsursachen,  von  den  verae  causae, 
den  gestaltenden  Kräften  und  deren  Combinationen,  denen 
das  Organismenreich  im  Ganzen  und  in  jedem  Individuum 
seine  Entstehung  verdankt"  (G.  A.  S.  59).  „Wir  dürfen  uns 
nicht  verhehlen,"  bemerkt  er  (s.  Aussprüche  S.  29),  „dass  die 
causale  Erforschung  der  Organismen  eine  der  schwierigsten, 
wenn  nicht  die  schwierigste  Aufgabe  ist,  an  die  der  Menschen- 
geist sich  gewagt  hat,  und  dass  sie,  wie  jede  causale  Wissen- 
schaft, nie  das  Stadium  der  Vollendung  erreichen  wird,  da 
jede  Ermittlung  einer  Ursache  neue  Fragen  nach  den  Ur- 
sachen dieser  Ursache  gebiert"  (A.  f.  E.  Bd.  I,  S.  21). 

Im  Gegensatz  dazu  bezeichnet  Roux  die  Entwicklungs- 
lehre, wie  sie  bisher  betrieben  wurde,  als  beschreibende 
oder  descriptive.  Denn  er  lässt  sie  nur  auf  Erforschung  der 
Thatsachen,    nicht   der  Ursachen   gerichtet  sein.     Er 


—     33     — 

theilt  denn  auch  die  Forscherin  zwei  Gruppen 
ein,  in  „descriptive"  und  in  „causale"  Forscher 
(Gr.  A.  S.  75),  das  heisst:  in  Forscher,  welche  sich  mit  dem 
Studium  der  Entwicklungslehre  in  alter  Weise ,  und  in 
solche,  welche  sich  mit  ihm  nach  Roux'scher  Methode 
beschäftigen.  Ich  glaube  hier  Roux'sche  Methode  sagen 
zu  dürfen,  da  Roux  öfters  versichert,  dass  wir  uns  erst  jetzt 
„am  Beginn  exacter  causaler  Forschungen"  befinden  (G.  A. 
S.  76),  woraus  folgt,  dass  früher  causale  Entwicklungslehre 
wohl  nicht  getrieben  worden  ist. 

Die  descriptiven  Forscher  müssen  sich  bescheiden,  die 
Vorarbeiten  für  die  causalen  Forscher  zu  liefern.  Zwar 
haben  erstere  sich  schon  häufig  herausgenommen,  selbst 
causal  zu  denken.  Dafür  werden  sie  aber  auch  von  Roux 
in  seinen  Zielen  und  Wegen  der  Entwicklungsmechanik  auf 
das  Verkehrte  ihres  Beginnens  aufmerksam  gemacht  (G.  A. 
S.  75) :  „Nach  der  Anzahl  der  bereits  über  ursächliche  Ver- 
hältnisse der  individuellen  Entwicklung  vorliegenden  An- 
gaben wäre  die  Entwicklungsmechanik  eine  der  am  meisten 
gepflegten  Wissenschaften  und  selber  bereits  auf  einer  hohen 
Stufe  der  Entwicklung;  denn  die  Forscher  auf  dem  Gebiete 
der  beschreibenden  Entwicklungsgeschichte  haben  über 
die  Entstehung  vieler  formaler  Bildungen  schon  recht  be- 
stimmte Urtheile  ausgesprochen.  Doch  diesen  Urtheilen 
fehlt  fast  ausnahmslos  eine  genügende  sachliche  Begründung ; 
es  fehlen  die  »Beweise«  für  die  Richtigkeit  gerade  dieser 
speciellen  Auffassung ;  wie  denn  mit  den  descriptiven 
Forschungsmethoden  an  normalen  Objecten 
»sichere«  Beweise  für  ursächliche  Zusammen- 
hänge überhaupt  »nicht«  erbracht  werden 
können.  Es  wird  übersehen ,  dass  aus  constanten 
Beziehungen     zwischen     normalen    Erscheinungen     oder 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.    II.  3 


—     34    — 

Vorgängen  über  die  vermittelnde  Ursache  dieser  Constanz 
deshalb  keine  sicheren  Schlüsse  gezogen  werden  können, 
weil  wir  die  Complicirtheit  der  normalen  Wechselwirkungen 
noch  nicht  annähernd  übersehen  können."  „Obgleich  diese 
so  wichtige,  für  die  Methode  der  causalen  biologischen 
Forschung  bestimmende  Sachlage  wiederholt  hervorgehoben 
worden  ist,  so  scheint  sie  doch  bei  manchen  descrip- 
tiven  Forschern  nur  sehr  langsam  Verständniss 
zu  finden,  denn  sie  fahren  fort,  ihre  bloss  descriptiven 
Beobachtungen  causal  zu  verwerthen  und  die  experimentell 
gewonnenen  Ergebnisse  unbeachtet  zu  lassen." 

In  consequenter  Festhaltung  des  Gedankens,  dass  die 
causale  Forschung  auf  dem  Gebiete  der  Entwicklungs- 
lehre erst  jetzt  beginnt,  meint  denn  auch  Roux,  dass  „die 
causalen  Forscher  einen  Umweg  einschlagen 
und  sich  selber  ein  Ar muthszeugniss  ausstellen 
würden,  wenn  sie  ihr  Werk  damit  anfangen 
wollten,  diese  mannigfachen,  nicht  bewiese- 
nen Aussprüche  descriptiver  Forscher  auf  ihre 
Richtigkeit  zu  prüfen".  „Von  diesen  ganzen  Urtheilen 
ist  kaum  mehr  zu  verwerthen,  als  die  Einsicht,  dass  un- 
gleiches Wachsthum  eine  der  nächsten  Ursachen  der  Ge- 
.staltbildung  ist"  (1.  c.  S.  76). 

In  diesen  und  ähnlichen  Aeusserungen  zeigt  Roux  eine 
erstaunliche  Verkennung  dessen,  Avas  die  Entwicklungslehre 
bis  jetzt  an  wissenschaftlicher  Erkenntniss  zu  Tage  gefördert 
hat,  und  nicht  minder  eine  Verkennung  ihrer  Aufgaber.,  der 
Mittel  und  Wege  zu  ihrer  Lösung.  Da  nun  zugleich  dieser 
Forscher  als  Wortführer  einer  Richtung  auftritt,  für  welche 
sein  Archiv  der  Entwicklungsmechanik  den  Mittelpunkt  ab- 
geben soll,  so  ist  es  wohl  nicht  unangebracht,  die  von  Roux 
mit    so    viel    Emphase    vorgetragene    Unterscheidung    einer 


—     35     — 

„descriptiven"  und  einer  „eau.salen  entwicklungsgeschicht- 
lichen Forschung",  einer  alten,  den  Handlangerdienst  ver- 
richtenden und  einer  neuen,  „die  schwierigste  Aufgabe,  an 
Avelche  sich  der  Menschengeist  gewagt  hat",  darstellenden 
Richtung  noch  einer  kritischen  Beurtheilung  zu  unterziehen. 

Nach  Roux  lehrt  die  bisher  geübte  „beschreibende" 
Richtung  nur  die  nackten  Thatsachen  an  Formen  und  Vor- 
gängen. Eine  ursächliche  Erklärung  davon  zu  geben  und 
wirkliche  Erkenntnis«  zu  verbreiten,  ist  nach  seiner  Meinung 
die  erst  noch  zu  lösende  Aulgabe  der  Entwicklungsniechanik. 
Es  ist  eine  missliche  und  keineswegs  erfreuliche  Aufgabe, 
auseinander  setzen  zu  sollen,  von  welchem  Punkte  an  Kennt- 
nisse zur  Erkenntniss  werden,  wo  das  beschreibende  Wissen 
aufhört,  und  wo  das  ursächliche  Wissen  beginnt.  Noch  fehlt 
uns  ein  Instrument  für  derartige  subtile  Unterscheidungen. 
Jedenfalls  aber  lässt  sich  eins  sagen  —  denn  es  liegt  klar 
auf  der  Hand  —  :  die  Entwicklungslehre,  wie  sie  bisher  aus- 
gebildet ist,  lehrt  uns  keineswegs  nackte  zusammenhangslose 
Thatsachen,  sie  lehrt  uns  vielmehr  Reihen  von 
Thatsachen,  die  in  einem  absolut  noth wendigen, 
ursächlichen  Verhältniss  zu  einander   stehen. 

Das  Gesagte  ergiebt  sich  von  selbst  aus  der  besonderen 
Natur  des  dem  Embryologen  vorliegenden  Untersuchungs- 
objectes.  Denn  der  Entwicklungsprocess  eines  Organismus 
spielt  sich  in  einer  festgeordneten  Reihe  oder  einer  Stufen- 
folge zahlloser  wechselnder  Erscheinungen  oder  Thatsachen 
ab,  deren  Wechsel  darin  besteht,  dass  sich  eine  Erscheinung 
in  die  andere  continuirlich  umwandelt.  Ihre  Aufeinander- 
folge und  ihre  Umwandlung  ist  aber  unter  gleichbleibenden 
Bedingungen  eine  absolut  nothwendige,  vollzieht  sich  ebenso 
nach  einem  unfehlbaren  Naturgesetz,  als  der  in  die  Luft 
geworfene  Stein  nach  bestimmter  Zeit   und  mit  bestimmter 


—     36     — 

Geschwindigkeit  nach  dem  Fallgesetz  zu  Boden  sinkt  oder 
die  Himmelskörper  ihre  Bahnen  beschreiben.  Jede  Er- 
scheinung" in  einem  Entwicklungsprocess  verhält  sich  daher 
zu  der  ihr  vorausgehenden  Erscheinung  wie  die  Folge  zu 
ihrem  Grund,  wie  die  Wirkung  zu  ihrer  Ursache,  wobei 
wir  allerdings,  um  uns  eines  logischen  Fehlers  und  eines 
Uebersehens  nicht  schuldig  zu  machen,  hinzufügen  müssen, 
dass  in  jede  folgende  Erscheinung  auch  äussere  Ursachen, 
die  Umstände  oder  Bedingungen,  fortwährend  mit  eingehen. 
Eine  lebende  Froschkeimblase  ist  der  Grund,  welcher  mit 
unfehlbarer  Notwendigkeit  zur  Entstehung  einer  Frosch- 
gastrula  als  Folge  führt,  wenn  sonst  die  äusseren  Ursachen 
oder  die  Bedingungen  zur  weiteren  Entwicklung  erfüllt 
sind.  Für  die  Worte  Grund  und  Folge  kann  man  ebenso 
gut  auch  die  Worte  Ursache  und  Wirkung  setzen.  Daher 
stellt  die  entwicklungsgeschichtliche  Forschung,  welche  die 
Umwandlung  der  Froschkeimblase  in  die  Gastrula  be- 
schreibt ,  ein  ursächliches  Verhältniss  und ,  sofern 
sie  das  für  alle  Stadien  der  Entwicklung  des  Frosches  aus 
dem  Ei  thut,  das  Entwicklungsgesetz  des  Frosches  dar. 

In  dieser  Richtung  hat  die  Forschung  seit 
fünfzig  Jahren  die  wichtigsten  causalen  Er- 
kenntnisse zu  Tage  gefördert.  Ist  nicht  causal  die 
Erkenntniss,  dass  die  Eier  und  Samenfäden  einfache 
Elementarorganismen  oder  Zellen  sind,  und  dass  sie  schon 
als  solche,  wenn  die  geeigneten  Bedingungen  erfüllt  sind, 
alle  Ursachen  (von  den  causae  externae  abgesehen)  in  sich 
vereinigen,  welche  zur  Entstehung  des  neuen  Geschöpfes 
erforderlich  sind,  und  sie  sofort  auch  in  Wirksamkeit  treten 
lassen?  ist  nicht  causal  die  Erkenntniss,  welche  uns  zeigt, 
in  welcher  Weise  Stufe  für  Stufe  Ursachen  und  Wirkungen 
(Zellvermehrung ,   ungleiches  Wachsthum,    Einfaltung,    Aus- 


—    37     - 

stülpung  etc.)  sich  in  gesetzmässiger  Weise  abspielen  und 
eine  Entwicklungsform  nach  der  anderen  in's  Dasein  treten 
lassen;  dass  der  Entwicklungsprocess  in  seinen  ersten 
Gründen  auf  der  fast  in's  Unendliche  fortschreitenden  Ver- 
mehrung der  Eizelle  auf  dem  Wege  der  Selbsttheilung  be- 
ruht, dass  die  Zellen  sich  nach  festen  Gesetzen  zu  Keim- 
blättern zusammenordnen ,  dass  fast  alle  noch  so  complicirt 
gebauten  Organe  des  erwachsenen  Thieres  nach  einigen 
wenigen,  einfachen  Wachsthumsprincipien  durch  Einfaltung 
und  Ausstülpung  der  Keimblätter  oder  durch  Auswande- 
rung von  Zellen  aus  dem  epithelialen  Verbände  formal  ent- 
standen sind*? 

Rein  theoretisch  betrachtet  liegt  die  Möglichkeit 
vor  uns  offen,  dass  bei  der  weiteren  Verfolgung  des  ein- 
geschlagenen Weges  die  Entwicklungslehre  uns  sogar  zu 
einer  —  ich  möchte  fast  sagen  — astronomischen  Er- 
kenntnis s  des  Entwicklungsprocesses  führen 
könnte.  Ich  habe  schon  oben  erörtert,  welche  Aufgaben 
sich  von  Seiten  des  mathematischen  Physikers  für  die  Er- 
forschung des  Entwicklungsverlaufs  stellen  lassen:  genaue 
Bestimmung  der  Grösse  und  Schwere  der  Eizelle  und  der 
aus  ihr  hervorgehenden  Embryonalzellen  auf  jedem  ein- 
zelnen Stadium,  desgleichen  genaue,  in  mathematischen  For- 
meln wiederzugebende  Berechnung  der  Bahnen  und  der 
wechselnden  Geschwindigkeit  der  Bewegung  innerhalb  ihrer 
Bahn  für  jede  einzelne  Embryonalzelle,  Construction  des 
Gesetzes  in  einer  Entwicklungsformel ,  aus  welcher  sich 
dann  für  die  zehnte,  zwanzigste  Zellengeneration  etc.  im 
Voraus  sagen  lässt,  welche  Stellung  jede  einzelne  Zelle  im 
System  einnehmen  und  welche  Bewegungsgeschwindigkeit 
sie  in  einem  bestimmten  Moment  besitzen  muss. 

Die    Schwierigkeit   dieser    Zukunftsaufgabe    liegt   nicht 


—    38     — 

auf  dem  Gebiete  des  „causalen  Denkens",  auch  nicht  auf 
dem  Gebiete  der  mathematischen  Berechnung,  da  uns  die 
Astronomie  ja  lehrt,  welche  Aufgaben  hier  mit  jahrelanger 
Geduld  sich  bewältigen  lassen,  —  sie  liegt  lediglich  auf  dem 
Gebiete  der  Beobachtung.  Unserem  Beobachtungsvermögen 
fehlt  vor  der  Hand  jede  Möglichkeit,  die  zur  Lösung  einer 
solchen  Aufgabe  erforderlichen  Thatsachen  herbei  zu 
schaffen.  Im  Uebrigen  will  ich  auch  ganz  dahingestellt 
sein  lassen ,  ob  die  Lösung  einer  derartigen  Aufgabe  über- 
haupt einen  ihrer  Schwierigkeit  angemessen  hohen  Er- 
kenn tnisswerth  in  sich  bergen  würde.  Denn  nicht  jedes 
in  mathematische  Formeln  eingekleidete  Wissen  ist  an  sich 
schon  ein  höherer  Grad  von  Wissen;  es  kann  auch  völlig 
werthloses  Wissen  sein,  wie  zum  Beispiel  die  mathematische 
Berechnung  der  Bewegungen  eines  Mückenschwarms. 
Doch  darüber  an  anderer  Stelle  (S.  94)  mehr. 

Die  hier  vorgetragene  Ansicht,  welche  in  der  Ent- 
wicklung eines  Organismus  ein  System  ursächlich  ver- 
bundener Erscheinungen  erblickt  und  daher  nicht  zögert, 
die  über  sie  handelnde  Wissenschaft  auch  eine  causale  zu 
nennen,  weil  sie  Erscheinungen  in  ihrem  noth wendigen 
Causalnexus  darzustellen  hat,  will  Roux  nicht  gelten 
lassen.  Er  will  die  gegenwärtige  Ableitung  der  Form- 
bildungen von  Faltungen  und  Ausstülpungen  einer  Zellen- 
membran, von  Verschmelzungs-  und  Abschnürungsvorgängen 
u.  dgl.  nicht  als  eine  causale  Analyse  anerkennen,  ebenso 
wenig  die  Zurückführung  der  genannten  Vorgänge  „auf 
Vergrösserung,  Verkleinerung,  Umgestaltung,  Theilung 
und  Umordnung  der  Zellen".  Roux  nennt  diese  Unter- 
scheidungen bloss  gestaltliche;  eine  „Analyse  aber  der 
organischen  Gestaltungsvorgänge  nach  den  Ursachen 
und  deren  speci fischen  Combinationen"  lässt  er 
noch  ausstehen  (G.  A.  S.  36,  37). 


-     39    — 

Derartige  und  andere  höchst  unklare  Urtheile  von 
•Roux  finden  ihre  Erklärung  hauptsächlich  darin,  dass  er 
dem  Begriff  „Ursache"  eine  falsche  Fassung  gegeben  hat. 
Für  ihn  ist  Ursache  gleich  Kraft  ( A.  f.  E.  S.  2  u.  3). 
„Da  man  die  Ursachen  jeden  Geschehens  Kräfte 
resp.  Energieen  nennt,"  bemerkt  er,  „so  kann  man 
als  das  allgemeine  Ziel  der  Entwicklungs- 
mechanik die  Ermittlung  der  gestaltenden 
Kräfte  oder  Energieen"1)  bezeichnen.  In  diesem 
einen  Satze  liegt  wegen  der  aus  ihm  abgeleiteten  Conse- 
quenzen  die  Quelle  vieler  Irrthümer  und  Selbsttäuschungen, 
liegt  die  ganze  Unklarheit  und  eitle  Selbstüberhebung  des 
Roux'schen  Standpunktes.  Daher  hat  hier  unsere  Kritik  an 
erster  Stelle  einzusetzen! 

Das  Wort  Ursache  ist  nichts  weniger  als 
gleichbedeutend  mit  dem  Worte  Kraft. 

Schon  Lotze  hat  sich  gegen  die  jetzt  wieder  von  Roux 
beliebte  Verwendung  des  Begriffes  energisch  ausgesprochen. 
„Man  kann,"  bemerkt  er,  „die  tiefen  Irrthümer  der  Physio- 
logie nicht  kürzer  beisammen  finden,  als  in  der  oft  ge- 
brauchten Definition ,  dass  die  Kraft  die  unbekannte  Ur- 
sache der  Erscheinungen  sei.  In  ihr  lernen  wir  nicht  bloss 
die  Kraft  als  ein  Ding  kennen,  da  sie  doch  immer  nur  der 
Grund  eines  Geschehens  sein  kann"   u.  s.  w.  (34,  S.  XIX). 


J)  Eine  ähnliche  Definition  des  Zieles  giebt  Dreyer  in  seinen 
Zielen  und  Wegen  biologischer  Forschung  in  dem  Satz  (6,  S.  78): 
„Einer  ätiologisch -mechanischen  Forschungsperiode  wartet  die  Auf- 
gabe, den  verwickelten  Kräftecomplex ,  den  wir  unter  dem  Namen 
des  Lebens  begreifen ,  in  seine  constituirenden  elementaren  Kräfte 
aufzulösen  und  die  Lebenserscheinungen  und  -Formen  (!)  durch  Zurück- 
fiihrung  auf  elementare,  physikalisch-chemische  Kräfte  und  womög- 
lich mathematisch  strenge  Gesetze  auf  den  festen  Boden  einer 
exacten  Erklärung  zu  stellen." 


—    40     — 

Nicht  minder  energisch  hat  bereits  vor  LotzeSchopen- 
hauer  an  vielen  Stellen  den  häufigen  Missbrauch  der  Worte 
„Ursache  und  Kraft"  gerügt  und  sich  über  ihre  Bedeutung 
eingehend  und  klar  geäussert.  „Die  Verwechselung 
der  Naturkraft  mit  der  Ursache  ist  so  häufig 
wie  für  die  Klarheit  des  Denkens  verderblich. 
Nicht  nur  werden  die  Naturkräfte  selbst  zu  Ursachen  ge- 
macht, indem  man  sagt:  die  Elektricität,  die  Schwere  u.  s.  f. 
ist  Ursache;  sondern  sogar  zu  Wirkungen  machen  sie 
Manche,  indem  sie  nach  einer  Ursache  der  Elektricität,  der 
Schwere  u. s.  w.  fragen,  welches  absurd  ist"  (Bd.  I  S.  46). 
„Etwas  ganz  Anderes  ist  es  jedoch,  wenn  man  die  Zahl 
der  Naturkräfte  dadurch  vermindert,  dass  man  eine  der- 
selben auf  eine  andere  zurückführt,  wie  in  unseren  Tagen 
den  Magnetismus  auf  die  Elektricität.  Jede  echte,  also 
wirklich  ursprüngliche  Naturkraft  aber,  wozu  auch  jede 
chemische  Grundeigenschaft  gehört,  ist  wesentlich  qualitas 
occulta,  d.  h.  keiner  physischen  Erklärung  weiter  fähig, 
sondern  nur  noch  einer  metaphysischen,  d.  h.  über  die  Er- 
scheinung hinausgehenden."  „Es  ist  unmöglich,  mit  seinem 
Denken  im  Klaren  zu  sein,  solange  darin  Kraft  und  Ur- 
sache nicht  als  völlig  verschieden  deutlich  erkannt  werden. 
Zur  Verwechselung  derselben  führt  aber  sehr  leicht  der 
Gebrauch  abstracter  Begriffe,  wenn  die  Betrachtung  ihres 
Ursprungs  bei  Seite  gesetzt  wird.  Man  verlässt  die  auf  der 
Form  des  Verstandes  beruhende,  stets  anschauliche 
Erkenntniss  der  Ursachen  und  Wirkungen,  um 
sich  an  das  Abstractum  Ursache  zu  halten :  bloss  dadurch 
ist  der  Begriff  der  Causalität,  bei  aller  seiner  Einfachheit, 
so  sehr  häufig  falsch  gefasst  worden."  „Von  der  Kette  der 
Causalität,  welche  vorwärts  und  rückwärts  endlos  ist,  bleiben 
in  der  Natur  zwei  Wesen  unberührt:    die  Materie  und  die 


—    41     — 

Naturkräfte.  Denn  das  Eine  (die  Materie)  ist  das,  an 
welchem  die  Zustände  und  ihre  Veränderungen  eintreten; 
das  Andere  (die  Naturkräfte)  das,  vermöge  dessen  allein 
sie  überhaupt  eintreten  können"  (Bd.  III  S.  52). 

„Kein  Begriff  ist  in  der  Philosophie  so  sehr  gemiss- 
braucht  worden,  als  der  der  Ursache,  mittelst  des  so  be- 
liebten Kunstgriffs  oder  Missgriffs ,  ihn  durch  das  Denken 
in  abstracto  zu  weit  zu  fassen,  zu  allgemein  zu  nehmen." 

Nach  Schopenhauer  ist  „der  allein  richtige  Ausdruck 
für  das  Gesetz  der  Causa lität"  dieser  (Bd.  III  S.  49) : 
„Jede  Veränderung  hat  ihre  Ursache  in  einer  anderen,  ihr 
unmittelbar  vorhergängigen.  Wenn  etwas  geschieht,  d.  h. 
ein  neuer  Zustand  eintritt,  d.  h.  etwas  sich  verändert,  so 
muss  gleich  vorher  sich  etwas  Anderes  verändert  haben, 
vor  diesem  wieder  etwas  Anderes  und  so  aufwärts  in's 
Unendliche;  denn  eine  erste  Ursache  ist  so  unmöglich  zu 
denken ,  wie  ein  Anfang  der  Zeit  oder  eine  Grenze  des 
Raums." 

„Es  ist  von  der  höchsten  Wichtigkeit,  dass  man  von  der 
wahren  und  eigentlichen  Bedeutung  des  Causalitäts- 
gesetzes  wie  auch  vom  Bereich  seiner  Geltung  voll- 
kommen deutliche  und  feste  Begriffe  habe,  also  vor  allen 
Dingen  klar  erkenne,  dass  dasselbe  allein  und  ausschliess- 
lich auf  Veränderungen  materieller  Zustände 
sich  bezieht  und  schlechterdings  auf  nichts 
Anderes,  folglich  nicht  herbeigezogen  werden 
darf,  wo  nicht  davon  die  Rede  ist.  Es  ist  nämlich 
der  Regulator  der  in  der  Zeit  eintretenden  Veränderungen 
der  Gegenstände  der  äusseren  Erfahrung:  diese  aber  sind 
sämmtlich  materiell.  Jede  Veränderung  kann  nur  eintreten 
dadurch,  dass  eine  andere,  nach  einer  Regel  bestimmte  ihr 
vorhergegangen  ist,    durch    welche    sie  aber  dann  als  noth- 


-     42     — 

wendig  herbeigeführt  eintritt:  diese  Notwendigkeit  ist  der 
Causalnexus"   (Bd.  I  S.  36). 

Ursache  und  Wirkung  bilden  eine  endlose  Reihe,  da 
jede  Ursache  selbst  wieder  die  Wirkung  einer  noch  früher 
vorausgegangenen  Ursache  und  jede  Wirkung  selbst  wieder 
Ursache  einer  später  nachfolgenden  Wirkung  ist.  Was  sich 
verändert,  sind  die  „Dinge,  d.  h.  Zustände  der  Materie"; 
„denn  nur  auf  Zustände  bezieht  sich  die  Veränderung  und 
die  Causalität.  Diese  Zustände  sind  es,  welche  man  unter 
Form  im  weiteren  Sinne  versteht,  und  nur  die  Formen 
wechseln,  die  Materie  beharrt.  Also  ist  auch  nur  die 
Form  dem  Gesetz  der  Causalität  unterworfen. 
Aber  auch  die  Form  macht  das  Ding  aus,  d.  h.  begründet 
die  Verschiedenheit  der  Dinge,  während  die  Materie  als  in 
Allem  gleichartig  gedacht  werden  muss"  (Bd.  III  S.  49). 
„Daher  betrifft  die  Frage  nach  der  Ursache  eines  Dinges 
stets  nur  dessen  Form,  d.  h.  Zustand,  Beschaffenheit,  nicht 
aber  dessen  Materie,  und  auch  jene  nur,  sofern  man  Gründe 
hat,  anzunehmen,  dass  sie  nicht  von  jeher  gewesen,  sondern 
durch  eine  Veränderung  entstanden  sei.  Die  Verbindung 
der  Form  mit  der  Materie  giebt  das  Concrete,  welches 
stets  ein  Einzelnes  ist,  also  das  Ding,  und  die  Formen 
sind  es,  deren  Verbindung  mit  der  Materie,  d.  h.  deren 
Eintritt  an  dieser,  mittelst  einer  Veränderung,  dem  Gesetze 
der  Causalität  unterliegt"   (Bd.  III  8.  50). 

„Von  der  endlosen  Kette  der  Ursachen  und  Wirkungen, 
welche  alle  Veränderungen  leitet,  aber  nimmer  sich  über 
diese  hinaus  erstreckt,  bleiben  eben  dieserhalb  zwei  Wesen 
unberührt:  einerseits  nämlich  die  Materie  und  andererseits 
die  ursprünglichen  Naturkräfte,  jene,  weil  sie  der  Träger 
aller  Veränderungen  oder  dasjenige  ist,  woran  solche  vor- 
gehen; diese,  weil  sie  das  sind,  vermöge  dessen  die  Ver- 


—     43     — 

änderungen  oder  Wirkungen  überhaupt  möglich  sind,  das, 
was  den  Ursachen  die  Causalität,  d.  h.  die  Fähigkeit  zu 
wirken  allererst  ertheilt ,  von  welchem  sie  also  diese  bloss 
zu  Lehen  haben.  Ursache  und  Wirkung  sind  die  zu  not- 
wendiger Succession  in  der  Zeit  verknüpften  Verände- 
rungen: die  Naturkräfte  hingegen,  vermöge  welcher  alle 
Ursachen  wirken,  sind  von  allem  Wechsel  ausgenommen, 
daher  in  diesem  Sinne  ausser  aller  Zeit,  eben  deshalb  aber 
stets  und  überall  vorhanden,  allgegenwärtig  und  unerschöpf- 
lich, immer  bereit,  sich  zu  äussern,  sobald  nur,  am  Leit- 
faden der  Causalität,  die  Gelegenheit  dazu  eintritt.  Die 
Ursache  ist  allemal,  wie  auch  ihre  Wirkung,  ein  Einzelnes, 
eine  einzelne  Veränderung:  die  Naturkraft  dagegen  ist  ein 
Allgemeines,  Unveränderliches,  zu  aller  Zeit  und  überall 
Vorhandenes;  z.  B.  dass  der  Bernstein  jetzt  die  Flocke  an- 
zieht, ist  die  Wirkung :  ihre  Ursache  ist  die  vorhergegangene 
Reibung  und  jetzige  Annäherung  des  Bernsteins,  und  die 
in  diesem  Process  thätige,  ihm  vorstehende  Naturkraft 
ist  die  Elektricität"  (Bd.  I  S.  45). 

Wir  haben  somit  von  dem,  was  man  unter  Causalität  und 
unter  causalem  Forschen  zu  verstehen  hat,  einen  ganz  anderen 
Begriff  als  Roux,  Mit  Schopenhauer,  Lotze  u.  A. 
nennen  wir  causal  die  Forschung  und  die  Wissenschaft, 
welche  uns  die  Erscheinungen  dieser  Welt  in  ihren  ursäch- 
lichen Zusammenhängen  darstellt,  das  heisst:  uns  nachweist, 
dass  Erscheinungen  in  nothwendigem  Verhältniss  von  Ur- 
sache und  Wirkung  zu  einander  stehen.  Wir  nennen  es 
daher,  wie  schon  früher  erwähnt  wurde,  ein  causales  Ver- 
hältniss erforschen  und  erklären,  wenn  gezeigt  wird,  wie 
sich  die  Gastrula  durch  Einfaltung  aus  einer  Keimblase, 
das  Rückenmark  durch  Zusammenfalten  einer  Zellenplatte 
zum  Rohr  anlegt  u.  s.  w. 


—    44    — 

Soweit  die  Dinge,  welche  dem  Causalitätsgesetz  unter- 
liegen, der  sinnlichen  Welt  angehören,  lassen  sich  ihre  ur- 
sächlichen Zusammenhänge  auch  beschreibend  darstellen. 
Wir  denken  daher  von  einer  descriptiven  Wissenschaft, 
welche,  in  ihrer  Vollendung  gedacht,  den  Causalnexus  der 
Erscheinungen  vollkommen  beschreibt,  sehr  hoch  und  sind 
der  Meinung  von  Schopenhauer:  „Was  wir  aus  seinen 
Ursachen  verstehen,  das  verstehen  wir,  soweit  es  überhaupt 
für  uns  ein  Verständniss  der  Dinge  giebt."  In  diesem  Sinne 
bezeichnet  Kirchhoff  (29  S.  1)  die  Mechanik  selbst, 
welche  doch  allgemein  als  der  am  meisten  vollendete  Zweig 
der  Naturwissenschaft  und  als  das  Vorbild  aller  übrigen 
Zweige  gilt,  „als  eine  beschreibende  Wissenschaft".  „Er 
stellt  als  die  Aufgabe  der  Mechanik  hin,  die  in  der  Natur 
vor  sich  gehenden  Bewegungen  zu  beschreiben,  und  zwar 
vollständig  und  auf  die  einfachste  Weise  zu  beschreiben. 
Er  will  damit  sagen,  dass  es  sich  nur  darum  handeln  soll, 
anzugeben,  welches  die  Erscheinungen  sind,  die  stattfinden"; 
dagegen  will  er  den  Begriff  „Kraft",  wegen  der  ihm  an- 
haftenden Unklarheit,  dabei  ganz  aus  dem  Spiel  lassen. 

Wie  die  Begriffe  „Ursache  und  Wirkung"  ist  jetzt  auch 
der  Begriff  „Kraft",  welcher  in  der  Definition  der  Ent- 
wicklungsmechanik eine  so  verhängnissvolle  Rolle  spielt, 
noch  einer  genaueren  Analyse  zu  unterwerfen. 

Die  Kräfte,  die  wir  in  der  uns  umgebenden  Welt 
wirken  lassen,  entziehen  sich  als  solche  vollständig  unserer 
sinnlichen  Wahrnehmung;  sie  sind  qualitates  occultae. 
Was  wir  wahrnehmen,  sind  allein  die  Dinge  oder  Er- 
scheinungen der  Körperwelt  und  die  an  ihnen  sich  in 
Raum  und  Zeit  vollziehenden  Veränderungen.  Sie  allein 
sind  daher  auch  Gegenstand  der  naturwissenschaftlichen 
Erkenntniss.      Der    Begriff   Kraft    ist    ein    rein    abstracter. 


—     45     — 

Wir  legen  in  unserem  Denken  ein  Etwas,  das  wir  Kraft 
nennen,  den  Dingen  bei,  wenn  wir  an  ihnen  eine  Verände- 
rung eintreten  sehen,  oder  anders  ausgedrückt:  aus  einer 
eintretenden  Veränderung  schliessen  wir  auf  ein  Etwas,  das 
gleichsam  wie  ein  lebendiges  Wesen  an  der  ruhenden  Er- 
scheinung die  Veränderung  hervorbringt  oder  bewirkt. 
Was  dieses  Wesen  aber  eigentlich  ist,  bleibt  dabei  voll- 
kommen im  Dunkel,  und  wir  können,  um  uns  darüber  zu 
verständigen,  jedenfalls  nicht  mehr  thuen,  als  dass  wir  auf 
die  Veränderungen  in  den  Zuständen  der  uns  umgebenden 
Körperwelt  hinweisen,  welche  eben  unser  Denken  zur  An- 
nahme des  Begriffes  Kraft  veranlasst  haben.  Darüber 
hinaus  entzieht  sich  das  Wesen  der  Kraft  vollständig  der 
naturwissenschaftlichen  Erkenntniss  und  ist  überhaupt  kein 
Gegenstand  ihrer  Forschung  mehr.  Es  beschäftigt  sich 
daher,  streng  genommen,  die  Physik  nicht  mit  der  Er- 
forschung der  magnetischen  und  elektrischen  Kraft  etc., 
vielmehr  mit  der  Erforschung  von  Erscheinungen,  welche 
für  unser  Denken  etwas  Gemeinsames  haben,  das  wir  unter 
dem  abstracten  Begriff  der  magnetischen,  der  elektrischen 
Kraft  etc.  oder  des  Magnetismus  und  der  Elektricität 
zusammenfassen. 

Die  vollständige  und  erschöpfende  Definition  einer  be- 
stimmten Naturkraft  ist  daher  nichts  Anderes  als  die 
zusammenfassende  und,  soweit  es  geht,  in  eine  Formel  ge- 
brachte oder  in  Gesetze  gefasste  Beschreibung  einer  Summe 
von  Erscheinungen,  welche  in  ihren  Veränderungen  für 
unser  vergleichendes  Urtheil  eine  Summe  gemein- 
samer Merkmale  darbieten  und  uns  daraus  auf  ein  in  ihnen 
wirkendes  gleichartiges  Etwas,  —  das  ist  eine  Naturkraft,  — 
schliessen  lassen. 

Mit   vollem   Recht   hat   daher  Kirchhoff,    wie    oben 


—     46     - 

erwähnt  wurde,  als  die  Aufgabe  der  Mechanik  bezeichnet : 
die  in  der  Natur  vor  sich  gehenden  Bewegungen  vollständig 
und  auf  die  einfachste  Weise  zu  beschreiben,  und 
hat  daher  die  Mechanik  als  die  Wissenschaft  von  der  Be- 
wegung bezeichnet.  Denn  über  das  Wesen  der  für  das  Zu- 
standekommen der  Bewegungen  angenommenen  Grundkräfte 
in  der  Mechanik  kann  uns  die  Forschung  nicht  mehr 
lehren,  als  es  die  auf  die  einfachste  Weise  gegebene  Be- 
schreibung von  den  Bewegungen  der  Körper  schon  thut. 

Angesichts  der  Aussprüche  von  R  o  u  x  und  von  manchen 
andern  Forschern,  welche  die  Erforschung  der  gestaltenden 
Kräfte  oder  Energien,  der  causae  verae,  als  die  wahre  Auf- 
gabe der  Biologie  hinstellen,  scheint  es  uns  an  der  Zeit, 
diese  Verhältnisse  wieder  einmal  klar  zu  legen.  Etwas 
Neues  sagen  wir  damit  nicht,  sondern  wiederholen  im 
Wesentlichen  nur,  was  schon  mehrfach  von  Philosophen 
und  von  philosophisch  geschulten  Naturforschern  in  klarer 
Weise  auseinandergesetzt  worden  ist,  von  Schopenhauer, 
Du  Bois-Reymond,  von  Lotze,  Nägeli,  Kuno 
Fischer  u.  A. 

Auf  einige  ihrer  Aussprüche  sei  noch  hingewiesen,  um 
den  wichtigen  Begriff  „Kraft"  nach  allen  Richtungen  zu 
beleuchten. 

„Die  Irrthümer,  die  sich  in  Betreff  des  Begriffes  »Kraft« 
weit  verbreitet  finden,"  bemerkt  Lotze,  „üben  auf  die  Auf- 
fassung der  Physiologie  im  Ganzen  ebensosehr  wie  auf  die 
Gestaltung  einzelner  ihrer  Lehren  einen  so  schädlichen  Ein- 
fluss  aus,  dass  wir  uns  ein  möglichst  genaues  Eingehen  auf 
sie  hier  nicht  ersparen  können.  Kräfte,  welches  auch 
die  bestimmtere  Bedeutung  dieser  Vorstellung  sein  mag, 
sind  in  der  äusseren  Natur  niemals  Gegenstände  unmittel- 
barer Beobachtung;  aber  aus  einer  Wahrnehmung  von  Vor- 


—     47     — 

gangen  in  unserem  eigenen  Innern  scheint  sich  überall  ihr 
Begriff  entwickelt  zu  haben"  (35,  S.  85).  Und  an  anderer 
Stelle  (34,  S.  XVIII):  „Kräfte  zeigt  keine  Erfahrung,  sie 
sind  ein  Supplement  des  Gedankens.  Die  vergleichende 
Abstraction  leitet  zuerst  aus  den  Erscheinungen  immer  nur 
allgemeine  Gesetze  der  Beziehung  her;  sie  sagt  uns  z.  B., 
dass  alle  im  Raum  gleichzeitig  vorhandenen  Körper  sich 
mit  zunehmender  Geschwindigkeit  nähern,  deren  Be- 
schleunigung den  Quadraten  der  Annäherung  proportional 
ist.  Nur  Gesetze  dieser  Art  fliessen  unmittelbar  aus  der 
analysirenden  Kritik  des  Thatbestandes ,  und  sie  werden 
jeder  philosophischen  Forschung  vollkommen  genügen. 
Allein  durch  einen  unwiderstehlichen  Hang,  über  dessen 
Ursprung  man  sich  aus  der  Metaphysik  unterrichten  mag, 
wird  der  denkende  Geist  angetrieben,  dasjenige,  was  den 
Dingen  in  ihrem  Zusammensein  begegnet,  als  Verdienst 
oder  Schuld,  als  That  überhaupt  eines  Subjectes  anzusehen 
und  die  bloss  denkbare  Möglichkeit,  in  gewisse  Verhältnisse 
zu  kommen,  als  eine  reale  Eigenschaft  des  Dinges  zu  be- 
trachten und  sie  so  in  Gestalt  einer  den  späteren  Erfolg 
herbeiführenden  Kraft  in  das  Innere  des  Dinges  zu  ver- 
legen. Wir  wissen,  dass  über  das  Verhalten  jedes  Seienden 
gegen  andere  nicht  von  ihm  selbst,  sondern  von  allgemeinen 
Gesetzen  entschieden  wird  ;  insofern  ist  es  eine  Fiction,  wenn 
der  Begriff  der  Kraft  dennoch  das,  was  dem  Dinge  nur  in 
Folge  der  Gesetze  unter  gewissen  Bedingungen  zukommt, 
als  ein  ihm  eigenthümliches  Verdienst,  Kraft  und  Tugend 
ihm  zuschreibt."  „Wir  werden  sagen  müssen,  dass  Kräfte 
gar  nichts  in  den  Dingen  wirklich  Vorhandenes,  noch  weniger 
etwas  Fertiges,  ihnen  ein-  für  allemal  Inhärirendes  sind, 
sondern  dass  die  Dinge  solche  Kräfte  zuweilen  erlangen,  in 
dem    Momente    nämlich,    wo    aus    dem    Zusammenkommen 


-     48     - 

ihrer  Eigenschaften  mit  denen  anderer  in  irgend  einer  Be- 
ziehung eine  Folge  hervorgeht.  Die  Dinge  wirken  nicht, 
weil  sie  Kräfte  haben,  sondern  sie  haben  dann  scheinbare 
Kräfte,  wenn  sie  etwas  bewirken. " 

Schopenhauer  bezeichnet  als  Aetiologie  die  Wissen- 
schaft von  den  Umwandlungen  der  Materie,  von  den  Ge- 
setzen ihres  Uebergangs  aus  einer  Form  in  die  andere 
und  rechnet  zu  ihr  die  Mechanik,  Physik,  Chemie,  Physio- 
logie. „Die  Aetiologie  lehrt  uns,  dass  nach  dem  Gesetz 
von  Ursache  und  Wirkung  dieser  bestimmte  Zustand  der 
Materie  jenen  anderen  herbeiführt,  und  damit  hat  sie 
ihn  erklärt  und  das  Ihrige  gethan.  Indessen  thut 
sie  im  Grunde  nichts  weiter,  als  dass  sie  die  gesetzmässige 
Ordnung,  nach  der  die  Zustände  in  Raum  und  Zeit  ein- 
treten, nachweist  und  für  alle  Fälle  lehrt,  welche  Erscheinung 
zu  dieser  Zeit,  an  diesem  Orte  noth wendig  eintreten  muss: 
sie  bestimmt  ihnen  also  ihre  Stelle  in  Zeit  und  Raum  nach 
einem  Gesetz,  dessen  bestimmten  Inhalt  die  Erfahrung  ge- 
lehrt hat,  dessen  allgemeine  Form  und  Notwendigkeit  je- 
doch unabhängig  von  ihr  uns  bewusst  ist.  lieber  das 
innere  Wesen  irgend  einer  j  ener  Erscheinungen 
erhalten  wir  aber  dadurch  nicht  den  mindesten 
Aufschluss:  dieses  wird  Naturkraft  genannt 
und  liegt  ausserhalb  des  Gebietes  der  ätio- 
logischen Erklärung,  welche  die  unwandelbare  Con- 
stanz  des  Eintritts  der  Aeusserung  einer  solchen  Kraft,  so 
oft  die  ihr  bekannten  Bedingungen  dazu  da  sind,  Natur- 
gesetz nennt.  Dieses  Naturgesetz,  diese  Bedingungen, 
dieser  Eintritt,  in  Bezug  auf  bestimmten  Ort  zu  bestimmter 
Zeit,  sind  aber  Alles,  was  sie  weiss  und  je  wissen 
kann.  Die  Kraft  selbst,  die  sich  äussert,  das 
innereWesen  der  mitjenen  Gesetzen  eintreten- 


—    49    — 

den  Erscheinungen  bleibt  ihr  ewig  einGeheim- 
niss,  ein  ganz  Fremdes  und  Unbekanntes,  sowohl  bei  der 
einfachsten  wie  bei  der  complicirtesten  Erscheinung.  Denn 
wiewohl  die  Aetiologie  bis  jetzt  ihren  Zweck  am  voll- 
kommensten in  der  Mechanik,  am  unvollkommensten  in  der 
Physiologie  erreicht  hat,  so  ist  dennoch  die  Kraft,  vermöge 
welcher  ein  Stein  zur  Erde  fällt,  oder  ein  Körper  den  an- 
dern fortstösst,  ihrem  inneren  Wesen  nach  uns  nicht 
minder  fremd  und  geheimnissvoll,  als  die, 
welche  die  Bewegungen  und  das  Wachsthum 
eines  Thieres  hervorbringt  (Bd.  II,  S.   116). 

„Die  Mechanik  setzt  Materie,  Schwere,  Undurchdring- 
lichkeit, Mittheilbarkeit  der  Bewegung  durch  Stoss,  Starr- 
heit u.  s.  w.  als  unergründlich  voraus,  nennt  sie  Natur- 
kräfte, ihr  vollständiges  und  regelmässiges  Erscheinen  unter 
gewissen  Bedingungen  Naturgesetz,  und  danach  erst  fängt 
sie  ihre  Erklärung  an,  welche  darin  besteht,  dass  sie  treu 
und  mathematisch  genau  angiebt,  wie,  wo  und  wann  jede 
Kraft  sich  äussert,  und  dass  sie  jede  ihr  vorkommende  Er- 
scheinung auf  eine  jener  Kräfte  zurückführt.  Ebenso  machen 
es  Physik,  Chemie,  Physiologie  in  ihrem  Gebiet,  nur  dass 
sie  noch  viel  mehr  voraussetzen  und  weniger  bieten.  Dem- 
zufolge wäre  auch  die  vollkommenste  ätiologische  Er- 
klärung der  gesammten  Natur  eigentlich  nie  mehr  als  ein 
Verzeichniss  der  unerklärlichen  Kräfte  und  eine  sichere 
Angabe  der  Regel,  nach  welcher  die  Erscheinungen  der- 
selben in  Zeit  und  Raum  eintreten,  sich  succediren,  einander 
Platz  machen:  aber  das  innere  Wesen  der  also  erscheinen- 
den Kräfte  müsste  sie,  weil  das  Gesetz,  dem  sie  folgt,  nicht 
dahin  führt,  stets  unerklärt  lassen  und  bei  der  Erscheinung 
und  deren  Ordnung  stehen  bleiben"   (Bd.  II,   S.   117). 

„Wir  sehen,  dass  von  aussen  dem  Wesen  der  Dinge 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.    II.  4 


—     50     — 

nimmermehr  beizukommen  ist:  wie  immer  man  auch  forschen 
mag,  so  gewinnt  man  nichts  als  Bilder  und  Namen"  (Bd.  II, 
S.  118).  —  „Mechanik,  Physik,  Chemie  lehren  die  Regeln 
und  Gesetze,  nach  denen  die  Kräfte  der  Undurchdringlich- 
keit, Schwere,  Starrheit,  Flüssigkeit,  Cohäsion,  Elasticität, 
Wärme,  Licht,  Wahlverwandtschaften,  Magnetismus,  Elek- 
tricität  u.  s.  w.  wirken,  d.  h.  das  Gesetz,  die  Regel,  welche 
diese  Kräfte  in  Hinsicht  auf  ihren  jedesmaligen  Eintritt 
in  Zeit  und  Raum  beobachten:  die  Kräfte  selbst  aber 
bleiben  dabei,  wie  man  sich  auch  geberden  mag, 
qualitates  occultae"   (Bd.  II,  S.  145). 

„Es  ist  ein  ebenso  grosser,  wie  gewöhnlicher  Irrthum, 
dass  die  häufigsten ,  allgemeinsten  und  einfachsten  Er- 
scheinungen es  wären,  die  wir  am  besten  verständen;  da 
sie  doch  vielmehr  nur  diejenigen  sind,  an  deren  Anblick 
und  unsere  Unwissenheit  darüber  wir  uns  am  meisten  ge- 
wöhnt haben.  Es  ist  uns  ebenso  unerklärlich,  dass 
ein  Stein  zur  Erde  fällt,  als  dass  ein  Thier  sich 
bewegt"  (Bd.  II,  S.  148). 

Schopenhauer  bezeichnet  daher  „ein  Naturgesetz  als 
die  der  Natur  abgemerkte  Regel,  nach  der  sie,  unter  bestimmten 
Umständen,  sobald  diese  eintreten,  jedes  Mal  verfährt:  da- 
her kann  man  allerdings  das  Naturgesetz  definiren  als  eine 
allgemein  ausgesprochene  Thatsache,  un  fait  generalis^, 
wonach  dann  eine  vollständige  Darlegung  aller 
Naturgesetze  doch  nur  ein  completes  That- 
sachen  register  wäre"   (Bd.  II,  S.  167). 

Denselben  [deengängen  wie  bei  Lotze  und  Schopen- 
hauer begegnen  wir  bei  Nägeli: 

„Da  alle  Vorstellungen,  welche  wir  von  der  Natur 
haben,  uns  durch  die  sinnliche  Wahrnehmung  vermittelt 
werden,  so  kann  auch  unser  Erkennen  nicht  weiter  gehen, 


—     51     — 

als  dass  wir  die  wahrgenommenen  Erschei- 
nungen mit  einander  vergleichen  und  sie  mit 
Rücksicht  aufeinander  beurtheilen"    (41,  S.  578). 

„Wir  können  nicht  nur  die  verschiedenen  Dinge  mit 
einander  vergleichen  und  durch  einander  messen,  sondern 
wir  können  auch  ein  System,  eine  einheitliche  Gruppe  von 
zusammengehörigen  Dingen,  insofern  sie  sich  verändert,  in 
verschiedenen,  aufeinander  folgenden  Zeiten  mit  sich  selbst 
vergleichen  und  mit  sich  selbst  messen.  Die  Erkenntniss 
der  Veränderung  ist  vollendet,  wenn  der  spätere  Zustand 
als  die  nothwendige  Folge  des  früheren  oder  dieser  als  der 
nothwendige  Vorgänger  des  späteren  nachgewiesen,  wenn 
einer  aus  dem  andern  construirt,  wenn  also  die  beiden  Zu- 
stände in  das  Verhältniss  von  Ursache  und  Wirkung  ge- 
bracht werden  können"  ('S.  580). 

„Einen  Natur  Vorgang  begreifen  h  eis  st 
gleichsam  nichts  Anderes  als  ihn  denkend 
wiederholen,  ihn  in  Gedanken  hervorbringen" 
(S.  582). 

„Wir  können  nur  das  Endliche,  aber  wir  können  auch 
alles  Endliche  erkennen,  das  in  den  Bereich  unserer  sinn- 
lichen Wahrnehmung  fällt"  (S.  585). 

„Es  wäre  ein  Irrthum,  anzunehmen,  dass  wir  das  Zu- 
standekommen des  Naturlebens  überhaupt  aus  seinen  Ur- 
sachen begreifen.  Die  gleiche  Schranke  wie  in  den 
geistigen  finden  wir  in  allen  rein  materiellen  Vorgängen. 
Wir  wissen  aus  Erfahrung,  dass  in  der  unorganischen  Welt 
die  Ursache  in  der  Wirkung  aufgeht,  aber  es  ist  uns  un- 
fassbar,  wie  die  Uebertragung  geschieht.  Wir  wissen  aus 
Erfahrung,  dass  ein  in  die  Luft  geworfener  Stein  auf  die 
Erde  fällt,  und  wir  sagen,  es  geschehe  deshalb,  weil  die 
Erde  ihn  anziehe;    allein   diese  Anziehung    ist    für  uns  im- 


—     52     — 

"begreiflich."  „Was  wir  wissen,  ist,  dass  zwei  von  einander 
entfernte  Körper  so  auf  einander  wirken,  dass  sie,  wenn 
kein  Hinderniss  entgegensteht,  sich  bis  zur  Berührung 
nähern.  Worin  aber  diese  Einwirkung  besteht,  wie  dieselbe 
die  gegenseitige  Bewegung  zu  Stande  bringt,  ist  uns  gerade 
so  unbegreiflich  und  wird  uns  gerade  so  ein  ewiges  Räthsel 
bleiben,  wie  das  Zustandekommen  der  Empfindung  und  des 
Bewusstseins  aus  den  materiellen  Ursachen."  „Das  Näm- 
liche finden  wir  bei  allen  materiellen ,  physikalischen  und 
chemischen  Vorgängen.  Ein  positiv  und  ein  negativ  elek- 
trischer Körper  bewegen  sich  gegen  einander,  zwei  Körper 
mit  gleichnamiger  Elektricität  bewegen  sich  von  einander 
weg.  Wenn  wir  sagen,  dass  im  ersten  Fall  An- 
ziehung, im  zweiten  Abstossung  stattfinde,  so 
sind  dies  nur  kurze  Ausdrücke,  welche  Reihen 
von  gleichartigen  Vorgängen  zusammenfassen, 
aber  keine  Erklärungen.  Wir  gewöhnen  uns  aber 
an  solche  Ausdrücke;  sie  werden  uns  nach  und  nach  so 
geläufig,  dass  wir  glauben,  wir  begriffen  wirklich  die  durch 
sie  bezeichneten  Vorgänge.  Deswegen  ist  denn  auch  die 
Ansicht  ganz  allgemein  verbreitet,  die  Natur  in  ihren  ein- 
facheren unorganischen  Erscheinungen  biete  unserer  Er- 
kenntniss  keine  Schwierigkeiten  dar,  während  die  Schwierig- 
keiten grundsätzlich  überall  die  nämlichen  sind"  (1.  c. 
S.  595). 

„Umfang  und  Grenze  des  Erkenntnissgebietes  ist  ver- 
schieden, je  nach  den  mehr  oder  weniger  strengen  An- 
forderungen ,  die  man  stellt.  Es  lassen  sich  selbst  diese 
Anforderungen  so  hoch  schrauben,  dass  das  Erkennen  zur 
Unmöglichkeit  wird."  „Die  Astronomie  wäre  nicht  mehr 
Erkenntniss,  sondern  bloss  Wissen  und  Kunst,  wenn  zur 
Erkenntniss    auch    das  Begreifen    der  Gravitation   und    Be- 


—     53     - 

wegung  gefordert  würde."  „Das  mögliche  ursäch- 
liche Erkennen  begnügt  sich  damit,  je  auf  die 
nächsten  Ursachen  zurückzugehen"  (1.  c.  S.  626. 
627). 

Auf  den  Selbstbetrug,  dem  man  sich  häufig 
h  i  n  g  i  e  b  t ,  indem  man  glaubt,  durch  den  Ge- 
brauch des  Wortes  Kraft  eine  Erscheinung 
besser  begriffen  zu  haben,  macht  auch  Kuno 
Fischer  in  seiner  Logik  aufmerksam  (13  S.  373).  „Die 
Erscheinung  sucht  man  als  Aeusserung  einer  Kraft  zu  be- 
greifen, man  muss  mithin  so  viele  Kräfte  gelten  lassen,  als 
wir  Erscheinungen  haben.  Die  Welt  der  Erschein- 
ungen wird  in  die  Welt  der  Kräfte  übersetzt. 
So  braucht  diesen  Begriff  überall  das  erklärende  Denken. 
Es  fasst  den  Inhalt  einer  ihm  gegebenen  Erscheinung  in  den 
Begriff  der  Kraft  und  erklärt  dann  durch  diesen  Begriff 
die  gegebene  Erscheinung.  So  werden  die  Bewegungs- 
erscheinungen übersetzt  in  bewegende  Kräfte;  die  Er- 
scheinungen des  Magnetismus ,  der  Elektricität,  der  che- 
mischen Verbindungen  und  Vorgänge  werden  erklärt  durch 
magnetische,  elektrische,  chemische  Kräfte,  die  Lebens- 
erscheinungen durch  Lebenskraft  etc.  etc." 

„Was  also  haben  wir  mit  dem  Begriff  der  Kraft  ge- 
wonnen? Die  Wissenschaft  und  das  natürliche  Denken 
wollen  diesen  Begriff  nicht  entbehren,  der  doch,  näher  be- 
trachtet, so  überflüssig  und  darum  so  entbehrlich  zu  sein 
scheint.  Wir  setzen,  wie  es  scheint,  eine  unbekannte  Grösse 
für  eine  andere  und  erklären  x  durch  y.  Ist  etwa  die  Lebens- 
kraft bekannter  als  die  Lebenserscheinung,  oder  die  mag- 
netische Kraft  bekannter  als  der  Magnetismus"?  Was  also 
richtet  man  in  der  Erklärung  der  Dinge  mit  dem  Begriffe 
der  Kraft  aus?" 


—     54    — 

„In  der  Tliat  findet  sich  im  Gebrauch  dieses 
Begriffes  eine  Täuschung,  die  wir  einleuchtend 
machen  und  zerstören  müssen.  Man  übersetzt  die 
Erscheinung  in  die  Kraft,  die  ihr  gleichkommt,  dann  über- 
setzt man  diese  Kraft  zurück  in  die  Erscheinung  und  meint 
jetzt,   die  letztere  erklärt  zu  haben. ': 

Den  Vortheil,  den  der  Begriff  Kraft  bietet,  sieht  Fischer 
darin,  dass  er  die  Richtung  auf  die  Einheit  der 
Erscheinungen  nimmt,  dass  er  dazu  führt ,  die  Zahl 
der  Kräfte  zu  vereinfachen  und  auf  Grundkräfte  zu- 
rückzuführen, dass  er  darin  dem  Begriff  des  Gesetzes  folgt, 
der  diese  Richtung  schon  bezeichnet  und  eingeschlagen  hat 
(1.  c.  S.  375). 

Ich  schliesse  mit  Du  Bois-Reymond  ab,  der  mehrfach 
die  häutig  wiederkehrende  falsche  Auffassung  des  Begriffes 
Kraft  gerügt  hat.  „Die  Kraft  ist  nichts  Wirkliches,  wie 
der  Vitalismus  es  sich  denkt,  nicht  ein  mit  dem  materiellen 
Substrat  zusammengefügtes,  die  Materie,  wie  sie  unseren 
Sinnen  erscheint,  ausmachendes  Wesen,  welches  auch  von 
der  Materie  getrennt  selbständig  fortbestehen  kann.  S  i  e 
ist  nichts  als  eine  zur  scheinbaren  Befrie- 
digung unseres  C  au  sali  tätsbedürfni  sses  ein- 
gebildete Ursache  von  Veränderungen,  welche 
selber  das  einzig  Wirkliche  sind,  das  wir  wahr- 
nehmen. Um  nach  fast  einem  halben  Jahrhundert  das 
Gleichniss  zu  wiederholen :  die  Atome  sind  nicht  wie  ein 
Fuhrwerk,  davor  die  Kräfte  als  Pferde  nun  vorgespannt, 
dann  davon  abgeschirrt  werden  können1)"  (Bd.  II,  Nr.  1, 
S.  17).    ' 


J)  Wie  von  einer  Reihe  biologischer  Forscher  in  dem  Gebrauch 
des  Wortes  Kraft  wieder  gesündigt  wird,  dafür  liefert  uns  ein 
interessantes    Beispiel    Dreyer    in    seiner    Gerüstbildungsmechanik 


—     55    — 

Nach  diesem  Excurs  kehren  wir  wieder  zu  R  o  u  x  zu- 
rück. In  seinen  Schriften  begegnet  uns  auf  Schritt  und 
Tritt  die  von  Schopenhauer  und  L  o  t z e  getadelte  Ver- 
wendung der  Begriffe  „Ursache  und  Kraft".  In  ihnen  erhält 
ferner  der  Begriff  der  Causalität  eine  solche  Fassung,  dass 
man  nicht  weiss,  was  man  auf  dem  Gebiete  der  Biologie 
überhaupt  noch  eine  „ursächliche  Forschung"  nennen  soll. 
Denn  wenn  Roux  als  solche  „die  Ermittelung  der  gestalten- 
den Kräfte  oder  Energieen"  bezeichnet,  so  stellt  er  der 
Entwicklungsmechanik  eine  Aufgabe,  welche,  streng  ge- 
nommen, die  Naturwissenschaft  überhaupt  nicht  erforschen 
kann,  und  trägt  in  ihre  Definition  gleich  alle  die  Unklar- 
heiten hinein,  welche  dem  Begriff  der  Kraft  anhaften.  Bei 
solcher     Unklarheit    kann    es    uns    fürwahr    nicht    Wunder 


(6,  S.  90).  Dreyer  glaubt  gefunden  zu  haben,  dass  den  zier- 
lichen Gerüsten  der  Rhizopoden  trotz  der  Höhe  ihrer  morphologischen 
Ausbildung  doch  nur  .,eine  einfache  physikalische  Bildungskraft,  die 
Oberflächenspannung*^!!),  zu  Grunde  liege.  Hierdurch  wird  er  zu 
folgenden  Bemerkungen  veranlasst:  „Können  wir  hier  nicht  sagen: 
die  Rhizopoden  können  gar  nichts  dazu,  dass  sie  so  schöne  Skelette 
haben?  Sind  wir  hier  nicht  Zeugen  des  seltsamen  Schauspiels,  dass 
der  Organismus  selbst  nur  Handlangerdienste  versieht,  indem  er  das 
Baumaterial  nur  beschafft  und  zubereitet,  während  eine  elemen- 
tare physikalische  Kraft,  ein  fremder  Eindringling  von 
aussen,  die  Rolle  eines  intelligenten  Baumeisters,  eines 
Künstlers  spielt  und  Formen  hervorzaubert,  die  an  Formen- 
reichthum  und  Zierlichkeit  alles  in  der  organischen  Welt  Vorhandene 
bei  Weitem  überbieten?  Dies  wunderbare  Symbiose  Verhält- 
nis s  —  wenn  dieser  Ausdruck  hier  noch  erlaubt  ist  —  zwischen 
Organismen  und  unorganischen  Kräften  der  Aussenwelt 
scheint  allen  bisher  gewonnenen  Regeln  der  Erfahrung  zuwider  zu 
laufen."  —  Hier  wird  uns  also  die  Kraft  geradezu  als  eine  leibhaftige, 
von  aussen  in  den  Organismus  hinein  gedrungene  Person  dargestellt. 
Eine  passende  Illustration  zu  dem  von  Du  Bois-Reymond  an- 
geführten Grleichniss. 


—    56    — 

nehmen,  wenn  Roux  von  der  gewaltigen  Grösse  der  Auf- 
gabe seiner  Entwicklungsmechanik  mit  einer  gewissen  ehr- 
furchtsvollen Scheu  redet,  als  dem  „schwierigsten"  Unter- 
nehmen, „an  welches  sich  der  Menschengeist  gewagt  hat" 
(A.  f.  E.  S.  21).  Die  Schwierigkeit  besteht  eben  darin,  dass 
Niemand  aus  den  genauer  dargelegten  Gründen  näher  an- 
geben kann,  was  denn  nun  eigentlich  erforscht  werden  soll. 
Es  ist  genau  derselbe  Zustand,  der  eintreten  würde,  wenn 
Jemand  als  die  Aufgabe  der  gesammten  Naturwissenschaft 
die  Erforschung    der   weltbildenden    Kraft   angeben    wollte. 

Was  sollen  wir  uns,  bei  Lichte  besehen,  unter  Er- 
mittelung von  gestaltenden  Kräften  vorstellen? 
Physik  und  Chemie  kennen  solche  vor  der  Hand  nicht. 
Und  mit  Recht.  Denn  der  Begriff  „Kraft"  zielt,  wenn  er 
mit  Nutzen  verwandt  werden  soll,  immer  auf  das  Allgemeine 
der  Erscheinungen,  auf  allgemeine  Eigenschaften  der  Materie; 
daher  er  am  meisten  in  der  Physik,  schon  weniger  in  der 
Chemie  gebraucht  wird  und  in  der  Biologie  ohne  Schaden 
entbehrt  werden  könnte.  Die  Verbindung  der  beiden 
Worte  „gestaltende  Kraft"  insbesondere 
seh  li  esst  eine  naturwissenschaftlich  brauch- 
bare Verwendung  des  Kraftbegriffes  geradezu 
aus.  Denn  Gestalt  ist  stets  etwas  Besonderes,  etwas  Con- 
cretes,  wodurch  ein  Ding  sich  vor  einem  anderen  Ding 
auszeichnet.  Der  Ausdruck  „gestaltende  Kraft" 
ist  wissenschaftlich  ebenso  werthlos  wie  die 
„Lebenskraft",  welche  Lotze  durch  seine 
mechanischen  Lehren    hatte    beseitigen    wollen. 

Eine  genauere  Analyse  des  Begriffes  „gestal- 
te n  d  e  K  r  a  ft  oder  Energie"  wird  uns  zeigen,  wie  wenig 
er  leistet  und  wie  wenig  einer  Erkenntniss  durch  ihn  ge- 
dient wird. 


-     57     — 

Wer  von  gestaltenden  Kräften  redet,  kommt  in  die 
Lage,  so  viele  einzelne  Gestaltungskräfte  annehmen  zu 
müssen,  als  es  verschiedene  Gestalten  giebt.  Eine  Kraft, 
welche  einen  Kochsalzkrystall  erzeugt,  muss  von  der  Kraft, 
welche  einen  Krystall  von  Glaubersalz  schafft,  ebenso  ver- 
schieden sein,  als  das  auskrystallisirte  Kochsalz  sich  in  seinen 
Eigenschaften  vom  auskrystallisirten  Glaubersalz  unter- 
scheidet. Und  Gleiches  gilt  von  jeder  thierischen,  von 
jeder  pflanzlichen  Gestalt.  An  Stelle  des  Heeres  der  or- 
ganischen Gestalten  erhalten  wir  auf  diese  Weise  nur  ein 
Heer  von  gestaltenden  Kräften. 

Im  Organismenreich  zerfällt  uns  aber  der  Begriff  „ge- 
staltende Kraft"  unter  unseren  Händen  noch  weiter.  Jede 
organische  Gestalt  entwickelt  sich,  wie  wir  wissen.  Im 
Entwicklungsproeess  eines  Thieres  folgen  sich  zahlreiche 
Gestaltungen  auf  einander,  die  sich  eine  in  die  andere  ge- 
setzmässig  umwandeln.  Folglich  müssen  wir,  wenn  wir  die 
Besonderheit  einer  Gestalt  als  das  Ergebniss  einer  gestal- 
tenden Kraft  bezeichnen ,  consequenter  Weise  auch  so 
viele  verschiedene  gestaltende  Kräfte,  als  es  Formstufen  in 
der  Entwicklung  giebt  und  eine  Umwandlung  derselben  in 
einander  annehmen;  wir  müssen  zum  Exempel  der  Frosch- 
blastula  eine  Froschgastrula  bildende  Kraft  und  dieser 
wieder  eine  Neurula  bildende  Kraft  zuschreiben  und  so 
weiter  jedem  Entwicklungsstadium  eine  Kraft,  welche  sich 
in  dem  nachfolgenden  verwirklicht.  Es  wird  Jeder  ein- 
sehen, dass  wir  auf  diesem  Wege  mit  dem  Kraftbegriff  in's 
Gedränge  gcrathen  und  dass  hier  für  unsere  Erkenntniss 
nichts  gewonnen  wird,  wenn  wir  „die  Welt  der  Erscheinungen 
in  die  Welt  der  Kräfte"  übersetzen. 

Doch  vielleicht  hilft  uns  ein  anderer  Weg.  Vielleicht 
haben  wir   mehr  Glück,    wenn  wir,  wie  Roux   auch    vor- 


—    58     - 

schlägt,  die  Kraft,  welche  eine  zusammengesetzte  Gestalt 
erzeugt ,  in  einzelne  Componenten,  in  Combi- 
nationen  von  Energieen  (?)  zerlegen.  R o u x  gebraucht 
dafür  auch  die  Ausdrücke  „gestaltliche  Mannigfaltigkeit 
producirende  Componenten"  oder  „complexe  Componenten 
von  vorläufig  unübersehbarer  Complicirtheit"  oder  besondere 
„gestaltend  wirkende  Combinationen  von  Ursachen".  „Da 
die  organische  Entwicklung  in  der  Production  wahrnehm- 
barer, typisch  gestalteter  Mannigfaltigkeit  bestehe,"  heisst 
es,  „so  seien  zur  Entstehung  typischer  Mannigfaltigkeit 
selbstverständlich  auch  besondere  typische  Combinationen 
von  Ursachen  (s.  Energieen)  nöthig"  (A.  f.  E.  S.  4).  „Ver- 
möge der  Complicirtheit  ihrer  Zusammensetzung  müsse  man 
diesen  Componenten  Eigenschaften  zuertheilen,  welche  von 
denen  der  anorganischen  Wirkungsweisen  oft  so  erheblich 
verschieden  seien,  dass  sie  den  Leistungen  dieser  nicht  nur 
sehr  unähnlich  seien,  sondern  ihnen  zum  Theil  geradezu 
zu  widersprechen  scheinen"  (A.  f.  E.  S.  5).  Hierzu  fügt 
Roux  noch  hinzu,  dass  es  allerdings  seiner  unmittelbaren 
Auffassung  entspreche,  dass  auch  diese  Componenten  in 
letzter  Instanz  auf  anorganischen  Wirkungsweisen  beruhen. 
Eine  Zerlegung  des  Begriffs  „gestaltende  Kraft"  in 
Componenten  lässt  sich  wohl  am  bequemsten  in  der  Weise 
erreichen,  dass  man  die  organische  Gestalt  in  ihre  ver- 
schiedenen Theile  zerlegt  und  für  diese  die  gestaltenden 
Kräfte  setzt.  Man  erhält  dann  anstatt  der  allgemeinen  Ge- 
staltungskraft eine  Schaar  besonderer  gestaltender  Kräfte, 
wie  muskelbildende,  nervenbildende,  leber-,  knochenbildende 
Kraft  u.  s.  w.  Auf  dem  betretenen  Wege  noch  weiter 
schreitend  kann  man  alle  Elementartheile,  welche  man  durch 
anatomische  Analyse  und  Methode  dargestellt  hat,  als  Träger 
gestaltender    Kräfte    bezeichnen    und     dadurch    noch    eine 


—    59    — 

weitere  Zerlegung'  in  besondere  gestaltende  Kräfte  herbei- 
führen. In  dieser  Weise  könnte  man  von  einer  gestalten- 
den Kraft  der  Zelle ,  des  Kerns  und  der  wieder  im  Proto- 
plasma unterscheidbaren  Elementarkörnchen  sprechen. 
(Roux's  Isoplassonten,  Autokineonten,  Autonierizonten,  Idio- 
plassonten.) 

Wird  auf  diesem  Wege  etwas  gewonnen '?  Liegt  nicht 
klar  auf  der  Hand,  dass  der  causale  Forscher  hier  nichts 
Anderes  tkut,  als  nur  die  Ergebnisse  des  descriptiven 
Forschers  in  eine  andere  Sprache  zu  übersetzen  und  seinen 
durch  Analyse  gewonnenen  Erscheinungen  das  Wörtchen 
„Kraft"   unterzuschieben  ? 

Roux  selbst  hat  eine  Zerlegung  der  gestaltenden  Kraft 
in  Componenten  in  der  consequenten  Weise,  wie  wir  es 
hier  gethan  haben,  um  den  Gedanken  durchzudenken,  nicht 
ausgeführt.  Dagegen  spricht  er,  abgesehen  von  den  schon 
oben  angeführten  allgemeinen  Redewendungen,  vonEnergieen 
der  Entwicklung,  der  Erhaltung,  der  Rückbildung,  der 
Zellen  und  ihrer  Elementartheile.  Als  complexe  Compo- 
nenten führt  er  auf  die  elementaren  Zellfunctionen :  die 
Assimilation,  die  Dissimilation,  die  Selbstbewegung,  Selbst- 
theilung,  die  Selbstdifferenzirung  der  Zelle  etc.,  lauter  Dinge, 
welche  der  descriptive  Anatom  auf  Grund  seiner  Beobach- 
tungen den  Zellen  als  Eigenschaften  beigelegt  hat.  Erfahren 
wir  etwa  hieraus,  was  für  eine  Naturkraft  denn  nun  eigent- 
lich die  „gestaltende  Kraft"  ist,  was  eine  Combination  von 
Energieen ,  was  eine  complexe  und  was  eine  einfache 
Componente  von  ihr  ist?  Namen,  leere  Namen  und  nichts 
weiter!  Auf  festen  Boden  gelangen  wir  nur  da,  wo  Roux 
sich  der  Ergebnisse  und  Ausdrucksweisen  der  von  ihm  so 
gering  geschätzten   „descriptiven  Biologie"   bedient. 

Noch  ein  dritter  Weg  bleibt  zu  versuchen,    die  gestal- 


—     60    — 

tende  Kraft  direct  in  die  Grundkräfte  der  Physik  zu  zer- 
legen und  die  organischen  Gestalten  direct  aus  complexen 
Componenten  von  Schwerkraft,  Cohäsionskraft,  chemischen, 
elektrischen,  magnetischen  Kräften  zu  erklären.  Dass  dieser 
Weg  ebenfalls  nicht  der  rechte  ist,  braucht  kaum  einer 
näheren  Darlegung.  Zwar  sind  die  Grundkräfte  der  Natur 
wie  in  den  unorganischen  Körpern  auch  in  den  Organismen 
wirksam  und  können,  wo  sie  sich  in  Erscheinungen  zeigen, 
untersucht  werden,  aber  wir  können  keine  „gestaltende 
Kraft"  durch  Combination  von  Schwerkraft,  Cohäsionskraft, 
chemischer,  elektrischer  Kraft  construiren  oder  durch  Ver- 
einigung von  ein  bischen  Schwerkraft,  chemischer  Kraft, 
Cohäsionskraft  zur  Symbiose  ä  la  Drey  er  organische  Gestalt 
produciren. 

Somit  fassen  wir  denn  diese  ganze  Erörterung  dahin 
zusammen,  dass  es  sich  mit  dem  Begriff  der  „gestaltenden 
Kraft"  oder  „Energie"  in  einer  Beziehung  genau  so  ver- 
hält, wie  mit  dem  älteren  Begriff  der  Lebenskraft;  so  wenig 
wie  diese  ist  sie  eine  allgemeine  Naturkraft,  da  es  keine 
allgemeine  Gestalt,  sondern  nur  besondere  Gestalten  giebt. 
Weder  die  eine  noch  die  andere  lässt  sich  mit  den  Kräften 
der  Physik  vergleichen.  Letztere  sind  wissenschaftlich 
brauchbare  Begriffe,  sie  lassen  sich  in  ihrer  Bedeutung- 
genauer  definiren;  mit  dem  Begriff  „gestaltende  Kraft" 
lässt  sich  in  der  Naturwissenschaft  ebenso  wenig  anfangen, 
als  mit  den  unzähligen  besonderen  Kräften,  die  man  im 
gewöhnlichen  Leben  jedem  Dinge  beilegen  kann ,  wenn 
man  von  einem  activen  Zustand  desselben  reden  will 
(Verdauungskraft  des  Magens  und  Darms,  Nerven-  und 
Muskelkraft,  Kaufkraft  des  Geldes,  Widerstandskraft  eines 
Heeres  etc.).  Daher  ist  es  naturwissenschaftlich  richtiger, 
von  den  Erscheinungen,    die  sich,    soweit  die  Beobachtung 


—     61     — 

reicht,  genau  definiren  lassen,  als  von  gestaltenden  Kräften 
zu  sprechen,  die  doch  immer  nur  für  jeden  einzelnen  Fall 
besondere  sind,  da  die  Gestalt  oder  Form  stets  etwas 
Concretes  ist,  durch  welches  sich  ein  Ding  von  anderen 
unterscheidet. 

Wenn  irgendwo,  so  trifft  für  die  Verwerthung  des  Be- 
griffes Kraft  in  der  causalen  Morphologie  von  Roux  der 
schon  früher  citirte  Ausspruch  von  Kuno  Fischer  zu:  „In 
der  That  findet  sich  im  Gebrauch  des  Begriffes  Kraft  eine 
Täuschung,  die  wir  einleuchtend  machen  und  zerstören 
müssen.  Man  übersetzt  die  Erscheinung  in  die  Kraft,  die 
ihr  gleichkommt,  dann  übersetzt  man  diese  Kraft  zurück 
in  die  Erscheinung  und  meint  jetzt,  die  letztere  erklärt  zu 
haben." 

Darum  müssen  wir  das  von  Roux  aufgestellte  Ziel  der 
Entwicklungsmechanik  —  die  Erforschung  der  gestaltenden 
Kräfte  oder  Energieen  der  Organismen  —  als  ein  unklares 
und  wissenschaftlich  nicht  genauer  definirbares  bezeichnen, 
als  ein  Ziel,  bei  dessen  Bestimmung  namentlich  gegen  den 
Gebrauch  des  Begriffes  Kraft  sich  schwerwiegende  Bedenken 
erheben. 

Hiermit  gehen  wir  zum  zweiten  Theil  unseres  Pro- 
gramms, zu  einer  Kritik  der  von  Roux  empfohlenen  Mittel 
und  Wege  über,  welche  zur  Erreichung  des  von  ihm  auf- 
gesteckten Zieles  der  „causalen  Morphologie"  dienen  sollen. 


-     62 


2.   Die  Methoden  der  Entwicklungsmechanik. 

Ausspruch  von  Roux  :  „Die  Universalmethode  des  causalen  Anatomen 
wird  ebenso  •wenig  die  Anwendung  des  Messers  wie 
des  Farbstoffes  oder  des  Maasses ,  sondern  einzig  die 
Geistesanato  mie,  das  a  naiv  tische,  causale 
Denken  sein"  (G.  A.  S.  23). 

Als  die  Universalmethode  des  causalen  Anatomen  (G. 
A.  S.  13)  bezeichnet  Roux  „das  analytische  causale 
Denken";  er  nennt  sie  auch  die  „Geistesanatomie".  Was 
dieser  sonderbare  Ausdruck  bedeuten  soll ,  entzieht  sich 
unserem  Verständnisse  denn  wie  soll  eine  Zergliederung 
des  Geistes  eine  Methode  sein,  um  unsere  Erkenn tniss  der 
Ursachen  des  organischen  Entwicklungsprocesses  zu  för- 
dern? Doch  auch  abgesehen  von  diesem  besonderen  Aus- 
druck waren  wir  bisher  der  Meinung,  dass  auf  die  Ur- 
sachen gerichtetes  Denken  für  die  Ausbildung  aller  Wissen^ 
Schäften  erforderlich  ist,  und  dass  die  Anatomen,  welche 
bisher  den  Bau  der  Anatomie  zu  seiner  jetzigen  Höhe  auf- 
geführt haben,  nicht  blosse  Messeranatomen,  Färbe- 
künstler etc.  gewesen  sind,  sondern  dabei  des  Denkens 
oder,  um  mit  Roux  zu  sprechen,  des  causalen  Denkens 
ebenso  wenig  als  „Universalmethode"  haben  entbehren 
können,  als  die  Entwicklungsmechaniker,  für  welche  Roux 
„das  causale  Denken"  in  Privileg  nehmen  möchte. 

Mit  dieser  wegen  ihrer  Absonderlichkeit  kaum  ernst- 
haft zu  nehmenden  Ansicht  verknüpft  Roux  den  nicht 
minder  sonderbaren  Gedanken,  dass  nur  bei  Einhaltung 
einer  bestimmten  Forschungsmethode  in  der  Biologie  mit 
Erfolg  causal  geforscht  werden  könne.  Als  die  causale 
Forschungsmethode  zerr  ^oy^v  wird  das  Ex- 
periment bezeichnet  (A.  f.  E.  S.  10);  das  Experiment  wird 
in  allen  Schriften  gegen  die   Beobachtung  ausgespielt. 


—     63    — 

Nach  der  Meinung  von  Roux  lassen  sich  auf  dem  Wege 
der  Beobachtung  „mit  den  descriptiven  Forschungs- 
methoden überhaupt  keine  sicheren  Beweise  für 
ursächliche  Zusammenhänge  erbringen"  (G.  Abh. 
S.  75),  und  es  sollen  die  „causalen  Ableitungen  descriptiver 
Forscher  nur  wesentlich  darin  bestehen ,  dass  sie  glauben, 
ihre  Ableitung  stelle  den  einfachsten  Herstellungsmodus  der 
betrachteten  Bildung  aus  der  vorhergehenden  dar"  (G.  A. 
S.  76).  Roux  legt  daher  so  wenig  Werth  auf  die  Ar- 
beiten seiner  Vorgänger,  dass  er  es  für  das  Beste  und 
Richtigste  hält,  über  sie  einfach  zur  Tagesordnung  über- 
zugehen und  mit  der  „causalen"  Zukunftswissenschaft  ganz 
von  vorne  anzufangen.  Wie  das  Wort  „Mechanik",  so  hat 
ihn  auch  das  Wörtchen  „causal"  so  in  seinen  Bann  ge- 
nommen, dass  er  in  der  Morphologie,  in  welcher  er  uns 
überhaupt  erst  jetzt  am  Beginn  exacter  causaler 
Forschungen  stehen  lässt  (G.  A.  S.  76,  A.  f.  E.  S.  11), 
wie  schon  früher  erwähnt  wurde,  zwei  Gruppen  von  Ana- 
tomen unterscheidet:  die  eine  Gruppe  sind  descriptive 
Forscher,  welche  vorwiegend  durch  Beobachtungen  unsere 
Kenntniss  an  Thatsachen  bereichern ,  die  andere  Gruppe 
sind  causale  Forscher  oder  causale  Denker,  welche  sich 
von  jetzt  ab  des  analytischen  Experimentes  bedienen,  die 
Ursachen  der  Entwicklung  ergründen  und  durch  Fest- 
stellung von  Naturgesetzen  unsere  Erkenntniss  vermehren 
(G.  A.  S.  75). 

Es  lässt  sich  daher  nicht  vermeiden,  auf  den  wissen- 
schaftlichen Werth  von  Beobachtung  und  Ex- 
periment und  auf  das  Verhältniss  beider  zu 
einander  hier  näher  einzugehen,  zumal  auf  manchen 
Seiten  die  Neigung  vorliegt,  das  Experiment  auf  Kosten 
der    Beobachtung    zu    überschätzen.      Demgegenüber    kann 


—     ü4    — 

nicht  genug  betont  werden,  dass  Beobachtung  das  allgemeine 
und  einzige  Mittel  ist,  durch  welches  sich  unser  Geist  in 
bewusster  Weise  mit  der  Aussenwelt  in  Verbindung  setzt. 
Ihr  verdanken  wir  das  unendliche  Material  von  Vor- 
stellungen, welche  uns  unsere  verschiedenen  Sinne  von  den 
uns  umgebenden  Dingen  übermittelt  haben,  und  welche  uns 
für  weitere  Denkprocesse  zum  Ausgang  dienen. 

Aber  nicht  nur  zusammenhangsloses  That- 
sachenmaterial,  auch  ursächliche  Erkenntniss 
vermittelt  uns  die  Beobachtung.  Denn  indem  wir 
die  Dinge  der  Aussenwelt  durch  unsere  Sinne  wahrnehmen, 
beobachten  wir  auch  ihre  Veränderungen,  die  in  Kaum  und 
Zeit  vor  sich  gehen,  und  erfahren,  indem  die  Veränderungen 
in  unserem  Gedächtniss  haften,  dass  Gruppen  von  Er- 
scheinungen regelmässig  wiederkehren,  und  dass  einzelne 
mit  anderen  regelmässig  und  ohne  Ausnahme  verknüpft 
sind.  Wir  beobachten,  dass  mit  dem  Aufgang  der  Sonne 
der  Tag  und  mit  ihrem  Niedergang  stets  die  Nacht  an- 
bricht, oder  dass  der  Blitz  den  Donner  zur  Folge  hat,  und 
so  zwingt  die  vielmals  und  stets  in  derselben  Weise  sich 
wiederholende  Beobachtung  unserem  Denkprocess  den 
Schluss  ab,  dass  der  Aufgang  und  der  Niedergang  der 
Sonne  den  Wechsel  der  Tageszeiten  zur  Folge  haben,  und 
dass  der  Blitz  eine  Ursache  des  Donners  ist.  So  haben 
gewissermaassen,  wie  schon  an  anderer  Seite  hervorgehoben 
worden  ist,  die  erhabenen,  in  steter  Gleichmässigkeit  sich 
wiederholenden  Naturvorgänge  unserem  Denken  das  Causali- 
tätsgesetz  eingeprägt.  Je  mehr  in  dieser  Weise  verschärfte 
Beobachtung  uns  mit  einem  stetig  wachsenden  Material 
causal  verknüpfter  Vorstellungen  bereichert,  um  so  mehr 
wächst  auch  die  Kraft  und  das  Streben ,  alle  in  der  Er- 
scheinungswelt   vor   sich    gehenden  Veränderungen   an  dem 


—    65     — 

Leitfaden   der    Causalität    in    das  Verhältniss    von    Ursache 
und  Wirkung  zu  einander  zu  setzen. 

Nun  ist  aber  klar,    dass    nur  Dinge,    soweit    sie 
sich  verändern,    Gegenstand  causaler  Erkennt- 
niss  sein  können.     Denn  Dinge,  die  in  Raum  und  Zeit 
unserer  Beobachtung  unabänderlich  als  dieselben  erscheinen, 
können  sich  unserem  Denken   weder  als  Ursache   noch   als 
Wirkung  darbieten;    sie    erscheinen    uns  als  todt  und  ohne 
Beziehung  zu  einander.     Hier  bietet   sich  unserer  Beobach- 
tung   ein   grosser    Unterschied    zwischen    der    un- 
organischen   und    der    organischen    Natur    dar. 
Im  Gegensatz  zu    letzterer   sind    die    unorganischen  Körper 
verhältnissmässig  unveränderlich;    sie   gewähren    daher  für 
directe    Beobachtung    und    darauf    beruhende    causale    Er- 
kenntniss  nur  selten  Angriffspunkte.    Hier  hat  sich  der  mit 
Bewusstsein  beobachtende,  d.  h.  der  die  Natur  erforschende 
Geist  des  Menschen  ein  mächtiges  Hilfsmittel  indem 
Experiment   bereitet.      Er  zwingt  die  Stoffe,    sich 
zu  verändern,    und  gewinnt  so  die  Möglichkeit, 
eine    ganz    neue    Welt    von    Erscheinungen    und 
gegenseitigenBeziehungenzuentdecken,  welche 
der  Beobachtung  allein  für  gewöhnlich  verborgen  geblieben 
sein  würden.     Er  lässt  die  Stoffe,    indem  er  sie  planmässig 
zusammenbringt,     in    zahllosen    chemischen    Verbindungen 
lebendig  werden,  sich  trennen  und  vereinen,  oder  er  lässt  an 
ihnen,   indem  er  sie  unter  bestimmte  Bedingungen  versetzt, 
diese   und  jene  sonst  nicht  zu  beobachtenden  Erscheinungen 
zu  Tage  treten;  er  lässt  das  als  Sammellinse  geschliffene  Glas 
das    durchfallende  Licht   zu    einem  Brennpunkt  vereinigen, 
das  Glasprisma  den  Sonnenstrahl  in  die  Farben  des  Regen- 
bogens  zerlegen,  den  geriebenen  Bernstein  oder  das  magne- 
tisch gemachte  Eisen  plötzlich  auf  andere  Dinge  Wirkungen 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.    II.  5 


—     66     — 

ausüben,  die  das  anscheinend  Todte  als  mit  Kräften  begäbt, 
als  Sitz  eines  gewissermaassen  lebendigen  Princips  der 
Elektricität  und  des  Magnetismus  erkennen  lassen. 

ExperimentundBeobachtung  verhaltensich 
daher  zu  einander  wie  Mittel  und  Zweck.  Das 
Experiment  ist  das  Mittel,  welches  uns,  indem  es  die  Stoffe 
zu  Veränderungen  zwingt,  neue  Wege  der  Beobachtung  er- 
schlossen hat.  Niemals  ist,  auch  für  den  experimentirenden 
Physiker  und  Chemiker,  das  Experiment,  sondern  ohne 
Zweifel  die  auf  die  neu  hervorgerufenen  Erscheinungen  ge- 
richtete Beobachtung  die  Hauptsache.  Daher  Manche  zwar 
experimentiren ,  aber  dabei  nichts  zu  entdecken  im  Stande 
sind,  weil  es  ihnen  an  der  geschärften  Beobachtungs- 
gabe fehlt. 

Anders  als  die  unorganische  Natur  tritt  die  Welt  der 
Lebewesen  dem  Forscher  entgegen.  Sie  ist  die  stets  beweg- 
liche ,  stets  veränderliche.  Ein  Zustand  folgt  dem  andern 
ohne  Unterbrechung.  Auf  der  einen  Seite  stetigem  Untergang 
theilweise  verfallen ,  erzeugt  das  Organismenreich  sich  auf 
der  anderen  Seite  mit  verjüngter  Kraft  von  Neuem,  so 
dass  sich  im  Zerfallen  und  Neuentstehen  der  Lebensprocess 
beständig  abspielt.  So  bietet  das  Organismenreich  schon 
dem  prüfenden  Auge  des  Beobachters  eine  unerschöpfliche 
Fülle  von  Veränderungen  dar,  ein  ergiebiges  Feld  für  Ent- 
deckungen. In  seinem  Bereich  ist  es  gar  nicht  nothwendig, 
erst  einen  spröden  Stoff  durch  das  Experiment  gewaltsam 
zu  Veränderungen  zu  zwingen;  man  braucht  nur  die  Ver- 
änderungen, die  der  Lebensprocess  selbst  im  Körper  von 
Pflanzen  und  Thieren  fortwährend  hervorruft,  zu  beobachten 
und  in  ihren  ursächlichen  Zusammenhängen  zu  begreifen. 
Daher  kann  die  Biologie  in  ausgedehntem  Maasse  eine  nur 
unmittelbar   beobachtende    Wissenschaft    sein.      Auch    ohne 


-     67     — 

Experiment  fehlt  es  ihr  nie  an  würdigen  Gegenständen  zur 
Erforschung. 

Vor  Allem  aber  gilt  das  Gesagte  von  der  Entwicklungs- 
lehre der  Organismen.  Vom  befruchteten  Ei  bis  zum  fertigen 
Thier  folgt  ein  Entwicklungsstadium  auf  das  andere,  das 
vorausgehende  sich  stetig  und  allmählich  in  das  folgende 
umbildend ;  beide  im  Verhältniss  von  Ursache  und  Wirkung, 
von  Grund  und  Folge  zu  einander  stehend.  Alle  diese  Ent- 
wicklungsvorgänge sind  einem  so  strengen  Gesetz  unter- 
worfen, dass  die  befruchteten  Eier  einer  Thierart,  wenn  sie 
unter  denselben  Bedingungen  sich  befinden,  an  jedem  Ort 
und  zu  jeder  Zeit  dem  Beobachter  die  gleichen  Entwicklimgs- 
zustände  darbieten.  Der  Entwicklungspro cess  eines  Thieres 
spielt  sich  mit  derselben  Notwendigkeit  wie  der  Umlauf 
der  Gestirne  ab.  In  ihm  legt  die  Natur  dem  Forscher  ihre 
Geheimnisse  offen  vor,  bietet  ihm  eine  Quelle  unermess- 
licher  Erkenntniss,  die  nicht  erst  durch  das  Experiment  er- 
schlossen zu  werden  braucht. 

Indem  wir  in  der  Erforschung  der  leblosen  und  der 
lebenden  Natur  zwischen  Physik  und  Chemie  auf  der  einen 
Seite  und  zwischen  Biologie  auf  der  anderen  einen  Gegen- 
satz hervorheben ,  soll  nicht  unbemerkt  bleiben ,  dass  auch 
die  unorganische  Natur  uns  Erscheinungen  darbietet,  die  in 
ihrer  stetigen  und  gesetzmässigen  Veränderung  Objecte 
directer  Beobachtung  sind.  Ich  brauche  bloss  an  den  Gegen- 
stand der  Astronomie,  an  den  Umlauf  der  Himmelskörper 
zu  erinnern,  deren  Erscheinungen  und  ihre  Gesetze  uns  die 
unverdrossene,  über  Jahrhunderte  sich  erstreckende,  zählende 
und  messende  Beobachtung  enthüllt  hat.  Hier  liegt  ein 
Gebiet  vor  uns,  welches  dem  Experiment  unzugänglich  ist, 
dessen  Erforschung  aber  zur  Mechanik  des  Himmels  ge- 
führt hat,  ein  Gebiet,  das  durch  die  Spektralanalyse  wieder 


—     68     — 

neuerdings  der  Beobachtung  in  einer  neuen  Richtung  in 
wunderbarer  Weise  erschlossen  worden  ist. 

Auf  der  anderen  Seite  kann  selbstverständlicher  Weise 
auch  nicht  in  Abrede  gestellt,  im  Gegentheil,  es  soll  hier 
sogar  auf  das  Nachdrücklichste  hervorgehoben  werden,  dass 
auf  dem  Gebiete  der  Biologie  das  Experiment  ein  unschätz- 
bares Mittel  sein  kann,  welches  in  vielen  Fällen  der  Be- 
obachtung erst  ermöglicht,  noch  tiefer  in  die  Erscheinungen 
einzudringen.  Wer  wollte  verkennen ,  dass  mit  Hilfe  des 
Experiments  in  der  Physiologie,  in  vielen  Zweigen  der 
Morphologie,  in  der  Pathologie  und  Medicin  schon  ganz  Her- 
vorragendes geleistet  worden  ist?  So  auf  dem  Gebiete  der 
Physiologie  in  der  Lehre  von  den  Sinnesempfindungen  und 
den  Hirnfunctionen,  der  Verdauung  und  der  Excretion  oder 
auf  dem  Gebiete  der  Medicin,  auf  welchem  es  genügt,  an 
die  Entdeckung  der  Krankheitsursachen  durch  Verimpfung 
von  Mikroben,  an  die  Entdeckung  des  Generationswechsels 
der  Eingeweidewürmer  durch  die  Fütterungsversuche,  an 
die  Entdeckung  der  zahllosen  Arzneimittel  zu  erinnern, 
welche  betäubend,  erregend,  schlafbringend,  fieberstillend 
auf  unsern  Organismus  einwirken,  und  so  fort. 

Aber  man  vergesse  dabei  auch  nicht,  dass  in  allen 
diesen  Fällen  das  Experiment  nur  ein  Hilfsmittel  der  Be- 
obachtung bildet  und  keineswegs  den  zahlreichen  anderen 
Hilfsmitteln  überlegen  ist,  mit  denen  der  Naturforscher 
zählend,  wägend  und  messend,  vergrössernd  und  zerlegend 
in  die  Erscheinungswelt  tiefer  einzudringen  sucht.  Den 
glänzenden  Entdeckungen,  welche  mit  Hilfe  des  Experiments 
gemacht  worden  sind ,  lassen  sich  nicht  minder  zahlreiche, 
.wenn  nicht  zahlreichere  und  ebenso  glänzende  Entdeckungen 
entgegenstellen,  welche  durch  directe  Beobachtung  oder  unter 


—     69    — 

Benutzung  anderer  Methoden  als  des  Experiments  gewonnen 
worden  sind. 

Auch  ist  wohl  zu  beachten,  dass  die  Beobachtung  ver- 
mittelst des  Experiments  auf  dem  Gebiete  der  Biologie  nicht 
immer  den  einfachsten  und  den  sichersten  Weg,  Erkenntniss 
zu  gewinnen,  darstellt  und  häufig  viel  weniger  als  die  ein- 
fache Beobachtung  leistet. 

Angesichts  der  weit  verbreiteten  und  schädlichen 
Ueberschätzung  der  Bedeutung  des  Experiments  für  die 
Biologie  mag  das  Gesagte  noch  an  zwei  Beispielen  erläutert 
werden.  Unter  vielen  anderen  Beispielen  greifen  wir  den 
Befruchtungsprocess  und  den  Blutkreislauf  heraus. 

Vielfältige  Beobachtung  hat  gelehrt,  dass  die  Eier  der 
meisten  Organismen  sich  nur  entwickeln,  wenn  sie  mit  dem 
Samen  in  Berührung  kommen.  Daraus  erwuchs  die  Frage, 
worauf  beruht  die  befruchtende  Wirkung  des  Samens? 
welcher  seiner  verschiedenen  Bestandtheile,  die  man  unter- 
scheiden kann,  ist  das  befruchtende  Princip?  die  Samen- 
fäden, Avelche  man  lange  Zeit  für  Parasiten,  den  Infusorien 
vergleichbar,  gehalten  hat,  oder  die  Flüssigkeit  oder  gar  die 
Aura  seminalis?  Man  hat  sich  des  Experiments  zur  Beant- 
wortung der  Frage  bedient.  Spallanzani  und  Leuckart 
haben  Froschsamen  filtrirt,  sie  haben  dann  mit  dem  Filtrat 
frisch  herausgenommene  Froscheier  befruchtet,  ohne  da- 
durch den  Entwicklungsprocess  anzuregen,  während  andere 
Eier,  die  mit  dem  Filterrückstand,  in  welchem  sich  die 
Samenfäden  befanden ,  betupft  wurden ,  alsbald  sich  zu 
furchen  begannen.  Sie  schlössen  daraus,  dass  die  Samen- 
fäden das  befruchtende  Princip  sind.  Aber  wie  unsicher 
dieser  wichtige  Schluss  ist,  und  wie  die  Auslegung  des  Ex- 
periments noch  andere  Möglichkeiten  zulässt,  das  lehrt  uns 
die  Geschichte    der  Zeugungstheorien.     Ausser  den  Samen- 


-     70     — 

faden  könnten  ja  beim  Filtriren  in  dem  Filterrückstand 
auch  noch  nicht  filtrirbare,  ihnen  anhaftende,  wirksame  Stoffe 
zurückgeblieben  sein  ;  daher  konnte  die  Meinung  laut  werden, 
dass  die  Samenfäden  nicht  als  solche  befruchten ,  sondern 
nur  insofern  sie  durch  ihre  Bewegungen  an  das  Ei  einen 
befruchtenden  Stoff  heranbringen,  welcher  hierauf  durch  die 
Eihülle  in  den  Dotter  durch  Diffusion  eindringt  und  ihn  zu 
den  weiteren  Processen  anregt.  Nach  dieser  Contacttheorie 
von  Bischoff  würden  die  Samenfäden  bei  der  Befruchtung 
etwa  nur  die  Rolle  spielen  wie  die  Bienen,  welche  den  Pollen- 
staub von  einer  zur  andern  Blüthe  tragen  und  dadurch  die 
Bestäubung  der  Narbe  vermitteln. 

Wie  viel  weiter  als  das  beschriebene  Experiment  hat 
uns  die  directe  Beobachtung  des  Befruchtungsvorganges  an 
hierfür  geeigneten  Objecten  und  mit  dem  Hilfsmittel  des 
Mikroskops  und  der  mikroskopischen  Technik  geführt!  Die 
directe  Beobachtung  beseitigte  erst  die  Parasitentheorie  der 
Samenfäden,  indem  Kölliker  von  ihnen  nachwies,  dass 
sie  thierische  Elementartheile.  metamorphosirte  Zellen  sind. 
Durch  directe  Beobachtung  erfuhren  wir  dann  weiter,  dass 
die  Befruchtung  in  der  Verschmelzung  zweier  Zellen  be- 
steht, dass  ein  Samenfaden  in  das  Ei  eindringt,  dass  sein 
Kopf,  in  welchem  die  Beobachtung  uns  den  Abkömmling 
eines  Kernes  der  Samenbildungszelle  kennen  lehrte,  sich  in 
einen  kleinen  Kern  umwandelt,  Avelcher  sich  dem  Eikern 
nähert  und  mit  ihm  verschmilzt. 

Und  noch  tiefer  sind  wir  schliesslich  durch  die  häufig 
wiederholte  und  immer  höhere  Ansprüche  erhebende  Beob- 
achtung in  das  Geheimniss  der  Zeugung  hineingeführt  und 
durch  wahrnehmbare  Thatsachen  belehrt  worden,  dass  Ei- 
und  Samenkern  äquivalente  Mengen  von  Chromatin  ent- 
halten ,    welche    bei     der    Furchung    ebenfalls    in    gleichen 


—    71     - 

Mengen  auf  die  Tochterzellen  vertheilt  werden,  und  dass  vor 
der  Befruchtung  Ei-  und  Samenzelle,  um  für  ihre  Aufgabe 
geeignet  zu  werden,  erst  noch  eine  Reifeperiode  durchmachen 
müssen,  in  welcher  sich  die  eigenthümlichen  Reductions- 
th eilungen  abspielen.  So  hat  Beobachtung  allein  oder  mit 
Hilfe  nicht  experimenteller  Methoden  ein  grosses  Er- 
scheinungsgebiet der  Entwicklungslehre  in  kurzer  Zeit 
aufgeklärt  und  ein  sicheres  Fundament  geschaffen,  auf 
welchem  die  Lehre  von  der  Vererbung  weiter  bauen  wird. 

Zu  den  grossen  physiologischen  Entdeckungen,  welche 
zum  Theil  mit  Hilfe  des  Experimentes  gewonnen  wurden, 
gehört  die  Lehre  vom  Blutkreislauf.  Welche  Schwierigkeit 
bereitete  es  den  älteren  Forschern,  experimentell  festzustellen, 
in  welcher  Richtung  im  Verhältniss  zum  Herzen  das  Blut 
in  den  Gefässen  strömt,  welche  Bedeutung  die  Capillaren 
haben,  wie  überhaupt  der  Kreislauf  zu  Stande  kommt! 
Auch  hier  enthüllt  geschulte  Beobachtung  an  einem  ge- 
eigneten Object,  an  einer  kleinen  durchsichtigen  Fisch-  oder 
Amphibienlarve,  unter  Benutzung  des  Mikroskops  unserem 
Auge  direct  das  ganze  Geheimniss  des  Blutkreislaufs. 

Aus  solchen  Beispielen  erhellt  wohl  zur  Genüge,  wie 
verkehrt  es  ist,  die  einfache  Beobachtung  gering  zu  schätzen 
und  das  Experiment  als  die  causale  Forschungsmethode 
y.cct  8E,oyJjv  zu  preisen.  Dazu  kommt  noch,  dass  die 
Deutung  der  durch  Experimente  ermittelten  Erscheinungen 
in  der  Biologie  auf  grössere  Schwierigkeiten  als  in  der 
Physik  und  Chemie  stösst.  Denn  der  Lebensprocess  ist 
etwas  so  Verwickeltes,  dass  jeder  künstliche  Eingriff,  der  ja 
meistens  das  Wesen  des  Experimentes  ausmacht,  zahlreiche 
Störungen  der  verschiedensten  Art  hervorruft.  Zwei  in 
gleicher  Weise  angestellte  Experimente  ergeben  nicht  immer 
genau    das   gleiche  Resultat.      Der  Zusammenhang   der  Er- 


—     72     — 

scheinungen,  das  Ergebniss  des  Experimentes,  bleibt  zweifel- 
haft; daher  denn  in  der  Biologie  über  Nichts  so  viel  als 
über  manche  Arten  von  Experimenten  gestritten  wird.  Wie 
vieldeutig  sind  die  durch  Abtragung  und  Zerstörung  ein- 
zelner Hirntheile  gewonnenen  Ergebnisse  der  Hirnphysio- 
logie! Wie  liefert  uns  die  Geschichte  der  Medicin  so 
manches  lehrreiche  Beispiel,  dass  ganze  Epochen  sich  in  der 
Bedeutung  unzählige  Male  wiederholter  Experimente  geirrt 
haben,  zum  Beispiel  in  der  Bedeutung  des  Aderlasses  für 
die  Heilung  entzündlicher  Krankheiten  !  Zeigt  nicht  auch  in 
unseren  Tagen  die  verschiedenartige  Beurtheilung  der  zahl- 
losen Experimente,  die  mit  Tuberkulin  und  Heilserum  an 
Thieren  und  kranken  Menschen  angestellt  worden  sind, 
wie  vorsichtig  man  mit  einem  abschliessenden  Urtheil  sein 
muss? 

Besonders  aber  auf  dem  Gebiete  der  Entwicklungs- 
lehre dürfen  wir  uns  keinen  Illusionen  über  den  Werth 
und  die  Leistungsfähigkeit  eines  Experimentes  hingeben, 
wenigstens  jener  Art  von  Experiment,  welche  am  häufigsten 
gepflegt  wird.  In  der  Entwicklung  eines  Thieres  aus  dem 
Ei  rufen  Eingriffe,  die  wir  zum  Zweck  eines  Experiments 
vornehmen,  häufig  Störungen  hervor,  deren  Natur  und  Um- 
fang wir  im  voraus  zu  bestimmen  ganz  ausser  Stande  sind. 
Oft  ist  ihr  Endproduct  ein  Monstrum.  Dabei  zeigt  sich, 
dass  die  verschiedensten  Eingriffe  ähnliche  Erscheinungen 
und  Missbildungen  bewirken.  So  haben  zum  Beispiel  beim 
Froschei  Druck,  abnorme  Temperaturen,  mechanische  Zer- 
störung einzelner  Theile,  Veränderung  des  Eies  durch 
Centrifugalkraft,  chemische  Agentien,  wenn  sie  auf  einem 
bestimmten  Stadium  einwirken,  sehr  ähnliche  Missbildungen 
zur  Folge,  obwohl  die  von  aussen  einwirkenden  Ursachen 
(causae  externae)    so    ganz  verschieden    von    einander    sind. 


—     73     — 

Somit  besteht  zwischen  einem  physikalischen  oder  che- 
mischen Experiment  mit  seinen  einfacheren  Bedingungen  und 
einem  entwicklungsgeschichtlichen  Experiment  ein  sehr 
grosser  Unterschied. 

Ein  Vergleich  wird  zur  Aufklärung  des  Sachverhaltes 
noch  weiter  beitragen.  Ein  Organismus  befindet  sich  einem 
äusseren  Eingriff  gegenüber  in  einer  ähnlichen  Lage  wie 
ein  ausserordentlich  complicirt  gebautes  mechanisches  Kunst- 
werk oder  eine  Maschine.  In  einer  Uhr  kann  eine  Ver- 
langsamung, eine  Beschleuniguung  oder  ein  Stillstand  des 
Zeigers  durch  die  verschiedenartigsten  Umstände  veranlasst 
werden :  dadurch,  dass  ich  mit  einer  Nadel  oder  einem  an- 
deren passenden  Instrument  einen  Druck  gegen  ein  Rädchen 
ausübe,  oder  dadurch,  dass  ich  an  das  Rädchen  Säure 
bringe,  wodurch  sich  Rost  bildet,  oder  dass  ich  durch 
locale,  in  geeigneter  Weise  hervorgerufene  Erhitzung  ein 
Zähnchen  am  Rade  wegschmelze  oder  dadurch,  dass  sich  das 
Oel,  welches  die  Reibung  im  Räderwerk  verringern  soll, 
eingedickt  oder  ein  festes  Partikelchen  sich  zwischen  zwei 
Rädchen  eingeklemmt  hat  etc.  Auf  mechanische,  thermische, 
chemische  Einflüsse  reagirt  die  Uhr  unterschiedslos  durch 
Verlangsamung,  Beschleunigung  oder  Stillstand  des  Zeigers. 
Dieselben  Eingriffe  angewandt  auf  ein  Rädchen  einer  an- 
deren Zwecken  dienenden ,  complicirten  Maschine  können 
auch  hier  wieder  eine  Störung  des  Mechanismus  bewirken, 
die  uns  ebenfalls  die  Natur  des  angewandten  Eingriffes 
nicht  erkennen  lässt,  aber  von  der  Störung  im  Gange  der 
Uhr  ganz  verschieden  ausfällt.  Jede  Maschine  reagirt  also 
auf  den  gleichen  Eingriff  in  ihrer  besonderen  Weise.  Ent- 
scheidend in  allen  Fällen  ist  die  ihr  eigenthümliche  Con- 
struction. 

Will    man    über    das  Wesen    und    die    Wirkungsweise 


-     74     — 

einer  Maschine  sich  Klarheit  verschaffen,  so  wird  man  nicht 
bald  diesen,  bald  jenen  Theil  anhalten,  anstossen  und  be- 
schädigen ,  um  auf  Grund  der  experimentell  erzeugten 
Störungen  sich  ein  Urtheil  zu  bilden ;  ein  Mechaniker  wird 
vielmehr  einen  ganz  anderen  Weg  einschlagen.  Er  wird 
die  zur  Ruhe  gebrachte  Maschine  planmässig  in  ihre  ein- 
zelnen Bestandtheile  zerlegen ,  die  Art  ihrer  Zusammen- 
setzung und  Aneinanderpassung  beobachten,  sich  klar  zu 
machen  suchen ,  wie  die  aneinander  gepassten  Theile  in 
Bewegung  versetzt  auf  einander  wirken  müssen,  und  wird 
sich  so  ein  Verständniss  von  der  Construction  der  Maschine 
verschaffen  und  aus  dieser  auch  die  besonderen  Wirkungs- 
weisen verstehen  lernen. 

Nicht  anders  ist  ein  Verständniss  des  Organismus  und 
seiner  Entwicklung  zu  gewinnen. 

Experimentelle  Eingriffe  in  den  Entwicklungsgang 
liefern  im  Grossen  und  Ganzen  nur  Material  zur  Pathologie 
der  Entwicklung ,  welche  allerdings  ein  ziemlich  umfang- 
reiches und  auch  nicht  uninteressantes  Forschungsgebiet 
ist-,  sie  tragen  so  namentlich  zur  Erklärung  der  durch 
natürliche  Zufälligkeiten  erzeugten  Missbildungen  viel  bei. 
Dagegen  müssen  wir  entschieden  in  Abrede  stellen ,  dass 
das  Experiment  das  erfolgreichste  Mittel  für  eine  causale 
Erklärung  des  normalen  Entwicklungsprocesses  sein  soll. 
Vielmehr  wird  stets  das  Studium  der  normalen  Entwicklungs- 
vorgänge selbst,  namentlich  auf  der  Grundlage  der  ver- 
gleichenden Embryologie,  uns  über  das  Entwicklungsgesetz 
besser  aufklären ,  als  das  Studium  experimentell  erzeugter 
Missbildungen. 

Daher  können  wir  die  Behauptung  von  Roux  nicht 
gelten  lassen:  „Sicherheit  über  ursächliche  Ableitungen 
vermöge  allein  das  Experiment  zu  geben,  sei  es  „das  künst- 


—     75     — 

liehe  Experiment"  oder  „das  Naturexperiment"  als  Varia- 
tion, Missbildung  oder  anderes  pathologisches  Geschehen" 
(A.  f.  E.  S.  13).  Desgleichen  müssen  wir  ganz  entschieden 
die  weitere  Behauptung  zurückweisen,  dass  durch  ver- 
gleichende Beobachtung  des  normalen  Geschehens  Wirkungs- 
weisen wohl  „ermittelt" ,  aber  nicht  „bewiesen"  werden 
könnten,  und  dass  noch  directe  Beweise  für  sie  erbracht 
werden  müssten  (A.  f.  E.  S.  12).  Das  ist  fast  ähnlich,  als 
wenn  Jemand  behaupten  wollte,  die  Gesetze  der  Planeten- 
bewegungen seien  zwar  durch  hundertjährige  Beobachtungen 
ermittelt,  aber  noch  nicht  bewiesen  worden,  weil  das  Ex- 
periment fehle.  Wozu  ein  Verhältniss ,  wenn  es  wirklich 
ermittelt  und  daher  über  allen  Zweifel  erhaben  ist,  noch 
durch  ein  Experiment  beweisen"?  Ist  etwa  das,  was  die 
Natur  uns  selber  lehrt,  weniger  zuverlässig  als  die  Lehren 
des  Experimentators? 

Um  zu  zeigen,  in  welchem  Grade  Roux  die  Bedeutung 
des  Experimentes  überschätzt,  als  ob  allein  mit  seiner  Hilfe 
es  möglich  sei.  ursächliche  Erkenntniss  su  gewinnen,  sei  noch 
auf  zwei  einzelne  Fälle  näher  eingegangen. 

Roux  hat  beim  Frosch,  was  vor  ihm  schon  von  Lere- 
boullet  und  Oe  IIa  eher  an  Hecht-  und  Forelleneiern  ge- 
schehen war ,  Missbildungen  beobachtet  und  durch  künst- 
liche Eingriffe  hervorgerufen  ,  bei  Avelchen  die  Medullar- 
platte  und  die  Chorda  in  eine  linke  und  eine  rechte  Hälfte 
getrennt  waren,  die  beide  ringförmig  eine  central  gelegene 
Dottermasse  umgaben.  Er  hat  die  Missbildung  „Asyntaxia 
medullaris"  genannt  und  von  ihr  in  einer  späteren  Schrift 
bemerkt,  dass  „derartig  ermittelte  Thatsachen  als  die  ersten 
festen  Grundsteine  unserer  Erkenntniss  von  den  Vorgängen 
der  Entwicklung  betrachtet  werden  müssen,  derart  zu- 
gleich, dass  alle  solche  Ansichten,  welche  mit  diesen  That- 


-     76    — 

Sachen  wirklich  unvereinbar  sind,  mit  Sicherheit  als  un- 
richtig- bezeichnet  werden  können"  (G.  A.  S.  89).  Wir 
antworten  darauf,  dass  eine  Missbildung,  um  erklärt  und 
verstanden  zu  werden,  selbst  erst  von  den  Verhältnissen  der 
normalen  Entwicklung  abgeleitet  werden  muss,  hier  zum 
Beispiel  durch  den  Nachweis,  dass  der  Gastrulationsprocess 
und  die  Urmundbildung  in  einer  abweichenden  und  ge- 
störten Weise  verlaufen  sind  und  eine  Hemmung  des  Ur- 
mundverschlusses  zur  Folge  gehabt  haben.  Erst  aus 
V  e  r  g  1  e  i  c  h  u  n  g  der  anormalen  und  der  normalen 
Verhältnisse  und  aus  einer  kritischen  Beur- 
theilung  derselben  erwächst  uns  das  Verständ- 
nis s.  Für  sich  allein  betrachtet  ist  die  als  Asyntaxia 
medullaris  beschriebene  Missbildung  ein  unverständliches 
Curiosum  und  nichts  weniger  als  ein  erster  fester  Grund- 
stein der  normalen  Entwicklung.  Ich  kann  nur  wieder- 
holen, was  ich  auch  schon  an  anderer  Stelle  über  den  er- 
klärenden Werth  der  sogenannten  Hemmungsmissbildungen 
ausgesprochen  habe:  Nicht  das  Coloboma  iridis  et  chorioi- 
deae,  die  Fissura  sterni,  die  Kiefer-  und  Gaumenspalten, 
die  doppelten  Aorten  haben  uns  gelehrt,  dass  das  Auge  als 
Becher  mit  einer  Spalte  an  der  unteren  Fläche,  dass  das 
Brustbein  aus  zwei  Hälften,  die  Kiefer-  und  Gaumgegend 
durch  Verwachsung  seitlicher  Fortsätze  mit  einer  medianen 
Anlage,  die  Aorta  aus  zwei  Röhren  entstehen  etc.,  vielmehr 
das  Studium  der  betreffenden  Entwicklungsvorgänge  selbst; 
und  nur  insofern  lassen  sich  die  genannten  Hemmungs- 
missbildungen erklärend  verwerthen,  als  sie  uns  zeigen,  dass 
Zustände,  die  im  Kleinen  beim  zarten  Embryo  auftreten 
und  vorübergehender  Natur  sind,  ausnahmsweise  bestehen 
bleiben  und  dann  in  vergrössertem  Maassstabe  uns  deut- 
licher zeigen ,    was    einmal    im  Entwicklungsleben    sich   ab- 


—     77     — 

gespielt  hat.  In  dieser  Hinsicht  sind  die  Hemmungsmiss- 
bildungen sehr  lehrreich  und  haben  namentlich  für  den 
Unterricht  einen  nicht  zu  unterschätzenden  didaktischen 
Werth.  Bei  alledem  will  die  normale  Entwicklung  durch 
sich  selbst  erklärt  werden  und  nicht  durch  Artefacte  und 
Monstrositäten.  Wenn  daher  das  Studium  der  normalen 
Entwicklung  zu  anderen  Ergebnissen  führt,  als  das  Studium 
der  Missbildungen,  so  liegt  die  grössere  Beweiskraft  auf  der 
Seite  des  ersteren. 

Der  zweite  Fall  betrifft  das  Gesetz  von  der  Aufeinander- 
folge und  Stellung  der  ersten  Furchungsebenen  zu  einander. 
Schon  im  Jahre  1884  hatte  ich  (19),  gestützt  auf  ein  ver- 
gleichendes Studium  von  Eiern,  die  eine  verschiedene  Form 
und  eine  verschiedene  Vertheilung  von  Protoplasma  und  von 
Deutoplasma  zeigen,  die  allgemeine  Regel  aufgestellt,  dass 
die  beiden  Pole  der  Kerntheilungsfigur  in  die  Richtung  der 
grössten  Protoplasmamasse  zu  liegen  kommen,  etwa  in  der- 
selben Weise,  wie  die  Lage  der  Pole  eines  Magneten  durch 
Eisentheile  in  seiner  Umgebung  beeinflusst  wird.  Es  kann 
daher  in  einem  kugeligen  Ei,  in  welchem  Protoplasma  und 
Dotter  gleichmässig  vertheilt  sind,  die  Axe  der  central  ge- 
legenen Kernspindel  mit  der  Richtung  eines  beliebigen 
Radius,  dagegen  in  einem  ovalen  Protoplasmakörper  nur 
mit  seinem  längsten  Durchmesser  zusammenfallen.  In 
einer  kreisrunden  Protoplasmascheibe  stellt  sich  die  Spindel- 
axe parallel  zur  Oberfläche  in  einen  beliebigen  Durchmesser, 
in  einer  ovalen  Scheibe  dagegen  wieder  nur  in  den  längsten 
Durchmesser  ein.  Aus  dieser  Regel  erklärte  ich  auch, 
warum  die  drei  ersten  Theilungsebenen  eines  Eies  fast  aus- 
nahmslos in  den  drei  Richtungen  des  Raumes  alternirend 
erfolgen  und  dabei  mehr  oder  minder  senkrecht  auf  einander 
stehen. 


—     78     — 

Nach  der  Meinung  von  Roux  wohnt  nun  gleichwohl 
auch  diesem  Satz  so  lange  keine  Sicherheit  inne,  als 
er  nicht  ausserdem  noch  direct  durch  das  Experiment 
erwiesen  ist;  denn  es  könnten  dieselben  typischen  Theilungs- 
folgen  der  Entwicklung  durch  andere,  wenn  auch  vielleicht 
vielmal  complicir tere,  aber  jedenfalls  typische 
Wirkungen  hervorgebracht  sein.  „Mehr  als  durch  hundert 
weitere,  beim  normalen  Geschehen  aufgefundene  Ueber- 
einstimmungen  mit  dieser  Regel,"  bemerkt  Roux  (A.  f.  E. 
S.  12),  „wurde  die  annähernde  Richtigkeit  derselben  durch 
ein  einziges  (ich  füge  hinzu:  von  Roux  vorgenommenes) 
Experiment  bewiesen ,  indem  bei  Pressung  von  Eiern  zu 
abnormer  Form  die  Richtungsfolge  der  ersten  Theilungen 
in  der  Weise  von  der  Norm  abgeändert  wurde,  dass  auch 
jetzt  wieder  die  Kernspindeln  in  der  bezeichneten  grössten 
Dimension  standen." 

Ich  selbst  habe  auch  solche  Experimente  in  den  ver- 
schiedensten Modifikationen  ausgeführt,  zum  Beispiel  be- 
fruchtete Frosch eier  in  enge  Glasröhrchen  eingesaugt,  so 
dass  sie  sich  in  die  Länge  strecken  und  Tonnenform  an- 
nehmen mussten.  Wurden  die  Röhrchen  horizontal  gelagert, 
so  erfolgte  die  erste  Theilungsebene  genau,  wie  es  die  Regel 
verlangt,  senkrecht*zur  Oberfläche  der  Röhrchenwand  und 
halbirte  den  Längsdurchmesser  des  tonnenförmigen  Eies. 
Gewiss  ist  dies  eine  schöne  Bestätigung  der  Regel.  Warum 
aber  die  Thatsache,  welche  das  von  Menschen  künstlich  oval 
geformte  Ei  lehrt,  lehrreicher  sein  und  einen  beweiskräftigeren 
Schluss  gestatten  soll,  als  die  Thatsachen,  welche  die  Natur 
uns  lehrt,  indem  sie  den  Eiern  verschiedener  Thierarten  un- 
gleiche Formen  und  manchen  auch  eine  ovale  Form  gab, 
kann  ich  nicht  einsehen.  MiristdieNatur  ein  w en i g - 
stens   ebenso  zuverlässiger  Lehrmeister  als  der 


—     79    — 

experimentirende  Anatom.  Ich  möchte  sogar 
dem  V e r f a h r e n  der  Natur,  welches  uns  in  den 
verschiedenen,  sich  gegenseitig  ergänzenden 
Naturobjecten  und  ihren  Veränderungen  ent- 
gegentritt, weil  es  stets  absolut  gleich  artig)  aus- 
fällt und  die  strengste  Gesetzmässigkeit  zeigt, 
einen  höheren  Werth  als  den  menschlichen  Ex- 
perimenten beilegen,  deren  Ergebnisse  immer 
geringe  Variationen  darbieten. 

Indem  ich  in  den  vorausgeschickten  Bemerkungen  über 
das  Verhältniss  von  Beobachtung  und  Experiment  U eber- 
griffen einer  einseitig  experimentellen  Richtung 
entgegen  getreten  bin,  will  ich  keineswegs  den  Erkenn  tniss- 
werth  eines  guten  physiologischen  und  biologischen  Ex- 
perimentes herabsetzen  oder  gering  anschlagen.  Wer  meine 
Arbeiten  kennt,  weiss,  dass  ich  selbst  nach  mehreren 
Richtungen  Experimente  ausgeführt  und  zumal  in  letzter 
Zeit  mich  viel  auf  experimentellem  Gebiete|;]beschäftigt 
habe.  Um  nicht  missverstanden  zu  werden,  verweise  ich 
zum  Ueberfluss  noch  auf  die  Literatur,  welche  uns  in  ihren 
Annalen  ja  genugsam  lehrt,  welche  grossen  Erfolge  wir  auf 
vielen  Gebieten  der  Biologie  der  experimentellen  Richtung 
verdanken,  die  ja  schon  sehr  alten  Datums  ist.  Ich  erinnere 
an  die  Versuche  über  Bastardirung,  Pfropfung  und  Trans 
plantation,  an  die  Studien  über  Regeneration  abgetrennter 
Körpertheile ,  über  Kreuz-  und  Selbstbefruchtung,  an  die 
experimentelle  Erzeugung  von  Missbildungen,  wie  sie 
Dareste  und  Ger  lach  geübt  haben,  an  Weismann's 
Experimente  über  den  Saisondimorphismus  der  Schmetter- 
linge etc.  Als  glänzende  Entdeckungen  der  letzten  Jahre 
schätze  ich  die  von  Boveri  (3 a)  ausgeführte  Bastard- 
befruchtung  kernlos   gemachter    Eifragmente   von  Seeigeln, 


80     — 

die  Entdeckungen  von  Driesch  (8),  Wilson  (60), 
Morgan  (38),  Zoja  (63)  etc.,  dass  mechanisch  von 
einander  getrennte  Embryonalzellen  der  ersten  Furchungs- 
stadien  bei  Amphioxus,  Seeigeln,  Medusen  etc.  sich  zu 
normalen  Ganzlarven  und  bei  unvollständiger  Trennung  zu 
Zwillingen  züchten  lassen,  die  Experimente  von  Oskar 
Schultze  (53)  und  W e t z e  1  ( 58)  über  künstliche  Er- 
zeugung von  Doppelbildungen  aus  dem  Froschei,  die  von 
L  o  e  b  (32)  experimentell  erzeugten  Heteromorphosen  bei 
Hydroiden ,  Actinien  und  Tunicaten ,  endlich  das  von 
Wolff  (62)  in  geistreicher  Weise  ausgeführte,  in  meinem 
Laboratorium  durch  Erik  Müller  aus  Stockholm  (39) 
vollkommen  bestätigte  Experiment,  welches  uns  lehrt,  dass 
bei  Tritonlarven  die  durch  Operation  entfernte  Linse  des 
Auges  sich  aus  dem  Epithel  des  Irisrandes,  also  aus  Zellen 
des  Augenbechers,  in  vollkommen  normaler  Weise  wieder 
regenerirt. 

Es  giebt  gewiss  viele  Fragen,  denen  man  sogar  nur 
mit  Hilfe  des  Experimentes  auch  in  der  Biologie 
näher  treten  kann;  diesen  aber  einen  höheren  Erkenntniss- 
werth  beizumessen,  als  Fragen,  auf  welche  uns  schon  die 
Beobachtung  der  Natur  mit  anderen  Methoden  Auskunft 
giebt,  liegt  kein  logischer  Grund  vor.  Die  Art  des  Hilfs- 
mittels, mit  welchem  eine  Entdeckung  gemacht  wird,  ent- 
scheidet nicht  über  ihren  grösseren  oder  geringeren  Er- 
kenntnisswerth. 

Ich  schliesse  meine  Betrachtung  mit  einigen  Sätzen  von 
Johannes  Müller  (40 ,  S.  20) ,  in  welchen  er  sich 
über  den  Werth  von  Beobachtung  und  Versuch  ausspricht. 
Das  Urtheil  ist  ein  wenig  einseitig  und  hinsichtlich  der  Be- 
deutung des  Versuchs  zu  ungünstig  ausgefallen,  enthält  aber 
trotz  alledem  viel  Beherzigenswerthes  auch  für  unsere  Zeit, 


—    81     — 

in  welcher  das  Experiment  von  mancher  Seite  über  Gebühr 
in  den  Himmel  gehoben  oder,  um  einen  Ausdruck  von  Joh. 
Müller  zu  gebrauchen,  als  das  Wort  Gottes  in  der 
Biologie  (40,  S.  XIX)  betrachtet  wird. 

„Der  Umgang  mit  der  lebenden  Natur  geschieht  durch 
Beobachtung  und  Versuch.  Die  Beobachtung  schlicht, 
unverdrossen,  fleissig,  aufrichtig,  ohne  vorgefasste  Meinung ; 
der  Versuch  künstlich,  ungeduldig,  emsig,  abspringend, 
leidenschaftlich,  unzuverlässig."  „Es  ist  nichts  leichter,  als 
eine  Menge  sogenannter  interessanter  Versuche  zu  machen. 
Man  darf  die  Natur  nur  auf  irgend  eine  Weise  gewalt- 
thätig  versuchen;  sie  wird  immer  in  ihrer  Noth  eine 
leidende  Antwort  geben.  Nichts  ist  schwieriger,  als  sie 
zu  deuten,  nichts  ist  schwieriger  als  der  gültige  physio- 
logische Versuch." 

„Was  das  Experiment  in  physiologischen  Dingen  un- 
zuverlässig macht,  ist  dies,  dass  die  Antwort  der  lebendigen 
Natur  auf  die  Einwirkung  des  Reagens  nicht  die  Natur  des 
uns  als  bekannt  vorausgesetzten  Reagens  als  wesentlichen 
Theil  in  sich  enthält.  Denn  alle  Stoffe,  alle  Reize,  auf  den 
Organismus  einwirkend,  erregen  in  ihm  nicht,  was  sie  selbst 
sind,  sondern  ein  von  ihnen  selbst  Verschiedenes,  die  Lebens- 
energieen  des  Organismus."  „Ueber  den  Grund  der  Lebens- 
erscheinung kann  demnach  der  Versuch  selbst  nicht  Auf- 
schluss  geben;  er  kann  nur  den  Bezug  der  Reize 
als  Ursachen  zu  den  von  ihnen  der  Natur  nach 
verschiedenen  Wirkungen  im  Organismus  ver- 
vielfältigen, erweitern,  d.i.  miteiner  grösseren 
Menge  ihrer  Natur  nach  unbekannter  Lebens- 
erscheinungen  vertraut  machen." 

„Nicht  die  Natur  der  Lebenserscheinungen , 
nur  der  Umfang  derselben  wird  offenbar  durch 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.     II.  6 


—     82     — 

den  Versuch.  Wenn  es  also  der  Physiologie  darum  zu 
thun  ist,  den  Einfluss  der  Stoffe  und  Reize  in  Wirkungen, 
welche  von  diesen  selbst  verschieden  sind,  kennen  zu  lernen, 
nicht  so  sehr  den  Grund  dieser  Wirkungen  zu  erforschen, 
als  das  System  der  Ursachen  und  Wirkungen  in  dem  Con- 
flicte  des  Organismus  und  der  äusseren  Natur  logisch  zu 
erweitern,  so  ist  dazu  nichts  passender  als  das  Experiment. 
Aber  auf  diesem  niederen  Standpunkt  sind  wir  selbst  bei 
der  grössten  Vorsicht  nicht  einmal  vor  Irrthum  gesichert.  Es 
ist  nichts  leichter,  als  dass  wenn  wir  dem  Organismus  fragende 
Bedingungen  setzen,  auf  welche  er  uns  in  Wirkungen ,  die 
ihrer  Natur  nach  uns  unbekannt  sind,  antworten  soll,  er  in 
der  That  gar  nicht  auf  diejenigen  Bedingungen  antwortet, 
welche  wir  ihm  zu  setzen  geglaubt,  sondern  auf  eine  ganz 
andere,  die  wir  unwissend  in  dem  complicirten  Versuch 
mitgesetzt  haben.  Daher  jene  Verschiedenheit  der  Resultate 
in  experimentellen  Untersuchungen,  jener  häufige  offenbare 
Widerspruch  mit  der  leidenschaftslosen  Beobachtung.  Ent- 
weder experimentirt  man  i n  '  s  Gr e r a d e w o h  1  und 
f  ä  n  g  t  h  i  n  t  e  r  h  e  r  z  u  b  e  t  r  a  c  h  t  e  n  an,  oderzum  Wo  h  1 
einer  vorgefassten  Meinung  wird  so  lange  ex- 
perimentirt, bis  die  Erfahrung,  wie  man  sich 
auszudrücken  pflegt,  mit  der  Theorie  zusammen- 
stimmt." 

„Die  ruhige,  einfache  Beobachtung  führt  in 's  Innere 
der  Probleme,  während  es  ein  gefährliches  Spiel  der  Vor- 
bereitung bleibt,  einem  unzuverlässigen  Experimente  ver- 
trauensvoll sich  hinzugeben."  „Beobachten  ist  ja  selbst  die 
wichtigste  physiologische  Operation;  was  ist  Beobachten 
Anderes,  als  das  Wesentliche  in  den  Veränderungen,  das 
dem  Beweglichen  Immanente  von  dem  Zufälligen  zu 
trennen,    da    vielmehr    das   Experiment,    hier    und    dorthin 


—     83     — 

greifend,  das  Zufällige  mit  dem  Wesentlichen  kunterbunt 
zusammen  zu  werfen  oft  genug  Anlage  zeigt"  (40,  Ein- 
leitung S.  XXI). 

Zusammenfassung  und  Schlussbetrachtung. 

Mechanismus,  mechanisch  und  Mechanik  sind  Worte, 
die  in  sehr  verschiedenem  Sinne  gebraucht  werden  und 
daher  zu  Missverständnissen,  Unklarheiten  und  Täuschungen 
leicht  Veranlassung  geben,  wenn  man  sich  ihrer  bald  in 
dieser,  bald  in  jener  Bedeutung  ohne  Unterschied  bedient. 
Erstens  dienen  die  Worte,  in  philosophischem  Sinne  ge- 
braucht, zur  Bezeichnung  der  materialistisch -mechanischen 
Naturauffassung,  welche  in  der  Körperwelt  ein  einheitliches 
System  erblickt,  in  dem  sich  alle  Veränderungen  nach  un- 
abänderlichen Naturgesetzen,  nach  dem  Gesetz  der  mecha- 
nischen Causalität  vollziehen.  Da,  wie  die  ganze  moderne 
Naturwissenschaft  im  Allgemeinen,  so  insbesondere  auch  die 
Biologie  auf  diesem  Standpunkt  steht,  kann  sie  in  philo- 
sophischem Sinne  ihre  auf  die  einheitliche  Erklärung  der 
Natur  gerichtete  und  zielende  Forschung  als  eine  mecha- 
nische bezeichnen;  so  betitelt  zum  Beispiel  Nägel i  (41) 
seine  1884  erschienene  Abhandlung  eine  „mechanisch- 
physiologische Theorie  der  Abstammungslehre". 

Zweitens  dient  das  Wort  Mechanik  in  engerer  Be- 
deutung zur  Bezeichnung  eines  Theils  der  Physik,  welche 
die  Lehre  von  den  Bewegungen  der  Körper,  der  grössten 
und  der  kleinsten  bis  herab  zu  den  hypothetischen  Atomen, 
zu  ihrem  Gegenstand  hat.  In  Verbindung  mit  der  Atomen- 
lehre kann  der  engere  Begriff  der  physikalischen  Mechanik 
sich  so  sehr  erweitern,  dass  er  wieder  eine  allgemein  philo- 
sophische Bedeutung  gewinnt,    indem   man   als   letztes  Ziel 

6* 


—     84     — 

der  Naturforschung  die  Zurückfuhrung  aller  Naturvorgänge 
auf  die  Bewegung  von  Atomen  hinstellt. 

In  der  schärferen  physikalischen  Fassung  ist  die 
Mechanik  nur  auf  wenigen  beschränkten  Gebieten  der 
Biologie  verwendbar.  Wie  die  Physik  nicht  in  allen  ihren 
Theilen  Mechanik  ist,  so  ist  es  noch  viel  weniger  die  Chemie, 
und  am  Aveitesten  davon  entfernt,  ein  Theil  der  Mechanik 
in  diesem  Sinne  zu  werden,  ist  die  Biologie  und  ihr  Bestand- 
teil, die  Entwicklungsgeschichte. 

Drittens  endlich  dient  das  Wort  Mechanik,  in  tenden- 
ziöser Weise  gebraucht,  als  Fahne  für  eine  Richtung  in  der 
Biologie,  welche  auf  die  bisher  errungenen  Ergebnisse,  auf 
die  herrschende  Arbeitsweise  und  ihre  Aufgaben  mit  Gering- 
schätzung herabblickt  und  sich  in  Ausmalung  von  Zielen 
ergeht,  deren  Verfolgung  nach  ihrer  Prophezeiung  eine  un- 
endlich erhabene  Zukunftsbiologie  herbeiführen  soll.  In 
dieser  Richtung  wird  das  zu  vielseitiger  Verwendung 
geeignete  Wort  Mechanik  in  wechselndem  Sinne,  aber  mit 
solcher  Liebe  gebraucht,  dass  es  bald,  wenn  es  so  weiter 
geht,  zu  einem  ganz  alltäglichen  und  zugleich  nichtssagenden 
Begriff  geworden  sein  wird,  zu  einem  Begriff,  der  zugleich 
auch  als  Parteifahne  unschädlich  werden  wird,  Avie  Wein 
in  einem  Fass,  dem  man  von  Tag  zu  Tag  etwas  Wasser 
zusetzt.  Indem  man,  um  mehr  Spielraum  zu  gewinnen,  die 
Alles  umfassende  Mechanik  des  Philosophen  meint,  schaut 
man  doch  gern  platonisch  zur  Mechanik  des  Newton  empor 
und  sucht  von  der  Sonne  ihres  Ruhmes  auch  einen  Strahl  für 
die  ihr  noch  so  fremde  Entwicklungsmechanik  zu  erhaschen. 
Um  die  Biologie  zu  einer  „exaeten  Naturwissenschaft"  zu 
machen,  bemüht  man  sich,  die  Lebenserscheinungen  mög- 
lichst direct  aus  physikalisch-chemischen  Vorgängen  zu  er- 
klären,   und    nennt   alle  Sprünge    in    dieser   Richtung    eine 


—     85     — 

„ursächliche  oder  causale  Morphologie",  wie  denn  über- 
haupt die  ganze  Richtung  sich  durch  ein  äusserst  empfind- 
lich gewordenes  Causalitätsbedürfniss x)  auszeichnet. 

Wer  in  der  Literatur  bewandert  ist,  weiss,  dass  es 
auch  vor  dem  Aufkommen  der  entwicklungsmechanischen 
Richtung  an  verwandten  Bestrebungen  in  früheren  Zeiten 
nicht  gefehlt  hat.  Solange  es  Biologie  giebt,  hat  man  bald 
in  dieser,  bald  in  jener  Weise  versucht,  das  Organische  aus 
dem  Anorganischen  direct  herzuleiten  und  zu  erklären,  so- 
wie die  Grenzen  zwischen  beiden  Reichen  zu  überbrücken, 
zumal  in  einer  Zeit,  in  der  man  von  der  complicirten  Be- 
schaffenheit des  Lebenssubstrats  noch  sehr  wenig  wusste. 
Alle  aus  derartigen  Versuchen  entstandenen  Vorstellungen, 
auf  welche  man  heutzutage  gern  das  Wort  „grob  mecha- 
nisch" anzuwenden  pflegt,  sind  immer  bald  durch  die  kritisch 
beobachtende  und  experimentirende  Forschung  beseitigt 
worden.  Mit  gewissem  Recht  könnte  man  jetzt  sogar  sagen, 
dass  die  Kluft  zwischen  den  beiden  Naturreichen  in  dem- 
selben Maasse  tiefer  geworden  ist,  als  sich  unsere  physika- 
lische und  chemische,  unsere  morphologische  und  physio- 
logische Erkenntniss  der  Organismen  vertieft  hat. 

Es  ist  lehrreich  und  nützlich  zugleich,  auch  einmal  von 


1)  So  antwortet  Dreyer  auf  den  sich  gemachten  Einwurf,  dass 
eine  physikalisch  -  chemische  Richtung  der  Forschung  noch  wenig 
Aussicht  auf  Erfolg  habe,  mit  dem  Satz:  „Wäre  dem  wirklich  so, 
so  stände  man  vor  der  Alternative ,  entweder  in  historisch-specula- 
tiver  Richtung  weiter  zu  arbeiten  oder  —  und  so  würden  wir  uns 
verhalten  —  sich  von  der  Biologie  als  einer  Disciplin,  auf  deren 
Gebiet  man  nie  hoffen  könnte,  je  zu  einer  befriedigenden  causalen 
Erkenntniss  zu  gelangen,  überhaupt  abzuwenden  und  sich  Disciplinen 
zuzuwenden ,  innerhalb  deren  man  mehr  Befriedigung  seines 
Causalitätsbedürfnisses  findet."  „Denn  das  Causalitätsbedürf- 
niss ist  in  der  Tiefe  des   menschlichen  Geistes  begründet"  (6,  S.  85). 


-     86     - 

diesem  Gesichtspunkt    aus  sich  die  Geschichte  der  Biologie 
anzusehen. 

Da  war  im  17.  Jahrhundert  die  auf  ungeschulter  Natur- 
beobachtung beruhende  Lehre  weit  verbreitet,  dass  aus 
faulenden  Substanzen  Organismen,  wie  Fliegenmaden  etc., 
clirect  durch  Urzeugung  entstehen  sollten.  Es  bedurfte  der 
Untersuchungen  und  Experimente  von  R  e  d  i  und  Anderen, 
um  zu  zeigen,  dass  auch  hier  eine  Entwicklung  aus  Eiern 
vorliegt.  Ihre  Zusammenfassung  fanden  diese  Untersuchungen 
dann  in  Harvey's  bekanntem  Ausspruch:  „Omne  vivum 
ex  ovo." 

Trotzdem  haben  sich  in  der  Helminthologie  die  Vor- 
stellungen eines  directen  Ursprungs  von  Organismen  aus 
in  Gärung  begriffenen  Stoffen  bis  in  den  Anfang  unseres 
Jahrhunderts  hinein  erhalten ;  Echinocokken  sollten  direct 
in  der  Leber,  Coenurus  im  Gehin,  Finnen  in  den  Muskeln, 
Bandwürmer  im  Darm  durch  pathologische  und  chemisch 
umgeänderte  Zersetzungsprocesse  in  der  Leber-,  Hirn-  und 
Muskelsubstanz  entstehen.  Es  gehörten  die  bahnbrechenden 
Untersuchungen  und  Experimente  über  die  Entwicklung 
und  Lebensweise  der  Eingeweidewürmer  von  S  i  e  b  o  1  d , 
Küchenmeister,  Leuckart  u.  A.  dazu,  um  auch  hier 
das  „Omne  vivum  ex  ovo"  zur  Geltung  zu  bringen. 

Zuletzt  flüchtete  sich  die  Lehre  von  der  Abiogenesis 
in  das  Reich  der  Mikroorganismen,  der  Infusorien  und  der 
Bakterien,  um  schliesslich  auch  aus  dieser  Verschanzung, 
aber  erst  in  unseren  Tagen,  durch  die  glänzenden  Ex- 
perimente von  Pasteur  und  die  höchst  vervollkommneten 
Untersuchungsmethoden  von  Koch  vollständig  und  definitiv 
vertrieben  zu  werden.  So  ist  die  Kluft  zwischen  dem  Un- 
organischen und  der  Organismenwelt  durch  Vernichtung  der 
fälschlich  construirton  Brücken  immer  wieder  geöffnet  worden. 


-    87     — 

Wie  hier,  so  sind  auf  vielen  anderen  Gebieten  der 
Biologie  alle  Vorstellungen,  durch  welche  die  Lebensprocesse 
in  allzu  einfacher,  „grob  mechanischer"  Weise  erklärt  werden 
sollen,  nach  einiger  Zeit  als  irrthünilich  und  verfehlt  nach- 
gewiesen worden.  Wie  einfach  stellte  sich  ein  Caspar 
Friedrich  W  o  1  f f  (61 )  in  seiner  Theoria  generationis 
die  Neubildung  von  Organen  oder  von  den  Geschlechts- 
producten  vor.  Nach  seinen  Beobachtungen  sollten  von 
den  alten,  schon  fertig  vorhandenen  Theilen  organische 
Säfte  ausgeschieden  werden  und  zum  Beispiel  bei  den 
Pflanzen  am  Ende  der  Zweige  die  Yegetationskegel  oder 
die  Anfänge  von  Knospen  bilden  etc.;  die  abgesonderten 
Säfte  sollten  allmählich  fester  werden,  worauf  in  ihnen  durch 
weiter  nachdringende  Flüssigkeit  Bläschen,  Zellen  und  Ge- 
lasse entstehen.  Daher  sein  Ausspruch:  „Ein  jeder  orga- 
nische Körper  oder  Theil  eines  organischen  Körpers  wird 
erst  ohne  organische  Structur  producirt,  und  alsdann  wird 
er  durch  Formation  von  Bläschen  und  Gefässen  organisch 
gemacht."  Nach  Wolff's  Ansicht  ist  eine  Leber,  eine 
Niere  oder  irgend  ein  Pflanzenorgan  nach  Wegnahme  der 
Gefässe  weiter  nichts  als  „ein  Klumpen  Materie,  die  zwar 
die  Eigenschaften  der  thierischen  oder  pflanzlichen  Substanz 
haben  kann,  in  der  aber  noch  so  wenig  Organisation  oder 
Structur  anzutreffen  ist,  als  in  einem  Klumpen  Wachs." 

Es  sei  ferner  an  den  Vergleich  der  Zellbildung  mit 
einer  Krystallisation  erinnert.  Nach  der  Ansicht  von 
Schieiden  und  Schwann  (55)  und  vielen  Anderen 
sollen  die  von  ihnen  als  Zellen  bezeichneten  Gebilde  ähn- 
lich wie  Krystalle  von  Salpeter  oder  Glaubersalz  aus  einer 
organischen  Mutterlauge,  dem  Cyto Blastem,  gleichsam  heraus- 
krystallisiren.  Daher  stellte  denn  Schwann,  freilich  mit 
grosser  Reserve,    als  Leitfaden  für  weitere  Untersuchungen 


—     88     - 

die  Hypothese  auf,  „dass  die  Bildung  der  Elementartheile 
der  Organismen  nichts  als  eine  Kiystallisation  imbibitions- 
fähiger  Substanz ,  der  Organismus  nichts  als  ein  Aggregat 
solcher  imbibitionsfähiger  Krystalle  ist".  Manche  Forscher 
glaubten  schon  auf  experimentellem  Wege  künstliche  Zellen 
bilden  zu  können,  indem  sie  einen  Tropfen  Gummischleim 
in  eine  Gerbsäurelösung  hineinfallen  Hessen. 

Wie  sind  auch  diese  Versuche  einer  biomechanischen 
Erklärung  fehlgegangen!  Welche  ganz  andere  Bahnen, 
als  Schwann  ahnte,  hat  die  fortarbeitende  Wissenschaft 
eingeschlagen!  An  die  Stelle  des  organischen  Krystalls 
trat  die  Auffassung  der  Zelle  als  eines  Organismus,  womit 
wieder  eine  der  vermeintlichen  Brücken  fiel,  die  man  schon 
in  das  Reich  der  anorganischen  Natur  geschlagen  zu  haben 
glaubte.  An  Stelle  der  Entstehung  der  Zelle  durch  eine 
Art  Urzeugung  aus  plastischen  Stoffen  trat  die  Lehre  von 
der  Selbsttheilung  der  Zelle  und  der  Satz:  „Omnis  cellula 
e  cellula".  Umfassende  biologische  Arbeit,  eine  Fülle  glän- 
zender Beobachtungen  und  sich  rasch  folgender  Ent- 
deckungen auf  dem  Gebiete  der  Zellenlehre  und  der 
niederen  Lebewesen  ist  zur  Begründung  der  beiden 
wichtigen  Hauptsätze  erforderlich  gewesen. 

Auch  in  der  Physiologie  ist  die  Ernüchterung  nicht 
ausgeblieben,  als  sie  die  Wirkungsweisen  der  Organe  schon 
nach  einfach  mechanischen  Gesetzen  glaubte  erklären 
zu  können.  Wir  wissen  jetzt,  dass  sich  die  Secretion  der 
Drüsen  und  die  Resorption  der  Darmwandungen  nicht  als 
einfache  Processe  physikalischer  Diffusion  und  Endosmose 
erklären  lassen,  dass  hier  Zellenthätigkeiten  mitwirken, 
welche  wir  weit  entfernt  sind  als  chemisch -physikalische 
Vorgänge  darstellen  zu  können.  Wir  wissen  jetzt,  dass  die 
Absonderung     des    Harns     in     der    Niere     kein    einfacher 


—    89     — 

Filtrationsprocess  ist,  dass  auch  hier  wieder  besondere 
Zellen  ihre  eigen  thümliche,  specilische  Thätigkeit  entfalten, 
indem  sie  einzelne,  besondere  Stoffe  auch  in  minimalen 
Quantitäten  aus  der  Blutbahn  an  sich  ziehen  und  wieder 
in  die  Harnwege  abgeben. 

Der  Entdecker  des  Gesetzes  der  Erhaltung  der  Kraft, 
Robert  Mayer  (37),  verglich  das  Blut  einer  langsam 
brennenden  Flüssigkeit  und  bezeichnete  es  als  das  Oel  in  der 
Flamme  des  Lebens ;  jetzt  wissen  wir  durch  die  Versuche 
von  Pflüger  etc.,  dass  die  Oxydationsprocesse  und  die 
Wärmebildung  nicht,  wie  Mayer  und  die  Physiologen  lange 
Zeit  glaubten,  innerhalb  der  Höhlen  der  Gefässbahn  vor 
sich  gehen,  sondern  überall  in  den  Zellen,  besonders  während 
ihrer  Thätigkeit. 

In  ähnlicher  Weise  hat  man  auf  allen  Gebieten  der  Physio- 
logie erfahren  müssen,  dass  die  Processe  des  Lebens,  je  gründ- 
licher  man  sie  erforscht,    complicirterer  Art  sind  und  sich 
keineswegs  immer  von  physikalischen  und  chemischen  Pro- 
cessen in  so  einfacher  Weise,  wie  man  glaubte,  ableiten  lassen. 
Und  so  wird  auch  bei  manchen  über  das  Ziel  hinausschiessenden 
Bestrebungen  der  „Entwicklungsmechanik"  der  Rückschlag 
nicht  ausbleiben.     Fühlt  sich  doch  bereits  ßoux,    welcher 
bisher  das  Lob  der  Entwicklungsmechanik  als  der  causalen 
Morphologie,  als  der  Zukunftswissenschaft,  als  des  höchsten 
Zieles  menschlicher  Erkenntniss  in  allen  Tonarten  verkündet 
hat,     als    Herausgeber    des    Archivs    veranlasst,     „unseren 
jungen    Stürmern"    (A.  f.  E.  Bd.  III   S.  441)    ein    Glas 
Wasser  zur  Abkühlung  zeitweise  anzubieten.    „Es  fehlt,   wie 
nicht  zu  verkennen  ist,"    bemerkt  er,    von  einigen  anderen 
Stellen  abgesehen,    im    dritten   Band  (S.  441),    „unseren 
jungen    Stürmern    auf    dem    Gebiete    der   Entwicklung^  - 
mechanik,    die   in    wenigen    Jahren   dasjenige    an   causaler 


—     90     — 

Einsicht  in  die  Ursachen  der  wunderbaren  organischen 
Gestaltungen  erreichen  möchten  und  erreichen  zu  können 
glauben,  zu  dessen  Ermittlung  mindestens  Jahr- 
hunderte^), wenn  nicht  Jahrtausende(! !)  müh- 
seliger Arbeit  nöthig  sind,  das  ausreichende 
Unterscheid ungsver mögen,  das  richtige  We r t h - 
urtheil  für  bloss  Vermuthetes,  Denk  mögliches, 
Wa  hrsc  heinlich  es,  ja  (unbewusst)  E  r  schlich  e  - 
nes(!)  einerseits  und  Ermitteltes,  Festgestelltes 
andererseits." 

An  einer  späteren  Stelle  (A.  f.  E.  Bd.  IV  S.  41)  kehrt 
dieselbe  Klage  in  anderer  Form  wieder:  „Da  ein 
weiteres  Beharren  in  solchem  Vo  rgehen  die 
junge  causale  Richtung  der  Biologie1)  sowohl 
in  ihren  Leistungen,  wie  in  ihrem  Ansehen 
auf's  Schwerste  schädigen  muss,  so  sei  hier 
auf's  Neue  auf  die  Mängel  dieses  Verfahrens 
hin  gewiesen." 

Wem  fällt   dabei  nicht  die   Klage    des    Zauberlehrlings 

von  Goethe  ein: 

„  .  .  .  Die  Noth  ist  gross! 
Die  ich  rief,  die  Geister 
WercT  ich  nun  nicht  los." 

Zur  Unterstützung  können  vielleicht  einige  Betrach- 
tungen dienen,  welche  schon  vor  einigen  Jahrzehnten 
Lotze  und  Mach  angestellt  haben,  welche  mir  aber  auch 
noch  in  der  gegenwärtigen  Situation  beherzigenswerth  zu 
sein  scheinen. 

Unter  der  Ueberschrift:  „Von  der  Brauchbarkeit  der 
physikalischen     Begriffe    für    die    Erklärung    des    Lebens" 


')  liezüglich  des  „junge  causale  Richtung"  vergleiche  man  den 
folgenden  Ausspruch  von  Lotze  (S.  91),  auch  Joh.  Müller. 


—    91     — 

bemerkt   Lotze    (35,  S.  62—65):     „Die    mechanische    Er- 
klärung des  Lebens  ist  eine  Aufgabe,  zu  der  sich  gegen- 
wärtig (1851!)  immer  mehr  Kräfte  drängen;    auch 
wir   haben  sie  als  eine  unerlässliche  Forderung  bezeichnet. 
Aber  wenn    wir  beobachten,     wie  Vieles   nicht   ohne   Geist 
gegen  sie  eingewendet  zu  werden  pflegt,  so  drängt  sich  uns 
noch  einmal  die  Frage  auf,  ob  das,  was  wir  wünschen,  auch 
möglich  und  ausführbar  sei.    Gewiss,  indem  wir  verlangten, 
dass  das  Leben  mit  allen  übrigen  Naturerscheinungen  einem 
und    demselben   Reiche    allgemeiner    Gesetze    des    Wirkens 
untergeordnet  werde,    war  damit  noch  nicht  ausgesprochen, 
dass  dieses  Reich  von  Gesetzen  bekannt  sei ,  am  wenigsten, 
dass    es   nur   in    denselben  Regeln  bestehe,    deren  sich  die 
Physik  bei  Betrachtung   des  Unlebendigen  bedient.     Dass 
wir    das    Leben    mechanisch    erklären    müssen, 
widerrufen    wir    nicht,    dass    es    aber   mit   Hilfe 
und      im      Sinne      dieser     Mechanik      geschehen 
müsse,      können      wir      nicht      unbesehens      be- 
haupten,   wie   leider  so  Viele   thun,    deren  Vor- 
liebe    für     diese     Art     der     Untersuchung     auf 
keiner    Vorüberlegung     über     Entstehung     und 
Gültigkeitsgrenzen    der    Voraussetzungen      be- 
ruht,   die    in    den  Naturwissenschaft en  sich  all- 
mählich festgesetzt  haben." 

Und  gleich  darauf  fährt  Lotze  fort:  „Es  gehört  zu 
den  immer  wieder  hervortretenden  Unbesonnenheiten  der 
jetzt  üblicher  werdenden  mechanischen  Physiologie,  unbe- 
sehen als  wahr  und  sicher,  ja  als  allgemein  giltig  hinzu- 
nehmen, was  für  ganz  abweichende  Gegenstände  von  der 
Physik  bisher  als  Grundlage  benutzt  worden  ist.  Dass  aber 
diese  mechanischen  Principien  einer  weiteren  Aufklärung 
gar  nicht  unbedürftig  sind,  und  dass  sie  nichts  weniger  als 


—     92     — 

zweifellos  auf  ihren  eigenen  Füssen  stehen,  das  ist  für 
Jeden  leicht  einzusehen,  der  sich  der  Geschichte  ihrer  Aus- 
bildung erinnert."  „Auch  sind  wir  gänzlich  damit  ein- 
verstanden, dass  die  wenigsten  der  Grundbegriffe  und 
Grundsätze  der  Physik  eine  wahrhafte  objective  Geltung 
besitzen;  wir  halten  die  meisten  für  Fictionen,  durchweiche 
die  ohnedies  schwer  zu  behandelnde  Natur  der  Objecte  und 
der  Ereignisse  unseren  Untersuchungsmethoden  zugänglich 
gemacht  wird."  Lotze  warnt  daher  in  einer  Zeit,  in 
welcher  die  Vorliebe  für  mechanische  Erklä- 
rungen stärker  im  Wachsen  begriffen  sei,  als 
das  Verständniss  ihres  Zwecks  und  ihrer  Mittel, 
allzu  bewegliche  und  phantasiereiche  Köpfe  vor  Ueber- 
stürzung. 

In  ähnlicher  Weise  äussert  sich  Mach  (36)  in  seiner 
historisch-kritischen  Darstellung  der  Geschichte  der  Mechanik 
im  Capitel:  „Beziehungen  der  Mechanik  zur  Physiologie"  in 
den  bemerkenswerthen  Sätzen  (S.  476) :  „Alle  Wissenschaft 
geht  ursprünglich  aus  dem  Bedürfniss  des  Lebens  hervor. 
Mag  sich  dieselbe  durch  den  besonderen  Beruf,  die  ein- 
seitige Neigung  und  Fähigkeit  ihrer  Pfleger  in  noch  so  feine 
Zweige  theilen,  seine  volle  frische  Lebenskraft  kann  jeder 
Zweig  nur  im  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen  erhalten. 
Nur  durch  diese  Verbindung  kann  er  seinem  eigentlichen 
Ziele  erfolgreich  zustreben  und  vor  monströsen,  einseitigen 
Entwicklungen  bewahrt  bleiben."  „Die  Theilung  der 
Arbeit,  die  Beschränkung  eines  Forschers  auf  ein  kleines 
Gebiet,  die  Erforschung  dieses  Gebietes  als  Lebensaufgabe 
ist  die  nothwendige  Bedingung  einer  ausgiebigen  Entwick- 
lung der  Wissenschaft.  Mit  dieser  Einseitigkeit  und  Be- 
schränkung können  erst  die  besonderen  intellectuellen  ökono- 
mischen Mittel  zur  Bewältigung  dieses  Gebietes  die  nöthige 


—     93     — 

Ausbildung  erlangen.  Zugleich  liegt  aber  hierin  die  Ge- 
fahr, diese  Mittel,  mit  welchen  man  immer  beschäftigt 
ist,  zu  überschätzen,  ja  dieselben,  die  doch  nur  Handwerks- 
zeug sind,  für  das  eigentliche  Ziel  der  Wissenschaft  zu 
halten."  „Durch  die  unverhältnissmässig  grössere  formelle 
Entwicklung  der  Physik ,  gegenüber  den  übrigen  Natur- 
wissenschaften ,  ist  nun  ein  derartiger  Zustand  unseres  Er- 
achtens  wirklich  geschaffen  worden.  Den  Denkmitteln 
der  Physik,  den  Begriffen  Masse,  Kraft,  Atom, 
welche  keine  andere  Aufgabe  haben,  als  öko- 
nomisch ge  ordnete  Erfahrungen  wach  zu  rufen, 
wird  von  den  meisten  Naturforschern  eine 
Realität  ausserhalb  des  Denkens  zugeschrie- 
ben. Ja  man  meint,  dass  diese  Kräfte  und 
Massen  das  eigentlich  zu  Erforschende  seien, 
und  wenn  diese  einmal  bekannt  wären,  dann 
würde  Alles  aus  dem  Gleichgewicht  und  der 
Bewegung  dieser  Massen  sich  von  selbst  er- 
geben." 

„Wenn  Jemand  die  Welt  nur  durch  das  Theater  kennen 
würde  und  nun  hinter  die  mechanischen  Einrichtungen  der 
Bühne  käme,  so  könnte  er  wohl  auch  meinen,  dass  die 
wirkliche  Welt  eines  Schnürbodens  bedürfe,  und  dass  Alles 
gewonnen  wäre,  wenn  nur  dieser  einmal  erforscht  wäre. 
So  dürfen  wir  auch  die  intellectuellen  Hilfsmittel,  die  wir 
zur  Aufführung  der  Welt  auf  der  Gedankenbühne  ge- 
brauchen, nicht  für  Grundlagen  der  wirklichen  Welt 
halten." 

Desgleichen  bemerkt  Mach  an  einer  zweiten  Stelle: 
„Wenn  die  französischen  Encyklopädisten  des  18.  Jahr- 
hunderts dem  Ziele  nahe  zu  sein  glaubten,  die  ganze  Natur 
physikalisch-mechanisch  zu  erklären,  wenn  Laplace  einen 


—     94    — 

Geist  fingirt,  welcher  den  Lauf  der  Welt  in  alle  Zukunft 
anzugeben  vermöchte,  wenn  ihm  nur  einmal  alle  Massen 
mit  ihren  Lagen  und  Anfangsgeschwindigkeiten  gegeben 
wären,  so  ist  diese  freudige  Ueberschätzung  der  Tragweite 
der  gewonnenen  physikalisch-mechanischen  Einsichten  im 
18.  Jahrhundert  verzeihlich,  ja  ein  liebenswürdiges,  edles, 
erhebendes  Schauspiel,  und  wir  können  diese  intellectuelle, 
einzig  in  der  Geschichte  dastehende  Freude  lebhaft  mit- 
empfinden." 

„Nach  einem  Jahrhundert  aber,  nachdem 
wir  besonnener  geworden  sind,  erscheint  uns  die 
projectirte  Weltanschauung  der  Encyklopädisten  als  eine 
mechanische  Mythologie  im  Gegensatz  zur  ani- 
m istischen  der  alten  Religionen.  Beide  Anschau- 
ungen enthalten  ungebührliche  und  phantastische  Ueber- 
treibungen  einer  einseitigen  Erkenntniss.  Die  besonnene 
physikalische  Forschung  wird  aber  zur  Analyse  der  Sinnes- 
empfindungen führen.  Wir  werden  uns  dann  der  Natur 
wieder  näher  fühlen,  ohne  dass  wir  nöthig  haben,  uns  selbst 
in  eine  uns*  nicht  mehr  verständliche  Staubwolke  von  Mole- 
külen oder  die  Natur  in  ein  System  von  Spukgestalten  auf- 
zulösen." 

Mit  der  Ueberschätzung  und  Verkennung  mechanischer 
Betrachtungsweise,  vor  welcher  schon  Lotze  und  Mach 
in  den  angeführten  Sätzen  gewarnt  haben,  findet  sich  sehr 
häufig  verbunden  eine  nicht  minder  übertriebene 
Werth Schätzung  der  Mathematik  für  die  Be- 
handlung biologischer  A  u  f g a  b  e  n.  Es  wird  dabei 
ebenfalls  übersehen,  dass  die  Mathematik  doch  nur  ein 
Denkmittel,  nur  ein  vorzügliches  Handwerkszeug  des 
menschlichen  Geistes  ist,  dass  aber  unendlich  viel  daran 
fehlt,    dass  alles  Denken  und  Erkennen  sich  jemals  nur  in 


—     95     — 

dieser  einseitigen  Richtung  bewegen  und  dass  der  Inhalt 
unseres  Geistes  jemals  durch  sie  einen  erschöpfenden 
Ausdruck  finden  könne.  Wie  selbst  ein  so  geistreicher 
Forscher  wie  Fechner  (11)  den  Wirkungsbereich  der 
Mathematik  weit  über  seine  natürlichen  Schranken  ausdehnt, 
das  lehren  uns  manche  Bemerkungen  in  seinem  Aufsatz: 
Ueber  die  mathematische  Behandlung  organischer  Gestalten 
und  Processe.  Auf  eine  derselben  soll  hier  eingegangen 
werden,  da  sie  uns  gerade  in  ihrer  Uebertreibung  so  recht 
die  Einseitigkeit  und  die  Schranken  einer  mathematischen 
Erkenntniss  vor  Augen  führt. 

Fechner  hält  es  für  möglich,  wenn  man  die  Mühe 
nicht  scheuen  wolle,  für  jedes  menschliche  Gesicht  eine 
Approximationsformel  aufzustellen ,  nach  welcher  sich  das 
Gesicht  mit  einem  solchen  Grade  der  Genauigkeit  würde 
vorzeichnen  lassen,  dass  es  Jeder  vollkommen  getroffen 
nennen  würde.  „Jeder,  der  mit  der  analvtischen  Geometrie 
und  den  Methoden,  Beobachtungen  zu  Formeln  zu  com- 
biniren,  etwas  vertraut  ist,  wird  wissen,  dass  die  Methoden 
hierzu  nicht  fehlen.  Es  würde  sich  nur  darum  handeln, 
eine  hinreichende  Menge  Messungen  an  dem  Gesichte  vor- 
zunehmen und  diese  durch  irgend  eine  Interpolationsformel 
zu  combiniren."  Selbst  die  Aufgabe  hält  Fechner  für 
ausführbar,  den  verschiedenen  Ausdruck  eines  Gesichtes  in 
Schmerz,  Freude,  Zorn,  Liebe  u.  s.  w.  mathematisch  zu 
fassen  und  das  noch  Feinere,  Individuellere  des  Ausdrucks 
in  unbestimmbarer  Annäherung  zu  verfolgen,  sofern  es  nur 
auf  deutlich  wahrnehmbaren  Unterschieden  in  der  Gestaltung 
der  Gesichtszüge  beruhe.  „So  würde  eine  Sammlung  Por- 
traits  berühmter  Männer  in  vollem  Ernst  durch  eine  Reihe 
Formeln,  aus  a,  b,  c,  ...  x,  y,  z,  vertreten  werden  können, 
wonach  Jedei*,  der  die  Sache  versteht,  im  Stande  wäre,  die 
Portraits  ganz  treffend  wieder  herzustellen." 


-     96     — 

Während  Fechner  durch  das  angezogene  Beispiel  die 
weitgehende  Verwendbarkeit  der  Mathematik  in  der  Mor- 
phologie zu  veranschaulichen  sucht,  wollen  wir  uns  des- 
selben bedienen,  um  an  ihm  die  Unzulänglichkeit  mathe- 
matischer Formeln,  die  Einseitigkeit  und  Zwecklosigkeit 
des  mathematischen  Ausdrucks  für  viele  Verhältnisse  zu 
erläutern. 

Wir  wollen  annehmen,  dass  es  durch  unsägliche 
Arbeit  und  durch  bewundernswerthe  Geduld  und  Ausdauer 
möglich  ist,  die  von  Fechner  gewünschte  Formel  für  ein 
von  Freude  oder  Zorn  bewegtes  Gesicht  zu  entwerfen. 
Was  wäre  damit  gewonnen  ?  Der  grösste  Mathematiker 
würde  auch  bei  fortgesetzter  Uebung  nicht  im  Stande  sein, 
die  Formel  zu  lesen,  das  heisst,  sich  aus  dem  Gewirr  der 
ungeheuren  Zahlenausdrücke  auch  nur  ein  blasses  Bild  des 
mathematisch  dargestellten  Gesichts  im  Geiste  zu  recon- 
struiren;  er  würde,  wenn  er  zugleich  auch  ein  Maler  wäre, 
nicht  aus  der  Formel  das  dazu  gehörige  Gesicht  auf  die 
Leinwand  zu  entwerfen  vermögen.  Er  würde  vielmehr 
eine  unendliche  Arbeit  und  Geduld  verwenden  müssen,  um 
allmählich  nach  den  Zahlenangaben  die  mathematische 
Formel  in  eine  Zeichnung  zu  übersetzen;  der  Versuch  ist 
auch  in  unserer  Zeit,  wo  so  viel  versucht  wird,  meines 
Wissens  wohl  noch  nie  gemacht  worden,  aber  sollte  es 
einmal  geschehen,  so  ist  doch  wohl  zu  erwarten,  dass 
die  durch  Construction  gewonnene  Zeichnung  viel  weniger 
die  Natur  und  Aehnlichkeit  des  Gesichtes  wiedergeben 
würde,  als  irgend  eine  beliebige  Photographie  des  gleichen 
Gegenstandes  oder  als  ein  Bild,  das  ein  nur  halbwegs  ge- 
übter Maler  im  Laufe  einiger  Stunden  mit  Kreide  auf 
Papier  entwirft.  Ein  begabter  Künstler  erfasst  in  wenigen 
Augenblicken    das    durch    die    Augen    seinem    Geist    über- 


-     97    — 

mittel te  und  einverleibte  Bild  eines  Gesichtes  und  oft  so 
genau,  dass  er  schon  bloss  aus  der  Erinnerung  ein  wieder 
zu  erkennendes  Portrait  entwerfen  kann.  Wie  unendlich 
ist  hier  der  Künstler  dem  construirenden  Mathematiker, 
wie  weit  der  menschliche  Geist  seinem  einseitigen  Werk- 
zeug, der  Mathematik,  überlegen!  Man  wird  nie  nach 
mathematischen  Formeln  Gesichter  malen ;  man  wird  stets 
sich  des  unmittelbaren  Schauens  und  der  unmittelbaren 
Darstellungsmethode  bedienen  und  eine  so  gewonnene 
Sammlung  von  Portraits  berühmter  Männer  einer  Samm- 
lung mathematischer  Portraitformeln  aus  a,  b,  c,  .  .  .  x,  y,  z 
unfehlbar  vorziehen. 


Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.    II. 


Anhang. 


Kritische  Bemerkungen  zu  den  entwicklungs- 
niechanischen  Naturgesetzen  von  Roux. 

In  dem  zweiten  Bande  seiner  gesammelten  Abhand- 
lungen hat  Roux  20  Aufsätze  in  einer  neuen  Auflage  zu- 
sammengefasst  unter  dem  gemeinsamen  Titel  „Zur  Ent- 
wicklungsmechanik des  Embryo".  Die  20  Aufsätze  sollen 
Grundsteine  zum  Bau  der  Zukunftswissenschaft  liefern,  mit 
deren  Aufgaben  und  Methoden  wir  in  der  vorangegangenen 
Studie  bekannt  geworden  sind.  Mehrere  entwicklungs- 
mechanische Naturgesetze  werden  in  ihnen  aufgestellt;  es 
sind  die  Früchte  von  Reflexionen  und  damit  verbundenen 
Experimenten ,  welche  Roux  während  14  Jahren  zur  Be- 
gründung seiner  Entwicklungsmechanik  ausgeführt  hat. 

Ueber  diese  angeblichen  Naturgesetze  ist  seit  einer 
Reihe  von  Jahren  eine  heftige  literarische  Fehde  entstanden, 
welche  besonders  zwischen  Driesch  und  Roux  geführt 
wurde,  in  welche  ich  aber  ebenfalls  von  Anfang  an  zu  nicht 
geringem  Theile  mit  verwickelt  worden  bin.  Auf  meine 
Einwände  und  auf  meine  Experimente,  die  an  dem  Roux- 
schen  Untersuchungsobject  selbst,  am  Froschei,  angestellt 
wurden,  hat  Roux  sofort  in  zahlreichen  Entgegnungen  ge- 


—     99    — 

antwortet,  um  meine  Angaben  als  irrig  und  nieht  beweisend 
darzuthun.  Ich  habe  seine  Entgegnungen  und  die  damit 
verbundenen  verschiedenen  persönlichen  Angriffe  zunächst 
auf  sich  beruhen  lassen  und  drei  Jahre  geschwiegen,  wohl 
in  der  richtigen  Annahme,  dass  schwerlich  Jemand  in 
meinem  Schweigen  ein  stilles  Zugeständniss  wird  erblickt 
haben.  Wenn  ich  jetzt  trotzdem  auf  die  alte  Fehde,  welche 
zwischen  Driesch  und  Roux  inzwischen  weiter  gespielt 
hat  und  somit  von  der  Tagesordnung  nicht  verschwunden 
ist,  auch  meinerseits  noch  einmal  zurückkomme,  so  ge- 
schieht es,  weil  ich  in  einer  besonderen  Auseinandersetzung 
mit  den  Ergebnissen  der  Roux' sehen  Untersuchungen  eine 
nicht  unwichtige  Ergänzung  zu  den  vorausgegangenen  all- 
gemeinen Auseinandersetzungen  erblicke.  Das  bisher  von 
umfassenderen  Gesichtspunkten  aus  erörterte  Thema  „Mecha- 
nik und  Biologie"  soll  hier  an  besonderen  Fällen  wie  an 
einzelnen  Beispielen  noch  einmal  durchgeführt  werden.  So 
schliesst  sich  der  zweite  Aufsatz  an  den  ersten  in  mehr- 
facher Hinsicht  als  Ergänzung  an. 


Die  Aufgabe,  auf  deren  Lösung  Roux  in  einer  grös- 
seren Reihe  von  Untersuchungen  viel  Zeit  und  Arbeits- 
kraft verwandt  hat,  bezeichnet  er  als  das  Problem  der 
Richtungsbestimmung  oder  der  Bestimmung 
der  Richtungen  des  Geschehens  während  der 
er  s  ten  Entwicklung  des  Embryo  (G.  A.  S.  96).  Er 
will  feststellen,  an  welchem  Orte  und  zu  welcher  Zeit  die 
Hauptrichtungen  des  Wirbelthierleibes ,  Hauptaxe  und 
Medianebene,  Kopfende  und  Schwanzende,  Queraxe  und 
Dorsoventralaxe,  im  Eikörper  sich  erkennen  lassen,  und 
durch  welche  Ursachen  sie  bedingt  werden.  Als  Object 
für  seine  Untersuchungen   benutzte    er    ausschliesslich 


—     100     — 

das  Frosch  ei,  weil  man  hier  im  Stande  ist,  das  ganze 
sichtbare  Geschehen  während  der  Entwicklung  auf  ein 
äusseres  festes  System  von  Richtungen  zu  beziehen.  Die 
Quintessenz  seiner  Ergebnisse  hat  Roux  dahin  zusammen- 
gefasst,  „dass  die  normale  individuelle  Entwick- 
lung von  Anfang  an  ein  System  bestimmt  ge- 
richteter Vorgänge  ist,  welches  in  festen  Be- 
ziehungen zu  den  Hauptrichtungendes  späteren 
Embryo  steht,  derart,  dass  jede  der  ersten  vier 
Furch ungszellen  nicht  bloss  einem  bestimmten 
Viertel  des  Embryo  räumlich  entspricht,  son- 
dern auch  für  sich  im  Stande  ist,  dieses  Viertel 
hervorzubilden"  (46,  S.  873.)  Ein  derartiges  Ge- 
schehen bezeichnet  er  als  Mosaikarbeit. 

Indem  die  Frage  nach  der  Bestimmung  der  Richtungen 
des  embryonalen  Geschehens  bis  zum  befruchteten  Ei  zu- 
rückgeführt hat,  hängt  sie  zusammen  mit  der  noch  all- 
gemeineren und  umfassenderen  Frage  nach  der  Organisation 
des  Eies  am  Beginn  seiner  Entwicklung.  Das  ist  das  Feld, 
auf  welchem  Roux  und  ich  von  verschiedenen  Ausgangs- 
punkten her  einander  begegnet  und  in  die  literarische 
Fehde  verwickelt  worden  sind. 

Mit  der  Organisation  der  Zelle  und  den  hiermit  zu- 
sammenhängenden Fragen,  mit  dem  Process  der  Befruch- 
tung, der  Bildung  der  Richtungskörper,  der  Kern-  und 
Zelltheilung,  der  Ei-  und  Samenbildung  bei  Nematoden  etc. 
habe  ich  mich  seit  mehr  als  20  Jahren  vielfach  beschäftigt 
und  bin  auf  diesem  Wege  auch  zur  Erörterung  allgemeinerer 
Probleme  geführt  worden ;  ich  nenne  nur  die  Erklärung 
der  gesetzmässigen  Aufeinanderfolge  der  Thcilcbenen  in 
der  Eizelle,  die  Bedeutung  der  Kernsubstanz  und  meine 
Theorie  der  Vererbung  u.  s.  w. 


—     101     — 

Ich  gebe  daher  zunächst,  soweit  es  für  die  Beurtheilimg 
der  literarischen  Fehde  mit  Roux  von  Wichtigkeit  ist,  einen 
kurzen  Abriss  meiner  Ergebnisse,  wie  ich  sie  im  Jahre  1884 
veröffentlicht  habe  in  den  kurz  hinter  einander  erschienenen 
zwei  Schriften:  Welchen  Einfluss  übt  die  Schwerkraft  auf 
die  Theilung  der  Zellen?  und:  Das  Problem  der  Befruch- 
tung und  der  Isotropie  des  Eies,  eine  Theorie  der  Ver- 
erbung. 

In  der  ersten  Arbeit  (19)  besprach  ich  (Abschnitt  I)  die 
schon  früher  von  Haeckel,  Balfour  u.  A.  gewürdigte 
Erscheinung,  dass  die  Eier  im  Thierreich  ausser  ihrer  ver- 
schiedenen Form  und  Grösse  eine  sehr  verschiedene  Orga- 
nisation zeigen,  welche  durch  die  ungleiche  Vertheilung 
mehrerer  Substanzen  von  ungleichem  specifischem  Gewicht 
(Eiprotoplasma  und  Reserve-  oder  Dotterstoffe)  hervor- 
gerufen ist.  (Alecithale,  centrolecithale,  telolecithale,  mero- 
blastische Eier  etc.)  Dabei  wies  ich  nach,  dass  die  Son- 
derung der  verschiedenen  Substanzen  im  Eiraume  nicht  nur 
unter  dem  Einfluss  der  Schwere  erfolgt,  sondern  vor  allen 
Dingen  durch  Processe,  welche  mit  der  Entwicklung  des 
Eies  zusammenhängen,  in  hohem  Grade  gefördert  wird. 
Solche  Processe  sind:  1.  die  nach  Auflösung  des  Keim- 
bläschens erfolgende  Bildung  der  Richtungskörper  und 
2.  der  Befruchtungsact.  Denn  um  die  Kerne,  wenn  sie 
activ  werden  (Richtungsspindel,  Samenkern),  sammelt  sich 
das  Protoplasma  frei  von  Dotterkörnern  an  und  kommt  bei 
polar  differenzirten  Eiern  in  die  Umgebung  des  nach  oben 
gerichteten  animalen  Poles  zu  liegen. 

Im  zweiten  Abschnitt  Avies  ich  nach,  dass  die  Lage 
des  befruchteten  Kerns  im  thierischen  Ei  eine  streng  ge- 
setzmässige  ist  und  durch  zwei  Factoren  bestimmt  wird : 
1.  durch  die  äussere  Form    des  Eies  und    2.  durch  die  Art 


—     102     — 

und  Weise,  wie  Protoplasma  und  Nahrungsdotter  im  Ei  ver- 
theilt  sind.  Denn  „der  Kern,  von  welchem  auf  das  Proto- 
plasma Kraftwirkungen  ausgehen ,  wie  die  strahlenförmige 
Anordnung  der  Plasmatheilchen  um  ihn  lehrt,  sucht  stets  die 
Mitte  seiner  Wirkungssphäre  einzunehmen."   (1.  c.  S.  19.) 

In  einem  dritten  Abschnitt  stellte  ich  einige  Regeln 
auf,  welche  den  regelmässigen  Verlauf  der  ersten  Furchungs- 
ebenen  beherrschen:  Die  Theilungsebene  der  Zelle  wird 
durch  die  Stellung  der  Axe  der  Kernspindel  bestimmt. 
Denn  die  erstere  muss  die  letztere  immer  rechtwinklig 
schneiden.  „Es  ist  daher  a  priori  richtiger,  an- 
statt nach  der  Ursache  für  die  Richtung  der 
Theilungsebene  der  Zelle,  nach  der  Ursache  zu 
forschen,  von  welcher  die  Stellung  der  Kern- 
axe  abhängt,  da  diese  die  andere  bedingt."  (1.  c. 
S.  19.)  Die  Enden  der  Kernaxe  oder  Kernspindel,  die 
jetzigen  Centrosomen  mit  ihren  Attractionssphären,  nannte 
ich  „die  Kraftcentra,  um  welche  sich  die  Plasmatheilchen 
in  zwei  Strahlensystemen  anordnen,  wie  die  Eisen feil- 
späne  um  die  Spitze  eines  Magneten."    (Zusatz  2.) 

Für  die  Stellung  der  Kernaxe  fand  ich  dieselben 
Factoren  wie  für  die  Lage  des  befruchteten  Eikerns  rnaass- 
gebend ,  nämlich  die  Form  und  das  Massenverhältniss  des 
im  Ei  gleichmässig  oder  ungleichmässig  vertheilten  Proto- 
plasma, und  so  formulirte  ich  den  Satz,  welchen  ich  an 
mehreren  Beispielen  im  Einzelnen  erläuterte  und  als  gültig 
nachwies:  „An  dem  Furchungskern  bilden  sich  die  zwei  vor 
jeder  Theilung  auftretenden  Kraftcentra  in  der  Richtung  der 
grössten  Protoplasma- Ansammlungen  der  Eizelle."  (1.  e.  S.  20.) 

Das  Gesammtergebuiss  fasste  ich  in  die  kurze  Formel 
zusammen:  „Die  Richtung  und  Stellung  der  Theilunu's- 
ebenen    hängt   in    erster    Linie    von     der    Organisation    der 


—     103    — 

Zellen  selbst  ab;  sie  wird  direct  bestimmt  durch  die  Axe 
des  sich  zur  Theilung  anschickenden  Kerns.  Die  Lage 
der  Kernaxe  aber  steht  wieder  in  einem  Abhängigkeits- 
verhältniss  zur  Form  und  Differenzirung  des  sie  umhüllen- 
den protoplasmatischen  Körpers."     (1.  c.  S.  29.) 


Fig.  I.  Drei  Schemata  des  befruchteten  Eies  von  Ascaris  nigrovenosa, 
um  die  Drehung  des  copulirten  Kernpaares  zu  erläutern.  Die  Pfeile  e 
und  .*>•  zeigen  die  Richtung  an,  in  welcher  sich  Ei-  und  Samenkem  auf 
einander  bewegt  haben.  Richtung  1  ist  die  Queraxe  des  Eies,  mit  welcher 
die  Theilebene  später  zusammenfällt.  Die  Linie  2  zeigt  die  Richtung  der 
Copulationsfläche  auf  einem  Zwischenstadium  B  an. 


In  den  erläuternden  Ausführungen  habe  ich  noch 
weiter  hinzugefügt,  dass  Protoplasma  und  Kern  ihr 
Lageverhältniss  zu  einander  reguliren  kön- 
nen, indem  sie  wechselseitig  auf  einander  ein- 
wirken, ähnlich  wie  der  Magnet  und  die  in  seiner  Um- 
gebung befindlichen  Eisentheilchen.     (Zusatz  3.) 

Als  vorzügliches  Beispiel  zur  Erläuterung  dieses  Ver- 
hältnisses bot  sich  die  interessante  Beobachtung  von  Auer- 
bach dar,   auf  welche   ich  schon  öfters  hingewiesen  habe: 


—     104    — 

Die  länglich  ovalen  Eier  von  Ascaris  nigrovenosa,  welche 
im  Eileiter  einzeln  hinter  einander  aufgereiht  sind  (Fig.  L), 
werden  beim  Eintritt  in  die  Gebärmutter  an  ihrem  voran- 
gehenden Pol  befruchtet,  während  am  entgegengesetzten  Pol 
die  Richtungskörper  entstehen.  Eikern  und  Samenkern 
bilden  sich  daher  an  zwei  entgegengesetzten  Enden  des 
ovalen  Eies  und  wandern  darauf  unter  allmählicher  Ver- 
gröfserung  einander  entgegen,  bis  sie,  zwei  Blasen  von  an- 
sehnlicher Gröfse,  in  der  Mitte  sich  treffen,  sich  fest  zu- 
sammenlegen und  an  den  BerührungsfläcJien  abplatten.  Die 
abgeplattete  Copulations fläche  fällt  daher  Anfangs 
mit  der  Querebene  des  ovalen  Eies  zusammen,  dreht  sich 
dann  aber  so,  dass  sie  in  seine  Längsaxe  zu  liegen  kommt. 
Die  so  eigenthümliche  Rotationsbewegung  des  copulirten 
Kernpaares  wies  ich  als  eine  nothwendige  Reguli run g 
seiner  Lage  durch  gegenseitige  Beeinflussung 
von  Protoplasma  und  Kern  in  folgender  Weise  nach 
(1.  c.  S.  21): 

Nach  den  1883  erschienenen  ausgezeichneten  Unter- 
suchungen von  Ed.  van  Beneden  ist  von  jedem  der 
conjugirten  Kerne  die  Hälfte  seiner  Substanz  für  je  einen 
Kern  der  beiden  Tochterzellen  bestimmt.  Jede  erhält  von 
Ei-  und  Samenkern  gleich  viel  weibliche  wie  männliche 
Tochtersegmente.  Die  mehrfach  bestätigte  und  ohne  Zweifel 
allgemein  gültige  Beobachtung  schlage  ich  vor  das  van 
Beneden'sche  Gesetz  zu  nennen.  Eine  derartige  Sub- 
stanzvertheilung,  so  folgerte  ich  damals,  ist  nur  möglich, 
wenn  das  Kernpaar  durch  eine  Ebene  halbirt  wird,  welche 
ihre  Berührungsfläche  (Copulationsfläche)  rechtwinklig 
schneidet.  Folglich  müssen  sich  an  zwei  opponirten  Punkten 
der  letzteren  die  Attractionscentren ,  welche  die  Lage  der 
Kernaxe   bedingen,   entwickeln    und    somit  ebenfalls  in  die 


—     105 

Querebene  des  Eies  zu  liegen  kommen.  Hieraus  würde 
sich  wieder  ergeben,  dass  die  erste  Theilungsebene  das  Ei 
der  Länge  nach  halbiren  müsste,  was  die  unzweckmässigste 
und  mit  der  grössten  Arbeit  verbundene  Richtung  wäre 
und  den  oben  aufgestellten  Regeln  widerspräche.  Daher 
muss  die  durch  den  Befruchtungsverlauf  bedingte  Aus- 
gangsstellung des  copulirten  Kernpaares  geändert  werden, 
sowie  mit  dem  Auftreten  der  zwei  Attractionscentren  Kern 
und  Protoplasma  in  regulirende  Wechselwirkung  treten. 
Die  Attractionscentren  müssen  sich  nach  dem  von  mir  ent- 
wickelten Gesetz  unter  Drehung  des  Kernpaares  so  ein- 
stellen, dass  sie  in  die  Richtung  der  grössten  Protoplasma- 
anssammlungen  zu  liegen  kommen,  wodurch  die  Kernaxe 
mit  der  Eiaxe  zusammenfällt.  Erst  auf  Grund  einer 
derartigen  noth wendigen  Regulirung  der  Stel- 
lung des  Kernpaares  kann  im  ovalen  Ei  von 
Ascaris  nigrovenosa  die  Th eilung  des  Dotters 
entsprechend  der  von  mir  aufgestellten  Regel 
und  die  Verth  eilung  der  Tochter  k  er  nsegmente 
von  Ei-  und  Samenkern  entsprechend' dem  van 
Beneden'schen  Gesetz  vor  sich  gehen. 

In  einer  zweiten,  gleich  darauf  veröffentlichten  Ab- 
handlung (20)  suchte  ich,  gestützt  auf  die  Erscheinungen 
der  Befruchtung  und  der  Kerntheilung  und  anknüpfend  an 
die  Nä gel i' sehe  Idioplasmatheorie,  den  Beweis  zu  führen, 
dass  der  Kern  der  Träger  der  Eigenschaften  ist,  welche 
von  den  Eltern  auf  ihre  Nachkommen  vererbt  werden,  dass 
er  zumal  in  seinem  Chromatin  das  von  Nägeli  geforderte 
hypothetische  Idioplasma  enthält.  Gleichzeitig  und  unab- 
hängig von  mir  wurde  diese  Theorie  auch  von  S  t  r  a  s  - 
burger  entwickelt;  sie  ist  bald  darauf  von  Kölliker, 
Weismann,    Roux  u.  A.  angenommen,    dabei    aber   von 


—     106     — 

Weismann  und  Roux  in  abweichender  Weise  weiter  aus- 
geführt und  verwerthet  worden.  In  meiner  Abhandlung 
schloss  ich  mich  auch  zum  Theil  der  von  Roux  1883  ausge- 
sprochenen Ansicht  über  die  Bedeutung  der  Kerntheilungs- 
figuren  sowie  seiner  Darlegung  an,  dass  der  Kern  aus  einer 
complicirten  und  mit  zahlreicheren  Qualitäten  ausgestatteten 
Substanz  als  das  Protoplasma  bestehen  müsse.  Für  das 
Protoplasma  des  Eies  nahm  ich  auf  Grund  der  von 
Pflüg  er  angestellten  Experimente  und  in  Uebereinstim- 
mung  mit  seinen  Schlussfolgerungen  eine  Isotropie  an. 
Mit  diesem  Worte  will  ich  wie  Pflüger  die  Thatsache 
bezeichnen ,  dass  die  einzelnen  Organe  des  Embryo  nicht 
auf  besondere,  im  Ei  schon  gesetzniässig  vertheilte  Sub- 
stanztheile  zurückzuführen  sind,  welche  die  Anlagen  für  sie 
darstellen.  Ich  verwende  das  Wort  Isotropie  also 
nur  im  Gegensatz  zum  Princip  der  organ bil- 
den den  Keimbezirke  und  zur  Negation  desselben-,  da- 
gegen will  ich  nicht  etwa  darunter  verstanden  haben,  dass 
dem  Ei  als  Zelle  in  der  Vertheilung  von  Protoplasma, 
Dotter,  Pigment  etc.  nicht  eine  besondere,  ihm  eigenthüm- 
liche  Art  von  Organisation  zukäme;  habe  ich  doch  gerade 
diese  Art  von  Organisation  zu  derselben  Zeit,  wo  ich  über 
Vererbung  schrieb .  verwerthet,  um  daraus  die  Regeln  für 
die  Lage  des  befruchteten  Eikerns  und  für  die  Richtung 
und  gesetzmässige  Aufeinanderfolge  der  Theilungsebenen 
herzuleiten.  Man  muss  die  hier  gegebene  Definition  wold 
im  Auge  behalten,  denn  sonst  können  die  Worte  Isotropie 
und  isotrop  leicht  zu  dem  Missverständniss  Veranlassung 
geben,  als  ob  dem  Ei  überhaupt  eine  Organisation  abge- 
sprochen werden  solle,  was,  wie  gezeigt,  von  meiner  Seite; 
wenigstens  in  keiner  Weise  der   Fall   ist. 


—     107     — 

Zu  den  im  Jahre  1884  veröffentlichten  Ergebnissen 
bin  ich  durch  Vergleichung  und  kritische  Beurtheilung 
zahlreicher  Betrachtungen  gelangt,  welche  theils  von  anderen 
Forschern,  theils  von  mir  selbst  gemacht  worden  waren. 
Ich  versuchte  die  mannigfaltigen,  in  der  ersten  Entwicklung 
des  Eies  an  vielen  verschiedenen  Objecten  beobachteten 
Erscheinungen  auf  einige  wenige  gemeinsame  Regeln  zu- 
rückzuführen. 

Roux  dagegen  hat  mehr  den  Weg  des  Experimentes 
eingeschlagen,  als  er  sich  zu  derselben  Zeit  mit  der  Er- 
klärung der  ersten  Entwicklungsprocesse  zu  beschäftigen 
begann,  und  hat  zum  ausschliesslichen  Gegenstand  seiner 
Untersuchungen  das  Froschei  gewählt.  Die  Vorstellungen, 
welche  er  sich  auf  diesem  Wege  von  der  Bedeutung  der 
ersten  Entwicklungsprocesse  gebildet  hat,  sind  in  ihrer  ur- 
sprünglichen Fassung  von  den  meinigen  so  wesentlich  ver- 
schieden ,  dass  eine  Auseinandersetzung  nicht  ausbleiben 
konnte.  Den  Anstoss  zu  einer  solchen  gaben  hierauf  die 
schon  erwähnten  Experimente  von  Driesch  (7).  Die 
hauptsächlichsten  Differenzpunkte,  um  welche  es  sich  in 
der  vor  vier  Jahren  begonnenen  literarischen  Fehde  handelt, 
will  ich  in  vier  kritischen  Studien  besprechen,  wobei  ich 
mich  an  den  historischen  Gang  der  Roux' sehen  Unter- 
suchungen halten  werde. 

Erste  Studie.    Die  Mosaiktkeorie. 

„Entweder  experimentirt  mau  in's  Geradewohl  und 
fängt  hinterher  zu  betrachten  an,  oder  zum  Wohl  einer 
vorgefassten  Meinung  wird  so  lauge  experimentirt ,  bis 
die  Erfahrung,  wie  mau  sieh  auszudrücken  pflegt,  mit 
der  Theorie  zusammenstimmt."      Johannes  Müller. 

Roux  hat  sich  zuerst  die  Frage  gestellt:  Besteht 
zwischen  der  Richtung  der  ersten  Furchungs- 
ebene  und  der  Richtung  der  Medianebene  des 
späteren  Embryo  eine    constante  Beziehung? 


—     108     — 

Nach  einem  hier  nicht  näher  anzugebenden  Verfahren 
zeichnete  er  an  isolirten  Eiern,  die  in  Ruhelage  beobachtet 
wurden,  die  Richtung  der  ersten  Theilung  auf  ein  Stück 
Papier  auf,  desgleichen  später  die  Richtung  des  Urmundes  und 
der  Medullarwülste,  an  welchen  die  Medianebene  des  Embryo 
zuerst  deutlich  erkannt  wird.  Er  verglich  die  so  ermittelten 
Richtungen  unter  einander  und  fand,  dass  die  beiden  Rich- 
tungen selten  zusammenfielen,  meist  kleinere  oder  grössere 
Winkel  von  0  bis  9°  mit  einander  bildeten,  dass  aber  bei 
länger  fortgesetzten  Versuchsreihen  unter  Vermeidung  etwaiger 
Fehlerquellen  eine  immer  grössere  Zahl  von  Eiern  das  Be- 
streben zeigte,  die  Richtungen  der  ersten  Theilungsebene 
und  der  späteren  Medianebene  zusammenfallen  zu  lassen. 

Die  durch  Ausschluss  von  Fehlerquellen  besser  ge- 
wordenen Versuchsresultate  und  die  „Ueberzengung,  dass 
doch  irgend  eine  feste  Beziehung  zwischen  den 
bezüglichen  Richtungen  bestehen  müsse,  dass 
unmöglich  die  Continuität  der  Richtungen  des  normalen, 
embryonalen  Geschehens  an  einer  Stelle  unterbrochen  sein 
könne"  (G.  A.  S.  104),  veranlassten  Roux,  unermüdlich  die 
Fehlerquellen  aufzusuchen  und  zu  vermeiden ;  sie  bestimmten 
ihn  dann  ferner,  die  gefundenen  kleineren  und  grösseren 
Abweichungen  nicht  auf  Abweichungen  von  dem  Ge- 
setz, sondern  auf  die  noch  restirenden  Fehlerquellen  des 
Versuchs  zurückzuführen  und  somit  das  Gesetz  aufzustellen : 
„Mit  der  Ebene  der  ersten  Furchung  wird  (unter  normalen 
Verhältnissen)  beim  Froschei  zugleich  auch  die  zukünftige 
Medianebene  des  Individuums  bestimmt,  und  zwar  fallen 
beide  zusammen"  (1.  c.  S.  109 — 110). 

Somit  stand  im  Urtheil  von  Roux  das  Gesetz 
schon  von  vornherein  fest,  ehe  noch  das  Ex- 
periment    ein     entscheidendes     Ergebniss     ge- 


—     109     — 

liefert  hatte.  Da  nun,  wie  bekannt,  die  zweite  Teil- 
ebene die  erste  senkrecht  und  rechtwinklig  schneidet,  die 
dritte  Theilebene  dann  wieder  in  der  dritten  Richtung  des 
Raumes  erfolgt  und  horizontal  zu  liegen  kommt,  so  ergiebt 
sich  aus  dem  ersten  Gesetz  als  weitere  Consequenz,  dass 
am  Beginne  der  Entwicklung  gleich  alle  Hauptrichtungen 
des  Embryo  normirt  werden,  und  „dass  die  normale 
embryonale  Entwicklung  in  diesen  Beziehungen  von  An- 
fang an  ein  festes  System  von  Richtungen  ist,  welches 
keine  Unterbrechung  zeigt,  und  wo  einem  späteren  Zufall 
in  dieser  Beziehung  nichts  mehr  zur  Bestimmung  über- 
lassen bleibt". 

Denn  die  ziemlich  zahlreichen  Abweichungen,  die  in 
jeder  Versuchsreihe  vorkamen  und  mit  „dem  Gesetz"  nicht 
übereinstimmen  wollten,  wurden  einfach  als  „Versuchs- 
fehler" ausgesondert,  was  ein  ganz  willkürliches  und  durch 
nichts  gerechtfertigtes  Verfahren  ist,  oder  sie  wurden  in 
das  Gebiet  anomaler  Entwicklung  verwiesen.  Die  bei 
Rana  escuienta  häufig  ermittelte  Erscheinung,  dass  die 
erste  Furche  mehr  mit  der  Querebene  als  mit  der  Median- 
ebene des  weiter  entwickelten  Embryos  zusammenfällt, 
veranlasst  Roux,  die  Hypothese  des  Anachronismus 
(G.  A.  S.  164)  zu  erfinden;  er  nimmt  an,  dass  in  diesen 
Fällen  der  normaler  Weise  zweiten  Furche  der  Vortritt 
vor  der  ersten  Furche  gelassen  worden  ist. 

An  sein  vermeintliches  Gesetz  hat  Roux  die  nahe- 
liegende und  bedeutungsvolle  Frage  angeknüpft:  Wodurch 
wirken  die  Richtungen  der  ersten  Theilebenen  auf  die  Lage 
der  späteren  Organe  des  Embryo  von  Anfang  an  ursäch- 
lich bestimmend  ein?  Er  hat  schon  früh  im  Verlauf  seiner 
Untersuchungen  hierauf  mit  der  Hypothese  geantwortet  (G. 
A.  S.  331): 


—     110     — 

„Das  Wesen  der  normalen  Furchung  besteht  (abgesehen 
von  der  Zerlegung  des  Eies  in  kleinere  Zellen)  darin ,  dass 
sie  das  (durch  die  Befruchtung  activirte)  Keimmaterial 
»qualitativ«  scheidet  und  es  zugleich  in  einer  Weise  zu 
einander  »ordnet«,  welche  die  Lage  der  späteren  differen- 
zirten  Organe  des  Embryo  im  Voraus  bestimmt.  Die 
qualitative  Scheidung  und  bestimmte  Lagerung  betrifft 
»vorzugsweise«  das  »Kernmaterial«  und  wird  durch  die 
»indirecte«   Kerntheilung  vermittelt." 

Einen  hohen  Grad  von  Gewissheit  gewann  für  Roux 
diese  gleichfalls  a  priori  gewonnene  Hypothese  durch  Ex- 
perimente, welche  er  im  Anschluss  an  Untersuchungen  aus 
dem  Jahre  1885  im  Jahre  1887  anstellte  und  1888  ver- 
öffentlichte. Schon  1885  (G.  A.  S.  146)  hat  Roux  durch 
Anstich  mit  zugeschärfter  Nadel  am  Froschei  kleine  Ver- 
letzungen angebracht,  entweder  bald  nach  der  Befruchtung 
oder  auf  einzelnen  Stadien  der  Furchung,  der  Keimblase 
und  der  Gastrula  etc. ;  er  hat  so  an  bestimmten  Theilen  des 
Eies  Marken  gesetzt,  welche  sich  im  Weiterverlauf  der  Ent- 
wicklung zuweilen  noch  erkennen  Hessen.  Er  wollte  sehen, 
ob  localisirte  Defecte  eintreten,  und  ob  sich  aus  ihnen  der 
Schluss  würde  ziehen  lassen,  dass  „das  Keimplasma  zur 
Zeit  der  ersten  Furchungen  schon  entsprechend  den  späteren 
Einzelbildungen  different  beschaffen  und  bestimmt  localisirt 
sei"  (1.  c.  S.  154). 

Seine  ersten  Versuche  haben  an  sicheren  speciellen 
Ergebnissen,  wie  Roux  selbst  hervorhebt  (S.  189),  nur 
erst  wenig  geboten.  Namentlich  sind  die  Embryonen,  welche 
nach  Verletzung  einer  der  ersten  Furchungszellen  erhalten 
wurden,  sehr  verschieden  ausgefallen,  theils  normal,  theils 
mit  diesen  und  jenen  Defecten  versehen. 

In  der  zusammenfassenden  Beurtheilung  (S.  181)  heisst 


—   111    — 

es:  „Man  wird  vielleicht  geneigt  sein,  aus  den  Versuchs- 
ergebnissen auch  schon  speciellere  Schlüsse,  besonders  über 
die  eventuelle  Verschiedenheit  und  über  die  Localisation 
des  Keimmaterials  im  Ei,  sowie  über  die  Selbstdifferenzi 
rung  der  Eitheile  zu  ziehen,  doch  würden  diese  Folgerungen 
zur  Zeit  verfrüht  sein  und  müssten  gewärtigen ,  durch  die 
weiteren  Versuche  widerlegt  zu  werden.  Ich  behalte  mir 
daher  die  Entscheidung  nach  diesen  Richtungen  hin  vor, 
bis  ich  einerseits  die  Ursache  des  häufigen  Ausbleibens 
jedes  Defects  am  Embryo  sicher  ermittelt  habe,  und 
bis  andererseits  die  Methode  der  Localisation  so 
verbessert  ist,  dass  die  Resultate  der  Wieder- 
holung desselben  Eingriffes  consta nt  geworden 
sind,  und  es  sich  danach  verlohnt,  die  künst- 
lich e  n  M  i  s  s  b  i  1  d  u  n  g  e  n  genau  mikroskopisch  zu  unter- 
suchen und  so  alle  Alterationen  der  Entwicklung,  nicht  bloss 
die  äusserlich  sichtbaren,  festzustellen." 

Noch  ehe  indessen  Roux  seine  zweite  Untersuchungs- 
reihe 1888  veröffentlichte,  hat  der  inzwischen  verstorbene 
französische  Naturforscher  Chabry  (4,  Zusatz  4)  an  den 
sehr  kleinen  Ascidieneiern  ähnliche  Experimente  ausgeführt, 
welche  in  einer  1877  erschienenen  Doctorarbeit  mitgetheilt 
sind.  Wegen  der  sehr  geringen  Grösse  des  Eies  hat  Chabry 
mit  äusserst  feinen  Glasnadeln  und  besonders  construirten 
Instrumenten,  die  dazu  dienen,  die  Nadel  auch  sicher  auf 
einen  bestimmten  Theil  des  Eies  unter  dem  Mikroskop  hin- 
zuführen, eine  der  ersten  Furchungszellen  anzustechen  und 
abzutöd ten  versucht.  Im  Unterschied  zum  Froschei 
hat  hier  eine  Verletzung  der  kleinen  Zellen 
sofort  ihren  Tod  durch  Zerfall  und  körnige 
Gerinnung  zur  Folge.  So  konnten  auf  dem  Stadium 
der  Zweitheilung    entweder   die    linke    oder  rechte  Eihälfte, 


—     112     — 

auf  dem  Stadium  der  Viertheilung  eine  oder  zwei  von  den  vier 
Zellen  wirklich  vollständig  aus  dem  Entwicklungsgang  aus- 
geschaltet werden.  Die  nicht  verletzten  Zellen  des  Ascidien- 
eies  entwickelten  sich  weiter  und  lieferten  je  nach  den 
Zellen,  die  durch  Anstich  entfernt  waren ,  nach  der  Be- 
urtheilung  von  Chabry,  Missbildungen;  er  nannte  sie 
linke  oder  rechte  Halbembryonen,  Dreiviertel-  oder  Viertel- 
embryonen (demi-individus  droits,  demi-individus  gauches. 
Trois-quarts  d'individu  anterieur  droit  s.  anterieur  gauche. 
Trois  quarts  d'individu  posterieur  gauche  s.  droit.  Deux 
quarts  anterieurs.  Deux  quarts  posterieurs.  Quarts  d'indi- 
vidu). 

Die  Namen  sind  recht  unglücklich  gewählt  und  geeignet, 
ganz  falsche  Vorstellungen  wachzurufen.  Denn  wie  die 
Beschreibungen  und  namentlich  die  Abbildungen  von 
Chabry  selbst  lehren,  und  wie  es  später  auch  Driesch(7b) 
durch  Untersuchung  des  gleichen  Objects  noch  besonders  fest- 
gestellt hat,  entstehen  bei  der  Zerstörung  von  einer  der  zwei 
oder  von  dreien  der  vier  ersten  Furchungszellen  keine  Hälften 
und  keine  Viertel  von  Embryonen,  sondern  im  Ganzen  nor- 
male Embryonen  von  halber  oder  Viertelgrösse, 
die  nur  hie  und  da  noch  einen  geringen  Organ- 
defect  (Fehlen  eines  Pigmentflecks)  aufweisen. 

In  seinen  1887  neu  aufgenommenen  Experimenten  hat 
Roux  die  zum  Anstich  benutzte  Nadel  erwärmt,  da  früher 
die  Verletzung  mit  kalter  Nadel,  auch  wenn  Dottersubstanz 
ausgetreten  war,  häufig  keine  Störung  in  der  Weiter- 
entwicklung ergeben  hatte.  Durch  die  Erwärmung  hoffte 
er  die  verletzten  Zellen  ganz  abzutödten  oder  intensiver 
zu  schädigen.  Das  Ergebniss  war  jetzt  ein  besseres  und 
lieferte  nach  dem  Urtheile  von  Roux  nach  Zerstörung  der 
linken    oder    rechten    Hälfte    des    zweigeteilten  Eies    einen 


—     113     - 

Hemiembryo  clexter  oder  sinister,  nach  Zerstörung  der 
zwei  hinteren  Viertel  des  viergetheilten  Eies  einen  Hemi- 
embryo anterior  (1.  c.  S.  419). 

Aus  den  so  gewonnenen  Ergebnissen  schliesst  Roux, 
dass  jede  der  vier  ersten  Furchungskugeln  sich  unabhängig 
von  den  anderen  durch  Selbstdifferenzirung  zu  einem  be- 
stimmten Stück  des  Embryo  entwickelt,  dass  sie  nicht  nur 
das  Bildungsmaterial,  sondern  auch  die  gestaltenden  und 
differenzirenden  Kräfte  zu  einem  solchen  enthält.  Er  sieht 
seine  schon  früher  a  priori  aufgestellte  Hypothese  hinsicht- 
lich der  Bedeutung  der  ersten  Furchungen  zur  Gewissheit 
erhoben  und  erklärt: 

1)  „Die  Furchung  scheidet  den  die  directe  Ent- 
wicklung des  Individuums  vollziehenden  Theil  des  Keim- 
materiales,  insbesondere  des  Kernmateriales,  „qualitativ"  und 
bestimmt  mit  der  dabei  stattfindenden  „Anordnung"  dieser 
verschiedenen  gesonderten  Materialien  daher  zugleich  die 
„Lage"  der  späteren  differenzirten  Organe  des  Embryo" 
(1.  c.  S.  450). 

2)  „Es  liegt  nahe,  den  Schluss  bezüglich  der  ..qualita- 
tiven Materialscheidung"  auch  auf  die  folgenden  Furchungen 
auszudehnen" ;  eine  Auffassung,  deren  Berechtigung  indessen 
Roux  erst  noch  durch  weitere  Versuche  darthun  will. 

3)  „Die  Gastrulation  vollzieht  sich  in  jeder  Antimere 
selbständig,  und  das  Gleiche  ist  auch  in  der  caudalen  und 
cephalen  Hälfte  der  Fall.  Demnach  gilt  es  auch  für  die 
betreffenden  Viertel."  ..Die  Entwicklung  der  Froschgastrula 
und  des  zunächst  daraus  hervorgehenden  Embryo  ist  von 
der  zweiten  Furchung  an  eine  Mosaikarbeit,  und  zwar  aus 
mindestens  »vier«  verticalen,  sich  selbständig  entwickelnden 
►Stucken"  (1.  c.  S.  455).  Unter  Mosaikarbeit  versteht 
Roux  „einen  Bildungsvorgang,    bei    welchem    „ein  Ganzes 


—     114    — 

aus  mehreren  oder  vielen  sich  selbständig  diffei-enzirenden 
Theilen"  entsteht,  so  dass  „es  ähnlich  einer  Mosaik  aus 
einzelnen,  für  sich  gebildeten  Theilen  zusammengesetzt  ist" 
(1.  c  S.  821). 

Bei  seinen  Experimenten  erhielt  Roux  noch  ein  Neben- 
resultat. Er  beobachtete  häufig  an  operirten  Eiern,  die  sich 
zu  einem  Hemiembryo  entwickelt  hatten ,  dass  sich  die 
fehlende  Hälfte  noch  nachträglich  aus  dem  Material  der 
durch  Anstich  verletzten  Furchungskugel  anlegte.  Er  be- 
zeichnete den  Vorgang  im  Unterschied  zur  Regeneration  als 
Postgeneration  (1.  c.  S.  484). 

Auf  die  niitgeth eilten  Experimente  und  Folgerungen 
von  Roux  wurde  ausführlicher  eingegangen,  weil  sie 
gewissermaassen  das  Centrum  seiner  ganzen  Stellung  bilden, 
an  welches  sich  seine  übrigen  Untersuchungen  anlehnen. 
Daher  muss  auch  die  Kritik  hier  in  besonders  eingehender 
Weise  einsetzen.  Ich  werde  sie  damit  beginnen ,  dass  ich 
den  von  Roux  formulirten  Lehrsätzen  die  von  mir  ge- 
wonnenen abweichenden  Ergebnisse  in  der  Form  kurz- 
gefasster  Thesen  gegen  überstelle  und  dann  zu  ihrer  Be- 
gründung übergehe. 

Die  Richtung  und  Aufeinanderfolge  der 
drei  ersten  T  h  e  i  1  u  n  g  s  e  b  e  n  e  n  wird  durch  die 
Organisation  der  Eizelle  bestimmt,  durch 
ihre  F o  r  m  u n d  d u r c h  die  b esondere  Ve r - 
theilung  und  Anordnung  der  in  ihr  ent- 
haltenen Zellsubstanzen  (Protoplasma,  Dotter- 
material  etc.).  2)  Die  Richtungen  der  ersten 
T  h  e  i  1  u  n  g  s  e  b  e  n  e  n  haben  keinen  d  i  r  e  c  t  e  n  u  r  - 
s ä chlichen  Bezug  auf  die  Lage  der  drei  Haupt- 
r  ich  tun  gen  des  weiter  di  fferenz  i  rtcn  embryo- 
nalen Körpers;  sie  bestimmen  sie  nicht;  ebenso 


—     115     — 

wenig  besteht  die  A  u  f  g  a  b  e  der  ersten  T  h  e  i  - 
hingen  darin,  eine  Sonderung  in  speci fische 
Materialien  für  bestimmte  Stücke  des  zu- 
künftigen Embryo  herbeizuführen  und  zu  dem 
Zwecke  die  Kernsubstanz  in  qualitativ  un- 
gleiche Tochterkerne  zu  zerlegen.  3)  Durch 
den  Furchungsprocess  wird  vielmehr  nichts 
mehr  und  nichts  minder  erreicht,  als  dass  die 
ursprüngliche  Eizelle  sich  Schritt  für  Schritt 
in  zwei,  vier  und  mehr  Tochterzellen  vermehrt, 
die  sich  von  einander  eventuell  nur  durch 
Grösse,  Form,  Gehalt  an  verschiedenen  Zell- 
materialien (Protoplasma,  Dotter,  Pigment  etc.) 
und  durch  ihre  Lage  unterscheiden. 

Wegen  der  ersten  These,  welche  1884  von  mir  auf- 
gestellt, trotz  einiger  Einwände  auch  durch  andere  Forscher 
von  Jahr  zu  Jahr  mehr  bestätigt  worden  ist,  verweise  ich 
auf  das  früher  Gesagte  und  auf  meine  oben  genannte  Abhand- 
lung (19).  Für  die  zweite  These,  welche  sich  direct  gegen 
Roux  wendet,  lassen  sich  folgende  Argumente  geltend  machen. 

Das  Zusammenfallen  einer  der  ersten  Theilungsebenen 
des  Eies  mit  der  Medianebene  des  Embryo  stellt  ein  mög- 
liches, aber  kein  ursächlich  n  o  t  h  w  e  n  d  i  g  e  s  Ve  r  - 
hältniss  he r.  Hier  gilt  der  Satz :  Es  kann  sein,  es  kann 
aber  auch  anders  sein,  es  braucht  nicht  so  zu  sein.  Als  ein 
ursächlich  nothwendiges  Verhältniss  aber  hat  Roux  das 
Zusammenfallen  von  erster  Theilungsebene  und  Medianebene 
des  Embryo  angesehen  und  nachzuweisen  versucht.  Be- 
zeichnet er  es  doch  als  einleuchtend,  dass,  wenn  die  ersten 
beiden  Furchungskugeln  das  Material  für  die  linke  und 
rechte  Körperhälfte  enthalten,  bei  der  geringsten  Unvoll- 
kommenheit  der  „qualitativen  Halbirungu    die  eine  Körper- 


—     116     — 

hälfte  früher  oder  später  entsprechend  anders  werden 
muss  (Halbseitigkeit  mancher  Bildungs-  und  Erhaltungs- 
abweichungen bis  zu  dieser  Ebene,  frühzeitiges  Ergrauen 
der  Haare  einer  Seite,  Riesenwuchs  einer  Kopf  hälfte  etc.) 
(1.  c.  S.  450). 

Es  ist  leicht  nachzuweisen,  class  solche  ursächlich 
nothwendige  Beziehung  zwischen  der  Lage  der 
Medianebene  mit  einer  der  ersten  Furchung s- 
ebenen  nicht  existirt.  Wie  schon  das  vergleichende 
Studium  des  Furchungsprocesses  bei  verschiedenen  Thieren 
lehrt,  handelt  es  sich  um  variabele  Erscheinungen.  Zum 
Beispiel  verschieben  sich  während  der  Furchung  die  Zellen 
an  einander,  wenn  auch  in  geringem  Maasse,  wodurch  aber 
immerhin  die  ursprüngliche  Lage  der  Theilebenen  allmählich 
sehr  verändert  wird.  (Brechungsfurche  des  Zweitheiiungs- 
stadiums,  Veränderung  der  Lage  der  vier  oberen  animalen 
Zellen  gegen  die  vier  vegetativen.)  Noch  mehr  aber  zeigen 
experimentelle  Eingriffe  (Plattdrücken  der  Eier  zu  einer 
Scheibe  zwischen  horizontal  oder  vertical  gestellten  Object- 
trägern,  Umformung  durch  Einführen  in  eine  enge  Röhre 
oder  momentaner,  kurz  vor  einer  Theilung  ausgeübter 
Druck,  durch  welchen  die  Kernspindel  aus  ihrer  Stellung 
gebracht  wird),  dass  Richtung  der  Theilflächen ,  Lage  der- 
selben zu  einander,  Grösse  der  Theilstücke  sich  im  weitesten 
Umfang  ändern  lassen.  Durch  derartige  Experimente  kann 
man  unschwer  vollkommen  gut  entwickelte  Embryonen  er- 
halten, deren  Medianebene  nachweisbar  überhaupt  mit  keiner 
der  drei  oder  vier  ersten  Theilebenen  des  Eies  zusammen- 
fallt, aus  dem  sie  entstanden  sind. 

Durch  experimentelle  Abänderung  des  Furchungs- 
processes kann  man  sogar,  wie  Driesch  (7)  zuerst  für 
das    Seeigelci,    ich    selbst    darauf   für    das    Froschei    nach- 


—     117    — 

gewiesen  habe  (25) ,  die  durch  die  ersten  fünf  Theilungen 
gebildeten  32  Kerne  im  Eiraum  gleich  Kugeln  verlagern, 
die  man  durch  einander  würfelt,  wie  sich  D  r  i  e  s  c  h  in  be- 
zeichnender Weise  ausgedrückt  hat  (Zusatz  5). 

Bei  Gültigkeit  des  R  o  u  x '  sehen  Gesetzes  müssten  die 
zahlreichen,  künstlich  zu  erzeugenden  Varianten  des  Fur- 
chungsprocesses ,  welche  im  höchsten  Grade  einander  un- 
ähnlich sind,  lauter  abnorme  Embryonen  liefern  mit  un- 
gleicher Grösse  einzelner  Körpertheile  und  Verlagerung  der 
einzelnen  Organe.  Im  Falle,  dass  durch  die  erste  Theilung 
das  Ei  in  eine  kleine  und  eine  viel  grössere  Zelle  gesondert 
ist,  wäre  ein  Embryo  zu  erwarten  mit  einer  übermässig 
grossen  und  einer  kleinen  Körperhälfte.  Bei  durch  einander 
gewürfeltem  Kernmaterial  müssten  Monstra  entstehen  mit 
Organen,  die,  gleichfalls  durch  einander  gewürfelt,  keinen  Be- 
zug mehr  auf  einander  haben.  In  Wirklichkeit  entwickeln 
sich  indessen  aus  allen  Eiern,  mögen  sie  sich  gefurcht 
haben,  wie  sie  wollen,  stets  wohlgebildete  Embryonen ;  zwar 
sind  sie  auf  frühen  Stadien,  wie  die  zum  Experiment 
verwandten,  noch  ungetheilten  Eier,  dorsoventral  oder  von 
links  nach  rechts  plattgedrückt  oder  tonnenförmig  gestaltet, 
wenn  die  Eier  in  eine  Röhre  gebracht  worden  waren ;  aber 
hiervon  abgesehen  sind  sie  sowohl  in  Bezug  auf  die  Zusammen- 
setzung ihrer  Organe  als  auch  in  Bezug  auf  die  Lage  derselben 
zu  einander  und  zu  der  Symmetrieebene,  die  keiner  der  ersten 
Furchungsebenen  entspricht,  durchaus  normal  ausgefallen. 

Nachdem  Pflüger  gleichzeitig  mitRoux  das  häutige 
Zusammenfallen  der  ersten  Theilebene  mit  der  Medianebene 
des  Embryo  bei  Rana  esculenta  beobachtet,  dann  aber 
auch  die  Abweichungen  von  dieser  Regel  bei  Eiern  in 
Zwangslage  gefunden  hatte,  zog  er  daraus  auch  sofort  den 
richtigen  Schluss:    „Die  Furchung  soll  das  Bildungsmaterial 


—     118     - 

in  kleine  Bausteine  verwandeln,  und  es  ist  ziemlich  gleich- 
gültig, in  welcher  Reihenfolge  die  vorschreitende  Zerklei- 
nerung sich  vollzieht"  (42,  S.  35). 

Roux  hat  Gelegenheit  gehabt,  abnorme  Furchungs- 
erscheinungen ,  überhaupt  Ausnahmen  von  seinem  angeb- 
lichen Naturgesetz  auch  häufig  zu  beobachten,  wie  er  denn 
gleichzeitig  mit  Pflüg  er  zuerst  durch  experimentellen  Ein- 
griff den  Furchungsverlauf  abgeändert  hat ;  er  Hess  sich  aber 
hierdurch  ebenso  wenig  wie  durch  den  unsicheren  Aus- 
fall seiner  Experimente  in  seiner  einmal  gefassten  Meinung 
irre  machen;  in  den  Gedanken,  dass  es  sich  bei  dem  Zu- 
sammenfallen der  ersten  Theilungsebene  und  der  Median- 
ebene um  eines  jener  Naturgesetze  handeln  müsse,  deren 
experimentelle  Begründung  er  sich  zur  Lebensaufgabe 
machen  wollte,  hat  er  sich  von  Anfang  an  so  hineingelebt, 
dass  er  Ausnahmen  entweder  auf  Fehler  des  Experiments 
zurückführte  oder  durch  Hilfshypothesen  zu  erklären  suchte. 
Auf  letztere  kommen  wir  später  zurück. 

Als  ich  in  meiner  Abhandlung  über  den  Werth  der 
ersten  Furchungszellen  etc.  im  Jahre  1893  der  Roux'schen 
Lehre  ein  umfangreiches,  zumeist  gleichfalls  auf  experimen- 
tellem Wege  gewonnenes  Beobachtungsmaterial  gegenüber- 
stellte, erfolgte  auch  von  seiner  Seite  sofort  die  Entgegnung, 
dass  meine  abweichenden  Ergebnisse  auf  Versuchs-  und 
Beobachtungsfehler  zum  grossen  Theil  zurückzuführen  seien. 
„Ich  zweifle  nicht,"  heisst  es,  „dass  O.  Hartwig,  wenn  er 
gleich  mir  die  bezüglichen  Versuche  drei  Frühjahre 
nach  einander  bei  nicht  zu  starker  Pressung  (und  sorg- 
fältiger Beobachtung)  wiederholt  haben  wird,  auch  zu  den- 
selben Resultaten  gekommen  sein  wird."  (G.  A.  S.  925.) 
Bei  seinen  Deformationsversuchen  giebt  er  an,  zuletzt  80  "o 
Uebereinstimmungen  mit  seinem  Gesetz   erhalten  zu  haben, 


—     119    — 

und  fügt  zur  Erklärung  der  20  °/o  betragenden  Abweichungen 
hinzu,  dass  „bei  diesen  Versuchen  überhaupt  mehrere  nicht 
ganz  zu  beseitigende  und  durch  eingehende  Erwägung  und 
Abrechnung  aller  störenden  Componenten  nur  theilweise  zu 
reducirende  Fehlerquellen  vorhanden  sind". 

Mit  gleicher,  durch  nichts  zu  beirrender  Consequenz 
hat  R  o  u  x  an  seinem  Standpunkt  festgehalten ,  als  B  o  r  n 
(3),  der  gleichzeitig  und  unabhängig  von  mir  ähnliche 
Compressionsversuche  an  Froscheiern  vorgenommen  und 
veröffentlicht  hatte,  auch  seinerseits  erklärte,  dass  bei  Eiern, 
die  zwischen  schräg  oder  senkrecht  aufgestellten  Platten 
compriinirt  wurden,  sich  absolut  keine  Beziehung 
zwischen  der  Lage  des  Urmund  anfangs  und  der 
ersten  Furche  auffinden  Hess.  „Die  Richtigkeit 
dieses  „absolut  keine  Beziehung",  bemerkt  hier  wieder 
Roux  (1.  c.  S.  961),  „könnte  nur  durch  Messung  der 
Winkel  zwischen  der  ersten  Furche  und  der  Medianebene 
festgestellt  werden  und  wäre  bloss  dann  erwiesen,  wenn 
diese  Winkel  sich  auf  alle  Decaden  von  0° — 90°  gleich 
vertheilten;  Born  erwähnt  aber  solcher  Winkelmessungen 
nicht.  Es  scheint  mir  daher  doch  noch  nicht  ganz  er- 
wiesen, ob  nicht  auch  in  diesen  abnormen  Verhältnissen 
noch  ein,  wenn  auch  vielleicht  geringes  Vorherrschen  der 
Winkel  um  0  u  und  um  90  °  vorkommt  . .  .  Ein  solches  Vor- 
herrschen könnte  aber  theoretisch  von  sehr  erheblicher  Be- 
deutung werden ,  denn  gerade  von  diesen  feinen 
Unterschieden  hängt  jetzt  die  ganze  Deutung 
der  ersten  Entwicklungsvorgänge  ab." 

So  wird  denn  „zum  Wohl  einer  vorgefassten  Meinung" 
—  wie  Johannes  Müller  in  dem  zum  Motto  gewählten 
Satz  treffend  sagt  —  „so  lange  experimentirt,  bis  die  Er- 
fahrung mit  der  Theorie  zusammenstimmt". 


—     120     — 

Wir  wenden  uns  zur  Kritik  der  Mosaik  theo  rie 
von  Roux,  welche  mit  der  theoretisch  weiter  ausgebauten 
und  in  ihren  Consequenzen  weiter  durchgeführten  Keim- 
plasmatheorie von  Weismann  (57)  manches  Gemeinsame 
aufweist.  Roux  und  Weismann  nehmen,  wie  auch  ich, 
die  Hypothese  an,  dass  der  Kern  der  Träger  der  Erbmasse 
(Idioplasma,  Keimplasma)  sei;  beide  weichen  aber  in  einem 
wesentlichen  Punkte  von  meiner  Auffassung  ab:  sie  lassen 
bei  der  Vermehrung  der  Zelle  die  mit  zahlreichen  Quali- 
täten ausgestattete  Kernsubstanz  qualitativ  ungleich 
getheilt  werden,  derart,  dass  die  einzelnen  Zellen  des 
Embryo  mit  Kernen  von  verschiedener  Qualität  ausgerüstet 
und  dadurch  für  besondere  Leistungen  beim  Aufbau  des 
Embryo  vorausbestimmt  werden.  Gegen  eine  derartige 
Auffassung  des  Kerntheilungsprocesses  hatte  ich  mich  schon 
1890  in  meiner  Schrift  „Vergleich  der  Ei-  und  Samen- 
bildung der  Nematoden"  in  dem  Abschnitt  „Die  Keim- 
plasmatheorie von  Weismann"  (S.  86 — 100)  sein*  bestimmt 
ausgesprochen  und  auf  Grund  der  Erscheinungen  der 
Zeugung  und  Regeneration  im  Thier-  und  Pflanzenreich 
die  Ansicht  zu  begründen  versucht,  „das  s  der  Kern  sich 
(j  u a  1  i t a t i  v  g  1  c i  c h  t h  e i  1 1 ,  u n  d  j  e d e  Z e  1 1  e  daher  in 
ihre  m  Kern  die  gleiche  Erbmasse  erhält,  dass  durch  den 
Besitz  dieser  Erbmasse  jede  Zelle  in  sich  die  Möglichkeit 
trägt,  unter  geeigneten  Bedingungen  aus  sich  das  Ganze 
zu  reproduciren". 

Eine  entscheidende  Wendung  in  der  Streitfrage  führte 
darauf  Drieseh  (7),  selbst  ursprünglich  ein  Anhänger 
der  Roux1  sehen  Lehre,  durch  sinnreich  und  vorurtlieilslos 
durchgeführte  Experimente  herbei  und  betrat  dadurch  einen 
neuen  Weg  der  Forschung.  Er  trennte  an  Seeigeleiern, 
die  sich  in  2  oder  4  oder  8  Stücke    getheilt    hatten,    durch 


—     121     — 

Schütteln  die  einzelnen  Stücke  von  einander  und  stellte  die 
seitdem  vielfach  bestätigte  Thatsache  fest:  „Eine  isolirte 
Furch ungszelle  entwickelt  sich,  wenn  sie  über- 
haupt lebt,  stets  zu  einem  Gebilde,  das  sich  nur 
durch  seine  Grösse  vom  normalen  untercheidet." 
Es  entsteht  aus  einer  der  beiden  ersten  Theilhälften  des 
Eies  nach  ihrer  Isolirung  keine  Halbbildung  im  Sinne 
Roux's,  sondern  wieder  „ein  ganzes  Individuum 
halber  Grösse,  eine  Theilbildung". 

Zu  gleichen  Ergebnissen  führten  zahlreiche  Experimente 
an  anderen  Objecten.  Ich  erinnere  an  die  Untersuchungen 
von  Wilson  (60)  am  Amphioxus,  von  Z  o  j  a  (63)  an  Medusen, 
von  Morgan  an  Teleostiern,  von  Driesch(7b)  an  Ascidien, 
dem  Untersuchungsobject  von  Chabry. 

Selbst  an  Roux's  eigenstem  Untersuchungsobject,  dem 
Ei  des  Frosches,  liess  sich  zeigen,  dass  seine  Mosaiktheorie, 
seine  Lehre  von  den  Heniierabryones  laterales,  anteriores 
und  posteriores  und  seine  Lehre  von  der  Postgeneration 
auf  ebenso  einseitiger  Beurtheilung  der  Experimente  und 
unvollkommener  Beobachtung  beruhen,  als  seine  Lehre  von 
der  Bedeutung  der  Furchungsebenen.  Seine  Anstichver- 
suche beim  Frosch  prüfte  ich  nach  (25).  Wenn  eine  mehr 
oder  minder  vollständige  Zerstörung  von  einer  der  beiden 
ersten  Theilhälften  des  Eies  durch  eine  erwärmte  Nadel 
oder  durch  den  galvanischen  Strom  gelungen  und  dadurch 
die  Dottermasse  theilweise  geronnen  und  für  weitere  Ent- 
wicklung unbrauchbar  geworden  war ,  erhielt  ich  in  der 
Regel  aus  der  andern  überlebenden  Hälfte  des  Eies  im 
Ganzen  wohlgebildete  Embryonen,  welche  aus  zwei  Anti- 
meren  aufgebaut,  mit  einem  ganzen  Kopf  und  Rumpf 
versehen  waren  und  nur  an  ihrem  hinteren  Ende  und  be- 
sonders   auch    an    der   ventralen  Fläche  Defecte    aufwiesen. 


—     122     — 

Die  Defecte  aber  waren  dadurch  entstanden,  dass  das  ent- 
wicklungsfähige Zellmaterial  sich  in  Folge  der  eng  an- 
liegenden Dotterhaut  nicht  frühzeitig  von  der  abgetödteten 
Dottermasse  hatte  abgrenzen  können,  wesshalb  Gesundes 
und  Todtes  unmittelbar  in  einander  übergingen. 

Ich  habe,  indem  ich  operirte  Eier  von  Tag  zu  Tag 
einlegte  und  eine  grössere  Zahl  in  Schnittserien  in  querer 
und  sagittaler  Richtung  zerlegte,  die  durch  die  Operation 
herbeigeführten  Veränderungen  auf  dem  Stadium  der  Keim- 
blase und  der  Gastrula,  sowie  an  Embryonen,  die  schon  den 
Kopf,  Nervenrohr,  Chorda  und  Ursegmente  enthielten,  genau 
untersuchen  können. 

Wer  sich  die  Mühe  giebt,  meine  Beschreibung  und  Be- 
urtheilung  der  Befunde  genau  durchzulesen ,  wird  sehen, 
dass  sich  die  Entwicklung  der  Eier  in  anderer  Weise  voll- 
zieht, als  es  R  o  u  x  dargestellt  hat. 

Die  absonderlichen,  ganz  ohne  Analogie  dastehenden 
Vorgänge,  welche  Roux  für  die  Postgeneration  annimmt, 
aber  nur  erschlossen,  nicht  beobachtet  hat,  musste  ich 
gleichfalls  in  Abrede  stellen.  Ich  kann  noch  jetzt  Wort 
für  Wort  die  Kritik  von  Weismann  unterschreiben :  „Dass 
in  jenen  Fällen,  in  welchen  die  andere  Hälfte  des  Embryo 
sich  nachträglich  ergänzte,  diese  Ergänzung  auf  dem  Wege 
einer  Art  von  Zelleninfection  stattgefunden  habe,  derart, 
dass  das  blosse  Anstossen  z.  B.  an  Ektodermzellen  die 
noch  undifferenzirten  Zellen  der  operirten  Eihälfte  bestimmte, 
sich  ebenfalls  zu  Ektodermzellen  auszugestalten,  das  An- 
stossen an  Mesoblastzellen  aber  sie  zu  Mesoblastzellen  be- 
stimmte, —  einer  solchen,  alle  unsere  bisherigen  Anschau- 
ungen über  den  Haufen  werfenden  Annahme  könnte  ich 
nur  zustimmen ,  wenn  unwiderlegliche  Thatsachen  sie  be- 
wiesen" (57,  S.  192). 


—     123     — 

Wie  stellt  sieh  nun  Roux  zu  meinen  abweichenden 
Ergebnissen?  Er  hilft  sich  in  seiner  sofort  erschienenen 
Erwiderung  (G.  A.  S.  940)  in  der  einfachsten  und  bequem- 
sten Weise;  er  veröffentlicht  eine  lange,  in's  kleinste  Detail 
eingehende  Beschreibung  seiner  Methoden  zur  Hervor- 
bringung halber  Embryonen  und  behandelt  meine  Unter- 
suchung als  einen  vergeblichen  Versuch,  seine  Experimente 
mit  Erfolg  nachzumachen.  Meinen  angeblichen  Misserfolg 
führt  er  dabei  unter  Anderem  darauf  zurück,  dass  ich  ge- 
wöhnlich nicht  nur  die  operirte,  sondern  auch  die  zweite 
Zelle  mit  angestochen  und  „angesengt"  habe.  Wie 
kommt  Roux  zu  dieser  so  offenbar  aus  der  Luft  gegriffenen 
wohlfeilen  Behauptung  und  zu  dem  nicht  minder  wohlfeilen 
Zusatz,  dass  das  Anstechen  und  Ansengen  der  zweiten  Zelle 
zwar  ihre  Entwicklung,  wenn  der  Kern  unversehrt  blieb,  nicht 
ausschliesse,  jedoch  die  Bildung  eines  normal  gestalteten  Hemi- 
embiyo  unmöglich  mache?  Hat  etwa  gar  der  vielgeschäftige 
Experimentator  auch  darüber  Experimente  angestellt,  was 
für  besondere  Folgen  das  „Ansengen  der  zweiten  Zelle" 
nach  sich  zieht,  was  man  aus  seinem  Zusatz  schliessen 
sollte?  Und  woher  will  er  überhaupt  wissen,  ob  der  Kern 
unversehrt  geblieben  ist  oder  nicht,  während  doch  Jeder 
weiss,  dass  beim  undurchsichtigen  und  grossen  Froschei 
die  Einwirkung  der  Operation  auf  den  Zellkern  sich  in 
keinem  Fall  berechnen  und  feststellen  lässt.  Solche  nich- 
tigen Ausreden  sollte  man  doch  einem  urtheilsfähigen  Leser- 
kreis nicht  bieten. 

Einen  anderen  Grund  des  Misserfolges  meiner  Unter- 
suchungen will  Roux  in  dem  Umstände  finden ,  dass  ich 
in  der  kritischen  Zeit,  in  welcher  sich  das  Wunder  der 
Postgeneration  vollzieht,  nicht  continuirlich  oder  wenig- 
stens alle  Stunden    einmal,    Tag  und  Nacht,    die  operirten 


—     124     — 

Eier  beobachtet  und  deswegen  das  Stadium  der  reinen 
Halbbildung  verpasst  habe  (Zusatz  6).  Auch  diese  Ein- 
rede verstehe  ich  nicht,  da  ich  mir  doch  einen  Einblick  in 
die  Beschaffenheit  der  wichtigen  Entwicklungsstadien,  auf 
die  es  ankommt,  einen  Einblick  in  die  Beschaffenheit  der 
Blastula,  der  Gastrula,  der  ersten  Anlage  der  Rückenwülste, 
des  geschlossenen  Medullarrohrs  an  dem  in  gleicher  Weise 
operirten  Eimaterial  verschafft  habe.  Bei  den  operirten 
Eiern,  die  ich  auf  dem  Stadium  der  Gastrula  abgetödtet 
und  untersucht  habe,  ist  es  nach  den  bereits  feststehenden 
Verhältnissen  der  Organisation  einfach  unmöglich,  dass  sich 
auf  dieser  Grundlage  ein  Embryo  mit  nur  halber  Medullar- 
platte  entwickeln  könnte. 

Wer  die  auf  15  Seiten  von  Roux  nachträglich  im 
Jahre  1894  veröffentlichten,  peinlich  genauen  Vorschriften 
zur  Hervorbringung  halber  Froschembryonen  (G.  A.  S.  943) 
liest  und  damit  seine  Angaben  über  die  Versuchsmethoden 
aus  dem  Jahre  1888  vergleicht,  mit  welchen  das  Material 
für  seine  hier  allein  in  Betracht  kommende  und  von  mir 
nachgeprüfte  Abhandlung  gewonnen  wurde,  der  wird  sich 
gewiss  mit  mir  eines  Lächelns  nicht  erwehren  können. 
Denn  mit  den  wohlgemeinten  Rathschlägen  für 
Andere  hat  Roux  selbst  seine  He miembryonen 
nicht  erhalten. 

Bei  seinen  ersten  Versuchen  im  Jahre  1888  (G.  A.  S.  428) 
wurden  zwar  die  Eier  vom  grünen  Frosch  in  Glasschalen 
einzeln  aufgesetzt,  in  ihrer  Stellung  controlirt,  gezeichnet, 
operirt,  verglichen  und  noch  einmal  gezeichnet,  Anstichstelle 
und  ausgetretener  Dotter  in  das  Bild  eingetragen,  leider 
entwickelten  sich  aber  die  meisten  Eier  in  diesen  ersten 
Versuchen  entweder  gar  nicht  oder  trotz  grosser 
Substanzverluste    durch    ausgetretenen    Dotter 


—     125     — 

normal.  Da  nun  Roux  überhaupt  erst  „nach  Abschluss 
zeitraubender  anderer  Versuche"  den  noch  verbliebenen 
Rest  der  Laichperiode  für  die  fraglichen  Experimente  ver- 
wandte, so  that  Eile  noth,  denn  schon  entwickelten 
sich  einzelne  nicht  operirte  Controleier  zu  Missbildungen 
(Asyntaxia  medullaris).  Daher  operirte  jetzt  Roux 
„gleich  grosse  Massen  nicht  isolirter,  sondern 
in  der  Schale  beisammen  liegender  Eier  nach 
Bildung  der  ersten  Furche"  (1.  c.  S.  429).  Nach 
einigen  Stunden  oder  am  nächsten  Tage  las  er  die  Eier 
heraus,  bei  welchen  sich  die  operirte  Furchungskugel  nicht 
gefurcht  hatte. 

Wer  selbst  die  Eier  verschiedener  Amphibien  auf  ihre 
Entwicklung  untersucht  hat,  weiss  recht  gut,  dass  die  Eier 
von  Rana  fusca,  welche  ich  zu  dem  Experiment  verwandt 
habe,  für  Schnittpräparate  viel  geeigneter  sind  als  von  Rana 
esculenta;  sie  geben  ungleich  deutlichere  Bilder.  Denn  in 
Folge  ihres  Pigmentgehaltes  grenzen  sich  bei  Rana  fusca 
die  Zellen  scharf  von  einander  ab  und  ebenso  die  verschie- 
denen Keimblätter  und  die  sich  aus  ihnen  entwickelnden 
Organe.  Roux  hat  zu  seinen  Experimenten  Rana  esculenta 
benutzt.  In  welcher  Verfassung  sich  ausserdem  die  von  ihm 
zu  Schnitten  verwandten  Eier  befunden  haben  werden,  kann 
man  einigermaassen    aus   seinen   eigenen  Angaben  errathen. 

Die  in  Alkohol  gehärteten,  in  Boraxcarmin  gefärbten, 
dann  entwässerten  Eier  wurden  einige  Minuten  in  Toluol  über- 
tragen, nach  Belieben  mehrere  Stunden  oder  Tage  in  dickes, 
verharztes  Terpentinöl  gebracht  und  dann,  nach  Entfernung 
des  anhaftenden  Terpentins  von  der  Oberfläche  mittels 
eines  in  Toluol  getränkten  Pinsels,  Monate  lang  trocken 
aufbewahrt  (S.  431).  Auf  der  Naturforscherversamm- 
lung in  Wiesbaden    wurden    sie  so  demonstrirt.     Da  die 


—     126     — 

meisten  Eier  steinhart  und  für  das  Schneiden  zu 
spröde  geworden  waren,  wurden  sie  später  2  — 3  Tage 
in  einer  30  procentigen  Lösung  von  kohlensaurem  Kali 
„eingeweicht",  wieder  entwässert,  mit  Terpentin  durch- 
tränkt und  in  Paraffin  eingebettet.  Mehrere  waren  „dabei 
aussen  so  stark  erweicht  worden,  dass  sich  von  ihnen  nur 
noch  Reste  verwerthen  Hessen",  welche  indessen  „glücklicher 
Weise  noch  die  wichtigsten  Stellen  darboten".  Nach  diesen 
Angaben  scheint  mir  jedes  weitere  Wort  über  den  Werth 
des  von  mir  und  von  Roux  benutzten  Beobachtungsmate- 
rials überflüssig. 

In  dem  1894  veröffentlichten  Aufsatz  von  Roux  über 
die  Methoden  sind  mir  noch  drei  Bemerkungen  von 
besonderem  Interesse,  da  sie  Manches  erklären. 

Von  den  in  Masse  operirten  Eiern ,  bei  denen  eine 
der  zwei  ersten  Furchungszellen  angestochen  wurde,  erhielt 
Roux  sowohl  Hemiembryones  laterales  als  H.  anteriores  — 
in  welchem  Procentverhältnisse,  wird  leider  nicht  gesagt. 
Dass  an  Stelle  der  erwarteten  Hemiembryones  laterales 
auch  H.  anteriores  sich  bildeten,  erklärt  Roux  wieder  aus 
der  Zwangslage  der  Eier  bei  der  Operation  und  mit  der  will- 
kürlichen Lehre  vom  Anachronismus  der  Furchen,  welche 
er  stets  als  Retter  aus  der  Noth  zur  Verfügung  hat.  Nun 
besitzen  aber  leider,  wie  ich  in  meiner  Arbeit  nachgewiesen 
habe,  die  sogenannten  Hemiembryones  anteriores  an  ihrem 
hinteren  Ende  die  für  dieses  charakteristische  Organisation, 
den  Urmundrand  und  die  Wachsthumszone,  an  welcher 
sich  ein  Ursegment  nach  dem  andern  neu  sondert;  sie  sind 
daher  ganze,  nur  in  der  Gegend,  wo  der  zerstörte  Dotter 
liegt,  mit  Defecten  versehene  Embryonen.  Davon  wusste 
freilich  Roux  zur  Zeit  seiner  ersten  Publication  nichts  in 
Folge    seiner    ungenauen    Untersuchung    mangelhafter    und 


—     127     — 

für  Erkennung  dieser  Details  vielleicht  überhaupt  unbrauch- 
barer Präparate.  Solche  Embryonen  habe  ich  nun  aber 
am  häufigsten  in  meinen  Untersuchungen  erhalten.  Nach 
R  o  u  x  ist  dies  nur  so  zu  erklären ,  dass  bei  meinen  Ex- 
perimenten merkwürdiger  Weise  fast  immer  ein  Anachro- 
nismus der  zwei  ersten  Furchen  stattgefunden  haben  muss. 
Anstatt  der  ersten  Furche,  Avelche  links  und  rechts  von 
einander  sondert,  muss  sich  die  zweite  als  erste  angelegt 
und  so  Kopf-  und  Schwanzmaterial  gesondert  haben.  In- 
dessen reicht  auch  diese  Erklärung,  wenn  wir  einmal  mit 
Roux  den  Anachronismus  als  Retter  aus  der  Noth  anrufen 
wollen,  noch  nicht  vollständig  aus.  Ein  noch  merkwürdigerer 
Zufall  muss  es  ferner  gefügt  haben,  dass  meine  Nadel  nie 
eine  Zelle  mit  dem  Kopfmaterial  getroffen  hat.  Da  nun 
auch  Roux  bei  seinen  zahlreichen  Operationen  niemals 
einen  Hemiembryo  posterior  erhalten  und  beschrieben  hat, 
so  scheint  das  Anstechen  der  das  Kopfmaterial  einschliessen- 
den  Zelle  mit  nicht  geringeren  Schwierigkeiten  verbunden 
zu  sein,  als  in  einer  Lotterie  das  grosse  Loos  zu  ziehen. 

Erwähnenswerth  ist  wohl  auch  eine  zweite  Bemerkung, 
betreffend  die  „Hervorbringung  im  Voraus  be- 
stimmter Hemiembryonen"  (1.  c.  S.  954).  Hat  man 
sich  nämlich  nach  den  Angaben  von  Roux  auch  genau 
darüber  orientirt,  was  am  zwei-  oder  viergetheilten  Ei  vorn 
und  hinten,  links  und  rechts  werden  soll,  hat  man  darauf 
nach  dieser  Bestimmung  eine  Zelle  oder  auf  dem  Stadium 
der  Viertheilung  zwei  Zellen  zerstört  und  gleich  nach  jeder 
Operation  die  Eier  in  etiquettirte  Schälchen  gesondert,  je 
nachdem  sie  linke  oder  rechte  oder  vordere  oder  hintere  (?) 
Hemiembryonen  liefern  sollen,  so  bereitet  uns  Roux  trotz- 
dem darauf  vor,  dass  leicht  Irrthümer  vorkommen. 
Denn  —  die  eigene  Erfahrung  hat    es   ihn    wohl   genugsam 


—     128     — 

gelehrt  —  „der  Erfolg  der  Operation  ist  nicht 
selten  ein  anderer,  als  man  beabsichtigte;  ein- 
mal, weil  eine  Zelle,  die  getödtet  werden  sollte,  nicht  oder 
nicht  ganz  abstarb,  oder  indem  eine  Zelle,  die  unversehrt 
bleiben  sollte,  angesengt  oder  durch  Druck  zum  Theil  ent- 
leert wurde  und  sich  gar  nicht  oder  nur  theilweise  ent- 
wickelte"  (S.  955). 

Roux  empfiehlt  daher  am  meisten,  die  Eier  einzeln  zu 
isoliren  und  so  zu  controliren ,  dass  man  von  Zeit  zu  Zeit 
immer  wieder  neue  Zeichnungen  von  ihnen  anfertigt;  dabei 
sei  besonders  darauf  zu  achten,  „ob  wirklich  die  Zer- 
störung unserer  Absicht  entsprochen  hat;  denn 
nur  bei  denjenigen  Eiern,  bei  welchen  dies  der  Fall  war, 
könne  sich  unsere  Prognose  nach  der  Medullarwulstbildung 
bestätigen"  (1.  c.  S.  957).  Das  will  nach  meiner  Meinung 
nichts  Anderes  besagen,  als :  Nur  bei  solchen  Eiern 
bestätigt  sich  die  Prognose,  welche  sich  der 
Prognose  gemäss  entwickelt  haben;  sie  sind 
gut,  die  anderen  sind  schlecht  operirt.  Man  ver- 
gleiche auch  hier  das  dem  Abschnitt  vorgesetzte  Motto: 
„Zum  Wohl  einer  vorgefassten  Meinung  wird  so  lange  ex- 
perimentirt,  bis  die  Erfahrung  mit  der  Theorie  zusammen- 
stimmt." 

Eine  dritte  Bemerkung  von  Roux  theilt  endlich  noch 
mit,  dass  man  gegen  Ende  der  Laichperiode  viel  leichter 
reine  Hemiembryonen  erhalte,  als  sonst.  Die  Bemerkung 
ist  mir  von  Interesse,  weil  sie  ganz  offenbar  zu  Gunsten 
der  Erklärung  spricht,  welche  ich  für  die  bei  meinen  Ver- 
suchen, allerdings  nur  in  geringer  Anzahl,  erhaltenen  Hemi- 
embryones  laterales  gegeben  habe.  Ich  leitete  sie  von 
Eiern  ab,  die  so  geschädigt  sind,  dass  sie  sieh  nach  Art 
von  Eiern  entwickeln,  welche  Spina  bifida  liefern.    Betreffs 


—     129    — 

der  genaueren  Erklärung  verweise  ich  auf  meine  frühere 
Abhandlung  (S.  768 — 69).  Das  Untersuchungsruaterial  für 
die  Abhandlung  von  Roux  ist  nun  seiner  Angabe  nach  erst 
am  Ende  der  Laichperiode  gewonnen  worden  und  besass 
ganz  ausgesprochene  Neigung  zu  Spina  bifida,  da  unter 
den  wenigen  nicht  operirten  Controleiern  sich  schon  der- 
artige Monstrositäten  vereinzelt  zeigten.  Ueberhaupt  rufen 
alle  schädigenden  Momente  (thermische,  chemische,  mecha- 
nische Einflüsse),  namentlich  wenn  sie  die  vegetative  Hälfte 
der  Froscheies  treffen ,  leicht  eine  Entwicklung  mit  Spina 
bifida  hervor. 

Das  erste  charakteristische  Merkmal  für  diese  Art  der 
Entwicklung  besteht  darin ,  dass  auf  dem  Stadium  der 
Gastrulation  sich  an  der  Grenze  des  Dotterfeldes  und  in 
seinem  ganzen  Umfang  ein  ausserordentlich  weiter  Urmund- 
ring  bildet,  der  keine  Neigung  hat,  sich  von  vorn  nach 
hinten  durch  Verwachsung  seiner  Ränder  zu  schliessen. 
Nun  stelle  man  sich  vor,  dass  an  solchen  Eiern  in  Folge 
irgend  einer  localisirten  Schädlichkeit  (Anstich,  Austritt  von 
Dottermaterial  etc.)  ein  zum  Kreis  geschlossener  Urmund- 
ring  in  der  Peripherie  des  Dotterfeldes  nicht  hat  entstehen 
können,  so  muss  ein  Hemiembryo  lateralis  zu  Stande 
kommen,  wenn  der  angelegte  Theil  des  Urmundrings  sich 
in  Chorda  und  halbe  Medullarplatte  weiter  zu  differenziren 
beginnt. 

Auch  die  Fälle,  welche  Roux  als  Postgeneration  be- 
schrieben hat,  erklären  sich  auf  diesem  Wege  in  einfacher 
Weise.  Wenn  bei  Eiern  mit  Neigung  zu  Spina  bifida  ein 
Theil  des  Dottermaterials  durch  den  Eingriff  zwar  ge- 
schädigt, aber  nicht  entwicklungsunfähig  gemacht  worden 
ist,  so  werden  sich  auf  der  einen  Seite  die  Zellen  schneller, 
auf  der   anderen   Seite   viel    langsamer    theilen.      Auf    dem 

Hertwig,  Zeit- und  Streitfragen,     II.  9 


—     130     - 

Stadium  der  Gastrulation  wird  der  eine  Theil  des  Urmund- 
rings  rechtzeitig,  der  andere  mehr  oder  minder  verspätet 
gebildet  werden;  dort  werden  sich  die  halbe  Medullar- 
platte  und  die  Chorda  schon  differenzirt  haben,  während  hier 
noch  der  Urmundrand  in  undifferenzirtem  Zustand  besteht. 
Ist  das  nicht  ein  Vorgang,  der  uns  Befunde  liefert,  welche 
den  von  Roux  als  Postgeneration  beschriebenen  sehr  ähn- 
lich sind?  Wir  erhalten  Embryonen,  welche  auf  der  ge- 
sunden Seite  schon  Chorda  und  eine  halbe  Medullarplatte 
besitzen,  während  sie  auf  der  geschädigten  Seite  noch  un- 
differenzirt  erscheinen  und  erst  nach  vielen  Stunden  oder  am 
nächsten  Tage  das  Stadium  der  anderen  Seite  erreichen. 
Ist  unsere  Erklärung  richtig,  dann  haben  wir  zwar  gestörte 
Vorgänge  vor  uns,  aber  nicht  Vorgänge,  die  aus  dem 
Rahmen  des  gewöhnlichen  Geschehens  ganz  heraustreten, 
wie  die  von  Roux  als  Postgeneration  beschriebenen 
Processe. 

Aus  diesen  Gründen  muss  ich  in  der  Deutung  der  Haib- 
und Viertelembryonen  und  in  der  ebenso  strittigen  Frage 
der  Postgeneration  Punkt  für  Punkt  an  meinen  früheren 
Erklärungen  festhalten. 

Gegen  Roux  haben  inzwischen  auch  die  von  Oscar 
S  c  h  u  1 1  z  e  (53),  von  We  t  z  e  1  (58)  und  von  H  e  r  1  i  t  z  k  a  ( 1 7) 
neu  gewonnenen  Erfahrungen  gesprochen. 

Oscar  Schultz e  hat  Froscheier  zwischen  horizontalen 
Objectträgern  gepresst  und  unmittelbar  nach  der  Zwei- 
theilung umgekehrt.  In  jeder  Theilhälfte  macht  sich  hierauf 
das  Bestreben  geltend,  die  animale  pigmentirte  Hälfte  durch 
Umkehrung  wieder  mehr  nach  oben  zu  bringen;  in  Folge 
dessen  wird  allmählich  der  normale  Zusammenhang  in  der 
gegenseitigen  Lage  der  beiden  Furchungshalbkugeln  ge- 
lockert und  aufgehoben.     Dies    wird    dann    wieder    die  Ur- 


—     131     — 

>- 

sache,  dass  jede  der  aus  dem  natürlichen  Zusammenhang 
gebrachten  Hälften  sich  mehr  selbständig  für  sich  und  zu 
einem  vollständigen  Embryo  entwickelt.  Aus  dem  einfachen 
Ei  entstehen  zwei,  zum  Theil  unter  einander  verbundene 
Zwillinge. 

In  meinem  Laboratorium  hat  G.  Wetzel  die  Ent- 
deckung von  OscarSchultze  bestätigt  und  ist  in  Einzel- 
heiten des  Vorgangs  noch  tiefer  eingedrungen.  So  hat  sich 
wider  Erwarten  in  kurzer  Zeit  erfüllt,  was  ich  1892  in  dem 
Satze  aussprach:  „Wenn  man  die  beiden  ersten  Furchungs- 
zellen  des  Froscheies  in  der  Theilungsebene  durch  einen 
Isolator  trennen  könnte,  so  würde  sich  eine  jede  zu  einem 
vollständigen  Embryo  entwickeln"  (22,  S.  480). 

Von  Herlitzka  ist  seitdem  die  Richtigkeit  des  Satzes 
auch  noch  am  Tritonei  durch  ein  zweites  Verfahren  be- 
stätigt worden.  Seinem  Geschick  und  seiner  Ausdauer  ge- 
lang, was  ich  selbst  zu  erreichen  mich  vor  ihm  schon  ver- 
geblich bemüht  hatte.  Mit  einem  feinen  Coconfaden  konnte 
er  mit  Hilfe  eines  zu  dem  Zwecke  von  ihm  erfundenen 
Instrumentes  das  zweigeteilte  Tritonei  in  der  Theilungs- 
ebene durchschnüren  und  in  einer  Reihe  von  Fällen  die 
beiden  ersten  Furchungskugeln  vollständig  von  einander 
isoliren.  Eine  jede  entwickelte  sich  zu  einem 
ganzen  Embryo   von  halber  Grösse. 

Solche  Ergebnisse  bedürfen  keines  weiteren 
Commentars.  Sie  widerlegen  durch  sich  selbst 
die  M  o  s  a  i  k  t  h  e  o  r  i  e. 


—     132     — 


Zweite  Studie.    Die  Copulationslbalm. 

Ausspruch  von  W.  Roux:  „Die  causalen  Forscher  würden  einen  Umweg  ein- 
schlagen und  sich  selber  ein  Armuthszeugniss  aus- 
stellen ,  wenn  sie  ihr  Werk  damit  anfangen  wollten, 
die  mannigfachen  nicht  bewiesenen  Aussprüche 
descriptiver   Forscher   auf  ihre  Richtigkeit   zu  prüfen." 

Das  Gesetz  der  Richtungsbestimmungen  im  Froschei, 
dem  unsere  Kritik  seither  gegolten,  hat  von  Roux  noch 
einen  Zusatzparagraphen  erhalten.  Denn  es  weist  noch 
eine  Lücke  auf.  Wodurch  wird  die  Richtung  der  ersten 
Furchungsebene,  welche  die  Lage  der  späteren  Median- 
ebene des  Embryos  bestimmt,  bei  ihrer  Ausbildung  selbst 
bestimmt?  Lässt  sich  das  ganze  System  der  Richtungen 
auch  noch  auf  eine  erste  richtungsbestimmende 
Ursache  zurückführen? 

Schon  in  seiner  ersten  Arbeit  aus  dem  Jahre  1883 
wirft  Roux,  von  einer  Beobachtung  Auerbach's  an 
Ascaris  nigrovenosa  ausgehend,  die  Frage  auf,  ob  die  Be- 
fruchtung irgendwie  richtungsbestimmend  wirken  könne; 
er  fügt  aber  gleich  die  Bemerkung  hinzu,  „es  müsse  vor 
einer  Ueberschätzung  des  vermuthlichen  Einflusses  des 
Befruchtungsvorganges  auf  die  Richtungsbestimmung  die 
Erwägung  schützen,  dass  es  Thiere  giebt,  bei  denen  sowohl 
befruchtete  als  unbefruchtete  Eier  vollkommen  entwicklungs- 
fähig sind"  (G.  A.  S.  121). 

Trotz  seines  gewiss  ganz  richtigen  Argumentes  geht 
Roux  gleichwohl  im  nächsten  Jahre  an  die  experimentelle 
Prüfung  seiner  Vermuthung.  Er  versucht  isolirte  und  in 
Ruhelage  gebrachte  Froscheier  von  einer  bestimmten  Stelle 
aus  zu  befruchten.  Die  ersten  Versuche  fallen  wieder  nicht 
zu  Gunsten  aus.  Dagegen  liefern  im  nächsten  Jahre_  er- 
neuerte Untersuchungen  ein  positiv  günstiges  Ergebniss. 


—     133     — 

Bei  künstlich  localisirter  Befruchtimg  (Fig.  II  A)  ging 
die  erste  Furche  und  mit  ihr  die  Medianebene  des  Embryo 
bei  senkrecht  stehender  Eiaxe  in  50  oder  66  Fällen  durch  die 
vom  Experimentator  gewählte  Eintrittsstelle  des  Samens  in 
das  Ei,  und  „die  Seite  dieser  Eintrittsstelle  wurde  in  10  von 
11  Fällen  zu  immer  derselben,  nämlich  ventralen  (richtiger 
caudalen)  Seite  des  Embryo"  (G.  A.  S.  352). 


Fig.  II.      Vier  Schemata    von    Roux    zur    Veranscbaulichung    des    ver- 
schiedenen Verhaltens  der  Pigmentstrasse  zur  Lage  der  ersten  Theilebene 
im  Froschei.     Pig  Pigmentstrasse.     F  Erste  Theilebene. 

Weitere  Versuche  im  Jahre  1886,  welche  nun  gar  bloss 
10 — 15%  betragende  Abweichungen  ergaben,  führten  zur 
Aufstellung  der  beiden  Naturgesetze  (I.e.  S.  357):  1)  „Bei 
Eiern  von  Rana  fusca  und  esculenta,  welche  keinem  äusseren 
Zwang  unterworfen  sind,  wird  dieRichtungder  ersten 
Furche  und  der  Medianebene  des  Embryo  durch 
die  beliebig  gewählte  Lage  derSameneintritts- 
stelle  bestimmt."  2)  „Die  Seite  der  Eintritts- 
stelle des  Samenkörpers  in  das  Ei,  die  Be- 
fruchtungsseite des  Eies,  wird  (bei  normaler 
Stellung  der  Eiaxe)  zur  ventricaudalen  Seite 
des  Embryo." 

Die  von  Roux  aufgeworfene  Frage  kann  am  Froschei 
auch  noch  auf  dem  Wege  reiner  Beobachtung  aufgeklärt 
werden;  man  braucht  nur  Schnittserien  durch  gewöhnlich 
befruchtete   und   am  Ende    der  Zweitheilung    stehende   Ei«fr 


134 


anzufertigen.  Der  in  das  Ei  eindringende  und  mit  dem 
Eikern  sich  verbindende  Samenkörper  durchläuft  nämlich 
im  Dotter  einen  Weg,  der  längere  Zeit  an  einer  schwärz- 
lichen, zuerst  von  Bambeke  entdeckten  Pigmentirung 
kenntlich  bleibt.  Das  Pigment  rührt  von  der  bräunlich- 
schwarzen  Eirinde  her,  von  welcher  der  Samenkern  eine 
Partie  an  sich  zieht  und  auf  seiner  Wanderung  im  Ei  mit 
sich  nimmt  (Fig.  II  A— D,  Fig.  III  Ä  und  B  p). 


rc 


Fig.  III.  Zwei  Schemata  über  das  Verhalten  der  Pigmentstrasse  im 
Froschei,  wenn  sie  mit  der  Theilebcne  nicht  zusammenfällt,  über  die 
Unterscheidung  des  Befruchtungsmeridianes  (bef.  m),  die  reelle  Copulations- 
bahn (rc)  und  die  ideelle  oder  immanente  Copulationsbahn  i/<).  F  Tlieil- 
ebene.  pb  Penetrationsbahn.  Je  Knie,  cb  Copulationsbahn.  1.  Theilung 
in  der  Richtung  des  Befruchtungsmeridians,  //.  Theilung  in  der  Richtung 
der  reellen,  /TT.  Theilung  in  der  Richtung  der  ideellen  oder  immanenten 

( lopulationsbahn. 

Aus  seinem  nachträglich  vorgenommenen  Studium 
der  Schnittpräparate  lernte  Roux  noch  Einiges  mehr  als 
aus  seinen  Experimenten.  Er  fand,  dass  der  Samenkörper 
keinen  geraden  Weg  im  Dotter  nimmt.  Die  Pigment- 
strasse stellt  eine  mehr  oder  minder  gebogene, 
gewöhnlich  am  Ende  hakenförmig  gekrümmte 
Linie  dar  (Fig.  II   C  und  D,  Fig.  III   A  und  B  p).     Eine 


—     135    — 

krumme  oder  gar  hakenförmige  Linie  ist  aber  zur  Be- 
stimmung einer  Richtung  nicht  gerade  sehr  geeignet. 
Roux  sieht  sich  daher  jetzt  zu  einer  genaueren  Analyse 
des  Vorgangs  veranlasst.  Er  unterscheidet  ausser  der  Be- 
fruchtungsstelle selbst  an  der  Bahn  noch  zwei  Strecken, 
die  Penetrationsbahn  (j)b)  und  die  Copulations- 
bahn  (cb).  Unte>*  ersterer  versteht  er  die  grössere  Weg- 
strecke, welche  von  der  Durchbrechungsstelle  der  Eirinde 
bis  nahe  zum  Eikern  führt,  unter  letzterer  das  Endstück, 
innerhalb  dessen  Ei-  und  Samenkern  bis  zu  völliger  Be- 
rührung und  gegenseitiger  Abplattung  zusammengeführt 
werden. 

Noch  eine  zweite  Lehre  gab  das  Studium  der  Schnitt- 
präparate. Es  zeigte  sich  noch,  dass  die  erste  Theilebene 
mit  der  Sameneintrittsstelle  und  mit  der  Penetrationsbalm 
in  manchen  Fällen  einen  bald  grösseren,  bald  kleineren 
Winkel  bildete  und  nur  mit  dem  letzten  Theil  der  Bahn 
zusammenfiel  (Fig.  II  Cuncl  D,  1.  c.  S.  366).  Hierdurch  wurde 
Roux  genöthigt,  seinem  früher  auf  Grund  von  Experimenten 
aufgestellten  Gesetz  eine  etwas  andere  Fassung  zu  geben. 
Er  hält  sich  jetzt  für  berechtigt  —  wir  wollen  seine  eigenen 
Worte  gebrauchen  — ,  „die  ersteren  T heile  (Samen- 
eint rittssteile  und  Penetrationsbahn),  wenn  sie 
überhaupt  einen  bezüglichen  Ein fluss  ausüben, 
so  doch  als  minder  w  er  thig  gegenüber  dem  letz- 
teren Moment  (Copulationsbahn)  aufzufassen  und 
zu  sagen:" 

„Unter  normalen  Verhältnissen  wird  die  specielle  Rich- 
tung der  ersten  Theilungsebene  des  Froscheies  durch  d  i  e 
Richtung  der  Copulationslinie  der  beiden  Vor- 
kerne bestimmt"  (1.  c.  S.  383). 

Mit  diesem  Satz,  welcher  das  durch  E  x  p  e  r  i  - 


—     136    — 

mente  zuvor  ermittelte  und  formulirte  Gesetz 
wieder  aufhebt,  stehen  wir  vor  einer  vollständig 
veränderten,  durch  den  Haken  der  Pignient- 
strasse  herbeigeführten  Sachlage. 

Ich  habe  die  Experimente  von  Roux  nicht  nachgeprüft. 
Dazu  dürfte  sich  überhaupt  nicht  so  leicht  Jemand  veranlasst 
fühlen,  wenn  er  sich  der  Bemerkung  von  Roux  erinnert, 
dass  man  insbesondere  seine  Versuche  von  der  localisirten 
Befruchtung  erst  drei  Frühjahre  nach  einander  nach- 
gemacht haben  müsse,  um  zu  denselben  Resultaten  wie  er 
zu  gelangen  (Gr.  A.  S.  925  und  diese  Schrift  S.  1 18).  In- 
dessen scheint  mir  schon  eine  genauere  Analyse  der  Beob- 
achtungen und  Schlüsse  von  Roux  klärend  zu  wirken  und 
daher  nicht  ohne  Interesse  zu  sein.    Versuchen  wir  sie  also ! 

Nach  der  zweiten  Fassung  des  Gesetzes  wird  die  Rich- 
tung der  ersten  Theilebene  des  Froscheies  und  damit  auch 
die  Medianebene  des  Embryo  durch  die  Richtung  der 
Copulationsli  n  ievon  Ei- und  Samen  kern  bestimmt. 
Hierzu  ist  dreierlei  zu  bemerken : 

Erstens.  Die  Bezeichnung:  Richtung  der  Copulations- 
linie  führt  leicht  zu  Missverständnissen,  die  wir  klarlegen 
müssen.  Gewöhnlich  wird  der  Leser  der  Abhandlung  von 
Roux,  wie  es  zum  Beispiel  Fick  in  seiner  sogleich  zu 
erwähnenden  Untersuchung  ergangen  ist,  der  Ansicht  sein, 
dass  die  Richtung  der  Copulationslinie  (Fig.  III  A,  II  rc) 
das  umgebogene  Ende  der  Pigmentstrasse  oder,  allgemein 
ausgedrückt,  das  letzte  Ende  der  durchlaufenen  Wegstrecke 
sri,  welches  Roux  als  Copulationsbalm  (cb)  von  der  Pene- 
trationsbahn (pb)  unterschieden  hat.  Weit  gefehlt.  Roux 
liat  auch  diesen  Begriff  noch  feiner  ausgearbeitet  und  um- 
gestaltet. Er  versteht  nämlich,  wie  mau  bei  sorgfältiger 
Leetüre  aus  seiner  Abhandlung  herauslesen  kann,  unter  dem 


—     137     — 

WTorte„Copulationsrichtung"nichtsAnderesals 
eine  ideelle  Linie,  welche  man  als  Senkrechte 
auf  die  Fläche,  die  durch  Berührung  und  Ab- 
plattung des  Ei- und  Samenkerns  entsteht,  oder 
auf  die  Cop  ulati  onsf  lach  e  errichtet.  Er  spricht 
daher  auch  an  einer  Stelle  von  einer  „immanenten  Copu- 
lationsrichtung  des  Kernes". 

Und  nun  beachte  man:  Bei  obiger  Definition  kann 
zwar  die  Copulationslinie  mit  derCopulations- 
bahn,  dem  letzten  Ende  der  Pigmentstrasse, 
zusammenfallen,  siebraucht  es  aber  nicht  not  h - 
wendiger  Weise.  Sie  fällt  zum  Beispiel  mit  ihr  nicht 
zusammen,  wenn  das  Kernpaar  nach  der  Copulation  seine 
Stellung  im  Ei  verändert,  oder  wenn  es  auch  nur  sich  mit 
seiner  Copulationsfläche  um  seine  Axe  herumdreht,  In  beiden 
Fällen  wird  eine  auf  der  Copulationsfläche  senkrecht  er- 
richtete Linie  alle  möglichen  Winkel  mit  der  wirklichen 
Copulationsbahn  (Pigmentstrasse)  beschreiben  können.  Man 
vergleiche  Fig.  III,  in  welcher  das  Stadium  A  sich  in  das 
Stadium  B  durch  Drehung  des  Kernpaares  umgewandelt 
hat,  und  die  Theilung  anstatt  in  der  Richtung  I  befm.  oder 
II  rc  in   der  Richtung  III  ic  erfolgt  ist. 

Das  lehrreichste  Beispiel  hierfür  bietet  das  Ei  von 
Ascaris  nigrovenosa,  welches  ich  gerade  in  Bezug  auf 
diesen  Punkt  schon  im  Jahre  1884  genau  analysirt  habe 
(Fig.  IV).  Ei-  und  Samenkern  wandern  in  gerader  Linie, 
welche  durch  Pfeile  (e,  s)  bezeichnet  ist,  von  den  Polen  des 
längs-ovalen  Eies  auf  einander  zu  und  platten  sich  in  seiner 
Mitte  an  der  quergestellten  Copulationsfläche  ab.  Die  Be- 
fruchtungsrichtung, der  Weg,  welchen  beide  Kerne,  um  sich 
zu  treffen,  zurückgelegt  haben,  oder  die  wirkliche  Copulations- 
bahn (Fig.  IV  A  3  e  s)  fällt  mit  der  Längsaxe  des  Eies  genau 


—     138    — 


zusammen.  In  dieser  Richtung  erfolgt  aber  die  erste  Thei- 
lung  nicht.  Das  Kernpaar  dreht  sich  mit  seiner  Copulations- 
fläche  (B  und  C)  um  90  Grad  herum,  so  dass  jetzt  die  auf 
ihr  senkrecht  errichtete  Linie  (Copulationsrichtung)  mit  der 
Querebene  des  Eies  (Cj)  zusammenfällt,  in  welcher  sich  dann 
die  Theilung  vollzieht.  Nur  unter  Annahme  meiner  oben 
gegebenen  Definition  des  Begriffes  „Copulationslinie"  konnte 
Roux  sagen:  „Bei  Ascaris  nigrovenosa  theilt  sich  der 
Furchungskern  in  der  durch  Drehung  nachträglich 
quergestellten  Copulationsrichtung,  entspricht 
also  zugleich  meinem  Gesetz"   (1.  c.  S.  412). 


Fig.  IV.  Drei  Schemata  des  befruchteten  Eies  von  Ascaris  nigrovenosa, 
um  die  Drehung  des  copulirten  Kernpaares  und  ihr  Verhältniss  zur  ur- 
sprünglichen reellen  Copulationsbahn  zu  erläutern.  Die  Pfeile  e  und  s 
zeigen  die  Richtung,  in  welcher  sich  Ei  und  Samenkern  auf  einander  bewegt 
haben,  die  reelle  Copulationsbahn  (3),  an.  Richtung'  /  ist  die  Queraxe  des 
Eies,  mit  welcher  die  Theilebene  später  zusammenfällt.  Die  Linie  2 
zeigt  die  Lage  der  Copulationsfläche  auf  einem  Zwischenstadium  B  an. 

Aus  dem  citirten  Satz,  sowie  aus  der  weiteren  Fassung, 
welche  Roux  dem  Begriff  „Linie  der  Copulationsrichtung" 
gegeben  hat,  lässt  sich  der  gewiss  naheliegende  und  selbst- 


-     139     — 

verständliche  Schluss  ziehen:  Wenn  die  Linie  der  Copu- 
lationsrichtung  durch  Ortswechsel  oder  Drehungen  des  copu- 
lirten  Kernpaares  in  erheblichem  Umfang  nachträglich  ver- 
ändert werden  kann,  so  wird  durch  den  vom  Samen- 
körper  durchlaufenen  Weg  die  Richtung  der 
ersten  Theilebene  überhaupt  nicht  mehr  be- 
stimmt (Fig.  III  und  IV).  Wir  thun  mit  diesem  Schluss 
nur  einen  ganz  kleinen  Schritt  noch  über  Roux  hinaus. 
Wie  dieser  selbst  schon,  durch  das  Studium  seiner  Schnitt- 
präparate veranlasst,  bezweifelte,  ob  die  Sameneintritts- 
stelle und  die  Penetrationsbahn  auf  die  Lage  der  ersten 
Theilebene  einen  Einfluss  ausüben,  und  sie  wenigstens  als 
minderwerthig  bezeichnete,  so  können  wir  jetzt  auch  dem 
Rest  des  Weges,  der  Copulationsbahn,  einen  Einfluss  nicht 
mehr  einräumen. 

Das  von  Roux  über  die  Wirkung  der  Be- 
fruchtung formulirte  Gesetz  kann  in  seiner 
ersten  Fassung  nach  keiner  Richtung  mehr 
Griltigkeit  beanspruchen.  Roux  hat  sich  zu  diesem 
Schluss  selbst  nicht  entschlossen ,  sondern  vorgezogen,  dem 
Begriff  „Richtung  der  Copulationslinie"  unter  der  Hand 
eine  feinere,  umfassendere  Bedeutung  in  der  dargestellten 
Weise  zu  geben.  Er  hat  dadurch  freilich  nur  Verwirrung 
gestiftet.  Denn  die  Leser  seiner  Schriften  werden  die 
Richtung  der  Copulationslinie  meist  auf  die  reelle 
Copulationsbahn,  auf  den  letzten  Theil  des  vom  Samen- 
körper zurückgelegten  Weges,  beziehen  und  sich  enttäuscht 
sehen,  wenn  sie  die  Richtigkeit  des  so  aufgefassten  Roux- 
schen  Gesetzes   an  irgend  einem  Object  nachprüfen  wollen. 

So  ist  es  F  i  c  k  ergangen  bei  seiner  ausserordentlich 
sorgfältigen  Untersuchung  des  Axolotleies  (14,  S.  568  bis 
577,  602). 


—     140 

Beim  Axolotl  ist  die  Eintrittsstelle  und  der  erste  Weg 
des  Samenfadens  im  Ei  ebenfalls  an  Schnittpräparaten  leicht 
zu  beobachten;  „der  weitere  Weg  des  Samenfadens  aber 
seine  complicirten  Drehungen  und  Wendungen  konnten  nur 
mit  grosser  Schwierigkeit  von  Fick  durch  Combinations- 
zeichnungen  aufgeklärt  werden."  Dabei  hat  sich  heraus- 
gestellt, „dass  die  Richtung  der  Biegung  in  der 
Pigmentstrasse  beim  Axolotl  keineswegs  direct 
als  die  Copulationsrichtung  angesehen  werden 
kann".  Fick  hat  sich  sehr  bemüht,  durch  Reconstruction 
bei  einer  grossen  Zahl  von  Eiern  eine  Gesetzmässig- 
keit in  der  Richtung  der  Pigmentumbiegung, 
des  „Pigmentstiefels"  zu  ergründen;  aber  seine 
Mühe  w a  r  e  i  n  e  v  e  r g  e b  1  i  c  h  e :  „es  besteht  beim  Axolotl 
keine  Gesetzmässigkeit  in  dem  erwähnten  Verhältniss;  das 
umgebogene  Ende  ist  ohne  Beziehung  zum  Eikern"  ;  auch 
kann  schon  clesswegen  „von  einem  directen  Zielen"  des 
Kniees  auf  den  Eikern  natürlich  gar  keine  Rede  sein,  weil 
ja  der  letztere  zur  Zeit  der  Knieausbildung  noch  ganz  an 
der  Peripherie  liegt"  (1.  c.  S.  576). 

Nach  Klärung  der  Sachlage  gestatten  wir  uns  eine 
zweite  Bemerkung.  Wenn  man  von  der  oben  gegebenen 
allgemeinen  Definition  des  Begriffes  „Copulationsrichtung" 
ausgeht,  welche  sich  allein  als  die  zutreffende  aufrecht  er- 
halten lässt,  dann  ist  das  Roux'sche  Gesetz  in  seiner 
zweiten  Fassung  nur  ein  anderer,  aber  unge- 
nauerer Ausdruck  für  den  allbekannten  Satz: 
„Die  T  heil  ebene  des  befruchteten  Eies  erfolgt 
rechtwinklig  zur  Axe  der  Kernspiudel  und  wird 
von  der  Lage  und  Stellung  der  Spindel  als  der 
f  r  ii  li  e  r  vorhandenen  b  e  s  t  i  m  m  t. " 

Der  Beweis  ist  leicht  zu  führen.  Die  descriptiven 
Forscher  wissen  schon  aus  der  Zeit,  wo  man  zum  ersten  Mal 


—     141     — 

mit  den  im  Ei  sich  abspielenden  Vorgängen  der  Befruchtung 
bekannt  wurde ,  dass  die  Attractionscentren  (Centrosomen) 
für  die  erste  Theilungsfigur  (Fig.  III  und  IV)  an  zwei  oppo- 
nirten  Punkten  in  der  Peripherie  der  Copulationsfläche  von 
Ei-  und  Samenkern  auftauchen,  und  dass  zwischen  ihnen 
die  Kernspindel  entsteht.  Schon  in  meiner  Abhandlung  aus 
dem  Jahre  1884  sagte  ich  bei  der  Erklärung  der  Rotation 
der  conjugirten  Kerne  im  Ei  von  Ascaris  nigrovenosa  (siehe 
auch  S.  104),  dass  die  Kernaxe  in  die  Abplattungsfläche, 
das  ist  in  die  Copulationsfläche  der  beiden  Kerne  zu  liegen 
kommt  (Fig.  IV  A^) ,  dass  die  Attractionscentren  sich  an 
zwei  opponirten  Punkten  der  Copulationsfläche  entwickeln 
müssen,  dass  das  Kernpaar  halbirt  werde  durch 
eine  Ebene,  welche  die  Copulationsfläche  recht- 
winklig schneide  (19,  S.  21). 

Es  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  eine  Linie,  welche 
die  Mitte  der  Kernspindel  rechtwinklig  schneidet,  nichts 
Anderes  als  die  Richtung  der  Copulationslinie  in  der  oben 
beschriebenen  weiteren  Fassung  von  Roux  ist  (Fig.  III 
A  rc,  B  ic).  Der  Ausdruck  „Die  Richtung  der  ersten 
Theilung  des  Furchungskernes  wird  durch  die  Copula- 
tionsriehtung  der  Vorkerne  bestimmt"  lässt  sich  daher 
ersetzen  durch  den  Satz:  „Die  Richtung  der  ersten 
Theilung  wird  durch  die  Lage  der  Kernspindel  des  copu- 
lirten  Kernpaares  bestimmt,  derart,  dass  sie  die  Axe  der 
Kernspindel  in  ihrer  Mitte  rechtwinklig  schneidet."  Ohne 
Frage  ist  diese  Fassung,  welche  ich  schon  1884  entwickelt 
habe,  und  deren  Priorität  ich  hiermit  geltend  mache,  die 
bessere  und  genauere;  sie  beseitigt  ein-  für  allemal  die 
Vorstellung,  durch  welche  die  Forscher  bisher  in  der  Irre 
herumgeführt  worden  sind ,  als  ob  die  Pigmentstrasse ,  die 
vom  Samenkörper  im  Ei  eingeschlagene  Richtung,  auf  die 
Lage  der  Theilungsebene  von  Einfluss  sein  könne. 


—     142     — 

Was  ferner  die  Bedeutung  des  ermittelten  Theilungs- 
niodus  des  copulirten  Kernpaares  betrifft,  so  hob  ieh  1884 
schon  hervor,  dass  er  nach  den  schönen  Untersuchungen 
von  van  Beneden  nothwendig  sei,  damit  von  der  Sub- 
stanz der  conjugirten  Kerne  von  jedem  die  Hälfte  einem 
Tochterkern  zugetheilt  werde  (19,  S.  21). 

Roux  hat  später  gleichfalls  die  Frage  nach  der  functio- 
nellenBedeutung  seines  Gesetzes(?),  dass  die  erste  Theilung 
des  Furchungskernes  normaler  Weise  in  der  Copulationsrich- 
tung  der  Vorkerne  erfolge,  aufgeworfen.  (G.  A.  S.  390—394.) 
Nachdem  er  alle  verschiedenen  Möglichkeiten  der  Mischung 
und  Vertheilung  der  männlichen  und  weiblichen  Kern- 
substanzen auf  die  Tochterkerne  erörtert,  stellt  er  das  Gesetz 
auf,  dass  die  ermittelte  Art  der  Theilung  bei  der  Annahme 
einer  „fehlenden"  oder  „unvollkommenen  Vermischung"  der 
Substanzen  der  Vorkerne  allein  diejenige  ist,  welche  keine 
in  der  Copulationsrichtung  vor  sich  gegangene  Aneinander- 
lagerung  oder  Vermischung  der  beiden  Kernmaterialien 
wieder  aufhebt.  Er  bezeichnet  den  Vorgang  als  „den  ein- 
fachsten, ökonomischsten  Mechanismus  der  Theilung  durch 
Copulation  verbundener,  aber  nicht  oder  nur  unvollkommen 
vermischter  Materialien". 

Auch  dieser  Satz  ist  nur  eine  Umschreibung 
und  eine  ungenauere  Wiedergabe  des  schon  zu- 
vor durch  van  Beneden  ermittelten  Gesetzes. 
Schon  vor  den  Erörterungen  und  der  Erwägung  der  ver- 
schiedenen Möglichkeiten  durch  Roux  war  über  diesen 
Punkt  durch  die  glänzende  Entdeckung  eines  descriptiven 
Forschers  helles  Licht  verbreitet  worden.  Das  seitdem 
mehrfach  bestätigte  van  Beneden'  sehe  Gesetz ,  dass  Ei- 
und  Samenkern  gleichviel  Kernsegmente  zur  Bildung  der 
ersten  Kernspindel  liefern,  dass  das  Muttersegment  sich  in 
Tochtersegmente  spalte,  welche  darauf  in  gleichem  Verhält- 


—    143     — 

nisse  sich  auf  die  Tochterkerne  vertheilen,  hat  uns  einen 
vollkommen  erschöpfenden  Einblick  in  den  Process  und 
seine  Bedeutung  gewährt.  Wem  es  Vergnügen  macht,  mag 
meinetwegen  den  Vorgang  „den  einfachsten,  ökonomischsten 
Mechanismus  der  Theilung  durch  Copulation  verbundener, 
aber  nicht  oder  nur  unvollkommen  vermischter  Materialien'1 
heissen.  Mehr,  als  wir  durch  van  Beneden's  Gesetz 
wissen,  erfahren  wir  hierdurch  nicht.  Ueber  dasselbe  hin- 
aus hat  bis  heute  unserer  Erkenntniss  nichts  Neues  hinzu- 
gefügt werden  können. 

Noch  eine  dritte  Bemerkung.  Ich  bezeichnete  oben 
die  von  mir  gegebene  Fassung,  dass  die  erste  Theilungs- 
ebene  des  Eies  die  Kernspindel  des  copulirten  Kernpaares 
rechtwinklig  schneide  und  daher  in  ihrer  Richtung  durch 
die  Lage  der  letzteren  bestimmt  werde,  als  die  bessere  und 
genauere  im  Vergleich  zu  der  von  R  o  u  x  gegebenen  Fassung, 
dass  die  Richtung  der  ersten  Theilebene  des  Froscheies 
durch  die  Richtung  der  Copulationslinie  von  Ei-  und  Samen- 
kern bestimmt  werde.  Die  Roux' sehe  Fassung  ist  nämlich 
mathematisch  falsch  und  daher  einfach  unhaltbar.  Jeder 
weiss,  dass  die  Lage  einer  Ebene  durch  die  Richtung  einer 
einzigen  geraden  Linie  nicht  bestimmt  werden  kann.  Denn 
ich  kann  die  Ebene  um  eine  einzige  gerade  Linie  als  Axe 
herumdrehen  und  ihr  so  unzählige  Lagen  geben.  Das 
Froschei  kann  in  der  Copulationsrichtung  durch  eine  verti- 
cale,  horizontale  und  unzählige  schräg  zur  verticalen  ge- 
stellte Ebenen  getheilt  werden.  Von  diesem  Fehler  ist  die 
von  mir  gegebene  Fassung  frei,  da  eine  begrenzte  gerade 
Linie  (Axe  der  Kernspindel)  nur  durch  eine  einzige  Ebene 
in  ihrer  Mitte  rechtwinklig  halbirt  werden  kann. 

Durch    meine  Fassung   ist   zugleich   auch    das   sich  an- 
schliessende Problem  als  Frage  klar  gestellt:    Wodurch  wird 


—     144    — 

die  Lage  der  Kernspindel  im  Ei  bestimmt?  Hierauf  gab 
ich  die  meiner  Meinung  nach  zutreffende  und  erschöpfende 
Antwort:  „Die  Lage  der  Kernaxe  steht  wieder  in  einem 
Abhängigkeitsverhältniss  zur  Form  und  Differenzirung  des 
sie  umhüllenden  protoplasmatischen  Körpers."  Unter  Diffe- 
renzirung verstehe  ich  die  besondere  Art  und  Weise,  wie 
Protoplasma  und  Dotterbestandtheile  im  Ei  vertheilt  und 
angeordnet  sind.  Auch  wies  ich  verschiedene  Factoren 
nach,  welche  auf  eine  stärkere  Ansammlung  von  Proto- 
plasma an  einzelnen  Stellen  des  Eikörpers  hinwirken,  wie 
die  Bildung  der  Richtungskörper  und  die  Befruchtung. 
Mit  anderen  Worten  ausgedrückt :  ich  machte  die  Lage 
der  Kernaxe  von  dem  Bau  der  Eizelle  vor  dem 
Beginn  der  Th eilung  abhängig. 

AuchRoux  war  im  weiteren  Verlauf  seiner 
Experimente  1887  genöthigt,  dem  Dotter  einen 
grossen  Einfluss  auf  die  Richtung  der  ersten 
T  heil  ebene  einzuräumen.  Bei  Eiern  von  Rana  escu- 
lenta,  die  er  in  schiefer  Zwangslage  befruchtete,  sah  er  die 
Theilebene  ausser  jeder  Beziehung  zum  B  e f r u c h - 
t  u  n  g  s  m  e  r  i  d  i  a  n  stehen,  und  er  erkannte  an,  „dass  die  durch 
die  Zwangslage  bilateral -symmetrisch  geordneten  Dotter- 
massen einen  »drehenden«,  bestimmt  einstellenden  Einfluss  auf 
den  Furchungkern,  sei  es  schon  während  seiner  Bildung  oder 
nach  derselben,  ausüben,  und  dass  dann  der  so  eingestellte 
Kern,  indem  er  sich  in  seiner  Copulationsrichtung  theilt, 
bewirkt,  dass  auch  der  Dotter  sich  in  dieser  Richtung 
theilt"  (G.  A.  S.  411).  Er  findet  in  den  Ergebnissen  der 
Befruchtung  bei  Zwangslage  eine  neue  Bestätigung  seiner 
Ansicht,  „dass  weder  die  Lage  der  Eintrittsstelle,  noch  die 
Substanzen  der  Pigmentstrasse  des  Samenkörpers  das  Be- 
stimmende   für    die    »Richtung«    der    ersten    Theilung    des 


—     145    — 

Dotters  sind,  sondern  dass  das  Moment  in  der  Richtung 
der  Copulation  der  Kerne  zu  suchen  ist"  (S.  406),  dass 
aber  „bei  genauerer  Prüfung  auch  letzteres  Moment  nicht 
die  einzige  bestimmende  Componente  sein  kann"  (S.  406), 
sondern  der  richtende  Einfluss  der  Dottermasse. 

In  diesen  und  anderen  Sätzen  ist  denn  schliesslich 
Roux  nach  mannigfachen  Kreuz-  und  Querfahrten  auf 
demselben  Standpunkt  angekommen,  welchen  ich  schon 
1884  eingenommen  hatte,  freilich  ohne  dieser  Beziehungen 
irgendwie  zu  gedenken,  getreu  seinem  Ausspruch,  welcher 
diesem  Abschnitt  vorgesetzt  ist:  „Die  causalen  Forscher 
würden  einen  Umweg  einschlagen  und  sich  selber  ein 
Armuthszeugniss  ausstellen,  wenn  sie  ihr  Werk  damit  an- 
fangen wollten,  die  mannigfachen,  nicht  bewiesenen  Aus- 
sprüche descriptiver  Forscher  auf  ihre  Richtigkeit  zu 
prüfen. " 

Wir  wollen  dem  causalen  Forscher  diesen  Standpunkt 
lassen  und  nur  zum  Schluss  noch  einmal  kurz  das  Ergebniss 
unserer  analytischen  Studie  in  einigen  Sätzen  zusammen- 
fassen, in  welchen  sich  eine  interessante  Metamorphose  ent- 
wicklungsmechanischer Gedanken  und  Gesetze  wie  eine 
Verwandlung  von  Nebelbildern  vollzieht. 

ErstesBild,  im  Jahre  1882.  Vor  einer  Ueberschätzung 
des  vermuthlichen  Einflusses  des  Befruchtungsvorganges 
auf  die  Richtungsbestimmung  der  ersten  Furche  niuss  die 
Erwägung  schützen,  dass  es  Thiere  giebt,  bei  denen  so- 
wohl befruchtete  als  unbefruchtete  Eier  vollkommen  ent- 
wicklungsfähig sind  (G.  A.  S.  121). 

Erste  Verwandlung.  1883.  Die  Befruchtung  wirkt 
trotzdem  richtungsbestimmend.  Die  Richtung  der  ersten 
Furche  und  der  Medianebene  des  Embryo   wird   durch  die 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.    II.  10 


-     146    — 

beliebig  gewählte  Lage  der  Sameneintrittsstelle  bestimmt 
(G.  A.  S.  357). 

Zweite  Verwandlung.  1887.  Die  Sameneintritts- 
stelle und  die  Penetrationsbahn  sind  im  Vergleich  zur  Copu- 
lationsbahn  (Haken  der  Pigmentstrasse)  für  die  Bestimmung 
der  Richtung  der  ersten  Furche  minderwerthig ,  wenn  sie 
überhaupt  einen  bezüglichen  Einfluss  ausüben  (S.  383). 

Dritte  Verwandlung.  1887.  Die  Richtung  der 
ersten  Theilungsebene  wird  auch  nicht  durch  die  reelle 
Copulationsbahn  (Haken  der  Pigmentstrasse),  sondern  durch 
die  Richtung  der  ideellen  oder  immanenten  Copulationslinie 
der  beiden  Vorkerne  bestimmt  (S.  412). 

Vierte  Verwandlung.  1887.  Die  Richtung  der 
ersten  Theilungsebene  wird  nicht  ausschliesslich  durch  die 
Richtung  der  Copulationslinie  der  beiden  Vorkerne  (erste 
Componente),  sondern  auch  durch  die  Anordnung  der  Dotter- 
masse und  ihren  richtenden  Einfluss  (zweite  Componente) 
bestimmt  (S.  407). 

Das  Schlussbild  (1895)  liefern  die  in  der  neu  auf- 
gelegten Sammlung  der  Abhandlungen  über  Entwicklungs- 
mechanik  gleichfalls  neu  formulirten  Naturgesetze  §  1 — 4 
(S.  1025). 

Wie  verhält  es  sich  bei  diesen  Verwandlungen  mit  der 
Richtigkeit  der  Ergebnisse  der  von  Roux  zuerst  angestell- 
ten Experimente  und  seiner  Beobachtungen? 

Dritte  Studie.     Einige  Definitionen. 

Ausspruch  von  W.  Koux  :  „Ich  ersuche  zugleich  die  Herren  bequemen  Abschreiber 

a  hi  M.  V ,    dasjenige,    was   sie  für  meine  An- 

sichten  ausgeben  wollen,  ebenso  wenig'  aus  den  Schrift«  n 
II.  Driesch's  wie  aus  denen  0.  Hertwig's  zu  ent- 
nehmen, sondern  bitte  sie,  hartes  Holz  zu  bohren 
und  die  Originale  zu  studiren." 

A.  f.  Entw.  Bd.  III  8.  428. 

Da  Roux  selbst  viele  Erscheinungen,  die  mit  seinen 
„Naturgesetzen"    nicht    übereinstimmen    wollten,    zu    beob- 


—     147     - 

achten  Gelegenheit  hatte,  da  er  ferner  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  immer  mehr  Widerspruch  von  verschiedenen  Seiten 
erfuhr,  und  zwar  auf  Grund  zahlreicher  Experimente  und 
Beobachtungen,  so  musste  er  wohl  oder  übel  sich  mit  der 
veränderten  Sachlage  abzufinden  suchen.  Er  hat  sich  denn 
öfters  bemüht,  seine  Gesetze,  ohne  sie  preiszugeben,  den 
neuen  Verhältnissen  anzupassen.  Dazu  mussten  Hilfshypo- 
thesen ersonnen,  sowie  entwicklungsmechanische  Definitionen 
und  Begriffe  gebildet  werden. 

Eine  sehr  ausgiebige  Verwendung  linden  in  den  Schriften 
von  Roux  namentlich  einige  künstliche  und  willkürliche 
Begriffsbestimmungen.  Als  solche  bezeichne  ich  1.  die 
Unterscheidung  einer  normalen  oder  typischen  und  einer 
anomalen  oder  atypischen  Entwicklung,  wie  sie  Roux  sich 
zurechtgelegt  hat;  2.  die  Unterscheidung  einer  Selbstdiffe- 
renzirung  und  einer  abhängigen  Differenzirung. 

1.  Die  Definition  der  typischen  und  atypischen  Ent- 
wicklung ist  ein  classisches  Beispiel  einer  Definition,  durch 
welche  so  gut  wie  nichts  definirt  wird.  So  lesen  wir  an 
einer  Stelle  (G.  A.  S.  914,  915):  „Die  verschiedenen, 
nicht  von  einer  einzigen  Bildungsweise  ableitbaren  That- 
sachen  haben  mich  veranlasst,  zwei  entsprechend  ver- 
schiedene Bildungsmodi  aufzustellen."  „Erstens  einen 
Bildungsmodus  für  die  normale  Entwicklung,  den  ich  als 
Modus  der  directen  s.  typischen  Entwicklung  be- 
zeichne, weil  er  typisch  verläuft",  „zweitens  den 
Modus  der  indirecten  s.  atypischen  s.  regulatorischen 
Entwicklung  etc.  Dieser  ist  im  Gegensatz  zu 
er  st  er  em  charakterisirt  durch  entsprechend 
atypischen,  aber  von  einem  stets  vorhandenen ,  wenn 
auch  nur  kleinen  „typischen"  Theile  aus  geleiteten  Ver- 
lauf"; oder  an  einer  andern  Stelle  (S.  844):    „Das  Wesen 

10* 


—     148    — 

der  typischen  Entwicklung  ist  bezeichnet  vornehmlich  durch 
stets  denselben  typischen  Ausgang  von  einer  (ihrer  Her- 
kunft nach  typischen)  äusserlich  „undifferenzirten"  ganzen 
Zelle  und  durch  in  allen  Fällen  denselben  typischen  Ver- 
lauf." „In  allen  Fällen"  wird  dabei  wieder  eingeschränkt 
durch  den  in  Klammern  gesetzten  Zusatz,  „von  geringen 
Variationen  und  ihnen  entsprechenden  directen  Anpassungen, 
Selbstregulationen,  abgesehen".  Oder  an  dritter  Stelle 
(S.  813):  „Ist  die  typische  Entwicklung,  wie  wir  anneh- 
men, Bildung  von  typisch  Geordnetem  aus  typisch  Geord- 
netem unter  vollkommen  typischem  Verlaufe,  und  zwar 
Entwicklung  eines  typischen  formal  Complicirten  aus  einem 
typischen  formal  Einfacheren,  so  ist  sie  also  etwas  in  ihrem 
Principe  durchaus  Verständliches(!),  sofern  wirk- 
lich der  Verlauf  in  allen  seinen  Theilen,  nicht  bloss  in  den 
Hauptzügen,  typisch  bestimmt  sich  vollzieht,  und  sofern  die 
eventuellen  »atypischen«  Einzelvorgänge  doch  durch  »typi- 
sche« Regulationsmechanismen  vermittelt  werden."  „Die 
»atypische  Entwicklung«  ist  dagegen  Bildung  von  Geord- 
netem aus  einem  in  sich  Geordneten,  aber  atypisch  Be- 
grenzten, und  zwar  Bildung  eines  typischen  Ganzen  aus 
einem  atypisch  begrenzten  Theile  eines  solchen"  etc.  „Aus 
der  atypischen  Begrenzung  des  sich  zum  typischen  Ganzen 
umbildenden  Theiles  folgt,  dass  diese  Umbildung  sich  im 
Speciellen  auf  einem  jedem  Einzelfalle  angepassten  Wege 
vollziehen  muss."  „Diese  Anpassung  ist  es,  die,  so- 
fern sie  eine  directe  ist,  den  Anschein  des 
Wunderbaren,  Metaphysischen  (sie!)  hat"  (S.  814). 
Daher  soll  überhaupt  der  atypischen  Entwicklung  „beim 
gegenwärtigen  Stand  unserer  Erkenntniss  etwas  Metaphy- 
sisches (!!)  anhaften"  (S.  -813). 

Um    in    den    Sinn    der  Definitionen   noch    tiefer    einzu- 


—    149    —  . 

dringen,  mag  uns  ein  Beispiel  dienen.  Wir  wählen  das 
Froschei,  da  ja  sein  Studium  den  Anstoss  zu  den  Begriffs- 
bestimmungen gegeben  hat,  denen  Eoux,  nach  den  mehr- 
fachen Wiederholungen  zu  schliessen,  besonderen  Werth 
beimisst,  und  fragen  uns;  was  ist  bei  ihm  typische  und 
atypische  Entwicklung?  Auf  die  Frage  würde  nach  den 
Definitionen  von  Roux  die  Antwort  lauten: 

Das  normale,  kuglige  Froschei  ist  ein  typisch  begrenztes 
und  entwickelt  sich  typisch,  weil  Alles  typisch  zugeht; 
seine  Entwicklung  ist  im  Princip  durchaus  verständlich. 
Ein  Froschei  dagegen,  das  ganz  wenig  durch  Druck  ab- 
geplattet ist  und  daher  im  Furchungsprocess  einige  Ab- 
weichungen zeigt,  ist  ein  atypisch  begrenztes  und  ent- 
wickelt sich  atypisch  zu  einem  typischen  Ganzen;  seine 
Entwicklung  hat  den  Anschein  des  Wunderbaren ,  Meta- 
physischen an  sich,  weil  sie  sich  wegen  der  „atypischen 
Begrenzung  des  sich  zum  typischen  Ganzen  umbildenden 
Theiles"  „im  Speciellen  auf  einem  jedem  Einzelfalle  an- 
gepassten  Wege  vollziehen  muss." 

Mehr  als  aus  den  Definitionen,  dass  typische  oder 
atypische  Entwicklung  darin  besteht,  dass  sich  etwas  typisch 
oder  atypisch  entwickelt,  wird  uns  das  Geheimniss  der 
typischen  Entwicklung  aus  folgender  Stelle  klar  (1.  c. 
S.  844): 

„Typische  Entwicklung  ist  entwicklungsmechanisch  bis 
jetzt  charakterisirt  in  den  ersten  Stadien  (beim  Frosch) 
durch  die  Bestimmung  der  ersten  Theilungsebene  durch 
die  Befruchtungsebene,  durch  die  Anlage  der  Schwanzseite 
des  Embryos  auf  der  Befruchtungsseite  des  Eies,  durch  die 
Lage  der  Medianebene  in  der  ersten  Furchungsebene  etc., 
durch  die  erwähnte  Selbstdifferenzirung  der  ersten  Furchungs- 
zellen   zu   bezüglichen    Theilstücken    der   Morula,    Gastrula 


—     150    — 

und  des  Embryo,  in  etwas  späteren  Stadien  gleichfalls  durch 
einige  wenige,  von  mir  nachgewiesene  Selbstdifferenzirungen 
(Selbstschluss  des  Medullär-  und  des  Darmrohrs),  ferner 
durch  einige  aus  den  Missbildungen  erschlossene  Selbst- 
differenzirungen, sowie  durch  mehrere,  bereits  ermittelte 
Arten  von  Correlationen."  Also  ohne  Umschweife,  klipp 
und  klar  gesagt:  die  typische  Entwicklung  ist 
charakterisirt  durch  die  Roux'schen  Naturge- 
setze, während  Alles,  was  sich  diesen  Gesetzen 
nicht  fügt,  atypisch  ist. 

Leider  sind  diese  Roux'schen  Gesetze  nach  der  Aus- 
sage ihres  Urhebers  selbst  in  ihrer  Wirkungssphäre  und 
Giltigkeit  sehr  eingeschränkt.  Denn  die  „vollkommen" 
typische,  nicht  der  „geringsten"  Störung  unter- 
liegende Entwicklung  soll  nach  Roux  „ganz  rein 
für  s i c h  w o h  1  überhau ptnicht  vorkommen"  (G. A. 
S.  980),  und  sie  soll  auch  nicht  möglich  sein,  weil  das  Ei 
bei  seiner  Entwicklung  von  äusseren  Bedingungen  abhängig 
ist  (1.  c.  S.  981).  In  seiner  jüngsten  Abhandlung  (A.  f.  E. 
S.  333)  macht  daher  Roux  noch  eine  weitere,  feinere  Unter- 
scheidung zwischen  typischer  und  normaler  Entwicklung, 
welche  man  nicht  mit  einander  verwechseln  dürfe;  denn 
die  typische  Entwicklung  entspräche  nur  einer  »ganz 
normalen«  Ontogenese,  die  aber  in  Folge  der  un- 
gleichen äusseren  Einwirkungen  und  vielleicht  auch  in  Folge 
von  Variationen  im  Bau  des  Eies  resp.  Samenkörpers  wohl 
nie  vorkomme".  Bei  der  normalen  Entwicklung  kann  es 
mithin  auch  atypisch  zugehen1). 


*)  So  ist  auch  auf  S.  982  zu  lesen:  „Obschon  also  nie  ein 
Individuum  ganz  allein  durch  die  directe  s.  typische 
Entwicklung"  entsteht,  so  muss  „diese  Art  der  Entwicklung  doch 
möglichst  streng  von  der  indirecten  s.  regulatorischen  Ent- 


—     151     - 

Uns  scheint  es  sich  mit  den  Begriffen  der  typischen 
und  der  atypischen  Entwicklung  wie  mit  den  Worten  Ge- 
sundheit und  Krankheit,  Leben  und  Sterben  zu  verhalten. 
Auch  über  diese  gegensätzlichen  Begriffe  kann  ein  scharf- 
sinniger und  phantasievoller  Doctorand,  wie  viele  andere 
Theorien,  so  auch  die  Theorie  aufstellen,  dass  vollkommene 
Gesundheit  wohl  überhaupt  nicht  vorkommt,  da  doch  irgend 
ein  Theil  immer  krank  ist,  und  dass  das  Leben,  da  Zellen 
in  unserem  Körper  fortwährend  zu  Grunde  gehen,  eigentlich 
ein  fortwährendes  Sterben  ist. 

Wir  aber  wollen,  ohne  in  eine  Disputation  weiter  ein- 
zugehen, uns  darauf  beschränken,  aus  den  Definitionen  von 
Roux  den  naheliegenden  Schluss  zu  ziehen,  dass  seine 
entwicklungsmechanischen  Naturgesetze,  weil  sie  nur  für 
„die  vollkommen  typische"  oder  „ganz  normale" 
Entwicklung,  welche  aber  „wohl  nie  vorkommt",  gelten, 
mit  der  wirklichen  Entwicklung,  welche  zum  guten  Theile 
eine  atypische  ist,  sich  bald  hier,  bald  da  in  Widerspruch 
befinden;  es  sind  daher,  was  ja  auch  mit  den  Ergebnissen 
dieser  Studien  in  bester  Harmonie  steht,  weniger  Gesetze, 
die  zeigen,  wie  es  in  dieser  unvollkommenen  Welt  eigent- 
lich zugeht,  als  Gesetze,  die  uns  lehren  sollen,  wie  die 
atypische  Entwicklung  in  der  Natur  werden  müsste,  um 
vollkommen  typisch  zu  sein. 

2.  In  ähnlicher  Weise  wie  über  die  bisher  besprochenen 
Begriffe,  „typische"  und  „atypische",  „normale",  „ganz 
normale"  und  „anomale  Entwicklung",  hat  Roux  Definitio- 
nen, denen  er  für  sein  Lehrgebäude  hohen  Werth  beilegt, 
über    die  Worte   Selbstdifferenzirung    und    abhängige   Diffe- 


wicklung  geschieden  werden,    da   die  Processe   beider   wesentlich 
verschieden  sind." 


—     152     — 

renzirung  aufgestellt  und  ihr  Verhältniss  zu  den  verschie- 
denen Arten  der  Entwicklung  erörtert. 

Die  typische  Entwicklung  des  Eies  ist  fürRoux 
hauptsächlich  „Selbstdifferenzirung".  Alle  Vorgänge 
sind  so  genau  norniirt,  dass  jedes  Stück  des  Eies,  jede 
Furchungszelle  etc.  zu  einem  bestimmten  Theil  des  Embryos 
zu  werden  im  Voraus  bestimmt  ist  (Mosaiktheorie)  und 
sich  unabhängig  von  anderen  Theilen  durch  Selbst- 
differenzirung dazu  entwickelt.  Ihren  besonderen,  von  An- 
fang an  vorgezeichneten  Charakter  während  der  Entwicklung 
erhalten  die  einzelnen  Zellen  aufgeprägt  durch  die  Kern- 
substanz, welche  durch  den  Theilungsprocess  qualitativ 
ungleich  getheilt  wird. 

Bei  der  atypischen  Entwicklung  dagegen  tritt 
die  Selbstdifferenzirung  der  Theile  mehr  in  den  Hinter- 
grund und  wird  durch  abhängige  oder  correlative  Differen- 
zirungen  der  Theile  unter  einander  ersetzt.  Es  werden 
neue  Mechanismen  der  Selbstregulation  durch  jede  Störung 
des  normalen  Zustandes,  schon  durch  die  geringsten  Ab- 
weichungen, wie  z.  B.  die  so  häufigen  Verschiebungen  der 
Furchungszellen ,  geweckt.  Es  werden  dadurch  die  ab- 
norm gelagerten  oder  abnorm  beschaffenen  Theile  unter 
die  regulatorischen  differenzirenden  Wirkungen  ihrer  Um- 
gebung gestellt  (G.  A.  S.  980.  981).  Sie  werden  umdiffe- 
renzirt.  An  Stelle  des  Kernmaterials,  welches  in  Folge 
qualitativ  ungleicher  Theilung  von  Haus  aus  nur  für  eine 
ganz  besondere  einseitige  Art  der  Entwicklung  fest  voraus- 
bestimmt  war  (typisches  Idioplasma),  tritt  jetzt  ein 
in  jeder  Zelle  gleichsam  noch  in  Reserve  gehaltenes  Keni- 
material,  welches  in  undifferenzirtem  Zustand  jeder  Zelle 
noch  neben  dem  qualitativ  ungleich  getheilten  Kernmaterial 
für  unvorhergesehene  Fälle  bei  der  Theilung  mit  auf  den 
Weg  gegeben   wird,  das  Res  er  ve- Idioplasma. 


—     153    — 

Da  ich  die  Mosaiktheorie  von  Roux  und  die  ihr  nahe 
verwandte  Keimplasmatheorie  von  Weis  mann,  besonders 
die  Lehre  der  qualitativ  ungleichen  Kerntheilung  und  des 
Reserve-Idioplasma,  schon  im  ersten  Heft  der  „Zeit-  und 
Streitfragen"  eingehend  besprochen  habe,  verweise  ich  auf 
das  früher  Gesagte  (besonders  S.  27 — 80)  und  gehe  hier  nur 
noch  auf  Gebrauch  und  Bedeutung  der  beiden  Worte  ..Selbst- 
differenzirung"  und  „abhängige  Differenzirung"  ein.  Denn 
Roux  bedient  sich  ihrer  als  Schlagworte,  um  mit  ihnen 
das  seiner  Meinung  nach  grundverschiedene  Wesen  der 
typischen  und  atypischen  Entwicklung  zu  bezeichnen.  Er 
nennt  sie  schwierige,  aber  für  seine  causa le 
Forschung  nothwendige  Begriffe. 

Selbstdif ferenzirung  findet  nach  Roux  in  der 
Entwicklung  eines  Organismus  oder  eines  seiner  Theile 
statt,  wenn  „eine  Veränderung  sich  durch  gestaltende  oder 
qualitativ  differenzirende  Energien  vollzieht,  welche  in  dem 
»veränderten  Ganzen«  resp.  in  dem  veränderten  Theile  ge- 
legen sind"  (G.  A.  S.  821).  Abhängig  oder  correlativ  ist 
dagegen  die  Differenzirung,  wenn  „bei  der  Gestaltung  eines 
Gebildes  ausserhalb  desselben  gelegene  differenzirende  Ur- 
sachen mitwirken."  Die  Unterscheidung  der  beiden  Ent- 
wicklungsweisen gründet  Roux  „auf  den  Sitz  der  differen- 
zirenden  Ursachen;"  er  nennt  sie  daher  auch  kein  actives, 
sondern  ein  topographisches  Princip  (1.  c.  S.  823). 

Noch  etwas  genauer  wird  an  einer  andern  Stelle  die 
Definition  ausgeführt  (1.  c.  S.  978):  „Unter  »Selbstdifferen- 
zirung«  eines  von  der  Natur  oder  in  Gedanken  von  uns 
abgegrenzten  Theiles  verstehe  ich,  dass  die  Ursachen  des 
»Specifischen«  der  Differenzirung  dieses  Theiles  in  ihm 
selber  gelegen  sind.  Vorbedingungen  dieser  Verände- 
rungen,   d.  h.  Componenten,    welche  nicht  das  Specifische: 


—     154     — 

die  Qualität,  den  Ort,  die  Zeit  und  die  Intensität  der  Ver- 
änderung bestimmen,  wie  z.  B.  die  Zufuhr  von  Wärme, 
Sauerstoff  und  sonstiger  Nahrung,  können  dabei  von  aussen 
zugeführt  werden,  ohne  dass  die  Veränderung  dadurch  den 
Charakter  der  Selbstdifferenzirung  in  meinem  Sinne  ver- 
liert. Als  abhängige  resp.  correlative  Differenzirung  be- 
zeichne ich  die  Veränderung  eines  umgrenzten  Theiles,  so- 
fern resp.  soweit  die  das  specifische  Verhalten  nach  Qualität, 
Ort,  Zeit  und  Grösse  dieser  Veränderung  bestimmenden 
Ursachen  ausserhalb  dieses  Theiles  gelegen  sind." 

Wie  mit  den  Worten  typische  und  atypische  Entwick- 
lung hat  Roux  auch  hier  wieder  die  Biologie  mit  zwei 
unklaren  Begriffen  beschenkt,  deren  Verwendung  im  be- 
sonderen Fall  in  höchstem  Grade  von  dem  Belieben  und 
der  Willkür  des  einzelnen  Forschers  abhängt. 

Streng  genommen  kann  ja  von  einer  Entwicklung  durch 
Selbstdifferenzirung  überhaupt  nicht  gesprochen  werden. 
Denn  auch  die  geringste  Veränderung  eines  Organismus 
oder  eines  seiner  Theile  setzt  stets  die  Mitwirkung  äusserer 
Ursachen  voraus. 

Das  hat-  auch  Roux  eingesehen  und  bemerkt  daher 
(1.  c.  S.  822):  „Um  Irrthümern  vorzubeugen,  ist  stets 
gegenwärtig  zu  halten,  dass  es  Selbstdifferenzirung  im 
»analytischen«  Sinne,  also  in  Bezug  auf  das  »Geschehen« 
selber,  auf  die  Veränderung  bloss  des  gerade  veränderten 
Theiles  nicht  giebt  und  nicht  geben  kann,  da  entsprechend 
dem  Beharrungsgesetz  nichts  seinen  Zustand  von  selber  zu 
verändern  vermag.  Die  Entwicklung  besteht  also  ihrem 
Wesen  nach  in  Wechselwirkungen,  in  gegenseitigen  Beein- 
flussungen." 

„Die  »Veränderung  oder  Differenzirung  an  sich«  be- 
ruht stets  auf  Wechselwirkung  von  Theilen,  da  nichts 
ganz  von  selber  sich   verändern  kann"   (1.  c.  S.  979). 


-     155     — 

Gewiss  ist  es  schon  von  vornherein  misslich,  einen 
Ausdruck,  von  dem  man  selbst  sagt,  dass  er  wissenschaft- 
lich eigentlich  auf  eine  Sache  nicht  zutrifft,  sogar  als  Mittel 
zur  Unterscheidung  und  Erklärung  zweier  grundverschie- 
dener Entwicklung^ weisen  zu  verwenden.  Soll  es  trotzdem 
geschehen,  dann  muss  der  Begriff  wenigstens  so  klar  definirt 
sein,  dass  über  seine  Verwendung  kein  Zweifel  mehr  be- 
stehen kann.  In  diesem  Fall  kann  nach  meiner  Meinung 
das  Wort  Selbstdifferenzirung  einzig  und  allein  in  folgender 
Weise    und    unter  folgender  Motivirung   gebraucht  werden: 

Eine  Selbstdifferenzirung  kann  der  Entwicklungsprocess 
eines  Eies  insofern  genannt  werden ,  als  das  Ei  ein  so  com- 
plicirter  Organismus,  meinetwegen  auch  Mechanismus  ist, 
dass  von  seiner  Structur  das  Eigenthümliche  oder  Specifische 
des  Entwicklungsprocesses  vorwiegend  abhängt,  während 
die  äusseren  Einwirkungen  (causae  externae)  zwar  gleich- 
falls unbedingt  nothwendig  sind,  aber  doch  für  das  Zu- 
standekommen der  besonderen  Art  des  Endproducts  weniger 
ins  Gewicht  fallen. 

Es  spielt  bei  der  Erklärung,  um  mich  eines  Beispiels 
zu  bedienen,  die  complicirte  und  specifische  Organisation 
der  Eizelle  dieselbe  Rolle  wie  bei  der  Erklärung  der 
Leistung  einer  Maschine  ihre  complicirte  Structur.  In  dem 
einen  wie  in  dem  anderen  Falle  sind  äussere  Ursachen  oder 
Umstände  zwar  unbedingt  nothwendig,  dort,  damit  die  Ent- 
wicklung des  Eies  in  Gang  kommt  und  unterhalten  wird, 
Sauerstoff,  Wärme,  Licht  etc.,  hier,  damit  die  Maschine  in 
Thätigkeit  gesetzt  und  erhalten  wird,  eine  äussere  Kraftquelle. 
Aber  diese  äusseren  Ursachen  können  variiren  und  haben  be- 
sonders auf  das  Specifische  der  Entwicklung  des  Eies  oder 
der  Leistung  der  Maschine  nur  sehr  untergeordneten  Ein- 
fluss.    Eine  Buchdruckmaschine  arbeitet  in  derselben  Weise, 


—     156     — 

mag  sie  durch  eine  Dampfmaschine,  einen  Electromotor  oder 
eine  andere  Kraftquelle  getrieben  werden.  Ebenso  wird  ein 
Froschei  zum  Frosche,  mag  es  sich  bei  5 — 10  oder  20  Grad 
Wärme,  bei  reicher  oder  beschränkterer  Sauerstoffzufuhr,  in 
feuchter  Atmosphäre  oder  im  Wasser  etc.  entwickeln. 

Will  man  in  diesem  schärfer  präcisirten  Sinne  das 
Wort  Selbstdifferenzirung  gebrauchen,  dann  liegt  auf  der 
Hand,  dass  die  Entwicklung  eines  Eies,  die  unter  anderen 
als  den  gewöhnlichen  Bedingungen  vor  sich  geht,  gleich- 
falls als  Selbstdifferenzirung  bezeichnet  werden  muss,  auch 
wenn  jetzt  einige  Störungen  mit  unterlaufen.  Mögen  die 
Bedingungen  variiren,  wie  sie  wollen,  mögen  sie  die  ge- 
wöhnlichen oder  aussergewöhnlichen  sein,  jedes  Mal  tritt 
das  Ei  in  den  Entwicklungsprocess  mit  der  ihm  eigentüm- 
lichen, specifischen  Organisation  hinein.  Seine  Theilnahme 
kann  nicht  das  eine  Mal  als  Selbstdifferenzirung,  das  andere 
Mal  als  abhängige  Differenzirung  bezeichnet  werden.  Auch 
verrichten  die  äusseren  Umstände  in  dem  einen  Fall  nicht 
mehr  als  in  dem  andern.  In  beiden  Fällen  greifen  sie  in 
den  Entwicklungsgang  ohne  Unterbrechung  mit  ein,  ermög- 
lichen und  beeinflussen  ihn. 

Die  Entwicklung  eines  kugeligen  Froscheies  zum  Bei- 
spiel ist  ihrem  Wesen  nach  keine  andere,  als  wenn  es 
zwischen  zwei  Glasplatten  etwas  gepresst  wird.  Jedes  Mal 
ist  es  die  specifische  Organisation  des  Eies,  welche  das 
Resultat  in  der  Entwicklung  vorwiegend  bestimmt  und  bei 
der  Pressung  veranlasst,  dass  die  Furchungsebenen  eine 
geringe  Abänderung  erfahren.  Unter  veränderten  Um- 
ständen bethätigt  sich  die  Selbstdifferenzirung  des  Eies  nur 
in  einer  etwas  anderen ,  aber  für  seine  specifische  Organi- 
sation nicht  minder  eigenthümlichen  Weise.  Eine  Thon- 
kugel,    zu    einer  Scheibe  gepresst,    würde  sich  nicht  durch 


-     157     - 

Theilebenen  in  Stücke  zerlegen.  Es  ist  ebenso  unlogisch 
wie  wissenschaftlich  unzulässig,  das  eine  Mal  die  Entwick- 
lung des  Eies  als  eine  Selbstdifferenzirung,  das  andere  Mal 
als  eine  abhängige  Differenzirung  nach  reiner  Willkür  be- 
zeichnen zu  wollen.  Das  Verfehlte  eines  solchen  Beginnens 
wird  jedem  Leser  sofort  einleuchten,  wenn  ich  das  Beispiel 
etwas  anders  wähle  und  die  äussere  Ursache,  welche  sich 
ändert,  die  Wärme  sein  lasse.  Je  nachdem  die  Froscheier  sich 
bei  5,  bei  10  oder  20  Grad  entwickeln,  beginnen  sie  sich  nach 
sehr  verschiedenen  Zeiträumen  zum  ersten  Male  zu  theilen. 
Wenn  ich  die  Entwicklung  bei  5  Grad  eine  Selbstdifferen- 
zirung  nenne,  so  muss  ich  es  auch  in  den  anderen  Fällen 
thun.  Hier  würde  Niemand  auf  den  Gedanken  kommen, 
das  eine  Mal  von  Selbstdifferenzirung,  das  andere  Mal  von 
abhängiger  Differenzirung  zu  reden  —  so  offenkundig  ist  die 
Inconsequenz  und  die  Willkür  bei  der  Unterscheidung. 
Trotzdem  ist  der  Entwicklungsprocess  in  jedem  Falle  ein 
verschiedener,  entsprechend  der  Verschiedenheit  der  äusseren 
Ursachen.  Den  Standpunkt  aber,  den  wir  gegenüber  der 
Verschiedenheit  der  Entwicklung  bei  verschiedenen  Tem- 
peraturgraden einnehmen,  können  wir  nicht  nach  Belieben 
ändern,  wenn  es  sich  um  Verschiedenheiten  handelt,  die 
durch  andere  äussere  Ursachen,  wie  durch  ungleichen 
Druck  etc. ,  hervorgerufen  werden.  Hier  hat  man  nur  die 
Wahl,  den  Entwicklungsprocess  stets  Selbstdifferenzirung  zu 
nennen,  unter  Einhaltung  der  oben  gegebenen  Definition, 
oder  man  muss  ihn,  was  ich  vorziehe  und  allein  wissen- 
schaftlich berechtigt  halte,  abhängige  Differenzirung  nennen. 
Aber  —  so  könnte  man  mir  einwerfen  —  zwischen 
beiden  Beispielen  besteht  doch  ein  Unterschied.  Bei  un- 
gleichen Temperaturen  bleibt  die  Art  des  Entwicklungs- 
processes    dieselbe;    nur   ihre  Dauer   wird    abgeändert;    bei 


—     158     — 

Druck  der  Eier  dagegen  ändert  sich  das  Wesen  des  Ent- 
wicklungsprocesses, indem  die  Furehungsebenen  eine  andere 
Lage  annehmen,  und  die  Theilstücke  ganz  andere  Form 
und  Grösse  erhalten. 

Darauf  erwidern  wir:  Dass  im  zweiten  Falle  das 
Wesen  des  Entwicklungsprocesses  eine  Aenderung  erleide, 
können  wir  nimmermehr  zugeben.  Wie  die  Verände- 
rung in  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  der 
Th eilungen,  so  ist  auch  eine  Aenderung  in  der 
Lage  derTheilebenen  und  in  der  Grösse  und 
Form  der  Theilproducte  für  das  Zustande- 
kommen des  Endresultats  eine  ganz  unwesent- 
liche Erscheinung  im  Entwicklungsgang;  das 
Wesentliche  und  Nothwendige  ist  nur,  dass  die 
Eisubstanz  in  Zellen  zerlegt  wird.  Zu  einer  Haupt- 
und  Staatsaction  im  Entwicklungsprocess  ist  die  Richtung 
und  Aufeinanderfolge  der  Theilebenen  nur  durch  Roux 
gemacht  worden,  welcher  auf  ihre  Erforschung  langjährige 
Arbeit  verwandt  hat  in  dem  Glauben,  durch  das  Studium 
des  „Richtungsgeschehens"  die  ersten  Fundamente  seiner 
Zukunftswissenschaft  zu  legen. 

Mit  derselben  Willkür,  mit  welcher  die  unklaren  Be- 
griffe Selbstdifferenzirung  und  abhängige  Differenzirung 
zur  Beurtheilung  des  Entwicklungsprocesses  aufgestellt 
worden  sind,  hat  Roux  noch  weitere,  ähnliche  und  damit 
zusammenhängende  Unterscheidungen  getroffen  (G.A.  S.908). 
Ausser  von  Selbstdifferenzirung  und  abhängiger  Differen- 
zirung  spricht  er  noch  von  p  a  s  s  i  v  e r  (?)  Differenzirung,  von 
vollkommener  und  unvollkommener  Selbstdifferenzirung, 
von  gemischter  Differenzirung.  Die  Gebilde,  welche  sich 
selbst  differenziren  oder  differenzirt  werden  oder  auf  andere 
differenzirend    einwirken,    nennt    er    Differenzirungsgebilde 


—     159    — 

und  unterscheidet  hier  wieder  „Selbstdifferenzirungsgebilde, 
abhängige  oder  gar  völlig  passive  Differenzirungsgebilde, 
temporäre  und  permanente  Selbstdifferenzirungsgebilde,  tem- 
porär abhängige  und  permanent  abhängige  Differenzirungs- 
gebilde" und  Gebilde ,  welche  auf  andere  differenzirend 
wirken,  als  „Anderdifferenzirungsgebilde",  und  letztere  theilt 
er  wieder  ein,  je  nachdem  sie  stärker  oder  schwächer  auf 
andere  differenzirend  einwirken,  als  Differenzirungs-Haupt- 
gebilde  und  Differenzirungs-Nebengebilde.  Es  sind  dies 
lauter  wissenschaftlich  unhaltbare  und  unbrauchbare  Be- 
griffe, weil  sie  sich  gegen  einander  gar  nicht  abgrenzen, 
und  Niemand  anzugeben  weiss,  wie  und  inwieweit  die 
vielen  Millionen  embryonaler  Zellen  einer  Gastrula  zum 
Beispiel  auf  einander  einwirken  und  an  welchen  Merkmalen 
ihre  Einwirkung  erkannt  werden  könnte.  Was  vom  Allein- 
selbstdifferenzirungsgebilde  schon  gesagt  wurde,  gilt  noch 
viel  mehr  vom  passiven  Differenzirungsgebilde.  Wie  keine 
Zelle  sich  aus  sich  selbst  allein  verändern  kann,  so  verhält 
sich  auch  keine  Zelle,  wenn  sie  sich  in  Folge  einer  äusseren 
Einwirkung  differenzirt,  passiv ;  vielmehr  hängt  der  schliess- 
liche  Erfolg  immer  von  der  besonderen  Art  ab,  wie  die 
Zelle  oder  der  Organismus  auf  eine  Ursache  reagirt. 

Der  Leser,  welcher  die  Definition  von  Roux  über 
Selbstdifferenzirung  des  Eies  und  seiner  Theile  bei  der  Ent- 
wicklung sich  eingeprägt  hat  und  dann  hört,  dass  es  aber  Selbst- 
differenzirung eigentlich  nicht  giebt,  weil  alle  Theile  in  Ab- 
hängigkeit und  Beziehung  zu  einander  sich  entwickeln,  welcher 
dann  reiflich  prüft,  in  welchen  Fällen  er  von  Selbst-  und  von 
abhängiger  Differenzirung  sprechen  soll,  welche  Theile  des 
sich  entwickelnden  Eies  er  als  temporäre  oder  permanente 
Selbstdifferenzirungsgebilde  oder  abhängige  Differenzirungs- 
gebilde, welche  er  als  Alleinselbstdifferenzirungsgebilde  und 


—     160     — 

Ander  -  Differenzirungsgebilde ,  als  Differenzirungs  -  Haupt- 
und  Differenzirungs-Nebengebilde  wissenschaftlich  bezeich- 
nen und  an  welchen  Merkmalen  er  sie  mit  Erfolg  von  ein- 
ander unterscheiden  soll,  wird  dem  Verfasser  der  Gesam- 
melten Abhandlungen  darin  Recht  geben,  dass  er  ihm  beim 
Studium  seiner  Originale  allerdings  sehr  „hartes  Holz  zu 
bohren"  zumuthet. 

Dem  Wunsch  von  Roux  (Zusatz  7),  welcher  diesem  Ab- 
schnitt wörtlich  vorgedruckt  ist,  glauben  wir  nachzukommen, 
indem  wir  unsere  Leser  betreffs  noch  eingehenderer  Infor- 
mation auf  die  Originale  verweisen,  aus  denen  wir  nur 
die  uns  besonders  interessirenden  Sätze  wörtlich  angeführt 
und  zum  Gegenstand  der  Kritik  gemacht  haben. 

Vierte  Studie.    Der  Cytotropisinus. 

Ausspruch  von  W.  Kous :  „Es  ist  überhaupt  eine  Eigenschaft  der  entwicklungs- 
mechanischen Forschung,  dass  es  meist  leichter  ist , 
eine  neue  Thatsache  festzustellen,  als  ihre  Bedeutung 
richtig  zu  ermitteln."         A.  f.  Entw.  Bd.  I  S.  168. 

In  dem  Bemühen,  Regulationsmechanismen  zur  Er- 
klärung der  atypischen  Entwicklungserscheinungen  aufzu- 
finden, hat  Roux  eine  neue  Entdeckung  gemacht,  welche 
seitdem  als  Selbstordnung  der  Furchungszellen 
und  als  Cytotropismus  in  der  Literatur  ihr  Wesen 
treibt  (G.  A.  S.  987 ;  A.  f.  E.  Bd.  I  S.  43, 161 ;  Bd.  III  S.  381). 
Als  ich  die  Roux'  sehen  Darstellungen  in  seinen  verschie- 
denen Abhandlungen  las,  konnte  ich  mich  des  Zweifels 
nicht  erwehren,  ob  die  Namen  Cytotropismus  und  Selbst- 
ordnung hier  Avohl  am  Platze  seien.  Unter  Tropismus  ver- 
steht man  bekanntlich  eine  Lebensäusserung  der  Zelle  (oder 
eines  Organismus),  die  darin  besteht,  dass  die  Zelle  sich 
nach  einer  Stelle,  von  welcher  aus  ein  thermischer,  chemi- 
scher   etc.    Reiz   auf  sie   wirkt,    activ   hinbewegt,    oft  aus 


—     161     — 

sehr  grossen  Entfernungen.  Mir  schien  eine  derartige 
Lebensäusserung  nicht  vorzuliegen ,  vielmehr  wurde  ich 
mehr  an  die  Aehnlichkeit  mit  Phänomenen  erinnert,  wie 
man  sie  an  Fetttropfen  beobachtet ,  die  sich  auf  der  Ober- 
fläche einer  Suppe  hin  und  her  bewegen.  Hier  kann  man 
auch  zwei  Fetttropfen ,  wenn  sie  zufällig  einander  nahe 
kommen,  sich  erst  mit  einer  kleinen  Stelle  berühren,  sich 
dann  gegenseitig  abplatten  und  schliesslich  auch  zu  einem 
grossen  Fetttropfen  verschmelzen  sehen. 

Schon  von  anderen  Forschern  hörte  ich  bei  gelegent- 
licher Unterredung  über  den  angeblichen  Cytotropismus  der 
Furchungszellen  Zweifel  äussern.  Driesch  hat  sich  be- 
reits auch  öffentlich  darüber  ausgesprochen  (A.  f.  E.  Bd.  III 
S.  363).  Es  erscheint  ihm  durchaus  nicht  als  ausgeschlossen, 
dass  Roux  an  seinen  Zellen  „capillare  Näherungserschei- 
nungen" beobachtet  habe,  welche  sich  auch  an  unorganischen 
Gebilden  möchten  demonstriren  lassen.  Besonders  die  Ab- 
hängigkeit des  Eintretens  der  Näherung  von  der  Grösse 
des  Abstandes  scheint  ihm  für  seine  Vermuthung  zu  sprechen. 
Driesch  macht  Roux  „für  alle  Verirrungen  verantwort- 
lich, welche  voraussichtlich  daraus  entspringen  werden",  dass 
er  das  begrifflich  wohl  begründete  Wort  Tropismus  oder 
Taxis  in  ganz  neuem  Sinne  verwende  (A.  f.  E.  Bd.  IV  S.  78). 

Was  versteht  Roux  unter  der  von  ihm  neu  entdeckten 
Erscheinung  des  Cytotropismus?  Er  versteht  darunter  eine 
Einwirkung  benachbarter  Zellen  auf  einander,  welche  zur 
Folge  hat,  dass  sie  sich  bis  zu  gegenseitiger  Zusammen- 
lagerung  langsam  nähern.  Er  verbindet  damit  die  Hypo- 
these, dass  die  Zellen  eine  chemotaktische  Substanz 
ausscheiden,  durch  welche  sie  sich  gegenseitig  beeinflussen, 
lässt  aber  die  Beeinflussung  in  etwas  anderer  Weise  als  bei 

der  von  Pfeffer  entdeckten  Chemotaxis  zu  Stande  kommen, 

11 


—     162    — 

was  nothwendig  ist,  weil  ja  beide  sich  anziehenden  Zellen 
das  Chemotakticum  absondern.  Die  hierin  liegende  Schwie- 
rigkeit glaubt  er  durch  die  Hilfsannahme  umgehen  zu 
können,  dass  die  unter  wechselseitigem  Einfluss  stehenden 
Zellen  sich,  statt  nach  der  Richtung  der  stärksten 
Zunahme  nach  der  Richtung  der  geringsten  Ab- 
nahme in  der  Concentration  der  chemotaktischen  Substanz 
hinbewegen  (A.  f.  E.  Bd.  I  S.  182—189,  201). 

Meine  Zweifel  an  der  Existenz   eines   derartigen  Cyto- 
tropismus  stützen  sich  auf  folgende  Gründe: 

Dem  aufmerksamen  Leser  der  bezüglichen  Abhand- 
lungen vonRoux  wird  es  nicht  entgehen,  dass  Roux  sich 
selbst  an  verschiedenen  Stellen  immer  wieder  neu  auf- 
tauchender Zweifel  bezüglich  der  Deutung  seiner  Beob- 
achtungen nicht  erwehren  kann  (1.  c.  S.  167,  168).  Da  bei 
Bombinator  igneus  und  Rana  esculenta  kein  Cytotropismus 
der  Furchungszellen  bemerkt  werden  konnte,  wurde  in  ihm 
unwillkürlich  die  Vorstellung  erweckt,  dass  die  früher  bei 
Rana  fusca  beschriebenen  Näherungen  doch  nur  auf  Täu- 
schungen, d.  h.  auf  äusseren  Einwirkungen,  beruht 
hätten,  und  „nur  die  genaue  Durchsicht  seiner  Journale 
konnte  ihm  unter  Berücksichtigung  aller  Momente  dies  Ge- 
fühl wieder  bannen"  (1.  c.  S.  167).  Roux  hebt  des  Oefteren 
hervor,  dass  es  sehr  schwierig  sei,  zu  unterscheiden,  inwie- 
weit die  beobachteten  Näherungen  der  Zellen  auf  ihren 
eigenen  Leistungen  beruhen  oder  ob  sie  etwa  als  passive 
Folgen  äusserer  Einwirkungen  aufzufassen  sind.  Dass  man 
auf  letzterem  Wege  eine  gruppenweise  Vereinigung  der 
durch  Zerzupfen  von  einander  getrennten  Zellen  einer 
Froschmorula  erreichen  kann,  steht  ausser  Zweifel.  Denn 
Roux  selbst  berichtet  es  uns  als  eine  feststehende  That- 
sache:    „Die    isolirten  Zellen  haften  auch  bei  bloss  passiver 


—     163     — 

Berührung-  leicht  an  einander;  schon  mehrfache  Erschüt- 
terung des  Objectes  oder  öfteres  Umrühren  desselben  mit 
den  Präparirnadeln  genügt,  um  die  isolirten  Zellen  wieder 
mit  einander  in  Verband  zu  bringen ,  so  dass  man  danach 
7iur  noch  wenige,  in  geringem  Abstand  von  einander  be- 
findliche Zellen  mehr  vorfindet1"  (1.  c.  S.  47).  Sie  verhalten 
sich  also  in  diesem  Falle  wie  Fettaugen  auf  einer  Suppe, 
welche  zusainmenhaften,  wenn  sie  sich  begegnen,  ßoux 
empfiehlt  daher,  bei  der  Anfertigung  des  Präparates  mit 
den  Nadeln  nicht  mehr  Bewegungen  zu  machen ,  als  zur 
Isolirung  nöthig  sind,  den  Objectträger  vorsichtig  zu  ver- 
schieben und  dafür  zu  sorgen,  dass  im  Flüssigkeitstropfen 
keine  Strömungen  entstehen.  Ob  er  die  letzteren  hat  wirk- 
lich ganz  vermeiden  können,  bezAveifle  ich.  Denn  er  hat 
zum  Theil  die  isolirten  Zellen  im  offenen  Flüssigkeitstropfen 
untersucht,  bei  welchem  eine  Verdunstung  des  Wassers 
nicht  zu  vermeiden  ist;  theils  hat  er  den  Tropfen  mit  einem 
Deckglas ,  das  mit  vier  hohe  n  Wachsfüsschen  versehen 
war,  bedeckt,  wobei  der  Tropfen  den  capillaren  Zwischen- 
raum nicht  ganz  ausfüllte  und  daher  wohl  auch  nicht  als 
absolut  ruhig  zu  betrachten  war. 

Angesichts  dieser  Untersuchungsbedingungen  mahnt 
ferner  zur  Vorsicht  bei  der  Beurtheilung  der  Ergebnisse 
der  Umstand ,  dass  eine  Näherung  zweier  Zellen  bis  zur 
Verschmelzung  sich  überhaupt  nur  feststellen  Hess,  wenn 
von  Anfang  an  ihre  Entfernung  von  einander  nur  eine 
minimale,  0,03 — 0,06  mm  war  und  durchschnittlich  den 
Zellenradius  nicht  überstieg  (S.  64).  In  den  einzelnen  ge- 
nauer beschriebenen  Fällen  dauerte  es  zehn  Minuten  bis 
mehr  als  eine  Stunde,  bis  die  Vereinigung  eintrat,  wenn 
sie  überhaupt  nicht  ganz  ausblieb. 

Auch  die  Art  der  gegenseitigen  Annäherung 

11* 


—     164    — 

scheint  mir  nicht  dafür  zu  sprechen ,  dass  die  Zellen  eine 
anziehende  Wirkung  auf  einander  ausübten.  Sie  bewegen 
sich  nicht  constant  und  gleichmässig  auf  einander  zu,  wie 
durch  eine  auf  ein  bestimmtes  Ziel  gerichtete  Kraft  ge- 
trieben, sondern  mehr  stossweise.  „Nach  jedem  Schritt 
vorwärts  findet  gewöhnlich  ein  mehr  oder  weniger  grosses 
Zurücksinken  statt"  (1.  c.  S.  53).  Roux  nennt  daher  „die 
Bewegung  eine  rhythmisch-schrittweise  und  mit  Zurück- 
sinken verbundene"  (S.  189).  Dann  kam  auch  vor,  dass  die 
beiden  Zellen,  anstatt  sich  zu  nähern,  auseinander  rückten, 
oder  dass  eine  Zelle  sich  nur  näherte,  während  die  andere 
unbeweglich  blieb,  oder  dass  zwischen  zwei  Zellen  mit 
minimalem  Abstand  trotz  langer  Dauer  der  Beobachtung 
eine  Annäherung  überhaupt  nicht  stattfand.  Fälle  der  letz- 
teren Art  führt  freilich  Roux  auf  den  Umstand  zurück, 
dass  die  Zellen  an  der  Unterlage  festgeklebt  waren. 

Ausserordentlich  bedenklich  kommt  mir  der  kleine 
Kunstgriff  vor,  welchen  Roux  als  ein  sehr  wesentliches 
Hilfsmittel  empfiehlt,  um  widerstrebende  Zellen  doch  noch 
nachträglich  zu  glücklicher  Vereinigung  zu  bringen.  Der 
Experimentator,  welcher,  um  alle  Fehlerquellen  zu  vermeiden, 
den  Objecttisch  des  Mikroskops  unter  Benutzung  der  Wasser- 
waage wagerecht  eingestellt  hat  (S.  46)  etc.,  sucht  erst 
durch  schwächeres,  dann  durch  stärkeres  Blasen 
auf  den  Wassertropfen  Zellen,  die  nach  seiner  Ver- 
muthung  auf  dem  Objectträger  festsitzen,  wieder  los  zu  be- 
kommen ;  er  hat  sie  auf  diese  Weise  auch  häufig  noch  zur 
Vereinigung  —  durch  Zusammenblasen  —  gebracht  (S.  62). 
Nicht  minder  bedenklich  erscheint  mir  ein  zweites  Mittel, 
„säumige  Zellen  zur  Vereinigung  zu  bringen",  nämlich 
die  Erwärmung  des  Wassertropfens  bis  auf  28  °  C.  durch 
eine  elektrische  Glühlampe,    welche  man    dem  Objectträger 


—     165     — 

nähert  (S.  64);  denn  da  durch  die  Annäherung  einer  stär- 
keren Wärmequelle  das  Wasser  stärker  zu  verdampfen*  be- 
ginnt, müssen  lebhaftere  Strömungen  im  Tropfen  ohne 
Zweifel  entstehen.  Der  Experimentator  ruft  also  selbst  das 
hervor,  was  er  durch  sorgfältige  Vorkehrungen  an  anderer 
Stelle  als  Fehlerquelle  zu  vermeiden  warnt. 

Auf  Grund  der  eigenen  Darstellung  von  Roux  halte 
ich  daher  den  Zweifel  wohl  berechtigt,  ob  nicht  in  vielen 
Fällen  die  stoss weise  erfolgende  Annäherung 
zweier  durch  minimalen  Abstand  getrennter 
Zellen  passiv  durch  Erschütterung  und  Strö- 
mung im  Wasser  herbeigeführt  worden  sei.  Das 
erst  nach  längerer  Zeit  eintretende  Resultat  wäre  so  im 
Grund  dasselbe,  wie  es  in  wenigen  Minuten  durch  starke 
Erschütterung  des  Tropfens  oder  Bewegung  desselben  mit 
Nadeln  herbeigeführt  wird. 

Indessen  soll  diese  Erklärung,  wie  schon  bemerkt,  nicht 
für  alle  Fälle  dienen.  Denn  wenn  ich  mich  an  die  Dar- 
stellung von  Roux  halte,  liegt  noch  eine  zweite  Möglich- 
keit vor,  welche  aber  mit  Cytotropismus  ebenfalls  nichts 
zu'  thun  hat.  Es  verändern  nämlich  die  Furchungszellen 
von  Rana  fusca,  nach  der  Isolirung  in  einem  geeigneten 
Medium,  langsam  ihre  Gestalt,  indem  sie  während  längerer 
Zeit  amöboide  Bewegungen  ausführen.  Hie  und  da  senden 
sie  kleine  Höckerchen  hervor  („protoplasmatische  und  para- 
plasmatische  Pseudopodien").  Durch  solche  Formverände- 
rungen können  natürlich  auch  stossweise  und  rhythmisch 
erfolgende  Annäherungen  zwischen  zwei  Zellen  zu  Stande 
kommen,  und  es  kann  die  Distanz  von  0,03 — 0,06  mm,  zu- 
mal im  Zeitraum  einer  vollen  Stunde,  allmählich  so  ver- 
kleinert werden,  bis  einmal  an  zwei  Punkten  die  Zellen 
zusammenstossen.    Solche  Verbindung  ist  natürlich,  wie  die 


-     166    — 

passiv  hervorgebrachte,  ebenfalls  eine  zufällige.  Wenn 
auch  die  Zellen  sich  dabei  activ  verhalten  und  Bewegungen 
ausführen ,  so  kann  man  doch  nicht  von  Cytotropismus 
sprechen,  da  das  Merkmal  fehlt,  dass  die  Bewegung  der 
einen  Zelle  durch  die  andere  veranlasst  ist  und  eine  directe 
und  nothwendige  Richtung  auf  sie  hat.  Roux  hat  selbst 
auch  solche  Bedenken  gehabt.  Bei  Beschreibung  des  Ver- 
haltens isolirter  Furehungszellen  in  Kochsalzlösung  bemerkt 
er  (1.  c.  S.  162): 

„Schon  sogleich  nach  der  Isolirung  sieht  man,  dass  die 
meisten  der  in  geringem  Abstand  befindlichen  Zellen  sich 
zur  Berührung  zusammenschliessen.  Doch  kann  man  dabei 
in  Zweifel  sein,  ob  hier  directer  Cytotropismus  vorliegt  oder 
etwas  Anderes,  da  nicht,  wie  beim  reinen  Cytotropismus, 
die  Zellen  bloss  gegen  einander  hin  sich  bewegen,  sondern 
jetzt  nach  vielen  Seiten  para plasmatische  Pseudo- 
podien aussenden,  die  bei  nahen  Zellen  auch 
schon  zufälliger  We ise  oft  sich  berühren  müssen. 
Solche  sich  berührenden  Pseudopodien  lösten  sich  jedoch 
häufig  sogleich  wieder  von  einander,  so  dass  also  dadurch 
keine  Verbindung  der  Zellen  hergestellt  wurde;  manch- 
mal aber  blieben  sie  vereinigt."  „In  vielen  Fällen 
zeigte  sich,  dass  der  dauernden  Berührung  der  paraplasma- 
tischen  Pseudopodien  rasch  die  Näherung  auch  des  ganzen 
Zellleibes  bis  zur  Berührung  der  beiderseitigen  Zellrinde 
folgte."  Auf  der  anderen  Seite  wurde  bei  stark  amöboiden 
Furchungszellen  auch  beobachtet,  dass  sie  sich  dicht  an 
einander  vorbei  bewegten,  ohne  sich  zu  vereinigen  (1.  c. 
S.  177). 

Wenn  ich  jetzt  alle  von  Roux  beschriebenen  Er- 
scheinungen noch  einmal  Revue  passiren  lasse,  so  kann  ich 
nichts    an     ihnen    entdecken,     was    uns    berechtigte,     den 


—     167     — 

Furchungszellen  ein  neues,  besonderes  Vermögen ,  das  man 
Cytotropismus  heissen  könnte,  beizulegen,  bin  vielmehr  der 
Meinung,  dass  zwei  Furchungszellen  mit  mini- 
malem Abstand  entweder  passiv  wie  zwei  Oel- 
tropfen  durch  Erschütterung  und  Strömung  im 
Wasser  oder  unter  bald  rascher,  bald  auch  sehr 
langsam  erfolgender  amöboider  Veränderung 
ihrer  Form  durch  Zufall  zur  Berührung  und 
Zusammenlegung  gebracht  werden. 

Etwas  Gesetzmässiges  kann  ich  auch  schon  deswegen 
aus  der  ganzen  Darstellung  von  Roux  nicht  herauslesen, 
weil  das  Verhalten  der  durch  minimale  Zwischenräume  ge- 
trennten Furchungszellen  von  Rana  fusca  (von  Rana  escul. 
und  Bombinator  ganz  abgesehen)  ein  sehr  verschiedenartiges 
ist  und  überhaupt  mehr  den  Charakter  des  Zufälligen  an 
sich  trägt. 

Die  meisten  Forscher  würden  das  Regellose  in  den  sich 
darbietenden  Erscheinungen  sehr  unbequem  empfinden  und 
darin  ein  Hinderniss  für  die  Feststellung  eines  gesetz- 
mässigen  Verhaltens  erblicken.  Merkwürdiger  Weise  sucht 
Roux  sogar  noch  diesen  Umstand  zu  Gunsten  seiner  Auf- 
fassung auszubeuten  und  für  sich  einen  Vortheil  heraus- 
zuschlagen. 

„Wenn  allen  Zellen  des  Eies,"  bemerkt  er,  „derselbe 
Cytotropismus  zu  einander  zukommt,  dann  kann  diesem 
Princip  kein  besondere  Gestalten  producirender  Einfluss, 
also  kein  erheblicher  Antheil  an  der  individuellen  Ent- 
wicklung zukommen;  wenn  dagegen  der  Cytotropismus 
zwischen  den  Zellen  desselben  Eies  sehr  verschieden  ist, 
und  wenn  diese  Verschiedenheiten  typische  sind,  dann  kann 
der  ordnende  und  der  gestaltende  Einfluss  des  Cytotropis- 
mus an  der  Ontogenese  ein  sehr  bedeutender  sein"  (S.  176, 


—     168     — 

193).  So  glaubt  denn  schliesslich  Roux  im  Cytotropisrnus, 
der  Ordnungswirkung  entfernter  Zellen  auf  einander,  ein 
Mittel  gefunden  zu  haben,  durch  welches  die  Zellen  bei 
atypischer  Entwicklung  sich  derartig  umordnen  können, 
„dass  sie  ihren  bezüglichen  inneren  Qualitäten  nach  am 
besten  zusammenpassen"  und  wieder  ein  normales  Ent- 
wicklungsproduct  liefern  (A.  f.  E.  Bd.  III  S.  453).  Dieses 
Mittel  soll  sogar  innerhalb  eines  Zellen aggregates  noch 
eine  grössere  Wirksamkeit  entfalten  können,  weil  Roux 
des  Glaubens  ist,  dass  zwischenliegende  Zellen  als  Träger 
cytotropischer  Wirkungen  für  andere  Zellen  dienen  können 
(warum?),  und  dass  in  diesem  Falle  der  Näherungsabstand 
sogar  um  das  Mehrfache  grösser  sein  kann,  als  bei  bloss 
flüssigem  Medium  (warum?)  (A.  f.  E.  Bd.  III  S.  456). 

Mit  dem  Begriff  des  Cytotropismus  und  des  Selbst- 
ordnungsvermögens der  Furchungszellen  hat  Roux  wieder 
eine  sehr  brauchbare  Formel  zur  Hand,  welche  über  manche 
Fährlichkeit  hinweghilft,  zumal  in  Verbindung  mit  seinen 
Definitionen  der  typischen  und  atypischen  Entwicklung, 
der  Selbstdifferenzirung  und  abhängigen  Differenzirung  etc. 
Wenn  irgend  eine  Erscheinung,  wie  wir  in  den  beiden 
ersten  Studien  sahen,  mit  den  Roux'schen  Naturgesetzen 
der  typischen  Entwicklung  auch  unter  Berücksichtigung 
aller  möglichen  Beobachtungsfehler  nicht  übereinstimmen 
will,  so  gehört  sie  sehr  einfacher  Weise  der  atypischen 
Entwicklung  an.  Wenn  dann  ein  atypisch  sich  entwickelndes 
Ei  ein  normales  Endproduct  liefert,  so  erklärt  sich  dies  in 
nicht  minder  einfacher  Weise  aus  den  Mechanismen  der 
Regulation. 

Unter  diesen  Mechanismen  der  Regulation  aber  spielt 
neben  den  temporär  und  permanent  abhängigen  Differen- 
zirungsgebilden,    neben    den  Andersdifferenzirungsgebilden, 


—     169    — 

neben  den  Differenzirungshaupt-  und  Nebengebilden,  dem 
Reserveidioplasson  und  anderen  derartigen  dunkeln  Exi- 
stenzen eine  Hauptrolle  der  Mechanismus  des  Cytotropismus, 
„das  Vermögen  der  Selbstordnung  derFurchungs- 
zellen"  (A.  f.  E.  Bd.  III  S.  462)  oder  „die  O r d n u n g s - 
wirkung  von  einander  entfernter  Zellen  auf 
einander"   (1.  c.  S.  456). 

Man  sieht:  so  schliesst  sich  Glied  an  Glied,  so  fügt 
sich  Stein  auf  Stein  zum  Zukunftsbau  zusammen.  Nur 
leider  fehlt  uns  noch  der  Glaube,  wie  an  die  meisten  Roux- 
schen  Naturgesetze  überhaupt,  so  auch  an  seinen  Mechanis- 
mus des  Cytotropismus  und  an  andere  Formeln,  wie  Reserve- 
idioplasson, typische  nnd  atypische  Entwicklung  etc.  Wir 
glauben  in  den  Roux'schen  Abhandlungen  häufig  zu 
bemerken ,  wie  der  Experimentator  seine  vorgefassten 
Meinungen,  seine  Empfindungen  und  seine  Wünsche  in  die 
Gegenstände  seiner  Experimente  hineinträgt  und  ihnen 
Eigenschaften  beilegt,  die  wir,  von  Natur  etwas  nüchterner 
angelegt,  an  ihnen  nicht  entdecken  können.  Wenn  Roux 
zum  Beispiel,  die  Näherungsbewegungen  von  Zellenpaaren, 
die  nur  durch  0,03  mm  Abstand  getrennt  sind,  längere  Zeit 
vergeblich  verfolgend,  manche  Furchungszellen  „unruhig 
werden  lässt"  (G.  A.  S.  992)  oder  ihnen  Unruhe  zuschreibt 
(A.  f.  E.  Bd.  I  S.  187),  weil  sie  durch  angebliche  Fixation 
an  der  Unterlage  in  ihrem  Bemühen  zusammenzukommen 
verhindert  wurden,  und  wenn  er  sie  dann  nach  Ueber- 
wältigung  des  Hindernisses  sich  um  so  ungestümer  ver- 
einigen lässt,  so  können  wir  uns  einiger  Zweifel  hinsicht- 
lich der  Richtigkeit  solcher  Interpretationen  nicht  erwehren. 
Wir  meinen,  der  Experimentator  rechnet  hier  wie  in  anderen 
Fällen  Lageveränderungen,  welche  im  Wassertropfen  ver- 
theilte  Furchungszellen  des  Froscheies  durch  das  Zusammen- 


—     170     — 

treffen  irgend  welcher  zufälliger  Umstände  passiv  erfahren, 
ihnen  als  ihr  eigenes  Verdienst  an,  als  ein  Streben,  sich  zu 
nähern,  wenn  der  Abstand  zwischen  zwei  Zellen  sich  ver- 
ringert, als  ein  Sich-Fliehen,  wenn  das  Gegentheil  eintritt, 
als  eine  gegenseitige  Indifferenz,  wenn  sich  ihre  Lage  nicht 
verändert,  als  das  Erwachen  einer  Neigung,  wenn  nach 
längerer  Ruhe  nachträglich  noch  eine  Annäherung  eintritt; 
er  schiebt  ihnen  ein  einseitiges  und  ein  gegenseitiges  Be- 
gehren zu,  je  nachdem  nur  eine  Zelle  oder  beide  sich  auf 
einander  zu  bewegen,  und  das  ganze,  den  Stempel  des  Regel- 
losen und  Zufälligen  an  sich  tragende  Geschehen  nennt  er 
Selbstordnen  der  Zellen  nach  ihren  inneren 
Qualitäten. 

So  scheint  sich  mir,  wie  schon  in  anderen  Fällen,  so 
auch  in  diesem  Fall,  die  Wahrheit  des  der  vierten  Studie 
vorgedruckten  Ausspruchs  von  Roux  zu  bestätigen : 
„Es  ist  überhaupt  eine  Eigenschaft  der  entwicklungs- 
mechanischen Forschung,  dass  es  meist  leichter  ist,  eine 
neue  Thatsache  festzustellen,  als  ihre  Bedeutung  richtig 
zu  ermitteln." 

Schlusshetraclitungen. 

Das   Ei  als  Zelle   und  als  Anlage  eines  viel- 
zelligen Organismus. 

Im  Anschluss  an  die  Kritik  der  entwicklungsmechanischen 
Naturgesetze  von  Roux  soll  es  unsere  Aufgabe  noch  sein, 
im  Zusammenhang  darzustellen,  wie  sich  die  Erscheinungen, 
welche  Roux  zum  Gegenstand  seiner  experimentellen  Studien 
gemacht  hat,  vom  Standpunkte  des  die  Thatsachen  ver- 
gleichenden Embryologen  und  descriptiven  Forschers  er- 
klären lassen  (Zusatz  8).    Zwar  ist  eine  Erklärung  von  mir 


—     171     — 

schon  zum  Theil  in  früheren  Arbeiten  (19,  20,  25,  27)  ge- 
geben worden,  trotzdem  möchte  eine  zusammenfassende 
Darstellung  auch  hier  noch  einmal  am  Platze  sein,  einmal, 
weil  hie  und  da  noch  andere  Auffassungen  bestehen, 
zweitens,  weil  ich  hoffe,  dass  beim  öfteren  Durchdenken 
des  vorliegenden  Problems  sich  dieses  und  jenes  Ver- 
hältniss  besser,  als  es  früher  geschehen  ist,  wird  klar 
legen  lassen.  — 

Das  unentwickelte  Ei  ist  eine  Zelle  und  hat  als  solche 
keine  andere  Organisation  als  diejenige  einer  Zelle.  Es 
hat  daher  auch  auf  den  Bau  des  aus  ihm  entstehenden  Ge- 
schöpfes keinen  anderen  Bezug,  als  dass  es  Zelleneigen- 
schaften besitzt,  welche  für  eine  bestimmte  Species  und  für 
ein  bestimmtes  Individuum  derselben  specifisch  sind.  Das 
Ei  ist  in  dieser  Beziehung  von  der  männlichen  Fort- 
pflanzungszelle oder  dem  Samenfaden  nicht  verschieden,  in 
welchem  die  Charaktere  der  Species  und  die  Besonderheiten 
des  Individuums  als  Zelleneigenschaften  ebenso  gut  ent- 
halten sind,  als  im  Ei.  Die  Thatsache,  dass  die  beiden 
Geschlechtszellen  zu  den  Merkmalen  des  neu  entstehen- 
den Geschöpfes  gleich  viel  beitragen,  und  dass  sie  in  ihren 
Zelleneigenschaften  keinen  directen,  sondern  nur  einen  durch 
den  Entwicklungsprocess  vermittelten  Bezug  auf  die  Organi- 
sation des  späteren  Geschöpfes  besitzen,  dessen  Organe  und 
Eigenschaften  ja  aus  dem  Zusammenwirken  vieler  Zellen 
ihren  Ursprung  nehmen,  nannte  ich  mit  Pflüger  die 
Isotropie  des  Protoplasma.  Durch  diese  einfachen  Schluss- 
folgerungen, welche  sich  mir  aus  den  Thatsachen  der  Ent- 
wicklungslehre unmittelbar  zu  ergeben  scheinen,  halte  ich 
alle  Präformationstheorien  für  widerlegt,  welche  bestimmte 
Substanztheile  des  Eies  als  Anlagen  für  später  hervortretende 


—     172     — 

Organe  des  Embryo  in  Anspruch    nehmen    wollen    (Theorie 
der  organbildenden  Keimbezirke). 

In  einem  Punkte  allerdings  unterscheidet  sich  meist  das 
Ei    von    anderen    Zellen,    nämlich    durch    die  ganz  ausser- 
ordentliche   Grösse,    welche    es    durch    eine    gewaltige  An- 
sammlung     entwicklungsfähiger     Substanz      erfährt.       Die 
hierauf    beruhende    Eigenthümlichkeit    der    Eizelle     ist    es 
denn    wohl     auch     hauptsächlich     gewesen,     welche     viele 
Forscher    veranlasst    hat    und    noch    immer    veranlasst,    in 
dem  Ei    etwas    mehr    als   eine    einfache  Zelle  zu  sehen  und 
es    noch    mit    einer    besonderen,    gewissermaassen    höheren 
Organisation    auszustatten.      Ein    solches    Streben,    welches 
schliesslich    immer   in    die  Bahn    der   Präformationstheorien 
überleitet,    macht    sich    auch    wieder    in    einem  jüngst    er- 
schienenen,   interessanten    und    lesenswerthen    Aufsatz    von 
Whitman  (59)    geltend,    so     besonders     in     den    Sätzen: 
„Im  Ei    ist   schon    vor    aller   Zellenbildung    eine    bestimmte 
Organisation    vorhanden"   oder:    „die  Organisation  des  Eies 
wird    durch    alle    Wandlungen    des    Entwicklungsprocesses 
hindurch    als    eine    ungetheilte    Individualität    übertragen." 
Daher    wollen    wir    auch    solchen  Aeusserungen   gegenüber 
betonen,    dass  durch  die  beträchtliche  Stoffansammlung  der 
Charakter  des  Eies  als  einfacher  Zelle  nicht  im  Geringsten 
geändert   wird.      Denn    Massenzunahme    eines   Protoplasma- 
körpers   bedingt    an    sich    noch    keine    höhere    Stufe    der 
Organisation.      Das  mit   unbewaffnetem    Auge    kaum    sicht- 
bare   kleine    Ei    des    Säugethieres    hat    als    Anlagesubstanz 
denselben    Werth    wie    das    gewaltige    Straussenei.      Trotz 
seines  colossalen  Wachsthums  bleibt  letzteres  doch  nur  eine 
Zelle,    und    wenn    es    in    dieser  Art    auch  noch  weiter  fort- 
wüchse, bis  es  an  Volumen  dem  Thiere  gleichkäme,  zu  dem 
es  werden  soll,    es    wäre    damit    seinem   Ziel,    den    Körper 


—     173     — 

eines  Straussen  zu  bilden,  auch  nicht  um  eines  Haares 
Breite  näher  gerückt.  Das  Wachsthum  des  Eies  durch 
Substanzaufnahme  ersetzt  nicht,  was  nur  durch  den  Ent- 
wicklungsprocess,  welcher  auf  Zellvermehrung  und  Zell- 
differenzirung  beruht,  geleistet  werden  kann.  Die  Indivi- 
dualität des  Eies  als  Zelle  muss  sich  in  viele  Zellen- 
individualitäten umwandeln,  wenn  das  Ziel  der  Entwicklung 
erreicht  werden  soll. 

Auch  die  nach  der  Befruchtung  des  Eies  beginnende 
Zellenbildung  kann  man ,  wenn  man  will,  und  wie  ich  in 
einem  Aufsatz  :  „Ueber  die  Tragweite  der  Zellentheorie"  (27) 
auszuführen  versucht  habe,  eine  Art  des  Wachsthums  der 
organischen  Substanz  nennen ;  allerdings  ist  es ,  verglichen 
mit  der  Massenzunahme  der  Eizelle  vor  der  Befruchtung, 
eine  ganz  besondere  und  viel  complicirtere  Art  des  Wachs- 
thums, eine  Art,  welche  sogar  das  Eigenthümliche  zeigt, 
dass  der  wachsende  Organismus  in  vielen  Fällen  an  Masse 
und  Gewicht  nicht  zuzunehmen  braucht.  Das  eben  be- 
fruchtete Hühnerei  zum  Beispiel  hat  ungefähr  das  gleiche 
Gewicht  wie  ein  Ei  am  sechsten  Tage  der  Bebrütung, 
an  welchem  bereits  alle  wesentlichen  Organe  des  Körpers 
eines  Hühnchens  zwar  klein,  aber  deutlich  sichtbar  an- 
gelegt sind. 

Ein  Wachsthum  ohne  Gewichts-  und  Grössenzunahme 
mag  auf  den  ersten  Blick  als  Widerspruch  erscheinen.  Der 
Widerspruch  wird  sich  aber  sofort  lösen,  wenn  man  in  Be- 
tracht zieht,  dass  der  Zellenleib  sich  aus  vielen  verschieden- 
artigen kleinen  Stoffeinheiten  aufbaut,  von  denen  manche, 
wie  insbesondere  die  Kernsubstanzen,  das  Vermögen  haben, 
selbstthätig  zu  wachsen  und  sich  durch  Theilung  zu  verviel- 
fältigen. Wenn  daher  das  Ei  auch  als  Ganzes  nicht  wächst, 
so    können    doch    verschiedene    Stofftheilchen    in    ihm    auf 


—     174    — 

Kosten   anderer  wachsen   und   sich   vermehren.     Eine    der- 
artige   complicirte    chemische  Arbeit   vollzieht    sich    nun    in 
der  That   in   dem   sich   entwickelnden  Ei.     Denn  nach  der 
Befruchtung  beginnt  nur  der  Kern  der  Eizelle   zu  wachsen 
und  sich  durch  indirecte  Theilung  in  zwei  Tochterkerne  zu 
vermehren,    welche    sich   gewöhnlich    in  die  sie  umgebende 
Eisubstanz  zu  gleichen  Mengen   theilen.     Die  Tochterkerne 
wachsen    von  Neuem    und    zerfallen    wieder  in  zwei  gleiche 
Hälften;    und    so   geht    der   Process    nach    einem  gewissen 
Rhythmus  unausgesetzt  fort,    so  dass  die  Kernsubstanz  auf 
Kosten    der    anderen    Eistoffe    und    unter    Mitwirkung    des 
atmosphärischen  Sauerstoffs    an   Masse   ausserordentlich  zu- 
nimmt und   sich  in  Form  von  Bläschen    durch  den  Eiraum 
nach  bestimmten  Regeln  vertheilt. 

Mag  nun  während  des  Ablaufs  der  Kerntheilung  gleich- 
zeitig auch  der  Dotter  um  die  einzelnen  Kerne  in  kleinere 
Stücke  zerlegt  werden,  wie  es  gewöhnlich  der  Fall  ist,  oder 
mag   die  Zerlegung,    wie    im  Anfang   der   Entwicklung    der 
Insecteneier,  unterbleiben,  in  dem  einen  wie  in  dem  andern 
Falle    bezeichnet  man    den   ganzen  Wachsthumsvorgang  als 
Zellenbildung.    Im  Unterschied  zu  dem  auf  blosser 
Massenzunahme    beruhenden    oder   dem   quanti- 
tativen Wachsthum  der  Eizelle  vor  der  Befruch- 
tung kann  man  das  in  Zellenbildung  sich  äussernde 
Wachsthum  nach  der  Befruchtung,    in   welchem 
eine  M  assenzunahme  undVerth  eilung  derKern - 
Substanz      auf     Kosten      des     aufgespeicherten 
Dottermaterials    vor   sich   geht,    als    formatives 
oder    organisatorisches    oder    qualitatives     be- 
zeichnen; denn  es  verändert  Schritt  für  Schritt 
Charakter,  Organisation  und  Qualität  des  Eies, 
indem  bestimmte  Stofftheilchen  auf  Kosten  der 


-     175     — 

anderen  sich  vermehren  und  dabei  ganz  gesetz- 
mässige  Gestalt-  und  Lageveränderungen  der 
ganzen  Stoffmasse  zur  noth  wendigen  Folge 
habe  n. 

Durch  das  Wachsthum  der  Eizelle  durch  Stoffaufnahme 
vor  der  Befruchtung  (Nahrungsdotter)  ist  das  normative 
oder  organisatorische  Wachsthum  derart  vorbereitet  worden, 
dass  es  nach  der  Befruchtung  sofort  in  beschleunigtem 
Tempo  ablaufen  kann,  weil  es  an  dem  zur  Stoffmetamorphose 
geeigneten  Material  zur  Kern-  und  Zellenbildung  nicht  fehlt. 

Hiervon  abgesehen  ist  der  Umstand,  dass  die  Eizelle 
das  Bildungsmaterial  für  unzählige  Zellengenerationen  im 
Voraus  in  sich  aufgespeichert  hat,  noch  die  Ursache  für 
viele  eigenthümliche  Erscheinungen  in  den  ersten  Zeiten 
des  Entwicklungsprocesses,  um  deren  richtige  Beurtheilung 
es  sich  vornehmlich  bei  den  Streitfragen,  die  uns  hier  be- 
schäftigen, handelt.  Denn  ihre  falsche  Deutung  hat  zum 
Princip  der  organbildenden  Keimbezirke,  zur  Mosaiktheorie 
und  zu  verschiedenen  entwicklungsmechanischen  Gesetzen 
von  Roux  die  Veranlassung  gegeben. 

Somit  erwächst  für  uns  die  Aufgabe,  jetzt  noch  ge- 
nauer auseinander  zu  setzen,  welche  Erscheinungen  die  ge- 
waltige Ansammlung  von  Dottermaterial  in  dem  Entwick- 
lungsprocess  zur  Folge  hat. 

Hier  ist  zuerst  hervorzuheben ,  dass  schon  dieEi- 
zelle  während  ihrer  Reifung  durch  die  An- 
sammlung von  Dotter material  eine  besondere 
Art  von  Organisation  erhält,  welche  in  den  einzelnen 
Thierclassen  nicht  unwichtige  Verschiedenheiten  darbietet. 
Das  sich  ansammelnde  Dottermaterial  setzt  sich  nämlich 
aus  verschiedenartigen  Substanzen  von  ungleichem  speci- 
fischem    Gewicht   und   von    sehr   verschiedenem    Werth    für 


—     176    — 

die  Lebensprocesse ,  aus  Protoplasma  und  aus  Dotterein- 
schlüssen etc.,  zusammen.  Diese  werden  ihrer  Schwere  nach 
im  Eiraum  ungleich  vertheilt.  Hierdurch  erhalten  in  man- 
chen Thierklassen  die  Eier  eine  Organisation,  welche  man 
als  polare  Differenzirung  bezeichnet  hat.  In  ihrer  einen 
Hälfte  haben  sich  die  schwereren  Dottereinschlüsse,  in  der 
andern  das  leichtere  Protoplasma  angesammelt.  Da  in  Folge 
dessen  ihr  Schwerpunkt  excentrisch  zu  liegen  kommt, 
müssen  die  Eier,  sofern  nicht  andere  Momente  der  Schwer- 
kraft entgegenwirken,  eine  feste  Ruhelage  im  Räume  ein- 
zunehmen suchen. 

Ausser  der  polaren  Differenzirung  scheint  sich  bei 
manchen  Eizellen  zugleich  noch  eine  bilateral- 
symmetrische Organisation  auszubilden,  indem 
die  Substanzen  von  ungleicher  Schwere  und 
verschiedenem  physiologischem  Werth  sich  zu 
beiden  Seiten  einer  Symmetrieebene  gleich- 
massig  verth eilen.  Da  die  Symmetrieebene  sich  stets 
der  Schwere  nach  senkrecht  einstellen  wird,  kommt  ihr 
auch  noch  die  Bedeutung  einer  Gleichgewichts- 
ebene zu. 

Eine  bilateral  -  symmetrische  Organisation  scheinen  die 
Eier  der  Amphibien  zu  besitzen,  was  sich  namentlich  am 
Ei  von  Rana  esculenta  erkennen  lässt,  wenn  es  sich  nach 
der  .Befruchtung  so  einstellt,  dass  an  einer  Seite  der  un- 
pigmentirte  Dotter  in  Form  eines  Halbmondes  zu  sehen  ist. 
Ob  das  Ei  der  Amphibien  schon  vor  der  Befruchtung  oder 
erst  nach  ihr  eine  bilateral-symmetrische  Organisation,  eine 
Symmetrie-  und  Gleichgewichtsebene  hat,  ist  nicht  so  leicht 
zu  entscheiden.  Bekanntlich  findet  zwar  eine  Einstellung 
des  Froscheies  der  Schwere  nach  erst  einige  Zeit  nach 
der  Befruchtung    statt,    doch    wäre  es  verfehlt,    hieraus    zu 


—     177    — 

schliessen,  class  erst  jetzt  durch  die  Befruchtung  eine  Sonde- 
rung in  eine  leichtere  und  eine  schwerere  Hälfte  herbeigeführt 
worden  sei.  Vielmehr  spricht  Manches  dafür,  dass  schon 
vorher,  wenn  auch  vielleicht  weniger  scharf  durchgeführt, 
eine  Sonderung  bestanden  hat,  und  dass  nur  die  Einstellung 
der  Schwere  nach  behindert  ist.  Denn  es  liegt  zuerst  die 
Dotterkugel  mit  ihrer  Oberfläche  dicht  der  Dotterhaut  an, 
welche  ihrerseits  wieder  mit  der  Gallerte  fest  zusammen- 
hängt. Erst  nach  der  Befruchtung  kann  sich  die  Dotter- 
kugel innerhalb  der  Eimembran  frei  beweglich  drehen, 
weil  in  Folge  des  Eindringens  eines  Samenfadens  das  Proto- 
plasma sich  contrahirt,  sich  von  der  Membran  zurückzieht 
und  von  ihr  durch  einen  immer  grösseren  Zwischenraum 
getrennt  wird,  welcher  sich  mit  ausgepresster  perivitelliner 
Flüssigkeit  anfüllt. 

Wie  Eier  mit  bilateraler  Symmetrie,  giebt  es  vielleicht 
auch  Eier,  in  welchen  Protoplasma  und  Dotter  nach  einem 
radiären  Typus  vertheilt  sind,  oder  in  welchen  ein  solcher 
sich  nach  den  ersten  Furchungen  ausbildet.  Vielleicht  ge- 
hören die  Eier  der  Ktenophoren  hierher  (Zusatz  9). 

Bei  der  Ansammlung  von  Dottermaterial  gewinnen 
ausserdem  die  Eier  je  nach  den  Thierarten  eine  kugelige 
oder  eine  ovoi'de  oder  eine  tonnenförmige  oder  eine  cylin- 
drische  Gestalt. 

Die  in  der  Form  des  Eies  und  in  der  Diffe- 
renzirung  seineslnhalts  gegebenen  Verhältnisse 
üben  auf  eine  ganze  Reihe  von  Entwich  lungs- 
processen,  am  meisten  aber  auf  die  ersten 
Stadien,  einen  sehr  eingreifenden,  gewisser- 
maassen  richtenden  Einfluss  aus,  welcher  schon 
von  Haeckel  (15)  in  seiner  Gastraeatheorie  bei  der  Er- 
klärung   der    verschiedenen    Formen    der    Keimblase    und 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.     II.  12 


—     178     — 

Gastrula  in  ausgezeichneter  Weise  verwerthet,  seitdem  von 
vielen  Forschern  als  Ursache  für  diese  und  jene  Erschei- 
nung erkannt,  aber  in  seiner  sehr  verschiedenartigen  und 
grossen  Tragweite  doch  nur  zum  Theil  genügend  gewür- 
digt worden  ist. 

Erstens  bestimmen  Form  und  Differenzirung  der  Ei- 
zelle die  mit  einem  hohen  Grade  von  Gesetzmässigkeit  auf- 
tretenden Richtungen  ihrer  ersten  Th  eilebenen. 
Es  kommen  hierbei  die  auf  S.  72  u.  102  auseinandergesetzten 
Regeln  zur  Geltung,  welche  ich  schon  im  Jahre  1884  for- 
mulirt  habe  (Zusatz  10). 

Zweitens  üben  die  Formund  Differenzirung 
der  Eizelle  einen  Einfluss  auf  die  Grösse  und 
Beschaffenheit  der  sich  entwickelnden  Embryo- 
nalzellen aus.  Denn  bei  dem  forma  tiven  Wachsthum, 
wie  ich  oben  den  unter  Zellenbildung  einhergehenden  Ent- 
wicklungsprocess  des  Eies  genannt  habe,  sind  die  einzigen 
Stofftheilchen,  welche  eine  Zunahme  und  zugleich  eine  Ver- 
lagerung im  Eiraum  erfahren,  die  Kernsubstanzen.  Sie 
ändern  die  Lage,  weil  nach  jeder  Theilung  die  Tochter- 
kerne in  entgegengesetzter  Richtung  auseinander  rücken, 
als  ob  sie  sich  wie  die  gleichnamigen  Pole  zweier  Magnete 
gegenseitig  abstiessen.  Hiervon  abgesehen  wird  durch  die 
Zerlegung  der  grossen  Eizelle  in  immer  kleiner  werdende 
Tochterzellen  die  von  vornherein  gegebene  räumliche  Ver- 
theilung  der  Stofftheile  von  verschiedener  Schwere  und  von 
verschiedenem  Werth  im  Ganzen  wenig  geändert.  Daher 
sind  bei  polar  differenzirten  Eiern  die  nach  unten  gelagerten 
Zellen  auch  auf  späteren  Entwicklungsstadien  reicher  an 
Dottermaterial,  die  nach  oben  gelegenen  dagegen  reicher 
an  Protoplasma.  Ferner  hängt  mit  der  Verschiedenheit 
ihres    Inhaltes    stets    auch    noch    ein    Unterschied    in    ihrer 


—     179    — 

Grösse  zusammen.  Denn  wie  ich  gleichfalls  schon  im 
Jahre  1884  nachgewiesen  habe,  bewegt  sich  der  Kern  stets 
nach  den  protoplasmareichen  Abschnitten  der  Zellen  hin; 
er  sucht,  indem  Protoplasma  und  Kern  ja  in  den  mannig- 
fachsten Wechselwirkungen  stehen,  wie  ich  mich  ausdrückte, 
stets  die  Mitte  seiner  Wirkungssphäre  einzunehmen.  Daher 
rückt  nach  der  Befruchtung  der  Kern  im  polar  differen- 
zirten  Ei  nach  dem  animalen  Pole  hin  und  kommt  excen- 
trisch  zu  liegen ;  in  Folge  dessen  werden  beim  Amphibienei 
durch  die  dritte  Theilung  Zellen  von  sehr  ungleicher 
Grösse,  vier  kleine  animale  und  vier  grosse  vegetative 
Zellen,  gebildet.  Ausserdem  wird  die  Ungleichheit  der  Zellen 
noch  weiter  dadurch  gesteigert,  dass  nach  der  von  Balfour 
aufgestellten  Regel  protoplasmareiche  Zellen  sich  rascher 
theilen,  als  protoplasmaärmere.  In  Folge  beider  Mo- 
mente müssen  sich  im  Ei  verschiedene  Bezirke 
ungleich  grosser  und  mit  verschiedener  Ge- 
schwindigkeit sich  vermehrender  Zellen  aus- 
bilden, Bezirke,  welche  schon  vor  der  Theilung 
gewissermaassen  der  Anlage  nach  in  der  dar- 
gestellten Organisation  der  Eizelle  angedeutet 
sind.  Nur  werden  die  Ungleichheiten,  die  Anfangs  zum 
Theil  kaum  wahrnehmbar  sind,  im  Laufe  der  Entwicklung 
immer  schärfer  ausgeprägt. 

Drittens  beeinflussen  Form  und  Differenzirung  der  Ei- 
zelle den  Ort,  an  welchem  innerhalb  der  Substanzmasse 
spätere  Entwicklungsprocesse  ihren  Ausgang  nehmen,  und 
die  Richtung,  in  welcher  sie  sich  selbst  vollziehen.  So  wird 
am  meroblastischen  Ei  der  Fische,  Reptilien  und  Vögel  der 
embryonale  Entwicklungsprocess  auf  eine  kleine  Stelle  des 
gewaltigen    Eies,    auf    die    Keimscheibe,    beschränkt;    von 

ihrem  Rand  geht  die  Gastrulaeinstülpung  aus.    Ebenso  voll- 

12* 


—     180    — 

zieht  sich  die  Urmundbildung  am  Ei  der  Amphibien  stets 
an  der  Uebergangsstelle  der  animalen  in  die  vegetative 
Hälfte  der  Keimblase  innerhalb  der  sogenannten  Randzone. 
Ja,  es  lassen  sich  sogar,  wie  es  scheint,  noch  genauere 
Localisationen  vornehmen ,  indem  der  Bereich ,  wo  die 
kleinsten  und  am  raschesten  sich  theilenden  Ernbryonalzellen 
liegen,  zum  Ort  der  Gastrulaeinstülpung  wird.  Ist  dieser 
aber  einmal  gegeben,  so  ist  über  die  Lage  und  Richtung, 
in  welcher  sich  eine  Reihe  anderer  Organdifferenzirungen 
vollziehen  müssen,  entschieden,  so  über  den  Ort,  an  wel- 
chem sich  die  vordere  Hirnplatte  und  das  vordere  Chorda- 
ende anlegen  müssen;  es  ist  gewissermaassen  ein  fester 
Krystallisationsmittelpunkt  für  die  thierische  Formbildung 
gegeben.  Von  beiden  Enden  der  Rinne  aus  setzt  sich  der 
Einstülpungsprocess  continuhdich  fort  und  zieht  einen  Zellen- 
bezirk nach  dem  andern  in  die  von  einer  kleinen  Stelle 
aus  eingeleitete  Substanzbewegung  mit  allen  ihren  weiteren 
Folgen  mit  hinein.  Von  hier  aus  verlängert  sich  die  vor 
der  ersten  Urmundrinne  differenzirte  Medullarplatte  und  die 
Chordaanlage  continuirlich  nach  hinten,  setzt  sich  Ursegment 
an  Ursegment  in  continuirlicher  Folge  an.  Auch  hierbei  hängt 
es  natürlich  immer  noch  von  den  Umständen  ab,  in  welcher 
AYeise  das  an  den  Ort  vorgeschrittener  Differenzirung  an- 
grenzende Zellenmaterial  in  den  Entwicklungsprocess  hin- 
eingezogen und  an  das  bereits  weiter  Differenzirte  angeglie- 
dert oder  gleichsam  ankry stallt sirt  wird. 

Als  Beispiele  für  derartige  Localisationen  erwähne  ich 
das  Hühner-  und  das  Froschei.  An  der  Keimscheibe  des 
Hühnereies  zeigen  schon  während  des  Furchungsprocesses 
vordere  und  hintere  Hälfte  unterscheidende  Merkmale.  Denn 
vorn  verläuft  die  Furchung  an  der  Keimscheibe  etwas  lang- 
samer als  hinten.     Dort  findet  man  grössere,  hier  kleinere 


—    181     — 

und  zahlreichere  Embryonalzellen  (Oellacher,  Koelliker, 
Duval).  Am  kleinzelligen  Rand  entsteht  später  die  Sichel- 
rinne,   auf  dem   vor  ihr  gelegenen  Feld  die  Medullarplatte. 

In  ähnlicher  Weise  gibt  Oscar  Schultz e  (53,  S.  293) 
für  das  Froschei  an,  dass  auf  dem  Morulastadium  zwei 
gegenüber  liegende  Bezirke  in  der  Randzone  sich  finden, 
ein  Bezirk  mit  den  kleinsten  und  ein  Bezirk  mit  erheblich 
grösseren  Embryonalzellen.  Innerhalb  des  ersteren  beginnt 
sich  später  der  Urmund  anzulegen. 

Wenn  man,  durch  äussere  Momente  geleitet,  die  Stelle 
erkennen  kann,  an  Avelcher  am  Ei  des  Hühnchens  oder  des 
Frosches  vor  Beginn  der  Furchung  das  Protoplasma  in 
stärkster  Concentration  angesammelt  ist,  so  kann  man  auch 
annähernd  voraussagen,  in  welcher  Gegend  sich  später  die 
erste  Urmundeinstülpung  zeigen  wird.  Denn  an  dieser 
Stelle  werden  beim  Furchungsprocess  später  die  kleinsten 
Zellen  entstehen,  und  wird  weiterhin  die  Wand  der  Keim- 
blase die  zur  Einfaltung  geeigneteste  Beschaffenheit  an- 
nehmen. Daher  ist  auch  die  Möglichkeit  gegeben,  dass  man 
am  Froschei  durch  äussere  Eingriffe  den  Ort  der  Urmund- 
bildung  beeinflussen  kann.  Wenn  man  ein  Froschei  zwischen 
zwei  horizontalen  Glasplatten  ein  wenig  comprimirt  und 
diese  dann  schräg  geneigt  aufstellt,  so  kommt  die  Ueber- 
gangsstelle  der  pigmentirten  in  die  unpigmentirte  Hälfte 
oder  die  Randzone  an  einer  Seite  höher  als  an  der  anderen 
zu  liegen,  und  zwar  entsprechend  dem  nach  oben  gekehrten 
Rand  der  Glasplatten.  In  Folge  dessen  sehen  wir  hier  den 
Urmund  an  der  höchsten  Stelle  des  hellen  Feldes  sich  bilden. 
Dasselbe  wird  durch  einfache  Zwangslage  der  Eier  in  der 
von  Pflüg  er  ausgeführten  Weise  erreicht,  wie  zuerst  von 
Roux  nachgewiesen  worden  ist.  Der  nach  oben  ge- 
k  e  h  r  t  e  T  h  e  i  1  d  e  r  R  a  n  d  z  o  n  e  i  s  t  e  b  e  n  p  r  o  t  o  p  1  a  s  m  a  - 


—     182     — 

reicher  und  wird  sich  daher  rascher  und  in 
kleinere  Zellen  ab  furchen,  als  ihr  tiefer  ge- 
legener und  daher  d  otterreich  er  er  Theil. 

Wie    den    Ort,    so    nannte    ich    auch    die  Richtung,    in 
welcher    sich    die  Entwicklungsprocesse   vollziehen,    als  ab- 
hängig in  gewissem  Grade    von    der  Form   der  Eizelle  und 
der    Differenzirung    ihres    Inhaltes.      Denn    durch    die    Zer- 
legung   des    Eikörpers    in    immer   zahlreichere    Zellen   wird 
am  Anfang  der  Entwicklung  weder  die  Form  des  Eies  noch 
die  ursprünglich  gegebene,  ungleiche  Vertheilung  seiner  ver- 
schiedenen Substanzen  in  nennenswerther  Weise  verändert, 
wie  schon  auf  S.  178  auseinandergesetzt  wurde.  Daher  müssen 
das  ungefurchte  Ei    und   die  aus  ihm  hervorgehende  Keim- 
blase in  beiden  Beziehungen  Uebereinstimmungen  aufweisen. 
Die  in  der  sich  entwickelnden  Stoffmasse  enthaltenen  Rich- 
tungen und  Unterschiede  gehen  einfach  von  dem  einen  auf 
das  nächste  Stadium  über.    Ein  ovales  Ei  liefert  eine  ovale 
Keimblase;  ein  kugeliges,  polar  differenzirtes  und  eventuell 
bilateral  symmetrisches  Ei  geht  in  eine  Keimblase  mit  den- 
selben   Eigenschaften     über.      Ungefurchtes     Ei     und 
Keimblase   müssen    daher   annähernd    auch    die- 
selbe Symmetrie-  und  Gleichgewichtsebene  be- 
sitzen, da  es  fürdiesesVerhältniss  gleichgültig 
ist,  ob  die  durchihre  Schwere  unterschiedenen 
Substanzen    den    Raum    einer    einzigen    grossen 
Zelle  erfüllen    oder    auf  den   Inhalt  vieler,  den- 
selben Raum  einnehmender  Zell  en  vert heilt  sind. 
Die  Form    der  Keimblase   und    die    ihr    vom  Ei    über- 
kommene   ungleiche    Massenvertheilung     ihrer    Substanzen 
muss  naturgemäss  auch  wieder  auf  die  nächst  anschliessenden 
Entwicklungsstadien  von  Einfluss  sein,  auf  die  Gastrula  und 
auf   die   aus    dieser    sich    entwickelnde   Embryonalform,    an 


—     183    — 

welcher  die  ersten  charakteristischen  Organe  des  Wirbel- 
thierembryo,  Chorda  und  Nervenrohr,  zum  Vorschein  kom- 
men. Es  kann  daher  nicht  Wunder  nehmen ,  wenn  auch 
diese  sich  in  einem  gewissen  Grade  gemäss  der  ersten 
Organisation  der  Eizelle  im  Eiraum  annähernd 
o  r  i  e  n  t  i  r  t  zeigen,  und  wenn  die  Symmetrie- 
und  Gleichgewichtsebenen  der  ungetheilten 
Eizelle  und  der  Keimblase  annähernd  auch 
zur  Symmetrieebene  der  Gastrula  und  des 
Embrvo  mit  den  sichtbar  werdenden  Rücken- 
wülste  n  w  i  r  d. 

Am  deutlichsten  treten  solche  Beziehungen  an  Eiern 
hervor,  bei  denen  eine  Axe  an  Länge  überwiegt.  Bei  den 
längsgestreckten  Insecteneiern  fällt  die  Längsrichtung  des 
Embryo  stets  mit  der  langen  Eiaxe  zusammen ,  ebenso  am 
ovalen  Ei  von  Ascaris  nigrovenosa  und  am  ovalen  Ei  der 
Tritonarten.  Da  letzteres  zugleich  polar  differenzirt  ist, 
und  die  Längsaxe  nicht  mit  der  Verticalaxe  zusammenfällt, 
so  besitzt  es  schon  von  Anfang  an  alle  drei  Hauptaxen, 
welche  im  Ganzen  auch  mit  den  drei  Axen  des  Embryo 
in  ihrer  Lage  später  übereinstimmen.  Unter  diesen  Be- 
dingungen entwickelt  sich  bei  Triton  die  Längsaxe  der 
Gastrula  und  weiterhin  des  Embryo  in  der  Richtung  der 
längsten  Axe  des  Eies.  Mit  einem  Wort :  Mit  der  An- 
fangs gegebenen  Massenvertheilung  der  unent- 
wickelten Substanz  stimmt  auch  die  Massen- 
vertheilung der  weiter  entwickelten  Substanz 
üb  er  ein.  Ein  solches  Zusammenfallen  wird  a  priori  als  das 
natürlichste  und  einfachste  erscheinen.  Denn  sollte  der 
spätere  Längsdurchmesser  des  Embryo  in  die  Richtung  des 
Anfangs  kürzesten  Eidurchmessers  zu  liegen  kommen,  so 
müsste    während    der    Entwicklung     die    ganze    Eisubstanz 


—     184     — 

umgelagert  werden,  was  jedenfalls  ein  wenig  zweckent- 
sprechender Vorgang  sein  würde. 

Bei  manchen  Thierarten  kann  man  auf  diese  Weise  vor 
der  ersten  Theilung,  wie  von  verschiedenen  Forschern  beob- 
achtet worden  ist,  dem  Ei  ansehen,  wie  später  der  Embryo 
in  ihm  orientirt  sein  wird;  man  richtet  sich  hierbei  nach 
der  Form  des  Eies,  nach  kleinen,  äusserlich  sichtbaren 
Unterschieden  in  der  Substanzvertheilung,  in  der  Pigmen- 
tirung  und  nach  anderen  derartigen  Merkmalen. 

In  diesem  Sinne  bezeichnete  ich  in  einer  Abhandlung, 
in  der  ich  auf  die  oben  besprochenen  Beziehungen  aufmerk- 
sam gemacht  habe  (25),  das  eben  befruchtete  Ei  ge- 
wisse rmaassen  als  eine  Form,  welcher  sich  der 
werdende  Embryo,  besonders  auf  den  Anfangs- 
stadien der  Entwicklung,  in  vielfacher  Beziehung 
anpassen  muss;  oder  an  einer  anderen  Stelle:  Die  in 
der  Form  des  Eies  und  in  der  Differenzirung  seines  In- 
haltes gegebenen  Verhältnisse  üben  auf  eine  ganze  Reihe 
von  Entwicklungsprocessen,  am  meisten  aber  auf  die  ersten 
Stadien ,  einen  sehr  eingreifenden ,  geAvissermaassen  rich- 
tenden Einfluss  aus. 

Nach  der  Darlegung  meiner  Ansichten  über  die  ur- 
sächlichen Beziehungen  zwischen  erster  Organisation  der 
Eizelle  und  einer  langen  Reihe  von  Entwicklungsprocessen 
muss  ich  noch  Stellung  nehmen  zu  einigen  Missverständ- 
nissen, die  bei  der  etwas  verwickelten  Streitfrage  entstehen 
können. 

Man  könnte  mir  einmal  einwerfen,  dass  in  manchen 
meiner  Sätze  das  His'sche  „Princip  der  organbildenden 
Keimbezirke"  und  der  „Mosaiktheorie  von  Roux"  zugegeben 
sei,  oder  dass  wenigstens  ein  erheblicher  Unterschied 
/wischen    den   verschiedenen   Auffassungsweisen    überhaupt 


—     185     — 

nicht  bestünde.  So  bemerkt  Oscar  Schultze  (53,  8.  289) : 
„Ein  Jeder,  der  die  Ableitungen  von  His  im  Original 
durchliest  und  den  Standpunkt  desselben  Gelehrten  zur 
Evolutionstheorie  berücksichtigt,  muss  die  Ueberzeugung 
gewinnen,  dass  His  genau  denselben  Gedanken  ausgedrückt 
hat,  den  O.  Hertwig,  welcher  sich  gegen  die  His' sehe 
Auffassung  wenden  su  müssen  glaubt,  mit  den  Worten 
niederschrieb :  »In  Folge  der  Continuität  der  Entwicklung 
muss  ja  natürlicher  Weise  jede  ältere  Zellengruppe  sich  auf 
eine  vorausgegangene  jüngere  Gruppe  und  so  schliesslich  be- 
stimmte Körpertheile  auf  bestimmte  Furchungszellen  zurück- 
führen lassen«."  Ebenso,  meint  Schultze,  Aviderstritten 
die  von  Driesch,  mir  und  Anderen  ermittelten  Thatsachen 
nicht  der  Mosaiktheorie  von  Roux  oder  seiner  Lehre  von 
der  „Specification  der  Furchungszellen",  weil  beide  nur 
für  die  normale  Entwicklung  Geltung  besitzen  sollen. 
Schultze  schliesst  seine  Erörterung  mit  folgenden  Sätzen, 
welche  die  wissenschaftlichen  Fragen,  um  die  gestritten 
wird,  verwischen:  „Dass  für  die  normalen,  d.  h.  die  immer 
in  derselben  Weise  in  natura  wiederkehrenden  äusseren 
Bedingungen  die  Specification  der  Furchungszellen  bez.  das 
His'  sehe  Princip  der  organbildenden  Keimbezirke  derart 
vollkommen  zu  Recht  besteht,  dass  aus  bestimmten  Zellen 
oder  Zellgruppen  immer  dasselbe  Organ  des  Embryo 
hervorgehen  muss,  wird  Niemand  bezweifeln,  und  insofern 
muss  der  evolutionistischen  Auffassung  ihre  Berech cigung 
zuerkannt  werden.  Werden  aber  die  äusseren  Bedingungen 
durch  das  Eingreifen  des  Experimentators  derart  abgeän- 
dert, dass  die  Furchungszellen  durch  äussere  Eingriffe  aus 
ihrer  normalen  Lagebeziehung  gebracht  und  gleichsam  durch 
einander  geworfen  werden,  so  ändert  dies  nichts  bezüglich 
des  Resultates,    ebenso  wenig  als  das  Durcheinanderrühren 


—     186    — 

der  Mutterlauge  vor  beginnender  Krystallisation  auf  die 
zu  erzielende  Form  der  Krystallindividuen  von  Einfluss  ist, 
oder  als  es  von  Bedeutung  erscheint,  ob  die  für  den  Bau 
eines  Hauses  bestimmten,  haufenweise  beisammen  lagernden 
Steine  an  diesen  oder  jenen  Platz  in  dem  Hause  zu  liegen 
kommen. " 

Nach  diesen  Sätzen  könnte  man  glauben,  dass  alle  die 
zahlreichen  Forscher,  welche  sich  an  den  Streitfragen  der 
letzten  sechs  Jahre  so  lebhaft  betheiligt  und  zu  dem  Zwecke 
die  verschiedenartigsten  Experimente  ersonnen  haben,  sich 
schliesslich  um  Nichts  gestritten  und  mit  einander  eine 
Comödie  der  Irrungen  aufgeführt  haben.  In  Wahrheit  aber 
handelt  es  sich  doch  um  zwei  verschiedene  Auffassungen 
vom  Wesen  der  ersten  Entwicklungsprocesse,  die  nicht 
neben  einander  gleichzeitig  zu  Recht  bestehen  können.  Es 
handelt  sich  um  ein  Entweder  —  oder.  Obwohl  Vergleiche 
etwas  Missliches  haben,  so  will  ich  mich  doch  des  von 
Schultze  gewählten  Bildes  von  den  Bausteinen  bedienen, 
um  den  Unterschied  der  beiden  Auffassungen  dadurch  in 
wenigen  Worten  zu  veranschaulichen. 

Für  uns  sind  am  Anfang  der  Entwicklung  die  im  Ei 
unterscheidbaren  Theile  einfache  Bausteine,  die  sich  je 
nach  den  Umständen,  unter  denen  der  Entwicklungsprocess 
abläuft,  in  verschiedener  Weise  zum  Aufbau  der  Organe 
des  sich  entwickelnden  Individuums  verwenden  lassen ;  sie 
sind  nicht  von  vornherein  für  eine  besondere  Verwendung 
ausschliesslich  specificirt  und  daher  nicht  ihrer  Natur  nach 
wesentlich  von  einander  verschieden.  II  i  s  dagegen,  wenn  er 
in  der  Keimscheibe  neben  einander  angeordnete  Substanz- 
anlagen für  besondere  spätere  Organe  annimmt,  oder 
R  o  u  x ,  indem  er  seine  M  o  s  a  i  k  t  h  e  o  r  i  e  und  seine  Lehre 
von  derSpecification  derFurchungszellen  auf- 


—     187     - 

stellt,  macht  unsere  einfachen  Bausteine  zu 
Faconsteinen,  die  dann  natürlich  nur  so,  wie  sie  mit 
ihren  Theilen  und  Proportionen  für  einander  gearbeitet, 
also  specificirt  sind,  sich  zu  einem  geordneten  Bau  zusammen- 
fügen lassen ,  zu  einer  beliebigen  Verwendung  aber  nicht 
mehr  geeignet  sind.  Beide  Ansichten  vertragen  sich  wohl 
nicht  mit  einander,  wie  Schultze  den  Anschein  zu  er- 
wecken sucht.  Das  Bild  einer  Krystallbildung  aus  einer 
Mutterlauge  trifft  vollends  auf  die  Auffassung  von  H  i  s  und 
Roux  nicht  zu. 

Roux  selbst  ist  sich  auch  der  durchgreifenden  Unter- 
schiede der  beiden  mit  einander  streitenden  Auffassungs- 
weisen und  ihrer  Consequenzen  klar  bewusst  (G.  A.  S.  20 
und  850),  wie  aus  der  folgenden  Erörterung  in  seinem  Auf- 
satz „Mosaikarbeit  und  neuere  Entwicklungshypothesen" 
hervorgeht : 

Daraus  (nämlich  aus  Experimenten  von  Pflüger,  Roux, 
Hertwig)  folgt  mit  Sicherheit,  dass  die  Theile  des  Dotters  be- 
stimmten Organen  des  Embryo  nicht  der  Art  entsprechen,  dass  mit 
dem  Verlust  dieser  Dottertheile  auch  bestimmte  spätere  Organe 
fehlen,  und  dass  mit  der  abnormen  Anordnung  derselben  auch  spätere 
Organe  entsprechend  abnorm  gelagert  würden. 

Ein  gewisses  hohes  Maass  von  Isotropie  des  Eidotters  ist  also 
erwiesen  und  damit  die  Zurückverfolgung  des  Principes  der  organ- 
bildenden Keimbezirke  auf  das  unget heilte  Ei  in  dem  Sinne, 
dass  jeder  Theil  des  Dotters  bestimmte  Wachsthumsgrösse  besitze 
und  einem  bestimmten  Organ  entspreche,  als  nicht  zutreffend  erkannt. 
(Um  gerecht  zu  urtheilen,  müssen  wir  uns  aber  erinnern,  dass  His 
den  bezüglichen  Ausspruch  bereits  im  Jahre  1874  gethan  hat,  also 
zu  einer  Zeit,  wo  die  fundamentalen  Untersuchungen,  die  uns  von 
der  überwiegenden  gestaltenden  Bedeutung  des  Kernes  über  die  des 
Protoplasmas  belehrt  haben ,  noch  nicht  vorlagen.)  Immerhin  aber 
wäre  es  möglich,  bei  der  normalen  Entwicklung,  die  ein  typisch 
festgeordnetes  System  von  Vorgängen  darstellt,  die  Organe  auf  be- 
stimmte Dottertheile  des  noch  ungetheilten,  aber  schon  befruchteten 
Eies  zu  projiciren;    es  hätte  aber,    wie   ich   oben  dargethan 


—     188     — 

habe,  das  Ergebniss  dieser  grossen  Mühe  keinen  be- 
sonderen Werth. 

Aber  für  das  getheilte  Ei,  für  die  Keimscheibe  resp.  für  die 
Morula  und  Blastula  hätte  diese  Projicirung  einen  grösseren  Werth, 
selbst  in  dem  Falle,  dass  die  den  einzelnen  Organen  entsprechenden 
Bezirke  nicht  auch  die  wesentlichen  besonderen  Kräfte  zu  ihrer 
Differenzirung  enthalten;  es  wäre  damit,  wenn  auch  keinem  causalen, 
so  doch  einem  topographischen  Interesse  gedient.  Wir  haben  aber 
gesehen,  dass  das  durch  die  Furchung  geschiedene  Material  jeder 
der  ersten  und  daher  wohl  auch  noch,  wenn  auch  vielleicht  in  be- 
schränkterem Maasse,  späterer  Furchungszellen  selbstdifferenzirungs- 
fähig  ist;  so  dass  also  durch  dies  P r i n c i p  nicht  bloss  feste, 
d.  h.  bei  der  normalen  Entwicklung  unveränderliche  topo- 
graphische Beziehungen,  sondern  auch  directe  causale 
Beziehungen  bezeichnet  werden. 

Das  Princip  der  organbildenden  Keimbezirke  beginnt  somit  erst 
mit  der  Furchung  eine  feste  Bedeutung  zu  erhalten,  und  diese  seine 
causale  und  topographische  Bedeutung  wird  mit  dem  Fortschreiten 
der  Furchung  eine  immer  speciellere,  denn  durch  dieselbe  werden 
verschiedenwerthige,  der  directen  Entwicklung  dienende  Idioplas- 
sonten  mehr  und  mehr  von  einander  geschieden  und  in  typischer 
Anordnung  localisirt. 

O.  Hertwig  jedoch  folgert  allgemein  die  Unrichtigkeit  des 
Principes  der  organbildenden  Keimbezirke,  auch  für  das  ge- 
theilte Ei. 

Also  die  Differenzpunkte  bestehen,  trotz  des  Versuchs 
von  Schultze,  sie  zu  verwischen.  Wie  Roux  selbst  mit 
mir  und  Pflüger  das  Princip  der  organbildenden  Keim- 
bezirke  von  H  i  s  für  das  ungefurchte  Ei  als  nicht  zutreffend 
anerkennt,  so  müssen  wir  aus  ähnlichen  Gründen  und  mit 
demselben  Recht  auch  die  von  Roux  veränderte  Auflage 
dieses  Princips,  die  Mosaiktheorie  und  die  Specitication  der 
Furchungszellen,  verwerfen.  Denn  die  verchiedenartigsten 
Experimente  zahlreicher  Forscher  (7,  17,  38,  60,  63)  haben 
gelehrt,  dass  durch  den  Process  der  Kcrntheilung  die 
einzelnen  Zellen  nicht  mit  Stoffen  von  verschiedener 
Qualität  ausgestattet  werden. 


—     189    — 

Wie  dieUngleickheiten,  die  man  an  der  un- 
befruchteten Eizelle  in  der  Vertheilung  von 
Protoplasma  und  Dotter  beobachten  kann,  so 
haben  auch  die  Ungleichheiten,  welche  während 
des  Furchungsprocesses  in  der  Grösse  und  An- 
ordnung der  Embryonalzellen  und  in  ihrem  Ge- 
halt an  Dottermaterial  entstehen,  zunächst  mit 
derOrgandifferenzirung  gar  nichts  zu  thun.  Wie 
beim  unbefruchteten,  so  spricht  auch  beim  be- 
fruchteten und  abgefurchten  Ei  nichts  dafür, 
class  die  Zellen  der  verschiedenen,  am  Ei  unter - 
seh  eidbaren  Bezirke  schon  die  speeificirten 
Substanzanlagen  besonderer  Organe  repräsen- 
tirten;  vielmehr  müssen  wir  behaupten,  dass  erst  dem 
weiteren  Gang  der  Entwicklung  vorbehalten  ist,  darüber  zu 
entscheiden,  was  aus  den  einzelnen  Zelleu  werden  wird.  Eine 
jede  Störung,  die  wir  vor  oder  nach  Eintritt  des  Furchungs- 
processes setzen,  sei  es,  dass  wir  einen  Theil  der  Substanz  dem 
Ei  ganz  wegnehmen  oder  sie  zerstören,  oder  dass  wir  durch 
Eingriffe  Lage-  und  Formveränderungen  am  entwicklungs- 
fähigen Material  vornehmen  oder  durch  chemische  Sub- 
stanzen seine  Eigenschaften  verändern,  kann  eine  voll- 
kommen andere  Verwendung  in  dem  einen  Fall  der  Sub- 
stanz des  ungeteilten  Eies,  in  dem  anderen  Fall  der  schon 
gebildeten  Embryonalzellen  bei  der  Entwicklung  des  embryo- 
nalen Körpers  hervorrufen;  ja  es  kann  sogar  dasselbe 
Material  durch  besondere  Umstände  veranlasst  werden,  an- 
statt in  einen  einfachen  Embryo  sich  in  zwei  oder  sogar 
drei  Embryonen  umzuwandeln. 

Darum,  weil  im  gewöhnlichen  Lauf  der  Dinge  ein 
Stadium  der  Entwicklung  das  nächstfolgende  und  so  fort 
nach    einer   festen    Norm  und    in   scheinbar   strenger   Noth- 


-     190     - 

wendigkeit  aus  sich  entstehen  lässt,  dürfen  wir  nicht  schliessen, 
esmüsse  nun  jedesmal  so  sein  und  eskönne  überhaupt 
nicht  anders  hergehen,  als  ob  gleichsam  das  in  ferner 
Zukunft  liegende  Ereigniss  schon  im  frühesten  Stadium  fertig 
vorbereitet  und  eingeschlossen  sei    und    nur  der  Zeit  harre, 
um  in  die  Erscheinung   zu  treten.     Wer   solche    Gedanken- 
gänge  hegt,    verkennt,    wie   ich    schon    oft  hervorgehoben 
habe,    die    Bedeutung    der   Umstände    oder    der    äusseren 
Ursachen  für  den  Process  der  Entwicklung,  und  er  kommt 
so  schliesslich  nothgedrungener  Weise    dazu,    Eigenschaften 
in    die  Eizelle    hineinzuschachteln ,    welche    ihr   ganz    fremd 
sind.     Man  darf  über  die  Art  der  Causalität,  die  zwischen 
den  einzelnen  Entwicklungsstadien  besteht,  sich  keine  falschen, 
phantastischen  Vorstellungen  bilden,  indem  man  den  festen 
Boden     der    durch    Anschauung    gewonnenen    Erfahrungen 
verlässt  und,  über  sie  hinausgehend,  den  einzelnen  Zuständen 
des  Eies  Eigenschaften  andichtet,  welche  sinnliche  Anschau- 
ung   nicht    lehrt.     Wenn    z.    B.    die    ungleiche    Vertheilung 
von  Protoplasma  und  Dottereinschlüssen  im  unbefruchteten 
Ei    eine    der  Ursachen    ist,    dass    später    Bezirke    ungleich 
grosser  Zellen  entstehen,  die  sich  zugleich  auch  durch  ver- 
schiedenen Gehalt  an  Protoplasma  und  Dotter  unterscheiden, 
so    liegt   doch    bei    diesem  ursächlichen  Verhältniss  auf  der 
Hand,    dass    beide  Anordnungen    etwas    sehr  Verschiedenes 
sind.      Die    ungleiche    Dottervertheilung    in    der    einfachen 
Eizelle    ist    in  jeder  Hinsicht   ein   ganz  anderes  Verhältniss 
als  die  Zusammensetzung  der  späteren  Embryonalform   aus 
kleineren    und    grösseren,    substantiell    etwas    von  einander 
verschiedenen  Zellen.     Daher  kann  man  auch  gewiss  nicht 
sagen,  dass  die  kleineren  und  grösseren  Zellen  im  Ei  schon 
vor  Beginn  des  Furchungsprocesses  präformirt  oder  speciticirt 
seien,  wie  denn  zum  Beispiel  von  Kernsubstanz  in  den  später 


—     191     — 

von  Zellen  eingenommenen  Substanzbezirken  keine  Spur  an- 
zutreffen ist.  Nur  eine  Ursache  für  ihr  späteres  Zustande- 
kommen oder  eine  allgemeine  Anlage  dafür  ist  in  der  ganzen 
Organisation  der  Eizelle  oder  in  der  allgemeinen  Dis- 
position ihrer  Substanz  gegeben. 

Schon  das  Wort  „Anlage",  wenn  man  es  richtig  ver- 
steht, besagt  ja,  dass  über  das,  was  werden  kann, 
erst  noch  entschieden  werden  muss  —  durch  die 
Umstände.  Mithin  können  auch  die  Wege,  auf  denen 
aus  einer  Anlage  etwas  wird,  sehr  verschiedene  sein.  Es 
kann  der  Furchungsprocess  eines  bestimmt  organisirten  Eies 
die  mannigfaltigsten,  einander  sehr  unähnlichen  Variationen 
darbieten,  je  nachdem  wir  die  im  Ei  gegebene  Anlage 
äusseren  Eingriffen  aussetzen.  Das  Kernmaterial  kann  da- 
durch im  Ei  räum  in  der  verschiedenartigsten  Weise  ver- 
theilt  werden;  die  Zellen  können  andere  Formen-  und 
Grössenverhältnisse  erfahren.  Trotzdem  sind  alle  diese 
durch  äussere  Momente  künstlich  erzeugten  Verschieden- 
heiten ziemlich  gleichgültig  für  den  Fortgang  und  das  Pro- 
duct  der  Entwicklung,  da  das  Wesentliche  in  den  ersten 
Entwicklungsstadien  überhaupt  nur  die  Zerlegung  des  Eies 
in  Zellen  ist.  Mag  die  Zerlegung  in  dieser  oder  jener 
Weise  vor  sich  gehen,  in  jedem  Falle  entsteht  doch  schliess- 
lich eine  zusammengehörige  Masse  ungleich  grosser  und 
mit  verschiedenem  Dottergehalt  versehener  Embryonalzellen, 
welche  die  Anlage,  den  Grund  oder  die  inneren  Ursachen 
für  das  nächstfolgende  Stadium  in  sich  enthalten. 

Ein  anderes  Missverständniss  betrifft  die  Beziehungen 
der  ersten  Theilungsebenen  des  Eies  zu  der  Medianebene 
des  Embryo.  Zu  diesem  Thema  bemerkt  gleichfalls  Oscar 
Schultze  in  seiner  oben  citirten  Arbeit:  „Ich  denke, 
dass  nun  auch  O.  Hertwig  sich  von  dem  Gesetz  des  Zu- 


—     192    — 

sanmienfallens  der  ersten  Furch  ungsebene  mit  der  Median- 
ebene des  Körpers  bei  Rana  unter  normalen  Bedingungen 
überzeugen  wird."  Hierauf  habe  ich  zunächst  zu  erwidern, 
dass  ich  mich  davon  nicht  erst  zu  überzeugen  brauche,  da 
ich  die  Möglichkeit  des  Zusammenfallens  nie  bestritten 
habe.  Ich  habe  diese  Beziehungen  1893  (25)  ausführlich 
erörtert  und  meine  Ansicht  in  dem  Resume  meiner  Arbeit 
in  den  Satz  (No.  8  f.  S.  790)  zusammengefasst :  „Bei  polar 
differenzirten  Eiern,  die  entweder  einen  längeren  Durch- 
messer oder  eine  bilateral  -  symmetrische  Organisation  be- 
sitzen, kann  unter  normalen  Verhältnissen  die  Richtung  der 
beiden  ersten  Theilungen  mit  der  Richtung  der  späteren 
Hauptebenen  des  Embryo  zusammenfallen.  Die  Ursache 
für  dieses  Zusammentreffen  ist  schon  in  dem 
Bau  der  Eizelle  gegeben.  So  erklären  sich  die  Beob- 
achtungen von  van  Beneden  und  Julin  am  Ascidienei, 
von  Wilson  am  Ei  von  Nereis,  von  Roux  am  Ei  von 
Rana  esculenta,  von  mir  an  Eiern  von  Triton  etc." 
Ja,  ich  habe  in  dieser  Arbeit  sogar  das  Resultat,  welches 
Oscar  Schultze  durch  Beobachtung  am  Ei  von  Rana 
fusca  festzustellen  versucht  hat,  ganz  bestimmt  im  Satz 
(No.  8e)  meines  Resumes  vorausgesagt:  „Wenn  manchen 
Eiern  ausser  ihrer  polaren  Differenzirung  auch  noch  eine 
bilateral -symmetrische  Organisation  in  der  Vertheilung 
ihrer  Substanzen  von  ungleicher  Schwere  und  verschiedenem 
physiologischem  Werth  zukommt,  so  muss  dieselbe  gleich- 
falls eine  bilateral-symmetrische  Form  der  Keimblase  zur 
Folge  haben,  wodurch  der  Ort  der  Gastrulaeinstülpung  im 
Bereich  der  Randzone  noch  genauer  bestimmt  sein  wird" 
(S.  790).  Betreffs  letzteren  Punktes  bemerkte  ich  noch, 
„dass  die  Urmundeinstülpung  an  dem  Ende  der  Symmetrie- 
ebene  beginnen    wird,    wo    die   grössere  Menge   der   proto- 


—     193    — 

plasmareicheren    Substanz    schon    im    ungefurehten    Ei    an- 
gesammelt war"  (S.  735). 

Die  Streitfrage  7  um  die  es  sich  hier  wieder  handelt, 
betrifft  nicht  eine  Anzahl  von  Beobachtungen,  deren  Rich- 
tigkeit ich  nie  angezweifelt  habe,  sondern  die  Trag- 
weite und  die  „causale  Bedeutung",  welche  man 
ihnen  zu  geben  versucht  hat.  Ich  habe  bestritten 
und  bestreite  noch  heute,  dass  die  erste  Theilebene  des 
Eies  die  Medianebene  des  zukünftigen  Embryo  bestimmt, 
und  dass  man  zwischen  beiden  Ebenen  ein  causales  Ver- 
hältniss  in  der  Art  construiren  kann,  dass  man  sagt:  Die 
erste  Theilung  habe  die  Aufgabe,  durch  die  Theilebenen 
nicht  nur  das  Bildungsmaterial,  sondern  auch  die  gestal- 
tenden Kräfte  für  die  linke  und  die  rechte  Körperhälfte 
des  Embryo  von  einander  zu  sondern. 

Nach  meiner  Ansicht  besitzen  manche  Eier  in  der 
eigenthümlichen  Anordnung  ihrer  Substanzen  schon  vor 
dem  Beginn  des  Furchungsprocesses  eine  bilateral  -  symme- 
trische Organisation  und  kraft  derselben  eine  Symmetrie- 
und  Gleichgewichtsebene,  mit  welcher  dann  später  auch 
annähernd  die  Medianebene  des  Embryo  zusammenfällt. 
We nn  letztere  somit  schon  vor  dem  Furchungsi 
process  im  Bau  der  Eizelle  bestimmt  ist,  so  kann 
sie  nicht  noch  einmal  durch  die  Richtung  der 
ersten  Theilungsebene  bestimmt  werden.  Viel- 
mehr hängt  die  Richtung  der  ersten  Theilebene  selbst  von 
der  Form  der  Eizelle  und  der  Differenzirung  ihres  Proto- 
plasmakörpers ab.  Daher  sagte  ich  1893 :  „In  den  Fällen, 
wo  eine  Theilebene  des  Eies  und  die  Medianebene  des 
Embryo  mehr  oder  minder  annähernd  zusammenfallen,  ist 
die  Ursache  für  dieses  Zusammentreffen  in 
einer    beiden  Erscheinungen    gemeinsamen  Ur- 

Hertwig,  Zeit-  und  Streitfragen.     II.  13 


—     194     - 

sache,  in  der  von  Anfang  an  gegebenen  Organi 
sation  der  Eizelle  selbst  zu  suchen,  welche  so- 
wohl auf  die  Stellung  der  T heilungsebenen  als 
auch  auf  die  Stellung  der  embryonalen  Median- 
ebene richtend  wirkt"  (S.  737).  „Denn  da  jedes  spätere 
Entwicklungsstadium  an  ein  vorausgegangenes  anknüpft,  so 
sucht  sich  die  bilateral-symmetrische  Massenvertheilung  der 
Substanz  im  Allgemeinen  auch  auf  späteren  Stadien  so  zu 
erhalten,  wie  sie  schon  im  Ausgangsstadium  gegeben  war, 
solange  nicht  andere  Factoren  eine  Aenderung  nothwendig 
machen." 

Ich    habe    daher    auch    immer    nur    von    einem    an- 
nähernden   Zusammenfallen    der    ersten    Theil- 
ebene    mit    der    Medianebene     des     Embryo     ge- 
sprochen.    Denn   mir    scheint   hier    allerdings    ein    ziemlich 
weiter    Spielraum    vorzuliegen.      Einmal    glaube    ich    nicht 
nach  den  vorliegenden  Beobachtungen,    dass  durch  die  An- 
ordnung   der    Eisubstanzen    die    Kernspindel    jedesmal    so 
absolut  genau  eingestellt  wird,   dass  eine  genaue  Halbirung 
des  Eies   in   zwei   ganz  symmetrische  Hälften  herbeigeführt 
wird.      Zweitens    verändert     offenbar     die    Sym- 
metrie-   und    Gleichgewichtsebene    der    Eisub- 
stanzen   während     des     Entwicklungsprocesses 
beständig  in  etwas  ihre  Lage   und  muss  sie  ver- 
ändern,    da     es     beim     Furchungsprocess     ohne 
Gleitbewegungen       und       Ve  rschiebungen      der 
Zellen  nicht  abgeht.    Das  lehrt  schon  die  beim  zweiten 
Theilact    auftretende    Brechungsfurche.      Ferner    muss    die 
Symmetrie-    und    Gleichgewichtsebene     Veränderungen    er- 
fahren, wenn  die  Höhle    in  der  Blastula  sich  nicht  immer 
genau  an  derselben  Stelle   durch  Auseinanderweichen    der 
Zellen  und  durch  Flüssigkeitsansammlung  bildet. 


—     195     - 

Wenn  diese  Ausführungen  richtig  sind7  dann  beruhen 
auch  die  Winkeldifferenzen ,  welche  Roux  bei  seinen  Ex- 
perimenten zwischen  der  Richtung  der  ersten  Theilebene 
und  der  Medianebene  des  Embryo  so  häufig  gefunden  hat, 
nicht  durchgängig  auf  Versuchsfehlern ,  worauf  sie  Roux 
durchaus  zurückzuführen  bemüht  ist,  sondern  sie  ergeben 
sich  ganz  naturgemäss  aus  dem  Sachverhalt,  daraus,  dass 
kein  absolutes,  sondern  nur  ein  mehr  oder  minder  annähe- 
rungsweises Zusammentreffen  der  genannten  zwei  Richtungen 
stattfindet. 

Bei  meiner  Auffassung  bereitet  es  auch  dem  Verständ- 
niss  keine  Schwierigkeit,  dass  durch  äussere  Eingriffe  sich 
der  Furchungsverlauf  in  so  weitem  Umfang  abändern  lässt, 
und  dass  die  Embryonen  eine  Medianebene  erhalten,  trotz- 
dem keine  der  ersten  vier  Furchen  in  ihre  Richtung  fällt. 
Denn  einmal  kann  die  Symmetrie-  und  Gleichgewichtsebene 
der  Eisubstanzen  bestehen  bleiben,  auch  wenn  diese  durch 
Verschiebung  der  Kernspindel  in  abnormen  Richtungen  in 
Theilproducte  zerlegt  werden,  oder  sie  wird  sich  jederzeit 
in  irgend  einer  anderen  Anordnung  und  Richtung  wieder 
ausbilden,  wenn  durch  den  äusseren  Eingriff  ausser  der 
Lage  und  Richtung  der  Kernspindel  auch  die  Vertheilung 
der  Eisubstanzen  geändert  ist.  Derartige  Vorgänge  stören 
überhaupt  gar  nicht  das  Zustandekommen  eines  normalen 
Entwicklungsproductes ,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil 
ihnen  eine  weittragende  causale  Bedeutung  für  den  Verlauf 
des  Entwicklungsprocesses  nicht  inne  wohnt. 

Anders  liegt  freilich  das  Verhältniss  bei  der  Auffassung 
von  Roux,  nach  welcher  die  Richtung  der  ersten  Theil- 
ebene die  Medianebene  des  Embryo  bestimmen  und  nicht 
nur  das  Material,    sondern   auch  die  gestaltenden  Kräfte 

für    linke    und  rechte  Körperhälfte  sondern  soll.     Denn  ein 

13* 


—     196    — 

derartiger  causaler  Zusammenhang  verlangt,  dass  das 
Zusammenfallen  der  ersten  Theilebene  mit  der  zukünftigen 
Medianebene  ein  absolutes  ist;  der  Experimentator  muss 
daher  Abweichungen  hiervon  als  auf  Beobachtungsfehlern 
beruhend  nachzuweisen  versuchen.  Nicht  minder  müssen 
ihm  alle  durch  äussere  Eingriffe  hervorgerufenen  Ab- 
weichungen von  seinem  Naturgesetz  sehr  unbequem  fallen 
und  ihn  zur  Aufstellung  von  Hilfsannahmen  (Regulations- 
mechanismen, Reserveidioplasmen  etc.)  zwingen,  wie  es  uns 
die  Fortentwicklung  der  Roux'schen  Lehre  in  der  That 
gezeigt  hat. 

Auch  hierin  erblicke  ich  einen  nicht  unwichtigen  Hin- 
weis dafür,  dass  Roux  den  Beobachtungen  über  die  Rich- 
tung der  ersten  Furchungsebene  eine  Tragweite  und  Be- 
deutung gegeben  hat,  welche  ihnen  keineswegs  zukommt. 
Daher  schliesse  ich  denn  diese  Kritik  mit  den  Sätzen,  deren 
Richtigkeit  ich  schon   1893  zu  erweisen  versucht  habe. 

1)  Die  Richtung  der  ersten  Furchungsebene  und  die 
Ebenen  des  embryonalen  Körpers  stehen  in  keinem  ursäch- 
lichen Abhängigkeitsverhältniss  zu  einander. 

2)  Der  Furchungsprocess  führt  zu  keiner  Sonderung 
des  Kernmateriales  in  qualitativ  ungleiche,  die  Entwicklung- 
verschiedener  Körpertheile  bestimmende  Stücke. 

3)  Die  Thatsache,  dass  in  vielen  Fällen  die  Furchungs- 
ebenen  und  die  Axen  des  embryonalen  Körpers  mehr  oder 
minder  zusammenfallen  und  dass  die  Entstehung  einzelner 
Primitivorgane  von  bestimmten  Stellen  der  Eioberfläche 
ausgeht,  erklärt  sich  aus  der  Organisation  der  Eizelle 
selbst,  aus  ihrer  Form  und  der  Vertheilung  von  Proto- 
plasma und  Reservestoffen. 


Zusätze  und  Literaturnachweise. 


1)  (S.  29).  Nach  Lotze  und  auf  ihm  fusseud  hat  Raub  er 
(Nr.  14,  S.  2)  1880  den  Vorschlag  gemacht,  einen  Zweig  der  Ent- 
wicklungsgeschichte als  „Cellularmechanik"  besonders  zu  benennen. 
Als  ihre  Aufgabe  bezeichnet  er  die  „Erforschung  der  Kräfte  oder 
des  Systems  der  Kräfte,  welche  den  Keim  befähigen,  alle  die  ge- 
nannten Formen  zu  verwirklichen,  aus  der  Anfangsform  die  Durch- 
gangsform hervorgehen  zu  lassen  und  schliesslich  in  die  Endform 
auszulaufen". 

2)  (S.  102).  In  seiner  aus  dem  Jahre  1885  stammenden  Arbeit 
erklärt  Roux:  „In  welcher  Art  die  angenommene  richtende  Wechsel- 
wirkung zwischen  Kern  und  Zellenleib  vorzustellen  sei,  ist  zur  Zeit 
nicht  zu  sagen,  ob  als  der  magnetischen  vergleichbare  Fernwirkung, 
ob  vermittelt  durch  Diffusionsströmungen  etc."  Hierzu  hat  Roux 
in  der  neuen  Herausgabe  seiner  gesammelten  Werke  (S.  340)  den 
Zusatz  gemacht:  „Dieser  Vergleich  mit  magnetischer  Wirkung 
wurde  später  von  0.  Hertwig  aufgenommen  und  verwendet  (s.  die 
Zelle  1892)."  Gegen  diesen  Zusatz  will  ich  nur  ganz  kurz  erinnern, 
dass  der  wirkliche  Sachverhalt  genau  der  umgekehrte  ist,  da  ich 
schon  mehrere  Jahre  vor  Roux,  sowohl  1875  (18,  S.  417)  als  auch 
1884,  mich  des  Vergleichs  mit  magnetischen  Figuren  bedient  habe, 
also  ihn  gewiss  nicht  von  Roux  habe  aufnehmen  können.  Im 
Uebrigen  haben  den  Vergleich  schon  vor  mir  Strasburger  und 
Fol  angewandt.  Man  vergleiche  übrigens  auch  noch  die  Zu- 
sätze 3  und  7. 

3)  (S.  103).  Auf  dem  Anatomencongress  in  Strassburg  hat 
Roux  im  Anschluss  an  einen  Vortrag  von  Ziegler  die  Er- 
klärung abgegeben  (Verh.  d.  anat.  Gesellsch.  1894  S.  151):  „Es  ist 
nicht    angemessen,    die  überwiegend  häufige  Einstellung  der  Kern- 


—     198     — 

spindel  in  die  grösste  Dimension  der  Furehungszelle,  Avie  es  Herr 
Ziegler  thut,  mit  dem  Ausdrucke  „Hertwig'sches  Gesetz"  zu 
bezeichnen;  denn  0.  Hertwig  hat  eine  ähnliche  Beziehung  zwar 
im  Jahre  1883  zuerst  ausgesprochen,  aber  dabei  nichts  gethan,  sie 
direct  zu  beweisen";  ausserdem  ist  seine  Fassung:  „Einstellung  in 
die  Richtung  der  grössten  Protoplasmamasse  nichtssagend"  etc. 

Aehnliche  Ansichten  hatRoux  noch  ah  drei  Stellen  seiner  ge- 
sammelten Werke  wiederholt  und  dabei  eine  Priorität  für  sich  nach- 
zuweisen versucht  (S.  305,  928,  972). 

Gegen  die  hier  angestrebte  Verdunkelung  des  Sachverhaltes 
muss  ich  Verwahrung  einlegen,  und  habe  ich  namentlich  Dreierlei 
dagegen  zu  bemerken.  Erstens  muss  ich  entschieden  bestreiten,  dass 
Roux,  wie  er  angibt,  „eine  bezügliche  Idee  ein  Jahr  vor 
mir  ausgesprochen  habe".  Im  Jahre  1883  hat  Roux  im  An- 
schluss  an  die  Beobachtung  Auerbach's  über  die  Drehung  des 
Kernpaares  im  Ei  von  Ascaris  nur  die  Vermuthung  geäussert:  „das 
äussere"  Moment  einer  geringen  „Quetschung"  durch  das  Deckglas 
sei  schon  von  Anfang  an  Veranlassung  gewesen,  dass  die  Umdrehung 
der  conjugirten  Kerne  senkrecht  zur  Druckrichtung  vor  sich  geht, 
und  dass  weiterhin,  sei  es  damit  zugleich  oder  unabhängig  davon, 
auch  die  senkrechte  Richtung  der  ersten  Furchungsebene  bestimmt 
werde"  (Gr.  A.  S.  118).  Wie  aus  diesem  Satz  überhaupt  hervorgehen 
soll,  dass  Roux  sich  in  irgend  einer  Beziehung  damals  schon  klar 
gewesen  sei  über  das  Verhältniss,  in  welchem  die  Lage  des  be- 
fruchteten und  des  sich  zur  Theilung  anschickenden  Kernes  zu  der 
Form  und  der  Differenzirung  des  Protoplasmakörpers  des  Eies  steht, 
und  wie  die  Lage  der  Spindel  wieder  die  Lage  der  Theilungsebenen 
bestimmt,  wird  dem  Leser  ebenso  unerfindlich  sein  wie  mir.  In  der 
That  hat  denn  auch  Roux  in  dem  1884  veröffentlichten  Aufsatz: 
„Ueber  die  Entwicklung  des  Froscheies  bei  Aufhebung  der  richten- 
den Wirkung  der  Schwere"  nicht  den  geringsten  Anlauf  gemacht, 
eine  der  meinigen  ähnliche  Idee  irgendwie  zu  entwickeln,  obwohl 
die  Untersuchungen  Pflüger's  ihn  dazu  hätten  veranlassen  sollen, 
wie  es  bei  mir  der  Fall  gewesen  ist.  Mir  scheint  daraus  klar 
hervorzugehen,  dass  Roux  auch  im  Jahre  1884  vor  Veröffentlichung 
meiner  Arbeit  das  in  Frage  stehende  Problem  noch  nicht  erfasst 
hatte.  Erst  dreiviertel  Jahre  später  hat  Roux  in  der  1885  veröffent- 
lichten Abhandlung:  „Ueber  die  Bestimmung  der  Hauptrichtungen 
des  Embryo"  einige  der  von  mir  veröffentlichten  Ideen  sich  zu  Nutze 
gemacht  (G.  A.  S.  301 — 306),  freilich  ohne  die  Quelle  anzugeben,  au. 


—     199    — 

welcher  er  sie  geschöpft  hat.  Denn  nur  nebenbei  wird  einmal  in 
seiner  Abhandlung  an  einer  späteren  Stelle  bemerkt  (1.  c.  S.  323): 
„Bezüglich  der  gegenseitigen  richtenden  Wirkung  zwischen  dem 
sich  theilenden  Zellkern  und  den  Theilen  des  ihn  umgebenden  Zellen- 
leibes hoffe  ich  an  den  künstlich  deformirten  Eiern  durch  genaue 
Prüfung  der  Stellung  der  Kernspindel  zu  den  von  einander  unter- 
scheidbaren Dottermassen  die  nöthige  Aufklärung  gewinnen 
zu  können.  Jüngst  hat  sich  O.  Hertwig  gleichfalls  für  eine 
solche  richtende  Wechselwirkung,  und  zwar  auf  Grund  vergleichend 
anatomischer  und  physiologischer  Thatsachen,  ausgesprochen"  etc. 
„Seine  Aussprüche  erfolgen  auf  Grund  der  ihnen  entsprechenden 
Kerneinstellung  bei  normalen,  verschieden  geformten  Eiern.  Die 
dadurch  schon  gewonnene  «Wahrscheinlichkeit«  kann  aber  zu  einer 
»Gewissheit«  erst  erhoben  werden,  wenn  es  uns  gelingt,  dasselbe 
Verhalten  in  verschiedenartigen,  von  uns  künstlich  erzeugten  Be- 
dingungen zu  beobachten." 

Man  sieht,  Roux  hat  schon  früh  dem  von  ihm  erst  später  klar 
ausgesprochenen  Grundsatz  gehuldigt:  Causale Forscher  würden  einen 
Umweg  einschlagen  etc.  (s.  Ausspruch  S.  132). 

Im  Uebrigen  hat  Roux  selbst  im  Jahre  1885  sich  noch 
durchaus  in  einer  unbestimmten  und  einseitigen  Weise  über  die  in 
Frage  stehenden  Verhältnisse  geäussert,  zum  Theil  mit  dadurch 
veranlasst,  dass  bei  einigen  Experimenten  sich  die  Eier  entgegen 
meiner  Regel  in  der  Richtung  des  längsten  Durchmessers  theilten 
(1.  c.  S.  303).  Neuerdings  hat  allerdings  Roux  diese  Angaben  als  auf 
einem  Irrthum  beruhend  berichtigt,  der  ihm  bei  der  Deutung  der 
Experimente  mit  untergelaufen  sei  (1.  c.  S.  972).  Im  Jahre  1885  aber 
Ovaren  sie  für  ihn  Grund  genug,  sich  hinsichtlich  der  Giltigkeit  des 
von  mir  schon  aufgestellten  Gesetzes  sehr  zurückhaltend  und  vor- 
sichtig zu  äussern,  und  sie  veranlassten  ihn  sogar  zu  der  Bemerkung, 
„dies  zeigt  wiederum,  dass  nicht  eine  Tendenz,  die  kleinsten  Flächen 
zu  theilen,  die  Theilungsrichtung  bestimmt"  (1.  c.  S.  305). 

Wie  kann  man  bei  solcher  Sachlage  Prioritätsansprüche  vom 
Zaune  brechen ! 

4)  (S.  111).  In  meiner  Abhandlung  über  den  Werth  der  ersten 
Furchungszellen  für  die  Organbildung  des  Embryo  findet  sich  der 
Passus:  „Zwei  Forscher,  Roux  und  Chabry,  haben  sich  das  Ver- 
dienst erworben,  zum  ersten  Male  versucht  zu  haben,  die  Frage  zu 
lösen,  was  für  ein  Product  die  Entwicklung  eines  Eies  liefert,  bei 
welchem  man  eine  der  beiden  ersten  Furchungszellen   oder  auf  dem 


—     200     — 

Viertheilungsstadium  ein,  zwei  oder  drei  Zellen  zerstört  hat.  Chabry 
stellte  seine  Experimente  (1887)  am  Ei  von  Ascidiella  aspersa  an, 
indem  er  bestimmte  Furchungsz eilen  durch  Anstechen  mit  feinsten 
Glasnadeln  vernichtete.  Bald  darauf  hat  Roux  entsprechende  Ex- 
perimente am  Froschei  ausgeführt  und  ihre  Ergebnisse  in  seiner  be- 
kannten Abhandlung  zusammengestellt  etc."  Das  Experiment,  eine 
Furchungszelle  durch  Anstich  zu  zerstören  und  aus  der  Entwicklung 
auszuschalten,  nannte  ich  das  Chabry-Roux'sche  Verfahren. 

Diese  paar  Sätze  haben  wieder  den  lebhaften  Unwillen  von 
Roux  hervorgerufen  und  ihn  zu  einem  Ausfall  gegen  mich  veranlasst 
(G.  A.  S.  957).  Nachdem  er  bemerkt,  dass  er  schon  im  Jahre  1885 
viele  Anstichversuche  an  Froscheiern  veröffentlicht  habe,  spricht  ei- 
serne Verwunderung  darüber  aus,  dass  ich  diese  Arbeit  nicht  kenne, 
obwohl  er  sie  mir  zugesandt  habe,  und  fährt  fort:  „Ich  habe  es 
0.  Hertwig  schon  einmal  nahe  gelegt,  meine  Arbeiten  mit  mehr 
Sorgfalt  zu  lesen,  soweit  er  auf  demselben  Gebiete  mit  mir  arbeitet, 
damit  er  sowohl  über  das  bereits  Ermittelte  unterrichtet  sei,  als 
auch,  um  nicht  weiterhin  irrthümliche  Behauptungen  über  meine 
Ansichten  zu  verbreiten." 

Mir  scheint  der  Ausfall  wenig  angebracht  zu  sein ,  weil  er 
wieder  einmal  nicht  zutrifft.  Dass  Roux  schon  vor  Chabry  mit 
der  Stahlnadel  Froscheier  auf  verschiedenen  Furchungs-  und  Ent- 
wicklungsstadien angestochen  hat,  ist  richtig;  er  hat  damals  aber 
nicht  bestimmte  Zellen  des  Zwei-  und  Viertheilungsstadiums  wirk- 
lich zerstört  und  aus  dem  Entwicklungsprocess  ausgeschaltet,  sondern 
nur  durch  den  Anstich  mit  kalter  Nadel  einen  bald  kleineren,  bald 
grösseren  Austritt  von  Dottersubstanz  (ein  Extraovat)  veranlasst 
una  gefunden,  dass  derartige  Eingriffe,  die  auch  auf  dem  Morula-, 
Blastula-  und  Gastrulastadium  vorgenommen  wurden,  bald  gar  keine 
Störung,  bald  diese  und  jene  variable  Veränderung  bewirken. 
Wie  Roux  selbst  diese  Experimente  früher  beurtheilt  hat,  geht  aus 
der  im  Text  (S.  111)  angeführten  Stelle,  sowie  aus  dem  folgenden 
Satz  hervor:  „Es  wird  überall  hervortreten,  dass  bis  jetzt,  zufolge 
der  diesjährigen  ungünstigen  Verhältnisse,  bloss  noch  erste  Orienti- 
rungsversuche  vorliegen,  und  dass  diese  Lückenhaftigkeit  der  Ver- 
suchsreihen nur  sehr  allgemeine  Folgerungen  zu  ziehen  gestattet" 
(1.  c.  S.  161). 

Der  Leser,  welcher  die  einzeln  mitgetheilten  zahlreichen  Ver- 
suche durchgeht,  wird  gewiss  aus  ihnen  nicht  das  Ergebniss  ziehen, 
dass  Roux  eine  von  den  beiden    oder    vier    ersten  Furchuugszellen 


—     201     — 

complet  zerstört  und  durch  solche  Eingriffe  seitliche  oder  vordere 
Halbembryonen  oder  Dreiviertelembryonen  willkürlich  erzeugt  habe. 
Roux  gibt  dies  auch  selbst  an  keiner  Stelle  als  Resultat  seiner  Ex- 
perimente an.  Nur  in  der  Neuausgabe  seiner  gesammelten  Werke 
hat  er  etwas  nachzuhelfen  versucht,  indem  er  bei  der  Beschreibung 
eines  Versuches  das  in  Klammern  gesetzte  Wort  „Hemiembryo 
anterior"  in  den  Text  nachträglich  eingeschoben  (1.  c.  S.  161)  und 
bei  der  allgemeinen  Besprechung  der  Ergebnisse  (1.  c.  S.  204)  durch 
das  Einschiebsel  „die  Hemiembryones  laterales  dexter  und  sinister 
und  anterior"  den  Wortlaut  der  Originalabhandlung  umgeändert 
hat.  In  diesem  Fall  ist  sogar  nicht  kenntlich  gemacht, 
dass  ein  bei  der  Neu  ausgäbe  hinzugefügter  Zusatz  vor- 
liegt, so  dass  der  unbefangene  Leser  irre  geführt  wird. 

Ich  möchte  daher  demjenigen,  welchem  daran  gelegen  ist,  die 
ursprünglichen  Ansichten  von  Roux,  und  nicht  seine  Meinung  im 
Jahre  1895  kennen  zu  lernen,  dringend  empfehlen,  sich  nur  an  die 
eigentlichen  Originalabhandlungen  zu  halten.  In  den  gesammelten 
Werken  sind  viele  einzelne  Worte,  Sätze  und  grössere  Abschnitte 
neu  hinzugefügt,  welche  allerdings  meist  als  Nachträge  in  Klammern 
gesetzt  sind. 

Durch  meine  Auseinandersetzung  will  ich  darlegen,  warum  ich 
auf  die  Arbeit  von  Roux  aus  dem  Jahre  1885  nicht  Bezug  genommen 
habe,  obwohl  sie  mir  wohlbekannt  war,  auch  in  der  Literaturüber- 
sicht mit  aufgeführt  und  in  dem  gleichzeitig  erschienenen  Heft  der 
Zeitfragen  sogar  sehr  eingehend  besprochen  wurde.  Der  Abschnitt 
meiner  Abhandlung,  welche  durch  den  von  Roux  so  heftig  an- 
gegriffenen Passus  eingeleitet  wurde ,  trägt  die  Ueberschrift :  Ent- 
wicklung von  Eiern,  bei  denen  eine  der  beiden  ersten  Furchungszellen 
zerstört  wurde.  Eine  Zerstörung  aber  hat  Roux  erst  in  der  zweiten 
Serie  seiner  Versuche,  welche  1887  vorgenommen,  im  September  des- 
selben Jahres  auf  der  Wiesbadener  Naturforscherversammlung  mit- 
getheilt  und  1888  ausführlich  veröffentlicht  wurden,  wirklich  herbei- 
geführt, indem  er  die  zum  Anstich  benutzte  Nadel  an  der  Flamme 
erhitzte.  Erst  1888  gibt  Roux  zum  ersten  Male  an,  dass  er  durch 
Zerstörung  bestimmter  Zellen  einen  Hemiembryo  lateralis  sinister 
oder  dexter,  einen  Hemiembryo  anterior  oder  posterior  wi  11k  ürlie  h 
erzeugen  könne,  wie  Chabry  dies  an  Ascidieneiern  erreicht  und 
1887  veröffentlicht  hat.  Erst  seine  1888  veröffentlichte  Arbeit  trägt 
daher  auch  den  Titel :  Ueber  die  künstliche  Hervorbringung  „halber" 
Embryonen  durch  Zerstörung  einer  der  beiden  ersten  Furchungszellen. 


—     202     — 

Gegen  die  von  mir  jetzt  im  Text  gegebene  ausführlichere  Dar- 
stellung (S.  110—114),  in  welcher  auch  die  Arbeit  aus  dem  Jahre  1885 
erwähnt  ist,  wird  Roux  wohl  keinen  Einwand  mehr  zu  erheben  haben. 

Ueberrascht  war  ich  in  einem  Aufsatz  von  Roux  aus  dem  Jahre 
1896  (A.  f.  E.  S.  458),  in  Avelchem  er  sich  wieder  über  dievonBenda 
gegebene  Darstellung  der  Geschichte  der  durch  Anstich  erzeugten 
Hemiembryonen  mit  Entrüstung  beschwert,  zu  lesen,  dass  ich  in 
Folge  seiner  Einsprache  meine  Darstellung  zurückgenommen  habe. 
Mir  ist  von  einer  solchen  Zurücknahme  nichts  bekannt,  da  ich  hier 
zum  ersten  Male  wieder  auf  die  Chabry-Roux'schen  Versuche 
eingegangen  bin.  Ich  muss  daher  Roux  ersuchen,  durch  Angabe 
der  Stelle,  welche  er  bei  seiner  Bemerkung  im  Auge  hat,  meinem 
Gedächtniss  nachzuhelfen. 

5)  (S.  117).  Als  ich  in  den  Sitzungsberichten  der  Berliner 
Akademie  die  Ergebnisse  meiner  „experimentellen  Untersuchungen 
über  die  ersten  Theilungen  des  Froscheies  und  ihre  Beziehungen  zu 
der  Organbildung  des  Embryo"  kurz  veröffentlichte  (18.  Mai  1893), 
erschien  sofort  im  anatomischen  Anzeiger  (5.  August  1893)  ein 
Artikel  von  Roux,  in  welchem  er  sich  theils  gegen  die  Richtigkeit 
und  Bedeutung  meiner  Experimente  wendet,  theils  erklärt,  dass  er 
ganz  dieselben  Versuche  ohne  Ausnahme  in  den  Jahren  1885 — 1887 
wiederholt  angestellt  habe,  ohne  ihre  Ergebnisse  bisher  publieirt  zu 
haben.  Er  kündigt  zugleich  die  demnächst  erfolgende-  Publication 
seines  Versuchsmaterials  an  und  bemerkt  dazu  (G.  A.  S.  921):  „Ich 
glaube  das  Erscheinen  von  O.  Hertwig's  definitiver  Abhandlung 
nicht  abwarten  zu  müssen ,  da  mein  Vei-suchsmaterial  so  reich  ist, 
dass  0.  Hertwig  in  dem  einen  Frühjahre  dieses  Jahres  kaum  etwas 
gesehen  haben  dürfte,  was  mir  im  Laufe  mehrerer  Frühjahre  nicht 
vorgekommen  wäre." 

Die  angekündigte  Arbeit  erschien  aber  nicht;  dagegen  erfolgte 
bei  der  Mittheilung  seiner  Methoden  im  anatomischen  Anzeiger  die 
Erklärung  (G.  A.  S.  960):  „Zu  der  angekündigten  ausführlicheren 
Mittheilung  über  diese  Versuche  bin  ich  in  Folge  anderweiter  Inan- 
spruchnahme noch  nicht  gekommen.  Dieselbe  erscheint  mir  jetzt 
auch  weniger  dringlich,  weil  inzwischen  G.  Born  eine  Arbeit 
publieirt  hat,  in  der  über  die  gleichen  Versuche  ausfuhrlich  be- 
richtet wird."  Die  Motivirung  der  Nichtdringlichkeit  erscheint  etwas 
eigentümlich,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  Born  in  seinen  gleich- 
zeitig mit  mir  ausgeführten  Experimenten  fast  zu  genau  denselben 
Ergebnissen  gelangt  ist,  wie  ich. 


—     203     — 

Bei  dieser  Gelegenheit  berichtigt  Roux  einen  Irrthum,  der  ihm 
bei  seinen  früheren  Deformationsversuchen  vorgekommen  war  (s.  972). 

Da  auch  bis  Ende  1896  die  angekündigte  Abhandlung  von 
Roux  nicht  erschienen  ist,  wird  wohl  auf  ihre  Veröffentlichung  und 
auf  eine  Berichtigung  meiner  angeblichen  Irrthümer  überhaupt  nicht 
mehr  zu  rechnen  sein. 

6)  (S.  124).  In  meiner  Untersuchung  über  „den  Werth  der 
ersten  Furchungszellen  etc."  habe  ich  genau  angegeben,  in  welcher 
Weise  ich  mir  das  Material  für  meine  Beobachtungen  verschafft 
habe,  und  habe  an  einer  Stelle  noch  ausserdem  ausdrücklich  be- 
merkt: „Da  mir  einerseits  die  Müsse  zu  einer  continuirlichen,  über 
einen  längeren  Zeitraum  ausgedehnten  Beobachtung  fehlte,  anderer- 
seits auch  die  Lösung  anderer  Aufgaben  mein  Zweck  war,  so  habe 
ich  nach  dieser  Richtung  meine  Untersuchung  nicht  ausgedehnt." 
Roux  hat  es  nicht  genügt,  auf  diese  meine  Erklärung  hinzuweisen 
(G.  A.  S.  964),  aus  welcher  schon  hervorgeht,  dass  ich  die  Ent- 
wicklung nicht  in  continuo  Tag  und  Nacht  verfolgt  habe,  sondern 
hat  sich  noch  bemüssigt  gesehen,  in  meinem  Institute  Nachforschungen 
über  meine  Arbeitszeit  anzustellen.  Er  bemerkt  (S.  950):  „Da  es 
wesentlich  zur  Aufklärung  der  Sachlage  dient,  und  da  viele  Autoren 
trotz  der  hier  erfolgten  Darlegung  der  Fehlerquellen  durch  die  be- 
stimmten Behauptungen  0.  Hertwig's  sich  haben  irre  führen  lassen, 
so  halte  ich  es  im  Interesse  der  Wissenschaft  zur  Verbreitung  der 
Wahrheit  für  das  geringere  Uebel,  die  Indiscretion  zu  begehen  und 
statt  seiner  mitzutheilen,  dass  0.  Hertwig,  nach  mir  von  compe- 
tenter  Seite  gewordener  Information,  gewohnter  Weise,  auch  zur 
Zeit  dieser  Versuche  allein  von  8 — 3  Uhr  täglich  im  Institute  an- 
wesend war,  dass  seine  täglichen  Beobachtungen  also  durch  je  eine 
17  Stunden  lange  Pause  unterbrochen  waren." 

Roux  scheint  bei  der  Veröffentlichung  seiner  in  meinem 
Institut  angestellten  Recherchen  gar  nicht  zu  empfinden,  wie  sehr 
er  sich  selbst  dadurch  bloss  stellt.  Will  er  vielleicht  noch  einen 
Ueberwachungsdienst  in  meinem  Institut  organisiren?  Und  was 
glaubt  er  denn  im  vorliegenden  Falle  mit  der  Veröffentlichung  von 
Verhältnissen ,  die  ihn  absolut  nichts  angehen,  erreicht  zu  haben? 
Die  zeitliche  Dauer  der  Beobachtungen  hat  für  die  Werthschätzung 
der  von  mir  ermittelten  Thatsachen  gar  keine  Bedeutung.  Denn  für 
das,  was  ich  habe  ermitteln  wollen  und  ermittelt  habe,  ist  ein  über 
Tag  und  Nacht  ausgedehntes  Studium  der  sich  entwickelnden  Eier 
nach  meiner  Ansicht  vollkommen  überflüssig;  es  genügt  vollständig, 


204    — 

von  dem  operirten  Eimaterial  von  Zeit  zu  Zeit  Partien  auf  den 
wichtigen  Stadien  in  Conservirungsflüssigkeiten  einzulegen  und  dann 
die  einzelnen  Objecte  auf  ihre  Organisation  durch  Betrachtung  von 
der  Fläche  und  nach  Zerlegung  in  Schnittserien  zu  untersuchen. 

7)  (S.  160).  Roux  bringt  gegen  Forscher,  die  anderer  Meinung 
wie  er  sind,  zwei  jetzt  schon  typisch  gewordene  Klagen  und  Be- 
schwerden vor.  Seine  eine  Beschwerde  ist,  dass  Driesch,  Ver- 
worn  und  ich  seine  Ansichten  einseitig  oder  ungenau  darstellten  oder 
sogar  Unrichtiges  über  sie  mittheilten  (G.  A.  S.  957,  997,  1006,  A.  f. 
E.  Bd.  III  S.  428,  Bd.  IV  S.  327,  341).  Man  vergleiche  hierüber 
zum  Beispiel  den  auf  S.  146  citirten  Ausspruch  von  Roux.  Seine 
zweite  Beschwerde  ist,  dass  andere  Forscher  seine  Arbeiten 
nicht  mit  genügender  Sorgfalt  lesen  (s.  Zusatz  4).  Ich  bemerke 
daher,  dass  ich  mich  bei  der  Darstellung  der  Ansichten  von  Roux 
meist  seiner  eigenen  Worte  bedient  habe  und  häufig  besonders 
wichtige  Sätze  in  der  Originalfassung  wiedergegeben  habe.  Da  aber 
Pioux  es  liebt,  Ansichten  und  Lehrsätze  auszusprechen,  deren  Sinn 
er  darauf  wieder  durch  diesen  oder  jenen  Zusatz  unter  der  Hand 
umwandelt  oder  sogar  umkehrt ,  wie  wir  es  in  der  zweiten  Studie 
gesehen  haben,  da  er  auch  nicht  allzu  selten  Widersprechendes  neben 
einander  behauptet,  so  ist  es  allerdings  nicht  immer  leicht,  seine 
wechselnden  Meinungen  ganz  erschöpfend  darzustellen.  Auch  wird 
eine  Verständigung  dadurch  unmöglich  gemacht,  dass  wir  die  ge- 
künstelten und  nur  für  seine  Lehre  zugeschnittenen  Unterscheidungen 
einer  ganz  normalen,  einer  typischen  und  einer  atypischen  Ent- 
wicklung, ferner  seine  Unterscheidung  von  Selbstdifferenzirung  und 
abhängiger  Differenzirung,  von  Reserveidioplasma  und  Anachronis- 
mus nicht  als  berechtigt  gelten  lassen  können ,  vielmehr  darin  nur 
Versuche  sehen ,  unhaltbar  gewordene  Theorien  der  klaren  Sprache 
neu  ermittelter  Thatsachen  zu  entziehen. 

Wie  es  im  Uebrigen  Roux  selbst  mit  dem  Stadium  und  der 
Berücksichtigung  der  Untersuchungen  anderer  Forscher  hält,  das 
möge  man  aus  dem  zweiten  und  dritten  Zusatz  und  aus  dem  der 
zweiten  Studie  beigefügten  Ausspruch  (S.  132)  ersehen. 

Auch  sei  in  der  Beziehung  noch  auf  die  von  Driesch  erhobene 
Beschwerde  hingewiesen  (A.  f.  E.  Bd.  IV  S.  78):  „Wie  kommt  es 
denn,  so  wird  man  verwundert  fragen,  dass  Roux,  anstatt  dieses 
erfreuliche,  nicht  gerade  häufige  Factum  einer  Harmonie 
unserer  Ansichten  zu  constatiren ,  im  Gegentheil  eine  aus- 
gedehnte,   unnöthig  gereizte  und  an  recht  unbedachtsamen  Worten 


205     — 

reiche  Polemik  gegen  mich  eröffnet?  Hier  wird  wohl  wieder  eine 
Folge  der  bei  Roux  so  häufigen  ungenügenden  Beachtung 
fremder,  speciell  gegnerischer  Schriften  liegen,  welcher 
Mangel  u.  A.  auch  auf  S.  427,  435,  449  seiner  neuesten  Arbeit  zu 
Tage  tritt." 

8)  (S.  170).  Da  ich  die  Keimplasmatheorie  von  Weis  mann 
und  die  Mosaiktheorie  von  Roux,  die  Lehren,  dass  die  im  Ent- 
wicklungsprocess  entstehenden  Veränderungen  durch  qualitativ  un- 
gleiche, im  Voraus  bestimmte  Theilungen  der  Kernsubstanz  ver- 
ursacht seien,  als  eine  sachlich  unbegründete  und  an  sich  sehr  un- 
wahrscheinliche Hypothese  nicht  annehmen  kann,  hat  Roux  mir 
schon  einige  Male  gleichsam  als  Trumpf  die  Frage  vorgelegt:  „Wo- 
durch kommt  das  System  an  »typischer«  Gestaltung  in  die  ganze, 
nach  0.  Hertwig  vollkommen  gleichartige  Zellenmasse?"  (G.  A. 
S.  865).  Oder  an  anderer  Stelle  (G.  A.  S.  1006):  „Wenn  nach  O.  Hert- 
wig alle  Furchungszellen  einander  »ganz«  oder  nach  Driesch 
»wesentlich«  gleich  sind,  so  entsteht  die  Frage,  wodurch  dann  aus 
der  Gesammtheit  dieser  vielen  Zellen,  von  denen  jede  einzelne 
dem  ganzen  Ei  gleicht,  also  auf  ein  Ganzes  eingestellt  ist,  ein  ein- 
ziges typisches  Ganze  werde.  Woher  kommt  auf  einmal  die  dazu 
nöthige   typische  Ungleichheit?" 

Die  Antwort  hierauf  ist  keine  schwere.  Erstens  ist  die  einzelne 
Furchungszelle,  welche  in  Folge  des  Entwicklungsprocesses  aus  dem 
Ei  entstanden  und  mit  anderen  Zellen  zu  einer  bestimmten  Embryonal- 
form verbunden  ist,  nicht  „auf  ein  Ganzes  eingestellt,"  wie  Roux 
sagt,  vielmehr  wegen  ihrer  Verbindung  mit  anderen  Zellen 
nur  noch  T h e i  1  eines  sich  entwickelnden  Systems,  in 
welchem  ihre  Verwendung  auf  jeder  weiteren  Phase  des 
Processes  vom  Ganzen  aus  bestimmt  wird. 

Was  zweitens  die  Frage  betrifft,  woher  bei  Verwerfung  der 
Lehre  von  Roux  auf  einmal  die  zur  Entwicklung  nöthige  typische 
Ungleichheit  kommen  solle,  so  ist  nicht  richtig,  dass  nach  meiner 
Theorie  „aus  vielen  vollkommen  unter  sich  gleichen  Theilen  durch 
nicht  typisch  vermittelte,  unbekannte  Ursache  plötzlich  typisch  Un- 
gleiches entstehe".  Denn  es  liegt  doch  auf  d?r  Hand,  wie  ich  früher 
auseinander  gesetzt  habe,  dass  in  Folge  der  Theilungsfähigkeit  der 
Zelle  selbst  Schritt  für  Schritt  Verschiedenheiten  producirt  werden, 
dass  ein  aus  zwei  Zellen  bestehendes  Ei  etwas  ganz  Anderes  ist,  als 
das  einfache  Ei  und  sich  auch  in  vieler  Hinsicht  der  Aussenwelt 
gegenüber  verschieden  verhält,  dass  ebenso  wieder  neue  Verschieden- 


—     206     — 

heiten  und  Ungleichheiten  mit  dem  Stadium  der  Viertheilung,  Acht- 
theilung  etc.,  der  Morula  und  Blastula  im  Vergleich  zu  jedem  voraus- 
gegangenen Stadium  durch  den  Vermehrungsprocess  der  Zellen  selbst 
entstehen.  Das  Ei  verändert  so  Schritt  für  Schritt  seine  Natur  und 
seine  Eigenschaften  der  Aussenwelt  gegenüber,  welche  daher  auch 
auf  jeder  Stufe  wieder  in  anderer  Weise  wegen  der  veränderten 
Angriffspunkte  einwirkt.  Also  trifft  auch  die  Bemerkung. von  Roux 
nicht  zu,  dass  ich  „durch  nicht  typisch  vermittelte,  unbekannte  Ur- 
sachen plötzlich  typisch  Ungleiches  entstehen  lasse".  Allerdings  kann 
ich  physikalisch-chemisch  nicht  erklären,  warum  sich  die  Keimblase 
zur  Gastrnla  umwandeln  muss  oder  die  Rückenwülste  entstehen ;  ist 
aber  etwa  irgend  ein  anderer  Forscher,  etwa  Roux,  im  Stande,  uns 
eine  solche  Erklärung  zu  geben?  Müssen  wir  uns  nicht  alle  hier 
bescheiden,  dass  die  Ursachen  für  den  Eintritt  dieser  Form  Wandlungen 
uns  zunächst  unbekannt  sind  und  vielleicht  für  noch  sehr  lange 
Zeiten  bleiben  werden? 

Ueber  das,  was  ich  unter  Isotropie  des  Eies  verstehe,  habe  ich 
mich  schon  auf  S.  106  ausgesprochen,  so  dass  ich  hierauf  nicht  noch 
einmal  zurückzukommen  habe.  Mein  Standpunkt  ist  hier  im  Wesent- 
lichen der  gleiche,  welchen  auch  Driesch  einnimmt. 

Auch  durch  Ablehnung  der  qualitativ  ungleichen  Kerntheilung 
vertrete  ich  nicht  die  Ansicht,  dass  die  Kernsubstanz  etwas 
absolut  Unveränderliches  sei,  und  verweise  ich  auch  in  dieser  Be- 
ziehung auf  früher  Gesagtes  (Nr.  26  S.  142),  da  ein  genaueres  Ein- 
gehen auf  dieses  noch  nicht  spruchreife  Thema  mir  zur  Zeit  zweck- 
los zu  sein  und  zu  sehr  den  Boden  des  Thatsächlichen  zu  verlassen 
scheint. 

9)  (S.  177).  Das  Ei  der  Ctenophoren  hat  Roux  im  Hinblick 
auf  Experimente  von  Chun  als  eine  Stütze  für  seine  Mosaiktheorie 
verwerthet.  Bei  Beurtheilung  der  etwas  abweichenden  Verhältnisse, 
welche  man  hier  bei  Entwicklung  von  Theilstücken  beobachtet, 
ist  die  eigenthümliche  Organisation  des  Eies  in  Rechnung  zu  ziehen. 
Wie  schon  aus  den  älteren  Untersuchungen  von  Kowalevsky 
(Entwicklungsgesch.  der  Rippenquallen.  Memoires  de  l'Acad.  imp. 
d.  scienc.  de  St.  Petersbourg.  T.  X.  1866)  und  mir  (Beiträge  zur 
Kenntniss  etc.  Morph. -Jahrb.  Bd.  IV  S.  187)  hervorgeht,  ist  das 
Ctenophorenei  ausserordentlich  reich  an  Nahrungs- Dotter,  welcher 
etwa  das  speeifische  Gewicht  des  Wassers  hat,  aus  sehr  grossen 
Stücken  besteht,  die  Mitte  dc±  Eies  einnimmt  und  nach  aussen  von 
einer  dicken  zusammenhängenden  Protoplasmaschicht  wie  von   einem 


—     207     — 

besonderen  Mantel  eingeschlossen  wird  (s.  1.  c.  Taf.  IX  Fig.  8).  In 
dieser  protoplasmatischen  Rindenschicht  liegt  nahe  der  Bildungs- 
stelle der  Richtungskörperehen  der  befruchtete  Eikern,  welchen  ich 
zum  ersten  Mal  bei  Gegenbauria  cordata  nachgewiesen  habe;  er 
liegt  also  fast  unmittelbar  an  der  Oberfläche  des  Eies.  Bei  den 
ersten  Theilüngen  erhalten  die  halben  und  darauf  die  viertel  Stücke 
im  Bereich  der  Theilebenen  nur  ein  feines  Protoplasmahäutchen, 
während  nach  Aussen  das  Protoplasma  als  dicke  Bindenschicht  er- 
halten bleibt.  Diese  Differenzen  in  der  Yertheilung  von  Protoplasma 
und  Dotter  scheinen  sich  nicht  ausgleichen  zu  können ,  wenn  man 
ein  Ei  nach  der  ersten  oder  zweiten  Theilung  in  Stücke  trennt. 
Wahrscheinlich  entstehen  Theilstücke,  bei  denen  die  Dottermasse 
nicht  mehr,  wie  es  normaler  Weise  der  Fall  sein  sollte,  ringsum  von 
einem  dicken  Protoplasmamantel  eingeschlossen  ist.  Sie  sind  und 
ble'ben,  wenn  meine  Deutung  zutrifft,  in  der  Vertheilungsweise  von 
Protoplasma  und  Dotter  mit  einem  Defect  versehen.  Dieser 
Umstand  übt  dann  naturgemäss  auf  die  weitere  Entwicklung  seinen 
Einfluss  mit  aus  und  bewirkt,  dass  aus  dem  Theilstück  sich  keine 
normale  Ctenopliorenlarve  züchten  lässt.  Doch  entstehen  ebenso 
wenig  reine  halbe,  dreiviertel  oder  viertel  Larven  (s.  Hans  Driesch 
und  Morgan,  Von  der  Entwicklung  einzelner  Ctenophoren- 
blastomeren.  Arch.  f.  Entw.  Bd.  II  S.  204).  Aehnliches  vermuthet 
Ziegler  (Verhandl.  d.  deutsch,  zool.  Gesellschaft  1896  S.  153  Anm.). 

Dass  das  eigenthümliche  Verhalten  des  Ctenophoreneies  keine 
Stütze  für  die  Mosaiktheorie  von  Boux  abgibt,  haben  Driesch  und 
Morgan  noch  in  schlagender  Weise  nachgewiesen,  indem  sie  die 
Eier  vor  der  Theilung  in  Stücke  zerlegten  und  auch  auf  diesem 
Wege  ganz  ähnliche  defecte  Theillarven  erzielten.  Die  genannten 
Autoren  schliessen  daher  die  Darstellung  ihrer  interessanten  Ex- 
perimente mit  dem  Satz:  „Zu  zeigen,  dass  Defecte  an  Larven  auf 
protoplasmatischer  Basis  beruhen  und  in  keinem  Falle  geeignet  sind, 
die  Lehre  von  qualitativer  Kerntheilung  zu  stützen,  das  war  unsere 
eigentliche  Aufgabe,  und  diese  konnten  wir  mit  voller  Sicherheit 
lösen;  denn  diejenigen  defecten  Larven,  welche  wir  aus  isolirten 
Blastomeren  aufzogen,  waren  denjenigen  ausserordentlich  ähnlich 
oder  gar  gleich  gestaltet,  welche  sich  aus  ungefurchten  Eiern,  denen 
Plasma  genommen,  aber  das  volle  Kernmaterial  belassen  ward,  ent- 
wickelten" (1.  c.  223). 

In  derselben  Richtung  sind  nach  meiner  Meinung  die  Ex- 
perimente vonCrampton,  die  am  Ei  eines  Gasteropoden  vorgenommen 


—     208     — 

wurden,  zu  beurtheilen  (H.  E.  Crampton,  Experimental  studies  on 
gasteropod  development.  Arch.  f.  Entw.  Bd.  III  S.  1  und  Edm. 
Wilson,  On  cleavage  and  mosaik-work.     Ebenda  Bd.  III  S.  19). 

10)  (S.  178).  Von  verschiedenen  Seiten  ist  öfters  hervorgehoben 
worden,  dass  Fälle  von  Ei-  und  Zelltheilung  vorkommen,  welche 
sich  den  von  mir  aufgestellten  Regeln  nicht  unterordnen  lassen ;  so 
neuerdings  wieder  von  Wilson  (The  mosaik  theory  of  development. 
Biological  lectures  at  the  marine  biolog.  labor.  of  Wood's  holl.  1893. 
Boston.  S.  12)  und  von  Jennings  (The  early  development  of  As- 
planchna.  Bull,  of  Mus.  of  comp.  Zool.  at  Harvard  College.  Vol.  XXX. 
1896).  Das  ist  richtig  und  mir  wohlbekannt.  Als  eine  der  auffälligsten 
und  häufigsten  Ausnahmen  brauche  ich  nur  die  Stellung  der  Richtungs- 
spindel im  thierischen  Ei  zu  nennen.  Deswegen  scheinen  mir  aber 
die  von  mir  aufgestellten  Regeln  von  ihrer  Bedeutung  nichts  zu 
verlieren,  sondern  scheinen  mir  die  Ausnahmen  nur  darauf  hinzu- 
weisen, dass  in  einzelnen  Fällen  noch  besondere,  uns  unbekannte 
Ursachen  die  abweichende  Stellung  der  Kernspindel  in  der  Zelle 
mit  bestimmen.  Man  vergleiche  auch  die  neueste  Schrift  von 
Ziegler,  welcher  ganz  meinen  Standpunkt  theilt.  (Einige  Beobach- 
tungen zur  Entwicklungsgesetz  d.  Echinodermen.  Verband!,  d.  deutsch, 
zoolog.  Gesellsch.  1896.) 

Ueber  die  Organisation  der  Eizelle  und  ihr  Verhältniss  zu  dem 
sich  aus  ihr  entwickelnden  Embryo  haben  eine  ähnliche  Auffassung, 
wie  ich,  Hans  Driesch  und  Edmund  Wilson.  Ich  verweise 
besonders  auf  die  lesenswerthe  Schrift  von  Driesch:  Betrachtungen 
über  die  Organisation  des  Eies  und  ihre  Genese  (Arch.  f,  Entw.-Mech. 
Bd.  IV),  sowie  auf  das  eben  erschienene  vortreffliche  Lehrbuch  von 
Wilson,  „The  cell  in  development  and  inheritance".  New- York  1896. 


Literatur. 


Zur  B  eachtung!  In  einzelnen  Citaten,  welche  den  angeführten 
Schriften  von  Dreyer,  Lotze,  Roux,  Schopenhauer  etc.  ent- 
nommen sind,  habe  ich  einzelne  Worte  und  Sätze,  auf  welche  ich 
die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  besonders  hinlenken  will,  im  Text 
gesperrt  drucken  lassen,  auch  wenn  dies  in  den  ( )riuinalarbeiten 
nicht  geschehen  ist. 

1)  Benedikt.  Ueber  die  Bedeutung  der  Kraniometrie  für  die 
theoretischen   und   praktischen   Fächer   der  Biologie.    Tageblatt  der 


—     209     — 

60.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte  in  Wiesbaden. 
1887.  S.  197.  —  2)  Benda.  Teratologie  in  Ergebnisse  der  allgemeinen 
pathologischen  Morphologie  und  Physiologie  von  Lubarsch  und  Oster- 
tag.  Wiesbaden  1895.  —  3)  Gr.  Born.  Neue  Compressionsversuche 
an  Froscheiern.  Jahresbericht  der  Schlesischen  Gesellschaft  für  vater- 
ländische Cultur.  1894.  —  3a)  Boveri.  Ein  geschlechtlich  erzeugter 
Organismus  ohne  mütterliche  Eigenschaften.  Sitz.-Ber.  d.  Ges.  f. 
Morph,  und  Phys.  München  V.  —  4)  L.  Chabry.  Embryologie 
normale  et  teratologique  des  ascidies.  Theses  presentees  ä  la  faculte 
des  sciences  de  Paris.  Juli  1887.  —  5)  Yves  Delaire.  Une  science 
nouvelle:  la  Biomecanique  (Revue  generale  des  sciences  pures  et 
appliquees.  6e  annee.  Paris  (1895).  Citirt  nach  L.  v.  Graff.  Die 
Zoologie  seit  Darwin.  Graz  1896.  —  6)  Dreyer.  Ziele  und  Wege 
biologischer  Forschung.  1892.  —  7)  Derselbe.  Entwicklungs- 
mechanische Studien  I — IV.  Zeitschrift  f.  wissenschaftl.  Zool.  Bd.  LIII, 
LV.  —  7a)  Derselbe.  Von  der  Entwicklung  einzelner  Ascidien- 
blastomeren.  Arch.  f.  Entwicklungsmechanik  der  Organismen.  Bd.  I. 
1895.  —  8)  H.  Driesch.  Betrachtungen  über  die  Organisation  des 
Eies  und  ihre  Genese.  Arch.  f.  Entw.-Mech.  Bd.  IV.  1896.  — 
9)  E.  Dn  Bois-Reymond.  Reden.  1)  Bd.  I.  1886.  2)  Bd.  IL  1887. 
1.  Ueber  die  Lebenskraft,  1887.  Nr.  1.  2)  Akademische  An- 
sprachen. 1887.  S.  561.  —  10)  Eucken.  Geschichte  und  Kritik 
der  Grundbegriffe  der  Gegenwart.  Leipzig  1878.  S.  164.  — 11)  Feclmer. 
Ueber  die  mathematische  Behandlung  organischer  Gestalten  und  Pro- 
cesse.  —  12)  Derselbe.  Ueber  das  Causalgesetz.  Berichte  über  die 
Verhandl.  d.  königl.  sächs.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  zu  Leipzig,  math.- 
phys.  Cl.  1849.  —  13)  Knuo  Fischer.  System  der  Logik  und  Meta- 
physik. 1865.  S.  373.  —  14)  Rudolf  Fick.  Ueber  die  Reifung  und 
Befruchtung  des  Axolotl-Eies.  Zeitschrift  f.  wissenschaftl.  Zool. 
Bd.  LVI.  —  15)  Haeckel.  Studien  zur  Gasü*aeatheorie.  Jenaische 
Zeitschrift  für  Naturw.  Bd.  VIII,  IX.  XI.  —  16)  Haeckel.  Ziele 
und  Wege  der  heutigen  Entwicklungsgeschichte.  Jenaische  Zeit- 
schrift. Bd.  X.  —  17)  Amadeo  Herlitzka.  Contributo  allo  studio 
della  capacita  evolutiva  dei  due  primi  blastomeri  nell'  uovo  di  tritone. 
Arch.  f.  Entw.-Mech.  Bd.  IL  —  18)  Oscar  Hertwig,  Beiträge  zur 
Kenntniss  der  Bildung,  Befruchtung  und  Theilung  des  thierischen 
Eies.  Morph.  Jahrb.  Bd.  I.  1875.  —  19)  Derselbe.  Welchen  Ein- 
fhjss  übt  die  Schwerkraft  auf  die  Theilung  der  Zellen?  Jena  1884.  — 
20)  Derselbe.  Das  Problem  der  Befruchtung  und  der  Isotropie  des 
Eies  eine  Theorie  der  Vererbung.  Jena  1884.  —  21)  Derselbe.  Ver- 
lier twig,  Zeit-  und  Streitfragen.    II.  14 


—     210     — 

gleich  der  Ei-  und  Hamenbildung  bei  Nematoden.  Arch.  f.  niikr. 
Anat.  Bd.  XXXVI.  1890.  -  22)  Derselbe.  Urmund  und  Spina 
bifida.  Ebenda  XXXIX.  1892.  —  23)  Derselbe.  Aeltere  und  neuere 
Entwicklungstheorien.  Ein  Vortrag.  Berlin  1892.  —  24)  Derselbe. 
Lehrbuch.  Die  Zelle  und  die  Gewebe.  1893.  —  25)  Derselbe. 
Ueber  den  Werth  der  ersten  Furchungszellen.  Arch.  f.  mikrosk. 
Anat.  Bd.  XLII.  1893.  —  26)  Derselbe.  Zeit-  und  Streitfragen 
der  Biologie.  Heft  I.  Präformation  oder  Epigenese?  Grundzüge 
einer  Entwicklungstheorie  der  Organismen.  Jena  1894.  —  27)  Der- 
selbe. Die  Tragweite  der  Zellentheorie.  Die  Aula.  Wochenblatt 
für  die  akademische  Welt.  Jahrgang  I.  Nr.  2  und  3.  1895.  — 
28)  Kant's  sämmtliche  Werke.  Herausgegeben  von  Hartenstein. 
1867.     Bd.  IV,   V.  29)    Gustav    Kirchhoff.     Vorlesungen   über 

mathematische  Physik  und  Mechanik.  1877.  —  31)  Justns  von 
Liebig.  Die  organische  Chemie  in  ihrer  Anwendung  auf  Physiologie 
und  Pathologie.  1842.  S.  200.  —  32)  Jacques  Loeb.  Unter- 
suchungen zur  physiologischen  Morphologie.  Würzburg  1891,  1892.  — 
33)  Hermann  Lotze.  Allgemeine  Pathologie  und  Therapie  als 
mechanische  Naturwissenschaften.  Leipzig  1842  (1).  —  34)  Derselbe. 
Leben,  Lebenskraft.  Wagner's  Handwörterbuch  der  Physiologie 
Bd.  I.  1842  (2).  —  35)  Derselbe.  Allgemeine  Physiologie  des 
körperlichen  Lebens.  Leipzig  1851  (3).  —  36)  Ernst  Mach.  Die 
Mechanik  in  ihrer  Entwicklung.  Leipzig  1883.  —  37)  J.  R.  Meyer. 
Die  Mechanik  der  Wärme.  2.  Aufl.  1874.  —  38)  Morgan.  Half- 
embryos and  Whole-embryos  from  one  of  the  first  two  Blastomeres 
of  the  frog's  egg.  Anat.  Anzeig.  Bd.  X.  Derselbe.  Experimental 
studies  on  Teleost  egg.  Anat.  Anz.  Bd.  VIII.  Derselbe.  Experi- 
mental studies  on  echinoderm  egg.  Anat.  Anz.  Bd.  IX.  —  39)  Erik 
Müller.  Ueber  die  Regeneration  der  Augenlinse  und  Exstirpation 
derselben  bei  Triton.  Arch.  f.  mikrosk.  Anat.  Bd.  47.  1896.  — 
40)  Jobannes  Müller.  Zur  vergleichenden  Physiologie  des  Gesichts- 
sinnes. 1826.  —  41)  Nägeli.  Mechanisch-physiologische  Theorie  der 
Abstammungslehre.  1884.  —  42)  Pllüger.  Ueber  die  Einwirkung 
der  Schwerkraft  und  anderer  Bedingungen  auf  die  Richtung  der 
Zelltheilung.  Arch.  f.  die  gesammte  Physiologie.  Bd.  XXXIV.  — 
43)  Ranion  T.  Cajal.  Einige  Hypothesen  über  den  anatomischen 
Mechanismus  der  Ideenbildung,  der  Association  und  der  Aufmerksam- 
keit, Arch.  f.  Anatomie  und  Physiologie.  Anatom.  Abth.  1895. 
S.  367.  —  44)  Rauber.  Formbildung  und  Formstörung  in  der  Ent- 
wicklung von  Wirbclthieren.  Morph.  Jahrb.  Bd.  VI.  1880.  —  45)  Der- 


—     211     — 

selbe.  Neue  Grundlegungen  zur  Kenntniss  der  Zelle.  Morph.  Jahrb. 
Bd.  VIII.  1883.  —  46)  Wilhelm  Ronx.  Gesammelte  Abhandlungen 
über  die  Entwicklungsmechanik  der  Organismen.  Zweiter  Band. 
1895.  —  47)  Derselbe.  Aufgabe  der  Entwicklungsmechanik.  Arch. 
f.  Entwicklungsmechanik  d.  Organismen.  Bd.  I.  1895.  -  48)  Der- 
selbe. Ueber  den  „Cytotropisinus"  der  Furchungszellen  des  Gras- 
frosches Rana  fusca.  Ebendaselbst  Bd.  I.  —  49)  Derselbe.  Ueber 
die  Selbstordnung  (Cytotaxis)  sich  berührender  Furchungszellen  des 
Froscheies  durch  Zellenzusammenfügung,  Zellentrennung  und  Zellen- 
gleiten. Ebendaselbst  B.  III.  —  50)  Derselbe.  Ueber  den  Antheil 
von  „Auslösungen"  an  der  individuellen  Entwicklung.  Ebenda 
Bd.  IV.  —  51)  Matthias  Schieiden.  Grundzüge  der  wissenschaftl. 
Botanik.  1845.  Bd.  I.  S.  53  und  58.  —  52)  Schopenhauer.  Die 
Welt  als  Wille  und  Vorstellung.  Sämmtliche  Werke.  Bd.  1,  2,  3. 
Leipzig  1881.  Herausgeg.  von  Frauenstädt.  —  53)  Oscar  Schnitze. 
Die  künstliche  Erzeugung  von  Doppelbildungen  bei  Froscheiern  mit 
Hilfe  abnormer  Gravitationswirkung.  Arch.  f.  Entw. -Mech.  Bd.  I. 
1895.  —  54)  Schwalbe.  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der 
Anatomie  und  Physiologie.  Bd.  16  und  17.  Literatur  1887  und  1888. 
Dritte  Abtheilung.  Entwicklungsmechanik.  Referent  W.  Roux. 
S.  685 — 797.  —  55)  Th.  Schwann.  Mikroskopische  Untersuchungen 
über  die  Uebereinstimmung  in  der  Structur  und  dem  Wachsthutn  der 
Thiere  und  Pflanzen.  1839.  —  56)  Schwendend*.  Das  mechanische 
Princip  im  Bau  der  Monokotylen.  1874.  —  57)  Weismann.  Das 
Keimplasma.  Jena  1892.  S.  192.  —  58)  Georg  Wetzel.  Ueber  die 
Bedeutung  der  circulären  Furche  in  der  Entwicklung  der  Schultze- 
schen Doppelbildungen  von  Rana  fusca.  Arch.  f.  mikrosk.  Anat. 
Bd.  46.  1895.  —  59)  Whitman.  The  inadequacy  of  the  cell  theory 
of  development.  Wood's  Holl  Biol.  lectures.  1893.  ■  ■  60)  Wilson. 
Amphioxus  and  the  mosaik  theory.  Journal  of  Morph.  1893.  — 
61)  Caspar  Friedr.  Wolff.  Theoria  generationis  1759,  auch  deutsch 
herausgegeben  1764.  —  62)  Gustav  Wolff.  Entwicklungsphysiologiche 
Studien.  I.  Die  Regeneration  der  Urodelenlinse.  Arch.  f.  Ent- 
wicklungsmechanik.  Bd.  I.  1895.  —  63)  Raffaello  Zoja.  Sullo 
sviluppo  dei  blastomeri  isolati  delle  uova  di  alcune  meduse  e  di 
altri  organismi.  Arch.  f.  Entw. -Mech.  Bd.  II.  —  64)  Ziegler. 
Einige  Beobachtungen  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Echinodermen. 
Verhandl.  d.  deutsch,  zoolog.  Gesellschaft.     1896. 


Pierer'sche  Hofbuchdruekerei  Stephan  Geibel  &  Co.  in  Altenburg. 


Verlag-   von    GUSTAV  FISCHER   in   JENA. 


tj  j  •  Dr.  Oscar,  Professor  an  der  Universität  Berlin,  und  Dr.  Richard,  Professor 

rlCrtWig,  an  der  Universität  München,  Der  Organismus  der  Medusen  und 
seine   Stellung  zur  Keimblättertheorie,     mh  3  lithographischen  Tafein.  i878. 

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tt  1  •  Dr.  Richard,  Professor  der  Zoologie  und  Direktor  des  zoologischen  Museums 

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Die  Actinien  der  Challengerexpedition.    Mit  u  lithographischen  Tafein.  1882. 

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-i-)  i       John  ,   D.  Sc,  University  Lecturer  in  Comparative  Embryology  and  in  Vertebrate 

r>eaFCl,  zooiogy,  Edinburgh,  0n  certain  problems  of  Vertebrate  Embryology. 

1896.     Preis:   2  Mark. 

T3  /-k -\ rny»]        Dr.  Theodor,  Privatdocent  an   der  Universität  München.       Z6ll6n  -  otUÜIGn. 

JJ^  f     1887—90.     Heft  I.     Die  Bildung    der  Richtungskörper  bei   Ascaris   megalocephala 

und  Ascaris  lumbricoides.  (Aus  dem  Zoologischen  Institut  zu  München.)  Mit  4  lithographischen 
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der  Bildung  der  Richtungskörper  und  bei  der  Befruchtung.  Mit  3  lithographischen  Tafeln. 
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rLimer,  Tübingen,  Die  Entstehung   der  Arten  auf  Grund  von  Vererben 
erworbener  Eigenschaften  nach  den  Gesetzen  organischen  Wachsens. 

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C^rrinfZ.       T>r-  Karl>  Professor  an  der  Universität  in  Giessen,  Die    Spiele    der    Thiere. 
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Inhalt:  Vorwort.  —  Verzeichnis  der  wiederholt  benutzten  Schriften.  —  Erstes  Kapitel. 
Die  Erklärung  des  Spiels  durch  Kraltüberschuss.  —  Zweites  Kapitel.  Spiel  und  Instinct.  — 
Drittes  Kapitel.  Die  Spiele  der  Thiere:  Das  Experimentieren :  Bewegungsspiele;  Jagdspiele: 
;0  mit  der  lebenden  wirklichen  Beute,  b)  mit  der  lebenden  Scheinbeute,  c)  mit  der  leblosen 
Scheinbeute;  Kampfspiele:  a)  Neckerei,  b)  Balgerei  unter  jungen  Thieren.  c)  Spielende  Kämpfe 
unter  erwachsenen  Thieren:  Baukünste:  Pflegespiele;  Nachahmungsspiele;  Neugier.  —Viertes 
Kapitel.  Die  Spiele  der  Thiere  (Fortsetzung:  die  Liebesspiele).  -  Liebesspiele  unter  jungen 
Thieren.  Bewerbung  durch  Bewegungskünste;  Bewerbung  durch  das  /eigen  auffallender  oder 
schöner  Farben  und  Formen;  Bewerbung  durch  Geräusche  und  Töne:  Das  Co'iuettieren  der 
Weibchen.  —  Fünftes  Kapitel.     Die  Psychologie  der  thierischen  Spiele. 

T-TQ-fc^V-ioLr     Dr-  B  >  °-  ö-  Prof-  der  Zoolo-ie  f^rirM     Dr-  c- J-'  Piivatdocent  d-  Zo°- 

XT.cllodl"lVj   a.  d.  deutschen  Univ.  i.  Prag  und  V^UI  1,   logie  a.  d.  deutsch.  Univ.  i.  Prag, 

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Inhalt:  1.  Ueber  ein  dem  Saccus  vasculosus  entsprechendes  Gebilde  am  Gehirn  des 
Menschen  und  anderer  Säugetiere.  Tafel  I.  2.  Zur  Kenntnis  des  Gehirnganglions  und  des 
sensibien  Nervensystems  der  Polychäten.  Tafel  II  u.  III.  3.  Das  sensible  Nervensystem  der 
Crustaceen.  Tafel  IV— VI.  4.  Ueber  die  Hypophysis  von  Myxine.  Tafel  VII,  Fig.  1  u.  2. 
5.  Ueber  den  Bau  des  sog..  Parietalauges  von  Ammocoetes.  Tafel  VII,  Fig.  3 — 5.  6.  Ueber 
das  hintere  Ende  des  Rückenmarkes  bei  Amphi.oxus ,  Myxine  xmd  Petromyzon.  Tafel  VII  u. 
IX.  7.  Ueber  den  Bau  des  Rückenmarkes  der  Selachier.  Tafel  X— XII.  8.  Ueber  einige 
normal  durch  Ankylose  verschwindende  Kapselgelenke  zwischen  den  Bogen  der  Sacralwirbel. 
Tafel  XIII  9.  Ue'ber  Molluscum  contagiosum.  Tafel  XIV.  10.  Ueber  die  Vererbung  er- 
worbener Eigenschaften.    Tafel  XV.. 

Um  den  Käufern  dieses  und,  des  VT.  Bandes  die  Anschaffung  der 
vorhergehenden  Bände  zu  erleichtern,  ist  der  Preis  derselben  auf 
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Unbehaiin,  i»r.  Phn.  Johannes,  Versuch  einer  philosophischen  Selek- 
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Mit  19  Abbildungen  im  Text.    1892.    Preis:  12  Mark. 

Inhalt:  Ueber  die  Dauer  des  Lebens  (1882).  —  Ueber  die  Vererbung  (1883).  —  Ueber 
Leben  und  Tod  (1884).  —  Die  Kontinuität  des  Keimplasmas  als  Grundlage  einer  Theorie  der 
Vererbung  (1885).  —  Dio  Bedeutung  der  sexuellen  Fortpflanzung  für  die  Selexionstheorie  (1S86). 

—  Ueber   die  Zahl   der  Richtungskörper  und   über  ihre   Bedeutung   für  die  Vererbung  (1 

—  Vermeintliche    botanische   Beweise    für   eine    Vererbung    erworbener  Eigenschaften   (1888). 

—  Ueber  dio  Hypothese  einer  Vererbung  von  Verletzungen  (1889).  —  Ueber  den  Rückschritt 
in  der  Natur  (1889).  —  Gedanken  über  Musik  bei  Thieren  und  beim  Menschen  (1889).  —  Be- 
merkungen zu  einigen  Tagesproblemeu  (1890).  —  Amphimixis  oder  die  Vermischung  der  In- 
dividuen (1891). 

DaS    KeimplaSma,     eine  Theorie  der  Vererbung.    Mit  24  Abbildungen  im  Text.     1892. 

Preis:  11  Mark. 

Inhalt:  Einleitung:  A.  Historischer  Theil.  B.  Sachlicher  Theil.  Erstes  Bu«h: 
Materielle  Grundlage  der  Vererbungserscheinungen.  Kapitell.  Das  Keimplasma.  —  Zweites 
Buch:     Die    Vererbung    bei     eiuelterlicher    Fortpflanzung.      Kapitel    II.     Die    Regeneration. 

—  Kapitel  III.    Vermehrung   durch  Theilung.  —  Kapitel  IV.    Vermehrung  durch  Knospung. 

—  Kapitel  V.  Die  idioplasmatische  Grundlage  des  Generationswechsels.  —  Kapitel  VI.  Die 
Bildung  der  Keimzellen.  —  Kapitel  VII.  Zusammenfassung  des  zweiten  Buches.  —  Drittes 
Buch:  Die  Vererbungserscheinungen  bei  geschlechtlicher  Fortpflanzung.  Einleitung.  Wesen 
der  sexuellen  Fortpflanzung.  —  Kapitel  VIII.  Veränderung  des  Keimplasmas  durch  Amphi- 
mixis.— Kapitel  IX.     Die  Ontogenese  unter  der  Leitung  des  amphimixotischen  Keimplasmas. 

—  Kapitel  X.  Die  Erscheinung  des  Bückschlages,  abgeleitet  aus  dem  amphimixotischen 
Keimplasma.  —  Kapitel  XI.  Dimorphismus  und  Polymorphismus.  —  Kapitel  XII.  Zweifel- 
hafte Vererbuneserscheinungen.  —  Viertes  Buch:  Die  Abänderung  der  Arten  in  ihrer  idio- 
plasmatischen  Wurzel.  Kapitel  XIII.  Die  vermeintliche  Vererbung  erworbener  Eigen- 
schalten.        Kapitel  XIV.    Variation. 

Aeussere  Einflüsse  als  Entwicklungsreize.   1894.  Preis:  aMark. 

Neue  Gedanken  zur  Vererbungsfrage.    Eine  Antwort  an  Herbert  Spencer. 

ls'iij.     Preis:   1  Mark  M  Vi. 

— —   lieber    Germinal-SeleCtiOn.      Eine  Quelle  bestimmt  gerichteter  Variationen.    1896. 
Preis:  -J.  Mark. 

Pierer'sche  Hofbuchdruckerei  Stephan  Geibel  A.  Co.  in  Altenburg.