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Full text of "Zellen- und gewebelehre, morphologie und entwicklungsgeschichte"

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DIE  KULTUR  DEF 

11  ER  AU  S  G  K  G  EBEN     A^  O  N 


R  GEK.:iEN\VART 


PA  U  L    H  I  N  N  E  B  JE  R  G 


ZELLEN^  UND  GEWEBELEHRE 
MORPHOLOGIE  UND 


r/^'-'v  ("'■  i'"-^  ^™^  o  *"~^r   T  T  <♦'■-^r   t^-t'^i"> 


ENTWICKLUNGSGESCHICHTE 


IL:  ZOOLOGISCHER  TEIL 


VERLAG  VON  B.O;  mUBNER  IN  LEIPZIG  UND  BERLIN 


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DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 

IHRE  ENTWICKLUNG  UND  IHRE  ZIELE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  PAUL  HINNEBERG 

In  4  Teilen.    Lex.-8.   Jeder  Teil  in  inhaltlich  vollständig  in  sich  abgeschlossenen 
und  einzeln  käuflichen  Bänden  (Abteilungen).    Geheftet  und  in  Leinwand  ge- 
bunden.   In  Halbfranz  gebunden  jeder  Band  M.  2. —  mehr. 

Die  „Kultur  der  Gegenwart"  soll  eine  systematisch  aufgebaute,  geschichtlich  be- 
gründete Gesamtdarstellung  unserer  heutigen  Kultur  darbieten,  indem  sie  die  Fundamen- 
talergebnisse der  einzelnen  Kulturgebiete  nach  ihrer  Bedeutung  für  die  gesamte  Kultur  der 
Gegenwart  und  für  deren  Weiterentwicklung  in  großen  Zügen  zur  Darstellung  bringt.  Das  Werk 
vereinigt  eine  Zahl  erster  Namen  aus  allen  Gebieten  der  Wissenschaft  und  Praxis 
und  bietet  Darstellungen  der  einzelnen  Gebiete  jeweils  aus  der  Feder  des  dazu  Berufensten  in 
gemeinverständlicher,  künstlerisch  gewählter  Sprache  auf  knappstem  Räume. 

Seine  Majestät  der  Kaiser  hat  die  Widmung  des  Werkes  AUergnädigst  anzunehmen  geruht. 
Prospekthefte  werden  den  Interessenten  unentgeltlich  vom  Verlag  B.  G.  Teubner  in  Leipzig,  Poststr.  3 ,  zugesandt. 


I.  Teil.  Die  geisteswissenschaftlichen  Kulturgebiete,  i.  Hälfte.  Religion 
und  Philosophie,  Literatur,  Musik  und  Kunst  (mit  vorangehender  Einleitung 
zu  dem  Gesamtwerk).    [14  Bände.] 

(*  erschienen.) 


♦Die  allgemeinen  Grundlagen  der  Kultur  der 
Gegenwart.  (I,  i.)  2.  Aufl.  [XIV  u.  716  S.]  1912. 
M.  18.—,  M.  20.— 

Die    Aufgaben    und    Methoden    der    Geistes- 
wissenschaften.   (I,  2.) 

*Die  Religionen  des  Orients  und  die  altgerman. 
Religion.    (I,  3,  i.)     2.  Aufl.     1913.     [X  u.  287  S.] 
M.  8.—,  M.  10.— 
Die  Religionen  des  klassisch.  Altertums.  (1, 3, 2.) 

♦Geschichte  der  christlichen  Religion.  MitEin- 
leitg. :  Die  israelitisch-jüdische  Religion.  (1, 4,  i.) 
2.  Aufl.    [X  u.  792  S.]     1909.     M.  18.—,  M.  20.— 

♦Systematische  christliche  Religion.  (I,  4,  2.) 
2.,  verb.  Aufl.    [VIII  u.  279  S.]    1909.  M.  6.60,  M.  8.— 

♦Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie.  (I,  5.) 
2.  Auflage.    1913.    [X  u.  620  S.]    M.  14.—,  M.  16.— 

♦Systematische  Philosophie.  (I,  6.)  2.  Auflage. 
[X  u.  435  S.]    1908.    M.  10.—,  M.  12.— 

♦Die  orientalischen  Literaturen.  (I,  7.)  [IXU.419S.] 
1906.    M.  10.—,  M.  12.— 


♦Die  griechische  und  lateinische  Literatur  und 
Sprache.  (1,8.)  3.  Auf  läge.  [VIII  u.  582  S.]  1912. 
M.  12.—,  M.  14. — 

♦Die  osteuropäischen  Literaturen  und  die 
slawischen  Sprachen.  (I,  9.)  [VIII  u.  396  S.] 
1908.     M.  10. — ,  M.  12. — 

Die   deutsche  Literatur    und   Sprache.     (I,  10. 1 

♦Die  romanischen  Literaturen  und  Sprachen. 
Mit  Einschluß  des  Keltischen.  (I,  11,  i.)  [VIII  u. 
499  S.]     1908.     M.  12.—,  M.  14.— 

Englische  Literatur  und  Sprache,  skandina- 
vische Literatur  und  allgemeine  Literatur- 
wissenschaft.    (I,  II,  2.) 

Die  Musik.     (I,  12.) 

Die  orientalische  Kunst.  Die  europäische 
Kunst  des  Altertums.    (I,  13.) 

Die  europäische  Kunst  des  Mittelalters  und  der 
Neuzeit.  Allgemeine  Kunstwissenschaft.  (1,14.) 


II.  Teil.    Die  geisteswissenschaftlichen  Kulturgebiete.    2.  Hälfte.    Staat  und 
Gesellschaft,  Recht  und  Wirtschaft.    [10  Bände.] 

{♦  erschienen.) 
Völker-,  Länder-  und  Staatenkunde.    (II,  i.) 

♦AUg.  Verfassungs-  u.  Verwaltungsgeschichte, 
(n,  2, 1.)    [VIIIu.  375S.]    1911.    M.  10— ,  M.  12.— 


Staat  und  Gesellschaft  des  Orients  von  den  An- 
fängen bis  zur  Gegenwart.  (II,  3.)  Erscheint  1913. 
♦Staat  und  GeseUschaft  der  Griechen  u.  Römer. 
(II,  4,  I.)     [VI  u.  280  S.]    1910.     M.  8.—,  M.  10.— 

Staat  und  Gesellschaft  Europas  im  Altertum 
und  Mittelalter.    (II,  4,  2.) 

♦Staat  u.  Gesellschaft  d.  neueren  Zeit  (b.  z.  Franz 
Revolution).  (U,  5,1.)  [VIU.349S.]  1908.  M.9.— ,M.ii.- 
Staat  und  Gesellschaft  der  neuesten  Zeit  (vom 
Beginn  der  Französischen  Revolution).     (II,  5,  2.) 


System   der  Staats-  und  Gesellschaftswissen- 
schaften.   (II,  6.) 

Allgemeine  Rechtsgeschichte  mit  Geschichte 
der  Rechtswissenschaft.  111,7,1.)  Erscheint  1913. 

♦Systematische    Rechtswissenschaft.      (II,    8.) 
2.  Aufl.    1913.    [U.  d.  Presse.]    ca.  M.  14.—,  M.  16. — 

Allgemeine    Wirtschaftsgeschichte     mit    Ge- 
schichte der  Volkswirtschaftslehre.    (II,  9.) 

♦Allgemeine   Volkswirtschaftslehre.    (II,   10,  i.) 
2.  Aufl.     1913.     [U.  d.  Presse.]     ca.  M.  7.—,  M.  9.— 

Spezielle  Volkswirtschaftslehre.     (II,  10,  2.) 

System  der  Staats-  und  Gemeindewirtschafts- 
lehre (Finanzwissenschaft).    (H,  10,  3.) 


III.  Teil.  Die  mathematischen,  naturwissenschaftlichen  und  medizinischen 
Kulturgebiete,     [ig  Bände.] 

(*  erschienen:   I,  i.   111,2.   IV,  2 ;   f  unter  der  Presse:   1,2 
*I.  Abt.  Diemath.Wissenschaften.  (i  Band.) 

Abteilungsleiter  und  Bandredakteur:    F.  Klein.     Zu- 


nächst bearbeitet  von  P.  Stäckel,  H.  E.  Timerding, 
A.Voß,  H.  G.  Zeuthen.  I.Lieferung.  [IV  u.  95  S.] 
Lex.-8.     1912.     Geh.  M.  3. — 

II.  Abt.  Die  Vorgeschichte  der  modernen 
Naturwissenschaften u.d.  Medizin,  (i  Band.) 

Bandredakteure :  J.  Ilberg  und  K.  Sudhoff.  Bearb.  von 
F.Boll,  S.Günther,  I.L.  Heiberg,  M.Hoefler,  J.  Ilberg, 
E.Seidel,  H.Stadler,  K.  Sudhoff,  E.Wiedemann  u.a. 

III.  Abt.  Anorgan.  Naturwissenschaften. 
Abteilungsleiter:  E.  Lecher. 

fBand  1.  Physik.  Bandredakteur:  E.Warburg.  Bearb- 
von  F.  Auerbach,  F.  Braun,  E.  Dorn,  A.  Einstein,  J. 
Elster,  F.Exner,  R.  Gans,  E.Gehrcke,  H.Geitel,  E.Gum- 
lich,  F.  Hasenöhrl,  F.  Henning,  L.  Holborn,  W.  Jäger, 
W.Kaufmann,  E.  Lecher,  H.  A.  Lorentz,  O.Luramer, 
St.  Meyer,  M.  Planck,  O.  Reichenheim,  F.  Ricbarz, 
H.Rubens,  E. v.Schweidler,  H.Starke,  W. Voigt,  E. 
Warburg,  E.Wiechert,  M.Wien,  W.Wien,  O.Wiener, 
P.  Zeeman. 

♦Band  2.  Chemie.  Bandredakteur:  E.  v.  Meyer. 
Allgemeine  Kristallographie  und  Mineralogie. 
Bandredakteur:  Fr. Rinne.  Bearbeitet  von  K. Engler, 
H.  Immeadorf,  fO.  Kellner,  A.  Kossei,  M.  LeBlanc, 
R.Luther,  E.V.Meyer,  W.Nernst,  Fr. Rinne,  O.Wal- 
lach, O.N.Witt,  L.  Wöhler. 

fBand  3.  Astronomie.  Bandredakteur :  J.  Hartmann. 
Bearbeitet  von  L.  Arabronn,  F.  BoU,  A.  v.  Flotow, 
F.  K.  Ginzel,  K.  Graff,  J.  Hartmann,  J.  v.  Hepperger, 
H.  Kobold,  E.  Pringsheim,  F.  W.  Ristenpart. 
Band  4.  Geonomie.  Bandredakteure :  f  I.  B.  Messer- 
schmitt und  H.  Benndorf.  Mit  einer  Einleitung  von 
F.  R.  Helmert.  Bearbeitet  von  H.  Benndorf,  -j-  G. 
H.  Darwin,  f  H.  Ebert,  O.  Eggert,  S.  Finsterwalder, 
E.  Kohlschütter  u.  a. 

Band  5.  Geologie  (einschließlich  Petrographie). 
Bandredakteur :  A.  Rothpletz.  Bearbeitet  von  A.  Ber- 
geat,  E.  v.  Koken,  J.  Königsberger,  A.  Rothpletz. 
Band  6.  Physiogeographie.  Bandredakteur:  E. 
Brückner,  i.  Hälfte:  Allgemeine  Physiogeographie. 
Bearbeitet  von  E.  Brückner,  S.  Finsterwalder,  J.  von 
Hann,  -j-  O.  Krümmel,  A.  Merz,  E.  Oberhummer  u.  a. 
2.  Hälfte :  Spezielle  Physiogeographie.  Bearbeitet  von 
E.  Brückner,  W.  M.  Davis  u.  a. 


III,  I.    111,3.    IV,  I.    IV,  4.    VII,  I.) 

IV.  Abt.  Organische  Naturwissenschaften. 

Abteilungsleiter :  R.  von  Wettstein. 
fBand  i.    Allgemeine   Biologie.     Bandredakteure: 
C.  Chun     und     W.  L.  Johannsen.       Bearbeitet    von 
E.  Baur,    P.  Claußeu,    A.  Fischel,    E.  Godlewski,   W. 
L.  Johannsen,   E.  Laqueur,   B.  Lidforss,  W.  Ostwald, 

0.  Forsch,  H.Przibram,  E.Rädl,  W.Roux,  W.Schleip, 
H.  Spemann,  O.  zur  Straßen,  R.  von  Wettstein. 

*Band  2.  Zellen-  und  Gewebelehre,  Morphologie 
u.  Entwicklungsgeschichte,  i.  Botanischer  Teil. 
Baudredakteur:  -j- E.  Strasburger.  Bearbeitet  von  W. 
Benecke  und  f  E.  Strasburger.  2.  Zoologischer  Teil. 
Bandredakteur:  O.  Hertwig.  Bearb.  von  E.  Gaupp,  K. 
Heider,  O.  Hertwig,  R.  Hertwig,  F.  Keibel,  H.Poll. 
Band  3.  Physiologie  und  Ökologie.  Bandredak- 
teure: M.  Rubner  und  G.  Haberlandt.  Bearbeitet  von 
E.  Baur,  Fr.  Czapek,  H.  von  Gutteuberg  u.  a. 

fBand  4.  Abstammungslehre,  Systematik,  Paläon- 
tologie,  Biogeographie.  Bandredakteure:  R. 
Hertwig  und  R.v.  Wettstein.    Bearbeitet  von  O.Abel, 

1.  E.  V.  Boas,  A.  Brauer,  A.  Engler,  K.  Heider,  R. 
Hertwig,  W.  J.  Jongmans,    L.  Plate,   R.  v.  Wettstein. 

V.Abt.  Anthropologie  einschl. naturwissen- 

SChaftl.  Ethnographie.  (l  Bd.)  Bandredakteur: 
G.  Schwalbe.  Bearb.  von  E.  Fischer,  R.  F.  Graebner, 
M.  Hoernes,    Th.  MoUison,    A.  Ploetz,   G.  Schwalbe. 

VI.  Abt.     Die    medizin.    Wissenschaften. 

Abteilungsleiter :  Fr.  von  Müller. 

Band  i.  Die  Geschichte  der  modernen  Medizin. 
Bandredakteur:  K. Sudhoff.  Bearb. von M. Neuburger, 
K.  Sudhoff  u.  a.  Die  Lehre  von  den  Krankheiten. 
Bandredakteur:  W.  His.  Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 
Band  2.  Die  medizinischen  Spezialfächer.  Band- 
redakteur: Fr.  v.  Müller.  Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 
Band  3.  Beziehungen  d.  Medizin  zumVolkswohl. 
Bandredakteur:  M.v. Gruber.  Mitarb.  noch  unbestimmt. 

VII.  Abt.    Naturphilosophie  u.  Psychologie. 
fBand  I.Naturphilosophie.  Bandredakteur:  C.Sturapf. 

Bearbeitet  von  E.  Becher. 

Band  2.    Psychologie.     Bandredakteur:  C.  Stumpf. 

Bearbeitet  von  C.  L.  Morgan  und  C.  Stumpf. 

VIII.  Abt.  Organisation  der  Forschung  u.  des 
Unterrichts.  (l  Band.)  Bandredakteur  :A.Gutzmer. 


IV.  Teil.    Die  technischen  Kulturgebiete.    [i8  Bände.] 


Abteilungsleiter:  W.  von  Dyck,  O. 

Band  i.  Vorgeschichte  der  Technik.  Band- 
redakteur und  Bearbeiter:  C.  Matschoß. 

Band  2.  Verwertung  der  Naturkräfte  zur  Gewin- 
nung mechanischer  Energie.  Bandredakteur:  M. 
Schröter.  Bearbeitet  von  H.  Bunte,  R. Escher,  K.  v. 
Linde,  W.  Lynen,  R.  Schöttler,  M.  Schröter. 

Band  3.  Umwandlung  und  Verteilung  der  Ener- 
gie. Bandredakteur:  M.  Schröter.  Bearbeitet  von 
F.  Schäfer,  A.  Schwaiger  u.  a. 

Band  4.  Bergbau  und  Hüttenwesen.  (Stoff- 
gewinnung auf  anorganischem  Wege.)  I.Teil.  Berg- 
bau. Bandredakteur:  W.  Bornhardt.  Bearbeitet 
von  H.  E.  Böker,  G.  Franke,  Fr.  Herbst,  M.  Krah- 
mann,  M.  Reuß,  O.  Stegemann.  —  II.  Teil.  Hütten- 
wesen. Bandredakteur  und  Mitarbeiter  noch  un- 
bestimmt. 

Band  5.  Land-  und  Forstwirtschaft.  (Stoff- 
gewiunung  auf  organischem  Wege.)  I.Teil.  Land- 
wirtschaft. Bandredakteur  und  Mitarbeiter  noch 
unbestimmt.  —  II.  Teil.  Forstwirtschaft.  Band- 
redakteure und  Bearbeiter:  R.Beck  und  H.Martin. 
Band  6.  Mechanische  Technologie.  (Stoffbear- 
beitung auf  maschinentechnischem  Wege.)  Band- 
redakteure :  E.  Pfuhl  und  A.  Wallichs.  Bearbeitet 
von  P.  V.  Denffer,  Fr.  Hülle,  O.  Johannsen,  E.  Pfuhl, 
M.  Rudeloff,  A.  Wallichs. 

Band/.  Chemische  Technologie.  (Stoffbearbeitung 
auf  chemisch-technischem  Wege.)  Bandredakteur 
und  Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 


Kammerer.     (*  erschienen:  Band  12.) 

Band    8    und   9.     Siedelungen.     Bandredakteure: 
W.  Franz   und  C.  Hocheder.     Bearbeitet    von  H.  TU. 
von    Berlepsch -Valendas ,   W.  Bertsch,    K.  Diestel, 
M.  Dülfer,    Th.  Fischer,    H.  Grässel,    C.  Hocheder, 
R.  Rehlen,  R.  Schachner,  H.  v.  Schmidt. 
Band  10  und  11.  Verkehrswesen.   Bandredakteur: 
O.  Kammerer.     Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 
*Band  12.     Technik    des    Kriegswesens.     Band- 
redakteur: M.Schwarte.    Bearbeitet  von  K.Becker, 
O.  V.  Eberhard,  L.  Glatzel,  A.  Kersting,  O.  Kretsch- 
mer,     O.  Poppenberg,    J.  Schroeter,     M.  Schwarte, 
i     W.  Schwinning.  Mit  Abbildungen.  [X,  886  S.]   Lex.-S. 
[     1913.    Geh.  Jt  24. — ,  geb.  Jl  26. — 

Band  13.    Die  technischen  Mittel  des  geistigen 

Verkehrs.    Bandredakteur:    A.  Miethe.    Bearbeitet 

von  A.  Miethe,  E.  Goldberg  u.  a. 

1    Band  14.  Die  technischen  Mittel  der  Beobach- 

i    tung  und   Messung.     Bandredakteur:   A.  Miethe. 

Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 
!    Band  15.     Entwicklungslinien   der  Technik  im 
i    19.    Jahrhundert.      Bandredakteur:     W.    v.   Dyck. 
Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 

Band  16.  Organisation  der  Forschung.  Unterricht. 
Bandredakteur:  W.  v.Dyck.  Mitarb.  noch  unbestimmt. 
Band  17.  Die  Stellung  d.  Technik  zu  den  anderen 
Kulturgebieten.  I.  Bandredakteur:  W.  v.  Dyck. 
Bearbeitet  von  Fr.  Gottl  von  Ottlihenfeld  u.  a. 
Band  18.  Die  Stellung  der  Technik  zu  den 
anderen  Kulturgebieten.  II.  Bandredakteur: 
W.  v.Dyck.  Bearb.  von  H.  Herkner,  C.  Hocheder  u.  a. 


DIE 

-  KULTUR  DER  GEGENWART 

IHRE  ENTWICKLUNG  UND  IHRE  ZIELE 
HERAUSGEGEBEN  VON  PAUL  HINNEBERG 

DRITTER  TEIL 

MATHEMATIK  •  NATURWISSENSCHAFTEN 

MEDIZIN 

VIERTE  ABTEILUNG 

ORGANISCHE  NATURWISSENSCHAFTEN 

UNTER  LEITUNG  VON  R.v.  WETTSTEIN 

ZWEITER  BAND 

ZELLEN-  UND  GEWEBELEHRE 

MORPHOLOGIE  UND  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE 

UNTER  REDAKTION  VON  t  E.  STRASBURGER  UND  O.  HERTWIG 


DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.TEUBNER  •  LEIPZIG  •  BERLIN  -1913 


ZELLEN-  UND  GEWEBELEHRE 

MORPHOLOGIE  UND 
ENTWICKLUNGSGESCHICHTE 


UNTER  REDAKTION  VON  t  E.  STRASBURGER  UND  O.  HERTWIG 

BEARBEITET  VON  t  E.  STRASBURGER  •  W.  BENECKE  •  R.  HERTWIG 

H.  POLL  .  O.  HERTWIG  •  K.  HEIDER  •  F.KEIBEL  •  E.  GAUPP 


II:  ZOOLOGISCHER  TEIL 

UNTER  REDAKTION  VON   O.  HERTWIG   BEARBEITET  VON   R.  HERTWIG 
H.  POLL  .  O.  HERTWIG  •  K.  HEIDER  •  F.  KEIBEL  ■  E.  GAUPP 

MIT  413  ABBILDUNGEN  IM  TEXT 


DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.TEUBNER  •  LEIPZIG  •  BERLIN  -1913 


COPYRIGHT  1913  BY  B.  G.  TEUBNER  IN  LEIPZIG 


ALLE  RECHTE,  EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTS,  VORBEHALTEN. 


VORWORT 

Pflanzliche  und  tierische  Morphologie  und  Entwicklungslehre,  deren  g-e- 
meinverständliche  Darstellung  in  der  „Kultur  der  Gegenwart"  den  zweiten 
Band  der  Biologie  ausmacht,  sind  in  den  letzten  Jahrzehnten  in  enge  Fühlung 
zueinander  getreten;  in  ihren  Arbeitsmethoden  und  wissenschaftlichen  Ziel- 
punkten haben  sie  sich  vielfach  beeinflußt  und  gefördert.  Trotzdem  erwies 
sich  eine  getrennte  Bearbeitung  beider  Gebiete  als  wünschenswert.  Denn 
einmal  bieten  Pflanze  und  Tier,  wenn  auch  die  Grundprobleme  des  Lebens 
bei  beiden  die  gleichen  sind,  doch  im  einzelnen  und  namentlich  im  Hinblick 
auf  ihren  Bau  und  ihre  Entwicklung  so  viele  unterscheidende  Merkmale  dar, 
daß  diese  nur  bei  einer  getrennten  Darstellung  zu  ihrem  Rechte  kommen 
können.  Zweitens  aber  haben  auch  die  pflanzliche  und  die  tierische  Gestalten- 
lehre im  Unterricht  an  Universitäten  und  anderen  Hochschulen  stets  ihre 
besondere  Vertretung  gefunden. 

Daß  bei  einer  g-etrennten  Darstellung  der  zoologische  Teil  den  botani- 
schen an  Umfang-  übertreffen  muß,  ergibt  sich  von  selbst  aus  dem  Wesen  der 
beiderseitigen  Aufgaben.  Erreicht  doch  die  tierische  Organisation  einen  sehr 
viel  höheren  Grad  der  Komplikation  und  eine  viel  weitergehende  Sonde- 
rung in  zahlreiche  Organe  und  Gewebe,  als  es  im  Pflanzenreich  der  Fall  ist. 
Das  Gleiche  g-ilt  vom  tierischen  Entwicklungsprozeß.  Daher  mußte  dem  zoo- 
logischen Teil  des  vorliegenden  Bandes  von  vornherein  ein  größerer  Umfang 
gewährt  werden.  Auch  eine  Zerlegung  der  Aufgabe  in  eine  größere  Zahl 
von  Abschnitten  wurde  notwendig,  um  für  einen  jeden  Abschnitt  die  sach- 
kundigsten Mitarbeiter  zu  gewinnen  und  durch  die  Teilung  der  Arbeit  die 
Vollendung-  des  ganzen  Werkes  zu  beschleunigen. 

Der  zoologische  Teilband  zerfällt  daher  in  sechs  Kapitel.  Das  erste  handelt 
von  den  „einzelligen  tierischen  Organismen",  die  überall  in  der  Natur  in  zahl- 
reichen, verschiedenen  Arten  vertreten,  schon  für  sich  eine  große  Formen- 
mannigfaltigkeit und  zum  Teil  wie  die  Infusorien  die  interessantesten  Lebens- 
erscheinungen zeigen.  Ein  zweites  Kapitel  ist  den  „Zellen  und  Geweben  des 
Tierkörpers"  gewidmet  und  liefert  in  drei  Bogen  eine  kurze  Darstellung  von 
Verhältnissen,  welche  in  den  Lehrbüchern  der  Histologie  behandelt  werden. 

Die  vier  anderen  Kapitel  geben  alsdann  einen  Überblick  über  die  Morpho- 
logie und  Entwicklungsgeschichte  der  Tiere,  also  über  Gebiete,  über  welche 
die  Lehrbücher  der  vergleichenden  Anatomie  und  der  Entwicklungsgeschichte, 
meist  für  Wirbellose  und  Wirbeltiere  getrennt,  berichten.  Da  aber  Wirbel- 
lose und  Wirbeltiere,  namentlich  am  Anfang  ihrer  Entwicklung,  viele  Ver- 


VI  Vorwort 

hältnisse  von  prinzipieller  Bedeutung,  wie  den  Befruchtungsprozeß,  die  Ei- 
teilung,  die  Bildung  von  Keimblase  und  Gastrula,  gemeinsam  haben,  und 
da  außerdem  in  den  letzten  Jahrzehnten  die  ersten  Entwicklungsstadien  mit 
Erfolg  zum  Gegenstand  experimenteller  Studien  gemacht  worden  sind,  schien 
es  geboten,  ein  Kapitel  allgemeinen  Inhalts  mit  dem  Titel  „allgemeine  und 
experimentelle  Morphologie  und  Entwicklungslehre  der  Tiere"  der  spezi- 
elleren Darstellung  der  drei  letzten  Kapitel  vorauszuschicken. 

Die  Redaktion  des  zoologischen  Teilbandes,  welche  ich  auf  Wunsch 
Herrn  von  Wettsteins,  des  Abteilungsleiters  der  die  organischen  Natur- 
wissenschaften umfassenden  Bände  der  „Kultur  der  Gegenwart"  übernahm, 
ist  mir  sehr  erleichtert  worden,  indem  es  mir  bald  gelang,  für  die  genannten 
Abschnitte  die  Mitwirkung  bewährter  Forscher  zu  gewinnen,  welche  durch 
eigene  Untersuchungen  mit  den  von  ihnen  bearbeiteten  Gebieten  auf  das 
genaueste  vertraut  sind,  die  Herren  Professoren  Richard  Hertwig, 
H. Poll,  K. Heider,  F. Keibel  und  E.  Gaupp.  Ich  selbst  übernahm  neben 
der  Redaktion  des  zoologischen  Teilbandes  noch  das  Kapitel  über  „allge- 
meine und  experimentelle  Morphologie  und  Entwicklungslehre  der  Tiere". 

Nachdem  jetzt  der  Band  fertig  vorliegt,  ist  es  mir  eine  angenehme  Pflicht, 
den  genannten  Mitarbeitern,  deren  Arbeitsfreudigkeit  ich  die  Vollendung  des 
Werkes  zu  dem  in  Aussicht  genommenen  Zeitpunkt  zu  verdanken  habe,  meinen 
verbindlichsten  Dank  auszusprechen,  desgleichen  auch  dem  cand.  rer.  natur. 
Schroeder,  welcher  die  sachkundige  und  mühsame  Anfertigung  des  Namens- 
und Sachregisters  übernommen  hat. 

Berlin,  im  Februar  1913. 

O.  HERTWIG. 


INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 

DIE  EINZELLIGEN  ORGANISMEN 1-38 

Von  R.  HERTWIG. 

ZELLEN  UND  GEWEBE  DES  TIERKÖRPERS 39-93 

Von  H.  POLL. 

ALLGEMEINE  UND  EXPERIMENTELLE  MORPHOLOGIE 

UND  ENTWICKLUNGSLEHRE  DER  TIERE     .    .    .      94-175 

VON  O.  HERTWIG. 

ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  UND  MORPHOLOGIE  DER 

WIRBELLOSEN 176-332 

Von  K.  heider. 

DIE  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  WIRBELTIERE    333-398 

Von  f.  KEIBEL. 

MORPHOLOGIE  DER  WIRBELTIERE 399-524 

Von  E  GAUPP. 

REGISTER 525-538 

Von  E.  SCHROEDER. 


DIE  EINZELLIGEN  ORGANISMEN. 

Von 
Richard  von   Hertwig. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  überraschte  einer  der  glück-  Geschichte  der 

lichsten  Entdecker  auf  dem  Gebiete  der  Biologie,  Anton  v.  Leeuwenhoek,  die     fo^sAung] 

wissenschaftliche  Welt  durch  den  Nachweis,    daß  Süß-  und  Meerwasser  von  a.  v.  Leeuwen- 
hoek. 

den  verschiedensten  Formen  mikroskopisch  kleiner  Tiere  bewohnt  werde.  Er 
fand  dieselben  zuerst  in  Regenwasser,  welches  er  an  der  Luft  hatte  stehen  lassen, 
später  in  allerlei  Wasserproben,  welche  er  untersuchte,  darunter  auch  in 
einem  Aufguß  von  Pfeffer.  Er  wandte  damit  zum  ersten  Male  eine  Me- 
thode an,  welche  in  der  Folgezeit  viel  benutzt  worden  ist  und  jetzt  noch  be- 
nutzt wird,  bei  welcher  zur  Gewinnung  der  interessanten  Tierformen  organische 
Substanzen,  am  häufigsten  Heu  oder  Moos,  mit  Wasser  Übergossen  und  längere 
Zeit  der  Luft  ausgesetzt  werden.  Man  nannte  eine  derartige  Kultur  eine  In- 
fusion, und  die  mittelst  derselben  gewonnenen  Tiere  Infusionstierchen  oder 
Infusorien,  animalcula  infusoria,  Ausdrücke,  welche  zum  ersten  Male  von 
Ledermüller  und  Wrisberg  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  benutzt  wurden, 
im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  aber  eine  Einschränkung  auf  die  rascher  schwim- 
menden Formen,  die  Wimper-  und  Geißelinfusorien,  erfahren  haben,  während 
für  die  Gesamtheit  der  Gruppe  der  Name  ,, Urtiere"  oder  ,, Protozoen"  in 
Aufnahme  kam. 

Die  Entdeckung  Leeuwenhoeks  hat  auf  den  Fortschritt  in  der  Zoologie 
einen  ganz  außerordentlichen  Einfluß  ausgeübt;  sie  regte  zu  mikroskopischen 
Forschungen  an,  welche  im  18.  Jahrhundert  nicht  nur  von  berufsmäßigen 
Zoologen,  sondern  auch  Vertretern  anderer  Berufe,  den  Geistlichen  Goeze 
und  Eichhorn,  dem  Maler  Rösel  v.  Rosenhof,  dem  Freiherrn  v.  Gleichen- 
Russwurm  u.  a.  gepflegt  wurden.  Die  Frage,  in  welcher  Weise  die  Lebewesen  Lehre  von  der 
in  den  Infusionen  entstanden  sein  möchten,  belebte  aufs  neue  die  Lehre  von  der  spaitanzani. 
Urzeugung  oder  der  Entstehung  lebender  Wesen  aus  unbelebtem  Material  und 
wurde  dadurch  Ausgangspunkt  der  berühmten  Experimente  Spallanzanis, 
welche  im  19.  Jahrhundert  in  den  Untersuchungen  Schwanns  und  Pasteurs 
ihre  Fortsetzung  gefunden  haben  und  in  dem  Nachweis  gipfelten,  daß  die  Auf- 
gußtierchen sich  aus  Keimen  entwickeln,  welche  in  dem  Material  vorhanden  ge- 
wesen oder  durch  die  Luft  in  die  Infusion  verschleppt  worden  waren. 

Einen  weiteren  Impuls  erfuhr  die  Protozoenforschung,  als  um  die  Wende  Phylogenetische 
des   18.  und   19.  Jahrhunderts    die  Abstammungslehre    zum  ersten  Male  als      Protozoen. 
•ein  mächtiger  Faktor  in  die  biologische  Forschung  eingeführt  wurde.    Die  In- 

K.  d.  G.  IIL IV,  Bd  2  ZeUenlehre  etc.  11  I 


2  Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 

fusionstiere  erschienen  nun  willkommene  Zeugen  für  die  Existenz  von  Lebe- 
wesen von  einfachstem  Bau,  wie  sie  die  Deszendenztheorie  nötig  hatte,  um  die 
erste  Entstehung  des  Lebens  auf  unserem  Erdball  zu  erklären.  Damit  wurde  die 
Frage  nach  der  Organisation  der  Infusionstierchen  in  den  Vordergrund  gestellt, 
eine  Frage,  welche  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  die  Zoologie 
beschäftigt  hat.    Bis  dahin  standen  sich  zwei  Auffassungen  gegenüber,   von 

Organisation  der  denen  die  eine  in  Ehrenberg,   die  andere  in  Dujardin  ihren  Hauptvertreter 
Du^llZTund   ^3-"^-     Ehrenberg    glaubte    überall    komplizierte  Organe,    einen    Darm,    ein 
Ehrenberg.     Nerveusystcm,  Geschlechtsorgane  usw.   nachweisen  zu  können,  wo  Dujardin 
eine  einheitliche  fleischähnliche  Substanz  fand,  die  ,, Sarkode",  welche  ohne 
V.  Siebold.  Organe  befähigt  sei,  alle  Lebensfunktionen  zu  verrichten.    Die  Sarkodetheorie 
Dujardins  führte  schließHch  zu  der  zuerst  von  v.  Siebold  konsequent  durch- 
geführten Lehre,  daß  die   Infusionstierchen  oder,  wie  er  nunmehr  die  Tiere 
nannte,  die  Protozoen,  einzellige  Organismen  seien,  eine  Auffassung,  die  sich, 
wenn  auch  langsam,  in  den  60er  und  70er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts 
siegreich  durchgerungen  hat. 

Die  enge  Fühlung,  in  welche  durch  die  v.  Sieboldsche  Lehre  das  Studium 
Protozoen  und  der  ProtozoBU  zur  Zelltheorie  getreten  ist,  wurde  für  beide  Forschungsgebiete 
.eiitheorie.  ^^^  ^^^  größten  Bcdcutung.  Wurde  einerseits  dadurch  der  Schlüssel  für  das 
Verständnis  des  Baues  der  Protozoen  gewonnen,  so  wurde  andererseits  die  Auf- 
fassung vom  Wesen  der  Zelle  erweitert  und  vertieft.  Gegenüber  dem  Studium 
der  Protozoen  erwies  sich  die  Schwannsche  Lehre,  daß  das  Wichtigste  an  der 
Zelle  die  Membran  sei,  als  unhaltbar,  ebenso  unhaltbar  die  Hoffnung,  in  der 
Zelle  die  physikalische  Einheit  für  eine  mechanistische  Erklärung  der  Lebens- 
vorgänge gewonnen  zu  haben ,  da  sich  die  Zelle  als  solche  schon  als  ein 
lebendes  Wesen  erwies.  Vor  allem  erfuhr  der  Zellbegriff  eine  außerordent- 
liche Erweiterung.  Es  stellte  sich  heraus,  daß  die  Zelle  da,  wo  sie  als  selb- 
ständiger Organismus  auftritt,  eine  Vielgestaltigkeit  entfalten  kann,  deren  sie 
als  Teil  eines  vielzelligen  Organismus  nicht  fähig  ist.  Sie  bildet  Einrichtungen, 
welche  an  die  aus  vielen  Zellen  bestehenden  Organe  höherer  Tiere  erinnern  und 
daher  geradezu  als  Zellorgane  oder  Organellen  bezeichnet  werden.  Wenn 
wir  im  Laufe  dieser  Darstellung  die  betreffenden  Einrichtungen  kennen  gelernt 
haben  werden,  wird  es  verständlich  werden,  wie  schwer  es  selbst  vorurteilslosen 
Zoologen  geworden  ist,  die  Einzelligkeitslehre  der  Protozoen  anzunehmen. 

Größe  der  Pro-  ludcm  wir  bci  uuscrcr  Darstellung    von  dem  Satze    ausgehen,  daß  d  i  e 

Protozoen  einzellige  Organismen  sind,  ist  damit  schon  gesagt,  daß 
es  sich  im  großen  und  ganzen  um  kleine  Tiere  handelt,  welche  nur  selten  die 
Größe  von  mehreren  Zentimetern  erreichen,  meist  eben  noch  als  kleine  Pünkt- 
chen mit  bloßem  Auge  erkannt  werden  können  oder  gar  unterhalb  der  Grenze 
des  Wahrnehmbaren  bleiben,  so  daß  man  in  vielen  Fällen  sogar  zu  den  stärk- 
sten uns  zu  Gebote  stehenden  Vergrößerungen  seine  Zuflucht  nehmen  muß.  Mit 
der  Einzelligkeit  hängt  es  ferner  zusammen,  daß  die  Tiere  in  trockener  Luft 

Fundstelleu  und  für  gewöhulich  uicht  zu  existieren  vermögen.    Ihr  Hauptaufenthaltsort  ist  da- 

v'^orkommen.      i  j  ttt  ,  . 

her  das  Wasser  oder  bei  den  parasitischen  Formen  die  durch  Wasserreichtum 


Beschaffenheit  des  Protoplasma  2 

ausgezeichneten  Gewebe  von  Tieren  und  Pflanzen.  Besonders  sind  stehende 
Tümpel  und  Teiche  mit  reicher  Vegetation,  desgleichen  das  Meer  günstige 
Fundstätten  für  Protozoen.  Immerhin  gibt  es  aber  Formen,  welche  in  der 
Erde  oder  in  moderndem  Holz  leben.  Dann  scheint  ein  nicht  unbeträcht- 
licher Grad  von  Feuchtigkeit  der  Luft  ein  Erfordernis  zu  sein.  In  trockener 
Luft  vermögen  Protozoen  nur  in  geschützten  Ruhezuständen,  den  ,, Cysten", 
von  denen  später  noch  die  Rede  sein  wird,  auszuhalten. 

Wie  jede  Zelle,  so  bestehen  die  Urtiere  unter  allen  Umständen  aus  der 
die  Lebensfunktionen  vermittelnden  Zellsubstanz,  dem  Protoplasma  oder  der 
Sarkode,  und  den  in  Einzahl  oder  Vielzahl  in  ihm  enthaltenen  Kernen, 
den  Nuclei. 

Mit  dem  Protoplasma  sich  intensiver  zu  beschäftigen,  hat  der  Protozoen-  Protoplasma 
forscher  um  so  mehr  Veranlassung,  als  der  Körper  eines  Urtieres  zum  größten  °  ^"^    ^^  °  ^' 
Teil  nur  aus  Protoplasma  besteht    und    die  Verschiedenartigkeit  desselben 
in   nicht  wenigen   Fällen   die   wichtigsten  Merkmale   uns  an   die  Hand  gibt,  a)  Chemische 
um  einzelne  Arten,  ja  sogar  Gattungen  und  Familien,  systematisch  zu  unter- 
scheiden.   Gleichwohl  befindet  sich  die  chemische  Kenntnis  der  so  ungemein 
interessanten  Substanz  in  gleich  unerfreulichem  Zustand,  als  es  für  vielzellige 
Tiere  und  Pflanzen  gilt.  Es  kann  daher  hier  auf  das,  was  bei  der  tierischen  und 
pflanzlichen  Zelle  über  den  Gegenstand  gesagt  worden  ist,  verwiesen  werden. 

Nicht  in  gleichem  Maße  gilt  das  Gesagte  von  dem  Aussehen  und  der  b)  Aussehen, 
physikalischen  Beschaffenheit.  Schon  seit  langem  unterscheidet  die  For- 
schung an  der  Sarkode  die  homogene  Grundsubstanz  und  die  in  derselben 
enthaltenen  Einschlüsse.  Von  letzteren  sind  als  konstante  Elemente  nur  kleine, 
stark  lichtbrechende  Körnchen,  die  Granula,  zu  nennen,  von  denen  das 
Eine  mit  Sicherheit  feststeht,  daß  sie  nicht  die  Träger  der  vom  Protoplasma 
ausgehenden  Lebenserscheinungen  sind.  Wahrscheinlich  sind  sie  mit  dem 
Stoffwechsel  des  Protoplasma  verknüpft,  sei  es,  daß  sie  nährende  Substanzen 
enthalten  oder  Zersetzungsprodukte,  Produkte  der  regressiven  Metamorphose, 
oder  auch  Stoffe,  die  zur  Verdauung  dienen,  sogenannte  Enzyme,  darstellen. 
Jedenfalls  ist  das  Protoplasma  gut  genährter  Tiere  trüb  und  körnchenreich, 
wird  dagegen  im  Verlauf  von  Hunger  hell  und  durchsichtig.  Die  Verteilung  der  Ektosark  und 
Körnchen  in  der  homogenen  Grundsubstanz  ist  häufig  eine  sehr  regelmäßige,  so 
daß  eine  äußere  Schicht,  das  Ektosark,  frei  von  Körnchen  ist,  während  die  innere 
Partie,  das  Entosark,  körnchenreich  ist.  Beide  Schichten  gehen  kontinuierHch 
ineinander  über;  auch  wechselt  die  Breite  der  Ektosarkschicht  nicht  nur  nach 
den  verschiedenen  Arten  und  Individuen,  sondern  sogar  bei  demselben  Indivi- 
duum je  nach  den  verschiedenen  Bewegungszuständen  desselben. 

Über  die  physikalische  Beschaffenheit  und  Struktur  der  homogenen  Grund-  c)  Physikalische 
Substanz  ist  viel  gestritten  worden.  Bei  den  meisten  Protozoen  gewinnt  man 
durchaus  den  Eindruck,  daß  man  es  mit  einer  Flüssigkeit  zu  tun  hat.  Die 
Ausdrücke  ,,Fheßen"  und  „Strömen",  welche  für  die  später  zu  besprechenden 
Kontraktionserscheinungen  gang  und  gäbe  sind,  deuten  schon  darauf  hin.  Unter- 
suchungen über  das  physikalische  Verhalten  des  Plasmas  der  Protozoen  haben 


^  Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 

der  Auffassung  weitere  Stützen  verliehen.  Um  nur  einige  zu  nennen,  so  wird 
das  Verhalten  des  Protoplasma  anderen  Flüssigkeiten  gegenüber  von  dem' 
für  Flüssigkeiten  geltenden  Prinzip  der  kleinsten  Oberflächen  bestimmt.  Ab- 
gelöste Teile  eines  Protozoons  kugeln  sich  demgemäß  im  Wasser,  ähnlich  wie 
Öltropfen  ab.  In  entsprechender  Weise  sammelt  sich  Flüssigkeit  im  Innern 
des  Protoplasmas  zur  Kugelform  an  undhefert  die  sogenanntenVacuolen,  sofern 
nicht  der  Gegendruck  benachbarter Vacuolen  behindernd  wirkt.  Fremdkörper, 
welche  in  das  Plasma  aufgenommen  werden,  wie  Karminkörnchen,  kleinere 
Nahrungskörper,  können  nach  allen  Richtungen  hin  verschoben  werden,  wie 
es  nur  innerhalb  von  Flüssigkeiten  möglich  ist. 
d,  Struktur  des  Wenu   uuu   die   Flüssigkeitsnatur   des   Protoplasma   vielfach   in   Zweifel 

wTbentheorte  gGzogcn  wurde,  SO  gcschah  es,  weil  in  ihm  Strukturen  sichtbar  werden, 
Bütschiis.  welche  mit  der  Vorstellung  einer  homogenen  Flüssigkeit  unvereinbar  sind. 
Diese  Schwierigkeit  wird  in  glücklicher  Weise  beseitigt  durch  die  Lehre  von 
der  Schaumstruktur  des  Protoplasma,  wie  sie  besonders  von  Bütschli  be- 
gründet worden  ist.  Derselben  zufolge  besteht  das  Protoplasma  ,,aus  zwei 
differenten,  nicht  oder  nur  beschränkt  mischbaren  Flüssigkeiten"  in  so  feiner 
Verteilung,  daß  die  Tröpfchen  der  einen  Flüssigkeit  a,  welche  in  der  zweiten 
Flüssigkeit  h  suspendiert  sind,  etwa  den  Durchmesser  von  Viooo  '^'^  besitzen. 
Sind  die  kleinsten  Tröpfchen  der  Flüssigkeit  a  so  dicht  gedrängt,  wie  die  Luft- 
blasen eines  Seifenschaums,  so  wird  die  Flüssigkeit  h  zu  einem  Gerüst  trennen- 
der Scheidewände ,  deren  Anordnung  der  für  Flüssigkeitsgemische  ermittel- 
ten Gesetzmäßigkeit  folgen  muß.  In  der  Tat  ist  es  auch  Bütschli  geglückt, 
mikroskopische  Schäume,  wie  sie  soeben  geschildert  wurden,  in  verschiedener 
Weise  herzustellen,  z.  B.  durch  feinste  Verteilung  von  Pottaschelösung  in 
Ohvenöl.  Die  dabei  sich  ergebende  Struktur  hat  eine  überraschende  Ähnlich- 
keit mit  der  retikulierten  Struktur,  welche  vom  Protoplasma  schon  wieder- 
holt beschrieben  worden  ist,  aber  zumeist  auf  netzig  verbundene  Fäden,  nicht 
auf  Wabenwände  bezogen  wurde.  Wegen  ihrer  außerordentlichen  Feinheit 
müssen  Wabenstruktur  und  netzförmige  Anordnung  bei  der  mikroskopischen 
Untersuchung  unter  gleichem  Bilde  erscheinen,  so  daß  ein  lebhafter  Streit 
entbrannt  ist,  in  welcher  Weise  das  Bild  zu  deuten  ist.  Die  Protozoen- 
forscher, welche  in  den  Pseudopodien  der  Rhizopoden  die  günstigsten  Objekte 
zur  Untersuchung  lebenden  Protoplasmas  besitzen,  haben  sich  in  ihrer  Mehr- 
zahl für  die  Schaumstruktur  ausgesprochen. 

p.  Biologische  Noch  wichtiger  als  die  Ermittelungen  über  die  physikalischen  Eigenschaften 

Charakteristik        .      j     r..         ,•        r^-,  i  •       m        i  <-> 

des  Protoplasma,  smd  tur  dic  Charakteristik  der  Sarkode  ihre  Lebenserscheinungen.  Sind  doch 
gerade  die  Protozoen  die  günstigsten  Objekte,  um  zu  beweisen,  daß  das  Proto- 
plasma Träger  der  Grundfunktionen  des  Lebens  ist.  Dieselben  sind:  i.  Kon- 
traktilität  oder  selbständige  Bewegungsfähigkeit,  2.  Irritabilität  oder 
Reizbarkeit,  3.  Ernährungsfähigkeit  im  weitesten  Sinne  des  Wortes, 
4.  die  Fähigkeit    der  Fortpflanzung. 

. .  Kontraktiiität.  Die  Einrichtungen,    welche    getroffen    sind,    um    die  Fortbewegung   der 

Protozoen  zu  vermitteln,  sind  sehr  mannigfacher  Natur  und  werden  daher 


Bewegungserscheinungen  des  Protoplasma 


izopoden 


benutzt,  um  die  großen  Gruppen,  die  Klassen  der  Protozoen,  zu  charakteri- 
sieren. Wir  unterscheiden  drei  Hauptformen  der  Bewegung,  welchen  drei 
Hauptklassen  der  Protozoen  entsprechen,  während  in  einer  vierten  Klasse 
die  Bewegungsfähigkeit  infolge  parasitischer  Lebensweise  auf  ein  ganz  ge- 
ringes Maß  reduziert  ist. 

I.  Die  amöboide   Beweglichkeit  ist  das  hervorstechendste  Merkmal  Amöboide  Be- 
der  Rhizopoden;   sie  ist  zugleich  die  primitivste  Form  der  Fortbewegung,  da  "■r'^Iz 
sie  vom  Protoplasma  selbst  ausgeht,    nicht    von   besonderen  Anhängen  des- 
selben, wie  es  Cilien  und  Geißeln  sind.    Dieselbe  wird  durch  Scheinfüßchen 
oder  Pseudopodien  bewirkt,  Fortsätze  des  Protoplasma,  welche  wie  Füß- 
chen zur  Ortsbewegung  dienen,    aber  keine   dauernden   Einrichtungen  sind, 
sondern  in  raschem  Wechsel  ganz  nach  Bedürfnis  ge- 
bildet und  zurückgezogen  werden.     Die  in  Fig.  I  ab- 
gebildete,    unserem    Süßwasser    angehörige    Amoeha 
Proteus  ist  nicht  nur  Ausgangspunkt  der  Bezeichnung 
,, amöboide  Beweglichkeit",    sondern  seit  jeher  auch 
das  beste  Beispiel  zur  Erläuterung  ihrer   Natur  ge- 
wesen.   Der  Ausdruck  (von  ,,d|ueijßo)uai  =  Form  ver- 
ändern" stammend)  bezieht  sich  auf  den  beständigen 
Gestaltenwechsel,  welchen  eine  Amöbe  bei  der  Fort- 
bewegung erfährt  und  der  in  folgender  Weise  vor  sich 
geht.    An  einer  Stelle  sammelt  sich  ,, homogenes  Pro- 
toplasma" zu  einem  ruckweis  sich   hervorwölbenden 
Höcker  an,  einem  breitlappigen  Pseudopodium  (Lobo- 
podium);   dann  erst  strömt   das   körnchenreiche  En- 
tosark  nach,  indem  es  zunächst  die  Achse  des  breit- 
lappigen  oder   fingerartig  in    die  Länge  wachsenden 
Fortsatzes,     schließlich    den    gesamten    Fortsatz   bis 

auf  einen  schmalen  peripheren  Saum  erfüllt.  Diese  strudelnde  Bewegung 
der  Körnchen  läßt  sich  tief  in  das  Innere  der  Amöbe  verfolgen,  oft  bis  zum 
entgegengesetzten  —  hinteren  —  Ende,  von  wo  aus  die  Körnchenmasse 
nachströmt,  in  gleichem  Maß,  als  vorn  Körnchen  in  die  sich  bildenden 
Pseudopodien  eindringen.  Das  hinterste  Ende  hat  daher  oft  ein  wesentlich 
anderes  Aussehen  als  das  vorausmarschierende;  es  sieht  etwas  geschrumpft 
und  eingefaltet  aus;  die  Körnchen  reichen  hier  bis  an  die  Oberfläche 
heran.  In  analoger  Weise,  wie  sich  ein  Pseudopodium  bildet,  kann  es  auch 
in  den  Körper  wieder  zurückfließen;  auch  können  mehrere  Pseudopodien 
gleichzeitig  gebildet  und  eingezogen  werden.  Meist  wird  beim  Gehen  und 
Kommen  der  Pseudopodien  eine  bestimmte  Strömungsrichtung  eingehalten  und 
dadurch  die  Fortbewegung  ermöglicht.  Dieselbe  setzt  allerdings  voraus,  daß 
die  Amöbe  Stützpunkte  auf  einer  ihrer  Fortbewegung  dienenden  Unterlage 
findet;  sie  muß  auf  derselben  haften,  was  durch  die  Ausscheidung  minimaler 
Quantitäten  einer  klebrigen  Masse  bewirkt  wird.  Hat  die  Amöbe  diese  Fähig- 
keit vorübergehend  verloren,  was  nicht  selten  vorkommt,  so  ist  ein  Kriechen 


Fig.  I.  Amoeba  Proteus,  k  Körn- 
cben.  /  Nahrung,  ii  Kern,  v  kon- 
traktile Vakuole. 


5  Richard  von  HertwiG:  Die  einzelligen  Organismen 

auf  der  Unterlage  nicht  möglich,  wohl  aber  eine  Fortbewegung  durch  Schwer- 
punktsveränderung und  Umkippen. 

Strömungserscheinungen,  wie  ich  sie  soeben  geschildert  habe,  setzen 
übrigens  keineswegs  Gestaltveränderung  der  Körperoberfiäche,  Pseudopodien- 
bildung,  voraus.  Auch  in  einer  kugelig  abgerundeten  ruhenden  Amöbe  sind 
Körnchenströmungen  (Zyklose)  im  Innern  möglich,  wie  sie  auch  bei  anderen 
Protozoen,  welche  zu  keinen  Gestaltveränderungen  befähigt  sind,  z.  B.  vielen 
Infusorien,  vorkommen. 

Die  Pseudopodien  einer  Amöbe  sind  nur  ein  Beispiel  für  die  ungeheure 
Mannigfaltigkeit,  in  welcher  die  Bildung  von  Scheinfüßchen  bei  den  Rhizo- 

poden  sich  vollzieht  und  von  der  ich 

\    ^   .     \   ,  nur  die  wichtigsten  Typen  erwähnen 

\, ,     \  \  \     :  ;  kann.    So  können  die  Pseudopodien 

feine  Fäden  (Filopodien)  bilden; 
diese  Fäden  können  sich  wie  die 
Wurzeln  eines  Baumes  verästeln,  was 
den  Namen  ,,  Wurzelfüßler",  ,,Rhizo- 
poden"  für  die  gesamte  Abteilung 
veranlaßt  hat.  An  der  Bildung  der 
Fäden  ist  manchmal  nur  das  Ektosark 
beteiligt,  so  daß  die  Fäden  frei  von 
Körnchen  sind,  was  sich  meist  mit 
~-  einer  starren,  zähen  Beschaffenheit 
der  Körpersubstanz  kombiniert.  In 
der  Mehrzahl  der  Fälle  jedoch  treten 
die  Körnchen  des  Entosarks  auf  die 
Fäden  über  (Fig.  2)  und  verursachen 
hier  das  aus  dem  Innern  der  Amöbe 
uns  schon  bekannte  Phänomen  der 

Fig.  2.    Rotalia  veneta,    Foramiuifere    mit  ausgebreitetem      KörncheUStrÖmung.      MögCn    die    Fä* 
Pseudopodiennetz.  .  .  ,       .    , 

den  auch  noch  so  fem  sem  und  sich 
den  Grenzen  der  Wahrnehmbarkeit  mit  unseren  stärksten  Vergrößerungen 
nähern,  so  können  sie  gleichwohl  der  Sitz  von  Körnchenströmung  sein, 
sogar  von  einer  ganz  komplizierten  Form  derselben,  so  daß  auf  derselben 
Bahn  manche  Körnchen  vom  Körper  des  Rhizopoden  hinweg  nach  der  Peri- 
pherie abströmen  (zentrifugale  Bewegung),  andere  von  der  Peripherie  nach 
dem  Zentrum  zurückkehren,  daß  weiterhin  in  derselben  Richtung  die  Körn- 
chen verschiedene  Geschwindigkeit  einhalten  und  somit  einander  überholen. 
Im  allgemeinen  überwiegt  jedoch  auf  einem  bestimmten  Pseudopodium 
auch  eine  bestimmte  Bewegungsrichtung,  so  daß  auf  einigen  Pseudopodien 
das  körnige  Protoplasma  abströmt,  auf  anderen  dagegen  zum  Körper  zurück- 
kehrt. 

Körnchenreiche,  verästelte  Pseudopodien  zeigen  endlich  noch  das  Phäno- 
men der  ,,  Anastomosenbildung".    Während  körnchenarme  starre  Pseudo- 


\\ 


Bewegungserscheinungen  des  Protoplasma  7 

podien,  wenn  sie  einander  begegnen,  sich  getrennt  erhalten,  pflegen  körnchen- 
reiche Pseudopodien  miteinander  zu  verschmelzen.  Der  Endeffekt  ist  ein 
ungemein  feines  Netzwerk  von  Protoplasmafäden,  welches  es  verständlich 
macht,  daß  gelegenthch  zentripetale  Bewegungen  in  zentrifugale  Bahnen  ein- 
münden und  umgekehrt.    (Rhizopodien.) 

Für  die  richtige  Beurteilung  der  beschriebenen  Bewegungserscheinungen 
ist  es  noch  von  Wichtigkeit,  hervorzuheben,  daß  an  der  Körnchenströmung 
auch  Partikeln  Anteil  nehmen,  von  denen  man  sicher  nachweisen  kann, 
daß  sie  unbelebt  sind.  Solche  Partikeln  sind  aufgenommene  Nahrungs- 
bestandteile oder  anderweitige  Fremdkörper,  welche  man,  wie  z.  B.  fein  pulveri- 
siertes Karmin,  willkürlich  dem  Pseudopodiennetz  eines  Rhizopoden  ein- 
verleiben kann.  Diese  Wahrnehmung  ist  wichtig,  weil  sie  zeigt,  daß  die  zirku- 
lierenden Körnchen  nicht  Eigenbewegungen  ausführen,  sondern  passiv  von 
dem  ihnen  zugrunde  Hegenden  Substrat  homogenen  Plasmas  bewegt  werden. 
Letzteres  ist,  wie  bei  allen  übrigen  Vorgängen,  der  eigenthche  Lebensträger. 

Die  Schnelligkeit,  mit  welcher  zwei  einander  begegnende  Protoplasma- 
ströme zusammenfließen,  zeigt,  daß  der  Körper  der  Rhizopoden  nicht  von 
einer  vom  Protoplasma  differenten  Membran  überzogen  ist.  Damit  ist  jedoch 
sehr  wohl  vereinbar,  daß  das  Protoplasma  nach  Art  anderer  Flüssigkeiten 
auf  seiner  Oberfläche  eine  Verdichtung  erfährt.  Eine  solche  verdichtete  Ober- 
flächenschicht läßt  sich  bei  Amoeba  proteus  sowohl  optisch  nachweisen  als  auch 
nach  Ausfließen  der  eingeschlossenen  Sarkode,  oder  durch  Einwirkung  von 
Reagentien  isoHert  darstellen.  1  Derartige  Verdichtungen  sind  es,)  welche  in 
anderen  Klassen  der  Protozoen,  vor  allem  den  Cüiaten  und  Flagellaten  eine 
nicht  unbeträchtliche  Festigkeit  und  Undurchdringlichkeit  der  Oberfläche  be- 
dingen, so  daß  man  von  einer  Pellicula  spricht.  Peiiicuia. 

Zur  Charakteristik  der  Pseudopodien  sei  schheßlich  noch  hervorgehoben, 
daß  sie  bei  vielen  Rhizopoden  von  festen  Achsen  gestützt  sind  (Axo podien), 
welche  eine  Strecke  weit  in  das  Protoplasma  eindringen,  um  hier  frei  zu  enden 
oder  einen  Stützpunkt  an  anderen  Strukturen  zu  finden,  an  dem  später 
zu  besprechenden  Zentralkorn  der  Heliozoen,  öfters  auch   an    den  Zellkernen. 

Es  hat  nicht   an  Versuchen   gefehlt,   für  die   Bewegungen   der   Pseudo-  physikalische 
podien,   besonders  der  Lobopodien,  eine  physikalische  Erklärung  zu  finden,  ^^^^^i^""^"^^^*!^^ 
Dem   Begründer   der   Lehre   vom  wabigen   Bau   des   Protoplasma,    Bütschli,      wegung. 
ist  es  auch  geglückt,  eine  annehmbare  Erklärung  aufzustellen;  er  hatte,  wie 
oben  schon  erwähnt,  Wabenstrukturen  erzielt,  indem  er  Olivenöl  und  Pott- 
aschelösung zu  einem  Schaum  von  mikroskopischer  Feinheit  vermischte ;  er  fand, 
daß  derartige  Schäume  im  Wasser  Bewegungen  ausführten,  welche  an  amöboide 
Bewegungen  erinnern.     Er  sucht  dieselben  dadurch  zu  erklären,^  daß  hie  und 
da  chemische  Umsetzungen  eintreten  und  lokale  Veränderungen  in  der  Ober- 
flächenspannunghervorrufen,wasStrömungen  derSchaummasse  nach  denStellen 
herabgesetzten  Drucks  zur  Folge  habe.  In  ähnlicher  Weise  sollen  auch  durch  che- 
mischeVeränderungen  im  Protoplasma  der  RhizopodenVeränderungen  der  Ober- 
flächenspannung eintreten  und  Strömungserscheinungen  bedingen. 


Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 


Geißel- 

und  Flimraer- 

bewegung. 


Geißeln  der 
Flagellaten. 


aten. 


Während  die  Pseudopodien  immer  nur  langsame  Ortsbewegungen  ge- 
statten vermitteln  die  für  die  Flagellaten  charakteristischen  Geißeln  und 
die  den  Ciliaten  zukommenden  Wimpern  ein    sehr    behendes  Schwimmen. 

Abgesehen  von  dieser  erhöhten  Energie  der  Bewegung  ist 
noch  ein  gemeinsamer  Charakter  von  Geißeln  und  Cilien 
darin  gegeben,  daß  sie  dauernde  Bildungen  sind,  so  daß 
man  sie  schon  zu  den  ,, Organellen"  rechnen  kann.  Geißeln 
und  Wimpern  sind  beides  feine  über  die  Körperoberfläche 
hervortretende  schwingende  Fäden.  Man  hat  daher  für 
ihre  Funktion  nach  einer  einheitlichen  Erklärung  gesucht; 
Fig. 3. Trichomonas batra-  man  glaubt  diesclbc  darin  gefunden  zu  haben,  daß  sie 
S°osLf  fSr«  undu-  ähnlich  den  Axopodien  eine  äußerst  feine  elastische  Stütze 
iierendeMembran.«;r axiale  bcsitzcn,    welche   von   cluer    dünucn  Schicht   kontraktilen 

Protoplasmas  umscheidet  ist.    Die  Achsenfäden  lassen  sich 
\\L'J'-  in  das  Innere  des  Infusors  hinein  verfolgen,  wo  sie  analog 

vielen  Axopodien  Stützpunkte  finden,  bei  den  Cihen  an  den 
sogenannten  Basalkörnern,  bei  den  Geißeln  häufig  an  dem 
später  zu  besprechenden  Blepharoplasten. 

Soweit  dieÄhnlichkeit  beider  Bildungen  !  Jetzt  kommen 
wir  zu  den  Unterschieden.  Diese  sind  durch  die  verschie- 
dene Größe  und  die  damit  zusammenhängende  Zahl  und 
Funktionsweise  bestimmt.  Die  Geißeln  (Fig.  3)  sind  sehr  lange 
Fäden,  dementsprechend  in  geringer  Zahl  vorhanden.  Manche 
Flagellaten  haben  nur  eine  Geißel,  andere  zwei  bis  acht. 
Auch  in  den  Fällen,  in  denen  mehrere  Geißeln  vorhanden  sind, 
hat  eine  jede  ihren  Schwingungsrhythmus  für  sich,  sie  bewegt 
sich  unabhängig  von  Nachbargeißeln;  es  kann  sogar  eine 
funktionelle  Differenzierung  erfolgen,  wie  z.  B.  bei  manchen 
Flagellaten  eine  Geißel,  die  Schleppgeißel,  beim  Schwimmen 
nachschleift,  während  die  andere  am  vorderen  Ende  schwingt. 
Im  Gegensatz  zu  den  Geißeln  sind  die  Cihen  in  großen 
Mengen  vorhanden  und  demgemäß  von  geringer  Länge 
(Fig.  4).  Wenn  sie  zum  Schwimmen  oder  zur  Nahrungsauf- 
nahme benutzt  werden,  erzeugen  viele,  unterUmständen  viele 
Tausende  eine  gemeinsame  Wirkung.  In  dieser  Gemeinsam- 
keit der  Wirkung  ist  die  Veranlassung  gegeben,  daß  ganze 
Wimperreihen  untereinander  zu  mächtig  rudernden  Mem- 
branellen oder  einzelne  Wimperbüschel  zu  biegsamen  wie 
Beine  der  Insekten  wirkenden  Haken  verkleben  können. 
Was  nun  schließlich  die  Sporozoen  (Fig.  5)  anlangt,  denen  für  gewöhnlich 
besondere  Organe  der  Fortbewegung  fehlen,  so  existiert  bei  ihnen  ab  und  zu 
ein  geringes  Maß  amöboider  Beweghchkeit  oder  es  treten  während  der  Ent- 
wicklung vorübergehend  Geißeln  auf.  Die  Regel  ist  es  jedoch  nicht;  be- 
sonders die  höchstentwickelten  Sporozoen,   die  Gregarinarien,   zeigen  im  ent- 


Fig.  4.  Paramaeciura 
caudatum,  Wimperin- 
fusor,  etwas  schemati- 
siert. Cilien  mit  Basal- 
körnern; dazwischen 
Trichozysten,  am  hinte- 

Cilien  der  Cili-  ''en  Ende  herausge- 
schleudert. In  der  Mitte 
Kern  mit  Nebenkern, 
oberhalb  kontraktile  Va- 
cuole  im  kontrahierten 
Zustand,zuführende  Ka- 
näle erweitert,  unter- 
halb Kanäle  verengt, 
Vakuole  ausgedehnt ; 
rechts  Cytostom  mit 
einer  sich  bildenden 
Nahrungsvakuole,  fer- 
ner 4  Nahrungsvakuolen 
mit  Inhalt. 


Fortbewegung 
der  Sporozoen 


Vorkommen  von  Muskelfibrillen 


M 


m 


%■« 


'11 


en 


wickelten  Zustand  keine  Spur  davon.  Bei  ihnen  ist  die  Oberfläche  vielfach 
von  einer  deutlich  doppelt  konturierten  PelHcula  überzogen,  welche  amöboide 
Beweglichkeit  ausschheßt.  Gleichwohl  sind  die  Tiere  nicht  unbeweglich. 
Kultiviert  man  sie  in  Flüssigkeiten,  so  gleiten  sie  vorwärts,  ohne  daß  man 
an  ihnen  irgendwelche  Gestaltveränderungen  wahrnehmen  könnte,  wie  es  in 
ähnhcher  Weise  bei  einzeUigen  Pflanzen,  den  Diatomeen,  vorkommt.  Man 
erklärt  die  Erscheinung  aus  der  Anwesenheit  eines  Gallertstiels, 
den  die  Tiere  ausscheiden  und  mit  Hilfe  dessen  sie  sich  vorwärts 
schieben. 

Eine  zweite  Bewegungserscheinung  der  Gregarinen  macht 
uns  mit  einer  interessanten  Organisation  bekannt,  welche  nicht 
auf  Gregarinen  beschränkt  ist,  sondern  auch  bei  Rhizop öden, 
Ciliaten  und  Flagellaten  gelegentlich  vorkommt.  Es  sind 
dies  Muskelfibrillen  oder,  wie  man  sie  auch  genannt  hat,  Myo- 
neme.  Die  Myoneme  sind  feine  Fäden,  welche  sich  aktiv  ver- 
kürzen und  dabei  dasselbe  Phänomen  zeigen,  welches  die  Muskel- 
fibrillen höherer  Tiere  und  in  weiterer  Konsequenz  auch  die 
ganzen  Muskelkörper  erkennen  lassen:  sie  werden  in  gleichem 
Maße  dicker,  als  sie  eine  Verkürzung  erfahren.  Derartige  Myo- 
neme verlaufen  ringförmig  unter  der  Pellicula  der  Gregarinen 
und  verursachen  ähnhch  der  Peristaltik  des  Darms  lebhafte,  von 
einem  Ende  zum  anderen  fortschreitende  Kontraktionswellen. 
Noch  geeigneter  zum  Studium  der  Myoneme  als  die  Gregarinen 
sind  manche  Infusorien :  viele  Heterotrichen  {Stentoren,  Spirosto- 
men  usw.)  und  Peritrichen  [Carchesien,  V orticellen) .  Carchesien 
und  Vorticellen  (Fig.  6  u.  7)  sitzen  auf  Stielen  fest,  welche  eine 
Röhre  bilden,  in  deren  Lumen  ein .  in  schwachen  Spiraltouren 
aufsteigender  Muskelstrang  verläuft.  Dieser  veranlaßt,  wenn  er 
sich  kontrahiert,  eine  korkzieherartige  Einrollung  und  zugleich   (Rumpfstück) ,    r« 

(~>    •    1  IT      T^1  •     •  1         o    •    1  1      Cuticula,   ek   Ekto- 

eme  Verkürzung  des  Stiels,  während  die  Elastizität  der  Stielwand  sark,  c«  Entosark, 
beim  Nachlassen  der  Kontraktion  eine  Streckung  des  Stiels  und 
eine  Rückkehr  in  die  Ausgangslage  verursacht.  Da,  wo  der  Stiel  in  die  Vor- 
ticelle  übergeht,  teilt  er  sich  in  viele  feine  Muskelfäden,  welche  in  den  Körper 
des  Infusors  eintreten  und  unter  der  Pellicula  nach  vorn  verlaufen;  sie  ver- 
ursachen eine  Verkürzung  und  Abkugelung  des  Körpers.  Die  gleichen  längs 
verlaufenden  Muskelfibrillen  finden  sich  auch  bei  den  Stentoren ,  sie  führen 
hier  ebenfalls  zu  einer  Abkugelung  des  in  der  Ruhelage  langgestreckten,  trom- 
petenähnlich nach  vorn  sich  ausbreitenden  Tieres. 

Wo  solche  Muskelfäden  vorkommen,  ist  ihre  Anwesenheit  sofort  an  der 
Schnelligkeit  und  Energie  der  Bewegung  zu  erkennen,  welche  sehr  gegen  die 
langsame  Ortsbewegung  absticht,  wie  sie  durch  die  Kontraktilität  des  Proto- 
plasma vermittelt  wird.  Am  auffallendsten  sind  in  dieser  Hinsicht  einige 
marine  Flagellaten,  welche  einen  glockenförmigen  Körper  besitzen,  dessen  Kon- 
kavität mit  einem  Belag  von  Muskelfibrillen    ausgekleidet  ist   {Leptodiscus, 


Muskelfibrillen 
oder  Myoneme. 


sSölß. 


Fig^.  5.  Clepsidrina 
blattarum ;  zwei  an- 
einander gereihte 
Tiere,     pm    Proto- 

nierit    (Kopfstück), 
(//«  Deutomerit 


lO 


Richard  von  HertwiG:  Die  einzelligen  Organismen 


2.  Irritabilität. 


Craspedotella) ;  sie  schwimmen  mit  einer  Geschwindigkeit  durch  das  Wasser 
wie  kleine  Medusen,  mit  welchen  unerfahrene  Beobachter  sie  auch  verwechseln 
würden  und  sicherhch  auch  oft  verwechselt  haben. 

Die  scharfe  Differenzierung  der  Muskelfäden  gegen  das  angrenzende  Proto- 
plasma, die  Orientierung  ihrer  Kontraktion  in  einer  bestimmten  Richtung, 
während  die  Kontraktion  des  Protoplasma  nach  allen  Richtungen  erfolgen 
kann,    der    besondere    Charakter     der    Kontraktilität,     dies     alles     ist    ein 

sicheres  Kennzeichen,  daß  die  Sub- 
stanz der  Muskelfäden  etwas  anderes 
ist  als  Protoplasma;  sie  ist  ein  Bil- 
dungsprodukt des  Protoplasma,  ein 
Produkt  der,, formativen Tätigkeit  des 
Protoplasma". 

Wo  Kontraktilität  vorhanden  ist, 
da    fehlt  auch  nicht  Irritabilität  oder 


Fi  g. 6.  Stück  einer  Carcbesium-Kolonie(VViinperiufusor).  Einzel- 
tiere sitzen  auf  einem  verästelten  Stiel,  in  dessen  Innerem  ein 
Stielmuskel  verläuft;  untere  Tiere  in  kontrahiertem  Zustand, 
obere  ausgebreitet;  links  eine  Gruppe  vouMikrogameten,  recbts 
beginnende  Konjugation  eines  Makrogameten  mit  einem  Mikro- 

gameten. 


Fig.  7.  Kiuzeltier  einer  Carchesium- Ko- 
lonie. «  Hauptkeru.  11'  Nebenkern,  Nv 
Nahrungsvacuolen,  rv  kontraktile Vacuole, 
OS  Speiseröhre  mit  davorliegendem  Vor- 
raum (yj/). 


Reizbarkeit.  Sie  wird  in  der  Regel  durch  das  Protoplasma  vermittelt;  ob  da- 
neben noch  spezifische  reizleitende  Bahnen  existieren,  nach  Analogie  der 
Muskelfibrillen  besondere  Nervenfibrillen,  sei  dahingestellt.  Wiederholt  hat 
man  versucht,  ihre  Existenz  durch  direkte  Beobachtungen  und  Experimente 
zu  beweisen,  ohne  daß  jedoch  Sicherheit  erzielt  worden  wäre.  Dagegen  hat 
Sinnesorganellen,  man  ciu  Rccht,  vou  Sinncsapparatcn  zu  reden.  Die  hypotrichen  Infusorien, 
welche  ihren  Namen  dem  Umstand  verdanken,  daß  sie  nur  auf  ihrer  unteren 
Seite  bewimpert  sind,  tragen  auf  ihrem  Rücken  starre  Haare,  welche  nur  als 
Tastorganellen  gedeutet  werden  können.  Augenflecke  finden  sich  bei  Flagel- 
laten,  merkwürdigerweise  besonders  bei  den  den  Übergang  zu  den  Pflanzen 
vermittelnden  Formen,  den  Euglenen,  Volvocineen  und  Dinofiagellate?!.    Eine 


Reizbarkeit  des  Protoplasma  1 1 

Dinoflagellate  Erythropsis  agilis,  besitzt  einen  scharf  umschriebenen  braun- 
roten Pigmentfieck  mit  einer  mächtigen  Linse,  so  daß  das  Ganze  an  die  Ocellen 
erinnert,  wie  sie  bei  wirbellosen  Tieren,  besonders  bei  Medusen,  vorkommen. 
Aber  auch  da,  wo  spezifische  Sinnesorganellen  fehlen,  ist  das  Protoplasma  als 
solches  äußeren  Reizen  gegenüber  empfänglich,  mögen  dieselben  durch  che- 
mische oder  physikalische  Agentien  bedingt  sein.  Es  gilt  hier  ähnliches,  wie 
es  über  positive  und  negative  Chemotaxis,  Phototaxis  und  Thermo- 
taxis  schon  in  dem  Kapitel  über  Botanik  gesagt  worden  ist,  so  daß  hier  auf 
dasselbe  verwiesen  werden  kann.  Besondere  Erwähnung  verdienen  die  Er- 
fahrungen und  Versuche,  welche  mit  elektrischer  und  mechanischer  Reizung 
sowie  mit  der  Wirkung  der  Schwerkraft  gemacht  wurden.  Ein  verblüffendes 
Bild  erhält  man,  wenn  man  einen  elektrischen  schwachen  Strom  durch  eine 
mit  Infusorien  reich  bevölkerte  Flüssigkeit  leitet.  Viele  Arten,  z.  B.  Para- 
maecien  sammeln  sich  dann  in  dichten  Scharen  an  der  Kathode.  Wird  der 
Strom  mittelst  eines  Stromwenders  in  umgekehrter  Richtung  geleitet,  so  wan- 
dern auch  die  Paramaecien  zu  dem  entgegengesetzten,  nunmehr  zur  Kathode 
gewordenen  Pol  über. 

Was  die  Schwerkraftswirkung  anlangt,  so  wurde  schon  bei  der  Botanik 
erläutert,  wie  die  Plasmodien  der  Mycetozoen  (Myxomyceten)  an  einem  senk- 
recht gestellten  Objektträger  der  Schwerkraft  entgegen  emporklettern  und 
demgemäß  auch  auf  einer  Zentrifuge  nach  dem  Mittelpunkt  derselben  streben. 
In  analoger  Weise  steigen  auch  viele  andere  Rhizopoden  unter  normalen  Ver- 
hältnissen nach  der  Wasseroberfläche  auf,  sei  es,  daß  sie  an  den  Wandungen  des 
Zuchtglases  emporkriechen  [Thalamophoren],  sei  es,  daß  sie  ihr  spezifisches 
Gewicht  herabsetzen,  indem  sie  Gasblasen  ausscheiden  [Arcellen)  oder  Flüssig- 
keitsansammlungen erzeugen,  welche  leichter  sind  als  das  umgebende  Medium 
und  eine  Art  Schwimmgürtel  bilden  [Radiolarien).  Werden  die  Tiere  beunruhigt, 
bei  marinen  Tieren  z.  B.  durch  Stürme,  so  werden  die  Gasblasen  resorbiert,  die 
Vacuolen  teils  verkleinert,  teils  ganz  eingezogen.  Das  in  dieser  Weise  zustande 
kommende  Absinken  der  Tiere  tritt  zu  gewissen  Zeiten  auch  aus  inneren  Ur- 
sachen vermöge  einer  Umstimmung  der  Tiere  ein.  Wenn  Mycetozoen  ihre 
Fruchtkörper  bilden,  Radiolarien  zur  Fortpflanzung,  Infusorien  zur  Konjuga- 
tion schreiten,  suchen  sie  ebenfalls  die  Tiefe  auf. 

Schließlich  noch  einige  Worte  über  die  sogenannte  Thigmotaxis,  die xhigmotaxis 
Reaktionsfähigkeit  gegenüber  mechanischen  Reizen.  Starke  Erschütterungen 
oder  direkte  Berührungen  veranlassen  die  Protozoen  zu  heftigen  Kontraktionen. 
Rhizopoden  ziehen  ihre  Pseudopodien  ein;  stets  erfolgt  soweit  als  möglich  eine 
Abkugelung  des  Körpers.  Ist  dagegen  der  durch  die  Berührung  ausgeübte 
Reiz  geringeren  Grades,  so  strömt  umgekehrt  das  Protoplasma  der  Stelle  der 
Erregung  zu. 

Das  wenige,  was  ich  hier  über  Reizbarkeit  der  Protozoen  gesagt  habe,  wird 
es  verständlich  machen,  warum  Physiologen  und  Zoologen  in  der  Neuzeit  sich 
mit  Vorliebe  mit  der  Analyse  dieser  Erscheinungen  befaßt  haben.  Handelt  es 
sich  doch  hier  um  die  elementarsten  Reflexe,  deren  Studium  für  das  Verstand- 


12 


Richard  von  HertwiG:  Die  einzelligen  Organismen 


nis  des  Seelenlebens  der  Tiere  von  der  größten  Bedeutung  ist,  an  denen  daher 
auch  die  Tierpsychologie  nicht  achtungslos  vorbeigehen  kann. 

3.  Ernährung.  An    die   Thiguiotaxis    müssen   wir    anknüpfen,    wenn   wir   nunmehr    die 

dritte  Hauptfunktion  des  Lebens,  die  Ernährung,  näher  besprechen  wollen. 
Denn  die  mechanische  Reizung  des  Protoplasma  spielt  eine  wichtige  Rolle,  um  die 
Aufnahme  der  Nahrung  zu  ermöglichen.  Dieselbe  ist  am  besten  bei  denjenigen 
Protozoen  zu  verfolgen,  welche,  wie  es  bei  den  meisten  Tieren  der  Fall  ist, 

a)  Nahrungs  feste  Nahrungskörper  aufnehmen  (holozoische  Ernährung).  Wir  gehen 
aufnähme.  ^^^^-^  ^^^  ^^j-^  cinfachstcn  Fall  aus,  dem  Fressen  eines  Rhizopoden,  einer 
Amöbe.  Trifft  die  Amöbe  bei  ihren  Wanderungen  auf  einen  Fremdkörper,  so 
wirkt  derselbe,  besonders  wenn  er  beweglich  ist,  als  Reiz  (Thigmotaxis)  und 
veranlaßt  ein  lebhaftes  Zuströmen  von  Protoplasma,  welches  allmählich  den 
Körper  umfließt  und  dem  Entosark  einverleibt.  Lange  Zeit  wurde  angenom- 
men, daß  hierbei  eine  besondere  Auswahl  weder  bei  Amöben  noch  bei  anderen 
Protozoen  stattfindet.  Denn  auch  unverdauliches  Material,  wie  z.B.  pulverisiertes 
Karmin,  wird  aufgenommen,  unter  Umständen  in  solchen  Mengen,  daß  für  brauch- 
bare Nahrung  kein  Platz  mehr  ist.  Wenn  man  gleichwohl  beim  Durchmustern  des 
Futterinhaltes  von  Protozoen  eine  Art  Auslese  findet,  wenn  Paramaecien  z.  B. 
,,sehr  gern"  von  Amöben,  fast  gar  nicht  von  den  Sonnentierchen  (Actino- 
sphaerien)  gefressen  werden,  wenn  Actinosphaerien  die  blauen  Trompeten- 
tierchen (Stentor  caeruleus)  anderen  Arten  {St.  polymorphus)  vorziehen,  so 
erblickte  man  den  Grund  hierzu  in  nebensächlichen  Momenten,  daß  die  Lebens- 
weise und  Verbreitung  mancher  Tiere  kleine  Besonderheiten  zeigen,  welche  im 
Vergleiche  zu  anderen  Tieren  es  erleichtern  oder  erschweren,  daß  sie  gefressen 
werden.  Es  heße  sich  sehr  wohl  vorstellen,  daß  lebende  Tiere  vielfach  leichter 
aufgenommen  werden,  als  unbelebtes  Material,  weil  sie  durch  ihre  Bewegungen 
reizen  und  so  durch  Thigmotaxis  die  Aufnahme  begünstigen.  In  der  Neuzeit 
hat  jedoch  auch  die  gegenteilige  Auffassung  ihre  Vertreter  gefunden.  Man  hat 
sogar  versucht,  durch  sinnreich  ausgedachte  Experimente  dieselbe  genauer  zu 
begründen  und  zu  beweisen,  daß  bei  einer  gleichmäßigen  Mischung  verdau- 
licher und  unverdaulicher  Substanzen,  wie  z.  B.  von  fein  verteiltem  Gelbei  und 
Karmin  ersteres  in  viel  größeren  Mengen  als  letzteres  aufgenommen  wird,  daß 
Paramaecien  durch  langdauernde  Karminfütterung  dahin  gebracht  werden,  die 
Aufnahme  dieses  unverdaulichen  Materials  zu  verweigern,  daß  dieselben  Tiere 
zwischen  Hefezellen,  welche  zuvor  mit  giftigem  Thenol-Thionin  (Thionin  pheni- 
que),  und  solchen,  welche  mit  ungiftigem  Congorot  gefärbt  wurden, unterscheiden 
und  erstere  zurückweisen  und  letztere  aufnehmen.  Man  kann  diesen  Nachweis 
führen,  weil  Thionin  die  Hefezellen  blau,  Congorot  sie  rot  färbt.  Es  ergibt  sich 
hier  für  künftige  Untersuchungen  ein  reiches  Feld  experimenteller  Forschung. 
Während  bei  Amöben  und  anderen  Rhizopoden  jede  Stelle  der  Oberfläche 
der  Pseudopodien  zur  Nahrungsaufnahme  dienen  kann,  werden  neue  Be- 
dingungen für  letztere  geschaffen,  wenn  die  Oberflächenmembran  des  Pro- 
tozoenkörpers zu  einer  für  die  Nahrung  nicht  mehr  durchgängigen  Pellicula 
erhärtet,  wie  es  bei  allen  Wimperinfusorien  und  vielen  Geißelinfusorien  und 


Nahrungsaufnahme  und  Verdauung  l? 

Sporozoen  der  Fall  ist.  Soll  dann  noch  an  der  Aufnahme  geformter  Nahrung 
festgehalten  werden,  so  muß  eine  besondere,  dazu  geeignete  Stelle,  ein  Zell- 
mund  oder  Cytostom  geschaffen  werden. 

Bei  den  Wimperinfusorien  ist  das  Cytostom  eine  Öffnung,  die  in  das  cytostom  Zeiien 
Innere  des  Körpers  leitet  und  in  welche  die  Nahrung  durch  den  Strudel  der  ™""  ' 
Wimpern  hineingetrieben  wird  (Fig.  4,  7).  Die  Öffnung  führt  in  einen  Kanal, 
den  Cytopharynx,  welcher  dadurch  ausgezeichnet  ist,  daß  die  Pellicula  mit 
ihrem  Wimperkleid  sich  in  ihn  hinein  fortsetzt,  wozu  noch  weitere  oft  recht 
komplizierte  Strukturen  hinzutreten  können.  Am  blinden  Ende  ist  die  Pelli- 
cula unterbrochen;  hier  vermag  daher  der  starke  Strudel  der  Wimpern  die 
Nahrung  samt  dem  gleichzeitig  aufgenommenen  Wasser  in  das  weiche  Proto- 
plasma hineinzupressen.  So  entsteht  eine  Nahrungsvacuole,  ein  Tröpfchen 
Flüssigkeit,  in  welcher  die  aufgenommene  Nahrung  lagert.  Während  die  Nahrungs- 
vakuole  ursprünglich  mit  dem  Cytopharynx  inVerbindung  stand,  schnürt  sie  sich 
später  ab,  liegt  nunmehr  frei  im  Plasma  und  wird  durch  die  mehr  oder  minder 
lebhaften  Bewegungen  desselben  im  Körper  herumgeschleppt  (Zyklosis).  Ähn- 
liche Einrichtungen,  wie  ich  sie  hier  für  Wimperinfusorien  geschildert  habe, 
kommen  auch  bei  Flagellaten  vor,  sie  können  aber  auch  durch  analog  funk- 
tionierende anderweitige  Einrichtungen  vertreten  sein,  auf  die  ich  hier  nicht 
weiter  eingehen  kann. 

Wir  verfolgen  nun  das  Schicksal  des  aufgenommenen,  entweder  unmittel-  b)  Verdauung, 
bar  dem  Protoplasma  eingelagerten  oder  von  einer  Vakuole  umhüllten 
Nahrungskörpers.  War  derselbe  ein  lebendes  Tier,  ein  anderes  Protozoon,  oder 
ein  kleiner  Krebs,  Wurm  oder  die  Larve  eines  vielzelligen  Tieres,  so  hören 
die  anfangs  vorhandenen,  gegen  den  Feind  ankämpfenden  Bewegungen  bald 
auf.  Unzweifelhaft  handelt  es  sich  hierbei  um  eine  vom  Protoplasma  aus- 
gehende Giftwirkung.  Dann  setzt  die  Verdauung  ein.  Denn  der  Körper,  so- 
fern derselbe  überhaupt  verdaulich  ist,  verändert  sein  Aussehen  und  schrumpft 
zusammen,  offenbar,  weil  alle  verdaulichen  Substanzen  durch  Verdauungs- 
säfte gelöst  und  dem  Protoplasma  zugeführt  werden.  Der  unverdauliche  Rest 
wird  ausgeworfen,  bei  Rhizopoden  mit  weicher  Oberflächenschicht  an  einer  be- 
liebigen Stelle,  bei  Infusorien  mit  festerer  Pellicula  durch  eine  nur  bei  der 
Entleerung  sichtbare  Öffnung  der  Pellicula,  die  Cytopyge  oder  den  Zellenafter,  zeiienafter, 

Es  hat  etwas  Überraschendes,  daß  das  Protoplasma  eine  so  feine  Reak-  oefae°cYtfon 
tionsfähigkeit  auf  Fremdkörper  hat,  daß  es  assimilierbare  Teile  dem  Innern 
zuführt,  ausgelaugte  Körper  dagegen  nach  außen  befördert.  Um  so  inter- 
essanter ist  es,  daß  es  Rhumbler  geglückt  ist,  ganz  analoge  Vorgänge  mit 
unbelebtem  Material  zu  erzielen.  Er  nahm  feine,  mit  Schellack  überzogene 
Glasfäden  und  brachte  dieselben  mit  einem  Chloroformtropfen  in  Berührung. 
Da  Schellack  in  Chloroform  löslich  ist,  umfloß  der  Tropfen  den  Glasfaden, 
bis  aller  Schellack  gelöst  war.  Sowie  dieser  Moment  eintrat,  wurde  der  Glas- 
faden ausgestoßen.  Wir  haben  hier  somit  eine  vollkommene  Analogie  zu  den 
Assimilationsvorgängen  der  Protozoen,  so  daß  man  keinen  Grund  hat,  in  dem 
wechselnden  Verhalten  des  Protoplasmas  der  aufgenommenen  Nahrung  gegen- 


14 


Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 


Holophytische 
Ernährunar. 


Opalina 
rauarum.  Ein  viel- 
kerniges   Infusor 
ohne   Mundöff- 
nung. 


Über    besondere   nur  mit   Hilfe    der   Lebenskraft    erklärbare   Erscheinungen 
zu  erblicken. 
Ernährung  durch  Es  gibt  nun  vlelc  Protozoen,  in  deren  Innerem  man  niemals  geformte,  der 

flüssige  Nahrung,  y^^^^^^^g  harrende  Nahrung  findet,  weil  sie  entweder  von  flüssiger  Nahrung 
leben  oder  nach  Art  der  Pflanzen  assimilieren.  Ersteres  kommt  nur  bei  para- 
sitischen Protozoen  vor,  einigen  parasitischen  Wimperinfusorien,  z.  B.  Opalina 
ranarum  (Fig.  8),  außerdem  bei  der  Mehrzahl  der  Sporozoen  (Fig.  5). 
In  solchenFällen  wird,auch  wenn  die  Oberfläche  von  einer  Pellicula 
überzogen  ist,  ein  Cytostom  vermißt,  weil  die  flüssige  Nahrung 
durch  die  Pellicula  aufgenommen  wird,  wie  etwas  Ähnhches  von 
den  ebenfalls  parasitischen  Bandwürmern  bekannt  ist. 

Die    an   zweiter  Stelle   genannte,    an    Pflanzen   erinnernde 

holophytische    Ernährungsweise     findet    sich     bei    Flagellaten, 

welche   durch  den  Besitz  von  Chlorophyllkörnern  ausgezeichnet 

sind,  wie  z.  B.  den  Volvocineen;  sie  tritt  aber  auch  bei  Formen 

auf,  welche  in  besonderen  Farbstoffträgern,  den  Chromatophoren, 

braune   oder    gelbliche   Farbstoffe    enthalten,   wie    die    meisten 

Chrysomonadinen  und  Dinoflagellaien.    In  allen  diesen  Fällen  wird 

unter  Beihilfe    des   Sonnenlichtes   Stärke  bereitet.     Man  hätte 

daher  Veranlassung,   wie  es  auch  von  den  meisten  Botanikern 

geschieht,  die  betreffenden  Formen  ohne  weiteres  für  einzellige 

Pflanzen   zu   erklären,    wenn    nicht   zwei    Schwierigkeiten  dem 

entgegenständen.    Für  manche  Formen,  besonders  aus  der  Gruppe  der  Dino- 

flagellaten,  ist  Aufnahme   geformter  Nahrung   beobachtet   worden;    zweitens 

kommt  es  vor,  daß  von  naheverwandten  Formen  die  einen  Chromatophoren 

besitzen  und  sich  holophytisch  ernähren,  die  anderen  dagegen  farblos  und  auf 

tierische  Ernährung  angewiesen  sind.    Es  stellt  sich  somit  heraus,  daß  bei  den 

Protozoen  die  Grenzen  zwischen  Tier-  und  Pflanzenreich  nicht  scharf  gezogen 

werden  können. 

Von  den  durch  den  Besitz  eigenen  Chlorophylls  ausgezeichneten  Proto- 
zoen sind  die  zahlreichen  Arten  zu  unterscheiden,  welche  grün  und  gelb  ge- 
färbt sind,  weil  sie  grün-  und  gelbgefärbte  einzellige  Algen,  die  Zoochlorellen 
und  Zooxanthellen  beherbergen.  So  finden  sich  bei  fast  allen  Radiolarien 
und  manchen  Thalamophoren  die  ,, gelben  Zellen"  (Zooxanthellen)  mit  solcher 
Regelmäßigkeit,  daß  sie  lange  Zeit  für  Teile  des  Radiolars  gehalten  wurden. 
In  Infusorien  des  Süßwassers  leben  Zoochlorellen  teils  fakultativ,  teils  als  stän- 
dige Inwohner.  Manche  Arten  haben  sogar  davon  denSpeziesbeinamen  ,, viridis" 
erhalten.  Eine  Schädigung  erfahren  die  Protozoen  durch  diese  Einwohner 
nicht.  Im  Gegenteil,  sie  profitieren  von  der  von  den  Pflanzen  gebildeten 
Stärke  und  dem  Sauerstoff.  Man  unterscheidet  daher  dieses  Zusammensein 
zu  beiderseitigem  Vorteil  als  Symbiose  vom  Parasitismus. 

In  der  Regel  benutzen  die  Protozoen  die  verdaute  Nahrung  unmittelbar 
zum  Wachstum  ihres  Körpers  oder  um  Arbeit  zu  leisten;  seltener  kommt  es  vor, 
daß  sie  Reservestoffe  bereiten,  welche  sie  mit  sich  herumtragen.   Dieses  Sorgen 


Symbiose  mit 
Algen. 


Atmung  und  Ausscheidung  i  ^ 

für  die  Zukunft  findet  sich,  wenn  bei  der  Fortpflanzung  zahlreiche  kleine  Toch- 
terzellen gebildet  werden,  welche  zu  ihrer  weiteren  Entwicklung  viel  Nahrung 
bedürfen.  So  erzeugen  die  Gregarinen  kleine  Körperchen,  welche  große  Ähn- 
lichkeit mit  der  sogenannten  tierischen  Stärke,  dem  Glycogen,  besitzen,  derfn 
Substanz  daher  den  Namen  Paraglycogen  erhalten  hat.  Radiolarien  stapeln 
Ölkugeln  und  Konkretionen  in  sich  auf,  welche  bei  der  Vermehrung  auf  die 
einzelnen  Fortpflanzungskörper  verteilt  werden. 

Bei  den  Stoffwechselvorgängen  der  Protozoen  wird  Sauerstoff  benötigt,  Atmung, 
um  die  Oxydationsprozesse  zu  unterhalten,  welche  die  zur  Leistung  von  Arbeit 
nötige  lebendige  Energie  erzeugen;  die  Produkte  dieses  Stoffwechsels,  die 
Exkrete,  müssen  aus  dem  Körper  ausgeschieden  werden.  Der  erstere  Vor- 
gang, die  Atmung,  zeigt  bei  keinem  Protozoon  besondere  Einrichtungen,  da 
die  Kleinheit  der  Körper,  die  reiche  Oberflächenentwicklung  bei  Rhizopoden, 
die  durch  Cilien  und  Geißeln  vermittelte  Strudelbewegung  des  umgebenden 
Wassers  bei  Infusorien  die  günstigsten  Bedingungen  für  Atmung  schafft.  Wenn 
bei  den  ausschheßhch  parasitisch  lebenden  Sporozoen  diese  Bedingungen  nicht 
gegeben  sind,  so  hängt  das  wohl  damit  zusammen,  daß  sie  wie  die  meisten  Ento- 
parasiten  an  aerob  sind,  d.  h.  keinen  freien  Sauerstoff  aufnehmen,  wohl  aber 
sauerstoffreiche  Verbindungen,  welche  sie  zerspalten  und  aus  denen  sie  die 
zum  Leben  nötige  Energie  gewinnen. 

Was  nun  die  Ausscheidung  der  durch  den  Lebensprozeß  unbrauchbar  ge-  Exkretion, 
wordenen  Stoffe  anlangt,  so  sind  dieselben  in  erster  Linie  Kohlensäure  und  vacuoien 
Wasser,  weiterhin  geformte  Exkrete,  die  als  kristallinische  Einschlüsse  des 
Protoplasma  auftreten.  In  dieser  Hinsicht  sind  weit  verbreitet  Konkretionen 
von  phosphorsaurem  Kalk  nachgewiesen  worden,  gelegentlich  auch  Harn- 
säure. Wie  die  festen  Exkretkörper  nach  außen  entfernt  werden,  darüber  ist 
nichts  bekannt.  Für  die  Entleerung  der  in  Wasser  gelösten  Stoffe  (Kohlen- 
säure, vielleicht  auch  anderer  Substanzen)  dienen  die  kontraktilen  Vakuolen, 
Gebilde,  welche  bei  Rhizopoden,  Wimper-  und  Geißelinfusorien  eine  weite  Ver- 
breitung haben  und  sich  durch  zwei  leicht  zu  beobachtende  Merkmale  von  den 
Nahrungsvakuolen  unterscheiden:  l.  Sie  enthalten  keine  geformten  Bestand- 
teile, sondern  nur  klare  Flüssigkeit,  2.  sie  ziehen  sich  in  regelmäßigen  Zeit- 
intervallen, deren  Größe  nach  den  einzelnen  Arten  variiert  und  außerdem  von 
äußeren  Umständen,  besonders  von  der  Temperatur  abhängt,  zusammen.  Bei 
den  Kontraktionen  wird  der  Inhalt  der  Vakuolen  nach  außen  entleert,  so  voll- 
ständig, daß  die  Vakuole  verschwindet  (Fig.  5).  Wenn  dieselbe  nach  einiger 
Zeit  aufs  neue  in  die  Erscheinung  tritt,  so  geschieht  es  häufig  in  der  Weise, 
daß  zunächst  kleine  Bläschen  entstehen,  die  untereinander  zusammenfließen. 
Man  kann  daraus  entnehmen,  daß  die  kontraktilen  Vakuolen  keine  besonderen 
Wandungen  besitzen,  sondern  Flüssigkeitsansammlungen  im  Protoplasma  sind; 
sie  füllen  sich  unzweifelhaft  aus  der  Umgebung,  was  bei  den  Wimperinfusorien 
nicht  selten  zu  ganz  komphzierten  an  Drainage  erinnernden  Einrichtungen 
führt.  Bei  Paramaecien  ist  die  Vakuole  von  einem  Kranz  radial  verlaufender,  in 
sie  hinein  mündender  Kanäle  umgeben;  bei  einem  anderen  Infusor  (Frontonia) 


j5  Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 

sind  diese  Kanäle  reichlich  verästelt  und  durchsetzen  den  Körper  nach  allen 
Richtungen  hin;  sie  erinnern  dann  in  ihrer  Anordnung  an  die  Exkretionsorgane 
(Wassergefäßsystem,  Protonephridien)  niederer  Würmer.  Eingebettet  in  das 
kontraktile  Protoplasma  müssen  auch  die  Exkretionskanäle  kontraktil  sein; 
sie  entleeren  ihren  Inhalt  in  die  kontraktile  Vakuole.  Ihre  Kontraktion  (Sy- 
stole) und  ihr  Füllungszustand  (Diastole)  alternieren  mit  den  entsprechenden 
Zuständen  der  kontraktilen  Vacuolen,  so  daß  wir  folgendes  Bild  von  der  Funk- 
tion des  gesamten  Apparates  bekommen.  Die  zuführenden  Kanäle  nehmen 
aus  der  Umgebung  Wasser  auf,  welches  unbrauchbare  Stoffe  gelöst  enthält,  und 
geben  dasselbe  an  die  kontraktile  Vakuole  ab;  während  sie  sich  von  neuem 
füllen,  entleert  diese  die  Flüssigkeit  nach  außen. 

Die  kontraktilen  Vakuolen  sind  nicht  überall  vorhanden,  sie  fehlen  vor 
allem  den  im  Meere  lebenden  Protozoen.  Daß  ein  Abhängigkeitsverhältnis 
zwischen  Anwesenheit  der  kontraktilen  Vakuole  und  Salzgehalt  der  Umgebung 
besteht,  zeigt  die  Beobachtung,  daß  bei  der  im  Süßwasser  lebenden  Amoeba 
verrucosa  man  die  Vakuole  allmählich  verkleinern  und  schließlich  zum  Schwin- 
den bringen  kann,  wenn  man  dem  Wasser  bis  zu  i  ^%  Kochsalz  zusetzt.  Diese 
Erfahrungen  und  Experimente  machen  es  wahrscheinlich,  daß  die  Existenz 
und  die  Funktionsweise  der  kontraktilen  Vakuolen  eine  physikalische  Er- 
klärung erlauben,  welche  davon  ausgehen  muß,  daß  das  Meerwasser  einen 
größeren,  das  Süßwasser  einen  geringeren  Salzgehalt  als  das  Protoplasma  hat, 
daß  ersteres  somit  hypertonisch,  letzteres  hypotonisch  ist. 

Schalen  und  ludcm  ich  dic  zahlreichen  Bildungsprodukte  des  Protoplasma  übergehe, 

welche  als  Einschlüsse  des  Protozoenkörpers  auftreten,  aber  auf  gewisse  Arten 
oder  Gruppen  beschränkt  sind,  wie  z.B.  dieTrichocysten  der  Paramae den,  die  Pol- 
kapseln der  Myxosporidien  usw.,  wende  ich  mich  zur  Besprechung  des  Skeletts, 
welches  in  manchen  Klassen  und  Ordnungen,  wie  den  Amöhinen  und  Sporozoen 
gänzlich  fehlt,  in  anderen,  wie  den Flagellaten  und  Cüiaten,  gelegentlich  vorkommt, 
in  noch  anderen  dagegen  [Radiolarien  und  Thalamophoren)  eine  ganz  außerordent- 
liche Bedeutung  gewinnt.  In  beiden  Ordnungen  der  Rhizopoden  herrscht  eine 
Mannigfaltigkeit  der  Skelettbildungen,  daß  ich  auf  eine  Schilderung  verzichten 
und  auf  die  Figuren  9  und  10  verweisen  muß.  Ich  begnüge  mich  mit  einigen 
Bemerkungen  über  das  Skelettmaterial.  Grundlage  des  Skeletts  ist  unter  allen 
Umständen  eine  organische  Masse  von  unbekannter  chemischer  Beschaffen- 
heit; dieselbe  hat  bei  manchen  Arten  (vielen  Monothalamien)  an  sich  schon  die 
nötige  Festigkeit;  öfters  wird  sie  jedoch  durch  die  Einlagerung  von  Sand- 
körnchen, Diatomeenschalen  und  anderen  Fremdkörpern  gestützt ;  am  häufigsten 
aber  ist  der  Grund  der  Festigkeit  in  der  Imprägnation  mit  kohlensaurem  Kalk 
gegeben.    Hierin  sowie  in  der  ganz  enormen  Verbreitung  der  Tiere  ist  die  große 

Geologische   Bcdcutung  gegeben,  welche  die  Foraminiferen  für  den  Aufbau  der  Erde  be- 

Foraminiferen.  sitzcu.    Bcstcht  doch  an  mauchcu  Orten  der  Meeressand  fast  ausschließlich 

aus   ihren  Schalen.  Über  die  Massenhaftigkeit  ihres  Auftretens  macht  man  sich 

erst  eine  Vorstellung,  wenn  man  bedenkt,   daß  i  Gramm  Meeressand,  welcher 

durch  Aussieben  von  allen  über  i  mm  großen  Stücken  befreit  worden  ist,  min- 


Skelett,  Zellkern 


17 


Mi  ■ 


Fig.  g.  Kalkskelette  von  Foraminiferen. 


destens  50  000  Foraminiferenschalen  enthält.  Da  diese  enorme  Entwicklung 
von  Individuen  und,  wie  wir  hinzu  setzen  können,  auch  von  Arten  in  früheren 
Erdperioden  die  gleiche  war,  ist  es  begreiflich,  wie  die  mächtigen,  fast  nur  aus 
Foraminiferenschalen  bestehenden  Ablagerungen  der  Kreide,  des  Grünsandsteins 
und  der  Nummulitenkalke  haben  entstehen  können. 

Dieselbe  Rolle,  wie  der  Kalk  bei  den  Foraminiferen,  spielt  die  Kiesel- 
säure bei  den  Radiolarien,  ein  noch  viel  widerstandsfähigeres  Material  (Fig.  10). 
Während  daher  in  Meerestiefen  von  4000  m  abwärts  die  Schalen  der  Foraminiferen 
fehlen,  weil  sie  durch  die  Kohlensäure  des  Meeres  gelöst  werden,  sind  Radio- 
larienskelette  bis  in  die 
größten  Meerestiefen 
anzutreffen.  Freilich 
findet  man  die  Radio- 
larienskelette  nur  sel- 
ten in  einer  annähernd 
so  großen  Menge  wie 
die  Schalen  der  Fora- 
miniferen. 

Die  Besprechung 
des  Baues  der  Proto- 
zoen haben  wir  mit  dem 
Nucleus  oder  Zellkern 
zu  beschließen,  einem 
Gebilde,  welches  sowohl 
in  seiner  Form,  wie  in 
seinem  Bau  ungleich 
mannigfaltiger  ist,  als 
der  Kern  vielzelliger 
Pflanzen  und  Tiere. 

Die  bei  Pflanzen 
und  Tieren  verbreitet- 
ste  Form  des  Kerns  ist  die  eines  ovalen  oder  kugeligen  Bläschens;  sie  findet 
sich  auch  bei  Protozoen  nicht  selten;  oft  ist  dieselbe  zu  einem  wurstförmigen 
Körper  ausgezogen.  Ein  derartig  langgestreckter  Kern  kann  rosenkranzförmig 
eingeschnürt  oder  in  zwei  durch  ein  Fädchen  verbundene  Stücke  zerlegt  sein 
oder  er  ist  reichlich  verästelt  und  durchsetzt  dann  nach  allen  Richtungen  das 
Protoplasma. 

In  seiner  stofflichen  Zusammensetzung  stimmt  der  Kern  mit  dem 
pflanzlichen  Zellkern  überein.  Seine  wichtigsten  Bestandteile  sind  i.  das 
.Chromatin  oder  Nuklein,  2.  das  Plastin  oder  die  Nukleolarsubstanz,  3.  das 
Linin;  dazu  kommen  als  minder  wichtige  Teile  der  den  Kern  durchtränkende 
Kernsaft  und  die  nicht  immer  vorhandene  Kernmembran.  Das  Linin  bildet 
das  Kerngerüst,  auf  dessen  Maschen  Chromatin  und  Nukleolarsubstanz  in  der 
mannigfachsten  Weise  angeordnet  sind.     Gewöhnlich  sind  beide  Substanzen 

K.  d.  G.  in.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  2 


Kieselskelettc  von  Radiolarien. 


Zellkern. 


Gestalt. 


i8 


Richard  von  HertwiG:  Die  einzelligen  Organismen 


innig  miteinander  verbunden;  sie  bilden  im  bläschenförmigen  Kern  einen  zen- 
tralen Körper,  das  Karyosom,  manchmal  außerdem  noch  eine  durch  einen 
Zwischenraum  vom  Karyosom  getrennte  Kernrindenschicht.  Das  Material  des 
Karyosoms  kann  in  mehrere  nukleolusartige  Körper  zerlegt  oder  in  feinsten 
Körnchen  auf  dem  Retikulum  verbreitet  sein.  Ist  das  Kernretikulum  sehr  eng- 
maschig, das  Material  des  Karyosoms  sehr  fein  auf  ihm  verteilt,  so  nehmen  die 
Kerne  ein  massives  Aussehen  an,  wie  es  namentlich  bei  Wimperinfusorien  der 
Fall  ist.  Ab  und  zu  findet  man  auch  echte  Nukleoli,  Körper  von  Nukleolar- 
substanz,  welche  sich  vom  Chromatin  gesondert  halten.  Was  ich  hier  mitteile, 
sind  nur  die  wichtigsten  Zustände  des  Protozoenkerns,  dessen  staunenswerte 
Mannigfaltigkeit  noch  dadurch  erhöht  wird,  daß  die  Struktur  mit  den  wechseln- 
den Funktionszuständen  des  Tieres  abändert. 

Neben    dem    Kern  findet   sich   bei    vielen 
Protozoen  noch  der  Chromidialapparat  (Fig.  1 1), 
ein  außerhalb  des  Kerns  dem  Protoplasma  ein- 
gelagertes Material,  welches   in  seinem  mikro- 
chemischen Verhalten  mit  dem  Chromatin  über- 
einstimmt ;  es  bildet  entwederFäden  und  Klümp- 
chen  • —  Chromidien  — oder  ein  das  Protoplasma 
durchsetzendes    Netzwerk    ■ —  Chromidialnetz. 
Die  Zugehörigkeit  des  Chromidialapparats  zum 
Kern  wird,  abgesehen  von  seinem  färberischen 
Verhalten,    auch    durch   den   genetischen   Zu- 
sammenhang, welcher  zwischen  beiden  besteht, 
bewiesen.    Denn  es  ist  durch  Beobachtung  fest- 
gestellt,   daß  sowohl  Chromidien    durch   Auf- 
lösung von  Kernen  entstehen,   als  auch,    daß    aus  dem  Chromidialnetz  neue 
Kerne,  die  Sekundärkerne,  gebildet  werden  können,  während  die  anfangs  vor- 
handenen Primärkerne  zugrunde  gehen. 
Moneren.  Dic  Bcobachtung,  daß  bei  Rhizopoden  zu  manchen  Zeiten  keine  individuali- 

sierten Kerne  vorkommen,  weil  dieselben  durch  den  Chromidialapparat  ersetzt 
sind,  wirf  t  neues  Licht  auf  die  Frage,  ob  es  kernlose  Organismen,  sogenannte , ,  Mone- 
ren" gibt.  Solange  die  Technik  im  Nachweis  der  häufig  schwer  zu  erkennenden 
Kerne  eine  sehr  unvollkommene  war,  erfreute  sich  die  von  Haeckel  stammende 
Lehre  von  den  Moneren  lebhaften  Beifalls,  zumal  weil  es  leichter  verständlich 
erschien,  daß  Organismen,  welche  nur  aus  einer  einzigen  Substanz,  dem  Proto- 
plasma bestehen,  durch  Urzeugung  entstehen  können,  als  Zellen  mit  Kern 
und  Protoplasma.  Als  dann  die  Zahl  der  früher  für  Moneren  gehaltenen  Orga- 
nismen zunahm,  bei  denen  der  Nachweis  von  Kernen  gelang,  entschloß  sich  die 
Mehrzahl  der  Zoologen,  die  Gruppe  der  Moneren  einzuziehen.  Immerhin  kennen 
wir  auch  jetzt  noch  Organismen,  wie  die  Bakterien,  in  denen  individualisierte 
Kerne  nicht  vorkommen.  Hier  sind  dieselben  offenbar  dauernd  durch  ein  Chro- 
midialnetz ersetzt;  es  würde  also  auch  hier  der  Zellkörper  aus  zweierlei  Sub- 
stanzen, aus  Kernsubstanz  und  Protoplasma,  bestehen,  während  der  Schwer- 


Fig.  II.  Arcella  vulgaris.  Schale  mit  Schalen- 
mündung, zum  größten  Teil  von  Protoplasma 
erfüllt ;  in  letzterem  2  Kerne  und  das  Chro- 
midialnetz. 


Kernlosigkeit,  Moneren,  Funktion  des  Kerns  ig 

punkt  der  Monerenlehre  auf  den  Nachweis  einer  einheithchen  Lebenssubstanz 
zu  legen  wäre. 

Die  Lehre,  daß  zum  Leben  der  Protozoen  und  wahrscheinlich  aller  tierischen  Bedeutung  des 
und  pflanzlichen  Zellen  das  Zusammenwirken  vonKernsubstanz  und  Protoplasma  ^™  ' 
nötig  ist,  hat  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  weitere  Stützen  durch  experi- 
mentelle Untersuchungen  gefunden,  welche  angestellt  wurden,  um  über  die 
Bedeutung  des  Nukleus  im  Zellenleben  Klarheit  zu  gewinnen.  Einkernige  Proto- 
zoen {Amöben,  größere  Infusorien)  kann  man  durchschneiden  und  dadurch  in 
ein  kernhaltiges  und  ein  kernloses  Stück  zerlegen.  Beide  Stücke  bleiben  zunächst 
am  Leben  und  können  sich  mit  Hilfe  ihrer  Pseudopodien  (Amöben)  oder  ihrer 
Wimpern  (Infusorien)  fortbewegen;  im  weiteren  Verlaufe,  wenn  auch  vielfach 
erst  nach  14  Tagen,  sterben  die  kernlosen  Stücke  ab,  während  die  kernhaltigen 
Stücke  nicht  nur  dauernd  am  Leben  bleiben,  sondern  auch  die  verloren  ge- 
gangenen Teile  regenerieren.  Durch  den  Kernverlust  muß  somit  eine  Schädi- 
gung der  Lebensfunktionen  eingetreten  sein.  Es  fragt  sich  welcher.?  Wenn  ich 
die  in  manchen  Punkten  differierenden  Ergebnisse  der  Experimente  überblicke, 
so  komme  ich  zu  dem  Resultat,  daß  bei  kernlosen  Stücken  die  Assimilations- 
fähigkeit aufgehört  hat,  dementsprechend  die  Fähigkeit,  Nahrung  auf- 
zunehmen, zu  verdauen  und  das  Verdaute  zum  Aufbau  neuen  Protoplasmas 
und  neuer  Plasmaprodukte  zu  verwenden.  In  den  meisten  Fällen  wird  diese 
Auffassung  durch  die  direkte  Beobachtung  bestätigt,  indem  bei  kernlosen 
Stücken  jede  Regeneration  unterbleibt,  die  einverleibten  Nahrungskörper  als 
unverdauliche  Bestandteile  ausgestoßen  werden,  auch  wenn  sie  nicht  verdaut 
sind,  dagegen  keine  Neuaufnahme  stattfindet.  Wenn  von  den  letzten  beiden 
Sätzen  gelegentlich  Ausnahmen  vorkommen,  so  liegt  die  Erklärung  nahe,  daß 
in  diesen  Fällen  eine  Nachwirkung  des  entfernten  Kerns  vorliegt,  daß  noch 
ein  Vorrat  von  Enzymen  vorhanden  war,  wie  sie  zur  Nahrungsaufnahme  und 
Verdauung  nötig  sind  und  wie  sie  unter  Mitwirkung  des  Kerns  erzeugt  werden. 
Erregbarkeit  und  Bewegungsfähigkeit  scheinen  dagegen  vom  Kernverlust  nicht 
direkt  betroffen  zu  werden,  da  sie  fast  die  ganze  Zeit  über  fortdauern.  Freilich 
ist  die  Fortdauer  keine  kontinuierliche,  sondern  stoßweise,  indem  Zeiten  der 
Bewegung  mit  Zeiten  der  Ruhe  wechseln.  Solange  eben  das  Substrat  der  Be- 
wegung, das  Protoplasma  mit  seinen  Fortbewegungsorganen,  noch  intakt  ist, 
geht  seine  Tätigkeit  weiter.  Merkwürdig  ist  dabei  nur  das  Eine,  daß  die  Kon- 
traktihtät  nicht  nach  Art  eines  abrasselnden  Uhrwerks  durch  ununterbrochene 
Tätigkeit  erschöpft  wird.  Nicht  minder  interessant  ist  es,  daß  die  kontraktile 
Vakuole  in  kernlosen  Stücken  erhalten  bleibt  und  falls  sie  bei  der  Durch- 
schneidung ihm  entzogen  wurde,  sogar  neu  entsteht.  Auch  diese  Tatsache  spricht 
für  die  Annahme,  daß  relativ  einfache,  vielleicht  unmittelbar  physikalisch  er- 
klärbare Vorgänge  die  Entstehung  der  kontraktilen  Vakuolen  bedingen. 

Es  würde  für  das  Verständnis  der  Lebensvorgänge  nicht  nur  der  Proto- 
zoen, sondern  aller  Organismen  von  der  größten  Bedeutung  sein,  wenn  es  gelänge, 
über  die  Wechselwirkung  von  Kern  und  Protoplasma  genauere  Vorstellungen 
zu  gewinnen.    Leider  sind  unsere  Anschauungen  hierüber  noch  zu  wenig  ge- 


2Q  Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 

klärt,  als  daß  es  jetzt  schon  möglich  wäre,  eine  kurze  abschließende  Darstellung 
zu  geben.  Das  Sicherste,  was  wir  über  das  Wechselverhältnis  der  beiden  wich- 
tigen Bestandteile  wissen,  wurde  beim  Studium  der  Fortpflanzung  gefunden. 
Ehe  wir  aber  auf  diese  letzte  Grunderscheinung  des  Lebens  eingehen,  möchte 
ich  hier  einige  Worte  über  einen  Vorgang  einschalten,  der  im  Lebenshaushalt 
der  Protozoen  eine  höchst  bedeutsame  Rolle  spielt,  den  Enzystierungs- 
prozeß. 
Enzystierung.  Dic  EnzysticruHg  der  Protozoen  ist  eine  Schutzvorrichtung  gegen  Schädlich- 

keiten, vor  allem  gegen  die  Gefahr  des  Eintrocknens,  welche  eintritt,  wenn 
Protozoen  aus  ihrer  normalen  flüssigen  Umgebung  an  die  Luft  geraten.  Man 
findet  daher  die  Erscheinung  fast  ausschließlich  bei  parasitischen  Protozoen, 
deren  Entwicklungszustände,  um  von  einem  Wirt  in  den  anderen  zu  gelangen, 
die  Luft  passieren  müssen,  und  außerdem  bei  Süßwasserbewohnern,  weil  die- 
selben vorwiegend  in  Pfützen,  Tümpeln  und  Weihern  leben,  welche  gelegent- 
lich eintrocknen  und  einfrieren,  wodurch  den  Wasserbewohnern  die  Lebens- 
bedingungen entzogen  werden.  Bei  den  meeresbewohnenden  Protozoen  ist  die 
Enzystierung  sehr  selten;  bei  den  typischen  Repräsentanten  des  Meeres,  den 
Radiolarien  und  Polythalamien  fehlt  sie  ganz,  so  daß  man  Ursache  hat,  an- 
zunehmen, daß,  wo  Enzystierung  bei  marinen  Protozoen  auftritt,  sie  eine  von 
süßwasserbewohnenden  Vorfahren  ererbte  Anpassung  ist. 

Bei  der  Enzystierung  kugeln  sich  die  Protozoen  ab,  d.  h.  sie  nehmen  die 
Form  an,  bei  welcher  die  Körpermasse  die  geringste  Oberfläche  bietet.  Dann 
werden  Hüllen  ausgeschieden,  nicht  selten  von  komplizierter  Struktur,  Gal- 
lerten, feste,  undurchgängige  Membranen,  die  ab  und  zu  mit  Kieselkörpern  im- 
prägniert sind.  Ist  die  Enzystierung  zum  Abschluß  gebracht,  dann  können  Proto- 
zoen monate-  ja  sogar  jahrelang  an  der  Luft  verharren,  ohne  ihre ,, Keimfähigkeit" 
zu  verlieren ;  d.  h.  sie  bewahren  die  Fähigkeit  aus  der  Hülle  auszukriechen  und  zu 
neuem  Leben  zu  erwachen,  wenn  sie  in  Wasser  oder  (bei  Parasiten)  in  Gewebs- 

Erkiäruug  der  flüssigkcit  geraten.  Die  Enzystierung  erklärt  das  rätselhafte  Erscheinen  von 
n  usioneii.  Lg^^g-^gggj^  jj^  Infusioncn.  Wenn  Erde,  Heu  oder  andere  Materialien  mit  Wasser 
Übergossen  werden  und  in  diesen  ,,Lifusionen"  sich  reiches  Protozoenleben  ent- 
wickelt, so  waren  die  Keime  als  Zysten  zum  Teil  in  dem  übergossenen  Material 
vorhanden  gewesen,  zum  Teil  waren  sie  durch  Luft  in  die  Infusion  verschleppt 
worden.  Sterilisiert  man  eine  Infusion  durch  längeres,  die  Zysten  tötendes 
Kochen,  und  verhindert  den  Zutritt  neuer  Zysten  durch  Verschluß,  so  ent- 
wickelt sich  in  ihr  kein  Leben.  —  Was  die  Protozoen  zur  Enzystierung  ver- 
anlaßt, ist  nicht  genügend  bekannt;  es  scheinen  ähnliche  Faktoren  zu  sein, 
welche  die  später  zu  besprechenden  Befruchtungs Vorgänge  hervorrufen.  In 
der  Tat  sind  Enzystierung  und  Befruchtung  nicht  selten  zeitlich  verknüpft. 

4  Fortpflanzung.  Auch  dic  FortpflanzuHg  der  Protozoen  hängt  nicht  selten  mit  der  Enzystierung 
zusammen  {Gregarinen,  Aktinosphaerien) ,  doch  erfolgt  sie  meist  außerhalb  der 
Cyste,  während  dieTiere  sich  freier  Ortsbewegung  erfreuen.  —  Die  einfachste  und 
häufigste  Form  der  Vermehrung  ist  die  Zweiteilung,  bei  welcher  das  Tier  durch 
eine  meist  senkrecht  zur  Längsachse  verlaufende  Furche  in  zwei  gleichgroße 


Enzystierung,  Vermehrung"  2 1 

Stücke  zerlegt  wird.  Seltener  sind  die  verschiedenen  Formen  der  Knospung, 
welche  das  Gemeinsame  haben,  daß  ein  kleineres  Stück,  die  ,, Knospe",  sich  von 
einem  größeren,  dem  ,, Muttertier",  ablöst.  Am  deutlichsten  ist  der  Charakter 
der  Knospung,  wenn  die  Knospe  als  ein  seitlicher  Auswuchs  am  Muttertier 
entsteht  oder  wenn  von  einem  gemeinsamen  Muttertier  sich  zahlreiche  Knos- 
pen ablösen  (laterale  und  multiple  Knospung),  welche  häufig  unvollkommen 
entwickelt  sind  und  erst  allmählich  die  Charaktere  des  Muttertiers  annehmen. 
Ein  bei  Protozoen  weit  verbreiteter  Vermehrungsprozeß  ist  schheßhch  die 
Sporenbildung,  bei  welcher  das  stark  herangewachsene  Tier  in  kurzer  Zeit  in 
viele,  oft  Hunderte  und  Tausende  von  Fortpflanzungskörpern,  Sporen,  zer- 
legt wird. 

Teilung  und  Knospung  führen  bei  Protozoen  nicht  selten  zu  K  o  1  o  n  i  e  -  Koioniebiidu 
bildung,  indem  die  durch  fortgesetzte  Vermehrung  entstandenen  Tiere  sich 
nicht  vollkommen  voneinander  trennen,  sondern  in  organischem  Zusammen- 
hang bleiben.  So  ist  die  in  Fig.  6  abgebildete  Carchesium-Kolonie  dadurch 
entstanden,  daß  ein  auf  einem  kontraktilen  Stiel  festsitzendes  Muttertier  sich 
teilte,  die  beiden  Tochtertiere  zusammenblieben  und  ein  jedes  von  ihnen  die 
Verlängerung  des  Stieles  für  sich  fortführte.  Die  dadurch  eingeleitete  dicho- 
tomische  Verästelung  des  Stieles  muß  sich  bei  jeder  neuen  Teilung  wieder- 
holen. So  können  Stöckchen  von  vielen  Hunderten  von  Einzeltieren  gebildet 
werden.  Noch  häufiger  (Radiolarien,  Flagellaten)  kommt  Koloniebildung  da- 
durch zustande,  daß  die  Abkömmhnge  eines  Muttertieres  durch  Gallerte  vereint 
bleiben. 

Was  uns  bei  den  mannigfachen  Fortpflanzungsarten  der  Protozoen  am 
meisten  interessiert,  ist  das  Verhalten  des  Kerns.  Bei  Zweiteilung  oder 
Knospung  des  Tieres  vermehrt  derselbe  sich  ebenfalls  durch  Zweiteilung.  Die 
Teilung  erfolgt  jedoch  nicht,  wie  die  Kernteilung  bei  vielzelligen  Pflanzen  und 
Tieren,  nach  einem  ziemlich  gleichförmigen  Schema,  sondern  liefert  eine 
überraschende  Mannigfaltigkeit  von  Bildern,  welche  zum  Teil  durch  die  Ver- 
schiedenartigkeit im  Bau  des  ruhenden  Kerns,  zum  Teil  durch  Artverschieden- 
heiten bedingt  ist  und  dem  Studium  der  Kernteilung  ein  besonderes  Interesse 
verleiht.  Wir  finden  alle  Übergänge  von  einfacher  Kerndurchschnürung  (direkte 
Kernteilung)  bis  zu  ganz  komplizierten  Formen  von  ,,Karyokinese"  (indirekte 
Kernteilung). 

Direkte  Kernteilung  (sehr  wohl  zu  unterscheiden  von  der  später  zu  be-  Direkte  Ker 
sprechenden  Kernzerstückelung)  findet  sich  namentlich  bei  chromatinreichen  '«""»"s- 
Kernen.  Wie  es  Fig.  I2  von  einem  Infusor  darstellt,  beginnt  die  Teilung  mit 
der  Konzentration  des  ovalen  oder  wurstförmig  gestreckten,  zweiteiligen  oder 
rosenkranzförmigen  Körpers  zu  einer  gedrungenen, oft  kugelförmigen  Masse.  Dann 
erfolgt  eine  Streckung  in  der  Längsachse  des  Tieres,  weiterhin  eine  allmähliche 
Durchschnürung,  bis  schheßlich  der  durch  einen  dünnen  Verbindungsfaden 
vermittelte  Zusammenhang  der  sich  bildenden  Tochterkerne  durchreißt.  Da 
sich  keinerlei  Einwirkungen  des  umgebenden  Protoplasmas  erkennen  lassen, 
ist  die  Kernteilung  ein  automatischer  Vorgang.    Wir  haben  Ursache,  anzu- 


22 


Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 


Ursache  der 
Teilung 


Fig.  12.     Drei  Stadien   der  Teilung  von  Paramaecium  aurelia. 

Dazwischen  Teilungsstadien  der  Nebenkerne  stärker  vergrößert. 

n  Hauptkern,  ^  Nebenkerne,  m  MundöfFnung. 


nehmen,  daß  das  Liningerüst  des  Kerns  Sitz  der  zur  Teilung  führenden  Be- 
wegungsvorgänge ist,  was  durch  die  reichHch  angehäufte  Masse  von  passiv  an 
der  Teilung  beteiligtem  Chromatin  verdeckt  wird.  Immerhin  kommt  es  schon 
bei  manchen  Infusorien  vor,  daß  der  Kern  eine  faserige  Struktur  annimmt, 
welche  in  dem  Liningerüst  ihre  Ursache  hat  und  ab  und  zu  sogar  zu  kompli- 
zierteren Strukturen  Anlaß  gibt. 

Die  kompakte  Beschaffenheit 
des  Kerns  und  die  Art  seiner  Tei- 
lung gestatten  bei  Paramaecien 
und  vielen  anderen  Infusorien  den 
zeitlichen  Verlauf  des  Kernwachs- 
tums von  einer  Teilung  zur  an- 
deren und  seine  Beziehung  zum 
Körperwachstum  genauer  als  es 
sonst  möglich  ist,  zu  bestimmen 
und  so  tieferen  Einblick  in  den  ur- 
sächlichenZusammenhang  des  Tei- 
lungsvorgangs zu  gewinnen.  Es  hat 
sich  dabei  herausgestellt,  daß  In- 
fusorien, welche  soeben  aus  einer 
Teilung  hervorgegangen  sind,  bei  guter  Ernährung  heranwachsen,  bis  sie  nach 
einiger  Zeit  das  Doppelte  ihrer  Größe  erreicht  haben.  Dann  tritt  eine  neue  Teilung 
ein.  Man  könnte  daraus  schließen,  daß  für  jede  Infusorienart  und  so  auch  für 
alle  übrigen  Protozoenarten  eine  bestimmte  von  Art  zu  Art  wechselnde  Tei- 
lungsgröße gegeben  sei.  Von  dieser  Auffassung  ausgehend,  hat  man  lange  Zeit  die 
Teilung  als  ein  ,, Wachstum  über  das  individuelle  Maß"  definiert.  Das  Irrige 
dieser  Auffassung  geht  schon  daraus  hervor,  daß  die  Teilungsgrößen  bei  Indi- 
viduen einer  und  derselben  Art  sehr  verschieden  sein  können.  Es  gibt  klein- 
wüchsige und  großwüchsige  Rassen.  Innerhalb  einer  und  derselben  Rasse, 
z.  B.  bei  Abkömmlingen  eines  und  desselben  Muttertieres  (innerhalb  einer  so- 
genannten ,, reinen  Linie")  kann  die  Teilungsgröße  weiterhin  von  den  verschie- 
densten Faktoren  bestimmt  werden.  Am  klarsten  liegen  die  Verhältnisse  bei 
der  Anwendung  verschiedener  Temperaturen.  In  höheren  Temperaturen  ge- 
züchtete Infusorien  sind  sehr  viel  kleiner,  vermehren  sich  dafür  rascher  als  In- 
fusorien, welche  bei  niederen  Temperaturen  gezüchtet  werden.  So  sind  z.  B. 
Paramaecien  bei  einer  Temperatur  von  10  C.  i  YgHia-l  so  groß  wie  bei  einer  Tem- 
peratur von  25",  Dilepten  bei  12*^  C.  sogar  6 mal  so  groß  als  bei  32*^.  In  ana- 
loger Weise  hat  es  sich  herausgestellt,  daß  dieselben  Foraminiferenarten  im 
kalten  Wasser  des  Nordens  eine  viel  bedeutendere  Größe  erreichen  als  im 
warmen  Wasser  dem  Äquator  benachbarter  Meere.  Ein  weiteres  Mittel,  die 
Teilungsgröße  der  Infusorien  zu  verändern,  ist  darin  gegeben,  daß  man  durch 
störende  Einflüsse,  z.  B.  vorübergehende  starke  Abkühlung,  eine  schon  ein- 
geleitete Teilung  rückgängig  macht.  Dann  muß  das  Infusor,  ähnlich  wie  es 
schon  früher  für  Spirogyrazellen  nachgewiesen  wurde,    bis  auf  das  Doppelte 


Ursache  und  verschiedene  Arten  der  Teilung  23 

seiner  gewöhnlichen  Teilungsgröße  heranwachsen,   um  sich  von  neuem  teilen 
zu  können. 

Alle  diese  Verhältnisse  werden  unserem  Verständnis  nähergerückt,  wenn 
wir  die  Wachstumsverhältnisse  von  Kern  und  Protoplasma  von  einer  Teilung 
zur  anderen  miteinander  vergleichen.  Die  Massenzunahme  des  Protoplasmas 
ist  eine  gleichmäßige.  Der  Kern  dagegen  nimmt  nach  Ablauf  der  Teilung  zu- 
nächst an  Masse  ab,  wächst  dann  lange  Zeit  über  in  ganz  geringfügiger  Weise, 
bis  kurz  vorder  Teilung  ein  rapides  Anwachsen  des  Kerns,  das  Teilungswachs- 
tum desselben  einsetzt.  Bezeichnen  wir  das  Massenverhältnis  von  Kern  und 
Protoplasma  als  Kernplasmarelation,  so  verschiebt  sich  dieselbe  von  dem 
durch  eine  vollzogene  Teilung  herbeigeführten  Gleichgewichtszustand,  der 
,, Kernplasma-Norm",  von  einer  Teilung  zur  anderen  zu  Ungunsten  des 
Kerns,  bis  ein  Maximum  derselben,  die  ,, Kernplasmaspannung",  erreicht  ist. 
Offenbar  sind  die  dann  einsetzenden  Stoffwechselvorgänge,  welche  das  Wachs- 
tum des  Kerns  bis  auf  die  durch  die  Kernplasma-Norm  bedingte  Größe  veran- 
lassen, Ursache,  daß  es  zur  Teilung  kommt.  Wird  um  diese  Zeit  durch  künst- 
liche Beeinflussung  die  Teilung  unterdrückt  und  die  Kernplasma-Norm  ohne 
Teilung  hergestellt,  so  muß  durch  ein  abermaliges  Anwachsen  des  Protoplasma 
eine  erneute  Kernplasmaspannung  erzielt  werden,  ehe  eine  neue  Teilung  mög- 
lich ist.  In  analoger  Weise  hängt  auch  die  Größenzunahme  der  Infusorien 
bei  Kälte  damit  zusammen,  daß  proportional  der  Temperaturabnahme  die 
Kernplasmarelation  wächst. 

Bei  den  Infusorien  gibt  es  nun  einen  Dimorphismus  der  Kerne,  welcher  uns  indirekte  Kem 

1         1     n  1  1  teilung. 

später  noch  beschäftigen  wird;  er  kommt  darin  zum  Ausdruck,  daß  neben  dem 
besprochenen  chromatinreichen  Kern,  dem  Hauptkern  oder  Makronukleus,  ein 
oder  mehrere  meist  chromatinarme  Kerne,  die  Nebenkerne  oder  Mikronuklei, 
liegen  (Fig. 4).  Diese  teilen  sich  in  einer  ganz  anderen,  an  die  Karyokinese  der  Tiere 
und  Pflanzen  erinnernden  Weise  (Fig.  1 2) .  Der  Kern  nimmt  die  Gestalt  einer  Spindel 
an ;  sein  Liningerüst  liefert  feine,  von  einem  Pol  zum  anderen  verlaufende  Fasern, 
die  Spindelfasern;  das  spärhche  Chromatin  sammelt  sich  auf  den  Spindelfasern 
zu  chromosomenähnlichen  Körnchenreihen  an  und  liefert  so  die  Aquatorialplatte. 
Indem  die  Spindelfasern  sich  strecken,  die  Chromosomen  der  Aquatorialplatte 
sich  teilen  und  die  Tochterchromosomen  der  Seitenplatten  liefern,  indem  der 
Spindelkörper  sich  schließlich  in  einer  sehr  komplizierten  Weise,  auf  die  ich 
hier  nicht  näher  eingehen  kann,  durchschnürt,  entstehen  zwei  Tochterkerne. 

Eine  weitere  Annäherung  an  die  Karyokinese  der  vielzelligen  Tiere  liefert 
uns  die  Kernteilung  eines  Rhizopoden,  des  Actinosphaerium  Eichhorni  (Fig.  13); 
dies  geschieht  dadurch,  daß  die  beiden  Enden  der  tonnenförmig  gestalteten 
Kernspindel  Einfluß  auf  die  Anordnung  des  umgebenden  Protoplasma  ge- 
winnen und  Anhäufungen  homogenen  Protoplasmas,  die  Polkegel,  veranlassen. 
Im  übrigen  verläuft  die  Teilung  wie  bei  den  Nebenkernspindeln  der  Infusorien. 
Im  Äquator  der  Spindel  bilden  sich  die  Chromosomen;  dieselben  teilen  sich  in 
die  Tochterchromosomen,  welche  nach  den  Spindelpolen  auseinanderweichen 
und  zu  den  zwei  Tochterkernen  verschmelzen. 


24 


Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 


Ein  letztes  Beispiel,  welches  wir  betrachten  wollen,  besitzt  schon  die 
Grundzüge  der  Karyokinese  der  höheren  Tiere,  indem  aus  dem  Kern  heraus  sich 
ein  besonderes  Teilungsorgan  der  Zelle  das,, Centrosoma"  entwickelt,  welches  die 
Teilung  von  Kern  und  Protoplasma  beherrscht  und  ein  harmonisches  Inein- 


Fig.  13.  Kernteilung  von  Actinosphaerium  Eichhomi.  A  Kern,  an  dessen  Enden  sich  Polkegel  von  Protoplasma 
entwickelt  haben.  B  Kern  nimmt  eine  tonnenförmige  Gestalt  und  faserige  (Spindel-)  Struktur  an.  Chromatin  in 
den  Chromosomen  der  Aquatoriälplatte  angehäuft.  C  Chromosomen  der  Aquatorialplatte  haben  sich  in  die 
Chromosomen  der  Seitenplatten  geteilt;  Kern  streckt  sich  zur  Teilung.    D  und  /?  vorgerücktere  Stadien  der  Teilung. 

andergreifen  beider  Prozesse  bedingt.  Die  Abbildung  (Fig.  14)  bezieht  sich 
auf  einen  Rhizopoden,  ^caw/Äöcy^^w  aculeata.  Im  Zentrum  des  ruhenden  Tieres 
lagert  das  Zentralkorn,  auf  welches  die  Achsenfäden  der  Pseudopodien  zu  einer 
sternförmigen  Figur  orientiert  sind.  Das  Zentralkorn  (Centrosoma)  teilt  sich  und 
liefert  zwei  Ausstrahlungszentren,  zwischen  welche  der  Kern  mit  den  auch  hier 
sich  entwickelnden  Polkegeln  eingeschaltet  wird.  Aus  dem  Material  der  Plasma- 
kegel und  der  Kernspindel  entsteht  eine  einheitliche  Spindel.  Der  weitere 
Verlauf  und  das  Verhalten  der  Chromosomen  sind  die  gleichen  wie  bei 
Actinosphaerium. 

Wie  die  Abbildungen  12  und  14  zeigen,  gehen  Kernteilung  und  Teilung 
des  gesamten  Tieres  bei  den  dargestellen  Formen  Hand  in  Hand.  Bei  Actino- 
sphaerium ist  das  nicht  der  Fall;  hier  wächst  das  anfangs  einkernige  Tier  unter 
ständiger  Vermehrung  seiner  Kerne  zu  bedeutender  Größe  heran,  so  daß 
schließlich  Tiere  mit  Hunderten  von  Kernen  entstehen.  Durch  diese  Vermehrung 
der  Kerne  wird  weder  eine  höhere  Leistungsfähigkeit  erzielt,  noch  die  Ein- 
heitlichkeit des  Individuums  irgendwie  verändert.  Wir  haben  daher  alle  Ursache, 
im  vorliegenden  Fall  wie  in  den  bei  anderen  Protozoen  häufig  vorkommenden 
Fällen  von  Vielkernigkeit  (Fig.  8)  von  einem  einzelligen  Tiere  mit  vielen  Kernen 
zu  reden.  Wenn  bei  einem  stark  wachsenden  Tier  in  gleichem  Maße  eine  Ver- 
mehrung der  Kerne  und  damit  auch  der  Kernsubstanz  eintritt,  so  ist  das  nur 
ein  Zeichen,  daß  von  der  Natur  ein  bestimmtes  Massenverhältnis  von  Kern  und 
Protoplasma  eingehalten  wird,  eine  bestimmte  ,, Kernplasmarelation".  Für 
diese  Auffassung  liefern  weitere  Beweise  die  zahlreichen  Fälle,  in  denen  trotz 
enormen  Wachstums  des  Gesamttieres  die  Einkernigkeit  gewahrt  bleibt.  Dann 
wächst  auch  der  Kern  zu  riesigen  Dimensionen  heran,  so  daß  das  sonst  mikro- 
skopisch kleine  Gebilde  mit  bloßem  Auge  gesehen  werden  kann,  wie  es  bei  vielen 
Radiolarien  beobachtet  wird. 


Verschiedene  Formen  der  Kernvermehrung 


25 


Aus  einem  großen  Einzelkern  entwickelt  sich  bei  Protozoen  nach  einiger 
Zeit  behufs  Fortpflanzung  stets  wieder  eine  Vielheit  von  kleinen  Kernen.  Diese 
,, Sekundärkerne"  entstehen  aus  der  Substanz  und  auf  Kosten  des  „Primär- 
kerns", so  daß  derselbe  allmählich  verbraucht  wird  und  zugrunde  geht.  Damit 


Fig.  14.  Teilung  von  Acanthocystis  aculeata  (nach  Schaudinn) ;  karyokinetische  Teilung  des  Kerns.    A  Tier  mit  aus- 
gestreckten Pseudopodien,  Achsenfäden  derselben  strahlen  vom  Centrosoma  aus.    B  Teilung  des  Centrosoma;   im  Kern 
entwickeln  sich  die  Chromosomen.     C  Kern  tritt  zwischen  die  auseinander  rückenden  Centrosomen  und  nimmt  Spindel- 
struktur an.     D,  E,  P  verschiedene  Stadien  der  Karyokinese  und  beginnende  Teilung  des  Tierkörpers. 

wird  die  oben  schon  erwähnte  Sporen-  oder  Vielzellbildung  eingeleitet.  Denn 
nach  der  Zahl  der  Sekundärkerne  teilt  sich  das  Radiolar  in  viele  einkernige 
Stücke,  die  Sporen,  welche  sich  voneinander  trennen  und  zu  selbständigen 
jungen  Individuen  heranwachsen. 

Der  Übergang  eines  einkernigen  großen  Tieres  in  eine  große  Summe  kleiner 
Sporen  kann  noch  in  einer  anderen  Weise  bewirkt  werden.  Bei  Gregarinen  wird 
ähnlich  wie  bei  reifenden  Eiern  vielzelliger  Tiere  die  Hauptmasse  des  Primär- 
kerns aufgelöst;  nur  ein  kleiner  Rest  bleibt  erhalten  und  teilt  sich  in  rascher 
Aufeinanderfolge  in  eine  Generation  von  Tochterkernen,  welche  der  Ausgangs- 
punkt für  die  Sporenbildung  werden.    Der  Kern  der  Gregarine  besteht  somit 


26  Richard  von  HertvviG:  Die  einzelligen  Organismen 

aus  zweierlei  Material,  welches  man  als  generatives  Chromatin  oder  Idio- 
chromatin  und  ernährendes  oder  Trophochromatin  unterschieden  hat. 
Das  Trophochromatin  war  nur  so  lange  nötig,  als  die  Gregarine  heranwuchs, 
und  geht  daher  bei  der  Fortpflanzung  zugrunde;  das  Idiochromatin  dagegen 
bleibt  erhalten,  weil  es  die  Fortpflanzung  besorgt. 
Dualismus  der  Dicse  Lchrc  vom  ,,  Dualismus  der  Kernsubstanzen"  hat  unter 

Kernsubstanzen.  Protozoenforschern  viele  Anhänger  und  wurde  nicht  nur  auf  alle  Protozoen, 
sondern  schließlich  sogar  auf  das  ganze  Tier-  und  Pflanzenreich  ausgedehnt. 
Sie  wurde  dadurch  ermöglicht,  daß  es  zuvor  schon  der  Forschung  geglückt 
war,  einen  Dualismus  der  Kerne  bei  großen  Gruppen  der  Protozoen  nach- 
zuweisen. Wir  kennen  ihn  von  zwei  Klassen,  den  Flagellaten  und  den  Wimper- 
infusorien. 
Dualismus  der  Bei  dcu  binuklcatcn  Flagellaten  findet  sich  neben  dem  Hauptkern  ein 

a)  Biep\™ropiast  ^^^i^^'"^^  K.ern,  der  Blepharoplast,  an  der  Basis  der  Geißeln  (Fig.  3).   Beiden 
der  FiageUaten.  Teilungen  dcr  Ticrc  teilt  er  sich  selbständig;  zu  gewissen  Zeiten  scheint  er  durch 
Teilung  des  Hauptkerns  neu  zu  entstehen.   Seine  Funktion  ist  nicht  ganz  klar; 
sie  steht  in  offenbarem  Zusammenhang  mit  der  Funktion  der  Geißel, 
b)  Generativer  Viel  wichtigcr  für  dic  uns  beschäftigende  Frage  ist  der  Dualismus  der 

"°  Kern  der '''^  Kcmc  bcl  dcu  Wi m p c r i n f  u s o r i 6 n ,  von  dem  schon  früher  gelegentlich  die 
Wimper-      Rede  war.    Mit  wenigen  Ausnahmen  besitzen  die  Wimperinfusorien  einen  ein- 

jnfusorien.  '-'  '■ 

heitlichen  großen  Kern,  den  Hauptkern  oder  Makronukleus,  neben  demselben 
einen  kleinen  Kern,  den  Nebenkern  oder  Mikronukleus  (Fig.  4  u.  7),  der  in  einer 
Nische  des  Hauptkerns  oder  neben  ihm  oder  auch  abseits  von  ihm  lagern  kann. 
Bei  manchen  Arten  (Fig.  12)  können  zwei,  vier  oder  viele  Nebenkerne  neben 
dem  einheitlichen  Hauptkern  vorkommen.  Daß  der  Nebenkern  ein  Kern  be- 
sonderer Art  ist,  geht  aus  seiner  abweichenden  Struktur  hervor,  sowie  daraus, 
daß  er  sich  unabhängig  vom  Hauptkern  und  nach  einem  ganz  anderen  Modus 
teilt  (Fig.  12).  Daß  er  auch  im  Haushalt  der  Infusorien  eine  andere  Rolle  spielt 
als  der  Hauptkern,  zeigt  unzweideutig  sein  Verhalten  bei  der  ,, Konjugation". 
Das  Studium  dieser  Vorgänge  ist  Ursache  geworden,  daß  man  den  Nebenkern 
als  generativen  oder  Geschlechtskern,  den  Hauptkern  als  trophischen  oder 
somatischen  Kern  bezeichnet.  Es  handelt  sich  hier  um  eine  Differenzierung 
zweier  Kerne,  wie  sie  oben  für  die  Kernsubstanzen  angenommen  wurde  und 
wie  sie  schon  seit  längerer  Zeit  nach  dem  Vorgang  von  Weismann  für  die  Zellen 
eines  jeden  vielzelhgen  Organismus  behauptet  worden  ist.  Bei  den  vielzelligen 
Organismen  kann  es  ja  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  zwischen  den  Geschlechts- 
zellen einerseits  und  allen  übrigen  Zellen,  den  Körperzellen  andererseits,  ein 
funktioneller  Gegensatz  gegeben  ist,  insofern  die  somatischen  Zellen  der  Er- 
haltung des  Individuums,  die  Geschlechtszellen  der  Erhaltung  der  Art  dienen. 
Befruchtuugs-  Wir  Werden  so  durch  den  Gang  unserer  Betrachtungen  auf  die  Bef  ruchtungs- 

''pfj'tozoen.^'^  Vorgänge  der  Protozoen,  auf  ihre  Geschlechtstätigkeit  geführt,  eines  der  inter- 
essantesten Kapitel  der  Protozoenkunde. 

Es  ist  noch  nicht  allzu  lange  her,  daß  man  unter  den  Charakteren   der 
Protozoen  den  Mangel  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  aufführte.    Erst  all- 


Dualismus  der  Kerne,  Befruchtung"  2  7 

mählich  wurde  man  mit  den  periodisch  auftretendenVereinigungen  dieser  Tiere 
bekannt,  welche  man  Konjugationen  und  Kopulationen  nennt,  und 
mußte  sich  überzeugen,  daß  das  Wesentliche  bei  denselben  die  mit  ihnen  ver- 
knüpften Befruchtungsvorgänge  sind.  In  den  letzten  Dezennien  haben  sich 
dann  die  Beobachtungen  über  Befruchtungsvorgänge  bei  den  Protozoen  in  so 
rascher  Aufeinanderfolge  gemehrt,  daß  es  keine  größere  Abteilung  der  Proto- 
zoen gibt,  aus  der  nicht  die  Erscheinung  bekannt  geworden  wäre.  Wir  haben 
daher  allen  Grund,  den  Satz  zu  verfechten,  daß  Befruchtungsvorgänge  zeitweilig 
in  den  Entwicklungsgang  eines  jeden  Urtieres  eingeschaltet  sind.  Daraus 
folgt  dann  weiter,  daß  die  Befruchtung  zu  den  fundamentalen  Vor- 
gängen jeglichen  organischen   Lebens  gehört. 

Was  nun  dem  Studium  des  Befruchtungsprozesses  bei  Protozoen  seine  be- 
sondere Bedeutung  verleiht,  ist  die  hier  herrschende  ungeheure  Mannigfaltig- 
keit, eine  Mannigfaltigkeit,  welche  nicht  nur  im  verschiedenen  Verlauf  der 
betreffenden  Vorgänge  zum  Ausdruck  kommt,  sondern  auch  im  Einfluß,  den 
die  Vorgänge  auf  den  Lebenszyklus  der  Protozoen  ausüben. 

Wir  beginnen  unsere  Besprechung  mit  den  Vereinigungen,  welche  man  aj  Piasmogamie. 
,,Plasmogamien"  nennt.  Dieselben  finden  sich  vornehmhch  bei  Rhizopoden. 
Zwei  oder  mehr  Individuen  vereinigen  sich  untereinander  durch  Plasmabrücken, 
bleiben  eine  Zeitlang  vereinigt  und  gehen  dann  wieder  auseinander,  ohne  daß 
erkennbare  Veränderungen  eingetreten  wären.  Bei  skelettlosen  vielkernigen 
Formen,  wie  den  Sonnentierchen  und  den  Mycetozoen,  kann  die  Vereinigung 
eine  innigere  werden  und  zur  Bildung  von  Riesenindividuen  führen,  welche  unter 
Umständen  wieder  in  viele  kleinere  Individuen  auseinandergehen.  Diese  Vor- 
gänge haben  sicherlich  ihre  gute  physiologische  Bedeutung,  wenn  auch  der 
Zweck  derselben  sich  unserer  Beurteilung  noch  entzieht.  Man  kann  nur  ver- 
muten, daß  die  durch  Piasmogamie  bedingte  Vermischung  verschieden  be- 
schaffenen Protoplasmas  irgendwelche  günstigeren  Bedingungen  für  die  Assimila- 
tion liefert. 

Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  die  Plasmogamien  Vorläufer  der  echten  b)  Karyogamie 
Befruchtungsvorgänge,  der  Karyogamien,  sind.  Für  letztere  ist  zweierlei 
charakteristisch:  l.daß  die  Kerne  der  sich  vereinigenden  Tiere  zu  einem  ,,Syn - 
karyon"  verschmelzen,  2.  daß  diesem  eigentlichen  Befruchtungsakt  Verände- 
rungen der  Kerne  vorausgehen,  welche  man  als  Reifungsvorgänge  bezeichnen 
muß,  weil  sie  in  vielen  Fällen,  vielleicht  sogar  stets,  in  allen  wesenthchen 
Punkten  mit  den  Reifungsvorgängen  vielzelliger  Tiere  übereinstimmen. 

Die  Reif  ungs  vorgänge,  über  welche  freilich  bei  vielen  Protozoen  noch  Reifung  der  Ge- 

sclilGctitslccriis. 

nichts  bekannt  ist,  bestehen  darin,  daß  die  zur  Befruchtung  bestimmten  Kerne, 
die  wir  nunmehr  die  Geschlechtskerne  nennen  wollen,  zuvor  zwei  Teilungen 
durchmachen,  so  daß  vier  Kerne  gebildet  werden.  Von  denselben  gehen  in  der  Regel 
drei  zugrunde  und  nur  der  vierte  wird  bei  der  Befruchtung  verwandt.  Die  drei 
zugrunde  gehenden  Kerne  sind  den  Richtungskörpern  des  tierischen  Eies  ver- 
gleichbar (vgl.  das  Kapitel  über  Eireife).  Wie  bei  der  Eireife  kann  die  Zahl 
der  Richtungskörper  auch  nur  zwei  betragen,  indem  eine  Teilung  unterbleibt. 


28 


Richard  von  HertwiG:  Die  einzelligen  Organismen 


Der  Zweck  der  Einrichtung  ist  eine  Halbierung  der  gesamten  Chromatinmenge 
und  zugleich  eine  Halbierung  der  Zahl  der  Chromosomen.  Diese  „Reduktion" 
ist  bei  allen  Tieren  und  Pflanzen  nötig,  damit  die  Verdoppelung  der  Chromo- 
somenzahl, wie  sie  durch  die  Bildung  des  Synkaryon  herbeigeführt  wird, 
bei  der  Befruchtung  nicht  zu  einer  Verdoppelung  der  für  die  jedesmalige  Art 
charakteristischen  Chromosomenzahl  führt. 

In  den  Fällen,  in  denen  man  keine  Richtungskörper  hat  nachweisen  kön- 
nen, scheinen  die  Reifeteilungen  der  Geschlechtskerne  gleichwohl  vorhanden 
zu  sein;  sie  haben  hier  wahrscheinlich  den  Charakter  der  Reifeteilungen,  wie 
sie  bei  der  Entwicklung  der  Spermatozoen  vorkommen,  bei  denen  alle  vier  aus 
der  Teilung  resultierenden  Kerne  als  Geschlechtskerne  funktionieren, 
isogamie.  Protozocnindividuen,  welche  anstatt  sich  weiterhin  durch  Teilung  zu  ver- 

mehren, sich  paarweise  untereinander  vereinigen,  nennt  man  Gameten;  die- 
selben können  untereinander  gleich  sein  bis  auf  die  geringen  Unterschiede,  wie 
sie  wohl  überall  zwischen  verschiedenen  Individuen  derselben  Art  vorkommen. 
Dann  spricht  man  von  Isogameten  (Fig.  15  u.  17).  Der  Befruchtungsvorgang 
selbst  besitzt  den  Charakter  der  ,,Isogamie";  diese  ist  somit  eine  Befruchtung, 
bei  welcher  ein  Merkmal,  welches  uns  sonst  mit  der  Befruchtung  untrennbar 
verbunden  erscheint,  die  sexuelle  Differenzierung,  die  Unterscheidung  von 
,, männlich"  und  ,, weiblich",  noch  fehlt. 
Autogamie  von  Der  cinc  der  beiden  uns  zur  Illustration  dienenden  Fälle  stellt  den  Befruch- 

tungsprozeß eines  vielkernigen  Rhizopoden,  des  Sonnentierchens  Actinosphae- 

rium  Eichhorni  dar.  Dasselbe 
enzystiert  sich,  wenn  es  zur  Be- 
fruchtung schreitet,  und  bildet 
ca.  90  %  seiner  Kerne  zurück; 
dann  teilt  es  sich  in  ebensoviel 
Stücke  als  die  Zahl  der  übrig- 
gebliebenen Kerne,  der  Ge- 
schlechtskerne, beträgt.  Diese 
einkernigen  Stücke  umgeben 
sich  abermals  mit  einer  Hülle; 
es  sind  die  Primärzysten,  deren 
weitere  Entwicklung  in  Fig.  15 
dargestellt  ist.  JedePrimärzyste 
teilt  sich  in  zwei  Stücke,  die 
Gameten;  jeder  Gamet  bildet 
erst  den  einen(^i),  dann  den  zwei- 
ten Richtungskörper  (^),  welche 
aus  dem  Gameten  heraustreten, 
aber  noch  eine  Zeitlang  durch 
Färbung  als  intensiv  gefärbte 
Körper  nachgewiesen  werden  können.  Nach  Ablauf  der  Reife  verschmelzen  die 
Gameten  untereinander  ( 6")  und  umgeben  sich,  wenn  die  Verschmelzung  durch 


Actino- 
sphaerium. 


Fig.  15.  Isogame  Befruchtung  von  Actiuosphaerium  Eichiomi. 
A  Primärzyste  in  zwei  Sekundärzysten  geteilt,  die  linke  Sekundär- 
zyste beginnt  die  Reifeteilung,  die  rechte  hat  den  ersten  Richtungs- 
köiper  gebildet,  ihr  Kera  beginnt  die  zweite  Reifeteilung.  B  Ver- 
schiedene Stadien  der  Bildung  des  zweiten  Richtungskörpers.  C  Ver- 
schmelzung der  herangereiften  Sekundärzysten,  Kerne  in  Ver- 
schmelzung begri6Fen,  Richtungskörper  noch  erhalten.  D  Kerne 
zum  Synkaryon  verschmolzen,  Richtungskörper  rückgebildet,  neue 
Zvstenmembran  gebildet. 


Isogamie,  Autogamie  und  Anisogamie 


29 


Bildung  des  Synkaryon  zum  Abschluß  gelangt  ist,  mit  einer  festen  Hülle  [D).  Wir 
haben  es  hier  mit  einem  extremen  Fall  von  „Inzucht"  zu  tun,  insofern  bei  der 
Befruchtung  Schwesterzellen  sich  untereinander  vereinigen.  Ähnliche  Fälle  hat 
man  mehrfach  beobachtet  und  für  sie  den  Namen  ,, Autogamie"  eingeführt. 

Im  Gegensatz  zur  Isogamie  kommt  es  bei  vielen  Gruppen  der  Protozoen  zur 
sexuellen  Differenzierung,  welche  entweder  nur  schwach  angedeutet  oder  ebenso 
hochgradig  ausgeprägt  ist,  wie  zwischen  Eiern  und  Spermatozoen  vielzelliger 
Tiere.  Um  ein  Beispiel  von  typischer  ,, Anisogamie"  genauer  zu  schildern, 
wähle  ich  den  Entwicklungsgang  des  Malariaparasiten. 

Das  Plasmodium  m,alariae  (Fig.  16)  dringt  in  die  roten  Blutkörperchen  des  Anisogamie  des 

IVT  A.  1 3.n  3.— 

Menschen  ein,  von  denen  es  sich  ernährt  [A] ;  es  wächst  heran  und  teilt  sich  {B) ;      parasiten. 


Fig.  16.  Entwicklung  des  Malariaparasiten.  A  Frisch  infiziertes  Blutkörperchen.  B,  C  Vermehrung  des  Parasiten 
im  Blutkörperchen.  D  Bildung  eines  „Halbmonds".  E,  F  Umbildung  eines  Mikrogametozyten  in  Mikrogameten. 
G  Befruchtung  (Verschmelzung  eines  Mikrogameten  mit  einem  Makrogameten).  H  Ookinet.  /  Darm  einer  infi- 
zierten Mücke.  Vorderdarm  mit  Speicheldrüsen,  Mitteldarm  und  Enddarm,  ersterer  mit  zahlreichen  verschieden 
großen  herangewachsenen  Gokineten,  letzterer  mit  Malpighischen  Gefäßen.  K — M  verschiedene  Stadien  der  Ent- 
wicklung des  Gokineten  zu  Sporozoiten.  N  Einige  SpeicheldrüsenzeUen  der  Mücke  mit  Sporozoiten  infiziert. 
Fig.  /  ist  bei  Lupenvergrößerung,  alle  übrigen  Figuren  bei  sehr  starker  Vergrößerung  gezeichnet. 

durch  den  Zerfall  des  Blutkörperchens,  welcher  den  für  dasWechselfieber  charak- 
teristischen Fieberanfall  verursacht,  werden  die  Teilstücke  frei  und  infizieren  neue 
Blutkörperchen,  in  denen  sich  der  geschilderte  Vermehrungsprozeß  wieder- 
holt. Nachdem  viele  Generationen  des  Plasmodium  aufeinander  gefolgt  sind, 
nimmt  der  Entwicklungszyklus  einen  anderen  Charakter  an.  Die  in  ein  Blut- 
körperchen eingedrungenen  Parasiten  wachsen  heran,  ohne  sich  zu  teilen  {D)\ 
sie  werden  zu  den  sogenannten  Halbmonden,  unter  denen  man  zwei  Formen, 
Makrogametozyten  und  Mikrogametozyten,  unterscheidet.  Beide  wer- 
den durch  Zerfall  der  Blutkörperchen  frei;  zunächst  durch  geringfügige  Merk- 
male unterschieden,  offenbaren  sie  ihre  sexuelle  Verschiedenartigkeit,  wenn  sie 
durch  den  Stich  und  den  Saugakt  einer  Stechmücke  (verschiedener  Arten  der 
Gattung  Anopheles,  besonders  A.  claviger)  in  den  Darm  dieses  Tieres  auf- 
genommen werden.  Hier  reift  der  Makrogametozyt  zum  Makrogameten  heran, 
der  Mikrogametozyt  [E,  F)  liefert  durch  Teilung  mehrere  (wahrscheinlich  acht) 
Mikrogameten,  kleine  fadenförmige  bewegliche  Gebilde,    welche  den  Makro- 


;o 


Richard  von  Hertvvig:  Die  einzelligen  Organismen 


gameten  aufsuchen  und  mit  ihm  verschmelzen  (Befruchtung)  (G).  Der  befruch- 
tete Makrogametozyt(Ookinet  (/fjgenannt)  wandert  in  die  Darmwand  der  Mücke, 
wächst  hier  enorm  heran  (7)  und  hefert  durch  einen  sehr  verwickelten  Zell- 
vermehrungsprozeß  viele  Hunderte  von  sichelförmigen  Keimen  {K,  L,  M), 
Sporozoiten,  welche  sich  freimachen  und  in  die  Speicheldrüse  der  Mücke  {N) 
eindringen.  Von  hier  gelangen  sie  durch  den  Stich  der  Mücke  in  das  Blut  des 
Menschen  und  bedingen  so  die  Malariainfektion. 
Kopulation  und  In  dcn  bcidcu  genauer  besprochenen  Fällen  sahen  wir  eine  vollkommene 

onjugation.  y^j-g^^j^j^gj^ung  dcr  Gamctcn,  eine  Kopulation,  eintreten.    Dieselbe  ist  die 

bei  den  Protozoen  am  meisten  ver- 
breitete Form  der  Befruchtung;  von 
ihr  unterscheidet  sich  die  Konju- 
gation, welche  auf  die  Klasse  der 
Infusorien  beschränkt  ist,  dadurch, 
daß  die  Gameten  sich  nur  vorüber- 
gehend vereinigen,  dann  aber  aus- 
einandergehen. Dies  ist  dadurch 
ermöglicht,  daß  es  zu  einer  ge- 
kreuzten Befruchtung  kommt.  Aus 
dem  genaueren  Studium  der  Vor- 
gänge ergibt  sich  die  oben  schon  be- 
sprochene Deutung,  daß  der  Haupt- 
kern der  Infusorien  ein  trophischer, 
der  Nebenkern  ein  Geschlechtskern 
ist.  Es  stellt  sich  nämlich  heraus, 
daß  der  Hauptkern  im  Verlaufe  der 
Konjugation  zerstückelt  wird  und 
schließlich  zugrunde  geht,  ein  Vor- 
gang, auf  den  ich  hier  nicht  näher  ein- 
gehe. Dieser  Degenerationsprozeß 
desHauptkerns(Fig.  l7/e)  kann  schon 
beginnen  zur  Zeit,  in  der  die  beiden 
Infusorien  ,, konjugieren",  d.  h.  ver- 
eint herumschwimmen;  zum  Ab- 
schluß gelangt  er  erst  spät,  nachdem 
lange  zuvor  die  Tiere  sich  wieder  ge- 
trennt haben.  In  die  Zeit  der  Konju- 
gation fallen  die  bemerkenswerten 
Umgestaltungen  des  Nebenkerns,  welche  mit  der  Befruchtung  enden.  Zunächst 
erfährt  der  Nebenkern  die  zwei  Reifeteilungen  [Ä).  Von  den  vier  Teilpro- 
dukten gehen  drei  zugrunde,  eines  bleibt  erhalten  und  zwar  der  Kern,  welcher 
an  einer  Stelle  liegt,  an  welcher  die  Verbindung  der  beiden  ,,Konjuganten" 
am  innigsten  ist,  indem  hier  die  Körper  beider  durch  eine  Brücke  verbun- 
den  sind  [B).     Der  durch  seine  Lage    begünstigte,    gereifte  Nebenkern    teilt 


Fig.  17.  Konjugation  von  Paramaecium.  k  der  Hauptkern  in 
A  und  B  noch  unverändert,  in  C  und  D  in  beginnendem  Zer- 
fall. A  Zweite  Keifeteilung  des  Nebenkerns,  i — 4  die  vier  Teil- 
produkte des  einen,  5  —  8  die  vier  Teilprodukte  des  anderen 
Gameten.  B  Die  Teilprodukte  2 — 4  und  6 — 8  gehen  zugrunde, 
I  und  5  teilen  sich  in  den  Wanderkern  («/  männlicher  Kern) 
und  in  den  stationären  Kern  (rc  weiblicher  Kern).  C  Die  aus- 
getauschten Wanderkerne  verschmelzen  mit  den  stationären 
Kernen,  m'  mit  to^  ?«=  mit  ot'  (Befruchtung).  D  Das  Syn- 
karyon  (/)  teilt  sich  in  /'  und  /",  die  Anlagen  des  neuen  Haupt- 
und  Nebenkerns. 


Wechselseitige  Befruchtung  der  Infusorien  ^  I 

sich  in  jedem  Tier  noch  einmal  in  ein  der  Plasmabrücke  benachbartes  Stück, 
den  Wanderkern  (m),  und  ein  in  die  Tiefe  rückendes  Stück,  den  stationären 
Kern  (w).  Nunmehr  werden  die  beiden  Wanderkerne  zwischen  den  beiden 
Konjuganten  ausgetauscht,  indem  sie  auf  der  Protoplasmabrücke,  der  eine  von 
Tier  a  nach  Tier  b,  der  andere  von  b  nach  a  wandert;  darauf  vereinigen  sie  sich 
mit  den  stationären  Kernen  zum  Synkaryon  (C).  Dieses  wird  somit  von  Kernen 
gebildet,  welche  von  zwei  verschiedenen  Tieren  stammen.  Nachdem  der 
Zweck  der  Konjugation,  eine  gekreuzte  Befruchtung  der  Nebenkerne,  erzielt 
ist,  gehen  die  Konjuganten  wieder  auseinander.  Während  die  Nebenkerne  bei 
gewöhnlichen  Teilungen  immer  nur  wieder  Nebenkerne  liefern,  hat  das  Syn- 
karyon,  der  befruchtete  Nebenkern,  durch  die  Reifung  und  Befruchtung  neue 
Eigenschaften  gewonnen.  Es  {D,^)  teilt  sich  in  Kerne  von  ungleichem  Wert;  die 
einen  Kerne  werden  wieder  Nebenkerne,  die  anderen  liefern  den  Ersatz  für  den 
infolge  der  Konjugation  zugrunde  gehenden  Hauptkern.  Wir  haben  hier  einen 
interessanten  Parallelismus  zu  den  Verhältnissen  vielzelliger  Tiere,  deren  Ge- 
schlechtszellen ebenfalls  lange  Zeit  über  sich  durch  Teilung  vermehren,  aber 
immer  nur  wieder  Geschlechtszellen  liefern.  Gereift  und  befruchtet  liefern 
sie  durch  fortgesetzte  Teilung  ein  neues  Individuum,  das  sich  aus  somatischen 
Zellen  und   Geschlechtszellen  aufbaut. 

Man  könnte  nun  die  Frage  aufwerfen,  ob  man  nicht  den  Wanderkern  den 
männlichen,  den  stationären  Kern  den  weiblichen  Kern  nennen  sollte,  da  der 
erstere  sich  wie  der  Samenkern,  der  letztere  wie  der  Eikern  bei  Tieren  und 
Pflanzen  verhält.  Die  Beobachtungen  über  die  Beschaffenheit  der  Kerne  geben 
uns  kein  Recht,  eine  derartige  prinzipielle  Unterscheidung  der  Kerne  durch- 
zuführen; sie  lassen  erkennen,  daß  die  beiden  Kerne  vollkommen  gleich  gebaut 
sind.  Hierfür  spricht  auch  der  Verlauf  der  seltenen  Fälle  von  anisogamer 
Konjugation,  wie  sie  bei  V orticeüinen  vorkommen  (Fig.  6).  Bei  der  kolonie- 
bildenden Vorticelline  Carchesium  polypinum  teilen  sich  einige  Individuen  rasch 
hintereinander  und  liefern  Mikrogameten;  diese  suchen  ungeteilt  gebliebene 
Tiere,  Makrogameten,  auf  und  vereinigen  sich  mit  ihnen.  Die  Kern  Ver- 
änderungen sind  die  gleichen  wie  bei  der  Konjugation  der  Paramaecien.  Die  ge- 
ringe Körpermasse  des  Mikrogameten  wird  aber  Ursache,  daß  er  schließlich  zum 
größten  Teil  —  mit  Ausnahme  eines  zugrunde  gehenden  Restes  —  vom  Makro- 
gameten aufgesaugt  wird,  womit  die  Konjugation  den  Charakter  der  Kopu- 
lation gewinnt.  Anstatt  zweier  Kernverschmelzungen  ist  daher  nur  eine  nötig; 
dabei  verschmelzen  die  Wanderkerne  von  Makro-  und  Mikrogameten,  ein 
Zeichen,   daß  Wanderkerne  und  stationäre  Kerne  untereinander  gleich  sind. 

Ehe  wir  die  Mannigfaltigkeit  der  mitgeteilten  Befruchtungserscheinungen 
einer  kritischen  Beurteilung  unterwerfen,  müssen  wir  noch  die  Art,  in  welcher 
Weise  die  Befruchtung  in  den  Lebenszyklus  der  Protozoen  eingreift,  besprechen. 
Auch  dabei  ergeben  sich  bemerkenswerte  Besonderheiten  im  Vergleich  zu  höhe-  Physiologische 
ren  Tieren  und  Pflanzen.  Bei  diesen  spricht  man  von  ,, geschlechtlicher  BefrucTtung^"^ 
Fortpflanzung ",  weil  wir  überall  die  Befruchtung  mit  der  Bildung  neuer  In- 
dividuen vereint  finden.    Und  so  hat  man  auch  bei  Protozoen  versucht,  die 


,2  Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 

Befruchtung  mit  der  Fortpflanzung  in  Beziehung  zu  bringen.  In  der  Tat  gibt 
es  auch  nicht  wenige  Fälle,  in  denen  diese  Auffassung  zutrifft.  Bei  den  Ma- 
lariaparasiten wird,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Lebenszyklus  durch  den  Vor- 
gang der  Befruchtung  in  zwei  Perioden  abgeteilt,  eine  der  Befruchtung  vor- 
ausgehende, also  progame  Periode,  in  welcher  sich  die  Vermehrung  der  Para- 
siten in  den  Blutkörperchen  abspielt  (die  Schizogonie)  und  eine  der  Be- 
fruchtung folgende,  metagame  Periode,  in  welcher  in  den  Wandungen  des 
Mückendarms  eine  ganz  anders  geartete  Vermehrungsweise,  die  Sporogonie, 
Platz  greift.  Die  Befruchtung  tritt  ein,  wenn  die  progame  Entwicklung  zum 
Stillstand  gekommen  ist.  Die  verloren  gegangene  Vermehrungsfähigkeit  wird 
durch  dieselbe  zur  metagamen  Entwicklung  neu  angefacht.  Die  metagame 
Entwicklung  könnte  man  somit  als  geschlechtliche  Fortpflanzung  bezeich- 
nen, die  progame  als  ungeschlechtliche;  beide  würden  sich  zu  einem  Ge- 
nerationswechsel kombinieren,  wie  wir  ihn  auch  sonst  von  Tieren  und 
Pflanzen  kennen. 

Die  hiermit  sich  ergebende  Analogie  zu  den  Vorgängen  bei  vielzelligen 
Tieren  läßt  uns  jedoch  im  Stich,  wenn  wir  unsere  Betrachtung  auf  die  Wimper- 
infusorien ausdehnen.  Nach  einer  Periode  lebhafter  Teilungen  treten  bei  den- 
selben sogenannte  Konjugationsepidemien  auf,  an  welchen  aber  immer 
nur  ein  größerer  oder  kleinerer  Prozentsatz  einer  Kultur  beteiligt  ist.  Auf  die 
Konjugation  folgt  dann  eine  Zeit,  in  welcher  die  Vermehrung  sehr  langsam  vor 
sich  geht;  das  ist  die  Zeit,  in  welcher  der  Kernapparat  neu  organisiert,  der  alte 
Hauptkern  resorbiert  und  der  neue  ausgebildet  werden  muß.  Auch  nach  be- 
endeter Reorganisation  ist  der  Teilungsrhythmus  kein  lebhafterer  als  er  vorher 
war.  Man  kann  folgendes  Experiment  machen.  Wenn  eine  Kopula  sich  ganz 
frisch  gebildet  hat,  kann  man  sie  sprengen  und  die  getrennten  Tiere  bei  gutem 
Futter  weiter  züchten.  Dann  teilen  sich  dieselben  in  einem  sehr  lebhaften 
Tempo  weiter.  Somit  ist  nicht  einmal  eine  Zeit  der  Teilungsunfähigkeit  der 
Konjugation  vorausgegangen;  erstere  kann  somit  nicht  Ursache  der  letzteren 
sein.  Manche  Infusorien  hat  man  unter  sorgfältiger  Kontrolle  mehrere  Jahre 
lang  kultiviert,  ohne  daß  Teilungsunfähigkeit  und  infolgedessen  Konjugation 
eingetreten  wäre.  Günstige  Ernährungsbedingungen  können  somit  das  Ein- 
treten von  Konjugationen  verhindern.  Alle  diese  Tatsachen  lassen  erkennen, 
daß  die  Konjugation  der  Wimperinfusorien  keinen  direkten  Einfluß  auf  die 
Vermehrung  hat. 

Wir  kennen  noch  eine  dritte  Art,  in  welcher  die  Befruchtung  den  Ent- 
wicklungsgang eines  Protozoon  beeinflussen  kann;  er  findet  sich  bei  Rhizopoden 
und  Flagellaten.  Hier  tritt  nach  Ablauf  der  Befruchtung  Enzystierung  ein 
und  mit  derselben  ein  nach  Wochen  und  Monaten  sich  bemessender  Stillstand 
der  Teilung.  Letztere  beginnt  erst  wieder,  wenn  nach  längerer  Ruhe  das  Tier 
die  Zyste  verläßt  und  neu  zu  fressen  anfängt. 

Wenn  wir  nun  das  Tatsachenmaterial  überblicken,  welches  das  Studium 
der  Protozoenbefruchtung  gefördert  hat,  so  kommen  wir  zu  folgenden  be- 
merkenswerten Resultaten.' 


Wesen  und  Bedeutung  der  Befruchtung  ^^ 

1.  Die  Befruchtung  setzt  nicht  die  geschlechtliche  Differenzierung  vor- 
aus; vielmehr  hat  sich  die  Unterscheidung  männlicher  und  weiblicher  Ele- 
mente erst  im  Verlaufe  der  Vervollkommnung  der  Befruchtungsvorgänge  ent- 
wickelt. 

2.  Die  Befruchtung  der  Protozoen  als  solche  steht  auch  mit  der  Fortpflanzung 
in  keinem  unmittelbaren  und  notwendigen  Zusammenhang;  man  kann  sie  nicht 
als  ein  Mittel  betrachten,  eine  zum  Stillstand  gelangte  Entwicklung  anzuregen; 
wo  eine  solche  Entwicklungsanregung  vorliegt,  ist  sie  offenbar  zu  dem,  was 
den  eigentlichen  Charakter  der  Befruchtung  ausmacht,  neu  hinzugetreten. 

3.  Es  gibt  nur  einen  durch  die  bunte  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen 
sich  hindurchziehenden  Charakter;  das  ist  die  Vereinigung  zweier  Kerne,  welche 
aus  verschiedenen  Individuen  stammen.  Die  Befruchtung  ist  somit  die  Ver- 
einigung individueller  Verschiedenheiten  zweier  Kerne.  Hierbei  ist  nun  von  der 
größten  Tragweite  das  schon  früher  gewonnene  Resultat,  daß  die  Kerne  auf  den 
Chemismus  und  somit  auf  alle  organisierenden  Prozesse  der  Zelle  einen  be- 
stimmenden Einfluß  ausüben.  Auf  diese  Erfahrung  hin  und  auf  Grund  eines 
reichen,  bei  vielzelligen  Organismen  gewonnenen  Beweismaterials  erblicken 
wir  in  den  Kernen  wichtige  Eigenschaftsträger.  Ihre  Vereinigung  ist  somit  Ver- 
einigung individuell  verschiedener  Eigenschaften,  ist  ,,Amphimixis"  (Weis- 
mann). 

4.  Überraschend  ist  es,  daß  die  Amphimixis  in  nicht  wenigen  Fällen  eine 
so  starke  Abschwächung  erfahren  kann,  daß  ihr  Effekt  gleich  Null  sein  muß, 
wie  es  bei  der  Autogamie  der  Fall  ist.  Hier  tritt  ein  zweiter  Faktor  in  den 
Vordergrund,  welcher  mit  der  Amphimixis  verbunden  ist  und  der  in  einer 
intensiven  Umwandlung  der  Zelle  sich  ausspricht,  wie  sie  durch  die  Reife- 
teilung und  die  Wechselbeziehung  des  neuen  Kerns,  des  Synkaryon,  zum 
Protoplasma  gegeben  ist. 

Wir  sind  durch  den  Gang  unserer  Betrachtungen  vor  die  Frage  gestellt,  Physiologische 
welche  Vorteile  sind  für  den  Organismus  durch  die  Amphimixis  und  die  durch  Befruchtung. 
sie  bedingte  Umorganisation  gegeben.?  Das  ist  eine  Frage,  welche  auf  allen  Ge- 
bieten des  organischen  Lebens  uns  entgegentritt,  für  deren  Förderung  und  Be- 
antwortung aber  nirgends  die  Bedingungen  so  günstig  sind  wie  bei  einzelligen 
Tieren  und  Pflanzen.  Denn  was  die  Befruchtung  leistet,  kommt  hier  unmittel- 
bar an  den  zur  Befruchtung  dienenden  Zellen  zum  Ausdruck,  nicht  erst  an 
den    aus  Teilung   dieser  Zellen  entstandenen  neuen  vielzelligen  Organismen. 

So  ist  es  denn  begreiflich,  daß  man  besonders  bei  Protozoen  das  Befruch- 
tungsproblem zum  Gegenstand  mannigfacher  experimenteller  Untersuchungen 
gemacht  hat,  welche,  wenn  auch  nicht  zu  entscheidenden  Resultaten,  so  doch 
zu  manchen  interessanten  Ergebnissen  geführt  haben. 

Die  erste  zu  entscheidende  Frage  ist:  Was  veranlaßt  die  Protozoen  zur    ursaciie  der 
Konjugation  und  Kopulation.''    Man  kann  hierüber  zunächst  nur  sagen,  daß  ^"''^"p^,'*"",,,"" 
es  sich  um  eine  Wechselwirkung  äußerer  und  innerer  Faktoren  handelt.    Die 
inneren  Faktoren  können   wir  uns  nur  vorstellen  als  Veränderungen   in    der 
Organisation,  welche  durch  den   ständig  fortschreitenden  Vermehrungsprozeß 

K.d.G.  ni.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  3 


■3A  Richard  von  Hertwig:   Die  einzelligen  Organismen 

der  Protozoen  herbeigeführt  werden.  Ich  habe  mich  in  einer  Anzahl  Arbeiten 
bemüht,  wahrscheinHch  zu  machen, daß  diese  Veränderungen  das  Wechselver- 
hältnis von  Kern  und  Protoplasma,  die  Kernplasmarelation  betreffen,  welche 
ja  auch  sonst  für  den  Organismus  von  fundamentaler  Bedeutung  ist.  Die 
Frage  ist  noch  zu  wenig  geklärt,  als  daß  sie  hier  erörtert  werden  könnte.  Wir 
können  nur  sagen,  daß  die  inneren  Faktoren  im  Laufe  der  Zeit  zu  einem 
Zustand  der  Zelle  führen,  welchen  man  als  ihre  ,, Konjugationsreife"  be- 
zeichnet hat. 

Den  inneren  Faktoren  stehen  die  äußeren  gegenüber,  der  Wechsel  der 
Existenzbedingungen,  wie  er  durch  gute  Ernährung  oder  Hunger,  hohe  oder 
niedere  Temperaturen,  chemische  und  physikalische  Beschaffenheit  des  den 
Tieren  zum  Aufenthalt  dienenden  Wassers  gegeben  ist.  Man  hat  sehr  häufig  durch 
Hunger,  Beimengung  chemischer  Stoffe  zum  Wasser  Befruchtungsprozesse 
ausgelöst,  ohne  daß  es  jedoch  geglückt  wäre,  eine  Methode  ausfindig  zu 
machen,  welche  unter  allen  Umständen  zu  dem  gewünschten  Resultat  führen 
würde.  Dies  kommt  offenbar  daher,  daß  es  sich  in  jedem  einzelnen  Fall  um  ein 
Zusammenwirken  äußererund  innerer  Faktoren  handelt,  wie  ich  das  im  folgen- 
den an  einer  Reihe  von  Beispielen  erläutern  möchte.  Es  ist  geglückt,  durch  gün- 
stige Existenzbedingungen,  besonders  durch  reiche  Fütterung,  jahrelang  den  Ein- 
tritt der  Konjugation  bei  einem  der  verbreitetsten  Infusorien,  dem  Paramae- 
cium  putrinum,  zu  verhindern.  Andererseits  verursachen  Hunger  und  andere  die 
Befruchtung  begünstigende  Faktoren  keine  Konjugation,  wenn  nicht  die  dazu 
erforderliche  ,, Reife"  vorhanden  ist.  Am  beweisendsten  für  die  Notwendigkeit 
des  Mitwirkens  innerer  Faktoren  ist  die  Erscheinung,  daß  von  Protozoen,  welche 
unter  ganz  gleichen  Bedingungen  leben,  immer  nur  ein  größerer  oder  geringerer 
Prozentsatz  konjugiert,  während  andere  fortfahren,  sich  zu  teilen,  oder  wenn 
sie  ohne  jegliche  Nahrung  sind,  allmählich  verhungern.  So  ist  das  Endresultat 
dieser  Protozoenforschungen  zunächst  noch  kein  befriedigendes.  Zwar  ist  das 
Befruchtungsproblem  experimenteller  Untersuchung  zugängig  gemacht;  aber 
von  einer  befriedigenden  Lösung  sind  wir  noch  weit  entfernt. 
Unsterblichkeit  Das  Bcfruchtungsproblcm  steht  in  engstem  Zusammenhang  mit  einem 

er  rotozoen.  -^gi^^gj-gj^  Problcm,  übcr  wclches  ich  jetzt  noch  einiges  sagen  möchte.  Vor  Jahren 
hat  Weismann  den  Satz  aufgestellt,  daß  die  einzelligen  Organismen  und  so  auch 
die  Protozoen  ,, unsterblich"  seien;  er  wollte  damit  selbstverständlich  nicht  in 
Abrede  stellen,  daß  Protozoen  durch  ungünstige  Lebensbedingungen  oder  starke, 
auf  sie  wirkende  Schädlichkeiten  vernichtet  werden  können ;  unsterblich  seien  die 
Protozoen  nur  insofern,  als  sie  dem  physiologischenTod,  dem  Tod,  welcher 
die  notwendige  Konsequenzinnerer  Bedingungen  ist,  nicht  unterworfen  sind.  Die- 
ser physiologische  Tod  sei  vielmehr  eine  Eigentümlichkeit  der  vielzelligen  Tiere, 
ein  Neuerwerb  derselben,  welcher  dadurch  notwendig  geworden  sei,  daß  sich  bei 
Metazoen  eine  Arbeitsteilung  zwischen  Geschlechtszellen  und  somatischen  Zellen 
vollzogen  habe.  Die  letzteren,  das  Soma,  seien,  wenn  man  sie  auch  noch  so  gut 
vor  äußeren  Schädlichkeiten  bewahre,  dem  Untergang  geweiht;  die  Geschlechts- 
zellen dagegen  hätten  den  Charakter  der  Unsterblichkeit  von  den  Protozoen 


Lehre  von  der  Unsterblichkeit  der  Einzelhgen  3^ 

überkommen  und  bewahrt  und  gäben  die  Garantie  für  die  Fortexistenz  der 
Lebewesen. 

Daß  die  jetzt  lebenden  Arten  der  Protozoen,  seitdem  sie  existieren,  sich 
durch  fortgesetzte  Teilung  erhalten  haben  und  noch  erhalten,  kann  nicht  in 
Zweifel  gezogen  werden.  Ebenso  steht  es  —  vielleicht  machen  nur  wenige  sehr 
niedrig  organisierte  Tiere,  von  denen  man  nur  Vermehrung  durch  Teilung  kennt, 
eine  Ausnahme  —  fest,  daß  vielzellige  Tiere  eine  begrenzte  Lebensdauer  haben. 
Während  die  Kontinuität  des  Lebens  bei  den  Einzelhgen  durch  die  Individuen 
selbst  gewahrt  wird,  wird  dieselbe  bei  den  Vielzelligen  durch  ihre  Geschlechts- 
zellen vermittelt.  Soweit  bestehen  die  Erwägungen  Weismanns  vollkommen 
zu  Recht.  Fraglich  bleibt  nur,  ob  diese  Sachlage  uns  berechtigt,  den  von  Weis- 
mann erläuterten  prinzipiellen  Gegensatz  zwischen  Protozoen  und  Metazoen 
anzunehmen,  oder  ob  nicht  vielmehr  bei  den  Protozoen  Erscheinungen  exi- 
stieren, welche  den  physiologischen  Tod  der  Vielzelligen  vorbereiten.  Der- 
artige Erscheinungen  haben  wir  bei  den  Wimperinfusorien  kennen  gelernt,  bei 
denen  zeitweihg  der  funktionierende  Kern  zugrunde  geht  und  durch  Abkömm- 
linge des  Geschlechtskerns  ersetzt  wird,  bei  denen  somit  ein  partieller  Tod  der 
Zelle  eintritt,  welcher  nur  deshalb  sich  nicht  zu  einem  Tod  des  gesamten 
Organismus  erweitert,  weil  die  Zelle  die  Fähigkeit  hat,  für  das  Verloren- 
gegangene Ersatz  zu  schaffen  und  somit  sich  zu  regenerieren.  Es  fragt  sich 
nun,  ob  der  partielle  Zelltod  der  Wimperinfusorien  ebenso  eine  physiologische 
Notwendigkeit  ist,  wie  der  somatische  Tod  der  Vielzelligen,  und  ob  analoge 
Erscheinungen  bei  allen  Protozoen  vorkommen. 

Zur  Lösung  dieser  Frage  sind  an  Rhizopoden  und  Wimperinfusorien  Expe-  züchtungsver- 
rimente  angestellt  worden,  welche  entscheiden  sollten,  ob  es  möghch  ist,  Tiere  zoen. 
in  unbegrenzter  Vermehrung  zu  erhalten,  ohne  daß  Schädigungen  der  Organi- 
sation auftreten,  welche  schHeßlich  zum  Tod  führen.  Zu  dem  Zweck  wurden  die 
Tiere  mit  überreichem  Futter  versehen  und  Zählkulturen  angelegt,  um  die  Ver- 
mehrungsrate festzustellen.  Da  die  Vermehrung  der  Protozoen  in  höheren  Tem- 
peraturen eine  viel  lebhaftere  ist  als  bei  niederen,  ist  es  notwendig,  wenn  man 
ganz  exakte  Resultate  erzielen  will,  die  Kulturen  bei  konstanter  Temperatur 
zu  führen.  Ferner  muß  man  sehr  häufig  das  Wasser  wechseln,  um  die  Möglich- 
keit auszuschließen,  daß  sich  Schädlichkeiten  in  die  Kultur  einschleichen.  Die 
Erneuerung  des  Wassers  ergibt  sich  bei  Zählkulturen  übrigens  von  selbst.  Denn 
bei  der  ungemeinen  Fortpfianzungsfähigkeit  der  Infusorien  muß  man  jeden 
zweiten  oder  dritten  Tag  die  Kultur  völlig  neu  instalheren,  um  die  Zahl  der 
erzüchteten  Infusorien  zu  bestimmen  und  nur  einige  wenige  (i — 3  Stück)  zur 
weiteren  Kultur  herauszufangen. 

Bei  diesen  Untersuchungen  hat  es  sich  herausgestellt,  daß  die  Intensität  der    Depressions- 

1TT  1  -i-i  Ol  1  1"  ir>       zustände  der 

Assmiilation  und  der  Vermehrung  periodischen  Schwankungen  unterliegt,  daß      Protozoen. 
Zeiten,  in  welchen  Nahrungsaufnahme  und  Vermehrung  sehr  energisch  sind, 
mit  Zeiten  wechseln,  in  welchen  beide  Funktionen  in  Stillstand  geraten.    Man 
sprichtdann  von  Depressionszuständen  der  Protozoen.  Viele  Untersuchungs- 
reihen führten  weiter  zu  dem  Resultat,  daß  im  Laufe  einer  über  viele  Monate 

3* 


a5  Richard  von  Hertwig:  Die  einzelligen  Organismen 

sich  erstreckenden  Kultur  die  Depressionszustände  einen  immer  schwereren 
Charakter  annahmen  und  daß  die  Kulturen  schließlich  nach  einer  mehrmonat- 
lichen Dauer  durch  Absterben  der  letzten  Individuen  zu  Ende  gingen. 

Die  nächstliegende  Erklärung  für  den  geschilderten  Kulturverlauf  wäre, 
daß  die  einzelligen  Organismen  durch  fortgesetzte  Tätigkeit  eine  Schädigung 
erfahren,  welche  man  dem  Altern  eines  vielzelligen  Organismus  vergleichen 
kann.  Kleinere  Schädigungen  werden  durch  vorübergehende  Ruheperioden  und 
in  denselben  ablaufende  Reorganisationen  ausgeglichen;  allmählich  aber  werden 
die  Schädigungen  intensiver  und  führen  dann  zum  physiologischen  Tod.  Wür- 
den die  Verhältnisse  in  der  Natur  sich  genau  so  abspielen,  wie  ich  es  eben  dar- 
gestellt habe,  so  müßten  die  Protozoen  mit  der  Zeit  aussterben.  Dies  ist  nun 
tatsächlich  nicht  der  Fall;  es  wird  dadurch  verhindert,  daß  gleichmäßig  gün- 
stige Entwicklungsbedingungen,  wie  sie  der  Experimentator  einführt,  in  der 
Natur  niemals  gegeben  sind.  Rasche  Vermehrung  einer  Protozoenart  wird  Ur- 
sache, daß  die  ihr  dienende  Nahrung  aufgebraucht  wird.  So  wird  das  oben 
besprochene  Zusammenwirken  innerer  und  äußerer  Faktoren  bedingt,  welches 
zu  Konjugation  und  Enzystierung  führt.  Damit  werden  tiefgreifende  Reorgani- 
sationen des  Baues  ermöglicht,  welche  nicht,  wie  die  Reorganisationen 
während  der  Depressionszustände,  vorübergehend,  sondern  auf  längere  Zeit  den 
Organismus  aufs  neue  widerstandsfähig  machen. 

Schädigende  Dic  durch  langdaucrndc  Protozoenkulturen  gewonnenen  Erfahrungen  haben 

Exkretc.°'^  aber  noch  eine  andere  Erklärung  erfahren,  daß  nämlich  durch  die  eingeführten 
künstlichen  Ernährungsbedingungen  Schädigungen  verursacht  würden,  wie  sie 
der  Natur  fremd  seien.  Durch  dieselben  soll  im  Organismus  allmählich  eine  An- 
häufung schädlicher  Stoffwechselprodukte  stattfinden,  welche  die  Entwicklungs- 
störungen verursachen.  In  der  Tat  ist  es  auch  einem  amerikanischen  Forscher 
geglückt,  einen  und  denselben  Stamm  von  Paramaecien  mehrere  Jahre  lang  zu 
kultivieren,  ohne  daß  die  Kultur  ausgestorben  wäre,  so  daß  der  Experimentator 
zum  Schluß  die  2000.  Generation  zählen  konnte.  Er  hat  dies  günstige  Resultat 
dadurch  erreicht,  daß  er  immer  nur  wenige  Tiere  in  einem  relativ  ansehnlichen 
Quantum  Wasser  kultivierte  und  öfters  die  Art  der  Ernährung  wechselte. 

Indessen  sind  auch  diese  Versuche  nicht  nach  allen  Richtungen  beweis- 
kräftig, da  sie  unentschieden  lassen,  ob  die  schließhch  gewonnenen  Tiere  auch 
in  jeder  Hinsicht  normal  waren.  Die  Fähigkeit  der  Assimilation  und  Vermehrung 
allein  ist  noch  kein  sicherer  Maßstab  hierfür.  Es  hat  sich  herausgestellt,  daß 
Protozoenkulturen  in  dieser  Hinsicht  sich  vollkommen  normal  verhielten  und 
sich  noch  monatelang  kultivieren  heßen,  daß  sie  aber  unfähig  waren,  zu  konju- 
gieren und  sich  zu  enzystieren,  daß  sie  auch  Schädlichkeiten  gegenüber,  z.  B. 
gegenüber  den  therapeutischen  Mitteln,  mit  denen  der  Mediziner  krankheits- 
erregende Protozoen  bekämpft,  nicht  mehr  die  Widerstandskraft  jugendhcher 
Kulturen  besaßen. 

Protozoen  und  Wir  stelicu  mit  Experimenten,  wie  ich  sie  hier  geschildert  habe,  erst  am 

■  Anfang  einer  neuen  Periode  wissenschafthcher  Untersuchungen,  so  daß  wir  noch 

keine  alle  Fragen  aufklärenden  Resultate  erwarten  können.    Aber  wir  können 


Protozoen  und  Krankheitslehre  oy 

mit  Sicherheit  darauf  rechnen,  daß  die  physiologisch-experimentelle  Forschungs- 
richtung, wenn  sie  sich  mit  der  bisher  so  fruchtbaren  morphologischen  Be- 
trachtungsweise verbindet,  für  die  Zukunft  reiche  Ausbeute  bringen  wird,  Aus- 
beute theoretischer  und  praktischer  Natur.  In  theoretischer  Hinsicht  wichtig 
werden  die  Protozoenuntersuchungen  werden,  indem  sie  uns  einen  vertieften 
Einblick  in  die  Physiologie  des  Zellenlebens  verschaffen.  Immer  wieder  begeg- 
nen wir  Bestrebungen,  welche  den  Wert  der  Zellforschung  für  die  Erklärung 
der  Lebensvorgänge  herabzusetzen  suchen.  Ich  erblicke  hierin  eine  vollkom- 
mene Verkennung  der  Aufgaben  der  modernen  biologischen  Forschung.  Noch 
zu  keiner  Zeit  hat  die  Zelle  eine  derartige  zentrale  Stellung  in  allen  Organi- 
sationsfragen eingenommen  wie  jetzt,  freilich  nicht  mehr  wie  früher  als  for- 
males Element,  als  morphologische  Einheit,  sondern  als  der  Träger  von  Lebehs- 
funktionen,  von  dessen  Leistungsfähigkeit  zum  guten  Teil  die  Leistungsfähig- 
keit des  Ganzen,  das,  was  man  die  Konstitution  eines  Organismus  nennt,  ab- 
hängt. Um  die  Bedingungen  der  Leistungsfähigkeit  der  Zelle  zu  erforschen, 
gibt  es  keine  geeigneteren  Objekte  als  die  Protozoen,  weil  alle  Einflüsse,  welche 
der  Experimentator  benutzt,  hier  unmittelbar  den  Zellkörper  treffen,  während 
bei  einem  vielzelligen  Organismus  vielerlei  Nebenwirkungen  in  Betracht  kom- 
men, wie  sie  z.  B.  durch  Blutverteilung,  Nervenreiz  usw.  gegeben  sind. 

Was  weiter  die  praktische  Bedeutung  der  Protozoenkunde  anlangt,  so  ist 
dieselbe  vornehmlich  durch  die  in  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  gewonnene 
Erkenntnis  bedingt,  daß  eine  unverhältnismäßig  große  Zahl  von  Krankheits- 
erregern bei  Menschen  und  Tieren  der  Klasse  der  Protozoen  angehört.  Um 
nur  einige  zu  nennen,  so  verweise  ich  auf  die  Erreger  der  Malaria,  der  Schlaf- 
krankheit, der  vielen  verheerenden  Tierseuchen  der  Tropen  und  wärmeren 
Klimate,  der  Nagana-  und  Surrakrankheit  der  Huftiere,  der  Beschälkrankheit 
der  Pferde,  der  viele  Millionen  verschlingenden  Pebrineerkrankung  des  Seiden- 
spinners, der  Myxosporidienkrankheiten  der  Fische  usw.  Wie  die  genaue  Er- 
forschung des  Entwicklungsganges  der  Parasiten  hier  die  Mittel  zu  einer  syste- 
matischen Bekämpfung  der  Krankheit  an  die  Hand  gegeben  hat,  zeigt  am 
schönsten  die  Malariaforschung.  Zugleich  läßt  dieselbe  erkennen,  wie  bei  einer 
intensiven  Durchforschung  eines  eng  begrenzten  Gebietes  Theorie  und  Praxis 
einander  die  Hände  reichen,  indem  die  Beantwortung  vieler  aus  der  Praxis  sich 
ergebender  Fragestellungen  unsere  theoretische  Erkenntnis  außerordentlich  ge- 
fördert hat  und  umgekehrt  die  wachsende  theoretische  Erkenntnis  praktische 
Maßnahmen  ermöglichte. 


Literatur. 

(Größere  und  zusammenfassende  Werke.) 

Ehrenberg,  G. :  Die  Infusionstierchen  als  vollkommene  Organismen.  Leipzig  1838.  — 
DujARDiN,  T. :  Histoire  naturelle  des  Zoophytes  Infusoires.  Paris  1841.  —  Stein,  Fr.:  Der 
Organismus  der  Infusionstiere.  Leipzig,  Bd  i  1859.  Bd.  2  1867.  Bd.  3  1878  —  83.  — 
Haeckel,  E.:  Die  Radiolarien.  Eine  Monographie.  Leipzig  1862.  —  Schultze,  M.  :  Über 
den  Organismus  des  Polythalamien.  Leipzig  1854.  —  BÜTSCHLI,  O.:  Die  Protozoen.  In  Bronn'S 
Klassen  und  Ordnungen  des  Tierreichs.  II.  Aufl.  Leipzig  1880 — 89.  —  Bloch.mann,  F.: 
Die  mikroskopische  Tierwelt  des  Süßwassers.  II.  Aufl.  Hamburg  1895.  —  Calkins,  G.: 
Protozoology.  New  York  1909.  —  Doflein,  F.:  Lehrbuch  der  Protozoenkunde.  III.  Aufl. 
Jena  191 1.  —  Jennings,  H.  S.:  Das  Verhalten  der  niederen  Organismen  unter  natürlichen 
und  experimentellen  Bedingungen.  Deutsch  von  E.  Mangold.  Leipzig  19 10.  —  Provazek, 
S.  V.  u.  A. :  Handbuch  der  pathogenen  Protozoen.  Leipzig  1912.  —  Minchin,  E.  A.:  An  in- 
troduction  to  the  study  of  the  Protozoa.     London  1912. 


ZELLEN  UND  GEWEBE  DES  TIERKÖRPERS. 

Von 
Heinrich  Poll. 

Die  lebendigen  Körper  aller  Tiere  mit  allen  den  unendlich  mannigfachen 
Einrichtungen,  deren  sie  für  ihre  Lebenstätigkeit  bedürfen,  entstehen,  wenn 
man  ihren  Werdegang  schrittweise  rückwärts  verfolgt,  aus  sehr  viel  kleineren 
und  bei  weitem  einfacheren  Gebilden.  Diese  in  der  Regel  nur  mit  Hilfe  des 
Mikroskops  sichtbaren  Bauteilchen  sind  einander,  mögen  sie  auch  aus  noch  so 
verschiedenen  Teilen  des  Körpers,  von  noch  so  verschiedenen  Tieren  oder  sogar 
von  Pflanzen  stammen,  mögen  sie  im  Leben  welchen  Verrichtungen  auch  immer 
obliegen,  in  bemerkenswertem  Grade  ähnlich.  Man  nennt  diese  Grundbestand- 
teile aller  lebenden  Wesen  die  Zellen.  Solche  Zellen  kommen  in  der  Natur  in  zeiien. 
großer  Zahl  auch  als  freie,  selbständige  Lebenseinheiten  vor;  das  gesamte  Reich 
der  Einzeller,  der  Protisten,  umfaßt  ausschließlich  derartige  Lebensformen,  sei  es 
pflanzlicher,  sei  es  tierischer  Art. 

Da  nun  einerseits  alle  Bestandteile  der  Lebewesen,  die  an  sich  keine  Zellen 
sind,  aus  Zellen  sich  bilden,  da  es  andererseits  noch  nicht  gelungen  ist,  selbstän- 
dig lebensfähige  Gebilde  zu  entdecken,  die  keine  Zellen  sind  oder  sich  nicht  auf 
solche  zurückführen  lassen,  so  bezeichnet  man  die  Zelle  als  den  Grundbe- 
standteil alles  Lebendigen,  als  das  stets  wiederkehrende  Element  der  orga- 
nischen Welt  oder  als  den  Elementarorganismus.  Auch  er  entsteht  seiner- 
seits wieder  aus  noch  kleineren,  aus  noch  einfacheren  Einheiten,  über  deren 
Wesen  man  sich  indessen  bisher  noch  nicht  klar  und  einig  ist. 

Die  Kenntnis  vom  Bau,   von  den  Verrichtungen  der  Zellen,   von  ihren 
Schicksalen,  Umwandlungen  und  Produkten  vermittelt  die  allgemeine  Zellen- 
lehre  oder   Cytologie.     Die   Besonderheiten   der   tierischen   Elementarteile  Cytologie, 
werden  in  der  tierischen  Cytologie  erörtert. 

Die  Elemente  vergesellschaften  sich  im  Körper  der  höheren  Lebewesen,  im 
Gegensatze  zu  den  Protisten,  in  großer  Zahl  zu  einheitlichen  Verbänden  mit  ge- 
setzmäßig geordnetem  Aufbau  und  gemeinsamer,  ähnlicher  Verrichtung:  der- 
artige Zellengemeinschaften,  die  sich  von  ihresgleichen  durch  eigenartige  Aus- 
gestaltung von  Struktur  und  von  Funktion  unterscheiden,  heißen  Gewebe. 
Ihre  Gestaltung  und  Leistung  schildert  die  Gewebelehre  oder  die  Histiologie  msüoiogie. 
(idTiov  Gewebe).  Im  einfachsten  denkbaren  Falle  treten  zwei  oder  mehrere 
Gewebe  dieser  Art  zusammen,  um  einen  Tierkörper  aufzubauen.  Zumeist  aber  ■ 
ordnen  sie  sich  zu  bestimmt  gestalteten  Gewebekomplexen  mit  eigenartigen 
Verrichtungen,  zu  den  Organen:  und  diese  bilden  ihrerseits  die  mannigfachen 


^O  Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

Organoiogie.  Wcrkzeugc  uiid  Apparate  des  Tierorganismus.  Die  Organologie  lehrt  deren 
Struktur  und  Verrichtungen  kennen,  mit  ihren  Unterabteilungen  der  groben 
und  feinen  Anatomie,  der  chemischen  und  physikalischen  Physiologie. 

I.  Cytologie. 

Größe  der  Zellen.  Dic  Größc  ticrischcr  Bauteilchen  schwankt  in  weiten  Grenzen.    Sie  ent- 

ziehen sich  im  allgemeinen  der  Wahrnehmung  des  unbewaffneten  Auges,  sind 
hingegen  bei  einer  ungefähr  durchschnittlichen  Größe  von  750  mm  mit  mittel- 
starken Linsen  von  etwa  200 — 300 f acher  Vergrößerung  im  Mikroskop  alle- 
samt gut  sichtbar. 

Die  kleinsten,  bekannten  tierischen  Elementarteile  messen  etwa  Viooo  bis 
V3000  mm.  Es  sind  dies  die  Blutplättchen  (Fig.  36,  t),  die  auch  beim  Menschen  in 
der  Körperfiüssigkeit  eine  wichtige  Rolle  spielen.  Die  größten  Zellen  erreichen 
demgegenüber  ganz  ungeheuerliche  Abmessungen :  bis  zu  12 — 1 5  cm.  Das  ist  der 
Durchmesser  des  Straußeneies;  und  die  erst  seit  wenigen  Jahrhunderten  ausge- 
storbenen Riesenvögel  auf  Madagaskar  legten  Eier  von  8  Litern  Inhalt.  Ein  solches 
Ei  ist  allerdings  eine  einzige  Zelle:  sie  verdankt  ihre  gewaltige  Größe  aber  zum 
einen  Teile  Hüllengebilden,  wie  Eiweiß  und  Schale,  die  mit  der  Zelle  als  solcher 
nichts  zu  tun  haben,  zum  andern  Teile  den  Nährstoffen,  die  die  eigentliche 
Zelle,  das  Gelbe  im  Ei  oder  der  Eidotter,  in  sich  aufgespeichert  hat,  um  dem  jun- 
gen Keimling  bei  seiner  Entwicklung  die  nötigen  Baustoffe  liefern  zu  können. 
Die  Länge  von  mehreren  Metern  erreichen  die  Nervenzellen,  wenn  sie  mit  ihren 
Ausläufern  vom  Rückenmark  bis  zu  den  äußersten  Enden  der  Glieder  den  Tier- 
leib, etwa  einer  Giraffe,  durchziehen. 

Körpergröße  und  Zellengröße  stehen  zueinander  in  gar  keinerlei  grundsätz- 
lichen Beziehungen.  Die  Körpermasse  der  größten  Tier-  oder  Baumriesen  setzt 
sich  aus  einer  entsprechend  größeren  Zahl  von  Elementarteilen  zusammen,  als 
der  Leib  z.  B.  eines  der  winzigen,  mikroskopisch  kleinen  Rädertierchen,  die  zum 
Geschlechte  der  Würmer  gerechnet  werden;  und  doch  werden  diese  in  ihrer  Ge- 
samtgröße nicht  unerheblich  von  der  Abmessung  großer  einzelliger  Tiere  über- 
troffen. Hingegen  ist,  ungeachtet  der  überaus  wechselnden  Masse  der  Zellen 
in  den  verschiedenen  Organen  eines  und  desselben  Tieres,  für  jede  einzelne  Zel- 
lensorte jeder  einzigen  Tierart  eine  bestimmte  Größe  und  Anzahl  in  überaus 
engen  Grenzen  festgelegt.  Den  Blutzellen,  den  Samenzellen,  den  Eizellen  einer 
und  derselben  Tierspecies  kommt,  so  viele  Einzeltiere  man  auch  durchmessen 
mag,  unter  ganz  geringen  Schwankungen  stets  eine  gewisse,  gleiche,  für  diese 
Tierart  typische  Zellengröße  zu.  Und  dort,  wo  man  sich  der  mühseligen  Arbeit 
Zahl  der  ZeUen.  dcr  Auszählung  dcr  Zellen  eines  bestimmten  Organes  unterzogen  hat,  ist  man 
ebenfalls  auf  eine  überraschende  Beständigkeit  dieser  Zahlen  gestoßen,  z.  B.  bei 
den  Elementen  der  Kristallinse  des  Auges,  der  Nervenknoten  beim  Blutegel, 
der  Rückensaite  bei  den  Larven  der  Seescheiden,  einer  Gruppe  der  Manteltiere 
oder  Tunikaten.  Das  hängt  letzten  Endes  mit  der  Tatsache  zusammen,  daß  das 
Verhältnis  von  Masse  zur  Oberfläche  der  Zelle  niemals  eine  bestimmte  Grenze 
überschreitet. 


i 


Aufbau  der  Zellen 


41 


Ganz  ähnliche  Verhältnisse  und  Beziehungen  gelten  auch  für  die  Formen    Formen  der 
der  Zellen.  Auch  sie  sind  untereinander  in  denkbar  höchstem  Grade  verschieden 

(Fig.  I). 

Ein  und  dasselbe  Element  kann  seine  Gestalt  häufig  in  wenigen  Minuten 
auf  das  erstaunlichste  verändern:  das  sind  Zellen  ohne  feste  Eigengestalt 
(Fig.  7  und  13).  Die  Zellen  mit  bestimmter,  ein  für  allemal  festgelegter  Eigenform 
aber  weisen  im  Tierkörper  alle  nur  erdenkbaren  Figuren  auf:  dabei  sind  das 
Alter  des  Elements,  seine  Lage  zwischen  den  Nachbarteilen  und  schließlich  in 
hohem  Grade  seine  besondere  Lebensleistung  von  gewichtigem  Einfluß.   Kugel-, 


Fig.  I.  Verschiedene  Zellenformen.  W.  Kuglige Zelle :  Ei  vom  Menschen  (nach  van  der  Stricht  aus  Heidrnhain). 
B.  Walzenförmige  Zelle  (Zylinderzeile) :  aus  der  I  )arraschleimhaut  eines  Salamanders  (nach  Heidenhain).  C.  Spindel- 
förmige Zelle:  HindezeUe  aus  der  Regenbogenhaut  (nach  R.Krause).  D.  Platte  Zelle:  aus  der  Schleimhaut  der 
Mundhöhle  des  Menschen  (nach  SiöHR).  E.  Würfelförmige  Zelle:  aus  der  Niere  vom  Frosch  (nach  R.  Krause). 
F.  Unregelmäßig  gestaltete  Zelle:  Ei  des  Süßwasserpolypen  (nach  Kokschhli  und  Heidkk).  G.  Unregelmäßig  ge- 
staltete Zelle:  Freßzelle  aus  der  Bauchhöhle  eines  Fadenwurmes  (nach  Nassonow  aus  Gurwitsch). 

Napf-  und  Eiformen,  Walzen  und  Kegel,  Prismen,  Würfel  und  Polyeder,  dün- 
nere und  dickere  Scheiben  von  verschieden  gestaltigem  Umrisse,  Fäden  von 
sehr  abweichender  Länge  und  Dicke  sind  die  noch  einigermaßen  regelmäßigen 
unter  den  häufig  vorkommenden  Zellengestalten  (Fig.  i).  Neben  ihnen  findet 
sich  aber  eine  Unzahl  aller  möglichen  höchst  unregelmäßigen  Formen:  baum- 
förmig  verzweigte  Elemente,  flaschen-  und  retortenförmige  Gebilde,  Körper  von 
verschiedener  Form  mit  langen  fadenartigen  Fortsätzen  und  Anhängen,  mit 
Stacheln  und  Flügelplatten. 

Wieder  aber  ist  für  dieselbe  Sorte  von  Elementarteilchen  bei  derselben 
Tierart  eine  ganz  bestimmte,  nur  wenig  abweichende  Zellenform  typisch.  Den 
Geübten  fällt  es  nicht  schwer,  zumal  bei  der  Auswahl  einigermaßen  charakteri- 


•  2  Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

stischer  Zellensorten,  z.  B.  der  Keimzellen,  auf  den  ersten  Blick  für  ein  Zellen- 
element anzugeben,  welchem  Tiere  es  entstammt.  Bei  anderen,  weniger  charak- 
teristischen Zellengestalten  sind  allerdings  genauere  Beobachtungen,  auch  an- 
derer Eigentümlichkeiten,  Messungen  usw.  notwendig,  und  unter  Umständen, 
besonders  bei  noch  unzulänglichen  Kenntnissen,  ist  die  Erkennung  der  Her- 
kunft schwierig,  wenn  nicht  gar  unmöglich.  Es  entziehen  sich  die  a r  t c h a r  ak - 
ArtzeUen.  tcristischeii  Eigenschaften  der  Elemente  der  Wahrnehmung:  sie  sind  aber 
trotzdem  durch  andersartige  Untersuchungsmethoden  stets  nachweisbar. 
Optische  Eigen-  Dic  mcistcn  tierischen  Elementarteile  sind  nahezu  farblos,  hell  und  durch- 

^"^^ZeUen*^*"^  Scheinend.  Einige  verdanken  farbigen  Inhaltskörpern  oder  -saften  bestimmte 
Eigenfarben,  oder  der  Beschaffenheit  ihrer  Oberfläche  Glanz  und  Struktur- 
farbe. Zu  diesen  zählen  die  Schuppen  vieler  Schmetterlinge,  zu  jenen  gehören 
z.  B.  die  wichtigen  Blutzellen  der  Wirbeltiere,  die  einen  gelbgrünen  Farbstoff 
gelöst  enthalten,  die  Fettzellen  mancher  Lurche  und  Kriechtiere,  die  farbige 
gelbe  oder  rote  Ölkugeln  einschließen;  vor  allem  aber  die  große  Schar  der  Farb- 
stoff- oder  Pigmentzellen,  die  braune,  schwarze,  blaue  und  rote,  grüne,  gelbe 
Farbkörnchen  in  sich  bergen. 

Die  Zellengebilde  brechen  das  Licht  im  allgemeinen  etwas  stärker  als  das 
Wasser,  daher  die  Beobachtung  in  wässrigen  Flüssigkeiten  viele,  auch  feinere 
Einzelheiten  in  den  Zellen  erkennen  läßt.    In  dicken  Schichten  erscheint  die 
Substanz  der  Zellen  hellgrau,  undurchsichtig. 
Mechanische  Die  Festigkeit  dei  tierischen  Elementarteile  ist  im  allgemeinen  gering:  man 

^IfeTzeiielr"  kann  ihre  Konsistenz  als  zäh  flüssig  beschreiben.  Die  Zellen  sind  mithin  weiche, 
zarte  und  verletzliche  Gebilde.  Sie  schützen  sich  indes,  wenn  sie  starken 
mechanischen  Beanspruchungen  ausgesetzt  sind,  durch  Verwandlung  in  recht 
widerstandsfähige  Materien.  So  ist  das  feste  Hörn  z.  B.  der  Krallen,  Nägel  und 
Hufe,  der  steinharte  Schmelz  der  Zähne  veränderte  Zellensubstanz.  Im  allge- 
meinen werden  indes  im  Tierkörper  für  derartige  mechanische  Einrichtungen  nicht 
die  Zellen  selbst,  auch  nicht  wie  im  Pflanzenkörper,  z.B.  im  Holz,  Zellenleichen, 
benutzt,  sondern  die  verschiedenartigen  Bauprodukte  des  Zellorganismus. 

Mit  der  Zartheit  der  tierischen  Elementarteile  hängt  es  zusammen,  daß  sie, 
mit  verschwindend  wenigen  Ausnahmen,  auf  ein  Leben  in  Flüssigkeit  angewie- 
sen sind.  Allerdings  vertragen  vereinzelte  Tiere  ein  Eintrocknen  und  Aufwei- 
chen überaus  gut,  z.  B.  die  Bärttierchen,  mikroskopisch  kleine  Rädertierchen, 
die  man  völlig  zusammengeschrumpft  lange  Zeit  aufbewahren  und  durch  einen 
Tropfen  Wasser  wieder  zum  Leben  erwecken  kann.  Indes  ist  dies  eine  seltene 
Anpassung  an  absonderliche  Lebenslagen.  Nichts  schädigt  die  tierische  Zelle 
im  großen  ganzen  schwerer  als  Flüssigkeitsverlust.  Auch  gegen  Veränderungen 
in  der  Zusammensetzung  des  flüssigen  Mittels,  das  sie  umspült  und  durchtränkt, 
ist  die  tierische  Zelle  recht  empfindhch. 

Tierische  Zellen  entbehren  im  allgemeinen  einer  besonderen  Hülle.  Sie 
sind  nackt.  Trotzdem  aber  mischt  sich  die  Substanz  der  Zelle  nicht  mit  dem 
Wasser  oder  der  umströmenden  Körperflüssigkeit:  sie  grenzt  sich  von  ihr  durch 
Abscheidung  eines  feinsten  Oberflächenhäutchens  ab.    Nicht  immer  sind  diese 


Physikalische  und  chemische  Eigenschaften  der  Zellen  at, 

Grenzhäutchen  der  Elementarteile  so  fein  und  etwa  mit  dem  Oberflächenhäut- 
chen  der  physikalischen  Körper  vergleichbar.  Oft  verdichtet  sich  die  Außen- 
zone der  Zelle  zu  einem  mehr  oder  minder  festen  Gefüge  (Ektoplasma,  Crusta) 
und  setzt  sich  unter  Umständen  auch  ganz  scharf  vom  Zellenleibe  ab,  so  daß 
sie  eine  vom  Zellenkörper  trennbare  Hülle  (Pellicula)  bildet.  Solche  echte 
Zellenmembranen  sind  bei  tierischen  Elementen  überaus  selten,  weit  verbreitet 
indessen,  aber  auch  nicht  überall  vorhanden  als  Zellulosemembranen  im  Pflan- 
zenreiche. Auch  diese  Zellenhüllen  sind  aber  durchaus  durchdringlich  für 
Flüssigkeit  und  gelöste  Stoffe  vielerlei  Art,  so  daß  der  Zelle  ein  steter  osmo-  osmotischer 
tischer  Stoff austausch  mit  der  Umwelt  ermöglicht  ist.  Ändert  man  die 
Salzmenge  der  Flüssigkeit,  in  denen  die  Zellen  des  Körpers  zu  leben  gewohnt 
sind,  nach  Zusammensetzung  und  Stärke  ihrer  Bestandteile  ab,  so  dringen  Was- 
ser und  gelöste  Substanz  aus  der  Zelle  heraus  oder  in  ihr  Inneres  hinein,  und  bei 
gar  nicht  einmal  so  hochgradigen  Eingriffen  wird  die  Zelle  unter  der  Erschei- 
nung der  Quellung  oder  Schrumpfung  vernichtet.  So  ist  das  destillierte  Wasser 
eines  der  unbedingt  tödlichen  Zellengifte,  das  wir  kennen,  weil  es  osmotisch  aus 
dem  Zellenleibe  die  lebensnotwendigen  Stoffe  herauszieht. 

Die  Zellensubstanz  ist  ein  wenig  schwerer  als  Wasser;   ihr  kommt,  nach    spezifisches 
einer  Bestimmung  allerdings  an  einzelligen  Wesen,  etwa  ein  spezifisches  Ge-     ""zliien.  ^' 
wicht  von  1,25  zu.   Daher  sinken  die  Zellen  im  Wasser  zu  Boden,  wenn  sie  nicht 
durch  besonderen  Gehalt  an  Öl  oder  Gas  oder  anderen  spezifisch  leichteren 
Körpern  schwebend  erhalten  werden. 

Die  physikalischen  Eigenschaften  werden,  wie  die  chemischen,  dadurch  so 
überaus  undurchsichtig,  daß  die  Zelle  als  solche  bereits  ein  überaus  verwickelter 
Organismus  von  besonderer  Struktur  ist.    Um  die  Chemie  der  Zelle  zu  Studie-  straktm-  dei- 
ren,  muß  man  sie  geradezu  vernichten:  die  lebende  Zelle  bleibt  der  chemischen 
Analyse  verschlossen,  nur  die  ,, Zellenleichen"  lassen  sich  ihr  unterwerfen. 

Die  wichtigsten  chemischen  Bestandteile  der  Zelle  sind  die  Eiweiskörper:    chemische 
bis  jetzt  hat  man  noch  keine  Zelle,  überhaupt  kein  Lebewesen  gefunden,  dem    der  Zeiien. 
diese  höchst  komplizierten  Verbindungen  gefehlt  hätten.    An  die  Existenz  der 
Eiweißkörper  erscheint  geradezu  die  Lebensfähigkeit  der  Zellelemente  gebun- 
den, die  die  heute  lebenden  Wesen  —  Tiere  und  Pflanzen  —  aufbauen. 

In  den  einzelnen  Zellensorten  begegnet  man  einer  geradezu  erstaunlichen  Eiweiß- 
Vielfältigkeit  dieser  Eiweißverbindungen:  diese  Mannigfaltigkeit  der  Zusam-  "^'^ '"  ""sen. 
mensetzung  hängt  mit  dem  überaus  verwickelten  chemischen  Aufbau  dieser 
Stoffe  zusammen,  in  deren  Wesen  die  Chemie  erst  eben  hinein  zu  leuchten  be- 
ginnt, wenngleich  sie  nur  in  unendlich  wechselnder  Bindung  Kohlenstoff, 
Wasserstoff,  Sauerstoff,  Stickstoff  und  Schwefel  enthalten.  An  dem  Aufbau 
der  Zelle  beteiligen  sich  außer  den  Eiweißstoffen,  aber  als  nicht  unumgänglich 
notwendige  Bestandteile,  die  Fette  und  die  Kohlehydrate,  die  als  Produkte  der     Fette  und 

Kohlehydrate. 

Lebenstätigkeit  der  Zelle  auftreten.    Fernerhin  gehören  zum  Bestände  des  tie- 
rischen Zellenleibes  anorganische  Salze,  unter  denen  die  der  Leichtmetalle,  und 
zumal  die  Chloride,  vor  allem  das  Kochsalz  oder  Chlornatrium,  eine  besondere  Sake. 
Rolle  spielen,  ferner  Eisen-  und  Phosphorverbindungen.    Seltener  kommen  in 


A^  Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

den  Zellen  noch  Silizium,  Fluor  und  einige  andere  Elemente  vor.  Keines  von 
diesen  ist  mithin  für  die  Chemie  der  Zelle  charakteristisch;  über  ein  besonderes 
Element  des  Lebens  verfügt  die  Zelle  nicht. 

Die  chemische  Natur  der  Zelle,  zumal  ihrer  Eiweißkörper,  ist  —  ungeachtet 
der  unübersehbar  großen  Mannigfaltigkeit  der  Eiweißstoffe  und  ihrer  Verbin- 
dungen in  den  einzelnen  Elementen  des  gleichen  Tierleibes  —  doch  wieder  für 
jede  bestimmte  Tierart  typisch  und  charakteristisch:  ebenso  wie  dies  für 
Zellenform,  Zellengröße  und  Zellenzahl  eines  Organes  gilt.  In  der  chemischen 
Verrichtung  der  Zelle  liegt  auch  der  einzige  heute  bekannte  einigermaßen  durch- 
greifende Unterschied  zwischen  den  Elementen  des  Tier-  und  Pflanzenkörpers. 
Die  pflanzlichen  Elementarteile  sind  im  Gegensatze  zu  dem  tierischen  befähigt, 
mit  Hilfe  des  Blattgrüns  oder  des  Chlorophylls  aus  einfachen  chemischen  Ver- 
bindungen, wie  Kohlensäure,  Wasser  und  Salzen,  jene  hochkomplizierten  Bau- 
stoffe der  organischen  Welt,  die  Eiweißkörper,  zu  erzeugen.  Ganz  scharf  und 
undurchbrochen  ist  indes  auch  diese  Gegensätzlichkeit  nicht.  Denn  eine  große 
Reihe  pflanzlicher  Organismen,  z.  B.  die  Pilze,  ermangeln  jenes  Pflanzenfarb- 
stoffes und  mithin  der  Möglichkeit,  anorganische  Nährstoffe  in  organische  Ver- 
bindungen überzuführen. 
ZeUenwechsei  Bci  der  chemischcu  und  physikalischen  Betätigung  der  Elementarteilchen 

im  Organismus.    /-,  .  .  .,  •-tri  i  r/ii  i  t-^-t^- 

hndet  eine  gewisse  Abnutzung,  ein  Verbrauch  an  Zellensubstanz  statt.  Die  Ein- 
zelzelle, die  ihre  Verrichtungen  nicht  mehr  zu  erfüllen  vermag,  wird  ausgeschal- 
tet und  stirbt.  Sie  ist  also  als  solche  im  allgemeinen  kein  Dauerbestandteil  des 
tierischen  Organismus.  Man  hat  sich  vielmehr  den  Bestand  des  Tierleibes  in 
anderer  Weise  als  Dauerwesen  vorzustellen:  wie  etwa  ein  Volk  oder  eine  Schule 
oder  ein  Truppenteil  dauernd  existiert,  trotzdem  Einzelpersonen  fortwährend 
oder  sogar  zu  gleicher  Zeit  in  großer  Anzahl  ausscheiden,  indem  sie  ständig 
durch  Nachwuchs  gleichartiger,  gleichgestalteter,  gleichtätiger  Einzelwesen 
ersetzt  werden.  Dabei  ist  die  Lebensdauer  der  einzelnen  Zellen  eines  Organis- 
mus äußerst  verschieden:  kurzlebige  und  langlebige  Elemente,  unter  Umstän- 
den auch  solche,  die,  wie  die  Nervenzellen,  wahrscheinlich  das  ganze  Leben 
hindurch  bestehen  bleiben,  sind  in  dem  Ganzen  des  Organismus  vereint.  Stocken 
die  Ersatzvorgänge  oder  trifft  die  Vernichtung  zu  viele,  oder  schädigt  sie  zu 
heftig  und  nicht  so  schnell  oder  gar  nicht  ersetzbare  Elementarbestandteile:  so 
ist  die  Vernichtung  des  Körpers,  der  Tod,  die  unausbleibliche  Folge. 

Die  physikalischen  und  chemischen  Erscheinungen  der  lebendigen  Sub- 
stanz erhalten  gegenüber  den  gleichartigen  Prozessen  in  der  unbelebten  Natur 
dadurch  ihr  besonderes  Gepräge,  daß  diese  Ereignisse  sich  an  Objekten  von 
äußerst  verwickelter  Struktur  vollziehen. 

Diesen  inneren  Aufbau  der  Organismen  kennen  wir  heute  erst  in  seinen 
gröbsten  und  äußerlichsten  Einzelheiten.  Die  feinere  Struktur  der  lebendigen 
Masse  ist  auch  unseren  verschärften  Sinnen,  unseren  verfeinerten  Untersu- 
chungsmethoden noch  unzugänglich.  Immerhin  haben  sich  die  Kenntnisse  auf 
diesem  Gebiete,  zumal  infolge  der  Anwendung  besserer  mikroskopischer  Be- 
obachtungsarten, in  der  kurzen  Zeitspanne  seit  der  Entdeckung  der  elemen- 


Physikalische  und  chemische  Eigenschaften  der  Zellen.  —  Der  Zellenkörper  ^e 


der  Zellen. 


taren  Entstehung  und  Architektur  aller  Lebewesen  unendlich  erweitert  und 
vertieft. 

Es  ist  zunächst  gelungen,  in  die  allgemeinen  Grundsätze  einen  Einblick  zu 
gewinnen,  nach  denen  sich  die  Zelle  —  mag  sie  aussehen,  mag  sie  arbeiten, 
wie  immer  es  sei  —  aufbaut  und  betätigt. 

Alle  Tierzellen  besitzen  gleichermaßen  drei  Hauptbestandteile:  den  Zellen-  Bestandteile 
leib,   den  Zellenkern  und  das  Zellenzentrum.     Außer  ihnen  beteiligen  sich  am 
Aufbau  der  Elementarteilchen  eine  große  Anzahl  sehr  verschiedenartiger  Ne- 
benbestandteile. 

Körper,  Kern  und  Zentrum  heißen  Grundbestandteile  des  Elementarorga- 
nismus, weil  sie  ohne  Ausnahme  jeder  tierischen  Zelle  zukommen,  weil  ohne  ihre 
Tätigkeit  und  Mitwirkung  in  der  Regel  tierisches  Leben  unmöglich  ist. 

Der  Zellenkörper. 

Der  Körper  der  Zellenelemente  besteht  seiner  Grundmasse  nach  aus  dem  Protopi 
Protoplasma.      Diesen  Namen  hat  zuerst   der  Botaniker  v.  Mohl   auf   den 
Zelleninhalt  angewandt;  heute  wird  er  oft  auch  für  die  Grundmassen  anderer  or- 
ganischer Bauteile  angewandt,  so  daß  man,  um  Irrtümern  vorzubeugen,  am 
besten  die  protoplasmatische  Grundlage  des  Zellenleibes  als      -...„.,  ,^     ,  ,.,.^. 
Cytoplasma  bezeichnet.  Diese  Zellengrundsubstanz  ist  selbst 
weder  eine  chemisch,  noch  physikalisch,  noch  strukturell  ein- 
heitliche Masse;  sie  ist  chemisch,  physikalisch  und  ihrem  Auf- 
bau nach  eine  höchst  komplizierte  Substanz.    So  entspricht  sie 
in  keiner  Weise  etwa  einem  einfachen  chemischen  Körper,  etwa 
einem  der  vielen  Eiweißstoffe,  sondern  sie  vereint  in  sich  viele 
verschiedene  chemische  Verbindungen  teils  in  flüssiger,  teils 
in  kolloidaler,  teils  auch  in  fester  Form.    Protoplasma  —  sagt 
O.  Hertwig  —  ist  ein  biologischer   Begriff,   kein  chemi- 
scher, kein  morphologischer  Körper. 

Bei  der  Anwendung  starker  Vergrößerungen  läßt  sich  im 
Protoplasma  ein  bestimmtes  Gefüge   erkennen.     Strittig  ist 
noch  jetzt  die  Frage,  welcher  Art  diese  Struktur  sei.    Im  allge- 
meinen schließt  man  sich  heute  der  Vorstellung  an,  daß  es 
sich  um   ein   äußerst  feines   Schaum-    oder  Wabenwerk 
(Fig.  2)  handle,  dessen  Lamellen  sehr  kleine   Hohlräumchen 
umschließen  (Bütschli).     An  den  Stellen,   an  denen  mehrere 
dieser    Plasmalamellen   zusammenstoßen,   betten   sich    alier- 
feinste  Körnchen,  die  Mikrosomen,  ein.    Nähere  Kenntnisse  des  ,, kolloidalen" 
Lösungszustandes,  wie  sie  die  physikalische  Chemie  in  der  jüngsten  Zeit  er- 
mittelt hat,  liefern  in  der  Tat  Hinweise,  daß  Eiweißstoffe  Bilder  von  Waben- 
struktur wohl  zu  erzeugen  vermögen:  mit  Hohlräumchen,  die  eine  Lösung  des 
Eiweißes  in  Flüssigkeit  erfüllt  (Sol-Zustand),  umschlossen  von  Wabenlamellen 
aus  festerer  Substanz,  vergleichbar  etwa  der  Konsistenz  gequollener  Gelatine, 
die  eine  Lösung  von  Flüssigkeit  im  Eiweißstoff  darstellen  (Gel-Zustand).  Häufig 


F  i  g.  2.   Gefüge  des 

Protoplasmas. 
Wabenstruktur    ei- 
ner    Oberhautzelle 
eines       Regenwur- 
mes,       k  =  Kern, 
7v  =  Plasmawaben,    Wabenban  des 
getrennt  durch  Pias-     Protoplasmas. 
mascheidewände. 
(Nach  BürscHLi  aus 
Verworn.1 


^5  Heinrich  Poll:   Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

gelingt  es  auch  der  stärksten,  für  uns  heute  verfügbaren  Vergrößerung  nicht, 
im  Protoplasma  Strukturbilder  irgendwelcher  Art  zu  entdecken:  so  sieht  in  der 
Randschicht  vieler  Zellen  die  Grundsubstanz  homogen  aus,  und  unter  Um- 
ständen erscheinen  auch  umfänglichere  Teile  des  Zellenleibes  gänzlich  glasig 
durchsichtig  (Hyaloplasma),  wie  z.  B.  die  Kriechfortsätze,  die  bewegliche  Zellen 
aus  ihrem  Körper  vorstrecken.  Gleiche  Lichtbrechung  von  Wabenwand  und 
Wabeninhalt,  außergewöhnliche  Feinheit  des  Schaumwerkes  werden  zur  Er- 
klärung solcher  Bilder  herangezogen.  Unwahrscheinlich  ist  es,  daß  ganz  struktur- 
lose Protoplasmagebilde  am  Aufbau  der  heute  lebenden  Tierzelle  einen  Teil  haben. 

Andere,  heute  nicht  mehr  allgemein  verteidigte  Auffassungen  wollten  in 
dem  Gefüge  des  Plasmas  ein  fein  verfilztes  Netzwerk  (Netztheorie),  andere  ein  Ge- 
rüste von  unverbundenen  Fäden  (Fadengerüsttheorie),  noch  andere  endlich  eine 
Anhäufung  von  Körnern  in  einer  flüssigen  Grundmasse  (Körnertheorie)  erkennen. 

In  der  Tat  gewahrt  man  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  im  Proto- 
plasma der  weitaus  größten  Mehrzahl  der  Zellen  fädige  und  körnige  Gebilde 
(Fig.  8,  9)  der  verschiedensten  Art.  Man  zählt  sie  indes  heute  nicht  der  Plasma- 
grundsubstanz zu,  sondern  betrachtet  sie  als  Einschlüsse  des  Zellenkörpers,  bei 
deren  Besprechung  sie  ihre  Deutung  finden  werden. 

zeiieiikera.  Dcr  Zellenkcm. 

Man  neigte  in  früherer  Zeit  sehr  dazu,  im  Protoplasma  des  Zellenleibes  den 
wesentlichsten  Bestandteil  des  Elementarorganismus  zu  erblicken.  Diese  Vor- 
stellung besteht  zu  Recht  insofern,  als  eine  große  Menge  von  Lebensleistungen 
sich  im  Protoplasma  vollzieht.  In  der  jüngsten  Zeit  hat  sich  indessen  das 
Interesse  der  Forschung  in  hervorragendem  Grade  dem  zweiten  Hauptbestand- 
teile aller  Zellen  zugewandt,  dem  Kern  oder  Nucleus:  und  in  der  Tat  spielt 
dieser  auch  bei  den  wichtigsten  Geschehnissen  des  Zellenlebens  eine  sehr  wesent- 
liche Rolle. 

Kern  heißt  diese  besondere  Zellensubstanz  aus  dem  Grunde,  weil  sie  als 
ein  abgeschlossenes,  besonderes  Körperchen  mit  eigenartiger  Beschaffenheit 
vom  Zellenleibe  rings  umhüllt  wird.  Dabei  liegt  er  zumeist  in  der  Nähe  des 
Zellenmittelpunktes,  doch  fast  niemals  genau  im  Zentrum,  sondern  meist  etwas 
exzentrisch  und  kann  durch  mechanische  Mittel  aus  seiner  Lage  als  Ganzes  fort- 
gerückt, sogar  aus  der  Zelle  mit  Nadeln  isoliert  werden. 
Zahl  der  Dic  großc  Mehrzahl  aller  Zellen  besitzt  nur  einen  einzigen  Kern.  Diese  Ein- 

Zellenkeme.  1   1     •  •       1  •    1         r  11       -r^i  ■       1  tt-    1       <^    ii 

zahl  ist  mdessen  nicht  für  alle  Elemente  typisch.  Viele  Zellensorten  besitzen 
zwei  Nuclei,  teils  dauernd,  teils  nur  zeitweise,  andere  gar  viele,  bis  zu  zehn  und 
zwanzig  Kernen,  und  zuweilen  beobachtet  man  sie  in  noch  größerer  Anzahl. 
Beispiele  vielkerniger  Elemente  sind  die  Riesenzellen  (Fig.  6),  deren  Körper 
die  durchschnittlichen  Abmessungen  der  Zelle  ebenfalls  weit  zu  überschreiten 
pflegt.  Kernlose  Zellen  sind  nicht  bekannt:  wenn  solche  vorkommen,  läßt  sich 
erweisen,  daß  ehedem  kernhaltige  Elemente  ihre  Kerne  verloren  haben,  wie  die 
roten  Blutkörperchen  der  Säugetiere,  oder  aber  —  was  bei  Einzellern  vor- 
kommt —  die  Kernsubstanz  findet  sich  nicht  in  einem  geschlossenen  Bläschen 


Der  Zellenkern  aj 

enthalten,  sondern  gleichmäßig  im  Zellenleibe  feinkörnig  verteilt.    Zellen  ohne 
Kernsubstanz  aber  sind  in  der  heute  lebenden  Tierwelt  niemals  gefunden  worden. 

Die  Größe  der  Kerne  steht  zu  der  Größe  des  Zellenleibes  nicht  in  einem  be-  Größe  der 
stimmten  Verhältnis:  es  gibt  sehr  große  Zellen  mit  kleinen,  sehr  kleine  mit  recht  ^^i'*^"'^'^''"'^- 
großen  Kernen.     Sehr  große  tierische  Kerne  finden  sich  in  den  Eizellen  vieler 
Tiere:   sie  sind  schon  mit  bloßem  Auge  als  kleine  Pünktchen  sichtbar.    Die 
kleinsten  messen  dagegen  nur  Bruchteile  eines  7iooo  mm. 

Im  großen  ganzen  dürfte  die  mittlere  Größe  der  Kerne  etwa  5 — lo'tau- 
sendstel  Millimeter  betragen.  Für  die  gleiche  Zellensorte  erscheint  ein  bestimm- 
tes Massenverhältnis  von  Zellensubstanz  und  Kernsubstanz  typisch  und  kon- 
stant zu  sein  (Kernplasmarelation  von  R.  Hertwig).  Im  allgemeinen  macht  die 
Kernmasse  nur  einen  geringen  Bruchteil,  vielleicht  ein  Fünfzigstel  des  Zellen- 
volumens aus. 

Die  Formen  der  Zellenkerne  sind  von  der  Gestalt  der  Zelle  gänzlich  unab-  Formen  der 
hängig.  Die  häufigste  Erscheinungsweise  ist  die  einer  Kugel,  einer  Linse  oder  eines  '^'^'^'"''''"'■"''• 
Ellipsoides,  doch  treten  in  einzelnen  Zellarten  auch  sehr  abweichende  Kern- 
gestalten zutage,  walzen-,  wurst-  und  ringförmige  Figuren,  rosenkranzähnliche 
Gestalten,  wie  Hirschgeweihe  verzweigte  Anordnungen  werden  beobachtet. 
Außerdem  sind,  wie  einzelne  Zellen,  so  auch  manche  Kerne  mit  dem  Vermögen 
der  Formveränderlichkeit  begabt.  Im  allgemeinen  kann  man  Kerne  mit  gerin- 
ger und  mit  beträchtlicher  Oberflächenentwicklung  unterscheiden:  eine  recht 
große  Oberfläche  des  Kernes,  wie  sie  bei  vielen  sehr  unregelmäßigen  Kerngestal- 
ten verwirklicht  ist,  scheint  bei  sehr  stark  tätigen  Zellen,  bei  intensiver  Leistung 
von  Vorteil  zu  sein. 

Zellkerne  sind  Gebilde  von  höchst  verwickelten  innerem  Aufbau.   Zunächst    Bau  der 
sind  sie  von  einer  sehr  geschmeidigen,  nur  selten  unsichtbaren,  mehr  oder  min-  ^^^i^"''«"'"«- 
der  derben  Hülle  umschlossen,  von  der  Kernmembran,  die  den  Kerninhalt 
vor  einer  völligen  Durchmischung  mit  dem  Plasma  des  Zellenleibes  bewahrt, 
andererseits  aber  für  alle  möglichen  Stoffe  durchgängig  ist,  so  daß  beide  Zellen- 
bestandteile in  regem  chemischen  Verkehr  miteinander  stehen.   Der  Inhalt  des 
Nucleus  besteht  aus  einer  Flüssigkeit,  dem  Kernsafte,  dessen  Menge  so  be-  Kcmsaft. 
trächtlich  sein  kann,  daß  der  ganze  Kern  den  Anschein  eines  Bläschens  ge- 
winnt.   In  anderen  Fällen  ist  nur  wenig  Kernsaft  vorhanden  und  die  festeren 
Bestandteile  überwiegen:  dann  sehen  die  Kerne  dicht  klumpig  aus.   Den  Kern- 
saft durchspinnen  feinste  Fädchen,   die  sich  auch  innen  der  Kernmembran 
dicht  anschmiegen  und  hier  oft  eine  dichtere  Häufung  zeigen :  dieses  Kerngerüst  Kemgerüst. 
ist  nur  äußerst  schwer  wahrnehmbar  und  von  großer  Zartheit.  Am  Kerngerüst- 
werk, vielleicht  auch  in  seinen  Fäserchen,  kleben  feine,  stark  lichtbrechende 
Körnchen  und  Kügelchen,  die  einen  sehr  wichtigen,  vielleicht  den  wichtigsten 
Bestandteil  des  Nucleus  ausmachen  und  fast  ausnahmslos  in  reichlicher  Menge, 
selten  sehr  spärlich  (Nervenzellen)  anzutreffen  sind.   Diese  Körnchen  haben  die 
merkwürdige  Eigenschaft,  mancherlei  Farbstoffe,  wie  sie  auch  in  der  techni- 
schen Färberei  benutzt  werden,  stark  anzuziehen  und  sich  mit  ihnen  zu  färben. 
Man  nennt  sie  daher  ,,Chromatinkörnchen"  (Chromiolen)  und  ihre  Substanz  das  chromatin. 


48 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


Chemie  des 
Kernes. 


„Chromatin".  Diese  Eigenschaft  der  Färbbarkeit  hat  sich  die  mikroskopische 
Untersuchungstechnik  in  großem  Maßstabe  zunutze  gemacht;  sie  ist  sogar 
zum  Ausgangspunkt  der  gesamten  Färbetechnik  der  Mikroskopie  geworden. 
Außer  den  Chromatinkörnchen  schwimmt  im  Kerninhalte  noch  ein  typisches 
Körperchen  herum,  das  auch  in  der  Vielzahl  —  bis  zu  Tausenden  —  vorhanden 
sein,  aber  ebensogut  einmal  fehlen  kann:  das  Kernkörperchen  oder  der 
Kernkörpercüen.  Nu  cleolus.  Die  Substauz  dcs  Kemkörperchcns  ist  im  allgemeinen  homogen, 
doch  hat  man  auch  in  ihm  zuweilen  noch  feinere  Strukturen  gesehen,  die  Nu- 
cleolini.  Zuweilen  findet  man  das  Kernkörperchen  zweifach,  aus  verschiedenen 
Substanzen  zusammengesetzt  (Fig.  3). 

Man  hat,  bisher  ohne  großen  Erfolg,  versucht,  in  die  chemische  Natur  dieser 
Kernbestandteile  mit  Hilfe  ihres  Verhaltens  gegen  Wasser,  Alkalien,  Säuren, 
Verdauungslösungen  und  Farbstoffe  genauer  einzudringen.    Alle  diese  Struk- 
turen haben  auch  den  chemischen  nachgebildeten  Namen  er- 
halten (Linin  für  das  Kerngerüst,  Amphipyrenin  für  die  Kern- 
membran,  Plastin  oder  Paranuclein  für  das  Kernkörperchen). 
Indessen  besagen  diese  Bezeichnungen  durchaus  nicht,  daß  es  sich 
hier  um  bestimmte  chemische  Substanzen  handelt,  ebensowenig 
wie  der  Name  Chromatin,    der  nur  das  färberische  Verhalten, 
insbesondere    gegenüber    dem   unfärbbaren    Kerngerüste   oder 
,,Achromatin"  charakterisiert.    Mit  Sicherheit  ist  nur  bekannt, 
daß  im  Kerne  vorzugsweise  Phosphor-  und  eisenhaltige  Eiweiß- 
stoffe vertreten  sind  (Nucleoproteide),  die  eine  chemisch  dar- 
stellbare Säure,  die  Nucleinsäure,  enthalten. 
Wie  der  Zellenleib,  so  kann  auch  der  Kern  noch  Nebenbestandteile  —  aller- 
dings in  verschwindend  geringer  Menge  und  Anzahl  —  beherbergen:  einzelne 
Kerne    schließen    Öltröpfchen,    Kriställchen,     Farbstoff-    oder    Pigmentkörn- 
chen ein. 

Das  Zellenzentrum. 

Das  Zellenzentrum  (Cytozentrum,  Mikrozentrum,  Zentriol)  stellt  den 
allerkleinsten  und  auch  erst  in  jüngster  Zeit  entdeckten  Zellenbestandteil  dar. 
Den  Namen  Zellenzentrum  verdient  es  einmal  wegen  seiner  oft  mathematisch 
genauen  Lage  im  Mittelpunkte  der  Zelle,  hauptsächlich  aber,  weil  häufig  im 
Zellenleibe  strahlige  Figuren  auftreten,  die  speichenförmig  auf  das  Zellenzen- 
trum, auch  bei  exzentrischer  Lage,  zustreben.  In  deren  Mitte  liegt  es,  oft  von 
einem  hellen  Hof  umgeben,  sehr  häufig  aber  umhüllt  von  besonderen  Schalen 
aus  Protoplasma,  das  sich  in  seiner  unmittelbaren  Umgebung,  zuweilen  in  meh- 
reren konzentrischen  Lagen,  verdichtet.  (Zentralkörperchen,  Zentrosoma, 
Fig.  4.) 
Größe  und  Zahl  Das  Zellcnzcntrum  ist  ein  Kügelchen  von  etwa  2  Zehntausendstel  Milli- 

tentren."  mctcr  Größc,  CS  stcht  ctwa  an  der  Grenze  der  Sichtbarkeit,  läßt  sich  aber  klar 
und  deutlich  in  günstigen  Fällen  in  der  lebenden  Zelle  nachweisen  und  mit  be- 
stimmten Farbstoffen  gut  und  kräftig  färben.  Sehr  häufig  ist  es  ein  Doppel- 
kügelchen  (Diplosom  Fig.  5),    dessen  beide  Einheiten  sich  unter  Umständen 


Fig.  3.  Zelle  mit- 
zweifachem Kern- 
körperchen oder 
Nucleolus.  Nur  der 
den  Kern  unmittel- 
bar umgebende  Teil 
der  Zelle  ist  ge- 
zeichnet. (Nach 
Obst  aus  Heiden- 
hain.) 


Zellenzentrum. 


Das  Zellenzentrum 


49 


Fig.  4.    Zellenzentren  (s)  von  Zcntral- 
körperclieii  {zk)  umgeben,    aus   einem 


auch  durch  einen  Verbindungsstrang,  die  Zentral- 
brücke, verknüpft  zeigen.  Seltener  tritt  es  in  Drei- 
und  Mehrzahl  auf,  aber  große  Elemente,  wie  die 
Riesenzellen,  können  sehr  viele,  bis  zu  100,  ent- 
halten (Fig.  6).  Bei  solcher  Menge  reihen  sie  sich 
auch  zuweilen  zu  ganzen  Linienfiguren  auf.  Sel- 
tener sind  die  Zellencentra  stabförmig,  können  in- 
des auch  in  V-  oder  X-Gestalt  auftreten. 

Das  Zentrum  ist  dem  Zellenleib  und  Zellen- 
kern als  Grundbestandteil  des  Elementarorganismus 
nicht  ganz  gleichwertig.  Zwar  scheint  es  nur  wenigen 
tierischen  Elementen  zu  fehlen,  während  die  höheren 
Pflanzenzellen  seiner  ganz  entbehren;  indessen  ver- 
bringt es  bedeutende  Perioden  auch  des  Tierzellen- 
lebens ohne  jede  Beteiligung.  Nur  bei  einem,  aller- 
vorbereitungsstadiura  zur  Zellteilung    diugs  ciucm  dcr  wichtigsteu  Geschehnissc  dcs  Lcbcns- 

des  Eies  eines  Wurmes  (Rynchelmis).  ° 

Auch  sieht  man   die  Dotterkügelchen      laufcS  ,      bci     dcr    FortpflailZUng    dcr    Zcllc,     Spiclt     CS 

(^/),  zu  beiden  Seiten  des  Kernes  {/:)  die  .  •    i   j_'  t->     11  i-  1  ••  ,  ■•  1  > 

Zentren  mit  den  Hüllgebilden.  (Nach  eiuc  wichtigc  Rollc,  dic  uus  uoch  Später  naher  be- 
VEjDovsKYu.MKAZEKausGuKwiTscH.)  gchäftigcu  soll.  Es  schclut  —  die  neueren  For- 
schungen auf  dem  Gebiete  der  Einzelligen-Lehre  bestätigen  diese  schon  früher 
ausgesprochene  Vermutung  —  ein  Kernbestandteil  zu  sein,  der  in  den  Zellen- 
leib übergetreten  ist,  vielleicht  aber  auch  im  Plasma  sich  bilden  und  entstehen 
kann.  Besondere  Beziehungen  gewinnt  es  oft  zu  den  motorischen  Einrich- 
tungen der  Elementarteilchen,  den  Flimmern,  Geißeln,  Wimperapparaten,  die 
bei  der  Zellenbewegung  zu  betrachten  sind.  Zuweilen  wird  es  daher  auch  als 
Bewegungszentrum  oder  Kinozentrum  der  Zelle  beschrieben. 

Nichtzellige    Organisationsform   der   lebendigen    Substanz. 

Die  weitaus  größte  Mehrzahl  aller  tierischen  Lebewesen  bedient  sich  als 
architektonischer  Einheit  in  der  Tat  derartiger  Elementarteilchen,  wie  sie  als 
,, Zellen"  in  ihren  Grundbestandteilen  geschildert  wurden.  Indessen  ist  die 
Zelle  als  solche,  d.  h.  als  abgegrenzte  kleinste  Einheit,  durchaus  keine  unum- 
gänglich notwendige  Voraussetzung  für  den  Aufbau  eines  lebenden  Körpers. 
Schon  dasVorkommen  viel- 
kerniger Zellen  weist  darauf 
hin,  daß  die  Absonderung  - 
eines  bestimmten ,  genau 
begrenzten  Protoplasma-  ^ 
klümpchens  um  einen  Kern 
herum  zwar  Regel,  aber  kein 
Gesetz,  zwar  das  im  allge- 
meinen verwandte  Bau- 
mittel, aber  nur  eine  von 
den     Möglichkeiten      aus- 

K.d.G.  III.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II 


Gestalt  des 
Zellenzentrums. 


A 


B 


Nichtzellige 
Organisations- 
form. 


Fig.  5  ^  u.  5  j5.      Zellcnzentren    in  Form    von 
Doppelkömchen  (d  =  Diplosoma)   unmittelbar 

unter  der  Oberfläche  der  Zellen  gelegen. 

k  =  Kern,  /  =  Protoplasma,    ö  Bürsten- 
saum der  Zelle.     (Nach  Heidbnhain.) 


Fig.  6.  Riesenzelle  au.s 
dem  Knochenmark  eines 
Kaninchens.  k  =  Kerne, 
/  =  ZellerJeib,  z  =  der 
Haufen  von  Zellenzentren. 
(Nach  R.  Krause.) 


50 


Heinrich  PolL:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


macht,  um  lebende  Bauten  zu  errichten.  Wenn  auch  die  größte  Mehrzahl  der 
Gebäude  einer  Stadt  aus  einzelnen  Ziegelsteinen  aufgebaut  worden  sind,  so 
können  doch  auch  Behausungen  genau  die  gleichen  Dienste  leisten,  deren  Mauern 
aus  einheitlichen  Betonmassen  hergestellt  sind.  In  der  Tat  existieren  im  Körper 
große  und  ausgedehnte  Teile,    die  jede  Abgrenzung  von  Plasmabezirken  um 

Synzytien.  Kerne  herum  vermissen  lassen.  Man  bezeichnet  sie  als  Synzytien,  Sym- 
p  1  a s  m  e  n  oder  Plasmodien.  So  ist  man  nach  neuen  Untersuchungen  zu  der 
Auffassung  gelangt,  daß  das  ganze  Herz  der  Säugetiere  ein  großes  Synzytium 
darstelle.  So  kennen  wir  in  dem  Mutterkuchen  der  Säugetiere  auf  den  ein- 
zelnen reichverzweigten  zottenartigen  Bestandteilen,  die  die  Verbindung  von 
Frucht  und  Mutter  vermitteln,  mächtige  Protoplasmabeläge,  zwischen  deren 
zahllosen  Kernen  jede  Andeutung  einer  zelligen  Abgrenzung  fehlt.  Man  ist 
daher  mit  Recht  schon  seit  längerer  Zeit  von  der  Anschauung  abgekommen, 
als  ob  in  der  Form  der  Zelle  das  entscheidende  Kennzeichen  für  die  Elementar- 
struktur der  Tiere  begründet  sei.  Sachs  hat  den  Begriff  der  ,, Zelle"  durch 
den  Begriff  einer  Funktions-  oder  Leistungseinheit,  die  anatomische  Vorstellung 
vom  Elementarorganismus  durch  eine  physiologische  Anschauung  ersetzt,  und 
für  diese  kleinen  physiologischen  oder  biologischen  Einheiten  den  Namen  der 

Energide.  ,,Energiden"  gewählt.  Der  weitere  Fortschritt  der  Wissenschaft  wird- —  schon 
sind  die  ersten  Ansätze  deutlich  zu  erkennen  —  genau  wie  mit  dem  Zellenbegriff, 
der  am  äußerlichen  Merkmal  der  Abgrenzung  eines  Elementarteiles  haftet, 
auch  mit  dem  Begriff  eines  notwendig  abgrenzbar  vorhandenen  Kernes  auf- 
räumen. Auch  der  Kern  kann  unbeschadet  seiner  besonderen  Leistungen  eine 
Begrenzung  gegen  die  Umgebung,  gegen  den  Zellenleib,  wohl  einbüßen,  ohne 
doch  als  wesentlicher  Zellenbestandteil  zu  verschwinden. 

Der  Aufbau  der  Lebewesen  aus  Energiden  würde  im  äußersten  Falle  derart 
zu  verstehen  sein,  daß  kernsubstanz-  und  zentrosomhaltige  Plasmamassen  das 
wahre  Bauelement,  das  eigentliche  Leistungselement  des  Tierkörpers  seien. 


Lebenserschei- 

nungen  der 

Zellen. 


Allgemeine  Lebensverrichtungen  der  Elementarteile. 

Mit    Hilfe   ihrer    Grundbestandteile    verrichten    die    Elementarteile   ihre 
Lebensaufgabe,  die  im  wesentlichen  auf  vier  Haupt-Lebensäußerungen  beruht: 

1.  auf  der  Fähigkeit,  Stoffe  aufzunehmen,  umzuwandeln  und  auszuschei- 
den oder  dem  Stoffwechsel, 

2.  auf  der  Fähigkeit,  Reize  aufxunehmen,  weiterzuleiten  und  auf  andere 
Elemente  zu  übertragen  oder  der  Reizbarkeit, 

3.  auf  der  Fähigkeit,  sich  zu  bewegen,  oder  der  Beweglichkeit, 

4.  auf  der  Fähigkeit,  sich  zu  vermehren,  oder  der  Fortpflanzung. 
Obgleich  nun  der  Elementarorganismus,  sei  er  zellig  oder  nichtzellig  ge- 
gliedert, bereits  an  und  für  sich  zu  diesen  vier  Grundleistungen  befähigt  er- 
scheint, so  treten  doch  bei  ihrer  Ausführung  im  allgemeinen  in  großer  Zahl 
neuartige  Erscheinungen  zutage.  Jede  lebendige  Zelle  vermag  Stoffe  aufzu- 
nehmen und  auszuscheiden;  eine  Zelle  aber,  z.  B.  eine  Drüsenzelle,  die  sich  als 
Hauptaufgabe  mit  der  Bereitung  und  Ausscheidung  von  Stoffen  beschäftigt, 


Lebensverrichtungen  der  Elementarteile 


51 


Stofifaufnahme. 


gewinnt  besondere  Einrichtungen,  die  sie  für  ihre  Aufgabe  in  bestimmter  Weise 
besonders  tüchtig  machen,  sie  bildet  z.  B.  besondere  Abscheidungsröhrchen  für 
ihre  Produkte  aus.  Jede  lebende  Zelle  vermag  Reize  aufzunehmen  und  in  ihrem 
Plasma  fortzuleiten ;  nur  wenige  sind  aber,  wie  z.  B.  die  Nervenzellen,  durch  Aus- 
rüstung mit  besonderen  Apparaten,  etwa  den  Nervenfibrillen  tauglich  geworden, 
diese  Reizleitung  als  Eigenaufgabe  zu  versehen.  Dieses  Unterschiedenwerden  der 
Elementarteile  nach  Leistung  und  Gestaltung  bezeichnet  man  als, , Differenzie- 
rung". Sie  wird  verglichen  mit  der  Arbeitsteilung  in  menschlichen  Gemeinschaf- 
ten, bei  denen  jedes  Mitglied  neben  seinen  allgemeinen  Fähigkeiten  als  Mensch, 
als  Staatsbürger,  noch  besondere  Aufgaben  übernommen  hat  und  für  diese  in 
höherem  Grade  ausgebildet  ist.  Während  im  jungen  Keimling  die  Zellen  zum 
größten  Teile  gleichartig  aussehen,  ,, differenzieren"  sie  sich  mit  dem  Fortschritt 
der  Entwicklung  und  dem  Vorrücken  des  Alters  zu  besonderen  Zellenarten. 

Die   Stoffwechseltätigkeit  der  Zelle.  ;,     v^ltf:^^.      Stoffwechsel. 

Die  lebenden  Elemente  sind  im  fortwährenden  Wechsel  ihrer 
Bestandteile  begriffen.  Sie  nehmen  während  der  ganzen  Dauer 
ihres  Lebens  Stoffe  aus  der  Umgebung  auf,  verarbeiten  sie  in 
ihrem  Körperinnern,  verwandeln  sie  dabei  in  andere  Substanzen 
und  geben  endlich  Stoffe  aus  ihrem  Leibe  wieder  ab. 

Gasförmige,  gelöste  und  feste  Substanzen  kann  die  Zellesich 
einverleiben. 

Die  Zufuhr  von  Gasen,  insbesondere  von  Sauerstoff,  ist  eine 
der  elementarsten  Bedingungen  des  Zellenlebens  überhaupt.  Das 
Werkzeug  dieser  Aufnahme  ist  die  äußere  Zellenoberfläche,  die 
für  dieses  allerwichtigste  Gas  durchlässig  ist. 

Ebenso  wird  auch  die  Zellenoberfläche  ganz  oder  zum  Teil 
von  Stofllösungen  bespült,  aus  denen  ihre  Elementarteile  Sub- 
stanzen aufzunehmen,  zu  ,, resorbieren",  in  der  Lage  sind.  Der  Me- 
chanismus dieser  Resorption  ist  noch  nicht  hinreichend  geklärt. 

Die  Aufnahme  von  festen  Stoffen  durch  die  Zellen  ist  im  Tier- 
leben nicht  sehr  weit  verbreitet.  Bekannt  ist  sie  von  den  Darm- 
zellen einiger  Würmer,  vor  allem  aber  von  den  Freßzellen  oder  Phagozyten,  Freßzellen, 
die  das  Blut  und  die  Gewebe  der  Tiere,  auch  des  Menschen,  in  großer  Zahl  meist 
als  frei  bewegliche,  teils  aber  auch  als  festsitzende  Zellen- Individuen  beher- 
bergen. Eine  solche  Freßzelle  kriecht  auf  ihre  Beute,  etwa  einen  Bazillus,  ein 
Blutkörperchen  zu,  umfließt  diese  mit  ihrem  Protoplasma  und  nimmt  es  ganz 
und  gar  in  sein  Zelleninneres  auf.     (Fig.  7,  s.  auch  Fig.  I,  G.) 

Bei  allen  diesen  Vorgängen  überrascht  eine  Tatsache  in  besonders  hohem  waMfaUigkeit 
Grade :  von  dem  Gemisch  von  Gasen,  aus  dem  Vielerlei  der  gelösten  Substanzen, 
unter  den  zahlreichen  körperlichen  Stoflteilchen  wählt  jede  Zellenart  nur  ge- 
rade die  Bestandteile  zur  Annahme  aus,  die  ihr  zusagen.  Sie  resorbiert  den 
Sauerstoff,  nicht  aber  die  Kohlensäure;  die  Magenzelle  entnimmt  dem  Blute 
andere  Lösungen  als  die  Nierenzelle,  die  Freßzelle  stürzt  sich  hastig  auf  be- 


Fig.  7.  Zwei  in 
kurzem  Zwischen- 
raum     gezeichnete 

Ansichten  einer 
farblosen  Blutzelle 
vom  Frosch  in  ihrer 
Tätigkeit  als  „Freß- 
zelle": sie  hat  ein 
Bakterium  {b)  in 
ihren  Körper  auf- 
genommen.    (Nach 

MliTsCHNIKOFF     aUS 

O.  Hertwig.) 


52 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


stimmte  Bazillenarten,  geht  aber  anderen  mit  Sorgfalt  aus  dem  Wege.    Der 
Mechanismus  dieses  Auswahlvermögens  ist  noch  ganz  unbekannt. 
stofFumsatz.  Die  derart  aufgenommenen  Substanzen  werden  nunmehr  im  Innern  der 

Zellen  verarbeitet.  Das  wichtigste  Umsatzprodukt  der  lebendigen  Zelle  ist  das 
Protoplasma  selbst,  das  durch  den  Stoffwechsel  der  Elementarteilchen  neu  er- 
zeugt werden  kann.  Der  Zelle  eignet  —  natürlich  nur  bis  zu  einem  gewissen 
Zellenalter  —  die  Fähigkeit  zu  wachsen.  Im  späteren  Leben  beschränkt  sich 
die  Protoplasmaproduktion  nur  auf  den  Ersatz  der  beim  Lebensprozesse  ver- 
brauchten Bestandteile.  Das  Ende  der  Protoplasmaerneuerung  aber  bedeutet 
den  Tod  der  Zelle.  Man  nennt  die  Fähigkeit  der  Zelle,  aus  andersartigen  Stoffen 

eigenes  Protoplas- 


:^i^f^; 


Fig.  8.  Teil  eines  Durchschnittes  durch  die 
Drüsenbläschen  [d]  der  menschlichen  Bauch- 
speicheldrüse. Die  Zellen  sind  gefüllt  mit  feinen 
Körnchen,  den  Zymogenliörnchen  {z).  Bei  J  ist 
ein  Schaltröhrchen  zu  sehen,  das  die  Verbindung 
zwischen  Drüsenausführgängen  und  abscheidenden 
Bläschen  vermittelt.     (Nach  R.  Krause.) 


Fig.  9.  Granula  (g)  in  den 
Zellen  einer  Drüse  aus  dem 
Katzenraagen.  k  =  Zellkerne, 
/  =i  Lichtung  der  Druse,  b  = 
bindegewebige  Umhüllung  des 
Drüsenschlauches. 
(Nach  Arnold.) 


ma      aufzubauen, 
den    Vorgang  der 
Assimilation.  •'' '^^u''^'-.  ^''^\- d^v^W''.}  Ki^^       .  /llf'f.M^M^:-:l^Mi^'^b     As s  i  m il a t i  o  n. 

Werkzeug  der  As- 
similation ist  nach 
den    Erfahrungen 

der  Zellenfor- 
schung immer  nur 
die  chemisch-phy- 
sikalische Fähig- 
keit bereits  vor- 
handener Zellen. 

Über  dieserwich- 
tigsten  und  allge- 
meinsten Aufgabe 
der  Protoplasmabildung  hinaus  fällt  den  verschiedenen  Zellenarten  indes  noch 
die  Verrichtung  zu,  besondere  Substanzen  herzustellen,  deren  der  Körper  zu 
seinem  Lebensprozesse  bedarf.  Das  chemische  Werkzeug  dieser  Wandlungsvor- 
gänge scheinen  im  größten  Maßstabe  besondere  Substanzen  von  eigenartiger  Be- 
schaffenheit zu  sein,  die  sogenannten  Fermente  oder  Enzyme,  die  man  auch 
aus  den  Zellen  befreien  und  für  sich — ^allerdings noch  nicht  als  chemische  Kör- 
per —  darstellen  kann.  Ihre  Besonderheit  besteht  darin,  daß  ihre  Gegenwart 
die  Entstehung  oder  die  Zerstörung  chemischer  Verbindungen  in  großem  Maß- 
stabe zu  bewirken  vermag,  ohne  daß  sie  sich  selbst  darin  verbrauchen  oder  auch 
in  die  Verbindungen  eintreten.  Jede  Zellensorte  scheint  dabei,  je  nach  ihrer 
Aufgabe,  besondere  spezifische  Enzyme  zu  bilden  oder  zu  enthalten. 

In  manchen  Zellen  findet  man  die  Enzyme  oder  Vorstufen  zu  ihrer  Bil- 
Granuia.  dung  in  der  Form  kleinerer  Körnchen:  und  solche  Körnchen  oder  ,, Granula" 
sind  es  besonders  häufig,  an  denen  oder  in  denen  sich  die  zellenchemischen  Vor- 
gänge abspielen,  und  die  man  dann  geradezu  als  Organe  des  Stoffwechsels, 
als  Stoffwechselorganelle  bezeichnet  (Fig.  8). 

Die  mikrochemische  Zellenuntersuchung  wählt  aus  diesem  Grunde   die 
Zellenkörnelungen  mit  großer  Vorliebe  zu  chemischen  Studienobjekten  und  es 


Fermente  oder 
Enzyme. 


Stoffwechseltätigkeit  der  Zelle 


53 


gelingt  in  der  Tat  oft  mit  Hilfe  einfacher  Reaktionen,  über  die  chemische  Natur, 
über  Vergehen  und  Entstehen  der  Zellenkörnchen  ins  klare  zu  kommen. 

Als  Produkte  des  Stoffwechsels  treten  in  den  Zellen  des  Darmes  Fettkügel-  Produkte  des 
chen  auf,  die  sich  durch  Schwärzung  mit  Osiumtetroxyd  sehr  deutlich  nach-  '^'°  '^^'^  ^^*' 
weisen  lassen.  In  den  Zellen  der  Leber,  in  den  Zellen  der  verschiedensten  ande- 
ren Organe,  zumeist  im  jungen,  wachsenden  Tiergewebe,  finden  sich  Körnchen 
eines  sonderartigen  Kohlehydrates,  des  Gly  cogens  (Fig. 9).  Andere  Zellen  schei- 
den in  ihrem  Innern  Schleimkügelchen  oder  -fädchen  aus,  die  sich  zu  großen 
Massen  anhäufen  können.  Eine  große  Schar  von  anderen  Zellenelementen  be- 
herbergt Körnchen  von  unbekannter  Zusammensetzung:  z.  B.  die  farblosen 
Blutzellen,  und  neuere  Untersuchungen  machen  es  sogar  wahrscheinlich,  daß 
sehr  viele,  vielleicht  alle  Zellenarten  in  ihrem  Protoplasma  Körnelungen  führen. 
Die  Zellen  junger  Embryonen  ererben  bereits  von  den  Keimzellen  eine 
Mitgift  von  Zelleneinschlüssen,  die  in  der  letzten  Zeit  besondere  Bedeutung 
erlangt  haben:  die  Fadenkörnchen  oder  Mit  och  ondrien  (Fig.  lo).  Aus  ihnen  Mitochondrie«, 

sollen  durch  die  Stoffwechseltätigkeit  der  Elemente  eine 
große  Anzahl  von  Zellenprodukten  hervorgehen,  indem  sie 
gestaltlich  verändert  und  chemisch  umgewandelt  werden. 


Fig.  lO^J — U.     ilitochondrieii  (;//)  im  Zelleiileibe  des  Keimlings  vom  Huhn,  bei  D  der  Kern  der  Zelle 
in  mitotischer  Teilung  begriffen.     (Nach  Mbves  aus  Heidenhain.) 

Insbesondere  werden  sie  für  die  Anlagen  der  fibrillären  Differenzierungen  des 
Protoplasmas  erklärt,  für  die  Ausgangsprodukte  der  Bildung  von  bestimmten 
Stützeinrichtungen,  der  Fibrillen  der  gewöhnlichen  Stützsubstanz,  der  besonde- 
ren Stützsubstanz  in  nervösen  Organen,  der  Ausgestaltung  von  Bewegungs- 
organen,   der  Muskelfibrillen,  von  Reizleitungsapparaten  der  Nervenfibrillen. 

Solcherlei  Formbestandteile,  wie  sie  die  chemische  Umsatzarbeit  herstellt,  Formwidende 
befreien  sich  auch  aus  dem  engen  Leibe  der  Zelle,  sie  werden,  wie  man  dies    ^"z^eiiel.  ^"^ 
gewöhnlich  ausdrückt,  von  den  Elementen  ,, abgeschieden".    In  dieser  Art  ver- 
mögen die  Zellen  vielerlei  Produkte  auszuarbeiten,  die  sich  selbst  nur  noch  in 
geringerem  Grade  oder  auch  gar  nicht  am  Lebensvorgange  beteiligen.    Die 
formbildende  Tätigkeit  der  äußeren  Körperzellen  —  aber  auch  solche  innere 
Oberflächen  bekleidender  Elemente  —  scheidet  an  der  Außenfläche  derbere 
festere  Häutchen  ab:   die  Cuticulargebilde.    In   dieser  Art   entstehen   die  Cuticniargebiide 
als  Chitin  bezeichneten  Hautdecken  der  Gliederfüßler,  die  Schalen  der  Muscheln 
und  Schnecken,  die  derben  lederartigen  Oberflächenhäute  mancher  Würmer, 
z.  B.  der  Rundwürmer. 

Andere  Produkte  der  chemischen  Zellenarbeit  sind  die  Haargebilde,  viele 
Skelettsubstanzen,    die    Kieselnadeln,   die   an  den  ,,Silikoblasten"  genannten 


54 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


Beweglichkeit 
der  Zellen. 


~P  Fig.  II. 

Bildungszellen  von 
Kieselnadeln  (Spi) 
bei  den  Schwäm- 
men, k  =  Kern, 
p  =  Protoplasma. 

(Nach  K.  C.  ScH.^EiDER.) 


Energiewechsel 
der  Zellen. 


Elementen  der  Kieselschwämme  aufgebaut  werden,  die  Kalkbildungszellen  der 
Stachelhäuter,  die  komplizierte  Kalkgerüste  entwickeln.    (Fig.  il.) 

Diesen  mehr  oder  minder  festen  Plasmaprodukten  stehen  zur  Seite  die 
flüssigen  und  gasförmigen  Abscheidungen  der  Elemente.  Als  flüssige  Stoff- 
wechselerzeugnisse sind  die  mannigfachen  Sekrete  und  Exkrete  des  Tierkörpers 
zu  bezeichnen.    Für  die  Abfuhr  derartiger  flüssiger  Fabrikate  bilden  die  Zehen, 

die  sich  mit  der  Seite  der  Lebenstätigkeit  besonders  be- 
schäftigen, die  Drüsenzellen,  besondere  Abfuhrkanälchen 
aus,diemanZellenhaarröhrchenoderSekretkapillaren  nennt 
(Fig.  12).  Im  Innenraume  des  Zellenraumes  erscheinen  feine 
wandungslose  Röhrchen,  die  aus  der  Zelle  herausführen, 
und  sich  außerhalb  des  Elementes  als  gröbere  Kanälchen 
fortsetzen.  Für  die  gasigen  Plasmaprodukte,  insbeson- 
dere das  allgemeinste  tierische  Gasfabrikat  im  Stoffwechsel, 
sind  besondere  Abfuhrwege  nicht  vorgesehen :  die  Ableitung 
erfolgt  auf  dem  Wege  der  Osmose.  Hingegen  sammeln  sich  in 
manchen  gasbereitenden  Elementen,  wie  sie  in  der  Schwimm- 
blase der  Fische  gefunden  werden,  die  Gasbläschen  als  feine 
Schaumvakuolen  an,  um  dann  entleert  zu  werden. 

Mit  den  Erscheinungen  der  Stoffwechseltätigkeit  un- 
trennbar   verbunden,    dem  Auge  indessen,  auch  dem  am 
schärfsten  bewaffneten  meist  unzugänglich,  sind  die  Auf- 
nahmen, Verwandlungen  und  Abgaben  von  Energiebeträ- 
gen, die  bei  jeder  Arbeit  entstehen  und  vergehen.  Sie  wer- 
den meist  nur  als  Massenleistung  merklich:    die  tierische 
Wärme,  die  Produktion  von  Elektrizität,  von  chemischer 
Energie  findet  im  Aussehen  der  Elementarteile  keinen  Aus- 
druck.   Nur  für  eine  Art  der  Energieproduktion,   für   die 
Abgabe   von  Lichtkraft,   besteht  in  gewissem  Sinne  eine 
Ausnahme.    Der  Mechanismus  des  Leuchtens  der  verschie- 
denen Tierarten  ist  ersichtlich  ein  verschiedener :  man  führt 
sie  im  aügemeinen  aber  auf  den  Vorgang  der  ,,Chemolumi- 
niszenz"  zurück.  Bei  einzelnen  Fröschen,  beim  Glühwürm- 
chen hat  man  nun  nachzuweisen  vermocht,  daß  die  leuch- 
tende Substanz  nach  Art  eines  Sekretes  von  bestimmten 
Leuchtorganen,  in  diesen  in  den  Leuchtdrüsenzellen  produziert  wird. 

Die  zweite  Grundlebenstätigkeit  der  lebenden  Tierelemente  ist  die  Be- 
weglichkeit. Die  ,, Differenzierung"  der  Zellen  beschränkt  indes  bei  der  weitaus 
größten  Mehrzahl  aüer  Protoplasmen  die  Eigenbeweglichkeit  in  so  hohem  Maße, 
daß  sie  kaum  oder  gar  nicht  nachzuweisen  ist.  Dafür  aber  bilden  andere  Zellen- 
arten diese  Fähigkeit  bis  zu  einem  überraschenden  Grade  aus.  Bemerkenswert 
ist,  daß  die  Keimzellen  und  ihre  Bildungsstufen  in  einem  hohen  Grade  Wan- 
derfähigkeit besitzen,  und  von  ihr  in  bestimmten  Lebensstadien  in  weitgehen- 
dem Maße  Gebrauch  machen.    Man  vermißt  im  Körper  der  höchsten  wie  der 


Fig.  12.  Haarröhrchen 
im  Innern  der  Zellen  (s) 
und  nach  außen  in  den 
Gang  {g)  einer  Magen- 
drüse hineinführend. 
(Nach  K.  C.  Schneider.) 


Beweglichkeit  der  Zelle 


55 


Fig.  13.  Wanderzelle  aus  dem  Schwanz  einer  Molcli- 
larve,  in  Bewegung  begriffen  (nach  HeidiiNHAin):  die 
Zelle  wurde  in  Abständen  von  so  vielen  Minuten  ge- 
zeichnet, als  die  Ziffern  angeben.  Zelleib  grau,  Zellen- 
kern hell. 


niedersten  Tiere  kaum  jemals  die,,Wan-  wanderzeUen. 
derzellen"  oder  wie  sie  nach  ihren  überaus 
ähnhchen  Vertretern  unter  den  Urtier- 
chen genannt  werden:  die,,Amöbozyten". 
Sie  bewegen  sich  ohne  besondere  Bewe- 
gungsorgane durch  Strömungsvorgänge 
im  Zellenleibe.  Man  sieht  aus  dem  Körper 
bald  hier,  bald  dort  einen  Fortsatz  sich 
vorwölben,  die  übrige  Plasmamasse  nach- 
fiießen,  und  so  wird  unter  ständigem  Ge- 
staltswechsel die  Lage  des  Elementes  zu 
seiner  Umgebung  verschoben.  (Fig.  13.) 
Auch  die  zweite  Art  der  Bewegungs- 
organe hat  ihr  Vorbild  im  Reiche  der  Ein- 
zelligen, in  der  Einrichtung  beweglicher 
Fortsätze  des  Zellenleibes,  der  Wimpern  Wimper-  und 
und  Geißeln.  Wie  mit  einem  dichten  Pelze 


von  allerfeinsten  Härchen  erscheinen  ein- 
zelne Zellenarten  an  ihrerOberfläche  über- 
zogen; sie  heißt  man  ,, Flimmerzellen",  weil  ihre  Außenflächen  im  ganzen  Zusam 
menhange  betrachtet  dem  Bilde  einer  unruhig  wogenden  Oberfläche  gleichen,  als 
ob  man  starre  Konturen,  die  Linien  eines  Hauses,  durch  den  Dunst  eines  Kohlen- 
beckens hindurch  betrachte.  Bei  stärkerer  Vergrößerung  gewahrt  man  als  Ur- 
sache dieses  unruhigen  Wogens  das  taktmäßig  blitzschnell  und  in  regelmäßiger 
Folge  wiederholte  Nicken  oder  Wippen  der  Wimperhärchen  auf  einer  solchen 
Zellenoberfläche.  Die  Wimpern  sind  im  Zellenleibe,  ebenso  wie  die  Geißeln,  ge- 
wissermaßen befestigt  oder  verankert,  und  das  Zentrum  für  die  Bewegung 
scheinen  feinste  Körnchen  —  Basalkörnchen  —  zu  sein,  die,  an  der  Basis  der 
Wimperhärchen  gelegen,  den  Zentriolen  ähneln  und  von  ihnen  auch  abgeleitet 
werden.    (Fig   14.) 

Für  Einzelhärchen  der  Elementarteile  oder  Geißeln,  die  in  der  Einzahl 
oder  zu  nur  wenigen  vereinigt  vom  Zellenleibe  ausgehen,  dienen  als  die  besten 
Beispiele  die  Samenzellen  vieler  Tiere,  die  mit  ihrem  Flagellenschlag  schnell, 
immer  gegen  den  Strom,  zu  schwimmen  imstande  sind.  (Fig.  15  S.  56.)  Von 
dem  Köpfchen  dieser  geißeiför- 


migen ,, Spermien"  geht  durch  ■'X;5'®'f  ff    liiilüi  BÄ,  H  Spermien, 

ein  ähnliches  Basalkörnchen 
oder  dessen  Analogon,  das  auch 
mit  dem  Zellenzentrum  in  inni- 
ger verwandtschaftlicher  Be- 
ziehungsteht,  ein  Geißelf aden 

ab     der  zuweilen  noch  mit  einer     PJS-  14-     Flimmerzellen,  neben  flimmerlosen  Zellen,  aus  dem  Neben- 
hoden vom  Kaninchen.  Die  Flimmern  wurzeln  an  den  Basalkörnchen 
wellenförmig  beWeglichenMem-     dicht  unter  der  Zellenoberfläche.  In  den  flimmerlosen  Zellen  ist  das 
,  ..,,■.  Zellenzentrum  als  Doppelkörnchen  gut  sichtbar. 

Oran    ausgerüstet    ist.  (Nach  von  Lenhossek  aus  Heidenhain.) 


56 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


Fibrillen- 

bildungen   der 

ZeUe. 


Muskelzellen. 


Reizbarkeit  der 
Zellen. 


9"  } 


Die  Differenzierung  besonderer  Bewegungselemente  bedient  sich  der  Pro- 
duktion spezieller  Fädchen,  die  sich  zusammenziehen  und  wieder  auszudehnen 
vermögen,  der  sogenannten  kontraktilen  Fibrillen  oder  Myofibrillen.  Diese 
zeichnen  sich  durch  die  merkwürdige  Eigenschaft  aus,  das  Licht  doppelt  zu 
brechen,  wie  der  Kalkspatkristall  in  einem  Polarisationsapparat.  Solcherlei 
Fäserchen  werden  in  vielerlei  Zellenarten  abgeschieden,  die  damit  die  Fähigkeit 
der  Bewegung,  der  Kontraktilität,  gewinnen.  Sie  kommen  in  der  Tierwelt  in 
zweierlei  Ausgestaltungen  vor:  als  einheitliche,  homogene,  glatte  oder  als 
zusammengesetzte  Fibrillen,  die  oft  die  Neigung  haben,  sich  zu  Bündel- 
chen, den  Säulchen,  oder 
Leistchen  von  verschiede- 
ner Form  zusammenzu- 
scharen. 

Die  Fibrillen  laufen  ent- 
j,   .^^  weder  der  Längsachse  der 
\gr  Muskelzelle  parallel  oder  in 
zfi       spiraligen  Windungen;  aus 
dieser  Anordnung  entsteht 
dann  das  Bild  der  schräg- 
gestreiften    oder     doppelt 
schräggestreiften  Muskula- 
tur.  Diese  Erscheinung  hat 
aber  gar  nichts  zu  tun  mit 
der     sogenannten     ,, Quer- 
streifung": hier  sind  es  die 
einzelnen  zusammengesetz- 
ten Fibrillen,    die  sich  von 
den    glatten     durch    ihren 


^« 


Fig.  15     Samenfäden  verschiedener 

Tiere:    i.  vom    Menschen,   von    der 

Fläche  und  von  der  Kante  gesehen ; 

2.   von    einer    Fledermaus;    3.  vom 

Schwein ;   4.  von  der  Ratte  ;   5.  vom 

Buchfinken;  6.  vom  Seeigel. 

(Nach   BALi.ownz,    Köllker   und 

VOM  Rath  aus  Weismann.) 


Fig.  16.  Nervenzelle  des  Menschen 
mit  Neurofibrillen  (yi").  ajc  =  Ab- 
gangsstelle des  Achsenzylinders  mit 
seinen  Fibrillen,  tien  =  Dendriten 
oder  Protoplasmafortsätze  mit  ihren  AufbaU  aUS  cinZClnCn  QuCr- 
Fibrillen.     x-  =  Übergangsstelle  der  .  1       •   1 

Fibrillen  von  einem  Dendriten  zum    schcibchcn    Unterscheiden. 

anderen.    /«  =  Lücken  an  der  Stelle 

der  Nissischen  Körner.     /:e  =  Kern 

(vgl.  auch  S.  48). 

(Nach  Bethe  aus  Schnkider.) 


In  regelmäßiger  Folge  an- 
einandergereiht wechseln 
solche  Querscheiben,  denen 
die  Eigenschaft  der  Doppelbrechung  zukommt,  mit  einfachbrechenden  ge- 
wöhnlichen Scheibchen  ab,  die  jene  voneinander  trennen.  Man  bezeichnet  sie 
daher  im  Gegensatz  zu  den  glatten  als  die  quergestreiften  Myofibrillen.  Zu 
vielen  Hunderten  liegen  sie  vereinigt  zu  größeren  Komplexen  in  Elementen  mit 
vielen  Tausenden  von  Kernen,  während  die  glatten  Fäserchen  gewöhnlich  nur 
zu  wenigen  in  meist  einkernigen  Elementarteilchen  sich  zusammenordnen.  Wir 
werden  den  verschiedenen  Arten  der  kontraktilen  Fibrillen  bei  der  Betrachtung 
des  speziellen  Bewegungsgewebes  im  Körper  wieder  begegnen. 

Die  Reizbarkeit  der  Zellenelemente,  ihre  dritte  Grundeigenschaft,  ist  im 
Grunde  und  in  ihren  Anfängen  von  besonderen  Zellenorganellen  unabhängig. 
Auf  den  chemischen  Reiz,  auf  den  Lichtreiz  hin  reagieren  Zellen  mit  Sicher- 


Reizbarkeit  und  Fortpflanzung  der  Zelle 


57 


Fortpflanzung 
der  Zellen. 


heit  und  Beständigkeit,  in  deren  Leibe  keinerlei  Differenzierungen  anzutreffen 
sind.  Die  „Arbeitsteilung"  schafft  indes  auch  hier  besondere  Apparate  in  den 
Elementen,  sowohl  für  die  Reizaufnahme  wie  für  die  Reizabgabe  oder  Reiz- 
leitung. Auch  diese  Zellendifferenzierungen  treten  meist  unter  dem  Bilde  von 
Fädchen  oder  Härchen  auf,  die  aber  gewöhnlich  starr  sind.  Vielerlei  Sinnes- 
elemente, die  Hörzellen,  die  Zellen  für  die  Aufnahme  der  statischen  oder  Gleich- 
gewichtsreize, die  Schmeckzellen,  sind  mit  solchen  Sinneshärchen  ausgerüstet. 
Für  die  Reizleitung  werden  die  Neurofibrillen  (Fig.  i6)  in  den  Neuronenzellen  Neurofibrillen, 
abgeschieden :  so  anlockend  die  Analogie  mit  den  feinen  Drähten  der  telegraphi- 
schen Einrichtungen  erscheint,  so  ist  doch  heute  noch  kein  einwandfreier  Be- 
weis dafür  erbracht,  daß  gerade  die  Neurofibrillen  an  und  für  sich  und  nicht 
vielleicht  das  die  Fäserchen  umgebende  Zellenplasma  oder  Neuroplasma  die 
Träger  der  eigentlichen  Reizleitungsvorgänge  seien. 

Die  letzte  und  wichtigste  all- 
gemeine Zellenleistung  ist  das 
Fortpflanzungs-  oder  Ver- 
mehrungsgeschäft der  Ele- 
mentarteile. Auch  diese  Fähig- 
keit geht  einer  großen  Anzahl  von 
Zellen  im  Laufe  der  ,, Differenzie- 
rung" verloren,  wenn  sie  gleich 
ursprünglich  wirklich  allen  Zellen 
des  Organismus  zukommt.  Die 
Erscheinungen  der  Zellenerzeu-    ^.  ,..   ,     ,-  ^  ,  „  .,        .    .      >         •     ,  , 

°  iig.  17.     Direkte  Kern-  und  /ellteilung  (Aniitose)  von  einer  farb- 

gung    laufen    zuweilen   ohne    jede  losen   Blutzelle   des   Frosches.     .4.   Kern   soeben    in    Zerschnürung 

T-.  ,  T^-        ■    1  begriffen.     B.  Kern    zerschnürt.     C.  Zellenleib  unmittelbar  vor  der 

Benutzung    besonderer    Einrich-  voUendeten  zerschnürung.  Z>.  Zellenteilung  beendet.   (Nach  Arnold 

tungen    des    Elementarteilchens  aus  raubhr-kopsch.) 

ab,  in  anderen  weit  bedeutsameren  Fällen  treten  spezielle  Zellenorganelle  in 
Erscheinung  und  in  Funktion,  die  während  des  gewöhnlichen  Zellenlebens,  wäh- 
rend der  Zellenruhe,  nicht  erkennbar,  wohl  auch  nicht  vorhanden  sind. 

Der  allgemeine  Modus  der  Zellenvermehrung  ist  die  Teilung  der  Elemente. 
In  dem  einfachsten  Falle,  bei  der  direkten  Teilung  zerschnüren  sich  Zellenleib  Direkte  Zeu- 
und  Zellenkern  in  zwei  mehr  oder  minder  genau  gleichgroße  Hälften  (Fig.  17)-"°  emeiung. 
Meist  macht  der  Kern  den  Anfang:  er  zerschnürt  sich,  die  beiden  Hälften 
haften  eine  Weile  lang  noch  mit  einem  dünnen  Faden  aneinander,  dieser  Faden 
reißt  durch.  Gleichzeitig  beginnt  auch  die  Zelle,  sich  in  die  Länge  zu  strecken, 
sich  an  einer  Stelle  einzuschnüren,  und  mit  der  Trennung  dieser  Brücke  ist  die 
Teilung  des  Elements  beendet.  Vielfach  unterbleibt  auch  die  Zellkörperzer- 
legung und  es  entstehen  auf  diese  Weise,  z.  B.  in  der  Leber,  zwei-  oder  noch 
mehrkernige  Elemente.  Auch  Abschnürungen  kleiner  Kernpartikelchen  führen 
zu  einer  Zerlegung  des  Nucleus,  so  daß  auf  diese  Weise  Kernfragmente  in  Ro- 
setten-, Rosenkranz-  oder  unregelmäßigen  Formen  zustande  kommen  können. 
Man  hat  in  der  letzten  Zeit  namentlich  bei  einzeUigen  Wesen  Erfahrungen  ge- 
sammelt, die  solche  Kern-  und  Zellenzerschnürungen  als  unvollkommene  Aus- 


58 


Heinrich  Poll:   Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


bildungsformen  komplizierterer  Teilungsvorgänge  erkennen  lassen.    Jedenfalls 
spielen   in   den  tierischen  Organismen  derlei  einfache  und  direkte  Zellenver- 
mehrungen eine  nur  untergeordnete  Rolle. 
Indirekte  Kern-  Der  wichtigcrc  und  häufigste  Zellfortpflanzungsprozeß  ist  ein  weit  ver- 

und  zeuteiiung.  ^j^kelteres  Geschehen.  Zwar  die  Zerlegung  des  Zellenleibes  vollzieht  sich  in 
der  gleichen  einfachen  Art,  aber  am  Kerne  treten  eine  Anzahl  bemerkenswerter 
Umgestaltungen  und  sonderbarer  Bewegungsvorgänge  auf.  Die  Umformungen 
modeln  Kern-  und  Zellenbestandteile  in  mehr  oder  minder  ausgesprochene 
Fädchengebilde  um:  von  dem  Auftreten  dieser  Fädchen  (griechisch  Mitos)  hat 
Mitose,  der  Prozeß  den  einen  seiner  Namen,  den  der  Mitose  oder  mitotischen  Teilung 


Fig.  i8.     Schema  der  Zellteilung:  Karyokinese  oder  Mitose. 
(Nach  R.\L'BER-KoPscH  verändert  aus  Weissenbero.) 

A.  Kern  der  Zelle  in  Ruhe,  Zentrum  soeben  geteilt,  von  der  Plasmastrahlung  umgeben.  B.  Färbbare  Kemsubstanz, 
Chromatin,  zum  Kernfaden  oder  Knäuel  umgewandelt,  Kernmembran  in  Auflösung  begriffen.  Zentrenstrahlung 
weiter  ausgebildet.  C.  Kernfaden  in  die  Kernsegmente  oder  Chromosome  zerfallen;  Zentren  auseinandergerückt, 
umgeben  von  der  Polstrahlung,  verbunden  durch  die  Anlage  der  Spindel.  D.  Kernsegmente  zum  Mutterstern  ge- 
ordnet, die  Zentren  an  den  Polen  der  Spindelfigur,  umgeben  von  der  Polstrahlung.  E.  Die  Muttersternsegmente 
in  die  Tochterkernsegmente  durch  Längsspaltung  zerlegt.  F.  Auseinanderweichen  der  Tochterkernsegmente.  Tochter- 
sternfigur. G.  Beginn  der  Einschnürung  des  Zellenkörpers,  Tochtersterne  weiter  zu  den  Spindelpolen  gerückt. 
//.  Nahezu  vollendete  Durchschnürung  des  Zellenkörpers,  Tochterkernsegmente  beginnen  sich  an  den  Polen  zu  den 
Tochterknäueln  zusammenzufügen,  y.  Vollendete  Teilung  der  Zelle,  färbbare  Kernsubstanz  zum  Zustand  des 
ruhenden  Kerns   zurückkehrend,    Spindelfigur  verschwunden,    Kernmembran  neu  gebildet,    Zellenzentren   wieder    als 

Doppelkörnchen  im  Plasma. 

erhalten.   Von  den  Bewegungsvorgängen,  die  hierbei  an  der  Kernsubstanz  sich 
Karyokinese.  abspicleii,  iicnut  man  ihn  auch  Kernbewegungsteilung  oder  Karyokinese. 
(Fig.  i8.) 

Der  ruhende  Zellenkern,  dessen  Bau  oben  geschildert  wurde,  gestaltet  sich 
in  dem  ersten  Akte,  dem  Vorbereitungsstadium  oder  der  Prophase  zu  einem 
Kernfaden  um:  die  Chromatinkügelchen  reihen  sich  Körnchen  neben  Körn- 
chen aneinander,  so  daß  schließlich  der  ganze  färbbare  Kerninhalt  aus  einem 
Faden,  gebildet  aus  allen  Chromiolen,  besteht,  die  der  Ruhekern  einschloß. 
Dieser  Faden,  einem  enggewundenen  Knäuel  gleich,  zerfällt  alsbald  in  einzelne 
Chromosome.  Stücke,  dic  Kemsegmentc  oder  Chromosome,  deren  Anzahl  für  jedes  Tier, 
für  jede  Pflanze  ein  für  allemal  feststeht:  stets  tritt  bei  allen  Kernteilungen 
der  gleichen  Lebewesenart  die  gleiche  Chromosomenzahl  auf.     Sie  schwankt 


Kern-  und  Zellteilung  rg 

dabei  in  weiten  Grenzen:  die  niederste  Zahl,  die  man  bis  jetzt  auffinden  konnte, 
ist  zwei,  eine  der  höchsten  i68.  Der  Mensch  besitzt  wahrscheinlich,  wie  viele 
andere  Tiere  und  Pflanzen  auch,  24  Chromosome.  Diese  Umformungen  im 
Kerne,  der  seine  Membran  auflöst  und  nunmehr  mit  dem  Protoplasma  frei 
verschmilzt,  begleiten  Wandlungen  im  Zellenleibe.  Das  Zellenzentrum  spaltet 
sich  —  wenn  es  nicht  zuvor  schon  ein  Doppelkörnchen  gewesen  war  —  in  zwei 
Kügelchen,  um  das  sich  das  Protoplasma  in  Form  von  prächtigen  sonnenartigen 
Strahlungen  anordnet,  die  man  in  der  lebendigen  Zelle  gut  wahrnehmen  kann. 
Die  neuen  Zentriolen  rücken  auseinander,  und  zwischen  ihnen  bildet  die  Proto- 
plasmastrahlung eine  Spindelfigur,  in  derenÄquator  sich  die  Kernsegmente  regel- 
mäßig sternförmig  zu  einer  Platte  gruppieren.  Die  Centra  sind  jetzt  an  die 
Pole  der  Spindel  gerückt:  das  zierliche  Bild,  das  jetzt  die  Zelle  darbietet,  heißt 
man  den  Mutterstern  oder  den  Monaster  der  Kernteilung.  Diese  Figur 
bedeutet  den  Höhepunkt  des  ganzen  Ereignisses,  das  Vorbereitungsstadium 
ist  abgeschlossen:  es  beginnt  das  Hauptstadium  nun,  die  Metaphase.  Ihr 
wichtigstes  Geschehnis  ist  der  springende  Punkt  des  gesamten  verwickelten 
Mechanismus:  die  Kernsegmente  spalten  sich  ihrer  Länge  nach  in  zwei  gleiche 
Hälften;  aus  den  Mutterchromosomen  werden  die  Tochterchromosome.  Jede 
Teiihälfte  gleitet  nunmehr  auf  einen  Spindelpol  zu,  die  eine  nach  dem  oberen, 
die  andere  nach  dem  unteren,  niemals  beide  zu  dem  gleichen  Zentriol  hin. 
Dadurch  wird  eine  fast  mathematisch  genau  gleichmäßige  Verteilung  der  zu 
den  Kernsegmenten  vereinten  Chromiolen  erzielt.  Zumeist  wandern  die  Chro- 
mosome, wenn  sie  u-förmige  Gestalt  besitzen,  mit  ihren  geschlossenen  Schen- 
keln polwärts:  aus  dem  Mutterstern  sind  die  Tochtersterne  oder  der  Dyaster 
entstanden.  Damit  tritt  der  Kern  in  die  Anaphase  seiner  Teilung  ein,  begibt 
sich  auf  den  Rückweg  zur  Bildung  eines  Ruhekernes.  Auch  der  Zellenleib  be- 
ginnt nunmehr  seine  Teilung:  er  schnürt  sich  in  den  Äquator  durch  eine  Ring- 
furche ein,  und  während  die  Tochterchromosome  sich  an  den  Polen  sammeln, 
schneidet  die  Ringfurche,  immer  stärker  und  stärker  sich  vertiefend,  durch  den 
ganzen  Zellenleib  hindurch.  Die  Spindel,  noch  eine  Zeit  lang  sichtbar,  wird 
dabei  zusammengeschnürt,  wie  ein  Bündel  von  feinen  Drähten.  Der  Endakt, 
die  Telophase  der  Teilung,  führt  den  Kern  wieder  völlig  in  den  Ruhezustand 
über.  Die  Chromosome  legen  sich  mit  ihren  Enden  aneinander,  bilden  wieder 
einen  undeutlichen  Knäuel,  zerteilen  sich  in  ihre  kleinen  Chromiolen.  Die 
Kernmembran  tritt  wieder  auf,  das  Liniennetz  erscheint,  die  Plasmastrahlen 
schwinden  und  in  den  beiden  jetzt  völlig  voneinander  abgeschnürten  Tochter- 
zellen liegt  der  ruhende  Kern,  der  alsbald  wieder  in  eine  neue  Teilung  einzu- 
treten vermag.  Oft  vermag  man  noch  an  der  Lage  der  Elemente  zueinander 
zu  erkennen,  welche  Zellen  aus  einer  Mutterzelle  hervorgingen. 

Dieses  Schema  wird  nicht  immer  innegehalten,  es  gibt  abweichende  Mito- 
sentypen, vor  allem  treten  die  Chromosome  oft  in  andersartiger  Gestalt  auf, 
als  Kügelchen,  als  bohnen-  oder  nierenförmige  Gebilde.  Zuweilen  erkennt 
man  deutlich,  daß  sie  von  verschiedener  Form  sind  und  dann  findet  sich  oft 
die  gleiche  Gestalt  zweimal  vertreten.    (Fig.  19.)    Wichtige  Unterschiede  von 


6o 


Heinrich  Poll:   Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


Vereiuiguntf 

lier  ZeUen  zu 

Geweben  und 

Organen. 


Kig.  19.  Ansicht  der 
Aquatorialplatte  einer 
iCernteilungsfigur  aus 
dem  Hoden  eines 
Käfers ,  zur  Erläute- 
rung der  verschiede- 
nen Größe  und  Gestalt 
der  Chromosome. 
(Nach  AViLSON.) 


diesem  normalen  Geschehen  hegen  vor,  wenn  ein  Chromosom 
ungeteilt  in  nur  eine  der  Tochterzellen  übergeht:  Erscheinungen, 
die  zumal  bei  der  Bildung  der  Geschlechtszellen  vorkommen 
und  für  die  Lehre  von  der  Vererbung  besondere  Bedeutung  ge- 
wonnen haben.  Atypische  Mitosen  spielen  sich  mit  Vorliebe  in 
krankhaft  veränderten  Zellen  ab,  z.  B.  in  den  bösartigen  Neubil- 
dungen beim  Menschen  und  Tieren. 


Fig.  20.  Morula  oder  Maul- 
beerlarve, ein  ZeUenhaufen, 
hervorgegangen  aus  der  Zell- 
teilung eines  befruchteten 
Eies  vom  Lanzettfischchen. 
(Nach  CüRFONTAiNE  aus 
KORSCHKLT  und  Heider.) 


Gestalt  und 

Leistung  der 

Gewebe. 


Die    Gewebe    und    Organe    des    Tierkörpers. 

Im  Körper  der  höheren  Tiere  und  Pflanzen  leben  die  Elemen- 
tarteile nicht  wie  bei  den  Urtierchen  und  Urpflanzen,  den  Ein- 
zelligen, für  sich  allein,  sondern  im  Verbände  mit  vielen  ihresgleichen.  Dieses 
Zusammenleben  übt  in  hohem  Maße  eine  umgestaltende  Wirkung  auf  Bau 
und  Leistung  der  Einzelelemente  aus.  Die  Zellen  müssen  sich  einander  anbe- 
quemen, sie  müssen  Vorrichtun- 
gen entwickeln,  um  ihren  Zusam- 
menhang zu  wahren,  sie  müssen 
die  vielfältigen  Aufgaben  des  Or- 
ganismus in  gemeinsamer  Ar- 
beit lösen,  nicht  jede  auf  eigene 
Faust,  sondern  im  geordneten 
Zusammenwirken  mit  ihren 
Schwestern.  Das  geht  nun  sicher 
nicht  ohne  Einbuße  ab  für  das 
Einzelelement,  sie  müssen  sich  in 
die  vorhandene  Nahrung,  in  den 
verfügbaren  Raum  teilen ;  das 
bedeutet  aber  architektonisch  und  funktionell  auch  die  Möglichkeit,  neue  und 
verwickeitere  Aufgaben  zu  bewältigen. 

Die  Bedingungen  gegenseitiger  struktueller  und  funktioneller  Anpassung 
erreichen  die  Elementarteilchen  auf  dem  Wege  der  Gewebebildung. 

Gewebe  sind  Zellengemeinschaften  ursprünglich  gleichartiger 
Elemente,  einschließlich  ihrer  Umwandlungsprodukte,  befähigt 
zu   einer   einheitlichen   bestimmten   Leistung. 

Gestalt  und  Verrichtung  der  Gewebe  hängen  von  vielerlei  verschieden- 
artigen Bedingungen  ab;  als  hauptsächliche  unter  ihnen  erscheinen :  die  Art  der 
Zusammenfügung  der  Einzelelemente,  die  Beteiligung  von  mehrfachen  und 
sonderartigen  Bestandteilen  am  Aufbau  des  Gewebes,  die  Verwendungsart  des 
Gewebes  im  Ganzen  des  Organismus.  Diese  verschiedenen  Prinzipien  lassen 
sich  nicht  immer  klar  voneinander  scheiden,  sondern  arbeiten  in  ihrem  Wirken 
gegeneinander  und  miteinander  in  oft  nicht  immer  durchsichtigem  Walten. 
Nur  die  inneren  Bedingungen  liegen  klar  zutage:  einerseits  werden  die  Ge- 
webe im  Dienste  abweichender,  differenter  Architektonik  und  Funktion  um- 
gemodelt:   das    sind    die    Differenzierungserscheinungen;    andererseits 


Fig.2i.  Schnitt  durch  eine  Keim- 
blase (Rlastula)  vom  Lanzettfisch- 
chen. Die  Innenhöhlung  (//)  wird 
umschlossen  von  epithelial  zusam- 
menhängenden ZeUen  ,  in  einer 
Schicht  geordnet,  k  =  Kern  der 
Zellen.  (Nach  Hatschek  aus 
O.  Hertwig.) 


Gewebe  und  Organe  des  Tierkörpers  '  5 1 

unterliegen  sie  dem  Prinzip,  in  sich  und  mit  den  anderen  Geweben  neue  höhere 
Einheiten  aufzubauen  und  mit  diesen  verbunden  Arbeit  zu  leisten:  das  sind 
die  Integrationserscheinungen.  Differentiation  und  Integration  schreiten 
untrennbar  aneinander  gefesselt,  Hand  in  Hand  einher,  die  eine  ist  ohne  die 
andere  nicht  vereinbar  mit  dem  Fortbestande  eines  gesetzmäßigen  Lebens- 
prozesses. 

Zellenverbände  von  lockerer  und  straffer  Fügung,  von  der  Beweglichkeit 
einer  Flüssigkeit  bis  zur  Steinfestigkeit  des  Elfenbeins  finden  sich  im  Tierorga- 
nismus nebeneinander.  Dies  sind  beides  die  extremen  Glieder  einer  Reihe 
vielstufiger  Übergänge,  die  keine  Aufzählung  zu  erschöpfen  vermag. 

Die  Mittel  und  Wege,  die  sich  die  Elementarteilchen  schaffen,  um  sich  zu 
Verbänden  zusammenzufügen,  sind  überaus  verschiedener  Art.  Oft  erzeugen 
die  Zellen  nur  verschwindende  Mengen  einer  klebrigen  Kittsubstanz,  mittels  Kittsubstanzen. 
derer  sie  dann  oft  locker,  oft  sehr  fest  aneinander  haften.  Oder  sie  produzieren 
Verzahnungen,  die  ineinandergreifen,  verbinden  sich  durch  feine  zarte  oder 
derbe  faserige  Brücken  miteinander.  In  anderen  Fällen  liefern  sie  auf  irgend- 
einem Wege  eine  Substanz  von  flüssiger,  fest-weicher  oder  ganz  harter  Be- 
schaffenheit, die  sie  zwischen  sich  einschieben,  in  die  sie  sich  einbetten  und 
mit  Hilfe  derer  sie  sich  miteinander  vereinen.  Nur  wenige  Elemente  bewahren 
sich  auch  im  Gewebeverband  eine  beschränkte  oder  unbeschränkte  Bewegungs- 
freiheit und  kriechen  und  wandern  innerhalb  oder  auch  außerhalb  seiner  Gren- 
zen von  Ort  zu  Ort  oder  vermögen  wenigstens  sich  auszudehnen  oder  sich  zu- 
sammenzuziehen. Welches  von  diesen  Mitteln  das  Gewebe  im  einzelnen  sich 
dienstbar  macht,  hängt  vermutlich  ganz  von  seiner  Aufgabe  ab,  oder  dem 
Platze,  auf  den  es  im  Laufe  der  Entwicklung  des  Lebewesens  gewiesen  wird. 
Ein  Haufen  von  Zellenkugeln,  entstanden  aus  der  fortgesetzten  Teilung  einer 
tierischen  Eizelle,  durch  geringe  Mengen  einer  klebenden  Kittsubstanz  an- 
einandergehalten:  das  ist  ein  Zustand  des  tierischen  Organismus,  wie  er  bei 
jeder  Entwicklung  durchlaufen  wird,  und  wie  er  jeder  Gewebebildung  voraus- 
geht (Fig.  20).  Alsbald  aber  wird  er  mit  dem  Fortschreiten  der  Zellen- 
teilungen abgelöst  von  der  Bildung  eines  ersten  ganz  primitiven  Urgewebes: 
die  Zellenelemente  verlieren  ihre  kugelige  Gestalt,  pressen  sich  aneinander  und 
bilden  miteinander  verklebend  eine  einfache  Zellenlage,  ein  feinstes  Häutchen, 
ein  Keimblatt,  wie  es  die  Entwicklungsgeschichte  nennt  (Fig.  21). 

Gewebe,  deren  Urbild  diese  Form  der  Zellenfügung  ist,  bei  der  im  wesent- 
lichen eben  lediglich  Zellen,  durch  minimale  Klebemengen  aneinander  gekittet, 
den  Elementarverband  aufbauen,  heißen  Epithel ien.-*^)  Solche  Epithelien  oder  F<:pitheigewebe 
epithelialen  Zellenverbände  spielen  im  tierischen  Organismus  die  wichtigste 
Rolle:  es  gibt  kein  einziges  Tier,  in  dessen  Leib  nicht  Epithelien  vorhanden 
sind.     Alle  anderen   Gewebeformationen  können  fehlen  —  nur  niemals  das 


*)  Dieser  Name  leitet  sich  ab  vom  griechischen  ctti  auf  Br\Kr\  Brustwarze.  An  der 
Leiche  löst  sich  leicht  ein  feines  Häutchen  an  der  Brustwarze  ab,  das  von  dem  holländischen 
Anatomen  Ruysch  als  „EpitheHum"  zuerst  benannt  und  späterhin  als  Beispiel  für  alle  diese 
feinen  Hautbildungen  zu  einem  allgemeinen  Fachausdruck  verallgemeinert  wurde. 


52  Heinrich  Poll:   Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

Epithel;  wie  es  denn  auch  dem  Ursprünge  nach  die  Ausgangsform  aller  anderen 
Gewebeverbände  darstellt. 

Aus  dem  epithelialen  Zellengefüge  wandern  schon  frühzeitig  einzelne  Ele- 
mente aus,  die  sich  in  den  schleimig-gelatinös-wässrigen  Abscheidungsproduk- 
ten  der  Keimlingszellenlagen  verteilen.  Damit  ist  der  Typus  einer  andersartigen 
Formation  geschaffen,  bei  der  die  zelligen  Elementarteilchen  nicht  mehr  dicht 
und  unmittelbar  aneinanderschließen,  bei  dem  außer  den  zellulären  Bestand- 
teilen noch  Abscheidungs-  oder  Verwandlungsprodukte  von  Zellen  als  Substanz 
zwischen  den  Zellen  eine  wesentliche  Rolle  spielen:  das  ist  der  Typus  der 

Grundsubstanz-  Grundsubstanzgewcbc,   auch  Stütz-  oder  Bindesubstanzgewebe  genannt, 
sewe  e.       _^^.j  ^.^  vorzugswcisc,  aber  nicht  ausschließlich,  mechanische  Funktionen  im 
Körper  erfüllen. 

Außer  den  Epithel-  und  den  Grundsubstanzgeweben  kommen  auf  den 
höheren  Stufen  der  tierischen  Entwicklung  noch  zwei  andere  Gewebeformen 
zur  Ausbildung,  die  an  sich  höhere  Spezialisierungen  der  einfachen  Gewebe  dar- 
stellen und  deren  Arbeiten  ursprünglich  von  den  Urgeweben  mitausgeführt 
Muskel-  und    wurdcu t  das  sind  das  Muskelgewebe  und  das  Nervengewebe.  Jenes  faßt 

.  ervengewe  e.  ^.^  kontraktilen  Elemente  des  Tierkörpers  zu  spezieller  Arbeit,  in  eigentüm- 
licher Architektonik  zusammen,  dieses  die  reizleitenden  und  reizaufnehmenden 
Elementarteile  mitsamt  ihren  eigenen  Stützeinrichtungen. 

Das    Epithelgewebe. 
Epithelgewebe.  Das  Epithclgcwebe  deckt  die  äußeren  und  inneren  Oberflächen  der  tieri- 

schen Organismen,  es  überzieht  als  feine,  ununterbrochene  Lage  die  Haut- 
außenfläche, die  Innenflächen  des  Darmkanales  mit  allen  seinen  An- 
hängen, der  Ausscheidungs-und  Fortpflanzungsorgane,  des  Gehirn- und  Rücken- 
marks usf. 

Die  Regel,  daß  im  tierischen  Bauplan  die  Epithelien  und  ihre  Abkömm- 
hnge  die  oberflächlichen  Körperlagen,  daß  sie  die  Grenzschichten  gegen  die 
Außenwelt  bilden,  wird  nur  selten  durchbrochen.  Nur  ausnahmsweise  treten 
andere  Gewebeformen  unter  Verlust  des  epithelialen  Deckmantels  an  die  Ober- 
fläche, z.  B.  am  Geweih  der  Hirsche  oder  anderer  Geweihträger,  und  auch  hier 
ist  das  nur  eine  vorübergehende  Erscheinung.  Ursprünglich  wird  die  Außen- 
lage jedes  tierischen  Organismus  immer  von  einer  Epithelhülle  gebildet.  Das 
geht  soweit,  daß  auch  alle  die  Räume,  die  mit  der  Außenwelt  in  irgendeiner 
noch  so  mittelbaren  Verbindung  stehen,  die  durch  Umwachsung  in  den  Körper 
eingeschlossen  wurden,  immer  von  Epithelien  ausgekleidet  bleiben. 

Aber  auch  wahre  Binnenräume  des  Körpers  werden  von  dieser  Gewebe- 
form austapeziert  und  außerdem  senkt  es  sich  in  die  Tiefe  des  Körpers  hinein 
und  bildet  die  Hauptabscheidungseinrichtungen  des  Tierkörpers,  die  Drüsen. 
Bau  der  Au  dcm  Aufbau  eines  Epithels  können  sich  nur  eine  einzige  oder  auch 

^'  ^  ""■  mehrere,  oft  sehr  viele  Lagen  oder  Schichten  von  Zellen  beteiligen,  so  daß  Häut- 
chen recht  verschiedener  Mächtigkeit  entstehen,  von  der  Zartheit  einer  hauch- 
feinen Membran  mit  weniger  als  einem  Tausendstel  Millimeter  Dicke,  wie  z.B. 


Epithelgewebe  63 

das  Epithel  des  Bauchfelles,  des  Lungenfelles  und  der  Herzbeutelhöhle,  bis  zu  der 
derben  widerstandsfähigen  Epithelbedeckung  einer  Rhinozeros-  oder  Elefanten- 
oberhaut. Man  unterscheidet  nach  der  Zahl  der  Zellenlagen  einschichtige 
oder  ungeschichtete  und  mehrschichtige  oder  geschichtete  Epithelien. 
Die  Gestalten  der  Elemente,  die  sich  zum  Epithelverbande  zusammen- 
schließen, lassen  diese  Gewebeart  in  mehrere  Hauptgruppen  einordnen.  Bei 
den  einfachen  ungeschichteten  Epithelien  entscheidet  naturgemäß  die  Form 
der  Elemente  in  der  einzig  vorhandenen  Zellenlage.  Anders  ist  es  bei  den  ge- 
schichteten Epithelien.  Hier  richtet  sich  die  Benennung  nach  der  jeweilig  zu 
oberst,  zu  äußerst  gelegenen  Zellenformationen:  denn  sie  ist  es,  die  den  spe- 
zifischen Funktionsdienst  verrichtet,  während  die  in  der  Tiefe  ruhenden  Ele- 
mentarteilchen in  der  Regel  für  den  Ersatz  der  verbrauchten,  zugrunde  ge- 
henden obersten  Zellenlagen  bestimmt  sind,  und  mithin  eine  Keimschicht,  ein 
Ersatzlager  darstellen.  Während  die  oberen  Schichten  in  der  Regel  recht  dicht 
aneinandergefügt  sind,  liegen  zwischen  den  Ersatzzellen  oft  enge  Spalten  oder 
Hohlräume,  die  dem  Saftstrom  den  Durchtritt  gestatten,  hin  und  wieder  sogar 
auch  einer  Wanderzelle  oder  sogar  vielen  von  ihnen  das  Passieren  erlauben, 
die  dann  auch  die  obersten  Zellenlagen  durchdringen. 

Die  einfachsten  Grundformen  der  Epithelialelemente  sind  die  platte,  diewür-  Gestalt  der 
felförmige  und  die  zylindrisch-prismatische  Gestalt:  bei  der  ersten  Form  bleibt 
der  Dickendurchmesser  hinter  allen  anderen  Abmessungen  der  Zelle  weit  zu- 
rück, sie  ähnelt  einer  flachen  Scheibe,  einer  Fliesenplatte  oder  einem  großen 
Pflasterstein.  Bei  der  kubischen  Gestalt  halten  sich  Dickendurchmesser  und 
Breitenmaß  im  großen  ganzen  die  Wage,  bei  der  zylindrischen  Form  ist  die 
Grundfigur  eine  aufrecht  stehende  Walze  oder  ein  stehendes  mehrkantiges 
Prisma;  der  Höhendurchmesser  übertrifft  die  anderen  Dimensionen  der  Zelle 
bei  weitem.  Nur  ist  zu  bemerken,  daß  an  dieser  Form  die  mannigfachsten  Ab- 
weichungen vorkommen;  besondere  innere  und  äußere  Differenzierungen  der 
Deckzellen  verwischen  oft  die  Eigenform  bis  zur  Unerkennbarkeit. 

Epithelien,   deren   Elemente  dünnen,   flachen   Platten  gleichen,    die  mit    piatten- 
ihrer  Unterfiäche   dem   Grundboden  aufruhen,   mit  ihren  Rändern  Kante  an 
Kante  sich  den   Nachbarelementen  anfügen,   heißen   Platten-  oder  Pfiaster- 
epithelien.  (Fig.  22  u.  23  s.  S.  64.) 

Beim  geschichteten  Plattenepithel  ist  es  nur  wieder  die  oberste  Zellenschicht, 
die  aus  solchen  Zellenscheiben  zusammengefügt  ist:  die  Elemente  der  unteren 
Lagen  sind  im  allgemeinen  von  rundlicher  oder  polyedrischer  Gestalt,  die  un- 
tersten, die  an  die  Bodenfläche  angrenzen,  haben  an  dieser  Stelle  zum  min- 
desten eine  ebene  Grundfläche. 

Einfache  Plattenepithelien  kommen  zumeist  zur  Verwendung,  wenn  die 
schützende  Deckhülle  möglichst  zart,  möglichst  fein,  möglichst  durchlässig 
für  den  Stoffaustausch,  sei  es  gasiger  oder  flüssiger  Art,  ausgestaltet  werden  soll. 
Die  Atmungsorgane,  in  denen  sich  der  Gaswechsel  zwischen  Körpersaft  und 
Umgebungsmittel  vollzieht,  die  Teile  der  Exkretionsorgane,  denen  Flüssigkeits- 
abscheidungen,  einem  Filtrationsprozesse  vergleichbar,  obliegen,  benutzen  an 


epithelien. 


64 


Heinrich  PolL:    Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


zweckdienlichen  Stellen,  so  in  den  Lungenbläschen  und  den  Nierenkörperchen, 
diese  Epithelart  zur  Lösung  ihrer  Aufgaben. 

Recht  im  Gegensatze  dazu  stellen  die  geschichteten  Plattenepithelien  die 
wahren  Panzereinrichtungen  des  Tierkörpers.  Wo  der  zartere,  weichere  Körper 
gegen  die  rauhen  Angriffe  der  umgebenden  Welt  sich  zu  schützen  gezwungen 
ist,  da  liefert  das  geschichtete  Plattenepithel  Schutz  und  Schirm.  Dem  zer- 
störenden Einfluß  von  Luft  und  Wasser,  der  schneidend  harten  Kieselhäute 
der  Nährgräser,  setzt  in  der  Haut  der  Wirbeltiere,  in  Mund,  Speiseröhre  und 
Magen  der  Wiederkäuer  das  geschichtete  Plattenepithel  und  seine  Abkömm- 
linge seinen  Widerstand  erfolgreich  entgegen.    (Fig.  24.) 

Mehrschichtige  Epithelien  mit  ganz  ähnlicher  Aufgabe  und  ähnlichen  For- 
mationen schützen  die  langen  Wege,  die  zur  Ausfuhr  der  wässrigen  Abscheidun- 
gen  des   Kör- 
pers beim 
Menschen  und 
den     höheren 
Tieren  dienen, 
die  Gänge  und 
Reservoire  für 
die      Harnab- 
sonderung. 
Nur  sind  hier 
die      obersten 

Zellenlagen 
nicht     immer 
plattgestaltet, 
das    ist    viel- 
mehr nur  der 
Fall  im  Zustande  der  Dehnung,  z.  B.  bei  vollkommener  Anfüllung  der  Harn- 
blase mit  Flüssigkeit.     Bei  der  Entleerung,  bei  der  Zusammenziehung  werden 
die  Deckschichtzellen  ganz  dick  und  rundlich,  während  die  Wand  sich  in  Fal- 
ten legt:  erst  mit  erneuter  Füllung  dehnen  sich  die  Elemente  wieder  zu  platten 
Schuppen  aus.     So  leistet  auch  hier  diese  Epithelform  physikalischen  Schutz- 
und  Anpassungsdienst  gegenüber  den  Einwirkungen  nunmehr  körperfremd  ge- 
wordener   Ausscheidungsstoffe.     Man    hat   diese    Epithelformation    mit   dem 
Übergangs-  schlcchtcu  Namcu  ,, Übergangsepithel"  bezeichnet. 

Den  physikalischen  Aufgaben  wird  das  ,, Deckepithel"  noch  in  weiter- 
gehendem Maße  gerecht  durch  Umgestaltungen  und  Produkte,  die  es  im  ge- 
gebenen Falle  entwickelt.  Zweierlei  Wege  stehen  ihm  offen.  Entweder  wandeln 
sich  die  Zellenelemente  ganz  und  gar  selbst  in  überaus  widerstandsfähige 
Substanzen  um,  sie  ändern  ihre  chemische  Zusammensetzung  und  damit  ihre 
Lebenseigenschaften.  Oder  aber  sie  beginnen  Stoffe  abzusondern,  während 
sie  selbst  ganz  oder  zu  ihrem  größten  Teile  in  ihrer  alten  Form  erhalten 
bleiben. 


Fig.  22.     Schema   eines    einfachen  Platten- 
epithels.     (Nach   TouRNEAus    aus    Rauber- 

KOPSCH.) 


Fig.  23.     Einfaches  Plattenepithel   von    der 
Fläche   gesehen,   vom   Bauchfell   einer   neu- 
geborenen Ratte,      k  =^  Kerne,  g  =  ZcUen- 
grenzen.     (Nach  R.  Krause.) 


epithel. 


Plattenepithel 


65 


Die  erste  Methode  schlägt  das  geschichtete  Plattenepithel  der  Körperhaut 
bei  den  Wirbeltieren  ein  —  von  den  niedersten  Fischformen  abgesehen.  Die 
jeweils  an  der  Oberfläche,  in  unmittelbarer  Berührung  mit  Luft  und  Wasser 
gelegenen  Zellen,  verwandeln  sich  in  Hornsubstanz;  die  eigentlichen  Hörner  verhomung. 
der  Wiederkäuer  z.  B.  sind  selbst  im  Grunde  nichts  weiter  als  solche  Mäntel 
derartiger  Substanz,  die  sich  an  den  Stirnknochenzapfen  zu  besonderer  Mäch- 
tigkeit entwickeln.  Auch  Hufe  und  Klauen,  Nägel  und  Krallen,  Schuppen, 
Haare  und  Federn  sind  solche  besondere  Hornorgane,  die  der  Metamorphose 
des  geschichteten  Deckepithels  der  Körperoberfläche  ihre  Entstehung  ver- 
danken. Das  weiche,  zarte  protoplasmareiche  Element  der  unteren,  der  Ersatz- 
schichten desEpithels  steig*-,  je  älter  es  wird,  von  nachrückenden  jüngeren  Schwe- 
stern emporgedrängt,  in  die  oberen  Lagen  empor,  wird  rundlich,  dann  platt  und 
in  seinem  Leibe  erscheinen  feinste  Tröpfchen  einer  Substanz,  Keratohyalin 
genannt,  das  man  früher,  wie  das  in  der  nächsthöheren  Schicht  abgelagerte  durch- 
sichtige Eleidin,  für 
eineVorstufe  desHor- 
nes  hielt,  in  das  sich 
allmählich  das  gesam- 
te Schüppchen  ver- 
wandelt. Bei  den 
meisten  Wirbeltieren 
werden  die  verhorn- 
ten Zellen  als  Ganzes 
im  Zusammenhange 
abgestoßen,  so  z.B. 
bei  der  Häutung  der  Schlangen  (Natternhemd).  Bei  denVögeln  und  Säugetieren 
gehen  andauernd  die  obersten  in  Hornsubstanz  verwandelten  Schüppchen  ver- 
loren und  ersetzen  sich  rasch  durch  den  Nachschub  von  unten.  Die  Hornschüpp- 
chen  kann  man  in  jedem  warmen  Waschwasser,  an  jedem  Pferdestriegel  in  Massen 
abgestreift  finden.  An  der  Haut  der  höheren  Wirbeltiere  verlieren  die  Zellen 
dabei  ihre  Kerne,  die  aber  z.B.  am  Nagel  vollkommen  sichtbar  erhalten  bleiben. 

Den  notwendigen  ausgiebigen  Schutz  der  empfindlichen  Körperdecke  ver- 
schafft sich  das  Deckepithel  anderer  Tierstämme  durch  Abscheidung  sehr 
widerstandsfähiger  Hüllen.  Der  mechanischen  Leistung  wird  entweder  durch 
Erzielung  lederartiger  Festigkeit,  z.  B.  in  der  Haut  vieler  Würmer,  oder  durch 
die  Härte  eines  Panzers  genügt.  Die  Gliederfüßler,  z.  B.  die  Insekten  und 
Krebse,  entwickeln  in  der  zarten  plattenförmigen,  einschichtigen  Zellenlage 
ihre  Hautbekleidung  als  ein  zuerst  feines  zartes,  dann  durch  Anfügung  immer 
neuer  Schichten  mächtiger  und  fester  werdendes  Häutchen,  die  Chitinbeklei- 
dung ihres  Körpers.  (Fig.  25.)  Man  bezeichnet  solche  Abscheidungen,  Umwand- 
lungen der  äußersten  Schichten  des  Zellenprotoplasmas  als  Oberhäutchen-  oder 
Cuticularbildungen.  In  der  Regel  sind  sie  sehr  feine  und  zarte  Häutchen  —  Cuticuiar- 
wir  werden  ihnen  bei  anderen  Epithelformen  wieder  begegnen  —  hier  nehmen  '  "°^''°' 
sie  sehr  mächtigen,  unter  Umständen  ganz  gewaltigen  Umfang  an,  so  daß  sie 

K.  d.  G.  III.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  c 


Fig.  24.  GescHclitetes  Plattenepithel  von  der  Horn- 
haut des  Menschen.     (Nach  R.  Krause.) 


Fig.  25.       Epithelzellenlage 
(A)    oder    Hypodermis    einer 
Blattwespe    mit     abgeschie- 
denem  Chitin-Oberhäutchen 
{c/i)  oder    Chitin-Cuticula. 
(Nach  R.  Hertwig  aus 
O.  Hertwig.) 


66 


Heinrich  Poll:   Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


förmliche  Schutzschilde  oder  Gürtel  bilden.  Bei  den  Krebsartigen  werden  diese 
Panzer  durch  Verkalkung  noch  widerstandsfähiger :  jede  Hummerschere  gibt 
von  dieser  Eigenschaft  ein  gutes  Bild !  Ja,  das  platte  Deckepithel,  hier  Hy  p  o  - 
dermis  genannt,  weil  sie  unter  dem  Panzer  liegt,  leistet  noch  mehr.  Sie 
sorgt,  wie  an  dem  Hornüberzug  der  Wirbeltierhaut,  auch  für  den  Ersatz.  Der 
Panzer  wird  dem  wachsenden  Krebs  z.  B.  zu  eng,  er  wird  abgestreift  und  schon 
haben  unter  ihm  die  hypodermalen  Zellen  begonnen,  einen  neuen  zu  produ- 
zieren, der  vorerst  —  im  Stadium  der  ,, Butterkrebse"  —  noch  weich  und  zart 
ist,  alsbald  aber  dick  und  hart  wird.  So  erneut  sich  die  Tätigkeit  des  Deck- 
epithels Jahr  für  Jahr.  Ähnlichen  Vorgängen  verdanken  die  Schalen  der 
Muscheln  und  Schnecken  ihren  Ursprung,  wenngleich  hier  nicht  die  ganze 
Körperoberfiäche,  sondern  bestimmte  Hautfalten,  Mantel  genannt,  mit  ihrem 
Epithel  die  Abscheidung  der  Hartstoffe  übernehmen.    Es  sind  das  übrigens 

durchaus  nicht  immer  platte  Zellenlagen, 
sondern  oft  auch  kubische  und  noch  höhere 
Elemente,  wie  denn  überhaupt  bei  allge- 
mein-biologischer Betrachtung  die  Form 
der  Zelle  hinter  derEigenart  ihrer  Leistung 
oft  an  Bedeutung  in  denHintergrund  tritt. 
Dafür  ist  ein  treffendes  Beispiel  dieUn- 
sicherheit  der  Benennungsweise,  die  häu- 
fig bei  den  nicht  ausgesprochenen  platten 
und  nicht  deutlich  zylindrischen  Epithel- 
formationen zutage  tritt:  man  muß  sich 
da  häufig  mit  den  Ausdrücken:  platt-ku- 
Kubisciies  bisch,  nicdrig-zylindrisch  usf.  helfen.  Kubische,  oder  besser  prismatische  Epithe- 
^Ipitheh'^  "^^lien,  deren  Elementarteilchen  nebeneinander  liegen,  wie  etwa  die  Steine  eines 
Fahrdammpflasters,  kommen  so  gut  wie  niemals  in  Schichtung,  sondern  fast 
stets  in  einer  Zellenlage,  als  ein  einfaches  Würfelepithel  vor.  Ihre  Allgemeinauf- 
gaben beruhen  weniger  im  Decken  und  Schützen  der  Unterlage,  sondern  mehr  in 
chemischen  Leistungen:  der  Produktion  und  Absonderung  von  Substanzen  im 
Dienste  des  Organismus ;  sie  teilen  diese  Fähigkeiten  mit  dem  Prismenepithel,  mit 
dem  sie  unter  vielen  Gesichtspunkten  gemeinsam  behandelt  werden  können. 
Beide  ruhen  nicht  mehr  mit  einer  relativ  großen  Fläche  ihrer  Unterlage 
auf,  sondern  erheben  sich  über  deren  Ebene  beim  zylindrisch-prismatischen 
Epithel  oft  zu  recht  ansehnlichen  Höhen  (Fig.  26).  Sie  sind  nicht  einfach 
mit  ihren  Seitenflächen  aneinander  geklebt,  sondern  verfügen  noch  über  eine 
besondere  Kitteinrichtung,  die  sich  überall  da  auszubilden  scheint,  wo  es  sich 
um  festen  An-  und  Abschluß  von  Elementarteilchen  aneinander  handelt,  z.  B. 
auch  bei  den  obersten  Zellenlagen  des  vorhin  geschilderten ,, Übergangsepithels". 
Diese  Kittsubstanz  umrahmt  das  Oberende  einer  jeden  Zelle  mit  einem  festen, 
dichten,  aber  sehr  feinen  Leistchen  (Fig.  26).  Miteinander  bilden  sie  eine  Art 
Gitter  oder  Netz,  in  deren  Maschen  die  Zellenoberenden  fest  darin  stecken. 
Wenn  die  Form  der  Elemente  recht  regelmäßig  prismatisch  vieleckig  ist,  dann 


Fig.  26.    Schema  des  Prismen-  oder  Zylinderepithels. 
/  =  Zellenleib,  k  =  Kern  der  Zeilen,  .f  =  Schluß- 
leisten. 
(Nach  TouRNEAUx  aus  Stöhr.) 


Zylinderepithel 


67 


sieht  auch  das  Schlußleisten  netz  von   der  Fläche  her  wie  ein  zierliches  Schiußieisten. 
Drahtgitter  aus. 

Auch  hier  beim  kubischen  und  zylindrischen  Epithel  spielen  Häutchen- 
bildungen am  Zellenoberende  eine  wichtige  Rolle.  Säume,  aus  feinsten  Borsten 
oder  Härchen  gebildet,  die  im  Plasma  der  Zelle  stecken,  bedecken  die  Ober- 
fläche: zwischen  ihnen  scheinen  feine  Poren  die  Verbindung  der  Umwelt  mit 
den  Zellenräumen  zu  vermitteln.  Der  Darm,  die  Nierenzelle,  tragen  solche 
,,Cuticularsäume"in  schöner  Ausprägung:  oft  erscheinen  sie  auchganz  homogen. 

Diese  Zellenfortsätze  sind  in  sich  starr  und  unbeweglich,  wenn  sie  auch  viel- 
leicht unter  besonderen  Umständen  von  der  Zelle  aus  eingezogen  werden  können. 
Von  ihnen  unterscheiden  sich  die  beweglichen  Zellenhärchen  durch  ihr  lebhaftes 


Fig^.  27.  Haut  des  Mageiiraumes 
eines  Polypen,  nä  =  Nährzellen 
mit  Geißeln  (g).  sck/e^Sic\\\eim- 
zeUen,  zöo^Zooclilorellen,  kleine 
Algenzellen,  die  in  der  Wand  des 
Magens  dauernd  leben.  (Nach 
O.  Hertwig  aus  Schneider.) 


Fig.  28.  KragengeißelzeUen  aus  dem  Magen- 
kammerraum  eines  Schwammes  (Sycon  rapha- 
nus) :  die  Geißeln  ig)  sind  mit  einem  Basalkorn 
(hk)  versehen  und  haften  mit  einer  Geißelwurzel 
(^)  in  der  Zelle,  die  am  Oberende  einen  feinen 
kragenartigen  Fortsatz  [kr)  trägt,  k  =  Kern 
der  Zelle.     (Nach  K.  C.  Schneider.) 


Fig.  2g.  Nierenzelle  einer 
Salamanderlarve  mit  einer 
Geißel,  deren  Basis  nahe 
den  Zentren  der  Zelle  ge- 
legen ist. 
(Nach  Meves  aus  Heiden- 
hain.) 


nie  stillstehendes  Hin-  und  Herpendeln.  Sowohl  kubische  als  zylindrische  Epi-  FUmmerepithei. 
thelien,  in  einfacher  oder  geschichteter  Ausbildung,  kommen  in  der  Gestalt  von 
Flimmerepithelien  vor;  natürlich  trägt  in  den  mehrschichtigen  Formationen  nur 
die  äußere  Lage  allein  diesen  Wimpernbesatz.  Die  Aufgabe  dieser  Flimmerepi- 
thelien scheint  in  der  sorgfältigen  Reinhaltung  der  Epitheloberfläche  zu  bestehen : 
jedes  Staubkörnchen,  jeder  losgelöste  Zellentrümmer  wird  von  dem  Wimper- 
strome erfaßt,  mit  ziemlich  beträchtlicher  Schnelligkeit  davongetragen.  Solcher- 
lei Tätigkeit  dürfen  sie  in  den  Nasenwegen,  in  der  Luftröhre,  den  feinen  Ästen  der 
Luftwege  und  der  Lunge,  den  Bronchien  und  Bronchiolen  üben.  Außerdem  dienen 
sie  auch  zur  Fortbewegung  des  Wassers,  zur  steten  Erneuerung  der  umgebenden 
Flüssigkeit,  z.  B.  an  den  zarten  Kiemenblättern,  wie  sie  bei  den  Muscheln  vor- 
kommen, auf  der  Haut  der  Strudelwürmer  und  vieler  anderen  wirbellosen 
Tiere,  bei  denen  sie  den  Gaswechsel  in  dieser  Weise  fördern,  und  auch  zur  Er- 
regung der  Flüssigkeitsströmungen  überhaupt.  Man  hat  die  Beobachtung  ge- 
macht, daß  die  fadenförmigen  Samenzellen  stets  gegen  den  Strom  schwimmen: 
die  Flimmerepithelien,  die  man  in  den  weiblichen  Fortpflanzungsorganen,  in 
Gebärmutter  und  Eileiter  findet,  dürften  vielleicht  in  dieser  Art  den  Sper- 
mien den  Weg  weisen.  Nur  in  vereinzelten  Fällen  übernehmen  sie  die  Orts- 
bewegung des  gesamten  Tierorganismus:  bei  der  immerhin  nur  winzigen  Ge- 


68 


Heinrich  Poll:   Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


samtleistung  vermögen  sie  nur  kleine  Schwimmwesen,  Larven,  im  Wasser  zu 
erheben  und  zu  bewegen. 
Geißelepithel.  Gcißelepithelien,   die  auf  jeder  Zelle  nur  eine  (oder  ganz  wenige)  Haare 

tragen,  sind  in  den  Verdauungsorganen  niederer  Tierformen  weit  verbreitet, 
z.  B.  bei  den  Polypen.  (Fig.  27.)  Sie  sind  hier  ersichtlich  für  die  Aufnahme  der 
Nährstoffe  von  Bedeutung.  Zuweilen  stehen  die  Geißeln  wie  in  einem  Kelche 
von  einem  kragenartigen  Fortsatze  des  Elementes  umgeben,  wie  in  der  Nähr- 
kammer der  Schwammtiere:  man  nennt  diese  Formation  das  Kragengeißel- 
epithel (Fig.  28).  Fadenartige  Geißeln  entwickeln  auch  Epithelformen,  bei  denen 
schwerlich  an  die  Bewegung  von  Flüssigkeiten  gedacht  werden  kann:  chemisch 
tätige,  sekretorische  Elemente  z.  B.  in  Drüsenzellen,  sind  mit  solchen  Geißeln 
ausgestattet,  die  man  aber  sich  noch  nicht  bewegen  hat  sehen  können.  (Fig.  29.) 


Drüsenepithel.    >  > 


Bau  der  Drüsen. 


Fig.  30.     Drüsenzellen  {drz)  im  Epi-  Fig.  31.      Querschnitt  durch    eine  Darmzotte  des    Dünndarms  vom  Affen. 

thel  (e)  des  Darms  vom  Regenwurm.  lu  der  Mitte  die  aus  Bindegewebe  (b)  bestehende  ZeUmasse,  mit  Haargefaß- 

(Nach  K.  C.  Schneider.)  Durchschnitteu  tg).    Die   Achse    umhüllt   vom    einschichtigen   zylindrischen 

Epithel  {cg'i,  bedeckt  mit  dem  Oberh'äutchen  der  Cuticula  (c).    Zwischen  den 
Zylinderzellen  dunkle  Becher-  oder   Schleimzellen  (s).    Kerne  der   Epithel- 
zellen {k).    (Nach  R.  Krause.) 

Die  Hauptaufgabe  der  kubisch-zylindrischen  Epithelgruppe  liegt  nach 
der  chemischen  Seite  hin:  sie  sind  so  recht  das  Nährgewebe  des  Körpers. 
Sie  sind  es  auch,  die  die  zur  ,, Ernährung"  notwendigen  chemischen  und  phy- 
sikalischen Hilfsmittel  bereiten:  sie  sind  die  eigentlichen  Hauptdrüsenzellen 
des  tierischen  Organismus.  Schon  eine  einzelne  Zelle  im  Epithel  kann,  sofern 
sie  ihre  Stoifwechseltätigkeit  in  bestimmter  einseitiger  Art  ausgestaltet,  als 
Drüse"  funktionieren:  das  sind  dann  die  einzelligen  Drüsen,  die  bei  tierischen 
Organismen  sehr  verbreitet  sind.  Man  erkennt  sie  leicht  an  dem  abweichenden 
Zelleninhalte,  den  Granula,  die  sie  oft  führen,  den  Sekreten,  die  sie  im  Proto- 
plasma bereiten.  (Fig.  30.)  Häufig  fallen  sie  schon  durch  ihre  Form  auf,  wie 
z.  B.  die  ,, Becherzellen"  genannten  Schleimproduzenten  im  Darmepithel 
(Fig.  31),  die  Kolbenzellen  im  Hautepithel  vieler  Fische,  die  verschiedenartig- 
sten sezernierenden  Oberhautelemente  in  der  Epidermis  wirbelloser  Tiere.  Sehr 
oft  überschreiten  sie  auch  die  Grenzen  des  Epithels  und  wachsen  tief  in  die 
Unterlage  hinein.  (Fig.  32.) 

Ausgiebigere  Produktion  aber  wird  nur  dann  möglich,  wenn  besondere 
Epithelialgewebe,  ausschließlich  oder  ganz  vorzugsweise,  mit  der  Aufgabe,  Stoffe 
chemisch  herzustellen,   betraut  werden:  das  sind  die  mehrzelligen  oder  die 


Drüsen 


69 


Drüsen  im  eigentlichen  Sinne.   Alle  Übergänge  sind  hier  verwirklicht:  von  der  Entwicklung 
unmittelbaren  Nachbarschaft   des  Drüschens   zu  seinem  epithelialen  Mutter-  ^^^  ^''"^^"• 
boden  bis  zu  einer  so  beträchtlichen  Entfernung,    daß  jeder   organische  Zu- 
sammenhang ganz  oder  fast  ganz  aufgehoben  erscheint.    Mit  der  Ausschaltung 
aus  dem  Mutterboden,   dem  Epithelialverbande  der   Oberfiächendecke,   voll- 
ziehen sich  in  der  Drüse  Arbeitsteilungen,    die  zur  Ausbildung  zweier  Ab- 
schnitte  in   der   Drüse   führen:   beide   sind   ihrer  Tätigkeit   nach  und  ihrem 
geweblichen  Aufbau  sehr  verschieden.   Am  besten  erläutert  der  Entwicklungs- 
gang einer  Drüse  diese  Unterschiede.  Allesamt  entstehen  die  Drüsen  durch  Zellen- 
vermehrung des  Oberflächenepithels,  das  dann  einen  Buckel,  eine  Einsenkung 
in  die  Tiefe  des  darunter  liegenden  Gewebes  bildet.    Diese  Epithelsprossen 
wachsen  weiter,  verästeln  sich  an  ihren  Enden  und  liefern  so  einen  Epithel- 
gewebekörper, der  durch  einen  Zellenstrang  von  größerer  oder  geringerer  Dicke 
mit  der  Oberfläche  verbunden  bleibt.  Das  ganze 
System  ist  entweder  von  Anfang  an  hohl  oder 
höhlt  sich  jedenfalls  später  aus,  so  daß  im  In- 
nern  ein   verzweigtes  Kanalsystem    entsteht. 
Der  Kanal  des  Verbindungsstranges  dient  im 
wesentlichen  zur  Ausfuhr  der  gebildeten  che- 
mischen Produkte,  seine  Wand,  der  Ursprung-  ^.^^/^ 
liehe  Verbindungsstrang,  beteiligt  sich  nicht 
wesentlich  an  der  chemischen  Absonderungs- 
tätigkeit. Das  Epithel  des  Gewebekörpers  hin- 
gegen widmet  sich  gänzlich  dieser  Aufgabe  und 
entleert  seine  Abscheidungsstoffe  in  sein  Kanal- 
system hinein,  mit  dem  sie  sich  oft  durch  be- 
sondere Schaltröhrchen  in  Verbindung  setzen.    Drüsen  dieser  Art  heißen  ,, offene 
Drüsen",  weil  sie  durch  ihre  Ausführungswege  mit  den  Körperhohlräumen  oder 
mit  der  Außenwelt  in  direkter  offener  Verbindung  stehen.  Bei  anderen  sehr  wich- 
tigen Drüsenformen  bildet  sich  jener  Verbindungsstrang  mit  dem  Oberfiächen- 
epithel  zurück  oder  er  wird  auch  wohl  gar  nicht  erst  angelegt,  die  offene  Kom- 
munikation   mit  dem  Hohlräume   des    Organismus   oder   mit    der  Haut  des 
Körpers  schwindet:  diese  Drüsenart    heißt  man  ,, geschlossene  Drüsen"  oder 
Drüsen   ohne   Ausführungsgang.     Der   Drüsenkörper   besteht   dann    aus  ein-  Drüsen  ohne 
zelnen    hohlen  Drüsenbläschen  oder  aus  Balken  und  Strängen  von  Drüsen-  -"^"™°s^" 
elementen.    Sie  bedienen  sich  als  Exportweg  der  Blutgefäße  oder  der  Lymph- 
wege und  mischen  so  ihre  für  die  Existenz  des  Organismus  sehr  wichtigen  Stoffe 
den  Körpersäften  direkt  bei.    Beispiele  offener  Drüsen  sind  die  Mehrzahl  der 
Verdauungsdrüsen  der  Tiere,  die  man  als  Speicheldrüsen,  Mitteldarmdrüsen, 
Leber-,  Bauchspeicheldrüse  bezeichnet,  die  meisten  drüsigen  Abfallstoff-Aus- 
scheidungsorgane, wie  die  Nieren  oder  Exkretionsdrüsen,  die  Hautdrüsen,  fer- 
ner die  Geschlechtsdrüsen,  zumal  die  männlichen  Keimorgane  der  tierischen 
Organismen.    Geschlossene  Drüsen  sind  im  Reiche  der  Wirbeltiere  z.  B.  die 
lebenswichtige  Schilddrüse,  die  Nebenniere,  die  Unterhirndrüse. 


Fig.  32.     Einzellige  Drüse  oder  ScHeimzeUe 
(schlz)  aus  der  Oberhaut  des  Fußes  einer  Teich- 
muschel.     (Nach  K    C.  SCHNEIDKR.) 


gang. 


70 


Heinrich  Poll:   Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


Formen  der  Man  hat  in  der  Gewebelehre  auf  die  Formen  der  Drüsenkanälchen  für  die 

Drüsen.  Unterscheidung  der  Drüsenarten  Wert  gelegt  und  spricht  so  von  traubenför- 
migen,  von  schlauchförmigen,  von  bläschenförmigen  Drüsen.  (Fig.  33.)  Im 
Grunde  sind  indessen  diese  Differenzen  mehr  äußerlicher  Art,  es  kommt  auf 
das  Produkt  und  dessen  Bestimmung  an,  das  diese  chemischen  Organe  liefern. 
Bedeutsamer  ist  hingegen  die  Komplikation  des  Drüsenaufbaues.  Unver- 
zweigte Säckchen  oder  Schläuche  bilden  die  einfachen,  verzweigte  und  stark- 
verästelte die  höheren  Formen,  die  zusammengesetzten  Drüsen.  Diese  sind  es, 
die  die  mächtigen  Drüsengebilde,  z.  B.  eine  Leber,  eine  Niere  aufbauen. 

Das  Epithelialgewebe,  das,  zu- 


mal bei  intensiverer  Absonderungs- 
tätigkeit, einen  höchst  energischen 
Stoffwechsel  zeigt,  bedarf  einer  aus- 
giebigen Versorgung  mit  Nährsub- 
stanzen, einer  guten  Durchtränkung 
mit  den  Nährfiüssigkeiten  des  Kör- 
pers. Es  ist  eine  sehr  auffallende  und 
wichtige  Erscheinung,  daß  trotzdem 
niemals  Blut  unmittelbar  in  die  Epi- 
thelialverbände  eintritt:  kein  Epi- 
thel erhält  Blutgefäße.  Vielmehr  ist 
die  gesamte  Zufuhr,  Umfuhr  und  Ab- 
fuhr von  Stoffen  der  Gewebeflüssig- 
keit überlassen,  die  zwischen  den 
Zellen  zirkuliert.  Hierfür  sind  oft  be- 
sondere Räumchen  vorgesehen,  die 
als  haarfeine  Spältchen  und  kleine 
Lücken  zwischen  den  Epithelialele- 
menten  ausgespart  erscheinen,  wo 
sie  zu  dick  und  dicht  aneinander  lie- 
gen und  unmittelbar  von  den  Blut- 
gefäßen der  Unterlage  her  ernährt 


^^S-  33-      Schemata   von   Drüsenformen.      Die   Drüsen   sind 

plastisch   mit   einem   Stück   der   Oberfläche   dargestellt,    auf 

der  sie  ausmünden. 

(Nach  Raübek-Kopsch.) 


und  versorgt  werden.  Zumeist  aber  treten  die  Blutgefäße  dicht  und  unmittelbar 
an  die  Epithelialelemente  heran,  umspinnen  und  umspülen  die  sehr  energisch 
tätigen  Gewebe  dieser  Art  direkt  mit  ihrem  Flüssigkeitsstrom,  so  daß  auf  dem 
Wege  der  Diffusion  oder  Osmose  allen  Anforderungen  an  Zirkulation  genügt 
werden  kann.  Diese  Eigentümlichkeit  der  Epithelzellen  bedingt  es,  daß  kein 
Epithel,  kein  epitheliales  Organ  für  sich  allein  organisch  lebensfähig  ist.  Immer 
erscheint  es  und  muß  es  verbunden  bleiben  mit  einer  Unterlage,  einer  Stütze, 
die  für  die  Ernährung  der  Epithelelemente  Sorge  trägt. 

Die  Epithelien  und  alle  aus  Epithelien  gefügten  Formationen  grenzen  sich 
im  allgemeinen  scharf  gegen  die  anderen  Körpergewebe  ab.  Sie  bilden  zu  diesem 
Zwecke  an  den  Stellen,  an  denen  sie  mit  Geweben  anderer  Art  sich  vereinen, 
feinste  Membranen  aus,  die  ihnen  als  Stütze  oder  Basis  dienen.    Man  nennt 


Grundsubstanzgewebe  7 1 

sie  „Basalmembran"  oder  Grenzmembran.  Sie  sind  zwar  oft  nicht  ganz  deut- 
lich darzustellen,  mögen  auch  hier  und  da  von  Fasern  oder  Lücken  durchbrochen 
werden  und  verschwinden  können,  aber  in  der  Regel  ist  die  gewebliche  Grenze 
zwischen  Epithelformationen  und  ihrer  Umgebung  recht  scharf  und  deutlich, 
wenigstens  bei  den  höheren  Tieren.  Eine  undurchdringliche  Schranke  bilden 
die  Grenzhäutchen  indessen  nicht.  Sowohl  in  der  Norm,  als  auch  besonders 
bei  krankhaften  Verhältnissen  werden  die  Grenzschichten  durchgängig. 

Grundsubstanzgewebe. 

Die  Grundsubstanzgewebe  stehen  zu  den  Epithelformationen  in  denkbar  Grundsubstanz- 
schärfstem  Gegensatz  durch  die  Entwicklung  von  Zwischensubstanzen,  die  die       ^'''^^  ^' 
zelligen  Elemente  voneinander  trennen. 

Zwar  sind  sie  zuweilen  in  so  geringer  Menge  vorhanden,  daß  auf  diesen 
gestaltlichen  Unterschied  allein  sich  kein  sicheres  Kennzeichen  gründen  läßt: 
z.  B.  in  einzelnen  Knorpelarten  oder  im  Fettgewebe  oder  im  blasigen  Stütz- 
gewebe pressen  sich  die  Zellen  oft  ganz  enge  und  dicht  aneinander.  Es  fehlt 
indessen  allen  Grundsubstanzgeweben  an  der  regelmäßigen  Orientierung  der 
Zellen,  an  der  unterschiedlichen  Ausbildung  von  zwei  verschiedenen  Seiten 
der  Zelle,  oder,  wie  man  es  nennt,  an  der  ,, polaren  Differenzierung".  Ein 
Epithelgewebe  ist  nach  der  Oberfläche  hin  oder  nach  der  Seite  der  Blutgefäße 
grundsätzlich  anders  gestaltet,  als  nach  der  Seite  seiner  Unterlage,  an  seiner 
Basis.  Beim  Grundsubstanzgewebe  ist  das  nicht  der  Fall,  die  Gewebe  bilden 
in  sich  gleichartige  Massen.  Daß  unter  Umständen  an  einzelnen  Stellen,  z.  B. 
an  der  Grenze  zu  anderen  Geweben  hin,  epithelähnliche  Formationen  vor- 
kommen können,  d.  h.  eine  regelmäßige  Orientierung  der  Elemente,  tut  dem 
grundlegenden  Unterschiede  der  Gewebe  als  solchem  keinen  Eintrag. 

Als  biologische  Aufgabe  übernehmen  die  Grundsubstanzgewebe  vor-  Aufgaben  der 
nehmlich  die  Stütztätigkeit  im  Organismus.  Sie  bilden  die  formerhaltenden  "^'^gewebe!^"'^' 
Bausteine  in  der  Architektur  des  Tierkörpers.  Sie  liefern  ferner  auch  die  Hüll- 
bildungen um  andere  Organe,  die  Begrenzungen  der  einzelnen  Baubestandteile 
gegeneinander.  Sie  sind  es,  denen  der  Zusammenhalt  der  einzelnen  Organe, 
die  Bindung  der  Teile  zum  Ganzen  anvertraut  ist.  Ohne  sie  ist  kein  vielzelliger 
Tierorganismus  denkbar,  wenngleich  auf  den  niedersten  Stufen  tierischer  Or- 
ganisation die  Stützeinrichtungen  aus  Grundsubstanzgewebe  zuweilen  auf 
minimale  Mengen  beschränkt  erscheinen  (Stützlamelle  der  Polypen). 

Mit  dieser  mechanischen  Funktion  ist  aber  ihr  Tätigkeitsfeld  nicht  erschöpft. 
Die  Zellen  des  Grundsubstanzgewebes  können  sich  durch  Stoffwechsel-  und  durch 
Bewegungsarbeit  an  wichtigen  allgemeinen  Körperfunktionen  hervorragend  be- 
teiligen. So  leisten  die  Elemente  der  Körperflüssigkeit,  die  Blut-  und  Lymphzel- 
len, wichtige  Dienste  bei  der  Aufnahme  und  Abgabe  der  gasigen  Stoffwechselpro- 
dukte. Sie  führen  den  Geweben  den  Sauerstoff  zu  und  entlasten  sie  von  der  ge- 
bildeten Kohlensäure.  Andere  Zellen  führen  durch  die  Tätigkeit  ihres  Protoplas- 
mas sekretorische  oder  exkretorische  Arbeiten  aus.  Sie  bilden  nach  Art  von  Drü- 
senzellen in  ihrem  Körperinnern  Stoffe,  die  sich  oft  in  Körnchenform  erkennen 


72 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


lassen:  solche  Körnchenzellen,  granulierte  Zellen  kommen  ebenfalls  in  den  Blut- 
und  Lymphwegen  der  Wirbeltiere,  aber  auch  bei  den  Gliedertieren  als  sogenannte 
Oenozyten  vor.  Die  wichtigsten  Reservestoffbehälter  hefern  ebenfalls  Zellen  des 
Grundsubstanzgewebes:  Speicher  für  Kohlenhydrate,  z.B.  für  Glykogen,  und 
für  Fette,  z.  B.  für  Körperfett  und  für  Nervenölsubstanz  oder  Myelin. 

Die  Beschaffenheit  der  Grundsubstanzen  ist  im  großen  Reiche  der  Grund- 
substanzgewebe überaus  verschieden. 

In  ihrer  Konsistenz  schwankt  sie  von  der  Beweglichkeit  einer  vollkomme- 
nen Flüssigkeit,  wie  z.  B.  beim  Blute  und  der  Lymphe,  die  sich  als  verflüssigte 
Grundsubstanzen  auffassen  lassen,  bis  zur  Härte  des  Knochens  oder  der  Zähne. 
Beide  Extreme  sind  durch  alle  Übergangsstufen  miteinander  verbunden. 

^  B  Die    einfachste    und 

ursprünglichste  Art   von 

Grundsubstanzgewebe 
besitzt  eine  sehr  weiche, 
fast  flüssig  -  schleimige 
Zwischensubstanz,  etwa 
von  der  Konsistenz  einer 
sehr     weichen     Gallerte. 

Gaiiertgewebe.     '' ^ j^%J^\^^^^<^fS^     -^^^:^     ® Ji!>)//I^ &,®!^^^ —  Solchcs  Gallertgcwebe 

kommt    bei    den    Keim- 
lingen der  Tiere  als  Uran- 
lage  aller  Grundsubstanz- 
gewebe zur  Anlage :  in  die 
Gallerte,die  von  denZellen 
abgeschieden  wurde,  wandern  Zellen  aus   dem  Epithelialverbande  der  Keim- 
blätter hinein.  (Fig.34.)  Diese  Elemente  sind  oft  verästelt  und  hängen  mit  ihren 
Ausläufern  untereinander  zusammen.    Bei  niederen  Tieren,  bei  Geweben  von 
hohem  Wassergehalt  ist  diese  Gewebeformation  recht  verbreitet  (Schwämme, 
Medusen,  Würmer).  (Fig.  35.)   Bei  erwachsenen  höheren  Tieren  kommt  eine  Art 
Gallertgewebe  nur  im  Glaskörper  des  Auges  vor:  dieser  besteht  aus  einem  dich- 
ten Gewirr  feinster  Fäserchen,  die  aber  in  der  übergroßen  Masse  von  Gewebe- 
flüssigkeit so  verschwinden,  daß  sie  erst  vor  kurzer  Zeit  entdeckt  worden  sind. 
Das  echte  Gallertgewebe  kann  als  typischer  Vertreter  der  Grundgewebe 
mit  gleichartiger  oder  homogener  Zwischenzellsubstanz  gelten,  in  der  kei- 
nerlei Struktur  wahrnehmbar  oder  überhaupt  vorhanden  ist.    Hierhin  gehört 
die  überaus  seltsame  Grundsubstanz  in  dem  Mantel  der  Seescheiden  und  der 
übrigen  Manteltiere,  in  der  als  einziger  Ort  im  gesamten  Tierreich  die  für  die 
Pflanze  sonst  charakteristische  Zellulose  vorkommt.  Solche  Grundmasse  existier^, 
wenn  auch  in  oft  nur  sehr  spärlichem  Maße,  auch  dort,  wo  noch  andere  Zwischen- 
zellengebilde das  Gewebe  mit  aufbauen  helfen.    So  betten  sich  in  sie  die  Horn- 
fasern  der  Schwämme  ein,  die  diesem  festen  aber  elastischen,  nach  Abtötung 
aller  zelligen  Bestandteile  übrig  bleibenden  Filzwerke  ihrer  Zwischensubstanz 
die  Verwendung  im  Hausgebrauche  verdanken.   Auch  andere,  härtere  Skelett- 


Mdel         '   '    UD 

Fig.34.  Anlage  des  Stützgewebes  bei  einer  Stachelhäuter-Larve :  aus  dem  Epi- 
thelverbande der  Keimblasenlarve  (  A.)  und  Magendarmlarve  (B)  wandern  Zellen 
in  eine  gallertige  Grundsubstauz  («j  ein  (Mdel).  (Nach  Selenka  aus  Wkismasn.) 


Blut 


73 


keiten. 


teilchen  z.  B.  Kieselnadeln  und  Kalkkörperchen,  die  von  den  Zellen  der  Grund- 
masse abgeschieden  werden,  gesellen  sich  bei  den  Stachelhäutern  und  Kalk- 
schwämmen, sowie  bei  den  Kieselschwämmen  der  homogenen  Grundsubstanz  zu. 
Als    Grundsubstanzgewebe   mit   flüssiger    Interzellularmasse   können   die 
Körperflüssigkeiten  betrachtet  werden.    Bei  den  niederen  Tieren  strömt  im  Korperflüssig- 
Körperinnern  frei  zwischen  den  Geweben  eine  Flüssigkeit  von  wässriger  Be- 
schaffenheit, die  Eiweißstoffe  gelöst  und  nur  relativ  wenig  zellige  Elemente  auf- 
geschwemmt enthält.   Diese  Zellen  können  sich  zumeist  frei  bewegen,  nach  Art 
eines  Wechseltierchens,  einer  Amöbe.    Sie  können  sich  im  Zwischengewebe  fest- 
setzen,   dem    sie    auch    zumeist    ent- 
stammen, und  auch  wieder  auswan- 
dern   und    sich    der    Zirkulation  bei- 
mischen.     Die   Flüssigkeit,    mit   dem  - 
schlechten  Namen  Plasma  bezeichnet, 
besorgt  hier  die  Verteilung  der  gasigen 
und  flüssigen  Nährstoffe,    die  Abfuhr 
der  gelösten   und    gasförmigen  Stoff- 
wechselprodukte.   Auf  hohen  Stufen-^ 
der  Lebewelt  gewinnt  sie  unter  Um- 
ständen eine  abweichende  chemische 
Beschaffenheit:  Substanzen,  die  ihrer 
chemisch  -  physikalischen  Eigenschaft 
nach  besonders  befähigt  sind,  alsSauer- 
stoffüberträger  zu  wirken,  treten  auf, 
zumeist  als  gefärbte  Stoffe,  als  grün- 
liche,  bläuliche   oder  rötliche  ,, Blut- 
farbstoffe", wie  jene  bei  den  Krebs- 
tieren,  diese   bei  den  Würmern   vor- 
kommen.  Die  freie  Zirkulation  weicht  bei  den  höheren  Tierarten  einer  Umfuhr 
innerhalb  besonderer  Röhrensysteme,  der  Blutgefäße,  deren  Rohrnetz  zunächst 
noch  nicht  kontinuierlich,   später  aber  mit  Ausnahme  geringfügiger  Unter- 
brechungen einheitlich  in  sich  gegen  die  Körpergewebe  abgeschlossen  erscheint. 
An  einigen  oder  an  einer  Stelle  entwickelt  sich  ein  Motor,  das  Herz.  Die  zelligen 
Bestandteile  der  Blutflüssigkeiten  übernehmen  bei  dem  ,, Blute"  im  strengen 
Wortsinne  die  Ausbildung  der  Gaswechselstoffe  und  damit  die  Leistung  der 
Gasumfuhr  im  Körper,  während  dem  Blutplasma  wohl  zum  größten  Teile  die 
Umfuhr  der  übrigen  flüssigen  Nährstoffe  zufällt.    Die  zellulären  Blutgebilde  BiutzeUen. 
gewinnen  damit  die  lebenswichtigste  Bedeutung  im  Tierkörper.  Man  bezeichnet 
sie  nach  der  Farbe  des  Blutes  her,  die  sie  bedingen,  als  die  ,, roten"  Blutkörper- 
chen oder  die  ,, Erythrozyten",  wenngleich  sie  für  sich  allein  betrachtet,  nur  eine 
gelblich-grüne  Farbe  aufweisen.   Im  Blute,  auch  der  Wirbeltiere,  fehlen  indessen 
die  schon  in  der  Körperflüssigkeit  der  Wirbellosen  vorhandenen  beweglichen 
Elemente  nicht:  sie  sind  farblos  und  ganz  durchsichtig  und  tragen  den  schlech- 
ten Namen  der  ,, weißen",  besser  der  ,, farblosen"  Blutelemente.   Sie  kommen  in 


^^S-  35-     Gallertgewebe  von  einem  Kieselschwamm.  Ver-     ,    r    u      tr 
ästelte    ZeUen    (s),    mit    ihren    Ausläufern    oft    zusammen- ^^^^° 
hängend,  durchziehen  eine  gallertige  Grundsubstanz,  ezz  = 
eine  Eizelle.     (Nach  K.  C.  Schneider.) 


74 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


Farblose  Blut- 
zellen. 


Rote  Blutzellen. 


recht  verschiedenen  Modifikationen  vor,  sind  in  der  Lymphe  allein  vorhanden 
und  ihre  vorwiegend  chemische  Tätigkeit  kommt  oft  durch  die  Verschiedenartig- 
keit der  Körnchen  oder  Granula  in  ihrem  Zellenleibe  zum  Ausdruck.  (Fig.  36.) 
Allesamt  besitzen  sie  einen  Kern,  teils  von  der  gewöhnlichen  rundlichen 
Gestalt,  teils  auch  von  sehr  bizarrer,  wurst-  oder  brockenartiger  Form.  Sie  ver- 
mehren sich  zuweilen  im  strömenden  Blute  durch  Teilung,  ihrer  Hauptmasse  nach 
aber  stammen  sie  ebenso  wie  die  Erythrozyten,  aus  besonderen  Brutstätten,  den 

,,lymphoiden"  oder  , , ade- 
noiden" Organen  des  Tier- 
körpers, den  Lymphknoten, 
der  inneren  Brustdrüse  oder 
Thymus  einerseits,  dem  Kno- 
chenmark, der  Milz  anderer- 
seits, oder  noch  anderen  Or- 
ganen. 

Die  roten  Blutzellen  haben 
bei  den  Säugetieren  und  da- 
her  auch   bei   den  Menschen 
^Mie  ganz  besondere  Eigenart, 

frühzeitig    nach    ihrer    Ent- 
n  ° 

stehung  denKern  zu  verlieren, 

den  sie  bei  allen  übrigen 
Wirbeltieren  besitzen.  Siebe- 
stehen nur  noch  aus  einer 
Hülle,  aus  einem  feinen 
Schaumwerk,  das  den  Zellen- 

Fig.  36.      Zellenformen    des    Blutes    vom    Menschen:     ^,  ^'  rote  Blut-  leib  durchzicht,  Uud  dcm  rOtCU 
körperclien   oder   Erythrozyten,   von   der   Fläche    und   von   der  Kante 

gesehen,   in  der  Gestalt  bikonkaver  Scheibchen,   «  dieselben  in  ihrer  Blutf arbstoff      oder      ,,HämO- 

natürlichen  Napfform.     Bei  g  sind  sie  zu   den    sogenannten  Geldrollen  1      u  '      "     J         '       A          C    V. 

aufgereiht,  n,  m,  a,  gl,  l:  verschiedene  Formen  der  farblosen  Blutzellen:  gl  O  b  m     ,  ClaS  lU  dCn  oCnaUm- 

«  eine  feinkörnige  (neutrophile),  weine  grobkörnige  (barophile),  «eine  masrhfn    aufpesauft    ist 

grobkörnige    (acidopbile)    Zelle,    alle    drei    mit   Kömcheneinschlüssen  °              ° 

verschiedener  Farbreaktion    (Leukozyten),    /  und  gl  kleine    und  große  Ihre   GrÖßc    SChwaukt    Ct- 

ungekömte  Zellenformen   (Lymphozyten),      i  Blutplättchen  oder  Throm-  .                        v        i_      •         u          ■■     t 

bozyten.        (Teilweise     nach    Szymonowicz- Krause,    Rauber-Kopsch  WaS,  im  JJurCnSCunitt   beträgt 

und  R.  Krause.)  ^-^    ^^^^     ^^^^^^     TaUSCndstcl 

Millimeter.  Ihre  Zahl  beträgt  in  der  Norm  beim  Manne  etwa  5  Millionen, 
beim  Weibe  4V2  Millionen  im  Kubikmillimeter  Blut.  Geringe  Zahl  der  roten 
Blutkörperchen  oder  unzulänglicher  Hämoglobingehalt  läßt  das  Blut  dünn, 
bleich  oder  wässrig  erscheinen  und  stellt  zusammen  mit  der  Vermehrung  der 
farblosen  Blutelemente  schwere  Störungen  des  tierischen  oder  menschlichen 
Organismus  dar.  Zu  den  farblosen  Blutzellen  gehören  die  kleinsten  Bauelemente 
Blutplättchen,  des  Körpcrs,  die  ,, Blutplättchen"  mit  ihren  zwei  bis  drei  Tausendstel  großen 
Zellkörpern.  Sie  scheinen  bei  der  Gerinnung  des  Blutes  eine  bedeutsame  Rolle 
zu  spielen.  Als  körperliche  Blutbestandteile  nichtzelliger  Natur  kommen  noch 
feinste  Fetttröpfchen  und  die  Blutstäubchen  in  Betracht,  deren  Wesen  noch 
nicht  genügend  erkannt  ist. 


Fasriges  Grundsubstanzgewebe 


75 


Kollagene 
Fasern. 


Die  wichtigste  und  verbreitetste  Interzellularsubstanz,  die  von  Zellen  her-  Bindef,-.sern. 
gestellt  oder  später  auch  auf  eigene  Kosten  wachsend  und  sich  vermehrend,  in 
die  weiche  Grundmasse  eingeschlossen  wird,  sind  fasrige  Gebilde:  das  Faser- 
gewebe oder  fasrige  Grundsubstanzgewebe  beherrscht  im  allgemeinen 
im  weitaus  größten  Umfange  die  Architektonik  der  Stützeinrichtungen.  Sie 
durchziehen  die  zarte  Schleimgallerte  der  Medusen  ebenso  wie  das  Elfenbein 
des  Elefantenzahnes,  sie  übertragen  als  derbste  und  widerstandsfähigste  Bänder 
und  Seile  den  Muskelzug  auf  die  Knochen  des  Skeletts  ebenso  wie  sie  als  feinstes 
und  weichstes  Polster  Hirn  und  Rückenmark  umhüllen.  Fasern  des  verschie- 
densten Kalibers,  der 
abweichendsten  Ver- 
bindungsweise, der  dif- 
ferentesten  chemischen 
Natur  kommen  hier  zur 
Ausbildung  und  Ver- 
wendung. 

Man  trennt  die  Fa- 
sern nach  der  chemi- 
schen Seite  hin  in  sol- 
che, die  beim  Kochen 
Leim  geben:  die  kol- 
lagenen  Fasern.  Fein- 
ste Fibrillen,  zu  Bün- 
delchen gröberer  und 
feinerer  Art  geordnet, 
bilden  das  typische  Bin- 
degewebe der  Wirbel- 
tiere und  vieler  Wirbel- 
loser. Durchfiechten  sie 
sich  locker,  in  allen  Richtungen  des  Raumes  durcheinandergewoben,  so  ent- 
steht das  ,, lockere"  Bindegewebe  (Fig.  37);  ordnen  sie  sich  straff  und  parallel 
fest  nebeneinander,  so  bilden  sie  als  ,, geformtes"  Bindegewebe  die  festen 
Sehnen  (Fig.  38),  in  Lamellen  zusammengepreßt  die  harte,  äußere,  weiche 
Augenhaut,  die  den  Augapfel  umhüllt. 

Bindefasern  anderer  chemischer  Beschaffenheit  sind  die  elastischen  EiasUscUe 
Fasern,  die  als  feinste  netzförmig  verbundene  Fibrillen  sich  dem  gewöhnlichen 
Bindegewebe,  z.  B.  dem  leichtverschieblichen  Unterhautgewebe  beimischen,  an 
anderen  Stellen  des  Organismus  aber  sehr  dicke  derbe  Stäbe  ausbilden  können. 
Das  gewaltige  Gewicht  eines  Säugetierkopfes  —  man  denke  an  den  eines  Ele- 
fanten oder  Rhinozeros  —  wird  wesentlich  mitgetragen  von  dem  mächtigen 
Nackenbande,  das  fast  ganz  aus  elastischen  Fasern  besteht.  Diese  elastischen 
Massen  stechen  durch  ihr  fahlgelbes  Aussehen  von  dem  blau-weißen  Atlas- 
glanze  der  kollagenen  Bildungen  sehr  stark  ab.  In  den  Blutgefäßen,  beson- 
ders den  großen  Schlagadern,  die,  bei  jedem  Herzschlage  durch  die  Pulsblut- 


Fig.  37.  Lockeres  Bindegewebe  von  der  Ratte.  Breite  Bündelchen  kollagener 
Fibrillen  [kf]  durchkreuzen  sich,  untermischt  mit  feinen,  sich  verzweigenden 
elastischen  Fasern  {el) ;  in  dem  Fasergewirr  liegen  Zellen  mit  zarten,  feinen 
Körpern,  die  gewöhnlichen  Bindegewebezellen  (bz),  daneben  Zellen  mit  be- 
sonderen Körncheneinschlüssen,  Mastzellen  [m)  und  Clasmatozyten  [c)  oder  Zer- 
fallzellen, die  sich  zerschuüren  und  wieder  neu  bilden  können.  Außerdem  liegen 
Wanderzellen  (iv)  im  Gewebe.     (Nach  Rauber-Kopsch.) 


Ibg    sfb      sz 


Fig.  38.  Stück  des  Querschnittes  einer  Sehne 
vom  Menschen.  Von  einer  SehuenhüUhaut 
(Peritenonium,/)  umschlossen,  liegen  eng  neben- 
einander die  Bündel  von  Sehneufasern  (sfb) 
mit  den  Sehnenzellen  (sz),  in  Bündel  zusammen- 
gefaßt und  geordnet  durch  feine  Scheidewände 
von  lockerem  Bindegewebe  (Ibg).  (Nach  Stöhr.) 


Fig.  40.  Retikuläres  Fasergewebe  aus  dem  Lymphknoten 
einer  Katze.  In  dem  Plasmaleibe  (/)  der  Zellen  liegen  die 
Kerne  (k)  und  die  Fasern  (f).  Die  Lymphkörperchen,  die 
die  Maschen  des  Netzes  dicht  erfüllen  und  das  Netz  selbst 
fast  ganz  verdecken,  sind  entfernt.     (Nach  Heidenhain.) 


s—^ 


Fig.  3Q.    Eine  gefensterte  Membran  von 
der    Herzinnenhaut    des    Menschen     aus 

elastischen  Netzen  gebildet.  (Nach  Stöhr.\ 


F  i  g.  42.  Schnitt  durch  den  Glas- 
knorpel oder  hyalinen  Knorpel 
vom  Kehlkopf  der  Katze.  In  der 
glasartig  durchsichtigen,  homo- 
genen Grundsubstanz  (g\  liegen 
in  Gruppen  die  Knorpelzellen  (z) 
in  den  Knorpelhöhlen  (h),  die  von 
etwas  andersartig  beschaffener 
Grundsubstanz,  der  Knorpel- 
kapsel \k),  umschlossen  werden. 
(Nach  Szymonowicz-Krause.) 


Fi 


fiiiiiiP' 

durch  Faser- 


Fig.  41-     Schnitt   durch  Fettgewebe   vom  Menschen.     Die    Fett-    oder  Öl- 
zellen  sind  zum  Teil  (dj)  mitten  durchschnitten,  zum  Teil  nur  tangential  ange- 
schnitten (/■).   k  =  Kern  emer  Fettzelle,  b  =  lockeres  Bindegewebe  zwischen 
den  Fettzellen.     (Nach  R.\uber-Kopsch.\ 


43.  Schnitt 
knorpel  aus  der  Zwischenwirbel- 
bandscheibe vom  Menschen. 
Im  fibrillären  Gewebe  (f)  liegen 
die  KnorpelgTundsubstanz  (k)  um 
die  Knorpelzellen  (z)  herum. 
(Nach  Raubek-Kopsch.) 


Retikuläres  Gewebe.     Knorpelgewebe  77 

welle  ausgedehnt,  stets  wieder  zu  ihrem  ursprünglichen  Kaliber  zurückkehren, 
sind  solche  elastischen  Netze  zu  großen  elastischen  Platten,  den  sogenannten 
gefensterten  Häuten  (Fig.  39),  ausgestaltet:  die  Netzmaschen  sind  klein  und 
unscheinbar,  zu  den  Fenstern,  die  Netzfasern  zu  breiten  Strängen  geworden, 
die  die  Löcher  umsäumen. 

Eine  besondere  Stelle  nehmen  die  Netzfasern  oder  das  retikuläre  Fa- Ketikuiäres 
sergewebe  (Fig.  40)  im  Körper  der  höheren  Tiere  ein,  Sie  entstehen  aus  Zellen, 
die  netzförmig  miteinander  in  Verbindung  stehen,  später  aber  schwinden,  so  daß 
nur  ein  feines,  dichtes  Schwammwerk  übrig  bleibt.  Diese  Form  des  Stützgewe- 
bes beschränkt  sich  auf  die  überaus  wichtigen  Organe  des  Blutlymphgewebes,  Lymphoides 
das  man  als  lymphoide  oder  als  adenoide  Substanz  bezeichnet,  und  die  die 
Lymphknoten,  die  Milz,  das  Knochenmark  und  noch  andere  Teile  des  Blut  und 
Lymphe  liefernden  Organsystems  aufbaut.  Sein  wichtigster  Bestandteil  sind 
die  kleinen  Zellen,  die  in  ungeheurer  Zahl  die  Maschenräume  des  Netzes 
erfüllen,  dieses  selbst  ganz  verdecken  und  denen  die  eigenthche  Leistung  zufällt, 
die  Körpersäfte  mit  zelligen  Bestandteilen  zu  versorgen. 

Spielen  im  retikulären  Fasergewebe  die  zelligen  Baubestandteile  die  Haupt- 
rolle, so  fehlen  sie  doch  auch  den  übrigen  Fasergeweben  keineswegs:  überall, 
auch  im  derbsten  und  straffsten  Bindegewebe,  im  lockeren,  im  gallertartig-  Bindezeilen, 
fasrigen  Bindegewebe  liegen  teils  bewegliche,  teils  feste  oder  ,,fixe"  Zellenele- 
mente. In  einigen  Gewebeformen  z.  B.  im  Fettgewebe  und  im  Pigmentgewebe 
drängen  besonders  gestaltete,  mit  eigenartiger  Leistung  betraute  Zellensorten 
die  übrigen  Gewebeteile  weit  in  den  Hintergrund.  Die  großen  glänzenden  01- 
zellen  (Fig.  41)  des  Fettgewebes,  das  sich  in  Trauben  oder  Strängen,  oft  längs  i-'ettgewebe. 
der  Blutgefäße,  ansiedelt,  pressen  sich  oft  derart  eng  aneinander,  daß  von  den 
Gerüstbestandteilen  fast  gar  nichts  mehr  zu  sehen  ist. 

Die  Fasergewebe  werden  nicht  selten  durch  Einlagerung  von  anderen 
Substanzen  ihres  ursprünglichen  Charakters  nach  Aussehen  und  Leistung  mehr 
oder  weniger  entkleidet.  Zuweilen  ist  der  fasrige  Grundbau  noch  wohl  erkenn- 
bar. Beim  Lanzettfischchen  kann  man  in  Kiemenstäben  und  in  den  Tentakeln 
weiche  Gebilde  vorfinden,  die  aus  veränderten  Bindelibrillen  eng  zusammen- 
gepreßt aufgebaut  werden.  In  anderen  Fällen  maskieren  chemische  Substanzen, 
die  durch  die  Tätigkeit  der  Zellen,  durch  Umbildung  ihrer  Leibessubstanz  ent- 
stehen, die  fibrilläre  Zusammensetzung  der  Grundsubstanz,  z.  B.  im  Knorpel-  Knorpelgewebe, 
g e  w  e  b  e.  Eine  besondere  Masse,  Knorpelschleim  oder  Chondromukoid  genannt, 
verleiht  der  gesamten  Grundsubstanz  einen  durchaus  homogenen  glasigen  oder 
,, hyalinen"  Charakter.  (Fig.  42.)  Die  Zellen,  bei  den  Tintenfischen  sternförmig, 
bei  den  Wirbellosen  rundlich,  liegen  in  Höhlen  der  Knorpelgrundsubstanz,  die 
sie  gänzlich  erfüllen  und  enthalten  Fett  und  Glycogen.  Die  Knorpelhöhle  un- 
mittelbar umschließt  eine  festere,  dichtere  Substanz,  die  Knorpelkapsel.  Zwi- 
schen den  Knorpelkapseln  erstreckt  sich  die  Hauptmasse  des  Knorpelgewebes 
als  einheitliche  Masse.  Der  Knorpel  dient  mit  seiner  sehr  elastischen  fest-weichen 
Konsistenz  als  Überzug  der  in  einem  Gelenke  zusammengefügten  Knochen- 
enden; der  Kehlkopf,  die  Luftröhrenwege,  die  Rippenenden  setzen  sich  aus 


yg  Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

solchem  Gewebe  zusammen.  Bei  niederen  Tieren  und  bei  den  Jugendstadien 
der  höheren  beteiligt  er  sich  in  hervorragendem  Maße  am  Aufbau  des  Skeletts. 
Die  Knorpelfische,  die  Haie  und  Rochen,  die  Tintenfische  benutzen  gar  keine 
andere  Skelettsubstanz  als  den  Knorpel.  Die  aus  Knorpelgewebe  gebildeten 
Organstücke  entbehren  der  Blutgefäße.  Ihre  Ernährung  scheinen  sie  auf  dem 
Wege  der  Saftzirkulation  zu  besorgen,  von  deren  geweblicher  Anordnung  aber 
sicheres  noch  nicht  bekannt  ist.  Abgegrenzt  und  zu  Stücken  bestimmter  Form 
ausgestaltet  werden  die  Knorpelpartien  durch  eine  besondere  Haut  aus  derbe- 
Knorpei-rem  Bindegewebe,  die  Knorpeloberhaut  oder  das  Perichondrium. 
Oberhaut.  j-^^^  Knorpclgcwcbe  durchmischt  sich  in  einigen  Abarten  mit  unmaskierten 

Fasergebilden  aus  der  Fasergewebegruppe.    So  lagert  der  elastische  Knorpel 
oder  Netzknorpel  elastische  Fasernetze  in  seine  hyaline  Grundsubstanz  an, 

z.  B.  am  Ohrknorpel;  so  durchwachsen  gewöhn- 
liche nicht  maskierte  kollagene  Fasern  den  Binde- 
gewebeknorpel oder  Faserknorpel  (Fig.  43) 
schlechthin,  wie  er  an  Stellen  entsteht,  wo  Binde- 
gewebe und  Knorpel  aneinandergrenzen  und  sich 
durchdringen,  an  Sehnen-  und  Bänderansätzen 
am  Knorpel,  an  den  Bandscheiben,  die  die  Wirbel 
//  zur  Wirbelsäule  zusammenfügen. 

Fasrigen  Aufbau  der Zwischenzellsubstanz  mit 
Eig.  44.  Unterkieferknochen  vom  Men-    Weitgehenden  chemischcn  Umwandlungen  weist 

sehen.       Knochenhöhlen    oder    Knochen-         ,  •    i   j  ■        ,       oi      i     ■  i  i  i        -vtt-    i      i,  •  i 

lakunen  mit  ihren  Fortsätzen,  den  Knochen-       OaS  WlChtlgStC  SkelcttgeWebC  dcr  WirbcltlCrC,  daS 

Knochen-  ^^d ^^'^^1'^^''° (^)' ^^^ ^'^"-^^i"^^«"«" f "^^'^^'f .'^ ^    Knochengcwebc,  auf,  an  dessen  Bauplan  sich 

Zahnhein-       ^J  '^'°"  Flache,  lg  im  Querschnitt,  //im  o  i  •  i 

gewebe.        Längsschnitt,  eingebettet  in  die  Knochen-      dlc  ZahnbcinSubstaUZ  CngC  anSChlicßt.   Beide 
grundsubstanz '^K  (Verändert  nach  SxÖHR.t       ^^  ,        ,  ,  .,  __  , 

Hartgewebe  bestehen  ihrer  Hauptmasse  nach  aus 
Straff  nebeneinanderliegenden,  in  bestimmten  Richtungen  verlaufenden,  leim- 
gebenden Fasern,  die  durch  eine  Zwischenfibrillenmasse,  eine  Kittsubstanz,  zu 
einer  einheitlichen  Grundmasse  verbunden  erscheinen.  Sie  verdankt  ihre  beson- 
deren physikalischen  Eigenschaften,  ihre  Festigkeit  und  Härte,  der  Einlagerung 
von  Kalksalzen,  der  Knochenerde,  die  im  wesentlichen  aus  kohlensaurem  und  aus 
phosphorsaurem  Kalk  besteht.  Man  kann  diese  Knochensalze  durch  Glühen  der 
Knochen,  das  sogenannte  Kalzinieren,  für  sich  allein  darstellen,  dabei  wird  alle 
organische  Substanz  zerstört,  die  Form  der  Knochen  aber  im  wesentlichen  er- 
halten :  nur  sind  diese  kalzinierten  Knochen  ganz  bröckelig  und  brüchig  und  zer- 
fallen bei  unsanfter  Berührung  zu  einem  Knochenpulver.  Es  fehlt  eben  in  dem 
geglühten  Knochengewebe  die  organische  Grundsubstanz,  die  dem  ganzen  Ge- 
Knochen-   füge    Festigkeit    und    Zusammenhalt    verleiht.     Auch    diese    Grundsubstanz, 

gruadsubstanz.  ,-^  ■  i     r>         •  •  i  r 

Ossein  genannt,  läßt  sich  rem  erhalten;  man  kann  dem  Knochengewebe  durch 
Einwirkung  von  starken  Säuren,  z.  B.  von  Salzsäure  oder  Salpetersäure,  die 
Kalksalze  entziehen,  ein  Verfahren,  dessen  man  sich  sehr  häufig  mit  Nutzen  für 
die  Untersuchung  des  Knochengewebes  im  gesunden  und  kranken  Zustande  be- 
dienen kann.  Bei  diesem  Prozesse  der ,, Entkalkung"  bleibt  eine  biegsame  weiche 
Knochenknorpel.  Massc  Übrig,  dcr  f  älschlich  sogenannte  Knochenknorpel,  auch  wieder  genau  in 


Knochen-  und  Zahnbeingewebe 


79 


der  Form  des  ursprünglich  verwandten  Knochens.  Nur  kann  man  diesen  entkalk- 
ten Knochen  mit  dem  Messer  schneiden,  man  kann  z.  B.  ein  menschliches  Ober- 
armbein zu  einemRinge  zusammenbiegen  und  ihm  nachher  wieder  seine  ursprüng- 
liche Gestalt  zurückgeben.  Ossein  und  natürlich  auch  der  ganze  Knochen  liefert, 
wie  alle  Bindefasergewebe,  beim  Kochen  Leim,  den  bekannten  Knochenleim. 
Zu  dem  geweblichen  Aufbau  des  Knochens  gehören  außer  den  Knochen- 
fibrillen  und  der  Kittsubstanz  noch  die  Knochenzellen.  (Fig.  44.)  Sie  liegen  Knocheazeiien. 
in   der  verkalkten 

Grundmasse  in 
platten,  etwa  lin- 
senförmigen Hohl- 
räumchen —  den 
Knochenhöhlen  — 
und  entsenden  von 
ihrem  Umfange 
aus  strahlenförmig 
zarte  Ausläufer  in 
feinste  Kanälchen 
hinein,  die  vom 
Rande  der  Kno- 
chenhöhlen aus- 
gehen und  die 
einzelnen  Hohl- 
räume miteinan- 
der in  Verbindung 
setzen.  Dieses  Sy- 
stem der  ,,Canali- 
culi"  und  ,,Lacu- 
der 


nae   ossmm 


Fig.  45.  Zahnbeingewebe  des 
menschliclien  Eckzahnes  im 
mikroskopischen  Dünnschlifif. 
Zahnbeinröhrchen  (/-)  durch- 
ziehen die  Grundsubstanz,  das 
Dentin  {d),  und  enden  nahe 
dein  Schmelz  {s)  mit  feinsten 
Ausläufern.  Ein  unverkalkter 
Hohlraum  (Interglobularraum 
i'S')  ist  zum  Teil  angeschliffen. 
(Nach  SzymonowiC/C-Krause.) 


Fig.  46.  Teil  eines  Querschliffes  eines  menschli- 
chen Mittelfußknochens :  HaversschenKuochen- 
säulchen  {///),  die  Haversschen  Kanäle  (/Ä), 
konzentrisch  mit  ihren  Lamellen  umschichtend ; 
GrundlameUenschichten  (G/),  dem  Umfange 
der  Kuochenhöhle  entsprechend  geschichtet ; 
SchaltlameUen  {S/},  die  Zwischenräume  aus- 
füllend.    (Nach  Szymonowicz-Krause.) 


gewebe. 


Knochenkanäl- 
chen  und  Knochenhöhlchen,  bietet  auf  einem  Dünnschliffe  durch  einen  Knochen 
ein  überaus  zierliches  Gefüge  dar:  solches  einfaches  Knochengewebe  findet  sich 
z.  B.  am  Zahn  unterhalb  der  Zahnkrone,  als  sogenanntes  Zahnzement. 

Im  Zahnbeingewebe  (Fig.  45),  aus  dem  —  abgesehen  vom  Schmelzüber-  Zahnbein- 
zug  —  die  Krone  und  die  gesamte  Zahnwurzel  sich  aufbaut,  fehlen  die  Zellen 
und  die  Zellenräume;  Fibrillen,  Kittsubstanz  und  Verkalkung  verhalten  sich 
genau  wie  im  Knochengewebe.  Nur  ist  das  Zahnbeingewebe  von  feinen  Röhr- 
chen, den  Zahnbeinröhrchen,  durchzogen,  in  die  von  Zellen  an  der  Oberfläche 
der  Wurzelhöhle  her  Fasern,  die  Zahnbeinfasern,  eintreten.  Unter  der  äußeren 
Zahnoberfläche  bleiben  einzelne  Stellen  des  Zahnbeingewebes  unverkalkt, 
die  sich  auf  dem  Dünnschliff  durch  einen  Zahn  als  Hohlräume  {ig)  abzeichnen. 

Zahnbein-  und  Knochengewebe  passen  sich  in  überaus  interessanter  Weise 
den  mechanischen  Aufgaben  an,  die  sie  beim  Aufbau  der  aus  ihnen  bestehenden 
Organe  im  Körper  zu  erfüllen  haben. 


3o  Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

Bau  der  Hart-  Dic  Knochcii  sind,  vom  Standpunkte  der  Leistung  betrachtet,  Organe,  die 

gewebe.  ^^£  ^yg  und  Druck  beansprucht  werden.  Das  Knochengewebe  fügt  sich,  um 
einen  Knochen  aufzubauen,  zu  einzelnen  Säulen  zusammen,  deren  Seele  ein  Blut- 
gefäß bildet.  Dieses  Blutgefäß  verläuft  im  zentralen  Kanal  der  Säule,  der  nach 
ihrem  ersten  genauen  Untersucher  Haversscher  Kanal  genannt  wird.  (Fig.  46.) 
Um  diesen  Kanal  herum  schichten  sich  Knochengewebelamellen  konzentrisch 
auf.  Zwischen  zwei  Lamellen  schiebt  sich  je  eine  Lage  von  Knochenzellen  ein. 
In  jeder  Lamelle  ziehen  alle  Knochenfibrillen  parallel  miteinander  dahin,  und 
zwar  ringelt  sich  der  Faserverlauf  in  jeder  Schicht  schraubenförmig  um  die 
Achse  des  ganzen  Systems,  die  Schraubengänge  aber  laufen  in  je  zwei  Nach- 
barschichten abwechselnd  in  der  einen  rechts  herum,  und  in  der  nächsten  links 
herum  usf.  Diesen  Fibrillenverlauf  kann  man  außerordentlich  leicht  bei  der 
Anwendung  des  polarisierten  Lichtes  studieren,  da  die  Bindegewebsfibrillen 
das  Licht  doppelt  brechen  und  zwar  in  verschiedener  Weise,  je  nachdem  die 
Lichtstrahlen  sie  längs  oder  quer  oder  schief  treffen.  Bei  Knochenteilen,  die  star- 
kem Zug  ausgesetzt  sind,  stehen  die  Fibrillenverläufe  in  zwei  Nachbarlamellen 
sehr  schief  zueinander.  Denkt  man  sich  einen  solchen  Zug  wirksam,  so  pressen 
sich  rechts  und  links,  also  im  entgegengesetzten  Sinne  gewundene  Schrauben 
enge  aneinander  und  verleihen  der  ganzen  Lamellensäule  eine  hohe  Zugfestig- 
keit. Bei  Knochenteilen,  die  einen  starken  Druck  aushalten  müssen,  laufen  die 
Knochenfibrillen  in  Nachbarlamellen  fast  ganz  parallel  und  werden  dadurch 
um  so  fester  aneinandergepreßt.  Ändert  sich  bei  einem  geheilten  Knochen- 
bruch, z.  B.  die  mechanische  Beanspruchung  eines  Knochens,  so  baut  sich  in 
überraschend  kurzer  Zeit  das  Knochengewebe  innerlich  entsprechend  der  Neu- 
verteilung der  Aufgaben  um.  Der  Knochen,  dieses  feste  und  derbe  Organ,  dem 
man  ohne  weiteres  nur  einen  geringen  Anteil  an  den  lebendigen  Tätigkeiten  des 
Organismus  zuschreiben  möchte,  ist  in  Wirklichkeit  eins  der  regsamsten  Ge- 
webe im  gesamten  Tierorganismus. 

Die  Zwischenräume  dieser  Haversschen  Säulensysteme  werden  durch  un- 
vollkommen ausgestaltete  Lamellensäulchen,  die  Schaltlamellensysteme,  aus- 
gefüllt, und  an  der  äußeren  und  inneren  Oberfläche  des  Knochens  laufen  des 
weiteren  konzentrisch  geschichtete  Lamellenreihen,  die  der  äußeren  und  inne- 
ren Fläche  parallel  gehen,  und  die  die  Gesamtmasse  der  inneren  Knochen- 
lamellen zwischen  sich  fassen. 

Das  Muskelgewebe. 
Muskelgewebe.  Das  Bcwegungsgewcbe,  in  dessen  Gefüge  sich  alle  Elemente  vereinigen, 

die  mit  kontraktilen,  der  Zusammenziehung  fähigen  Fäserchen  ausgerüstet  sind, 
kommt  in  zwei  verschiedenen  Ausgestaltungen  von  abweichendem  Aussehen 
und  von  differenter  Leistung  im  Organismus  vor,  je  nachdem  sich  glatte  oder 
quergestreifte  Muskelelemente  zum  Gewebeverband  verbinden. 

Das  glatte  Muskelgewebe  wird  bei  den  wirbellosen  Tieren  in  weiter  Ver- 
breitung angetroffen,  bei  den  Wirbeltieren  beherrscht  es  die  Bewegungen  der 
Eingeweide,  der  Gefäße,  im  großen  ganzen  der  Innenorgane  des  Tierkörpers;  es 


Muskelgewebe  8 1 

trug  daher  früher  auch  den  Namen  der  organischen  Muskulatur.  Sie  ist  dem 
Einfluß  des  Willens  entzogen:  niemand  vermag  den  Darm  oder  den  Magen  oder 
eine  Schlagader  willkürlich  zu  bewegen  oder  in  der  Bewegung  zu  hemmen.  Das 
quergestreifte  Muskelgewebe  wird  indessen  im  wesentlichen  für  den  Aufbau  der 
Skelettmuskeln  verwandt,  die  dem  Willensantriebe  gehorchen.  Es  vermag  sich 
rasch  zu  kontrahieren  und  wieder  auszudehnen,  während  die  glatte  Muskelsub- 
stanz eine  langsamere,  aber  sehr  energische  und  kräftige  Zusammenziehung 
ausführt.  Eine  besondere  Stellung  nimmt  das  Gewebe  des  Herzmuskels  ein, 
das  sich  zwar  aus  quergestreifter  Substanz  aufbaut  und  energische  Kontrak- 
tionen leistet,  aber  doch  der  Willkür  nicht  unterworfen  ist  und  auch  in  seiner 
Architektonik  wichtige  Abweichungen  von  dem  Skelettmuskel  aufweist. 

Das  glatte  Muskelgewebe  ist  meist  in  der  Form  von  Lamellen  ausge-  Glattes 
bildet,  die  sich  sehr  häufig  zu  Hohlkörpern  von  rohrförmiger  oder  blasenförmi- '  "^  ^s^we  e 
ger  Gestalt  ordnen.  In  diesen  Schichten  liegen  die  glatten  Muskelelemente  alle 
gleichgerichtet,  nur  benachbarte  Lagen  weisen  in  der  Regel  einen  verschiedenen 
Faserverlauf  auf.  Entweder  folgen  sie  dabei  der  Längsachse  oder  sie  stehen 
senkrecht  zu  ihr.  An  einzelnen  Stellen  verdicken  sich  die  Lamellen  zu  mäch- 
tigen Ringen:  diese  Ringmuskeln  schließen  dann  die  Lichtung  der  Hohlorgane 
fest  und  undurchgänglich  ab,  es  sind  die  wahren  Schließmuskeln  für  Hohlräume, 
wie  man  sie  am  Magen-  und  am  Blasenausgange  und  an  vielen  anderen  Schluß- 
stellen findet.  In  anderen  Fällen  werden  zu  bestimmten  Leistungen  Zugstränge 
oder  Balken  glatter  Muskelsubstanz  ausgebildet,  oder  solide  Körper  aus  Muskel- 
gewebe, wie  z.  B.  der  Kriechfuß  der  Schnecken  einen  solchen  darstellt. 

Die  Innenarchitektur  des  glatten  Muskelgewebes  ist  recht  einfach  (Fig.  47).  Bau  des  giatton 
Die  einzelnen  kontraktilen  Faserzellen  legen  sich  dicht  und  enge  zusammen  und  '  "^  *  ^''"^  ""^^ 
haften  sowohl  der  Quere  wie  der  Länge  nach  überaus  fest  aneinander:  um  sie 
aus  ihrem  Verbände  zu  lösen,  bedarf  es  schon  sehr  kräftiger  Einwirkungen,  star- 
ker Kalilauge  oder  ähnlich  wirkender  Mittel.  Die  Verbindung  wird  durch  ein 
feines  und  überaus  reichliches  Bindegewebegerüst  hergestellt,  das  die  einzelnen 
Faserzellen  umscheidet  und  der  Quere  nach  verbindet.  Bei  dem  glatten  Muskel- 
gewebe der  Wirbellosen,  z.  B.  der  Weichtiere,  der  Würmer  ist  die  Zusammen- 
fügung der  Elemente  vielfach  noch  eine  epithelähnliche,  wie  denn  auch  der 
nicht  fibrilläre  Zelleibanteil  gemeinhin  eine  weit  stärkere  Rolle  in  diesen  Muskel- 
zellen spielt  (Fig.  48).  Diese  Anordnung  führt  auf  die  einfachsten  Formen  kon- 
traktiler Ausgestaltung  von  Zellen  zurück,  auf  die  Epithelmuskelzellen,  die  im  Epithei- 
Deckgewebe,  wie  im  Nährgewebe  vorkommen  können.  Bei  den  Polypen  und 
Medusen  z.  B.  werden  im  Epithel  am  basalen  Zellenende  eine  oder  einige 
wenige  kontraktile  glatte  Fibrillen  ausgebildet,  die  dann  im  Niveau  der  unteren 
Zellenfläche  eine  Lage  kontraktilen  Fasergewebes  erzeugen.   (Fig.  49.) 

Weit  komplizierter  zusammengesetzt  ist  die  innere  Struktur  der  q u  e  r  -  Quergestreiftes 
gestreiften    Muskulatur.    Die  zelluläre  Natur  der  Elemente  ist  hier  sehr  ^^"'''^^^^'''^^''• 
schwer  erkennbar.    Die  gewöhnliche  Muskelfaser  der  höheren  Tiere  stellt  ein 
oft  sehr  langes  —  bis  zu  12  cm  messendes  —  vielkerniges  Gebilde  dar,  das  zwar 
aus  einer  Zelle  hervorgeht,  aber  keine  ,, Zelle"  bleibt:  ihr  Kern  teilt  sich  viel- 

K.  d.  G.  III.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  6 


82 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


fach  —  daher  enthält  eine  solche  Muskelfaser  oft  viele  Hunderte  von  Kernen  — , 
aber  die  Zellkörperteilung  unterbleibt.  Die  kontraktilen  Fibrillen  entstehen 
aus  feinen  homogenen  Stäbchen  oder  Fädchen,  den  Mitochondrien,  die  dann 
alsbald  die  sehr  charakteristische  Quergestreifungsstruktur  annehmen.  Kon- 
Muskeifibriueu.  traktilc  gcstreiftc  Muskelfasern  sind  im  Tierreiche  weit  verbreitet,  stimmen  aber 
in  ihrer  feinen  Anordnung  überraschend  gut  überein.  Die  doppelt  brechenden 
Querstreifen  {q),  von  einfach  brechenden  Scheibchen  (?)  beiderseits  umschlossen, 


Fig.  47.  Muskelzelle  eines  Spul- 
wurmes (Ascaris  megalocepha- 
la):  in  dem  plasmatischen  Teile 
des  Zellenleibes  (/)  liegt  der 
Kern  (k),  in  seinem  lauggestreck- 
ten Teile  ordnen  sich  neben- 
einander die  Myofibrillen  { f). 
(Nach  Heidenhais.) 


Fig.  48.  Schema  der  Zusammensetzung 
eines  Stückes  glatter  Muskulatur.  Die 
glatten  Muskelfasern  (ni)  mit  ihren  Fibrillen 
(f)  sind  oben  und  unten  abgeschnitten  ge- 
zeichnet. Sie  enthalten  einen  Kern  [k)  und 
stecken  in  breigewebigen  Hüllen  {h),  die 
durch  Quermembranen  (b)  verbunden  wer- 
den.    (Verändert  nach  Heidenhain.) 


Fig.  49.  Epithelmuskelgewebe  eines 
Polypen.  In  A  unterhalb  der  polygo- 
nalen Zellen  (z)  der  Hautschicht  zahl- 
reiche zugehörige  Muskelfibrillen  (/u). 
In  B  isolierte  Epithelrauskelzellen  mit 
den  Muskelfibrillen  au  der  Zellenbasis. 
(A  nach  F.E.Schulze  aus  Heidenhain, 
B  nach  O.  u.  R.  Hertwig  aus  Heiuen- 

HAIN.) 


bilden  gewissermaßen  die  Elemente  im  Aufbau  dieser  Faser,  die  in  der  Längs- 
richtung sich  stets  wiederholt  und  von  ihren  Nachbarn  durch  Scheidewände 
(2  und  m)  getrennt  wird,  die  über  die  ganze  Faser  hinziehen  (Fig.  50).  Zwischen  den 
Fibrillen  liegen  mannigfache  Körnergebilde  [k),  die  teils  aus  Fett,  teils  aus  einem 
Kohlehydrat,  dem  Glycogen,  und  teils  aus  den  gewöhnlichen  Plasmakörnchen 
bestehen,  und  die  für  die  Stoffwechseltätigkeit  der  Muskeln  eine  große  Rolle 
spielen.  Die  einzelne  Muskelfaser  hat  einen  Teil  des  ursprünglichen  Protoplas- 
mas —  oft  einen  sehr  beträchtlichen  Anteil,  z.  B.  bei  den  Würmern  —  unver- 
sarkopiasma. mindert  bewahrt:  man  nennt  ihn  Muskelplasma  oder  Sarkoplasma.  Es  trennt 
und  verbindet  in  mannigfach  verschiedener  Anordnung  die  einzelnen  Fibrillen 
miteinander.  Außen  um  die  Faser  herum  zieht  eine  Art  Zellenhaut  oder  jeden- 
sarkoiemm.  falls  ciuc   vcrdichtctc,  veränderte  Plasmalage,    Sarkolemm  genannt,  die  sich 


Muskelgewebe 


83 


abheben  läßt  und  die  die  Grenze  der  Faser  gegen  das  Stützgewebe  hin  bildet 

(Fig.  51). 

Die  einzelnen  Muskelfasern  (Fig.  52)  ordnen  sich  zueinander  in  der  Form     Bau  des 
von  kleineren  oder  größeren  Bündelchen:  sie  werden  durch  ein  lockeres  Binde- '^"^'^^s^g^j"^" 
gewebe  zusammengehalten,  das  die  Nerven  und  die  Gefäße  führt.    Man  heißt 
dieses  Stützgewebe,  dessen  feinste  Fäserchen  die  einzelnen  Muskelelemente  um- 


Stück  eines  Quer- 
schnitts des  „Schneidermus- 
kels" (Musculus  sartorius) 
vom  Menschen.  Die  einzelnen 
Muskelfasern  zu  Bündelchen 
(zw)  geordnet,  von  dem  inneren 
und  äußeren  Muskelhüllge- 
webe umscheidet,  eingeschlos- 
sen von  der  Muskelbinde  (3). 
g  =  BlutgefäiS. 
(Nach  Heidenhain.) 


Fig.  50.  Schema  eines 
Teiles  einer  quergestreif- 
ten Muskelfaser.  Sechs 
Myofibrillen  (mf)  neben- 
einander gelegen,  mit 
ihren  doppelt  brechenden 
Scheibchen(y)  und  den  ein- 
fach brechenden  Scheib- 
chen (/;.  Die  beiden 
Scheibchenarten  sind  ge- 
trennt in  Hälften  durch 
Scheidewände  (/it  und  z). 
Zwischen  den  Fibrillen 
Körner  (k)  und  Querfaden- 
netze (n). 
(Nach  Heidenh.un.) 


Fig.    53.        Eine 

quergestreifte 
Muskelfaser    (m) 
und  ihr  Übergang 
in  die  zugehörige 

Sehne  (s). 

(Teilweise     nach 

R.  Krause    und 

Stöhr.) 


Fig.  54.      Schnitt    durch    das    Herz- 

rauskelgewebe  vom  Menschen.     Netz 

der  quergestreiften  Muskelfädchen  mit 

Kernen  (n)  und  den  Kittlinien  (k). 

(Nach  Heidenhain.) 


Fig.  52.     Querschnitt    durch      ,_       ...  , 

eine     quergestreifte    Muskel-     (renmysmm  mtemum) 


spinnen,   das  innere  Muskelhüllgewebe 

An  der  Ober- 
trLre.'regTntrsS  Aäche  dcs  Muskcls  oder  einzelner  seiner 
faser  ist  umschlossen  von  der  großcH  Abteilungen  umhüllt  es  die  ge- 

MuskelhüUe   (s),   an    der    die     °  °  .  .° 

Kerne  (/<■)  gelegen  sind.   Auf  Samte   Muskclfascrmasse    mit    breiten 

dem    Querschnitt    erscheinen     f-w ..  ,.  1      ••      r>  tit       1      11    ..11 

die  einzelnen  Myofibriuen  (/)  Zugcu,  dic  man  als  außcrcs  Muskclhull- 

getrennt  durch  feine  Scheide- 
wände vom  Plasma  (p),  in  dem 
Körnchen  {i)  gelegen  sind. 
(Nach  R.  Krause.) 


gewebe  beschreibt  (Perimysium  exter- 
num);  als  derbes  dichtes  Stützgewebe- 
blatt umgibt  dann  die  Muskelbinde,  die 
Fascie,  das  Muskelorgan  als  solches.  Dieser  Aufbau  des  Muskels  erinnert  in 
hohem  Grade  an  die  Architektur  der  Sehne:  auch  hier  sind  die  einzelnen 
straffen  derben  Bindegewebefasern,  die  man  Sehnenfasern  nennt,  außen  ins- 
gesamt von  einer  äußeren  Sehnenhülle  (Feritendineum)  umschlossen,  im  In- 
nern durch  lockeres  Stützgewebe  in  Bündelchen  eingeteilt,  in  denen  dann  die 
einzelnen  Sehnenfasern  liegen.  Muskelfasern  und  Sehnenfasern  (Fig.  53)  haften 
ungemein  fest  aneinander:  die  Sehnenfaserfibrillen  umfassen  das  kegelig  zu- 


6* 


g^  Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

gespitzte  Ende  der  Muskelfaser  allseitig  und  gehen  vielleicht  sogar  unmittelbar 
in  die  Muskelfibrillen  über.  Jedenfalls  ist  ein  überaus  fester  Zusammenhang, 
sei  es  organischer  Natur,  sei  es  eine  sehr  feste  Kittsubstanz,  für  die  Kraftüber- 
tragung der  sich  zusammenziehenden  Muskulatur  mittels  der  Sehne  auf  die  zu 
bewegenden  Organe,  die  Knochen  z.  B.,  unentbehrlich.  Die  quergestreiften 
Muskelorgane  der  Wirbellosen  sind  im  allgemeinen  nach  einfacherem  Bauplan 
zusammengesetzt,  da  es  sich  in  der  Regel  nicht  um  die  Anhäufung  so  großer  Faser- 
massen handelt.  Die  Muskelfasern  berühren  sich  hier  oft  unmittelbar  ohne  Zwi- 
schenschaltung einer  Hüllsubstanz,  besonders  da  eine  Muskelfaserhaut,  ein  Sar- 
kolemma oder  Myolemma,  ausgebildet  ist.  Die  Anheftung  an  Hartgebilde,  z.  B.  an 
Chitinstücke,  erfolgt  auch  hier  mittels  feiner  kleiner  bindegewebiger  Sehnen. 
Herzmuskel-  Das  Her z mu s kcl gc wcb c  (Fig.54)  unterscheidet  sich —  und  zwar  auf- 

gewe  e  fallcnderwcise  bei  den  Wirbeltieren  und  auch  bei  einzelnen  Wirbellosen,  z.  B. 
dem  Kerbs,  den  Weichtieren  —  von  der  gewöhnlichen  quergestreiften  Musku- 
latur durch  seine  Anordnung  zu  einem  Muskelfasernetz.  Die  Muskelfädchen 
verbinden  sich  durch  seitliche  Abzweigungen  miteinander  und  umschließen 
Zwischenräume,  in  denen  bei  den  Wirbeltieren  regelmäßig  die  reichlich  vorhan- 
denen Haarblutgefäße  verlaufen.  Bei  einigen  höheren  Wirbeltieren  erscheinen 
quer  zur  Faserrichtung,  das  ganze  Muskelelement  durchsetzende  oft  treppen- 

Kittiinien.  artig  abgcsctztc  Platten,  die  sogenannten  Kittlinien  oder  Schaltstücke,  in  denen 
man  früher  die  Grenzen  der  einzelnen  Herzmuskelzellen  erblickte.  Ihre  Bedeu- 
tung ist  noch  nicht  hinreichend  genau  bekannt,  vielleicht  stehen  sie  mit  dem 
Wachstum  des  Herzens  in  Verbindung:  denn  das  Herz  ist  eines  der  wenigen 
Organe,  das  auch  nach  abgeschlossener  Körperentwicklung  bis  ins  hohe  Alter 
hinauf  sich  zu  vergrößern  vermag.  Bei  den  niederen  Wirbeltieren  fehlen  diese 
Schaltplatten  vollkommen.  Die  Querstreifung  der  Fleischfäserchen  weicht  vom 
allgemeinen  Querbauplan  nicht  ab,  die  Längsfibrillierung  tritt  indessen  beim 
Herzgewebe  überaus  deutlich  hervor.  Die  einzelnen  Fleischfädchen  haben  keine 
Muskelfaserhülle  in  dem  Sinne,  wie  die  Skelettmuskeln,  aber  eine  dichte  Sarko- 
plasmaoberhaut  grenzt  sie  deutlich  nach  außen  ab.  Die  Fleischmassen  der 
Herzmuskulatur,  das  Myokardium,  sind  nach  den  Herzhöhlen  zu,  wie  nach  dem 
Herzbeutel,  durch  bindegewebig-elastische  Häute  abgegrenzt,  dessen  Ober- 
fläche mit  einem  sehr  feinen  einschichtigen  Plattenepithel  bekleidet  is'. 

Das  Nervengewebe. 
Nervengewebe.  Für  dcu  Aufbau  dcs  Nervcngcwebes  ist  die  Ausrüstung  der  Zellen  und  ihrer 

Abkömmlinge  mit  den  Neurofibrillen  charakteristisch.  Mit  der  Hauptleistung 
der  nervösen  Substanz  —  der  Aufnahme,  Leitung  und  Übertragung  von  Rei- 
zen —  hängt  die  gestaltliche  Ausprägung  der  Elemente  innig  zusammen:  ihre 
Form  muß  geeignet  sein,  mehr  oder  weniger  entfernte  Örtlichkeiten  miteinander 
leitend  zu  verknüpfen:  diese  Aufgabe  wird  erreicht  durch  fadenförmige  Lei- 
tungen, durch  Fortsätze,  die  von  den  Zellen  ausgehen.  Eine  Nervenzelle  mit 
allen  ihren  Ausläufern  und  deren  Endigungen  nennt  man  eine  Nerveneinheit 
oder  ein  Neuron.    Im  Laufe  der  Entwicklung  baut  sich  ein  Nervensystem 


^ '  S-  55-  Formen  der  Nervenzellen.  A.  Eine  unipolare  Nervenzelle  aus  dem  Spinalknoten  eines  Kaninchens 
(nach  R.Krause.)  B.  Eine  bipolare  Nervenzelle  aus  dem  Nervenknoten  des  Nervus  trigeminus  (nach  Bidder  aus 
Rauber-Kopsch).  C.  Eine  multipolare  Nervenzelle  aus  dem  Rückenmark  vom  Rind  (nach  Deiters  aus  Heiden- 
hain). D.  Eine  Pyramidenzelle  aus  der  Großhirnrinde  des  Menschen  (verändert  nach  Heidenhain).  E.  Eine 
PuRKiNjEsche  Nervenzelle  aus  der  Kleinhirnrinde  vom  Menschen  (nach  Stöhr).  F.  Eine  Nervenzelle  des  Klein- 
hirns, deren  Nervenfortsatz  in  der  unmittelbaren  Nähe  der  Zelle  sich  aufzweigt  (nach  Cajal  aus  Heidenhain). 
«  ^  Nervenfortsatz  oder  Neurit,  rf  =  Plasmafortsätze  oder  Dendriten,  «•  =  Nebenfortsätze  oder  Collateralen. 


gg  Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 

Neuron,  aus  cincr  unendlich  großen  Anzahl  von  Einzelneuronen  auf,  die  miteinander  in 
gesetzmäßige  Beziehungen  treten  und  auch  in  ihrer  Leistung  zuweilen  ganz 
deutlich  als  eine  Einheit  funktionieren. 

Außer  den  Neuronen,  dem  eigentlichen  nervösen  Gewebe,  bildet  das  Nerven- 
system noch  eine  Stützsubstanz  aus,  die  in  die  Reihe  der  Fasergewebe  gehört, 
aber  ausschließHch  in  nervösen  Organen  angetroffen  wird,  entwicklungsgeschicht- 
lich dem  Nervengewebe  nahe  verwandt  ist,  und  daher  in  der  Reihe  der  Stützge- 
Neurogiia.  wcbc  cinc  Sondcrstcllung  einnimmt :  das  Nervenkittgewebe  oder  die  N e  u  r  o  g  1  i  a. 

Die  Gestalten  der  Nervenzellen  sind  überaus  verwickelt  und  verschieden. 
Die  Anzahl,  Länge,  Form  der  Ausläufer  sind  es,  die  den  Reizgewebezellen  ihre 
charakteristische  Erscheinung  aufprägen.   (Fig.  55.) 
Gestalt  der  Zclleu  mit  cincm  Fortsatze  —  man  nennt  sie  unipolare  Nervenzellen  — 

Nervenzellen,  j^g^l^gj^  im  allgemeinen  eine  rundliche,  birnenförmige  Gestalt.  Zwei  Ausläufer 
ziehen  nicht  selten  den  Nervenzellenleib  spindelförmig  in  die  Länge:  das  sind 
die  bipolaren  Elemente.  Die  weitaus  größte  Anzahl  der  Nervenzellen  besitzen 
jedoch  eine  große  Anzahl  von  Fortsätzen,  sie  sind  multi polar;  durch  den  Ab- 
gang dieser  vielen  Ausläufer  gewinnt  die  Zelle  die  Form  eines  Sternes  oder  eines 
unregelmäßig  vielspitzigen  Gebildes,  oder  sie  nimmt  Pyramidengestalt  oder 
eine  ganz  unregelmäßige  Form  an,  die  sich  unendlich  wechselvoll  ausgestaltet. 
Die  Größe  der  Nervenzellen  erreicht  oft  beträchtliche  Maße.  Viele  von  ihnen 
kann  man  mit  bloßem  Auge  als  Pünktchen  sehen,  einige  erreichen  so  kolossale 
Abmessungen,  daß  sie  von  eigenen  Haargefäßen  ernährt  werden,  und  imstande 
sind,  allein  für  sich  große  Körperorgane  zu  versorgen,  z.  B.  die  elektrischen  Zel- 
len des  Zitterwelses  (Malapterurus  electricus). 

Die  Nervenzelle  verfügt  —  außer  ihren  allgemeinen  Zellbestandteilen  dem 
Plasma,  Kern  und  Zentrum  —  und  der  charakteristischen  Ausrüstung  mit  den 
Neurofibrillen  —  noch  über  eine  Anzahl  von  besonderen  Apparaten,  die  mit  der 
Leistung  der  Elemente  in  inniger  Beziehung  stehen.  Im  Plasma,  zwischen  den 
Neurofibrillenfädchen,  liegen  Schollen,  Klumpen,  Körner,  Spindeln  einer  be- 
sonderen Substanz,  die  sich  durch  ihre  farbchemischen  Eigenschaften,  dem 
Chromatin,  als  ähnlich  erweist  und  daher  als  chromophile  Substanz  oder 
als  Cytochromatin  bezeichnet  wird  oder  nach  ihrem  ersten  genauen  Unter- 
Nißischc  Sucher  als  Nißlsche  Granulation.  Ihr  Schicksal  bei  den  verschiedenen  Ge- 
Granuia.  g^j^g^j^jggg^  am  Ncrvcnsystcm  hat  zuerst  einen  genauen  Einblick  in  die  Lebens- 
tätigkeit der  nervösen  Elemente  gewinnen  lassen  (Fig.  56).  Durchschneidet 
man  den  Fortsatz  einer  Nervenzelle,  oder  vergiftet  man  das  Nervensystem 
mit  Nervengiften,  wie  Morphium,  Kokain,  oder  reizt  man  das  Neuron  zu  an- 
dauernder fortwährender  Tätigkeit,  so  verklumpen  die  einzelnen  Nißl- Brocken, 
oder  sie  zerfallen  staubförmig.  Sie  verändern  jedenfalls  in  charakteristischer  und 
gesetzmäßiger  Weise  Aussehen  und  Anordnung  im  Nervenzellenleibe.  Leichtere 
Schädigungen  oder  heilbare  und  ersetzbareVerletzungen  der  Nerveneinheit  gehen 
mit  einer  Wiederherstellung,  einer  Neuausbildung  des  Cytochromatins  einher. 

Die  Ausläufer  der  Nervenzelle  sind  bei  den  niederen  Formen  der  Reiz- 
gewebeentwicklung gleichförmig.     Auf  den  hohen    Stufen   tierischen   Lebens 


Bau  der  Nervenzellen 


87 


Neuriten. 


differenzieren  sie  sich  zu  zwei  verschiedenen  Leistungen  und  Gestalten.  Die  einen 
von  ihnen  entspringen  vom  Zellenleibe  mit  breiten  konischen  Basisstücken,   in 
dem  Cytochromatin  gelegen  ist,  teilen  sich  alsbald  in  baumförmige  Veräste- 
lungen und  tragen  daher  den  Namen  der  Dendriten  oder  der  Protoplasma-  Dendriten, 
fortsätze.    Sie  sind  oft  in  sehr  großer  Zahl  vorhanden  und  bilden  die  Hauptmasse 
der  Ausläufer  z.  B.  bei  den  multipolaren  Zellenformen.    Die  zweite  Kategorie 
von  Zellfortsätzen,  die  meist  oder  oft  nur  in  der  Einzahl  an  der  Zelle  vertreten 
ist    und    auch    fehlen 
kann,  nennt  man  Neu- 
riten    oder     Nerven- 
faserfortsatz.    Es  ent- 
springt aus  dem  Zellen- 
leibe   mit    dem    soge- 
nannten      Ursprungs- 
kegel, der  frei  vonNißl- 
scher    Granulation    ist 
und  außer  dem  Plasma 
nur  Neurofibrillen  wie 
in  einen  Trichter  in  den 
Fortsatz       einströmen 
läßt.   Zuweilen  kommt 
der  Neurit  auch  aus  ei- 
nem Dendriten  hervor. 
Das  Schicksal  die- 
ses   Neuriten    ist    ver- 
schieden. Bei  manchen 
Zellen  spaltet  er  sich  in 
der  unmittelbarenNähe 
der  Zellen    in  Veräste- 
lungen auf,  um  mit  die- 
sen zu  enden.  Sehr  häu- 
fig zieht  er  eine  weite 
Strecke  dahin.  Er  kann 
Nebenästchen  abgeben,  die  Collateralen,  sich  mit  vielen  seinesgleichen  zu  einem  coiiateraien. 
Bündel  vereinigen  und  so  schließlich  auch  das  Gefüge  seines  Ursprungsgewebes 
verlassen,  in  den  Körper  hinaustreten  und  zu  einem  Nerven  werden.  Die  Nerven 
sind  mithin  nichts  weiter  als  Bündel  von  Fortsätzen  der  Nervenzellen.  (Fig.  57.) 
Bei  sehr  vielen  niederen  Tieren  bestehen  alle  Nerven,  bei  den  höheren  die 
Fasern  im  Innern  der  nervösen  Zentralorgane,  des  Gehirnes  und  des  Rücken- 
marks und  die  Enden  der  Nerven  lediglich  aus  den  von  dem  Zellenkörper  der 
zentralen  Elemente  entsandten  Neurofibrillen  und  einer  stets  vorhandenen 
Masse  interfibrillärer  und  perifibrillärer  protoplasmatischer   Substanz.     Man 
nennt  solche  Nervenfasern  nackte  Fasern  oder  nackte  Axone.    Dieser  Name 
rührt  daher,  weil  sich  derlei  Bildungen  in  den  komplizierter  gebauten  Nerven 


Fig.   56.      Entartung    des     Cytochroniatins   oder   der    NissLschen    Granulation 

einer  NervenzeUe  aus    dem    elektrischen   Hirnlappen    eines    Zitterrochen    nach 

Durchschneidung     des     elektrischen     Nerven.       A    Normales    Bild    der    Zelle. 

B  und  C  Entartung  im  Fortschreiten  begriffen.     D  Entartung  vollendet. 

(Nach  Heidenhain.) 


Hau  der  Nerven. 


nf  in 


Fig.  5/.  Verschiedene  Arten  von  Nervenfasern.  A  Sehern atische  Darstellung  des  Zusammenhanges  von 
Nervenzelle  und  Nervenfaser.  (Teilweise  nach  Rauber-Kopsch.)  Vom  Zellenkörper  (z)  gehen  aus:  i.  die 
Dendriten  {d).  2.  der  Neurit  («),  der  sich  verzweigt  und  mit  seinem  einen  Ast  an  einer  Muskelfaser  {m) 
mittelst  einer  motorischen  Nervenendigung  {'le)  endet.  Von  seinem  Stamme  gehen  Nebenästchen  oder  CoUa- 
teralen  [c)  aus,  die  mit  Endbäurachen  [e)  enden.  B  Nackte  Nervenfasern  mit  NervenfibriUen  von  einer  Qualle 
(nach  K.C.Schneider).  C  Marklose  Nervenfasern  aus  der  Milz  vom  Frosch  (nach  Kölliker  aus  Heidenhain). 
b  =  Bindegewebige  Scheidewände,  in  Röhrenform  die  quergeschnittenen  Bündel  der  Nervenfasern  zusammen- 
fassend. D  Querschnitte  durch  einige  markhaltige  Nervenfasern  des  Rindes  (nach  v.  Kuppfer  aus  Rauber- 
Kopsch)  :  »«=  Markscheide,  nf=  Neurofibrillen  des  Achsenzylinders.  E  und  ^''Längsschnitte  durch  Abschnitte 
markhaltiger  Nervenfasern,  k  =  Kern  des  Nervensegmentes,  Rs  =  RAN\aERsche  Schnürringe,  «/"=  Nerven- 
fibrillen des  Achsenzylinders,  n  =  Neurilemma.  In  F  bei  stärkerer  VERGRÖSSERUNG  der  Zusammensetzung  der 
Markscheide  [ni)  und  des  Achsenzylinders  {nf)  sichtbar.  {E  teilweise  nach  Rauber-Kopsch,  F  vom  Frosch  nach 
Heidenhain.)  G  Querschnitt  durch  einen  Teil  eines  markhaltigen  Nerven  vom  Menschen.  Die  Nervenfasern  (n, 
werden  durch  Bindegewebehüllen  {b)  zusammengehalten,  b'  Bindegewebe  zwischen  den  Bündeln,  b"  innerhalb 
der  Bündel  (nach  StÖhr).    // Endbäumchen  eines  Nerven  aus  dem  Kehldeckel  vom  Kaninchen  (nach  Arnstein 

aus  Heiobnhain). 


Bau  der  Nervenfasern 


89 


Myelin. 


Neurokeratin. 


Markscheide 

der 
Nervenfasern. 


bei  höheren  Tieren  lediglich  als  eigentliche  Achse  der  Nervenfasern  finden,  die 
nun  außen  durch  Hüllbildungen  verschiedenster  Art  umscheidet  werden.  Weit- 
verbreitet ist  die  Bekleidung  mit  besonderen  Hüllzellen,  die  eine  zarte  Scheide, 
das  Neurilemma,  bilden.  Solche  Fasern,  aus  Neurilemma  und  einem  Axon  auf-  Neuniemma 
gebaut,  sind  bei  Wirbeltieren  am  weitesten,  weit  aber  auch  bei  Wirbellosen  ver- 
breitet. Sie  tragen  den  Namen  der  grauen  oder  der  marklosen  Nervenfasern, 
weil  ihnen  die  im  Nervengewebe  der  Wirbellosen  nur  sehr  selten  vorhandene, 
bei  den  Wirbeltieren  aber  sehr  ausgiebig  verwandte  glänzende  Markhülle  der 
Nervenfaser  fehlt.  Die  markumhüllten,  höchst  entwickelten  Nervenfasergebilde 
sind  Axone,  die  von  feinen  Ölröhren  umscheidet  sind.  Das  Nervenöl  oder  Nerven- 
mark, das  Myelin,  ist  in  einer 
schwammartigen  Substanz,  in 
feinsten  Maschen  aufgesaugt,  so 
daß  es  trotz  seiner  flüssigen  Be- 
schaffenheit nicht  fließen  kann. 
Das  Schaumwerk,  das  Neuroke- 
ratin- oder  Nervenhorngerüst, 
umgibt  die  Achsenfaser  allseitig 
und  unmittelbar;  zusammen  mit 
dem  Myelin  bildet  es  die  Mark- 
scheide der  markhaltigenNerven- 
fasern.  Sie  besitzt  die  Gestalt  ein- 
zelner langer  Hohlröhrchen,  die 
an  ihren  Enden  mit  einer  kurzen 
Unterbrechung  kegelig  zuge- 
spitzt aneinanderstoßen.  An  die- 
sen Stellen  sieht  die  Markfaser  wie  eingeschnürt  aus.  Man  nennt  diese  Stellen 
die  Schnürringe.  Die  Strecken  zwischen  je  zwei  Schnürringen  heißt  man 
Nervensegmente.  Aus  Reihen  solcher  Nervensegmente  baut  sich  die  gesamte 
markhaltige  Nervenfaser  auf,  die  Neurofibrillen  mit  dem  Neuroplasma,  die 
eigentliche  reizleitende  Seele  des  Nerven,  zieht  aber  ununterbrochen  durch  den 
ganzen  Verlauf  der  Faser  hindurch.  Innerhalb  der  Zentralorgane  liegen  die 
Markfasern  frei  .nebeneinander,  außerhalb  des  Gehirns  oder  Rückenmarks  aber 
werden  sie  auch  noch  außen  von  dem  Neurilemma  umscheidet. 

Die  Nervenfasern  ordnen  sich  im  Gewebeverband  zu  den  eigentlichen  Nerven. 
Nerven  zusammen,  die  nichts  weiter  sind  als  Vielheiten  solcher  Nervenfasern. 
Seien  es  marklose,  seien  es  markhaltige  Fasern,  seien  es  endlich  beide  Sorten 
nebeneinander  werden  durch  Stützgewebe  nach  Art  eines  Kabels  verbunden 
und  von  außen  durch  eine  derbe  lamellös  geschichtete  Bindegewebehülle  zu- 
sammengehalten. Die  kleinsten  Nerven  sind  nichts  weiter  als  solche  einfachen 
Nervenfaserbündel.  Die  großen  Nervenstämme  indessen  bestehen  aus  vielen 
Hunderten,  ja  Tausenden  solcher  Nervenfaserbündel,  die  wieder  durch  Binde- 
gewebe miteinander  vereinigt  werden.  Bei  diesen  großen  Leitungsorganen  drin- 
gen in  das  verbindende  Stützgewebe  Blutgefäße  und  Lymphgefäße  hinein  und 


Fig-.  58.  Stück  der  Hautwand  eines  Siißwasserpolj'pen  von  der 
Fläche  gesehen.  Einfachster  Gewebeverband  von  Nervenzellen:  das 
Nervengeflecht.  Nervenzellen  (2)  mit  ihren  Ausläufern  (f)  versorgen 
große  Abschnitte  etwa  von  Muskelelementen  (m)  mit  nervösen  Im- 
pulsen.    (Nach  K.  C.  Schneider.) 


90 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


Fig.  5g.  Endigungen  von  Nervenfibrillen  (_/") 
an  Nervenzellen  («)  zur  Herstellung  des  Über- 
tragungskontaktes  behufs  Überleitung  des 
Reizes  von  einer  Nerveneinheit  zu  einer 
anderen.  Aus  dem  Ursprungskern  des  Hör- 
nerven vom  Kaninchen. 
(Nach  Cajal  aus  Heidenhain.) 


oft  findet  sich  auch  Fettgewebe  darin:  Einrichtungen,  wie  sie  für  die  Ernährung 
und  Erhaltung  der  Nervenstämme  notwendig  sind. 

Bei  den  einfachen  Anordnungsformen  der 
Reizleitungssubstanz  im  Tierkörper  verteilt  sie 
Nervengeflecht.  f  (}^F       J  F'^'^r— /  sich  gleichmäßig  in  der  Gestalt  eines  Nerven- 

geflechtes mit  Nervenzellen  und  Nervenfäser- 
chen.   (Fig.  58.) 

Weit  komplizierter  gestaltet  ist  der  orga- 
nische Aufbau  der  nervösen 
Organe,  wenn  es  sich  nicht 
um  reine  Leitwege,  wie  die 
Nerven,  sondern  um  zentra- 
lere höhere  Organe  handelt. 
Die  einfachsten  aller 
dieser  Nervenorgane  sind 
die  Nervenknoten  oder 
Ganeiien  ""  '  '^    '  Ganglien.   Siebeherbergen 

O  TT  J  *T      r-rt  TTn/lirrtirKr/in      Ti-in     TSj^aj-ir/^iTTfiTTrill/^Ti     /    f\  F  1  ff.     6o,         ^clleil      (s)      lind. 

Fasern  des  Nervenkitt-  außcr  Ncrvcnf ascm,  dic  die 

gewebes    oder    der   Neu-     t->     •  i  i  1     "j.  -u 

rogiia  aus  dem  Rücken-  Rcize  ab-  Und  zuleitcn,  auch 
mark  des  Orang.       Nervenzcllen,     die    zu    den 

(Nach  R.  Krause.)  '  _ 

Fasern  in  bestimmter  gesetz- 
mäßiger Beziehung  stehen.   In  einem  solchen  Knotenpunkte  enden  die  Nerven- 
f  äserchen  zum  Teil  mit  feinen  Verästelungen,  die  sich  um  Nervenzellen  herum- 
schmiegen   und    mit    ihnen     in     mehr 
oder  weniger  innige  Beziehungen  treten 
(Fig.59).  Andere  Fasern  treten  mit  ihren 
Neurofibrillen  in  die  Zellen  hinein;  wie- 
der andere  verlassen  die  Elemente  auf 
dem  Wege   der  Fortsätze.     Die  Zellen 
selbst  aber  stehen  miteinander  wieder  in 
''■^  Verbindung,    sei    es    unmittelbar    oder 
mittelbar.  Es  gibt  auch  Zellen,  die  ledig- 
lich die  Verbreitung  ihrer  Fortsätze  auf 
das  Innere  des  Knotens   beschränken. 
So  werden  schon  im  Innern  eines 
solchen  Nervenknotens  eine  große  Reihe 
von  Verbindungs-   und  Schaltmöglich- 
keiten verwirklicht. 

Eine  weitere  höhere  Komplikation 
wird  indessen  in  den  eigentlichen  Zen- 
tralorganen erreicht.  Hier  sind  es  ganze 
Systeme  von  Fasern,  die  zur  Endigung 
kommen,  in  Zellen  hineinstrahlen,  andere  Zellen  verlassen;  ganze  Systeme  von 
verschiedenen   Zellenarten,  die  Verbindungen  miteinander  eingehen  und  Ver 


Nervöse 
Zentralorgane. 


Fig.  61.    Gliazelle  aus  dem  Nervensystem  eines  Blut- 
egels   {glz).     nf  ^  Nervenfasern,     gif  =  Gliafasem. 
(Nach  K.  C.  Schneider.) 


Zentrales  Nervengewebe.     Nervenkittgewebe 


91 


J    rg^ 


Fig.  62.  Rieclisinneszellen  (;■) 
im  Epithel  der  Riechschleim- 
haut {s)  einer  Maus  gelegen, 
entsenden  feine  Riechnerven- 
fibrillen  ( /),  die  in  den  Riech- 
knäulen (g-/)  der  Riechhim- 
rinde  enden.  Diese  Elemente  {rH}  bilden  miteinander 
ein  Neuron,  das  erste  Riechneuron  (i).  In  den  Knäueln 
durchflechten  sich  die  Neurofibrillen  des  ersten  Neurons 
mit  den  Anfangsfibrillenverzweigungen  des  zweiten  (2), 
das  tiefer  in  das  Zentralnervensystem  hineinführt. 
(Nach  Retzius  aus  Heidenhain.) 


bindungen  der  übrigen  Fasern  und  Zellen  vermitteln.  Jede  Region  des  Zentral- 
nervensystems hat  dabei  ihre  eigene  Aufgabe,  ihre  eigene  Architektur,  die  im 
einzelnen  zu  erforschen,  die  Aufgabe  der  speziellen  Neurobiologie  geworden  ist. 

Die  Nervenkittgewebe  oder  die  Neuroglia  setzen  sich  aus  Fasern  und  Neurogiia. 
Zellen,  wie  das  Neuronengewebe  selbst,  zusammen.  (Fig.  6o.)  Fasern  und  Zellen 
sind  indessen  hier  durchaus  selbständige 
Gebilde,  wenngleich  ursprünglich  die 
Fasern  von  den  Zellen  her  gebildet  wer- 
den. Die  Gliafasern  sind  glatt  und  ho- 
mogen, sie  bilden  ein  dichtes  starres  Filz- 
werk, das  alle  die  Nervenfasern  und 
Nervenzellen  der  Zentralorgane  umhüllt, 
einscheidet  und  voneinander  abgrenzt, 
hier  und  da  auch  derbere  Scheide  wandbil- 
dungen liefert.  In  diesemFaserfilz  erschei- 
nen die  in  der  Regel  kleinen  unschein- 
baren Gliazellen  eingelagert.  Unter  Um- 
ständen gewinnen  indessen  die  Nerven- 
kittzellen  auch  sehr  beträchtliche  Grö- 
ßen, z.  B.  bei  den  Egelwürmern.  (Fig.  6i.) 

Der  architektonische  und  funktio- 
nelle Aufbau  nervöser  Apparate  bleibt  unverständlich,  wenn  er  nicht  durch  die 
Erläuterung  wenigstens  der  einfachsten  Form  reizaufnehmender  und  reizauslö- 
sender, rezeptorischer  und  effektorischer,  Gewebseinrichtungen  ergänzt  wird. 

Die  gesamten  Reizleitungsgewebe  eines  Systems  bleiben  gewissermaßen  un- 
tätig, wenn  nicht  von  irgendeiner  Stelle  der  Außenwelt  her  Reize  zugeführt  werden. 
Solche   Reizaufnahmeapparate    heißen    Sinnesgewebe. 
Sie  bauen  sich  nach  zwei  verschiedenen  Grundtypen  auf. 

Sinnesnervenzellen  liegen  in  der  Oberhaut  oder 
der  Schleimhaut,  z.  B.  des  Riechorganes  der  Wirbeltiere. 
(Fig.  62.)  Die  Sinnesnervenzellen  sind  oft  mit  Fortsätzen 
ausgerüstet, diezurReizaufnahmegeeignet sind.  ImKör- 
per  dieser  Zellen  liegt  ein  maschiges  nervöses  Fibrillen- 
gerüst, aus  dem  am  basalen  Ende  eine  Nervenfaser  aus- 
tritt, um  sich  in  das  zentrale  System  hineinzubegeben. 

Bei  dem  zweiten  Typus  ist  die  reizaufnehmende 
Zelle  nicht  unmittelbar  mit  dem  Nervensystem  durch 

eigene  Neurofibrillen  verknüpft,  sondern  die  Empfangszelle  ruht  auf  einem 
Polster  (Fig.  63),  steckt  in  einer  Scheide,  liegt  auf  einer  Platte  feinsten  Neuro- 
fibrillennetzwerkes,  das  Nervenfäserchen  in  die  Zentralorgane  hinein  entsendet, 
um  dort  über  die  Vorgänge  in  der  Außenwelt  Bericht  zu  erstatten.  Nach 
diesem  Typus  sind  viele  Tasteinrichtungen  der  Tiere  aufgebaut. 

Die  höheren  Sinnesgewebe  —  optische,  akustische  Reizaufnahmeapparate 
—  unterscheiden  sich  von  diesen  einfachen  Gewebeformen  ledis[lich  durch  die 


Bau 

der  nervösen 
A  pparate. 


Siniiesuerven- 
zellen. 


Fig.  63.  Ta^tzelle  (s)  mit  Tast- 
scheibe («),  aus  einem  Neuio- 
fibrillennetzwerk  aufgebaut  von 
einem  GRANDRVschen  Tastkörper- 
chen des  Entenschnabels  J'=  die 
reizableitende  Nervenfaser. 
(Nach  Heidenhain.) 


92 


Heinrich  Poll:  Zellen  und  Gewebe  des  Tierkörpers 


Nerven- 
endigungen. 


höhere  Komplikation  und  die  besonderen  Anpassungsleistungen.  Im  Prinzip 
herrschen  die  gleichen  Baupläne. 

Der  Erfolg  einer  stattgehabten  Reizung  äußert  sich  in  der  weitaus  größten 
Mehrzahl  der  Fälle  durch  Eintritt  einer  Bewegungs-  oder  einer  chemischen 
Aktion,  einer  Muskel-  oder  einer  Drüsentätigkeit. 

Auch  den  geweblichen  Aufbau  dieser  Organe  beherrscht  die  Neurofibrille 
mit  dem  Neuroplasma:  als  Beispiele  diene  die  Nervenendigung  an  einer  Muskel- 
faser (Fig.  64).  Nachdem  Markscheide  und  Neurilemm  kurz  vor  der  Muskelfaser 
sich  verloren  haben,  schließt  das  nackte  Axon,  das  Ende  der  Nervenfaser,  mit 
einer  Platte  ab,  der  Endplatte.  Die  Endverzweigung  des  Axons  bildet  eine  ge- 
weihartige Figur,  die  sich  in  eine  protoplasmatische  Grundmasse,  die  Sohlen- 
platte, einbettet.    An  dieser 


Stelle  wird  der  Willensim- 
puls, den  die  zutretende  Ner- 
venfaser heranbringt,  auf  die 
Muskelfaser  übertragen  und 
bringt  sie  zur  Zusammen- 
ziehung (Fig.  65). 

Das  Nervengewebe  lei- 
stet seiner  Anordnung  und 
Aufgabe  entsprechend  zum 
großen  Teil  die  wichtigste 
Arbeit :  die  Einzelzellen,  die 
Einzelgewebe,  die  Einzel- 
organe miteinander  zu  ver- 
binden und  in  gesetzmäßig 
sich  gestaltendeBeziehungen 


Fig.  64.  Drei  Muskelfasern 
^m)  von  der  Ringelnatter  mit 
den  Muskelendplatten  {e), 
links  von  der  Fläche,  rechts 
von  der  Kante  gesehen. 
//  =  der  zutretende  Nerv. 
(Nach  R.  Krause.) 


F  i  g.   65.       Quergestreifte     Muskelfaser 
eines    Gliedertieres   (Cassida    equestris) 


mit  herantretendem  Nerven  («)  und  der  gu  SCtZCU.  Es  Übernimmt  dic 
Endplatte  (e).  Die  Muskelfaser  beginnt 
sich  an  der  Endplatte  zusammenzuziehen. 
tj  =  doppelt  brechende,  i  =  einfach  bre- 
chende Substanz  der  Querstreifung,  J  = 
Sarkolemm.     (Nach  Rollet.) 


Zusammenfügung  der  Ein- 
zelteile, die  durch  den  Diffe- 
renzierungsprozeß derZellen, 
Gewebe  undOrganeihreFähigkeitalsGanzes  für  sich  alleinzuleben  verloren  haben. 
Diese  ,,  Integrationsleistung"  ist  aber  nicht  allein  dem  Nervengewebe  an- 
vertraut. Stehen  schon  rein  räumlich  betrachtet  die  Elemente  miteinander  in 
nachbarlicher  Verbindung,  die  sich  auch  häufig  durch  die  Ausgestaltung  be- 
sonderer Verbindungsapparate  äußert,  so  werden  sie  allesamt  durch  den  ge- 
meinsamen Anschluß  an  das  Körpersaftsystem  zu  einem  großen  Ganzen  ver- 
einigt. An  keiner  Stelle,  die  in  das  Gewebeganze  eingeschaltet  ist,  kann  sich 
etwas  ändern,  ohne  daß  nicht  physikalisch-chemische  Stoffwechseländerungen 
sich  dem  ganzen  System  mitteilen. 

So  arbeiten  und  entwickeln  sich  die  Einzelglieder  jedes  Gewebes,  jedes 
Organes,  jedes  Apparates  in  stetiger  unzerstörbarer  Einheitlichkeit  miteinander 
und  gestalten  die  Mannigfaltigkeit  der  inneren  Architektur  und  Funktion  zu 
einem  nach  außen  als  Ganzes  erscheinenden  Individuum. 


Literatur. 

I.    Handbücher  der  Zellen-  und  Gewebelehre. 

KÖLLIKER-  von  Ebner:  Handbuch  der  Gewebelehre  des  Menschen.  Leipzig  1889.  — 
Heidenhain,  M.:  Plasma  und  Zelle.   Jena  1907,  191 1. 

2.  Lehrbücher  zur  Zellen-  und  Gewebelehre. 
Bergh,  R.  S.  :  Vorlesungen  über  die  Zelle  und  die  einfachen  Gewebe  des  tierischen 
Körpers.  —  Gurwitsch,  Alexander:  Morphologie  und  Biologie  der  Zelle.  Jena  1904.  — 
Krause,  R.:  Kursus  der  normalen  Histologie.  Berlin  und  Wien  191 1.  —  Oppel,  A.:  Lehr- 
buch der  vergleichenden  mikroskopischen  Anatomie  der  Wirbeltiere.  Jena  1896  bis  1910.  — 
Rauber-Kopsch  :  Lehrbuch  der  Anatomie.  Leipzig  191 2.  —  Schneider,  K.  C.:  Lehrbuch 
der  vergleichenden  Histologie  der  Tiere,  Jena  1902.  —  Szymonowicz-Krause:  Lehrbuch 
der  Histologie  und  mikroskopischen  Anatomie.  Würzburg  1909.  —  StöHR  -  Schultze,  R.: 
Lehrbuch  der  Histologie.  Jena  191 2.  —  Sobotta:  Atlas  zur  Zellen-  und  Gewebelehre. 
Atlas  der  normalen  Histologie.     München  rgii. 

3.    Technische  Hand-  und  Lehrbücher  der  Gewebelehre. 

Ehrlich,  P.,  Kr.\use,  R.,  Mosse,  M.,  Rosin,  H.,  weil.  Weigert,  K.:  Enzyklopädie  der 
mikroskopischen  Technik.  Berhn  und  Wien  19 10.  —  BÖHM  und  Oppel:  Taschenbuch  der 
mikroskopischen  Technik.     1912. 

4.    Biologie  der  Zelle. 

Hertwig,  Oskar:  Allgemeine  Biologie.  Jena  1912.  —  Verworn,  M.:  Allgemeine  Physio- 
logie.    Jena  1909. 

5.    Allgemeine  Schriften  über  den  Bau  der  Zelle. 

Altmann,  R.  :  Die  Elementarorganismen  und  ihre  Beziehungen  zu  den  Zellen.  Leipzig 
1894.  —  BovERl,  R.:  Ergebnisse  über  die  Konstitution  der  chromatischen  Substanz  des  Zell- 
kerns. Jena  1904.  —  Bütschli,  O.:  Untersuchungen  über  mikroskopische  Schäume  und  das 
Protoplasma.  Leipzig  1892.  —  Flemming,  Walther:  Zellsubstanz,  Kern-  und  Zellteilung. 
Leipzig  1882,  —  Höber,  R.  :  Physikalische  Theorie  der  Zelle  und  der  Gewebe.  Leipzig  1911. — 
Retzius,  G.:  Zur  Kenntnis  vom  Bau  des  Zellkernes.  Biol.  Untersuchungen  188 1.  —  Schwarz,  Fr.: 
Die  morphologische  und  chemische  Zusammensetzung  des  Protoplasmas.  Breslau  1887.  — 
Waldeyer,  W.:  Die  neueren  Ansichten  über  den  Bau  und  das  Wesen  der  Zelle.  Leipzig  1895. 

—  Wiesner,  J. :  Die  Elementarstruchu  und  das  Wachstum  der  lebenden  Substanz.  Wien 
1892.  —  Wilson,  E.  B.:  The  cell  in  development  and  interitance.     New  York  1904. 

6.    Fortpflanzung"  der  Zelle. 

Haecker,   V.:     Praxis   und   Theorie    der    Zellen-    und  Befruchtungslehre.     Jena   1899. 

—  Waldeyer,  W.  :  Die  Geschlechtszellen.  Hertwigs  Hdb.  der  vergl.  u.  exp.  Entwicklungs- 
lehre.   Jena  1906. 

7.    Einige  spezielle  Schriften  über  das  Nervengew  eb  e.*) 

Bethe,  Albrecht,  Allgemeine  Anatomie  und  Physiologie  des  Nervensystems.  Leipzig 
1903-  —  Cajal,  S.  R.:  Histologie  du  systfeme  nerveux  de  l'homme  et  des  vertebr^s.  Paris  1909. 

—  Held,  H.  ;  Die  Entwicklung  des  Nervengewebes  bei  den  Wirbeltieren.  Leipzig  1909.  — 
v.  Lenhossek,  M.:  Der  feinere  Bau  des  Nervensystems.  Berlin  1895.  —  Schiefferdecker,  P.: 
Neurone  und  Neuronenbahnen.  Leipzig  1906.  —  Verworn,  M.:  Das  Neuron  in  Anatomie  und 
Physiologie.  Jena  1900.  —  Weigert,  R.  :  Beiträge  zur  Kenntnis  der  normalen  menschhchen 
Neuroglia.     Frankfurt  a.  M.  1895. 

*)  Die  übrigen  Arbeiten  über  Epithel-,  Grundsubstanz-  und  Muskelgewebe  finden  sich 
zumeist  in  Einzelabhandlungen  wissenschaftlicher  Zeitschriften.  Diese  Titel  sind  aus  den 
Schriftenverzeichnissen  der  genannten  Handbücher  zu  ersehen. 


ALLGEMEINE  UND  EXPERIMENTELLE  MORPHOLOGIE 
UND  ENTWICKLUNGSLEHRE  DER  TIERE. 

Von 

Oscar  Hertwig. 

In  seinem  berühmten  Buch  über  Entwicklungsgeschichte  hat  Carl  Ernst 
V.  Baer  ein  Gesetz  formuliert,  ,,daß  aus  dem  Allgemeinsten  der  Formverhält- 
nisse sich  das  weniger  Allgemeine  und  so  fort  bildet,  bis  endlich  das  Speziellste  auf- 
tritt". Das  heißt,  in  anderen  Worten  ausgedrückt :  es  zeigen  die  ersten  Entwick- 
lungsvorgänge im  ganzen  Tierreich  eine  auffällige  Übereinstimmung,  während 
die  Unterschiede,  welche  für  die  Vertreter  der  einzelnen  Tierstämme,  Klassen 
und  Ordnungen  des  Systems  eigentümlich  sind,  erst  auf  späteren  Stadien  in 
entsprechendem  Maße  zur  Ausbildung  gelangen.  Bei  der  Darstellung  in  Lehr- 
büchern ist  es  daher  auch  immer  mehr  Sitte  geworden,  der  speziellen  Entwick- 
lungslehre eine  allgemeine  vorauszuschicken  und  in  ihr  die  ersten  Stadien  der 
Entwicklung  und  die  sich  hier  abspielenden  allgemeinen  Vorgänge,  welche  für 
das  ganze  Tierreich  charakteristisch  sind,  zu  besprechen.  Auch  in  der  Kultur 
der  Gegenwart  empfiehlt  es  sich,  an  dieser  Darstellung  festzuhalten.  Die  For- 
schung auf  dem  Gebiete  der  allgemeinen  Entwicklungslehre  sondert  sich  als- 
dann wieder  in  zwei  Richtungen,  in  die  vergleichende  und  die  experimentelle. 
Zwar  sind  Morphologie  und  Entwicklungsgeschichte  zurzeit  noch  vorzugsweise 
auf  Beobachtung  beruhende  Wissenschaften,  in  denen  allgemeine  Ergebnisse 
durch  die  vergleichende  Methode  gewonnen  werden.  Doch  nehmen  in  dieser 
Beziehung  die  ersten  Entwicklungsstadien  eine  Sonderstellung  ein.  Denn 
wenn  wir  auch  hier  die  Grundlagen  unseres  Wissens  und  ein  reiches  Material 
an  Kenntnissen,  wie  es  selbstverständlich  und  nicht  anders  möglich  ist,  eben- 
falls der  einfachen  direkten  Beobachtung  der  Naturvorgänge  zu  verdanken 
haben,  so  ist  doch  neben  ihr  die  experimentelle  Forschung,  welche  der  Physio- 
logie, Chemie  und  Physik  ihre  großen  Erfolge  gebracht  hat,  von  Jahrzehnt  zu 
Jahrzehnt  mehr  bemüht  gewesen,  in  viele  Probleme  tiefer  einzudringen,  als  es 
durch  einfache  Beobachtung  des  normalen  Geschehens  möglich  gewesen  wäre. 
Daher  sind  in  unserem  ersten  Kapitel  auch  die  auf  experimentellem  Wege  ge- 
wonnenen, zum  Teil  sehr  wichtigen  Errungenschaften  in  gebührender  Weise 
mit  zu  berücksichtigen;  zugleich  ist  hierbei  zu  zeigen,  auf  welche  Art  und 
durch  welche  Mittel  das  Experiment  in  der  Entwicklungslehre,  wie  in  anderen 
exakten  Wissenschaften,  unser  Wissen  zu  erweitern  und  zu  vertiefen  berufen  ist. 

Die  ,,  Kultur  der  Gegenwart"  soll  kein  Lehrbuch  sein,  sie  soll  einem  weiteren 
Leserkreis  einen  Einblick  in  die  Haupterrungenschaften  der  neuzeithchen 
Forschung  auf  dem  Gebiet  der  Entwicklungslehre  geben.  Aus  dem  überreichen 
Stoff  ist  daher  eine  strenge  Auswahl  und  eine  Beschränkung  auf  das  Wichtigste 


Vorbemerkungen  nc 

und  Wissenswerteste  zu  treffen. (0  Wir  werden  mit  der  Besprechung  der  weib- 
lichen und  männlichen  Keimzellen  beginnen,  da  sie  in  allen  Klassen  des  Tier- 
reiches, wenn  wir  von  einigen  Ausnahmen  der  ungeschlechtlichen  Vermehrung 
absehen,  den  Ausgangspunkt  der  einzelnen  Entwicklungsprozesse  bilden;  dann 
werden  wir  längere  Zeit  bei  dem  wichtigen  und  interessanten  Studium  des  Be- 
fruchtungsprozesses verweilen.  Da  aber  ein  volles  Verständnis  desselben  nur 
durch  eine  genaue  Kenntnis  von  der  Entstehung  der  Ei-  und  Samenzellen  in 
den  Keimdrüsen  möglich  ist,  so  wird  sich  an  die  Befruchtung  ein  ergänzender 
Abschnitt  über  die  Ei-  und  Samenreife,  zur  Vervollständigung  unserer  Einsicht, 
anschließen.  Eine  weitere  Ergänzung  bildet  ein  Abschnitt  über  die  Ent- 
wicklungsfähigkeit der  Eizelle  ohne  Befruchtung.  Wenn  wir  in  den  vier  ersten 
Abschnitten  es  mit  Erscheinungen  und  Prozessen  zu  tun  haben,  welche  für  das 
ganze  Tierreich  als  gesetzmäßig  bezeichnet  werden  können,  so  ist  dies  teilweise 
auch  noch  bei  den  hierauf  folgenden  Entwicklungsvorgängen,  die  uns 
alsdann  beschäftigen  werden,  der  Fall:  bei  dem  Furchungsprozeß  oder  der 
Vermehrung  des  befruchteten  Eies  durch  Teilung,  bei  der  Anordnung  der  auf 
Hunderte  und  Tausende  vermehrten  Embryonalzellen  zu  charakteristischen 
Verbänden,  nämlich  zu  den  embryonalen  Grundformen  der  Morula,  der  Bla- 
stula  und  Gastrula. 

Auf  vielen  der  hier  genannten  Gebiete  werden  wir  Gelegenheit  nehmen, 
auch  auf  wichtige  Ergebnisse  der  experimentellen  Forschung  einzugehen.  Ihre 
Wichtigkeit  besteht  vor  allem  darin,  daß  sie  uns  eine  wertvolle  Grundlage  für  die 
Besprechung  allgemeiner  Probleme  der  Entwicklungslehre  geben,  wie  der  Idio- 
plasmakerntheorie,  der  Theorie  der  Biogenesis,  der  Keimplasma-  und  Mosaik- 
theorie, des  Prinzips  der  organbildenden  Keimbezirke  und  der  organbildenden 
Stoffe. 

Auf  Grund  dieser  Vorbemerkungen  und  der  kurzen  Disposition  unserer 
Aufgabe,  beginnen  wir  mit  dem  Thema  unseres  ersten  Abschnittes. 

I.  Ei  und  Samenfaden 

sind  einfache  Elementarteile  des  tierischen  Körpers;  beide  haben  in  gleicher 
Weise  den  Formwert  von  Zellen.  Trotzdem  stehen  sie  aber,  bei  allen  Tieren  ohne 
Ausnahme,  in  ihrem  ganzen  Aussehen,  in  ihrer  Form,  Größe  und  feineren  Zu- 
sammensetzung in  einem  ausgesprochenen  Gegensatz  zueinander.  Während 
die  Eier  alle  übrigen  Zellen  des  tierischen  Körpers  durch  ihre  außerordenthche 
Größe  weit  übertreffen,  sind  die  Samenfäden  ganz  im  Gegenteil  die  allerklein- 
sten;  die  Eier  haben  eine  kugelige  oder  ovale  Form  und  sind  in  verschiedener 
Weise  in  besondere  Hüllen  eingeschlossen,  die  Samenfäden  dagegen  sind,  wenn 
wir  von  einzelnen  Tierklassen  und  Ordnungen  absehen,  bei  den  meisten  Wirbel- 
losen und  bei  allen  Wirbeltieren  feine,  bewegliche  Fäden,  die  in  einem  Tropfen 
Samenfiüssigkeit  wegen  ihrer  Kleinheit  in  ungeheurer  Menge  enthalten  sind. 

Anmerkung:  Die  in  Klammern  gesetzten  Zahlen,  wie  in  vorliegendem  Fall,  beziehen 
sich  auf  einzelne  Literaturangaben  und  Anmerkungen,  die  am  Schluß  des  Kapitels  zu- 
sammengestellt sind. 


96 


Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 


Das  Ei.  Wenn  wir  bei  der  Untersuchung  des  feineren  Baues  mit  dem  Ei  (Fig.  i)  be- 

ginnen, so  unterscheidet  man  an  ihm,  wie  an  jeder  Zelle,  als  die  wichtigsten 
und  wesenthchsten  Bestandteile  Protoplasma,  Kern  [kb)  und  Membran  {zp). 
Die  beiden  erstgenannten  zeigen  ein  von  den  gewöhnhchen  Gewebszellen  sehr 
verschiedenes  Aussehen.  In  das  Protoplasma  des  Eies  sind  nämlich  bald 
weniger,  bald  mehr,  zuweilen  in  ganz  ungeheurer  Menge,  verschiedenartige 
Substanzen  in  Form  von  Körnern,  Schollen,  Plättchen  oder  Tropfen  {d)  ein- 
gelagert; es  sind  Nährmaterialien  oder  wie  man  in  der  Physiologie  sagt,  Reserve- 
stoffe, welche  während  der  Entwicklung  bei  der  Entstehung  neuer  Zellen  und 

zur  Bildung  des  embryonalen  Körpers  all- 
fo^^^kk^4^  mähhch  aufgebraucht  werden.   Durch  sie 

kann  bei  reichlichem  Vorhandensein   das 

^■p   Protoplasma  fast  ganz  verdeckt  werden,  in- 

An   dem  es  nur  noch  feine  Lücken  zwischen  den 

^/   eingelagerten    Reservestoffen,     gleichsam 

wie  der  Mörtel  zwischen  den  Steinen  eines 


Fig.  I.  Ei  aus  einem  2  mm  dicken  Follikel  des 
Kaninchens.  Nach  Waldeyer.  Es  ist  von  der  Zona 
pellucida  (z/)  umgeben,  welcher  an  einer  Stelle 
Follikelzellen  (Jz)  aufsitzen.  Der  Dotter  enthält 
Kügelchen  von  Deutoplasma  («/).  In  das  Keimbläs- 
chen {A6)  ist  das  Kernnetz  (/^«)  besonders  eingezeich- 
net, welches  einen  großen  Keimfleck  {/c/)  einschließt. 


I. 

2. 


Mauerwerks,  ausfüllt.  Der  in  so  eigen- 
tümlicher Weise  veränderte  Inhalt  der  Ei- 
zelle wird  im  gewöhnlichen  Leben,  wie  auch 
häufig  in  der  embryologischen  Literatur, 
als  der  Eidotter  (vitellus)  bezeichnet. 
Entsprechend  der  Masse  des  Dotters  fällt 
auch  der  Kern  der  Eizelle,  gewöhnlich  das 
Keimbläschen  (Fig.  i ;  k  h)  (vesicula 
germinativa)  genannt,  imVergleich  zu  dem- 
jenigen  anderer  Elementarteile  sehr  groß 
aus.  Man  unterscheidet  am  Keimbläschen 
die  flüssige  Grundsubstanz,  den  Kernsaft, 

die  Kernmembran,  durch  welche  die  mit  Saft  gefüllte  Höhle  gegen  den 
Dotter  abgegrenzt  wird, 
das  Chromatin  und 
die  Nucleoli  oder  Keimflecke  [kf). 
Das  Chromatin  ist  eine  zwar  nur  in  sehr  geringer  Menge  vorhandene,  aber 
biologisch  sehr  wichtige  Substanz;  sie  tritt  in  feinen  Körnchen  und  Fäden  auf 
und  verdankt  ihren  Namen  der  Eigenschaft,  gewisse  Farbstoffe,  wie  Karmin 
und  Haemotoxylin  oder  basische  Anilinfarben,   aus  geeigneten  Lösungen  an 
sich  zu  ziehen. 

Die  Nucleoli  oder  Keimflecke  [kf)  sind  etwas  größere,  kuglige  oder  lappige 
Körper  einer  Proteinsubstanz;  ihre  Zahl  kann  sich  von  eins  bis  auf  viele  Hun- 
derte belaufen.   Es  hängt  dies  hauptsächhch  von  der  Größe  des  Eies  in  den  ein- 
zelnen Tierklassen  ab. 
Der  Samenfaden.  Im  Vergleich    ZU   dicscr   Beschaffenheit   des   Eies   bietet   die   männliche 

Keimzelle,   auch   abgesehen   von   dem  schon   hervorgehobenen   Größenunter- 
schied, ein  ganz  verschiedenes  Aussehen  dar,  zumal  wenn  sie  uns  in  der  ge- 


4- 


Ei  und  Samenfaden 


97 


A 


Ca\ 


■Ppr 


[i- 

B 


■LPpr 


■Pt 


wohnlichen  Form  eines  allerfeinsten  Fadens  entgegentritt.  Man  könnte  Be- 
denken tragen,  im  Samenfaden  überhaupt  einen  der  Zelle  gleichwertigen  Form- 
teil zu  erblicken,  wenn  wir  nicht  durch  direkte  Beobachtung  wüßten,  daß  er 
in  der  männlichen  Keimdrüse  aus  einer  Samenbildungszelle  (Spermatide)  durch 
Umwandlung  hervorgeht  und  daß  er  aus  den  drei  für  die  Zelle  wesentlichen  Be- 
standteilen, aus  Protoplasma,  Kern  und  Centrosom  -^f 
zusammengesetzt  ist.  Bei  sehr  starker  Vergrößerung 
kann  man  nämlich  an  den  Samenfäden  (Fig.  2)  drei 
Abschnitte  unterscheiden,  welche  den  obengenannten 
drei  Zellbestandteilen  entsprechen,  den  Kopf,  den 
Hals  oder  das  Mittelstück  und  den  Schwanz.  In  ihrer 
Form  und  Größe  bieten  sie  zahlreiche  Variationen  in 
den  einzelnen  Tierarten  dar.  Bei  den  menschlichen 
Samenfäden,  die  durchschnittlich  nur  0,05  mm  lang 
sind,  hat  der  Kopf  in  der  Flächenansicht  die  Form 
eines  ovalen  Flättchens,  welches  nach  hinten  dicker 
als  vorn  ist.  Von  der  Seite  gesehen  läßt  er  sich  einer 
plattgedrückten  Birne  vergleichen.  Der  vordere 
scharfe  Rand  dient  als  Schneide,  durch  welche  dem 
Samenfaden,  wie  wir  bald  sehen  werden,  beim  Be- 
fruchtungsprozeß das  Einbohren  in  die  Rinde  des 
Eies  erleichtert  wird;  er  ist  daher  auch  als  Perfora- 
torium  bezeichnet  worden.  Der  Kopf  ist  aus  dem 
Kern  der  Bildungszelle  durch  Umwandlung  hervor- 
gegangen; er  besteht  zum  größten  Teil  aus  ziemlich 
kompaktem,  ganz  homogen  aussehendem  Chromatin 
und  nimmt  infolgedessen  auch  die  charakteristische 
Kernfärbung  an.  Der  auf  den  Kopf  folgende  Hals 
ist  stäbchenförmig  und  birgt  das  wichtige  Centrosom.  An  ihn  schheßt  sich  der 
Schwanzfaden  an,  der  sich  aus  umgewandeltem  Protoplasma  gebildet  hat,  daher 
kontraktil  ist  und  am  lebenden  Objekt  schlängelnde  Bewegungen  ausführt. 
Indem  sich  mit  seiner  Hilfe  der  Samenfaden  wie  eine  einzellige  Flagellate  mit 
ziemlicher  Geschwindigkeit  in  der  Samenflüssigkeit  fortbewegt,  kann  er  mit 
Recht  einer  Geißelzelle  verglichen  werden. 

Wer  Ei  und  Samenfaden  auf  ihren  Bau  genauer  untersucht  und  sie  ein- 
ander vergleichend  gegenüberstellt,  wird  sich  auch  die  Frage  vorlegen  müssen, 
warum  und  zu  welchem  Zweck  die  weiblichen  und  die  männlichen  Geschlechts- 
zellen im  ganzen  Tierreich  so  außerordentlich  verschieden  ausgefallen  sind  und 
warum  sie  in  ihrer  Größe  und  in  ihrer  Form  so  ausgesprochene  Gegensätze  dar- 
bieten? Die  Frage  läßt  sich  bei  einigem  Nachdenken  leicht  beantworten.  Sie 
findet  ihre  Erklärung  in  den  Vorgängen  bei  der  geschlechtlichen  Zeugung  und 
bei  den  anschließenden  Stadien  des  Entwicklungsprozesses.  Wie  ich  es  schon 
in  meinem  Lehrbuche  der  Entwicklungsgeschichte  dargestellt  habe,  ,, kommen 
bei  der  Entstehung  eines  neuen  Organismus  aus  den  beiden  Keimzellen,  die 

K.d.G.m.iv,  Bd2  ZeUeiilehre  etc.  II  7 


F  i  g.  2.  Samenfäden  vom  Menschen. 
Nach  G.Rbtzius.  A.Profil  ansieht, 
B.  Flächenansicht.  Cp  Kopf,  Cd 
Schwanz,  Pf  Perforatorium,  Pc 
Verbindungsstück  des  Schwanzes, 
Ppr  Hauptstück  des  Schwanzes, 
LPpr  Grenze  des  Hauptstücks 
gegen  das  Endstück  des 
Schwanzes  Pi. 


Ungleiche 
Differenzierung 
der  Keimzellen. 


q8       Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

wir  nach  ihrer  Rolle  beim  Befruchtungsprozeß  als  weibliche  und  männliche 
bezeichnen,  zwei  Momente  in  Betracht,  die  miteinander  konkurrieren  und  in 
einem  Gegensatz  zueinander  stehen.  Erstens  müssen  die  zwei  Zellen,  von 
denen  wir  bei  Besprechung  des  Befruchtungsprozesses  gleich  sehen  werden, 
daß  sie  sich  zu  einer  gemischten  Anlage  vereinigen,  in  der  Lage  sein,  sich 
aufzusuchen  und  zu  verbinden.  Zweitens  ist  es  aber  auch,  wenn  aus  dem 
Verschmelzungsprodukt  ein  vielzelliger,  komplizierter  gebauter  Organismus  in 
einem  kurz  bemessenen  Zeitraum  entstehen  soll,  von  Wichtigkeit,  daß  gleich  von 
Anfang  an  viel  entwicklungsfähige  Substanz  vorhanden  ist  und  nicht  erst  auf 
dem  zeitraubenden  Umweg  der  Ernährung  von  den  sich  bildenden  und  diffe- 
renzierenden Embryonalzellen  selbst  herbeigeschafft  zu  werden  braucht." 

,,Um  der  ersten  Aufgabe  zu  genügen,  müssen  die  Zellen  beweglich  und 
daher  aktiv  sein;  für  die  zweite  Aufgabe  dagegen  müssen  sie  entwicklungs- 
fähige Substanz,  Vorräte  an  Nahrungsstoff,  der  beim  raschen  Ablauf  des  Ent- 
wicklungsprozesses dann  aufgebraucht  werden  kann,  in  sich  aufspeichern;  sie 
müssen  dementsprechend  an  Größe  zunehmen,  was  wieder  naturgemäß  eine 
Beeinträchtigung  ihrer  Beweglichkeit  zur  Folge  haben  muß." 

,,So  konkurrieren  denn  zwei  Momente  miteinander,  von  denen  das  eine 
die  Zelle  beweglich  und  aktiv,  das  andere  dagegen  sie  unbeweglich  und  passiv 
zu  machen  sucht.  Die  Natur  hat  beide  Aufgaben  gelöst,  indem  sie  Eigenschaften, 
die  ihrem  Wesen  nach  in  einem  Körper  unvereinbar,  weil  gegensätzlich  zuein- 
ander sind,  nach  dem  Prinzip  der  Arbeitsteilung  auf  die  beiden  zum  Befruch- 
tungsakt verbundenen  Zellen  verteilt  hat.  Sie  hat  die  eine  Keimzelle  aktiv 
und  befruchtend,  d.  h.  männlich,  die  andere  dagegen  passiv  und  empfangend, 
d.  h.  weiblich  gemacht.  Die  weibliche  Zelle,  das  Ei,  hat  dabei  die  Aufgabe  über- 
nommen, für  die  Substanzen  zu  sorgen,  welche  zur  Ernährung  und  Vermehrung 
des  Zellprotoplasma  und  seiner  Differenzierungsprodukte  bei  einem  raschen  Ab- 
lauf des  Entwicklungsprozesses  erforderlich  sind.  Sie  hat  daher  während  ihrer 
Ausbildung  im  Eierstock,  in  einer  Periode,  die  man  auch  ganz  passend  als  ihre 
Vorentwicklung  gekennzeichnet  hat,  Dottermaterial  (Reservestoffe)  auf- 
gespeichert und  ist  dementsprechend  groß  und  unbeweglich  geworden.  Der 
männlichen  Zelle  dagegen  ist  die  zweite  Aufgabe  zugefallen,  die  Vereinigung 
mit  der  ruhenden  Eizelle  herbeizuführen.  Sie  hat  sich  daher  zum  Zwecke  der 
Fortbewegung  in  einen  kontraktilen  Samenfaden  umgebildet  und  hat  sich,  je 
vollkommener  sie  ihrer  Aufgabe  angepaßt  ist,  um  so  mehr  aller  Substanzen  ent- 
ledigt, welche,  wie  z.  B.  das  Dottermaterial  oder  selbst  das  Protoplasma, 
diesem  Hauptzweck  hinderhch  sind.  Dabei  hat  sie  zugleich  auch  eine  Form 
angenommen,  welche  für  den  Durchtritt  durch  die  Hüllen,  mit  welchen  sich 
das  Ei  zum  Schutz  umgibt,  und  für  das  Einbohren  in  den  Dotter  die  zweck- 
mäßigste ist." 

Nachdem  wir  so  den  Gegensatz  in  der  Form  und  Größe  der  beiderlei  Ge- 
schlechtszellen in  befriedigender  Weise  glauben  erklärt  zu  haben,  können  wir 
uns  nun  auch  zu  dem  Vorgang  wenden,  der  Jahrhunderte  lang  die  Wißbegier 
der  Naturforscher  angeregt  und  zur  Aufstellung  zahlreicher  verschiedenartiger 


Der  Befruchtungsprozeß  qq 

Theorien  veranlaßt  hat,  aber  trotzdem  für  sie  bis  in  unsere  Tage  ein  uner- 
forschbares Mysterium  gebheben  war.  Denn  ein  solcher  Vorgang  war  der  Be- 
fruchtungsprozeß. Als  einst  der  berühmte  Physiologe  Haller  in  seinem  großen 
Handbuch  der  Physiologie  an  das  Kapitel  der  Zeugung  kam,  hat  er  es  mit  der 
damals  gewiß  berechtigten  Klage  begonnen:  ,,Ingratissimum  opus,  scribere 
de  iis,  quae  multis  a  natura  circumiectis  tenebris  velata,  sensuum  luci  inac- 
cessa,  hominum  agitantur  opinionibus." 

2.  Der  Befruchtungsprozeß. 

Es  ist  eine  bekannte  Erfahrung,  daß  reife  Eier,  von  wenigen  Ausnahmen  Ältere zeagungs- 
abgesehen,  damit  sie  in  den  Entwicklungsprozeß  eintreten  können,  zuvor  der  t^^eorien 
Befruchtung  bedürfen.  Andernfalls  erlischt  ihre  Lebensfähigkeit,  und  es  beginnt 
ihr  Zerfall  mit  unerwarteter  Schnelligkeit  einzutreten.  Schon  von  alters  her 
hat  man  daher  darüber  nachgedacht,  in  welchen  Eigenschaften  diese  entwick- 
lungserregende Kraft  des  Samens  besteht,  und  in  welcher  Weise  sie  sich  im  Ei 
geltend  macht.  Bei  derartigen  Betrachtungen  kam  man  freihch  über  völlig 
haltlose  Hypothesen  im  17.  und  18.  Jahrhundert  nicht  hinaus,  da  es  an  den 
für  die  Beantwortung  unentbehrlichen  Vorbedingungen,  an  Beobachtungs- 
tatsachen, welche  in  den  Naturwissenschaften  die  Grundlage  für  jeden  Fort- 
schritt bilden,  noch  fehlte.  Da  der  Samen  bei  den  Wirbeltieren,  welche  den  am 
nächsten  liegenden  Ausgangspunkt  für  Reflexionen  bildeten,  aus  zwei  Bestand- 
teilen, aus  einer  den  Spermageruch  darbietenden  Flüssigkeit  und  aus  geformten, 
beweglichen  Körperchen,  den  Samenfäden,  besteht,  so  waren  sich  die  For- 
scher lange  Zeit  darüber  im  unklaren,  welcher  von  beiden  Teilen  das  eigent- 
lich befruchtende  Prinzip  sei.  Gewöhnlich  hielt  man  für  dasselbe  fast  allge- 
mein die  Samenflüssigkeit;  sie  sollte  durch  die  Eihüllen  durchdringen,  mit  dem 
Inhalt  sich  vermischen  und  so  auf  chemischem  Wege  den  Anstoß  zur  Ent- 
wicklung geben.  Mit  den  Samenfäden  aber,  in  welchen  einst  die  noch  später 
zu  besprechende  Schule  der  Animalkulisten  die  präformierten  Geschöpfe  er- 
blickt hatte,  wußte  man  bei  dieser  Ansicht  nichts  Rechtes  anzufangen;  man 
hielt  sie  vielfach  für  kleinste  parasitische  Tiere,  für  Spermatozoä,  welche  die 
Samenfiüssigkeit,  Infusorien  vergleichbar,  bevölkern.  (Valisneri.)  Findet 
sich  doch  noch  in  der  berühmten  Physiologie  von  Joh.  Müller  aus  dem  Jahr 
1840  die  Bemerkung:  ,,0b  die  Samentierchen  parasitische  Tiere  oder  belebte 
Urteilchen  des  Tieres,  in  welchem  sie  vorkommen,  sind,  läßt  sich  für  jetzt 
noch  nicht  mit  Sicherheit  beantworten." 

Eine  Klärung  wurde  erst  allmähhch,  teils  durch  das  physiologische  Ex- 
periment, teils  durch  mikroskopische  Beobachtungen  herbeigeführt.  Indem 
man  Froschsamen  durch  Filtration  in  seine  flüssigen  und  festen  Bestandteile 
trennte  (Spallanzani,  Leuckart),  konnte  festgestellt  werden,  daß  mit  der 
Flüssigkeit  benetzte  Eier  unentwickelt  blieben  und  bald  zerfielen,  während 
solche,  die  mit  dem  Filterrückstand,  mit  den  Samenfäden,  betupft  wurden, 
sich  alsbald  auch  regelrecht  teilten  und  entwickelten.  Auf  der  anderen  Seite 
wurde  die  Lehre  von  der  Parasitennatur  der  Samenfäden  durch  die  sich  immer 


I OO      Oscar  Hertwig  :  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

mehr  vervollkommnende  mikroskopische  Forschungsmethode  unhaltbar  ge- 
macht, da  ihre  Entstehung  in  den  Geschlechtsorganen  des  sie  bergenden  Tieres 
durch  Umwandlung  von  Zellen  direkt  bewiesen  werden  konnte.  So  spitzte 
sich  denn  von  jetzt  ab  das  Problem  der  Befruchtung  immer  mehr  in  die  Frage 
zu,  in  welcher  Weise  und  wodurch  die  Samenfäden  den  Anstoß  zur  Entwick- 
lung des  Eies  geben.  Daß  diese  sich  bei  der  Befruchtung  an  der  Oberfläche  der 
Eier  oft  in  großer  Zahl  festsetzen  und  an  den  Eihüllen  haften  bleiben,  wobei 
sie  mit  den  Geißeln  lebhafte  pendelnde  Bewegungen  ausführen,  konnte  bei 
mikroskopischer  Untersuchung  geeigneter  Objekte  häufig  wahrgenommen 
werden.  Derartige  Beobachtungen  gaben  wohl  die  Anregung  zu  einer  1847 
aufgestellten  chemisch-physikalischen  Erklärung  des  Befruchtungsprozesses 
durch  Kontakt  (Bischof!.  Leuckart).  Nach  ihr  sind  ,, die  Vorgänge  im  befruch- 
teten Ei  das  Produkt  von  zweierlei  Faktoren,  von  der  primitiven  Disposition 
des  Bildungsmateriales  und  von  der  molekularen  Bewegung,  die  demselben 
von  den  Samenkörperchen  bei  der  Berührung  mitgeteilt  wird." 

Die  Kontakttheorie  wurde  indessen  bald  durch  neue  Beobachtungen  über- 
holt und  in  den  Schatten  gestellt.  Von  verschiedenen  Forschern  (Barry, 
Newport,  Nelson,  Meißner,  Bütschli,  Auerbach  usw.)  wurden  Beobach- 
tungen, die  zum  Teil  allerdings  noch  wenig  zuverlässig  und  unsicher  waren, 
mitgeteilt,  daß  man  in  dem  Dotter  der  Eier  bei  verschiedenen  Tieren  (Kanin- 
chen, Frosch,  Ascaris)  eingedrungene  Samenfäden  aufgefunden  habe.  Diese 
sollten  dann  bald  nach  dem  Eindringen  zerfallen  und  sich  allmählich  auf- 
lösen. Daher  neigte  man  von  jetzt  ab  mehr  der  Ansicht  zu,  daß  die  Samen- 
fäden wohl  meist  in  größerer  Zahl  sich  in  das  Ei  einbohren  und  durch  ihren 
Zerfall  und  durch  Vermischung  ihrer  Substanz  mit  dem  Dotter  befruchtend 
wirken.  Den  Stand  der  Befruchtungsfrage,  wie  er  bis  zum  Jahre  1875  lag,  hat 
Wundt  in  seinem  Lehrbuch  der  Physiologie  (1873)  in  richtiger  Weise  zutreffend 
durch  folgende  zusammenfassende  Sätze  bezeichnet:  ,,Die  wesentliche  Be- 
dingung der  Befruchtung  ist  höchst  wahrscheinlich  das  Eindringen  der  Samen- 
körperchen  in  den  Eiinhalt,  das  in  den  verschiedensten  Wirbeltierklassen 
nachgewiesen  werden  konnte.  Nachdem  die  Samenkörperchen  in  das  Ei  ein- 
gedrungen sind,  verlieren  sie  sehr  schnell  ihre  Beweglichkeit  und  lösen  sich 
im  Dotter  auf.  Eine  Theorie  oder  auch  nur  irgend  begründete  Hypothese  über 
die  Natur  der  Vorgänge,  durch  welche  die  Samenelemente  nach  ihrem  Ein- 
dringen in  den  Dotter  in  diesem  den  Entwicklungsprozeß  anregen,  besitzen 
wir  nicht." 

Ein  neuer  Wendepunkt  trat  in  dem  Jahre  1875  ein,  in  welchem  an  einem 
besonders  geeigneten  Objekt  und  mit  den  Hilfsmitteln  moderner  mikrosko- 
pischer Technik  das  Eindringen  des  Samenfadens  in  das  Ei  und  die  dadurch 
im  Innern  des  Dotters  hervorgerufene  Veränderung  auf  das  genaueste  fest- 
gestellt und  so  die  mikroskopische  Grundlage  für  die  jetzt  gültige  ,, biologische 
Theorie  des  Befruchtungsprozesses"  (Oscar  Hertwig)  gewonnen  wurde.(^) 
Künstliche  Für  das  mikroskopische  Studium  des  Befruchtungsprozesses  sind  Tiere 

Befruchtung.  .  ,,  ,,,.  i     ■,,■-,•  t^-         ■,         ■  •         i 

geeignet,  weiche  erstens  sehr  kleine  und  durchsichtige  Eier  besitzen,  in  denen 


Der  Befruchtungsprozeß 


lOl 


man  bei  Verwendung  starker  Vergrößerungslinsen  im  Dotter  die  kleinsten 
Körnchen  wahrnehmen  kann  und  welche  zweitens  die  Vornahme  der  künst- 
lichen Befruchtung  gestatten. 

Denn  in  diesem  Fall  gewinnt  der  Forscher  die  Möglichkeit,  den  Eintritt 
der  Befruchtung  zu  einem  von  ihm  willkürlich  gewählten  Termin  zu  bestim- 
men; er  kommt  hierdurch  in  die  Lage,  alle  Veränderungen  vom  ersten  Augen- 
blick bis  zu  dem  Punkt  zu 
verfolgen,  an  welchem  man 
die  Befruchtungsvorgänge 
als  abgeschlossen  bezeich- 
nen kann. 

Ein  derartiges  geeig- 
netes Material  liefern  uns 
die  Echinodermen,  beson- 
ders die  Seeigel,  an  welchen 
der  Verlauf  der  Befruch- 
tung in  lückenloser  Folge 
zuerst  aufgeklärt  werden 
konnte.  Sie  sind  ebenso 
wie  die  etwas  später  für 
Befruchtungsstudien  ver- 
werteten Nematoden  (un- 
ter ihnen  besonders  Ascaris 
megalocephala,  der  Pferde- 
spulwurm) bisin  die  neueste 

Z/Clt  das  KiaSSlSCne  iViaterial  Fig.  3.     Schema    über    den    Befruchtungsprozeß    des    Seeigeleies.     Nach 

o-phlif^Kpn      wpInViPC      immpr  Hertwig.     A.  Das  reife  Ei   im  Moment  der  Befruchtung,  mit  Eikern  (etA) 

gCUllCUCll,     WCH-nCb     IllUUCl  und  Empfängnishügel  (^).    Am  eingedrungeneu  Samenfaden  ist  der  Kopf  (^), 

wieder    von    neuem      unter-  ^"^^    Mittelstück  (m)    und    der    Endfaden    zu    unterscheiden.     £ — D.   Drei 

Stadien    in    der    Annäherung    von    Samenkern  und  Eikern    bis   zur  gegen- 

SUCht     wird.        Die      Seeigel,  seltlgen  Anlagerung;    in   B   ist   die    zum  Schutz   gebildete  Dotterhaut  {dA) 

<    1             .                             U    U     ■  ™^''  gezeichnet,  dagegen  in   C  und  D  weggelassen,     sk  Samenkern,  ezA  Ei- 

an  WelCne  wir  uns  aUCn   bei  j^gj-n,  c  Centrosom,  ^/!  Dotterhaut,  e  Empfängnishügel. 

dieser  Darstellung  zunächst 

halten  wollen,  sind  getrennten  Geschlechts.  Um  die  künstliche  Befruchtung 
auszuführen,  entleert  man  von  einem  laichreifen  Weibchen  reife  Eier  aus  dem 
Eierstock  in  ein  kleines,  mit  Seewasser  gefülltes  Uhrschälchen,  entnimmt 
dann  in  derselben  Weise  einem  männlichen  Tiere  frischen  Samen  und  ver- 
dünnt ihn  in  einem  zweiten  Uhrschälchen  in  reichlicher  Weise  mit  Meerwasser. 
Auf  einem  Objektträger  bringt  man  je  einen  Tropfen  eierhaltiger  und  samen- 
haltiger  Flüssigkeit  mit  einer  feinen  Glaspipette  zusammen,  vermischt  sie  und 
deckt  sofort  das  Präparat  unter  geeigneten  Kautelen,  damit  die  Eier  nicht 
gepreßt  und  zerdrückt  werden  können,  vorsichtig  mit  einem  Deckgläschen  zu; 
dann  beginnt  man  unverzüglich  die  Beobachtung  bei  starker  Vergrößerung. 

Man  kann  jetzt  am  lebenden  Objekt  leicht  verfolgen,  wie  von  den  zahl-  Verlauf  der 
reichen,  im  Wasser  lebhaft  herumschwimmenden  Samenfäden  (Fig.  3)  sich^^"^"*^ '"''^' 
immer  mehr  auf  der  Oberfläche  der  Eier  festsetzen,  wobei  sie  fortfahren,  mit 


lO?       Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

ihrer  Geißel  peitschende  Bewegungen  auszuführen.  Stets  aber  wird  unter 
normalen  Verhältnissen  die  Befruchtung  nur  von  einem  einzi- 
gen Samenfaden  und  zwar  von  demjenigen  ausgeführt,  der  sich  am  frühe- 
sten dem  membranlosen  Ei  genähert  hat.  An  der  Stelle,  wo  sein  Kopf,  der  die 
Gestalt  einer  kleinen  Spitzkugel  hat,  mit  seiner  scharfen  Spitze  die  Ober- 
fläche des  Dotters  berührt,  reagiert  diese  auf  den  Reiz  durch  Bildung  eines 
kleinen  Höckers  von  homogenem  Protoplasma,  des  Empfängnishügels  (Fig.  3, 
Ae),  wie  ich  ihn  zu  nennen  vorgeschlagen  habe.  Durch  sein  Auftreten  wird  der 
Beobachter  gewöhnlich  zuerst  auf  den  Beginn  des  Befruchtungsprozesses  auf- 
merksam gemacht.  Denn  am  Empfängnishügel  bohrt  sich  der  Samenfaden 
rasch  mit  seinem  Kopf  {Ak)  in  das  Ei  ein,  so  daß  nur  der  kontraktile  faden- 
förmige Anhang  noch  eine  Weile  nach  außen  hervorsieht.  Fast  gleichzeitig 
wird  eine  feine  Membran  (Fig.  3,  Bdh)  vom  befruchteten  Ei  auf  seiner  ganzen 
Oberfläche  ausgeschieden;  sie  beginnt  zuerst  in  der  Umgebung  des  Empfäng- 
nishügels und  breitet  sich  von  hier  rasch  um  das  ganze  Ei  aus.  Im  Moment 
ihrer  Ausscheidung  liegt  sie  der  Dotterrinde  unmittelbar  auf,  doch  nur  eine 
verschwindend  kurze  Zeit;  denn  bald  beginnt  sie  sich  von  ihr  abzuheben  und 
durch  einen  immer  breiter  werdenden  Zwischenraum,  der  von  klarer  Flüssig- 
keit (dem  Liquor  perivitellinus)  erfüllt  ist,  getrennt  zu  werden.  Die  Ab- 
hebung wird  dadurch  hervorgerufen,  daß  der  protoplasmatische  Eiinhalt  in- 
folge des  Reizes  beim  Eindringen  des  Samenfadens  und  in  unmittelbarem 
Anschluß  an  die  durch  ihn  vorher  ebenfalls  ausgelöste  Membranbildung  sich 
etwas  zusammenzieht  und  dabei  Flüssigkeit  aus  seinem  Innern  auspreßt. 

Die  Bildung  einer  Dotterhaut  (Membrana  vitellina)  hat  außer  dem  Schutz, 
den  sie  später  dem  sich  in  ihrem  Innern  entwickelnden  Embryo  bietet,  auch 
noch  die  hohe  physiologische  Bedeutung,  daß  sie  für  alle  die  übrigen  Samen- 
fäden, die  sich  in  reicher  Menge  auf  ihrer  Oberfläche  ansetzen,  ganz  undurch- 
dringlich ist  und  dadurch  eine  Befruchtung  durch  mehr  als  einen  Samenfaden 
unmöglich  macht,  was  ich  ja  schon  früher  als  das  normale  bezeichnet  habe. 

An  diese  verschiedenen  Vorgänge,  die  sich  teils  nach-  teils  nebeneinander 
in  ein  paar  Minuten  abspielen,  schließen  sich  unmittelbar  weitere  Veränderun- 
gen an,  die  man  als  den  inneren  Befruchtungsakt  zusammenfassen  kann.  Der 
in  die  Eirinde  eingedrungene  Kopf  beginnt  sich  alsbald  in  der  Weise  zu  drehen, 
daß  der  auf  ihn  folgende  Hals  mit  dem  Centrosom  (Fig.  3,  Bc)  nach  einwärts 
zu  liegen  kommt.  Dabei  wird  das  Centrosom  zum  Mittelpunkt  einer  Strah- 
iungsfigur,  da  sich  das  Protoplasma  in  seiner  unmittelbaren  Umgebung  zu 
einem  strahhgen  Gefüge,  wie  Eisenfeilspäne  um  den  Pol  eines  Magneten,  an- 
zuordnen beginnt.  Auch  vergrößert  sich  der  Kopf  zusehends,  indem  sein  Chro- 
matin sich  mit  Flüssigkeit,  die  es  aus  dem  Dotter  bezieht,  vollsaugt  und  seine 
Form  einer  Spitzkugel  verhert.  Er  wandelt  sich  auf  diesem  Wege  allmähhch 
wieder  in  einen  bläschenförmigen  Samenkern  (Fig.  3,  Bsk)  um. 

Und  jetzt  beginnt  —  etwa  5  Minuten  nach  Vornahme  der  Befruchtung  — 
ein  interessantes,  am  lebenden  Objekt  gut  sichtbares  Phänomen  das  Auge  des 
Beobachters  zu  fesseln.    Die  beiden  im  Ei  vorhandenen  Kerne  setzen  sich  in 


Der  Befruchtungsprozeß 


lO.S 


ks  kf  kn  km 

1       '     I 
I 


Bewegung  und  wandern  langsam,  doch  mit  wahrnehmbarer  Geschwindigkeit, 
aufeinander  zu,  als  ob  sie  sich  gegenseitig  anzögen  (Fig.  3,  A — D  sk  u.  eik). 
Der  durch  das  Spermatozoon  neu  eingeführte  Samenkern  verändert  rascher 
seinen  Ort,  wobei  ihm  die  schon  oben  erwähnte  Protoplasmastrahlung  mit 
dem  in  ihr  eingeschlossenen  Centrosom  voranschreitet  und  sich  dabei  immer 
weiter  in  der  Umgebung  ausbreitet.  Langsamer  bewegt  sich  der  etwas  größere 
Kern  der  Eizelle,  der  keine  eigene  Strahlung  besitzt.  Derselbe  unterscheidet 
sich  zu  dieser  Zeit,  wie  ein 
Vergleich  der  Figuren  4  und 
5  sofort  lehrt,  sehr  wesent- 
lich von  dem  Keimbläschen 
(Fig.  5  kb),  welches  nur  einem 
unreifen  Zustand  des  Eies 
eigentümlich  ist.  Er  ist  beim 
Seeigel  wie  überhaupt  auch 
bei  allen  übrigen  Tieren 
außerordentlich  viel  kleiner 
als  dasselbe  und   hebt   sich 


Fii 


Fig.  5.  Unreifes  Ei  aus  dem  Eier- 
stock eines  Seeigels  mit  Keim- 
bläschen. Nacli  Oscar  Hertwig. 
km  Kernmembran,  kn  Kernnetz, 
kf  Keirafleck,  ks  Kernsaft. 


Reifes  Ei  vom  Seeigel. 
nur  als  heller,  wenig  scharf  Es  scUießt  im  Dotter  den  sehr 
,  T-,,        ,  ,  kleinen,    homogenen    Eikern    {eik) 

begrenzter  l^leck  von  dem  ein.  Nach  oscar  hertwig. 
feinkörnigen,  weniger  durch- 
sichtigen Dotter  ab  (Fig.  ä^eik).  Infolge  wichtiger  Veränderungen,  die  in 
einem  folgenden  Abschnitt  noch  eine  besondere  Darstellung  finden  werden, 
ist  er  aus  einem  kleinen,  aber  physiologisch  sehr  wichtigen  Bruchteil  der  Sub- 
stanz des  Keimbläschens  hervorgegangen,  während  andere  Bestandteile  des- 
selben teils  aufgelöst  teils  in  anderer  Weise  ganz  aus  dem  Dotter  entfernt  wor- 
den sind.  Er  ist  daher  auch  vom  Keimbläschen  mit  Recht  durch  einen  be- 
sonderen Namen  als  ,,  Eikern"  unterschieden  worden.  Wie  jenes  für  die  un- 
reife weibliche  Keimzelle  (Fig.  5)  ist  dieser  für  das  ,,Reifei"  (Fig.  4)  charak- 
teristisch. 

Beide  Kerne  treffen  sich  etwa  eine  Viertelstunde  nach  Beginn  der  Be- 
fruchtung nahe  der  Mitte  des  Eies,  legen  sich  immer  fester  zusammen  und 
platten  sich  an  der  Berührungsfläche  gegenseitig  so  ab,  daß  der  Samenkern 
dem  etwas  größeren  Eikern  wie  eine  kleine  Calotte  aufsitzt  (Fig.  3,  D  eik  u.  sk); 
schließlich  verschmelzen  sie  vollständig  untereinander  zu  einem  Gebilde,  das 
teils  aus  väterlicher  teils  aus  mütterlicher  Substanz  durch  Vermischung 
(Amphimixis)  hervorgegangen  ist.  Das  Verschmelzungsprodukt  muß  daher 
wieder  mit  einem  besonderen  Namen  als  ,,  Keimkern"  oder  ,,Furchungs- 
kern"  unterschieden  werden.  Es  liegt  inmitten  einer  Strahlungsfigur,  welche 
in  der  Umgebung  des  Centrosoms  (Fig.  3,  Cc)  entstanden  den  Samenkern 
auf  seiner  Wanderung  begleitet  und  sich  jetzt  durch  die  ganze  Dottermasse 
bis  an  die  Oberfläche  ausgebreitet  hat  (Fig.  3,  D).  Mit  der  Verschmelzung  der 
beiden  Kerne  ist  der  Befruchtungsprozeß  beendet  ;  durch  ihn  hat  das  Ei  die 
Fähigkeit   zu   seiner   Entwicklung   erworben,    welche   gewöhnlich   sofort   mit 


I04      Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

einer  neuen  Reihe  von  Erscheinungen  beginnt,    die    als  Teilungs-    oder  Fur- 
chungsprozeß  in  der  Entwicklungslehre  zusammengefaßt  werden. 
Verbreitung  des  Die    Befruchtungsvorgängc,    die   wir    auf   den  vorausgegangenen    Seiten 

Befruchtungs-    ^         Seeigel  kennen  gelernt  haben,   sind  in   den  seit  ihrer  Entdeckung  ver- 

prozesses.  ja  o  '  ö 

flossenen  drei  Jahrzehnten  nicht  nur  von  vielen  Beobachtern  an  dem  gleichen 
Objekt  bestätigt,  sondern  auch  an  den  Vertretern  zahlreicher  anderer  Tier- 
formen, bei  Cölenteraten,  bei  vielen  Würmern  und  Mollusken,  bei  verschiede- 
nen Arthropoden,  bei  Tunikaten  und  Wirbeltieren  wie  bei  Amphioxus,  bei 
der  Forelle,  dem  Frosch,  dem  Triton,  der  Maus  usw.  in  prinzipiell  der  gleichen 
Weise  nachgewiesen  worden.  Es  handelt  sich  daher  um  allgemein  gültige  oder 
gesetzmäßige  Erscheinungen  für  das  gesamte  Tierreich.  So  ist  denn  auch  der 
deduktive  Schluß  naturwissenschaftlich  voll  berechtigt,  daß  der  Befruchtungs- 
prozeß in  allen  den  Fällen,  in  denen  er  wie  im  Ei  des  Menschen,  der  Beobach- 
tung unzugänglich  ist,  sich  in  derselben  Weise  ebenfalls  abspielen  wird, 
überfruchtung.  Was  wir  bishcr  besprochen  haben,  ist  die  Befruchtung  in  ihrem  normalen 

Polyspermie.  Verlauf;  sie  kann  aber  auch  in  dieser  und  jener  Weise  gestört  werden  und  dann 
zu  Erscheinungen  führen,  die  als  Überfruchtung  oder  Polyspermie 
bekannt  sind.  Polyspermie  kann  bei  Eiern  beobachtet  werden,  bei  denen 
schon  längere  Zeit  seit  ihrer  Reife  verflossen  und  dadurch  ein  Zustand  ein- 
getreten ist,  den  man  Überreife  nennt,  ferner  aber  auch  bei  Eiern,  die  unter 
anormale  Bedingungen  vor  und  während  der  Befruchtung  geraten  sind.  Der 
Experimentator  hat  hier  Gelegenheit,  Polyspermie  durch  die  verschieden- 
artigsten Eingriffe  willkürlich  hervorzurufen.  Er  kann  zum  Beispiel,  was  am 
meisten  von  allgemeinem  Interesse  sein  wird,  Eier,  die  zur  Vornahme  experi- 
menteller Eingriffe  geeignet  sind,  wie  solche  der  Seeigel,  in  einen  narkose- 
artigen Zustand  versetzen  mit  den  Mitteln,  welche  das  Nervensystem  des 
Menschen  betäuben,  wie  Chloralhydrat,  Kokain,  Morphium  usw.  Wenn  geringe 
Dosen  dieser  Narkotika  zu  Seewasser  hinzugesetzt  werden,  in  welchem  sich 
Seeigeleier  befinden,  so  genügen  schon  wenige  Minuten,  um  in  ihnen  eine  Art 
Narkose  hervorzurufen.  Dies  zeigt  sich  sofort,  wenn  man  sie  in  reines  Seewasser 
zurückbringt  und  dann  mit  frischem  Samen  befruchtet.  Denn  von  den  Samen- 
fäden, die  sich  der  Oberfläche  eines  Eies  nähern,  dringen  anstatt  eines,  jetzt 
zwei,  drei  und  noch  mehr  ein.  An  verschiedenen  Stellen  sieht  daher  der  Be- 
obachter in  kurzen  Intervallen  hintereinander  zwei,  drei  und  mehr  Empfäng- 
nishügel in  der  Dotterrinde  entstehen  und  ebensoviel  Strahlenfiguren  im 
Protoplasma  gebildet  werden,  in  deren  Mittelpunkten  die  Köpfe  der  einge- 
drungenen Samenfäden  hegen.  Wodurch  ist  diese  Abweichung  vom  normalen 
Verlauf  bedingt  worden.?  Die  Erklärung  für  sie  möchte  wohl  folgende  sein. 
Durch  die  Narkotika  ist  die  Erregbarkeit  (Irritabilität)  des  Protoplasma  in 
verschiedenem  Maße  herabgesetzt  worden.  Das  Ei  reagiert  daher  nicht  mehr 
sofort  auf  den  Reiz  des  zuerst  eindringenden  Samenfadens  durch  die  Abschei- 
dung einer  Dotterhaut;  noch  ein  zweiter,  ein  dritter  Samenfaden  und  so  fort 
erhalten  dadurch  Gelegenheit  sich  am  Ei  anzusetzen  und  einzubohren,  bis  in- 
folge der  verstärkten  Reizung  die  verspätete  Bildung  der  Dotterhaut  doch  noch 


Theorie  der  Befruchtung  105 

erfolgt  und  ein  weiteres  Eindringen  unmöglich  macht.  Wie  fortgesetzte  Be- 
obachtung lehrt,  entwickeln  sich  zwar  überfruchtete  Eier  noch  eine  Zeitlang 
weiter,  hefern  aber  ganz  abnorme  Produkte,  die  sehr  frühzeitig  zugrunde 
gehen.  Infolge  der  zahlreichen  Samenkerne,  die  sich  im  Dotter  neben  dem 
Eikern  befinden,  entstehen  von  Anfang  an  irreguläre  Kernteilungsfiguren  und 
an  Stelle  normaler  Zellteilungen  unregelmäßige  Zerklüftungen  des  Dotters 
(Knospenfurchung),  die  schheßlich  zu  vollständigem  Zerfall  führen. 

Durch  den  Verlauf  der  Polyspermie  wird  somit  bestätigt,  was  wir  gleich 
am  Anfang  hervorgehoben  haben,  daß  die  normale  Befruchtung  nur  von  einem 
einzigen  Samenfaden  ausgeführt  wird.  Zum  Schluß  fassen  wir  daher  auf  Grund 
der  mitgeteilten  Tatsachen,  die  eine  Errungenschaft  der  letzten  Jahrzehnte  des 
19.  Jahrhunderts  sind,  das  Wesen  der  Befruchtung  in  die  kurzen  Sätze  zu- 
sammen: 

Die  Befruchtung  hat  zur  Aufgabe,  die  Vereinigung  zweier  Zellen  herbei-  „Die  biologische 
zuführen,  die  von  einem  weiblichen  und  einem  männlichen  Individuum  der  fruchtung." 
gleichen  Art  abstammen  und  in  ihrer  Verbindung  die  Anlage  für  ein  neues  Ge- 
schöpf liefern,  das  Eigenschaften  von  beiden  Erzeugern  darbietet.  Der  wich- 
tigste Vorgang  bei  der  Zellverschmelzung  ist  aber  offenbar  die  Vereinigung, 
oder  um  einen  Ausdruck  von  Weismann  zu  gebrauchen,  die  Amphimixis  von 
Ei-  und  Samenkern.  Zur  Erfüllung  dieser  Aufgabe  sind  die  beiderlei  Geschlechts- 
zellen während  ihrer  Entstehung  in  den  weiblichen  und  männlichen  Keim- 
drüsen in  verschiedener  Weise  gleichsam  vorbereitet  und  nach  dem  Gesetz  der 
Arbeitsteilung  in  entgegengesetzter  Richtung  differenziert  worden.  Die  Ei- 
zelle ist  mit  einer  großen  Masse  von  Nährmaterial  beladen  worden,  durch 
welches  allein  ein  rascher  Ablauf  der  ersten  Entwicklungsprozesse  ermöglicht 
wird;  sie  ist  daher  groß  und  unbeweglich  geworden.  Damit  aber  unter  diesen 
Umständen  eine  Befruchtung  noch  zustande  kommen  kann,  mußte  die  männ- 
liche Zelle  klein  und  beweglich  und  zum  Eindringen  in  das  kuglige  Ei  geeignet 
werden.  Die  so  grundverschiedene  Beschaffenheit  der  weiblichen  und  der  männ- 
lichen Keimzellen  findet  so  ihre  einfache  Erklärung  aus  der  entgegengesetzten 
Natur  der  Aufgaben,  die  sie  als  die  Grundlagen  eines  auf  geschlechtlicher  Zeu- 
gung beruhenden  Entwicklungsprozesses  übernommen  haben. 

Durch  ,, die  biologische  Theorie  der  Befruchtung"  ist  jetzt  auch  ein  befrie- streit  der  Ovisten 
digender  Abschluß  für  eine  alte  Streitfrage  gewonnen  worden,  welche  einst  "  ^3°^^ 
während  mehrerer  Jahrhunderte  zwischen  der  Schule  der  Ovisten  und  der 
Animalkulisten  bestanden  und  eine  große  Rolle  in  der  Geschichte  der  Wissen- 
schaften gespielt  hat.  Mit  Befriedigung  aber  muß  es  uns  noch  jetzt  erfüllen, 
wenn  wir  an  die  Gedankenarbeit  der  großen  Naturforscher  vergangener  Zeiten 
anknüpfend  klar  erkennen  können,  wie  auf  beiden  Seiten  Wahrheit  und  Irr- 
tum verteilt  waren,  und  warum  damals  eine  Vereinigung  der  beiden  entgegen- 
gesetzten Standpunkte  nicht  möglich  war.  Daß  die  in  der  alten  Zeit  un- 
lösbare Streitfrage  der  Ovisten  und  der  Animalkuhsten  entstehen  konnte, 
lag  wesentlich  in  dem  Dogma  der  Präformation,  welches  aufgebaut  auf  dem 
Boden  kirchhcher  Überlieferungen  das  16.  bis  18.  Jahrhundert  beherrscht  hat. 


io6      Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Nach  der  Lehre  der  Präformation,  welcher  so  hervorragende  Forscher  wie 
Swammerdam,  Harvey,  Leibniz,  Spallanzani,  Haller,  Bonnet  u.  a.  anhingen, 
stellt  der  Keim  eines  neuen  Geschöpfes  nichts  anderes  dar,  als  ein  vollständiges, 
nur  außerordentlich  verkleinertes  Miniaturbild  desselben.  Im  unbebrüteten 
Hühnerei  z.  B.  sollte  nach  dieser  Vorstellung  schon  von  Anfang  an  ein  wirk- 
liches Küchelchen  mit  allen  seinen  Organen,  mit  Herz,  Darmkanal,  Drüsen  usw. 
enthalten  sein,  nur  in  einer  für  uns  nicht  erkennbaren  Weise,  weil  alle  Teile 
anfangs  unendlich  klein  und  eben  deswegen  zugleich  auch  durchsichtig  sein 
sollten. 

Nach  dieser  Auffassung  ist  die  Entwicklung  eines  Tieres  nur  ein  Wachs- 
tumsprozeß, bei  welchem  die  schon  im  kleinen  vorhandenen  Organe  nur  größer 
und  größer  werden.  Anfangs  betrachteten  die  Anhänger  der  Präformations- 
theorie das  Ei  als  das  präformierte  Geschöpf,  da  man  ja  dasselbe  direkt  aus  ihm 
entstehen  sah.  Der  berühmte  Harvey  hat  solcher  Vorstellung  in  dem  be- 
kannten Satz:  Omne  vivum  ex  ovo,  einen  kurzen  Ausdruck  gegeben.  Ein 
Zweifel  an  seiner  Richtigkeit  konnte  indessen  später  auftauchen,  als  Leeu- 
wenhoek,  der  erste  Mikroskopiker  seiner  Zeit,  in  der  Samenfiüssigkeit  mit 
Hilfe  selbst  angefertigter  Vergrößerungsgläser  bewegliche  Körperchen,  die 
Spermatozoen,  im  Jahre  1 677  entdeckte.  Und  da  diese  wegen  ihrer  wurmf  örmigen 
Gestalt  und  wegen  ihrer  Fähigkeit,  durch  Bewegung  den  Ort  zu  verändern, 
eine  viel  größere  Ähnlichkeit  mit  Lebewesen  darbieten,  als  die  großen  kugeligen 
Eier,  die  selbst  erst,  um  sich  entwickeln  zu  können,  der  Befruchtung  durch  den 
Samen  bedürfen,  so  kam  ihm  der  an  sich  naheliegende  Gedanke,  daß  nicht 
die  Eier,  sondern  die  Spermatozoen  die  wahren  Miniaturgeschöpfe  sind.  Nun 
bedurfte  es  nur  noch  weniger  Zutaten,  um  die  Hypothese  der  Animalkulisten 
als  Gegenstück  zu  derjenigen  der  Ovisten  fertig  auszubilden.  Wenn  die  Ovisten 
die  Samenfiüssigkeit  nur  als  ein  Reiz-  und  Nährmittel,  um  das  Miniaturge- 
schöpf im  Ei  zum  Wachstum  zu  bringen,  betrachteten,  so  kehrten  die  Animal- 
kulisten den  Sachverhalt  jetzt  einfach  um;  sie  erblickten  im  Ei  nur  den  geeig- 
neten Nährboden  für  das  Wachstum  des  Samenfadens  und  ließen  denselben 
in  das  Ei  einfach  hineinschlüpfen,  obwohl  sie  einen  derartigen  Vorgang  zur  da- 
maligen Zeit  nicht  hatten  beobachten  können.  Leeuwenhoek  selbst  hat  sich 
vergeblich  um  seinen  Nachweis  bemüht. 

Die  Lehre  der  Animalkulisten,  welcher  sich  auch  der  berühmte  Leibniz 
anschloß,  geriet  übrigens  bald  in  der  Wissenschaft  in  Mißkredit.  Teils  lag  dies 
an  den  phantastischen  Übertreibungen,  in  welche  dilettantenhafte  Natur- 
forscher verfielen.  So  verstieg  sich  ein  Schriftsteller,  der  unter  dem  angenom- 
menen Namen  Dalenpatius  schrieb,  zu  der  kühnen  Behauptung,  daß  er  die 
Häutung  eines  menschlichen  Samenfadens  unter  dem  Vergrößerungsglas  direkt 
habe  verfolgen  können,  und  er  lieferte  als  Beweis  hierfür  eine  Abbildung  eines 
so  frisch  gehäuteten  Miniaturmenschen,  an  welchem  er  den  noch  von  der  Hülle  be- 
deckten Kopf  und  die  eben  frei  gewordene  Brust,  Arme  und  Beine  im  kleinen  dar- 
stellte (Fig.  6).  Hartsoeker  aber  lieferte  zur  Hypothese  Leeuwenhoeks  eine 
Illustration  (Fig.  7),  in  welcher  er  in  das  jetzt  Kopf  genannte  Stück  des  Samen- 


Ovisten  und  Animalkulisten 


107 


Fig.  6.  Ein  mensch- 
licher  Samenfaden 
nach  der  Häutung. 
Phantasiebild         von 

Dalenpatius. 


fadens  einen  menschlichen  Embryo  mit  zusammengeschlagenen  Extremitäten 
einzeichnete,  den  kontraktilen  Faden  aber  zur  Nabelschnur  machte,  durch 
welche  der  Samenfaden,  wenn  er  ins  Ei  geschlüpft  ist,  den  In- 
halt desselben  zu  seiner  Ernährung  aufsaugt.  Ihren  Todesstoß 
aber  erlitt  die  Hypothese,  als  durch  Bonnet  die  Partheno- 
genese entdeckt  und  durch  ihn  der  Beweis  geliefert  wurde, 
daß  auch  ohne  Befruchtung,  also  ohne  den  Zutritt  eines  Samen- 
tierchens, sich  das  Ei  zu  einem  Geschöpf  entwickelt  und  daß 
es  daher  mehr  als  ein  bloßes  Nahrungsmittel  ist.  So  kam 
denn  die  Zeit,  wo  unter  der  Herrschaft  der  Ovisten  die  Sper- 
matozoen  für  parasitische  Geschöpfe  des  Samens,  vergleich- 
bar den  Infusorien  in  faulenden  Flüssigkeiten ,  gehalten 
wurden. 

Wenn  wir  jetzt  von  dem  Standpunkt  unserer  neu  gewon- 
nenen Erkenntnis  des  Befruchtungsprozesses  aus  die  sich  wider- 
sprechenden Lehren  der  Ovisten  und  der  Animalkulisten  beur- 
teilen und  sie  zu  verstehen  uns  bemühen,  so  sehen  wir  Wahrheit 
und  Irrtum  auf  beiden  Seiten  in  eigenartiger  Mischung  verteilt, 
und  begreifen  zugleich,  daß  die  alten  Naturforscher  in  das  Wesen  E«y  v 
der  Befruchtung  zu  ihrer  Zeit  nicht  tiefer  einzudringen  ver-  \%\-m, 
mochten,  nicht  nur  weil  ihnen  die  Vorstellung  vom  elementaren  V/-4";''"^^ '' 
Aufbau  der  Organismen,  vor  allem  auch  der  Begriff  der  Zelle 
als  einer  niederen  Lebenseinheit  noch  ganz  fehlte,  sondern 
auch  weil  sie  in  dem  Dogma  der  Präformation  in  einer  die  vor- 
urteilslose Beobachtung  hemmenden  Weise  befangen  waren. 
Denn  wie  ich  in  einem  in  St.  Louis  gehaltenen  Vortrag  über 
die  Probleme  der  Zeugungs-  und  Vererbungslehre  schon  be- 
merkt habe,  „der  Gedanke  der  Verschmelzung  zweier  Organis- 
men zu  einer  neuen  Einheit,  durch  welchen  der  Hauptstreit- 
punkt der  beiden  sich  bekämpfenden  Schulen  in  einfacher  und 
der  Wirklichkeit  entsprechenden  Weise  würde  beseitigt  worden 
sein,  konnte  den  Anhängern  der  Präformationstheorie  nicht  in 
den  Sinn  kommen.  Denn  wenn  die  Keime  schon  die  Miniatur- 
geschöpfe sind,  zusammengesetzt  aus  vielen  Organen,  wie 
sollte  es  möglich  sein,  daß  sie  sich  paarweise  zu  einem  einheit- 
lichen Organismus  verbinden  und  gleichsam  mit  ihren  Organen 
und  Geweben  in  eins  zusammenfließen.?" 

Unter  der  Herrschaft  der  Präformationstheorie  konnte  es 
nur  heißen:  Entweder  das  Ei  oder  der  Samenfaden  ist  das 
präformierte  Geschöpf.  Das  eine  schloß  das  andere  aus.  Für 
uns  dagegen,  die  wir  wissen,  daß  die  Keime  abgelöste  Zellen  der  Eltern,  also 
relativ  einfache  Elementarorganismen  sind,  trägt  die  Vorstellung  der  Amphimixis 
keine  derartigen  Schwierigkeiten  in  sich.  Und  im  übrigen  handelt  es  sich  ja 
für  uns  auch  um  feste  Tatsachen.     Können  wir  doch  die  Vereinigung  einer 


Fig.  7.  Schema  eines 
menschlichen  Samen- 
fadens nach  der  Auf- 
fassung der  Animal- 
kulisten. 
Nach  Hartsoeker. 


lo8      Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d  Tiere 

weiblichen  und  einer  männlichen  Zelle  und  sogar  die  Vereinigung  ihrer  ein- 
zelnen Bestandteile,  besonders  ihrer  Kerne  und  der  in  ihnen  eingeschlossenen 
Substanzen,   direkt  unter  dem  Mikroskop  verfolgen. 

Mit  der  Erkenntnis  der  Möghchkeit  einer  Amphimixis  wird  zugleich  die 
Erscheinung,  daß  die  Kinder  ihren  beiden  Erzeugern  gleichen,  eine  Tatsache,  für 
welche  die  Naturforscher  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  keine  rechte  Erklärung 
zu  geben  wußten,  unserem  Verständnisnähergerückt.  Die  Kinder  gleichen  beiden, 
weil  sie  aus  der  Substanz  von  Vater  und  Mutter  oder  mit  anderen  Worten,  aus 
der  Vereinigung  einer  väterlichen  und  einer  mütterlichen  Anlage  hervorgegangen 
sind.  An  die  Stelle  der  Miniaturgeschöpfe  in  der  alten  Lehre  der  Präformation 
ist  jetzt  in  der  biologischen  Wissenschaft  der  Begriff  der  Anlage  getreten, 
welche  in  der  stofflichen  Zusammensetzung  und  Organisation  der  Zelle,  speziell 
der  Ei-  und  Samenzelle,  gegeben  ist. 
Begriff  der  Zelle  Gchcn  wir  daher    an    dieser  Stelle  auf  den  modernen    Begriff  ,,der 

as.nage.     ^elle  als  Au  1  a  g  c"  in  einigen  Sätzcn  ctwas  näher  ciu.    Er  führt  uns  auf  einen 
Vorstellungskreis,  nach  welchem  wir  auch  die  Keimzellen  als  wahre  Wunder- 
werke der  natürlichen  organischen  Schöpfung  betrachten  müssen.    In  der  Tat, 
bei  tieferem  Nachdenken  können  Ei-  und  Samenzelle  nichts  weniger  als  ein- 
fache Klümpchen  einer  homogenen,  strukturlosen  Protoplasmamasse  sein,  wie 
es  so  häufig  bemerkt  worden  ist,  in  der  Absicht,  die  Entwicklung  als  einen 
chemisch-physikalischen    Naturprozeß,    der   mit   dem   einfachsten   Ausgangs- 
material beginnt,  dem  Laien  darzustellen  und  verständlich  zu  machen.    Vor 
einer  solchen  Ansicht  muß  uns  schon  die  einfache  logische  Überlegung  schützen, 
daß  alle  die  zahllosen  pflanzlichen  und    tierischen  Lebewesen    das  Anfangs- 
stadium ihrer  Entwicklung  als  Zellen  beginnen  und  daß  schon  auf  diesem  An- 
fangsstadium bis  in  das  feinste  Detail  im  voraus  darüber  entschieden  ist,  was 
für  eine  Art  Lebewesen   mit  seinen  Stammes-,  Klassen-,  Familien-,  Spezies- 
und  selbst  individuellen  Eigenschaften  aus  jeder  Zelle  entstehen  wird.    Denn 
darüber  kann  doch  nicht  der  allergeringste  Zweifel  herrschen,  daß,  wenn  die 
Keimzellen  auch  zu  ihrer  Entwicklung  von  außen  her  Stoff  und  Kraft  notwen- 
digerweise beziehen  müssen,  doch  nicht  von  außen  her  über  die  Eigenart  der 
aus  ihnen  entstehenden  Lebewesen  entschieden  wird.    Vielmehr  tragen  die 
Keimzellen  ihre  Eigenart  durch  die  Abstammung  von  spezifisch  gestalteten 
Eltern  bereits  in  ihrer  Anlage  oder  ererbten  Organisation  in  sich.    Wenn  in 
einem  Brutschrank  nebeneinander  ein  Hühner-,  ein  Enten-  und  ein  Gänseei 
unter  genau  den  gleichen  äußeren  Bedingungen,  bei  derselben  Feuchtigkeit  und 
Wärme  und  in  der  gleichen  Atmosphäre  bebrütet  werden,  so  wird  niemand 
auch  nur  den  geringsten  Zweifel  von  vornherein  darüber  hegen,  welche  Vogel- 
art aus  jedem  Ei  auskriechen  wird.    Da  nun  für  alle  drei  die  äußeren  Entwick- 
lungsbedingungen genau  die  gleichen  sind,  so  kann  einzig  und  allein  in  der  von 
vornherein  gegebenen  Anlage  der  drei  Zellen  die  Ursache  für  die  zahllosen  Ver- 
schiedenheiten liegen,  durch  welche  Huhn,  Ente  und  Gans  in  jedem  einzelnen 
Organ,  in  jedem  Gewebe,  wie  z.  B.  in  der  Zahl,  Größe,  Anordnung,  Struktur 
und  Färbung  ihrer  Federn,  voneinander  abweichen. 


Die  Zelle  als  Anlage  log 

Durch  dergleichen  Erwägungen  bin  ich  in  meiner  allgemeinen  Biologie  dazu  Die  „ArtzeUe" 
geführt  worden,  den  Begriff  der ,,  Art  z  eile"  aufzustellen,  das  heißt  einer  Zelle,  in 
deren  feinerer  Organisation  die  wesentlichen  Eigenschaften  der  Art  als  Bestim- 
mungsstücke, übersetzt  in  das  System  von  Zelleneigenschaften,  enthalten  sind  (3). 
Demgemäß  sind  auch  die  Artzellen  ebensogut  wie  die  fertig  ausgebildeten  Lebe- 
wesen schon  die  Repräsentanten  der  Spezies,  deren  wesenthche  Charaktere 
in  ihnen  auf  die  einfachste  Formel  gebracht  sind.  Auch  sie  besitzen  schon  als 
Träger  der  Arteigenschaften  eine  komplizierte  Organisation,  welche  ebensogut 
wie  das  in  seinen  Organen  differenzierte  Individuum  das  Endprodukt  eines 
außerordentlich  langen  phylogenetischen  Entwicklungsprozesses  darstellt. 
Schon  die  Artzellen  sind,  wenn  wir  uns  eines  Ausdrucks  von  Boveri  bedienen, 
historische  Organismen.  Wir  haben  in  den  Artzellen  eine  ungeheure  Fülle  von 
verschiedenen  Organisationen  vor  uns,  die  wir  mit  unseren  Sinnen  wahrzunehmen 
zurzeit  außerstande  sind.  Auch  die  mikroskopische  Untersuchung  mit  den 
stärksten  Linsen  verschafft  uns  kein  Bild  von  den  Merkmalen,  durch  die 
sich  weibliche  und  männliche  Keimzellen  der  einzelnen  Spezies  voneinander 
unterscheiden  müssen.  Doch  kann  uns  hier  die  Überlegung  leiten,  daß  die  bis 
jetzt  beschriebenen  Tierarten  schon  mehr  als  eine  halbe  Milhon  betragen,  daß 
mehrere  Hunderttausend  verschiedener  Pflanzenspezies  existieren,  daß  ferner 
viele  Pflanzen-  und  Tierarten  in  zahlreichen  Rassen,  Varietäten  und  reinen 
Linien  auftreten  und  mit  verwandten  Arten  eine  bunte  Fülle  von  Misch- 
lingen bilden  können  und  daß  dementsprechend  groß  auch  die  Zahl  der  Keim- 
zellen ausfallen  muß,  die  sich  durch  Verschiedenheiten  ihrer  Organisation  von- 
einander unterscheiden.  Kann  eine  derartige  Überlegung  es  für  uns  noch 
zweifelhaft  sein  lassen,  daß  schon  die  ,, einfache  Zelle"  mancher  Autoren  in 
Wirklichkeit  eine  Form  des  Lebens  ist,  die  eine  unser  Denkvermögen  überstei- 
gende Fülle  von  Verschiedenheiten  höheren  und  niederen  Grades  besitzen  muß.? 

In  der  Neuzeit  beginnt  sich  eine  Forschungsrichtung  zu  entwickeln,  welche  Meadeiismus. 
in  das  unseren  Sinnen  noch  unzugängliche  Gebiet  mit  Hilfe  des  biologischen 
Experimentes  tiefer  einzudringen  versucht.  Sie  ist  vor  Jahrzehnten  zuerst  von 
dem  Augustinerpater  Mendel  (4)  begründet  worden,  so  daß  sie  ihm  zu  Ehren 
häufig  als  ,,Mendelismus"  bezeichnet  wird.  Sie  versucht,  worüber  an  anderer 
Stelle  dieses  Werkes  Näheres  berichtet  wird,  in  die  Gesetze  der  Vererbung  ein- 
zudringen, und  zwar  durch  das  Studium  der  Eigenschaften  pflanzlicher  und  tie- 
rischer Bastarde  und  ihrer  Nachkommenschaft  in  mehreren  Generationen. 
Wer  sich  mit  der  Bastardierung  von  Vertretern  zweier  Varietäten,  Rassen 
oder  selbst  näher  verwandter  Arten  beschäftigt,  wird  sich  bald  überzeugen, 
daß  der  aus  solcher  illegitimen  Verbindung  entsprungene  Mischling  Eigen- 
schaften von  beiden  Eltern  erbt,  und  daß  er  hierbei  bald  in  diesem  Punkt  mehr 
der  Mutter,  in  jenem  dem  Vater  gleicht.  Was  aber  noch  wichtiger  ist,  auch  solche 
Eigenschaften  von  Vater  und  Mutter,  die  im  Bastard  zu  fehlen  scheinen  oder  nicht 
zur  Entwicklung  gekommen  sind,  müssen  noch  in  ihm  in  irgendeiner  Weise  ver- 
borgen oder,  wie  man  sagt,  ,,als  latente  Anlagen"  vorhanden  sein.  Denn  wenn 
man  aus  der  ersten  Bastardgeneration  durch  Inzucht  eine  zweite  und  dritte 


I  lo      Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Generation  gewinnt,  so  fallen  diese  Nachkommen  nach  einem  festen,  von 
Mendel  zuerst  ermittelten  Zahlenverhältnis  voneinander  verschieden  aus;  ein 
Teil  trägt  genau  wieder  den  Charakter  der  elterlichen  Bastarde,  ein  zweiter 
Teil  dagegen  gleicht  vollständig  der  Großmutter,  ein  dritter  dem  Großvater; 
also  zeigt  er  zum  Teil  jetzt  Eigenschaften,  welche  die  Bastardeltern  selbst  nicht 
als  sichtbare  Merkmale,  sondern  nur  als  latente  von  den  Stammeltern  ererbte 
Anlagen  besessen  haben.  Da  nun  die  Übertragung  oder  die  Vererbung  von 
Eigenschaften  der  Eltern  auf  die  Kinder  durch  die  Vermittlung  der  weiblichen 
und  männlichen  Keimzellen  geschieht,  so  müssen  dieselben  einander  als  Erb- 
schaftsträger gleichwertig  oder  äquivalent  sein,  indem  das  Ei  alle  Eigenschaften 
der  Mutter,  der  Samenfaden  alle  Eigenschaften  des  Vaters  auf  das  Mischpro- 
dukt als  Anlagen  überträgt. 

Mit  dieser  auf  Beobachtung  fundierten  Tatsache  verbinden  die  Mende- 
lianer  die  Vorstellung,  die  sich  jedenfalls  als  Mittel  der  Verständigung  sehr  emp- 
fiehlt, daß  bei  der  Befruchtung  korrespondierende  mütterliche  und  väter- 
liche Merkmale,  die  als  Anlagen  durch  die  Keimzellen  auf  das  Zeugungspro- 
dukt übertragen  werden,  sich  in  diesem  zu  Anlagepaaren  vereinen.  Für  den 
Fall,  daß  in  einem  Paare  die  von  dem  Vater  und  die  von  der  Mutter  herrührende 
Anlage  verschieden  sind,  kann  die  eine  sich  im  Entwicklungsprozeß  zu  einem 
sichtbaren  Merkmal  entfalten,  die  andere  aber  unterdrückt  oder  an  der  Ent- 
faltung durch  irgendeinen  Umstand  verhindert  werden;  die  eine  wird  daher 
als  die  dominierende,  die  andere  als  die  latente  oder  rezessive  Anlage  unter- 
schieden. Diese  kann  dann  aber  in  einer  Enkelgeneration  aus  später  zu  be- 
sprechenden Gründen  wieder  zur  Entfaltung  gelangen, 
idiopiasma-  Wcnn  wir  an  dcr Vorstcllung  fcsthaltcn,  dic  durch  dieStudienderVererbungs- 

von  Nä'g'eH.  ß'^sch^^'^'-^'^gß^  "^^oh^begründet  ist,  daß  die  beiderlei  Keimzellen  in  be- 
zug  auf  die  Vererbung  elterlicher  Eigenschaften  einander  durch- 
aus gleichwertig  sind,  so  scheint  in  einem  offenbaren  Widerspruch  hierzu 
die  Tatsache  zu  stehen,  daß  das  Ei  mit  tausend-  und  millionenmal  mehr  Sub- 
stanz als  der  Samenfaden  an  dem  Entwicklungsprozeß  des  kindlichen  Orga- 
nismus beteihgt  ist.  Hier  liegt  offenbar  ein  Verhältnis  vor,  das  der  Erklärung 
bedarf.  Der  berühmte  Botaniker  Nägeli  (5)  hat  das  Problem  zuerst  aufgeworfen 
und  in  seinem  gedankenreichen  Werk:  ,,Die  mechanisch-physiologische  Theorie 
der  Abstammungslehre"  den  Versuch  einer  Erklärung  durch  Aufstellung  seiner 
vielumstrittenen  Idioplasmatheorie  gemacht.  In  ihr  unterscheidet  er  an 
den  weiblichen  und  männlichen  Keimzellen  zwei  verschiedene  Substanzen,  ein 
Idiopiasma,  das  im  Ei-  und  Samenfaden  in  gleicher  Menge  vertreten  ist,  und 
ein  Ernährungsplasma,  welches  im  Ei  in  mehr  oder  minder  großer  Masse  an- 
gehäuft ist.  Das  Idiopiasma  bezeichnet  er  als  die  Substanz,  durch  welche  die 
erblichen  Eigenschaften  von  Vater  und  Mutter  als  Anlagen  auf  das  Kind  über- 
tragen werden,  welche  Ansicht  er  in  folgender  Weise  zu  begründen  sucht: 
„Idiopiasma  und  gewöhnliches  Plasma"  —  so  heißt  es  in  seinem  Buch  —  ,,habe 
ich  als  verschieden  angegeben,  weil  mir  dies  der  einfachste  und  natürhchste 
Weg  scheint,  um  die  ungleichen  Beziehungen  der  Plasmasubstanzen  zu  den  erb- 


Idioplasmatheorie  1 1 1 

liehen  Anlagen  zu  begreifen,  wie  sie  bei  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung 
deutlich  werden.  An  die  befruchtete  und  entwicklungsfähige  Eizelle  hat  die 
Mutter  hundert-  oder  tausendmal  mehr  Plasmasubstanzen,  in  denselben  aber 
keinen  größeren  Anteil  an  erblichen  Eigenschaften  geliefert  als  der  Vater. 
Wenn  das  unbefruchtete  Ei  ganz  aus  Idioplasma  bestände,  so  würde  man  nicht 
begreifen,  warum  es  nicht  entsprechend  seiner  Masse  in  dem  Kinde  wirksam 
wäre,  warum  dieses  nicht  immer  in  ganz  überwiegendem  Grade  der  Mutter 
ähnlich  würde.  Besteht  die  spezifische  Eigentümhchkeit,  das  Idioplasma  in 
der  Anordnung  und  Beschaffenheit  der  Mizelle,  so  läßt  sich  eine  gleich  große 
Erbschaftsübertragung  nur  denken,  wenn  in  den  bei  der  Befruchtung  sich  ver- 
einigenden Substanzen  gleich  viel  Idioplasma  enthalten  ist." 

So  wenig  gegen  den  logischen  Gedankengang  von  Nägeli  einzuwenden 
ist,  so  liegt  doch  eine  große  Schwäche  der  Theorie  darin,  daß  von  ihrem  Ur- 
heber auch  nicht  der  geringste  Versuch  gemacht  worden  ist  zu  entscheiden, 
was  in  den  Keimzellen  Idioplasma  und  was  Ernährungsplasma  ist.  Auch  hier 
bleibt  Nägeli  vollständig  auf  dem  Boden  der  Hypothese  stehen.  Ausgehend 
von  seiner  Mizellartheorie  läßt  er  das  Idioplasma  aus  Mizellen  zusammengesetzt 
sein,  die  in  gesetzmäßiger  fester  Verbindung  zu  Fäden  aneinander  gereiht  sind 
und  ein  mikroskopisch  unsichtbares  Netzwerk  bilden,  das  sich  durch  den 
ganzen  Zellkörper  ausbreitet,  für  das  dazwischen  gelegene  Ernährungsplasma 
dagegen  nimmt  er  einen  großen  Wasserreichtum  und  einen  lockeren  Zusammen- 
hang zwischen  den  Mizellen  an. 

Auf  einen  festen  Grund  und  Boden  ist  die  Idioplasmatheorie  erst  durch 
die  mikroskopische  Untersuchung  des  Befruchtungsprozesses  und  den  hier  ge- 
führten Nachweis  gestellt  worden,  daß  in  der  Tat  eine  Substanz,  welche  eine 
hervorragend  wichtige  Rolle  im  Entwicklungsprozeß  spielt  und  allen  von  der 
Hypothese  gestellten  Anforderungen  entspricht,  in  den  Kernen  von  Ei  und 
Samenfaden  in  äquivalenter  Menge  enthalten  ist.  So  konnte  denn  die  Idio- 
plasmatheorie mehr  und  mehr  ihres  hypothetischen  Charakters  entkleidet,  an 
der  Hand  von  Beobachtungstatsachen  auf  ihren  Wert  geprüft  und  für  die 
Wissenschaft  erst  eigentlich  nutzbar  gemacht  werden.  Eine  weitere  Begrün- 
dung dieses  neuen  Standpunktes  kann  aber  mit  Vorteil  erst  gegeben  werden, 
wenn  wir  uns  im  nächsten  Abschnitt  zuvor  mit  der  Entstehung  von  Ei  und 
Samenzelle  und  vor  allen  Dingen  mit  den  viel  untersuchten  Vorgängen,  die 
man  als  ihren  Reifeprozeß  und  als  die  Reduktionsteilung  bezeichnet, 
in  den  wesentlichen  Grundzügen  bekannt  gemacht  haben. 

3.  Ei-  und  Samenbildung.     (Ovo-  und  Spermiogenese.) 

Bei  ihrer  Entstehung  und  Ausbildung  in  Eierstock  und  Hoden  bieten  die  Ei-  u.  Samen 

1    1  •  •    u        bildung. 

Keimzellen  schon  sehr  frühzeitig  Veränderungen  dar,  durch  welche  sie  sich 
von  allen  übrigen  Gewebszellen  unterscheiden  und  auf  ihre  zukünftige  Bestim- 
mung gewissermaßen  vorbereiten.  Ein  vorzügliches  Untersuchungsobjekt  (^) 
hierfür  geben  die  Geschlechtsprodukte  von  Ascaris  megalocephala  ab,  welche 
auch  für  das  Studium  der  Befruchtung  schon  im  vorausgegangenen  Abschnitt 


112      Oscar  HertwiG  :  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

mit  in  erster  Reihe  empfohlen  wurden.  Mit  Umgehung  aller  strittigen  Fragen, 
die  auf  dem  so  viel  bearbeiteten  Forschungsgebiet  noch  in  großer  Zahl  bestehen, 
müssen  wir  uns,  da  die  Darstellung  auf  einen  weiteren  Leserkreis  Rücksicht 
zu  nehmen  hat,  auf  das  Notwendigste  und  Wesentlichste  beschränken. 

Das  Wesentliche  besteht  in  sehr  auffälligen  und  eigentümlichen  Verände- 
rungen, welche  das  Chromatin  in  den  Kernen  der  Samenmutterzelle  (Sperma- 
tozyte) und  der  ihr  entsprechenden  Eimutterzelle  (Ovozyte)  in  einer  Reihe  auf- 
einanderfolgender Stadien  erfährt.  Wie  bei  einer  gewöhnlichen  Zellteilung 
beginnt  sich  das  Chromatin,  das  während  des  sogenannten  Ruhestadiums  des 
Kernes  in  Körnchen  und  Strängen  im  Saftraum  ausgebreitet  ist,  auf  wenige 
große,  fadenförmige  Chromosomen  zu  verteilen.  Ihre  Zahl  ist  bei  Ascaris 
megalocephala  bivalens  im  Vergleich  zu  anderen  Tieren  eine  sehr  geringe  und 
beträgt  nur  vier.  Nach  ihrer  Entstehung  ordnen  sich  die  Chromosomen  in 
einer  Weise,  die  noch  nicht  über  allen  Einwand  festgestellt  ist,  zu  zwei 
Paaren  an  und  beginnen  sich  zugleich  wie  im  Verlauf  einer  Karyokinese  ihrer 
Länge  nach  in  zwei  Tochterchromosomen  zu  spalten.  Infolgedessen  sind  zwei 
Verhältnisse  geschaffen,  wie  sie  im  Lebenszyklus  gewöhnlicher  Gewebszellen 
nicht  beobachtet  werden;  erstens  bilden  die  Chromosomen  zwei  Vierergruppen 
oder  Tetraden,  in  denen  sie  durch  eine  protoplasmatische  Substanz  (Linin) 
untereinander  verbunden  sind,  eine  Anordnung,  die  nur  diesem  bestimmten 
Stadium  in  der  Oo-  und  Spermiogenese  (Fig.  9  A,  ch  u.  8  A,  ch)  eigentüm- 
lich ist,  und  zweitens  ist  infolge  der  Spaltung  ihre  Zahl  auf  das  Doppelte 
(von  4  auf  8)  vermehrt,  wie  es  bei  Gewebszellen  erst  kurz  vor  der  Teilung,  bei 
der  Umwandlung  des  Muttersterns  in  die  beiden  Tochtersterne,  geschieht.  (Man 
vergleiche  hierüber  den  Abschnitt  über  Karyokinese.)  Im  weiteren  Verlauf 
findet  dann  auch  diese  bemerkenswerte  Anordnung  der  chromatischen  Sub- 
stanz in  Vierergruppen  darin  ihre  Erklärung,  daß  am  Ende  der  Spermiogenese 
und  Oogenese  gleich  zwei  Teilungen  anstatt  einer  rasch  aufeinander  folgen  und 
daß  zwischen  ihnen  das  Ruhestadium  des  Kerns  ausfällt,  während  nach  einer 
gewöhnlichen  Karyokinese  sich  sonst  immer  wieder  ein  bläschenförmiger  Ruhe- 
kern ausbildet.  Man  kann  daher  wohl  sagen,  daß  durch  die  Anordnung  in 
Tetraden  die  chromatische  Substanz  vom  Kern  der  Ei-  und  Samenmutterzelle 
frühzeitig  auf  eine  doppelte  Teilung  im  voraus  vorbereitet  worden  ist. 
Spermiogenese.  Auch  soust  noch  bietet  die  Samen-  und  Eireifung  im  einzelnen  interessante 

Besonderheiten  dar,  die  an  der  Hand  der  beiden  Schemata  (Fig.  8  u.  9)  kurz 
besprochen  werden  sollen.  In  den  Samenmutterzellen,  die  erheblich  kleiner 
als  die  dotterreichen  Eier  sind  (Fig.  8^4),  liegt  der  bläschenförmige  Kern  {k) 
mit  den  beiden  Vierergruppen  [ch)  in  der  Mitte  und  behält  diese  Lage  auch  bei, 
wenn  er  sich  bei  Beginn  der  Karyokinese  in  eine  Spindel  umwandelt  (Fig.  85, 
sp  u.  ch).  Die  in  ihrer  Mitte  angeordneten  beiden  Vierergruppen  lassen  hierauf 
eine  jede  ihre  Chromosomen  in  zwei  Hälften  (Fig.  86")  trennen,  die  aus  Paaren 
oder  Dyaden  [ch]  zusammengesetzt  sind.  Während  die  Paare  nach  den  Enden 
der  Spindel  auseinanderweichen,  wird  die  Mutterzelle  durch  eine  zur  Spindel- 
achse senkrecht  gestellte  und  sie  in  der  Mitte  schneidende  Teilebene  (Fig.  d>D) 


Ei-  und  Samenbildunsf 


113 


in  zwei  gleichgroße  Tochterzellen  {tz)  zerlegt,  deren  jede  vier  zu  Paaren  ver- 
bundene Chromosomen  {ch)  erhält.  Diese  ordnen  sich  sofort  ohne  Zwischen- 
schaltung eines  Ruhestadiums  auf  einer  zweiten  neuentstandenen  Spindel  an 
(Fig.  8£);  wieder  weichen 
die  Chromosomen  in  den 
Zweiergruppen  in  entgegen- 
gesetzten Richtungen  aus- 
einander (Fig.  8  F)  und  wer- 
den, indem  abermals  eine 
Teilebene  zwischen  ihnen 
die  Tochterzelle  halbiert, 
auf  je  zwei  Enkelzellen 
(Fig.  86^)  verteilt,  die  dann 
nur  noch  zwei  Chromoso- 
men, eins  von  jeder  Zweier- 
gruppe, besitzt.  Auf  diese 
Weise  sind  aus  der  Samen- 
mutterzelle (Spermatozyte) 
(Fig.  8^)  durch  doppelte 
Teilung  vier  gleichgroße 
Enkelzellen  (Spermatiden) 
(Fig.  8G  u.  H.)  hervorge- 
gangen, die  sich  in  die  ur- 
sprünglich in  Vierergruppen 
angeordneten  acht  Chromo- 
somen genau  geteilt  und  da- 
her je  zwei  erhalten  haben, 
von  jeder  Vierergruppe  ein 
Element.  Zuletzt  wird  die 
Samenbildung  dadurch  voll- 
endet, daß  die  vier  Samen- 
zellen (Spermatiden)  sich 
allmählich  zu  den  reifen  Sa- 
menkörperchen  (Spermato- 
somen) (Fig.  Sy)  umwan- 
deln. Diese  besitzen  bei  As- 
caris  nicht  die  charakteri- 
stische Fadenform  wie  bei 
den  meisten  Tieren,  sondern 
mehr  die  Gestalt  eines  Ke- 
gels oder  einer  Spitzkugel. 
Bei  der  Umwandlung  ver- 
schmelzen die  beiden  Chro- 
mosomen der  Spermatiden 

K.  d.  G.  III.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II 


Fig.  8.  Schema  der  Saraenbildung  (Spermatogenese)  von  Ascaris  megalo- 
ceph.  bivalens.  Nach  O.  Hertwig.  Entwicklung  der  Samenkörper  aus 
der  Samenmutterzelle  (Spermatozyte).  A  Samenmutterzelle  mit  zwei 
Vierergruppeu  (ch)  (Tetraden)  im  Kern  (k),  c  Zentrosom  mit  Strahlung. 
B  Dieselbe  im  Teilstadium  mit  Spindel  [sp)  und  zwei  Vierergruppen  (ch). 
C  Spindel  eines  nächstfolgenden  Stadiums,  auf  dem  sich  jede  Tetrade 
in  zwei  Chromosomenpaare  (Dyaden)  gesondert  hat.  D  Zwei  aus  Tei- 
lung der  SaraenmutterzeUe  entstandene  TochterzeUen  (^2),  Präsper- 
matiden Waldeyers,  von  denen  jede  die  halbe  Spindel  mit  zwei 
Chromosomenpaaren  (Dyaden)  einschließt.  Das  Zentrosom  hat  sich 
wieder  in  zwei  Tochterzentrosomen  geteilt,  zwischen  denen  sich  eine 
neue  kleine  Spindel  anlegt.  E  Die  neue  Spindel  (sp)  in  jeder  Präsper- 
matide hat  sich  vergrößert  und  in  ihrer  Mitte  die  beiden  Chromosomen- 
paare (ch^  und  ch''-)  aufgenommen.  F  An  der  Spindel  haben  sich  die 
Chromosomen  (ch^  und  ch"^)  jedes  Paares  voneinander  getrennt  und  den 
beiden  Spindelpolen  genähert.  G  Die  beiden  Präspermatiden  haben 
sich  in  vier  Enkelzelleu  (ez)  der  Spermatozyte  oder  in  die  vier  Sperma- 
tiden geteilt.  Von  diesen  birgt  jede  nur  zwei  Chromosomen  [ein  Ele- 
ment von  jeder  Vierergruppe  der  Figur  A  und  ein  Zentrosom  (c)]. 
H  Die  zwei  Chromosomen  der  Spermatiden  (ez)  platten  sich  aneinander 
ab  und  bilden  schließlich  einen  kleinen  kompakten,  kugeligen  Kern  [k). 
J  Jede  Spermatide  wandelt  sich  in  einen  Samenkörper  (sp)  von  der 
Form  einer  Spitzkugel  um  [k  =  Kern). 

8 


114     Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u. 

■  ch 


Oogenese. 


sp  m  ck  m  ch  ^ 

Fig. 9  A — //.  Acht  Stadien  vom  Befruchtungsprozeß,  der  Bildung  der  Polzellen  und 
der  ersten  Teilung  des  Eies  von  Ascaris  megaloc.  bival.  Nach  O.Hertwig.  ^Keim- 
bläschen (kd)  mit  zwei  Vierergruppen  (Tetraden)  von  Chromosomen  (c/t),  die  zur 
Unterscheidung  von  den  Chromosomen  männlicher  Herkunft  als  helle  Kreise  ge- 
zeichnet sind.  Samenkörper  {s)  mit  zwei  schwarz  ge  zeichneten  Chromosomen.  B  Erste 
Richtungsspindel  {sp)  mit  zwei  Vierergruppen  {ch).  Samenkörper  {s)  mit  zwei  Chromo- 
somen. C  Bildung  der  ersten  Polzelle  {pz'-)  und  Entfernung  von  zwei  Chromosomen 
jeder  Vierergruppe.  Aus  dem  Samenkörper  entsteht  der  Samenkern  {si).  D  Bildung 
der  zweiten  Polzelle  (pz  )  und  des  Eikems  {eik),  der  von  jeder  Dyade  der  zweiten 
Polspindel  je  ein  Chromosom  enthält  {ch).  E  Annäherung  von  Ei-  und  Samenkem 
{eik,  sk),  deren  Chromosomen  zur  Unterscheidung  als  helle  und  schwarze  Kreise 
{w.ch  und  ni.ch)  dargestellt  sind,  c  Zentrosom.  ./^Befruchtetes  Ei  mit  erster  Teil- 
spindel, deren  vier  Chromosomen  zur  Hälfte  (■zw.C;^)  vom  Eikem,  zur  andern  Hälfte 
{m.ch)  vom  Samenkem  abstammen.  G  Die  weiblichen  (w.ch)  und  die  männlichen 
Chromosomen  von  F  haben  sich  der  Länge  nach  gespalten  und  sind  in  zwei  Gruppen 
von  Tochterchromosomen  auseinander  gewichen  {sp  Spindel,  c  Zentrosom).  H  Die 
beiden  Teilhälften  des  Eies  enthalten  Tochterkerne,  deren  vier  Chromosomen  zur 
Hälfte  vom  Eikern  (zu.  ch),  zur  Hälfte  vom  Samenkem  (?«.  ck)  abstammen. 


Entwicklungslehre  d.  Tiere 

ZU  einem  kleinen, 
kompakten,  kugeligen 
Kern,  in  dem  wahr- 
scheinlich auch  das 
Centrosom  der  letzten 

Teilungsfigur,  die 
Grundlage  für  das  bei 
der  Befruchtung  wie- 
der auftauchende  Cen- 
trosom, mit  einge- 
schlössen  ist. 

Bei  der  Eireife  (Fig. 
9  A — H)  spielen  sich 
im  Kern  genau  die- 
selben Vorgänge,  wie 
sie  oben  beschrieben 
wurden,  ab,  aber  die 
vier  Zellen,  die  hierbei 
entstehen,  fallen  in 
ihrer  Größe  außer- 
ordentlich verschieden 
aus.  Infolgedessen  bie- 
ten hier  die  Reifetei- 
lungen äußerlich  ein 
ganz  anderes  Aussehen 
dar.  Wenn  in  der 
großen    dotterreichen 

Eimutterzelle  der 
Kern  oder,  wie  er  hier 
gewöhnlich  heißt,  das 
Keimbläschen  (Fig. 
9  A,  ^&)sich  in  die  Spin- 
del umwandelt,  so 
bleibt  diese  nicht  in 
der  Mitte  des  Eies  lie- 
gen, sondern  wandert 
bis  an  die  Oberfläche 
empor  und  nimmt  hier 
eine  Stellung  in  der 
Richtung  des  Eiradius 
ein  (Fig.  9 5,  sp).  An 
der  Stelle,  wo  sie  mit 
ihrem  einen  Ende 
die   Eirinde    berührt, 


Ei-  und  Samenbildung  j  i  c 


wölbt  sich  hierauf  der  Dotter  zu  einem  kleinen  Hügel  empor,  in  welchen  gleich- 
zeitig die  Spindel  zur  Hälfte  hineinrückt  (Fig.  gC,  pz^).  Der  Hügel  wird  hierauf 
an  seiner  Basis  eingeschnürt  und  mit  der  in  ihm  eingeschlossenen  Hälfte  der 
Spindel  vom  übrigen  Eiinhalt  als  ein  winziges  Kügelchen  abgetrennt.  Dasselbe 
führt  von  der  Zeit  her,  wo  es  zuerst  beobachtet,  aber  in  seiner  Bedeutung  voll- 
ständig verkannt  wurde,  den  Namen  Richtungskörperchen  oder  Polzelle, 
Namen,  die  auch  jetzt  noch  gebraucht  werden.  Den  ersten  gab  man,  durch  die 
Wahrnehmung  veranlaßt,  daß  von  dem  Orte  aus,  wo  sich  das  Richtungskörper- 
chen befindet,  die  erste  Teilebene  gebildet  wird.  Der  zweite  Name  aber  wurde 
gewählt,  weil  der  Ort  seiner  Entstehung  kein  willkürlicher  ist,  sondern  bei 
Eiern,  die  nach  ihrer  inneren  Organisation  polar  differenziert  sind,  dem  animalen 
Pol  entspricht,  welcher  bei  der  Ruhelage  des  Eies  nach  oben  gerichtet  ist.  Der 
animale  Pol  läßt  sich  daher  aus  der  Lage  der  Polzellen  sofort  bestimmen. 

In  früheren  Zeiten  war  die  Ansicht  weit  verbreitet,  daß  in  dem  kleinen 
Kügelchen  irgendein  unbrauchbar  gewordener  Bestandteil,  wobei  man  an  das 
dem  Untergang  kurz  zuvor  verfallene  Keimbläschen  dachte,  aus  dem  Ei  aus- 
gestoßen werde;  sprach  doch  ein  Forscher  zur  drastischen  Bezeichnung  dieses 
Standpunktes  vom  Richtungskörperchen  als  von  dem  Kot  des  Eies.  Jetzt  wissen 
wir  auf  Grund  der  eben  beschriebenen  Vorgänge,  daß  es  sich  um  eine  wirkhche, 
durchKaryokinese  gebildete,  kleineZelle  handelt.  Denn  das  Richtungskörperchen 
besitzt  nicht  nur  alle  Merkmale  einer  Zelle,  Protoplasma  und  Kern,  sondern  ist 
auch  durch  einen  wirklichen  Teilungsprozeß  aus  einer  Mutterzelle  entstanden. 
Allerdings  sind  in  diesem  Fall  die  Teilprodukte  von  sehr  ungleicher  Größe;  aber 
dies  ist  nur  ein  nebensächlicher  Unterschied,  der  sich  weder  gegen  die  Zellnatur 
der  Kügelchen,  noch  gegen  ihre  Entstehung  durch  Zellteilung  geltend  machen 
läßt.  Ungleiche  (inaequale)  Zellteilungen  werden  ja,  wenn  wir  das  ganze  Tier- 
reich überbhcken,  hier  und  da  in  allen  möglichen  Abstufungen  beobachtet  und 
als  Knospung  bezeichnet,  wenn  es  sich  um  so  erhebliche  Größenunterschiede 
zwischen  den  Teilprodukten  wie  in  dem  vorliegenden  Fall  handelt.  Die  Polzelle 
ist  daher  eine  Knospe,  entstanden  aus  einer  oft  riesig  großen  Mutterzelle,  dem  Ei. 

Sofort  nach  der  Abschnürung  der  ersten  Knospe  wiederholt  sich  der- 
selbe Vorgang  noch  einmal.  Die  an  der  Oberfläche  des  Dotters  zurückgebliebene 
halbe  Spindel  mit  ihren  beiden  Chromosomenpaaren  ergänzt  sich,  ohne  in  das 
bläschenförmige  Ruhestadium  des  Kerns  zuvor  wieder  eingetreten  zu  sein, 
rasch  wieder  zu  einer  vollen  Spindel;  wieder  wölbt  sich  unter  der  ersten  Pol- 
zelle ein  kleiner  protoplasmatischer  Hügel  empor,  der  die  zweite  Spindel,  nach- 
dem die  beiden  Elemente  jeder  Zweiergruppe  sich  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung voneinander  getrennt  haben,  wieder  zur  Hälfte  in  sich  aufnimmt  und 
darauf  als  Kügelchen  abschnürt  (Fig.  gD,  pz^).  Im  Ei  bleiben  mithin  jetzt 
von  den  acht  Chromosomen  der  beiden  Vierergruppen  (Fig.  9,  A  u.  B,  ch)  nur 
zwei  zurück,  ein  Element  von  jeder  Gruppe,  und  bilden  die  Grundlage  für  den 
Eikern  (Fig.  gD,  eik),  der  sich  von  dem  Keimbläschen  des  unreifen  Eies 
so  wesentlich  unterscheidet  und  bei  dem  Befruchtungsprozeß  in  der  früher  be- 
schriebenen Weise  eine  wichtige  Rolle  spielt.   Da  nun  gleichzeitig  auch  die  erste 

8* 


Ii6     Oscar  HertwiG:   Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Polzelle  oft  noch  einmal  geteilt  wird,  liegen  im  ganzen  drei  Kügelchen  dem 
reifen  Ei  auf  (Fig.  gE). 
Vergleich  der  Ei-  Die  Vergleichspunkte  zwischen  Ei-  und  Samenbildung  liegen  jetzt  klar 

'"'^"  zutage  (7).   Wie  die  Samenmutterzelle,   hat  sich  auch  die  Eimutterzelle  rasch 
hintereinander  zweimal  geteilt,  so  daß  hier  wie  dort  vier  Zellen  gebildet  worden 
sind.    Dabei  ist  zwischen  beiden  Kernteilungen  das  Ruhestadium   des  Kerns, 
was  bei  gewöhnlichen  Zellteilungen  niemals  geschieht,  ganz  ausgefallen.    Hier 
wie  dort  sind  die  acht  Chromosomen  des  Kerns,  welche  zu  Vierergruppen  mit- 
einander verbunden  waren,  in  gleicher  Weise  auf  die  vier  Enkelzellen  verteilt 
worden,  so  daß  jede  ein  Element  jeder  Vierergruppe  erhalten  hat.    Zwischen 
Ei-  und  Samenbildung  besteht  eine  Abweichung  allein  in  dem  Punkt,  daß  die 
vier  Teilprodukte  der   Samenmutterzelle,   die   Spermatiden,   von  genau   der- 
selben Größe  sind  (Fig.  8,  G  u.  H)  und  sich  ohne  Unterschied  in  befruchtungs- 
fähige Samenkörper  [J)  umwandeln,  daß  dagegen  aus  der  Eimutterzelle  vier 
sehr  ungleich  große  Zellen  entstanden  sind  (Fig.  gE):  das  Reif  ei,  welches  zur 
Befruchtung  und  zur  Grundlage  für  einen  neuen  Organismus  allein  geeignet  ist, 
und  die  drei  kleinen  Polzellen,  welche  für  die  weitere  Entwicklung  ohne  jede 
Bedeutung  sind  und  allmählich  zugrunde  gehen.  Diese  können  mit  Recht  als 
Abortiveier  gedeutet  werden,  da  sie,  wie  der  Vergleich  gelehrt  hat,  in  der- 
selben Weise  wie  die  vier  Samenkörper  von  einer  entsprechenden  Mutterzelle 
(Ovocyte,  Spermatocyte)  abstammen.    Das  Rudimentärwerden  der  drei  Pol- 
zellen läßt  sich  biologisch  auch  leicht  verstehen,  wenn  wir  uns  unserer  früheren 
Betrachtung  erinnern,   daß  Ei-  und  Samenzelle  für  den  Befruchtungs-   und 
Entwicklungsprozeß  mit  verschiedenen  Aufgaben  betraut  und  dementspre- 
chend auch  verschieden  differenziert  worden  sind.    Da  es  beim  Ei  darauf  an- 
kommt, eine  große  Masse  Nährmaterial  während  seines  Wachstums  im  Eier- 
stock anzusammeln,  so  würde  dieser  Aufgabe  im  letzten  Moment  entgegenge- 
wirkt werden,  wenn  bei  der  Reife  schließlich  das  Ei  durch  zwei  Teilungen  in  vier 
gleich  große  Stücke  zerlegt  werden  würde.    Um  diesen  Verlust  zu  verhüten, 
dient  der  Kunstgriff  der  Natur,  drei  Zellen  leer  ausgehen  zu  lassen,  damit  von 
den  vieren  die  eine  für  den  Entwicklungsprozeß  besser  ausgerüstet  ist,  ähnlich 
wie   bei    Fideikommissen    ein    Haupterbe    auf    Kosten    aller    übrigen   bevor- 
zugt wird.    Man  könnte  hier  den  Einwurf  machen,  daß  sich  dieser  Zweck  in 
einfacherer  Weise  hätte  erreichen  lassen,  wenn  überhaupt  die  letzten  Teilungen 
ganz  unterblieben  wären.    Hierbei  wird  aber  vergessen,  daß  diese  Teilungen 
in  anderer  Richtung  unentbehrlich  sind,  da  durch  sie  ja  erst  das  Mengenver- 
hältnis der  chromatischen  Substanz  in  ganz  bestimmter  Weise  reguliert  wird. 
Würden  sie  bei  der  Eibildung  ausbleiben,  so  würde  der  Kern  des  Eies  (Fig.  9, 
A,  kb,  ch)  bei  der  Befruchtung  ja  viermal  soviel  Chromatin  als  der  vom  Samen- 
faden abstammende  Samenkern  (Fig.  8,  J,  k  u.  Fig.  9,  Dsk)  besitzen,  und  da- 
durch von  ihm  wesentlich  verschieden  sein. 

Um  ein  volles  Verständnis  der  Ei-  und  Samenreife  zu  gewinnen,  müssen  wir 
daher  jetzt  noch  auf  die  wichtige  Frage  nach  der  Regulierung  der  Kernsub- 
stanz bei  der  Ei-  und  Samenbildung  eingehen. 


Das  Zahlengesetz  der  Chromosomen 


117 


Bei  dieser  Frage  haben  wir  an  die  Art   des   Kernwachstums  und   an  zahiengesetzder 
das  Zahlengesetz  der  Chromosomen  anzuknüpfen.    Bei  der  Vermehrung 
der  Zellen  ist  der  Kern  in  hervorragender  Weise  beteihgt,  wie  aus  der  Reihe 
der  höchst  auffälligen  Veränderungen,  von  denen  er  gerade  vorzugsweise  be- 
troffen wird,  geschlossen  werden  muß  (Fig.  10,  A — F).    Während  des  Ruhe- 


stadiums des  Kerns  bis 
zur  nächsten  Teilung  — so 
nimmt  man  an  —  findet 
eine  Verdoppelung  der 
Masse  seines  Chromatins 
statt  (Fig.  10^).    Beider 

Karyokinese  wird  es 
durch  die  Anordnung  in 
einen  feinen  Faden,  durch 
die  Trennung  desselben  in 
eine  bestimmte  Anzahl 
von  Chromosomen  [Bu.C] 
und  durch  ihre  Längsspal- 
tung {D)  genau  halbiert 
und  auf  die  beiden  Toch- 
terzellen {E  u.  F)  verteilt. 
In  diesen  wächst  es  wäh- 
rend des  bläschenförmi- 
gen Kernzustandes  all- 
mählich wieder  auf  das 
Doppelte  heran,  um  bei 
der  nächsten  Kernteilung 
wieder  halbiert  zu  werden 
und  so  fort.  Der  Prozeß 
der  Karyokinese  erscheint 
mitHinblick  auf  seine  auf- 
fällige Substanzumlage- 
rung  aber  auch  geeignet, 
wie  als  Mittel  zur  Halbie- 
rung des  Chromatins,  so 
auch  als  Mittel  einer 
gleichmäßigen  Verteilung 
seiner  verschiedenartigen 
Qualitäten  auf  die  Toch- 
terzellen zu  dienen,  vor- 
ausgesetzt daß  in  ihm  qua- 
litativ verschiedene  Stoffe 
enthalten  sind.  Nehmen 
wir  zum  Beispiel  an,  jedes 


A 


B 


Fig.  10.  Sechs  Stadien  der  Zellteilung  und  Kernteilung  Karyokinese). 
Nach  HertwIG.  A.  (Erstes  Stadium.)  Zelle  mit  ruhendem,  bläschenförmigem 
Kern  und  einem  Zentrosom  (c).  Der  Kern  zeigt  ein  Liniennetz  mit  auf- 
gelagerten Körnern  und  Fäden  von  Chromatin  (ch).  B.  (Zweites  Stadium.) 
Während  der  Vorbereitung  zur  Teilung  (Prophase)  hat  sich  das  Chromatin 
zu  einem  Faden  zusammengezogen,  der  hierauf  durch  Querteilung  in  vier 
Stücke  (Chromosomen)  zerlegt  ist.  Das  Zentrosom  (c)  der  Figur  A  hat  sich 
geteilt,  und  zwischen  den  auseinander  gerückten  Teilstücken  ist  eine  Spindel 
entstanden.  C.  (Drittes  Stadium.)  Der  bläschenförmige  Kern  hat  sich  auf- 
gelöst. Die  beiden  Zentrosomen  der  Fig.  B  sind  weiter  auseinander  gerückt, 
und  die  Spindel  (sp)  zwischen  ihnen  ist  erheblich  größer  geworden.  Die 
vier  Chromosomen  [ch)  der  Fig.  B  haben  sich  in  der  Mitte  der  Spindel 
regelmäßig  zum  Mutterstern  angeordnet.  D.  (Viertes  Stadium.)  Die  vier 
Chromosomen  der  Spindel  haben  sich  ihrer  Länge  nach  in  je  zwei  Tochter- 
chromosomen (c/z'  und  ch"-)  gespalten.  E.  (Fünftes  Stadium.)  Die  durch 
Längsspaltung  entstandenen  Tochterchromosomen  haben  sich  nach  den 
entgegengesetzten  Enden  der  länger  gewordenen  Spindel  immer  weiter 
voneinander  entfernt  (Bildung  der  zwei  Tochtersterne).  Die  Zelle  beginnt 
sich  jetzt  in  ihrer  Mitte  (//)  einzuschnüren.  F.  (Sechstes  Stadium.)  Die 
Durchschnürung  ist  eine  vollständige  geworden ;  die  Mutterzelle  ist  infolge- 
dessen in  zwei  Hälften  zerlegt.  In  jeder  Tochterzelle  ist  aus  der  Hälfte 
der  Spindel  ein  bläschenförmiger  Tochterkern  entstanden,  welcher  die 
chromatische  Substanz  von  vier  Tochterchromosomen  [cH)  enthält.  Jedem 
Tochterkern  {k)  liegt  ein  Zentrosom  (c)  an. 


Ii8     Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Chromosom  bestände  aus  einer  einfachen  Reihe  von  verschiedenartigen  Kügel- 
chen,  so  würden  diese  infolge  der  Längsspaltung  halbiert  und  ihre  Hälften  würden 
auf  die  beiden  Tochterzellen  gleichmäßig  verteilt  werden  müssen.  Diese  Mög- 
lichkeit zusammen  mit  der  Kompliziertheit  der  Karyokinese  im  Vergleich  zur 
einfachen  Durchschnürung  des  Protoplasma  bei  einer  Teilung  scheint  darauf 
hinzudeuten,  daß  wir  es  im  Chromatin  mit  einem  für  den  Lebensprozeß  der 
Zelle  besonders  wichtigen  Stoff  zu  tun  haben. 

Denselben  Schluß  können  wir  auch  noch  aus  einem  weiteren  gesetz- 
mäßigen Verhalten  des  Chromatins  ziehen.  Den  vielen  Forschern,  die  sich  mit 
dem  Studium  des  Karyokinese  beschäftigt  haben,  ist  es  schon  früh  auf- 
gefallen, daß  die  Zahl  der  Chromosomen  bei  den  Kernteilungen  einer  Tierart 
in  allen  Zellen  immer  genau  die  gleiche  ist,  mag  es  sich  um  eine  Epidermis-, 
eine  Drüsen-,  eine  Muskel-,  Bindegewebs-  oder  Knorpelzelle  usw.  handeln. 
Dagegen  zeigen  verschiedene  Tierarten  oft  große  Unterschiede  in  der  Zahl  der 
sich  bildenden  Chromosomen;  denn  sie  kann  2  oder  4  (Fig.  10,  A — F)  oder  6 
oder  16  oder  24  und  so  weiter  betragen.  Von  allen  Zellen  einer  Spezies  wird 
aber  immer  die  ihr  eigentümliche  Chromosomenzahl  bei  der  Karyokinese  fest- 
gehalten. Daher  hat  man  die  Konstanz  dieser  Erscheinungen  als  das  Zahlen - 
gesetz  der  Chromosomen  bezeichnet.  Und  damit  kommen  wir  zu  dem 
für  unsere  Betrachtung  wichtigsten  Punkt.  Von  dem  Zahlengesetz  der 
Chromosomen  weichen  bei  allen  Tieren  die  reifen  Ei-  und  Samenzellen  aus- 
nahmlos ab.  Denn  im  Ei-  und  Samenkern  werden  immer  nur  halb  soviel 
Chromosomen  als  in  den  Kernen  aller  übrigen  Zellen  der  betreffenden  Tier- 
art aufgefunden  (Fig.  8,  G  u.  H;  Fig.  9,  D,  eik  u.  sk).  Die  einen  sind  daher 
Vollkerne,  die  anderen  nur  Halbkerne  in  bezug  auf  ihren  Chromatin- 
gehalt  und  die  Zahl  ihrer  Chromosomen.  Auch  hierin  handelt  es  sich 
um  eine  gesetzmäßige  Erscheinung,  die  durch  zahlreiche  Untersuchungen  an 
den  Vertretern  der  verschiedenartigsten  Tierabteilungen  nachgewiesen  wor- 
den ist. 

Bei  Berücksichtigung  dieser  Verhältnisse  wird  es  uns  jetzt  sofort  klar,  warum 
bei  der  Reifung  der  Eizelle  die  Bildung  der  Polzellen,  trotzdem  sie  nur  abortive 
oder  rudimentäre  Eier  sind,  nicht  ganz  unterdrückt  werden  konnte. 
Reduktions-  Denn  die  bei  ihrer  Bildung  stattfindenden  Kernteilungen  sind  notwendig, 

um  die  für  die  reifen  Geschlechtsprodukte  gesetzmäßige  Regulierung  der 
Chromosomenzahl  herbeizuführen.  Unsere  ganze  Betrachtung  über  die  Ei- 
und  Samenreife  können  wir  daher  in  das  allgemeine  Ergebnis  zusammenfassen : 
Durch  die  außerordentlich  früh  eintretende  Anordnung  der 
chromatischen  Substanz  in  Vierergruppen,  durch  die  Verteilung 
der  vier  Chromosomen  einer  Gruppe  auf  vier  Zellen,  durch  zwei 
sich  ohne  Pause  aneinander  anschließende  Teilungen  —  näm- 
lich bei  der  Samenreife  auf  vier  Spermatiden  (Fig.  8),  bei  der  Ei- 
reife  auf  das  Reifei  und  auf  drei  Polzellen  (Fig.  9)  wird  die  Masse 
des  Chromatins  sowie  die  Zahl  der  Chromosomen  auf  die  Hälfte 
dessen    herabgesetzt,    was   andere    Zellen   nach   einer   Teilung   er- 


prozeß. 


Reduktionsprozeß  und  Äquivalenz  von  Ei-  und  Samenkern  iio 

halten.  Mithin  sind  Ei-  und  Samenkern  in  bezug  auf  die  Masse 
des  Chromatins  und  die  Chromosomenzahl  nur  Halbkerne.  (Pro- 
nuclei.) 

Dem  gesamten  Vorgang  hat  man  in  der  embryologischen  Literatur  den 
passenden  Namen  Reduktionsprozeß  gegeben  und  verbindet  hiermit  ge- 
wöhnlich noch  die  Vorstellung,  daß  gleichzeitig  mit  der  Halbierung  des  Chro- 
matins nach  Masse  und  Zahl  auch  eine  qualitativ  ungleiche  Verteilung  seiner 
Bestandteile,  eine  qualitative  Sonderunp  verbunden  ist,  wobei  man  gern  auf 
letztere  das  Hauptgewicht  legt.  Es  ist  klar,  daß  durch  die  mikroskopische 
Untersuchung  nur  die  quantitative  Reduktion  nachgewiesen  und  sicher  ge- 
stellt ist,  daß  dagegen  eine  quahtative  Sonderung  nur  auf  Grund  physiologi- 
scher Erwägungen,  auf  die  später  noch  einzugehen  sein  wird,  angenommen 
werden  kann  und  daher  im  Verhältnis  zu  jener  einen  mehr  hypothetischen 
Charakter  trägt. 

Dem  aufmerksamen  Leser  wird  bei  unserer  ganzen  Darstellung  nicht  ent- 
gangen sein,  daß  Ei-  und  Samenreife,  indem  sie  Halbkerne  schaffen,  in  innig- 
ster Beziehung  zum  Befruchtungsprozeß  stehen.   Denn  dieser  wirkt  ja  in  einem 
der  Reduktion   entgegengesetzten    Sinne.     Dadurch    daß    durch    die    Be- 
fruchtung   ein    Samenkern    in    das    Ei    eingeführt    wird,    der    mit 
dem   Eikern   verschmilzt   und   seine   Chromatinmasse   verdoppelt, 
wird   aus   zwei   Halbkernen   erst   wieder  ein   Vollkern   hergestellt, 
von  dem  dann  alle   Kerngenerationen  des  neuen   Geschöpfes  ab- 
stammen.   Wenn  in  einer  Zelle  eine  Reduktion  der  Kernsubstanz  stattgefun- 
den hat,  dann  muß,  wenn  anders  der  für  eine  Tierart  typische  Chromatin- 
bestand  in  den  aus  ihr  entstehenden  Zellgenerationen  gewahrt  werden  soll, 
eine  Befruchtung  oder  ein  ihr  gleichartiger  Prozeß  hinzutreten.    Eine  redu- 
zierte   Zelle    kann    daher    als    eine    befruchtungsbedürftige    an- 
gesehen   werden.    Und  umgekehrt  ist  aus  denselben  Gesichtspunkten,  wenn 
eine  Verschmelzung  zweier  Zellen  durch  Befruchtung  erfolgt  ist,  als  Ergän- 
zung entweder  eine  vorausgegangene  Reduktion  ihrer  Kerne  oder  ein  diesem 
entsprechender   Vorgang    erforderlich.     Denn  ,, nehmen  wir  an",  wie  ich  an 
anderer  Stelle  ausgeführt  habe,  ,,daß  der  Prozeß  der  Reduktion  nicht  bestände, 
so  würden  bei  der  Befruchtung  zwei  Vollkerne  zur  Vereinigung  kommen,  also 
würde    eine  Verdoppelung  des  Chromatins  über  die  Norm  hinaus  die  Folge 
sein.    Bei  jeder  neuen  geschlechthchen  Zeugung  würde  sich  derselbe  Vorgang 
wiederholen;  es  würde  somit  im  Laufe  der  Generationen  eine  Summation  der 
Kernsubstanzen  und  ein  sich  steigerndes  Mißverhältnis  zwischen  ihnen  und 
dem  Protoplasma  in  kurzer  Zeit  herbeigeführt  werden,  der  Art,  daß  der  Um- 
fang einer  Zelle  für  sie  überhaupt  keinen  Raum  mehr  böte.     Durch  derartige 
Überlegungen  geleitet,  können  wir  auch  sagen:  Durch  die  der  Befruchtung 
vorausgehende  Reduktion  wird  in  einfachster  Weise  verhindert,  daß  die  Ver- 
schmelzung zweier  Kerne   eine  Summation  der  Kernmasse  und  der  Zahl  der 
Chromosomen  auf  das  Doppelte  und  Vielfache  des  für  die  betreffende  Tierart 
geltenden  Normalmaßes  herbeiführt." 


I20 


Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u,  Entwicklungslehre  d.  Tiere 


Äquivalenz  von  Nachdcm  wir  uns  mit  den  Tatsachen  der  Ei-  und  Samenbildung  und  mit 

Ei-  und  Samen-  ■,         Erklärung  bekannt  gemacht  haben,  sind  wir  jetzt  besser  in  den  Stand 

kern.  o  o 

gesetzt,  die  Lehre,  daß  dem  Idioplasma  von  Nägeli  die  Kernsubstanz,  be- 
sonders das  Chromatin  entspricht,  näher  zu  begründen:  Das  erste  und  wich- 
tigste Argument  habe  ich  die  Äquivalenz  der  männlichen  und  der 
weiblichen  Erbmasse  genannt.  Auf  Grund  der  Erfahrungen,  die  man  beim 
Studium  der  Bastardzeugung,  namenthch  in  der  durch  Mendel  begründeten 
Forschungsrichtung,  gewonnen  hat,  sind  Ei-  und  Samenzelle  zwei  einander 
gleichwertige  Einheiten,  von  denen  eine  jede  mit  allen  erbhchen  Eigenschaften 
der  Art  ausgestattet  ist.  Die  Vererbung  von  Eigenschaften  kann  nur  durch 
spezifisch  organisierte  Substanzen  oder  Erbmassen  geschehen,  welche  den  den 
Eltern  eigentümlichen  Lebensprozeß  auf  die  Kinder  übertragen.  Da  nun  aber 
Ei-  und  Samenfäden  sich  bei  gleicher  Vererbungspotenz  in  der  Masse  ihrer 
Substanzen  ganz  kolossal  unterscheiden,  diese  Substanzen  aber  zugleich  aus 
sehr  heterogenen  Bestandteilen  aufgebaut  sind,  müssen  wir  mit  Nägeli  zwei 
verschiedene  Arten  von  Substanzen,  solche,  die  für  die  Vererbung  vorzugs- 
weise und  solche,  die  weniger  für  sie  in  Frage  kommen,  oder  idioplasmatische 
und  nicht  idioplasmatische  unterscheiden.  Erstere  müssen  im  Zelleben  eine 
führende,  determinierende,  letztere  eine  mehr  untergeordnete  Rolle  spielen; 
jene  müssen  daher  in  den  beiderlei  Geschlechtszellen  als  Träger  der  erblichen 
Eigenschaften  in  nahezu  gleich  großer  Masse  enthalten  sein,  während  die 
Quantität  der  nicht  idioplasmatischen  Stoffe  in  weitem  Umfang  variieren 
kann.  Es  kann  nun  nach  dem  Studium  des  Befruchtungsprozesses  nicht  dem 
geringsten  Zweifel  unterliegen,  daß  Ei-  und  Samenkern  bei  der  Vereinigung  der 
beiden  Keimzellen  die  einzigen  Gebilde  sind,  welche  äquivalente  Stoffmengen 
enthalten  und  sie  zur  Bildung  des  Keimkerns  vereinigen.  Das  klassische  Bei- 
spiel hierfür  ist  das  Ei  vom  Pferdespulwurm,  in  welchem  der  Eikern  (Fig.  9, 
E,  eik,  weh)  zwei  Chromosomen  weiblicher  Herkunft,  der  Samenkern  [sk  u.  mch) 
zwei  Chromosomen  männlicher  Herkunft  von  entsprechender  Größe  liefert. 
Wir  ziehen  somit  aus  den  Tatsachen  der  Befruchtungslehre  den  wichtigen 
Schluß:  Da  bei  der  Befruchtung  die  Kernsubstanzen  (Chromatin)  die  einzigen 
an  Masse  äquivalenten  Stoffe  sind,  die  sich  zu  einer  neuen  Anlage,  dem  Keim- 
kern, vereinigen ,  so  entsprechen  sie  wie  keine  andere  Substanz  der  Keimzellen 
dem  von  Nägeh  aufgestellten  Begriff  des  Idioplasma  und  müssen  daher  in 
erster  Reihe  als  die  von  den  Eltern  auf  das  Kind  übertragenen  Erbmassen 
angesehen  werden. 
Erbgleiche  Einen  zweiten  wichtigen  Beweis  erblicke  ich  in  dem  Satz  von  der  gleich - 

Kernteilung.  .^gj.^jggj^  Verteilung  der  sich  vermehrenden  Erbmassen  auf  die  aus  dem  be- 
fruchteten Ei  hervorgehenden  Zellen.  Denn  eine  solche  muß  stattfinden,  da 
jeder  Körperteil,  der  im  Laufe  der  Entwicklung  entsteht,  ja  schließlich  jede 
Zelle  ein  Mischprodukt  von  Eigenschaften  beider  Eltern  darstellt.  Nach  den 
Erfahrungen,  die  man  beim  Studium  der  ungeschlechtlichen  oder  vegetativen 
Vermehrung,  der  Regeneration  usw.,  namentlich  bei  niederen  pflanzlichen  und 
tierischen  Organismen,  gesammelt  hat,  läßt  sich  diese  Ansicht  näher  begründen 


Mendels  Spaltungsregeln  121 

und  aus  ihr  folgern,  daß  die  durch  den  Samenfaden  eingeführte  Anlagesubstanz 
des  männlichen  Erzeugers  im  Eiinhalt  überall  verbreitet,  d.  h.  beim  Furchungs- 
prozeß  jeder  Embryonalzelle  mitgeteilt  werden  muß.  Auch  in  dieser  Beziehung 
kennen  wir  aus  Erfahrungen,  die  in  mikroskopischen  Studien  fest  begründet  sind, 
nur  einen  einzigen  Prozeß,  in  dem  wirklich  die  von  der  Theorie  geforderte  Ver- 
teilungsweise in  der  Tat  vollständig  verwirklicht  wird,  nämlich  die  Vermeh- 
rungs-  und  Verteilungsweise  der  Kernsubstanzen  durch  die  Karyokinese. 
Beim  Ei  des  Pferdespulwurms  läßt  sich  dies  bei  der  ersten  Teilung  des  Eies 
mit  aller  nur  wünschenswerten  Sicherheit  feststellen.  Wenn  Ei-  und  Samen- 
kern, deren  Beschaffenheit  wir  schon  früher  kennen  gelernt  haben,  zusammen 
die  erste  Teilspindel  bilden  (Fig.  9,  F),  so  wissen  wir,  daß  von  ihren  vier 
Chromosomen  zwei  vom  Eikern  {weh),  zwei  vom  Samenkern  [mch]  ab- 
stammen. Da  nun  wie  bei  jeder  Karyokinese  die  Chromosomen  sich  im  Stadium 
des  Muttersterns  ihrer  Länge  nach  spalten,  da  hierauf  ihre  Spaltprodukte,  die 
Tochterchromosomen,  sich  in  der  schon  besprochenen  Weise  voneinander 
trennen  (Fig.  9,  G  weh  u.  mch),  die  Tochtersterne  bilden  und  schließlich  in  den 
Aufbau  der  Tochterkerne  der  beiden  neuen  Zellen  (Fig.  9,  H  weh  u.  meh)  über- 
gehen, so  ist  in  diesem  Fall  der  unumstößliche  und  wichtige  Beweis  geführt, 
daß  beim  ersten  Teilakt  des  befruchteten  Eies  dem  Tochterkern  in  jeder  Teil- 
hälfte genau  die  gleiche  Menge  Chromatin  vom  Eikern  wie  vom  Samenkern 
zugeführt  wird.  Derselbe  Vorgang  wiederholt  sich  wahrscheinlich  auch  bei 
jedem  späteren  Teilungsschritt,  so  daß  schließhch  der  Kern  jeder  Gewebs- 
zelle aus  äquivalenten  Mengen  des  durch  Wachstum  sich  vermehrenden 
Chromatins  mütterlicher  und  väterlicher  Abkunft  zusammengesetzt  ist.  Zwar 
läßt  sich  die  gleichmäßige  Verteilung  nicht  mehr  wie  beim  ersten  Teilungsakt 
später  durch  Beobachtung  wirkhch  feststellen,  aber  nach  dem,  was  wir  von 
dem  Wesen  der  Kernteilung  wissen,  läßt  sich  unsere  Annahme  als  im  höchsten 
Grade  wahrscheinlich  bezeichnen. 

Einen  dritten  wichtigen  Beweis  erblicke  ich  in  der  schon  oben  festgestellten  Bedeutung  der 
und  besprochenen  Tatsache,  daß  einer  Summation  der  Kernsubstanzen,  die  ^''d'jkfcionstei- 
durch  aufeinander  folgende  Befruchtungsprozesse  in  der  Reihe  der  Zeu- 
gungsgenerationen herbeigeführt  werden  müßte,  durch  einen  vorausgehenden 
Reduktionsprozeß  entgegengewirkt  wird.  Denn  hierdurch  wird  tatsächlich  in 
einfachster  Weise  eine  Bedingung  erfüllt,  welche  NägeH  in  seiner  spekulativen 
Idioplasmatheorie  als  ein  Erfordernis  der  Vernunft  nachgewiesen  hat. 

In  diesem  Punkt  begegnen  sich  aber  auch  die  durch  mikroskopische  For- 
schung gewonnenen  Errungenschaften  mit  den  ganz  unabhängig  von  ihr  er- 
reichten experimentellen  Ergebnissen  des  Mendelismus(8). 

Als  Mendel    verschiedene   durch  Kreuzung   erhaltene  Bastarde   auf  dem     Mendels 
Wege  der  Selbstbefruchtung  durch  viele  Generationen  weiter  züchtete  und  Spaitungsregei. 
ihre  Merkmale  genau  studierte,  kam  er  zu  der  überraschenden,  aber  in  der 
Folge  stets  wieder  von  neuem  bestätigten  Entdeckung,  daß  sich  nicht   alle 
Bastarde,  auch  bei  Vermeidung  aller  Fehlerquellen,  als  reine  Formen  weiter- 
züchten lassen.     Sie  sind  zum  Teil  in  ihren  Eigenschaften  unbeständig  und 


17  2     Oscar  Hertwig  :  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u,  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

schlagen,  wie  man  sich  früher  ausdrückte,  nach  einem  Prozentsatz,  der  sich  in 
einem  bestimmten  Zahlenverhältnis  i  :  2  :  i  ausdrücken  läßt,  auf  ihre  ur- 
sprünglichen Elternformen  zurück. 

Seine  Erklärung  findet  der  in  einem  festen  Zahlenverhältnis  erfolgende 
Rückschlag  auf  die  beiden  Elternformen  durch  die  Mendelsche  Spaltungs- 
regel. Ihr  zur  Folge  bleibt  das  durch  illegitime  Verbindung  zweier  Varie- 
täten entstandene  Bastardidioplasma  zur  Zeit,  wenn  der  Bastard  selbst  seine 
Keimzellen  bildet,  als  solches  nicht  erhalten;  es  trennen  sich  bei  der  Ei-  und 
Samenbildung  die  durch  Befruchtung  entstandenen  antagonistischen  Doppel- 
anlagen, welche  zusammen  den  Charakter  des  Bastards  bedingen,  wieder 
voneinander  sowohl  im  weibhchen  wie  im  männhchen  Geschlecht;  bei  dieser 
Spaltung  werden  sie  in  gleichem  Zahlenverhältnis  auf  die  männlichen  und  die 
weiblichen  Keimzellen  verteilt.  Diese  schlagen  also  in  der  Konstitution  ihres 
Idioplasma  wieder  auf  die  zur  Bastardierung  benutzten  elterlichen  Ausgangs- 
formen zurück. 

Es  liegt  klar  auf  der  Hand,  daß  sich  die  Mendelsche  Spaltungsregel  auf 
das  beste  mit  der  auf  mikroskopischem  Wege  festgestellten  Reduktions- 
teilung in  Verbindung  bringen  läßt.  Denn  durch  die  Reduktion  wird  ja  das 
Chromatin,  das  durch  die  Befruchtung  an  Masse  und  Chromosomenzahl  ver- 
doppelt worden  ist,  wieder  auf  die  Hälfte  herabgesetzt.  Anhänger  der  Indi- 
vidualitätshypothese der  Chromosomen  nehmen  hierbei  zum  Teil  an,  daß  die 
Abkömmlinge  mütterhcher  und  väterlicher  Idioplasmen  wieder  voneinander 
getrennt  werden.  Zur  Veranschaulichung  dieses  Sachverhaltes  bedient  sich  de 
Vries  in  einem  Vortrag  eines  Bildes  und  vergleicht  die  durch  Befruchtung 
verbundenen  elterlichen  Idioplasmen  mit  zwei  Personen,  die  sich  vereinigen, 
um  eine  Strecke  Weges  in  gemeinsamer  Wanderschaft  zurückzulegen,  nach 
einiger  Zeit  aber  voneinander  Abschied  nehmen  und  sich  ein  jeder  einen  neuen 
Begleiter  für  die  nächste  Wegestrecke  suchen.  Der  Vergleich  ist  sehr  anschau- 
lich, aber  nur  teilweise  zutreffend,  da  die  Spaltungsregel  durch  eine  zweite 
Regel  der  Mendelschule,  welche  von  der  Mischbarkeit  der  Anlagen  handelt, 
eine  Einschränkung  erfährt,  auf  welche  hier  einzugehen  zu  weit  führen  würde. 
Bei  Berücksichtigung  derselben  entspricht  dem  wirklichen  Sachverhalt  wohl 
mehr  der  in  meiner  allgemeinen  Biologie  gemachte  Vergleich  mit  ,,zwei 
Heerscharen,  die  sich  zu  gemeinsamer  Aktion  verbunden  haben  und  während 
derselben  einen  Austausch  in  ihrem  Personenbestand  vornehmen  und  auch 
neue  Formationen  bilden,  bei  ihrer  späteren  Trennung  aber  diese  Veränderun- 
gen nicht  wieder  rückgängig  machen".  Mag  sich  im  übrigen  die  Spaltung 
oder  Reduktion  in  dieser  oder  jener  Weise  vollziehen,  ohne  oder  mit  voraus- 
gegangener Mischung  einzelner  Anlagen  und  neuer  Kombination  derselben, 
so  bleibt  hiervon  unser  Hinweis  auf  die  Übereinstimmung  der  Mendelschen 
Spaltungsregel  mit  der  mikroskopisch  nachgewiesenen  Reduktion  ganz  unbe- 
rührt und  wird  nur  in  dieser  oder  jener  Richtung  einer  Modifikation  bedürfen. 

Wohl  mit   Recht  habe  ich  daher  in  meiner   Schrift:   ,,Der  Kampf  um 
Kernfragen  der  Entwicklungs-  und  Vererbungslehre"   die  Übereinstimmung 


Veränderung  der  Keimzellen  durch  Radiumstrahlen 


123 


zwischen  Ergebnissen,  die  unabhängig  voneinander  auf  mikroskopischem  und 
experimentellem  Forschungsgebiet  gewonnen  worden  sind,  als  eine  höchst  be- 
merkenswerte bezeichnet.  Sie  kann  uns  daher  als  viertes  Argument  zugunsten 
der  Ansicht  dienen,  daß  in  den  Kernen  das  Idioplasma  zu  suchen  ist. 

In  den  letzten  Jahren  ist  noch  ein  fünfter  Beweis  hinzugekommen,  der   Beweis  durch 
ebenfalls  auf  experimentellem  Gebiete  liegt  und  darin  besteht,  die  Natur  der  Ke*mzene°nmk 
Keimzellen  durch  äußere  Eingriffe  zu  verändern  und  zu  verfolgen,  wie  die       Radium, 
von   ihnen   neu   erworbenen   Eigenschaften   sich  in  Abänderungen   des   Ent- 
wicklungsprozesses  Geltung   verschaffen.      Ein   sehr  wirkungsvolles   und   zu- 
gleich sehr  bequem  zu  handhabendes  und  in  seinen  Wirkungen  auf  das  feinste 
regulierbares  Mittel  ist  die  Bestrahlung  der  Keimzellen  durch  Radium 
oder  Mesothorium  ('^). 

Mehr  als  die  meisten  anderen  Gewebs- 
elemente  reagieren  Eier  und  Samenfäden  in 
sehr  empfindlicher  Weise  auf  diesen  Eingriff. 
Zwar  kann  man  auch  bei  stärkster  mikro- 
skopischer Vergrößerung  keine  sichtbare 
Veränderung  in  ihrer  Organisation  als  Fol- 
gen einer  stattgehabten  Bestrahlung  wahr- 
nehmen. Daß  aber  eine  solche  und  zwar 
proportional  der  Stärke  der  Einwirkung,  und 
nicht  nur  vorübergehend,  sondern  auf  die 
Dauer  eingetreten  ist,   lehrt  die  mehr  oder 

minder  gestörte  Entwicklung  von  Eiern,  bei  denen  beide  Komponenten 
oder  auch  nur  eine  von  beiden  vor  der  Befruchtung  bestrahlt  worden  sind. 
Um  bloß  einige  Erscheinungen  zu  nennen,  so  kann  bei  stärkerer  Radium- 
wirkung verlangsamte  Teilung,  schließlich  Stillstand  der  Entwicklung  auf 
diesem  oder  jenem  frühen  Keimesstadium  und  Zerfall  eintreten,  zum  Bei- 
spiel während  der  Gastrulation  oder  schon  früher,  wenn  sich  eben  die  Keim- 
blase gebildet  hat.  Bei  schwächerer  und  kürzerer  Bestrahlung  entstehen 
Larven,  die  ein  Alter  von  einer,  von  zwei  und  drei  Wochen  erreichen  und  dem- 
entsprechend weiter  in  der  Anlage  der  einzelnen  Organe  und  in  der  ge- 
weblichen  Differenzierung  fortgeschritten  sind.  Aber  alle  diese  Larven  sind, 
wie  man  sich  wohl  ausdrücken  kann,  radiumkrank.  Durchweg  sind  sie  im 
Vergleich  zu  normalen  Tieren  (Fig.  llA)  zwerghaft  verkümmert  (Fig.  iiB), 
dabei  häufig  mißgebildet,  indem  in  manchen  Fällen  sich  Spina  bifida,  in  ande- 
ren Anencephalie  eingestellt  hat;  oder  sie  sind  auch  sonst  in  ihrer  Organent- 
wicklung geschädigt.  Hierbei  ist  unschwer  zu  erkennen,  daß  manche  Organe 
wie  Darm,  Chorda,  Vorniere,  Haftnäpfe  normal  erscheinen,  andere  dagegen 
mehr  unter  den  Folgen  der  Radiumbestrahlung  zu  leiden  haben,  wie  das 
Zentralnervensystem  und  die  Augen,  die  in  größerer  oder  kleinerer  Ausdeh- 
nung Merkmale  des  Zerfalls  zeigen,  oder  das  Herz  und  das  Blut,  welche  ver- 
kümmert sind,  oder  die  Epidermis,  welche  an  manchen  Stellen  zu  zottigen 
Wucherungen  neigt  (Fig.  12).     In  den  pathologischen  Organen  aber  gewahrt 


F  i  g.  1 1  ^  u.  Ä  Fünf  Tage 
alte  Radiutnlarve  B  von 
Rana  fusca  und  zuge- 
hörige, gleichalterigeCon- 
trolle  A.  Das  Ei  von  B 
wurde  mit  Samenfäden  be- 
fruchtet, die  50  Minuten 
lang  mit  Radium  bestrahlt 
worden  waren. 


124     Oscar  HertwiG:   Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

man  unregelmäßige  Kernteilungsfiguren  (pluripolare  Mitosen),  krankhaft  ver- 
änderte Kerne  (Pyknose),  Neigung  der  Zellen,  sich  zu  Kugeln  abzurunden 
und  aus  dem  festen  normalen  Zellverband  loszulösen,  schließhch  abzusterben 
und  zu  zerfallen.  So  kann  man  den  Entwicklungsprozeß  mit  seinen 
mannigfach  eigenartigen  Störungen  gewissermaßen  als  ein  fei- 
nes Reagens  benutzen,  um  in  die  Schädigung,  welche  die  Keim- 
zellen während  der  Bestrahlung  erlitten  haben,  einen  Einblick 
zu  gewinnen  und  sich   ein  Urteil  über  sie  zu   bilden. 

Was  nun  nach  diesen  Vorbemerkungen  die  Experimente  selbst  betrifft, 
so  haben  zu  denselben  die  Geschlechtsprodukte  des  Frosches  (Rana  fusca 
und  Rana  viridis)  gedient.    Vier  verschiedene  Arten  ihrer  Ausführung  sind 

möghch  und  auch  vorgenommen  wor- 
den. Erstens  kann  man  die  bereits  be- 
fruchteten Froscheier  Bruchteile  einer 
Stunde  oder  i  bis  5  Stunden  lang  mit 
verschieden  starken  Radium-  oder  Me- 
sothorium-Präparaten bestrahlen.  Zwei- 
tens können  die  Samenfäden  der  Be- 
strahlung ausgesetzt  und  dann  zur  Be- 
fruchtung unbestrahlter  Eier  verwandt 
werden,  drittens  kann  der  Versuch 
auch  umgekehrt  ausgeführt  werden,  in- 
dem man  die  Eier  bestrahlt  und  sie  mit 
normalen  Samenfäden  befruchtet,  viertens  endlich  können  Eier  und  Samen- 
fäden für  sich  bestrahlt  und  erst  zum  Schluß  zur  Befruchtung  zusammen- 
gebracht werden.  Zur  kürzeren  Unterscheidung  und  bequemeren  Verstän- 
digung sollen  die  vier  verschiedenen  Experimente  als  die  A-,  B-,  C-  und  D- 
Serie  bezeichnet  werden. 

Bei  Bestrahlung  des  Froscheies  mit  demselben  Präparat  und  bei  Ein- 
haltung der  gleichen  Zeitdauer  werden  sehr  verschiedene  Ergebnisse  erhalten, 
je  nachdem  es  sich  um  Versuche  der  A-  oder  der  6"- Serie  handelt.  Im  ersten 
Fall  entwickeln  sich  die  Eier,  wenn  sie  mit  einem  Präparat  von  7,4  mg  reinen 
Radiumbromids  während  einer  Stunde  bestrahlt  wurden,  nur  bis  zum  Stadium 
der  Keimblase,  um  dann  abzusterben  und  zu  zerfallen;  in  der  C- Serie  dagegen 
geht  die  Entwicklung  noch  über  diese  Zeit  Tage  und  selbst  eine  Woche  lang 
weiter  und  es  entstehen  Larven,  die  zwar  mehr  oder  minder  stark  pathologisch, 
aber  doch  imstande  sind,  alle  Organe:  Nervenrohr,  Sinnesorgane,  Chorda, 
Muskelsegmente,  Herz,  Vorniere,  Kiemen,  Haftnäpfe  usw.  zu  bilden.  Man 
muß  daher  sagen,  daß  in  der  C- Serie  das  bestrahlte  Ei  durch  die  Befruchtung 
mit  einem  gesunden  Samenfaden  in  einer  sehr  erstaunlichen  Weise  aufge- 
frischt und  verjüngt  wird;  denn  durch  ihn  erhält  es  wieder  das  verlorene  Ver- 
mögen, sich  unter  Ausbildung  aller  Organe  weiter  zu  entwickeln.  Erstaunlich 
ist  diese  Wirkung,  wenn  man  den  geradezu  enormen  Unterschied  zwischen 
der  bestrahlten  und  der  nicht  bestrahlten  Substanzmasse  berücksichtigt.   Denn 


Fig.  12.  Schnitt  durch  die  Bauchhaut  mit  zottigen 
Exreszenzen  einer  sieben  Tage  alten  Lar\'e  von  Rana 
fusca.  .Sie  stammt  von  einem  Ei,  das  vor  der  Be- 
fruchtung zwei  Stunden  mit  Radium  bestrahlt  und 
dann  mit  unbestrahltem  Samen  befruchtet  worden  ist 
(C-Serie).  ^/Rest  der  Keimblasenhöhle.  /Ä  Leibeshöhle 


Veränderung  der  Keimzellen  durch  Radiumstrahlen  125 

der  winzige  Samenfaden  ist,  wenn  wir  uns  eines  Vergleiches  bedienen  wollen, 
,,im  Verhältnis  zum  großen  Froschei  eine  so  verschwindend  kleine  Substanz- 
menge, wie  in  einem  mehrere  Zentner  schweren,  mit  Weizenkörnern  gefüllten 
Sack  ein  einzelnes  Weizenkorn".  Daher  kann  es  auch  nicht  dem  geringsten 
Zweifel  unterliegen,  daß  der  Samenfaden  aus  einer  sehr  wirkungsvollen  Sub- 
stanz bestehen  muß,  wenn  er  die  Schädigung  der  Radiumbestrahlung  in  der 
millionenfach  größeren  Masse  des  Eies  in  so  hohem  Grade  zu  überwinden 
vermag.  Seine  Wirkung  hört  aber  sofort  auf,  wenn  er  ebenfalls  bestrahlt 
worden  ist;  Beweis  hierfür  ist  die  gleichfalls  experimentell  festgestellte  Tat- 
sache, daß  die  Ergebnisse  in  der  A-  und  D- Serie  ganz  genau  übereinstimmen. 

In  ebenso  überraschender  Weise  tritt  die  Wirksamkeit  der  Substanz  des 
Samenfadens  in  der  5- Serie  hervor.  Denn  ein  von  Haus  aus  gesundes  Ei  wird 
durch  die  Befruchtung  mit  einem  bestrahlten  Samenfaden  in  demselben  Grade 
radiumkrank  gemacht,  wie  in  der  C- Serie  ein  bestrahltes,  aber  normal  be- 
fruchtetes Ei.  Es  macht  also  im  Endergebnis  keinen  bemerkenswerten  Unter- 
schied aus,  ob  das  Ei  vor  der  Befruchtung  bestrahlt  und  mit  einem  gesunden 
Samenfaden  befruchtet  oder  ob  umgekehrt  das  gesunde  Ei  mit  einem  bestrahl- 
ten Samenfaden  befruchtet  wurde.  Beide  Keimzellen  verhalten  sich  daher  in 
bezug  auf  ihre  Fähigkeit,  die  Radiumwirkung  auf  das  Zeugungsprodukt  zu 
übertragen  und  auf  den  Verlauf  des  Entwicklungsprozesses  dadurch  einzu- 
wirken, als  durchaus  gleichwertige  Faktoren. 

Durch  Vergleich  der  5- Serie  mit  der  C"- Serie  geht  wohl  zunächst  das  eine 
klar  hervor,  daß  irgendwelche  Veränderungen,  die  eventuell  durch  die  Be- 
strahlung im  Protoplasma  und  im  Nahrungsdotter  hervorgerufen  worden  sind, 
nicht  der  Faktor  sein  können,  auf  den  sich  die  Radiumkrankheit  des  Entwick- 
lungsproduktes zurückführen  läßt.  Denn  dann  müßte  ja  die  Entwicklung 
in  der  C'-Serie  viel  tausendmal  schlechter  als  in  der  ß-Serie  ausfallen.  Wie 
sollte  unter  diesen  Umständen  in  der  C- Serie  die  gesunde  Substanz  des  Samen- 
fadens überhaupt  nur  zur  Wirkung  gelangen  können,  da  in  ihm  Protoplasma 
und  Nahrungsdotter  so  gut  wie  gar  nicht  vorhanden  sind  und  ihre  geringe 
Menge  eine  so  homöopathische  Dosis  ist,  daß  sie  sich  bei  ihrer  Verteilung 
im  Ei   wie  ein  Tropfen  im  Meer  spurlos  verlieren  würde. 

Ganz  anders  gestaltet  sich  die  Sachlage,  wenn  wir  annehmen,  daß  die  Kern- 
substanzen, deren  Äquivalenz  in  den  weiblichen  und  männlichen  Keimzellen 
eine  feststehende  Tatsache  ist,  durch  die  Radiumstrahlen  verändert  werden 
und  dadurch  die  eigentümlichen  Erscheinungen  mit  ihrer  großen  Mannigfaltig- 
keit beim  Entwicklungsprozeß  verursachen.  Die  unverhältnismäßig  große 
Wirkung,  die  ein  kleiner  Samenfaden  ausübt,  hat  durchaus  nichts  Wunder- 
bares mehr,  wenn  man  berücksichtigt,  daß  die  im  Samenkern  enthal- 
tene Substanz  das  Vermögen  besitzt,  im  Ei  zu  wachsen  und  sich 
auf  dem  Weg  der  Karyokinese  periodisch  bald  auf  das  Hun- 
dert- und  Tausendfache  und  so  weiter  zu  vermehren.  Denn  die 
Fähigkeit  des  Chromatins  zur  Vermehrung  und  Teilung  wird  nicht  zerstört, 
solange  die  Radiumbestrahlung  ein  bestimmtes  Maß  der  Intensität  und  Dauer 


Ip6      Oscar  HertwiG:   Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

nicht  übersteigt.  Durch  Wachstum  und  Teilung  wird  daher  die  radium- 
kranke Substanz  des  Samenkerns  schheßhch  im  gesamten  Eiinhalt  verteilt 
und  jeder  Embryonalzelle  zugeführt;  es  wird  so  ohne  weiteres  verständ- 
hch,  daß  sie,  trotzdem  sie  nur  eine  homöopathische  Dosis  im  bestrahlten 
Samenfaden  darstellt,  schließhch  die  mehr  als  tausendmal  größere  Masse 
des  Eies  im  Entwicklungsprozeß  vergiftet.  Sie  wirkt,  wenn  ich  mich  eines 
früher  gebrauchten,  die  Sachlage  gut  aufklärenden  Vergleichs  bediene,  wie 
ein  Contagium  vivum,  wie  ein  Bacterium,  wenn  es  im  tierischen  Körper  eine 
Infektionskrankheit  verursacht.  Ein  einzelner  Milzbrandbazillus,  durch  eine 
Wunde  in  den  menschlichen  Körper  eingeführt,  ist  ein  sehr  harmloser  Ein- 
dringling, wenn  er  sich  nicht  vermehrt.  Auch  wenn  er  einem  allergiftigsten 
Stamm  angehört,  kann  er  durch  seine  chemischen  Eigenschaften  allein  auch 
nicht  die  geringste  Erkrankung  hervorrufen,  solange  er  vereinzelt  bleibt,  da- 
gegen in  wenigen  Tagen  das  Leben  vernichten,  wenn  er  in  rapider  Vermehrung 
eine  Nachkommenschaft  erzeugt  hat,  welche  mit  dem  Blut  alle  Organe  und  Ge- 
webe des  erkrankten  Tieres  überschwemmt. 

Bei  unserer  Annahme  wird  aber  nicht  nur  die  große  Wirkung  des  be- 
strahlten Samenfadens  auf  das  gesunde  Ei,  sondern  ebenso  der  gleiche  Ausfall 
der  Ergebnisse  von  der  B-  und  C- Serie  erklärt.  In  dem  einen  wie  in  dem  ande- 
ren Experiment  besteht  ja  der  bei  der  Befruchtung  aus  Amphimixis  hervor- 
gegangene Keimkern  aus  je  einer  Komponente  gesunder  und  einer  Komponente 
radiumkranker  Substanz,  welche  zusammen  den  Verlauf  der  Entwicklung  be- 
stimmen. Ob  hierbei  die  gesunde  oder  die  radiumkranke  Substanz  vom  Ei- 
oder  Samenkern  abstammt,  kann  doch  wohl  für  den  Ausfall  des  Entwick- 
lungsproduktes keinen  Unterschied  ausmachen. 

Wenn  unsere  Erklärung  richtig  ist,  und  ich  wüßte  nicht,  was  sich  Besseres 
an  ihre  Stelle  setzen  ließe,  da  alle  Modifikationen  der  vielfach  variierten 
Experimente  mit  ihr  übereinstimmen,  dann  bilden  die  Radiumversuche  an 
den  Keimzellen,  besonders  der  Vergleich  der  verschiedenen  Ergebnisse  in  der 
A-,  B-,  C-  und  D- Serie  einen  experimentellen  Beweis  für  die  Richtigkeit  der 
Lehre  von  der   Idioplasmanatur  der  Kernsubstanzen. 

4.  Die  Entwicklungsfähigkeit   der  Eizelle  auch  ohne  Befruchtung. 

Daß  die  Befruchtung  ein  außerordentlich  wichtiger  Vorgang  für  die  Er- 
zeugung neuer  Lebewesen  und  für  die  Erhaltung  des  Organismenreiches  ist, 
lehrt  ihre  weite  Verbreitung  bei  Tieren  und  Pflanzen  und  selbst  bei  den  nieder- 
sten einzelligen  Wesen;  man  könnte  es  auch  aus  dem  Umstand  schließen,  daß 
reife  Eier,  die  nicht  rechtzeitig  befruchtet  werden,  unter  den  gewöhnlichen 
Bedingungen  rasch  abzusterben  und  zu  zerfallen  pflegen.  Über  solchen  Tat- 
sachen darf  man  aber  nicht  vergessen,  daß  das  Ei  auch  an  sich  schon  eine 
eminent  entwicklungsfähige  Substanz  darstellt,  und  daß,  wenn  es  sich  gleich- 
wohl ohne  Befruchtung  nicht  entwickelt,  dies  nur  an  einem  hemmenden,  seiner 
Natur  nach  uns  unbekannten  Moment  liegt,  welches  für  gewöhnlich  als  eine 
Nebenwirkung  zugleich  mit  der  Befruchtung  entfernt  wird.     Wenn  wir  die 


Parthenogenese  (Jungfernzeugung)  127 

Verhältnisse  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  ansehen,  dann  werden  uns  die 
immerhin  spärhchen  Fälle,  in  denen  Entwicklung  der  Eier  ohne  Befruchtung 
beobachtet  worden  ist,  nichts  Überraschendes  oder  gar  Wunderbares  dar- 
bieten. Bei  der  Entwicklung  des  Eies  ohne  Befruchtung  hat  man  die  natür- 
liche und  die  künstliche  Parthenogenese  zu  unterscheiden. 

a)  Die  natürliche  Parthenogenese  oder  Jungfernzeugung. 
Wenn  in  unserer  Zeit  jemand  veröffentlichen  würde,  daß  er  beobachtet  Natürliche  Par- 
habe,  wie  eine  Hündin,  ohne  vorher  von  einem  Hunde  belegt  worden  zu  sein,       ''°°'=-«°«^'>*^- 
lebendige  Junge  geworfen  habe,  so  würde  seine  Mitteilung  gewiß,  und  wohl 
auch  mit  Recht,  allgemeinem  Zweifel  begegnen;  man  würde  einen  Irrtum  vor- 
aussetzen.  Ähnlich  ist  es  dem  Genfer  Philosophen  und  Naturforscher  Bonnet, 
aber  damals  mit  Unrecht,  ergangen,  als  er  im  Jahre  1762    durch  sorgfältiges 
Studium  der  Vermehrungsweise  der  Blattläuse  zum  erstenmal  das  Vorkommen 
von   Jungfernzeugung  im  Tierreich,   d.   h.   die  Tatsache  entdeckte,   daß   bei 
manchen  Tierarten  Eier,   die  nicht  befruchtet  worden  sind,   sich  zu  jungen 
Tieren  entwickeln  können.     Denn  als  Bonnet  einen  Bericht   über  seine  Ent- 
deckung durch  seinen  Freund  Reaumur,  den  berühmten  Physiker  und  Bio- 
logen, der  Pariser  Akademie  mitteilen  ließ,  bezweifelte  diese  ihre  Richtigkeit 
und  äußerte  in  einem  Antwortschreiben  ihre  Bedenken,  wie  es  wörtlich  heißt: 
,, gegen  eine  Entdeckung,  welche  einem  allgemeinen  und  durch  alle  bisherigen 
Erfahrungen    einmütig   bestätigten    Gesetz   geradezu    entgegen   wäre".      Die 
Experimente  von  Bonnet  waren   aber  durchaus   richtig,  wie  er  selbst  durch 
Wiederholung  derselben  unter  Einhaltung  noch  strengerer  Kautelen  nachwies. 
Indem  sie  aber  eine  irrtümliche  Meinung  berichtigten,  gaben  sie  selbst  wieder 
den  Ausgangspunkt  für  einen  neuen  Irrtum,  insofern  jetzt  die  Naturforscher 
es   dadurch   als   erwiesen   erachteten,     daß    die    Samenfäden    nicht    tierische 
Keime  sein  könnten,  wie  es  Leeuwenhoek  und  mit  ihm  die   Schule  der   Ani- 
malkulisten  behauptet  hatte.     So  bietet  dieser  Fall  ein  lehrreiches  Beispiel, 
wie  man  in  der  Biologie  mit  dem  Wort  ,, Naturgesetz"  sehr  vorsichtig  um- 
gehen muß.     Sind  doch  die  Lebensprozesse  und  ganz  besonders  die  Entwick- 
lung eines  Organismus  etwas  so  ungemein  Kompliziertes,  daß  die  ursächlichen 
Zusammenhänge  des  Geschehens  nur  zum  kleinsten  Teil  von  uns  beim  der- 
zeitigen Stand  unseres  Wissens  durchschaut  werden  können.     Eine  an  sich 
geringfügige  Veränderung  kann  oft  schon  ausreichen,   um  einen  Lebensvor- 
gang uns  in  einem  ganz  neuen  Lichte  zu  zeigen.    Daher  ist  es  von  vornherein 
viel  besser,  anstatt  von  einem  Gesetz  zu  sprechen,  in  der  Biologie  das  Wort 
Regel  zu  gebrauchen,  da  dieses  ja  bekanntlich  Ausnahmen  zuläßt. 

Die  Entwicklung  von  Eiern  ohne  Befruchtung  ist  im  Stamm  der  Wirbel- 
tiere noch  niemals  beobachtet  worden,  dagegen  kommt  sie  bei  Wirbellosen 
in  bestimmten  Familien  als  eine  regelmäßige  Erscheinung  und  gewöhnlich  in 
einem  bestimmten  Wechsel  mit  der  geschlechtlichen  Zeugungsform  nicht  selten 
vor.  Namenthch  findet  sie  sich  bei  kleineren  Tieren  aus  dem  Stamm  der  Arthro- 
poden, bei  Aphiden  und  Daphnoiden,  bei  Lepidoptern  usw.    Bei  Daphnoiden 


128      Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

und  Aphiden,  die  am  häufigsten  und  genauesten  untersucht  worden  sind  und 
sich  am  leichtesten  beobachten  lassen,  ist  der  Hergang  im  allgemeinen  der, 
daß  ein  und  dasselbe  Weibchen  zu  gewissen  Zeiten  in  ihrem  Eierstock  nur 
Eier  hervorbringt,  welche  sich  ohne  Befruchtung  entwickeln,  und  zu  anderer 
Zeit  wieder  Eier,  welche  der  Befruchtung  bedürfen.  Jene  werden  auch  als 
Sommer-,  diese  als  Wintereier  unterschieden,  da  die  einen  während  der  warmen 
Jahreszeit,  die  andern  vor  Beginn  des  Winters  gebildet  werden.  Die  partheno- 
genetischen  Sommereier  sind  dotterarm,  sehr  klein  und  entstehen  in  sehr  großer 
Zahl  und  rasch  hintereinander  in  den  Keimstöcken;  sie  dienen  dadurch  als 
Mittel,  durch  welches  sich  die  betreffende  Tierart  zur  Zeit,  wo  Nahrungsüber- 
fiuß  herrscht,  ungeheuer  vermehren  kann.  Die  Wintereier  dagegen  zeichnen 
sich  durch  beträchtliche  Größe  und  Dotterreichtum  aus  und  werden  nur  in 
geringerer  Zahl  angelegt.  Wenn  sie  befruchtet  worden  sind,  machen  sie  ge- 
wöhnlich während  der  Winterszeit  ein  Ruhestadium  durch,  daher  für  sie 
auch  der  Name  Dauereier  gebraucht  wird. 

Indem  wir  uns  auf  diese  wenigen  Bemerkungen  beschränken,  da  die 
Parthenogenese  schon  an  anderer  Stelle  ihre  Darstellung  gefunden  hat,  bleibt 
nur  ein  Punkt  noch  zu  besprechen  übrig,  der  wegen  seiner  engen  Beziehung 
zu  der  in  einem  früheren  Abschnitt  dargestellten  Eireife  für  uns  von  besonderem 
Interesse  ist.  Damals  war  von  uns  die  Ansicht  ausgesprochen  worden,  daß 
Ei-  und  Samenreife  eine  Vorbereitung  der  Keimzellen  für  den  Befruchtungs- 
prozeß insofern  sind,  als  hierbei  durch  eine  Reduktion  des  Chromatins  haploide 
oder  Halbkerne  entstehen,  die  durch  die  Befruchtung  wieder  zu  diploiden  oder 
Vollkernen  ergänzt  werden.  Das  Studium  der  Sommer-  und  Wintereier  bei  par- 
thenogenetischen  Tieren  liefert  einen  der  schönsten  Belege  für  die  Richtigkeit 
dieser  Ansicht.  Besteht  doch  in  der  Bildung  der  Polzellen  und  im  Chromatin- 
gehalt  der  Eikerne  ein  auffälliger  Unterschied  zwischen  beiden!  Denn  bei  den 
Sommereiern,  welche  von  vornherein  für  Entwicklung  ohne  Befruchtung  be- 
stimmt sind,  unterbleibt  von  vornherein  die  Bildung  einer  zweiten  Polzelle 
und  infolgedessen  auch  die  mit  diesem  Vorgang  verbundene  Reduktion  der 
Kernsubstanz.  Auch  ohne  Befruchtung  besitzt  daher  ihr  Eikern  die  ganze 
Chromatinmasse  eines  Normalkernes  und  die  volle  Chromosomenzahl;  er  ist 
also,  wie  die  Botaniker  sagen,  diploid.  Dagegen  werden  bei  den  befruchtungs- 
bedürftigen Wintereiern  stets  zwei  Polzellen  abgeschnürt,  so  daß  sie  infolge- 
dessen haploide  oder  Halbkerne  erhalten. 

So  interessant  nun  auch  dieser  Unterschied  zwischen  parthenogenetischen 
und  befruchtungsbedürftigen  Eiern  ist,  so  darf  man  doch  nicht  glauben,  daß 
die  Eier  nur  gerade  dadurch,  daß  die  zweite  Polzelle  unterdrückt  worden 
ist,  parthenogenetisch  geworden  sind  oder  daß  auf  diesem  Wege  das  Wesen  der 
Parthenogenese  ihre  Erklärung  gefunden  hat.  Denn  wie  ich  in  meiner  all- 
gemeinen Biologie  hervorgehoben  habe,  ,,hat  das  Sommerei  die  Neigung,  sich 
ohne  Befruchtung  zu  entwickeln,  schon  ehe  es  zur  Bildung  der  Polzellen 
schreitet,  wie  aus  der  bereits  vorausgegangenen  geringen  Ansammlung  des 
Dotters,  aus  der  abweichenden  Beschaffenheit  der  Hüllen  und  anderen  Merk- 


Parthenogenese  (Jungfernzeugung)  I2g 

malen  hervorgeht.  Das  Ei  wird  nicht  dadurch  parthenogenetisch,  weil  es 
keine  zweite  Polzelle  bildet,  sondern  weil  es  schon  für  parthenogenetische  Ent- 
wicklung bestimmt  ist,  bildet  es  die  zweite  Polzelle  nicht;  es  bildet  sie  nicht, 
weil  unter  diesen  Verhältnissen  eine  Reduktion  der  Kernmasse,  die  ja  eine 
nachfolgende  Befruchtung  zur  Voraussetzung  hat,  keinen  Zweck  mehr  hat." 
Auch  wäre  es  falsch,  wenn  man  etwa  glauben  wollte,  daß  Halbkerne  das  Ver- 
mögen, sich  zu  teilen,  eingebüßt  hätten.  Das  ist  keineswegs  der  Fall,  wie  sich 
durch  Beobachtung  und  Experimente  hat  feststellen  lassen.  Denn  einmal  ist 
in  einzelnen  wenigen  Fällen  beobachtet  worden,  daß  auch  parthenogenetische 
Eier  (Liparis,  Biene)  beide  Reifeteilungen  durchmachen  und  daß  bei  Kryptogamen 
die  parthenogenetischen  Generationen  haploide  Halbkerne  haben.  Zweitens 
läßt  sich  Entwicklung  mit  Halbkernen  auch  durch  experimentelle  Eingriffe 
in  sehr  verschiedener  Weise  erreichen.  Es  führt  uns  dies  zur  Besprechung 
der  künstlichen  oder  experimentellen  Parthenogenese. 

b)  Die  experimentelle  Parthenogenese. 
Wir  beginnen  den  Abschnitt  mit  folgendem  Experiment.  Eier  von  See-  Experimentelle 
igeln  oder  von  anderen  hierzu  geeigneten  Tieren  kann  man  durch  kräftiges  'MerogoX"'' 
Schütteln  in  einem  mit  Meerwasser  gefülltem  Röhrchen  in  Teilstücke  zerlegen, 
von  welchen  die  meisten  kernlos  geworden  sind.  Wenn  dann  die  kernlosen 
Stücke  in  einem  Uhrschälchen  isoliert  und  mit  etwas  Samenflüssigkeit  ver- 
mischt werden,  so  lassen  sie  sich  ebensogut  wie  normale  Eier  noch  befruchten; 
das  heißt,  es  dringt  ein  Samenfaden,  zuweilen  auch  ihrer  mehrere,  in  das 
nackte  Protoplasma  ein,  welches  sich  dann  ebenfalls  zum  Schutz  mit  einer 
Dotterhaut  umgibt.  Aus  dem  Kopf  des  Fadens  entsteht  ein  Samenkern,  der, 
weil  er  keinen  Partner  findet,  haploid  bleibt,  sich  trotzdem  aber  bald  in  eine 
Spindel  umwandelt  und  teilt.  Wenn  das  isolierte  Plasmastück  genügend  groß 
und  nur  einfach  befruchtet  war,  so  spielt  sich  in  ihm  ein  normaler  Teilungs- 
prozeß ab,  es  kommt  sogar  nach  einiger  Zeit  zur  Ausbildung  einer  Larve, 
in  welcher  alle  Zellkerne  nur  väterliches  Chromatin  enthalten.  So  bildet  dieser 
experimentell  hervorgerufene  Prozeß,  der  in  der  Literatur  als  Merogonie 
bekannt  ist,  gewissermaßen  ein  Seitenstück  zur  Parthenogenese,  bei  welcher 
die  Larven  nur  mit  Kernen  und  mit  Chromatin  mütterhcher  Herkunft  aus- 
gestattet sind. 

Im  letzten  Jahrzehnt  sind  von  verschiedenen  Forschern  Versuche  an- 
gestellt worden,  bei  Eiern  von  Tieren,  welche  normalerweise  keine  Partheno- 
genese zeigen,  durch  äußere  Eingriffe  Entwicklung  ohne  vorhergegangene  Be- 
fruchtung hervorzurufen.  Die  Eingriffe  waren  bald  chemische,  bald  ther- 
mische, bald  mechanische.  Nur  einige  wenige  Objekte  haben  sich  bisher  für 
derartige  Experimente  als  geeignet  erwiesen  und  gute  Resultate  ergeben. 
Als  geeignet  sind  in  erster  Linie  wieder  die  Eier  von  Seeigeln  und  See- 
sternen, von  einigen  Mollusken  und  Ringelwürmern,  aber  auch  sogar  von  unse- 
ren beiden,  gewöhnhchen  Froscharten  (Rana  fusca  und  Rana  esculenta)  zu 
nennen. 

K.  d.  G.  in.  IV.  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  Q 


130     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Wenn  wir  zuerst  mit  der  Besprechung  der  chemischen  Eingriffe  beginnen, 
so  wurden  dieselben  in  der  Weise  ausgeführt,  daß  Meerwasser  entweder  mit 
Mg  CI2  oder  Ka  Cl  oder  Ca  Cl^  in  verschiedenen  Prozenten  versetzt  wurde. 
In  dieselbe  brachte  der  Experimentator  unbefruchtete  Eier  von  Seesternen 
und  Seeigeln  und  ließ  sie  darin  eine  Viertel-  bis  zwei  Stunden  verweilen; 
hierauf  wurden  sie  wieder  in  reines  Meerwasser  zurückgebracht.  Durch  vieles 
Ausprobieren  wurden  geeignete  Mischungen  und  Verfahren  ermittelt,  durch 
welche  Eier  zur  Abscheidung  einer  Dotterhaut,  zur  Teilung  und  weiteren 
Entwicklung  gebracht  werden  konnten.  Allerdings  wurde  auch  bei  den  gün- 
stigsten Resultaten  eine  gleichmäßige  Einwirkung  der  chemischen  Reizmittel 
auf  das  Eimaterial  nicht  erreicht.  Denn  von  Tausenden  von  Eiern  entwickel- 
ten sich  in  den  einzelnen  Versuchen  immer  nur  ein  bald  kleinerer,  bald  größerer 
Prozentsatz  und  auch  dieser  oft  in  unregelmäßiger  Weise.  Einige  Seeigeleier 
starben  schon  auf  dem  ersten  Teilungsstadium  ab,  andere  entwickelten  sich 
bis  zur  Keimblase,  ehe  sie  zerfielen;  nur  ein  Teil  ließ  sich  bis  zu  frei  herum- 
schwimmenden Plutei  züchten,  wenn  in  den  Kulturen  gerade  das  geeignetste 
Mischungsverhältnis  der  Salzlösungen  und  die  richtige  Dauer  ihrer  Einwir- 
kung getroffen  war.  Das  Verfahren  ist  launenhaft  und  von  manchen  Kleinig- 
keiten abhängig.  Versuche,  die  im  Laboratorium  am  Atlantischen  Ozean  gute 
Resultate  geliefert  hatten,  verliefen  ergebnislos,  als  sie  an  der  gleichen  See- 
igelart und  genau  in  derselben  Weise  an  der  Zoologischen  Station  in  Neapel 
ausgeführt  wurden. 

Übrigens  kann  der  Experimentator  dieselben  Eier  auch  noch  durch 
manche  ganz  anders  geartete  Eingriffe  zur  Entwicklung  anregen,  durch  Ein- 
leiten von  Kohlensäure  durch  das  Meerwasser  oder  dadurch,  daß  unbefruchtete 
Eier  plötzlich  wenige  Minuten  bis  zu  einer  höheren  Temperatur  erwärmt  und 
sofort  wieder  abgekühlt  werden,  oder  durch  mechanische  Eingriffe.  So  teilten 
sich  Seesterneier,  als  sie  auf  einem  bestimmten  Stadium  während  der  Auf- 
lösung des  Keimbläschens  vorsichtig  geschüttelt  wurden.  Ferner  begannen 
sich  sogar  direkt  dem  Uterus  entnommene  Eier  von  Rana  fusca  in  einem 
großen  Prozentsatz  zu  entwickeln,  als  sie  einzeln  mit  einer  feinen,  scharf  zu- 
gespitzten Platinnadel  vorsichtig  angestochen  und  mit  Wasser  übergössen 
wurden.  Von  ihnen  starben  die  meisten  allerdings  schon  während  früher  Teilungs- 
stadien ab,  einige  aber  wandelten  sich  in  eine  Gastrula  um,  und  von  diesen 
ließ  sich  ein  Teil  noch  wochenlang  weiter  züchten.  Auch  unter  ihnen  wird,  je 
älter  die  Larven  werden,  der  Prozentsatz  der  überlebenden  immer  geringer. 
Von  10  000  angestochenen  Eiern  von  Rana  fusca  kamen  nur  120  Larven  zum 
Ausschlüpfen  aus  den  Gallerthüllen  und  von  diesen  konnten  wieder  nur  drei 
Larven  bis  zur  Metamorphose  gebracht  werden.  Alles  dies  deutet  darauf  hin, 
daß  die  durch  künstliche  Reizmittel  zur  Entwicklung  gebrachten  Froscheier 
nur  wenig  lebenskräftig  sind. 
Die  chemische  Die  Entdeckung,  daß  die  Eier  mancher  Tiere  sich  durch  chemische   Ein- 

BefruchtuiTg.  griffe  ZU  cincr  Entwicklung,  die  sonst  ausgeblieben  sein  würde,  anregen  lassen, 
hat  vorübergehend   zu   irrigen  Auffassungen  geführt,    die   durch   die  Tages- 


Experimentelle  Parthenogenese  1 3  i 

literatur  in  Laienkreisen  weiter  verbreitet  wurden  und  auch  in  den  Ideen- 
gängen biologisch  ungeschulter  Forscher  eine  Bedeutung  gewonnen  haben. 
Glaubte  man  doch  allen  Ernstes  eine  Grundlage  für  eine  chemische  Theorie 
der  Befruchtung  gewonnen  zu  haben  und  jetzt  auf  dem  besten  Wege  zu  sein, 
das  Wesen  der  Befruchtung  als  einen  chemisch-physikalischen  Prozeß  er- 
klären zu  können.  In  humoristisch-scherzhafter  Weise  hat  Boltzmann,  der 
jüngst  verstorbene,  ausgezeichnete  Professor  der  mathematischen  Physik  in 
Wien,  diesen  Gedankengang  in  einer  1905  erschienenen  populären  Schrift 
zum  Ausdruck  gebracht.  Auf  seiner  Vortragsreise  in  Amerika  hatte  er  Ge- 
legenheit den  amerikanischen  Physiologen  Loeb  in  seinem  Laboratorium  bei 
St.  Francisco  zur  Zeit  zu  besuchen,  als  er  gerade  mit  seinen  bekannten  Experi- 
menten beschäftigt  war,  und  fand  hier  die  Anregung  zu  folgender  Betrach- 
tung: ,,Loeb  experimentierte",  so  lauten  seine  Worte,  ,,mit  Tiergattungen, 
wo  Parthenogenese  niemals  vorkommt,  mit  Seeigeln  und  Seesternen,  und  zeigte, 
daß  auf  deren  Eier  die  gleichen  Wirkungen,  die  sonst  nur  der  männliche  Samen 
erzeugt,  durch  vollkommen  leblose  Säuren  ausgeübt  werden  können,  so  daß 
sich  die  der  Wirkung  von  Kohlensäure,  Buttersäure  oder  Propylessigsäure 
unter  passenden  Umständen  ausgesetzten  Eier  gerade  so  entwickeln  wie  normal 
befruchtete."  ,,Man  begreift,  wie  wichtig  die  Entdeckung  ist,  daß  sich  ein 
Prozeß,  der  bisher  nur  als  Folge  einer  besonderen  Lebenstätigkeit  angesehen 
wurde,  auch  durch  rein  chemische  Reagenzien  herbeiführen  läßt;  und  wenn 
derselbe  nicht  bloß  für  die  Seeigel,  sondern  auch  für  Lebewesen  bis  zum  Men- 
schen hinauf  gilt,  welche  sozialen  Umwälzungen  werden  daraus  folgen!  Eine 
Frauenemanzipation,  wie  sie  die  heutigen  Frauenrechtlerinnen  nicht  einmal 
träumen.  Der  Mann  wird  einfach  überflüssig.  Ein  Fläschchen  mit  geschickt 
gemischten  Chemikahen  gefüllt,  ersetzt  ihn  vollständig.  Dabei  kann  noch  die 
Vererbung  viel  rationeller  betrieben  werden  als  jetzt,  wo  sie  so  vielen  Zufällig- 
keiten unterworfen  ist.  Nicht  lange,  und  man  findet,  welche  Mischung  Knaben, 
welche  Mädchen  Hefert,  und  da  die  ersteren  vollkommen  überflüssig  sind, 
werden  davon  nur  wenige  Exemplare  für  die  zoologischen  Gärten  erzeugt." 
Von  biologischer  Seite  ist  manches  gegen  die  chemische  Theorie  der  Be- 
fruchtung, die  uns  in  anderer  Form  auch  sonst  noch  in  der  Literatur  begegnet, 
einzuwenden.  Es  ist  unrichtig  zu  glauben,  man  habe  durch  chemische  Flüssig- 
keiten die  Befruchtung  des  Eies  ersetzt  oder  auch  nur  einzelne  Seiten  dieses 
Vorgangs  nachgeahmt  oder  man  sei  jetzt  auf  dem  besten  Wege,  die  Befruch- 
tung als  einen  chemischen  Prozeß  zu  erklären.  Denn  alle  diese  Experimente 
haben  eigenthch  mit  dem  Befruchtungsvorgang  überhaupt  gar  nichts  zu  tun. 
Die  in  ihnen  angewandten  Mittel  sind  nur  Reize,  durch  welche  eine  Fähigkeit, 
die  schon  in  der  Organisation  des  Eies  von  Haus  aus  gegeben  ist,  die  Fähigkeit 
sich  zu  teilen,  sich  zu  entwickeln  und  einen  fertigen  Organismus  zu  hefern, 
veranlaßt  wird,  in  Aktion  zu  treten;  oder  es  wird  durch  sie,  wenn  wir  uns  der 
Sprachweise  der  Physiker  bedienen  wollen  ,  die  Umsetzung  von  Spannkraft 
in  lebendige  Kraft  ausgelöst.  Mit  der  Natur  des  Entwicklungsprozesses  hat 
das  angewandte  Mittel,  welches  den  Anstoß  gibt  oder  auslösend  wirkt,  gar  nichts 

9  * 


1.^2 


Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 


ZU  tun;  daher  es  denn  auch  ganz  gleichgültig  ist,  ob  die  Entwicklung  durch  ein 
chemisches  oder  thermisches  oder  mechanisches  Mittel  in  den  Gang  gebracht 
wird,  wie  es  auch  gleichgültig  ist,  ob  dieses  oder  jenes  Salzgemisch  verwendet 
wird,  wenn  es  überhaupt  nur  vom  Ei  vertragen  wird  und  der  Entwicklungs- 
maschine, welches  eben  einzig  und  allein  das  Ei  ist,  den  gewünschten  An- 
stoß gibt.  Schon  jetzt  hat  man  als  Entwicklungserreger  Gemische  mit  Mg  Cl^ 
oder  Ka  Cl  oder  Ca  Cl^,  oder  mit  Kohlensäure  oder  mit  Butter-  und  Propion- 
säure usw.  mit  Erfolg  benutzt.  Mit  Geduld  und  Geschick  beim  Probieren 
wird  man  noch  10,  20  und  viel  mehr  Substanzen  ausfindig  machen  können, 
mit  denen  sich  ähnliche  Resultate  gewinnen  lassen. 
Die  biologische  Und  nun  vergleichen  wir  hiermit  den  Vorgang  der  Befruchtung.    Zwar  ist 

Befruchtung,  es  richtig,  daß  durch  ihn  in  der  Regel  das  Ei  ebenfalls  erst  zur  Entwicklung 
angeregt  wird,  wodurch  der  Schein  einer  Übereinstimmung  mit  der  Wirkung 
der  oben  aufgeführten  Mittel  beim  oberflächlichen  Beobachter  erweckt  wer- 
den kann.  Die  Entwicklungserregung  tritt  aber  bei  der  Befruchtung  nicht 
immer  ein.  Denn  in  manchen  Fällen  müssen  die  befruchteten  Eier,  wie  z.  B. 
die  sogenannten  Wintereier  der  Arthropoden  erst  ein  monatelanges  Ruhe- 
stadium durchmachen,  ehe  sie  sich  zu  entwickeln  beginnen.  Die  Entwick- 
lungserregung ist  überhaupt  bei  der  Befruchtung  nur  ein  untergeordneter 
Vorgang.  Die  Hauptsache  bei  ihr  ist  die  Vereinigung  von  zwei 
lebenden  Zellen  und  die  auf  diesem  Wege  ermöglichte  Kombina- 
.  tion  der  Eigenschaften  der  zwei  bei  der  Zeugung  beteiligten 
Individuen.  Wie  kann  man  bei  dieser  Sachlage  von  einer  chemischen  Er- 
klärung oder  von  einer  Nachahmung  oder  von  einem  Ersatz  der  Befruchtung 
reden!  Denn  wer  wird  wohl  glauben,  daß  durch  ein  Salzgemisch  die  Eigen- 
schaften des  männlichen  Erzeugers  auf  die  Eizelle  übertragen,  also  die  ver- 
erbende Kraft  der  Samenkörper  ersetzt  werden  könne. '^  Ein  Ersatz  würde 
doch  nur  in  dem  Fall  geschaffen  sein,  wenn  der  Experimentator  auf  künst- 
lichem Wege  eine  männliche  Keimzelle  erzeugen  und  durch  sie  mit  neuem 
Idioplasma  neue  erbliche  Eigenschaften  auf  das  Ei  übertragen  könnte!  Also 
hat  die  durch  experimentelle  Eingriffe  der  verschiedensten  Art  hervorgerufene 
Entwicklung  der  Eizelle  mit  der  Befruchtung  überhaupt  gar  nichts  zu  tun; 
sie  ist  eine  Entwicklung  ohne  Befruchtung,  sie  reiht  sich  daher 
an  die  Parthenogenese  an  und  kann  von  dem  durch  Bonnet 
zuerst  beobachteten  natürlichen  Vorgang  als  experimentelle 
oder  künstliche  Parthenogenese  unterschieden  werden,  und 
diese  kann  wieder,  je  nach  den  angewandten  Mitteln,  deren 
Zahl  eine  sehr  große  ist,  eine  chemische,  eine  thermische,  eine 
mechanische,   eine  traumatische  usw.  sein. 

Beim  Vergleich  der  natürlichen  mit  der  experimentellen  Parthenogenese 
sollte  übrigens  nicht  übersehen  werden,  wie  verschieden  dieselben  in  ihren 
Endergebnissen  sind.  Jene  liefert  durchweg  normale  und  lebenskräftige,  zur 
Erhaltung  der  Art  taugliche  Individuen.  Dagegen  stellen  alle  chemischen 
Mittel,  die  zur  Erzielung  künstlicher  Parthenogenese  verwandt  werden,  nichts 


Furchungsprozeß  133 

weniger  als  ein  Lebenselixier  dar.  Die  mit  ihnen  behandelten  Eier  werden 
mehr  oder  minder  geschädigt,  und  wenn  sie  nicht  schon  gleich  am  Beginn  der 
Entwicklung  absterben,  so  liefern  sie  krankhafte,  verkrüppelte  oder  geschwächte 
Larven.  Wie  die  chemischen  verhalten  sich  in  dieser  Beziehung  auch  die 
thermischen  und  die  mechanischen  Eingriffe.  Während  10  000  befruchtete 
Froscheier  auch  ebenso  viele  gesunde  Larven  liefern,  wenn  sonst  die  Bedin- 
gungen günstige  sind,  konnten  von  ebenso  vielen  angestochenen,  parthenoge- 
netischen  Eiern  nur  120  Larven  zum  Ausschlüpfen  aus  den  Gallerthüllen  und 
von  diesen  wieder  nur  drei  bis  zur  Metamorphose  gebracht  werden. 

5.  Furchungsprozeß,  Blastula,  Gastrula,  Keimblattlehre. 

Die  ersten  Entwicklungsprozesse  des  Eies  nach  der  Befruchtung  bis  zur  Furchungs- 
Bildung  der  beiden  primären  Keimblätter  zeigen  im  ganzen  Tierreich  so  viele  ^"^""'^  ' 
prinzipielle  Übereinstimmungen,  daß  sich  eine  gemeinsame  Besprechung  der- 
selben bequem  durchführen  läßt.  Nachdem  sich  Eikern  und  Samenkern  mitein- 
ander verbunden  haben,  beginnt  eine  Periode,  in  welcher  das  Ei  rasch  nach- 
einander in  2,  4,  8,  16,  32  und  mehr  Teilstücke  oder  Embryonalzellen  zerlegt 
wird.  Schließlich  besteht  es  aus  vielen  hundert  Zellen,  die  in  demselben  Maße, 
als  die  Zerlegung  fortschreitet,  immer  kleiner  geworden  sind.  In  der  Em- 
bryologie nennt  man  diese  Periode  den  Furchungs-  oder  Teilungspro- 
zeß. Der  Name  Furchung  stammt  noch  aus  der  Zeit  vor  der  Begründung 
der  Zelltheorie  und  wurde  von  den  französischen  Forschern  Prevost  und 
Dumas  eingeführt,  als  sie  im  Jahre  1824  auf  der  Oberfläche  des  relativ  großen 
Froscheies  bald  nach  der  Befruchtung  mittels  Lupenvergrößerung  Furchen 
entstehen  sahen,  die  an  Zahl  immer  mehr  zunahmen  und  dementsprechend 
die  Oberfläche  in  immer  kleiner  werdende  Felder  zerlegten.  Sie  glaubten, 
daß  die  Furchen  nur  ein  wenig  in  die  Eirinde  einschnitten  und  durch  die  Ein- 
wirkung der  Samenflüssigkeit  hervorgerufen  seien.  Daß  sie  nach  innen  in 
Teilebenen  übergehen  und  so  den  ganzen  Eiinhalt  in  Teilstücke,  die  Zellen 
sind,  zerlegen,  wurde  erst  allmählich  nach  Begründung  der  Zellentheorie  und 
bei  ihrem  Ausbau  festgestellt.  Der  Name  Furchungsprozeß  aber  ist  seit  jener 
Zeit  geblieben,  obwohl  es  richtiger  wäre,  nur  von  einem  Teilungsprozeß  zu 
sprechen. 

Bei  jeder  Teilung  sind  Kern  und  Protoplasma  gemeinsam  tätig,  doch 
kommt  hierbei  dem  erstem  die  mehr  führende  Rolle  zu.  Denn  der  Kern  zeigt 
die  ersten  und  am  meisten  auffallenden  Veränderungen;  er  durchläuft  all- 
mählich die  schon  früher  besprochene  Reihe  von  karyokinetischen  Figuren, 
durch  welche  seine  Substanz  in  zwei  gleiche  Hälften  zerlegt  wird  (Fig.  9 
F  u.  G).  Im  Zusammenhang  hiermit  ordnet  sich  das  Protoplasma  um  die  bei- 
den Enden  der  Kernspindel  und  die  dort  gelegenen  Zentrosomen  in  zwei  Strah- 
lensysteme an,  die  erst  klein  beginnen  und  dann  entsprechend  den  einzelnen 
Stadien  der  Karyokinese  an  Ausdehnung  so  lange  zunehmen,  bis  sie  den  ganzen 
Eiinhalt  in  zwei  strahlige  und  um  die  Zentrosomen  zentrierte  Hälften  um- 
gewandelt haben.    Die  hierdurch  im  Innern  schon  vorbereitete  Scheidung  der 


j-^A      Oscar  HertwiG:  AUgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Substanzen  kommt  dann  auch  äußerlich  zum  Ausdruck.  Entsprechend  einer 
Ebene,  welche  die  Mitte  der  Spindel  senkrecht  zu  ihrer  Längsachse  schneidet 
(Fig.  9,  G),  entsteht  eine  Ringfurche  an  der  Oberfläche  des  Eies;  rasch  tiefer 
einschneidend  zerlegt  sie  die  Eisubstanz  in  kurzer  Zeit  in  zwei  meist  gleich 
große  Hälften,  von  denen  eine  jede  die  Hälfte  der  Spindel  mit  einer  Gruppe 
der  Tochterchromosome,  die  Hälfte  der  Kernspindel  und  ein  protoplasma- 
tisches  Strahlensystem  erhält.  In  jeder  der  beiden  Tochterzellen,  die  sich  an 
ihrer  Berührungsfläche  zu  Halbkugeln  abplatten,  entsteht  jetzt  wieder  ein 
bläschenförmiger  Kern  (Fig.  9,  H)  aus  jeder  Gruppe  der  Tochterchromosomen. 
Sein  Chromatin  beginnt  in  der  jetzt  folgenden  Ruhepause  sich  rasch  wieder 
so  weit  zu  vermehren,  bis  es  das  Volumen  vor  der  ersten  Teilung  erreicht  hat, 
worauf  eine  neue  Teilperiode  eintritt;  und  so  geht  es  fort  in  rascher  Folge. 

Gesetz  des  pro-  Schon  früher  wurde  darauf  aufmerksam  gemacht,   daß  das  Chromatin 

KemwacS  ^^^  Keimkemcs  zur  Hälfte  vom  Eikern  (Fig.  9,  G  u.  H,  weh),  zur  Hälfte  vom 
turas.  Kopf  des  eingedrungenen  Samenfadens  (Fig.  9,  G  u.  H,  mch)  abstammt  und 
in  diesem  Verhältnis  durch  die  Karyokinese  auf  die  beiden  ersten  Tochter- 
zellen verteilt  wird.  Wahrscheinlich  wird  dieser  Verteilungsmodus  auch 
weiter  beibehalten  werden,  da  manche  Gründe  sich  zugunsten  einer  derartigen 
Annahme  geltend  machen  lassen.  Wir  gelangen  auf  diesem  Wege  zu  zwei 
hochbedeutsamen  Ergebnissen.  Einmal  leiten  sich  alle  Kerne  des  erwachsenen 
Tieres  vom  ursprünglichen  Keimkern  durch  eine  unendlich  lange  Folge  von 
Teilungsprozessen  her,  in  der  Weise,  daß  das  Chromatin  in  periodischer  Folge 
sich  bis  zu  einem  bestimmten  Maximum  vermehrt  und  darauf  in  zwei  Hälften 
geteilt  wird  (Gesetz  des  proportionalen  Kernwachstums).  Zweitens  enthält 
infolge  dieses  Prozesses  jeder  der  so  entstandenen  zahllosen  Kerne  zu  gleichen 
Teilen  väterhches  und  mütterhches  Chromatin,  das  heißt  Chromatin,  welches 
in  letzter  Instanz  infolge  des  Befruchtungsprozesses  teils  vom  Vater  durch 
den  Samenkern,  teils  von  der  Mutter  durch  den  Eikern  abstammt.  Der  Lehr- 
satz: omnis  cellula  e  cellula  findet  so  seine  notwendige  Ergänzung  in  dem  gleich- 
wichtigen Zusatz:  omnis  nucleus  e  nucleo. 

Von  dieser  allgemeinen  Gesetzmäßigkeit  abgesehen  bietet  der  Furchungs- 
prozeß  der  Eier  in  den  einzelnen  Stämmen,  Klassen  und  Abteilungen  des  Tier- 
reiches erhebliche  Verschiedenheiten  dar.  Von  den  wichtigsten  derselben 
einen  systematischen  Überblick  zu  gewinnen,  wird  unsere  nächste  Aufgabe  sein. 

Verschiedener  Für    dcu    Verschiedenen   Verlauf    des    Furchungsprozesses    ist   fast    aus- 

schheßlich  maßgebend  der  gröbere  Aufbau  der  unbefruchteten  und  der  be- 
fruchteten Eizelle  aus  Protoplasma  und  Reservestoffen  und  die  hiervon  ab- 
hängige Lage  des  Eikerns.  Je  nachdem  die  Reservestoffe  in  geringerer  oder 
größerer  Menge  vorhanden  und  in  dieser  oder  jener  Weise  angeordnet  sind, 
kann  man  verschiedene  Typen  von  Eiern  aufstellen,  von  denen  drei  am  weite- 
sten verbreitet  und  für  uns  am  wichtigsten  sind,  nämlich  der  isolecithale,  der 
telolecithale  und  der  centrolecithale  Typus. 

Isolecithale  Eier.  Im  isolccithalen  Typus  sind  die  Eier  verhältnismäßig  klein  und  nur 

wenig  mit  Reservestoffen  ausgerüstet,  die  im  Protoplasma  mehr  gleichmäßig 


Furchungsprozeß 


135 


Eier. 


verteilt  sind.  Beispiele  liefern  uns  hierfür  die  Eier  der  Seeigel  (Fig.  4)  unter  den 
Wirbellosen,  unter  den  Wirbeltieren  die  Eier  des  Amphioxus,  der  Säugetiere 
und  des  Menschen;  nicht  selten  sind  diese  Eier  so  klein,  daß  sie  eben  noch 
mit  unbewaffnetem  Auge  zu  erkennen  sind. 

Beim  telolecithalen   Typus  sind  die  Eier  in  viel  reicherem  Maße  mit  Xeioiecithaie 
Reservestoffen    ausgerüstet    und    dementsprechend    größer    geworden.       Sie 
können  bei  manchen  Tierarten  ganz  riesige  Dimensionen  erreichen,  wie  im 
Eigelb   des    Hühner-    oder   gar    des    Straußeneies.     Trotzdem    bewahren    sie 
auch  in  diesen  Fällen  den  Formwert  einer  einfachen  Zelle.      Indem  Dotter- 
plättchen  und   Schollen,   Dotterkugeln  aus  Fett  oder  Protein  und  Lecithin- 
stoffen  dicht  gedrängt  nebeneinander  liegen  (Fig.  13  u.  14),  wird  das  eigent- 
liche      Proto- 
plasma zu   ei- 
nem feinen  Ge- 
rüstwerk   um- 
gewandelt, 
welches       die 
Lücken  wie  ein 
Mörtel       aus- 
füllt. 

Mit      der 

Scarxeren     /\n-  pig.  i^.    Schema  eines  Eies  mit  polständigem  Flg.  14.  Scliema  eines  Eies  mit  mittelständigem 

Sammlung' von  Nahrungsdotter.    Der  BUdungsdotter  bildet  am  Nahrungsdotter.    Das  Keimbläschen  (/^i5)  nimmt 

ö     ^  aulmalen   Pol    AP    eine    Keimscheibe    (ksc/t),  die  Mitte  des  Nahrungsdotters  {nd)  ein,  welcher 

Nährmaterial  in  weicher  das  Keimbläschen  (/^^)  eingeschlossen  von  einem  Mantel  von  Bildungsdotter  (/5(/)  ein- 

.  ist.    Der  Nahrungsdotter  (nd)  füllt  den  übrigen  gehüllt  wird. 

gent     regel-  Elraum  nach  dem  vegetativen  Pol  (  VP)  zu  aus. 
^^■Aa:„          „,   „U  Nach  Hert\vig. 

mäßig       auch 

eine  polare  Differenzierung  des  Dotters  Hand  in  Hand  (Fig.  13).  Sie  wird  da- 
durch hervorgerufen,  daß  die  Ablagerung  des  Deutoplasma  [nd)  in  einer  Hälfte 
der  Eikugel  reichlicher  als  in  der  anderen  erfolgt.  Hierdurch  bildet  sich  zwi- 
schen beiden  ein  wichtiger  Gegensatz  aus,  der  sich  an  verschiedenen  Merk- 
malen erkennen  läßt  und  während  längerer  Zeit  den  ersten  Entwicklungs- 
stadien ein  charakteristisches  Gepräge  verleiht.  In  der  Regel  ist  das  Deuto- 
plasma viel  schwerer  als  das  Protoplasma.  Dadurch  erhält  die  Eikugel,  wenn 
sie  sich  frei  bewegen  kann,  eine  feste  Ruhelage  im  Raum,  indem  die  dotter- 
reichere Hälfte  sich  nach  abwärts  [V P),  die  protoplasmatische  nach  aufwärts 
richtet  [AP).  Eine  Linie,  welche  die  Mittelpunkte  der  beiden  verbindet,  hat 
daher  das  Bestreben,  sich  lotrecht  einzustellen,  und  wird  als  Eiachse  (Fig.  13) 
bezeichnet.  Ihre  beiden  Endpunkte  bilden  den  oberen  oder  animalen  {AP) 
und  den  unteren  oder  vegetativen  Pol  der  Eikugel  {VP).  Ebenso  kann  man 
auch  ihre  protoplasma-  und  ihre  deutoplasmareichere  Hälfte  als  die  animale 
und  als  die  vegetative  unterscheiden. 

Die  polar-diiferenzierten  Eier  zerfallen  wieder  in  zwei  wichtige  Unter- 
gruppen. In  der  einen  geht  die  vegetative  Hälfte  mehr  allmähhch  in  die 
animale  über.    Das  Ei  erreicht  den  Umfang  eines  Hirsekorns  oder  einer  Erbse. 


I  :!5     Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Bei  der  Furchung  wird  sein  ganzer  Inhalt  in  2,  4,  8  Stücke  und  so  weiter  zer- 
legt; ein  bekanntes  Beispiel  dieser  Art  ist  das  Froschei.  Bei  ihm  ist  die  po- 
lare Differenzierung  auch  leicht  an  der  verschiedenen  Färbung  der  beiden 
Hälften  zu  erkennen;  bei  Rana  fusca  z.  B.  ist  die  animale  Hälfte  durch  braune 
Pigmentkörnchen,  die  in  der  Rindenschicht  abgelagert  sind,  braunschwarz 
gefärbt,  während  die  vegetative  wegen  der  fehlenden  Pigmentierung  hellgelb 
aussieht. 

Bei  der  zweiten  Untergruppe  ist  es  zu  einer  noch  schärferen  Sonderung 
zwischen  einem  vegetativen  und  einem  animalen  Abschnitt  des  Inhalts  da- 
durch gekommen,  daß  sich  vom  ersteren  eine  meist  kleine  Menge  von  Proto- 
plasma schärfer  abgesondert  und  die  Form  einer  Scheibe  (Discus  proligerus) 
angenommen  hat,  welche  die  Umgebung  des  animalen  Poles  einnimmt  (Fig.  13, 
Ksch).  Hiermit  hängt  in  der  Folge  eine  sehr  tiefgreifende  Abänderung  des 
ganzen  Furchungsprozesses  zusammen.  Derselbe  bleibt  nämlich  nur  auf  die 
Keimscheibe  beschränkt,  während  der  größere  vegetative  Abschnitt  über- 
haupt nicht  in  Zellen  zerlegt  wird  und  an  der  Entwicklung  keinen  direkten 
Anteil  nimmt.  So  bildet  sich  der  schon  im  unbefruchteten  Ei  vorhandene 
Gegensatz  mit  der  fortschreitenden  Entwicklung  von  Tag  zu  Tag  schärfer 
aus.  Denn  nur  die  in  Zellen  zerlegte  Keimscheibe  wird  zur  Ausbildung  der  ein- 
zelnen Organe  des  Embryos  verwandt,  die  vegetative  Hauptmasse  des  Eies 
bleibt  dagegen  mehr  oder  minder  unverändert  und  wird  allmählich  als  Nah- 
rungsmaterial aufgebraucht;  sie  wird  daher  häufig  auch  als  Nahrungsdotter 
(vitellus  nutritivus),  die  Keimscheibe  aber  als  Bildungsdotter  (vitellus  for- 
mativus)  bezeichnet.  Eine  so  weit  getriebene  Sonderung  findet  sich  unter 
den  Wirbeltieren  in  der  Klasse  der  Fische,  Reptihen  und  Vögel,  unter  den 
Wirbellosen  bei  den  Cephalopoden.  In  der  Klasse  der  Vögel  erreichen 
auch  die  Eizellen  die  größten  Dimensionen,  wie  im  Eigelb  vom  Huhn  und 
vom  Strauß. 
Hühnerei.  Da  vou  altcu  Zcitcu  her  das  Hühnerei  am  häufigsten  für  embryologische 

Untersuchungen  gedient  hat,  ist  es  wohl  am  Platz,  mit  ein  paar  Sätzen  auf  seine 
Zusammensetzung  noch  etwas  näher  einzugehen  und  es  als  Beispiel  für  die 
zweite  Untergruppe  zu  benutzen  (Fig.  15).  Im  abgelegten  Hühnerei  ist  nur 
das  sogenannte  Gelbei  die  zu  außerordentlicher  Größe  herangewachsene  weib- 
liche Keimzelle,  wie  es  denn  auch  allein  im  traubenförmigen  Eierstock  aus- 
gebildet worden  ist.  Alles  übrige  sind  verschiedenartige  Hüllen,  welche  erst 
im  Eileiter  als  Zutaten  hinzugesellt  worden  sind:  das  Eiweiß,  die  Schalenhaut 
und  die  Kalkschale.  Das  Gelbei  wird  von  einem  dünnen  und  festen  Häutchen, 
der  Dottermembran  [vi],  eingeschlossen.  In  seinem  Inhalt  findet  sich  die  sehr 
kleine  Keimscheibe  [bl),  in  welcher  während  der  Ausbildung  im  Eierstock  das 
Keimbläschen  eingeschlossen  ist;  sie  wird  im  Volksmund  auch  Hahnentritt 
genannt;  sie  schwimmt  im  Eigelb  immer  oben  auf  und  zeigt  uns  den  animalen 
Pol  an,  da  sie  aus  dem  leichtern  Bildungsdotter,  aus  feinkörnigem  Proto- 
plasma, besteht.  Alles  übrige  ist  Nahrungsdotter,  der  am  Furchungsprozeß 
unbeteiligt  bleibt  und  aus  zahllosen  Dotterkügelchen   zusammengesetzt   ist. 


Furchungsprozeß 


137 


a.  c.  h. 


sm. 


Nach  der  verschiedenen  Beschaffenheit  und  Färbung  der  letzteren  zerfällt  er 
in  den  weißen  [wy]  und  den  gelben  Nahrungsdotter  {yy),  die  in  dünneren  und 
dickeren  Kugelschalen  miteinander  abwechselnd  um  einen  zentralen  Kern 
von  weißem  Dotter  [wy]  (derLatebra)  angeordnet  sind.  Wenn  die  reife  Eizelle 
aus  dem  Eierstock  ausgetreten  und  in  den  Eileiter  gelangt  ist,  wird  sie  gleich 
am  Anfang  desselben  befruchtet  und  zuerst  mit  einer  dicken  Eiweißhülle, 
dann  mit  einer  Faserhaut  und  zum  Schluß  mit  einer  Kalkschale  umgeben. 
Diese  Umhüllungen  bilden  sich  um  das  Gelbei,  während  es  sich  langsam  von 
der  inneren  zur  äußeren  Öffnung  des  Eileiters  fortbewegt,  in  zwei  verschie- 
denen Abschnitten  desselben 
als  Absonderungen  von  zwei 
verschiedenen,  in  seiner  Wand 
gelegenen  Drüsen.  Während 
der  Absonderung  des  Eiweißes 
[w]  (Albumen)  im  ersten  Ab- 
schnitt entstehen  noch  zwei 
eigentümliche,  spiralig  aufge- 
wundene Stränge  von  dichte- 
remEiweiß,  dieHagelschnüre 
oder  Chalazen  [cht],  welche 
sich  von  zwei  entgegengesetzten 
Stellen  der  Eikugel  durch  das 
flüssige  Albumen  hindurch  zu 
dem  stumpfen  und  dem  spitzen 
Pole  des  Eies  begeben.  Die 
das  Eiweiß  nach  außen  ab- 
schließende Schalenhaut  ist  aus 
festen,  verfilzten  Fasern  zu- 
sammengesetzt und  in  zwei 
Lamellen  zerlegbar.  Diese  wei- 
chen, wenn  das  Ei  nach  außen 
abgelegt  worden  ist,  an  seinem  stumpfen  Pol  auseinander  {sm  u.  ism)  und 
lassen  dadurch  einen  Hohlraum  entstehen,  der  sich  mit  Luft  füllt  und  daher 
Luftkammer  [ach)  genannt  wird.  Die  Luftkammer  dehnt  sich  während  der 
Bebrütung  von  Tag  zu  Tag  mehr  aus;  sie  dient  dem  sich  entwickelnden  Hühn- 
chen zur  Atmung.  Die  Kalkschale  (Testa)  [s]  bildet  sich  zuletzt,  indem 
Kalkkristalle,  die  von  kalksezernierenden  Drüsen  abgeschieden  w^erden,  auf 
die  Faserhaut  abgelagert  und  aus  einer  anfangs  weichen  in  eine  allmähhch  er- 
härtende Schicht  umgewandelt  werden.  Sie  ist  von  zahlreichen  Porenkanäl- 
chen  durchsetzt,  so  daß  atmosphärische  Luft  durch  sie  zum  Eidotter  hindurch- 
treten kann.  Für  die  Entwicklung  des  Hühnchens  während  der  Bebrütung  ist 
dies  unbedingt  nötig,  da  bei  der  Bildung  der  embryonalen  Zellen  ein  starker 
Sauerstoffverbrauch  stattfindet.  Werden  daher  die  Poren  der  Kalkschale  durch 
einen  Anstrich  mit  Öl  oder  Firnis  verschlossen,  so  hört  die  Entwicklung  des  be- 


Fig.  15.  Scliematisclier  Längsschnitt  eines  unbebrüteten  Hühnereies. 
(Nach  Allen  Thomson,  etwas  verändert.)  b.i.  Keimscheibe;  w.}. 
weißer  Dotter,  derselbe  besteht  aus  einer  zentralen,  flaschenförmigen 
Masse  und  einer  Anzahl  konzentrisch  den  gelben  Dotter  y.y.  um- 
gebender Schichten ;  z/./'.  Dotterhaut;  .r.  etwas  flüssige  Eiweißschicht, 
welche  den  Dotter  unmittelbar  umgibt;  iv.  Eiweiß,  aus  abwechselnd 
dichteren  und  flüssigen  Lagen  zusammengesetzt;  c/tJ.  Chalazen 
iHagelschnüre) ;  a.ch.  Luftkammer  am  stumpfen  Ende  des  Eies;  sie 
ist  einfach  ein  Zwischenraum  zwischen  den  beiden  Schichten  der 
Schalenhaut;    z'.s.m.   innere,   s.m.  äußere    Schicht    der  Schalenhaut; 

ji\  Schale. 


128     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

brüteten  Eies  nicht  nur  in  wenigen  Stunden  auf,  sondern  es  schließt  sich  an 
den  Stillstand  bald  auch  der  Tod  und  Zerfall  des  Keimes  an. 

centroiecithaie  Der  dritte  Typus  der  Eier  endlich,   der  centrolecithale  oder  der  polar 

^'®'''  differenzierte,  soll  uns  nur  kurz  beschäftigen  (Fig.  14).  Im  Stamm  der  Wirbel- 
tiere wird  er  gar  nicht  vorgefunden,  häufiger  dagegen  im  Stamm  der  Arthro- 
poden und  besonders  der  Insekten.  Wie  schon  im  Namen  ausgedrückt  ist,  hat 
hier  auch  eine  Sonderung  des  mit  Deutoplasma  reich  versorgten  Eiinhalts 
in  einen  Bildungsdotter  und  einen  Nahrungsdotter,  wie  bei  Fischen,  Rep- 
tihen  und  Vögeln,  stattgefunden;  während  bei  diesen  aber  der  Bildungsdotter 
sich  am  animalen  Pol  als  Keimscheibe  abgesondert  hat  (Fig.  13,  ksch),  stellt 
er  hier  an  der  ganzen  Oberfläche  des  Eies  eine  dickere,  feinkörnige  Rinden- 
schicht dar  (Fig.  14,  bd)  und  schließt  den  zentral  gelegenen  Nahrungsdotter 
ein  {nd),  der  gewöhnlich  viele  kughge  Fettropfen  und  andere  stark  licht- 
brechende Dotterkonkremente  enthält.  Auch  bei  den  centrolecithalen  Eiern 
wird  der  Nahrungsdotter  während  des  Furchungsprozesses  gewöhnlich  nicht 
in  Zellen  zerlegt;  solche  bilden  sich  bloß  aus  der  Rindenschicht  und  liefern  eine 
dünne  Lage  von  Zellen,  die  Keimhaut,  welche  wie  eine  Blase  den  zentral 
gelegenen  oder  mittelständigen,  nicht  in  Zellen  abgeteilten  Nahrungsdotter 
einschließt. 

TeUungsregein.  Die  schou  kurz  bcsprochenc  Organisation  des  Eiinhalts,  welche  uns  drei 

Typen  mit  mehreren  Unterarten  zu  unterscheiden  veranlaßt  hat,  übt  einen 
wichtigen  und  tiefgreifenden  Einfluß  auf  die  Anfangsstadien  des  Entwick- 
lungsprozesses in  vielen  Richtungen  aus,  auf  die  Lage  des  Keimkerns  nach  der 
Befruchtung,  auf  die  Richtung  und  Aufeinanderfolge  der  Teilebenen,  auf  die 
Größe  und  Form  der  Teilstücke.  Über  diese  Verhältnisse  lassen  sich  vier  Regeln 
aufstellen. 

Erste  Regel:  Vom  Kern  wurde  schon  früher  einmal  hervorgehoben, 
daß,  wenn  er  in  Aktivität  tritt,  wie  bei  der  Karyokinese,  sich  zwischen  ihm 
und  dem  umgebenden  Protoplasma  innige  Wechselwirkungen  ausbilden.  Ihren 
sinnfälligen  Ausdruck  finden  dieselben  in  den  Strahlenfiguren,  zu  denen  sich 
die  Protoplasmateilchen  um  den  Kern  und  seine  Centrosomen,  wie  Eisenfeil- 
späne um  die  Pole  eines  Magneten,  anordnen  (Fig.  16).  Als  Folge  derartiger 
Wechselwirkungen  läßt  sich  die  allgemeine  Regel  aufstellen,  daß  der  Kern 
stets  in  der  Mitte  seiner  Wirkungssphäre  gefunden  wird.  Daher  sehen 
wir  in  kleinen,  isolecithalen  Eiern  (Fig.  16)  nach  der  Befruchtung  den 
von  einer  Strahlensphäre  umgebenen  Keimkern  sich  nach  dem  geome- 
trischen Mittelpunkt  bewegen  und  sich,  wenn  das  Ei  eine  Kugel  ist,  in  ihrem 
Zentrum,  dagegen  wenn  es  eine  ovale  Form  hat,  in  der  Mitte  der  die  beiden 
Pole  verbindenden  Längsachse  einstellen.  Von  dieser  Normalstellung  treten 
indessen  Abweichungen  ein,  wenn  in  das  Protoplasma  Reservestoffe  in  größerer 
Masse  abgelagert  und  in  ungleichmäßiger  Weise  verteilt  sind.  Denn  diese  sind 
ja  eine  rein  passive  Masse,  welche  an  den  Bewegungsvorgängen  von  Kern  und 
Protoplasma  und  an  den  zwischen  ihnen  stattfindenden  Wechselwirkungen 
direkt  nicht  teilnimmt. 


Furchungsprozeß  l^g 

Daher  kann  der  Keimkern  an  einem  polar  differenzierten  Ei,  wenn  es 
Kugelform  hat,  nicht  mehr  im  Zentrum  gesucht  werden,  sondern  er  muß,  um 
die  Mitte  seiner  Wirkungssphäre  einzunehmen,  sich  um  so  mehr  in  die  Nähe 
des  animalen  Poles  begeben,  je  mehr  an  ihm  das  Protoplasma  angesammelt 
ist.  Beim  Froschei  findet  er  sich  daher  oberhalb  des  Zentrums  in  der  animalen 
Hälfte  und  bei  den  meroblastischen  Eiern  (Fig.  13,  kh)  der  Fische,  Reptilien 
und  Vögel  ist  er  noch  weiter  nach  oben  gerückt  und  ganz  in  die  Keimscheibe 
[ksch)  aufgenommen. 

Zweite  Regel:  Als  eine  notwendige  Ergänzung  zu  dieser  Regel  ergibt 
sich  der  weitere  zweite  Satz,  daß  durch  die  Verteilung  und  Konzentration  des 
Protoplasma  auch  die  Lage  der  Spindel,  wenn  sich  der  Kern  zur  Teilung 
anschickt,  bestimmt  werden  muß.  Die  beiden  Pole  der  Teilungsfigur  müssen 
in  der  Richtung  der  größten  Protoplasmamassen  zu 
liegen  kommen,  etwa  in  derselben  Weise,  wie  die  Lage 
der  Pole  eines  Magneten  durch  Eisenteile  in  seiner 
Umgebung  beeinflußt  wird.  Demnach  kann  in  einem 
isolecithalen,  kugeligen  Ei  mit  gleichmäßiger  Vertei- 
lung des  Protoplasma  die  Achse  der  zentral  gelegenen 
Kernspindel  mit  der  Richtungeines  beliebigen  Radius, 
dagegen  in  einem  entsprechenden,  aber  oval  geform- 
ten   Ei  nur  mit  seinem    längsten    Durchmesser    zu- 

r    11  T  •  1         •  1  T-i       ±,        1  Eier.  16.      Befruchtetes    Seeigelei 

sammenfallen.  In  emer  kreisrunden  Protoplasma-  ,,^^"1^  ^^^  Verschmelzung  von  el- 
scheibe,  wie  der  Keimscheibe  der  meroblastischen  Eier     und  Samenkem.  Der  Eimhait  ist 

um  den  zentral  gelegenen  Keim- 

stellt  sich  die  Spindelachse  parallel  zur  Oberfläche  in     kern  zu  einer  straUenfigur  an- 

,      ,.    ,    .  T-^  1  .         .  ,  o    1      -1  geordnet.    Nach  Hertwig. 

einem  beliebigen  Durchmesser,  m  emer  ovalen  Scheibe 

dagegen  wieder  nur  in  dem  längsten  Durchmesser  ein.  Ferner  muß  bei  un- 
gleichmäßig erfolgter,  massenhafter  Ablagerung  von  Deutoplasma  auch  die 
Spindel  in  den  protoplasmareicheren  Abschnitt  der  Zelle,  also  nach  dem  ani- 
malen Pol  des  Eies  zu,  verschoben  werden. 

Dritte  Regel:  Von  der  Lage  und  Stellung  der  Kernspindel  in  der  Zelle 
wird  aber  wieder  die  Ausbildung  der  Teilebene  vollständig  bestimmt.  Denn  sie 
erfolgt  immer  in  der  Weise,  daß  sie  die  Achse  der  Kernspindel  in  ihrer  Mitte 
und  unter  rechtem  Winkel  schneidet  (Fig.  10,  E  u.  F).  Eine  Zelle  muß  daher, 
wie  die  Physiker  sagen,  in  einer  Fläche  minimae  areae  geteilt  werden. 

Indem  wir  in  der  angegebenen  Weise  aus  den  Wechselbeziehungen  von 
Protoplasma  und  Kern  die  Gesetzmäßigkeiten  des  Teilungsprozesses  des  Eies 
und  seine  zahlreichen,  verschiedenen  Modifikationen  herleiten,  wird  uns  jetzt 
auch  noch  eine  vierte  Regel  verständlich  werden,  welche  lautet:  Die  Schnel- 
ligkeit, mit  welcher  sich  eine  Zelle  teilt,  ist  proportional  der  Konzentration 
des  in  ihr  befindlichen  Protoplasma.  Protoplasmareiche  Zellen  teilen  sich 
rascher  als  protoplasmaärmere,  aber  dotterreichere.  Um  dies  zu  verstehen, 
hat  man  sich  daran  zu  erinnern,  daß  die  Reservestoffe  nur  ein  passives,  in  das 
Protoplasma  eingelagertes  Material  darstellen,  während  die  Arbeit  der  Teilung 
allein  von  den  aktiven  Substanzen  der  Zelle,  von  Kern  und  Protoplasma,  ver- 


I40 


Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d,  Tiere 


Die  totale, 
äquale   Teilung. 


richtet  wird.  Die  Teilung  muß  daher  um  so  mehr  erschwert  werden,  je  mehr 
passive  Substanz  von  der  Zelle  mit  bewältigt  werden  muß.  In  Überein- 
stimmung hiermit  werden  wir  denn  auch  später  sehen,  daß  bei  den  polar 
differenzierten  Eiern  alle  Teilungsprozesse  vom  animalen  Pole  ihren  Ausgang 
nehmen  und  langsam  nach  dem  vegetativen  Pol  fortschreiten,  um  dort  ihren 
Abschluß  zu  finden.  Auch  wird  es  uns  verständlich  werden,  daß  wenn  die 
Ansammlung  von  Deutoplasma  ein  gewisses  Maß  überschreitet,  das  Proto- 
plasma es  überhaupt  nicht  mehr  zu  bewältigen  fähig  ist  und  daß  die  Teilung 
dann  nur  auf  den  protoplasmatischen  Abschnitt  der  polar  differenzierten  Eier 
der  Fische,  Reptilien  und  Vögel,  d.  h.  auf  die  Keimscheibe  beschränkt  bleibt. 

Nachdem  diese  allgemeinen  Gesichts- 
punkte zum  besseren  Verständnis  vor- 
ausgeschickt worden  sind,  wollen  wir 
nun  einige  wichtigere  Verschiedenheiten, 
die  der  Furchungsprozeß  in  der  Tierreihe 
darbietet,  in  das  Auge  fassen,  und  an 
einigen  Beispielen  erläutern.  Gewöhn- 
lich unterscheidet  man  drei  Haupttypen, 
innerhalb  deren  dann  weitere  Unterarten 
auseinandergehalten  werden  können : 
I.  die  totale  Teilung,  die  dann  weiter 
in  äquale,  inäquale,  und  spiralische  zer- 
fällt, II.  die  partielle  Teilung,  III.  die 
Vielzellbildung. 

Bei  der  totalen  Teilung  wird  das 
ganze  Ei  in  zwei  entweder  gleich  oder 
ungleich  große  Stücke  vollständig  zerlegt.  Sie  kommt  bei  Eiern  vor,  in  denen 
die  Ansammlung  des  Deutoplasma  die  Grenze,  innerhalb  deren  eine  Bewäl- 
tigung und  Zerlegung  noch  möglich  ist,  nicht  überschritten  hat.  Sie  findet 
sich  also  bei  allen  isolecithalen,  aber  auch  bei  einem  großen  Teil  der  telo- 
lecithalen  Eier.  Bei  ersteren  gestaltet  sich  die  totale  Teilung  zu  einer  äqualen, 
bei  letzteren  zu  einer  inäqualen,  doch  so,  daß  Übergänge  von  einer  zur  anderen 
Gruppe  herüberführen. 

Als  Beispiele  für  die  äquale  Teilung  können  die  Eier  der  Seeigel  oder  des 
Amphioxus  (Fig.  17)  oder  der  Säugetiere  dienen.  Das  kleine  kugelige  Ei  wird 
bald  nach  der  Befruchtung  durch  die  erste  Teilung  in  zwei  Halbkugeln,  diese 
werden  durch  eine  zweite  in  vier  Quadranten,  durch  eine  dritte  in  acht  Oktan- 
ten  und  so  fort  in  geometrischer  Progression  in  16,  32,  64  und  mehr  Stücke 
zerlegt.  Während  des  zweiten  und  dritten  Stadiums  läßt  sich  ein  streng  ge- 
setzmäßiges Verhalten  in  der  Richtung,  welche  die  sich  bildenden  Furchungs- 
ebenen  zueinander  einhalten,  erkennen.  Die  erste  Ebene  wird  nämlich  von 
der  zweiten  unter  rechtem  Winkel  geschnitten;  durch  die  Achse,  in  welcher 
sich  die  beiden  ersten  Ebenen  schneiden,  geht  wieder  die  dritte  unter  einem 
rechten  Winkel  hindurch.    Auch  im  weiteren  Verlauf  läßt  sich  im  allgemeinen 


Fig.  17.  Erste  Teilungsstadien  von  Amphioxus  lanceol. 
Nach  Hatschek.  A  Ungeteiltes  Ei  mit  Polzelle. 
B  In  zwei  Tochterzellen  geteiltes  Ei.  C  In  vier 
EmbryonalzeUen  geteiltes  Ei,  von  oben  gesehen. 
D  Achtzelliges  Stadium  in  seitlicher  Ansicht. 


Furchungsprozeß 


141 


m 


ÖO' 


p  Q  o  -^     ■ 


,0O  o  c 


Fig.  18.    Viergeteiltes  Ei  voti  Sagitta, 

vom  animalen  Pol  aus  gesehen.    Nach 

O.  Hertwig.     J^  Furchungshöhle. 

ß  Brechungslinie. 


feststellen,  daß  die  nächstfolgende  Teilebene  die  vorausgehende  immer  unter 
rechtem  Winkel,    und   zwar   in   einer  ,, Fläche   minimae   areae"   durchtrennt. 
Die  Zerlegung  der  Eier  in  Zellen  erfolgt  daher  im  großen  und  ganzen  durch 
Teilebenen,    die   alternierend   in   den  drei  Richtungen  des  Raumes  entstehen. 
Wenn  wir  uns  der  Benennungen  auf  der  Erdkugel  bedienen,  so  können  wir  die 
Enden  der  Eiachse  als  ihre  Pole  (animalen,  bzw.  vegetativen  Pol),  die  beiden 
ersten  Teilungsebenen  als  meridionale,  die  dritte  als  eine  äquatoriale,    ferner 
Ebenen,  welche  dem  Äquator  parallel  verlaufen 
und    in   ihrer    Richtung   den    Breitengraden  der 
Erdkugel    entsprechen,     als    latitudinale    be- 
zeichnen.   Tangential  endlich  können  solche  Ebe- 
nen heißen,    welche    ein    oberflächlich    gelegenes 
Stück  von  einem  zentralen  trennen  und  mehr  oder 
minder  der  Kugeloberfläche  parallel  gerichtet  sind. 
Im  weiteren  Verlauf  behalten  übrigens  die  Teil- 
ebenen  ihre   ursprüngliche  Lage   zueinander  ge- 
wöhnlich nicht  bei.     Da  die  Zellen  infolge  ihres 
Wasserreichtums  weich  sind,   erleiden  sie   durch 
Gleitbewegungen  Verschiebungen  gegeneinander, 
die  auf  dem  Stadium   der  Vierteilung  am  leich- 
testen zu  erkennen  und  in  manchen  Fällen  sehr 
erheblich  sind.   Während  alle  vier  Zellen  sich  mit 
ihren  oberen   und   unteren  Enden   am   animalen 
und  am  vegetativen  Pol   treffen   sollten,  werden 
zwei  von  ihnen  oben,  die  beiden  anderen  unten 
etwas  zur  Seite  gedrängt.  Infolgedessen  stößt  jetzt 
nur  ein  Zellenpaar  am  oberen  Pol,  das  andere  am  unteren  Pol  mit  einer  queren 
Furche   zusammen,    die  gewöhnlich   als  Brechungslinie  beschrieben  wird.     In 
besonders  prägnanter  Weise  ist  eine  derartige,  durch  Gleitbewegung  herbei- 
geführte Veränderung  in  der  ursprünghchen  Lage  der  ersten  vier  Embryonal- 
zellen in  der  Figur  18,  dem  Ei  einer  Sagitta,  und  in  Figur  19,  dem  oval  geform- 
ten Ei  von  Ascaris  nigrovenosa,    zu    sehen.    Wenn    die  Brechungslinie   auch 
nicht  immer  so  lang  und  deutlich  wie  in  diesen  zwei  Beispielen  ausfällt,  so  wird 
sie  doch  niemals  ganz  vermißt  werden.    Alle  diese  Erscheinungen  der  Zellen- 
verschiebungen im  Laufe  des  Furchungsprozesses  lassen  sich  in  physikalischer 
Beziehung   nach   dem   von  Plateau   ermittelten  Gesetz    über  die  Anordnung 
von   Blasen    in  schaumigen  Gemischen    erklären.      Nach    dem    Plateauschen 
Gesetz   nämlich    ordnen    sich    die    Scheidewände,    welche   in    einem    Schaum 
zur    Abgrenzung    der   einzelnen    Blasen     oder    ,, Zellen"    dienen,     nach    dem 
Prinzip  der  kleinsten  Flächen  oder  so  an,   daß   bei  dem  gegebenen  Volumen 
der  einzelnen  Blasen  die  Summe  aller  Oberflächen  ein  Minimum  wird.   ,,  Hier- 
bei treffen  längs  einer   gemeinsamen  Kante  nie  mehr  als  drei  Lamellen  zu- 
sammen  unter  gleichen  Winkeln   von  170°   und    in   einem   Punkt    nur   vier 
Lamellen." 


Fig.  19.     Viergeteiltes  Ei  von  Ascaris 
nigrovenosa.     Nach  Auerbach. 


14.2      Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 


Wenn  durch  fortgesetzte  Teilungen,  die  sich  in  kurzen  Intervallen  und  nach 
einem  gewissen  Rhythmus  aufeinanderfolgen,  lOO  und  mehr  Embryonal- 
zellen entstanden  sind,  so  bilden  sie  einen  kugligen  Haufen,  die  Morula  oder 
Maulbeerkugel  (Fig.  33  A).  Zu  dem  Vergleich  mit  der  Frucht  einer  Maulbeere 
ist  man  geführt  worden,  weil  auf  diesem  Stadium  die  noch  relativ  großen 
Embryonalzellen  mit  gewölbten  Flächen  nach  außen  hervorstehen  und  durch 
tiefe  Furchen  deutlich  voneinander  abgegrenzt  sind.  Während  der  Furchung 
tritt  auch  noch  eine  Veränderung  im  Innern  des  Zellenhaufens  ein;  es  bildet 
sich  durch  Auseinanderweichen  der  Zellen  ein  mit  Flüssigkeit  erfüllter  Hohl- 
räum, der  anfangs  klein,  allmählich  an  Ausdehnung  gewinnt.  Er  heißt  die 
Furchungshöhle. 
Die  totale,  in-  Als  Bcispicl  für  die  inäquale  Furchung  soll  uns  das  schon  früher  beschrie- 

aqua  e  urc  ung.  ^^^^  Froschci  dicncn.     Eine  Stunde  nach  der  Befruchtung  hat  sich  dasselbe 
124  8  durch  Ausstoßung  von 

Flüssigkeit      von     der 

dicken   Dotterhaut, 
welche      nach      außen 
noch  von  einer  mäch- 
tigen,  im  Wasser  auf- 
quellenden   Gallerte 
umschlossen    ist,     zu- 
rückgezogen,    ist    da- 
durch    beweglich    ge- 
worden und  kann  sich 
jetzt  nach  der  Schwere  seiner  Substanzen  im  Raum  orientieren;  es  kehrt  also 
den  schwarz  pigmentierten  animalen,  leichteren  Teil  der  Kugeloberfiäche  nach 
oben,  was  als  ein  sicheres  Zeichen  der  eingetretenen  Befruchtung  angesehen 
werden  kann.    Denn  das  Froschei  wird  nicht  sofort,  wie  das  Seeigelei,  beim  Zu- 
satz des  Samens  befruchtet,   da  die   Samenfäden  sich  erst  durch  die  dicke, 
quellende  Gallerte  hindurcharbeiten  müssen,  ehe  einer  von  ihnen  zur  Eizelle 
selbst  gelangt  und  in  sie  eindringt.     Das  Zurückziehen  des  Dotters  von  der 
Dotterhaut  zeigt  uns  diesen  Moment  der  eingetretenen  Befruchtung  an.    Die 
alsdann  erfolgenden  beiden  ersten  Teilungen  liefern  zunächst  wie  bei  dem 
äqualen  Typus   vier   gleich    große  Teilstücke    (Fig.  20,  i.  2. 4).     Der  inäquale 
Charakter  der  Furchung  macht  sich  erst  vom  dritten  Teilungsstadium  an 
bemerkbar  (Fig.  20,  8)  und  ist  leicht  aus  folgenden  Verhältnissen  des  Eibaues 
zu  erklären.    In  jeder  der  vier  Quadranten  besitzt  der  obere  Abschnitt  infolge 
der  früher  besprochenen  polaren  Differenzierung  des  Eies  mehr  Protoplasma, 
der  untere  mehr  Deutoplasma.     Dementsprechend  liegt  der  Kern  in  jedem 
Teilstück  (Fig.  21)  näher  dem  animalen  Pol  oberhalb  des  Äquators. 

Wenn  sich  derselbe  zur  nächsten  Teilungsfigur  umwandelt,  muß  sich  die 
Achse  der  Spindel  [sp]  nach  der  früher  besprochenen  zweiten  Teilungsregel  in 
die  längste  Achse  des  Quadranten  einstellen  und  in  seinem  oberen,  animalen 
Abschnitt  eingeschlossen  sein.  Ferner  muß  nach  unserer  dritten  Regel  die  Tei- 


Fig.  20.     Furcliung  des  Eies  von  Rana  temporaria.   Nach  Ecker.    Die  über  den 

Figuren  stehenden  Zahlen  geben  die  Anzahl  der  in  dem  betreffenden  Stadium 

vorhandenen  Segmente  an. 


Furchungsprozeß  14^ 

lungsebene  eine  horizontale  werden  und  da  sie  mehr  oder  minder  weit  oberhalb 
des  Äquators  entstehen  muß,  den  Quadranten  in  ein  oberes,  schwarz  pigmen- 
tiertes, protoplasmareicheres  Stück  und  in  einen  erheblich  größeren,  unteren, 
dotterreicheren  Abschnitt  zerlegen  (Fig.  21).  Mit  dem  dritten  Stadium  ist 
mithin  jetzt  die  Furchung  eine  inäquale  geworden  (Fig.  20,  8).  Von  den  acht 
Zellen  sind  vier  kleiner,  vier  erheblich  größer;  jene  sind  um  den  animalen, 
diese  um  den  vegetativen  Pol  herumgruppiert  und  werden  daher  auch  ebenso 
wie  ihre  Deszendenten  als  animale  und  als  vegetative  Zellen  unterschieden. 
Im  weiteren  Verlauf  der  Furchung  wird  der  Unterschied  zwischen  ihnen  noch 
größer  (Fig.  20,  16.32.64).  Denn  die  animalen  Zellen  teilen  sich  nach  kür- 
zeren Intervallen,  also  häufiger  als  die  vegetativen,  da  sie  protoplasmareicher 
sind,  was  ja  für  die  Schnelligkeit  der  Teilung  nach  ^,^^7»^  >-^?^->^         p 

unserer  vierten  Regel  von  großem  Einfluß  ist.     So  ist       /v  ;        ""^^ — 'P^' 

denn  das  Endergebnis  der  inäqualen  Furchung  eine  f;;;M\:  l/,  ijpäf>^^^ — sp 
Maulbeerkugel  mit  zwei  ganz  ungleichwertigen  Half-     [  ■] 

ten,  nämlich  mit  einer  nach  oben  gelegenen,  animalen     \  '""i^^ 

Hälfte   kleiner,   pigmentierter   Zellen   und    mit    einer      V  '/ 

nach  abwärts  gekehrten,  vegetativen  Hälfte  mit  viel  ^,  0 

größeren,  dotterreichen,  hellen  Zellen.    Der  am  Äqua- 

.  .  .  .         t'ig-  21-    Scliema  der  Teilung  des 

tor  gelegene  rmgförmige  Substanzstreifen,  der  zwi-  Froscheies  auf  dem  dritten  sta- 
schen  beiden  Hälften  einen  Übergang  vermittelt,  heißt  wre^r'ln'^lArJutl'Ine^hori'^ 
die   Randzone.     Der  inäquale  Charakter  der  Morula    ^°."'^'«  "^.-^^  Latitudinaifurche  zu 

teilen  beginnen.     P   pigmentierte 

gibt  sich  außer  in  der  Größe  der  Zellen  an  den  beiden    Oberfläche   des  Eies    am  am- 

■n     1  1  1        •  1  T  1  T^  1  1    ..1   1  malen  Pol; /r  protoplasmatischer, 

Polen  auch  noch  m  der  Lage  der  Furchungshohle  ^  dotterreicher  Teil  des  Eies; 
zu  erkennen.     Diese  ist  weiter  in  die  animale  Hälfte  '^  Kemspmdei. 

hineingedrängt  und  da  diese  hierdurch  noch  leichter  als  die  vegetative  wird, 
so  stellt  sich  auf  diesem  Stadium  der  animale  Pol,  wenn  man  die  Eier  zu 
drehen  versucht,  noch  energischer  und  rascher  als  auf  den  Anfangstadien  der 
Entwicklung  nach  oben  ein. 

Wenn  man  den  Furchungsprozeß  bei  sehr  zahlreichen  Vertretern  aus 
allen  Klassen  des  Tierreichs  studiert,  so  kann  man  alle  möglichen  Übergänge 
in  der  Größe  der  Teilstücke  zwischen  äqualer  und  inäqualer  Furchung  be- 
obachten. Von  manchen  Forschern  wird  sogar  geltend  gemacht,  daß  es  eine 
absolut  äquale  Furchung  vielleicht  überhaupt  nicht  gibt,  da  bei  genauer  Mes- 
sung sich  geringe  Differenzen  wohl  überall  würden  feststellen  lassen.  Wenn  dies 
auch  richtig  sein  mag,  so  wird  dadurch  die  Zweckmäßigkeit,  die  beiden  Fur- 
chungstypen  zu  unterscheiden,  nicht  getroffen.  Denn  Übergänge  finden  sich 
schheßlich  zwischen  allen  Formen  des  Furchungsprozesses  vor,  welche  man 
überhaupt  aufstellen  kann.  Welche  überaus  erhebhchen  Unterschiede  in  der 
Größe  zwischen  den  am  animalen  und  den  am  vegetativen  Pol  gelegenen  Ele- 
menten auf  dem  Achtzellenstadium  bestehen  können,  zeigt  uns  in  lehrreicher 
Weise  eine  Zusammenstellung  von  vier  verschiedenen  Tieren.  Bei  Clepsine, 
einer  Blutegelart,  sind  die  vier  animalen  Zellen  im  Vergleich  zu  den  vegeta- 
tiven am  kleinsten  (Fig.  22,  Ä),  bei  Rhynchelmis,  einem  Ringelwurm,  haben 


144     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 


sie  schon  ein  wenig  an  Größe  gewonnen  (Fig.  22,  B),  bei  der  Malermuschel 
(Unio)  ist  der  Unterschied  zwischen  animalen  und  vegetativen  Zellen  (Fig.  22,  C) 
etwa  so  groß  wie  beim  Froschei  (Fig.  20,  8),  beim  Amphioxus  (Fig.  22,  D  u. 
17,  D)  dagegen  so  gering,  daß  man  das  Beispiel  auch  zur  äqualen  Furchung 
hinzurechnen  kann  oder  wie  es  ebenfalls  geschehen  ist,  zur  Aufstellung  einer 
besonderen  Unterart,  der  adäqualen  Furchung,  benutzt  hat. 
Promorphologie  Außcr  der  bishcr  erörterten  polaren  Differenzierung,  welche  den  Verlauf 

des  Eies.     ^^^  ersten   Entwicklungsprozesse  in   so   eingreifender  und   auffälliger   Weise 

beeinflußt,  gibt  e§  noch  eine 
feinere  Organisation  des  un- 
befruchteten und  befruchte- 
ten Eies,  in  welcher  schon 
früh  die  spätere  Grundform 
oder  Promorphologie  des  fer- 
tig entwickelten  Tieres  ge- 
wissermaßen angedeutet  ist. 
Deutlich  erkennbar  ist  die- 
selbe allerdings  nur  in  einer 
geringen  Anzahl  auserlesener 
Fälle,  bei  denen  wir  noch 
ihres  weitreichenden  Inter- 
esses wegen  einen  Augenblick 
verweilen  wollen.  Wie  es  eine 
Promorphologie  des  ausgebil- 
deten Tieres  gibt,  so  könnte 
man  gleichsam  auch  von 
einer  Promorphologie  des 
^  -^  Eies   reden.     Dieselbe  wird 

Fig.  22^ — D.  Das  Achtzellenstadium  von  den  Eiern  vier  verschiedener  J     J  u     U  -f  A     fi. 

Tiere,  welche  Abstufungen  in  der  Größe  der  durch  inaequale  Teilung  daClUrCn     lierVOrgerUlen,     Clalo 

entstandenen   Tochterzellen   zeigen.      Nach  Wilson.      A  Ei  von  Clep-  T  Tntpr^phipHp     in     HpT    AflOrd- 
sine.     Nach  Whitman.       B  Ei    des   Chaetopoden  Rhynchelmis.     Nach 

Vejdovsky.      C  Ei  des  LamelHbranchiers  Unio.     Nach  Lillie.      D  Ei  nUUg   dcr   EisubstanZCU   nicht 
von  Amphioxus.     Alle   vier    Objekte   vom    animalen    Pol   aus    gesehen.  .  .  -r-.  •    i 

nur  m  einer  Richtung  wie 
bei  der  besprochenen  polaren  Differenzierung,  sondern  nach  allen  drei  Dimen- 
sionen des  Raumes  bestehen.  Infolgedessen  lassen  sich  drei  Richtungslinien 
oder  Achsen  nach  den  drei  Dimensionen  des  Raumes  durch  die  Eikugel  hin- 
durchlegen und  spezieller  charakterisieren;  desgleichen  können  bestimmte 
Symmetrieebenen  ermittelt  werden,  in  denen  es  allein  möghch  ist,  den  kug- 
ligen  Körper  symmetrisch  zu  halbieren.  Drei  Anordnungsweisen  sind  bisher 
bekannt  geworden,  die  man  als  bilateral -symmetrischen,  als  radiären  und 
als  Spiralen  Organisationstypus  bezeichnen  kann. 
Biiaterai-sym-  Eiuc  bilateral  symmetrische  Organisation  ist  bisher  an  den  Eiern 

Ttruktur!  ^on  einzelnen  Tieren  aufgefunden  worden,  deren  Körper  wie  bei  den  Verte- 
braten  eine  bilaterale  Symmetrie  aufweist.  Die  am  meisten  studierten  Objekte 
sind   die    Eier  von  Rana  fusca  und  viridis,  sowie  von  Clavellina.     Bei  Rana 


Promorphologie  des  Eies 


145 


viridis  stellt  sich  das  im  Wasser  schwebende  Ei  so  ein,  daß  der  pigmentfreie 
gelbe  Dotter  bei  Betrachtung  von  oben  an  einer  Stelle  des  Randes  als  Halb- 
mond zu  sehen  ist.  Nur  eine  diesen  Halbmond  unter  rechtem  Winkel  und 
lotrecht  schneidende  Ebene  zerlegt  das  Ei  in  zwei  symmetrische  Hälften  und 
kann  daher  als  die  Median-  oder  Symmetrieebene  der  Eikugel  bezeichnet 
werden.  Da  zu  ihren  beiden  Seiten  die  Substanzen  von  ungleicher  Schwere 
und  von  verschiedenem  physiologischem  Wert,  Deutoplasma  und  Protoplasma, 
symmetrisch  verteilt  sind,  muß  sie  sich  stets  der  Schwere  nach  senkrecht  ein- 
stellen, so  daß  ihr  auch  die  Bedeutung  einer  Gleichgewichtsebene  zukommt. 
Weniger  deutlich  tritt  bei  dem  stärker  pigmentierten  Ei  von  Rana  fusca  die 
bilateral-symmetrische  Organisation  nach  der  Befruchtung  hervor;  doch  läßt 
sie  sich  auch  hier  daran  erkennen  (Fig.  23), 
daß  sich  die  pigmentierte  obere  und  die 
pigmentfreie,  etwas  gelblich  oder  grau 
aussehende  untere  Hälfte  der  Kugel  so 
gegeneinander  abgrenzen,  daß  an  der  spä- 
teren, hinteren  Seite  das  helle  Dotterfeld 
bis  über  den  Äquator  höher  hinaufreicht, 
während  vorn  umgekehrt  die  Oberfläche 
noch  eine  Strecke  unter  dem  Äquator 
schwarz  pigmentiert  ist.  Von  vorn  gesehen 
zeigt  daher  das  Ei  ein  viel  kleineres  Dot- 
terfeld (Fig.  23  A)  als  bei  Betrachtung  von 
hinten  (Fig.  23  B).  In  der  Mehrzahl  der 
Eier  stellt  sich  die  erste  Spindel  mit  ihrer  Längsachse  in  horizontaler  Rich- 
tung und  rechtwinklig  zur  Symmetrieebene  ein,  so  daß  die  Teilebene  mit  der 
Symmetrieebene  zusammenfällt  und  das  Ei  in  eine  linke  und  rechte  sym- 
metrische Hälfte  zerlegt,  die  den  späteren  Körperhälften  entsprechen.  Ebenso 
fällt  beim  Ei  von  Clavellina,  einer  Ascidie,  die  erste  Teilebene  mit  der  Median- 
ebene zusammen  und  es  bildet  sich  hier  im  Verlauf  der  ersten  Teilstadien 
ein  besonders  schönes,  bilateral-symmetrisches  Zellenmosaik  aus,  von  welchem 
uns  Figur  24  eine  Anschauung  gibt.  Auf  dem  Stadium  von  16  Zellen  stellt  die 
Linie  ap  die  Symmetrieebene  der  Eier  dar,  mit  welcher  sowohl  die  erste  Teil- 
ebene als  auch  die  spätere  Medianebene  des  Embryos  zusammenfällt.  Gleich- 
zeitig läßt  sich  schon  nach  der  verschiedenen  Größe  der  Zellen  das  spätere 
Kopfende  [a]  und  das  Schwanzende  {p)  deutlich  erkennen. 

Der  Radiärtypus  ist  weniger  deutlich  ausgeprägt  und  bis  jetzt  auch  Radiäre 
weniger  genau  untersucht.    Er  findet  sich  häufig  bei  Eiern,  die  Vertretern  des  ^"■"''''"'• 
Coelenteratenstammes  angehören.      Da  seine    Beschreibung  uns  auf  zu  viele 
Einzelheiten   führen   würde,    unterlassen   wir  es,   näher  auf  ihn  einzugehen. 
Dagegen  verlangen  die  eigentümlichen  Verhältnisse,  die  der  spiralige  Typus Spiraiige 
darbietet,  noch  eine  kurze  Besprechung.    Der  spirahge  Typus  ist  bei  den  Eiern 
mancher  Würmer  und  Mollusken  beobachtet  worden.   Bei  den  Mollusken,  deren 
Verhalten  uns  hier  allein  noch  einen  Augenbhck  beschäftigen  soll,  sind  die 

K.d.G.m.iv,Bd2  Zellenlehre  etc.  II 


Fig.  23  ^  und  B.  Ei  von  Rana  fusca  im  Beginn  der 
Zweiteilung,  A  von  vorn,  B  von  hinten  gesehen,  um 
zu  zeigen,  daß  das  lichtere  Feld  auf  der  hinteren 
Seite  des  Eies  mehr  Raum  einnimmt  als  auf  der 
vorderen  und  daß  infolgedessen  das  befruchtete  Ei 
eine  Symmetrieebene  besitzt,  welche  gewöhnlich 
mit  der  ersten  Teilebene  zusammenfallt. 
Nach  O.  ScHULTZE. 


Struktur. 


10 


146     Oscar  HertwiG:   Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 


verschiedenen  Substanzen  im  Ei  so  angeordnet,  daß  zur  Zeit,  wo  sich  der  Keim- 
kern in  die  Spindel  umwandelt,  diese  eine  schräge  Stellung  im  Verhältnis  zur 
Eiachse  einnimmt  (Fig.  25,^).  Wenn  es  dann  zur  Teilung  kommt,  bildet  sich 
die  erste  Ebene  ebenfalls  schräg  zur  Eiachse  aus,  da  sie  ja  die  Mitte  der  Spindel 
unter  rechtem  Winkel  schneiden  muß.  Auch  in  der  Folge  wiederholt  sich  diese 
schräge  Stelle  der  weiterhin  entstehenden  Teilebenen,  doch  so,  daß  sie  dabei 
in  ihrer  Richtung  alternieren.  Dementsprechend  nehmen  auch  die  Spindeln  in 
den  Embryonalzellen  eine  schräge  und  zugleich  in  ihrer  Aufeinanderfolge 
alternierende  Richtung  ein.  Das  Verhalten  gewinnt  an  Interesse  noch  dadurch, 
daß  bei  verschiedenen  Spezies  die  schräg  gestellte   Spindel  in  entgegengesetzter 

Richtung  zur  Eiachse  orientiert  ist,  wie  sich 
aus  dem  in  Fig.  25,  A  u.  B  gegebenen  Schema 
leicht  ersehen  läßt.  Man  unterscheidet  daher 
bei  den  Molluskeneiern  eine  dexiotrope  und 
eine  läotrope,  oder  eine  rechts-  und  links- 
wendige Stellung  der  Spindeln  und  ebenso 
der  daraus  hervorgehenden  Teilebenen,  so  daß 
dann  auch  die  ganze  Anordnung  der  Embryo- 
nalzellen zueinander  hier  dexiotrop,  dort 
läotrop  ausfällt.  —  Wie  bei  den  bilateral-sym- 
metrischen Tieren,  so  spiegelt  sich  gewisser- 
maßen auch  bei  den  Mollusken  die  spätere 
Form  des  Körpers  und  die  Anordnung  ein- 
zelner Organe  schon  in  der  besonderen  Plasma- 
struktur der  Eier  wieder,  in  der  Spiralen  Lage 
der  Spindeln,  der  Teilungsebenen  und  Anordnung  der  Embryonalzellen.  Während 
die  meisten  Schnecken  rechtsgewundene  Schalen  besitzen,  deren  Höhle  von  dem 
gleichgewundenen  Eingeweidesack  ausgefüllt  wird ,  sind  bei  einzelnen  Arten  der 
Gastropoden,  bei  Physa,  Planorbis,  Ancylus  die  Schalen  mit  ihrem  Inhalt  links- 
gewunden; im  Vergleich  zu  jenen  zeigen  diese  infolgedessen  ,, einen  vollstän- 
digen Situs  inversus  viscerum  derart,  daß  z.  B.  die  Mantelöffnung,  der  After 
und  die  Genitalöffnung  links  gelegen  ist".  Dementsprechend  ist  auch  die  Ei- 
struktur  im  ersten  Fall  schon  dexiotrop,  im  zweiten  Fall  dagegen  schon  läotrop 
angelegt.  Wie  man  von  einem  Situs  inversus  viscerum  beim  erwachsenen  Tiere, 
so  kann  man  in  bezug  auf  die  Anordnung  der  Embryonalzellen  beim  Vergleich 
der  dexiotropen  mit  den  läotropen  Eiern  von  ,, einem  vollständigen  Situs  inversus 
der  Blastomeren"  mit  Korscheit  und  Heider  reden.  Es  sind  dies  gewiß 
äußerst  prägnante  Beispiele  für  nähere  Beziehungen,  die  schon  zwischen  der 
Organisation  des  Eies  in  seinen  Anfangsstadien  zu  manchen  Formverhält- 
nissen des  fertigen  Tieres,  zur  Verteilung  und  Anordnung  seiner  Substanz 
in  den  drei  Richtungen  des  Raumes,  unter  Ausbildung  besonderer  Achsen  und 
besonderer  Symmetrieebenen  bestehen.  Den  Grundformen  der  Tiere  ent- 
sprechen in  diesen  Fällen  bald  mehr  bald  minder  schon  gewisse  Grundformen 
ihrer  Eier,  so  daß  auch  sie  in  eine  allgemeine  Promorphologie  mit  aufgenommen 


Fig.  24.     Bilaterales  Stadium  von  16  Zellen  ^■om 

Ei    von    Clavellina.      Nach    Van    Beneden    und 

JuLiN.     a  vorderes,  /  hinteres  Ende. 


Promorphologie  des  Eies 


147 


veg 


an 


zu  werden  verdienen.  Durch  diese  und  ähnliche  Beobachtungen  sind  einzelne 
Forscher  veranlaßt  worden,  „das  Prinzip  der  organbildenden  Keimbezirke" 
aufzustellen  und  den  Verlauf  des  Entwicklungsprozesses  von  ihm  abhängig 
zu  machen.  Auch  von  einer  Mosaiktheorie  der  Entwicklung  hat  man  geredet, 
indem  man  frühe  Furchungsstadien,  in  denen  bei  manchen  Tierarten  die  Zellen 
sich  durch  verschiedene  Größe  unterscheiden 
und  dabei  in  besonders  regelmäßiger  Weise 
symmetrisch  angeordnet  sind,  als  Zellenmosaik 
und  als  Mosaikfurchung  bezeichnet  hat.  Wir 
erwähnen  diese  Theorien  schon  an  dieser  Stelle, 
obwohl  wir  uns  erst  später  mit  ihnen  noch 
näher  beschäftigen  werden. 

Nach  diesem  Exkurs  auf  die  feinere  Ei- 
struktur  wenden  wir  uns  wieder  der  Darstel- 
lung des  Furchungsprozesses  zu,  dessen  zweiter 
Haupttypus,  die  partielle  Teilung,  jetzt  noch 
zu  untersuchen  bleibt.  Das  Wesen  derselben 
besteht,  wie  schon  der  Name  sagt,  darin,  daß 
von  den  Eiern,  die  gewöhnlich  infolge  massen- 
hafter Aufspeicherung  von  Deutoplasma  sehr 
große  Dimensionen  erreichen,  nur  ein  kleinerer 
Abschnitt  in  Zellen  zerlegt  wird,  während  der 
größere  Rest  als  Nahrungsdotter  ungeteilt 
bleibt.  Partielle  Teilung  findet  sich  sowohl  bei 
Eiern  des  telolecithalen  als  auch  des  centroleci- 
thalen  Typus  und  zerfällt  daher,  da  sie  inner- 
halb beider  Typen  in  wesentlich  verschiedener 
Weise  abläuft,  in  die  beiden  Unterarten  der 
partiell  discoidalen  und  der  partiell  super- 
ficialen Furchung. 

Die  discoidale  Furchung  tritt  bei  Eiern 
mit  telolecithalem  Bau  des  Dotters  auf  in  allen 
Fällen,  wo  sich  auf  dieser  Grundlage  eine 
schärfere  Sonderung  in  einen  Nahrungsdotter 
und  in  einen  Bildungsdotter  oder  eine  Keimscheibe  ausgebildet  hat  (Fig.  13). 
Das  ist  der  Fall  bei  einigen  Klassen  der  Wirbeltiere,  bei  den  Fischen,  Rep- 
tihen  und  Vögeln  und  bei  einigen  wenigen  Abteilungen  der  Wirbellosen,  wie 
bei  den  Cephalopoden,  den  Skorpionen  und  den  Pyrosomen.  Bei  allen  ist 
die  Teilung  nur  auf  den  Bildungsdotter  beschränkt,  während  der  meist  er- 
heblich größere  Rest  des  Eies  nicht  in  Zellen  zerlegt  wird,  sondern  als  solcher 
bis  in  späte  Stadien  der  Entwicklung  bestehen  bleibt,  schließlich  in  den 
Darmkanal  aufgenommen  und  allmählich  zur  Ernährung  der  embryonalen 
Zellen  aufgebraucht  wird.  Als  Beispiel,  wie  sich  die  Keimscheibe  mit  dem 
in    ihr    eingeschlossenen   Keimkern  in  Zellen  zerlegt,   mag  uns  das  Hühnerei 


Fig.  25  yl   und   ß.     Lage   der  Kernspindel  in    Discoidale 
einem    nach     dem    Spiraltypus    gebauten    Ei.    Furchung. 
A   bei  dexiotroper,    B   bei    läotroper  Teilung. 
an  auimaler,  veg  vegetativer  Pol  der  Eiachse. 
Nach  Heider  und  Korschelt. 


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148     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

dienen.  Noch  im  Anfang  des  Eileiters,  wo  die  Befruchtung  vor  sich  geht, 
bildet  sich  die  erste  Kernspindel  aus  und  stellt  sich  nach  den  früher  be- 
sprochenen Teilungsregeln  in  die  Mitte  der  Scheibe  in  horizontaler  Richtung 
ein.  Durch  die  erste  Teilungsebene,  die  in  senkrechter  Richtung  orientiert 
ist,  und  nur  bis  zur  Grenze  des  Nahrungsdotters  durchschneidet,  werden 
zwei  Segmente  abgetrennt,  die  nach  unten  noch  mit  dem  Nahrungsdotter 
und  dadurch  auch  untereinander  zusammenhängen.  Die  zweite  Teilung  er- 
folgt ebenso  in  vertikaler  Richtung  und  schneidet  rechtwinklig  die  zuerst 
entstandene  Furche,  so  daß  die  Scheibe  in  ihrer  Mitte  in  vier  Segmente  zer- 
legt wird  (Fig.  26).  Während  nun  aber  im  dritten  Teilungszyklus  beim  Froschei 
die  Teilung  in  horizontaler  Richtung  erfolgt,  tritt  sie  hier  noch  einmal  in  ver- 
tikaler Richtung  ein, 
„.-^j^f^-^-"^^'-.  .-.^^  ■  .--■s**"'^-'-^  so  daß  um  den  anima- 

len  Pol  acht  Segmente 
herumgruppiert  sind, 
die  an  ihm  mit  spitzen 

Enden  zusammen- 
stoßen, dagegen  mit 
ihren  breiten  Enden 
nach  der  Peripherie  ge- 
wandt sind  und  in  eine 
noch  nicht  zerlegte 
Randzone  der  Keim- 
scheibe übergehen.  Erst 
vom  vierten  Teilungszyklus  an  erscheinen  latitudinale  Furchen,  d.  h.  solche, 
die  dem  Äquator  der  Eikugel  parallel  gerichtet  sind;  sie  zerlegen  die  acht 
Segmente  in  acht  kleinere  zentrale  und  in  acht  größere  periphere  Teilstücke. 
Indem  von  nun  an  meridionale  und  latitudinale  Furchen  gewöhnlich  alternierend 
auftreten,  zerfällt  die  Keimscheibe  (Fig.  27  u.  28)  in  immer  zahlreichere  Stücke, 
welche  so  angeordnet  sind,  daß  die  kleineren  in  der  Umgebung  des  animalen 
Poles  der  Mitte  der  Scheibe,  die  größeren  an  ihrer  Peripherie  liegen.  Die  am 
meisten  peripheren  werden  noch  besonders  als  die  Randsegmente  unterschieden. 
Bis  zum  fünften  Teilungszyklus  besteht  die  Keimscheibe  aus  einer  einfachen 
Lage  von  Segmenten,  die  an  ihrer  Basis  noch  mit  dem  gemeinsamen  Nah- 
rungsdotter zusammenhängen.  Erst  von  hier  an  wird  sie  durch  einen  Prozeß, 
der  in  der  Mitte  beginnt  und  allmählich  nach  dem  Rand  zu  fortschreitet,  auch 
ihrer  Dicke  nach  in  zwei,  drei  und  mehr  Lagen  von  Zellen  zerlegt.  Es  geschieht 
dies  dadurch,  daß  in  den  kleineren  Segmenten  der  Mitte  die  Kernspindeln 
sich  in  vertikaler  Richtung  einstellen,  daß  daher  tangential  zur  Oberfläche  des 
Eies  Teilebenen  entstehen  und  die  zentralen  Segmente  in  oberflächliche  und 
tiefere  Hälften  zerlegen.  Erstere  werden  hierdurch  vollständig  als  Embryonal- 
zellen isoliert,  letztere  hängen  dagegen  nach  unten  noch  mit  dem  Nahrungsdotter 
zusammen.  Das  Schema  der  Fig.  29  wird  dazu  dienen,  den  Vorgang  noch  mehr, 
als  es  die  bloße   Beschreibung  vermag,   dem  Verständnis  näher  zu  bringen. 


Fig.  26.    Keimsclieibe  eines  Hühner- 
eies, in  vier  Segmente  geteilt. 

Nach   KÖLLIKER. 


Fig.  27.     Keimscheibe  eines  Hühner- 
eies mit  elf  Randsegmenten. 

Nach    KÖLLIKER. 


Furchungsprozeß 


149 


Wenn  nach  längerer  Dauer  des  Furchungsprozesses  die  Keimscheibe  in 
ihrer  ganzen  Ausdehnung  in  sehr  viele  kleine  Embryonalzellen  geteilt  ist, 
so  werden  schließlich  einzelne  Kerne  auch  in  die  oberflächlichste  Schicht  des 
Nahrungsdotters  unmittelbar  unter  der  zelligen  Keimscheibe  mit  aufgenommen. 
Es  muß  dies  immer  dann  eintreten,  wenn  aus  den  am  tiefsten  gelegenen  Ker- 
nen vertikal  gestellte  Spindeln  entstehen,  die  mit  ihrem  einen  Ende  in  den 
Nahrungsdotter  eintauchen  und  in  diesem  nach  ihrer  Halbierung  durch  eine 

tangentiale  Teilebene  zur  Hälfte  zurück- 
bleiben und  einen  bläschenförmigen  Ruhe- 
kern liefern.  Die  so  an  der  Grenze  im 
Nahrungsdotter  eingeschlossenen  Kerne 
sind  unter  dem  Namen  der  Dotterkerne 
bekannt.  Da  um  sie  keine  Abgrenzung 
von  Zellen  zustande  kommt,  bilden  sie 
h       c     d       e     f        g  h 


o»'oVo 


Fig.  28.      Keimscheibe   eines  Hühnereies 
mit  vielen  Randsegmenten.  Nach  Kölliker. 


sp  ds 

Fig.  2g.   Schema  von  der  Zerlegung  der  Keirascheibe  eines 
meroblastischen     Eies   in   Zellen.     Durchschnittsbild.     Nach 
Hehtwig.     ds  Dottersyncytium;  sp  in  radialer  Richtung  ein- 
gestellte Spindel. 


gemeinsam  eine  unter  der  Keimscheibe  gelegene,  dünne  Schicht,  das  Dotter- 
syncytium, welches  eine  Art  Übergang  zwischen  dem  in  Zellen  zerlegten  und 
dem  ungeteilten  größeren  Abschnitt  des  Eies  vermittelt. 

Die  partiell-superfizielle  Furchung  ist  bei  Arthropoden,  sowohl  bei  Cru-  Superfizielle 
staceen  wie  bei  Insekten,  weit  verbreitet,  während  sie  im  Stamm  der  Wirbel-  ""^"^  "°^' 
tiere  niemals  beobachtet  wird.  Sie  setzt  einen  centrolecithalen  Bau  des  Eies 
voraus  (Fig.  14).  Nach  der  Befruchtung  liegt  der  Keimkern  in  der  Mitte  des 
Nahrungsdotters,  eingeschlossen  in  einer  Hülle  von  Protoplasma,  und  beginnt 
sich  in  dieser  zu  teilen.  An  die  Kernteilung  schließt  sich  aber,  ebenso  wie  bei 
ihren  Wiederholungen,  keine  Teilung  des  ganzen  Eies  an.  Die  Kerne  allein 
vermehren  sich  von  2  auf  4,  8,  16,  32,  64  und  so  fort;  sie  rücken  hierbei  aus- 
einander und  verteilen  sich  im  Nahrungsdotter,  der  unzerlegt  bleibt,  nach  allen 
Richtungen.  Obwohl  so  der  Entwicklungsprozeß  schon  längere  Zeit  seinen 
Anfang  genommen  hat,  sieht  gleichwohl  das  ganze  Ei  bei  Betrachtung  seiner 
Oberfläche  unverändert  und  ähnlich  dem  unbefruchteten  aus.  Das  Bild  ändert 
sich  erst  später,  wenn  schon  Hunderte  von  Kernen  entstanden  sind,  und  dann 
oft  in  sehr  kurzer  Zeit  dadurch,  daß  die  im  Innern  des  Nahrungsdotters  zer- 
streuten Kerne  mit  ihren  Hüllen  von  Protoplasma  nach  der  Oberfläche  hin- 
wandern, in  die  protoplasmatische  Rindenschicht  eindringen  und  sich  in  ihr 
gleichmäßig  verteilen.  Allein  die  Rinde  des  Eies  wird  dann  schließlich  in  so 
viele  Zellen  zerlegt,  als  Kerne  in  ihr  eingeschlossen  sind,  und  dadurch  in  die 


ICQ     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u,  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Keimhaut  oder  das  Blastoderm  umgewandelt;  der  zentrale  Nahrungsdotter 
dagegen,  auch  wenn  er  noch  einige  zurückgebliebene  Kerne  einschheßt,  bleibt 
meistens  ungeteilt  und  füllt  die  Höhle  der  Keimhaut  aus,  von  welcher  er  all- 
mählich bei  der  Bildung  des  embryonalen  Körpers  aufgebraucht  wird. 
Prinzip  der  Auf  das  gcnaucstc  Studium  des  Furchungsprozesses  ist  seit  Jahrzehnten 

organbildenden   j       großc  Arbeit  verwaudt  worden.     Mit  großer  Beobachtungsgabe  und  be- 

Iveimbezirke.  ö  o  o    o 

wundernswerter  Geduld  haben  manche  Forscher  an  besonders  geeigneten 
Objekten  die  Richtung  der  aufeinanderfolgenden  Teilungsebenen,  die  Größe 
und  Form  der  sich  vermehrenden  Zellen,  ihre  Abstammung  voneinander, 
gewissermaßen  einen  wirklichen  Stammbaum  der  vielen  aus  dem  befruchteten 
Ei  hervorgegangenen  Zellgenerationen  festzustellen  versucht.  Besonders 
haben  Eier  mit  einem  ausgesprochenen  ,, Zellenmosaik"  (Nematoden  und  einige 
andere  Würmer,  Mollusken,  Tunikaten  usw.)  zu  solchen  Studien  einen  Anreiz 
geboten.  Man  wünschte  auf  diesem  Weg  einen  Beweis  für  das  Prinzip  der 
organbildenden  Keimbezirke  ('°)  zu  gewinnen,  also  zu  zeigen,  daß  ein- 
zelne Zellen  des  noch  wenig  geteilten  Eies  die  Substanzanlagen  für  bestimmte 
später  hervorgehende  Organe  sind.  Man  wollte,  wie  His  sich  ausdrückt,  ,,auf 
dem  Wege  rückläufiger  Verfolgung  dahin  kommen,  auch  in  der  Periode  un- 
vollkommener oder  mangelnder  morphologischer  Gliederung  des  Eies  den  Ort 
jeder  Anlage  räumlich  zu  bestimmen".  Als  Substanzanlage  bezeichnete  man 
dabei  denjenigen  Bezirk  des  Eies,  der  schließlich  das  Material  zur  Bildung  eines 
Organs  hergibt.  In  dem  Prinzip  der  organbildenden  Keimbezirke  liegt  in 
mancher  Beziehung  ein  Wiederaufleben  der  alten  Präformationstheorie  in 
einer  den  Fortschritten  moderner  Forschung  mehr  angepaßten  Form  vor. 

Nun  wird  man  ja  zugeben  müssen,  daß  die  Substanz  bereits  differenzierter 
Organe,  wenn  wir  die  normale  Entwicklung  Schritt  für  Schritt  zurückverfolgen, 
schließhch  aus  bestimmten  Bezirken  des  erst  in  wenige  Zellen  geghederten, 
eventuell  auch  des  noch  ungeteilten  Eies  abstammen  muß.  Das  verlangt  wohl 
schon  die  Kontinuität  des  Geschehens.  Doch  ist  bei  solchen  Erwägungen 
zweierlei  nicht  aus  dem  Auge  zu  verlieren.  Einmal  sind  die  meisten  Organe 
aus  mehreren  genetisch  verschiedenen  Geweben  aufgebaut,  wie  Epithel- 
zellen, Bindegewebe,  Blutgefäßen,  Nerven  usw.,  die,  an  verschiedenen 
Orten  entstanden,  sich  erst  durch  komplizierte  Wachstumsprozesse  zu  einem 
funktionellen  Ganzen  verbunden  haben;  daher  sind  sie  auch  nicht  von 
einer  bestimmten  Embryonalzelle  oder  gar  einem  einzelnen  Substanzbezirk 
ableitbar.  Zweitens  aber,  und  das  ist  noch  wichtiger,  läßt  sich  auf  dem  ein- 
geschlagenen Weg  der  Beobachtung  und  Beschreibung  nicht  feststellen,  ob  die 
Zelle,  welche  beim  gewöhnlichen  Geschehen  in  ein  späteres  Organ  aufgeht, 
von  vornherein  nur  dieses  zu  bilden  die  Fähigkeit  hat  oder  wie  sich  Driesch 
ausdrückt,  eine  festbestimmte  prospektive  Potenz  besitzt.  Nur  wenn  dies  der 
Fall  ist,  wäre  man  berechtigt,  eine  Embryonalzelle,  deswegen  weil  aus  ihr  ein 
späteres  Organ  entsteht,  zugleich  auch  als  eine  schon  vorher  bestimmte,  feste 
Anlage  zu  bezeichnen.  Nur  dann  würde  das  Prinzip  der  organbildenden  Keim- 
bezirke, welches  von  vornherein  nur  eine  deskriptive  Bedeutung  beanspruchen 


Experimentelle  Abänderung  der  Eiteilung  151 

kann,  solange  es  auf  rückläufiger  Verfolgung  des  Entwicklungsprozesses  be- 
ruht, von  kausalanalytischem  Wert  sein.  In  diesem  Fall  würde  aber  auch  die 
Entwicklung  sich  gewissermaßen  in  einem  fest  ausgefahrenen  Gleis  bewegen, 
somit  zu  einem  zwangsläufigen  Prozeß  werden. 

Zur  Klärung  dieser  wichtigen  Frage,  aus  deren  Verfolgung  interessante 
wissenschafthche  Streitigkeiten  hervorgegangen  sind,  hat  sich  das  biologische 
Experiment  als  Hilfsmittel  wissenschaftlicher  Erkenntnis  in  erfolgreicher 
Weise  verwenden  lassen.  Seit  mehreren  Jahrzehnten  haben  sich  die  Anfangs- 
stadien der  Entwicklung,  namentlich  der  Furchungsprozeß,  als  ein  sehr  dank- 
bares Gebiet  für  den  experimentierenden  Forscher,  geeignet  für  eine  frucht- 
bare Verbindung  von  Beobachtung  und  Experiment  erwiesen.  So  wollen  wir 
uns  denn  jetzt  auch  mit  dem  auf  diesem  Wege  gewonnenen  Schatz  entwick- 
lungsgeschichthcher  Kenntnisse  bekannt  machen. 

Wenn  wir  beim  Studium  der  verschiedensten  Vertreter  des  Tierreichs  die  Experimentelle 
Teilung  des  Eies  auf  den  vorausgehenden  Seiten  als  einen  Prozeß  von  wunder-  ,^;^  "EUeTiMg. 
barer  Regelmäßigkeit  kennen  gelernt  haben,  so  ist  doch  nichts  leichter  als  sie 
durch  äußere  Eingriffe  so  zu  beeinflussen,  daß  dadurch  ein  absolut  anderes 
Zellenmosaik  entsteht.  Gleichwohl  werden  auf  diesen  stark  abgeänderten 
Wegen  auch  ganz  normale  Entwicklungsprodukte  zum  Schluß  gehefert.  Eines 
der  einfachsten  und  zugleich  am  meisten  angewandten,  experimentellen  Ver- 
fahren besteht  darin,  die  Form  der  Eier  bald  nach  der  Befruchtung  durch 
Druck  abzuändern.  Man  bringt  zu  dem  Zweck  die  Objekte  in  einem  Tropfen 
Wasser  zwischen  zwei  parallel  gestellte  Objektträger  und  nähert  dieselben  in 
vorsichtiger  Weise  einander  so  weit,  bis  das  kugelige  Ei  je  nach  dem  Grade 
der  Pressung  in  eine  dickere  oder  dünnere  Scheibe  umgewandelt  worden  ist. 
Zur  Ausführung  derartiger  Experimente  hat  man  auch  besondere  Kom- 
pressorien  konstruiert.  Wenn  man  sich  nun  hierbei  der  Regeln  erinnert,  welche 
früher  über  die  Stellung  der  Spindel  und  über  ihre  Abhängigkeit  von  der  Form 
des  einhüllenden  Protoplasmamantels,  ferner  von  der  Lage  der  Teilebenen  zur 
Stellung  der  Spindel  schon  auseinander  gesetzt  worden  sind,  so  wird  man 
leicht  verstehen,  wie  die  unter  Druck  und  Zug  entstehenden  Zellenmosaike 
ein  ganz  anderes  Aussehen  als  im  normalen  Ei  gewinnen  müssen. 

Die  Eier  von  Seeigel  und  Frosch  sind  auch  hierfür  die  am  meisten  benutz- 
ten Objekte  gewesen.  Wenn  das  befruchtete  Seeigelei  zu  einer  dicken  Platte 
komprimiert  worden  ist,  so  muß  sich  die  erste  Kernspindel  nach  dem  früher 
Gesagten  parallel  zu  den  komprimierenden  Platten  einstellen;  die  erste  Zell- 
teilung muß  schon  senkrecht  zur  Druckfiäche  zu  liegen  kommen,  ebenso  die 
zweite,  welche  die  erste  unter  rechtem  Winkel  schneidet.  Wenn  hierauf  der 
längste  Durchmesser  dieser  vier  Zellen  bei  entsprechend  starker  Pressung  noch 
parallel  zu  den  komprimierenden  Platten  liegt  (Fig.  30,  A),  so  müssen  ihre  vier 
Spindeln  abermals  eine  horizontale  Lage  einnehmen,  so  daß  wieder  vertikale 
Teilebenen  entstehen  und  acht  in  einer  Ebene  nebeneinander  angeordnete 
Zellen  liefern,  während  bei  normaler  Entwicklung  die  vier  Quadranten  bei 
vertikaler  Stellung  der  Spindel  und  horizontaler  Ausbildung  der  Teilebenen  in 


152 


Oscar  Hertwig:  Allgem  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 


A 


B 


C 


D 


zwei  übereinander  gelegene  Kreise  von  je  vier  Zellen  zerlegt  werden.  Bei 
weiter  fortgesetzter  Kompression  kann  man  auch  die  acht  nebeneinander 
gelegenen  Stücke  der  einfachen  Scheibe  (Fig.  30,  B)  zwingen,  sich  durch  ver- 
tikale Teilebenen  in  16,  und  diese  wieder  sich  ebenso  in  32  Zellen  (Fig.  30,  C)  zu 
teilen,  die  alle  in  einer  Ebene  nebeneinander  liegen  und  eine  ganz  dünne  ein- 
fache Scheibe  liefern.  Teilungsebenen  in  horizontaler  Richtung  können  erst 
von  dem  Moment  an  auftreten,  wo  Zellen  entstanden  sind,  deren  längster 
Durchmesser   dem  Zwischenräum   der   komprimierenden   Platten   entspricht. 

In  Fig.  30  Z),  einem  Stadium  von 
64  Zellen,  die  sich  abermals  zur  Tei- 
lung anschicken,  ist  dies  bei  einigen 
Zellen  eingetreten,  welche  mit  einem 
Kreuz  bezeichnet  sind.  Sie  sind  kleiner 
als  die  Nachbarzellen  und  enthalten 
Spindeln,  die  senkrecht  gestellt  sind, 
während  die  übrigen  wieder  horizontal 
liegen.  Von  dem  Moment  an,  wo  der 
Druck  auf  das  Ei  aufgehoben  wird,  be- 
ginnt daher  die  vorher  einfache  Zellen- 
platte sich  in  zwei  Lagen  zu  trennen. 
So  geht  schließlich  auch  auf  diesem 
Wege  trotz  aller  erheblichen  Abwei- 
chungen aus  der  Platte  eine  Blase  her- 
vor, wenn  durch  Abscheidung  von 
Flüssigkeit  sich  die  zwei  Lagen  weiter 
voneinander  entfernen,  bis  sie  eine 
Kugeloberfläche  umgrenzen. 

Die  Druckversuche  am  Ei  des 
Frosches  lassen  eine  noch  größere  Zahl 
von  Variationen  als  beim  Seeigelei  zu, 
weil  es  polar  differenziert  ist.  Infolge- 
dessen fällt  die  Wirkung  des  Druckes  verschieden  aus,  je  nachdem  der  Ei- 
inhalt  in  der  Richtung  der  vertikalen  Achse  (Fig.  31,  ^)  oder  einer  horizon- 
talen Querachse  (Fig.  31,5),  im  ersten  Fall  also  zwischen  zwei  horizontalen, 
im  zweiten  Fall  zwischen  zwei  vertikalen  Glasplatten  zur  Scheibe  abgeplattet 
wird.  Wenn  auch  bei  gleich  starker  Pressung  in  dorsoventraler  oder  lateraler 
Richtung  die  Froscheier  in  gleich  dicke  Platten  umgewandelt  werden,  so  muß 
in  beiden  ein  ganz  verschiedenartiges  Furchungsmosaik  entstehen,  da  in  ihnen 
Protoplasma  und  Deutoplasma  ganz  andere  Lagen  zueinander  einnehmen. 
Bei  dorsoventraler  Pressung  findet  sich  das  leichtere  Protoplasma  an  der 
pigmentierten  oberen  Fläche,  bei  lateraler  Pressung  am  pigmentierten  oberen 
Rand  der  Scheibe  vor  (vgl.  Fig.  31,  A  und  Fig.  31,  B).  Hierdurch  werden  wieder 
die  Lage  des  Keimkerns,  die  Stellung  der  Spindel  und  die  Richtung  der  Teil- 
ebene für  beide  Fälle  in  verschiedener  Weise  bestimmt.     Die  Abänderungen 


F  i  g.  30  A — D.  Eier  von  Echinus  unter  Pressung.  A,  B  nacli 
Driesch,  C,  D  nacli  Ziegler.  A  Teilung  auf  dem  vier- 
zelligen,  B  auf  dem  achtzelligen  Stadium.  C  Stadium 
von  32  Zellen,  die  durch  vertikale  Teilebenen  aus  i6  Zellen 
entstanden  und  in  einer  Ebene  nebeneinander  gelegen  sind. 
D  Vorbereitung  zur  Teilung  in  64  Zellen.  In  den  meisten 
Zellen  geschieht  die  Teilung  noch  durch  vertikale  t.benen, 
was  durch  horizontale  Striche  (Richtung  der  Spindelachse) 
angegeben  ist.  In  den  mit  einem  Kreuz  (f )  bezeichneten 
Zellen  steht  die  Spindelachse  vertikal  oder  schräg,  so  daß 
die  Teilebene  in  mehr  oder  minder  horizontaler  Richtung 
erfolgt. 


Experimentelle  Abänderung"  der  Eiteilung 


153 


in  den  beiden  Furchungsbildern  finden  ihren  prägnantesten  Ausdruck  in  dem 
ungleichzeitigen  Auftreten  der  ersten  äquatorialen  Furche.  Während  diese 
unter  normalen  Verhältnissen  im  dritten  Teilungszyklus  auftritt  (Fig.  20,  8), 
bildet  sie  sich  bei  der  dorsoventralen  Kompression  erst  im  vierten  Zyklus,  bei 
der  lateralen  aber  schon  im  zweiten  Zyklus  aus.  Dort  erfolgt  sie  verspätet, 
so  daß  die  Verhältnisse  denen  bei  der  partiellen  Furchung  einer  Keimscheibe 
gleichen  (Fig.  32,  A) ;  hier  ist  sie  verfrüht,  da  sie  sich  gleich  an  die  erste  vertikale 
Teilung  anschließt  (Fig.  32,  B).  Während  normalerweise  auf  dem  Achtzellen- 
stadium vier  Zellen  um  den  animalen,  vier  um  den  vegetativen  Pol  in  zwei 
Kreisen  übereinander  angeordnet  sind,  liegen  sie  bei  der  dorsoventralen 
Kompression  nur  in  einer  Ebene  nebeneinander  (Fig.  32,  A),  dagegen  bei  der 

B 


A 


A 


B 


Fig.  31  ^  und  B.  Zwei  Schemata  gepreßter Froscheier. 
Nach  Morgan  aus  Korschelt  und  Heiuer.  A  Seiten- 
ansicht des  zwischen  horizontalen  Platten  gepreßten 
Eies.  Die  dunklere  animale  Eihälfte  ist  durch  Schraf- 
fierung angedeutet.  B  Seitenansicht  des  zwischen 
vertikalen  Platten  gepreßten  Eies. 


Fig.  32  A  und  B.  A  Ei  von  Rana  temporaria  zwischen 
horizontal  gestellten  Glasplatten  wie  in  Fig.  31  A 
gepreßt,  vom  animalen  Pol  aus  gesehen.  Teilung  in 
acht  nebeneinander  gelegene  Zellen.  B  Ei  von 
Rana  temporaria  zwischen  senkrecht  gestellten  Plat- 
ten wie  in  Fig.  31  .ff  gepreßt,  in  seitlicher  An- 
sicht. Teilung  in  vier  inaequale  Zellen,  von  denen 
die  beiden  animalen  über  den  vegetativen  liegen. 
Nach  Hertwig. 


lateralen  Kompression  in  zwei  Reihen,  anstatt  in  zwei  Kreisen  übereinander 
(Fig.  32,  B).  Dementsprechend  nehmen  dann  natürlich  auch  alle  nachfolgen- 
den Teilungen  einen  abweichenden  Verlauf.  Unter  Berücksichtigung  der 
früher  von  mir  aufgestellten  Teilungsregeln  werden  sich  alle  diese  Abwei- 
chungen leicht  verstehen  lassen,  wenn  man  sich  die  durch  Pressung  hervor- 
gerufene, abgeänderte  Form  des  Eies  und  die  ihr  entsprechende  andersartige 
Verteilung  von  Protoplasma  und  Deutoplasma  klar  gemacht  hat.  Es  läßt 
sich  wohl  kaum  ein  besserer  experimenteller  Beweis  für  die  Richtigkeit  der 
Teilungsregeln  als  der  vorliegende  erwarten. 

Obwohl  die  ersten  Stadien  des  Furchungsprozesses  sich  noch  auf  ver- 
schiedenen anderen  Wegen  für  die  experimentelle  Forschung  und  zur  Beant- 
wortung wichtiger  allgemeiner  Probleme  nutzbar  machen  lassen,  so  empfiehlt 
es  sich  doch  aus  didaktischen  Gründen,  erst  später  hierauf  einzugehen,  nach- 
dem wir  zuvor  den  Verlauf  der  normalen  Entwicklung  weiter  verfolgt  haben. 

Die  an  die  Morula  (Fig.  33,  A)  sich  anschließenden  Stadien,  welche  noch 
bei  Wirbellosen  und  Wirbeltieren  vielfache  Übereinstimmungen  zeigen  und 
daher  in  das  Bereich  unseres  einleitenden  allgemeinen  Kapitels  fallen,  sind  die 
Blastula  und  die  Gastrula.  Beginnen  wir  mit  den  Wirbeltieren,  die  ja  wegen 
der  Zugehörigkeit  des  Menschen  zu  ihnen  für  den  Laien  ein  größeres  Interesse 
besitzen. 


I  CA      Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

Keimblase.  In  eine  Keim  blase  (Blastula)  wandelt  sich  die  Maulbeerkugel,  bei  deren 

Betrachtung  wir  zuletzt  stehen  gebheben  waren,  dadurch  um,  daß  die  Flüssig- 
keit, welche  sich  im  Verlauf  der  Furchung  schon  anzusammeln  begonnen  hatte, 
an  Masse  erhebhch  zunimmt  und  die  Embryonalzellen,  deren  Zahl  sich  durch 
Teilung  fortwährend  auf  Hunderte,  schließlich  auf  Tausende  vermehrt  hat, 
nach  außen  auseinander  drängt  (Fig.  33,  B).  Die  kleiner  gewordenen  Zellen 
ordnen  sich  dabei  zur  Begrenzung  der  Oberfläche  zu  einem  Epithel  fester  an- 
einander und  bilden  die  Wand  einer  Blase,  deren  Höhle  als  Blastocoel  be- 
zeichnet wird. 

■  f.  In  ihrem  Bau  bieten  uns  die  Keimblasen  in  den  einzelnen  Klassen  der 
Wirbeltiere  wieder  charakteristische  Modifikationen  dar,  welche  mit  den  schon 
besprochenen  Verschiedenheiten  im  Bau  des  befruchteten  Eies  und  in  dem  Ab- 

B  lauf    des    Furchungsprozesses 

in  ursächlichem  Zusammen- 
hang stehen.  Die  einfachste 
und  ursprünglichste  Form  fin- 
det sich  beim  Amphioxus  lan- 
ceolatus  (Fig.  33,5).  Die  dünne 
Wand  der  Blase  besteht  hier 
aus  einer  einfachen  Lage  von 
Zylinderzellen,  die  nur  in  der 
Umgebung  des  vegetativen  Po- 

F lg.  33^  und  B.     Zwei  embryonale  Anfangsstadien  von  Amphioxus      ,  t^ 

lanceolatus.       Nach     Hatschek.       A    Maulbeerkugel    oder    Morula.      IcS     CtWaS      mehr    DcutOplaSma 
£  Medianschnitt  durch  die  Keimblase  oder  Blastula.  ,11,  1        i     1  ■■  r> 

enthalten    und    daher    großer 
sind.    Auch  bei  den  Säugetieren  bildet   sich  aus  der  kleinen   Maulbeerkugel, 
während  sie  durch  die  Flimmerung  des  Eileiters  allmählich  in  die  Höhle  der  Ge- 
bärmutter getrieben  wird  und  sich  dort  in  einer  Grube  der  Schleimhaut  wie  in 
einem  Nest  festsetzt,  eine  dünnwandige  Blase,  die  bald  die  ursprüngliche  Ei- 
zelle um  das  1 00 fache  und  mehr  an  Umfang  übertrifft  (Fig.  34).  Aus  diesem  Ver- 
halten ist  auch  ein  Irrtum  von  Regnier  de  Graaff  und  anderen  älteren  Anatomen 
zu  erklären  und  zu  entschuldigen,  der  Irrtum  nämhch,  daß  sie  die  großen  Graaff- 
schen  Bläschen  des  Eierstocks,  in  welchen  die  vielmals  kleineren  Eier  der  Säuge- 
tiere erst  eingebettet  sind,  für  diese  selbst  hielten.    Sie  kamen  auf  diese  Ver- 
wechslung, weil  sie  bei  der  Öffnung  der  Gebärmutter  von  Säugetieren,  z.  B.  vom 
Kaninchen  am  Beginn  der  Trächtigkeit,  in  ihr  Blasen  vorfanden,  die  etwa  ebenso 
groß  wie  die  im  Eierstock  beobachteten  waren  und  daher  für  identisch  mit  ihnen 
gehalten  wurden.     Erst  dem  berühmten  Embryologen  Carl  Ernst  v.  Baer  (") 
gelang  es  im  Jahr  1827  diesen  Irrtum  aufzuklären  und  bei  der  Untersuchung 
des  Eierstocks  einer  Hündin  aus  dem  Graaffschen  Bläschen  das  in  ihm  ein- 
geschlossene, vielmals  kleinere,  wahre  Ei  zu  isoHeren  und  mit  Lupenvergröße- 
rung anderen  Forschern  zu  demonstrieren. 

Was  das  weitere  Schicksal  der  Keimblase  bei  den  Säugetieren  betrifft, 
so  wird  sie  infolge  der  ganz  außerordenthch  reichen  Ansammlung  von  Flüssig- 
keit schHeßhch  so  stark  ausgedehnt,  daß  sich  die  Zellen  in  ihrer  Wand  zu  ganz 


Keimblase  und  Gastrula 


155 


dünnen,  in  einer  einfachen  Lage  angeordneten  Schüppchen  abgeflacht  haben, 
die  der  gleichfalls  stark  ausgedehnten  und  verdünnten  Zona  pellucida  dicht 
anliegen.  Außerdem  unterscheidet  sich  die  ,,Vesicula  blastodermica"  der  Säuge- 
tiere auch  noch  in  einem  zweiten  wichtigeren  Punkt  von  derjenigen  des  Am- 
phioxus.  In  einem  kleinen  Bezirk  nämHch  liegen  noch  größere,  kuglige  und 
locker  verbundene  Embryonalzellen  der  dünnen  Membran  als  eine  platte  Scheibe 
oder  als  ein  niedriger  Hügel  von  innen  an  und  bilden  den  sogenannten  Fur- 
chungskugelrest  (Fig.  34).  Der  Bezirk  ist  sehr  wichtig.  Denn  nur  in  seinem 
Bereich  finden  alle  späteren  Entwicklungsprozesse  statt,  die  zu  der  Bildung 
des  embryonalen  Körpers  führen.  Bei  vielen  Säugetieren,  wie  z.  B.  bei  den 
Wiederkäuern  wächst  die  Keimblase  frühzeitig  zu  einem  sehr  langen,  dünnen 


■* 

.-^C 


rz-. 


Fig.  34.  Ältere  Keimblase  eines  Kaninchens.  Nach 
E.  VAN  Beneden,  sp  Zona  pellucida.  m  dünne, 
aus  einer  Lage  platter  Zellen  bestehende  Wand 
der  Keimblase.  *  Haufen  runder  Embryonalzellen, 
welcher   der   Blasenwand    als    Scheibe  anliegt. 


F>g'  35-       Keimblase     von    Triton    taeniatus.      Nach 

Hertwig.  kh  Keirablasenhöhle,   dz  dotterreiche  Zellen, 

rz  Randzone. 


Schlauch  aus,  dessen  Mitte  die  verdickte  Stelle  enthält,  aus  der  sich  allein 
der  Embryo  anlegt. 

Bei  den  Eiern  der  Amphibien  mit  inäqualer  Furchung  wird  auch  ihre 
Keimblase  eine  inäquale  (Fig.  35)  und  zeigt  sich  aus  einer  dünn-  und  einer 
dickwandigen  Hälfte  zusammengesetzt.  Letztere  entsteht  aus  den  großen, 
schon  beim  Furchungsprozeß  besprochenen,  vegetativen  Zellen,  die  nach 
innen  einen  weit  in  das  Blastocoel  vorspringenden  Hügel  bedingen.  Wegen 
ihrer  größeren  Schwere  ist  sie  im  Wasser  stets  nach  abwärts  gekehrt  und  kann 
daher  auch  als  der  Boden  der  Keimblase  bezeichnet  werden,  während  die 
schwarzpigmentierte,  kleinzellige,  animale  Hälfte  die  dazu  gehörige  ,, Decke" 
liefert.  Infolgedessen  liegt  jetzt  die  zwischen  Boden  und  Decke  eingeschlossene 
und  durch  den  vorspringenden  Dotterhügel  verengte  Keimblasenhöhle  ex- 
zentrisch. 

Am  stärksten  modifiziert  sind  die  Keimblasen  von  den  Eiern  mit  par- 
tieller, discoidaler  Furchung  (Fische,  Reptilien,  Vögel;  Fig.  36);  man  würde 
hier  von  einem  Stadium  der  Keimblase  überhaupt  nicht  reden,  wenn  man  nicht 
durch  den  Vergleich  mit  den  entsprechenden  Verhältnissen  der  übrigen  Wirbel- 
tiere hierzu  veranlaßt  würde.  Infolge  des  kolossalen  Dottergehalts  der  Eier 
ist  die  Keimblasenhöhle  fast  bis  zum  Verschwinden  eingeengt  und  nur  noch 


ic5     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

als  ein  schmaler,  mit  eiweißhaltiger  Flüssigkeit  erfüllter,  kleiner  Spalt  erhalten. 
Man  könnte  auch  sagen,  daß  sie  zum  größeren  Teil  durch  den  nicht  in  Zellen 
zerlegten  Nahrungsdotter  ausgefüllt  wird.  Die  in  Zellen  zerlegte  Keimscheibe 
der  meroblastischen  Eier  läßt  sich  der  Decke  der  Keimblase  bei  den  Amphi- 
bien, der  ungeteilte  Nahrungsdotter  hier  den  vegetativen  Zellen  dort  ver- 
gleichen. 
Gastruia.  Aus  dcr  Kcimblasc  entsteht  im  weiteren  Verlauf  der  Entwicklung  die 

Gastrula  oder  Darmlarve.  Die  Umwandlung  erfolgt  in  den  einfacheren  Fällen 
dadurch,  daß  ein  Bezirk  der  Blasenwand  in  den  inneren  Hohlraum  eingestülpt 
und  so  ein  neuer,  nach  außen  geöffneter  Hohlraum  hergestellt  wird  (Fig.  37, 
A  u.  B).  Der  Vorgang,  der  in  der  embryologischen  Terminologie  Invagina- 
tion  heißt,  vollzieht  sich  wieder,  je  nach  der  Beschaffenheit  der  Keimblase, 

in   verschieden   modifizierter  Weise. 

-    I  I     I         Während  die  Verhältnisse  beim  Am- 

^'^^''''^'^'-B^mn^^^^^^m^MF^^^M:^    phioxus  am  emfachsten  liegen,  smd 

sie  bei  den  Amphibien  weniger,  bei 
den  Fischen  schon  stärker  abgeän- 
dert, bei  den  Vögeln  und  zumal  bei 
den  Säugetieren  aber  kaum  noch 
als  Invagination  zu  erkennen  und 
mit  den  Befunden  beim  Amphioxus 

Fig.  36.  Medianschnitt  durch  eine  Keimblase  von  Pristiurus.     kaum   nOCh   auf  cinC  Stufe   ZU  Stelleil. 
Nach  RüCKERT.     äk  Dotterkern,  kz  Keimzellen.  _  _  ■       r^ 

Beim  Amphioxus  aber  geht  die  Ga- 
strulation  in  folgender  Weise  vor  sich.  Der  Bezirk  der  Keimblase,  der  die 
wenig  größeren,  deutoplasmareicheren  Zellen  besitzt  (Fig.  33,  B),  beginnt 
sich  abzuflachen  und  dann  nach  innen  etwas  einzubuchten  (Fig.  37,  Ä).  Die 
Keimblasenhöhle  wird  dementsprechend  eingeengt.  Beim  weiteren  Fort- 
schreiten der  Einstülpung  wird  schließhch  der  eingebuchtete  Bezirk  bis  an 
die  Innenfläche  des  entgegengesetzten  Abschnitts  der  Blasenwand  unter  voll- 
ständigem Schwund  der  ursprünghchen  Höhle  herangedrängt  (Fig.  37,  B). 
Der  Keim  hat  dadurch  die  Form  einer  Schüssel,  noch  später  durch  weitere 
Umwandlung  die  Form  eines  Bechers  angenommen,  so  daß  die  Gastrula 
häufig  auch  als  ,,  Becherlarve"  beschrieben  wird.  Während  die  Keim- 
blasenhöhle geschwunden  ist,  hat  sich  infolge  der  Einstülpung  ein  neuer  Hohl- 
raum gebildet,  der  Urdarm;  er  ist  das  erste  im  Dienst  der  Ernährung  stehende 
Organ  des  tierischen  Körpers,  von  dem  sich  auf  späteren  Stufen  der  Entwick- 
lung der  bleibende  Darm  nebst  vielen  anderen  Organen  herleitet.  Die  anfangs 
weite  Öffnung  der  Becherlarve  nach  außen  heißt  der  Urmund;  derselbe  hat 
aber,  was  gleich  hier,  um  keine  falsche  Vorstellung  aufkommen  zu  lassen,  er- 
wähnt sein  mag,  mit  dem  bleibenden  Mund  nichts  zu  schaffen;  denn  dieser 
wird  erst  auf  weit  späterer  Stufe  am  entgegengesetzten  Ende,  also  am  Grund 
des  Bechers,  als  eine  neue  Durchbruchsöffnung  angelegt.  Der  Urmund  aber  ist 
bei  den  Wirbeltieren  nur  ein  vergängliches  Gebilde,  er  schließt  sich  später 
und  verschwindet  mit  Ausnahme  eines  Restes,  der  zum  After  wird.     Im  Ver- 


Keimblase  und  Gastrula 


157 


gleich  zum  ausgebildeten  Tiere  entspricht  daher  auch  der  Grund  des  Urdarms 
dem  vorderen,  seine  Öffnung  dem  hinteren  Ende  des  Körpers.  Auch  Rücken- 
und  Bauchfläche  lassen  sich  schon  jetzt  voneinander  unterscheiden,  da  jene 
mehr  abgeflacht,  diese  mehr  nach  unten  vorgewölbt  ist.  An  der  Gastrula  sind 
daher  auch  die  drei  Achsen  des  Wirbeltierkörpers,  Längs-,  Quer-  und  Dorso- 
ventralachse  bereits  deutlich  zu  erkennen. 

Im  Gegensatz  zur  Keimblase  mit  ihrer  einfachen  Wand  setzt  sich  die 
Wand  des  Bechers  infolge  der  Einstülpung  aus  zwei  Zellenschichten,  den  beiden 
primären  Keimblättern  zusammen,  die  nach  ihrer  Lage  als  äußeres  und  als 
inneres  oder  mit  griechischen  Worten  als  Ektoderm  und  als  Entoderm  vonein- 
ander unterschieden  werden.     Beide  gehen  an    den  ,, Lippen    des  Urmundes 
durch   Umschlag"   ineinander  über.     Mit  ihrer  Entstehung  hat  sich  eine  der 
wichtigsten  Sonderungen  im 
Zellmaterial  des  Keimes,  ver- 
bunden mit  einer  durchgrei- 
fenden  Arbeitsteilung,    voll- 
zogen.      Denn     das     äußere 
Keimblatt  dient  hinfort  zur 
äußeren  Begrenzung  des  Kör- 
pers und  liefert  später  durch 
weitere  Sonderung  allein  alle 
Organe,  die  dem  Verkehr  mit 
der   Außenwelt    dienen:    die 
Epidermis,    die  Hautdrüsen, 

das  Nervensystem  und  den  für  die  Funktion  wesentlichen  Bestandteil  der 
Sinnesorgane.  Das  innere  Keimblatt  dagegen  besorgt,  indem  es  den  Urdarm 
auskleidet,  einmal  die  Nahrungsaufnahme,  läßt  aber  außerdem  noch  die  Mehr- 
zahl der  im  Innern  des  Körpers  gelegenen  Organe,  wie  die  Eingeweidedrüsen, 
aber  auch  die  quergestreifte  Muskulatur,  die  Wand  der  Leibeshöhle,  Harn-  und 
Geschlechtsorgane  aus  sich  hervorgehen.  Alles,  was  mit  der  Entstehung  der 
beiden  primären  Zellenschichten  des  Körpers,  mit  ihrer  weiteren  Sonderung 
in  vier  Schichten  und  mit  der  Zurückführung  aller  Organe  und  Gewebe  auf 
diese  primären  Zellenlagen  zusammenhängt,  bezeichnet  man  als  die  Lehre  von 
den  Keimblättern,  welche  eines  der  wichtigsten  und  interessantesten  Kapitel 
der  Entwicklungslehre  darstellt. 

Die  Entwicklung  der  beiden  primären  Keimblätter  durch  Einstülpung  Arbeitsteilung 
(Invagination)  bietet  uns  zugleich  ein  sehr  lehrreiches,  weil  sehr  einfaches  ^j^y^ 
Beispiel  für  die  Entstehungsweise  zweier  Organe  aus  einer  gemeinsamen,  ein- 
heitlichen Anlage.  Durch  die  Einstülpung  werden  ja  die  gleichartigen  Zellen 
der  Kugeloberfläche  in  verschiedene  Beziehungen  zur  Außenwelt  gebracht; 
sie  müssen  demgemäß  verschiedene  Entwicklungsbahnen  einschlagen  und  sich 
besonderen,  den  neuen  Verhältnissen  entsprechenden  Aufgaben  anpassen.  Da- 
durch werden  sie  später  wie  in  ihrer  Funktion,  so  auch  in  ihrem  Aussehen 
allmählich  immer  mehr  verschieden   voneinander  und  zu  Bestandteilen  ver- 


Fig.  37^  und  B.     Entwicklung    der  Becherlarve  des   Amphioxus    aus 
der    Keirablase    (Fig.  t^t,  B]    durch    Einstülpung.       A   Beginn    der    Ein- 
stülpung.    B  Fertig  entwickelte  Becherlarve  (Gastrula). 
Nach  Hatschek. 


und 
renzierung. 


I  cg     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 


schiedener  Organe  und  Gewebe  umgewandelt.  Man  bezeichnet  diese  beiden 
Vorgänge,  durch  welche  ein  ursprünglich  gleichartiges  Zellenmaterial  in  funk- 
tionell und  strukturell  verschiedene  Bestandteile  zerlegt  wird,  als  die  beiden 
eng  zusammengehörigen  Prozesse  der  physiologischen  Arbeitsteilung 
und  der  morphologischen  und  histologischen  Sonderung  oder 
Differenzierung. 
Gastruia  der  Schou  größere  Schwierigkeiten  als  beim  Amphioxus,  wo  die  Verhältnisse 

-  mp    leii.  ^^  einfach  liegen,  bereitet  der  Verlauf  der  Gastrulation  bei  den  Wirbeltieren, 
deren  Eier  sich  inäqual  furchen,  wie  bei  den  Amphibien.    Denn  bei  ihnen  bildet 

diealsHaufen 
in  die  Keim- 
blasenhöhle 
vorspringen- 
de Masse  der 
vegetativen 
Zellen     (Fig. 
35)  einen  Bal- 
last,      durch 
welchen     die 
Einstülpung 

sehr  er- 
schwert wird, 

daher  sie 
denn  auch 
einen  dem- 
entsprechend längeren  Zeitraum,  beim  Frosch  zwei  Tage,  für  sich  erfordert. 
Die  Einstülpung  beginnt  in  einem  kleinen  Bezirk  am  Übergang  der  Decke  in 
den  Boden  der  Keimblase,  in  der  sogenannten  Randzone.  Es  entsteht  hier 
eine  anfangs  kleine  Rinne,  die  als  enger  Spalt  in  die  Dottermasse  allmählich 
tiefer  eindringt  (Fig.  38)  und  so  zum  Ausgang  für  die  Bildung  des  Urdarms 
wird.  Im  weiteren  Verlauf  vergrößert  sich  dieselbe  im  Bereich  der  Rand- 
zone an  ihren  beiden  Enden,  nimmt  die  Form  einer  Sichel,  dann  eines  Huf- 
eisens an  und  schließt  sich  zuletzt  zu  einem  Ring,  der  die  Dotterzellen  am 
Boden  der  Keimblase  rings  umfaßt  (Fig.  39).  Der  Ring  entspricht  dem 
Urmund  des  Amphioxus,  unterscheidet  sich  aber  von  ihm  dadurch,  daß  er 
keine  weite  Öffnung  umschließt,  sondern  von  einer  hellen  Masse  von  Dotter- 
zellen, dem  sogenannten  Rusconischen  Dotterpfropf  {d),  vollkommen  aus- 
gefüllt wird.  Der  anfangs  weite  Urmund  (auch  Blastoporus  bei  den  Amphi- 
bien genannt)  wird  während  der  Gastrulation  Schritt  für  Schritt  immer 
enger,  da  seine  Lippe,  welche  durch  die  oben  erwähnte  Rinnenbildung  be- 
grenzt wird,  über  die  vegetative  Hälfte  des  Keims  herüberwächst  und  sie  so 
allmählich  in  das  Innere  das  Urdarms  aufnimmt.  Währenddessen  ist  auch 
fortgesetzt  neues  Zellenmaterial  in  dem  Bereich  der  Urmundlippe,  in  ähnlicher 
Weise  wie  bei  der  Gastrulation  des  Amphioxus,  nach  innen  eingestülpt,  ist  die 


ifz  vi  7t  dl  Uli  j'k        ak 

Fig.  38.  Längsdurchschnitt  durch  eine  Keira- 
blase  von  Triton  mit  beginnender  Gastrula- 
einstülpung.  Nach  Hertwig.  alt,  ili  äußeres, 
inneres  Keimblatt;  lih  Keimblasenhöhle; 
ud  Urdarm;  u  Urmund;  dz  Dotterzellen; 
dl,  vi  dorsale,  ventrale  Lippe  des  Urraundes. 


Fig.  39.     Längsdurchschnitt  durch   eine  fertig 
gebildete  Gastruia  von  Triton.  Nach  Hertwig. 
ak,  ik,  dz,  dl,  vi,  ud  wie  in  Fig.  38.     d  Dotter- 
pfropf, ink  mittleres  Keimblatt. 


Keimblase  und  Gastrula  159 

Keimblasenhöhle  verdrängt  und  durch  die  Urdarmhöhle  ersetzt  worden  (Fig.  39, 
ud).  Letztere  wird  zuerst  nur  als  kleiner,  enger  Spalt  angelegt  (Fig.  38,  ud) 
und  gewinnt  erst  später  an  Ausdehnung.  So  gestaltet  sich  bei  den  Amphibien 
die  Gastrulation,  weil  bei  ihr  viel  passives  Dottermaterial  in  den  Urdarm  mit 
aufzunehmen  ist,  zu  einem  komplizierteren  Prozeß  als  beim  Amphioxus,  zu  einem 
Prozeß,  in  dessen  Verlauf  teils  Zellen  zur  Verdrängung  des  Blastocoels  (Fig.38, 
kh)  in  das  Innere  eingestülpt,  teils  die  vegetative  Hälfte  der  Keimblase  durch 
die  Bildung  und  Vergrößerung  der  Urmundlippen  überwachsen  wird. 

Durch  die  Gastrulation  entstehen  auch  hier  zwei  Keimblätter,  das  Ekto- 
derm,  welches  schwarz  pigmentiert  ist,  und  das  Entoderm,  welches  das  Pigment 
nur  spärlich  enthält  und  zum  großen  Teil  von  den  Dotterzellen  gebildet  wird, 
die  ursprünglich  dem  Boden  der  Keimblase  angehörten.  Letztere  nehmen  auch 
an  der  Gastrula  die  spä- 
tere Bauchseite  ein  (Fig. 
39),  füllen  wegen  ihrer  ß  ■^^:i:iMi:m$i!M. 
großen  Masse  den  Ur- 
darm   über    die    Hälfte 


gd 
aus  und  setzen  sich  m  den  «o  -  ^/|o;^oo  tr'iS^jIi^^^^^^'  °'-°-°^'  °-  -  °  ""^ 


Urmund     als    Rusconi- 


'^^   '    o^  ^      0000   ^O^      (->  o 

<?°o;l,;ooo^°oOo  C.00 


dk 

scher   Dotterpfropf    fort.  Fig-40-    Medianschnitt  durch  eine  Keimblase.von  Pristiurus ,  an    welcher    die 

■Tf     ■     1  U1        ■^■  Gastrulaeinstülpung  beginnt.     Nach  Rückert.     ud  erste  Anlage   des  Urdarms, 

Jjei  den   merOblaStl-  B  Keimblasenhühle,    M  Dotterkerne,/;/  feinkörniger  Dotter,  g-d  grobkörniger 

sehen       Eiern      wird       die  Dotter,    F  vorderer,  //  hinterer  Rand  der  Keimblase. 

Einstülpung  immer  schwieriger  zu  verfolgen.  Nur  an  der  Blastula  der  Fische  Keimblätter 
(Fig.  36)  bildet  sich  am  hinteren  Rand  der  zelligen  Keimscheibe  eine  Rinne  "^vö^ef^^d"' 
(Fig.  40,  ud)  und  eine  Urmundlippe  aus,  von  der  aus  Zellen  in  die  Keimblasen-  Säugetiere, 
höhle  hineinwachsen  und  ein  inneres  Keimblatt  liefern.  Auf  diese  Weise  wird 
die  Keimhaut  doppeltblätterig.  Bei  Reptilien  und  Vögeln  dagegen  erhält  man 
bei  der  üblichen  Schnittuntersuchung  von  einem  derartigen  Einwachsen  kein 
deutliches  Bild  mehr;  es  läßt  sich  nur  bei  Untersuchung  jüngerer  und  älterer 
Stadien  feststellen,  daß  die  ursprünglich  einfache  Decke  der  Keimblase  doppel- 
blätterig und  dadurch  zur  Rückenwand  einer  Gastrula  geworden  ist.  Bei  den 
meroblastischen  Eiern  vollzieht  sich  also  die  Gastrulation  am  Anfang  ganz 
getrennt  von  der  Aufnahme  des  Nahrungsdotters,  da  dieser  wegen  seiner  riesen- 
haften Dimensionen  auf  dem  Wege,  der  zum  Teil  noch  bei  den  Amphibien  einge- 
schlagen wird,  d.  h.  durch  Einstülpung,  von  dem  eigenthch  zelligen  Keim  unmög- 
lich bewältigt  werden  kann.  Die  Aufnahme  des  Nahrungsdotters  in  den  Darm- 
raum geschieht  hier  allein  durch  Umwachsung,  wie  sie  auch  schon  bei  den  Amphi- 
bien bewerkstelligt  wurde.  Die  Umwachsung  aber  geht  sehr  langsam  vor  sich 
und  dehnt  sich  auf  späte  Stadien  der  Entwicklung  aus,  auf  welchen  sich  schon 
der  embryonale  Körper  im  ursprünglichen  Bereich  der  Keimscheibe  weit  ent- 
wickelt und  in  alle  Organe  gegliedert  hat.  Genauer  untersucht  besteht  der  Prozeß 
darin,  daß  sich  die  Keimhaut,  wo  sie  mit  ihrem  Rand  an  den  Dotter  angrenzt, 
durch  Vermehrung  ihrer  Zellen  fortwährend  vergrößert  und  in  die  Fläche  aus- 
dehnt, daß  sie  auf  diese  Weise  allmählich  die  ganze  Dotterkugel  umwächst 


l6o     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

und  indem  sie  sich  auch  hier  allmählich  in  zwei,  dann  in  vier  Keimblätter  son- 
dert, den  späteren  Dottersack  zu  ihrer  Umhüllung  und  Verdauung  hefert. 

Noch  eigenartiger  liegen  die  Verhältnisse  bei  den  Säugetieren  und  beim 
Menschen.  Geht  man  davon  aus,  daß  bei  ihnen  das  Ei  sehr  klein  ist,  sich  äqual 
teilt  und  eine  dünnwandige  Keimblase  liefert,  in  welcher  der  Dotter  fehlt, 
so  könnte  man  von  vornherein  erwarten,  daß  die  Gastrulation  in  ähnhcher 
Weise  wie  beim  Amphioxus  durch  Einstülpung  vor  sich  gehen  sollte.  In  Wirk- 
lichkeit aber  ist  der  Verlauf  ein  ganz  anderer  und  läßt  sich,  trotzdem  der  Dotter 
fehlt,  vielmehr  an  die  Verhältnisse  der  meroblastischen  Eier  anknüpfen.  Die  Stelle 
der  Blasenwand,  an  welcher  sich  der  früher  beschriebene  Furchungskugel- 
rest  (Fig.  34*)  vorfindet,  verhält  sich  in  ihrer  weiteren  Umbildung  wie  die 
Keimscheibe  der  meroblastischen  Eier;  sie  wird  in  zwei  Keimblätter  gesondert 
und  führt  dann  den  Namen  Embryonalschild,  weil  in  seinem  Bereich  sich  in 
ähnlicher  Weise  wie  in  dem  entsprechend  kleinen  Bezirk  bei  Reptilien  und 
Vögeln  der  Körper  des  Embryo  mit  allen  seinen  Organen  bildet.  Von  hier 
breitet  sich  allmählich  das  innere  Keimblatt  durch  Vermehrung  der  am  Rand 
gelegenen  Zellen  unter  der  einschichtigen  Wand  der  ursprünglichen  Keimblase 
aus  und  wandelt  sie  in  einen  doppelblätterigen  Sack  um.  Dieser  wird  später 
auch  vierblätterig  und  entspricht  morphologisch  in  jeder  Beziehung  dem 
Dottersack  der  Reptilien  und  Vögel. 

Unter  Berücksichtigung  dieser  Besonderheiten  und  anderer  entwicklungs- 
geschichtlicher Verhältnisse  wie  der  Eihäute,  die  hier  nicht  weiter  erörtert 
werden  können,  unter  Berücksichtigung  ferner  der  systematischen  Stellung 
der  Säugetiere  hat  sich  dem  Embryologen  eine  Hypothese  aufgedrängt,  welche 
dieses  ganze  Verhalten  in  sehr  befriedigender  und  einfacher  Weise  erklärt. 
Nach  ihr  würden  die  Säugetiere  von  Vorfahren  abstammen,  welche  große, 
dotterreiche  Eier  besessen  haben  und  ovipar  gewesen  sind,  wie  die  Reptilien 
und  Vögel.  Ihren  Dottergehalt  aber  haben  die  Eier  eingebüßt  von  dem  Zeit- 
punkt an,  wo  sie  nicht  mehr  nach  außen  abgelegt,  sondern  in  der  Gebärmutter 
entwickelt  wurden,  da  sie  hier  eine  ausgiebige  Quelle  der  Ernährung  in  den 
Substanzen  fanden,  die  sie  jetzt  von  den  Wandungen  der  Gebärmutter  be- 
ziehen konnten.  Sie  sind  daher  nicht  ursprünglich,  sondern  erst  nachträglich 
wieder  dotterarm  geworden.  Von  diesem  Standpunkt  erscheint  es  wohl  er- 
klärlich, daß  bei  der  ganz  verschiedenen  Vorgeschichte  des  Eies  seine  Gastru- 
lation auch  nicht  mehr  nach  dem  ursprünglichen  und  einfachen  Typus  eines 
Amphioxuseies  verlaufen  kann.  Wie  noch  nebenbei  bemerkt  sei,  läßt  sich  zu- 
gunsten dieser  Hypothese  auch  die  Tatsache  verwerten,  daß  in  der  Tat  eine 
kleine,  dem  Aussterben  entgegengehende  Gruppe  australischer  Säugetiere, 
die  Monotremen,  welche  im  System  der  Säugetiere  die  tiefste  Stelle  einnehmen, 
eierlegend  wie  die  Reptilien  und  Vögel  sind.  Sie  legen  2  cm  große,  in  eine 
pergamentartige  Schale  eingehüllte,  sehr  dotterreiche  Eier  ab,  welche  sie  in 
einem  besonderen  Brutbeutel  (Mammartasche)  längere  Zeit  mit  sich  herum- 
tragen. Auch  die  Beuteltiere,  welche  sich  an  die  Monotremen  zunächst  an- 
schließen, aber  schon  lebendige,  wenn  auch  nur  unvollkommen  ausgebildete 


Keimblase  und  Gastrula  der  Wirbellosen  l6i 

Junge  gebären,  bilden  in  ihrem  Eierstock  noch  viel  dotterreichere  und  größere 
Eier  aus  als  die  übrigen  Säugetiere,  die  man  als  Mammalia  Placentalia  zu- 
sammenfaßt. Sie  nehmen  daher  zwischen  diesen  und  den  Monotremen  wie  in 
anderen  anatomischen  und  entwicklungsgeschichtlichen  Verhältnissen  auch 
in  bezug  auf  ihre  Eibildung  eine  Zwischenstellung  ein. 

Auf  die  einzelnen  Modifikationen  der  Keimblase  und  Becherlarve  bei  den 
verschiedenen  Klassen  der  Wirbeltiere  bin  ich  etwas  ausführlicher  eingegangen, 
weil  sie  uns  lehren,  wie  ein  einzelner  Faktor,  die  verschieden  große  Ansamm- 
lung von  Dotter  und  die  Art  seiner  Verteilung  im  Ei  allen  Anfangsstadien 
der  Entwicklung:  dem  Furchungsprozeß,  der  Bildung  der  Maulbeerkugel,  der 
Keimblase  und  Gastrula  ein  besonderes  Gepräge  aufzudrücken  und  große 
Unterschiede  im  Ablauf  der  Entwicklung  hervorzurufen  imstande  ist.  Gleich- 
zeitig gewinnen  wir  aber  hierbei  auch  einen  Einblick  in  das  Verfahren  und  die 
Bedeutung  der  vergleichend-anatomischen  Methode.  Dadurch,  daß  wir  in 
den  einzelnen  Klassen  der  Wirbeltiere  die  entsprechenden  Stadien  der  Ent- 
wicklung miteinander  vergleichen,  die  sich  unterscheidenden  Merkmale  er- 
kennen und  den  verschiedenen  Verlauf  auf  die  ihnen  zugrunde  liegenden 
Ursachen  wie  hier  auf  Unterschiede  in  der  Ansammlung  und  Anordnung  des 
Deutoplasma  zurückführen  lernen,  gewinnen  wir  erst  ein  tieferes  Verständnis 
für  den  in  dieser  und  jener  Weise  modifizierten  Entwicklungsprozeß  und  einen 
einheitlichen  Gesichtspunkt  zur  richtigen  Beurteilung  und  Wertschätzung  der 
einzelnen  Modifikationen;  wir  werden  so  in  den  Stand  gesetzt,  einfachere, 
primitivere  von  komplizierteren  Prozessen  zu  unterscheiden  und  diese  von 
jenen  unter  Erkennung  der  ursächlichen  Zusammenhänge  genetisch  abzu- 
leiten. Die  Richtigkeit  der  mit  der  vergleichend  anatomischen  Methode 
gewonnenen  Ergebnisse  läßt  sich  in  manchen  Fällen  sogar  auf  experimentellem 
Wege  einer  kritischen  Prüfung  unterziehen  und  bestätigen.  So  haben  die  ein- 
zelnen Modifikationen  des  Furchungsprozesses  sowie  die  Teilungsregeln  von 
der  Stellung  der  Spindel  und  der  Richtung  der  Teilungsebenen  auch  eine 
nachträgliche  Bestätigung  durch  das  Experiment  unter  Verwertung  der  Kom- 
pressionsmethode gefunden. 

Wenn  wir  jetzt  noch  auf  die  Keimblase  und  Gastrula  bei  den  Wirbellosen  Keimbiase  und 
eingehen,  so  soll  es  nur  in  aller  Kürze  unter  Hervorhebung  einiger  Musterbei-  wirbeUosen. 
spiele  geschehen.  In  zahlreichen  Abteilungen  wird  eine  typische,  mit  weiter, 
zentraler  Höhle  versehene  Keimblase  und  ebenso  eine  Becherlarve,  welche 
mit  derjenigen  des  Amphioxus  große  Ähnlichkeit  zeigt,  aufgefunden.  Häufig 
verlassen  die  Embryonen  schon  auf  dem  Blasenstadium  die  Eihüllen  und  da 
ihre  Zellen  auf  ihrer  Oberfläche  lebhaft  schlagende  Flimmerhärchen  ent- 
wickelt haben,  bewegen  sie  sich  im  Wasser  als  rotierende  Flimmerkugeln 
(Blastosphären)  hurtig  vorwärts.  Wenn  sie  dann  durch  Einstülpung  einen  Ur- 
darm  entwickelt  haben,  sind  sie  schon  zur  selbständigen  Nahrungsaufnahme 
befähigt,  indem  Infusorien,  Algenzellen,  zerfallene  organische  Stoffe  in  die 
verdauende  Höhle  aufgenommen,  durch  Ausscheidung  von  Sekreten  verarbei- 
tet und  resorbiert  werden.    Wegen  ihrer  weiten  Verbreitung  in  allen  Klassen 

K.d.G.m.lv,Bd2  ZeUenlehre  etc.  II  II 


102     Oscar  HertwiG:  AUgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

des  Tierreichs  sind  Keimblase  und  Becherlarve  mit  Recht  als  die  gemein- 
same Grundform  bezeichnet  worden ,  aus  deren  speziellerer  Umbildung  alle 
später  verschieden  gestalteten  Tiere  mit  ihren  verschiedenartig  gelagerten  und 
geformten  Organen  und  Geweben  hervorgegangen  sind.  Zwar  werden  auch  in 
einzelnen  Klassen  und  Ordnungen  der  Wirbellosen,  wie  bei  den  Wirbeltieren, 
die  beiden  typischen  Grundformen  vermißt  und  durch  abweichende,  sie  ver- 
tretende Gestaltungen  ersetzt;  diese  lassen  sich  dann  aber  meist  bei  verglei- 
chend-anatomischer Untersuchung  als  Modifikationen  von  ersteren  ableiten.  So 
werden  neben  der  typischen  durch  Einstülpung  (Invagination)  entstandenen 
Gastrula    noch  eine  epibolische  oder  Umwachungsgastrula  sowie  eine  durch 


Fig.  41.    Gastrula  von  Aurelia 
flavidula.     Nacli  Ida  Hyde. 


Fig.  ^2  A  und  B.     Durchsclinitte  durch  Keimblase  A  und  Gastrula  B 
von  Phoronis.     Nach  De  Salys-Longchamps. 


Delamination  gebildete  Form  unterschieden.  Als  das  Moment,  welches  auch 
bei  den  Wirbellosen  die  Abweichungen  vom  Typus  bedingt,  ist  wieder  die 
reichere  Ausstattung  der  Eizelle  mit  Reservestoffen  (Deutoplasma)  und  die 
vielfach  variierte  Verteilung  derselben  im  Eiraum  in  ähnlicher  Weise  anzu- 
sehen, wie  es  schon  beim  Studium  der  Wirbeltiere  nachzuweisen  versucht 
worden  ist.  NamentHch  im  Stamm  der  Arthropoden,  aber  auch  in  einzelnen 
Abteilungen  der  Cölenteraten,  Würmer  und  Mollusken  sind  die  ersten  Ent- 
wicklungsstadien wegen  des  Dotterreichtums  der  Eier  im  höchsten  Grade 
modifiziert.  Hierauf  näher  einzugehen,  müssen  wir  unterlassen,  da  wir  sonst 
in  Spezialprobleme  der  vergleichenden  Entwicklungslehre  tiefer  eindringen 
müßten,  als  es  sich  mit  dem  allgemeinen  Plan  dieses  Werkes  vertragen 
würde.  Dagegen  mögen  die  nebenstehenden  Abbildungen  als  Beispiele  dienen, 
um  die  weite  Verbreitung  typischer  Keimblasen  und  Becherlarven  in  den 
verschiedensten  Klassen  der  Wirbellosen  an  ihnen  zu  beweisen. 

Figur  41  zeigt  uns  den  Durchschnitt  einer  Gastrula  von  Aureha  flavidula, 
einer  Meduse.  Die  Figuren  42,  A  und  B  gehören  einem  Vertreter  aus  der  Klasse 
der  Würmer,  der  im  Meer  lebenden  Phoronis  an.  Aus  der  Keimblase,  deren 
Wand  aus  einer  einfachen  Lage  langer  Zylinderzellen  zusammengesetzt  ist  {A), 
entsteht  wie  beim  Amphioxus  durch  einfache  Einstülpung  der  Becher  B  mit 
seinem  inneren  und  äußeren  Keimblatt.  Ähnlich  sehen  die  entsprechenden 
Embryonalstadien  bei  einer  anderen  Abteilung  der  Würmer,  den  Chaeto- 
gnathen,  aus ;  ebensolche  finden  sich  auch  bei  einzelnen  Vertretern  der  Tunikaten, 


Keimblase  und  Gastrula  bei  Wirbellosen 


163 


A  B 

F  ig.  43  yi  und  B.  Durchschnitt  durch  Keimblase  A  und  Gastrula  B  von  Terebratulina 
septentrionalis.  Nach  Conklin.  A  Keimblase  mit  beginnender  Einstülpung.  B  Ausge- 
bildete Gastrula.    x  Ringfalte,  welche  den  Urdarm  in  seiner  Mitte  etwas  einschnürt. 


welche  durch  den  Besitz  einer  Chorda  und  eines  Nervenrohrs  Anknüpfungs- 
punkte an  den  Stamm  der  Wirbeltiere  darbieten.  Die  Figuren  43,  A  und  B  sind 
die  Keimblase  und  Gastrula  eines  Brachyopoden,  einer  kleinen  Tierabteilung,  die 
im  System  gewöhnlich  mit  dem  Stamm  der  Würmer  vereinigt  wird.  Die  große 
Ähnlichkeit  mit  den  Figuren  42,  A  und  B  von  Phoronis  ist  sofort  zu  erkennen. 

Das  letzte 
Beispiel  ist  dem 
Stamm  der  Echi- 
nodermen  ent- 
nommen. Figur 
44  A  ist  eine  ty- 
pischeKeimblase, 
die  im  Begriff 
steht,  sich  zur 
Gastrula  umzu- 
wandeln. Ist  doch 
schon  ein  kleiner 
Bezirk  ihrer  Ober- 
fläche als  ein 
Grübchen  nach 
innen  eingestülpt. 
Als  eine  Beson- 
derheit dieses  Bei- 
spiels ist  noch  her- 
vorzuheben, daß 
die  Keimblasen- 
höhle der  Echino- 
dermen  mit  einer 
Gallerte  erfüllt  ist 
und  daß  bei  Be- 
ginn der  Gastrulation  aus  dem  Zylinderepithel  an  dem  Ort  der  Einstülpung  amö- 
boide Zellen  auswandern,  sich  im  Binnenraum  allseitig  verteilen  und  so  einem 
Stützgewebe  mit  sternförmigen  Zellen,  einem  Mesenchym,  den  Ursprung  geben. 
In  Figur  44  B  ist  die  Einstülpung  des  Urdarms  beendet.  Derselbe  stellt 
hier  aber  nur  einen  engen  Schlauch  dar,  dessen  Wand,  das  innere  Keimblatt, 
durch  einen  weiten,  mit  der  Gallerte  gefüllten  Zwischenraum,  dem  ursprüng- 
lichen Blastocoel,  vom  Ektoderm  dauernd  getrennt  bleibt.  Es  wird  also  in 
diesem  Fall  die  Keimblasenhöhle  nur  zum  kleineren  Teil  bei  der  Einstülpung 
verdrängt.  Hierin  bietet  sich  uns  eine  bemerkenswerte  Abweichung  von  den 
andern  bisher  besprochenen  Beispielen  dar,  wo  bei  der  Gastrulation  die  Keim- 
blasenhöhle bis  auf  einen  kaum  sichtbaren  Spalt  verdrängt  wurde  und  inneres 
und  äußeres  Keimblatt  sich  dicht  aneinander  lagerten.  Ich  erinnere  an  die 
Gastrula  von  Amphioxus  (Fig.  37^),  von  Triton  (Fig.  39),  von  Aurelia  (Fig.  41), 
von  Phoronis  (Fig.  42^),  von  Terebratulina  (Fig.  435). 


Fig.  44yi  und  B.     Zwei  Stadien    in  der  Entwicklung  der  Gastrula  von  Echinus  mikro- 
tuberculatus.     Nach   Herm.  Schmidt.     A  jüngeres,    B  älteres  Stadium.   ^rM  primäres 

Mesenchym. 


11' 


Theorie  der 
Biogenesis. 


164     Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

6.  Experimentelle  Verwertung  der  ersten  Entwicklungsstadien 
zur  Entscheidung  einiger  Grundhypothesen  der  Entwicklungslehre.  (12) 

Außer  den  schon  früher  besprochenen  Eingriffen,  bei  welchen  die  Stellung 
der  Kernspindel  und  die  Richtung  der  Teilungsebenen  durch  Druck  verändert 
wurden,  sind  noch  manche  andere  wichtige  Experimente  an  Eiern  während 
der  ersten  Stadien  ihrer  Entwicklung  ausgeführt  worden.  Sie  haben  uns  über- 
raschende und  interessante  Einblicke  in  das  Verhalten  der  Zellen  zueinander 
und  in  ihre  ,, prospektiven  Potenzen",  wie  man  sagt,  verschafft;  außerdem  aber 
haben  sie  noch  ein  besonderes  Interesse  dadurch  erhalten,  daß  sie  als  Aus- 
gangspunkt und  als  Beweismaterial  für  einige  Grundhypothesen  der  Ent- 
wicklung gedient  haben,  bei  deren  Annahme  oder  Verwertung  sich  die  Biologen 
seit  zwei  Jahrzehnten  in  zwei  Heerlager  geteilt  haben.  Beginnen  wir  daher, 
ehe  wir  uns  mit  den  Experimenten  beschäftigen,  mit  einer  kurzen  Darstellung 
der  Hypothesen,  für  welche  sie  als  Beweismaterial  herangezogen  worden  sind. 
Die  Hypothesen  sollen  eine  Antwort  auf  die  Frage  geben:  Durch  welche  Ur- 
sachen werden  die  Zellen,  welche  durch  fortgesetzte  Teilung  aus  der  Eizelle  her- 
vorgehen, im  Laufe  der  Entwicklung  in  verschiedener  Weise  differenziert,  so 
daß  sie  zu  diesem  oder  jenem  Gewebe  des  ausgebildeten  Tieres  werden?  Die 
Frage  läßt  sich  auch  noch  in  einer  anderen  Fassung  aufwerfen,  wenn  wir  die 
Keimzelle  als  die  Anlage  bezeichnen,  welche  durch  den  Entwicklungsprozeß 
in  seinem  Endprodukt,  der  fertigen  Tierart,  realisiert  wird,  oder  wenn  wir 
in  ihr  eine  Substanz  erblicken,  die  in  ihrer  komplizierten  Organisation  eine 
Fülle  von  Potenzen  enthält,  die  allmählich  im  Entwicklungsverlauf  ihre  Ver- 
wirklichung finden.  Dann  lautet  die  Frage,  in  welcher  Weise  werden  die  im 
Organismus  der  Eizelle  gegebenen,  zahlreichen,  komplizierten  Anlagen  oder 
Potenzen  durch  den  Entwicklungsprozeß  realisiert  oder  für  uns  zur  wirklichen 
Erscheinung  gebracht.'' 

A  priori  sind  hierüber  zwei  entgegengesetzte  Ansichten,  die  im  einzelnen 
wieder  verschiedene  Schattierungen  zulassen,  nicht  nur  möglich,  sondern  auch 
aufgestellt  und  als  Theorien,  zum  Teil  in  minutiöser  Weise,  ausgearbeitet  wor- 
den. Ich  meine  die  Theorie  der  Biogenesis,  die  Mosaik-  und  die  Keimplasma- 
theorie, das  Prinzip  der  organbildenden  Keimbezirke  und  der  organbildenden 
Substanzen.  Für  den  Historiker  der  Naturwissenschaften  gewinnen  diese 
Theorien  noch  ein  Interesse  dadurch,  daß  sie  an  Gedankengänge  anknüpfen, 
welche  schon  in  früheren  Jahrhunderten  die  Naturforscher  in  die  beiden 
Schulen  der  Evolutionisten  und  der  Epigenetiker  getrennt  haben. 

Eine  Verbindung  von  präformistischen  und  epigenetischen  Anschauungen 
birgt  die  Theorie  der  Biogenesis  in  sich:  Ihre  Hauptannahme  ist,  daß  die  be- 
fruchtete Eizelle  den  ganzen  Komplex  ihrer  Anlagen  bei  der  Teilung  auf  die 
von  ihr  abstammenden  Tochterzellen  überträgt.  Wenn  aus  den  früher  an- 
gegebenen Gründen  das  Idioplasma  oder  die  für  die  Vererbung  vorzugsweise 
in  Betracht  kommende  Substanz  im  Zellenkern  enthalten  ist,  muß  seine  Tei- 
lung als  erbgleiche  bezeichnet  werden.     In  der  Längsspaltung  der  Chromo- 


Theorie  der  Biogenesis  165 

somen  ist  ein  hierfür  geeigneter  Mechanismus  gegeben.  Um  die  später  im  Ent- 
wicklungsprozeß hervortretenden  Unterschiede  zwischen  den  Zellen,  die  ihrer 
Herkunft  nach  artgleich  und  mit  dem  vollen  Idioplasma  ausgerüstet  sind, 
zu  erklären,  wird  in  der  Biogenesistheorie  angenommen,  daß  infolge  besonderer 
Ursachen  in  einzelnen  Zellen  bestimmte  Einzelanlagen  aus  dem  gesamten 
Komplex  aktiv  werden  und  ihren  Charakter  bestimmen,  während  andere 
latent  bleiben  oder  allmählich  auch  ganz  rudimentär  werden.  Die  Ursachen 
aber  oder  die  Bedingungen,  infolge  deren  die  bestimmten  und  gerade  erforder- 
lichen Einzelanlagen  aktiviert  werden,  erzeugt  der  Entwicklungsprozeß  aus 
sich  selbst,  und  zwar  dadurch,  daß  die  artgleichen  Zellen  ihre  Selbständigkeit 
verlieren  und  zu  abhängigen  Teilen  einer  übergeordneten  höheren  Lebensein- 
heit werden.  Denn  als  integrierte  Bestandteile  eines  vielzelligen  Organismus 
geraten  sie  durch  den  Entwicklungsprozeß  selbst  unter  ungleiche  Bedingungen 
und  erfahren  in  verschiedener  Weise  l.  den  Einfluß  zahlreicher  äußerer  Fak- 
toren, unter  denen  sich  der  Lebensprozeß  im  ganzen  vollzieht,  und  2.  die  un- 
endhch  komplizierten  Wirkungen,  welche  auf  den  verschiedenen  Stufen  der 
Entwicklung  die  immer  zahlreicher  werdenden,  elementaren  Lebenseinheiten 
aufeinander  ausüben.  Sie  werden  also  durch  die  Natur  des  Entwicklungs- 
prozesses selbst  räumlich  und  zeithch  unter  ungleiche  Bedingungen  gebracht 
und  als  integrierte  Elementareinheiten  eines  höheren  Verbandes  nach  dem 
Prinzip  sozialer  Vereinigung  und  Arbeitsteilung  zu  besonderen  Leistungen 
determiniert  und  demzufolge  auch  histologisch  differenziert. 

Wenn  wir  noch  etwas  genauer  auf  diesen  Prozeß  der  Aktivierung  der  ein- 
zelnen Komponenten  der  von  der  befruchteten  Eizelle  abstammenden  Anlage 
eingehen,  so  nehmen  die  ihrer  Abstammung  nach  artgleichen  Zellen  während 
der  einzelnen  Phasen  der  Entwicklung  verschiedene  Stellungen  ein,  durch 
welche  ihre  Beziehungen  zueinander,  zum  Ganzen  und  zur  Außenwelt  be- 
stimmt werden;  sie  erhalten  gewissermaßen  ein  ihre  Wirkungsweise  beein- 
flussendes Raumzeichen.  Die  einen  werden  zum  Beispiel  um  den  animalen, 
die  anderen  um  den  vegetativen  Pol  des  Eies  gruppiert;  die  einen  kommen  ins 
äußere,  die  anderen  ins  innere  Keimblatt  zu  liegen,  die  einen  erhalten  eine  Lage 
in  der  Umgebung  des  Urmundes  (Nervenplatte,  Chorda),  die  anderen  in 
größerer  Entfernung  von  diesem  für  die  Organbildung  wichtigen  Ort;  somit 
geraten  bei  ihrem  Zusammenwirken  die  artgleichen  Zellen  in  verschiedene 
Zustände  gemäß  ihrer  verschiedenen  Position,  welche  sich  auf  jeder  Stufe  des 
Wachstums  ändert. 

Außerdem  aber  werden  die  Zellen  noch  dadurch  determiniert,  daß  sie 
der  Zeit  nach  unter  räumliche  Bedingungen,  die  für  die  einzelnen  Gruppen 
verschieden  sind,  geraten;  sie  erhalten  eine  verschiedene  Geschichte.  Die 
Zellen  unterscheiden  sich  auf  späteren  Stadien  des  Entwicklungsprozesses 
untereinander  und  von  früheren  Zellengenerationen  auch  dadurch,  daß  sie  ein 
Stück  ,, besonderer  Entwicklungsgeschichte"  hinter  sich  haben,  näm- 
lich die  früher  durchlaufenen  Zustände  des  Wachstumsprozesses,  welche  bei 
den  einzelnen  Gruppen  verschieden  sind.     Zellen  des  äußeren   Keimblattes 


l66     Oscar  Hertwig:  AUgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

haben  andere  Einwirkungen  als  Abkömmlinge  des  inneren  Keimblattes  er- 
fahren. Indem  in  ihnen  die  früher  durchlaufenen  Zustände  nachwirken, 
werden  sie  nicht  nur  durch  die  momentan  gegebenen,  sondern  auch  durch  die 
zeitlich  vorausgegangenen  Beziehungen  determiniert. 

Durch  die  Theorie  der  Biogenesis  lassen  sich  die  mannigfaltigen  Er- 
scheinungen der  ungeschlechtlichen  und  der  geschlechtlichen  Vermehrung  der 
Organismen,  ebenso  wie  die  Erscheinungen  der  Regeneration  erklären.  Da 
die  Entwicklung  in  erster  Linie  auf  Vermehrung  des  Idioplasma  durch  erb- 
gleiche Teilung  beruht,  ist  von  Haus  aus  jede  Zelle  oder  jeder  Zellkomplex, 
losgelöst  vom  Ganzen,  befähigt  das  Ganze  wieder  zu  reproduzieren,  indem  ein 
neuer  Entwicklungsprozeß  anhebt.  Auf  der  anderen  Seite  macht  es  auch  keine 
Schwierigkeit,  wenn  nicht  alle  Zellen  des  Körpers,  was  ja  zumal  bei  höheren 
Organismen  der  Fall  ist,  die  Potenz  zur  Reproduktion  des  Ganzen  besitzen. 
Denn  wie  durch  Arbeitsteilung  und  Differenzierung  einzelne  ererbte  Anlagen 
aktiviert  werden,  so  können  andere  auch  infolge  mangelnder  und  entsprechen- 
der Reize  latent  bleiben,  ja  sie  können  sogar  vollständig  verkümmern.  Daher 
hat  es  nichts  Wunderbares,  wenn  eine  Blutzelle  nur  wieder  eine  Blutzelle,  und 
ebenso  Bindegewebs-,  Knorpel-,  Drüsen-,  Muskelzellen  nur  wieder  ihresgleichen 
hervorbringen.  Ob  eine  Gewebszelle  außer  ihren  sichtbaren  Eigenschaften  in 
ihrem  Idioplasma  auch  noch  latente  Anlagen  besitzt,  kann  zuweilen  durch  das 
Experiment  festgestellt  werden,  bleibt  aber  im  allgemeinen  verborgen;  denn 
es  fehlt  uns  an  Mitteln,  um  in  jedem  Fall  zu  entscheiden,  welchen  Vorrat 
latenter  Potenzen  eine  Zelle  noch  neben  ihren  manifest  gewordenen  Eigen- 
schaften besitzt. 
Keimplasma-  Einen    prinzipiell    entgegengesetzten    Standpunkt    nehmen    die    übrigen 

Mosaiktheorie.  Hypothcscn  ein;  denn  sie  gehen  von  der  zweiten  Möglichkeit  aus,  daß  während 
der  Entwicklung  der  ganze  Komplex  der  Anlagen  bei  den  aufeinander  folgenden 
Teilungen  des  Eies  in  seine  einzelnen  Komponenten  zerlegt  wird,  und  daß 
schließlich  im  fertigen  Organismus  die  meisten  Zellen  nur  noch  eine  spezielle 
Anlage  besitzen  und  durch  sie  in  ihrem  definitiven  Charakter  bestimmt  werden. 
Hierbei  sind  wieder  zwei  Unterfälle  möglich,  die  auch  ihre  Vertreter  gefunden 
haben.  Die  einen  verlegen  den  Anlagekomplex,  wie  es  auch  in  der  Biogenesis- 
theorie geschieht,  in  die  Kernsubstanz,  die  anderen  in  das  Protoplasma  mit 
seinen  verschiedenen  Bestandteilen.  Das  erste  ist  in  der  Keimplasma-  und  in 
der  Mosaiktheorie,  das  zweite  in  dem  Prinzip  der  organbildenden  Keimbezirke 
oder  der  organbildenden  Stoffe  geschehen.  Die  Forscher,  welche  den  Anlage- 
komplex in  den  Kern  verlegen,  erblicken  in  der  Karyokinese  ein  Mittel  zu 
seiner  allmähhch  erfolgenden  Zerlegung  in  einzelne  Spezialanlagen.  An  Stelle 
der  erbgleichen  Teilung  der  Biogenesistheorie  tritt  die  erbungleiche  oder 
differentielle  Teilung;  durch  sie  wird  die  Aufteilung  der  im  be- 
fruchteten Ei  ererbten  Gesamtanlage  auf  die  sich  in  verschiedenen 
Richtungen  differenzierenden  Zellen  während  der  Entwicklung  bewirkt.  Bis 
in  das  minutiöseste  hat  Weismann  diesen  Gedanken  in  seiner  Architektur 
des  Keimplasma  durch  Annahme  besonderer  Iden,   Determinanten  und  Bio- 


Keimplasma-,  Mosaiktheorie.     Organbildende  Stoffe  167 

phoren  durchzuführen  versucht.  Während  die  Biogenesis  in  ihrer  Ausführung 
einen  mehr  epigenetischen  Charakter  zeigt,  ist  die  Keimplasmatheorie  rein 
evolutionistisch  gedacht  und  ausgearbeitet.  Während  dort  je  nach  der  Lage 
der  Bedingungen  oder  aus  der  ganzen  Konstellation  auf  jeder  Stufe  der  Ent- 
wicklung die  nächstfolgende  bestimmt  wird,  gestaltet  sich  hier  die  Entwicklung 
zu  einem  zwangsläufigen  Prozeß.  Ist  doch  schon  in  der  Architektur  des  Keim- 
plasma der  Mechanismus  seiner  Zerlegung  in  die  einzelnen  Determinanten  und 
ebenso  ihre  Verteilung  auf  alle  sich  folgenden  Zellgenerationen  von  vornherein 
festgesetzt,  ähnlich  wie  in  einer  Musikdose  ein  Lied  in  seiner  Tonfolge  mecha- 
nisch produziert  wird,  wenn  die  Einstellung  des  ausgearbeiteten  Mechanismus 
auf  ein  bestimmtes  Stück  erfolgt  ist.  Hier  liegt  einer  der  schwächsten  Punkte 
der  Keimplasmatheorie.  Denn  die  Entwicklung  einer  befruchteten  Eizelle 
ist  kein  derart  zwangsläufig  eingerichteter  Prozeß,  sondern  im  Gegenteil  an- 
passungsfähig, wie  Erfahrung  und  Experiment  lehren.  Andere  ernste  Schwie- 
rigkeiten entstehen  auch  bei  der  Erklärung  der  zahllosen  verschiedenen  Arten 
der  ungeschlechtlichen  und  der  geschlechtlichen  Zeugung  sowie  der  Regenera- 
tion, also  in  allen  Fällen,  in  denen  einzelne  Zellen  oder  Zellenkomplexe  noch 
die  Potenz  zur  Reproduktion  entweder  des  ganzen  Organismus  oder  größerer 
und  kleinerer  Komplexe  desselben  nachweisbar  besitzen.  Zwar  wurde  in  diesen 
Fällen  zur  Beseitigung  der  erhobenen  Einwände  und  zur  Aufrechterhaltung 
der  Theorie  von  ihren  Urhebern  die  Zusatzhypothese  gemacht,  daß  viele  Zellen 
nicht  nur  ihre  speziellen  Determinanten  durch  erbungleiche  Teilung,  sondern 
zugleich  noch  durch  erbgleiche  Teilung  auch  den  gesamten  ursprünglichen 
Anlagekomplex  der  befruchteten  Eizelle  erhalten.  Damit  wird  aber  die  Haupt- 
annahme, wie  uns  scheint,  eigentlich  wieder  aufgehoben  und  in  ihr  Gegenteil 
verwandelt,  indem  an  Stelle  der  erbungleichen  wieder  die  erbgleiche  Teilung 
als  entgegengesetztes  Prinzip  zu  Hilfe  gerufen  wird. 

Über  das  Prinzip  der  organbildenden  Keimbezirke  und  der  organbildenden  organbUdende 
Stoffe  können  wir  uns  kurz  fassen,  da  es  gewissermaßen  eine  Verallgemeinerung  ^^'™stoffe^ 
aus  einer  Reihe  von  Tatsachen  ist,  welche  die  schon  ausführlich  dargestellte 
Eistruktur  und  die  von  ihr  abhängigen  verschiedenen  Arten  des  Furchungs- 
prozesses  mit  seinen  besonderen  Mustern  eines  Zellenmosaiks  betreffen.  Die 
größte  Schwäche  dieser  Theorien  liegt,  von  anderen  Einwänden  ganz  abgesehen, 
augenscheinlich  darin,  daß  sie  nur  von  der  Eizelle  ausgeht,  dagegen  ganz  un- 
berücksichtigt läßt,  daß  ebensogut  wie  die  weibhche  auch  die  männliche 
Keimzelle  eine  Anlage  einer  speziellen  Tierart  ist.  Der  Samenfaden  läßt  aber 
nichts  von  organbildenden  Keimbezirken  und  organbildenden  Stoffen  von  der 
Art,  wie  sie  in  der  Eizelle  vorgefunden  werden,  erkennen.  Schon  allein  dieser 
Umstand  sollte  zu  bedenken  geben,  ob  in  den  oben  erwähnten  Theorien  nicht 
Strukturverhältnissen  der  Eizelle  eine  theoretische  Bedeutung  beigemessen 
wird,  die  allein  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  ihnen  unmöglich  zukommen  kann. 
Um  sich  in  diesen  strittigen  Fragen  Klarheit  zu  verschaffen,  hat  man  zum 
biologischen  Experiment  seine  Zuflucht  genommen.  Man  hat  in  die  Potenzen 
einzelner  Embryonalzellen,  die  durch  Teilung  aus  dem  Ei  entstehen,  einen  Ein- 


l68     Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

blick  zu  gewinnen  versucht,  indem  man  die  anderen  aus  dem  Entwicklungs- 
prozeß ausschaltete  oder  ihre  Beziehungen  zueinander  veränderte.  Es  kann 
dies  in  verschiedener  Weise  geschehen.  Hierbei  sind  wichtige  Ergebnisse  er- 
zielt worden.  Dieselben  sind  aber,  je  nachdem  sie  an  den  Eiern  dieser  oder 
jener  Tierart  vorgenommen  wurden,  zuweilen  in  auffälliger  Weise  verschieden 
ausgefallen  und  infolgedessen  auch  bald  zugunsten  dieser  bald  jener  Theorie 
verwertet  worden.  Die  Embryologen  haben  sich  hierdurch  veranlaßt  gesehen, 
mit  Rücksicht  auf  den  ungleichen  Ausfall  der  schon  in  großer  Zahl  und  an  sehr 
verschiedenen  Objekten  ausgeführten  Experimente  die  tierischen  Eier  in  zwei 
Gruppen  einzuteilen,  i.  in  die  Gruppe  der  Regulationseier  und  2,  in  die 
Gruppe  der  Mosaikeier.  Ehe  wir  zur  Besprechung  der  an  ihnen  gewonnenen 
Ergebnisse  übergehen,  sei  aber  vorausgeschickt,  daß  beide  Gruppen  durch 
Übergangsformen  verbunden  sind,  und  daß  daher  manche  Objekte  bald  zu 
dieser  bald  zu  jener  Gruppe,  meist  je  nach  dem  theoretischen  Standpunkt 
des  Experimentators,   hinzugerechnet  werden. 

I.  Die   Regulationseier. 

Zu  dieser  Gruppe  gehören  alle  kleinen,  isolecithalen  Eier  mit  totaler 
äqualer  Furchung,  wie  sie  bei  manchen  Medusen,  bei  vielen  Echinodermen, 
bei  Amphioxus  usw.  gefunden  werden.  Aber  auch  größere  dotterreichere 
Eier  mit  inäqualer  Teilung  sind  nach  dem  Ausfall  der  Experimente  hierher 
zu  rechnen:  so  die  vieluntersuchten  Eier  von  Frosch  und  Triton.  Um  auf  den 
ersten  Teilungsstadien  einige  Zellen  aus  dem  Entwicklungsprozeß  auszuschal- 
ten, hat  man  verschiedene  Methoden  ausfindig  gemacht.  Man  hat  mit  einer 
scharfen  Nadel  eine  oder  mehrere  Zellen  angestochen,  um  sie  durch  die  mechani- 
sche Verletzung  entweder  ganz  abzutöten  oder  wenigstens  erheblich  zu  schädigen, 
und  hat  verfolgt,  was  für  ein  Entwicklungsprodukt  der  normal  gebliebene  Rest 
von  Furchungskugeln  liefert.  Der  Versuch  ist  nicht  ganz  einwandsfrei,  da  die 
zerfallene  oder  nur  geschädigte  Hälfte  innerhalb  der  Dotterhaut  zurückbleibt, 
gerinnt,  einen  Teil  des  Eiraums  ausfüllt  und  so  ein  störendes  Hindernis  für  die 
ungehemmte  und  normale  Weiterentwicklung  der  unverletzt  gebliebenen  Em- 
bryonalzellen abgibt. 
Zwergiarveu  von  Viel  zweckentsprechcndcr  und  weniger  schädigend  ist  die  jetzt  meist  ge- 

.  mp  loxus.  brauchte  Methode,  durch  mechanische  Eingriffe  die  Embryonalzellen  auf  dem 
Stadium  der  2.,  4.  oder  8.  Teilung  ganz  oder  teilweise  voneinander  zu  trennen.  Bei 
Eiern  von  Seeigeln  und  Amphioxus  gelingt  dies  sehr  leicht  durch  vorsichtiges 
Schütteln  in  einem  mit  Meerwasser  gefüllten  Reagenzglas.  Noch  leichter  geht  hier- 
bei die  Trennung  vor  sich,  wenn  man  die  Eier  kurze  Zeit  in  kalkfrei  gemachtes 
Meerwasser  (Durchleitung  von  Kohlensäure)  gebracht  hat,  da  in  ihm  die  Fur- 
chungsstücke  die  Tätigkeit,  sich  nach  jeder  Teilung  an  den  Berührungsflächen 
abzuplatten  und  fest  zusammenzuschließen,  verlieren.  Sie  nehmen  im  kalkfreien 
Meerwasser  Kugelform  an,  so  daß  schon  bei  geringem  Schütteln  ein  in  2,  4  und 
mehr  Zellen  geteiltes  Ei  in  seine  Komponenten  auseinanderfällt.  Die  getrenn- 
ten Embryonalzellen  kann  man  mit  einer  feinen  Pipette  auffangen  und  in  einem 


Experimente  an  Regulationseiern 


169 


Uhrschälchen  für  sich  isoliert  weiter  züchten,  um  festzustellen,  was  aus  ihnen 
wird.  Hierbei  zeigt  sich  nun,  daß  jedes  Teilstück,  nachdem  es  Kugelform  an- 
genommen hat,  sich  genau  so  weiter  entwickelt,  wie  sich  das  ganze  Ei  ent- 
wickelt haben  würde.  Mag  es  sich  um  eine  isolierte  Halbkugel  der  ersten  Tei- 
lung oder  um  ein  Viertel-  oder  ein  Achtelstück  des  zweiten  und  dritten  Fur- 
chungsstadiums  handeln,  in  jedem  Fall  entwickelt  sich  aus  ihnen  eine  normale 
Maulbeerkugel,  dann  eine  Keimblase,  später  eine  Gastrula  usw.,  nur  von  ent- 
sprechend kleinerem,  zwergenhaftem  Format.  So  kann  der  Experimentator 
durch  seinen  Eingriff  aus  dem  Ei  des  Amphioxus  anstatt  einer  Larve  deren  2, 
4  oder  sogar  8  erhalten,  je  nachdem  er  die  Zerlegung  durch  Schütteln  während 
der  Teilung  des  Eies  in  2,  4  oder  8  Zellen  vorgenommen  hat.  Zum  Beleg  habe 
ich  aus  einer  Arbeit  von  Wilson  genaue  Kopien  von  vier  Becherlarven  zu- 
sammengestellt.    Schon    an   ihrer    A  ^^^^^^^^^^I^^^^^^::^:::;;^       B      n /<^===>s. 

Größe   sieht    man  es  ihnen  sofort     //  \\      //        ^X\     v  C~)u 

an,  ob  sie  von  einem  ganzen  Ei  (Fig.   \i     f  \\\(ll         lll 

45,^)  oder  von  einem  halben  Teil-      |     (  I     ll   \  i i    ^J  //^    "^ 

stück  (Fig.  45,5)  oder  von  einem  \       )      /    uj    ^ r\i    O    )) 

Viertelstück  (Fig.  45,  C)   oder  gar     ^-^^^i^^^ZH^:^:^^  \     .    l   Hl 


Triton. 


von   einem  Achtelstück   (Fig.  45,  D)  F;g45-^-^.NormaleGastrula  und  Teilgastmlae  von  Amphioxus. 

\       o    -r../!        /  Nach  WILSON.     A    aus    dem  ganzen  Ei,    B  aus  einer  einzigen, 

abstammen.  Unter  günstigen  Ver-  künstlich  isolierten  Zelle  des  zweigeteilten,  C  des  viergeteilten, 
,..,,.                 ,                       .    ,         , .       „  Z>  des  achtgeteilten  Eies  gezüchtete  Gastrula. 

haltnissen  lassen  sich   die  Zwerg- 

gastrulae  von  halber  und  von  viertel  Größe  auch  noch  weiter  zu  kleinen  Am- 
phioxuslarven  züchten,  die  Chorda,  Nervenrohr,  Muskelsegmente,  Darm  usw. 
in  normaler  Weise,  nur  alles  in  entsprechend  verkleinertem  Maßstab  besitzen. 

Nun  darf  man  nicht  glauben,  daß  ähnliche  Ergebnisse  etwa  nur  bei  Zwergiarven  von 
niederen  Wirbellosen  zu  gewinnen  wären.  Auch  bei  Amphibien  ist  es  geglückt, 
aus  einem  Ei  auf  experimentellem  Wege  zwei  Larven  hervorzubringen.  Aller- 
dings muß  hier  zur  Trennung  der  beiden  ersten  Teilhälften  ein  anderes  Ver- 
fahren eingeschlagen  werden;  denn  ,,die  Schüttelmethode"  führt  hier  nicht 
zum  Ziel,  teils  weil  der  Dotter  von  einer  dicken,  nicht  leicht  zu  zerreißenden 
Membran  umschlossen  wird,  teils  weil  die  durch  die  erste  Teilung  entstandenen 
Halbkugeln  des  hirsekorngroßen  Eies  in  weiter  Ausdehnung  zu  fest  anein- 
anderhaften.  Hier  hilft  man  sich  in  der  Weise,  daß  man  das  noch  mitten  in 
seiner  Teilung  begriffene  Ei  mit  einem  feinen  Kokonfaden  entsprechend  der 
Teilebene  umschnürt  und  die  Schlinge  langsam  zuzieht.  Wenn  auch  nicht  in 
allen  Fällen  gelingt  es  doch  in  einigen  mit  diesem  Verfahren  die  beiden  Teil- 
hälften voneinander  zu  isolieren.  Und  siehe  da:  aus  beiden  Hälften  eines 
Tritoneies,  das  für  solche  Versuche  sich  wegen  seiner  ovalen  Form  am  meisten 
empfiehlt  (Fig.  46),  entwickeln  sich  kleine  Molchlarven,  die  als  Zeichen  ihrer 
gemeinsamen  Abstammung  aus  einem  Ei  noch  von  einer  gemeinsamen  Dotter- 
haut und  Gallerthülle  (g)  umgeben  sind.  Von  einem  normalen  Tier  unterschei- 
den sie  sich  ebenfalls  wie  die  Amphioxuszwerge  nur  durch  ihre  halbe  Größe; 
sie  führen,  wenn  sie  alt  genug  geworden  sind,  zuckende  Bewegungen  in  ihren 
Hüllen  aus.     Vom  normalen  Tier  nur  durch  ihre  halbe  Größe  unterschieden, 


i7o     Oscar  Hertwig:  AUgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

besitzen  sie  wie  dieses  alle  Organe;  ein  jedes  von  ihnen  hat  ein  Gehirn  und 
Rückenmark,  zwei  Augen,  zwei  Hörbläschen,  zwei  Riechgrübchen  usw. 
Künstlich  er-  Nicht  immer  gelingt  die   vollständige  Trennung  der  beiden  Teilstücke 

^m"ißbüd^ngen!  eincs  Eics  weder  beim  Schütteln  noch  beim  Durchschnüren.  Im  ersten  Fall 
können  sich  beide  Hälften  in  der  erhalten  gebliebenen  Hülle  nur  etwas  ver- 
schieben und  ihre  Stellung  zueinander  verändern,  im  zweiten  Fall  bleiben  sie 
durch  einen  mehr  oder  minder  dicken  Stiel  innerhalb  des  Schnürrings  noch  ver- 
bunden. Das  Ergebnis  gibt  uns  eine  ebenso  interessante  wie  wichtige  Ergän- 
zung zu  dem  vorigen.  Denn  unter  solchen  Verhältnissen  kommt  es  zur  Ent- 
stehung von  Doppelmißbildungen  der  verschiedensten  Art.  So  zeigt 
uns  Figur  47  vier  etwas  verschiedenartige  Beispiele  von  Doppelgastrulae  von 
Amphioxus.     Schon  die  Veränderung  in  der  Stellung  der  beiden  ersten  Teil- 

(^  hälften,  die  durch  das  Schütteln  hervorgerufen 
wurde,  hat  genügt,  jede  zu  getrennter  Entwick- 
lung zu  veranlassen.  Indem  jetzt  zwei  Zellen- 
haufen, die  nur  eine  Strecke  weit  verbunden  sind, 
aus  dem  Furchungsprozeß  hervorgehen,  entwickelt 
sf  sich  in  jedem  Haufen  eine  eigene  Keimblasenhöhle; 

Fig  46.  Ein  Ei  von  Triton  cristatus,  bei    hierauf  cntstcht  an  jcdcr  Hälfte  der  Zwillingskeim- 

welchem  auf  dem  Zweiteilungsstadium  die  -'  <-> 

zwei  Zellen  durch  Umschnürung  mit  einem     blaSC    clne   ElnStÜlpUUg    für   sich.      Und    aUCh    hicr 

Seidenfaden  getrennt  wurden  und  sich  in-  itt  i-i  i-i  t->ii-i 

foigedessen  zu  zwei  selbständigen  Embry-  kann  man  durch  Vergleich  verschiedener  r  alle  sich 
7Z^S^J^:^^^k^.  weiter  noch  davon  überzeugen,  wie  geringfügige 
standenen  Embryonen.  Nach  herlitzka.  ^j^^j  zufälHgc  Abwcichungeu  iu  der  Stellung  der 
beiden  Zellen  zueinander  die  spätere  Form  der  Zwillinge  sehr  wesentlich  ver- 
ändern können.  So  ist  in  Fig.  47,  A  ein  Urmund  nach  vorn,  der  andere  nach 
hinten,  in  Figur  47,  B  sind  sie  nach  entgegengesetzten  Seiten  gerichtet,  in  C 
und  D  sind  sie  in  der  gleichen  Richtung  orientiert,  aber  verschieden  weit  von- 
einander getrennt.  Schon  auf  Grund  dieser  Befunde  kann  man  voraussagen, 
daß  auch  die  weiter  entwickelten  Doppellarven  verschieden  ausfallen  und  daß 
AmphioxuszwiUinge  entstehen  werden,  deren  Kopfenden  entweder  in  entgegen- 
gesetzten oder  in  gleichen  Richtungen  orientiert,  die  ferner  mit  der  Bauch-, 
der  Seiten-  oder  Rückenfläche  verschieden  weit  verbunden  sein  werden. 

Ein  Produkt  unvollkommener  Durchschnürung  eines  zweigeteilten  Triton- 
eies ist  in  Figur  48  abgebildet,  eine  Mißbildung  mit  vollständig  voneinander 
getrennten  Köpfen  und  verdoppelten  vorderen  Rumpfabschnitten,  die  nach 
hinten  untereinander  verwachsen  sind  und  allmählich  in  einen  gemeinsamen 
einfachen  Rumpf  und  in  ein  einfaches  Schwanzende  übergehen.  Die  Dupli- 
citas  anterior,  wie  in  der  Lehre  der  Mißbildungen  (Teratologie)  das  abgebildete 
Monstrum  heißt,  war  schon  so  weit  entwickelt,  daß  es  aus  den  Eihüllen  aus- 
geschlüpft war,  im  Zuchtglas  hurtig  herumzuschwimmen  und  auch  Nahrung 
aufzunehmen  vermochte. 

Es  wird  hier  gewiß  von  mancher  Seite  die  Frage  aufgeworfen  werden,  wie 
weit  sich  die  Zerlegung  des  Eies  in  entwicklungsfähige  Teilstücke  wird  aus- 
führen lassen.     Wie  das  Experiment  gelehrt  hat,  ist  die  Grenze  gewöhnlich 


Doppelmißbildungen 


171 


bei  Achtelstücken  erreicht.  Wenn  eine  isoHerte  Embryonalzelle  des  löteiligen 
Stadiums  sich  auch  noch  teilt  und  einen  Zellenhaufen  liefert,  eventuell  sogar 
zu  einer  Keimblase  wird,  so  kommt  es  doch  nicht  mehr  zur  Gastrulation,  und 
das  Bruchstück  stirbt  bald  ab.  Die  Entwicklung  zu  einer  normalen  Zwerglarve 
setzt  demnach  immer  ein  gewisses  Quantum  entwicklungsfähiger  Substanz 
voraus. 

Die  von  den  Regulationseiern  mitgeteilten  Experimente  sind  ebenso  wie  Beweis  für  die 
die  Kompressionsversuche,  durch  welche  eine  Umlagerung  der  Kerne  und  eine       '"hl^o'rie'^ 
veränderte  Form  und  Gruppierung  der  Embryonalzellen  herbeigeführt  wird, 


Fig.  48.  Larve  von 
Triton  taeniatus  mit 
Fig. 47^ — D.  VierDoppelgastrulae  von  Ainphioxus (.4,  B,  C,  D),  entstanden  durch  ^gj^^giiender  Ver- 
Schütteln  des  Eies  auf  dem  Stadium  der  Zweiteilung,  sieben  Stunden  nach  ^onDelune  des  Vor- 
der Befruchtung.  Nach  Wilson.  «'  u'-  Nach  verschiedenen  Richtungen  ^grendes.  (Dupli- 
orientierter  Urmund  der  zwei  aus  je  einer  Eihälfte  entstandenen  Gastrulae;  citas  anterior.) 
u  gemeinsamer  Urmund  zweier  Gastrulae.  Nach  Spemann. 

ein  wertvolles  Beweismaterial  zugunsten  der  Biogenesistheorie.  Denn  wenn 
man  aus  einem  Ei  anstatt  einer  Larve  2,  4  oder  8  Zwerglarven  experimentell 
gewinnen  kann,  Zwerglarven,  die  abgesehen  von  ihrer  halben,  viertel  oder 
achtel  Größe  sonst  normal  und  ohne  Defekte  entwickelt  sind,  dann  ist  der 
unanfechtbare  Beweis  geliefert,  daß  während  der  ersten  Furchungsstadien 
erbgleiche  Teilung  stattgefunden  oder  daß  jede  Embryonalzelle  die  volle,  un- 
zerlegte  Erbmasse  erhalten  hat.  Man  erkennt  aber  auch,  wie  die  Lage  und  Ver- 
bindung der  Zellen  zueinander  darüber  entscheidet,  was  im  Laufe  der  Entwick- 
lung aus  ihren  Abkömmlingen  wird.  Wir  ziehen  daher  aus  den  mitgeteilten 
Experimenten  die  für  die  tierische  Formbildung  sehr  wichtige  Schlußfolgerung: 
bei  vielen,  selbst  höchstentwickelten  Tieren  (Vertebraten)  besitzen,  wie  sicher 
festgestellt  ist,  die  ersten  aus  dem  Ei  durch  Teilung  entstandenen  Zellen  nicht 
nur  die  Fähigkeit  sich  zu  einem  Teil  des  Embryos  umzuwandeln,  wie  es  bei 
dem  normalen  Verlauf  der  Entwicklung  geschieht,  sondern  jede  trägt  gleich- 
zeitig auch  noch  die  Anlage  zum  Ganzen  in  sich.  Die  ersten  Teilungen  der  Ei- 
zelle können  daher  nur  erbgleiche  sein.  Eine  Zerlegung  der  Anlage  in  verschie- 
denartige Gruppen  von  Einzelanlagen    oder  eine  erbungleiche  Teilung  findet 


172      Oscar  HertwiG:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

nicht  statt.  Was  aus  einer  Embryonalzelle  wird,  ob  sie  sich  nur  zu  einem 
Teil  eines  Embryos  oder  für  sich  allein  zu  einem  ganzen  Embryo  oder  zu  einem 
Stück  einer  Mehrfachbildung  entwickelt,  hängt  lediglich  von  gewissen  äußeren 
Bedingungen  ab,  nämlich  lediglich  davon,  ob  sich  eine  Embryonalzelle  unter 
dem  Einfluß  von  anderen  Embryonalzellen  befindet,  mit  denen  sie  zu  einem 
zusammengesetzten  Ganzen  vereint  ist,  oder  ob  sich  die  Embryonalzellen, 
vom  Ganzen  abgelöst,  für  sich  allein  entwickeln. 

2.  Die  Mosaikeier, 

Weniger  klare  Ergebnisse  als  die  zuerst  besprochene  liefert  uns  eine  zweite 
Gruppe  von  Objekten,  welche  gewöhnlich  als  die  Mosaikeier  bezeichnet  werden. 
Sie  schließen  in  ihrem  Protoplasma  verschiedenartiges  Deutoplasma  ein  und 
lassen  ungleiche  Bezirke  von  homogenem,  feinkörnigem  und  grobkörnigem, 
von  pigmentiertem  und  unpigmentiertem  Dotter  unterscheiden,  und  wenn  sie 
auch  nicht  immer  sehr  groß  und  dotterreich  sind,  so  zeichnen  sie  sich  doch 
durch  eine  eigenartige  und  der  Regulation  nicht  leicht  zugängliche  Eistruktur 
aus.  Infolgedessen  zeigt  auch  der  Furchungsprozeß  bei  ihnen  ein  eigenartiges 
Gepräge  mit  verschieden  großen,  typisch  gelagerten  und  aufeinander 
folgenden  Embryonalzellen;  er  liefert  mit  einem  Wort  ein  oft  sehr  charakteri- 
stisches, der  speziellen  Tierart  eigenes  Furchungsmosaik.  Bei  den  zu  dieser 
Gruppe  gehörigen  Tieren  werden  die  ersten  Stufen  der  Entwicklung  in  unver- 
hältnismäßig kurzer  Zeit  durchlaufen,  so  daß  die  Larven  oft  wenige  Stunden 
nach  der  Befruchtung  schon  die  Eihüllen  verlassen  (Trochophora,  Pilidium). 
Auch  wenn  sie  beim  Ausschlüpfen  erst  aus  einer  kleineren  Zahl  von  Zellen  be- 
stehen, sind  diese  doch  schon  in  verschiedener  Weise  differenziert.  Daher 
bieten  die  Mosaikeier  für  die  Forscher,  welche  den  Stammbaum  der  Zellen  bis 
zur  Ausbildung  besonderer  Organe  durch  kontinuierliche  Beobachtung  wäh- 
rend des  Lebens  zu  verfolgen  bemüht  sind,  besonders  dankbare  Objekte.  Bei 
ihnen  ist  es  gelungen,  einen  kontinuierlichen  Zusammenhang  zwischen  be- 
stimmten Embryonalzellen  der  ersten  Furchungsstadien  und  den  sich  ab- 
sondernden Organen  auf  späterer  Stufe  der  Entwicklung  nachzuweisen.  Be- 
sonders typische  Vertreter  dieser  Gruppe  sind  die  Ctenophoren,  einige  Wür- 
mer, Mollusken,  Ascidien.  Wenn  einzelne  Embryonalzellen  durch  entsprechende 
Eingriffe  wie  bei  den  Regulationseiern,  aus  der  Entwicklung  ausgeschaltet 
werden,  so  entstehen  aus  den  überlebenden  Teilstücken  an  Stelle  kleinerer 
Ganzbildungen  nur  Larven  mit  bestimmten  Defekten.  Dadurch  werden  die 
Ergebnisse  zur  Beantwortung  der  theoretischen  Fragen  nicht  so  klar  und  ein- 
deutig, wie  bei  den  Experimenten,  welche  an  den  Regulationseiern  ausgeführt 
wurden. 

Als  Beispiele  mögen  zwei  Experimentaluntersuchungen  dienen,  von  denen 
eine  am  Ctenophorenei,  die  andere  am  Molluskenei  ausgeführt  wurde.  Das  dotter- 
reiche Ctenophorenei  besteht  aus  einer  inneren,  sehr  leichten,  grobvakuoligen 
Dottermasse  mit  einem  protoplasmatischen  Überzug.  Es  macht  eine  Mosaik- 
furchung  durch,  bei  welcher  auf  dem  vierten  Teilstadium  (Fig.  49)  acht  sehr 


Mosaikeier 


173 


große  und  acht  sehr  kleine,  regehnäßig  gruppierte  Zellen,  die  Makromeren  und 
die  Mikromeren,  entstanden  sind.  Es  ist  möglich  eine  Trennung  der  Teilstücke 
so  vorzunehmen,  daß  sie  noch  von  einer  gemeinsamen  Dotterhaut  umschlossen 
bleiben.  Der  Experimentator  erhält  dadurch  den  Vorteil,  daß  er  die  aus  einem 
Ei  abstammenden  Larven  miteinander  vergleichen  kann.  So  sind  in  Figur  50 
durch  Zerlegung  eines  schon  ziemlich  weit  abgefurchten  Eies,  bei  welchem  die 
Makromeren  schon  von  den  Mikromeren  umwachsen  waren,  vier  Stücke  er- 
halten worden,  die  sich  zu  vier  flimmernden  Larven  entwickelt  haben.  Aber 
diese  sind  nicht  verkleinerte  Normal- 
larven. Denn  für  die  Ctenophoren  sind 
acht  Rippen  von  Flimmerplättchen 
typisch.  Von  den  vier  Larven  unserer 
Figur  hat  aber  eine  drei,  zwei  haben 
zwei  und  die  vierte  und  abnormste  hat 
nur  eine  Rippe  entwickelt.    Erst  alle 


aus    einem    Ei    gezüchteten    Larven   er-     ^3^:    in    8    Makkomeren    und    m    8    Mikromeren.     A   vom 


A  B 

Fig.  49^4  und  B.    Ctenophorenei,  das  in  i6 Zellen  geteilt 
ist:    in    8    Makkomeren    und    in    8    Mikromeren.     A   vom 
ganzen  sich,  indem  sie  acht  Rippen  von     ^.nimalen  Pol,    B    von  der  Seite  gesehen.     Nach  Ziegler. 

Flimmerplättchen  besitzen.  Dagegen 
hat  jede  von  ihnen  ein  eigenes  Darm- 
rohr und  repräsentiert  ein  lebensfähi- 
geslndividuum,  das  von  einer  normalen 
Ctenophorenlarve  nur  durch  Defekte 
an  einem  für  dieLebenserhaltung  unter- 
geordneten Organsysten  abweicht. 

Zugunsten  der  Theorie  der  organ- 
bildenden Stoffe  sind  namentlich  Ex- 
perimente verwertet  worden,  zu  wel- 
chen die   Eier  von  Mollusken,    wie    Z.  ß.     pig.  5^.   vier  Larven  A,  B,  C.  D,  weiche  aus  einem  Ei  von 

von  Dentalium,    gedient  haben.    Schon     ^^^'■°''  """^^^  '^"'^^  Zerlegung  desselben  in  vier  stücke  ge- 
°  züchtet  sind.    Nach  Fischel.    h  Eihülle,  x  Flimmerplättchen. 

vor  der  Teilung  läßt  das  Ei  von  Denta- 
lium (Fig.  51,-^)  drei  Zonen  unterscheiden,  eine  obere  und  eine  untere  helle 
Scheibe,  die  durch  einen  breiten,  pigmentierten  Ring  voneinander  geschieden 
werden.  Bei  Beginn  der  Teilung  nimmt  das  Ei  die  bekannte  Kleeblattform  an, 
indem  die  untere  helle  Scheibe  sich  vorwölbt  und  durch  eine  tiefe  Furche  sich  vom 
übrigen  Inhalt  als  Pollappen  absetzt.  Dieser  wird  bei  der  ersten  Teilung  (Fig. 
51,5)  nur  einer  der  beiden  Tochterzellen  zugeteilt,  an  welcher  er  sich  alsdann 
wieder  als  helle  Scheibe  ähnlich  wie  auf  dem  Ausgangsstadium  ausbreitet  (Fig. 
51,  C).  Ein  entsprechender  Vorgang,  Bildung  eines  besonderen  Follappens  an  der 
Tochterzelle,  welche  die  Substanz  für  ihn  erhalten  hatte,  wiederholt  sich  noch 
zweimal  bei  der  zweiten  und  dritten  Teilung.  Erst  auf  dem  vierten  Stadium 
wird  er  als  Zelle  für  sich,  als  sogenannter  Somatoblast,  abgetrennt. 

Man  kann  nun  in  verschiedenster  Weise  operative  Eingriffe  an  den  klei- 
nen Eiern  vornehmen.  Man  kann  mit  einem  feinen  Messerchen  den  Pollappen 
während  einer  der  Teilungen  abschneiden.    Dann  entwickelt  sich  das  Ei  zwar 


174     Oscar  Hertwig:  Allgem.  u.  experimentelle  Morphologie  u.  Entwicklungslehre  d.  Tiere 

weiter  und  wandelt  sich  auch  zur  Gastrula  um;  die  aus  den  Hüllen  ausschlüp- 
fende Larve  zeigt  aber  Defekte;  für  die  Molluskenentwicklung  charakteristische 
Organe,  wie  die  posttrochale  Region  und  das  Apikaiorgan  fehlen.  Wenn  man 
ferner  während  der  ersten  und  der  zweiten  Teilung  die  Embryonalzellen  von- 
einander trennt  und  isoliert  weiter  züchtet,  so  entwickeln  alle,  welche  den  Pol- 
lappen als  Anhängsel  besitzen,  normale  oder  fast  normale  Zwerglarven  von 


A  B 

Fig.  51^ — C.  Die  ersten  Entwicklungsstadien  des  Eies  von  Dentalium.  Nach  Wilson.  A  Ei  eine  Stunde  nach 
der  Befruchtung  mit  zwei  Polzellen  und  dem  oberen  und  unteren  hellen  scheibenförmigen  Hof  in  seitlicher  Ansicht. 
B  Ei  während  der  ersten  Teilung  in  die  Zellen  AB  und  CD  und  auf  dem  Stadium  der  Kleeblattfigur.  Der  Pol- 
lappen /l  bleibt  bei  der  Durchschnürung  mit  der  Zelle  CD  verbundeu.  C  Beendete  Zweiteilung.  Die  Substanz 
des  Pollappens  hat  sich  wieder  als  helle  Scheibe  auf  der  unteren  Fläche  der  Zelle   CD  ausgebreitet. 


halber  oder  viertel  Größe,  die  anderen  Embryonalzellen  aber  werden  nur  ver- 
kümmerte Larven,  denen  die  posttrochale  Region  und  das  Apikaiorgan  fehlen. 
Anhänger  der  organbildenden  Substanzen  oder  der  Mosaiktheorie  haben  daraus 
geschlossen,  daß  die  Potenz  oder  das  Material  zur  Bildung  der  fehlenden 
Organe  in  dem  Pollappen  enthalten  ist;  sie  erblicken  die  Aufgabe  des  Furchungs- 
Prozesses  darin,  die  im  Ei  regional  verteilten  formativen  Stoffe  voneinander 
zu  sondern  und  auf  die  einzelnen  Embryonalzellen  zu  verteilen,  welche  hier- 
durch für  bestimmte  Aufgaben  in  der  weiteren  Entwicklung  determiniert  wer- 
den. Nach  ihrer  Vorstellung  gestaltet  sich  bei  diesen  Eiern  der  Anfang  der  Ent- 
wicklung zu  einer  Mosaikarbeit. 

In  der  Deutung  des  verschiedenen  Ausfalls  der  Ergebnisse,  zu  welchen  die 
experimentelle  Untersuchung  der,,  Regulationseier  "und  der,, Mosaikeier"geführt 
hat,  weichen  zurzeit  die  einzelnen  Forscher  noch  weit  auseinander,  doch  besteht 
für  mich  kein  Zweifel,  daß  die  noch  im  Gang  befindliche  literarische  Fehde 
schließlich  zugunsten  der  früher  (Seite  108 — 126)  besprochenen  ,,Idioplasma- 
kerntheorie"  und  der  ,, Biogenesis"  (Seite  164)  ausfallen  wird. 


Noch  manche  andere  Wege  sind  der  experimentellen  Forschung  bei  dem 
Studium  der  ersten  Entwicklungsprozesse  im  Tierreich  eröffnet  worden,  doch 
müssen  die  auf  den  vorausgehenden  Seiten  mitgeteilten  Experimente,  wie  ich 
glaube,  wohl  als  die  wichtigsten  und  als  die  erfolgreichsten  bezeichnet  werden. 
Ihre  Besprechung  in  der ,, Kultur  der  Gegenwart"  schien  mir  daher  dringend  ge- 
boten und  geeignet  zu  sein,  auch  das  Interesse  weiterer  Kreise  für  die  Aufgaben 
der  experimentellen  Biologie  zu  erwecken. 


Literaturangaben  und  Anmerkungen. 

1.  (zu  Seite  95):  Der  Leser,  der  genauere  Auskunft  über  die  im  vorliegenden  Kapitel  ab- 
gehandelten Gegenstände  wünscht,  sei  noch  auf  folgende  Lehrbücher  verwiesen: 

1.  Oscar  Hertwig,  Allgemeine  Biologie.  4.  Aufl.   1912. 

2.  Derselbe,  Lehrbuch  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen  und  der  Wirbel- 
tiere.  9.  Aufl.    1910. 

3.  KORSCHELT  und  Heider,  Lehrbuch  der  vergleichenden  Entwicklungsgeschichte 
der  wirbellosen  Tiere.   Allgemeiner  Teil.    1902. 

4.  Edm.  Wilson,  The  cell  in  development  and  inheritance.    2.  Aufl.    1900. 

2.  (zu  Seite  100) :  Der  Befruchtungsprozeß  im  Tierreich  wurde  zum  erstenmal  im  Jahre 
1875  durch  Oscar  Hertwig  entdeckt  und  beschrieben  in  seiner  Schrift:  Beiträge  zur  Kenntnis 
der  Bildung,  Befruchtung  und  Teilung  des  tierischen  Eies.  Morphol.  Jahrb.  Bd.  I  1875.  Bd.  III 
1877.  Bd.  IV  1878.  Im  Anschluß  an  diese  Entdeckung  wurde  bald  darauf  auch  der  Befruchtungs- 
vorgang bei  phanerogamen  Pflanzen  durch  Strasburger  aufgeklärt:  Über  Befruchtung  und  Zell- 
teilung. Jena  1878,  Ein  weiterer,  wichtiger  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  des  Befruchtungs- 
prozesses wurde  1883  durch  die  ausgezeichnete  Untersuchung  Ed.  von  Benedens  herbeigeführt: 
Recherches  sur  la  maturation  de  l'oeuf,  la  fecondation  et  la  division  cellulaire. 

3 .  (zu  Seite  109) :  Den  Begriff  der  Artzelle  habe  ich  in  meiner  allgemeinen  Biologie ,  4.  Aufl. 
S.  454,  710  —  715,  eingeführt  und  näher  begründet. 

4.  (zu  Seite  109):  G.Mendel,  Versuche  über  Pflanzenhybriden.  Zwei  Abhandl.  1865  u. 
1869.  Abgedruckt  in  Ostwalds  Klassiker  der  exakten  Wissenschaften.   Nr.  121.    1901. 

5.  (zu  Seite  1 10):  C.  v.  NÄGELI,  Mechanisch-physiologische  Theorie  der  Abstammungslehre. 
München  u.  Leipzig.  1884. 

6.  (zu  Seite  iii):  ED.  v.  Beneden,  Recherches  sur  la  maturation  de  Toeuf,  la  fecondation 
et  la  division  cellulaire.   1883.  Th.  Boveri,  Zellstudien:  Jena  1887,  1888. 

7.  (zu  Seite  116):  Daß  Ei-  und  Samenbildung  parallele  Vorgänge  zeigen,  die  sich  Punkt 
für  Punkt  entsprechen,  wurde  1890  von  Oscar  Hertwig  nachgewiesen  in  der  Schrift:  Vergleich 
der  Ei-  und  Samenbildung  bei  Nematoden.   (Arch.  f.  mikr.  Anat.   Bd.  36.    1890.) 

8.  (zu  Seite  121):  In  kurzer  Zeit  ist  über  die  Mendelschen  Regeln  eine  große  Literatur  ent- 
standen, aus  welcher  besonders  folgende  Schriften  namhaft  gemacht  seien: 

1.  B.\teson,  Mendel's  principles  of  heredity.    Cambridge  1909. 

2.  E.  Baur,  Einführung  in  die  experimentelle  Vererbungslehre.    1911. 

3.  V.  H AECKER,  Allgemeine  Vererbungslehre.    191 1. 

4.  Goldschmidt:  Einführung  in  die  Vererbungswissenschaft.    1911, 

9.  (zu  Seite  123):  Das  Studium  der  Wirkungen,  welche  Radiumstrahlung  auf  biologische 
Prozesse  ausübt,  gehört  ganz  der  neuesten  Zeit  an.  Eine  kurze  Darstellung  der  bisher  ge- 
wonnenen Ergebnisse  findet  sich  in  dem  soeben  erschienenen  Handbuch  der  Radiumbiologie 
und  Therapie  19 13  in  Kapitel  XI.  OscAR  Hertwig,  Radiumeinwirkung  auf  das  lebende  Gewebe 
und  auf  embryonale  Entwicklungsprozesse.   Seite  163  — 184. 

10.  (zu  Seite  150):  W.  His.  Unsere  Körperform  und  das  physiologische  Problem  ihrer 
Entstehung.   Briefe  an  einen  befreundeten  Naturforscher.   Leipzig  1874. 

11.  (zu  Seite  154):  C.E.  v.  Baer.  De  ovi  mammalium  et  hominis  genesiepistola.  Lipsiae  1827. 

12.  (zu  Seite  164):  Außer  den  unter  Nr.  i  schon  aufgeführten  Lehrbüchern  seien  noch 
genannt:  OsCAR  Hertwig.  Der  Kampf  um  Kernfragen  der  Entwicklungs- und  Vererbungs- 
lehre. Jena  1909.  H.  Driesch.  Analytische  Theorie  der  organischen  Entwicklung.  Leipzig  1894. 
C.  Rabl.  Über  organbildende  Substanzen  und  ihre  Bedeutung  für  die  Vererbung.  Leipzig  1906. 
Aug.  Weismann.  Das  Keimplasma,  eine  Theorie  der  Vererbung.  Jena  1912.  W.  Roux.  Ge- 
sammelte Abhandlungen  über  Entwicklungsmechanik.  Ferner  sind  folgende  Lehrbücher  der 
experimentellen  Entwicklungslehre  noch  anzuführen: 

Morgan,  Th.  H.     The   developement  of  the  frog's   egg.     An  introduction  to   experiraental 

embryology.    1897. 
Maas,  O.    Einführung  in  die  experimentelle  Entwicklungsgeschichte.    1903. 
Morgan,  Th.  H.    Experimentelle  Zoologie.    Deutsche  Übersetzung  von  Rhumbler.    1909. 
Jenkinson.    Experimental  embryology.    Oxford  1909. 


ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  UND  MORPHOLOGIE 

DER  WIRBELLOSEN. 

Von 
Karl  Heider. 


I.  EINLEITUNG. 

Vor  die  Aufgabe  gestellt,  eine  tierische  Form  wissenschaftlich  zu  beschrei- 
ben, werden  wir  folgende  Punkte  zu  beachten  haben: 
Tektonik  j    Dig   Achsen-    und    Symmetrieverhältnisse  oder  das  rein  Pro- 

der  Tiere.  .  .--.  ,, 

morphologische,  um  mit  Haeckel  zu  sprechen.  Wir  werden  zu  erörtern  haben, 
ob  das  betreffende  Wesen  radiär  oder  bilateralsymmetrisch  gebaut  ist  und 
welche  Hauptrichtungen  durch  besondere  Organbildungen  im  Körper  gekenn- 
zeichnet sind.  Es  wird  sich  hieran  die  Behandlung  der  Frage  schließen,  ob  die 
Wiederholung  gleichartiger  Organe  nur  im  Umkreise  der  Hauptachse,  also  nach 
Antimeren,  oder  auch  in  regelmäßiger  Aufeinanderfolge  nach  der  Länge  der 
Hauptachse,  das  heißt  nach  Metameren,  stattfindet. 

2.  Den  Schichtenbau  des  Körpers.  Im  allgemeinen  kann  man  aus- 
sprechen, daß  die  Haut  die  äußere  Körperschicht,  die  Darmwand  die  innerste 
Körperschicht  der  Tiere  darstellt,  zwischen  welchen  sich  je  nach  Organisations- 
höhe der  betreffenden  Form  noch  mannigfaltige  Zwischenschichten  einschieben. 

3.  Den  Bau  und  die  Anordnung  der  einzelnen  Organe.  Erst 
nach  Feststellung  der  Achsenverhältnisse  und  des  Schichtenbaues  werden  wir 
auf  die  mit  ihrer  Funktion  so  innig  verknüpfte  Gestalt  der  einzelnen  Organe 
resp.  Organsysteme  einzugehen  haben.  Wir  werden  hierbei  vor  allem  das  rela- 
tive Lageverhältnis  der  Organe  zueinander  im  Auge  behalten  müssen. 

4.  Den  histologischen  Aufbau  der  Organe.  Wir  werden  den  einzel- 
nen Geweben,  der  Zusammensetzung  der  Organe  aus  Zellen  und  dem  spezifi- 
schen Charakter  der  Zellen  und  der  Zellprodukte  unsere  Aufmerksamkeit  zu- 
zuwenden haben.  Auch  in  dieser  Beziehung  scheiden  sich  die  großen  Stämme 
des  Tierreichs  vielfach  in  ungemein  charakteristischer  Weise.  Es  sei  daran  er- 
innert, daß  Knorpel-  und  Knochengewebe  fast  ausschließlich  im  Kreise  der 
Vertebraten  zur  Entwicklung  kommt,  daß  nur  bei  diesen  geschichtete  Epithe- 
lien  zu  finden  sind,  daß  in  jenen  Gruppen,  in  denen  stärkere  Cuticularisierung 
der  Körperoberflächen  eintritt,  die  Fähigkeit  Wimperepithelien  zu  entwickeln 
völhg  abhanden  kommt,  wie  bei  den  Nematoden  und  Arthropoden,  daß  Nessel- 
zellen zu  den  charakteristischen  Eigentümlichkeiten  einer  Gruppe  der  Coelente- 
raten  gehören,  während  den  Spongien  Kragenzellen  zukommen  und  Ähnliches. 

Gleichsam  als  hätte  die  Natur  uns  selbst  auf  die  im  vorstehenden  gekenn- 
zeichnete  Reihenfolge  in   der  Erkenntnis  des  morphologischen  Aufbaues  der 


Tektonik  der  Tiere.     Entwicklungsperioden  177 

tierischen  Form  verweisen  wollen,  so  ergibt  sich  in  der  Entwicklung  der  einzel- 
nen Lebensformen  aus  dem  befruchteten  Ei  eine  mit  der  vorstehenden  Auf- 
stellung übereinstimmende  Folge  fortschreitender  Differenzierung.  Schon 
Karl  Ernst  von  Baer  unterschied  in  der  embryonalen  Entwicklung  der  Tiere 
vier  Abschnitte: 

1.  Die   Periode   der   Furchung.    Sie  kann  als  jene  Zeitperiode  in  der   Kntwickiungs- 
Entwicklung  betrachtet  werden,  in  welcher  uns  von  Differenzierungen  eigentlich 

nichts  als  die  primären  Achsen-  und  Symmetrieverhältnisse  der  betreffenden 
Lebensform  entgegentreten.  Schon  das  befruchtete  Ei  (Fig.  l)  ist  stets  ein 
axial  gebauter  Organismus  und  die  primäre  Eiachse  {a — v)  erhält  sich  in  allen 
folgenden  Entwicklungsstufen,  wenngleich  vielfach  später  in  ihren  Beziehungen 
zu  den  einzelnen  Organen  sich  verändernd.  Wenn  durch  aufeinanderfolgende 
Zellteilungen  (Furchung  des  Eies)  ein  anfangs  mehr  homogenes  Material  an  ein- 
zelnen Bausteinen  oder  Lebenselementen  geschaffen  wird  (Fig.  2),  so  zeigt  letzte- 
res die  vom  Ei  überkommene  axiale  Anordnung,  während  frühzeitig  die  Aus- 
bildung von  Nebenachsen,  das  Auftreten  bilateral-symmetrischer  Blastomeren- 
anordnung  usw.  einsetzt. 

2.  Die  Periode  der  Keimblätterbildung.  Sie  ist  der  Anlage  des 
primären  Schichtenbaues  der  betreffenden  Lebensform  gewidmet.  Ist  in  der 
Periode  der  Furchung — wie  erwähnt  — •  nur  ein  mehr  gleichartiges,  bloß  nach 
Achsen-  und  Symmetrieverhältnissen  geordnetes  Zellmaterial  gegeben,  so  kom- 
men jetzt  differente  Körperschichten:  die  Keimblätter  des  Embryos  in  Er- 
scheinung. Da  von  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  einzelner  Organbildungen 
noch  nichts  vorhanden  ist,  so  tritt  uns  in  dieser  Periode  der  Schichtenbau  des 
betreffenden  Wesens  in  vereinfachter  übersichtlicher  Form  entgegen  —  Grund 
genug  für  die  Tatsache,  daß  die  Aufklärung  der  Vorgänge  der  Keimblätter- 
bildung ein  Lieblingsthema  für  die  Untersuchungen  der  Embryologen  gebil- 
det hat. 

3.  Die  Periode  der  Organentwicklung.  In  dieser  werden  aus  den  nun 
angelegten  Körperschichten  die  einzelnen  Organe  hervorgebildet.  Ein  fort- 
schreitender Umwandlungs-  und  Differenzierungsprozeß,  von  einfachsten  An- 
lagen bis  zu  immer  komplizierteren  Bildungen  führend,  bringt  schließlich  die 
definitive  Form  der  einzelnen  Organe  hervor. 

4.  Die  Periode  der  histologischen  Differenzierung.  Verhältnis- 
mäßigspät, erst  dann,  wenn  die  Organe  des  Embryos  sich  anschicken,  zur  selb- 
ständigen Ausübung  ihrer  Funktion  überzugehen,  treten  jene  mannigfaltigen 
Umwandlungen  an  ihren  Zellen  ein,  welche  zu  diesen  Funktionen  in  Beziehung 
stehen.  Nun  erst  werden  Interzellularsubstanzen  gebildet,  Wimpern  entwickelt, 
Muskel- und  Nerveniibrillen  treten  in  Erscheinung,  die  Drüsenzellen  zeigen  Spu- 
ren ihres  charakteristischen  Inhaltes  usw.  Demgegenüber  weisen  die  Zellen  der 
Entwicklungsstufen  der  früheren  Perioden,  wie  man  sich  auszudrücken  pflegt, 
embryonalen  Charakter  auf.  Es  sind  mehr  gleichartige,  der  Differenzierung 
entbehrende  Elemente. 

K.d.G.IU.iv,Bd2  ZeUenlehre  etc.   II  12 


178 


K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


A.  Achsen-  und  Symmetrieverhältnisse. 

Nicht  im  Sinne  geometrisch  streng  festgelegter  Linien  oder  kristallogra- 
phischer  Achsen,  sondern  mehr  zur  Kennzeichnung  bestimmter  den  Körper  durch- 
setzender Richtungen  sprechen  wir  bei  der  Beschreibung  der  uns  hier  interes- 
sierenden Lebensformen  von  Körperachsen.  So  z.  B.  wenn  wir  im  Körper  des 
Menschen  eine  vom  Scheitel  zum  Fußpunkt  ziehende  Hauptachse  von  einer  die 
rechte  und  linke  Körperhälfte  verbindenden  Dextrosinistralachse  und  einer  vom 
Rücken  zur  Bauchseite  ziehenden  Dorsoventralachse  scheiden.  Wir  würden 
CL  besser  von  dextrosinistraler  resp.  von  dorso- 

ventraler  Richtung  sprechen.  Immerhin  hat 
die  Annahme  bestimmter  Achsen,  die  ja  in 
manchen  Fällen  schärfer  als  in  dem  herange- 
zogenen Beispiele  ausgeprägt  erscheinen,  sich 
in  der  Beschreibung  der  Tiere  eingebürgert 
und  mag  sonach  auch  hier  festgehalten  wer- 
den. Wir  unterscheiden  isopole  und  heteropole 
Körperachsen.  Von  isopolen  Achsen  sprechen 
wir  dann,  wenn  die  betreffende  Körperrich- 
tungzwei Organbildungen  gleichartiger  Natur 
miteinander  verbindet,  wie  z.  B.  im  Körper 
des  Menschen  die  beiden  Schultergelenke  und 
die  beiden  Hüftgelenke  durch  eine  in  dextro- 
sinistraler Richtung  verlaufende  Linie  verbun- 
den gedacht  werden  können.  Als  heteropole 
Achsen  werden  solche  bezeichnet,  deren  Enden 
durch  differente  Organbildungen  eingenom- 
men erscheinen.  So  ist  die  dorsoventrale  Rich- 
tung im  Körper  des  Menschen  und  der  Bilaterien  eine  heteropole,  da  sie  Organe 
der  Rücken-  mit  den  davon  verschiedenen  Organen  der  Bauchseite  verbindet. 
Die  Haupt-  oder  Körperlängsachse  der  Tiere  ist  stets  eine  heteropole,  da  sie 
Regionen  differenter  Art,  z.  B.  die  Schnauzenspitze  mit  der  Schwanzspitze  ver- 
bindet. Es  tritt  im  Tierreiche  im  allgemeinen  die  Tendenz  zutage,  mit  fort- 
schreitender Differenzierung  an  Stelle  von  isopolen  heteropole  Körperachsen 
zur  Ausbildung  zu  bringen. 

Wir  unterscheiden  bei  den  Tieren  folgende  durch  ihre  Achsen-  und  Sym- 
metrieverhältnisse gekennzeichnete  Haupttypen  der  Gestaltung: 

I.  Der  monaxone  Typus,  welcher  durch  das  Vorhandensein  einer  ein- 
zigen, heteropol  differenzierten  Achse,  der  primären  Längsachse,  gekennzeich- 
net ist.  Schon  das  befruchtete  Ei  (Fig.  i)  ist  in  den  meisten  Fällen  ein  monaxo- 
nes  Gebilde.  Die  Hauptachse  [a — v),  hier  als  primäre  Eiachse  bezeichnet,  reicht 
vom  animalen  zum  vegetativen  Pole.  Der  animale  Pol  (a)  ist  durch  die 
Lage  der  Richtungskörperchen  [r),  durch  die  genäherte  Lage  des  Zellkerns 
(ersten  Furchungskernes  k)  und  durch  dichtere  Ansammlung  plastischer  proto- 


u 

Fig.  I.  Befruchtete  Eizelle  im  Durchschnitt 
(Schema),  a — v  primäre  Eiachse,  a  animaler 
Pol,  v  vegetativer  Pol,  r  Richtungskörperchen, 
k  erster  Furchungskern,  d  Nahrungsdotter- 
kügelchen. 


Achsen-  und  Symmetrieverhältnisse.     Monaxoner  Typus 


179 


a 


plasmatischer  Substanzen  (Bildungsdotter)  gekennzeichnet,  während  die  dem 
vegetativen  Pole  [v)  genäherte  Eihälfte  durch  reichlicheres  Vorhandensein  von 
Nahrungsdotter  {d)  auffällt.  Wenn  dann  in  der  Periode  der  Furchung  (Fig.  2A) 

durch  fortgesetzte  Zellteilungen  der  Eiin- 
halt  in  eine  größere  Zahl  von  Furchungs- 
kugeln  (Blastomeren)  zerfällt,  erhält  sich 
der  gekennzeichnete  axiale  Bau.  Sowohl 
an  den  Furchungsstadien,  als  auch  an  dem 
darauf  folgenden  Stadium  der  einschich- 
tigen Keimblase  (Blastulastadium  Fig.  2B) 
kennzeichnet  sich  der  animale  Pol  als  jene 
Stelle  des  Keimes,  an  welcher  die  Zellen  die 
geringste  Größe  aufweisen, während  die  Zel- 
len des  vegetativen  Poles  durch  beträcht- 
lichere Größenentwicklung  und  körnchen- 
reicheren Inhalt  auffallen. 

a 


.-^ 


,efi 


-^ad 


Fig.  2.  A  Späteres  Furchungsstadium,  B  Bla- 
stulastadium im  Durchschnitt  (Schema). 
a — V  primäre  Eiachse,  a  animaler  Pol,  durch  die 
Richtungskörperchen  gekennzeichnet,  v  vege- 
tativer Pol,  f  Furchungshöhle  (Blastocoel), 
auch  als  primäre  Leibeshöhle  bezeichnet. 


F  i  g.  3.  Einstülpungs-Gastrula  im  Durchschnitt  (Schema).  Man 
vergleiche  das  vorhergehende  Stadium  Fig.  2  B.  Durch  Ein- 
stülpung der  Zellen  der  vegetativen  Hälfte  ist  der  Urdarm  [ud) 
entwickelt  worden,  a — a  primäre  Eiachse,  ec  Ectoderm  oder 
äußeres  Keimblatt,  en  Entoderm  oder  inneres  Keimblatt, 
/"primäre  Leibeshöhle,  aus  der  Furchungshöhle  hervorgegangen, 
tid  Urdarmhöhle,  bp  Urmund  oder  Blastoporus. 


Wenn  sodann  die  Periode  der  Keimblätterbildung  einsetzt,  indem  die  Zel- 
len des  vegetativen  Poles  durch  einen  Einstülpungsvorgang  in  das  Innere  ver- 
lagert werden  (Fig.  3),  wodurch  das  erste  primäre  Organ  des  Keimes,  der  Ur- 
darm (wi),  zur  Entwicklung  gelangt  (Gastrulastadium),  so  bleibt  auch  hier  noch 
vielfach  der  ursprüngliche  monaxone  Bau  des  Keimes  erhalten.  Die  primäre 
Körperachse  {a — a)  zieht  in  diesem  Falle  vom  Scheitel  der  Gastrula  zu  dem 
gegenüberliegenden  Urmund  (Blastoporus  hp). 


12' 


i8o 


K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


2.  Der  radiär-symmetrische  Typus  geht  aus  dem  monaxonen  Bau 
dadurch  hervor,  daß  im  Umkreise  der  Hauptachse  bestimmte  unter  sich  gleich- 
artige Organe  in  mehrfacher  Zahl  zur  Entwicklung  kommen.  Sie  kennzeichnen 
uns  dann  die  sogenannten  Nebenachsen.  Wir  sprechen  in  diesem  Falle  von  so 
vielen  Radien,  als  derartige  ausgezeichnete  Organe  zu  beobachten  sind.  So 
würde  in  dem  Falle  des  von  uns  gewählten  Beispieles  (Stauridium  cladonema 
[Fig.  4],  ein  Hydroidpolyp)  durch  das  Auftreten  von  vier  Tentakeln  eine  vier- 


-/• 


Fig.  4.  A  Seitenansicht  eines  Hydroidpolypen  mit  vierstrahlig  radiär- 
symmetrischem  Bau,  Stauridium  cladonema.  B  Schema  eines  Quer- 
schnittes in  der  Höhe  des  vorderen  Tentakelkranzes ;  ein  Antimer 
durch  Schraffierung  gekennzeichnet,  a — a  Hauptachse,  r — r,  r — r  die 
Nebenachsen  resp.  die  vier  Radien,  i^i,  r"— zdie  Interradien,  m  Mund. 


strahlige  Radiärsymmetrie  begründet  sein.  Wir  können  dies  Wesen  durch  zwei 
den  Radien  entsprechende  Schnittebenen  (r — r  inFig.4B)  in  vier  gleiche  Viertel 
zerlegen.  Aber  auch  durch  zwei,  gegen  die  genannten  um  45°  verschobene 
interradial  gelagerte  Ebenen  (f — i)  wird  eine  solche  Teilung  in  vier  gleiche  Viertel 
bewerkstelligt  werden  können.  Derartige  Teilstücke  bezeichnen  wir  sodann  als 
Gegenstücke  oder  Antimeren. 

3.  Der  disymmetrische  Typus  findet  sich  selten  z.  B.  in  der  merk- 
würdigen Gruppe  der  Rippenquallen  oder  Ctenophoren  (Fig.  5).  Er  kann 
gewissermaßen  als  Vorstufe  des  Bilateraltypus  betrachtet  werden  und  läßt  sich 
von  dem  vierstrahligen  Radiärtypus  ableiten  unter  der  Annahme,  daß  von 
den  vier  Radien  je  zwei  [h,  h  und  c,  c  in  Fig.  5B)  unter  sich  gleich,  aber  von 
den  benachbarten  different  entwickelt  wurden.  Wir  haben  sonach  hier  zwei 
isopole  differente  Nebenachsen. 


Radiärtypus,  disymmetrischer,  Bilateral-  und  asymmetrischer  Typus 


l8l 


4.  Der  Bilateraltypus,  welcher  dem  Bau  der  meisten  Tiere,  an  denen 
wir  ein  Vorn  und  Hinten,  ein  Rechts  und  Links,  eine  Rücken-  und  eine  Bauch- 
seite unterscheiden  können,  zugrunde  liegt.  Der  Bau  einer  Eidechse  kann  uns 
hier  als  Typus  dienen.  Diehete- 
ropole  Körperlängsachse  oder 
Hauptachse  verbindet  die 
Schnauzenspitze  mit  der 
Schwanzspitze.  Von  den  beiden 
in  jedem  beliebigen  Quer- 
schnitte zu  konstruierenden  Ne- 
benachsen ist  die  vom  Rücken 
zum  Bauch  ziehende  heteropol, 
während  die  von  rechts  nach 
links  laufende  isopol  ist.  Ein 
anderes  Beispiel  bilateralsym- 
metrischen Körperbaues  stellt 
ein  vielen  Wurm-  und  Mollus- 
kenformen zukommendes  Ju- 
gendstadium, die  sog.  Trocho- 
phora  (Fig.  6)  dar.  Der  birnför- 
mige  Körperumriß  erinnert  an 
die  Ctenophoren  (Fig.  5  A).  Wie 
dort  so  ist  auch  hier  der  eine  Pol 
der  Hauptachse  {a — a')  durch 
ein  eigenartiges  Sinnesorgan 
(die  sog.  Scheitelplatte  sp)  ein- 
genommen, während  wir  am 
Gegenpol  den  After  {an)  vorfin- 
den. Zwei  Wimperkränze  {pt 
und  mt)  umziehen  den  Äquator 
des  Körpers.  Die  Bauchseite  [v] 
ist  durch  die  Lage  der  Mundöff- 
nung (w)  und  durch  eine  vom 
postoralen  Wimperreifen  gegen 
den  After  sich  erstreckende 
Wimperfurche  {nt)  markiert. 

Das  Hauptkennzeichen  die- 
ses Bauplanes  ist  darin  gegeben, 
daß  der  Körper  durch  eine  einzige  Ebene  (Fig.  6C,  d — v),  welche  durch  die  Lage 
der  Hauptachse  und  der  Dorsoventralachse  bestimmt  ist,  in  zwei  spiegelbildlich 
gleiche  Hälften  zerlegt  werden  kann.  Darin  ist  es  auch  begründet,  daß  an  jedem 
Querschnitte  gleichartige  Organbildungen  nur  in  der  Zweizahl  auftreten  können. 

5.  Der   asymmetrische   Typus.    Er  geht  aus  dem  Bilateraltypus  da- 
durch hervor,  daß  die  rechte  und  linke  Körperhälfte  sich  in  differenter  Weise 


'I? 


Fig.  5.     Schematische  Darstellung    des    Baues    einer    Rippenqualle 
zur   Verdeutlichung   des    disymmetrischen  Typus.       A   Seitenansicht, 
ß  Ansicht  vom  Scheitelpole.      a — a  Hauptachse,   i — d,   c — c  Neben- 
achsen, m  Mund,  j  Sinneskörper,  t  Fangfaden  oder  Tentakel. 


l82 


K.  Heider  :    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


entwickeln.  Derartige  Fälle  von  asymmetrischer  Körperentwicklung  sind  be- 
sonders im  Kreise  der  Mollusken  (bei  den  Schnecken)  verbreitet.  In  diesem 
Falle  sind  dann  drei  aufeinander  senkrecht  stehende,  heteropol  entwickelte 
Körperachsen  oder  Richtungen  zur  Ausbildung  gekommen. 


nv 


^7//0' 


\a/2. 


(t 


Fig.  6.  Schematisclie  Darstellung  der  freischwimmen- 
den Larvenform  eines  marinen  Ringelwurras,  sog.Trocho- 
phora  (im  Anschlüsse  an  Hatschek).  Zur  Erörterung  des 
bilateral-symmetrischen  Bauplanes.  A  Ansicht  von  der 
linken  Körperseite,  B  Ansicht  von  der  Ventralseite, 
C  Ansicht  vom  Scheitelpole.  In  A  und  C  schimmert  von 
den  inneren  Organen  der  Darm  durch.  In  A  und  B 
bezeichnet  die  Linie  a — a  die  Hauptachse  oder  die 
spätere  Längsachse  des  Körpers,  a  kennzeichnet  das 
spätere  Vorderende,  a'  das  spätere  Hinterende  des 
Wurmes.  In  C  entspricht  die  Linie  d — v  der  vom  Rücken 
zur  Bauchseite  ziehenden  Nebenachse  (Dorsoventral- 
achse),  die  Linie  r — /  der  von  der  rechten  zur  linken 
Körperseite  ziehenden  Nebenachse  (Dextrosinistral- 
achse).  a — a'  Hauptachse,  an  After,  d  dorsal,  /  links, 
■m  IMund,  7>is  Mitteldarm  oder  Mesenteron,  7nt  posto- 
ralerWimperkranz  oderMetatroch,  «2*  ventrale  Flimmer- 
rinne oder  Neurotrochoid,  pr  Hinterdarm  oder  Procto- 
daeum,  pi  praeoraler  Wimperkranz  oder  Prototroch, 
>■  rechts,  sp  apicales  Sinnesorgan,  sog.  Scheitelplatte, 
st  Vorderdarm  oder  Stomodaeum,  v  ventral. 


B.  Antimeren  und  Metameren. 

Schnittebenen,  welche  durch  den  Körper  eines  Tieres  derartig  gelegt  wer- 
den, daß  die  Längsachse  in  sie  fällt  und  daß  der  Körper  durch  dieselben  in 
gleiche  oder  spiegelbildlich  gleiche  Teile  zerlegt  wird,  teilen  den  Körper  in 
Gegenstücke  oder  Antimeren.  Wir  haben  schon  oben  (S.  l8o)  davon  ge- 
sprochen.   Bei  bilateral-symmetrischen  Tieren  sind  nur  zwei  spiegelbildlich 


Antimeren  und  Metameren 


183 


gleiche  Antimeren  vorhanden:  die  rechte  und  linke  Körperhälfte.  Die  Ebene 
(Fig.  6C,  d — v),  welche  hier  die  beiden  Antimeren  voneinander  trennt,  wird 
als  Medianebene  bezeichnet.  Sie  ist  für  die  Auffassung  des  Körperbaues  der 
Bilaterien  von  besonderer  Wichtigkeit.  In  sie  müssen  alle  jene  Organe  fallen, 
welche  nur  in  der  Einzahl  vorhanden  sind,  z.  B.  bei  Vertebratenembryonen: 
der  Darm,  die  Chorda  und  das  Medullarrohr.  Dagegen  müssen  bei  streng  durch- 
geführter bilateraler  Symmetrie  alle  Organe, 
welche  nicht  in  die  Medianebene  fallen,  doppelt 
vorhanden  sein. 

Der  Körpereines radiärsymmetrischen  Tieres 
zerfällt  durch  Teilung  in  der  Richtung  der  Inter- 
radien  [i,  i  in  Fig.  4B)  in  so  viele  Antimeren  als 
Radien  zu  unterscheiden  sind,  und  zwar  sind  die 
Antimeren  in  diesem  Falle  gleich  und  kongruent. 
Dagegen  kann  hier  jedes  einzelne  Antimer  durch 
eine  radiär  geführte  Schnittebene  in  zwei  spiegel- 
bildlich gleiche  Hälften  geteilt  werden. 

Die  Antimeren  bezeichnen  uns  also  jene  seit- 
lichen Körperabschnitte,  welche  durch  gleich- 
artige Organbildungen  gekennzeichnet  sind. 
Dagegen  finden  wir  bei  vielen  Tieren  eine  Wieder- 
holung gleichartiger  Organbildungen  in  hinter- 
einander gelegenen  Körperabschnitten  (Fig.  7), 
und  diese  werden  dann  als  Folgestücke  oder  Me- 
tameren bezeichnet.  So  zeigt  uns  z.  B.  ein  Tau- 
sendfuß zahlreiche  hintereinander  folgende  Bein- 
paare. In  den  meisten  Fällen  sind  die  einzelnen 
Metameren  durch  Ringfurchen  voneinander  ge- 
trennt. Wir  sprechen  daher  von  metamerer  Seg- 
mentierung und  bezeichnen  die  hintereinander 
folgenden,  durch  gleichartige  Organentwicklung 
gekennzeichneten  Körperabschnitte  als  Seg- 
mente. So  beruht  z.  B.  jene  Ringelung,  welche  der 
Körper  des  Regenwurmes  und  vieler  anderer 
Tiere  auf  den  ersten  Blick  erkennen  läßt,  auf  metamerer  Segmentierung. 

Die  Entwicklungsgeschichte  lehrt,  daß  metamere  Entwicklung  des  Körpers 
zuerst  in  den  Bildungen  des  mittleren  Keimblattes  (des  Mesoderms)  zum  Aus- 
druck kommt.  Da  das  mittlere  Keimblatt  innige  Beziehungen  zur  Entwicklung 
der  Geschlechtsorgane  der  Bilaterien  erkennen  läßt,  so  wäre  man  wohl  ver- 
sucht, in  einer  regelmäßigen  Aufeinanderfolge  multipel  ausgebildeter  Ge- 
schlechtsdrüsen (Gonaden)  den  ersten  Urquell  für  die  Entstehung  meta- 
merer Segmentierung  zu  erblicken.  Besonders  sind  es  die  Verhältnisse  bei  den 
metamer  gegliederten  Bandwürmern,  welche  nach  dieser  Richtung  suggestiv 
wirken. 


Fig.  7.  Vorderes  Körperende  eines  ma- 
rinen Ringelwurms,  Eunice  limosa  (nach 
Ehlbrs)  als  Beispiel  für  metamere  Seg- 
mentierung des  Körpers.  Der  Rumpf- 
abschnitt des  Tieres  zerfäUt  in  hinter- 
einander folgende  Ringel  oder  Segmente, 
welche  gleichartig  oder  ähnlich  gebaut  sind. 


i84  K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Sind  alle  Körpersegmente  eines  metamer  gegliederten  Tieres  unter  sich 
bleich  oder  doch  nahezu  gleich,  so  sprechen  wir  von  homonomer  Segmentierung. 
Aber  das  in  der  Natur  so  unendlich  wirksame  Gesetz  fortschreitender  Differen- 
zierung führt  in  vielen  Fällen  dazu,  daß  gewisse  Segmentgruppen  zu  höheren 
Einheiten  zusammengefaßt  und  von  den  übrigen  Regionen  des  Körpers  dif- 
ferent  werden.  Wir  sprechen  im  Falle  derartiger  Regionenbildung  an  metamer 
gegliederten  Tieren  von  heteronomer  Segmentierung.  So  besteht  der  Körper 
eines  Insekts  aus  drei  Abschnitten:  Kopf,  Brust  und  Hinterleib,  von  denen  jeder 
aus  einer  bestimmten  Zahl  von  Körpersegmenten  zusammengesetzt  ist.  Die 
einzelnen  Segmente  dieser  drei  Regionen,  durch  die  Beschaffenheit  ihrer  An- 
hänge sowie  durch  sonstige  Merkmale  des  Baues  deutlich  voneinander  ver- 
schieden, erscheinen  bei  ihrem  ersten  Auftreten  im  Insektenembryo  viel  gleich- 
artiger entwickelt. 

C.  Protozoen  und  Metazoen. 

Die  erste  oberste  Einteilung  des  Tierreiches  führt  zur  Scheidung  zweier 
großer  Stämme,  die  wir  mit  Haeckel  als  Protozoen  und  Metazoen  bezeichnen. 
Wir  rechnen  zu  den  Protozoen  alle  jene  niedersten,  meist  einzelligen  Organis- 
men, welche  sich  nach  der  Art  ihrer  Ernährung  und  Fortbewegung  als  nähere 
Verwandte  der  tierischen  Reihe  kennzeichnen.  Freilich  sind  hier  die  Grenzen 
gegenüber  niedersten  pflanzlichen  Formen  vielfach  kaum  zu  finden.  Den  Pro- 
tozoen werden  als  Metazoen  alle  jene  Tiere  gegenübergestellt,  deren  Körper  aus 
zahlreichen  Zellen  zusammengesetzt,  eine  Individuahtät  höherer  Ordnung, 
eine  aus  einer  Zellkolonie  hervorgegangene  Lebenseinheit  darstellt.  Indem  diese 
den  Körper  der  Metazoen  zusammensetzenden  Einzelelemente  sich  verschiedenen 
Aufgaben  widmen,  kommt  es  zur  Sonderung  differenter  Gewebe,  daher  man  die 
Metazoen  auch  als  ,, Gewebetiere"  bezeichnet  hat.  Es  gehört  zu  den  Eigentüm- 
hchkeiten  der  Metazoen,  daß  die  ersten  zur  Anlage  kommenden  Gewebsformen 
des  Körpers  schichtweise  entwickelt  werden.  Diese  Schichten  werden  als 
,,  Keimblätter"  bezeichnet,  wonach  für  die  Metazoen  auch  der  Ausdruck,,  Keim- 
blattiere"  geprägt  wurde.  Wir  können  sagen,  daß  der  Aufbau  aller  Metazoen 
sich  in  letzter  Linie  auf  das  Gastrulastadium  (Fig.  3,  S.  179)  zurückführen  läßt. 

Es  hat  nicht  an  Versuchen  gefehlt,  die  Kluft  zwischen  Protozoen  und  Meta- 
zoen zu  überbrücken.  Man  hat  gewisse,  einfach  organisierte  Lebensformen  in 
eine  zwischen  diesen  stehende,  vermittelnde  Gruppe  der  Mesozoen  vereinigt. 
Es  handelt  sich  hier  um  Wesen  etwas  zweifelhafter  Art.  Während  es  in  gewissen 
Fällen  parasitäre  Formen  sind  und  der  Gedanke  naheliegt,  daß  ihre  Organisation 
infolge  des  Schmarotzertums  eine  sekundäre  Vereinfachung  erfahren  hat, 
möchten  wir  es  in  anderen  Fällen  nur  mit  Jugendzuständen  zu  tun  haben, 
deren  Entwicklungzyklus  bisher  ungenügend  erkannt  ist.  Im  allgemeinen  weist 
uns  die  Ontogenie  der  Metazoen  den  Weg,  auf  dem  die  Kluft  zwischen  Proto- 
zoen und  Metazoen  zu  überbrücken  ist.  Sie  lehrt  uns,  wie  der  Metazoenor- 
ganismus,  von  einem  einzelligen  Ausgangspunkte  (der  Eizelle)  ausgehend,  durch 
mannigfaltige  mit  Zellteilungen  verbundene  Umwandlungen  zu  immer  kom- 
plizierteren Organisationsstufen  emporsteigt. 


Protozoen  und  Metazoen.     Systematische  Übersicht  185 

D.  Übersicht  des  zoologischen  Systems. 

Zur  Orientierung  der  Leser  und  um  für  das  Folgende  ein  übersichtliches 
Schema  des  Aufbaues  des  Tierreiches  nach  seinen  über-  und  untergeordneten 
Gruppen  vorauszuschicken,  bringen  wir  hier  eine  Zusammenstellung  des  in 
diesen  Blättern  zur  Anwendung  kommenden  Systems.  Es  handelt  sich  uns 
hierbei  mehr  um  eine  Gruppierung  zum  Zwecke,  dem  Leser  das  Verständnis  zu 
erleichtern,  als  um  eine  Aufstellung  von  streng  wissenschaftlichem  Charakter. 
Daher  haben  auch  einzelne  Gruppen,  wie  die  nur  als  populärer  Sammelbegriff 
zu  betrachtende  der  ,, Würmer  oder  Vermes"  hier  Aufnahme  gefunden. 

Regnum  animale.    Tierreich. 

Subregnum  Divisio  Subdivisio  Typus 

Unterreich  Abteilung  Unterabteilung  Tierkreis 

I.  Protozoa  I.  Protozoa 

Urtiere 
II.  Metazoa  A.  Cocleritej-ata  II.  Spongiaria  Schvvammtiere 

Keimblattiere  Pflanzentiere  III.  Cnidaria  Nesseltiere 

IV.  Ctenophora  Rippenquallen 
B.  Bilatei'ia  a)  Protostomia  V.  Vermes  Würmer.     Hierher  die 

Scolecida  und  Annelida 
VI.  Arthropoda  Gliederfüßler.  Hier- 
her    die     Crustacea,    Arachno- 
morpha  und  Antennata 
VII.  Mollusca  Weichtiere 
VIII.  Tentaculata  Kranzfühler.    Hier- 
her die  Bryozoen  und  Brachio- 
poden 
b)  Deuterostomia    IX.  Chaetognatha   Borstenkiefer. 

Hierher  Sagitta 
X.  Enteropneusta  Schlundatmer 
XI.  Echinodermata  Stachelhäuter 
XII.  Chordonia    Chordatiere.      Hier- 
her die  Tunicata  (Manteltiere), 
Acrania     (Kopflose)     und     die 
Vertebrata  (Wirbeltiere) 

Es  ist  hier  nur  die  Gliederung  der  Gruppen  des  Tierreiches  bis  herab  zu 
den  Typen  (Tierkreisen)  gegeben  worden.  Wie  sich  die  Typen  weiter  in  Klassen 
und  Ordnungen  auflösen,  soll  gelegentlich  an  verschiedenen  Stellen  des  Textes 
angedeutet  werden.  Im  übrigen  sei  auf  die  Aufstellung  von  C.  Grobben  in 
Claus- Grobben,  Lehrbuch  der  Zoologie,  2.  Auflage,  Marburg  1909,  S.  21,  ver- 
wiesen, der  wir  hier  im  wesentlichen  nachgefolgt  sind. 

Wir  haben  im  vorhergehenden  als  Beispiele  einige  Grundformen  morpho- 
logischer Gestaltung  herangezogen,  die  uns  weiterhin  noch  mehrfach  beschäf- 
tigen werden.  Es  sind  dies  die  Formen  der  Gastrula  (Fig.  3),  der  Ctenophore 
(Fig.  5)  und  der  Trochophora  (Fig.  6).  Wir  werden  sehen,  daß  viele  Formen  der 
tierischen  Organisation  sich  in  letzter  Linie  auf  diese  Urtypen  zurückführen 
lassen. 


l86  K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

II.  COELENTERATA.    PFLANZENTIERE. 

Die  niedersten  Formen  der  Metazoen  stehen  ihrem  Baue  nach  dem  oben 
gekennzeichneten  Gastrulastadium  noch  ziemlich  nahe  und  lassen  sich  unschwer 
auf  diese  Grundform  zurückführen.  Immerhin  begegnen  wir  schon  hier  einer 
verwirrenden  Mannigfaltigkeit  von  Gestalten.  Es  handelt  sich  zum  Teil  um 
massige  am  Grunde  des  Meeres  festgewachsene  Gebilde,  wie  bei  den  Schwäm- 
men, zum  Teil  um  blumenähnliche  Wesen,  wie  bei  den  Seeanemonen,  um  baum- 
förmig  verästelte  Formen,  anscheinend  mit  Blütenköpfchen,  wie  sie  uns  in  der 
Gruppe  der  Korallen  entgegentreten,  oder  um  jene  wundervollen  Glasglocken 
des  Meeres,  die  man  als  Quallen  bezeichnet.  So  abweichend  von  allen  anderen 
tierischen  Gebilden  erschienen  den  ersten  Untersuchern  diese  merkwürdigen 
Wesen,  daß  sie  sie  als  Zoophyten  dem  Pflanzenreiche  zu  nähern  suchten. 
Finne,  im  Ausdrucke  stets  geistreich  und  von  treffender  Kürze,  nennt  sie: 
,,Plantae  vegetantes,  floribus  animatis."  Bei  näherer  Betrachtung  erweisen 
sie  sich  als  echte  Tiere,  Darmwesen,  welche  ihre  Beute  mit  Fangfäden  erhaschen, 
mit  dem  Munde  verschlingen  und  in  ihrem  Magen  verdauen.  Einigen  dieser 
Formen  kommen  komplizierte  Sinnesapparate  und  ein  wohlentwickeltes  Nerven- 
system zu. 

Es  wird  sich  für  uns  darum  handeln,  die  ganze  Mannigfaltigkeit  jener 
Formen,  die  wir  als  Coelenteraten  zusammenfassen,  in  Gruppen  zu  ordnen,  für 
jeden  einzelnen  dieser  so  gewonnenen  Typen  das  Grundschema  des  Baues  zu 
erläutern  und  auf  Grund  ihrer  Entwicklungsweise  die  Zurückführung  auf  die 
einfache  Form  des  Gastrulastadiums  zu  versuchen. 

Halten  wir  zunächst  drei  Grundtypen  der  Coelenteraten  auseinander: 
I.  den  Schwammtypus  (Typus  der  Spongien  oder  Poriferen),  2.  den  Nesseltier- 
typus (Typus  der  Cnidarien)  und  3.  den  Kammquallentypus  (Typus  der  Cteno- 
phoren).  Erst  wenn  wir  uns  mit  diesen  drei  Typen  vertraut  gemacht  haben, 
werden  wir  uns  in  die  Lage  versetzt  sehen,  das  ihnen  Gemeinsame  ins  Auge  zu 

fassen. 

A.  Spongien  oder  Poriferen,  Schwämme. 

Die  Schwämme  sind  vorwiegend  Bewohner  des  Meeresgrundes.  Eine  ein- 
heitHche  Grundform  ist  an  ihnen  kaum  festzustellen.  Als  klumpige,  massige, 
unregelmäßige  Gebilde  erscheinen  sie  auf  Steinen  festgewachsen,  manche 
nehmen  verästelte  Gestalt  an,  andere  überziehen  die  Felsen  des  Meeresgrundes 
als  unregelmäßig  geformte  Krusten.  Von  Bewegung  ist  an  ihnen  kaum  etwas 
zu  bemerken.  Doch  finden  wir  ihre  Oberfläche  von  feinen  Lücken  (Poren) 
durchsetzt,  welche  sich  manchmal,  dank  der  Wirksamkeit  kontraktiler  Zellen, 
öffnen  und  schließen.  Eine  Strömung  des  Wassers,  durch  Geißelzellen  des 
inneren  Kanalsystems  verursacht,  fließt  durch  diese  Poren  (Fig.  8  po)  ein  und 
verläßt  den  Schwamm  durch  eine  größere  After-  oder  Kloakenöffnung  (Fig.  8 
os),  die  man  unpassenderweise  als  Osculum  bezeichnet.  Mit  dieser  Wasser- 
strömung werden  kleinste  Nahrungspartikelchen  herbeigeführt.  Der  Schwamm 
erscheint  als  eine  Einrichtung  zur  Filtration  des  Seewassers. 


Bau  der  Spongien 


187 


Um  den  Grundbauplan  dieser  lethargischen  Wesen  zu  erkennen,  müssen 
wir  uns  an  die  kleineren  und  gracilen  Formen  halten,  die  wir  in  der  Gruppe  der 
Kalkschwämme  vorfinden.  Es  sind  dies  Formen,  die  sich  ein  Skelett  aus  zier- 
lichen Kalknadeln  bauen,  ein  Lieblingsobjekt  morphologischer  Forschung  seit 
den  Zeiten,  da  die  jugendfrische  Begeisterung  Haeckels  sich  ihrem  Studium 
zuwandte. 

Ein  Entwicklungsstadium  aus 
dem  Kreise  dieser  Formen,  ein 
Miniaturschwämmchen  einfach- 
ster Art,  wird  als  Olynthus  bezeich- 
net (Fig.  8).  Es  stellt  sich  uns  als 
ein  zylinderförmig  gestaltetes  oder 
mörserförmiges  (schlauchartiges) 
Hohlwesen  dar.  Die  Hauptachse 
des  Körpers  ist  leicht  festzustellen. 
Mit  dem  einen  Pole  derselben  ist 
das  Tier  an  einer  festen  Unterlage 
angewachsen,  während  wir  an  dem 
gegenüberliegenden  Pole  eine  grö- 
ßere Öffnung,  das  schon  erwähnte 
Osculum,  die  Ausströmungs-  oder 
Afteröffnung  (Fig.  8  os)  erkennen. 
Das  Innere  nimmt  ein  einheitlicher 
Hohlraum,  die  Magen-  oder  Ga- 
stralhöhle,  ein,  welcher,  durch  zahl- 
reiche in  der  Leibeswandung  be- 
findliche Foren{po)  gewissermaßen 
sekundär  entstandene  vervielfäl- 

F  i  g.  8.  Olynthus-Stadium  von  Sycon  raphanus.  Nach  F.  E.  Schulze. 
tlgte  Mundöffnungen    darstellend,      ^/  oberflächUches  Plattenepithel,  wj- MesenchymzeUen, /<?  Wand- 

D,-,  r--iii  TTt7  1  poren,  os  Osculum. 

etritus-erfulltes      Wasser       des 

Meeres  zugeführt  wird.  Die  äußere  Oberfläche  des  Körpers  ist  von  einem  zarten 
Plattenepithel  (Fig.  9  ep,  Fig.  10  ek)  bedeckt,  die  Innenwand  der  Gastralhöhle 
dagegen  erscheint  mit  einem  hohen  Zyhnderepithel  {en)  bekleidet,  welches  wir 
nach  dem  eigentümlichen  Charakter  seiner  Zellen  als  Kragengeißelzellen-Epithel 
bezeichnen.  Diese  Kragenzellenschicht  enthält  die  eigentlichen  fressenden  und 
verdauenden  Elemente  des  ganzen  Wesens.  Die  Verdauung  vollzieht  sich  näm- 
lich hier  nicht  im  Inneren  des  Gastralraumes  unter  dem  Einflüsse  fermen- 
tierender Sekrete.  Es  ist  noch  die  ursprüngliche,  von  den  Protozoen  überkom- 
mene Form  der  intrazellulären  Verdauung  vorhanden. 

Die  Kragenzellen  (Fig.  9  en,  Fig.  10  en)  haben  im  allgemeinen  zylindrische 
Gestalt.  Uns  interessiert  an  ihnen  vor  allem  ihr  freies,  gegen  den  Gastralraum 
gerichtetes  Ende.  Wir  finden  hier  die  beweghche  Geißel,  durch  deren  Schwin- 
gungen Nahrungspartikelchen  herbeigestrudelt  werden,  und  ferner  einen  die 
Stelle  des  Geißelursprungs  umziehenden  feinen  Plasmasaum,  den  sog.  Kragen, 


Bau 
der  Spongien. 


i88 


K.  Heider  :    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


welcher,  manschettenförmig  gestaltet,  vielleicht  einen  Fangtrichter  für  die  Auf- 
nahme feinster  Nahrungspartikelchen  darstellt.    Erst  im  Zellplasma  vollzieht 

sich  der  Akt  der  Ver- 


dauung, deren  Pro- 
dukte sodann  an  die 
übrigen  Zellen  des 
Körpers  weitergege- 
""  ^  ben  werden. 

Zwischen  diesen 
beiden  Epithelschich- 
ten, der  zarten  äuße- 
ren und  der  Kragen- 
zellenschicht, findet 
sich  eine  dritte  Kör- 
perschicht eingescho- 
~~po     ben,  welche  dem 


Tn^s 


"j/e 


Schwämmchen  Sub- 
stanz und  Festigkeit 
verleiht.  Es  handelt 
sich  um  ein  mesenchy- 
matisches  Gewebe 
(Fig.  9  ms,  Fig.  10  w), 
ein  Bindegewebe  von 

Fig.  Q.    Querschnitt  durch  ein  olynthus-ähnliches  Entwicklungsstadium  eines  Kalk-     Cfa.HgrtartiS'er  oder 

scbwammes.     Nach   O.  MAAS,      en   innere   Kragenzellenschicht,    ep    oberflächliches  .  ^  . 

Plattenepithel,    7ns   Mesenchymzellen,   po  zuführende  Wandporen,    sk  Kalknadeln.     knorpCllgCr  KonSl- 

stenz,  welches  stern- 
förmig verästelte  Bin- 
degewebszellen in 
einer  festen  Grund- 
masse, der  Interzel- 
lularsubstanz, zer- 
streut erkennen  läßt. 
Allerdings  finden  sich 
zwischen  diesen  Zellen 
verschiedene  andere, 
besonderen  Charak- 
ters. Manche  geben  als 
Kalkbildner   (Calyco- 

Fig.  10.    Körperschichten  einer  Spongie  (Sycon  raphanus).    Nach  F.E.Schulze  aus  blaStCU^      den     zicrlich 
H.vrscHEKS  Lehrbuch,    ek  äußeres  Platten  epithel,  eii  Schicht  der  Kragengeißelzellen, 

m  Mesenchymzellen    der   mittleren   Körperschicht,    o  junge  Eizellen,   sk  Teil  einer  gestalteten         Kalkna- 

dreistrahligen  Kalknadel.  ,    ,        ,        t  t 

dein  den  Ursprung,  an- 
dere werden  zu  jugendlichen  Eizellen  (Fig.  lo  o)  oder,  wenn  ein  männliches 
Schwämmchen  vorliegt,  zu  Samenmutterzellen.  Doch  tritt  die  Entwicklung 
reifer  Geschlechtszellen  —  welche  hier,  noch  nicht  zu  Gonaden  vereinigt,  sich 


en 


o  - 


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-771 


Bau  und  Entwicklung  der  Spongien  189 

im  Mesenchym  zerstreut  vorfinden  —  meist  erst  später  ein.  Was  wir  als  Olynthus 
bezeichnen,  ist  vielfach  nur  ein  vorübergehendes  Entwicklungsstadium  der  Kalk- 
schwämme, die  erst  in  späteren  Entwicklungsstufen  geschlechtsreif  werden. 

Der  Vergleich  der  Olynthusiorm  mit  der  Entwicklungsstufe  der  Gastrula 
(Fig.  3)  scheint  für  den  ersten  Blick  keine  großen  Schwierigkeiten  darzubieten. 
Wir  setzen  voraus,  daß  die  Hauptachse  des  Olynthus  der  Primärachse  der  Gastrula 
gleichzusetzen  ist.  Ferner  dürfen  wir,  so  scheint  es,  den  inneren  Hohlraum  des 
Olynthus  unbedenklich  dem  Gastralraum  oder  der  Urdarmhöhle  der  Gastrula 
vergleichen.  In  diesem  Falle  wird  man  das  Kragenepithel  als  innere  Körper- 
schicht dem  Entoderm  der  Gastrula  homologisieren  können.  Der  Unterschied, 
der  darin  gegeben  ist,  daß  die  Leibeswand  der  Gastrula  aus  zwei  Zellschichten, 
die  des  Olynthus  aber  aus  drei  Schichten  (äußeres  Plattenepithel,  Mesenchym 
und  Kragenzellenschicht)  besteht,  fällt  nicht  allzusehr  ins  Gewicht;  denn  die 
Entwicklungsgeschichte  lehrt,  daß  die  beiden  äußeren  Zellenschichten  (Platten- 
epithel und  Mesenchym)  eigentlich  nur  als  differente  Erscheinungsformen  einer 
einzigen  Körperschicht,  des  ursprünglichen  Ektoderms,  zu  betrachten  sind. 
Dann  besteht  aber  die  Leibeswand  des  Olynthus  wie  die  der  Gastrula  nur  aus 
zwei  Körperschichten,  die  wir  hier  wie  dort  als  Ektoderm  und  Entoderm  zu 
bezeichnen  berechtigt  sind. 

Die  Poren  in  der  Leibeswand  des  Olynthus  sind  sekundär  entstandene 
Durchbrechungen.  Ebenso  ist  das  Osculum  eine  Neubildung,  welche  im  Ga- 
strulastadium  noch  nicht  vorhanden  ist.  Der  Blastoporus  oder  Urmund  des 
Gastrulastadiums  hat  sich  —  wie  das  so  vielfach  vorkommt  —  verschlossen. 
Er  lag  an  jenem  Ende  der  Hauptachse,  welche  jetzt  dem  Olynthus  als  Fest- 
setzungspunkt dient. 

Die  hier  —  etwas  dogmatisch  —  vorgetragene  Zurückf ührung  des  Olynthus 
auf  die  Ausgangsform  der  Gastrula  wird  durch  die  Entwicklungsgeschichte 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  bestätigt. 

Werfen  wir  zu  diesem  Zweck  einen  Blick  auf  die  ersten  Entwicklungszu-  Entwicklung 
stände  der  Kalkschwämme,  indem  wir  uns  an  Sycandra  raphanus  halten,  dessen 
Embryologie,  hauptsächlich  durch  F.  E.  Schulze  aufgeklärt,  als  Schulbeispiel 
der  Spongienentwicklung  betrachtet  werden  kann.  Die  ersten  Vorgänge  der 
Embryonalentwicklung  werden  —  wie  erwähnt  —  im  mütterlichen  Körper 
durchlaufen.  Die  Vorgänge  der  Eifurchung  (Fig.  Il)  sind  ziemlich  reguläre. 
Jedenfalls  ist  die  Furchung  eine  totale  und  anfangs  auch  nahezu  äquale.  Die 
befruchtete  Eizelle  teilt  sich  in  2,  dann  in  4,  später  in  8  usw.  Zellen.  Im  acht- 
zelligen  Stadium  (Fig.  1 1  C)  hat  der  Embryo  vorübergehend  eine  flache  Kuchen- 
form; doch  entwickelt  sich  in  späteren  Stadien  eine  kugelförmig  gestaltete 
Blastula,  an  der  bereits  frühzeitig  einzelne  größere,  körnchenreiche  Zellen  ins 
Auge  fallen  (Fig.  II  E).  Diese  körnchenreichen  Zellen,  welche  sich  bald  an  Zahl 
vermehren  (Fig.  1 1  F)  und  den  einen  Pol  des  kugeligen  Embryos  einnehmen, 
erinnern  in  auffallender  Weise  an  die  dotterhaltigen  Makromeren,  an  jene 
größeren  Furchungskugeln,  welche  bei  den  Vorgängen  totaler  inäqualer  Fur- 
chung den  vegetativen  Pol  des  Embryos  einnehmen.    Wir  würden  sonach  geneigt 


der  Spongien. 


igo 


K.  Heider  :    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


sein,  aus  ihnen  das  spätere  Entoderm  des  Olynthus  hervorgehen  zu  lassen. 
Indessen  ergibt  die  Verfolgung  der  weiteren  Entwicklungsvorgänge,  daß  ihr 
späteres  Schicksal  dieser  Vermutung  nicht  entspricht.  Zwar  werden  sie  zunächst, 
was  wieder  zu  obiger  Annahme  zu  stimmen  scheint,  ins  Innere  des  Embryos 
eingestülpt  (Fig.  12),  und  es  entwickelt  sich  eine  zweischichtige  Form,  welche 
einer  wahren  Gastrula  nicht  unähnlich  ist.  Aber  dieses  erste  Einstülpungs- 
stadium, das  man  seit  langem  als  Pseudogastrula  bezeichnet  und  das  dem  Aus- 


A 


B 


C 


D 


F 


schwärmen  der  jungen  Larven 
vorhergeht,  ist  vorübergehen- 
der Natur.  Möglicherweise  han- 
delt es  sich  hier  nur  um  einen 
passageren  Anpassungstypus 
an  den  Mechanismus  des  Aus- 
schwärmens.  Die  Einstülpung 
wird  wieder  rückgängig  ge- 
macht, und  die  jungen  Larven 
schlüpfen  in  einem  Zustande 
aus,  den  man  als  ein  einiger- 
maßen modifiziertes  Blastula- 
stadium,  als  Amphiblastula, 
zu  betrachten  berechtigt  ist. 
Der  Embryo  gev/innt  nun  in 
einem  Teile  seiner  Oberfläche 
bewegliche  Geißeln,  er  durch- 
bricht die  Körperwand  der  Mut- 
ter, gerät  in  deren  Gastralraum 
und  durch  das  Osculum  nach 
außen. 

Diese  freibeweglichen,  mit- 
telst ihrer  Geißelanhänge  um- 
herschwimmenden Amphiblas- 
tulae  (Fig.  13A)  zeigen  im  In- 
neren eine  wenig  umfangreiche 
Furchungshöhle  (Blastocoel). 
DieLeibeswandbesteht  aus  einer  einheitlichen  Zellschicht,  an  der  wir  nach  dem 
Charakter  der  sie  zusammensetzenden  Zellen  zwei  Abschnitte  unterscheiden. 
Der  beim  Schwimmen  nach  vorn  gerichtete  Körperabschnitt  besteht  nun  aus 
hohen,  prismatischen,  mit  Geißeln  versehenen  Zellen,  welche  in  ihrem  Aussehen 
den  echten  Kragenzellen  immer  ähnlicher  werden.  In  der  Tat  geht  aus  dieser  Kör- 
perhälfte die  spätere  Kragenzellenschicht,  das  Entoderm  des  Olynthus,  hervor. 
Der  hintere  Körperabschnitt  besteht  aus  den  großen  körnchenreichen  Zellen.  Sie 
liefern  das  spätere  ektodermale  Flattenepithel  und  das  Mesenchym  des  Olynthus. 
Das  Umherschwärmen  der  jungen  Larven  dauert  nicht  lange.  Sie  suchen 
einen  Fixpunkt,  an  den  sie  sich  anheften  können,  und  zwar  heften  sie  sich  mit 


Fig.  II.  Furchung  von  Sycon  raphanus.  Nach  F.  E.  Schulze. 
A  zweizeiliges  Stadium,  B  vierzelliges  Stadium  (Polansicht),  C  acht- 
zelliges  Stadium  (Polansicht),  D  sechzehnzelliges  Stadium  (Seiten- 
ansicht), E  späteres  Furchungsstadium  (Ansicht  vom  animalen  Pole), 
F  Blastulastadium  (Seitenansicht). 


Entwicklung"  der  Spongien 


191 


dem  beim  Schwimmen  nach  vorn  gerichteten  Pole  an.  In  dem  Momente,  in 
welchem  sie  sich  festsetzen,  ändern  sie  ihre  Gestalt.  Die  aus  prismatischen 
Geißelzellen  bestehende  Körperhälfte  flacht  sich  ab  und  senkt  sich  allmählich  Metamorph 
ins  Innere  des  Körpers  ein.  Die  Larve  gewinnt  so  zunächst  mützenförmige  Ge- 
stalt. Da  aber  der  Einstülpungsvorgang,  durch  welchen  die  Geißelzellen  ins 
Innere  gelangen,  immer  weiter  fortschreitet,  so  wird  schließlich  eine  zentrale, 

ov 


ose 
der  Spongien. 


z-^n 


Fig.  12.  Pseudogastrula  von  Sycon  raphanus  im  Gewebe  des 
mütterlichen  Körpers.  Nach  F.  E.  Schulze,  ep  oberflächliches 
Plattenepithel,  en  KragenzeUenschicht  des  mütterlichen  Körpers, 
ms  Mesenchymzellen,  ov  junge  Eizelle,  ec'  Ektodermschicht, 
en'  Entodermschicht  des  Embryos. 


Fig.  13.    A  Amphiblastula,  B  Gastrulastadium 

von    Sycon    raphanus.       Nach    F.  E.  Schulze 

aus  Hatscheks  Lehrbuch.     Beide  Stadien  im 

Medianschnitt. 


durch  Einstülpung  entstandene  Höhle  (die  Gastralhöhle)  gebildet,  welche  durch 
die  Einstülpungsöffnung  (den  Urmund  oder  Blastoporus)  mit  dem  umgebenden 
Medium  kommuniziert.  Inzwischen  hat  sich  die  Schicht  der  großen  körnchen- 
reichen Zellen  an  der  Oberfläche  des  nun  halbkugeligen  Stadiums  (Fig.  13  B) 
ausgebreitet.  Sie  sondern  sich  bald  in  oberflächhche  Plattenepithelzellen  und 
tieferhegende  Mesenchymzellen,  in  welchen  frühzeitig  Kalknadeln  zur  Aus- 
bildung kommen.  Dieses  Stadium  repräsentiert  nach  unserer  Auffassung  das 
echte  Gastrulastadium  der  Kalkschwämme.  Es  setzt  sich  derart  fest,  daß  es 
mit  dem  Urmund  an  der  Unterlage  haftet. 

Die   weiteren  Umbildungen,    welche   zum    Olynthus   hinüberleiten,    sind 
leicht  zu  verstehen.    Es  schließt  sich  zunächst  der  Urmund,  der  Körper  streckt 


ig; 


K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Bau  der 

ausgebildeten 

Spongien. 


sich  mörserförmig  in  der  Richtung  der  Hauptachse.  Es  kommt  an  dem  dem 
Anheftungspunkte  gegenüberliegenden  Pole  das  Osculum  zum  Durchbruch, 
während  die  zuführenden  Poren  als  Durchbrechungen  der  Wand  erscheinen. 

Zusammenfassend  können  wir  sagen :  der  Olynthus  entwickelt  sich  aus  einer 
Gastrula,  welche  sich  mit  dem  Urmundpole  festgeheftet  hat.  Das  Osculum  ist 
eine  Neubildung,  welche  der  Lage  nach  dem  animalen  Pole  der  Hauptachse 
entspricht. 

Nur  kurz  sei  hier  angedeutet,  wie  sich  der  Bau  der  höher  entwickelten 


A 


Fig.  14.  Scheraatische  Durchschnitte  durch  drei  Typen  der  Kalkschwärame.  Nach  Hakckel  aus  Hatscheks  Lehr 
buch.  Die  gestrichelte  Schicht  deutet  das  Krageaepithel  an.  Das  innere  Hohlraurasystem  ist  schwarz  gehalten, 
die  Pfeile  zeigen  die  Richtung  des  Wasserstromes  an.  .-i  Ascontypus  (Olynthus).  Der  innere  Hohlraum  ganz  von 
Geißelzellen  ausgekleidet.  ß  Sycontypus.  Die  GeißelzeUen  haben  sich  auf  die  Radiärtuben  Ji  zurückgezogen. 
C  Leucontypus.     Geißclzellen  finden  sich  nur  in  den  Wimperkaminern,  nfi  abführende,  :  "  zuführende  Kanäle. 


Spongien  von  olynthus-ähnlichen  Ausgangsformen  herleiten  läßt.  Es  handelt 
sich  eigentlich  um  eine  fortgesetzte  Faltenbildung  der  Körperwand,  welche  gleich- 
zeitig an  Dicke  immer  mehr  zunimmt.  In  einer  Gruppe  der  Kalkschwämme, 
welche  man  als  Syconen  bezeichnet,  bildet  die  Auskleidung  der  Gastral- 
höhle  zipfelartig  nach  außen  vordringende  Ausbuchtungen  [R  in  Fig.  14 B), 
welche  nun  die  Funktion  der  Nahrungsaufnahme  übernehmen.  Sie  sind  mit 
Kragenzellen  ausgekleidet,  während  der  zentrale  Sammelraum  nun  mit  einem 
Plattenepithel  austapeziert  ist.  Diesen  Ausbuchtungen  der  Gastralhöhle  (den 
sog.  Radiärtuben)  entsprechen  äußere  Einbuchtungen  der  oberflächlichen 
Körperschicht,  welche  wir  als  zuführende  Kanäle  bezeichnen.  Das  Nahrungs- 
wasser strömt  bei  diesen  Formen  zunächst  in  die  zuführenden  Kanäle,  ge- 
langt durch  die  Poren  der  Körperwand  in  die  Radiärtuben,  von  hier  in  den 
zentralen  Hohlraum  und  durch  das  Osculum  wieder  nach  außen. 


Kompliziertere  Schwämme.     Nesseltiere  im  Allgememen  103 

Die  meisten  Schwämme  weisen  einen  noch  komplizierteren  Bau  auf.  So 
erscheint  z.  B.  in  der  Gruppe  der  Leuconen  (Fig.  14 C)  die  Körperwand  beträcht- 
lich verdickt.  Die  Funktion  der  Nahrungsaufnahme  wurde  in  kleine  kugel- 
förmige Hohlräume  konzentriert,  während  ein  kompliziertes  System  zufüh- 
render und  abführender  Kanäle  die  Wege  andeutet,  auf  denen  das  Wasser 
dem  zentralen,  durch  das  Osculum  geöffneten  Sammelraume  zugeführt  wird. 
Mag  der  Schwamm  später  unregelmäßige  Formen  welcher  Art  immer  annehmen, 
mag  der  zentrale  Sammelraum  durch  ein  System  irregulärer  Lacunen  ersetzt 
sein  —  das  alles  sind  Abänderungen  des  Bauplanes,  welche  sich  ohne  Schwierig- 
keit von  dem  hier  entwickelten  Grundschema  herleiten  lassen.  Weitaus  die 
meisten  Schwämme  weisen  ihrem  Baue  nach  einen  mehr  oder  weniger  abge- 
änderten Leueontypus  auf. 

Im  wesentlichen  hat  sich  der  eigentliche  Schichtenbau  des  Olynthus 
nicht  geändert.  Es  ist  nur  durch  Einbuchtungen  der  äußeren  Körperober- 
fläche und  durch  Ausbuchtungen  des  inneren  Hohlraumes  ein  komplizierteres 
Kanalsystem  zur  Entwicklung  gekommen. 

B.  Cnidarien,  Nesseltiere. 

Die  Nesseltiere  verdanken  ihren  Namen  dem  Besitz  jener  mikroskopischen 
Giftapparate,  welche  sich  in  ihrem  Ektoderm  vorfinden  und  welche  bisweilen 
selbst  auf  der  menschlichen  Haut  die  Empfindung  des  Brennens  verursachen. 
Der  feinere  Bau  dieser  komplizierten  Gebilde,  welche  in  besonderen  Nessel- 
zellen erzeugt  werden,  soll  uns  hier  nicht  beschäftigen. 

Auf  zwei  verschiedene  Formen  oder  Grundgestalten  läßt  sich  die  unend- 
liche Mannigfaltigkeit  der  Cnidarien  zurückführen:  Polyp  und  Meduse.  Die 
erstere,  festsitzend,  mehr  vegetativen  Charakters  wird  als  die  ursprünglichere 
Form  betrachtet,  während  wir  in  den  Medusen  oder  Quallen  höher  organisierte, 
zu  freiem  Umherschwimmen  befähigte  und  demgemäß  auch  mit  Sinnesapparaten 
und  Nervensystem  in  hervorragendem  Maße  ausgerüstete  abgeleitete  Formen 
erblicken.  Die  Meduse  ist  ein  von  der  Unterlage  losgelöster,  freischwimmender 
Polyp. 

Sowohl  Polypen  als  Medusen  treten  uns  in  verschiedenen  Typen  entgegen.  Bau  der 
Wir  wählen  als  Ausgangspunkt  unserer  Betrachtungen  ein  möglichst  einfaches  Hydroidpoiypen. 
Paradigma,  wie  es  uns  in  dem  seit  Trembleys  berühmten  Untersuchungen  so 
vielfach  studierten  Süßwasserpolypen  Hydra  (Fig.  15  und  Fig.  16)  entgegentritt. 
Der  Körper  dieses  zierlichen,  wenige  Millimeter  messenden,  an  Wurzeln  von 
Lemnaceen  und  an  anderen  Wasserpflanzen  festsitzenden  Tierchens  ist  ge- 
streckt schlauchförmig.  Den  Spongien  gegenüber  fällt  uns  seine  beträchtliche 
Beweglichkeit  auf.  Das  Tierchen  kann  sich  strecken  und  zusammenziehen,  sich 
krümmen,  ja  es  kann  auch  den  Festsetzungspunkt  verlassen  und  wandern, 
was  freilich  nicht  allzuoft  vorkommt.  Dem  Baue  nach  kann  Hydra  als  eine 
wenig  modifizierte  Gastrula  betrachtet  werden.  Die  Körperlängsachse  fällt 
mit  der  Hauptachse  der  Gastrula  zusammen.  Der  Anheftungspol  entspricht 
hier  —  entgegen  dem,  was  wir  für  die  Spongien  feststellten  —  dem  apikalen 

K.  d.  G. in. IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  1 3 


194 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


oder  animalen  Pole  des  Gastrulastadiums.  Der  Mund  der  Hydra,  der  sich  an 
dem  freien,  dem  Anheftungspole  gegenüberliegenden  Körperende  vorfindet, 
entspricht  der  Lage  nach  dem  Urmunde  der  Gastrula;  wenngleich  er  —  wie  wir 
sehen  werden  —  nicht  direkt  aus  diesem  hervorgeht,  sondern  nach  vorüber- 
gehendem Verschluß  des  Blastoporus  durch  einen  an  derselben  Stelle  sich  aus- 
bildenden Durchbruch  neu  entsteht.  Das  Innere  des  schlauchförmigen  Körpers 
ist  von  einem  einzigen  Hohlraum,  der  Magen-  oder  Gastralhöhle,  eingenommen. 
In  diesem  wird  die  aufgenommene  Nahrung  hier  schon  zum  Teil  durch  Ein- 


Fig.  15.     .4   Hydra    grisea    in    Knospung    auf   dem    optischen    Längs- 
schnitt,  ß  erste  Anlage   einer  Knospe.     Nach  R.  Hertwig.     e«  Ento- 
derm,    e/i   Ektoderm,    j   Stützlamelle,    /'   Tentakeln    des    Muttertieres, 
i"  Tentakeln  der  Knospe,  m  Magen,  o  Mundöffnung. 


Fig.  16.  Hydra  viridis.  Nach  R. Hertwig. 

Oben  mit  einem  Kranz  von  Hoden,  tiefer 

mit  einer  Ovarialanschwellung  und  einem 

austretenden  Ei. 


Wirkung  von  enzymhaltigen  Sekreten  verdaut  (sekretive  Verdauung),  während 
die  für  die  Spongien  erwähnte  Form  der  intrazellulären  Verdauung  noch  neben- 
bei besteht. 

Die  Leibeswand  setzt  sich  aus  zwei  Zellschichten  zusammen,  von  denen 
wir,  wie  bei  der  Gastrula,  die  äußere  als  Ektoderm  (oder  primäre  Hautschicht, 
Fig.  15  ek),  die  innere  als  Entoderm  (oder  primäre  Darmwand,  Fig.  15  en)  be- 
zeichnen. Zwischen  beiden  Zellschichten  ist  eine  festere  homogene  Schicht  (5) 
zur  Ausbildung  gekommen,  in  welcher  wir  keinerlei  Zellen  vorfinden,  die  sog. 
Stützlamelle.  Diese  Abscheidung  erfüllt  einen  engen  Spaltraum,  der  sich,  wie 
aus  einer  Betrachtung  der  Entstehung  des  Gastrulastadiums  hervorgeht,  in 
letzter  Linie  auf  die  Furchungshöhle  (primäre  Leibeshöhle)  zurückführen  läßt. 

Wenn  sich  nach  dem  Gesagten  Hydra  als  eine  festsitzende,  mit  dem  apikalen 
Pole  festgeheftete  Gastrula  betrachten  läßt,  so  tritt  uns  doch  an  ihr  eine  Bil- 
dung entgegen,  die  der  Gastrula  fehlt.  Das  ist  der  Besitz  beweglicher  Fang- 
fäden oder  Tentakeln,  welche  in  wechselnder  Zahl  den  Mund  des  Tierchens 
umstellen.    Sie  können  als  einfache  Auswüchse  oder  Ausstülpungen  der  Leibes- 


Bau  der  Hydroidpolypen 


195 


7Z- 


wand  betrachtet  werden  und  sind  demnach  nichts  anderes  als  hohle,  blind 
endigende  Schläuche,  deren  Wand  aus  denselben  Schichten  besteht,  wie  die 
Leibeswand  überhaupt,  nämlich:  Ektoderm,  Stützlamelle  und  Entoderm.  Es  er- 
streckt sich  sonach  in  jeden  Tentakel  ein  mit  dem  Magen  zusammenhängender 
zentraler  Kanal  hinein,  welcher  der  Ernährung  des  Fangfadens  dient.  Eine 
derartige  Einrichtung,  gewissermaßen  ein  System  von  Nährsaftgefäßen  dar- 
stellend, welche  mit  dem  zentralen  Magenraum  kommunizieren,  wird  als 
Gastrovascular System  bezeichnet.  Es  ist  dies  ein  funktioneller  Vorläufer  des 
Blutgefäßsystems,  obgleich  von  anderer  Provenienz  und  anderer  Bedeutung. 
Die  in  ihm  zirkulierende  Flüssig-  €ni  -^         <?2 

keit  ist  nicht  Blut,  sondern  Ma- 
gensaft. 

Hydra  kann  sich  durch 
Knospung  fortpflanzen  (Fig.  15). 
Ein  kleiner  seitlicher  Körperaus- 
wuchs (Fig.  15  B)  wächst  zu  einer 
jugendlichen  Hydra  heran,  ge- 
winntTentakel  und  Mundöffnung 
und  löst  sich  von  dem  Muttertiere 
los,  um  ein  selbständiges  Leben 
zu  führen.  Neben  dieser  Fort- 
pflanzungsweise findet  sich  bei 
Hydra  auch  die  allen  Metazoen 
zukommende  Form  der  ge- 
schlechtlichen Zeugung,  und  da 
Hydra  ein  hermaphroditisches  Wesen  ist,  so  werden  Eier  und  Spermatozoen 
in  der  äußeren  Körperschicht,  dem  Ektoderm,  eines  und  desselben  Individuums 
entwickelt,  und  zwar  an  bestimmten  Stellen  (Fig.  16).  Es  treten  in  der  vorderen 
Körperpartie  Hautwucherungen  auf,  die  als  Hoden  zu  betrachten  sind,  während 
weiter  hinten  Ovarien  zur  Ausbildung  kommen.  Wenn  bei  den  Spongien  die 
Geschlechtsprodukte  im  Mesenchym  zerstreut  sich  vorfanden,  so  ist  es  hier  zur 
Differenzierung  bestimmter  Gonaden  gekommen. 

Überhaupt  muß  auf  den  hohen  Grad  histologischer  Differenzierung  der  Histologie. 
Körperschichten  der  Hydra  hingewiesen  werden.  Wir  wollen  nur  die  äußere 
Haut  oder  das  Ektoderm  in  Betracht  ziehen  (Fig.  17).  Die  Zellen  dieses  Epithels 
erzeugen  an  ihrem  der  Stützlamelle  anliegenden,  inneren  Ende  eine  Schicht 
feiner,  kontraktiler  Fasern,  die  wir  als  Muskelfibrillen  (w)  bezeichnen  und  deren 
Zusammenziehungen  die  Bewegungen  des  Körpers  hervorrufen.  Ausgelöst 
wird  die  Kontraktion  der  Muskelfibrillen  durch  besondere,  in  dem  ektodermalen 
Epithel  zerstreut  sich  vorfindende,  der  Reizaufnahme  und  Reizleitung  dienende 
Elemente.  Wir  finden  zwischen  den  gewöhnlichen  Epithelzellen  der  Haut  be- 
sondere Sinneszellen  {sz)  und  Ganglienzellen  (g),  welche  mit  feinsten  Nerven- 
fädchen  [n)  an  die  Muskelfibrillen  herantreten.  Die  Haut  der  Hydra  enthält 
sonach  gleichzeitig  einen  Teil  der  Körpermuskulatur  und  des  Nervensystems 

13* 


77t 

Fig.  17.  Schematische  Darstellung  der  Elemente  des  epithelialen 
Nervensystems  eines  Cnidariers.  eni  Epithelmuskelzellen,  von 
denen  nur  eine  vollständig  ausgezeichnet  ist.  Sie  besitzen  an 
ihrer  Basis  eine  Muskelfibrille  ni,  g  Ganglienzellen,  n  Nerven- 
fibrillen, sz  SinneszeUe,  x  Stelle  der  Innervation  der  Muskelfibrille. 


196 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


und  zwar  über  die  ganze  Oberfläche  verbreitet.  Wir  können  hier  von  einem 
diffusen,  epithelialen  Nervensystem  sprechen.  Daneben  finden  sich  in  dem 
ektodermalen  Epithel  der  Hydra  noch  Zellen  anderer  Bedeutung,  so  die  schon 
erwähnten  Nesselzellen,  ferner  Drüsenzellen  und  andere.  Daß  in  ihm  die  Ge- 
schlechtszellen gebildet  werden,  haben  wir  bereits  erwähnt. 

Eine  ganze  Reihe  von  polypenähnlichen  Wesen  des  Meeres  schließt  sich 

B 


Fig.  18.     Bildung  des  inneren   Keimblattes  bei  einem  Hydroideu.     Aequorea  nach  Claus  aus  Hatscheks  Lehrbuch. 


^^G' 


Fig.  19.     Entodermbildung  eines  Hydroiden.     Gonothyraea  loveni  nach  Wulfert.      A  Blastula  im  Durchschnitt    mit 
einwandernden  EntodermzcUen  en.     B  ein  späteres  Stadium,     ec  Ektoderm,  en  Entodermzellen. 

im  Bau  nahe  an  Hydra  an.  Es  ist  die  Gruppe  der  Hydra-Verwandten  oder 
Hydroiden.  Sie  bilden  durch  fortgesetzte  Knospung  baumförmig  verästelte 
Stöckchen,  welche  mit  wurzelartigen  Ausläufern  verankert  wie  Moos  die  Felsen 
des  Meeresgrundes  überziehen.  An  diesen  ungemein  zierlichen  Bäumchen  sitzen 
dann  die  Einzelindividuen  wie  Blüten  an  einem  Zweige. 
Entwicklung  der  Dlc  Entwickluug   der  Hydroidpolypen    aus    dem   befruchteten  Ei   weist 

Hydroiden.  g^^^j^  gewlssc  Eigentümlichkeiten  auf.  Zwar  ist  die  Furchung  von  dem  Schema 
einer  gewöhnlichen  regulären  totalen  und  nahezu  äqualen  Furchung  meist 
nicht  sehr  abweichend.  Auch  wird  in  der  Regel  eine  rundliche  oder  ovale, 
häufig  schon  mit  Geißeln  versehene  und  frei  umherschwimmende  Coeloblastula, 
eine  hohle  Keimblase  (Fig.  18A)  gebildet.  Die  Besonderheiten  setzen  erst  bei 
der  Bildung  des  inneren  Keimblattes  oder  Entoderms  ein.    Während  bei  vielen 


Entwicklung  der  Hydroidpolypen 


197 


Tieren  das  Gastrulastadium  durch  einen  Einstülpungsvorgang  erreicht  wird, 
indem  die  hintere  Hälfte  der  Zellschicht  des  Blastulastadiums  sich  gegen  die 
vordere  einbuchtet,  finden  wir  hier  einen  anderen  Entwicklungsmodus.  Bei 
manchen  Formen  wandern  einzelne  Zellen  des  vegetativen  Keimpoles  (Fig.  18) 
in  das  Blastocoel  ein,  und  dieses  Einwandern  wird  bald  so  massenhaft,  daß 
schließlich  das  ganze  Innere  des  Keimes  mit  Zellen,  die  wir  nun  als  Entoderm- 
zellen  bezeichnen,  erfüllt 
ist  (polare  Einwande- 
rung oder  Typus  der  hy- 
potropen  Einwande- 
rung). In  vielen  ande- 
ren Fällen  vollzieht  sich 
diese  Einwanderung 
nicht  von  dem  vegeta- 
tiven Pole  des  Keimes 
aus,  sondern  es  treten 
regellos  bald  da  bald 
dort  Zellen  der  Keim- 
blasenwand in  die  Fur- 
chungshöhle  (Fig.  19), 
um  sie  schließhch  zu  er- 
füllen (Typus  der  multi- 
polaren Einwanderung). 
Das  Resultat  ist  in  bei- 
den Fällen  das  gleiche. 
Wir  kommen  zu  einem 
Stadium,  welches  nun 
schon  meist  ziemlich 
langgestreckt  ist  und  an 
der   Oberfläche    überall 

-17/^n  pinpm  npif^plpnithpl  Fi&- 20.  Drei  Stadien  in  der  Entwicklung  eines  Hydroidpolypen.  Gonothyraea 
VUXl  ClllClll  vjciJJCicpiLUCi     j^^^^j  ^^^jj  WuLFERT.   A  Planula,  B  nach  erfolgter  Festsetzung,  Cjunger  Polyp. 

(Ektoderm)  bedeckt  ist, 

während  das  Innere  von  einer  soliden  Zellmasse  (Entoderm)  erfüllt  ist.  Dieses  für 
die  Hydroiden  ungemein  charakteristische  Stadium  hat  man  nach  dem  Vorgange 
Dalyells  als  Planula  bezeichnet  (Fig.  l8D).  Erst  später  kommt  im  Inneren  der 
entodermalen  Zellenmasse  durch  Auseinanderweichen  der  Zellen  ein  Hohlraum, 
die  Anlage  der  Magenhöhle,  zustande  (Fig.  20  A),  welche  entsprechend  dem  vege- 
tativen Pole  der  Larve  durchbricht  und  so  die  Mundöffnung  entwickelt.  Die  Pla- 
nula schwimmt  oder  kriecht  mittels  Geißelbewegung  umher.  Schließlich  heftet 
sie  sich  mit  jenem  Körperende,  welches  der  Mundöffnung  gegenüberliegt,  an 
und  wächst  zu  einem  jungen  Hydroidpolypen  aus  (Fig.  20  B  und  C),  indem  sie 
eine  verbreiterte  Anheftungsscheibe  oder  Wurzelausläufer  (Stolonen)  entwickelt 
und  in  der  Umgebung  des  Mundes  Tentakel  zur  Ausbildung  bringt.  Schließlich 
wächst  der  so  entstandene  Primärpolyp  weiter  empor  und  schreitet  bald  zur 


iqS 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


PriaEip  des 
Polymorphismus, 


Bildung  der 
Medusen. 


Entwicklung  von  Knospen,  welche  zu  neuen  Individuen  heranwachsen.  Da 
diese  mit  dem  verschmälerten  Stiele  (dem  sog.  Hydrocaulus)  des  Primärpo- 
lypen verbunden  bleiben,  so  kommt  es  auf  diese  Weise  zur  Bildung  eines  baum- 
förmig  verästelten  Stöckchens,  dessen  einzelne  Zweige  an  ihren  Enden  die  nun 
als  Hydranten  zu  bezeichnenden  Individuen  tragen. 

Was  an  diesen  kolonialen  Verbänden  unser  Interesse  in  besonderem  Maße 
fesselt,  ist  der  Umstand,  daß  die  einzelnen  Individuen  nach  dem  bekannten 
Grundsatze  der  Teilung  der  Arbeit  sich  vielfach  verschiedenen  Aufgaben  und 

Leistungen  im  Dienste  der  Gesamtheit 
zuwenden  und  dementsprechend  in  ihrer 
Körpergestalt,  in  der  Art  ihrer  zweck- 
entsprechenden Ausrüstung  verändert 
werden.  Das  Prinzip  des  Polymorphis- 
mus der  Individuen,  seit  Leuckarts  licht- 
vollen Auseinandersetzungen  (1851), 
einer  der  leitenden  Gesichtspunkte  mor- 
phologischer Forschung,  führt  hier  häu- 
fig zu  einerMannigf  altigkeit  verschieden 
gestalteter,  miteinander  verwachsen 
bleibender  Einzelwesen.  Wir  begegnen 
bei  manchen  der  hierher  zu  zählenden 
\q  Formen,  so  an  dem  bekannten  Beispiele 
von  Podocoryne  (Fig.  21),  neben  ge- 
wöhnlichen Ernährungspolypen  etwas 
anders  gestalteten  Individuen,  welche 
dazu  bestimmt  sind,  Geschlechtstiere  zu 
erzeugen,  ferner  mund-  und  tentakel- 
losen sog.  Spiralzooiden  (5),  dann  stachelartig  verfestigten  Wehrpolypen  {sk)  usw. 
Am  weitesten  gedeiht  die  Vielgestaltigkeit  der  einzelnen  Komponenten  dieser 
Lebensgemeinsamkeit  bei  gewissen  freischwimmenden  Kolonien,  die  man  auch 
der  Gruppe  der  Hydroiden  zurechnet:  den  Siphonophoren  oder  ^öhren(\\idi\\en. 
Der  gemeinsame  Stamm  erscheint  hier  an  ein  hydrostatischen  Zwecken  dienen- 
des Individuum,  die  sog.  Luftkammer,  befestigt.  Es  finden  sich  sodann  glocken- 
förmige Einzelwesen,  durch  Pulsationen  der  Gesamtheit  eine  gewisse  Bewegung 
erteilend; ferner  begegnen  wir:  Freßpolypen,  Fangfäden,  Tastern,  schildförmi- 
gen Deckstücken,  Geschlechtsindividuen  usw.  Der  wundersame  Bau  dieser,  wie 
aus  durchsichtigem  Kristall  gebildeten  und  vielfach  in  den  leuchtendsten  Farben 
erstrahlenden  Kompositionen  mariner  Lebenstätigkeit  hat  in  gleichem  Maße  die 
Aufmerksamkeit  der  Forscher  wie  freudige  Empfindungen  ästhetisch  fühlender 
Naturfreunde  erregt. 

Als  ein  besonderer  Fall  von  Polymorphismus  ist  die  bei  den  Hydroiden 
hervortretende  besondere  Ausbildungsweise  der  Geschlechtsindividuen  zu  be- 
trachten. Während  die  durch  Knospung  sich  vermehrenden  Hydranthen  (im 
Gegensatze  zu  Hydra)  zu  geschlechthcher  Vermehrung  nicht  befähigt  erschei- 


Fig.  21.  Podocoryne,  eine  Hydroidenkolonie.  Nach 
Grobben.  AI  Medusenknospen  an  proliferierenden  Po- 
lypen,/*  Polypen,  S  sog.  Spiralzooide,  Sk  Skelettpolypoid. 
Die  ganze  Kolonie  basalwärts  durch  ein  Wurzelgeflecht 
(Coenosark)  verbunden. 


Polymorphismus  der  Individuen 


199 


»}9 


nen,    produzieren    sie    durch    Knospungsvorgänge    glockenförmige,    meist    zu 
freier,  schwimmender  Bewegung  befähigte  Individuen  (Fig.  22),  deren  Aufgabe 
es  ist,  Eier  oder  im  Falle  des  männlichen  Geschlechts  Spermatozoen  zu  erzeugen 
und  durch  ihr  Umhertreiben 
in  den  von  Strömungen  be- 
wegten   Oberflächenschich- 
ten des  Meeres  die  Verbrei- 
tung der  Art  über  ein  größe- 
res Territorium  zu  besorgen. 
Dem  gleichen  Zweck  dient 
ja  auch  schon  die  freie  Be- 
weglichkeit der  als  Planulae 
bezeichneten   und  oben  ge- 
kennzeichneten  Jugendfor- 
men der  Cnidarien.  Auf  die- 
ser besonderen  Ausbildung 
bestimmter,  den  geschlecht- 
lichen Zeugungsfunktionen 
sich  widmender  Individuen 
beruht  der  für  dieHydroiden 
bezeichnende     Unterschied 
zwischen  Polyp  und  Meduse, 
sowie  die  Erscheinung  des 
Generationswechsels,     wel- 
che durch  das  alternierende, 
vielfach  nach   Jahreszeiten 
wechselnde  Auftreten  dieser 
beiden    verschiedenen    Ge- 
stalten bedingt  ist. 

Es  kann  unsere  Aufgabe 
nur  sein,  nach  einer  gedräng- 
ten Darstellung  des  Baues 
der  Hydroidmeduse  anzu- 
deuten, wie  sich  diese  Form 
auf  den  einfacheren  Bau  des 
Polypen  zurückführen  läßt. 
Es  handelt  sich  im  wesent- 
lichen um  eine  Verkürzung 
derHauptachse  unter  gleich- 
zeitiger glockenförmiger 
Verbreiterung  der  Ansatzstelle  des  schon  den  Polypen  zukommenden  Tentakel- 
kranzes. Wenn  bei  den  Hydroidpolypen  vielfach  durch  die  Zahl  und  Stellung 
der  Tentakel  eine  radiärsymmetrische  Anordnung  der  die  Hauptachse  seitlich 
umgebenden  Organbildungen  gekennzeichnet  ist,  so  tritt  an  der  Form  der  Meduse 


Fig.  22 


A  Eucopium,   eine  Hydroidmeduse.     Nach  Haeckel.     B  Sche- 
raatischer  Durclischnitt  dieser  Form.      ^  Geschlechtsorgane  =  Gonaden, 
g-/  Schirmgallerte,   m  Mund,    m^  Magen,   r  Radiärgefäß,   rg-  Ringgefäß, 
s^  Statocysten  oder  sog.  Randbläschen,  ^  Randtentakel,  v  Velum. 


2  00  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

die  Erscheinung  dieser  Radiärsymmetrie  noch  deuthcher  zutage.   Meist  sind  es 
vier,  in  manchen  Fällen  sechs  durch  besondere  Organbildungen  gekennzeich- 
nete Hauptradien. 
Bau  Der  Körper  der  Hydroidmedusen  (Fig.  22),  welche  man  wegen  des  Besitzes 

"^^me^ufen"^  cincs  kontraktilen  Hautsaumes  auch  als  Saumquallen  oder  craspedote  Medusen 
zu  bezeichnen  pflegt,  zeigt  als  wichtigsten  Teil  eine  durchsichtige,  gallertartige 
oder  knorpelige  Glocke,  gemeiniglich  als  Schirm  {gl)  bezeichnet.  Diese  Glocken 
sind  im  Jugendzustande  mit  dem  Scheitel  an  dem  Mutterpolypen  festgewachsen. 
Im  Inneren  finden  wir  die  Glockenhöhle,  in  welche  an  der  Stelle,  wo  wir  den 
Klöppel  der  Glocke  vermuten  würden,  ein  mit  Mundöffnung  versehener  Magen- 
schlauch  [mg)   herabhängt.     An  dem   Glockenrande  findet  sich  irisartig  ein 


t 


Fig.  23.    Scliematisclier  Längsschnitt  durch  einen  Polypen         Fig.  24.    Schematischer  Längsschnitt  durch  eine  Meduse 

vgl.  Fig.  15.  vgl.  Fig.  22  B. 

Beide  Figuren  nach  R.  Hertwig.  en  Entoderm,  el  Entodermlamelle  (durch  Zusammenpressen  der  Magenwand 
entstanden),  ek  Ektoderm,  ek^  rußeres  Glockenektoderm,  sog.  Exumbrella,  ek-  inneres  Glockenektoderm,  sog.  Subum- 
brella,    ek'  Ektoderm    des   Magens,    r  Ringkanal,    J  Subumbrella  (Innenwand  der  Glocke),    t  Tentakeln,      v  Velum, 

X  Gallerte,   resp.  die  korrespondierende  Stützlaraelle. 

kontraktiler  Hautsaum,  das  sog.  Velum  (ü)  gespannt,  welches  bei  den  pulsie- 
renden oder  pumpenden  Schwimmbewegungen  der  später  freiwerdenden  Wesen 
eine  besondere  Rolle  spielt.  Die  ganze  Glocke  ist  innen  und  außen  von  ekto- 
dermalem  Epithel  überzogen.  Das  Entoderm  kleidet  die  Magenhöhle  aus.  Die 
Schirmgallerte  ist  als  eine  modifizierte  Stützlamelle  zu  betrachten.  In  letztere 
erstreckt  sich  ein  vom  Magen  ausgehendes  Gastrovascularsystem,  aus  meist 
vier  radiär  verlaufenden  Gefäßen  (r)  bestehend,  welche  am  Schirmrande  durch 
ein  Ringgefäß  (rg)  miteinander  in  Verbindung  stehen.  Radiärgefäße  und  Ringge- 
fäß sind  untereinander  durch  ein  zartes  Epithelblatt  (Gefäßlamelle  oder  Catham- 
malplatte)  verbunden.  Den  Schirmrand  nehmen  Randtentakel  ein.  Hier  finden 
sich  Sinnesapparate  (Augenflecken  oder  in  anderen  Fällen  Statocysten,  früher  als 
Gehörblasen  bezeichnet)  und  ein  doppelter,  längs  der  Insertionsstelle  des  Ve- 
lums  sich  hinziehender  Nervenring.  Von  letzterem  sei  hervorgehoben,  daß 
er  noch  rein  in  der  Kontinuität  des  ektodermalen  Epithels  gelegen  ist.  Er  stellt 
eine  modifizierte  Partie  der  äußeren  Haut  dar,  welche  durch  reichlichen  Be- 
sitz an  Sinneszellen,  Nervenzellen  und  -fasern  zu  einem  nervösen  Zentrum 
geworden  ist.  Wenn  bei  Hydra  im  Ektoderm  ein  diffuses  Nervensystem  zu 
erkennen  war,  so  ist  hier  durch  Konzentration  ein  strangförmiger  Typus  dieses 
wichtigen  Organsystems  erreicht.    Gleichwohl  bleibt  der  rein  epitheliale  Cha- 


Hydroidmedusen.     Scyphopolyp 


20I 


rakter  dieser  Bildung  gewahrt.    Ebenso  ist  auch  die  ganze  Körpermuskulatur 
der  Meduse  im  Epithel  gelegen. 

Versuchen  wir  es,  den  Brüdern  Hertwig  folgend,  den  Bau  der  Meduse 
als  den  eines  umgewandelten  Polypen  zu  erfassen  (Fig.  23  und  24),  so  sei  hervor- 
gehoben, daß  in  beiden  Fällen  die  Hauptachse  des  Körpers  vom  Mundpole 
zum  Anheftungspole  zieht.  Sie  ist  in  der  Meduse  (Fig.  24)  erheblich  verkürzt. 
Das  kegelförmige  Peristom,  welches  bei  dem  Polypen  die  Mundöffnung  trägt,  ist 
dem  Magenschlauch  der  Meduse  gleichzusetzen.  Die  Tentakel  des  Polypen 
finden  wir  in  den  Randtentakeln  wieder,  während  die  beträchtliche  Entwick- 
lung der  Stützlamelle  {x)  im  Bereiche  der  aboralen  Körperhälfte  zur  Ausbildung 
der  Schirmgallerte  geführt  hat.  Zwischen  Ten- 
takelbasis und  dem  zentralen  Magenraume  dehnt 
sich  bei  der  Meduse  das  hier  auch  als  Kranzdarm 
bezeichnete  Gastrovascularsystem  aus.  Als  Neu- 
bildung müssen  wir  in  der  Meduse  das  Velum  be- 
trachten. Am  Hydroidpolypen  können  wir  keine 
ihm  entsprechende  Bildung  nachweisen. 

Die  Geschlechtsorgane  oder  Gonaden  der  Hy- 
droidmedusen sind  ektodermale  Wucherungen, 
welche  sich  teils  am  Magenschlauche,  in  anderen 
Fällen  an  der  Innenwand  des  Schirms,  den  Radiär- 
kanälen  (Fig.  22  g)  benachbart,  vorfinden. 

In  der  Gruppe  der  Hydroiden  begegnen  wir 
dem  einfachsten  Typus  der  Cnidarien.   Kurze  Er- 
wähnung sei  noch  der  Komplikationen  getan,  welche  der  Bauplan  dieser  Formen 
in  anderen  hierher  zu  rechnenden  Gruppen  erleidet. 

Wie  bei  den  Hydroiden,  so  tritt  uns  auch  in  der  Klasse  der  Scyphomedusen 
die  Unterscheidung  in  Polyp  [Scyphopolyp]  und  Meduse  (Lappenqualle  oder 
acraspede  Meduse)  entgegen.  Äußerlich  erscheint  der  Scyphopolyp,  gewöhnlich 
als  Scyphistoma  (Fig.  25)  bezeichnet,  einer  Hydra  so  ähnlich,  daß  er  zu  den 
Zeiten,  da  Michael  Sars  seine  berühmten  und  grundlegenden  Untersuchungen 
über  den  Entwicklungskreis  dieser  Formen  anstellte,  noch  gewöhnlich  als 
,, Hydra  tuba"  bezeichnet  wurde.  Spätere  Untersuchungen,  unter  ihnen  vor 
allem  die  Beobachtungen  Alexander  Goettes,  haben  uns  gewisse  Eigentüm- 
hchkeiten  des  Baues  kennen  gelehrt,  die  hier  zu  erwähnen  sind.  Man  erkennt 
an  dem  Körper  des  Tieres  vier  längsverlaufende  Streifen  {t,  sog.  Täniolen). 
Sie  sind  der  Ausdruck  von  Falten  der  Magenwand  (Fig.  26  B),  in  denen  sich 
Längsmuskelzüge  (Fig.  26 A  sm),  Retraktoren  des  Körpers,  bergen.  Durch 
diese  kulissenartig  ins  Innere  vorspringenden  sog.  Septen  wird  der  Magenraum 
in  eine  gemeinsame  zentrale  Höhle  und  in  vier  periphere  Magentaschen  geteilt. 
Letztere  kommunizieren  nicht  nur  mit  dem  zentralen  Magenraume,  sondern 
auch  untereinander,  da  die  vier  Septen  dicht  unter  dem  Tentakelkranze  Durch- 
bohrungen (Fig.  26 A,  Ä?)  besitzen,  wodurch  das  Scheinbild  eines  Ringgefäßes 
hervorgerufen  wird.    Wo  die  vier  Längsmuskelzüge  sich  an  die  obere  Körper- 


Fig.  25.  Scyphistoma  von  Aurelia  aurita. 
Nach  Korschelt-Heider.  pb  Peristom- 
rüssel,  ir  trichterförmige  Einsenkungen 
des  Peristoms  (sog.  Septaltrichter),  i  durch- 
schimmernde Gastralfalten,  si  Stiel,  k  ba- 
sale Skelettabscheidung. 


Bau  der 
Scyphopolypen. 


202 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


wand  ansetzen,  finden  sich  trichterförmige  Einziehungen  (Fig.  26  A  und  C  tr) 
derselben,  die  sog.  Septaltrichter.  Es  nähert  sich  der  Bau  des  Scyphopolypen  in 
mancher  Hinsicht  dem  der  Korallentiere,  auf  den  wir  gleich  zu  sprechen  kommen. 

Wir  müssen 
es  uns  versa- 
gen, auszufüh- 
ren, wie  durch 
den  merkwür- 
digen Vorgang 
der  Strobila- 
tion  die  als 
Ephyren  be- 
zeichneten 
freischwim- 
menden Lar- 
venformen der 

akraspeden 
Medusen  ent- 
stehen, ebenso 
wie  die  nicht 
minder  beach- 
tenswerten 
Umbildungen, 
welche  zum 
Bau  der  ge- 
schlechtsreifen, 
hier  hoch  ent- 
wickelten Medusenform  hinüberführen,  außer 
den  Rahmen  unserer  Betrachtung  fallen.  Er- 
wähnt sei  nur,  daß  die  Gonaden  hier,  wie  auch 
bei  den  Anthozoen,  dem  Entoderm  entstam- 
men und  daß  Mesenchymzellen,  welche  die 
Schirmgallerte  bevölkern,  ebenfalls  als  einge- 
wanderte Entodermzellen  zu  betrachten  sind. 
Die  kalkabscheidenden,  riffbildenden  Ko- 
rallentiere, die  einzeln  lebenden  Aktinien  und 
Bau  der  andere  zur  Klasse  der  Anthozoen  vereinigte  Formen  bilden  keine  Medusen. 
Dagegen  erreicht  in  dieser  Gruppe  die  Form  des  Polypen  bedeutende  Organi- 
sationshöhe. Der  grazilen  Beschaffenheit  der  kleinen,  von  Wasserströmungen 
leicht  bewegten  Hydro-  und  Scyphopolypen  gegenüber  fällt  uns  an  den  Indivi- 
duen der  Anthozoen  erheblichere  Körpergröße  und  die  derbe,  lederartige  Be- 
schaffenheit der  Leibeswand  auf.  Sie  verdanken  dieselbe  dem  Vorhandensein 
eines  an  Stelle  der  Stützlamelle  entwickelten,  oft  von  Fibrillen  durchsetzten  und 
in  gewissen  Fällen  Kalkkörperchen  (Sklerite)  führenden  Bindegewebes,  dessen 


Fig.  26.  Körperbau  von  Scypliistoma.  Schematisch  nach  Goettü  aus  Hatscheks  Lehrbuch. 
A  im  Längsschnitt,  links  durch  eine  Magentasche,  rechts  durch  ein  Septum.  A — B  Haupt- 
achse, gr  Gastralrinne,  welche  nach  oben  in  die  Mageutasche  g/  übergeht,  o  Mund. 
J  Eingang  in  den  eigentlichen  Magenraura,  sm  Septalniuskel,  so  Septalostium,  /r  Septal- 
trichter. B  Querschnitt  durch  den  unteren  Teil  des  Körpers,  gr  Gastralrinne,  J  Septum, 
sin  Septalmuskel.     C  Ansicht  von  der  Oralseite;  ^/ Magentasche,  o  Mund,  so  Septalostium, 

/r  Septaltrichter. 


Fig.  27.  Schnitt  durch  die  Körperwand  eines 
Korallenpolypen.  Nach  Kowalevsky  und 
Marion  aus  KoRSCHELT-HEroERS  Lehrbuch. 
n  Ektoderm,  en  Entoderm,  g  Gallerte, 
sj>  erste  Anlage  der  Sklerite  oder  Kalkkörper 
in  Zellen  des  sich  bildenden  Mesoderms. 


Scyphopolyp.     Bau  der  Anthozoen 


203 


mesenchymatische  Elemente,  aus  dem  Ektoderm  stammend,  durch  amoeboide 
Wanderung  in  die  Grundsubstanz  gelangen  (Fig.  27).  Die  Körpergestalt  ist 
im  allgemeinen  kurz  zylindrisch  oder  trommeiförmig  (Fig.  28).  Die  untere 
Fläche,  mit  welcher  das  Tier  festsitzt,  wird  als  basale  Fußscheibe,  die  obere,  von 
Tentakeln  umstellte  und  von  der  spaltförmigen  Mundöffnung  durchbohrte  End- 
fläche als  Mundscheibe  unterschieden.  Der  Mund  führt  nicht  direkt,  sondern 
durch  Vermittlung  eines  nach  innen  herabhängenden  Schlundrohres  (Stomo- 
daeum,  seh)  in  den  Magen,  welches,  durch  Einstülpung  der  Mundscheibe  ent- 


F  i  g.  28.  Schomatische  Darstellung  eines  Anthozoenpolypen.  Nach  Kennel, 

scÄ    Schlundrohr,    i   Tentakel,    ^    Septen,    rk    Durchbohrung    derselben, 

^  Geschlechtsorgane,  /"  Gastralfilamente. 


Fig.  29.  Längsschnitt  durch  die  linke 
Hälfte  des  Körpers  eines  Anthozoen- 
polypen. Nach  Hertwig  aus  Hatscheks 
Lehrbuch.  Er  zeigt  ein  Septum  mit 
allen  seinen  Differenzierungen.  ^  Ten- 
takel, sck  Schlund  wand,  w  Mesenterial- 
filament, ^  Geschlechtsorgan,  /j  inneres 
Septalostiura,  4  äußeres  Septalostium; 
ferner  sind  am  Septum  Längsmuskeln. 
Transversalmuskeln  und  Parietal- 
muskeln  zu  beobachten;  -r  Ringmuskel, 
quer  durchschnitten. 


standen,  an  seiner  inneren  Seite  von  Ektoderm  ausgekleidet  ist.  Es  kann  sonach 
der  Mund  der  Anthozoen  dem  Munde  der  Hydra  nicht  direkt  verglichen  werden. 
Letzterer  entspricht  dem  Urmunde  der  Gastrula  und  kennzeichnet  die  Stelle, 
an  welcher  das  äußere  Keimblatt  in  das  innere  übergeht.  Diese  findet  sich  bei 
den  Anthozoen  dort,  wo  das  Innenende  des  Schlundrohres  in  den  zentralen 
Gastralraum  mündet  (Schlundpforte).  Das  stomodäale  Schlundrohr  ist  als  ein 
neu  hinzugekommener,  durch  ektodermale  Einstülpung  gebildeter  Teil  des 
Darmtraktes  zu  betrachten. 

Der  eigentliche  Gastralraum  wird  durch  von  außen  nach  innen  kulissen- 
artig vorspringende  Falten  der  Magenwand  {s)  —  ähnlich  wie  wir  dies  bei 
Scyphistoma  angedeutet  sahen  —  in  einen  gemeinsamen  Zentralraum  und  in 
periphere  Magentaschen  gegliedert,  welch  letztere  sich  in  die  Innenkanäle  der 
Randtentakel  fortsetzen.  Die  zwischen  den  Magentaschen  hereinragenden  Sep- 
ten, welche  in  manchen  Fällen  das  Schlundrohr  erreichen,  sind  hier  der  Sitz 
reicher  Organbildung  (Fig.  29).    Eine  an  Nessel-  und  Drüsenzellen  reiche  Krau- 


204  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

se  {v)  nimmt  ihren  freien  Saum  ein.  In  ihnen  entwickelt  sich  ein  Längsmuskel- 
band  entodermaler  Muskulatur,  nach  dem  eigentümlichen  Bilde,  das  es  auf 
Querschnitten  liefert,  als  ,, Muskelfahne"  beschrieben.  In  den  Septen  liegen 
auch  die  Gonaden  (g),  deren  Elemente  dem  entodermalen  Epithel,  das  die  Sep- 
ten überkleidet,  entstammen. 

Die  erwähnten  Längsmuskelzüge  stellen  nur  einen  Teil  der  Körpermusku- 
latur dar,  welche  noch  durch  transversal  verlaufende  Fibrillen  in  den  Septen 
und  durch  Muskelzüge  der  ektodermalen  Körperschicht  ergänzt  wird.  Das  Ner- 
vensystem ist  hauptsächlich  im  ektodermalen  Epithel  zu  suchen,  wenig  kon- 
zentriert, doch  im  Bereiche  der  Mundscheibe  reichliche  Plexusbildungen  veran- 
lassend. Wie  bei  den  Coelenteraten  überhaupt,  so  haben  auch  hier  die  Unter- 
suchungen der  Brüder  Hertwig  unsere  Kenntnis  des  feineren  Baues  dieser 
Formen  begründet.  Im  übrigen  ist  das  Nervensystem  nicht  auf  das  Ektoderm 
beschränkt.  Wir  finden  bei  den  Cnidarien  allgemein  auch  Nervenelemente 
in  der  entodermalen  Auskleidung  des  Gastralraumes,  wenngleich  nicht  so 
reichlich  wie  im  Ektoderm. 

Wie  bei  den  Scyphistomen  erscheinen  die  Septen  durch  ein  in  der  Nähe  der 
Mundscheibe  zu  suchendes  Septalostium  durchbohrt  (Fig.  29/2).  Die  für  die  ein- 
zelnen Gruppen  der  Anthozoen  verschiedenen  und  für  die  Systematik  wichtigen 
Gesetze  der  Septenstellung  lassen  erkennen,  wie  bei  diesen  Formen  der  radiär- 
symmetrische  Bauplan  allmählich  in  den  bilateral-symmetrischen  übergeführt 
wird. 

C.  Ctenophoren,  Kammquallen  oder  Rippenquallen. 

Wenn  bei  Spongien  und  Cnidarien  die  mehrfach  sekundär  gestörte  Ra- 
diärsymmetrie  des  Bauplanes  als  Ausdruck  festsitzender  Lebensweise  erfaßt 
werden  kann,  so  treten  uns  in  den  Ctenophoren  freischwimmende  Wesen  von 
disymmetrischem  Charakter  entgegen.  Der  Körper  von  Hormiphora  plumosa 
(Fig.  30),  die  unseren  Erläuterungen  zugrunde  gelegt  werden  soll,  hat  birnför- 
mige  Gestalt.  Sie  erscheint  wie  eine  zarte,  gallertig  durchsichtige,  schwebende 
Montgolfiere  des  Meeres.  Acht  in  regelmäßigen  Abständen  verteilte,  längsver- 
laufende Reihen  von  wimpernden  Ruderplättchen  (sog.  Rippen  r'—r^  in  Fig.  31) 
dienen  der  Lokomotion,  zwei  zarte,  mit  Klebzellen  besetzte  Fangfäden  (/)  ver- 
mitteln den  Nahrungserwerb.  Das  eine  Ende  der  Hauptachse  nimmt  die  Mund- 
öffnung ein,  während  der  gegenüberliegende  Pol  durch  ein  kompliziertes  Sinnes- 
organ [s),  das  gleichzeitig  als  Zentrum  des  Nervensystems  zu  gelten  hat,  ge- 
kennzeichnet wird.  Von  hier  gehen  Zellverbindungen  zu  den  acht  Rippen, 
während  ein  subepithelialer  Nervenplexus  sich  diffus  unter  dem  Ektoderm  und 
an  der  Wand  des  Stomodaeums  ausbreitet. 
Bau  der  Wie  bci  den  Anthozoen  so  führt  auch  hier  der  Mund  zunächst  in  ein  ekto- 

tenop  oren.  (jgj-j^g^jgg  Schluudrohr  (Stomodacum,  hier  unpassend  als  Magen  (w)  bezeichnet), 
dessen  innere  Öffnung  (Schlundpforte)  die  Kommunikation  mit  dem  als  Trich- 
ter [t]  benannten  Gastralraum  des  Darmes  herstellt.  Letzterer  erscheint  in  ein 
kompliziertes  System  von  Kanälen  aufgelöst,  von  denen  acht  unter  den  Rippen 
hinziehen  (Gastro vaskularsystem) . 


Bau  der  Ctenophoren 


205 


Diese  „Rippengefäße"  tragen  die  Gonaden.  Die  Geschlechtsprodukte,  hier 
hermaphroditisch  in  einem  Individuum  vereinigt,  entstammen  dem  Entoderm, 
unter  welchem  sie  sich  nach  der  Länge  der  Rippengefäße  streifenförmig  an- 
ordnen. 

Alle  die  genannten  inneren  Organe  (Schlundrohr,  Darm  mit  dem  Gastro- 
vaskularsystem  und  den  den  Gefäßen  angeschlossenen  Geschlechtsorganen) 
finden  sich  in  eine  mesenchymatische  Gallerte  von  hochkomplizierter  histolo- 
gischer Struktur  eingebettet.    Es  zeigen  sich  hier  in  einer  homogenen  Grund- 


Fig.  30.      Hormiphora     plumosa.      Habitusbild    nach    Chun 
aus  Hertwigs  Lehrbuch. 

Fig.  31.  Hormiphora  plumosa.  .Schematisiert  im  Anschlüsse 
an  Kennel  aus  Hertwigs  Lehrbuch.  Vgl.  auch  Fig.  5  S.  181. 
/  Tentakel,  /'  Tentakelwurzel,  /-  Tentakelscheide,  s  links- 
seitiges Hauptgefäß,  m  sog.  Magen  (richtiger  Schlund), 
wg  Magengefäß,  r' — r*  Ruderplättchenreihen  einer  Seite, 
darunter  die  zugehörigen  Rippengefäße,  j  Sinneskörper, 
i  Trichter,  i'  Trichtergefäße. 

Substanz  sternförmig  verästelte  Bindegewebszellen,  ferner  aus  Mesenchym- 
zellen  entstandene  Muskelzellen,  bandförmig  gestreckte  kontraktile  Elemente 
mit  verästelten  Enden,  ferner  feinste  Fibrillen,  zum  Teil  als  Nervenfibrillen  in 
Anspruch  genommen  und  mit  Ganglienzellen  in  Verbindung  stehend,  die  Inner- 
vation der  mesenchymatischen  Muskulatur  besorgend.  Die  Elemente  dieses 
mesenchymatischen  Gewebskomplexes  entstammen,  wie  schon  Chun  und  Ko- 
valewsky  wußten  und  neuerdings  Hatschek  bestätigte,  dem  Ektoderm. 

Die  Entwicklung  der  Ctenophoren  führt  durch  verhältnismäßig  einfache  Entwicklung  der 
Umbildungsvorgänge  zur  jugendlichen,  der  ausgebildeten  Form  meist  schon  Cte''°p^°'^«'^' 
ziemlich  ähnlichen  Rippenqualle.  Die  Furchung  (Fig.  32)  kann  als  Schulbeispiel 
totaler  inäqualer  Furchung  betrachtet  werden.  Frühzeitig  tritt  der  Gegen- 
satz zwischen  einer  aus  kleineren  Zellen  (Mikromeren  mi)  bestehenden  und  einer 
aus  großen,  dotterreichen  Furchungskugeln  (Makromeren  ma)  zusammengesetz- 
ten Keimeshälfte  zutage.  Frühzeitig  macht  sich  auch  an  den  Furchungsbildern 
der  disymmetrische  Bauplan  der  Gruppe  bemerkbar.    Die  Mikromeren  sitzen 


2o6 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


TJU 


mä. 


Fig.  32.     A — C  Drei  Furchungsstadien  eines  Ctenophoreneies  (aus  Längs  Lehrbuch).     7ni 
Mikromeren,    ma  Makromeren,    in  B  und   C  ist    die  Furchungshöhle   im   Inneren    dunkel 

angegeben. 


c 


rne. 


me. 


^n 


^n 


Fig. 33,  Drei  frühe  Entwicklungsstadien  einer  Ctenophore.  Schematisch  nachMETSCHNIKOFF 

aus  Längs  Lehrbuch,     ek  Ektoderm,    nie    kleinere    Entodermzellen.    welche    in   A   basal- 

wärts  sich  abschnürend  später  nach  oben  rücken  [B  und  C),  en  entodermale  Makromeren. 

d  Daimhöhle,  st  Schlund  (Stomodaeum,  Anlage  des  sog.  Magens). 


dem  animalen  Pole  genähert  der  Makromerengruppe,  welche  die  vegetative 
Hälfte  repräsentiert,  kappenförmig  (Fig.  32  C)  auf.    Wir  fügen  hinzu,  daß  die 
Makromeren  das  Entoderm,  die  Mikromeren  das  Ektoderm  des  Keimes  dar- 
stellen. Zwischen 
A  TTU         O  7nt  C  beiden     Zellagen 

findet  sich  die 
hier  wenig  um- 
fangreiche, gegen 
den  animalen  Pol 
verdrängte     und 

merkwürdig 
lange  nach  oben 
und  unten  geöff- 
nete  Furchungs- 
höhle. 

Die  Makrome- 
ren   werden  von 
der  Mikromeren- 
kappe  allmählich 
immer  mehr  um- 
wachsen   (epibo- 
lische     Gastrula- 
tion)  und   auf  diese  Weise  in   das  Innere  des 
Keimes  gedrängt  (Fig.  33  A).   Gleichzeitig  ver- 
schwindet  die    Furchungshöhle,    während  im 
Inneren  der  entodermalen  Zellgruppe  ein  neuer, 
gegen  den  vegetativen  Pol  geöffneter  Hohlraum 
(die  Darmhöhle,  d  \n  Fig.  33  C)   entsteht.    In- 
zwischen haben  die  Makromeren  durch  einen 
in  seiner  Bedeutung  lange  Zeit  mißverstande- 
nen Prozeß  der  Zellknospung  eine  Gruppe  klei- 
nerer Entodermzellen  {me)    geliefert,    welche, 
gegen   den   animalen  Pol  verlagert,    zur  Aus- 
Fig.  34.    Schema  eines  ctenophorenembryos.    kleiduug  gcwisscr   Teile   des   Gastrovaskular- 

Aus  Korschelt-Heiders  Lehrbuch.     o(  Stato-  . 

lithen.  ;<  Anlage  des  Tentakelapparates,  OTJ  An-      SyStCmS    bCStimmt    ist. 

Sammlung    kleiner    Entodermzellen,    en   Ento-  ttt--!  i  ^■        k      ^  i  2.     J  1 

derm,  ec  Ektoderm,  g  Gallerte,  m  Magen,  Wahrcud  SO  dic  Aulagc  des  eutodcrmalcn 

c  zentrale  Darmhöhle,  d  divertikelarHge  Aus-      TeileS    dcS   DarmSVStemS    der    Volleudung     CUt- 
buchtungeu  derselben.  •' 

gegengeht,  entsteht  das  stomodäale  Schlund- 
rohr [st),  indem  sich  die  Ektodermschicht  am  Blastoporusrande  nach  innen  um- 
schlägt. Der  Embryo,  ursprünglich  kuchenförmig  rundlich,  ändert  nun  seine 
Gestalt  (Fig. 34).  Erstreckt  sich  in  der  Richtung  der  Hauptachse.  Es  wachsen 
die  Tentakel  [t]  hervor,  während  das  apikale  Sinnesorgan  zur  Entwicklung  kommt. 
Noch  liegen  anfangs  die  beiden  Keimesschichten  (Ektoderm  und  Entoderm) 
dicht  aneinander.     Erst  in  späteren  Stadien  wird  zwischen  ihnen  Gallertsub- 


Ctenophorenentwicklung.     Coelenteraten  im  Allgemeinen 


207 


stanz  abgeschieden,  in  welche  nun  vom  Ektoderm  vereinzelte  Zellen  amöboid 
einwandern,  auf  diese  Weise  die  Grundlage  des  mesenchymatischen  Gewebes 
liefernd.  Mit  der  Entstehung  der  Wimperplättchen  in  acht,  anfangs  zu  vier 
Paaren  vereinigten  Längsreihen  erscheint  die  junge  Rippenqualle  fertig  ge- 
bildet. 

Rückblick, 

Bei  allen  Coelenteraten  erhält  sich  die  primäre  Eiachse  (die  Achse  des  Gastru- 
lastadiums)  als  spätere  Hauptachse  des  Körpers,  daher  sie  von  Hatschek  als 
Protaxonia  bezeichnet  wurden.  Während  die  Spongien  sich  mit  dem  Mundpole 
des  Gastrulastadiums  festsetzen,  erfolgt  die  Fixierung  der  Cnidarien  mit  dem 
apikalen  (animalen)  Pole.  Der  Mund  der  Hydroiden  entspricht  dem  Blasto- 
porus, während 
bei  jenen  For- 
men, denen  ein 

stomodäales 

Schlundrohr 
zukommt,  die 
Schlundpforte 
dem  Urmunde 
entspricht.  Bei 
den  Ctenopho- 
ren  ist  der  ani- 
male    Pol    der 

Hauptachse 
durch  das  api-  Ji 


kale    Sinnesor- 
gan      gekenn- 


Fig-.  35.     Schema    der    drei  Grundformen  der  Coelenterata.     .-/  der  Spongien,    B  der  Cni- 
darier,  C  der  Ctenophoren.   Aus  Hatscheks  Lehrbuch.     Die  Pfeile  bezeichnen  die  Richtung 

des  apikalen  Poles  der  Gastrula. 


zeichnet  (Fig.  35). 

Alle  Organe  des  Körpers  erweisen  sich  als  Differenzierungen  der  beiden 
primären  Körperschichten,  in  deren  Kontinuität  sie  meist  zeitlebens  verbleiben. 
Daher  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  wichtigsten  Differenzierungen  als  histolo- 
gische Umbildungen  dieser  epithelialen  Körperschichten  gebildet  werden.  Wir 
finden  dementsprechend  epitheliale  Körpermuskulatur,  ein  epitheliales  Nerven- 
system und  epithelial  gelagerte  Gonaden.  Nur  in  manchen  Fällen  zeigen  die 
genannten  Systeme  eine  gewisse  Tendenz,  sich  von  ihrem  epithelialen  Mutter- 
boden zu  emanzipieren. 

In  dem  zwischen  den  beiden  primären  Keimblättern  gelegenen,  auf  die 
Furchungshöhle  zurückzubeziehenden  Spaltraume  kommt  eine  homogene  Sub- 
stanz als  Stützlamelle  oder  Gallerte  zur  Abscheidung.  Indem  in  letztere  ver- 
einzelte Zellen  einwandern,  kann  es  zur  Ausbildung  einer  zwischen  den  pri- 
mären Schichten  gelegenen  mesenchymatischen  Bindegewebsschicht  kommen, 
die  als  erster  Vorläufer  eines  mittleren  Keimblattes  (Mesoderm)  zu  betrach- 
ten ist.  In  den  meisten  hierher  gehörigen  Fällen  entstammen  die  Elemente 
dieses  Mesenchyms  dem  Ektoderm.    Wir  sprechen  dann  von  einem  Ektome- 


2o8  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

soderm,  worunter  eine  mesodermale  Schicht  ektodermalen  Ursprungs  zu  ver- 
stehen ist. 

Diese  mesodermale  Lage  ist  im  allgemeinen,  gegenüber  dem  plastischen 
Reichtum  der  beiden  primären  Körperschichten,  arm  an  Differenzierungen. 
Doch  können  in  ihr  Skelettkörper  zur  Entwicklung  kommen.  Die  höchste  Ent- 
wicklung erlangt  sie  bei  den  Ctenophoren  unter  reichlicher  Produktion  einer 
mesenchymatischen  (den  übrigen  Coelenteraten  fehlenden)  Muskulatur. 

Als  Eigentümlichkeiten  der  Spongien  seien  erwähnt:  daß  hier  eine  Schei- 
dung von  Ektoderm  und  Mesoderm,  eine  Trennung  von  oberflächlichem 
Körperepithel  und  darunter  hegender  Mesenchymschicht  kaum  durchführbar 
erscheint,  da  beide  zu  sehr  ineinander  übergehen,  und  daß  ferner  die  Geschlechts- 
produkte nicht  zu  Gonaden  vereinigt,  sondern  regellos  im  Mesenchym  verstreut 
gefunden  werden. 

Fügen  wir  noch  hinzu,  daß  unter  den  Coelenteraten  der  Radiärtypus  des 
Baues  sehr  verbreitet  ist.  Wenn  wir  geneigt  sind,  in  diesem  Verhalten  etwas 
Ursprüngliches  zu  erkennen,  so  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  in  allen  Tiergruppen 
die  festsitzende  Lebensweise  eine  Tendenz  zur  Entwicklung  radiärsymme- 
trischer  Gestaltung  befördert. 


III.  BILATERIEN  IM  ALLGEMEINEN. 

Wenn  wir  den  Kreis  der  Coelenteraten  verlassend  zur  Betrachtung  der  höher 
entwickelten  Metazoen  fortschreiten,  so  stehen  wir  zunächst  vor  der  Tatsache, 
daß  die  den  Pflanzentieren  meist  zukommende  monaxone  bzw.  radiärsymme- 
trische  Gestaltungsweise  einem  bilateral-symmetrischen  Bauplane  Platz  ge- 
macht hat.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  können  wir  bei  den  höhe- 
ren Metazoen  an  dem  Gegensatze  von  Dorsal-  und  Ventralseite,  an  der  gegen 
eine  Medianebene  spiegelbildlich  orientierten  Anordnungsweise  der  Organe  den 
Bilateraltypus  leicht  erkennen.  Abweichungen  von  dem  letzteren  können  nach 
zwei  Richtungen  stattfinden:  es  kann  durch  ungleichmäßige  Ausbildung  der 
beiden  Körperhälften  eine  asymmetrische  Gestaltung  hervorgehen,  wie  bei  den 
meisten  Schnecken,  oder  aber  es  kann,  wie  dies  bei  den  Echinodermen  (See- 
igeln, Seesternen  usw.)  in  Erscheinung  tritt,  der  ursprünglich  den  Larven- 
formen zukommende  Bilateraltypus  sekundär  durch  eine  scheinbare  radiäre 
Symmetrie  (meist  fünfstrahlig  entwickelt)  ersetzt  werden.  Auch  hier  wahr- 
scheinlich im  Anschlüsse  an  festsitzende  Lebensweise  entstanden,  muß  diese 
Radiärsymmetrie  der  Echinodermen,  welcher  sich  nicht  sämtliche  Organe  des 
Körpers  einfügen,  als  eine  sekundäre  Erwerbung  betrachtet  werden. 
Entwicklung  der  Eiuc  Erinnerung  an  den  primären  monaxonen  Bau  der  Urformen  erhält 

sich  nur  in  den  ersten  Entwicklungszuständen  der  Bilaterien.  Selten  zeigt  schon 
das  Ei,  zeigen  die  Furchungsstadien  deutlich  bilateral-symmetrischen  Bau,  wie 
bei  den  Insekten  und  den  Cephalopoden.  Wenn  wir  auch  nicht  außer  acht 
lassen  dürfen,  daß  die  Eier  der  meisten  Bilaterien,  wie  sich  aus  der  Richtung 
der  ersten  Furchungsspindel,  aus  dem  Zusammenfallen  der  ersten  Teilungsebene 


Bilateralität. 


Entstehung  der  ßilateralität.     Darmentwicklung  20Q 

mit  der  späteren  Medianebene  ergibt,  eine  unserem  Erkennen  nicht  oder  kaum 
wahrnehmbare,  bilateral  geordnete  Intimstruktur  besitzen,  so  müssen  wir  doch 
anerkennen,  daß  im  grob-morphologischen  Aufbau  der  Embryonen  frühester 
Stadien  meist  von  Bilateralität  nichts  zu  erkennen  ist.  Das  Ei,  die  Furchungs- 
und die  Entwicklungsstadien,  oft  bis  zum  Gastrulastadium,  zeigen  monaxonen 
Bau  und  es  erfordert  feinere  Untersuchungen,  eine  genaue  Vergleichung  der 
relativen  Blastomerengröße,  eine  exakte  Verfolgung  der  Richtung  der  einzelnen 
Teilungsspindeln,  um  den  Übergang  vom  ursprünglich  gegebenen  Radiärtypus 
zu  später  kenntlich  werdender  Bilateralität  festzulegen.  Der  Moment  dieses 
Überganges  tritt  bei  verschiedenen  Formen  zu  verschiedenen  Entwicklungs- 
zeiten ein:  sehr  frühzeitig,  wie  wir  durch  E.  B.  Wilson  und  Cerfontaine 
wissen,  bei  Amphioxus,  später  in  der  Entwicklung  der  Anneliden-  und  Möllns- 
kentrochophora,  bei  welcher  der  ursprünglich  erkennbare  Spiraltypus  der  Fur- 
chung meist  erst  im  Stadium  von  64  Zellen  bilateral  angeordneten  Teilungen 
Platz  macht. 

Wir  sehen,  wie  allmählich  Bilateralität  im  Entwicklungsgeschehen  zum 
Ausdrucke  kommt.  Anfänglich  nur  als  Intimstruktur  (Driesch)  des  Eiplasmas 
vorhanden  und  durch  Pigmentverteilung  im  Amphibieneie  sich  kennzeichnend, 
macht  sie  sich  später  in  der  Anordnungsweise  der  Blastomeren  geltend  und 
tritt  in  der  Folge  durch  Veränderungen,  welche  die  erste  primäre  Organanlage, 
den  Urdarm,  betreffen,  deutlicher  zutage. 

Auf  diese  Veränderungen  der  primären  Darmanlage  sei  zunächst  unser 
Augenmerk  gerichtet.  Sie  führt  zur  Scheidung  in  zwei  große  Gruppen,  ein  Ver- 
such systematischer  Anordnung  der  mannigfaltigen  Typen  der  Bilaterien  auf 
entwicklungsgeschichtlicher  Basis,  der  durch  Goette  und  Grobben  begründet 
wurde. 

Aus  dem  Urdarm  des  Gastrulastadiums  geht  die  epithehale  Innenwand  Entwicklung 
eines  Teiles  des  definitiven  Darmkanales  der  Tiere  hervor:  des  Mesenterons  oder  ^^^  Darms. 
Mitteldarmes  {ms  Fig.  36  C  und  D)  mit  seinen  verschiedenartigen  Adnexen  meist 
drüsiger  Natur  (Mitteldarmdrüse,  Leber,  Pankreas  usw.).  Ein  vorderer  und 
hinterer  Abschnitt  der  epithelialen  Darmwand  entstammt  dem  Ektoderm.  In 
ähnlicher  Weise,  wie  wir  bei  Anthozoen  und  Ctenophoren  ein  von  Ektoderm 
ausgekleidetes  Schlundrohr  auftreten  sahen,  entwickeln  auch  die  Bilaterien  einen 
vorderen,  zwischen  Mund  und  Schlundpforte  gelegenen,  ektodermalen  Abschnitt 
des  Darmkanals  [st  Fig.  36),  das  Stomodaeum  (Vorderdarm)  und  auf  gleiche 
Weise  kommt  bei  jenen  Bilaterien,  welche  eine  als  After  bzw.  Kloake  zu  bezeich- 
nende hintere  Ausmündung  des  Darmkanals  besitzen,  ein  ektodermaler  End- 
abschnitt des  Darmes,  ein  Proktodaeum  {pr  Fig.  36 D)  oder  Enddarm,  zustande. 

Mit  diesen  Umbildungen  der  Darmanlage  sind  wichtige  Lageveränderungen   Schicksal  des 
des  Ganzen  verknüpft.    In  der  Entwicklung  der  Trochophora  (der  Larvenform  ^^'^  p°o°ost'orata 
der  Anneliden  und  Mollusken)   hat  das  Gastrulastadium  anfangs  noch  mon- 
axonen Bau  (Fig.  36  A  Fig.  37  A),  in  manchen  Details  sich  zu  vierstrahliger  Ra- 
diärsymmetrie  hinneigend.   Der  animale  Pol  ist  durch  ein  ektodermales  Sinnes- 
organ mit  Wimperschopf  (Scheitelplatte  sp  in  Fig.  37  A)  gekennzeichnet,  wäh- 

K.  d.  G.m.iv,  Bd2  Zellenlehre  etc.  II  I4 


2IO 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


rend  den  gegenüberliegenden  vegetativen  Pol  der  Hauptachse  der  anfangs  ziem- 
lich weit  geöffnete  Blastoporus  (Urmund  bp  in  Fig.  36  A  und  37  A)  einnimmt. 
Der  Äquator  des  Embryos  wird  von  einer  Wimperzone  (Prototroch  pt)  einge- 


Fig.  36.  Vier  Entwicklungsstadiea  einer  Anneliden-Trochophora,  im  Medianschnitt,  Ansicht  von  der  linken  Körper- 
seite. Nach  Hatscheks  Untersuchungen  an  Eupomatus ;  die  Bilder  sind  durch  Weglassung  der  Mesodermgebilde 
schematisch  vereinfacht.  A  Gastrulastadium,  vgl.  Fig.  3  auf  S.  179,  ß,  C  spätere  Stadien,  D  junge  Trochophora 
vgl.  Fig.  6  auf  S.  182.  an  After,  bp  Urmund  (Blastoporus  und  Urdarmhöhle),  ec  Ektoderm,  e?i  Entoderm,  f  primäre 
Leibeshöhle  (der  Rest  der  Furchungshöhle),  th  Mund,  ms  Mitteldarm  (Mesenteron),  pr  Enddarra  (Proktodaeuni). 
pi  Wimpern  des  praeoralen  Wimperkranzes,   sp  Scheitelplatte,  sf  Vorderdarra    (Stomodaeum). 

nommen.  Der  Blastoporus  wandert,  sich  allmählich  verengernd,  immer  mehr 
an  einer  Körperseite  gegen  den  Wimpergürtel  empor  (Fig.  '^y),  und  gerät  so  an 
die  Stelle  der  späteren  Mundöffnung  [m  in  Fig.  36).  Die  Verengerung  des  Ur- 
raundes  vollzieht  sich  durch  seithche  Aneinanderlagerung  seiner  Ränder  (Fig. 
37 C  und  D),  und  zwar  in  der  Richtung  von  hinten  nach  vorne,  d.h.  vom  vege- 
tativen gegen  den  animalen  Pol  zu,  so  daß  schließlich  nur  die  vorderste  Urmund- 


Verlagerung  des  Blastoporus  bei  den  Protostomia 


211 


partie  als  verengte  Lücke  erhalten  bleibt,  während  sich  hinten  die  Verwach- 
sungsnaht (Gastrularaphe  gr,  Fig.  37  D)  anschließt.  Die  Körperseite,  an  welcher 
der  Blastoporus  emporwandert,  wird  zur  späteren  Ventralseite  des  Tieres. 

Während  dieser  allmählichen  Verengerung  und  Verlagerung  des  Urmundes 
wird  durch  Einbiegung  der  ektodermalen  ihn  umgebenden  Ränder  ein  neuer  sto- 
modäaler  Darmabschnitt  {st  Fig.  36 B)  hinzugebildet:  die  Anlage  des  ektoder- 
malen Oesophagus  der  Larve.  In  ähnhcher  Weise  entsteht  in  späteren  Stadien 
am  hinteren  Körperende  dem  apikalen  Wimperschopf  gegenüber  durch  Ekto- 
dermeinstülpung  ein  kurzer  Endabschnitt  des  Darmkanals  (das  Proktodaeum 
pr  Fig.  36 D),  welches  durch  sekundäre  Verwachsungsprozesse  an  die  übrige 
Darmanlage  angeschlossen  wird. 


6p 

Fig.  37.  Vier  Entwicklungsstadien  einer  Anneliden-Trocliopliora,  scbematisch  zur  Darstellung  des  Verschlusses  und 
der  Verlagerung  des  Urmundes  (Blastoporus).  Ansicht  von  der  Ventralseite,  ip  Urraund  der  Gastrula  (Blastoporus), 
vgl.  Fig.  ^6A,  gr  Gastrularaphe,  d.  i.  Verwachsungsnaht  der  Blastoporuslippen,  m  Lage  der  definitiven  Mundöffnung, 
sp  Scheitelplatte  mit  Wimperschopf,  pt  praeoraler  Wimperkranz   oder  Prototroch.    Vgl.  auch    die  Figuren  6  und  36. 

Wir  fügen  hinzu,  daß  es  sich  hier  um  die  Entwicklung  eines  Anneliden 
handelt.  Die  geschilderten  Entwicklungsstufen  liefern  eigentlich  nur  den  Kopf 
des  späteren  Ringelwurmes.  Der  ganze  segmental  gegliederte  Rumpf  wird  durch 
eine  Art  von  Knospung  hinten  hinzugebildet  (siehe  Fig.  45). 

Insoweit  das  Schicksal  des  Blastoporus  in  Frage  kommt,  ergibt  sich,  daß 
jene  Körperseite  zur  Ventralseite  wird,  an  welcher  der  Abstand  zwischen  api- 
kaler Scheitelplatte  und  dem  Urmundrande  am  meisten  verkürzt  wurde.  Diese 
Verkürzung  könnte  durch  eine  Verlagerung  des  apikalen  Sinnesorganes  in  glei- 
cher Weise  erzielt  werden,  wie  durch  ein  Wandern  des  Urmundes.  Wenn  es  nun 
auch  nicht  in  Abrede  gestellt  werden  soll,  daß  in  manchen  Fällen,  so  be- 
sonders bei  jenen  Molluskenembryonen,  denen  eine  sog.  Kopfblase  zukommt, 
tatsächlich  eine  ventrale  Verlagerung  der  Scheitelplatte  zu  beobachten  ist,  so 
muß  doch  anerkannt  werden,  daß  die  Beziehungen  des  apikalen  Zentrums  zum 
äquatorialen  Wimpergürtel  stabilere  sind  als  die  des  Urmundes.  Die  Wande- 
rung des  Urmundes  ist  hauptsächlich  auf  einen  Prozeß  reger  Zeilproliferation 
im  Bereiche  der  dorsalen  Körperseite  zurückzuführen.  Dem  Ektoderm  des 
Embryos  ist  zwischen  Prototroch  und  hinterem  Körperende  eine  Zellgruppe 
eingefügt,  welche,  als  ,, somatische  Platte"  sattelförmig  dem  Körper  aufliegend, 
dazu  bestimmt  ist,  das  spätere  Rumpfektoderm  des  Annelids  zu  liefern.  Auf 
der  ihr  innewohnenden  Wachstumstendenz  beruht  im  wesentlichen  die  ge- 
schilderte Verlagerung  des  Blastoporus. 

14* 


2  12  K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Die  Gastrularaphe  {gr  Fig.  37  D)  der  Anneliden  entspricht  der  ganzen  zwi- 
schen Mund  und  Afteröffnung  sich  hinziehenden  ventralen  Zone.  Der  Rest  des 
Blastoporus  erhält  sich  als  Schlundpforte.  Es  ist  demnach  bei  den  hierher  zu 
rechnenden  Formen  die  spätere  Körperlängsachse  der  ursprünglichen  Gastrula- 
achse  deshalb  nicht  zu  vergleichen,  weil  der  hintere  Pol  derselben  von  verschie- 
denen Organbildungen  eingenommen  wird.  Während  die  Primärachse  der  Ga- 
strula  vom  animalen  Pol  zum  Blastoporus  zieht,  hat  im  ausgebildeten  Annelid 
der  Urmund  eine  Verlagerung  nach  der  Ventralseite  erlitten.  Die  Körperlängs- 
achse zieht  nun  vom  Scheitelpole  zur  hinten  meist  terminal  gelegenen  Anal- 
öffnung. Man  hat  daher  wohl  auch  von  einer  Knickung  der  Primärachse  ge- 
sprochen und  die  Büaterien  als  Heteraxonia  den  Protaxonia  gegenübergestellt. 
Die  einzige  Ausnahme  unter  allen  Bilaterien  macht  Balanoglossus,  bei  welchem 
merkwürdigen  Wesen  sich  die  Primärachse  als  spätere  Körperlängsachse  erhält. 
Wir  bezeichnen  jene  Bilaterien,  bei  denen  die  Schicksale  des  Blastoporus 
den  geschilderten  vergleichbar  sind  (ventrale  Verlagerung  des  Urmundes  und 
*  Beziehung  desselben  zur  Mundöffnung  bzw.  zur  Schlundpforte),  mit  Grobben 

als  Protostomia  und  rechnen  hierher  die  Typen  der  Vermes,   der  Arthropoden, 
der  Mollusken   und  der  in  ihrer  Entwicklung  so  eigenartigen  Tentaculaten. 
Schicksal  In  einer  zweiten  großen  Gruppe  tierischer  Formen  sind  die  Schicksale  des 

^*  betder'^''''  Urmundes  wesentlich  andere.  An  einem  Gastrulastadium  von  Echinus  micro- 
Deuterostomia.  tuherculütus  (Fig.  38  A),  cincm  vieluntersuchten  Seeigel,  zeigt  der  Medianschnitt, 
daß  die  bilaterale  Symmetrie  des  Körpers  sich  —  abgesehen  von  Verhältnissen 
der  Mesenchymzellenverteilung  und  anderem  —  dadurch  ausdrückt,  daß  eine 
der  Scheitelplatte  vergleichbare  Ektodermverdickung  {sp),  hier  als  Akron  be- 
zeichnet, ventralwärts  verlagert  ist.  Bald  drückt  sich  die  Bilateralität  durch 
die  in  der  Seitenansicht  dreieckig  erscheinende  Körpergestalt  deutlicher  aus 
(Fig.  38  B).  Während  der  Urdarm,  anfangs  noch  gerade  gestreckt,  sich  gegen 
die  Ventralseite  einkrümmt  (Fig.  38 B),  wird  er  durch  Einschnürungen  in  drei 
Abschnitte  (hier  als  Oesophagus  {pe),  Magen  [mg)  und  Intestinum  (z)  oder  Dünn- 
darm bezeichnet)  gegliedert.  Der  Blastoporus  {hp)  erhält  sich  verengt  als  Anal- 
öffnung [an).  Ein  Proktodaeum  wird  nicht  entwickelt.  Die  Mundöffnung  kommt 
zustande,  indem  die  vorderste,  anfangs  blind  geschlossene  Darmpartie  mit  einer 
kleinen,  als  Mundbucht  (w  Fig.  38 B)  zu  bezeichnenden  Ektodermeinsen- 
kung  verwächst.  Der  Urmund  hat  hier  keine  Beziehungen  zur  späteren  Mund- 
öffnung. Aus  ihm  geht  die  Afteröffnung  hervor,  welche  bei  den  Protostomia 
eine  sekundäre  Neubildung  war. 

Die  Formen  der  Chaetognathen,  der  Enteropneusten,  der  Echinodermen  und 
der  mächtige  Stamm  der  Chordatiere  (Tunikaten,  Acranier  und  Vertebra- 
ten)  folgen  diesem  zweiten  Typus.  Wir  vereinigen  sie  unter  dem  Namen  Deu- 
terostomia  (Grobben)  ^).  Erwähnt  sei,  daß  der  Blastoporus  der  Chordaten  eine 
Verlagerung  nach  der  Dorsalseite  erkennen  läßt.  Sämtliche  Deuterostomia  er- 
weisen sich    (mit  der  einzigen  erwähnten  Ausnahme  von  Balanoglossus)  als 


^)  Vgl.  diesbezüglich  die  systematische  Tabelle  pag.  185. 


Schicksal  des  Blastoporus  bei  den  Deuterostomia 


13 


Heteraxonia,   insofern  auch  bei  ihnen  die  spätere  Körperlängsachse  nicht  der 
primären  Gastrulaachse  entspricht. 

Die  höhere  Organisationsstufe  der  Bilaterien  ist  vor  allem  durch  den  Um- 
stand gekennzeichnet,  daß  Organe  oder  Organsysteme,  welche  wir  bei  den  Coe- 
lenteraten  als  Differenzierungen  der  beiden  primären  Körperschichten  vor- 
fanden, aus  der  Kontinuität  dieser  epithelialen  Lagen  herausgelöst  zu  größerer 
Selbständigkeit  gelangen.  Das  Zentralnervensystem,  bei  allen  Bilaterien  im 
wesentlichen  ektodermalen  Ursprungs,  behält  nur  bei  wenigen  Formen  die  pri- 
märe epithehale  Lagerung  bei,  so  bei  Sagitta,  bei  Phoronis,  manchen  Brachio- 
poden,  Nemer- 
tinen  und  An- 
neliden, ferner 
in  den  Echino- 

dermengrup- 
pen  der  Crinoi- 
denundAsteri- 
den.  Meist  löst 
es  sich  von  der 
Haut  ab  und 
gerät  in  tiefere 
Körperschich- 
ten. Von  epi- 
thelialer Kör- 
permuskulatur 
der  primären 
Keimesschich- 
ten finden  sich 
bei  den  Bilate- 
rien nur  vereinzelte  Spuren.  Die  Gonaden  sind  durchweg  selbständig  geworden. 
Alle  diese  Bildungen  geraten  in  jenen  Raum  zwischen  oberflächlichem  Körper- 
epithel und  Darmwand,  den  wir  auf  die  Furchungshöhle  zurückführen  konnten 
und  als  primäre  Leibeshöhle  bezeichneten.  Hier  sei  nur  ein  Blick  auf  die  allge- 
meinen Prinzipien  dieser  Sonderung,  auf  die  Art  und  Weise,  durch  welche  die 
primäre  Leibeshöhle  mit  Geweben  und  Organbildungen  erfüllt  wird,  geworfen. 
Wir  unterscheiden: 

I.  Zelleinwanderung.  Dieser  Prozeß  trat  uns  schon  bei  den  Coelente- 
raten  entgegen,  bei  denen  durch  Einwandern  von  Ektodermzellen  ein  mesen- 
chymatisches  Füllgewebe  gebildet  wurde  (Fig.  27  S.  202).  Es  erhält  sich  dies 
Ektomesoderm  in  der  Trochophora  als  larvaler  Mesoblast.  Im  übrigen  spielt  diese 
Erinnerung  an  früheste  Zustände  bei  dem  Aufbau  der  Bilaterien  eine  gering- 
fügige, man  kann  sagen,  verschwindende  Rolle.  Man  hat  in  der  Entwicklung 
der  Deuterostomia,  z.  B.  bei  den  Echiniden,  nie  etwas  als  Ektomesoblast  zu 
Deutendes  beobachtet.  Dagegen  kann  Zelleinwanderung  vom  inneren  Keim- 
blatt ausgehend  zu  mesenchymatischen  Bildungen  entodermalen  Ursprungs 


bp  ^-^  a?i. 

Fig.  38.  Zwei  Entwicklungsstadien  eines  Seeigels  (Eciiinus  microtuberculatus)  im  sclie- 
matisierten  Äledianschnitt.  Ansicht  von  der  linken  Körperseite.  Alle  Mesodermgebilde 
sind  weggelassen.  A  Gastrulastadium,  B  etwas  älteres,  sog.  Prismenstadium  (im  Anschlüsse 
an  Hermann  Schmidt),  an  After,  bp  Blastoporus  oder  Urmund,  ec  äußeres  Keimblatt  oder 
Ektoderm,  en  inneres  Keimblatt  oder  Entoderm,  f  primäre  Leibeshöhle,  /  Dünndarm 
(Intestinum),    m  Mundbucht,     mg  Magen,  oe  Oesophagus,    sp  Scheitelplatte,  hier  als  Akron 

bezeichnet,  nd  Urdarm. 


Typen 
der  Sonderuug 


214 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


f- 


^C 


Veranlassung  geben  (Fig.  39),  wie  bei  den  eben  erwähnten  Echinodermen. 
Schließlich  geraten  die  beiden  wichtigen  Urmesodermzellen,  die  sog.  Polzellen 
der  Mesodermstreifen  {ms  in  Fig.  43),  deren  Bedeutung  unten  zu  erörtern  sein 
wird,  durch  Einwanderung  zwischen  die  beiden  primären  Körperschichten. 
2.  Delamination  oder  Abspaltung.  Dieser  Fall  tritt  uns  entgegen, 
wenn  an  einem  mehrschichtigen  Epithel  eine  different  gewordene  tiefere  Zell- 
schicht von  der  oberflächlichen  Lage,  die  dann  mit  den  übrigen  nicht  veränder- 
ten Partien  des  Epithels  im  Zusammenhang  bleibt,  einfach  abgelöst  wird.  Es 
wird  das  Zentralnervensystem  vieler  Bilaterien  durch  Delamination  von  seinem 
Mutterboden,  dem  Ektoderm,  abgetrennt  (Fig.  40). 

3.  Abfaltung  liegt  dann  vor, 
wenn  eine  Epithelfalte  oder  eine 
epitheliale  Einstülpung  durch 
Verwachsung  ihrer  Ränder  von 
dem  betreffenden  Epithel,  wel- 
-~-7rv5  ches  die  Einstülpung  gebildet 
hat,  abgeschnürt  wird  (Fig.  41). 
Durch  diese  Abschnürung  wird 
die  Falte  zu  einem  Rohre  (Fig. 
41  B),  die  Einstülpung  zu  einem 
Säckchen  umgebildet  und  gleich- 
zeitig der  in  dem  Mutterboden 
vorhandene  Defekt  verschlossen. 
Die  Trennung  des  Urdarms  vom 
Blastoderm  unter  Verschluß  des 
Blastoporus  im  Falle  der  Bildung 
einer  Einstülpungsgastrula  kann  als  Beispiel  der  Abschnürung  eines  Säckchens 
gelten.  In  der  Gruppe  der  Chordaten  wird  das  Zentralnervensystem  durch  Ab- 
faltung vom  Ektoderm  getrennt.  Den  Chordatieren,  welchen  wir  die  Mantel- 
tiere, den  primitiv  veranlagten  Amphioxus  und  die  umfangreiche  Gruppe  der 
Vertebraten  zurechnen,  kommt  ein  röhrenförmiges  Nervensystem  zu,  dessen 
Anlage  als  Medullarrohr  bezeichnet,  durch  einen  Einfaltungsprozeß  vom  Ekto- 
derm abgetrennt  wird.  Durch  einen  ähnlichen  Prozeß  der  Abfaltung  sondert 
sich  bei  manchen  dieser  Formen  von  der  Urdarmwand  als  ein  primärer  axialer 
Skelettstab  der  Vorläufer  der  Wirbelsäule,  die  bekannte  Chorda  dorsalis. 

Wenn  wir  bisher  Fälle  ins  Auge  gefaßt  haben,  in  denen  einzelne  Organe 
von  den  beiden  primären  Keimesschichten  sich  lostrennend  in  die  primäre  Lei- 
beshöhle rücken:  das  Zentralnervensystem  vom  Ektoderm,  die  Chorda  vom 
Entoderm,  so  müssen  wir  die  Tatsache  ins  Auge  fassen,  daß  ein  großer  Komplex 
von  Organbildungen,  welche  bei  Bilaterien  den  Raum  zwischen  Haut  und 
Darmwand  erfüllen,  sich  in  der  Form  einer  gemeinsamen  embryonalen  Uran- 
lage  von  dem  Entoderm  loslöst,  um  sich  später  durch  Differenzierungsprozesse 
mannigfaltiger  Art  weiter  zu  gliedern.  Diese  gemeinsame  Anlage  ist  das  Meso- 
derm.    Durch  sein  Erscheinen  wird  dem  Schichtenbau  der  Bilaterien  eine  neue 


F^g-  39-  Gastrulastadium  eines  Haarsternes  (Antedon  rosaceus). 
Nach  Seeliger,  ec  Ektoderm,  en  Entoderm,  bp  Urmund  (Blasto- 
porus), ud  Urdarmhöhle,  /  primäre  Leibeshöhle,  nis  einwandernde 
Mesenchymzellen.  Die  Figur  zeigt,  wie  durch  Einwanderung  von 
Zellen  der  Urdarmwand  die  primäre  Leibeshöhle  {/)  mit  einer 
mesenchymatischen  Gewebsschicht  erfüllt  wird. 


Typen  der  Anlagen -Sonderung 


215 


wichtige,  mannigfaltige  Organbildungen  in  sich  bergende  mittlere  Schicht  hin- 
zugefügt, welche  man  als  mittleres  Keimblatt  den  beiden  ursprünglich  vorhan- 
denen Körperschichten:  Ektoderm  und  Entoderm  gegenübergestellt  hat.  Man 
hat  es  auch  wohl  mit  Rücksicht  auf  sein  verspätetes  Auftreten,  auf  sein  Fehlen 
bei  den  einfacheren  Formen  unter  den  Coelenteraten  als  ein  sekundäres  Keim- 
blatt bezeichnet,  während  man  die  beiden  ursprünglich  vorhandenen  und  schon 
im  Gastrulastadium  gegebenen  Schichten  als  primäre  Keimblätter  benannte. 
Durch  sein  Auftreten  sollten  auch  diese  letzteren  in  ihrem  Charakter  geändert 
werden.  Aus 
dem  primä- 
ren Ekto- 
derm geht 
nun  das  se- 
kundäre Ek- 
toderm her- 
vor, und 
ähnliche  Be- 
trachtungen 
gelten  auch 
für  das  Ento- 
derm, wel- 
ches    durch 


£C 


^ec 


^c 


-öö^ 


^ 


^c 


Fig.  40.  Schematisclie  Darstellung  der  Ent- 
wicklung des  Zentralnervensystems  (der  Bauch- 
ganglienkette) eines  Insektenembryos  im  Quer- 
schnitt. Die  Bauchganglienkette  wird  in  der 
Form  zweier  längsverlaufender  Ektoderm- 
verdickungen  angelegt,  welche  in  A  bei  gg 
querdurchschnitten  zu  sehen  sind.  B  und  C 
zeigen,  wie  diese  Anlage  sich  vom  Ektoderm  ec 
loslöst.  In  C  sind  die  beiden  Ganglienanlagen 
durch  eine  quere  Kommissur  verbunden.  Die 
Sonderung  vollzieht  sich  in  diesem  Falle  durch 
Delamination. 


Fig.  41.  Drei  Stadien  der  Gastrulation  (Bil- 
dung des  unteren  Blattes  74b)  bei  einem  Käfer- 
embryo im  Querschnitt.  Schema,  als  Beispiel 
einer  Sonderung  durch  Abfaltung.  Das  untere 
Blatt  oder  primäre  Entoderm  dieser  Insekten 
wird  in  der  Form  einer  längsverlaufenden 
Rinne  mit  verdicktem  Boden  (sog.  Mittel- 
platte m)  angelegt,  welche  in  Fig.  A  quer- 
durchschnitten zu  sehen  ist.  Indem  die  Ränder 
dieser  Rinne  (r  r)  sich  erheben  und  mit- 
einander verwachsen  (Fig.  B),  wird  die  Rinne 
zu  einem  Rohre  geschlossen  und  in  die  Tiefe 
versenkt  (Fig.  C).  Sie  wird  auf  diese  Weise 
vom  Ektoderm  ec  abgelöst. 


bildung. 


dieAbgliede- 
rung  des  Me- 
soderms  in 
hervorragen- 
dem Maße 
vereinfacht 
und  entlas- 
tet wird.  Aus 
diesemGrun- 

de  wurde  die  epitheliale  Auskleidung  der  Darmhöhle  nach  Abtrennung  des  Mesoderm- 
Mesoderms  wohl  auch  mit  besonderem  Namen  nach  Goette   als  Enteroderm 
(sekundäres  Entoderm)  bezeichnet. 

Schon  bei  den  Coelenteraten  fanden  wir  vielfach  eine  zwischen  Ektoderm 
und  Entoderm  eingeschobene  mittlere  Körperschicht:  das  Ektomesoderm,  von 
welchem  sich,  wie  erwähnt,  in  den  Entwicklungszuständen  der  Bilaterien,  vor 
allem  in  der  Trochophora,  Spuren  erhalten  haben.  Das  eigentliche  Mesoderm 
der  Bilaterien  ist  entodermalen  Ursprungs.  Man  müßte  es  demnach,  um  diese 
seine  Entstehungsweise  anzudeuten,  wohl  präziser  als  Entomesoderm  bezeich- 
nen. Da  aber  dieser  Ausdruck  auch  in  anderem  Sinne  (als  gemeinsame  Anlage 
von  Enteroderm  und  Mesoderm  vor  ihrer  Trennung,  also  gleichbedeutend  mit 
primärem  Entoderm)  im  Gebrauche  ist  und  da  das  Ektomesoderm  der  Bila- 
terien, vielfach  vollständig  fehlend  und  in  anderen  Fällen  frühzeitig  verschwin- 


2i6  K.  Heider :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

dend,  von  verhältnismäßig  geringer  Bedeutung  ist,  so  dürfte  es  sich  empfehlen, 
für  die  mittlere  Körperschicht  der  Bilaterien  den  alt  hergebrachten  Terminus 
Mesoderm  einfach  beizubehalten,  wobei  wir  nicht  aus  dem  Auge  verlieren,  daß 
wir  hierunter  mesodermale  Bildungen  entodermalen  Ursprungs  zusammenfassen. 

Das  Mesoderm  drängt  bei  seinem  Anwachsen  ein  etwa  vorhandenes  Ekto- 
mesoderm  (larvaler  Mesoblast)  bis  zu  seinem  Verschwinden  vor  sich  her.  Es 
liefert  später  alle  bindegewebigen  und  mesenchymatischen  Strukturen  des  Kör- 
pers, die  Anlage  der  Stammes-  und  Darmmuskulatur,  das  Blut  und  das  Blut- 
gefäßsystem, die  Nieren  und  die  Geschlechtsorgane. 

Die  Entwicklungsweise  des  Mesoderms,  die  Art  seiner  Abgliederung  vom 
primären  Entoderm  ist  entsprechend  den  unendlich  mannigfaltigen  Verhält- 
nissen der  Keimesentwicklung  derBilaterien  naturgemäß  eine  sehr  verschiedene. 
Hier  sollen  nur  zwei  weitverbreitete  Typen  derselben  ins  Auge  gefaßt  werden: 

1.  Die  Mesodermbildung  durch  Abfaltung  (Fig.  42).  Dieser  Typus 
wurde  durch  Kowalevsky  und  O.  Hertwig  für  Sagitta  festgestellt,  und  er 
findet  sich  in  zahlreichen  anderen  Fällen,  welche  meist  der  Gruppe  der  Deutero- 
stomia  zugehören.  Unter  den  Protostomia  zeigen  sich  nur  bei  den  Tentacu- 
laten  Andeutungen  dieser  Bildungsweise.  Bei  Sagitta  folgt  auf  das  durch  Ein- 
stülpung entstandene  Gastrulastadium  (Fig.  42  A)  ein  Entwicklungszustand,  in 
welchem  die  Darmanlage  durch  das  Auftreten  zweier  von  vorne  her  eindringen- 
der Falten  {jt)  eine  dreilappige  oder  kleeblattförmige  Gestalt  (Fig.  42  B)  er- 
hält. Durch  weiteres  Vorwachsen  dieser  Falten  (Fig.  42  C)  trennen  sich  all- 
mählich zwei  seitliche  Säckchen  von  der  Darmanlage,  bis  sie  sich  schließlich 
vollständig  abschnüren.  Wir  können  von  einer  Divertikelbildung  des  Urdarms, 
von  einem  vorübergehenden  Zustand  sprechen,  der  an  das  Gastrovascular- 
system  der  Coelenteraten  erinnert  und  vielfach  mit  ihm  verglichen  wurde.  Die 
beiden  seitlichen  Säckchen  stellen  die  Mesodermanlage  von  Sagitta  dar.  Der 
in  ihnen  enthaltene  Hohlraum  [c]  wird  als  Coelom  (sekundäre  Leibeshöhle) 
bezeichnet.  Da  es  sich  hier  um  Abgliederung  von  Hohlräumen  handelt,  welche 
ursprünglich  mit  der  Darmanlage  verbunden  waren,  so  wurde  dieser  Typus 
der  Mesodermbildung  auch  als  Enterocoelhüdung  bezeichnet.  Die  Zellen  des 
Mesoderms  bilden  hier,  epithelial  angeordnet,  die  Wand  der  beiden  Coelom- 
säcke.  Das  Coelom  der  Bilaterien,  wie  immer  es  auch  entstanden  sein  mag,  ist 
stets,  zum  Unterschied  von  der  primären  Leibeshöhle,  mit  Epithel  ausgekleidet. 

2.  Die  teloblasti-sche  Mesodermbildung  (Fig.  43).  Bei  vielen  Bi- 
laterien, so  besonders  bei  dem  schon  mehrfach  erwähnten  Trochophoratypus, 
tritt  die  Mesodermanlage  ungemein  frühzeitig  in  Erscheinung,  und  zwar  in 
der  Form  einer  einzigen,  durch  bestimmte  Merkmale  gekennzeichneten  Zelle, 
welche  ursprünglich  an  der  Grenze  von  Ektoderm  und  Entoderm,  und  zwar  im 
dorsalen  Teile  des  Blastoporusrandes  gelegen,  bald  in  den  Raum  zwischen 
beidert  Keimschichten,  in  die  primäre  Leibeshöhle  einwandert  (Fig.  43  A).  Wäh- 
rend sie  diese  Verlagerung  erfährt,  teilt  sie  sich  durch  das  Auftreten  einer  mit 
der  Medianebene  zusammenfallenden  Teilungsebene  in  zwei  gleich  große,  nun 
bilateralsymmetrisch     angeordnete     Tochterzellen     (Fig.  43  B),     welche     die 


Mesoclermbildung 


217 


bekannten    Urmesodermzellen  oder  Polzellen  der  Mesodermstreifen  darstellen 
{7ns  in  Fig.  43  C). 

Wir  müssen  es  uns  versagen,  auf  die  für  viele  Fälle  nun  schon  befriedigend 
aufgeklärte  erste  Entstehung  der  erwähnten  Mutterzelle  der  Mesodermanlage 
näher  einzugehen.     Sie  wird  in  den  Schriften,  welche  die  durch  Abstammung 


.-J?C 


£Jl 


-ms 


7T15 


-C 


~V77V 


Fig.  42.  Vier  Entwicklungsstadien  des  Pfeilwurmes  (Sagitta).  Schematisch  nach  O.H  rtwig.  A  Gastnilastadium 
im  Längsschnitt,  B  späteres  Stadium  im  Längsschnitt,  C  optischer  Querschnitt  durch  eine  Larve  von  Sagitta, 
D  Querschnitt  durch  eine  junge  Sagitta.  Die  Stadien  zeigen  die  Ausbildung  zweier  mesodermaler  Säcke,  welche 
seitlich  den  Raum  zwischen  Darm  und  äußerer  Haut  einnehmen.  bp  Urmund  (Blastoporus),  c  sekundäre  Leibes- 
höhle oder  Coelom,  d  dorsal,  dh  Darmhöhle;  dm  dorsales  Mesenterium,  ec  äußeres  Keimblatt  oder  Ektoderm 
en  inneres  Keimblatt  oder  Entoderm,  f  primäre  Leibeshöhle  (Rest  der  Furchungshöhle),  fi  Falten  der  Urdarm- 
wand,  durch  deren  Verwachsen  die  beiden  Coelomsäcke  von  der  Mitteldarmanlage  abgetrennt  werden,  »i  Mund- 
bucht, md  Mitteldarmanlage,  ms  Mesoderm,  d.  i.  Wand  der  Coelomsäcke,  sm  somatische  Schicht  des  mittleren 
Keimblattes,  sp  splanchnische  Schicht  des  mittleren  Keimblattes,  v  ventral,  vni  ventrales  Mesenterium. 


aufeinander  zurückführbaren  Zellfolgen  (cell-lineage  der  amerikanischen  Au- 
toren) im  Entwicklungsgeschehen  der  Anneliden  und  Mollusken  behandeln,  als 
die  Zelle  ^d  bezeichnet,  wodurch  ausgedrückt  ist,  daß  sie  dem  vierten  der  im 
Spiraltypus  der  Furchung  zur  Entwicklung  kommenden  Zellenquartette  an- 
gehört und  im  Bereiche  dieses  Quartettes  dem  dorsal  gelegenen  D-Quadranten 
zuzurechnen  ist.  Wenn  wir  diese  Details  hier  anklingen  lassen,  so  geschieht  es 
nur,  um  darauf  hinzuweisen,  daß  das  vierte  Quartett  in  seinen  übrigen  Gliedern 


2l8 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Entodermzellen  liefert,  wodurch  die  Zugehörigkeit  der  primären  Mesodermzelle 
zum  primären  Entoderm  festgestellt  erscheint. 

Die  beiden  Urmesodermzellen  (die  Tochterzellen  der  Zelle  4d,  ms  in 
Fig.  43  B)  erzeugen  durch  wiederholte  Zellknospung  zwei  Reihen  kleinerer  Toch- 
terzellen {ms'  in  Fig.  43  C),  welche  sich  an  der  Ventralseite  des  Keimes  streifen- 
förmig anordnen.     So  entstehen  die  beiden  Mesodermstreifen.    Durch  Zellver- 


^71 


-7715 


Fig.  43.  Mesodermbildung  an  einer  Anneliden-Trochophora. 
Vgl.  Fig.  6  und  Fig.  36.  A  und  B  Gastrulastadium.  Nacli 
Hatschek.  A  Medianschnitt,  Ansicht  von  der  linken  Seite, 
B  Ansicht  von  der  Dorsalseite.  C  kombiniertes  Schema  einer 
Trochophora,  Ansicht  von  der  linken  Seite,  an  After,  bp  Ur- 
raund  (Blastoporus),  ec  äußeres  Keimblatt  (Ektoderm),  en  inneres 
Keimblatt  (Entoderm),  7«  Mund,  wir  Urmesodermzellen,  ,vij' Meso- 
dermstreifen, mi  Metatroch  (postoraler  Wimperkranz),  pf  Proto- 
troch  (praeoraler  Wimperkranzi.  sp  .Scheitelplatte. 


mehrung  zu  vielzelligen  Streifen  geworden,  stellen  sie  ursprünglich  eine  solide 
Zellmasse  dar,  in  welcher  später  durch  Spaltung  die  Anlage  der  sekundären 
Leibeshöhle,  des  Coeloms,  entsteht  (Fig.  6l).  Wenn  das  Coelom  aufgetreten  ist, 
ordnen  sich  die  Mesodermzellen  zu  einem  diesen  Hohlraum  umschließenden 
Epithel  an.  Das  Endresultat  des  Entwicklungsvorganges  ist  schließlich  das- 
selbe wie  bei  der  Enterocoelbildung.  Es  entstehen  auch  hier  paarige,  von 
mesodermalem  Epithel  (Mesepithel  oder  Mesothel)  umkleidete  Coelomsäckchen. 

Die  teloblastische  Mesodermbildung  verhält  sich  zur  Mesodermbildung 
durch  Abfaltung  so,  wie  die  Entodermbildung  durch  polare  Einwanderung 
(vgl.  S.  197J  sich  zur  Bildung  einer  Einstülpungsgastrula  verhält. 

Es  sei  erwähnt,  daß  einzelne  Zellen  der  mesodermalen  Anlage,  in  die  pri- 
märe Leibeshöhle  einwandernd  zur  Bildung  von  Mesenchymgewebe  Veranlassung 


Mesodermbildung.     Die  Würmer  im  Allgemeinen  2  l  Q 

geben  können.  Auf  diese  Weise  entstehen  die  Bindesubstanzen  des  Körpers, 
die  mesenchymatische  Muskulatur  der  Darmwand  und  das  Blutgewebe. 

Können  wir  die  beiden  auseinandergehaltenen  Typen  der  Mesodermbildung 
irgendwie  aufeinander  zurückführen?  Mit  Rücksicht  auf  den  Umstand,  daß 
im  Gastrovascularsystem  der  Coelenteraten  etwas  Vergleichbares  gegeben  ist, 
werden  wir  geneigt  sein,  die  Enterocoelbildung  als  den  ursprünglichsten  Typus 
anzusehen.  Die  Bildung  von  Urmesodermzellen  könnte  als  eine  Verlegung  der 
Mesodermbildung  in  früheste  Stadien  der  Ontogenie  aufgefaßt  und  so  betrach- 
tet werden,  wie  wenn  es  sich  um  die  Bildung  zweier  nur  je  aus  einer  Zelle  be- 
stehender, gewissermaßen  zusammengeschrumpfter  Urdarmdivertikel  handelte. 

Als  gemeinsame,  die  Bilaterien  von  den  Coelenteraten  trennende  Merkmale 
traten  uns  entgegen:  die  Entwicklung  einer  neuen,  auf  die  primäre  Gastrula- 
achse  nicht  zurückführbaren  Körperlängsachse,  das  Auftreten  bilateraler  Sym- 
metrie, die  Entstehung  eines  entodermalen,  in  Mesenchym  und  Coelomepithel 
gegliederten  Mesoderms,  das  Vorhandensein  mesodermaler  Gonaden  und  meso- 
dermaler  Körpermuskulatur,  sowie  der  Besitz  besonderer  Exkretionsorgane. 


IV.  VERMES.    WURMER. 

Der  Begriff  der  ,, Würmer",  der  schwer  zu  umgrenzen  und  vom  Stand- 
punkte strengerer  wissenschaftlicher  Systematik  kaum  haltbar  ist,  mag  hier 
nur  als  populärer  Sammeltypus  gelten.  Seit  den  Zeiten  Grubes,  der  im  Jahre 
1850  auf  die  Schwierigkeiten,  diese  Gruppe  als  systematische  Einheit  zu  cha- 
rakterisieren, hinwies  und  dem  1877  Lankester  folgte,  haben  bis  auf  unsere 
Tage  die  Versuche  nach  natürlicherer  Anordnung  der  Formen,  nach  Aufstellung 
besser  begründeter  Gruppen  angedauert.  Man  mag  auf  die  den  Würmern  zu- 
kommende und  sie  von  den  Coelenteraten  trennende  Bilateralität  des  Körper- 
baues, auf  die  meist  mehr  langgestreckte,  nicht  selten  dorsoventral  abgeflachte 
Körpergestalt,  auf  ihre  kriechende  Lebensweise  aufmerksam  machen  und  im 
Anschluß  an  letztere  in  dem  Besitz  eines  sog.  ,, Hautmuskelschlauches"  ein 
gemeinsames  Merkmal  der  gesamten  Gruppe  statuieren,  immer  wird  man  es 
hier  mit  Charakteren  zu  tun  haben,  die  zum  Teil  nicht  allen  hierherzuzählenden 
Formen  zukommen,  zum  Teil  auch  anderen  Formen,  die  wir  mit  gutem  Grunde 
aus  dem  Verwandtschaftskreise  der  Vermes  ausschließen,  eigentümlich  sind. 
So  sei  beispielsweise  erwähnt,  daß  ein  eigentlicher  Hautmuskelschlauch  den 
Rotatorien,  die  man  mit  Rücksicht  auf  ihre  Beziehungen  zur  Annelidentrocho- 
phora  den  Würmern  zurechnen  muß,  fehlt,  während  Balanoglossus,  eine  Form, 
die  wir  von  den  Würmern  trennen  und  zu  den  Echinodermen  in  Beziehung  brin- 
gen, durch  Körpergestalt,  Bewegungsform  und  durch  den  Besitz  eines  Haut- 
muskelschlauches sich  den  Würmern  nähert. 

Es  muß  erwähnt  werden,  daß  bei  den  niederen  Formen  der  Würmer 
(Turbellarien,  Rotiferen),  sowie  bei  den  Jugendzuständen  der  höheren  Formen 
Wimperbewegung  für  die  Lokomotion  noch  stark  in  Frage  kommt.  Sie  schlie- 
ßen sich  an  die  Ctenophoren  an,  die  ja  mittels  Wimperapparaten  schwimmen. 


2  20  K.  Heider ;  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Der  „Hautmuskelschlauch",  welcher  für  die  kriechende  Vorwärtsbewegung  der 
Würmer  als  Hauptapparat  zu  gelten  hat,  besteht  in  der  innigen  Verbindung,  in 
welche  die  Körpermuskulatur  als  tiefere  Schicht  zur  oberflächlichen  Haut- 
schicht tritt  (vgl.  Fig.  49  mu).  Wenn  letztere,  häufig  durch  Cuticularbildungen 
verstärkt,  gewissermaßen  das  Skelettsystem  dieser  Formen  repräsentiert,  so 
kommt  die  darunter  gelegene  und  mit  ihr  innig  verwachsene  Muskelschicht  als 
bewegendes  Stratum  hinzu.  Es  sei  erwähnt,  daß  diese  Muskellage  meist  in 
mehrere  Schichten  zerfällt  (Ringmuskellage,  Längsmuskelschicht  usw.)  und 
daß  die  Längsmuskellage  gewöhnlich  nicht  vollständig  kontinuierlich  sich  unter 
der  Haut  ausdehnt,  sondern  häufig  in  gesonderte  längsverlaufende  Züge  (dor- 
saler und  ventraler  Körperlängsmuskel,  Fig.  58  B  md  und  mv)  zerfällt.  Immer- 
hin ist  für  die  Würmer  im  allgemeinen  die  Anordnung  der  Körpermuskulatur  in 
mehr  kontinuierlichen  Schichten,  das  Fehlen  oder  Zurücktreten  einzelner  ge- 
sonderter Muskelgruppen  festzuhalten. 

Wir  betreten  gesicherteren  Boden,  wenn  wir  von  einer  Betrachtung  der 
Würmer  als  systematischer  Einheit  absehen  und  zu  einer  Scheidung  dieses 
Stammes  in  zwei  Untergruppen,  die  man  als  Scolecides  (niedere  Würmer)  und 
Annelides  (Ringelwürmer  oder  höhere  Würmer)  bezeichnet,  fortschreiten. 

Unsere  Vorstellungen  von  der  Art  und  Weise,  wie  sich  die  Würmer  aus  dem 
Stamme  der  Coelenteraten  hervorgebildet  haben,  werden  sich  stets  auf  eine 
Betrachtung  der  Entwicklungsweise  der  Würmer,  auf  einem  Studium  ihrer 
Jugendzustände  und  Larvenformen  aufzubauen  haben.  Schon  oben  hatten  wir 
Gelegenheit,  dieses  Gebiet  zu  streifen.  Es  mag  als  dienlich  erscheinen,  wenn  wir 
die  Betrachtung  der  Würmer  mit  einer  Beschreibung  eines  in  den  theoretischen 
Auseinandersetzungen  der  letzten  Jahrzehnte  vielfach  herangezogenen  Jugend- 
zustandes, der  sog.  Trochophoralarve  (Fig.  36,  43,  44  und  45)  der  Anneliden  ein- 
leiten. Man  kann  aussprechen,  daß  im  Trochophoratypus  eine  Jugendform  vor- 
liegt, welche  in  geheimnisvoller,  für  uns  noch  nicht  völlig  klar  zu  durchschau- 
ender Weise  Beziehungen  zu  den  verschiedensten  Stämmen  der  Bilaterien  an- 
deutet. Die  Trochophora  ist  zunächst  die  typische  Larvenform  der  Anneliden 
und  Mollusken.  Aber  auch  die  Jugendformen  anderer  Stämme  des  Tierreiches: 
der  Brachiopoden  und  Bryozoen,  ja  selbst  die  Larve  von  Balanoglossus,  die  eigen- 
artige Tornaria,  scheinen  Anklänge  an  den  Trochophoratypus  zu  besitzen.  Hier 
beschäftigt  sie  uns  zunächst  als  ein  Entwicklungsstadium  der  Würmer,  als  ein 
Jugendzustand,  aus  dessen  einfacher  Beschaffenheit  der  zusammengesetztere 
Bau  der  ausgebildeten  Formen  abzuleiten  ist.  Es  mag  auffallen,  daß  wir  die 
Betrachtung  der  Würmer  mit  der  Beschreibung  einer  Jugendform  einleiten, 
die  in  typischer  Entwicklung  sich  nur  bei  den  höheren  Würmern,  den  Anneliden, 
vorfindet.  Die  freischwimmenden  Larven  mancher  mariner  Scoleciden,  wie  die 
Müllersche  Larve  der  Turbellarien,  die  Pilidiumlarve  der  Nemertinen,  lehnen 
sich  nur  in  entfernterer  Weise  an  den  wohlcharakterisierten  Trochophoratypus 
an.  Unser  Vorgehen  mag  gerechtfertigt  erscheinen  durch  die  Überlegung,  daß 
wir  den  Scoleciden  auch  die  Rotatorien  oder  Rädertierchen  zurechnen,  die  im 
ausgebildeten  Zustande  der  Trochophora  nahestehen,   und    daß  die   neueren 


Hautmuskelschlauch.     Die  Trochophoralarve  22  1 

Untersuchungen  über  die  ersten  Entwicklungsvorgänge  der  Turbellarien  und 
Nemertinen  eine  weitgehende  Übereinstimmung  mit  der  Entwicklung  der 
Anneliden  und  Mollusken  ergeben  haben.  Wie  Surface  für  die  Turbellarien, 
Ch.  B.Wilson,  E.  B.  Wilson,  Zeleny  und  andere  für  Nemertinen  nachgewiesen 
haben,  finden  wir  hier  in  dem  Spiraltypus  der  Furchung,  in  der  Art  der  Ent- 
wicklung eines  ektodermalen  Mesenchyms,  in  der  Hervorbildung  der  telo- 
blastisch  erzeugten  Mesodermstreifen  typische,  der  Annelidenentwicklung  sich 
annähernde  Züge. 

Die  Trochophora  der  Anneliden  (Fig.  44)  erinnert  in  ihrer  Gestalt  an  eine  Bau 
kleine  Rippenqualle  (Fig.  30),  etwa  an  eine  jener  kleinen  Cydippiden,  welche  im  '^''■"trochophora. 
Plankton  des  Meeres  so  häufig  gefunden  werden.  Hier  wie  dort  eine  Annähe- 
rung an  die  Gestalt  eines  Ballons.  Beide  Formen  stimmen  auch  darin  überein, 
daß  ihr  Scheitelpol  von  einem  mächtigen  apicalen  Sinnesorgan  [sp)  eingenom- 
men ist  und  daß  sie  sich  durch  Wimperbewegung  im  Wasser  schwimmend  erhal- 
ten. In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  nicht  um  eine  allgemeine  Bewimperung 
der  gesamten  Körperoberfläche,  wie  wir  eine  solche  bei  vielen  anderen  Larven- 
formen und  bei  manchen  niederen  Würmern  (Turbellarien)  vorfinden,  sondern 
um  bestimmt  lokalisierte,  aber  dafür  um  so  mächtiger  entwickelte  Wimper- 
apparate. Wenn  bei  den  Ctenophoren  (Fig.  30  und  31)  acht  in  Meridianen  ver- 
laufende Rippen  von  Wimperplättchen  den  Lokomotionsapparat  darstellen,  so 
handelt  es  sich  bei  der  Trochophora  (Fig.  44)  um  gürtelförmig  angeordnete 
Wimperzonen  (Troche).  Vor  allem  fällt  an  der  Trochophora  eine  bewimperte 
äquatoriale  Zone  ins  Auge,  durch  welche  der  Körper  in  zwei  Hälften  geschieden 
wird.  Wir  bezeichnen  die  vordere  oder  obere  Hälfte  als  Scheitelfeld  oder 
Episphaere,  die  hintere  oder  untere  als  Gegenfeld  oder  Hyposphaere.  Die  äqua- 
toriale Wimperzone  besteht  aus  zwei  sie  begrenzenden  Wimperreifen  und  einer 
dazwischen  liegenden  fein  bewimperten  adoralen  Wimperzone.  Von  den  Wim- 
perreifen wird  der  mächtigere  vordere  als  Prototroch  {pt),  auch  als  Trochus  oder 
präoraler  Wimperkranz  benannt.  Er  besteht  aus  einer  Doppelreihe  mächtiger 
Wimperzellen,  unter  denen  sich  ein  Ringnerv  hinzieht.  Der  hintere  Wimper- 
reifen wird  als  Metatroch  {mt),  Cingulum  oder  postoraler  Wimperkranz  bezeich- 
net. Zur  Vervollständigung  der  Schilderung  der  Bewimperung  der  Larve  sei 
hinzugefügt,  daß  sich  nicht  selten  ein  hinterer  in  der  Nähe  des  Afters  gelegener 
Wimperkranz,  Paratroch  oder  präanaler  Wimperkranz  {HWR  in  Fig.  45c)  vor- 
findet, daß  das  apicale  Sinnesorgan  einen  mächtigen,  als  Steuerruder,  vielleicht 
auch  zur  Sinnesperzeption  dienenden  Wimperschopf  trägt  und  daß  sich  an  der 
Bauchseite  der  Larve  vom  Munde  bis  zur  Afteröffnung  eine  bewimperte  Furche 
(Neurotrochoid  nach  Eisig,  nt  Fig.  44),  hinzieht. 

Wie  sich  schon  aus  der  letztgemachten  Angabe  ergibt,  ist  die  Trocho- 
phora deutlich  bilateral-symmetrisch  gebaut  (Fig.  44  B  und  C).  Die  Hauptachse 
zieht  von  dem  apicalen  Sinnesorgan  {sp),  der  Scheüelplatte,  zu  dem  entgegen- 
gesetzten Körperende,  an  welchem  sich  die  Afteröffnung  {an)  vorfindet.  Sie 
entspricht  der  Körperlängsachse  des  aus  der  Trochophora  hervorgehenden 
Wurmes  (Fig.  45c).   Daher  bezeichnen  wir  den  Scheitelpol  der  Hauptachse  als 


222 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


den  vorderen,  den  Afterpol  als  den  hinteren  Pol  der  Larve.  Die  Bauchseite 
wird  durch  das  Vorhandensein  der  ebenerwähnten  Neurotrochoidfurche  und 
durch  die  Lage  der  Mundöffnung  (Fig.  44  m,  45  0)  gekennzeichnet.    Letztere 


nv 


Fig.  44.  Schematische  Darstellung  der  Trochophora- 
larve  eines  marinen  Ringelwurraes.  Im  Anschlüsse 
an  Hatschek.  Vgl.  Fig.  43  C  und  Fig.  45. -J.  A  An- 
sicht von  der  linken  Körperseite,  B  Ansicht  von  der 
Ventralseite,  C  Ansicht  vom  Scheitelpole.  In  A  und  C 
schimmert  von  den  inneren  Organen  der  Darm  durch. 
a — «'Hauptachse,  an  After,  </ dorsal,  /links,  ?«  Mund, 
nis  Mitteldarra  oder  Mesenteron,  nii  postoraler  Wimper- 
kranz oder  Metatroch,  ni  ventrale  Flimmerrinne  oder 
Neurotrochoid,  pr  Hinterdarm  oder  Proctodaeum, 
pt  praeoraler  Wimperkranz  oder  Prototroch,  r  rechts, 
sp  apicales  Sinnesorgan  oder  sog.  Scheitelplatte. 
st  Vorderdarra  oder  Stomodaeum,  v  ventral. 


r-- 


findet  sich  in  der  adoralen  Wimper- 
zone zwischen  präoralem  und  post- 
oralem Wimperkranz. 

Wie  sich  aus  derTrochophora  der 
spätere  Ringelwurm,  das  ausgebildete 
Annelid,  hervorbildet  (Fig.  45),  soll 
an  anderer  Stelle  behandelt  werden. 
Hier  sei  nur  erwähnt,  daß  eigentlich 
der  ganze  Körper  des  Wurms  durch  einen  sekundären  Wachstumsprozeß,  einem 
Knospungsvorgang  vergleichbar,  hinten  in  der  präanalen  Region  hinzugebildet 
wird.  Wie  wir  durch  die  neueren  Untersuchungen  von  Woltereck  wissen,  fällt 
der  größte  Teil  der  Trochophora  bei  der  Umbildung  in  den  späteren  Wurm 
einem  weitgehenden  Auflösungs-  oder  Zerstörungsprozeß  anheim,  und  nur  ge- 
wisse Organe  der  Trochophora  werden  in  den  Körper  des  definitiven  Wurmes 
übernommen.   Es  ergibt  sich  hieraus,  daß  wir  an  der  Trochophora  larvale  Or- 


Bau  der  Trochophora 


22^ 


gane,  die  dem  Untergang  gewidmet  sind,  von  definitiven  zu  unterscheiden  haben. 
Es  werden  aus  der  Trochophora  in  das  ausgebildete  Annelid  übernommen: 

1.  die   Scheitelplatte,  welche  die  Anlage  des  Kopflappens  des  Wurmes  dar- 
stellt ; 

2.  die  ebenerwähnte   Knospungszone    der  präanalen   Region   als  Anlage  des 
Wurmrumpfes,   welcher  wir  auch  die  r 
Mesodermstreifen     als     Coelomanlage 
anzuschließen  haben; 

3.  der  Darmkanal,  welcher  aber  auch  in 
seinen    vorderen  c 


Abschnitten     ei- 
ner       teilweisen 
Auflösung      und 
Rekonstruktion 
unterliegt; 
4.  gewisse  Teile  des 
Nervensystems 
und  der  Muskula- 
tur. 
Der  Darm   der 
Trochophora,  im  In- 
neren     bewimpert, 
hat  einen  bogenför- 
migen  Verlauf,    in- 
dem er  von  der  zwi- 
schen      Prototroch 
und  Metatroch  ven- 
tral gelegenen 
Mundöffnung    (Fig. 
36D)beginnend,dem 

t-prminal  hinf-pn  c:irVl  ^'S- 45-    Larvenstadien    eines  Ringelwurms.   Polygordius  nach  Hatschek  aus  Grob- 

LCimiUd,!  IIIULCU  blCll  jjjj^g    Lehrbuch.       A    Trochophorastadium,     Sp    Scheitelplatte    mit    Augenfleck,  Pra- 

findenden  After    zu-  praeoraler  Wimperkranz  (Prototroch),     O  Mund,    Pow   postoraler  Wiraperkranz  (Me- 
tatroch),    A  After,     Afs  Mesodermstreifen,      ÄiV  Protonephridium    (Exkretionsorgan). 

strebt.         iLr    besteht  B  Metatrochophora.  An  der  Kopfniere  hat  sich  noch  ein  zweiter  Schenkel   entwickelt. 

1       •                    f  ■       Vi  ^  älteres  Stadium.     Der  Rumpf  erscheint   wurmförmig   gestreckt    und   in   zahlreiche 

aus      drei      genetlSCn  Metameren  gegliedert.    Hl'Vk  hinterer  Wimperkranz  (sog.  Paratroch),  4/"Augenfleck, 

verschiedenen    Tei-  ^  FüWer. 

len:  Stomodaeum  {st),  Mesenteron  {ms)  und  Proctodaeum  {pr).  Von  diesen  ist, 
wie  erwähnt,  das  Mesenteron  aus  dem  Urdarm  des  Gastrulastadiums  hervor- 
gegangen, während  Stomodaeum  und  Proctodaeum  sekundär  als  Ektoderm- 
einstülpungen  hinzugebildete  Darmabschnitte  sind.  Das  Stomodaeum,  der  vor- 
derste Darmabschnitt,  wird  hier  als  Schlund  (Pharynx)  bezeichnet.  Ihm  schließt 
sich  dasretortenförmige  Mesenteron  an,  aus  zwei  Abschnitten  bestehend:  einem 
vorderen  erweiterten  Magen  und  einem  hinten  sich  anfügenden  trichterförmig 
verengten  Intestinum,  welches  meist  ohne  deutliche  Grenze  in  das  kurze  Procto- 
daeum (Enddarm)  übergeht. 


224 


K.  Heider  .  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


— ^if^ 


Zwischen  Darmwand  und  äußerer  Haut  dehnt  sich  ein  mit  Gallerte  erfüllter 
Raum  aus,  den  wir  seinem  Ursprünge  nach  auf  die  Furchungshöhle  zurückführen 
und  als  primäre  Leibeshöhle  bezeichnen.  In  ihm  finden  sich  Bindegewebszellen 
und  Muskelzellen,  ein  larvales  Mesenchym  ektodermalen  Ursprunges  darstellend. 

Das  Nervensystem  hat  eine  epitheliale, 
resp.  subepitheliale  Lage.  Als  Hauptzentrum 
tritt  uns  in  der  Scheitelplatte  (Fig.  44  sp) 
eine  epitheliale  Nervensinnesplatte  entgegen, 
in  welcher  wir  die  Anlage  des  Oberschlund- 
ganglions des  Wurmes  erkennen.  Hier  fin- 
den wir  als  Sinnesapparate :  zwei  Tentakel- 
anlagen {F  Fig.  45  C,  Primär-  oder  Apicalten- 
takel),  zwei  (oder  vier)  Augen  (.^/Fig.  45C) 
und  zwei  laterale  als  Geruchsorgan  zu  deu- 
tende Flimmergruben. 

Von  dem  Ganglion  der  Scheitelplatte 
strahlen  in  radiärer  Richtung  acht  Nerven 
aus,  von  denen  zwei  besonders  mächtige  als 
Anlage  der  Schlundcommissur  zu  deuten 
sind.  Sie  erstrecken  sich  bis  an  das  Hinter- 
ende der  Larve,  wo  sie  an  die  in  den  Rumpf- 
keimen sich  entwickelnde  Anlage  der  Bauch- 
ganglienkette sich  anfügen.  Außerdem  fin- 
det sich  ein  larvaler  subepitheliai  gelegener 
Plexus  von  Ganglienzellen  mit  von  ihnen 
ausgehenden  verzweigten  und  netzförmig 
verbundenen  feinsten  Ausläufern. 

Als  Exkretionsorgane  der  Trochophora 
finden  wir  ein  Paar  von  feinen  bewimperten 
Röhrchen   (Fig.  45  Kn),  welche  an  der  Ven- 
Fig.  46.  A  Exkretionsorgan  (Protonephridium)  der    tralseitc  der  Hyposphacrc  ausmündcu.  Dicsc 

Trochophora    von   Polygordius.      Nach   Hatschek.  i  i        i      -n 

B  ein   Endköpfchen    desselben  vergrößert.     Nach     larvalcu  NicrCU  WCrdcU  WOhl  aUCh  als  ProtO- 

GooDRiCH  aus  Meisenheimer.    p- Geißeln,  jö  Soleno-  i'i-  i  -i  2.T  ■  TP-n 

cytenrohrchen.  nephndicu  bezcichnct.    in  gewissen  r  allen 

besitzen  sie  Verzweigungen,  deren  innere, 
gegen  die  primäre  Leibeshöhle  gerichtete  Enden  mit  eigentümlichen  köpfchen- 
artigen Endgebilden  blind  endigen  (Fig.  46).  Wir  finden  in  diesen  Endköpfchen 
eine  wechselnde  Zahl  von  sog.  Solenocyten,  d.  i.  Zellen,  die  in  ihrem  Inneren 
einen  gestreckten  Kanal  oder  ein  Röhrchen  bergen,  in  welchen  sich  eine  lange, 
an  dem  Ende  des  Röhrchens  befestigte  Geißel  wellig  bewegt  {so  Fig.  46). 

Den  Organbildungen  der  Trochophora  gehören  endhch  auch  die  Mesoderm- 
anlagen  des  definitiven  Rumpfabschnittes  an.  Je  nach  dem  Entwicklungs- 
stadium finden  wir  in  der  Nähe  des  Enddarms  ventralwärts  die  paarigen  Ur- 
mesodermzellen,  oder  von  diesen  produzierte  paarige  Mesodermstreifen  (Fig.  43), 
an  denen  man  vielfach  bereits  die  erste  auftretende  Spur  segmentaler  Gliede- 


Bau  und  Entwicklung  der  Trochophora  225 

rung  und  die  in  den   Segmenten  sich  ausbildenden  Coelomhöhlen  erkennen 
kann   (Fig.  61). 

Zu  den  wesentlichsten  Zügen  der  Trochophora  ist  zu  rechnen,  daß  es  sich 
bei  ihr  um  eine  primitive  Wurmform  handelt,  bei  welcher  der  Raum  zwischen 
Hautschicht  und  Darmwand  eine  primäre  Leibeshöhle  ist,  in  der  wir  neben 
larvalem  Bindegewebe  und  Muskulatur  noch  zwei  Organanlagen  vorfinden:  ein 
Excretionsorgan  von  der  Ausbildungsstufe  des  Protonephridiums  (bewimperte 
Kanälchen  mit  blinden  Enden,  die  sich  durch  charakteristische  Terminal- 
körperchen  kennzeichnen)  und  die  in  den  Mesodermstreifen  enthaltene  Anlage 
der  Coelomhöhlen, 

Mit  ein  paar  Worten  sei  es  gerechtfertigt,  wenn  wir  in  der  Trochophora  eine 
Form  erblicken,  die  sich  in  gewissen  Beziehungen  an  die  Ctenophoren  anlehnt. 
Nach  dieser  Richtung  deutet  zunächst,  wie  wir  eingangs  erwähnten,  der  Besitz 
eines  komplizierten  apicalen  Sinnesapparates,  von  welchem  acht  Radiärnerven 
ausstrahlen.  Auch  in  der  hier  nicht  näher  erörterten  Anordnung  des  larvalen 
subepithelialen  Gangliennetzes  und  der  larvalen  Muskulatur  ist  eine  Hinneigung 
zu  vierstrahlig  radiärer  Symmetrie  nicht  zu  verkennen  (Janowsky).  Noch 
deutlicher  weisen  nach  dieser  Richtung  gewisse  Züge  der  ersten  embryonalen 
Entwicklung  der  Trochophora,  auf  welche  wir  hier  nicht  näher  eingehen  kön- 
nen. Der  Furchungsablauf  (cell-lineage)  der  Anneliden  ist  neuerdings  durch  die 
Untersuchungen  von  E.  B.  Wilson,  Child,  Mead,  Treadwell,  Woltereck  und 
anderen  bis  in  die  genauesten  Details  verfolgt.  Diese  Untersuchungen  lassen 
erkennen,  daß  der  Embryo  in  seinem  Aufbau,  in  der  Anordnung  der  Furchungs- 
kugeln,  in  dem  Vorhandensein  der  so  merkwürdigen  Kreuzfigur  der  Episphaere 
usw.  deutliche  Spuren  vierstrahliger  Radiärsymmetrie  erkennen  läßt.  Besonders 
sei  erwähnt,  daß  die  erste  Anlage  des  Prototrochs  aus  vier  interradial  gelege- 
nen gesonderten  Partien,  die  später  miteinander  verschmelzen,  gebildet  wird. 

Wenn  wir  in  kurzem  auf  die  ersten  Entwicklungsvorgänge  der  Trocho-  Entwicklung 
phora  zu  sprechen  kommen,  so  sei  erwähnt,  daß  die  Furchung  der  Anneliden  in  Trochophora. 
manchen  Fällen  eine  mehr  äquale,  in  anderen  eine  deutlich  inäquale  ist.  Sie 
weist  immer  den  für  viele  Gruppen  der  Wirbellosen  (so  auch  für  die  Mollusken) 
charakteristischen  Spiraltypus  auf.  Es  wird  eine  Coeloblastula  mit  meist  kleiner 
Furchungshöhle  gebildet.  Die  Gastrula  kann  durch  Invagination  der  Zellen 
der  vegetativen  Hälfte  (Fig.  36  A)  oder  durch  Epibohe  gebildet  werden. 
Frühzeitig  macht  sich  als  Ectodermverdickung  am  animalen  Pole  die  Anlage 
der  Scheitelplatte  bemerkbar  und  ebenso  frühzeitig  erkennt  man  die  ersten 
Spuren  der  äquatorialen  Prototrochanlage  (Fig.  36).  Der  Blastoporus  liegt  ur- 
sprünglich der  Scheitelplatte  gegenüber  in  der  Mitte  der  Hyposphaere;  wie 
sich  während  seines  allmählichen  Verschlusses  eine  Lageveränderung  bemerk- 
bar macht,  so  daß  der  Mund  als  Blastoporusrest  schließlich  an  der  Ventralseite 
bis  zum  Prototroch  emporrückt,  wurde  oben  geschildert-.  Wir  müssen  aber 
nicht  bloß  den  Mund  (resp.  die  Schlundpforte)  als  Blastoporusrest  betrachten. 
Aus  dem  Blastoporus  geht  auch  eine  mediane  (im  Neurotrochoid  verlaufende 
Verwachsungsnaht,  Gastrularaphe)  und  die  Afteröffnung  hervor. 

K.  d.  G.  in.  IV,  Bd  2  ZeUenlehre  etc.  II  1 5 


2  26  K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Aus  dem  Darm  der  Gastrula  wird  der  Magen  und  Dünndarm  (Intestinum) 
gebildet,  Oesophagus  und  Enddarm  sind  sekundär  durch  Ectodermeinstülpun- 
gen  hinzugebildet. 

Das  larvale  Mesenchym  ist  ein  Ectomesoderm.  Es  entstammt  gewissen 
Ectodermzellen,  welche  frühzeitig  in  die  Furchungshöhle  (primäre  Leibeshöhle) 
einwandern.  Auch  in  dieser  Hinsicht  schließt  sich  die  Trochophora  an  die 
Coelenteraten  und  insbesondere  an  die  Ctenophoren  an,  bei  denen  ja  auch  das 
Mesenchym  durch  einwandernde  Ectodermzellen  geliefert  wird.  Die  erste  Anlage 
des  Protonephridiums  ist  vielleicht  noch  nicht  mit  aller  wünschenswerten  Sicher- 
heit festgestellt.  Aus  den  Angaben  von  Woltereck  und  Shearer  istzu  schließen, 
daß  auch  die  Anlage  dieses  larvalen  Organes  dem  Ectoderm  zuzurechnen  ist. 

Von  der  Entwicklung  der  Mesodermstreifen  (Fig.  43)  haben  wir  schon  oben 
gesprochen.  In  frühen  Stadien  trennen  sich  vom  Entoderm  zwei  bilateral  sym- 
metrisch gelegene  Zellen  ab,  welche  ursprünglich  dem  dorsalen  Blastoporus- 
rande  angehören.  Es  sind  die  beiden  Urmesodermzellen  oder  Polzellen  des 
Mesoderms,  welche  durch  successive  Teilung  eine  Anzahl  kleinerer  Zellen  lie- 
fern, die  rechts  und  links  in  streifenförmiger  Anordnung  als  ,, Mesodermstrei- 
fen" zu  erkennen  sind.  Ursprünglich  verlaufen  diese  Mesodermstreifen  von  der 
Dorsalseite  gegen  die  Ventralseite,  also  dem  Prototroch  parallel.  Bei  der  später 
erfolgenden  Verlagerung  des  Urmundes  erleiden  auch  die  Mesodermstreifen 
eine  Lageveränderung.  Sie  werden  nun  als  Ganzes  mehr  gegen  die  Ventralseite 
verlagert  und  gleichzeitig  senkrecht  aufgerichtet.  Es  liegen  dann  die  beiden 
Urmesodermzellen  ventralwärts  von  der  inzwischen  zur  Ausbildung  gekomme- 
nen Afteröffnung,  während  die  Mesodermstreifen  rechts  und  links  von  der  ven- 
tralen Mittellinie  gegen  den  Prototroch  emporsteigen. 

A.  Scoleciden.     Niedere  Würmer. 

Wir  rechnen  zu  den  Scoleciden  alle  jene  Würmer,  welche  mit  der  Trocho- 
phora in  dem  einen  Punkte  übereinstimmen,  daß  sich  zwischen  Darmwand  und 
äußerer  Hautbedeckung  ein  Raum  befindet,  welcher  zeitlebens  die  Merkmale 
der  primären  Leibeshöhle  beibehält.  Dieser  Raum,  in  welchem  sich  die  Muskel, 
die  Excretionsorgane  und  die  Geschlechtsorgane  vorfinden,  kann  in  verschiede- 
ner Weise  erfüllt  erscheinen.  Er  kann  von  einem  mesenchymatischen  Binde- 
gewebe (Parenchym)  eingenommen  sein  (Fig.  49),  so  daß  sich  zwischen  allen  in- 
neren Organen  dies  Füllgewebe  ausbreitet.  Nur  gelegenthch  beobachtet  man  bei 
diesen  parenchymatösen  Formen  flüssigkeitserfüllte  Bindegewebslücken  (Fig. 
49 1),  die  dann  als  Schizocoel  (scheinbares  Coelom  oder  Pseudocoel)  anzu- 
sprechen wären.  Bei  anderen  Formen  tritt  die  Entwicklung  der  mesenchyma- 
tischen Gewebe  mehr  in  den  Hintergrund.  Hier  erscheint  uns  dann  die  primäre 
Leibeshöhle  von  einer  wäßrigen  Flüssigkeit  erfüllt,  während  die  Reste  mesen- 
chymatischen Gewebes,  hauptsächlich  durch  die  Körpermuskulatur  vertreten, 
mehr  gegen  die  Haut  verdrängt  erscheinen  (Fig.  52  und  54). 

Ein  echtes  Coelom  scheint  diesen  Formen  vollständig  zu  fehlen,  und  infolge- 
dessen fehlt  den  hierher  zu  rechnenden  Formen  auch  jene  Schicht  der  Darm- 


Scoleciden.     Piatodes  2  2  7 

wand,  welche  als  Splanchnopleura  bezeichnet  wird.  Dementsprechend  ist 
auch  eine  eigentliche  Darmmuskulatur  höchstens  andeutungsweise  entwickelt. 
Bei  der  Trochophora  konnten  wir  in  den  paarigen  Mesodermstreifen  die  Coe- 
lomanlagen  angedeutet  erkennen.  Nach  einer  von  vielen  Forschern  derzeit  ver- 
tretenen Hypothese  hätten  wir  bei  den  Scoleciden  in  den  Geschlechtsorganen 
(Gonaden),  die  uns  hier  in  der  Form  von  selbständig  nach  außen  mündenden 
Säcken  oder  Schläuchen  entgegentreten,  das  Homologon  der  Coelombildungen 
der  höheren  Würmer  zu  erblicken  (g  in  Fig.  49,  52  und  54). 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Formen,  die  wir  zu  den  Scoleciden  rechnen,  ist 
eine  ungemein  große.  Aus  dieser  in  zahlreiche  einzelne  Stämme  auseinander- 
fahrenden Vielheit  seien  hier  nur  einige  markante  Typen  ausgewählt.  Als  paren- 
chymatöse Formen  treten  uns  die  Plattwürmer  {Piatodes  oder  Platyhelminthes) 
entgegen,  während  die  Rädertierchen  {Rotatoria  oder  Rotifera)  und  die  Rund- 
würmer {Nematodes  oder  N emathelminthes)  zu  jenen  Gruppen  gehören,  welche 
eine  flüssigkeitserfüllte  primäre  Leibeshöhle  besitzen. 

Zu  den  allgemeinen  Charakteren  der  Scoleciden  ist  ferner  zu  rechnen,  daß 
ihre  Excretionsorgane  den  Typus  der  Protonephridien  aufweisen,  d.  h.  bewim- 
perte Kanälchen  mit  nach  innen  geschlossenen  terminalen  Endorganen  {n  in 
Fig.  51),  und  daß  ihnen  ein  Blutgefäßsystem  fast  immer  fehlt. 

a)  Piatodes,  Plattwürmer. 

Die  Plattwürmer  führen  ihren  Namen  von  der  Gestalt  ihres  Körpers,  die  in 
vielen  Fällen  etwa  der  eines  Lorbeerblattes  ähnelt  (Fig.  47),  mit  flacher  Bauch- 
und  Rückenfläche.  Wenn  wir  von  den  zahlreichen  hierher  zu  rechnenden  For- 
men absehen,  deren  Bau  infolge  parasitärer  Lebensweise  mehr  oder  weniger 
modifiziert  ist  (wie  dies  bei  den  Saugwürmern  und  Bandwürmern  der  Fall  ist), 
so  tritt  uns  der  Grundtypus  dieser  Formen  in  charakteristischester  Weise  in  der 
Gruppe  der  Strudelwürmer  oder  Turbellarien  entgegen,  die  meist  als  eine  recht  ur- 
sprüngliche Wurmgruppe  betrachtet  wird.  Als  scheinbar  primitive  Merkmale 
treten  uns  entgegen :  die  Körperoberfläche  ist  allgemein  und  gleichmäßig  bewim- 
pert, und  Flimmerbewegung  spielt  in  der  Lokomotion  dieser  meist  im  Wasser 
lebenden,  schwimmenden  und  kriechenden  Wesen  eine  bedeutende  Rolle.  Ein 
besonderer  Enddarm  und  eine  Afteröffnung  ist  noch  nicht  zur  Entwicklung  ge- 
kommen. Der  Mund  (Fig.  47  s),  welcher  hier  sonach  auch  zur  Ausfuhr  der  unver- 
daulichen Nahrungsreste  dienen  muß,  zeigt  eine  merkwürdige  Inkonstanz  in  bezug 
auf  seine  Lage.  Zwar  gehört  er  überall  der  Ventralseite  an ;  während  er  aber  bei  den 
meisten  Tieren  dem  vorderen  Körperende  genähert  erscheint,  kann  er  bei  den 
Turbellarien  in  der  Körpermitte,  ja  vielfach  auch  weiter  nach  hinten  verschoben 
erscheinen.  Zu  den  Merkwürdigkeiten  im  Bau  der  Turbellarien  und  der  Pla- 
toden  überhaupt  ist  ferner  zu  rechnen,  daß  sie  in  den  meisten  Fällen  hermaphro- 
ditische Geschlechtsorgane  besitzen.  Sie  stimmen  in  dieser  Hinsicht  mit  den 
Ctenophoren  überein. 

Der  Hautmuskelschlauch  besteht  von  außen  nach  innen  aus  folgenden 
Schichten: 

15* 


228 


K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


nv 


~-^  71- 


1.  Das  ectodermale  Körperepithel  (Fig.  49  ec),  bei  den  Strudelwürmern  in 
der  Form  eines  an  Drüsenzellen  reichen  Flimmerepithels  entwickelt,  viel- 
fach in  den  sog.  „Rhabditen"  eigentümliche,  stäbchenartig  vorschnell- 
bare Verteidigungsorgane  führend; 

2.  eine  bindegewebige  derbe  Stützlamelle; 

3.  eine  aus  mehreren  Lagen  (Ringmuskel,  Diagonalmuskel,  Längsmuskel 

Züge)  bestehende 

Muskelschicht 
(Fig.  49  mu).  Im 
Inneren  schließt 
sich  sodann  das 
alle  Organe  ver- 
bindende     Kör- 

perparenchym 
[ms]  an,  welches 
von  dorsoventra- 
len  Muskelzügen 
durchsetzt  wird, 
eine        Bindege- 
websschicht,   die 
bei  manchen  For- 
men der  Platoden 
den       Charakter 
des  blasigen  Bin- 
degewebes     an- 
nimmt    und    in 
welcher     nur    in 
gewissen    Fällen 
Bindegewebs- 
lücken  (/)  als 
Pseudocoelräu- 
me  auftreten. 

Das  Nervensystem  hat  die  ursprüngliche  Beziehung  zum  Ectoderm  seiner 
Lage  nach  nicht  beibehalten.  Es  findet  sich  innerhalb  des  Hautmuskelschlau- 
ches im  Parenchym  (Fig.  49  vn)  und  besteht  aus  einem  meist  dem  vorderen 
Körperende  genäherten,  in  zwei  lappige  Hälften  auseinandertretenden  Gehirn- 
ganglion [h  Fig.  47),  welches  mit  den  Hauptsinnesorganen  (Augen,  Wimper- 
grübchen und  gelegentlichen  Otolithenblasen)  in  Verbindung  steht,  und  zwei 
von  ihm  nach  hinten  ziehenden  ventralen  Nervenlängsstämmen.  Manche 
Beobachtungen  deuten  an,  daß  es  sich  in  diesen  Teilen  des  Zentralnerven- 
systems nur  um  höher  entwickelte  Partien  eines  ursprünglich  der  Körperober- 
fiäche  anliegenden  Nervenreticulums  handelt.  So  finden  wir  bei  den  Saug- 
würmern (Trematoden)  nicht  selten  sechs  vom  Gehirn  {c)  nach  hinten  ziehende 
Längsstämme  (Fig.  48  nv,  nl,  nd),  welche  durch  Queranastomosen  untereinander 


F  i  g.  47.  Abbildung  eines  Strudel- 
wurms (Dendrocoelum  lacteum). 
Nach  GoETTE.  d  Darm,  A  Ge- 
hirn, 7t  Excretionskanälchen 
(Protonephridien),  ;-  Rüssel, 
,s  Mund. 


Fig.  48.  Dorsalansicht  eines  Saugwurmes  (Distomum 
endolobum).  Nach  Loos.  c  Gehirn,  d  Darm,  g  Ge- 
schlechtsorgane, tn  Mund,  K  Excretionskanälchen, 
»d  dorsaler  Längsnerv,  «/lateraler  Längsnerv,  «z/  ven- 
traler Längsnerv,  J  Bauchsaugnapf,  /  Excretionsporus 
(Ausmündungsstelle  der  Excretionskanälchen). 


Bau  der  Piatodes 


229 


in  Verbindung  stehen.  Man  möchte  fast  versucht  sein,  diese  multiplen  Längs- 
stämme mit  den  acht  Rippennerven  der  Ctenophoren  und  den  acht  Radial- 
nerven der  Trochophora  in  Beziehung  zu  bringen. 

Der  Darm  besteht  aus  zwei  genetisch  verschiedenen  Abschnitten.  Der 
Mund  führt  zunächst  in  einen  ectodermalen  Schlund  (Pharynx),  welcher  viel- 
fach komplizierte,  rüsselartig  vorstülpbare  muskulöse  Einrichtungen  (Schlund- 
kopf) erkennen  läßt.  An  diesen  Abschnitt  schheßt  sich  sodann  der  ento- 
dermale,  hier  bei  fehlendem  After  blind  endende  Mitteldarm  an,  der  in 
vielen  Fällen  durch  dendritische  Ramifikationen  (Fig.  47  d)  den  einzelnen 
Körperpartien  die  Nährsäfte  zuführt  (Gastrovascularsystem,  vgl.  S.  195)- 

Die  Excretionsorgane  (Fig. 
47,  48  und  49  n)  bestehen 
aus  zwei  seitlich  verlaufenden 
Hauptkanälchen,  welche,  meist 
verzweigt,  an  den  blinden  En- 
den der  Kanälchen  besondere 
Terminalorgane,  die  sog.  Wim- 
perläppchen, tragen.  Letztere 
bestehen  aus  einer  größeren, 
keulig  geformten  Zelle,  welche 
nicht  selten  durch  Ausbildung 
amoeboider  Plasmafortsätze  im 
umliegenden  Gewebe  verankert 
erscheint  und  in  ihrem  Inneren 
das  blinde  Kanalende  birgt.  In 
dieses  ragt  ein  von  der  Zelle  aus- 
gehender, in  flackernder  Bewegung  sich  befindender  Wimperschopf  (Wimper- 
flamme) hinein.  Ihrem  Baue  nach  stehen  diese  Terminalzellen  den  oben  (S.  224) 
erwähnten  Solenocyten  einigermaßen  nahe.  Die  Art  der  Ausmündung  der  be- 
wimperten Hauptkanäle  ist  eine  ungemein  mannigfaltige,  sowohl  was  die  Lage, 
als  die  Zahl  der  ausführenden  Öffnungen  (Excretionsporen)  anbelangt. 

Das  höchst  komplizierte  System  der  Geschlechtsorgane  besteht  aus 
zwei  getrennten,  höchstens  durch  gemeinsame  Ausmündung  miteinander 
zusammenhängenden  Abschnitten:  dem  männlichen  und  dem  weiblichen,  von 
denen  jeder  wieder  die  keimbereitenden  Säckchen  (Hoden  im  männlichen  Ge- 
schlechte, Ovarien  im  weiblichen)  und  den  mit  mannigfachen  Anhangsapparaten 
versehenen  ausleitenden  Kanal  erkennen  läßt. 

Von  der  vielfach  nur  ungenügend  erkannten  Entwicklung  der  Turbellarien 
hier  nur  kurz  folgendes.  Es  wurde  bereits  erwähnt,  daß  die  Stadien  der  Furchung 
und  der  in  ihr  sich  vollziehenden  Sonderung  der  ersten  Keimesanlagen  eine  be- 
deutende Übereinstimmung  mit  der  Entwicklungsweise  der  Anneliden  und  der 
Mollusken  erkennen  lassen.  Hier  wie  dort  der  merkwürdige  Spiraltypus  in  der 
Anordnungsweise  der  Blastomeren.  Es  wird  ein  larvales,  dem  Ectoderm  ent- 
stammendes Mesenchym  gebildet,  das  aber  im  Aufbau  der  ausgebildeten  Form 


7r^\         TV 

Fig.  49.  Scliematischer  Querschnitt  durch  einen  Plattwurm.  </ Darm- 
kanal, ec  Ektoderm  (Hautepithel)  und  niu  Körpermuskelschicht 
(die  Längsmuskel  sind  querdurchschnitten  gezeichnet),  ec  und  mu 
bilden  den  Hautmuskelschlauch,  g  Genitalorgan  (Gonade),  ms  Mesen- 
chym, /  unregelmäßige  Lückenräume  im  Mesenchym  (sog.  Pseudo- 
coel),  )i  Excretionsorgane  (Protonephridium),  vii  ventraler  Längs- 
nervenstrang im  Querschnitt. 


2.SO 


K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


nur  eine  geringe  Rolle  spielt.  Das  mesenchymatöse  Parenchym  der  ausgebilde- 
ten Form  entwickelt  sich  aus  paarigen  Mesodermstreifen,  welche  von  zwei  Ur- 
mesodermzeilen  abstammen,  die  von  der  Zelle  4d  der  früheren  Furchungs- 
stadien  geliefert  werden.  Wir  fußen  bei  diesen  Angaben  auf  einer  neueren  Un- 
tersuchung von  F.  M.  Surface  über  die  Entwicklung  von  Planocera  inquüina. 
Durch  diese  Ergebnisse  werden  die  Piatodes  in  wesentlicher,  früher  kaum  zu 
vermutender  Weise  den  Vorstufen  der  Anneliden  genähert. 

Die  Furchung  ist  eine  totale  und  inäquale,  und  dementsprechend  vollzieht 
sich  die  Gastrulation  durch  Epibolie.  Aus  der  so  nach  innen  verlagerten 
Masse  der  Entodermzellen  geht  der  Mitteldarm  [mn  Fig.  50  B)  hervor,  während 

F  i  g.  50.  Sog.  Müller- 
sche  Larve  der  Tur- 
bellarien,  Ansicht  von 
der  linken  Körper- 
seite. A  Oberflächen- 
bild, B  im  Durch- 
schnitt (Schema  im 
Anschlüsse  an  Lang). 
c  Anlage  des  Gehirns 

(Cerebralganglion), 
er  äußere  Hautschicht 
(Ektoderni),  d  dorsal, 
m  Mund,    }iin  Mittel- 
darm (Mesenteron), 
ms  Mesenchym  in 
der  primären  Leibes- 
höhle, i'/ Vorderdarm 
(Stomodaeum),  71  ven- 
tral. 

der  Schlund  [st)  durch  eine  Einsenkung  des  Ectoderms  produziert  wird.  Die 
Excretionsorgane  entstammen  möglicherweise  dem  Ectoderm,  während  die 
Gonaden  wohl  als  mesodermale  Bildungen  anzusprechen  sind. 

Manche  freischwimmende  Jugendzustände  der  Turbellarien  zeigen  eine  ent- 
fernte Ähnlichkeit  mit  der  Trochophora.  Zwar  sind  sie  an  der  ganzen  Körper- 
oberfläche bewimpert,  doch  macht  sich  an  der  sog.  Müllerschen  Larve  (Fig.  50) 
der  Polycladen  eine  äquatoriale  Zone  bemerkbar,  welche,  stärker  bewimpert, 
in  acht  Lappen  ausgezogen  erscheint.  Wir  könnten  in  ihr  wohl  etwas  wie 
einen  modifizierten  Prototroch  vermuten.  Der  apicale  Pol  der  Larve,  an  wel- 
chem das  Gehirn  [c]  als  Ectodermverdickung  angelegt  wird,  ist  durch  einen 
steifen  Wimperbüschel  gekennzeichnet,  dem  am  Gegenpole  ein  ähnlicher  ent- 
spricht. Sie  bezeichnen  das  Vorder-  und  Hinterende  der  späteren  Körper- 
längsachse. 

Wir  können  die  Müllersche  Larve  jenem  Entwicklungsstadium  der  Trocho- 
phora (Fig."  36  C)  gleichsetzen,  in  welchem  der  Mund  nach  der  Ventralseite 
verlagert,  aber  ein  Proctodäum  und  eine  Afteröffnung  noch  nicht  zur  Entwick- 
lung gelangt  ist.  Solche  Vorstufen  der  Trochophora  hat  Hatschek  als  Proto- 
chula  bezeichnet. 

Die  Müllersche  Larve  verwandelt  sich  in  das  ausgebildete  Turbellar,  indem 
sie  eine  erhebliche  Streckung  in  der  Richtung  der  Körperlängsachse  erfährt, 
während  gleichzeitig  die  acht  bewimperten  Anhänge  rückgebildet  werden. 


Platodenentwicklung.     Rotatorien 


!3I 


--/:l 


71 — \- 


b)  Rotatoria,  Rädertierchen. 

Die  Rotatorien^  von  Ehrenberg,  dem  unermüdlichen  Erforscher  der  mi- 
kroskopischen Lebewelt,  noch  seiner  vielumfassenden  Gruppe  der  Infusoria  zu- 
gerechnet, wurden  später  von  manchen  Forschern  in  Beziehungen  zu  den  Ur- 
stufen  der  Krebse  ge- 
bracht. Wir  betrachten 
sie  als  geschlechtsreife 
Trochophoren.  Weist 
doch  eine  von  Semper 
auf  den  Philippinen  ent- 
deckte und  neuerdings 
von  Rousselet  wiederge- 
fundene, hierher  zu  rech- 
nende Form,  Trochos- 
phaera  aequatorialis,  in 
allen  Einzelheiten  den 
Bau  dieses  Stadiumsauf. 

Ihren  Namen  ver- 
danken die  Rädertier- 
chen einem  an  das  vor- 
dere Körperende  verla- 
gerten Wimperapparate, 
in  welchem  wir,  wenn 
auch  in  mancherlei  Mo- 
difikationen, die  nicht 
immer  leicht  zu  deuten 
sind,  die  äquatoriale 
Wimperzone  derTrocho- 
phora  mitTrochus  (Fig. 

51  ly)    und  LmgUlUm  \Cl)  pig.  ^i.     Schematische  Darstellung^  des  Baues  eines  Rädertierchens  (Schemen 

vTripflpt-pt-b-pt-ir-ipT-.  T^ip  ^™  Anschlüsse  an  Delage  und  Herouard).     c  Gehirn,  cz' Cingulum  oder  posto- 

raler Wimperkranz,    cl  Kloakenöffnung^,    f  sog.  Fuß,     g   weibliche   Keimdrüse 

EpiSphaere  erscheint  (Gonade),    i  intestinum,    k  Kaumagen,   m  Mund,  tng  Magen,  n  Excretionsorgan 

■,   ■•     ■  ,  (sog.  Protonephridium),    oe  Ösophagus,   j'  Sinnesorgane    (sog.  Taster),  si  Vorder- 

meiSt  VerKleinert,    aOge-  darm  (Stomodaeum),  //-  Trochus  oder  praeoraler  Wimperkranz.     A  Ansicht  von 

flarVif    nirVlf  «spltpri  pt"\waQ  ^^"^  linken  Körperseite.     B  Ansicht   von  der  Bauchseite,    v  ventral,    d  dorsal. 

eingezogen.  Der  Rumpf  des  Tieres  ist  als  verlängerte  Hyposphaere  zu  deuten. 
Der  After  [et)  liegt  dorsalwärts  verlagert,  und  der  Rumpf  setzt  sich  nach  hinten 
in  einen  mit  Klebdrüsen  versehenen  und  in  zwei  zipfelförmige  Anhänge  aus- 
laufenden Fortsatz,  den  sog.  Fuß,  fort  (/). 

Die  Körperoberfläche  ist  von  einer  oft  in  fernrohrartig  einziehbare  Ringel 
geteilten  Cuticula  (Fig.  52  cvi)  bedeckt.  Darunter  finden  wir  eine  das  ectoder- 
male  Epithel  vertretende  kernhaltige  Plasmaschicht,  die  sog.  Matrix  [ec)^  an 
welche  sich  nach  innen  vereinzelte  Ring-  und  Längsmuskelzüge  (ww)  als  spär- 
liche Vertreter  der  Hautmuskulatur  anschließen. 


232 


K.  Heider  :    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Der  Darm  zerfällt  in  mehrere  Abschnitte:  dem  Stomodaeum  (Fig.  51  st) 
gehört  der  vorderste  Abschnitt  mit  einem  eigentümlichen  Kauapparat  (Kau- 
magen k)  an.   Das  Mesenteron  besteht  aus  dem  sog.  Oesophagus  [oe),  der  erwei- 
terten Magenpartie  {mg)  mit  paarigen  Anhangsdrüsen  und  einem  daran  sich 
^  schließenden  Enddarm  (z).   Wie  sich  Mesenteron  und  Procto- 

daeum  gegeneinander  abgrenzen,  steht  noch  nicht  fest.   Der 
dorsalwärts  verlagerte  After  {d)  nimmt  auch  die  Ausmündung 

der  Geschlechtsorgane  (g) 
mu 


6f- 


^C^: 


-0£ 


TTS- 


7nu 


ir 


Fig.  52.  Schematisclier  Querschmitt  durch  ein 
Rädertierchen.  cu  Cuticula,  d  Darmkanal, 
ec  Ektoderm  (sog.  Matrix),  f  primäre  Leibes- 
höhle,  g  Geschlechtsorgane  (Gonaden),  mu 
Längsmuskelzellen  im  Querschnitt  getroffen, 
n  Excretionskanälchen  (Protonephridien), 
V  Ventralseite. 


sp 


F^S-53-  Übersicht  der 
Organisation  eines  Nema- 
toden (Männchen  von 
OxjTiris  Diesingii  aus  der 
Küchenschabe).  Nach 

BüTSCHLi  aus  Hatscheks 
Lehrbuch.  o  Mund,  oe 
Ösophagus,  b  dessen  Bul- 
bus, i  Darm,  (5  a  After 
und  männliche  Genital- 
öfliiung,  g  Ganglienring, 
<?.rExcretionskanäle,  /Ho- 
den, vs  Vesicula  semi- 
nalis,  sp  Tasche  für  das 
Spiculum. 


m/' 

Schematischer   Querschnitt  durch    einen 


und  Excretionsorgane  (w) 
in  sich  auf,  ist  demnach 
richtiger  als  Cloake  zu  be- 
zeichnen. 

Zwischen  Darmwand 
und  Körperwand  dehnt 
sich  die  flüssigkeitser- 
f  üllte  primäreLeibeshöhle 
(Fig.  52/)  aus,  in  welcher 
die  inneren  Organe  flot- 
tieren. Ein  Vergleich  der 
Querschnitte  (Fig.  49  und 
52)  läßt  erkennen,  wie 
sehr  im  Gegensatze  zu  den 
Platoden  die  mesenchy- 
matischen  Gewebe  bei  den 
Rotatorien  in  den  Hinter- 
grund treten. 

Als  Excretionsorgane 
(Fig.  51  w)  fungieren  sog. 
___^  Protonephridien.  Sie  be- 
stehen aus  zwei  seitlich 
-0  verlaufenden  Kanälchen, 
welche  Seitenäste  tragen, 
die  mit  Wimperflammen 
endigen. 

Die  Gonaden  (Fig.  51, 
52  g),  nur  selten  paarig, 
meist  durch  Reduktion 
der  einen  Hälfte  unpaar. 


—71 


Fi&-  54- 

Nematoden,     cu  Cuticula,   d  Darm,   ec  Ektoderm- 

schicht  (sog.  Subcuticula),   g  Gonade,  mu  Körper- 

längsmuskelschicht  mit  den  muskelbildenden  Zellen 

(Myoblasten),  n  Excretionsorgan  (sog.  Seitenkanal),     sind    als   Säckchen    ZU    bc- 

nd   dorsaler   Längsnerv,   nv    ventraler  Längsnerv.  .  i    i  •      i 

zeichnen,  welche  mit  kur- 
zem Ausführungsgang  in  die  Cloake  münden. 

Als  Zentralteil  des  Nervensystems  fungiert  ein  über  dem  Schlund  gelager- 
tes, vom  Ectoderm  abgerücktes  Cerebralganglion  (Fig.  51  c),  welches  die  Sin- 
nesapparate und  die  Muskel  mit  Nerven  versorgt.  Vor  allem  treten  nach  hinten 


Rotatorien.     Nematoden  233 

ein  dorsales  Nervenpaar  an  die  sog.  Dorsaltaster,  ein  ventrolaterales  Paar  an  die 
Lateraltaster.    Dem  Gehirn  liegen  in  der  Regel  Augen  an. 

Die  embryonale  Entwicklung  der  Rotatorien  ist  in  ihren  Einzelheiten  noch 
wenig  erkannt.  Die  Furchung  weist  in  dem  Auftreten  übereinander  liegender 
Zellquartette  gewisse  Ähnlichkeiten  mit  der  Furchung  der  Anneliden  auf.  Die 
Hautmuskel  scheinen  dem  Ectoderm  zu  entstammen  (Ectomesoderm),  und  das 
entodermale  Mesoderm  ist  vielleicht  bloß  durch  die  Gonaden  vertreten. 

c)  Nematodes,  Rundwürmer. 

Am  weitesten  entfernen  sich  die  meist  parasitären  Nematoden  (Fig.  53)  vom 
Trochophoratypus.  Weder  im  Bau  der  ausgebildeten  Form,  noch  in  ihren  Ent- 
wicklungsstadien sind  besonders  deutliche  Anklänge  nach  dieser  Richtung  zu  er- 
kennen. Wenn  wir  sie  hier  anschließen,  so  mag  dies  dadurch  gerechtfertigt 
erscheinen,  daß  eigenartige  kleinere  Gruppen,  wie  die  der  Gastrotrichen,  Echi- 
noderen  und  Desmoscoleciden  den  Übergang  von  den  Rotatorien  zu  den  Nema- 
toden zu  vermitteln  scheinen. 

Wimperapparate  fehlen  hier  vollständig,  sowohl  an  der  äußeren  Oberfläche 
als  an  allen  inneren  Organen.  Der  spulrunde,  spindelförmige  Körper  ist  an  sei- 
ner ganzen  Oberfläche  von  einer  glatten,  elastischen  und  sehr  resistenten  Cuti- 
kula  {cu  Fig.  54)  überdeckt.  Am  vorderen  Ende  findet  sich  die  Mundöffnung 
{0  Fig.  53),  die  Afteröffnung  {a)  nahe  dem  hinteren  Körperende  ventralwärts. 

Der  Raum  zwischen  Hautmuskelschlauch  und  Darmwand  ist  als  primäre 
Leibeshöhle  zu  bezeichnen.  Dementsprechend  besteht  die  Wand  des  Mittel- 
darms aus  einer  einfachen  Epithelschicht  (Fig.  54  d),  ohne  Darmmuskulatur 
und  ohne  Splanchnopleura.  Der  Hautmuskelschlauch  setzt  sich  zusammen: 
I.  aus  der  Cutikula  [cu),  2.  einer  darunter  gelegenen  syncytialen  Schicht  (Hypo- 
dermis  oder  Subcutikula  ec)  und  einer  Längsmuskelschicht  {mu),  welche  von 
großen  Myoblasten  geliefert  wird. 

Die  Längsmuskel  (Fig.  54  mu)  sind  in  vier  Zügen  angeordnet  und  lassen 
dementsprechend  zwei  mediane  Felder  und  zwei  umfangreichere  Seitenfelder 
frei,  in  welche  das  Gewebe  der  Subcutikula  vordringt.  Während  in  den  so  ent- 
stehenden medianen  Leisten  je  ein  dorsaler  und  ventraler  Längsnerv  {nd  und  nv) 
verlaufen,  die  von  einem  vorn  den  Darm  umfassenden  Schlundring  (Fig.  53  g) 
herkommen,  finden  wir  in  den  Seitenfeldern  die  sog.  Seitenkanäle  (Fig.  54  n), 
welche  als  Excretionsorgane  (Fig.  53  ex)  gedeutet  werden  und  in  der  vorderen 
Körperhälfte  mit  einem  unpaaren  Excretionsporus  ausmünden.  Es  findet  sich 
nichts  von  Wimperkölbchen  oder  ähnlichem  an  diesen  Excretionskanälchen,  die 
man  nur  mit  einigen  Bedenken  als  Protonephridien  taxieren  kann.  Die  Gonaden 
(^  Fig.  53,  g  Fig.  54)  sind  schlauchförmig,  in  der  Leibeshöhle  gelegen.  Die  paa 
rigen  weiblichen  münden  vorn  an  der  Ventralseite,  die  unpaaren  männlichen  in 
den  hier  zur  Cloake  werdenden  Enddarm  (Fig.  53  ö)- 

Von  der  embryonalen  Entwicklung  der  Nematoden  sei  nur  erwähnt,  daß 
hier  die  sog.  Mesodermstreifen  ectodermalen  Ursprungs  zu  sein  scheinen,  also  als 
,, larvaler  Mesoblast"  zu  deuten  sind,  während  als  Repräsentant  des  entoder- 
malen  Mesoderms  vielleicht  ausschließlich  der  Gonadenschlauch  in  Frage  kommt. 


234 


K.  Heider;    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Ol 


B.  Anneliden,  Ringelwürmer. 
Zwischen  Scoleciden  und  Anneliden  besteht  anscheinend  eine  gewaltige 
t.  Folgende  sind  die  wichtigsten  Merkmale  in  der  Organisation  der  Anne- 
liden: Der  Körper  (richtiger:  der  Rumpfabschnitt  desselben)  ist 
segmentiert  (Fig.  55),  d.  h.  er  zerfällt  durch  Querfurchen  in  eine 
Anzahl  von  Abschnitten,  in  denen  in  regelmäßiger  Aufeinander- 
folge gewisse  Organe  oder  Organabschnitte  wiederkehren.  Zwi- 
schen Hautmuskelschlauch  und  Darm  dehnt  sich  eine  umfang- 
reiche Leibeshöhle,  ein  echtes  Coelom  (sog.  sekundäre  Leibes- 
höhle, c  Fig.  58)  aus.  Die  Geschlechtsprodukte  werden  in  den 
Coelomsäcken  (go  Fig.  58)  erzeugt.  Die  Excretionsorgane  haben 
den  Charakter  von  Nephridien  (n).  Meist  ist  ein  Blutgefäß- 
system vorhanden. 

In  Wirklichkeit  ist  die  scharfe  Grenze,  welche  Annehden  und 
Scoleciden  trennt,  in  mannigfacher  Art  verwischt.  Es  gibt  eigen- 
tümliche Zwischenformen,  wie  die  merkwürdige  Gattung  Dino- 
philus,  welche  den  Übergang  von  Rotatorien  zu  Anneliden  ver- 
mitteln. Und  in  der  individuellen  Entwicklung  wird  diese  Ver- 
mittlung dadurch  bewirkt,  daß  die  Jugendformen  der  Anneliden 
als  Trochophoren  oder  ihnen  ähnliche  Stadien  die  Organisations- 
stufe der  Scoleciden  zeigen,  und  daß  die  echten  Anneliden- 
charaktere erst  durch  spätere  Umwandlungen,  bei  denen  den 
Mesodermstreifen  die  wichtigste  Rolle  zukommt,  hervorgebildet 
werden. 

Der  Körper  des  Annelids  (Fig.  55)  besteht  aus  drei  voneinan- 
der wohl  zu  unterscheidenden  Abschnitten:  l.  ganz  vorn  ein 
kleiner,  wie  eine  Oberlippe  den  Mund  überragender  Teil,  der  sog. 
Kopflappen  oder  Prostomium,  welcher  Fühler  (F)  und  Augen 
trägt  und  im  Inneren  das  Gehirn  [G)  oder  Oberschlundganglion 
birgt.  Er  leitet  sich  von  der  Episphaere  der  Trochophora  (Fig. 
45  C),  genauer  gesprochen  ,von  der  Region  der  Scheitelplatte  ab. 
2.  Der  gegliederte  Rumpf,  aus  zahlreichen  Segmenten  bestehend 
und  w^eitaus  die  umfangreichste  Region  des  ganzen  Körpers.  Je 
„  ,  „.      ^    _        weiter  wir  nach  hinten  vorschreiten,  um  so  unentwickelter  sind 

Vgl.ii1g.45C  auf  S. 223.  _  ' 

^  After,  D  Darm,   die  Scgmeutc  (Fig.  5 5),  bls  wir  ZU  ciucr  Knospuugszouc  gelangen, 

.A"  Fühler,    G  Gehirn,  ,  ^  1    -i   1 

oMund,  fFi'-wimper-   von  wclcher  neue  Körpersegmente  nach  vorn  hervorgebildet  wer- 
grube.  ^gj^  (Gesetz  der  terminalen  oder  teloblastischen  Erzeugung  der 

Körpersegmente).  3.  Ein  kleiner  Endabschnitt,  das  sog.  Pygidium,  welches  sich 
an  die  ebenerwähnte  Knospungszone  anschließt  und  die  Afteröffnung  {Ä)  trägt. 
Er  leitet  sich  von  der  perianalen  Region  der  Trochophoralarve  her  (Fig.  45  C). 
Es  werden  also  der  vorderste  Körperabschnitt  des  Annelids  (Kopflappen) 
und  der  hinterste  Abschnitt  (Pygidium)  direkt  aus  der  Trochophora  übernom- 
men, und  diese  Abschnitte  weisen  in  dem  Fehlen  eines  echten  Coeloms  zeitlebens 


Fig-  55-  JungerPoly- 
gordius  (Annelide). 
Nach  Hatschek  aus 
Grobbens  Lehrbuch. 


Bau  der  Anneliden 


235 


ein  Scolecidenmerkmal  auf.  Der  gegliederte  Rumpf  ist  eine  Neubildung,  welche 
sich  durch  einen  von  der  Knospungszone  ausgehenden  Wachstumsprozeß 
zwischen  Vorder-  und  Hinterende  der  Trochophora  einschiebt. 

Wir  können  unterscheiden :  Organe,  welche  den  ganzen  Körper  kontinuier- 
lich durchziehen,  von  solchen,  die  den  einzelnen  Rumpfsegmenten  zukommen. 
Kontinuierlich  ist  zunächst  der  Hautmuskelschlauch.  Er  besteht:  l.  aus  einem 
an  Drüsenzellen  reichen  ectodermalen  Epithel  (Fig.  58  ec),  welches  nach  außen 
eine  meist  zarte  Cutikula  {cu)  abscheidet  und  in  welchem  bei  ursprünglicheren 
Formen  noch  das  Zentralnervensystem  gelegen  sein  kann.  2.  Aus  einer  Ring- 
muskelschicht. 3.  Aus  einer  in  vier  längsverlaufende  Züge  ge- 
sonderten Längsmuskelschicht  (Fig.  58  md  und  mv).  4.  Aus  der 
Somatopleura  {so) ;  hierunter  verstehen  wir  eine  das  Coelom  be- 
grenzende Epithelschicht.  Streng  genommen  sind  die  Längs- 
muskel genetisch  von  der  Somatopleura  abzuleiten.  Man  sieht, 
wenn  man  den  Hautmuskelschlauch  der  Anneliden  mit  dem  der 
Nematoden  (Fig.  54)  z.  B.  vergleicht,  daß  durch  das  Auftreten 
eines  echten  Coeloms  seinem  Schichtenbau  eine  neue  Körper- 
schicht, die  Somatopleura,  hinzugefügt  wurde. 

Auch  das  Nervensystem  zieht  kontinuierlich  durch  alle  Seg- 
mente. Es  kann  bei  den  ursprünglicheren  Formen  noch  im  Epi- 
thel gelegen  sein;  meist  rückt  es  aber  vom  Epithel  in  tiefere 
Schichten  (Fig.  58  B  g)  ab.  Es  besteht  aus  einem  in  paarige  Hälf- 
ten geschiedenen  Gehirn  (Fig.  56  c)  oder  Oberschlundganghon, 
welches  dorsalwärts  vor  dem  Munde  im  Kopflappen  (G  Fig.  55)  pj^  ^^ 

gelegen  ist.    Von   ihm  gehen  die  beiden  Schlundcommissuren    Nervensystem    eines 

Anneliden,   c  Gehirn, 

(Fig.  56  s)  ab,  die  den  vordersten  Teil  des  Darms  {oe)  rechts  und  ^  Schiundkommissur, 
links  umgreifen  und  sich  nach  hinten  in  zwei  ventrale  Längs-  "^  ^°^  ''^"^' 
Stämme  fortsetzen.  Jeder  dieser  Längsstämme  schwillt  in  jedem  Rumpfseg- 
mente zu  einem  Ganglienknoten  an  (Fig.  56),  welcher  mit  dem  entsprechenden 
Knoten  der  anderen  Körperseite  durch  eine  Quercommissur  verbunden  ist. 
So  entsteht  die  typische  Form  der  strickleiterförmigen  Bauchganglienkette, 

Kontinuierliche  Organe  sind  ferner  der  Darm  und  das  Blutgefäßsystem. 
Der  Darm  verläuft  meist  völlig  gestreckt  von  der  vorn  ventral  an  der  Grenze 
von  Kopflappen  und  erstem  Rumpf segment  gelegenen  Mundöffnung  (Fig.  55  0) 
zur  hinten  terminal  befindlichen  Afteröffnung  (A).  Er  besteht  aus  dem  ecto- 
dermalen Schlund  (Stomodaeum),  dem  langen  schlauchförmigen  Mitteldarm 
(Mesenteron)  und  einem  kurzen  Enddarm.  Die  Darmwand  setzt  sich  von 
innen  nach  außen  aus  folgenden  Schichten  zusammen:  i.  das  innere,  meist 
bewimperte  Darmepithel  (Fig.  58  B  d,  Fig.  62  A  en),  2.  die  Muskelschicht  des 
Darms  (Muscularis),  aus  einer  inneren  Ring-  (Fig.  62  rm)  und  äußeren  Längs- 
muskelschicht (Fig.  62  Im)  bestehend,  3.  aus  einer  zarten  Epithelschicht, 
welche  der  Leibeshöhlenwand  angehört  und  als  Splanchnopleura  bezeichnet 
wird  (Fig.  58  B  sp,  Fig.  62  p).  Der  Darm  ist  in  der  Leibeshöhle  durch  ein 
längsverlaufendes  dorsales    und  ventrales  Mesenterium  (Fig.  58  B  m  und  m') 


236 


K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


und    an    den     Segmentgrenzen    durch    quere    Dissepimente    (Fig.  58  A)    be- 
festigt. 

Das  Blutgefäßsystem  der  Anneliden  ist  ein  geschlossenes.  Es  besteht  aus 
einem  System  von  Röhren,  die  in  sich  selbst  zurücklaufen.  Wir  unterscheiden 
ein  über  dem  Darm  verlaufendes  meist  contractiles  Rückengefäß  (Fig.  57  i?, 
xji^^s.  Fig.  58  B  bg),    in  welchem  das  Blut  von  hinten  nach  vorn 

strömt,  und  ein  unter  dem  Darm  befindliches  Bauchgefäß 
(Fig.  57  B,  Fig.  58  ^g').  Beide  stehen  durch  Queranastomosen, 
welche  in  den  Dissepimenten  gelegen  sind,  miteinander  in 
Verbindung  (Fig.  57).  Das  Rückengefäß  bezieht  sein  Blut 
aus  diesen  seitlichen  Anastomosen  und  aus  einem  bei  vielen 
Formen  vorkommenden  Lacunensystem  der  Darmwand,  dem 
sog.  Darmblutsinus.  In  letzterem  haben  wir  die  eigentliche 
Anlage  des  Blutgefäßsystems  zu  erblicken,  von  welchem  sich 
die  oben  beschriebenen  Gefäßstämme  abgegliedert  haben. 
In  jedem  Rumpfsegmente  findet  sich  ein  Paar  von  Coe- 
lomsäcken  (Fig.  58  c),  welche  den  Raum  zwischen  Hautmuskel- 
schlauch und  Darmwand  vollständig  ausfüllen.  Sie  umgreifen 
den  Darm  und  stoßen  über  und  unter  dem  Darm  in  der  Median- 
ebene dicht  aneinander.  Diese  sich  mehr  oder  weniger  be- 
ß  rührenden  Partien  der  Wand  beider  Coelomsäcke  werden  als 
dorsales  und  ventrales  Mesenterium  (Fig.  58  B  m  und  m')  be- 
zeichnet. Jener  Teil  der  Wand  der  Coelomsäcke,  welcher  der 
Haut  anliegt,  heißt  somatische  Schicht  {{so),  der  dem  Darm- 
epithel anliegende  Teil  splanchnische  Schicht  {sp)  des  sekun- 
dären Mesoderms.  Aus  der  somatischen  Schicht  des  Meso- 
derms  entwickeln  sich  die  Längsmuskelzüge  des  Hautmuskel- 
schlauches {md  und  mv)  und  die  Somatopleura  {so),  während 


1; 


'''r,"'?°'"°;''"^'""  aus  der  splanchnischen  Schicht  mit  Wahrscheinlichkeit  die 

geiaßsjstems    bei    einem  ^ 

AnneUden.     Nach  Hat-   Darmmuskclschicht  (Fig.  02  liH  uud  rm)  und  die  Splanchno- 

SCHEK.      Ä  Rückengefäß,  t--      ^  i     •  •       i       t  -i-. 

£  Bauchgefäß,    welche  plcura  (Flg.  58  Sp,   Flg.  02  p)  abzulcitcn  Sind.  Jene  Partien 

durch  quere  Gefäße  ver-      j/->i  i--i  11  i-  ji_'j_  'i 

bunden  sind  und  überdies  ^^^  Coelomsackwandc,  welche  die  vorn  und  hinten  sich  an- 
durch  v  vordere  Gefäß-  schließenden  Coelomsäcke  der  Nachbarsegmente  berühren, 

bogen  und  /i  hintere  Ge- 

faßbogen  ineinander  über-  liefern  dic  qucrcu  Schcldewändc  des  Coeloms,  die  sog.  Disse- 

gehen.    Die  PfeUe  zeigen         .  ,_^.  0     a  \ 

die    Richtung    des    Blut-     pimCUte     (I^lg.    58  A). 

Stromes  an.  j-j-g  Gcschlcchtsprodukte  entstehen  durch  Wucherungen 

an  bestimmten  Stellen  der  Coelomwände  {go  Fig.  58  A).  Wir  finden  hier  sonach 
sog.  Flächengonaden,  d.  h.  flächenhafte  Keimzonen  des  Coelothels.  Die  reifen 
Keimzellen  gelangen  in  die  Coelomhöhle,  aus  welcher  sie  durch  eigene,  mit  weiter, 
trichterförmiger  Mündung  beginnende  Ausführungsgänge,  sog.  Coelomoducte 
(Fig.  60  g)  oder  durch  Vermittlung  der  Nephridien  (Fig.  60  n)  oder  aber  durch 
einfaches  Bersten  der  Leibeswand  nach  außen  gelangen. 

Wir  können  sonach  vielleicht  die  Coelomsäcke  der  Anneliden  den  sack- 
förmigen Gonaden  der  Scoleciden  gleichsetzen.    Die  ganze  Segmentierung  des 


Bau  der  Anneliden 


237 


Annelidenkörpers  würde  sich  in  letzter  Linie  zurückführen  lassen  auf  die  in 
regelmäßigen  Abständen  erfolgte  Entwicklung  paariger  Sackgonaden,  als  deren 
Ausführungsgänge  die  Coelo- 
modukte  zu  betrachten  sind. 

In  jedem  Rumpfsegment 
finden  wir  in  der  Regel  ein  Paar 
von  Excretionsorganen  (Fig. 
58  w), welche  in  der  älteren  Zeit 
als  Segmentalorgane,  neuer- 
dings als  Nephridien  bezeich- 
net werden.  Es  handelt  sich 
um  schleifenförmig  gewun- 
dene, im  Inneren  flimmernde 
Kanälchen  (Fig.  59),  welche 
seitlich  nach  außen  münden. 
Ihr  inneres  Ende  ist  gewöhn- 
lich mit  einem  in  die  Leibes- 
höhle mündenden  und  im  vor- 
deren Dissepiment  des  betref- 
fenden Segments  verankerten 
Flimmertrichter  versehen.  Wir 
bezeichnen  diese  innere  Mün- 
dung der  Nephridien  als  Ne- 
phrostom [nst  Fig.  59). 

NeuereErgebnisse,  beson- 
ders die  der  bahnbrechenden 
Untersuchungen  von  Good- 
rich, haben  zur  Ansicht  ge- 
führt, daß  bei  den  meisten  An- 
neliden die  Segmentalkanäl- 
chen  als  ein  gemischtes  Pro- 
dukt zu  betrachten  sind,  bei 
denen  die  Coelomodukte  den 
Anschluß  an  die  Excretions- 
kanälchen  gewonnen  haben 
(Fig.  60  D).    Es   erklärt    sich 

auf  diese  Weise,  wieso  sie  dazu  '^''™^*'   /primäre    LeibeshöMe,    ^  Bauchganglienkette,    go    Gonade. 

'  VI  dorsales  Mesenterium,  7/1   ventrales  Mesenterium,  ma  dorsaler  l^angs- 

kamen,  neben   ihrer    Funktion  muskel,     mw   ventraler  Längsmuskel,    n  Nephridium,    nsi  Nephrostom, 

,    ,,.                         u  J-      A         C--U  ^^  Somatopleura,    sj>  Splanclinopleura.     Man  vergleiche  Fig.  42  Z>,    den 

alsJNieren  noch  die  Ausführung  schematischen  Querschnitt  einer  jungen  Sagitta,  welche  sich  bezüglich 

der      Geschlechtsprodukte      zu  '^''  Schichtenbaues    den  hier  ^^^Se^^^^^^  Verhältnissen  sehr  ähnlich 

Übernehmen. 

Es  gibt  Anneliden,  bei  denen  die  segmental  angeordneten  Excretionska- 
nälchen  noch  völlig  den  Charakter  von  Protonephridien  aufweisen,  indem  ihre 
blind  geschlossenen  inneren,  in  der  Leibeshöhle  flottierenden  Enden  mit  Soleno- 


Fig.  58.  Organisation  der  Rumpfsegmente  eines  Anneliden.  Schema. 
.1  Dorsalansicht,  B  Querschnitt.  ig  Rückengefäß,  6g'  Bauchgefäß, 
c  Coelom,   cu  Cuticula,  d  Darm,  ec  ektodermale  Epithelschicht  (Hypo- 


2.s8 


K.  Heider  :    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Coelom- 
entwicklung. 


cyten  besetzt  sind  (Fig.  60  A  B  p).  Man  kann  ein  derartiges  Excretionssysteni 
von  dem  der  Scoleciden  ableiten,  wenn  man  sich  vorstellt,  daß  bei  der  Aus- 
bildung der  metameren  Segmentierung  das  Protonephridialsystem  in  einzelne 
segmentale  Abschnitte  zerlegt  wurde,  welche  selbständige  Ausmündung  ge- 
wannen. Es  fehlt  nicht  an  Hinweisen  nach  dieser  Richtung.  Schon  bei  manchen 
Turbellarien  zeigt  das  Excretionsorgan  in  der  Anordnung  der  Terminaläste,  in 
dem  regelmäßigen  Vorkommen  multipler  Excretionsporen  usw.  eine  merkwür- 

,/Z5/  dige  Neigung  zu  segmentaler  Anordnung. 

Bei  den  meisten  Anneliden  ist  in  der  Differen- 
__^  zierung  der  Excretionskanälchen  ein  weiterer  Schritt 
erfolgt,  indem  die  Solenocyten  verloren  gingen  und 
das  innere  Ende  der  Segmentalorgane  sich  mit  der 
Leibeshöhle  in  Kommunikation  setzte.  Hierdurch 
ist  dann  das  betreffende  Excretionsorgan  als  Nephri- 
dium  (Metanephridium,  Fig.  60  C  D  w)  gekennzeich- 
net. Wir  bezeichnen  seine  innere  Öffnung  dann  als 
Nephrostom. 

Ein  weiterer  Schritt  in  der  Entwicklung  der 
Excretionskanäle  ist  darin  gegeben,  daß  ihr  inneres 
Ende  mit  dem  Gonoduct  (Fig.  60  g)  in  Verbindung 
trat.  Es  kann  dies  sowohl  bei  Kanälchen  vom  Cha- 
rakter der  Protonephridien  (Fig.  60  B)  als  auch  bei 
echten  Nephridien  (Fig.  60  D)  vorkommen.  Im  letz- 
teren Falle  wird  dann  das  Nephrostom  durch  den 
Genitaltrichter  ersetzt.  Wir  bezeichnen  derartige 
sowohl  der  Harnsecretion,  als  der  Ausleitung  der 
Geschlechtsprodukte  dienende  und  in  diesem  Sinne 
den  Anfang  eines  Urogenitalsystems  darstellende 
Kanälchen  als  Nephromixien. 

Mit  wenigen  Worten  sei  noch,  um  das  allgemeine  Bild  der  Annelidenor- 
'  ganisation  zu  vervollständigen,  der  Entwicklung  des  Coeloms,  der  Blutgefäße 
und  der  Nephridien  gedacht.  Es  wurde  oben  angedeutet,  wie  durch  telo- 
blastische  Zellknospung  von  selten  der  beiden  Urmesodermzellen  (Fig.  43 
S.  218)  die  beiden  Mesodermstreifen  gebildet  werden.  Vom  hinteren  Körper- 
ende ziehen  sie  an  der  Ventralseite  der  Trochophora  zu  beiden  Seiten  der  Neuro- 
trochoidrinne  {nt  Fig.  61)  nach  vorn  bis  in  die  Nähe  des  'Mundes,  wobei  sie 
von  hinten  nach  vorn  zu  sich  allmählich  verbreitern.  Ursprünglich  stellen 
sie  ein  solides  Zellenband  dar.  An  späteren  Stadien  (Fig.  61)  ist  zu  erkennen, 
wie  dies  ursprünglich  kontinuierliche  Band  durch  quere  Abtrennung  in  einzelne 
hintereinander  folgende  Partien  zerlegt  wird.  Wir  erkennen  in  dieser  Ab- 
ghederung  die  erste  Anlage  der  metameren  Segmentierung  des  Rumpfes  und 
bezeichnen  die  so  gebildeten  Mesodermpartien  als  Ursegmente.  In  ihnen  ent- 
wickelt sich  bald  durch  Auseinanderrücken  der  ursprünglich  dicht  gedrängten 
Zellen  ein  Hohlraum,  die  Anlage  der  Coelomhöhle  [c  in  Fig.  61).    Mit  andern 


Fig.  59.  Nephridiura  eines  Anneliden 
(Protodrilus).  Nach  Piehantoni  aus 
Meisenheimer.  ng^  Nephridialkanal, 
ns^  Nephrostom,  /  äußere  Mündung, 
.y  Dissepiment. 


Bau  der  Anneliden 


239 


Worten:  aus  den  Mesodermstreifen  wird  eine  Reihe  hintereinander  folgender 
Coelomsäckchen,  welche  anfangs  noch  wenig  umfangreich  an  der  Bauchseite 
zu  beiden  Seiten  der  Medianebene  gelegen  sind. 

Überhaupt  ist  es  nicht  ohne  Interesse,  zu  beachten,  wie  bei  diesem  Gange 
der  Entwicklung  die  wichtigsten  Organanlagen   sich  an  der  Ventralseite  der 


Fig.  60.  Verschiedenes  Verhalten  der  Nieren  und  Geschlechtswege  bei  den  Anneliden.  Schema  nach  Goodrich 
aus  R.  Hertwigs  Lehrbuch.  A  und  C  die  Coelomodukte  (g-)  leiten  die  Geschlechtsprodukte  {et)  nach  außen.  B  und  D 
die  Coelomodukte  münden  in  die  Nierenkanäle.  Letztere  haben  den  Charakter  von  verästelten,  mit  Solenocyten 
bedeckten  Protonephridien  (A  und  B)    oder  sie  sind  Nephridien  (C  und  D),    d.h.  sie  sind  mittels  eines  Nephrostoms 


mit  der  Leibeshöhle  in  Verbindung  getreten. 


B 


Fig.  61.  Entwicklung  der  Coelomsäcke  c  durch  Abgliederung  von  den  Mesodermstreifen  in  einer  Annelidentrocho- 
phora.  Man  vergleiche  Fig.  43  C  S.  218  und  Fig.  45  i?  S.  223.  A  Ansicht  von  der  Ventralseite,  B  Querschnitt  in 
der  Höhe  der  Linie  a — &  in  Fig.  A.  a—b  Höhe  des  Querschnittes  B,  c  Coelomsäckchen,  m  Mund,  ?iis  Urmesoderm- 
zellen  (sog.  Polzellen  der  Mesodermstreifen),  mi  postoraler  Wimperkranz  (Metatroch),  ni  ventrale  Wimperfurche 
(Neurotrochoid),  pi  praeoraler  Wimperkranz  (Prototroch),  sp  Scheitelplatte,  en  Entoderm,  c  Coelomsäcke,  /  primäre 
Leibeshöhle,   w  querdurchschnittene  Nervenwülste  (Anlage  der  Bauchganglienkette,    vgl.  Fig.  40 .-/  S.  215) 

Trochophora  konzentrieren.  Hier  finden  wir  auch  die  Anlage  der  Bauchgang- 
lienkette in  der  Gestalt  zweier  ectodermaler  Verdickungen,  der  sog.  Primitiv- 
wülste (Fig.  61  B  w),  ferner  die  Anlage  der  Nephridien  usw.  Wir  werden  sehen, 
daß  im  Embryo  der  Arthropoden  sich  der  Gegensatz  zwischen  einer  die  Organ- 
anlagen bergenden  streifenförmigen  Verdickung  der  Keimblätter  und  einer  dor- 
salen, mehr  sterilen  Partie  des  Embryos  noch  deutlicher  ausprägt.  Wir  be- 
zeichnen dann  diese  ganze  an  der  Bauchseite  des  Embryos  zur  Entwicklung 
kommende  streifenförmige  Anlage  als  sog.   Keimstreifen. 


2/10  K.  Heider:    Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Die  weitere  Entwicklung  der  paarigen  Coelomsäckchen  führt  zu  einer  all- 
mählichen Vergrößerung  derselben  vor  allem  in  querer  Richtung.  Sie  ver- 
drängen hierbei  immer  mehr  und  mehr  die  primäre  Leibeshöhle  (Fig.  6i  BZ), 
in  der  sie  ja  gelegen  sind  und  von  der  sich  später  nur  spärliche  Reste  erhalten, 
und  umwachsen  den  Darm  vollständig,  so  daß  sie  schließlich  durch  Berührung 
ihrer  Wände  über  und  unter  dem  Darm  zur  Bildung  des  dorsalen  und  ventralen 
Mesenteriums  (w  und  m'  in  Fig.  58  B)  Veranlassung  geben.  Ebenso  werden 
dadurch,  daß  die  Wände  der  aufeinander  folgenden  Coelomsäckchen  sich  dicht 
aneinanderlegen,  die  queren  Dissepimente  gebildet. 
Entwicklung  ][)ie  crstc  Anlage  des  Blutgefäßsystems  ist  in  der  nächsten  Nähe,  ja  viel- 

leicht direkt  in  der  Wand  des  Darmkanals  zu  suchen.  Es  handelt  sich  ur- 
sprünglich um  ein  Netz  von  Lücken  oder  Spalträumen,  welche  dem  rascheren 
Transport  der  von  dem  Darmepithel  resorbierten,  verflüssigten  Nahrungssub- 
stanzen dienen,  als  dies  durch  einfache  Diffusion  bewerkstelligt  werden  könnte. 
Schon  vor  Jahren  hat  Bütschli  die  ersten  Anfänge  des  Blutgefäßsystems 
auf  Reste  der  primären  Leibeshöhle  zurückgeführt,  welche  von  Anfang  an  ein 
zusammenhängendes,  in  sich  geschlossenes  System  von  Lücken  dargestellt 
hätten.  Mit  dieser  ,,Blastocoeltheorie"  Bütschlis  steht  die  1904  eingehend 
begründete  ,,Haemocoeltheorie"  Längs  in  keinem  prinzipiellen  Widerspruche. 
Bei  vielen  Anneliden  findet  sich  in  der  Darmwand,  und  zwar  besonders  in  den 
hinteren  Rumpfabschnitten,  ein  bluterfüllter  Spaltraum  (sog.  Darmblutsinus) 
oder  ein  diesen  vertretendes  unregelmäßiges  Netz  von  Blutlacunen,  aus  denen 
das  Rückengefäß  gespeist  wird.  Diese  Spalträume  sind  ihrer  ersten  Entstehung 
nach  auf  eine  Abhebung  der  splanchnischen  Mesodermschicht  von  dem  ento- 
dermalen  Darmepithel  zurückzuführen  (Fig.  62  B).  Sie  würden  sonach  in  letz- 
ter Linie  als  wiedereröffnete  oder  neu  gangbar  gewordene  Reste  der  primären 
Leibeshöhle  zu  bezeichnen  sein.  Diese  Blutlacunen  haben  ursprünglich  keine 
ihnen  direkt  zukommende  eigene  Wand.  Das  in  ihnen  zirkulierende  Blut  fließt  in 
Bahnen,  welche  nach  außen  zu  von  den  Schichten  des  splanchnischen  Meso- 
derms,  nach  innen  von  dem  Darmepithel  begrenzt  werden  (Fig.  62  B).  Da 
bei  der  oben  erwähnten  Abhebung  der  splanchnischen  Schicht  auch  die  ent- 
sprechenden Lagen  der  Darmmuskulatur  [Im  und  rm  Fig.  62)  faltenartig  em- 
porgehoben werden,  so  entsteht  auf  diese  Weise  eine  kontraktile  Muskelschicht, 
welche  die  Blutlacunen  zunächst  nur  von  außen  umhüllt,  sich  aber  im  weiteren 
Verlaufe  mehr  und  mehr  um  dieselben  schheßt  (Fig.  62  C).  Ein  inneres  Epithel 
scheint  den  Blutgefäßen  der  Wirbellosen  in  den  meisten  Fällen  völlig  zu  fehlen. 
Wo  es  vorhanden  ist,  da  sind  seine  ersten  Anfänge  wohl  auf  Mesenchymzellen 
zurückzuführen,  wir  wir  denn  auch  die  erste  Entstehung  von  Blutkörperchen 
auf  das  Freiwerden  von  Mesenchymzellen  zurückzuführen  haben.  Ob  es  sich 
in  diesen  Fällen  um  Zellen  des  primären  (larvalen  oder  ectodermalen)  Mesen- 
chyms  oder  um  ein  etwa  später  durch  Zelleinwanderung  von  den  Mesoderm- 
streifen  aus  entstandenes  sekundäres  Mesenchym  handelt,  scheint  aus  den  vor- 
liegenden ontogenetischen  Untersuchungen  noch  nicht  mit  voller  Klarheit  her- 
vorzugehen. 


Entwicklung  der  Blutgefäße  bei  Anneliden 


!4l 


Dieser  Darmblutsinus,  resp.  das  ihn  vertretende  irreguläre  Darmblutgefäß- 
netz scheint  die  erste  Anlage  des  Blutgefäßsystems  der  Annehden  zu  repräsen- 
tieren. Daß  die  Mesenterien  und  die  Dissepimente  in  gewissem  Sinne  vorge- 
schriebene Bahnen  darstellen,  in  denen  einzelne  Teile  des  erwähnten  Blutge- 
fäßnetzes zu  größerer  Selbständigkeit  gelangen  konnten,  ist  unschwer  vor- 
zustellen. Es  würden  das  Rücken-  und  Bauchgefäß  und  die  sie  verbindenden 
Queranastomosen  (Fig.  57)  als  von  dem  ursprünglichen  Darmgefäßnetz  ab- 
gegliederte Teile  zu  betrachten  sein.    Unter  dieser  Annahme  müßten  allerdings 


--T771 


-.en 


-hl 


-^ 


Fig.  62.  Schema  der  Blutgefäßentwicklung  bei  Anneliden.  A  Schichtenbau  eines  Stückes  der  Darmwand.  B  Lage 
eines  Blutsinus  bl  zwischen  Darmepithel  und  Ringmuskelschicht  der  Darmwand.  C  Ablösung  eines  querdurch- 
schnittenen Blutgefäßes  bg  von  der  Darmwand,  bg  Blutgefäß  im  Querschnitt,  bl  Blutsinus,  en  entodermales  Epithel 
der  Darmwand,     Im  Längsrauskelschicht    der  Darmwand  im  Querschnitt,      rm    Ringmuskelschicht    der    Darmwand, 

p  Peritonealepithel  der  Darmwand,  sog.  Splanchnopleura. 

alle  mehr  peripher  gelegenen  Gefäße,  welche  die  Haut,  die  Körperanhänge  und 
Kiemen  versorgen,  als  durch  sekundäre  Gefäßsprossung  hervorgegangen  ge- 
dacht werden. 

Die  ontogenetischen  Befunde  stehen  mit  der  hier  mehr  dogmatisch  vor- 
getragenen Ansicht  von  der  Entwicklung  des  Blutgefäßsystems  im  allgemeinen 
in  guter  Übereinstimmung.  Es  sei  hier  erwähnt,  daß  das  Rückengefäß  im  all- 
gemeinen paarig  angelegt  wird,  also  durch  Verschmelzung  zweier  Anlagen  her- 
vorgeht. Das  darf  uns  nicht  in  Erstaunen  versetzen,  da  wir  zu  bedenken  haben, 
daß  das  dorsale  Mesenterium  verhältnismäßig  spät  gebildet  wird.  Der  rechte 
und  linke  Coelomsack  jedes  Segmentes  (Fig.  61  B)  rücken  erst  spät  in  der  dor- 
salen Mittellinie  aneinander.  Da  nun  die  dorsalen  Kanten  beider  Coelomsäcke 
die  Anlage  der  Rückengefäße  bergen,  so  muß  die  letztere  anfangs  paarig  sein. 
Diese  Verhältnisse  sind  im  Auge  zu  behalten,  da  uns  bei  der  Entwicklung  des 
Herzens  der  Arthropoden  und  Mollusken  ganz  ähnliche  Entstehungsbedingungen 
entgegentreten  werden. 

Über  die  erste  Entstehung  der  Nephridien  der  Anneliden  herrscht  noch 
manche  Unklarheit.     Man   wird  sie  wohl   als  vom  Epithel  der  Coelomsäcke 


K.  d.G.III.iv,Bd2  Zellenlehre  etc.  11 


)6 


242  K.  Heider :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

abgegliederte  Röhrchen  in  Anspruch  nehmen  dürfen.  Die  Angaben  E.  Meyers 
für  die  Nephridien  von  Psygmobranchus  und  die  LilHes  für  Arenicola  deuten 
nach  dieser  Richtung.  Zweifelhaft  muß  es  bleiben,  ob  noch  etwa  ein  dem 
Ectoderm  entstammender  ausleitender  Abschnitt  hinzukommt,  wofür  gewisse 
Angaben  an  Oligochaeten  und  Hirudineen  zu  sprechen  scheinen. 

Bei  der  im  vorstehenden  gegebenen  Darstellung  des  Körperbaues  der  Anne- 
liden konnte  gewissermaßen  nur  ein  allgemeines  Schema  der  fundamentalen 
Beziehungen  entwickelt  werden.  Von  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit,  von 
den  aus  zahlreichen  Variationen  dieses  Grundthemas  in  der  vorliegenden 
hochinteressanten  Gruppe  sich  ergebenden  Spezialformen  mußte  abgesehen 
werden,  wie  sich  auch  eine  Darstellung  zahlreicher  besonderer  Organbil- 
dungen, der  Anhänge  des  Kopfes,  der  Extremitätenstummel  der  Rumpfseg- 
mente, der  Kiemen,  der  Borsten,  der  Rüssel-  und  Kieferbildungen  usw.  unse- 
rem Rahmen  nicht  eingefügt  hat.  Davon  wird  einiges  in  den  folgenden  Ab- 
schnitten nachzutragen  sein. 


V.  ARTHROPODEN,  GLTEDERFUSSER. 

Der  formenreichste  Stamm  des  Tierreiches,  der  der  Arthropoden,  schließt 
sich  den  Anneliden  ungemein  nahe  an.  Der  ,, Kampf  ums  Dasein",  immer  be- 
strebt, alle  Daseinsmöglichkeiten  auszunützen  und  die  Lebensbetätigung  zum 
höchsten  Grade  der  Intensität  zu  steigern,  ließ  aus  einer  Gruppe  annelidenähn- 
licher Ahnenformen  gepanzerte  Wesen  hervorgehen,  welche  unter  reicherer  Ent- 
faltung gegliederter  Extremitätenanhänge  zu  rascherer  Körperbewegung  be- 
fähigt erschienen.  Wir  denken  an  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  aller  krebs- 
ähnlichen, spinnenähnlichen,  tausendfußartigen  oder  insektenähnlichen  Wesen, 
wenn  wir  von  Arthropoden  sprechen.  In  ihren  Anfängen  noch  an  das  Wasser- 
leben angepaßt  und  durch  Kiemenatmung  ihren  Sauerstoffbedarf  deckend,  voll- 
zogen diese  Formen  den  Übergang  zum  Landleben,  bis  schließlich  in  der 
höchstentwickelten  Gruppe  der  geflügelten  Insekten  die  ,, Eroberung  der  Luft" 
als  glückliche  Lösung  des  schwierigsten  der  dem  Tierreiche  gestellten  techni- 
schen und  mechanischen  Probleme  die  Entwicklungsreihe  abschloß. 

In  den  Grundzügen  ihres  Bauplanes  erinnern  die  Arthropoden  durchaus  an 
Anneliden  (Fig.  63).  Die  metamere  Segmentierung  des  Körpers,  welche  hier 
meist  zu  heteronomer  Ausbildung  differenter  Körperregionen  führt,  erinnert 
ebensosehr  an  die  Ringelwürmer,  wie  die  relativen  Lagebeziehungen  der  wich- 
tigsten Organe  zueinander.  Wie  bei  den  Anneliden,  so  finden  wir  auch  hier  ein 
über  dem  Darm  verlaufendes  Rückengefäß  (Herz)  als  Zentrum  des  Zirku- 
lationsapparates (Fig.  63 yg,  66h,  77h)  und  als  zentralen  Teil  des  Nerven- 
systems eine  ventralwärts  unter  dem  Darm  sich  längs  erstreckende  Bauch- 
ganghenkette  (Fig.  63 w,  66hg,  76,  77hg).  Wir  werden  sehen,  daß  vielfach  Ex- 
kretionsorgane  zu  beobachten  sind,  welche  sich  ihrem  Baue  nach  unter  gewissen 
Modifikationen  an  die  Nephridien  der  Anneliden  anschließen  (Fig.  65,  66n'  «", 
68ADr,  7Sso).    So  innig  erschien  vielen  Forschern  der  Anschluß  der  Glieder- 


Vergleich  der  Anneliden  und  Arthropoden 


'A3 


füßer  an  die  Ringelwürmer,  daß  Cuvier  den  Versuch  begründete,  beide  Grup- 
pen in  eine  höhere  systematische  Einheit:  der  Articulaten  zu  vereinigen,  ein 
Bestreben,  in  welchem  ihm  bis  auf  die  neueste  Zeit  manche  Autoren  (Hät- 
schele) gefolgt  sind. 

A       ' 


Bei  aller  prin- 
zipiellen Überein- 
stimmung, welche  im 
Körperbau  der  Ar- 
thropoden zutage 
tritt,  wird  man 
immerhin  noch  ge- 
wisse Zweifel  hegen 
dürfen,  inwieweit 
dieser  Stamm  als  ge- 
netische Einheit  im 
Sinne  gemeinsamer 
Abstammung  zu  er- 
fassen ist.  Es  fehlt 
nicht  an  Stimmen, 
welche  der  Ansicht 
Ausdruck  geben,  daß 
mehrere,  ihrem  Ur- 
sprung nach  ge- 
trennte Stämme  von 
den  Anneliden  ab- 
zweigend gleiche 
oder  ähnliche  Ent- 
wicklungsrichtung 
eingeschlagen  haben. 
Und  in  der  Tat,  es 
treten  uns  bei  Be- 
trachtung der  unend- 
lichen Formenfülle 
derGliederf  üßer  min- 
destens drei  vonein- 
ander mehr  oder  min- 
der getrennte  For- 
menreihen entgegen, 
welche  höchstens  an 


eil 

Fig.  63.  -iSchematiscber  Querscliuitt  durch  einen  Anneliden  (verändert  nach  einer 
Abbildung  in  Gkobbexs  Lehrbuch),  vgl.  Fig.  58  B.  B  Schematischer  Querschnitt 
durch  einen  Arthropoden  (Crustacee).  bg  Bauchgefäß,  c  Coelom,  cd  Dorsalcirrus, 
cv  Ventralcirrus,  cu  Cuticula,  d  Darm,  dm  dorsaler  Längsmuskel,  da  dorsales 
Horstenbüschel,  ec  ektodermales  Epithel  (Hypodermis  oder  Matrix),  en  Endopodit, 
ex  Exopodit,  g  Geschlechtsorgane,  k  Kieme,  ms  mesenchymatisches  Bindegewebe, 
n  Bauchganglienkette,  pc  Pericardialseptum,  rg  Rückengefäß,  sp  splanchnische 
Schicht  der  Darmwand  (Darmmuskelschicht),  v  ventrales  Borstenbüschel,  V)n.  ven- 
traler Längsmuskel. 


ihrer  Wurzel  miteinander  zusammenhängen.  Den  ersten  dieser  Stämme  können 
wir  als  den  der  Crustaceen  oder  krebsähnlichen  Wesen  bezeichnen.  Hier  handelt 
es  sich  meist  um  Bewohner  des  Wassers,  vornehmlich  der  Meere,  welche  kiemen- 
atmend und  durch  den  Besitz  zweier  Fühlerpaare  gekennzeichnet  sind.  Die  zweite 
Reihe  schließt  sich  in  ihren  Ursprüngen  vielleicht  durch  Vermittlung  der  altehr- 

16* 


244  ^-  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Würdigen  Trilobiten  (Fig.  70  und  71)  an  vorweltliche  Crustaceen  an.  Sie  führt  von 
den  Palaeostraken  (Gigantostraken  und  Xiphosuren,  Fig.  72)  zu  den  Scorpionen 
(Fig.  73)  und  spinnen'öhn\ich.en  Formen.  In  ihren  Anfängen  marine  und  kiemen- 
atmende Wesen  umfassend,  läuft  sie  in  eine  Gruppe  landbewohnender,  durch 
Tracheen  oder  Fächerlungen  luftatmender  Tiere  aus,  bei  denen  die  vordersten 
Extremitätenpaare  bereits  der  Gruppe  der  Mundwerkzeuge  zuzurechnen  sind, 
während  eigentliche  Fühler  vermißt  werden.  Die  dritte  Reihe  kann  unter  dem 
Namen  der  Antennaten  zusammengefaßt  werden.  Ein  Fühlerpaar  und  Tracheen- 
atmung kennzeichnet  diese  vorwiegend  aus  Landbewohnern  zusammengesetzten 
und  in  ihren  höchstentwickelten  Formen  des  Fluges  sich  bedienenden  Wesen. 
Sie  führt  von  Peripatus  (Fig.  74,  Gruppe  der  Onychophoren)  durch  Vermittlung 
der  Myriopoden  zu  den  Insekten. 
Extremitäten.  Die   Arthropoden  kennzeichnen  sich   durch  den   Besitz  gegliederter   Ex- 

tremitäten (vgl.  Fig.  73).  Schon  bei  den  Anneliden  begegnen  wir  in  der  Unter- 
gruppe der  marinen  Folychaeten  Andeutungen  von  Extremitätenbildungen, 
sog.  Parapodien,  welche  sich  hier  nur  als  kurze,  stummeiförmige,  häufig  zwei- 
zipfelige, seitlich  an  den  Segmenten  befestigte  Ruder  präsentieren  und  in  denen 
meist  zwei  mächtige  Borstenbüschel  (Fig.  63  A  do  und  v)  eingepflanzt  erschei- 
nen. Oft  gewinnen  diese  Anhänge  der  Anneliden  kompliziertere  Gestalt,  durch 
sekundäre  Lappenbildung,  durch  das  Vorhandensein  von  Fühlfäden  (Dorsal- 
und  Ventralcirrus,  Fig.  63  c^,  cv)  und  von  Kiemenanhängen  [k).  Doch  kommt 
ihnen  ein  geringer  Grad  von  Eigenbewegung  zu.  Die  Lokomotion  der  Anneliden 
vollzieht  sich  unter  seitlichen  Schlängelungen  des  ganzen  Körpers.  Anders  bei 
den  Arthropoden.  Hier  gewinnen  die  Extremitäten,  höher  entwickelt,  nach  der 
Ventralseite  verlagert  (Fig.  63  B),  schärfer  von  den  Rumpfsegmenten  abgeglie- 
dert, den  Charakter  selbständig  tätiger,  durch  eine  komplizierte  Eigenmusku- 
latur bewegter  Lokomotionsorgane.  Dementsprechend  treten  die  Bewegungen 
des  Rumpfes  beim  Schwimmen,  Kriechen  usw.  mehr  in  den  Hintergrund.  Die 
Extremitäten  der  Arthropoden  haben  den  Bau  gegliederter  hohler  Stäbchen, 
welche  in  ihrem  Inneren  die  Weichteile  (Muskel  usw.)  bergen  und  an  denen 
versteifte  Abschnitte  mit  Partien  größerer  Beweglichkeit  (sog.  Gelenken)  ab- 
wechseln. Bekannt  ist  ja,  wie  die  Beine  der  Insekten  sich  in  Abschnitte, 
welche  als  Hüfte,  Trochanter,  Femur,  Tibia  und  Tarsus  unterschieden  werden, 
gliedern. 
Haut.  Die  Möglichkeit,  derartige  zu  mannigfaltigen  komplizierten  Leistungen  be- 

fähigte Extremitäten  zu  entwickeln,  eröffnete  sich  den  Arthropoden  durch  ein 
ihnen  allgemein  zukommendes  Merkmal:  die  stärkere  Cuticularisierung  der 
Körperoberfläche.  Während  bei  den  Anneliden  die  Cuticula  (Fig.  6'^  A  cu)  als 
ein  mehr  weiches,  nachgiebiges  Häutchen  der  äußeren  Oberfläche  des  ektoder- 
malen  Körperepithels  (Hypodermis  ec)  aufgelagert  erscheint,  entwickelt  das  hier 
häufig  als  Matrix  bezeichnete  Körperepithel  der  Arthropoden  (Fig.  63  B  ec) 
einen  starren,  geschichteten,  aus  Chitin  bestehenden  und  häufig  durch  Kalk- 
einlagerungen verstärkten  Hautpanzer  (Fig.  63BCW),  welcher  oft  mit  Borsten, 
Dornen  oder  Stacheln  besetzt  und  mit  den  zierlichsten  Reliefbildungen  versehen 


Skelett,  Muskelsystem  und  Leibeshöhle  der  Arthropoden  245 

sein  kann.  Diese  ganze  Mannigfaltigkeit  beruht  auf  der  ungemeinen  Plastizität 
des  Chitins  als  skelettbildender  Substanz,  welcher  in  gleichem  Maße  im  Tier- 
reiche nur  noch  die  Kieselsäure  nahekommt,  während  der  Kalk  im  allgemeinen 
zu  massigeren  Skelettbildungen  führt.  Mit  der  Ausbildung  des  Chitinpanzers 
der  Arthropoden  sind  zwei  Eigentümlichkeiten  dieser  Tiergruppe  notwendig 
verbunden : 

1.  daß  die  einzelnen,  gegeneinander  beweglichen  Stücke  dieses  Hautpan- 
zers gelenkig  miteinander  verbunden  und  nicht  selten  ein  wenig  fern- 
rohrartig einziehbar  sind  und 

2.  daß  das  Wachstum  der  hierher  gehörigen  Formen  sich  nur  auf  dem 
Wege  von  Häutungen  unter  Abwerfen  der  verbrauchten  und  zu  klein  ge- 
wordenen Hülle  vollziehen  kann.  Die  Häutungen  des  Seidenwurmes  und 
der  Raupen  im  allgemeinen  sind  eine  den  Schmetterlingszüchtern  wohl- 
bekannte Erscheinung. 

Die  Entwicklung  dieses  chitinösen,  starren,  äußeren  oder  Exoskeletts  hatte 
wichtige  Umgestaltungen  der  inneren  Organisation  im  Gefolge.  Zur  Bewegung 
der  einzelnen  Panzerplatten,  der  Chitinringe,  welche  den  Körpersegmenten 
entsprechen,  der  abgegliederten  Teile  der  Extremitäten  usw.  erschien  ein  ein- 
heitlicher Hautmuskelschlauch  nicht  mehr  geeignet.  Wir  sehen  hier  demnach 
das  Muskelsystem  in  eine  große  Zahl  einzelner  Muskelgruppen  zerlegt.  Lyonet 
hat  die  Körpermuskel  der  Weidenbohrerraupe  eingehend  studiert  und  ihre 
Zahl  nach  Tausenden  bewertet.  Nur  bei  ursprünglicheren  Arthropodenformen, 
wie  bei  Peripatus  (Fig.  74),  erhalten  sich  Anklänge  an  den  Zusammenschluß  der 
gesamten  Körpermuskulatur  zu  einem  einheitlichen  Hautmuskelschlauch. 

Mit  der  Auflösung  des  Hautmuskelschlauches  in  gesonderte  Spezialmuskel  Coeiom. 
und  Muskelgruppen  hängt  zusammen:  die  Auflösung  der  Coelomwände.  Was 
wir  als  Leibeshöhle  der  Arthropoden  (Fig.  63  B)  bezeichnen,  stellt  sich  uns 
dar  als  ein  von  Bindegewebspartien  [ms),  Fettkörpergewebe  usw.  durchzogenes, 
mit  Blutflüssigkeit  erfülltes  Lückensystem,  das  durchaus  den  Charakter  eines 
Pseudocoels  trägt.  Eine  epitheliale  Auskleidung  dieses  unregelmäßig  gestal- 
teten, zwischen  den  einzelnen  Körperorganen  sich  ausdehnenden  Höhlen- 
systems wird  vermißt.  Die  Arthropoden  erinnern  im  Charakter  ihrer 
Leibeshöhle  einigermaßen  an  die  Verhältnisse,  wie  wir  sie  bei  den  Scoleciden 
(vgl.  Fig.  49)  vorgefunden  haben,  mit  einer  wichtigen  und  ungemein  bezeich- 
nenden Ausnahme.  Wir  finden  hier  regelmäßig  eine  splanchnische  Muskel- 
schicht (Fig.  6^  B  sp)  der  Darmwand,  und  dieser  Befund  deutet  darauf  hin,  daß 
es  sich  bei  der  Leibeshöhle  der  Arthropoden  um  ein  verschwundenes  Coeiom,  um 
eine  parenchymatöse  Umbildung  der  Coelomwände  handelt. 

Wir  müssen  uns  an  die  Embryologie  der  Arthropoden  halten  (vgl.  unten 
die  Fig.  82  und  84),  um  über  die  morphologische  Auffassung  der  Leibeshöhle  der 
Arthropoden  eine  gewisse  Klarheit  zu  gewinnen.  Vor  allem  haben  die  von 
Kennel  und  Sedgwick  genauer  untersuchten  Umbildungsvorgänge  im 
Embryo  von  Peripatus  diesbezüglich  klärend  gewirkt,  wo  wir  anfangs,  wie  bei 


246 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


o-—., 


den  Anneliden,  umfangreiche  Coelomsäcke  auftreten  sehen  (Fig.  80  t),  die  später 
unter  Dissoziierung  des  zelligen  Gefüges  ihrer  Wand  zur  Leibeshöhle  der  aus- 
gebildeten Form  hinüberführen.  Wenn  wir  die  Verhältnisse  im  Insektenembryo 
heranziehen,  auf  welche  wir  unten  noch  zurückkommen,  so  gewinnen  wir  dort 
den  Eindruck,  daß  das  Hohlraumsystem,  welches  wir  als  Leibeshöhle  bezeich- 
nen, aus  einem  Zusammenfließen  der  Coelomhöhlen  mit  der  primären  Leibes- 
höhle unter  Auflösung  der  Coelomwände  entsteht. 
Blutgefäßsystem.  Durch  die  Umwandlungen,  welche  das  Coelomsystem  der  Arthropoden  auf 

dem  Wege  von  den  Annelidenahnen  durchzumachen  hatte, 
wurde  auch  das  Blutgefäßsystem  in  nicht  unwesentlicher 
Weise  tangiert.  Es  existiert  eine  eigentümliche,  nicht  ganz 
klar  zu  durchschauende  Beziehung,  welche  sich  dahin  aus- 
sprechen läßt,  daß  ein  geschlossenes,  wohlentwickeltes 
Blutgefäßsystem  im  allgemeinen  nur  bei  Formen  sich  findet, 
denen  ein  wohlkonditioniertes  Coelom  zukommt.  Erleidet 
das  Coelom  irgendeine  Form  sekundärer  Umbildung,  so 
wird  auch  das  Blutgefäßsystem  rückgebildet  und  es  kann 
bei  den  kleineren  Formen  unter  den  Arthropoden  vollstän- 
dig verschwinden.  Im  allgemeinen  erhalten  sich  nur  gewisse 
Teile  des  Blutgefäßsystems,  welche  dann  mit  dem  Pseu- 
docoel  in  direkte  Kommunikation  treten,  so  daß  das  Blut 
zum  Teil  in  Gefäßen  mit  eigener  Wandung,  zum  Teil  aber 
in  den  Lückenräumen  der  Leibeshöhle  zirkuliert.  Das  Blut- 
gefäßsystem der  Arthropoden  ist  sonach  ein  sogenanntes 
Fig.  64.   Vorderes  Ende  des   offencs.    Mcist  erhält  sich  als  propulsatorischer  Apparat 

Herzens    eines    Tausendfußes  .  ,  .  «-n-iirz-ii 

(Scoiopendra).  NachNEWPORT  mit  muskulöscr  Wauduug  versehen  jener  leil  des  Zirkula- 
Zi'::il£t:£^.Z^l  tionssystems  (Fig.  (^(^K  11  h\  welcher  dem  Rückengefäß 
ab  Arterienbogen,  a/seitHche   ^^^  Anneliden  cntspricht  (Fig.  63^2:)  und  der  hier  bei  den 

Arterien,       hk    Herzkammer,  ^  . 

o  Ostien  des  Herzens,  >2  sog.   Arthropodcu  häufig  als  Hcrz  bezeichnet  wird.  An  ihn  kön- 

Flügelmuskel      des     Herzens,  ...  ..  r>  i  ■  t^     ,  r    i ,  a     <        • 

zur  Erweiterung  des  Herzens   Hcn  sich  in  großcrcr  odcr  geringerer  Entfaltung  Arterien 
dienend,  (Fig.  64 ac,  H  do)  anschlicßcn,  welche  nach  längerem  oder 

kürzerem  Verlaufe  frei  endigen  und  —  wie  erwähnt  —  mit  Räumen  der  Leibes- 
höhle in  Verbindung  treten.  Ob  und  inwieweit  gewisse  Blutbahnen,  welche  z.  B. 
beim  Flußkrebs  als  Venen  beschrieben  worden  sind,  auf  Teile  des  Blutgefäß- 
systems der  Anneliden  zu  beziehen  sind  oder  ob  sie  als  selbständig  neu  hinzu- 
gebildete Gefäße  zu  betrachten  sind,  ist  uns  nicht  bekannt. 

Das  in  manchen  Fällen  langgestreckte,  als  Rückengefäß  entwickelte,  in 
anderen  Fällen  kurz  sackförmige  Herz  liegt  in  einem  besonderen  Räume,  dem 
sog.  Pericardialsinus  (Fig.  84 C  />),  welcher  durch  ein  horizontal  ausgebreitetes, 
durchlöchertes  Pericardialseptum  (Fig.  63  B  pc,  84  C  ps)  von  den  übrigen  Teilen 
der  Leibeshöhle  abgegrenzt  ist.  Wenn  wir  die  Lage  des  Rückengefäßes  bei  den 
Anneliden  betrachten  (Fig.  63  A),  so  wird  uns  deutlich,  daß  der  Pericardial- 
sinus der  Arthropoden  auf  die  primäre  Leibeshöhle  zu  beziehen  und  durch  ein 
Auseinanderweichen  der  beiden  Blätter  des  dorsalen  Mesenteriums  entstanden 


Blutgefäßsystem  und  Nephridien  der  Arthropoden  247 

ZU  denken  ist.  Dann  muß  man  das  Pericardialseptum  auf  eben  diese  Blätter  des 
Mesenteriums  zurückführen.  Wir  hätten  sonach  in  ihm  einen  zeitlebens  erhal- 
tenen Teil  der  Coelomwand.  An  das  Pericardialseptum  sind  vielfach  die  Go- 
naden (Fig.  63  g,  84  g)  durch  Stränge  oder  Lamellen,  die  man  als  ein  Meso- 
varium  (Mesorchion)  betrachten  kann,  befestigt.  Die  sog.  Endfäden,  in  welche 
die  Eiröhren  der  Insekten  auslaufen,  sind  unter  diesem  Gesichtspunkte  aufzu- 
fassen und  sonach  in  letzter  Linie  auch  auf  Reste  des  dorsalen  Mesenteriums 
zu  beziehen. 

Das  Blut,  welches  in  den  Lakunen  des  Pseudocoels  kreisend  die  Organe 
des  Körpers  umspült,  kehrt  durch  Lücken  im  Pericardialseptum  in  den  Peri- 
cardialsinus  zurück.    Damit  es  ins  Herz  gelangen  kann,  sind  seitliche  Durch- 
brechungen der  Herzwand,   die  sog.  Herzostien 
(Fig.  64  0,  66  ho)  in  regelmäßigen  Abständen  an- 
gebracht.   In  ebensolchen  regelmäßigen  Abstän- 
den finden  wir  im  Herzen  der  Insekten  Klappen- 
paare angebracht,  welche  dem  Blutstrome  imHer- 
zen  die  Strömungsrichtung  von  hinten  nach  vorn 
sichern.    Durch  diese  Klappenpaare  gewinnt  das 
Herz  der  Insekten  segmentalen  Charakter.  Es  wird 
zu  dem  sog.  ,,gekammerten  Rückengefäß"  dieser 
Formen. 

Die  von  den  Anneliden  überkommenen  Ne-  ?^ — (üj    n«?'^"^'«"- 

phridien  erhalten  sich  im  Kreise  der  Arthropoden    Fig.  65.    Antennendrüse  eines  Krebses. 

-r-,..,,  ,      .  ,    ,  Nach  Grobben.    <?j  Endsäckchen,  c  Harn- 

nur  m  gewissen  Italien  und  m  umgewandelter  kanälchen,  ^  Ausmündungssteiie. 
Form.  Bei  Peripaius  noch,  in  den  meisten  Körper- 
segmenten vorkommend  (Fig.  75  so)  und  an  der  Basis  der  Beine  ausmündend, 
finden  sie  sich  bei  den  Crustaceen  in  zwei  Paaren  als  sog.  Antennen-  und  Maxil- 
lendrüse  (Fig.66w'undw"),  beiLimulus  als  sog.  ziegelrote  Drüse,  bei  den  Arach- 
niden  als  sog.  Coxaldrüsen.  Im  wesentlichen  handelt  es  sich  um  aufgewundene 
Schläuche  (Fig.  65),  welche  im  Inneren  nichts  mehr  von  Bewimperung  erkennen 
lassen  und  welche  im  Körperinneren  an  einem  kleinen  geschlossenen  Endsäck- 
chen  {es),  das  nun  gewissermaßen  einen  abgekapselten  Coelomrest  darstellt, 
ihren  Ursprung  nehmen.  Theoretisch  werden  wir  auch  die  Ausführungsgänge 
der  Geschlechtsorgane  bei  den  Arthropoden  auf  umgewandelte  Nephridien  zu 
beziehen  haben.  Die  innige  Verbindung,  in  welche  die  Segmentalorgane  der 
Anneliden  zur  Ausleitung  der  Geschlechtsprodukte  treten,  wurde  ja  bereits 
oben  (S.  237 ff.)  berührt. 

Zum  Schluß  noch  ein  kurzer  Hinweis  auf  gewisse  allgemeinere  Charaktere 
der  Arthropoden,  auf  Merkmale  histologischer  Natur.  Die  in  diesem  Kreise 
durchgeführte  Cuticularisierung  der  Körperoberfläche  beeinflußt  sämtliche  spe- 
zielleren Hautgebilde.  Wir  müssen  es  uns  versagen,  unter  diesem  Gesichts- 
punkte die  Sinnesapparate  der  Arthropoden,  vor  allem  die  hochentwickelten, 
häufig  zusammengesetzten  Augen,  die  Statocysten,  die  mannigfaltigen  als  Sinnes- 
borsten, als  blasse  Kolben,  als  Chordotonal-  und  Tympanalorgane  usw.  be- 


248  K.  Heider :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

zeichneten  Einrichtungen  näher  zu  betrachten.  Es  entspricht  der  intensiven 
Lebensführung  der  Arthropoden,  ihrer  energischen  Lokomotion,  ihrer  Befähi- 
gung zur  Überwindung  mechanischer  Aufgaben,  daß  sämtliche  Muskelfasern 
hier  deutliche  Querstreifung  erkennen  lassen.  Wimperapparate  sind  in  dem 
ganzen  Kreise  vollständig  unterdrückt.  Das  geht  so  weit,  daß  bei  den  Krebsen 
sogar  die  Spermien  den  Charakter  beweglicher  Geißelzellen  mehr  und  mehr 
verlieren. 

A.  Reihe  der  Crustaceen  oder  Krebstiere. 

Der  Körper  aller  Arthropoden  setzt  sich  aus  einer  Reihe  ursprünglich  gleich- 
artiger Körpersegmente  zusammen.  Die  Gleichartigkeit  dieser  Abschnitte  tritt 
an  den  Embryonen,  wo  der  Körper  häufig  in  der  Form  eines  Keimstreifs  (vgl. 
S.  267  Fig.  61)  angelegt  wird,  deutlicher  zutage,  als  an  den  entwickelten  Formen, 
und  hier  erkennen  wir  auch  das  charakteristische  Wachstumsgesetz  der  telo- 
blastischen  Hinzubildung  neuer  Körpersegmente  von  einer  am  hinteren  Körper- 
ende, aber  noch  vor  dem  Telson  (Fig.  81  te)  befindlichen  Knospungszone.  Wir 
finden  sonach  an  einem  Embryo  die  Segmente  um  so  wohlentwickelter  und 
älter,  wenn  wir  in  der  Reihe  der  Körpersegmente  von  hinten  nach  vorne  fort- 
schreiten. Theoretisch  werden  wir  den  Körper  der  Arthropoden,  wie  den  der 
Anneliden  in  folgende  3  Partien  einteilen  können:  i.  der  vorderste,  dem  Kopf- 
lappen der  Anneliden  entsprechende  Körperabschnitt  (Fig.  81  bei  m),  den  wir 
als  primären  Kopfabschnitt  zu  bezeichnen  haben  und  dem  nebst  den  Augen 
das  Oberschlundganglion  zugehört,  2.  der  aus  einer  wechselnden  Anzahl  von 
Metameren  bestehende  Rumpf  und  3.  der  Endabschnitt  (Telson  oder  Pygi- 
dium  Fig.  81  te),  welcher  die  Afteröffnung  trägt.  Eine  Betrachtung  der  ausge- 
bildeten Formen  der  Arthropoden  führt  uns  jedoch  meist  zu  einer  anderen, 
sekundär  durchgeführten  Regioneneinteilung  des  Körpers.  Wir  sehen  einen 
vorderen,  die  Fühler,  die  hauptsächlichsten  Sinnesorgane,  den  Mund  und  die 
Mundwerkzeuge  tragenden  Abschnitt,  den  wir  als  Kopf  (Fig.  76,  i — 6)  be- 
zeichnen. Er  ist  durch  Verschmelzung  des  primären  Kopfabschnittes  mit  einer 
Anzahl  vorderster  Rumpfsegmente  entstanden.  Es  folgt  sodann  die  Brust- 
oder Thoraxregion  (Fig.  76,  I — 3  bei  al),  eine  zweite  Einheit  zusammengehöriger 
Segmente  umfassend.  Die  Extremitäten  der  Thoraxregion  dienen  hauptsäch- 
lich der  Lokomotion.  An  die  Thoraxregion  schließt  sich  das  Abdomen  oder  der 
Hinterleib  (Fig.  ^6,  i — 10  bei  ms)  an.  In  diesem  Abschnitt  treten  die  Ex- 
tremitäten mehr  in  den  Hintergrund,  die  Segmente  bewahren  sich  meist  grö- 
ßere Selbständigkeit.  Erst  bei  den  einzelnen  Gruppen  kann  die  speziellere  Cha- 
rakteristik dieser  Körperregionen  gegeben  werden. 
Bau  der  Die  Kopfregiou  der  Krebse  (Fig.  66  von  au  bis  x)  läßt  keinerlei  Segment- 

Crustaceen.  grenzcu  äußcrlich  erkennen.  Sie  entsteht  durch  innige  Verwachsung  des  pri- 
mären Kopfabschnittes  mit  fünf  folgenden,  extremitätentragenden  Segmenten. 
Die  ihnen  zugehörigen  Extremitätenpaare  sind  in  der  Reihenfolge  von  vorn 
nach  hinten:  das  erste  Antennenpaar  [an'),  dem  nach  Bau  und  Verwendung 
eine  gewisse  Ausnahmestellung  zukommt,  das  Paar  der  zweiten  Antennen  [an"), 
die  oft  als  mächtig  entwickelte  Ruder  benützt  werden,  das  Mandibel-  oder  Ober- 


Allgemeine  Charakteristik  der  Crustaceen 


249 


kieferpaar  {md),  und  zwei  Paare  von 
Maxillen  oder  Unterkiefern  {mx\ 
mx").  Diese  durch  Kauladen  ausge- 
zeichneten Mundwerkzeuge  umstel- 
len die  von  einer  Oberlippe  {ol)  über- 
ragte Mundöffnung  [m).  Nicht  selten 
werden  der  Kopfregion  noch  ein- 
zelne ursprünglich  dem  Thorax  zu- 
gehörige Körpersegmente  sekundär 
angegliedert.  Wir  bezeichnen  dann 
die  vordersteKörperregion  alsKopf- 
bruststück  oder  Cephalothorax. 
Wenn,  wie  dies  häufig  vorkommt, 
die  diesen  angegliederten,  Thorax- 
segmenten zugehörigen  Extremi- 
tätenpaare zur  Kaufunktion  heran- 
gezogen und  dementsprechend  um- 
gebildet werden,  so  sprechen  wir 
vonKieferfüßenoderMaxillarfüßen. 

Dorsalwärts  ist  der  Kopf  von 
einer  mächtigen  gewölbten  Chitin- 
platte überdeckt,  und  dieser, ,Rük- 
kenschild"  (Fig.  66  rs)  läuft  nicht 
selten  seitlich  (vgl.  Fig.  63  B)  und 
noch  mehr  an  seinem  hinteren 
Rande  in  einen  freien  Vorsprung 
oder  eine  Hautfalte  aus,  welche  die 
angrenzenden  Körperteile  schüt- 
zend überdeckt.  So  erscheinen  beim 
Flußkrebs  die  Kiemen  unter  einem 
derartigen  Faltenüberhange  gebor- 
gen, wie  denn  überhaupt  der  Ce- 
phalothoraxschild  des  Flußkrebses 
zum  größten  Teile  aus  einer  Fal- 
tenbildung, welche  ursprünglich  von 
der  Maxillarregion  (Fig.  66  bei  x) 
nach  hinten  vorgewachsen  ist,  her- 
vorgegangen gedacht  werden  muß. 

Die  Extremitäten  der  Crusta- 
ceen sind  auf  eine  zweiästige  Grund- 
form zurückführbar  (Fig.  67).  Wir 
unterscheiden  an  ihnen:  den  zwei- 
gliedrigen, der  Bauchseite  des  Kör- 
pers eingepflanzten  Stamm  (Froto- 


Fi  g.  66.  Schema  der  Organisation  eines  Krebses.  Ansicht  von 
der  linken  Körperseite,  a  After,  a^(/' erstes  abdominales  Beinpaar, 
add"  zweites  abdominales  Beinpaar,  an'  erstes  Antennenpaar,  an" 
zweite  Antenne,  at<  unpaares  (Entomostraken-)  Auge,  6^  Bauch- 
ganglienkette, c  Gehirn,  d  Darm,  y"  Furca,  ^  Geschlechtsdrüse,. 
ga  Genitalöflfnung,  h  Herz  (Rückengefäß),  /lo  Herzostien,  /Leber- 
anhang des  Darms,  m  Mund,  md  Mandibel,  mx'  erste  Maxille,. 
?«jr"  zweite  Maxille,  «'  Antennendrüse,  n"  Maxillendrüse,  0/ Ober- 
lippe, rs  Rückenschild,  ia' erstes  Abdominalsegment,  sa"  zweites 
Abdominalsegment,  s/k'  erstes  Thoraxsegment,  j-^'/z"  zweites  Tho- 
raxsegment, ^e  Telson,  /Ji'  erstes  Thoraxbeinpaar,  i"//"  zweites  Tho- 
raxbeinpaar, bei  X  Grenze  der  Kopf  region  gegen  die  Thoraxregion, 
bei  XX  Grenze   der  Thoraxregion    gegen    die  Abdominalregion. 


250 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


podit  I  und  2),  einen  Innenast  (Endopodit  en)  und  einen  Außenast  (Exopo- 
dit  ex).  Nicht  selten  trägt  der  Stamm  an  seiner  Außenseite  blattförmige,  säck- 
chenförmige  oder  verästelte  Kiemenanhänge  (Epipodite  ep).  Die  Umbildung 
der  Extremitäten  zu  Kauwerkzeugen  vollzieht  sich  in  der  Weise  (Fig.  67  B), 
daß  das  Basalglied  der  betreffenden  Extremität  sich  vergrößert  und  an  seiner 
Innenseite  einen  bezahnten  Vorsprung  (Endit)  hervorbringt.  Dieser  so  entstan- 
denen Kaulade  sitzt  dann  der  meist  reduzierte  Abschnitt  der  übrigen  Extre- 
mität als  ,, Taster"  auf. 

Die  Thoraxregion  der  Krebse  (Fig.  66  von  x  bis  xx)  besteht  aus  einer  wech- 
selnden Anzahl  freier  oder  unter  dem  Rückenschilde  verborgener  und  mit  ihm 
verwachsener  Segmente,  welche  die  meist  mächtig  als  Gangbeine,  Ruderbeine 

Fig.  67.  A  Ein  Krebsbeinpaar  in 
schematischer  Darstellung,  z  erstes 
Stammglied,  2  zweites  Staramglied. 
e  Kaufortsatz  der  Innenseite  (sog. 
Endit)  <?«  Endopodit  oder  Innen- 
ast, e.v  Exopodit  oder  Außenast, 
eß  Epipodit  (Kiemenanhang).  B 
zeigt  die  Umformung  bei  Ver- 
wendung der  Extremität  als  Mund- 
werkzeug (Mandibel).  Das  ver- 
größerte erste  Glied  wird  zur  Kau- 
lade {i),  während  der  übrige  ver- 
kleinerte Teil  der  Extremität  zum 
Taster  wird. 

usw.  entwickelten,  der  Lokomotion  dienenden  Extremitätenpaare  (Fig.  66  th', 
th"  usw.)  tragen. 

Wenn  der  Kopf  und  zum  Teil  auch  der  Thorax  durch  innige  Verschmelzung 
der  Segmente  zu  starren  Körperabschnitten  umgebildet  werden,  weist  das  Ab- 
domen (Fig.  66  von  xxbis  /)  größere  Beweglichkeit  seiner  Teile  auf.  Die  Seg- 
mente bleiben  hier  frei.  Die  Extremitäten  sind  meist  mehr  reduziert  (Fig.  66 
abd',  abd")  oder  fehlen  gänzlich.  Das  Abdomen  der  Crustaceen  dient  als  ein 
mit  kräftiger  Muskulatur  ausgestatteter  und  häufig  in  einer  Schwanzflosse 
endigender  Ruder-  und  Steuerapparat. 

Der  Körper  wird  hinten  von  dem  aftertragenden  Telson  (Fig.  66  te)  ab- 
geschlossen, welches  bei  den  ursprünglicheren  Formen  in  eine  zweizipfelige  End- 
bildung (sog.  Furca  /)  ausläuft. 

Von  der  inneren  Organisation  der  Crustaceen  hier  nur  weniges,  das  als 
Ergänzung  des  früher  im  allgemeinen  für  die  Arthropoden  entworfenen  Bildes 
dienen  mag.  Die  meisten  inneren  Organe  finden  sich  in  der  Thoraxregion  ver- 
einigt, während  das  Abdomen,  muskelreich,  zum  Unterschiede  von  der  gleich- 
namigen Körperregion  der  Insekten,  verhältnismäßig  arm  an  Organbildungen 
erscheint.  Der  Darm  (Fig.  66  d)  verläuft  geradegestreckt  und  besteht  aus  einem 
häufig  zu  einem  Kaumagen  erweiterten  Stomodaeum,  einem  Mitteldarm,  der 
vielfach  mit  gelappten  Anhängen  (sog.  Leber  l  oder  Mitteldarmdrüse)  versehen 
ist  und  einem  vom  Mitteldarm  meist  nicht  scharf  abgegrenzten  Proctodaeum. 
Die  Geschlechtsorgane  (Fig.  66  g)  bestehen  in  ihrer  einfachsten  Form  aus 
paarigen    Säckchen     (Fig.  63B  g)     mit    Ausführungsgängen,     welche    in    der 


Bau  und  Entwicklung  der  Crustaceen 


251 


Regel  in    der  Grenzregion  von  Thorax  und   Abdomen   nach   außen   münden 
(Fig.  66  go). 

Es  erhalten  sich  im  Kreise  der  Crustaceen  nur  2  Paare  von  Exkretions- 
organen  vom  Typus  umgewandelter  Nephridien.  Das  vordere  Paar  mündet 
an  der  Basis  der  zweiten  Antenne  und  wird  als  Antennendrüse  (Fig.  66  n')  be- 
zeichnet, während  ein  hinteres  Paar  als  Schalen-  oder  Maxillendrüse  (w")  der 
Maxillarregion  angehört.  In  ihrem  Vorkommen  schließen  sich  die  beiden  Paare 
meist  derart  aus,  daß  Formen,  denen  eine  Antennendrüse  zukommt  (grüne 
Drüse  des  Flußkrebses)  der  Maxillardrüse  entbehren  und  umgekehrt. 

Wenn  wir  die  Crustaceen  als  umgewan- 
delte Anneliden  betrachten,  so  würden  wir 
vielleicht  erwarten,  in  ihrer  Entwicklungs- 
weise Anklänge  an  die  typische  Entwicklung 
der  Gliederwürmer  vorzufinden.  Wir  werden 
in  dieser  Erwartung  nicht  befriedigt.  Zwar 
zeigen  sich  in  der  Furchungsweise  gewisser 
niederer  Krebse,  in  der  Art  der  Sonderung 
des  Mesoderms  Erinnerungen  an  die  für  die 
Anneliden  bekanntgewordenen  Gesetze  der 
Zellensonderung  (cell-lineage)  und  nach  die- 
ser Richtung  üben  besonders  die  neueren 
Ergebnisse  der  Untersuchungen  Bigelows  an 
Lepaden  eine  suggestive  Wirkung  aus.  Da- 
gegen erscheinen  alle  Beziehungen  zur  cha- 
rakteristischen Larvenform  der  Anneliden, 
zur    Trochophora,     völlig    verwischt.     Die    ^.    ^^  ^^     ,.  ^.   ^     ,^   , 

>■''->  r  1  g.  68.    rvauplius  eines  Krebses  (Cyclops  albidus). 

jüngsten  aus  dem  Ei  entschlüpfenden  Ju-    Nacii  claus  aus  Grobbens  Lehrbuch.  ad>-  An- 

1  /->  111'  tennendriise,  ^' erste  Antenne,  ^i"  zweite  Antenne, 

gendformen  der  Crustaceen  haben  bereits  Md  Mandibei,  ds  Darmaussackungen  mit  Harn- 
typischen Arthropodencharakter.  Sie  kom-  ''''^^'"' 
men  nicht  selten  in  einer  Gestalt  aus  dem  Ei,  welche  von  der  ausgebildeten 
Form  erheblich  abweicht.  Diese  Larvenstadien,  welche  anfangs  nur  aus 
wenigen  Körpersegmenten  bestehen  und  durch  zahlreiche  Häutungen  auf 
dem  Wege  einer  vielfach  höchst  komplizierten  Metamorphose  in  den  ausge- 
bildeten Zustand  übergeführt  werden,  bilden  ein  ungemein  reizvolles  Objekt 
der  vergleichenden  Morphologie  und  Biologie,  um  so  mehr  da  an  ihrem  Körper 
die  verschiedenartigsten  Anpassungen  an  eine  von  der  des  ausgebildeten  Zu- 
standes  oft  erheblich  abweichende  Lebensweise  zutage  treten.  Wir  greifen  aus 
ihrer  unendlichen  Mannigfaltigkeit  hier  nur  zwei  Haupttypen  heraus,  welche 
in  früheren  Dezennien  vielfach,  besonders  im  Anschlüsse  an  die  genialen  Deu- 
tungsversuche Fritz  Müllers  als  Erinnerungen  an  vorweltliche  Stammformen 
dieser  Gruppe  in  Anspruch  genommen  wurden,  während  sie  jetzt  wohl  all- 
gemein als  adaptive  Larvenformen  betrachtet  werden.  Von  diesen  beiden 
Typen  bildet  der  eine,  als  Nauplius  (Fig.  68)  bezeichnet,  den  Ausgangspunkt 
für  die  Umwandlung  der  niederen   Krebsformen,   während    der  andere,   die 


Entwicklung 
der  Crustaceen. 


252  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

sog.  Zoea    (Fig.  6g)    den   höheren  Krebsen  (den    sog.  Malacostraken)    eigen- 
tümlich ist. 

Der  Nauplius  (Fig.  68)  besteht  nur  aus  wenigen  Körpersegmenten.  Es 
ist  an  ihm  gewissermaßen  nur  der  vordere  Abschnitt  der  späteren  Kopfregion 
zur  Entfaltung  gekommen,  während  die  übrigen  Segmente  in  der  Reihenfolge 
von  vorne  nach  hinten  in  späteren  Stadien  hinzugebildet  werden.  Wir  finden 
nur  drei  ungemein  einfach  gestaltete  Extremitätenpaare,  welche  nach  der  spä- 
teren Verwendung  dieser  Anlagen,  als  erste  {A')  und  zweite  Antenne  [A")  und 
als  Mandibel  [Md)  bezeichnet  werden,  hier  aber  hauptsächlich  als  Ruder  be- 
nützt werden.  Der  Mund,  von  einer  mächtigen  Oberlippe  überragt,  führt  in 
einen  kurzen  Darm,  welcher  hinten  zwischen  zwei  stummeiförmigen  Furcal- 

hökern    ausmündet.     Das    Nervensystem, 
hier  noch  in  Verbindung  mit  dem  Ekto- 
derm,    besteht    aus   Gehirn,   Schlundcom- 
^^^  missur  und   einem  Unterschlundganglion. 

Dem  Gehirn  ist  das  charakteristische  un- 
paare,  aber  aus  drei  Einzelaugen  zusam- 


Fig.  69.     Zoea  einer  mengesetztc  Naupliusaugc  angeheftet.  Vou 

Krabbe     (Thia    polita).  °      .  '^  . 

Nach  Claus  aus  Grob-   Exkretionsorgancu  findet  sich  in  der  Basis 

BENS     Lehrbuch.        ZS      ,  ■,  \      ,  ^■         \      ,  i     .. 

Rückenstachel, -4' erste   dcr   zwcitcu  Antenne   die  Antennendruse 

Antenne,  y4"  zweite  An-     (  /}  Tly\ 
tenne,  K/'  erster  Maxil-     ^  ' ' 

larfuß,     Kf"  zweiter  Dic  pclagischc  Larvenform  der  Mala- 

Maxillarfuß.  ,         ^       ,  .*  -7     ■•       /-r-  ^     n     , 

costraken,  die  sog.  Zot^a  (rig.  09)  besteht 
aus  einem  mit  sieben  Extremitätenpaaren  versehenen  Kopfbruststück  (Ce- 
phalothorax)  und  einem  sechsgliedrigen,  mit  dem  Telson  endenden  Abdomen, 
während  die  eigentliche  Thoraxregion,  in  der  Entwicklung  zurückgeblieben,  noch 
kaum  als  Anlage  zu  erkennen  ist.  Der  gewölbte  Rückenschild  ist  vielfach  mit 
starren  Fortsätzen  (Stirnstachel,  Rückenstachel  ZS,  Seitenstacheln)  versehen, 
die  hier  wohl  als  Schwebeeinrichtungen  zu  deuten  sind.  Die  Extremitäten 
werden  als  i.  und  2.  Antenne  {A',  A"),  als  Mandibel,  i.  und  2.  Maxille  und 
als  I.  und  2.  Maxillarfuß  {Kf,  Kf")  bezeichnet.  Von  ihnen  dienen  die  zweiästigen 
zweiten  Antennen  und  die  beiden  Kieferfußpaare  beim  Schwimmen  als  wirk- 
same Ruder.  Neben  dem  dreiteiligen  Naupliusauge,  das  sich  hier  noch  erhalten 
hat,  finden  sich  zwei  seitliche  zusammengesetzte  Augen,  welche  bei  dieser  Lar- 
venform noch  nicht,  wie  meist  im  ausgebildeten  Zustande,  auf  abgegliederte 
Stiele  emporgehoben  sind.  Von  inneren  Organen  fällt  dem  Untersucher  das 
sackförmige,  kräftig  pulsierende  Herz  vor  allem  ins  Auge. 

B.  Reihe  der  Arachnomorpha  oder  spinnenähnlichen  Tiere. 

Wenn  wir  bei  Verfolgung  der  Morphologie  der  Crustaceen  hauptsächlich 
auf  das  Studium  recenter  Formen  angewiesen  sind,  so  führen  die  Wurzeln  des 
Stammes  der  spinnenähnlichen  Tiere  auf  die  ältesten  Zeiten,  auf  die  ersten 
fossilführenden  Schichten  unseres  Planeten  zurück.  Das  liegt  wohl  nur  daran, 
daß  die  zarteren  Krebse  sich  nicht  in  gleicher  Weise  der  Erhaltung  als  Ver- 


Entwicklung  der  Crustaceen.     Trilobiten 


253 


steinerungen  günstig  zeigten,  als  die  derber  gepanzerten  Palaeostraken,  unter 
welchem  Namen  wir  die  Stämme  der  Trilobiten  (Fig.  70,  71),  der  Gigantostraken 
und  der  Xiphosuren  (Fig.  72)  zusammenfassen. 

Die  Trilobiten,  bereits  im  Cambrium  erscheinend  und  im  Silur  zu  größter 
Formenfülle  sich  entfaltend,  reichen  mit  spärlichen,  dem  Aussterben  entgegen- 
gehenden Ausläufern  in  die  Steinkohlen-  und  Permperiode  hinein.  Ihrem  Baue 
nach  vermitteln  sie  die  Beziehungen  zu  ursprünglichen  Crustaceenformen,  unter 
denen  sie  der  im  Süßwasser  lebenden  Phyllopodengattung  Apus  sich  habituell 
nähern.  Der  Körper 
derTrilobiten(Fig.  70), 
aus  drei  Regionen  be- 
stehend: dem  schild- 
förmigen Kopf  (bei  a), 
dem  aus  freien  Seg- 
menten zusammenge- 
setzten Rumpfe  (bei  e) 
und  einem  aus  Ver- 
schmelzung von  Seg- 
menten hervorgegan-  / 
genen  Endabschnitt 
(Pygidium  g),  wird 
durch  zwei  Längsfur- 
chen in  eine  mittlere 

erhöhte  Partie 
(Rhachisg)  und  flach- 
ere Seitenteile  (Pleu- 
ren /)  geteilt.  Die  Ex- 
tremitäten dieser 
asselartig  sich  einrol- 
lenden Meeresbewoh- 
ner, lange  vergeblich  gesucht  und  erst  durch  glückliche  Funde  und  mühevolle, 
an  Schliffen  durchgeführte  Studien  der  neueren  Zeit  einigermaßen  bekannt  ge- 
worden (Fig.  71),  schließen  sich  durch  ihre  zweispaltige  Form,  durch  den  Besitz 
von  Exopodit  und  Endopodit,  wozu  vielleicht  noch  Kiemenanhänge  kommen, 
denen  der  Crustaceen  an.  Den  von  einer  Oberlippe  (Hypostom)  überragten  Mund 
umstellten  vier  Paare  von  spaltästigen  Kaufüßen  mit  basalen  Kauladen,  während 
vor  dem  Munde  nur  ein  langgegliedertes  Antennenpaar  bekannt  geworden  ist. 
Seitlich  am  Kopfe  finden  sich  meist  zusammengesetzte  Augen  (Fig.  70  bei  c). 

Die  interessante  Gruppe  der  Gigantostraken,  ursprünglich  aus  zum  Teil 
durch  Körpergröße  auffallenden  Meeresbewohnern  bestehend,  aber  in  ihren 
der  Steinkohlenperiode  angehörigen  Ausläufern  mit  Resten  von  Landpflanzen, 
Skorpionen  und  Insekten  vergesellschaftet  und  demnach  vielleicht  als  Süß- 
wasserformen mit  schuppenbedecktem  Körper  den  Übergang  zum  Landleben 
vorbereitend,  erinnert  im  Gesamthabitus  bereits  auffällig  an  Skorpione.    Sie 


Fig.  70.  Rückenansicht  eines  Trilobiten 
(Phillipsia  gemmulifera  Phillips).  Nach 
H.  Woodward  aus  Stromer  v.  Reichen- 
bachs Lehrbuch  der  Palaeozoologie.  a  Gla- 
bella,  b  Gesichtsnaht,  c  Wange  mit  Auge, 
d  Nackenring,  e  Spindel  (Rhachis),y  Pleu- 
ren der  freien  Brustsegmente,  g  Pygidium 
mit  noch  deutlichen  Segmentgrenzen. 


Fig.  71.  Ventralansicht  eines  Trilo- 
biten (Triarthrus  Becki  Green).  Re- 
stauriert nach  Beecher  aus  Stromer 
V.  Reichenbachs  Lehrbuch  der  Palaeo- 
zoologie.    kf  Kaufüße. 


254 


K.  Heider :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


vermittelt  den  Übergang  zur  Gruppe  der  Xiphosuren  (Schwertschwänze  oder 
Pfeilschwanzkrebse),  die  uns  in  der  Gattung  Lhnulus  (Fig.  72)  den  einzigen 
noch  lebenden  Vertreter  der  Palaeostraken  vor  Augen  führt. 

Limulus,  ein  Küsten-  und  Flachseebewohner  des  atlantischen  und  stillen 
Ozeans,  zeigt  dieselbe  Scheidung  des  Körpers  in  drei  Regionen,  die  wir  bei  den 
Trilobiten  beobachteten.  Sie  werden  hier  als  Kopfbrustschild,  Abdomen  und 
Schwanzstachel  oder  Pygidium  bezeichnet.  Jede  von  ihnen  ist  durch  Ver- 
schmelzung mehrerer  Körperseg- 
mente entstanden.  Wir  finden  ebenso 
die  von  den  Trilobiten  übergekom- 
mene longitudinale  Scheidung  in 
Rhachis  und  Lateralpleuren.  Die 
Extremitäten  des  Kopfbruststückes 
haben  den  Charakter  von  starken, 
mit  Scheren  endigenden  Gang-  oder 
Grabbeinen  (Fig.  72,  i — 6),  doch  tra- 
gen sie  sämtlich  eine  basale  Kaulade 
und  dienen  sonach  gleichzeitig  als 
Mundwerkzeuge.  Vor  dem  Munde  fin- 
den sich  keine  Antennen,  sondern  an 
ihrer  Stelle  ein  Paar  ziemlich  kleiner 
scherenbewaffneter  Anhänge  (l), 
welche  hier  bereits  in  Übereinstim- 
mung mit  der  bei  den  Spinnen  üb- 
lichenTerminologie  alsCheliceren  be- 
zeichnet werden.  Am  Abdomen  fin- 
den sich  fünf  flache  kiementragende, 
von  einem  vorderen  als  Operculum 
bezeichneten  Deckel  überragte  Ab- 
dominalbeinpaare (7).  Am  Kopf- 
brustschilde erkennen  wir  ein  Paar 
kleinerer  Medianaugen  und  ein  zwei- 
tes Paar  größerer  zusammengesetzter 
Seitenaugen.  Es  waren  besonders  Beobachtungen  über  den  feineren  Bau  dieser 
Augen,  sowie  Übereinstimmungen  der  inneren  Anatomie,  welche  die  Forscher 
zur  Annahme  naher  verwandtschaftlicher  Beziehungen  zwischen  Limulus  und 
den  Skorpionen  führten. 

Die  Skorpione  (Fig.  73)  kennzeichnen  sich  unter  den  landbewohnenden 
Formen  der  Arachnidenreihe  dadurch  als  die  ursprünglichsten,  daß  bei  ihnen 
die  Körpergliederung  in  getrennte  Segmente  sich  besonders  in  den  hinteren 
Körperregionen  im  weitesten  Umfange  erhält,  während  bei  den  Spinnen  und 
ihren  näheren  Verwandten  eine  Tendenz  zur  Konzentration  der  Organe,  zur 
Verschmelzung  der  Segmente  bemerkbar  ist,  bis  in  dem  letzten  Ausläufer  dieser 
Reihe,  den  kleinen  sackförmigen  Milben  alle  Spur  segmentaler  Gliederung  des 


Fig.  72.  Limulus  poly- 
phemus ,  Pfeüschwanz- 
krebs.  Nach  Packard 
aus  HüSSE-DoFLElN,  Tier- 
bau und  Tierleben. 


I  Cheliceren,  2 — 6  Glied- 
maßen     des     Kopfbrust- 
stücks, 7  Kiemenfüße  des 
Abdomens. 


Xiphosuren  und  Skorpione 


=  55 


Körpers  verschwindet.  Die  Teilung  des  Körpers  in  drei  aufeinander  folgende 
Regionen  haben  die  Skorpione  mit  Limulus  gemeinsam.  Sie  werden  hier  als 
Kopfbruststück  (Cephalothorax),  Praeabdomen  (bei  st)  und  Postabdomen  (bei 
pa)  bezeichnet,  von  denen  das  Kopfbruststück  sechs  Extremitätenpaare  trägt, 
während  dem  Praeabdomen  und  Postabdomen  Extremitäten  fehlen,  wenn  wir 
von  den  Pectines  oder  Kämmen  {k)  des  zweiten  Abdominalsegmentes  absehen. 
Das  Praeabdomen  besteht  aus  sieben 
(im  Embryo  acht),  das  Postabdomen 
aus  sechs  Körpersegmenten,  von  denen 
das  letzte  als  Giftstachel  umgebil- 
det ist. 

Von  den  sechs  Extremitäten- 
paaren des  Kopfbruststückes  wird  das 
erste  kleine  scherentragende,  vor  dem 
Munde  gelegene  als  Cheliceren  (Fig. 
73  ch),  das  zweite  mit  einer  basalen 
Kaulade  versehene  und  mit  großer, 
aufgetriebener  Schere  endigende  als 
M axillar palpen  (Pedipalpen,  mp)  be- 
zeichnet. Die  vierfolgenden  Beinpaare 
endigen  mit  Doppelkrallen.  Im  allge- 
meinen finden  wir  bei  den  Arachniden 
und  bei  den  Insekten  verdoppelteEnd- 
klauen  der  Gangbeine,  während  bei 
den  Crustaceen  in  der  Regel  eine  ein- 
fache Endklaue  sich  findet.  Wir  wer- 
den auf  diesMerkmal  nicht  allzu  großes 
Gewicht  zu  legen  haben,  da  auch  bei 
gewissen  Krebsen  (so  in  den  Asselgat- 
tungen Jaera,  Janira  undMunna)  eine 
Verdopplung  der  Endkralle  zu  beob- 
achten ist. 

Am  Praeabdomen  werden  im  Em- 
bryo der  Skorpione,  wie  auch  bei  den 
Spinnen,  Extremitätenanlagen  gebildet,  welche  sich  im  ausgebildeten  Zustande 
zum  Teil  in  umgewandelter  Form  erhalten.  Wir  finden  am  ersten  Segment  des 
Praeabdomens  die  von  einem  Operculum  überdeckte  Genitalöffnung  {go),  am 
zweiten  Segmente  die  bereits  erwähnten  Kämme  oder  Pectines  {k),  die  als 
Sinnesapparate  fungieren,  während  wir  vom  3.  bis  zum  6.  Segmente  schräg 
gestellte  Atemspalten  (Stigmen  st)  bemerken.  Letztere  führen  in  säckchenför- 
mige,  mit  fächerartig  gefältelter  Wand  versehene  Organe  der  Luftatmung,  wel- 
che auf  Grund  embryologischer  Daten  mit  den  Kiemenanhängen  von  Limulus 
homologisiert  werden.  Bei  den  Spinnen  erscheinen  diese  Respirationsorgane 
zum  Teil  durch  verästelte  Röhren,  den  Tracheen  der  Insekten  gleichend,  ersetzt. 


Fig.  73.  Venlralansicbt 
eines  Skorpions.    Nach 
V.  Carus,    etwas    ver- 
ändert. 


c/i  Cheliceren,  g'o  Geni- 
taloperculum,  k  Kämme 
(sog.Pectines),/«/Maxil- 
larpalpen./a  erstes  Seg- 
ment des  Postabdomens, 
si  Atmungsöflfhungen 
(Stigmen). 


2^6  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Das  Nervensystem  der  Skorpione  zeigt  die  Form  einer  wohlgegliederten 
Bauchganglienkette.  Von  den  Anhangsdrüsen  des  Darmkanals  ist  die  mäch- 
tige, das  Praeabdomen  erfüllende,  gelappte  Leber  am  meisten  in  die  Augen 
springend.  Weiter  hinten  münden  in  den  Darm  zwei  als  Exkretionsorgane  die- 
nende Röhrchen,  sog.  Malpighische  Gefäße,  welche  neuerdings  von  Bordas 
wohl  nur  irrtümlich  den  Leberausführungsgängen  zugerechnet  werden.  Von 
umgewandelten  Nephridien  erhält  sich  hier  nur  ein  Paar  sog.  Coxaldrüsen,  wel- 
che am  dritten  Beinpaare  ausmünden.  Das  hochentwickelte  Blutgefäßsystem 
besteht  aus  einem  im  Praeabdomen  gelegenen,  mit  8  Ostienpaaren  versehenen 
Rückengefäße,  welches  in  vordere  und  hintere,  zu  den  Organen  tretende  Ar- 
terien ausläuft.  Unter  diesen  interessiert  uns  besonders  ein  auch  bei  Limulus 
sich  findendes  System  supraneuraler,  die  Bauchganglienkette  und  die  von  ihr 
abgehenden  Nerven  überdeckendes  und  zum  Teil  sie  umscheidendes  System 
von  Blutbahnen.  Die  röhrenförmigen  Gonaden  haben  eine  merkwürdige  Nei- 
gung zur  Netz-  und  Anastomosenbildung,  woraus  sich  die  bei  den  Afterspinnen 
oder  Weberknechten  (Opilionidea)  und  bei  anderen  Formen  bemerkbare  ring- 
förmige Konfiguration  der  Keimdrüse  herleiten  läßt. 

Wie  sich  der  Bau  der  mannigfaltigen  als  Skorpionsspinnen,  echte  Spinnen, 
Solpugiden,  Pseudoskorpione,  Afterspinnen  und  Milben  unterschiedenen  Grup- 
pen der  Arachnidenreihe  von  dem  hier  für  die  Skorpione  im  Anschlüsse  an 
Limulus  entwickelten  Grundtypus  herleiten  läßt,  soll  hier  nur  angedeutet, 
nicht  im  einzelnen  entwickelt  werden.  Es  handelt  sich  um  den  Verlust  des 
Postabdomens,  um  eine  Verkürzung  der  praeabdominalen  Region  unter  gleich- 
zeitiger Auftreibung,  wobei  nicht  selten  die  Segmentgrenzen  dieser  Region 
durch  Verschmelzung  zum  völligen  Verstreichen  gebracht  werden.  Hand  in 
Hand  hiermit  geht  eine  fortschreitende  Konzentration  der  inneren  Organe, 
wie  sich  dies  besonders  an  der  Bauchganglienkette  erkennen  läßt,  welche  zu 
einem  einzigen  sternförmigen  Bauchganglion  zusammengezogen  ist. 

Wenn  wir  zum  Schlüsse  die  Frage  berühren,  durch  welches  gemeinsame 
Merkmal  diese  ganze  an  mannigfaltigen  Formen  reiche  Reihe  gekennzeichnet 
wird,  so  könnten  wir  auf  das  Fehlen  von  Antennen  hinweisen,  die  sich  hier  nur 
bei  den  an  der  Wurzel  des  ganzen  Stammes  stehenden  Trilobiten  und  Giganto- 
straken  erkennen  lassen,  während  sie  bei  den  übrigen  Formen  durch  die  Che- 
liceren  ersetzt  erscheinen.  Man  hat  unter  diesem  Gesichtspunkte  die  Formen 
dieser  Reihe  unter  dem  gemeinsamen  Namen  der  Chelicerata  zusammengefaßt. 

C.  Reihe  der  Antennaten. 
Wenn  wir  es  im  Kreise  der  Krebse,  von  wenigen  Ausnahmen  (Landasseln, 
Landkrabben)  abgesehen,  mit  Wasserbewohnern  zu  tun  hatten,  während  in 
der  Reihe  der  Arachnomorpha  oder  Chelicerata,  deren  ursprünglichste  Formen 
Meeresbewohner  sind,  sich  der  allmähliche  Übergang  zu  luftatmenden  Land- 
tieren verfolgen  läßt,  treten  uns  im  Gebiete  der  Antennaten,  unter  welchem 
Namen  wir  die  Gruppen  der  Onychophoren,  Myriopoden  und  Insekten  zusammen- 
fassen, typische  Landbewohner  entgegen.    Wenn  wir  hier  Formen  begegnen. 


Bau  der  Skorpione.     Antennaten  im  Allgemeinen 


257 


die  sich  im  Wasser  aufhalten,  wie  dies  z.  B.  bei  den  Schwimmkäfern,  bei  den 
Ruderwanzen,  bei  den  Libellulidenlarven  oder  bei  der  merkwürdigen  im  Süß- 
wasser lebenden  Schmetterlingsraupe  der  Gattung  Acentropus  u.  a.  der  Fall 
ist,  muß  diese  Lebensweise  stets  als  eine  sekundär  erwor- 
bene erfaßt  werden.  Schon  bei  den  Onychophoren,  welche, 
an  der  Wurzel  des  ganzen  Stammes  stehend,  nahe  an  die  An- 
neliden heranreichen,  treten  uns  Landbewohner  entgegen, 
die  durch  Tracheen  ihren  Gasaustausch  vermitteln.  Doch  sei 
in  diesem  Zusammenhange  erwähnt,  daß  man  neuerdings  mit 
einigen  Zweifeln  in  die  Nähe  der  Onychophoren  die  wunder- 
lichen Bärtierchen  (Tardigraden)  einreiht.  Süßwasserformen, 
welche  bei  eintretender  Trockenheit  in  geschrumpftem  Zu- 
stande scheintot  Jahre  überdauern,  um  bei  späterer  Befeuch- 
tung wieder  aufzuleben. 

Wir  rechnen  zu  den  Onychophoren  oder  Protracheaten 
die  Gattung  Peripatus  und  verwandte  Gattungen,  welche  in 
den  Tropenländern  aller  Erdteile  in  feuchtem  Holzmulm  und 
unter  Steinen  leben.  In  ihrer  systematischen  Stellung  lange 
rätselhaft  und  noch  von  Grube  den  Anneliden  zugerechnet, 
wird  Peripatus  jetzt  an  die  Wurzel  des  Antennatenstammes 
gestellt,  seit  Moseley  mit  der  Expedition  des  Challenger  in 
der  Kapstadt  landend,  an  dieser  Form  in  röhrenförmigen 
Gebilden  die  charakteristischen  Einrichtungen  der  Luftat- 
mung (Tracheen)  erkannte.  Spätere  anatomische  und  em- 
bryologische Untersuchungen  haben  diese  Auffassung  von 
Peripatus,  als  eines  die  Gruppe  der  Myriopoden  (Tausendfüße) 
mit  den  Anneliden  verbindenden  ungemein  ursprünglichen 
Arthropodentypus,   durchaus  gestützt. 

Erblickt  man  Peripatus  lebend,  so  wird  man  durch  den 
Habitus  (Fig. 74),  durch  sein  Gebaren,  an  eine  Insektenlarve, 
etwa  an  eine  weichhäutige  Schmetterlingsraupe,  erinnert.  Der 
Eindruck  wird  verstärkt,  wenn  man  das  Körperinnere  eröff- 
nend die  umfangreichen  Spinndrüsen  (^ö^Fig.  75),  die  tracheen- 
umsponnenen Organe  in  einheitlicher,  nicht  durch  Dissepi- 
mente  gegliederter  Leibeshöhle  gelegen  wahrnimmt. 

An  die  Anneliden  gemahnen:   die  homonome  Körper-    ^'-75-  Peripatus  (Peri- 

°  >■  patopsis)     capensis,     vom 

segmentierung,  der  Mangel  von  Regionenbildung,  die  Anord-    Rücken  gesehen.    Nach 

J  TT-  •  11  1      1  1  1  1  T  T  P>ALFOUR  aUS         HeSSE- 

nung  der  Korpermuskulatur,  welche  durch  das  Vorhanden-  doflein,  Tierbau  und 
sein    eines     kontinuierlichen    Hautmuskelschlauches,     vor  Tierieben. 

allem  aber  durch  die  Entwicklung  eines  transversalen,  die  Leibeshöhle  durch- 
ziehenden seitlichen  Muskelseptums  (vgl.  Fig.  63  A)  an  die  Ringelwürmer  er- 
innert, die  stummeiförmige  Gestalt  der  nicht  gegliederten  Extremitäten,  die 
hier  allerdings  arthropodengemäß  in  zwei  Endklauen  (Fig.  74)  auslaufen,  und 
schließlich  der  Besitz  von  Nephridien  (Fig.  75  so),  welche  in  allen  Körperseg- 

K.  d.  G.  III.iv,  Bd.  2  ZeUenlehre  etc.  II  I7 


Bau 
von  Peripatus. 


258 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Die  Myriopoden. 


menten  mit  einem  Endbläschen  beginnend  an  der  Basis  der  Extremitäten 
ausmünden.  Auch  die  seitlich  am  wenig  abgegrenzten  Kopfe  gelegenen 
Augen  fallen  ganz  aus  dem  Rahmen  dessen,  was  wir  von  Augen  an  Arthro- 
poden zu  sehen  gewöhnt  sind.  Als  Bläschenaugen  entwickelt  erinnern  sie  an 
die  hochkomplizierten  Augen  gewisser  pelagischer  Anneliden,  etwa  der 
Alciopiden. 

Der  Kopf  trägt  ein  Fühlerpaar.  In  der  Mund- 
öffnung versenkt  finden  sich  zwei  Paare  von  Kral- 
len, die  als  Kiefer  verwendet  werden.  Seitlich  vom 
Munde  stehen  zwei  krallenlose  Extremitäten- 
stummel, die  sog.  Oralpapillen,  an  deren  Spitze 
die  Spinn-  oder  Schleimdrüsen  (Fig.  75  sd)  aus- 
münden, welche  das  zur  Erzeugung  von  Gespin- 
sten dienende,  anfangs  zäh-schleimige,  später  er- 
härtende Sekret  liefern. 

Was  Peripatus  am  meisten  den  Myriopoden 
und  Insekten  nähert,  ist  der  Besitz  von  Tracheen, 
feinsten  die  Organe  umspinnenden  Röhrchen  (Fig. 
75  if),  welche  sie  lufterfüllt  mit  Sauerstoff  versor- 
gen. Ursprünglich  auf  Hauteinstülpungen  zurück- 
führbar finden  sie  sich  in  unregelmäßiger  Anord- 
nung über  die  Körperoberfiäche  zerstreut. 

Das  Zentralnervensystem  besteht  aus  dem 
Oberschlundganglion  (Gehirn  Fig.  75  og),  von  wel- 
chem zwei  ventralwärts  geschlängelt  verlaufende 
Längsnervenstränge  {bm)  nach  hinten  ziehen,  um 
über  dem  Enddarm  (bei  a)  durch  eine  Querbrücke 
ineinander  überzugehen.  Diese  den  seitlichen 
Skl^-  ,^^^^^'S2^Z  Hälften  einer  Bauchganglienkette  entsprechenden 
ausZeichnungenvonBALFouKundMosELEY    Stränge  stchcu  Voneinander  ziemlich  weit  ab  und 

aus  R.  Hertwigs  Lehrbuch    der  Zoologie.  ^       •  r\ 

sind   in  jedem  Segment  durch  zahlreiche  Quer- 
anastomosen  miteinander  verbunden. 

Die  übrigen  inneren  Organe  geben  zu  keinen 
besonderen  BemerkungenVeranlassung.  Der  Darm 
verläuft  gestreckt,  nicht  wie  bei  den  Insekten 
schhngenbildend.  Malpighische  Gefäße  werden  vermißt.  Die  paarigen  Gonaden 
münden  durch  besondere  Ausführungsgänge  am  hinteren  Körperende.  Das  Herz 
ist  ein  mit  seitlichen  Oslienpaaren  versehenes  Rückengefäß. 

Die  gestaltenreiche  Gruppe  der  Myriopoden  oder  Tausendfüße  leitet  unsere 
Betrachtung  zu  den  Insekten  hinüber.  Stärker  bepanzert  als  Peripatus,  mit 
dem  sie  die  homonome  Körpersegmentierung  gemein  haben,  führen  sie  an 
allen  Leibesringen  gegliederte,  mit  einfacher  Klaue  endende  Extremitäten. 
Vor  allem  ist  es  die  Untergruppe  der  Chilopoden,  denen  wir  die  in  den  Ländern 
zwischen  den  Wendekreisen  wegen  ihres  Bisses  gefürchteten  Scolopendern  zu- 


a  After,  ai  Antennen,  dm  Längsstränge 
des  Nervensystems  (Bauchmark),  (/Darm, 
^o  Geschlechtsöfifnung,  o  Eierstock  (Ovar- 
ium),  ö^  Hirn,  /  Schlundkopf  (Pharynx), 
id  Schleimdrüsen,  so  Nephridieu  (Seg- 
mentalorgane), sp  Speicheldrüsen,  /r 
Tracheenbüschel,  u  Uterus. 


Bau  von  Peripatus.     Morphologie  der  Insekten 


259 


rechnen,  welche  den  Übergang  zu  den  einfachsten  und  ursprüngHchsten  For- 
men der  Insekten,  den  flügellosen  Apterygogenea,  vermittelt. 

Der  Körper  der  Kerbtiere  {Insecta)  oder  der  Sechsfüßigen  {Hexapoda)  gliedert  segmentieruug- 
sich  in  drei  scharf  geschiedene  Regionen,  welche  als  Kopf,  Brust  (Thorax)  und  insektetlör  ers 
Hinterleib  (Abdomen)  bezeichnet  werden  (Fig.  ^6  und  yj,  vgl.  auch  Fig.  81). 
Der  Kopf,  eine  rundliche  Kapsel,  aus  völlig  verschmolzenen  Segmenten  be- 
stehend, zeigt  sich  als  geschlossene  Einheit,  am  Thorax  können  wir  die  Seg- 
mentgrenzen in  der  Form  von  Nähten  erkennen,  indes  das  Abdomen  aus  be- 
weglichen freien  Segmenten  besteht.  Der  Kopf  ist  der  Träger  des  Gehirns 
(Fig-  77  g))  der  Sinnesapparate  und  des  Mundes  (w);  der  Thorax,  im  Inneren 
fast  nur  von  Bein- 
und  Flugmuskeln  er- 
füllt, dient  derLoko-  ^^^ 
motion,  während  die  &z/.- 
Organe  der  vegeta-  ^- 
tiven  Sphäre  ins  Ab- 
domen verlagert  sind. 
Von  Anhängen  trägt 
der  Kopf  die  Fühler 
{Yig.  y 6  ant,  Fig.  77  A) 

und     die     Mundwerk-  Fig.  76.     Schematische    Darstellung    der   Gliederung    des    Insektenkörpers.     Nach 

/■j-,.  ^  -j-,.  Berlkse.     Die  drei  Hauptabschnitte  des  Körpers  folgen  von  links  nach  rechts  als: 

zeuge  \^r  ]g./U //ZZ»7,  r  lg.  Kopf,  Thorax  und  Abdomen.     Im  Kopf  bedeutet  i  das  primäre  Kopfsegment,  2  das 

77   ■vnrl     ■mT^  ■mT^\       Afr  -^ntenn^nsegment,  ^  das  Vorkiefersegment,  .^,  5  und  6  die  drei  Segmente  der  Mund- 

'  '  '  ''  Werkzeuge;     der    Thorax   besteht   aus    den    drei    Segmenten  i,  2,  3;    das  Abdomen 

'PJl^OraX  die  Beine    (pl  zählt  i — lo  Abdominalsegmente  und  das  Endsegment,     i^/' Vorderflügel,  a/=  Hinter- 

.  _        1/7  flü&el,  an  After,    a»/  Antenne,    au  Auge,   dg'  Bauchganglienkette,  cer  Cerci,  g'  Ge- 

P  ,P    j  und  rlÜgel  [^L,  hlm,    c/ Oberlippe,     m  Mund,    ms  Mitteldarm    (Mesenteron),    mw   Mundwerkzeuge, 

/»/  \'       rioc        AKrln       on  "  Schlundnerven,  p^,p-,p'  erstes,  zweites  und  drittes  Thoraxbeinpaar,//-  Enddarm 
ai^J  ,       aas       /iOaOmen  (Proctodaeum),  j/  Vorderdarm  (Stomodaeum). 

kann  im  ausgebilde- 
ten Zustande  (Imago)  als  extremitätenlos  bezeichnet  werden.  Nur  bei  ge- 
wissen Insekten  niederer  Ordnungen,  wie  bei  den  Küchenschaben,  den  Grillen, 
den  Eintagsfliegen  und  den  Perlariden  finden  sich  Anhänge  (Cerci),  welche 
fühlerähnlich  dem  Hinterleibsende  eingefügt  sind  und  als  umgewandelte  Ex- 
tremitäten gelten  (Fig.  76  cer).  Dem  Embryo  der  Insekten  kommen  nämlich 
abdominale  Extremitätenrudimente  zu  und  auch  bei  gewissen  Larven  z.  B.  den 
Schmetterlingsraupen  finden  sich  noch  Extremitätenstummel  an  den  Ab- 
dominalsegmenten. Aus  solchen  abdominalen  Anlagen  des  il.  Hinterleibs- 
segmentes sind  die  Cerci  herzuleiten,  während  die  in  der  Umgebung  der  Ge- 
schlechtsöffnung am  8.  und  9.  Segmente  sich  findenden  sog.  Gonapophysen 
nach  den  Feststellungen  Heymons'  nicht  als  Extremitäten  aufzufassen  sind. 

Der  Kopf  der  Insekten  entsteht  durch  innige  Verschmelzung  des  primären  Kopf. 
Kopf  Segmentes  (Fig.  ^6,  i ),  welches  sich  im  Embryo  durch  die  mächtigen  Scheitel- 
lappen (Gehirnanlagen  vgl.  Fig.  81)  kennzeichnet  und  an  dessen  hinterem  Rande 
die  Mundöffnung  sich  ausbildet,  mit  einer  Reihe  nachfolgender  extremitäten- 
tragender Segmente  (Fig.  76,  2 — 6).  Auch  die  Fühler  (Antennen)  werden  ur- 
sprünglich hinter  dem  Munde  angelegt  [an  in  Fig.  81  C)    und  erst  sekundär 

17* 


2  6o  K.  Heider :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

bei  der  Ausbildung  der  Kopfkapsel  durch  einen  eigenartigen  Umrollungs- 
prozeß  nach  vorn  und  aufwärts  verlagert.  Sie  gehören  dem  ersten  auf  das 
primäre  Kopfsegment  folgenden  Segmente  (Fig.  'j^^  2)  an.  Da  wir  am  Kopfe 
der  Insekten  im  ganzen  vier  Anhangspaare  (die  Antennen,  die  Mandibeln  und 
die  beiden  Maxillenpaare)  vorfinden,  so  würden  wir  vermuten,  daß  es  sich 
um  vier  gliedertragende  Segmente  handelt,  welche  mit  dem  primären  Kopf- 
segmente in  die  Bildung  dieser  Region  eingehen.  Indessen  haben  embryologische 
Untersuchungen  noch  das  Vorhandensein  eines  zwischen  Antennen-  und  Man- 
dibularsegment  sich  einschiebenden,  seine  Selbständigkeit  bald  aufgebenden 
intercalaren  oder  Vorkiefersegmentes  dargetan  (Fig.  'jd,  3). 

Als  Anhänge  des  Kopfes  sind  die  Fühler  und  die  Mundwerkzeuge  zu  be- 
trachten. Die  Fühler,  mannigfaltig  gestaltet,  sind  in  letzter  Linie  stets  auf 
eine  einfache  Gliederreihe  zurückzuführen,  mögen  sie  gesägt,  gekämmt,  mit 
Lamellen  besetzt,  knieförmig  abgebogen  oder  wie  immer  umgebildet  erscheinen. 
Den  Mund  umstellen:  die  einfache,  nicht  auf  Extremitätenbildungen  zurück- 
führbare Oberlippe  (Fig.  76,  ']']  ol),  die  stets  tasterlosen  Mandibeln  (Fig.  yy  md), 
welche  bei  den  Formen  mit  kauenden  Mundwerkzeugen  meist  eine  starke  be- 
zahnte Kaulade  darstellen,  und  zwei  Maxillenpaare  {mx^,  mx^),  zarter  gebaute, 
mit  gradieren  Ladenteilen  und  mit  Palpen  versehene  Anhänge,  von  denen 
die  des  zweiten  Paares  durch  mediane  Verwachsung  ihres  Stammteiles  zur 
Bildung  einer  Art  von  Unterlippe  Veranlassung  geben.  Die  mannigfachen  Um- 
bildungen, welche  die  Mundwerkzeuge  in  den  gestaltenreichen  Legionen  der 
Insekten  erfahren,  indem  sie  je  nach  der  Lebensweise,  nach  ihrer  Verwendung 
zu  bestimmten  Zwecken  in  Anpassung  an  eine  leckende,  nectarschlürfende  oder 
nach  erfolgtem  Einstich  aufsaugende  Art  der  Nahrungsaufnahme  verändert 
werden,  gehören  zu  den  lehrreichsten  und  viel  bearbeiteten  Gebieten  vergleichend 
morphologischer  Forschung. 

Der  Kopf  der  Insekten  ist  als  Träger  nicht  aller,  aber  der  hauptsächlichsten 
Sinnesapparate  zu  betrachten.  Wir  finden  hier  Augen  zweierlei  Art:  einfache 
sog.  Punktaugen  oder  Ocellen,  bei  den  Larvenformen  verbreitet  und  im  Imago- 
stadium  vielfach  in  Dreizahl  an  der  Stirn  zu  erkennen,  während  die  hoch- 
komplizierten Facettenaugen,  deren  musivisches  Sehen  den  Physiologen  von 
Johannes  Müller  bis  auf  Sigmund  Exner  zu  wichtigen  Erörterungen 
Anlaß  geboten  hat,  bei  den  ausgebildeten  Formen  der  Insekten  die  Seiten- 
teile des  Kopfes  einnehmen.  Die  Fühler  werden  als  Tastorgane  und  Organe 
der  Geruchswahrnehmung  betrachtet,  während  die  Geschmacksperzeption 
an  bestimmte,  von  v.  Rath  genauer  erforschte,  kegelförmige  Chitinpapillen  des 
Gaumens,  der  Maxillen  und  der  Unterlippe  gebunden  erscheint.  Dagegen  fin- 
den sich  die  sog.  Chordotonalorgane,  saitenartig  die  Leibeshöhle  durchziehend, 
in  verschiedenen  Regionen  des  Körpers.  Ihnen  sind  auch  die  als  Hörapparate 
gedeuteten  Tympanalorgane  an  den  Beinen  der  Locustiden  u.  a.  zuzurechnen. 
Thorax.  Die  Thoraxregion  besteht  aus  drei  als  Pro-,  Meso-  und  Metathorax  unter- 

schiedenen Segmenten  (Fig.  76,  i — 3  bei  st),  von  denen  der  Prothorax  in  man- 
chen Ordnungen  eine  gewisse  Selbständigkeit  bewahrt.   Die  drei  Brustsegmente 


Segmentale  Gliederung  des  Insektenkörpers  261 

tragen  die  in  charakteristische  Abschnitte  gegliederten  mit  doppelter  Endkralle 
endenden  Beine  (/?' — p^),  während  Flügel  als  abgegliederte  mit  sog.  Nervatur 
(aus  chitinösen  Adern  oder  Rippen,  welche  den  zarten  Flügel  gespannt  er- 
halten, bestehend)  durchsetzte  Hautfalten  der  Dorsalseite  des  Meso-  und 
Metathorax  der  Imagines  sich  angeheftet  finden  (Fig.  76  und  yy  ali,  al^),  wahr- 
scheinlich aus  seitlichen  Fortsetzungen  der  Rücken-  oder  Tergalplatten,  nicht, 
wie  Gegenbaur  vermutete,  aus  umgewandelten  Tracheenkiemen  wasserleben- 
der Vorfahren  entstanden. 

Die  Abdominal-  oder  Hinterleibsregion  setzt  sich  im  Embryo  aus  1 1  Seg-  Abdomen, 
menten  zusammen,  von  denen  das  letzte,  welches  bei  manchen  ursprünglichen 
Formen  die  oben  erwähnten  Cerci  entwickelt,  frühzeitig  der  Rückbildung  an- 
heimfällt. Setzt  sich  so  das  Abdomen  der  meisten  Insekten  im  ausgebildeten 
Zustande  aus  9-10  meist  frei  gegeneinander  beweglichen  Segmenten  zusammen 
(Fig.  76,  I — 10  bei  ms),  so  kann  diese  Zahl  durch  fernrohrartige  Einziehung 
der  letzten  Segmente,  durch  nähere  Angliederung  des  ersten  Abdominalseg- 
mentes an  den  Thorax  (segment  mediaire  der  Hymenopteren),  durch  stiel- 
förmige  Umbildung    desselben    eine    scheinbare  weitere  Reduktion  erfahren. 

Es  ist  nicht  beabsichtigt,  auf  die  unendlichen  Verschiedenheiten,  die  sich  innerer  Bau  der 
dem  Untersucher  des  inneren  Baues  der  Insekten  darbieten,  hier  im  einzelnen 
einzugehen:  auf  die  mannigfaltigen  Varianten,  denen  die  verschiedenen  Or- 
gane je  nach  der  Lebensweise,  nach  der  eigentümlichen  Art  der  Nahrungs- 
beschaffung bei  räuberischer,  carnivorer  oder  mehr  vegetarischer  Ernährungs- 
weise, beim  Übergang  zu  halbparasitärer  oder  völlig  parasitärer  Beschaffung  der 
Lebensmittel,  bei  Anpassung  des  Zeugungs-  und  Entwicklungszyklus  an  den 
Wechsel  der  Jahreszeiten  in  gemäßigten  Breiten  usw.  unterliegen.  Nur  auf 
einige  Punkte  der  inneren  Anatomie  sei  hingewiesen,  welche  die  Insekten  den 
übrigen  Gruppen  der  Gliederfüßer  gegenüber  vor  allem  kennzeichnen.  Zunächst 
das  Vorhandensein  des  Fettkörpers.  Eröffnen  wir  das  Körperinnere,  die  Leibes- 
höhle eines  Insekts,  so  fällt  uns  auf,  daß  alle  Organe  von  feinsten  Ausläufern 
silberglänzender,  dichotomisch  sich  verästelnder  Tracheenröhrchen  umspon- 
nen sind  und  daß  sich  zwischen  ihnen  in  scheinbar  unregelmäßiger  Anordnung 
läppen-  oder  bandförmig  gestaltete  Komplexe  eines  an  Reservenahrungsstoffen, 
vor  allem  an  Fetten  reichen  cellulären  Gewebes  ausbreiten.  Diese  allen 
Organen  anhaftenden,  oft  kreidig  weißen  oder  blaß  gelblichen  Fettkörperläpp- 
chen behindern  ebensosehr  die  mühselige  Präparation  der  inneren  Körperteile 
der  Insekten,  wie  das  Gespinst  der  Tracheen,  welche,  die  einzelnen  Organe  in 
ihrer  relativen  Lage  erhaltend,  hier  die  Rolle  von  Mesenterien  übernehmen. 

Der  Darm  der  Insekten,  bei  den  ursprünglichen  Formen  und  besonders 
bei  den  Larven  noch  einfach  gerade  gestreckt,  bei  den  höher  entwickelten 
Imagines  und  vor  allem  bei  den  durch  relative  Länge  des  Darmkanals  be- 
merkenswerten Pflanzenfressern  in  Schlingen  gelegt,  zeigt  in  besonderer  Deut- 
lichkeit die  Scheidung  in  drei  genetisch  voneinander  verschiedenen  Abschnitte, 
die  wir  auf  das  Stomodaeum,  Mesenteron  und  Proctodaeum  der  Embryonen 
(Fig.  76  und  yy  st,  ms,  pr)   beziehen,   und  von  denen  jeder  wieder  in  einzelne 


202 


K  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


funktionell  und  dem  Baue  nach  verschiedene  Unterabteilungen  zerfallen  kann. 
Stomodaeum  und  Proctodaeum,  als  aus  Einstülpungen  der  äußeren  Haut  her- 
vorgegangen, sind  im  Inneren  mit  einer  bei  jeder  Häutung  sich  erneuernden 
Chitincuticula  ausgekleidet.  Der  drüsenreiche,  mit  Crypten  versehene  und 
einer  regelmäßigen  Regeneration  des  Epithels  unterliegende  Mitteldarm  ent- 
behrt jener  umfangreichen  Leberanhänge,  welche  zu  den  kennzeichnenden  Merk- 
malen der  inneren  Anatomie  der  höheren  Krebse  und  der  Arachniden  gehören, 
während  einfachere  Blindsäcke,  Pylorusanhänge  verschiedener  Art  bei  man- 
chen Formen  seinen  Anfangsteil  einnehmen.  Speicheldrüsen  (Fig.  ']']  sp),  bei 
manchen  Larven  zu  Spinndrüsen  umgewandelt,  ergießen  ihr  Sekret  in  dieMund- 


md 


b^      TTip 


'ATL 


Fig.  77.  Schematischer  Längsschnitt  durch  ein  Insekt.  Nach  Berlkse.  A  Antenne,  al^  Vorderßügel,  al^  Hinter- 
flügel, an  After,  ao  Aorta,  bg  Bauchganglienkette,  g  Gehirn,  go  Gonade,  h  Herz,  /«  Mund,  md  Mandibel,  mp  Mal- 
pighische  Gefäße,  7>is  Mitteldarm  (Mesenteron),  w.r'  erste  Maxille,  mx"^  zweite  Maxille,  n  Schlundnerven,  oc  Ocellus 
(einfaches    Auge),    ol   Oberlippe,    /',  /-,  /'  erstes,    zweites    und    drittes    Thoraxbein,    pr    Enddarm    (Proctodaeum), 

sp  Speicheldrüsen,  st  Vorderdarm  (Stomodaeum). 

region.  Die  Grenze  von  Mitteldarm  und  Enddarm  (Proctodaeum)  ist  durch  die 
Einmündungsstelle  der  Malpighischen  Gefäße  gekennzeichnet  (Fig.  'j']  mp). 
In  letzteren  erblicken  wir  den  Exkretionsapparat  der  Insekten.  Bei  der 
Rückbildung,  welche  das  System  der  Nephridien  wohl  in  Anpassung  an  das 
Landleben  in  dieser  Gruppe  erfahren  hat,  übernahmen,  wie  schon  bei  gewissen 
Crustaceen  (Fig.  68  DS),  bestimmte  Darmanhänge  das  Geschäft  der  Harnbe- 
reitung. Die  Malpighischen  Gefäße  der  Insekten,  wechselnd  an  Zahl,  häufig  in 
großer  Zahl  vorhanden,  doch  oft  nur  in  2 — 3  Paaren  erscheinend,  gehören  dem 
Enddarm  an,  in  dessen  Anfangsteil  mündend  sie  ihr  Exkret  ergießen.  Gelblich 
gefärbt,  mit  Kristallen  von  Harnsäure,  Kalkoxalat  und  Taurin  erfüllt,  sind  ihre 
Epithelien,  wie  auch  die  Antennen-  und  Schalendrüse  der  Crustaceen,  zur  Eli- 
mination von  indigschwefelsaurem  Natron  aus  dem  Blute  befähigt.  Die  Ähn- 
lichkeit dieser  Bildungen  mit  den  gleichnamigen  Organen  der  Skorpione  ist 
überraschend.  Doch  stellt  sich  der  Statuierung  einer  wahren  Homologie  die 
Tatsache  hindernd  entgegen,  daß  die  Exkretionskanälchen  der  Skorpione  und 
Spinnen  dem  Mitteldarm  angehören,  während  die  der  Insekten  als  Auswüchse 
des  Proctodaeums  ihren  Ursprung  nehmen. 


Innerer  Bau  des  Insektenkörpers  2Ö3 

Wenn  bei  Peripatiis  die  einzelnen  Tracheenbüschel  in  unregelmäßiger 
Verteilung  (Fig.  75  tr)  an  der  Körperoberfläche  entspringen,  so  hat  im 
Kreise  der  Insekten,  wie  auch  schon  bei  den  Tausendfüßern,  das  System  dieser 
Atmungsapparate  gesetzmäßige  Anordnung  erfahren.  Wir  finden  an  gewissen 
Thoraxsegmenten  und  an  einer  größeren  Zahl  abdominaler  Segmente  seitlich 
je  ein  Paar  von  Eingängen  des  Tracheensystems  (sog.  Stigmen),  welche  zunächst 
in  einen  Stigmenast  führend  zwei  seitliche  Hauptkanäle  mit  Luft  speisen,  von 
denen  zahlreiche  Äste,  sich  vielfach  verzweigend,  an  die  einzelnen  Organe  her- 
antreten. Das  seltene  Vorkommen  von  Tracheenstigmen  am  Kopfe,  wie  in  der 
Symphylengattung  Scolopendrella,  deutet  vielleicht  darauf  hin,  daß  ursprüng- 
lich jedem  Körpersegmente  ein  Stigmenpaar  zukam.  Es  ist  vielfach  bemerkt 
worden,  daß  bei  den  Insekten  die  Luft  den  einzelnen  respirationsbedürftigen 
Organen  direkt  zugeführt  wird,  während  bei  den  meisten  Tieren  der  von  den 
Atmungsorganen  aufgenommene  Sauerstoff  an  das  Blut  gebunden  den  ein- 
zelnen Körperteilen  unter  Vermittlung  eines  umständlichen  Transportes  zu- 
geführt wird. 

Als  Hauteinstülpungen  entstanden,  werden  die  Tracheenröhrchen  innen 
von  einer  chitinösen,  meist  mit  spiraliger  Verdickungsleiste  versehenen  Mem- 
bran ausgekleidet,  welche  bei  jeder  Häutung  abgestoßen  und  erneuert  wird. 

Das  Zentralnervensystem  der  Insekten  (Fig.  ^6  und  JJ  bg),  die  bekannte 
Form  der  Bauchganglienkette  darbietend  und  durch  Zusammenrücken  der  ein- 
zelnen Ganglienpaare  vielfach  einer  Konzentration  unterliegend,  weicht  nicht 
von  dem  im  allgemeinen  für  die  Arthropoden  entwickelten  Typus  ab.  An  den 
Geschlechtsorganen  (Fig.  yy  go)  ist  die  Auflösung  der  Keimdrüsen  in  ein  Mul- 
tiplum  einzelner  kleiner  keimbereitender  Apparate,  welche  im  männlichen  Ge- 
schlechte als  Hodenfollikel,  im  weiblichen  Geschlechte  als  Eiröhren  bezeichnet 
werden,  bemerkenswert.  Diese  zahlreichen  den  Eierstock  zusammensetzenden 
Eiröhrchen  sind  durch  Endfäden  an  das  Pericardialseptum  mesenterienartig 
(vgl.  Fig.  84  g)  befestigt.  Es  ist  hervorzuheben,  daß  bei  einigen  Thysanuren 
(Japyx)  die  Ovarialröhren  gering  an  Zahl  in  streng  segmentaler  Anordnung 
sich  finden.  Die  Geschlechtsausführungsgänge,  auf  umgewandelte  Nephridien 
zurückzuführen,  münden  ventralwärts  vor  dem  After  in  der  Region  des  8.  und 
9.  Abdominalsegmentes   (Fig.  77). 

D.  Die  Entwicklung  der  Arthropoden  im  Ei. 

Wie  in  allen  Fällen,  so  liefert  auch  hier  die  Verfolgung  der  Entwicklungs- 
vorgänge im  Eie  den  wahren  Schlüssel  für  das  Verständnis  des  morphologischen 
Aufbaues  des  Arthropodenkörpers.  Wenn  der  im  Vorstehenden  gegebene  flüch- 
tige Überblick  uns  bei  aller  Mannigfaltigkeit  des  Baues  der  einzelnen  Formen 
der  Gliederfüßer  ein  gewisses  ihm  zugrunde  liegendes  einheitliches  Schema 
erkennen  ließ,  so  treten  uns  in  der  Vielheit  der  Erscheinungen  der  embry- 
onalen Entwicklung  dieser  Wesen  ebenfalls  gewisse  Züge  allgemeiner  Über- 
einstimmung entgegen.  Wir  heben  aus  der  Mannigfaltigkeit  der  in  Betracht 
kommenden  Erscheinungen    nur  gewisse  Beispiele  hervor.    Vor  allem  sollen 


264 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


f-;^- 


kh 


bt 


die  Vorgänge  in  dem  vieluntersuchten  Insektenei  als  Grundlage  unserer  Dar- 
stellung dienen. 
SuperfizieUe  Merkwürdig  abgeändert  und  durch  den  hohen  Gehalt  an  Nahrungsdotter- 

Furchung.  gubg^anzen  beeinflußt  verlaufen  die  ersten  Entwicklungsvorgänge  in  der  Form 
der  sog.  superfiziellen  Furchung  (Fig.  78).  Das  Ei  der  Arthropoden  groß,  reich 
an  Nahrungsdotter,  kugelig  oder  in  vielen  Fällen  verlängert  elliptisch  gestaltet, 
zeigt  im  Inneren  eine  kompakte  Nahrungsdottermasse  [do)^  während  die  Ober- 
fläche häufig  von  einer  Plasmaschicht  überkleidet  ist,  welche  in  Erinnerung 
an  veraltete  Anschauungen  über  Zellgenese  den  Namen  ,,Keimhautblastem" 
{kh)  bewahrt  hat.    In  der  inneren  Dottermasse  finden  sich  anfangs  vereinzelte 

Fig.  78.  Drei  Stadien 
der  sog.  superfiziellen 
Furchung  des  Insekten- 
eies. A  enthält  im  In- 
neren mehrere  Fur- 
chungskerne  fk\  B  die 
Furchungskerne  haben 
sich  durch  Teilung  ver- 
mehrt und  in  einer 
Sphäre  angeordnet ; 

C  die  Furchungskerne 
rücken  an  die  Ober- 
fläche und  veranlassen 
eine  Ausbildung  von 
ZeUgrenzen  in  der  ober- 
flächlichen Schicht. 
Ä/Blastoderm.  Ä  Nah- 
rungsdotter, fk  Fur- 
chungskerne, kh  ober- 
flächliche Plasmarinde 
(sog.  Keimhautblastem). 

kernhaltige  Plasmainseln,  welche  vom  ersten  Furchungskern  ableitbar,  und 
durch  Teilung  sich  vermehrend,  nach  Art  von  Amoeben  den  Dotter  durchwan- 
dern (Fig.  78  A  und  B  ]k).  Wenn  diese  sog.  Furchungszellen  an  die  Oberfläche 
des  Eies  geratend  und  mit  der  Masse  des  Keimhautblastems  vereinigt  zur  Aus- 
bildung einer  die  Oberfläche  des  Keimes  überkleidenden  epithelialen  Zellschicht 
(Blastoderm  Fig.  78  C  hl)  Veranlassung  geben,  so  ist  ein  Stadium  erreicht, 
welches  wir  dem  Blastulastadium  anderer  Formen  gleichsetzen  können.  Nur 
ist  hier  das  Innere  des  Keimes  (Blastocoel)  von  Dottermasse  erfüllt,  in  der 
nicht  selten  einzelne  Zellen  (Vitellophagen)  zurückbleiben,  welche  die  Nahrungs- 
dotterkügelchen  durch  intracelluläre  Verdauung  bewältigend  an  dem  weiteren 
Aufbau  des  Embryos  keinen  Anteil  nehmen  und  in  unserer  Schilderung  ver- 
nachlässigt werden  können, 
peripatus-  Ein  derartiger  Furchungsablauf,    ein    dem   hier  geschilderten  Bilde  ent- 

*'°*"'*  ""^' sprechendes  Blastulastadium  kommt  auch  bei  Peripatus  zur  Beobachtung,  auf 
dessen  noch  immer  ziemlich  lückenhaft  erkannte,  die  Anneliden  mit  den  Arthro- 
poden in  eigentümlicher  Weise  verknüpfende  Embryogenese  hier  kurz  ein- 
gegangen werden  soll.  Die  erste  Anlage  des  Embryos  ist  in  einer  sohlen- 
förmigen  Blastodermverdickung  zu  erkennen,  in  deren  Mitte  ein  längliches 
Grübchen  die  Mündung  der  Gastrulaeinstülpung,  den  sog.  Blastoporus  (Fig. 
79  A  und  B  hl)  andeutet.  Vom  Grunde  dieser  Einstülpung  (Fig.  80  hp)  wandern 
einzelne  Zellen  [en)  in  die  zentrale  Nahrungsdottermasse,  an  deren  Oberfläche 


Furchung  der  Arthropoden.     Keimstreifentwicklung  von  Peripatus 


265 


A 


B 


sie  sich  zu  einem  Epithel,  der  Wand  des  späteren  Mitteldarms,  konstituieren 
(Fig.  80  C  en).  Es  wird  auf  diese  Weise  eine  innere  Keimesschichte  gebildet, 
während  das  Lumen  des  Mesenterons,  ursprünglich  von  Dottermasse  völlig  er- 
füllt, erst  allmählich  durch  Verflüssigung  und  Resorption  der  letzteren  (Fig. 
80  C  z)  eröffnet  wird.  Der  Verschluß  des  langgestreckten  Urmundes  erfolgt  in 
seinen  mittleren  Partien  (Fig.  79  B  und  Chi), 
während  ein  vorderster  und  hinterster  Ab- 
schnitt, dem  späteren  Munde  und  After  (Fig. 
ygD  m  und  a)  entsprechend,  unverschlossen 
bleiben.  Hier  werden  durch  sekundäre  Um- 
stülpung der  ektodermalen  Ränder  der  vor- 
derste und  hinterste  Darmabschnitt  (das  Sto- 
modaeum  und  das  Proctodaeum)  hinzuge- 
bildet. 

Frühzeitig  erkennt  man  am  hinteren 
Ende  der  Embryonalanlage  eine  Wuche- 
rungszone (Fig.  79  w),  von  welcher  Zellen  in 
den  Raum  zwischen  Ektoderm  und  Ento- 
derm  einwuchern,  die  sich  zu  beiden  Seiten 
des  Blastoporus  als  Mesodermstreifen  (Fig. 
79  us)  anordnen.  Sie  entsprechen  den  Meso- 
dermstreifen der  Anneliden  (Fig.  61).  Aber 
in  ihrer  Entstehungsweise  weichen  sie  von 
den  gleichnamigen  Bildungen  der  Ringel- 
würmer dadurch  ab,  daß  bei  Peripatus  Ur- 
mesodermzellen  und  mit  ihnen  eine  teloblas- 
tische  Wachstumsform  der  Mesodermstreifen 
vermißt  werden.  Der  Prozeß  der  Sonderung 
des  mittleren  Keimblattes  beruht  hier  auf 
einer  vielzelligen  Einwucherung.  Bald  wer- 
den die  Mesodermstreifen  in  Ursegmente  ge- 
gliedert (Fig.  ygus).  Während  sich  in  diesen  schon  die  definitive  Körperge.stalt  des  bauchseitig 
\       ö     /  /  eingekrümmten  Würmchens  angedeutet,      a  After, 

letzteren    durch    Auseinanderweichen     der   ^/ Biastopoms,  w  Mund,  ?<j  ursegmente  der  Meso- 

,-,    ,,  ,.       ^        ,  1    ..1   1  /TT'-        n      -n  1    /^     \      dermstreifen,  7U  Wucherungszone  des  Mesodernis. 

Zellen  die  Coelomhohlen  (Fig.  80  B  und  Cc) 

ausbilden,  werden  hinten  von  der  ursprünglichen  Wucherungszone  aus  immer 

neue  Ursegmente  hinzugebildet. 

Wir  können  diese  ganze  an  der  Bauchseite  des  Eies  von  Peripatus  entwik- 
kelte  Zone  embryonaler  Bildungen  (Fig.  80  A  und  B),  welche  durch  das  Vor- 
handensein von  Mund  und  After  und  durch  die  seitlichen  Mesodermstreifen 
gekennzeichnet  ist  und  an  welcher  bald  knospenartig  die  Extremitätenanlagen 
hervorsprossen,  als  ein  Ganzes  zusammenfassen  und  bezeichnen  sie  als  Keim- 
streif. Auch  bei  gewissen  Anneliden,  so  vor  allem  bei  den  Regenwürmern  und 
den  Blutegeln,  werden  die  wichtigsten  Organbildungen  des  Embryos  streifen- 
förmig angelegt  (vgl.  Fig.  61  sowie  den  Text  S.  239).  Diese  Verhältnisse  sollen 


Fig.  79.  Vier  Entwicklungsstadien  von  Peripatus 
capensis,  in  der  Ansicht  von  der  Bauchseite.  Nach 
Balfour.  .4 — C  zeigen  den  Schluß  des  Blasto- 
porus und  die  Entwicklung  der  segmentierten 
Mesodermstreifen,  D  läßt  die  erste  Entstehung 
der     Extremitätenhöcker     erkennen.       Man     sieht 


266 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


er 


Fig.  80.  Drei  aufeinander  folgende  Entwicklungsstadien 
von  Eoperipatus  weldoni.  Schematische  Querschnitte  nack 
Evans.  A  zeigt  die  Art  der  Entodermbildung.  Man  ver- 
gleiche Fig.  82  A,  die  Entodermbildung  am  Insektenkeim- 
streif  betreffend.  Die  Verhältnisse  beider  Formen  unter- 
scheiden sich  insofern,  als  bei  Eoperipatus  die  Entoderm- 
zeUen  {en)  sich  im  Nahrungsdotter  zerstreuen,  während 
sie  bei  den  Insekten  vereinigt  bleiben,  ß  zwischen  Ekto- 
derm  {ec)  und  Entoderm  (en)  haben  sich  die  Mesoderm- 
streifen  (ms)  eingeschoben,  welche  hier  bereits  in  Coelom- 
säckchcn  gegliedert  sind.  Man  vergleiche  die  Fi^.  79  i? 
und  das  auf  Anneliden  bezügliche  Bild  Fig.  61  S.  239,  so- 
wie Fig.  82  D.  C  die  EntodermzeUen  (en)  konstituieren 
sich  zur  Bildung  der  Darmwand.  Durch  Auflösung  de- 
generierender Zellen  (z)  ist  die  Darmhöhle  (dh)  zur  Aus- 
bildung gelangt.  Seitlich  wachsen  die  Extremitäten- 
höcker (ex)  aus.  Die  Anlage  des  Bauchmarks  ist  als 
Ektodermverdickung  kenntlich.  bg  Anlage  des  Bauch- 
marks (Längsnervenstränge),  bp  ürmund  (Blastoporus), 
c  Coelomsäckchen,  ec  Ektoderm,  en  Entoderm,  ex-  Extremi- 
tätenhöcker, äh  Darmhöhle,  lio  Nahrungsdotter,  ms  Meso- 
dermstreifen,    3  degenerierende  Zellen  in  der  Darmhöhle. 


uns  ein  gewissesVerständnis  für  dieTat- 
sache  eröffnen,  daß  bei  den  Insekten 
die  Embryonalanlage  als  Keimstreif 
(Fig.  81,  82  und  83)  in  einen  noch  schär- 
feren Gegensatz  zu  den  übrigen  Partien 
desEies  tritt,  welche  an  Organbildungen 
steril,  einem  dorsalen  Dottersacke  ver- 
gleichbar, allmählich  von  der  Keim- 
streifanlage  umwachsen  werden. 

Querschnitte  durch  Embryonen  von 
Peripatus  lassen  in  diesen  Stadien  er- 
kennen, daß  die  seitlichen  Partien 
durch  die  an  den  Mitteldarm  angren- 
zenden Coelomsäcke  (Fig.  80  C  c)  ein- 
genommen werden.  Wir  bemerken,  daß 
die  letzteren  weder  über  noch  unter 
dem  Darm  zur  Bildung  eines  Mesen- 
teriums zusammenrücken.  Vielmehr 
finden  sich  hier  später  ziemlich  umfang- 
reiche Hohlräume,  welche  durch  sekun- 
däre Wiedereröffnung  von  Räumen  der 
primären  Leibeshöhle,  durch  ein  Ab- 
rücken des  Ektoderms  vom  Entoderm 
entstanden  zu  denken  sind.  Diese 
Räume  werden  von  Zellen  der  Coelom- 
sackwand  durchsetzt  und  in  dem  so 
entstandenen  mesenchymatischen  Ge- 
webe entwickelt  sich  die  definitive  Lei- 
beshöhle von  Peripatus.  Die  Coelom- 
säcke, deren  Wand  durch  Abgabe  der 
erwähnten  Mesenchymzellen  sich  in 
ihrem  Bestände  an  Zellen  erschöpfte, 
schrumpfen  zusammen  und  gehen  einer 
allmählichen  Auflösung  entgegen.  Sie 
zerfallen  in  einzelne  Unterabteilungen, 
von  denen  einige  mit  den  Pseudocoel 
räumen  der  definitiven  Leibeshöhle  ver- 
schmelzen, andere  sich  als  Gonaden- 
säckchen  und  als  geschlossene  End- 
säckchen  der  Nephridien  erhalten. 

Die  Anlage  der  Bauchganglienkette 
(Fig.  80  C  bg)  findet  sich  ursprünglich 
in  der  Form  paariger  Stränge,  welche 
als  Verdickungen  des    äußeren  Keim- 


Peripatusentvvicklung.     Gastrulation  der  Insekten 


267 


blattes  angelegt  und  später  durch  einen  Abspaltungsprozeß  von  der  äußeren 
Haut  abgetrennt  werden  (vgl.  Fig.  40  S.  215). 

Bei  den  Insekten  verläuft  die  Keimblätterbildung  auf  ähnliche  Weise  wie  Keimbiätter- 
bei  Peripatus.  Auch  hier  wird  die  erste  Anlage  des  Keimstreifs  in  der  Gestalt  ^'ll"ekte1r 
einer  frühzeitig  segmentierten  Blastodermverdickung  (Fig.  82  A  ec)  kenntlich, 


Ä 


Fig.  81.  Drei  aufeinander  folgende  Stadien  in  der  Entwicklung  eines  Insektenkeimstreifs  (Pieris  Brassicae,  des 
Kohlweißlings).  Nach  Graber  aus  Berlese.  «•,  o',  a'  .  .  .  a'°  Abdominalsegmente,  an  Antenne,  m  Mund,  «j^  Man- 
dibel,  w.r'  erste  Maxille,  mx'^  zweite  Maxille  (in  A  nur  die  Anlage  der  betr.  Segmente  andeutend),  ol  Anlage  der 
Oberlippe,  /',/-,/'  Thoraxbeinpaare,  sf'  erstes  Stigmenpaar,  si'^  zweites  Stigmenpaar,  pr  Proctodaeum  oder  End- 
darm, ie  Telson  oder  Endsegment,  tk\  th^,  th^  Thoraxsegmente. 


in  deren  Mitte  eine  längsverlaufende  Rinne  oder  Furche  den  Blastoporus  (Fig. 
82  A  p.en)  darstellt.  Der  Verschluß  dieser  Rinne  vollzieht  sich  auch  hier  derart, 
daß  jene  Stellen,  an  denen  später  die  Stomodaeum-  und  Proctodaeumeinstül- 
pungen  zur  Ausbildung  kommen,  sich  am  spätesten  schließen.  Die  Zellen  dieser 
Gastrularinne  breiten  sich  unter  dem  Ektoderm  des  Keimstreifs  aus  (Fig.  82  B) 
und  liefern  so  dessen  unteres  Blatt,  welches  die  Anlage  des  Entoderms  und  der 
Mesodermstreifen  in  sich  birgt  (Fig.  82  C  p.eri). 


268 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Keimhiuien.  Die  Keimstreifanlagc  der  Insekten  grenzt  sich  von  ihrer  Umgebung  da- 

durch so  scharf  ab,    daß    sich  an  ihren  Rändern  eine  Blastodermfalte  (Fig. 


A 


do     P- 


en 


£C 


bl 


s/n 


82  B  af)   erhebt,   welche 
den     Keimstreif     vöHig 
überwachsend  (Fig.  82  C), 
denselben  mit  einer  dop- 
pelten Hülle  (Amnion  am 
und  Serosa  .9^)  überdeckt. 
Der  Keimstreif  rückt  auf 
diese  Weise  von  der  Ober- 
fläche   des    Keimes    ab 
(Fig.  83  A  und  B  am  und 
se)  und  gerät  in  das  In- 
nere einer  unter  den  ge- 
nannten     Hüllenbildun- 
gen gelegenen  Höhle,  der 
Amnionhöhle.    Wir  wer- 
den auf  diese  Adnexe  des 
Embryos    der    Insekten, 
welche  sehr  an  die  gleich- 
benannten Hüllenbildun- 
gen im  Keime  der  höhe- 
ren Vertebraten  gemah- 
nen, im  folgenden  nicht 
weiter         zurück- 
kommen.   Uns  in- 
teressieren     mehr 
die  Umbildungen, 
welche  die  eigent- 
liche   Embryonal- 
anlage,  vor  allem 
das   untere  Blatt, 
im  weiteren   Ver- 

Fig.  82.     Querschnitte  durch  fünf  verschiedene  Stadien  in  der  Entwicklung  des  Insekten-  loiifo  erfährt 
keirastreifs.  Schema.  Man  vergleiche  hierzu  Fig.   8i  und  83.     af  Amnionfalte,  am   Am- 
Darm-        nion,    bg  Anlage    der   Bauchganglienkette,     bl  Blastoderm,      blz    sog.   Blutzellenstrang,  Zuuächst  trCtCn 

entwicklung.  '^  Coelomsäckchen,    do  Nahrungsdotter,    ec  Ektoderm  des  Keimstreifs,    en  Anlage    des  1       ■  j         tt- 

Mitteldarmepithels  (sog.  Enteroderm),     g  Genitalzellen,    !h  definitive  Leibeshöhle,  p.en  an    den   bCluen  iLn- 

primäres  Entoderm  (gemeinsame  Anlage  von  Enteroderm  und  Mesoderm;  diese  Anlage  Jp„     Aar     nhpti     pr 

wird   in  Fig.    C  als  unteres  Blatt  des  Keimstreifs  bezeichnet),  i-f  Serosa.  Die  Embryonal-  ^^^     ^^^     ODCn 

hüllen  (Amnion  am  und  Serosa  se)  sind  in  D  und  E  nicht  vollständig  eingezeichnet.  wähntCn  GastrU* 
Diejenigen  Teile  des  Querschnittes  durch  das  ganze  Ei,  welche  in  unseren  Zeichnungen  .  . 

weggelassen  sind,  enthalten  nur  Nahrungsdotter  do  und  sind  an  der  Oberfläche  von  der  lariniie  ZWei  xLlCtO- 
Serosaie  (dem  Blastodermrest)  bedeckt  (vgl.  Fig.  84  .-i).  dcrmeinstüloun- 

gen  (Fig.  8i  m  und /?r,  83  C  5/ und  pr)  auf,  welche  den  späteren  Vorderdarm 
(Stomodaeum)  und  den  Enddarm  (Proctodaeum)  liefern.  Wenn  diese  ur- 
sprünglich blind  endigenden  Einstülpungen  sich  in  die  Tiefe  versenken,  nehmen 
sie  vom  unteren  Blatte  je  eine  Zellgruppe  (Fig.  83  C  en)  mit  sich  in  die  Tiefe, 


£71 


Amnion  und  Serosa.     Mitteldarmkeime  der  Insekten 


269 


welche  sich  in  eigentümhcher  Weise  an  der  Dotteroberfläche  ausbreitet  und 
die  Anlage  des  Mitteldarmepithels,  das  Entoderm,  darstellt.  Wir  finden  hier 
sonach  eine  gedoppelte  Entodermanlage,  einen  vorderen  dem  Stomodaeum 
anhaftenden  (Fig.  83  C  en)  und  einen  hinteren,  dem  Proctodaeum  angefügten 
{en')  Mitteldarmkeim  —  ein  eigentümliches  Verhalten,  welches  vielleicht 
dadurch  unserem  Verständnis  näher  gebracht  wird,  daß  beide  Anlagen  durch 
einen  medianen  Zellstrang  des  unteren  Blattes,  welchen  die  Embryologen 
als  Blutzellenstrang  (Fig.  83  C  bz,  82  E  blz)  bezeichnen,  miteinander  in  Ver- 
bindung stehen. 


-:7nw 


6z 


eji' 


an 


an 


pr 


Fig.  83.  Drei  Insekten-Embryonen  in  der  Ansicht  von  der  recliten  Körperseite,  C  (nach  einer  Zeichnung  Grobbhns) 
im  Medianschnitt.  Man  vergleiche  Fig.  82.  am  Amnion,  af  Antenne,  bg  Bauchganglienkette,  bp  Beinpaare  der 
Thoraxregion,  bz  sog.  BlutzeUenstrang,  c  Gehirnanlage,  do  Nahrungsdotter,  en  vorderer  Mitteldarmkeim,  en  hinterer 
Mitteldarmkeim,  ks  Keimstreif,  m  Mund,  miv  Mundwerkzeuge,  pr  Proctodaeum  (Enddarm),  se  Serosa,  si  Stomodaeum 

(Vorderdarm). 

Nach  Absonderung  der  Mitteldarmkeime  und  des  Blutzellenstranges  blei-  Mesoderm- 
ben  zwei  seitliche  Streifen  des  unteren  Blattes  übrig,  welche  wir  nun  als  Meso- 
dermstreifen  bezeichnen.  An  ihnen  macht  sich  im  folgenden  die  Segmentierung 
des  Keimstreifens  besonders  bemerkbar  und  bald  treten  in  ihnen  paarweise 
angeordnete  Säckchen  auf,  welche  wir  als  Ursegmente  oder  Coelomsäckchen 
(Fig.  82  D  c)  bezeichnen.  Sie  sind  in  den  verschiedenen  Gruppen  der  Insek- 
ten von  wechselnder  Mächtigkeit.  Im  Keime  der  Orthopteren  am  stärksten 
entwickelt,  sind  sie  bei  anderen  Formen,  so  z.  B.  bei  den  Käfern  weniger 
ausgebildet,  bei  denen  nicht  das  ganze  Zellmaterial  der  Mesodermstreifen 
zur  Ausbildung  der  Coelomsackwände  verbraucht  wird.  Währenddes  die  Coe- 
lomhöhlen  sich  entwickeln,  entsteht  noch  ein  weiteres  System  von  unregel- 
mäßigeren Hohlräumen,  welche  ihrem  Ursprünge  nach  auf  eine  Abhebung 
des  Keimstreifs  von  der  Dotteroberfläche  zurückzuführen  sind,  und  diese 
Lücken,  gegen  welche  sich  später  die  Coelomhöhlen  eröffnen  (Fig.  82  E),  sind 
als  Anlage  der  definitiven  Leibeshöhle  der  Insekten  zu  betrachten  (Fig.  82  D 
und  E  Ih). 


270 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Umbildungen       /] 
des  Coeloms. 


Fig.  84.  Drei  Querschnitte  durch  spätere  Entwicklungs- 
stadien von  Insekten  -  Embryonen.  Schema.  In  A  sind 
noch  die  Embryonalhüllen  (Serosa  se  und  Amnion  a//i) 
angedeutet.  Man  vergleiche  diesen  Schnitt  mit  dem 
Fig.  82  Ji.  In  B  und  C  sind  die  ErabryonalhüLlen  bereits 
durch  Rückbildung  verloren  gegangen.  Der  Leser  ver- 
gleiche auch  Fig.  C  mit  dem  Querschnitt  Fig.  63  Ä 
arfi  Amnion,  aixr  äußere  Wand  des  Coelomsäckchens 
(wird  später  zum  Pericardialseptum  J>s},  bg  Anlage  der 
Bauchganglienkette,  b/  Blutsinus,  d  Darmlumen,  äo  Nah- 
rungsdotter, ef  Endfadenplatte,  en  Entoderm  (Anlage 
des  Mitteldarmepithels),  g  Anlage  der  Geschlechts- 
organe, h  Herzanlage,  ht  Haut  (Epidermis),  iw  innere 
Wand  des  Coelomsäckchens  (wird  später  zur  Endfaden- 
platte ef),  p  Pericardialsinus,  ps  Pericardialseptum, 
se  Serosa,  so  somatische  Schicht  des  Mesoderms  (An- 
lage der  Körpermuskulatur,  des  Fettkörpers,  Binde- 
gewebes usw.),  sp  splanchnische  Schicht  des  Mesoderms 
(Anlage  der  Darmmuskelschicht). 


Um  die  Umbildungen,  welche  die 
Coelomsäckchen  im  weiteren  Verlaufe 
erfahren,  richtig  verstehen  zu  können, 
müssen  wir  uns  daran  erinnern,  daß  der 
Keimstreif  in  die  Breite  wachsend  all- 
mählich den  ganzen  Embryo  umhüllt 
(Fig.  83  A  und  B,  84),  wodurch  die  Dot- 
termasse [do  in  Fig.  84  B)  ins  Innere  des 
Keims(in  die  Mitteldarmhöhle)  gelangt. 
Der  Keimstreif  repräsentiert  Ursprung-- 
lieh  die  Anlage  der  Bauchseite  des  In- 
sekts (Fig.  83  A).  Der  Rücken  wird  erst 
später  durch  das  erwähnte  Breiten- 
wachstum des  Keimstreifs  gebildet,  in- 
dem sich  seine  Ränder  daselbst  in  einer 
medianen  Verwachsungsnaht  aneinan- 
derschließen.  Wir  werden  sonach  in  den 
seitlichen  Rändern  des  Keimstreifs  die 
Anlagen  derjenigen  Bildungen  vorfin- 
den, welche  im  ausgebildeten  Insekt  die 
Mittellinie  des  Rückens  einnehmen  und 
so  werden  wir  verstehen,  daß  die  Herz- 
anlage hier,  wie  das  Rückengefäß  der 
Anneliden  aus  einer  paarigen  Anlage 
hervorgeht  (/i  in  Fig.  84  A). 

Die  Wand  der  Coelomsäckchen, 
welche  sich  nun  schon  an  ihrer  medialen 
Seite  gegen  die  definitive  Leibeshöhle 
eröffnet  haben  (Fig.  82  E  c,  84  A),  er- 
schöpft sich  durch  Zellabgabe.  Sie  lie- 
fert Elemente  des  Bindegewebes,  des 
Fettkörpers,  der  Körpermuskeln  (Fig. 
84  B,  so).  Ebenso  spaltet  sich  die  An- 
lage der  splanchnischen  oder  Darm- 
muskelschicht (Fig.  84  A  5/?)  von  ihr  ab. 
Schließlich  bleibt  ein  verkleinertes 
Säckchen  übrig,  an  dem  wir  einen  in- 
neren (Fig.  84  A  iw)  gegen  den  Dotter 
gewandten  Wandabschnitt  von  einem 
äußeren  der  Haut  zugewendeten  {aw) 
unterscheiden  können,  die  in  einem 
Winkel  ineinander  übergehen.  Von 
dieser  winkeligen  Knickungsstelle  wer- 
den einzelne  Zellen  in  einen  dorsola- 


Entwicklung  von  Leibeshöhle,  Herz,  Pericard  usw.  der  Insekten  27  1 

teral  entwickelten  Blutsinus  (Fig.  84  A  bl)  abgegeben,  in  denen  wir  die  erste 
Anlage  des  Herzens  erblicken  und  die  wir  dementsprechend  als  Herzbildner 
oder  Cardioblasten  [h]  bezeichnen.  Sie  formieren  bald  zwei  Rinnen  (Fig. 
84  BA),  welche  den  erwähnten  Blutsinus  mehr  oder  weniger  umfassen.  Wenn 
diese  rinnenförmigen  Herzhälften  nach  der  Dorsalseite  verlagert,  miteinan- 
der verwachsen,  so  kommt  das  einheitliche  Herzrohr  zur  Ausbildung  (Fig. 
84  C  h). 

Während  sich  so  das  Herz  entwickelt,  wird  der  Rest  der  äußeren  oder  so- 
matischen Lage  des  Coelomsäckchens  (Fig.  84  A  aw)  zur  Bildung  des  Peri- 
cardialseptums  (Fig.  84  B  und  C  ps)  verwendet,  indem  die  Ränder  dieser  Platte 
mit  der  Haut  [ht]  verwachsen,  während  jene  Partien,  welche  der  Umschlags- 
stelle der  lateralen  Coelomsackwand  entsprechen,  in  der  Medianlinie  unter  dem 
Herzen  zur  Verschmelzung  kommen  (Fig.  84  C).  Dabei  ergibt  sich,  daß  die 
innere  oder  splanchnische  Platte  der  Coelomsackwand  (Fig.  84  A  iw)  dieser 
Verwachsungsstelle  angeheftet  bleibt  und  aus  ihr  geht  das  Aufhängeband  der 
Gonade  g  (im  weiblichen  Geschlechte  als  Mesovarium  oder  Endfadenplatte  Fig. 
84  C  ef  bezeichnet)  hervor. 

Die  Urgenitalzellen  der  Insekten  finden  sich  in  frühen  Stadien  in  einem 
dem  hintersten  Keimstreifende  angehörigen  Grübchen,  der  sog.  Geschlechts- 
grube oder  Genitalgrube,  welche  von  Heymons  für  eine  Reihe  von  Formen 
nachgewiesen  wurde.  Später  ordnen  sie  sich  in  der  inneren  Coelomsackwand 
(g  in  Fig.  82  E  und  84)  an  und  werden  daselbst  von  Zellen  der  Coelomwand  um- 
hüllt zur  Genitalanlage.  Jenes  Aufhängeband,  welches  aus  der  splanchnischen 
Platte  der  Coelomsäcke  (Fig.  84  A  iw)  hervorgeht,  erhält  sich  im  Ovarium  der 
Insekten  in  den  sog.  Endfäden  der  Ovarialröhren  {ef  in  Fig.  84  C),  welche  die 
letzteren  an  das  Pericardialseptum  befestigen.  Schon  Joh.  Müller  ließ  die 
Ovarialröhren  der  Insekten  durch  Vermittlung  ihrer  Endfäden  mit  dem  Herzen 
in  Verbindung  stehen. 

Von  den  übrigen  Organanlagen  und  ihrer  Entwicklungsweise  im  Insekten- 
embryo sei  hier  nur  weniges  angedeutet.  Die  Bauchganglienkette  (Fig.  82  D 
und  E  bg,  84  bg)  entwickelt  sich,  wie  bei  den  Anneliden  und  bei  Peripatus  (Fig. 
80  C  bg)  aus  paarigen  verdickten  Ektodermstreifen ,  den  sog.  Primitivwülsten 
durch  einen  schon  früher  für  Peripatus  angedeuteten  Abspaltungs-  oder  Dela- 
minationsprozeß  (vgl.  Fig.  40  S.  215).  Hierbei  war  die  Rolle  einer  zwischen  den  Pri- 
mitivwülsten befindlichen  Ektodermrinne  (Fig.  84  A,  40  B  und  C)  lange  Zeit 
rätselhaft,  bis  Escherich  den  Nachweis  erbrachte,  daß  aus  ihr  ein  selbstän- 
diger Teil  des  zentralen  Nervensystems  der  Insekten,  der  mit  dem  Sympaticus 
verglichene  sog.  Leydigsche  Mittelstrang  hervorgeht.  Die  Tracheen  entwickeln 
sich  aus  segmental  angeordneten  Hauteinstülpungen.  Die  Extremitätenanlagen 
wachsen  als  zapfenförmige  Auswüchse  der  Haut  (Fig.  81  B  und  C,  83)  hervor, 
deren  Inneres  mit  mesodermalem  Gewebe  erfüllt  wird. 


27  2  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

VI.  MOLLUSCA,  WEICHTIERE. 

Wenn  bei  den  Arthropoden  die  ungemeine  Plastizität  des  Chitins  als  ske- 
lettbildender Substanz  eine  Entwicklung  ins  Leichte  und  Zierliche  ermöglichte, 
so  tritt  uns  im  Kreise  der  Mollusken  ein  ,, massiger  Typus"  entgegen.  Mit 
diesem  Ausdruck  kennzeichnet  Karl  Ernst  v.  Baer  in  glücklicher  Weise  die 
Konzentration  der  Körpermuskulatur  in  einem  einheitlichen  ventralen  Kriech- 
organ (dem  Fuße),  die  Zusammenballung  innerer  Organe  in  dem  Eingeweide- 
sacke, denMangel  metamererKörpersegmentierung  und  dasVorherrschen  mesen- 
chymatischer  Bildungen.  Auf  äußere  Reize  nur  langsam  reagierend,  hin- 
sichtlich ihrer  Bewegungen  auf  die  Kontraktion  glatter  Muskulatur  angewiesen, 
erscheinen  sie  im  allgemeinen  als  Formen  von  trägeren  Lebensgewohnheiten,  die 
sich  nur  bei  den  pelagischen  Tieren,  vor  allem  bei  den  hochentwickelte^!  Tinten- 
fischen (Cephalopoden)  zu  höherer   Intensität  steigern. 

Wie  die  Entwicklungsgeschichte  lehrt,  werden  wir  bei  der  Frage  nach  der 
ersten  Herleitung  des  Molluskenstammes  auf  den  Trochophoratypus  verwiesen. 
Wir  können  sonach,  von  trochophora-ähnlichen  Urformen  ausgehend,  zwei  große 
Reihen  wirbelloser  Tiere  erkennen.  Die  eine  —  gegliederte  Formen  umfassend 
—  führt  durch  Vermittlung  der  Anneliden  zu  den  Arthropoden.  Die  andere 
würde  als  Reihe  der  Mollusken  zu  bezeichnen  sein.  Dunkel  ist  für  uns  die 
Frage,  von  welchem  Punkte  sich  der  Stamm  der  Weichtiere  von  der  Mannig- 
faltigkeit wurmähnlicher  Urformen  abzweigt,  welche  Zwischenformen  sich 
zwischen  dem  trochophora-ähnlichen  Ausgangspunkt  und  dem  hypothetischen 
Urmollusk,  das  wir  sofort  ins  Auge  fassen  wollen,  einschieben. 

Unendlich  ist  die  Mannigfaltigkeit  an  Formen  im  Kreise  der  Mollusken. 
Wir  rechnen  hierher  die  größeren  Stämme  der  Schnecken  oder  Gastropoden,  der 
Klappmuscheln  oder  Lamellibranchiaten  und  der  Tintenfische  oder  Cephalopoden. 
Zu  diesen  drei  Klassen,  welche  die  Hauptmasse  aller  Mollusken  in  sich  begreifen, 
kommen  noch  die  formenärmeren,  aber  morphologisch  ungemein  eigentümlichen 
Klassen  der  Solenoconchen  oder  Röhrenschnecken,  als  deren  Hauptvertreter 
die  Zahnschnecken  oder  Dentalien  gelten,  und  die  der  Urmollusken  oder  Am- 
phineuren.  In  der  letzteren  Gruppe  werden  einige  merkwürdige  Formen  ver- 
einigt, welche,  nach  mancher  Richtung  durch  Anpassung  an  die  Lebensweise 
modifiziert,  sicher  in  vielen  Merkmalen  uraltertümliche  Züge  bewahrt  haben. 
Es  sind  dies  die  Chitonen  oder  Käferschnecken  mit  flacher,  dorsaler,  gegliederter 
Schale,  in  der  Gezeitenzone  lebend,  und  die  wurmförmigen,  im  Schlamm  oder 
Sand  des  Meeresgrundes  wühlenden  oder  auf  Korallen  und  Hydroiden  halb- 
parasitisch lebenden  Solenogastren. 

Es  empfiehlt  sich  die  allgemeine  Betrachtung  der  Mollusken  mit  der  Schil- 
derung eines  abstrahierten  Schemas  einzuleiten,  in  welchem  jene  Merkmale  ver- 
einigt erscheinen,  die  wir  der  hypothetischen  Ausgangsform  des  Weichtier- 
stammes zuschreiben.  Dies  konstruierte  Urmollusk  (Fig.  85  und  86)  wird  wohl 
auch  als  Prorhipidoglossum  bezeichnet,  ein  Name,  der  sich  von  gewissen  ur- 
sprünglichen Schneckenformen  (Pleurotomaria,   Fissurella,   Haliotis,  Trochus 


Mollusken  im  Allgemeinen 


73 


TTt 


USW.)  herleitet,  welche  in  der  Gruppe  der  Rhipidoglossen  oder  Fächerzüngler 
vereinigt  werden.  Es  ist  uns  wohl  bekannt,  daß  neuerdings  von  Naef  wie 
schon  von  Goette  gegen  dies  Schema  gewisse  bestechend  klingende  Einwände 
erhoben  worden  sind,  welche  sich  auf  die  Orientierung  der  Teile  zur  Hauptachse, 
auf  die  ursprüngliche  Gestalt  des  Eingeweidesackes  und  der  Schale  beziehen. 
In  letzter  Linie  handelt  es  sich  um  die  Frage,  ob  wir  dem  Urmollusk  eine  krie- 
chende Bewegungsweise  zu- 
schreiben oder  ob  wir  es  als 
eine  nach  Art  der  Cephalopo- 
den  pelagisch  schwimmende 
Form  erfassen.  Wenn  wir  den 
Amphineuren  die  oben  gekenn- 
zeichnete Stellung  im  Kreise 
der  Mollusken  zuerkennen,  so 
werden  wir  doch  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  auf  eine 
schneckenähnlich  kriechende 
Ausgangsform  verwiesen. 

Vier  Teile  setzen  den  Mol- 
luskenkörper zusammen:  der 
Kopf  (Fig.  85  Afe),  der  Fuß  (/), 
der  Eingeweidesack  und  der 
Mantel  (m/).  Der  Kopf  trägt 
die  Mundöffnung  (Fig. 85,  86m) 
und  wichtige  Sinnesapparate: 
die  Fühler  und  die  Augen.  Er 
birgt  in  seinem  Inneren  das 
paarige  Gehirn-  oder  Cerebral- 

.  .  .  .  'TfZU. 

gangllOn  (Fig.   86  c).    Nicht   im-  Fig.  85.    UrmoUusk,  Sckema.    .Hn  der  Ansicht  von  der  linkeuKörper- 

mer  deutlich  vom  Übrip'en  Kör-  ^^ite,    B    im  Quersclmitt   durch   die   Gegend    des  Herzens,    an  After. 

_  d  Dann  im  Querschnitt,  ed  Enddarm,  /"Fuß,  h  Herz,  k  Kopf,  Ih  Leibes- 

per   abgesetzt  verschwindet   er  höhle    (Pseudocoel),     ;«    Mund,     w/3  "  Mantelbucht,     nui    Mitteldarm, 

j        ^  J        T  11 'U  ?/^/Mantelfalte,  w/;  Mantelhöhle,   ?//?i  Muskulatur  des  Fußes  (verdickte 

m  der  UrUppe  der  Liamelllbran-  Ventralpartle  des  Hautmuskelschlauches).  /Pericardialsäckchen  (Coe- 

rhiaten     fast    Vollstänrlip'      F)pr  lom).  r  Rand  der  Mantelfalte,  .f  Schale,  vd  Vorderdarm. 

Rumpf  des  Tieres  ist  durch  den  Gegensatz  einer  muskulös-verstärkten  Ventral- 
partie (Fig.  85  A/ und  85  B  mu,  Fuß)  und  einer  schalentragenden  (5),  bruchsack- 
artig vorgebuchteten  Rückenpartie  (Eingeweidesack)  gekennzeichnet.  Der  un- 
paare,  muskulöse  Fuß,  bei  den  Schnecken  mit  ventraler  Kriechsohle  versehen, 
dient  als  Bewegungsorgan  (Fig.  85  /).  Er  umfaßt  die  Hauptmasse  der  in  seinem 
Inneren  geborgenen,  wenig  geordneten  und  durch  den  Spindelmuskel  an  die 
Schale  angeschlossenen  Körpermuskulatur  (Fig.  85  B  mu).  Die  Anhäufung  dieser 
ventralen  Muskelmasse  bedingt  eine  dorsale  Vorwölbung  der  Leibeswand,  in 
welcher  die  Eingeweide  aufgenommen  erscheinen:  der  Eingeweidesack.  Wenn 
uns  der  Fuß  als  eine  verstärkte  Ventralpartie  des  Hautmuskelschlauches  ent- 
gegentritt, so  fällt  uns  an  dem  dorsalen  Eingeweidesack  die  zartwandige  Be- 

K.  d.  G.  III.  IV,  Bd  2  ZeUenlehre  etc.  II  1 8 


Bau  des 
Mollusken- 
körpers. 


2  74  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

schaffenheit  der  Körperdecke,  welche  hier  die  Kalkschale  (5)  absondert,  auf.  An 
jener  Stelle,  an  welcher  der  Eingeweidesack  sich  halsartig  vom  übrigen  Körper 
abtrennt,  umgibt  ihn  eine  ringförmige  Hautduplikatur,  welche  als  Mantelfalte 
(Fig.  85  w/)  bezeichnet  wird.  Als  Mantel  der  Mollusken  wird  die  ganze  dünnwan- 
dige, den  Eingeweidesack  bedeckende  Rückenpartie  der  Haut  bezeichnet,  welche 
sich  durch  die  Mantelfalte  gegen  die  übrigen  Teile  der  Körperdecken  abgrenzt. 
Der  von  der  Mantelfalte  bedeckte  Hohlraum,  welcher  den  halsartigen  Übergangs- 
teil zwischen  Fuß  und  Eingeweidesack  ringförmig  umgibt,  wird  als  Mantel- 
höhle (Fig.  85  B  ?nh)  bezeichnet.  Sie  ist  nicht  allseitig  von  gleicher  Tiefe.  In 
den  meisten  Teilen  des  Umkreises  nur  seicht  entwickelt,  bildet  sie  ursprünglich 
hinten  eine  tiefere  Einsenkung,  die  Mantelbucht  oder  Mantelhöhle  im  engeren 
Sinne  (Fig.  85  A  mb,  Fig.  86,  Fig.  89,  Fig.  93).  Sie  birgt  die  Afteröffnung  (Fig.  86, 
89  an),  die  Ausmündungspapillen  der  Nieren  (Fig.  86  n,  Fig.  89  np),  die  als 
Kiemen  (Fig.  86  et,  Fig.  89  kr,  kl)  entwickelten  Atmungsorgane :  eine  Gruppe 
von  Bildungen,  welche  man  unter  dem  Namen  des  pallialen  Organkomplexes 
zusammenfaßt. 

Ursprünglich  ist  der  Körper  der  Mollusken  streng  bilateral-symmetrisch 
gebaut  (Fig.  85  B,  Fig.  87,  Fig.  89  A)  und  diese  Anordnungsweise  der  Organe 
erhält  sich  im  allgemeinen  in  den  meisten  Klassen  des  Molluskentypus,  so 
bei  den  Amphineuren,  den  Solenoconchen,  Lamellibranchiaten  (Fig.  90)  und 
Cephalopoden.  Dagegen  entwickelt  sich  bei  den  Schnecken  (Gastropoden) 
Hand  in  Hand  mit  der  spiraligen  Einrollung  des  Eingeweidesackes,  mit  der 
Verlagerung  der  Mantelhöhle  nach  vorne  eine  einseitige,  asymmetrische  Aus- 
bildung wichtiger  innerer  Organe  (Fig.  89  B  und  C),  welche  sich  darin  kund- 
gibt, daß  jene  Teile  des  pallialen  Organkomplexes,  welche  nach  erfolgter  Ver- 
lagerung der  Mantelhöhle  nach  vorn  an  der  rechten  Körperseite  liegen,  einer 
Rückbildung  unterworfen  werden.  Das  hindert  nicht,  daß  bei  vielen  Schnecken, 
die  wir  aber  als  abgeleitete  Formen  betrachten,  eine  Tendenz  zu  sekundärer 
Symmetrisierung  der  Körpergestalt  wieder  in  Wirksamkeit  tritt. 

Die  Mollusken  zeigen  im  allgemeinen  eine  schleimige  Beschaffenheit  der 
unbedeckten  Teile  ihrer  Körperoberfiäche.  Sie  verdanken  dieselbe  dem  Vor- 
handensein zahlreicher,  mucinbildender  Drüsenzellen  in  ihrer  Haut,  in  dem 
zarten,  häufig  bewimperten  ektodermalen  Epithel,  welches  ihre  Oberfläche  über- 
kleidet. 
Schale.  Auch  dic  Schale  der  Mollusken  (Fig.  85  s)  entsteht  als  eine  Abscheidung 

von  selten  dieses  Körperepithels  nach  außen.  Sie  ist  sonach  den  cuticularen 
Bildungen  zuzurechnen  und  besteht  aus  einer  chitinartigen  organischen  Grund- 
substanz (Conchin  oder  Conchiolin),  welcher  Kalksalze,  meist  Kalkkarbonat, 
eingelagert  sind.  An  einem  senkrechten  Durchschnitt  oder  Schliff  durch  eine 
Muschelschale  erkennt  man,  von  außen  nach  innen  folgend,  drei  Schichten: 
zuäußerst  ein  zartes,  chitiniges  Oberhäutchen  (Epidermis  oder  Periostracum), 
welches  an  älteren  Schalenteilen  häufig  abgerieben  wird  und  daher  fehlt;  dann 
folgt  eine  aus  senkrecht  gestellten  Kalkprismen  bestehende  Schicht:  die  Por- 
zellanschicht oder  Prismenschicht,  und  zuinnerst  die  aus  horizontal  geschieh- 


Bau  des  Molluskenkörpers.     Schale.     Darm  275 

teten  Lamellen  bestehende  Perlmutterschicht.  Das  Wachstum  der  Schale  voll- 
zieht sich  in  der  Weise,  daß  an  ihrem  freien  Rande  neue  Schalenteile  hinzu- 
gebildet werden,  also  bei  den  Klappmuscheln  am  Rande  der  Schalenklappen, 
bei  den  Schnecken  an  der  Mündung.  Die  Schale  wird  auf  diese  Weise  immer 
größer,  die  Mündung  entsprechend  weiter.  Man  kann  diese  Art  des  Anwach- 
sens der  Schale  an  dem  Vorhandensein  von  parallelen  Zuwachsstreifen  erkennen. 
Das  Dickenwachstum  der  Schale  erfolgt  durch  Auflagerung  neuer  Schichten 
an  ihrer  inneren  Fläche. 

Die  Form  der  Schale,  sowie  die  Art,  wie  die  Schale  zum  Schutze  des  Kör- 
pers in  Verwendung  kommt,  ist  für  die  einzelnen  Mollusken  eine  sehr  ver- 
schiedene. Formen  mit  flacher  napfförmiger  Schale  (vgl.  das  Schema  Fig.  85), 
wie  die  in  der  Gezeitenzone  lebenden  Patellen,  benützen  die  Schale  hauptsächlich 
als  Rückenschild.  Ihre  Lebensweise  hat  Goethe  am  Lido  beobachtet  und  in 
seiner  italienischen  Reise  anschaulich  geschildert.  Der  breite  Fuß  wirkt  hier 
wie  ein  Saugnapf,  mit  welchem  die  Schnecke  sich  an  die  Unterlage  festheftet, 
während  die  Schale  durch  Kontraktion  der  Muskulatur  an  die  Unterlage  fest 
angepreßt  wird.  Die  meisten  Mollusken  können  sich  in  die  Schale  vollständig 
zurückziehen.  Die  Klappenmuscheln  schließen  in  diesem  Falle  ihre  Schalenklap- 
pen, während  die  meisten  Schnecken  am  Rücken  des  hinteren  Fußabschnittes 
einen  kalkigen  Deckel  (Fig.  94  D  op  S.  287)  besitzen,  mit  welchem  die  Schalen- 
mündung verschlossen  wird,  sobald  sich  die  Schnecke  in  ihr  Gehäuse  zurück- 
zieht. In  den  rätselhaften  Aptychen,  deren  Deutung  die  Paläontologen  so 
vielfach  beschäftigte,  scheint  ein  ähnlicher  Verschlußapparat  des  Gehäuses  fos- 
siler Cephalopodenformen  (der  Ammoniten)  vorzuliegen. 

Der  Darmkanal  der  Mollusken  ist  meist  länger  als  das  Tier  und  verläuft  oarm. 
daher  in  der  Regel  schleif enförmig  aufgewunden,  nur  selten  gerade  gestreckt. 
Zunächst  bedingt  ja  schon  bei  jenen  Formen,  denen  ein  umfangreicher,  vom 
Körper  abgesetzter  Eingeweidesack  zukommt,  die  Aufnahme  in  diesen  Sack 
einen  U -förmig  gekrümmten  Verlauf  des  Darmkanals  (Fig.  94  D  S.  287),  wozu 
noch  in  vielen  Fällen  sekundäre  Schleifenbildungen  (Fig.  91  S.  281)  kommen. 
Wir  unterscheiden  am  Darm  drei  Abschnitte  als  Vorder-,  Mittel-  und  Enddarm 
(Fig.  85  A  vd,  md,  ed,  Fig.  86),  welche  aber  mit  den  im  Embryo  als  Stomo- 
daeum,  Mesenteron  und  Proktodaeum  unterschiedenen  Abschnitten  nicht  di- 
rekt zu  vergleichen  sind.  Jedenfalls  wird  der  Enddarm  größtenteils  vom  Me- 
senteron, zum  kleineren  Teile  vom  Proktodaeum  ausgebildet.  Wo  sich  diese 
beiden  Abschnitte  gegeneinander  absetzen,  erscheint  vielfach  zweifelhaft. 

Die  Mundöffnung  (Fig.  86  m)  führt  zunächst  in  einen  muskulösen  Schlund- 
kopf, welcher  in  seinem  Inneren  chitinöse  Kiefer  und  einen  zungenähnlichen 
Wulst  birgt,  dessen  Oberfläche  von  einer  zähnchenbesetzten  Reibplatte,  der 
sog.  Radula  [r),  bedeckt  ist.  Hier  münden  paarige  Speicheldrüsen  ein.  Der  fol- 
gendeVorderdarmabschnitt  stellt  die  verengte  Speiseröhre  dar.  In  den  Mitteldarm 
mündet  eine  umfangreiche  Verdauungsdrüse  (Leber)  ein,  welche,  ursprünglich 
paarig  angelegt,  bei  vielen  Mollusken  durch  asymmetrische  Entwicklung  oder 
Verschmelzung  unpaar  wird. 

18* 


276 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Leibesköhie.  Die  Leibcshöhle  der  Mollusken  (Fig.  85  B  Ih)  präsentiert  sich  als  ein  un- 

regelmäßig gestaltetes  System  von  lacunären  Bindegewebslücken,  welche  nicht 
von  Epithel  bekleidet  erscheinen.  Sie  ist  —  ähnlich  der  Leibeshöhle  der 
Arthropoden  —  als  ein  Pseudocoel  zu  betrachten  und  läßt  sich  in  letzter  Linie 
auf  das  Blastocoel  (die  Furchungshöhle)  der  Embryonen  beziehen.  Mit  Blut 
durchströmt  tritt  sie  in  Verbindung  mit  dem  hier  nur  unvollkommen  ausge- 
bildeten (nicht  geschlossenen)   Blutgefäßsystem. 

Die  sekundäre  Leibeshöhle  oder  das  echte  Coelom  findet  sich  bei  den  Mol- 
lusken in  reduzierter  Form  als  ein  verhältnismäßig  kleines,  ursprünglich  hin- 
ten dorsahvärts  gelegenes 
Säckchen, welches  dasHerz 
in  seinem  Inneren  birgt  und 
^/  dementsprechend  als  Peri- 

/     cardialsäckchen    (Fig.   85, 
-<57?     86/))  bezeichnet  wird.  Wir 
könnten  dies  mit  eigener 
Wandung   versehene    und 
mit  Epithel  ausgekleidete 
Gebilde  als  einen  geschlos- 
senen Hohlraum  betrach- 
ten, wenn  er  nicht  regel- 
mäßig   durch    kleine   Öff- 
nungen oder  durch  Kanäl- 
chen       (Renopericardiai- 
gänge)     mit     den    Nieren 
(Fig.  86  n)   in  Verbindung 
stünde,  und  wenn  nicht  bei 
gewissen  Formen  (Solenogastren  und  Cephalopoden  eine  ähnliche  Verbindung 
mit  den  Geschlechtsorganen  (Fig.  86  g,  Fig.  87)  zu  erkennen  wäre.    Die  Ent- 
wicklungsgeschichte läßt  erkennen,   daß  das  Pericardialsäckchen    (samt  dem 
Herzen),  die  Anlage  der  Gonaden  und  der  Nieren  aus  einer  ursprünglich  ein- 
heitlichen Anlage  hervorgehen.    Demnach  müssen  wir  die  Gonadensäckchen 
als  abgegliederte  Teile  des  Coeloms  betrachten.    Diesbezüglich  finden  sich  die 
einfachsten  (aber  vielleicht  nicht  ursprünglich  einfachen,  sondern  durch  Re- 
duktion der  Genitalgänge  oder  Coelomoducte  sekundär  vereinfachten)  Verhält- 
nisse bei  gewissen  Amphineuren  (den  Solenogastren  Fig.  87).    Hier  münden  die 
Geschlechtsorgane  in  das  Pericardialsäckchen.    Es  gelangen  bei  diesen  Formen 
die  reifen  Geschlechtsprodukte  in  die  Herzbeutelhöhle  {p)  und  aus  dieser  durch 
Vermittlung  der  Nieren  (w)  und  der  Mantelhöhle  {mt)  nach  außen.    Bei  den 
meisten  Mollusken  emanzipieren  sich  die  Gonaden  mehr  und  mehr  von  dem 
Pericardialsäckchen,    sei   es   daß   eigene   Genitalausführungsgänge    (Coelomo- 
ducte oder  Gonoducte)  in  Funktion  treten,  sei  es  daß  die  Geschlechtsprodukte 
unter  Ausschluß  des  Pericardialsäckchens  durch  die  Niere  nach  außen  geleitet 
werden  (Fig.  89  Cg). 


Fig.  86.  Urmollusk,  Schema,  Ansicht  von  der  linken  Körperseite  (im  An- 
schlüsse an  Pelseneer).  Man  vergleiche  Fig.  85^.  a  Vorhof  des  Herzens 
(Atrium),  an  After,  c  Cerebralganglion  (Gehirn),  ci  Kieme  (Ctenidium), 
jf  Gonade  (Geschlechtsorgan),  m  Mund,  mi  Mantelbucht,  md  Mitteldarm, 
u  Niere,  p  Pericardialsäckchen  (Coelom),  pe  Pedalganglion,  //  Pleural- 
gangUon,  r  Radu  a,  rn  Mantelrandnerv,  v  Herzkammer  (Ventrikel),  ^'z' Vis- 
ceralganglion,  z  Cerebropleuralconnectiv,  2  Cerebropedalconnectiv,  3  Pleuro- 
pedalconnectiv,  4  Pleurowsceralconnectiv  (Visceralschlinge). 


Leibeshöhle,  Gonaden,  Nieren,  Kiemen  usw. 


!77 


-ed 


Ursprünglich  kommen  den  Weichtieren  paarige,  symmetrisch  gelagerte  Go- 
naden (Fig.  87  g)  zu.  In  vielen  Fällen  aber  wird  die  Keimdrüse  durch  Ver- 
schmelzung ihrer  beiden  Hälften  (oder  vielleicht  auch  durch  Reduktion  der 
einen  Hälfte?)  zu  einem  unpaaren  Gebilde  (Fig.  89  C  g). 

Die  Nieren  der  Mollusken  (Fig.  86  «,  87  «)  sind  als  ein  Paar  von  Nephri- 
dien  zu  betrachten  und  ihrer  morphologischen  Grundlage  nach  auf  Anneliden- 
nephridien  zu  beziehen.  Meist  durch  Erweiterung 
sackförmig  geworden,  stehen  sie  durch  Wimper- 
trichter (Nierenspritze)  oder  durch  Renopericardial- 
gänge  mit  dem  Pericard  in  Verbindung.  Während  so- 
nach diese  innere  Mündung  (Fig.  91  ni)  eine  Kom- 
munikation der  Niere  mit  dem  Coelom  herstellt,  er- 
gießen die  Nieren  ihr  Exkret  durch  die  äußeren  (Fig. 
91  no)  häufig  auf  Papillen  erhobenen  Mündungen 
(Fig.  89  np)  in  die  Mantelhöhle.  Bei  den  asymmetri- 
schen Formen  erhält  sich  nur  eine  Niere. 

Das  Blutgefäßsystem  der  Mollusken  ist  kein  ge- 
schlossenes. Es  kommuniziert  mit  dem  Pseudocoel. 
Das  Herz  (Fig.  85  h)  ist  ein  dorsales  und  arterielles 
und  entspricht  sonach  dem  Rückengefäß  der  Anne- 
liden. In  dem  Pericardialsack  gelegen  und  seinem 
Ursprünge  nach  auf  einen  im  dorsalen  Mesenterium 
entstandenen  Hohlraum  zurückzubeziehen,  geht  es 
nach  vorne  und  hinten  röhrenförmig  in  Arterien  über, 
welche  sich  nach  längerem  Verlaufe  in  die  Binde- 
gewebslücken  der  primären  Leibeshöhle  ergießen. 
Von  hier  gelangt  das  Blut  in  die  Gefäßräume  der 
Respirationsorgane  und  von  diesen  durch  seitlich  am 
Herzen  angebrachte  Vorhöfe  in  das  Herz  zurück. 

Die  ursprünghchen  Respirationsorgane  der  Mol- 
lusken sind  durch  paarige,  gefiederte,  in  der  Mantel- 
höhle gelegene  Kiemen  (sog.  Ctenidien)  gegeben,  welche  jedoch  bei  vielen  Formen 
durch  Reduktion  einseitig  entwickelt  erscheinen  oder  völlig  verloren  gehen 
(Fig.  86  et,  Fig.  89  kl,  kr). 

Das  Nervensystem  der  Mollusken  läßt  sich  auf  ein  System  von  Ganglien- 
knötchen  zurückführen,  welche  durch  Nervenstränge  untereinander  in  Ver- 
bindung stehen  und  periphere  Nerven  abgeben.  Wir  bezeichnen  jene  Stränge, 
welche  gleichnamige  Ganglien  in  Verbindung  setzen,  als  Kommissuren,  während 
Verbindungen  zwischen  ungleichnamigen  Ganglien  als  Konnektive  benannt  wer- 
den. Das  ursprüngliche  Schema  des  Molluskennervensystems  ist  bilateral-sym- 
metrisch (Fig.  88  A).  Es  besteht  aus  paarigen,  im  Kopfe  über  dem  Schlund  ge- 
legenen Cerebral-  oder  Gehirnganglien  (Fig.  86,  88  c),  welche  durch  die  Cere- 
bralkommissur (Fig.  88  B  cc)  verbunden  sind  und  die  Nerven  zu  den  Sinnes- 
organen des  Kopfes  sowie  ein  System  von  Schlundnerven  mit  Buccalganglien 


Fi  g.  87.  Schematische  Darstellung  der 
Organe  im  hinteren  Körperabschnitt 
einer  Form  aus  der  Gruppe  der  wurm- 
förmigen  Solenogastren  (im  Anschlüsse 
an  H.  E.  Ziegler).  Man  vergleiche 
Fig.  86  und  Fig.  89^.  an  After, 
et  Kieme,  ed  Enddarm,  g  Geschlechts- 
organ (Gonade),  »li  Mantelbucht, 
«  Niere,  p  Pericardialsäckchen. 


Nieren 


Nervensystem. 


278 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


abgeben.  Wir  finden  ferner  ein  Paar  von  Ganglien  im  Fuße:  die  Pedalganglien 
(Fig.  86,  88  pe),  welche,  durch  die  Pedalkommissur  (Fig.  88  B  pc)  verbunden, 
die  Muskelmasse  des  Fußes  innervieren.  Sie  sind  an  das  Gehirn  durch  Cere- 
bropedalkonnektive  (Fig.  86,  88,  2)  angeschlossen.  Mehr  dorsal  und  seitlich  ge- 
lagert finden  wir  ein  Paar  von  Pleuralganglien  (Fig.  86,  88  pl),  welche  den  Man- 
telrand innervieren  und  durch  Pleurocerebralkonnektive  (i)  mit  dem  Gehirn, 

durch  Pleuropedalkonnek- 
tive  (3)  mit  demPedalgang- 
lion  in  Verbindung  gesetzt 
sind.  Von  demPleuralgang- 
lion  geht  der  Mantelrand- 
nerv irn)  und  die  nach  hin- 
ten unter  den  Darm  sich 
ausdehnende  Visceral- 
schlinge  (4)  ab.  Sie  führt 
zu  einem  paarig  oder  un- 
paar  unter  dem  Enddarm 
gelegenenVisceralganglion 
{vi)  und  kann  daher  als 
durch  Vereinigung  von 
Pleurovisceralkonnekti- 
ven  gebildet  betrachtet 
werden.  In  ihrem  Verlaufe 
finden  sich  vielfach  Parie- 
talganglien  (Fig.88p(2)  ein- 
gelagert, welche  die  Nerven 
für  die  Kiemen  und  ein  an 
der  Basis  der  Kiemen  ge- 
legenes Sinnesorgan  (Os- 
phradium)  abgeben,  ein 
Sinnesepithelpolster,  wel- 
ches der  Perzeption  der 
chemischen  Qualität  des  Atemwassers  zu  dienen  scheint. 

Überhaupt  sind  die  Mollusken  reich  an  Sinnesapparaten.  Wir  finden  Augen 
nicht  bloß  am  Kopfe,  sondern  auch,  so  besonders  bei  den  kopflosen  Lamellibran- 
chiern,  am  Mantelrande.  Lippenbildungen  des  Mundes  dienen  dem  Tast-  und 
Geschmackssinne,  tentakelartige  Anhänge  des  Kopfes  und  am  Fuße  oder  Man- 
tel der  Tastfunktion.  An  den  Pedalganglien  angelagert,  aber  vom  Cerebral- 
ganglion  innerviert  finden  sich  sog.  Gehörbläschen,  die  man  als  Organe  des 
Gleichgewichtssinnes,  als  statische  Organe,  deutet. 

A.  Gastropoda,  Schnecken. 

Wir  geben  im  folgenden  einen  kurzen  Überblick  über  die  Grundzüge  des 
morphologischen  Aufbaues  in  den  formenreicheren  Gruppen  der  Mollusken  und 


—  an 


Fig.  88.  Nervensystem  der  Mollusken.  Schema.  A  von  einer  ursprüng- 
licheren Form  mit  ungekreuzter  Pleurovisceralschlinge.  Man  vergleiche 
hierzu  die  Fig.  86  und  Fig.  89^.  B  von  einer  Form  mit  gekreuzter  Pleuro- 
visceralschlinge. Vgl.  Fig.  igß.  an  After,  c  Cerebralganglion,  cc  Cere- 
bralcommissur,  kl  ursprünglich  linke,  nach  der  Drehung  rechts  gelagerte 
Kieme,  kr  ursprünglich  rechte,  nach  der  Drehung  links  gelagerte  Kieme, 
»iMund, /a  ursprünglich  linkes  Parietalganglion  (in  i?  Subintestinalganglion), 
pa,  ursprünglich  rechtes  Parietalganglion  (in  B  Supraintestinalganglion),  pc 
Pedalcommissur,  pe  Pedalganglion,  //  Pleuralganglion,  rn  Mantelrandnerv, 
vi  Visceralganglion,  j  Cerebropleuralconnectiv,  2  Cerebropedalconnectiv, 
3  Pleuropedalconnectiv,  4  Pleurovisceralschlinge. 


Nervensystem  der  Mollusken.     Die  Drehung  des  Gastropodenkörpers 


279 


beginnen  mit  den  Gastropoden,  die  sich  ihrer  Organisation  nach  am  nächsten 
an  die  Urmollusken  anschließen.  Die  meisten  Schnecken  besitzen  eine  spiralig 
eingerollte  Schale  und  einen  dementsprechend  gewundenen  Eingeweidesack. 
In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  handelt  es  sich  um  eine  Aufwindung 
im  Sinne  einer  rechtsläufigen  Spirale  (Fig.  89  B  und  C);  nur  selten  kommen 
hnksgewundene  Gehäuse  zur  Beobachtung. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  spiraligen  Einrollung  des  Gehäuses  erfolgt  eine 
Verlagerung  der  Mantelbucht  und  eine  asymmetrische  Ausbildung  des  in  ihr 

ABC 


ajh 


5^ 


Fig.  89.  Schematische  Darstellung  der  Drehung  des  Eingevveidesackes  bei  den  Schnecken.  Nach  Grobben. 
A  hypothetisches  Urmollusk  vgl.  Fig.  85  und  Fig.  86,  B  rhipidoglosse  Zwischenform  (etwa  Haliotis),  C  Verhältnisse 
der  meisten  Meeresschnecken  (Ctenobranchier).  an  After;  c  Cerebralganglion ;  g  Gonade;  /?■/ ursprünglich  linke, 
nacli  der  Drehung  rechts  gelagerte  Kieme;  kr  ursprünglich  rechte,  nach  der  Drehung  links  gelagerte  Kieme; 
np  Nierenpapille ;  pa  ursprünglich  linkes  Parietalganglion  (Subintestinalganglion) ;  /«j  ursprünglich  rechtes  Parietal- 
ganglion  (Supraintestinalganglion) ;  // Pleuralganglion  ;  7'/ Visceralganglion.  Hinsichtlich  der  Verlagerung  der  Mantel- 
bucht vergleiche  man  auch  die  Fig.  r)\B — D. 

befindlichen  pallialen  Organkomplexes.  Während  wir  bei  unserem  Urmollusk, 
wie  auch  bei  den  Amphineuren  die  Mantelbucht,  d.  h.  den  am  tiefsten  einge- 
buchteten Teil  der  Mantelhöhle  dem  hinteren  Körperende  genähert  fanden 
(Fig.  89  A),  zeigen  die  Schnecken  eine  dorsalwärts  nach  vorne  gerichtete  Mantel- 
bucht (Fig.  89B  und  C).  Man  muß  sich  diese  Verlagerung  der  Mantelhöhle  in  der 
Weise  zustande  gekommen  denken,  daß  man  annimmt,  daß  die  Mantelbucht 
in  einer  horizontalen,  der  Kriechsohle  des  Fußes  parallelen  Ebene  wandernd 
zunächst  auf  die  rechte  Körperseite  und  dann  allmählich  nach  vorne  gedreht 
wurde.  Damit  rückt  aber  zunächst  auch  der  After  [an)  nach  vorne  und  findet 
sich  bei  den  Schnecken  vorne  in  der  Mantelhöhle  rechts  ausmündend.  Der 
Darmkanal  muß  nun  eine  U-förmige  Krümmung  erfahren  (Fig.  94  D).  Er  steigt 
zunächst  im  Eingeweidesack  nach  aufwärts  und  wendet  sich  dann  nach  rechts 
und  vorne,  um  den  After  zu  erreichen.  Mit  dem  After  wurden  auch  die  ihn  be- 
gleitenden Organe  des  pallialen  Komplexes  nach  vorne  verlagert.  Wir  betrach- 
ten  zunächst  die  beiden  Ctenidien  oder  die  paarigen,  federförmigen  Kiemen 


28o  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

(Fig.  89  kl,  kr).  Während  sie  ursprünglich  ihre  freie  Spitze  nach  hinten  ge- 
richtet hatten,  wendet  sich  dieselbe  jetzt  nach  erfolgter  Verlagerung  der  Man- 
telbucht nach  vorne.  Da  das  Herz  bei  dieser  Drehung  ziemlich  an  der  gleichen 
Stelle  verbleibt,  so  ist  nun  das  relative  Lageverhältnis  der  Kiemen  zum  Herzen 
ein  geändertes.  Ursprünglich  hinter  dem  Herzen  gelegen  finden  sich  die  Kiemen 
und  mit  ihnen  die  von  den  Kiemen  zum  Herzen  ziehenden  Vorhöfe  nun  vor  dem 
Herzen,  daher  man  diese  Formen  alsVorderkiemer  oderProsobranchiaten  bezeich- 
net hat.  Gleichzeitig  zeigt  sich  eine  zunehmende  Tendenz  zu  asymmetrischer 
Entwicklung  der  Kiemen.  Nach  erfolgter  Verlagerung  der  Mantelbucht  wird  die 
rechte  Kieme  (Fig.  89  B  kl)  immer  kleiner,  bis  sie  schließlich  vollständig  ver- 
schwindet (Fig.  89  C),  was  auch  den  Verlust  des  rechten  Vorhofes  zur  Folge  hat. 

Ebenso  werden  die  Nieren  (vgl.  Fig.  89  A  np)  von  der  asymmetrischen  Ent- 
wicklung des  pallialen  Organkomplexes  betroffen.  Es  erhält  sich  nur  die  Niere 
der  linken  Seite  (Fig.  89  C),  während  die  rechte  Niere  rückgebildet  zum  Ge- 
schlechtsausführungsgang (Ausführungsgang  von  g  in  Fig.  89  C)  wird. 

Von  der  Verlagerung  des  pallialen  Organkomplexes  wird  das  Nervensystem 
derart  beeinflußt,  daß  nun  die  beiden  Pleurovisceralkonnektive  (Fig.  89  B  und 
C,  Fig.  88  B)  einen  eigentümlich  gekreuzten  Verlauf  nehmen.  Infolge  dieser 
Kreuzung  gelangt  das  in  den  Verlauf  des  rechten  Konnektivs  eingeschaltete 
Parietalganglion  über  den  Darm  und  wird  zum  Supraintestinalganglion  [pa), 
während  das  Parietalganglion  der  linken  Seite,  unter  den  Darm  verlagert,  nun 
als  Infraintestinalganglion  [pa)  bezeichnet  wird.  Wir  benennen  alle  Schnecken, 
welche  die  erwähnte  Kreuzung  der  Visceralschlinge  erkennen  lassen,  als  chi- 
astoneure  oder  streptoneure  Formen.  Viele  Schnecken  weisen  allerdings  das 
entgegengesetzte  Verhalten  auf.  Es  zeigt  sich  im  Kreise  der  Lungenschnecken 
oder  Pulmonaten  und  der  Hinterkiemer  oder  Opisthobranchiaten  eine  gewisse 
Tendenz,  die  Kreuzung  der  Pleurovisceralkonnektive  sekundär  wieder  rück- 
gängig zu  machen.     Sie  werden  auf  diese  Weise  zu  euthyneuren  Formen. 

Man  hat  verschiedene  Versuche  gemacht,  die  Ursachen  zu  ergründen,  wel- 
che dieser  spiraligen  Einrollung  des  Eingeweidesackes,  dieser  Verlagerung  der 
Mantelhöhle  unter  gleichzeitiger  Asymmetrisierung  der  Organe,  die  dem 
ganzen  Körperbau  der  Schnecken  sein  eigentümliches  Gepräge  verleiht,  zugrunde 
liegen.  Ohne  auf  diese  Erklärungsversuche  näher  einzugehen,  sei  hier  nur  an- 
gedeutet, daß  es  sich  in  letzter  Linie  wohl  um  eine  günstigere  Form  der  Raum- 
ausnützung,  um  eine  möglichst  kompendiöse  Art  der  Verpackung  der  Organe 
im  Eingeweidesack  handelt.  Vielleicht  kommt  auch  noch  ein  weiteres  Moment 
für  die  Verlagerung  des  pallialen  Organkomplexes  mit  in  Frage:  die  Vermin- 
derung des  auf  diesen  lebenswichtigen  Organen  lastenden  Druckes  im  Moment 
der  Zurückziehung  des  Kopfes  und  Fußes  in  die  Schale.  Wir  dürfen  nicht  ver- 
gessen, daß  die  Schnecken,  um  sich  vor  Angriffen  zu  schützen,  ihren  Körper 
vollkommen  in  die  Schale  zurückziehen,  wobei  die  inneren  Organe  einem  er- 
hebhchen  Druck  ausgesetzt  sein  müssen.  Möglicherweise  hat  die  Verlagerung 
der  Mantelbucht  den  Zweck,  jene  Stelle  zu  gewinnen,  an  welcher  die  Kiemen 
und  das  Herz  diesem  Innendruck  am  wenigsten  unterworfen  sind. 


Gastropoden.     Lamellibranchiaten 


281 


B.  Lamellibranchiata,  Klappmuscheln. 

Der  Körper  der  Lamellibranchiaten  ist  meist  durchaus  bilateral-symme- 
trisch gebaut.  Das  zeigt  schon  die  Beschaffenheit  ihrer  Schale  (Fig.  90  s),  welche 
aus  zwei  seitlich  angebrachten  gleich  großen  Klappen  besteht,  die  am  Rücken 
des  Tieres  durch  ein  elastisches  Ligament  (Schloßband  /)  und  durch  ein  aus 
verschieden  gestellten  und  gestalteten  Zähnen  bestehendes  Schloß  zusammen- 
gehalten werden.  Die  Wirkung  des  elastischen  Schloßbandes  bedingt  das  Öff- 
nen der  Schale,  während  das  Schließen  der  Schalenklappen  durch  die  Tätig- 


aA- 


ik" 


y 


7TV, 


zrs— 


TTl"' 


f-- 


y 


Fig.  90.  Querschnitt  durch  eine  Klappmuschel  (Schema 
im  Anschlüsse  an  Zeichnungen  von  Boas  und  Pfurt- 
SCHELLEr).  ak  äußere  KiemenlameUe,  /"Fuß,  ik  innere 
Kiemenlamelle,  /  Schloßligament,  mf  Mantelfalte, 
mh  ManteUiöhle,  j  Schale. 


Fig.  gi.  Junges  Entwicklungsstadium  einer  Klappmuschel, 
Cyclas  Cornea.  Schematisch  nach  H.  E.  Ziegler.  an  After, 
d  Darm,  f  Fuß,  g  Geschlechtsorgan  (Gonade),  h  Herz, 
hs  hinterer  Schalenschließrauskel  im  Querschnitt,  m  Mund, 
K  Niere  (Bojanussches  Organ),  nt  innere  Nierenöfifnung 
(Verbindung  zwischen  Niere  und  Pericardialsäckchen), 
HO  äußere  Nierenöffnung  (Mündung  der  Niere  in  die 
Mantelhöhle.  /  Pericardialsack,  vs  vorderer  SchalenscMieß- 
muskel  im  Querschnitt.     Man  vergleiche  Fig.  86. 


keit  besonderer  Schalenschließmuskeln  (Fig.  91  vs,  hs)  besorgt  wird.  Aus  den 
geöffneten  Schalenklappen  kann  das  Tier  nur  den  Fuß  (Fig.  90,  91  /)  und  even- 
tuell noch  gewisse  Mantelanhänge,  wie  z.  B.  die  röhrenförmigen  Siphonen,  her- 
vorstrecken. Im  allgemeinen  ist  der  ganze  Muschelkörper  in  der  Schale  ge- 
borgen. Da  die  beiden  Schalenklappen  von  der  äußeren  Oberfläche  der  Mantel- 
falte abgeschieden  werden,  so  ergibt  sich  hieraus,  daß  der  Mantel  bei  diesen 
Tieren  die  Gestalt  zweier  seitlicher,  den  Körper  völlig  umhüllender  Hautfalten 
oder  Mantelklappen  (Fig.  90  mf)  besitzt. 

Wenn  wir  es  versuchen,  den  Bau  der  Muscheln  von  der  schneckenähn- 
lichen Urform  mit  flacher,  napfförmiger  Schale  abzuleiten  (Fig.  85  B),  so  wer- 
den wir  annehmen  müssen,  daß  der  Mantel  in  zwei  seitliche,  klappenförmig  den 
Körper  umhüllende  Lappen  ausgewachsen  ist,  welche  die  beiden  verkalkten 
Schalenklappen  produzieren  (Fig.  90).  Diese  zweiklappige  Schale  ist  in  der 
Weise  von  der  einfachen  napfförmigen  Schale  abzuleiten,  daß  wir  das  elastische 
Schloßband,  welches  am  Rücken  die  beiden  Schalenhälften  verbindet,  mit  zur 


282  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Schale  hinzurechnen  oder  als  einen  dorsomedian  gelegenen,  unverkalkten  Teil 
der  Schale  betrachten.  Wir  werden  auf  diese  Weise  dazu  geführt,  auch  den 
Klappmuscheln  ein  einheitliches  Schalengebilde  zuzuschreiben,  welches,  dem 
Körper  sattelförmig  aufsitzend,  nur  in  seinen  seitlichen  Partien  verkalkt,  in  der 
dorsalen  Mittelpartie  (Schloßband)  unverkalkt  geblieben  ist. 

Die  körperliche  Ausgestaltung  der  Muscheln  steht  in  inniger  Beziehung  zu 
ihrer  Lebensweise.  Träge,  von  feinstem,  durch  Wimperbewegung  herbeigeström- 
tem organischen  Detritus  sich  ernährend,  zeigen  sie  nur  ein  geringes  Maß  von 
Ortsveränderung.  Viele  schieben  sich  durch  Vorstrecken  des  Fußes,  durch  Off- 
nen und  Schließen  der  Schale  am  Grunde  der  Gewässer  fort,  wobei  manche  sich 
vorübergehend  mit  einem  erhärtenden,  von  Fußdrüsen  produzierten  Faden- 
sekrete (Byssus)  festheften,  wie  die  Steckmuscheln  (Pinna)  und  die  Mies- 
muscheln (Mytilus),  während  andere  mit  dem  fingerförmig  eingekrümmten 
Fuß  sich  springend  abschnellen  oder  durch  Klappbewegungen  der  Schale  um- 
herschwimmend zu  intensiverer  Lokomotion  befähigt  erscheinen. 

Durch  die  Aufnahme  des  Körpers  in  eine  schützende  zweiklappige  Schale 
wird  die  Regionenbildung  der  Muscheln  beeinflußt.  Ähnlich,  wie  dies  auch  bei 
schalentragenden  Krebsen  zu  beobachten  ist,  erfährt  die  Kopfregion  eine 
Rückbildung  (Fig.  91  bei  w),  die  so  weit  geht,  daß  man  kaum  mehr  von  einem 
Kopf  bei  diesen  Tieren  sprechen  kann;  daher  man  auch  die  Muscheln  als  Ace- 
phala oder  Kopflose  bezeichnet  hat.  Die  Sinnesorgane  des  Kopfes  werden  rück- 
gebildet, während  der  Mantelrand  hier  die  bevorzugte  Stelle  für  Ausbildung 
verschiedenartiger  Sinnesorgane  wird.  Als  umfangreichster  Körperabschnitt 
tritt  uns  der  Fuß  (/)  entgegen,  der  in  seinem  Inneren  verschiedene  Eingeweide, 
Darmschlingen,  Teile  der  Leber  und  der  Gonaden  birgt,  während  ein  eigent- 
licher Eingeweidesack  hiernichtzur  Ausbildung  kommt.  Der  Körper  der  Muscheln 
besteht  fast  ausschließlich  aus  Fuß  und  Mantel.  Eine  eigentliche  Kriech- 
sohle des  Fußes  findet  sich  nur  bei  wenigen  ursprünglichen  Lamellibranchiaten 
(Nucula,  Leda,  Pectunculus);  bei  den  meisten  Muscheln  hat  der  Fuß  eine  beii- 
förmige  Gestalt  mit  ventraler  zugeschärfter  Kante.  Zu  den  Seiten  des  Fußes 
(/)  finden  sich  in  der  Mantelhöhle  die  umfangreichen  Kiemenlamellen  (Fig.  90 
ak,  ik),  der  Länge  nach  dem  Körper  angewachsen.  Es  kann  hier  nicht  näher 
ausgeführt,  sondern  nur  angedeutet  werden,  daß  sich  diese  Kiemenbildungen 
auf  die  doppelt  gefiederte  Form  des  Ctenidiums  ursprünglicherer  Mollusken- 
typen zurückführen  lassen. 

Von  der  inneren  Organisation  der  Muscheln  hier  nur  Weniges,  Typisches. 
Die  Nahrung  wird  durch  eigentümliche  Mundlappen,  gewissermaßen  auf  lappen- 
förmig  ausgezogene  Mundwinkel  mit  Wimperfurche  zurückführbar,  dem  Munde 
zugeführt.  Kieferbildungen  und  die  für  die  Mollusken  sonst  so  typische  Radula 
fehlen  hier.  Der  Magen  trägt  in  einem  besonderen  Anhang  den  merkwürdigen 
Krystallstiel,  ein  gallertiges,  der  Verdauung  durch  amylolytische  Fermente 
dienendes  Produkt.  Der  in  mehrfache  Schlingen  gelegte  Darm  endigt  mit  einer 
über  dem  hinteren  Schließmuskel  gelegenen,  in  die  Mantelhöhle  sich  öff- 
nenden Afterpapille  (Fig.  91  an).     Er  zeigt  ein  eigentümliches,  auch  bei  vielen 


Bau  der  Lamellibranchiaten.     Cephalopoden 


283 


Schnecken  aus  der  Gruppe  der  Rhipidoglossen  zu  beobachtendes  Verhalten, 
indem  er  vor  seiner  Ausmündung  in  den  Pericardialsack  eintritt  und  das  Herz 
(Fig.  91  h)  durchbohrt.  Wir  können  uns  diese  Merkwürdigkeit  vielleicht  am 
besten  in  der  Weise  verständlich  machen,  daß  wir  die  Verhältnisse  des  Blut- 
gefäßsystems der  Anneliden  zum  Vergleiche  heranziehen  (Fig.  92).  Die  Ringel- 
würmer besitzen  ein  über  dem  Darmrohr  hinziehendes  Dorsalgefäß  (do)  und 
ein  unter  dem  Darm  gelegenes  Ventralgefäß  {vg).  Beide  sind  durch  segmental 
angeordnete  Queranastomosen  {a)  miteinander  verbunden,  von  denen  einzelne, 
erweitert  und  kontraktil  als  Herzen  {a^)  funktionieren.  Wir  können  nun  das 
Herz  der  Muscheln  (Fig.  92  B)  auf  eine  derartige     /1  ^^ 

Queranastomose  zurückführen,  wobei  wir  noch 
hinzuzufügen  haben,  daß  sich  bei  ihnen  vom 
Rückengefäß  nur  der  nach  vorne  ziehende  Ab- 
schnitt, vom  Bauchgefäß  der  hintere  Abschnitt 
erhalten  hat.  Wir  würden  das  Verhältnis  richtiger 
darstellen,  wenn  wir  die  gewöhnliche  Ausdrucks- 
weise, daß  bei  den  Muscheln  der  Enddarm  das 
Herz  durchbohrt,  vermeidend  sagen  würden:  bei  B 
den  Lamellibranchiern  hat  sich  das  Herz,  wie 
auch  die  Coelom-  oder  Pericardialblase  im  Um- 
kreise des  Darmes  entwickelt,  was  ja  bei  den 
meisten  Coelomtieren  für  das  Coelom  das  normale 

Verhalten  ist.   Es  zeigt  sich  auch  in  diesem  Falle  ^ 

die  innige  genetische  Beziehung,    in  welcher  bei    pi- 92.    Schematische  DarsteUung  der 
allen    Tieren    das    Blutgefäßsystem    zur    Darm-    Beziehungen  des  Biutgefa^ßsystems  zum 

°  -'  Darrakanal,    A    bei  Anneliden    (vgl.  auch 

wand  steht,  eine  Beziehung,  auf  welche  vor  allem    Fig.  57  s.  236),    b  bei  einer  Muschel. 

.  .  11  TT  1        "    Queranastomose,    a^    verbreiterte    kon- 

Lang      m      semer      bedeutungsvollen       HaemOCOel-      traktile     Queranastomose,    als    Herz    fun- 

theorie    die  Aufmerksamkeit    der    Forscher    ge-    ^-t'S::7':^1^^£S£^- 
lenkt  hat. 

C.  Cephalopoda,  Kopffüßler  oder  Tintenfische. 

In  der  Gruppe  der  pelagischen  Cephalopoden  erreicht  der  Stamm  der 
Mollusken  seine  höchste  Organisationsstufe,  wie  denn  auch  in  dieser  Gruppe, 
einem  allgemeinen  Gesetze  folgend,  wonach  die  Körpergröße  mit  steigender 
Organisationshöhe  zunimmt,  die  größten  Formen  unter  den  Mollusken  gefunden 
werden.  Freischwimmende  Meeresbewohner  von  räuberischer  Lebensweise  er- 
scheinen sie  mit  Sinnesorganen  vorzüglich  ausgerüstet;  zu  energischen  Muskel- 
kontraktionen befähigt,  eignen  sie  sich  zu  intensivster  Lebensbetätigung.  Die 
hohe  Komplikation  ihres  Körperbaues  hindert  nicht,  daß  sie  in  vieler  Hinsicht 
uraltertümliche  Züge  bewahrt  haben.  Hierher  ist  es  zu  rechnen,  daß  die  ur- 
sprüngliche bilaterale  Symmetrie  des  Körpers  bei  ihnen  im  allgemeinen  voll- 
ständig gewahrt  ist,  daß  sie  eine  nach  hinten  verlagerte  Mantelhöhle 
(Fig.  93  mh)  besitzen,  daß  der  palliale  Organkomplex  jene  Zusammensetzung 
aufweist,  die  wir  unserem  Urmollusk  zuerkannt  haben,  und  daß  bei  ihnen  der 
Zusammenhang  zwischen  Gonadenhöhle  und  Pericardialhöhle  gewahrt  bleibt. 


284 


K.  Heider  ;  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Die  Cephalopoden  der  Gegenwart  sind  die  Überreste  einer  Gruppe,  welche 
in  der  Vorwelt  eine  viel  größere  Mannigfaltigkeit  entwickelte.  Die  eigenartige 
Gattung  Nautilus  der  indischen  Meere,  mit  gekammerter,  lufterfüllter,  exo- 
gastrisch  eingerollter  Schale  schwimmend,  fällt  durch  den  Besitz  von  2  Kiemen- 
paaren und  dementsprechend  von  vier  Vorhöfen  des  Herzens  (wie  auch  von 
vier  Nierensäcken)  auf.  In  ihr  hat  sich  der  einzige  Repräsentant  jener  umfang- 
reichen Gruppe  erhalten,  welcher  die  zahlreichen  Nautiloidea  der  Vorwelt,  zu 
denen  wir  auch  die  Orthoceratiten  mit  linearer  Anordnung  der  Schalenkammern 

rechnen,  zugehören.  Ihnen  stehen 
auch  die  Ammoniten  nahe,  deren 
Kammerscheidewände  sich  in 
zierlicher  ornamentaler  Loben- 
zeichnung  an  dieSchale  ansetzen. 
^-7n6  Dagegen  werden  die  Belemniten, 
deren  Schalenrostren  als  Donner- 
keile die  mesozoischen  Schichten 
(Jura  und  Kreide)  erfüllen,  den 
dibranchiaten  Cephalopoden  mit 
bloß  einem  Ctenidienpaare  zu- 
gerechnet. Wenn  wir  von  Nau- 
tilus absehen  und  von  Argonauta, 
dessen  Weibchen  sich  durch  Ab- 
sonderung der  lappigen  Rücken- 
arme ein  sekundäres  Gehäuse  er- 
baut, haben  die  übrigen  Formen 
rezenter  Cephalopoden  keine 
äußere  den  Körper  bedeckende 
Schale.  Schon  bei  Spirula  vom 
Mantel  teilweise  bedeckt,  rückt 
das  Schalenrudiment  bei  den  Sepien  und  Verwandten  in  tiefere  Körperschichten, 
wo  es  als  sog.  Schulp  (os  sepiae  Fig.  93  sp)  vorgefunden  wird,  um  schließhch 
in  der  Gruppe  der  achtarmigen  Polypen  vollständig  zu  verschwinden. 

Der  Körper  der  Sepien,  an  die  wir  uns  hier  halten  wollen,  sondert  sich  in 
einen  großen  mit  mächtigen  Augen  [a)  versehenen  Kopfabschnitt  (Fig.  93  k), 
welcher  halsartig  verschmälert  in  den  hinteren  Rumpfabschnitt  übergeht,  der 
dorsalwärts  den  Schulp  [sp)  birgt.  Ein  freier  Hautsaum,  hinter  welchem  der 
Hals  des  Tieres  verschwindet,  läßt  erkennen,  daß  wir  in  dem  als  Rumpf  be- 
zeichneten Abschnitte  den  mantelbedeckten  Eingeweidesack  zu  erbhcken  haben, 
welcher  in  der  nach  hinten  gelagerten  umfangreichen  Mantelhöhle  (w^)  die 
Afterpapille  [an),  die  paarigen  Nierenpapillen,  die  Genitalöffnung  und  die  Kie- 
men —  mit  einem  Worte  den  pallialen  Organkomplex  enthält.  Nachdem  wir 
so  an  dem  Körper  der  Tintenfische  von  den  typischen  Bestandteilen  der  Mol- 
lusken drei,  nämlich:  Kopf,  Eingeweidesack  und  Mantel  nachgewiesen  haben, 
hätten  wir  noch  nach  dem  Fuße  zu  suchen.    Einen  Teil  des  Fußes  haben  wir 


Fig.  93.  Schemarische  Darstellung  eines  Cephalopoden  in  der 
Ansicht  von  der  linken  Seite.  Nach  Pfuütschellek.  a  Auge, 
an  After,  ap  Scheitelpunkt  der  Rückenfläche,  d  vordere,  d'  hintere 
Fläche  des  Rückens,  k  Kopf,  ka  Kopfarrae,  m  Mund,  tnb  Mantel- 
bucht, wf  Mantelfalte,  sp  Schulp,  tr  Trichter. 


Allgemeine  Morphologie  der  Cephalopoden  285 

jedenfalls  in  dem  sog.  Trichter  der  Kopffüßler  {tr)  vor  uns,  einem  röhrenförmigen 
Gebilde,  durch  welches  das  in  der  Mantelhöhle  enthaltene  Wasser  bei  Kon- 
traktionen der  muskulösen  Mantelfalte  nach  außen  geleitet  wird.  Die  Cepha- 
lopoden schwimmen,  indem  sie  ihre  Mantelhöhle  mit  Wasser  erfüllen,  worauf 
sie  es,  den  Mantelrand  an  Hals  und  Trichter  fest  anpressend,  durch  die  Trichter- 
röhre schnell  nach  außen  stoßen.  Der  Gegenstoß  des  Wassers  verursacht  sodann 
eine  rasche  Vorwärtsbewegung,  durch  welche  das  Tier  mit  dem  spitzen  Körper- 
ende {ap)  voran,  die  Kopfarme  hinten  nachziehend  fortbewegt  wird.  Der  Name 
Kopffüßler,  den  wir  diesen  Formen  zuerteilen,  erinnert  uns  daran,  daß  die  er- 
wähnten Kopfarme  {ka)  auch  als  ein  zum  Kopf  hinzugezogener  Teil  des  Fußes 
betrachtet  werden.  Man  pflegt  das  Verhältnis  gewöhnlich  so  zu  kennzeichnen, 
daß  man  angibt:  es  sei  ein  in  saugnapfbewehrte,  armartige  Fortsätze  aufge- 
löster Teil  des  Fußes  durch  seitliche  Überwachsung  in  die  Gegend  des  Mundes 
gerückt.  Hier  birgt  sich  im  Inneren  die  muskulöse  Schlund-  und  Buccalmasse,  mit 
papageienschnabelähnlichen  Kiefern  (w)  und  der  bezahnten  Radula  bewehrt. 

Noch  ein  Wort  über  die  Orientierung  des  Cephalopodenkörpers,  welche  wir 
unserer  schematischen  Abbildung  zugrunde  gelegt  haben.  Wenn  wir  in  den 
Kopfarmen  und  dem  Trichter  Teile  des  Fußes  erkennen,  so  werden  wir  nur 
die  kurze  zwischen  Mund  und  innerer  Trichteröffnung  sich  ausdehnende  Strecke 
als  Ventralseite,  der  Kriechsohle  der  Schnecken  vergleichbar,  in  Anspruch 
nehmen  können.  Dann  erscheint  uns  der  Cephalopodenkörper  als  ein  ungemein 
hochrückiges  Gebilde  und  wir  werden  in  der  spitz  auslaufenden  oberen  Endigung 
des  Eingeweidesackes  {ap)  den  mittleren  Teil  der  Rückenfiäche  zu  sehen  haben. 
Die  vom  Kopf  zum  Apex  oder  Scheitel  des  Eingeweidesackes  verlaufende 
Strecke  {d),  unter  welcher  sich  der  Schulp  befindet,  ist  als  vordere  Hälfte  der 
Rückenfläche,  die  vom  Apex  zum  Trichter  herablaufende  Zone  (üC),  unter  welcher 
die  Mantelhöhle  verborgen  ist,  als  hintere  Hälfte  des  Rückens  zu  betrachten. 

Wir  übergehen  viele  Merkwürdigkeiten  dieser  Formen:  so  den  Besitz  eines 
Tintenbeutels,  einer  Afterdrüse,  deren  Sekret  als  Sepiabraun  von  den  Malern  ver- 
wendet wird,  das  auffallende  Phänomen  des  Farbenwechsels,  auf  rhythmischer 
Erweiterung  und  Verengerung  von  farbstofferfüllten  Zellen  der  Haut  (Chroma- 
tophoren)  beruhend,  die  wundervolle,  an  bestimmte  Organe  geknüpfte  Fähig- 
keit des  Leuchtens,  die  besonders  den  Tief seebewohnern  unter  den  Kopffüßlern 
eignet  und  die  den  gelehrten  Erforscher  der  Tiefsee,  Prof.  Chun,  anläßlich 
seiner  Valdiviafahrt  zu  bedeutungsvollen  Studien  veranlaßt  hat,  und  anderes. 

D.  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Mollusken. 

Wenn  wir  von  den  Kopffüßlern  absehen,  die  mit  dotterreichen  Eiern  keim- 
scheibenbildend  einen  eigenartigen  Typus  individueller  Entwicklung  verfolgen, 
so  schließt  sich  die  Molluskenentwicklung  auf  das  innigste  der  Keimesbildung 
der  Anneliden  an.  In  ihrer  Furchungsweise  verfolgen  sie  ganz  den  gleichen, 
durch  das  Auftreten  bestimmter  Zellquartette  gekennzeichneten  Spiraltypus. 
Das  Gastrulastadium  wird  durch  Einstülpung  oder  durch  Umwachsung  (Epi- 
bolie)  erreicht  und    es  erfolgen    sodann    jene  oben  (S.  225)  gekennzeichneten 


286  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Umbildungen,  durch  welche  dies  Stadium  allmählich  in  ein  freischwimmendes 
oder  in  Eihüllen  geborgenes  Trochophorastadium  (Fig.  94  A)  übergeführt  wird. 
Die  Tatsache,  daß  den  Mollusken  fast  durchwegs  ein  wohlcharakterisiertes 
Trochophorastadium  zukommt,  muß  als  Hauptkennzeichen  der  Molluskenent- 
wicklung festgehalten  werden. 
Trochophora  der  Wir  gcbeu  iu  Fig.  94  A — D  ein  konstruiertes  Schema  der  Schneckenent- 

MoUus  en.  ^icklung.  Dcr  Leser  wird  keiner  Schwierigkeit  in  dem  Versuche  begegnen,  un- 
sere Fig.  94  A  auf  den  allgemeinen  Trochophoratypus  zurückzuführen.  Wie  bei 
der  echten  Trochophora  erscheint  auch  hier  der  Körper  durch  einen  mächtigen 
äquatorialen  Wimperapparat  (Prototroch  hier  meist  als  Velum  v  bezeichnet) 
in  ein  Scheitelfeld  (Episphaere)  und  ein  Gegenfeld  (Hyposphaere)  geteilt.  Den 
vorderen  Pol  der  Hauptachse  nimmt  eine  mit  Wimperschopf  versehene  Ekto- 
dermverdickung,  die  Scheitelplatte  {sp)  als  Anlage  des  Gehirnganghons  ein. 
Frühzeitig  gewinnen  die  Molluskenlarven  das  für  die  Trochophora  typische 
larvale  Exkretionsorgan  vom  Typus  der  Protonephridien:  die  Urniere  [un). 
Wir  verweisen  ferner  auf  den  Bau  des  ventralwärts  eingekrümmten  Darm- 
kanals, der,  aus  Stomodaeum  (Speiseröhre),  Magen  und  Dünndarm  bestehend, 
in  diesem  Stadium  noch  keine  Afteröffnung  zur  Ausbildung  gebracht  hat.  In 
unserer  Zeichnung  sind  die  Teile  des  mittleren  Keimblattes  nicht  zur  Darstellung 
gebracht.  Doch  mag  erwähnt  werden,  daß  auch  sie  die  für  die  Trochophora 
typische  Anordnung  erkennen  lassen.  Neben  einem  larvalen  Mesenchym  ekto- 
dermalen  Ursprungs  besitzt  die  Molluskentrochophora  paarige  von  Urmeso- 
dermzellen  entwickelte  Mesodermstreifen,  welche  die  Muskulatur  des  Haut- 
muskelschlauches und  vielleicht  auch,  wie  bei  den  Anneliden,  die  Coeloman- 
lage,  (hier  die  gemeinsame  Anlage  von  Herz,  Pericard,  definitiver  Niere  und  Go- 
nade) hefern. 

Wir  dürfen  nicht  verabsäumen,  den  Leser  auf  einige  Merkmale  hinzuweisen, 
welche  —  als  typische  Molluskencharaktere  —  unsere  Trochophora  von  der  Anne- 
lidenlarve trennen.  Der  Rücken  ist  hier  von  einer  flachen,  napfähnlichen  Scha- 
lenanlage {s)  bedeckt,  welche  cuticular  von  einer  darunter  liegenden  Ektoderm- 
verdickung,  der  sog.  Schalendrüse  {sd),  abgeschieden  wird.  Vielfach  erscheint 
die  erste  Anlage  der  Schalendrüse  unter  dem  Bilde  einer  mächtigen  Einstülpung, 
was  den  ersten  Untersuchern  der  Mollusken-Blastogenese  zu  gewissen  Irrtümern 
in  der  Auffassung  dieser  Stadien  Veranlassung  geboten  hat.  In  einer  hinter  dem 
Munde  bemerkbaren,  leicht  angedeuteten  Vorwölbung  der  Bauchseite  (/)  erken- 
nen wir  die  Anlage  des  Molluskenfußes,  während  hinter  derselben  eine  leichte 
Einziehung  der  Körperoberfläche  als  Andeutung  der  Mantelbucht  {mb)  erscheint. 

Schon  im  nächsten  Entwicklungsstadium  (Fig.  94  B)  treten  an  unserer 
Larve  die  Molluskenmerkmale  deutlicher  hervor.  Die  Schale  ist  tiefer,  mehr 
glockenförmig  geworden  und  birgt  den  Eingeweidesack,  welcher  einen  großen 
Teil  des  nun  schon  stärker  ventralwärts  eingekrümmten  Darmkanals  in  sich 
aufnimmt.  Unter  dem  Rand  der  Schale  ist  die  ringförmige  Mantelhöhle  {mh) 
und  die  hinten  ventralwärts  gelagerte  Mantelbucht  {mb)  zu  erkennen.  Der 
Fuß  (/)  ist  deuthcher  vom  Körper  abgesetzt.   Noch  trägt  der  Kopf  den  Wimper- 


Entwicklung  der  Gastropoden 


!87 


kränz  (Veium),  aber  er  hat  den  apikalen  Wimperschopf  verloren,  während 
die  ersten  Andeutungen  der  Kopftentakel  {t)  der  jungen  Schnecke  und  die 
Augenanlagen   {a)  zu  bemerken  sind. 


Fig.  94.  Vier  Eutwicklungsstadien  einer  Schnecke.  Schema  in  der  Ansicht  von  der  rechten  Körperseite. 
A  Trochophora,  ß  und  C  Übergangsstadien,  Z)  sog.  Veligerstadium.  a  Auge,  ««  After, /Fuß,  ?«  Mund,  ?»3  Mantel - 
bucht,   //i/i    Mantelhöhle,    op  Deckel  (Operculum),   j  Schale,  sä  Schalendrüse,  sji  Scheitelplatte,  /  Kopffühler,  lui  Ur- 

niere,  x'  praeoraler  Wimperkranz  (Prototroch  oder  Velum). 

Das  nächste  Stadium  (Fig.  94  C)  zeigt  im  wesentlichen  die  gleiche  Aus- 
bildungsstufe der  Organe,  doch  hat  eine  Drehung  des  Eingeweidesackes  statt- 
gefunden, durch  welche  die  Mantelbucht  {mb),  in  die  nun  schon  der  Enddarm 
mit  der  Afteröffnung  [an)  einmündet,  auf  die  rechte  Körperseite  verlagert  wurde. 

Diese  Drehung  des  Eingeweidesackes  ist  im  nächsten  Stadium  (Fig.  94  D) 
der  von  uns  dargestellten  Entwicklungsreihe  schon  so  weit  gediehen,  daß  die 


288  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Mantelbucht  {mb)  ganz  an  die  Dorsalseite  verlagert  erscheint.  Während  also 
die  erste  Anlage  der  Mantelbucht  ventralwärts  hinten  (Fig.  94  A  mb)  zu  er- 
kennen war,  liegt  sie  nun  ziemhch  weit  vorne  an  der  Rückenseite  (Fig.  94  D). 
Im  übrigen  zeigt  unser  Stadium  schon  ziemlich  alle  Merkmale  einer  jungen 
Schnecke.  Die  Scheidung  des  Körpers  in  Kopf,  Fuß  und  Eingeweidesack  ist 
deutlicher  ausgeprägt.  Der  Fuß  (/)  hat  eine  Kriechsohle  entwickelt  und  trägt 
hinten  an  seiner  Rückenfiäche  die  Anlage  des  Deckels  [op).  Die  Drehung  des 
Eingeweidesackes  hat  zu  einer  Verlagerung  der  Darmschleife  geführt.  Während 
sie  in  den  jüngeren  Stadien  (Fig.  94  B)  ventralwärts  eingekrümmt  war,  er- 
scheint sie  nun  nach  der  Dorsalseite  gekrümmt;  der  After  [an)  mündet  rechts 
am  Rücken  in  die  Mantelbucht  (vgl.  auch  Fig.  89  C).  Die  Schale  zeigt  die  ersten 
Spuren  spiraliger  Einrollung. 
Veiigerstadium.  Dics  Stadium  (Fig.  94  D)  kann  schon  durchaus  als  ein  junges  Mollusk,  als 

eine  junge  Schnecke  in  Anspruch  genommen  werden.  Es  hat  nur  mehr  zwei 
Trochophorakennzeichen  bewahrt:  die  larvale  Urniere  und  den  Wimperreifen 
am  Kopf.  Durch  die  Wimperbewegung  dieses  Organs  ist  die  junge  Schnecke  zu 
lebhaftem  Schwimmen  im  Meerwasser  befähigt,  und  dies  um  so  mehr  als  der  hier 
als  Velum  bezeichnete  Wimperkranz  häufig  in  zierliche  Lappenbildungen  aus- 
gezogen erscheint.  Nach  ihm  wird  dies  im  Entwicklungskreis  vieler  Mollusken 
wiederkehrende  Stadium  als  die  typische  Veligerlarve  der  Mollusken  bezeichnet. 

Wir  haben  von  der  Entwicklung  der  Organe  im  Inneren  eigentlich  Weniges 
angedeutet.  Verlockend  wäre  es  hierauf  näher  einzugehen.  Vor  allem  nimmt 
hier  die  Umbildung  des  Coelomkomplexes,  die  Entwicklung  von  Herz,  Pericard, 
Niere  und  Gonade,  welche  neuerdings  durch  die  Arbeiten  der  Korschelt- 
schen  Schule,  durch  die  Untersuchungen  von  Meisenheimer,  Otto  und 
Tönniges   u.  a.  bedeutsam   gefördert   wurde,    das  Interesse  in  Anspruch. 

Wie  sich  aus  der  typischen  Trochophoralarve  die  Organisation  der  Lamel- 
libranchier  hervorbildet,  kann  nur  kurz  angedeutet  werden.  Hier  müssen 
wir  von  allen  jenen  Gestaltumwandlungen,  durch  welche  bei  den  Schnecken 
die  schärfere  Absetzung  des  spiralig  eingerollten  Eingeweidesackes,  die  für  die 
letztere  Gruppe  typische  Asymmetrie  der  Bildungen  bedingt  wird,  absehen. 
Wir  müssen  auf  unser  Ausgangsstadium  (Fig.  94  A)  zurückgehen.  Wenn  wir 
annehmen,  daß  die  ursprünglich  napfförmige  Schalenanlage  den  Körper  sattel- 
förmig umwächst,  wodurch  die  Anlage  der  beiden  seitlichen  Schalenhälften 
der  Klappmuscheln  gebildet  wird,  und  daß  dementsprechend  auch  die  beiden 
Mantelfalten  sowie  die  Mantelhöhle  eine  mächtige  Entwicklung  zu  den  Seiten 
des  Körpers  erlangen,  bis  schließlich  der  ganze  Körper  von  den  paarigen  Scha- 
lenklappen umhüllt  erscheint,  so  wird  man  im  allgemeinen  die  Organisation 
der  Klappmuscheln  von  der  Ausgangsform  der  Trochophora  ableiten  können. 
Erwähnt  sei  noch,  daß  auch  bei  vielen  Lamellibranchiaten  ein  mittelst  der  vor- 
gestreckten Lappen  des  Velums  frei  umherschwärmendes  Stadium,  vergleich- 
bar der  Veligerlarve  der  Gastropoden,  zur  Beobachtung  kommt,  sowie  daß  sich 
der  Wimperapparat  der  Larve  im  ausgebildeten  Tiere  in  der  Form  der  den 
Lamellibranchiern  eigentümlichen  Mundlappen  erhält. 


Entwicklung  der  Mollusken.     Tentaculata  280 

VII.  TENTACULATA,  KRANZFÜHLER. 

Eine  formenärmere  Gruppe  des  Tierreichs,  welche  von  manchen  Autoren 
mit  dem  wenig  passenden  Namen  ,,Molluscoidea"  bezeichnet  wird,  und  welche 
in  mancher  Hinsicht  eine  Zwischenstellung  zwischen  den  großen  Gruppen  der 
Protostomia  und  der  Deuterostomia  einnimmt.  Wir  legen  weniger  Gewicht  auf 
den  von  manchen  Seiten  unternommenen  Versuch,  die  Tentaculata  gewissen 
sedentären  Enteropneustenformen  (Rhabdopleura)  zu  nähern,  als  auf  die  Tat- 
sache, daß  die  Tentaculata  die  einzige  Gruppe  der  Protostomia  sind,  in  welcher 
Spuren  einer  Mesodermbildung  durch  Abfaltung  beobachtet  wurden.  Man 
möchte  wohl  versucht  sein,  in  ihnen  den  uralten  Überrest  einer  Bilateriengruppe 
zu  erkennen,  welche  in  gleicher  Weise  Beziehungen  zu  den  Protostomia,  wie 
zu  den  Deuterostomia  aufwies.  Wenn  wir  sie  der  ersteren  Gruppe  zurechnen, 
so  bestimmt  uns  hierzu  der  Umstand,  daß  die  Larvenformen  dieser  Wesen 
(Fig.  98)  gewisse  Anklänge  an  den  Trochophoratypus  erkennen  lassen,  und  daß 
sich  bei  ihnen  der  Blastoporus  von  hinten  nach  vorne  sich  schließend  als  Schlund- 
pforte erhält. 

Es  handelt  sich  meist  um  Meerestiere  von  sedentärer  Lebensweise.  Der 
Einfluß  der  festsitzenden  Lebensweise  auf  die  Körpergestalt,  welchen  A.  Lang 
in  einer  gedankenvollen  Schrift  so  anziehend  behandelt  hat,  beeinflußt  ihre 
morphologische  Ausbildung.  In  cuticularen  Röhren  oder  Gehäusen  wohnend, 
manchmal  schalenbildend,  entwickeln  sie  an  ihrem  Kopfe  eine  oft  fast  radiär 
ausstrahlende  Tentakelkrone  zu  wimpernder  Nahrungsbeschaffung.  Die  schlei- 
fenförmige  Einkrümmung  des  Darmes  (Fig.  95),  die  Annäherung  des  Afters  [an] 
an  die  Mundöffnung  (w)  ist  eine  weitere  Folge  sedentärer  Lebensgewohnheit. 
Neigung  zum  Hermaphroditismus,  ein  hochausgebildetes  Regenerationsvermö- 
gen, das  sich  im  Abwerfen  und  der  Wiedererzeugung  der  Köpfchen  kundgibt 
und  in  einer  Gruppe  zu  Knospungsprozessen  und  zur  Stockbildung  steigert,  sind 
aus  der  gleichen  Quelle  abzuleiten. 

Wir  rechnen  zu  den  T entakulaten  drei  Klassen:  die  Phoronoidea,  wurm- 
artige Formen,  solitär  in  Röhren  wohnend,  doch  durch  Vergesellschaftung  am 
Meeresgrunde  rasenbildend,  die  Moostierchen  oder  Bryozoen  durch  Knospung 
stockbildend,  im  Habitus  ihrer  Stöckchen  vielfach  an  Hydroiden  erinnernd  und 
die  schalentragenden  Brachiopoden  [Armfüßer),  deren  zweiklappige  Schalen  als 
Leitfossilien  den  Paläontologen  wohlbekannt  sind,  ein  Stamm,  der  sich  von 
den  ältesten  Zeiten  der  Erdgeschichte  bis  zur  Gegenwart  in  wunderbarer  Lebens- 
zähigkeit erhalten  hat. 

Während  im  ,, massigen  Typus"  der  Mollusken  die  Gewebe  mesenchyma- 
tischen  Ursprungs  vorherrschen,  so  daß  die  Coelomderivate  (Gonade  und  Peri- 
card)  nur  einen  geringeren  Raum  beanspruchen,  erweisen  sich  die  Tentaculata 
als  ausgesprochene  Coelomaten.  In  der  ausgedehnten  das  Körperinnere  ein- 
nehmenden Coelomhöhle  (Fig.  95  c),  welche  von  den  reifenden  Geschlechtspro- 
dukten erfüllt  wird,  in  dem  Zurücktreten  mesenchymatischer  Gewebe,  in  dem 
Besitz  eines  geschlossenen  Blutgefäßsystems  nähern  sie   sich  —  wenigstens 

K.  d.  G.UI.  IV,  Bd2  Zellenlehre  etc.  II  ig 


2go 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Hau  von 
Phoronis. 


^P~~ 


/n— 


habituell  —  den  echten  Enterocoeliern,  als  welche  uns  die  in  der  Gruppe  der 
Deuterostomia  vereinigten  Formen  erscheinen. 

Wir  entwickeln  den  morphologischen  Grundplan  dieser  Gruppe  an  dem 
wohlbekannten  Beispiel  der  Gattung  PAö^öm^,  welche  die  ursprünglichsten  Züge 
der  Organisation  bewahrt  zu  haben  scheint.    Der  Bau  der  Bryozoen  und  der 

Brachiopoden   läßt   sich    unschwer   auf  diesen 
Typus  zurückführen. 

Phoronis  ist  ein  würmchenähnliches  Wesen 
(Fig.  95)  dessen  Körperlänge  selten  4—5  cm  über- 
steigt. Es  wohnt  in  selbsterzeugten,  mit  Sand- 
körnchen beklebten  Röhren  oder  in  Bohrlöchern 
in  Steinen  versenkt.  Sein  Körper  zerfällt  bei 
äußerlicher  Betrachtung  in  zwei  Abschnitte,  die 
wir  populärerweise  als  Kopf  und  Rumpf  bezeich- 
nen könnten.  Der  mit  einer  Tentakelkrone  ver- 
sehene Kopf  bezeichnet  das  vordere  Körperende, 
während  der  Rumpf  hinten  mit  einer  ampullen- 
förmigen  Erweiterung  endigt.  Sämtliche  Leibes- 
öffnungen (Mund  w,  After  an,  Nephridialporenw) 
sind  in  die  Nähe  des  vorderen  Körperendes  ver- 
lagert. Der  Darmkanal  bildet  eine  U-förmige 
Schlinge,  welche  an  ihrer  unteren  Umbiegungs- 
stelle  eine  Magenerweiterung  erkennen  läßt.  Wir 
können  am  Darm  den  vom  Munde  (m)  zum  Magen 
ziehenden  Teil  als  den  absteigenden  Schenkel  (öJ), 
den  vom  Magen  zum  After  {an)  ziehenden  Teil 
als  den  aufsteigenden  Schenkel  {d')  des  Darmes 
bezeichnen.  Das  Tier  ist  bilateral-symmetrisch 
(Fig.  9Ö).  Wir  wollen  zu  deskriptiven  Zwecken 
jene  Körperseite,  welcher  der  absteigende  Darm- 
schenkel (Fig.  95  d)  genähert  ist,  als  Bauchseite 
bezeichnen,  während  der  aufsteigende,  zum  After 
ziehende  Darmschenkel  (i')  der  Dorsalseite  des 
Körpers  nahe  liegt. 
Der  mit  hohlen  (Coelomräume  in  sich  aufnehmenden  und  Blutgefäße 
führenden)  bewimperten  Tentakeln  besetzte  Kopf  wird  in  wissenschaftlichen 
Beschreibungen  gewöhnlich  als  Lophophor  oder  Tentakelträger  bezeichnet. 
Dieser  Körperabschnitt  ist  von  der  Dorsalseite  her  eingebuchtet  (Fig.  96). 
Er  gewinnt  sonach  eine  hufeisenförmige  Gestalt  oder  läuft  in  zwei  dorsal- 
wärts  schräg  aufsteigende  Schenkel,  die  Lophophor  arme,  aus,  welche  nicht 
selten,  wie  auch  bei  den  Brachiopoden,  spiralig  eingerollt  werden.  Da  die 
Tentakel  am  ganzen  Rande  des  Lophophors  angewachsen  sind,  so  können 
wir  sagen,  der  Kopf  dieser  Tiere  trägt  einen  (dorsalwärts  nicht  ganz  geschlos- 
senen) Tentakelkranz,  welcher  entsprechend  der  dorsalen  zwischen  den  beiden 


Fig.  95.  Medianschnitt  durch  Phoronis, 
schematische  Ansicht  von  der  linken  Körper- 
seite. Der  Rumpf  ist  im  Verhältnis  zum 
Kopf  viel  zu  kurz  gezeichnet.  an  After, 
c  Leibeshöhle  (Coelom  des  Rumpfes),  d  ab- 
steigender Darmschenkel,  d'  aufsteigender 
Darmschenkel,  do  dorsal,  dw  Darmwand, 
ep  Epistom  (Oberlippe) ,  /h  Lophophor- 
höhle,  hü  Leibeswand  (Hautmuskelschlauch), 
?n  Mund,    n   Niere,    sp   Septum,    v  ventral. 


Bau  von  Phoronis 


2gi 


Lophophorarmen  gelegenen  Einbuchtung  ebenfalls  hufeisenförmig  eingebogen 
erscheint. 

Die  Mundöffnung  (Fig.  95,  96  m)  liegt  innerhalb  dieses  Tentakelkranzes  und 
wird  von  einer  oberlippenähnlichen  Hautfalte  (Epistom  ep)  überwölbt,  ähnlich 
wie  der  Kehldeckel  den  Eingang  in  den  Kehlkopf  des  Menschen  überdeckt. 
Die  Afteröffnung  {an)  liegt  außerhalb  des  Tentakelkranzes  dorsalwärts  auf  einer 
am  Halse  vorragenden  Analpapille,  die  auch  gleichzeitig  die  paarigen  Ex- 
kretionsporen  (die  Nierenöffnungen  n)  trägt. 

Die  das  Körperinnere  erfüllende  Leibeshöhle  trennt  die  Leibeswand 
(Fig.  95  Iw)  von  der  Darmwand  {dw).  Erstere  stellt  einen  typisch  ausgebildeten 


m. 

Fig.  96.  Schematische  Ansicht  des  Kopfes  (Lopho- 
phors)  von  Phoronis  in  der  Ansicht  von  oben.  In 
Wirklichkeit  sind  dieLophophorarme  meist  spiralig 
eingerollt,  was  in  der  Zeichnung  der  Einfachheit 
halber  weggelassen  wurde,  an  After  auf  der  Anal- 
papille, ep  Oberlippe  (Epistom),  rii  Mund,  n  äußere 
Nierenöffnung,  i  Tentakel. 


mm 

Fig.  Q7.  Querschnitt  durch  die  Rumpfregion  von  Phoronis. 
Schema  zur  Darstellung  des  Schichtenbaues  dieser  Form. 
c  Coelomepithel,  d  absteigender  Darmschenkel,  d'  auf- 
steigender Darmschenkel  (Enddarm),  dg  Dorsalgefäß,  ep 
Epidermis  (ektodermales  Körperepithel),  Im  linkes  Seiten- 
mesenterium.  In  Längsnerv,  7>i  Muskelschicht  (die  Längs- 
muskeln des  Hautmuskelschlauches  sind  quer  durchschnitten), 
in»i  medianes  Mesenterium,  rin  rechtes  Seitenmesenterium, 
vg  ventrales  (mehr  links  gelegenes)  Längsgefäß. 

Hautmuskelschlauch  dar  und  besteht  von  außen  nach  innen  aus  folgendenSchich- 
ten :  l .  die  Epidermis  (das  ektodermale  Epithel  der  Haut,  Fig.  97  ep) ;  2.  die  Leibes- 
muskulatur, welche  aus  einer  äußeren  Ringmuskellage  und  einer  inneren  Schicht 
längsverlaufender  Fasern  (w)  besteht;  3.  ein  äußerst  zartes  peritoneales  Coelom- 
epithel (c).  Die  Darmwand  (bei  d)  besteht  von  außen  nach  innen  aus  folgenden 
Schichten :  l.  peritoneales  Coelomepithel,  2.  Darmmuskelschicht,  3.  Darmepithel. 

Die  Leibeshöhle  gliedert  sich,  entsprechend  der  Teilung  des  Körpers  in 
Kopf  und  Rumpf,  durch  ein  queres  Septum  (Fig.  95  sp)  in  zwei  Abschnitte, 
von  denen  der  vordere,  als  Lophophorhöhle  {JK)  bezeichnet,  sich  in  die  Ten- 
takel und  das  Epistom  fortsetzt,  während  der  zweite  hintere,  größere  Raum, 
die  Rumpfhöhle,  durch  Mesenterien  in  längsverlaufende  Unterabteilungen  zer- 
legt wird.  Der  Darm  ist  nämlich  an  der  Leibeswand  durch  ein  median  ver- 
laufendes Hauptmesenterium  (Fig.  97  mm)  und  durch  sekundär  hinzukom- 
mende Lateralmesenterien   (/m,  rm)  befestigt. 

Das  Nervensystem  von  Phoronis  bildet  zeitlebens  (wie  auch  bei  vielen 
Brachiopoden)    einen  Teil   der  äußeren  Haut.     Wir  unterscheiden  einen  den 


ig- 


292 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Mund  umgebenden  Schlundring,  welcher  dorsalwärts  zu  einem  Gehirnganglion 
anschwillt  und  einen  linksseitig  entsprechend  der  Ansatzstelle  des  linken  La- 
teralmesenteriums  verlaufenden  Längsnerven  (Fig.  97  In)  abgibt. 

Das  Blutgefäßsystem  von  Phoronis  ist  ein  geschlossenes.  Wir  können  an 
dem  absteigenden  Schenkel  des  Darmes  ein  dorsales  {dg)  und  ventrales  (t'g) 
längsverlaufendes  Hauptgefäß  unterscheiden,  welche  am  Magen  durch  Vermitt- 
lung eines  Blutgefäßnetzes  in  Verbindung  stehen.  Im  dorsalen  Längsgefäß 
steigt  das  Blut  zum  Kopf  empor,  von  welchem  es,  in  den  Tentakeln  arteriell 


^P 


an 


OJL 


Entwicklung 
von  Phoronis. 


geworden, '  durch 
das  mehr  linkssei- 
tig gelegene  Ven- 
tralgefäß nach  hin- 
ten abfließt.  Die 
Verbindung  zwi- 
schen Dorsal-  und 
Ventralgefäß  voll- 
zieht sich  im  Kopfe 
durch  Vermittlung 
eines  kompliziert 
gebauten  Gefäß- 
ringes, der  Blutge- 
fäße in  die  Tenta- 
kel abgibt.  Das 
Blut  von  Phoronis, 
an  sichfarblos,  ent- 
hält rote,  haemo- 

globinführende 
Blutkörperchen. 

Das  linksseitig 
nach  hinten  füh- 
rende Ventralgefäß  gibt  in  die  Coelomhöhle  blinde  Fortsätze  ab,  die  von  einem 
fettkörperähnlichen  Gewebe,  das  durch  Wucherung  des  Coelomepithels  entsteht 
und  seiner  Funktion  nach  vielleicht  in  die  Gruppe  peritonealer  Exkretions- 
organe  zu  rechnen  ist,  umhüllt  werden.  Hier  werden  auch  die  Geschlechtspro- 
dukte gebildet,  welche  reif  in  die  Leibeshöhle  gelangen  und  durch  die  Nephridien 
nach  außen  befördert  werden.  Letztere  (Fig.  95  w)  sind  2  kurze,  mit  bewimper- 
ten Ostien  in  der  Leibeshöhle  beginnende  Kanälchen,  welche  zu  den  Seiten  des 
Afters  nach  außen  münden  (Fig.  96  bei  7^).  Die  Embryonen  durchlaufen  die 
ersten  Stadien  ihrer  Entwicklung  zwischen  den  Tentakeln  des  Muttertieres. 

Die  freischwimmenden  Larven,  als  Actinotrocha  (Fig.  98)  schon  von  Joh. 
Müller  beschrieben,  können  als  modifizierte  Trochophorastadien  betrachtet 
werden.  Wir  erkennen  an  der  Actinotrocha  als  Zentrum  des  larvalen  Nerven- 
systems die  apikale  Scheitelplatte  (5p),  während  die  Episphaere  den  Mund  kappen- 
förmig  überwölbt.   Der  stark  bewimperte  Rand  dieses  Praeorallappens  {pt)  ist 


Fig.  98.  Schematische  Darstellung  der  Larve  von  Plioronis  (sog.  Actinotrocha).  A  in 
der  Ansicht  von  der  linken  Seite,  B  innere  Organisation.  Man  vergleiche  das  Bild 
der  Trochophora  Fig.  6A  S.  182  und  Fig.  45//  S.  22;).  an  After,  c  Rumpfcoelom  (sekun- 
däre Leibeshöhle),  d  Darm,  es  Ektodermeinstülpung,  aus  welcher  die  ganze  Körper- 
wand des  späteren  Rumpfes  gebildet  wird;  //i  primäre  Leibeshöhle,  aus  dem  Blastocoel 
entstanden ;  die  Lophophorcoelomhöhle  des  ausgebildeten  Tieres  entsteht  erst  später ; 
//i  Mund,  «  larvale  Niere,  pa  praeanaler  Wimperkranz,  //  bewimperter  Rand  des  Kopf- 
lappens (Prototroch),  sj>  Scheitelplatte,  /  larvale  Tentakel. 


Bau  und  Entwicklung  von  Phoronis  293 

dem  Prototroch  zu  vergleichen,  während  eine  hinter  dem  Munde  schräg  herab- 
ziehende Tentakelkrone  {t)  aus  dem  postoralen  Wimperkranz  hervorgegangen 
zu  sein  scheint.  In  ihr  erkennen  wir  den  Vorläufer  des  Tentakelkranzes  der 
ausgebildeten  Form.  Sehr  auffällig  ist  auch  ein  dem  Paratroch  zu  vergleichen- 
der praeanaler  Wimperkranz  {pa).  Der  Darm  hufeisenförmig  ventralwärts  ein- 
gekrümmt, besteht  aus  dem  ektodermalen  Oesophagus  (Stomodaeum),  aus 
einem  erweiterten  Magen  und  verengten  Endabschnitt  (Intestinum).  Letztere 
gehen  aus  dem  Mesenteron  hervor,  während  ein  eigentliches  Proctodaeum  zu 
fehlen  scheint.  Ein  Paar  larvaler,  mit  Solenocyten  besetzter  Exkretionsröhr- 
chen  (Fig.  98  B  n),  blind  nach  innen  endigend,  scheint  während  der  ungemein 
komplizierten  und  schwer  zu  verstehenden  Umwandlung  der  Actinotrocha  in 
den  jungen  Wurm  direkt  in  die  Nephridien  dieser  Form  überzugehen. 

Wie  sich  die  Organisation  der  Bryozoen  und  Brachiopoden  auf  das  hier 
für  Phoronis  entwickelte  Schema  zurückführen  läßt,  soll  nur  kurz  angedeutet 
werden.  Die  Einzeltierchen  der  Bryozoen  sind  von  mikroskopischer  Kleinheit 
und  dementsprechend  von  einfacherem  Bau.  Durch  Knospung  bilden  sie 
Stöckchen.  Alle  in  einem  solchen  Stöckchen  vereinigten  Individuen  stehen 
untereinander  in  körperlichem  Zusammenhang.  Dagegen  finden  wir  bei  den 
Brachiopoden  nur  Einzelformen,  gestielt  am  Meeresgrunde  festgewachsen,  deren 
Körper  vollständig  von  einer  zweiklappigen  Kalkschale  umhüllt  ist.  Die  beiden 
Schalenklappen  sind  hier  nicht,  wie  bei  den  Klappmuscheln  bilateral-sym- 
metrisch, rechts-  und  linksseitig  angeordnet.  Wir  unterscheiden  bei  den  Brachio- 
poden eine  gewölbte  Schalenklappe,  welche  häufig  schnabelartig  verlängert  die 
Bauchseite  des  Körpers  bedeckt,  von  einer  flacheren  Dorsalklappe.  Wie  bei 
den  Mollusken  werden  auch  hier  die  Schalenklappen  von  einer  Mantelfalte 
der  Haut  durch  Sekretion  erzeugt.  Ein  komplizierter  Muskelapparat  besorgt 
das  Öffnen  und  Schließen  dieser  zweiklappigen  Schale. 

VIII.  ÜBER  DEUTEROSTOiVIIA  IM  ALLGEMEINEN. 

Unter  dem  Namen  Deuterostomia  wird  —  wie  oben  (S,  212)  erörtert 
wurde  —  eine  Reihe  von  verschiedenen  Stämmen  des  Tierreiches  vereinigt, 
deren  gemeinsames  Merkmal  darin  zu  suchen  ist,  daß  in  ihrer  Entwicklung 
keinerlei  Beziehungen  des  Blastoporus  zum  definitiven  Munde  zu  erkennen 
sind.  Der  Urmund  geht  hier  regelmäßig  in  den  definitiven  After  über  oder  weist 
der  Lage  nach  Beziehungen  zu  dieser  Körperöffnung  auf,  während  der  Mund 
an  einer  von  der  Lage  des  Urmundes  entfernten  Stelle  gebildet  wird  (vgl.  Fig. 
117  und  118).  Fügen  wir  hinzu,  daß  in  dieser  ganzen  Gruppe  kaum  irgendwo 
Spuren  von  ektodermaler  Mesenchymbildung  (Entwicklung  eines  Ektomeso- 
derms)  zu  beobachten  sind  und  daß  das  Mesoderm  meist  durch  Abfaltung  vom 
Urdarm  (Fig.  42  S.  21 J  und  Fig.  118  D)  in  der  Form  paariger  Coelomdiver- 
tikel  gebildet  wird  (oder  doch  in  einer  auf  diese  Entstehungsweise  zurückführ- 
baren Form),  so  haben  wir  die  Hauptpunkte  der  embryologischen  Kennzeichnung 
dieser  Gruppe  gegeben.  Ihre  freischwimmenden  Larvenformen  (Fig.  103,  119) 
zeigen  nur  entferntere  Anklänge  an  den  Trochophoratypus. 


2QA  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Groß  ist  die  Formenmannigfaltigkeit  der  Deuterostomia  und  ungemein 
wechselnd  der  Reichtum  an  Einzelformen  in  den  verschiedenen  hierher  zu  rech- 
nenden Stämmen.  Als  kleinere  formenärmere  Gruppen  treten  uns  die  plank- 
tonischen Pjeilwürmer  [Chaetognathen)  und  die  sedentärer  Lebensweise  zuge- 
neigten Enteropneusten  [Schlundatmer)  entgegen,  versprengte  Überbleibsel  einer 
in  ferner  Urzeit  wohl  reicher  entwickelten  Gruppe  von  Lebensformen.  Von  den 
beiden  hierher  zu  zählenden  formenreicheren  Gruppen  führt  uns  die  der  Stachel- 
häuter oder  Echinodermen  in  gleicher  Weise  in  die  ältesten  Zeiten  der  Erd- 
geschichte zurück,  während  der  Stamm  der  Chordatiere  [Chordaten),  zu  denen 
man  die  Manteltiere  [Tunicata],  die  Schädellosen  [Acrania]  und  die  Verte- 
hraten  oder  Wirheitiere  rechnet,  einem  jüngergeborenen  Sproß  der  tierischen 
Reihe  vergleichbar,  in  Zeiten,  die  der  Gegenwart  näher  liegen,  seine  höchste 
Entfaltung  erreicht  hat. 

Wenn  wir  die  kleine  Gruppe  der  Pfeilwürmer,  aus  deren  Entwicklung  wir 
oben  (S.  217  Fig.  42)  nach  den  lichtvollen  Darstellungen  O.  Hertwigs  ein 
Stadium  herausgegriffen  haben,  übergehen,  so  treten  uns  in  den  Gruppen  der 
Enteropneusten,  der  Echinodermen  und  der  Chordaten  drei  Stämme  entgegen, 
deren  nähere  Beziehungen  zueinander  durch  Untersuchungen  embryolo- 
gischer und  anatomischer  Natur  m  den  letzten  Dezennien  dem  suchenden  Auge 
sich  eröffnet  haben.  Wie  verschiedenartig  auch  die  Vertreter  dieser  Grup- 
pen auf  den  ersten  Blick  uns  anmuten,  so  scheinen  sie  doch  durch  gewisse  ge- 
meinsame Züge,  durch  eine  wahrscheinlich  stets  ungemein  komphzierte  Phy- 
logenese in  geheimnisvoller  Weise  verbunden.  Wir  deuten  nach  dieser  Rich- 
tung kurz  an:  die  Neigung  zur  Ausbildung  röhrig  versenkter  Teile  des  Zen- 
tralnervensystems, die  uns  im  Kragenmark  von  Balanoglossus,  in  den  Radiär- 
nerven der  Echiniden  und  Holothurien,  im  Medullarrohr  der  Vertebraten  ent- 
gegentritt, die  Entwicklung  eines  inneren,  durch  Verkalkung  mesenchymatischer 
Teile  entstandenen  Skelettes,  das  Vorkommen  porenartiger  Ausmündungen  des 
Coeloms.  Eine  gewisse  Tendenz  zu  asymmetrischer  Körperentwicklung  ist  in 
manchen  Formen  dieser  Gruppe  zu  erkennen,  so  die  in  ihren  ursächlichen  Be- 
ziehungen noch  jeder  Erklärung  unzugängliche  Verlagerung  des  Mundes  nach 
der  linken  Körperseite  bei  Rhabdopleura,  in  der  Metamorphose  der  Echinoder- 
men und  bei  den  schwer  zu  analysierenden  Larvenformen  von  Amphioxus. 

IX.  ENTEROPNEUSTA,  SCHLUND  ATMER. 

Bau  von  Dic  Sippc  der  Eichelwürmer  {Balanoglossen),  derzeit  schon  in  eine  Reihe 

Balanoglossus.  ^^^  FamiHcn  und  Gattungen  aufgeteilt,  deren  anatomische  Erforschung  an  die 
Namen  Kovalewsky  und  Spengel  geknüpft  ist,  umfaßt  wurmähnliche 
bilateralsymmetrische  Formen  (Fig.  99),  welche  in  der  Gezeitenzone  in  selbst- 
gegrabenen, mit  Schleim  austapezierten  Röhren  im  Sande  leben.  Es  sind  ty- 
pische Coelomtiere,  im  Vorhandensein  eines  Hautmuskelschlauches  sowie  dor- 
saler und  ventraler  Mesenterien  und  längsverlaufender  Blutgefäßstämme  an 
die  Anneliden  erinnernd.  Nicht  eigentlich  segmental  gegliedert,  aber  durch  die 
in  regelmäßiger  Aufeinanderfolge  wiederkehrenden  Kiemenspalten  (Fig.  99  Br), 


Deuterostomia  im  allgemeinen.     Balanoglossus 


=  95 


Gonadensäckchen  und  Leberausstülpungen  (L)  des  Darmkanals  gleichsam 
einen  ersten  Versuch  zu  metamerer  Gliederung  des  Körpers  andeutend,  zerfällt 
ihr  Körper  in  drei  Regionen  von  sehr  verschiedener  Längenerstreckung,  welche 
als  Eichel  {E),  Kragen  [K)  und  Rumpf  {R  in  Fig.  104)  bezeichnet 
werden.  Der  vorderste  Körperabschnitt,  die  Eichel,  gewissermaßen  E—- 
ein  wurmartig  schwellbarer  mit  verengtem  Halse  dem  Körper  ein-  A-- 
gefügter  Kopflappen,  enthält  in  seinem  Inneren  ein  unpaares  mit  0 
linksseitigem  Porus  (Eichelporus  Fig.  lOO,  104  ep)  sich  öffnendes 
Coelom  (Fig.  100  ec).  Die  kurze,  stark  muskulöse  Kragenregion 
birgt  ein  Paar  von  Coelomsäckchen  {kc),  welche  sich  in  medianen 
Mesenterien  berühren 
und  durch  Kragenporen 
(Fig.  104  kp)  ausmün- 
den. Die  langgestreckte 
Rumpfregion  enthält  in 
ihrem  Inneren  zwei  ge- 
schlossene, in  einem  me-  _/  I  II  11  1  Zr 
dianen  Mesenterium  an- 
einanderstoßende Säcke 
des  Rumpfcoeloms  (Fig. 
104  rc).  Die  Mesenterien 
der  Kragen- und  Rumpf- 
region dienen  als  Auf- 
hängebänder des  ge- 
streckt verlaufenden 
Darmkanals.  Der  Mund 
(Fig.  100,  104  m)  findet 
sich  ventral  an  der  Gren- 
ze von  Eichel-  und  Kra- 
genregion, der  After(Fig. 

gg  Af,  Fig.  104  a)  termi-  ^ 

nal  am  hinteren  Körper- 
ende. Im  übrigen  zerfällt 
die  Rumpfregion  in  ver- 
schiedene, wenig  scharf 


Fig.  99.  Glosso- 
balanus  minutus. 
Nach  Spengel  aus 
Claus  -  Grobben. 
j?  Eichel,  A' Kra- 
gen, i?^Branchio- 
genitalregion,  Br 
Kiemenspalten,  L 
Leberregion,  AJ 
After. 


F  i  g.  100.  Medianschnitt  durch  Glossobalanus  minutus.  Nach 
Spengel  und  einem  Bilde  aus  Längs  Lehrbuch,  vereinfacht. 
c/jT  dorsales  Blutgefäß,  dn  dorsaler  Nervenstrang,  ec  Eichel- 
coelom,  ed  Eicheldarmdivertikel,  sog.  Notochord,  <?/  Eichel- 
porus, g^  Eichelglomerulus,  /i  Herz,  Ac  Kragencoelom,  km 
.  .  Kragenmark,   ks  Kiemenspalten,    m  Mund,  pc  Pericardial- 

begrenZte  Abschnitte,  je      säckchen,  si  Skelettkörper,  v£:  ventrales  Blutgefäß,  vn  ven- 

nachdem  die  dorsal  ge-  *'^^®''    «"'^"^'^'■^°&- 

legenen  äußeren  Kie- 
menöffnungen (Fig.  99  Br),  wie  dies  im  vorderen  Abschnitte  der  Fall  ist,  der 
betreffenden  Partie  einen  besonderen  Charakter  verleihen,  oder  die  häufig  in 
faltenförmigen  Erhebungen  (Genitalpleuren)  der  Leibeswand  geborgenen  Go- 
nadensäckchen (bei  Bg)  vorherrschen,  oder  die  Leberdivertikel  (L)  des  Darm- 
kanals bräunlich  gefärbte  Vorragungen  erzeugen.  Die  abdominale  Endregion 
des  Körpers  entbehrt  aller  dieser  Bildungen. 


296 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Der  Kragenabschnitt  des  Darmes  setzt  sich  nach  vorne  in  ein  dorsalwärts 
entspringendes  und  in  die  Eichel  ragendes  unpaares  Divertikel  (Eicheldarm 
Fig.  100,  104  ed)  fort,  welches  wegen  des  eigenartigen  Charakters  seiner  Zellen 
von  manchen  Autoren  als  Chordarudiment  (Notochord)  gedeutet  wurde.  Der 
vorderste  Abschnitt  des  Darms  im  Rumpfe  ist  von  seitlichen  Kiemenspalten 
durchbohrt  (Fig.  looks,  lOi  ki),  welche  durch  besondereKiemengänge  (Fig.  loi  kg) 
dorsalwärts  nach  außen  münden.  Der  Besitz  eines  durch  Kiemenspalten  ge- 
kennzeichneten, respiratorischen  Funktionen  sich  widmenden  vorderen  Darm- 
abschnittes nähert  die  Balano- 
glossen  in  auffallender  Weise 
demStamm  der  Chordatiere,  auf 
dessen  wirbellose  Vorstufen  sie 
in  geheimnisvoller  Weise  hin- 
deuten. 

Das  Nervensystem  subepi- 
thelial gelegen  und  einen  in  den 
tieferen  Schichten  der  drüsen- 
reichen Haut  verbreiteten 
Plexus  von  Ganglienzellen  und 
Nervenfasern  bildend,  sammelt 
sich  in  der  Mittellinie  des  Rük- 
kens  und  des  Bauches  zu  einem 
dorsalen  (Fig.  loo,  loi  dn)  und 
ventralen  [vn]  Längsstamme, 
welche  an  der  Grenze  von  Kra- 
gen und  Rumpf  durch  seitliche 
verstärkte  Züge  des  allgemeinen 
Plexus  zusammenhängen.  Die 
Fortsetzung  des  dorsalenLängs- 
stammes  nach  vorne  ist  in  der 
Kragenregion  röhrenförmig 
(Fig.  100  km)  in  das  Körper- 
innere versenkt  (Kragenmark)  und  steht  mit  einer  mächtigen  Nervenmasse 
an  der  Eichelbasis  in  Verbindung. 

Balanoglossus  besitzt  ein  geschlossenes  Blutgefäßsystem,  welches  in  der 
Körperwand,  sowie  in  den  Kiemenbalken  und  in  der  Darmwand  ein  reich- 
verzweigtes Netz  bildet.  Ein  Längsstamm  im  dorsalen  Mesenterium  (Fig.  100, 
lOl  dg)  führt  das  in  der  Richtung  von  hinten  nach  vorn  strömende  Blut  zu 
einem  in  der  Eichel  gelegenen,  sowohl  nach  morphologischer  wie  nach  funk- 
tioneller Beziehung  noch  ungemein  rätselhaften  Organkomplex.  Es  sammelt 
sich  daselbst  in  einem  zwischen  dem  Eicheldarm  und  einem  dorsalen  geschlosse- 
nen Pericardsäckchen  (Fig.  lOO  pc)  gelegenen  lacunären  Becken  (Herz/z),  dessen 
Ränder  hufeisenförmig  von  einem  Blutgefäßgefiecht  {gl)  eingefaßt  erscheinen. 
Dieses  mit  drüsigen  Peritonealzellen  belegte  Wundernetz  (Eichelglomerulus) 


im 

Fig.  101.  Querschnitt  durch  die  Kieraenregion  von  Balanoglossus. 
Schema,  c  Rumpfcoelom,  d  Darm,  dg  dorsales  Blutgefäß,  dn  dor- 
saler Nervenstrang,  g  Genitalsäckchen,  kg  Kiemengang,  ki  dessen 
innere  Öffnung  in  den  Darm  (innere  Kiemenspalten),  ks  dessen- 
äußere  Öffnung  (äußere  Kiemenspalten),  m  Körpermuskelschicht 
ms   ventrales   Mesenterium,    vg   ventrales  Blutgefäß,    vn  ^'entraler 

Nervenstrang. 


Bau  von  Balanoglossus 


2Q7 


wird  als  Exkretionsorgan  gedeutet.  Von  hier  fließt  das  Blut  in  seitlich  den 
Schlund  umziehenden  Bahnen  nach  dem  ventralen  Hauptgefäß  (Fig.  loo,  loi  vg) 
ab,  welches  es  den  hinteren  Körperpartien  zuführt. 

In  der  Kiemenregion,  dieselbe  nach  hinten  überschreitend,  finden  sich 
paarige  Gonadensäckchen  (Fig.  lOl  g),  welche  seitlich  von  den  äußeren  Kiemen- 
öffnungen in  einer  Porenreihe  nach  außen  münden. 

sp  sp 


Fig.  I02.  Drei  Entwicklungs- 
stadien von  Balanoglossus  im 
schematischen  Medianschnitt 
von  der  linken  Körperseite  be- 
trachtet. Nach  Heider.  A  Ga- 
strulastadiuin,  B  Abschnürung 
desEichelcoeloms  c,  CBildung 
des  Rückenporus  po.  bp  Bla- 
stoporus,  c  Eichelcoelom,  711 
Mundbucht,  po  Rückenporus, 
sp  Scheitelplatte. 

Fig.  103.  Tornaria,  schema- 
tisch.  .^Ansicht  von  der  linken 
Körperseite,  B  Ansicht  vom 
Rücken,  a  After,  ec  Eichel- 
coelom, kc  Kragencoelom, 
m  Mund,       rc    Rumpfcoelom, 

p  Pericardialsäckchen, 
po  Rückenporus,    sp  Scheitel- 
platte. 


m 


a 


a 


Wenn  die  Eichelwürmer  in  dem  Besitz  eines  Chordarudimentes,  eines  Entwicklung  von 
röhrenförmigen  dorsalen  Kragenmarkes  und  einer  von  Kiemenspalten  durch-  Balanoglossus. 
brochenen  Partie  des  Darmes  an  vereinfachte  Chordaten  gemahnen,  so  schlie- 
ßen sie  sich  in  ihrer  Entwicklung  auf  das  innigste  den  Echinodermen  an.  Die 
typische  Larvenform  der  Balanoglossen,  als  Tornaria  (Fig.  103)  bezeichnet,  er- 
innert so  sehr  an  die  bekannten  Formen  der  Echinodermenlarven,  daß  Jo- 
hannes Müller,  der  in  einer  Reihe  verehrungswürdiger  Arbeiten  die  Grund- 
lagen unserer  Erkenntnis  dieser  Formen  verzeichnete,  die  Tornaria  für  eine 
Larvenform  der  Stachelhäuter  hielt.  Wer  die  ersten  Entwicklungsvorgänge, 
durch  welche  die  Tornaria  aus  dem  Ei  gebildet  wird,  verfolgt,  wird  immer  aufs 
neue  von  der  Ähnlichkeit  mit  der  Art  der  Echinodermenentwicklung  überrascht. 

Die   kleinen,   dotterarmen,   hololecithalen  Eier  durchlaufen  eine  reguläre 
Furchung,  welche  zur  Ausbildung  einer  rundlichen  Keimblase  und  einer  typi- 


298 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


sehen  Invaginationsgastrula  (Fig.  102  A)  führt.  Der  Gastrulamund,  an  dessen 
Stelle  die  spätere  Afteröffnung  sich  bildet,  wird  vorübergehend  verschlossen 
(Fig.  102  B  und  C),  während  sich  vom  Urdarm  nach  vorne  eine  zartwandige 
Blase  {c)  abschnürt,  welche  bald  an  der  Rückenseite  des  Embryos  durch  einen 
Porus  (po)  nach  außen  mündet.  Dieser  Rückenporus  wird  zum  Eichelporus  des 
Balanoglossus,  während  wir  in  der  abgeschnürten  Blase  die  Anlage  des  Eichel- 

coeloms  erkennen.  Am  Vorderende  des  birnenförmi- 
gen  Embryos    entwickelt    sich    als    Ektodermver- 
dickung  die  Scheitelplatte  (sp)  der  Larve,  welche  wie 
die  der  Trochophora  als  Sinnesapparat  und  larvales 
Nervenzentrum  fungiert.   Die  Eichelcoelomblase  [ec 
in  Fig.  103)  ist  durch  einen  kontraktilen  Strang  an 
^^    die  Scheitelplatte  (Fig.  103  sp)  angeschlossen.    Der 
_/7     Darm  krümmt  sich  nun  ventralwärts  gegen  eine  in- 
-£p    zwischen  entstandene  Ektodermeinsenkung  (Mund- 
bucht, Fig.  102  m),  in  welche  sein  Vorderende  sich 
eröffnet ;  mit  diesem  Durchbruch  und  mit  der  Wieder- 
~         eröffnung    des  Afters  (Blastoporus)    ist    der  Darm 
""■^/^  durchgängig  und  zur  Aufnahme  von  Nahrungspar- 
/^^  tikeln  geeignet  geworden  (Fig.  103).  Er  hat  sich  in- 
zwischen durch  Einschnürungen  in  drei  Abschnitte 
(Oesophagus,    Magen    und    Intestinum)    gegliedert. 
Diese  Veränderungen  entsprechen  jenen,  die  wir  oben 
--7r   (S.  212)  für  die  betreffenden  Entwicklungsstadien  der 
Echinodermen  geschildert  haben. 

Die  freischwimmende  Tornaria  (Fig.  103)  wird 
..  ,    ^       .     durch  die  rudernde  Tätigkeit  eines  kompliziert  ver- 

Fig-.  104.     Übergang  von  der  lornana  *-"  '■ 

in  den  jungen  Balanoglossus.  Schema    laufenden  Wimpcrsaumes  bcwcgt.  Von  der  Scheitel- 

im  Anschlüsse  an  Morgan,     a  After,         ,  .  .  .  i       .. 

E  Eichelregion,  ec  Eicheicoeiom,  eci  platte  zichcn  radiär  gcorduct  vier  Wimperschnure 
Eicheidarmdivertikei  sog.  Notochord.    ^^^^  hinten,  von  dcnen  dic  beiden  ventralen  sich  quer 

ep   Jiichelporus,    A   Kragenregion,    kc  '  ^ 

Kragencoeiom,  kp  Kragenporus,  ^s    yor  dcm  Mundc  Vereinigen,  während  die  beiden  dor- 

erste  angelegte  Kiemenspalte,  ?« Mund.  .  .  __  . 

/ Pericardiaisäckchen,  i?  Rumpfregion,    salcn  Schnürc  nach  Verschiedenartigen  Biegungen  zu 

rc  Rumpfcoelom,  sß  Scheitelplatte.  •  a^  ^  r\  t_  1  "r\ 

einem  postoralen  Quersaume  verschmelzen.  Der 
Mund  liegt  sonach  in  einem  rings  umsäumten  Mundfelde.  Eine  ganz  ähnliche 
Anordnung  der  Wimperapparate  wird  uns  später  bei  den  Echinodermenlarven 
begegnen.  Der  hintere  Körperabschnitt  ist  von  einer  zirkulären  Wimperschnur 
umsäumt. 

Von  inneren  Umbildungen  ist  anzuführen,  daß  der  Raum  zwischen  Darm 
und  Haut  sich  mit  Mesenchymzellen  erfüllt,  welche  aus  der  Wand  des  Eichel- 
coeloms  amoeboid  in  die  gallertige  Füllmasse  der  primären  Leibeshöhle  ein- 
wandern, und  daß  neben  dem  Magen  zwei  Säckchen  als  Anlagen  des  Kragen- 
coeloms  (Fig.  103  kc)  und  neben  dem  Enddarm  ein  hinteres  Säckchenpaar 
(Rumpfcoelome  rc)  auftreten,  vermutlich  auf  dem  Wege  der  Divertikelbildung 
sich   von   den  genannten   Darmpartien   trennend.     Ein   kleines,   kontraktiles 


a 


Entwicklung  von  Balanoglossus  2QQ 

Bläschen,  das  sog.  Herz  (p)  derTornaria,  dem  Porenkanal  anliegend  und  in  Hin- 
sicht auf  die  Art  seiner  Entstehung  viel  umstritten,  ist  als  Anlage  des  Peri- 
cardialsackes  in  der  Eichel  der  ausgebildeten  Form  zu  betrachten. 

Wenn  die  pelagisch  flottierende  Tornaria  ihre  planktonische  Existenz  ver- 
läßt, um  sich  im  Sande  zu  vergraben  und  in  den  jungen  Eichelwurm  umzuwan- 
deln, so  werden  die  Wimperschnüre  rückgebildet.  Es  entwickelt  sich  (Fig.  104) 
aus  dem  praeoralen  Teil  des  Larvenkörpers  die  Eichel  {E),  aus  dem  oralen  Ab- 
schnitt die  Kragenregion  {K)  und  aus  dem  hinteren  Körperabschnitt  mit  der 
zirkulären  Wimperschnur  der  Rumpf  {R),  welcher  später  eine  beträchthche 
Streckung  erfährt.  Das  Eicheldarmdivertikel  (Notochord  ed)  und  die  paarigen 
Kiemengänge  {ks)  entwickeln  sich  als  Ausstülpungen  des  vordersten,  aber 
entodermalen  Teiles  des  Darmkanals. 

Den  Eichelwürmern  stehen  die  beiden  merkwürdigen,  erst  in  neuerer  Zeit 
bekannt  gewordenen  Gattungen  Rhabdopleura  und  Cephalodiscus  nahe,  welche 
in  selbsterzeugten  Röhren  wohnend  in  ihrem  Habitus  durch  Anpassung  an  die 
sedentäre  Lebensweise  an  die  Tentaculata  erinnern.  Der  Körper  ist  ver- 
kürzt, der  Darm  U-f  örmig  gebogen,  die  Eichel  zu  einer  Saugscheibe  umgebildet, 
vom  Kragen  erheben  sich  bewimperte  Tentakel.  Die  Palaeontologen  haben  in 
den  rätselhaften,  ihrer  Stellung  nach  viel  umstrittenen  Graptolithen  die  Skelett- 
röhren vorweltlicher  Rhabdopleuren  erkannt. 

X.  ECHINODERMA,  STACHELHÄUTER. 

Eine  eigenartige  Gruppe  von  Formen,  die  sich  wie  Fremdlinge  in  unserer 
Lebewelt  ausnehmen.  Von  rezenten  Typen,  die  hierher  zu  rechnen  sind,  be- 
wohnen die  fünfstrahligen  Seesterne  [Asteroidea  Fig.  106),  denen  sich  die 
Schlangensterne  (Ophiuroidea)  mit  rundlichen,  seitlich  beweglichen  Armen  an- 
schließen, die  kugelförmigen,  bestachelten  Seeigel  [Echinoidea  Fig.  105)  und  die 
gurkenförmig  gestalteten  Seewalzen  [Holothurioidea]  auch  schon  die  seichteren 
Buchten  und  Uferzonen  unserer  Meere,  mit  zahlreichen  häufig  saugnapftragenden 
Füßchen  (f)  am  Grunde  langsam  umherwandelnd,  während  die  Haarsterne 
(Crinoidea),  meist  festgewachsen  und  gestielt  (Fig.  109,  115),  verkalkten 
Liliengewächsen  vergleichbar,  mehr  der  Tiefsee  angehören,  aus  welcher  sie  sel- 
ten in  unsere  Museen  gelangen.  Spärliche  Überreste  einer  unendlichen  Mannig- 
faltigkeit früherer  Erdperioden.  Die  verkalkten  Hartgebilde  ihres  Körpers, 
fossiler  Erhaltung  fähig  und  in  den  ältesten  Sedimentschichten  unserer  Ge- 
birge verbreitet,  lehren  uns  in  den  vorweltlichen  Beutelstrahlern  ( Cystoidea) , 
den  Knospenstrahlern  ( Blastoidea)  und  mannigfaltigen  Encriniten  Typen  er- 
kennen, die  von  den  jetzt  lebenden  nicht  unerheblich  abweichen  und  deren  Re- 
konstruktion nach  den  erhaltenen  Resten  die  Gedankenarbeit  und  verknüp- 
fende Phantasie  der  Forscher  ständig  in  Anspruch  nimmt. 

Eine  fünfstrahlige  Radiärsymmetrie  beherrscht  den  Bauplan  dieser  Tiere     Symmetrie- 
(Fig.  105,  106).    Die  bereits  erwähnten  schwellbaren  Füßchen,  in  Doppelreihen 
angeordnet,  welche  wie  Meridiane  über  den  Körper  hinlaufen  (Fig.  105  /)  oder 
auf  Armen  erhoben  sind  (Fig.  106  Af),    kennzeichnen  die  Radien  (Fig.  105  r), 


Verhältnisse. 


300 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


während  die  füßchenlosen  Zonen  zwischen  diesen  Meridianen  resp.  die  Winkel 
zwischen  den  Armen  als  Interradien  {i)  bezeichnet  werden.  Eine  Hauptachse 
läßt  sich  durch  die  Mitte  dieses  fünfstrahligen  Gebildes  legen.  Der  eine  Pol  der- 
selben ist  meist  von  der  Mundöffnung  (Fig.  105  m,  106  0)  eingenommen  und 
kennzeichnet  die  Stelle,  an  welcher  die  fünf  Füßchenreihen  zusammenlaufen. 
Der  gegenüberliegende  Pol  wird  bei  den  festsitzenden  Formen  zum  Anheftungs- 
pol,  während  er  bei  den  freilebenden  Eleuthero^^oa,  unter  welchem  Namen  See- 
sterne, Schlangensterne,  Seeigel  und  Seewalzen  zusammengefaßt  werden,  häufig  . 
die  Afteröffnung  (Fig.  105  B  a)  trägt.  Doch  ist  diese  Lage  des  Afters  jedenfalls 
durch  sekundäre  Modifikation  bedingt,  während  bei  den  ursprünglicheren  For- 


/7Z. 


m. 


Fig.  105.  Abbildung  eines  regulären  Seeigels  nach 
Entfernung  der  Stacheln.  .  J  von  der  Mundseite,  B 
Seitenansicht,  a  apikaler  Pol,  an  welchem  der  After 
gelegen  ist,_/"Reihen  der  Ambulacralfiißchen,  «' Inter- 
radius,  m  Mund,  r  Radius. 


men  der  After  stets  mehr  oder  weniger  von  dem  aboralen  Pole  entfernt  in  einem 
Interradius  gefunden  wird. 

Die  fünfstrahlige  Radiärsymmetrie  ist  nicht  so  sehr  fixiert,  daß  nicht  Ab- 
weichungen von  ihr  bemerkbar  werden.  Wir  kennen  Seesterne  mit  vermehrter 
Armzahl,  wie  die  Solasteriden  und  Heliasteriden,  während  bei  vielen  Crinoiden 
die  Arme  durch  dichotomische  Verästelung  in  zahlreiche  Zweige  auseinander- 
fahren. Wichtiger  sind  vielleicht  jene  bei  den  Cystideen  verbreiteten  Fälle,  die 
auf  eine  ursprünglich  geringere  Armzahl  hindeuten.  Wir  finden  hier  Formen  mit 
zwei  und  drei  Armen.  Es  liegt  nahe,  daran  zu  denken,  wie  dies  auch  Häckel 
annahm,  daß  ursprünglich,  wie  bei  Rhabdopleura,  ein  einziges  mit  Füßchen 
resp.  Tentakeln  besetztes  Armpaar  vorhanden  war,  zu  welchem  später  ein  un- 
paarer  vom  Munde  dorsalwärts  und  nach  hinten  gerichteter  Arm  hinzukam, 
während  die  normale  Fünfzahl  dadurch  erreicht  wurde,  daß  der  rechte  und  linke 
Arm  durch  Spaltung  sich  verdoppelte  (Fig.  107). 

Diese  Tatsachen  deuten  darauf  hin,  daß  die  fünfstrahlige  Radiärsymmetrie 
der  Echinodermen  im  Anschlüsse  an  die  sedentäre  Lebensweise  allmählich  aus 
ursprünglicher  Bilateralität  hervorgebildet  wurde.  Es  ist  nicht  zu  bezweifeln, 
daß  die  Stachelhäuter  von  bilateral-gebauten  Ahnenformen  abzuleiten  sind. 
Dafür  spricht  auch  der  Umstand,  daß  die  Tornaria-ähnlichen  pelagischen  Lar- 
venformen dieser  Gruppe  gleich  Wurmlarven  bilateralen  Bau  erkennen  lassen. 


Bau  der  Echinoderma.     Symmetrieverhältnisse.     Skelett 


301 


Wenn  wir  so  bei  den  ursprünglicheren  und  häufig  gestielt  festsitzenden 
Formen  dieses  Tierkreises  die  allmähliche  Fixierung  radiärer  Symmetrie  erken- 
nen, so  zeigen  die  sekundär  zu  freier,  kriechender  Lebensweise  zurückgekehrten 
Eleutherozoa  eine  gewisse  Neigung,  diese  fünfstrahlige  Symmetrie  wieder  auf- 
zugeben. Den  irregulären  Seeigeln  und  den  Seegurken  wird  eine  neue,  nicht  auf 
die  ursprünglich  in  den  Larven  erkennbare  Bilateralität  zu  beziehende  Median- 
ebene induziert,  welche  in  der  Anordnung  der  fünf  Radien  in  einem  Trivium 
und  Bivium  zum  Ausdruck  kommt. 


Fi}f.  106.  Seestern  (Echi- 
naster  sentus  Say),  von  der 
Oralfläche  gesehen.  Nach 
A.  Agassig  aus  Grobbens 
Lehrbuch.  O  Mund,  Af 
Ambulacralfiißchen. 


j  M 


Fig.  107.  Zurückführung  der  fünf 
Radien  eines  regulären  Echino- 
derms  auf  die  einer  dreistrahligen 
Urform.  Nach  Bathek.  Die  Ra- 
dien des  fünfstrahligen  Echino- 
derms  sind  mit  i — 5  bezeichnet 
und  punktiert  angedeutet ;  die  der 
dreistrahligen  Form  sind  mit  / —  V 
und  durch  Doppellinien  gekenn- 
zeichnet, a  After,  m  Madreporen- 
platte,  o  Mund. 


Ihren  Namen  verdanken  die  Stachelhäuter  dem  Besitze  eines  im  Binde-  Skeiett. 
gewebe,  vor  allem  im  mesodermalen  Lederhautgewebe  sich  entwickelnden,  häu- 
fig aus  dichtgefügten  Kalkplatten  zusammengesetzten  und  mit  beweglichen 
Stacheln  bewehrten  Skelettes.  Typisch  ist  der  feinere,  an  mikroskopischen 
Durchschnitten  sich  enthüllende  Bau  dieser  Kalkteile,  welche  aus  netzartig  ver- 
bundenen Balken  zusammengesetzt  sind  (Fig.  I08).  Ursprünglich  werden  diese 
Kalknetze  durch  Verwachsung  kleiner  dreistrahliger,  wohl  immer  (Theel, 
Woodland)  intracellulär  entstandener  Sklerite  gebildet.  Während  in  der  leder- 
artigen, von  den  Ostasiaten  als  Leckerbissen  und  Aphrodisiacum  hochgeschätz- 
ten Haut  der  Holothurien  nur  mikroskopische  Kalkrädchen  oder  gegitterte  Tä- 
felchen gebildet  werden,  kommt  es  in  den  übrigen  Gruppen  der  Echinodermen 
zur  Entwicklung  größerer,  als  Armglieder  gegeneinander  beweglicher  Skelett- 
stücke oder  zur  Ausbildung  eines  festgefügten  Plattenpanzers.  Auf  ihm  finden 
sich  als  bewegliche  Anhänge  größere,  auf  geknöpften  Gelenkflächen  eingefügte 
Stacheln,  kleinere  zangenartige,  zur  Reinigung  der  Oberfläche,  zum  Teil  auch 


302 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


als  Giftapparate  dienende  Pedicellarien  und  die  in  versteckten  Buchten  geborge- 
nen, glashellen  Sphaeridien,  Sinnesapparate  von  unbekannter  Bedeutung. 

Wir  haben  bereits  früher  angedeutet,  daß  die  Hauptachse  des  fünfstrahli- 
gen  Echinodermenkörpers  vom  Mundpole  zum  gegenüberliegenden  Scheitelpol 
gezogen  werden  kann.  Die  fünf  Radien  ordnen  sich  seitlich  um  diese  Haupt- 
achse an  oder  man  kann  vielleicht  das  Verhältnis  am  besten  derart  ausdrücken, 
daß  man  sagt:  bei  einem  Seesterne 
steht  die  Hauptachse  in  der  Mitte  des 
Sternes  senkrecht  auf  der  Fläche,  in 
welcher  die  fünf  Arme  ausgebreitet 
sind.  Mit  dem  Scheitelpole  der  Haupt- 
achse waren  die  ursprünglichen  Sta- 
chelhäuter an  der  Unterlage  festge- 
wachsen; hier  entwickelt  sich  der 
vielen  Crinoiden  (Fig.  109)  zukom- 
mende Anheftungsstiel.  Der  Körper 
der   Echinodermen  wird   durch   eine 


r~> 


Netzförmige  Kalkplatte  aus  einem  Seestern.      Fig.  109.    Festsitzende,  gestielte  Entwicklungsstadien  eines 
Nach  Ludwig.  Haarsternes    (Antedon).       Nach    Thomson    aus    Gkobbens 

Lehrbuch.     A  jüngeres,    sog.  Cystideenstadium,    B  älteres, 

als  „Pentacrinus  europaeus"  bezeichnetes  Stadium,      b  Ba- 

salia.  cd  Centrodorsalplatte,  r  Radialia,  o  Oralia. 

auf  diese  Hauptachse  senkrecht  stehende  horizontale  Ebene  in  zwei  Hälften  ge- 
teilt, von  denen  wir  die  den  Mund  aufnehmende  als  orale  oder  actinale,  die  gegen- 
überliegende als  aborale  oder  abactinale  Körperhälfte  bezeichnen.  Bei  dem  See- 
stern (Fig.  106)  ist  beispielsweise  die  orale  Körperhälfte  normalerweise  der  Unter- 
lage zugewendet.  Sie  trägt  den  Mund  und  die  Füßchenreihen.  Der  Rücken  des 
Seesterns,  seine  aborale  (abactinale)  Fläche  ist  von  einer  lederartigen  Haut  be- 
deckt, in  welcher  sich  die  Madreporenplatte  und  die  hier  am  Apicalpol  gelegene 
Afteröffnung  vorfinden.  Bei  den  Seeigeln  (Fig.  105)  hat  sich  die  actinale  Zone  mit 
den  Füßchenreihen  auf  Kosten  der  abactinalen  so  sehr  vergrößert,  daß  letztere 
nur  durch  eine  kleine,  die  Afteröffnung  umgebende  Plattenzone  repräsentiert  ist. 
piattencycien.  Bei  dcu  Crinoidcn  ist  die  Grenze  zwischen  actinaler  und  abactinaler  Kör- 

perhälfte durch  die  Insertionsstellen  der  Arme  gegeben.   Das  Plattenskelett  der 
meisten  Echinodermen  läßt  sich  auf  ein  gewisses  Schema,  auf  bestimmte,  pri- 


Plattencyclen.     Medianebene  des  Echinoderms  203 

mär  angelegte  Kalkplatten  zurückführen,  von  deren  Anordnung  die  jugendliche 
pentacrinus-ähnliche  Antedonlarve  (Fig.  109  A)  uns  eine  Vorstellung  gibt.  Wir 
finden  in  der  abactinalen  Körperhälfte,  die  hier  als  Kelch  (calyx)  der  Haar- 
sterne bezeichnet  wird,  zunächst  an  der  Insertionsstelle  des  Stieles  eine  Zentral- 
platte (cd).  An  sie  schließen  sich  fünf  interradial  gelegene  Platten  an,  welche 
als  Basalia  (h)  bezeichnet  werden.  Ein  Kranz  von  weiteren  fünf  Platten  zeigt 
radiale  Anordnung  (Radialiar).  Das  primäre  Plattenskelett  der  actinalen  Kör- 
perhälfte ist  aus  fünf  interradial  gelegenen  Oralplatten  (0)  zusammengesetzt, 
während  in  den  Seesternlarven  in  dieser  Region  gewöhnlich  fünf  radiale  Platten 
angelegt  werden,  welche,  als  Terminalia  bezeichnet,  sich  später  an  den  Spitzen 
der  Arme,  das  unpaare  Primärfüßchen  tragend,  vorfinden.  Die  Abweichungen, 
welche  das  Skelett  der  rezenten  Echinodermen  von  diesem  Primärschema  der 
Plattenanordnung  erkennen  läßt,  sind  mannigfaltige.  Es  wird  durch  neu  hin- 
zukommende perisomatische  Plattensysteme  in  verschiedenartiger  Weise  er- 
gänzt. Es  finden  sich  dann  die  Oralplatten  in  der  Nähe  des  Mundes  (Oralplatten 
der  Ophiuriden,  Odontophor  der  Asteroiden),  die  Zyklen  der  abactinalen  Kör- 
perhälfte (Basalia,  Radialia)  in  der  Umgegend  des  apicalen  Körperpoles  grup- 
piert, während  an  den  Seiten  des  Körpers  die  zwischen  dem  apicalen  und  oralen 
System  gelegene  Zone  von  neu  hinzugebildeten  Plattenreihen  eingenommen  ist. 

Die  fünfstrahlige  Radiärsymmetrie  der  Echinodermen  ist  keine  vollkom-  Medianebene 
mene.  Wir  erkennen  schon  bei  äußerlicher  Betrachtung,  daß  in  vielen  Fällen 
die  Afteröffnung  nicht  den  apicalen  Pol  einnimmt,  sondern  in  einem  Interradius 
gelegen  ist.  Ebenso  ist  die  Ausmündungsstelle  des  Ambulacralgefäßsystems, 
welche  durch  eine  siebartig  durchlöcherte  Platte,  die  sog.  Madreporenplatte, 
gekennzeichnet  ist,  in  einem  Interradius  gelagert.  Wenngleich  die  Interradien 
des  Afters  und  des  Madreporiten  in  vielen  Fällen  nicht  zusammenfallen,  so  wer- 
den wir  doch  annehmen  dürfen,  daß  beide  Bildungen  ursprünglich  ein  und  dem- 
selben Interradius  angehörten  (Fig.  107,  lio).  Wir  wollen  diesen  Interradius 
mit  Rücksicht  auf  gewisse  Entwicklungsformen  (Fig.  Ill)  als  vorderen  Inter- 
radius bezeichnen.  Orientieren  wir  ein  Echinoderm  derart,  daß  wir  seine  Mund- 
seite (orale  oder  actinale  Fläche)  betrachten  und  daß  — wie  dies  in  Fig.  Ili 
dargestellt  ist  —  der  Interradius  des  Madreporiten  (bei  x)  nach  vorn  (in  der  Zeich- 
nung nach  oben)  gerichtet  ist,  so  werden  die  einzelnen  Radien  von  diesem  Inter- 
radius beginnend  und  in  der  Richtung  des  Uhrzeigers  fortschreitend  mit  den 
Zahlen  l,  2,  3,  4  und  5  bezeichnet.  Eine  Ebene,  welche  durch  den  Interradius 
der  Madreporenplatte  und  des  Afters  (den  vorderen  Interradius)  und  durch  den 
nach  hinten  gerichteten  unpaaren  Radius  3  gelegt  wird,  kann  sonach  als  Median- 
ebene des  Echinoderms  betrachtet  werden  (vgl.  auch  Fig.  107  und  iio).  In 
jenen  zahlreichen  Fällen,  in  denen  der  After  sekundär  aus  dem  vorderen  Inter- 
radius nach  einer  anderen  Stelle  verlagert  wird,  wird  die  Medianebene  nur 
noch  durch  die  Lage  des  Madreporiten  gekennzeichnet.  Es  muß  hervorgehoben 
werden,  daß  diese  für  das  ausgebildete  Echinoderm  festzuhaltende  Median- 
ebene nicht  mit  der  für  die  bilateralsymmetrischen  Larvenformen  geltenden 
zusammenfällt,  wie  wir  sofort  erkennen  werden. 


304 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Darm. 


Ambula- 
cralsystem. 


Der  Darm  der  Echinodermen,  fast  völlig  aus  dem  entodermalen  Urdarm 
hervorgegangen  und  meist  nur  undeutlich  in  einzelne  Abschnitte  gegliedert,  be- 
schreibt bei  den  ursprünglicheren  Formen  eine  horizontale  flache  Spiraltour 
(Fig.  112).  Betrachten  wir  eine  Antedonlarve  von  der  Mundseite  (Fig.  Iio),  so 
erkennen  wir,  daß  der  Darm,  von  der  Mundöffnung  beginnend,  im  Körperinnern 
eine  fast  vollkommene  Zirkeltour  im  Sinne  des  Uhrzeigers  beschreibt,  bis  er 
im  vorderen  Interradius  (Interradius  5 — l)  aber  dem  Radius  5  genähert  nach 
außen  mit  dem  After  mündet.  Der  Darm  befindet  sich  in  einem  echten  Coelom 
und  ist  durch  ein  horizontal  verlaufendes  Mesenterium  (Fig.  112  ms)  an  der 

Leibeswand 
befestigt.  Dies 
Mesenterium 
teilt    die   Lei- 
beshöhle      in 
eine     actinale 
und  eineabac- 
tinale    Hälfte. 
Für  die  Zu- 
rückführung 
des  Baues  der 
Echinoder- 
2  men    auf    den 
der    bilateral- 

symmetri- 
schenLarveist 
von  Wichtig- 
keit, im  Auge 
zu  behalten, 
daß  das  er- 
wähnte horizontale  Mesenterium  aus  dem  in  der  Medianebene  der  Larve  gelege- 
nen dorsoventralen  Mesenterium  hervorgegangen  ist.  Und  zwar  entwickelt  sich 
die  actinale  oder  orale  Partie  der  Leibeshöhle  aus  dem  linken  Coleomsack  der 
Larve  (dem  linken  Rumpfcoelom  oder  linken  hinteren  Enterocoel  der  Autoren 
Fig.  121  Is),  während  das  abactinale  Kompartiment  der  Leibeshöhle  dem  rechten 
Coelomsack  der  Larve,  genauer  gesprochen,  dem  rechten  Rumpfcoelom  (rechten, 
hinteren  Enterocoel  der  Autoren  Fig.  121  rs)  entstammt.  Dem  entsprechend  ent- 
wickeln sich  die  fünf  Oralplatten,  wie  auch  die  Terminalia  im  Umkreise  des  ur- 
sprünglich linken  Coelomsackes;  dieganze  Anlage  des abactinalen  Plattensystems 
dagegen  geht  aus  der  Wand  des  ursprünglich  rechten  Coelomsackes  hervor. 

Im  übrigen  ist  auch  die  ganze  Anordnung  der  inneren  Organe  der  Echino- 
dermen stark  von  der  fünfstrahligen  Radiärsymmetrie  des  Körpers  beeinflußt. 
Wir  betrachten  hier  zunächst  nur  ein  Organsystem  des  Körpers  der  Stachelhäuter, 
welches  als  für  diese  Gruppe  besonders  typisch  erachtet  werden  kann.  Wir  mei- 
nen jenes  System,  welches  die  älteren  Autoren  als  Wassergefäßsystem  bezeich- 


FL  g.  IIO.  Verlauf  des  Darmkanals  in  der 
Jugendform  von  Antedon.  Schema  im 
Anschlüsse  an  Seeuger.  i — 5  die  fünf 
Radien,  a  After,  ffi  Primärporus  des  Am- 
bulacralsystems,  o  Mund,  .r — j  Median- 
oder Sagittalebene. 


Fig.  III.  Entwicklungsstadium  eines  jungen  Schlan- 
genstems  (Ophiura  brevispina).  Nach  Caswell 
GnAVE.  Die  fünf  Radien  i — 5  sind  durch  eine 
dreilappige  Figur  (die  drei  ersten  Füßchenanlagen) 
gekennzeichnet.  In  der  Mitte  der  Mund.  Bei  x 
die  Lage  der  Mündung  des  Ambulacralgefaß- 
S)'stems    angedeutet. 


Darm.     Ambulacralsystem 


305 


neten  und  welches  derzeit  meist  den  Namen  „Ambulacralgefäßsystem"  führt, 
da  es  mit  den  Lokomotionsorganen  in  innigster  Beziehung  steht.  Es  handelt  sich 
um  ein  System  von  Kanälen,  welche  von  einer  reichlich  mit  Seewasser  durch- 
setzten, blutähnlichen  Flüssigkeit  erfüllt  sind,  die  zur  Schwellung  der  hohlen 
Füßchen  verwendet  wird.  Als  Zentralteil  dient  ein  den  Oesophagus  umziehen- 
der Ringkanal  (Fig.  113  r),  von  welchem  fünf,  den  Radien  folgende  Radiär- 
gefäße  (;'')  ausgehen,  welche  an  die  einzelnen  Füßchen  Seitenästchen  (f)  ab- 
geben. Vom  Ringkanal  zieht  im  Interradius  5 — i  ein  mit  Kalkkonkrementen  in 
seiner  gefältelten  Wand  versehener  Kanal  (der  sog.  Steinkanal,  canal  aquifere 
st)  zur  Madreporenplatte  (m).   Durch  letztere  wird  Seewasser  dem  Inhalte  des 


Tn. 


m 


ax  -^ 


Fig.  112.  Junges  Entwicklutigsstadium  von  Antedon  (vgl. 
Fig.  109)  in  der  Ansicht  vom  Radius  j  als  durchsichtiges  Ob- 
jekt gezeichnet.  Schematisch  nach  Seeliger,  ax  Axialorgan, 
c  aktinale  Hälfte  der  Leibeshöhle,  in  der  Larve  linker  Coelora- 
sack,  c'  abaktinale  Hälfte  der  Leibeshöhle,  in  der  Larve  rechter 
Coelorasack,  d  Darm,  k  Anlage  des  sog.  gekanimerten  Organs, 
m  Mund,  ins  Mesenterium,  nc  Ringgefäß  des  Ambulacralsystems. 


Fig.  113.  Schematische  Darstellung  des 
Ambulacralgefäßsystems  eines  Seesterns. 
ax  Axialorgan,  ax'  Axialsinus,  m  Madre- 
porenplatte, si  Steinkanal,  r  zirkumoraler 
Gefäßring,  r'  Radiärgefäß,  ySeitenästchen 
des  Radiärgefäßes,  welche  die  Füßchen 
versorgen. 


Ambulacralgefäßsystems  zugeführt,  welches  in  der  siebartig  durchbohrten 
Madreporenplatte,  sowie  im  Steinkanal  einer  Art  von  Filtration  unterworfen 
wird.  Es  ist  von  morphologischem  Interesse,  daß  der  Steinkanal  bei  manchen 
Echinodermen  nicht  direkt  an  die  Madreporenplatte  herantritt,  sondern  in  eine 
unter  dem  Madreporiten  gelegene  Ampulle  mündet. 

Das  ganze  Ambulacralgefäßsystem  ist  ein  selbständig  gewordener  Teil  der 
Leibeshöhle  und  kann,  wie  wir  später  sehen  werden,  auf  das  umgewandelte  linke 
Kragencoelom  von  Balanoglossus  bezogen  werden  (vgl.  Ih  in  Fig.  121  D).  Wie 
dort  die  Coelomräume  durch  besondere  Poren  nach  außen  münden,  so  ist  auch 
die  durch  den  Steinkanal  vermittelte  Ausmündung  des  Ambulacralgefäß- 
systems eine  Einrichtung  der  gleichen  Kategorie.  Die  Anlage  des  Ambulacral- 
gefäßsystems in  den  Jugendzuständen  der  Echinodermen  wird  als  Hydrocoel 
bezeichnet.  Seine  Ausmündungsstelle  ist  dem  linken  Eichelporus  von  Balano- 
glossus gleichwertig  zu  erachten. 

Der  Steinkanal  ist  von  einem  drüsigen  Organ  begleitet,  dem  sog.  Axial- 
organ (Fig.  113  ax),  welches  entwicklungsgeschichtlich  zur  Ausbildung  der  Ge- 
schlechtsorgane in  Beziehung  steht.   Es  findet  sich,  wie  auch  der  Steinkanal,  in 


K.  d.  G.  in.  IV,  Bd  2  ZeUenlehre  etc.   II 


20 


3o6  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

einem  besonderen  Kompartimente  der  Leibeshöhle  {ax'),  dem  sog.  Axialsinus, 
welcher  auf  das  umgewandelte  vorderste  Coelombläschen  der  Larve  (dem  Eichel- 
coelom  von  Balanoglossus  vergleichbar)  zurückzuführen  ist  (Fig.  121  Cu.  Dia). 
Coeiom.  Wie  aus  dem  Vorhergehenden  ersichtlich  ist,  ist  das  Coelomsystem  der 

Echinodermen  von  besonderer  Komplikation.  Wir  haben  bisher  kennen  ge- 
lernt: den  actinalen  und  den  abactinalen  Coelomraum,  beide  ursprünglich 
durch  das  erwähnte  horizontale  Mesenterium  voneinander  getrennt  ;  ferner  das 
aus  dem  Hydrocoel  hervorgegangene  Wassergefäßsystem,  die  Ampulle  unter 
der  Madreporenplatte  und  den  Axialsinus.  Wir  haben  noch  zwei  von  dem  acti- 
nalen Coelomkompartiment  sich  absondernde  Teile  der  Leibeshöhle  anzuführen : 
den  sog.  Peribuccalsinus  und  das  System  der  sog.  Pseudohaemalkanäle. 

Der  Peribuccalsinus,  auch  als  orales  Coeiom  be- 
zeichnet, umgibt  den  vordersten  Abschnitt  des  Darm- 
kanals. Er  bildet  sonach  einen  ringförmigen  Hohl- 
raum in  der  Umgebung  der  Mundöffnung.  Von  dem 
actinalen  Coeiom  oft  nur  undeutlich  abgegrenzt,  er- 
scheint er  doch  in  manchen  Gruppen  als  schärfer  be- 
grenzter Hohlraum.  So  bei  den,  regulären  Echiniden, 
bei  denen  er  den  als  Laterne  des  Aristoteles  bezeich- 
neten Kauapparat  in  sich  aufnimmt. 
Nervensystem.  ^  Die  Bcsprcchung  der  Pseudohaemalkanäle  (Sub- 

F ig.  114.   Schema  des  Nervensystems    ncuralkauäle)   crfordcrt  eine  Orientierung  über  die 

eines  Seesterns.   Aus  Grobbens  Lehr-  '  ° 

buch,    jv  Nervenring,  welcher  die    Lage  dcs  Ncrvcnsystems  der  Stachelhäuter.  Bei  den 

fünf  radialen  Zentren  verbindet.  ^..  ,  .,  ,.  ,  ^,.. 

Crmoiden  und  den  Astenden  hegt  es  oberflächlich  im 
Epithel  des  Körpers.  Es  finden  sich  hier  fünf  radial  verlaufende  (in  der  Haut  der 
Füßchenrinnen  gelegene)  Hauptnervenstämme  (Fig.  114),  welche  in  der  Umge- 
bung des  Mundes  zu  einem  fünfeckigen  Nervenring  (N)  zusammentreten.  Bei  den 
Schlangensternen,  den  Seeigeln  und  den  Holothurien  hat  das  Nervensystem  im 
wesenthchen  dieselbe  Konfiguration.  Nur  ist  es  hier  durch  röhrenartige  Einstül- 
pung mehr  nach  innen  versenkt.  Die  bei  diesem  Versenkungsprozeß  gebildeten, 
von  Ektoderm  ausgekleideten  Röhren  werden  als  Epineuralkanäle  bezeichnet. 

Da  das  Ambulacralgefäßsystem  in  gleicher  Anordnung  der  Innenfläche 
der  Leibeswand  angefügt  ist,  so  müßten  wir  erwarten,  daß  die  hauptsächlichsten 
Kanäle  des  Ambulacralgefäßsystems  die  Hauptnervenzüge  von  innen  dicht 
berühren.  Zwischen  beiden  ist  aber  das  System  der  sog.  Pseudohaemalkanäle 
(Subneuralkanäle)  eingefügt,  welche  —  wie  die  Entwicklungsgeschichte  lehrt  — 
als  ein  Derivat  des  aktinalen  Leibeshöhlenkompartiments  zu  betrachten  sind. 

Abgesehen  von  all  diesen  Kanälen  kommt  den  Echinodermen  auch  ein 
echtes  geschlossenes  Blutgefäßsystem  zu,  ein  System  von  wandungsloseii 
Lacunen,  im  Bindegewebe  entwickelt,  ohne  Herz  und  ohne  eigentlichen  Kreis- 
lauf. Bei  den  Echiniden  und  Holothurien  ist  es  den  Zootomen  seit  langem  be- 
kannt. Wir  finden  dort  zwei  den  Darm  begleitende  Hauptgefäße,  welche  aus 
einem  Lacunennetz  der  Darmwand  gespeist  werden  und  in  einen  den  Schlund 
umkreisenden  Gefäßring  einmünden.  Von  letzterem  werden  fünf  in  den  Radien 


Coelom,  Nervensystem  usw.     Crinoidea 


307 


die  Ambulacralgefäße  begleitende  Hauptstämme  entsendet.  Außerdem  ent- 
springt vom  zirkumoralen  Gefäßring  ein  das  Axialorgan  umspinnender  Gefäß- 
plexus,  welcher  abactinalwärts  mit  den  Gefäßgeflechten  der  Gonaden  zu- 
sammenhängt. 

A.  Crinoidea,  Haarsterne  oder  Seelilien. 

Wenn  wir  im  vorhergehenden  mehr  ein  allgemeines  Schema  des  Baues  der 
Echinodermen  entworfen  haben,  so  wollen  wir,  zu  konkreterer  Beschreibung 
rezenter  Formen  übergehend,  zu- 
nächst die  in  spärlichen  Vertretern 
erhaltenen  Crinoiden  ins  Auge  fassen. 
Die  meisten  Crinoiden  (Armhlien)  sind 
mittelst  eines  langen  Stieles,  der  im 
Innern  ein  gegliedertes  Kalkskelett 
birgt  und  häufig  Rankenwirtel  trägt, 
am  Grunde  des  Meeres  festgewachsen 
(Fig.  115).  Indes  ist  gerade  die  am 
häufigsten  studierte  Form  (Antedon 
bifida  =  Comatulamediterranea)  nur 
in  ihren  Jugendstadien  (Fig.  109)  fest- 
gewachsen, während  sie  im  ausgebilde- 
ten Zustande  mit  graziösen  peitschen- 
den Bewegungen  ihrer  gefiederten 
Arme  umherschwimmt  oder  sich  mit 
einem  apicalen  Rankenbüschel  an 
Meerespflanzen  festklammert.  Der 
Körper  der  Crinoiden  ist  kelchförmig. 
Doch  bezeichnet  man  meist  die  in  den 
Stiel  übergehende  abactinale  Körper- 
hälfte als  Calyx,  während  die  abge- 
flachte actinale  Körperhälfte  als 
Kelchdecke  beschrieben  wird.  Letz- 
tere trägt  in  ihrer  Mitte  die  Mundöff- 
nung (Fig.  115  O),  in  einem  Interradius  nicht  selten  auf  schornsteinförmiger  Er- 
hebung den  After  (^).  An  der  Grenze  von  Kelch  und  Kelchdecke  entspringen 
fünf,  häufig  gegabelte  oder  dichotomisch  verzweigte,  gegliederte  Arme,  welche 
fiederförmig  feinste  Endausläufer,  sog.  Pinnulae  tragen.  Diese  Pinnulae  sind 
auch  nur  als  Zweige  der  Arme,  nicht  als  Bildungen  besonderer  Art  zu  betrach- 
ten. Über  die  Anordnung  der  Platten  im  Kelche  jugendlicher  Crinoiden  haben 
wir  oben  (S.  303)  kurz  berichtet. 

Der  Darm  vollführt  von  der  Mund-  zur  Afteröffnung  die  oben  geschilderte 
Zirkeltour  (Fig.  iio).  Die  Nahrung  wird  dem  Munde  durch  bewimperte  Am- 
bulacralfurchen  zugeführt,  welche  vom  Munde  radialwärts  ausstrahlend  und 
sich  verzweigend  auf  die  Arme  sich  fortsetzen  und  in  den  Pinnulae  enden.  Diese 


Fig.  115.     Isocrinus  asteria   (=  Pcntacrinus  Caput  medusae). 

Nach  J.  Müller  aus  Grobbens  Lehrbuch.    O  Mund,  A  After 

an  dem  von  der  Oralfläche  dargestellten  Kelche. 


20' 


3o8  K-  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Ambulacralfurchen  sind  von  Saumläppchen  und  kleinen  tentakelförmigen,  der 
Saugscheiben  entbehrenden  Füßchen  begleitet. 

Diesen  Furchen  entsprechen  im  Innern  die  Verzweigungen  des  Ambulacral- 
gefäßsystems.  Am  circumoralen  Ringe  des  Hydrocoels  finden  sich  meist  zahl- 
reiche Steinkanäle,  welche  sich  in  das  Coelom  öffnen,  während  entsprechend  ge- 
lagerte Kelchporen,  d.i.  Durchbohrungen  der  Kelchdecke,  den  Verkehr  mit  dem 
umgebenden  Medium  vermitteln. 

In  der  Kelchachse,  von  der  Darmspirale  umkreist,  findet  sich  das  Axial- 
organ (Fig.  112  ax),  welches  sich  apicalwärts  vom  sog.  gekammerten  Organ 
(einem  Derivat  der  abactinalen  Coelomhälfte)  umgeben  in  den  Stiel  fortsetzt. 
Actinalwärts  läuft  das  Axialorgan  bei  den  Jugendformen  in  Stränge  aus,  welche 
sich  als  Genitalstränge  in  die  Arme  fortsetzen  und  in  den  Pinnulae  reife  Ge- 
schlechtsprodukte erzeugen,  die  durch  Platzen  der  Wand  der  Pinnulae,  durch 
Entwicklung  sekundärer  Genitalöffnungen,  nach  außen  gelangen.  Man  hat  das 
Axialorgan  mit  seinen  Verzweigungen  einem  Baume  verglichen,  welcher  in 
seinen  Endausläufern  in  den  Pinnulae  zur  Fruktifikation  gelangt. 

B.  Eleutherozoa. 

Wir  gehen  hier  zunächst  von  der  Betrachtung  eines  Seesternes  (Fig.  io6) 
aus.  Gegenüber  dem  kelchförmigen  Bau  der  Crinoiden  ist  hervorzuheben,  daß 
die  Hauptachse  des  Körpers  eine  Verkürzung  erfahren  hat,  während  sich  der 
Körper  mehr  in  der  Fläche  der  Arme  ausbreitet.  Die  Arme  der  Seesterne  sind 
den  Armen  der  Haarsterne  vielleicht  nicht  vergleichbar.  Man  müßte,  um  sich 
das  Verhältnis  zurechtzulegen,  annehmen,  daß  die  Crinoidenarme  verloren  ge- 
gangen sind  und  die  Seesternarme  als  sekundäre  Ausbuchtungen  des  Kelches 
entwickelt  wurden,  womit  wir  nicht  andeuten  wollen,  daß  wir  dieser  Vorstel- 
lungsweise den  Wert  einer  phylogenetischen  Ableitung  zugestehen. 

Der  in  fünf  Arme  sich  fortsetzende  oder  oft  unter  Verkürzung  der  Arme  pen- 
tagona! gestaltete  Körper  läßt  eine  actinale  und  eine  abactinale  Fläche  erkennen. 
Da  die  actinale  Fläche  beim  Kriechen  gegen  die  Unterlage  gerichtet  ist,  so  wird  sie 
auch  häufig  als  Bauchseite  bezeichnet.  Sie  trägt  in  der  Mitte  die  Mundöffnung  (Fig. 
lo60)  und  von  dieser  radiär  ausstrahlend  die  fünf  Füßchenalleen  {Af),  welche  an 
der  Spitze  der  Arme  mit  einem  an  der  Basis  des  unpaaren  Terminaltentakels  ge- 
legenen Auge  enden.  Dieses  unpaare  Primärfüßchen,  welches  ontogenetisch  von 
allen  Füßchen  zuerst  angelegt  wird,  sitztauf  der  sog.  Terminalplatte  des  Armes. 

Die  abactinale  Körperfläche,  der  sog.  Rücken  des  Seesternes,  ist  von 
einer  lederartigen  Haut  bedeckt;  sie  trägt  im  Interradius  5 — i  die  Madreporen- 
platte  und  in  ihrer  Mitte  subzentral  die  Afteröffnung.  Genau  genommen  findet 
sich  der  After  nicht  am  apicalen  Pole,  sondern  etwas  seitlich  im  Interradius 
4 — 5.  Der  kurze  Darm  zeigt  nur  in  den  jüngsten  Entwicklungsstadien  eine  An- 
deutung der  oben  geschilderten  Spirale.  Er  ist  sackförmig  [Mg)  und  trägt 
fünf  Paare  von  Divertikeln  (Fig.  116  Db),  welche  sich  in  die  Arme  erstrecken. 

Die  Genitalorgane  finden  sich  in  der  Form  interradial  gelagerter  Büschel 
(Fig.  116  G).    Gewöhnlich  ist  in  jedem  Interradius  ein  Paar  solcher  Bündel  ge- 


Crinoidea,     Gemeinsamer  Typus  der  Seesterne,  Seeigel  und  Seewalzen 


309 


legen.  Sie  münden  in  der  abactinalen  Körperwand  nach  außen  und  zeigen  eine 
ähnliche  Beziehung  zum  Axialorgan,  wie  wir  sie  bei  den  Crinoiden  vorfanden. 
Das  Axialorgan,  mit  dem  Steinkanal  {St)  in  einem  besonderen  Leibeshöhlen- 
kompartiment  [As)  gelegen  (vgl.  oben  S.  305),  setzt  sich  an  der  Innenfläche  der 
abactinalen  Körperwand  in  einen  den  apicalen  Pol  umziehenden  ringförmigen 
Strang  [Rs)  fort,  welcher  interradiale  Fortsätze  (i?^i)  entsendet,  die  von  einer 
wahrscheinlich  nicht  dem  Axialsinus,  sondern  dem  linken  Somatocoel  ent- 
stammenden Hülle  umgeben  an  die  Genitalbüschel  herantreten.  Es  können 
sonach  auch  hier  die  Gonaden  als  die  fruk- 
tifizierenden  Endausläufer  des  genann- 
ten Strangsystemes  betrachtet  werden. 
Von  der  Form  des  Seesternes  (Fig. 
106)  können  wir  die  des  Seeigels  (Fig. 
105)  ableiten,  wenn  wir  uns  vorstellen, 
daß  die  Arme  immer  mehr  verkürzt  und 
schließlich  vollständig  in  den  Körper  jtj:^ 
zurückgezogen  wurden,  während  gleich-  J^- 
zeitig  sich  die  aktinale  Körperhälfte  auf 
Kosten  der  abaktinalen  vergrößerte.  Die 
letztere  zieht  sich  dann  zu  einem  kleinen, 
am  Scheitel  des  Seeigels  gelegenen  Felde 
zusammen,  in  welchem  sich  subzentral 
im  Radius  4  die  Afteröffnung  vorfindet. 


St  Ä 


Fig.  116.     Genitalorgane  und  zentraler  Teil  des  Darmes 

eines  Seesterns.     Schematisch  nach  Lang  aus  Groubens 

Lehrbuch.       G    Genitaldrüsen,     G//i    Ausmündungsstelle 

So   ist    es    zu    erklären,    daß    die  Füßchen-     derselben,    As   Achsensinus    (vgl.  Fig.  113),    Äi-   apikaler 

.  .  -^  Ringsinus    mit    dem    Genitalstrang,     Jis^    radiäre    Fort- 

reihenm  Halbmeridianen  von  der  Mund-     Setzungen    desselben    zu    den    Genitaldrüsen,     ^-i-  Stein- 

nffnnno-  hicnallP  7iir  AftprnffniinCT  hprnn-     ^^''^^'    ^^-^  Madreporenöffnung,    J/^  Magen,    Z>5  radiäre 

onnung  bis  nane  zur  Aiteronnung  neran-      ßiindsäcke  desselben,  /e  Rektaidivertikei,  a/  After. 
reichen,    und  daß  die    Terminalplatten 

(hier  als  Ocellarplatten  bezeichnet)  den  Kranz  der  Basalia,  welche  hier  Genital- 
platten genannt  werden  und  das  Analfeld  umgrenzen,  direkt  berühren. 

Die  Körperform  der  Holothurien  läßt  sich  unschwer  auf  die  des  Seeigels  zu- 
rückführen, wenn  wir  annehmen,  daß  die  vom  Mund  zum  After  ziehende  Kör- 
perlängsachse eine  erhebliche  Streckung  erfuhr,  und  daß  die  Platten  des  Haut- 
panzers, den  Lederigeln  (Echinothuriidae)  vergleichbar,  gegeneinander  beweglich 
wurden  und  schließlich  der  Rückbildung  anheimfielen,  woraus  die  nur  mit  klei- 
neren Kalkkörperchen  durchsetzte  Lederhaut  der  Seegurken  resultierte. 

Wenn  wir  so  die  Form  des  Seeigels  und  der  Seewalze  von  den  Seesternen 
ableiten,  so  ist  darunter  nicht  etwa  eine  stammesgeschichtliche  Herleitung  zu  ver- 
stehen. Es  handelt  sich  uns  nur  um  eine  völlig  ideelle  Zurückf  ührung,  durch  welche 
die  Homologien  in  den  einzelnen  Kreisen  der  Echinodermen  zum  Ausdruck  ge- 
bracht werden  sollen.  Die  einzelnen  Stämme  dieser  Gruppe  haben  sich  vermutlich 
frühzeitig,  von  cystoideenähnlichenUrformen  ausgehend,  voneinander  gesondert. 

Nur  eins  möchten  wir  bemerken.  Gegenüber  einer  von  manchen  Seiten 
vertretenen  Auffassung,  derzufolge  unter  den  jetzt  lebenden  Stachelhäutern  die 
Holothurien  eine  besonders  ursprüngliche  Stellung  einnehmen  sollten,  welche  es 


3  10  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

vielleicht  gestattet,  durch  ihre  Vermittlung  die  Echinodermen  an  Wurmformen 
(etwa  an  Gephyreen?)  anzuschließen,  möchten  wir  aussprechen,  daß  wir  die 
Holothurien  als  sekundär  vereinfachte  Ausläufer  der  Echinodermengruppe  be- 
trachten. Wenn  es  auch  auffallen  muß,  daß  bei  diesen  Formen  der  primäre 
Steinkanal  sowie  der  Genitalausf  ührungsgang  im  dorsalen  Mesenterium  gelegen 
ist,  daß  hier  eine  einzige,  nicht  in  einen  Axialsinus  aufgenommene  Gonade  sich 
findet,  daß  ein  Axialorgan  vermißt  wird,  so  ergeben  sich  doch  bei  dem  Versuche 
einer  derartigen  Ableitung  der  Echinodermen  erhebliche  Schwierigkeiten. 
Alles  deutet  darauf  hin,  daß  die  Stammform  der  Echinodermen  eine  gestielt 
festsitzende  war  und  daß  die  radiärsymmetrische  Körperbildung  im  Anschlüsse 
an  die  sedentäre  Lebensweise  erworben  wurde.  Unter  diesem  Gesichtspunkte 
muß  uns  die  wurmähnlich  kriechende  Bewegungsweise  der  Holothurien  und 
die  im  Anschlüsse  hieran  sich  geltend  machende  stärkere  Betonung  der  bila- 
teralen Symmetrie  nicht  als  ein  ursprüngliches,  sondern  als  ein  nachträglich 
entstandenes  Merkmal  erscheinen.  Diese  Tiere  sind  • —  wie  wir  meinen  - —  nach 
vorübergehender  Festsetzung  sekundär  zu  den  Lebensgewohnheiten  ihrer 
wurmähnlichen  Vorfahren  zurückgekehrt. 

C.  Entwicklung  der  Echinodermen. 

Einige  Vorgänge  der  ersten  Entwicklung  der  Echinodermen  wurden  bereits 
oben  (S.  212)  berührt.  Wenn  es  sich  damals  um  die  Entwicklung  des  Darm- 
kanals, um  die  Beziehungen  des  Blastoporus  zu  Mund-  und  Afteröffnung  der 
Larve  handelte,  so  müssen  wir  jetzt  einige  Vorgänge  nachholen,  welche  das 
Bild  der  ersten  Entwicklung  der  Stachelhäuter  vervollständigen,  wir  meinen : 
die  Mesenchymbildung  und  die  Coelomentstehung. 

Das  kleine,  mit  feinen  Dotterkörnern  gleichmäßig  durchsetzte  Ei  der 
Echinodermen  entwickelt  auf  dem  Wege  einer  totalen  und  eigentümlich  regu- 
lären Dotterklüftung  (sog.  Radiärtypus  der  Furchung)  eine  kugelförmige 
Coeloblastula  (Fig.  117  A),  aus  welcher  durch  Einstülpung  eine  Gastrula  (B) 
entsteht.  Die  gallerterfüllte  Furchungshöhle  (primäre  Leibeshöhle)  wird  durch 
den  relativ  kleinen  Urdarm  nicht  völlig  verdrängt.  Indem  in  diesen  Raum  vom 
Scheitel  des  Urdarmes  aus  Zellen  der  Darmwand  amoeboid  einwandern  {ms), 
kommt  es  zur  Ausbildung  eines  Mesenchymgewebes,  aus  welchem  das  Binde- 
gewebe, das  Skelettgewebe  und  die  Blutlacunen  des  ausgebildeten  Tieres,  aber 
nicht  die  Körpermuskeln  hervorgehen.  Oft  setzt  die  Mesenchymbildung  schon 
vor  der  Entwicklung  der  Urdarmeinstülpung  ein,  doch  auch  in  diesem  Falle 
vom  vegetativen  Pole  aus  erfolgend.  Nur  spärlich  lauten  einige  Angaben,  da- 
hingehend, daß  auch  vom  Ektoderm  aus  Mesenchym  gebildet  werden  könne. 

In  der  Regel  wird  der  Blastoporus  (Fig.  iiy  bp)  nicht  verschlossen.  Aus 
ihm,  dessen  Lage  uns  ursprünglich  den  hinteren  Pol  der  Primärachse  kennzeich- 
net, geht  die  Afteröffnung  der  Larve  hervor.  Während  der  Urdarm  sich  streckt, 
krümmt  er  sich  etwas  nach  der  Seite  (Fig.  117  C)  und  jene  Seite,  gegen  die  er 
sich  biegt,  kennzeichnet  uns  die  spätere  Ventralseite  der  Larve.  Sein  Vorder- 
ende deutet  gegen  eine  inzwischen  als  Einsenkung  des  Ektoderms  entstandene 


Echinodermenentwicklung 


311 


Mundbucht  (Fig.  Il8  A  m).  Bevor  er  aber  mit  dieser  Mundbucht  sich  vereinigt, 
schnürt  er  von  seinem  Vorderende  rechts  und  hnks  je  ein  Säckchen  (Fig.  Il8  A 
und  D  c)  ab,  welche  als  primäre  Enterocoelsäckchen  bezeichnet  werden  sollen. 


~m&' 


Fig.  117.    A  Blastula,  B  und   C  Gastrulastadien  eines  Echiniden,    Fig.  C  in  der  Ansicht  von  der  linken  Körperseite. 
öchematiscli.     bp  Blastoporus,  ms  Mesenchymzellen,  sp  Akron  (Scheitelplatte}. 


Fig.  iiö.     Entwicklung  der  Echinodermenlarve.    Schema,    ^i,  .5  und  C  Ansichten  dreier  aufeinander  folgender  Stadien 

von   der   linken    Seite    gesehen;    D,  E  und  F  dieselben  Stadien,    von    der  Bauchseite  gesehen,      a  After,    ak  Akron 

(Scheitelplatte),  c  primäres  Enterocoelsäckchen,  m  Mund  resp.  Mundbucht,  ry  Wimperschnur. 

Inzwischen  ist  am  vorderen  Körperpole,  doch  etwas  nach  der  Ventralseite  ver- 
schoben, eine  Ektodermverdickung  aufgetreten,  das  sog.  Akron,  welches  wir  der 
Scheitelplatte  der  Trochophora  und  Tornaria  gleichsetzen  können  (Fig.  117  C 
sp,  118  ak).  Der  Darmkanal  gliedert  sich  nun  durch  auftretende  Einschnürun- 
gen in  drei  Abschnitte:  Oesophagus,  Magen  und  Intestinum  (Fig.  Ii8);  durch 
Vereinigung  mit  der  Mundbucht  wird  er  durchgängig  und  zur  Nahrungsauf- 
nahme geeignet.  Auch  der  After  (a)  verändert  seine  Lage.  Er  rückt  an  der 
Ventralseite  empor,  wodurch  der  Enddarm  in  seiner  Verlaufsrichtung  gegen  die 


312 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


des  Magens  abgeknickt  wird.  Man  könnte  vielleicht  diese  Lageveränderung  des 
Enddarms  und  der  Afteröffnung  am  richtigsten  dadurch  erklären,  daß  man  ein 
stärkeres  Anwachsen  der  dorsalen  hinteren  Partien  des  Embryos  (bei  x  in  Fig. 
118A)  annimmt. 

Es  wird  nun  jene  Partie  der  Ventralfläche,  welche  den  Mund  enthält,  ein 

wenig  nach  innen 
eingebuchtet  (Fig. 
Y  118  C)    und  dieses 

versenkte  Mund- 
feld umgibt  sich 
mit  einer  ungefähr 
trapezförmig  ge- 
stalteten Wimper- 
schnur (Fig.  118  C 
undFze').  Wir  kön- 
nen an  ihr  einen 
praeoralen,  quer 
vor  dem  Munde 
verlaufenden  Teil 
und  einen  etwas 
längeren  hinter 
dem  Munde  quer- 
laufenden postora- 
len Abschnitt  und 
zwei  Seitenab- 

schnitte unter- 
scheiden. Früh- 
zeitig erscheinen 
schon  die  Ecken 
dieses  umsäumten 
Mundfeldes  ein 
wenig  ausgebuch- 
tet :  die  Vorder- 
ecken nach  vorne, 

die  Hinterecken  nach  hinten,  und  diese  Buchten  werden  in  der  Folge  immer 
stärker  ausgebildet  (Fig.  119  B,  K,  N). 

Überblicken  wir  in  kurzem  den  Bau  des  so  erreichten  jungen  Larven- 
stadiums (Fig.  118  C  und  F).  Es  hat  im  allgemeinen  noch  immer  rundlich-ellip- 
toidischen  Körperumriß.  Das  Vorderende  ist  durch  die  Scheitelplatte,  die  we- 
nig hervortritt  und  bald  verschwindet,  gekennzeichnet.  An  der  Ventralseite 
finden  wir  das  eingebuchtete  umsäumte  Mundfeld.  Der  Darm  verläuft  ventral- 
wärts  eingekrümmt  und  in  drei  Abschnitte  gegliedert  vom  Munde  zum  After. 
Der  Raum  zwischen  Darmwand  und  äußerer  Haut  ist  von  Mesenchym  erfüllt. 
Zu  beiden  Seiten  des  Oesophagus  finden  sich  die  primären  Enterocoelsäckchen. 


Fig.  119.  Ableitung  verschiedener  Typen  von  Echinodermenlarven.  Nach  JoH.  Müller 
aus  MORTENSEN,  Echinodertnenlarven.  Nord.  Plankton.  Z>  Echinidenpluteus,  //jOphiuriden- 
pluteus,  M  Auricularia,  P  Bipinnaria.  A,  E  und  J  Ausgangsstadien  der  Entwicklungs- 
reihen ;  man  vergleiche  Fig.  1 18  C  und  F.  A,  B,  C  und  D  Entwicklungsreihe  des  Echiniden- 
pluteus,  E,  F,  G  und  //Entwicklungsreihe  des  Ophiuridenpluteus,  J,  K,  L  und  J/ Ent- 
wicklungsreihe der  Auricularia,  J,  h',  L,  N,  O  und  P  Entwicklungsreihe  der  Bipinnaria. 


Larvenformen 


1      T       -> 

0^0 


A 


r 


an 


W 


art 


Bei  der  Betrachtung  der  weiteren  Entwicklung  der  Echinodermenlarven 
sind  vor  allem  zwei  Punkte  ins  Auge  zu  fassen: 

1.  die  Veränderungen  der  äußeren  Körpergestalt,  welche  von  der  Umbil- 
dung der  Wimperschnur,  von  ihren  mannigfaltigen  Lappen-  und  Fort- 
satzbildungen abhängig  sind,  und 

2.  die  Weiterentwicklung  der  Enterocoelsäckchen  im  Inneren. 

Bekannt  sind  die  verschiedenen  Formen  der  Echinodermenlarven,  welche    Typen  der 
als  Pluteus  (Fig.  119  D  und  H),  Auricularia(M),  Bipinnaria  (P)  und  Brachio-    '^ 'ia°rver^°" 
laria  unterschieden  werden.    Fig.  119  mag  dem  Leser  eine  Vorstellung  davon 
übermitteln,  wie  sich  diese  verschiedenen  Typen  aus  dem  oben  gekennzeichneten 
Anfangsstadium      hervor- 
bilden. WährendFig.il9D 
und  H  zwei   verschiedene 
Pluteustypen   (Echiniden- 
pluteus    und   Ophiuriden- 
pluteus)  darstellen,  liefert 
Fig.  119  M  ein  Bild  der  für 
die  Holothurien  charakte- 
ristischen Auricularia  und 
Fig.  119  P  ein  Schema  der 
Bipinnaria  der  Asteriden, 
welcher  sich  auch  die  Bra- 
chiolaria  derselben  Gruppe 
anschließt.    Während    bei 
denPluteusformen  längere, 

durch  Kalkstäbe  gestützte  Arme  zur  Entwicklung  kommen,  werden  in  der 
Auricularia  und  Bipinnaria  kürzere  ohrförmige  Lappen  der  Wimperschnur  ent- 
wickelt. Wir  wollen  hier  nur  kurz  bei  der  Hervorbildung  der  Gestalt  der  Auri- 
cularia und  der  Bipinnaria  verweilen.  Fig.1191,  K,  L  und  M  zeigt  verschiedene 
Stadien  der  Auricularia.  Wir  erkennen,  daß  es  sich  um  stärkere  Akzentuierung 
der  oben  erwähnten,  die  Ecken  der  trapezförmigen  Wimperschnur  einnehmen- 
den Buchten  handelt,  während  in  den  longitudinal  verlaufenden  Partien  des 
Wimpersaumes  (Fig.  119  M)  durch  welhgen  Verlauf  die  ohrförmigen  Lappen  der 
Auricularia  hervorgebildet  werden.  Die  beiden  nach  vorne  ziehenden  Buchten 
des  umsäumten  Mundfeldes  nähern  sich  immer  mehr  der  Gegend,  in  welcher  die 
Scheitelplatte  gelegen  war.  Sie  begrenzen  auf  diese  Weise  ein  vor  dem  Munde 
zur  Ausbildung  kommendes  Frontalfeld  (Fig.  119  L  und  N).  Wenn  diese  beiden 
Buchten  sich  miteinander  vereinigen,  so  wird  das  Frontalfeld  vollkommen  aus 
dem  Zusammenhang  mit  den  übrigen  Teilen  der  Wimperschnur  ausgeschaltet 
und  dieser  Schritt  führt  zur  Entwicklung  der  typischen  Bipinnaria  (O  und  P). 
Es  werden  auf  diese  Weise  Verhältnisse  der  Wimperschnur  entwickelt,  welche  in 
auffallender  Weise  an  die  Tornaria  der  Enteropneusten  gemahnen.  Die  Bezie- 
hungen zwischen  der  Körperform  der  Auricularia,  Bipinnaria  und  Tornaria 
sind  durch  Fig.  120  verdeutlicht. 


Fig.  120.  .-/  Auricularia  (vgl.  Fig.  119  J/],  B  Bipinnaria  (vgl.  Fig.  119  O), 
C  Tornaria  (vgl.  Fig.  103).  Schemen  nach  Lang.  Ansicht  von  der  rechten 
Körperseite.  i  Scheitelfeld,  2  Mundfeld,  3  Dorsalfeld,  4  Analfeld. 
/  praeorale,  //  longitudinale,  ///  circumanale  Wimperschnur,  5  Scheitel- 
platte, OS  Mund,  an  After. 


314 


K,  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Coelom- 
entwicklung. 


Wir  fanden  in  der  jungen  Larve  zwei  Coelomsäckchen  zu  den  Seiten  des 
Oesophagus  (Fig.  1 18  C  und  F  c).  Diese  strecken  sich  nach  hinten  und  schnüren 
zwei  neben  dem  Magen  gelegene  Säckchen  (Fig.  12 1  A,  B  Z5,  rs)  ab.  Wir  haben 
dann  zwei  Paare  von  Säckchen.  Das  vordere  Paar  (vorderes  Enterocoel  Ive,  rve) 
Hegt  neben  dem  Oesophagus,  das  hintere  Paar,  welches  dem  Magen  seitlich  an- 
geschmiegt ist  [Is,  rs),  wollen  wir  als  Somatocoel  bezeichnen,  weil  aus  ihm  die 

eigentlicheLeibeshöhle  des 
Echinoderms  hervorgeht. 
Die  Autoren  bezeichnen  es 
meist  als  hinteres  Entero- 
coel. Das  linke  vordere 
Enterocoelsäckchen  (Fig. 
121  Ive)  entsendet  nun  ei- 
nen kurzen  Kanal  (Poren- 
kanal 121  B  po)  nach  der 
Rückenwand  und  mündet 
mit  einem  meist  ziemlich  in 
der  Medianlinie  des  Rük- 
kens  gelegenen  Porus  nach 
außen.  Dieser  Rückenpo- 
rus  oder  Hydroporus  ist  als 
Anlage  der  ersten  primären 
Durchbohrung  der  Madre- 
porenplatte  zu  betrachten. 
Er  entspricht  vollständig 
dem  Eichelporus  der  Tor- 
naria  (Fig.  103  po). 

Bald  sproßt  aus  dem 
linken  vorderen  Entero- 
coel nach  hinten  eine  neue 
Knospe  hervor  (Fig.  121 
C  Ih).  Sie  wird  zur  Hydro- 
coelanlage,  d.  h.  zur  Anlage 
des  Ambulacralgefäßsy- 
stems.  Frühzeitignimmt  sie 
hufeisenförmige  Gestalt  (Fig.  121  D//i)  an  und  wenn  das  Hufeisen  sich  zu  einem 
Ringe  schließt,  so  ist  der  zircumorale  Gefäßring  gebildet.  Man  erkennt  auch  bald, 
daß  von  dem  Hufeisen  fünf  Zipfel  hervorwachsen,  in  denen  wir  die  Anlage  der 
Radiärkanäle  des  Ambulacralsystems  zu  erkennen  haben.  Die  Verbindung,  in 
welcher  das  Hydrocoelsäckchen  mit  dem  linken  vorderen  Enterocoel  steht,  ist  als 
Anlage  des  Steinkanals  zu  betrachten  (Fig.  121  D  st).  Wir  verstehen  nun,  warum 
der  Steinkanal  nicht  direkt  in  der  Madreporenplatte  ausmündet,  sondern  vielfach 
in  eine  unter  dieser  Platte  gelegene  Ampulle.  Offenbar  haben  wir  in  dieser  Ampulle 
einen  Rest  des  linken  vorderen  Enterocoelsäckchens  {la)  zu  erblicken.   Aber  aus 


Fig.  121.  Schema  der  Entwicklung  der  Coelomsäckchen  in  einer  Echino- 
dermenlarve.  Ansicht  vom  Rücken,  a  After,  /a  linkes  Axocoel,  /Ä  linkes 
Hydrocoel,  /s  linkes  Somatocoel,  /ve  linkes  vorderes  Enterocoel,  m  Mund, 
/o  Riickenporus,  ra  rechtes  Axocoel,  rA  rechtes  Hydrocoel,  rs  rechtes 
Somatocoel,  rve  rechtes  vorderes  Enterocoel,  s/  Steinkanal. 


Coelomentwicklung.     Metamorphose 


315 


diesem  Säckchen  geht  überdies  noch  der  Axialsinus  hervor.  Wir  wollen  es  von 
dem  Momente  an,  da  sich  das  Hydrocoelsäckchen  von  ihm  abtrennte,  als  Axo- 
coelsäckchen  bezeichnen. 

Die  gleichen  Umwandlungen  erfährt  wenig  später  das  rechte  vordere  En- 
terocoelsäckchen.  Auch  dieses  wird  in  ein  rechtes  Hydrocoel  (Fig.  121  B  rh) 
und  rechtes  Axocoel  (m)  gesondert.  Doch  haben  diese  Bildungen  mehr  rudi- 
mentären Charakter  und  scheinen  bald  zu  verschwinden,  ohne  daß  bestimmte 
Teile  des  ausgebil- 
detenEchinoderms 
aus  ihnen  hervor- 
gingen. Vielleicht 
könnte  man  eine 
vonBury  beiEchi- 
nidenlarven  beob- 
achtete,kleine  kon- 
traktile pulsieren- 
de Blase,  welche 
dem  Porenkanal 
anliegt  und  dem 
,, Herzen"  der  Tor- 
naria  homolog 

scheint,  in  irgend- 
einer Weise  auf  sie 
beziehen. 

Wenn  wir  Fig. 
121  C  betrachten, 
so  erkennen  wir, 
daß  die  Coeloman- 
lage    der    Echino- 


TTlS' 


-vst 


Fig.  122.  Zwei  Entwicklungsstadien  von  Antedon  bifida  (Comatula  mediterranea). 
A  freischwimmende  Lan'e,  B  festgesetztes  Stadium  (vgl.  Fig.  109  und  112).  Schemata 
nach  Seeliger,  a  Axocoel  (später  mehr  verschwindend  und  vermutlich  mit  c  ver- 
schmelzend), c  aktinales,  ursprünglich  linkes  Somatocoel,  c'  abaktinales,  ursprünglich 
rechtes  Somatocoel,  g  Anheftungsgrübchen,  hy  Hydrocoel,  k  Anlage  des  sog.  ge- 
i  1  kammerten    Organs,    ms  Anlage    des   horizontalen  Mesenteriums,    sp  Scheitelplatte  mit 

UcrnicniarVc  aUa  Wlmperschopf,  vsi  sog.  Vestibulum,  ein  praeoraler  Hohlraum  von  vorübergehender  Be- 
drpi  Hin  t'Prf  in  a  ndpr     deutung.     Der   Darmkanal   ist   im  'Inneren    des   Komplexes   der  Coelomräurae  gelegen. 

Er  ist  in  der  Abbildung  nicht  angegeben. 

liegenden     Paaren 

von  Säckchen  besteht,  welche  wir  als  Axocoel  (/a,  rd),  Hydrocoel  (/A,  yK)  und 
Somatocoel  [Is,  rs)  bezeichnen.  Das  linke  Axocoel  mündet  durch  den  Poren- 
kanal dorsalwärts  aus.  Das  linke  Hydrocoel  ist  dem  linken  Axocoel  durch  den 
Steinkanal  {st)  verbunden.  Die  beiden  Somatocoele  umgreifen  den  Magen. 
Würden  sie  ihn  völlig  umwachsen,  so  müßte  ein  in  der  Medianebene  gelegenes 
Mesenterium  zur  Ausbildung  kommen. 

Die  Metamorphose,  durch  welche  die  Echinodermenlarve  in  die  aus-  Metamorphose, 
gebildete  Form  übergeführt  wird,  ist  ungemein  verwickelt,  und  wir  können  sie 
hier  nur  in  den  allgemeinsten  Zügen  andeuten.  Die  Auricularia  geht  in  die  junge 
Holothurie  durch  Vermittlung  eines  tönnchenförmigen  Zwischenstadiums  über, 
in  welchem  die  Wimperschnur  sich  in  fünf  zirkulär  verlaufende  Wimperzonen  auf- 
gelöst hat.  Die  gleichen  fünf  Wimpergürtel  weist  auch  die  einzige  uns  bekannte 


3i6 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


Crinoidenlarve,  die  von  Antedon  (ComatulaFig.  122  A)auf.  Es  scheint  überhaupt 
dem  Zwischenstadium  mit  fünf  Wimperzonen  eine  allgemeinere  morphologische 
Bedeutung  zuzukommen,  als  man  bisher  angenommen  hat,  da  Caswell  Grave  auch 
bei  Ophiuriden  und  Echiniden  Stadien  mit  derartig  angeordneten  Wimperzonen 
aufgefunden  hat  (vgl.  Fig.  1 1 1).  Ohne  auf  diese  Formen  näher  eingehen  zu  wollen, 
sei  erwähnt,  daß  der  Hydroporus  regelmäßig  hinter  dem  dritten  Wimperreifen 
sich  findet,  während  der  Mund  ursprünglich  vor  diesem  gelegen  zu  sein  scheint. 
Die  Entwicklung  von  Antedon  (Comatula),  durch  die  Untersuchungen  von 
Eury  und  Seeliger  genau  festgestellt,  aber  ungemein  kompliziert  und  schwer 

zu  verstehen,  kann  als  eine  mehr  abgekürzte  Me- 
tamorphose betrachtet  werden.  Ein  der  Auricula- 
ria  vergleichbares  Larvenstadium  fehlt  hier.  Die 
Larve  kommt  mund-  und  afterlos  in  dem  Stadium 
mit  fünf  queren  Wimperzonen  aus  dem  Ei  (Fig. 
122  A).  Am  vorderen  Pole  findet  sich  eine  mit 
Wimperschopf  besetzte  Scheitelplatte  {sp)  und 
neben  ihr  ventralwärts  eine  drüsige  Anheftungs- 
grube  (g),  mit  welcher  das  junge  Wesen  sich  fest- 
setzt. Die  Bauchseite  ist  etwas  eingebuchtet,  die 
Rückenseite  mehr  gewölbt.  Aus  dem  ganzen  vor- 
deren Teil  der  Larve  geht  der  Stiel  des  festsitzen- 
den pentacrinoiden  Jugendzustandes  (sog.  Cysti- 
deenstadium  der  Comatula,  Fig.  109  A)  hervor.  Wir 
sehen  auch  schon  an  der  freischwimmendenLarve, 
daß  die  inneren  Organe  in  den  hinteren  Körper- 
abschnitt hinter  dem  dritten  Wimperreifen  ver- 
lagert sind  (Fig.  122  A).  Wir  erkennen  die  Anlage 
des  mit  fünf  Zipfeln  versehenen  Hydrocoelringes 
{hy).  Er  kennzeichnet  uns  die  actinale  Fläche  dieses  Innenkomplexes,  in  dessen 
Mitte  später  die  Mundöffnung  durchbricht.  Dieser  Komplex  erleidet  im  Ver- 
laufe der  Metamorphose  eine  Rotation  derart,  daß  seine  actinale  Fläche  nach 
hinten  gerückt  und  auf  die  Hauptachse  senkrecht  gestellt  wird  (Fig.  122  B). 

Während  die  junge  Holothurie  und  das  pentacrinoide  Stadium  von  Coma- 
tula sich  durch  Umformung  der  Larvengestalt  entwickeln,  wird  der  junge  See- 
stern nur  aus  einem  hinten  gelegenen  Teil  der  Bipinnaria  geformt,  so  daß  man 
den  Eindruck  gewinnt,  wie  wenn  das  junge  Echinoderm  durch  einen  Knospungs- 
prozeß  aus  der  Larve  hervorwüchse.  Der  Larvenkörper  mit  seinen  Anhängen 
wird  dann  mehr  und  mehr  rückgebildet  und  erhält  sich  an  dem  jungen  See- 
stern noch  eine  Zeitlang  in  der  Form  eines  Rudiments.  Wir  geben  ein  Bild  der 
Bipinnaria  asterigera  (Larve  von  Luidia  sarsi  Fig.  123),  aus  welchem  zu  ersehen 
ist,  daß  der  junge  Stern  dem  Larvenrest  gegenüber  die  gleichen  Lagebeziehungen 
aufweist,  wie  in  der  festgesetzten  Comatulalarve  der  Calyx  zum  Anheftungsstiel. 
Durch  einen  ganz  ähnlichen  Knospungsprozeß  wachsen  auch  die  jungen  Seeigel 
und  Schlangensterne  aus  den  ihnen  zukommenden  Pluteuslarven  hervor.    An 


Fig.  123.  Bipinnaria  asterigera  von  Luidia 
sarsi  Düb.  et  Kor.  Nach.  JOH.  Müller 
(Mortensen)  aus  Steuers  Planktonkunde. 


Metamorphose  der  Echinodermen.     Dipleurula  3  l  y 

der  Metamorphose  dieser  Formen  ist  besonders  bemerkenswert,  daß  die  actinale 
Seite  des  jungen  Echinoderms  aus  der  linken  Körperseite  der  Larve,  die  ab- 
aktinale  Fläche  aus  der  rechten  Larvenhälfte  hervorgeht.  Wir  sahen  ja  schon 
in  Fig.  121  D,  daß  die  Hydrocoelanlage  linkerseits  in  der  Form  eines  Hufeisens 
auftritt.  Sie  bildet  gewissermaßen  den  Kristallisationskern,  um  den  das  neu- 
anzulegende Echinoderm  sich  gruppiert.  Wenn  das  Flufeisen  sich  zu  einem 
Hydrocoelring  geschlossen  hat,  so  bricht  in  seiner  Mitte  die  Mundöffnung  des 
jungen  Tieres  durch.  In  vielen  Fällen  verfällt  nämlich  der  Schlund  der  Larve 
einer  Rückbildung,  während  der  definitive  Mund  sekundär  gebildet  wird. 

D.  Zur  Phylogenie  der  Echinodermen. 

Wir  sind  durch  die  vorhergehenden  Andeutungen  den  komplizierten  Vor- 
gängen der  Metamorphose,  durch  welche  das  Echinoderm  aus  der  bilateralsym- 
metrischen Larvenform  herausgebildet  wird,  auch  nicht  annähernd  gerecht  ge- 
worden. Es  hätte  dies  ein  genaueres  Eingehen  auf  die  von  einem  Larventypus 
zum  anderen  variierenden  Verhältnisse  erfordert.  Zur  Vervollständigung  dieses 
Bildes  sei  es  gestattet,  ein  aus  allen  diesen  Beobachtungen  abstrahiertes  Schema 
vorzuführen  und  dasselbe  in  die  Sprache  phylogenetischer  Spekulationen  zu  klei- 
den. Die  isolierte  Stellung  der  Echinodermen,  ihr  von  den  übrigen  Gruppen  ab- 
weichender Bau  und  ihre  eigenartige  Ontogenese — alles  deutet  auf  eine  ungemein 
komplizierteStammesgeschichtediesesTierkreises.Vielfachwurde  versucht,  in  die 
Rätsel  dieserVorgänge  einzudringen.  Die  geistvollen  Überlegungen  Bütschlis,  die 
KonstruktionenSemonsundHaeckels,dieauf  dieKenntnisderanatomischenVer- 
hältnisse  sedentärer  Anneliden  sich  stützenden  Ausführungen  Ed.  Meyers  seien 
hier  genannt.  Wir  basieren  im  folgenden  auf  den  ontogenetischen  Ergebnissen 
Burys  und  Mac  Brides  und  schließen  uns  in  freierer  Weise  an  Lang  und  Bather  an. 

Die  hypothetische  bilateralsymmetrische  Stammform  der  Echinodermen  oipieuruia. 
mag  als  Dipleurula  (Fig.  124A)  bezeichnet  werden.  Wir  denken  an  ein  würm- 
chenähnlich  kriechendes  Wesen  mit  dreigliedrigem  Darmkanal.  Mund  (w)  und 
After  {an)  lagen  an  der  Bauchseite,  der  Enddarm  nach  vorne  gekrümmt.  Das 
vordere  Körperende  war  von  einem  Nervenzentrum  (Scheitelplatte  sp)  einge- 
nommen. Drei  Paare  von  Coelomsäckchen  {ax,  hy,  Is)  begleiten  seitlich  den 
Darmkanal,  in  der  Medianebene  zur  Bildung  dorsoventraler  Mesenterien  zu- 
sammentretend. Wir  bezeichnen  diese  Coelomsackpaare  in  der  Reihenfolge  von 
vorne  nach  hinten  als  Axocoel,  Hydrocoel  und  Somatocoel.  Die  paarigen  Axo- 
coelsäckchen  mündeten  am  Rücken  des  Tieres  mit  paarigen  Rückenporen  {po) 
nach  außen  und  standen  mit  den  folgenden  Hydrocoelen  durch  einen  Gang 
(Steinkanal  st)  in  Verbindung. 

Es  ist  zu  vermuten,  daß  die  Dipleurula  ein  enteropneustenähnliches  Wesen 
war.  Wir  würden  dann  das  Axocoel  dem  Eichelcoelom,  das  Hydrocoel  dem  Kragen- 
coelom,  das  Somatocoel  dem  Rumpfcoelom  von  Balanoglossus  vergleichen,  wäh- 
rend der  Rückenporus  der  Dipleurula  dem  Eichelporus  der  Tornaria  zu  homolo- 
gisieren  wäre.  Ob  die  Dipleurula  eine  frei  umherkriechende  Form  war  oder  wie 
Rhabdopleura  in  selbstgebauten  Röhren  wohnte,  mag  dahingestellt  bleiben. 


^  1 8  K.  Heider  ;  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Umwandlungen  DcF  Übergang  der  Dipleurula  zur  festsitzenden  Lebensweise  erfolgte  in  der 

der  Dipleurula.  ^/gise,  daß  das  Tierchen  sich  mit  dem  vorderen  Körperende  an  der  Unterlage 
festheftete  (Fig.  124  B),  während  der  hintere  Körperabschnitt  sich  etwas  von 
der  Unterlage  abhob.  Der  Kopflappen  des  Tieres  wurde  auf  diese  Weise  zum 
Anheftungsstiel,  Hierbei  erfuhr  das  Axocoel  eine  Streckung.  Aus  ihm,  und  zwar 
aus  dem  linken  Axocoelsäckchen  geht  der  Axialsinus  [ax')  und  die  Ampulle 
[ax")  unter  der  Madreporenplatte  der  ausgebildeten  Form  hervor. 

Die  erste  Abweichung  von  der  bilateralen  Symmetrie  der  Dipleurula  kam 
dadurch  zustande,  daß  der  Mund  nach  der  linken  Körperseite  verschoben  wurde 
(Fig.  124B  m).  Er  buchtete  bei  dieser  Wanderung  das  linke  Hydrocoelsäckchen 
ein,  welches  nun  hufeisenförmig  den  Schlund  umgab.  Frühzeitig  mögen  im 
Umkreise  des  Mundes  tentakeltragende  Arme  aufgetreten  sein,  ursprünglich 
vielleicht  nur  zwei  oder  drei,  bald  zur  Fünfzahl  übergehend  (vgl.  S.  300).  Und 
zwar  wurden  die  Radien  i  und  2  dorsalwärts,  Radius  3  nach  hinten,  die  Radien 
4  und  5  nach  der  Ventralseite  zu  entwickelt.  Der  Interradius  5 — l,  welcher  die 
Verwachsungsstelle  des  hufeisenförmigen  Ambulacralgefäßringes  in  sich  auf- 
nahm, war  nach  vorne  gerichtet.  In  diesen  Interradius  gelangen  später  der 
After  und  der  Hydroporus. 

Mit  diesen  Umbildungen,  welche  zu  regerer  organbildender  Tätigkeit  an 
der  linken  Körperseite  Veranlassung  gaben,  steht  in  Zusammenhang  die  Rück- 
bildung des  rechtsseitigen  Axocoels  mit  seinem  Porenkanal  und  des  rechten 
Hydrocoels.  Inwieweit  sich  von  diesen  Bildungen  Reste  im  Echinodermenkör- 
per  erhalten  haben  (vgl.  oben  S.  315),  soll  hier  nicht  näher  erörtert  werden.  Wir 
werden  sie  in  unseren  weiteren  Betrachtungen  vernachlässigen. 

Der  nächste  Schritt  der  Entwicklung  war  dadurch  gekennzeichnet,  daß 
der  Körper  sich  in  der  Richtung  der  früheren  Längsachse  allmählich  verkürzte 
(Fig.  124  C).  Es  war  eine  Tendenz  maßgebend,  die  Organe  um  das  durch  den 
Mund  gekennzeichnete  organbildende  Zentrum  zu  massieren.  So  gelangte  der 
Darm  zur  charakteristischen  Form  einer  dexiotropen  Spirale,  während  der 
After  [an)  nach  vorne  verlagert  wurde.  Dieser  spiraligen  Einkrümmung  des 
Darmkanals  folgten  auch  die  beiden  Somatocoelsäcke  (Fig.  124  B  Is,  rs)  und  das 
sie  trennende  dorsoventrale  Mesenterium. 
Ausbildung  des  Als  Ictztcn  Schritt  in  der  fortschreitenden  Umbildung  der  Dipleurula  zum 

Stadiums. "  Echinoderm  müssen  wir  bezeichnen  eine  Drehung  des  früheren  hinteren  Körper- 
abschnittes um  90^,  wobei  die  frühere  Hauptachse  [v — h  in  Fig.  124  C)  als  Dre- 
hungsachse fungierte.  Infolge  dieser  Drehung  kam  alles,  was  früher  an  der 
linken  Körperseite  gelegen  war,  nach  oben,  was  früher  rechts  lag,  nach  unten. 
Nun  liegt  der  Mund  dem  Anheftungspole  gegenüber  (Fig.  124D).  Der  linke  So- 
matocoelsack  ist  zum  Coelom  der  actinalen  Körperhälfte  {Is)  geworden,  wäh- 
rend sich  der  ursprünglich  rechte  Somatocoelsack  {rs)  in  das  Coelom  der  abacti- 
nalen  Seite  umwandelt.  Das  beide  trennende  ursprünglich  dorsoventrale  Me- 
senterium {ms)  ist  nun  zu  einer  horizontalen  Scheidewand  geworden.  Im  Um- 
kreise des  actinalen  Coelomsackes  (des  ursprünglich  linken  Somatocoels)  ent- 
wickeln sich  die  Platten  der  Kelchdecke  (die  Oralplatten),  während  die  Platten- 


Metamorphose  der  Dipleurula 


319 


Zyklen  des  apicalen  Systems  in  der  Umgebung  des  abactinalen  Coelomsackes 
(des  ursprünglich  rechten  Somatocoels)  gebildet  werden. 

Der  Axialsinus  gelangt  im  Verlaufe  dieser  Umbildungen  immer  mehr  in  die 
Körperachse.   Wir  haben  noch  nicht  von  der  Entstehung  des  im  Axialsinus  sich 


&x'.^ 


,ms 


-  rs 


Fig.  124.  Schemen  zur  Verdeutlicliung  unserer  Vorstellungen  bezüglicli  der  Phylogenie  der  Ecldnodermen  (im  An- 
scMusse  an  Bathek).  Da  diese  Schemen  den  verschiedenen  Entwicklungszuständen  der  Echinodermen  nachgebildet 
sind,  so  können  sie  auch  (mit  gewissen,  leicht  vorzunehmenden  Modifikationen)  zur  Verdeutlichung  der  Vorgänge 
während  der  Metamorphose  der  Echinodermenlarven  dienen.  A  sog.  Dipleurula,  ungefähr  den  Verhältnissen  von 
Fig.  121  C  sich  anlehnend,  B  und  C  Umwandlungsstadien,  hauptsächlich  nach  den  Vorgängen  in  den  Asteridenlarven 
entworfen,  D  festsitzendes  Endstadium  der  Metamorphose,  den  Verhältnissen  der  jungen  Antedonlarve  (Fig.  122  B) 
sich  nähernd,  an  After,  ax  Axocoel,  ax'  Anlage  des  Axialsinus,  ax"  Anlage  der  AmpuUe  unter  der  Madreporen- 
platte,  h  hinten,  hy  Hydrocoel,  h  linkes  Somatocoel  (in  D  aktinaler  Coelomsack),  m  Mund,  ms  horizontales  Mesen- 
terium, po  Rückenporus,  rs  rechtes  Somatocoel  (in  D  abaktinaler  Coelomsack),  sp  Scheitelplatte,  si  Steinkanal, 
V  vorne,  v—h  ursprüngliche  Körperlängsachse,    z,  2,  3,  4,  5  die  Anlage  der  fünf  Radiärgefäße  des  Ambulacralsystems. 

bergenden  Axialorganes  gesprochen,  welches  zur  Hervorbildung  der  Gonaden 
in  der  oben  (S.  308)  gekennzeichneten  Beziehung  steht.  Es  entwickelt  sich  als 
eine  Wucherung  der  Wand  des  actinalen  Coelomsackes,  welche,  die  Wand  des 
Axialsinus  vor  sich  her  stülpend,  schließlich  in  den  Axialsinus  gerät. 

Wir  haben  im  vorhergehenden  diese  ganzen,  der  Ontogenese  abgelauschten 
Umbildungsvorgänge  mehr  pragmatisch  geschildert,  ohne  uns  über  die  Ur- 
sachen dieser  einzelnen  Schritte  Rechenschaft  zu  geben.  Warum  heftete  sich 
die  Dipleurula  mit  dem  Kopfende  an,  warum  wurde  der  Mund  nach  links  und 


■I20  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

schließlich  nach  oben  verlagert,  warum  erfolgte  die  spiralige  Einrollung  des 
Darmkanals?  Hier  sei  nur  in  kurzem  angedeutet,  daß  die  festsitzende  Lebens- 
weise auch  in  anderen  Tiergruppen  ähnliche  Erscheinungen  zutage  fördert.  Der 
Übergang  zu  sedentären  Formen  wird  nicht  selten  in  der  Weise  vermittelt,  daß 
die  Anheftung  mit  dem  Kopfende  vor  sich  geht,  so  bei  den  Lepaden,  wo  auch  der 
Kopf  zum  Stiel  auswächst,  und  bei  den  Ascidienlarven.  Regelmäßig  hat  dies 
dann  gewisse  Rotationsvorgänge  zur  Folge,  durch  welche  der  Mund  in  eine 
günstigere  Lage  gebracht  wird.  Eine  Tendenz  zur  Ausbildung  radiärer  Sym- 
metrie, eine  schleifenförmige  Einrollung  des  Darms,  durch  welche  der  After  in 
die  Nähe  der  Mundöffnung  gerückt  wird,  die  Ausbildung  bewimperter,  nah- 
rungzuführender Tentakelkronen  wird  bei  vielen  festsitzenden  Tieren  be- 
obachtet. 

XI.  TUNICATA,  MANTELTIERE. 

Dies  letzte  Kapitel  führt  uns  in  jenes  Grenzgebiet,  in  welchem  die  Wirbel- 
losen und  die  Wirbeltiere  ineinander  übergehen.  Der  zwölfte  Typus  des  Tier- 
reichs (vgl.  S.  185),  die  Chordatiere  oder  Chordata,  erreicht  im  Stamme  der  Verte- 
hraten  oder  Wirbeltiere  die  höchste  Stufe  tierischer  Organisation.  Er  umfaßt 
aber  auch  eine  Reihe  niederstehender  Formen,  denen  eine  in  Wirbel  gegliederte 
Skelettsäule  fehlt,  deren  Skelettachse  nur  durch  einen  (auch  in  den  Embryonen 
der  Wirbeltiere  erscheinenden)  elastischen  Stab,  die  Rückensaite  oder  Chorda 
dorsalis  repräsentiert  ist  —  nach  diesem  Merkmal  hat  der  ganze  Typus  seinen 
Namen.  Zu  diesen  tieferstehenden  Formen  der  Chordaten  rechnen  wir  die 
Gruppe  der  Acrania  oder  Schädellosen  (Hauptvertreter:  Amphioxus)  und  die 
Gruppe  der  Manteltiere  oder  Tunicaten.  Amphioxus  kann  seiner  ganzen  Organi- 
sation nach  als  ein  Urwirbeltier  betrachtet  werden.  Er  soll  daher  aus  unseren 
hier  gegebenen  Darlegungen  ausscheiden.  Dagegen  würden  die  Tunicaten  hier 
insoferne  zu  berücksichtigen  sein,  als  in  ihnen  im  Anschlüsse  an  die  sedentäre 
Lebensweise  die  Grundzüge  der  Chordatenorganisation  mehr  und  mehr  ver- 
wischt werden  und  nur  in  ihrer  Entwicklungsweise  deutlicher  zutage  treten. 
Man  könnte  den  eigenartigen  Stamm  der  Tunicaten  in  modifizierter  Anwendung 
eines  geistvollen  Ausspruches  von  Dohrn  als  einen  verlornen  Sohn  der  Wirbel- 
tierreihe bezeichnen.  Freilich  hat  es  sein  Mißliches,  die  Gruppe  der  Tunicaten 
aus  dem  Zusammenhang  mit  den  übrigen  Chordatieren  herauszulösen  und  ge- 
sondert zur  Darstellung  zu  bringen.  Denn  ein  wahres  Verständnis  für  ihren  Bau 
und  ihre  Entwicklung  eröffnet  sich  uns  nur  durch  ständigen  Vergleich  mit  den 
übrigen  Gruppen  der  Chordaten,  vor  allem  mit  Amphioxus. 

Wenngleich  der  Stamm  der  Tunicaten  im  allgemeinen  zu  den  formenärme- 
ren Gruppen  der  tierischen  Reihe  zu  zählen  ist,  so  zerfällt  er  dennoch  in  eine 
Mannigfaltigkeit  verschiedener,  nach  Lebensweise  und  Bau  differenter  Unter- 
gruppen. Wir  rechnen  hierher  die  planktonischen  Appendicularien,  kaulquap- 
penähnlich mit  beweglichem,  gesäumtem  Ruderschwanz  umherschwimmend, 
ihrem  Bau  nach  an  Ascidienlarven  erinnernd,  ferner  die  sackförmigen  See- 
scheiden [Ascidien),  meist  festsitzende  Formen  und  häufig  mit  kleinen  durch 
Knospung  erzeugten  Individuen  stockbildend,  aber  in  den  Pyrosomen  (Feuer- 


Bau  der  Ascidien 


321 


walzen)  freischwebende,  leuchtende  Kolonien  bildend,  während  die  durch  ihren 
Generationswechsel  berühmt  gewordenen  Salpen,  schwimmenden  Tönnchen 
vergleichbar,  den  am  weitesten  abgeänderten  Typus  dieser  Gruppe  aufweisen. 
Wir  entwickeln  den  Bauplan  der  Manteltiere  an  dem  Beispiele  einer  solitären 
Ascidie.  Die  Organisation  dieser  Formen  hat  in  Bronns  ,, Klassen  und  Ordnun- 
gen des  Tierreichs"  durch  O.  Seeliger  eine  eingehende,  verdienstvolle,  durch- 
wegs auf  eigenen  Beobachtungen  fußende  Darstellung  erfahren. 

Die  Ascidien  {Seescheiden.)  finden  sich  am 
Grunde  des  Meeres  auf  Steinen  festgewachsen. 
Ihr  Körper  kann  im  allgemeinen  als  sackför- 
mig bezeichnet  werden  (Fig.  125,  126).  Sie  sind 
mit  dem  hinteren  Körperende  festgewachsen, 
während  das  vordere  Ende  in  zwei  kurzröhrige 
Siphonen  ausgezogen  erscheint,  welche  zwei 
mit  Lappen  umsäumte,  augentragende  Öff- 
nungen(Fig.  125  z  unde)  besitzen.  Diese  Leibes- 
öffnungen könnten  wir  als  Mund  und  After  be- 
zeichnen und  es  zeigt  sichhier  wieder  das  Merk- 
mal sedentärer  Formen:  U-f örmige  Einkrüm- 
mung  des  Darmes  und  Annäherung  des  Afters  ^^^ 
an  den  Mund.  Indes  hat  sich  der  Gebrauch  ein- 
gebürgert, den  Mund  dieser  Formen  als  In- 
gestionsöffnung {i),  den  After  {e)  als  Egestions- 
öffnung  zu  benennen.  Der  Körper  ist  bilateral- 
symmetrisch; wir  erkennen  aus  der  Entwick- 
lung der  Seescheiden,  daß  jene  Seite  des  Kör- 
pers, welcher  die  Ingestionsöffnung  genähert 
ist,  als  Bauchseite  (z;^),  die  gegenüberliegende   Fig.  125.    Mediansdmitt  durch  eine  Ascidie 

/,viT-..-i  -j  ij_  li.  -1.  Ansicht   von    der   linken  Körperseite.      Schema. 

{do)    als    Ruckenseite    zu    betrachten    ist.  ^/  cioake,  do  dorsal,  e  Egestionsöffnung,  e^  Ein- 

Ihren  Namen  führen  die  Manteltiere  von   f  °°  '°  t^°  ^^='^.'^°  Penbranchiaisack,  ^^End- 

darm,  /i  hinten,  i  Ingeshonsöftnung,  As  Kiemen- 

ihrer  Körperbedeckung,    die   nach    mancher   spalten,  ?u  Mantel,  md  Mitteidarm,  ?«^  Magen, 

.        .  ,  ...         ,y^.  •.        '«■?  Mesenchym,  ö.»  Oesophagus, /^  rechter  Peri- 

HmSlcht  merkwürdig  ist  (r  lg.   125  W,    135   Wi).     brancWalsack,    M    Pharynx,     ^    Tentakelkranz, 

Die  ganze  Oberfläche  ist  von  einer  knorpel-  ^  ^'°"'^'  ^"  ^^°*'-^^- 

ähnlichen,  halbdurchscheinenden  Schicht  überdeckt  (Mantel  oder  genauer: 
Cellulose-Mantel),  welche  ihrem  Ursprünge  nach  als  ein  cu  iculares  Abschei- 
dungsprodukt  des  oberflächlichen  Körperepithels  (Ektoderms)  zu  betrachten 
ist  und  eine  Substanz  enthält,  die  sich  nach  ihrer  Zusammensetzung  und  ihren 
Reaktionen  von  derCellulose  der  Pflanzen  nicht  wesentlich  unterscheidet.  Durch 
amoeboide  Einwanderung  von  Mesodermzellen,  welche  auf  ihrem  Wege  das  ekto- 
dermale  Epithel  durchsetzen,  erhält  dieser  Mantel  sekundär  den  histologischen 
Charakter  eines  Bindegewebes. 

Bei  der  Betrachtung  des  inneren  Baues  der  Ascidien  wollen  wir  uns  zunächst 
an  die  Darmschleife  halten.  Vorerst  sei  bemerkt,  daß  sich  zwischen  Körper- 
wand (Ektoderm)  und  Darmwand  (Entoderm)  als  mittlere  Schicht  nur  mesen- 


BauderAscidien. 


K.  d.  G.III.iv,Bd2  Zellenlehre  etc.  II 


21 


322 


K.  Heider  :  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


—an 


chymatisches  Gewebe  (Fig.  125  ms)  einschiebt.  Ein  Coelom  —  irgend  etwas  einer 
sekundären  Leibeshöhle  Vergleichbares  —  fehlt  diesen  Tieren. 

Wir  fassen  zunächst  ins  Auge,  daß  der  Anfangs-  und  Endabschnitt  des 
schleifenförmig  gebogenen  Darmes  besonders  erweitert  erscheinen.  Die  In- 
gestionsöffnung (Fig.  125  i)  führt  in  einen  erweiterten  Anfangsteil  (Pharynx /)Ä), 
während  der  erweiterte  Endabschnitt  als  Kloake  [cl)  bezeichnet  wird,  weil  er  die 

Kotmassen  und  Geschlechtsprodukte 
in  sich  aufnimmt  und  sie  durch  die 
Egestionsöffnung  entleert.  Der  mitt- 
lere Teil  der  Darmschleife  gliedert 
sich  in  Oesophagus  {pe),  Magen  [mg], 
Mitteldarm  [md)  und  Enddarm  {ed). 
Es  hat  sich  der  Mißbrauch  eingebür- 
gert, die  Übergangsstelle  des  Pharynx 
in  den  Oesophagus  als  Mund,  die  Aus- 
mündung des  Enddarmes  in  dieKloake 
als  After  (Fig.  126  an)  zu  bezeichnen. 
Obgleich  man  für  die  erstere  Öffnung 
jetzt  wohl  gewöhnlich  den  Ausdruck 
,,Oesophaguseingang"  verwendet,  so 
hat  sich  die  Bezeichnung ,,  After"  doch 
erhalten.  Sie  ist  auch,  wie  wir  sehen 
werden,  entwicklungsgeschichtlich 
begründet.  Es  schreibt  sich  diese  Be- 
zeichnungsweise von  den  Zeiten  her, 
da  man  bestrebt  war,  die  Organisation 
der  Ascidien  auf  die  der  Lamelli- 
\j       '  branchiaten  zurückzuführen.  Wirer- 

Fig.  126.     Linke  Seitenansicht  eiTerAscfdie;  Schema.    Vgl.     WähnCn      VOU     AnhangSgcbildeU      dcS 

Fig.  125.   a-3  Höhe  des  Querschnittes  Fig.  127,  a«  After,   ßarmcs  die  IhrcrFunktion  uach rätscl- 

bl  Blutgefäße,     dn    dorsaler    Ganglienzellstrang,     dr    darm- 
umspinnende Drüse,  e  Egestionsöffnung,  en  Endostyl  (Hypo-  hafte    darmUmSpiunCUde    DrÜSC    (Fig. 
branchialrinne,  ep  Epicard,  er  Epibranchialrinne,  f  Flimmer-  ^     ,    ,        .                           .                                         , . 
grübe,   fb  Fümmerbogen.    g  Gehirn,    h  Herz,    i  Ingestions-  120  rf^),  Cin  VCrZWClgtCS,  ZartWaudlgCS 

öfihung,   ...  oyarium,  /  Pericardiaisack,  /*  Unker  Peri-   Darmdivertikclwelches  vou  dcr Über- 

brancrualsack,  t   ientakelkranz,  te  Moden,  z  Zungelcnen  der  ' 

Dorsaiiamina.  gangsstcllc  dcs  Magcus  in  den  Mittel- 

darm entspringend  sich  mit  zahlreichen  Endästen  am  Enddarm  verzweigt. 

Vom  Pharynx  sei  zunächst  erwähnt  (Fig.  125  pK)^  daß  seine  Wand  von 
zahlreichen,  in  Querreihen  angeordneten  Kiemenspalten  [ks)  durchbohrt  ist. 
Die  Kloakenhöhle  (d)  hat  in  Wirklichkeit  eine  viel  größere  Ausdehnung  als 
dies  aus  unserem  schematischen  Medianschnitt  zu  ersehen  ist.  Sie  bildet  näm- 
lich zwei  seitliche  Divertikel,  welche  den  Pharynx  von  rechts  und  links  um- 
fassen (Fig.  125,  126  ph).  Diese  Divertikel  werden  nicht  mehr  zur  Kloake  im 
engeren  Sinne  hinzugerechnet,  sondern  als  Peribranchialräume  bezeichnet.  Der 
Pharynx  ist  sonach  seitlich  vollkommen  von  den  beiden  Peribranchialsäcken 
umschlossen  (Fig.  127  phxxnA  ph).  Die  Kiemenspalten  (^5),  welche  die  Pharynx- 


-  -OV 


Bau  der  Ascidien  ^2^ 

wand  durchbohren,  öffnen  sich  in  die  Peribranchialräume.  Das  Atemwasser 
gelangt  durch  die  Ingestionsöffnung  in  den  Pharynx,  es  fließt  durch  die  Kie- 
menspalten in  die  Peribranchialräume  und  von  hier  durch  die  Kloake  und 
Egestionsöffnung  nach  außen.  Die  Entwicklungsgeschichte  lehrt,  daß  diese 
beiden  Peribranchialsäcke  von  dem  ganzen  System  der  Kloakenhöhle  zuerst 
angelegt  werden  (Fig.  134  pb),  daß  die  Kloake  durch  mediodorsale  Verwach- 
sung der  beiden  Säcke  gebildet  wird.  Wenn  wir  die  Verhältnisse  der  Appen- 
dicularien  herbeiziehen,  so  erinnern  uns  diese  Peribranchialsäcke  in  auffallen- 
der Weise  an  die  Kiemengänge  von  Balanoglossus  (Fig.  lOI  kg). 

Wir  müssen  noch  bei  der  Schilderung  der  Pharynxhöhle  verweilen.    Sie 
enthält  eigentümliche   Wimpereinrichtungen,  ^/i 

die  unser  Interesse  in  Anspruch  nehmen,  weil  z-^^^S^^^^^^^^^^^ 

sich  Spuren  davon  bei  Amphioxus  und  bei  den  /S^  ^^  '^^^<\ 

Jugendformen  der  Neunaugen  erhalten  haben,    l^      M'^ /^^-~^<:^6~^\\\ 
Wir  gelangen  von  der  Ingestionsöffnung  aus-  '^pt'n         U  '""^^V^    vl'"^ 

gehend  zunächst  in  einen  Vorraum:  die  durch  |  ^"W         /7y4  p  'ttP^ 

ektodermale  Einstülpung  entstandene  Mund-  p6----VX'\\^  M  hl 

höhle,  welche  gegen  den  Pharynx  durch  einen  ^%k^^M^-^^^ 

Tentakelkranz  (Fig.  125,  126  t)  abgegrenzt  ist,  ^^^i^MMfr-^^^ 

Diese  ,,couronne  tentaculaire"  nicht  selten  auf  \ 

einem wulstförmigen  ,,cercle  coronal"  inseriert,  -^^ 

findet  sich  ebenso  bei  Amphioxus  auf  dem  sog.    ^'f-^^^-    Querschnitt  durch   die  Kiemen- 

r  o       region  einer  Ascidie  in  der  Hohe  der  Linie  a — b 

Velum,  das  auch  bei  dem  Ammocoetes- Stadium   i"  Fi&-  ^-^-   "^  cioaUe,  </«  dorsaler  Gan-uen- 

_^  •      1       1      1  T-v         xii  zellstrang,    en  Endostyl    (Hypobranchialrinne), 

der  retromyzonten  wiederkehrt.  Der  Pharynx  ks  Kiemenspaiten,  pb  Peribranchialsäcke,  pk 
der  Tunicaten  besitzt  in  seiner  ventralen  Mit-  '''"'^■"-'' '  ^üngeichen  der  DorsaUamina. 
tellinie  eine  drüsige  Flimmerrinne  (Hypobranchialrinne  Fig.  126  en).  Als  Endo- 
styl bezeichnet,  gehört  sie  zu  den  typischesten  Bildungen  in  der  Anatomie 
aller  Tunicaten.  Ihr  entspricht  an  der  Dorsalseite  des  Pharynx  eine  ähnliche, 
längsverlaufende  Flimmerrinne,  die  Epibranchialrinne  {er),  welche  aber  bei  den 
meisten  Ascidien  nur  in  ihrem  vorderen  Teile  ausgebildet  weiter  hinten  durch 
eine  Reihe  von  züngeiförmigen  Vorsprüngen  (,,languettes"  auf  der  Dorsallamina 
sitzend  Fig.  126,  127  z)  vertreten  ist.  Der  Endostyl  geht  vorne  in  zwei  Flim- 
merrinnen (die  sog.  Flimmerbogen  Fig.  126  fb)  über,  welche  den  Pharynx 
umkreisend  dorsalwärts  in  das  Vorderende  der  Epibranchialrinne  einmünden. 
An  der  Stelle,  an  welcher  die  Flimmerbogen  in  die  Epibranchialrinne  über- 
gehen, findet  sich  die  sog.  Flimmergrube  (/),  die  Ausmündungsstelle  einer  unter 
dem  Gehirn  gelegenen  Drüse  (Neuraldrüse),  welche  man  der  Hypophyse  der 
Wirbeltiere  verglichen  hat.  Die  Ascidien  ernähren  sich  von  kleinsten  im 
Meereswasser  suspendierten  Partikelchen  eines  organischen  Detritus,  welche 
in  der  Pharynxhöhle  von  dem  Wimperstrom  des  Endostyls  erfaßt  und  mit 
Schleim  umhüllt  längs  dieser  Rinne  nach  vorne  geführt  werden.  Sie  ge- 
langen sodann  auf  dem  Wege  der  Flimmerbogen  in  die  Epibranchialrinne 
und  längs  der  Dorsalwand  des  Pharynx  nach  hinten  ziehend  in  den  Oeso- 
phaguseingang. 

2  I  * 


^24  K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 

Als  Nervenzentrum  dient  ein  Ganglienknötchen  (Fig.  126  g),  welches  in 
der  Gegend  zwischen  dem  Egestions-  und  Ingestionssipho  zu  finden  ist  und 
von  dem  mehrere  Paare  von  Nerven  ausstrahlen.  Nach  hinten  setzt  es  sich 
in  einen  unpaaren  dorsalen  Ganglienzellstrang  {dn,  auch  in  Fig.  127)  fort,  in 
welchem  wir  die  rudimentäre  Anlage  eines  Rückenmarks  erblicken. 

Das  Zirkulationssystem  besteht  aus  zwei  einander  ganz  fremdartig  gegen- 
überstehenden Teilen,  von  denen  der  eine  die  als  Lücken  im  Bindegewebe  zu 
betrachtenden  Blutbahnen  (Fig.  126  bl)  umfaßt,  während  der  andere  durch  das 
in  einem  Pericardialsäckchen  {p)  geborgene  Herz  (h)  vertreten  ist.  Um  das 
Verhältnis  des  Herzens  zum  Pericardialsäckchen  verständlich  zu  machen,  wird 
es  sich  empfehlen,  auf  die  Entwicklung  dieser  Bildungen  kurz  einzugehen.  Das 
.  \\  \\  ".  ".,  \  \  '.\- ,  Pericardialsäckchen  wird  durch  Di  vertikelbildung  von 

^l-—^p  der  Pharynxwand  abgeschnürt  an  jener  Stelle,  an  wel- 
cher sich  das  hintere  Ende  des  Endostyls  befindet.  Es 
ist  ursprünglich  ein  einfaches  rundliches  Säckchen, 
welches  aber  durch  rinnenförmige  Einbuchtung  seiner 
dorsalen  Wand  zu  einem  doppelwandigen  Rohre  um- 
:\l^^/i.  gebildet  wird  (Fig.  128).  Die  beiden  Enden  dieses 
°  "  "•  '     '  \  ■    *    '  Rohres  gehen    in  die  Hauptblutbahnen  des  Körpers 

p  über  (Fig.  126  h).    Die  äußere  Wand  des  Rohres  wird 

Fig.  128.   Herz,  Pericard  und  Epi-  jetzt  zum  Pcricardialepithel ,  der  Zwischenraum  zwi- 

card   einer  Ascidie  im  Querschnitt.  .  ^  1111 

Man  vergleiche  Fig.  126  bei  /.  schcn  äußcrcr  und  mnerer  Wand  zur  Herzbeutelhöhle 
./  Epicard,  /.  Herz,  /  Pericard.  ^p-^^  ^^8  />) ;  dic  inuerc  Wand  dcs  Rohrcs  wird  mus- 
kulös umgebildet  zur  Wand  des  Herzschlauches,  der  in  seinem  Inneren  den 
blutführenden  Hohlraum  (Fig.  128  h)  birgt.  Dieser  Hohlraum  müßte  dorsal- 
wärts  noch  geöffnet  sein,  wenn  nicht  die  daselbst  befindliche  Lücke  durch 
verdichtetes  Bindegewebe  geschlossen  würde.  Ein  inneres  Epithel  der  Herz- 
höhle, ein  Endocard,  fehlt.  Die  Blutbahnen,  welche  an  der  einen  Seite  in  das 
Herzrohr  hineinführen  und  dasselbe  an  der  anderen  Seite  verlassen,  sind  wan- 
dungslose Lacunen  im  mesenchymatischen  Bindegewebe.  Ungemein  auffällig 
ist  die  bei  allen  Tunicaten  zu  beobachtende,  in  regelmäßigen  Zwischenpausen 
erfolgende  Umkehr  in  der  Richtung  des  Blutstromes,  durch  welche  alle  Blut- 
bahnen, die  noch  soeben  als  Arterien  angesprochen  werden  mußten,  in  Venen 
umgewandelt  werden  und  umgekehrt. 

Ähnlich  Vv-ie  sich  das  Pericardialsäckchen  durch  Divertikelbildung  von 
der  Pharynxwand  abschnürt,  entsteht  ein  zweiter  zartwandiger  Schlauch  dor- 
salwärts  vom  Herzen,  das  sog.  Epicard  (Fig.  126,  128  ep),  eine  Bildung,  welche  bei 
denKnospungsvorgängen  der  sozialen  Ascidien  zum  Teil  eine  wichtige  Rolle  spielt. 

Die  Geschlechtsorgane  sind  zwitterig.  Hoden  (Fig.  126  te)  und  Ovarien 
[ov]  liegen  meist  in  der  Darmschleife  und  münden  durch  gesonderte  Ausführungs- 
gänge in  die  Kloake. 

Alles,  was  wir  von  Exkretionsorganen  der  Ascidien  zu  sagen  wissen,  ist, 
daß  im  Mesenchym  geschlossene  Bläschen  beobachtet  werden,  in  denen  sich 
Harnkonkremente  vorfinden. 


Nervensystem,  Zirkulationssystem,  Geschlechtsorgane,  Entwicklung  der  Ascidien     325 


£-C 


^71. 


71T 


Von  hohem  Interesse  und  ein  beliebtes  Thema  embryologischer  Studien    Asddien- 

•  .  entwickluug. 

sind  die  Entwicklungsvorgänge  im  Ei  der  Ascidien  und  noch  merkwürdiger 
sind  die  verschiedenen  an  den  Knospen  der  Tunicaten  zu  beobachtenden  Um- 
bildungsprozesse. Letztere  können  uns  hier  nicht  beschäftigen.  Aus  dem  Ei 
der  Ascidien  schlüpft  eine  kleine,  freischwim-  '^'^^ 

mende,  kaulquappenähnliche  Larve  (Fig.  134), 
an  welcher  wir  einen  vorderen  rundlichen  Kör- 
perabschnitt und  einen  mit  vertikalem  Flossen- 
saum versehenen,  seitlich  beweglichen  Ruder- 
schwanz unterscheiden.  Letzterer  ist  ein  ver- 
gängliches Larvenorgan.  Die  Organisation  der 
Ascidie  wird  im  vorderen  Körperabschnitt  an- 
gelegt. Über  die  ersten  Entwicklungsvorgänge 
im  Eie  gehen  wir  flüchtig  hinweg.  Wir  müssen 
es  uns  versagen,  über  die  erstaunlichen  Ergeb- 
nisse Conkhns  zu  berichten,  der  die  Teilungen 
der  Zellen,  ihren  Stammbaum  und  ihr  mit  fort- 
schreitender Differenzierung  immer  kompli- 
zierter werdendes  Gefüge  bis  zum  Stadium  von 
218  Zellen  auf  das  Genaueste  verfolgte.  Wir 
sind  durch  diese  Untersuchungen  in  die  Lage 
versetzt,  bestimmte  Organanlagen  in  ihren 
ersten  Anfängen  zu  erkennen.  Die  Furchung 
der  kleinen,  dotterarmen  Eier  ist  eine  totale  und 
ziemlich  aequale.  Es  kommt  zur  Bildung  eines 
Blastulastadiums  mit  ziemlich  engem  Blasto- 
coel  und  einer  Gastrula,.  die  wir  mit  gewissen 
Reservationen  als  Invaginationsgastrula  in 
Anspruch  nehmen  können  (Fig.  129  A).  Hier 
nur  ein  paar  Worte  über  die  Orientierung  dieses 
Stadiums.  Der  Keim  der  Ascidien  ist  von  An- 
fang an  bilateralsymmetrisch  gebaut.  Bei  allen    ^„^^^  ^^.^^^^^^  ,^  urmund  (Biastoporus),  cn 

Chordaten    liegt  der    UrmUnd  (BlaStOpOrUS)    an      Neurointestinalkanal,    ec  Ektoderm,    en  Ento- 

.  .  .     .  derm,    h  hinten,    np   Neuroporus    anterior,    nr 

der  späteren  Dorsalseite  und  bei  den  Ascidien    Neurairohr,  v  vom,  veg  vegetativer  Poi  der 

1..  •        ..■•ii'ij  /—       i.       1       J.J'  primären  Eiachse. 

können   wir  tatsachlich  das  Gastrulastadium 

so  orientieren,  daß  die  primäre  Eiachse  auf  die  spätere  Körperlängsachse  senk- 
recht steht.  Es  entspricht  der  vegetative  Pol  (z;gg)  der  Mitte  des  späteren 
Rückens,  der  animale  Pol  (aw,  durch  die  Richtungskörperchen  gekennzeichnet) 
der  Mitte  der  Bauchfläche.  Bei  den  meisten  Chordaten  (bei  Amphioxus,  bei 
den  Amphibien)  steht  die  primäre  Eiachse  zur  Körperlängsachse  schräg, 
indem  der  animale  Pol  vorne  ventralwärts,  der  vegetative  Pol  hinten  dorsal- 
wärts  gelegen  ist.  Was  wir  zunächst  zu  betrachten  haben,  ist  die  allmähliche 
Verengerung  des  Urmundes,  während  der  ganze  Keim  sich  in  der  Richtung 
der  späteren  Längsachse  streckt  (Fig.  129  B).   Die  Verengerung  des  Urmundes 


c/i 


Fig.  129.  Drei  Entwicklungsstadien  der  As- 
cidien im  Medianschnitt.  Alle  drei  Stadien 
sind  in  gleicher  Weise  orientiert.  Ansicht 
von  der  linken  Körperseite.  A  Gastrula  mit 
weitem  Urmund,  B  Gastrula  mit  verengtem 
Urmund,  C  sog.  Neurula,  nach  Entwicklung 
des   Neuralrohres.     an  animaler  Pol   der   pri- 


326 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


.a 


vollzieht  sich  in  der  Weise,  daß  die  hintere  Urmundlippe  in  ihrer  Lage  sta- 
tionär bleibt,  während  die  seitlichen  und  die  vordere  Urmundhppe  mehr  und 
mehr  zusammenrücken  (Fig.  130).  Es  bleibt  auf  diese  Weise  schließhch  ein 
hinten  gelegener  kleiner  Eingang  in  den  Urdarm  übrig;  die  Darmhöhle  hat 
nun  in  ihrem  vorderen  Abschnitte  ein  dorsales  Dach  bekommen  (Fig.  129  B). 
Es  ist  mehr  auf  theoretischen  Annahmen  begründet,  wenn  man  im  allgemeinen 
für  die  Chordaten  annimmt,  daß  der  Verschluß  des  Urmundes  durch  eine  Ver- 
wachsung der  seitlichen  Urmundlippen  in  einer  dorsomedianen  Verwachsungs- 
naht erfolgt.    Wenngleich  wir  diesen  Annahmen  beipflichten,  so  ist  doch  in 

der  Embryogenese  der  Ascidien  tatsächlich  von  dieser 
Form  des  Urmundschlusses  kaum  etwas  zu  erkennen. 

Das  zweischichtige  Dach,  welches  sich  durch  den 
Verschluß  (resp.  die  Verengerung)  des  Urmundes  an  der 
Rückenseite  des  Keimes  entwickelt  hat,  ist  der  Sitz 
-ö'  regster  Organbildung.  Hier  machen  sich  bald  sowohl  in 
dem  äußeren  Keimblatte  (Ektoderm),  als  auch  im  inneren 
Keimblatte  (Entoderm)  wichtige  Differenzierungspro- 
zesse bemerkbar.  DieUmwandlungen  der  äußeren  Keimes- 
schichte führen  zur  Entwicklung  des  Neuralrohres,  der 
röhrenförmigen  Anlage  des  Zentralnervensystems  (Fig. 
129,  131  nr).  Wir  beobachten  zunächst,  wenn  wir  den 
Embryo  von  der  Dorsalseite  betrachten,  die  Ausbildung 
einer  medianen  Rinne  (Fig.  131  A  wr),  welche  auf  den 
Blastoporusrest  {bp)  zustrebt  (Medullarrinne)  und  von 
zwei  seitlichen  hinter  dem  Urmund  ineinander  übergehen- 
den Erhebungen  {mw,  Medullarwülste)  begrenzt  ist.  Die 
Medullarwülste  verwachsen  miteinander  (Fig.  13  iB,  vgl.  auch  Fig.  132).  Hierdurch 
wird  die  Medullarrinne  zu  einem  Rohre  (Medullarrohr  oder  Neuralrohr)  geschlos- 
sen. Diese  Verwachsung  schreitet  in  der  Richtung  von  hinten  nach  vorne  vor,  so 
daß  das  Neuralrohr  an  seinem  vorderen  Ende  längere  Zeit  geöffnet  bleibt  und 
diese  Öffnung  ist  der  sog.  Neuroporus  anterior  [np  in  Fig.  131  C).  Aus  der  Ent- 
wicklungsweise des  Neuralrohres  ergibt  sich,  daß  sein  Lumen  hinten  durch  den 
Blastoporusrest  mit  der  Darmhöhle  in  Verbindung  bleibt  (Fig.  129  C).  Diese 
Kommunikation,  welche  bei  den  Ascidien  frühzeitig  zurückgebildet  wird,  wird 
als  Neurointestinalkanal  bezeichnet  [cn).  Sie  hat  in  den  theoretischen  Aus- 
einandersetzungen über  die  Entwicklung  der  Vertebraten  eine  bedeutungsvolle 
Rolle  gespielt. 

Die  Entwicklungsvorgänge,  welche  sich  am  inneren  Keimblatt  an  dem 
Dach  der  Urdarmhöhle  abspielen,  sind  nicht  weniger  wichtig.  Hier  können  wir 
frühzeitig  drei  durch  gewisse  histologische  Merkmale  gekennzeichneteZellgruppen 
unterscheiden,  eine  mediane  und  zwei  seitliche  (Fig.  132  ch  und  ms).  Die  Zellen 
der  medianen  Gruppe  ordnen  sich  zu  einem  Zellstrang  an,  aus  welchem  die 
Chorda  dorsalis,  der  axiale  Skelettstab,  hervorgeht  (Fig.  132 — 135  c/i),  während 
die  beiden  seitlichen  Gruppen  sich  als  Mesodermanlagen  (Fig.  132  ms)  von  der 


Fig.  130.  Gastrula  einer  As- 
cidie  mit  verengtem  Blastoporus 
in  der  Ansicht  vom  Rücken 
(vgl.  Fig.  129  jS).  Zur  Verdeut- 
lichung der  Art  des  Urmund- 
schlusses. Die  punktierten  Linien 
a  und  a' kennzeichnen  die  frühere 
Ausdehnung  des  Urmundes. 


Ascidienentwicklung 


ö2^ 


Darmwand  trennen.  Wir  wissen  aus  der  Entwicklung  des  Amphioxus,  daß 
die  Sonderung  dieser  Anlagen  sich  bei  dieser  Form  durch  Faltenbildung  voll- 
zieht. Aus  den  beiden  seitlichen  Falten  gehen  die  Coelomhöhlen  der  Acrania 
hervor.  Bei  den  Ascidien,  denen  ein  Coelom  völlig  fehlt,  werden  diese  Anlagen 
als  solide  Zellgruppen  aus  dem  Gefüge  der  dorsalen  Darmwand  ausgeschaltet. 
Nach  Abtrennung  der  Chordaanlage  und  der  mesodermalen  Zellgruppen  schließt 
sich  die  Darmanlage  zu  einem  Rohre  zusammen  (Fig.  132  C  d). 


nr 


~/^TL 


Fig.  131.     Ascidienembr3onen,    vom    Rücken    gesehen.      Schemen    zur  Verdeutlichung    der    Entwicklungs weise     des 
Neuralrohres.      bp  Blastoporus,    nir  Medullarrinne,    mw   Medullarwülste,    np   Neuroporus  anterior,     nr  Neuralrohr, 

cn  Neurointestinalkanal. 


A  ^v 


rnnr 


ms 


^C 


Fig.  132.     Drei  Stadien  der  Organentvvicklung  im  Ascidienembryo,  im  schematischen  Querschnitt,     ch  Chordaanlage 
(gestrichelt),  d  Darnikanal,  ec  äußeres  Keimblatt,  en  inneres  Keimblatt,  »ir  Medullarrinne,  »is  Mesoderm  (punktiert), 

mw  Medullarwülste,  nr  Neuralrohr. 

Der  Embryo  gewinnt  nun  bei  seitlicher  Betrachtung  eine  birnförmige  Ge- 
stalt (Fig.  133).  Es  macht  sich  hierdurch  die  Scheidung  in  einen  breiteren,  vor- 
deren Körperabschnitt  und  in  einen  Schwanzabschnitt  geltend.  Wir  bemerken, 
daß  die  Chordaanlage  und  die  Mesodermanlagen  eine  Tendenz  zeigen,  mehr 
in  den  Schwanzabschnitt  zu  rücken. 

Auch  an  der  paarigen  Mesodermanlage  ist  die  Trennung  in  einen  Rumpf- 
und Schwanzabschnitt  zu  erkennen  (Fig.  133  B).  Vorne  im  Rumpfe  findet  sich 
eine  Anhäufung  kleinerer  Zellen,  aus  denen  die  Mesenchymzellen  der  Ascidie 
hervorgehen  (Fig.  134  ms).  Im  Schwanzabschnitt  werden  die  Mesodermzellen  in 
drei  übereinanderliegenden  Reihen  angeordnet.  Aus  ihnen  geht  die  Schwanz- 
muskulatur hervor  (Fig.  135  my).  Der  Darm  bildet  im  vorderen  Körperabschnitt 
ein  rundliches  Säckchen  (Fig.  133  Aö^),  während  er  im  Schwanzabschnitt  nun 


328 


K.  Heider:  Entwicklungsgeschichte  und  Morphologie  der  Wirbellosen 


nur  mehr  durch  einen  soHden  Zellstrang  {en),  vertreten  ist,  welcher  bald  der  Auf- 
lösung anheimfällt  (sog.  subchordaler  Entodermstrang  Fig.  134,   135  en). 

Die  folgenden  Stadien  führen  bereits  zum  Bau  der  freischwimmenden  Kaul- 
quappenform hinüber  (Fig.  134).  Die  Sonderung  in  einen  vorderen  Körper- 
abschnitt und  einen  im  Embryo  ventralwärts  eingekrümmten  Schwanz  ist  deut- 
licher geworden.  Vorne  finden  sich  drei  Haftpapillen  {h),  mit  denen  die  Larve 
bei  ihrer  Festsetzung  sich  anheftet.    Dorsalwärts  ist  der  Mund  {i)  durchge- 


^r   ^/i 


ym 

,-^A 


Fig.  133.  Linke  Seitenansicht  zweier  etwas  späterer  Embr3'onen  von  Ascidien.  Schema  nach  Van  Beneden  und  Jcjlin. 
Vgl.  Fig.  129  C.  A  im  Medianschnitt,  B  mehr  seitlich  gesehen,  um  die  Mesodermanlage  darzustellen,  ch  Chorda, 
d  Darm,  en  subchordaler  Zellstrang  {=  rudimentäre  Darraanlage  der  Schwanzregion),  ms  Mesoderm,  np  Neuroporus 

anterior,  nr  Neuralrohr. 

Fig.  134.  Ascidienembryo 
nahe  dem  Ausschlüpfen. 
Nach  KowALEWSKY.  Der 
bauchseitig  eingekrümmte 
Schwanz  ist  nur  zum  Teil 
gezeichnet,  att  Auge,  ch 
Chorda,  d  Darmanlage, 
en  subchordaler  Ento- 
dermzeUstrang,  f  Anlage 
der  Flimmergrube,  h  Haft- 
papillen, i  IngestionsöfiF- 
nung  (]Mund),  ms  Mesen- 
chymzeUen,  pb  Anlage  der 
linken  Peribranchialhöhle, 
ph  Pharynx,  oi  Ohr,  7-g 
Rumpfganglion  (mittlerer 
Teil  des  Neuralrohres), 
rni  Rückenmark  des 
Schwanzabschnittes,  sb 
Sinnesblase. 

brochen.  Während  das  ganze  Darmsäckchen  eigentlich  später  zum  Pharynx 
{ph)  der  Ascidie  sich  umbildet,  wächst  aus  seinem  hinteren  Ende  die  übrige 
Darmanlage  [d)  knospenartig  hervor.  Am  Neuralrohr  sind  drei  Abschnitte  zu 
unterscheiden:  vorne  findet  sich  eine  blasenförmige  Erweiterung,  die  sog.  Sinnes- 
blase (.?&),  in  deren  Wand  sich  zwei  als  Auge  [au)  und  Ohr  [pi)  gedeutete  Sinnes- 
organe vorfinden ;  wir  können  diesen  Abschnitt  der  Gehirnregion  der  Vertebraten 
entfernt  vergleichen.  Es  folgt  sodann  ein  an  Ganglienzellen  reicher  Übergangs- 
teil  (sog.  Rumpfganglion  rg),  welcher  einer  Medulla  oblongata  vergleichbar  in 
das  verengte  Rückenmark  des  Schwanzabschnittes  (rm)  hinüberleitet.  Der 
Neuroporus  anterior  hat  sich  vorübergehend  geschlossen.  Dagegen  ist  nun  die 
Sinnesblase  durch  sekundären  Durchbruch  mit  dem  vordersten  Teile  des  Darm- 
kanals in  Verbindung  getreten  und  dieses  kurze  Kommunikationsröhrchen  ist 


Spätere  Stadien  der  Ascidienentwicklung 


329 


die  Anlage  der  späteren  Flimmergrube  (Fig.  134  /).  Es  sind  sonach  die  Flimmer- 
grube und  die  Neuraldrüse  als  abgegliederte  selbständig  gewordene  Partien  des 
vordersten  Abschnittes  des  Neuralrohres  anzusehen. 

Zu  beiden  Seiten  des  Körpers  entstehen  nun  säckchenförmige  Hautein- 
stülpungen: die  Anlagen  der  Peribranchialsäcke  [pb),  welche  sich  bald  an  den 
Seiten  des  Darmes  ausbreiten.  Frühzeitig  kommen  in  der  Scheidewand,  welche 
die  Peribranchialsäckchen  von  dem  Darmlumen  trennt,  die  ersten  Kiemen- 
spalten zum  Durchbruch.  Die  äußeren  Öffnungen  der  Peribranchialsäckchen 
wandern  dorsalwärts  und  verschmelzen  miteinander  in  der  dorsalen  Mittel- 
linie. Auf  diese  Weise  wird  die  Kloakenöffnung  (die 
Egestionsöffnung)  gebildet.  Inzwischen  ist  an  der 
Körperoberfläche  als  cuticulare  Ausscheidung  die 
erste  Anlage  des  Cellulosemantels  aufgetreten. 

Die  Festheftung  der  freischwimmenden  Larve  nr--.. 
vollzieht  sich  mit  dem  vorderen  Körperende  unter 
Vermittlung  der  erwähnten  Haftpapillen  (/i).  Während 
der  Larvenschwanz  rückgebildet  wird  erfolgt  eine  Ro-  cri  - 
tation  des  Körpers,  durchweiche  die  Ingestionsöffnung 
und  die  Egestionsöffnung  an  das  obere  dem  Festhef- 
tungspunkt  gegenüber  gelegene  Körperende  verlagert 
werden. 

Betrachten  wir  zum  Schluß  einen    Querschnitt 
durch  den    Ruderschwanz    einer   freischwimmenden    Fig.  135.    Querschnitt  durch  den 

,      .  ,  -j   .  ,  1     n      1  1  1         Schwanzabschnitt     einer    Ascidien- 

Ascidienlarve  (Fig.  135).  Wir  sehen,  daß  der  dorsale  larve.  schematisch  nach ;seeuger. 
und  ventrale  Flossensaum  ausschließlich  vom  Cellu-  ^^^^S^^^^^:^:^^;^^. 
losemantel  gebildet  werden.  In  der  Medianebene  fin-    zeUstrang  (vertritt  hier  den  Darm), 

f!  Rückenflosse,  fl'  Bauchflosse,  int 

den  sich  drei  längsverlaufende  Organe:  dorsalwärts  "zeUuiosemantei,    tny  Muskeizeiien 

,  -T  11        /\-  ^        -\ic  A  i  i-r^i  1         1  T  des  Mesodeims.  nr  Neuralrohr. 

das  Neuralrohr  (wr),  m  der  Mitte  die  Chorda  dorsahs 

{ch)  und  ventralwärts  der  entodermale  Zellstrang  [en],  der  hier  die  Darmanlage 
vertritt.  Zu  beiden  Seiten  finden  wir  Mesodermzellen  [yny  Myoblasten),  welche 
an  ihrer  Oberfläche  längsverlaufende  Muskelfibrillen  abgeschieden  haben,  die 
hier  im  Querschnitt  getroffen  sind.  Was  wir  hier  sehen,  ist  der  schematische 
Querschnitt  durch  ein  Wirbeltier  in  vereinfachtester  Form.  Der  Körper  von 
Amphioxus  weist  wie  der  der  Vertebraten  eine  deutliche  metamere  Segmen- 
tierung auf.  Man  hat  sich  bemüht,  Spuren  solcher  Gliederung  im  Schwanzab- 
schnitt der  Appendicularien  und  der  Ascidienlarven  nachzuweisen  und  glaubte 
solche  in  der  ziemlich  regelmäßigen  Anordnung  peripherer  von  dem  Rücken- 
mark abtretender  Nervenwurzeln  gefunden  zu  haben.  Im  allgemeinen  müssen 
wir  es  aber  doch  als  recht  zweifelhaft  betrachten,  ob  den  Tunicaten  eine  pri- 
märe, durch  die  sedentäre  Lebensweise  in  Verlust  geratene  Metamerie  zuzu- 
schreiben ist  oder  nicht. 


Literatur. 

Unsere  Kenntnis  über  Morphologie  und  Ontogenie  der  Wirbellosen  ist  in  zahlreichen 
Schriften  niedergelegt.  Hier  nur  einiges,  um  dem  Fernerstehenden  den  Weg  in  dieses  Gebiet 
zu  zeigen.  Ausführlichere  Literaturverzeichnisse  findet  der  Leser  in  den  Lehrbüchern  von 
R.  Hertwig  und  Claus -Grobben.  Überhaupt  möchten  wir  diese  zwei  Werke  zur  ersten 
Einführung  in  das  Gebiet  empfehlen,  obgleich  auch  von  den  übrigen  angeführten  Lehrbüchern 
jedes  seine  speziellen  Vorzüge  besitzt.  Hertwigs  Lehrbuch,  in  klarer  und  übersichtlicher 
Anordnung  das  wichtige  zusammenfassend,  Claus -Grobben,  etwas  umfangreicher,  eine 
größere   Fülle  von  Details  in  gründlicher,  gewissenhafter  Darstellung  bringend. 

Ein  umfangreiches  Sammelwerk. 
G.  H.  Bronns  Klassen  und  Ordnungen  des  Tierreichs,  noch  unvollständig,  enthält 
in  zahlreichen  Bänden,  welche  —  wenn  veraltet  —  in  Neubearbeitungen  aufgelegt  werden, 
eine  Zusammenfassung  aller  unserer  Kenntnisse,  zum  Teil  in  erstklassiger  Darstellung.  Hier- 
her; O.  BÜTSCHLI  Protozoa,  Chun  und  Will  Coelenterata,  v.  Graff  Turbellaria,  Braun  Tre- 
matodes und  Cestodes,  BÜRGER  Nemertinen,  Seeliger  Tunikaten,  Ludwig  und  Hamann 
Echinoderma,  Keferstein  Mollusca,  neu  bearbeitet  von  SiMROTH;  Gerstäcker  und  Ort- 
mann Crustacea,  Verhoef  Myriopoden. 

Vielbändige  Handbücher  der  Zoologie: 

Delage,  Y.,  et  HfiROUARD,  E.  Traite  de  Zoologie  concrete.  Bisher  erschienen:  I.  La  cellule 
et  les  protozoaires  1896,  II.  Spongiaires  et  Coelenteres  1899,  III.  Echinodermes  1903, 
V.  Vermidiens  1897,  VIII.  Procordes  1898. 

Ray  Lankester,  E.  A  Treatise  on  Zoology.  I.  Introduction  and  Protozoa  1909  von  mehreren 
Verfassern,  II.  Porifera  and  Coelenterata  1900  von  MiNCHiN,  Fowler,  Bourne,  III.  Echino- 
derma 1900  von  Bather,  W.  Platyhelmia  etc.  von  Benham  1901,  V.  Mollusca  1906  von 
Pelseneer,  VII.  Crustacea  1909  von  Calman,  IX.  Fishes  1909  von  GoODRiCH. 

The    Cambridge    Natural   History;     I.  Hartog  Protozoa,    Sollas   Porifera,    HiCKSON 

Coelenterata,    II.  Verschiedene  Autoren  Vermes  and  Polyzoa,   III.  Shipley   Brachiopoda, 

COOKE  Mollusca,  IV.  Weldon  Crustacea,  V.-VI.  Sharp  Insects,  VII.  Harmer  Hemichor- 

data,   Herdmann  Amphioxus   and  Tunicata;    das   übrige,  sowie   die  Bände  VIII — X  auf 

Wirbeltiere  bezüglich. 

Lehrbücher  der  Zoologie. 

Hertwig,  R.     Lehrbuch  der  Zoologie.     10.  Aufl.    Jena  191 2. 

Claus -Grobben.  Lehrbuch  der  Zoologie,  begründet  von  C.  Claus,  neubearbeitet  von 
K.  Grobben.     2.  Aufl.    Marburg  19 10. 

Boas,  J.  E.V.     Lehrbuch  der  Zoologie.     6.  Aufl.     Jena  1911. 

Kennel,  J.     Lehrbuch  der  Zoologie.     Stuttgart  1893. 

GOETTE,  A.  Lehrbuch  der  Zoologie.  1902.  Hauptsächlich  auf  Entwicklungsgeschichte  be- 
gründet.   Voll  selbständiger  Gedanken.     Die  Abbildungen  meist  Originale. 

Parker,  T.  J.,  and  Haswell,  W.  A.     A  Text-Book  of  Zoology.     2.  Edit.     London  1910. 

Hatschek,  B.  Lehrbuch  der  Zoologie.  Jena  1888.  Ein  geniales  Werk,  reich  an  frucht- 
bringenden Ideen.     Bisher  unvollständig. 

Lehrbücher  der  Entwicklungsgeschichte. 

Bergh,  R.  S.     Vorlesungen  über  allgemeine  Embryologie.    Wiesbaden  1895. 

Balfour,  f.  M.  Handbuch  der  vgl.  Embryologie.  2  Bde.  Aus  dem  Englischen  übersetzt 
von  B.  Vetter.  Jena  1880 — 1881.  Die  erste  zusammenfassende  Darstellung  dieses 
Gebietes.     Ein  kühner  Wurf!     Grundlegend. 

KoRSCHELT,  E.,  und  Heider,  K.  Lehrbuch  der  vgl.  Entwicklungsgeschichte  der  wirbellosen 
Tiere.  Spez.  Teil  I  1890,  Coelenterata,  Vermes,  Echinoderma;  II  1892,  Arthropoda; 
III  1893,  Mollusca,  Tentaculata,  Tunicata,  Amphioxus.  AUgem.  Teil  I  1902,  Entw. 
Mechanik,  Keimzellenbildung;  II,  Reifung  und  Befruchtung;  III  1909,  Furchung;  IV  1910, 
Keimblätterbildung,  ungeschlechtliche  Fortpflanzung.  In  dem  3.  und  4.  Heft  des  allgem. 
Teils  findet  der  Leser  die  auf  Cell-lineage  bezüglichen  Angaben,  die  hier  nicht  berück- 
sichtigt werden  konnten. 


Literatur  ^^j 

Lehrbücher  der  vergleichenden  Anatomie. 
Gegenbaur,  C.     Grundzüge  der  vgl.  Anatomie.     2.  Aufl.     Leipzig  1870. 

—  Grundriß  der  vgl.  Anatomie.  1874.  Diese  beiden  Werke  waren  von  grundlegendem 
Einfluß  auf  die  Entwicklung  der  vergleichenden  Morphologie. 

Lang,  A.  Lehrbuch  der  vgl.  Anatomie  der  wirbellosen  Tiere.  Jena.  l.  Protozoa,  Coelen- 
terata,  Würmer,  II.  Arthropoden  1888,  III.  Mollusken,  IV.  Echinodermen  und  Entero- 
pneusten  1894.  2.  Aufl.:  Protozoa  1901,  Mollusca,  bearbeitet  von  Hescheler,  1900. 
Dritte  Auflage  im  Erscheinen. 

BÜTSCHLI,  O.    Vorlesungen  über  vgl.  Anatomie,     i.  Lief.  Leipzig  1910.     2.  Lief.  191 2. 

Den  Bau  des  tierischen   Körpers  in  funktioneller  Hinsicht  betreffend : 
Bergmann,  C.,  und  Leuckart,  R.      Anatomisch -physiologische   Übersicht    des  Tierreichs. 

Stuttgart   1852,     Eine  Fundgrube  wertvoller  Anregungen. 
Hesse- DOFLEIN.     Tierbau    und   Tierleben.     I.  Bd.    Der  Tierkörper    als    selbständiger   Orga- 
nismus von  R.  Hesse.     Leipzig  und  Berlin  1910. 

Lehrbücher  der  vergleichenden  Histologie. 
Schneider,  K.  Cam.     Lehrbuch  der  vgl.  Histologie  der  Tiere.    Jena  1902. 

—  Histologisches  Praktikum  der  Tiere  für  Studenten  und  Forscher.     Jena  1908. 

Verschiedene  Schriften  allgemeineren  Inhalts. 

Balfour,  f.  M.  On  the  structure  and  homologies  of  the  germinal  layers  of  the  embryo. 
Quart.  Journ.  Micr.  Sc.  Bd.  20.  1880. 

Bergh,  R.  S.  Gedanken  über  den  Ursprung  der  wichtigsten  geweblichen  Bestandteile  des 
Blutgefäßsystems.     Anat.  Anz.  Bd.  20.  1902. 

Braem,  f.     Was  ist  ein  Keimblatt?     Biol.  Centrbl.  Bd.  15.  1895. 

BÜTSCHLI,  O.  Über  eine  Hypothese  bezüglich  der  phylogenetischen  Herleitung  des  Blut- 
gefäßapparates eines  Teils  der  Metazoen.     Morph.  Jb.  Bd.  8.  1883. 

—  Bemerkungen  zur  Gastraeatheorie.     Morph.  Jb.  Bd.  9.  1884. 

Caldwell,  W.  H.     Blastopore,  mesoderm  and  metameric  Segmentation.    Quart.  Journ.  Micr. 

Sc.  Bd.  25.   1885. 
Cattaneo,  Giac.     SuU'origine  della  metameria.     Napoli  1882. 

—  Delle  varie  teorie  relative  aU'origine  della  metameria  .  .  .  BoU.  Mus.  Zool.  Anat.  comp. 
Univ.  Genova  Nr.  28    1895. 

Claus,  C.     Die  Typenlehre  und  Haeckels  Gastraeatheorie.  Wien  1874. 

Eisig,  H.  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Capitelliden.  Mitt.  Zool.  Station  Neapel.  Bd.  13.  1898. 

Goodrich,  E.  G.     On   the   coelom,   genital   ducts   and   nephridia.      Quart.  Journ.  Micr.  Sc. 

Bd.  37.  1895. 
GOETTE,  A.     Abhandlungen  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Tiere. 

Grobben,  C.     Die  systematische  Einteilung  des  Tierreichs.  Verh.  Zool.- Bot.  Ges.  Wien  1908. 
Haeckel,  E.     Generelle  Morphologie  der  Organismen.     2  Bde.     Beriin  1866. 

—  Die  Prinzipien  der  generellen  Morphologie  der  Organismen.     Berlin  1906. 

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Hubrecht,  A.  A.W.     Die  Abstammung  der  Anneliden  und  Chordaten  und  die  Stellung  der 

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—  The  ancestral  form  of  the  Chordate.     Quart.  Journ,  Micr.  Sc.  Bd.  33.   1883. 


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—  Fünfundneunzig  Thesen  über    den  phylogenetischen  Ursprung  .  .  .    des  Blutgefäßsystems. 
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—  Noch  etwas  über  die  Identität  usw.     Zool.  Anz.  Bd.  8.   1885. 

—  Über  die  Beziehungen  zwischen  den  Bilateria  und  Radiata.  Biol.  Centrbl.  Bd.  28.  1908. 
Spengel,  J.W.  Betrachtungen  über  die  Architektonik  der  Tiere.  Zool.  Jahrb.  Suppl.VIII.  1905. 
Thiele,  J.    Die  Stammesverwandtschaft  der  Mollusken.   Ein  Beitrag  zur  Phylogenie  der  Tiere. 

Jen.  Zeitschr.  f.  Nat.  Bd.  25.  1891. 

—  Zur  Coelomfrage.     Zool.  Anz.  Bd.  25.  1902. 

Woltereck,  R.     Zur  Kopffrage  der  Anneliden.    Verh.  D.  Zool.  Ges.  1905. 

—  Wurmkopf,  Wurmrumpf  und  Trochophora.    Bemerkungen  zur  Entwicklung  und  Ableitung 
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Ziegler,  H.  E.     Über  den  derzeitigen  Stand  der  Coelomfrage.    Verh.  D.  Zool.  Ges.  1898. 


DIE  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE 
DER  WIRBELTIERE. 

Von 
Franz  Keibel. 

In  seinem  Artikel  „Allgemeine  und  experimentelle  Morphologie  und  Ent- 
wicklungslehre" hat  O.  Hertwig  die  ersten  Entwicklungsprozesse  im  gesamten 
Tierreich,  auch  die  der  Wirbeltiere,  besprochen  und  bis  zur  Ausbildung  der 
Keimblase,  der  Blastula,  verfolgt.  Hier  habe  ich  anzuknüpfen  und  darzulegen, 
wie  die  besondere  Organisation  der  Wirbeltiere  sich  herausbildet  und 
sich  in  den  verschiedenen  Klassen  ausgestaltet.  Es  wird  dabei  zu  unter- 
suchen sein,  ob  sich  große  Zusammenhänge  zwischen  den  einzelnen  Entwick- 
lungsreihen ergeben  oder,  wo  dies  noch  nicht  der  Fall  ist,  klarzulegen,  ob  und  in 
welcher  Richtung  sie  zu  suchen  sein  werden.  Auch  werden  die  Gründe 
anzugeben  sein,  warum  in  manchen  Fällen  in  der  Phylogenie  vorhandene  Zu- 
sammenhänge schwer  zu  finden  oder  wohl  überhaupt  in  der  Entwicklung  der 
Einzelwesen,  wie  sie  sich  uns  heute  darbietet,  nicht  mehr  zu  erkennen  sind. 

Es  soll  bei  unseren  Betrachtungen  der  Hauptbauplan  der  Wirbeltiere 
durchaus  in  den  Vordergrund  gestellt  werden,  die  Vorgänge,  welche  man  als 
allgemeine  Entwicklung  bezeichnet,  und  die  mit  der  Ausbildung  der  Keim- 
blätter ihren  Abschluß  finden.  Es  werden  dabei  die  beiden  Theorien,  welche 
im  letzten  Drittel  des  vergangenen  Jahrhunderts  sich  als  fruchtbringend  für 
unser  Gebiet  erwiesen  haben,  die  Gastraeatheorie  und  die  Coelomtheorie  aus- 
führlicher zu  erörtern  sein.  Zum  Schlüsse  ist  dann  die  Bedeutung  der  Keimblätter 
für  die  weitere  Entwicklung  zu  besprechen  und  auch  zu  zeigen,  wie  und  ob  die 
besprochenen  Entwicklungs;/orgänge  mit  dem  sogenannten  biogenetischen 
Grundgesetz  Eläckels  und  O.  Hertwigs  ontogenetischem  Kausalgesetz  in  Ein- 
klang zu  bringen  sind.  Auf  die  Entwicklung  der  einzelnen  Organe  und  Organ- 
systeme dagegen  kann  hier  nicht  eingegangen  werden.  Für  sie  wird  auf  den 
folgenden  Abschnitt,  in  dem  Gaupp  die  Morphologie  der  Wirbeltiere  bearbeitet, 
hingewiesen. 

Versuchen  wir  zunächst  eine  Übersicht  über  die  Fragen  zu  gewinnen,  überblick  über 
welche  uns  hier  beschäftigen.  Da  gehen  wir  am  besten  von  der  Entwicklung '^"' ^°*'^"''^^""°' 
des  Amphioxus  lanceolatus  aus,  bei  dem  die  grundlegenden  Entwicklungsvor- 
gänge sich  zum  größten  Teil  in  fast  schematischer  Einfachheit  vollziehen  oder 
doch  zu  vollziehen  scheinen.  Freilich  müssen  gleich  hier  dann  auch  einige  Bemer- 
kungen gemacht  werden,  welche  die  Bedeutung  des  Amphioxus  für  die  Auf- 
fassung der  Entwicklungsvorgänge  der  Wirbeltiere  einschränken  und  sich 
gegen  die  alles  beherrschende  Stellung  wenden,   die  man  fast  40  Jahre  lang 


334 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Amphioxus. 


FH. 


des 


Blastula 
Amphioxus. 


Gastrulation 
bei  Amphioxus. 


den  sich  in  der  Entwicklung  dieses  kleinen  Tieres  abspielenden  Vorgängen  für 
die  Entwicklung  aller  Wirbeltierklassen  beigemessen  hat. 

Zunächst:  der  Amphioxus  ist  gar  kein  Wirbeltier  im  strengen  Sinne,  denn 
bei  ihm  kommt  es  niemals  zur  Entwicklung  von  Wirbeln,  sein  Achsenskelett 
wird  zeitlebens  von  einem  ungegliederten  Stab,  der  Chorda  dorsalis  und  ihrer 
Scheide,  gebildet.    Darauf  daß  auch  sein  Stützgewebe  nicht  die  physiologisch- 
chemischen Reaktionen  gibt,  welche  das  Stützgewebe  aller  anderen  Wirbeltiere 
auszeichnet,  sei  nur  nebenher  hingewiesen;  wichtiger  ist,  daß  der  Amphioxus 
sicherlich  ein  in  bedeutungsvoller  Weise  zurückgebildetes  Geschöpf  ist.     Er 
hat  keinen  Schädel,  ist  ein  Akranier,  und  dieses  Merkmal  ist  zweifellos  kein 
primitives,  sondern  der  Mangel  des  Schädels  und  die  ganze  mangelhafte  Aus- 
gestaltung   des  Kopfes,   dem 
die    typischen    Sinnesorgane 
der  Wirbeltiere  fehlen,  ist  se- 
kundär erworben.  In  welcher 
Weise  die  scheinbar  so  Sehe- 
rn atisch  klaren  Vorgänge  bei 
der     Gastrulation    des    Am- 
phioxus lange  Zeit  hindurch 
die  Auffassung  des  Gastrula- 
tionsproblems  bei  den  Wirbel- 
tieren erschwert  haben,  wird 
später  zu  erörtern  sein.  Trotz- 
dem  empfiehlt   es    sich,    wie 
schon  gesagt,  sich  mit  Hilfe  der  Entwicklung  des  Amphioxus  einen  Überblick 
über  die  Entwicklungsvorgänge  zu  verschaffen,  die  wir  dann  bei  den  eigent- 
lichen Wirbeltieren  betrachten,  und  deren  Zusammenhänge  und  Bedeutung  wir 
dem  Verständnis  näher  bringen  wollen.    Wir  beginnen  mit  dem  Stadium  der 
ausgebildeten  Keimblase,  der  Blastula,  wie  sie  sich  aus  dem  dotterarmen  Ei  des 
Amphioxus  durch  die  Furchung  herausgebildet  hat.   Die  Blastulae  des  Amphi- 
oxus sind  kleine  Bläschen,  doch  kann  man  schon  im  Blastulastadium  eine  Dif- 
ferenzierung der  Zellen  auch  äußerlich  erkennen.    Fig.  i  zeigt  tms  eine  solche 
Blastula  im  Durchschnitt.    Wir  können  an  ihr  zwei  Pole  unterscheiden,  welche 
den  gleichnamigen  Polen  des  ungefurchten  Eies  entsprechen.   Der  animale  Pol 
[a]  ist  durch  kleine  dotterarme  Zellen  gekennzeichnet,  der  vegetative  {v)  durch 
größere,  dotterreichere.    Durch  ungleiches  Wachstum  werden  die  Zellen  des 
vegetativen  Poles  der  Blastula  eingestülpt  und  durch  denselben  Vorgang  wird 
die  Furchungshöhle  {FH.)  schließlich  bis  auf  geringe  Reste  verdrängt  (Fig.  2). 
Aus  dem  einschichtigen  Bläschen  ist  eine  zweischichtige  Kappe  geworden,  die 
man  als  Gastrula  bezeichnet.   Die  Höhlung  dieser  Kappe,  der  Urdarm  oder  die 
Gastrulahöhle,  steht  ursprünglich  mit  der  Außenwelt  durch  eine  sehr  weite 
Öffnung,  einen  weiten  Urmund  oder  Gastrulamund,  in  Verbindung.    Die  beiden 
Schichten  dieser  Kappe  pflegt  man  als  das  äußere  und  das  innere  Keimblatt, 
als  das  Ektoderm  und  das  Entoderm  zu  bezeichnen;  doch  wird  sich  später 


Fig.  I.    Keimblase  (Blastula)  des 
Amphioxus.     a  animaler,  v  vege- 
tativer Pol,    PH.  Furchungshöhle. 
Nach  Hatschek. 


Fig.  2.  Junge  Gastrula  des  Am- 
phioxus, es  ist  noch  ein  bedeuten- 
der Teil  der  Furchungshöhle  er- 
halten, a  animaler,  v  vegetativer 
Pol,  PH.  Furchungshöhle.  Nach 
Hatschek. 


Gastrulation  bei  Amphioxus 


335 


Keimblätter 
bei  Amphioxus. 


ap 


dors. 


ap 


caLLi      ur 


vent 


.ur. 


caud. 
F  i  g.  4.  Schema  des  Urmundschlusses 
bei     Amphioxus.        itr     der     Rand 
des     Urmundes     in     einem     frühen 


zeigen,  daß  diese  Keimschichten  mit  denen,  welche  man  bei  anderen  Tieren 
so  nennt,  nicht  ohne  weiteres  verglichen  werden  können.  Im  inneren  Keimblatt, 
dem  sogenannten  Entoderm,  des  Amphioxus  sind  außer  den  Anlagen  für  das 
Epithel  des  Darms  und  seiner  Drüsen  auch  noch  andere  Anlagen  enthalten, 
die  für  die  Chorda  dorsalis,  das  primitive  Achsenskelett,  und  die  für  das  zwischen 
Ektoderm  und  Entoderm  gelegene  Mesoderm.  Die  Beziehungen  dieser  Anlagen 
zum  Entoderm  sind,  wenn  man  solches  einfach  topographisch  als  inneres  Keim- 
blatt auffaßt,  bei  den  verschiedenen  Wirbeltieren  verschiedenartig.  Bezeichnen 
wir  überall  das  ursprünglich  untere  oder  innere  Keimblatt  als  primitives  Ento- 
derm, so  müssen  wir  uns  von  Anfang  an  gegenwärtig  halten,  daß  wir  dieses 
primitive  Entoderm  bei 
Amphioxus  nicht  ohne 
weiteres  dem  bei  den  ver- 
schiedenen Wirbeltieren 
homologisieren  dürfen, 
und  ebensowenig  dürfen 
wir  das  primitive  Ento- 
derm der  verschiedenen 
Wirbeltiere  untereinander 
homologisieren.  Erst  nach 
Absonderung  der  Chorda 
und  des  Mesoderm  erhal- 
ten wir  im  definitiven  En- 
toderm einenZellkomplex, 
der  bei  Amphioxus  und 
bei  den  Wirbeltieren 
durchweg  vergleichbar  ist:  wir  können  ihn  als  das  definitive  Entoderm  be- 
zeichnen. Das  definitive  Entoderm  besteht  aus  den  Zellen,  welche  beim  Am- 
phioxus und  bei  allen  Wirbeltieren  dem  Epithel  des  Darms  und  der  Darm- 
drüsen seinen  Ursprung  geben.  Das  gleiche  gilt  entsprechend  für  das  primitive 
Ektoderm.  Neben  den  rein  morphologischen  Unterschieden  machen  sich 
zwischen  innerer  und  äußerer  Keimschicht,  zwischen  primitivem  Ektoderm  und 
Entoderm  auch  schon  frühzeitig  physiologische  Unterschiede  bemerkbar.  Das  Verschluß  des 
äußere  Keimblatt  differenziert  sich  zum  Fortbewegungs-  und  Schutzorgan;  bei  Tmphkfxus. 
es  erwirbt  Flimmern  und  eine  gewisse  Festigkeit,  das  innere  paßt  sich  der  Auf- 
nahme von  Nahrung  an.  In  der  nun  folgenden  Periode  der  Entwicklung  ver- 
engert sich  zunächst  der  Urmund  und  wird  dabei  zugleich  dorsal-  und  caudalwärts 
verlagert  (Fig.  3  u.  4).  Hatschek  nahm  an,  daß  der  Verschluß  des  Urmundes 
durch   in  cranio-caudaler  Richtung  erfolgende  Nahtbildung  vor  sich  gehe. 

Fig.  4  veranschaulicht  seine  Meinung.  Die  Linie  ur  zeigt  den  Urmundrand 
in  einem  frühen  Stadium  an.  Der  Urmund  soll  sich  nun  entsprechend  einer 
später  über  den  Rücken  verlaufenden  Linie  dadurch  schließen,  daß  seine  Rän- 
der von  rechts  und  links  symmetrisch  gegeneinander  rücken,  so  daß  stets 
korrespondierende  Punkte  der  beiden  Seitenränder  an.a,  ßu.ß  usw.  zur  Ver- 


F  i  g.  3.  Gastrula  von  Amphioxus,welche 

die  Verengerung  und  Verlagerung  des 

Urmundes    zeigt.     Die    Flimmern    der 

äußeren  Keimschicht  sind  angedeutet,  c-,    i-  j  _,        j    ^ 

.     ,  ,  j  sc   cu  ^i..  j3ta.dium,    a    und    a,    ri  und  fi    usw. 

aA  apical,    caiid  caudal,    dors  dorsal,  tji,       i-  u      j  ,1        ■   ■, 

j       _^  _,      ^^   .1.    FT  _       _  Punkte  dieses  Randes,  welche  sich 

später   in    aar,    ß^'i  usw.    aneinander 

legen  und  so   den  Urmund  in  apico- 

caudaler  Eichtung  einengen.    Nach 

HatsCheks    Darstellung    entworfen. 


veni  ventral.     Nach  H.\tschek. 


33^ 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Concrescenz- 
theorie 


wachsung  kommen.  Man  hat  das  eine  Concrescenz  des  Urmundes  genannt,  und 
man  hat  darzutun  versucht,  daß  der  Verschluß  des  Urmundes  bei  den  Wirbel- 
tieren allgemein  in  dieser  Weise  erfolgt.  In  diesem  Sinne  spricht  man  von  einer 
Concrescenztheorie.  Was  nun  den  Amphioxus  im  besonderen  anlangt,  so  haben 
alle  neueren  Untersucher  zwar  nichts  von  einer  Nahtspur  am  vorderen  Rande 
des  sich  verkleinernden  Urmundes  nachweisen  können,  doch  wäre  das  an  sich 
kein  Grund  einen  Verschluß  des  Urmundes  in  der  von  Hatschek  angenommenen 
Weise  schlechthin  zurückzuweisen.  Wenn  sich  das  Material  der  Urmundlippen 
von  rechts  nach  links  auch  in  der  angedeuteten  Weise  vereinigt,  so  braucht 
doch  keine  richtige  Naht  dabei  zustande  zu  kommen.  An  einem  Experiment, 
das  Gräper  neuerdings  zur  Erläuterung  anderer  Verhältnisse  gegeben  — bei  ihm 

"''  handelt   es   sich    um    die  Ent- 

stehung des  Darms  durch  zwei 
seitliche  Falten,  die  auch  in 
Zweifel  gezogen  wurde,  weil  man 
keine  Spur  einer  Naht  erkennen 
könne  — ,  kann  man  sich  das  klar 
machen.  Ein  Glasstab  wird  wie 
in  Fig.  5a  gebogen  und  an  der 
Biegungsstelle  ein  anderer  Glas- 
stab als  Handhabe  aufgesetzt; 
dann  läßt  man  die  Flamme 
direkt  in  den  Verschmelzungs- 
winkel schlagen,  und  es  gelingt  bei  entsprechender  Übung  eine  vollständige  Ver- 
schmelzung, wie  sie  Fig.  5b  zeigt,  ohne  jede  Naht  zu  erreichen,  es  rückt  ein- 
fach die  bogenförmige  Grenze  in  der  Richtung  des  Pfeiles,  vor  und  hinter  ihr 
bleibt  eine  nahtlose  Verschmelzung.  Die  Pfeile  deuten  die  Richtung  der  Ver- 
schmelzung an. 

Trotzdem  hat  die  Concrescenztheorie  des  Fehlens  der  Nahtspur  wegen 
heftige  Gegner  gefunden.  Daß  etwa  der  Urmund  sich  in  der  Weise  schließt, 
daß  die  einzelnen  Punkte  seiner  Ränder  konzentrisch  gegeneinander  vor- 
rücken, um  sich  schließlich  in  einem  Punkte  zu  vereinigen,  das  ist  aus- 
geschlossen, und  so  nimmt  z.  B.  Rabl  an,  daß  die  Ränder  gegen  einen  ex- 
zentrisch gelegenen  Punkt  des  Urmundes,  welcher  der  Mitte  seines  hinteren 
Randes  entspricht,  vorrücken.  Einen  solchen  Verschluß  soll  das  Schema 
Fig.  6  verdeutlichen.  Dabei  nimmt  auch  nach  Rabls  Auffassung  der  Gastrula- 
mund  anfangs  nahezu  den  ganzen  Rücken  ein;  er  verkleinert  sich  von  vorn 
nach  hinten,  und  sein  letzter  Rest  bildet  eine  kleine  dorsal  am  Hinterende  ge- 
legene Öffnung.  Wie  Rabl  es  mit  dieser  Auffassung  vereinigt,  daß  auch  nach 
seiner  Annahme,  falls  der  Verschluß  des  Urmundes  nicht  zustande  käme,  an 
seinen  Rändern  sich  an  entsprechenden  Stellen  die  entsprechenden  Teile  der 
rechten  und  linken  Seite  des  Embryo  entwickeln  würden,  ist  mir  freilich  dabei 
nicht  klar  geworden.  Mit  dieser  Annahme  kehrt  er  doch  zur  Concrescenz- 
theorie in  verschleierter  Form  zurück,  und  so  interpretiert  erscheint  der  Unter- 


Fig.  5A  u.  sB.   Verschmelzung  eines 
gebogenen     Glasstabes     ohne     Naht- 
bildung.    Nach   Gräper.      Man   ver- 
gleiche den  Text. 


caitd 

Fig.  6.  Schema  des  Ur- 
mundschlusses    bei  Am- 
phioxus.     Nach   Rabls 
Auffassung. 


Keimblätterbildung  und  Urmundschluß  bei  Amphioxus 


337 


caudal   und    rechts, 
dorsale      Seite      ist 
geflacht. 


Die 

ab- 


schied zwischen  seiner  Auffassung  und  der  Annahme    einer   Concrescenz  im 
Sinne  von  Hatschek  und  Oskar  Hertwig  nicht  eben  groß. 

Kehren    wir    nach    dieser    theoretischen    Abschweifung    zur    Larve    des 
Amphioxus  zurück. 

Schon  in  frühem  Gastrulastadium 
ist  an  der  kleinen  Larve  durch  Ab- 
fiachung  die  dorsale  Seite  kenntlich 
geworden  (Fig.  3  u.  7)  und  mit  ihr  die 
bilaterale  Symmetrie.     So  kann  man   Fig.7.  Gastruiades  Am- 

nun  am  Urmunde  eine  dorsale,  eine   pj'i'''"^^  mit  stark  ver- 
kleinertem Urraund  von 

ventrale  und  jederseits  eine  laterale 
Urmundlippe  unterscheiden.  Hat  sich 
der  Urmund  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  verengert,  dann  beginnt  sich  die 
Larve  alimählich  in  die  Länge  zu 
strecken,  und  wichtige  Differenzie- 
rungen treten  sowohl  am  äußeren  wie 
am  inneren  Keimblatt  ein.  Das  äußere 
Keimblatt  verdickt  sich  in  der  dorsa- 
len Medianlinie  und  zu  beiden  Seiten   kieinertem  Urmund  von 

caudal   und    rechts.     Aut 

von    ihr  und    so  grenzt   sich    allmählich     der  abgeflachten  dorsalen 

,  _^  ,  1  T^i  Seite      ist      durch     einen 

als  erste  (Jrgananlage  aus  dem  Lkto-   dunkleren  Ton  die  An- 
dermdieMedullarplatteab.Fig.Szeigt   '^^^e  der  Meduiiarpiatte 


Fig.  9.  Querschnitt  durch  eine 
Larve  des  Amphioxus.  Dorsal 
hat  sich  aus  dem  Ektoderm 
die  Meduiiarpiatte  abgeglie- 
dert. An  der  dorsalen  Wand 
des  primitivenEntoderra  sehen 
wir  rechts  und  links  die  Coe- 
lomdivertikel  eben  angedeu- 
tet, eine  Chordarinne  ist  noch 

nicht  vorhanden. 

Nach  Hatschek. 


Fig.  8.  Gastrula  des  Am- 
phioxus    mit    stark    ver- 


kenntlich gemacht. 


ein  Schema,  welches  ein  solches  Tier- 
chen in  der  Ansicht  von  caudal  und 
rechts  darstellt.  Das  Gebiet  der  Me- 
duiiarpiatte ist  durch  einen  dunkleren 
Ton  kenntlich  gemacht.  Im  Gebiet  der 
inneren  Keimschicht  haben  sich  in- 
zwischen an  der  dorsalen  Wand  des 
Urdarms  drei  Rinnen  gebildet,  eine 
mittlere  und  zwei  seitliche.  Diese  Rin- 
nen sind  schon  bei  der  durchsichtigen 
Larve  kenntlich,  am  besten  aber  treten 
sie  an  Querschnittenhervor  (Fig.9— 1 1). 
Die  mittlere  Rinne  schnürt  sich  später  ab  und  bildet  die  Chorda  dorsalis,  die 
seitlichen  Rinnen  gliedern  sich  in  cranio-caudaler  Richtung  und  lassen  so  zu 
jeder  Seite  der  Chordaanlage  eine  Reihe  von  Taschen  entstehen,  die  sich  dann 
wie  die  Chorda  von  dem  unteren  Keimblatt  abschnüren  (Fig.  10,  11).  Die 
Wände  dieser  Taschen  bilden  das  mittlere  Keimblatt,  das  Mesoderm;  der  von 
ihnen  begrenzte  Hohlraum  ist  das  primäre  Coelom,  wie  es  auf  den  Fig.  il,  12 
u.  13,  und  zwar  in  Fig.  II  u.  13  auf  Querschnitten  durch  die  Larve,  in  Fig.  12 
bei  einer  ganzen  Larve  dargestellt  ist,  die  von  links  her  bei  durchfallendem 
Licht  gezeichnet  wurde. 

K.d.  G.m.iv.Bda  ZeUenlehre  etc.  II  22 


Die  Meduiiar- 
piatte bei  Am- 
phioxus. 


Fig.  II. Querschnitt  durch 
eineLarve  desAraphioxus. 
Chordarinne  und  Coelom- 
divertikel  sind  nahezu 
abgeschnürt. 
Nach  H.^TSCHEK. 


Fig.  to.  Querschnitt  durch 
eine  Larve  des  Amphioxus. 
Im  Gebiet  des  Ektoderm  hat 
sich  die  Meduiiarpiatte  zu 
einer  MeduUarrinne  eingefal- 
tet und  ist  von  dem  übrigen 
Ektoderm  überwachsen  wor- 
den. Im  Bereich  des  primi- 
tiven Entoderms  erkennen 
wir  unterhalb  der  MeduUar- 
rinne die  Chordaanlage  und 
rechts  und  links  von  ihr  die 
schon  ziemlich  tiefenCoelomdi- 
vertikel,  deren  Begrenzung 
die  Anlage  des  Mesoderras 
darstellt.       Nach     H.\tschek, 


Chordaanlage, 

Mesoderm  und 

Coelom  bei 

Amphioxus. 


338 


Franz  Keibel;  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Gliederung  von 

Mesoderm  und 

Coelom. 


Differenzierung 
des  Ektoderms. 


Das  Mesoderm  und  mit  ihm  das  Coelom  gliedert  sich  wieder  in  einen  dor- 
salen und  einen  ventralen  Teil  (Fig.  14).  Nur  der  dorsale  Teil  behält  die  Glie- 
derung bei.  So  entstehen  die  Ursegmente  mit  den  Ursegmenthöhlen.  Der 
ventrale  Teil  des  Coeloms  wird  einheitlich;  er  stellt  das  definitive  Coelom,  die 
Leibeshöhle,  dar.  Diese  ist  zunächst  paarig,  später  aber  verschmelzen  in  einem 
großen  Teil  der  Larve  die  rechten  und  linken  Hohlräume  ventral  vom  Darm. 
Der  laterale  Teil  des  das  Coelom  begrenzenden  Mesoderms  liegt  als  parietales 
Mesoderm  dem  Ektoblast  an  und  bildet  mit  ihm  die  Körperwand,  die  Somato- 
pleura,  während  die  der  epithelialen  Anlage  des  Darmepithels  anliegende  Schicht 

das  viscerale  Blatt  des 
Mesoderms  bildet. 

Das,  was  vom  in- 
nerenKeimblatt  nach 
der  Abscheidung  des 
Mesoderms  und  der 
Chorda  übrig  bleibt, 
nennen  wir  das  defi- 


dors 

V.  neurp 


dors. 


V' 


can.  neur 


caud. 


Li 


vent. 


vent. 


Fig.  12.  Larve  des  Amphioxus  von  links  bei  durch- 
fallendem Licht  gezeichnet,  ö/.  apikal  (Kopfende),  catid. 
caudal  (Schwanzende),  dofs.  dorsa!  (die  Rückenseite), 
venf.  ventral  (die  Bauchseite).  Fünf  Coelomdivertikel 
haben  sich  gebildet,  dorsal  von  ihnen  erkennt  man  den 
Boden  der  Medullarrinne.  Die  Medullarrinue  ist  bis  auf 
eine  Stelle  am  Kopfende,  die  man  vorderen  Neuroporus 
(v.  «e«'-/.)  nennt,  vom  Ektoderm  überwachsen.  Schwanz- 
wärts  (caud.)  steht  die  Medullarrinne  durch  den  gleich- 
falls vom  Ektoderm  überwachsenen  Canalis  neuren- 
tericus  (can.  neur.)  mit  der  Darmhöhle  in  Verbindung. 
Nach  Hatschek. 


F  i  g.  13.  Querschnitt  durch 

eine  Amphioiuslarve,  bei     nitivC     Eutodcrm,      CS 

der  die  Medullarrinne  vom 

Ektoderm      überwachsen     ISt        ZUSammCU        mit 

ist,  und  die  sich  beinahe   ^^^  visceralcn  Blatt 

zum    Kohre     geschlossen 

hat.      In    der   Mitte    des     (jes       McSOdcrmS      als 
Schnittes  liegen  in  dorso- 

veutralerRichtungMedul-     SplaUChnOplcura       ZU 
larrinne,    Chorda  dorsalis     i  •    i 

und  Darm    übereinander      DCZeiCnnen. 
Rechts     und     links     von 
Chorda   und  Darm   ist  je 
ein   Coelomdivertikel  ge- 
troffen.   Nach  Hatschek. 


Während  sich  diese 
Entwicklungs  Vor- 
gänge abspielen,  hat 
die  Differenzierung  des  Ektoderms  weitere  Fortschritte  gemacht.  Die  Anlage 
des  zentralen  Nervensystems,  die  Medullarplatte,  hat  sich  von  der  primitiven 
Epidermis  gelöst  und  sich  dann  zur  Medullarrinne  eingefaltet  (Fig.  9 — 11).  Sie 
wird  vom  Schwanzende  beginnend  von  der  primitiven  Epidermis  überwachsen 
(Fig.  II — 14).  Erst  nachdem  die  Überwachsung  vollendet  ist  (Fig.  13 — 15), 
schließt  sie  sich  zum  Medullarrohr,  das  an  seinem  vorderen  Ende  durch  eine 
Öffnung,  den  vorderen  Neuroporus  [v.  neurp.),  noch  lange  Zeit  mit  der  Außen- 
welt in  Verbindung  steht.  Bemerkenswert  ist,  daß  bei  dem  Überwachsungs- 
prozeß  der  Medullarplatte  durch  die  primitive  Epidermis  auch  der  nun  zu  einer 
kleinen  rundlichen  Öffnung  gewordene  Blastoporus  überwachsen  wird.  Diese 
Öffnung  liegt  an  dem  caudalen  Ende  der  Medullarrinne  und  verbindet  sie  und 
später  das  Medullarrohr  als  Canalis  neurentericus  {can.  neur.)  mit  dem  Darm 
(Fig.  12  u.  15).  Streckt  sich  dann  die  Larve  und  entstehen  am  vorderen  Ende 
des  Darmes  der  Mund  und  die  Kiemenöffnungen,  am  hinteren  Ende  der  After 
—  Vorgänge,  auf  die  hier  im  einzelnen  nicht  eingegangen  werden  soll  — ,  so  hat 
der  junge  Amphioxus  ein  Stadium  erreicht,  in  dem  er  wohl  als  ein  auf  sein 
einfachstes  Schema  gebrachtes  chordates  Tier  gelten  kann.  Die  Vorgänge, 
welche  ununterbrochen  stattfinden  mußten,  um  zu  diesem  Ziele  zu  führen^ 


Entwicklung  des  Amphioxus  (Überblick) 


öö9 


sind  ganz  allgemein  ausgedrückt,  die  Substanzzerklüftung  durch  Zell- 
teilung, das  ungleichmäßige  Wachstum  der  einzelnen  Teile  und 
schließlich  die  histologische  Differenzierung  der  Zellen  und  Zellkom- 
plexe. Die  Zellteilung  vermehrt  die  Bausteine,  aus  denen  das  Tierchen  aufge- 
baut ist;  das  ungleichmäßige  Wachstum  führt  zur  Veränderung  der  Gestalt, 
zu  Einfaltungen  und  Einstülpungen;  durch  histologische  Differenzierung 
passen  sich  die  einzelnen  Zellkomplexe  den  verschiedenen  Aufgaben  an,  wel- 
che ein  jeder  an  seiner  Stelle  für  den  Organismus  zu  leisten  hat;  wir  könnten 
hier  fast  von  einer  Arbeitsteilung  sprechen. 

cfors 

y.  TLeurp 


^'Can.  neun 


dors. 


vent. 

Fig.  14.  Querschnitt  durch  eine  Am- 
phioxuslarve.  In  der  Mitte  des  Schnittes 
liegen  in  dorso-ventraler  Richtung  Me- 
duUarrohr,  Chorda  dorsalis  und  Darm 
übereinander.  Rechts  und  links  von 
MeduUarrohr,  Chorda  dorsalis  und 
Darm  liegen  Coelomdivertikel.  Da  die 
Segmente  des  Amphioxus  sich  gegen- 
einander verschieben,  sind  die  Seg- 
mente nicht  an  entsprechenden  Stellen 
getroffen.  Auf  der  linken  Seite  der  Figur 
ist  die  Mitte  eines  Segmentes  getroffen. 
Hier  ist  die  Abgliederung  des  dorsalen 
Teils  des  Mesoderms  bzw.  Coeloms 
von  dem  ventralen  noch  nicht  zu  er- 
kennen, wohl  aber  auf  der  rechten 
Seite  der  Figur,  auf  der  die  Randteile 
eines  Coelomdivertikels  getroffen  sind. 
Nach  Hatschek. 


caud. 


vent. 

Fig.  15.  Amphioxuslarve  von  der  linken  Seite  bei  durchfallendem  Liebt  ge- 
zeichnet, ap.  apical  (Kopfende),  caud.  caudal  (Schwanzende),  dors.  dorsal 
(Rückenseite),  veni.  ventral  (Bauchseite).  Die  langen  Flimmern  der  Epi- 
dermis sind  dargestellt.  Das  MeduUarrohr  steht  am  Kopfende  durch  den 
vorderen  Neuroporus  {v.  neurp.)  mit  der  Außenwelt,  caudal  durch  einen 
Canalis  neurentericus  (can.  neuf.)  mit  der  Darmhöhle  in  Verbindung.  Durch 
die  Mesodermsegmente  schimmert  die  ventrale  Wand  des  Medullarrohres, 
die  Chorda  dorsalis  und  die  dorsale  Wand  des  Darms  durch.  Zählen  wir, 
indem  wir  von  den  Mesodermsegmenten  absehen,  die  verschiedenen  Ge- 
bilde in  der  Mittte  der  Larve  in  dorso-ventraler  Reihenfolge  auf,  so  haben 
wir  zu  nennen:  i.  die  Flimmern  tragende  Epidermis  der  Rückenseite,  2.  die 
dorsale  Wand  des  Medullarrohres,  3.  die  ventrale  Wand  des  Medullarrohres, 
4.  die  Chorda  dorsalis,  5  die  dorsale  Wand  des  Darms,  6.  die  ventrale  Wand 
des  Darms,  ,7.  die  Flimmern  tragende  Epidermis  der  Bauchseite. 
Nacli  Hatschek. 


Bemerkenswert  ist,  daß  im  allgemeinen  die  Entwicklungsvorgänge  in 
cranio-caudaler  Richtung  fortschreiten.  Wenn  wir  also  im  Kopfende  einer 
Larve  die  Coelomdivertikel  und  die  Chorda  schon  abgeschnürt  finden,  können 
wir  doch  auf  einem  Schnitt  weiter  caudal  das  Coelom  und  die  Chordarinne  noch 
mit  dem  Urdarm  in  Verbindung  treffen,  und  noch  weiter  caudal  ist  vielleicht 
noch  gar  keine  Differenzierung  des  primären  inneren  Keimblattes  aufgetreten. 
Die  Fig.  l6,  17  und  18  sollen  das  erläutern.  Fig.  16  stellt  eine  Amphioxuslarve 
von  links  und  caudalwärts  dar.  Die  Epidermis  ist  von  der  linken  Seite  abge- 
zogen, und  man  sieht  Mesodermsegmente.  Das  MeduUarrohr  ist  bis  auf  den 
vorderen  Neuroporus  {v.  neurp.)  geschlossen.  Die  Fig.  17  und  18  stellen  dieselbe 
Larve  mit  unverletzter  Epidermis  dar.  In  Fig.  17  ist  entsprechend  der  in  Fig.  16 
mit  a  bezeichneten  Stelle  das  caudale  Ende  der  Larve  abgeschnitten,  und  man 
blickt  auf  einen  der  Fig.  13  ähnlichen  Querschnitt.  In  Fig.  18  ist  nur  das  aller- 
caudalste  Ende  der  Larve,  entsprechend  der  in  Fig.  16  mit  h  bezeichneten 
Stelle  abgetragen,  man  sieht  auf  einen  Querschnitt,  welcher  der  Fig.  il  ähnelt. 
Auf  Fig.  17  sehen  wir  die  Chorda  und  die  Coelomdivertikel  abgegliedert,  in 


22' 


340 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Fig.  l8  steht  die  Chordarinne  und  stehen  die  Coelomdivertikel  noch  in  Ver- 
bindung mit  der  Darmhöhle. 
vergieichung  Nach  diesem  allgemeinen  Überblick  wenden  wir  uns  nun  dazu,  das  Re- 

'"wirbeitiere."  sultat  der  Furchung,  das  Keimbläschen  oder  die  Blastula  in  den  einzelnen 
Wirbeltierklassen  genauer  zu  betrachten.  Wir  stellen  hier  neben  die  Blastula 
des  Amphioxus  (Fig.  19  =  l)  die  entsprechenden  Stadien  eines  Amphibiums 
(Fig.  20),  eines  Knorpelfisches  (Fig.  21),  eines  Reptils  (Fig.  22)  und  eines  Säu- 
gers (Fig.  23).  Bei  Fig.  21  muß  man  sich  den  großen  Dotter  ventral  dazu  den- 
ken. In  der  Fig.  22  A  ist  der  Dotter  zwar  mit  zur  Darstellung  gebracht,  aber 
viel  zu  klein  gezeichnet,  die  Verhältnisse  bei  Vögeln  sind,  weil  sie  ganz  ähnlich 


caud 


Fig.  16—18  stellen  die  gleiche  Amphioxuslarve  dar,  bei  der  in  Fig.  17  das  caudale 
Ende  entsprechend  der  Linie  a  in  Fig.  16,  in  Fig.  18  das  caudale  Ende  entsprechend  der 
Linie  b  abgetragen  ist.  Auf  Fig.  16  ist  die  Epidermis  der  linken  Seite  entfernt.  Man 
sieht  auf  die  Larve  bzw.  ihre  cranialen  Stücke  von  caudal  und  links.  a/>.  apical 
(Kopfende),  cattd.  caudal  (schwanzwärts),    v.  neurofi.  vorderer  Neuroporus. 


Fig.  19.  Keimblase  (Blas- 
tula) des  A.mphioxus.  aani- 
maler,  v  vegetativer  Pol, 
FH.  Furchungshöhle. 
Nach  Hatschek. 


liegen  wie  bei  den  Reptilien,  nicht  bildlich  dargestellt  worden.  Die  Entwick- 
lung der  Cyclostomen,  von  denen  die  der  Neunaugen,  der  Petromyzonten,  sich 
im  großen  und  ganzen  den  Verhältnissen  bei  den  Amphibien  annähern,  die  der 
Myxinoiden  noch  verhältnismäßig  wenig  bekannt  sind,  übergehen  wir,  ebenso 
die  Verhältnisse  bei  den  Dipnoern,  Teleostiern  und  Ganoiden.  Die  jetzt  gut 
bekannte  Entwicklung  der  Dipnoer,  der  Lungenfische,  ist  in  ihren  wichtigen 
Anfangsstadien  der  Entwicklung  der  Amphibien  außerordentlich  ähnlich,  der 
Entwicklung  der  Knochenfische  (Teleostier)  und  der  Ganoiden  hat  zwar  viele 
Eigentümlichkeiten,  läßt  sich  aber  prinzipiell  sehr  wohl  mit  der  Entwicklung 
der  anderen  Fische  und  der  Entwicklung  der  Amphibien  in  Einklang  bringen. 
Es  würde  aber  hier  zu  weit  führen,  auch  auf  die  Entwicklung  dieser  aberranten 
Amphibien-  Zweige  der  Wirbeltiere  einzugehen.  Betrachten  wir  nun  zunächst  die  Blastula 
eines  Amphibiums  und  vergleichen  sie  mit  der  des  Amphioxus,  so  sehen  wir 
den  Unterschied  zwischen  den  beiden  Polen  des  Eies,  dem  animalen  und  dem 
vegetativen  Pol,  bei  der  Amphibienblastula  sehr  viel  ausgeprägter.  Die  Zellen 
des  vegetativen  Poles  sind  groß  und  mit  Dotter  überladen,  die  des  animalen 
klein,  freilich  auch  nicht  vollkommen  dotterfrei.  Die  Furchungshöhle  liegt 
exzentrisch,   gegen  den  animalen  Pol  hin  verschoben;  an  ihrem  Boden  liegen 


Einfluß 


des  Dotters,  die  großeu,  dotterhaltigen  Zellen,  ihre  Decke  wird  von  den  kleinen  Zellen  ge- 


Die  Blastulae  der  Wirbeltiere 


341 


bildet,  die  in  der  Regel  in  mehreren  Lagen  angeordnet  sind;  seitlich  findet  ein 
allmählicher  Übergang  von  den  kleinen  relativ  dotterarmen  in  die  großen, 
dotterreichen  Zellen  statt.    Das  sind  alles  Unterschiede,  welche  sich  zwanglos 

FH 

DrK  DrK 


Fig.  20.     Schnitt  durch  eine  Blastula  von 
Rana   fusca.      FH  Furchungshöhle.      Aus 
Hertwigs    Handbucli    der    Entwicklungs- 
lehre. 


Fig.  21.      Medianer   Sagittalschnitt   durch    die   Blastula   eines 

Selachiers  (Pristiurus).     Rechts  liegt  das  hintere  Ende.     DrK 

Dotterkerne,   FH  Furchungshöhle.     Aus   Hertwigs  Handbuch 

der  Entwicklungslehre. 


W- 


■■:■  --^.mJ§t^^-- 


F  i  g.  23.  Blastula  eines  Kaninchens,  zv  ein- 
fache Wand  der  Keimblase  (Trophoblast  vgl. 
S.  379  ff.),  *  Haufen  der  Embryonalzellen.  Aus 
Hertwigs  Handbuch  der  Entwicklungslehre. 
Nach  E.  VAN  Baneden. 


Fig.  22.  A  Schnitt  durch  das 
ganze  Ei  eines  Reptils.  Am 
animalen  Pol  der  abgefurchte 
Keim.  Der  Dotter  ist  im  Ver- 
hältnis viel  zu  klein  gezeich- 
net, ß  Der  animale  Pol  des- 
selben Eies  bei  stärkerer  Ver- 
größerung. Der  Keim  ist  am 
Rande  noch  nicht  abgegrenzt. 
Mit  Benutzung  einer  Figur 
von  Vay. 


auf  die  größere  Dottermitgift  zurückführen  lassen,  die  das  Ei  der  Amphibien 
von  seiner  Mutter  erhalten  hat.  Da  diese  bei  den  verschiedenen  Amphibien 
sehr  verschieden  groß  sein  kann,  kann  man  bei  verschiedenen  Arten  und  Fa- 
milien auch  alle  möglichen  Abstufungen  in  den  Unterschieden  des  dorsalen  und 
ventralen  Pols  der  Furchungsstadien  des  Eies  und  in  der  Exzentrizität  der 
Furchungshöhle  antreffen.  Noch  mächtiger  als  bei  den  Amphibien  ist  die 
Dotteransammlung  im  Ei  der  Selachier,  der  Knorpelfische.    Da  reichen  die 


Selachier- 

gastrula. 


242  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

Kräfte  der  Zellteilung  nicht  hin,  den  größeren  ventralen  Teil  des  Eies  in  Zellen 
zu  zerlegen.  Der  Boden  der  Furchungshöhle  wird  von  einer  nicht  in  Zellen 
zerlegten  Masse  gebildet,  in  der,  besonders  gegen  den  Rand  des  abgefurchten 
Keimes  hin  sich  Kerne  finden,  von  einem  sogenannten  Syncytium.  Eigentlich 
ist  die  ganze  unzerlegte  Dottermasse  mit  diesen  Kernen  als  ein  solches  Syncy- 
tium zu  betrachten,  das  den  Zellen  am  ventralen  Pole  der  Amphioxus-  und 
Amphibienblastula  entspricht.  Daß  es  die  Übermenge  des  Dotters  ist,  welche 
diese  Form  der  Blastula  bedingt,  bestätigt  ein  hübsches  Experiment  von 
O.  Hertwig.  Ändert  man  bei  einem  Froschei,  das  sich  normalerweise  ganz 
furcht,  holoblastisch  ist,  die  Verteilung  des  Dotters  durch  Zentrifugieren  in 
der  Weise  ab,  daß  der  Dotter  ganz  oder  nahezu  ganz  an  den  vegetativen  Pol 
geschafft  wird,  so  nimmt  das  Froschei  den  meroblastischen  Typus  der  Fur- 
chung an  und  seine  Blastula  erinnert  an  die  der  Eier,  welche 
normalerweise  meroblastische  Furchung  aufweisen. 

Wenden  wir  uns  nun  von  der  Selachierblastula  zu  der  der 


Blastulae  der 

Repriiien  und  ^^^r^^S^"     Reptilien  (Fig. 22)  und  Vögel,  so  scheinen  bei  diesen  Blastulae  zu- 

nächst  durchaus  gleiche  Verhältnisse  vorzuliegen  wie  bei  der 
Fig.  24.  Blastula  eines   Blastula   der  Sclachicr,  der  weitere  Verlauf  der  Entwicklung  ist 

Amphibiums.     (Rana  .  iioiitt  •    ^         i-i  tt  i-i 

fusca).  BUck  aufden   abcr  SO  abwcichcnd,  daß   doch  Vorsicht  bei   der  Vergleichung 
vegetativen  Pol.      ggboten  crschcint.   Vor  allem  darf  die  Furchungshöhle  des  Am- 
phioxus-, Amphibien-  und  Selachiereies  nicht  ohne  weiteres  der  Höhle  in  der 
Reptilien- und  Vogelblastula  verglichen  werden,  denn  während  die  Furchungs- 
höhle des  Amphioxus,  der  Amphibien  und  der  Selachier  —  auf  besondere  Ver- 
hältnisse bei  Amphibien  komme  ich  noch  zurück  —  zu  einem  Spalt  zwischen 
Ektoderm  und  Entoderm  wird,  geht  die  Höhle  im  Ei  der  Sauropsiden  —  unter 
diesem  Namen  faßt  man  Reptilien  und  Vögel  zusammen  —  in  die  definitive 
Darmhöhle  über.  Was  wir  hier  eben  kurz  für  Reptilien  undVögel,  die  Sauropsiden, 
Blastula    ausführtcu,  gilt  noch  in  viel  höherem  Grade  von  der  sogenannten  Blastula 
auger.  ^^^  Säugcr,   uud  wcnu  nicht  später  bei  allen  Wirbeltieren  ein  Stadium  vor- 
käme, in  welchem  der  beim  Amphioxus  geschilderte  Chordatentypus  mit  fast 
schematischer  Deutlichkeit  hervorträte,  würde  man  vielleicht  den  Versuch  gar 
nicht  wagen,  die  verschiedenen  Entwicklungsreihen  im  einzelnen  zu  vergleichen. 
Bei  der  Blastula  der  Säuger  wird  es  außerdem  nötig  sein,  doch  auch  hier  noch 
einmal  ihre  Vorstadien  kurz  zu  besprechen  und  die  abweichenden  Typen  im 
Säugerstamme  selbst  hervorzuheben. 
Gastruiation  Vcrfolgcu  wir  zuuächst   die   Vorgänge,    welche   bei  den  Amphibien   zur 

Bildung  der  Keimblätter  führen.  An  der  ausgebildeten  Blastula  des  Frosches 
(Fig.  24)  ist  der  animale  Pol,  der  bei  dem  innerhalb  seiner  Hülle  im  Wasser  be- 
findlichen Ei  nach  aufwärts  gekehrt  ist,  dunkel  gefärbt,  der  vegetative  weiß, 
unterhalb  des  Äquators  gehen  beide  Färbungen  allmählich  ineinander  über. 
Dieser  Farbenunterschied  wird  durch  ein  körniges  Pigment  hervorgerufen, 
das  sich  in  den  oberflächlich  gelegenen  Zellen  der  animalen  Halbkugel  und  bis 
über  den  Äquator  hinüber  vorfindet.  Etwas  unterhalb  des  Äquators  sieht 
man  kurze  Zeit,  nachdem  die  Blastula  die  Höhe  ihrer  Entwicklung  erreicht  hat^ 


Die  Blastulae  der  Wirbeltiere.  —  Gastrulation  bei  Amphibien 


343 


eine  Stelle,  an  der  der  dunkle  und  helle  Farbenton  sich  scharf  gegeneinander 
absetzen,  und  bei  genauerem  Zusehen  erkennt  man,  wie  hier  ein  feiner  Spalt 
auftritt  (Fig.  25).  Dieser  Spalt  verlängert  sich  nach  beiden  Seiten  und  krümmt 
sich  dabei  nach  der  vegetativen  Eihälfte  hin  (Fig.  26),  bis  schließlich  ein  voll- 
kommener Kreis  zustande  kommt,  der  ein  helles  Feld  umschließt  (Fig.  24).  Die- 
ser Kreis  wird  allmählich  kleiner  und  kleiner.  Man  bezeichnet  ihn  als  Blasto- 
porus,  Urmund;  daß  er  dem  Blastoporus  des  Amphioxus  nicht  ganz  ohne  wei- 
teres zu  vergleichen  ist,  werden  wir  später  sehen,  wenn  wir  die  kleinen  Frosch- 
embryonen auf  Schnitten  untersuchen.  An  dem  Urmund  unterscheiden  wir 
wie  beim  Amphioxus  eine  dorsale,  eine  ventrale  und  zwei  seitliche  Urmund- 
oder  Blastoporuslippen.  Das  helle  Feld,  das  im  Bereiche  des  Urmunds  zu 
sehen  ist,  nennt  man  den  Dotterpfropf.    Natürlich  wird  der  Dotterpfropf  ent- 


,# 


2S  26  27  28  2g 

Fig.  25 — 29.  Gastrulationsstadien  von  Amphibieneieni  teilweise  mit  Zugrundelegung  der  Modelle  von  Friedrich 
Ziegler.  In  den  Figuren  25 — 27  sieht  man  direkt  auf  den  Blastoporus  ;  in  Fig.  28  und  29,  bei  denen  die  Anlage  der 
Medullarplatte  und  der  Medullarwülste  aufgetreten  sind,  etwas  von  rechts  her  auf  das  caudale  Ende  der  Embryonen. 

sprechend  der  Verkleinerung  des  Urmundes  kleiner  und  kleiner.  Vor  der  dor- 
salen Lippe  bildet  sich  die  Medullarplatte  (Fig.  28),  die  sich  rechts  und  links 
bald  zu  den  Medullarwülsten  erhebt  (Fig.  29).  D-e  beiden  Medullarwülste  gehen 
vorn  ineinander  über  und  grenzen  so  das  vordere  Ende  der  zwischen  den 
Medullarwülsten  gelegenen  Medullarrinne  ab.  Caudalwärts  läuft  die  Medullar- 
rinne  gegen  die  dorsale  Lippe  des  Blastoporus  hin  aus.  Gelegentlich  kann  man  Urmundschiuß 
hier  an  der  Stelle,  wo  sie  die  dorsale  Urmundlippe  trifft,  eine  kleine  Kerbe  fin-  "'  ™^  '  *^"' 
den.  Man  wird  geneigt  sein,  in  dieser  Kerbe  einen  Hinweis  darauf  zu  sehen, 
daß  sich  der  Blastoporus  in  cranio-caudaler  Richtung  durch  Concrescenz 
schließt,  entsprechend  wie  es  Hatschek  und  Hertwig  für  den  Amphioxus  an- 
nehmen. Schnittbilder  lassen  freilich  nichts  von  einer  Nahtbildung  erkennen; 
doch  weisen  sowohl  die  Ergebnisse  operativer  Eingriffe  an  den  Rändern  des 
Blastoporus,  wie  vor  allem  gewisse  Hemmungsbildungen  darauf  hin,  daß  das 
Material  zur  Bildung  der  rechten  und  linken  Seite  des  Körpers,  abgesehen  vom 
eigentlichen,  primären  Kopfgebiet  in  den  Rändern  des  Blastoporus  zu  suchen 
ist.  Unterbleibt  nämlich,  wie  das  gelegentlich  vorkommt,  oder  wie  man  es  auch 
durch  experimentelle  Eingriffe  erzielen  kann,  der  Verschluß  des  Blastoporus 
und  die  Inkorporierung  des  Dotterpfropfes  (Fig.  30)  —  O.  Hertwig  hat  solche 
Bildungen  beim  Frosche  Spinae  bifidae  genannt  — ,  so  liegen  in  den  Rändern 
des  Urmundes  Medullär-  und  Chordaanlagen  und  weiter  peripher  die  Urseg- 
mente.  Schnitte  durch  solche  Hemmungsbildungen  geben  Fig.  31A  u.  31B. 
In  Fig.  31  A,  die  einen  Schnitt  durch  den  Embryo  der  Fig.  30  vorstellt,  hat  sich 
das  Mesoderm  noch  nicht  in  Ursegmente  und  ventrales  Mesoderm  gegliedert; 


244  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

wir  sehen  jederseits  von  dem  mächtigen  Dotterpfropfe  eine  halbe  Medullaranlage 
und  unter  dieser  eine  Chorda  dorsalis,  welche  sich  zwar  abgerundet  hat,  aber 
nur  einer  halben  Chorda  entspricht.  Fig.  31  B  zeigt  einen  Querschnitt  durch 
ein  etwas  älteres  Stadium  einer  ganz  ähnlichen  Mißbildung.  Hier  haben  die 
halben  Medullaranlagen  sich  auch  abgerundet  und  jede  hat  sich  für  sich  geschlos- 
sen. Das  Mesoderm  ist  hier  bereits  gegliedert,  jederseits  ist  ein  Ursegment  ge- 
troffen. Normalerweise  ist  aber,  wenn  die  Medullarwülste  sich  erheben,  der 
Urmund  schon  ganz  klein  geworden  und  der  Dotterpfropf  im  Inneren  des  Eies 
verschwunden.  Die  Medullarwülste  wachsen  einander  entgegen  und  vereinigen 
sich  über  der  Medullarrinne  miteinander.    Das  geschieht  zuerst  in  der  Gegend 

mittleren  oder  caudalen  Hirnabschnittes.  Machen  wir  in  ent- 
sprechenden Stadien  Querschnitte,  so  finden  wir  hier  zuerst 
ein  geschlossenes  Medullarrohr  (Fig.  32),  während  weiter  vorn 
und  weiter  caudal  sich  noch  eine  Medullarrinne  findet.  Das 
Schema  Fig.  32  mag  eine  Vorstellung  davon  geben.  Die 
Stellen,  an  denen  das  Medullarrohr  am  längsten  often  bleibt, 
liegen  ganz  am  vorderen  und  am  caudalen  Ende  des  Embryo; 
Vorderer         ""-       -^  wir  ncnucn  sie  den  vorderen  und  den  hinteren  Neuroporus, 

und  hinterer     F»g-3o-      Mißgebildeter  ,     ,      .^t  ,  •,•  i  ,  ,• 

Neuroporus.  Froschembryo  mit  hoch-  (jer  caudalc  Ncuroporus  —  das  SCI  hier  schon  erwähnt  —  liegt 
vom  Rücken  aus  gesehen,  nicht  ctwa  am  caudalcn  Ende  der  definitiven  Rückenmarks- 
rastf;i£;ul°nTang  anlagc  überhaupt;  denn  die  caudalen  Teile  des  Embryo 
in    die  Kopfdarmhöhle,  -werden  durch  einen  Knospungsprozeß  gebildet,  der  erst  nach 

ur  Urmundrand.  . 

Aus  hertwigs  Handbuch  Ycrschluß  dcs  Mcdullarrohrcs  einsetzt.  Ganz  eigenartig  und 
ungse  re.  .^j(,j^|-jg  jjg^  (^g^gYgj-]^g^||-gj^  (jgj.  ]yig^yllg^r.wülste  Und  dcr  Mcdullar- 
platte  zumBlastoporus.  Die  caudalen  Enden  der  Medullarwülste  wachsen  näm- 
lich gegen  die  Seitenlippen  des  —  wie  schon  hervorgehoben  —  ganz  kleinen 
Blastoporus  und  (Fig.  28  u.  29)  teilen  diesen,  indem  sie  schließlich  miteinander 
verwachsen,  in  einen  vorderen  und  in  einen  hinteren  Abschnitt.  Nur  der  vordere 
Abschnitt  wird  von  den  sich  schließenden  Medullarwülsten  überwachsen  und 
Canaiis  stcllt,  iudcm  er  nun  das  Medullarrohr  mit  dem  Darm  verbindet,  einen  Canalis 
"^Tftlr."''"'' neurentericus  dar;  der  hintere  Abschnitt  wird  zum  After.  Nicht  immer  bleibt 
während  dieser  Entwicklungsvorgänge  der  Canalis  neurentericus  durchgängig, 
und  das  gleiche  gilt  vom  After.  Man  kann  dann  von  einem  neurenterischen 
Strang  und  wohl  auch  von  einem  Analstrang  sprechen.  Es  ist  das  von  unter- 
geordneter Bedeutung.  Das  wichtige  ist,  daß  bei  den  Amphibien,  wenn  nicht 
immer  ein  Canalis  neurentericus,  so  doch,  wo  ein  solcher  fehlt,  eine  durchaus 
ihm  vergleichbare  Bildung  vorkommt,  und  daß  der  After  aus  dem  hintersten 
Bereiche  des  Urmundes  hervorgeht,  wenn  sich  auch  das  Lumen  des  Blasto- 
porus nicht  immer  unmittelbar  in  das  Lumen  des  Afters  umbildet.  Jedenfalls 
ist  der  After  auf  den  Urmund,  also  mit  auf  das  älteste  Organ  des  Tierkörpers, 

Herausbildung  zurückzuf ühreu,  während  der  definitive  Mund  eine  sekundäre,  vielleicht  sogar 
Köi^erfoTm     tertiäre,  verhältnismäßig  neue  Bildung  ist. 

^^^.^r^o^']''''""  Wenden  wir  uns  jetzt  der  Herausbildung  der  äußeren  Körperform  bei 

Einfluß  des  •'  o  i 

Dotters.       Amphibien  zu,  so  sehen  die  Embryonen  zur  Zeit  des  Medullarrohrschlusses 


Canalis  neurentericus  u.  After  bei  Amphibien.  —  Äußere  Körperform  u.  Einfluß  des  Dotters  345 


und  schon  vorher,  je  nach  der  Menge  ihres  Nahrungsdotters  bei  verschiedenen 
Amphibien  recht  verschiedenartig  aus,  selbst  wenn  ihre  definitive  Gestalt 
später  eine  recht  ähnliche  ist.  Die  Larve  eines  Frosches  und  die  einer  Geburts- 
helferkröte {Alytes  ohstetricans)  mögen  als  Beispiel  dienen  (Fig.  33  Au.  33B). 


Ms- 


Fig.  31 -'J.  Querschnitt  durch  das  hintere  Drittel  des 
Rumpfes  der  in  Fig.  30  abgebildeten  Mißbildung.  Ch 
Chorda  dorsalis,  Ms  Mesoderm,  MP  Medullarplattei 
{^Verbindungsstelle  der  MeduUarplatte  mit  dem  Dotter. 
Aus  Hertwigs  Handbuch  der  Entwicklungslehre.  Nach 
O.  Hertwig. 


Fig.  31  i?.  Querschnitt  durch  das  vordere  Drittel  des 
Rumpfes,  im  Bereich  der  Urmundspalte,  einer  Mißbildung 
von  Rana  fusca.  Ch  Chorda  dorsalis,  äIR  Medullarrohr, 
US  Ursegraent.  Aus  Hertwigs  Handbuch  der  Entwick- 
lungslehre.    Nach  O.  Hertwig. 


dors 


vent. 

Fig-  32- 


Fig.  32.  Schematischer 
Querschnitt  durch  einen 
Araphibienembrj'o  mit  ge- 
schlossenem Medullar- 
rohr. i/ors  dorsal,  ve)//. 
ventral,  C/i.  Chorda  dor- 
salis, D//.  Darmhöhle, 
MR.  Medullarrohr,  A/s. 
Mesoderm. 

Fig.  33^.  Froschembryo 
mitRückenkrümmung  und 
Schwanzknospe  von  der 
linken  Seite  her  gesehen. 
Mau  erkennt  die  Aulagen 
der  Kiemenbogen.  Aus 
Hertwigs  Handbuch  der 
Entwicklungslehre.   Nach 

KOPSCH. 

Fig.  2J  B.  Embryo  der 
Geburtshelferkröte  (Aly- 
tes ohstetricans).  Aus 
Hertwigs  Handbuch  der 
Entwicklungslehre.  Nach 
Keibel. 


Fig-  33--'- 


Fig.  33^- 


Das  Ei  des  Frosches  erhält  eine  sehr  viel  geringere  Dottermitgift  als  das 
Ei  der  Geburtshelferkröte.  So  wird  zwar  auch  beim  Froschembryo  die  Bauch- 
seite durch  den  Dotter  kugelig  vorgetrieben,  aber  die  Menge  des  Dotters  ge- 
nügt nicht,  um  ihm  über  die  Gestaltung  des  Embryo  die  volle  Herrschaft  zu 
gewähren.  Die  Profillinie  des  Rückens  erscheint  konkav.  Anders  bei  Alytes: 
bei  ihm  ist  der  ganze  Embryo  entsprechend  der  viel  mächtigeren  Dotterkugel  ge- 
krümmt. Sehr  viel  auffälliger  als  zwischen  den  Eiern  des  Frosches  und  denen  der 
Geburtshelferkröte  ist  der  Unterschied  an  Dotterreichtum  noch  zwischen  den 
Eiern  verschiedener  Urodelenarten  —  ich  nenne  als  Beispiel  dafür  die  Tritonen 
(Fig.  34  A)  undNecturus  (Fig.  34  B).  Ganz  besonders  viel  Dotter  haben  die  Eier  der 
blindschleichenartig  gestalteten  Gymnophionen.  Hier  macht  sich  der  eigent- 
liche Embryo  sozusagen  zeitweise  vom  Dotter  selbständig;  er  scheint  auf  einer 


346 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Dotterkugel  zu  ruhen.    So  machen  sich  Verhältnisse  geltend,  wie  wir  sie  später 
noch  ausgeprägter  bei  den  Selachiern  und  den  Sauropsiden,  d.  h.  den  Repti- 

€L  b  /^  ^,  d 


Fig.  34 ^-     Eutwicklungsstadien  von  Triton  alpestris.     Aus  Hertwigs  Handbuch  der  Entwicklungs 

lehre.     Nach  van  Bambeke. 


Fig.  34 Ä     Embryonen  und  Larven  von  Necturus  maculatus    (Menobrauchus  lateralis). 
Aus  Heriwigs  Handbuch  der  Entwicklungslehre.     Nach  Keibel. 

lien  und  den  Vögeln,  kennen  lernen  werden.  Immer  aber  tritt  bald  ein  wenig 
früher,  bald  ein  wenig  später  das  Kopfende  und  das  Schwanzende  deutlicher 
und  deutlicher  hervor,  und  mehr  und  mehr  erscheint  dann  der  Dotter  als  ein 
Anhängsel  des  mittleren  Embryonalgebietes.     Vor  und  unter  der  durch  die 


Haftapparat. 


Die  Körperausgestaltung"  bei  Amphibien  347 

Kopfanlage  hervorgerufenen  Hervorragung  legt  sich  die  Mundbucht  an.  Sie  .\iundbucht. 
ist  begrenzt  durch  den  Vorderkopf  und  durch  die  Anlagen  der  Unterkiefer- 
bogen, an  denen  sich  bald  mehr  bald  weniger  deutlich  auch  die  Anlagen  der 
Oberkieferfortsätze  entwickeln.  Die  Unterkieferbogen  und  die  caudal  von  ihnen 
gelegenen  Substanzwülste,  die  Kiemenbogen,  sind  bei  dotterreicheren  Eiern  be-  Kiemenbogen. 
reits  zu  erkennen,  bevor  das  Kopfende  sich  als  Ganzes  deutlich  abhebt  (Fig.33  B). 
Man  nennt  den  ersten  Kiemenbogen  als  Anlage  des  Unterkiefers  den  Unter- 
kieferbogen oder  Mandibularbogen,  den  zweiten  Kiemenbogen  wegen  seiner  Be- 
ziehung zum  Zungenbein  den  Zungenbeinbogen  oder  Hyoidbogen,  die  caudal 
von  ihm  gelegenen  die  wahren  Kiemenbogen.  Beachtet  man  die  Lageverän- 
derungen der  Kiemenbogen,  so  erkennt  man,  daß  die  Herausbildung  eines 
freien  Kopfendes  nicht  nur  auf  einem  einfachen  Vor- 
wachsen des  Vorderendes  des  Embryo  beruht,  sondern 
wesentlich  auf  einem  Abfaltungsvorgange.  Die  Ent- 
wicklung eines  besonderen  Saug-  und  Haftapparates  ^  /  "^f^\  saug- und 
bei  manchen  Amphibien  sei  nur  erwähnt,  weil  er  bei 
unseren  gewöhnlichen  Fröschen  gut  entwickelt  und 
leicht  zu  beobachten  ist.  Er  beeinflußt  hier  zeitweise 
das  Bild  des  vorderen  Körperendes  nicht  unwesent- 
lich, um  später,  wenn  er  eine  Zeitlang  als  larvales 
Organ  gedient  hat,  spurlos  zu  verschwinden. 

Auf  den  wahren  Kiemenbogen  erscheinen,  nach-   ^'^s.  34  c.  Embryo  von  Hypogeo- 

_  phis     rostratus,     einer    Blindwühle. 

dem  sie  deutlicher  geworden  sind,  kleine  Knöpfchen,    Aus  hertwigs  Handbuch  der  Ent- 

,.  ,  T^..   1  1  ..     n  TT"  •  1  wicklungslehre.   Nach   Brauer. 

die  ZU  den  raden  der  äußeren  Kiemen  auswachsen.  Kiemen. 

Diese  zarten  Gebilde  werden  beim  Froschembryo  später  vom  caudalen  Rande  des 
Hyoidbogens  überwachsen  und  dadurch  geschützt  und  zugleich  der  Betrach- 
tung von  außen  her  entzogen.  Die  Höhle,  in  welcher  sie  liegen,  bleibt  nur  durch 
eine  kleine  Öffnung  mit  der  Außenwelt  in  Verbindung,  um  dem  Wasser  Abfluß 
zu  gestatten,  das  der  Atmung  gedient  hat.  Inzwischen  hat  sich  nämlich  der 
Darm  in  der  Tiefe  der  Mundbucht  geöffnet  und  zwischen  den  Anlagen  der 
Kiemenbogen  sind  Ausbuchtungen  des  Darms,  die  Kiementaschen,  mit  den 
Furchen  zwischen  den  Kiemenbogen,  den  Kiemenfurchen,  in  Verbindung  ge- 
treten. Nebenbei  sei  noch  erwähnt,  daß  sich  auch  bei  den  Amphibien,  solange 
die  Körperdecken  noch  dünn  sind,  manche  im  Inneren  gelegene  Organanlagen 
auf  der  Oberfläche  geltend  machen  können.  So  kann  man  nicht  nur  die  Ur- 
segmente,  sondern  auch  die  Vorniere  und  den  Vornierengang  bei  der  Betrachtung 
von  außen  erkennen. 

Eine  ausführlichere  Würdigung  soll  dann  noch  die  Rumpfschwanzknospe  Rumpfschw 
finden.  Die  Hervorragung,  welche  das  caudale  Ende  des  Embryo  ausmacht,  knospe 
enthält,  wenigstens  in  ihren  dorsalen  Bezirken,  zunächst  noch  Gebiete,  die 
später  dem  Rumpfe  angehören.  Während  ventral  die  an  ihrer  Wurzel  ge- 
legene Analanlage  schon  frühzeitig  eine  Grenze  gegen  den  Rumpf  ergibt,  bleibt 
die  Grenze  zwischen  Rumpf  und  Schwanz  dorsal  längere  Zeit  unsicher  und 
kann  nur  mehr  oder  weniger  willkürlich  bestimmt  werden.    Daß  der  Schwanz- 


anz- 


348 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


der  Ampliibien. 


anläge  nicht  nur  dorsale  Elemente  angehören,  wie  man  wohl  gemeint  hat,  er- 
gibt sich  daraus,  daß  den  Amphibien,  wie  allen  Wirbeltieren  bis  zum  Menschen 
Schwanzdarm,  aufwärts,  eine  Darmanlage  im  Schwanzgebiet  zukommt,  der  Schwanzdarm. 
Da  wir  hier  im  allgemeinen  den  Frosch,  bei  dessen  Embryonen  ja  jeder 
viele  der  erwähnten  Verhältnisse  leicht  nachprüfen  kann,  unserer  Beschreibung 
Metamorphose  zugrundc  gclcgt  habcu,  muß  auch  noch  seiner  Metamorphose  gedacht  werden. 
Aus  dem  fischähnlichen  Geschöpf  mit  dem  langen  Ruderschwanz,  das  der  Volks- 
mund als  Kaulquappe  bezeichnet,  wird  zu  gegebener  Zeit  ein  lungenatmendes, 
vierbeiniges  Wesen,  das  auch  seinen  Schwanz  sehr  bald  einbüßt  und  nun  erst 
ein  amphibisches  Leben  führt. 

Haben  wir  so  in  großen  Zügen  die  Körperausgestaltung  eines  Amphibiums 

verfolgt,  so  wollen 
wir  jetzt  unsere 
Kenntnisse  vertie- 
fen.  Den  äußeren 

Veränderungen 
entsprechen  na- 
türlich während 
der  ganzen  Ent- 
wicklung und  be- 
sonders auch  bei 
derMetamorphose 
wichtige  im  Inne- 


(fMML 


Fig.  35^.  Medianer  Sagittalschnitt  durch 
ein  Froschei   in   frühem  Gastrulastadium. 
d.UML.    dorsale  Urmundlippe,   FH.  Fur- 
chungshöhle,   UD  Urdarm. 


Fig.  35  Ä  Gastrula  eines  Axolotls,  in  der 
durch  Pfeile  die  Richtungen  der  Zell- 
bewegungen angedeutet  sind.    Aus  Hf.kt- 

wiGS  Handbuch     der    Entwicklungslehre,     rcn     dcS     KörpCrS. 
Nach  KopscH.  ttt-  ,1 

Wir  wollen  zu- 
nächst denen  bei  der  Metamorphose  hier  einige  Worte  widmen,  uns  dann  aber 
zu  den  grundlegenden  Vorgängen  wenden,  welche  in  den  frühen  Zeiten  der 
Entwicklung  stattfinden.  Schon  der  Verlust  des  Schwanzes  ist  nicht  etwa  nur 
ein  äußerer  Vorgang.  Der  Schwanz  wird  nicht  abgeworfen,  er  wird  resorbiert 
und  sein  Material  im  Interesse  des  kleinen  Tieres  verwendet.  Noch  mehr  tritt 
der  innerliche  Charakter  hervor  bei  der  Anpassung  des  Blutkreislaufes  an  die 
Lungenatmung  und  vor  allem  bei  der  Umgestaltung,  ja  man  kann  sagen,  dem 
Umbau  des  Darmes. 

Doch  wenden  wir  uns  jetzt  zu  den  frühen  Stadien  zurück,  in  denen  der  Ur- 
Gastruiation  "i^nd,  sozusagcu  das  erste  Organ  des  werdenden  Tieres,  sich  bildet.  Man  hat 
die  Vorgänge,  welche  in  diesen  frühen  Entwicklungsstadien  vor  sich  gehen,  da- 
durch aufgedeckt,  daß  man  die  Eier  und  Embryonen  in  Reihen  feiner  Schnitte 
zerlegte,  und  aus  diesen  Schnitten  nach  verschiedenen  Methoden  das  Verhalten 
der  einzelnen  Teile  und  des  Ganzen  wieder  rekonstruierte.  Auch  hier  werden 
schematische  Abbildungen  von  Schnitten  am  besten  Klarheit  darüber  geben, 
wie  die  Entwicklung  verläuft. 

Fig.  35  A  stellt  einen  medianen  Sagittalschnitt  durch  ein  Ei  dar,  bei  dem 
die  Einstülpung  des  Urdarms  eben  begonnen  hat.  d.  UML  ist  die  dorsale 
Urmundlippe;   eine  ventrale  Urmundlippe  ist  noch  nicht  vorhanden.     Man 


Innere  Vorgänge 
bei  der 


Gastrulation  und  Keimblattbildung  bei  Amphibien 


349 


kann  zeigen,    daß    sich   um    die    dorsale  Urmundlippe  Zellen    in    das  Innere 
des   Eies   hineinschieben   und   dort   verschwinden,   und   daß   die    dotterüber- 
ladenen   Zellen    der    ventralen  Eihemisphäre    dem  Urmundfelde    zuströmen. 
Fig.  35B  gibt  ein  Schema  dieser  Verhältnisse  nach  Kopsch,  in  dem  die  Richtung 
der  Zellbewegungen  durch  Pfeile  angedeutet  ist.   Vom  Urdarm  ist  nur  ein  klei- 
ner, dorsaler  Teil  gebildet  {UD).    Die  Furchungshöhle  {FH)  ist  durch  die  ein- 
gestülpten Zellen  bis  dahin  noch  kaum  eingeengt  worden.    Eine  definitive  Ab- 
grenzung eines  äußeren  und  eines  inneren  Keimblattes  ist  noch  nirgends  ge- 
geben, weil  selbst  um  die  dorsale  Urmundlippe  herum  ja  ein  Einwandern  von 
Zellen  in  das  Gebiet  des  Urdarms  stattfindet.    Immerhin  wird  man  die  bereits 
eingestülpten,  den  ersten  Anfang  des  Urdarms  begrenzenden  Zellen  schon  als 
Entodermzellen  betrachten  dürfen 
und  jedenfalls  ebenso  die  im  Inneren 
des  Eies  gelegenen  dotterüberlade- 
nen Zellen.     Beide  Zellkategorien 
dürften   im  wesentlichen  nur  Epi- 
thelien  des  Darms  und  der  Darm- 
drüsen entstehen  lassen,  wenn  das 
auch  für  die  Zellen,  welche  an  die 
dorsale  Urmundlippe  grenzen,  nicht 
ganz    sicher    ist.     Ektodermzellen 
sind  ihrer  prospektiven  Bedeutung 
nach  die  Oberflächenzellen  in  eini-    fi.^-/-  Medianer  SagUtaischnitt  durch  eine  Froschgast^^^^^^ 

bei    der    sich    auch    die    ventrale     Urraundhppe    gebildet    hat. 

ger    Entfernung     von    der    dorsalen      ca.  Chorda  dorsales,  dp/.   Dotterpfropf,  d.UML.  dorsale  Ur- 

.  .  1         ■•  mundlippe,  FH^  und  FH^  Reste  der  Furchungshöhle,   i/Z>.  Ur- 

Urmundlippe        bis       weit       abwärts      darm,    v.UML.  ventrale  Urmundlippe,    a—a    deutet    die  Lage 

gegen     die    weiße     Hemisphäre     hin.  des  in  Fig.  37  wiedergegebenen  Schnittes  an.     (Schema.) 

Vergleichen  wir  mit  dem  eben  betrachteten  nun  einen  medianen  Sagittal- 
schnitt  durch  ein  Stadium,  in  welchem  sich  der  ganze  Rand  des  Urmundes  ge- 
bildet hat  (Fig.  36).  Wir  sehen  jetzt  auch  die  ventrale  Urmundlippe  {v.  UML). 
Während  diese  noch  primitive  Verhältnisse  darbietet,  sind  an  der  dorsalen  Ur- 
mundlippe Veränderungen  eingetreten.  Zunächst  sei  hervorgehoben,  daß  auch, 
nachdem  keine  Einstülpung  von  Zellen  um  sie  herum  mehr  stattfindet,  eine 
scharfe  Grenze  von  Ektoderm  und  Entoderm  an  der  dorsalen  Urmundlippe 
nicht  gegeben  ist.  Wir  haben  an  ihr  eine  Indifferenzzone,  von  der  aus  Ektoderm 
und  Entoderm  und  alsbald  auch  eine  zwischen  beiden  gelegene  Zellschicht  ent- 
stehen. Diese  mittlere  Keimschicht  wird  gerade  an  der  Stelle,  an  der  ihre  An- 
lage hier  im  Schnitte  getroffen  ist,  zur  Chorda  dorsalis,  die  wir  schon  beim  Am-  Chorda  dorsaiis. 
phioxus  als  primitives  ungegliedertes  Achsenskelett  kennen  gelernt  haben. 
Rechts  und  links  davon  läßt  sie  das  paarige  Mesoderm  entstehen.  Die  wich- 
tigsten Beziehungen,  welche  die  Chorda  dorsalis  alsbald  zum  Entoderm  gewinnt, 
noch  mehr  aber  ihre  ja  schon  besprochene  Entwicklung  bei  Amphioxus  haben 
dazu  geführt,  daß  man  sie  vielfach  allgemein  als  einen  Abkömmling  des  Ento- 
derms  auffaßt;  unsere  weiteren  Betrachtungen  werden  zeigen,  daß  die  Ver- 
hältnisse nicht  so  einfach  liegen. 


350 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Die  Tiefe  des  Urdarms  hat  bedeutend  zugenommen.  Am  tiefsten  ist  er 
im  Bereich  der  dorsalen  Urmundlippe;  von  dort  nimmt  er  nach  rechts  und 
links  allmähhch  an  Tiefe  ab  und  ist  im  Bereich  der  ventralen  Urmundlippe 
ein  seichter,  enger  Spalt.  Ob  die  Ausdehnung  der  Urdarmhöhle  allein  der  im 
Bereiche  des  Urmundes  erfolgenden  Einstülpung  zuzuschreiben  ist,  oder  ob  auch 
Spaltungsvorgänge  im  Bereiche  des  Entoderms  vorliegen,  darüber  sind  die  Mei- 
nungen noch  geteilt  und  darüber  werden  bei  verschiedenen  Amphibien  ver- 
schiedene Angaben  gemacht.  Fast  scheint  die  Menge  des  Nahrungsdotters  da- 
bei eine  Rolle  zu  spielen,  und  es  scheinen  bei  größerer  Dottermenge  die  Auf- 
spaltungen ausgedehnter  zu  sein.  Gleichzeitig  mit  der  Tiefe  des  Urdarms  nimmt, 

wenn  wir  die  Urmundlippe  von  der  Mitte 
aus    nach    rechts  und   links   verfolgen, 
auch  die  Bildung  des  Mesoderms  ab;  im 
Gebiet   der  ventralen   Urmundlippe  ist 
noch  kein  Mesoderm  vorhanden.  Ein  in 
anderer  Richtung  durch  das  Ei  gelegter 
Schnitt  wird   uns  das  veranschaulichen 
(Fig.  37) ;   doch  wenden  wir,  bevor  wir 
diesen  betrachten,  unsere  Aufmerksam- 
keit noch  der  Furchungshöhle  zu,  wie 
sie   in  Fig.  36  dargestellt  ist.   Der  Rest 
der  Furchungshöhle  besteht  erstens  aus 
einem  feinen  Spalt,  der  zwischen  Ekto- 
derm   und    Entoderm    liegt  {FH-^)  und 
zweitens  aus  einem  Abschnitt  [FH^,  der 
mehr    oder    weniger   tief   zwischen   die 
dotterbeladenen  Zellen    des  Entoderms   eingesenkt   ist.    Dieser   letztere  Teil 
der  Furchungshöhle  [FH^  kann,    und  das  ist   theoretisch  interessant,    ent- 
weder verschwinden  oder  aber  die  Entodermschicht,  welche  ihn  von  der  Ur- 
Bedeutung  der  darmhöhlc  trennt,  verdünnt  sich  mehr  und  mehr  und  reißt  schließlich  durch. 
In  diesem  Falle  trägt  ein  Teil  der  Furchungshöhle  zur  Vergrößerung  der  Ur- 
darmhöhle bei.   Diese  Vorgänge  zeigen,  daß  der  kurz  zuvor  erwähnten  Streit- 
frage, ob  die  Urdarmhöhle  allein  durch  Einstülpung  entsteht,  oder  sich  auch 
noch  durch  Spaltbildung  im  Bereich  des  Entoderms  vergrößert,  keine  allzu- 
große theoretische  Bedeutung  zukommt.   Es  kommt  beim  Urdarm  mehr  darauf 
an,  von  welchen  Zellen  er  gebildet  wird,  als  darauf,  wie  diese  sich  zum  Hohl- 
raum gestalten.    Besonders  beim  Wirbellosen  läßt  sich  dieser  Satz  durch  viele 
Beispiele  belegen.   Hier  entsteht  das  Entoderm,  und  zwar  bei  im  System  nahe- 
stehenden Tieren  bald  durch  Invagination,  bald  durch  Immigration  oder  durch 
Delamination. 

Betrachten  wir  jetzt  Fig.  37.  Diese  stellt  einen  Schnitt  durch  das 
gleiche  Amphibienei  dar,  nur  senkrecht  zu  der  Schnittebene  der  Fig.  36, 
derart,  daß  er  durch  die  beiden  lateralen  Blastoporuslippen  geht  und  im  all- 
gemeinen das  Ei  in  eine  dorsale  und  ventrale  Hälfte  teilt.    Wir  sehen  da  die 


iUML 

Fig.  37.  Schnitt  durch  die  lateralen  Urmundlippen 
einer  Froschgastrula  (Schema).  Die  Lage  des  Schnittes 
ist  in  Fig.  36  als  Linie  a—a  eingetragen.  DP/.  Dotter- 
pfropf, FHf  und  jp/4  Reste  der  Furchungshöhle,  /.  UML. 
laterale  Urmundlippe,    Ms.  Mesoderm,     UD.  Urdarm. 


Urdarmhöhle. 


Keimblattbildung  bei  Amphibien 


351 


quergeschnittenen  beiden  lateralen  Urmundlippen  {l.  UML)  mit  ihren  In- 
differenzzonen, zwischen  Ektoderm  und  Entoderm,  von  denen  die  mittlere 
Keimschicht,  das  Mesoderm  [Ms.),  seinen  Ursprung  nimmt.  Rechts  wie  links 
zu  beiden  Seiten  des  Dotterpfropfes  (DPf.)  gelangt  man  in  den  Urdarm  (UD), 
der  hier  weniger  tief  als  im  Bereiche  der  dorsalen  Urmundlippe,  aber  tiefer  als 
in  dem  der  ventralenUrmundlippe  ist.  DieFurchungshöhle  ist  zweimal  getroffen; 
beide  Teile  stehen,  wie  der  mediane  Sagittalschnitt  zeigt,  noch  miteinander  in 
Zusammenhang;  der  spaltförmige  Teil  ist  mit  F//j^  bezeichnet,  der  andere  FH^ 
erscheint       bei      dieser 

Schnittrichtung      rings       -^  /^^====4=Ä  MRi. 

von  dotterbeladenenEn- 
todermzellen  umgeben. 
Betrachten  wir  nun 
ein  älteres  Stadium,  und 
zwar  ein  solches,  bei  dem 
sich  der  Urmund  bereits 
stark  verkleinert  hat 
und  die  Anlagen  der 
Medullarwülste  deutlich 
geworden  sind,  und  den- 
ken uns  durch  einen  sol- 
chen Embryo  (Fig.  38A) 
einen  Schnitt  senkrecht 
zu  seiner  Längsachse 
entsprechend  der  Linie 
a — a  gelegt.  Die  Ebene 
dieses  Schnittes  würde 
auch  senkrecht  zu  den 
Ebenen  der  in  den  Fig. 
36  und  37  dargestellten 
Schnitten  liegen.  Das  äußere  Keimblatt  [Ekt.)  sehen  wir  hier  in  die  Anlage  der 
primären  Epidermis  und  in  die  Anlage  der  Medullarplatte  gegliedert.  In  der  Mitte 
der  Medullarplatte  liegt  die  Medullarrinne  (MRi.),  die  rechts  und  links  von  den 
Medullarwülsten  {MW)  begrenzt  wird.  In  der  Medullarplatte  ist  die  Anlage  des  Die  MeduUar- 
gesamten  Nervensystems  enthalten,  sowohl  die  des  Rückenmarkes  und  des  Ge- 
hirns als  die  des  Sympathicus  und  der  peripheren  Nerven,  und  zwar  nicht  nur  die 
Anlage  der  Nervenzellen  und  der  von  ihnen  ausgehenden  Fortsätze  und  Fasern, 
sondern  auch  die  des  eigentümlichen  Stützgewebes  des  zentralen  Nervensystems, 
derNeuroglia,  und  der  Schwannschen  Scheiden  der  Nervenfasern.  Entfernt  man 
in  diesem,  oder  in  einem  etwas  älteren  Stadium  die  Medullarplatte,  oder  das  aus 
ihr  entstehende  Medullarrohr,  so  kann  sich  der  Embryo  unter  gewissen  Be- 
dingungen doch  weiter  entwickeln,  es  entsteht  dann  aber  eine  nervenlose  Bildung. 
Unter  der  Mitte  der  Medullarplatte  liegt  die  Anlage  der  Chorda  dorsalis  {Ch.).  Die   Die  Chorda 

Q  o  rs  3.1m 

Chordaanlage  ist  jetzt  in  das  Entoderm  {En.),  welches  die  Decke  des  Darms  {D) 


Fig.  38^  und  B.  Schemata.  A  Amphibienembryo,  in  den  die  Schnittrichtung 
und  -stelle  von  Fig.  38  B  als  Linie  a — a  eingetragen  ist.  AIIV  Medullarwülste. 
B  Schnitt  durch  den  Amphibienembryo  38  A  entsprechend  der  Linie  a — a. 
C.  Coelom,  Ch.  Chorda  dorsalis,  D.  Darm,  Eti.  Entoderm,  Eji.  Epidermis, 
MRi.  Medullarrinne,    MIV.  MeduUarwulst,    p.Ms.   parietaler  Mesoblast,     v.Ms. 

visceraler  ]\Iesoblast. 


35: 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


bildet,  eingeschaltet, und  das  Lumen  der  Darmanlage  setzt  sich  in  eine  Rinne  auf 
Die  Darmhöhle,  der  Chordaanlage  fort.  Die  Darmhöhle  ist  direkt  aus  der  Lichtung  des  Urdarms 
entstanden.  Während  ihr  Dach  dünn  ist  und  aus  einer  Reihe  kleinerer,  feinere 
Dotterkörner  enthaltenden  Zellen  besteht,  wird  ihr  Boden  von  großen,  mit  groben 
Dotterkörnern  erfüllten  Zellen  gebildet,  welche  gehäuft  übereinander  liegen. 
Rechts  und  links  finden  wir  in  dem  Raum,  welcher  von  der  Medullaranlage  und 
der  primitiven  Epidermis  auf  der  einen  und  von  der  Chordaanlage  und  dem  En- 
toderm  auf  der  anderen  Seite  begrenzt  ist,  jederseits  das  mittlere  Keimblatt, 


DasMesoderm  das  Mesodcrm  {Ms.).  Es  steht  auf  diesem  Schnitt  weder  mit  der  Chordaanlage 

und  Coelom. 

MW. 


Fig.  39.  Schema  für  die  Entwicklung  der  Keimblätter  bei 
Amphibien.  C.  Coelom,  Ch.  Chorda  dorsalis,  ChRi.  Chorda- 
rinne, D.  Darm,  En.  Entoderm,  Ep.  primitive  Epidermis,  MRi. 
MeduUarrinne,  MIV.  Medullarwulst, /.il/j.  parietaler  Mesoblast, 
v.Ms.  visceraler  Mesoblast. 


noch  mit  dem  Entoderm  in  Verbin- 
dung, wohl  aber  ist  das  auf  Schnit- 
ten weiter  caudalwärts,  gegen  den 
Urmund  hin  der  Fall.  In  dem  Me- 
soderm  entsteht  ein  Spalt,  der  zum 
primitiven  Coelom  [C]  wird,  und 
ihn  in  ein  parietales  und  ein  visce- 
rales   Blatt   gliedert    (/>.  Ms.  und 
v.Ms.).     Eine  Verbindung    dieses 
Spaltes  mit  der  Darmhöhle,  dort 
wo  die  Mesodermanlage  einerseits 
an  die  Chorda,  andererseits  an  das 
Entoderm  stößt,  läßt  sich  auch  auf 
weiter   caudalgelegenen  Schnitten 
mit   Sicherheit   nicht  nachweisen, 
doch  glauben  angesehene  Forscher 
Spuren    einer  solchen  gesehen  zu 
haben.  Nehmen  wir  eine  deutliche 
Verbindung  des  primitiven  Coeloms  mit  dem  Darm  an,  so  würden  wir  ein  Bild 
erhalten,  wie  ich  es  in  Fig.  39  gebe.     Ich  brauche  nur  auf  Fig.  10  zu  verweisen, 
Vergleich  mit  wclche  ciuen  Schnitt  durch  einen  Amphioxusembryo  darstellt,  um  die  theoreti- 
sche Bedeutung  unserer  Konstruktion  augenfällig  zu  machen.   Wir  haben  in 
Fig.  39  in  der  dorsalen  Wand  des  Darms  Bildungen,  welche  der  Chordarinne  und 
den  beiden  Coelomdivertikelndes  Amphioxus  durchaus  vergleichbar  erscheinen. 
EinsolcherVergleich  ist  auch  sicherlich  gerechtfertigt;  freilich  liegen  die  Verhält- 
nisse nicht  so  einfach,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  erscheint,  und  wie  man  lange 
geglaubt  hat.  Hier  hebe  ich  nur  hervor,  daß  die  Chorda  bei  den  Amphibien  wohl 
nicht  primär  in  das  Entoderm  eingeschaltet  ist,  daß  eine  deutliche  Verbindung  der 
primären  Coelomhöhle  mit  der  Darm-  bzw.  Urdarmhöhle  sich  nicht  nachweisen 
läßt,  und  daß,  was  noch  wichtiger  ist,  das  Mesoderm  zunächst  nicht  von  der 
dorsalen  Wand  des  Darms,  sondern  von  den  Urmundlippen  aus  seine  Ent- 
stehung nimmt.  Verweilen  wir  einen  Augenblick  gerade  bei  letzterem  Verhalten, 
so  kann  bei  Amphibien  das  Mesoderm,  das  vom  Urdarm  aus  entsteht,  falls  es 
überhaupt  vorkommt,  nur  geringfügig  sein  gegenüber  dem,  das  vom  Urmund- 
rande  aus  seinen  Ursprung  nimmt.    Nennen  wir  das  Mesoderm,  soweit  es  vom 


Amphioxus. 


Vergleich  zwischen  der  Keimblattbildung  bei  Amphibien  und  bei  Amphioxus       353 


Urdarm  aus  entsteht,  gastrales  Mesoderm,  das  vom  Urmund  aus  entstehende 
peristomales  Mesoderm,  so  haben  also  die  Amphibien  wenig  oder  kein  gastra- 
les und  viel  peristomales  Mesoderm.  Der  Amphioxus  hat  nur  gastrales, 
kein  peristomales  Mesoderm.  Ich  komme  auf  diese  Verhältnisse  später  zurück 
und  betone  hier  zunächst  nur  noch,  daß  gastrales  und  peristomales  Mesoderm 
unmittelbar  ineinander  übergehen  und  weiter,  daß  bei  solchen  Amphibien,  bei 
denen  richtiges  gastrales  Mesoderm  vorkommt,  die  das  Dach  der  Urdarmhöhle 
bildenden  Zellen  nicht  alle  eigent- 
liche Entodermzellen  sind,  sondern 
daß  auch  Mesodermbildungszellen 
mit  invaginiert  wurden.  Erst  nach- 
dem diese  ausgeschieden  sind,  um 
das  gastrale  Mesoderm  zu  bilden, 
sind  die  übrigbleibenden  Zellen  das 
Bildungsmaterial  für  das  Epithel 
des  Darms  und  der  Darmdrüsen. 
Ein  in  entsprechender  Rich- 
tung wie  Fig.  38  angelegter  Schnitt 
durch  einen  älteren  Embryo  (Fig. 
40)  zeigt  uns  dann  die  Gliederung 
des  Coeloms  und  die  Bildung  der 
Ursegmente.  Gleichzeitig  ist  der 
Verschluß  der  Medullarrinne  zum 
Medullarrohr  zu  verzeichnen.    Die 

Chorda  ist  vom  Darm  abgegliedert.  Fig.  40.     Qaerschuitt   durch    die  Ursegmentregion    eines   Am 

_,,  1  r     ■!•     -C-  J  phibienembryo     mit     geschlossenem     Medullarrohr     (Schema). 

ich  brauche  nur  aut   die  t*  ig.  13  Una  ^    definitives  Coelom,    steht    noch    durch   einen  Spalt  mit  der 

14  ZU   verweisen,    um  zu   zeigen,  wie  Ursegmenthöhle  in  Verbindung    CJ  Chorda  dorsalisZ?  Darm 

^  '  i3        }  j7„    Entoderm,     Ep.    pnmare    Epidermis,     MR.    Medullarrohr, 

sehr   diese   Vorgänge  bei  Amphibien  SpCgl.   Spinalgangüon,  enthält  auch  die  Anlage  von  sympathi- 

i_     •   A  U  •  sehen  und  sogenannten  chroraaffinen  Zellen,    sowie  die  Zellen 

den  entsprechenden  bei  Amphioxus  für  die  scheiden  der  Nervenfasern,  welche  man  als  Schwannsche 

\7Prcrlpinhhar  ^inrl  Als  eine  ReSOn-  Scheiden  bezeichnet,  p.Ms.  parietales  Blatt  des  Mesoderm, 
VergieiCnOar  Sina.      /\1S    eine    OebOIl        ^^    Ursegment,    inneres  Blatt,    USH.  Ursegmenthöhle,   v.Ms. 

derheit    der  Amphibienentwicklung      viscerales  Blatt  des  Mesoderm,    VN.  Anlage  der  Vorniere  bzw. 

.  des  Vornierenganges. 

sei  hervorgehoben,  daß  das  viscerale 

Blatt  des  Mesoderms  sich  im  ventralen  Bereich  sehr  innig  an  das  Entoderm 
anlegt,  ja  daß  die  Zellen  beider  sich  gegenseitig  zu  durchwachsen  scheinen. 
So  ist  eine  Abgrenzung  zwischen  Mesoderm  und  Entoderm  in  diesem  Gebiet 
zeitweilig  unmöglich.  Da  nun  gerade  hier  das  Blut  und  die  ersten  Gefäße  auf- 
treten, ist  es  außerordentlich  schwierig  anzugeben,  ob  bei  Amphibien  der  Ur- 
sprung des  Blutes  und  der  Gefäße  auf  das  Mesoderm  oder  auf  das  Entoderm 
zurückzuführen  ist,  wie  überhaupt  die  Entwicklung  des  Blutes  ein  überaus 
schwieriges  und  vielfach  noch  strittiges  Gebiet  bildet. 

Zur  weiteren  Erläuterung  der  besprochenen  Entwicklungsvorgänge  sollen 
dann  noch  drei  mediane  Sagittalschnitte  dienen.  Fig.  41  gibt  den  medianen 
Sagittalschnitt  durch  einen  Embryo,  bei  dem  sich  das  Medullarrohr  erst  im 
cranialen  Bezirke  geschlossen  hat.     Die  dorsale  und  die  ventrale  Blastoporus- 

K.  d.  G.  III.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  23 


Gliederung 
des  Coeloms. 
Bildung  der 
Ursegmente. 


Entwicklung 
des  Blutes. 


354 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbehiere 


lippe  [d.  UML  und  v.  UML)  sind  einander  stark  genähert,  der  Dotterpfropf 
(DPf.)  ist  ganz  klein  geworden  und  im  Begriff  sich  in  das  Innere  zurückzuziehen. 

aors. 


n. 

cl.UNL 
-DPf. 

caud. 


Ep. 


Fig.  41.  Medianer  Sagit- 
talschnitt  durch  einen  Am- 
phibienembryo mit  vorn  («/.) 
geschlossenem,hinten(<ra«(/.) 
noch  offenem  MeduUarrohr. 
Die  Stelle,  an  der  sich  der 
vordere  Neuroporus  ge- 
schlossen hat,  ist  durch 
einen  *  gekennzeichnet,  ap. 
apical,  caud.  caudal,  dors. 
dorsal,  veni.  ventral,  C.  Coe- 
lom,  Ch.  Chorda  dorsalis, 
D.  Darm,  DPf.  Dotter- 
pfropf, d.UML.  dorsale  Ur- 
mundlippe ,  En.  Entoderm, 
Ep.  Epidermis,  LB.  Leber- 
bucht, MB.  Mundbucht, 
MR.  MeduUarrohr,  Ms. 
Mesoderm,  p.Ms.  parietales 
Mesoderm,  v.Ms.  visterales 
Mesoderm,  v.  UML.  ventrale 
Urmundlippe. 


went. 


dors 


caud 


LB.' 


vent. 

Fig.  42.  Medianer  Sagittalschnitt  durch  einen  Amphibienembryo  mit  geschlossenem  MeduUarrohr.  Die  Stelle, 
vpelche  der  dorsalen  Urmundlippe  entspricht,  ist  durch  einen  *,  die  welche  der  ventralen  Urmundlippe  entspricht, 
durch   *  *    gekennzeichnet.      A.    After,'    C«.    Canalis   neurentericus.      Die    übrigen    Bezeichnungen    virie    in  Fig.  41. 

Die  Indifferenzzonen  an  der  dorsalen  und  ventralen  Urmundlippe  lassen  Meso- 
derm aus  sich  hervorgehen,  das  sich  an  der  dorsalen  Urmundlippe  alsbald  zur 


Medianschnitte  durch  Amphibienlarven 


355 


Anlage  der  Chorda  dorsalis  {Ch.)  formiert  und  sich  als  solche  weiter  cranial  in 
das  Entoderm  {En.)  einschaltet.  Cranial  stößt  das  Entoderm  des  Darms  im 
Grunde  der  noch  flachen  Mundbucht  {MB)  an  einer  umschriebenen  Stelle  an  das 
Ektoderm.  Es  ist  dies  die  Stelle,  an  der  sich  später  der  Darm  mit  der  Mund- 
bucht in  Verbindung  setzt.  Die  zurzeit  hier  vorhandene  nur  aus  Ektoderm 
und  Entoderm  bestehende  Verschlußmembran  nennt  man  die  primäre  Rachen- 
haut. Ventral  sieht  man  am  vorderen  Ende  des  Darms  eine  Bucht,  die  zur 
Leberentwicklung  in  Beziehung  steht  und  daher  als  Leberbucht  bezeichnet 
wird  {LB).  An  der  Bauchseite  der  Larve  findet  sich  noch  nicht  durchgehend 
Mesoderm  zwischen  dem  Entoderm  und  der  primitiven  Epidermis. 

Cfi  dors.  ^.  if. 

^M..  "-?•    __^'      SchK. 


ap. 


vent. 

F  i  g.  43.  Medianer  Sagittalschnitt  durch  einen  Amphibienembryo,  dessen  Medullarrohr  sich  in  die  Gehirn-  und 
Rückenraarksanlage  gegliedert  hat.  Die  Schvvanzknospe  und  ein  Schwanzdarm  sind  im  Entstehen.  Gh.  Gehirn- 
anlage, RM.  Rückenmarksanlage,  SchD.  Schwanzdarm,  SchK.  Rumpf-Schwanzknospe.    Die  übrigen  Bezeichnungen 

wie  in  Fig.  41  bzw.  42. 

In  der  Larve,  deren  medianen  Sagittalschnitt  die  Fig.  42  darstellt,  ist  das 
Medullarrohr  geschlossen.  Wie  wir  schon  besprochen  haben,  wurde  durch  die 
von  rechts  und  links  aufeinander  zuwachsenden  caudalen  Enden  der  MeduUar- 
wülste  der  schließlich  nur  noch  kleine  Blastoporus  in  ein  vorderes  und  in  ein 
hinteres  Stück  aufgeteilt.  Das  vordere  wird,  wenn  die  Medullarwülste  sich  zum 
Medullarrohr  schließen,  mit  überwachsen  und  stellt  den  Canalis  neurentericus 
{C.  n.)  dar,  d.  h.  einen  Kanal,  der  das  Medullarrohr  mit  der  Darmhöhle  ver- 
bindet, das  hintere  wird  zum  Anus  [A).  Im  übrigen  sind  gegenüber  der  Fig.  41 
keine  wesentlichen  Änderungen  eingetreten.  Dagegen  zeigt  nun  Fig.  43  schon 
auf  den  ersten  Blick  nicht  unwesentliche  Fortschritte.  Die  Kopfgegend  tritt 
deutlich  hervor,  und  die  Rumpfschwanzknospe  [SchK)  hat  sich  auszubilden 
begonnen.  Der  Gehirnabschnitt  des  Metullarrohres  {Gh.)  zeichnet  sich  durch 
seine  stärkere  Entwicklung  und  Differenzierung  sowie  durch  sein  größeres  Lumen 

23* 


oc5  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  WirbeUiere 

bereits  von  dem  Rückenmarksabschnitt  {RM)  aus.  Der  vordere  Abschnitt  des 
Gehirns  grenzt  sich  durch  eine  Krümmung,  die  man  als  die  Scheitelbeuge  be- 
zeichnet, von  dem  hinteren  ab.  Der  Canalis  neurentericus  {C.  n.)  liegt  immer 
am  caudalen  Ende  des  Medullarrohres,  bis  er  schließlich  obliteriert;  er  kann 
auch  von  Anfang  an  nur  durch  einen  Zellstrang,  den  neurenterischen  Strang, 
vertreten  sein;  so  kommt  beim  Taufrosch  {Rana  fusca)  ein  neurenterischer 
Strang,  bei  der  Unke  (Bombinator  igneus)  ein  Canalis  neurentericus  vor.  Mit 
dem  Auswachsen  der  Schwanzknospe  entwickelt  sich  auch  der  Schwanzdarm 
{SchD),  er  reicht  von  der  Einmündungsstelle  des  Canalis  neurentericus  in 
der  Nähe  der  Schwanzspitze  bis  zum  After  {A);  auch  er  kann  durch  einen 
lumenlosen  Strang  von  Zellen  vertreten  sein.  Wichtig  ist,  daß  im  Bereich 
des  Canalis  neurentericus  bzw.  des  neurenterischen  Stranges  dort,  wo  die 
Chorda  {Ch.)  wurzelt,  in  der  Schwanzknospe  für  längere  Zeit  ein  Gebiet  be- 
stehen bleibt,  auf  dem  die  Zellen  der  drei  Keimblätter  in  Verbindung  bleiben, 
und  das  wir  als  eine  Indifferenzzone  bezeichnen  können;  das  soll  heißen  als 
eine  Zone,  in  der  Zellen  liegen,  welche  noch  indifferent  sind,  also  weder  den  Cha- 
rakter von  Ektoderm-,  noch  von  Mesoderm- oder  Entodermzellen  angenommen 
haben.  Entsprechende  Verhältnisse  finden  wir  an  entsprechender  Stelle  bei 
allen  Wirbeltieren  bis  zum  Menschen  einschließlich.  Sie  haben  theoretische  Be- 
deutung, indem  sie  auch  für  die  W^irbeltiere  auf  einen  Gegensatz  zwischen  dem 
vorderen  Teil  des  Tieres,  der  durch  primitive  Entwicklungsvorgänge  zustande 
kommt,  und  dem  weiter  caudal  gelegenen  hinweisen,  der  einem  Sprossungs- 
vorgang  sein  Dasein  verdankt.  Vergleiche  mit  den  Würmern  z.  B.,  die  natür- 
lich zunächst  nur  als  Analogien  aufzufassen  sind,  liegen  da  auf  der  Hand.  Außer 
der  theoretischen  Bedeutung  kommt  dieser  Indifferenzzone  in  der  Scb  wanzknospe 
aber  auch  eine  mehr  praktische  zu.  Sie  erklärt  die  Tumoren  im  caudalen  Ende 
der  Wirbeltiere,  welche  durch  das  Vorkommen  von  Elementen  aller  drei  Keim- 
blätter den  Charakter  von  Teratomen  tragen. 
Vergleich  mit  Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  das,  was  wir  von  der  Entwicklung  der  Amphi- 
t7sA'mph^xus"t)ien  erfahren  haben,  und  vergleichen  es  mit  der  Entwicklung  des  Amphioxus, 
so  ergibt  sich,  daß  die  Anfangsstadien  und  die  Endstadien  der  Entwicklung,  so 
weit  wir  sie  in  Betracht  gezogen  haben,  ihre  Unterschiede  wesentlich  dem  Reich- 
tum an  Dotterbestandteilen  verdanken  und  mit  Berücksichtigung  dieses  Um- 
standes  leicht  aufeinander  bezogen  werden  können.  In  den  mittleren  Stadien 
liegen  die  Verhältnisse  nicht  so  klar.  Es  sind  da  vor  allem  die  Unterschiede  in 
der  Entwicklung  der  Chorda,  des  Coeloms  und  des  Mesoderms  hervorzuheben. 
Einfluß  des  So  dcr,  daß  dem  Amphioxus  nur  gastrales  Mesoderm  zukommt,  den  Amphibien 
wesentlich  peristomales.  Auch  diese  Unterschiede  beruhen  aber,  wie  wir  später 
noch  ausführlicher  sehen  werden,  im  wesentlichen  auf  dem  relativen  Dotter- 
reichtum der  Amphibieneier.  Der  Dotter  erschwert  und  verlangsamt  den  Vor- 
gang der  Invagination,  und  so  tritt  die  Mesodermbildung  bei  den  Amphibien 
bereits  ein,  bevor  die  Invagination  vollendet  ist. 
Seiachier.  Vcrlasscu  wir  jetzt  die  Amphibien  und  wenden  uns  zu  den  Selachiern,  so 

kommen  wir  bei  ihnen  zu  Tieren,  deren  Eier  an  Dotterreichtum  selbst  die 


Die  Gastrulation  bei  den  Selachiern 


357 


dotterreichsten  Amphibieneier  weit  übertreffen.  Die  Eier  sind  vielfach  nicht 
rund,  sondern  wurstförmig.  Ein  solches  Ei  von  Scyllium  canicula  zeigt  Fig.  44 
nach  einem  Photogramm.  Der  Keim,  der  hier  als  eine  kleine  Scheibe  auf  dem 
mächtigen  Dotter  liegt,  ist  bereits  über  die  ersten  Entwicklungsstadien  hinweg. 
Jedenfalls  sind  nicht  nur  eine  obere  und  eine  untere  Keimschicht  gebildet,  son- 
dern auch  schon  eine  mittlere,  Mesoderm,  ist  in  Bildung  begriffen.  An  dem  rech- 
ten Rande  des  Keimes  ist  die  Medullarplatte  mit  der  Medullarrinne  zu  erkennen. 
Bei  den  Schematen,  welche  ich  hier  für  die  Entwicklung  der  Selachier  geben 
werde,  will  ich  von  der  besonderen  Form  der  Eier,  als  theoretisch  ganz  neben- 
sächlich, absehen  und  kugelig  gestaltete  voraussetzen.  Auch  werde  ich  vielfach 
nicht  das  ganze  Ei,  sondern  nur  seinen  animalen  Pol  mit  dem  Keim  und  seiner 

A  B 


r  lg.  45. J  u.  B.  Schemata  von  Selachiereiern. 

A  Ein  Selachierei  am  Ende   der  Furchung. 

Fig.  44.     Photographie    des  Eies   eines  Selachiers  (Scyllium  canicula).      Ansicht    vom    animalen    Pol.     B    Ein    Sela- 

Aus  O.  Hertwigs  Entwicklungsgeschichte.      Nach  O.  Hektwig.  chierei     am    Beginn     der     Gastrulation     in 

gleicher  Ansicht.     Der  Dotter   ist    im  Ver- 
gleich zum  Keime    lange   nicht  groß  genug 
dargestellt. 

nächsten  Umgebung  zur  Darstellung  bringen.  Fig.  21  soll  die  Blastula  eines 
Knorpelfisches  im  Durchschnitt  zeigen.  Der  eigentliche  Keim  ist  hier  gegen 
den  Dotter  noch  nicht  scharf  abgegrenzt.  Fig.  45  A  würde  ein  solches  Verhalten 
in  der  Aufsicht  des  unzerlegten  Eies  darstellen.  Nach  einiger  Zeit  beginnt  sich 
nun  an  einer  Stelle  des  Randes  der  Keim  gegen  den  Dotter  schärfer  abzugrenzen 
(Fig.  45B)  und,  wenn  wir  an  geeigneten  Schnitten  untersuchen,  so  erkennen  wir 
Fig.  50A  und  B),  daß  diese  scharfe  Abgrenzung  durch  einen  Einstülpungsvor« 
gang  hervorgerufen  wird,  wie  die  Abgrenzung  der  dorsalen  Blastoporuslippe 
beim  Ei  der  Amphibien.  Und  wie  beim  Ei  der  Amphibien  schreitet  nun  auch 
hier  die  scharfe  Abgrenzung  des  Keimes  von  der  ersten  Stelle  ihres  Auftretens 
nach  rechts  und  links  vor;  dabei  werden  freilich  die  Einstülpungsvorgänge,  je 
weiter  wir  uns  von  der  Stelle  ihres  ersten  Auftretens  entfernen,  immer  undeut- 
licher. Aber  auch  beim  Amphibienei  nahm  ja  die  Mächtigkeit  der  Einstülpung 
von  der  dorsalen  Blastoporuslippe  hin  nach  rechts  und  links  mehr  und  mehr  ab. 
Wir  können  nicht  im  Zweifel  darüber  sein,  wir  haben  es  auch  hier  mit  einem 
Gastrulationsprozesse  zu  tun.  Die  Unterschiede  sind,  wie  auf  der  Hand  liegt, 
durch  die  Dottermenge  bedingt.  Während  bei  vielen  Amphibien,  beim  Frosch 
z.B.,  die  erste  Stelle  der  Einstülpung,  also  die  dorsale  Blastoporuslippe,  wenn 
wir  den  animalen  Pol  des  Eies  als  oberen,  den  vegetativen  als  unteren  Pol  be- 
trachten, unterhalb  des  Äquators  liegt  und  der  Dotterpfropf  auch  zur  Zeit  seiner 
mächtigsten  Entwicklung  nur  einen  Bruchteil  der  Eioberfläche  einnimmt,  ist  hier 


Die  Gastrulation 
bei  Selachiern. 


Einfluß  des 
Dotters. 


358 


Franz  KeibeL:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


der  größte  Teil  des  Eies  dem  Dotterpfropf  zu  vergleichen;  der  Urmund  grenzt 
nur  einen  kleinen  in  der  Nähe  des  animalen  Poles  gelegenen  Teil  der  Eiober- 
fläche  als  Keim  von  dem  mächtigen  Dotter  ab.  Trotzdem  können  wir  die  ein- 
zelnen Teile  der  Urmundlippen  genau  denen  beim  Amphibium  homologisieren. 
Die  Stelle  des  ersten  Entstehens  der  Einstülpung  ist  der  dorsalen  Urmundlippe 

C 


A 


B 


D 


ps,^:e 


Körper  form. 


Fig.  \(i A — E.  Die  Ausgestaltung  der  äußeren  Körperform  bei 

einem   .Selachier    (Torpedo    ocellata)    nach    den    ZiEGLERschen 

Wachsmodellen. 

Aus  O.  Hertwigs  Handbuch  der  Entwicklungslehre. 

Nach  F.  Keibel. 


zu  vergleichen  und  kann  als  solche  bezeichnet  werden;  rechts  und  links  haben 
Ausbildung  der  wir  die  latcralcn  Urmundlippen,  vorn  die  ventrale.  Über  das  Auftreten  und  die 
äußere  Ausgestaltung  des  Embryo  geben  die  schönen  Zieglerschen  Modelle, 
welche  ich  hier  alsFig.  46A— E  wiedergebe,  Auskunft.  Am  Rande  der  Keim- 
scheibe, dort  wo  die  dorsale  Blastoporuslippe  liegt,  bildet  sich  zunächst  eine  kleine 
Verdickung,  dann  eine  kleine  Platte,  an  deren  hinterem  Ende  allmähhch  eine 
Kerbe  deutlicher  und  deutlicher  wird.  Auf  der  verdickten  Platte  selbst  ist 
eine  Rinne  entstanden,  deren  hinteres  Ende  die  eben  beschriebene  Kerbe  ist. 
Nach  vorn  reicht  die  Rinne  nicht  bis  an  den  Rand  der  Platte,  hier  verbinden  sich 
die  Wülste,  welche  sich  rechts  und  links  auf  der  Platte  erheben.   Die  Platte  ist, 


Selachier.    Ausbildung  der  Körperform.    Concrescenz 


359 


wie  die  weitere  Entwicklung  zeigt,  die  Medullarplatte,  die  Rinne  auf  ihr  die 
Medullarrinne,  die  die  Rinne  seitlich  begrenzenden  Wülste  sind  die  Medullar- 
wülste.  Die  Kerbe  an  der  Stelle  der  dorsalen  Blastoporuslippe  kann  man  als 
Incisura  neurenterica  bezeichnen,  weil  sie  von  der  Medullarrinne  in  den  Urdarm  indsura  neuren 
und  später  in  den  Darm  führt.  Zu  ihren  beiden  Seiten  wachsen  die  Medullär-  sckwanziappen. 
Wülste  und  die  angrenzenden  Teile  des  Keimscheibenrandes  als  Schwanzlappen 
stark  vor.  Die  Annahme,  daß  die  Embryonalanlage  in  zwei  Hälften  am  Keim- 
scheibenrande enthalten  sei,  nach  der  Mitte  zusammengeschoben  würde  und 
nun  die  Anlage  des  Embryonalkörpers  durch  Concrescenz  stattfände,  wofür 
der  Augenschein  bei  Selachiern,  wie  bei  Teleostiern  sprach,  hat  sich  bei  ge- 


Fig.  ^^ -rl — C.  Schemata  zur  Concrescenztheorie  bei  Fischen.  A  Schema  der  Hisschen  Concrescenztheorie.  ?<  vor- 
derstes Kopfende,  i,  2,  3,  4  usw.  symmetrische  Teile  des  Randringes,  welche  sich  bei  der  Bildung  des  Embryo  in 
der  Mittellinie  zusammenlegen  sollen.  B  Forellenkeim  24  Stunden  nach  Beginn  der  Gastrulation.  Der  embryo- 
bildende Bezirk  ist  durch  Strichelung  bezeichnet.  C  Forellenkeim  im  .Stadium  der  rautenförmigen  Erabryonalanlage. 
Die  in  den  Figuren  47  Ä  und  C  sich  entsprechenden  Bezirke  sind  durch  gleichartige  Strichelung  gekennzeichnet. 
K  Kopfteil    des    embryobildenden  Bezirks,    R  sogen.  Knopf.     Aus  O.  Hert\vigs    Handbuch  der   Entwicklungslehre. 

Nach  KopscH. 

nauerer,  auf  Experimente  begründeter  Untersuchung  nicht  in  der  Ausdehnung 
bestätigt,  wie  man  anfänglich  annahm. 

Die  eben  angedeutete  Meinung  hat  vor  allem  His  vertreten  und  als  Con-  concrescenz  bei 
crescenztheorie  bezeichnet.  Das  Schema  der  Fig.  47  A  läßt  auf  einen  Blick  er-  ^xei^ostieiT 
kennen,  was  unter  dieser  Theorie  zu  verstehen  ist.  U  stellt  das  vorderste 
Kopfende  des  Embryo  dar,  i,  2,  3,  4  usw.  sind  symmetrische  Teile  des  Keim- 
scheibenrandes, wie  sie  sich  bei  der  Bildung  des  Embryo  aneinander  legen 
sollen.  In  so  schematischer  Weise  findet  nun  eine  Concrescenz  sicher  nicht 
statt,  immerhin  zeigen  aber  auch  Experimente,  daß  Bildungsmaterial  von  den 
Seiten  her  in  den  Embryo  hineingeschoben  wird,  doch  trägt  nur  ein  verhältnis- 
mäßig kleiner  Teil  des  Keimscheibenrandes  zur  Embryonalbildung  bei,  ein 
viel  kleinerer  als  His  ursprünglich  angenommen  hatte.  Für  das  Ei  eines  Kno- 
chenfisches, der  Forelle,  hat  Kopsch  das  genauer  feststellen  können,  und  die 
beiden  hier  mitgeteilten  Figuren  (Fig.  47B  u.  C)  geben  seine  Resultate  an- 
schaulich wieder.  Fig.  47  B  stellt  eine  Forellenkeimscheibe  24  Stunden  nach 
dem  ersten  Beginn  der  Bildung  der  dorsalen  Blastoporuslippe  schematisch  dar. 
Der  Randbezirk  des  Keimes,  soweit  er  zur  Bildung  des  Embryo  beiträgt,  ist 
durch  Strichelung  kenntlich  gemacht.  Schon  kurze  Zeit  später  hat  die  Zusam- 
menschiebung dieses  Randbezirkes  zu  der  rautenförmigen   Embryonalanlage 


^50  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

stattgefunden.  Die  in  den  Fig.  47  B  und  47  C  entsprechenden  Bezirke  sind 
durch  gleichartige  Strichelung  gekennzeichnet.  K  stellt  den  Kopfteil  des 
embryobildenden  Bezirkes  dar,  er  überwiegt  bei  weitem  den  Bezirk  R,  den 
„Knopf",  aus  dem  der  ganze  übrige  Embryo  hervorgeht. 

Doch  kehren  wir  jetzt  zu  den  Selachierkeimen  zurück,  so  sehen  wir,  daß 
während  der  bei  ihnen  geschilderten  Vorgänge  sich  die  ganze  Embryonal- 
anlage, deren  mächtigster  Teil  die  Anlage  des  Nervensystems  bildet,  stärker 
über  die  Keimscheibe  erhoben  und  durch  Furchen,  die  sogenannten  Grenz- 
rinnen, abgegrenzt  hat.  Der  Verschluß  der  Medullarrinne  zum  Rohre  beginnt 
wie  bei  Amphibien  im  Gebiet  der  Hirnanlage  und  schreitet  wieder  rostral- 
wärts,  d.  h.  nach  dem  vorderen  Körperende  hin,  und  caudalwärts  fort,  so 
bilden  die  letzten  Verbindungen  des  Medullarrohres  mit  der  Außenwelt  einen 
vorderen  und  einen  hinteren  Neuroporus.  Wenn  sich  die  Medullarwülste  im 
Bereiche  der  Schwanzlappen  aneinander  legen  und  miteinander  verwachsen, 
Canaiis  neu-  schlicßcn  sle  dadurch  die  Incisura  neurenterica  zum  Canalis  neurentericus.  Zu- 
Rurapfschwanz-  glcich  kommt  damit  eine  Rumpfschwanzknospe  zustande.  Canalis  neurentericus 
knospe.  ^^^  Schwauzdarm  verhalten  sich  dabei  ganz  entsprechend  wie  bei  Amphibien. 
Sind  auch  die  ventralen  Seiten  der  Schwanzlappen  miteinander  verwachsen, 
so  greift  die  Nahtbildung  weiter  auf  den  Rand  der  Keimscheibe,  also  auf  den 
Blastoporusrand,  über.  Daran,  daß  hier,  wie  im  Gebiet  der  Rumpfschwanz- 
lappen eine  richtige  Concrescenz  vorliegt,  kann  keinerlei  Zweifel  sein.  Der 
übrige  Rand  des  Blastoporus,  der  Rand  der  Keimscheibe  also,  schiebt  sich 
währenddessen  verhältnismäßig  schnell  über  den  Dotter  hinweg.  Er  verliert 
dabei,  was  besonders  hervorgehoben  sei,  die  Charakteristika  des  Urmundrandes. 
Bald  ist  weder  von  einer  Einstülpung  des  Entoderms  noch  von  einer  Über- 
gangs- oder  Indifferenzzone,  aus  der  Mesoderm  hervorwuchert,  noch  etwas  zu  er- 
kennen. Ektoderm  und  Entoderm  werden  im  ganzen  Randbereich  der  Keim- 
umbiidung  des  schcibc  Selbständig  voneinander.  Aus  dem  Urmundrande  mit  seinen  morpho- 
in™in°en"unl^  logischcn  Eigenheiten  wird  ein  einfacher  Umwachsungsrand.  Dabei  schnürt 
wachsungsrand.  gj^j^  (jgj-  eigentliche  Embryonalkörper  immer  deutlicher  vom  Dotter  ab  und  ist 
schließlich  nur  noch  durch  einen  Stiel  mit  dem  Dotter  verbunden.  Die  Figuren 
48A  u.  B  geben  Schemata  zur  Verdeutlichung  dieses  Vorganges.  Fig.  48A 
zeigt  ein  Selachierei  von  der  Seite  gesehen.  Die  Verwachsungsnaht  wurde 
deutlich  gekennzeichnet.  Der  Dotter  ist  bis  auf  ein  kleines  ventrales  Gebiet 
überwachsen.  Einen  Querschnitt  durch  den  Embryo  und  das  Ei  an  der  Stelle 
a  der  Fig.  48  A  gibt  dann  Fig.  48  B.  Man  sieht,  wie  das  Lumen  der  Darmanlage 
mit  dem  Dottersack  durch  einen  engen  Gang  verbunden  ist,  durch  den  Ductus 
vitello- intestinalis.  Das  Entoderm,  das  den  Ductus  vitello-intestinalis  aus- 
kleidet, wird  umgeben  vom  visceralen  Blatt  des  Mesoderm,  dann  folgt  nach 
außen  das  Coelom  und  dann  das  parietale  Blatt  desMesoderms  und  über  ihm 
die  ektodermale  Epidermis.  Der  Embryo  ist  also  mit  dem  Dottersack  durch  zwei 
ineinandersteckende  Röhren  verbunden,  von  denen  die  innere  aus  Entoderm  und 
dem  visceralen  Blatt  des  Mesoderm,  die  äußere  aus  dem  parietalen  Blatt  des  Me- 
soderm und  der  Epidermis  besteht;  zwischen  beiden  Röhren  findet  sich  Coelom. 


Selachier.    Urmund,  Umwachsungsrand  und  Dottersack 


361 


Fig.  48 A  u.  B.  Sche- 
mata für  die  Über- 
wachsung  des  Dotters 
bei  Selachiem.  A  von 
links  und  ein  wenig 
von  caudal  gesehen, 
so  daß  die  Naht  ge- 
rade noch  sichtbar  ist. 
B  Schnitt  durch  Em- 
bryo und  Ei  an  der 
in  Fig.  48  ^i  mit  a — a 
angegebenen  Stelle 
bei    etwas    stärkerer 

Vergrößerung. 
C.  Coelom,  Ck.  Chor- 
da, D.  Darm,  Dr. 
Dotter,  Df.  v.-i.  Duc- 
tus vitello-intestinalis, 
Ekf.  Ektoderm,  En. 
Entoderm,  MR.  Me- 
dullarrohr,  Ms.  Me- 
soderm,  />.Ms.  parie- 
tales Blatt  des  Me- 
soderms,  US.  Ur- 
segment. 


Nun  dauert  es  nicht  mehr  lange,  dann  ist  der  ganze  Dotter  überwachsen,  Dottersack, 
und  der  Dottersack  ist  ventral  geschlossen,  eigentlich  kann  man  erst  jetzt  von 
einem  richtigen  Dot- 
tersack sprechen.  Fig. 
49  zeigt  einen  solchen 
Embryo.  Erschien  zu- 
nächst die  Embryonal- 
anlage als  kleine  Erhe- 
bung auf  dem  mächti- 
gen Dotter,  so  kehrt 
sich  mit  zunehmendem 
Wachstum  des  kleinen 
Tierchens  das  Verhal- 
ten allmählich  um.  Mit 
seinem  Wachstum  wird 
die  reiche  Dottermit- 
gift, welche  im  Dotter- 
sack angehäuft  ist, 
aufgebraucht,  d.  h.  in 
verarbeiteter  Form  in 
den  Embryonalkörper 
übergeführt.  So  er- 
scheint schließlich  der 
Dottersack  als  ein  An- 
hang. Der  Inhalt  des 
Dottersacks  tritt  übri- 
gens nicht  durch  den 
Ductus  vitello-intesti- 
nalis allmählich  in  den 
Darm  über,  um  dort 
verdaut  und  in  den 
Embryo  aufgenommen 
zu  werden,  sondern  die 
Verdauung  des  Dotters 
erfolgt  durch  das  Ento- 
derm des  Dottersackes 
selbst;  die  von  dem  En- 
toderm verarbeiteten 
Nährsubstanzen  wer- 
den von  dem  reichen 

Gefäßnetz  des  Dottersacks  aufgenommen  und  dem  Tierchen  zugeführt.  Mit 
dem  Schwinden  seines  Inhalts  wird  der  Dottersack  schließhch  ganz  in  den  Em- 
bryonalkörper aufgenommen.  Bei  manchen  Haien  hat  er  vorher  freilich  noch 
eine  wichtige  Funktion  zu  erfüllen.  Es  gibt  Haifische,  welche  lebendige  Junge 


Ms. 


—  C 


.p  Ms. 
-Ekt 


36^ 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


zur  Welt  bringen;  bei  ihnen  dient  der  Dottersack,  der  sich  innig  an  die  Schleim- 
haut des  Eileiters,  oder,  wie  wir  hier  auch  schon  sagen  können,  des  Uterus, 
anlegt,  ein  Organ,  das  Nährstoffe  aus  dem  mütterlichen  Körper  bezieht  und  sie 
dem  Embryo  zuführt.  Wir  haben  hier  also  bereits  bei  manchen  Haifischen  eine 
Placentabildung  vor  uns,  eine  Dottersackplacenta. 

Erläutern  wir  nun  die  besprochenen  fundamentalen  Entwicklungs- 
vorgänge der  Selachier  noch  durch  einige  Schnittbilder.  Fig.  50  A  stellt 
einen    medianen    Sagittalschnitt    durch   ein    Selachierei    im  Übersichtsbilde 


Fig.  49.  Torpedoembryo  mit 
geschlossenem  Dottersack,  da 
Dotterarterie,  dv  Dottervene, 
rs  Randsinusrest  als  paariges 
Längsgefäß  an  der  Schlußlinie 
des  Dotterloches.  Aus  Hert- 
WIGS  Handbuch  der  Entwick- 
lungslehre.     Nach   RüCKEKT. 


Fig.  50 yi  u.  B.     Mediane  Sagittalschnitte    durch    eine   junge  Selachiergastrula. 

A  Schnitt  durch  das  ganze  Ei.    Übersichtsbild.     B  Schnitt  durch  den  Keim  und 

»eine  nächste  Umgebung.     Dr.  Dotter,   d.UML.  dorsale  Urraundlippe,    FH.  Fur- 

chuugshöhle,   L'D.  Urdarmhöhle. 


dar,  bei  dem  soeben  die  Abgrenzung  der  Keimscheibe  gegen  den  Dotter, 
also  die  Bildung  der  dorsalen  Urmundlippe,  begonnen  hat,  Fig.  50 B 
den  Keim  bei  stärkerer  Vergrößerung,  d.  UML  ist  die  dorsale  Urmund- 
lippe. Unter  ihr  liegt  die  noch  kleine  Höhle  des  Urdarms  {UD).  Unter  der 
epithelial  angeordneten  oberen  Zellage  des  Keimes  finden  wir  die  Furchungs- 
höhle  {FH).  Den  Boden  der  Furchungshöhle  bildet  eine  Protoplasmaschicht, 
in  die  je  tiefer  man  kommt  desto  mehr  Dotterkörner  eingelagert  sind,  bis  bald 
jede  Spur  des  Protoplasmas  verschwindet  und  man  nur  noch  die  gehäuften 
Dotterkörner  erkennen  kann.  Außerdem  finden  wir  in  der  Protoplasmaschicht 
Zellkerne,  besonders  zahlreich  am  vorderen  und  hinteren  Rande  des  Keimes. 
Die  Gastruiation  Vergleichen  wir  die  Fig.  50 A  u.  B  mit  Fig.  35  A,  welche  den  medianen  Sagittal- 
ve^rgiichen  m[t  schuitt  durch  eine  junge  Amphibiengastrula  darstellt,  so  ergibt  sich,  daß  bei 
der  der  Am-  Sclachiem  uud  Amphibien  prinzipiell  die  gleichen  Verhältnisse  vorliegen,  wir 
können  die  Fig.  50 A  u.  B  aus  der  Fig.  35  A  durch  Anhäufung  größerer  Dotter- 
massen in  der  vegetativen  Hälfte  des  Eies  leicht  ableiten.    Ganz  entsprechend 


Vergleich  der  Gastrulation  bei  Selachiern  mit  der  bei  Amphibien 


3(>3 


liegen  die  Verhältnisse  bei  einem  etwas  älteren  Selachierei,  bei  dem  auch  die 
ventrale  Urmundlippe  deutlich  geworden  ist  (Fig.  51);  man  kann  es  leicht  auf 
ein  etwas  älteres  Amphibienei  zurückführen,  wie  ein  solches  Fig.  36  im  Sagit- 
talschnitt  zeigt.  Ein  wenig  kompliziertere  Verhältnisse  finden  wir  in  dem  in 
Fig.  52  B  wiedergegebenen  Schnitt,  für  den  Fig.  52  A  eine  Situationsskizze  gibt. 

BS.  Ekt.     En.  d.UML 


Fig.  51.     Medianer  Sagittalschnitt    durch    den    in  Fig.  afi A  abgebildeten  Selacliierembryo.     DS.  Kerne  des  Dotter- 

syncytium,  d.UML.  dorsale   Urmundlippe,  Eki.  Ektoderm,  En.  Entoderm,   UD.  Urdarm. 

Aus  Hektwigs  Handbuch  der  Entwicklungslehre.     Nach  Zieglek. 

Wir  müssen,  um  sie  zu  verstehen,  die  Fig.  37,  38  und  39  von  der  Amphibien- 
entwicklung heranziehen  und,  sozusagen,  kombinieren.  Legen  wir  einen  Schnitt 
entsprechend  der  Linie  c — c,  also  vor  der  Anlage  des  eigentlichen  Embryo,  durch 
den  Keim  ■ —  die  „ 

Fig.  52yi— C  Selachierkeira  mit  Medullarrinne.  A  Skizze 
des  Keimes,  in  den  die  Lage  von  B  und  C  durch  die  Linien 
b — b  und  c — c  eingetragen  ist.  CA.  Chorda  dorsalis,  Z^r.  Dotter, 
Ekt.  Ektoderm,  En.  Entoderm,  g.Ms.  gastrales  Mesoderm, 
/.  1: y/Z.  laterale  Urmundlippe,  yl/Ä'.  Medullarrinne,  IVALMe- 
dullarwulst,   psf.Iils.  peristomales  Mesoderm. 

MW. 


pst  Ms. 
,A.UML. 
Dr 


Ekt 


pst.  Ms. 
L.UML 


Fig.  52  gibt  das 
Schemaeines  sol- 
chen — ,  so  erhal- 
ten wir  ein  Bild, 
das  wir  unmittel- 
bar der  Fig.  37 
vergleichen  kön- 
nen. Auf  ihm 
sind  die  beiden  B 
lateralen  Blasto- 
poruslippen  ge- 
troffen, an  denen 
man  eine,  freilich 
nur  flache,  Ga- 
strulaeinstülpung 
wahrnimmt.    An 

der  Indifferenzstelle,  die  sich  zwischen  der  äußeren  und  der  inneren  Keimschicht 
findet,  wuchert  Mesoderm  zwischen  die  beiden  primären  Keimblätter  und  hier 
kann  es  zur  Ausbildung  einer  kleinen  Kerbe  kommen.  In  der  Fig.  52  B  sehen 
wir  nun  in  der  Mitte  des  Schnittes  noch  den  Querschnitt  durch  die  Embryonal- 
anlage. Sie  bietet  Verhältnisse  dar,  welche  an  die  der  Fig.  38  (bei  Amphibien) 
erinnern,  nur  ist  das  Mesoderm  mit  Chorda  und  Entoderm  im  Zusammenhange. 
Wir  haben  hier  ausgesprochenes  gastrales  Mesoderm,  das  peripherwärts  vor- 
wächst, um  nach  einiger  Zeit  auf  das  von  der  Peripherie  —  vom  lateralen  Ur- 
mundrande  —  auswachsende  Mesoderm  zu  treffen  und  mit  ihm  zu  verschmel- 
zen. Ist  das  geschehen,  so  bietet  sich  uns  ein  Bild  dar,  wie  es  Fig.  53  gibt. 
Im  Mesoblast  tritt  dann  wie  bei  den  Amphibienembryonen  die  Coelomspalte 
auf.    Wenn  es  sich  dabei  auch  ebensowenig  wie  bei  den  Amphibien  um  eine 


364 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


MRL 


deutliche  Coelomeinstülpung  handelt,  so  läßt  sich  doch  aus  Fig.  53  leicht  ein 
Fig-  39  entsprechendes  Bild  konstruieren,  welches  darauf  hinweist,  daß  die 
Vorgänge  bis  zu  einem  gewissen  Grade  vergleichbar  sind.  Die  weitere  Ent- 
wicklung verläuft  bei  Selachiern  ganz  entsprechend  wie  bei  den  Amphibien. 
Fig.  54  soll  das  erläutern,  sie  ist  ohne  weiteres  mit  Fig.  40  zu  vergleichen.  Das 
Medullarrohr  ist  geschlossen,  die  Chorda  ist  vom  Entoderm  gesondert,  das 
Mesoderm  hat  die  Ursegmente  gebildet,  deren  Höhlen  mit  dem  peripheren 
Coelom  noch  durch  feine  Spalten  in  Verbindung  stehen.  Wir  wollen  die  Ent- 
wicklung nicht  weiter  und  nicht  im  einzelnen  verfolgen.  Schon  jetzt  ist  klar, 
daß  wie  die  Entwicklung  der  Amphibien  sich  aus  der  des  Amphioxus  durch 
Dotterzunahme  ableiten  läßt,  so  in  der  Hauptsache  auch  die  Entwicklung  der 
Selachier  aus  der  der  Amphibien.  Es  sei  übrigens  ausdrücklich  hervorgehoben, 
daß,  wenn  ich  hier  von  ,, ableiten"  spreche,  ich  damit  über  die  Phylogenie 

durchaus    nichts 
MW.  aussagen  will.  Es 

,'-  ^^  soll     weder     be- 

--'     '       pst  Ms  hauptet  werden, 

l.UML.    daß   die   Amphi- 
^■''^'  bien  von  Amphi- 
oxus     ähnlichen 
Vorfahren       ab- 

Fig-  53-     Schematischer  Querschnitt  durch  einen  Selachierkeim,   bei  dem  gastrales  und 

peristomales  Mesoderm    sich    vereinigt   haben.     C/i.  Chorda  dorsalis,    Dr.  Dotter,   g.AIs.      Stammen,        nOCn 
gastrales  Mesoderm,  i.UAIL.  laterale  Urmundlippe,  MRi.  Medullarrinne,  MW.  Medullär-      /^oft  c\\e-  ^plarViipr 
wulst,  psi.Ms.  peristomales  Mesoderm. 

von  Amphibien 
ähnlichen.  Es  soll  nur  gesagt  werden,  daß  bei  Amphioxus,  Amphibien  und 
Selachiern  der  gleiche  Entwicklungsplan  vorliegt,  nur  abgeändert  durch  die 
Einfluß  des  größcrc  oder  geringere  Menge  des  Dotters.  Die  Entwicklungsvorgänge  lassen 
sich  auf  die  gleichen  Grundprinzipien  zurückführen,  die  größere  Dottermenge 
hat  dann  freilich  nicht  allein  die  grobmorphologischen  Verhältnisse  beeinflußt, 
sondern  hat  auch  auf  den  zeitlichen  Ablauf  der  Entwicklung  ihren  Einfluß 
geübt.  Hervorgehoben  sei  für  die  Selachier  das  Verhalten  von  gastralem  und 
peristomalem  Mesoderm.  Das  gastrale  Mesoderm  ist  gut  entwickelt,  steht 
aber  caudalwärts  in  unmittelbarem  Zusammenhange  mit  dem  peristomalen, 
und  ein  prinzipieller  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Teilen  des  Meso- 
derms  wird  kaum  anzunehmen  sein. 

Hat  die  Vergleichung  zwischen  den  grundlegenden  Entwicklungsvor- 
gängen beim  Amphioxus,  bei  den  Amphibien  und  den  Selachiern  keine  be- 
sonderen Schwierigkeiten  dargeboten  und,  wir  können  hinzufügen,  daß  das, 
was  wir  hier  für  Amphibien  und  Selachier  ausgeführt  haben,  im  wesentlichen 
auch  von  den  Petromyzonten,  Teleostiern,  Ganoiden  und  Dipnoern  gilt,  so 
ergeben  sich  sehr  bedeutende  Schwierigkeiten,  sobald  wir  zu  den  Vögeln  und 
Reptilien,  den  Sauropsiden,  kommen. 
Die  Sauropsiden.  Am  Eudc  der  Furchung  scheinen  die  Eier  der  Reptilien  und  Vögel  ganz 

ähnliche  Verhältnisse  darzubieten  wie  die  der  Selachier.    Der  kleine  Hohlraum 


Einfluß  des  Dotters.  —  Keimblattbildung  bei  Sauropsiden 


365 


aber,  welcher  am  Ende  des  Furchungsprozesses  unter  dem  Keim  der  Saurop- 
siden sich  vorfindet,  verschwindet  nicht,  wie  die  Furchungshöhle  der  Selachier, 
sondern  geht  direkt  in  die  Darmhöhle  über.  Und  weiter:  während  der  Rand 
des  Selachierkeimes  sich  durch  einen  deutlichen  Invaginationsvorgang  von 
dem  Dotter  absetzt,  finden  wir  nichts  derartiges  bei  den  Sauropsiden.  Die 
obere  Keimschicht  steht  hier  mit  der  unteren,  das  Ektoderm  mit  dem  Entoderm 
in  keinerlei  Zusammenhang.  Jedes  der  beiden  Keimblätter  umwächst  die 
Dotterkugel  selbständig,  das  Ektoderm  geht  voran,  das  Entoderm  folgt.  Bei 
den  Sauropsiden  hat  auch  der  Rand  des  Keimes  bei  der  Entstehung  des  Meso- 
derms  keinerlei  Bedeutung.    Das  Mesoderm  entsteht  in  einer  noch  näher  zu 

besprechenden  Weise  im  Inneren  des  Keimes,  und  sein 
freier  Rand  wächst  gegen  den  Rand  der  Keimscheibe 
aus,  ohne  ihn  je  zu  erreichen.  Während  dann  bei  den 
Selachiern  die  Embryonalanlage  am  Rande  des  Keimes 
entsteht,   nimmt  sie  bei  den  Sauropsiden  im  Inneren 

des    Keimes    ihren 

Ms.     ■      l.UATL  TT  ,.      . 

Ursprung,  und  trotz 

aller  Versuche,  bei 
denVögeln  undRep- 
tilien  in  frühen  Sta- 
dien einen  Zusam- 
menhang der  Em- 
bryonalanlage mit 
dem  Rande  der 
Keimscheibe  nachzuweisen,  ist  das  bis  dahin  nicht  geglückt. 

Bevor  wir  auf  die  Deutung  dieser  Verhältnisse  eingehen,  wollen  wir  sie  ein 
wenig  genauer  beschreiben.  Gehen  wir  von  dem  Ei  am  Ende  der  Furchung  aus 
(man  vergleiche  Fig.  22),  so  sehen  wir,  daß  sich  zunächst  die  Zellen  an  der  Ober- 
fläche des  Keimes  epithelartig  anordnen,  dann  auch  die  tieferen,  so  daß  nun  ein 
zweischichtiger  Keim  entsteht  Fig.  55  A  und  B.  Bei  den  Reptilien  unterbleibt 
an  der  Stelle,  an  welcher  später  der  sogenannte  Primitivknoten  auftritt,  die 
Sonderung  des  Keimes  in  zwei  Schichten,  bei  Vögeln  ist  sie  vollständig.  Unter 
den  beiden  Schichten,  die  mit  ihren  Rändern  beide  selbständig  peripherwärts 
wachsen,  liegt  eine  Höhle,  die  wir  als  subgerminale  Höhle  bezeichnen  wollen, 
da  sie  nach  ihrem  Verhalten  zu  den  beiden  Keimschichten  als  Furchungshöhle 
nicht  bezeichnet  werden  kann.  Unter  den  Rändern  des  Keimes  und  am  Boden 
der  subgerminalen  Höhle  finden  wir  in  Protoplasma  eingebettete  Kerne,  ganz 
ähnlich  wie  wir  das  bei  Selachiern,  freilich  dort  am  Boden  der  Furchungshöhle, 
kennen  lernten. 

Von  der  verdickten  Stelle  des  Reptilienkeimes,  an  der  sich  die  beiden 
primär  entstehenden  Keimschichten  nicht  gesondert  haben,  dem  Primitiv- 
knoten {PrKn.),  findet  nun  eine  Einstülpung  statt,  die  bei  manchen  Reptilien 
ziemlich  beträchtlich  ist.  Der  Primitivknoten  liegt  dem  hinteren  Rande  des 
Keimes  genähert.    Nebenbei  sei  bemerkt,  daß  man  nicht  erst  jetzt,  sondern 


Umwachsen 
des  Dotters. 


?-^*ss|^.> 


F  i  g-  54-  Querschnitt  durch  die  Ursegmentregion  eines  Selachierembryos  mit  ge- 
schlossenem Medullarrohr.  (Schema.)  C.  Coelom,  C/t.  Chorda  dorsalis,  D.  Darm, 
£k^.  Ektoderm,  £n.  Entoderm,  LUML.  laterale  ürmundlippe,  MR.  Medullarrohr, 
Ms.  Mesoderm,  p.Ms.  parietales  Blatt  des  Mesoderm,  S^Gl.  Spinalganglion,  US.  Ur- 
segment,  USH.  Ursegmenthöhle,  v.Ms.  ventrales  Blatt  des  Mesoblast,    VN.  Vorniere. 


Subgerminale 
Höhle. 


Reptilien. 
Primirivknoten. 


366 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Mesoderm- 
säckchen. 


schon  am  Ende  der  Furchung  an  der  Größe  und  Anordnung  der  Zellen  die 
Symmetrieebene  des  Keimes  erkennen  kann.  In  der  Fig.56  A  ist  die  Ausdehnung 
der  Einstülpung  durch  eine  punktierte  Linie  angegeben.  Machen  wir  durch 
einen  solchen  Keim  an  der  durch  die  Linie  b — b  angedeuteten  Stelle  einen 

Querschnitt,  so  erhalten  wir  ein  Bild,  wie  es  Fig. 

^         /'^"^  ^^^\  56  B  gibt.   Zwischen  die  obere  Keimschicht,  die 

wir  hier  schon  als  Ektoderm  [Ekt.)  bezeichnen 
können  und  die  untere,  das  Entoderm  {En.), 
hat  sich  ein  von  Zellen  umkleidetes  Säckchen, 
{MsS)  eingeschoben;  seine  untere  Wand  ver- 
schmilzt nun  mit  der  darunter  gelegenen  Zell- 
schicht, und  die  beiden  miteinander  verschmol- 
zenen Zellagen  gehen  zugrunde,  so  daß  das  Lu- 
men des  Säckchens  in  die  subgerminale  Höhle 

sgH. 

/  Füg.  55yiu.  Ä     Schemata 

zur  Sauropsidienentwick- 
lung.  A  Schnitt  durch  das 
Ei  eines  Sauropsiden  nach 
Bildung  der  beiden  pri- 
mären Keimblätter.  Der 
Dotter  ist  verhältnismäßig 
viel  zu  klein  gezeichnet. 
ß  Der  Keim  desselben  Eies 
bei  stärkerer  Vergrößerung. 
sg.  H.  subgerminale  Höhle, 
Dr.  Dotter. 


i.i->?' 


% 


Prkn. 


Fig.  56./  \x.  B.  A  Reptilienkeim  mit  Embryonalschild, 
Primitivknoten  {Prkn.)  und  eingestülptem  Mesoderm- 
säckchen.  B  Querschnitt  durch  den  in  A  abgebildeten 
Keim  an  der  Stelle  b — b.  Dr.  Dotter,  Ekt.  Ektoderm, 
Eu.  Entoderm,  MsS.  Mesodermsäckchen,  sg.H.  subger- 
minale Höhle. 


Ekt. 


Ms  S. 


En 


^,sg.H. 


Chorda  dorsalis. 


durchbricht.  Diese  und  die  anschließenden  Stadien  sind  auf  den  Fig.  57  A — E 
auf  Querschnitten  dargestellt.  In  der  dorsalen  Wand  des  Sackes  nämlich  differen- 
ziert sich  alsbald  die  Anlage  der  Chorda  dorsalis.  Von  den  mit  x  bezeichneten 
Stellen  schieben  sich  dann  zwei  Falten  gegen  die  Mittellinie  hin  vor,  das  obere 
Blatt  jeder  dieser  Falten  wird  zum  visceralen  Blatt  des  Mesoderms,  das  untere 
Darmentoderm.  zum  Darmcntodcrm.  Das  Darmentoderm  entsteht  sonach  aus  der  primären 
unteren  Keimschicht  und  nicht  aus  Material,  welches  bei  der  Bildung  des  eben 
beschriebenen  Säckchens  in  das  Innere  des  Keimes  verlagert  wurde.  Wie  nahein 
diesem  Stadium  ein  Vergleich  mit  dem  in  Fig.  9  wiedergegebenen  Stadium  von 


Die  Keimblattbildung  bei  Reptilien 


3^7 


Amphioxus  liegt,  braucht  kaum  hervorgehoben  zu  werden.  Wir  haben  eine 
Chordarinne  und  Coelomdivertikel.  Sowohl  die  Chordarinne,  wie  die  Coelom- 
divertikel  sind  freilich  auf  andere  Weise  entstanden  wie  bei  Amphioxus;  die 
Ähnlichkeit  braucht  darum  aber  nicht  ohne  Bedeutung  zu  sein.  Das  Mesoderm 
schiebt  sich  nun  von  einer  Zone  aus,  welche  dem  Rande  des  Säckchens  ent- 
spricht, zwischen  Ektoderm  und  Entoderm  peripherwärts  vor.  Schon  vor- 
her ist  von  den  Seiten  und  von  dem  hinteren  Gebiete  des  Primitivknotens  aus 

Ms5     Ekt 


Coelom. 
Chordarinne. 


£„        v.Ms  p.Mö 


EnC 


Fig.  <)•] A — E.     Querschnitte    durch    die    vordere  Urdarmregion    des  Geckos    auf    fünf    aufeinander  folgenden  Eut- 

■wicklungsstadien.      C  Coelomspalt,     Ch   Anlage  der  Chorda  dorsalis,    Eki  Ektoderm,    En  Entoderm,    Ms  Mesoderm, 

p.Ms  parietales  Blatt    des   Mesoderm,    v.Ms  viscerales  Blatt  des  Mesoderm,  MsS  Mesodermsäckchen. 

Aus  Hertwigs  Handbuch  der  Entwicklungslehre.      Nach  Will. 

gleichfalls  Mesoderm  peripherwärts  gewachsen.  Das  Mesoderm  des  Säckchens 
läßt  sich  vom  übrigen  Mesoderm  nicht  abgrenzen.  Das  so  nach  allen  Seiten  ver- 
wachsende Mesoderm  erreicht  freilich  mit  seinem  freien  Rande  den  Rand  des 
Entoderms  und  des  Ektoderms,  welche  sich  vor  ihm  über  die  Dotterkugel  vor- 
schieben, niemals.  Im  Ektoderm  sind  inzwischen  wichtige  Veränderungen  ein- 
getreten. Über  dem  Bereich  des  Säckchens  hat  sich  das  Ektoderm  verdickt, 
und  es  hat  die  Medullarplatte  und  das  Ektoderm  des  Embryo  entstehen  lassen. 
Der  Primitivknoten  streckt  sich  nun  etwas  in  die  Länge;  aus  der  Einstülpungs- 
öffnung des  Säckchens  kann  ein  Canalis  neurentericus  hervorgehen,  aus  dem  Canaiis  neu- 
hinteren Gebiet  des  Primitivknotens  entsteht  derAfter.  Doch  wollen  wir  diese  After. 
Vorgänge  bei  den  Reptilien  nicht  weiter  im  einzelnen  verfolgen,  sondern  uns  das 


2 58  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

für  die  Vögel  vorbehalten,  wo  sie  prinzipiell  durchaus  gleichartig  verlaufen, 
wenn  auch  die  hier  eben  für  die  Reptilien  besprochenen  ersten  Vorgänge  bei  den 
Vögeln  sich  etwas  anders  darstellen  und  wahrscheinlich  weniger  primitiv  sind. 
Vögel.  Bei  den  Vögeln  kann  man  beim  zweiblättrigen  Keim  sehr  bald  ein  helleres, 

zentrales  Gebiet  von  einer  dunkleren,  peripheren  Zone  unterscheiden.  In  dem 
peripheren  Gebiet  verdickt  sich  das  untere  Keimblatt  und  bildet  sich  teilweise 
zu  einem  Organ  für  die  Aufnahme  und  Verdauung  von  Dotter  um.  Im  zentralen, 
helleren  Gebiet  entsteht  durch  Verdickung  des  Ektoderms  der  erst  rundliche, 
dann  mehr  ovale  Keimschild,  und  gegen  das  caudale  Ende  des  Keimschildes 
Primitivknoten.  tritt  dcr  Primitlvkuotcn  auf.  Der  Primitivknoten  streckt  sich  bei  Vögeln  nach 
Primitivstreifen,  kurzer  Zcit  und  wird  zu  einem  Primitivstreifen  {PrSt.),  auf  dem  bald  mehr, 
bald  weniger  deutlich,  bald  in  größerer,  bald  in  geringerer  Ausdehnung  eine 
Rinne,  die  Primitivrinne  entsteht.  Auf  dem  Höhepunkt  ihrer  Entwicklung 
durchsetzt  der  Primitivstreifen  nahezu  den  ganzen  Keimschild;  er  reicht  vom 
caudalen  Ende  bis  fast  an  das  craniale.  Von  den  Rändern  des  Primitivknotens 
Mesoderm.  und  dann  vom  Primitivstreifen  breitet  sich  das  Mesoderm  nach  allen  Seiten 
zwischen  die  beiden  primären  Keimblätter  peripherwärts  aus.  Eine  Ausnahme 
davon  bildet  dabei  nur  das  Gebiet  gerade  vor  dem  Primitivstreifen.  Von  dem 
vorderen  Ende  des  Primitivstreifens  aus  wächst  nur  wenig,  vielleicht  überhaupt 
kein  Mesoderm  vor.  Wenn  wir  in  späteren  Stadien  vor  dem  vorderen  Ende  des 
Primitivstreifens  Mesoderm  in  beträchtlicher  Ausdehnung  finden,  so  ist  das  an- 
ders zu  erklären.  Die  Fig.  58  und  59  mögen  zur  Veranschaulichung  dieser  Ver- 
hältnisse dienen.  Die  beiden  seitlichen  Mesodermflügel  vereinigen  sich  schließ- 
lich vor  dem  vorderen  Ende  des  Keimschildes,  so  daß  vor  dem  vorderen  Ende 
des  Primitivstreifens  ein  mesodermfreier  Bezirk  bestehen  bleibt. 
Rückbildung  des  Hat  dcr  Primitivstreifen  nahezu  das  vordere  Ende  des  Keimschildes  er- 

Primitivstreifens.        ,  .  .  ,  .,   ,  ,  .  ,  _.    , 

reicht,  dann  beginnt  er  sich  zuruckzubiiden,  und  zwar  m  der  Richtung  von 
vorn  nach  hinten;  dabei  bleiben  nun  auch  in  der  Mittellinie  vor  dem  jeweils 
vorderen  Ende  des  Primitivstreifens  zwischen  oberem  und  unterem  Keimblatt 
Zellen  liegen.  Ursprünglich  stehen  diese  Zellen  mit  den  nach  rechts  und  links 
aus  dem  Primitivstreifen  hervorgewucherten  Mesodermzellen  in  Zusammen- 
hang, lösen  sich  aber  etwa  in  gleichem  Tempo  mit  dem  Rückwärtswandern  des 
vorderen  Primitivstreifenendes  von  dem  seitlichen  Mesoderm  ab.  Der  so 
entstandene  Zellstrang  wurzelt  im  vorderen  Ende  des  Primitivstreifens  und 
steht  dort  mit  dem  Mesoderm  in  Verbindung;  er  höhlt  sich  bei  manchen  Vögeln 
aus,  und  die  so  entstandene  Höhle  tritt  am  vordersten  Ende  des  Primitiv- 
streifens mit  der  Oberfläche  inVerbindung;  zugleich  verschmilzt  ihre  untere  Wand 
mit  dem  unteren  Keimblatt,  und  sie  bricht  in  die  subgerminale  Höhle  durch. 
DieVerhältnisse  erinnern  an  die  beiReptilien  beschriebenen,  nur  ist  dasLumen  viel 
kleiner  und  erstreckt  sich  nicht  auf  den  seitlichen  Mesoblast;  dementsprechend 
entsteht  aus  der  Wand  des  Kanals,  unter  der  sich  die  untere  Keimschicht  bald 
Chorda  dorsaii?.  wicdcr  Vereinigt,  bei  Vögeln  auch  nur  die  Chorda,  vielleicht  nicht  einmal  die 
ganze  Chorda.  Es  wird  wenigstens  berichtet,  daß  ihr  allervorderstes  Ende  sich 
von  der  unteren  Keimschicht  aus  bildet.    Während  sich  diese  Vorgänge  ab- 


Vögel.     Primitivstreifen.     Canalis  neurentericus 


;Ö9 


spielen,  sind  auch  im  oberen  Blatt  des  Keimschildes  wichtige  Veränderungen 
eingetreten.  Es  haben  sich  Medullarwülste  erhoben,  die  sich  vorn,  durch  einen 
Querwulst  vereinigen,  nach  hinten  das  vordere  Ende  des  Primitivstreifens 
zwischen  sich  fassen.  Die  Öffnung  am  vorderen  Ende  des  Primitivstreifens  er- 
weist sich  so  als  die  dorsale  Öffnung  eines  Canalis  neurentericus,  denn  sie  führt  Canaiis  n 
in  einen  Kanal,  durch  den  man  aus  der  zwischen  den  beiden  Medullarwülsten 
gelegenen  Rinne  in  die  subgerminale  Höhle,  aus  der  die  Darmhöhle  wird,  kommt. 

Pr  St. 


eu- 
rentericus. 


Fig.  58--^ — C.  Schemata  für  die  Entwicklung  des  Primitivstreifens  und  des  Mesoderms  beim  Vogel.  Der  Dotter 
ist  viel  zu  klein  gezeichnet.  .4  Vogelei  mit  gut  entwickeltem  Primitivstreifen  auf  der  Keirascheibe  vom  animalen 
Pol  aus  gesehen.  B  Ein  Querschnitt  durch  ein  solches  Ei  entsprechend  der  Linie  a — a.  PrSi.  Primitivstreifen. 
C  Der  Keim  und  seine  nächste  Umgebung  stärker  vergrößert.  Dr.  Dotter,  Eki.  Ektoderm,  En.  Entoderm,  Ms. 
Mesoderra,  Pr  Sf.  Primitivstreifen  mit  Primitivrinne,    sg.H.  subgerminale  Höhle. 


Die  Fig.  59  B — D  sollen  zurVeranschaulichung  dieserVerhältnisse  dienen.  Fig.  59  B 
zeigt  einen  Schnitt  entsprechend  der  Linie  a — a  der  Fig.  59  A.  Man  sieht  im 
Gebiet  des  Ektoderm  die  Medullarwülste  und  die  Medullarrinne.  In  das  Keimblätter, 
Entoderm  ist  die  Chordaanlage  eingeschaltet;  peripher  ist  das  Entoderm  coeiom. 
im  sogenannten  Keimwall  zu  einem  Dotterresorptionsorgan  umgewandelt. 
Das  Mesoderm  ist  außerhalb  der  eigentlichen  Embryonalanlage  in  ein  parietales 
und  viscerales  Blatt  gespalten;  den  Spaltraum  zwischen  beiden  Blättern  können 
wir  als  außerembryonales  Coeiom  bezeichnen.  Fig.  59  C  zeigt  einen  Schnitt 
durch  den  Canalis  neurentericus.  Aus  der  Tiefe  der  Medullarrinne  sehen  wir 
einen  Kanal  durch  die  Keimscheibe  in  die  subgerminale  Höhle  führen.  Mit  den 
Seitenwänden  dieses  Kanals  steht  das  Mesoderm  in  Verbindung.  Die  übrigen 
Verhältnisse  liegen  etwa  ebenso  wie  in  Fig.  59 B.    Die  Fig.  59 D  gibt  ein  ganz 

K.  d.  G.  III.iv,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  24 


370 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Rückbildung 

des  Primiriv- 

streifens. 


Fig.  59-4 — D.  Schemata  zur  Entwicklung  der  Vögel. 
A  Keimscbild  eines  Vogels  mit  MeduUarwülsten. 
Primitivstreifen  und  Canalis  neurentericus.  B — C 
Querschnitte  durch  einen  solchen  Keimschild  ent- 
sprechend den  Linien  a — a,  b — b,  c — c.  C.  Coelom, 
Can.  fieur.  Canalis  neurentericus ,  Ch.  Chorda  dor- 
salis,  Dr.  Dotter,  Ekf.  Ektoderm ,  En.  Entoderm, 
MRi.  MeduUarrinne,  Ms.  Mesoderm,  MW.  Medul- 
larwulst,  j^.Ms.  parietales  Blatt  des  Mesoderm, 
PrSt.  Primitivstreifen,  sg.17.  subgerminale  Höhle, 
v.Ms.  viscerales  Blatt  des  Mesoderm. 


äi&^~ 


sgH 


B. 


MW 


Can  near. 


ähnliches  Bild  wie  Fig.  58 C,  nur  ist  im  Mesoderm  das  außerembryonale  Coe- 
lom aufgetreten. 

Die  weitere  Entwicklung  geht  nun  in  der  Weise  von  statten,  daß  sich  die 
Medullarwülste  mehr  und  mehr  erheben  und  dann  zuerst  im  Bereiche  des 
späteren  Mittelhirns  zum  Verschlusse  kommen.  Der  Verschluß  geht  von  hier 
aus  apical-  und  caudalwärts  vor  sich,  wobei  dem  vollkommenen  Schluß  das 
Bestehen  eines  vorderen  und  eines  hinteren  Neuroporus  vorangeht.  Im  Gebiet  der 

Vorderhirnan- 
lagen sind  schon, 
bevor  der  vor- 
dere Neuroporus 
geschlossen,  die 
Augenbläschen, 
die  den  wichtig- 
sten     Teil      der 

Augenanlagen 
bilden,  leicht 
kenntlich.  Der 
Primitivstreifen 
verliert  im  Ver- 
lauf der  weiteren 
Entwicklung,  da 
er  bald  den  Ver- 
lust, den  er  durch 
den  Abbau  am 
vorderen  Ende 
erleidet,  nicht 
mehr  durch  Ei- 
genwachstum er- 


setzt, auch  abso- 
lut an  Länge.  Sein 
vorderes  Ende 
mit  dem  Canalis 

neurentericus  wird  von  den  hinteren  Enden  der  Medullarwülste  wie  von  einer 
Zange  umfaßt;  sein  hinteres  Ende  liegt  außerhalb  des  Bereiches  der  Medullar- 
wülste, in  ihm  kommt  später  der  Kloakenafter  der  Vögel  zum  Durchbruch, 
nachdem  schon  vorher  seine  Stelle  durch  eine  nur  aus  Ektoderm  und  Entoderm 
bestehende  Membran,  die  man  Aftermembran  oder  auch  Kloakenmembran 
nennt  —  denn  die  Vögel  haben  ja  einen  gemeinsamen  Endraum  für  die  Urogenital- 
gänge und  das  Verdauungsrohr  — ,  gekennzeichnet  war.  Nun  hebt  sich  auch  das 
Embryonalgebilde,  und  zwar  zunächst  an  seinem  Kopfende  stärker  vom  übrigen 
Keime  ab.  Man  kann  da  wie  bei  den  Selachiern  voneiner  vorderen  und  von  zwei 
seitlichen  Grenzrinnen  sprechen.  Die  seitlichen  Grenzrinnen  laufen  noch  lange 
caudalwärts  flach  aus;  erst  allmählich  erhebt  sich  auch  der  caudale  Teil  des 


p.  Ms. 


V  Ms 


Pr  St. 


D 


Vögel.    Rückbildung  des  Primitivstreifens.    Ausbildung  der  äußeren  Körperform       ^y  i 

Embryo.  Dadurch  entsteht  die  hintere  Grenzrinne,  welche  die  caudalen  Enden  Abtaitung  des 
der  beiden  seitlichen  Grenzrinnen  miteinander  verbindet.    Bei  diesem  Abfal-       '"  ^^°^' 
tungsprozeß  des  hinteren  Körperendes,    der  zur  Bildung  einer  Rumpf-  bzw. 
Schwanzknospe  führt,  wird  das  caudale  außerhalb  des  Bereiches  der  Medullar- 
wülste  gelegene  Ende  des  Primitivstreifens  mit  samt  der  Afteranlage  auf  die 
ventrale  Seite  des  Embryos  verlagert. 

Während  all  dieser  Vorgänge  hat  auch  das  Mesoderm  sehr  wesentliche 
Umwandlungen  durchgemacht.  In  cranio-caudaler  Richtung  gliedert  sich  ein 
Ursegmentpaar  nach  dem  anderen  ab.  Das  am  weitesten  nach  vorn  gelegene 
Ursegmentpaar  ist  von  Anfang  an  nicht  gut  ausgebildet.  Von  großem  Interesse 
ist  es,  daß  die  drei  vordersten  Ursegmentpaare  dem  späteren  Kopfgebiete 
angehören.  Das  caudale  Ende  des  Kopfes  ist  also  ursprünglich  auch  gegliedert. 
Im  Bereiche  cranialer  Ursegmente  kann  man  das  Coelom  in  den  Ursegment- 
anlagen  noch  in  Verbindung  mit  dem  übrigen  Coelom  finden,  weiter  caudal 
kommt  eine  solche  Verbindung  nicht  mehr  zur  Ausbildung. 

Im  dunklen  Fruchthof  hat  sich  inzwischen  der  Gefäßhof  mit  Blut-  und 
Gefäßanlagen  ausgebildet.  Der  dunkle  Hof  besteht  nun  aus  einer  peripheren 
Zone,  dem  Dotterhof,  und  einer  zentraler  gelegenen,  dem  Gefäßhof. 

Die  wichtigste  Fortbildung  im  Bereiche  des  Entoderms  ist  die,  daß  sich 
die  Darmanlage,  bei  Vögeln  wesentlich  in  cranio-caudaler  Richtung,  ent- 
sprechend der  Abgrenzung  des  Embryo  vom  übrigen  Keime,  vom  Dottersack, 
abgliedert  und  zum  Rohre  umgestaltet.  Vor  dem  Kopfende  unterhalb  der 
Gehirnanlage  kommt  dem  vorderen  Ende  des  Darms  die  Mundbucht  ent- 
gegen. Seitlich  bilden  sich  entsprechend  den  hinteren  Teilen  des  Gehirns 
Kiementaschen.  Mundbucht  wie  Kiementaschen  verhalten  sich  im  Prin-  Kiementaschen. 
zip  nicht  anders  wie  diese  Bildungen  bei  Fischen  und  Amphibien,  was  natürlich 
eine  Tatsache  von  größter  Bedeutung  ist.  In  diesem  Zusammenhange  ver- 
dient es  Erwähnung,  daß  sich  bei  Vögel-,  ja  bei  Säuger-  und  Menschenembryo- 
nen am  zweiten  Kiemenbogen,  dem  Zungenbeinbogen,  ein  Fortsatz  findet, 
der  wie  ein  Kiemendeckel  über  die  weiter  caudal  gelegenen  Kiemenbogen  und 
Spalten  hinweg  wächst. 

Doch  versuchen  wir  die  hier  eben  kurz  besprochenen  Entwicklungs- 
vorgänge nun  auch  noch  durch  einige  Bilder  zu  veranschaulichen.  Fig.  60  A 
gibt  einen  Vogelembryo  mit  8  —  9  Ursegmentpaaren  bei  durchfallendem 
Licht  wieder,  Fig.  60  B  einen  Querschnitt  durch  diesen  Embryo  im  Gebiete 
des  5.  Ursegmentpaares.  Das  Medullarrohr  ist  hier  im  Verschluß  begriffen. 
Rechts  und  links  liegt  dorsal  neben  der  Verschlußstelle  des  Medullarrohres 
ein  Zellhäufchen,  das  die  Zellen  für  ein  Spinalganglion,  außerdem  aber  noch 
die  Ahnen  sympathischer  und  sogenannter  chromaffiner  Zellen  enthält. 
Die  Chorda  ist  vom  Entoderm  unterwachsen.  Im  Mesodermgebiet  sehen  wir 
zu  beiden  Seiten  des  Medullarrohres  die  Mitte  der  fünften  Ursegmente  ge- 
troffen;  die  Urwirbelhöhle  in  demselben  steht  noch  mit  dem  embryonalen  und 
dem  außerembryonalen  Coelom  in  Verbindung.  Im  visceralen  Blatt  des  Meso- 
derms  finden  sich  Anlagen  von  Blut  und  Gefäßen.  Das  Gefäß  nächst  der  Chorda 

24* 


372 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


ist  jederseits  die  Anlage  einer  Aorta;  später  verschmelzen  diese  beiden  Anlagen 
zu  einem  einheitlichen  Gefäß.  Den  eben  besprochenen  Querschnitt  wollen  wir 
durch  einen  medianen  Sagittalschnitt  durch  einen  entsprechenden  Embryo 
ergänzen  (Fig.  6i).  Das  Kopfende  beginnt  sich  eben  abzuheben  und  die  Mund- 
bucht zu  bilden.  Der  vordere  und  hintere  Neuroporus  [v.Np.  und  h.Np.)  treten 
deutlich  hervor.  Die  Chorda  dorsalis  {Ch.d.)  wurzelt  in  der  Wand  des  Canalis 
neurentericus  [Can.n.)\  sie  ist  den  größten  Teil  ihrer  Länge  vom  Entoderm  {En.) 
unterwachsen,  nur  vorn  ist  sie  noch  in  das  Entoderm  eingeschaltet.  Hinter  dem 
Canalis  neurentericus  beginnt  der  Primitivstreifen  {Pr.Str.).   In  seinem  Gebiet, 

das  bis  zur  Kloakenmembran  reicht,  ist 
die  obere  Keimschicht  gegen  die  mittlere 
nicht  abgesetzt.  Die  Zone  des  oberen 
Keimblattes,  die  wir  in  den  Fig.  58 C  und 
59D  auf  Querschnitten  sahen,  ist  hier  der 
Länge  nach  getroffen.  DasEntoderm  {En.) 
zieht  in  so  jungen  Stadien  vollständig  selb- 
ständig und  unbeteiligt  unter  der  Primi- 
tivstreifenregion hinweg.  Die  Aftermem- 
bran [AM.)  ist  in  diesem  Stadium  noch 
nicht  deutlich ;  ich  habe  sieangegeben,  um 
nicht  die  Schemata  häufen  zu  müssen.  In 
Fig.  62  A — C  und  63  gebe  ich  sodann  sche- 
matische Querschnitte  und  einen  Längs- 
schnitt durch  etwas  ältere  Embryonen. 
Wir  können  diese  Schnitte  nicht  verste- 
hen, ohne  eines  Embryonalorganes  zu  ge- 
denken, das  sich  bei  allenSauropsidenund 
Säugern  findet,  des  Amnions.  Die  Entwicklung  zeigt  bei  den  Sauropsiden  und  be- 
sonders bei  den  Säugern  mannigfache  Modifikationen;  ich  begnüge  mich  hier 
mit  einer  grob  schematischen  Darstellung.  Das  Amnion  ist  eine  Hülle,  welche 
die  Embryonen  umgibt,  und  sie  in  wirksamer  Weise  gegen  alle  möglichen  von 
außen  kommenden  Unbilden  schützt.  Es  wirkt  nicht  nur  als  Hülle;  sondern 
dadurch,  daß  es  sich  alsbald  prall  mit  Flüssigkeit  füllt,  erhöht  es  seine  Schutz- 
kraft außerordentlich.  Der  Embryo  liegt  im  mit  Flüssigkeit  erfüllten  Amnion 
wie  ein  zartes  Präparat  in  einem  vollkommen  mit  Flüssigkeit  erfüllten  Gefäß. 
Bei  Vögeln  entsteht  das  Amnion  durch  typische  Faltenbildung.  Die  Grenz- 
rinnen, eine  vordere,  zwei  seitliche  und  schließlich  eine  hintere  entstehen 
ganz  so,  wie  wir  das  für  die  Selachier  geschildert  haben,  und  nach  außen  von 
diesen  Rinnen  erheben  sich  Falten,  die  aus  Ektoderm  und  dem  parietalen 
Blatt  des  Mesoderm  bestehen.  Man  pflegt  entsprechend  den  Grenzrinnen  vor- 
Amnionfaiten.  dcrc,  scitHche  uud  hintere  Amnionf alten  zu  unterscheiden;  doch  lassen  sich 
keine  scharfen  Abgrenzungen  finden,  eigentlich  gibt  es  nur  eine  einheitliche 
Amnionfalte.  Die  Falten  entstehen  in  cranio-caudaler  Richtung  und  schließen 
sich  durch  Nahtbildung.    Wir  werden  gleich  noch  näher  auf  die  Art   dieses 


Fig.  60  A.  Hühnerembryo  mit  8— 9  Ursegmentpaaren 
bei  durchfallendem  Licht. 


Amnion. 


CTrenzrinnen. 


Vögel.     Amnion  und  seröse  Hülle.     Nabelbildungen 


375 


Schlusses  eingehen  und  sehen,  wie  sich  dabei  noch  eine  zweite  Embryonalhülle, 
die  seröse  Hülle,  bildet,  wollen  aber  zunächst  unsere  Aufmerksamkeit  noch 
auf  die  tiefe  Darmrinne  von  Fig.  62  A  richten. 

Ein  etwas  älteres  Stadium  (Fig. 62  B)  zeigt  die  Amnionf alten  eben  in  Berüh- 
rung und  den  Darm  im  Begriff  zu  einem  Rohre  zu  werden.  Auch  die  Körper- 
wände nähern  sich  dem  Schluß,  und  so  kommt  es  zur  Nabelbildung.  Die  Stelle, 
an  welcher  der  Darm  zuletzt  noch  mit  dem  Dottersack  in  Verbindung  steht, 
nennt  man  den  Darmnabel,  die  Stelle,  an  der  die  Körperwände  sich  schließen,  Dammabei. 
den  Hautnabel.    Die  Amnionfalten  haben  sich  eben  aneinander  gelegt.    Die 


Hautnabel. 


SpOl      US. 


y.  Ms.    C      p  Ml 


Ekt         En 


Fig.  60  B.  Querschnitt  eines  solchen  Embryo  durch  das  Gebiet  des  fünften  Ursegmentpaares.  BlI.  Blutinsel, 
C.  Coelom,  Ch.  Chorda,  Ekf.  Ektoderm,  Eii.  Entoderra,  MR.  MeduUarrohr  nahe  dem  Schluß,  p.Ms.  parietales  Blatt 
des  Mesoderm,  SpGl.  Spinalganglion,   US.  Ursegment,    USH.  Ursegmenthöhle,    v.Ms.  ventrales  Blatt  des  Mesoderm. 

Abgeändert  nach  DuvAL. 


K  Ms.      C.        En. 


Ch 


£n. 


En. 


v.Ms.   C.  p.Ms.      En. 


Fig.  61.     Medianer  Sagittalschnitt  durch  einen  Vogelembryo    mit   teilweise  geschlossenem  MeduUarrohr  (Schema). 

AM.  Aftermembran,   C.  Coelom,   Can.n.  Canalis  neurentericus,   Ch.  Chorda  dorsalis,   Ekt.  Ektoderm,  En.  Entoderm, 

h.Np.  hinterer  Neuroporus,  MB.  Mundbucht,   ]SIR.  MeduUarrohr,   p.Ms.  parietales  Blatt  des  Mesoderm,   PrSt.  Pri- 

mitivstreifen,  v.Ms.  viscerales  Blatt  des  Mesoderm,  v.Np.  vorderer  Neuroporus. 

Amnionhöhle  ist  also,  an  dieser  Stelle  wenigstens,  geschlossen.  Das  Ektoderm  Amnionhöhie. 
auf  den  Kuppen  der  aufeinander  zuwachsenden  Amnionfalten  verschmilzt 
mit  einander ;  infolge  ungleichen  Wachstums  löst  sich  dann  an  der  Verwachsungs- 
stelle das  Ektoderm  der  serösen  Hülle  vom  Ektoderm  des  Amnion.  Nun  ver- 
schmilzt das  parietale  Mesoderm  in  den  Kuppen  der  Amnionfalten  und  löst 
sich  in  entsprechender  Weise.  Amnion  und  seröse  Hülle  sind  dann  frei  vonein- 
ander. In  ganz  entsprechender  Weise  schnürt  sich  der  Darm  vom  Dottersack 
und  der  Körper  von  der  Amnionwurzel  ab.  Fig.  62  C  zeigt  alle  drei  Prozesse, 
den  des  Amnionschlusses,  den  der  Darmabschnürung  und  den  des  Freiwerdens 
des  Körpers  vollendet. 

Ergänzen  wir  nun  unsere  Betrachtungen  durch  einige  mediane  Sagittal- 
schnitte.  Bei  der  Konstruktion  dieser  Schnitte  nehme  ich  dabei  keine  Rück- 
sicht auf  alle  Biegungen  und  Krümmungen  des  Embryonalkörpers. 

Wir  beginnen  mit  der  Betrachtung  der  Fig.  63.  Sowohl  das  Kopfende 
wie  das  Schwanzende  des  Embryo  haben  sich  eine  Strecke  weit  abgehoben; 
am  Schwanzende  hat  sich  eine  Rumpfschwanzknospe  {RSchK)  gebildet.  Dem- 
entsprechend hat  der  Darm  sich  sowohl  im  Kopfgebiet  wie  im  Schwanzgebiet 


374 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


vom  Dottersack  selbständig  gemacht.  Man  spricht  da  von  einer  Kopf-  und  von 
einer  Schwanzdarmbucht  [KDB  und  SchDB).  Der  Kopfdarmbucht  ist  die 
Mundbucht  [MB)    entgegen   gewachsen  und  ist  von  ihr  nur  durch  die  aus 

AmnF. 


AninF. 


Fig.  (>2  A — C.     Schematische  Querschnitte  durch  Vogelembryonen  um  die  Abfaltung  des  Embryo  vom  Dotter  und 

die  Bildung  des  Amnion  zu  erläutern.     Amn.  Amnion,   AmnF.  Amnionfalte,    AninH.  Amnionhöhle,    C.  Coelom,  die 

Bezeichnung  steht  im  außerembryonaleu  Coelom,  Dr.  Dotter,  Ekt.   Ektoderm,  En.  Entoderm,  fi.Ms.  parietales  Blatt 

des  Mesoderm,    s.H.  seröse  Hülle,    v.Ms.   viscerales  Blatt  des  Mesoderm. 

Ektoderm  und  Entoderm  bestehende  Rachenhaut  getrennt.  Ventral  von  der 
Kopfdarmbucht  liegt  in  dem  Teil  des  Coeloms,  der  zur  Herzbeutelhöhle  wird, 
das  Herz  (//).  Am  caudalen  Ende  des  Embryo  setzt  der  Canalis  neurentericus 
{Can.n.)  das  Medullarrohr  mit  dem  Schwanzdarm  in  Verbindung;  an  die  Stelle 


Vögel.     Körperausgestaltung.     Allantois 


375 


eines  Canalis  neurentericus  kann  auch  ein  solider  neurenterischer  Strang  treten 
und  Medullarrohr  und  Schwanzdarm  verbinden.  Hinter  dem  Canalis  neuren- 
tericus liegt  die  Rumpfschwanzknospe  [RSchK).  In  ihrem  Bereich  steht  das 
Ektoderm  des  Medullarrohres  mit  dem  Entoderm  und  dem  Mesoderm  in  Ver- 
bindung, und  es  differenzieren  sich  hier  aus  einer  indifferenten  Zellmasse  noch 
eine  Anzahl  von  Segmenten  des  Embryo,  erst  Rumpf-,  dann  Schwanzsegmente. 
Das  caudale  Ende  des  Primitivstreifens  ist,  wie  wir  schon  gesehen  haben,  mit 
der  Aftermembran  {AM)  auf  die  ventrale  Seite  des  Embryo  herumgeschlagen 
worden;  auch  vor  ihr  ist  der  Darm  schon  eine  Strecke  weit  vom  Dotter  abge- 
schnürt.   Hier  bildet  sich  nun  von  der  ventralen  Seite  des  Darms  aus,  zwischen 


er.  Am n  F. 


Ch.      KDB.     MR 


Seh  DB.    ^ 
Ch.      En.         :  Can.n. 


caud.  AmnF. 


\      C. 
R-ScIiK. 


En.        vMs. 


DSW. 


En.       V.  Ms. 


Fig.  63.  Schematischer  medianer  Sagittalscbnitt  durch  einen  Vogelembryo,  um  die  Abfaltung  des  Embryo  vom 
Dotter  und  die  Bildung  des  Amnion  und  der  Allantois  zu  erläutern.  -•///.  Allantois,  AA/.  Aftermembran,  Anui. 
Amnion,  C.  Coelom,  die  Bezeichnung  ist  im  außerembryonalen  Coelom  angebracht,  Can.  >/.  Canalis  neurentericus, 
caud.  AmnF.  caudale  Amnionfalte,  Ch.  Chorda  dorsalis,  er.  Arn» F.  craniale  Aranionfalte,  DSIP'.  Dottersackwand, 
Ekf.  Ektoderm,  /;'«.  Entoderm.  H.  Herz,  KDB.  Kopfdarmbucht,  MB.  Mundbucht,  MR.  Medullarrohr,  ^  .jl/y.  parietales 
Mesoderm,    R.-SchK.  Rumpf-Schwanzknospe,    Seh  DB.  Schwanzdarrabucht,    v.Ms.  ventrales  Mesoderm. 

Aftermembran  und  dem  Eingang  in  die  caudale  Darmbucht,  der  sogenannten 
hinteren  Darmpforte,  die  Allantois  [All.).  Die  Allantois  ist  ein  außerordentlich 
wichtiges  Embryonalorgan,  welches  die  Sauropsiden  und  Säuger  besitzen, 
während  es  den  niederen  Wirbeltieren,  den  Amphibien  und  den  verschiedenen 
Klassen  der  Fische  ebenso  wie  Amnion  und  seröse  Hülle  fehlt.  Sie  ist  ein 
Atmungsorgan  für  den  Embryo  und  Fötus.  Die  Atmung  des  Embryo  wird  bei 
den  Sauropsiden  und  Säugern  zunächst  durch  den  Dottersack  vollzogen,  dessen 
Blutgefäßhof  bei  seiner  Anlage  und  in  der  darauffolgenden  Periode  an  der  Ober- 
fläche des  Eies,  dicht  unter  der  serösen  Hülle  bzw.  dem  Chorion  liegt.  Wenn 
nun  sein  Inhalt  allmählich  für  den  Embryo  verbraucht  wird,  schrumpft  der 
Dottersack,  und  seine  Gefäße  werden  nicht  mehr  gegen  die  Oberfläche  des  Eies 
angepreßt.  So  wird  der  Dottersack  zur  Atmung  untauglich  und  muß  durch 
ein  neues  Organ  ersetzt  werden.  Dieses  neue  Organ  ist  die  Allantois,  deren 
erste  Anlage  wir  eben  kennen  lernten;  sie  wächst  zwischen  seröse  Hülle 
[s.  H)  und  Dottersackwand  [DSW)  und  zwischen  seröse  Hülle  und  Amnion 
[Amn.)  hinein  und  umwächst  schließlich  das  ganze  Ei.  Die  Verhältnisse  der 
Allantois  liegen  bei  den  Sauropsiden  einfacher  und  übersichtlicher  als  bei  den 


Allantois. 


Die  Atmung 

des  Sauropsiden- 

embryos. 


376 


Franz  KeibeL:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Säugern,  bei  denen  sich  infolge  der  durch  die  Placentabildung  vermittelten 
innigen  Verbindung  von  Mutter  und  Frucht  mannigfache  besondere  Verhält- 
nisse herausgebildet  haben. 

Ich  gebe  hier  zunächst  eine  Reihe  von  einfachen  Schematen  für  die  Vögel. 
Auf  diesen  Schematen  ist  auch  die  Umwachsung  des  Dotters  gleichfalls  in 
wesentlich  vereinfachter  Weise  zur  Darstellung  gebracht.  Wir  stellen  uns  vor, 
daß  der  eigentliche  Embryo  in  seiner  medianen  Sagittalebene  getroffen  ist, 
sein  genauerer  Aufbau  ist  nicht  berücksichtigt.   Fig.  64A  stellt  ein  etwas  älteres 

Stadium  als  die  Fig.63  dar. 
Die  Allantois  ist  nun  ein  ge- 
stieltes Bläschen  und  be- 
ginnt eben  sich  nach  oben 
zwischenAmnion  undseröse 
Hülle,  nach  unten  zwischen 
Dottersack  undseröseHülle 
einzudrängen;  ihre  Wachs- 
tumsrichtung ist  durch 
Pfeile  angedeutet.  Die  Wand 
der  Allantois  besteht  aus 
Entoderm  und  dem  visce- 
ralen Blatt  des  Mesoderms. 
Dieses  Mesoderm  ist  außer- 
ordentlich reich  vasculari- 
siert,  und  so  werden  durch 
die  Allantois  viele  Gefäße 
an  die  seröse  Hülle  heran- 
gebracht.     Das  Ektoderm 

Fig.  64,-^ — C.    Schemata,  um  die  Bildung  von  Amnion,  seröser  Hülle  (Chorion)  iii  "  fXi-  T"'!^ 

und  Allantois  darzustellen.  Der  Hohlraum  der  Allantois  ist  punktiert.  Die  ^"^^     ^^^      grOlotCn      i  Cll     ÜeS 

schwarzen  Verdickungen  sollen  Blutanlagen  darstellen.  In  dem  Schema  A  T^ntfprs  limwachsen  daS 
erscheint  der  Dotter  noch   nicht  vom  Ektoderm  umwachsen,  es  stellt  einen  ' 

medianen  Sagittalschnitt  durch  ein  Ei  dar.  Die  Richtung,  in  der  die  Eutodcrm  ist  HOCh  nicht  SO 
.Allantois    vorwachsen   wird,    ist   durch  Pfeile    angegeben.     Fig.   64  Ä   gibt  .  ,  , 

ein  älteres  Stadium,  in  welchem  Ektoderm  und  Entoderm  den  Dotter  um-  WCIU         VOrgeurUngCn,        UHQ 

wachsen  haben.    Fig.  64 C"  gibt  den  Querschnitt  eines  noch  älteren  Stadiums,  ,-v^pV>   \x/Pnip'Pr  wpit     Has    Mp- 

soderm.  Es  ist  bis  nahe  an  seinen  peripheren  Rand  durch  das  außerembryo- 
nale Coelom  in  ein  parietales  und  in  ein  viscerales  Blatt  aufgespalten.  Im 
visceralen  Blatt  ist  das  Gebiet  des  Gefäßhofes  besonders  kenntlich  gemacht. 
Fig.  64  B  stellt  ein  beträchtlich  weiter  vorgeschrittenes  Stadium  dar.  Es 
wird  angenommen,  daß  das  Ektoderm  und  das  Entoderm  den  Dotter  um- 
wachsen haben.  In  das  außerembryonale  Coelom  ist  die  Allantois  weit  vor- 
gewachsen. Das  Amnion  ist  ganz,  der  Dottersack  schon  zum  größten  Teil  von 
der  serösen  Hülle  abgedrängt,  und  in  der  Richtung  der  Pfeile  dringt  die 
Allantois  weiter  zwischen  Dottersack  und  seröse  Hülle  vor.  Der  Blutgefäßhof 
ist  dadurch  in  das  Innere  des  Eies  verlagert,  und  die  Atmungsfunktion  ist  ganz 
und  gar  von  den  Blutgefäßen  übernommen  worden,  welche  die  Allantois  an 
die  seröse  Hülle  herangebracht  hat.    Ein  senkrecht  zu  diesem,  quer  durch  den 


\ 


Vögel.     Amnion,  AUantois  und  Dottersack 


377 


Embryo  gelegter  Schnitt  wird  die  Verhältnisse  noch  deutlicher  machen.  Fig. 
64  C  zeigt  einen  solchen  durch  ein  etwas  älteres  Stadium.  Der  Darm  steht  nur 
noch  durch  den  Ductus 
vitello -intestinalis  mit 
dem  Dottersack  in  Ver- 
bindung. Der  Ductus  vi- 
tello-intestinalis  ist  natür- 
lich von  Entoderm  aus- 
gekleidet und  dieses  wird 
vom  visceralen  Blatt  des 
Mesoblast  umgeben;  dann 
folgt  das  außerembryonale 
Coelom  und  schließlich 
eine  vom  Amnion  gebil- 
dete Scheide.  Die  Amnion- 
höhle  hat  beträchtlich  an 
Größe  zugenommen  und 
dementsprechend  die 

Menge  der  Amnionflüssig- 
keit. So  setzt  sich  der  Em- 
bryo immer  deutlicher 
gegen  die  Eihäute  ab.  Es 
bildet  sich  ein  Nabel- 
strang, der  von  einer  Am- 
nionscheide  umgeben  ist. 
In  dieser  Amnionscheide 
liegen  vom  außerembryo- 
nalen Coelom  umgeben 
der  Stiel  des  Dottersackes 
und  der  Stiel  der  AUantois. 
Der  Stiel  der  AUantois  und 
der  Zusammenhang  von 
AUantois  und  Darm 
konnte  in  diesem  Schema 
natürlich  nicht  dargestellt 
werden.  Beginnt  derVogel 
zu  atmen,  und  das  ge- 
schieht noch  vor  dem  Aus- 
schlüpfen, indemdas  junge 
Tier  seinen  Schnabel  in  die 
innerhalb  des  Eies  an  sei- 
nem stumpfen  Pol  gelegene  Luftkammer  hineinbringt,  so  hört  der  Blutkreis- 
lauf in  den  großen  Gefäßen  der  AUantois  auf.  Die  AUantois  trocknet  nun  ein, 
und  wenn  der  Vogel  ausschlüpft  und  die  Schalen  abwirft,  so  werden  mit  den 


Das 
Ausschlüpfen 
des  Vogels. 


Fig.  64  C. 


2y8  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

Schalen  auch  die  unscheinbaren  Reste  von  Allantois  und  seröser  Hülle  abge- 
worfen.    Die   Gefahr  einer  Blutung  oder   gar  Verblutung   ist   also  trotz   der 
großen   Gefäße  der  Allantois  beim  Ausschlüpfen  des  Vogels  aus  dem  Ei  und 
Schicksal  des    beim  Abwerfen  von  Allantois  und   Amnion   nicht   vorhanden.    Während   die 
sauropsiden"  scrösc  Hüllc  uud  die  Allantois  abgeworfen  wird,  wird  der  Dottersack  kurz  vor 
dem  Auskriechen  in  die  Leibeshöhle  aufgenommen  und  kann  dort  bei  Vögeln 
wie  bei  Reptilien  noch  längere  Zeit  nachgewiesen  werden. 
Säuger.  Wenden  wir  uns  nun  zu  den  Säugern,  so  können  wir  nicht  wie  bei   den 

anderen  Wirbeltieren  mit  der  Betrachtung  der  Blastula  beginnen,  sondern 
müssen  auch  noch  das  Verhalten  des  ungefurchten  Eies  und  seine  Furchung 
mit  berücksichtigen.  Die  meisten  Säuger  haben  kleine  dotterarme  Eier  mit 
einem  Durchmesser  von  0,07 — 0,2  mm  oder  wenig  mehr;  es  sind  das  die 
höheren  Säuger,  die  Eutheria,  zu  denen  auch  der  Mensch  gehört.  Ihnen 
gegenüber  stehen  die  Monotremen  oder  die  Prototheria  und  die  Beutel- 
tiere oder  die  Metatheria.  Die  Prototheria,  Echidna  und  Ornithorhynchus 
haben  Eier  von  einem  Durchmesser  von  3,5 — 4  mm.  Diese  Eier  besitzen  einen 
polständigen  Dotter,  der  wie  bei  den  Sauropsiden  aus  kugeligen  Dotterele- 
menten besteht.  Die  Furchung  ist  meroblastisch.  An  Größe  und  Dottergehalt 
zwischen  den  Eiern  der  Prototheria  und  der  Eutheria  stehen  die  der  Metatheria, 
der  Beuteltiere,  sie  haben  noch  ziemlich  viel  Dotter.  Die  Eier  entwickeln  sich 
im  Ovar  (Hill.  1910)  wie  Eier  mit  polständigem  Dotter,  sogenannte  teloleci- 
thale  Eier,  doch  wird  der  Dotter  vor  der  Furchung  ausgestoßen.  Die  Furchung 
ist  wie  die  der  Eutheria  total;  es  handelt  sich  in  beiden  Fällen  um  sekundär 
dotterarme  Eier.  Den  Beweis  dafür  kann  man  erstens  in  den  Eiern  der  Proto- 
theria sehen,  welche  eine  Übergangsform  von  den  dotterreichen  zu  den  sekun- 
där dotterarmen  Eiern  bilden,  dann  in  der  Bildung  der  Eihäute  bei  den  Säugern. 
Diese  entwickeln  sich  im  Prinzip  wie  bei  den  Sauropsiden,  und  ihre  Entstehung 
läßt  sich  nur  durch  den  Dotterreichtum  erklären.  So  muß  man  annehmen,  daß 
die  Eihäute  von  Vorfahren  der  Säuger  erworben  wurden,  welche  dotterreiche 
Eier  hatten,  daß  also  die  jetzigen  dotterarmen  Eier  der  Säugetiere  sekundär 
dotterarm  sind.  Die  Entwicklung  der  Monotremen,  der  Prototheria,  ist  noch  zu 
wenig  bekannt,  als  daß  wir  hier  auf  sie  eingehen  könnten.  Die  Entwicklung  der 
Beutler,  der  Metatheria,  hat  bereits  durch  Selenka  und  vor  allem  neuerdings 
durch  J.  P.  Hill  eine  eingehendere  Bearbeitung  gefunden.  Selenkas  Beobach- 
tungen beziehen  sich  auf  das  Opossun,  Didelphys  virginiana,  die  Hills  besonders 
auf  einen  Raubbeutler,  den  Tüpfelbeutelmarder,  Dasyurus  viverrinus.  Ich  gebe 
hier  zunächst  die  Schemata  Hills  über  die  erste  Entwicklung  der  Metatheria. 
Fig.ösA  stellt  einen  Schnitt  durch  ein  Furchungsstadium  dar,  in  dem  das  Ei  in 
acht  Zellen  zerlegt  ist.  Diese  acht  Zellen  sind  in  zwei  Ringen  zu  vier  Zellen  an- 
geordnet, von  jedem  Zellring  sind  im  Schnitt  zweie  getroffen,  die  des  oberen 
Ringes  sind  schraffiert,  die  des  unteren  punktiert.  Die  Zellen  des  oberen  Zeli- 
ringes  nennt  Hill  ,,formative",  die  des  unteren  ,, nicht  formative".  Das  Fur- 
chungsstadium mit  acht  Zellen  bei  Beutlern  erinnert  außerordentlich  an  das 
Achtzellenstadium  von  Amphioxus.    Der  Raum  innerhalb  der  beiden  Zellringe 


Die  Eier  der  Säuger. 


Die  erste  Entwicklung  der  Beutler 


179 


L.Trbl. 


em  Ekt. 


,£n 


-Trbl. 


ist  weder  nach  oben  hin  noch  nach  unten  hin  abgeschlossen.  Innerhalb  des  oberen 
Ringes  ihn  etwas  überragend  liegt  die  Dotterkugel,  die  zu  Anfang  der  Furchung 
aus  der  Eizelle  ausgestoßen  wurde.    Das  Ei  ist  von  der  Zona  pellucida  und  der 
Schalenhaut  umgeben.    Die  gleichfalls  vorhandene  Eiweißschicht  —  eine  solche 
kommt  auch  bei  manchen  Eiern  höherer  Säuger  vor  —  wurde  nicht  dargestellt. 
Wenn  sich  nun  die  Zellen  weiter  vermehren,  so  schieben  sich  die,  welche  vom 
oberen  Zellringe  abstammen,  an  der  inneren  Fläche  der  Zona  pellucida  ent- 
lang gegen  den  oberen  Pol  des  Eies  hin  und  schließen  dort  allmähhch  die  Eihöhle. 
Ebenso  tun  das  die  Ab- 
kömmlinge des  unteren 
Zellringes    am    unteren 
Eipol;    doch   gelingt  es 
diesen  erst  etwas  später 
denAbschluß  der  Eihöhle 
zu  bewirken.  Ist  das  ge- 
schehen,   so  haben   wir 
ein    vollkommen    abge- 
schlossenes Bläschen  vor 
uns,   in  dessen  Innerem 
außer   der  Dotterkugel, 
die       allmählich       ver- 
schwindet, eine   eiweiß- 
haltige Flüssigkeit   ent- 
halten ist.  (Fig.  65  B  und 
C.)   Die  Grenze  zwischen 
den  Zellen,  welche  vom 
oberen  Zellringe  abstam- 
men, und  denen,  die  sich  vom  unteren  herleiten  lassen,   bleibt  noch  längere 
Zeit  kenntlich,  sie  liegt  oberhalb  des  Äquators  (Fig.  65  C).   Aus  den  Abkömm- 
lingen des  oberen  Zellringes  wird  das  Ektoderm  des  Embryo  und  das  gesamte  Ektoderm. 
Entoderm;  aus  den  Zellen,  welche  vom  unteren  Zellringe  abstammen,  entsteht  Entoderm. 
der  Trophoblast,  d.  h.  die  Ektodermzellen,  welche  später  nach  Schwund  der  Trophoblast. 
Schalenhaut,  des  Eiweißes  und  der  Zona  pellucida  der  Uteruswand  anliegen,  um 
mütterliche  Nährstoffe  aufzunehmen  und  zu  verarbeiten.    Das  Entoderm  ent- 
steht bei  Beutlern  durch  Eiwanderung  aus  den  Zellen  des  oberen  Poles.    Diese 
eingewanderten  Zellen  bilden  bald  ein  zusammenhängendes  Blatt,  welches  dann 
entlang  der   inneren  Fläche  des  Trophoblast  die   Keimblase  umwächst.    Die 
Embryonalanlage  wird,  wie  schon  hervorgehoben,  von  den  Abkömmlingen  des 
oberen  Zellringes  gebildet,  doch  wollen  wir  diesen  Vorgang  hier  nicht  weiter 
verfolgen;  er  scheint  sich  im  wesentlichen  durchaus  wie  bei  den  Eutheria  ab- 
zuspielen, bei  denen  er  genauer  untersucht  ist. 

Auf  den  ersten  Blick  gestalten  sich  bei  den  verschiedenen  Säugern,  nach- 
dem das  Ei  durch  die  Zellteilungsvorgänge  der  Furchung  zu  einem  soliden  Zell- 
klümpchen,  zu  einer  Morula,  geworden  ist,  die  Entwicklungsvorgänge  recht  ab- 


Fii 


65^ — D.  Schemata  für  die  Entwicklung  der  Beuteltiere  (der  Metatheria) 
em.Eki.  embryonales  Ektoderm,  En.  Entoderm,  Trbl.  Trophoblast. 
Nach  J.  P.  Hill.     Die  nähere  Erklärung  im  Text. 


380  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

weichend  voneinander;  doch  haben  die  Unterschiede  keine  so  große  Bedeutung, 
als  man  zunächst  glauben  könnte.  Das  menschliche  Ei,  das  besondere  Schwie- 
rigkeiten bietet,  werden  wir  noch  für  sich  besprechen. 

In  dem  sogenannten  Morulastadium,  also  in  dem  Stadium,  in  dem  das  Ei 
eine  solide,  aus  Zellen  bestehende  Kugel  bildet,  unterscheidet  sich  die  äußerste 
Zellschicht  gegen  die  im  Innern  gelegenen  Zellen  durch  ihr  besonderes  Aus- 
sehen (Fig.  66  A  I — 4).  Wir  wollen  dabei  unerörtert  lassen,  ob  diese  äußerste 
Schicht  der  Morula  durch  Umwachsung  der  im  Innern  gelegenen  Zellen,  durch 
Epibolie,  in  ihre  Lage  kommt  oder  nicht.  •  Jedenfalls  hat  sie  mit  der  späteren 
Anlage  des  Embryo  nichts  zu  tun;  sie  bildet  einen  Trophoblast,  wie  er  aus  dem 
unteren  Zellringe  des  achtzelligen  Beuteltiereies  hervorging,  und  ist  diesem  zu 
vergleichen. 

Zwischen  der  inneren  Zellmasse  und  dem  Trophoblast  erscheint  von 
einem  gewissen  Zeitpunkt  an  eine  eiweißhaltige  Flüssigkeit.  Diese  drängt 
die  äußeren  Zellen,  den  Trophoblast,  von  der  inneren  Zellmasse  immer  weiter 
ab,  und  nur  an  dem  einen  Pol  bleibt  die  innere  Zellmasse  mit  dem  Tropho- 
blast in  Verbindung.  Meist  wächst  zu  dieser  Zeit  das  Ei  ziemlich  schnell 
(Fig.  66B1 — 4).  Von  nun  an  treten  Verschiedenheiten  ein.  Bei  einigen  Säugern, 
so  z.B.  bei  Igel  und  Fledermäusen,  höhlt  sich  die  innere  Zellmasse  aus,  und  von 
ihr  spaltet  sich  an  ihrem  freien  Pol  die  innere  Keimschicht,  das  Entoderm,  ab 
(Fig.  66 C  1,2  und  4).  Das  Entoderm  umwächst  nun  das  Ei  an  der  Innenfläche 
des  Trophoblast  entlang  (Fig.  66  Dj — D4) ;  bei  einzelnen  Tieren  ist  diese  Um- 
wachsung außerordentlich  frühzeitig  vollendet,  bei  anderen  kommt  es  über- 
haupt nicht  zu  einer  völligen  Umwachsung.  Das  ist  nebensächlich  und  in  den 
Schematen  ist  deshalb  kein  Wert  darauf  gelegt  worden.  Aus  der  unteren 
Wand  des  in  der  inneren  Zellmasse  entstandenen  Hohlraumes  bildet  sich  der 
Erabryonaischiid.  Embryonalschild,  und  auf  diesem  entsteht  ein  Primitivknoten,  aus  dem  Meso- 
derm  hervorwuchert  und  sich  zwischen  die  beiden  primären  Keimblätter  ein- 
primitivstreifen.  schicbt.  Aus  dem  Primitivknoten  wird  dann  ein  richtiger  Primitivstreifen 
(Fig.  66  El),  der  zeitweise  den  größten  Teil  des  Keimschildes  durchsetzt.  Er 
bildet  sich  in  derselben  Weise  um,  wie  wir  das  für  die  Vögel  genauer  besprochen 
haben.  In  Fig.  66  E^  sehen  wir  diesen  Primitivstreifen  quer  zu  seiner  Längs- 
achse getroffen.  Das  Mesoderm  wächst  peripherwärts  und  spaltet  sich  außerhalb 
der  Embryonalanlage  in  ein  parietales  und  ein  viscerales  Blatt.  Der  so  ent- 
standene Spalt  ist  das  außerembryonale  Coelom.  Der  Hohlraum  innerhalb  der 
inneren  Zellmasse  geht  unmittelbar  in  die  Amnionhöhle  über  und,  indem  sich 
das  Mesoderm  allmählich  auch  zwischen  den  Trophoblast  und  die  seitliche  und 
obere  Wand  der  an  der  inneren  Zellmasse  entstandenen  Höhlung  einschiebt, 
Ammon.  kommt  es  zu  der  Ausbildung  eines  typischen  Amnion  (Fig.  66  F^). 

Bei  anderen  Säugern,  z.  B.  dem  Schwein,  dem  Schaf,  dem  Reh,  öffnet  sich 
die  in  der  inneren  Zellmasse  entstandene  Höhle  nach  außen  (Fig.  66  Dg).  Die 
Einbuchtung  gleicht  sich  aus,  und  der  Embryonalschild,  der  sich  nun  bildet, 
liegt  also  auf  der  Oberfläche  des  Eies;  in  ihm  entsteht  erst  ein  Primitivknoten, 
dann  ein  Primitivstreifen,  von  dem  Mesoderm  auswuchert  (Fig.  66E2).  Um  den 


Eutheria.    Verschiedene  Typen  der  ersten  Entwicklung 


381 


Embryonalschild  erheben  sich  nun  in  ähnlicher  Weise,  wie  wir  das  bei  den 
Vögeln  gesehen  haben,  die  Amnionfalten  (Fig.  66  Fg)  und  schließen  sich  später 
zur  Amnionhöhle.    Inzwischen  ist,  wie  das  auch  Fig.  66  F^  zeigt,  das  Mesoderm 


Fig.  66.  Die  Haupttypen  der 
Keimblattbildung  bei  den  Säugern. 
Es  sind  sechs  Stadien  ^1 — /^  zur 
Darstellung  gebracht,  die  in  vier 
Reihen  angeordnet  sind.  Die 
Stadien  ^-1  und  B  sind  noch  in 
allen  Reihen  gleich;  das  Stadium  C 
noch  in  der  i.,  2.  und  4.  Reihe. 
Für  das  Weitere  vergleiche  man 
den  Text. 


peripherwärts  gewachsen  und  hat  sich  in  ein  parietales  und  viscerales  Blatt 
gespalten,  die  beide  das  außerembryonale  Coelom  begrenzen. 

Wieder  einen  anderen  Typus  bieten  manche  Raubtiere  dar.  Er  zweigt  bei 
einem  Verhalten,  wie  es  die  Fig.  66  B  (l — 4)  zeigt,  ab.  Hier  liegen  die  Zellen 
der  Embryonalanlage  sehr  früh  frei  an  der  Oberfläche  des  Eies,  und  an  der 
Oberfläche  des  Eies  bildet  sich  auch  der  Embryonalschild  (Fig.  66  C3  und  Dg). 
Auf  diesem  Keimschild  entsteht  ein  Frimitivknoten  mit  der  typischen  Meso- 
dermwucherung,  und  aus  dem  Primitivknoten  entwickelt  sich  dann  entspre- 


^82  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

chend  wie  bei  den  anderen  Säugern  und  den  Vögeln  ein  Primitivstreifen 
(Fig.  66E3).  Das  Mesoderm  wächst  peripherwärts;  außerhalb  des  Embryonal- 
schildes entsteht  in  ihm  das  außerembryonale  Coelom.  Die  Amnionfalten  er- 
heben sich  rings  um  den  Embryonalschild  und  schließen  sich  später  zur  Amnion- 
höhle.  Die  Fig.  66  F3  zeigt  diese  Vorgänge,  die  Amnionfalten  sind  noch  nicht 
geschlossen.  Als  eine  Abart  dieses  Typus  können  wir  vielleicht  ein  Verhalten 
betrachten,  wie  es  bei  dem  so  vielfach  untersuchten  Kaninchen  vorkommt; 
ich  habe  es  nicht  weiter  durch  Schemata  verdeutlicht.  Auch  beim  Kaninchen 
entsteht  in  der  inneren  Zellmasse  kein  Hohlraum  und  die  Zellen  der  zukünf- 
tigen Zellmasse  breiten  sich  aus;  sie  berühren  aber  dabei  zunächst  noch  nicht 
wirklich  die  Oberfläche,  sondern  werden  in  dem  der  Fig.  66  C3  entsprechenden 
Stadium  noch  von  einer  ganz  dünnen  Schicht  von  Trophoblastzellen  über- 
lagert. Man  hat  diese  nach  ihrem  Entdecker  die  Raubersche  Deckschicht  ge- 
nannt, und  sie  hat  zeitweise  eine  große  Verwirrung  in  der  Keimblattlehre  her- 
vorgerufen. Die  Zellen  der  Rauberschen  Deckschicht  verschwinden  nach  kur- 
zer Zeit,  und  dann  verhält  sich  das  Ei  des  Kaninchens  durchaus  entsprechend 
den  Schematen,  die  in  den  Fig.  66  Dg  und  Fg  gegeben  sind. 

Aber  auch  einen  anderen  Weg  kann  die  Entwicklung  der  Säugetiere  noch 
einschlagen.  Er  schließt  an  das  in  Fig.  66  B  i — 4  wiedergegebene  Schema  an 
und  ist  in  den  Fig.  66D4— F4  dargestellt.  Es  scheint  dieser  Typus  der  Entwick- 
lung besonders  bei  Eiern  vorzukommen,  die  früh  mit  der  Uterusschleimhaut 
verwachsen  oder  sich  gar  in  sie  einfressen  und  dadurch  in  der  Möglichkeit  be- 
schränkt werden  sich  auszudehnen.  Die  innere  Zellmasse  mit  der  in  ihr  ent- 
haltenen Höhle  wächst  bei  solchen  Eiern  gegen  das  Innere  vor  (Fig.  66  D4), 
und  nun  vollziehen  sich  tief  im  Inneren  des  Eies  die  Bildung  des  Keimschildes, 
des  Primitivknotens  (Fig.  66  E4),  des  Primitivstreifens,  des  außerembryonalen 
Coeloms  und  des  Amnion.  Die  äußeren  Schichten  der  Eiwand,  in  die  eingestülpt 
wir  diesen  Embryonalzapfen  finden,  bestehen  aus  Ektoderm  (Trophoblast)  und 
in  größerer  oder  geringerer  Ausdehnung  aus  Entoderm.  Da  diese  Schichten 
außerordentlich  dünn  sind,  hat  man  sie  früher  übersehen  und  den  eingestülpten 
Embryonalzapfen  für  das  ganze  Ei  gehalten.  Da  fand  man  dann  die  Keimblätter 
Sog.  Umkehr  der  in  Umgekehrter  Reihenfolge,  wie  man  sie  erwartete;  zu  äußerst  das  Entoderm, 
dann  das  Mesoderm  und  zu  Innerst  das  Ektoderm  und  wurde  an  der  ganzen 
Keimblattlehre  irre.  Man  sprach  von  einer  Umkehr  der  Keimblätter.  Man 
kann  sie  noch  weiter  ins  Extrem  getrieben  finden,  wie  es  in  den  Schematen 
wiedergegeben  ist,  so  beim  Meerschweinchen;  doch  liegen  im  Prinzip  die  gleichen 
Verhältnisse  vor.  Wie  sehr  die  Entwicklung  in  den  Eiern  mit  sogenannter  Um- 
kehr der  Keimblätter  in  allem  wesentlichen  der  Entwicklung  der  anderen  Säuge- 
tiereier entspricht,  macht  man  sich  am  leichtesten  klar,  wenn  man  sich  die  in 
der  inneren  Zellmasse  entstandene  Höhle  in  den  Fig.  66  D4,  E4  und  F4  am 
oberen  Pol  an  der  mit  einem  Stern  bezeichneten  Stelle  geöffnet  und  nun  die 
Einstülpung  des  Eies  ausgeglichen  denkt. 
Vergleich  des  Schon  aus  dcu  Betrachtungen,  welche  wir  eben  angestellt  haben,  ergibt  es 

Stadiums  der"   sich,  daß  dic  Entwicklungsvorgänge  von  dem  Abschluß  der  Furchung  bis  zur 


Eutheria.  Verschiedene  Typen  der  Entwicklung.  Vergleich  mit  niederen  Formen     ^83 

Anlage  des  Primitivstreifens  sich  sehr  wohl  mit  denen  bei  Vögeln  und  Reptilien  Säuger  mit  dem 
vergleichen,  ja  von  ihnen  durch  die  Annahme  von  Dotterschwund  ableiten  "■'^^"■■"p^i  ®" 
lassen.  Das  gleiche  gilt  für  die  an  das  Primitivstreifenstadium  sich  anschließen- 
de Entwicklung.  Der  Primitivstreifen  bildet  sich  bei  Säugern  in  ganz  ent- 
sprechender Weise  zurück  wie  bei  den  Vögeln.  An  seinem  vorderen  Ende  kann 
auch  ein  Canalis  neurentericus  zur  Ausbildung  kommen,  so  geschieht  das 
selbst  noch  beim  Menschen.  An  seinem  hinteren  Ende,  das  sich  bei  den  Vögeln 
auf  die  ventrale  Seite  des  Körpers  herumschlägt,  wird  eine  Kloakenmembran 
sogar  früher  deutlich  als  bei  den  Vögeln.  Man  spricht  hier  vielfach  von  einer 
Kloakenmembran,  nicht  von  einer  Aftermembran,  denn  bei  den  Säugern 
legt  sich  zunächst  eine  Kloake  an,  in  die  sowohl  die  Harnblase  und  die  Ge- 
schlechtsgänge als  der  Enddarm  einmündet.  Diese  Kloake  wird  dann  sekun- 
där aufgeteilt,  und  damit  zerfällt  die  Kloakenmembran  in  die  Verschluß- 
membran des  Sinus  urogenitalis,  in  den  Harnblase  und  Geschlechtsgänge  ein- 
münden, und  in  die  definitive  Aftermembran.  Doch  da  man  von  einem  Klo- 
akenafter spricht,  ist  die  Bezeichnung  Aftermembran  auch  für  die  ursprüng- 
liche Bildung  im  gleichen  Sinne  zulässig,  wie  sie  für  die  Sauropsiden  ge- 
braucht wird. 

Auch  die  Abhebung  der  eigentlichen  Embryonalänlage  geschieht  gerade  so 
wie  bei  den  Vögeln  und  Reptilien,  und  ebenso  legt  sich  auch  eine  Rumpf- 
schwanzknospe an. 

Die  Entwicklung  des  Nervensystems,  die  Gliederung  des  Mesoderms  und 
seine  weiteren  Umbildungen  lassen  sich  vielfach  bis  ins  Einzelne  mit  den  ent- 
sprechenden Vorgängen  bei  den  Sauropsiden,  ja  bei  den  niederen  Vertebraten 
vergleichen.  Besonders  hervorgehoben  sei,  daß  bei  Säugern,  Vögeln  und  Rep- 
tilien wie  bei  den  Amphibien  und  Fischen  Kiementaschen  und  Kiemenfurchen 
auftreten,  wenn  diese  auch  nicht  immer  ineinander  durchzubrechen  brauchen. 
Kiemenbogen,  außen  abgegrenzt  durch  Kiemenfurchen,  innen  durch  Kiemen- 
taschen, kommen  also  allen  Wirbeltieren  zu. 

Die  Abweichungen,  welche  die  Entwicklung  der  Säuger  von  der  der  Sau- Beziehungen  des 

°  1  1  r     1  1  -i.      Säugereies  zum 

ropsiden  zeigt,  erklären  sich  außer  durch  den  Dotterschwund,  auf  den  bereits    mütterlichen 
hingewiesen  wurde,  durch  die  innigen  Beziehungen,  welche  das  Ei  der  Säuger    O'-gawsmus. 
früher  oder  später  zu  dem  mütterlichen  Organismus  gewinnt,  und  zwar  erklären 
sich  auch  die  vielfachen  Unterschiede  in  den  frühen  Stadien  der  Säugetierent- 
wicklung wohl  meist  durch  die  besondere  Art  und  Weise  und  die  Zeit,  von  der 
an  das  Ei  der  Mutter  die  Nahrung  entnimmt.     Ich  kann  hier  nur  darauf  hin- 
deuten, daß  die  Verbindung  mit  dem  mütterlichen  Organismus  zum  Zwecke 
der  Nahrungsentnahme  in  sehr  mannigfacher  Weise  geschehen  kann.   So  ist  ge- 
rade das  Verhalten  des  Dottersacks  und  der  Allantois  bei  den  verschiedenen 
Säugern  sehr  verschieden.  Allgemein  ergibt  sich  ein  Unterschied  gegenüber  den 
Sauropsiden;  während  bei  diesen  zur  Zeit  des  Ausschlüpfens  nur  das  Amnion 
und  die  Allantois  abgeworfen  werden,  der  Dottersack  aber  in  den  Körper  auf- 
genommen wird,  geht  bei  den  Säugern  auch  der  Dottersack  bei  der  Geburt  zu-  Dottersack, 
gleich  mit  Amnion  und  Allantois  verloren. 


•384  Franz  Keibel:   Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

Mensch.  Wenden  wir  uns  jetzt  zur  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen,  so  müssen 

wir  zunächst  hervorheben,  daß  die  ersten  Stadien  der  Entwicklung  beim  Men- 
schen noch  durchaus  unbekannt  sind.  Wenn  man  auch  in  den  letzten  Jahren 
einige  sehr  kleine  menschliche  Eier  aufgefunden  und  sorgfältig  bearbeitet  hat, 
so  waren  in  diesen  jüngsten  Eiern,  deren  Alter  von  der  Befruchtung  gerechnet, 
man  wohl  auf  12 — 15  Tage  schätzen  darf,  bereits  alle  drei  Keimblätter  ange- 
legt. Besonders  auffällig  ist  dabei  sowohl  die  Kleinheit  der  Eier  und  Embryo- 
nalanlagen, als  das  Vorhandensein  des  Mesoderms  trotz  des  Fehlens  eines  Pri- 
mitivknotens oder  Primitivstreifens.  Die  Maße  der  beiden  kleinsten  mensch- 
lichen Eier  werden  zu  1,95  :  0,95  :  1,10  und  zu  2,4  :  1,8  mm  angegeben,  die 
Längen  der  Embryonalanlagen  zu  etwa  0,15  und  0,19  mm.   Das  Mesoderm  muß 

in  diesen  Eiern  also  unabhängig  von  einer  Primitivknoten- 
und  Primitivstreifenbildung  entstanden  sein,  und  doch 
finden  wir  bei  etwas  älteren  Eiern  nicht  nur  einen  sehr  gut 
entwickelten  Primitivstreifen  vor,  sondern  dieser  Primitiv  - 
streifen  verhält  sich  auch  genau  so  zum  Ektoderm  und 
Mesoderm,  wie  bei  anderen  Säugern  und  den  Vögeln.  Fig. 
r.-    Ä  c  %,      .■  1.    T^     u     67  gibt  einen  schematischen  Durchschnitt,  an  dem  man  sich 

i<  lg.  67.  ScneraatischerDurch-         '    "  ' 

schnitt    durch    ein    junges    dcn  Aufbau  der  jüugsten,  bis  dahin  beobachtctcn  mcusch- 

menschliches  Ei.    AnmH.  Am-  .,,  ,  _,^.  r-i-i 

nionhöhie,    c.  außererabryo-    lichcn  Eicr  klar  macheu  kann.   Die  äußerste  Schicht  des 

illö?ij°'°j/f  "^ÄesodlrZ    kleinen  Eibläschens  ist   der   verhältnismäßig  sehr  dicke 

Trbi.  Trophoblast.  Troohoblast  (Trbl.),     den  wir    als  eine  ektodermatische 

Nach  Keibel,    vgl.  Kkibel  u.  _ 

Mall,  Handbuch  der Entwick-    Bildung  ansprcchcn  dürfen.    Von  dem  oberen  Pol  dieser 

lungsgeschichte  desMenschen,      n-i  111        .1    .-n  1      1         -r^       1  1  r         •  •  tt-.i   1 

irophoblasthulleragt  der  Embryonalzaplen  in  eine  Hohle 
hinein,  welche  das  Innere  des  Eies  einnimmt.  Gegen  diese  Höhle  zu  ist  der 
Trophoblast  von  einer  Zellschicht  umzogen,  welche  als  Mesoderm  {Ms.)  zu 
betrachten  ist.  Diese  Zellschicht  setzt  sich  auf  den  Embryonalzapfen  fort. 
Im  Embryonalzapfen  selbst  haben  wir  zwei  Höhlungen.  Die  oben  gelegene 
ist  als  Amnionhöhle  {AmnH),  die  unten  gelegene  als  Dottersackhöhle 
[DSH)  aufzufassen.  Die  Amnionhöhle  ist  von  Ektoderm  ausgekleidet, 
der  Dottersack,  der  auch  noch  die  ganze  Anlage  des  Darms  enthält,  von 
Entoderm.  Zwischen  Amnionhöhle  und  Dottersack  liegt  die  Embryonal- 
anlage. Wir  können  jetzt  auch  noch  das  Mesoderm  genauer  deuten;  soweit  es 
den  Trophoblast  innen  auskleidet  und  das  Ektoderm  der  Amnionwand  über- 
zieht, ist  es  als  parietales  Blatt  des  Mesoderms  aufzufassen,  so  weit  es  den 
Dottersack  umgibt  als  viscerales  Blatt.  Der  Hohlraum  innerhalb  des  Meso- 
blast  ist  das  außerembryonale  Coelom  {C).  In  den  allerjüngsten  Stadien  wird 
es  noch  von  locker  angeordneten  Zellsträngen  durchzogen,  die  in  unserem 
Schema  nicht  zur  Darstellung  gebracht  sind.  Man  kann  so  schließen,  daß  dies 
außerembryonale  Coelom  durch  Spaltbildung  entsteht.  Eier  des  eben  bespro- 
chenen Stadiums  liegen  schon  innerhalb  der  Uterusschleimhaut.  In  diese  sind 
sie  offenbar  aktiv  eingewandert,  ja  sie  haben  sich  sozusagen  eingefressen.  Man 
kann  dies,  von  Analogien  bei  anderen  Säugern  abgesehen,  schon  daraus  schlie- 
ßen, daß  zweifellos  von  nun  an  der  Trophoblast  dieses  Einfressen  in  das  mütter- 


Die  frühesten  Stadien  der  menschlichen  Entwicklung 


385 


AmiiH. 


'•"DL      Chorionzotten. 


Inten-illöse 
Räume. 


liehe  Gewebe  weiter  vollzieht.    Er  rückt  dabei  gegen  die  Drüsen  und  die  Blut- 
gefäße der  mütterlichen   Schleimhaut  vor  und  eröffnet  dieselben.     Aus  den 
mütterlichen  Gefäßen  ergießt  sich  nun  Blut  in  das  Lacunensystem,  welches 
sich  inzwischen  im  Trophoblast  ausgebildet  hat.     Das  mütterliche  Blut  wird 
hier  zunächst  zum  Teil  vielleicht  direkt  als  Nahrung  verwandt  —  Analogien 
dazu  finden  wir  bei  vielen  Säugern  — ;   allmählich  aber  bildet  sich  in  dem 
Lacunensystem   des  Trophoblast  eine  geregelte  Zirkulation   aus;    das  zirku- 
lierende   Blut   dient    dann   als    Nahrungs-    und    Sauerstoffträger   und    führt 
zugleich     die    Abbauprodukte    des    Eies     fort.      In    die    Trophoblastbalken 
wächst    nun    parietales  Mesoderm    hinein. 
Dies  Einwachsen  geschieht  so,  daß  die  ein- 
wachsenden   Mesodermbalken     sich    nicht 
netzförmig  miteinander  verbinden,  wie  das 
ursprünglich  die  das  Lacunensystem  durch- 
setzenden Trophoblastbalken  tun,  sondern 
daß  sie  verzweigte   Bäumchen  bilden.    So 
kommen  die  Chorionzotten  zustande.    Die 
Räume    zwischen    den    Chorionzotten,    in 
denen  mütterliches  Blut  kreist,  nennt  man 
nun   intervillöse  Räume.    Ursprünglich   ist 
(Fig.  68)  das  ganze  Ei  von  Zotten  umgeben, 
und  in  diesen  Zotten  kommen  bald  embryo-    Fig.  es.  Schematischer  Durchschnitt  durch  ein 
nale  Gefäße  zur  Ausbildung,  in  denen  dann    'Z:f^:t:^J'^::rZ^^:^tc. 

das   Blut    des    Embryo    kreist.       Mütterlicher      ^"ße^-embryonales  Coelom,  /)5//.  Dottersackhöhle. 

■^  _  _  MS.  Mesoderm,  Trö/.  Trophoblast.    Nach  KErBEL, 

und  foetaler  Kreislauf  bleiben  stets  geschie-    vgi.  keibel  u.  mall,  Handbuch  der  Entwickiungs- 

j  r'     •■  L        1    -1   1     .        •    1        1  ..r>,      »Ti    M     1  geschichte  des  Menschen. 

den.    spater  bildet  sich  der  größte  Teil  der 

Chorionzotten  zurück;  nur  an  einer  Stelle,  normalerweise  dort,  wo  das  Ei  der 

Uteruswand  zugewendet  ist,  kommen  sie  zu  mächtigster  Ausbildung  und  lassen 

die  Placenta  entstehen.  piacenta. 

Für  die  weitere  Entwicklung  des  menschlichen  Embryonalgebildes  seien 
nun  zunächst  noch  in  Fig.  6g  und  71   ein  paar  schematische  Medianschnitte 
gegeben,    die    durch    einige    Bilder    der    entsprechenden     Embryonalanlage 
(Fig.  70  und  72)  ergänzt  werden.    Auf  Fig.  69  sehen  wir  den  Embryonalschild 
noch  zur  Hälfte  etwa  vom  Primitivstreifen  durchzogen,  an  dessen  vorderem 
Ende  ein    Canalis  neurentericus  {Can.  n.),    an  dessen  hinterem    die   Anlage     Canaiis 
einer  After-  oder  Kloakenmembran  [Af.)  kenntlich  ist.     Auf   dem   vor   (jgjj,  "«"''^°  ^"'^"*- 
Primitivstreifen    gelegenen   Teile    des    Embryonalschildes   sind,   wie    das    die 
Fig.  70  A  und  B  zeigen,  bereits   niedrige    Medullarwülste  vorhanden,  welche 
eine   flache  Medullarrinne  zwischen    sich    lassen.     Der    Kopffortsatz    ist    als 
Chordaanlage    {Ch.)   in    das   Entoderm  eingeschaltet.      In   dem  den  Dotter-  Chorda, 
sack    einhüllenden    visceralen  Mesoderm   finden  wir   die   Anlagen    von   Blut 
und  Blutgefäßen.   Die  Oberfläche  des  Dottersackes  erscheint  dadurch  höckerig,  Dottersack 
wie  das  auch  in  Fig.  70  A  zur  Darstellung  gekommen  ist.    Das  Embryonalge- 
bilde ist  durch  einen  mit  dem  hinteren  Teil  des  Amnion  verbundenen  Mesoderm- 


K.  d.  G.  III.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II 


25 


386 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Strang  mit  dem  Chorion,  der  mit  Zotten  bedeckten  serösen  Hülle,  verbunden. 
Bauchstiel.  In  dicsen  Strang,  den  ,, Bauchstiel",  hinein  hat  sich  vom  Entoderm  aus  ein 
enger  Kanal  entwickelt,  der  mit  einer  kleinen  Erweiterung  endet.  Dieser  Kanal 
AUantois.  stcllt  die  cntodcrmale  Allantois  {All.)  des  Menschen,  ein  durchaus  rudimen- 
täres Gebilde,  dar.  Eine  freie  bläschenförmige  Allantois  besitzt  der  Mensch 
nicht.  Fig.  70  A  zeigt  den  Embryonalschild  von  oben;  das  Amnion  ist  an  seiner 
Wurzel  abgeschnitten;  der  Bauchstiel  ist  quer  durchschnitten  und  zeigt  in  sei- 
nem Inneren  den  Allantoisgang;  im  Hin- 


Amn. 


Can.n 


.  ClinZ. 


tergrunde  erkennt  man  den  Dottersack. 
Fig.  70  B  gibt  die  gleiche  Embryonal- 
anlage von  links  und  hinten  her  wieder. 
Hier  ist  nicht  nur  das  Amnion,  sondern 
auch  der  Dottersack  an  seiner  Wurzel 
entfernt ;  dagegen  ist  der  Bauchstiel  und 


-DSW 


Fig.  69.  Medianer  Sagittalsclinitt  durch  ein  menschliches  Em- 
bryonalgebilde ;  auch  der  Teil  des  Chorion,  an  dem  das  Embryo- 
nalgebilde durch  den  sogenannten  Haft-  oder  Bauchstiel  befestigt 
ist,  wurde  dargestellt.  .-//'.  Aftermembran  (Kloakenmembrani, 
AUG.  Allantoisgang,  Amn.  Amnion,  C.  außerembryonales  Coe- 
lom,  Can.n.  Canalis  neurentericus,  Ch.  Chorda  dorsalis ,  Chn. 
Chorion,  CknZ.  Chorionzotten,  DS  W.  Dottersackwand.  Zwischen 
Can.n.u.Af.  liegt  der  Priraltivstreifen.  Nach  Keibel,  vgl.  Keibel 
u.  Mall,  Handbuch  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen. 


Fig.  joA  n.  B.  Modelle  einer  menschlichen  Em- 
bryonalanlage im  Primitivstreifenstadiura.  A  von 
der  Rückenseite,  £  von  der  linken  Seite.  Nach 
Keibel  und  Elze.  Aus  Keibel  und  Mall,  Hand- 
buch der  Entwicklungsgeschichte    des   Menschen. 


der  Teil  des  Chorion,  an  welchem  er  inseriert,  erhalten.    Im  Bauchstiel  ist  der 
Allantoisgang  freigelegt. 

Die  Fig.  71  und  72  stellen  die  Verhältnisse  eines  etwas  älteren  Embryo  dar, 
eines  Embryo,  der  seinerzeit  vom  Grafen  Spee  beschrieben  wurde  und  in  der  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Menschen  eine  große  Rolle  gespielt  hat.  In  Fig.  72  ist  der 
Embryo  von  oben  gesehen;  das  Amnion  ist  eröffnet  und  an  seiner  Wurzel  abge- 
Primirivstreifen.  tragcu.  Dcr  Primitivstreifcn  nimmt  nur  noch  einen  kleinen  Teil  des  Embryonal- 
gebildes ein,  sein  hinteres  Ende  ist  abgebogen  und  im  Begriff  sich  nach  der  ven- 
tralen Seite  hin  umzuschlagen.  Auf  dem  Primitivstreifen  ist  eine  sehr  deutlich 
ausgesprochene  Primitivrinne  entwickelt;  an  seinem  vorderen  Ende  findet  sich 
ein  Canalis  neurentericus.  Die  Medullarwülste  haben  sich  nun  stärker  erhoben, 
und  die  Medullarrinne  ist  deutlicher  geworden.  Die  Medullarwülste  umfassen 
das  vordere  Ende  des  Primitivstreifens  mit  dem  Canalis  neurentericus.  Unter 
dem  Embryo  liegt  der  Dottersack,  dessen  Oberfläche  durch  die  Anlagen  des 
Blutes  und  der  Gefäße  höckerig  erscheint.    Das  hintere  Ende  des  Embryo  wird 


Keimblätter  und  Primitivorgane  beim  Menschen 


387 


durch  den  Bauchstiel  mit  dem  Chorion  verbunden.  Dem  Gesagten  braucht 
für  die  Erklärung  des  medianen  Sagittalschnittes  (Fig.  71)  nichts  hinzugefügt 
zu  werden. 

Die  weitere  Entwicklung  verläuft  beim  Menschen  im  Prinzip  durchaus 
wie  bei  den  anderen  Säugern  und  Wirbeltieren.    Fig.  73  zeigt  wie  der  Embryo 


Fig.  71.  Medianer  Sagittalsclinitt  durch  einen  jungen  menschliclien 
Embryo  mit  sich  ventralwärts  umschlagenden  Primitivstreifen.  Auch 
das  Amnion,  der  Bauchstiel  und  ein  kleiner  Teil  des  Chorion  mit 
drei  Zottenbäumchen  ist  dargestellt.  AUG.  Allantoisgang,  Anin. 
Amnion,  C.  außerembryonales  Coelom,  Can.n.  Caualis  neurentericus, 
Ch.  Chorda  dorsalis,  Chn.  Chorion,  ChiiZ.  Chorionzotten,  DSU'. 
Dottersackwand.  Vgl.  Keibel  und  Mall,  Handbuch  der  Entwick- 
lungsgeschichte des  Menschen. 


F  i  g.  72.  Menschlicher  Embryo  von  der  dorsa- 
len Seite  gesehen.  Die  Figur  71  stellt  einen  me- 
dianen Sagittalschnitt  durch  diesen  Embryo  dar. 
Nach  Graf  Spee.  Aus  Keibel  u.  Mall,  Handbuch 
der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen. 


Fig.  73.  Menschlicher  Embryo,  der  sich  vom 
Dottersack  abzuheben  beginnt,  von  der  dorsalen 
Seite.  Nach  Keibel  und  Elze.  Aus  Keibel  u. 
Mall,  Handbuch  der  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschen. 


sich  vom  Dottersacke  abzuheben  beginnt.  Das  Amnion  ist  nahe  an  seiner 
Wurzel  durchgeschnitten,  man  sieht  von  oben  auf  den  Embryo.  Die  Medullar- 
rinne  ist  tief,  aber  noch  durchweg  offen.  Am  caudalen  Ende  umgreifen  die 
Medullarwülste  das  vordere  Ende  des  Primitivstreifens  mit  dem  Canalis  neu- 
rentericus. Zu  jeder  Seite  der  Medullaranlage  sind  5 — 6  Ursegmente  kenntlich. 
Die  drei  vordersten  dieser  Ursegmentpaare  gehören  noch  dem  Kopf  an. 
Es  ergibt  sich  demnach,  daß  das,  was  hier  bei  diesem  Embryo  angelegt  ist, 
im  wesentlichen  dem  Kopf  und  dem  obersten  Teil  des  Halses  entspricht; 
diesem  Gebiet  gehört  auch  das  Herz  ursprünglich  an.  In  dem  kurzen  hinteren 
Ende  mit  der  sich  eben  ausbildenden  Rumpfschwanzknospe  liegt  noch  das  Ma- 


~D 


388 


Franz  Keibel:   Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Affen. 


terial   für   den   ganzen    übrigen    Körper.     Mit  dem  Chorion  ist   der  Embryo 
durch  einen  kurzen  Bauchstiel  verbunden. 

Ein  viel  älteres  Stadium  zeigt  die  Fig.  74.  Ich  gebe  sie  hier  noch,  um  das 
Vorkommen  der  Kiemenbogen  und  eines  Schwänzchens  beim  menschlichen  Em- 
bryo zu  demonstrieren.  Der  Bauchstiel  des  Embryo,  der  sich  zum  Nabelstrang 
umzugestalten  beginnt,  ist  kurz  abgeschnitten,  seine  Schnittfläche  ist  uns  zu- 
gekehrt. Der  Embryo  ist  nicht  nur  stark  zusammengekrümmt,  sondern  auch 
spiralig  gedreht.  Am  vorderen  Ende  des  Kopfes  wird  das  Riechfeld  deutlich, 
die  Hauptanlage  des  Riechorganes,  dahinter  das  Auge.  Dann  kommt  die 
Reihe  der  Kiemenbogen.     Sie  und  der  vordere  Teil  des  Kopfes  liegen  dem 

mächtigen  Herzwulst  auf.  Die  Extremitäten  sind 
stummeiförmige  Platten;  der  Schwanz  klemmt  sich 
zwischen  Herzwulst  und  Bauchstiel. 

An  dieser  Stelle  ist  es  auch  wohl  am  Platze  etwas 
über  die  Entwicklung  der  Affen  zu  sagen,  die  in  der 
letzten  Zeit  vor  allem   auf  Grund  des  von  Selenka 
und  Hubrecht  zusammengebrachten  Materials  durch 
die  Untersuchungen  Selenkas  und  anderer  in    den 
Grundzügen  klar  gelegt  ist.  Es  ist  bekannt,  wie  heftig 
über  die  Ähnlichkeit  und  Unähnlichkeit  von  Affen- 
und  Menschenembryonen  vor  breitester  Öffentlich- 
keit gestritten  wurde.  Es  geschah  das,  weil  man  diese 
Ähnlichkeit  als  einen  Beweis  für  die  Verwandtschaft 
von  Mensch  und  Affen  verwerten  wollte.  Wir  werden 
später  noch  erörtern,  inwiefern  Übereinstimmung  in 
der  Entwicklung  auf  gemeinsame  Abstammung  hin- 
deutet; doch  sei  schon  hier  hervorgehoben,  daß  die  nahe  morphologische  Ver- 
wandtschaft zwischen  Affen,  besonders  anthropoiden  Affen,  und  Mensch  wohl 
kaum  mehr  Gegenstand  der  Diskussion  zu  sein  braucht,  und  für  diese  Verwandt- 
schaft bringt  auch  die  Entwicklungsgeschichte  zahlreiche  Belege  bei.  Von  den 
ersten  Entwicklungsvorgängen,   von   der  Furchung,  ist  bei  den  Affen  nur  ein 
Stadium  bekannt.  Hubrecht  fand  etwa  in  der  Mitte  des  Eileiters  eines  Macacus 
nemestrinus  ein  aus  vier  Zellen  bestehendes  Ei. 

Wir  haben  nun  die  erste  Anlage  des  Wirbeltierleibes  bei  den  Vertretern  der 
"^"^auer^^""^  Hauptklasscu  der  Wirbeltiere  kennen  gelernt.  Wir  haben  gesehen,  wie  auf 
Wirbeltiere,  schciubar  rccht  abweichenden  Wegen  sich  bei  allen  Wirbeltieren  ein  Stadium 
herausbildet,  das  bis  in  Einzelheiten  hinein  bei  den  verschiedenen  Wirbeltieren 
zu  vergleichen  ist.  In  diesem  Stadium  hat  der  Körper  der  Wirbeltiere  einen 
verhältnismäßig  einfachen  Aufbau.  Sein  Achsenskelett  ist  die  Chorda  dorsalis. 
Dorsal  von  der  Chorda  liegt  die  Anlage  des  Nervensystems,  das  Medullarrohr, 
ventral  der  Darm.  Rechts  und  links  von  dem  Medullarrohr  finden  wir  die  Ur- 
segmente  mit  ihren  Ursegmenthöhlen.  Noch  weiter  lateral  bzw.  ventral  liegt 
das  parietale  und  das  viscerale  ungegliederte  Mesoderm;  das  viscerale  über- 
kleidet das  Entoderm  des  Darms  bzw.  des  Dottersackes;  das  parietale  folgt 


F  i  g.  74.  Menschliclier  Embryo  aus 
der  vierten  Woche  von  der  linken 
Seite.  Nach  Keibel  und  Elze.  Aus 
Keibel  und  Mall,  Handbuch  der 
Entwicklungsgeschichte  desMenschen. 


Vergleich 


Mensch  u.  Affen.    Vergleich  der  Keimblätterbildung  in  der  ganzen  Reihe  der  Wirbeltiere     380 

der  aus  dem  Ektoderm  abstammenden  primitiven  Epidermis.  Zwischen  parie- 
talem und  visceralem  Mesoderm  liegt  die  Leibeshöhle,  das  Coelom,  das  zunächst 
noch  mit  den  Urwirbelhöhlen  in  Zusammenhang  steht.  Peripherwärts  anderer- 
seits steht  das  Coelom  bei  den  Tieren,  welche  einen  großen  Dotter  haben,  und 
bei  den  Säugetieren,  mit  der  außerembryonalen  Leibeshöhle  in  Verbindung. 
Die  hier  als  Fig.  75  A — E  wiedergegebenen  Schemata  veranschauhchen  die 
wesentlichsten  Typen:  A  den  Amphioxus,  B  die  Amphibien,  C  die  Selachier, 
D  die  Sauropsiden  und  E  die  Säuger.    In  den  Schematen  C  und  D  ist  dabei  nur 


Fig.  75^ — E.  Querschnitte  durch  Embryonen  bei  den  Haupttypen  der  Wirbeltiere.  Bei  Sauropsiden  und  Säugern 
ist  von  Amnion  und  Ailantois  abgesehen,  um  die  Übereinstimmung  im  Grundplan  besser  hervortreten  zu  lassen. 
Bei  den  Selachiern  und  Sauropsiden  ist  nur  ein  Teil  des  Dotters  dargestellt.  Die  Schemata  stellen  dar:  A  den 
Typus  des  Amphioxus,  B  den  der  Amphibien,  C  den  der  Selachier,  D  den  der  Sauropsiden  und  E  den  der  Säuger. 
C.  Coelom,  Ch.  Chorda  dorsalis,  DH.  Darmhöhle,  Dr.  Dotter,  En.  Entoderm,  Ep.  primitive  Epidermis  (Ektoderm 
nach  Ausschaltung  der  Anlage  des  Nervensystems),  MR.  Medullarrohr ,  p.Ms.  parietales  Blatt  des  Mesoderm,  US. 
Ursegment,   USH.   Ursegmenthöhle,  v.Ms.  viscerales  Blatt  des  Mesoderm. 


der  obere  Teil  des  Dotters  dargestellt,  sowohl  in  D  wie  in  E  ist  die  Bildung  des 
Amnion  der  serösen  Hülle  und  der  Ailantois  vernachlässigt.  Von  diesem  Sta- 
dium an  verläuft  nun  die  Entwicklung  bei  allen  Wirbeltieren  im  Prinzip  durch- 
aus gleichartig.  Die  homologen  Organe  entstehen  aus  dem  gleichen  Keimblatt 
und  in  entsprechender  Weise.  Wenn  sich  scheinbar  Abweichungen  finden,  so 
lassen  sie  sich  durch  den  Dotterreichtum  oder  durch  zeitliche  Verschiebungen 
leicht  erklären. 

So  ist  es  denn  gewiß  gerechtfertigt  auch  die  ersten  Stadien  und  die  Vor-  oastraeatheone. 

.     .,  -r^  -,1  1-1  -^    ■  j  Coelomtheorie. 

gänge,  welche  sich  bei  ihrer  Entwicklung  abspielen,  miteinander  zu  ver- 
gleichen und  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Es  ist  das  von  Ray-Lancaster  und 
Häckel  durch  die  Gastraeatheorie  und  von  Oskar  und  Richard  Hertwig  durch 
die  Coelomtheorie  geschehen,  und  beide  Theorien  haben  außerordentlich  an- 
regend auf  das  Studium  der  Wirbeltierentwicklung  gewirkt.    Doch  führten 


^qo  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

sie  gerade  bei  Wirbeltieren  auch  zu  Einseitigkeiten,  indem  sie  dazu  verlei- 
teten, daß  man  die  sämtlichen,  grundlegenden  Vorgänge  der  Wirbeltier- 
entwicklung in  das  Schema  der  Amphioxusentwicklung  zu  pressen  ver- 
suchte. Überall  sollte  die  Bildung  des  Entoderms  auf  Invagination  zurück- 
geführt werden,  und  überall  sollten  auch  Chorda  und  Mesoderm  durch 
irgendwelche  Abfaltungsprozesse  vom  Entoderm  aus  gebildet  werden.  Nun 
finden  wir  aber  die  Bildung  des  Entoderms  und  die  des  Mesoderms  und 
des  Coeloms  bei  den  Wirbeltieren  durchaus  nicht  immer  in  der  Verknüpfung 
wie  beim  Amphioxus,  und  man  darf  weiter  nicht  vergessen,  daß  doch 
D'^        die    Gastrulation    ein  Vorgang    ist,    der    bei    allen    vielzelligen    Tieren    vor- 

Gastrulation.  .  .  ,    .  _ 

kommt.  Man  sollte  deshalb  in  seine  Definition  weder  seine  Beziehungen  zur 
Mesoderm-  und  Chordabildung  noch  auch  den  Vorgang  der  Invagination  auf- 
nehmen. Bei  den  Wirbellosen  haben  wir  ja  keine  Chorda,  und  das  Mesoderm 
bzw.  Mesenchym  verhält  sich  bei  ihnen  durchaus  anders  als  bei  den  Wirbel- 
tieren. Ferner  finden  wir  bei  den  Wirbellosen,  daß  das  Entoderm  sich  vielfach 
nicht  durch  Invagination  bildet.  Es  kann  hier  auch  entstehen  durch  Abspal- 
tung, Delamination,  durch  Einwanderung  von  Zellen,  Immigration  und  durch 
Umwachsung,  Epibolie,  durch  einen  Vorgang,  bei  dem  die  Ektodermzellen 
die  Entodermzellen  umwachsen.  Merkwürdig  ist  dabei,  daß  die  Gastrulation 
sogar  bei  nahe  verwandten  Tieren  bald  in  der  einen,  bald  in  der  anderen  dieser 
Formen  vor  sich  gehen  kann. 
Definition  der  Mit  Bcrücksichtigung  dieser  Tatsachen  definiere  ich  Gastrulation  als  den 

Vorgang,  durch  welchen  sich  die  Zellen  des  Keimes  vielzelliger  Tiere  in  eine 
äußere  und  eine  innere  beziehungsweise  eine  obere  und  eine  untere  Zell- 
schicht, in  Ektoderm  und  Entoderm  sondern.  Das  Material  für  Mesoderm 
und  Chorda  kann  dabei  bald  der  oberen,,  bald  der  unteren  Keimschicht  zu- 
geteilt werden,  oder  teilweise  in  der  einen,  teilweise  in  der  anderen  ent- 
halten sein.  Es  sind  daher  die  obere  und  die  untere  Keimschicht  oder,  wenn 
man  es  in  diesem  Sinne  brauchen  will,  Ektoderm  und  Entoderm,  in  der  Reihe 
der  Wirbeltiere  nicht  miteinander  zu  homologisieren.  Wir  haben  die  Bildung 
des  Mesoderms  und  der  Chorda  als  einen  ursprünglich  von  der  Gastrulation 
selbständigen  Vorgang  aufzufassen,  der  durch  zeitliche  Verschiebungen 
mit  dem  Gastrulationsvorgang  in  mehr  oder  weniger  enge  Beziehung  trat. 
Erst  nach  Bildung  von  Chorda  und  Mesoderm  haben  wir  in  der  äußeren 
und  der  inneren  Keimschicht,  die  wir  nun  als  definitives  Ektoderm  und 
definitives  Entoderm  bezeichnen  können,  streng  vergleichbare  Bildungen 
vor  uns.  Die  Frage  also,  ob  die  Chorda  und  das  Mesoderm  von  dem 
äußeren  oder  dem  inneren  Keimblatte  abstamme,  eine  Frage,  welche 
die  embryologische  Forschung  lange  Jahre  beschäftigt  hat,  und  die  in 
der  widersprechendsten  Weise  beantwortet  wurde,  durfte  eigentlich  in  der 
Weise,  wie  es  geschah,  gar  nicht  gestellt  werden.  Wenn  wir  nun  an  das  Be- 
sprochene zurückdenken,  so  sehen  wir,  daß  bei  den  Wirbeltieren  der  Gastrula- 
tionsprozeßsich  durch  Invagination  (Amphioxus, Selachier),  durch  Invagination 
verbunden  mit  Delamination  (Amphibien),   durch  Delamination  (Sauropsiden 


Die  Gastraea-  und  die  Coelomtheorie  301 

und  höhere  Säuger)  und  durch  Immigration  (Beuteltiere)  vollziehen  kann.   Zur 
Darmhöhlenbildung  kann  bei  den  Amphibien  noch  ein  Teil  der  Furchungshöhle 
mit  verwendet  werden.     Bei  den  Sauropsiden  und  den  Säugern  entsteht  die 
Darmhöhle  aus  der  subgerminalen  Höhle.    Die  Chorda  und  das  Mesoderm  ent- 
steht bei  Amphioxus  durch  die  bekannten  Abfaltungsprozesse  von  dem  inneren 
Blatte  des  zweischichtigen  Keimes,  das  noch  nicht  das  definitive  Entoderm  ist. 
Es  ist  hier  bei  der  Invagination,  bei  der  das  definitive  Entoderm  in  das  Innere 
des  Eies  gelangt,  auch  das  Material  für  die  Chorda  und  das  Mesoderm  dorthin 
verlagert  worden.    Bei  Selachiern  ist  mit  der  Invagination  nur  ein  Teil  des  Ma- 
terials für  das  Mesoderm  in  die  untere  Schicht  des  zweischichtigen  Keimes  ge- 
langt und  wohl  ebenso  das  Material  für  den  vorderen  Teil  der  Chorda.    Dieses 
Material  sondert  sich  später  als  gastrales  Mesoderm  und  vorderer  Teil  der  Chorda, 
während  ein  großer  Teil  des  Mesoderms  als  peristomales  Mesoderm  entsteht 
und  das  Mesoderm  und  die  Chorda  des  vorderen  Körperendes  sich  von  der 
Rumpfschwanzknospe  aus  ergänzt.    Bei  den  Amphibien  entsteht  Chorda  und 
Mesoderm  wesentlich  von  den  Urmundrändern  und  von  der  sich  an  diese  an- 
schließenden  Rumpfschwanzknospe  aus.     Bei  den  Sauropsiden  und  den  Säu- 
gern entsteht  das  Mesoderm  wie  die  Chorda  vom  Primitivknoten  und  vom  Pri- 
mitivstreifen aus  und  zwar  von  der  oberen  Keimschicht,  falls  eine  solche  in 
diesem  Gebiet  zur  Ausbildung  gelangt  ist.    Freilich  bleibt  es  fraglich,  ob  alles 
Mesoderm  bzw.  alles  Mesenchym,  wie  man  locker  gefügtes  Mesoderm  zu  nennen 
pflegt,  bei  Sauropsiden  und  Säugern  so  entsteht.    Es  finden  sich  nämhch,  be- 
sonders für  manche  Säuger,  Angaben  sorgfältiger  Forscher,  nach  denen  minde- 
stens ein  Teil  des  Mesoderms  bzw.  Mesenchyms  aus  dem  unteren  Keimblatt 
seinen  Ursprung  nehmen  soll.   Auf  die  besonderen  Verhältnisse  beim  Menschen 
sei  dabei  auch  hier  noch  einmal  hingewiesen.    Immerhin  legt  es  die  Art,  in  der 
das  Mesoderm  aus  dem  Primitivstreifen  hervorwuchert,  nahe,  den  Urmund  mit 
dem  Primitivstreifengebiet  zu  vergleichen,  umso  mehr  als  ja  aus  dem  vorderen 
Gebiet  des  Blastoporus  wie  des  Primitivstreifens  ein  Canalis  neurentericus  sich 
entwickeln  kann,  ein  weiter  nach  hinten  gelegenes  Gebiet  die  Rumpfschwanz- 
knospe entstehen  läßt,  und  auch  die  After-  bzw.  die  Kloakenöffnung  an  ent- 
sprechenden Stellen  aus  Primitivstreifen  und  Urmund  ihren  Ursprung  nehmen. 
Freilich  handelt  es  sich  —  aber  das  gilt  sowohl  für  die  Amphibien  wie  für  die 
Säuger  —  um  einen  abgeänderten  Urmundrand,  wir  haben  hier  keinen  direkten 
Übergang  von  Ektoblast  in  Entoblast  wie  im  Urmundrande  der  Evertebraten. 
Veranschaulichen  wir  uns  das  Gesagte  durch  zwei  Schemata.    Fig.  76  A  stelle 
einen   Schnitt    durch  die  seitlichen  Urmundhppen  eines  Amphibieneies  kurz 
vor  dem  Schlüsse  des  Urmundes  dar,  Fig.  ^^  B  einen  Schnitt  durch  ein  Säugerei 
quer  zum  Primitivstreifen.    Denken  wir  uns   die  beiden   lateralen  Urmund- 
lippen  des  Amphibieneies  aneinandergelegt  und  miteinander  verschmolzen, 
dann  durch  ungleiches  Wachstum  das  Entoderm  vom  Mesoderm  gelöst,  so 
haben  wir  genau  das  gleiche  Bild,  wie  beim  Primitivstreifen  des  Säugers.    Das 
gleiche  gilt  im  wesentlichen  von  den  Sauropsiden.    Wir  werden  also  im  Primi- 
tivstreifen der  Sauropsiden  und  Säuger  das  Homologon  des  Urmundgebietes 


392 


Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 


Cephalogcnesis 
und 
Notogenesis. 


der  Amphibien  erblicken  dürfen.  Es  ist  hier  hinzuzufügen,  daß  der  Wirbeltier- 
körper nicht  einfach  durch  Umbildung  der  Gastrula  entsteht,  sondern  daß  sich 
aus  dem  Urmundgebiet  eine  Knospungszone  herausbildet,  aus  der  die  Segmente 
des  Wirbeltierkörpers  hervorsprossen.  In  diesem  frühen  Stadium  ist  es  noch  mög- 
lich einen  Vergleich  mit  den  Entwicklungsstadien  Wirbelloser,  von  Anneliden 
und  Mollusken,  zu  machen.  An  der  Trochophora,  einer  bei  den  genannten 
Tierklassen  weit  verbreiteten  Larvenform,  kann  man  einen  vordersten  unge- 
gliederten Teil  unterscheiden,  der  durch  die  eigentliche  Gastrulation  entstanden 
ist,  und  einen  hinteren  gegliederten,  der  einem  an  die  Gastrulation  sich  an- 
schließenden Knospungsprozeß  sein  Dasein  verdankt.  Die  Fig.  'j']  A  und  B  ver- 
anschaulichen diese  Ver- 
hältnisse. Entsprechend 
unterscheidet  Hubrecht 
bei  der  Entwicklung  der 
Wirbeltiere  zwischen  Ce- 
phalogcnesis und  Noto- 
genesis. Durch  die  Cepha- 
logcnesis wird  auf  dem 
Wege  der  Gastrulation  der 
vordere  ungegliederte  Teil 
des  Wirbeltierkörpers  ge- 
bildet, durch  die  Noto- 
genesis, einen  Knospungs- 
vorgang,  der  daran  an- 
schließende gegliederte. 
Man  wird  allerdings  diese 
Ausdrücke  nicht  mißver- 
stehen dürfen.  Die  Grenze 
beider  Körperabschnitte 
darf  nicht  dort  gesucht  werden,  wo  sich  heute  der  Kopf  gegen  den  Rumpf  absetzt, 
in  den  Kopf  sind  Rumpfsegmente  in  unbekannter  Zahl  aufgenommen  worden. 
Wir  haben  hier  also  sogar  bei  Wirbeltieren  noch  morphologische  Vorgänge, 
welche  einen  Vergleich  mit  solchen  bei  Wirbellosen  zulassen.  Man  wird  freilich 
nicht  annehmen  dürfen,  daß  es  sich  dabei  um  Erscheinungen  handelt,  welche 
direkt  aufeinander  zurückzuführen  sind,  etwa  derart,  daß  sie  von  gemeinsamen 
Vorfahren  aus  übernommen  wären.  Und  damit  kommen  wir  auf  die  allgemei- 
nere Frage,  wie  wir  überhaupt  die  ähnlichen  und  vergleichbaren  Vorgänge  aufein- 
ander beziehen  dürfen,  welche  wir  bei  der  Betrachtung  der  Wirbeltierentwick- 
lung kennen  gelernt  haben.  Sind  sie  zu  deuten  im  Sinne  von  Häckels  vielbe- 
Das  rufenem  ,, biogenetischen  Grundgesetz",  nach  dem  die  Geschichte  des  Einzel- 
Grundgesetz'^  Wesens,  die  Ontogenie,  eine  Wiederholung  der  Stammesgeschichte,  der  Phylo- 
genie,  ist.?  Können  wir  in  der  Formenreihe,  welche  der  individuelle  Organismus 
während  seiner  Entwicklung  von  der  Eizelle  bis  zu  seinem  ausgewachsenen  Zu- 
stande durchläuft,  eine  kurze,  gedrängte  Wiederholung  der  langen  Formenreihe 


Fig.  76./  a.  ß.  Zwei  Schemata,  um  zu  zeigen,  wie  man  das  Amphibienei 
zur  Zeit  des  Urmundschlusses  mit  dem  Säugerei  im  Priraitivstreifenstadiura 
vergleichen  kann.  A  Schnitt,  der  die  seitlichen  Urmundlippen  (/.  i/J/Zj  in 
der  Mitte  schneidet,  also  den  schon  nahe  dem  Schluß  stehenden  Urmund  in 
eine  obere  und  in  eine  untere  Hälfte  zerlegt.  B  Schnitt  durch  ein  Säugerei 
quer  zum  Primitivstreifeu.  B/i.  Eutoderm,  lUML.  laterale  Urmundlippe, 
Ms.  Mesoderm,   PrSi.  Primitivstreif,   UD.  Urdarm,   UM.  Urmund. 


A 


TTl— 


m- 


ms>' 


Cephalogenesis  u.  Notogenesis.   Das  biogenetische  Grundgesetz  u.  das  ontogen.  Causalges.   303 

sehen,  welche  die  tierischen  Vorfahren  desselben  Organismus  oder  die  Stamm- 
formen seiner  Art  von  den  ältesten  Zeiten  der  sogenannten  organischen  Schöp- 
fung an  bis  auf  die  Gegenwart  durchlaufen  haben? 

Ich  glaube,  daß  das  nicht  möglich  ist;  denn  erstlich  scheitert  jeder  Ver- 
such in  der  Ontogenie  die  einzelnen  Stadien  der  Entwicklung  zu  charakteri- 
sieren, und  zweitens  ist  zweifellos  in  jeder  Keimzelle  der  zukünftige  Organis- 
mus mit  allen  in  der  Entwicklung  vorkommenden  Zwischenstadien  in  der  An- 
lage vorhanden,  in  ihr  mechanisch  bedingt.  Die  Keimzelle  ist  eine  Artzelle  im 
Sinne  von  O.  Hertwig. 

Die  Wiederkehr  besonderer  Formzustände  in  der  Entwicklung  der  ver- 
schiedenen Tierarten  liegt,  wie  Oskar  Hertwig  in  der  Begründung  seines  onto- 
genetischen  Causal- 
gesetzes  ausführt, 
darin  begründet,  daß 
diese  Formzustände 
die  notwendigen  Vor- 
stadien liefern  für  die 
folgenden,  höheren 
Stufen  in  der  Onto- 
genese. So  muß  die 
Furchung  der  Bil- 
dung derKeimblätter 
und  diese  der  Anlage 
der  Organe  notwendig 
vorausgehen.  Doch 
wird  das  historische 
Moment  meiner  Mei- 
nung nach  nichtvöllig 
auszuschalten  sein.  Dasselbe  Resultat  kann  ja  zweifellos  auf  verschiedenen  Wegen 
erreicht  werden  und  der  eingeschlagene  Weg  wird  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
auch  von  der  historischen  Entwicklung  abhängen.  Ich  erinnere  dafür  nur  an 
die  verschiedenen  Arten  der  Amnionbildung,  die  wir  bei  den  verschiedenen 
Säugern  kennen  gelernt  haben.  Auch  das  muß  hervorgehoben  werden,  daß  der 
von  der  Natur  eingeschlagene  Weg  durchaus  nicht  immer  der  kürzeste  zum 
Ziele  ist,  und  manche  Umwege  in  der  Entwicklung  dürften  auf  die  geschicht- 
lichen Momente  zurückzuführen  sein.  Es  ist  schwer  einzusehen,  wie  z.  B.  die 
Bildung  eines  Canalis  neurentericus  bei  manchen  Tieren  eine  durchaus  not- 
wendige Bildung  sein  soll  und  bei  anderen,  die  sonst  im  Bau  die  weitgehendste 
Übereinstimmung  zeigen,  fehlen  kann.  Auch  die  Kiemenbogen  möchte  ich  hier- 
her rechnen.  Sie  scheinen  mir  denn  doch  darauf  hinzuweisen,  daß  es  einst 
Säuger  gegeben  hat,  die  durch  Kiemen  atmeten. 

Auch  darin  läßt  sich  wohl  manchmal  ein  Einblick  gewinnen,  warum  in 
manchen  Fällen  und  an  manchen  Stellen  eine  alte  Organanlage,  eine  umständ- 
lichere Entwicklungsart  erhalten  bleibt,  in  anderen  nicht.     Es  kann  das  ab- 


an 


ms- 


an 


Das 

ontogenetische 

Causalgesetz. 


Fig.  TT  A  n.  B.  Trochophorenlarven.  W  Junge  Trochophora  von  Polygordius,  an 
welcher  der  Rumpf  eben  auszuwachsen  beginnt.  Vereinfacht  nach  H.\tschek. 
B  Ältere  Trochophora  von  Polygordius.  Der  Rurapfabschnitt  ist  länger  ausge- 
wachsen, im  Mesoderm  sind  eine  Anzahl  Segmente  gebildet,  an  After,  m  Mund, 
ms  Mesoderm,  sß.  Scheitelplatte.  Nach  Jablonowski.  Aus  Keibel  und  Mall, 
Handbuch  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen. 


7QA  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

hängen  von  der  Größe  und  Schnelligkeit  der  Umwälzungen,  die  gerade  auf  diesem 
Gebiet  vorgehen.  Analogien  finden  sich  in  der  menschlichen  Produktion;  da 
können  sich  an  menschlichen  Kleidungsstücken  und  an  Maschinen  Teile  oft 
lange  und  oft  unverstanden  erhalten,  die  früher  einmal  ihre  Bedeutung  gehabt 
haben. 

Die  Entwicklungsgeschichte  der  Keimblätter,  die  wir  im  wesentlichen  bis 
jetzt  besprochen  haben,  bildet,  wie  schon  hervorgehoben,  die  Grundlage  für 
die  weitere  Entwicklung.  Es  folgt  nun  die  Anlage  und  die  Ausgestaltung  der 
einzelnen  Organe,  und  hierbei  tritt  neben  der  morphologischen  Seite  auch  die 
histologische  Seite  der  Entwicklung  immer  mehr  in  den  Vordergrund.  Wir 
können  wohl  sagen,  daß  im  Verlaufe  der  normalen  Entwicklung  die  gleichen 
Organe  stets  aus  den  gleichen  Keimblättern  und  den  entsprechenden  Teilen 
dieser  Keimblätter  entstehen.  Doch  ist  das  nicht  so  zu  verstehen,  daß  etwa 
Erbungieiche  durch  crbunglciche  Teilung  gewisse  Zellkomplexe  nur  noch  die  Anlagen  für  be- 
""°^'  stimmte  Organe  bzw.  Organteile  enthalten.  Dafür,  daß  die  Anlagen  bei  der 
Zellteilung  gleichmäßig  verteilt  wurden,  gibt  die  experimentelle  Entwicklungs- 
geschichte manches  Beispiel.  Die  Regenerationsversuche  überhaupt  und  dann 
besonders  die  Versuche  über  die  Regeneration  der  Linse  bei  Tritonen  seien  hier 
hervorgehoben.  Die  neue  Linse  entsteht  bei  Tritonen  aus  ganz  anderer  Quelle, 
wie  die  ursprüngliche,  nicht  aus  der  Epidermis,  sondern  aus  einem  Teil  der  Re- 
tina, aus  Zellen  also,  welche  normalerweise  mit  der  Entstehung  der  Linse  nicht 
das  geringste  zu  tun  haben.  Daß  es  bei  den  Tieren  nicht  mehr  möglich  ist  aus 
jeder  einzelnen  Zelle  den  ganzen  Organismus  zu  züchten,  das  braucht  nicht 
durch  eine  erbungleiche  Teilung  bedingt  zu  sein,  das  kann  von  der  Geschichte 
der  einzelnen  Zellen  abhängen.  Erstlich  können  durch  besondere  Entwicklungs- 
vorgänge einzelne  Anlagen  geschädigt  und  unterdrückt  sein,  zweitens  kann, 
trotzdem  alle  Anlagen  ungeschädigt  erhalten  sind,  eine  Entwicklung  unmög- 
lich sein,  weil  gewisse  für  die  Entwicklung  notwendige  Bedingungen  in  der 
Zelle  oder  in  ihrer  Umgebung  fehlen. 
Der  Ein  bestimmter  histologischer  Charakter  ist  den  Zellen  der  einzelnen  Keim- 

char°akfeTdrr  blätter  uoch  nicht  aufgedrückt.    Besonders  aus  dem  mittleren  Keimblatt,  dem 
Zellen  und  die  Mcsodcrm,   cntstchen  die  verschiedensten  Gewebsformationen.      Neben  dem 

Keimblätter. 

Bindegewebe  und  Stützgewebe  in  all  seinen  Modifikationen  und  Anordnungen, 
als  da  sind  lockeres  und  geformtes  Bindegewebe,  elastisches  Gewebe,  Knochen 
und  Knorpel,  entstehen  auch  vielfach  epitheliale  Gebilde  aus  ihm.  So  nehmen 
die  unter  sich  ja  wieder  sehr  verschieden  gestalteten  Epithelien  der  Nierenbil- 
dungen und  des  Genitalapparates  aus  dem  Mesoderm  ihren  Ursprung.  Aus  dem 
definitiven  Entoderm  entstehen  wohl  nur  epitheliale  Bildungen,  woran  auch 
gegenüber  abweichenden  Angaben  fest  zu  halten  sein  dürfte,  die  Epithelien  des 
Darmkanals  und  der  Darmdrüsen.  Unter  sich  sind  diese  epithelialen  Bildungen 
freilich  verschieden  genug.  Das  vielschichtige,  ja  bei  manchen  Tieren  verhornte 
Plattenepithel  der  Speiseröhre  und  das  zarte,  einschichtige  Zylinderepithel  an- 
derer Darmabschnitte  sind  beide  zweifellos  entodermaler  Abstammung,  ebenso 
wie  die  Leber-  und  Pankreaszellen. 


Die  Beziehungen  der  Keimblätter  zu  Geweben  und  Organen  30  = 

Dagegen  läßt  das  äußere  Keimblatt,  das  Ektoderm,  wieder  viel  mannig- 
faltigere Bildungen  aus  sich  hervorgehen.  Es  wurde  schon  hervorgehoben,  daß 
das  Ektoderm  der  Mutterboden  des  gesamten  Nervensystems  ist.  Schon  im 
Bereiche  dieses  Systems  haben  wir  sehr  mannigfach  gestaltete  Zellen.  Die 
Ventrikel  des  Hirns  und  der  Zentralkanal  des  Rückenmarks  werden  von  epi- 
thelialen Zellen  ausgekleidet.  Dann  kommen  die  vielgestaltigen  Ganglienzellen, 
und  auch  das  Stützgewebe  des  zentralen  Nervensystems,  die  Neuroglia,  der 
Nervenkitt,  ist  ja  ektodermaler  Herkunft,  ebenso  wie  die  Scheidenzellen  der 
peripheren  Nervenfasern,  die  sogenannten  Schwannschen  Zellen.  In  der  Neu- 
roglia kommt  sogar  ein  Stützgerüst  von  Fasern  zur  Entwicklung,  und  man  hat 
darum  lange  Zeit  die  Neuroglia  für  ein  vom  Mesoderm  stammendes  Bindegewebe 
gehalten.  Ich  nenne  dann  noch  als  Abkömmlinge  des  Ektoderms  Sinnesepithelien, 
dieStäbchen  und  Zapfenzellen  derRetina,  dieRiech-  undHörzellen ;  dagegen  schei- 
nen die  Zellen  der  Geschmacksknospen  entodermaler  Abkunft  zu  sein.  Natürlich 
stammen  dieEpidermis  und  ihreAbkömmlinge,wieHornschuppen, Federn, Haare, 
Nägel,  Krallen  und  Hufe,  vom  Ektoderm.  Besondere  Ausgestaltung  erfahren  dann 
Ektodermzellen  in  demSchmelzorgan  derZähne.  Sehr  auffallend  und  erst  seit  ver- 
hältnismäßig kurzer  Zeit  bekannt  ist  es,  daß  auch  Muskulatur  aus  dem  Ektoderm 
entstehen  kann.  Muskelzellen,  welche  die  Kanäle  von  Schweißdrüsen  umgeben, 
und  der  Erweiterer  und  Verengerer  der  Pupille  sind  ektodermaler  Abstammung. 

Wenn  hier  von  Organen  gesprochen  wurde,  die  aus  dem  einen  oder  anderen 
Keimblatt  ihren  Ursprung  nehmen,  so  ist  dem  hinzuzufügen,  daß  vielfach  mehr 
als  ein  Keimblatt  an  dem  Aufbau  eines  Organes  teilnimmt.  Wenn  man  unter 
solchen  Umständen  sagt,  daß  das  Organ  aus  einem  Keimblatt  abstammt,  so 
soll  das  heißen,  daß  die  wesentlichen,  charakteristischen  Teile  des  betreffenden  Die 
Organes  von  diesem  Keimblatte  geliefert  werden.  So  nennen  wir  den  Magen  ein  ^KeimWäfter  tu*^ 
entodermales  Organ,  weil  das  Epithel  der  Magenschleimhaut  und  ihrer  Drüsen  '^^"  Organen, 
entodermaler  Herkunft  ist;  die  übrigen  Teile  der  Schleimhaut,  die  Muskulatur 
und  der  seröse  Überzug  des  Magens  stammen  vom  Mesoderm.  Die  Zähne  wer- 
den meist  als  ektodermale  Organe  bezeichnet,  weil  ihr  eigenartigster  Bestand- 
teil, der  Schmelz,  ektodermaler  Natur  ist;  Dentin  und  Cement  stammen  wie  die 
Zahnpulpa  vom  Mesoderm.  Beim  Auge  liefert  das  Ektoderm  die  Retina,  die 
Linse  und  das  Epithel  der  Cornea;  die  Sclera,  die  Substantia  propria  der  Cornea 
und  die  Chorioidea  sind  mesodermaler  Herkunft;  über  den  Mutterboden  des 
Glaskörpers  wird  bis  in  die  jüngste  Zeit  gestritten.  Das  Gehörorgan  erhält  Bei- 
träge von  allen  drei  Keimblättern.  Das  Epithel  des  eigentlichen  Sinnesorganes, 
des  inneren  Ohres,  ist  ektodermal,  ebenso  das  Epithel  des  Gehörganges  und  des 
äußeren  Ohres,  Das  Epithel  der  Ohrtrompete  und  der  Paukenhöhle  ist  ento- 
dermal,  es  entstammt  der  ersten  Kiementasche.  Zu  den  ektodermalen  und  ento- 
dermalen  Bestandteilen  kommt  dann  mesodermales  Gewebe  überall  als  Hüll- 
und  Stützgewebe  hinzu;  auch  die  Hörknöchelchen  und  die  entsprechenden  Bil- 
dungen sind  natürlich  mesodermaler  Abkunft. 

Wir  sind  am  Ende  unserer  Betrachtungen  angelangt.    Wir  haben  gesehen, 
wie  sich  bei  den  Wirbeltieren  aus  der  Eizelle  die  Keimblätter  als  die  Grundlage 


3g6  Franz  Keibel:  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere 

der  weiteren  Entwicklung  bilden,  und  wir  haben  hervorgehoben,  welche  Be- 
deutung diese  Keimblätter  haben.  Auch  die  Entwicklung  der  Eihäute  und 
ganz  im  groben  die  Herausbildung  der  äußeren  Körperform  wurde  besprochen. 
Man  pflegt  diese  Vorgänge  als  allgemeine  Entwicklungsgeschichte  zusammen 
zu  fassen.  Der  allgemeinen  Entwicklungsgeschichte  stellt  man  die  Entwicklungs- 
geschichte der  Organe  gegenüber.  Wir  haben  gesehen,  wie  alle  hier  betrachteten 
Entwicklungsvorgänge  durchaus  gesetzmäßig  verlaufen,  und  wie  sie  bei  den 
verschiedenen  Wirbeltieren  untereinander  vergleichbar  sind.  Daß  diese  Zu- 
sammenhänge nicht  ohne  weiteres  im  Sinne  des  sogenannten  biogenetischen 
Grundgesetzes  Häckels  aufzufassen  sind,  wurde  betont.  Immerhin  wird  aber 
zuzugeben  sein,  daß  einzelne  Vorgänge  als  Wiederholungen  aus  der  Vorfahren- 
zeit zu  deuten  sind  und  somit  ,, historische"  Bedeutung  haben.  Vielfach  dürften 
das  gerade  funktionell  unwichtige  Bildungen  sein,  Arabesken  der  Entwicklung. 
Übereinstimmungen  in  solchen  dürften  bei  im  System  nicht  so  fern  stehenden 
Tieren  am  allerersten  an  gemeinsame  Abstammung  denken  lassen.  Um  sie 
aufzudecken  wird  man  die  Entwicklung  der  Wirbeltiere  viel  mehr  ins  einzelne 
verfolgen  und  auf  eine  viel  größere  Zahl  von  Tieren  ausdehnen  müssen,  als  das 
bis  jetzt  geschehen  ist. 

Es  kann  nicht  genug  hervorgehoben  werden,  daß  das,  was  ich  hier 
geben  konnte,  nur  ein  kurzer,  schematischer  Abriß  ist,  der  die  Hauptzüge 
der  Entwicklung  und  die  Art,  in  der  man  sie  auffassen  kann,  gibt,  — • 
nicht  mehr. 

Gerade  darin  liegt  ein  Hauptreiz  entwicklungsgeschichtlicher  Studien,  zu 
verfolgen,  wie  bei  verschiedenen  Tieren  dieselben  Grundvorgänge  in  mannig- 
fach wechselnder  Weise  durchgeführt  sind.  Da  heißt  es  dann  zu  überlegen, 
worauf  dieÜbereinstimmungen  beruhen,  und  wodurch  dieAbweichungen  bedingt 
sind.  Nach  einer  genauen  Analyse  der  Tatsachen  und  zwar  auch  derjenigen, 
welche  die  vergleichende  Anatomie  und  die  Palaeontologie  uns  bieten,  wird  na- 
türlich auch  in  geeigneten  Fällen  das  Experiment  heranzuziehen  sein.  Gewiß 
wird  es  unser  Bestreben  sein  müssen,  die  ganze  Entwicklung  vom  Ei  bis  zum 
ausgebildeten  Tier  causal  in  all  ihren  Gliedern  zu  verstehen,  aber  wir  dürfen 
uns  nicht  verhehlen,  daß  wir  von  diesem  Ziel  noch  außerordentlich  weit  ent- 
fernt sind,  und  nur  ganz  ausnahmsweise  einmal  ist  eine  mathematische  Be- 
handlung entwicklungsgeschichtlicher  Probleme  heute  schon  möglich.  In  sei- 
nem berühmten  Werke  ,,Über  Entwicklungsgeschichte  der  Tiere.  Beobach- 
tung und  Reflexion"  sagt  Karl  Ernst  v.  Baer:  ,,Die  Palme  (aber)  wird  der 
Glückliche  erringen,  dem  es  vorbehalten  ist,  die  bildenden  Kräfte  des  tierischen 
Körpers  auf  die  allgemeinen  Kräfte  oder  Lebensrichtungen  des  Weltganzen  zu- 
rückzuführen. Der  Baum,  aus  welchem  seine  Wiege  gezimmert  werden  soll, 
hat  noch  nicht  gekeimt." 

Diese  Worte  schrieb  Baer  vor  fast  lOO  Jahren,  im  Jahre  1 828,  und  trotz  aller 
Erfolge,  welche  die  Biologie  und  die  Entwicklungsgeschichte  seitdem  errungen 
haben,  sind  wir  diesem  letzten  Ziel  heute  nicht  wesentlich  näher  gerückt;  un- 
sere  Errungenschaften  sind  endliche  Größen,   das  Ziel  winkt  in  unendlicher 


Schlußzusammenfassung.     Die  letzten  Aufgaben  der  Entwicklungsgeschichte  3g 7 

Ferne.  Und  auch  noch  ein  anderes  müssen  wir  uns,  wie  schon  hervorgehoben, 
gegenwärtig  halten.  In  der  Entwicklungsgeschichte  kann  es  nicht  unsere  ein- 
zige Aufgabe  sein,  die  allgemeinen  und  letzten  Gesetze  der  Entwicklung  zu 
finden  und,  wenn  möglich,  die  qualitative  Mannigfaltigkeit  auf  quantitative 
Verhältnisse  zurückzuführen.  In  der  Entwicklungsgeschichte  steckt  wirklich 
ein  historisches  Moment.  Gewiß  urteilt  man  heute  vielfach  mit  Recht  über  die 
Stammbäume  ab,  die  in  den  siebziger  und  achtziger  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts in  so  übergroßer  Zahl  entworfen  wurden.  So  verfehlt  aber  der  einzelne 
Versuch  auch  oft  sein  mochte,  ein  richtiger  Gedanke  liegt  ihm  doch  zugrunde. 
Wir  dürfen  von  der  vergleichenden  Entwicklungsgeschichte  sowohl  Aufschlüsse 
über  die  Verwandtschaft  der  Tiere  untereinander  erwarten,  wie  Andeutungen 
über  die  Wandlungen,  welche  das  einzelne  Tier  in  seiner  Phylogenie  durchge- 
macht hat.  Freilich  werden  wir  bei  solchen  Ermittlungen  mit  der  äußersten 
Vorsicht  zu  verfahren  haben,  und  wir  werden  uns  auch  gegenwärtig  halten 
müssen,  daß  wir  doch  erst  die  Entwicklung  von  sehr  wenigen  Tieren  einiger- 
maßen genau  kennen.  Vorgänge,  welche  sich  der  Natur  der  Sache  nach  wieder- 
holen müssen,  um  zu  entsprechenden  Resultaten  zu  führen,  werden  wir  nicht 
als  Beweise  für  Verwandtschaft,  für  gleiche  Abstammung  hinstellen  dürfen. 
Immerhin  werden  aber  mit  solchen  Vorgängen  Besonderheiten  verknüpft  sein 
können,  welche  für  eine  Verwandtschaft  sprechen. 

Dann  müssen  wir  uns  hüten,  das  ganze  Heer  der  Konvergenzerschei- 
nungen auf  Verwandtschaft  zu  deuten.  Unter  den  Anforderungen  der  gleichen 
Funktion  können  durchaus  ähnliche  Bildungen  auf  morphologisch  durchaus 
ungleichartiger  Grundlage  zustande  kommen.  Solche  Bildungen  sind  in  keiner 
Weise  geeignet,  eine  Verwandtschaft  zu  begründen. 

Nie  werden  wir  bei  derartigen  Untersuchungen  eine  Sicherheit  erreichen 
können,  wie  in  den  exakten  Naturwissenschaften,  in  der  Chemie  oder  gar  in  der 
Physik;  die  Intuition,  man  kann  fast  sagen,  der  Takt  des  Forschers  wird  hier 
stets  eine  bedeutende  Rolle  spielen.  Das  berechtigt  uns  aber  nicht,  diesen  Be- 
strebungen den  wissenschaftlichen  Wert  abzusprechen. 


Literatur. 

V.  Baer,  Karl  Ernst.    Über  Entwicklungsgeschichte  der  Tiere.    Beobachtung  und  Reflexion. 

Königsberg  1828  u.  1837. 
BONNET,  Robert.     Lehrbuch  der  Entwicklungsgeschichte.     2.  Aufl.    Berlin  1912. 
Haeckel,  Ernst.    Die  Gastraeatheorie,  die  phylogenetische  Klassifikation  des  Tierreichs  und 

die  Homologie  der  Keimblätter,    Jenaische  Zeitschr.  Naturw.  Bd.  VIII,    1884. 
Hertwig,  Oskar.     Die  Elemente  der  Entwicklungslehre  des  Menschen  und  der  Wirbeltiere. 

4.  Aufl.   Jena  1910. 
.     Lehrbuch  der  Entwicklungsgeschichte   des  Menschen  und   der  Wirbeltiere.     9.  Aufl. 

Jena  1910. 
.     Handbuch  der  vergleichenden  und  experimentellen  Entwicklungslehre  der  Wirbeltiere. 

Bearbeitet  von  Barfurth,    Br.\us  usw.     Herausgegeben  von  O.  Hertwig.    Jena  1906. 

.     Allgemeine  Biologie.    4.  Aufl.    Jena  19 12. 

Hill,  J.  P.     The  early  development  ot  the  marsupialia,  with  special  reference  of  the  native 

cat  (Dasyurus  viverrinus).    The  Quart.  Journ.    Micr,    Sei.    Vol.  56.    1910. 
Hubrecht.    Early  Ontogenetic   Phenomena  in  mammals  etc.     The  Quart.  Journ.    Micr.    Sei. 

Vol.  53.    1908. 
Kollmann,  Julius.     Lehrbuch  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen.    Jena  1898. 

.     Handatlas  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen^    Jena  1907. 

Keibel,  Franz.     Normentafeln  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbeltiere.     In  Verbindung 

mit  Bles,  Boeke  usw.  herausgegeben   von  F.  Keibel,   Jena.     Seit  1896,     (Ausführliche 

Literaturnachweise.) 
Keibel,  F.  und  Mall,   F.  P.    Handbuch  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen.    Leipzig 

1910  u.  1911. 
KOPSCH,  Fr.     Untersuchungen    über  Gastrulation  und   Embryobildung  bei  den  Chordaten. 

Leipzig  1904. 
Pander.     Beiträge  zur  Entwicklungsgeschichte  des  Hühnchens  im  Eye.     Würzburg  18 17, 
Ray-Lankester.     On   the   primitive  cell-layers  of  the  Embryo  as  the  basis  of  geneological 

Classification  of  animals  etc.     Ann.  and  Magaz.  Nat.  Hist.    Vol.  XI.    1873. 
Selenka,  Emil.     Menschenaffen.     Studien  über  Entwicklung  und  Schädelbau.     Wiesbaden 

1898 — 1911. 
SCHULTZE,  Oscar.     Grundriß  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen  und  der  Säugetiere. 

Leipzig  1896. 
WOLFF,  Caspar  Friedrich.     Theoria  generationis.     Halle  1759. 
.     Über  die  Bildung  des  Darmkanals.    Halle  1812.    (Übersetzung  von  JOHANN  Friedrich 

Meckel  ) 
Ziegler,  Heinrich  Ernst.  Lehrbuch  der  vergleichenden  Entwicklungsgeschichte  der  niederen 

Wirbeltiere.    Jena  1902. 


DIE  MORPHOLOGIE  DER  WIRBELTIERE. 

Von 
Ernst  Gaupp. 

I.  Einleitung.    Klassifikation. 

Unter  der  Bezeichnung  "Wirbeltiere  [animaux  ä  vertebres)  faßte  der  als  ein  Einleitung. 
Begründer  der  Abstammungslehre  berühmt  gewordene  französische  Natur-  ^i^^"^'^''^*'""- 
forscher  Jean  Lamarck  am  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts  die  vier  oberen  Klassen 
Linnes,  Fische,  Amphibien,  Vögel,  Säuger,  zusammen  und  stellte  sie  den  übrigen 
tierischen  Organismen,  den  Wirbellosen  [animaux  sans  vertebres)  gegenüber. 
Diese  Einteilung  ist  auch  heute  noch  vielfach  als  kurz  und  bequem  in  Gebrauch, 
wenn  man  sich  auch  darüber  klar  ist,  daß  die  beiden  so  geschaffenen  Gruppen 
recht  ungleichwertig  sind.  Die  systematische  Übersichtstabelle  auf  S.  185  läßt 
das  deutlich  hervorgehen:  sie  führt  die  ,,Vertebrata"  nur  als  Stamm  der  Chor- 
donia  (Chordatiere)  auf  und  stellt  diesen  letzteren  Tierkreis  oder  Typus,  der 
außerdem  noch  die  Stämme  der  Acrania  (Kopflosen)  und  derTunicata  (Mantel- 
tiere) umfaßt,  elf  anderen  Typen  als  einigermaßen  gleichwertigen  zwölften 
gegenüber.  Im  zoologischen  System  nehmen  somit  die  Wirbeltiere  nur  eine  ver- 
hältnismäßig bescheidene  Stellung  ein,  und  die  Untergruppen,  Klassen  und 
Ordnungen,  die  man  in  ihnen  unterscheidet,  können  den  verschiedenen  Typen 
der  ,, Wirbellosen"  nicht  als  gleichwertig  erachtet  werden. 

Auch  die  Beziehungen  der  Wirbeltiere  zu  den  beiden  anderen  Stämmen, 
mit  denen  sie  zu  dem  Typus  der  Chordatiere  vereinigt  werden,  sind  noch  recht 
verschieden.  Das  einigende  Band,  das  alle  drei  umschlingt,  ist  der  Besitz  der 
Rückensaite  [Chorda  dorsalis) ;  abgesehen  davon  aber  weicht  die  Organisation 
der  Manteltiere  von  der  der  Wirbeltiere  doch  recht  erhebhch  ab,  während 
zwischen  den  letzteren  und  dem  Amphioxus  (dem  Hauptvertreter  der  Kopf- 
losen) bei  allen  Verschiedenheiten  doch  eine  viel  größere  Annäherung  besteht, 
die  denn  auch  dazu  geführt  hat,  den  Amphioxus  als  Urwirbeltier  zu  bezeichnen 
und  aufzufassen.  Gewiß  ist  diese  Auffassung  stark  einzuschränken;  vieles  in 
der  Organisation  des  Lanzettfischchens  beruht  offenbar,  wie  anderwärts  schon 
gesagt  wurde,  auf  Rückbildung,  anderes  erscheint  ganz  einseitig  ausgebildet, 
so  daß  ein  Anschluß  der  typischen  Wirbeltierzustände  an  die  Einrichtungen 
beim  Amphioxus  unmögHch  ist.  Auf  der  anderen  Seite  bestehen  aber  doch 
auch  wieder  manche  Übereinstimmungen,  die  die  Einreihung  der  Acrania  unter 
die  Wirbeltiere  rechtfertigen  können.  Somit  lassen  sich  die  lebenden  Wirbel- 
tiere zunächst  in  die  zwei  großen  Hauptabteilungen  der  Acrania  (Kopf-  oder 
Schädellosen)  und  der  Craniota  (Kopf-  oder  Schädeltiere)  einteilen.  Unter 
den  Craniota  bilden  die  Cyclostomata  (Rundmäuler,  z.  B.  Neunaugen)  eine 


^OO  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

durch  ihr  rundes  Saugmaul  gekennzeichnete  Gruppe,  der  die  übrigen  Formen 
als  Gnathostomata  (Kiefermäuler,  mit  herabklappbarem  Unterkiefer)  gegen- 
überstehen. Die  Kiefermäuler  zerfallen  weiter  in  die  5  Klassen  der  Fische, 
Amphibien,  Reptilien,  Vögel  und  Säuger,  von  denen  die  letzten  drei  als  Am- 
niota  (Amniontiere,  die  bei  der  Entwicklung  ein  Amnion  bilden)  den  Rund- 
mäulern, Fischen  und  Amphibien  als  den  Anamnia  (Amnionlosen)  gegenüber- 
gestellt werden.  Unter  den  Fischen  werden  die  Knorpelflosser  oder  Selachei 
(Haie,  Rochen,  Chimaeren),  Ganoidei  (Ganoinschupper,  z.B.  Störe,  Lepidosteus 
u.  a.),  Teleostei  (Knochenfische,  die  Mehrzahl  der  jetzt  lebenden  Fische), 
Dipnoi  (Doppelatmer)  unterschieden;  die  Amphibien  zerfallen  in  die  Urodela 
(geschwänzte  Amphibien,  Schwanzlurche),  Anura  (schwanzlose  A.)  und  Apoda 
(fußlose  A.,  Blindwühlen);  die  Reptilien  in  Rhynchocephala  (Brückenechsen), 
Sauria  (Echsen),  Ophidia  (Schlangen),  Crocodilia  (Krokodile)  und  Chelonia 
(Schildkröten).  Die  Unterabteilungen  der  Vögel  besitzen  für  unsere  Zwecke 
geringere  Bedeutung.  Unter  den  Säugern  ist  zunächst  die  Gruppe  der  eier- 
legenden Monotremata  (Kloakentiere)  und  die  der  Marsupialia  (Beuteltiere)  ab- 
zusondern; beide  werden  als  Aplacentalia  (Placenta-lose)  den  Placentalia  (Pla- 
centaltieren)  gegenübergestellt,  welch  letztere  wieder  in  eine  große  Anzahl  ein- 
zelner Ordnungen  zerfallen  (Insektenfresser,  Flattertiere,  Raubtiere,  Flossen- 
füßer,  Zahnarme,  Nager,  Waltiere,  Klippdachse,  Rüsseltiere,  Paarhufer,  Un- 
paarhufer, Meerkühe,  Halbaffen,  Affen,  Mensch). 

Wie  schon  gesagt,  sind  diese  Untergruppen  der  Wirbeltiere,  denen  sich  in 
allen  Klassen  noch  zahlreiche  ausgestorbene  Ordnungen  anreihen,  anders  zu 
betrachten  als  die  der  ,, Wirbellosen";  sie  zeigen  nicht  so  weit  voneinander  ver- 
schiedene Organisationszustände  wie  jene,  sondern  lassen  deutlicher  den  ge- 
meinsamen Grundplan  als  Zeichen  engerer  verwandtschaftlicher  Zusammen- 
gehörigkeit erkennen.  Infolgedessen  erscheint  es  hier  angezeigter,  statt  die  ein- 
zelnen Gruppen  morphologisch  zu  charakterisieren,  zunächst  eine  kurze  Über- 
sicht über  die  wichtigsten  allgemeinen  morphologischen  Merkmale  der  Wirbel- 
tiere zu  geben  und  dann  eine  besondere  Betrachtung  der  einzelnen  Organ- 
systeme anzuschließen.  Eine  derartige  Behandlung  rechtfertigt  dann  auch 
kurze  Hinweise  auf  die  biologische,  funktionelle  Bedeutung  der  morphologi- 
schen Einrichtungen. 

II.  Allgemeine  Morphologie  der  'Wirbeltiere. 

AUgemeine  Dcr  Namc  ,,  Wirbeltiere"  ist,  wenn  man  darunter  Tiere  mit  einer  geglieder- 

^^""^ef"^'^  ten  Wirbelsäule  versteht,  nicht  ganz  zutreffend,  denn  nicht  nur  dasLanzettfisch- 
wirbeitiere.  chen,  dcsscn  Beziehung  zu  den  Wirbeltieren  eine  mehr  lose  ist,  sondern  auch 
Formen,  die  ganz  zweifellos  zu  den  Wirbeltieren  gerechnet  werden  müssen,  wie 
die  Rundmäuler,  manche  Ganoinschupper  sowie  die  Doppelatmer,  besitzen  keine 
gegliederte  Wirbelsäule,  sondern  als  Grundlage  des  Rumpfskeletts  eine  unge- 
gliederte Rückensaite  oder  Chorda  dorsahs.  Es  ist  eben  ein  ganzer  Komplex 
von  Merkmalen,  der  das  ,, Wirbeltier"  kennzeichnet.  Einige  derselben,  von  all- 
gemeinerer Bedeutung,  sind  zunächst  zu  betrachten. 


Klassifikation.     Allgemeine  Morphologie.     Symmetrie,  Asymmetrie  401 

Wie  die  meisten  Wirbellosen,  so  sind  auch  die  Wirbeltiere  bilateral  sym-  Büatcraie 
metrisch  gebaut,  d.  h.  ihr  Körper  kann  durch  eine  die  vordere  und  die  hintere  ''^y'""'''"''- 
Mittellinie  miteinander  verbindende  Symmetrie-  oder  Medianebene  in  zwei 
spiegelbildlich  gleiche  Hälften  zerlegt  werden  (s.  auch  S.  181).  Freilich  gilt 
diese  bilaterale  Symmetrie  am  ausgebildeten  Tier  nur  für  die  äußere  Form  des 
Körpers,  d.  h.  vor  allem  für  die  an  der  Herstellung  derselben  besonders  be- 
teihgten  Organe  des  animalen  Lebens,  der  Bewegung  (Skelett  und  Muskulatur) 
und  der  Sinnesempfindung;  diese  finden  wir  entweder  paarig,  rechts  und  links 
von  der  Mittellinie  angeordnet  und  von  spiegelbildlich  gleicher  Form,  oder  un- 
paar  in  der  Mittellinie  gelagert,  aber  aus  zwei  symmetrischen  Hälften  zusam- 
mengesetzt. Dagegen  weisen  die  im  Innern  des  Körpers  untergebrachten  Or- 
gane des  vegetativen  Lebens  (der  Ernährung  im  weitesten  Sinne,  also  die 
Organe  des  Darm-,  Atmungs-,  Gefäßsystems,  dazu  die  Organe  des  Harn-  und 
Geschlechtssystems)  vielfach  eine  asymmetrische  Anordnung  auf,  wie  denn  be- 
kanntlich beim  Menschen  die  Leber  wesentlich  der  rechten,  Herz,  Magen  und 
Milz  wesentlich  der  linken  Seite  angehören.  Indessen  ist  hierzu  gleich  zu  be- 
merken, daß  auch  diese  Störung  der  Symmetrie  nicht  von  Anfang  an  und 
nicht  überall  in  gleichem  Maße  vorhanden  ist:  je  weiter  wir  in  der  Entwick- 
lungsgeschichte zu  jüngeren  Stadien  zurückgehen,  um  so  mehr  sehen  wir  auch 
für  die  vegetativen  Organe  das  Gesetz  der  bilateralen  Symmetrie  Geltung  be- 
sitzen, und  die  niedriger  stehenden  Wirbeltiere  lassen  im  allgemeinen  auch 
im  erwachsenen  Zustand  jenes  Gesetz  noch  deutlicher  erkennen.  Wo  aber 
wirklich  auffallendere  Asymmetrie  besteht,  da  ist  sie  erst  sekundär  ent- 
standen: die  junge  Flunder  ist  ein  durchaus  symmetrisches  Fischchen,  und 
erst  nachträglich  kommt  die  bekannte  Ungleichheit  ihrer  beiden  Seiten  zur 
Ausbildung. 

Die  bilaterale  Symmetrie  ist  eins  der  wichtigsten  Bildungsgesetze,  die  den 
Bau  des  Wirbeltierkörpers  beherrschen;  ihre  Zweckmäßigkeit  liegt  darin,  daß 
durch  gleiche  Verteilung  der  Kräfte,  Lasten  und  Widerstände  auf  beiden 
Seiten  des  Körpers  am  sichersten  eine  leichte  geradlinige  Vorwärtsbewegung 
erzielt  wird.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  ist  es  auch  verständlich,  daß  im 
Innern  des  Körpers  nicht  volle  formale  Symmetrie  herrscht:  eine  gleiche  Ver- 
teilung der  Gewichtsmassen  kann  ja  trotzdem  erreicht  werden.  Daß  tatsäch- 
lich ein  Zusammenhang  zwischen  der  Lokomotion  und  der  symmetrischen 
Form  besteht,  darauf  weisen  mancherlei  Erscheinungen  hin,  so  die  schon  be- 
rührte Asymmetrie  der  Flachfische  (Flunder,  Steinbutt,  Seezunge),  die  sich 
in  dem  Maße  ausbildet,  als  das  anfangs  ganz  symmetrische  Fischchen  seine  frei 
schwimmende  Lebensweise  aufgibt  und  dazu  übergeht,  sich  mit  einer  Seite  auf 
den  Boden  des  Meeres  zu  legen,  hier,  in  Ruhe  verharrend,  auf  Beute  zu  lauern 
und  fast  nur  noch  zur  Gewinnung  solcher  oder  zur  Rettung  des  eigenen  Lebens 
von  seiner  Bewegungsfähigkeit  Gebrauch  zu  machen.  Im  ganzen  ist  äußere 
Asymmetrie  bei  Wirbeltieren  recht  selten,  innere  häufiger;  außer  den  schon 
angedeuteten  Ungleichheiten  der  Lagerung  namentlich  der  Organe  des  Darm- 
systems wären  zu  nennen  die  Verkümmerung  des  rechten  Eierstockes  bei  den 

K.d.  G.III.  iv,Bd2  Zellenlehre  etc.  II  26 


402  Ernst  Gaupp:   Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Vögeln,  die  mit  der  Form  des  Körpers  in  Zusammenhang  stehende  Verkümme- 
rung der  linken  Lunge  bei  manchen  Schlangen  u.  a. 
Rückensaite.  Gemeinsam  ist  weiterhin  allen  Wirbeltieren  der  Besitz  einer   Rücken- 

saite  {Chorda  dorsalis),  die  entweder  das  ganze  Leben  hindurch  erhalten  bleibt 
oder  nach  kurzem  embryonalem  Bestand  der  gegliederten  Wirbelsäule  Platz 
macht.  Ihr  Besitz  weist,  wie  schon  gesagt,  auf  verwandtschaftliche  Beziehun- 
gen der  Wirbeltiere  zu  den  Manteltieren  unter  den  Wirbellosen  hin.  Dorsal 
(d.  h.  rückenwärts)  von  ihr  liegt  stets  das  Nervenrohr  (Rückenmark  und  Ge- 
hirn), ventral  (d.  h.  bauchwärts)  die  Leibeshöhle  mit  den  Organen  des  vegeta- 
tiven Lebens:  dem  Darmrohr  und  seinen  Anhangsgebilden,  sowie  den  Organen 
der  Atmung,  des  Harn-  und  Geschlechtssystems. 
Metamerie.  Eine  wichtlgc  Rolle  in  der  Morphologie  des  Wirbeltierkörpers  spielt  weiter 

seine  Metamerie,  d.  h.  seine  Zusammensetzung  aus  einzelnen  hintereinander 
gelegenen  und  unter  sich  nach  gleichem  Plane  gebauten  ,,palillogen"  Segmenten 
oder  Metameren  (s.  auch  S.  182).   Beim  erwachsenen  Tier  in  der  äußeren  Form 
nicht  mehr  erkennbar,  sondern  meist  nur  noch  im  Gebiete  des  Rumpfes  in  der 
Anordnung  der  Muskeln,  der  Nerven  und  Gefäße  sowie  der  stützenden  Skelett- 
teile zum  Ausdruck  kommend,  tritt  sie  bei  der  embryonalen  Anlage  des  Kör- 
pers, und  zwar  nicht  nur  des  Rumpfes,  sondern  auch  eines  Teiles  des  Kopfes 
sowie  der  Extremitäten  um  so  deutlicher  hervor  und  erweist  sich  damit  als  ein 
für  die  Morphologie  der  Wirbeltiere  besonders  wichtiges  Gestaltungsprinzip. 
Diese  metamere  Gliederung  nimmt  ihren  Ausgang  vom  Mesoderm,  das  beim 
Amphioxus  in  seiner  ganzen  Ausdehnung,  also  sowohl  in  seinem  dorsalen  wie  in 
seinem  ventralen  Abschnitt,  in  eine  Anzahl  hintereinander  gelegene  Säckchen 
zerfällt,  während  bei  den  Kranioten  nur  sein  dorsaler  Teil  in  solche  Segmente 
(,,Ursegmente")  zerlegt  wird,  sein  ventraler  Teil  dagegen  im  ganzen  Rumpf- 
gebiet unsegmentiert  bleibt  (s.  den  Abschnitt  über  Entwicklungsgeschichte  der 
Wirbeltiere).    Demzufolge  ist  die  Leibeshöhle,  die  durch  Auseinanderweichen 
des  ventralen  Mesoderms  in  ein  viscerales  und  ein  parietales  Blatt  zustande 
kommt,  bei  den  Kranioten  von  vornherein  einheitlich,  unsegmentiert,  während 
sie  beim  Amphioxus  zu  einem  einheitlichen  Raum  erst  durch  Schwund  der 
ursprünglichen  trennenden  Scheidewände  zwischen  den  ventralen  Abschnitten 
der  Mesodermsegmente  wird.   Die  Zerfällung  des  dorsalen  Mesoderms  in  hinter- 
einander gelegene   Segmente  ist  ein  Vorgang,   der  auch  bei   den   Kranioten 
nicht  auf  den  Bereich  des  Rumpfes  beschränkt  bleibt,   sondern  sich  in  das 
Gebiet  fortsetzt,    das   später  zum  Kopfe  wird.     Wieviel  Mesodermsegmente 
dem  Kopfe  zuzuzählen  sind,  ist  noch  strittig,  tatsächlich  ist  diese  Zahl  wohl 
auch  bei  den  einzelnen  Formen  verschieden.   Nur  der  vorderste  Teil  des  Kopfes 
wird  als  ein  von  jeher  und  stets  ungeghederter  Abschnitt  des  Körpers  ange- 
sehen.   Im  Kopfgebiet  macht  sich  aber  noch  eine  besondere  Art  der  Segmen- 
tierung bemerkbar,  die  im  Rumpf  gebiete  fehlt:  durch  die  vom  Darm  aus  als 
paarige  Ausstülpungen  entstehenden  Schlundtaschen,  die  bis  zum  Ektoderm 
vordringen  und  sogar  nach  diesem  hin  durchbrechen  können,  wird  auch  das 
ventrale  Mesoderm  dieses  Gebietes  in  einzelne  hintereinander  gelegene  Ab- 


Rückensaite.     Metamerie.     Kopfhöhlen.     Äußere  Form  403 

schnitte  zerlegt:  der  vorderste  Teil  der  Leibeshöhle  wird  jederseits  in  eine  An- 
zahl Kopfhöhlen  gegliedert,  die  bald  ihren  Hohlraum  verlieren.  Diese  Glie- 
derung (Branchiomerie)  deckt  sich  aber  nicht  mit  der  Metamerie  des  dorsalen 
Mesoderms. 

Somit  nimmt  die  Gliederung  des  Wirbeltierkörpers  von  der  Gliederung  des 
Mesoderms  ihren  Ausgang.  Da  sich  nun  aus  der  Wand  der  Rückensegmente 
die  willkürHche  Muskulatur  entwickelt,  so  stellt  diese,  um  mit  O.  Hertwig  zu 
reden,  das  am  frühzeitigsten  segmentierte  Organsystem  der  Wirbeltiere  dar, 
und  diese  GHederung  der  dorsalen  Rumpfmuskulatur  (Myomerie)  ist  wohl  die 
direkte  Ursache  einer  segmentalen  Anordnung  der  peripheren  Nervenbahnen. 
Aber  noch  für  ein  anderes  Organsystem  ist  die  primäre  Metamerie  des  Mesoderms 
die  Grundlage  einer  gleichfalls  metameren  Entstehung:  für  das  Exkretions- 
system.  Auch  die  Kanälchen  der  Vor-  und  der  Urniere,  die  vom  Mesoderm  aus 
entstehen,  sind  metamer  angeordnet,  wie  das  später  noch  genauer  zu  besprechen 
sein  wird.  Die  metamere  Gliederung  des  Skelettes  im  Gebiete  des  Rumpfes  ist 
als  eine  sekundäre  Folge  der  Gliederung  der  Muskulatur  zu  betrachten. 

In  der  äußeren  Form  des  erwachsenen  Tieres  ist  der  innere  metamere  Bau  Äußere  Form, 
meist  freilich  nicht  erkennbar.  Um  so  sinnfälliger  macht  sich  an  dieser  die 
Einteilung  des  Gesamtkörpers  in  einen  Kopf,  einen  Rumpf  —  der  sehr  gewöhn- 
lich in  einen  Schwanz  fortgesetzt  ist  —  und  Gliedmaßen  (Extremitäten)  be- 
merkbar. Der  Kopf,  dessen  hinterer  Abschnitt  sich  nach  seiner  Entstehung 
und  seinem  Bau  als  besonders  umgewandelter  Teil  des  Rumpfes  zu  erkennen 
gibt,  ist  der  Sitz  des  Gehirnes,  d.  h.  des  Hauptteiles  des  Zentralnervensystems, 
sowie  der  Haupt- Sinnesorgane  (Seh-,  Geruchs-,  Gehörorgan)  und  enthält  ferner 
den  Eingang  und  Anfang  der  Nahrungs-  und  Atmungsorgane  (Mundöffnung, 
Mundhöhle);  der  Rumpf  umschließt  in  seinem  bis  zum  After  reichenden  Ab- 
schnitt die  Leibeshöhle  mit  den  von  ihr  geborgenen  Organen,  während  sein 
hinterer  Endabschnitt  als  Schwanz  eine  wichtige  Rolle  als  Bewegungsorgan 
spielen  kann  (bei  Fischen  besonders,  aber  auch  bei  zahlreichen  höheren  Wirbel- 
tieren). Ein  besonderer  verjüngter  Abschnitt  des  Rumpfes,  in  den  sich  die 
Leibeshöhle  nicht  fortsetzt,  vermittelt  vielfach  als  Hals  die  Verbindung  des 
letzteren  mit  dem  Kopf  und  schafft  diesem  die  Möghchkeit  zu  freierer  Be- 
wegung. Er  beginnt  erst  von  den  Reptilien  an  sich  schärfer  zu  sondern,  erreicht 
bei  den  Vögeln  eine  ganz  besondere  Ausdehnung  und  kann  gelegentlich  auch 
wieder  unterdrückt  werden,  wie  bei  den  Walen,  wo  die  Aufgabe  des  Kopfes, 
als  Wasserbrecher  zu  dienen,  die  Einschaltung  eines  beweghchen  Kopfstieles 
verbietet. 

Zur  Verbreiterung  oder  richtiger  Erhöhung  des  Körpers  zwecks  leichterer  unpaare  Flossen. 
Erhaltung  des  Gleichgewichtes  dienen  bei  den  Fischen  unpaare  (mediane) 
Flossen,  die  als  Rücken-,  Schwanz-  und  Afterflosse  unterschieden  werden. 
Sie  sind  zurückzuführen  auf  eine  zusammenhängende  Hautfalte,  die  vom  Kopfe 
an  über  den  Rücken  nach  hinten  zog,  die  Schwanzspitze  umsäumte  und  sich 
bis  zum  After  fortsetzte.  Eine  etwa  entsprechende  Falte  zeigt  der  Amphioxus; 
schon  bei  den  Rundmäulern  ist  sie  in  mehrere  Teile  zerlegt.  Diese  verschiedenen 

26* 


maßen. 


AQA  Ernst  Gaupp :  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Abschnitte  erhalten  bei  den  Fischen  Skeletteile  eingelagert,  die  unter  der  Herr- 
schaft von  Muskeln  stehen,  und  sind  für  die  Schwimmbewegungen  von  Wichtig- 
keit, dienen  aber  auch  gelegentlich  noch  anderen  Funktionen.  Die  Hautsäume 
setzen  sich  auf  wasserlebende  Amphibien  und  Amphibienlarven,  selbst  noch 
auf  höhere  Formen  fort,  erhalten  aber  hier  niemals  mehr  Skelettstützen. 
Paarige  Glied-  Die  paarigen  Gliedmaßen  der  Wirbeltiere  nehmen  von  der  Bauchseite 

des  Körpers  als  kleine  flossenf  örmige  Auswüchse  ihren  Ursprung  und  erhalten  von 
mehreren  Rumpfsegmenten  ihre  Muskeln  und  Nerven.  Das  gilt  in  gleicher  Weise 
für  die  Flossen  der  Fische  wie  für  die  Extremitäten  der  Landtiere  und  die  Flügel 
der  Vögel.  Nie  sind  bei  Wirbeltieren  mehr  als  die  zwei  Paare  von  Gliedmaßen  vor- 
handen, die  als  primär  vorderes  und  primär  hinteres  Paar  bezeichnet  werden 
können;  der  Zusatz,, primär"  drückt  dabei  aus,  daß  die  Verschiebungen,  die  beide 
Paare  am  Rumpfe  vielfach  erleiden,  selbst  zu  einer  Umkehr  der  ursprünglichen 
Lagebeziehungen  führen  können:  wie  denn  bei  manchen  Knochenfischen  die 
,, Bauchflossen",  die  ursprünglich  hinter  den  ,, Brustflossen"  liegen,  vor  die 
letzteren,  in  die  Kehlgegend,  wandern  können.  Wo  sie  aber  auch  liegen  mögen, 
immer  lassen  vordere  wie  hintere  Extremitäten  in  ihrem  Bau  die  Wiederholung 
eines  und  desselben  Grundplanes  erkennen;  sie  sind  sich  wiederholende  (pa- 
lilloge)  Organe,  ebenso  wie  die  Skelett-  oder  Muskelsegmente  des  Rumpfes. 

In  seltenen  Fällen  werden  die  Gliedmaßen  gänzlich  vermißt,  meist,  weil 
sie  sich  rückgebildet  haben.  'So  darf  angenommen  werden,  daß  die  Schlangen 
und  die  fußlosen  Echsen  (Bhndschleiche,  Ringelechsen)  unter  den  Reptilien, 
die  Blindwühlen  unter  den  Amphibien,  die  Meeraale  unter  den  Fischen  von 
Formen  mit  Extremitäten  abstammen  und  diese,  unter  gleichzeitiger  Heraus- 
bildung größerer  Beweglichkeit  der  Wirbelsäule,  eingebüßt  haben;  dagegen  darf 
wohl  das  Fehlen  von  Gliedmaßen  bei  dem  niedersten  Wirbeltier,  dem  Lanzett- 
fischchen,  als  ein  primitives  Merkmal  angesehen  werden,  und  das  gleiche  hat 
vielleicht  auch  für  die  Rundmäuler  (Neunaugen  und  ihre  Verwandte)  Gültig- 
keit, wenn  auch  hier  die  Möglichkeit,  daß  der  Mangel  an  Extremitäten  auf 
sekundärem  Schwund  derselben  beruht,  nicht  von  der  Hand  zu  weisen  ist.  Wo 
nur  ein  Extremitätenpaar  besteht,  da  ist  das  stets  als  Folge  von  sekundärem 
Verlust  des  anderen  aufzufassen;  in  der  Regel  ist  dabei  das  vordere  dasjenige, 
welches  erhalten  bleibt  (so  bei  den  Flußaalen,  beim  Armmolch,  bei  den  Barten- 
walen). 

Eine  Menge  der  verschiedensten  und  wichtigsten  Fragen  knüpft  sich  an  die 
Extremitäten  der  Wirbeltiere.  Wie  und  unter  welcher  Form  traten  sie  zum 
erstenmal  auf?  Die  Antwort,  die  Gegenbaur  auf  diese  Frage  gab,  ging  dahin, 
daß  die  paarigen  Extremitäten  zuerst  bei  kiemenatmenden  Wassertieren  ent- 
standen, und  zwar  durch  Umwandlung  der  beiden  hintersten  Kiemenbogen, 
die  sich  aus  der  Gemeinschaft  der  übrigen  lösten  und  am  Rumpfe  nach  hinten 
wanderten,  die  hintere  in  höherem  Maße  als  die  vordere.  Dieser  Ansicht,  auf 
die  bei  Betrachtung  des  Skelettes  noch  einmal  kurz  zurückzukommen  sein  wird, 
steht  die  andere  jetzt  allgemeiner  angenommene  gegenüber,  daß  der  Ausbildung 
der  Extremitäten  die  einer  seitlichen  vom  Körper  abstehenden  Hautfalte  vor- 


Unpaare  Flossen.     Paarige  Gliedmaßen.     Organgeschichte 


405 


ausging,  die  sich  über  eine  größere  Anzahl  der  erwähnten  Segmente  (Metamere) 
des  Rumpfes  erstreckte,  und  daß  dann  in  den  vordersten  wie  in  den  hintersten 
Abschnitt  dieser  Seitenfalte  von  den  zugehörigen  Rumpfmetameren  aus 
Muskeln,  Nerven  und  Skeletteile  einwuchsen.  Diese  beiden  Endabschnitte  er- 
hielten dadurch  eine  größere  Bedeutung  und  bildeten  sich  weiter  aus,  während 
der  zwischen  ihnen  gelegene  Abschnitt  der  Seitenfalte  der  Rückbildung  erlag. 
In  engem  Zusammenhang  mit  dieser  Frage  nach  der  ersten  Entstehung  der 
Wirbeltierextremitäten  steht  die  nach  dem  Verhältnis  der  beiden  Haupt- 
formen derselben,  der  Fischflosse  (des  ,,Ichthyopterygiums")  und  der  fünf- 
fingrigen  (pentadactylen)  Land-  oder  Handgliedmaße  (des  ,,Cheiropterygi- 
ums"  der  Tetrapoden),  zueinander.  Diese  beiden  Hauptformen  folgen  jede 
ihrem  eigenen  Bauplan,  und  es  ist  bisher  nicht  möglich,  den  der  einen  von  dem 
der  anderen  mit  Sicherheit  abzuleiten.    Ja,  selbst  die  Ausbildung  der  Fisch- 


Fig.  I.     Schema  der  Entstehung  der  paarigen  Gliedmaßen  aus  den  paarigen  Flossensäumen  bei  den  Vorfahren 
der  Lurchfische  und  Amphibien.     1  Vorder-,  2  Hintergliedmaßen.     Nach  C.  Rabl.     Aus  Hesse-Doflkin. 

flösse  bietet  so  viele  Verschiedenheiten,  daß  sich  der  Erkennung  des  gemein- 
samen Planes  vielfach  Schwierigkeiten  entgegenstellen.  Übereinstimmender 
gebaut  sind  die  verschiedenen  Formen  der  Landextremität,  und  bei  aller 
Mannigfaltigkeit  der  funktionellen  Verwendung  —  als  Kriechextremität,  Stelze, 
Fallschirm,  Flügel  —  lassen  sie  den  gemeinsamen  Grundplan  gut  erkennen;  ja 
selbst,  wo  landlebende  Formen  wieder  genötigt  wurden,  sich  dem  Wasserleben 
anzupassen,  und  dementsprechend  die  Extremitäten  sich  wieder  zu  breiten 
Rudern,  ,, Flossen",  umgestaltet  haben,  wie  es  bei  den  ausgestorbenen  Meeres- 
sauriern (Ichthyosauriern,  Sauropterygiern)  der  Fall  war  und  bei  den  Walen 
unter  den  Säugern  sich  zeigt,  bewahren  diese  Flossen  doch  den  Grundplan  der 
Landextremitäten  und  entfernen  sich  damit  weit  von  den  Fischflossen,  denen 
sie  nur  äußerlich  ähnlich  werden. 

Die  Geschichte  der  paarigen  Wirbeltierextremitäten  bietet  so  eins  der  organ- 
schönsten  Beispiele,  um  die  verschiedenen  Etappen  der  Organgeschichte  über-  ^^'^'^  "^ 
haupt  kennen  zu  lernen.  Man  bezeichnet  Organe  wie  die  Extremitäten,  die  im 
Bauplan  der  Organismen  in  wesentlich  gleicher  Weise  und  auf  Grund  wesent- 
lich gleicher  Entwickelungsvorgänge  auftreten,  als  morphologisch  gleichwertig 
oder  homolog.  Aber  diese  homologen  Organe  zeigen  doch  bei  den  einzelnen 
Formen  mannigfache  Besonderheiten,  die,  unter  der  Annahme  einer  einheit- 
lichen Entstehung  der  einzelnen  Tiergruppen  —  und  so  auch  der  Wirbel- 
tiere — ,  als  Folge  und  Ausdruck  divergenter  Entwickelung  von  einer 
gemeinsamen  Urform  aus  aufgefaßt  und  bezeichnet  werden.  Die  Fischflosse 
und  die  Handextremität,  in  den  Formen,  wie  wir  sie  bisher  kennen,  zeigen  in 


,q5  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

ihrem  Bau  bereits  diese  weitgehende  Divergenz  voneinander,  und  nicht  minder 
offenbart  sich  diese  bei  den  besonderen  Ausbildungsformen  jener  innerhalb  der 
einzelnen  Gruppen  der  Fische  und  Vierfüßer.   Diese  besonderen  Formen  lassen 
dabei  aufs  deutlichste  die  funktionelle   Anpassung,  d.  h.  die  Anpassung 
an  die  besonderen  Aufgaben,  die  sie  zu  erfüllen  haben,  und  die  Bedingungen, 
unter  denen  dies  zu  geschehen  hat,  erkennen:  die  Fischflossen,  im  allgemeinen 
breite  Ruder,  die  zur  Verdrängung  einer  größeren  Wassermenge  geeignet  sind, 
passen  sich  unter  Umständen  den  Funktionen  eines  Fallschirmes  an  (vordere 
Extremitäten  der  sog.  fliegenden  Fische),  oder  werden,  wie  die  Brustflossen 
beim  Knurrhahn,  zu  Schreitextremitäten;  die  Handextremitäten,  in  ihrer  ur- 
sprüngHchen  Form  wohl  als  Kriechorgane  {wie  etwa  bei  den  Salamandern)  zu 
denken,  die  seitlich  vom  Körper  abstehen,  aber  denselben  noch  nicht  tragen, 
übernehmen  als  Säulen  oder  Stelzen  bei  den  Säugern  auch  diese  eben  genannte 
Aufgabe  unter  veränderter  Anordnung  ihrer  Teile  und  gewinnen  gerade  in  dieser 
Form  wieder    die    Möglichkeit   zu  weitestgehender  Differenzierung    —    zum 
Sprung,  Klettern,  Laufen,  alles  unter  mannigfacher  besonderer  Ausgestaltung 
des  einheitlichen  Grundplanes  — ;  sie  bilden,  unter  stärkerer  Inanspruchnahme 
der  Haut  und  ihrer  Gebilde,  bei  den  Fledermäusen  Fallschirme,  bei  den  Vögeln 
Flügel,  bei  Wassertieren  (Ichthyosauriern,  Walen)  Flossen.    In  all  diesen  Fällen 
bewahren  sie  ihre  ursprüngliche  Aufgabe  im  Dienste  der  Ortsbewegung,  wenn  sie 
diese  Aufgabe  auch  unter  recht  verschiedenen  Bedingungen  erfüllen.  Demgegen- 
über zeigen  die  vorderen  Gliedmaßen  des  Menschen  eine  ganz  andere  Verwen- 
dung: losgelöst  von  der  Aufgabe  der  Ortsbewegung  sind  sie  zu  den  kunstvollen 
Greiforganen  geworden,  denen  der  Mensch  seine  beherrschende  Stellung  in  der 
Natur  verdankt.    Hier  können  wir  von  einem  wirklichen  weitgehenden  Funk- 
tionswechsel  sprechen  und  erkennen  so,    daß  morphologisch  gleichwertige 
Organe  auch  verschiedene  Verwendung  besitzen  können.   Aber  noch  eine  andere 
Erkenntnis  ergibt  sich  aus  dem  Gesagten.    Die  Flossen  der  Fische,  der  ausge- 
storbenen Meeressaurier  und  der  Wale  erscheinen   äußerlich   ähnlich,   infolge 
der  funktionellen  Anpassung  an  das  Wasserleben,  das  breite  Ruder  verlangt; 
aber  diese  verschiedenen  Flossen  haben  keine  besonderen  engeren  Beziehungen 
zueinander:  sie  sind  nur  ganz  allgemein,  als  ,, Extremitäten",  morphologisch 
gleichwertig,  homolog;  als  ,, Flossen"  aber  sind  sie  selbständig  entstanden  und 
so  weit  voneinander  entfernt  als  möglich.    Die  Flossen  der  Meeressaurier  sind 
aus  Extremitäten  landlebender  Reptilien,  die  der  Wale  aus  Extremitäten  land- 
lebender Säuger  entstanden,  von  Formen  aus,  die  vom  Lande  ,,ins  Wasser  ge- 
gangen sind";  und  so  haben  sie  weder  untereinander  eine  engere  Verwandt- 
schaft, noch  mit  der  Fischflosse.     Ihre  Ähnlichkeit  ist  eine  rein  äußere,  be- 
ruhend auf  ,,Angleichung"  oder  ,, Konvergenz",  die  wieder  bedingt  ist  durch 
die  funktionelle  Anpassung.    In  gleicher  Weise  bieten  die  zu  Fallschirmen  um- 
gewandelten Brustflossen  fliegender  Fische,  die  ,, Flügel"  der  ausgestorbenen 
Flugsaurier  {Pterodactylus  z.  B.),  der  Fledermäuse,  Vögel,  lediglich  Beispiele 
von  konvergenter  Entwickelung,  die  von  ganz  verschiedenen  Ausgangs- 
punkten aus  und  auf  verschiedenen  Wegen,  aber  unter  dem  Einfluß  ähnlicher 


Organgeschichte.     Integument.     Aufgaben  der  Haut  407 

Beanspruchung,  Ähnliches  hervorgebracht  hat.  Konvergente  Entwickelung 
spielt  eine  außerordentlich  große  Rolle  auch  bei  den  Wirbeltieren;  ihre  Möglich- 
keit muß  im  Auge  behalten  werden,  wenn  es  sich  darum  handelt,  Verwandt- 
schaftsbeziehungen zwischen  verschiedenen  Formen  zu  ermitteln.  So  gewiß  es 
ist,  daß  solche  Beziehungen  nur  auf  Grund  weitgehender  Übereinstimmungen 
in  den  Organisationsverhältnissen  erschlossen  werden  können,  so  wenig  können 
wir,  wenn  wir  gewisse  Ähnlichkeiten  in  bestimmten  Einrichtungen  finden, 
immer  sofort  sagen,  daß  diese  wirklich  auf  engerer  Verwandtschaft  beruhen. 
Zwischen  Fischen,  Meeressauriern  und  Walen  bestehen  ebensowenig  engere  ver- 
wandtschaftliche Verhältnisse  als  zwischen  Fledermäusen,  Flugsauriern  und 
Vögeln.  Das  geht  aus  den  sonstigen  Organisationsverhältnissen  mit  Sicher- 
heit hervor.  — 

Erste  Entstehung,  divergente  Entwickelung,  funktionelle  Anpassung,  die 
vielfach  auch  wieder  zu  konvergenter  Entwickelung  führt,  Funktionswechsel 
—  das  sind  eine  Anzahl  der  wichtigsten  Etappen  in  der  Geschichte  der  Organe; 
ihnen  schließt  sich  als  letzte  das  Rudimentärwerden  und  der  völlige 
Verlust  an,  ein  Schicksal,  das,  wie  oben  gezeigt  wurde,  auch  die  Extremitäten 
der  Wirbeltiere  treffen  kann. 

IIL  Spezielle  Morphologie  der  einzelnen  Organsysteme  der  Wirbeltiere. 

I.  Integument   (äußere  Haut). 
Die  äußere  Haut,  die  den  Körper  als  oberflächlichste  Schicht  überkleidet  i. integument 

1  i'Ao  iiii-n''ri  1-  '1  T  Aufgaben  der 

und  gegen  die  Außenwelt  abschließt,  ist  infolge  dieser  peripheren  Lage  ganz  Haut, 
besonders  befähigt,  eine  Wechselwirkung  des  Organismus  mit  der  Außenwelt 
zu  vermitteln  oder  aber  zu  beschränken.  Die  Zahl  der  besonderen  Aufgaben, 
die  sie  übernimmt,  ist  gerade  bei  den  Wirbeltieren  sehr  groß.  In  mannigfacher 
Weise  schützt  sie  den  Körper :  sei  es  gegen  Feinde  aller  Art,  sei  es  gegen  mecha- 
nische Insulte  oder  gegen  Temperatureinflüsse.  Die  Haut  des  Menschen  er- 
scheint gewiß  recht  weich,  und  doch  bietet  auch  ihre  dünne  Oberhaut,  solange 
sie  unverletzt  ist,  einen  Schutz  gegen  das  Eindringen  von  Bakterien;  in  höherem 
Maße  noch  dienen  hornige  Schuppen,  Stacheln,  Borsten,  Krallen,  Nägel  und 
Hufe,  Hautzähne  und  knöcherne  Panzer  zum  Schutz  gegen  Feinde,  zum  Teil 
auch  gegen  Verletzungen,  die  durch  die  leblose  Umgebung  dem  Körper  zuge- 
fügt werden  könnten.  In  anderer  Weise  werden  giftige  Absonderungen  und  be- 
sondere Färbungen  der  Haut  als  Schutzeinrichtungen  wirksam.  Haare  und 
Federn  der  warmblütigen  landlebenden  Säuger  und  Vögel  schützen  den  Körper 
vor  zu  großer  Abkühlung,  wie  die  Schweißdrüsen  der  Säuger  einer  zu  starken 
Erhitzung  durch  Absonderung  wässerigen  Sekretes,  dessen  Verdunstung  Ab- 
kühlung bedingt,  entgegenarbeiten.  Groß  ist  ferner  der  Anteil,  den  die  Haut 
an  der  Sinnesempfindung  nimmt:  die  niederen  Sinnesorgane  der  Tast-, 
Druck-,  Temperaturempfindung  liegen  in  ihr,  die  höheren  Organe  der  Hör- 
und  Geruchsempfindung  entstehen  von  ihr  aus,  und  auch  am  Aufbau  des  Auges 
nimmt  sie  Anteil.  Sehr  viel  beschränkter  ist  dagegen  ihre  Bedeutung  für  die 
Lokomotion,  und  darin  besteht  ein  bemerkenswerter  Unterschied  gegenüber 


4o8  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

den  Wirbellosen.  Immerhin  beteiligt  sie  sich  doch  oft  mittelbar  an  der  Bildung 
der  Lokomotionsorgane,  indem  sie  die  breiten  Flächen  der  Flossen,  Schwimm- 
und  Flughäute  sowie  der  Flügel  schafft,  oder  an  den  Endghedern  der  Glied- 
maßen polsterartige  Vorsprünge,  Ballen,  herstellt,  die  sich  auch  zu  Haftscheiben 
umbilden  können.  Unmittelbar  trägt  sie  aber  zur  Ortsbewegung  nur  noch 
in  sehr  seltenen  Fällen  bei:  so  bei  den  Larven  des  Amphioxus  und  der  Am- 
phibien (in  den  ersten  Tagen  nach  dem  Ausschlüpfen),  deren  Körper  mit  Wim- 
perzellen bedeckt  ist  und  durch  die  Bewegungen  derselben  selbst  bewegt  wird. 
Nicht  unwesentlich  ist  weiterhin,  besonders  bei  manchen  Amphibien,  die  Be- 
deutung der  Haut  für  die  Atmung;  in  mannigfache  Beziehungen  tritt  sie 
durch  die  Ausscheidungen  ihrer  häufig  in  großer  Zahl  vorhandenen  Drüsen; 
selbst  Brutpflege  übernimmt  sie  durch  Bildung  von  Bruttaschen  bei  man- 
chen Fischen  [Syngnathus],  von  wabenartigen  Räumen  auf  dem  Rücken  der 
surinamischen  Kröte  —  beide  bestimmt  für  die  Aufnahme  der  Eier  —  aber 
auch  von  größeren  Beuteln  (bei  den  Beuteltieren),  und  endlich  von  besonderen 
Drüsen,  deren  Sekret  der  ersten  Ernährung  der  Jungen  dient  (Säugetiere). 
Fügen  wir  noch  hinzu  den  Hinweis  auf  die  mannigfaltigen  Färbungen,  die  als 
Schutz-,  Schreck-,  Lockfarben  für  das  Tier  von  der  allergrößten  Bedeutung 
werden,  sowie  auf  die  Leuchtorgane,  die,  von  der  Haut  aus  ihre  Entstehung 
nehmend,  im  Dunkel  der  Tiefsee  ihren  Besitzern  die  Umgebung  erhellen  und 
zugleich,  wie  die  Farben  der  im  Lichte  lebenden  Geschöpfe,  Erkennungs-  und 
Lockzeichen  bilden,  so  haben  wir  eine  Vielheit  der  Aufgaben  und  funktionellen 
Beziehungen  der  Haut  erkannt,  wie  sie  keinem  anderen  Organ  des  Wirbeltier- 
körpers wieder  zukommt. 
Bau  der  Haut.  Und  doch  zcigt  die  Hülle  des  Körpers,  die  alle  diese  Leistungen  übernimmt, 

einen  recht  einfachen  Aufbau.  Überall  läßt  sich  eine  oberflächliche,  aus  Zellen 
bestehende,  vom  Ektoderm  stammende  Oberhaut  (Epidermis)  und  eine 
darunter  gelegene  bindegewebige,  mesodermale  Lederhaut  (das  Corium) 
unterscheiden,  welch  letztere  bei  den  Kranioten  durch  eine  mehr  lockere,  als 
Unterhautbindegewebe  (subkutanes  Gewebe)  bezeichnete  Schicht  mit  den 
darunter  befindlichen  Teilen  (Muskulatur,  Skelett)  verbunden  wird.  Die  Epi- 
dermis besteht  nur  beim  Amphioxus  aus  einer  einfachen  Zellschicht,  in  der 
einzelne  Elemente  als  Schleim  absondernde,  andere  als  Sinneszellen  besonders 
differenziert  sind;  bei  allen  Kranioten  ist  sie  zwei-  oder  mehrschichtig  und 
läßt  die  unteren  Schichten  als  Keimschicht  {Stratum  germinativum),  die 
oberen,  deren  Elemente  eine  Umwandlung  ihres  Protoplasmas  in  Hörn  erleiden, 
als  Hornschicht  {Stratum  corneum)  unterscheiden.  In  der  Keimschicht  er- 
folgt, wie  ja  auch  der  Name  andeutet,  die  Neubildung  von  Zellen,  der  Ersatz 
für  die  Elemente,  die  an  der  Oberfläche  der  Hornschicht  als  verbraucht  abge- 
stoßen werden.  Bei  Fischen,  Amphibien  und  Reptilien  findet  sich,  wenigstens 
vielfach,  noch  eine  besondere  Cuticula,  die,  von  den  oberflächhchsten  Zellen 
der  Hornschicht  abgesondert,  diese  als  dünnes  Häutchen  überzieht  und  zu- 
sammenhält, so  daß  die  obersten  Hornschichten  nur  als  zusammenhängende 
Haut  abgestoßen  werden  können.    Dies  erfolgt  bei  der  periodischen   Hau- 


Aufgaben  der  Haut.     Bau  der  Haut.     Epidermis  und  ihre  Bildungen  409 

tung,  wie  sie  bei  Eidechsen  oder  Ringelnattern  auch  im  Terrarium  leicht  beob- 
achtet werden  kann.  Das  „Natternhemd"  stellt  die  abgestoßenen,  durch  die 
Cuticula  zusammengehaltenen  oberflächlichen  Epidermisschichten  dar,  deren 
sich  das  Tier  entledigt,  indem  es  geradezu  aus  ihnen  herauskriecht.  Wo  eine 
Cuticula  nicht  besteht,  wie  es  bei  allen  Vögeln  und  Säugern  der  Fall  ist,  erfolgt 
die  Abstoßung  der  oberflächlichsten  Hornschichten  in  Form  kleiner  Schüppchen 
und  fortgesetzt,  nicht  gebunden  an  bestimmte  Termine.  —  In  die  Keimschicht 
dringen  auch  die  letzten  Verzweigungen  der  Nerven  vor,  und  hier  und  da  diffe- 
renzieren sich  gewisse  Zellen  in  ihr  zu  besonderen  Sinneszellen,  d.  h.  Auf- 
nahmestationen für  nervöse  Reize.  Andere  Zellen  können  als  ,, einzellige 
Drüsen"  die  Fähigkeit  zur  Absonderung  gewisser  Stoffe  erlangen  (Fig.  4). 
Völliges  Fehlen  der  ganzen  Epidermis  ist  nicht  häufig,  kommt  aber  hier  und 
da  vor:  so  geht  sie  über  den  Schuppen  mancher  Fische  zugrunde. 

Die  Fähigkeit  der  Epidermis  zur  Bildung  besonderer  Derivate  ist  groß. 
Ihre  Entstehung  nehmen  dieselben  alle  von  der  Keimschicht,  die  sich  auch 
dadurch  als  das  noch  lebensfähige  Element  der  bereits  dem  Untergang  ent- 
gegengehenden Hornschicht  gegenüberstellt.  In  mannigfacher  Form  und  Ver- 
wendung treten  uns  besondere  Horngebilde  entgegen:  mehr  oder  minder 
über  den  ganzen  Körper  verbreitet  als  Schuppen  und  Schilder,  Federn  und 
Haare;  in  beschränkterer  Lokalisierung  als  Krallen,  Nägel,  Hufe  an  den  Extre- 
mitäten, als  Hörner  und  Schnabelscheiden  am  Kopfe  (Hörner  der  Rinder  usw., 
Kiefer-  oder  Schnabelscheiden  der  Schildkröten,  Vögel,  Schnabeltiere  und 
Ameisenigel).  Eine  weitere  wichtige  Bildung  der  Epidermis  stellt  der  Schmelz 
dar,  der  die  Hautzähnchen  der  Haifische  aufbauen  hilft  und  bei  Ganoiden  und 
Knochenfischen  noch  hier  und  da  auf  den  Schuppen  angetroffen  wird. 

Ganz  anders  geartete  Derivate  der  Epidermis  sind  die  Drüsen,  schlauch- 
oder  säckchenförmige,  manchmal  vielfach  verzweigte,  in  die  Lederhaut  vor- 
dringende Einsenkungen  der  Epidermis,  deren  zusammensetzende  Zellen  die 
Fähigkeit  zur  Absonderung  gewisser  Sekrete  ausbilden.  Giftstoffe,  die  dem 
Tier  (z.  B.  Kröten)  einen  Schutz  verleihen,  —  wässerige  Sekrete,  die  durch  die 
Verdunstung  des  Wassers  zur  Abkühlung  des  Körpers  beitragen  (,, Schwitzen" 
bei  Erhitzung),  aber  auch  gewisse  Umsatzstoffe  aus  dem  Körper  heraus- 
schaffen, —  Fette,  die  Haut,  Federn,  Haare  einzufetten  haben,  —  phosphores- 
zierende Stoffe,  die  die  sie  erzeugenden  Drüsen  zu  Leuchtorganen  gestalten, 
werden  so  auf  der  Oberfläche  des  Körpers  abgesondert. 

Der  Epidermis  als  Unterlage  dient  die  Lederhaut,  die  aus  bestimmt  ge- 
ordneten Bindegewebsbündeln  mit  oft  reichhch  eingestreuten  elastischen  Fa- 
sern besteht  und  Blut-  und  Lymphgefäße  sowie  Nerven,  gelegentlich  auch  be- 
sondere Hautsinnesorgane  einschließt,  bei  Vögeln  und  Säugern  im  Anschluß 
an  die  Federn  und  Haare  auch  besondere  glatte  Muskeln,  die  Aufrichter  der 
genannten  Gebilde,  enthält.  Im  allgemeinen  einförmiger  als  die  Epidermis,  kann 
doch  auch  sie  den  Ausgang  besonderer,  die  Schutzfunktion  der  Haut  erhöhender 
Gebilde  abgeben.  Hierher  gehören  vor  allem  die  Papillen,  hüglige  Erhebun- 
gen des  Coriums,  die  in  die  Epidermis  hineinragen  und  in  mannigfacher  Aus- 


AiQ  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

dehnung  von  den  Fischen  bis  zu  den  Säugern  vorkommen.  Nicht  immer 
machen  sie  sich  auf  der  Oberfläche  des  Körpers  bemerkbar,  sondern  bleiben 
versteckt,  da  die  Epidermis  glatt  über  sie  hinwegzieht;  manchmal  aber  be- 
dingen sie  hüglige,  warzenförmige  Erhebungen  der  Haut.  Eine  ganz  besondere 
Ausbildung  erfahren  sie  bei  den  Reptilien,  wo  sie  sich  in  Gemeinschaft  mit  der 
bedeckenden  Epidermis  zu  den  Schuppen  gestalten;  auch  die  Entwickelung 
der  Vogelfedern  nimmt  von  Coriumpapillen  ihren  Ausgang.  In  besonders 
hohem  Maße  erfährt  die  Lederhaut  eine  Steigerung  ihrer  Schutzfunktion  durch 
Einlagerung  größerer  oder  kleinerer  Knochenstücke,  die  in  ihrer  Gesamt- 
heit als  Außenskelett  (Exoskelett)  bezeichnet  werden.  Die  Schuppen  der 
Fische,  Panzer  der  Krokodile  und  Gürteltiere  gehören  hierher,  aber  auch  gewisse 
Skelettstücke,  die  bei  der  Betrachtung  des  Skelettes  Erwähnung  finden  werden. 

Beiden  Schichten,  der  Epi- 
dermis wie  der  Lederhaut,  ge- 
meinsam sind  endlich  Farb- 
zellen (Pigmentzellen),  die 
—  S  die  mannigfachen  Färbungen  der 
^— ß^  Hautdecke  bedingen.  Es  gibt 
recht  verschiedene  solcher  Ch  r  o  - 
matophoren;    die    verbreitet- 

Fig.  2.     Placoidorgane  (Hautzähne)  aus  der  Haut  eines  Haifisches.  .       ,      ,.        .  ,      .  , 

(Halbscheraatisch.)  S  S  Sockelplatten,  welche  durch  Bindegewebe  StCn  Sind  Qie  iVi  C  1  a  n  0  p  Xl  O  r  e  n  , 
{B^)  miteinander  verbunden  sind.    Z  Z  Zähne.    Nach  Wiedersheim.      ^^jp       ||-i       ihrem         mit     Tpich       VPT- 

ästelten  Ausläufern  versehenen  Körper  schwarz-  oder  gelblich-braune  Farb- 
stoffkörnchen enthalten.  An  vielen  dieser  Zellen  ist  eine  unter  dem  Einflüsse 
des  Nervensystems  erfolgende  Wanderung  der  Farbstoffkörnchen  nachgewiesen, 
die  bald  im  Innern  des  Zellkörpers  zusammengedrängt,  ,, geballt"  werden,  bald 
in  die  feinsten  Verzweigungen  ausströmen  können.  Die  Erscheinungen  des 
Farbenwechsels,  die  bei  manchen  Wirbeltieren  (beim  Laubfrosch,  Chamaeleon) 
beobachtet  werden,  sind  an  derartige  Pigmentwanderungen  geknüpft.  Andere 
Farbzellen  enthalten  rote  oder  gelbe  Fettfarbstoffe;  auch  die  bei  niederen 
Wirbeltieren  weit  verbreiteten,  als  Leukophoren  bezeichneten  Zellen,  die 
Guaninkalk-Kristalle  enthalten,  werden  unter  die  Farbzellen  gezählt,  da  sie 
zwar  an  sich  nicht  gerade  gefärbt,  sondern  weißlich  sind,  aber  durch  die  physi- 
kahsche  Wirkung  ihrer  Kristalle  zur  Erzeugung  gewisser  Farben,  namentlich 
des  Blau,  beitragen.  Dabei  ist  noch  zu  bemerken,  daß  an  der  Herstellung  der 
verschiedenen  Färbungen  der  Wirbeltiere  nicht  bloß  wirkliche  Farbstoffe,  son- 
dern auch,  z,  B.  bei  Federn  und  Haaren,  die  Struktur  der  Gebilde,  Anteil  hat. 
Die  Färbungen  der  niederen  Wirbeltiere,  Fische,  Amphibien,  Reptihen, 
beruhen  in  erster  Linie  auf  farbigen  Bindegewebszellen,  die  in  der  Leder- 
haut ihren  Sitz  haben;  bei  Säugern  kommen  dieselben  nur  noch  seltener  vor, 
und  hier  werden  dafür  die  tiefen  Schichten  der  Oberhaut  für  die  Färbungen 
bedeutungsvoll;  sei  es,  daß  sich  hier  wirkliche  verzweigte  Farbzellen  finden,  sei 
es,  daß  die  Zellen  der  Keimschicht  selbst  Einlagerungen  von  braunen  Farb- 
stoffkörnchen  enthalten.     Auf   solchen   Farbstoffablagerungen   in   den   tiefen 


Lederhaut  und  ihre  Bildungen.    Farbe  der  Haut,    Schuppen  der  Fische  411 


Schichten  der  Oberhaut 
beruhen  auch  die  Färbun- 
gen der  farbigen  Menschen- 
rassen. 

Von  den  oben  nur  kurz 
aufgezählten     Organbil- 


Schmelz  Zellen     Zahnpapüle 


Epidermis 


Organbildungen 

des 
Integumentes. 


^^S|      {Leder- 
^^=-=^         haut) 


Fig.  3.     Jüngste  Anlage  eines  Hautzahnes  eines  Selachierembryos. 
Nach  O.  Hertwig. 


erfordern  einige  noch  eine 
etwas  genauereBeachtung. 
So  zunächst  die  einen 
Schutzpanzer  herstellen- 
den Gebilde,  die  bei  den  Fi- 
schen unter  dem  Sammel- 
namen Schuppen  zusammengefaßt  werden,  unter  sich  aber  sehr  verschiedener  Schuppen  der 
Natur  sind  und  nur  darin  übereinkommen,  daß  an  ihrem  Aufbau  Knochengewebe  '^''^^' 
einen  großen  Anteil  nimmt.  Bei  den  Haien  erscheinen  sie  als  sehr  kleine  winzige 
Hautzähnchen  (Placoidorgane),  die  untereinander  nurwenig  fest  verbunden 
sind  und  somit  ziemlich  lose  in  der  Haut  stecken  (Fig.  2).  Jedes  solches  Zähn- 
chen läßt  eine  kleine  knöcherne  Basalplatte  und  den  darauf  sitzenden  eigent- 
lichen Zahn  unterscheiden,  der  aus  einer  dem  Knochen  ähnlichen  Substanz, 
dem  Zahnbein  (Dentin),  und  einer  demselben  aufsitzenden  Kappe  von  Schmelz 
besteht.  Das  Zahnbein  bildet  die  Hauptmasse  des  Zähnchens  und  enthält  eine 
von  weichem  Bindegewebe  mit  Gefäßen  und  Nerven  erfüllte  Zahnhöhle;  der 
ihm  aufsitzende  Schmelz  ist  die  festeste  Substanz,  die  der  Wirbeltierkörper 
überhaupt  erzeugt,  und  verdankt,  wie  Zahnbein  und  Knochen,  seine  Härte  der 
Ablagerung  von  Kalksalzen.  Diese  Hautzähnchen  beginnen  ihre  Entwicke- 
lung  (Figg.  3  u.  4)  mit  der  Entstehung  kleiner  zellreicher  Papillen  der  Leder- 
haut, die  in  die  dicke  Epidermis  eindringen.  In  dieser  wachsen  dann  die  Zellen, 
die  die  Papille  unmittelbar  überziehen,  zu  hohen  Elementen,  Schmelzzellen, 
aus,  die  wei- 
terhin gegen 
die      Papille 

hin  den 
Schmelz  ab- 
sondern. Un- 
ter   ihm    er- 
zeugen     die 

oberfläch- 
lichsten Zel- 
len   der  Pa- 
pille,    durch 

Abschei- 
dung     nach 
außen      hin. 


Schmelz  Zellen 
Schmelz 

Zahnbein 


Epidermis 


Zahnpapille 


Schleimzelle 


Corium 
^'^     {Lederhaut) 

Fig.  4.     Längsdurchschnitt  durch  eine  ältere  Anlage  eines  Hautzahnes  eines  Selachierembryos. 

Nach  O.  Hertwig. 


A12  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

das  Zahnbein,  während  die  aus  Knochen  (der  hier  auch  als  Zement  bezeichnet 
wird)  bestehende  Basalplatte  von  dem  Bindegewebe  erzeugt  wird,  dem  das  Zähn- 
chen aufsitzt.  So  beteiligen  sich  also  an  der  Herstellung  des  ganzen  Gebildes 
zwei  Keimblätter:  das  Mesoderm,  das  dem  Zahnbein  und  Zement,  und  das  Ekto- 
derm,  das  dem  Schmelz  den  Ursprung  gibt.  Auch  im  späteren  Leben  findet  fort- 
gesetzt eineNeubildungvonZähnchen,  die  an  die  Stelle  ausgefallener  treten,  statt. 
Diese  Hautzähnchen  der  Haie,  die  bei  den  einzelnen  Arten  recht  ver- 
schiedene Formen  besitzen  und  an  gewissen  Stellen  auch  zu  größeren  Gebilden 
sich  entwickeln  können,  besitzen  ein  hohes  morphologisches  Interesse,  da  sie 
sich  auch  in  die  Mundhöhle  hinein  fortsetzen  und  tatsächlich  den  Zähnen 
wesensgleich  sind,  die  bis  zum  Menschen  herauf  auf  den  Kiefern  bestehen.  Bei 
Besprechung  der  Darmorgane  werden  wir  hierauf  zurückkommen  müssen. 

Unter  den  übrigen  Fischen  treten  Zähnchen  des  geschilderten  Baues  nur 
noch  selten  auf;  die  meisten  Schuppenbildungen  derselben  entbehren  der 
Zähnchen  und  bestehen  ihrer  Hauptmasse  nach  aus  Knochenplättchen.  Von 
den  Ganoiden  besitzen  einige  Formen  sogenannte  Ganoinschuppen,  rhombische, 
in  schrägen  Reihen  angeordnete  und  sich  dachziegelförmig  deckende  Knochen- 
platten, die  auf  der  Oberfläche  mit  einer  dem  Dentin  nahe  stehenden  glänzenden 
Schicht  mesodermaler  Herkunft,  dem  sog.  Ganoin,  bedeckt  sind.  Bei  den 
Stören  sind  nicht;  diese  rhombischen  Ganoinschuppen,  sondern  größere 
Knochenplatten  vorhanden,  die  einen  festen  Panzer  um  den  Körper  bilden. 
Auch  unter  den  Knochenfischen  kommt  es  bei  manchen  Formen  zur  Ausbildung 
derartiger  Knochenpanzer,  doch  wäre  es  ganz  falsch,  die  betreffenden  Formen 
etwa  als  untereinander  enger  verwandt  zu  betrachten:  sie  gehören  vielmehr 
recht  verschiedenen  Gruppen  an.  Die  meisten  Knochenfische  besitzen  knöcherne 
verschieden  gestaltete  Schuppen,  die  unter  der  Oberhaut  in  besonderen  Schup- 
pentaschen der  Lederhaut  stecken.  Wieder  eigenartig  sind  die  Schuppen  der 
Doppelatmer  gebaut,  und  bei  manchen  Fischen,  z.  B.  den  Aalen,  ist  das 
Schuppenkleid  überhaupt  (sekundär)  rudimentär.  Das  Fehlen  knöcherner 
Schuppen  bei  den  Rundmäulern  ist  vielleicht  eine  primäre  Erscheinung. 
Hautver-  Unter  den  lebenden  Amphibien  spielen  Verknöcherungen  der  Haut  nur 

bei  Tetrapoden.  ciuc  verschwindcndc  Rolle,  etwas  mehr  Bedeutung  gewinnen  sie  bei  den  Rep- 
tilien. Hier  finden  sich  manchmal  in  die  ,,  Schuppen"  der  Echsen  kleine 
Knochenplättchen  eingelagert;  größere  Knochenschilder  schaffen  auf  dem 
Rücken  der  Krokodile  einen  festen  Panzer,  an  der  Bauchseite  der  Brücken- 
echsen und  Krokodile  treten  Hautknochen  in  Form  von  dünnen  Spangen  als 
sog.  ,, Bauchrippen"  auf;  vor  allem  aber  besitzen  die  Schildkröten  in  ihrem 
Bauchschild  eine  aus  reinen  Hautknochenplatten  zusammengesetzte  Bildung. 
Auch  an  dem  Aufbau  ihres  Rückenschildes  nehmen  Hautknochenplatten,  na- 
mentlich als  Randplatten,  Anteil;  in  der  Hauptsache  wird  dasselbe  freilich  von 
Teilen  des  Innenskelettes  gebildet.  Bei  den  Vögeln  fehlen  Hautverknöcherun- 
gen  ganz,  bei  den  Säugern  gehören  sie  zu  den  größten  Seltenheiten  (Panzer  der 
Gürteltiere).  Alle  die  genannten  Knochenbildungen,  von  den  kleinen  Schuppen 
der  Fische  an,  bilden  das  Außen-  oder  Exoskelett. 


Fischschuppen.  Hautverknöcherungen  derTetrapoden.  Reptilschuppen.  Federn  u.  Haare    413 

Mit  den  knöchernen  Schuppen  der  Fische  durchaus  nicht  vergleichbar  sind  Scimppen  der 
die  Bildungen,  die  man  bei  den  Reptilien  als  Schuppen  zu  bezeichnen  pflegt  ^'"P'"'*^"- 
(Fig.  5).  Zwar  entsteht  auch  bei  der  Entwickelung  dieser  Reptilschuppen 
zuerst  eine  Papille  der  Lederhaut,  aber  über  dieser  erzeugt  dann  die  Oberhaut 
eine  ganz  besonders  mächtige  Hornschicht,  die  für  alle  Schuppenbildungen  der 
Reptilien  sehr  charakteristisch  ist,  mögen  dieselben  rundhche  Höcker  (Körner- 
schuppen, z.  B.  der  Geckos),  oder  breite  Platten  (Schilder,  z.  B.  der  Krokodile 
oder  Schildkröten),  oder  durch  schräge  Umlagerung  der  Papille  zustande  kom- 
mende dachziegelförmig  sich  deckende  Schindelschuppen  (z.  B.  der  Eidechsen 
und  Schlangen),  oder  endlich  mit  Stacheln  und  Dornen  versehene  Stachel- 
schuppen (z.  B.  bei  Moloch  horridus)  darstellen.  Zur  Entwickelung  von 
Knochenplatten  in  der  bindegewebigen  Grundlage  aller  dieser  Bildungen  kann 


A 


C 


i  — 


Haare. 


Fig.  5.  Längsschnitte  durgh  verschiedene  Schuppen  von  Reptilien,  Schemata.  A  Körnerschuppen,  B  Schilder, 
C  Schindelschuppen,   D  Schindelschuppen   mit  Verknöcherungen,      k  Hornschicht,    .y  Schleimschicht   der   Epidermis, 

/  Lederhaut,  o  Knochen.     Nach  BoAS. 

es  kommen,  doch  ist  das  die  Ausnahme.  Dem  Besitz  der  Hornschuppen  ver- 
danken die  Reptilien  ihre  alte  Bezeichnung  ,,Amphibia  squamata",  im  Gegen- 
satz zu  den  ,,Amphibia  nuda",  den  eigentlichen  ,, nackten"  Amphibien,  deren 
Haut  dieser  Bildungen  entbehrt.  Auf  die  Reptilschuppen  zurückzuführen  sind 
wohl  auch  die  Schuppen  an  den  Beinen  der  Vögel,  vielleicht  auch  die  Schuppen- 
bildungen bei  manchen  Säugetieren  (beim  Biber  und  bei  Mäusen  am  Schwanz, 
beim  Schuppentier  am  ganzen  Körper),  was  freilich  nicht  als  sicher  gelten  kann. 
Jedenfalls  zeigen  sie  einen  ähnlichen  Bau  wie  jene. 

Ganz  anders  aussehende  Gebilde,  für  die  doch  die  Ableitung  von  den  Fedem  und 
Reptilschuppen  als  sicher  gelten  kann,  sind  die  Federn  der  Vögel,  die  ihre  Ent- 
stehung ebenfalls  mit  der  Bildung  einer  Papille  des  Coriums  beginnen,  dann 
freilich  ihren  eigenen  Entwickelungsgang  einschlagen  und  in  noch  höherem 
Maße  als  das  bei  der  Reptilschuppe  der  Fall  ist,  auf  Kosten  der  Epidermis  zu- 
stande kommen.  Die  ausgebildete  Feder  mit  ihrem  Kiel  und  den  zwei  Reihen 
von  Strahlen,  die  den  Federbart  (die  Federfahne)  bilden,  ist  wesentHch  eine 
hornige,  durch  die  Epidermis  erzeugte  Bildung;  nur  in  das  Innere  ihres  unteren, 
in  einer  Hauttasche  steckenden  Abschnittes,  der  Federspule,  ragt  der  Rest  der 
Coriumpapille  hinein.  Mannigfach  ist  die  besondere  Ausbildung  der  Federn: 
den  kräftigen  ,, Konturfedern",  deren  Strahlen  mit  untereinander  verankerten 
Seitenstrahlen  besetzt  sind,  stehen  weiche  kleine  ,, Flaumfedern"  mit  spärlicher 
entwickelter  Fahne  gegenüber,  und  durch  Rudimentärwerden  und  schließlich 
völligen  Schwund  des  Federbartes  kommen  ,, Fadenfedern"  zustande,  die 
täuschend  Haaren  ähnhch  sehen.    Und  doch  ist  eine  nähere  Verwandtschaft 


414 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


zwischen  Federn  und  Haaren  mit  Sicherheit  auszuschließen.  Darauf  weist 
schon  die  Entwickelungsgeschichte  hin.  Im  Gegensatz  zu  Schuppe  und  Feder 
beginnt  das  Haar  seine  Entstehung  mit  dem  Auftreten  einer  Verdickung  der 
Epidermis,  die  sich  dann  als  Haarkeim  in  die  Tiefe  senkt,  und  in  deren  Grund 
erst  sekundär  eine  kleine  Papille  des  Bindegewebes  eindringt  (Fig.  6).  Aus  den 
zentralsten  Partien  des  Haarkeimes  geht  weiterhin  das  Haar  selbst  hervor, 
während  die  umgebenden  Zellmassen  zu  den  Wurzelscheiden  werden,  die  den 
Haarbalg,  d.  i.  die  Hauttasche,  in  der  das  ausgebildete  Haar  steckt,  auskleiden. 
Am  Haar  sind  gewöhnlich  das  Mark,  die  Rinde,  und  ein  Oberhäutchen  zu  unter- 
scheiden; der  in  die  Haut  versenkte  Teil  wird  als  Haarwurzel  dem  frei  heraus- 
stehenden  Schaft  gegenübergestellt.     Auch  die   Haare  sind,   ebenso  wie  die 


A 


Fig.  bA — D.  Vier  Schemata  zum  Verständnis  der 
Haarent Wickelung.  A  Haarkeim  in  der  Epidermis. 
B  Einsenkung  des  Haarkeiraes  in  die  Tiefe.  C 
Der  Haarkeim  ist  zu  einem  langen  Zapfen  aus- 
gewachsen. D  Bildung  der  Papille  am  Grunde 
des  Haarkeimes,  Differenzierung  des  Haares  aus 
den  zentralen  Teilen  des  Haarkeimes.    Nach  Lübosch. 


Federn,  nicht  alle  gleichartig:  kräftigen  Stichelhaaren  stehen  dünne  Wollhaare 
gegenüber,  aber  auch  Borsten  und  Stacheln  sind  als  besondere  Abarten  der 
Haare  zu  betrachten.  Als  wichtigster  Bestandteil  der  Haare  erweist  sich  immer 
die  Rindenschicht,  während  das  Mark  viel  mehr  zurücktritt,  vielfach  auch  ganz 
fehlt.  Die  Rindenschicht  ist  auch  hauptsächlich  der  Sitz  der  Pigmentstoffe,  die 
den  Haaren  ihre  Färbung  verleihen. 

Viel  umstritten  ist  die  Frage  nach  der  stammgeschichtlichen  Herkunft  der 
Haare.  Von  den  darüber  geäußerten  Vorstellungen  darf  als  ziemlich  gesichert 
angesehen  werden,  daß  die  Haare  im  Anschluß  an  Schuppen  entstanden,  wie  ja 
für  die  Säuger  die  Abstammung  von  Reptilien,  und  damit  der  ursprüngliche 
Besitz  eines  Schuppenkleides,  anzunehmen  ist.  Noch  jetzt  läßt  sich  bei  den 
Embryonen  mancher  Säuger  eine  Anordnung  der  Haare  in  Gruppen  nach- 
weisen, deren  Stellung  die  Vermutung  nahe  legt,  daß  die  ersten  Haargruppen 
am  freien  Hinterrande  von  Schuppen  entstanden.  Damit  ist  denn  auch  zu- 
gleich das  Verhältnis  der  Haare  zu  den  Federn  angedeutet.  Vögel  wie  Säuger 
sind  von  schuppentragenden  ReptiHen  abzuleiten,  aber  während  in  der  Feder 
geradezu  das  Umwandlungsprodukt  einer  Schuppe  zu  sehen  ist,  kann  von  den 
Haaren  nur  gesagt  werden,  daß  sie  im  Anschluß  an  die  Schuppen  entstanden 
sind.  Von  einem  gemeinsamen  Ausgangszustand  aus  ging  also  die  Entwickelung 
verschiedene  Bahnen,  die  beide  zu  einem  funktionell  ähnlichen  Endziele  führ- 
ten: der  Bildung  eines  vorzüglichen  wärmenden  Kleides  um  den  Körper.  Denn 
das  Gefieder  wie  der  Haarpelz  erfüllen  die  Aufgabe,  die  Wärmeabgabe  auf  der 
Körperoberfiäche  zu  beschränken,  und  können  das,  nicht  nur,  weil  das  Hörn, 


Haare.     Sonstige  Horngebilde.     Hautdrüsen  a  i  5 

aus  dem  sie  bestehen,  ein  schlechter  Wärmeleiter  ist,  sondern  auch  weil  durch 
die  Anordnung  der  Federn  und  Haare  in  der  Umgebung  des  Körpers  kleine 
Räume  mit  stagnierenden  Luftschichten  erzeugt  werden,  die  ganz  besonders 
schlechte  Wärmeleiter  darstellen.  Damit  hängt  es  zusammen,  daß  Vögel  und 
Säuger  eigenwarme  Tiere  (Warmblüter)  sind,  d.h.  Tiere,  deren  Temperatur, 
unabhängig  von  der  der  Umgebung,  immer  sich  auf  einer  bestimmten,  nur  in 
geringen  Grenzen  schwankenden  Höhe  hält. 

Unter  den  sonstigen  Horngebilden,  die  oben  noch  genannt  wurden,  ver-  Sonstige 
dienen  besondere  Beachtung  die  verschiedenen  Bekleidungen  der  Zehen:  """^^  ' 
Krallen,  Hufe,  Nägel.  Als  Ausgangsform  derselben  ist  die  Kralle  anzusehen, 
die  bei  Reptilien,  Vögeln  und  vielen  Säugern  das  Endglied  des  Fingers  oder  der 
Zehe  dütenförmig  umgibt;  von  ihr  leitet  sich,  durch  Zurücktreten  des  an  der 
Unterseite  befindlichen  ,,Sohlenhornes"  und  Hervortreten  der  die  Oberseite 
bildenden  ,, Krallenplatte",  der  Plattnagel  ab,  wie  er  den  Affen  und  den  Men- 
schen zukommt,  außerdem  aber  auch,  durch  Entwickelung  in  anderer  Rich- 
tung, der  Huf  der  Huftiere.  Die  Ausbildung  der  Hufbekleidung  in  Zusammen- 
hang mit  der  völligen  Aufrichtung  der  Gliedmaßen  auf  die  Spitzen  der  Finger 
und  Zehen  bedeutet  innerhalb  des  Säugerstammes  ein  so  wichtiges  Merkmal, 
daß  man  die  betreffenden  Gruppen  geradezu  als  Huftiere  {Ungulata)  den 
Krallen-  und  Nageltieren  {Unguiculata)  gegenüberstellt. 

Endlich  gedenken  wir  noch  kurz  der  Hautdrüsen,  die  uns  bei  den  Wirbel-  Hautdrüsen. 
tieren  in  sehr  mannigfacher  Ausbildung  entgegentreten.  Im  ganzen  gering  ist 
die  Rolle,  die  sie  bei  den  Fischen  spielen.  Hier  sind  zwar  einzelne  Zellen,  denen 
die  Fähigkeit  zur  Absonderung  bestimmter  Stoffe  zukommt,  vielfach  in  der 
Oberhaut  verstreut,  größere  Drüsen  aber  sind  nur  bei  wenigen  Formen,  z.  B. 
als  Giftdrüsen  bei  manchen  Knochenfischen  vorhanden.  Und  doch  wird  gerade 
bei  den  Fischen  die  morphologische  Einrichtung  der  Drüsen  zur  Schaffung 
ganz  besonders  merkwürdiger  Organe  ausgenutzt:  die  Leuchtorgane,  die  sich 
bei  verschiedenen  namentlich  in  größeren  Tiefen  lebenden  Formen  finden,  sind 
ihrem  Bau  nach  als  drüsige  Gebilde,  die  einen  phosphoreszierenden  Stoff  ab- 
sondern, aufzufassen.  Besondere  Einrichtungen  wie  Reflektoren  und  Vor- 
richtungen, um  das  Licht  abzublenden,  gestalten  die  größeren  dieser  Organe, 
die  in  der  Nähe  der  Augen  liegen,  zu  Leuchtapparaten  von  höchster  Leistungs- 
fähigkeit aus. 

Die  Wirbeltierklasse,  deren  Integument  ganz  besonders  durch  den  großen 
Drüsenreichtum  sein  Gepräge  erhält,  sind  die  Amphibien.  Meist  handelt  es  sich 
um  Drüsen,  die  die  Form  kleiner  rundhcher  Säckchen  haben,  von  einer  Schicht 
glatter  Muskelzellen  umgeben  sind  und  ein  scharfes,  auf  kleine  Tiere  vielfach 
giftig  wirkendes  Sekret  absondern.  Darin  liegt  dann  ein  Schutz  für  das  Tier, 
ein  gewisser  Ersatz  für  den  Mangel  festerer  Schuppenbildungen,  wie  sie  den 
Reptihen  zukommen.  Bei  diesen  gehört  dementsprechend  das  Vorkommen 
drüsiger  Organe  in  der  Haut  zu  den  Seltenheiten,  und  das  gleiche  ist  der  Fall 
bei  den  Vögeln,  wo  nur  eine  einzige  Drüse,  die  am  Schwänze  gelagerte  Bürzel- 
drüse, vorhanden  ist.    Ihr  fettiges  Sekret  dient  zum  Einfetten  des  Gefieders; 


41 6  Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

sie  ist  daher  am  stärksten  ausgebildet  bei  Wasservögeln,  fehlt  aber  manchen 
anderen  Arten,  wie  den  Papageien. 

Demgegenüber  bieten  die  Säuger  mit  dem  Drüsenreichtum  ihrer  Haut 
wieder  eine  größere  ÄhnHchkeit  mit  den  Amphibien,  und  diese  Tatsache  ist 
denn  auch  vielfach  als  Hinweis  auf  einen  engeren  verwandtschaftlichen  Zu- 
sammenhang beider  Klassen  angeführt  worden.  Doch  ist  von  den  zwei  Arten 
von  Drüsen,  die  bei  den  Säugern  unterscheidbar  sind,  nur  die  eine  von  Haut- 
drüsen, wie  sie  die  Amphibien  besitzen,  ableitbar:  die  Knäuel-  oder  Schweiß- 
drüsen, die  ein  wässeriges,  häufig  (wie  z.  B.  beim  Stinktier)  Riechstoffe  ent- 
haltendes Sekret  absondern  und  mit  jenen  Amphibien-Hautdrüsen  den  Besitz 
einer  Hülle  von  glatten  Muskelzellen  teilen.  Als  Neuerwerbungen  haben  da- 
gegen zu  gelten  die  Talgdrüsen,  die  im  Anschluß  an  die  Haare  entstanden 
zu  denken  sind  und  zum  größten  Teil  tatsächlich  auch  in  die  Haarbälge  ein- 
münden, stellenweise  freilich  auch  ohne  Beziehungen  zu  Haaren  gefunden 
werden.  Auch  sie  können  stark  riechende  Stoffe  absondern. 
Milchdrüse.  Bei  Weitem  der  wichtigste  Drüsenapparat  der  Säuger  ist  aber  die  Milch- 

drüse, deren  Besitz  ja  eben  das  ,, Säugetier"  kennzeichnet.  Die  eierlegenden 
Säugetiere  (die  Kloakentiere)  zeigen  in  der  Ausbildung  dieses  Apparates  Ver- 
schiedenheiten gegenüber  den  lebendiggebärenden,  und  unter  diesen  wieder 
bieten  die  Beuteltiere  die  Besonderheit,  daß  bei  ihnen  die  Milchdrüsen  auf  den 
Grund  des  am  Bauche  befindlichen  Beutels,  in  den  die  Jungen  nach  der  Geburt 
hineingebracht  werden,  beschränkt  sind,  während  sie  sich  bei  den  übrigen  Säu- 
gern in  der  Brust-  und  Bauchgegend  finden  können,  genauer  gesagt:  jederseits 
im  Verlaufe  einer  Linie,  die  sich  von  der  Wurzel  der  vorderen  Extremität  zu 
der  der  hinteren  erstreckt.  Dieser  Linie  entsprechend  kommt  es  bei  manchen 
Formen  tatsächlich  zur  Ausbildung  von  Milchdrüsen,  während  bei  anderen  nur 
die  vorderen,  bei  noch  anderen  nur  die  hinteren  Anlagen  zur  Entfaltung  ge- 
langen. So  erstrecken  sich  beim  Schwein  die  Milchdrüsen  über  die  Brust-  und 
Bauchgegend,  bei  Huftieren  (z.  B.  Kühen,  Ziegen)  sitzen  sie  lediglich  hinten, 
in  der  Leistengegend,  beim  Menschen  nur  in  der  Brustgegend.  Doch  kommen 
auch  beim  Menschen  gelegentlich  überzählige  Milchdrüsen  vor,  die  ihren  Sitz 
entsprechend  den  oben  genannten  Linien  haben  können.  Von  den  Beuteltieren 
an  finden  sich  in  dem  Hautgebiet  über  den  Milchdrüsen  Erhebungen  der  Haut, 
Zitzen,  auf  denen  die  Drüsengänge  zur  Ausmündung  kommen.  In  ihrem  Bau 
zeigen  auch  sie  manche  Besonderheiten. 

2.  Skelettsystem. 
2.  Skelettsystem.  Mit  dem  Namen  Skelett  werden  bekanntlich  die  Hartgebilde  des  Tier- 

'  Skelettes,  körpcrs  Zusammengefaßt,  deren  Aufgabe  es  ist,  den  Weichteilen  eine  Stütze  zu 
bieten,  sie,  wo  es  nötig  ist,  auch  schützend  zu  umgeben  (wie  der  Schädel  das 
Gehirn,  die  Wirbelsäule  das  Rückenmark,  der  Brustkorb  Herz  und  Lungen), 
endlich  aber  mit  den  Muskeln  zusammen  den  Bewegungsapparat  zu  bilden. 
Die  beiden  erstgenannten  Aufgaben  erfüllen  sie  schon  bei  den  niedersten  Orga- 
nismen; in  den  Dienst  der  Bewegung  aber  tritt  das  Skelett  erst  in  den  höheren 


Hautdrüsen.    Skelettsystem.    Aufgaben  des  Skelettes.    Materialien  417 

Formen  seiner  Ausbildung,  wie  bei  den  Gliedertieren  unter  den  Wirbellosen 
und  vor  allem  bei  den  Wirbeltieren.  Vorbedingung  für  die  Übernahme  dieser 
Funktion  ist  die  Gliederung  des  Skeletts  in  eine  größere  Anzahl  einzelner 
Stücke,  die  untereinander  beweglich,  d.  h.  durch  weichere,  nachgiebige  Massen, 
verbunden  werden.  An  diesen  Stücken  greifen  die  Muskeln  an,  die  die  eigent- 
liche Quelle  der  Bewegung  bilden.  Die  Skeletteile  sind  die  an  sich  starren  Ge- 
bilde, auf  die  die  Bewegung  erst  übertragen  wird:  sie  bilden  den  passiven  Anteil 
des  Bewegungsapparates,  die  Muskeln  den  aktiven.  Damit  erscheint  ganz  all- 
gemein die  funktionelle  Bedeutung  des  Skelettes  an  sich  beschränkt,  und  es 
wird  verständlich,  daß  es  niedere  tierische  Organismen  gibt,  deren  Körper  keine 
eigentlichen  Hartgebilde  enthält.  Selbst  bei  dem  niedersten  Wirbeltier,  dem 
Amphioxus,  besitzen  die  festeren  stützenden  Teile  des  Körpers  noch  nicht  den 
geweblichen  Charakter  und  die  Konsistenz,  die  ihnen  bei  den  übrigen  Wirbel- 
tieren zukommen.  Immerhin  spielt  aber  doch  bei  der  Mehrzahl  gerade  der 
Wirbeltiere  das  Skelett  auch  funktionell  eine  nicht  unwichtige  Rolle;  morpho- 
logisch aber,  für  die  Form  und  Gestaltung  des  Körpers  und  seiner  Teile,  besitzt 
es  eine  Bedeutung,  die  ihm  unter  allen  Organsystemen  die  erste  Stelle  anweist. 
Die  vergleichende  Betrachtung  der  Wirbeltiere,  die  danach  strebt,  die  syste- 
matische Stellung  der  Formen  zueinander,  ihren  verwandtschaftlichen  Zusam- 
menhang zu  ergründen,  muß  in  erster  Linie  das  Skelett  berücksichtigen,  das 
nicht  nur  die  Form  des  Gesamtkörpers  im  Grundriß  herstellt,  sondern  auch  in 
seiner  Zusammensetzung,  in  der  Zahl,  Form  und  Anordnung  seiner  Teile  die 
wichtigsten  Merkmale  zur  morphologischen  Charakterisierung  der  einzelnen 
Gruppen  darbietet.  So  war  es  auch  möglich,  die  ausgestorbenen  Wirbeltier- 
formen zu  gruppieren,  ihre  Beziehungen  zueinander  und  zu  den  lebenden  For- 
men zu  erforschen,  lediglich  auf  Grund  der  Morphologie  ihrer  Skeletteile,  die 
ja  als  Hartgebilde  neben  den  Zähnen  allein  von  den  verschiedenen  Organen 
des  Körpers  der  Zerstörung  trotzen  und  der  Forschung  erhalten  bleiben 
konnten.  Die  Paläontologie  der  Wirbeltiere  ist  in  erster  Linie,  ja  fast  aus- 
schließlich, eine  Morphologie  des  Skelettes  jener  alten  verschwundenen  Ge- 
schöpfe. — 

Die  Materialien,  aus  denen  bei  den  Wirbeltieren  die  Skeletteile  be- Materialien  des 
stehen,  sind  Knorpel  und  Knochen;  der  erstere  mit  nicht  unbeträchtlicher  ^i^eiettes. 
Druck-  und  Zugfestigkeit  ausgestattet,  biegsam,  aber  bald  brechend  und  daher 
nur  bei  Wassertieren  zur  Herstellung  ausgedehnterer  Abschnitte  des  Skelettes 
geeignet,  bei  Landtieren  lediglich  zur  Ergänzung  der  knöchernen  Teile  ver- 
wendbar; der  letztere  durch  Einlagerung  von  Kalksalzen  sehr  viel  widerstands- 
fähiger und  daher  in  viel  weiterem  Umfange  zu  gebrauchen  und  namentlich  bei 
landlebenden  Formen  bei  weitem  den  größten  Teil  des  Gesamtskelettes  aus- 
machend. Die  weicheren,  zur  Stützsubstanzgruppe  gehörigen  Gewebe,  die  die 
festen  Skeletteile  beweghch  untereinander  verbinden,  füllen  in  den  einfacheren 
Arten  der  Verbindungen  den  Zwischenraum  zwischen  den  zwei  zu  vereinigenden 
Skelettstücken  gleichmäßig  aus;  in  den  höheren  Formen,  den  wahren  Gelenken, 
sind  sie  lediglich  an  den  Rändern  der  Endflächen  der  Skelettstücke  befestigt 

K.  d.  G.  III.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  27 


Entstehung  der  Skeletteile.    Äußeres  und  inneres  Skelett 


419 


und  bilden  so  einen  mehr  oder  minder  schlaffen  Sack,  die  Gelenkkapsel,  in  deren 
Innerem,  der  Gelenkhöhle,  jene  eigenartig  geformten  Endflächen  (Gelenk- 
flächen) sich  einander  gegenüberstehen,  sich  berühren  und  aneinander  schlei- 
fend verschieben  können    (Fig.  13  D). 

Knorpel  wie  Knochen  verdanken  ihre  Entstehung  dem  mittleren  Keim- 
blatt, und  diese  mesodermale  Herkunft  unterscheidet  das  Skelett  der  Wirbel- 
tiere von  vielen  Skelettbildungen  der  Wirbellosen,  die  dem  äußeren  Keimblatt 
entstammen.  Jene  beiden  Hartgebilde  sind  besondere  Arten  der  Stützsub- 
stanzgewebe, die  als  genetisch  einheitliche  Gewebsgruppe  auf  das  Mesenchym 
oder  Zwischenblatt  zu- 
rückgeführt werden.  Mit 
diesem  Namen  aber  wird 
den  epithelialen  Keimblät- 
tern ein  schon  früh  auftre- 
tendes Gewebe  gegenüber- 


Entsteliung  der 
Skcletteile. 


Bückenmark 


Aorta 


Leibeshöhle 


Ursegment 
Chorda  dors. 

Verbindungsstiel     zw. 
Ursegment  und  Seiten- 
Vornieren-        platten 
kanälchen 


Darmrohr 

Viscerales)  Blatt  des 
Parietales)  Mesoderms 


Fig.  8.     Querschnitt  durch  die  Gegend  der  Vomiere  von  einem  Selachier- 

embryo,    bei  dem  die  Ursegmente  im  Begriffe  stehen,  sich  abzuschnüren. 

An    den    mit   x   bezeichneten    Stellen   findet    die   Bildung  von  Mesenchym 

statt.     Nach  v.  Wijhe  und  O.  Hertwig. 


gestellt,  das  durch  Aus- 
wanderung mesodermaler 
Zellen  aus  dem  epithelialen 
Verbände,  an  verschiede- 
nen Stellen  des  Mesoderms, 
entsteht  (Fig.  8).  Die  aus- 
wandernden zelligen  Ele- 
mente vermehren  sich 
reichlich  und  bilden  nun 
überall  ein  Füll-  und  Stütz- 
gewebe zwischen  den  epi- 
thelialen Keimblättern  und 
ihren  verschiedenen  Bil- 
dungen. Dieses  Stützgewebe  bleibt  aber  nicht  auf  dem  ersten  indifferenten 
Zustand  stehen,  sondern  erleidet  mannigfache  Umwandlungen  und  läßt  die 
verschiedenen  Arten  des  Bindegewebes,  aber  auch  den  Knorpel  und  den 
Knochen  aus  sich  entstehen.  Der  Entstehungsort  dieser  Hartgebilde  kann 
verschieden  sein,  und  so  finden  sich  denn  auch  im  erwachsenen  Zustande  der 
Wirbeltiere  Skeletteile  in  zweierlei  verschiedener  Lage:  mehr  an  der  Ober- 
fläche des  Körpers,  unmittelbar  unter  der  Oberhaut,  die  über  ihnen  sogar 
schwinden  kann,  so  daß  dann  die  Skeletteile  frei  zutage  liegen,  oder  mehr 
in  der  Tiefe.  Danach  werden  ein  äußeres  und  ein  inneres  Skelett  unter- 
schieden. Das  äußere  Skelett  (Hautskelett,  Außenskelett),  dem  wir  schon  bei 
Betrachtung  der  Haut  begegneten,  spielt  bei  den  Wirbeltieren  nicht  die  große 
Rolle,  die  ihm  bei  den  Wirbellosen  zukommt;  immerhin  besitzen  die  Fische  in 
ihrem  Schuppenkleid,  Krokodile  und  Gürteltiere  in  ihren  knöchernen  Panzern, 
die  Schildkröten  in  ihrem  Bauchschild  recht  ansehnliche  äußere  Skelette,  und 
im  Bereiche  des  Kopfes  gelangen  knöcherne  Stücke,  die  ursprünglich  in  der 
Haut  entstanden  und  somit  dem  äußeren  Skelett  angehören,  zur  Verbindung 


AuSeres  und 
inneres  Skelett. 


27' 


420  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

mit  den  tiefer  gelegenen  Teilen  des  Innenskelettes  und  bilden  so  wichtige  und 
unentbehrliche  Bestandteile  des  Schädels  (Scheitel-,  Stirn-,  Nasenbeine, 
Knochen  des  Gesichtsschädels).  Bei  weitem  die  meisten  Skeletteile  der  Wirbel- 
tiere entstehen  aber  von  vornherein  im  Innern  des  Körpers:  bei  den  Wirbel- 
tieren erlangt  das  innere  Skelett  die  höchste  Stufe  seiner  Ausbildung,  ihm 
fällt  auch  fast  ausschließlich  die  Aufgabe  zu,  den  passiven  Anteil  des  Bewegungs- 
apparates zu  bilden.  Dieser  Sachverhalt  hat  denn  auch  dazu  geführt,  die  meisten 
in  der  Haut  gelegenen  äußeren  Skeletteile  als  Bestandteile  der  Haut  und  in  Zu- 
sammenhang mit  dieser  zu  behandeln,  und  unter  dem  ,,  Skelett"  im  engeren 
Sinne  nur  die  Teile  des  Innenskelettes  und  die  wenigen  Stücke  des  Außen- 
skelettes zu  verstehen,  die  sich  jenem,  namentHch  im  Bereiche  des  Kopfes, 
innig  angeschlossen  haben. 
Knorpeliges  Pri-  Beim  Amphioxus  sind  weder  echte  knorpelige  noch  knöcherne  Teile  vor- 

Knöcher^Eie-  hauden;  man  kann  hier  also  von  einem  wirklichen  Skelett  noch  nicht  reden, 
mente:  Deck-  ^jg  Ersatz  Übernehmen  verdichtete  Bindegewebspartien,  stellenweise  mit  einer 

Knochen,  Ersatz-  '-'  ^ 

knochen.  bcrcits  an  Knorpel  erinnernden  Struktur,  an  verschiedenen  Stellen,  namentlich 
zwischen  den  Kiemenspalten,  die  Aufgabe,  ein  festeres  widerstandsfähiges  Ge- 
rüst zu  bilden.  Wirkliche  Skelettgebilde  finden  sich  zuerst  bei  den  Rund- 
mäulern, und  hier,  wie  bei  den  Knorpelflossern  (Selachiern),  bestehen  sie  sämt- 
lich nuraus  Knorpel,  während  knöcherne  Teile  bei  den  Rundmäulern  gar  nicht, 
bei  den  Selachiern  nur  in  der  Haut,  an  der  Basis  der  bereits  besprochenen  Haut- 
zähnchen,  vorhanden  sind.  Wirbelsäule,  Schädel,  Extremitätenskelett  werden 
bei  den  Selachiern  nur  aus  knorpeligen  Stücken  aufgebaut,  und  dieses  Knorpel- 
skelett, das  somit  die  morphologisch  ursprünglichste  Form  des  Skelettes  dar- 
stellt, und  daher  den  Namen  Primordial-  (Ur-)  Skelett  erhalten  hat,  darf  die 
größte  Beachtung  beanspruchen.  Wie  es  in  der  Stammesgeschichte  als  erster 
Repräsentant  eines  wirklichen  Skelettes  auftritt,  so  bildet  es  auch  in  der 
Keimesgeschichte  aller  Wirbeltiere,  die  über  jenen  vorhin  genannten  stehen, 
die  erste  Erscheinungsform  eines  solchen.  Es  wird  bei  allen  immer  wieder  an- 
gelegt; auch  beim  Menschen  noch  treten  ein  großer  Teil  des  Schädels,  die 
Wirbelsäule  und  die  Stücke  des  Extremitätenskelettes  embryonal  knor- 
pelig auf  und  verharren  eine  Zeitlang  auf  diesem  embryonalen  Stadium. 
Im  Gegensatz  aber  zu  Rundmäulern  und  Knorpelflossern,  wo  der  Knorpel- 
zustand des  Skelettes  das  ganze  Leben  hindurch  festgehalten  wird,  wird 
er  bei  den  höheren  Formen  überwunden,  indem  zu  den  zuerst  entstandenen 
knorpeligen  Skeletteilen  knöcherne  hinzutreten,  die  sich,  wie  wir  schon  gesehen 
haben,  ihrer  ursprünglichen  Lage  nach  in  zwei  Gruppen  sondern.  Die  Knochen 
der  ersten  Gruppe  nehmen  ihre  Entstehung  in  der  Haut  und  in  der  Schleimhaut 
der  Mundhöhle,  d.  h.  in  einiger  Entfernung  und  getrennt  von  dem  Knorpel- 
skelett, dem  sie  sich  lediglich  auf  seiner  Oberfläche  auflagern.  Man  hat  sie  daher 
als  Deck-  oder  Belegknochen  bezeichnet.  Sie  gehören  dem  Außenskelett  an 
und  sind  mit  den  schon  besprochenen  knöchernen  Schuppenbildungen  der  Haut 
auf  eine  Stufe  zu  stellen.  Soweit  sie  in  der  Haut  entstehen,  sind  sie  wohl  ge- 
radezu aus  dem  Zusammenfluß  von  Hautschuppen  hervorgegangen;  soweit  sie 


Primordialskelett.  Deck-  und  Ersatzknochen.  Einteilung  des  Skelettes.  Rumpfskelett     421 

in  der  Schleimhaut  der  Mundhöhle  ihren  Ursprung  nehmen,  sind  sie  aus  der 
Verwachsung  von  Zähnen  entstanden  zu  denken.  Doch  können  auch 
Sehnen-,  Membran-  und  Band-Verknöcherungen  ,, Deckknochen"  liefern.  Zeit- 
lich repräsentieren  die  Deck-  oder  Belegknochen  die  zuerst  auftretenden 
knöchernen  Elemente,  und  zwar  gilt  dies  für  die  Keimesgeschichte  nicht  weni- 
ger als  für  die  Stammesgeschichte. 

Die  zweite  Gruppe  knöcherner  Elemente,  die  zu  den  ursprünglichen  knor- 
peligen Skeletteilen  hinzutritt,  entsteht  in  unmittelbarster  Nähe  der  Knorpel- 
teile, an  Stellen,  wo  diese  durch  den  Ansatz  von  Bändern  oder  Muskelsehnen 
besonders  beansprucht  werden.  Hier  lagern  sich  zunächst  der  Oberfläche  des 
Knorpels  dünne  Knochenlamellen  unmittelbar  auf,  die  aber  weiterhin  auch  in 
denselben  eindringen  können,  wobei  der  Knorpel  selbst  zugrunde  geht.  So 
treten  an  Stelle  des  Knorpels  knöcherne  Territoren,  die  jenen  in  größerer  oder 
geringerer  Ausdehnung  ersetzen  und  so  mit  Recht  als  Ersatzknochen  be- 
zeichnet werden  können.  Die  gewöhnliche,  nicht  ganz  genaue  Ausdrucksweise 
sagt,  daß  der  Knorpel  stellenweise  ,, verknöchert". 

So  setzt  sich  das  ausgebildete  Skelett  der  meisten  Wirbeltiere  aus  dreierlei  Bestandteile  des 
Bestandteilen  zusammen:  i.  aus  knorpeligen  Partien,  die  erhalten  bleibende  ^"skeiettls."" 
Reste  des  ursprünglichen  primordialen  Knorpelskeletts  darstellen;  2.  aus  Er- 
satzknochen; 3.  aus  Deckknochen,  Die  Menge  des  Knorpels,  die  erhalten  bleibt, 
ist  sehr  verschieden  und  im  allgemeinen  bei  den  niederen  Formen  größer  als 
bei  den  höheren,  doch  kann  aus  größerer  Knorpelmenge  nicht  ohne  weiteres  auf 
ein  primitives  Verhalten  geschlossen  werden,  da  auch  auf  höheren  Organisa- 
tionsstufen noch  eine  Vermehrung  des  Knorpelbestandes  eintreten,  und  wohl 
auch  wieder  eine  Rückbildung  von  Ersatzknochen  stattfinden  kann.  Bei  wei- 
tem die  meisten  Knochen  des  Wirbeltierskelettes  haben  den  Charakter  von 
Ersatzknochen;  die  Deckknochen  erlangen  ihre  reichste  Entfaltung  am  Kopfe, 
wo  sie  ausgedehnte  Partien  des  Schädels  bilden  können.  Ob  ein  Knochen  der 
einen  oder  der  anderen  Gruppe  angehört,  kann  man  ihm  im  ausgebildeten  Zu- 
stande gewöhnlich  nicht  ansehen. 

Wir  teilen  das  ganze  Skelett  ein  in  l.  das  Achsenskelett,  und  2.  das  Glied-  Einteilung  des 
maßen-  oder  Extremitätenskelett.    Am  Achsenskelett  aber  sind  bei  allen  Kra- 
nioten  als  zwei  große  Abschnitte  unterscheidbar:  a)  das  Rumpf skelett  und 
b)  das  Kopfskelett. 

I.  Achsenskelett. 

a)  Rumpfskelett  (Wirbelsäule,  Rippen  und  Brustbeinbildungen,  Skelett  Rumpfskelett 
des  unpaaren  Flossensaumes). 

Wollte  man  den  Namen  Wirbeltiere  wörtlich  nehmen  und  darunter  nur  Ungegliederter 
Tiere  mit  einer  aus  einer  Anzahl  ,,  Wirbel"  zusammengesetzten  Wirbelsäule  ver- 
stehen, so  würden,  wie  schon  gesagt,  mehrere  Formen,  die  ihrer  Gesamtorgani- 
sation nach  zu  den  Wirbeltieren  gehören,  auf  diesen  Namen  keinen  Anspruch 
haben.  Denn  sie  besitzen  eben  noch  keine  wirklichen  Wirbel,  sondern  zeigen 
Zustände  des  axialen  Rumpfskelettes,  die  dem  gegliederten  vorausgehen  und 
entweder  noch  als  ganz  ungegliedert  zu  bezeichnen  sind  oder  aber  eine  erst  be- 


422 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


ginnende  Gliederung  in  verschiedener  Weise  erkennen  lassen.  Tatsächlich  ist 
auch  nicht  die  Wirbelsäule,  sondern  die  Chorda  dorsalis  die  erste  axiale  Stütze 
des  Wirbeltierkörpers.  Beim  Amphioxus  (Fig.  9)  bleibt  sie  als  solche  zeitlebens 
bestehen:  umgeben  von  einer,  von  ihr  selbst  ausgeschiedenen,  Hülle  (Chorda- 
scheide) erstreckt  sie  sich  hier  durch  die  ganze  Länge  des  Körpers  hindurch. 
Hartgebilde  kommen  nicht  zur  Entstehung,  wohl  aber  bildet  das  Bindegewebe 
in  der  Umgebung  der  Chorda  noch  ein  weiteres  Gerüstwerk,  das  immerhin 
als  ein  Vorläufer  eines  Skelettes  betrachtet  werden  kann. 
Anfänge  der  Zuständc,   dlc  gewisscrmaßcn  die  Anfänge  einer  Gliederung  des  Achsen- 

skelettes darstellen,  finden  sich  in  verschiedener  Form  bei  den  Neunaugen,  den 
Stören,  Dipnoern,  in  besonders  einseitiger  Ausbildung  auch  bei  den  Holoce- 
phalen.    Als  Beispiel  diene  der  Befund  beim  Stör  (Fig.    10).    Die  von  einer 


Gliederung 


Kiemendarni 
mit  Kiemenspalten 


BückenmarJc 

Chorda  dorsalis 


Cirren 


After 


Vestibulum 

Fig.  9.     Schematischer  Längsschnitt  durch  Amphioxus.     Nach  Bo.^s. 


Peribranchial- 
rauin 


Ponis  Darm 

hranchialis 


kräftigen  Faserscheide  umgebene  zellige  Chorda,  deren  vorderes  Ende  in  den 
hinteren  Teil  der  Schädelbasis  aufgenommen  wird,  ist  auch  hier  im  Gebiete  des 
ganzen  Rumpfes  einheitlich,  doch  sitzen  ihr  in  regelmäßigen  Abständen  feste 
knorplige,  zum  Teil  verknöcherte  Skelettstücke  auf,  die  ihre  Entstehung  dem 
umgebenden  Bindegewebe  verdanken.  Sie  werden  mit  dem  Sammelnamen 
Bogenbildungen  bezeichnet.  Solcher  Bogenbildungen  sind  zunächst  unter- 
scheidbar obere  Bogen,  die  dorsal  der  Chorda  aufsitzen,  das  Rückenmark  um- 
geben, darüber  noch  einen  zweiten  zur  Aufnahme  eines  Längsbandes  bestimm- 
ten Kanal  bilden  und  dann  durch  einen  unpaaren  in  der  Mittellinie  aufsteigen- 
den ,, oberen  Dornfortsatz"  fortgesetzt  werden.  Zwischen  diesen  oberen  Bogen 
hegen  kleinere  obere  Intercalaria  oder  Zwischenstücke.  In  ähnlicher  Weise 
sitzen  dem  ventralen  Umfang  der  Chorda  untere  Bogen  und  untere  Intercalaria 
an;  die  unteren  Bogen  tragen  im  Rumpfteil  die  ,, unteren  Rippen". 

So  ist  also  hier  die  Chorda  mit  ihrer  Faserscheide  noch  durchaus  einheit- 
lich, durch  die  ihr  aufsitzenden  Bogenbildungen  wird  aber  doch  funktionell 
eine  Gliederung  bedingt:  die  Biegungen  bei  den  Bewegungen  des  Tieres  werden 
nun  nicht  mehr  gleichmäßig  in  ihrer  ganzen  Länge  erfolgen  können,  sondern 
wesenthch  in  den  Zwischenräumen  zwischen  den  aufsitzenden  festen  Stücken. 
Gegliederte  Damit  sind  denn  Zustände  geschaffen,   die  zu  einer  wirklichen  Gliede- 

rung auch  der  Chorda,  einer  Zerlegung  derselben  in  einzelne  Stücke,  über- 
leiten.   Eine  solche  Gliederung  erfolgt  schon  bei  vielen  Fischen  (Selachiern, 


AVirbelsäule. 


Ungegliedertes  Achsenskelett.   Anfänge  der  Gliederung.  Gegliederte  Wirbelsäule     423 


o.J. 


Knochenganoiden  und  Knochenfischen)  und  ist  weiterhin  ein  durchgehendes 
Merkmal  der  Amphibien  und  Amnioten.  Durch  sie  kommt  es  zur  Ausbildung 
von  Wirbelkörpern  und  damit  zur  Entstehung  einer  wirklichen  Wirbel- 
säule. 

Aber  auch  zur  Erreichung  dieses  Zieles  werden  verschiedene  Wege  einge- 
schlagen. Den  einen  beschreiten  die  Selachier,  indem  bei  ihnen  innerhalb  der 
Chorda-Faserscheide  sich  in  regelmäßigen  Abständen  Verdickungen  bilden,  die 
verknorpeln  und  gegen  die  Chorda  selbst  vordringend  diese  in  ihrem  Inneren 
einschnüren.  In  ihren  primitivsten  Zuständen  (bei  den  Grauhaien)  besitzen  sie 
die  einfachere  Form  von  zentral  durchbohrten  Scheiben;  in  ihrer  höchsten  Aus- 
bildung (Fig.  11)  werden  sie  sanduhrförmig  und  stellen  dementsprechend  ge- 
formte Wirbelkörper  dar  (auch  als  bikon- 
kave, amphicoele,  doppelt-trichterför- 
mige Wirbelkörper  bezeichnet).  Durch 
ihre  zentrale  Öffnung  geht  der  einge- 
schnürte Teil  der  Chorda  hindurch,  die 
sich  nach  beiden  Seiten  hin  in  den  trich- 
terförmigen Räumen  der  Wirbelkörper 
verbreitert  und  zwischen  je  zwei  Kör- 
pern, zusammen  mit  dem  unverknorpel- 
ten  Abschnitt  der  Faserscheide  ein  nach- 
giebiges ,, Zwischenwirbelband"  bildet, 
das  Beweglichkeit  zwischen  den  benach- 
barten Körpern  gestattet.  Der  Aufbau 
der  Wirbel  wird  vervollkommnet  durch 

Bogenbildungen  (obere  und  untere  Bogen,  dazwischen  obere  und  untere  Inter- 
calaria),  die  außen  den  Körpern  aufsitzen  und  dieselben  sogar  in  ihrem  ganzen 
Umfang  umwachsen  können. 

Haben  wir  hier  Wirbelkörper,  die  vor  allem  innerhalb  der  Chordascheide, 
hauptsächlich  von  dieser  selbst  gebildet,  liegen,  so  finden  wir  bei  Knochen- 
ganoiden und  Knochenfischen  sowie  bei  Amphibien  und  Amnioten  einen  ande- 
ren Modus  der  Wirbelkörperbildung:  ohne  Beteiligung  der  Chordafaserscheide 
lediglich  aus  dem  Bindegewebe  in  der  Umgebung  der  Chorda  (,,perichordar'). 
Auch  die  so  entstandenen  Wirbelkörper,  die  stets  mehr  oder  minder  vollständig 
verknöchern,  haben  oft  noch  die  Form  von  Doppeltrichtern  mit  einer  zentralen 
feinen  Öffnung,  durch  die  die  stark  eingeschnürte  Chorda  hindurchtritt  (so  bei 
Knochenfischen  (Fig.  12),  den  meisten  Knochenganoiden,  manchen  niederen 
Amphibien  und  selbst  noch  bei  manchen  Reptilien) ;  innerhalb  des  Wirbelkörpers 
kommt  es  manchmal  zu  einer  Verknorpelung  der  eingeschlossenen  (,,intraverte- 
bralen")  Chordapartie.  Die  weiten  Räume  zwischen  je  zwei  Wirbeln  werden 
durch  weichere,  nachgiebige  Gewebsmassen  ausgefüllt,  die  bei  manchen  Formen 
hauptsächlich  durch  erweiterte  Abschnitte  der  Chorda  selbst  gebildet  werden, 
während  bei  anderen  die  Chorda  auch  hier  (,,intervertebral")  eingeengt  wird, 
und  dafür  von  außen  eindringendes  Bindegewebe  den  Raum  erfüllt.    Daß  auch 


u.J. 

Fig.  10.  Ein  Stück  Wirbelsäule  des  Störs  in  seit- 
licher Ansicht  und  bei  Betrachtung  auf  dem  Querschnitt. 
ob.B.  oberer  Bogen,  o.J.  oberes  Intercalare,  u.E. 
unterer  Bogen,  //.  J.  unteres  Intercalare,  Sp  Pro- 
cessus spinosus  (oberer  Dornfortsatz),  R  untere  Rippe, 
vS  Chordascheide.      Nach  R.  Hertwig. 


424 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


dieses  verknorpeln  und  so  einen  „Zwischenwirbelknorpel"  bilden  kann,  zeigen 
manche  langschwänzige  Amphibien  (Fig.  13). 

Eine  höhere  Stufe  der  Vervollkommnung  bedeutet  es,  wenn  die  perichordal 
entstandenen  Wirbelkörper  untereinander  durch  wirkliche  Gelenke  verbunden 
werden.  Dies  ist  der  Fall  unter  den  Fischen  nur  bei  Lepidosteus,  dann  aber  bei 
den  höchststehenden  Salamanderformen  (Fig.  13D),  bei  den  schwanzlosen  Am- 
phibien, bei  fast  allen  Reptilien  und  bei  den  Vögeln.  Die  Wirbelkörper  tragen 
dabei  entweder  vorn  eine  Pfanne  und  hinten  einen  Gelenkkopf  oder  umgekehrt. 
Natürlich  setzt  das  Auftreten  von  Gelenkspalten  zwischen  den  Wirbelkörpern 
das  völlige  Zugrundegehen  der  Chorda  zwischen  je  zwei  Wirbeln  voraus,  und 


obere  Sogen 


oberes 
Intercalare 


Wirbel 
Jcanal 

Cliorda- 
scheide 

Raum, 
in  dem  die 
Chorda  lag 


unveränderte 
Chordascheide 


1  Virbelkörper  innerhalb 
der  Chordascheide 


Wk 


Fig.  II.  Längsschnitt  durch  die  Wirbelsäule  eines  Haifisches,  schema- 
tisiert.    Chorda  entfernt,  so  daß  man  nur  die  Höhlung  sieht,  in  der  sie 
gelegen  hat.     Nach  Boas. 


Fig.  12.  Schvvanzwirbel  eines  Karpfen.   o.B. 
oberer  Bogen,  «.  ^.  unterer  Bogen,    f^%  Wir- 
belkörper.    Nach  R.  Hertwig. 


damit  ist  eben  die  Gliederung  des  Achsenskelettes  zur  höchsten  Stufe  gelangt: 
an  die  Stelle  eines  einheitlichen  Stabes  ist  eine  aus  zahlreichen  Stücken  zu- 
sammengesetzte Wirbelsäule  getreten.  Auch  innerhalb  der  Wirbelkörper  pflegt 
dabei  die  Chorda  zugrunde  zu  gehen.  Bei  den  Säugern  wird  dieser  Endzustand 
nicht  erreicht:  hier  bleiben  die  knöchernen  Wirbelkörper,  die  vorn  wie  hinten 
mit  etwa  planen  Flächen  abschließen,  durch  faserknorplige  Zwischenwirbel- 
scheiben verbunden,  in  deren  Mitte  ein  Rest  der  Chorda  dorsalis  als  ,, Gallert- 
kern" sich  erhält.  Innerhalb  der  Wirbelkörper  geht  aber  die  Chorda  zugrunde. 
Auch  den  Wirbelkörpern,  die  aus  dem  Gewebe  in  der  Umgebung  der  Chorda 
ihren  Ursprung  nehmen,  schließen  sich  Bogenbildungen  an,  die  aber,  verglichen 
mit  denen  etwa  der  Störe  und  Haie,  einfacher  sind  und  meist  mit  den  Wirbel- 
körpern zu  einer  Einheit  zusammenfließen.  Ein  bei  den  Knochenfischen  ge- 
wöhnliches Verhalten  zeigt  Fig.  12 :  dem  amphicoelen  Wirbelkörper  schließen 
sich  die  oberen  Bogen  an,  die  über  dem  Wirbelkanal  (der  das  Rückenmark  ent- 
hält) sich  vereinigen  und  in  einen  oberen  Dornfortsatz  fortsetzen;  dazu  kommen 
untere  Bogen,  die  im  Rumpfteil  kurze  auseinanderstehende  Fortsätze  darstellen, 
im  Schwanzteil  aber  sich  zur  Bildung  eines  Kanals  für  die  Schwanzgefäße  ver- 
einen und  in  einen  unteren  Dornfortsatz  sich  fortsetzen.  Bei  den  Amphibien 
und  Amnioten  erscheinen  die  oberen  Bogen  komplizierter  gestaltet,  die  unteren 
fehlen  dagegen  vielfach  gänzlich.  An  den  oberen  entwickeln  sich  außer  dem 
schon  bei  den  Fischen  vorhandenen  oberen  Dornfortsatz  noch  jederseits  ein 
Querfortsatz,  der  manchmal  durchbohrt  ist  und  Rippen  zur  Anlagerung  sowie 


Gegliederte  Wirbelsäule.    Gesamtwirbelsäule 


425 


Muskeln  zur  Befestigung  dient,  ferner  am  vorderen  und  hinteren  Umfang  jeder- 
seits  Gelenkfortsätze,  also  zwei  vordere  und  zwei  hintere,  durch  die  benach- 
barte Wirbel  noch  weiter  miteinander  verbunden  werden  (Fig.  14).  Untere 
Bogen,  die  wie  bei  den  Fischen  einen  Kanal  für  Blutgefäße  umschließen,  finden 
sich  am  Schwänze  bei  langschwänzigen  Amphibien,  manchen  Reptilien  (Kroko- 
dilen, Brückenechsen  u.  a.),  selbst  noch  bei  einigen  Säugern  (Fig.  7).  Vielleicht 
sind  hierher  zu  zählen  aber  auch  die  soliden  unteren  Dornfortsätze,  die  bei 

-<4  HC  D   vorn 


Chorda 
clors. 


Zwischen- 
wirbel- 
knorpel 

Wirlel- 
Icörper 


Chorda- 


m 


\     Zwischen- 
[4  Wirbelknorpel 

i 


Wirbel-_ 
körper 


i,V' 


Chorda - 


Rt' 


S 


Wirbel-, 
körper 


Zwischen 
wirbel- 
knorpel 


-Vr 


m 


J 


fö 


Über- 

knorpelte 

Pfanne 

Knorpliger 
Kopf  des 
Wirbel- 
körpers 

Wirbel- 
körper 


säule. 


Fig.  13.     Längsdurchsclmitte    durch    die  Wirbelsäule    einiger   Urodelen.     A   von   Ranodon  sib.,    B  von  Amblystoma 
tigrinum,    C  von   Gyrinophilus  porphyr.,  Z)  von  Salamandrina  perspicillata.     Nach  Wiedersheim. 

vielen  Reptilien,  aber  auch  bei  Vögeln  von  der  Unterfläche  der  Halswirbel  aus 
sich  zwischen  die  hier  gelegenen  Muskeln  einschieben. 

Diese  nur  in  ganz  groben  Umrissen  die  wichtigsten  morphologischen  Tat-  Oesamtwirbei- 
sachen  skizzierende  Schilderung  erfordert  eine  wenigstens  kurze  Ergänzung 
durch  Betrachtung  der  Gesamtwirbelsäule  bei  den  verschiedenen  Formgruppen. 
Eine  solche  lehrt  uns  die  mannigfachsten  Anpassungen  an  die  Besonderheiten 
der  Lebensweise  und  Beziehungen  zu  den  verschiedensten  sonstigen  Einrich- 
tungen der  Organismen  kennen.  Einfach  in  ihrer  Gliederung  erscheint  die 
Wirbelsäule  der  Fische,  an  der  nur  ein  Rumpf-  und  ein  Schwanzabschnitt  unter- 
scheidbar sind:  ersterer  soweit  reichend,  als  die  Leibeshöhle  sich  erstreckt,  und 
gewöhnlich  Rippen  tragend,  letzterer  jenseits  dieses  Gebietes,  mit  kräftiger 
Muskulatur  versehen  und  das  Hauptbewegungsorgan  bildend.  Die  Zahl  der 
Einzelwirbel,  die  sie  zusammensetzen,  schwankt  in  sehr  weiten  Grenzen:  bei 


426 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Dornforisatz 
Gelenkfortsatz 


Querfortsatz 


-Rippe 


den  Haien  groß,  oft  sehr  groß  (bis  gegen  365),  wird  sie  bei  Knochenfischen  ge- 
ringer, kann  manchmal  sogar  sehr  klein  werden  (bis  15)  und  erhält  sich  nur  bei 
Formen  mit  langem  wurmförmigen  Körper  und  ganz  zurücktretenden  Flossen 
auf  größerer  Höhe  (Aal:  200).  Demgegenüber  zeigt  die  Wirbelsäule  der  land- 
lebenden Wirbeltiere  eine  reichere  Gliederung  und  überhaupt  ein  mannigfalti- 
geres Verhalten  im  einzelnen.  Zu  der  Ausdehnung  der  Leibeshöhle  kommt  der 
Einfluß  der  vorderen  und  der  hinteren  Extremitäten  als  Gliederung  bedingendes 
Moment  hinzu.  Das  Gebiet,  in  das  die  Leibeshöhle  vorn  nicht  hineinragt,  wird 
als  ,, Halsteil"  bezeichnet;  seine  hintere  Grenze  fällt  mit  der  Lage  des  Schulter- 
gürtels zusammen.  Im  hinteren 
Gebiet  der  Wirbelsäule  bedingt  die 
Anlagerung  des  Beckengürtels  an 
die  Wirbelsäule  die  Ausbildung  eines 
,, Kreuzteiles",  der  bei  Amphibien 
aus  einem,  bei  Reptilien  aus  zwei 
Wirbeln  besteht,  während  bei  Vö- 
geln und  Säugern  eine  größere  An- 
zahl von  Wirbeln  unter  Verschmel- 
zung zu  einem  Kreuzbein  zusam- 
mentreten. Der  ganze  Abschnitt  der 
Wirbelsäule  zwischen  Hals-  und 
Kreuzteil  bildet  dann  den  ,, Rumpf- 
teil" der  Wirbelsäule,  an  dem  durch 
die  Ausbildung  von  Rippen  ein  vor- 
derer ,, Brustteil"  von  einem  hin- 
teren ,,Lendenteir',  nicht  immer 
mit  guter  Begründung  und  fester  Grenzbestimmung,  unterschieden  werden. 
Was  hinter  dem  Kreuzteil  der  Wirbelsäule  folgt,  ist  dann  der  ,,  Schwanzteil" 
derselben,  von  sehr  verschiedener  Länge  und  sonstigem  verschiedenem  Ver- 
halten, auch  nicht  immer  als  Stütze  eines  frei  hervortretenden  äußeren 
Schwanzes  erscheinend,  sondern  manchmal  (z.  B.  bei  den  ,, schwanzlosen" 
Amphibien)  als  gar  nicht  unbeträchtlicher  Abschnitt,  an  dem  auch  die 
einzelnen  Wirbel  untereinander  verschmelzen  können,  im  Inneren  des  Körpers 
versteckt  (,, Innenschwanz").  Die  Zahl  der  Wirbel  an  der  Gesamtsäule  wie 
an  den  einzelnen  Abschnitten  schwankt  sehr  bedeutend  und  steht  zu  dem 
Verhalten  der  Extremitäten  vor  allem  in  bestimmter  Beziehung.  So  steigt  die 
Gesamtzahl  der  Wirbel  bei  Schlangen,  wo  die  Wirbelsäule  allein  vom  Skelett 
die  Ortsbewegung  besorgt,  Extremitäten  aber  fehlen,  sehr  beträchtlich  (bei  der 
Tigerschlange  auf  422),  während  sie  anderseits  bei  den  schwanzlosen  Am- 
phibien bis  auf  9  oder  8  freie  Wirbel,  denen  sich  noch  ein  aus  der  Verschmelzung 
mehrerer  Schwanzwirbel  entstandenes  Schwanz-  oder  Steißbein  anschließt, 
sinkt.  (Die  Blindwühlen  besitzen  bis  300,  der  Aalmolch  100,  der  Salamander 
42  Wirbel;  bei  den  Echsen  steigt  die  Zahl  selten  über  100,  bei  den  übrigen 
Reptilien  —  mit  Ausnahme  der  Schlangen  —  sowie  bei  Vögeln  und  Säugern  ist 


Fig.  14. 


^'  Rippenknorpel 
Brusthein 

Erster  Brustwirbel   mit   den    ersten  Rippen    und 
dem    obersten    Teil    des   Brustbeines. 
Aus  WiEDERSHEiM,  Bau  des  Menschen. 


Gesamtwirbelsäule  427 

sie  wesentlich  kleiner.)  Die  Beweglichkeit  ist  um  so  mehr  über  die  ganze  Säule 
verteilt,  je  mehr  diese  an  der  Ortsbewegung  Anteil  nimmt,  während  stärkeres 
Hervortreten  der  Extremitäten  eine  schärfere  Scheidung  in  bewegliche  und 
starre  Abschnitte  zur  Folge  hat.  Das  erstere  ist  der  Fall  bei  Schlangen  und 
anderen  fußlosen  Formen,  für  das  letztere  können  als  Beispiel  die  Schildkröten 
und  Vögel  dienen,  bei  denen  nur  drei  Abschnitte  an  der  ausgebildeten  Wirbel- 
säule unterscheidbar  sind:  vorn  ein  beweghcher  Hals-,  hinten  ein  beweglicher 
Schwanzteil  und  dazwischen  ein  starrer,  die  übrigen  Gebiete  in  sich  ver- 
einender Abschnitt.  Seine  Unbeweglichkeit  ist  bei  den  Schildkröten  durch  die 
Ausbildung  des  Rückenschildes,  bei  den  Vögeln  vor  allem  durch  die  sehr  starke 
Ausdehnung  des  Beckens  bedingt,  das  sich  mit  seinem  Darmbein  jederseits  nach 
vorn  wie  nach  hinten  weit  auf  die  Wirbelsäule  heraufschiebt,  nach  vorn  bis  auf 
den  hinteren  Teil  der  Brustwirbelsäule,  nach  hinten  auf  einen  Teil  der  Schwanz- 
wirbelsäule. So  vernichtet  es  die  Beweglichkeit  dieser  Abschnitte  und  bringt 
ihre  einzelnen  Wirbel  untereinander  zur  festen  Verwachsung  zu  einem  starren 
Abschnitt,  dem  sich  vorn  dann  noch  die  übrigen  Brustwirbel,  ebenfalls  unter- 
einander fast  unbeweglich  werdend,  anschließen.  Vom  Standpunkte  funktio- 
neller Betrachtung  aus  ist  darin  eine  Besonderheit  zu  sehen,  die  mit  der  den 
Vögeln  eigentümlichen  Art  der  Fortbewegung  durch  den  Flug  zusammenhängt: 
jene  Umwandlung  des  ganzen  mittleren  Abschnittes  der  Wirbelsäule  zu  einem 
starren  Gebilde  sichert  die  feste  Walzenform  des  Vogelkörpers  beim  Fliegen  und 
verhindert  das  Schlottern  oder  Heruntersinken  des  Hinterkörpers,  ohne  daß 
dazu  besondere  Muskelmassen  und  damit  eine  unzweckmäßige  Vermehrung  des 
Gewichtes  verbunden  wären. 

Auch  abgesehen  von  Schildkröten  und  Vögeln,  deren  Wirbelsäule  einseitig 
ausgebildete  Einrichtungen  zeigt,  pflegt  die  Brustwirbelsäule  der  Tetrapoden  ein 
starrerer  Abschnitt  zu  sein,  da  sie  meist  Rippen  trägt,  von  denen  ein  Teil  ventral 
durch  das  Brustbein  verbunden  wird.  Fehlen  der  Rippen  wie  bei  den  schwanz- 
losen Amphibien  oder  Fehlen  des  Brustbeines  wie  bei  den  Schlangen  gestattet 
auch  der  Brustwirbelsäule  eine  größere  Beweglichkeit.  Eine  solche  kommt  sehr 
gewöhnlich  dem  Halsteil,  der  als  beweglicher  Stiel  für  den  Kopf  zu  dienen  hat, 
und  dem  Lendenteil,  der  in  ähnlicher  Weise  einen  beweglichen  Stiel  für  den 
Vorderkörper  bildet,  zu,  wenn  es  sich  nicht  um  Wassertiere,  wie  die  Wale  han- 
delt, bei  denen  der  als  Wasserbrecher  vorangehende  Kopf  festere  Verbindung 
braucht,  und  demzufolge  die  Halswirbelsäule  durch  Verkürzung  und  Ver- 
wachsung der  Halswirbel  zu  einem  kurzen  starren  Abschnitt  wird.  Diesem 
Extrem  stehen  die  langen  beweglichen  Hälse  der  Schildkröten  und  Vögel  gegen- 
über. 

Ganz  besonders  wichtige  Ergebnisse  liefert  ein  Vergleich  der  Zahlen  der 
Einzelwirbel  innerhalb  der  einzelnen  Abschnitte  der  Säule.  Das  Prinzip,  nach 
dem  sich  die  verschiedenen  Einzelbefunde  erklären  lassen,  ist  das,  daß  innerhalb 
eines  einzelnen  Abschnittes  eine  Vermehrung  oder  Verminderung  der  Wirbel- 
zahl niemals  durch  Einfügung  oder  Ausschaltung  eines  Wirbels  stattfindet, 
sondern  daß  die  Verschiedenheit  der  Zahlen,  die  einen  Abschnitt  zusammen- 


428  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

setzen,  auf  Grenzverschiebungen  beruhen,  so  daß  also  ein  Abschnitt  auf  Kosten 
seiner  beiden  Nachbarn  wachsen  oder  zugunsten  derselben  kleiner  werden  kann. 
Brustwirbel  können  durch  Reduktion  der  Rippen  zu  Hals-  oder  Lendenwirbeln 
werden,  Lendenwirbel  durch  Vorrücken  des  Beckens  zu  Kreuzwirbeln.  Bei 
diesen  Grenzverschiebungen  spielen  die  Wanderungen  der  Extremitäten  die 
Hauptrolle.  Weder  der  Schultergürtel  noch  der  Beckengürtel  haben  eine  ein 
für  allemal  konstante  Lage  am  Rumpf;  beide  lassen  vielmehr  Verschiebungen 
erkennen,  die  innerhalb  der  einzelnen  Klassen  ganz  bestimmte  Richtungen 
zeigen.  So  wandert  bei  den  Vögeln  der  Schultergürtel  nach  hinten,  wodurch  ein 
immer  größerer  Abschnitt  der  Wirbelsäule  vorn  als  Halsteil  frei  wird  (die  Zahl 
der  Halswirbel  beträgt  bei  Tauben  und  Spechten  12,  beim  Flamingo  18,  beim 
Schwan  23),  während  anderseits  bei  den  schwanzlosen  Amphibien  sich  der 
Beckengürtel  mit  der  hinteren  Extremität  im  Laufe  der  Stammesgeschichte 
weit  nach  vorn  verschoben  hat,  so  daß  nur  7  oder  8  freie  Wirbel  vor  dem  Kreuz- 
wirbel liegen.  In  ähnlicher  Weise  läßt  sich  nachweisen,  daß  auch  bei  den  Vor- 
fahren des  Menschen  eine  Vorwärtswanderung  des  Beckens  stattgefunden  hat, 
ja  daß  sogar  dieser  Prozeß  noch  nicht  zum  Stillstand  gekommen  ist.  Unter 
dieser  Betrachtungsweise  gewinnen  Varietäten  der  Wirbelsäule  bei  den  ver- 
schiedenen Formen  ein  ganz  besonderes  Interesse.  Wirkliche  Unterdrückung 
von  Wirbeln,  Schwund  von  solchen,  beobachtet  man  nur  an  beiden  Enden  der 
Wirbelsäule,  am  hinteren  wie  am  vorderen.  Namentlich  findet  vom  hinteren 
Ende  der  Säule  aus  eine  Verkürzung  derselben  statt. 

Die  Verhältnisse  am  vorderen  Teil  der  Wirbelsäule  erfordern  noch  eine 
ganz  besondere  Beachtung.  Entwickelungsgeschichte  und  vergleichende  Ana- 
tomie bekunden  übereinstimmend,  daß  schon  bei  den  Selachiern  der  hinterste 
Teil  des  Schädels  sich  aus  Skelettsegmenten  aufbaut,  die  eigentlich  den  vorder- 
sten Teil  der  Wirbelsäule  darstellen,  und  daß  bei  den  höheren  Fischen  wie  bei 
den  Amnioten  noch  weitere  Wirbel  in  den  Aufbau  des  Schädels  einbezogen 
werden.  Als  Schlußfolgerung  ergibt  sich,  daß  die  cranio-vertebrale  Grenze  bei 
den  einzelnen  Wirbeltieren  nicht  überall  an  gleicher  Stelle  liegt.  So  entspricht 
die  bei  den  Knochenfischen  nicht  der  bei  den  Selachiern,  und  die  bei  den  Am- 
nioten nicht  der  bei  den  Amphibien.  Aber  bei  allen  den  genannten  Formen  ist 
doch  die  Schädelwirbelverbindung  auf  eine  Verbindung,  die  ursprünglich 
zwischen  zwei  Wirbeln  lag,  zurückzuführen.  Bei  den  Fischen  gleicht  sie  dem- 
nach auch  in  ihrem  Bau  meist  einer  solchen,  während  sie  bei  den  landlebenden 
Formen  in  besonderer  Weise  ausgestaltet  wird,  um  dem  Kopfe  eine  besondere 
Beweglichkeit  zu  sichern.  Doch  bestehen  auch  hier  Verschiedenheiten.  Bei  den 
Amphibien  schließt  der  Schädel  hinten  mit  zwei  Gelenkhöckern  (Hinterhaupt- 
höckern) ab,  die  mit  zwei  Pfannen  des  vordersten  Wirbels  gelenkig  verbunden 
werden  in  Gelenken,  die  wohl  mit  Bogengelenken  der  Wirbelsäule  vergleichbar 
sind.  Dagegen  besteht  bei  Reptilien  und  Vögeln  nur  ein  einziger  Hinterhaupt- 
höcker,der  in  sehr  eigenartigerweise  mit  dem  ersten  und  dem  zweiten  Wirbel 
verbunden  wird.  Der  erste  Wirbel  der  genannten  Formen,  der  als  Atlas  bezeichnet 
wird,  entspricht  nur  einem  Halbwirbel,   indem  ein  wichtiger  Bestandteil  von 


Gesamtwirbelsäule.    Skelett  des  unpaaren  Flossensaumes  42Q 

ihm,  der  von  der  Chorda  dorsalis  durchsetzte  Körper,  sich  von  ihm  getrennt 
und  als  Zahnfortsatz  dem  zweiten  Wirbel  (Drehwirbel,  Epistropheus)  ange- 
schlossen hat.  Der  eine  Hinterhaupthöcker  des  Schädels  verbindet  sich  dem- 
nach in  hier  nicht  näher  zu  erörternder  Weise  mit  den  Bogenteilen  des  Atlas, 
wie  mit  dem  Zahn  des  Epistropheus.  Grundsätzlich  das  gleiche  gilt  auch  für 
die  Säuger,  wenn  auch  hier  die  Bildung  des  Drehwirbels  etwas  anders  vor  sich 
geht  als  dort.  Darin  stimmt  sie  jedenfalls  mit  der  bei  den  Reptihen  überein, 
daß  der  Drehwirbel  einen  Zahnfortsatz  erhält,  der  auf  den  Körper  des  ersten 
Wirbels  zurückzuführen  ist,  und  daß  demnach  dem  Atlas  ein  eigenthcher  Kör- 
perabschnitt fehlt.  Mehr  in  die  Augen  springend  ist  ein  anderer  Unterschied: 
bei  den  Säugern  schließt  der  Schädel  mit  zwei  Hinterhaupthöckern  ab,  ähn- 
lich wie  bei  den  Amphibien.  Man  hat  darin  auch  einen  Hinweis  auf  die  Am- 
phibienabstammung der  Säuger  sehen  wollen,  doch  mit  Unrecht,  denn  es  Heß 
sich  nachweisen,  daß  diese  zwei  Hinterhaupthöcker  der  Säuger  durch  Zer- 
legung des  einen  Höckers  der  Reptilien  entstanden  sind,  wie  auch  der  ganze 
Kopfgelenkapparat  bei  den  Säugern  die  vollkommenste  Übereinstimmung  mit 
dem  der  Reptilien  zeigt.  Die  Zweihöckrigkeit  des  Säuger-  und  Amphibien- 
schädels beruht  auf  Konvergenz;  ein  Vergleich  beider  ist  schon  darum  ausge- 
schlossen, weil  der  Säugerschädel  um  drei  Wirbel  länger  ist  als  der  Amphibien- 
schädel, somit  die  hintere  Schädelgrenze  bei  beiden  gar  nicht  an  der  gleichen 
Stelle  liegt. 

Von  den  Anhangsgebilden   der   Wirbelsäule  sind  zuerst  zu  nennen  Anhangsgebilde 

.^,,.,  ..  ^,  der  Wirbelsäule 

die    bkeletteile,    die   bei    den    Irischen    den    unpaaren    rlossen-     skeiett  des 
säum     oder    die    einzelnen    Abschnitte     desselben     (Rücken-,  „,  ""p^^"""^" 

V  '   Flossensaumes. 

Schwanz-,  Afterflosse)  stützen.  Von  den  Selachiern  an  sind  diese 
Skelettstücke  zweierlei  Art:  eine  erste  Kategorie  schließt  sich  als  Flossen- 
strahlträger  an  der  Basis  der  Flosse  den  Dornen  der  Wirbel  an,  die  zweite 
ist  als  Flossenstrahlen  in  den  äußeren  Teil  der  Flosse  eingelagert.  Die 
Flossenstrahlträger  gehören  zum  Innenskelett  und  sind  knorplig  oder  knöchern, 
die  Flossenstrahlen  werden  bei  Haien  und  Dipnoern  von  festen  Binde- 
gewebsfäden  (fälschlich  als  Hornfäden  bezeichnet)  gebildet,  bei  den  Ganoiden 
und  Teleostiern  durch  knöcherne  (harte,  oder  weiche  gegliederte)  Strahlen, 
die  die  Natur  von  Deckknochen,  also  von  Integumentalbildungen,  haben. 
Nur  der  Schwanzflosse  fehlen  Flossenstrahlträger;  hier  sind  demnach  die 
Flossenstrahlen  unmittelbar  den  Dornen  der  Schwanzwirbelsäule  ange- 
schlossen, wohl  im  Interesse  größerer  Festigkeit  der  Schwanzflosse,  die  ja  das 
Hauptbewegungsorgan  der  Fische  bildet.  Ein  für  die  Stammesgeschichte  wie 
für  die  Systematik  wertvolles  Merkmal  stellt  die  Form  der  Schwanzflosse  dar, 
deren  Verschiedenheiten  aus  der  Fig.  15  hervorgehen.  Den  Ausgang  bildet  die 
diphycerke  Flosse,  die  das  Ende  der  Wirbelsäule  gleichmäßig  umsäumt  (z.  B. 
bei  Protopterus) ;  ihr  schheßt  sich  die  heterocerke  Form  an  mit  nach  aufwärts 
gekrümmter  Wirbelsäule  und  ungleichen  Lappen  der  Flosse  (Haie,  Stör),  und 
als  jüngste  und  letzte  Form  erscheint  die  homocerke  Flosse,  bei  der  zwar  auch 
die  Wirbelsäule  mit  ihrem  Ende  aufwärts,  in  den  oberen  Lappen  der  Flosse, 


430 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Rippe 


gerichtet  ist,  durch  ungleiche  Länge  der  Skeletteile  aber  doch  äußere  Gleich- 
heit des  oberen  und  unteren  Flossenlappens  erzielt  ist.  Sie  zeichnet  den  jüng- 
sten Zweig  der  Fische,  die  Knochenfische,  aus.  —  In  den  medianen  Flossen- 
säumen der  Amphibien  und  höheren  Formen  finden  sich  keine  Skelettstücke  mehr. 
Eine  viel  weitere  Verbreitung  besitzen  die  Anhangsgebilde  der  Wirbelsäule, 
die  als  Rippen  bezeichnet  werden.  Die  Vergleichung  lehrt,  daß  morphologisch 
zwei  Arten  von  Rippen  scharf  unterschieden  werden  müssen:  untere  und  obere. 
Die  unteren,  die  auf  die  Fische  beschränkt  sind,  finden  sich  in  den  binde- 


A   (Stör) 


Flossen  strahlen 


B  (Knochenhechl) 
Aufgebogenes  Ende 
der  Wirbelsäule 


Obere 
Bogen 


Untere  Bogen 

Aufgebogenes  Ende 
der  Wirbelsäule 


Untere 
Bogen 


^^^Flossen- 
Strahlen 


Aufgebogenes  Ende 
der  Wirbelsäule 


Obere 
Bogen 
Wirbel- 
körper 

Untere  -' 
Bogen 


ntere 
Bogen 


C  (Lachs) 


D   {Dorsch) 


Fig.  15.  Ende  des  Schwanzes  verschiedener  Fische.  A  Diphycerke  Flosse,  ß,  C,  D  Homocerke  Flossen  (die 
Flossen  erscheinen  äußerlich  symmetrisch,  doch  ist  in  ihrem  Inneren  das  Ende  der  Wirbelsäule  aufwärts  gebogen. 
In   C  ist  der  aufgebogene   Teil   der  Wirbelsäule   noch   wohl  entwickelt,    in  D,    das  den  gewöhnlichen  Zustand  der 

Knochenfische  repräsentiert,  dagegen  sehr  klein.     Aus  Boas. 

gewebigen  Scheidewänden,  die  hier  die  ventrale  Längsmuskulatur  des  Rumpfes 
in  einzelne  metamere  Abschnitte  teilen,  und  liegen  der  Wand  der  Leibeshöhle 
an  (Fig.  16C);  die  oberen  liegen  in  dem  horizontalen  Septum,  das  die  dorsale 
und  die  ventrale  Längsmuskulatur  voneinander  trennt  (Fig.  16A).  Die  Mehr- 
zahl der  Fische  besitzt  nur  untere  Rippen,  den  Haien  wie  allen  tetrapoden 
Wirbeltieren  kommen  nur  obere  zu.  Das  Vorkommen  von  Fischformen  (z.  B. 
Polypterus,  Fig.iöB),  diebeide  Arten  von  Rippen  besitzen,  beweist  besonders  klar 
die  Notwendigkeit  der  gemachten  Unterscheidung.  Mit  den  echten  Rippen,  die 
dem  Innenskelett  angehören,  haben  nichts  zu  tun  die  sog.  Fleischgräten,  die  bei 
Knochenfischen  als  Sehnenverknöcherungen  auftreten,  manchmal,  wie  beim 
Hering,  in  besonders  großer  Anzahl. 

Die  größte  Mannigfaltigkeit  bieten   in  ihrem  besonderen  Verhalten  die 
oberen  Rippen.   Anfangs,  bei  den  Haien,  nur  kurze  knorpelige  Anhängsel  der 


Rippen.     Brustbein 


431 


Wirbel  darstellend,  bei  den  Amphibien  noch  weiter  reduziert,  wachsen  sie  bei 
fast  allen  Amnioten  im  vorderen  Rumpfgebiet  zu  langen  gekrümmten  Spangen 
aus,  die  den  Brustraum  umgürten  und  häufig  in  zwei  oder  gar  drei  Stücke  ge- 
gliedertwerden, von  denen  mindestens  das  erste,  der  Wirbelsäule  angeschlossene, 
verknöchert.  Ein  Teil  von  ihnen  verbindet  sich  gewöhnlich  an  der  Bauchseite 
des  Körpers  mit  einem  Brustbein  :  diese  werden  dann  als  wahre  Rippen  den 
auf  sie  folgenden  falschen,  die  diese  Verbindung  nicht  erlangen,  gegenüber- 
gestellt (Fig.  7).  Der  Mangel  eines  Brustbeines  bei  den  Schlangen  stempelt 
alle  Rippen  derselben,  die  fast  die  ganze  Länge  der  Wirbelsäule  einnehmen,  zu 
A  B  C 

Oberer  Wirbelbogen  Oberer  Wirbelbogen 


Dersale 

Rumpf- 

muskulatur 

Uorizvntal- 
septurn 

Obere' 
Rippe 

Urniere 


Ventrale 

Rumpf- 

muskulatitr 


Leibes/io/il 


Obere  Rippe 


Untere 
Hippe 


Dorsaltt   Rumpf - 
jnusiculatur 


Oberer 
Dornforinatz 


Dorsale 
Rumpf- 


■muskalatur 


Horizonial- 
neptum 


Ventrale 

Rumpf- 

iHUskulatur 

Untere 
Rippe 


Leibenhohle 


Leiheihöhle 


Ventrale 

Rumpf muskulat  ur 


Fig.  16.     Scheraatisclie  Querschnitte,  um  die  Lage  der  oberen  und  der  unteren  Rippen  bei  den  Fisclien  zu  zeigen. 

Nach  GÖPPERT  und  Bütschli. 

falschen  Rippen.  Rippen  und  Brustbein  bilden  zusammen  mit  der  Brustwirbel- 
säule den  Brustkorb,  das  Gehäuse,  in  dem  die  Lungen  und  das  Herz  liegen, 
und  das,  durch  die  Bewegung  der  Rippen  einer  Erweiterung  und  einer  Ver- 
engerung fähig,  die  Ansaugung  von  Luft  in  die  Lungen  und  die  Wiederaus- 
pressung  derselben,  also  die  Ein-  und  Ausatmung  bewirkt.  Aber  nicht  nur  dem 
Brustteil  der  Wirbelsäule  fügen  sich  Rippen  an,  sondern  auch  dem  Hals-  und 
Lendenteil,  ja  selbst  am  Aufbau  des  Kreuzbeins  nehmen  bei  den  Säugern 
Skelettstücke  Anteil,  die  als  Rippenrudimente  aufgefaßt  werden.  Hals-  und 
Lendenrippen  sind  kürzer  als  die  Brustrippen  und  vielfach  fest  mit  den  Wirbeln 
verschmolzen. 

Für  das  unpaare,  in  der  ventralen  Körperwand  gelegene  Skelettstück,  das  Brustbein, 
eben  als  Brustbein  (Sternum)  erwähnt  wurde,  ist  die  Aufgabe,  einer  Anzahl 
Rippen  zur  Befestigung  zu  dienen,  nicht  die  einzige;  es  kommt  ihm  noch  eine 
zweite  zu,  nämlich  die,  eine  Anlagerungsstätte  für  die  Schultergürtel  beider 
Seiten  zu  bilden.  In  dieser  Verwendung  findet  es  sich  bereits  bei  den  Amphi- 
bien, bei  denen  Beziehungen  zu  den  —  nur  sehr  kurzen  oder  ganz  fehlenden  — 
Rippen  nicht  bestehen.    Ganz  besonders  besitzt  bei  den  langschwänzigen  Am- 


432 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  \A'irb  eitlere 


Gabelknochen 

(=  verwachsene  Schlüsselbeine) 


Schulter 

gelenk- 

pfamie 


r~  Carina 


Scapula 


phibien  das  durch  eine  breite  Knorpelplatte  dargestellte  Brustbein  eine  wichtige 
Bedeutung  zur  Befestigung  der  beiderseitigen  Schultergürtel  (Fig.  i8).  Diese 
Funktion  geht  ihm  aber  auch  bei  den  Reptilien  —  unter  denen  es  nur  den 
Schlangen  und  Schildkröten  fehlt  —  nicht  verloren  und  zeigt  sich  auch  deutlich 
noch  bei  den  Vögeln,  wo  das  verknöcherte  Brustbein,  an  dessen  Seitenrand  die 
Rippen  angefügt  sind,  mit  seinen  Vorderrändern  die  beiderseitigen  ,,Coracoide" 
der  Schultergürtel  in  Rinnen  aufnimmt  (Fig.  17).  Im  übrigen  ist  gerade  bei  den 

Vögeln  das  Brustbein  ein 

sehr  wichtiger  Knochen,  da 

von  ihm  der  große  Brust- 

Coracoid 


muskel  entspringt,  dem 
beim  Fliegen  die  Hauptar- 
beit zufällt.  Umfürihngrö- 
ßere  Ursprungsflächen  zu 
schaffen,  erhebt  sich  auf 
dem  Brustbein  ein  hoher 
Kamm(C"arma),  dessenAn- 
wesenheit  die  Flugvögel 
[Carinaten]  von  den  Lauf- 
vögeln {Ratüen),  die  seiner 
entbehren,  unterscheidet. 
Unter  den  Säugern  erfüllt 
das  Brustbein  nur  noch  bei 
den  Kloakentieren  die  Auf- 
gabe, dem  Coracoid  als 
Stütze  zu  dienen;  bei  allen 
anderen  geht  mit  der  Rück- 
bildung des  Coracoids  diese 
Aufgabe  verloren,  wofür 
aber  ein  anderer  Knochen 
des  Schultergürtels,  das 
Schlüsselbein,  sich  das 
Brustbein  als  Anlagerungs- 
stätte wählt.  In  den  Fällen,  wo  das  Schlüsselbein  fehlt,  bleibt  dem  Brustbein 
nur  die  Aufgabe,  einer  Anzahl  von  Rippen  zur  Befestigung  zu  dienen. 
Episternum.  Dcm  Brustbciu  auf  seiner  Ventralfläche  aufgelagert  ist,  gewissermaßen  zur 

Verstärkung,  bei  den  Reptilien  und  den  Kloakentieren  unter  den  Säugern  ein 
schon  bei  Stegocephalen  vorhandener  Deckknochen,  der  als  Episternum 
bezeichnet  wird. 

Auch  an  den  Brustkorb  knüpfen  sich,  wie  an  alle  größeren  Abschnitte  des 
Skelettes,  mancherlei  morphologische  Fragen,  die  die  Zahl  der  in  ihn  eingehen- 
den Rippen,  seine  Form,  die  Form  des  Brustbeines,  die  Verbindungen  der 
Rippen  mit  den  Wirbeln  und  vieles  andere  betreffen.  Auf  sie  einzugehen  ist 
hier  unmöglich. 


Becken 


—  Brustbein 
(Sternum) 


Fis 


Brustkorb  und  Schultergürtel  eines  Falken,  von  rechts. 

Nach  WiEDERSHEIM. 


Brustbein.    Episternum.    Panzer  der  Schildkröten.    Kopfskelett.    Aufgaben  43 ^ 


Dagegen  seien  hier  kurz  noch  gestreift  die  ganz  eigenartigen  Verhältnisse  Panzer  der 

,.,^,.,,,  _^.._^.  ,.  -iiT-»  1  Schildkröten. 

bei  den  Schildkröten,  Die  Rippen  umgürten  hier  nicht  den  Brustraum,  sondern 
stellen  nach  der  Seite  gerichtete  Fortsätze  der  Wirbel  dar,  die  streckenweise 
stark  verbreitert  sind  und  so  die  Rippenplatten  des  Rückenschildes  bilden. 
(Die  Unbeweglichkeit  der  Rippen  bedingt  denn  auch  einen  ganz  eigenartigen 
Atemmechanismus  bei  den  Schildkröten.)  Am  Aufbau  des  Rückenschildes 
nehmen  dann  noch  die  Dornfortsätze  der  Wirbel  teil,  die  sich  zu  Wirbelplatten 
verbreitern.  Eine  Ergänzung  erfahren  diese  vorn  wie  hinten  durch  Platten,  die 
Hautverknöcherungen  darstellen.  Auch  die  Randplatten  des  Rückenschildes 
wie  die  Platten  des  ganzen  Brustschildes  haben  den  Charakter  von  Hautver- 

B 

A 

Suprascapula 


Procoracoid 


Prosternum  C 


Pfanne  f.  d. 
Oberarm 


Suprascaimla 
Scapula 


doracoid 


-  Sternum 


-N..     ^^'  Pfanne  f.  d.  Oberarm 
^Coracoid 
/  Stemum 


Fig.  18.     Brustbein  und  Schultergürtel  von  Amphibien.     A  vom  Landsalamander,   B  vom  Frosch.     Von  der  Bauch- 
seite gesehen.    Die  scapularen  Abschnitte  sind  ventralwärts  in  die  Fläche  umgelegt,  der  rechte  Scapularteil  des  Frosch- 
Schultergürtels  ist  fortgelassen.     Nach  Boas. 

knöcherungen.  Auf  die  Frage  nach  der  Stammesgeschichte  des  Schildkröten- 
panzers kann  hier  nicht  eingegangen  werden. 

b)  Kopfskelett. 

Die  Hartgebilde,  die  sich  im  Bereiche  des  Kopfes  finden  und  als  Kopf- 
skelett zusammengefaßt  werden,  erfüllen  verschiedene  Aufgaben.  Sie  dienen 
zum  Schutze  nervöser  Organe,  d.  h.  des  Gehirnes  und  der  Hauptsinnesorgane 
(des  Gehör-  und  Gleichgewichts-,  des  Seh-  und  Geruchsorganes),  sie  umgürten 
ferner  den  Anfang  des  Nahrungskanales,  die  Mundhöhle,  und  treten  hier  in  den 
Dienst  verschiedener  spezieller  Aufgaben:  sie  bieten  den  Zähnen  feste  Wider- 
lager dar,  vermitteln  unter  dem  Einfluß  einer  oft  reich  entwickelten  Muskulatur 
eine  Öffnung  und  Schließung  des  Mundes,  vielfach  unter  Ausbildung  ganz  be- 
sonders sinnreicher  Mechanismen  zum  Ergreifen  und  Festhalten  der  Nahrung, 
sie  dienen  der  Befestigung  der  Zunge  und  den  Bewegungen  dieses  Organes  und 
treten  auch,  ebenfalls  in  der  Umgebung  des  Nahrungskanales,  in  den  Dienst 
der  Atmung,  indem  sie  bei  den  kiemenatmenden  Wirbeltieren  die  Kiemen- 
spalten stützen  und  ihre  Öffnung  und  Schließung  regulieren,  ja  selbst  bei  den 
lungenatmenden  Amphibien  noch  dem  Boden  der  als  Saug-  und  Druckpumpe 
arbeitenden  Mundhöhle  Festigkeit  verleihen.  Schließlich  aber  finden  Hart- 
gebilde am  Kopfe  noch  manche  spezielle  Verwendung  und  Bedeutung,  da  der 


b)  Kopfskelett, 
Aufgaben. 


K.d.G.III.  IV,  Bd2  Zellenlehre  etc.  II 


28 


434 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Rostrmn 


Ethmui- 
dal- 
region 


hhito- 

temporcd- 

region 


Kopf  der  vorderste  und  exponierteste  Teil  des  Körpers  ist.  Als  solcher  hat  er 
bei  Wassertieren  als  Wasserbrecher  voranzugehen  und  kann  besondere,  diesem 
Zwecke  angepaßte  Teile  des  Kopf  Skelettes  aufweisen;  als  solcher  stellt  er  ferner 
für  die  Ausbildung  von  Waffen  oder  von  in  die  Augen  fallenden  Schmuckteilen, 
wie  von  Hörnern,  Geweihen,  Höckern  eine  bevorzugte  Örtlichkeit  dar, 
Einteilung.  Im  Dieustc  aller  der  genannten  Aufgaben  finden  wir  Hartgebilde  am  Kopfe, 

in  mehr  oder  minder  reicher  und  komplizierter  Entwickelung.     Sie  gruppieren 

sich  jenen  Aufgaben  entsprechend  zu  einem 
dorsal  gelegenen  neuralen  Abschnitt,  der  die 
Umgebung  des  Gehirns  und  der  Hauptsinnes- 
organe bildet,  und  einem  ventral  gelegenen 
visceralen  (Eingeweide-)  Abschnitt,  der  die 
festen  Wandungen  der  Mund-  und  Kiemenhöhle 
zu  bilden  bestimmt  ist.  Von  diesen  letzteren 
Teilen  nehmen  die  hinteren,  die  ursprünglich 
im  Dienste  der  Kiemenatmung  stehen,  bei  den 
Lungenatmern  aber  als  Zungenbein  wesent- 
lich den  Bewegungen  der  Zunge  dienen,  eine  ge- 
wisse Sonderstellung  ein;  da  sie  gewöhnlich  nur 
lose  mit  dem  übrigen  Kopfskelett  verbunden 
sind,  können  sie  als  gar  nicht  zu  diesem  gehörig 
erscheinen,  und  unter  dem  Begriff  S  ch  ä  d  e  1  faßt 
daher  der  gewöhnhche  Sprachgebrauch  nur  den 
neuralen  Teil  des  Kopfskelettes  mit  dem  vorde- 
ren, ihm  enger  angeschlossenen  Abschnitt  des 
visceralen  Teiles  zusammen,  nicht  aber  auch 
das  Kiemenskelett  und  das  aus  ihm  hervor- 
gehende Zungenbein. 
GruadpUn.  f^      ^^^--^      smde  lu  der  Speziellen  Ausgestaltung  bietet  wohl 

kein  Abschnitt  des    ganzen  Skelettes  eine  so 
große  Mannigfaltigkeit  dar,  wie  gerade  das  Kopf - 
skelett.  Und  doch  liegt  auch  diesem  ein  gemeinsamer,  sich  immer  wiederholender 
Plan  zugrunde,  der  sofort  klar  zutage  tritt,  wenn  man  die  verschiedenen  Kopf- 
skelette in  ihren  embryonalen  Zuständen  betrachtet  und  untereinander  vergleicht. 
Primordial-  Dlc  primordialen  Bestandteile,  als  Primordialschädel  oder  Knorpel- 

schädei.  Schädel  zusammengefaßt,  bilden  bei  den  Rundmäulern  wie  bei  den  Knorpel- 
flossern  zeitlebens  allein  das  Kopfskelett;  weder  Ersatz-  noch  Deckknochen 
treten  hier  zu  ihnen  hinzu.  Der  Grundplan,  dem  sie  in  ihrer  Anordnung  folgen, 
wird  somit  bei  jenen  Formen  am  leichtesten  erkannt.  Von  den  beiden  schon 
genannten  Abschnitten  bildet  der  neurale  in  ausgebildetem  Zustande  eine  in 
sich  zusammenhängende  Knorpelkapsel,  an  der  einzelne  Regionen  unter- 
schieden werden.  Rundmäuler  und  Haie  zeigen  hier  einen  grundsätzlichen 
Unterschied,  dem  eine  besondere  Wichtigkeit  für  das  Verständnis  des  Kopf- 
skelettes zukommt:  am  Knorpelschädel  der  Rundmäuler  sind  nur  drei  solcher 


byrintJi- 
'cgion, 


Occipital- 
i'egion 


Wirhel- 
smde 


Fig.  19.  Schädel  von  Heptanchus,  von  oben. 


Kopfskelett,  Einteilung,  Grundplan.    Primordialschädel 


435 


Regionen  unterscheidbar,  die  von  vorn  nach  hinten  als  Nasen-,  Augen-  und 
Ohrregion  bezeichnet  werden,  und  hinter  der  letzten  folgen  bereits  die  vorder- 
sten Wirbelbogen;  bei  den  Selachiern  schließt  sich  aber  an  die  Ohrregion  noch 
eine  vierte  hinterste  Region  an,  die  Hinterhaupt-(Occipital-)region,  die  nach 
ihrer  Entwickelungsgeschichte  und  nach  dem  Verhalten  der  in  ihrem  Bereich 
austretenden  Nerven  aus  der  Verschmelzung  einer  größeren  Anzahl  von  Wir- 
beln oder,  allgemeiner  gesprochen,  von  spinalen  Skelettelementen  entstanden 
zu  denken  ist.  Fürbringer  hat  die  drei  vordersten  Regionen  des  neuralen 
Schädels  als  Palaeocranium  (Urschädel)  zusammengefaßt  und  ihm  die  Hinter- 
hauptregion als  Neocranium  (Neuschädel)  gegenübergestellt.   Beide  Abschnitte 


Orbiio- 
temporalregioti 


Labyrinth-   Occipital-     Wirhei- 
region region  sünle 


Jiostrum- 


Xasenkapsel 
[Ethmoidulregiov) 


Palato- 
quadratum 

Primäres 
Kiefer- 
gelenk 


Primordialer  Unterkiefer 


Fig.  20.     Neuralschädel  und  Kieferbogen  von  Heptanchus,  von  der  Seite. 

sind  nach  dem  jetzigen  Stande  der  Kenntnisse  als  grundsätzlich  verschieden 
zu  betrachten:  für  den  Urschädel  läßt  sich  bisher  nicht  nachweisen,  daß  er  ein- 
mal eine  Gliederung  ähnlich  der  der  Wirbelsäule  besaß,  und  es  ist  viel  wahr- 
scheinlicher, daß  er  von  vornherein  als  zusammenhängende  Knorpelkapsel  ent- 
stand; dagegen  darf  der  Neuschädel  (Wirbelschädel)  mit  gutem  Rechte  als  eine 
spätere  Zutat  zu  jenem  aufgefaßt  werden,  als  der  vorderste  Teil  der  Wirbelsäule, 
dessen  einzelne  Skelettelemente  untereinander  verschmolzen  und  sich  nun  als 
letzter  Abschnitt  dem  Schädel  anschlössen.  Das  Verhalten  bei  den  Rundmäulern 
redet  dieser  Auffassung  das  Wort,  insofern  als  hier  ein  Zustand  des  Schädels  dau- 
ernd ist,  der  nur  dem  ,, Palaeocranium"  entspricht.  Es  geht  schon  hieraus  hervor, 
daß  der  Begriff  ,,  Schädel"  keine  konstante  Größe  bezeichnet,  und  ein  Ver- 
gleich der  verschiedenen  übrigen  Knorpelschädel  führt  weiter  zu  der  Erkennt- 
nis, daß  auch  bei  den  Kiefermäulern  noch  Verschiedenheiten  in  der  Ausdehnung 
des  Schädels  bestehen,  indem  bei  den  einzelnen  offenbar  die  Zahl  der  Wirbel- 
säulen-Elemente, die  in  den  Aufbau  der  Hinterhauptregion  eingehen,  ver- 
schieden ist.  So  darf  als  gut  begründet  angesehen  werden,  daß  der  Schädel  der 
Reptilien,  Vögel  und  Säuger  um  drei  Wirbel  länger  ist  als  der  der  Amphibien, 

28* 


436  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

daß  also  der  erste  Wirbel  der  drei  erstgenannten  Klassen  dem  vierten  der  Am- 
phibien entspricht.  Das  spricht  sich  freilich  nicht  so  ohne  weiteres  etwa  in  einer 
tatsächlich  verschiedenen  ,, Länge"  der  Hinterhauptgegend  aus,  sondern  kann 
nur  aus  der  Entwickelungsgeschichte,  aus  dem  Verhalten  der  Muskelsegmente, 
Nerven  und  Skelettanlagen  erschlossen  werden. 

Die  soeben  kurz  erörterte  Erkenntnis  ist  der  letzte  Rest,  der  von  der  einst- 
mals so  berühmten  Goethe -Okenschen  ,, Wirbeltheorie  des  Schädels'* 
übriggeblieben  ist.  Diese  Theorie  irrte,  indem  sie  annahm,  daß  der  ganze 
Schädel  ein  Komplex  von  mehreren  Wirbeln  sei  (am  häufigsten  wurden  vier 
solcher  ,, Schädelwirbel"  angenommen);  sie  irrte  ferner  darin,  daß  sie  diese 
Schädelwirbel  künstlich  zusammensetzte,  d.  h.  gewisse  Ersatzknochen  und 
Deckknochen  willkürlich  als  zusammengehörig  zu  Schädelwirbeln  vereinigte, 
wozu  sie  durch  den  weiteren  Mißgriff  verleitet  wurde,  daß  sie  die  höchste 
Ausbildungsform  des  Schädels,  nämlich  den  Säugetierschädel,  zum  Ausgang 
der  Betrachtung  nahm,  aber  es  bleibt  ihr  das  Verdienst,  mit  der  Aufstellung 
des  Gedankens  von  dem  einheitlichen  Aufbau  des  gesamten  Achsenskelettes 
ungemein  anregend  auf  die  Forschung  gewirkt  und  eine  Anzahl  Arbeiten  über 
den  Schädel  (ich  nenne  hier  nur  Gegenbaurs  Werk  über  den  Selachier- 
schädel)  hervorgerufen  zu  haben,  die  für  das  Verständnis  dieses  Skeletteiles 
grundlegend  geworden  sind.  Und  wenigstens  für  einen  Teil  des  Schädels,  die 
Hinterhauptgegend,  hat  sich  jener  Gedanke,  wie  gezeigt  wurde,  auch  als  richtig 
herausgestellt,  wenn  auch  in  anderer  Weise,  als  die  Begründer  der  Wirbeltheorie 
gemeint  hatten. 

Kehren  wir  hiernach  zu  dem  Knorpelschädel  zurück  und  betrachten,  indem 
wir  den  der  Rundmäuler  als  vielfach  ganz  einseitig  ausgebildet  beiseite  lassen, 
den  der  Selachier  noch  etwas  genauer.  Der  schematische  Grundriß  Fig.  21  zeigt, 
daß  der  Knorpelschädel  einen  mittleren  Raum  umschließt,  der  sich  nach  vorn 
abernurbis  zu  der  Nasengegend  erstreckt:  die ,,  Schädelhöhle"  imengeren  Sinne, 
die  das  Gehirn  enthält.  Dazu  kommen  einige  Nebenräume.  In  der  Ohr- 
(Labyrinth-)Gegend  zeigt  der  Schädel  eine  beträchtliche  Verbreiterung,  weil  er 
hier  jederseits  eine  Ohrkapsel  für  die  Bergung  des  häutigen  Labyrinthes,  d.  i. 
des  Gleichgewichts-  und  Gehörorganes,  bildet.  Davor  findet  sich,  in  der  Augen- 
Schläfengegend  (Orbitotemporalregion),  seitlich  neben  der  Schädelwand  eine 
Nische,  die  für  die  Aufnahme  des  Auges  und  von  Kiefermuskeln  bestimmt  ist. 
Vorn  erhält  sie  ihren  Abschluß  durch  die  seitliche  Verbreiterung  der  vordersten 
Schädelgegend,  der  Nasen-  oder  Ethmoidalgegend,  die  zwei  durch  eine  mittlere 
Scheidewand  getrennte  Räume  zur  Aufnahme  der  Geruchsäcke  enthält  und 
daher  auch  als  Nasenkapsel  bezeichnet  wird.  Die  Zugänge  zu  diesen  Räumen 
liegen  bei  den  Haien  jederseits  an  der  Unterseite  der  Kapsel.  Ein  verschieden 
gestalteter  ,,  Schnabel"  {Rostrum)  springt  von  der  Vorderfiäche  der  Nasenkapsel 
nach  vorn  als  Wasserbrecher  vor.  Die  Schädelhöhle  ist  unten,  oben,  seitlich 
und  vorn  knorpelig  begrenzt;  Öffnungen  in  den  Wandungen  leiten  die  Gehirn- 
nerven aus  ihr  heraus.  Sie  sind  in  die  schematische  Figur  21  eingetragen.  Die 
oben  besprochene  Tatsache,    daß    die  Hinterhauptregion    auf  verschmolzene 


Primordialschädel 


437 


Caps,  nasalis 


N.  olfact. 


N.  opt. 

N.  oculomot. 


For.  carot. 
For.  prooticum 


Wirbel  zurückzuführen  ist,  spricht  sich  darin  aus,  daß  die  Schädelbasis  dieser 
Gegend  embryonal  von  der  Chorda  dorsalis  durchsetzt  wird;  diese  geht  jedoch 
noch  weiter  nach  vorn  und  findet  ihr  vorderstes  Ende  erst  an  der  Grenze  der 
Ohr-  und  Augen-Schläfengegend,  an  einer  Stelle  des  Bodens,  die  als  quere  Leiste 
(Sattellehne)  vorspringen  kann,  und  vor  der  ein  sehr  merkwürdiger  Hirn- 
abschnitt, der  später  zu  besprechende  Hirnanhang  (die  Hypophyse)  liegt. 

Im  Gegensatz  zu  dem  neuralen  Teil  des  Schädels,  der  keine  Gliederung  auf- 
weist,  besteht  der 
unter  ihm  gelegene 
viscerale  (Einge- 
weide-) Abschnitt 
aus    einer    Anzahl 

bogenförmiger 
Spangen,    die  den 
Anfangsteil        des 
Darmrohres      um- 
gürten    (Fig.   22). 
Auf  einige  weniger 
bedeutende,        als 
Lippenknorpel 
in    die    Ober-   und 
Unterlippe     einge- 
lagerte Stücke  fol- 
gen die  eigentlichen 
Schlundbogen, 
von      denen      der 
erste,      kräftigste, 
als        Kieferbogen 
den   Mundeingang 
umgürtet   und  so-   Fig.  21 
wohl    auf    seinem 

oberen  Stück,  dem  sog.  Palatoquadratum,  wie  auf  seinem  unteren  Stück, 
dem  primordialen  Unterkiefer,  Zähne  trägt.  Beide  Stücke  sind  untereinander 
in  dem  primordialen  Kiefergelenk  beweglich  verbunden,  im  übrigen  ist  bei 
den  Haien  auch  der  obere  Abschnitt  nur  beweglich  dem  neuralen  Schädel 
angeschlossen.  Auch  der  zweite  oder  Zungenbeinbogen  besteht  aus  zwei 
Stücken,  von  denen  das  obere,  als  Hyomandibula  bezeichnet,  bei  den  meisten 
Haien  zugleich  zum  Tragen  des  Kieferapparates  dient;  nur  bei  den  Grau- 
haien hat  es  diese  Aufgabe  nicht,  da  hier  das  Palatoquadratum  sich  selbst  mit 
einem  kräftigen  Fortsatz  an  die  Ohrkapsel  anlegt  (Fig.  20).  Die  folgenden 
Bogen,  meist  fünf  an  der  Zahl,  sind  als  Kiemenbogen  zwischen  den  Kiemen- 
spalten gelagert;  ein  jeder  von  ihnen  gewöhnlich  in  vier  Stücke  geghedert, 
deren  Beweglichkeit  eine  Erweiterung  und  Verengerung  der  Kiemenspalten  er- 
möglicht.  Ihren  Mittelstücken  sitzen  außen  dünne  Knorpelstäbchen  (,, Radien") 


Comm. 


prae- 
facialis 


Caps, 
otica 


N.  trigem 
N.  abduc. 
N.  facial. 

-  N.  acust. 

N.  glossoph. 

JSF.  access.- 
vagus. 

N.  spinooccipücdes 


Pila  occipit. 

For.  jugulare 


Chordadors. 


Planum  basale 

Sclaematisclier  Grundriß  eines  plattbasischen  Primordialcraniums,  rechterseits 
mit  den  austretenden  Gehimnerven.     Nach  E.  Gaupp. 


438 


Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


an,  die  die  Scheidewände  zwischen  den  Kiemenspalten  stützen,  und  in  den 
äußeren  Rändern  dieser  Scheidewände  sind  vielfach  noch  besondere  Knorpel- 
stückchen als  ,,Extrabranchialia"  eingelagert.  Die  untersten  Teilstücke  der 
Kiemenbogen  nebst  dem  des  Zungenbeinbogens  (dem  Ventrohyale)  werden 
schließlich  in  der  ventralen  Mittellinie,  also  am  Boden  der  Schlundhöhle,  durch 
eine  Reihe  hintereinander  gelegener  unpaarer  Schlußstücke  {,,Copulae")  ver- 
einigt, deren  vorderstes  der  Zunge  zur  Stütze  dient. 

Der  Knorpelschädel,  der  hier  in  seinem  allgemeinen  Aufbau  geschildert 
wurde,  bildet  bei  den  Knorpelflossern  zeitlebens  allein  das  Kopfskelett;  er  wird 
auch  bei  allen  über  denselben  stehenden  Wirbeltieren,  wenn  auch  mit  manchen 


Orbito-    Labyrinth-  Oceipital-  s-,    j 

,             7       .              '^      .             -^  mandibula 

temporalregion  rr~ 


region     region     ^j^.^^^^.^^.^j^  Kiemenbogen 


Nasenkapsel 


Kiemen 
strahlen 
(JRadien 


Pa  la  toqua  dratum 


Li'ppenknorpcl 


Primordialer  Unterkiefer  Ventruhijale       Extrabranchialia 

Fig.  22.     Kopfskelett  eines  Haifisches,  von  links.     Nach  W.  K.  Parker,  aus  Wiedersheim. 

Formbesonderheiten,  doch  nach  dem  gleichen  Grundplan,  immer  wieder  als 
Grundlage  des  Schädels  embryonal  angelegt,  bleibt  aber  hier  nicht  allein,  son- 
schädeiknochen.  dem  erfährt  eine  Ergänzung  durch  das  Hinzutreten  von  knöcherne  nElementen. 
Ontogenetisch  und  phylogenetisch  die  frühesten  sind  Deckknochen,  die  teils 
an  seinem  dorsalen  und  lateralen  Umfang,  teils  in  den  Wandungen  der  Mund- 
höhle ihre  Entstehung  nehmen  und  sich  dem  Knorpelschädel  zunächst  nur  lose 
auflagern;  zu  ihnen  gesellen  sich  bald,  schon  bei  den  höheren  Fischen,  Ersatz- 
knochen, die  nur  bei  ihrer  ersten  Entstehung  in  der  Knorpelhaut  dem  Knorpel 
aufhegen,  dann  aber,  während  letzterer  selbst  zugrunde  geht,  an  seine  Stelle 
treten. 

Von  den  Deckknochen  wird  eine  erste  Gruppe,  die  auf  der  Oberfläche 
und  an  den  Seiten  des  Knorpelschädels  auftritt,  zum  Teil  wenigstens  auf  Ver- 
knöcherungen der  Haut  zurückgeführt,  die  allmählich  in  größere  Tiefe  rückten 
und  zu  dauernden  Bestandteilen  des  Schädels  wurden.  Bei  den  Knorpel- 
ganoiden  zeigen  sie  sich  noch  in  einem  mehr  indifferenten  Verhalten,  mit 
manchen  Varianten  in  bezug  auf  Zahl  und  Form,  doch  schon  bei  den  Knochen- 
fischen erscheinen  gewisse  Stücke  in  bestimmtem  Verhalten,  das  sich  dann 
weiterhin  dauernd  erhält.    Am  Dach  des  Schädels  sind  ziemlich  konstant  drei 


Ueckknochen. 


Primordialschädel.    Schädelknocheii.     Deckknochen 


439 


Nasenkapsel 


Nasale 
-  Maxilla 


Knorplige 
Seitemvand- 
spangen  der 

Orbitotem- 
poralregion 


Paare  von  Knochen,  die,  von  hinten  nach  vorn,  als  Scheitel-,  Stirn-  und  Nasen- 
beine bezeichnet  werden;  von  ihnen  liegen  die  Scheitel-  und  Stirnbeine  [Parie- 
talia  und  Frontalia)  im  Gebiet  der  drei  hinteren  Schädelregionen  und  über- 
nehmen, wenn  unter  ihnen  die  knorpelige  Schädeldecke  nicht  mehr  zur  Aus- 
bildung kommt,  Fraemaxillare 
was  meist  der  Fall 
ist,  die  Herstel- 
lung eines  knö- 
chernen   Daches 

der  Schädel- 
höhle, während 
die  Nasenbeine 
{Nasalia)  sich 
dem  Dach  der 
Nasenkapsel  auf- 
lagern. Weniger 
konstant  sind 
einige  Knochen, 
diejederseitsseit- 
lich  von  den  ge- 
nannten liegen: 
das  Supratempo- 
rale (seitlich  vom  Fora 
Scheitelbein  auf 
der  Ohrkapsel) ; 
das  hintere  Stirn- 
bein {Postfron- 
tale), das  sich  hin- 
ter    dem    Auge, 

ohne  erkennbare    ^, 

Ohr- 

Beziehung     zum  kapsei 
Knorpelschädel, 
dem       Stirnbein 
anschließt;      das 
vordereStirnbein 

{Praefrontale), 

vor  dem  Auge  an  der  Nasenkapsel;  und  an  der  letzteren  noch  das  Septo- 
maxillare  und  Adlacrimale,  Ohne  Beziehung  zum  Knorpelschädel  findet  sich 
weiterhin  häufig  ein  Jochbein  {Zygomaticum),  als  Verbindungsbrücke  zwischen 
■dem  Oberkiefer  und  den  Knochen  der  Schläfengegend  {Supratemporale,  Squa- 
mosum,  Quadratojugale).  Von  den  letzteren  wurde  das  Supratemporale  schon 
als  Deckknochen  der  Ohrkapsel  erwähnt;  die  beiden  anderen,  das  Squamosum 
und  das  Quadratojugale,  sind  Deckknochen  an  der  Außenseite  des  Palatoqua- 
dratums,  doch  kann  das  Squamosum  von  hier  aus  aufwärts  an  den  neuralen 


men 
opti- 
cum 


Praefrontale 
Frontale 

Adlacrimale 
Palatinum 

Zygomaticum 
Transversum 


Post  frontale 
mediale 

Parietale 


Postfrontale 
laterale 


-Squamosum 


Supra- 
temporale 


Condylus  occipital.    Chorda  dorsal. 


Fig.  23.     Scliädel  eines  47  mm  langen  Embryo  von  Lacerta  agilis,  nach  Entfernung  der 
Deckknochen  der  linken  Seite.     Nach  einem  Wacbsniodell.     Ansicht  von  der  Oberseite. 


440  Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Schädel  rücken.  Auch  in  der  Umgebung  des  hinteren  Abschnittes  des  primor- 
dialen Unterkiefers  können  Deckknochen  dieser  ersten  Gruppe  auftreten  {Angu- 
lare,  Supraangulare,  Complementare,  Goniale).  Dagegen  kommen  an  den  Stücken 
des  Zungenbein-Kiemenbogenskelettes  hierher  gehörige  Deckknochen  nur  aus- 
nahmsweise zur  Ausbildung,  so  bei  den  Knochenfischen,  wo  sich  an  die  Stücke 
des  Zungenbeinbogens  ein  aus  Deckknochen  bestehender  Kiemendeckelapparat 
anschließt.  Inkonstanter  Natur  und  nur  auf  bestimmte  Wirbeltiergruppen 
beschränkt  sind  oberflächHch  gelagerte  Deckknochenringe  um  die  Augen  (bei 
manchen  Knochenfischen  und  Echsen),  oberfiächhche  Hautverknöcherungen 
der  Schläfengegend  (bei  manchen  Echsen)  u.  a. 

Eine  andere,  gut  abgrenzbare  Gruppe  von  Deckknochen  wird  seit  O. 
Hertwig  (1874)  als  Zahnknochen  aufgefaßt,  d.  h.  als  Knochen,  die  ur- 
sprünglich aus  einer  Verwachsung  von  Zähnen  entstanden  sind.  Die  hierher 
gehörigen  Elemente  sind  bei  niederen  Wirbeltieren  in  oder  unter  der  Mund- 
schleimhaut gelegen  und  können  alle  —  bei  dieser  oder  jener  Form  —  Zähne 
tragen,  lassen  auch  vielfach  noch  —  bei  Fischen  und  langschwänzigen  Amphi- 
bien —  entwickelungsgeschichthch  die  Entstehung  aus  einer  Verschmelzung 
von  Zahnsockeln  erkennen.  Oft  genug  aber  zeigen  sie  eine  Emanzipation  von 
den  Zähnen:  sie  entstehen  selbständig  und  verbinden  sich  erst  sekundär  mit 
den  ebenfalls  selbständig  entstandenen  Zähnen,  ja  schließhch  können  nur  die 
Knochenstücke  allein  noch  zur  Entwickelung  kommen,  die  Zähne  auf  ihnen 
aber  unterdrückt  werden.  Da  bei  den  Haien  kleine  Zähnchen  in  der  ganzen 
Mundhöhle  verbreitet  sind,  so  können  auch  bis  tief  in  dieselbe  hinein  zahn- 
tragende Knochenstücke  entstehen;  verständlich  ist  es  aber  auch,  daß  dies  ganz 
besonders  da  der  Fall  ist,  wo  knorpelige  Skeletteile,  die  die  Mundhöhle  be- 
grenzen, für  solche  Zahnknochen  ein  festes  Widerlager  bildeten.  Als  breiteste 
Anlagerungsstätte  bot  sich  da  zunächst  am  Mundhöhlendach  die  Schädelbasis 
dar,  an  der  denn  auch  ein  ausgedehnter,  auf  Zahnverwachsung  zurückzuführen- 
der Knochen  zur  Entstehung  kommt:  das  Parasphenoid  (Nebenkeilbein).  Aus 
der  Verwachsung  der  großen  Kieferzähne,  die  bei  den  Haien  dem  Palatoqua- 
dratum  aufsitzen,  gehen  mindestens  zwei  zahntragende  Knochenplatten  hervor: 
eine  hintere,  das  Pterygoid  (Flügelbein)  und  eine  vordere,  das  Palatinum 
(Gaumenbein).  Vielleicht  entstand  auch  das  Pflugscharbein  (der  Vomer)  als 
drittes,  vorderstes  Stück  erstmalig  auf  dem  Palatoquadratum,  doch  bot  ihm 
vielleicht  der  Boden  der  Nasenkapsel,  an  dem  es  sich  tatsächlich  gewöhnhch 
findet,  auch  schon  die  erste  Anlagerungsstätte  dar.  Jedenfalls  kam  also  hier 
am  Dach  der  Mundhöhle  jederseits  ein  aus  Vomer,  Palatinum,  Pterygoid  zu- 
sammengesetzter Bogen  zahntragender  Knochen  zustande,  der  nun  aber,  und 
das  ist  wichtig  genug,  niemals  mehr  da  hegt,  wo  man  ihn  erwarten  sollte,  d.  h. 
am  Eingang  zur  Mundhöhle,  sondern  stets  mehr  in  der  Tiefe  derselben.  Es 
bildet  sich  nämhch  vor  ihm  ein  zweiter,  vorderer  oder  äußerer  Zahnbogen,  be- 
stehend aus  zwei  hintereinander  gelegenen  Zahnknochen,  einem  vorderen 
Zwischenkiefer  {Praemaxillare)  und  einem  hinteren  Oberkiefer  {Maxüla). 
Vielleicht  bot  diesen  der  obere  Lippenknorpel,  wie  ein  solcher  bei  Haien  besteht,. 


Deckknochen.    Ersatzknochen 


441 


bei  den  übrigen  Fischen  aber  nebst  dem  unteren  Lippenknorpel  bald  ver- 
schwindet, die  erste  Anlagerungsstätte  dar,  vielleicht  aber  entstanden  sie  auch 
von  vornherein  an  der  Nasenkapsel,  der  sie  sich  tatsächlich  bei  den  meisten 
Wirbeltieren  anlegen  und  an  der  sie  besonderen  Halt  gewinnen,  indem  sich 
ihren  zahntragenden  Abschnitten  aufsteigende,  wohl  dem  Integument  ent- 
stammende Teile  anschließen  und  sich  auf  die  Außenfläche  der  Nasenkapsel  her- 
aufschieben.      So 


erkennen  wir,  daß 
der  ausZwischen- 
und  Oberkiefer 
gebildete  obere 
Begrenzungsrand 
der  Mundhöhle, 
wie  er  bei  den 
meisten  Wirbel- 
tieren besteht, 
nicht  dem  Mund- 
rand der  Selachier 
entspricht,  der 
von  dem  Palato- 
quadratum  herge- 
stellt wird,  son- 
dern vor  diesem 
liegt:  der  Mund- 
eingang ist  bei  den  frontale 
über  den  Selachi-  ^«^^''«^^ 
ern  stehendenFor- 
men  sozusagen 
nach  vorn  ver- 
schoben worden. 
Entsprechend  den 
Verhältnissen  am 
Dach  der  Mund- 
höhle      kommen 


Praemaxillare 


Vomer-- 


Nasenkapsel 


Pala- 

tinutn 

Trans- 

versum 

Zygo- 
viaticuni 

Parie- 
tale 

Ptery- 
goid 

Post 


Colu- 
mella 
auris 


Foramen  opticum 

Knorpelige  Seiten- 

luandspangen   der 

Orbitotemporal- 

region 

Processus  bnsi- 

jjterygoideus 

f-  Quadratuiii 


Ohrkapsel  oder 
Columella 


Parasphenoid 


Condylus  occipitalis 

Fig.  24.     Derselbe  Schädel  wie  Fig.  23,  Ansicht  von  der  Unterseite. 


auch  am  primordialen  Unterkiefer  zwei  Bogen  zahntragender  Knochen  zur  Aus- 
bildung, ein  äußerer,  hergestellt  durch  das  Dentale,  und  ein  innerer,  durch 
das  Spleniale  gebildeter.  Endlich  aber  können  auch  auf  den  verschiedensten 
Teilen  des  Zungenbein-  und  Kiemenbogenskelettes  zahntragende  Knochen  ent- 
stehen, so  daß  bei  manchen  Knochenfischen  die  ganze  Mundhöhle  von  zahn- 
tragenden Knochenplatten  umgeben  ist,  von  Zähnen  geradezu  starrt. 

Die  zweite  große  Gruppe  von  Knochen,  die  bei  den  über  den  Selachiern 
stehenden  Wirbeltieren  am  Schädel  auftreten,  sind  die  Ersatzknochen,  deren  Ersatzknochen 
Wesen  darin  besteht,  daß  sie  sich  nicht  auf  eine  bloße  Bedeckung  des  Knorpel- 
schädels beschränken,  sondern  einzelne  Bezirke  desselben  ersetzen,  nachdem 


AA2  Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

hier  der  Knorpel  selbst  zugrunde  gegangen.  So  wird  der  neurale  Schädel,  der 
auf  dem  Knorpelstadium  eine  ungeghederte  einheitliche  Kapsel  darstellt,  in 
einzelne  knöcherne  Territorien  zerlegt,  aber  diese  Gliederung  ist,  wie  nun  er- 
sichtlich, ein  sekundärer  Vorgang,  und  damit  verbietet  sich  jeder  Vergleich  der 
so  entstehenden  einzelnen  Stücke  etwa  mit  ,, Wirbeln"  oder  mit  Teilen  von 
solchen,  wie  ihn  die  alte  ,, Wirbeltheorie"  durchführen  wollte.  Doch  läßt  sich 
eine  Gruppierung  der  Ersatzknochen  des  neuralen  Schädels  vornehmen  nach 
den  Gegenden,  in  denen  sie  auftreten,  und  es  lassen  sich  demnach  unterscheiden: 
Occipitalia  (Hinterhauptbeine),  die  die  Occipitalgegend  okkupieren  und  meist 
in  der  Vierzahl,  als  je  ein  oberes  und  unteres  und  zwei  seitliche,  vorhanden 
sind;  Otica  (Ohrknochen),  die  die  Ohrkapsel  jeder  Seite  in  knöcherne  Stücke 
zerlegen,  an  Zahl  nicht  konstant  sind  und  häufig  untereinander  zu  einem  ein- 
heithchen  Felsenbein  (Petrosum)  verschmelzen;  Sphenoidalia  (Keilbeine), 
die  Verknöcherungsgebiete  der  Augen -Schläfengegend,  als  basale  und  late- 
rale unterscheidbar;  endlich  Ethmoidalia  (Siebbeine),  die  Ersatzknochen  der 
Nasenkapsel,  die  ebenfalls  in  der  Mehrzahl  auftreten  können.  Im  Gebiet  des 
Kieferbogens  verknöchern,  oft  schon  bei  den  Fischen  und  Amphibien,  und 
ganz  regelmäßig  bei  den  Amnioten,  die  Gelenkteile  des  Palatoquadratums  und 
des  primordialen  Unterkiefers,  jener  als  Quadratbein  [Quadraturn),  dieser  als 
Gelenkbein  [Articulare)^  und  endlich  kann  der  Verknöcherungsprozeß  auch  die 
Teile  des  Zungenbein-Kiemenbogenskelettes  in  größter  Ausdehnung  ergreifen. 
Der  Ersatz  des  Knorpelschädels  durch  Ersatzknochen  geht  bei  den  ein- 
zelnen Wirbeltieren  verschieden  weit,  und  dementsprechend  werden  verschie- 
den große  Bezirke  des  ersteren  auch  unverändert  in  den  erwachsenen  Schädel 
übernommen.  Der  Schädel  der  Störe  und  anderer  Ganoiden,  vieler  Knochen- 
fische und  Amphibien  besteht  auch  im  erwachsenen  Zustand  noch  zu  einem 
sehr  großen  Teil  aus  Knorpel  und  auch  an  der  Zusammensetzung  des  Schädels 
mancher  Reptilien  nimmt  Knorpel  noch  einen  großen  Anteil,  ja  selbst  bei  Vögeln 
und  Säugern,  wo  der  Ersatz  des  Knorpelschädels  durch  knöcherne  Territorien 
am  vollständigsten  ist,  bleibt  die  Nasenkapsel  wenigstens  zum  Teil  knorpelig. 
Beim  Menschen  sind  die  Knorpel  der  äußeren  Nase  Reste  des  Knorpelschädels. 
Einen  Schädel,  der  nur  aus  Knochen  bestände,  ohne  knorpelige  Teile,  dürfte 
es  wohl  überhaupt  nicht  geben.  Aber  allerdings  tritt  die  Bedeutung  derselben 
im  großen  und  ganzen  immer  mehr  zurück,  je  höher  wir  in  der  WirJ^eltierreihe 
aufsteigen,  und  zwar  ist  das  nicht  nur  dahin  zu  verstehen,  daß  immer  ausge- 
dehntere Teile  des  embryonalen  Knorpelschädels  durch  Knochen  verdrängt 
werden,  sondern  auch  dahin,  daß  derselbe  von  vornherein  nicht  mehr  in  der 
Vollständigkeit  angelegt  wird,  wie  bei  den  Selachiern.  Namenthch  die  Decke 
und  die  Seitenwände  werden  lückenhaft  und  schwinden  oft  ganz,  und  es  sind 
vor  allem  die  basalen  Teile,  die  noch  zur  Anlage  gelangen,  während  an  den 
Seiten  und  an  der  Decke  Deckknochen  den  Abschluß  der  Schädelhöhle  über- 
nehmen. So  besonders  bei  den  Säugern  einschheßUch  des  Menschen.  In  dieser 
allmählichen  Reduktion  des  Knorpelschädels  prägt  sich  die  größere  Wertigkeit 
der  knöchernen  Skeletteile  gegenüber  den  knorpeligen  aus;  sie  schließt  übrigens 


Ersatzknochen.    Bestandteile  d.  ausgebild.  Schädels.    Besonderheiten  d.  neuralen  Schädels     413 

nicht  aus,  daß  nicht  auch  gelegentlich  bei  einer  höheren  Form  wieder  eine  Ver- 
mehrung der  knorpeligen  Teile  erfolgt. 

Unverknöchert  bleibende  Teile  des  Knorpelschädels,  Ersatzknochen  und  Die  Bestandteile 
Deckknochen  sind  die  Bestandteile,  die  den  Schädel  aller  über  den  Selachiern    fe^n'^schädeisr 
stehenden  Wirbeltiere  zusammensetzen.    Die  vergleichende  Betrachtung:  hat  ^e'-wachsungen, 

°  °  Homologien. 

sie  alle  gesondert  zu  betrachten  an  der  Hand  der  Entwickelungsgeschichte.  FunkHons- 
Diese  hat  die  Zugehörigkeit  der  verschiedenen  Knochenstücke  zu  einer  der 
beiden  Hauptkategorien  festzustellen,  wie  auch  etwaige  Verwachsungen  ver- 
schiedener Elemente  nachzuweisen.  Denn  solche  sind  häufig  genug,  und  am 
erwachsenen  menschlichen  Schädel  z.  B.  gibt  es  mehrere  ,, Knochen",  die  tat- 
sächhch  Knochen-Komplexe  darstellen,  Verwachsungsprodukte  aus  ver- 
schiedenen und  auch  verschiedenwertigen  Teilstücken,  wie  denn  das  Schläfen- 
bein des  Menschen  aus  einer  ganzen  Anzahl  von  Bestandteilen  zusammengesetzt 
ist:  aus  den  Ersatzknochen  der  Ohrkapsel  und  ihrer  Umgebung,  dem  ver- 
knöcherten oberen  Ende  des  Zungenbeinbogens  und  zwei  Deckknochen,  dem 
Schuppenbein  und  dem  Paukenbein,  welch  letzteres  wahrscheinlich  auf  einen 
früheren  Unterkiefer-Deckknochen  zurückzuführen  ist.  Diese  letztere  Angabe  er- 
öffnet zugleich  einen  Blick  auf  ein  großes  und  schwieriges  Gebiet  der  vergleichen- 
den Schädelforschung:  die  Feststellung  der  bei  den  einzelnen  Formen  einander 
entsprechenden  (homologen)  Knochenstücke,  eine  Aufgabe,  die  erschwert  wird 
durch  die  Tatsache,  daß  auch  die  Kopfknochen  einen  Wechsel  ihrer  speziellen 
Verwendung  erleiden  können.  Die  Feststellung  der  Homologien  ist  die  Vor- 
bedingung für  eine  vergleichende  Betrachtung  der  Veränderungen,  die  der  Ge- 
samtschädel in  Anpassung  an  die  ihm  obliegenden  Aufgaben,  in  Abhängigkeit 
von  den  Organen,  in  deren  Dienst  er  steht,  durchmacht.  Wie  beträchtlich  die- 
selben sind,  lehrt  das  ganz  verschiedene  Aussehen,  das  die  einzelnen  Schädel, 
etwa  der  eines  Knochenfisches,  eines  Frosches,  Vogels  und  Säugers,  darbieten. 
Die  Entwickelungsgeschichte  analysiert  diese  Verschiedenheiten  und  macht  sie 
verständlich,  indem  sie  sie  zurückführt  auf  die  Veränderungen  der  einzelnen 
Teile.  Es  zeigt  sich  dabei,  daß  die  Verschiedenheiten  des  Gesamtschädels  in 
viel  höherem  Maße  auf  Rechnung  des  Eingeweideteiles  des  Schädels  kommen, 
als  auf  solche  des  neuralen  Abschnittes.  Von  jenem  befreit,  erscheint  der 
letztere  sofort  viel  verständlicher  und  läßt  den  oben  geschilderten  Grundplan 
leicht  erkennen,  ganz  besonders  wenn  man  ihn  betrachtet,  solange  er  sich  noch 
auf  der  Höhe  des  Knorpelstadiums  befindet,  und  Ersatzknochen  noch  nicht 
an  ihm  aufgetreten  sind. 

Von  den  Hauptunterschieden,  die  an  dem  neuralen  Schädel  festzustellen  Besonderheiten 
sind,  wurden  zwei,  die  Hinterhauptregion  betreffende,  schon  genannt:  die  Ver-  '^^s^hädek^" 
schiedenheit  dieser  Region  hinsichtlich  der  Zahl  der  Wirbel,  die  in  ihren  Auf- 
bau eingehen,  sowie  die  verschiedene  Art  der  Gelenkung  mit  der  Wirbelsäule 
(S.  428).  Ein  weiterer,  scheinbar  unbedeutender,  tatsächlich  aber  sehr  bedeu- 
tungsvoller betrifft  die  Ohrkapseln:  bei  allen  landlebenden  Wirbeltieren,  von 
den  Amphibien  an,  sind  dieselben  nicht  mehr  wie  bei  den  Fischen  nach  außen 
völlig  geschlossen,  sondern  besitzen  eine  kleine  Öffnung,  das  Vorhofsfenster, 


444 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


das  durch  das  innere  Ende  eines  kleinen  Stäbchens,  der  Ohrcolumella,  ver- 
schlossen wird  und  so  die  Übertragung  von  Schallwellen  durch  jenes  Stäbchen 
auf  das  in  der  Ohrkapsel  eingeschlossene  Gehörlabyrinth  gestattet.  Auffallender 
ist  ein  Unterschied,  den  die  Augengegend  zeigen  kann:  anstatt  des  in  Fig.  21 
dargestellten  Verhaltens  trifft  man  sehr  häufig  ein  anderes,  dadurch  ausge- 
zeichnet, daß  durch  die  großen  und  tief  gelagerten  Augen  die  Schädelhöhle 
zwischen  ihnen  auf  einen  engen  oben  vom  Stirnbein  geschlossenen  Kanal  redu- 
ziert und  auf  den  oberen  Rand  einer  mittleren  unpaaren  Scheidewand  (des 
Septum  interorbitale)  verlagert  wird.  Schon  unter  den  Fischen  ist  das  nicht 
selten,  es  ist  ferner  eine  Eigenheit  aller  Reptilien  und  Vögel,  und  auch  beim 

Knorpelige  Seitenicandspangen 
der  Orbitotemporairegion 


Vorderer  rinnenförmiger  Teil  der.- 
Schüdelhöhle  {für  die  Riechlappev 


NasenJcapsel  -J<f, 


..  OhrTcapsel 


Lücke  für  die  äußere 
Nasenöffnung 


Septum  :  Aufsteigender,  Pru-     <^)ua-      Columella  auris 

interorbüale  1^^-"  ^ratum 

For.  OptlCUm  Fortsatz  (Epi-  ptery- 
pterygoid)     goideus 


Fig.  25.     Knorpelschädel  eines  31  mm  langen  Embryo  von  Lacerta  agilis,  von  der  linken  Seite. 

Nach  einem  Wachsmodell. 


Säugerschädel  ist  es  noch  als  Hinweis  auf  die  Reptilien-Abstammung  der 
Säuger  deutlich  erkennbar.  Sehr  viele  Formbesonderheiten  zeigt  ferner  im  Ge- 
biet des  neuralen  Schädels  die  Nasenkapsel,  in  Anpassung  an  die  fortschrei- 
tende Entwickelung  des  Geruchsorganes.  Da  ist  zunächst  zu  nennen  das  Ver- 
halten ihrer  Öfinungen.  Während  bei  den  Haien  der  Zugang  zu  dem  Inneren 
der  Nasenkapsel  jederseits  an  der  Unterseite  des  Kopfes  liegt,  rückt  er  bei 
Ganoiden  und  Knochenfischen  an  die  Oberseite  desselben,  und  bei  allen  luft- 
atmenden Wirbeltieren,  von  den  Amphibien  an,  erhält  der  Raum  jeder  Seite 
sogar  zwei  Öffnungen,  eine  äußere,  die  an  der  Oberfläche  des  Kopfes  liegt, 
und  eine  innere,  die  in  die  Mundhöhle  führt.  Damit  wird  die  Nasenhöhle  in  den 
Dienst  der  Luftatmung  gestellt:  die  Luft  kann  nun  durch  den  Raum  der  Nasen- 
höhle hindurch  in  die  Mundhöhle  geleitet  werden.  Daran  knüpft  eine  andere 
Veränderung  an:  die  Bildung  eines  neuen  Daches  der  Mundhöhle  oder  des 
sekundären  Gaumens  durch  Deckknochen  der  Mundhöhle,  die  wir  noch  zu  be- 
trachten haben  werden.  Von  den  vielen  Umbildungen  im  Inneren  der  Nasen- 
kapsel verdient  besonders  das  Auftreten  von  Nasenmuscheln  genannt  zu  wer- 
den, Vorsprüngen  der  Kapselwand,  die  Schleimhauterhebungen  zur  Stütze 
dienen.    Auch  auf  sie  wird  noch  zurückzukommen  sein. 


Besonderheiten  des  neuralen  Schädels.  Besonderheiten  des  Eingeweideteiles  des  Schädels     445 


Schädels. 


Die  meisten  Besonderheiten  von  allen  Neuralschädeln  zeigt  wohl  der  der 
Säuger.  Die  starke  Entwickelung,  die  hier  das  Gehirn  erfährt,  führt  zu  einer 
Umgestaltung  des  Schädels,  die  die  Schaffung  eines  größeren  Raumes  für  das- 
selbe zum  Ziele  hat.  Sie  vollzieht  sich  in  der  Weise,  daß  die  alten  Wände  der 
Schädelhöhle  in  der  Ohrgegend  an  die  Basis  niedergelegt,  in  der  Augen- 
Schläfengegend  überhaupt  unterdrückt,  und  Räume  zu  der  Schädelhöhle  hinzu- 
gezogen werden,  die  ihr  früher  nicht  angehörten.  So  lehrt  die  Betrachtung  des 
Säugerschädels  die  bemerkenswerte  Tatsache  kennen,  daß  die  ,, Schädelhöhle" 
keine  konstante  Größe  in  der  Wirbeltierreihe  ist. 

Eine  viel  größere  Mannigfaltigkeit  beherrscht  den  Eingeweideteil   des  Besonderheiten 
Schädels,  eine  Tatsache,  die  nicht  überraschen  kann,  wenn  man  bedenkt,  daß  '^'"'teuTdel^"" 

Fig.  26.  Linke  Hälfte  des  Schä- 
dels von  Boa  constrictor,  von  der 
Seite  (und  etwas  von  oben)gesehen. 
Fr  Frontale  (Stirnbein),  h  Hörknö- 
chelchen,  Mx  Maxilla  (Oberkiefer- 
bein), N  Nasale  (Nasenbein),  Os 
Occipitale  superius  (Supraoccipi- 
tale,  oberes  Hinterhauptsbein),  Pa 
Parietale  (Scheitelbein),  Pa/Pala- 
tinum  (Gaumenbein),  Pe  Petrosum 
(Felsenbein),  P/ Postfrontale  (hin- 
teres Stirnbein),  Prf  Praefrontale 
(vorderes  Stirnbein).  Pi  Pterygoid 
(Flügelbein) ,  Px  PraemaxiUare 
(Zwischenkieferbein),  Q  Quadra- 
tura,  Sq  Squaniosura  (Schuppen- 
bein), Tr  Transversum.  i,  2,  3 
Unterkieferknochen  (z  Dentale, 
2  Complementare,  j  ein  aus  mehre- 
ren Stücken  verschmolzener„Groß- 
knochen").     Nach  Boas. 

gerade  die  Aufgaben,  die  dieser  Teil  übernimmt,  Nahrungsaufnahme  und 
Atmung,  sich  unter  den  verschiedensten  Bedingungen  vollziehen.  Sehr  ver- 
schieden ist  da  zunächst  die  Art,  wie  der  Kieferapparat  mit  dem  neuralen 
Schädel  verbunden  wird.  Als  ursprüngliches  Verhalten  ist  zu  betrachten,  daß 
der  Aufhängeapparat  des  Unterkiefers,  das  Palatoquadratum,  beweglich  dem 
neuralen  Schädel  angefügt  ist,  mag  es  sich,  wie  bei  den  Grauhaien  (Fig.  20)  nur 
durch  eigene  Fortsätze  mit  jenem  verbinden,  oder  mag  dabei  das  obere  Stück  des 
Zungenbeinbogens  als  Kieferstiel  (Hyomandibula)  Verwendung  finden  (Fig.  22). 
Letzteres  ist  der  Fall  bei  weitaus  den  meisten  Fischen  (Selachiern,  Ganoiden, 
Knochenfischen).  Doch  schon  unter  den  Fischen  kann  das  ursprüngliche  Ver- 
halten einem  anderen  Platz  machen:  bei  den  Chimaeren  und  den  Doppelatmern 
verwächst  das  Palatoquadratum  fest  mit  dem  neuralen  Schädel.  Auch  für  die 
landlebenden  Wirbeltiere  hat  bewegliche  Verbindung  des  Palatoquadratums 
am  neuralen  Schädel  als  Ausgangszustand  zu  gelten  und  findet  sich  bei  man- 
chen Amphibien,  sehr  vielen  Reptihen  sowie  allenVögeln  (Fig.  26).  Im  einzelnen 
gestalten  sich  die  dadurch  ermöglichten  Bewegungen  sehr  verschieden,  nicht  nur 
in  bezug  auf  ihre  Ausgiebigkeit,  sondern  auch  in  bezug  auf  ihre  Art  und  Wir- 
kung; in  letzterer  Hinsicht  kommt  in  Betracht,  daß  die  Bewegung  des  Quadra- 
tums  stets  auch  auf  andere  Teile  übertragen  wird,  vor  allen  Dingen  auf  den 
von  Flügel-  und  Gaumenbein  gebildeten  Knochenbogen,  und  weiterhin  auf  den 


446 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Oberkiefer.  Echsen,  Schlangen,  Vögel  zeigen  ganz  verschiedene,  außerordent- 
lich interessante  Bewegungen  im  Gebiete  des  Oberschädels.  Als  abgeänderter 
Zustand  ist  es  demgegenüber  zu  betrachten,  wenn  das  Quadratum  ganz  fest 
und  unbeweglich  mit  dem  neuralen  Schädel  verbunden  wird,  wie  es  bei  sehr 
vielen  Amphibien,  bei  den  Schildkröten  und  Krokodilen  der  Fall  ist  (Fig.  27). 
Die  Kieferbewegungen  sind  alsdann  beschränkt  auf  Bewegungen  des  Unter- 
kiefers im  Kiefergelenk. 

Die  allermerkwürdigste  Entwickelung  schlägt  aber  der  Kieferapparat  bei 
den  Säugern  ein  (Fig.  28).  Sie  führt  dazu,  daß  der  ganze  hintere  Abschnitt  des 
Unterkiefers,  wie  er  bei  den  Reptilien  besteht,  zusammen  mit  dem  Quadratum 


Zygomaticuni 


Postfrontale 


Adla 

Fraefrontale    crhnaie 


Nasale      Maorüla 


maxillare 


Prae-  --g^,,>'  ,.■   . 


Squamosum 

-Quadratum 
_  Quadratojugult 


Fis 


Dentale 

27.     Schädel  vom  Alligator. 


Angulare 

Nach    SCHIMKKWITSCH. 


Supraavgulare 


aus  der  Zusammensetzung  des  Kieferapparates  ausgeschaltet  und  einer  neuen 
Bestimmung  dienstbar  gemacht  wird:  der  Zuleitung  der  Schallwellen  zu  dem 
Gehörorgan.  Aus  dem  Quadratum,  das  bis  herauf  zu  den  Vögeln  den  Unter- 
kiefer trägt,  geht  bei  den  Säugern  ein  Gehörknöchelchen,  der  Amboß,  hervor; 
ein  zweites  Gehörknöchelchen,  der  Hammer,  wird  gebildet  aus  dem  früheren 
Gelenkbein  des  Unterkiefers  (dem  Articulare)  nebst  einem  der  früheren  Deck- 
knochen des  Unterkiefers  (dem  Goniale),  und  aus  einem  weiteren  der  alten 
Unterkiefer-Deckknochen,  dem  Winkelbein  oder  Angulare,  geht  bei  den  Säu- 
gern das  Paukenbein  (Tympanicum)  hervor,  das  Ring-  oder  Röhrenform  an- 
nimmt und  einen  Rahmen  bildet,  in  dem  sich  das  Trommelfell  ausspannt.  In 
das  letztere  fügt  sich  der  Hammer  ein,  der  die  Schwingungen  des  Trommelfelles 
dem  Amboß  übergibt,  von  dem  sie  schließlich  auf  ein  drittes  Gehörknöchelchen, 
den  Steigbügel,  übertragen  werden.  Dieser,  der  wahrscheinlich  aus  dem 
früheren  Kieferstiel  (der  Hyomandibula)  hervorgeht,  und  als  innerer  Abschnitt 
des  Gehörknöchelchens  schon  bei  Reptilien  vorhanden  ist,  verschließt  mit  seiner 
Fußplatte  das  Vorhofsfenster  der  Ohrkapsel  und  vermag  so  die  Schwingungen 
des  Trommelfells  schließlich  dem  häutigen  Labyrinth  mitzuteilen,  das  in  der 
Ohrkapsel  eingeschlossen  ist.  So  haben  wir  hier  in  der  Geschichte  der  Gehör- 
knöchelchen   der    Säuger   einen    höchst    merkwürdigen    Fall    von    Funktions- 


Besonderheiten  des  Eingeweideteiles  des  Schädels.     Schläfengegend,  Gaumenbildung       aaj 


Wechsel,  vielleicht  den  merkwürdigsten  aus  dem  ganzen  Bereiche  der  Wirbel- 
tier-Morphologie: Skeletteile,  die  früher  wichtige  Glieder  des  Kieferapparates 
bildeten,  sind  bei  den  Säugern  diesem  entfremdet  und  in  ganz  neue  Verwendung 
übergeführt  worden.  Der  Unterkiefer  der  Säuger  entspricht  somit  nicht  mehr 
dem  ganzen  Unterkiefer  der  Nichtsäuger,  sondern  nur  der  vorderen,  zahn- 
tragenden Hälfte 


Quadratbein 


Steighügel 


Arti- 
Complementare     culare 


Dentale   ^".^"'"'"^  Supi-aangularo 


Goniale  (vorderer 
Hammer fortsatz) '  Hammer 


Mcckelscher  Knorpel- 


Fjxtracolumclla 
(=  äußerer  Ab- 
schnitt des  Gehör- 
Stäbchens) 


—^.Cornu  hyale  des 
Zungenbeins 


Amboß 


.  Steigbügel 


desselben,  ja  wohl 
nur  dem  äußeren 
Knochen  dersel- 
ben, dem  Den- 
tale, und  dieses 
ist  nun  genötigt, 
seinerseits  eine 
Verbindung  mit 
dem  neuralen 
Schädel  zu  ge- 
winnen, ein  neues 
Kiefergelenk  zu 
bilden,  nachdem 
das  alte  zum 
Hammer- Amboß- 
gelenk geworden 
ist.  Das  Dentale 
entwickelt  zu  die- 
sem Zweck  ei- 
nen aufsteigen- 
den Fortsatz,  der 
sich   an   die  Un- 

terfiäche      des 

Schuppenbeins 

anlegt    und    mit 

dieser  ein  Gelenk 

bildet.     Dieses 

,, sekundäre" 

Kiefergelenk  der 

Säuger,  das  nichts  mit  dem  ,, primären"  Kiefergelenk  der  Nichtsäuger  zu  tun 
hat,  sondern  vor  diesem  neu  entstanden  ist,  bildet  vielleicht  das  wichtigste 
morphologische  Merkmal,  das  die  Säuger  charakterisiert. 

Im  Anschluß  an  das  verschiedene  Verhalten  des  Kieferapparates  sind  aus  schiäfengegenJ. 
der  an  Einzelproblemen  überreichen  Morphologie  des  Schädels  endhch  noch  Gaumeabiidunj;. 
zwei  Fragen  kurz  zu  streifen:  das  Verhalten  der  Deckknochen  der  Schläfen- 
gegend und  die  Gaumenbildung.    Auf  Grund  des  ersteren  lassen  sich  bei  den 
Tetrapoden  dreierlei  verschiedene  Zustände  unterscheiden.     In  dem  ersteren 
sind  die  Deckknochen  breite  Platten,  die  so  aneinanderschließen,  daß  sie  über 


Dentak, 
allein  den  Unterkiefer  bildend. 


Cornu  hyale 
des  Zungen- 
beins 


Fig.  28.  Schematische  Darstellung  des  Verhaltens  des  Kiefer-  und  sclialleitenden 
Apparates,  A  bei  Saurierembryonen,  ß  bei  Säugererabryonen.  Primordiale  Teile  des 
Kieferbogens  weiß,  Deckknochen  des  Meckelschen  Knorpels  punktiert,  Steigbügel  quer 
schraffiert,  Ventrohyale  (ventraler  Teil  der  Skelettspange  des  Zungenbeinbogens)  schräg 
schraffiert.  Von  dem  Ventrohyale  gliedert  sich  bei  Saiiropsiden  der  obere  Abschnitt 
als  ExtracolumeUa  ab ;  bei  den  Säugern  verbindet  sich  das  obere  Ende  des  Ventrohyale 
mit  der  Ohrkapsel.     Nach  E.  Gaupp. 


448 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


der  Schläfengegend  eine  zusammenhängende  Knochendecke  bilden;  in  dem 
zweiten  stellen  sie  dünnere  Spangen  dar  und  bilden  einen  oder  zwei  Joch- 
oder Schläfenbogen,  die  die  Schläfengegend  überbrücken;  in  dem  dritten 
erscheint  die  Schläfengegend  überhaupt  von  Deckknochen  entblößt,  da  die 
letzteren  teils  geschwunden,  teils  an  anderer  Stelle  verlagert  sind.  Der  erste 
Zustand  ist  namentlich  bei  den  ausgestorbenen  Stegocephalen  und  bei  vielen 
ausgestorbenen  Reptiliengruppen  festzustellen  und  hat  wohl  den  Ausgang 
für  die  Entstehung  der  beiden  anderen  abgegeben,  womit  nicht  gesagt  sein 
soll,    daß    nicht    in    manchen    Fällen    auch    eine    Wiederverbreiterung    von 


Tränen-   Joch-     Stirn- 
Oberhiefer      bein       bein         bein 


Scheitelbein 


Zwischen 
kiefer 


Schuppen 
bein 


Paukenbein 
Äußere  Ohröffnung 


Unterkiefer 

Fig.  2g.     Schädel  vom  Fuchs,  von  der  Seite.     Nach  ScfflMKEWITSCH. 

Schläfenbogen  stattgefunden  und  sekundär  wieder  zur  Bildung  eines  zu- 
sammenhängenden Schläfendaches  geführt  habe.  Gerade  diese  Verhältnisse 
sind  neuerdings  viel  behandelt,  aber  wohl  auch  in  ihrer  Bedeutung,  nament- 
lich in  systematischer  und  allgemein  stammesgeschichtlicher  Hinsicht  manch- 
mal überschätzt  worden. 

Größere  Wichtigkeit  kommt  der  zweiten  oben  genannten  Frage,  der 
Gaumenbildung,  zu.  Dieser  Vorgang  knüpft  an  an  das  Eintreten  der  Nasen- 
höhle in  den  Dienst  der  Atmung  bei  den  luftatmenden  Wirbeltieren  und  be- 
deutet die  Schaffung  eines  neuen  Mundhöhlendaches,  durch  das  ein  Raum  der 
Mundhöhle  von  dieser  abgetrennt  und  zur  Vergrößerung  der  Nasenhöhle  ver- 
wendet wird.  Genauer  ist  darauf  in  dem  Abschnitt  über  die  Mundhöhle  ein- 
gegangen. An  der  Bildung  jenes  Daches  nehmen  Knochen  der  Mundhöhle  teil, 
vor  allem  der  Oberkiefer  und  das  Gaumenbein,  indem  dieselben  horizontale 
Gaumenplatten  nach  innen  entsenden,  die  sich  mit  denen  der  anderen  Seite  in 
der  Mittellinie  vereinigen.  So  ist  es  die  Regel  bei  den  Säugern;  bei  den  Kroko- 
dilen beteiligt  sich  in  gleicher  Weise  auch  das  Flügelbein  an  der  Bildung  des 
Gaumens,  der  dadurch  eine  ganz  besonders  große  Ausdehnung  in  der  Richtung 
nach  hinten  hin  erlangt.    Unter  den  übrigen  Reptilien  finden  sich  verschiedene 


Schläfengegend.    Gaumenbildung.    Zungenbein-  u.  KiemenbogenSkelett 


449 


.  Zwischenkiefer 


--  Oberkiefer 


-..Gaumenhein 


-Jochbein 


Ansätze  zur  Bildung  eines  sekundären  Gaumens,  bei  den  Amphibien  sind  die- 
selben in  noch  primitiverem  Verhalten  zu  beobachten  oder  fehlen  ganz. 

Es  bleibt  uns  zum  Schluß  noch  übrig,  einen  Blick  auf  die  Veränderungen  Zungenbein-  und 
zu  werfen,  die  das  Zungenbein-  und  Kiemenbogen-  Skelett  in  der  Wirbel-      '^skeie«^^"' 
tierreihe  durchmacht.    Es  sind  das  einerseits  Reduktionen,  andererseits  An- 
passungen an  neue  Verwendungen.    Bei  den  Fischen  bewahrt  jenes  Skelett  im 
allgemeinen  das  gleiche  Verhalten  wie  bei  den  Haien,  nur  daß  bei  Ganoiden, 
Knochenfischen   und   Dipnoern   eine    mehr 
oder  minder  vollständige  Verknöcherung  der 
einzelnen  Stücke   erfolgt;   von   den  Amphi- 
bien  an   aber  treten  bemerkenswerte  Um- 
wandlungen ein,  die  durch  das  Aufgeben  der 
Kiemenatmung  bedingt  sind.  Der  hinterste 
(fünfte)  Bogen,  der  schon  bei  den  Fischen 
Rückbildungserscheinungen  aufweist,  fehlt 
als   Kiemenbogen    bei    den    Amphibien, 
doch  besteht  guter  Grund  zu  der  An- 
nahme,  daß   er  in   dem   Knorpel- 
stück zu  sehen  ist,  das  hier  als 
Seitenknorpel  den  Kehl- 
kopfeingang  stützt  und  so  '^^^^^~  ( 
.  Tr   ,  ,1        r  bogen  s 

das     erste     Kehlkopigerüst  ' 

darstellt,  das  dann  bis  herauf 
zu  den  Säugern  mannigfache 
Weiterbildungen         durch- 
macht. Die  übrigen  Kiemen- 
bogen aber  werden  nach  Auf- 
gabe des  Wasserlebens  unter 
Vereinfachung  ihrer  Gliede- 
rung mit  dem  Zungenbein- 
bogen zu  einem  neuen  Apparat  zusammengearbeitet,  dem  Zungenbein,  das 
vor  allem  die  Zunge  zu  tragen  hat  und   oft  genug  auch  an  den  Bewegungen 
derselben  einen    wesentlichen  Anteil    nimmt  oder  gar  diese    allein   bedingt. 
Das  Zungenbein   der   landlebenden  Wirbeltiere   ist   also   nicht   ein   einfaches 
Skelettstück,   sondern   ein  Skelettkomplex,   bestehend   aus   dem   eigentlichen 
Zungenbeinbogen   und   aus   verschiedenen   Kiemenbogen.     Seine   Zusammen- 
setzung im  besonderen  ist  sehr  variabel,  namentlich    in  bezug  auf  die  Zahl 
der    Bogen,    die   in  seinen  Aufbau   eingehen  und   die   Hörner  des   Zungen- 
beines bilden,    während    aus    den    unpaaren  Verbindungsstücken    [Copulae] 
der  Körper  desselben    hervorgeht.     Auch  das    dem    eigentHchen  Zungenbein- 
bogen   entsprechende  vorderste  Hörn  kann  schwinden.    Bei  den  Säugern  er- 
fährt dieser  Zungenbeinapparat  eine  weitere  Minderung  seines  Bestandes,  in- 
dem die  zweite  und  dritte  Kiemenbogenspange  aus  seiner  Zusammensetzung 
ausscheiden  und   durch    Verschmelzung    ein    ganz    neues   Gebilde    entstehen 

K.d.G.  ni.iv,  Bd  2  Zellenlehre  etc.  II  29 


Felsenbein-^ 


Hinterlmuptbein '_'- . 


Fig.  30.     Schädel  vom  B'uchs,  von  unten. 


^  Gelenkfläche 
für  den 
Unterkiefer 

Schuppen- 
bein 


■  Hinterfmupthch 

Nach    SCHIMKEWITSCH. 


450  Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

lassen:    den    Schildknorpel,   der  sich    dem    primären   Kehlkopfgerüst    hinzu- 
gesellt. 

Ein  besonderes  Schicksal  endlich  scheint  der  Kieferstiel  oder  die  Hyoman- 
dibula,  die  bei  den  meisten  Fischen  den  Kieferapparat  trägt,  bei  den  land- 
lebenden Wirbeltieren  zu  erleiden:  es  besteht  guter  Grund  zu  der  Auffassung, 
daß  er  hier  in  den  Dienst  der  Schalleitung  tritt  und  ein  kleines  Stäbchen 
{Columella)  bildet,  das  sich  in  das  Vorhofsfenster  der  Ohrkapsel  einfügt.  In 
einfacher  Form  bei  den  Amphibien,  erfährt  es  bei  den  Reptilien  eine  Ergänzung 
durch  ein  zweites  vom  Zungenbeinbogen  stammendes  Skelettstück,  das  sich 
ihm  außen  anfügt,  während  es  bei  den  Säugern  den  Steigbügel  {Stapes)  bildet, 
der  mit  den  schon  erwähnten  Gehörknöchelchen,  Amboß  und  Hammer,  eine 
schalleitende  Kette  bildet.  Somit  wären  alle  drei  Gehörknöchelchen  der  Säuger 
auf  Teile  des  früheren  Eingeweideskelettes  (des  Kiefer-  und  Zungenbeinbogens) 
zurückzuführen,  die  einen  Funktionswechsel  durchgemacht  haben. 
Extremitäten.  2.  Ext r e mi t  ät  c n -  Sk e  1  c 1 1. 

Skelett 

Die  paarigen  Extremitäten,  deren  allgemeine  Morphologie  bereits  be- 
sprochen wurde,  erhalten  durch  Verdichtung  und  histologische  Umwandlung 
des  embryonalen  Stützgewebes  (des  Mesenchyms)  in  ihrem  Innern  ein  Skelett,, 
das  in  seinem  besonderen  Aufbau  bei  den  Fischen  sehr  anders  ausfällt  als  bei 
den  übrigen  Wirbeltieren,  den  Tetrapoden.  In  einem  Punkte  freilich  stimmen 
die  beiden  genannten  Formgruppen  überein:  hier  wie  dort  kann  man,  und  zwar 
an  der  vorderen  wie  an  der  hinteren  Extremität,  einen  an  der  Basis  der  Extre- 
mität gelegenen  Gürtel  von  dem  Skelett  der  freien  Extremität  unter- 
scheiden. Die  spezielle  Ausgestaltung  dieser  beiden  Abschnitte  aber  zeigt  große 
Verschiedenheiten;  weniger  die  der  Gürtel,  die  sich  noch  leidlich  gut  mit- 
einander vergleichen  lassen,  in  höherem  Maße  die  der  freien  Extremitäten, 
die  bei  Fischen  und  Tetrapoden  ganz  verschiedenen  Grundplänen  folgen,  deren 
Beziehungen  zueinander  noch  immer  eine  der  umstrittensten  Fragen  der  Wirbel- 
tiermorphologie bilden.  Wir  betrachten  zunächst  die  Extremitätengürtel  und 
dann  erst  das  Skelett  der  freien  Extremitäten. 
Schultergürtel.  Der  Schultergürtcl  (Gürtel  der  vorderen  Extremität)  erscheint  in  pri- 

mitiver Form  bei  den  Selachiern.  (Amphioxus  und  die  Rundmäuler  besitzen 
keine  Extremitätengürtel,  wie  sie  auch  keine  Extremitäten  haben.)  Hier,  bei 
den  Selachiern,  besteht  er  jederseits  aus  einer  knorpligen  Spange,  an  der  ein 
ventraler,  quer  gelagerter,  und  ein  in  etwa  rechtem  Winkel  davon  abgeknickter 
dorsaler  Abschnitt  zu  unterscheiden  sind.  Letzterer  steigt  an  der  Seite  des 
Körpers  auf  und  steckt  bei  den  Haien  frei  in  der  Muskulatur,  während  er  bei 
den  Rochen  an  der  Wirbelsäule  Befestigung  gewinnt.  Da,  wo  die  beiden  Ab- 
schnitte aneinander  stoßen,  springt  ein  Gelenkkopf  zur  Verbindung  mit  der 
freien  Extremität  vor;  die  beiderseitigen  Gürtel  hängen  in  der  ventralen  Mittel- 
linie untereinander  zusammen.  Dieser  primordiale,  noch  ganz  knorpelige 
Schultergürtel  erfährt  bei  den  übrigen  Fischen  eine  Weiterbildung  durch  das 
Auftreten  von  Knochen,  von  denen  sich  die  einen  als  Deckknochen  seiner 
Außenfläche  nur  auflagern,  die  anderen  als  Ersatzknochen  einzelne  Gebiete  des 


Kieferstiel.   Extremitäten-Skelett.    Schultergürtel 


451 


Knorpels  okkupieren.  Von  Deckknochen  entsteht  einer  außen  am  Gelenkteil: 
das  Cleithrum;  nach  oben  hin  schließen  sich  ihm  gewöhnlich  zwei  Supra- 
cleithralia  an,  von  denen  der  obere  die  Aufhängung  des  Schultergürtels  am 
Schädel  übernimmt,  während  unterhalb  des  Cleithrums,  also  an  der  ventralen 
Ouerspange  des  primordialen  Schultergürtels,  als  Deckknochen  die  Clavicula 
(das  Schlüsselbein)  auftritt  und  sich  mit  der  der  anderen  Seite  in  der  Mittel- 
linie verbindet.  Unter  diesen  Deckknochen  kann  der  primordiale  Schulter- 
gürtel rückgebildet  werden  (so  bei  Knorpelganoiden),  doch  bleibt  sein  Gelenk- 


Linke  Sclmlter- 
gürtelspange 


,,Hornfüden" 


Metapterygium 

Fi  g.  31.     Schultergürtel  und  Brustflosse  der  linken  Seite  von  Heptanchus.     Die  Flosse  ist  nach  oben    geschlagen. 

Nach    WiEDERSHEIM. 

teil  stets  erhalten  und  kann  sogar  zur  Grundlage  zweier  Ersatzknochen,  eines 
oberen  [Scapula]  und  eines  unteren  [Coracoid]  werden.  Im  besonderen  zeigen 
die  genannten  Teile  bei  Ganoiden,  Knochenfischen  und  Dipnoern  viele  Eigen- 
heiten; so  schlagen  die  Knochenfische  einen  selbständigen  Weg  ein,  der  zum 
Untergang  der  Clavicula,  sehr  starker  Vergrößerung  des  Cleithrums  und  be- 
trächtlicher Reduktion  des  primordialen  Anteiles  führt. 

Auch  für  die  Betrachtung  des  Schultergürtels  der  Tetrapoden  kann  man 
von  einem  ähnlichen  Schema  ausgehen.  Der  primordiale  Schultergürtel  läßt 
auch  hier  einen  ventralen  und  einen  dorsalen  Abschnitt  unterscheiden,  an  deren 
Zusammenstoß  sich  die  Anlagerungsstelle  für  die  freie  Extremität,  hier  bei  den 
Tetrapoden  aber  in  Form  einer  Pfanne,  findet.  Der  ventrale  Abschnitt  besitzt 
die  Form  einer  breiten  Platte,  an  der  gewöhnlich  ein  breiterer  hinterer  Coracoid- 
Abschnitt  und  ein  vorderer  dünnerer  Procoracoid-Abschnitt  unterscheidbar 
sind,  beide  voneinander  getrennt  entweder  durch  einen  von  innen  und  vorn  her 
eindringenden  Einschnitt  oder  durch  ein  Fenster  (Fig.  18).  Im  letzteren  Falle 
hängen  der  Coracoid-  und  der  Procoracoid-Abschnitt  innen  von  dem  Fenster 

29* 


^^2  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

untereinander  zusammen.  Eine  im  dorsalen  Abschnitt  des  primordialen 
Schultergürtels  regelmäßig  auftretende  Ersatzverknöcherung  wird  als  Schulter- 
blattknochen oder  Os  scapulare  bezeichnet,  ein  die  ventrale  Platte  in  ver- 
schieden großer  Ausdehnung  einnehmender,  nahezu  konstanter  Ersatzknochen 
führt  den  Namen  Rabenschnabelbein  oder  Coracoid.  Von  Deckknochen  ist 
bei  den  rezenten  Formen  nur  noch  die  Clavicula  vorhanden;  als  Cleithra  ge- 
deutete Knochen  werden  bei  den  ausgestorbenen  Stegocephalen  gefunden. 

Die  große  Mannigfaltigkeit  in  der  besonderen  Ausführung,  die  dieser 
Grundplan  gestattet,  mag  nur  durch  einige  wenige  Beispiele  dargelegt  werden. 
Bei  den  Schwanzlurchen,  Brückenechsen  und  Echsen  schieben  sich  die  ven- 
tralen Platten  der  beiderseitigen  Schultergürtel  mit  ihren  inneren  Rändern 
übereinander  und  werden  durch  das  Brustbein,  das  sich  ihren  hinteren  Rändern 
anfügt,  in  dieser  Lage  fixiert;  bei  den  Fröschen  tritt  an  die  Stelle  der  gegen- 
seitigen Deckung  die  Vereinigung  der  medianen  Ränder  in  der  Mittellinie,  und 
das  Brustbein  verliert  jene  Bedeutung.  Dagegen  zeigen  Krokodile  und  Vögel 
wieder  das  einfach  gestaltete  Coracoid  dem  Vorderrand  des  Brustbeins  ange- 
fügt (Fig.  17).  Selbst  unter  den  Säugern  erreicht  bei  den  Kloakentieren  noch 
das  Coracoid  das  Brustbein,  bei  den  übrigen  erfährt  es  dagegen  eine  Rück- 
bildung und  bleibt  nur  als  ein  Fortsatz,  ,,Rabenschnabelfortsatz",  am  Schulter- 
blatt bestehen.  Das  letztere  wäre  damit  ganz  seiner  ventralen  Stütze  be- 
raubt, wenn  nicht  das  Schlüsselbein  die  Verbindung  zwischen  Schulterblatt 
und  Brustbein  übernähme.  Es  geschieht  das  bei  allen  Säugern,  die  ihre  Vorder- 
gliedmaßen zu  komplizierteren  Bewegungen,  wie  Graben,  Schwimmen,  Fliegen, 
Greifen  gebrauchen,  während  bei  denen,  wo  dieselben  nur  einfache  Pendel- 
schwingungen auszuführen  haben,  d.  h.  nur  zum  Laufen  dienen,  wie  bei  den 
Huftieren,  auch  das  Schlüsselbein  zugrunde  geht,  und  somit  nur  das  Schulter- 
blatt (mit  dem  Rabenschnabelfortsatz),  durch  Muskeln  in  seiner  Lage  festge- 
halten, als  Anlagerungsstätte  des  Oberarmes  übrigbleibt.  Bei  Amphibien  und 
Reptilien  spielt  das  Schlüsselbein  eine  geringe  Rolle  und  kann  auch  ganz 
schwinden  (Schwanzlurche,  Krokodile,  Schildkröten);  mehr  hervor  tritt  es  bei 
den  Vögeln,  wo  es  mit  dem  der  anderen  Seite  zu  einem  ,,  Gabelknochen"  ver- 
wächst, dembei  den  Flugbewegungen  eine  wichtige  Bedeutung  zukommt(Fig.  17). 
Beckengürtei.  Der   Beckcngürtcl    (Gürtel   der   hinteren    Extremität)    spielt   bei   den 

Fischen,  im  Zusammenhang  mit  der  zurücktretenden  Bedeutung  der  Bauch- 
flossen, auch  nur  eine  geringe  Rolle  und  kann  sogar  ganz  schwinden.  Bei  den 
Selachiern  stellt  er,  ähnlich  dem  Schultergürtel,  eine  quer  gelagerte  Knorpel- 
spange dar,  an  die  sich  jedoch  nur  bei  den  Chimaeren  ein  kleiner,  seitlich  auf- 
steigender Abschnitt  jederseits  anschließt.  Bei  den  Ganoiden  noch  weiter  redu- 
ziert, fehlt  ein  Becken  bei  den  Knochenfischen  gänzlich,  so  daß  hier  das  Skelett 
der  freien  Bauchflosse  lediglich  in  der  Muskulatur  steckt.  Nur  bei  den  Dipnoern 
findet  sich  eine  ausgedehntere  ventrale  knorpelige  Beckenplatte,  die  auch  in 
manchen  Punkten  den  Anschluß  der  Beckenplatte  der  höheren  Formen  ge- 
stattet. Bei  diesen  tritt  im  Gegensatz  zu  den  Fischen  der  Beckengürtel  ganz 
besonders  hervor,  entsprechend  der  Tatsache,  daß  bei  ihnen  auch  die  hintere 


Schultergürtel.    Beckengürtel 


453 


Extremität  bei  der  Ortsbewegung  in  erster  Linie  wirksam  ist,  zum  Vorwärts- 
treiben des  Körpers  verwendet  wird.  Demzufolge  verbindet  sich  der  Becken- 
gürtel auch  stets  durch  einen  aufsteigenden  Pfeiler  mit  der  Wirbelsäule.  Im 
Gegensatz  zu  dem  Schultergürtel  kommen  am  Beckengürtel  Deckknochen 
nicht  zur  Entwickelung;  er  gehört  vielmehr  ganz  dem  primordialen  Skelett  an 
und  besteht  somit  anfangs  aus  primordialen 
Knorpelteilen,  die  dann  aber  mehr  oder  min- 
der vollständig  durch  Ersatzknochen  ver- 
drängt werden  können.  Ganz  regelmäßig  ver- 
knöchert der  eben  erwähnte  aufsteigende 
Pfeiler,  der  die  Anlagerung  an  die  Wirbel- 
säule sucht,  als  Darmbein  {Os  ilium),  und 
ebenso  ist  in  der  ventralen  Beckenplatte  ein 
hinteres  Verknöcherungsgebiet  jederseits  kon- 
stant, das  als  Sitzbein  {Os ischii)  bezeichnet  '^" 
wird.  Zu  diesen  beiden,  schon  bei  Amphibien 
vorhandenen  Knochenterritorien  gesellt  sich    ^^s-s^-  Becken  von  Saiamandra maculosa,  von 

der  Ventralseite.     Ac  Hüftgelenkpfanne  (Aceta- 
^-.-yr^  bulum),  j^j"  ventrale  Beckenplatte,  C  yps  ypsilon- 

förmiger    Knorpel,      *    Fortsatz    desselben,     Ä 

Nervenloch,  5^  Ilium  (Darmbein),  ^  knorpliges 

oberes  Ende    desselben,     [/s   Ischium    (Sitzbein), 

Sy  Symphyse.     Nach  Wiedersheim. 


F  i  g.  -53.    Becken  von  Sphe- 
nodon    (Brückenechse),  von 
der    Ventralseite    gesehen. 
In    den  Bezeichnungen    ge- 
ändert.   Ä'  Nervenloch,  ^ 
Darmbein,    ^s  Sitzbein,    P 
Schambein,       *  *    Mittlerer 
Knorpelstreifen       zwischen 
beiden    Beckenhälften, 
•f  t   Foramina  obturata 
( „verstopfte  Löcher"). 
Nach  Wiedersheim. 


von  den  Reptilien  an  ein  drittes,  das  den  vorderen  Teil  einer  jeden  Seite  der  ven- 
tralen Beckenplat'te  einnimmt  und  den  Namen  Schambein  (O^pM&w)  führt. 
Zwischen  ihm  und  dem  Sitzbein  bildet  sich  ein  Fenster  in  der  Beckenplatte  aus, 
das  nur  von  einer  Membran  verschlossen  und  daher  als  ,,  verstopftes  Loch"  be- 
zeichnet wird.  An  der  Stelle,  wo  von  der  ventralen  Beckenplatte  der  aufsteigende 
Pfeiler  des  Darmbeins  abgeht,  findet  sich  die  Pfanne  für  den  Oberschenkel.  Auch 
dieses  Grundrißschema  des  Beckengürtels  gestattet  sehr  viele  Möglichkeiten  der 
besonderen  Ausführung.  Dieselben  betreffen  weniger  die  ventrale  Platte,  als 
den  aufsteigenden  Abschnitt,  das  Darmbein.  Für  die  schwanzlosen  Amphibien 
charakteristisch  ist,  daß  dasselbe  sehr  lang  auswächst  und  von  der  Becken- 
platte aus  nach  vorn  hin  aufsteigt,  während  es  bei  den  geschwänzten  Amphi- 
bien viel  kürzer  ist  und  die  umgekehrte  Richtung  —  nach  hinten  und  oben  — 
einschlägt,  um  sich  mit  dem  Querfortsatz  eines  besonders  stark  ausgebildeten 
(Kreuzbein-)Wirbels  zu  verbinden.    Die  letztere  Richtung  bewahrt  es  bei  den 


454 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Reptilien,  bei  denen  es  sich  jedoch  an  die  Querfortsätze  zweier  Wirbel  anlegt. 
Von  diesem  Zustand  ist  auch  das  Verhalten  bei  den  Vögeln  abzuleiten,  das 
jedoch  nach  vielen  Richtungen  verändert  wird,  so  daß  das  ausgebildete  Vogel- 
becken auf  den  ersten  Blick  ein  recht  absonderliches  Aussehen  zeigt  (Fig.34).  Das 
Darmbein  vergrößert  das  Gebiet  seiner  Anlagerung  an  die  Wirbelsäule,  indem 
es  nach  vorn  wie  nach  hinten  auswächst,  sich  nach  vorn  über  die  ganze  Lenden- 
wirbelsäule und  selbst  noch  über  einen  Teil  der  Brustwirbelsäule,  nach  hinten 
aber  über  einen  Teil  der  Schwanzwirbelsäule  hinwegschiebt.  Mit  allen  diesen 
Wirbeln  verschmilzt  es  fest,  und  ebenso  verschmelzen  die  von  ihm  überlagerten 
Wirbel  untereinander  zu  einem  ,, sekundären  Kreuzbein",  das  bis  zu  23  einzelne 
Wirbel  in  sich  vereinigen  kann.  Weitere  Besonderheiten  des  Vogelbeckens  be- 
treffen dessen  ventralen  Teil. 
Der  ganz  besonders  starke 
Halt,  den  es  an  der  Wirbel- 
säule gewinnt,  ermöglicht, 
daß  die  beiden  Hälften  in 
der  ventralenMittellinie  nicht 
zur  Vereinigung  und  so  zur 
gegenseitigen  Stütze  kom- 
men, sondern  voneinander 
'getrennt  bleiben:  die  Vögel 
besitzen  ein  ,, Spaltbecken", 
das  in  der  ventralen  Mittel- 
linie weit  klafft  und  so  dem 
Vogelweibchen  die  Ablage  der  sehr  großen  Eier  gestattet,  eine  Einrichtung, 
die  wohl  auch  nur  als  zweckmäßig  für  das  Flugvermögen  angesehen  werden 
kann.  Nur  wenige  Vögel,  so  der  Strauß,  machen  davon  eine  Ausnahme.  End- 
lich ist  eine  letzte  Besonderheit  gegeben  in  der  eigentümlichen  Richtung,  die 
das  Schambein  annimmt:  dasselbe  stellt  sich  so  ein,  daß  es  nach  hinten  ge- 
richtet, dem  Sitzbein  parallel  verläuft,  und  das  ,, verstopfte  Loch"  zu  einer 
langen  schmalen  Spalte  verwandelt  wird. 

In  ganz  anderer  Richtung  bewegen  sich  die  besonderen  Umwandlungen, 
die  das  Becken  der  Säuger  erleidet.  Bei  vielen  niederen  Formen  noch  leicht 
auf  die  Form  des  Reptihenbeckens  zurückführbar,  erhält  es  bei  den  Primaten 
mit  der  Annahme  des  aufrechten  Ganges  den  Anstoß  zu  einer  besonderen  Ent- 
faltung des  Darmbeines,  dadurch,  daß  dasselbe  zum  Tragen  der  Gedärme  heran- 
gezogen wird.  Es  verbreitet  sich  so  zu  einer  ,,Darmbeinschaufer',  deren  Ent- 
wicklung besonders  dem  Menschenbecken  sein  eigenartiges  Gepräge  gibt.  Im 
übrigen  lagert  sich  auch  bei  den  Säugern  das  Darmbein  embryonal  nur  an  zwei 
Wirbel  an  (wie  bei  den  Reptilien),  doch  kann  es  später  das  Anlagerungsgebiet 
etwas  vergrößern,  und  den  ersten  zwei  Wirbeln  können  sich  einige  weitere  zur 
Bildungeines  festen  Kreuzbeins  anschließen.  Beim  Menschen  besteht  das  Kreuz- 
bein aus  fünf  verschmolzenenWirbeln.EineBesonderheit  desBeckens  derKloaken- 
und  Beuteltiere  sind  die  Beutelknochen,  die  in  die  Bauchwand  eingeschlossen 


Fig.34.  Becken  von Ap- 
teryx  australis,  seitliche 
Ansicht,  a  Gelenkpfanne, 
il  Darmbein,  ts  Sitzbein, 
/>'  Schambein,  Sp  Darm- 
beinstachel. Nach  Marsh, 

aus  WiEDERSHEIM. 


V 


Beckengürtel.   Freie  Extremitäten.    Fischflosse 


455 


Fischflosse  (Ich- 
thyopteryginm ). 


Radien 


Axialer 
Flossen- 
Stamm 


,,H(yrn- 
fäden" 


nach  vorn  vorspringen  und  Muskeln  zur  Anheftung  dienen.  Es  ist  die  Ver- 
mutung geäußert  worden,  daß  sie  auf  einen  knorpeligen  Vorsprung  zurück- 
zuführen sind,  der  schon  bei  manchen  Amphibienbecken  beobachtet  wird. 

Wenden  wir  uns  nach  dieser  Betrachtung  der  Extremitätengürtel  zu  dem       Freie 
Skelett    der   freien    Extremitäten,  so  treffen  wir  hier  eine  viel  größere  ^""^^°'"^**° 
Mannigfaltigkeit,   namentlich   viel   auffallendere   Unterschiede   zwischen  dem 
Skelett  der  Fischflosse  (dem  Ichthyopterygium)  und  dem  der  Tetrapoden-Extre- 
mität  (dem  Cheiropterygium). 

Aber  auch  das  Skelett  der  Fischflosse  allein 
zeigt  bei  den  einzelnen  Gruppen  der  Fische  ein  so 
verschiedenartiges  Aussehen,  daß  schon  hier  ein  ein- 
heitlicher Grundplan  nur  auf  dem  Wege  der  Hy- 
pothese konstruiert  werden  kann,  und  die  Meinungen 
darüber,  wie  diese  verschiedenen  Bildungen  aufein- 
ander zu  beziehen  sind,  weit  auseinandergehen.  Ge- 
meinsam ist  allen  den  verschiedenen  Flossen  nur,  daß 
an  ihnen,  ebenso  wie  an  den  unpaaren  Flossen,  zwei 
Teile  des  Skelettes  unterscheidbar  sind:  ein  pri- 
mordialer, dem  Innenskelett  angehöriger,  der  ur- 
sprünglichknorpelig ist,  aber  verknöchern  kann,  und 
ein  sekundärer,  dem  Integument  entstammender, 
der  bei  Selachiern  und  Dipnoern  aus  Bindegewebs- 
fäden  (fälschlich  als  Hornfäden  bezeichnet),  bei 
Ganoiden  und  Knorpelfischen  aber  aus  knöchernen 
Flossenstrahlen  besteht.  Die  primordialen  Teile 
stützen  den  basalen,  die  Bindegewebsfäden  und 
Knochenstrahlen  den  peripheren  Teil  der  Flosse;, 
die  beiden  letztgenannten  Bildungen  schaffen  ganz 
besonders  die  Verbreiterung  der  Flossen. 

Von  den  mannigfachen  Einzelbildungen  greifen  wir  zunächst  die  Flossen  des 
in  Queensland  lebenden  Dipnoers  Ceratodus  heraus,  die  in  der  Frage  nach  der  Ur- 
form des  Flossenskelettes  eine  große  Rolle  gespielt  haben  (Fig.  35).  Brust-  und 
Bauchfiosse  folgen  hier  demselben  Grundplan:  bei  beiden  besteht  ein  die  Achse 
der  Flosse  durchsetzender,  gegliederter,  knorpehger  Flossenstamm,  dem  beider- 
seits ebenfalls  gegliederte  Knorpelstrahlen  (Radien)  ansitzen.  Diesen  schließen 
sich  dann  die  Bindegewebsfäden  an.  Recht  anders  erscheint  demgegenüber  das 
Flossenskelett  der  Haie  (Fig.  31) :  hier  liegt  der  knorpelige  Haupt- Skelettstamm 
der  Flosse  nicht  in  der  Achse  derselben,  sondern  an  ihrem  inneren  Rande,  und 
ihm  schließen  sich  einseitig,  nämhch  nach  außen  und  hinten  hin,  die  zahlreichen 
gegliederten  Knorpelradien  an,  die  dann  den  Bindegewebsfäden  zur  Befestigung 
dienen.  Nur  am  hintersten  Ende  des  Stammes  finden  sich  einige  Strahlen  auch 
an  der  inneren  Seite  desselben.  An  der  kleineren  Bauchflosse  wird  der  Haupt- 
Skelettstamm  gewöhnlich  aus  zwei  Basalknorpeln  {Pro-  und  Metapterygium 
genannt)  gebildet,  an  der  größeren  Brustflosse  meist  aus  drei  {Pro-,  Meso-  und 


F  i  g.  35.    Skelett  der  Brustflosse  von 
Ceratodus  Forsten. 
Nach  Gegenbaur. 


/IC 5  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Metapterygium).  Starkes  Auswachsen  des  vordersten  Teiles  der  Brustflosse  an 
die  Seite  des  Kopfes  bedingt  bei  den  Rochen  die  breite  Form  des  Körpers.  Der 
wichtigste  Unterschied  der  beiden  geschilderten  Flossenformen  hegt  darin,  daß 
bei  der  Ceratodusfiosse  der  Flossenstamm  zweireihig,  biserial,  mit  Radien  be- 
setzt ist,  bei  den  Haien  fast  nur  einreihig,  uniserial.  Nach  der  von  Gegenbaur 
aufgestellten  Archipterygiumtheorie  wäre  der  erstere  Zustand  als  der 
primitivere  anzusehen,  und  der  zweite  von  ihm  abzuleiten.  Gegenbaurs  Vor- 
stellung zufolge  sind  der  Schultergürtel  wie  der  Beckengürtel  modifizierte 
Kiemenbogen,  die  aus  der  Reihe  der  übrigen  ausschieden  und  sich  nach  hinten 
verschoben;  der  Beckengürtel  in  höherem  Maße  als  der  Schultergürtel.  Das 
Skelett  der  freien  Extremitäten  wäre  dann  auf  die  Kiemenstrahlen  zurück- 
zuführen, die  nur  ihre  Beziehungen  zu  dem  Bogen  geändert  hätten,  indem  einer 
von  ihnen  eine  besondere  Mächtigkeit  erlangte,  und  die  anderen,  von  dem 
Bogen  weg,  auf  ihn  rückten.  So  sei  ein  ,,biseriales  Archipterygium",  wie  es 
Ceratodus  noch  annähernd  zeigt,  entstanden,  und  von  diesem  leite  sich  daim 
durch  Schwund  der  einen  (inneren)  Strahlenserie  der  Zustand  der  Selachier- 
fiosse  ab.  Dieser  Anschauung  lassen  sich  mancherlei  begründete  Einwände 
gegenüberstellen,  und  so  neigt  heutzutage  die  Mehrzahl  der  Forscher  der  ande- 
ren Auffassung  zu,  die  bereits  unter  dem  Namen  der  Seitenfaltentheorie  er- 
wähnt wurde  und  die  eine  ursprünglich  metamere,  über  mehrere  Rumpf- 
segmente sich  erstreckende  Anlage  der  Brust-  wie  der  Bauchflosse  annimmt. 
Ihr  zufolge  würden  auch  einzelne  hintereinander  gelegene  Knorpelradien,  in 
ähnlicher  Weise  wie  in  dem  medianen  unpaaren  Flossensaum,  die  erste  Form 
des  Flossenskelettes  gebildet  haben.  Durch  Verschmelzung  ihrer  basalen  Glie- 
der wären  dann  die  Basalknorpel  entstanden,  denen  dann  die  Radien  einreihig 
ansaßen.  Biseriale  Anordnung  der  Radien  an  einem  axialen  Flossenstamm,  wie 
bei  Ceratodus,  wäre  danach  ein  ganz  abgeändertes  Verhalten. 

Wieder  ganz  andere  Zustände  des  Flossenskelettes  zeigen  die  Ganoiden  und 
Knochenfische.  Doch  gehen  wir  auf  sie  nicht  weiter  ein  und  bemerken  nur,  daß 
bei  beiden  Fischgruppen  die  knöchernen  Flossenstrahlen,  die  als  Hautver- 
knöcherungen  (Deckknochen)  entstehen,  im  Aufbau  der  Flosse  immer  mehr 
hervortreten  und  die  Bedeutung  der  primordialen  basalen  Stücke  und  Radien 
in  den  Hintergrund  drängen.  Ganz  besonders  stark  ist  das  der  Fall  bei  den 
Knochenfischen, 
cheiropterygium.  Ini  Gcgcnsatz  ZU  der  Vielgestaltigkeit   des    Flossenskelettes    der    Fische 

(des  Ichthyopterygiums)  steht  die  Übereinstimmung  in  dem  Gestaltungsplan, 
dem  das  Skelett  der  freien  Extremitäten  bei  den  Tetrapoden  (das  Cheiro- 
pterygium) folgt.  Dieser  Plan  beherrscht  in  gleicher  Weise  die  vordere  wie 
die  hintere  Extremität  und  ist  auch  da  noch  gut  erkennbar,  wo  sich  diese 
beiden  in  stark  auseinandergehenden  Richtungen  besonders  entwickelt  haben. 
Letzteres  ist  freilich  nicht  häufig;  es  findet  sich  vor  allem  bei  Flug-  und  Flatter- 
tieren, sowie  beim  Menschen. 

Jener  Grundplan  gestattet  die  Unterscheidung  eines  S t i e  1  e s  und  eines  End- 
stückes der  freien  Extremität  (Fig.  36;  s.  auch  Fig.  7).    Am  Stielsind  stets  zwei 


Fischflosse.    Cheiropterygium 


457 


,  Humerus 


Radius- 


Radiale 
Centrale 
Carpale  I 


Abschnitte   vorhanden:    Ober-  und  Unterarm,  durch  das  Ellbogengelenk  ver- 
bunden, an  der  vorderen,  —  Ober-  und  Unterschenkel,  im  Kniegelenk  zusammen- 
stoßend, an  der  hinteren  Extremität.    Den  oberen  Abschnitten  liegt  nur  je  ein 
Knochen  zugrunde  [Humerus  und  Femur),  den  unteren  Abschnitten  kommen 
deren  je  zwei  zu:  Speiche  [Radius]  und  Elle  [Ulna]  an  der  vorderen,  Schienbein 
[Tibia]  und  Wadenbein  [Fibula)  an  der  hinteren  Extremität.   Dem  Kniegelenk 
kann,  von  den  Reptilien  an,  eine  als  Sehnenverknöcherung  in  der  Sehne  des 
großen  Streckmuskels  des  Unterschenkels  auftretende  Kniescheibe  vorgelagert 
sein.    Am  Endstück  (Hand  oder  Fuß)  ver- 
mittelt je  ein  Wurzelabschnitt   —    Hand- 
wurzel [Carpus)  und  Fußwurzel  [Tarsus)  — 
die  Verbindung  mit  dem  Stiel;  ihm  folgen 
ein  Mittelstück  —  Mittelhand  [Metacarpus) 
und  Mittelfuß  [Metatarsus)  —  und  endlich 
die  Finger  oder  Zehen,  die  wieder  aus  ein- 
zelnen Gliedern  [Phalangen)  bestehen.    Die 
Knochen  des  Stielabschnittes  sind  der  Regel 
nach  lange,  zylindrische  (Röhren-)  Knochen 
und  erfahren  nur  bei  Wassertieren  eine  starke 
Verkürzung,  entsprechend  der  Aufgabe,  eine 
kurze  breite  Flosse  bilden  zu  helfen  (z.  B. 
bei  den  ausgestorbenen  Ichthyosauriern  oder 
den  Walen);  auch  die  Knochen  der  Mittel- 
hand  und    des   Mittelfußes   sowie   die   der 
Finger  und  Zehen  folgen  meist  diesem  Form- 
typus,   wenn  sie    auch  absolut  wesentlich 
kleiner  sind.   Dagegen  bestehen  die  Hand- 
und  Fußwurzel  fast  stets  aus  kurzen  Skelett- 
stückchen von  unregelmäßiger  Form,  ohne 
Bevorzugung    einer  bestimmten  Richtung. 
Gerade  in  diesen  Abschnitten  zeigen  sich  bei  den  Wirbeltieren   die   meisten 
Besonderheiten,    die   sich   aber  doch  alle  auf  ein   bestimmtes,  für  die  Hand- 
und  die  Fußwurzel  in  gleicher  Weise  geltendes  Schema    zurückführen   lassen 
(Fig.  36).     Als  solches    wird    ein  Aufbau    des  Carpus    und  Tarsus    aus  neun 
Stücken    angenommen,    die  sich   in   zwei  Reihen   um   ein   mittleres  Centrale 
gruppieren.    An  der  Handwurzel  werden  die  drei  Stücke  der  ersten  Reihe  als 
Radiale,  Intermedium,  Ulnare,  die  fünf  Stücke  der  zweiten  Reihe  als  l.,  2.,  3., 
4.,  5.  Carpale  bezeichnet;  an  der  Fußwurzel  heißen  die  entsprechenden  Stücke: 
Tibiale,  Intermedium,  Fibulare;  l.,  2.,  3.,  4.,  5.  Tarsale.   Jedem  Carpale  schließt 
sich  ein  Metacarpale,  jedem  Tarsale  ein  Metatarsale  an.    Dieses  Schema  ent- 
spricht also  einem   fünfstrahligen  (fünfzehigen  oder  fünffingrigen)  Endstück, 
und  in  der  Tat  läßt  sich  ein  solches  für  die  Extremität  der  Tetrapoden  als  Aus- 
gangsform annehmen.    Dem  ist  jedoch  hinzuzufügen,  daß  von  manchen  Seiten 
sowohl  am  radialen  (tibialen)  wie  am  ulnaren  (fibularen)  Rande  der  Hand  und 


L  Ulna 

Intermedium 

—  Ulnare 
Carpale  V 

Meta- 
carpalia 

Phalanges 


HI         IV 

Fig.  36.     Schematische  Darstellung   des   Skelettes 
der  rechten  vorderen  Extremität  eines  Landwirbel- 
tiers.    Nach  Boas. 


^eg  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

des  Fußes  ein  Strahl  als  fortgefallen,  d.  h.  als  im  Laufe  der  Stammesgeschichte 
zugrunde  gegangen  angenommen  wird,  so  daß  als  eigentliche  Ausgangsform 
nicht  eine  fünf-,  sondern  eine  siebenstrahlige  Extremität  zu  gelten  hätte.  Diese 
Annahme  gründet  sich  auf  das  hier  und  da  zu  beobachtende  Vorkommen  von 
besonderen  Skelettstücken  an  den  beiden  Rändern  des  Carpus  und  Tarsus,  die 
als  Reste  überzähhger  Finger  und  Zehen  aufgefaßt  werden.  So  gilt  das  Erbsen- 
bein [Pisiforme),  das  bei  Reptihen  wie  bei  Säugern  sich  dem  Ulnare  der  Hand 
anfügt,  vielen  als  Rest  eines  ,, Postminimus"  der  Hand,  eine  Anschauung,  die 
noch  nicht  als  bewiesen  gelten  kann.  Am  radialen  Rande  der  Hand  neben  dem 
Daumen  gelegene  Skelettstücke  werden  auf  einen  ,,Praepollex",  entsprechend 
gelagerte  des  Fußes  auf  einen  ,,Praehallux"  zurückgeführt  und  so  bezeichnet. 
Mag  man  aber  von  einer  fünf-  oder  einer  siebenstrahligen  Extremität  ausgehen, 
so  würden  doch  immer,  das  ist  wenigstens  die  verbreitetste  Auffassung,  Formen 
mit  nur  4-,  3-,  2-  oder  l-strahligen  Händen  oder  Füßen  als  Reduktionsformen 
aufzufassen  sein,  als  Formen,  bei  denen  eine  verschiedene  Zahl  von  Strahlen 
in  Wegfall  gekommen  wäre. 

Die  Zahl  der  Phalangen  (Glieder),  aus  denen  die  einzelnen  Finger  oder 
Zehen  bestehen,  ist  nicht  immer  gleich  und  schwankt  namentlich  bei  den 
niederen  Wirbeltieren  beträchtlicher;  bei  den  Säugern  hat  sich  als  allgemein- 
gültige Norm  herausgebildet,  daß  der  erste  Finger  und  die  erste  Zehe  aus  zwei, 
die  übrigen  Finger  und  Zehen  aus  je  drei  Phalangen  bestehen. 

Die  Frage  nach  der  ursprünglichen  Strahlzahl  der  terrestrischen  Wirbel- 
tier-Extremität  führt  zu  der  weiteren,  in  welcher  Weise  diese  Extremität  mit 
der  Fischflosse  zu  vergleichen  ist,  einer  Frage,  über  die  ein  abschließendes  Urteil 
auch  noch  nicht  zu  geben  ist.  An  Versuchen,  auch  die  pentadaktyle  Extremität 
im  Sinne  der  Archipterygiumtheorie  zu  deuten,  hat  es  nicht  gefehlt;  je  nach 
der  verschiedenen  Auffassung,  welche  Skeletteile  man  als  Hauptstamm  zu- 
sammenfassen sollte,  hat  man  sie  dabei  als  uni-  oder  als  biserial  mit  Radien 
besetzt  betrachtet. 

Etwas  mehr,  wenn  auch  nicht  völhge,  Übereinstimmung  herrscht  dagegen 
in  der  Frage,  wie  die  vordere  und  die  hintere  Extremität  untereinander  zu  ver- 
gleichen seien.  W^eitester  Anerkennung  erfreut  sich  die  Auffassung,  daß  der 
Radius  des  Unterarmes  derTibia  des  Unterschenkels,  und  dementsprechend  die 
Ulna  der  Fibula  zu  vergleichen  ist,  der  erste  (innerste)  Finger  der  ersten  Zehe. 
Bei  diesem  Vergleich  fallen  mehrere  Unterschiede  in  der  Stellung  der  beiden  Ex- 
tremitäten auf,  die  bei  Säugern  ganz  besonders  deutlich  hervortreten  (Fig.  7). 
An  der  vorderen  Extremität  ist  der  Oberarm,  vom  Schultergelenk  aus,  nach  hinten 
gerichtet,  der  Unterarm  von  hier  aus  nach  vorn,  so  daß  das  Ellenbogengelenk 
nach  hinten  vorspringt  und  dem  Unterarm  die  Beugung  nach  vorn  gestattet; 
an  der  hinteren  Extremität  ist  umgekehrt  der  Oberschenkel,  vom  Hüftgelenk 
aus,  nach  vorn  gerichtet,  der  Unterschenkel  von  hier  aus  nach  hinten,  das  Knie- 
gelenk springt  nach  vorn  vor  und  gestattet  dem  Unterschenkel  den  Ausschlag 
nach  hinten.  Damit  hängt  zusammen  eine  Verschiedenheit  in  der  Stellung  der 
Vorderarm-  und  der  Unterschenkelknochen.    An  der  hinteren  Extremität  er- 


Cheiropterygium  ^cg 

scheint  das  Verhalten  einfacher:  beide  Knochen,  Tibia  und  Fibula,  stehen 
parallel  zueinander,  die  Tibia  innen,  die  Fibula  außen;  an  der  vorderen  Extre- 
mität dagegen  kreuzen  sich  die  beiden  Knochen  des  Unterarmes  in  der  Weise, 
daß  der  Radius  vor  die  Ulna  zu  stehen  kommt  (Pronationsstellung  der  Vorder- 
armknochen). Für  beide  Zustände  kann  man  von  einem  indifferenten  Aus- 
gangszustand ausgehen,  wo  beide  Extremitäten  nach  der  Seite  vom  Körper 
abstanden  und  der  Scheitel  des  Ellenbogen-  wie  der  des  Kniegelenkes  nach 
außen  vorsprang.  Die  Verschiedenheit  der  Drehungen,  die  für  beide  Extre- 
mitäten, von  diesem  Ausgangszustand  aus,  anzunehmen  sind,  steht  in  Verbin- 
dung mit  der  Verschiedenheit  der  Leistungen,  die  ihnen  bei  der  Vorwärts- 
bewegung zukommen,  bei  der  die  hintere  hauptsächlich  das  Vorwärtstreiben 
des  Körpers  übernimmt,  während  die  vordere  zwar  manchmal  diese  Wirkung 
durch  Vorwärtsziehen  des  Körpers  unterstützen  kann,  vor  allem  aber  wohl 
zum  Aufhalten,  Hemmen  oder  gar  Rückwärtsschieben  des  Körpers  Verwendung 
findet.  Dieser  Verschiedenheit  der  Aufgaben  entspricht  die  Verschiedenheit  in 
der  Anordnung  der  Teile  bei  aller  grundsätzhchen  Gleichheit  des  Baues. 

Die  besondere  Art,  wie  der  hier  geschilderte  Grundplan  der  pentadaktylen 
Extremität  bei  den  verschiedenen  Formen  abgeändert  ist,  macht  auch  die 
Morphologie  der  Extremitäten  zu  einem  der  interessantesten  Kapitel  der  ganzen 
Morphologie  überhaupt,  dazu  zu  einem  der  wichtigsten  in  stammesgeschicht- 
lichen Fragen.  Es  gibt  keine  Klasse  der  Wirbeltiere,  bei  der  jenes  Bauschema 
überall  unverändert  beibehalten  wäre;  in  jeder  finden  sich  Formen  mit  mehr 
oder  minder  bedeutenden  besonderen  Abweichungen.  Schon  bei  den  lang- 
schwänzigen  Amphibien  ist  Verminderung  der  Fingerzahl  an  der  Hand  auf  nur 
vier  ganz  gewöhnlich,  aber  auch  eine  weiter  gehende  auf  drei  oder  gar  nur  zwei 
kommt  vor;  im  übrigen  bewahren  die  Extremitäten  insofern  eine  primitive 
Stellung,  als  sie  richtige  Kriechextremitäten  bilden,  nach  der  Seite  des  Kör- 
pers abstehen  und  diesen  mit  seiner  Bauchfiäche  zur  Berührung  mit  dem  Boden 
kommen  lassen.  Aber  schon  die  schwanzlosen  Amphibien,  Frösche,  Kröten  usw. , 
zeigen  beträchtliche  Abänderungen,  durch  die  die  hinteren  stark  verlängerten 
Extremitäten  zu  kräftigen  Sprungbeinen  mit  flossenartig  verbreiterten  End- 
stücken, die  vorderen  aber,  stark  verkürzt,  zu  Greiforganen  umgewandelt 
werden.  Und  doch  besteht  auch  hier  die  auffallende  Übereinstimmung  zwischen 
vorn  und  hinten,  daß  Radius  und  Ulna  ebenso  wie  Tibia  und  Fibula  unter- 
einander zu  je  einem  Knochen  verwachsen.  Unter  den  Reptilien  herrscht  die 
nach  der  Seite  abstehende  Kriechextremität  vor;  die  Formen,  bei  denen  An- 
passungen ganz  besonderer  Art  bestanden,  sind  ausgestorben:  die  Ichthyo- 
saurier und  Plesiosaurier  mit  ihren  Ruderfiossen,  die  Pterosaurier  mit  ihren 
Flughäuten,  die  namentlich  von  der  vorderen  Extremität  ihre  Stütze  erhielten. 
Bei  genauerem  Zusehen  zeigen  freilich  auch  Arme  und  Beine  der  lebenden 
Reptihen  genug  Besonderheiten  des  inneren  Baues,  von  denen  nur  erwähnt  sei, 
daß  bei  den  Schildkröten  der  Arm,  um  aus  dem  Panzer  hervorzukommen,  sich 
in  eine  Stellung  drehen  muß,  die  das  Ellenbogengelenk  nach  vorn  bringt, 
während  es  ja  sonst  stets  nach  hinten  gerichtet  ist.   Von  den  Extremitäten  der 


400 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Reptilien  sind  die  der  Vögel  abzuleiten;  die  ausgestorbenen  Dinosaurier  gestatten 
in  mancher  Hinsicht  einen  Einblick  in  die  Stadien,  die  dabei  zu  durchlaufen  waren. 
Vordere  und  hintere  Extremität  gehen  hier  ihre  ganz  eigenen  Wege  (Fig.  37). 
Die  vordere  wird  unter  starker  Entwickelung  des  Ober-  und  Unterarmes  und 
Vereinfachung  des  Handskelettes,  von  dem  nur  Reste  von  drei  Fingern  übrig- 
bleiben, die  teilweise  un- 
tereinander verschmelzen, 
zum  Skelett  des  Flügels, 
1—  Femur  \  I  'IS—Humerus    während  die  hinteren  be- 

fähigt werden,  auf  dem 
Lande  den  ganzen  Körper 
zu  tragen  und  schreitend 
vorwärts  zu  bewegen.  Die 


Radius  — 


—  Fibula 


Ulna 


Tibia—^ 


\ — Metatarsus 

{Lauf) 


wichtigsten  Umwandlun- 


gen 
sind 


Radiale — 


/.  Finger 
Metacarpale  11—^ 


Metacarpale  III 


IL  Finger 


des  inneren  Baues 
dabei:  Verkümme- 
rung des  Wadenbeines, 
Verwachsung  der  ersten 
Reihe  der  Fußwurzelkno- 
chen mit  dem  Schienbein, 
Verwachsung  der  (4)  Mit- 
telfußknochen unterein- 
ander und  mit  der  zweiten 
in. Finger  Reihe  der  Fußwurzelkno- 
chen zu  einem  ,, Lauf- 
knochen", Reduktion  der 
Zehenzahl  auf  vier,  drei 
oder  selbst  zwei  (beim 
afrikanischen  Strauß). 

Bei  keiner  Klasse  der 
lebenden  Wirbeltiere  zeigt 
aber  doch  der  Bau  des 
Extremitätenskelettes  die 
Variationsfreudigkeit  der 
Natur  in  so  hohem  Maße 
als  bei  den  Säugern.  Neben  den  in  überwiegender  Anzahl  vertretenen  Land- 
Extremitäten  fehlen  die  dem  Wasserleben  angepaßten  verkürzten  und  ver- 
breiterten Flossen  ebensowenig  wie  die  Fallschirme  für  die  Bewegung  in  der 
Luft.  Aber  auch  die  Land-Extremitäten  bieten  eine  Fülle  von  Verschieden- 
heiten dar.  Eins  freilich  ist  ihnen  im  Gegensatz  zu  den  Kriechextremitäten 
gemeinsam:  sie  sind  stets  Stelzen,  die  nicht  mehr  seitlich  vom  Körper  abstehen, 
sondern  unter  ihn  gestellt  sind  und  ihn  tragen,  so  daß  der  Bauch  nicht  mehr 
zur  Berührung  mit  dem  Boden  kommt.  Vor  allem  verschieden  aber  ist  die  Art, 
wie  die  Extremitäten  sich  auf  den  Boden  stützen.    Bei  vielen  geschieht  dies 


.—IV.ZeJie 


Columba  livia.     Linkes  Bein, 
linker  Arm. 
Nach  Parker  und  Haswell. 


Cheiropterygium.    Muskelsystem  ^5  j 

noch  in  der  ursprünglichen  Weise,  d.  h.  mit  dem  ganzen  Handteller  und  der 
ganzen  Fußsohle  (Sohlengänger:  Insektenfresser;  Bären,  Dachse);  daran 
schließen  sich  die  Zehengänger  an,  bei  denen  die  Finger  und  Zehen  den  Boden 
berühren,  Mittelhand  und  Mittelfuß  aber  über  denselben  erhoben  sind  (die 
meisten  Raubtiere:  Hunde,  Katzen  usw.);  endhch  erreicht  bei  den  Spitzen- 
gängern (Paar-  und  Unpaarhufern)  die  Aufrichtung  der  Extremitäten  den 
höchsten  Grad  und  läßt  diese  nur  noch  mit  den  Spitzen  einiger  Zehen  den 
Boden  berühren.  Damit  verbindet  sich  eine  Reduktion  der  Zehenzahl,  die  an 
der  ersten  beginnt,  dann  die  fünfte  und  zweite  in  Wegfall  kommen  läßt,  so  daß 
in  dem  Stamm  der  Paarhufer  mit  den  Wiederkäuern  der  Zustand  erreicht  wird, 
wo  nur  noch  die  dritte  und  vierte  Zehe  übrigbleiben,  während  bei  den  Unpaar- 
hufern die  Pferde  auch  den  vierten  Strahl  (Finger  und  Zehe)  rückbilden  und 
somit  nur  noch  den  dritten  behalten.  Andere  Veränderungen:  Verwachsungen 
der  Unterarm-  und  Unterschenkelknochen,  Verwachsungen  oder  Schwund  von 
Hand-  und  Fußwurzel-Elementen  —  die  hier  bei  den  Säugern  besondere,  in  der 
menschlichen  Anatomie  traditionelle  Namen  erhalten  —  schheßen  sich  jenen 
Reduktionen  an.  Die  Entwicklung  der  Paar-  und  Unpaarhufer  ist  eins  der 
wichtigsten  und  interessantesten  Kapitel  der  Säuger- Stammesgeschichte,  auf 
das  namentlich  die  Befunde  der  Paläontologie  viel  Licht  geworfen  haben. 
Waltet  bei  dieser  Entwickelungsrichtung  die  Tendenz  vor,  die  Extremitäten 
unter  Verkleinerung  ihrer  Berührungsfläche  mit  dem  Boden  immer  mehr  zu 
einer  reinen  Lauf-Extremität  zu  machen,  so  schlagen  die  Primaten  eine  ganz 
andere  Richtung  ein,  die  zu  einer  Steigerung  der  Greiffunktion  der  Extre- 
mitäten, und  zwar  bei  den  Affen  sowohl  der  vorderen  wie  der  hinteren,  bei  dem 
Menschen  nur  der  vorderen,  führt.  An  der  vorderen  Extremität  gewinnen  dabei 
zwei  Einrichtungen  eine  besondere  Bedeutung:  die  Fähigkeit  des  Radius,  sich 
um  die  Ulna  zu  drehen  (Supinationsfähigkeit),  und  die  Fähigkeit  des  Daumens, 
von  den  übrigen  Fingern  entfernt  und  ihnen  gegenübergestellt  (,, opponiert") 
werden  zu  können.  Die  letztere  Möglichkeit  kommt  auch  der  ersten  Zehe  des  Affen- 
fußes in  hohemMaße  zu, während  sie  an  dem  stützenden  Gewölbefuß  des  Menschen 
fehlt.  Sonst  aber  bleiben  auch  zwischen  Affenhand  und  Affenfuß  die  typischen 
Unterschiede  erhalten,  die  zwischen  Hand  und  Fuß  der  übrigen  Säuger  be- 
stehen und  namentlich  in  einer  ganz  verschiedenen  Anordnung  der  Hand-  und 
Fußwurzelknochen  zum  Ausdruck  kommen.  Beim  Menschen  gestattet  die  Aus- 
bildung des  Fußes  die  volle  Aufrichtung  des  Gesamtkörpers  auf  den  hinteren 
Extremitäten  und  gewährt  damit  den  vorderen  die  Möglichkeit,  die  Funktion 
von  Greiforganen  zu  ganz  besonderer  Höhe  zu  steigern. 

3.  Muskelsystem. 
In  dem  von  den  Zellen  und  den  Geweben  handelnden  Abschnitt  wurden  Elemente  des 
die  Elemente  des  Muskelsystems,  die  glatten  und  die  quergestreiften,  in  ihrem    "^  ^  ^^^  *"'^' 
feineren  Verhalten  geschildert.    Von  diesen  finden  sich  die  glatten  Muskel- 
zellen in  Form  besonderer  kleiner  Muskelchen  in  der  Haut  der  Vögel  und 
Säuger  als  Aufrichter  der  Federn  und  Haare  (von  denen  die  ersteren  eine  An- 


462  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

deutung  von  Querstreifung  zeigen),  ferner  als  innere  Augenmuskeln  (Muskeln 
der  Regenbogenhaut,  Akkommodationsmuskeln,  bei  den  Vögeln  ebenfalls  mit 
einer  Andeutung  von  Querstreifung  versehen),  als  kleine  Muskeln  in  der  Um- 
gebung der  Nasenlöcher  bei  manchen  niederen  Wirbeltieren,  vor  allem  aber  in 
weitester  Verbreitung  in  der  Wand  des  Darmkanales,  in  den  Gängen  der 
Atmungs-,  Harn-  und  Geschlechtsorgane,  in  Drüsen,  sowie  in  den  Wandungen 
der  Blut-  und  Lymphgefäße.  Von  den  quergestreiften  Muskelelementen 
bilden  die  einen  in  besonderer  Form  und  Anordnung  die  unwillkürliche  Herz- 
muskulatur, die  anderen  die  große  Menge  der  willkürlichen  Muskeln,  die 
vor  allen  Dingen  am  Skelett,  aber  auch  an  der  Haut  und  an  bestimmten  Or- 
ganen (Augapfel,  Zunge,  Kehlkopf,  Rachen,  Ausgang  des  Darms  und  der 
Urogenitalorgane)  angeordnet  sind.  Entwickelungsgeschichtlich  gehören  fast 
alle  Muskelelemente  dem  mittleren  Keimblatt  an,  nur  die  glatten  Elemente  in 
den  Hautdrüsen  der  Amphibien,  den  Schweißdrüsen  der  Säuger  und  den  Mus- 
keln der  Regenbogenhaut  des  Auges  entstammen  dem  äußeren  Keimblatt. 

wiuküriiche  Die  willkürlichen    Muskeln,  über  die  allein  hier  noch  einige  Bemer- 

Einteiiung.  kungcn  angefügt  werden  sollen,  können  auf  Grund  ihrer  Herkunft  in  parietale 
und  viscerale  eingeteilt  werden.  Die  parietalen  Muskeln  entstehen  aus  den 
Ursegmenten  (s.  den  Abschnitt  über  die  Entwickelungsgeschichte  der  Wirbel- 
tiere) und  umfassen:  die  Rumpf muskeln  und  ihre  Fortsetzungen  an  der  Ventral- 
seite des  Halses,  dazu  das  Zwerchfell  und  die  Muskeln  der  äußeren  Geschlechts- 
organe, die  Muskeln  der  Zunge,  die  von  der  ventralen  Halsmuskulatur  ab- 
stammen, die  Muskeln  der  Extremitäten,  die  von  dem  ventralen  Teil  der 
Rumpfmuskulatur  aus  in  die  Anlagen  der  Extremitäten  einwachsen,  und  die 
Muskeln  des  Auges,  die  von  den  Ursegmenten  des  Kopfes  ihren  Ursprung 
nehmen.  Die  Rumpfmuskulatur  läßt  in  ihren  primitiven  Zuständen  eine  deut- 
liche Metamerie,  die  der  des  Rumpfskelettes  entspricht,  erkennen  (Fig.  38);  bei 
den  höheren  Formen  wird  dieselbe  noch  in  den  kurzen  Muskeln  der  Wirbelsäule 
festgehalten,  erfährt  aber  sowohl  dorsal  durch  Ausbildung  längerer,  mehrere 
Segmente  überspringender  Muskeln  wie  auch  ventral  durch  Differenzierung  der 
,, Bauchmuskeln"  eine  Störung.  Auch  die  Muskeln  der  Extremitäten  entstehen 
metamer,  von  mehreren  Ursegmenten  aus.  Als  viscerale  Muskeln  bezeichnet 
man  die,  die  aus  den  Seitenplatten  des  Mesoderms  im  Bereiche  des  Kopfes, 
d.  h.  aus  den  Wandungen  der  Kopfhöhlen,  ihren  Ursprung  nehmen.  Es  sind 
die  Muskeln  der  Schlundbogen:  des  Kieferbogens  (sog.  Kaumuskeln),  des 
Zungenbeinbogens  und  der  Kiemenbogen,  die  bei  Fischen  eine  reiche  Entwicke- 
lung  erfahren.  Auch  die  kleinen  Muskelchen  der  Gehörknöchelchen  bei  Rep- 
tilien, Vögeln  und  Säugern  gehören  hierher. 

Hautmuskeln.  Von  parietalen  wie  von  visceralen  Muskeln  können  besondere  Haut- 
muskeln  ihren  Ursprung  nehmen,  die  entweder  mit  einem  Ende  oder  sogar 
mit  beiden  sich  in  der  Haut  befestigen.  Das  größte  Interesse  beansprucht  unter 
diesen  die  mimische  (Ausdrucks-)Muskulatur  des  Gesichtes  der  Säuger,  die 
beim  Menschen  zur  höchsten  Entfaltung  gelangt.  Wie  ihre  Innervation  durch 
den  siebten  Gehirnnerven  andeutet,  leitet  sie  sich  her  von  der  Muskulatur  des 


Muskelsystem.    Nervensystem,  Aufgaben  und  Organe 


463 


Zungenbeinbogens,  d.  h.  von  einer  Muskulatur,  die  ursprünglich  hinter  dem 
Unterkiefer  gelegen  ist  und  hier  schon  bei  Reptilien  sich  über  den  ganzen  Hals 
ausdehnt  und  Beziehungen  zur  Haut  besitzt.  Auch  bei  den  Säugern  behält  ein 
Teil  diese  Lage  am  Halse  bei,  andere  Teile  wandern  dagegen  in  das  Gebiet  des 
Kopfes  ein  und  erlangen  in  der  Umgebung  der  Augen,  der  Nase,  des  Mundes 
und  der  Ohren  Beziehungen  zu  der  Haut  und  zu  den  in  dieselbe  eingelagerten 
festeren  Teilen  (Knorpel  der  äußeren  Nase,  Ohrmuschel).  So  werden  sie  zu 
Öffnungs-  und  Schheßmuskeln  an  den  Pforten  des  Seh-,  Geruchs-  und  Gehör- 
organes,  sowie  des  Mundes,  und  beim  Menschen  endhch  zu  den  Vermittlern  der 


Quere  Scheidewände 

,_    ,  ,  (Myocommata) 

Muskelsegmente  .., 

(Myomeren)      ...  /  \         y,,^ 


H.  —  Dorsale  Biimpf- 
'f  I  muskulatur 


Horizontales 
Septum 


Ventrale  Rumpf- 
muskulatiir 


Fig-38.     Seitenstammuskel  von  Barbus  vulgaris.     Nach  Gegenbaur. 

mannigfaltigen  Veränderungen,  Furchen-  und  Falten-Bildungen,  die  in  ihrer 
Gesamtheit  als  Mienenspiel  bekannt  sind. 

Als  besonders  umgebildete  Muskeln  sind  endhch  noch  die  elektrischen  Elektrische 
Organe  zu  betrachten,  die  bei  einigen  Fischen  vorkommen.  Wie  diese  Fische  *-*''s^°^ 
selbst  sehr  verschiedenen  Gruppen  angehören  (Zitterrochen,  Torpedo:  Rochen; 
Zitterwels,  Malopterurus:  Welse;  Zitteraal,  Gymnotus:  Gymnotiden),  so  sind 
auch  ihre  elektrischen  Organe  ganz  verschieden  nach  Lage  und  Innervation  und 
zeigen  damit  an,  daß  sie  aus  der  Umwandlung  ganz  verschiedener  Muskeln 
hervorgegangen  sind,  somit  selbständige  Erwerbungen  der  genannten  Fische 
bilden,  nicht  aber  einen  engeren  verwandtschaftlichen  Zusammenhang  derselben 
zum  Ausdruck  bringen. 

4.  Nervensystem. 
Mit  weitgehenden  Aufgaben  betraut  tritt  uns  das  Nervensystem  ent- Aufgaben  und 
gegen,   nach  innen  wie  nach  außen  seine  Tätigkeit  entfaltend.     Im   Innern  Nerv^n°yste*ms. 
des   Organismus   beherrscht   es   die   Funktionen   der  einzelnen   Organe,    regt 
sie   an,    zügelt   sie   aber  auch   nötigenfalls   und  verknüpft   sie   untereinander 
zu    harmonischem    Zusammenwirken;    nach    außen    hin   vermittelt     es    den 
Verkehr  des  Organismus  mit  der  Umgebung,  führt  ihm  Eindrücke  aus  dieser 
zu   und   veranlaßt   seine   Rückwirkungen.     Für  die   Oberleitung   aller  dieser 
Funktionen  besitzen  alle  Wirbeltiere  ein  nervöses  Zentralorgan,  das  Zentral- 
nervensystem,  das  bei  allen  Kranioten  zwei  große  Hauptabschnitte,  das 


a()a  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Gehirn  und  das  Rückenmark,  unterscheiden  läßt,  an  verschiedenen  Stellen 
des  Organismus  aber  außerdem  noch  über  kleinere  Stationen,  Ganglien 
(Nervenknoten),  verfügt.  Durch  besondere  Leitungsbahnen,  Nervenfasern, 
die  in  Bündeln,  den  peripheren  Nerven,  vereinigt  sind,  steht  es  in  Verbin- 
dung mit  allen  Organen  des  Körpers,  den  Eingeweiden  wie  den  Muskeln  und  der 
Haut,  Auf  der  Oberfläche  des  Körpers  wie  in  seinem  Innern  bilden  sich 
Sinnesorgane  als  Aufnahmestationen  für  Reize,  die  aus  der  Außenwelt 
kommen  oder  im  Organismus  selbst  ihren  Ursprung  haben.  Das  ganze  Nerven- 
system der  Wirbeltiere  ist  in  seinen  wichtigsten  nervösen  Teilen  eine  Bildung 
des  äußeren  Keimblattes,  doch  gewinnt  auch  das  mittlere  Keimblatt  an  dem 
Aufbau  der  nervösen  Organe  einen  nicht  unbeträchtlichen  Anteil. 
Entwickiungs-  Das   Zentralnervensystem   entsteht    ursprünglich   als    ein   von    dem 

geschichte.  äußeren  Keimblatt  sich  abschnürendes  Rohr  (Medullarrohr),  das  vom  vorderen 
bis  zum  hinteren  Ende  des  Körpers  sich  erstreckend  die  Rückenseite  desselben 
bestimmt.  Formveränderungen,  die  zunächst  als  einfache  Blasenbildungen  er- 
scheinen, lassen  seinen  vordersten  Abschnitt  sich  zum  Gehirn  umgestalten, 
demgegenüber  der  größere  im  Bereiche  des  Rumpfes  gelegene  Abschnitt  als 
Rückenmark  mehr  den  ursprünglichen  Charakter  der  einfachen  Röhre,  frei- 
lich mit  sehr  stark  verdickten  Wänden  und  sehr  reduziertem  Zentralkanal,  bei- 
behält. Von  Gehirn  und  Rückenmark  nehmen  auch  die  erv/ähnten  vorge- 
schobenen Stationen,  die  Ganglien,  ihren  Ursprung,  von  denen  eine  Anzahl, 
an  bestimmten  Stellen  des  Kopfes  sowie  jederseits  in  langer  Reihe  neben  der 
Wirbelsäule  gelegen  und  untereinander  vielfach  zusammenhängend,  den  Haupt- 
teil des  sog.  sympathischen  Nervensystems  bildet,  das  gegenüber  dem 
Gehirn  und  Rückenmark  eine  gewisse  Selbständigkeit  erlangt  und  vor  allem  in 
den  Eingeweiden,  Drüsen,  Gefäßen  das  Verzweigungsgebiet  seiner  Äste  und 
damit  das  Bereich  seiner  Wirksamkeit  findet.  Die  Grundelemente  in  all  diesen 
Organen  sind  die  Neurone,  Nerveneinheiten,  die  an  anderer  Stelle  geschildert 
wurden  (S.  84ff.). 

Die  ganze  Anlage  des  Zentralnervensystems  stellt  anfangs  ein  einfaches 
epitheliales,  nur  von  einer  Zellschicht  gebildetes  Rohr  (das  Medullarrohr)  dar. 
Bald  aber  verdicken  sich  die  Wände  dieses  Rohres  beträchtlich,  indem  von  jener 
ersten  Zellschicht  aus  neue  zellige  Elemente,  Nervenbildungszellen,  ihren  Ur- 
sprung nehmen,  die  sich  durch  Aussenden  von  Fortsätzen  (Fasern)  zu  wirk- 
lichen Nervenzellen  umwandeln.  Nervenzellen  und  Nervenfasern  bilden  dann 
einen  Mantel  um  das  ursprüngliche  Epithelrohr  herum,  das  nach  wie  vor  als 
einfache  Zellschicht  [Ependym]  den  Hohlraum  des  Rohres  (im  Rückenmark  als 
Zentralkanal,  in  den  einzelnen  Abschnitten  des  Gehirns  als  Gehirnkammern, 
Ventrikel,  bezeichnet)  auskleidet  und  fasrige  Fortsätze  seiner  Zellen  zwischen 
die  Elemente  des  umgebenden  Mantels  zur  Stütze  derselben  entsendet.  An 
jenem  Mantel  aber  bilden  die  zeUigen  Elemente  im  Gebiet  des  Rückenmarkes 
eine  innere,  als  graue  Substanz  bezeichnete  Schicht,  der  sich  die  Nervenfaser- 
massen als  weiße  Substanz  außen  auflagern.  Im  Gebiet  des  Gehirnes  ist  diese 
Anordnung  durch  Ausbildung  neuer  Fasermassen  vielfach  gestört.    Bei  den 


I 


Zentralnervensystem,  Entwicklungsgeschichte.     Rückenmark 


465 


B 


Säugern  kommt  es  auch  noch  zur  Ausbildung  sternförmiger,  mit  reichlichen 
fasrigen  Ausläufern  versehener  Stützzellen  (Nervenkittzellen),  die  ebenso  wie 
die  Nervenbildungszellen  von  der  epithehalen  Auskleidung  des  Nervenrohres 
ihren  Ursprung  nehmen.  Der  geschilderte  Entwickelungsgang  erleidet  nur  an 
einigen  Stellen  des  Gehirns  eine  Störung,  indem  hier  die  Ausbildung  von 
Nervenzellen  unterbleibt,  und  so  die  Wandung  zeitlebens  auf  dem  Zustand 
einer  einfachen  Zeil-Lamelle,  eines  ,,Ependyms",  verharrt. 

Von  den  Nervenfasermassen,  die  aus  den  Nerven- 
zellen auswachsen,  bleiben  viele  auf  das  Gebiet  des  Zen- 
tralnervensystems beschränkt  und  bilden  hier  kürzere 
und  längere  Bahnen,  durch  die  näher  oder  entfernter 
gelegene  Abschnitte  desselben  untereinander  verbun- 
den werden.  Es  kommen  so  Eigenbahnen  des  Rücken- 
markes und  des  Gehirns  sowie  Verbindungsbahnen  zwi- 
schen Rückenmark  und  Gehirn  zustande,  und  zwar  so- 
wohl solche,  die  auf  einer  Seite  bleiben,  als  auch  sich 
kreuzende,  von  einer  Seite  auf  die  andere  herüber- 
tretende, die  teils  in  auf-,  teils  in  absteigender  Rich- 
tung verlaufen  und  die  Grundlage  füi;  die  wunderbar 
verwickelten  Leistungen  des  Zentralnervensystems  ab- 
geben. Außerdem  aber  bilden  sich  die  peripheren  Ner- 
ven aus,  die  das  Zentralorgan  mit  den  verschiedenen 
Teilen  des  Körpers  in  Verbindung  zu  setzen  und  ihm 
die  Herrschaft  über  diese  zu  verschaffen  haben.  Da- 
bei zeigt  sich  ein  Unterschied  zwischen  den  motori- 
schen und  den  sensiblen  Nervenfasern.  Die  motorischen, 
vom  Zentralorgan  nach  der  Peripherie  leitenden  Fasern 

.      .  spitze  geht,  B  ein  anderes,  welches 

wachsen  von  Zellen,  die  im  Zentralorgan  selbst  gelegen    weit  vor  der  letzteren  aufhört  und 

1  1    •  !•       <-7    11  T         1  ■■,   1  nur  das  Filum  terminale  (i^i".)  nach 

smd,   aus;    wohingegen  die  Zellen,    die  den  sensiblen    hinten  entsendet,      c.e.  Cauda 
Fasern  den  Ursprung  geben  sollen,    bei  den  meisten    !?"'°f'    ^^f  ^^.'^f^  obiongata, 

^00  '  P6  Plexus  brachialis,    Pc  Plexus 

Wirbeltieren  zunächst  aus  dem  Zentralorgan  ausgeschal-    cervicaiis,    p/  Plexus  lumbosa- 

.  ,  .^_  cralis,    P^A    Pars    thoracalis    des 

tet  werden  und  neben  diesem  besondere  Nervenknoten  Rückenmarkes.  Nach  wieders- 
(Ganglien)  bilden,  um  dann  erst  zwei  Fortsätze  ent- 
stehen zu  lassen:  einen,  der  nach  der  Peripherie  des  Körpers  auswächst,  und 
einen,  der  in  das  Zentralorgan  hineinwächst.  Die  Menge  der  motorischen 
Fasern  ordnet  sich  zu  einzelnen  Bündeln,  den  motorischen  Nervenwurzeln, 
die  sensiblen  Fasern  bilden  in  gleicher  Weise  die  sensiblen  Nervenwurzeln. 

Fassen  wir  nach  diesen  allgemein  unterrichtenden  Vorbemerkungen  das  Rückenmark. 
Zentralnervensystem  noch  etwas  genauer  ins  Auge,  so  finden  wir  an  dem 
Rückenmark  eine  wesentlich  größere  Einförmigkeit  der  äußeren  Form  und 
des  inneren  Baues  als  an  dem  Gehirn.  Eingelagert  in  den  Kanal  der  Wirbelsäule 
bietet  es  im  allgemeinen  die  Form  eines  dicken  gegen  das  hintere  Ende  sich  ver- 
jüngenden Stranges,  an  dem  eine  ventrale  tiefe  Furche  und  eine  dorsale  flache 
Rinne  die  rechte  und  linke  Hälfte  oberfiächhch  voneinander  scheiden.    Auf 


Fig.39.  Zwei  verschiedene  Formen 
des  Rückenmarkes  mit  den  aus- 
tretenden Nerven.  A  ein  Rücken- 
mark,   welches   bis  zur  Schwanz- 


K.d.G.III.iv,  Bd2  ZeUenlehre  etc.  II 


30 


466 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


jeder  Hälfte  werden  dann  noch  durch  die  ventrale  Reihe  der  motorischen  und 
die  dorsale  Reihe  der  sensiblen  Nervenwurzeln  drei  Gebiete  voneinander  ab- 
gegrenzt. Die  gleichmäßig  nach  hinten  sich  verjüngende  Form,  die  das  Rücken- 
mark bei  den  Fischen  besitzt,  erfährt  eine  Störung  bei  solchen  Formen,  bei 
denen  die  Extremitäten  die  Aufgabe  der  Fortbewegung  allein  oder  doch  in  der 
Hauptsache  übernehmen:  es  bilden  sich  hier  zwei  Anschwellungen  des  Rücken- 
markes, eine  vordere  und  eine  hintere,  entsprechend  den  Gebieten,  in  denen  die 
Nerven  der  Extremitäten  ein-  und  austreten.  Eine  andere  auffallende,  in  ihrer 
Bedeutung  noch  nicht  ganz  klare  Besonderheit  besteht  bei  manchen  Formen 
(bei  manchen  Fischen,  bei  Fröschen,  Vögeln,  beim  Igel,  Menschen  u.  a.)  darin, 
daß  das  Rückenmark  mit  dem  Wachstum  der  Wirbelsäule  nicht  gleichen  Schritt 


Großhirn- 
Hemisphäre    Paraphysis 


Parietalorgan 
Pinealorgan 

Mitielhirn 


Riechlappen 


Isthmus 

Kleinhirn 

Decke  d.  verläng.  Marks 


Zentralkanal 
des  Bückenmarks 


Lamina  terminalis 

Eingang  in 
den  Seitenventrikel 
Velum  transvers 


zm^ —  Hirnanhang  (Hypophys.  cer.) 
Lob. 
infundibul. 


F  i  g.  40.     Schematischer  Medianschnitt  durch   das  Wirbeltiergehim. 

hält,  so  daß  es  im  erwachsenen  Zustand  schon  mehr  oder  minder  weit  vorn  in 
dem  Wirbelkanal  sein  hinteres  Ende  erreicht  und  nur  durch  einen  dünnen 
Ependymfaden  bis  zu  dem  hinteren  Ende  der  Wirbelsäule  fortgesetzt  wird. 
Eine  Folge  davon  ist,  daß  auch  eine  große  Anzahl  der  Rückenmarksnerven  von 
ihrem  weit  vorn  gelegenen  Ursprung  aus  erst  eine  längere  Strecke  in  dem  Wirbel- 
kanal nach  hinten  verlaufen  müssen,  ehe  sie  zu  den  für  sie  bestimmten  Öffnun- 
gen gelangen.  Sie  bilden  so  im  hinteren  Abschnitt  des  Wirbelkanals  ein  Bündel,, 
dem  man  den  Namen  ,, Pferdeschweif"  (Cauda  equina)  gegeben  hat. 
Gehirn.  Eine  vicl  größere  Mannigfaltigkeit   der  besonderen  Ausbildung  als  das 

Rückenmark  bietet  das  Gehirn  der  Wirbeltiere  dar.  Eine  erste  Andeutung 
von  ihm  ist  sogar  schon  bei  dem  schädellosen  Amphioxus  vorhanden,  indem 
hier  in  dem  vorderen  Ende  des  Nervenrohres,  das  im  allgemeinen  den  Charakter 
eines  Rückenmarkes  besitzt,  eine  Erweiterung  des  Zentralkanales  sich  findet^ 
die  den  Vergleich  mit  einem  Gehirnventrikel  nahelegt.  Es  ist  gar  nicht  un- 
möglich, daß  die  Einfachheit  dieser  Bildung  zum  Teil  auf  einer  Rückbildung 
beruht.  Durchaus  übereinstimmend  ist  aber  der  Grundplan,  nach  dem  das 
Gehirn  bei  allen  Kranioten  gebildet  ist.  Aus  drei  blasenförmigen  Auftrei- 
bungen, die  hintereinander  am  vorderen  Abschnitt  des  Nervenrohres  entstehen 
(den  drei  primären  Gehirnbläschen:  Vorder-,  Mittel-,  Hinterhirnbläschen), 
gehen  durch  weitere  Umgestaltungen  des  ersten  und  des  dritten  die  definitiven 
Abschnitte  des  Gehirns  hervor,  die  in  der  Reihenfolge  von  hinten  nach  vorn 


Rückenmark.     Gehirn 


467 


Seitenventrikel. 

Schlußplatte. 

{Lam.  termi- 

nalis) 


Aquaeductus 
Sylvii 

Rautengrube , 


Riechlappen 


Großhirn- 
Hemisphäre 


Zwischenhirn 


bezeichnet  werden  als:  i.  Nachhirn  oder  verlängertes  Mark,  2.  Hinter-  oder 
Kleinhirn,  3.  Rautenhirnenge  —  diese  drei  auch  zusammengefaßt  als  Rauten- 
hirn — ,  4.  Mittelhirn,  5.  Zwischenhirn,  6,  Endhirn  mit  einem  hinteren  größeren 
Abschnitt,  dem  Hemisphärenhirn,  und  einem  vorderen  kleineren  Abschnitt, 
den  beiden  Riechlappen.  Die  ersten  fünf  dieser  Abschnitte  sind  unpaar;  das 
Endhirn,  das  mit  dem  Zwischenhirn  aus  dem  primären  Vorderhirnbläschen  ent- 
steht, wird  dagegen  gewöhnlich  in  zwei  seithche  Hälften  zerlegt,  von  denen 
eine  jede  sich  in  den  größeren  hinteren  Teil,  die  Großhirnhemisphäre,  und  den 
kleineren  vorderen  Teil,  den  Riechlappen,  gliedert.  Durch  alle  diese  Abschnitte 
setzt  sich  der  Zentralkanal  des  Rückenmarks  erweitert  fort,  die  verschiedenen 
Ventrikel  bildend,  von  denen  einige 
noch  besondere,  ursprünglich  für  das 
menschliche  Gehirn  geschaffene  Namen 
besitzen:  vierter  Ventrikel  oder  Rauten- 
grube (=  Ventrikel  des  Rautenhirns), 
Sylvische  Wasserleitung  (==  Ventrikel  des 
Mittelhirns),  dritter  Ventrikel  (=  Ven- 
trikel des  Zwischenhirns),  Seitenventrikel 
(die  Ventrikel  der  Großhirnhemisphären). 

Der  geschilderte  Grundplan  be- 
herrscht den  Aufbau  des  Gehirns  bei  sämt- 
lichen Kranioten;  seine  Durchführung  im 
besonderen  bietet  aber  viele  Abweichun- 
gen und  läßt  die  Gehirne  der  einzelnen 
Formabteilungen  sehr  verschiedenartig 
erscheinen.  Jeder  einzelne  Gehirnteil  er- 
füllt ganz  bestimmte  Aufgaben,  enthält 
ganz  bestimmte  nervöse  Zentralstationen  und  steht  mit  ganz  bestimmten 
Teilen  des  Körpers  in  engerer  Verbindung,  und  daraus  ergibt  sich  eben,  daß 
ein  jeder  auch  für  sich  abändern  und  bei  allem  Zusammenhang,  der  zwischen 
ihm  und  den  anderen  Teilen  besteht,  doch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  seinen 
eigenen  Entwickelungsweg  gehen  kann.  Von  einer  gleichmäßig  fortschrei- 
tenden Entwickelung  des  Gehirns  in  allen  seinen  Teilen  kann  man  nicht 
reden.  So  ist  auch  das  Gehirn  des  Menschen,  dem  wir  so  leicht  geneigt  sind, 
die  höchste  Stellung  zuzuschreiben,  zwar  in  der  Ausbildung  und  Leistungsfähig- 
keit des  Großhirns  in  der  Tat  das  höchststehende,  besitzt  aber  z.  B.  dem  Gehirn 
des  Hundes  gegenüber  geringer  entfaltete  Riechlappen,  da  eben  das  Geruchs- 
vermögen des  Menschen  dem  des  Hundes  unterlegen  ist. 

Verhältnismäßig  am  einförmigsten  verhält  sich  das  verlängerte  Mark, 
in  dem  sich  ganz  regelmäßig  der  Zentralkanal  des  Rückenmarkes  zu  einer 
,, Rautengrube"  erweitert,  deren  Decke  stets  auf  dem  Zustand  einer  durch  zahl- 
reiche Blutgefäße  vielfach  gefalteten  Epithellamelle  stehen  bleibt,  und  in  dem 
außerdem  die  Zentra  einer  Anzahl  der  wichtigsten  Hirnnerven  gelegen  sind: 
des  6.,  7.,  8.,  9.,  10.,  II.  und,  wo  vorhanden,  auch  des  12.  Hirnnervenpaares. 

30* 


i^  Mittelhirn 
Isthmus 
Kleinhirn 

Verläng.  Mark 


Fig.  41.     Schematischer  Horizontalschnitt 
durch  das  Wirbeltiergehim. 


468 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Riechnerv 


echJappen 


Größere  Verschiedenheiten  schon,  von  denen  einige  wohl  mit  der  Funktion  der 
Gleichgewichtserhaltung  zusammenhängen,  zeigt  das  davor  gelegene  Klein- 
hirn, das  aus  seinem  ventralen  Gebiet  den  5.  Hirnnerven  austreten  läßt.  Wieder 
mehr  einförmig,  als  eingeschnürte  Stelle  des  Gehirns,  erscheint  die  Rauten- 
hirnenge,  an  deren  Dorsalseite  der  4.  Hirnnerv  das  Gehirn  verläßt.  Dagegen 
ist  das  Mittelhirn,  dessen  Decke  zwei  halbkuglige  Vorwölbungen,  die  Seh- 
lappen, entwickelt,  wieder  recht  verschieden  in  seiner  Entfaltung,  was  sich  in 

erster  Linie  durch  seineBeziehungen 
zum  Sehvermögen  erklärt.  Bei  Kno- 
chenfischen und  Vögeln  erreicht  es 
eine  besonders  starkeEntwickelung, 
wohingegen  es  bei  Säugern  wieder 
mehr  zurücktritt.  Aus  seinem  ven- 
tralen Gebiet  tritt  der  dritte  Hirn- 
nerv heraus.  In  formaler  Hinsicht 
der  komplizierteste  Gehirnteil  ist 
Hemisphäre  das  Zwischenhirn,  mit  dem  die 
Zwischenhirn  Reihe  der  unpaaren  Hirnabschnitte 
vorn  abschließt.  Aus  ihm  entstehen 
schon  frühzeitig  durch  Ausstülpun- 
gen die  beiden  primären  Augen- 
blasen, die  die  ersten  Anlagen  der 
paarigen  Augen  bilden;  an  seiner 
,.    ..  „  ,  Decke  entstehen  ferner  drei  hinter- 

\  erlangertes  Mark 

N: accessorio-    einander    gelegene  unpaare  hand- 
vagus 


Zirbelstiel 


Paraphysis 

Großhirn 


Mittelhirn 


N.  trigeminus 
Kleinhirn 

N.  acusticus 


JRautengrube 
N.  spinalis  II. 


Fig.  42.     Gehirn  des  Frosclies,  von  oben. 
Nacli  dem  von  F.  Ziegler  hergestellten  Modell. 


schuhfingerförmige  Ausstülpungen, 
die  als  Paraphyse,  Parietalorgan, 
Zirbel  bezeichnet  werden,  und  von 
denen  wenigstens  die  beiden  letz- 
ten mit  Recht  als  ursprüngliche 
Sinnesorgane  gelten  dürfen,  ja  bei 
manchen  Formen  jetzt  noch  als 
solche  funktionieren  (s.  Sehorgane),  während  für  die  zuvorderst  gelegene  Para- 
physe, die  durch  starke  Blutgefäßentwickelung  zu  einem  großen  ,, Aderge- 
flechtsknoten" werden  kann,  die  gleiche  Auffassung  doch  noch  zweifelhaft 
ist.  Den  Ausstülpungen  stehen,  ebenfalls  am  Dache  des  Zwischenhirnes,  zwei 
Einstülpungen  der  dünnen  Decke  gegenüber,  die  mit  ihrer  starken  Blutgefäß- 
entwickelung vielleicht  für  die  Erneuerung  der  in  dem  Ventrikelsystem  des 
Gehirns  befindlichen  Flüssigkeit  eine  Bedeutung  besitzen.  In  den  Seitenteilen 
des  Zwischenhirnes  bilden  sich  wichtige  Endstationen  für  den  Sehnerven  aus, 
und  am  Boden  endlich  entsteht  als  besondere  Ausbuchtung  der  Trichterlappen, 
der  besonders  bei  Fischen  bedeutende  Dimensionen  erreicht,  und  dem  sich  der 
vom  Dach  der  Mundhöhle  aus  entstehende  Hirnanhang,  ein  Organ  von  drüsiger 
Struktur,  eng  anlegt.    Erst  mit  dem  Hemisphärenhirn  haben  wir  den  Hirn- 


Gehirn.     Peripheres  Nervensystem  460 

teil  erreicht,  dessen  gewaltiger  Entfaltung  der  Mensch  seine  beherrschende 
Stellung  in  der  Schöpfung  verdankt.  In  dem  dorsalen  oder  Mantelteil  der 
Großhirnhemisphären  kommt  es  von  den  Reptilien  an  zur  Ausbildung  einer 
Großhirn-Rinde,  an  die  wir  die  psychischen  Funktionen  geknüpft  annehmen 
müssen.  Die  verschiedenen  Säuger  lassen  die  allmählich  zunehmende  Ver- 
größerung des  Hirnmantels  gut  erkennen.  Während  er  bei  manchen  von  ihnen 
sich  nach  hinten  höchstens  bis  über  das  Zwischenhirn  ausdehnt,  das  Mittelhirn 
aber  frei  läßt,  erstreckt  er  sich  bei  anderen  auch  über  dieses  hinweg  bis  zur  Be- 
rührung mit  dem  Kleinhirn,  und  bei  noch  anderen,  vorzüglich  beim  Menschen, 
deckt  er  auch  dieses,  so  daß  bei  der  Betrachtung  des  Gesamtgehirnes  von  oben 
her  überhaupt  nur  die  Mantelteile  der  Hemisphären  sichtbar  sind.  Eine  andere 
Verschiedenheit  der  Hemisphärenmäntel  der  Säuger  betrifft  die  Oberfläche 
derselben,  die  entweder  glatt  oder  mit  zahlreichen,  gesetzmäßig  angeordneten, 
durch  Furchen  getrennten  Windungen  versehen  ist.  Im  allgemeinen  darf  in  die- 
ser Furchenbildung  wohl  ein  Mittel  zur  Vergrößerung  der  grauen  Hirnrinde 
gesehen  werden,  doch  ist  damit  nicht  gesagt,  daß  die  furchenreicheren  Gehirne 
stets  die  intelligenteren  seien  im  Verhältnis  zu  den  furchenärmeren.  Wie  der 
Mantelteil  der  Hemisphären  bei  den  Säugern  zu  ganz  besonderer  Entfaltung 
gelangt,  so  wird  er  andererseits  bei  den  Knochenfischen  ganz  rudimentär  und 
auf  eine  dünnwandige  ungeteilte  Epithelblase  reduziert.  —  Die  beiden  Riech- 
lappen  endlich,  die  sich  vorn  den  Hemisphären  anschheßen,  und  in  denen  die 
Fasern  der  Riechnerven  endigen,  sind  in  ihrer  Ausbildung  von  der  des  Geruchs- 
organes  abhängig,  daher  bei  den  Säugern  besonders  mächtig,  wenn  sie  hier 
nicht,  wie  bei  Affen,  Delphinen  und  in  geringerem  Grade  auch  beim  Menschen, 
Rückbildungen  erleiden.  In  ihrer  Form  sind  sie  in  bemerkenswerter  Weise  von 
der  Form  des  Schädels  und  in  letzter  Instanz  auch  von  dem  Verhalten  der 
Augen  abhängig. 

Über  das  periphere  Nervensystem  müssen  hier  einige  kurze  Andeu-  peripheres 
tungen  genügen.  Es  umfaßt  l.  die  vom  Rückenmark  abgehenden  und  im  Be-  ^^'^^^^y^*«™- 
reich  der  Wirbelsäule  austretenden  Nerven:  Rückenmarks-  (Wirbel- 
säulen-) oder  spinalen  Nerven;  2.  die  vom  Gehirn  abgehenden  und  durch 
den  Schädel  austretenden  Nerven:  Gehirn-  (Schädel-)  oder  cerebralen 
(kranialen)  Nerven;  3.  das  im  Bereiche  des  Rumpfes  wie  in  dem  des  Kopfes 
vorhandene,  von  den  beiden  erstgenannten  Gruppen  abstammende,  ihnen  gegen- 
über aber  zu  besonderer  Selbständigkeit  gelangte  Eingeweide-  oder  sym- 
pathische Nervensystem.  Die  beiden  ersten  Gruppen  werden  auch  als 
Cerebrospinalnerven  zusammengefaßt  und  als  solche  dem  sympathischen  Ner- 
vensystem gegenübergestellt. 

Aus  dem,  was  früher  über  das  Verhältnis  der  Wirbelsäule  zum  Schädel  und 
über  die  Grenze  beider  gegeneinander  gesagt  wurde,  ergibt  sich,  daß  auch  die 
Grenzeder  Rückenmarks- gegen  die  Schädel-Nerven  bei  den  einzelnen  Schädel- 
tieren nicht  konstant  ist.  So  bilden  die  Nerven,  die  bei  Reptilien,  Vögeln  und 
Säugern  als  letzte  ,, Gehirnnerven"  den  hintersten  Teil  des  Schädels  verlassen, 
bei  den  Amphibien  noch  die  vordersten  freien  ,,  Rückenmarksnerven",  da  der 


470 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Rückenmarks- 
nerven. 


Skelettabschnitt,  der  hier  den  vordersten  Teil  der  Wirbelsäule  bildet,  dort 
als  hinterster  Teil  der  Hinterhauptregion  dem  Schädel  einverleibt  ist.  Mit 
anderen  Worten:  bei  verschiedenen  Schädeltieren  werden  die  hintersten  ,, Ge- 
hirnnerven" durch  Nerven  dargestellt,  die  früher  einmal  freie  ,, Rückenmarks- 
nerven" waren  und  es  bei  manchen  Formen  auch  jetzt  noch  sind. 

Bei  weitaus  den  meisten  Wirbeltieren — Amphioxus  und  die  Rundmäuler 
ausgenommen  — verhalten  sich  die  Rückenmarksnerven  an  ihrem  Ursprung 
alle  in  gleicher  gesetzmäßiger  Weise.   Auf  jedes  Körperglied  (Metamer)  kommt 

Rückenmark 
des 

Dorsale  Nervenwurzel 


Weiße  Sttbstan2\ 

„    ,  ,     l  Graue  Substanz^ 

Rückenmarkes]  j^^fj^^i  \ 


,8pinalganglion 


Ventrale  Nerventmrzel 
\-  Gemischter  Nen'enstamm 
Ventraler  Nervena^t 


ein  Nervenpaar,  dessen  beide  Nerven  (der  rechte  wie  der  linke)  aus  je  zwei 
Wurzeln,  einer  ventralen  motorischen  und  einer  dorsalen  sensiblen,  entstehen. 
Die  ventrale  Wurzel  verläßt  das  Rückenmark  an  dessen  Ventralseite,  die  dor- 
sale an  der  Dorsalseite;  die  letztere  ist  mit  einer  Anschwellung,  einem  Ganglion 
versehen,  das  die  eigentlichen  Ursprungszellen  der  sensiblen  Nervenfasern  ent- 
hält. Jenseits  dieses  Ganglion  vereinigt  sich  die  sensible  Wurzel  mit  der  mo- 
torischen zu  einem  gemischten  (d.  h.  motorische  wie  sensible  Fasern  enthalten- 
den) Stamm,  von  dem  sehr  bald  drei  Äste  abgehen:  je  einer  zu  der  Rück-  und 
der  Bauchseite  des  Körpers  und  einer,  der  das  sympathische  Nervensystem 
bilden  hilft.  Von  den  der  Bauchseite  zugeteilten  Ästen  gehen  auch  die  für  die 
Gliedmaßen  bestimmten  Nerven  ab,  die  stets  aus  den  Wurzeln  mehrerer 
Segmente  ihre  Fasern  beziehen,  indem  Äste  mehrerer  hintereinander  gelegener 
Rückenmarksnerven  zusammentreten  und  so  ein  Nervengeflecht  (einen  Plexus) 
bilden,  in  dem  eine  neue  Anordnung  der  Fasern  stattfindet,  und  aus  dem  dann 
die  neugebildeten  Äste  in  die  Extremitäten  eintreten.    Diese  Plexus  der  Ex- 


Rückenmarksnerven.     Gehirnnerven  aji 

tremitätennerven,  deren  es  somit  zwei,  einen  vorderen  und  einen  hinteren,  gibt, 
weisen  darauf  hin,  daß  eine  jede  Extremität  mehreren  Rumpfmetameren  an- 
gehört —  wie  ja  auch  ihre  Muskulatur  mehreren  Ursegmenten  entstammt  — ; 
ihre  besondere  Zusammensetzung  aus  den  Nerven  mehr  vorn  oder  mehr 
hinten  gelegener  Körpersegmente  weist  auf  die  Verschiebungen  hin,  die  die 
Extremitäten  bei  den  einzelnen  Wirbeltieren  erfahren  haben. 

Die  Gehirn-  oder  Schädelnerven  scheiden  sich  in  zwei  durch  ihre  Be- oehimnerven. 
Ziehungen  zu  den  Gebieten  des  Schädels  gekennzeichnete  Gruppen.  Die  vordere 
derselben  bilden  die  dem  ,,Urschädel"  angehörigen  Nerven  (,,paläokraniale", 
,,Urschädel"-Nerven),  die  zweite  wird  durch  jene  Nerven  dargestellt,  die  im 
Bereich  der  Hinterhauptregion  austreten  und,  entsprechend  der  Herkunft  der 
letzteren,  früher  vorderste  Rückenmarksnerven  waren  (,, neokraniale",  ,, Neu- 
schädel"-, ,, Hinterhaupts"-,  ,,spino-occipitale  Ubergangs"-Nerven).  Da  bei 
den  Rundmäulern  der  Schädel  ledighch  ein  ,,Urschädel"  ist,  dem  sich  noch 
keine  Wirbelsäulenteile  angeschlossen  haben,  so  kommen  ihnen  auch  nur  die 
Urschädel-Nerven  zu. 

Von  den  in  der  Zehnzahl  auf  jeder  Seite  vorhandenen  Urschädelnerven 
verbindet  der  vorderste  als  Riechnerv  {Nervus  olfactorius)  das  Geruchsorgan 
mit  dem  Riechlappen  des  Gehirns;  der  zweite,  der  eigentlich  die  Bedeutung 
eines  Gehirnteiles  besitzt  (s.  Sehorgan),  ist  der  Sehnerv  [N.  opticus);  der  dritte, 
vierte  und  sechste  (A^.  oculomotorius,  N.  trochlearis,  N.  abducens)  gehen  zu 
Augenmuskeln  und  haben  somit  die  Bedeutung  von  Augenbewegungs- 
nerven; der  fünfte  oder  dreigeteilte  Nerv  (A^.  trigeminus)  enthält  in  seinen 
drei  Ästen  wesentlich  Empfindungsnerven  für  das  Gebiet  der  Stirn,  der  Nase, 
des  Auges,  des  Ober-  und  Unterkiefers,  in  seinem  dri  ten  Ast  aber  auch  die 
Bewegungsnerven  für  die  meisten  Unterkiefermuskeln;  der  siebente  verdankt 
seinen  Namen  Gesichtsnerv  [N.  facialis)  seinem  Verhalten  beim  Menschen, 
wo  er  in  der  Tat  in  der  Ausdrucksmuskulatur  des  Gesichtes  ein  weites  Ver- 
breitungsgebiet für  die  in  ihm  enthaltenen  Bewegungsfasern  besitzt,  während 
€r  bei  niederen  Wirbeltieren  dem  Gesicht  noch  fremd  bleibt  und  vor  allem  im 
Gebiet  des  Zungenbeinbogens  seine  noch  spärlichen  Bewegungs-  und  viel  zahl- 
reicheren Empfindungsfasern  verbreitet;  der  achte  oder  Hör  nerv  (iV.  acusti- 
cus),  der  engere  Beziehungen  zu  dem  siebenten  Nerven  besitzt,  verbindet  das 
Labyrinthorgan  mit  dem  Gehirn  und  steht  demzufolge  nicht  nur  im  Dienste 
der  Hör-,  sondern  auch  in  dem  der  statischen  Funktion;  der  neunte  {N.  glosso- 
pharyngeus)  versorgt  bei  Fischen  die  Gebilde  des  ersten  eigentHchen  Kiemen- 
bogens  mit  Bewegungs-  und  Empfindungsfasern  und  findet  bei  den  höheren, 
landlebenden  Wirbeltieren  als  Zungen-Rachen-Nerv  sein  Verbreitungs- 
gebiet in  den  Organen,  die  sein  Name  nennt;  der  zehnte  endlich  (iV.  accessorio- 
vagus)  ist  bei  Fischen  der  Nerv  der  Kiemenbogen,  vom  zweiten  an,  und  dehnt 
im  übrigen  sein  Gebiet  weit  aus:  auf  die  Lunge  bei  lungenatmenden  Formen, 
auf  das  Herz,  selbst  den  Magen  und  Darm.  Bei  höheren  Wirbeltieren  sondert  er 
sich  in  zwei  Nerven,  die  als  zehnter  und  elfter  gezählt  werden;  von  diesen  ent- 
hält der  zehnte  alle  die  zu  jenen  genannten,  vom  Kopfe  entfernten  Gebieten 


A'12  Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

verlaufenden  Fasern  und  trägt  daher  mit  Recht  den  Namen  eines  herum- 
schweifenden Nerven  (A^.  vagus),  während  sich  in  dem  elften  oder  Bei- 
nerven {N.  accessorius)  nur  ein  kleiner  Teil,  für  gewisse  Muskeln  bestimmter, 
Bewegungsnerven  abgesondert  hat.  Dem  zehnten  Nerven  entspringt  bei  den 
Fischen  noch  ein  sehr  merkwürdiger  Ast,  der  Seitennerv,  der  bis  zur  Schwanz- 
spitze hin  kleine  Sinnesorgane  der  Haut  versorgt.  Er  schließt  sich  damit  drei 
anderen  Nerven  an,  die  als  Äste  des  siebenten  Hirnnerven  bei  den  Fischen  zu 
den  gleich  gebauten  Sinnesorganen  im  Kopfgebiet  gehen.  Bei  den  landlebenden 
Wirbeltieren  gehen  mit  den  genannten  Sinnesorganen  auch  die  zugehörigen 
Nerven  zugrunde,  und  es  bleibt  nur  ein  Nerv  übrig,  den  man  seinem  ganzen 
Verhalten  nach  mit  jenen  Hautsinnen-Nerven  auf  eine  Stufe  zu  stellen  be- 
rechtigt ist:  der  achte  Hirnnerv  (Gehörnerv). 

Neuschädelnerven  [neokraniale  N.)  finden  sich  schon  bei  Haien  in 
größerer  Anzahl,  da  ja  schon  hier  eine  auf  Wirbelsegmente  zurückzuführende 
Hinterhauptsregion  besteht.  Bei  Vögeln,  Reptilien  und  Säugern  sind  diese  den 
Haien  zukommenden  verschwunden  oder  nur  noch  embryonal  nachweisbar; 
dagegen  sind  drei  andere,  weiter  hinten  folgende  Nerven  in  den  Schädel  aufge- 
nommen und  bilden  zusammen  den  sog.  zwölften  Hirnnerven  [N.  hypoglossus), 
der  als  Zungenfleischnerv  vor  allen  Dingen  die  Muskeln  der  Zunge  versorgt. 

Die  Unterscheidung  zwischen  den  Nerven  des  ursprünglichen  und  denen 
des  neuen  Schädelgebietes  wird  übrigens  nicht  nur  durch  das  Verhalten  zu  dem 
Kopfskelett  gefordert,  sondern  prägt  sich  auch  in  dem  entwickelungsgeschicht- 
lichen  Verhalten  beider  Gruppen  von  Nerven  aus:  während  die  neokranialen 
Nerven  darin  dem  Schema  der  Rückenmarksnerven  folgen  und  somit  anfangs 
wenigstens  eine  ventrale  und  eine  dorsale  (mit  Ganglion  versehene)  Wurzel  er- 
kennen lassen,  entwickeln  sich  die  Nerven  des  Urschädelgebietes  in  einer  davon 
abweichenden,  ihnen  eigenen  Weise. 
Sympathicus.  Als  ein  ZU  selbständiger  Bedeutung  gelangter  Abkömmling  des  Gehirn-  und 

Rückenmarksnerven- Systems  erscheint  endlich  das  sympathische  oder 
Eingeweide-Nervensystem,  das  schon  bei  Rundmäulern  sich  zu  sondern 
beginnt.  Bei  den  höheren  Formen  findet  sich  gewöhnlich  jederseits  von  der 
Wirbelsäule  ein  Grenzstrang,  bestehend  aus  einer  Reihe  von  Nervenknoten, 
die  sowohl  untereinander  wie  mit  den  Rückenmarksnerven  zusammenhängen, 
und  von  denen  Äste  zu  den  Gefäßen,  Eingeweiden,  Drüsen  abgehen.  Auch  in 
den  Verlauf  der  Äste  sind  vielfach  noch  Nervenzellen,  einzeln  oder  gruppen- 
weise als  Ganglien,  eingelagert.  Solche  sympathische  Ganglien  finden  sich  auch 
im  Bereiche  des  Kopfes,  wo  sie  mit  gewissen  Gehirnnerven  verbunden  sind. 

5.   Sinnesorgane. 
5.  Sinnesorgane.  Einrichtungen  zur  Aufnahme  von  Reizen,  die  weiterhin  dem  Zentralnerven- 

AUgemeinerBau,  .  ^  •  1  r-       1 

Verteilung,  systcm  auf  dem  Wege  der  peripheren  Nervenfasern  zugeleitet  werden,  finden 
sich  an  der  äußeren  Oberfläche  wie  im  Innern  des  Körpers.  In  ihrer  einfach- 
sten Form  werden  sie  durch  freie  Endigungen  der  sensiblen  Nerven  gebildet, 
wie  sie  sich  in  verschiedenen  Epithelien  (der  äußeren  Haut,  der  Hornhaut  des 


Gehirnnerven.    Sympathicus.    Sinnesorgane,  Allgemeines.    Niedere  Sinnesorgane       473 

Auges,  der  Mundschleimhaut  u.  a.)  und  im  Bindegewebe  verschiedener  Organe 
(z.  B.  der  Muskeln,  der  Lunge  u.  a.),  also  in  Abkömmlingen  des  äußeren  und 
des  mittleren  Keimblattes,  finden.  Auf  die  höhere  Stufe  eigentlicher  Sinnes- 
organe erheben  sich  diese  Einrichtungen,  wenn  die  ektodermalen  oder  meso- 
dermalen  Gewebselemente  in  der  Umgebung  jener  letzten  Nervenendigungen 
entweder  als  Sinneszellen  selbst  die  erste  Aufnahme  der  nervösen  Reize 
übernehmen  oder  aber  besondere  schützende  oder  die  Reizaufnahme  ver- 
mittelnde oder  begünstigende  Hüllen  um  die  Nervenenden  bilden.  Von  den 
Sinneszellen  aus  erfolgt  die  Weitergabe  des  Reizes  auf  die  Nervenenden  ein- 
fach durch  Kontakt.  Bei  weitem  die  meisten  Sinnesorgane  der  Wirbeltiere 
folgen  in  ihrem  Bau  diesem  Prinzip:  der  Reiz  wird  unmittelbar  oder  mittelbar 
von  freien  Nervenendigungen  aufgenommen.  Eine  grundsätzliche  Sonder- 
stellung nimmt  nur  das  Geruchsorgan  ein:  hier  müssen  die  den  Reiz  auf- 
nehmenden Riechzellen,  die  im  Gebiete  des  äußeren  Keimblattes  entstehen, 
geradezu  als  Nervenzellen  betrachtet  werden:  die  Nervenfaser,  die  den  Reiz 
weiter  zu  leiten  hat,  steht  mit  der  Zelle  nicht  durch  Berührung  in  Verbindung, 
sondern  ist  ein  wirklicher  Fortsatz  derselben  und  wächst  unmittelbar  von 
ihr  aus. 

An  der  Herstellung  der  Sinnesorgane  hat  das  äußere  Keimblatt  den  Haupt-  Herkunft, 
anteil.  Nicht  nur  gehören  diesem  die  Nervenfasern  und  ihre  Endigungen  an, 
sondern  auch  die  meisten  Sinneszellen  entstammen  ihm,  wie  das  ja  schon  da- 
durch bedingt  ist,  daß  der  Bedeutung  der  Sinnesorgane  entsprechend  die 
äußerste  Oberfläche  des  Körpers  ganz  besonders  für  die  Ausbildung  solcher 
Reizaufnahmestationen  prädestiniert  ist.  Denn  hier  ist  durch  die  Beziehungen 
zur  Außenwelt  das  größte  Bedürfnis  für  dieselben  gegeben.  Eine  interessante 
Besonderheit  bieten  die  Sehorgane  der  Wirbeltiere:  ihre  wichtigsten  licht- 
perzipierenden  Elemente  nehmen  zwar  auch  von  dem  äußeren  Keimblatt  ihre 
Entstehung,  aber  von  dem  Gebiet  desselben,  das  zur  Bildung  des  Zentralnerven- 
systems eingefaltet  wird,  sie  sind  somit  an  das  letztere  geknüpft.  Außer  dem 
äußeren  Keimblatt  kann  auch  noch  das  mittlere  an  der  Herstellung  von  Sinnes- 
organen teilnehmen;  selten  durch  Ausbildung  wirklicher  Sinneszellen  (in  den 
unten  zu  erwähnenden  Grandryschen  Körperchen),  häufiger  durch  Ausbildung 
von  allerlei  Hilfs-,  namentlich  Schutzeinrichtungen  jener  Organe. 

Nach  der  Größe,  der  Einfachheit  oder  Komplikation  des  Baues,  und  der  Einteilung, 
physiologischen  Wertigkeit  können  die  Sinnesorgane  als  niedere  und  höhere 
unterschieden  werden. 

Zu  den  niederen  Sinnesorganen  gehören  die  dem  Tast-,  Druck-,  Tem-  Niedere 
peratur-,  Geschmackssinn  dienenden  Einrichtungen,  ferner  gewisse  Organe  '°°^^°''^'"'^ 
der  wasserlebenden  Anamnia,  die  wohl  für  die  Perzeption  von  Erschütterungen 
(Wellenbewegungen)  des  Wassers  bestimmt  sind,  und  endhch  zahlreiche  im 
Innern  des  Körpers  an  verschiedenen  Stellen  angebrachte  Körperchen,  von 
denen  den  einen  Registrierung  der  Blutdruckschwankungen,  anderen  die  der 
Größe  der  Muskeldehnung  und  des  Muskeldruckes  zugeschrieben  wird,  während 
für  manche  die  besondere  Bedeutung  noch  unklar  ist.    Die  schon  erwähnten 


AjA  Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

freien  Nervenendigungen  in  verschiedenen  Epithelien  und  Bindegewebspartien 
stellen  die  primitivsten  Einrichtungen  dieser  Art  dar.  Von  den  Organen,  in 
denen  besonders  differenzierte  Sinneszellen  die  Aufnahme  des  Reizes  besorgen, 
besitzen  die  oben  genannten,  vermutlich  für  Wellenbewegungen  des  Wassers 
bestimmten  Organe  ein  besonderes  Interesse.  Eine  Gruppe  von  Sinneszellen, 
die  umgewandelte  Oberhautzellen  darstellen,  bildet  mit  anderen  Zellen  der 
gleichen  Herkunft,  die  sich  aber  nur  als  schützender  Mantel  um  jene  herum- 
legen, einen  kleinen  Sinnes-  oder  Nervenhügel,  der  entweder  seine  Lage 
frei  auf  der  äußeren  Haut  beibehält,  oder  durch  Einfaltung  der  letzteren  in  die 
Tiefe  unter  die  Oberhaut  eingesenkt  wird.  Rundmäuler,  alle  Gruppen  der 
kiefermäuligen  Fische,  die  wasserlebenden  Amphibien  und  Amphibienlarven 
besitzen  diese  Hautsinnesorgane  in  bestimmter  gesetzmäßiger  Anordnung  am 
Kopfe  wie  am  übrigen  Körper;  am  Rumpfe  speziell  jederseits  in  einer  bis  zum 
Schwänze  hinziehenden  Linie,  der  sogenannten  Seitenhnie,  die  jenen  Organen 
auch  den  Namen  Seitenorgane  verschafft  hat.  Bei  den  kiefermäuligen 
Fischen  finden  sich  die  meisten  dieser  Organe  in  Kanälen  (,, Schleimkanälen"), 
die  unter  der  Haut  gelagert  sind  und  nur  in  bestimmten  Abständen  durch  kleine 
Querkanäle  sich  auf  dieser  öffnen,  so  dem  Wasser  den  Zutritt  zu  den  Sinnes- 
organen gestattend.  Bei  den  Knochenfischen  (teilweise  auch  schon  bei  Ganoi- 
den)  sind  diese  Kanäle  am  Kopf  in  die  Kopfknochen,  am  Rumpf  in  die  Schuppen 
eingebettet;  die  Schuppen,  die  den  Kanal  der  Seitenlinie  enthalten,  machen 
sich  schon  für  das  bloße  Auge  durch  ihre  Durchlöcherung  bemerkbar.  Den 
Sinneshügeln  ähnlich  sind  die  Endknospen,  die  als  Geschmacksorgane  vor 
allem  in  der  Mundhöhle  in  weiter  Verbreitung  vorkommen,  bei  Fischen  aber 
auch  auf  der  Oberfläche  des  Körpers,  besonders  in  der  Umgebung  des  Mundes 
sich  finden  und  wohl  auch  hier  die  Aufgabe  einer  Kontrolle  der  chemischen 
Zusammensetzung  des  umgebenden  Mediums  erfüllen. 

Bei  den  terrestrischen  Wirbeltieren  liegen  die  Hautsinnesorgane  nicht 
mehr  oberflächlich,  sondern  mehr  in  die  Tiefe  verlagert:  als  Tastzellen  in  den 
unteren  Schichten  der  Epidermis  hier  und  da,  als  besondere  Tastkörperchen 
mit  komplizierter  Struktur  in  der  Lederhaut,  als  Kolbenkörperchen  ebenfalls 
in  der  Lederhaut  oder  im  Unterhautbindegewebe.  Besondere  Formen  der  eigen- 
tümlich gebauten  Kolbenkörperchen  finden  sich  auch  im  Innern  des  Körpers, 
in  der  Umgebung  der  Gelenke,  in  der  Auskleidung  der  Bauchhöhle,  innerhalb 
mancher  Organe.  Eine  eigene  Art  Tastkörperchen,  an  deren  Aufbau  Tastzellen 
bindegewebiger  Abstammung  teilnehmen,  kommt  bei  Vögeln,  besonders  in  der 
Wachshaut  des  Schnabels,  vor  (Grandrysche  Körperchen).  Weitere  eigentüm- 
liche hierher  gehörige  Nervenendapparate  sind  schließlich  die  Muskel-  und 
Sehnenspindeln.  Am  Aufbau  aller  dieser  Gebilde,  soweit  sie  innerhalb  des 
Bindegewebes  liegen,  sind  mesodermale  Elemente  wesentlich  beteiligt. 
Höhere  Von  den  höheren    Sinnesorganen  (Labyrinth-,   Seh-,   Geruchsorgan) 

Labyr°ntorgIn.  schfießt  sich  hier  zunächst  das  beim  Amphioxus  fehlende  Labyrinthorgan 
an,  da  es  morphologisch  in  die  Gruppe  der  oben  genannten  Seitenorgane  gehört, 
gewissermaßen  eine  besonders  hohe  Ausbildungsform  eines  solchen  darstellt. 


Niedere  Sinnesorgane.     Höhere  Sinnesorgane.     Labyrinthorgan 


475 


Diese  Auffassung  wird  vor  allem  begründet  durch  die  Natur  des  achten  Gehirn- 
nerven, in  dessen  Endgebiet  es  sich  ausbildet:  wie  schon  oben  gesagt^  gehört  der- 
selbe mit  den  Nerven  der  übrigen  Seitenorgane  zu  einem  besonderen  System  zu- 
sammen. Seiner  funktionellen  Bedeutung  nach  ist  das  Labyrinthorgan  dem 
statischen  Sinn  (Raumsinn,  Gleichgewichtssinn)  sowie  dem  Gehörsinn  vorge- 
ordnet. Im  Dienste  des  letzteren  bildet  es  die  sog.  innere  Ohrsphäre,  der 
sich  in  der  aufsteigenden  Wirbeltierreihe  noch  eine  mittlere  und  eine  äußere 
anschließen.  Verglichen  mit  einem  einfachen  Seitenorgan  bietet  das  Labyrinth- 
organ freilich  recht  beträchtliche  Komplikationen  dar.  Nur  in  seiner  ersten 
Anlage,  die  als  eine  sich  bald  zu  einem  kleinen  Grübchen  (Hörgrübchen) 
einsenkende  Verdickung  des 
äußeren  Keimblattes  jeder- 
seits  im  hinteren  Teil  des 
Kopfes  auftritt,  ist  es  jenen 
vergleichbar;  weiterhin  aber 
schlägt  es  seinen  selbständigen 
Weg    zu    höherer  Entfaltung 


Vorderer 
Bogengang 

Utriculus 


Sacculus. 


Ductus  perilymphaticus 


Hinterer 
Bogengang 


Äußerer 
Bogengang 


Lagena 


r  i  g.  44.      Halbschematische    Darstellung    des    häutigen    Gehörorganes 
(Labyrinthes)   der  Wirbeltiere.     Linke  Seite   von  außen. 

Nach   WiEDERSHEIM. 


ein.  Das  kleine  Grübchen 
senkt  sich  tiefer  unter  die 
Haut  ein  und  gestaltet  sich 
durch  Faltenbildungen,  Ab- 
schnürungen und  Verwach- 
sungen zu  einem  kompliziert 
geformtenBläschenoder  Säck- 
chen um,  das  eben  wegen  die- 
ser merkwürdigen  Form  den 
Namen  häutiges  Laby- 
rinth bekommen  hat.  Anfangs  nur  aus  einer  einfachen  ektodermalen  Zell- 
schicht bestehend,  erhält  es  weiterhin  von  dem  umgebenden  Bindegewebe  eine 
etwas  festere  Wandung.  Durchgehends,  bei  allen  Wirbeltieren,  sind  an  ihm  nach 
seiner  Vollendung  zwei  Hauptabschnitte,  ein  oberer  und  ein  unterer,  unter- 
scheidbar (Fig.  44).  An  dem  oberen  bildet  der  sog.  Utriculus  den  Hauptteil,  dem 
sich  die  drei  halbzirkelförmigen  Kanäle  oder  Bogengänge  —  als  vorderer, 
hinterer,  seitlicher  unterschieden  —  anschließen;  an  dem  unteren  ist  der  Haupt- 
raum der  mit  dem  Utriculus  kommunizierende  Sacculus,  der  als  anfangs  kleine 
halbkuglige  Ausbuchtung  die  sogenannte  Lagena  entwickelt.  Von  den  Rep- 
tilien an  wächst  diese  beträchtlich  zu  einem  längeren  Kanal,  dem  Schnecken- 
kanal, aus,  so  benannt,  weil  er  sich  bei  den  Säugern  unter  weiterer  Verlängerung 
schneckenhausartig  in  eine  Anzahl  Windungen  legt.  Zu  dem  geschilderten 
Bläschen  tritt  der  achte  Gehirnnerv,  in  mehrere  Zweige  geteilt,  heran;  an  seinen 
Endigungen  differenzieren  sich  die  das  Säckchen  auskleidenden  Epithelzellen 
zu  besonderen  Nervenendstellen.  Bei  den  Fischen  sind  es  sieben  (drei  in  be- 
sonderen Erweiterungen  der  Bogengänge,  drei  durch  Übereinstimmung  des 
Baues  ausgezeichnete  in  dem  Utriculus,  dem  Sacculus  und  der  Lagena  und 


476  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

dazu  noch  eine  besondere  im  Sacculus);  bei  Amphibien,  Reptihen  und  Vögeln 
gesellt  sich  am  Anfangsteil  der  Lagena  eine  achte  hinzu,  die  dann  mit  Aus- 
wachsen der  Lagena  ebenfalls  sich  vergrößert  und  bei  den  Säugern  das  soge- 
nannte Cortische  Organ,  das  eigentHche  Organ  des  Hörens,  bildet.  Durch 
Rückbildung  zweier  anderer  Endstellen  wird  bei  den  Säugern  die  Gesamtzahl 
derselben  auf  sechs  verringert.  Die  Mehrzahl  der  erwähnten  Nervenendstellen 
steht  wohl  in  erster  Linie  im  Dienste  der  statischen  Funktion;  einige  von  ihnen 
werden  durch  Kalkauflagerungen,  die  entweder  feste  Steine  (Otolithen,  Gehör- 
steine) oder  breiige  Massen  bilden,  für  ihre  Funktion  besonders  tauglich 
gemacht.  Abgesehen  von  diesen  Kalkmassen  bildet  eine  Flüssigkeit,  die  Endo- 
lymphe, den  Inhalt  des  häutigen  Labyrinths;  auch  dieser  kommt  durch  die 
Schwankungen,  die  sie  erleidet,  eine  Bedeutung  für  die  Funktion  gewisser 
Nervenendstellen  zu. 

Die  kalkabsondernde  Fähigkeit  gewisser,  das  Labyrinthbläschen  aus- 
kleidender Zellen,  auf  die  die  Anwesenheit  der  Otolithen  hinweist,  wird  bei 
manchen  Amphibien  und  Reptilien  noch  in  besonderer  Weise  ausgenutzt.  Bei 
der  Einsenkung  des  Labyrinthbläschens  unter  die  Haut  zieht  sich  die  ursprüng- 
liche Verbindungsstelle  desselben  mit  dem  Ektoderm  zu  einer  langen  schorn- 
steinförmigen  Röhre,  dem  Ductus  endolymphaticus,  aus,  der  bei  Haien  zeit- 
lebens offen  bleibt  und  so  das  Innere  des  häutigen  Labyrinths  mit  dem  Wasser 
in  Verbindung  setzt,  meist  aber  sich  völlig  abschnürt.  Dieser  blind  endigende 
Gang  nun  wächst  z.  B.  bei  Fröschen  und  manchen  Geckoarten  sehr  stark  aus, 
in  den  Schädel,  ja  selbst  in  die  Wirbelsäule  und  durch  die  Nervenlöcher  der- 
selben in  die  Bauchhöhle  bei  Fröschen,  an  den  Hals  bei  manchen  Geckonen, 
und  bildet  an  den  genannten  Stellen  mit  Kalk  gefüllte  Säckchen,  die  natürlich 
zu  den  eigentlichen  Funktionen  des  Labyrinthorganes  keine  Beziehung  mehr 
haben,  sondern  lediglich  Kalkreservoirs  darstellen.  Ihre  spezielle  Bedeutung 
ist  wohl  noch  nicht  ganz  klar;  bei  Fröschen  stehen  sie  vielleicht  zu  der  Be- 
reitung der  Geschlechtsprodukte  während  des  Winterschlafes  in  Beziehung. 

Das  hier  in  aller  Kürze  geschilderte  häutige  Labyrinth  wird  schon  von  den 
Cyclostomen  an  in  einen  Teil  des  Schädels,  die  knorpelige  oder  knöcherne  Ohr- 
kapsel, eingelagert. 
Mitteiohr  und  Hilfseinrichtungen    des    Labyrinthorganes  treten  vor  allem  bei 

den  landlebenden  Wirbeltieren  in  Form  des  Mittelohres  und  weiterhin  des 
äußeren  Ohres  auf,  die,  wie  schon  der  Name  sagt,  beide  der  Vervollkomm- 
nung der  Hörfunktion  dienen.  Als  Teile  des  Mittelohres  werden  die  Einrich- 
tungen bezeichnet,  die  der  Schalleitung  dienen,  somit  auch  schon  die  einfachen 
Gehörstäbchen,  die  bei  Amphibien  auftreten  und  früher  beschrieben  wurden. 
Schon  bei  manchen  schwanzlosen  Amphibien  und  ebenso  weiterhin  bei  den 
meisten  Reptilien  sowie  bei  den  Vögeln  und  Säugern  werden  sie  von  einem 
Raum,  der  Paukenhöhle,  umgeben,  die  im  Anschluß  an  die  erste  Schlund- 
tasche entsteht,  sonach  mit  der  Schlundhöhle  in  Zusammenhang  steht  und 
außen  sich  bis  an  die  Haut  ausdehnt.  Hier  entsteht  somit  eine  verdünnte,  zu- 
nächst in  gleicher  Flucht  mit  der  Haut  gelegene  und  von  dieser  überzogene 


Labyrinthorgan.    Mittelohr,  äußeres  Ohr.    Sehorgane.    Sehzellen  des  Amphioxus       47 y 


schwingungsfähige  Membran,  das  Trommelfell,  in  das  das  äußere  Ende  der 
schalleitenden  Skelettkette,  mag  dieselbe  aus  einem,  zwei  oder  drei  Gliedern 
bestehen,  eingelassen  wird  (Fig.  45).  So  können  die  von  den  Schallwellen  er- 
zeugten Schwingungen  des  Trommelfelles  dem  Labyrinth  zugeleitet  werden. 
Die  letzte  Vervollkommnung  besteht  dann  in  der  Ausbildung  besonderer  Ein- 
richtungen in  der  äußeren  Umgebung  des  Trommelfelles,  die  teils  dem  Schutz 
desselben,  teils  dem  Auffangen  der  Schallwellen  dienen.  Zu  dieser  in  ihrer  Ge- 
samtheit als  Teile  der  äußeren  Ohrsphäre  oder  kurz  des  äußeren  Ohres 
bezeichneten  Bildungen  gehören  beweghche  Schutzklappen,  wie  sie  z.  B.  die 


Dtictus  endolymphaticus 


Vorderer  Bogengang 
Äußerer  Bogengang 
Sacculus 


Ohrm  uscTiel 


Schnecke  - 

Knöcherne 
Gehörkapsel 


Ductus  perilymphaticus 
Ohrtrompete 


Äußerer  Gehörgang 

Trommelfell 


Fig.  45.  Scbematisclie  Darstellung  des  gesamten  Gehörorgans  vom  Menschen;  rechte  Seite,  von  außen.  Die 
knöcherne  Gehörkapsel  ist  in  größter  Ausdehnung  eröffnet;  man  sieht  in  ihr  das  häutige  Labyrinth,  umgeben 
von  einem  „perilymphatischen"  Raum,  der  sich  in  einen  perilymphatischen  Gang  fortsetzt.  Der  Pfeil  zeigt  eine 
durch    eine   Membran  verschlossene  Öffnung  an,    gegen  die  die  Perilymphe  ausweichen  kann.     Nach  Wiedersheim. 

Krokodile  besitzen  und  beim  Tauchen  im  Wasser  verwenden,  vor  allem  aber 
die  Ohrmuschel  und  der  äußere  Gehörgang  der  Säuger.  Durch  die  Entstehung 
des  letzteren  wird  das  Trommelfell  bei  den  Säugern  in  größere  Tiefe  verlagert; 
die  Ohrmuschel  aber  bildet  in  mannigfaltiger  besonderer  Ausgestaltung  an  seinem 
Eingang  einen  Schallbecher,  an  dem  die  in  das  Gesicht  eingewanderte  Haut- 
muskulatur Anheftungen  gewinnt,  und  der  so  den  Schallwellen  zugewendet 
werden  kann,  wie  wir  es  z.  B.  bei  Pferden  beobachten,  vielfach  aber  auch  als 
schützende  Klappe  zum  Verschluß  des  äußeren  Gehörganges  Verwendung  findet. 

Für  die  Sehorgane  der  Wirbeltiere  charakteristisch  ist,  daß  sie  alle  in  Sehorgane, 
ihrer  Entstehung  an  das  Zentralnervensystem  geknüpft  sind,  somit  die  licht- 
empfindlichen zelligen  Elemente  besonders  differenzierte  Zellen  des  Zentral- 
nervensystems darstellen.    Das  gilt  zunächst  von  den  primitivsten  Sehorganen 
der  Wirbeltiere,  den  Sehzellen  des  eines  besonderen  ,, Auges"  entbehrenden  sehzeUen  des 
Amphioxus,  die  hier  im  Rückenmark,  fast  in  der  ganzen  Länge  desselben,  in     ™^  '°''"*' 
Gruppen  verteilt  sind.    Ein  Teil  von  ihnen  zeigt  außer  gewissen  spezifischen 


478  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Strukturen  und  der  Verbindung  mit  einer  Nervenfaser  nichts  weiter,  ein 
anderer  vervollkommnet  sich  dadurch,  daß  zu  der  Sehzelle  noch  eine  dieselbe 
schalenförmig  umgebende  Pigmentzelle  als  Lichtschirm  hinzutritt.  Als  Bild- 
augen werden  diese  einfachen  Apparate  gewiß  nicht  dienen  können;  ihre  Fähig- 
keit, auf  Lichtreize  zu  reagieren,  dürfte  aber  als  bewiesen  gelten,  aus  den 
physiologischen  Experimenten  wie  aus  ihrer  Ähnlichkeit  mit  den  Lichtorganen 
vieler  Wirbelloser. 
Pineai-  und  Auf  ciucr  höheren  Stufe  schon  stehen  die  beiden  Organe,  die  als  unpaare, 

arieaorgan.  ^^q^[^^q  Augen  bczeichuet  werden:  das  Pineai-  oder  Zirbelauge  und  das 
Parietal-  oder  Scheitelauge.  Ihre  Entstehung  nehmen  beide  an  der  Decke 
des  Zwischenhirnes  als  handschuhfingerförmige  Ausstülpungen,  die  nach  der 
Oberfläche  des  Kopfes  hin  auswachsen  und  dann  an  ihrem  Ende  das  kleine 
bläschenförmige  Auge  entwickeln  können,  das  sich  abschnürt.  Bei  manchen 
Formen  werden  beide  genannte  Organe  angelegt,  und  dann  erweist  sich  das 
Scheitelorgan  als  das  vordere,  das  Zirbelorgan  als  das  hintere.  Nur  ausnahms- 
weise (beim  Neunauge)  kommen  aber  beide  wirklich  zu  hoher  Ausbildung; 
häufiger  entwickelt  sich  nur  das  eine  w^eiter,  während  das  andere  verkümmert, 
und  am  häufigsten  sind  beide  oder  gar  nur  noch  eins,  nur  in  rudimentärem 
Zustand  vorhanden.  So  finden  wir  bei  den  Säugern,  Vögeln,  Krokodilen, 
Schildkröten  und  Schlangen  nur  noch  das  Zirbelorgan  als  kleines  drüsiges 
Knötchen  dem  Gehirn  aufsitzen,  während  das  Scheitelorgan  nicht  einmal  mehr 
zur  Anlage  kommt.  Formen,  bei  denen  das  Zirbelorgan  zu  hoher  Entwickelung 
gelangt,  sind  die  Neunaugen  und  Frösche,  während  bei  den  Brückenechsen  und 
zahlreichen  Eidechsen  das  Parietalauge  eine  überraschend  augenähnliche  Aus- 
bildung erfährt,  indem  seine  der  Haut  zugekehrte  Wand  sich  zu  einer  licht- 
brechenden Linse  verdickt,  die  gegenüberliegende  Wand  Seh-  und  Pigment- 
zellen entwickelt,  und  die  Haut  über  dem  Organ  durchsichtig  wird.  Daß  es 
tatsächlich  auf  Lichtstrahlen  reagiert,  ist  objektiv  festgestellt. 
Paarige  Augen.  Übcr  jcdcu  Zwcifcl  erhaben  ist  die  Sehfunktion  bei  den  paarigen  Augen, 

die,  mit  Ausnahme  des  Amphioxus,  sämtlichen  Wirbeltieren  zukommen,  bei 
manchen  allerdings  in  Anpassung  an  die  Dunkelheit  der  Umgebung,  in  der  Tief- 
see, unter  der  Erde  in  lichtlosen  Grotten  und  Höhlen,  rudimentär  werden. 
Auch  sie  sind  in  ihrem  wichtigsten,  lichtperzipierenden  Teil,  der  Netzhaut  oder 
Retina,  Bildungen  des  Gehirns.  Im  Zusammenhang  mit  dem  Vorderhirn 
entsteht  als  seitliche  Ausstülpung  jederseits  die  primäre  Augenblase,  die 
weiterhin  durch  Einstülpung  ihrer  Außenwand  in  den  Augenbecher  umge- 
wandelt wird.  In  dem  eingestülpten  Blatt,  der  eigentlichen  Netzhaut,  ent- 
wickeln sich  weiterhin  die  Sehzellen;  von  ihm  aus  erfolgt  auch  die  Bildung  der 
meisten  Sehnervenfasern,  die  in  das  Gehirn  einwachsen,  während  der  Augen- 
stiel, die  ursprüngliche  Verbindung  der  Augenblase  mit  dem  Gehirn,  zugrunde 
geht.  Als  wichtigstes  Hilfsorgan  gesellt  sich  zu  dem  vom  Gehirn  stammenden 
Augenbecher  die  lichtbrechende  Linse  hinzu,  die  sich  von  dem  Ektoderm  der 
äußeren  Haut  abschnürt  und  in  die  Höhlung  des  Augenbechers  legt.  Vor  ihr 
hellt  sich  die  äußere  Haut  zur  Hornhaut  des  Auges  auf,  und  aus  der  Umgebung 


Sehzellen  des  Amphioxus.     Pineal-  und  Parietalorgan.     Paarige  Augen 


479 


des  Augenbechers  bilden  sich  um  diesen  herum  Ernährungs-  und  Schutzhüllen: 
die  Gefäßhaut,  die  sich  dem  äußeren  Blatt  der  Netzhaut  anlegt  und  vor  der 
Linse  eine  durchbohrte  Scheibe  mit  veränderhcher  Öffnung,  die  Regenbogen- 
haut mit  der  Pupille,  bildet,  weiter  die  Faserhaut,  die  dem  Augapfel  seine  feste 
Form  zu  verleihen  hat  und  zu  diesem  Zwecke  selbst  knorpelige  oder  knöcherne 
Einlagerungen  erhält.   An  ihr  gewinnen  auch  die  Augenmuskeln  Anheftung,  die 


>:'X Gehirn 


Augenblase 


Linse. 


Linsen- 
anlage 


F  i  g.  46.  Querschnitt  durch  Gehirn  und  Augenblasen 
eines  Hühnerembryos.  Nach  Hertwig  aus  Lubosch. 


Äußeres  Blatt 
des  Augen- 
bechers 


'—  Holller 
Augenstiel 


Höhlung  des 
Augenbechers  ' 

F  i  g.  48.  Linker  Augenbecher  mit  Linse  von  einem  Eidechsen- 
embryo.    Nach  einem  Modell,  von  Froriep. 


flomhoi^ 


Stra  JUenJcÖTjie 


Gehirn 


Äußeres  Blatt 

und 

-  inneres  Blatt 
des  Augen- 
bechers 


Linse, 
sich  ab- 
schnürend 


Augen- 
becher 


AderTut-wt 

Faserhaut 


Netthaut 
ffrube. 


SeJaterv 


Fig.  47.     Querschnitt    durch    den  Augenbecher  und  das 
sich    abschnürende  Linsensäckchen.      Aus    zwei    Abbil- 
dungen von  Froriep  kombiniert  von  Lubosch. 


Fig.  49.    Das  Auge  des  Menschen.    Nach  Abelsdorff. 
Aus  Lubosch. 


ihre  Entstehung  den  Ursegmenten  des  Kopfes  verdanken.  Vor  der  Hornhaut 
können  zum  Schutze  des  Auges  Falten  der  Haut,  Augenlider,  entstehen,  die 
aber  erst  bei  den  Säugern  Lidmuskeln  —  der  in  das  Gesicht  einwandernden 
Hautmuskulatur  entstammend  —  eingelagert  erhalten,  und  von  den  Amphi- 
bien, d.  h.  von  der  Aufgabe  des  Wasserlebens,  an  entstehen  in  dem  Gebiet  der 
Lider  auch  Drüsen,  deren  Sekret  die  Hornhaut  feucht  erhält  und  vor  Staub 
und  vor  der  austrocknenden  Wirkung  der  Luft  und  Hitze  schützt. 

Der  geschilderte  Bau  ist  typisch,  in  allen  Grundzügen  immer  wieder  der- 
selbe, wie  das  bei  einem  Apparat,  der  einer  so  spezifischen  Funktion  dient, 
auch  nicht  anders  zu  erwarten  ist.   Besonderheiten,  die  überhaupt  festzustellen 


^go  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

sind,  und  von  denen  die  meisten  als  Anpassungen  an  das  umgebende  Medium 
erscheinen,  lassen  jenes  Grundschema  des  Baues  unberührt,  sie  betreffen  die 
Größe  und  Form  des  Auges  sowie  die  Einrichtungen  der  Akkommodation,  d.  h. 
die  Einrichtungen  zur  Einstellung  des  Auges  auf  verschiedene  Entfernungen. 
Von  den  Formbesonderheiten  erwähnen  wir  noch  die  stark  verlängerten  ,, Tele- 
skopaugen" vielerTiefseefische  und  der  Vögel  —  im  übrigen  verbietet  der  Raum 
ein  weiteres  Eingehen  auf  die  genannten  Unterschiede  und  Bau -Eigentüm- 
lichkeiten. Vom  rein  morphologischen  Standpunkt  muß  als  die  wichtigste 
Tatsache  gelten,  daß  das  paarige  Auge  in  seinem  Hauptteil  eine  Bildung  des 
Gehirns  darstellt  und  gewissermaßen  nur  ein  vorgeschobener  Abschnitt  des- 
selben ist,  wie  das  ja  auch  für  die  unpaaren  Augen  gilt.  Diesen  gegenüber  be- 
steht aber  die  Besonderheit,  daß  das  lichtbrechende  Organ,  die  Linse,  beim 
paarigen  Auge  als  selbständige  Bildung  von  der  äußeren  Haut  aus  entsteht, 
während  sie  bei  dem  unpaaren  Scheitelauge  sich  aus  der  äußeren  Wand  der 
Augenblase  selbst  bildet. 
Genichsorgan.  Es  bleibt  cndHch  noch  übrig,  auf  das  letzte  der  großen  Sinnesorgane,  das 

Geruchsorgan,  einen  Blick  zu  werfen.  Ob  ein  solches  bereits  dem  Amphioxus 
zukommt,  ist  zweifelhaft;  man  hat  es  in  einer  unpaaren,  beim  erwachsenen  Tier 
an  die  linke  Seite  rückenden  Grube  am  vorderen  Körperende  erkennen  wollen, 
zu  der  auch  ein  Nerv  des  ,, Gehirns"  tritt.  Sicher  vorhanden  ist  aber  ein  Ge- 
ruchsorgan bei  allen  Schädeltieren,  und  zwar  als  paariges,  nur  bei  den  Rund- 
mäulern äußerhch  unpaar  scheinendes  Organ,  Immer  entsteht  es  als  eine  — 
paarige  oder  unpaare  —  vor  der  Mundbucht  gelegene  Einsenkung  des  äußeren 
Keimblattes,  in  deren  Grund  sich  ein  Teil  der  Zellen  zu  Riechzellen  ge- 
staltet, indem  sie  auf  ihrem  freien  Ende  Riechhärchen  entwickeln  und  am 
anderen  Ende  einen  wirklichen  Nervenfortsatz  gegen  den  Riechlappen  des 
Gehirns  auswachsen  lassen.  Die  Menge  dieser  Nervenfortsätze  bildet  den 
Riechnerven. 

Vollzieht  sich  soweit  die  Entwickelung  bei  Rund-  und  Kiefermäulern 
grundsätzlich  gleichartig,  so  gehen  im  weiteren  die  Wege  merkwürdig  aus- 
einander. Bei  den  Rundmäulern  bildet  sich  eine  eigentümliche  Besonderheit 
aus;  ein  enger  Anschluß  des  Geruchsorganes  an  die  sog.  Rathkesche  Tasche, 
Dieses  als  Einsenkung  am  Dach  der  primären  Mundbucht  entstehende  Gebilde, 
das  bei  den  Kiefermäulern  bald  ganz  abgeschnürt  wird  und  sich  als  Hirnanhang 
der  Unterfiäche  des  Gehirns  anlagert,  wächst  bei  den  Rundmäulern  zu  einem 
langen  Gange  aus,  der  seine  Verbindung  mit  der  Oberhaut  beibehält,  und  dessen 
Mündung  durch  eigentümliche  Wachstumsvorgänge  auf  den  Rücken  des  Kopfes 
verlagert  wird.  Dabei  nimmt  er  die  anfangs  vor  ihm  gelagerte  äußerlich  unpaare 
Riechgrube  gewissermaßen  mit,  so  daß  dieselbe  schheßlich  eine  sackförmige 
Ausbuchtung  am  hinteren  Umfange  jenes  röhrenförmigen  Ganges  bildet,  dessen 
unpaare  Öffnung  auf  der  Oberfläche  des  Kopfes  beim  Neunauge  oder  Schleim- 
fisch leicht  gesehen  werden  kann  (Fig.  50).  Der  äußerlich  unpaare  Riechsack  der 
Rundmäuler  wird  von  einer  unpaaren  knorpeligen  Nasenkapsel,  die  dem 
neuralen  Schädel  angehört,  umgeben. 


Geruchsorgan 


481 


Bei  allen  Kiefermäu- 
lern  entstehen  und  blei- 
ben die  Riechsäcke  deut- 
lich paarig  und  werden 
in  die  beiden  Hälften  der 
durch  eine  Scheidewand 
im  Inneren  geteilten  Na- 
senkapsel eingeschlossen. 
Sehr  verschieden  gestal- 
ten sich  aber  die  Zugangs- 
verhältnisse zu  ihnen.  Bei 
den  Haien  stellt  jedes  Ge- 
ruchsorgan eine  blinde 
Grube  dar,  deren  Öffnung 
an  der  Unterfläche  des 
Kopfes  vor  der  Mund- 
spalte gelegen  ist  und  nur 
durch  eine  Hautklappe  in 
eine  vordere  Ein-  und  eine 
hintere  Ausfiußpforte  für 
das  Wasser  geteilt  wird, 
während  bei  Schmelz- 
schuppern  und  Knochen- 
fischen zwei  durch  eine 
Hautbrücke  völlig  ge- 
trennte Öffnungen  als  vor- 
dere und  hintere  Nasen- 
öffnung bestehen,  die  aber 
beide  auf  dem  Rücken  des 
Kopfes  hegen,  die  vor- 
dere manchmal  auf  einer 
besonderen  stielartigen 
Erhebung.Wieder  anders, 
aber  hier  nicht  weiter  zu 
erörtern,  liegen  die  Dinge 
bei  den  Doppelatmern. 
Diesen  Verschiedenheiten 
bei  den  Fischen  gegenüber 
besteht  von  den  Amphi- 
bien an  eine  größere  Ein- 
förmigkeit: die  Riech- 
grube oder,  wie  wir  jetzt 
sagen,  die  Nasenhöhle, 
mündet    stets    mit   einer 

K.  d.  G.  in.  IV,  Bd  2  Zellenlehre  etc. 


muuiifrmL 


-^-Chiasm 


-Ch 


VOD 


Fig.  50-^/,  B,  C.  Medianschnitte  durch  den  Kopf  von  drei  verschiedenen 
Entwicklungsstufen  einer  Larve  von  Petrorayzon  planeri  (Amraocötes).  Die 
Figuren  zeigen  die  allmähliche  Verschiebung  der  Hypophyse  [Hyp)  und  der 
Riechgrube  (Ro)  aus  ihrer  ursprünglichen  ventralen  Lage  auf  den  Rücken  des 
Kopfes.  Ch  Chorda  dorsahs,  Chtasm  Chiasma  opticum,  Gp  Glandula  pinealis 
(Zirbel),  Hh  Hinterhim,  Hyp  Bucht  der  Hypophyse,  Inf  Infundibulum,  MB 
Mundbucht,  MH  Mittelhim,  OL  Oberhppe,  RO  Riechorgan,  UL  Unterlippe, 
VH  Vorderhim,    VOD  Vorderdarm.     Zum    größten   Teil   nach  Kupffer   und 

DOHRN.      Aus  WiEDERSHEIM. 


II 


31 


482 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Nasenöffnung 
Mtindspalte 


äußeren,  bald  mehr  seitlich,  bald  mehr  vorn  gelegenen  Nasenöffnung  auf  der 
Oberfläche  des  Kopfes  und  mit  einer  inneren  Nasenöffnung  in  die  Mundhöhle. 
Damit  ist  für  sie  die  Möglichkeit  gegeben,  in  den  Dienst  einer  neuen  Funk- 
tion, der  Luftatmung,  zu  treten,  und  mancherlei  weitere  Komplikationen 
entstehen  in  Anpassung  an  diese  neue  Aufgabe.  So  kommt  es  bald  zu  einer 
schärferen  Trennung  zweier  Raumabschnitte:  eines,  der  der  Zu-  und  Ab- 
leitung der  Atmungsluft  dient,  und  eines  zweiten,  der  der  Riechfunktion 
vorsteht.    In  diesen  letzteren  zieht  sich  das  Riechepithel  zurück,  während  der 

erstere  eine  Auskleidung  mit  indif- 
ferentem Epithel  erhält.  In  wirk- 
samster Weise  wird  diese  Scheidung 
vervollkommnet  durch  die  Ausbildung 
eines  neuen  Munddaches,  eines  se- 
kundären Gaumens,  die  in  der 
Weise  erfolgt,  daß  ein  Teil  der  frühe- 
ren Mundhöhle  von  dieser  abgetrennt 
und  der  Nasenhöhle  zugeteilt  wird, 
an  der  er  dann  naturgemäß  nur  den 
der  Atmung  dienenden  Raumab- 
schnitt vergrößern  kann,  da  ihm  ja 
eine  Auskleidung  mit  Riechzellen 
fehlt.  Auf  die  Vorgänge  bei  der  Bil- 
dung des  sekundären  Gaumens  ist 
bei  der  Besprechung  der  Mundhöhle 
genauer  eingegangen;  hier  mag  es 
genügen,  darauf  hinzuweisen,  daß 
durch  dieselbe  die  innere  Nasenöff- 
nung, die  bei  Amphibien  sehr  weit 
vorn,  dicht  hinter  dem  Zwischenkiefer 
liegt,  immer  weiter  nach  hinten  ver- 
lagert wird  (Fig.  53).  Sie  gelangt  dadurch  in  immer  engere  Nachbarschaft 
des  Kehlkopfeinganges,  und  der  Weg  für  die  Ein-  und  Ausatmungsluft  wird 
so  immer  vollständiger  von  der  Mundhöhle  abgetrennt.  Unter  den  Reptilien 
besitzen  die  Krokodile  einen  sekundären  Gaumen,  der  ganz  besonders  weit 
nach  hinten  reicht,  bei  den  Säugern  ist  er  eine  überall  bestehende  Einrichtung, 
doch  dehnt  er  sich  nicht  so  weit  aus  als  bei  den  Krokodilen. 

Mit  dem  Landleben  und  der  daran  geknüpften  Luftatmung  stehen  noch 
andere  Einrichtungen  in  Verbindung,  die  sich  an  der  ursprünglich  so  einfachen 
Riechgrube  ausbilden.  Hierher  gehören  Drüsen,  die  von  den  Amphibien  an 
zu  bleibendem  Besitz  der  Wirbeltiere  werden,  und  deren  leicht  erkennbarer 
Zweck  es  ist,  mit  ihrem  Sekret  die  Riechschleimhaut  vor  Austrocknung  zu 
schützen.  In  Zusammenhang  mit  dem  Auftreten  von  Drüsen  in  der  Umgebung 
des  Auges,  das  ebenfalls  erst  an  die  Aufgabe  des  Wasserlebens  geknüpft  ist, 
bildet  sich  ferner  von  den  Amphibien  an  ein  Tränennasengang,  der,  ur- 


Brust- 
flosse 


Fig.  51.     Kopf  eines  Haifisches,  von  unten  (vgl.  Fig.  57). 


Geruchsorgan 


483 


Siebbeinmuschel 
Kiefermuschel 


F  i  g.  52.     Halbierter  Menschenschädel. 

Aus  LUBOSCH. 


sprünglich  als  eine  Rinnenbildung  der  äußeren  Haut  entstehend,  den  Binde- 
hautsack des  Auges  mit  der  Nasenhöhle  in  Verbindung  setzt  und  das  Sekret 
der  Tränendrüsen  in  die  Nasenhöhle  abführt.  Vor  allem  aber  führen  die 
günstigeren  Bedingungen,  unter  denen  das  Geruchsorgan  bei  den  luftlebenden 
Wirbeltieren  seine  Funktion  ausübt,  zu  einer  immer  weiter  gehenden  Steige- 
rung seiner  Leistungsfähigkeit,  die  bei  den  Säugern  ihren  höchsten  Grad  er- 
reicht. Morphologisch  prägt  sich  das  vor  allem  in  einer  Vergrößerung  der  mit 
Riechzellen  bekleideten  Schleimhautoberfläche  aus,  die  einerseits  durch  Ver- 
größerung der  ganzen  Nasenhöhle,  andererseits  durch  die  Ausbildung  von  Vor- 
sprüngen der  Wandungen  gegen  das  Innere  der  Höhle  erfolgt.  In  der  Ausbil- 
dung solcher  Vorsprünge  gehen  die  Amphibien  noch  vielfach  eigene  Wege, 
während  bei  den  Reptilien,  Vögeln  und  Säu- 
gern größere  grundsätzliche  Übereinstimmung 
herrscht.  Es  kommt  hier  zur  Bildung  von 
Nasenmuscheln,  Schleimhautvorsprüngen, 
die  knorpelige  (bei  den  Säugern  verknöchernde), 
mit  der  Skelettwandung  der  Nasenhöhle  in  Ver- 
bindung stehende  Einlagerungen  erhalten  und 
derÄhnlichkeit  mit  Muschelschalen,  die  sie  beim 
Menschen  tatsächlich  besitzen,  ihren  Namen  ver- 
danken. Bei  den  Reptilien  entsteht  zunächst 
eine  solche  Muschel,  und  zwar  von  der  seit- 
lichen Nasenwand  aus;  sie  vererbt  sich  weiter- 
hin auf  die  Vögel  und  Säuger,  erleidet  aber  bei  den  letzteren  als  ,, untere" 
Muschel  einen  bemerkenswerten  Wechsel  ihrer  Bedeutung.  Denn  während 
sie  bei  den  Reptilien  von  Riechepithel  überzogen  ist,  somit  ganz  besonders 
zur  Vergrößerung  der  Riechschleimhaut  dient,  ziehen  sich  bei  den  Säugern 
die  Riechzellen  aus  ihrem  Bereiche  zurück  und  machen  indifferenten  Zellen 
Platz.  Das  ganze  Organ  gibt  damit  seine  unmittelbare  Beteiligung  an  der 
Riechfunktion  auf  und  gestaltet  sich  dafür  unter  mannigfaltiger  Kompli- 
kation seines  Baues  zu  einem  Verteilungs-,  Filtrier-,  Erwärmungs-  und  Durch- 
feuchtungsapparat  für  die  Atmungsluft  um.  Wird  so  bei  den  Säugern  die  alt- 
ererbte untere  Muschel  der  ursprünghchen  Aufgabe  der  Riechfunktion  ent- 
fremdet, so  wird  dafür  reicher  Ersatz  geschaffen  in  der  Ausbildung  neuer 
,, Muscheln",  die  im  Gebiet  der  Riechgegend  entstehen  und  zu  einer  beträcht- 
lichen Vergrößerung  der  Riechschleimhaut  führen.  Da  die  Skeletteinlagerungen 
dieser  Muscheln  Teile  des  Siebbeins  darstellen,  so  hat  man  sie  als  Siebbein- 
muscheln {Ethmoturbinalia)  bezeichnet,  im  Gegensatz  zu  der  unteren  Muschel, 
die  auch  den  Namen  Kiefermuschel  [Maxilloturhinale)  führt,  weil  die  ihr 
eingelagerte  Knochenplatte  keinen  Zusammenhang  mit  dem  Siebbein  besitzt 
und  dafür  am  Oberkiefer  Befestigung  sucht.  Eine  weitere  Vervollkommnung 
erfährt  dieser  Muschelapparat  vielfach  durch  Ausbildung  mehrerer  wulstiger 
Verdickungen  (Riechwülste)  auf  einer  Muschel  sowie  durch  Entstehung  klei- 
nerer Muscheln,  die  in  den  Zwischenräumen  zwischen  den  großen  ihren  Platz 

31* 


484  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

finden.  Alles  dies  bedeutet  auch  wieder  eine  Vergrößerung  des  riechenden 
Schleimhautgebietes  und  steht  somit  in  einem  Verhältnis  zu  der  Schärfe  des 
Geruchsvermögens,  die  ja  auch  innerhalb  der  Säuger  noch  schwankt.  Bei  sehr 
vielen  Säugern  ist  die  Zahl  der  großen  Siebbeinmuscheln  fünf;  eine  Vermehrung 
zeigen  besonders  Huftiere  und  Zahnarme;  eine  Verminderung  bieten  dagegen 
die  Affen  und  der  Mensch:  der  letztere  besitzt  für  gewöhnlich  nur  zwei,  als 
mittlere  und  obere  Muschel  bezeichnete  Siebbeinmuscheln,  denen  sich  nur  ab 
und  zu  eine  dritte  hinzugesellt.  Noch  weiter  rückgebildet  als  das  Geruchsorgan 
des  Menschen  ist  das  der  Affen,  und  als  völlig  zugrunde  gegangen  muß  es  bei 
manchen  Zahnwalen,  so  beim  Delphin,  angesehen  werden.  Das  Geruchsorgan 
der  Säuger  bietet  so  ein  schönes  Beispiel  für  höchste  Ausbildung  und  Steige- 
rung der  Leistungsfähigkeit,  zugleich  aber  auch  für  das  Wiederzurücksinken  und 
schließlich  den  völligen  Schwund  eines  Organs. 

Am  Geruchsorgan  der  Säuger  sind  endlich  noch  zweierlei  Einrichtungen  be- 
merkenswert: die  Ausbildung  mehr  oder  minder  ausgedehnter  Nebenhöhlen 
der  Nasenhöhlen,  die  in  verschiedene  der  umgebenden  Knochen  einwachsen,  in 
ihrer  funktionellen  Bedeutung  aber  noch  nicht  klar  sind,  sowie  die  Umgestaltung 
des  vordersten  Teiles  des  Nasenskelettes  zu  einer  unter  der  Herrschaft  der  Ge- 
sichtsmuskulatur stehenden  und  so  als  Spür-  und  Schnüffelorgan  dienenden 
,, äußeren  Nase".  Daß  wir  in  ihr  tatsächlich  nicht  eigentlich  eine  Neubildung, 
sondern  eine  Umbildung  des  vordersten  Abschnittes  der  Nasenkapsel  zu  sehen 
haben,  wurde  bereits  in  dem  Abschnitt  über  das  Kopfskelett  auseinandergesetzt. 

Die  Betrachtung  des  Geruchsorgans  kann  schließlich  nicht  vorbeigehen  an 
einer  wenigstens  kurzen  Erwähnung  des  Jacobsonschen  Organs,  einer  Art 
Nebennasenhöhle,  in  deren  Schleimhaut  sich  ebenfalls  typisches  Riechepithel 
findet,  und  deren  Riechfunktion  damit  außer  Zweifel  steht.  Bei  Amphibien 
noch  ein  Teil  der  großen  Haupt-Nasenhöhle,  wird  es  bei  den  Reptilien,  die  es 
besitzen  (den  Schildkröten  und  Krokodilen  fehlt  es  ebenso  wie  den  Vögeln), 
eine  selbständige  kleine  Nasenhöhle,  die  auch  für  sich  in  die  Mundhöhle  ein- 
mündet. In  diesem  Zustand  besitzen  es  auch  die  Säuger,  bei  denen  es  jedoch 
vielfach  rückgebildet  wird.  Auch  beim  Menschen  ist  es  rudimentär.  Seine  be- 
sondere Bedeutung  ist  noch  nicht  ganz  klar,  doch  spricht  manches  dafür,  daß 
es  die  Aufgabe  besitzt,  die  Ausatmungsluft  (also  auch  den  Mundhöhlen- 
inhalt) unter  besondere  Kontrolle  des  Riechorgans  zu  stellen. 

6.  Darm- System.     (Organe  der  Ernährung  und  der  Atmung.) 
6. Darm-System.  Als  zum  Darmsystcm  im  weiteren  Sinne  gehörig  bezeichnet  man  alle  Or- 

Auf|aben.      g^i^c,  die  durch  die  verschiedenen  Abschnitte  des  Darmkanales  selbst  sowie 
durch  Abkömmhnge  derselben  dargestellt  werden.    Funktionell  betrachtet  sind 
das  die  Organe  der  Ernährung  und  der  Atmung.    Grundlage  und  Mutter- 
boden für  sie  ist  somit  der  Darmkanal. 
Darmrohr.  Der  Darmkanal  der  Wirbeltiere  stellt  ein  Rohr  dar,  das  ventral  (bauch- 

^Ei^teiiung,^'  wärts)  vou  dem  Achsenskelett  verläuft  und  zwei  Öffnungen  besitzt,  eine  vordere, 
Abkömmlinge.  Mund,  uud  eiuc  hintere,  After  [Anus).    EntwickelungsgeschichtHch  gehört 


Geruchsorgan.     Darmrohr,  Entwickelung,  Einteilung,  Abkömmhnge  485 

die  wichtigste  am  Aufbau  dieses  Rohres  beteiligte  Schicht,  die  dasselbe  innen 
auskleidende  Zellschicht,  dem  inneren  Keimblatt  an;  nur  das  Mundende  des 
Rohres  wird  eine  Strecke  weit  von  Epithel  ausgekleidet,  das  dem  äußeren  Keim- 
blatt entstammt.  Das  erklärt  sich  durch  die  Art,  wie  das  Darmrohr,  das  anfangs 
vorn  blind  endet,  seine  Verbindung  mit  der  Außenwelt  erlangt  (Fig.  50).  Die- 
sem bhnden  Ende  entgegen  senkt  sich  nämlich  das  äußere  Keimblatt  in  Form 
der  primären  Mundbucht  ein,  bleibt  von  ihm  aber  zunächst  durch  eine  aus 
zwei  Zellblättern  bestehende  dünne  Lamelle,  die  primäre  Rachenhaut, 
getrennt,  und  erst  durch  Schwund  der  letzteren  kommt  die  Vereinigung  des 
Darmlumens  mit  dem  Raum  der  Mundbucht  und  dadurch  mit  der  Außenwelt 
zustande.  Somit  wird  der  vordere  Teil  der  definitiven  Mundhöhle  von 
Epithel  ektodermaler  Natur  ausgekleidet,  und  es  erklärt  sich  dadurch  die  Er- 
scheinung, daß  hier  die  Zähne  entstehen,  d.  h.  Gebilde,  die  ihrer  ganzen  Ent- 
wickelung und  ihrem  Aufbau  nach  durchaus  gleichartig  sind  den  Zähnchen  in 
der  Haut  der  Haie. 

An  dem  hinteren  Ende  des  Darmrohres,  das  anfangs  ebenfalls  blind  endet, 
erfolgt  eine  entsprechende  tiefere  Einsenkung  des  äußeren  Keimblattes  nicht, 
und  so  reicht  hier  das  Gebiet  der  entodermalen  Auskleidung  des  Darm- 
rohres  bis  oder  fast  bis  an  die  Afteröffnung  selbst. 

An  dem  ganzen,  vom  Mund  bis  zum  After  reichenden  Darmrohr  lassen  sich 
vor  allem  zwei  Hauptabschnitte  unterscheiden,  der  Kopfdarm  und  der 
Rumpfdarm.  Der  Kopfdarm  liegt  im  Bereiche  des  Kopfes  und  des  vorder- 
sten Teiles  der  Wirbelsäule  und  erhält  von  dem  Skelett  und  der  Muskulatur 
des  Kopfes  feste  Wandungen;  der  Rumpfdarm  stellt  nur  ein  dünneres  Rohr 
dar,  ohne  solche  festen  Wandungen  und  zum  großen  Teil  innerhalb  der  Leibes- 
höhle gelegen. 

Der  Unterschied  zwischen  den  beiden  Abschnitten  des  Darmrohres  ist  aber 
noch  ein  weitergehender,  ein  funktioneller.  Der  Kopfdarm  dient  einerseits  zur 
Aufnahme  der  Nahrung  und  enthält  meistens  auch  schon  Organe  zur  Zerkleine- 
rung und  Durchfeuchtung,  selbst  zur  Verdauung  der  Nahrung,  bildet  also  den 
Anfang  des  Ernährungssystems,  steht  aber  andererseits  auch  in  Beziehung 
zur  Atmung.  Er  kann  nicht  nur  selbst  Atmungsfunktionen  übernehmen,  son- 
dern von  ihm  geht  auch  die  Bildung  der  hauptsächlichsten  Atmungsorgane, 
Kiemen  und  Lungen,  aus.  Der  Rumpfdarm  dagegen  kann  nur  in  ganz  seltenen 
Fällen  noch  bei  der  Atmung  mithelfen;  fast  immer  ist  er  ausschließhch  Nah- 
rungsrohr. 

Von  beiden  Teilen  des  Darmrohres  geht  die  Bildung  wichtiger  Abkömm- 
linge aus,  die  zum  Teil  sehr  spezielle  Aufgaben  übernehmen  und  damit  eine 
mehr  oder  minder  große  Selbständigkeit  gegenüber  dem  Darmrohr  gewinnen. 
In  höchstem  Maße  ist  das  der  Fall  am  Kopfdarm.    Von  diesem  gehen  aus: 

1.  Die  Rathkesche  Tasche; 

2.  die  Kiemenspalten  und  ihre  Bildungen  (Paukenhöhle,  Thymusdrüse, 
Epithelkörperchen  u.  a.); 

3.  die  luftführenden  Organe  des  Darmrohres:  Schwimmblase  und  Lungen; 


486  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

4.  die  Schilddrüse; 

5.  Zahnbildungen,  Drüsen,  Zunge. 

Von  diesen  erlangen  die  an  den  vier  ersten  Stellen  genannten  Organe  eine 
gewisse  Selbständigkeit  gegenüber  ihrem  Mutterboden,  während  Zähne,  Mund- 
höhlendrüsen und  Zunge  räumhch  und  in  ihren  Funktionen  dem  Kopfdarm 
enger  angeschlossen  bleiben. 

Vom  Rumpfdarm  nehmen  vor  allem  Drüsen  ihre  Entstehung:  die  Leber, 
die  Bauchspeicheldrüse  und  kleine  Drüsen,  die  die  Wandung  des  Darmrohres 
nicht  überschreiten;  an  das  hinterste  Ende  des  Darmrohres  ist  außerdem  noch 
die  Entstehung  der  Blase  und  Harnröhre  geknüpft. 

Im  nachfolgenden  sind  nun  zunächst  das  Darmrohr  selbst  mit  den  ihm 
enger  verbundenen  Abkömmlingen  und  dann  erst  die  zu  mehr  selbständiger 
Bedeutung  gelangenden  Bildungen  desselben  zu  betrachten. 
Kopfdarm.  Das  allgemeine  Verhalten  des  Kopf  darmes,  über  das  wir  uns  zuerst  kurz 

^Ij^^^'l^^^g  unterrichten  müssen,  bietet  bei  den  einzelnen  Wirbeltieren  mancherlei  Ver- 
schiedenheiten dar.  Beim  Amphioxus  (Fig.  9),  wo  ein  eigentlicher  Kopf  fehlt, 
kann  man  die  ihm  entsprechende  Darmstrecke  immerhin  einigermaßen  be- 
stimmen und  soweit  rechnen,  als  Kiemenspalten  vorhanden  sind.  Es  ergibt 
sich  so  als  Kopf-  oder  Kiemendarm  ein  recht  ausgedehnter  Darmabschnitt,  von 
dem  vorn  durch  eine  ringförmige  Falte  ein  Vorraum  abgetrennt  ist.  In  diesen 
führt  die  von  einem  Halbkreis  von  ,, Girren",  stabähnlichen  Fortsätzen,  um- 
gebene Mundöffnung  hinein.  In  ähnlicher  Weise  beginnt  auch  bei  den  Rund- 
mäulern der  Kopfdarm  mit  einem  kleinen  Vorraum,  in  dessen  Grunde  sich  der 
durch  die  Kiemenspalten  ausgezeichnete  Abschnitt  des  Rohres  anschließt.  Das 
runde  Saugmaul  wird  hier  durch  besondere  Knorpel  gestützt.  Demgegenüber 
besitzen  alle  übrigen  Schädeltiere  als  Kiefermäuler  einen  Kopfdarm,  dessen 
quer  spaltförmiger  Eingang  zwischen  einem  dem  Oberschädel  angeschlossenen 
Ober-  und  einem  herunterklappbaren  Unterkiefer  liegt.  Auf  beiden  können  sich 
die  zum  Ergreifen,  Festhalten,  Zerkleinern  der  Nahrung  dienenden  Zähne 
bilden.  Nicht  selten  wird  freilich  vor  diesem  Kiefereingang  des  Kopfdarmes 
noch  ein  anderer  vorgeschobener  Eingang  durch  Li  p  p  e  n ,  d.  h.  Falten  der  Haut, 
gebildet,  die  einen  vor  den  Kiefern  gelegenen  Vorraum  der  Mundhöhle  ab- 
schheßen.  Solche  lippenartigen  Hautfalten  sind  schon  bei  Fischen  verbreitet 
und  kommen  in  verschiedener  Ausbildung  auch  manchen  Amphibien  und  Rep- 
tilien zu,  unter  den  letzteren  namentlich  bei  Echsen  und  Schlangen  durch  die  Ein- 
lagerung von  Drüsen  (die  Giftdrüse  der  Giftschlangen  ist  eine  Oberlippendrüse) 
zu  größerer  Bedeutung  gelangend.  Wo  die  Kiefer  von  hornigen  Schnabel- 
scheiden überzogen  werden,  wie  bei  Schildkröten  und  Vögeln,  fehlen  Lippen 
gänzlich.  Dasselbe  ist  demnach  auch  bei  Kloakentieren  der  Fall,  die  ja  auch 
mit  Hornkiefern  versehen  sind,  während  bei  den  übrigen  Säugern  die  Lippen 
gerade  eine  besonders  starke  Entfaltung  erfahren  und,  von  der  in  das  Gesicht 
einwandernden  Gesichtsmuskulatur  eingenommen,  zu  beweglichen  und  bei  der 
Nahrungsaufnahme  mannigfache  Verwendung  findenden  Organe  werden.  Ganz 
gewöhnlich  ist  die  von  ihnen  begrenzte  Mundspalte  kleiner  als  der  Kieferein- 


A 


Innere  Nasenöffnunc,     i<-^^^nenspalten 


Äußere  Nasen- 
öffnung 


^äüä^ 


B 


Lunge 
Sekundäre  Choane 


Sekundärer  Gaumen 


Abkömmlinge  des  Darmrohres.     Kopfdarm.    Allgemeine  Einrichtung  487 

gang  der  Mundhöhle,  da  sie  seitlich  durch  „Backen"  ineinander  übergehen,  die 
die  seitlichen  Abschnitte  des  Vorraumes  der  Mundhöhle  vollständiger  nach 
außen  abschließen  und 
unter    Ausbildung    be-  G^ruchsgruhe 

sonderer  Ausbuchtun- 
gen, Backentaschen,bei 
manchen  Nagern  und 
Affen,  zu  Vorratskam- 
mern für  die  Nahrung 
werden  können. 

Der  Innenraum  des 
Kopf  darmes  ist  als ,, pri- 
märe Mundhöhle"  bei 
den  Fischen  noch  ein- 
heitlich; sein  hinterer 
Abschnittstellt  sich  nur 
dadurch  in  einen  ge- 
wissen Gegensatz  zu  .. 
dem  vorderen,  daß  seine 
Seitenwände    von   den  Äußere 

Kiemenspalten    durch-  ^J'^^*^' 

Öffnung 

setzt  werden  (Fig.  53). 
Auf  dem  gleichen  Zu- 
stand einer  primären 
Mundhöhle  verharrt 
die  Kopfdarmhöhle 
auch  noch  bei  den  Am- 
phibien, nachdem  die 
Kiemenspalten  ver- 
schwunden, und  an 
ihrer  Stelle  vom  hin- 
tersten Teil  des  Kopf- 
darmes aus  die  Lungen 
entstanden  sind.  Und 
doch  bieten  die  Amphi- 
bien bereits  gegenüber 
den  Fischen  eine  wich- 
tige neue  Einrichtung, 

die    den  Anstoß    zu  Wei-      ^^S*S3*   SchematischeDarstellungdesKopfdarinesderFische(^),  Amphibien  (ä), 

Säuger  (D).     Nach  Wiedeksheim.    Fig.  C  ist   hinzugefügt,   um    die  Bildung    des 

teren        Umwandlungen       sekundären  Gaumens  verständlich  zu  machen,  unter  Zugrundelegung  der  Verhält- 

,       .,  .  ^.  nisse  bei  Krokodilen.  Nahrungs-  und  Atraungsweg  sind  durch  Pfeile  bezeichnet. 

abgibt:     die     Kinmün- 

dung  der  Nasenhöhlen  in  die  primäre  Mundhöhle,  die  weit  vorn,  dicht  hinter 
dem  Zwischenkiefer,  also  in  kurzer  Entfernung  von  der  Mundspitze,  erfolgt. 
Dieses  Eintreten   der   Nasenhöhle   in   die  Verwendung   als   Luftweg   für   die 


Schädelbasis 


Rachen 


Unterlipp 

Kehldeckel 
Luftröh 


Speiseröhre 


^88  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Lungenatmung  führt  schon  innerhalb  der  Reptilien  zu  einer  als  bedeutender 
Fortschritt  aufzufassenden  neuen  Einrichtung:  der  schon  mehrfach  erwähnten 
Entstehung  eines  neuen  Mundhöhlendaches,  eines  sekundären  Gaumens. 
Wenn  wir  von  den  allerlei  mehr  unvollkommenen  Ansätzen  in  dieser  Richtung 
bei  den  verschiedenen  Gruppen  der  Reptilien  absehen,  so  finden  wir  besonders 
bei  den  Krokodilen  einen  solchen  sekundären  Gaumen  in  höchster  Ausbildung. 
Er  stellt,  wie  die  Fig.  53  schematisch  zeigt,  ein  Dach  dar,  das  in  kurzer  Ent- 
fernung unterhalb  des  ursprünglichen  (primären),  von  der  Schädelbasis  ge- 
bildeten Munddaches  in  der  Art  angebracht  ist,  daß  es  sich  vorn  an  den  vorderen 
Begrenzungsrand  der  primären  inneren  Nasenöffnung  anschließt,  hinten  aber 
mit  freiem  Rande  endigt.  Der  über  ihm  gelegene  niedrige  Raum  setzt  somit  die 
Nasenhöhle  nach  hinten  fort,  um  über  dem  freien  Rande  der  Gaumenplatte 
mit  der  sekundären  Nasenöffnung  oder  sekundären  Choane  in  den  hintersten 
Teil  der  Mundhöhle  zu  münden.  Jener  niedrige,  über  dem  sekundären  Gaumen 
gelegene  Raum  wird  als  Nasenrachengang  bezeichnet,  er  stellt  einen  von  der 
ursprünglichen  Mundhöhle  abgetrennten  und  der  Nasenhöhle  zugeschlagenen 
Raum  dar;  die  Mundhöhle  selbst  ist  dadurch  zu  einer  sekundären  Mund- 
höhle geworden.  Die  Zweckmäßigkeit  dieser  Einrichtung  ist  klar:  es  wird  da- 
durch der  Luftstrom  über  der  Mundhöhle  und  unabhängig  von  derselben  bis  in 
die  nächste  Nähe  des  Kehlkopfeinganges  geleitet.  In  seiner  größten  Länge  wird 
dieser  sekundäre  Gaumen  bei  den  Krokodilen  durch  von  der  Seite  her  gegen 
die  Mittellinie  vorspringende  und  hier  zur  Vereinigung  kommende  Gaumen- 
platten der  beiderseitigen  Oberkiefer-,  Gaumen-  und  Flügelbeine  gestützt,  nur 
hinten  schließt  sich  an  den  freien  Rand  dieses  harten  Gaumens  noch  ein 
häutiger  Abschnitt  als  weicher  Gaumen  (Gaumensegel)  an,  der  den  Abschluß 
der  Mundhöhle  gegen  den  Luftweg  vervollständigt. 

Auch  bei  den  Säugern  bildet  sich  in  der  angegebenen  Weise  ein  sekundärer 
Gaumen,  nur  reicht  derselbe  nicht  so  weit  nach  hinten,  da  an  seiner  Bildung 
fast  stets  nur  die  Oberkiefer-  und  Gaumenbeine  beteiligt  sind.  Auch  hier  erfährt 
der  harte  Gaumen  eine  Ergänzung  durch  einen  weichen  Gaumen,  in  dessen  Bil- 
dung auch  Muskeln  eingehen.  Durch  die  Gaumenbildung  wird  auch  bei  den 
Säugern  von  dem  vorderen  Abschnitt  der  Kopfdarmhöhle  der  Nasenrachen- 
gang abgetrennt,  und  die  Mundhöhle  erhält  so  den  Charakter  einer  sekun- 
dären Mundhöhle;  dagegen  bleibt  der  hintere  Abschnitt  der  Kopf  darmhöhle, 
in  den  der  sekundäre  Gaumen  nicht  hineinreicht,  ungeteilt:  er  wird  als  Rachen 
bezeichnet.  Von  ihm  nehmen  embryonal  die  Kiementaschen  und  die  Lunge 
ihren  Ursprung. 
Zahnbiidungen.  Von  den  Gebilden,   die  dauernd  an  die  Mundhöhle,   mag  dieselbe  eine 

,, primäre"  oder  eine  ,, sekundäre"  sein,  geknüpft  bleiben,  sind  zunächst  die  zu 
nennen,  die,  aus  Hartsubstanzen  gebildet,  zum  Ergreifen  und  Zerkleinern  der 
Nahrung  dienen,  die  Zahnbildungen  im  weitesten  Sinne.  Hierher  gehören 
Hornzähne,  die  sich  in  der  Mundhöhle  der  Rundmäuler  und,  in  anderer  Form, 
auch  bei  den  Larven  der  ungeschwänzten  Amphibien  finden,  zahnähnliche  Bil- 
dungen, an  deren  Herstellung  das  Epithel  den  Hauptanteil  hat,  vor  allem  aber 


Kopfdarm,  allgemeine  Einrichtung.     Zahnbildungen 


489 


Schmelz 
-Zahnbein 


Epithel 
Kiefers 


ZaJin- 
letste  mit 
Ersatz- 
zähnen 


die  echten  oder  Dentin-Zähne.  Sie  setzen  sich  aus  genau  den  gleichen  Sub- 
stanzen (Schmelz,  Dentin,  Zement)  zusammen,  die  auch  die  kleinen  Haut- 
zähnchen  der  Haifische  aufbauen,  und  sind  nur  durch  die  Größe  von  diesen 
verschieden;  ihr  Auftreten  in  der  Mundhöhle  erklärt  sich  durch  die  oben  ge- 
würdigte Tatsache,  daß  die  Schleimhaut,  die  den  vorderen  Teil  der  Mundhöhle 
auskleidet,  aus  eingestülpter  äußerer  Haut  hervorgeht.  Wie  bei  der  Bildung 
der  Hautzähne,  so  sind  auch  bei  der  der  Mundhöhlenzähne  das  Epithel  und 
das  darunter  gelegene  Bindegewebe  beteiligt:  ersteres,  indem  es  die  den  Zahn 
bekleidende  Schmelzkappe  bildet,  letzteres,  indem  es  den  Dentinkegel 
entstehen  läßt,  der  dem  gan- 
zenZahnzugrundeliegt,  ferner 
das  Zement,  das  in  wechseln- 
der Anordnung  an  der  Her- 
stellung der  Basis  des  Zahnes 
beteiligt  ist,  und  endlich  das 
die  Zahnhöhle  erfüllende 
weiche  Gewebe,  diegefäß-und 
nervenreiche  Zahnpulpa. 
Der  Anstoß  zu  der  Bildung 
der  Zähne  geht  auch  hier  vom 
Epithel  aus:  dieses  wuchert 
in  Form  einer  Leiste  (Zahn- 
leiste) in  das  unterliegende 
Bindegewebe  und  erzeugt  an 
dieser  dann  durch  weitere 
Wucherung  einzelne  kappen- 
förmige  Gebilde,  Schmelz- 
organe, die  aus  dem  unterliegenden  Bindegewebe  eine  den  Innenraum  der 
Kappe  erfüllende  Zahnpapille  herausmodellieren  (Fig.  54).  Schmelzorgan  und 
Zahnpapille  bilden  zusammen  die  Zahnanlage;  die  innersten  Epithelzellen  des 
ersteren  scheiden  weiterhin  auf  ihrer  Innenfläche  den  Schmelz,  die  oberflächlichen 
Bindegewebszellen  der  Papille  das  Dentin  ab.  Das  umgebende  Bindegewebe 
läßt  das  Zement  entstehen.  Stets  produziert  die  Zahnleiste  die  Anlagen  für 
mehrere  Generationen  von  Zähnen;  am  Kiefer  entsteht  die  erste  Generation 
über  dem  Kiefer  selbst,  die  anderen  nach  innen  davon. 

Zähne  von  dem  geschilderten  Bau  finden  sich  von  den  kiefermäuligen 
Fischen  an  bis  zu  den  Säugern  in  mannigfacher  eigenartiger  Ausbildung;  wo 
sie  fehlen,  da  läßt  sich  mit  Sicherheit  schließen,  daß  sie  rückgebildet  wurden. 
Es  ist  das  der  Fall  bei  Schildkröten,  Vögeln  und  manchen  Säugern;  eine  Horn- 
bekleidung  des  Kiefers  schafft  dabei  vielfach  einen  funktionellen  Ersatz  für  den 
Zahnmangel.  Die  Besonderheiten  des  Gebisses  innerhalb  der  einzelnen 
Klassen  betreffen  vor  allem  die  Verteilung  der  Zähne,  ihre  Form  und  die  Art 
ihres  Ersatzes.  Vorzügliche  Ausgangszustände  bieten  die  Haie  dar.  Die  Zähne 
sitzen  hier  ziemlich  lose  in  der  Mundschleimhaut,  und  zwar  als  sehr  kleine  Ge- 


KieferknocJi  en 


Fig.  54.     Triton    cristatus,   Querschnitt   durch    die  vordere  Hälfte  des 
Unterkiefers.      Funktionierender   Zahn,    Zahnleiste    mit    Ersatzzähnen. 

Nach  C.  RöSE. 


AQQ  Ernst  Gaüpp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

bilde  in  der  ganzen  Mundhöhle  bis  zum  Eingang  der  Speiseröhre,  und  als  große 
kräftige  Kieferzähne  auf  den  Knorpelbogen,  die  den  Mundeingang  begrenzen, 
dem  Palatoquadratum  und  dem  primordialen  Unterkiefer  (Fig.  20).  Stets 
finden  sich  hier  bereits  mehrere  Generationen  von  Zähnen,  und  zwar  so  zuein- 
ander angeordnet,  daß  nur  die  im  Gebrauch  befindliche  Zahnreihe  aufgerichtet 
ist,  während  die  nach  innen  davon  in  mehreren  Reihen  liegenden  Ersatzzähne 
noch  ihre  Spitzen  nach  abwärts  kehren,  um  sich  erst  aufzurichten,  wenn  ihre 
Vordermänner  verbraucht  und  ausgefallen  sind.  Innen  von  den  jüngsten  Er- 
satzzähnen wuchert  die  Zahnleiste  weiter  und  sichert  den  fortdauernden  Zahn- 
ersatz während  des  ganzen  Lebens  durch  Erzeugung  immer  neuer  Zähne  (un- 
begrenzter Zahnwechsel,  Polyphyodontie).  Die  Einzelzähne  sind  untereinander 
gleich  (,,Homodontie",  Gleichartigkeit  des  Gebisses),  haben  aber  bei  den  ein- 
zelnen Arten  recht  verschiedene  Formen,  von  spitzen  und  schneidenden  lanzett- 
förmigen Gebilden  bis  zu  rundlichen  Höckern  oder  breiten  Platten,  die  bei 
Rochen  zum  Zermalmen  der  Muschelschalen  dienen  müssen. 

Der  wichtigste  Fortschritt,  den  die  übrigen  Fische  gegenüber  den  Haien 
zeigen,  liegt  darin,  daß  die  Zähne  in  den  meisten  Fällen  nicht  mehr  lose  in  der 
Schleimhaut  stecken,  sondern  in  größerer  Anzahl  auf  knöchernen  Platten  auf- 
gewachsen sind.  Schon  bei  Betrachtung  des  Kopfskelettes  wurde  das  dahin 
gedeutet,  daß  einzelne  Gruppen  von  Zähnen  mit  ihren  basalen  Zement- 
Abschnitten  untereinander  zu  zahntragenden  Knochen  verwachsen  sind.  Durch 
die  Verbreitung  der  Zähne  bei  den  Haien  erklärt  es  sich,  daß  bei  den  höheren 
Fischen  solche  zahntragende  Knochen  nicht  nur  an  den  Kieferrändern,  sondern 
auch  in  der  Tiefe  der  Mundhöhle,  selbst  auf  den  Kiemenbogen,  vorkommen. 
Freilich  zeigen  die  Schmelzschupper,  Knochenfische  und  Doppelatmer,  und 
unter  diesen  drei  großen  Gruppen  wieder  die  kleineren  Untergruppen  und 
Arten  eine  sehr  große,  zu  der  Art  der  Nahrung  mancherlei  Beziehungen  bietende 
Mannigfaltigkeit  in  der  Verteilung  der  Zähne  und  der  Form  des  Einzelzahnes: 
nicht  alle  Mundhöhlenknochen,  die  in  ihrer  ersten  Entstehung  auf  Verwach- 
sung von  Zähnen  zurückgeführt  werden,  behalten  dieselben  bei  allen  Formen 
bei;  vielfach  gehen  die  Zähne  verloren,  während  die  Knochen  als  zahnlose 
Platten  erhalten  bleiben.  Mit  fortdauerndem  Zahnersatz  darf  wenigstens  bei 
Schmelzschuppern  und  Knochenfischen  gerechnet  werden.  Das  gleiche  gilt 
auch  für  die  Amphibien  und  die  meisten  Reptilien,  bei  denen  im  übrigen  die 
Zähne  in  der  Tiefe  der  Mundhöhle  immer  mehr  schwinden,  und  somit  allein  die 
auf  den  Knochen  des  Mundrandes  übrig  bleiben:  auf  dem  Zwischen-  und  Ober- 
kiefer im  Gebiet  des  oberen,  auf  dem  Dentale  und  manchmal  auf  dem  Spleniale 
in  dem  des  unteren  Mundrandes.  Doch  erreichen  auch  unter  den  Reptihen  die 
auf  dem  Gaumen-  und  dem  Flügelbein  sitzenden  Zähne  noch  einmal  eine 
größere  Bedeutung  bei  den  Schlangen,  bei  denen  außerdem  ein  Oberkieferzahn 
als  Giftzahn  Verwendung  finden  und  zu  diesem  Zweck  mit  einem  besonderen 
Giftkanal  versehen  werden  kann.  Völligen  Schwund  auch  der  Kieferzähne 
zeigen  die  Schildkröten;  beim  Frosch  fehlen  die  Zähne  des  Unterkiefers,  wäh- 
rend die  des  Oberkiefers  als  sehr  kleine  Gebilde  erhalten  bleiben.   Bei  allen  hier 


Zähne  ^q  j 

nicht  zu  verfolgenden  Verschiedenheiten  in  der  Verteilung  der  Zähne  bietet 
doch  das  Gebiß  der  Amphibien,  Brückenechsen,  Echsen  und  Schlangen  noch 
ein  gemeinsames  Merkmal:  die  Einzelzähne  sind  mit  den  Knochen,  auf  denen 
sie  sich  finden,  ähnlich  wie  bei  den  Knochenfischen,  verwachsen.   Eine  wichtige 
Neuerung    zeigen   die    Krokodile:    die    kegelförmigen  Zähne  stecken    hier   in 
Fächern  (Alveolen)   des  Ober-  und  Unterkiefers.    Diese  Einrichtung  ist  zur 
Regel  geworden  bei  den  Säugern  und  führt  zur  schärferen  Scheidung  einer  in 
die  Alveole  eingesenkten  Zahnwurzel,  in  der  die  Zahnhöhle  auf  einen  sehr 
feinen  Kanal  verengt  wird,  gegenüber  der  frei  hervorstehenden  Krone,  einer 
Scheidung,  durch  die  der  Einzelzahn  auf  eine  höhere  Stufe  der  Ausbildung  und 
damit  zu  längerer  Lebensdauer  gelangt.    Dementsprechend  kommt  jetzt  die 
Einrichtung  des  unbegrenzten  Zahnersatzes,  die  von  den  Haien  an  bestand,  in 
Wegfall;  die  Zahnleiste  wird  nur  noch  zur  Erzeugung  weniger  Zahngenerationen 
in  Anspruch  genommen.   Bei  weitaus  den  meisten  Säugern  kommen  deren  zwei 
zur  Ausbildung  und  Funktion,  das  auf  die  Jugend  beschränkte  Milchgebiß  und 
das,  von  einem  gewissen  Alter  an,  an  seine  Stelle  tretende,  bleibende  Gebiß. 
Doch  zeigen  sich  hier  und  da,  und  auch  beim  Menschen  noch  Andeutungen 
zweier  weiterer  Zahngenerationen  (,, Dentitionen"),  einer,  die  dem  Milchgebiß 
vorhergeht,  und  einer,  die  dem  bleibenden  Gebiß  folgt.    Andererseits  kommt 
auch  noch  eine  weitere  Reduktion  auf  nur  eine  Zahngeneration  vor,  sei  es  da- 
durch, daß  die  Milchzähne  schon  embryonal  wieder  schwinden,  und  somit  nur 
die  Ersatzzähne  zur  Ausbildung  gelangen,  sei  es  dadurch,  daß  die  Milchzähne 
das  ganze  Leben  bestehen  bleiben.  Übrigens  nimmt  bei  manchen  Säugerzähnen 
der  in  die  Alveole  versenkte  Abschnitt  nicht  den  Charakter  einer  Wurzel  an, 
sondern  behält  seinen  weiten  Zahnkanal  bei,  ein  Zustand,  der  ein  fortwähren- 
des Wachstum  des  Zahnes  unterhält.    Solche  wurzellosen  immerwachsenden 
Zähne  sind  z.  B.  die  Nagezähne  der  Nager,  bei  denen  so  fortwährend  das  er- 
setzt wird,  was  an  der  freien  Kante  des  Zahnes  abgenutzt  wird. 

Gewiß  eine  der  bemerkenswertesten  Besonderheiten  des  Säugergebisses  ist 
aber  die  Verschiedenheit  in  den  Formen  der  Einzelzähne.  Von  den  Delphinen 
abgesehen,  bei  denen  alle  Zähne  ähnlich  denen  der  Reptilien  kegelförmig  ge- 
staltet sind,  finden  wir  bei  den  Säugern  ganz  regelmäßig  eine  Scheidung  in 
meißeiförmige  Schneide-,  kegelförmige  Eck-  und  mit  Höckern  versehene  kleine 
und  große  Backzähne,  denen  allen  bei  der  Nahrungsbewältigung  verschiedene 
Aufgaben  zufallen.  Denn  während  bei  den  niederen  Wirbeltieren,  wenigstens 
den  lebenden  unter  ihnen,  die  spitzen  Zähne  in  erster  Linie  zum  Ergreifen 
und  Festhalten  der  .Beute  dienen,  diese  dann  aber  gewöhnlich  unzer- 
kleinert  heruntergeschluckt  wird,  findet  bei  den  Säugern  eine  weitgehende  Zer- 
kleinerung der  Nahrung,  ein  Kauakt,  in  der  Mundhöhle  statt,  bei  dem  sich  die 
verschieden  gestalteten  Zähne  in  die  einzelnen  besonderen  Aufgaben  —  Fest- 
halten, Zerschneiden,  Zermalmen  —  teilen.  Den  kleinen  und  großen  Back- 
zähnen —  die  unter  sich  durch  ihre  eigene  Größe  sowie  durch  die  Größe  und  die 
Zahl  ihrer  Höcker  und  Wurzeln  unterschieden  sind  —  fällt  dabei  das  eigent- 
liche Zermalmen  der  Nahrung  zu,  eine  Aufgabe,  für  die  sie  eben  durch  die 


^Q2  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Höckerbildungen  ihrer  Kronen  eingerichtet  sind.  Diese  Höcker  zeigen  recht 
verschiedene  Formen:  von  niedrigen  Hügeln,  schneidenden  Kanten,  quer-  oder 
längsgestellten  Jochen  — Verschiedenheiten,  die  zu  der  Art  der  Nahrung  in  Be- 
ziehung stehen.  Morphologisch  sind  alle  die  verschiedenen  Formen  der  Back- 
zähne wohl  von  solchen  mit  stumpfen  niedrigen  Hügeln  abzuleiten,  wie  sie  bei 
den  ausgestorbenen  Säugern  des  Tertiär  weit  verbreitet  waren. 

Für  die  Feststellung  des  verwandtschaftlichen  Zusammenhanges  der  For- 
men spielt  gerade  bei  den  Säugern  das  Gebiß  eine  sehr  große  Rolle,  wobei  neben 
der  Form  der  Backzähne  besonders  die  Zahl  der  in  den  einzelnen  Zahnkatego- 
rien vorhandenen  Einzelzähne  die  größte  Bedeutung  besitzt.  Die  jetzt  lebenden 
Säuger  bieten  in  ihren  Zahnformeln,  die  jenes  Zahlenverhältnis  zum  Aus- 
druck bringen,  viele  Verschiedenheiten,  doch  hat  sich  gezeigt,  daß  für  eine  sehr 
große  Zahl  von  ihnen  Formen  mit  der  Zahnformel  ^  =  44  den  Ausgang  ab- 
gegeben haben.  (Die  Formel,  die  jetzt  noch  für  Tapire,  Schweine  und  manche 
Insektenfresser  gilt,  bedeutet,  daß  im  Ober-  wie  im  Unterkiefer  auf  jeder  Seite 
3  Schneidezähne,  i  Eckzahn,  4  kleine  und  3  große  Backzähne,  im  ganzen  somit 
44  Zähne  vorhanden  sind.)  Bei  manchen  Beutlern  ist  die  Zahl  der  Zähne  noch 
größer,  die  meisten  lebenden  Placentaltiere  haben  dagegen  reduzierte  Ge- 
bisse, so  der  Mensch  i~  =  32),  die  Wiederkäuer  (^  =  32;  im  Oberkiefer 
fehlen  die  Schneidezähne  und  der  Eckzahn),  der  Biber  (^  =  20;  es  sind  nur 
je  ein  Schneidezahn  und  4  Backzähne  vorhanden).  Vollständiger  Mangel  der 
Zähne  kommt  unter  den  Säugern  bei  den  Kloakentieren  sowie  beim  Ameisen- 
fresser und  Schuppentier  vor. 

Zunge.  Eine  gleich  große  Bedeutung  in  stammesgeschichtlicher  Bedeutung  wie 

den  Zähnen  kommt  dem  nächsten  Organ  der  Mundhöhle,  der  Zunge,  nicht  zu; 
für  das  Tier  selbst  steht  sie  aber  an  Wichtigkeit  hinter  den  Zähnen  nicht  zurück. 
Ursprünglich  erscheint  sie  als  eine  Faltenbildung  der  Schleimhaut  am  Boden 
der  Mundhöhle,  die  eng  an  die  hier  gelegenen  Skeletteile  geknüpft  ist  und  nur 
in  Zusammenhang  mit  diesen  bewegt  werden  kann.  In  dieser  Form  erreicht 
sie  bei  den  Rundmäulern,  wo  sie  mit  Hornzähnen  besetzt  ist,  eine  hohe  Aus- 
bildung und  findet  beim  Ansaugen  des  Neunauges  wie  ein  Spritzenkolben, 
beim  Schleimfisch  auch  zum  Bohren  Verwendung.  Bei  den  kiefermäuligen 
Fischen  wird  sie  durch  den  Schleimhautüberzug  über  dem  unpaaren  Skeletteil 
des  Zungenbeinbogens  dargestellt,  und  trägt  nicht  selten  sogar  Zähne.  Zu 
höherer  selbständiger  Bedeutung  gelangt  sie  erst  von  den  Amphibien  an,  ein- 
mal durch  die  Entwickelung  reichlicher  Drüsen,  andererseits  durch  das  Ein- 
wandern von  Muskeln  in  sie,  durch  die  Entstehung  einer  Eigenmuskulatur,  die 
ihr  auch  eine  eigene,  von  dem  Visceralskelett  unabhängige  Beweglichkeit  ver- 
schafft. Bei  den  langschwänzigen  Amphibien  bleibt  sie  freihch  noch  wie  bei 
den  Fischen  eng  an  das  Visceralskelett  geknüpft,  und  selbst  beim  Spelerpes, 
einem  kleinen  Molch,  der  seine  Zunge  zum  Insektenfang  sehr  weit  aus  dem 
Maule  herausschießen  lassen  kann,  ist  dies  nur  dadurch  möglich,  daß  ein  Teil 
des  Zungenbeinskelettes   mit  herausschießt;   aber  bei   den   Fröschen  ist   die 


Zähne.     Zunge.    Gaumenleisten.     Mundhöhlendrüsen  ^gi 

Emanzipation  der  Zunge  vom  Zungenbeinskelett  vollständig  geworden,  und 
die  erstere  führt  ihre  fliegenklappenartigen  Bewegungen  lediglich  durch  die  ihr 
eigene  Muskulatur  aus,  und  zwar  um  die  Spitze  des  Unterkiefers  herum,  an  der 
sie  mit  ihrer  eigenen  Spitze  angewachsen  ist.  Die  Reptihen  besitzen  die  Zunge 
in  mannigfacher  Ausbildung,  bald  als  dickere  wenig  bewegliche  Schleimhaut- 
falte, bald  als  dünnes  schlankes,  lebhafter  Bewegung  fähiges  Organ,  dessen 
,, züngelnde"  Bewegungen  bei  den  Schlangen  auf  seine  Bedeutung  als  Tastorgan 
hinweisen.  Das  Höchstmögliche  in  bezug  auf  Beweghchkeit  wird  aber  doch 
von  der  Zunge  des  Chamäleon  erreicht,  die  durch  einen  sehr  kunstvollen  Mecha- 
nismus blitzschnell  weit  aus  dem  Maul  herausschießen  kann,  um  mit  ihrer 
drüsenreichen  Spitze  die  Beute  zu  erhaschen.  Im  Gegensatz  dazu  ist  die  Zunge 
der  Vögel  wieder,  abgesehen  von  der  der  Papageien,  nur  wenig  beweghch,  und 
wo  sie,  wie  bei  Spechten,  weit  aus  dem  Schnabel  herausgesteckt  werden  kann, 
da  geschieht  dies  unter  Beteiligung  des  Zungenbeinapparates.  Im  übrigen  zeigt 
gerade  die  Vogelzunge  eine  große  Mannigfaltigkeit  der  äußeren  Gestaltung; 
manchmal  lang  und  spitz,  wie  bei  Spechten  und  Kolibris,  ist  sie  in  anderen 
Fällen  breit  und  dick,  wie  bei  Wasservögeln.  Hornbildungen,  in  Form  eines 
ausgedehnten  Hornüberzuges  oder  horniger  Papillen,  spielen  auf  der  Vogel- 
zunge eine  sehr  große  Rolle.  Eine  sehr  hohe  Ausbildung  erlangt  endlich  die 
Zunge  bei  den  Säugetieren,  wo  sie  unter  Entwickelung  einer  reichen  Musku- 
latur zu  einem  voluminösen  und  beweglichen  Organ  wird,  das  in  verschiedener 
Weise  bei  der  Nahrungsgewinnung  und  -bewältigung  mit  tätig  ist,  zugleich 
aber  durch  Ausbildung  von  Geschmacksknospen  auf  ihrer  Oberfläche  zu  dem 
wichtigsten  Geschmacksorgan  wird.  Doch  fehlen  auch  der  Zunge  der  Säuger 
die  Hornbildungen  nicht,  namentlich  finden  sie  sich  bei  Formen,  bei  denen  die 
Eigenheit  der  Nahrung  einen  Schutz  der  Zungenschleimhaut  gegen  Verletzun- 
gen (z.  B.  durch  zerbissene  Knochen,  durch  schneidende  Gräser)  erheischt. 

In  funktioneller  Hinsicht  bietet  gerade  die  Zunge  das  allergrößte  Interesse, 
ihre  Verwendung  beim  Fangen,  Erhaschen,  Bewältigen,  Herunterschlucken  der 
Nahrung,  als  Tastorgan,  Geschmacksorgan  und  schließlich  im  Dienste  der 
menschhchen  Sprache  zeigt  eine  Vielseitigkeit  der  Anpassungsfähigkeit,  die 
kaum  von  einem  anderen  Organ  erreicht  wird,  und  macht  sie  zugleich  für  viele 
Formen  zu  einem  für  die  Erhaltung  des  Lebens  sehr  wichtigen  Gebilde. 

Im  Anschluß  an  die  Zunge  verdienen  die  queren  Gaumenleisten  Be- Gaumenleisten, 
achtung,  die  auf  dem  harten  Gaumen  der  Säuger  vorhanden  sind  und  die  Tätig- 
keit der  gegen  den  Gaumen  arbeitenden  Zunge  bei  der  Bewältigung  der  Nahrung 
wirksam  unterstützen;  aus  ihnen  gehen  bei  den  Bartenwalen  mächtige  quere 
Hornplatten  hervor,  die  Barten,  die  vom  Gaumen  in  die  Mundhöhle  herunter- 
hängen und  an  ihrem  freien  Rande  sich  in  Hornfäden  auflösen,  so  mit  der  Zunge 
einen  Siebapparat  bildend,  durch  den  kleine  mit  dem  Wasser  aufgenommene 
Tiere  zurückgehalten  werden.    Das  Hörn  ist  ein  Erzeugnis  des  Epithels. 

EndHch  ist  dann  noch  kurz  der  Mundhöhlendrüsen  zu  gedenken,  die  MandhüUen- 
von  der  Aufgabe  des  Wasserlebens,  also  von  den  Amphibien  an  auftreten,  auf 
den  Zungen,  den  Lippen,  Backen,  dem  Munddach  und  Mundboden  ihren  Sitz 


drüsen. 


494 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Rumpfdarm. 
Allgemeines. 


haben  können  und  nicht  nur  der  Durchfeuchtung  der  Nahrung  dienen,  sondern 
auch  chemisch  wirksame  Stoffe  produzieren,  wie  den  Speichel,  oder  das  Gift  der 
Giftschlangen,  das,  einer  Oberlippendrüse  entstammend,  durch  den  Drüsen- 
gang in  den  Giftzahn  geleitet  wird. 

Der  Betrachtung  des  Kopfdarmes 
schließen  wir  hier  zunächst  die  des  Rumpf- 
darmes  an,  an  dem  ganz  allgemein  drei 
Abschnitte,  als  Vorderdarm,  Mittel-  oder 
Dünndarm,  End-  oder  Dickdarm  unter- 
scheidbar sind.  Der  Vorderdarm  gliedert 
sich  noch  in  Speiseröhre  und  Magen.  Der 
gesamte  Rumpfdarm  stellt  ein  Rohr  mit 
nicht  sehr  dicker  Wandung  dar,  dessen 
innerste,  zellige  Schicht,  das  Epithel,  dem 
Entoderm  entstammt,  während  die  übrigen 
aus  Bindegewebe  und  glatter  Muskulatur 
bestehenden  Schichten  von  dem  visceralen 
Blatte  des  mittleren  Keimblattes  gehefert 
werden.  Der  größte  Teil  des  Rumpfdarmes 
hegt  in  der  Leibeshöhle,  an  deren  dorsaler 
Wand  er  durch  ein  Gekröse  {Mesenterium), 
das  den  Übergang  des  visceralen  Mesoderm- 
blattes  in  das  parietale  Blatt  vermittelt, 
befestigt  ist  (Fig.  8).  Dieses  schematisch 
einfache  Verhalten  erleidet  allerdings, 
namentlich  bei  den  Säugern,  mancherlei 
Störungen.  Die  Speiseröhre  sowie  der  hin- 
terste Teil  des  Enddarmes  liegen  nicht  mehr 
im  Bereiche  der  Leibeshöhle.  Der  gesamte 
Rumpfdarm  durchzieht  in  seiner  ersten 
Anlage  den  Körper  in  gerade  gestrecktem 
Verlaufe,  bewahrt  aber  nur  beim  Amphioxus 
und  bei  den  Rundmäulern  noch  einiger- 
Fig.  55.   Schematisches  Übersichtsbild  über  den    maßen  dicscs  primitive  Verhalten,  Während 

gesamten  Darmtractus    des   Menschen.      A  After,  _  , 

Ca   Colon   ascendens,    Cd  Colon   descendens.     C/      et  SOUSt  durch  bcträchtllcheS  LängCnwachS" 
Colon  transversum,  Z)(3f Dünndarm,  G/j  Glandulae       .  .  ,  ,  • i  i   i    „■„i,„    ^S/^^-r-. 

saiivaies,  G/.//.  Glandula  thyreoidea,  G/.//.V  Gian-    tum  in  mchr  odcr  miudcr  Zahlreiche  Wm- 

dula  thymus,    Ld  Leber,    Z^  Lunge,    Mg  Magen,      Zungen    gelegt    wird. 
Oe  Oesophagus,    Pa  Pankreas,    P/i  Pharynx,    Pr  o  o         o 

Processus  vermiformis,  R  Rectum,   vü  Vaivuia  Dic  Gücderung  iu  dic  genannten  Ab- 

ilio-colica,  2  Zwerchfell.  ,.  ,.,.  t  .,rii  _        u 

schnitte,  die  beim  Lanzetttischchen  noch 
nicht  durchführbar  ist,  ist  auch  bei  den  Schädeltieren  nicht  immer  scharf 
ausgesprochen.  Wo  sie  gut  ausgebildet  ist,  bildet  die  Speiseröhre  ein  enges, 
wesentlich  zur  Zuleitung  der  Nahrung  dienendes  Rohr,  dem  als  erweiterter 
Abschnitt  der  Magen  folgt.  In  ihm  erfolgt  unter  dem  Einfluß  des  Sekretes 
spezifischer  Magendrüsen  die  Verdauung.    Durch  eine  Ringfalte  von  ihm  ab- 


Rumpfdarm,  Allgemeines.     Vorderdarm  aqc 

gesetzt,  schließt  sich  ihm  der  dünne  und  meist  in  mehr  oder  minder  reichliche 
Windungen  gelegte  Mitteldarm  an,  in  dem  einmal  die  Aufsaugung  des  Darm- 
inhaltes, außerdem  aber  noch  ein  Teil  der  Verdauung  erfolgt,  letzteres  vor 
allem  durch  das  Sekret  der  beiden  großen,  dem  Rumpfdarm  zukommenden 
Drüsen,  der  Leber  und  der  Bauchspeicheldrüse,  die  beide  am  Anfang  des  Mittel- 
darmes ihren  Ursprung  nehmen  und  mit  ihren  Mündungen  somit  die  vordere 
Grenze  desselben  angeben,  wenn,  wie  bei  Rundmäulern  und  manchen  kiefer- 
mäuligen  Fischen,  ein  erweiterter  Magenabschnitt  fehlt.  Der  End-  oder  Dick- 
darm schließlich,  der  den  Darminhalt  herausleitet,  aber  auch  noch  aufsaugende 
Wirkungen  ausübt,  ist  im  allgemeinen  durch  wieder  dickeres  Kaliber,  häufig 
auch  noch  dadurch  von  dem  Mitteldarm  abgesetzt,  daß  sich  an  seinem  Anfang 
ein  bhnder  Anhang  des  Darmrohres,  der  Blinddarm,  findet. 

Von  den  einzelnen  Abschnitten  des  Rumpfdarmes  ist  es  der  Vorderdarm,  Vorderda 
der  die  meisten  Besonderheiten  bei  den  verschiedenen  Klassen  der  Wirbeltiere 
zeigt.  Seine  Scheidung  in  eine  Speiseröhre  und  einen  Magen  fehlt,  wie  eben 
schon  gesagt,  noch  bei  manchen  Fischen,  ist  aber  bei  anderen  schon  deutlich 
und  erhält  sich  bei  den  landlebenden  Wirbeltieren.  Daß  bei  Formen  mit  langem 
Hals  auch  die  Speiseröhre  länger  ist  als  bei  solchen  mit  kurzem  Hals,  ist  leicht 
verständlich.  Manchmal  tritt  sie  aus  der  Rolle  eines  bloßen  Zuleitungsrohres 
für  die  Nahrung  heraus:  so  kann  sie  durch  Ausbildung  besonderer  Drüsen  an 
der  Verdauung  teilnehmen  (z.  B.  beim  Frosch),  oder  durch  Entwicklung 
horniger  Papillen  auf  ihrer  Schleimhaut,  wie  bei  der  großen  Suppenschildkröte, 
zur  Zerkleinerung  der  Bissen  beitragen,  oder  endlich,  wie  bei  Vögeln,  eine  Aus- 
buchtung, den  sog.  Kropf,  entwickeln,  der  entweder  nur  zum  Aufspeichern 
größerer  Mengen  von  Nahrung  Verwendung  findet  oder  in  seinem  Innern  ein 
Sekret  absondert,  das  zur  Ernährung  der  Jungen  dient  (Taubenmilch  der 
Tauben).  Der  Magen,  der  bald  längs,  bald  quer  im  Leibesraum  gelagert  ist  und 
sich  darin  vor  allem  nach  der  Form  des  Körpers  richtet  (längsgestellt  bei 
langem,  quer  bei  breitem  Körper),  erleidet  manchmal  eine  weitere  Zerlegung 
in  einzelne  Abschnitte.  So  zerfällt  er  bei  Vögeln  in  einen  Drüsenmagen,  indem 
die  chemische  Beeinflussung  der  Nahrung  vor  sich  geht,  und  einen  sehr  dick- 
wandigen Muskelmagen,  der  mit  der  mächtigen  Muskulatur  seiner  Wandung 
und  unterstützt  durch  einen  aus  erstarrtem  Drüsensekret  gebildeten  rauhen 
festen  Überzug  seiner  Schleimhaut,  den  Inhalt  mechanisch  durcharbeitet  und 
damit  das  nachholt,  was,  bei  dem  Mangel  der  Zähne,  in  der  Mundhöhle  nicht 
geleistet  werden  konnte.  Die  merkwürdigste  Zerlegung  des  Magens  zeigen  aber 
doch  die  Wiederkäuer,  die  nicht  weniger  als  vier  einzelne  Abschnitte  unter- 
scheiden lassen.  Von  diesen  werden  die  zwei  ersten  zunächst  zum  Anfüllen  mit 
Nahrung  verwendet,  die  aber  dann  wieder  in  die  Mundhöhle  zurückbefördert 
wird,  um  nunmehr  erst  gründlich  durchgekaut  und  durchspeichelt  zu  werden. 
Der  abermalige  Schluckakt  führt  sie  dann  in  den  dritten  und  vierten  Ab- 
schnitt des  Magens,  die  als  die  eigentlich  verdauenden  Abschnitte  anzusehen  sind. 
Übrigens  lassen  auch  die  Mägen  anderer  Pflanzenfresser  mancherlei  Besonder- 
heiten und  Unterschiede  gegenüber  den  Mägen  von  Fleischfressern  erkennen. 


^QÖ  Ernst  Gaupp;  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Mitteldarm.  Die  Verschiedenheiten,  die  der  Mitteldarm    äußerhch    darbietet,    sind 

viel  weniger  in  die  Augen  springend  und  beschränken  sich  im  wesentlichen 
auf  die  Reichlichkeit  der  Schlingenbildungen  und  die  Anordnung  der 
Schlingen,  Besonderheiten,  die  von  funktionellen  Momenten  abhängig  sind. 
Im  Innern  läßt  die  Schleimhaut  mancherlei  Faltenbildungen  entstehen,  unter 
denen  eine  nach  ihrer  Anordnung  als  Spiralfalte  bezeichnete  manchen 
Fischen  zukommt.  Ihre  Bedeutung  dürfte  darin  liegen,  den  Transport  des 
Darminhaltes  zu  verlangsamen  und  so  die  bessere  Ausnutzung  desselben  zu 
ermöglichen. 
Enddarm.  Dcr  Enddarm  erscheint  bei  Fischen  zunächst  als  ein  verdickter  kurzer 

Abschnitt  des  Darmes  mit  geradem  Verlaufe,  der  demnach  in  dieser  Form  auch 
als  Rektum  bezeichnet  wird.  Dieser  Zustand  bleibt  auch  zunächst  noch  bei  den 
landlebenden  Wirbeltieren  bestehen  und  erfährt  erst  bei  den  Säugern  eine 
Weiterbildung  durch  starkes  Auswachsen  des  Enddarmes,  dessen  größerer  Teil 
sich  nun  auch  in  eine  Schlinge  legt  und  damit  als  Kolon  (Dickdarm  im  engeren 
Sinne)  dem  gerade  bleibenden  Endabschnitt,  dem  Rektum  (geraden  Darm) 
gegenübergestellt  werden  kann.  An  beiden  bilden  sich  Bau-Besonderheiten 
aus.  Da,  wo  der  Dünndarm  in  den  Dickdarm  einmündet,  entsteht  im  Innern 
des  letzteren  eine  Schleimhautklappe,  die  den  Rücktritt  des  Dickdarminhaltes 
in  den  Dünndarm  verhindert.  Der  letzte  Abschnitt  des  Enddarmes  nimmt  bei 
niederen  Wirbeltieren  als  Kloake  die  Mündungen  der  Harn-  und  Geschlechts- 
organe auf  und  erhält  dadurch  den  Anstoß  zu  weiteren  Umbildungen,  denen 
wir  bei  den  Harn-  und  Geschlechtsorganen  begegnen  werden. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdient  endlich  noch  die  schon  oben  genannte 
blinde  Ausbuchtung,  die  am  Enddarm  da  entsteht,  wo  in  ihn  der  Mitteldarm 
einmündet:  der  Blinddarm  oder  das  Caecum.  Schon  bei  manchen  Amphi- 
bien angedeutet,  ist  es  bei  Reptilien  weit  verbreitet  und  fehlt  auch  den  Vögeln 
gewöhnlich  nicht.  Hier  sind  sogar  in  der  Regel  zwei  Blinddärme  vorhanden, 
die  im  allgemeinen  bei  herbivoren  Formen  besser  ausgebildet  sind  als  bei  karni- 
voren  und  damit  auf  eine  besondere  Bedeutung  bei  der  Verdauung  vegetabi- 
lischer Nahrung  hinweisen.  Gleiche  Verschiedenheiten  sind  auch  bei  den 
Säugern  erkennbar,  wo  gewöhnlich  nur  einer,  und  nur  sehr  selten  zwei  Blind- 
därme bestehen.  Jener  eine,  der  besonders  bei  manchen  Huftieren  und  Nagern 
gut  entwickelt  ist,  bei  Raubtieren  mehr  zurücktritt,  erleidet  bei  mehreren  For- 
men, darunter  dem  Menschen,  eine  Rückbildung  seines  Endabschnittes  zu 
einem  mit  engem  Lumen  versehenen  wurmförmigen  Anhängsel:  dem  Wurm- 
fortsatz, der  somit  in  die  Reihe  der  rudimentären  Organe  gehört  und  beim 
Menschen  bekannthch,  infolge  der  an  ihm  nicht  selten  auftretenden  Erkran- 
kungen, häufig  operativ  entfernt  wird, 
j.eber  und  Dem  Rumpfdarm  angeschlossen  sind  zwei  große  Drüsen,  die  Leber  und 

^"drifse'.'^  ^  ^^^  Bauchspeicheldrüse  (das  Pancreas).  Beide  nehmen  ihre  Entstehung 
von  dem  Anfangsteil  des  Mitteldarmes  und  verleihen  diesem,  indem  sie  in  ihn 
ihre  Sekrete  ergießen,  seine  Fähigkeit,  verdauend,  d.  h.  chemisch  verändernd 
auf  die  Nahrungsstoffe  zu  wirken. 


Mitteldarm.    Enddarm.    Leber,  Bauchspeicheldrüse.    Derivate  des  Kopfdarmes        4.07 

Eine  Leber  hat  man  schon  beim  Amphioxus  erkennen  wollen  in  einem 
vom  Anfang  des  Rumpfdarmes  abgehenden  Blindsack;  sicher  vorhanden  ist 
sie  bei  Rundmäulern.  Den  Kiefermäulern  kommt  sie  ohne  Ausnahme  zu.  Sie 
entsteht  stets  an  der  ventralen  Darmwand  als  einfache  Ausstülpung,  aus  der 
weiterhin  durch  lebhaftes  Wachstum  und  Sprossenbildung  unter  starker  Be- 
teihgung  des  Blutgefäßsystems  ein  großes  drüsiges  Organ  von  meist  brauner 
Farbe  hervorgeht.  Schon  bei  den  Rundmäulern  erscheint  es  zweilappig.  Von 
seinem  Ausführungsgange  aus  kann  eine  Gallenblase,  als  besonderes  Reser- 
voir für  die  in  der  Leber  abgesonderte  Galle,  ihren  Ursprung  nehmen. 

Die  Bauchspeicheldrüse  entsteht  ebenfalls  vom  Anfang  des  Mittel- 
darms, in  nächster  Nähe  der  Leber,  und  zwar  sehr  gewöhnlich  (bei  vielen 
Fischen,  bei  Amphibien,  Reptihen,  Vögeln  und  Säugern)  mit  drei  Anlagen, 
einer  dorsalen  und  zwei  ventralen.  Dementsprechend  können  auch  an  dem 
ausgebildeten  Organ  mehrere  selbständige  Ausführungsgänge  erhalten  bleiben, 
doch  kommt  es  auch  oft  zu  einer  Vereinigung  derselben,  wie  auch  Anschluß  des 
Ausführungsganges  der  Bauchspeicheldrüse  an  den  Lebergang  nicht  selten  be- 
steht.   Das  Verhalten  des  fertigen  Organes  schwankt  im  übrigen  sehr. 

Wir  haben  damit  das  Darmrohr  und  seine  Anhangsgebilde,  soweit  sie  im  Rathkesche 
Dienste  der  Ernährung  stehen,  besprochen  und  müssen  nun  noch  einmal  zum     '^^^'-■^^• 
Kopfdarm  zurückkehren,  um  auch  den  Abkömmlingen  desselben  gerecht  zu 
werden,  die  dieser  Funktion  entfremdet  werden  und  auch  morphologisch  eine 
größere  Selbständigkeit  gegenüber  dem  Darmrohr  erlangen.    In  erster  Linie 
wurde  da  genannt  die  Rathkesche    Tasche.    Das  ist  eine  taschenförmige 
Ausstülpung,  die  vom  Dach  der  Mundhöhle,  noch  im  ektodermalen  Gebiete 
desselben,  ihren  Ursprung  nimmt,  bei  allen  Kiefermäulern  sich  abschnürt  und 
als  drüsiges  Körperchen  an  die  Unterfläche  des  Gehirns  legt,  hier  den  Hirn- 
anhang  (die  Hypophyse)  bildend,  während  sie  bei.  den  Rundmäulern  in  Zu- 
sammenhang mit  dem  Ektoderm  bleibt,  aber  ganz  merkwürdige,  bereits  (S.  480) 
geschilderte  Umänderungen  und  Verlagerungen  erleidet.    Weiterhin  kommen     sonstige 
in  Betracht  die  Schlundtaschen  und  die  von  ihnen  ausgehenden  Bildungen,  Kopfdarmet! 
ferner   die    luftführenden   Anhänge    des   Darmrohres,    Schwimmblase   und 
Lungen,  endhch  die  Schilddrüse.    Sie  alle  nehmen  ihren  Ursprung  von  dem 
hinteren  Teil  der  Kopf  darmhöhle,  den  man  auch  kurzweg  als  Kiementeil 
des   Darmes  bezeichnen  kann.    Das  ihn  auskleidende  Epithel  gehört  durch- 
aus dem  Entoderm  an;  d.  h.  das  ganze  Gebiet  liegt  hinter  der  primären  Rachen- 
haut, im  Bereiche  des  Darmrohres  selbst,  und  die  ektodermale  Mundbucht  hat 
keinen  Anteil  mehr  an  ihm. 

Von  den  genannten  Organen  werden  die  Schlundtaschen  und  die  Atmungsorgane. 
Lungen  zu  den  Atmungsorganen;  in  ihnen  lokalisiert  sich  somit  eine 
Funktion,  die  bei  den  Amphibien  sogar  einem  großen  Teil  der  ganzen  Mund- 
höhle zukommt:  die  des  respiratorischen  Gaswechsels,  darin  bestehend, 
daß  aus  den  Blutgefäßen  der  betreffenden  Schleimhautgebiete  die  bei  der 
Organtätigkeit  gebildete  Kohlensäure  in  das  Medium,  das  jene  Schleimhäute 
berührt,  mag  es  nun  Wasser  oder  Luft  sein,  abgegeben  wird,  und  dafür  aus 

K.d.G.III.Iv,Bd2   ZeUenlehreetc.il  32 


4q8  •         Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

diesem  Medium  neuer  Sauerstoff  in  die  Gefäße  eintritt.  Diese  Aufgabe  hat  eine 
allen  Atmungsorganen  gemeinsame  Eigentümlichkeit  im  Gefolge:  während  alle 
anderen  Körperorgane  durch  ihr  zuführendes  Blutgefäß  (die  Arterie)  sauer- 
stoffreiches  Blut  erhalten  und  durch  das  abführende  Gefäß  (die  Vene)  sauer- 
stoffarmes und  dafür  kohlensäurereiches  Blut  abgeben,  bekommen  die  At- 
mungsorgane durch  ihre  zuführenden  Gefäße  gerade  das  „venöse",  kohlensäure- 
reiche, der  Verbesserung  bedürftige  Blut  überliefert  und  geben  es  durch  die  ab- 
führenden Gefäße  in  ,,arterialisiertem"  Zustand,  von  seiner  Kohlensäure  befreit 
und  mit  Sauerstoff  neu  beladen,  wieder  ab.  Eine  sehr  reiche  Verästelung  der 
feinsten  Blutgefäße  (des  Kapillarnetzes)  ist  eine  weitere,  in  ihrer  Bedeutung 
leicht  verständliche  Eigentümlichkeit  aller  Schleimhautgebiete,  in  denen  jener 
Gaswechsel  erfolgt. 
Kiemenapparat.  Fasscn  wir  uuu  zuuächst  den  von  den  Schluudtaschen  gebildeten  Kiemen- 

apparat und  seine  Abkömmlinge  ins  Auge.  Sein  erstes  Auftreten  wurde  schon 
in  dem  entwickelungsgeschichtlichen  Abschnitt  kurz  berührt:  von  den  beiden 
Seitenwänden  des  Kiemendarmes  aus  bilden  sich  paarig  angeordnete  taschen- 
förmige  Ausstülpungen,  die  Schlundtaschen,  und  ihnen  entgegen  kommen 
von  dem  Ektoderm  der  äußeren  Körperoberfläche  flache  rinnenförmige  Ein- 
senkungen,  die  Kiemenfurchen.  Die  Schlundtaschen  begrenzen  so  an  der 
Seitenwand  der  Kopfdarmhöhle,  wie  die  Kiemenfurchen  an  der  äußeren  Körper- 
oberfläche, die  Substanzmassen,  die  man  als  Visceral-  oder  Kiemenbogen 
bezeichnet.  Bei  den  wasserlebenden  Anamniern  treten  diese  Bildungen  in  den 
Dienst  der  Atmung,  indem  die  Schlundtaschen  in  die  Kiemenfurchen  durch- 
brechen, so  daß  durchgehende  Spalten,  Schlund-  oder  Kiemenspalten  zu- 
stande kommen,  die  aus  der  Kopfdarmhöhle  nach  außen  auf  die  freie  Körper- 
oberfläche führen  und  in  dieser  Richtung  vom  Wasser  durchströmt  werden 
können.  An  der  vorderen  wie  an  der  hinteren  Wand  dieser  Spalten,  d.  h.  an 
den  die  Spalten  begrenzenden  Kiemenbogen,  bilden  sich  dann  die  Kiemen, 
bestehend  aus  zahlreichen  Fältchen  der  Schleimhaut,  die  reich  mit  Blutgefäßen 
versorgt  werden,  und  durch  deren  dünnes  Epithel  hindurch  das  Blut  der  Ge- 
fäße mit  dem  vorbeiströmenden  Wasser  in  den  oben  erwähnten  Gasaustausch 
treten  kann.  Bei  den  Amnioten,  die  niemals  ein  Stadium  des  Wasserlebens 
durchmachen,  erfolgt  nur  noch  hin  und  wieder  ein  Durchbruch  der  Schlund- 
taschen und  Kiemenfurchen  ineinander;  häufig  unterbleibt  derselbe,  und  die 
Schlundtaschen  bilden  sich,  nachdem  sie  manchmal  noch  bestimmten  Organen 
den  Ursprung  gegeben  haben,  wieder  zurück,  ebenso  wie  die  Kiemenfurchen. 
In  den  besonderen  Einrichtungen  des  ausgebildeten  Kiemenapparates 
zeigen  sich  bei  den  Formen,  die  ihn  zum  Wasser- Atmungsapparat  ausgestalten, 
weitgehende  Unterschiede.  Ganz  abseits  steht  auch  hier  wieder  der  Amphioxus, 
und  gerade  das  besondere  Verhalten  seines  Kiemenapparates  gehört  zu  den 
Merkmalen,  die  es  unmöghch  machen,  in  ihm  etwa  die  Stammform  aller  Wirbel- 
tiere zu  sehen.  Die  Zahl  der  Kiemenspalten  beim  Amphioxus  ist  viel  größer 
als  die  bei  den  Schädeltieren,  nämlich  über  hundert,  die  einzelnen  werden  noch 
in  mehrere  Etagen  geteilt,  und  ihre  äußeren  Mündungen,  die  anfangs  auf  der 


Atmungsorgane.    Kiemenapparat 


499 


Epidermis 
Muskeln 


Nieren 
kanälchen 


äußeren  Körperoberfläche  liegen,  werden  im  Laufe  der  Entwickelung  von 
dieser  abgeschlossen  und  in  die  Tiefe  verlagert,  indem  auf  jeder  Seite  eine  Haut- 
falte jenes  ganze  Gebiet  der  Körperoberfläche  in  der  Richtung  von  oben  nach 
unten  überwächst  und  sich  in  der  ventralen  Mittellinie  mit  der  der  anderen  Seite 
vereinigt.  Es  kommt  so  zwischen  der  ursprünglichen  Körperoberfläche  des 
Kiemengebietes  und  jenen  Falten  ein  Raum,  der  Peribranchialraum,  zu- 
stande, der  nur  an  einer  Stelle  der  ventralen  Mittellinie  sich  nach  außen  öffnet 
(mit  dem  Porus  hranchialis),  im  übrigen  aber  abgeschlossen  ist  (Fig.  9,  Fig.  56). 
In  ihn  strömt  somit  das  Wasser  ^—Medianer  Flossensaum 

aus  den  Kiemenspalten  zu- 
nächst, um  dann  erst  durch  den 
Branchialporus  nach  außen  zu 
gelangen.  In  die  Wand,  die  den 
Peribranchialraum  außen  ab- 
schließt und  ursprünglich  aus 
Faltenbildungen  der  Haut  her- 
vorging, wachsen  weiterhin 
Muskeln  sowie  die  Keimdrüsen 
hinein,  so  daß  auch  die  Ge- 
schlechtsprodukte in  den  Peri- 
branchialraum entleert  werden. 
Für  diese  Einrichtung  besteht 
bei  den  Kranioten  nichts  Ana- 
loges. 

Auch  der  Kiemenapparat  der 
Cyclostomen  zeigt  eine  Anzahl 
spezifischer  Einrichtungen,  steht  aber,  namentlich  in  der  viel  geringeren  Zahl 
der  Kiemenspalten,  dem  der  kiefermäuligen  Fische  schon  viel  näher,  welch  letz- 
terer, trotz  mancher  Besonderheiten  der  einzelnen  Gruppen,  doch  im  ganzen 
einem  gemeinsamen  Grundplan  folgt.  Die  Zahl  der  Kiemenspalten  ist  hier  selten 
größer  als  fünf,  manchmal  sogar  noch  geringer,  wobei  zu  bemerken  ist,  daß  dabei 
die  vorderste,  zwischen  dem  Kiefer-  und  dem  Zungenbeinbogen  gelegene  Spalte 
nicht  mitgerechnet  ist,  da  dieselbe  bei  Knochenfischen,  Doppelatmern  und 
manchen  Schmelzschuppern  ganz  verschwindet,  bei  anderen  Schmelzschuppern 
und  bei  den  Knorpelflossern  aber  zu  einem  engen  hinter  dem  Auge  gelegenen 
Kanal,  dem  Spritzloch,  wird,  das  nur  hin  und  wieder  noch  eine  ,, Kieme"  in 
seiner  Wandung  entwickelt  und  damit  respiratorische  Funktionen  erhält,  meist 
aber  nur  als  Einführungsgang  für  das  Atemwasser  in  die  Mundhöhle  dient.  Die 
äußeren  Öffnungen  der  Kiemenspalten  finden  sich  bei  Haien  und  Rochen  frei 
auf  der  äußeren  Körperoberfläche  (und  zwar  seitlich  bei  den  Haien,  dagegen 
durch  die  weit  nach  vorn  ausgedehnte  Brustflosse  an  die  Ventralfläche  ver- 
drängt bei  den  Rochen),  bei  den  übrigen  Fischen  werden  sie  von  einem  Kie- 
mendeckel, der  von  dem  Zungenbeinbogen  nach  hinten  vorwächst,  überdeckt 
und  in  das  Innere  einer  Höhle,  der  äußeren   Kiemenhöhle,  verlagert.    Die 


Kiemen- 
spalten 


Zentral- 
nervensystem 

Chorda  dors. 


Leibeshöhle 
Ki ein  endarm 

t~Keimdrüse 


Peribranchial- 
raum 


Fig.  56.     Querschnitt  von  Araphioxus,  Schema. 
Nach  Lankester  und  Bovekj,  geändert  von  Boas. 


500 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Fig.  59  zeigt  das  von  einem  Knochenfisch  und  läßt  zugleich  weitere  Besonder- 
heiten in  der  Anordnung  der  Kiemen  erkennen,  die  die  Knochenfische  und 
Schmelzschupper  gegenüber  den  Knorpelflossern  (Fig.  58)  auszeichnen.  Der 
obere  Teil  des  Kiemendeckels  bei  den  Knochenfischen  erhält  eine  Einlagerung 
von  breiten  Knochenplatten,  der  untere  stellt  eine  Membran  mit  einzelnen  ein- 
gelagerten knöchernen  Strahlen  dar,  das  ganze  Gebilde  ist  vorn  beweglich  be- 
festigt und  wird  bei  den  Atembewegungen  abgehoben,  um  dem  Atemwasser  den 
Weg  nach  außen  zu  öffnen.  Ein  Filtrierapparat,  durch  verschiedenartige 
Vorsprünge  am  Eingang  der  Kiemenspalten  gebildet,  verhindert  bei  den 
Fischen  das  Eindringen  fester  Teile  in  die  Spalten. 

Es  bleibt  endlich  noch  der  Tatsache  zu  gedenken,  daß  bei  den  Embryonen 


Spritzloch     Kiemenspalten 


Mundspalte 


Fig-  57 


Brustflosse 

Kopf  eines  Haifisches,  vou  der  linken  Seite  (vgl.  Fig.  51). 


und  Jungen  vieler  Fi- 
sche (Haie  und  Rochen, 
Schmelzschupper,  Dop- 
pelatmer,  selbst  einiger 
Knochenfische)  soge- 
nannte äußere  Kie- 
men vorhanden  sind, 
die  bald  die  Form  langer 
und  dünner  Fäden  ha- 
ben, bald  baumförmig 
oder  nach  Art  eines 
Kammes    oder    Feder- 


bartes verzweigte  Gebilde  darstellen  und  entweder  an  den  Öffnungen  der  Kiemen- 
spalten sitzen  oder  aus  denselben  heraushängen.  Es  scheinen  Bildungen  des 
äußeren  Keimblattes  zu  sein. 

Zum  letztenmal  tritt  der  Kiemenapparat  als  Atmungsorgan  in  Tätigkeit 
bei  den  Amphibien.  Einige  derselben  behalten  ihn  dauernd  bei,  wie  sie  auch 
das  Wasserleben  nicht  aufgeben,  andere  besitzen  ihn  nur  während  des  Larven- 
stadiums, verlieren  ihn  aber  bei  der  Metamorphose,  d.  h.  beim  Übergang  zum 
Landleben.  Die  ersteren,  die  als  fischähnliche  Amphibien  [Ichthyoden)  zu- 
sammengefaßt werden,  verhalten  sich  darin  verschieden,  daß  einige  von  ihnen 
äußere  Kiemenbüschel  an  den  Öffnungen  der  Kiemenspalten  besitzen,  wie  z.  B. 
der  bhnde  01m,  der  in  den  Höhlen  des  Karst  lebt,  während  andere  diese  ver- 
lieren und  nur  eine  Kiemenspalte  beibehalten.  Die  übrigen  Amphibien  besitzen 
Kiemenspalten  und  äußere  Kiemenbüschel  nur  während  des  Larvenlebens,  und 
zwar  mit  mancherlei  besonderen,  von  dem  Verhalten  der  Fische  abweichenden 
Einrichtungen,  deren  Darstellung  hier  unterbleiben  muß.  Die  Erfahrungen 
an  dem  bekannten  Axolotl,  den  man  früher  zu  den  fischähnlichen  Amphibien 
zählte,  bis  es  gelang,  ihn  zur  Umwandlung  in  einen  Landsalamander  zu 
zwingen  und  damit  seine  Natur  als  einer  Larvenform  nachzuweisen,  haben 
zu  der  Anschauung  geführt,  daß  auch  alle  jetzt  noch  als  fischähnliche  Amphi- 
bien bezeichneten  Geschöpfe  nicht  selbständigeFormensind,  sondern  geschlechts- 
reif gewordene  Larvenformen  von  salamanderähnlichen  Landamphibien  mit 


Atmungsapparate.    Schlundtaschen  der  Amnioten.    Derivate  der  Schlundtaschen 


501 


-spi 


Paukenhöhle. 


einer  ganzen  Menge  selbständiger  besonderer  Anpassungen  an  das  Larvenleben. 
Damit  wäre  ihnen  der  Charakter  als  besonders  „primitiver"  Amphibien,  den 
man  ihnen  früher  zuschrieb,  genommen. 

Mit  den  Amphibien  hat  der  Kiemenapparat  seine  Rolle  als  Atmungs-  Schiuudtasdien 
apparat  ausgespielt.   Bei  den  Amnioten  kommen  Schlundtaschen  zwar  embryo-  ^"  ^'""'°"'"- 
nal  noch  in  verschiedener  Zahl  (meist  4  oder  5)  zur  Anlage,  doch  meist  nicht 
mehrzumDurchbruch  nach  außen. 
Aber  doch  dürfen  sie  nicht  kurz- 
weg als  bedeutungslose  Bildungen 
angesehen  werden,  die  etwa  ledig- 
lich   dem  Vererbungsgesetze    zu- 
folge   immer  wieder    erscheinen. 
Vielmehr    lassen    sie    mancherlei 
Organe    entstehen  und    beweisen 
damit  eben  ihre  Existenzberech- 
tigung.    So  geht   schon   bei   den 
Fröschen  von  der  ersten,  zwischen 
Kiefer-  und  Zungenbeinbogen  ge- 
legenen  Tasche,    die    nicht   zum 
Durchbruch    kommt,     die    Ent- 
stehung eines  großen  Raumes,  der 
Paukenhöhle  aus,  die  das  Ge- 
hörknöchelchen   umwächst    und 
sich  bis  zu  der  äußeren  Haut  aus- 
dehnt.   Da  sie  in  den  Dienst  des 
Gehörorgans  tritt,  so  sind  wir  ihr 

schon  bei  diesem  begegnet.  Beiden  Fig.  58.      Wagerechter   schnitt    durch    den    Kopf   eines   Haies 

A  •     ,  ■     J       U     I4-  "    V-.      'U  (Acanthias),  schematisiert.    Die  Visceralbogen   sind  punktiert,  die 

Amnioten      WiedernOlt       SlCn      mre  Kiemenblättchen  schraffiert,     iri,  br^,  br^  erster,  dritter,  fünfter 

Bildun?*     nur    bei    den     Schlangen  Kiemenbogen,     g    oberer    Abschnitt    des  Kieferbogens    (Palato- 

°  '  °  quadratknorpel),    h    Zungenbeinbogen,    i  Leibeswand,    /  Leibes- 

Unterbleibt      sie.         Weiter     nimmt  hohle,  «/ Mundhöhle,  «  Riechgrube,   o^  Speiseröhre,    j  Stäbchen 

,  ,       .    .._     .  ,  T'     •    u     1  "^"^   Innenrande   der  Kiemenbogen    (Seihapparat),   sp.^  erste,   sp^ 

schon  bei    rlaien   von   dem  Epithel  fünfte  Kiemenspalte,    spt  Scheidewand   zwischen   zwei  Kieraen- 

mehrerer  Kiementaschen  ein  be-  'p^^'"°-  ^^'^'^  ^''^'• 

sonderes  Organ,  die  Thymusdrüse,  seinen  Ursprung,  und  dieses  Organ  erhält  sich  Thymusdrüse 
bis  herauf  zum  Menschen  als  Abkömmling  von  meist  mehreren  Kiementaschen. 
Andere  hierher  gehörige  Bildungen  sind  die  Epithelkörperchen,  die  als  ,, Drü- 
sen mit   innerer  Sekretion",  d.h.  als  Organe,  die  einen  für  gewisse  Funktionen 
des  Organismus  notwendigen  Stoff  erzeugen,  auch  beim  Menschen  neuerdings  Be- 
achtung finden.  Wir  müssen  uns  mit  der  bloßen  Nennung  dieser  Organe  begnü- 
gen, ebenso  mit  der  Erwähnung  der  sog.  postbranchialen  Körper,  die  hinter  Postbranchiaie 
der  letzten  Schlundtasche  und  nach  Art  einer  solchen  entstehen.    Alle  diese        °^^^' 
Bildungen  zeigen,  daß  die  Aufgabe  der  Schlundtaschen  mit  der  Herstellung  des 
Atmungsapparates  der  kiemenatmenden  Wirbeltiere  nicht  erschöpft  ist. 

Die     luftführenden     Anhangsorgane     des     Kopfdarmes    sind    die    Luftführende 

S,  ■  ,    t  1      1  •       T  Anhangsorgane 

chwimmblase  und  die  Lungen.  desKopfdarmes 


Epithel- 
körperchen. 


502 


Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Schwimmblase.  Von  diesen  stellt  die  auf  Schmelzschupper  und  Knochenfische  beschränkte 

Schwimmblase  eine  fast  stets  einheitliche,  gasgefüllte,  dünn-  aber  fest- 
wandige  Blase  dar,  die  dorsal  von  dem  Darmrohr  liegt  und  entweder  mit  diesem 
noch  durch  einen  sehr  engen  Luftgang  in  Verbindung  steht  oder,  infolge  von 
Schwund  des  Luftganges,  vollständig  nach  außen  abgeschlossen  ist.  Die  Blase, 
die  mancherlei  besondere  Formen  darbietet,  entsteht  als  Ausstülpung  vom 
Kopfdarm  aus,  doch  kann  die  Einmündungssteile  sich  später  rückwärts  ver- 
schieben. Funktionell  stellt 
sie  einen  hydrostatischen  Ap- 
parat dar,  der  in  hier  nicht 
näher  zu  erörternder  Weise 
dem  Fisch  Steigen  und  Sinken 
im  Wasser,  sowie  Änderung  in 
der  Richtung  der  Längsachse 
seines  Körpers  (Heben  oder 
Senken  des  Kopfes)  gestattet, 
ihn  zugleich  aber  an  bestimmte 
Tiefen  und  damit  an  einen 
bestimmten  Wasserdruck  bin- 
det. Reichliche  Nervenen- 
digungen in  ihrer  Wandung 
verleihen  ihr  gleichzeitig  die 
^P  Bedeutung  eines  Sinnesor- 
ganes, das  auf  den  wechselnden 
Druck  des  Wassers  reagiert 
und  zweckmäßige  Schwimm- 
bewegungen, nach  Tiefen  mit 

Fig.  59.     Wagerecliter  Schnitt    durch    den  Kopf  eines  Knochenfisches  höhcrCrodcr geringerer Druck- 
(Dorsch),  oberhalb  der  Mundöffnung;  etwas  schematisiert.     Buchstaben  \"    *         \         V.     A  <- 

wie  in  Fig.  58,  mit  Ausnahme  von:    op  Kjemendeckel,  Sp  äußere  Öff-  SpaUnuUg,   aUSlOSt.     AUCJl   At- 

nung  der   Kiemenhöhle.      Der   obere   Abschnitt   des   Kieferbogens  {§■)  ■niunP'sflinktionpn  kommen  ihr 
ist  hier  teilweise  verknöchert.     Nach  Boas.  ° 

bei  manchen  Formen  zu.  Bei 
einigen  Knochenfischen  bildet  sich  aus  umgewandelten  Rippen-  und  Wirbel- 
teilen eine  Kette  kleiner  Knöchelchen,  die  sich  an  das  Vorderende  der  Schwimm- 
blase anschließt  und  eine  Übertragung  des  Druckes  derselben  auf  die  Flüssig- 
keit in  der  Umgebung  des  Rückenmarks  und  des  Gehirns  vermittelt  (Weber- 
scher Apparat).  Auch  hierdurch  dürften  auf  dem  Wege  über  die  Zentralorgane 
des  Nervensystems  zweckmäßige  Schwimmbewegungen  je  nach  dem  auf  der 
Schwimmblase  lastenden  Druck  ausgelöst  werden. 

Die  morphologische  Stellung  der  Schwimmblase  zu  der  Lunge  ist  noch 
nicht  klar.  Als  Hauptunterschied  gilt,  daß  die  Schwimmblase,  mit  wenig  Aus- 
nahmen, von  der  Dorsalwandung  des  Kopfdarmes  entsteht,  während  die  Lunge 
stets  eine  Ausstülpung  der  ventralen  Wand  desselben  darstellt.  So  nehmen 
manche  Autoren  (z.  B.  Wiedersheim)  an,  daß  beide  Organe  als  selbständige 
Bildungen  des  Kopfdarmes  zu  betrachten  sind,  ohne  nähere  Beziehungen  zu- 


Schwimmblase.    Lungen 


503 


einander,  während  andere  eine  stattgehabte  Wanderung  der  Ausmündungs- 
stelle vermuten.  In  welcher  Weise  diese  zu  denken  wäre,  darüber  gehen  die  An- 
sichten aber  wieder  auseinander. 

Die  Lungen  entstehen  jedenfalls  stets  von  der  Ventralwand  des  Kopf- Lungen, 
darmes  aus,  in  dem  Gebiet  hinter  den  Kiemenspalten.  Man  hat  infolgedessen 
auch  ihre  Bildung,  ebenso  wie  die  der  Schwimmblase,  in  engere  Beziehung  zu 
den  Kiementaschen  bringen,  sie  von  diesen  ableiten  wollen,  doch  ist  das  einst- 
weilen noch  durchaus  Hypothese.  Neueren  Angaben  zufolge  entstehen  sie 
(wenigstens  bei  Amphibien,  Schildkröten,  Vögeln)  als  paarige  Ausbuchtungen 
der  ventralen  Darmwand,  die  aber  mit  ihren  Anfangsteilen  sich  bald  zu  einem 
unpaaren  Abschnitt  vereinen.  Dieser  unpaare  Abschnitt  wächst  dann  als 
solcher  weiter  aus,  und  ebenso  vergrößern  sich  die  beiden  paarigen  Säcke,  in 

Fig.  60.  A  Lungenanlage  bei  Am-  q 

piiibien  und  Schildkröten  (Quer- 
schnitt). 6"/^  Primärer  Vorderdarm, 
.<4.S"  seitliche  Aussackungen  dessel- 
ben. B,  C  spätere  Entwicklungs- 
stadien, in  welchen  es  zur  allmäh- 
lichen Herausbildung  eines  Lun- 
gensackes {LS),  primitiver  Bron- 
chien (Br),  einer  Trachea  (7>)  und 
einesKehlkopfes  (La)  kommt,  Oes 
Oesophagus.  B  und  C  stellen  die 
Vorderansicht  dar.  Alle  Figuren 
sind  scheraatisch  gehalten. 

Nach  WlEDERSHEIM. 


Br~~- 


LS' 


die  er  sich  fortsetzt.  Auf  verhältnismäßig  einfachem  Zustande  bleibt  der  ganze 
Apparat  bei  den  Doppelatmern  (Dipnoi)  stehen,  dagegen  beschreiten  die  Am- 
phibien den  Weg  zu  höherer  Entfaltung,  indem  bei  ihnen,  zunächst  im  Gebiet 
des  unpaaren  Abschnittes,  jederseits  Knorpelteile  zur  Stütze  desselben  aufr 
treten,  die  vielleicht  auf  die  fünften  Kiemenbogen  der  Fische  zurückzuführen 
sind.  Indem  an  diesem  ,, primären  Kehlkopfskelett"  Öffnungs-  und  Schließ- 
muskeln ansetzen,  wird  ein  vortrefflicher  Schlußmechanismus  geschaffen,  der 
selbst  ein  so  blitzschnelles  Öffnen  und  Schließen  des  Eingangs  zu  den  Lungen  er- 
möglicht, wie  wir  es  etwa  bei  der  Atmung  des  Frosches  beobachten  können.  Denn 
bei  diesem  wie  bei  den  Amphibien  überhaupt  ist  jener  Eingang  für  gewöhnlich 
geschlossen  und  öffnet  sich  nur  ganz  vorübergehend,  wenn  durch  eine  Schluck- 
bewegung des  Mundhöhlenbodens  die  Luft  von  der  Mundhöhle  aus  in  die 
Lungen  gepreßt  werden  soll.  Der  Frosch  zeigt  uns  aber  noch  eine  andere  Ein- 
richtung, deren  Auftreten  an  jene  Skeletteile  geknüpft  ist:  im  Innern  des  un- 
paaren Lungen-Eingangsraumes  finden  sich  vorspringende  Schleimhautfalten, 
Stimmlippen,  die,  von  eingelagerten  elastischen  Stimmbändern  gestützt,  durch 
die  vorbeistreichende  Luft  zum  Schwingen  und  damit  zum  Erzeugen  der  be- 
kannten quakenden  Töne  gebracht  werden  können.  So  ist  also  zu  der  ersten 
Funktion  jenes  Eingangsabschnittes,  ein  Verschluß-  und  Öffnungsapparat  zu 
sein,  eine  zweite,  die  der  Stimmerzeugung,  hinzugekommen,  und  jener  Ab- 
schnitt verdient  nun  voll  die  Bezeichnung  Stimmlade,  die  man  ihm  gegeben 
hat.  Bei  den  langschwänzigen  Amphibien  mit  ihrem  langgestreckten  Körper 
ist  statt  einer  kurzen  Stimmlade  ein  längeres,  jetzt  als  Luftröhre  bezeichnetes 


CQA  Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Rohr  vorhanden,  an  dessen  Anfang  jener  Verschluß-  und  Öffnungsapparat  als 
Kehlkopf  erhalten  bleibt.  Zur  Ausbildung  von  Stimmbändern  kommt  es 
in  ihm  nicht,  wohl  aber  ist  das  Knorpelskelett  vorhanden,  das  auch  schon 
mancherlei  Sonderungen  bei  den  Amphibien  erkennen  läßt.  Als  Ausgangs- 
form kann  ein  einheitlicher  Knorpel  (Seitenknorpel)  auf  jeder  Seite  des  Kehl- 
kopfeinganges gelten  {Necturus),  von  diesem  gliedert  sich  bei  den  Salamandriden 
ein  vorderes  Stück  als  Stell-  oder  Gießbeckenknorpel  gegenüber  dem  hinteren 
nun  als  Ringknorpel  bezeichneten  Stück  ab;  endlich  lösen  sich,  z.  B.  bei  Siren, 
von  diesem  noch  kleine  Knorpelchen  ab,  die  die  Wand  der  Luftröhre  stützen. 
Auch  dem  Frosch  kommen  zwei  Gießbeckenknorpel  und  ein  Ringknorpel  zu, 
der  aus  der  Verschmelzung  der  zwei  seitlichen  entstanden  ist;  an  den  Gieß- 
beckenknorpeln sind  innen  die  Stimmbänder  angebracht. 

Mit  der  Gliederung  des  unpaaren  Anfangsteiles  der  Lungensäcke  in  Kehl- 
kopf und  Luftröhre  sind  Einrichtungen  getroffen,  die  bei  allen  Amnioten  er- 
halten bleiben.  Zugleich  erfolgt  eine  weitere  Sonderung:  die  Ausbildung  zweier 
Luftröhrenäste  als  Übergang  der  Luftröhre  in  die  beiden  Lungensäcke. 
Auch  diese  Luftröhrenäste  können  bedeutend  auswachsen.  Am  Kehlkopf  erhält 
sich  das  primäre  Kehlkopfgerüst,  gewöhnlich  aus  zwei  paarigen  Stellknorpeln 
und  einem  unpaaren  Ringknorpel  zusammengesetzt;  zu  ihm  kommt  bei  den 
Säugern  ein  weiterer  Knorpel,  der  Schildknorpel,  der  aus  der  Verschmelzung 
des  zweiten  und  dritten  Kiemenbogenknorpels  hervorgeht.  Da  infolge  des  ver- 
änderten Atmungsmechanismus  (die  Amnioten  saugen  die  Luft  in  die  Lungen, 
durch  Erweiterung  der  Räume,  in  denen  diese  liegen)  der  Kehlkopf  für  gewöhn- 
lich offen  steht,  so  spielt  die  Muskulatur  an  seinem  Eingang  wohl  vor  allem  eine 
Rolle  beim  Schluckakt,  um  das  Eindringen  von  Speisen  in  den  Kehlkopf  zu  ver- 
hindern. Bei  Säugern  steht  auch  die  Entwickelung  eines  Kehldeckels  vor  dem 
Kehlkopfeingang  mit  dieser  Aufgabe  in  Verbindung.  Zur  Entstehung  von  Stimm- 
bändern im  Kehlkopf  und  damit  zur  Möghchkeit  der  Stimmerzeugung  kommt 
es  bei  manchen  Reptilien  (Geckonen),  sowie  bei  den  Säugern,  und  unter  diesen 
wieder  wird  sie  beim  Menschen  unter  weitgehender  Sonderung  der  Muskeln  zu 
hoher  Leistungsfähigkeit  gesteigert.  Dagegen  findet  die  Stimmbildung  bei  den 
Vögeln  nicht  in  dem  bisher  besprochenen,  sondern  in  einem  unteren  Kehl- 
kopf statt,  der  sich  als  Besonderheit  der  Klasse  weiter  unten  an  der  Luftröhre, 
meist  an  ihrer  Teilungsstelle  in  die  zwei  Luftröhrenäste,  ausbildet. 

Werfen  wir  endhch  noch  einen  Blick  auf  die  Lungensäcke,  so  finden  wir 
dieselben  bei  Doppelatmern  wie  bei  Amphibien  als  dünnwandige,  manchmal 
rechts  und  links  ungleich  ausgebildete  Säcke  mit  einem  großen  zentralen  Innen- 
raum, von  dem  aber  häufig  schon  durch  leistenförmige  netzförmig  angeordnete 
Vorsprünge  der  Wand  ein  System  kleiner  der  Wand  anliegender  Räume  (Al- 
veolen) abgekammert  wird.  Damit  ist  eine  Vergrößerung  der  atmenden  inneren 
Oberfläche  des  Sackes  erreicht.  Bei  den  Amnioten  macht  die  Ausbildung  von 
Scheidewänden,  die  in  das  Innere  der  Lunge  einwachsen,  Fortschritte  und  führt 
schließlich  zu  einer  völligen  Zerlegung  des  ursprünglichen  einheitlichen  Raumes 
in  eine  große  Menge  kleinerer  Räume.   Bei  den  Säugern  schließt  sich  so  an  jeden 


A 


Lungen.    Schilddrüse 


505 


B. 


v<f5\ 


Luftröhrenast  eine  die  Lunge  durchsetzende  Fortsetzung  desselben  (als  Stamm- 
bronchus)  an  und  entsendet  eine  Anzahl  reich  verästelter  Seitenbronchi, 
an  deren  letzte  Verzweigungen  sich  endhch  die  Endbläschen  (Alveolen) 
anschheßen.  Letztere  sind  dann  die  Hauptstätten,  in  denen  der  respiratorische 
Gasaustausch  erfolgt,  während  die  meisten  der  größeren  und  kleineren  Gänge 
nur  als  Wege  für  das  Hin-  und  Herstreichen  der  Luft  dienen.  Schon  bei  man- 
chen Reptihen  setzen  sich,  ebenso  wie  bei  Vögeln  und  Säugern,  ringförmige 
oder  unregelmäßig  gestaltete  Knorpelstücke  auf  die  Wandung  der  Luftröhren- 
äste und  ihre  Verzweigungen  bis  tief  hin- 
ein in  die  Lunge  fort. 

Als  ganz  besondere  Eigentümlich- 
keit der  Vögel  haben  wir  noch  große 
dünnwandige  Luftsäcke  zu  erwähnen, 
die  als  Fortsetzungen  des  Hohlraum- 
systems der  Lungen  in  die  Brust-  und 
Bauchhöhle,  an  den  Hals  und  selbst  in  die 
Knochen  eindringen.  Es  wird  ihnen  eine 
besondere  Bedeutung  für  die  Atmung 
des  Vogels  während  des  Fliegens  zuge- 
schrieben. 

Zu  den  Abkömmlingen  des  Kiemen- 
darmes gehört  nun  endlich  noch  die 
Schilddrüse.  In  ihrer  ursprünglichen 
Form  findet  sie  sich  unter  den  Wirbel- 
tieren bei  den  Larven  der  Neunaugen, 
den  sog.  Querdern:  hier  stellt  sie  eine  am 
Boden  des  Kiemendarmes  gelegene  Ein- 
senkung  desselben  dar,  der  wohl  die 
Bedeutung  einer  Drüse  zukommt.  In  dieser  Form  vermittelt  sie  den  Anschluß 
an  eine  ähnliche,  nur  ausgedehntere  Rinne,  die  Hypobranchialrinne,  die  sich 
beim  Amphioxus  und,  was  von  besonderer  Wichtigkeit  ist,  auch  schon  bei 
Tunikaten  findet.  Beim  umgewandelten  Neunauge  schnürt  sich  die  Rinne  ab 
und  wandelt  sich  unter  Bildung  von  Sprossen  und  Abtrennung  derselben  in  eine 
Summe  geschlossener  Follikel,  d.  h.  verschieden  geformter  Schlauchstücke  um. 
Einen  ähnlichen  Entwicklungsgang  zeigt  die  Schilddrüse  der  übrigen  Wirbel- 
tiere: sie  entsteht  als  hohle  Ausstülpung  am  Boden  der  Mundhöhle  in  der 
Mittellinie,  wächst  dann  aus,  verliert  die  Verbindung  mit  der  Mundhöhle  und 
wird  zu  einem  Organ,  in  dem  eine  Summe  kleinerer  und  größerer  geschlossener 
Follikel  durch  Bindegewebe  zu  einem  kompakten  Körper  vereinigt  wird. 
Die  Lage  der  ausgebildeten  Schilddrüse  ist  nicht  immer  gleich:  sie  findet  sich 
bald  mehr  vorn,  bald  mehr  hinten  am  Hals;  auch  zeigt  das  Organ  vielfach  eine 
Teilung  in  zwei  Lappen  oder  sogar  eine  Zerlegung  in  zwei  selbständige  Organe. 
Ein  Ausführungsgang  besteht  nie.  Daß  die  Vergrößerung  der  Schilddrüse  beim 
Menschen  als  ,, Kropf"  bezeichnet  wird,  sei  als  bekannt  nur  kurz  noch  erwähnt. 


Schilddrüse. 


Fig.  61.     Schematische  Darstellung  der  zunehmenden 

Komplizierung    der   Lungeninnenfläche.     1   Bronchus. 

Aus  Hesse-Doflein. 


CQÖ  Ernst  GaupP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

7.   Gefäßsystem  (Organe  des  Kreislaufes). 

7.  Gefäßsystem.  Dem  Gcfäßsystem  fällt  die  Aufgabe  zu,  die  aus  dem  Darm  entnommenen 

krefsiauffs.)    Nahrungsstoffc  sowie  den  Sauerstoff  aus  den  Atmungsorganen  den  einzelnen 

Aufgaben. Aiige-'pgiigjj  j^gg  Körocrs  zuzuführcn  und  die  Produkte  der  Organtätigkeit  aus  den- 

meine  Übersicht.  '■  . 

selben  fortzuschaffen.  Als  Beförderungsmittel  für  alle  die  genannten  Stoffe 
dienen  die  Körperflüssigkeiten,  die  bei  den  Kranioten  in  zwei  Formen,  als 
Blut  und  Lymphe,  vorhanden  sind  (s.  den  Abschnitt  über  Zellen  und  Gewebe). 
Dadurch  ist  bei  allen  Schädeltieren  auch  die  Unterscheidung  eines  Blut-  und 
eines  Lymphgefäßsystems  bedingt,  a's  zweier  selbständiger  Kanalsysteme, 
von  denen  das  letztere  allerdings  in  das  erstere  einmündet.  Das  Blutgefäß- 
system ist  ausgezeichnet  durch  den  Besitz  eines  muskulösen  Herzens,  das 
als  kräftiger  Motor  das  Blut  aus  dünnwandigen  Gefäßen  (Venen)  ansaugt 
und  in  dickwandige  Arterien  oder  Schlagadern  hineinwirft,  die,  vielfach 
verzweigt,  es  den  einzelnen  Organen  zuführen.  In  diesen  erfolgt  der  Übergang 
der  Arterien  in  Haargefäße  (Kapillaren),  durch  deren  dünne  Wandungen  hin- 
durch ein  Austausch  von  Gasen  und  Flüssigkeiten  zwischen  dem  Gefäßinhalt 
und  den  Geweben  stattfinden  kann.  Die  aus  dem  Kapillarnetz  hervorgehenden 
Blutadern  oder  Venen  führen  dann  das  Blut  zum  Herzen  zurück.  Dieses  ganze 
Rohrnetz  kann,  wie  bereits  anderweitig  gesagt  wurde,  mit  Ausnahme  gering- 
fügiger Unterbrechungen  als  gegen  die  Körpergewebe  abgeschlossen  betrachtet 
werden,  so  daß  eben  nur  durch  die  dünnen  Wände  der  Kapillaren  hindurch 
der  erwähnte  Stoffaustausch  erfolgen  kann.  (Eine  Unterbrechung  des  ge- 
schlossenen Blutgefäßnetzes,  d.  h.  Öffnung  desselben  gegen  das  umgebende 
Gewebe,  scheint  in  der  Milz,  wenigstens  bei  manchen  Wirbeltieren,  zu  bestehen.) 
Die  ernährende  Flüssigkeit,  die  aus  den  Haargefäßen  in  die  verschiedenen  Ge- 
webe ausgetreten  ist,  bewegt  sich,  als  Lymphe,  zunächst  in  den  Spalträumen 
der  Gewebe  und  wird  dann  erst  in  geschlossene  Bahnen  übergeführt,  die  schließ- 
lich in  die  Venen,  also  in  die  Blutbahn,  einmünden.  Auch  in  den  Verlauf  der 
Lymphgefäßbahnen  sind  manchmal  besondere  Motoren,  Lymphherzen, 
eingeschaltet.  Im  Gegensatz  zu  dem  Blutgefäßsystem  ist  somit  das  Lymph- 
gefäßsystem nicht  überall  als  geschlossenes  Rohrnetz  vorhanden,  sondern 
nimmt  seinen  Anfang  in  den  verschiedenen  Spalträumen  der  Gewebe,  nament- 
lich des  Bindegewebes.  Eine  besondere  Bedeutung  kommt  noch  dem  im  Darm- 
kanal wurzelnden  Abschnitt  des  Lymphgefäßsystems  zu,  da  derselbe  aus  dem 
Darm  Ernährungsstoffe  als  Chylus  aufnimmt  und  weiterhin  der  Blutbahn 
zuführt.  —  Die  scharfe  Trennung  eines  Blut-  und  eines  Lymphgefäßsystems 
besteht  noch  nicht  beim  Amphioxus.  Hier  ist  nur  ein  Blutgefäßsystem  vor- 
handen, dessen  Inhalt  im  Gegensatz  zu  dem  Blut  der  Kranioten  farblos  ist. 
Besondere  Lymphräume  sind  zwar  vorhanden,  bilden  aber  noch  kein  zusam- 
menhängendes System.  Eine  weitere  Eigentümlichkeit  des  Amphioxus  besteht 
darin,  daß  ein  eigentliches  muskulöses  Herz  fehlt,  und  statt  dessen  besondere, 
durch  Kontraktilität  ausgezeichnete  Gefäßstrecken  die  Aufgabe  übernehmen, 
die  Körperflüssigkeit  vorwärts  zu  bewegen.    Abgesehen  hiervon  zeigt  aber  die 


Gefäßsystem.  Aufgaben,  allgemeine  Übersicht.  Anordnung  der  Kreislauf- Gebiete       507 

Anordnung  des  Gefäßsystems  beim  Amphioxus  eine  weitgehende  Übereinstim- 
mung mit  dem  der  Kranioten,  das  uns  allein  im  folgenden  noch  etwas  genauer 
,  beschäftigen  soll. 

Entwickelungsgeschichtlich  ist  das  Gefäßsystem  wohl  ausschließlich  dem 
mittleren  Keimblatt  zuzuschreiben,  in  dessen  verschiedenen  Gebieten  es  in 
Form  von  Spaltbildungen  auftritt.  Auf  die  schwierigen  Vorgänge  bei  der  Bil- 
dung des  Herzens  kann  hier  nicht  eingegangen  werden. 

Die  wuchtigsten  Unterschiede,  die  das  Blutgefäßsystem  bei  den  Wirbel-  Blutgefäßsystem, 
tieren  aufweist,  sind  gegeben  in  der  Anordnung  der  beiden  Kreislaufgebiete,   '^Tre"sUuf.'^'" 
des  der  Atmung  dienenden  sog.  kleinen  Kreislaufgebietes  zu  dem  großen       üei.iete. 
oder  Körperkreislaufgebiet.   Die  der  Wasseratmung  dienenden  Kiemen  sind  an 
anderer  Stelle  in  den  Kreislauf  eingefügt  als  die  der  Luftatmung  dienenden 
Lungen. 

Bei  Fischen  mit  reiner  Kiemenatmung  sind  beide  Gebiete  hintereinander  Anordnung  bei 
angeordnet,  in  der  Art,  daß  das  Körperkreislaufgebiet  dem  respiratorischen  """"^[J^g"^"" 
Gebiet  folgt.  Die  Fig.  62  mag  das  erläutern.  Das  Herz  der  Fische,  das  hinter 
dem  Kiemenapparat  ventral  vom  Darmrohr  liegt,  ist  einfach  und  venös,  d.  h. 
es  wird  nur  von  venösem  Blute  durchströmt.  Ein  besonderer  Herzabschnitt,  der 
V  e  n  e  n  s  i  n  u  s  ('j'.  z*.^ ,  nimmt  das  Blut,  das  aus  dem  Körper  zurückströmt,  auf  und 
übergibt  es  dem  nächsten  Abschnitt,  demV orh.oi(auJ.  Aus  diesem  gelangt  es  in 
einen  sehr  dickwandigen  Kammer- Abschnitt  ("z/^,  dessen  Zusammenziehung  es 
dem  Herzbulbus  (c.art.)  weitergibt.  Klappen,  die  sich  nur  in  der  angegebenen 
Stromrichtung  öffnen,  sorgen  dafür,  daß  bei  den  rhythmisch  aufeinanderfolgenden 
Zusammenziehungen  der  einzelnen  Herzabschnitte  das  Blut  nicht  etwa  einmal 
in  der  entgegengesetzten  Richtung  getrieben  wird.  An  den  Herzbulbus  schließt 
sich  dann  ein  unpaarer  Gefäßstamm  [Truncus  arteriosus,  ventrale  Aorta  z'.  öc') 
an,  der  unter  dem  Kiemenapparat  in  der  Mittellinie  nach  vorn  verläuft  und 
die  einzelnen  z  u  f  ü  h  r  e  n  d  e  n  K  i  e  m  e  n  g  e  f  ä  ß  e  fa.  /^a  («.^  zu  den  Kiemenbogen  ent- 
sendet. Diese  Gefäße  steigen  zur  Seite  des  Kiemendarmes  in  den  Kiemenbogen 
auf  und  lösen  sich  in  den  Kiemen  in  ein  reiches  Netz  von  Haargefäßen  auf,  die 
in  den  Kiemen  in  nahe  Berührung  mit  dem  Atemwasser  kommen  (s.  Kiemen- 
apparat). Aus  dem  Kapillarnetz  sammeln  dann  abführende  Kiemen- 
gefäße (e.br.a.)  das  nunmehr  mit  Sauerstoff  beladene  (arteriahsierte)  Blut,  ver- 
lassen die  Kiemenbogen  an  ihrem  oberen  Ende  und  vereinen  sich  zu  einem  über 
denselben  gelegenen  Längsstamm,  der  hinten  mit  dem  entsprechenden  der 
anderen  Seite  zu  dem  unpaaren  Hauptgefäß  des  Körperkreislaufgebietes,  der 
unpaarendorsalenAorta(W.  ao.)  zusammentritt.  Aus  dieser,  die  unter  der  Wir- 
belsäule nach  hinten  zieht,  gehen  dann  die  Gefäße  für  die  verschiedenen  Organe 
des  Rumpfes  einschheßhch  der  Extremitäten  ab;  von  einer  vorn  am  Kopfe  ge- 
legenen Verbindung  beider  Längsstämme  entspringen  gewöhnhch  die  Arterien 
für  das  Kopfgebiet.  Aus  allen  den  verschiedenen  Teilen  des  Körperkreislauf- 
gebietes sammeln  dann  Blutadern  (Venen)  das  Blut  und  führen  es  zum 
Herzen  zurück.  Doch  besteht  an  zwei  Stellen  eine  Besonderheit.  Das  Blut, 
das  aus  den  verschiedenen  Teilen  des  Darmrohres  kommt  und  mit  Nahrungs- 


5o8 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Anordnung  bei 
reiner  Lungen- 
atmung. 


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Stoffen  beladen  ist,  wird  nämlich  von  einer  Vene  gesammelt,  die  nicht  sofort 
in  das  Herz,  sondern  zunächst  in  die  Leber  geht.    In  dieser  erfolgt  aufs  neue 

ein  Übergang  der  Vene  in 
ein  Netz  vonHaargef  äßen, 
das  zu  den  Leberzellen  in 
enge  Berührung  tritt  und 
ihnen  das  Material  für  die 
Bereitung  der  Galle  zu- 
führt. Somit  besteht  für 
die  Leber  außer  der  Leber- 
arterie auch  noch  eine 
Vene,  die  Blut  in  dasOr- 
g  a  n  hineinführt,  eine  sog. 
Pfortader  der  Leber 
(h.p.v.),  und  dasBlut  dieses 

Pfortader- Kreislauf  ge- 
bietes  macht  somit  zwei- 
mal eine  Verteilung  in  ein 
Haargefäßnetz  durch:  im 
Darm  und  in  der  Leber. 
Aus  der  Leber  wird  dann 
sämtliches  Blut  durch  eine 
Lebervene  (h.v.)  abge- 
führt, diegewöhnlichselb- 
ständig  in  den  Venensinus 
des  Herzens  einmündet. 
Eine  ganz  entsprechende 
Einrichtung  besteht  an 
den  Nieren :  auch  diese  er- 
halten durch  je  eine 
Pfortader  (die  neben  der 
Nierenarterie  besteht) 
venöses  Blut  (aus  dem 
Schwanz)  zugeführt, 
und  geben  es  in  veränder- 
tem Zustand  durch  die 
Nierenvenenwiederab. 
Recht  anders  sieht  das 
Schema  aus,  das  uns  das 
Verhalten  des  Kreislaufs 
bei  einem  Vogel  oder  einem  Säuger  veranschaulicht  (Fig.  63).  Hier  ist  das  Herz 
seiner  ganzen  Länge  nach  in  eine  rechte  und  eine  linke  Hälfte  geteilt,  von  denen 
eine  jede  aus  einem  Vorhof  und  einerKammer  besteht.  Ein  besonderer  Venen- 
sinus ist  nicht  mehr  vorhanden:  derselbe  ist  in  den  rechten  Vorhof  aufgegangen; 


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Anordnung  der  Kreislauf- Gebiete.    Teilung  des  Herzens 


509 


Lungenarterien 


Bechter  Vorhof 


Hechte-  _ 
Kammer 


Körper- 
venen 


-  Lungenvenen 


Linker  Vorhof 


r  r  LinJce 
Kammer 


Körper- 
arterien 


ebenso  fehlt  ein  besonderer  Herzbulbus.  Die  beiden  Kreislaufgebiete  sind  jetzt 
nicht  mehr  hinter-,  sondern  nebeneinander  angeordnet,  so  daß  sowohl  das 
venöse  wie  das  arterielle  Blut  durch  das  Herz  hindurchgeführt  wird :  das  venöse 
durch  die  rechte,  das  arterielle  durch  die  linke  Hälfte.  Das  aus  dem  Körper 
zurückkehrende  Blut  wird  durch  die  Hauptvenenstämme  zunächst  in  den 
rechten  Vorhof  und  von  hier  in  die  rechte  Kammer  geleitet,  die  es  durch  die 
Lungenarterien  in  die  Lungen  treibt.  Hier  wird  es  ,, durchgeatmet"  und  gelangt 
in  arterialisiertem  Zustand  durch  die  Lungenvenen  wieder  heraus.  Statt  nun 
aber  sofort  in  die  Körperorgane 
geleitet  zu  werden,  kommt  es 
mit  der  Lungenvene  wieder  in 
das  Herz  zurück,  diesmal  jedoch 
in  die  linke  Hälfte  desselben, 
durchströmt  den  linken  Vorhof 
und  die  linke  Kammer  und  wird 
von  dieser  in  die  Aorta  gewor- 
fen, von  der  sämtliche  Gefäße  des 
Körperkreislaufes  entspringen. 
Aus  den  Körperorganen  sammeln 
die  Körpervenen  das  Blut  und 
führen  es  zum  Herzen  zurück, 
wobei,  wie  bei  den  Fischen,  das 
Darmblut  zunächst  durch  die 
Pfortader  in  die  Leber  geführt 
wird  und  hier  noch  einmal  ein 
Kapillarnetz  zu  durchströmen 
hat,  ehe  es  durch  die  Lebervene 
dem  Herzen  zugeleitet  wird.  Da- 
gegen fehlt  ein  Pfortaderkreislauf  der  Nieren.  Somit  ist  hier  bei  der  Lungen- 
atmung die  Anordnung  grundsätzlich  die  gleiche  wie  bei  der  Kiemenatmung: 
das  venöse  Körperblut  wird  zunächst  dem  Reinigungsapparat  der  Atemorgane 
übergeben,  um  dann  erst  in  besserem  Zustande  den  Körperorganen  zugeführt 
zu  werden;  dadurch  aber,  daß  es  dazwischen  noch  einmal  durch  das  Herz  ge- 
leitet wird,  gelangt  es  unter  unmittelbarere  Wirkung  dieses  Motors,  der  nun 
mit  einer  Zusammenziehung  beide  Blutarten  weiter  treibt  und  sowohl  das 
kleine  wie  das  große  Kreislauf  gebiet  speist.  Rein  räumlich  betrachtet  sind  diese 
beiden  Gebiete  mehr  nebeneinander  angeordnet. 

Die  Übergänge  zwischen  den  beiden  geschilderten  Zuständen  festzustellen, 
die  Herausbildung  des  einen  aus  dem  anderen  zu  verfolgen,  ist  eine  der  inter- 
essantesten Aufgaben  der  Wirbeltier-Morphologie.  Wir  können  ihr  hier  nicht 
weiter  nachgehen  und  müssen  uns  begnügen,  der  gegebenen  Schilderung  nur 
noch  wenige  Ergänzungen  zuzufügen. 

I.  Die  Teilung  des  Herzens  in  eine  rechte  und  eine  hnke  Hälfte  bahnt 
sich  bei  den  Amphibien  an  und  führt  hier  zunächst  zu  einer  Teilung  des  Vor- 


Fig.  63.     Schematische  Darstellung  des  Gefäßsystems  mit  den 
Lymph-  und  Chylusgefäßen.     Nach  Gegenbaur. 


Teilung  des 

Herzens  in  zwei 

Hälften. 


gefäße. 


510  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

hofes;  bei  den  Reptilien  bildet  sich  allmählich  auch  die  Teilung  des  Kammer- 
abschnittes aus,  ohne  aber  ganz  vollständig  zu  werden.  Letzteres  ist  erst  bei 
Vögeln  und  Säugern  der  Fall.  Somit  ist  bei  Amphibien  noch  die  Möglichkeit 
gegeben,  daß  in  dem  einheitlichen  Kammerabschnitt  eine  Vermischung  der 
beiden  aus  dem  linken  und  dem  rechten  Vorhof  kommenden  Blutarten  erfolgt, 
mithin  den  Körperorganen  das  Blut  nicht  in  dem  hochwertigen  Zustand  über- 
liefert wird,  wie  es  aus  den  Lungen  kommt.  Die  trägeren  Lebensäußerungen 
der  Kaltblüter  mögen  damit  zusammenhängen.  Beim  Frosch  wird  durch  einen 
sehr  sinnreichen  Klappenmechanismus  im  Herzen  dieser  Fehler  ausgeghchen. 
Venensinus  und  Herzbulbus  beginnen  in  der  Klasse  der  Reptilien  als  selbstän- 
dige Herzabschnitte  zu  verschwinden.  Im  übrigen  rückt  das  Herz,  das  bei  den 
Fischen  weit  vorn,  am  Kopfe,  liegt,  bei  den  höheren  Wirbeltieren  immer  weiter 
nach  hinten,  so  daß  es  in  die  Brusthöhle  zu  liegen  kommt. 
Kiemenbogen-  2.  Ki e m e nb o ge ngcf  äß c  gibt  es  bei  den  Fischen  embryonal  auf  jeder 

Seite  gewöhnlich  sechs,  nämlich  je  eins  für  den  Kiefer-  und  den  Zungenbein- 
bogen.und  vier  für  die  darauffolgenden,  meist  in  der  Vierzahl  vorhande- 
nen kiementragenden  Bogen.  Die  für  den  Kiefer-  und  Zungenbeinbogen  be- 
stimmten Kiemengefäße  gehen  gewöhnhch  schon  embryonal  wieder  zugrunde, 
und  die  genannten  Gebiete  erhalten  dann  arterielles  Blut  aus  benachbarten 
Gefäßen.  Auch  bei  den  Amphibien  und  den  Amnioten  werden  embryonal  diese 
sechs  Kiemenbogengefäße  jederseits  angelegt,  aber  nur  bei  den  fischähnlichen 
Amphibien  sowie  bei  den  Larven  der  anderen  noch  im  Dienste  der  Kiemen- 
atmung verwendet,  während  sie  bei  den  Amnioten  von  vornherein,  ohne  sich 
in  den  Kiemenbogen  kapillär  zu  verästeln,  von  dem  ventralen  Gefäßstamm 
aus  ununterbrochen  als  Aortenwurzeln  zu  dem  Längsgefäß  über  den  Kiemen- 
bogen verlaufen,  das  sich  mit  dem  der  anderen  Seite  zu  der  unpaaren  dorsalen 
Aorta  vereinigt.  Das  definitive  Schicksal  dieser  Gefäße,  das  bei  den  einzelnen 
Gruppen  der  Amphibien  und  Amnioten  schwankt,  geht  für  einige  derselben 
aus  den  schematischen  Darstellungen  der  Fig.  64  hervor.  Sie  zeigen,  daß  die 
Gefäße  des  Kiefer-  und  Zungenbeinbogens  überall  wieder  zugrunde  gehen,  und 
daß  auch  den  fünften  Gefäßbogen  gewöhnlich  das  gleiche  Schicksal  trifft.  Da- 
gegen bleibt  der  dritte  stets  auf  beiden  Seiten  erhalten  und  setzt  sich  in  das 
Gefäß  für  die  Organe  des  Kopfes  nach  vorn  fort.  Seine  Verbindung  mit  dem 
hinteren  Abschnitt  des  dorsalen  Längsstammes,  der  die  unpaare  Aorta  bilden 
hilft,  kann  er  behalten  (Fig.  64D)  oder  verlieren  (Fig.  64 E).  Der  vierte  Gefäß- 
bogen bildet  stets  eine  Haupt-Aortenwurzel,  entweder  beiderseitig,  wie  bei 
Amphibien  und  Reptilien  (Fig.  64C,  D)  oder  einseitig,  wie  bei  Vögeln  und 
Säugern  (Fig.  64 E,  F).  In  der  Tatsache,  daß  bei  den  Vögeln  der  rechte,  bei 
den  Säugern  aber  der  linke  vierte  Gefäßbogen  den  definitiven  Aortenbogen 
bildet,  während  der  der  anderen  Seite  zugrunde  geht,  ist  ein  grundsätzlicher 
Unterschied  zwischen  beiden  Klassen  gegeben,  der  sie  beide  zu  selbständigen 
Abkömmlingen  des  Reptilienstammes  stempelt.  Der  sechste  Bogen  läßt  stets 
die  zu  den  Lungen  tretenden  Gefäße  aus  sich  hervorgehen  und  kann  dabei 
seine  Verbindung  mit  der  Aorta  erhalten  oder  verlieren.    Durch  eine,  ebenfalls 


Teilung  des  Herzens.    Kiemenbogengefäße.    Haupt-Venenstämme 


511 


in  verschiedener  Weise  erfolgende,  Zerlegung  des  ventralen  unpaaren  Gefäß- 
stammes werden  die  verschiedenen  genannten  Gefäße  in  bestimmter  Weise  der 
rechten  oder  der  linken  Kammerhälfte  zugeteilt,  vor  allem  der  Stamm  der 
Lungenarterie  dem  rechten  venösen  Kammerabschnitt. 

3.  Die  Anordnung  der  großen  Haupt-Venenstämme,  die  das  Blut  zum 
Herzen  zurückführen,  ist  bei  den  Fischen  und  bei  den  Embryonen  der  übrigen 


D 


Haupt- 
Venenstämme. 


Fig.  64.  Schema  der  Aortenbogen  bei  verschiedenen  Wirbeltierklassen,  von  der  Rückseite  gesehen.  A  Grund- 
schema, unter  Weglassung  der  Lungenarterien  (.?)  für  Selachier  geltend.  B  Knochenfisch.  C  Frosch  (links  junges, 
rechts  erwachsenes  Tier).  D  Reptil  (neugeborene  Eidechse).  E  Vogel.  F  Säuger.  / —  VI  erster  bis  sechster 
Aortenbogen.  1  innere,  3  äußere  Halsschlagader  (Carotis).  3  Lungenarterie.  4  Körperschlagader  (unpaare  Aorta). 
5    Wurzel    der   Lungenarterien.      6"   Aortenwurzel.      6"'   linke   Aortenwurzel,    aus   dem   rechten  Ventrikel   kommend. 

7  Botalloscher  Gang.     Aus  Hesse-Doflein. 

Wirbeltiere  streng  symmetrisch.  Aus  der  vorderen  Körperhälfte  sammeln  zwei 
vordere  Kardinalvenen,  aus  der  hinteren  zwei  hintere  Kardinalvenen 
das  Blut;  die  vordere  und  die  hintere  Kardinalvene  jeder  Seite  vereinen  sich 
zu  einem  kurzen  Querstamm,  dem  Cuvierschen  Gang,  der  in  den  Venensinus 
einmündet.  In  diesen  senkt  sich  außerdem  gewöhnlich  die  Lebervene  selb- 
ständig ein.  Von  den  mannigfachen  Weiterbildungen  und  Umgestaltungen,  die 
diese  Anordnung  erfährt,  ist  besonders  zu  nennen  die  Entstehung  eines  un- 
paaren Gefäßes  (der  hinteren  Hohlvene),  die  schon  bei  den  Amphibien 
aus  der  Lebervene  nach  hinten  aussproßt  und  allmählich  die  Hauptmasse  des 
Blutes  der  hinteren  Körperhälfte  übernimmt.    Beim  Menschen  wird  die  ur- 


c  j  2  Ernst  Gaupp  :  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

sprünglich  symmetrische  Anordnung  der  Venen  in  eine  asymmetrische  umge- 
wandelt, indem  das  Blut  der  linken  Körperseite  in  die  Gefäße  der  rechten  über- 
geführt wird  und  die  Gefäße  der  linken  Seite  streckenweise  zugrunde  gehen.  — 
Lymphgefäß-  Dem  Blutgcf äßsystcm,  das  wir  hiermit  in  seinen  Grundzügen  betrachtet 

System,  j^g^j^gjj^  jg^  a,ls  ciuc  Art  Nebenbahn  das  Lymphgef äßsystem  angeschlossen, 
dessen  Beziehungen  zu  jenem  nicht  nur  dadurch  zum  Ausdruck  kommen,  daß 
es  in  das  Venensystem  einmündet,  sondern  auch  dadurch,  daß  entwickelungs- 
geschichtlich  die  ersten  Lymphgefäße  von  embryonalen  Venen  aus  ihren  Ur- 
sprung nehmen,  von  diesen  auswachsen.  Wie  schon  gesagt,  sind  die  Quellen, 
aus  denen  die  Lymphgefäße  ihre  Lymphe  sammeln,  vornehmlich  in  zwei  große 
Gebiete  zu  sondern,  deren  eines  durch  die  Lymphspalten  des  ganzen  Körpers 
mit  Ausnahme  der  Darmwand,  und  deren  zweites  eben  durch  die  Lymphgefäße 
der  letzteren  gebildet  wird  (parenchymatöse  und  Chylus-Quelle  des  Lymphgefäß- 
systems Fig.  63).  Die  geschlossenen  Lymphräume  selbst  haben  bei  den  niederen 
Wirbeltieren  gewöhnlich  die  Form  großer  weiter  Räume,  die  sowohl  ober- 
fiächhch  unter  der  Haut,  wie  auch  im  Innern  des  Körpers  sich  ausdehnen.  Die 
Leichtigkeit,  mit  der  man  beim  Frosch  die  Haut  vom  Körper  abziehen  kann, 
beruht  auf  dem  Vorhandensein  dieser  großen  Lymphräume  unter  der  Haut. 
Demgegenüber  stellen  bei  den  Säugern  die  Lymphgefäße  wirklich  enge  Gefäße 
dar.  Um  die  Lymphe  in  jenen  großen  Räumen  vorwärts  zu  bewegen,  besitzen 
die  niederen  Wirbeltiere  besondere  Lymphherzen,  die  einer  selbständigen 
Zusammenziehung  fähig  sind,  in  wechselnder  Anzahl  (beim  Frosch  z.  B.  vier). 
Bei  Vogel-Embryonen  treten  sie  zum  letzten  Male  auf. 
Anhangsorgane  Als  A n h a n gs o r g a u c    des    Blut-    und    Lymphgefäßsystems   sind 

Lymphgefäß-  cndHch  noch  zu  nennen  das  Knochenmark,  das  in  den  kleinen  und  großen 
Systems.  Hohlräumen  der  Knochen  eingeschlossen  ist;  Lymphknoten,  die  von  den 
Reptilien  an,  Lymphdrüsen,  die  bei  Vögeln  und  Säugetieren  vorkommen, 
Blutlymphdrüsen  und  endlich  die  Milz,  die  als  blutrotes,  mehr  kugliges 
oder  mehr  länglich  bandförmiges  Organ  in  der  Bauchhöhle,  wechselnden 
Stellen  des  Darmrohres  angelagert,  schon  von  den  Fischen  an  sich  findet.  Die 
Neubildung  der  geformten  Bestandteile  des  Blutes,  aber  auch  die  Zerstörung 
verbrauchter  roter  Blutkörperchen  ist  die  Aufgabe  dieser  Organe,  an  deren 
Bildung  lediglich  das  mittlere  Keimblatt  beteiligt  ist. 

8.  Harn-  und  Geschlechtssystem;  Nebenniere.     Leibeshöhle. 

8.  Harn-  und  Dic  letzten  Organsysteme,  deren  Besprechung  uns  noch  übrig  bleibt,  sind 

^sy'stera;  ^'    das  hambcreitende  (Exkrctions-)  und  das  Geschlechts- (Genital-) System,  denen 

L^beshöiüe     '^^^  Nebenniere  ihrer  räumhchen  Beziehungen  wegen  anzuschließen  ist.    Die 

Aufgaben.  Be-  Organe  des  harnbereitenden  und  des  Geschlechts- Systems  stehen  auffallender- 

ziehungen  der  ...  .  -ctt-    1      1    •  ,       1        •       i      •  t-.        •    1 

Harn-  und     wcisc  bci  dcu  mcistcn  Wirbeltieren  morphologisch  in  engsten  Beziehungen  zu- 
^syst^?zu-    einander.    ,, Auffallenderweise",  denn  vom  Standpunkte  funktioneller  Betrach- 
einander.      tung  aus  lasscu  sich  kaum  größere  Gegensätze  denken,  als  gerade  diese  Organ- 
systeme sie  verkörpern:  das  eine  das  ,, Abfuhrsystem",  bestimmt,  die  Umsatz- 
stoffe der  Organtätigkeit  als  Harn  aus  dem  Körper  herauszuschaffen,  das  andere 


Lymphgefäßsyst.   Anhangsorgane  des  Blut-  u.  Lymphgefäßsyst.    Harn-  u.  Geschlechtssyst.     5  j  3 

mit  der  allerhöchsten  und  wichtigsten,  über  die  Grenze  des  individuellen  Lebens 
hinausreichenden  Aufgabe  betraut,  die  Geschlechtsstoffe,  Eier  und  Samen,  zu 
produzieren,  häufig  genug  auch,  für  ihre  Vereinigung  und  für  die  Entwicke- 
lung  der  Nachkommen  die  Bedingungen  zu  schaffen,  somit  der  Erhaltung  der 
Art  zu  dienen.  Das  Auffallende,  das  in  der  vielfachen  Verknüpfung  zweier  so 
verschiedenwertiger  Organsysteme  liegt,  einer  Verknüpfung,  die  es  sogar  ge- 
stattet und  fordert,  von  einem  Urogenitalsystem  zu  reden,  wird  verständ- 
licher durch  die  Überlegung,  daß  die  Umsatz-  wie  die  Geschlechtsprodukte,  so 
ungleicher  Natur  sie  sind,  doch  beide  aus  dem  Organismus  herausgeschafft 
werden  müssen:  daraus  ergibt  sich  die  Möglichkeit  und  Zweckmäßigkeit  einer 
engeren  Verknüpfung  beider  Organsysteme  untereinander,  die  im  Sinne  einer 
Betriebsvereinfachung  darauf  hinausläuft,  daß  für  diese  Herausschaffung  der 
beiderlei  Produkte  aus  dem  Organismus  die  gleichen  Wege  verwendet  werden. 

Morphologisch  werden   die  engen  Beziehungen  beider  Organsysteme  zu-     Beziehungen 
einander  hergestellt  durch  die  Beziehungen,  die  ein  jedes  von  ihnen  zu  der     sys^eme'^zur" 
Leibeshöhle,  demCoelom,  besitzt.    In  Zusammenhang  mit  der  Leibeshöhle     Leibeshöhie. 
nehmen  die  harnausscheidende  Drüse  oder  Niere,  ferner  die  Keimdrüsen 
(Hoden  und  Eierstock),   endlich  die  ausführenden    Kanäle,    die  für  die 
Harn-  und  Geschlechtsstoffe  bestimmt  sind,  ihre  Entstehung. 

Fassen  wir  zunächst  die  Harndrüse  oder  Niere  ins  Auge,  so  tritt  uns  Hamdrüse 
die  bemerkenswerte  Tatsache  entgegen,  daß  das  so  bezeichnete  Organ  nicht 
überall  dieselbe  Bildung  ist,  daß  sich  vielmehr  in  der  Wirbeltierreihe  drei  mor- 
phologisch verschiedene  Formen  der  Niere  unterscheiden  lassen:  die  Vorniere, 
Urniere  und  Nachniere. 

Die  Vorniere,  die  man  als  das  ursprünglichste  Harnorgan  der  Wirbel-  Vomiere, 
tiere  aufzufassen  gewöhnt  ist,  kommt  jetzt  unter  den  Kranioten  nur  noch  bei 
einigen  wenigen  Formen  (Myxine,  einigen  Knochenfisch-Familien)  zu  der  Be- 
deutung eines  während  des  erwachsenen  Zustandes  funktionierenden  Organs; 
bei  anderen,  wie  bei  den  Amphibien,  erlangt  sie  diese  Bedeutung  während  des 
Larvenlebens,  um  dann  rückgebildet  zu  werden;  bei  noch  anderen,  wie  bei 
Knorpelfiossern  und  allen  Amnioten,  wird  sie  schon  von  vornherein  in  sehr 
rudimentärer  Form  angelegt.    Sie  besteht  aus  einer  verschieden  großen  Anzahl 
von  Kanälchen,  die  mit  ihrem  inneren  Ende  in  die  Leibeshöhle,  mit  ihrem 
äußeren  in  einen  Gang,  den  Vornierengang,  einmünden  (Fig.  65,  rechte  Seite). 
Dieser  wieder  erstreckt  sich  nach  hinten  bis  in  die  Gegend  der  Kloake  und  mün- 
det in  diese  aus.    Die  Kanälchen  entstehen,  segmental  angeordnet,  im  Gebiet 
mehrerer  vorderer   Rumpfsegmente   als   Bildungen  des   äußeren   Blattes   des 
mittleren  Keimblattes,  da,  wo  die  Seitenplatten  desselben  in  die  Ursegmente  über- 
gehen (Fig.  8);  durch  Vereinigung  ihrer  äußeren  Enden  kommt  der  Vornierengang 
zustande,  der  dann  selbständig  weiter  nach  hinten  wächst  und  in  die  Kloake 
-durchbricht.   Die  Funktion  dieses  Organs  hat  man  sich  so  vorzustellen,  daß  die 
Umsatzstoffe  der  Organtätigkeit  aus  den  Blutgefäßen  zunächst  in  die  Leibes- 
höhle abgeschieden  und  dann  aus  dieser  durch  die  inneren  Öffnungen  der  Vor- 
nierenkanälchen   aufgenommen   und   weiter  zum  Vornierengang   und   in   die 

K.d.G.III.iv,  Bd2  ZeUenlehre  etc.  II  33 


514 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Kloake  geschafft  werden.  Zu  diesem  Behufe  besitzen  die  Vornierenkanälchen 
an  ihren  inneren  Öffnungen  (den  ,, Wimpertrichtern")  FHmmerzellen,  die  einen 
Flüssigkeitsstrom  in  der  Richtung  von  der  Leibeshöhle  gegen  das  Innere  der 
Vornierenkanälchen  erzeugen,  und  außerdem  bilden  sich  durch  kleine  Seiten: 
äste  der  Aorta  gerade  gegenüber  jenen  Öffnungen  besondere  Gefäßknäuel 
[Glomeruli),  die  in  die  Leibeshöhle  hineinragen  und  wohl  ganz  besonders  die 
Stätten  bilden,  an  denen  eine  Absonderung  von  Harnsubstanzen  in  die  Leibes- 
höhle erfolgt.    Die  Zahl  der  Vornierenkanälchen  ist  meist  nicht  groß  (3 — 5  auf 


JRiicJcenmark 


Ursegment, 
abgeschnürt 

Malpighisches 
Körperchen 
Urnieren- 
kanälchen 


Ursegment 
Chorda 


Verbindungsstiel  zwischen 
Ursegment  u.  Seitenplatten 

Wimpertrichter 
Vornieren- 
kanälchen 

Vornierenkanälchen 


Keimdrüse 

Anlage  der 
Nebenniere 


Glomerulus  der  Vorniere 

Aorta 
Mesenterium 


Fig.  65.     Scheraatisclie  Darstellung  des  Vornieren-  und  Urnierensystems  der  Wirbeltiere.     Quersclinitt.      Rechts  ist 
die  Vorniere,  links  die  Umiere  dargestellt.     Links  ist  auch  die  Anlage  der  Keimdrüse  und  der  Nebenniere  zu  sehen. 

Nach  WlEDERSHE\M. 


jeder  Seite  bei  vielen  Haien,  8 — 12  bei  Blindwühlen,  i  bei  manchen  Knochen- 
fischen). 

Mit  dem  hier  in  den  Grundzügen  seines  Baues  geschilderten  Organ  hat 
man  auch  das  Exkretionssystem  des  Amphioxus  verglichen,  ja,  man  hat  in  dem 
letzteren  geradezu  eine  Vorniere  gesehen,  die  sich  von  dem  hypothetischen 
Ausgangszustand  nur  wenig  entfernt  hat.  Es  bestehen  beim  Amphioxus  näm- 
lich jederseits  ca.  90  Kanälchen,  die,  hintereinander  angeordnet,  aus  der  Leibes- 
höhle in  den  Peribranchialraum  führen  (Fig.  56).  Da  nun  dieser,  wie  wir  bei 
Besprechung  der  Kiemenspalten  sahen,  eine  sekundäre  Bildung,  und  seine 
innere  Wand,  auf  der  die  Nierenkanälchen  münden,  tatsächlich  die  ursprüng- 
liche äußere  Körperoberfläche  darstellt,  so  haben  wir  beim  Amphioxus  ein 
System  von  Kanälchen,  die  aus  der  Leibeshöhle  auf  die  äußere  Körperober- 
fläche führen  und  in  dieser  Richtung  die  Umsatzstoffe  aus  dem  Körper  hinaus 
schaffen,  — womit  sich  eine  Einrichtung  wiederholt,  die  ähnlich  auch  bei  manchen 
Wirbellosen  besteht.  Auf  der  anderen  Seite  wäre  an  sie  die  Vorniere  der  Kra- 
nioten  anzuschließen,  die  nur  die  Weiterbildung  zeigt,  daß  bei  ihr  die  Kanäl- 
chen nicht  mehr  auf  der  äußeren  Haut  münden,  sondern  durch  ihre  Vereinigung 
den  Vornierengang. bilden,  der  in  die  Kloake  durchbricht.    Es  darf  nicht  ver- 


Vorniere.    Umiere.    Nachniere  e  I  e 

schwiegen  werden,  daß  diese  Auffassung  der  Dinge  auch  bestritten  wird,  und 
daß  auch  das  tatsächliche  Verhalten  der  Nierenkanälchen  des  Amphioxus  noch 
nicht  ganz  sicher  ist. 

Dem  Gesagten  zufolge  stellt  die  Vorniere  bei  den  Kranioten  in  weitaus  umiere. 
den  meisten  Fällen  ein  rudimentäres  Organ  dar,  das  nur  vorübergehend  oder 
nie  mehr  zur  Funktion  kommt.    An  seine  Stelle  tritt  überall  die  Urniere,  die 
bei  den  Amnionlosen  zum  bleibenden,  zeitlebens  funktionierenden  Harnorgan 
wird.    Zeitlich  tritt  sie  später,  örtlich  hinter  der  Vorniere  auf,  im  übrigen 
besteht  sie,  dieser  ähnlich,  in  ihrer  ursprünglichen  Form  aus  Kanälchen,  die 
mit  einem  Ende  in  die  Bauchhöhle,  mit  dem  anderen  in  den  Vornierengang 
münden.    Auch  diese  Urnierenkanälchen  sind  segmental  angeordnet,  sprossen 
abernicht  als  neueBildungen  aus  der  Leibeshöhle  aus,  sondernstellendiestarkver- 
längerten  Stiele  dar,  durch  die  ursprünglich  die  Ursegmente  mit  der  Leibeshöhle 
zusammenhängen  (Fig.  8).   Nach  Ablösung  der  Ursegmente  wachsen  diese  Stiele, 
die  mit  der  Leibeshöhle  in  Verbindung  bleiben,  stark  aus,  krümmen  sich  nach 
außen  und  brechen  in  den  bereits  vorhandenen  Vornierengang  durch,  der  so 
zum  Urnierengang  wird  (Fig.  65,  linke  Seite).  Weiteres  Längenwachstum  läßt 
die  Kanälchen  sich  stark  schlängeln,  und  zugleich  entsteht  im  Anschluß  an  ein 
jedes    ein   eigentümliches    Körperchen,    das    Nierenkörperchen    (Malpighische 
Körperchen),  in  der  Weise,  daß  eine  kleine  bläschenförmige,  nach  innen  vor- 
springende Ausbuchtung  des  Kanälchens  durch  ein  von  der  Aorta  aus  ihr  ent- 
gegenwachsendes Gefäß,  das  einen  kleinen  Gefäßknäuel  (Glomerulus)  bildet, 
eingestülpt  wird  (Fig.  65).    Das  Bläschen  bildet  dann  eine  Art  Kapsel  um  den 
Knäuel  (Glomeruluskapsel)  und  stellt  ganz  besonders  eine  Stätte  für  die  Ab- 
sonderung des  Harnes  dar,  der  den  Gefäßen  des  Knäuels  durch  die  ihm  eng  auf- 
liegende  eingestülpte   Bläschenwand   entnommen  wird.     Aber   auch   gewisse 
Strecken  des  Urnierenkanälchens  selbst  übernehmen  diese  Funktion,  und  end- 
lich können  auch  durch  die  Leibeshöhlenöffnungen  der  Urnierenkanälchen,  an 
denen  sich  wieder,  wie  bei  den  Vornierenkanälchen,  Wimpertrichter  ausbilden, 
Umsatzstoffe,  die  in  die  Leibeshöhle  entleert  wurden,  aus  dieser  in  die  Urnieren- 
kanälchen geschafft  werden.   Häufig  freiHch  schließen  sich  diese  ursprünglichen 
Öffnungen  nachträglich,  so  daß  dann  nur  die  Nierenkörperchen  und  gewisse 
Strecken  der  Kanälchen  selbst  als  Stätten  für  die  Harnabsonderung  bleiben. 
Das  geschilderte  Organ,  die  Urniere,  funktioniert,  wie  schon  gesagt  wurde, 
bei  den  Anamniern  zeitlebens  als  harnabsonderndes  Organ,  während  es  bei  den 
Amnioten  diese  Aufgabe  meist  nur  embryonal,  nur  sehr  selten  noch  (und  dann 
auch  nur  eine  kurze  Zeit)   nach   der  Geburt,  vielfach  überhaupt  nicht  mehr 
erfüllt.    Auf  sein  Schicksal  kommen  wir  noch  zurück.    An  seine  Stelle  tritt  bei 
den  Reptilien,  Vögeln  und  Säugern  die  bleibende  oder  Nachniere.    Sie  ent-NacUmero. 
steht  aus  zwei  Anlagen:  einem  Gang  (Harnleiter  oder  Ureter),  der  von  dem  Ur- 
nierengang auswächst,  und  einem  Bildungsgewebe,  das  sich  an  das  Bildungs- 
gewebe der  Urnierenkanälchen  anschließt,  gewissermaßen  nur  den  hintersten 
Abschnitt  desselben  darstellt,  und  somit  in  letzter  Instanz  auf  eine  Anzahl 
Verbindungsteile  von  Ursegmenten  mit  der  Leibeshöhle  zurückzuführen  ist. 

33* 


5i6 


Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 


Einzelheiten  dieser  Entwickelung  müssen  hier  unerörtert  bleiben,  doch  sei  be- 
merkt, daß  auch  die  bleibende  Niere  in  ihrem  fertigen  Zustande  aus  Harn- 
kanälchen  besteht,  von  denen  ein  jedes  mit  einem  Nierenkörperchen  (aus  Ge- 
fäßknäuel und  Kapsel  bestehend)  beginnt,  dann  in  einen  sezernierenden  und 
endlich  in  einen  lediglich  ausführenden  Abschnitt  sich  fortsetzt.  Dagegen 
kommen  den  Kanälchen  der  bleibenden  Niere  niemals  mehr  freie  Öffnungen 
nach  der  Leibeshöhle  zu. 

Dem  Gesagten  zufolge  entsteht  der  Ureter  von  dem  Urnierengang  aus, 
und  bei  Echsen  und  Schlangen  mündet  er  dementsprechend  auch  zeitlebens  in 


Hoden 


Enddarm 
Harnblase 


Nebenniere 


■Niere 
(Urniere) 


NebenJioden 
(Urniere) 


Hoden 


Samenleiter 
(Urnierengang)! 


Urnierengang    Enddarm- - 
(Harn-  u  Samen- 
leiter) 


Harnblase 


Cloake 


Nebenhoden 

(Urniere) 


Hoden 


Samenleiter 
(Urnierengang/^  f/  u 

//  /'/ 


Niere 
(Nachniere) 

Enddarm— 


Harnleiter 

(Ureter) 


Cloake 


Niere 
(Nachnie 


Harnleiter  j 

(Ureter) 


A 


B 


Harriblase 


ürogenitals  inus 

c 


Fig.  66  A-D.     Schematische  Darstellung  der  Hara-  und  männlichen   Geschlechtsorgane  bei  Fröschen  (.-/), 
Sauriern  (ß),  Schildkröten  (C)  und  beim  Menschen  {D). 


Geschlechts- 
organe. 
Gonochorismus 
und  Herma- 
phroditismus. 


den  genannten  Gang  und  erst  durch  dessen  Endstück  in  die  Kloake  ein;  dagegen 
werden  bei  Krokodilen,  Schildkröten,  Vögeln  und  Säugern  beide  Gänge  selb- 
ständig voneinander,  und  der  Ureter  mündet  für  sich  entweder  in  die  Kloake 
oder  in  den  von  dieser  aus  entstehenden  Sinus  urogenitalis,  von  dem  aus 
schließlich  bei  den  Säugern  seine  Mündung  auf  die  Blase  verlegt  wird  (Fig.  66). 
Eine  solche,  als  Harnreservoir  dienende  und  von  der  ventralen  Kloakenwand 
entstehende  und  somit  ventral  vom  Darm  gelegene  Harnblase  kommt  den 
Amphibien,  vielen  Reptilien  und  den  Säugern  zu;  wir  werden  noch  einmal  auf 
sie  zurückkommen  müssen.  Mit  dem  gleichnamigen  Gebilde,  das  dorsal  vom 
Darm  bei  den  Knochenfischen  liegt,  hat  sie  nichts  zu  tun:  dasselbe  verdankt 
einer  Verschmelzung  beider  Urnierengänge  seine  Entstehung. 

Geschlechtsorgane.  Die  Wirbeltiere  sind  getrennt-geschlechtlich;  die 
Individuen  einer  Spezies  besitzen  somit  entweder  nur  die  männlichen  oder  nur 
die  weiblichen  Keimdrüsen,  Hoden  oder  Eierstöcke.  Von  dieser  Regel 
der  Eingeschlechtlichkeit  oder  des  Gono c hör i Stylus  machen  normalerweise 
die  Myxinen  eine  Ausnahme,  während  abnormerweise  Zweigeschlechtlich- 
keit  {Hermaphroditismus)  bei  allen  Klassen  gelegentlich  beobachtet  wird. 
Doch   handelt   es   sich   wohl   in   allen  diesen  letzteren  Fällen  nur    um  einen 


Nachniere.  Gonochorism.  Hermaphroditism.  Entstehg.  d.Keimdr.  Männl. Geschlechtsorg.     ^17 


Nebenniere 

_  Niere 
{Nach- 


Entstehung  der 
Keimdrüsen. 


niere) 


-Harnleiter 
( Ureter) 


Harnblase 


morphologischen,  nicht  aber  auch  um  einen  physiologischen  Hermaphroditismus, 
d.  h.  um  Individuen,  die  nur  eine  Art  reifer  Geschlechtsprodukte  (Samen  oder 
Eier)  erzeugen,  wenn  auch  bei  ihnen  die  Keimdrüse  der  einen  Seite  den 
Charakter  eines  Hodens,  die  andere  den  eines  Eierstockes  besitzt,  oder  aber 
die  Keimdrüse  ein-  oder  beiderseitig  Mischcharakter  zeigt:  den  Bau  eines 
Hodens  mit  eingesprengten  Eierstockspartien  oder  umgekehrt.  Zeitliche  Ver- 
schiedenheit in  der  Reifung  der  beiderlei  Geschlechtsprodukte  verhindert 
auch  bei  den  Myxinen  Selbstbefruchtung. 

Die  Entstehung  der  Keimdrüsen  (Gonaden),  sowohl 
der  männlichen  wie  der  weiblichen,  erfolgt  von  dem  Epi- 
thel der  Leibeshöhle,  d.  h.  dem  parietalen  Blatt   des  Me- 
soderms  aus,  durch  eine  Wucherung  dieses  Epithels  rechts 
und  links  von  der  Wurzel  des  Darmgekröses.    Indem  das 
Epithel    in    das    unterliegende    Bindegewebe   einwächst, 
kommt  es  in  hier  nicht  näher  zu  schildernder  Weise  zur 
Bildung    der   Keimdrüsen,     in   denen 
durch  Umwandlung  der  Urgeschlechts- 
zellen    die     Keimzellen    (Samenzellen 
und  Eier)  erzeugt  werden.    Die  Urge- 
schlechtszellen     erscheinen     demnach 
als  umgewandelte    Zellen  des  Leibes- 
höhlen-Epithels, doch  ist  auch  für  die    Urogenital 
Wirbeltiere  durch  eine  Anzahl  Befunde        *""'* 
die  Auffassung  gestützt  worden,   daß 
sie   unmittelbarere  Abkömmlinge    der 
befruchteten  Eizelle  darstellen  und  im 
Laufe    der  Entwicklung    nur   in   das  Fig.  66. 

mittlere  Keimblatt,  an  die  Stellen,  wo 
sich  die  Keimdrüsen  bilden  sollen,  verlagert  werden. 

Die  ersten  Entwickelungsvorgänge  sind  für  Hoden  wie  Eierstock  gleich,  Männliche 
später  macht  sich  jedoch  eine  wichtige  Verschiedenheit  bemerkbar.  Beim  ^organe.  * 
männlichen  Geschlecht  gehen  aus  den  Zellsträngen  des  Leibeshöhlenepithels, 
die  in  das  Bindegewebe  einwuchern.  Kanälchen  (Samenkanälchen)  hervor,  in 
denen  später  aus  den  Urgeschlechtszellen  die  reifen  Samenzellen  (Samenfäden) 
erzeugt  werden.  Mit  diesen  Kanälchen  setzt  sich  ein  Organ  in  Verbindung, 
das  wir  früher  schon  kennen  lernten:  die  Urniere.  Diese,  die  bei  den  Anam- 
niern  zeitlebens  als  Harndrüse  funktioniert,  übernimmt  bei  den  Männchen  fast 
aller  derselben  noch  eine  weitere  Aufgabe:  die  Herausleitung  des  Samens  aus 
dem  Hoden.  ErmögHcht  wird  dies  dadurch,  daß  Verlängerungen  der  Urnieren- 
kanälchen  in  die  Anlage  des  Hodens  einwachsen  und  sich  hier  mit  den  Samen- 
kanälchen  verbinden  (Fig.  67A).  Bei  manchen  Formen  geht  nur  der  vordere  Teil 
der  Urniere  diese  Verbindung  mit  dem  Hoden  ein  und  wird  dann  als  Geschlechts- 
niere dem  hinteren  Teil,  der  nur  Harnniere  bleibt,  gegenübergestellt;  bei  ande- 
ren betrifft  der  Vorgang  die  gesamte  Urniere,  die  somit  im  ganzen  sowohl  den 


^Enddarm 


Samenleiter 
( Urnieren 
gang) 

—Hoden 


Nebenhoden  ( Urniere) 


GeschleclitS' 
Organe. 


cjg  Ernst  GaUPP:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Harn  produziert,  als  auch  den  Samen  herausleitet  und  so  die  Aufgabe  eines 
Nebenhodens  erfüllt.  Der  Urnierengang  leitet  demzufolge  bei  den  meisten 
Anamniermännchen  sowohl  Harn  wie  Samen  in  die  Kloake.  Diese  Doppel- 
aufgabe der  Urniere  und  ihres  Ganges  bei  den  Männchen  der  Anamnia  schützt 
das  Organ  auch  bei  den  Amnioten  vor  dem  völhgen  Untergang.  Denn  hier, 
wo  die  Nachniere  als  bleibendes  Harnorgan  auftritt,  wird  die  Urniere  als 
solches  überflüssig  und  demzufolge  bei  den  Weibchen  auch  tatsächlich,  nebst 
ihrem  Gang,  rudimentär.  Dagegen  behält  sie  bei  den  Männchen  die  zweite 
Funktion,  den  Samen  herauszuleiten,  bei;  sie  verbindet  sich  wie  bei  den  Anam- 
niern  durch  besondere  Kanälchen  mit  den  Samenkanälchen  und  stellt  nun  das 
als  Nebenhoden  bekannte,  dem  Hoden  angelagerte  Organ  dar,  das  sich  in 
den  Urnierengang  fortsetzt,  der  hier  lediglich  Samenleiter  ist  (s.  auch  Fig.  66). 
Bei  den  meisten  Wirbeltieren  bleiben  die  Hoden  zeitlebens  da  liegen,  wo  sie 
entstanden,  nämlich  in  der  Bauchhöhle;  nur  bei  der  Mehrzahl  der  Säuger  wan- 
dern sie  aus  dieser  durch  die  Bauchwand  heraus  in  einen  besonderen  Hoden- 
sack. Bei  manchen  Säugern  erfolgt  dieser  Descensus  der  Hoden  nur  vorüber- 
gehend. 
weibUciie  Die  Ausbildung  dcr  we i b H ch 6 n  Keimdrüse,  des  Eierstockes,  gestaltet 

sich  wesentlich  anders.  Aus  den  ersten  in  das  Bindegewebe  eingewucherten 
Epithelsträngen  entstehen  keine  hohlen  Kanälchen,  sondern  durch  Zerfällung 
solide  rundliche  Zellhaufen  (Follikel),  deren  jeder  eine  Urgeschlechtszelle  (ein 
Urei)  einschließt.  Eine  Verbindung  dieser  Follikel  mit  der  Urniere  erfolgt  aber 
nicht;  ganz  anders  als  beim  Hoden  erhält  der  Eierstock  keinen  ausleitenden 
Gang;  Urniere  und  Urnierengang  werden  daher  bei  den  Weibchen  der  Am- 
nioten, wo  sie  ja  mit  der  Harnbereitung  nichts  mehr  zu  tun  haben,  rudimentär. 
Die  Eier  aber,  die  im  späteren  Leben,  zur  Zeit  der  Geschlechtsreife,  in  den 
Follikeln  des  Eierstockes  zur  Reife  kommen,  gelangen  aus  demselben  heraus, 
indem  der  Follikel,  der  die  Natur  eines  Bläschens  angenommen  hat,  aufplatzt 
und  seinen  Inhalt,  also  vornehmlich  das  Ei,  in  die  Bauchhöhle  entleert.  Wenig- 
stens ist  dies  bei  weitaus  den  meisten  Wirbeltieren  der  Fall.  Wie  aber  kommt 
das  Ei  weiter  nach  außen?  Hierfür  besitzen  manche  niederen  Wirbeltiere, 
z.  B.  die  Neunaugen  und  manche  Haie,  besondere,  in  der  Gegend  des  Afters 
gelegene  Öffnungen  der  Leibeshöhle,  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  aber 
bilden  sich  selbständige  Gänge,  die  MüUerschen  Gänge  (Eileiter),  zurÜber- 
nahme  jener  Funktion  (Fig.  67 B).  Diese,  bei  den  verschiedenen  Wirbeltieren  nicht 
in  ganz  gleicher  Weise  entstehenden,  stets  aber  auch  auf  das  Epithel  der  Leibes- 
höhle zurückzuführenden  Gänge  lagern  sich,  ein  rechter  und  ein  linker,  neben 
die  Urnierengänge  und  öffnen  sich  vorn  frei  in  die  Leibeshöhle,  während  sie 
mit  ihrem  hinteren  Ende  in  die  Kloake  einmünden.  So  können  nun  die  aus  dem 
Eierstock  herausfallenden  Eier  von  der  vorderen  Öffnung  eines  der  MüUerschen 
Gänge  aufgenommen  und  durch  diesen  hindurch  nach  der  Kloake  hin  geschafft 
werden.  Flimmerzellen,  die  den  Eileiter,  namentlich  an  seiner  vorderen  Mün- 
dung auskleiden,  sowie  Zusammenziehungen  der  muskulösen  Wandung  des 
Ganges  spielen  hierbei  eine  Rolle. 


Männliche  Geschlechtsorgane.    Weibliche  Geschlechtsorgane 


519 


In  dem  Auftreten  der  Müllerschen  Gänge,  die  bei  den  Männchen  rudi- 
mentär bleiben,  bei  den  Weibchen  aber  zu  den  Eileitern  werden,  stimmen  weit- 
aus die  meisten  Anamnier  und  alle  Amnioten  überein.  Doch  zeigen  die  ge- 
nannten Gänge  bei  den  verschiedenen  Formen  noch  manche  Besonderheiten. 


Müllerscher 
Gang 


Ausführende 
Kanälchen 
des  Hodens 
Hoden.. 


Vordere 
Öffnung   des 
Eileiters 


d\ 


Ausführungs-        Eierstock — ^ 
gänge  der  Harn- 
kanälchen 


Urnierengang 
( Wolff scher 
Gang) 

Geschlechtsteil 
der  Urniere 


Vorderer  Teih^ 
der  Urniere 


Urniere  {mit  den, 
Nephrostomen) 


Urniere  {mit ,.. . 
den  Nephro- 
stomen) 


Urnierengang  ^M 


~.  EileiUr 

{Müllerscher 
Gang) 


Urnierengang 
( Wolff scher 
Gang) 


Müllerscher 
Gang 


Fig.  67.     Schema  des  Urogenitalapparates  von  Urodelen.     A  beim  Männclieii,  B  beim  Weibchen. 
Nach  J.  W.  Spengel. 

So  bilden  sich  in  ihnen  bei  eierlegenden  Formen  bestimmte  Abschnitte  durch 
Entwickelung  von  Drüsen  zu  der  Fähigkeit  aus,  schützende  Hüllen  um  das 
durchtretende  Ei  zu  erzeugen:  Gallerthüllen  bei  den  meisten  Fischen  und 
Amphibien,  Hornschalen  bei  Haien,  Pergamenthüllen  bei  Reptilien,  Eiweiß- 
hüllen und  Kalkschalen  bei  Vögeln,  und  ein  besonderer,  durch  starke  Musku- 
latur ausgezeichneter  Abschnitt  übernimmt  gewöhnhch  die  Rolle  eines  Ge- 
bärorgans {Uterus),  d.  h.  die  Aufgabe,  den  Inhalt  auszustoßen,  mag  es  sich 
um  ein  Ei  in  jungem  Entwickelungsstadium,   oder  bei  lebendiggebärenden 


520  Ernst  Gaupp:  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

Formen  um  einen  mehr  oder  minder  weit  entwickelten  Embryo  handeln.  Bei 
den  zuletzt  genannten  Formen  erfolgt  in  dem  Uterus  auch  die  Aufbewahrung  und 
Entwickelung  des  Embryo  bis  zum  Augenblick  der  Geburt.  Daß  bei  lebendig- 
gebärenden Tieren  auch  die  Befruchtung  des  Eies  in  dem  Müllerschen  Gang 
erfolgen  muß,  liegt  auf  der  Hand;  dasselbe  ist  aber  auch  der  Fall,  wo  harte, 
für  den  Samen  undurchdringliche  Schalen  um  das  Ei  gebildet  werden:  auch 
hier  muß  ja  vorher  schon  die  Befruchtung  erfolgt  sein.  — 

Amphibien,  Reptihen  und  Vögel  zeigen  die  Eileiter  beider  Seiten  stets 
von  Anfang  bis  Ende  getrennt;  unter  den  Säugern  ist  das  gleiche  nur  noch  bei 
den  Monotremen  (dem  Ameisenigel  und  dem  Schnabeltier)  der  Fall,  während 
bei  den  anderen  eine  mehr  oder  minder  weitgehende  Verschmelzung  der  Gänge 
erfolgt.  Stets  ist  dies  bei  den  Plazentaltieren  der  Fall  mit  den  beiden  letzten 
Abschnitten,  die  durch  ihre  Verschmelzung  eine  dem  Begattungsakt  dienende 
einheithche  Scheide  (Vagina)  bilden;  stets  bleiben  andererseits  die  beider- 
seitigen Anfangs  abschnitte  als  Muttertrompeten  [Tuhae  uterinae)  von- 
einander getrennt;  dagegen  verschmelzen  die  dazwischen  gelegenen  mittleren 
Abschnitte,  die  Uteri,  in  verschiedener  Ausdehnung  untereinander  (Fig.  68).  Bei 
den  Affen  und  dem  Menschen  ist  diese  Verschmelzung  am  vollständigsten  und 
führt  zur  Bildung  eines  einheitlichen,  einfachen  Uterus.  Doch  werden  auch  beim 
Menschen  Fälle  unvollkommener  Verschmelzung  als  Abnormitäten  beobachtet. 

Ganz  abweichende  Verhältnisse  bilden  sich  bei  den  Beuteltieren  aus: 
hier  unterbleibt  die  Verschmelzung  der  Scheiden,  ja,  es  kommt  bei  manchen 
von  ihnen  sogar  zur  Bildung  dreier  Scheiden,  indem  zu  den  beiden  seitlichen 
noch  eine  mittlere  unpaare  sich  hinzugesellt.  Die  Uteri  kommen  dagegen  wieder 
teilweise  zur  Verwachsung. 
Besonderheiten  Von  dcr  bisherigen  Schilderung  abweichende  Verhältnisse  der  Geschlechts- 

^'^or^ne  bei  ^  orgauc  zcigcn  der  Amphioxus,  die  Rundmäuler,  Knochenfische  und  einige 
anderen  Fische.  Die  Besonderheit  des  Amphioxus  liegt  darin,  daß  die  Keim- 
drüsen zwar  auch  vom  Epithel  der  Leibeshöhle  aus  ihre  Entstehung  nehmen, 
dann  aber  in  eigentümlicher  Weise  verlagert  werden,  so  daß  sie  sich  beim  aus- 
gebildeten Tier  an  der  Außenwand  des  Peribranchialraumes,  den  wir  bei  den 
Atmungsorganen  kennen  lernten,  finden  (Fig.  56).  Ausführungsgänge  kommen 
weder  beim  männlichen  noch  beim  weiblichen  Geschlecht  zur  Entwickelung,  und 
so  werden  sowohl  Eier  wie  Samen  durch  Platzen  der  Keimdrüsen  in  den  Peribran- 
chialraum  entleert,  aus  dem  sie  durch  den  Branchialporus  nach  außen  gelangen. 
Hier  besteht  also  keine  Vereinigung  der  Geschlechts-  und  Harnorgane.  Fast 
ganz  unabhängig  voneinander  bleiben  dieselben  auch  bei  den  Rundmäulern, 
wo  der  Harn  aus  der  Urniere  durch  den  Urnierengang,  Samen  und  Eier  aber, 
die  durch  Platzen  der  Keimdrüsen  in  die  Bauchhöhle  entleert  werden,  durch 
besondere  Genitalöffnungen  derselben  [Fori  genitales)  herausgelangen.  End- 
lich bilden  die  Knochenfische  die  dritte  große  Gruppe,  bei  der  beide  Organ- 
systeme ganz  oder  fast  ganz  selbständig  voneinander  bleiben.  Die  Urniere 
bleibt  bei  beiden  Geschlechtern  nur  Harndrüse,  Müllersche  Gänge  kommen 
nicht  zur  Entwickelung,  dagegen  werden  Hoden  wie  Eierstöcke  von  besonderen 
Taschen  der  Bauchhöhle  umwachsen,  die  sich  nach  hinten  hin  in  dünne  Kanäle, 


bestimmten 
Formen. 


Weibl.  Geschlechtsorg.  Besonderh.d.  Geschlechtsorg,  bestimmt.  Formen.  Kloake,  Harnblase    :^2l 

Geschlechtsgänge,  fortsetzen.  Diese  kommen  hinter  dem  Darm,  gewöhnhch 
nachdem  vorher  die  beiderseitigen  untereinander  zu  einem  unpaaren  Gang  ver- 
schmolzen, zur  Ausmündung.  Bei  den  Männchen  erfolgt  auch  oft  eine  Ver- 
bindung des  unpaaren  Geschlechtsganges  mit  dem  letzten  Ende  des  Urnieren- 
ganges,  also  wenigstens  eine  kurze  Strecke  weit  eine  Vereinigung  des  Harn- 
und  Geschlechtssystems.  — 

Auch  von  den  anderen  Fischen  ließen  sich  noch  mancherlei  Besonderheiten 
des  Geschlechtssystems  anführen,  deren  morphologische  Deutung  noch  keines- 
wegs immer  klar  ist. 

Endlich  verdient  noch  kurze  Erwähnung  die  Art,  wie  die  Harn-  und  Ge-  Kloake,  Ham- 
schlechtsgänge  nach  außen  münden,  wobei  dann  besonders  auch  noch  einmal   urogenitaiis. 


o.a--^ 


B 


D 


E 


Fig.  68.  Die  verscliiedenen  Formen  des  Uterus  bei  den  Säugetieren.  Fünf  Schemata,  nach  M.  Weber.  A  Mono- 
tremata,  B  Marsupialia,  C  Uterus  duplex,  D  Uterus  bicornis,  E  Uterus  simples,  o.a  vordere  Öffnung  des  Eileiters 
(ostium  abdominale),  SM.g  Sinus  urogeuitalis,    i  Eileiter  (Tube),  u  Uterus,  v  Vagina,  v.ii  Harnblase  (vesica  urinaria). 


der  Kloake  und  ihrer  Bildungen  zu  gedenken  ist.  Nur  bei  einigen  niederen 
Formen  bleiben  die  Harn-  und  Geschlechtsgänge  unabhängig  von  dem  Darm 
und  münden  für  sich  nach  außen.  So  bei  den  Rundmäulern,  den  Knochen- 
fischen. Bei  der  Mehrzahl  der  niederen  Wirbeltiere  dagegen  münden  sie  in  das 
letzte  Ende  des  Enddarmes  ein,  das  alsdann  den  Namen  einer  Kloake  erhält. 
So  ist  es  der  Fall  bei  den  Amphibien,  den  meisten  Reptilien  und  den  eier- 
legenden Säugern,  dem  Schnabeltier  und  Ameisenigel,  die  ja  daraufhin  auch 
Kloakentiere  genannt  werden.  Von  dieser  Kloake  aus  bildet  sich,  und  zwar  an 
der  ventralen  Wand  derselben,  bei  den  Amphibien  eine  sackförmige  Ausstül- 
pung, die  Harnblase,  die  als  Reservoir  für  den  Harn  dient,  wenn  auch  die 
Harngänge  nicht  unmittelbar  in  sie,  sondern  eben  in  die  Kloake  selbst  einmünden 
(Fig.  d^).  Durch  besondere  Tätigkeit  der  Kloakenmuskeln  wird  wohl  dafür  ge- 
sorgt, daß  der  Harn,  ohne  sich  mit  dem  Darminhalt  zu  mischen,  in  die  Blase 
hineingelangt.  Die  gleiche  sackförmige  Ausstülpung  wächst  bei  den  Embryonen 
der  Amnioten  sehr  viel  stärker  aus,  gelangt  so  mit  einem  großen  Abschnitt  aus 
dem  Körper  des  Embryo  heraus  und  bildet  das  in  dem  Abschnitt  über  Ent- 
wickelungsgeschichte  besprochene  wichtige  Atmungsorgan  des  Embryo,  die 
Allantois.  Nur  ihr  der  Kloake  unmittelbar  angeschlossener  Anfangsteil  kann 
auch  bei  den  Amnioten  durch  Erweiterung  zu  einer  Harnblase  werden,  die  dann 


c  2  2  Ernst  Gaupp  :  Die  Morphologie  der  Wirbeltiere 

dauernd  erhalten  bleibt,  während  der  übrige  Teil  als  AUantois  bei  der  Geburt 
abgestoßen  wird.  Eine  so  entstandene  Harnblase  besitzen  die  meisten  Saurier, 
sowie  die  Schildkröten,  während  sie  den  erwachsenen  Krokodilen,  Schlangen, 
Vögeln  und  manchen  Sauriern  fehlt.  Auch  bei  den  Säugern  bildet  sie  sich , 
doch  mehr  als  ein  sekundär  sich  abtrennender  Teil  der  Kloake  selbst. 

Die  Säuger  zeigen  endlich  einen  Vorgang,  der  sich  schon  bei  Schildkröten 
anbahnt,  zur  höchsten  Vollendung  gelangen:  die  Abtrennung  eines  besonderen, 
für  die  Aufnahme  der  Harn-  und  Geschlechtsgänge  bestimmten  Raumes 
{Sinus  urogenitalis)  von  der  Kloake.  Schon  die  eierlegenden  Monotremen 
zeigen  den  Beginn  dieser  Abtrennung;  bei  den  Plazentaltieren  ist  sie  vollendet. 
Nur  embryonal  ist  auch  hier  noch  eine  Kloake  vorhanden,  im  Laufe  der  weiteren 
Entwicklung  wird  sie  in  die  beiden  Räume  zerlegt:  den  hinteren  (dorsalen), 
der  mit  dem  After  den  Enddarm  nach  außen  leitet,  und  den  vorderen  (ven- 
tralen), der  die  Harn-  und  Geschlechtsgänge  aufnimmt,  also:  i.  die  Ureteren, 
die  sich  von  den  Urnierengängen  getrennt  haben,  als  Ausführungsgänge  der 
Nieren;  2.  die  Urnierengänge  als  Ausführungsgänge  der  Hoden  beim  männhchen 
Geschlecht;  3.  die  Müllerschen  Gänge  oder  Eileiter  beim  weiblichen  Geschlecht. 
Nachträglich  verlagern  dann  die  Ureteren  gewöhnlich  ihre  Mündungen  auf  die 
Wandung  der  Blase,  die  sich  ja  an  den  Sinus  urogenitalis  anschließt.  Die  tren- 
nende Substanzbrücke  zwischen  dem  After  und  der  Ausmündung  des  Uroge- 
nitalsinus wird  als  Damm  bezeichnet  (Fig.  66). 

Begattungs-  An  dic  Bildung  des  Sinus  urogenitalis  knüpft  auch  die  des  äußeren  Be- 

organe.  g^t t u ngs o rg a nes  an,  das  bei  den  Männchen  der  Säuger  entsteht,  und  dessen 
Kanal  nur  einen  lang  ausgewachsenen  Sinus  urogenitalis  darstellt.  Seine  Ent- 
stehung schheßt  an  Bildungen  an,  die  schon  bei  Krokodilen  und  Schildkröten 
in  ähnhcher  Form  bestehen,  während  sich  zu  dem  gleichen  Zwecke  der  Be- 
gattung bei  Echsen  und  Schlangen  eine  ganz  andere  Einrichtung  ausbildet: 
handschuhfingerähnliche  Säcke  zur  Seite  der  Kloakenöffnung,  die  ausgestülpt 
und  aneinander  gelagert  in  die  Kloake  des  Weibchens  eingeführt  werden  und 
den  Samen  zwischen  sich  ablaufen  lassen.  Überhaupt  sind  die  Begattungs- 
organe der  Wirbeltiermännchen  recht  mannigfaltiger  Natur;  bei  den  Haien 
werden  sogar  Teile  der  hinteren  Extremitäten  dafür  in  Verwendung  gezogen. 
Die  Notwendigkeit  zur  Ausbildung  solcher  Organe  ergibt  sich  überall  da,  wo 
hartschalige  Eier  abgelegt  werden  —  die  eben  schon  vor  der  Ablage  befruchtet 
sein  müssen  —  sowie  bei  lebendiggebärenden  Formen. 

Nebennieren.  Nebennieren.    In  enger  Nachbarschaft  der  Niere  liegt  beim  Menschen 

eine  aus  soliden  Zellmassen  bestehende  ,, Drüse  mit  innerer  Sekretion",  die  eben 
wegen  dieser  Lagebeziehung  die  Bezeichnung  Nebenniere  erhalten  hat.  Sie 
stellt  eine  Vereinigung  von  zweierlei  ganz  verschiedenen  Organen  dar,  die  bei 
Fischen  als  Interrenalkörper  und  Suprarenalkörper  getrennt  sind,  und  von 
denen  der  in  der  Nachbarschaft  der  Urniere  gelegene  Interrenalkörper  aus 
Zellsträngen  besteht,  die  vom  Epithel  der  Leibeshöhle  entstammen,  während 
die  in  der  Mehrzahl  vorhandenen  Suprarenalkörper  den  Ganglien  des  Sympa- 
thicus  anhegen,  von  denen  auch  ihre  ebenfalls  soliden  Zellstränge  abstammen. 


Sinus  urogenitalis.    Begattungsorgane.    Nebennieren,    Leibeshöhle  523 

Die  Vereinigung  der  beiderlei  verschiedenartigen  Zellmassen  zu  einem  äußerlich 
einheitlichen  Organ,  der  Nebenniere,  beginnt  von  den  Amphibien  an. 

Leibeshöhle.  In  der  Leibeshöhle,  die  durch  Auseinanderweichen  der  LeibeshöMe. 
Seitenplatten  des  Mesoderms  entsteht,  haben  wir  einen  Raum  kennen  gelernt, 
an  dessen  epitheliale  Wandung  die  Bildung  der  Harn-  und  Keimdrüse  sowie 
der  Harn-  und  Geschlechtsgänge  geknüpft  ist.  Damit  sind  genetische  Bezie- 
hungen zu  den  Harn-  und  Geschlechtsorganen  gegeben.  Aber  auch  im  ausge- 
bildeten Zustand  ziehen  die  beiden  Organsysteme  die  Leibeshöhle  vielfach  noch 
zur  Hilfsleistung  heran,  am  regelmäßigsten  beim  weiblichen  Geschlecht,  wo  ja 
fast  stets  die  Eier  zunächst  in  den  Bauchraum  entleert  werden.  Die  vorderen 
Öffnungen  der  Eileiter,  die  der  Herausleitung  der  Eier  aus  demselben  dienen, 
bilden  aber  nur  eine  Gruppe  von  Öffnungen  der  Leibeshöhle  nach  außen; 
andere,  wie  die  Wimpertrichter  der  Urniere  oder  besondere  ,,Pori  abdominales", 
dienen  der  Herausschaffung  von  Umsatzstoffen.  Eine  dritte  Beziehung,  die  bei 
den  höheren  Formen  allein  übrig  bleibt,  ist  die  der  Leibeshöhle  zum  Gefäß- 
system: durch  Verbindungen  mit  den  Blut-  und  Lymphgefäßen  wird  sie  zu 
einem  großen  in  das  Gefäßsystem  eingeschalteten  Raum,  dessen  normaler- 
weise spärlicher  Inhalt  an  Körperflüssigkeit,  gleich  dem  eines  Lymphraumes, 
immer  wieder  in  das  Gefäßsystem,  dem  er  entstammt,  zurücktritt  und  so  dem 
Organismus  erhalten  bleibt.  Von  dem  ursprünglich  einheithchen  Leibesraum 
sondert  sich  schon  bei  den  Fischen  ein  besonderer,  das  Herz  umgebender 
Abschnitt  als  Herzbeutel  ab,  aber  erst  bei  den  Säugern  vollzieht  sich  mit  der 
Bildung  des  Zwerchfelles  die  weitere  Abtrennung  zweier  für  die  beiden  Lungen 
bestimmter  Brustfellräume  von  dem  Bauchraum,  der  sich  zwischen  Magen  und 
Darm,  Harn-  und  Geschlechtsorganen  ausbreitet.  Auch  diese  Abkömmhnge 
des  ursprünglichen  Leibesraumes  (Herzbeutel-,  Brustfell-,  Bauchraum)  besitzen 
die  eben  erwähnten  Beziehungen  zum  Gefäßsystem. 


Literatur. 

Die  Literatur  über  die  Morphologie  der  Wirbeltiere  ist  ungeheuer  groß,  die  selbständigen 
Arbeiten  sind  fast  alle  in  Zeitschriften  verstreut.  Von  den  im  nachfolgenden  genannten 
Werken  geben  besonders  das  Handbuch  der  Entwickelungslehre  von  O.  Hertwig  sowie  die 
vergleichende  Anatomie  der  Wirbeltiere  von  Wiedersheim  ausgedehnte  und  reichhaltige 
Literatur-Verzeichnisse,  mit  deren  Hilfe  ein  tieferes  Eindringen  in  die  Einzelfragen  des  Ge- 
bietes ermöglicht  ist.  Hier  sollen  daher  nur  einige  wenige  und  leicht  zugängliche  Hand- 
und  Lehrbücher  angeführt  werden. 

Bergm.\nn,C.  und  Leuck.\rt,  R.  Anatomisch-physiologische  Übersicht  des  Tierreichs.  Ver- 
gleichende Anatomie  und  Physiologie.  Neue  Ausgabe,  Stuttgart  1855.  (Im  einzelnen  vielfach 
veraltet  und  überholt,  aber  immer  noch  eine  Fundgrube  wertvoller  Beobachtungen  und  Gedanken.) 

Boas,  J.  E.  V.  Lehrbuch  der  Zoologie.    6.  Aufl.  Jena  191 1, 

BÜTSCHLI,  O.  Vorlesungen  über  vergleichende  Anatomie,  i.  Lief.  (Einleitung,  vergl. 
Anatomie  der  Protozoen;  Integument  und  Skelett  der  Metazoen)  Leipzig  1910.  2.  Lief.  (Allge- 
meine Körper- und  Bewegungsmuskulatur ;  Elektrische  Organe  und  Nervensystem)  Leipzig  191 2. 
(Mehr  ist  noch  nicht  erschienen.) 

Claus-Grobben.  Lehrbuch  der  Zoologie,  begründet  von  C.  Claus,  neu  bearbeitet  von 
K.  Grobben.    2.  Aufl.  Marburg  19 10. 

Gegenbaur,  C.  Grundzüge  der  vergleichenden  Anatomie,  2.  Aufl.  1870. 

Gegenbaur,  C.  Vergleichende  Anatomie  der  Wirbeltiere  mit  Berücksichtigung  der  Wirbel- 
losen.   2  Bde.  Leipzig  1898— 1901. 

Gegenbaur,  C.  Lehrbuch  der  Anatomie  des  Menschen.    7.  Aufl.  2  Bde.  1899. 

Hertwig,  O.  Lehrbuch  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen  und  der  Wirbeltiere. 
9.  Aufl.  Jena  1910. 

Hertwig,  O.  Die  Elemente  der  Entwicklungslehre  des  Menschen  und  der  Wirbeltiere. 
4.  Aufl.  Jena  1910.. 

Hertwig,  O.  Handbuch  der  vergleichenden  und  experimentellen  Entwicklungslehre  der 
Wirbeltiere.     (Im  Verein  mit  zahlreichen  Fachgenossen   herausgegeben.)    3  Bde.  Jena  1906. 

Hertwig,  R.  Lehrbuch  der  Zoologie.    9.  Aufl.  Jena  1910. 

Hesse-Doflein.  Tierbau  und  Tierleben.  l.Bd.  Der  Tierkörper  als  selbständiger  Organismus. 
Von  R.  Hesse.    Leipzig  und  Berlin  1910. 

Huxley,  T.H.Handbuch  der  Anatomie  derWirbeltiere.  Deutsch  von  F.Ratzel.  Breslau  1873. 

Leche,  W.    Der  Mensch,  sein  Ursprung  und  seine  Entwicklung.    Jena  191 1. 

Lubosch,  W,  Vergleichende  Anatomie  der  Sinnesorgane  der  Wirbeltiere.     Leipzig  19 10. 

Owen,  R.    On  the  Anatomy  of  Vertebrates.    3  Vols.    London  1866— 1868. 

SCHIMKEWITSCH,  W.  Lehrbuch  der  vergleichenden  Anatomie  der  Wirbeltiere.  Deutsch 
von  H.  N.  Maier  und  B.  W.  Suk.\tschoff.    Stuttgart  19 10. 

VIALLETON,  L.    Elements  de  Morphologie  des  Vertebres.    Paris  191 1. 

Wiedersheim,  R.  Vergleichende  Anatomie  der  Wirbeltiere.  7.  Aufl.  des  „Grundrisses 
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Wiedersheim,  R.  Der  Bau  des  Menschen  als  Zeugnis  für  seine  Vergangenheit.  4.  Aufl. 
Tübingen  1908. 


REGISTER 


Abdomen  248,  261. 
Abfaltung  214. 
Abspaltung  214. 
Acanthocystis  25. 
Achromatin  48. 
Achse,    Körperachse   178. 
primäre  Eiachse   178. 

Achsenskelett  421. 

Achsen-  und  Symmetrieverhältnisse   179. 

Actinosphaerium  —  isogame  Befruchtung  28. 

Actinotrocha  292. 

Acrania  320,  334,  399 

Affen  388. 

After  338,  344,  356,  367,  484 

Afterflosse  429. 

Aftermembran  370,  372,  375,    385. 

Albumen   137. 

Allantois  375,  376,  378,  386. 

Alytes  obstetricans  345. 

Amboß  446. 
Ambulacralgefäßsystem  305. 

Ambulacralsystem  304. 

Amnion  372,  376,  380,  384. 

Amnionfalten  372,  382. 

Amnionhöhle  373,  377,  380. 

Amnionlose  400. 

Amniontiere  400. 

Amniota  400. 

Amöba  5. 

Amphibien  169,  356,  364,   389,   390,   391,  400. 

Amphiblastula   190 

Amphimixis  33,  105. 

Amphineuren  272. 

Amphioxus   154,   156,   168,  320,  353,  356,  364 

367.  389.  39O'  3'^9- 

—  Doppelgastrulae   170. 

—  lanceolatus  333. 
anaerob   15. 
Analstrang  344. 
Anamnia  4:0. 

Anaphase  der  Kernteilung  59. 
Animalkulisten  99,   105,   127. 
Anisogamie  des  Malariaparasiten  29. 
Anlagen  108  ^ 

—  Mischbarkeit  122. 
Annelides  220,  234,  392. 
Antennaten  256. 
Antennendrüse  25  i 
Anthozoen  202. 

—  Bau  202. 


Antimeren   180,   183. 
Anura  400. 
Anus  355. 

Aorta  372,   507,   509. 
Aortenwurzeln  510. 
Aplacentalia  400. 
Apoda  400. 
Appendicularien  320. 

Äquivalenz    der   männhchen    und    der    weib- 
lichen Erbmasse  120. 

von  Ei  und  Samenkern   120 

Arachnomorpha  252. 

Arbeitsteilung  und  Differenzierung  157. 

—  physiologische   158. 
Archipterygiumtheorie  456. 
Armfüßer  289. 

Arterien  506. 
Arthropoden  242. 

—  Entwicklung  im  Ei  263. 
Artzellen  42,  io9. 
Ascaris  megalocephala  loi. 
Ascidien  172,  320. 

—  Bau  321 

—  Entwicklung  325. 
Ascidienembryo  327. 
Assimilation   52, 
Asteroidea  299. 
Asymmetrie  401. 
Asymmetrischer  Typus  181. 

Atmung  15. 

—  des  Sauropsidenembryo   375 
Atmungsorgane  497. 

Auge  395. 

Augen,  paarige  478. 
Augenbecher  478 
Augenbewegungsnerv  471. 
Augenblase  370,  478. 
Aureha  flavidula  162. 
Auricularia  313. 
Außenskelett  410 
Autogamie  28,  29. 


Axopodien  7. 


B. 


Balanoglossus  296. 

—  Bau  294. 

—  Entwicklung  297. 
Barten   493. 
Bastard  109. 

Bauch ganglienkette  235. 
Bauchraum  523. 


526 


Register 


Bauchrippen  412. 

Bauchspeicheldrüse  496,  497. 

Bauchstiel  386,  387. 

Becherlarve  156. 

Becherzellen  68. 

Beckengürlel  452. 

Befruchtung,  biologische  Theorie  105,   132. 

—  chemische  Theorie  130,   131. 

—  künstliche  100. 

—  physiologische  Bedeutung  31,  33. 

—  Verlauf  10 1. 
Befruchtungsprozeß  99,  119. 

—  Verbreitung  104. 
Begattungsorgane  522. 
Beinerv  472. 
Belegknochen  420. 
Beutelstrahler  299. 
Beweglichkeit  50. 

—  amöboide  5. 

—  —  physikalische  Erklärung  7. 
Bilaterale  Symmetrie  401. 

—  —  der  Eier  144,   145. 
Bilaterahtät,  Entwicklung  208. 
Bilateraltypus  181. 
Bilaterien  208. 
Bildungsdotter  136,   147. 
Bindegewebe  394. 
Bindegewebsfasern  75. 
Bindegewebszellen  77. 
Biogenesistheorie  164,   171. 
Biogenetisches  Grundgesetz  333,  392, 
Biologisches  Experiment  167. 
Biophoren  167. 

Bipinnaria  313. 

Blastocoel  154,  179. 

Blastoderm  150. 

Blastoidea  299. 

Blastomeren  179. 

Blastoporus  158,  179,  210,  343,  344,  355,  391. 

—  Schicksal  Isei  den  Deuterostomia  212. 

—  Schicksal  bei  den  Prostomia  209. 
Blastoporuslippen  343,  363. 

—  dorsale  353. 

—  ventrale  353. 
Blastosphären  161. 
Blastula  153,  334. 

—  bei  Amphioxus  340. 

—  bei  Fröschen  342. 

—  bei  Knorpelfischen  340. 

—  bei  Reptilien  340,  342. 

—  bei  Säugern  340,  342. 

—  bei  Vögeln  342. 
Blastulastadium  179 
Blattläuse  127. 
Blepharoblast  26. 
Blinddarm  496 
Blut  385. 

—  Entwicklung  353. 
Blutadern  507. 


Blutanlagen  371. 
Blutelemente,  farblose  73. 

—  weiße  73. 
Blutfarbstoffe  'ji. 
Blutgefäße  385. 

—  Entwicklung  240. 

—  System  246. 
Blutgefäßsystem  506. 
Blutlymphdrüsen  512. 
Blutplättchen  74. 
Blutzellen  73. 

—  rote  74. 

Bombinator  igneus  356. 
Brachiolaria  313. 
Brachiopoden  289,  293. 
Brechungslinie  141. 
Brustbein  431. 
Brustfellräume  523. 
Brustkorb  432. 
Bryozoen  289,  293. 

c. 

Caecum  496. 

Canalis  neurentericus  338,  344,  355,  360,  367, 

369-  370.  372.  375-  383.  385-  386,  391,  393. 
Carchesien  9. 
Carinaten  432. 
Carpus  457. 
Centrosoma  24. 
Cephalodiscus  299. 
Cephalogenesis  392. 
Cephalopoden  283. 
Chaetognathen  294. 
Chalazen  137. 
Cheiropterygium  456. 
Chelonia  400. 
Chemoluminiszenz  54. 
Chemotaxis   11. 
Chiastoneure  Formen  280. 
Chitinbekleidung  65. 
Chondromukoid  77. 
Chordaanlage  369, 
Chorda  dorsaHs  334,  335,  337,  349,  351,  353, 

355'  356.  363.  364.  366,  368,  371,  372,  385, 

388,  390,  391,  399,  402. 
Chordarinne  339,  367. 
Chordata  320. 
Chordatiere  320. 
Chorion  387. 
Chorionzotten  385. 
Chromatin  17,  47,  96. 
Chromatophoren   14. 
Chromidialapparat  18. 
Chromidialnetz  18. 
Chromidien  18. 
Chromophile  Substanz  86. 
Chromosome  58. 

Zahlengesetz  der  —   117. 


Register 


527 


Ciliaten  8. 

Cilien  der  Ciliaten  8. 

Cingulum  221. 

Clavicula  451. 

Clepsedrina  9. 

Cnidarien   193. 

Coelenterata  186. 

Coelom  216,  245,  360,  364,  371,  389. 

—  außerembryonales  369,  376,  380,  382,  384. 

—  definitives  338. 

—  primäres  337. 

—  der  Echinodermen  306. 

—  Gliederung  353. 

—  Umbildungen  270. 
Coelomdivertikel  339,  367. 
Coelomentwicklung  238. 

—  bei  den  Echinodermenlarven  314. 
Coelomoducte  236. 
Coelomspalte  363. 
Coelomtheorie  333,   389. 
CoUateralen  87. 

Columella  450. 
Concrescenz  343. 

—  bei  Selachiern  und  Teleostiern  359. 
Concrescenztheorie  336,  359. 
Coracoid  451, 

Corium  408. 
Craniota  399. 
Crinoidea  299,  307. 
Crinoidenlarve  316. 
Crocodilia  400. 
Crusta  43. 
Crustaceen  248. 

—  Bau  248. 

—  Entwicklung  251. 

—  Extremitäten  249. 
Ctenidien  277. 
Ctenophoren  172,  204. 

—  Bau  204. 

—  Entwicklung  205,  207. 
Ctenophorenei   172. 
Cuticularbildungen   53,  65. 
Cyclostomen  340,  399. 
Cystoidea  299. 
Cytochromatin  86 
Cytologie  39. 
Cytoplasma  45. 
Cytostom   13. 
Cytozentrum  48. 

D. 

Damm  522. 
Darm  388. 

—  Entwicklung  209,  268. 

—  der  Echinodermen  304. 

—  der  Mollusken  275. 
Darmanlage  371. 
Darmbein  453. 
Darmentoderm  366. 


Darmhöhle  369,  391. 
Darmkanal  484. 
Darmlarve   156. 
Darmnabel  373. 
Darm -System  484. 
Dasyurus  viverrinus  378. 
Deckknochen  420,  438. 
Defaecation   13. 
Delamination   162. 
Dendriten  87. 
Dentalium   173. 
Dentin -Zähne  489. 
Descensus  der  Hoden  518. 
Determinanten   166. 
Deuterostomia  212,  293. 
Deutoplasma  135,   162. 
Dickdarm  494. 
Didelphys  virginiana  378. 
Differenzierung  der  Zellen  51. 
Dinoflagellaten   14. 
Dipleurula  317. 

—  Ausbildung  des  festsitzenden  Stadiums  318. 

—  Umwandlungen  318. 
Diploid   128. 
Dipnoer  340,  364,  400. 
Discus  proligerus  136. 
Disymmetrischer  Typus  180. 
Doppelatmer  400. 
Doppelmißbildungen   170. 
Dotter  345,  358. 

—  Einfluß  356,  357,  364. 

—  Umwachsen  365. 

—  Umwachsung  376. 

Dotterhaut  (Membrana  vitellina)   102. 
Dotterhof  371. 
Dotterkerne  149. 
Dottermembran   136. 
Dottermitgift  der  Amphibien  341. 

—  der  Selachier  341. 
Dotterpropf  343,  354. 

—  Rusconischer  158. 

Dottersack  361,  376,  378,  383,  384.  387. 
Dottersackplacenta  362. 
Drüsen  409. 

—  Bau  68. 

—  Entwicklung  69. 

—  Formen  70. 

—  geschlossene  69, 

—  ohne  Ausführungsgang  69. 

—  Epithel  68. 

Ductus  vitello- intestinalis  360,  377. 
Dünndarm  494. 
Duplicitas  anterior  170. 


E. 

Echidna  378. 
Echinodermen   loi,   163, 

—  Entwicklung  310. 

—  Medianebene  303. 


299. 


528 


Register 


Echinodermen,  Phylogenie  317. 

Echinodermenlarven,  Typen  313. 

Echinoidea  299 

Ei,  Promorphologie   144 

Eiachse  135. 

Eibildung  iii. 

Ei-  und  Samenbildung   iii 

—  Vergleich   116. 
Eichelvvürmer  294. 
Eidotter  96. 

Eier  40,  95,  96. 

—  Abortiveier  116. 

—  centrolecithale  138. 

—  der  Säugetiere  154. 

—  isolecithale   134. 

—  Mosaikeier  168,    172. 

—  Regulationseier  168. 

—  Sommereier   128. 

—  telolecithale   135. 

—  Wintereier  128. 
Eierstöcke  516,  517,  518 
Eikern   103. 

Eileiter  518. 
Eimutterzelle  112. 
EingeschlechtUchkeit  516. 
Eingeweidenerven  469,  472. 
Einwanderung,  multipolare   197. 

—  polare   197. 
Eireife  114,   128. 
Eistruktur  147,   172. 

Eiteilung,  Experimentelle  Abänderung   151. 
Eiweißverbindungen  43. 
Eizellen,  verschiedener  Bau   134. 
Ektoderm  157,  334,  335,  349,  379,  382,  390,  395. 

—  definitives  390. 

—  primitives  335. 

—  sekundäres  215. 
Ektodermzellen  349. 
Ektomesoderm  207,  208. 
Ektoplasma  43. 
Ektosark  3. 

Elektrische  Organe  463 
Elementarorganismus  39. 
Eleutherozoa  308. 

Elle  457. 

Embryonalschild  160,  380,  385. 
Empfängnishügel  102. 
Enddarm  209,  494,  496. 
Endhirn  467. 
Endknospen  474. 
Endostyl  323. 
Energide  50. 
Enterocoelbildung  216. 
Enteroderm  215. 
Enteropneusten  294. 
Entoderm   157,   334,  335,  349 
380,  382,  390. 

—  definitives  338,   390,   391 
— ■  primitives  335. 


363-   369.   379. 
394- 


Entoderm,  sekundäres  215 

—  bei  Beutlern  379. 
Entodermzellen  349. 
Entomesoderm  215. 
Entosark  3. 

Entwicklungsperioden   177. 
Enzyme  52. 
Enzystierung  20. 
Eoperipatus  weldoni  266. 
Ependym  464. 
Epidermis  360,  395,  408. 

—  primäre  351. 

—  primitive  338,   389 
Epigenetiker  164. 
Episphaere  221. 
Episternum  432. 
Epithel,  cylindrisches  66. 

—  kubisches  66. 

—  Plattenepithel  63. 

—  Übergangsepithel  64. 
Epithelgewebe  61,  62,  63. 
Epithelkörperchen   501, 
Epithelmuskelzellen  81. 
Epithelzellen,  Gestalt  63. 
Ernährung,  holophy tische   14. 

—  holozoische  12. 
Ersatzknochen  421,  441. 
Erythropsis  1 1. 
Erythrozyten  73. 
Eutheria  378. 
Euthyneure  Formen  280. 
Evolutionisten  164. 

Exkrete,  schädigende  Wirkung  36. 
Exkretion  15. 
Exkretionsorgane   16. 
Exkretionssystem  512. 
Exoskelett  410. 
Extremitäten  244. 
Extremitäten- Skelett  450. 

F. 

Fadenkörnchen  53. 
Farbzellen  410. 
Fasern,  elastische  75. 

—  koUagene  75. 
Federn  413. 
Felsenbein  442. 
Femur  457. 
Fermente  52. 

Fette  und  Kohlehydrate  43. 
Fettgewebe  'j'j. 
Feuerwalzen  320,  321. 
Fibrillenbildung  der  Zelle  56. 
Fibula  457. 
Filopodien  6. 
Finger  457. 
Fische  400. 
Fischflosse  455 


Register 


529 


Flagellaten  8. 

Flimmer  Epithel  67. 

Flimmerkugeln   161. 

Flimmerzellen  55. 

Flossen    unpaare  403. 

Flügelbein  440. 

Foraminiferen,  geologische  Bedeutung  16. 

Forelle  359. 

Fortpflanzung  50. 

Freßzellen  51. 

Frosch  345. 

Froschei   136. 

Fruchthof,  dunkler  371. 

Furchung,  discoidale  147. 

—  inäquale  205. 

—  superficielle   149,  264. 

—  totale  inäquale  142. 
Furchungshöhle  142,  179,   194,  213,  334,  340, 

342,  349,  350,  362. 
Furchungskugeln  179. 
Furchungsprozeß   133 
Fußwurzel  457. 


G. 

Gallenblase  497. 
Gallertgewebe  72. 
Gameten  28. 
Ganglien  90,  464. 
Ganoiden  340,  364,  400. 
Ganoinschupper  400. 
Gasträatheorie  333,  389. 
Gastropoden  278. 
Gastrovascularsystem  195. 
Gastrula  153,   156,  334,  392. 

—  der  Amphibien   158. 

—  eines  Brachiopoden   163. 

—  epibolische  oder  Umwachsungsgastrula  1 62. 

—  Pseudo  190. 

—  Zwerg  169. 
Gastrulaeinstülpung  363. 
Gastrulahöhle  334. 
Gastrulamund  334. 
Gastrularaphe  211. 
Gastrulastadium  179. 
Gastrulation  334,  390. 

—  der    Selachier    verglichen    mit    der     der 
Amphibien  362. 

—  bei  Selachiern  357. 

—  epibolische  206. 
Gaumenbein  440. 
Gaumenbildung  448. 
Gaumenleisten  493. 
Gaumen,  sekundärer  482,  488. 
Gebärorgan  519. 
Geburtshelferkröte  345, 
Gefäß  anlagen  371. 

Gefäße  353. 
Gefäßhof  371. 

K.  d.  G.  m.iv,  Bd.  2  ZeUenlehre  etc.  II 


Gefäßsystem  506. 
Gegenstücke  180. 
Gehirn  351,  356,  464,  466. 
Gehirnnerven  469,  471. 
Gehörknöchelchen  450 
Gehörorgan  395. 
Gehörnerv  471. 
Gehörsteine  476. 
Geißel-Epithel  68. 
Geißeln  der  Flagellaten  8. 
Geißel-  und  Flimmerbewegung  8. 
Gekröse  494. 
Gelbei  136. 
Genitalapparat  394. 
Genitalsystem  512. 
Geruchsorgan  480. 
Geschlechtskern  26. 

—  Reifung  27. 
Geschlechtsorgane  516. 
Geschlechtssystem  512. 
Geschmacksknospen  395. 
Gesichtsnerv  471. 
Gewebe  39,  60. 

—  Gestalt  und  Leistung  60. 

—  lymphoides  'j'j. 

—  retikuläres  "j'j. 
Gigantostraken  253. 
Glaskörper  72. 
Gliederfüßer  242. 
Gliederung,  des  Mesoderms  338. 

—  des  Coelom  338. 

Gliedmaßen,  paarige,  der  Wirbeltiere  404. 

Glycogen  53,  82. 

Gnathostomata  400. 

Gonaden  236,  237,  517. 

Gonochorismus  516. 

Granula  52. 

Gregarinarien  8. 

Grenze  zwischen  Rumpf  und  Schwanz  347. 

Grenzrinnen  360,  370,  372. 

Grenzstrang  472. 

Grundsubstanzgewebe  62,  71. 

—  Aufgaben  71. 
Gymnophionen  345. 


H. 

Haare  414. 
Haarsterne  299,  307. 
Haftapparat  bei  Amphibien  347. 
Hagelschnüre   137. 
Hahnentritt   136. 
Halbkerne  118,   128. 
Halbmonde  29. 
Hammer  446. 
Haemocoeltheorie  240. 
Hämoglobin  74. 
Handwurzel  457. 
Haploid  128. 

34 


530 

Harnblase  516,  521. 
Harndrüse  513. 
Harnleiter  515. 
Harnsystem  512. 
Hartgewebe,  Bau  80. 
Haversscher  Kanal  80. 
Hauptkern  23. 
Haut  244. 

—  Aufgaben  407. 

—  äußere  407. 

—  Bau  408. 
Hautdrüsen  415. 
Hautmuskeln  462 
Hautmuskelschlauch  220. 
Hautnabel  373. 
Hautskelett  419. 
Häutungen  245. 

Hautverknöcherungen  bei  Tetrapoden  4 
Hautzähnchen  411. 
Hemisphärenhirn  467,  468. 
Hermaphroditismus  516. 

Herz  506,  507. 

—  Teilung  in  zwei  Hälften  509. 
Herzbeutel  523. 
Herzbeutelhöhle  374. 
Herzmuskelgewebe  84. 
Heteraxonia  212. 

Hexapoda  259. 
Hirnanhang  497. 
Hirnanlage  360. 
Hinterhauptbeine  442. 
Hinterhirn  467. 
Histiologie  39. 
Hoden  516,  517. 
Hohlvene  511. 
Holothurien  309. 
Holothurioidea  299. 
Hörgrübchen  475. 
Hörknöchelchen  396. 
Hörnerv  471. 
Hornfasern  72. 
Horngebilde  409. 
Hornsubstanz  65. 
Hornzähne  488. 
Hufe  415. 
Hühnerei  136,  147 
Humerus  457. 
Hydra  193. 

—  Histologie  195. 
Hydroiden,  Entwicklung  196. 
Hydroidmedusen  199. 

—  Bau  200. 

Hydroydpolypen,  Bau  193. 
Hyoidbogen  347. 
Hypobranchialrinne  323. 
Hypodermis  66 
Hypophyse  497. 
Hyposphaere  221. 


Register 


12. 


I-    J. 


Iden  166. 
Idiochromatin  26 
Idioplasma  120,   164. 
Idioplasmatheorie  iio. 
Incisura  neurenterica  359,  360 
Infusionen,  Erklärung  20. 
Infusionstierchen  i. 
Insekten  259. 

—  innerer  Bau  261. 

—  Keimblätterbildung  267. 

—  Segmentierung  259. 
Integument  407. 
Interradius  180. 
Interrenalkörper  522. 
Intervillöse  Räume  385. 
Invagination  156,   162. 
Isogameten  28. 
Isogamie  28. 

Jacobsonsches  Organ  484. 
Jochbein  439. 
Jungfernzeugung  127. 

K. 

Kalkkörperchen  73. 
Kalkschale  (Testa)   137 
Kammer  509. 
Kammquallen  204. 
Kapillaren  506 
Kardinalvenen  511. 
Karyogamie  27. 
Karyokinese  58. 
Karyosom  18. 
Kaulquappe  348. 
Kehlkopf  504. 
Keilbeine  442. 
Keimbläschen  96,  340. 
Keimblase  154 

—  der  Säugetiere  154. 

—  der  Wirbellosen  161. 
Keimblasenhöhle  156. 
Keimblatt  157. 

—  mittleres  207,  337,  352 

—  primäres  215. 

—  sekundäres  215. 
Keimblätter  der  Reptilien  159. 

—  der  Säugetiere  159. 

—  der  Vögel  159. 

—  Umkehr  382. 
Keimdrüsen  517. 
Keimflecke  96. 
Keimhaut  138,  150. 
Keimhüllen  268. 
Keimkern  103. 
Keimplasma  166. 

—  Theorie  164,   166,  167. 
Keimscheibe  136,  147. 
Keimschild  368,  382. 


Register 


531 


Keimstreifen  239,  265. 
Keimwall  369 
Keimzellen  54,  517. 

—  Bestrahlung  mit  Radium   123. 

—  ungleiche  Differenzierung  97. 
Keratohyalin  65. 

Kerbtiere  259. 
Kern,  Bedeutung  19. 

—  Chemie  48. 

—  Dimorphismus  23. 

—  Dualismus  26. 

—  generativer  26. 

—  somatischer  26. 

—  trophischer  26. 
Kerngerüst  47, 
Kernkörperchen  48. 
Kernplasmanorm  23 
Kernplasmarelation  23,  24. 
Kernplasmaspannung  23. 
Kernrindenschicht  18. 
Kernsaft  47. 
Kernsegmente  58. 
Kernsubstanzen,  Dualismus  26. 
Kernteilung,  direkte  21,  57. 

—  erbgleiche  120 

—  indirekte  58. 

Kernwachstum,  proportionales  134. 
Kieferbogen  442. 
Kiefermäuler  400. 
Kiefermuschel  483. 

Kieferstiel  446. 
Kiemen  277,  500 

—  äußere  347. 
Kiemenapparat  498. 
Kiemenbogen  347,  371,  388,  393,  498. 
Kiemenbogengefäße  510. 
Kiemenbogenskelett  449. 
Kiemendeckel  499. 
Kiemenfurchen  347,  498. 
Kiemengefäße  507. 
Kiemenöffnungen  338. 
Kiementaschen  347,  371. 
Kieselnadeln  73. 

Kinozentrum  49. 

Kittlinien  84. 

Kittsubstanzen  61. 

Klappmuscheln  281. 

Kleinhirn  467,  468. 

Kloake  383,  496,  521. 

Kloakenafter  370. 

Kloakenmembran  370,  372,  383,  3S1;. 

Knochen  417. 

Knochenfische  359,  400. 

Knochengewebe  78. 

Knochengrundsubstanz  78 

Knochenkanälchen  79. 

Knochenmark  512 

Knochenzellen  79. 

Knorpel  417. 


Knorpelfische  400 
Knorpel -Gewebe  77. 
Knorpeloberhaut  78. 
Knorpelschädel  434. 
Knospenfurchung  105. 
Knospenstrahler  299. 
Knospung  21. 
Knospungszone  392. 
Kolbenkörperchen  474. 
Koloniebildung  21. 
Kompressorien  151, 
Konjugation  27,  30. 

—  Ursache  33. 
Konjugationsreife  34. 
Kontraktile  Vakuolen   15. 
Kopf  387. 

Kopfdarm  485,  486. 
Kopfdarmbucht  374. 
Kopffüßler  283. 
Kopfhöhlen  403. 
Kopflose  399. 
Kopfskelett  433 
Kopftiere  399. 
Kopulation  27,  30. 

—  Ursache  33. 
Körperflüssigkeiten  73. 
Körperformen,  Ausbildung  35! 

—  äußere  344. 
Kragenzellen  187. 
Krallen  415. 
Kranzfühler  289 
Krebstiere  248. 
Kreislaufgebiete  507. 
Kreuzbein  456. 
Kryptogamen  129. 


Labyrinth,  häutiges  475. 
Labyrinthorgan  474. 

—  Hilfseinrichtungen  476 
Lamellibranchiaten  281 
Lappenqualle  201. 
Lebenskraft  14. 

Leber  496,  497. 
Lebervene  508. 
Lederhaut  408. 
Leibeshöhle  338,  512,  523. 

—  außerembryonale  389 

—  primäre  179,   194,  213. 

—  sekundäre  216. 

—  der  Mollusken  276 
Leptodiscus  9. 
Leuchtdrüsenzellen  54 
Leuchten  54. 
Leuchtorgane  415. 
Leuconen  193 
Limulus  254- 

Linin  17. 


532  Register 

Linse  478. 
Lippen  486. 
Lippenknorpel  437. 
Liquor  perivitellinus   102. 
Lobopodien  5. 
Luftkammer  137. 
Luftröhre  503 
Luftröhrenäste  504. 
Luftsäcke  505 
Lungen  497,  503. 
Lungensäcke  504. 
Lymphdrüsen  512. 
Lymphgefäßbahnen  506. 
Lymphgefäßsystem  5 1 2. 
Lymphherzen  506,  512. 
Lymphknoten  512 

M. 

Macacus  nemestrinus  388. 

Madreporenplatte  305. 

Magen  494,  495. 

Malariaparasiten  29. 

Malpighische  Gefäße  262 

Makrogametozyten  29. 

Makromeren  205. 

Mandibularbogen  347. 

Mantelbucht  274. 

Mantelhöhle  274. 

Manteltiere  320. 

Mark,  verlängertes  467. 

Markscheide  der  Nervenfasern  89. 

MarsupiaHa  400. 

Maxillendrüse  251. 

Medianebene  145. 

MeduUarplatte  337,  338,  343,  344,  35  ,  367. 

MeduUarrinne  338,  343,  351,  353,  387. 

Medullarrohr  338,  353,  355,  364,  388. 

Medullarwülste    343,  344,  351,  355,  35  ,  369, 

370.  387- 
Medusen  193 

—  acraspede  201. 

—  craspedote  200. 

—  Bildung  198. 
Membrana  vitellina  102. 
Mendelismus  109,  121. 
Mendels  Spaltungsregel  121. 
Mensch  384. 
Merogonie  129 
Mesenchym  163,  391,  419. 

—  larvales  224,  226. 
Mesenchymatisches  Füllgewebe  213. 
Mesenterium  494. 

—  dorsales  236,  240. 

—  ventrales  236,  240. 
Mesenteron  209. 
Mesoblast,  larvaler  213. 

Mesoderm  207,214,  335- 337' 35°'  352-365.367. 
368,  369,  371,  380,  382,  384,  390,  391,  394. 

—  gastrales  353,  363,  364,  391. 


Mesoderm,  paariges  349. 

—  parietales  338,  388. 

—  parietales  Blatt  360 

—  peristomales  353,  364,  391. 

—  somatische  Schicht  236. 

—  splanchnische  Schicht  236. 

—  viscerales  Blatt  338,  360,  366. 
Mesodermbildung  215. 

—  durch  Abfaltung  216. 

—  teloblastische  216. 
Mesodermsäckchen  366. 
Mesodermsegmente  339. 
Mesodermstreifen  218,  226,  269. 
Mesothorium  123. 
Mesozoen  184. 
Metacarpus  457. 
Metagame  Periode  32. 
Metamer  en  183. 
Metamerie  402. 
Metamorphose  348. 

—  der  Echinodermenlarven  315. 
Metanephridien  238. 
Metaphase  der  Kernteilung  59. 
Metatarsus  457. 
Metatheria  378. 
Metatroch  221 
Metazoen  184. 
Mikrogametozyten  29. 
Mikromeren  205 
Mikrozentrum  48. 
Milchdrüse  416 
Milz  512. 

Mitochondrien  53. 
Mitose  58. 

Mitteldarm  209,  494,  496. 
Mittelfuß  457. 
Mittelhand  457. 
Mittelhirn  467,  468 
Mittelohr  476. 
Mollusken  172,  272,  392. 

—  Bau  273. 

—  Entwicklungsgeschichte  285. 

—  Mantel  274. 

—  Schale  274. 
Molluskenei  172. 
Monaster  59. 
Monaxoner  Typus  179. 
Moneren  18 

Monotremen  160,  378,  400. 
Moostierchen  289. 
Morula  142,  153. 
Mosaiktheorie  164,  166. 

—  der  Entwicklung  147. 
Müllersche  Larve  230. 
Müllerscher  Gang  518. 
Mund  338,  484. 
Mundbucht  347,  355,  371,  372,  374. 

—  primäre  485. 
Mundhöhle,  primäre  487- 


Register 


533 


Mundhöhle,  sekundäre  488. 
Mundhöhlendrüsen  493. 
Muskelendplatten  92. 
Muskelfibrillen  9,  82. 
Muskelgewebe  62,  80. 

—  glattes  81. 

—  Bau  des  glatten  81. 

—  quergestreiftes  81. 
Muskelhüllgewebe  83. 
Muskeln,  glatte  80 

—  parietale  462 

—  quergestreifte  80. 

—  viscerale  462 

—  willkürliche  462. 

—  Bau  der  quergestreiften  80. 
Muskelsystem  461. 
Muskelzellen  56 

—  glatte  461. 
Muskulatur  395 

Mutterstern  der  Kernteilung  59 
Muttertrompete  520. 

Myelin  89. 
Myofibrillen  56. 
Myoneme  9. 
Myriopoden  258 

N. 

Nabelbildung  373. 
Nabelstrang  388. 
Nachhirn  467. 
Nachniere  513,  515,  518. 
Nägel  415. 

Nahrungsdotter  136,   147,  350 
Nase,  äußere  484 
Nasenbein  439 
Nasenhöhle  ^81 
Nasenmuscheln  483. 
Naturgesetz  127 
Nauplius  251. 
Nebenhoden  518. 
Nebenkeilbein  440 
Nebenkerne  23. 
Nebenniere  512,  522. 
Necturus  345. 
Nematodes  233. 
Nephridien  237,  238,  247. 
Nephromixien  238. 
Nerv,  dreigeteilter  471. 

—  herumschweifender  474. 
Nerven  89. 

—  Bau  87. 

Nervenendigungen  92. 
Nervenfasern  464 
Nervengeflecht  90. 
Nervengewebe  62,  84. 
Nervenhügel  474. 
Nervenkittzellen  465. 
Nervenknoten  90. 
Nervensegmente  89. 


Nervensystem  277,  351,  388,  395,  463. 

—  Aufgaben  und  Organe  463. 

—  Entwicklung  durch  Delaniination  214. 

—  —  —  Einfaltung  326. 

—  der  Echinodermen  306. 

—  peripheres  469. 

—  sympathisches  464,  469,  472. 

—  zentrales  338. 
Nervenzellen,  bipolare  86. 

—  multipolare  86. 

—  unipolare  86. 

—  Gestalt  86. 
Nervus  abducens  471. 

—  accessorio-vagus  471. 

—  accessorius  471. 

—  acusticus  471 

—  facialis  471. 

—  glossopharyngeus  471. 

—  hypoglossus  471. 

—  olfactorius  471. 

—  opticus  471. 

—  trigeminus  471. 

—  trochlearis  471. 
Nessel  tiere  193. 
Netzfasern  'j'j 
Neunaugen  39g. 

Neurenterischer  Strang  344,  356. 
Neurilemma  89. 

Neuriten  87 

Neurofibrillen  57. 

Neuroglia  86,  91,  351,  395. 

Neurokeratin  89. 

Neurone  84,  464. 

Neuroporus,  hinterer  344,  360,  370,  372. 

—  vorderer  338,  344,  360,  370,  372. 
Neurotrochoid  221. 

Niere  277,  513. 
Nierenbildung  394. 
Nierenkörperchen  515. 
Nißlsche  Granulation  86. 
Notogenesis  392. 
Nukleoli  48,  96. 
Nukleus  17. 

O. 

Oberhaut  408. 

Oberkiefer  440. 

Oberkieferfortsätze  347 

Ocellen  11. 

Ohr,  äußeres  476. 

Ohrknochen  442. 

Olynthus  187 

Ontogenetisches  Kausalgesetz  333,  393. 

Onychophoren  257. 

Oogenese  114. 

Ookinet  30 

Ophidia  400. 

Ophiuroidea  299. 

Opossun  378. 


534 


Register 


Organbildungen  des  Integuments  411. 
Organe  39,  60 

—  adenoide  74. 
lymphoide  74 

Organellen  2. 

Organgeschichte  405. 

Organisationsform,  nichtzellige  der  lebendigen 

Substanz  49. 
Organkomplexe,  palliale  274. 
Organologie  40. 
Ornithorhynchus  378. 
Otolithen  476. 
Ovisten  105. 
Ovocyte  112 
Ovogenese  iii. 

P. 

Palatoquadratum  445. 
Pancreas  496. 

Panzer  der  Schildkröten  433. 
Paraglycogen  15, 
Paramaecium  8,  22. 

—  Konjugation  30. 
Paraphyse  468. 
Parapodien  244. 
Paratroch  221. 
Parietalauge  478. 
Parietalorgan  468. 
Parthenogenese  127. 

—  experimentelle  129,   132. 

—  künstliche  127,  132. 

—  natürliche  127. 
Paukenbein  446. 
Paukenhöhle  476,  501. 
PeUicula  7,  43. 
Peribranchialraum  499,  514 
Perichondrium  78. 
Perimysium  83. 
Peripatus  257. 
Peripatusentwicklung  264. 
Peritendineum  83. 
Petromyzonten  364. 
Pfeilwürmer  294. 
Pflanzentiere  186. 
Pfortader  508. 
Phagozyten  51. 
Phalangen  457. 
Phoronoidea  289. 
Phoronis  162. 

—  Bau  290 

—  Entwicklung  292 
Phototaxis  11. 
Phylogenie  364. 
Pigmentzellen  410 
Pilidium  172. 
Pinealauge  478 
Placenta  385. 
Placentalia  400. 
Placoidorgane  411. 


Planula  197. 
Plasma  j^. 
Plasmodien  50. 
Plasmo.dium  malariae  29. 
Plasmogamie  27. 
Plastin  17. 

Plateausches  Gesetz  141. 
Piatodes  227 
Plattencyclen  302. 
Plattwürmer  227. 
Pluteus  313. 
Pol,  animaler  178. 

—  vegetativer  135,   178. 
Pollappen  173. 

Polymorphismus,  Prinzip  198. 
Polyp  193. 

Polyspermie  104. 
I'olzellen  128. 

—  der  Mesodermstreifen  217. 
Pori  abdominales  523. 

—  genitales  520. 
Postbranchiale  Körper  501 
Potenz,  prospektive  150,  164 
Präformationstheorie  107. 
Primitivknoten  365,  367,  368,  380,  381,382,391. 
Primitivrinne  368,  386. 

Primitivstreifen  368,  370,  372,  380,  382,  383, 
384,  385,  386,  391. 

—  Rückbildung  36S. 
Primordialschädel  434. 
Primordialskelett  420. 

Prinzip  der  organbildenden  Keimbezirke  147, 
150,   164,   166,  167. 

Stoffe  166,   167. 

Progame  Periode  32. 
Proktodaeum  209. 
Pronuclei   119. 
Prostomia  212. 
Protaxonia  207. 
Protochula  230. 
Protonephridien  224,  225. 
Protoplasma  45. 

—  Aussehen  3. 

—  biologische  Charakteristik  4. 

—  chemische  Beschaffenheit  3. 

—  Ernährung  12. 

—  Irritabilität  10. 

—  Kontraktilität  4. 

—  physikalische  Beschaffenheit  3. 

—  Struktur  4. 

—  Wabenbau  45. 

—  Wabentheorie  4. 
Prototheria  378. 
Prototroch  210,  221. 
Protozoen  184 

—  Befruchtungsvorgänge  26 

—  Depressionszustände  35. 

—  Fortpflanzung  20. 

—  Fundstellen  2. 


Register 


535 


Protozoen,  Größe  2. 

—  Organisation  2. 

—  phylogenetische  Bedeutung  i 

—  Unsterblichkeit  34 

—  Vorkommen  2. 

—  Züchtungsversuche  35. 

—  und  Krankheitslehre  36 

—  und  Zelltheorie  2. 
Protracheaten  257. 
Pseudocoel  226,  245. 
Pseudopodien  5. 
Pyrosomen  320. 


Querstreifung  56. 


R. 


Rachenhaut  374. 

—  primäre  355,  485. 
Rädertierchen  231. 

Radiär- symmetrischer  Typus  180 
Radiärtypus  145. 
Radiolarien  16. 
Radius  457. 
Radium  123. 
Radula  275 
Rana  fusca  356 
Randsegmente  148. 
Rathkesche  Tasche  497 
Ratiten  432. 

Raubersche  Deckschicht  382. 
Rautengrube  467. 
Rautenhirn  467. 
Rautenhirnenge  467,  468. 
Reduktion  28,   128. 
Reduktionsprozeß  118. 
Reduktionsteilung  in. 

—  Bedeutung  121. 
Regeneration  166. 

—  der  Linse  394. 
Reifeprozeß   iii. 
Reifungsvorgänge  27. 
Reizbarkeit  50 
Renopericardialgänge  276 
ReptiHen  346,  364,  365,  400. 
Rhabdopleura  299. 
Rhizopodien  7. 
Rhynchocephala  400. 
Riechgrube  480. 
Riechlappen  467,  469. 
Riechnerv  471. 
Riesenzellen  49 
Ringelwürmer  234. 
Rippen  430. 
Rippenquallen  204 
Röhrenquallen  198. 
Röhrenschnecken  272. 
Rotalia  Veneta  6. 
Rotatoria  231. 


Rückenflosse  429. 

Rückengefäß,  gekammertes  247. 

Rückenmark  351,  464,  465. 

Rückenmarksnerven  469,  470 

Rückensaite  399,  402. 

Rumpfdarm  485,  494. 

Rumpf  knospe  371 

Rumpfschwanzknospe  347,  355,  360,  373,  375, 

3S3.  391- 
Rumpfskelett  421. 
Rundmäuler  399. 
Rundwürmer  233. 


Salpen  321. 

Samenbildung  in. 

Samenfaden  95,  96. 

Samenkern  102. 

Samenmutterzelle  112. 

Samenzellen  55,   113,  515. 

Sarkode  2,  3. 

Sarkolemm  82. 

Sarkoplasma  82. 

Saugapparat  bei  Amphibien  347. 

Säuger  160,  375,  378,  389,  391,  400. 

Saumquallen  200. 

Sauria  400. 

Sauropsiden  346,  364,  372,  375,  389,  390,  391. 

Scapula  451.  , 

Schädellose  320,  399. 

Schädelknochen  438. 

Schädeltiere  399. 

Schalendrüse  251. 

Schalen  und  Skelette  16. 

Schambein  453. 

Scheide  520. 

Scheitelauge  478. 

Scheitelbein  439. 

Scheitelbeuge  356. 

Scheitelplatte  209,  221 

Schienbein  457. 

Schilddrüse  497,  505. 

Schizocoel  226. 

Schizogonie  32. 

Schlangensterne  299. 

Schlundatmer  294. 

Schlundbogen  437. 

Schlundpforte  203. 

Schlundrohr  203. 

Schlundtaschen  497,  498. 

Schlüsselbein  451. 

Schlußleisten  67. 

Schmelzorgan  der  Zähne  395. 

Schnecken  278. 

Schnürringe  89. 

Schultergürtel  450. 

Schuppen  der  Fische  411 

—  der  Reptilien  413. 

Schüttelmethode  169 


536 


Register 


Schwämme  i86. 

Schwannsche  Scheiden  351. 

Schwanz  menschhcher  Embryonen  388. 

Schwanzdarm  348,  356,  360. 

Schwanzdarmbucht  374. 

Schwanzflosse  429. 

Schwanzknospe  356,  371. 

Schwanzlappen  359,  360 

Schwertschwänze  254. 

Schwimmblase  497,  502. 

Scoleciden  220,  226. 

ScyUium  canicula  357. 

Scyphistoma  201. 

Scyphomedusen  201. 

Scyphopolypen,  Bau  201. 

Seeigel  101,  299,  309. 

Seeigeleier  130. 

Seelilien  307. 

Seescheiden  320. 

Seestern  299,  308. 

Seewalze  299,  309 

Segmentalorgane  237. 

Sehnerv  471. 

Sehorgane  477. 

Sehzellen  477. 

Seitenfalte  der  Extremitätenanlage  405. 

Seitennerv  472. 

Seitenorgane  474. 

Selachier  346,  356^364,  389,  390,  391,  400. 

Seröse  Hülle  373,  376,  378. 

Siebbeine  442. 

Siebbeinmuscheln  483. 

Sihkoblasten  53. 

Sinnesepithelien  395. 

Sinneshügel  474. 

Sinnesorgane  473 

—  niedere  473. 

—  höhere  4-4. 
Sinnesorganellen  10 
Sinneszellen  473. 
Sinus  urogenitalis  522. 
Siphonophoren  198. 

Situs  inversus  viscerum  146 

Sitzbein  453. 

Skelett,  Aufgaben  416 

—  äußeres  419. 

—  Einteilung  421. 

—  Entstehung  419. 

—  der  Echinodermen  301. 

—  der  freien  Extremitäten  455. 

—  inneres  419. 

—  Materialien  417. 
Skelettsystem  416. 
Skorpione  254. 
Solenoconchen  272. 
Solenocyten  224. 
Somatopleura  236,  338. 
Sonderung,  Typen  213. 
Speiche  457. 


Speiseröhre  494,  495. 
Spermatiden  113. 
Spermatosome  113. 
Spermatozoen  106. 
Spermatozyte  112,  113. 
Spermien  55. 
Spermiogenese  iii,   112. 
Spina  bifida  343. 
Spinalganghon  371. 
Spinnenähnliche  Tiere  252. 
Spiraliger  Typus   145 
Splanchnopleura  236,  338. 
Spongien  186. 

—  Bau  187,   192 

—  Entwicklung  189. 

—  Metamorphose  191. 
Sporenbildung  21. 
Sporogonie  32. 
Sporozoen,  Fortbewegung  8. 
Sporozoite  30. 

Spritzloch  499. 
Stachelhäuter  299. 
Steigbügel  446. 
Stentor  9. 
Stigmen  263. 
Stimmlade  503. 
Stirnbein  439. 

—  hinteres  439. 

—  vorderes  439 
Stoffaufnahme  51. 
Stoffaustausch 

—  osmotischer  43. 
Stoffumsatz  52. 
Stoffwechsel  50,  51. 

—  Produkte  53. 
Stomodaeum  203,  209. 
Streptoneure  Formen  280. 
Strudelwürmer  227. 
Stützgewebe  394. 
Stützlamelle  194. 

Subgerminale  Höhle  365,  369,  391. 
Suprarenalkörper  522. 

Sy Conen  192 
Symbiose  14. 

Symmetrie,  bilaterale  337. 
Symmetrieebene  145. 
Symmetrieverhältnisse  179. 

—  bei   Echinodermen  299. 
Sympathicus  351. 
Symplasmen  50. 
Syncytium  50,  342. 
Synkaryon  27. 

System,  zoologisches  185. 


Tarsus  457. 
Tastkörperchen  474. 
Tastzellen  91,  474. 


Resfister 


537 


Taufrosch  356. 
Tausendfüße  258. 
Teilung,  äquale  140. 

—  erbgleiche  164 

—  erbungleiche  i66,  394. 

—  inäquale  140. 

—  totale  140. 

—  totale  äquale  140. 
Teilungsgrößen  22. 
Teilungsprozeß   133. 
Teilungsregeln  138 
Tektonik  der  Tiere  176. 
Teleostier  340,  364,  400. 
Telophase  der  Kernteilung  59. 
Telson  250. 

Tentaculata  289. 

Teratologie  170. 

Teratomen  356. 

Tetrade  uz. 

Thalamophoren  16. 

Theorie  der  organbildenden  Stoffe  173. 

Thermotaxis  1 1 . 

Thigmotaxis  11. 

Thorax  260. 

Thoraxregion  248 

Thymusdrüse  501. 

Tibia  457 

Tintenfische  283. 

Tod,  physiologischer  34. 

Tornaria  297. 

Tracheen  263. 

Tränennasengang  482. 

Trichomonas  batrachorum  S. 

Trilobiten  253. 

Triton  345 

Trochophora  172,  221,  392. 

—  Bau  221. 

—  Entwicklung  225. 

—  der  Mollusken  286. 
Trochosphaera  aequatorialis  231. 
Trochus  221. 

Trommelfell  477. 

Trophoblast  379,  380,  382,  384,  385 

Trophochromatin  26, 

Tubae  uterinae  520. 

Tunicaten  320 

Tüpfelbeutelmarder  378 

Turbellarien  227. 

U. 

Überfruchtung  104. 
Ulna  457. 

Umwachsungsrand  360. 
Unke  356. 

Unterhautbindegewebe  408. 
Unterkieferbogen  347. 
Urdarm  156,  334,  349,  350. 
Urdarmhöhle  350. 

K.d.  G.III.iv,  Bd2  Zellenlehre  etc.  II 


Ureter  515. 

Urgeschlechtszellen  517. 

Urmesodermzellen  217. 

UrmoUusken  272. 

Urmund  156,  179,  210,  334,  343,  391. 

—  Concrescenz  336. 
Urmundlippen  343,  349,  354,  358. 
Urmundrand 

—  Umbildung  in  einen  Umwachungsrand  360. 
Urniere  513,  515,  517. 

Urnierengang  515,  518. 

Urnierenkanälchen  5 1 5. 

Urodela  400. 

Urogenitalsystem  238. 

Ursegmente  238,  347,  364,  371,  387,  388. 

-  Bildung  353. 

Ursegmenthöhlen  388. 

Urzeugung  i. 

Uterus  519,  520. 

Uterusschleimhaut  382,  384. 


Vagina  520. 

Vehgerlarve  der  Mollusken  28 

Veligerstadium  288. 

Velum  200. 

Venen  506. 

Venenstämme  511. 

Ventrikel  467. 

Vereinigung    der    Zellen    zu 

Organen  60. 
Vermes  219. 
Vertebrate  320. 
Vesicula  blastodermica  155. 

—  germinativa  96. 
Vielkernigkeit  24. 
Vielzellbildung  140. 
Vierergruppe  112. 
Vitellus  96. 

—  formativus  136. 

—  nutritivus  136. 

Vögel  346,  364,  368,  370,  372 
Vollkern  119. 

Vorderdarm  209,  494,  495. 
Vorderhirnanlagen  370. 
Vorhof  508. 
Vorniere  347,  513. 
Vomierengang  347,  513. 
Vorticellinen  9. 


Geweben    und 


W. 

Wadenbein  457. 
Wanderzellen  55. 
Weichtiere  272. 
Wimper  und  Geißelzellen  55. 
Wimperkranz,  präanaler  221. 
—  präoraler  221. 


34' 


:)J 


8 


Register 


Wimperkranz,  postoraler  221. 
Wimpern  8. 

Wimpertrichter  514,   515. 
Wirbelkörper  423. 
Wirbelsäule  421. 
Wirbeltheorie  des  Schädels  436. 
Wirbeltiere  320. 

—  Klassifikation  399. 

—  Allgemeine  Morphologie  400. 

—  Spezielle  Morphologie  407. 
Würmer  172,  219. 
Wurmfortsatz  496. 


X. 


Xiphosuren  254. 


Zahnbeingevvebe  78,  79 
Zahnbildungen  488. 
Zähne  395. 
Zahnformeln  492. 
Zahnknochen  440. 
Zehen  457. 

Zentralkörperchen  48. 
Zentralkorn  24 

Zentralnervensystem  463,  464. 
Zentriol  48. 
Zentrosoma  48. 
Zellen  39 

—  als  Anlage  108 

—  Bestandteile  45. 

—  Beweglichkeit  54. 

—  chemische  Eigenschaften  43 

—  chromaffine  371. 

—  Energiewechsel  54. 

—  Farbe  42. 

—  formbildende  Tätigkeit  53. 

—  Formen  41. 

—  Fortpflanzung  57. 

—  Gewicht  43 

—  Größe  40. 

—  Lebenserscheinungen  50. 


Zellen,  mechanische  Eigenschaften  42 

—  optische  Eigenschaften  42. 

—  Reizbarkeit   56. 

—  Riechsinnes  91. 

—  Sinnesnerven  91. 

—  Struktur  43. 

—  sympathische' 371 

—  Wahlfähigkeit  51. 

—  Zahl  40. 
Zelleinwanderung  213. 
Zellenafter,  Cytopyge  13. 
Zellencentrum  48. 

—  Gestalt  49. 

—  Größe  und  Zahl  48. 
Zellenwechsel  im  Organismus  44. 
Zellkern  17,  46. 

—  Bau  47. 

—  Formen  47. 

—  Größe  47. 

—  Zahl  46. 

Zellmund,  Cytostom  13. 
Zellorgane  2 
Zellteilung,  direkte  57. 

—  indirekte  58. 
Zeugungstheorien  99. 
Zirbel  468. 
Zirbelauge  478. 
Zoea  252. 

Zona  pellucida  155 
Zoochlorellen  14. 
Zooxanthellen  14. 
Zunge  492. 
Zungenbein  449. 
Zungenbeinbogen  347. 
Zungenfleischnerv  472. 
Zungen-Rachen-Nerv  471. 
Zweigeschlechtlichkeit  516 
Zweiteilung  20. 
Zwerchfell   523. 
Zwischenhirn  467,  468 
Zwischenkiefer  440. 
Zwischenskelett  419. 


Druck  von  B.  G.  Teubner  in  Dresden. 


4 


^J