Skip to main content

Full text of "Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen"

See other formats


Google 


This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project 
to make the world’s books discoverable online. 

It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover. 

Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book’s long journey from the 
publisher to a library and finally to you. 


Usage guidelines 


Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 

‘We also ask that you: 


+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 


+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 


+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 


+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance in Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe. 


About Google Book Search 


Google’s mission is to organize the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 
alkttp: /7books. google. com/] 














Google 


Über dieses Buch 


Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 

Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. 

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei — eine Erin- 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 


Nutzungsrichtlinien 


Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 

Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 


+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 


+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 


+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht. 


+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 


Über Google Buchsuche 


Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. 
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|'http: //books .google.comldurchsuchen. 














» vi 
ü —* w, 


u) 
‘ 
s 


:ÜIBRAR el OF THE 


a 


ee et tee 


HAHN 
FVVV 


a \ 3 
NIS 
N Z 
Net: 
N. fi 


ut. „ıuu 


N 
Fee ER TER! 


a“ 
u We) 
— 


ER 
3 

1} 

1 
3 
g 
ER 
e). 
EH 
3 =. 
= 
2 
= 
5: 
2: 
2: 
= 


....o 
mn... nn... Seeo-.unen du 0. 


DET 


Km 
—EIIEILIDIVVVVVVVVVVVVVVVVVVVI 
—— ü — ———— —— —— 


| 





“Au m 


ner: —— 


Zur Geſchichte 


_ 
dentfhen Kleingewerbe 


im 19. Jahrhundert. 


Statiftifche und nationalöfonomifche Unterſuchungen 


X 
von, © 
en 


> | 
Gufas Schmöller. 


Halle, 
Berlag der Buchhandlung des Waifenhaufes. 
1370, 


Meinem Schwager 


Dr. Gustav Rümelin, 


tw. Stantsrath a.D., Vorſtand des k. w. ftatift. Bureaus, Dozenten 
der Philoſophie und Statiftil an der Univerfität Tübingen, 


‚in Xiebe und Dankbarkeit 


gewidmet, 


4 


Vorrede. 
Die nachſtehenden Unterſuchungen ſind urſprünglich 
veranlaßt durch die Redaktion des Arbeiterfreundes. 
Seit geraumer Zeit dem Namen nach Mitarbeiter 
diefer Zeitichrift fühlte ich längft die moralijche Ver— 
pflihtung, dieſe nominelle Mitarbeiterihaft zu einer 
faftiichen zu machen. Um den wiederholten Aufforde: 
rungen der Redaktion zu genügen, nahm ich eine 
Arbeit wieder vor, die mich jeit lange beichäftigte, die 
Bearbeitung der Handwerkerſtatiſtik der wichtigern 
deutſchen Zollvereingitaaten. . Bald aber jah ih, daß 
die Vollendung diejer Arbeit einen Umfang gewinne, 
der die Beröffentlihung in einer Zeitichrift ausfchließe. 
Damit war eine felbftändige Bublifation geboten, wie 
fie nunmehr erfolgt. Meiner "Verpflichtung gegenüber 
dem Arbeiterfreund Fam ich dadurch nad), daß mir die 
Verlagsbuchhandlung des Waifenhaufes geftattete, einen - 
Theil der Unterfuhungen (etwa die Hälfte derjelben) 
daneben im Arbeiterfreund aboruden zu laſſen. Es 
folgte aus diefer Kombination der Webelftand, daß 
der Drud der eriten Bogen im Januar 1869, nod 
ehe der Entwurf der neuer Gewerbeordnung ausge: 
geben war, begann, während die legten erſt im Sep- 


vI Vorrede. 


tember und Oktober 1869 ganz vollendet und gedruckt 
wurden. 

Seit mir im Jahre 1862 die Ausarbeitung der 
im Dezember 1861 aufgenommenen württembergiſchen 
Gewerbeſtatiſtik übertragen worden war, hatte ich die 
hiermit zuſammenhängenden Fragen und Unterſuchungen 
ſtets mit beſonderer Vorliebe im Auge behalten. Als 
ich nach Preußen kam, hatte ich doppelte Veranlaſſung 
mich immer und immer wieder für wiſſenſchaftliche Vor⸗ 
leſungen, für Vorleſungen in Gewerbe- und Hand— 
werkervereinen, ſowie für literariſche Arbeiten mit der 
preußiſchen Gewerbeſtatiſtik, ſowie mit der des Nachbar⸗ 
landes, mit der ſächſiſchen, zu beſchäftigen. So hatte 
ih das Material, die verſchiedenſten Arten der Berech- 
nung, der Tabellen bei mir gehäuft; meine eigenen 
Anfichten waren im Laufe diefer Zeit mannigfach andere 
geworden, als ich mich durch die genannte äußere Ver⸗ 
anlaffung zur definitiven Ausarbeitung entjchloß. Ich 
teilte früher, meinen allgemeinern Studien und meinen 
politiihen Anſchauungen gemäß, die hergebradhten An- 
fihten der liberalen Nationalökonomie, die rein opti- 
miftifche Auffaffung unjerer volfswirthichaftlichen Fort- 
Ichritte, die dee, in der Gewerbefreibeit an fich Liege - 
ausichlieglih das Heilmittel für alle Uebelftände. Je 
tiefer aber meine Studien gingen, defto mehr ſah ich 
nicht Die Unrichtigkeit, im Gegentheil die Berechtigung, 
aber auch die Einfeitigfeit dieſes Standpunttes ein, defto 
mehr vermwandelten ſich mir frühere Abftraftionen in 
fonfrete Unterfcheidungen, der jchönfärbende Optimis⸗ 
mus in die Einfiht, daß nothwendig aus den großen 


Vorrede. vu 


Umwälzungen unjerer Zeit neben glänzenden, unerhör- 
ten Fortſchritten tiefe joziale und wirthichaftlihe Miß- 
ftände fich ergeben; es verwandelte fich mir der Nihilis- 
mus des „laissez faire et laissez passer“ in Die 
Forderung pofitiver Reformen, wobei die Reformen 
mir immer mehr als die Hauptjache erjchienen, nicht 
die Frage, ob fie der Staat oder die Gejellichaft in 
die Hand zu nehmen babe. 

Doch zunächſt haben diefe Unterfuchungen für jene 
tiefer liegenden Fragen nur das Material zu jammeln, 
einen Theil des status quo feftzuftellen. Der erite 
Zwec der Arbeit lag für mich darin, die jo vielfach 
mißbräuchlich benutzten ftatiftiichen Zahlen kritiſch zu 
unterfuchen, nur vergleichbare Zahlen zujammen zu 
ftellen, durch richtige Anordnung der Zahlen die Fragen 
zu ftellen, melche fie beantworten können. Sch habe 
daher auch nicht geicheut, ſelbſt mit einer breiten und 
bier und da ermüdenden Ausführlichkeit die Entitehung 
und den Werth der einzelnen Zahlen Har zu legen, 
duch zahlreiche Anmerkungen jedem Leſer die eigene 
Prüfung und Nachrechnung zu ermöglichen. Die Mehr- 
zahl meiner Rechnungen babe ich durch einen ausge- 
zeichneten Mathematifer, Herren Ulrich, Beamten der 
Berfiherungsgeiellichaft Iduna prüfen lajlen; auch im 
Drud find die Zahlen mit möglichiter Sorgfalt vektifizirt, 
jo daß Hoffentlih die niemals ganz zu vermeidenden 
Drud- und Rechenfehler unbedeutend find. Daneben 
babe ich angeftrebt, die Zahlen jo mitzutheilen, daß 
auch der Nichtfachmann fie leicht verfteht, d. h. ich habe 
jie, durchaus in Heine Tabellen gruppirt, zwiſchen dem 


vınm Vorrede 


Texte mitgetheilt, auch abſichtlich die Hauptreſultate 
der Tabelle nochmals in Worten ausgeſprochen, was 
ja in offiziellen Publikationen, wie in Werken für den 
Statiſtiker von Fach zu vermeiden iſt. 

Wenn ich dabei möglichſt ſuchte, die Zahlen ganz 
für ſich ſprechen zu laſſen, ſo weiß doch jeder Statiſtiker, 
daß das nur möglich iſt, wenn der, welcher die Zahlen 
vorführt, eine genaue vollſtändige Kenntniß der realen 
Verhältniſſe hat, um die es ſich handelt. Und dazu 
rechne ich nicht nur eine Kenntniß der ſpezifiſch gewerb⸗ 
lihen Zuftände, der Technik der Gewerbe, der Abſatz⸗ 
und Breisverhältniffe, Sondern ebenjo jehr eine Kenntniß 
der plychologiichen und fittlichen Zuftände, der Berfonen, 
um die es ſich Handelt, der Art, wie die betreffenden 
wirthichaftlichen Klaffen fozial und fonft mit einander 
verkehren und ftehen. ' 

Ich babe mich in diefer Beziehung bemüht, das 
große literariſche Material, das in den Handelskammer⸗ 
berichten, in den Ausftellungsberihten, jowie in den 
volfswirthichaftlichen Zeitjchriften Liegt, zu verwerthen. 
Ich jammle feit Jahren an der jehr umfangreichen 
Brochürenliteratur über deutiche Volkswirthſchaft des 
19ten Jahrhunderts. Auf manchen Reifen und Warn- 
derungen babe ich den Süden und den Norden des 
Zollvereins durchftreift, die großen Fabrifen befichtigt, 
die Werkſtätten der Handwerker aufgejucht und in den 
Wohnungen der Arbeiter eingefprocen. Aber immer 
bleibt daS, was man fo felbft gejehen, ſogar das, was 
man jelbit gelefen und ftudirt hat, gegenüber dem 
großen Gebiete des gewerblichen Lebens ein Kleines 


Borrebe. Ix 


Bruchtheil. So kann es nicht fehlen, daß da oder 
dort vielleicht die Information eine ungenügende war, 
die Ausarbeitung eine ungleihe wurde. Die Grenz 
linie zwiſchen Zahlenmittheilung und ausführender Be- 
trachtung konnte ſchon wegen der verichiedenen Bedeu⸗ 
tung der einzelnen Fragen, Staaten und Gewerbe keine 
ganz gleichmäßige ſein. Aber darauf kommt es auch 
nicht an. Das Weſentliche liegt immer wieder im Ge⸗ 
ſammtergebniß. Dieſes iſt wohl mehr durch die gleich⸗ 
ſam mathematiſch feſtgeſtellten ſtatiſtiſchen Reſultate — 
daneben aber immer auch durch die ſonſtigen Studien 
und Anſichten, durch das Temperament und die Erleb⸗ 
niſſe des Autors bedingt. Ein ſubjektiver Reſt bleibt 
immer. Es iſt die Schattenſeite jeder wiſſenſchaftlichen 
Arbeit; es iſt aber auch im gewiſſen Sinne ein Bor- 
zug. Es fol ein ſubjektiver Reit bleiben. Eine Arbeit 
derart, welche mit über die wichtigften volkswirthſchaft⸗ 
lihen Fragen der Gegenwart ſich ausſpricht, ſoll jub- 
jeftiv im guten Sinne des Wortes, fie joll eine erlebte 
fein. Sie ſoll fich gründen auf jelbitändige Forſchung, 
die unter SKenntniß aller bisherigen Relultate der 
Wiffenfchaft, doch bei der Beobachtung von allen Schul- 
theorien zu abftrahiren, mit eigenem Auge und offenem 
Herzen zu fehen vermag. 

Das ift doppelt nothwendig für Fragen, welche 
vom Streite der politiihen Parteien jeit Jahren jo 
hin- und bergezerrt wurden, daß auf allen Seiten Die 
Unbefangenheit des Urtheils verloren ging, daß man 
die PVarteidevifen über die Dinge ftellte, daß man 
beiderfeitS mit Argumenten focht, die aus der Rüft- 


x Borrebe. 


fammer der doch ſchon vielfach wiever veralteten Partei- 
Ichriften geholt (hier aus Adam Müller, Haller, 
Sismondi, dort aus Adam Smith und Baltiat), auf 
die im Augenblid ftreitigen Objekte oft kaum paßten. 
Beſonders die extremen Flügel beider großen politifchen 
Parteien haben intolerant, wie die Extreme immer 
find, fich gerade auch für volfswirthichaftliche Dinge 
ein Barteivogma zurecht gemacht, an deſſen Unfehlbar- 
feit und Unantaftbarkeit fie mit der ganzen Leiden- 
ſchaftlichkeit einer pfäffiſchen Orthodoxie feithalten. 
Dieſer Vorwurf trifft nicht bloß unſere konſervativen, 
er trifft beſonders auch die radikalen Volkswirthe. 
Man kann mit den Hauptzielen der volfswirth- 
Ihaftlichen liberalen Agitation des legten Jahrzehntes, 
mit den Hauptzielen des volfswirthichaftlichen Kon⸗ 
greſſes vollftändig einverftanden fein, man kann das 
Verdienſt jener volfswirtbichaftlichen Agitation um die 
praftiihe Durchführung wichtiger, allerdings über- 
wiegend negativer Reformen, man kann das pofitive 
Verdienſt Schulze⸗-Delitzſch's ſehr boch jtellen, ohne 
darum die ganz einfeitigen theoretischen Grundlagen 
jener volfswirthichaftlichen Partei zu theilen — jenes 
abitrafte Schuldogma, das die unbedingte Harmonie 
aller Privatintereffen, das die unbedingte Berechtigung 
jedes wirthihaftlihen Ggoismus predigt, das, Die 
piychologiichen, ſozialen und fittlihen Vorbedingungen 
jedes konkreten volfswirtbichaftlichen Zuftandes ver- 
fennend, das mirthichaftlihde Leben aus abitraften 
Motiven ableitet. Man kann die Grenzen einer über: 
mädhtigen Bureaufratie eingeengt, den Polizeiſtaat in 


Vorrede. xI 


einen wahrhaft Eonftitutionellen verwandelt wünſchen, 
man kann ein Barteigänger politiider und wirthichaft- 
liher Freiheit fein, ohne darum die rechtlichen und 
ftaatliden Grundlagen der Volkswirthſchaft zu ver- 
fennen, wie es jenen radifalen Volfgwirthen fo oft 
begegnet. Sie wollen eine im Augenblid an der Re- 
gierung befindliche Bartei, die theilweiſe freilich zugleich 
eine wirthichaftliche Klaffe mit egoiftifchen Intereſſen 
üt, befämpfen; und fie befämpfen häufig die ewig 
ſittlihhe Natur, das eivige Recht des Staates ſelbſt, 
oder erflären fie, wie ihr Gegner, das wirthichaftliche 
Privatintereffe, das die meilten ihrer Mitglieder als 
wirthichaftliche Klaſſe haben, ohne Weiteres für das 
Staatsinterefje, für das allgemeine Intereſſe ſelbſt. 

. Sole Verwechslung von Partei- und Klaffen- 
intereffen mit theilweife oder fcheinbar wifjenschaftlichen 
Ausführungen und Ergebniffen kommt rechts und links 
vor; fie begegnet den Heißſpornen beider Parteien oft 
ganz unbewußter Weiſe; manche, denen fie begegnet, 
glauben dabei in ehrlichiter Weile zu handeln. Oft 
aber auch ift das nicht der Fall. Und das ift gerade 
die Gefahr, welcher die Nationalöfonomie mehr als 
jede andere Wiſſenſchaft ausgefegt iſt. Nicht die vielen 
Laien und Dilettanten, welche in befter Abficht heute 
volfswirthichaftliche Abhandlungen ſchreiben, find gefähr⸗ 
ih für eine klare und gelunde öffentliche Meinung, 
\ondern jene geichulten Advokaten und Literaten, welche 
im Dienfte einzelner Börfenunternehmungen, einzelner 
wirthichaftlicher Klaſſen, einzelner Zeitungen und Beit- 
ſchriften, welche ausichließlich die Sntereffen diejer oder 


xu Vorrede. 


jener Klaſſe, oft gar einzelner Perſonen verfolgen, 
doch immer ſich den Anſchein geben, als ſei ihre 
egoiſtiſche Intereſſentenpolemik ein Ergebniß der Wiſſen⸗ 
ſchaft oder wenigſtens durchaus im Einklang mit der 
allgemeinen Wohlfahrt, mit dem Staatsintereſſe. 

Eine unbefangene Forichung, welche fich bemüht, 
frei von allen Schultheorien und Intereſſen, nur von 
den Dingen jelbft auszugehen, wird das Meifte unter 
. anderem Gejichtäwinfel jehen, al3 der Parteimann und 
als der Klafjeninterefjent; fie "wird Irrthümer einer- 
ſeits, berechtigte Momente andererjeit3 auf beiden 
Seiten fehen und muß dieß, will fie anders ehrlich 
verfahren, offen ausiprechen. Die politiihen Parteien 
und die wirtbichaftlichen Klaffen als ſolche werden da— 
durch nicht befriedigt werden; ja man läuft Gefahr, 
alle vor den Kopf zu ftoßen, ohne eine zu befriedigen. 
Die Willenfhaft kann fi darüber nicht grämen. 
‚Sie hat nicht. den Parteien zu dienen, jondern über 
ihnen zu ftehen, fie hat nur einen Zweck, den — ehrlich 
und mit Anftrengung aller ihrer Mittel nah Wahr- 
heit zu ftreben. 

Auh nur auf einem foldden Standpunkt wird es 
gelingen, was man jo oft verlangt hat, jo oft an- 
ftrebt,. über die Theorien Adam Smith's wahrhaft 
hinauszulommen — binauszufommen nicht durch all- 
gemeine Deflamationen, durch unwahre Anpreifungen 
vergangener Zeiten und überlebter Suftitutionen, jon- 
dern durch die erafte Forihung, welche, die einzelnen 
Gebiete nach einander durch emſige Arbeit klarlegend, 
den großen Gedanken des Zuſammenhangs aller 


Vorrede. xuiui 


ſozialen Probleme doch immer feſthält, vor Allem 


den Grundgedanken einer tiefern Auffallung, die Ueber- 


zeugung von der. nothwendigen Einheit und Ber- 
fnüpfung des wirthichaftlichen mit dem fittlichen Leben 
der Völfer immer vor Augen behält. 

Wenn e3 mir gelungen it, in dieſem Sinne 
einen Beitrag zur ethiihen Begründung der National: 
öfonomie geliefert zu haben, in dem Sinne gearbeitet 
zu haben, in weldem ſchon %. ©. Hoffmann, dann 
Roſcher und Stein, Engel und Hildebrand, troß 
ihrer verjchiedenen Ausgangspunfte, jowie neuerdings 
mehrere Der jüngern deutihen Nationalöfonomen 
geforſcht und gearbeitet haben, Dann glaube ich 
meinen Zweck erreiht zu haben. Wenn mir das 
gelungen ift, dann auch nur glaube ic) das volle 
Recht zu haben, dem Manne diefe Unterfuhungen zu 
widmen, der von tiefftem Einfluß auf meine geiftige 
Entwicklung vor Allem durd) fein Beifpiel, durch feinen 
Umgang, wie duch jeine wiflenjchaftlichen Arbeiten 
dazu beigetragen bat, mich zu erziehen zu willen: 
Ihaftlicher Arbeit und zum -Muthe jelbftändiger unab- 
bängiger Weberzeugung! | 


Halle a/)S. im Dftober 1869. 
Guſtav Schmoller. 


Inhaltsverzeichniß. 


Einleitung . 


Ein Rückblick ins 18te Sapehundert 
1. Das allgemeine Darniederliegen der Gewerbe 
2. Die Preußiſche Verwaltung und die preußiſche 
‚Induftrie des 18ten Sahrhunderts . 


Die Hauptreſultate der preußziſchen Aufnahmen 
von 1795 — 1861. 

. Die preuß. Handwerksſtatiſtik von 1795/1803 

. Die preuß. Handwerkertabellen von 1816— 43 

. Die preuß. Hanbwerlertabellen von 1846 — 61 


Die Hauptrefultate Der Yufnahmen in Baden, 
Bürttemberg, Baiern und Sadfen im 
19ten Jahrhundert. 

1. Die badiſche Hanbwerkerftatiftil von 1829 — 61 
2. Die mürttembergiihe Handwerferftatiftif von 
1835 — 61 und die Folgen der Oewerbefreipeit 
von 1862 —67 . . 
3. Die bairiſche Sandwerkerflatiftif von 1810— 61 
4. Die ſächſiſche Handwerkerftatiftil von 1830 — 
1861, die Gewerbefreiheit von 1862 —66 . 
Die Umgeitaltung von Produktion und Berlehr 
im 19ten Sahrhundert, 

. Die Urfachen . 

. Die neuere Art ber Brobuftion . .. 

. Das Berlaufsgefchäft des Heinen Handwerters 

. Die Magazine und der Haufirhandel . 


> nm 


We 5 DD ei 


Seite 
1—10 


13— 22 
23 — 46 
49 — 58 


. 59 —69 
70 — 399 


103— 107 


108 — 117 
118— 137 


138 — 156 


159 — 1% 
196 — 210 
211 — 227 
228 — 254 


XVI 


Inhalt. 


Die lokale und gefhäftliche Vertheilung der Ge⸗ 


4. 


mwerbetreibenden. 


1. Das Handwerk in Stabt und Land . 

2. 

3. Das Verhältniß der Gebülfen su den Meiſtern 
"im Allgemeinen. 


Das Handwerk nach Provinzen und Staaten 


Das Verhältniß der ochuien zu den Reifen 
im Speziellen . 


Der Kampf des großen und lleinen Betriebs in 


1. 


am Sm 


10. 


. Die Bäder und Fleiſcher 
. Die Wirthſchafts⸗ und verwandten Gewerbe 
. Die Baumwoll- und Leinenipinnerei. 

. Die Wollipinnerei, 


einzelnen Gewerbszweigen. 
Die Nahrungsgewerbe im Allgemeinen und 
bie in der Fabriktabelle verzeichneten im 
Speziellen. . 


die Zwirn-, Strick⸗, 
Stick- und Nähgarnfabrifen, die Garnbleiche 
und Färberei und die Seilerei. 


. Die Weberei überhaupt und bie Weberei als 


häusliche Nebenbefhäftigung im Speziellen 


. Die banbwerksmäßige Tolale Weberei. 
. Die Leinen» und Baummwollweberei für ven 


Abſatz im Großen nebft ihren Hülfsgemwerben 


. Die Wollweberei im Großen, bie Seiden-, 


die Band» und die Strumpfweberei . 
Die Schuhmacher, 


Schneider und ver. 
wandten Gewerbe . en 


Schluß und Refultate. 


Seite 
257 — 287 
288 -- 325 
326 — 355 
356 — 390 

. 393 — 410 
411 — 430 
431 — 446 
447 - 471 
472 — 491 
492 — 510 
511 — 533 
534 — 575 
576 — 614 
615 — 652 
653 — 704 


Einleitung. 


Zwed und Gegenftand der Unterfuchungen. Die Bisherigen 
Bearbeitungen ber Gemwerbeftatiftil. Die Duellen der Ge- 
werbeftatiftit und ber fritiiche Werth gewerbeftatiftiicher Auf- 
nahmen. Die Trennung der Aufnahmen in Fabrit- und 
Handwerkertabellen. 


Das Geſetz vom 8. Juli 1868, betreffend den 
Betrieb der ſtehenden Gewerbe, hat für das ganze 
Gebiet des norddeutſchen Bundes die Gewerbefreiheit, 
ſoweit ſie nicht vorher ſchon exiſtirte, gebracht. Lange 
Angeſtrebtes iſt damit erreicht, eine für alle Gewerbe 
nothwendige Geſetzesänderung erzielt. Aber irren würde 
man ſicher, wenn man einen allzugroßen ſchnellen Ein⸗ 
fluß dieſer Aenderung auf die Lage und Entwickelung der 
Handwerke erwartete, wenn man glaubte, die Gewerbe⸗ 
freiheit bringe ben beſtehenden Kleingewerben zunächt 
Vortheil. Ihre Entwidelung ift mehr durch andere 
Umftände, als burch die Gewerbegeſetzgebung bebingt. 
Die Technik in ben einzelnen Gewerben, die Konkurrenz 
mit der Großinduftrie, die Bildung und Nührigfeit 
der Handwerker ſelbſt, die landwirthſchaftliche und bie 
jonftige inpuftrielle Entwidelung einer Gegend, die Dich- 
figfeit der Bevölkerung, die Verkehrsmittel find eben fo 
wichtig oder wichtiger, als bie Gewerbenerfeflung, 

Schmoller, Geld. d. Kleingewerbe. 


2 Einleitung. 


Mag dem aber fein, wie ihm wolle, ficher ift es 
am Plate, bei einer fo wichtigen Aenderung der Gejeß- 
gebung den Bid rüdmärts und vorwärts zu wenden und 
jih von Neuem die oft beiprochene Frage vorzulegen, 
welches war, ift und wird die Lage der Kleingewerbe 
jein? Vieles ift darüber geichrieben und gefagt wor⸗ 
den, vr hat man einzelne Punkte unterjucht, fo 
gerade ven Einfluß der Gewerbefreiheit, die Konkurrenz 
der Großinduftrie, die neuen Organijationen, Aſſozia⸗ 
tionen, Kreditvereine, die dem Handwerke Hülfe bringen 
ſollen und tbeilweife auch jchon gebracht Haben. Viel 
weniger aber bat man nach dem Gejammtrefultat aller 
der verſchiedenen zuſammenwirkenden Momente gefragt, 
wie fie in der Gewerbejtatiftif uns vorliegen. 

Was ich in den folgenden Unterfuchungen beabfich- 
tige, ift weder eine zufammenfafjende deutſche Gewerbe— 
ſtatiſtik, noch eine vollftändige Gefchichte der Klein- 
gewerbe, noch ber Gewerbegefeßgebung; eben jowenig 
beabfichtige ich ein näheres Eingehen auf das Afjozia- 
tionsweſen; ich will das gewerbeftatiftiiche Material 
der bedeutendern deutſchen SZollvereinsitaaten, foweit es 
gedruckt vorliegt, Tritiich unterfuchen, damit bas lebte 
Ergebniß aller zuſammenwirkenden Urlachen möglichit 
feftftellen und aus dieſer feitgejtellten Beobachtung ver- 
juchen, Schlüffe über die Vergangenheit und gegen- 
wärtige Yage der Slleingewerbe, über dieſe und jene 
damit zuſammenhängende Frage zu ziehen. 

Die folgenden Betrachtungen und Unterjuchungen 
glauben um jo mehr am Plake zu fein, ſowie auch in 
Iofer, ſtizzenhafter Form auftreten zu dürfen, als es 


Frühere Bearbeitungen. 3 


mit einer gleich zu erwähnenden Ausnahme an jever 
volljtändigen neuen Bearbeitung beſonders der preußtichen 
Gewerbeſtatiſtik fehlt. Der trefflichen Bearbeitung von 
Hoffmann ,! welche die gewerbeftatiftiichen Reſultate bis 
1837 in Betracht zieht, tft Feine vollftändig ebenbürtige 
gefolgt. Dieterici hat die Ergebniffe der Aufnahmen 
von 1843 — 55 ? veröffentlicht, Engel die von 1858 
und 1861.° Einzelne Fragen find von Dieterict in 
dem Zabellenwerf von 1843, wie in den Mittheilungen 
erörtert; * für 1849 ift die Bearbeitung in dem V. %olio- 


1) Die Bevölkerung des preußiichen Staates. Berlin 1839. 
S. 114 ff. 

2) Dieterici die ftatift. Tabellen des preuf. Staates flir 1843, 
Berlin 1845; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preuß. 
Staat I—VI (enthaltend die Aufnahme von 1849, theilmeife 
mit der von 1852.) Berlin 1851 — 55; Tabellen und amtliche 
Nachrichten für 1852, 1855 und 1858, je ein Band (lebterer 
nach dem Tode Dieterici’8 von Engel herausgegeben.) Mitthei- 
ungen des ftatiftiihen Bureaus in Berlin, 13 Bände. 1848 — 60. 

3) Preußiſche Statiftil in zwanglofen Heften V. Die Er- 
gebnifle der Volkszählung und Vollksbeſchreibung nach den Auf- 
nahmen vom 3. Dezember 1861, reip. Anfang 1862. Ber- 
Iin 1864. 

4) Dieterici, Mittheilungen bes ftatift. Bureaus: I, 68 ent- 
hält nur die Mittheilungen der Gefammtrefultate der Gewerbe- 
aufnahme von 1846, um zu berechnen, wie viele Perfonen 
zur eigentlich arbeitenden Klaſſe gehören; I, 213 — 291 und II, 
1—16 enthält eine Bergleihung der wichtigern Handwerke von 
1822 und 46, wobei hauptſächlich ber Beweis geführt werben 
fol, daß bie Gewerbefreiheit nicht zur Ueberfegung des Hands 
werfg geführt habe; II, 235— 64 eine Bergleihung des König- 
reichs und ber preuß. Provinz Sachſen nah dem Stand von 
1846 , worin die intenfivere gewerbliche Entwidelung des König- 

1 * 


4 Einleitung. 


band der offiziellen Tabellen auch eine etwas weiter- 
gehende. Die Refultate von 1846 — 58 find im erjten 
Band der Zeitichrift des ftatiftiichen Bureaus zu einer 
überfichtlichen Tabelle wenigftens vereinigt! Die Rejul- 
tate von 1846 — 61 find für die einzelnen Gewerbe im 
Sahrbuch für die amtliche Statiſtik vergleichend zuſammen⸗ 
geitellt. Die Publifation der Aufnahme von 1861 tft 
eine beſſere und eingehenvere, als die früheren. Eine 
befriedigende Bearbeitung des Materials Tann ich in all 
dem nicht jehen. 

Längſt nachdem ich mit dieſer Bearbeitung begon- 
nen, erichien der dritte Band von Viebahn's ausge- 
zeichneter Statiftit des zollvereinten und nörblichen 
Deutſchlands, der das Gewerbeweſen umfaßt. So voll- 
endet derjelbe ijt, jo viel ich geitehe, aus vemielben 
gelernt zu haben, jo mannigfach ich mich auf feine 
Rejultate und Berechnungen ba und dort beziehen werbe, 
jo wenig konnte er mich abhalten, meine Unterfuchun- 


reichs trotz Zunftverfafjung nachgewiejen wird; DIL, 177 — 183 
eine Weberficht der mit Weberei und Spinnerei im Zollverein 
beihäftigten Perjonen; IV, 252—308 eine Bergleichung ver 
Gewerbeaufnahmen der  Zollvereinsftaaten won 1846, in ber 
Hauptjahe fih auf Mittbeilung der Zahlen beſchränkend; 
V, 212 —269 eine Ueberficht ver gewerblichen und Fabrilationg- 
verhältnifie des preuß.. Staates am Ende der Jahre 1846 und 
49, ebenfalls in der Hauptjache nur bie Zahlen mittheilend; 
VII, 328 — 352, die Meifter und Gehülfen 1849 und 52, nicht 
viel mehr als die Zahlen und den allgemeinen Beweis der 
Zunahme. 

1) des königlich preuß. ftatiftiichen Bureaus I, 
S. 50 - 52.. 


Literatur nnd Ouellen. 5 


gen zu Ende zu führen und zu publiziven. Viebahn 
will nur den gegenwärtigen Standpunkt der deutſchen 
Induſtrie darstellen; er gebt nur jelten auf ältere 
Zahlen über 1861, noch feltener über 1846 zurüd. 
Ih will nirgends wie er barftellen, eine volljtändige 
Beſchreibung geben, ich will nur ein paar große Fragen 
biftorifch unterfuchen, foweit e8 mit dem gewerbeſtati⸗ 
ftiichen Material möglich it. Die Fragen, welche mir 
die wichtigften find, kann Viebahn fchon um des knappen 
Raumes in einem Sammelwerte willen vielfach kaum 
berühren, tbeilweije übergeht er fie ganz. 

Bon den andern deutſchen Staaten haben eben- 
fall8 num wenige genügende Bearbeitungen ihrer Hand⸗ 
werksſtatiſtik aufzuweiſen. Am umfaſſendſten noch find 
die von Sachſen! und Württemberg; ? die batrijche 


1) Zeitjchrift des ſtatiſt. Bureaus des königl. ſächſ. Mini- 
feriums des Innern 1860 Nr. 9 und 10: Zur Statiftif der 
Handwerfe in Sachſen; 1863 Nr. 9 und 10: Zur Statiſtik ber 
Handwerfe im Königreid Sachſen 1849 und 61. Das Haf- 
fihe Quellenwerl Engel’s Über ſächſ. Gewerbeftatiftit, der britte 
Folioband der Mittbeilungen (Drespen 1854) fommt für unjere 
Unterfuchungen weniger in Betracht, da e8 nur bie Beichäl- 
tigungsftatiftif des einen Jahres 1849 enthält; die bortige 
Unterfinhung geht mehr auf Fragen, die hier ausgejchloffen find, 
wie 3.8. bie lokale Vertheilung der ſächſ. Inbuftrie, die Alters - 
und Eivilftandsverhältnifie der Gewerbtreibenden. 

2) Württembergifche Jahrbücher 1862. Het 2 Das 
Königreich Württemberg 1863. Ä 

3) Die Bevölkerung und bie Gewerbe des Königreichs 
Baiern, nach der Aufnahme von 1861 verglihen mit 1847. 
München 1862. 


6 Einleitung. 


und babdiiche * Bearbeitung geht nicht viel über die Mit⸗ 
theilung der Zahlen hinaus, die hannöverjche ? beichräntt 
ſich nur auf das Jahr 1861 und bietet daher unſerer 
hiftorifchen Unterjuchung fein Feld. Die thüringifche 
Gewerbeſtatiſtik,“ joweit fie mir befannt tft, geht über 
das Jahr 1861 nur durch ein paar Mittheilungen aus 
Gotha und Koburg zurüd; in der Hauptjache beſchränkt 
fie fi auf 1861 und auf die Umrechnung der abjo- 
Iuten Zahlen in Progentverhältnifje nach einigen Haupt: 
richtungen. Auch auf Thüringen und die andern Heinen 
Staaten beabfichtige ich nicht näher einzugeben; auf 
allzufleinem Raume Türmen zu leicht befondere exzeptionelle 
Urſachen einwirken, die das Nefultat trüben. * Die 


1) Dieß, die Gewerbe im Großherzogtum Baden. Karls⸗ 
ruhe 1863. 

2) Zur Statiftit des Königreihe Hannover. Heft 10. Ge⸗ 
werbeftatiftit von 1861. Hannover 1864. 

3) Statiftit Thüringens, Mittheilungen des ftatiftifchen 
Bureaus vereinigter thüringiſcher Staaten, herausgegeben von 
Dr. Bruno Hildebrandt I. Jena 1865 —67. ©. 228 — 324. 
Die Gemerbtreibenden im Großherzogthum Sachfen 1861 find 
auch verzeichnet in: Beiträge zur Statiftit des Großherzog⸗ 
thums Sachſen⸗Weimar⸗-Eiſenach. Erftes Heft. Weimar 1864. 
©. 57 — 65. 

4) Derart waren bie Berhältniffe in Bremen, wo ber 
übertriebenfte Zunftgeift die Gewerbe hemmte und die Zuftände 
mit der Gewerbefreiheit um fo plößlicher fi) änderten; fiehe als 
Belag hierfür die intereflante Vergleichung der bremifchen Ge⸗ 
werbeftatiftit von 1862 und 64: „Zur Statiftil des bremilchen 
Staats.” Bremen 1865. ©. 24 ff. Es wäre aber ficher ſehr 
falſch, aus den dortigen Zahlen auf eine Handwerferzunahme, 
die überhaupt aus allgemeinen Urjachen erfolge, fchließen zu 
wollen. 


Kritik der Aufnahmen. 7 


geſammte Aufnahme in den Zollvereinsitaaten von 1861 
ift vom Centralbureau des Zollvereind publizirt, aber ohne 
dag nur die Totalſummen der Tabellen gezogen wären.! 

Neuere Aufnahmen feit 1861 eriftiven leider fait 
gar Feine, was um fo mehr zu bedauern ift, als gerade 
bon 1861 — 68 unſer gewerbliches Leben fich fo fehr 
verändert bat. 

Ehe ich zur Sache komme, muß ich noch eine 
Bemerkung vorausichiden. Die Nichtbeachtung und 
Nichtbearbeitung der Gewerbeitatiftif Hatte und bat bei 
vielen hervorragenden Statiftifern und Nationalöfonomen 
einen, wenn nicht ganz genügenden, doch auch nicht ganz 
‚inftichhaltigen Grund — nämlich die Unvollkommenheit 
ver Aufnahmen. Weber Großgewerbe, Aderbau, Forſt⸗ 
wirshichaft kann die Statiftif eine Reihe wichtiger und 
theilweiſe Yeicht Eonftatirbarer Verhältniſſe und Merk- 
male fejtjtellen. Das Handwerk bat in der Regel nur 
eine Perſonalſtatiſtik; nur die Zahl der Meifter, ver 
Gefellen und Lehrlinge oder beiver leßteren zufammen 
laͤßt fi aufnehmen, Daraus ihr Verhältnig zur Bevölke⸗ 
rung berechnen. Damit weiß man noch unendlich wenig 
über die Produktion, über Blüthe oder Verfall, über 
die geichäftliche Organiſation. Was jagt eine geringere 
Zahl Gefchäfte, wenn jedes beſtehende Geſchäft mit jo 
viel mehr Maſchinen arbeitet? was jagt eine bloße 


1) Statiftifche Ueberfichten der Fabriken und vorherrſchend 
für den Großhandel beichäftigten Gewerbsanftalten, ber bafür 
arbeitenden mechaniichen Kräfte und fümmtlicher Dampfmafchi- 
nen, der Handeld- und Xransportgewerbe, fowie der Hand⸗ 
werler im Gebiete des Zollvereins. Berlin, Jonas 1864. 


8 Einleitung. 


Perſonalſtatiſtik ohne Statiftif ver techniſchen Hülfe- 
mittel und des Umſatzes? “Die ältern einfachen Kate— 
gorien „Meifter und Gehülfen‘ paflen auf heutige Zur 
ſtände nicht mehr ganz, erichöpfen fie wenigſtens richt. 
Vielfach find heute verichtedene Handwerke in Gefammt- 
unternehmungen vereinigt; daſſelbe Geſchäft treibt Pelz⸗ 
bandel, Hutfabrifation, Handichuhmachere. Dadurch 
und durch andere folche Verhältniffe entjteht eine Reihe 
von Schwierigfeiten, Bedenken, Unforreftheiten. Nur 
bei einer möglichft genauen Kenntniß der realen gewerb- 
lichen Berhältniffe, um bie es fich handelt, wie ber 
Art der Aufnahmen werben fich die Irrthümer, die noth- 
wertdige Folge dieſer Mißſtände find, nicht ganz, aber 
doch einigermaßen vermeiden laſſen. 

Der allgemeine Werth der Aufnahmen unterliegt 
neben dieſen Speziellen Bedenken noch dem Zweifel, der 
aus einer Vergleichung mit ver Aufnahme der Bevölke— 
rungötabellen hervorgeht. Die Benölferungsaufnahmen 
haben fich ſucceſſiv verbeffert, eine wifjenjchaftlich bear- 
beitete Zechnif der Aufnahmen bat fich gebildet; die 
Selbftangaben in ven Haus- ober Haushaltungsliften 
find glaubwürdige Zeugniffe der betreffenden Perjonen 
über einfache verjtändfiche Fragen. So find die Gewerbe- 
tabellen nicht aufgenommen; fie ftügen ſich meijt nicht 
auf Selbitangaben; jchon die Rubriken der Tabellen 
find zu komplizirt, um die Leute fie jelbit ausfüllen 
zu laffen. Die Ausfüllung der erjten Zabellen fällt in 
die Hand von Lofalbehörden (Orts- oder Kreisvorftän- 
den), bei denen oftmals die gehörige Einſicht, öfter 
vielleicht noch der gehörige Wille fehlt. Tür die Ver- 


Kritil der Aufnahmen. 9 


gleichung der verſchiedenen Staaten fommt binzu, daß 
man fih bis zu einem gewilfen Grade jchon 1846, 
vollftändig 1861 zu einem gemeinfamen Schema in 
den Zollvereinsftanten einigte, daß man aber feine fichere 
Sarantie dafür hat, ob die Ausführung eine einheit- 
fiche, gleichmäßige ift, ob dieſelben Kategorien überall 
gleichmäßig aufgefaßt wurben. 

Gerechten Zweifeln und Bedenken unterliegt auch 
die ganze in Preußen übliche Trennung der Aufnahme 
in zwei befonvere Tabellen, in die Yabriktabelle und die 
Handwerkertabelle.“ Engel bat nicht ganz Unrecht, wenn 
er jagt, es fehle an jeder jcharfen Definition für Diele 
Tennung, ganz abgejeben bavon, daß Die Vebergänge 
bon der einen zur andern Art fo zahlreich und fein 
Ihattirt ſeien, daß e8 fchwer zu jagen jei, wo das Hanb- 
wert aufböre, die Fabrik anfange. Es gibt Gerbereien, 
Schmieden, Glockengießereien in der Handwerkertabelle 
verzeichnet, Die größer find als viele Fabriken. Als 

| Meifter werden nicht bloß felbftändige Unternehmer, 
| ſondern viele Arbeiter bezeichnet, die zu Haufe für 
Verleger arbeiten. 
Mag dem aber ſein, wie ihm wolle, die Trennung 
it eime gegebene Thatſache; für künftige Aufnahmen wird 
fe als offene Frage zu diskutiren fein, für die früheren 
it fie da und es fragt fich bloß, ob fe die Thatjachen 
jo entjtellt, daß wegen ihr gar feine richtige Benrbei- 
tung möglich ift. 
1) Die Angriffe gegen dieſe Eintheilung geben hauptſächlich 


von Engel aus: |. Zeitfchrift des ftatift. Bur. 1863. ©. 80. und 
Preuß. Statiſtik V. ©. 49. 





— — 


10 Einleitung. 


Das zu behaupten wäre lächerlich. Gerade für 
eine Unterfuchung, die nur die Rleingewerbe in Betracht 
ziehen will, bietet die Trennung jogar Vortheile. Und 
wenn man von Einzelheiten abfiebt, jo entipricht fie 
jelbft heute noch im Ganzen den realen Zuftänvden, bat 
ihnen jedenfalls bis in die fünfziger Jahre entfprochen. 
In der Hauptjache find die Geichäfte, welche in der 
Handwerfertabelle ftehen, etwas Anderes als die in ber 
Fabriktabelle ftehenden. Enticheivet im Detail oft nur 
Willkür und Zufall, ob eine Unternehmung in der einen 
oder andern Tabelle verzeichnet tft, für die Haupt⸗ 
fategorien iſt Die Scheidung doch klar; für fie hat die— 
ſelbe jedenfalls in den verjchievenen Iahren nach gleichen 
Grimdfägen ftattgefunvden. Und wenn manche Unterneh- 
mung, die in der Fabriftabelle fteht, in die Handwerker⸗ 
tabelle gehört, fo wird auch der umgefehrte Fehler ftatt- 
gefunden haben, und das Gejammtrefultat wird in Folge 
diefer Ausgleichung doch relativ ver Wahrheit fich nähern. 

Für mancherlei Fragen und Verhältnijfe werben 
bedeutende Zweifel bleiben. Da wird man verfuchen 
müſſen die Zahlen kritiſch zu reftifiziren, wenn es geht. 
Wenn das nicht geht, wird man die Schlüffe vorerſt 
hypothetiſch ziehen und jo zunächft ein vorläufiges Re⸗ 
jultat erhalten. 

Berfährt man nur wiſſenſchaftlich, jo bat man 
troß der Unvollkommenheit der Aufnahmen ein werth- 
volles Unterjuchungsmaterial, das bei richtiger und vor⸗ 
fichtiger Frageftellung der Wahrheit entiprechende Ant- 
worten sticht ſchuldig bleibt. 


Ein 


Rückblick ins 18. Jahrhundert. 


1. Das allgemeine Darniederliegen der Gewerbe. 


Die Nachwehen des breifigjährigen Krieges und die Zuftände 
überhaupt. Die zeitgenöffiihen Klagen über die elende Lage 
der Handwerke. Die verſchiedene Wirkung der Zuftände auf 
die Lokalgewerbe und bie für den größeren Abſatz arbeiten- 
ben Gewerbe. Aus der Münchener Handwerksſtatiſtik bes 
17. Jahrhundert. Einzelne gewerbeftatiftifche Notizen aus 
dem 18. Jahrhundert: Bairiſche Tuchmacher; Niedergrafſchaft 
Katzenellnbogen; Herzogthum Magdeburg; Fürſtenthum Würz⸗ 
burg; Schweidnitz; Kaufbeuern; Speier. 





Obgleich wir für das 18. Jahrhundert feine umfaſ⸗ 
ſenden Gewerbeaufnahmen haben, fei es geftattet, mit 
einigen Worten an die damaligen Zuſtände zu erinmern.! 

Noch litt Deutichland an ven Nachwehen des 
breißigjährigen Krieges. Der deutſche Handel war ver 
richtet. Die Rleinftanterei hemmte jeve Bewegung. Das 
Gewerberecht war ausgeartet im den verrottetften Zopf. 
Mißbräuche aller Art wucherten. Vergeblich fuchten 


1) Siehe varüber Biedermann, Deutſchland im 18. Jahr⸗ 
hundert. Leipzig 1854. I, 235— 329. Maſcher, das beutjche 
Gewerbeweſen. Potsdam 1866. 349 — 477. Gülich, geichicht- 
liche Darftellung des Handels, der Gewerbe 2c. Jena 1830. 
I, 197 — 385. / 


14 Ein Rückhlick ins 18. Jahrhundert. 


Reichs- wie Lanvesgefeßgebung dagegen anzulampfen. 
Bergeblih war Alles, weil Stumpfjinn und Apathie, 


kleinlicher Spießbürgergeift und beſchränkte Indolenz 


überall herrſchten, weil Gevatter Schneider und Hand- 
ſchuhmacher möglichſt ohne Anſtrengung und Arbeit ſich 
nothdürftige Nahrung zu ſchaffen und zu erhalten fuch- 
ten. Ein großer Theil der Handwerker, auch der 
ftäbtiichen, war zu Halbbauern herabgefunfen. Feindlich 
und apathiſch verhielt fich Die Mehrzahl gegen neue 
Anregungen, wie fie von den flüchtigen franzöftfchen 
Proteftanten, von den Fürftenhöfen ausgingen. Das 
Fabrikweſen over vielmehr einzelne für weitern Abſatz 
arbeitende Hausinduftrien wurden in einzelnen Ländern, 
wie in Preußen, in Sachen, auch in Deftreih von 
aufgeklärten Fürften gepflegt und gehoben; nur wenige 
Induftrien, wie die Leinenmanufaktur, hatten aus alter 
Zeit her noch eine gewiſſe Blüthe gerettet; aber das 
berührte in der Hauptjache die hergebrachten Hand- 
werfszuftände nicht viel, jedenfalls mm in einzelnen 
Ländern. 

Die ökonomische Lage der meijten Handwerker war 
ebenjo kümmerlich al8 ihre Technik unvollenvet, ihre 
Arbeit ſchlecht. Das dauernde Siechthum, wie es 
ebenfo Folge der Geſetzgebung und ber politiichen Zu— 
ſtände, als der techniichen Ungeſchicklichkeit und ſpieß— 
bürgerlichen Trägheit war, hatte aber je nach der Art 
der Gewerbe und Iofal, je nach den mitwirkenden jon- 
tigen Verhältniffen, ziemlich verſchiedene Folgen. Im 
einigen Gegenden und Gewerben allgemeiner Rückgang 
jelbft der Meifterzahl, in andern im Gegentheil eine 


Die Klagen über gewerbliche Noth. 15 


Ueberfegung des Handwerks. Ueberali aber treffen wir 
gleichmäßig die Klagen über gewerblichen Nothſtand. 

Juſtus Möſer Hagt,! daß man Handel und Hand- 
werf auf dem platten Lande geftattete, da könne fich 
der Handwerker in allen kleinern Städten nicht mehr 
halten. An einer andern Stelle ? fuch(® er die Urfache 
des DVerfalls in der Krämerei: „Man laffe fih,” ruft 
er, „die Rollen von unjern Handwerkern nur. ſeit hun⸗ 
dert Jahren zeigen. Die Krämer haben fich gerade 
dreifach vermehrt, und die Handwerker unter der Hälfte 
verlohren. Der Eijenfram bat den Kleinſchmid, ver 
Bureau⸗- und Stuhlfram den Zijchler, der Goldkram 
den Bortenwirker, der goldene, bärene, gelbe und 
weiße Knopf den Knopfmacher und Gelbgießer verborben. 
Und Tann man fi) eine Sache gevenfen, womit der 
Krämer jetzt nicht heimlich oder Sffentlich handelt? 
Aehnlich fpricht fich auch Bergius in feinem Polizei- 
magezin aus.3 Beide täufchen fich über Urjache und 
Wirkung; die Krämerei war nicht die Urjache des Ver⸗ 
falls der Handwerke, ſondern mit und durch den Verfall 
8 Handwerks und mit dem Aufblühen der Fabriken 
entitand erſt der regere Detailhanvel. 

As fernern Beleg über die elenden Zujtände im 
Allgemeinen möchte ich noch die Klagen von Krug aus 
der Zeit gegen 1800 beroorheben, die Doppelt jchwer 
wiegen, da fie fich auf Preußen beziehen, das immerhin 
den andern Staaten, wie wir jehen werden, noch weient- 

1) Batriotiihe Phantafien. Berlin 1775. I, 181 ff. 


2) Eod. ©. 21. 
3) Siehe Bd. VI. 392 — 93 (1786). 


16 Ein Rüdblid ins 18. Jahrhundert. 


lich voraus war. Krug! legt fich die Frage vor, ob 
der Wohlitand der Städte im Ganzen gegen ältere 
Zeiten zu= oder abgenommen habe. „Eine Erfahrung,“ 
antwortet er, „welche man nicht bloß in ven preußi- 
ſchen Städten, ſondern in den Städten vieler anderer 
Staaten gemaßt hat und noch immer machen Tann, 
möchte wohl diefe-Frage für die Abnahme des Reich- 
thums und Wohlſtands im Ganzen entjcheiden.” Er 
erinnert an die mittelalterlichen Bauten der Städte, er 
Hagt — wohl ziemlich übertrieben —, daß nur die— 
jenigen Inbuftriellen, die dem Luxus, ven nichtswür- 
digen Künſten, Gaukeleien und Spielereien der Vor— 
nehmen dienen, noch zunehmen. „Wenn wir” — fagt 
er — „pen Wohlitand des Bürgerſtandes oder ber 
induftridfen Klaſſen in den Städten ohne Rückſicht auf 
jest berrichende Moden und den Einfluß des Zeitgeiſtes 
auf die Bedürfniſſe dieſes Standes betrachten, jo wird 
wohl für wenige Städte der geſunkene Wohlſtand des 
Handwerksſtandes geleugnet und gründlich widerlegt 
werden können. Die Klagen über zunehmende Nahrungs- 
Iofigfeit der Landſtädte werden in allen Provinzen gehört 
und find in neuerer Zeit immer auögebreiteter geivor- 
beh; in ven Heinen Landſtädten bat der Luxus noch 
nicht unter der Mehrheit ver Handwerker Plab finden 
fönnen, und die alte Simplicität der Sitten und der 
Bedürfniſſe ift hier noch am mehrjten zu finden. Es 
haben viele Urfachen zujammengewirft, welche den Wohl- 


1) Betrachtungen über den National - Reichthum des preuß. 
Staates IL, 153 ff. 


Die Klagen Über gewerbliche Noth. 17 


itand des Bürgerftandes zeritört haben und die haupt- 
lächlichiten derfelben mögen in falichen Abgabenſyſtemen, 
in ver Verwandlung einträglicher Gewerbe in Fabrik 
anftalten, in der Aufhebung oder Beeinträchtigung ver 
Imungen und in den Handelseinſchränkungen zu fuchen 
ſein.“ 

Wir wollen mit Krug hier nicht rechten, in wie 
weit er Recht hat mit ſeinen Klagen, mit den Urſachen, 
die er anführt. Er vermengt Wahres mit Falſchem; 
er fieht vorübergehende Mißſtände zu Ende des Jahr⸗ 
hunderts für dauernde Urſachen an; er verkennt man⸗ 
ches Gute, weil es neu iſt, weil es ihm als zuſammen⸗ 
haͤngend mit verderblichem Luxus erſcheint — aber 
ſo viel beweiſen ſeine Worte, blühend war das Hand- 
wert des 18. Jahrhunderts nicht. 

Suchen wir nun Einiges über die Zahlen ber 
Handwerker und ihrer Gehülfen beizubringen. 

Der vorhin fchon erwähnte Unterjchied in der 
Rückwirkung der allgemeinen Zuftände auf die Zahl 
der Handwerker mußte fich zeigen hauptſächlich zwiſchen 
den reinen Lolalgewerben, die für den täglichen Abſatz 
die nothwendigſten Waaren liefern, und jenen, die ent- 
behrlichere Waaren, ſowie Waaren für den entfernteren 
Abſatz probuziven. Bei letztern wirb ber Ruin viel 
ſchneller eintreten, die Meifterzahl wird raſch finfen; 


1) Die flatiflifchen Belege, welche er von ben Stäbten 
der Kurmark als Beweis des Verfalls anführt, zeigen wohl 
einzelnes Schlimme, aber zum größern Theile beweilen fie 
das Gegentheil, nämlich den vollswirthichaftlichen Fortſchritt der 
Immärkiichen Städte. 

Shmoller, Geld. d. Aeingewerbe. 2 


s 


18 Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert. 


erſtere können lange der Zahl nach dieſelben bleiben, 
aber ſie machen immer ſchlechtere Geſchäfte, führen Jahr⸗ 
zehnte hindurch ein elendes Daſein. 

Ein zwar weiter zurück liegender, aber ſchlagender 
Beleg hiefür iſt die Münchener Handwerksſtatiſtik von 
1618, 1633 und 1649.1 Die Geſammtzahl der Meiſter 
betrug nach den Steuerbüchern, während die Bevölkerung 
der Stadt in dem einen Jahr 1635 um 15 000 Men- 
ichen durch den Tod ärmer geworben fein joll,? 


1618 . . 2.0... 1781 
1633 . ..2.......1469 
1649 . . . ......1110 


Einzelne Gewerbe, wie die Sammtweber, Runftfüb- 
rer, Meffingarbeiter, Saitenmacher, find ganz verſchwun⸗ 
den. Andere ähnlicher Art zeigen wenigitens eine jehr 
itarfe Abnahme. Es find 1618 1633 1649 


Zuhmader . . .. 82 1710 
Lein⸗ und Zeugmeberr . 161 120 82 
ober . 2222. 116 9% 46 
Schneider. .. . 118 0 64 
Steinmeten . . . . 27 8 5 
Maler . 2 222.2. 23 17 
Se 2. 2.2223 27 5 
Witte. . 22.2.4 31 27 
Golbihmiede .. . . . 3 33 20 
Kornläufl . . . .. 24 19 135 
Sdhioferr . ...:..3 @2 22 
Shmide . .... 4 16 23 


1) Münden während des breißigjährigen Krieges, eine 
Rede von Georg von Sutner. München, Lindauer 1796. 
©. 60. 66 fi. 

2) Siehe eod. ©. 36 und Hanjer, Deutfchland nach dem 
30 jährigen Kriege. Leipzig, Winter 1862. ©. 213. 


Handwerksſtatiſtik jener Zeit. 19 

Keine wejentliche Aenderung, ja theilweiſe eine 
Zunahme zeigen dagegen folgende Kategorien: 
1618 1633 1649 


Bierbrauerr . . .»... 69 68 63 
Eifendändfer. . . . 12 16 9 
Kramer . . 2... 50 61 63 
Mebgr . . ... 56 50° 48 


Schubmader. . . . 57 62 50. 


Diefelbe Bewegung, die bier als afute Krankheit 
fih zeigt, fehen wir von da bis gegen 1800 als chro- 
niiche Krankheit. Einzelne Handwerke nehmen reißend 
ab, während fie Daneben an manchen Orten, begünjtigt 
duch beſondere Verbältniffe und fürftliche Bemü— 
hungen, auch wieder aufblüben; die Mehrzahl ver 
gewöhnlichen Handwerke aber nimmt kaum ab, jeven- 
fall nicht ſtark genug, um ven bleibenden aus— 
Emmliche Nahrung zu fchaffen. Die Zunftverfaffung 
gibt dem Einzelnen zu viel, um zu fterben, zu wenig, 
um ordentlich zu leben, und jo iſt Das Handwerk im 
Verhältmig zur Bevölkerung an vielen Orten viel zu 
ſtark beſetzt. Auch erblicher Hausbeſitz, ber geftattet, 
von der Miethe zu leben, nebenhergehende Acker⸗ 
und Gartenwirthſchaft wirkte da und dort auf Veber- 
ſetzung. 

Daher die ſcheinbar widerſprechenden Zahlen und 
Angaben. Nicolai führt in feiner Reiſe durch Deutſch— 
land folgende Statiftif des Quchmachergewerbes in 
Öniern an; e8 waren: 


1) Theil VI. ©. 594, vergl. Gülich IT, 285. 
2* 





20 Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert. 







azıe | 1 
































Meifter |&eienen 
zu Münden . 72 180 ı2| 8 5 9 
zu Ingolftadt . 72| 112 2| — 1 3 
in ganz Baiern 399 | 740 | 125 | 9% 99 85 


Dagegen ergibt ſich eine vollitändige Weberjekung Des 
Handwerks aus folgenden Zahlen. In der Niever- 
grafichaft Kagenellnbogen! kommen 1783 nad der 
zuverläffigen Angabe eines dortigen Beamten, des Kam⸗ 
meraffeffor Hüpeven, auf 19 596 Seelen nicht weniger 
als 1663 Handwerker, Künftler und Handelsleute mit 
87 Geſellen und 21 Lehrlingen — zuſammen 1751 hand⸗ 
werfsmäßig beichäftigte Perjonen. Es find darunter 
einige wenige Leute, die heute nicht in der Handwerks >, 
ſondern in ver Hanvelstabelle verzeichnet werden; neh— 
men wir nur 1600 handwerksmäßig beichäftigte Per- 
jonen auf 19596 Seelen an, fo find e8 8. No der 
ganzen Bevölferung, während 1861 die Handwerker in 
dem gewerbreichen Sachien erjt 8, in Preußen 5—6 °/, 
der Bevölkerung betragen, während 1845 in ven größ- 
ten veutichen Städten die ſämmtlichen Gewerbetreiben⸗ 
den 4—6 9/,, nur in Berlin und Wien bi8 10 %, ? 
ausmachen. Daß es fich um eine zu große Zahl Mei- 
jter handelt, die fich des halb Fümmerlich nährt, zeigt 


1) Siehe Schläger, Staatsanzeigen VI. 159 — 191. Mafcher, 
Gewerbemweien ©. 433. 

2) Nach Reden, Zeitichrift des Vereins für beutiche Sta- 
tiftit I, 763: Vergleichende Zufammenftellung ber Bevölke—⸗ 
rung und ber Zahl der Gewerbtreibenden in 14 beutichen 
Städten. 


Handwerksſtatiſtik jener Zeit. 21 


die Gehülfenzahl; 168 auf 1663, alſo 10 %, ver 
Meiſter; in Sachjen kommen 1861 auf jeden Meifter 
etwa 14, Gehülfen, in Preußen auf jeden Meiſter einer 
— alſo 100 bis 150 %/, der Meijter. 

Mafcher und Kotelmann! theilen ohne Angabe 
der Quellen noch Binige Daten mit, die ein ähnliches 
Did ergeben. Im Herzogthum Magdeburg kommen 
1784 auf 280 332 Seelen 33 203 Handwerker, darun⸗ 
tr 2297 Gefellen und 1988 Lehrlinge ımb 1 868 
Meifter, Gefellen und Lehrlinge in Fabriken beichäftigt. 
Es bleiben aljo 27050 felbftändige Meine Meifter mit 
4285 Gehülfen: mit ven Gehülfen über, ohne fie bei- 
nahe 10 °%, der ganzen Bevölkerung. Das wenig indu⸗ 
firielle Fürſtenthum Würzburg hat auf 262409 Seelen 
13 762 felbftändige Gewerbetreibende mit 2 176 Gehül- 
fen, zuſammen 15938 oder 6,95 °/, der Bevölkerung. 
Schweidnitz hatte 1788 folgende Bevölkerung: Civil⸗ 
ftand 6118 Seelen, Militär 2865, zufammen 8983 
Seelen, davon 1072 Handwerker, alfo auf einen 
Handwerker etwa 8, Seelen; der Handwerkerſtand 
12 °/, ver Benölferung. Kaufbeuern hatte 1783 etwa 
4000 Seelen mit 800 Gewerbtreibenden, worunter 
indeflen 300 Weber eingerechnet find. Wenn wir diefe 
in Abzug bringen, jo machen die Handwerker immer 
noch 12,, %, aus. In Speier, das noch zu Ende des 
16. Jahrhunderts 1000 Tuch- und Leinweberſtühle 


1) Gewerbeweien ©. 432. Kotelmann, die Urfachen bes 
Panperismus unter den beutichen Handwerkern, deutſche Vier⸗ 
teljahrsſchrift 1851. Heft 1. ©. 193 ff., beſonders ©. 202 
und 226. 


22 Ein Rüdblid ins 18. Jahrhundert. 


zählte, das 1792 deren mir noch 20 Hatte, kommen 
in diefem Jahre auf 5129 Einwohner Doch noch 
674 ſelbſtändige Gewerbtreibende mit 290 Gehülfen, 
alſo 964 Perfonen, das find 18,,, °, der Benölferung. 
Sie müffen in fehr jchlimmer Lage gewejen fein, wenn 
man auch annimmt, fie hätten neben dem Abſatz in 
der Stadt noch einen weitreichenden in der Umgegend 
gehabt. „Kaum 100 biefer Meifter Eonnten von ihrem 
Gewerbebetrieb leben.“ „Sch kenne” — fagt ein Augen- 
zeuge, der damalige Zunftherr Adam Weiß zu Speier — 
„äußerſt thätige vechtichaffene Profelfioniften, die Tag 
‚ und Nacht anbaltend zu arbeiten wünfchen. Allein fie 
finden feine Beichäftigung und müſſen zu ihrem gro- 
Ben Leidweſen gezwungen müßig geben. Vol Wehmuth 
fieht man fie für die Ihrigen gegen den Hungertod käm⸗ 
pfen, und kaum verichafft ihnen ihr Sieg das trodene 
Brod.“ 

So ſind die gewerblichen Zuſtände Deutſchlands 
im 18. Jahrhundert beinahe allenthalben. Immerhin 
aber gab es einzelne Theile des Reichs, wo die Lage 
des Gewerbsmannes etwas beſſer war, wie ich ſchon 
vorhin erwähnte. In Oeſtreich war durch Karl VI., 
durch Maria Thereſia und Joſeph IL. Manches gejche- 
ben. Auch in Sachſen war einiger gewerblicher Fort⸗ 
jchritt nicht zu leugnen. Vor Allem aber hatte man 
e8 in den preußiichen Landen verſtanden, den Wohl- 
ftand zu fördern. Es ift nöthig, darauf noch einen 
Dli zu werfen. 


2, Die preußiiche Verwaltung und die preußifche 
Snönftrie des 18. Sahrhunderts. 


Die Thätigkeit des großen Kurfürften und König Friedrich's. 
Friedrich Wilhelm I., die pofitiven Beförderungen ber Indu⸗ 
frie und die Reform der Zunftverfaffung. Friedrich ber 
Große; feine Juſtiz, Toleranz und Einwanderungspolitif; Die 
pofitiven Beförderungen bejonbers ber Gewebeinduſtrie; bie 
fortgefeßte Reform des Zunftweiens, die weftpreußifche Hand⸗ 
werksordnung von 1774. Der Erfolg diefer Mafregeln nach 
Marperger, Mirabeau, Krug; das Handwerk in Berlin 1784, 
in Brandenburg 1784. Allgemeine Würbigung ber preußi- 
ſchen Berwaltung des 18. Jahrhunderts; die Berechtigung 
der Maßregeln, befonders ber Reglements in Bezug auf bie 
Hansinbuftrie. 


Schon der große Kurfürſt beginnt mit jener plan- 
mäßigen Leitung und Beförderung der Gewerbe und 
des Handels Durch Die Staatsregierung! Seine Haupt: 
bemühung war, tüchtige nieverländiiche und franzöfifche 


1) Das ziemlich vollſtändige Material für die Gefchichte die⸗ 
jet Bemühungen liegt wor in Mylius, Corpus Const. Marchic. V 
und in ber Fortfegung, im Novum Corpus Const. Prussic. 
1751— 1800. Es fehlt aber noch an einer irgendwie genü⸗ 
genden Bearbeitung. Einen kurzen Abriß enthält die gefchicht- 
liche Einleitung in Rönne, Gemerbepolizei des preuß. Staats, 
Breslau 1851. ©. 8 fi. 


24 Ein Rüdblid ins 18. Jahrhundert. 


Gewerbsleute ind Land zu ziehen. Durch die Edikte 
von 1667, 1669 und 1683 follte in jeder Weife die 
Wiederbebauung wüſter Stellen in Städten und Dör- 
fern beförbert werden. An Stelle des höchſt ungleich 
auf einzelnen Häufern haftenden alten Schoffes fette er 
die fpäter vielgeſchmähte Accife in den Städten durch, 
die zunächit fehr zur Hebung der ftäbtiichen Gewerbe 
beitrug, Handwerker, Krämer und Kaufleute von ander⸗ 
wärts anzog. „Es wurde ein Gebränge verjpürt, um 
Häufer zu Faufen. Die Edikte vom 3. November 1686, 
7. Mai 1688 und 13. Zuli 1688 follten die ganze 
Sewerbeverfaffung beſſern. Theure Meifterftüde wur- 
den verboten; alle Gejchloffenheit der Zünfte auf eine 
bejtimmte Anzahl Meifterjtellen ward verpönt. Alle Ein- 
wanderer erhielten freies Meifter- und Bürgerrecht. Wo 
es nothwendig war, wurden die Zunftichranfen durch 
Perjonalprivilegien durchbrochen. Die Linneninpuftrie 
der Grafſchaft Ravensberg, früher durch niederländiſche 
Slüchtlinge begründet, wurde durch Die Leggeordnung von 
1652 wieder wejentlich gehoben! Die Maße, Die 
Qualität, die Namen bejtimmter Gewebe wurden feit- 
gefeßt, die Leinwand nachgemefien, mit herrichaftlichent 
Stempel verjeben, das Verbältniß von Stadt und Land 
geordnet. Er begann damit, das Privilegium der Städte 
in Dezug auf die Weberei aufzuheben, wie das noch 
mehr jein Sohn gethan bat.? 


1) Zergl. Mirabeau, de la monarchie prussienne. Lon- 
dres 1788. HI, 217. 

2) Daſelbſt S. 221-2. Mylius V. Abth. I. ©. 428. 
Patent vom 25. Juni 1729. eod. ©. 754: Spinner und Leine⸗ 





Der große Churfärft und König Friedrich I. 25 


Auch in den übrigen Zweigen der Gewerbepolizei 
jegte König Friedrich eine ähnliche Politik fort; ! bejon- 
vers die Beförberung aller Art von Cinwanberern 
wurde ſyſtematiſch betrieben. Magdeburg wurde von den 
Pfälzern vollftändig wieder aufgebaut. In Berlin mehr⸗ 
ten fih die franzöfiichen Geichäfte und Gewerbe. Im 
Jahre 1690 follen fchon 43 Arten neuer Gewerbszweige 
buch die Wallonen und Franzojen in der Mark bei- 
milch geworden fein. Heftig Hagten die einheimijchen 
Gewerbe über dieſe neue Konkurrenz; aber die Regierung 
achtete nicht auf dieſe Klagen. 


Unter Friedrich Wilhelm, dem fparfam klugen, 
hausväterlichen Tyrannen feiner Unterthanen, Tnüpften 
fih an dieſe Maßregeln weitere und tiefer eingreifende ;. 
Ausfuhrnerbote von Rohſtoffen, beſonders von Wolle, 
Einfuhrnerbote oder hohe Zölle rejp. Accifenbgaben für 
fremde Manufakte werden erlaſſen. Walkmühlen, Fär⸗ 
bereien, Preſſen, Wollmagazine werden von der Regie⸗ 
rung angelegt. Das Berliner Lagerhaus, als ſtaatliche 
Mufter- Tuchfabrit, wird gegründet. Nievere Steuern 
over vollſtändige Steuerfreiheit, Freiheit von Einquartie- 
rung und Werbung, Vorſchüſſe auf 3 Iahre vom Tage 
ihrer Verheiratung werden fremden Tuch-, Raſch-, 
Zeug⸗ Fries⸗, Strumpf- und Hutmachern verfprochen.’ 


iveber fol manı auf dem Lande fo viel als man kann und 
will anſetzen dürfen. 


1) Siehe Stenzel, Geſchichte des preuß. Staats. Hamburg 
1841. II., 47 ff. 


2) Stengel III, 413, 


26 Ein Rüdhlid ins 18. Jahrhundert. 


In der Inftruftion an die Fabrifinipeftoren von 1729 1 
wird dieſen aufgetragen, zu feben, baß Die armen 
Zuchmacher Verleger befommen, welche ihnen Wolle 
und Arbeitslohn vorſchießen. Strenge wird befohlen, 
daß die im Zuchthaus zu Spandau das Raſch⸗ und 
Zeugmachen erlernt haben, in die Zunft aufzunehmen 
feien. In dem Generalprivilegium für Die Tuchmacher 
der Mark von 1734 ? wird erflärt, das Gewerbe fei 
ein ungejchloffenes, jeder Meiſter dürfe Gefellen halten 
ſo viel, als er wolle; ein niederes Marimum von 
4—5 Thalern wird für die Koften des Meifterwerdens 
feſtgeſetzt; zwiſchen Fremden und Einheimifchen, welche 
Meifter werden wollen, foll fein Unterfchied gemacht 
werben. Damit e8 nicht an Garn fehle für die Webe- 
rei, wird das Spinnen allen Höfermweibern, Handwerks⸗ 
frauen und Bürgertöchtern, die in öffentlichen Buben 
feil halten, anbefohlen. 

In Bezug auf die Zumftverfaffung überhaupt wer- 
den fchon vor dem Reichsgeſetz von 1731 weientliche 
Aenderungen getroffen. Das Handwerk foll in ber 
Hauptjache den Städten bleiben, aber nicht ber bloß 
bornirte Egoismus der Zunftgenoſſen der Stadt fol 
über die Ausnahmen enticheiven. E8 werden 1718 Prin- 
cipia regulativa ? über das Verhältniß von Stadt und 
Land erlaffen; nicht bloß Spinner und Leineweber, fon- 
dern auch Schmiede, Schneider, Zimmerleute, Rade—⸗ 
macher find zuzulaſſen, in jedem Dorfe wenigftens fo 

1) Mylins V. Abth. IL ©. 467. 


2) Mylius V. Abth. II. ©. 375. 
3) Mylins V. Abth. IL._ ©. 670. 


3 


Friedrich Wilhelm I. 27 


viele al8 1624 Handwerksſtellen da waren. Genaue 
Verzeichniffe über die Zahl der alten Stellen werben 
publicirt. Jede Gutsherrſchaft kann für fie ſelbſt arbei- 
tende Handwerker anjegen, jo viel fie will. Die Land⸗ 
meifter dürfen beliebig Geſellen halten und ungen 
fehren, nur fie nicht Iosiprechen.! ‘Den Dorftüftern 
und Schulmeiftern ſoll wegen ihres fchlechten Gehalts fort 
erlaubt werden, eine PBrofeffion zu treiben. 

Mehrmals (1718 und 1721)? werden DVerzeich- 
niffe der im einzelnen Stäbten fehlenden Handwerker 
veröffentlicht, um Einwanderer gegen freie Bürger⸗ 
und Meifterrecht, Bauholz und mehrjährige Abgaben- 
freiheit dahin zu ziehen. Alle tbeuren Meifterftüde 
werben 1723 verboten? Waiſen und Soldatenkindern 
ſoll das Vorwärtsfommen in der Zunft in jever Weile 
erleichtert werben. 

Hauptjächlich aber wurde Das Reichsgeſetz gegen die 
Zunftmißbräuche mit Nachorud durchgeführt. Ein beion- 
derer Anhang in Mylius von 618 Spalten enthält Die 


ſammtlichen hienach revidirten Zumftftatuten aus den 


Jahren 1734—37. Mit polizeilicher Gewalt durch Die 
beauffichtigenven Altmeifter, durch die Steuerräthe und 
Vabrifinfpeftoren wird verjucht, in alle Gewerbe Orb- 
nung, Jortſchritt, tüchtige Arbeit zu bringen; viel 
Kleinliches und Veraltetes wird in hausväterlichem 
Sinne beibehalten, aber die eigentlich monopoliftifshen 
Mißbräuche werden ſchonungslos verfolgt. 


1) Eod. ©. 735, Anno 1724. 
2) Mylius V. Abth. I. 411. Abth. I. ©. 674. 
3) Mylius V. Abth. DI. 734. 





28 Ein Rücblick ins 18. Jahrhundert. 


Die Verwaltung des größten preußiichen Königs 
ging von denſelben Anſchauungen aus; ! aber die Durch⸗ 
führung war großartiger, feiter, planvoller, wie feine 
Einficht, feine Kenntniſſe und fein Charakter dem feines 
Vorgängers unendlich überlegen waren. Dagegen wirfte 
unter ihm die höchſte Anfpannung ber Finanzen, die 
übermäßige Ausbildung des indirekten Steuerſyſtems 
den Bemühungen um Hebung des Wohlitandes ftärfer 
entgegen als früber. 


AS der wichtigfte Grundſatz feiner hierin feinem 
Vater weit überlegenen Regierung jtand der voran, Das 
Juſtizverfahren fo zu beifern und fo unabhängig zu 
machen, die Gewiljensfreibeit fo fejtzuftellen, daß Preu⸗ 
Ben der Zielpunft aller Auswanderung blieb und noch 
mehr werve. Hunderte von Dörfern hat er gegrünbet,? 
Zaufende von fleißigen Handwerkern und Tabrifanten 
bat er ind Land gezogen. Wie früher wurden Liſten 
der an den einzelnen Orten fehlenden Handwerker publi⸗ 
zirt. Maſſenhaft wurden befonders Bauhandwerker aus 
dem Voigtlande und dem Sächfiichen nach Weftpreußen 


1) Das Material bei Mylius; fonft: Rocher, über bie 
volkswirthſch. Anfichten Friederichs des Großen, afad. Feftichrift 
ber gl. ſächſ. Gejellichaft der Wiflenich.; Lippe» Weißenfeld, 
Weftpreußen unter Frieberih dem Großen. 1866; Mirabeau 
de la mon. prussienne ®b. IH; Dohm, Dentwürbigfeiten 
Bd. IV. ©. 85— 132. 377—527. Hannover 1819; Preuß, 
Srieberih der Große Bd. IT u. IV und Urkundenband III 
n. IV. Berlin 1833 u. 34. Hertzberg, Huit dissertations, 
Berlin 1787. 


2) Herkberg, ©. 191. 


. Friedrich I. 29 


übergefievelt (1776). Im Schlefien allein jollen 
1763 — 77 nicht wertiger als 30 000 Gewerbtreibende 
eingewandert fein. | 

Die pofitiven Beförderungen der Inbuftrie waren 
ſchroff merfantiliftifche, Die eben, weil fie ſchroff ein- 
greifen, manche Intereſſen verlegten, oft geändert, 
modifizirt werden mußten, wie z.B. die Wollausfuhr- 
verbote. Aber überalihin Tam durch feine Anregungen 
gewerbliche Thätigkeit. Der fchlefijche, Bergbau ift auf 
ihn zurückzuführen; eine große Eifenwaaren - Fabrik wurde 
in Neuſtadteberswalde ins Leben gerufen; die Berliner 
Stants- Eifengiekerei, Die Mutter der ganzen Berliner 
Mafchineninduftrie, ift fein Werk. ‘Die Krefelder Seiden- 
induſtrie erblühte unter ihm; die Elberfelder und Bar⸗ 
mer Induſtrie? erwuchs unter ihm aus bloßer Bleicherei 
und Särberei zur großartigiten Weberei. Die Bielefel- 
ber Yinneninduftrie wurde durch Einrichtung bolländifcher 
Dleihanftalten, durch ein Handels- und DBleichgericht, 
durch Beförderung des Abſatzes auf diplomatischen 
Wege unterftügt. Am meiften vielleicht geſchah für bie 
Gewebeinduſtrie Schlefiens und der Mark, beſonders 
Berlins. ZTechnifche Neglements, wie z.B. 1754 für 
bie neumärkiſchen Tuchmacher, auch einzelne Spezial» 
befehle ordneten Die geſammte Spinnerei und Weberei. 
Die Garnausfuhr wurde verboten, das Spinnen in 
jeder Weife befürbert, felbft den Soldaten wurde es 


1) Lippe -Weißenfeld ©. 75 und 115. 

2) Siehe darüber: Hoder, die Großinduſtrie Rheinlandes 
und Weſtfalens, ihre Geographie, Geſchichte, Probultion und 
Statiſtik. Leipzig 1867. S. 180— 188. 


82 Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert. 


in Preußen zuzulafien, wie wenn fie in Preußen nach 
dortigem Recht dieſe Stufe erreicht hätten; alle Geburts⸗ 
bejchränfungen für Das Xebrlingwerben find befeitigt, 
ebenfo die zahlreichen Gründe der Unredlichkeit; volle 
Freiheit des Jahrmarktverkehrs, auch für Fremde, wird 
ſtatuirt; mehrere einander naheftehende Zünfte ſollen 
fombinirt werden, Damit Die Streitigkeiten aufhören. 

Das waren im Großen und Ganzen die Grund- 
füge, nach denen im 18. Jahrhundert die brandenbur- 
giſch⸗preußiſchen Gewerbe behandelt wurden. Was war 
der Erfolg? der Erfolg troß dem, was biefer Staat 
im 18. Jahrhundert erduldet. Ich erinnere dabei nur 
an die Peft, die Preußen und Pommern 1709 — 1711 
faft entoölferte,! an ven Steuerbrud und Die Kriege 
unter dem großen König, an die volfswirthichaftliche 
Krifis, welche nach dem 7 jährigen Kriege hauptjächlich 
durch die Münzwirren entitand, ? an die Wirkungen ber 
Hungerjahre von 1770 — 74. Trotz alledem war ber 
Erfolg ein großer, wie ich nur durch einige zeitgenöſſiſche 
Urtheile und jtatiftiiche Zahlen beweiſen will. 

Schon zu Anfang des Jahrhunderts gilt der preu- 
Biiche Gewerbfleiß als ein den Nachbarftanten überlege- 
ner. " Man fehe die Handwerksſtäte“ — ruft Mar- 
perger ® jchon 1710 — „voller fleißiger Handwerksleute 

1) Stengel II, 188. 

2) Preuß, Urkundenbuch II, S.86 ff. Briefwechſel zwijchen 
Friederih dem Großen und feinen Miniftern über den Berfall 
des Handels, der Fabriken und über das Projelt einer neuen 
Billetbanf. 1766. 

3) Paul Jakob Marperger’s, Mitglied der königl. preuß. 
Sozietät der Wiffenfchaften, Kurkgefaßte geographiiche, hiſto⸗ 


Der Erfolg der Maßregeln 33 


und die öffentlichen Kramladen voll köſtlicher Waaren, 
welche die Kaufleute theil8 aus der Fremde verfchrieben, 
teils auch durch ihre eigene Induſtrie im Lande ſelbſt 
bon Denen Handwerksleuten zuwege gebracht haben.” Viel 
fiferer aber lauten die Nachrichten und die ftatiftifchen 
Ergebniiffe, wenn wir uns in bie Ietten Lebensjahre 
König Friederich's verſetzen.' 

Bedeutend war vor Allem die ſchleſiſche Gewebe⸗ 
induſtrie gewachſen. Unter der öſtreichiſchen Regierung 
zählte mtan 12000 Webſtühle für Leinwand, zu Ende 
ber Regierung Friederich's des Großen 20000.? Die 
Produktion an Stücden Tuch war gewefen:? 


1739 . . 2... 68268 Stüde 
5 ...0.0..8462 ⸗ 
175 ... 0.0.1837 ⸗ 


Die Produktion von Strümpfen in Schlefien war 
geweien: * 
1739 . . 2... 151793 Paare 
1755.... 201211 ⸗ 


riſche und merkatoriſche Beſchreibung aller derjenigen Länder und 
Provinzen, welche dem königl. preuß. und churbrand. Scepter 
unterworfen. Berlin 1710. Zu vergleichen auch Büſching's neue 
Erdbeſchreibung, dritter Theil. Bd. I. S. 2067 — 68. Vierte 
Aufl. Hamb. 1765. 

1) Die Gefammtüberficht Über die preußifche Induftrie im 
Jahre 1785 nach Hertzberg, huit dissertations ©. 254 theile 
ich nicht mit, da ich fie mit Keinen frühern ober fpätern Zahlen 
direft vergleichen fan; immerhin ift fie fehr lehrreich, fie zeigt 
Mar die Entwidelung ver preußiſchen Gewerbe bis gegen 1785. 

2) Mirabeau III, 92. 

3) Daf. 96. 

4) Daf. 106. 

Shmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 3 


34 Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert. 


1 ..... 368 591 Paare 
1%6 . 2... 393346 =. 

Mirabenu, der jo jehr fich bemüht, die Erfolge 
von König Friederich's Verwaltungsgrundſätzen herabzu- 
jegen, ruft doch über Schlefien aus: „il y rögne une 
population, une culture et une industrie vraiement 
immense.“ Schneer ſchildert die Zuftände der Weber- 
diftrifte gegen 1800 als bebagliche, allerdings durch jede 
Stockung des Abſatzes bedrohte, Die Weber als "jelb- 
ftändige Unternehmer, die auf den Leinwandmärkten an 
die Kaufleute verkaufen. „Im Allgemeinen,” jagt er, 
„war namentlich unter den Leinwandkaufleuten Aeich- 
tbum und Ueppigkeit und unter den arbeitenden Klaſſen 
der Leinwandinduſtrie ein gewiſſer Wohlitand und ein 
leichtſintiges Wohlleben verbreitet.” 

Aehnliches ließe ſich von der weitfäliichen Linnen- 
induftrie,? von der rheintichen Seiden-, Baumwolle - und 
Eifeninduftrie berichten. Ich will mich darauf beichrän- 
fen, über die Mark Brandenburg und Berlin noch Eini- 
ges mitzutheilen. Krug? ftellt in Bezug auf die kur⸗ 
märfifchen Städte Die lehrreiche, oben fchon erwähnte 
Vergleichung zwiichen 1750 und 1801 an. Es gab 
in denſelben: 


1750 1801 
Um . 2000. 1348 12254 
Birihenten . . ... 674 1040 


1) U. Schneer, über Die Noth ver Leinenarbeiter in 
Schleſien. Berlin, Beit 1844. 

2) Siehe Mirabeau II, 19. 

8) II, 162. 


Preußiſche Gewerbeſtatiſtik. 35 


1750 1801 

Birbrur . ». 2» 2.2. 2116 1121 
Komddinten . . ... — 136 
Höker.... 463 854 
Audenfemilien . . ».. 5194 047 
Mufllanten -. . - . .. 79 330 
-Spunt . - x 2 2.2. 1979 8194 
Taglönr . . » 2... 3977 9579 
Züchtlinge und Arreftanten . 128 535 
Kattunweber und Druder . 34 1184 
Baumwollgeugmader . . . — 962 


Die Tabelle beweist freilich, daß mit dem Fort- 
ichritt der Induftrie und der Bevölkerung auch die 
ſchlimmen Clemente (Arme, Züchtlinge) wachen; aber 
im Ganzen deutet fte doch mehr auf Fortichritt als auf 
Rückſchritt. 

In Berlin hatte Handel und Verkehr außerordent⸗ 
lich zugenommen; vor Allem die für den Großhandel 
arbeitenden Gewerbe hatten ſich entwickelt, aber auch 
der kleine Handwerkerſtand befand ſich in guter Lage. 
Reden theilt gewerbeſtatiſtiſche Zahlen aus den Jahren 
1783 — 85 mit,! die er mit den Zahlen von 1847 
vergleicht. Von Handwerksmeiſtern macht er 19 Kate- 
gorien nambaft, welche zufammen 1784 2,5%, 1847 
3,40), der ganzen Bevölkerung ausmachen. Nicht alle 
einzelnen Kategorien aber haben zugenommen von 1784 
bis 1847. Abgenommen gegenüber der Bevölkerung 
baben folgende: 


1) Zeitſchrift des Vereins für deutſche Statiftil II, 476: 
Die Gewerbthätigleit Berlins in älterer und neuefter Zeit. 


3* 


36 Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert. 










Berhältniß Berhältniß 
Handwerfsmeifter 1784 zur Benörte- | 1847 | zur Bevölke⸗ 
rung wie 1: rung wie 1: 






Zimmerleute und Banunter- 


nehmer . .. 
Maurer. 2. 2 22. 421 2666 | 100 | 4100 
Lobgerber . 2 2 200. 46 | 2435 26 | 15 769 
Hutmacher 61 | 1836 75 | 5466 
.Golb- und Silberarbeite 130 939 | 369 | 1111 
Kupferihmiede . . 25 | 4480 4551| 911 








Dagegen haben zugenommen: 








Handwerfsmeifter 








Slafr . . .. 
Tiſchler. 
Sattler und Taſchner 


Tapezier 
Riemer und Seberlaiefabri 


fanten 1381 2971 
Schneider 4101 100 
Schubmader . 3 540 116 
Klempner und bahingehörige 

Ladirfabrifanten . . 335) 1224 
Drechsler . . 3781| 1085 
Buchbinder ı. Bapparbeiter 447 917 
Buchdrucker, Steindruder ıc. 143] 2867 
Uhrmacher und Ubrgehäufe- 

maderr . 2 22.2. 196! 2092 
Muſikaliſche Inftrumenten- 

madher, Drabt- u. Darın- 

faitenfabrifaten . 1355| 3037 


Die erftern Betriebe find jolche, bei welchen ſchon 
bi8 1847 die kleinern Gejchäfte durch größere verdrängt 
find, bei welchen durch Maſchinen, verbefjerte Technik 


Die Gewerbe Berlin’s. 37 


und größere Arbeiterzahl das gewiß auch geftiegene 
Bedürfniß befriedigt wird. 

Die letztern Betriebe find folche, bei Denen das 
noch nicht gejcheben ift, bei benen ver jteigende Wohl- 
ſtand eine größere Zahl Heiner Gejchäfte bis 1847 her- 
borgerufen Bat. 

Jedenfalls ergiebt fich jo viel aus den Zahlen, daß 
der Unterſchied zwifchen 1784 und 1847 fein allzugroßer 
ft. Sehr ftark abgenommen hat nur die Zahl ver 
Lohgerber und Maurermeiſter, ſtark zugenommen nur die 
der Tiichler, Tapeziere, Klempner, Drechsler, Buch: 
Binder, Inſtrumentenmacher. Bei den übrigen liegen 
die Berbältnißzahlen nicht weit auseinander, ein Beweis, 
daß fchon 1784 Die gewerblichen Zuftände Berlins befjere 
waren, al8 in den meijten übrigen deutjchen Städten. 

Eine andere Bemerkung drängt ſich daneben noch 
af. Welch ungeheurer Umfchwung in ber Zeit von 1784 
bis 1847, und in den wichtigern Kleingewerben Berlins 
boch Feine fehr bebeutende Aenberung. 

Bon größern Gewerben hatten fich in Berlin vor 
Alem die Lederfahrikation, die Blumenfabrifation, die 
Strohhutmanufakturen, die Zuckerſiedereien, die Kattun- 
drudereien, Die Weberei aller Art entwidelt. Ich will 
die Zahlen nicht alle wiederholen; viele dieſer Induftrien 
find 1783 — 85 ftärfer vertreten ald 1847 — 49: Web- 
ftühle wurden 1783 gezählt für Seide 2316, für 
Wolle 2566, für Linnen 238, für Baumwolle 1048, 
zuſammen 6168; die Zahlen nehmen noch zu bis ins 
neue Jahrhundert; 1804 find 3691 Baumwollſtühle vor- 
handen; 1849 zählt man in Berlin 2147 Stühle für 


38 Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert. 


Seide, 2270 für Wolle, 63 für Linnen, 2113 für 
Baumwolle. Mirabean! muß von der Berliner Indus 
jtrie geftehen: „Les manufactures 6tablies & Berlin y 
trouvent un march& immense sous la main, le 
concours de toutes les sciences, de tous les artistes; 
ils peuvent donner à leurs ouvrages une perfection, 
une beaut6 qui les fassent rechercher au dehors. 
Tant d’avantages, joints aux privilöges exclusifs 
qui leur assurent le marchö dans les états du roi 
de Prusse, doivent &tendre considerablement leurs 
profits et accéléror leur activite.* — 

Nicht überall natürlich in den preußischen Landen 
war die gewerbliche Entwidelung eine jo glänzenbe ; 
bejonder8 der Kleine Handwerkerſtand befand fich noch da 
und dort in ähnlicher Lage wie im übrigen Deutjchland. 
Die oben angeführten Magdeburger Zahlen zeigen, wie 
fein die Zahl der Gehülfen war, und das ift immer 
ein ungünſtiges Zeichen. Aehnliches wird aus weit 
fäliſchen Städten berichte. So zählte Bochum 1780? 
auf 13 Schreinermeifter 2 Gefellen, auf 26 Schuh- 
-machermeijter 3, auf 21 Bädermeifter 1, auf 8 Zim- 
merleute 1, auf 5 Maurermeifter 1 Gefellen; die mei- 
jten andern Handwerfe waren ganz ohne Gefellen. Als 
Beweis aber, daß gerade auch in dieſem Punkte bie 
preußiichen Zuftände vielfach beijere waren, als im übri- 
gen Deutjchland, möchte ich fchlielich einige Zahlen aus 
„ber Handwerfsftatiftif der Stadt Brandenburg von 1784 

1) II, 113. 


2) Jacobi, das Berg-, Hütten- nnd Gewerbeweſen bes 
Regierungsbezirks Arnsberg. Iſerlohn 1857. ©. 532. 


Die preußiſchen Handwerke 39 


anführen.“ Es waren bei einer Bevölkerung von 8980 
Civil- und 2290 Militärperfonen 
134 Zuchmachermeifter mit 76 Gejellen 53 Lehrjungen. 


6 Raſchmacher . 8 > ⸗ 
10 Hutmacher ⸗212 ⸗ 7 ⸗ 
6 Tuchſcheerer : 5 ⸗ 3 
4 Tuchbereiter 23 6 ⸗ 
86 Garnweber 264 13 ⸗ 
60 Schneider 25 20 
91 Schuſter ⸗64 ⸗ 20 ⸗ 
9 Lohgerber ⸗13 ⸗ 1 ⸗ 
10 Poſamentiere 23 ⸗ 6 ⸗ 
37 Bäder . 24 ⸗ 3 ⸗ 
17 Fleiſcher ⸗13 ⸗ 1 ⸗ 
43 Fiſcher ⸗18 > 19 


Dieſe Geſellen⸗ und Lehrjungenzahlen deuten im 
Gegenſatz zu den eben und oben angeführten auf ein 
ſehr blühendes Handwerk hin. 

Nach dieſen Bemerkungen über die Art der 
preußiſchen Gewerbebeförderung und über den thatſäch⸗ 
lichen Erfolg derſelben, kann ich nicht umhin, noch einige 
allgemeinere Betrachtungen über dieſelbe anzuſtellen; 
dem wenn auch dieſe Unterſuchungen in erſter Linie 
die realen Zuſtände feſtſtellen, nicht die jeweilige Gejek- 
gebung beurtheilen wollen, jo ift e8 Doch gerade hier am 
Blake, ein Wort gerechter Würdigung auszufprechen, 
da bis in die neuefte Zeit die Beurtheilung von boftri- 
närer Cinfeitigfeit beeinflußt if. Mirabeau, Dohm, 
Preuß, Stenzel find Theoretifer des entgegengejegten 
Ertrems, und das Urtheil über die preußiſche Gewerbe⸗ 


1) Schlöger, Stantsanzeigen VI, 154, 


40 Ein Rüdblid ins 18. Jahrhundert. 


gejeßgebung des vorigen Jahrhunderts tft bis auf die 
neuejte Zeit von ihren Ausſprüchen faft gänzlich abhängig 
geblieben. 

Unter der Herrichaft des Merkantilſyſtems, wie 
fpäter unter dem der Phyſiokraten und Smithianer bat 
man ſich in doftrinärer Weiſe zu allgemein an allgemeine 
Sätze gehalten. Damals war das Prinzip: Staatsein- 
mijchung unter allen Umftänden; nichts — lehrte man — 
entjteht ohne fie; der Steuerratb, die Kriege» und 
Domänenfammer weiß Alles beifer. Damm wurde ebenjo 
einjeitig Fernhaltung aller Staatsintervention, Beſei⸗ 
tigung aller Gewerbegejeßgebung Prinzip; die Negie- 
rung — lehrte man — kann nur ſchaden, fie verfteht 
niemals die Dinge beifer als die Gewerbetreibenden; 
alle Induftrie gedeiht nur, wenn man fie ſich ganz jelbft 
überläßt. rüber fpezialifirte man zu ſehr, man dachte 
mehr an die Vorbedingungen des gewerblichen Lebens 
im Kleinen und Einzelnen; dadurch, daß man da ein- 
griff, wollte mar latente Kräfte entbinden, Hinderniſſe 
bejeitigen. Später generalifirte man zu ſehr; man dachte 
nur an die allgemeinjten Vorbedingungen; in die klei⸗ 
nern Urfachen und perjönlichen Hemmniſſe, gleichlam in 
die Reibungswiderftände des praftiichen Lebens wollte 
man gar nicht eingreifen. Beide Prinzipien find gleich 
wahr und gleich faljch. Keins derſelben, wenn auch 
das eine mehr als das andere, wird an fich Induſtrien 
ins Leben rufen; weber die volle Gewerbefreibeit noch 
die weitgehendften Gewerbereglements und Vorjchriften 
wirken ganz direkt und Tönnen darum Selbitzwed fein. 
Für alles gewerbliche Leben und Gedeihen find eine 


Würdigung ter preuß. Gewwerbepofigei. 41 


ganze Reihe der verichievenartigften und komplizirteſten 
Rulturbedingungen nothwendig: ftaatliche und foziale Zu⸗ 
ftände, Bevölkerungsdichtigkeit, Kapitalanfammlung, per- 
ſönliche Kräfte, Kenntniffe, moraliihe Eigenſchaften, 
Handelsverbindungen und manches Andere. Viele dieſer 
Borbedingungen find von beiden Prinzipien gleich unab- 
hängig. Auf andere Vorbedingungen aber wirken fie, 
und das Urtheil über fie richtet fich eben Danach, ob und 
wie fie auf eine Anzahl diefer Vorbedingungen fürdernd 
wirfen. Jedes der beiden Prinzipien wird bei der Man- 
nigfaltigfeit der realen Verbältniffe da. und dort hem- 
men, da und bort fördern. Jedes ift Dann am Plake, 
wenn es nach den zeitlichen Geſammtverhältniſſen von 
Und und Volt im Ganzen mehr fördert, als hemmt. 
Je nach den pſychologiſchen, moraliichen und fozialen Ver⸗ 
hältniffen wird das eine fo fehr am Plate fein, wie das 
andere. Ein zartes Pflänzchen ift ein ander Ding als 
eine mehrhundertjährige Eiche, ein Kind bebarf anderer 
Pflege als der Mann. Niemals aber wird man Fana⸗ 
tifer des Prinzips fein dürfen, weil man es immer auch 
zu einer bejtimmten Zeit und in einem beſtimmten Stante 
mit den verfchiedenartigiten Menjchen, Kräften und Zu- 
ftänden zu thun bat. Es wird auch in Zeiten allge 
meinſter Staatseinmiſchung Verhältniſſe geben, wo freie 
Bewegung, freie Konkurrenz am Plate ift; umgekehrt 
auch in Zeiten allgemeiner Gewerbefreibeit wird es 
Punkte geben, wo ftaatliche Aufficht, polizeiliche Vor⸗ 
Ihriften am Plate find, weil fie im konkreten alle 
die Vorbedingungen gewerblichen Lebens, technifche Ge- 
Ihiefichkeit, angeftrengte Arbeitsenergie, veelle Ehrlichkeit, 


2 Ein Rüdskid ins 18, Jahrhundert. 


die doch auch beim Syſteme der Freiheit leiter Zweck 
find, mehr fördern. Mean wird bejonders nie vergeflen 
dürfen, daß gewiſſe Klaſſen der Geſellſchaft, gewiſſe 
Kreiſe der Volkswirthſchaft viel langſamer ſich entwickeln. 
Das Handwerk, der Kleinhandel, der Detailverkehr iſt 
etwas total Anderes als die Großinduſtrie und der Groß⸗ 
handel. Es handelt ſich um andere Menſchen, um 
andere Wirkungen, um andere Möglichkeiten der Ent- 
widelung. 

Dieje Erörterung mag ſehr theoretiſch klingen, fie 
jollte nur das apodiktifche Urtheil einleiten, das ich wage. 
Jedem, der glaubt, durch ein Syſtem der vollen Ge⸗ 
werbefreiheit und ftantlichen Nichtintervention wäre Die 
preußiiche Induftrie von 1650 — 1800 ſo ober gar noch 
befjer gewachfen, als fie mit dem entgegengefetten Syſtem 
wirklich fich entwickelte, dem muß jebes tiefere hiſtoriſche 
und nationaldfonomiiche Urtheil abgeiprochen werben. 
Und damit ift das Syſtem im Ganzen für jene Zeit 
gerechtfertigt, mag es auch im Einzelnen viel Unrvichtiges 
gethan oder mit fich gebracht haben, eben weil man an 
dem im Ganzen richtigen Shftem auch damals zu bof- 
trinär feithielt. 

Giebt man Letzteres auch zu, ift nicht zu leugnen, 
daß man zu einfeitig an ven Segen ftaatlicher Pflege 
glaubte, fo darf man dabei nicht vergeſſen, daß die 
allgemeine Zunftgefeggebung nach vielen Richtungen Hin 
im Sinne größerer Freiheit reformirt wırde. “Die Ge- 
ſchloſſenheit der Zunft wurde bejeitigt, wie Die egoiftijche 
Herrichaft der Altmeifter. Jeder Meifter durfte Gefellen 
halten, jo viel er wollte, durfte fich nieverlaffen, wo 


Würdigung ber preuß. Gewerbepolizei. 43 


er wollte; durch liberales Heranziehen Fremder wurde 
die Konkurrenz befördert, die gewerblichen Rechte des 
platten Landes wurden weſentlich ausgedehnt. Es ließe 
ſich noch ſehr zweifeln, ob alle dieſe Maßregeln nicht 
einen mindeſtens ebenſo großen Fortſchritt im Sinne der 
Freiheit und Rechtsgleichheit repräſentiren als die Gewerbe⸗ 
freiheit von 1810, ob ſie nicht einen größern Fortſchritt 
enthalten gegenüber den vorherigen Zunftmißbräuchen, 
als das Geſetz von 1868 gegenüber dem von 1849. Die 
poſitiven Förderungen einzelner Gewerbe durch Kredit, 
Prämien, Reglements, Verbot fremder Waaren ent⸗ 
ſprachen im Allgemeinen der entſetzlichen Lethargie und 
Lähmung aller gewerblichen Kreiſe jener Zeit, entſprachen 
der gejellichaftlichen Stellung und Bildung der Heinen 
Leute, der für Verleger arbeitenden Meifter, auf denen 
in der Hauptjache die ganze damalige Induſtrie ruhte. 
Oft wurde fehlgegriffen, dfter aber das Richtige getroffen. 
Die regierenden Elemente waren den Gewerbtreibenven 
an Einficht und Kenntniß Damals, jo überlegen, daß fie 
ihnen jagen konnten, was zu thun jet. 

In Bezug auf die Gewebeinduftrie, auf die zahl- 
reichen Spinner» und Weberbörfer und Städte, bie 
damals ins Leben gerufen, ſpäter theilweife in fo geoße 
Roth gekommen find, Kat man oft gezweifelt, ob bie 
Politik eine richtige war; ob es richtig war, fo viele 
Arbeitsfräfte zu einer Thätigleit zu veranlaffen, die in 
ihres Einfachheit geringen Lohn gab und bei jever Zoll- 
ermäßigung oder -Befeitigung in Gefahr war,” wieder 
filtirt zu werden. Die Notbftände zeigten fich auch jehr 
bedeutend in den Napoleoniſchen Kriegen und bis gegen 


44 Ein Rückblick ins 187 Sahrhundert. 


1818. Knuth! 3. B. erklärt 1817 von der großen 
Berliner Rattunweberei auf einfachen Stühlen, fie gehöre 
zu den allererbärmlichiten Erwerhsmitteln, ein Rattun- 
weber verdiene täglich höchſtens 6— 7 Grofchen, ein Tifch- 
lergeſelle einen Thaler. 

Dennoch wäre es falſch, aus den Nothſtänden ver 
Weberei von 1800 — 1818, aus der Thatfache, daß die 
einfache Kattunweberei nicht nach Berlin paßte, ven 
Schluß zu ziehen, daß Die ganze Beförberung der Ge 
webeinpuftrie faljh war. In der Hauptfache war bie 
Weberei geſund und nach den Verhältniſſen des vorigen 
Jahrhunderts naturgemäß. Die Art der Hausinduftrie 
ermöglichte einen glücklichen Uebergang des Kleinen fleifigen 
Arbeiters zum Unternehmer. Viele arme Leinwandweber 
vom Lande zogen in bie Städte und iwurben ba nad) 
und nach wohlhabende Fabrifanten.? Das Eingreifen 
in die Kreditverhältniſſe dieſer Heinen Weber hatte ihre 
jehr gute Seite; nichts tft für den Heinen Mann jchlim- 
mer als die Krebitlofigfeit, durch nichts ift ein Syſtem 
der Hausinduftrie mehr gefährbet, als durch Lotterkredit, 
der in Abhängigfeit, Meberoortheilung und Ausfaugung 
bes Heinen Mannes nur zu leicht ausartet. Die ganze 
Ueberwachung der Hausinduftrie durch technijche Aegle- 
ments und Schauämter war Bedingung einer gebeih- 
lichen Entwidelung in jener Zeit. Ganz richtig jagt 
Roſcher,“ ſolche Regierungsthätigkeit erſetze, was dem 


1) Dieterici, der Volkswohlſtand im preuß. Staate. Ber⸗ 
lin 1846. S. 102. 

2) Dieterici, Volkswohlſtand S. 98. 

3) Volkswirthſch. Anſichten Friederich's d. Gr. S. 37. 


Würdigung ber preuß. Gewerbepolizei. 45 


Heinen Handwerker fonft ganz fehle, nämlich durch "ihre 
technischen Rathgeber die Verbindung des Gewerbes mit 
der Wiſſenſchaft, durch ihre Handelskonſule die fortlau- 
fende Kenntniß der fremden Märkte, durch ihre Schau: 
und Stempelanftalten die weitreichende Notorietät einer 
großen Firma. Auch Mirabenu muß zugeben, daß man 
überali die Blüthe der Impuftrie auf dieſe Reglements 
zurüdführt." Ich will von zeitgenöfftichen Stimmen nur 
Juſti? anführen, der 1758 fagt: „Im ven meilten 
beutichen Staaten, obngeachtet man das Anſehen haben 
will, die Manufakturen zu gründen, feblet e8 noch gar 
ſehr an folchen Reglements. Nur in denen preußtichen 
Staaten, wo man die wahren Maßregeln felten außer 
Acht läßt, Haben alle Arten von Manufalturen die um⸗ 
fländlichften und vortreflichiten Ordnungen, und man 
muß dieſelben zu Rathe ziehen, wenn man dergleichen 
Reglements verfertigen will.‘ 

Wenn ich fo im Ganzen die Friedericianifche Ver⸗ 
waltung als eine den damaligen Zuftänden entfprechenve 
bezeichne, fo will ich daneben nicht leugnen, daß manche 
der merkantiliftiichen Maßregeln verkehrt, daß Die Regie, 
Acciſe- und Steuerverwaltung drückend und hart war. 
Belonders aber darf man für das Ende des Jahrhun⸗ 
derts nicht vergeflen, daß die Zuftände felbft fich änder⸗ 
ten; was 1740 noch am Plage war, konnte 1800 
ſchon unerträglich fein. Uno eine eingreifende Verwal⸗ 


1). 2. UI, 218. 
2) Bollftändige Abhandlung von denen Manufalturen und 
Sabrilen. Kopenhagen 1758. I, 122. 


46 Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert. 


tungspolitik, wie die preußiiche, erforderte Talent, Sach⸗ 
kenntniß, unermüdliche Thaͤtigkeit, um immer wieber 
bie Reglements in Einklang mit ben Zeitbedürfniſſen 
zu bringen. Nach dem Tode des großen Königs war 
an die Stelle diefer unermüdlichen Thätigfeit Stagnation 
getreten. . 

Unter allen Umftänden bleibt wahr, was Viebahn 
von Frieverich dem Großen fagt: er bat Preußen nicht 
nur politiſch zur Großmacht erhoben, er bat fein Land 
auch Tommerziell, gewerblich und geiftig in die Reihe 
der erften ber weltbiftoriichen Staaten geftellt. Er Hat 
es gethan mit den Mitteln, die die Zeit gab und for- 
verte. Einem in Individualismus aufgelösten Volke Hat 
er unerbittlich in allen Gebieten und jo auch auf dem 
volkswirthſchaftlichen Gebiete die höchſte Pflicht gepredigt 
und gelehrt, alles Einzelne und Individuelle dem Ganzen 
zu opfern. 


Die 
Äanptrefultate der preußifchen Aufnahmen 


von 1795 — 1861. 





1. Die preußiſche Handwertsftatiftif von 
1795/1803. 


Die Zuflände gegen 1800. Die Gewerbefreibeit. Die wirth- 
ſchaftliche Entwidelung bis gegen 1831. Der Werth ber 
Krug’ihen Zahlen. Die Bergleihung der Aufnahmen von 
1795/1803 und von 1831. Das Reſultat ziemlich unveränderter 
Berhältnifie. 


Ich Habe mein Urtheil über die preukifche Ver⸗ 
haltung wohl ſchon durch die Reſultate der Statiftif zu 
ftügen gefucht; ich babe aber dabei eine wichtige Quelle 
noch nicht berührt, die preußiſche Handwerksſtatiſtik von 
Krug in feinen Betrachtungen über den Nationalreich- 
thum des preußiichen Stantes.! Es wird paffend fein, 
bei ihr, an der Grenzſcheide des Jahrhunderts einen 
Moment zu verweilen und fie Hauptfächlich mit einer 
pätern Aufnahme zu vergleichen, fie dadurch zu einem 
lebensvollen Bilde zu geftalten. 

Waren die gewerblichen Zuftände gegen 1800 jchon 
mannigfach durch die alte Gefekgebung gehemmt, im 
Ganzen war der Wohlitand ein fteigender bis gegen 1805 
und 1806. Die außerorbentliche Steigerung der Getreide - 
und Bodenpreife in ganz Norddeutſchland von 1770 ab 


1) 0, ©. 172— 205. 
Sämoller, Geh. d. Aeingewerbe 4 








50 Die preußiihen Aufnahmen. 


hatte die Kaufkraft der ländlichen Streife ſehr geho- 
ben. Die erften franzöfiichen Kriege erjtvedten ihre 
ungünftigen Wirkungen faum auf Preußen. Erſt jeit 
1799 machte fi die Stodung in ben norddeutſchen 
Hanvelsftäbten geltend. Erſt nach 1806 trat im ganzen 
Lande die Lähmung des Verkehrs, Die wirthichaftliche 
Erſchöpfung durch die Kriege, traten die Einquartierungen, 
Berwültungen, Kontributionen ein. 

In diefe Zeit fällt die Einführung der Gewerbe 
freiheit. Sie war für Preußen und Littauen fchon 1806 
und 1808, für den ganzen bamaligen preußiichen 
Staat durch das Edikt vom 2. November 1810 einge 
führt worden. Am Iinfen Rheinufer verftand fie fich 
mit der frangöfiichen Herrfchaft von felbft; für Weitfalen 
wurde fie durch Die Dekrete vom 5. Auguft 1808 und 
12. Februar 1810, für das Großherzogthum Berg durch 
das Defret vom 31. März 1809 eingeführt. 

Wi ift die in Preußen eingeführte Gewerbe 
freiheit eine jener unſchätzbaren liberalen Konzeſſionen 
gewejen, die zufammen fo fegensreich gewirkt, den National- 
geift gehoben, Die unmiderjtehliche Kraft der Bevöl—⸗ 
ferung im Jahre 1813 erzeugt haben. Aber e8 wird 
jchwer fein, nachzumeifen, welche direkte, unmittelbare 
Wirfung die gefetliche Aenderung auf die wirthichaftliche 
Lage der Kleingewerbe gehabt habe. Manches wird fich 
fogleich mit der Publikation des Ediktes geändert haben; 
mancher Gefelle wird ein eigenes Geichäft angefangen 
haben, mancher fi) an einem paffendern Orte, in dem 


1) Siehe: Gülich II, 293—336; Krug I, 404 ff. 


Die Zuftände gegen 1800. 51 


benachbarten Dorfe jtatt in der Stadt niebergelaffen 
haben; — aber die gewerblichen Gefammtverhältniffe 
werben fich zunächſt nicht viel geändert haben, weil fie 
unter dem Drude vieler anderer, mächtiger wirfender 
Urjachen ftanden. 

Mit dem Frieden erfolgte die Vergrößerung Preußens; 
in den neueriworbenen Landestheilen ließ man bie ber- 
gebrachte Gewerbeverfaflung unverändert, die Geiwerbe- 
freibeit am Rhein und in Weftfalen, die Zunftverfoffung 
in Sachen. Immer war e8 der überwiegend größere 
Theil der Monarchie, in dem von da ab bis 1845 volle 
Gewerbefreiheit herrichte. 

Die erften Jahre nach dem Frieden waren nicht 
een günstige für die wirthichaftliche Entwickelung. Die 
Nachwehen ver großen Verlufte und Zertörungen, vie 
Hungersnotb 1816 — 17, die Aderbaufrifis 1820 — 25 
waren barte Schläge. Die Grenzveränvderung brachte 
für die Induſtrie der rheinifchen Städte manchen Berluft; 
das Aufhören der Kontinentaljperre, bie engliiche Kon- 
kurrenz, die ſich um jo heftiger jett auf Deutichland 
warf, der Mangel einer gemeinfamen Ordnung des Zoll: 
weſens, — das Alles waren zumächft ungünftige Um— 
ſtände. Dem gegenüber war für Preußen bie neue 
Ordnung des Zollweiens im Jahre 1818 ein großer 
dortichritt. Die öftlichen Provinzen ftanden nun der 
theiniichen Induſtrie offen; Aachen, Elberfeld, Barmen, 
Berlin, zeigen einen raſchen Aufichmwung ,! wie überhaupt 
alle preußifchen Lande, während allervings die vom 


1) Güti II, 420 ff. 
4 * 


52 Die preußiichen Aufnahmen. . 


preußiichen Zollſyſtem ausgeſchloſſenen nächitliegenden 
Nachbarlande Titten. in anderes wichtiges Moment für 
die allgemeine Befferung der Lage waren bie Ende der 
zwanziger Jahre wieber fteigenden Produftenpreife. Die 
Getreideausfuhr nach England nahm wieder zu, das 
Wollgefchäft des norddeutſchen Landwirths war in der 
böchiten Blüthe, die Aderbautrifis fo ziemlich zu Ende. 
Somit werben wir nicht irren, wenn wir die Jahre 
gegen 1830 als folche bezeichnen, in denen die beion- 
deren Mißftände, die fih an die Kriegsjahre und an 
die erjten Friedensjahre anjchloffen, weientlich zurück⸗ 
getreten find, in denen alſo bie Gewerbefreiheit in 
ihren reinen Folgen fich erfichtlich zeigen muß; daneben 
find e8 Jahre, in denen die Konkurrenz der Groß- 
inbuftrie noch faum begonnen hat, jevenfall® noch nicht 
in dem Maße vorhanden ift, wie heutzutage. 

Deshalb glaube ich, richtig zu verfahren, wenn 
ih, wie früher fchon Dieterici, die preußiſche Gewerbe- 
ſtatiſtik von 1795/1803 gerade mit der von 1831 
vergleiche. Die erjte ein Bild der Zuſtände vor dem 
Krieg, ein Bild relativ blühender Sleininpuftrie, wie 
fie unter der Herrichaft des Zunftweſens und der ftaat- 
lichen Maßregelung möglich war; die zweite ein Bild 
ber Zuſtände, wie fie nach jo ziemlicher Befeitigung Der 
Kriegswehen unter der beinahe vollſtändigen Herrichaft 
der Gewerbefreiheit fich geftalten. 

Krug’s ftatiftifche Aufnahmen find in den Jahren 
1795 — 1803 nach den einzelnen preußiichen Provinzen 
gemacht; fie erſtrecken fich nicht auf ſämmtliche Provinzen 
oder Departementd. Die in Betracht fommenben find 


Die Krug'ſchen Zahlen. 58 


das Bofener, Kaliſcher, Warfchauer Departement, Pom- 
mern, Neumark, Schlefien, Kurmark, Magdeburg, 
Paderborn, Minden und Ravensburg, Grafſchaft Mark, 
Kleve, Lingen und Tecklenburg, Oſtfriesland, Neuchatel. 
Da dieſe Departements ſich gleichmäßig auf die Monarchie 
vertheilen, ſo kann die Methode nicht angefochten werden, 
nach der Bevölkerung und der Meiſterzahl dieſer Auf- 
nahmen, die muthmaßliche Meiſterzahl für die ganze 
Monarchie zu berechnen. Die Handwerksgeſellen bleiben 
außer Betracht, da Krug ihre Zahl gar nicht nach den 
einzelnen Gewerben, ſondern nur nach Provinzen mittheilt. 

Folgen wir nun für 1831 den Zahlen Dieterici's,“ 
jo ergiebt zunächſt eine allgemeine Vergleichung von 26 
der wichtigften Handwerfe, daß 1795 — 1803 auf 
10.023 900 Einwohner 194183 Meifter in denfelben, 
1831 auf 13.038960 Cinwohner 300 752° Meifter, 
Damals alſo einer auf 51,, Menfchen, jetzt auf 43,, Men- 
ſchen kamen. Damals find 1,95%, jetzt 2,5%), Per 
Bevölkerung Handwerksmeiſter in den betreffenden 26 
Hauptgewerben. Die Zahl der Meifter ift aljo ftärfer 
geftiegen al8 die Bevölkerung; aber wir werben dieſer 
Steigerung ein geringeres Gewicht beilegen, wenn wir 
ung erinnern, daß in den Zahlen von 1795/1803 
bie armen umbexölferten Landſtriche (Sübpreußen und 
Neuoftpreußen) ſtecken, die an Rußland abgetreten wurden, 
in denen von 1831 eine Reihe jehr entwidelter Gegen- 
den, die erſt 1815 zu Preußen kamen, wie Theile der 
Rheinprovinz und der Provinz Sachen. 


1) Der Volkswohlſtand, ©. 180, 


54 Die preußiſchen Aufnahmen. 


Eine genauere Einficht gewährt die folgende fpezielle 
Dergleichung einiger der wichtigern Gewerbe, wobei je 
in der erften Spalte die Zahl der Meifter, in ver 
zweiten die der Einwohner, welche auf einen Meifter 
fommen, verzeichnet iſt. 





1795/1803 1831 


— — — — — — | — 


Namen 


der Gewerbe Meifter Meifter 
Meifterzahl uf Enwopner Meiſterzahl J. ſo — 








vhner 

Schuhmacher | 5800| 1 
Schneider . 53 919 241 
Schmiede . 30 344 429 
Bider . 21217 614 

leiicher 15 367 848 

iihler . . 24 744 526 
Stell - un Hade- 

mader . . . 9 267 1033 13 280 981 
Bötther. . . . 7321 1312 11 798 1105 
Mauer... . 6. 053 1587 24 771 662 
Riemer, Sattler, 

Täſchner . 3947 2433 6 232 2 092 
Dredsler . . . 2655 3617 5140 2536 
E?ellr . . . . 2 137 4494 3 206 4.066 
HSutmader . . . 1632 5 883 2 128 6 001 
Goldſchmiede . . 1279 7510 1338 9 744 
Buchbinder. . . 1021 9408 1808° 7211 
Zinngießer . . . 339 | 28301 | 502 | 25972 


Hiernach ift die Meifterzahl geringer geftiegen als 
die Bevölkerung bei den Schmieven, den Hutmachern, 
den Goldſchmieden; das find Gewerbe, in denen die 
Bildung der größeren Geichäfte die mahrjcheinlichite 
Urſache des Rückganges if. In den michtigften ber 
angeführten Gewerbe bat fich die Proportion zwifchen 
Beyölferung und Meifterzahl fehr wenig verändert, fo 


Der Bergleih von 1803 und 1881. 55 


bei ven Schuhmachern, Schneidern, Bädern, Sleilchern, 
Rade- und Stellmachern, faum etwas mehr bei ben 
Döttchern, Riemern, Sattlern, Seilern. Cine wejent- 
lich ftärfere Zunahme al8 die Benölferung zeigen nur . 
die Tiichler und Drechsler, die Maurer, die Buchbinder 
md Zinngießer. 

Diefe Zahlen find beredt. Sie zeigen und das 
Ken und die Entwidelung der wichtigften Handwerke 
für die Zeit von 1800— 1831 gleichfam als etwas 
Eementares, das von den Stürmen ber Zeit, von ber 
Anderung der äußern Gemwerbeverfaffung weniger berührt 
wird, als man gewöhnlich erwartet. ‘Die Gemeinde- 
verfaffung, Die ftändifchen Nechte, das ganze Agrarrecht 
tar ein anderes geworben; vie Gewerbefreiheit, vie 
mbebingte Zulafjung der Handwerker auf dem Lande 
war eingetreten. Das ftäbtiiche Aceifewejen war ein 
andere geworden, Die Gewerbeſteuer war eingeführt 
worden. Und es erjcheint beinahe, als ob AU das 
ſpurlos an den Kleingewerben vorbeigegangen wäre. In 
vielen Gewerben dieſelbe Meiſterzahl trog der außer- 
ordentlichen Veränderungen, die zwifchen 1800 und 1831 
liegen. Auch die großen Aenverungen in ver Technik 
mancher Gewerbe, die Dampfmaſchinen und die anderen 
neuen Maſchinen und Entdedungen zeigen feinen wejent- 
lichen Einfluß bis dahin auf die Handwerke. Selbft der 
geftiegene Wohlitand, wenn man für 1831 überhaupt 
einen folchen gegenüber 1800 annehmen will, zeigt fich 
nicht in einer größern Zahl von Büder-, Fleiſcher-, 
Schuhmacher⸗ und Schneivermeiftern; dieſe Haupt 
gewerbe dienen ja auch ziemlich elementaren, fich nicht 


56 Die preußiihen Aufnahmen. 


jo Teicht ändernden Bedürfniſſen; — fondern nur in ber 
größern Zahl Maurer, Tiichler, Drechsler; d. h. man 
baut 1831 wieder mehr, man richtet die Wohnungen 
beffer ein, aber man ift, man Fleivet und beſchuht fich 
auf alte Weife. 

Dean mag allerdings daran erinnern, daß dieſelbe 
Meifterzahl nicht nothwendig diejelbe Technik, denſelben 
Wohlitand, dieſelbe Gejellen- und Lebrlingszahl andeutet. 
Aber jehr viel Hat fich darin gerade bis 1831 nicht 
geändert; was die Gehülfenzahl betrifft, fo führe ich 
als Beweis dafür an, daß die Meifter- und Gehülfen⸗ 
zahl von 1819 bis 1828 fich in ziemlich gleicher Pro⸗ 
portion ändert; ! gerabe die Gewerbefreiheit mußte dahin 
wirken, daR zunächit die Tendenz zur Bildung größerer 
Geſchäfte mit mehr Gehülfen eher etwas aufgehalten 
wurde. 


Freilich ift bei dieſer Vergleichung mm auf ven 
Anfang und das Ende der Periode gefehen, auf Die Zeit 
von 1795/1803 und auf die von 1831. Dazwiſchen 
bat der Handwerkerſtand ‘wohl ſtärker gejchwantt. Im 
Jahre 1811 waren in Preußen noch 286000 Gewerbe- 
patente ertheilt worben; dieſe Zahl ſinkt bis 1814 auf 
242700, iſt aljo in diefem Jahre um 154, %/, niedriger; 
dann fteigt die jährliche Zahl wieder; im Jahre 1820 


1) Nach den Zahlen bei Ferber, Beiträge zur Kenntniß 
ber gewerblichen und kommerziellen Zuftände der preußifchen 
Monardie. Aus amtlichen Quellen. Berlin, Trautwein 1829. 
Tabelle zu ©. 329. Neue Beiträge ©. 160, 


Der Bergleich von 1803 und 1831. 57 


it fie 20%, höher als 1814— 15.1 Durch foldhe 
Schwankungen in Bolge der Kriege wird aber unjere 
Behauptung nur noch in helleres Licht geſtellt. Trotz⸗ 
dem, daß Alles erjchüttert, geänbert, umgeſtürzt wurde, 
— kann man jagen — bringen e8 gleichmäßig fich erhal- 
tende volkswirthſchaftliche Bedingungen dahin, daß nad 
wenigen Jahren Alles jo ziemlich im alten Geleiſe ift, 
daß ähnliche Zahlenproportionen ſich bei den ftatiftiichen 
Aufnahmen wieder ergeben. 

Dabei will ich allerdings Eins im Voraus als 
Einſchränkung meiner Behauptung Hinzufügen. Die 
elementare, vom Wechjel der Jahre, wie der ftaatlichen 
Verfaffung und Verwaltung wenig berührte Natur der 
wichtigſten Handwerke, die vor Allen gegenüber bem 
viel wechſelvollern Leben ver Großinpuftrie zu betonen 
ft, wird fich Immer geltend machen; immer werben 
die Aenderungen ſchwer ſich vollziehen, fchon weil fie 
zuſammenhängen mit ven fchwer fich ändernden Lebens- 
gewohnbeiten, häuslichen Sitten und Bräuchen bes ganzen 
Volkes. Aber zunächit beweiien die vorjtehenven Zahlen 
mm, daß die großen Ereignifje von 1795 — 1831 daran 
wenig geändert haben. Wir werden fehen, daß fpäter 
vielleicht unbedeutendere Creigniffe, aber Ereigniſſe 
anderer Art, tiefer eingreifen. Nur folange die Technik, 
die häusliche Wirthichaft und die Verkehrsverhältniſſe 
diefelben bleiben — und die haben fich bis 1831 wenig 
geändert —, wird die Thatſache, daß Die vorzüglichiten 

1) Rau, Oruubfäge der VBollswirthichafts » Politik. 2te Abth. 


5. Aufl. ©. 29; e8 find Zahlen, welche der preuß. Staats⸗ 
jeitung entlehnt fin. 


58 Die preußiichen Aufnahmen. 


Handwerke in erjter Linie für lokale, nothwendige, ftets 
ziemlich konſtante Bedürfniſſe arbeiten, dem Handwerk 
ven fichern, unveränderten Boden erhalten. 

Zugleich iſt nicht zu vergeflen, daß bier mm von 
26 Arten der wichtigern lokalen Handwerke die Rede 
war. Die ganze Weberei und andere handwerksmäßige 
Hausinduftriezweige find nicht mit einbegriffen. Auch 
in den folgenden Unterfuchungen müſſen die Weber zunächit 
außer Betracht bleiben, da unfere Betrachtung ſich von 
jest an ftreng an die Art der ftatiftiichen Aufnahmen 
Balten muß. 


2. Die preußiichen Handwerlertabellen bon 
1816 — 43. 


Geſchichte der Aufnahme. Kritifche Feftftellung der Hauptſummen. 
Ergebniß: Stabilität von 1816-28; Blüthe der Klein- 
gewerbe von 1828— 43. Die einzelnen Faltoren der Geſammt⸗ 
änderung nach den einzelnen Gewerben, nad) Meiftern und 
Gehülfen. 





Nach dieſen einleitenden Bemerkungen über die 
Zuſtände vor und nach den Kriegsjahren wenden wir 
uns ausſchließlich der Zeit nach 1815 zu. Und das 
Erfte wird fein, uns einen Gefammteindrud der Ge⸗ 
Ihichte des Handwerks zu verichaffen durch Betrachtung 
ver Geſammtſummen, welche die preußiichen Gewerbe- 
tabellen in den einzelnen Aufnahmejahren ergeben. 

Ueber die Aufnahme und den Umfang der Tabellen 
it Folgendes zu bemerfen. 

Nahdem 3. ©. Hoffmann, als Leiter des ftati- 
ſtiſchen Bureaus, im Sabre 1816 die wichtigften Hand⸗ 
werfer in der Populationsliſte hatte mitzählen laſſen, 
richtete er 1819 zum erſten Male eine beſondere Gewerbe- 
tabelle ein, die nun von brei zu drei Jahren bei den 
Regierungen ausgefüllt werden jollte. Diefe Tabelle blieb 
troß mancher Yenderungen in den Orundzügen unver 


60 Die preußiſchen Aufnahmen. 


ändert bi8 1843. Erft die Aufnahme von 1846 erfolgte 
auf weientlich anderer, breiterer Grundlage. 

Die ältere Tabelle war von Hoffmann fo einfach 
als möglich entworfen. Ihr Hauptinhalt waren bie 
wichtigsten mechaniichen Künftler und Handwerker. Nicht 
bei allen‘, wohl aber bei der Mehrzahl wurden bie 
Gehülfen (Gefellen und Lehrlinge zufammen) gezählt. 
Nicht inbegriffen find z. B. Fiſcher, Gärtner, Barbiere, 
Friſeure, ebenjo wenig Spinner und Weber. Nach den 
Künftlern und Handwerkern enthält die Tabelle noch Die 
gehenden Webjtühle, die Mühlen, die Handelsgewerbe, 
die Transportgewerbe, das Gefinde. Für die Zuſtände 
des preußiichen Staates vor 50 Jahren gaben bieje 
Rubriken immerbin ein genügendes Bild, wenn fie auch 
für einzelne Gegenden und ihr entwickelteres Gewerbe⸗ 
leben, hauptjächlich für die Rheinprovinz nicht ganz aus⸗ 
reichten. Ihr Vortheil war, daß fie in ihrer Einfach- 
beit Teicht auszufüllen waren. 

Das Bedürfniß nach Erweiterung zeigte ſich aber 
bald. Neue Rubrifen wurden Hinzugefügt; beſonders 
1837 erweiterte Hoffmann die Tabelle wejentlich durch 
Aufnahme einer Anzahl Fabriken, ver Dampfmafchinen 
u. ſ. w. Auch 1837 aber wurde an ber eigentlichen 
Handwerkertabelle wenig geändert; für die Kürſchner, 
Mechaniker, Buchbinder wurde bie Gehülfenzahl Hinzu- 


1) Siehe Tabellen und amtlihe Nachrichten über ben 
preuß. Staat für das Jahr 1849 Band V. Berlin 1854. 
S. IV. fi, und Böckh, die gefhichtliche Entwidelung ber 
amtlichen Statiſtik des preußiichen Staates. Berlin 1863. ©. 47, 
53 ff., 78 ff. - 








Kritit der Aufnahmen. 61 


gefügt; die Zimmermeiſter wurden in Zimmermeiſter 
und Zimmerflidarbeiter, bie Maurer in Maurermeiſter, 
Slider, Ziegeldecker und Steinmeten zerlegt, 1840 
wurden die Färber in Färber und Kattundruder gejchie- 
den. Es läßt ſich fomit eine vergleichbare Tabelle bis 
1843 inkl. Teicht herſtellen. 

Die Aufnahmen, ſowie offizielle Summirungen ber- 
jelben find nicht gleichmäßig publizirt. Dan ift genöthigt, 
die Zahlen für die verſchiedenen Jahre aus fehr ver- 
ſchiedenen offiziellen, balboffiziellen oder ganz privaten 
Arbeiten der jeweiligen Direftoren des ftatiftiichen 
Dureaus zufammen zu fuchen. Daher find auch darüber 
einige Eritifche Bemerkungen nöthig. 

Die Summe der Meijter und Gehülfen für 1816 
iſt der Publikation Dieterici's in feinem „Volkswohl⸗ 
ſtande“ entnommen! Die Summe, wie fie von da 
aus in alle jpäteren, amtliche und nichtamtliche Schriften 
überging, ift aber infofern etwas zu niedrig, als in 
ihr die Kuchenbäder, Korbmacher, Buchdrucker und 
Zuchicheerer fehlen. Doch würden dieſe nach Analogie 
ber fpätern Zahlen nicht mehr als circa 7000 Meifter 
ud 4000 Gehülfen betragen.? 


1) Siehe daſelbſt S. 187. 

2) Für die Gehülfenzahl von 1816 bis zur Gegenwart 
bemerfe ich, daß fie mit den im Jahrbuch für die amtliche Sta- 
tiſtil des preuß. Staates Jahrg. II, ©. 238 publizirten Zahlen 
nicht ganz Abereinftimmen können. Es find dort bie männlichen 
Gehülfen getrennt von den weiblichen; ic) babe überall bie 
Summe beider beibehalten, da die Zahlen ber weiblichen Ge- 
hülfen verſchwindend Hein find und bie großen Gejammtzahlen 


62 Die preußiſchen Aufnahmen. 


Die Summen für 1819, 1822, 1825 und 1828 
find Ferber's Beiträgen,’ alſo einer halbamtlichen Bubli- 
fation entnommen. Ferber giebt nicht näher an, was 
feine Zahlen umfaſſen; deswegen glaube ich annehmen 
zu müſſen, daß fie fih auf die ſämmtlichen damals 
aufgenommenen Handwerker erjtreden. 


Für das Jahr 1831 ift mir feine amtliche Sum- 
mirung der Handwerker befannt, außer der bei Diete- 
rici,? die aber unvolljtändig iſt, indem fie ebenfall8 Die 
Kuchenbäcker, Korbmacher, Buchoruder und Tuchicheerer 
wegläßt. Durch Hinzufügung dieſer ift meine Zahl höher 
als die von Dieterici, wie fie ebenfalls in alle fpätere 
Werfe übergegangen ijt. 


Für 1834 iſt mir feine amtlihe Summirung 
befannt. Ich babe daher die Zahlen nach der amt- 
fihen Spezialpublifation berechnet, die in Dieterici's 
ftatiftifcher Weberficht? enthalten ift. 


durch diefe Beibehaltung fich nicht wefentlich ändern. Außerdem 
können die Zahlen von 1816 —43 deswegen nicht ganz biefelben 
fein, weil ih in meiner Zählung für alle die Gewerbe, für 
welche die Zählung der Gehülfen erft fpäter eintrat, Die Ge- 
bülfen bi8 1843 wegließ. Groß find Übrigens die Unterjchiebe 
der Zahlen nicht. 

1) Beiträge Tabelle ©. 228. Neue Beiträge, Tabelle 
©. 160. 

2) Volkswohlſtand ©. 253. 

3) Dieterici, ſtatiſtiſche Ueberficht der wichtigften Gegen- 
fände des Verkehrs und Verbrauchs im preuß. Staate und 
im deutſchen Zollverbande von 1831 — 36. Berlin 1838. 
©. 462 — 68. 


Zur Kritik der Zahlen. 63 


Auch für die folgenden Aufnahmen Habe ich Die 
Summen nach den Spezialtabellen neu berechnet, für 
1837 und 40 nach ven Fortfegungen der ſtatiſtiſchen 
Ueberfichten,* für 1843 nach dem befondern für dieſes 
Jahr veröffentlichten Tabellenwerf.? Ich habe dabei bie 
ſämmtlich bisher gezählten Gewerbe mitgezählt, Die 
Sehülfen da weggelaffen, wo fie früher auch fehlten, 
um fo die Summen direkt vergleichbar mit den frühern 
Aufnahmen zu machen. ‘Dadurch ftimmen die Zahlen 
aber nicht ganz überein mit den gelegentlich von Die— 
teriet erwähnten oder fpeziell von ihm berechneten.? 


1) Erfte Fortjegung, Berlin 1842. S. 384— 401. Zweite 
Fortſetzung, Berlin 134. ©. 600 — 618. 

2) Dieterici, die ftatiftiihen Tabellen S. 130. 

3) Für 1837 erwähnt Dieterici, 2te Fortſetzung ©. 619, 
368429 Meifter mit 231266 Gehülfen; er giebt nicht an, wie 
er das berechnet hat; ohne Zweifel läßt er wieder die Tuchicheerer, 
Korbmacher, Buchdrucker, Kuchenbäder weg; für 1840 giebt er 
daſ. S. 619 und 627 (an Iekterer Stelle nad Provinzen 
fummirt) 387 687 Meifter mit 286612 Gehllfen an; die gerin- 
gere Meifterzahl bat dieſelbe Urfache, Die höhere Gehülfenzahl 
als unfere bat ihren Grund in dem Mitzählen aller aufgenom« 
menen Gehülfen Für 1843 giebt er in feinem „Volkswohl⸗ 
fand" ©. 254 eine Summirung (400932 Meifter mit 309 570 
Gehülfen), die von da in alle fpätere Literatur übergegangen 
MR. Sie ift weſentlich niedriger als unfere, ba fie, zur Ver⸗ 
gleihung mit einer ebenfalls lückenhaften Tabelle von 1831 
gemacht, wieder verfchienene Kategorien wegläßt. Im den flatift. ' 
Tabellen pro 1843 ©. 145 giebt er eine andere Summirung 
neh Provinzen (410221 Meifter mit 358660 Gehülfen), bie 
wieder wefentlich höher, ift als unfere; die Zahl der Meifter nur 
um 2000, die Urſache ift mir nicht Marz die Zahl der Gehülfen 
um circa 47000, weil Dieterici bier für alle Gewerbe, in 


64 Die preußifchen Anfuahmen. 


In der num folgenden Tabelle, in welche ich vie 
Bevölkerung Preußens nach Dieterici's Handbuch ber 
Statiftit des preußifchen Staates! einfeke, vergleiche 
ih das Verhältniß des Handwerkerſtandes zur Xotal- 
bevölkerung. Die erite Prozentberechnung giebt Ant- 
wort auf die Frage, wie viel Prozente der Bevölke— 
rung machen Meifter und Gebülfen zufammen aus? Die 
zweite auf die Trage, wie viel Prozente der Benöl- 
ferung machen die Meijter mit ihren Familien und 
Gehülfen aus? Die Familie eines Meifters ift dabei 
nach dem Vorgang Dieteric’8 ? zu 4,, Perſonen gerechnet. 
Da die Gehülfen alle als ımverheiratet angenommen 
find, während vie zahlreichen Maurer⸗ und Zimmer- 
gejellen wenigftens zu einem großen Theil verheiratet 
find, fo bleiben jedenfall die Summen ver fo gemon- 
nenen ganzen vom Handwerk lebenden Bevölkerung weit 
eber unter, als über der Wirklichkeit. 

Daß überhaupt gefragt werden muß, nicht ob Die 
Zahl der Handwerker an fich, fondern ob fie im Ver⸗ 
hältnig ver Bevölkerung zugenommen bat, varüber 
brauche ich wohl fein Wort Hinzu zu fügen. Nur daran 
möchte ich noch erinnern, daß allerdings bei einer fo ſtark 
fortichreitenden Bevölkerung, wie bet der preußtichen von 
1816 — 43, eine Zunahme im Verhältniß ver Bevöl⸗ 
denen auch damals die Gehülfen noch nicht gezählt wurben, 
eine ungefähre Schäung berjelben einftellt, dahin gehend, Daß 
wenigftens fo viele Gehülfen als Meifter vorhanden jeien. 

1) Berlin 1861. ©. 184, Ich erwähne das nur, weil 


Kolb 3. B. etwas andere Zahlen angiebt. 
2) Statiſtiſche Tabellen pro 1843 ©. 145. 





Die Zahlen von 1816 — 43. 65 


ferung ſchon einen Fleinen Fortichritt andeutet. Da Die 
Zunahme der Bevölkerung in erfter Linie Folge zabl- 
reicher Geburten iſt, jo find es zunächit die niedrigſten 
Atersffaffen, die reichlicher ausgefüllt find, während bie 
höbern, die fchon einem beftimmten Beruf angehören, fich 
gleich bleiben, ja vielleicht, wie in biefem Fall, durch 
die Kriege dezimirt find. ‘Der Handwerkerſtand behauptet 
ſich nun auf feinem Niveau, wenn er nur im Verhältniß 
zu den gefammten Erwachſenen die gleiche Prozentzahl 
beſchäftigt. Behauptet er im Verhältniß zur ganzen, 
hauptſächlich an Kindern reichen Bevölkerung die gleiche 
Progentzahl, jo nimmt er offenbar von den Erwachienen 
velativ etwas mehr in Anſpruch als vorher. 

Doch bier endlich nach langen Vorbemerkungen bie 
Tabelle ſelbſt: 





ET: * 
2133 
Yahee | Meifter Gehülfen E35 [88 
53 67 


| 


1816 |258 830 | 145459 | 404289 | 10,40 | 3,45 | 1.206 862 | 11,0 
1819 |276 815 | 142 149| 418 964 | 11,03 | 3,20 | 1.277 090 | Lili: 
1822 [295 584 | 161 968 | 457 552] 11,.. | 3/5. | 1.373 862 | 11, 


1825 1315 118 187 176) 502294 | 12,50 | 4,0 | 1.479 159 | 12,08 


1828 |323 538) 183 594 | 507 132| 12,8 3,08 | 1.510.099 | 11,sı 
1831 |334 346 | 187 565 | 521911| 13,00 | 3308 | 1.558 383 11. 
1834 |356 515 |215 650| 572 165 | 13,56 | 431 | 1.677 361 | 123g 
1837 [375 097 |244 875 | 619 972| 14,,5 | Ass | 1.782 772 | 12,56 
1840 |396 016 280.089 | 676 105 | 1490| 4,51 | 1.903 754 | 120 
1843 |408 825 811 458 | 720 283 | 15,55 | Ass | 1.987 640 12. 


Dan unterjcheidet bei Betrachtung dieſer Tabelle 
leicht zwei Perioden. Bon 1816 — 31 beinahe 
Stabilität, Die nur 1825 durch ein vorübergehendes 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe, 5 


66 Die preußiſchen Aufnahmen. 


Anwachien unterbrochen ift; von 1834 an eine fucceffive 
Zunahme des Handwerferjtandes gegenüber der Bevöl⸗ 
ferung. Die Urfachen Tiegen überwiegend in den allge- 
meinen, früher ungünſtigen, fpäter günftigen Vorbe⸗ 
dingungen der wirthichaftlichen Entwickelung, an Die ich, 
joweit fie die Zeit von 1816 —31 betreffen, ſchon 
oben! erinnerte. Man erbolte fich erjt wieder von Krieg 
und Aderbaufrifis. Der Einfluß der vorangefchrittenen 
Induftrieländer war noch gering, der deutſche Handel 
noch gelähmt durch die Zollſchranken. 

Wefentlich beſſer geftalten fich die Juftände in den 
dreißiger Jahren. Der Zollverein beginnt feine Seg- 
nungen fühlbar zu machen; ver beutiche Exporthandel 
nimmt zu, neue Gewerbszweige entjtehen; Zuderfabrifen, 
DBaumwollipinnereien werben gebaut. Daneben freilich 
ift der Einfluß des Auslandes noch gering; die erften 
Eifenbahnen find in England eben erft vollendet; noch 
haben die großen internationalen Ausftellungen nicht 
gewirkt, noch Haben wir faum einen heimischen Mafchinen- 
bau, noch exiſtiren unfere großen polytechniichen Schulen 
nicht oder find eben erſt gegründet. Der Fortjchritt 
mußte fich alfo in ven hergebrachten Formen halten, 
d. 5. Hauptfächlich in einer Zunahme der Rleingewerbe 
.. zeigen. 

Auch für wichtige Indbuftriezweige, welche auf den 
Abſatz im Großen angewiefen find, bleibt die Form ver 
Hausinduftrie vorerſt unangetaftet — fo für wichtige 
Theile der Metallinpuftrie; jo für die Weberei, Die nicht 


1) Oben S. 51-52. 








Die Refultate von 1816 — 48. 67 


in dieſen Zahlen begriffen tft. Die Zuchmacher und Tuch⸗ 
iheerer find zwar theilweile fchon in übler Lage; aber 
fonft ift ver Handwebſtuhl noch unangefochten. Die 
Zahl ver Webſtühle nimmt ſogar in den meiſten Branchen 
einen raſchen Aufichwung bi8 1840; erjt in ven rüd- 
gehenden Zahlen von 1843 zeigt ſich der Eintritt der 
Weberkriſis, die ſiegende Konkurrenz der neuen vollen- 
deteren Technik. 

Die vorſtehenden Folgerungen aus der Tabelle für 
1816 — 43 galten. dem Hauptreſultat, das dahin ging: 
Stabilität in den zwanziger, Fortjchritt in den dreißiger 
Jahren. Ein folches Gefammtrefultat kann nun aber auf 
ſehr verſchiedene Weife erreicht fein; e8 kann ausſchließlich 
durch die Meifter- over burch die Gehülfenzahl ober 
gleichmäßig durch beide, e8 kann erzielt fein dadurch, 
daß einzelne Gewerbe ganz zu Grunde gingen, während 
anvere um fo fräftiger erblühten. Obwohl hier noch 
micht näher in dieſes Detail eingegangen werden joll, 
muß ich wenigftens einige Worte nach beiden Richtungen 
hin beifügen. 

Die Bewegung der einzelnen Gewerbe iſt natür- 
fich Teine ganz gleichmäßige; aber doch handelt es fich 
um feine allzugroßen Differenzen, nicht um den Unter- 
gang einzelner Gewerbe, für die andere an die Stelle 
träten. Es geben einzelne etwas zurüd, anbere und 
zwar jehr viele bleiben der Bevölkerung parallel, wieber 
anbere nehmen etwas ftärfer zu. Beſonders in einzelnen 
Perioden ift die Differenz etwas größer. Die ftärkfte 
Zunahme erfolgt 1831 — 34; nach der Depreffion von 
Revolution und Cholera, nach der Bildung des Zoll: 

5 * 


68 Die preußiichen Aufnahmen. 


vereind nimmt Alles einen freudigern Aufichwung; wäh- 
vend die Bevölkerung von 100 auf 103 fteigt, fteigen 
beinahe alle Gewerbe von 100 auf 106—8, mande 
noch mehr; und es nehmen daran gerade die wichtigften 
Gewerbe, wie Bäder und Fleiſcher, die font gerne ber 
Bevölkerung parallel bleiben, Theil. Im den Jahren 
1834— 37 erhebt fich die Benölferung von 100 auf 
104; eine wefentlich ftärfere Zunahme zeigen in dieſem 
Zeitraum nur bie Gewerbe für Bauten und Hausein- 
richtung, ſowie einzelne, vie einem fich entwidelnden 
Luxusbedürfniß dienen, wie die Bumacherinnen. Aehnlich 
ift e8 in den Perioden von 1837 — 40 und 1840 — 43; 
es gejellen fich als ſtärker fortichreitende Gewerbe zu 
ihnen hauptſächlich noch folche, welche die Großinduſtrie 
beichäftigt, wie Mechaniker, Schlofier, Steinmegen, 
während die Hauptgewerbe Bäder, Fleiſcher, Schub- 
macher ihr Verhältniß zur Bevölkerung nicht viel ändern; 
jelbit das entwidelungsfähige Schneidergewerbe zeigt 1837, 
40 und 43 jeveömal eine die Bevölkerung nur kaum 
überholende Zunahme. Die bereits rückgehenden Gewerbe 
find folche, bei denen die Konkurrenz ver großen Gefchäfte 
anfängt zu wirken; Geifenfiever, Gerber, Handſchuh— 
macher, Hutmacher, Töpfer und Ofenfabrifanten. 

Diie Verſchiedenheit der Bewegung zwiichen den 
einzelnen Gewerben ift nicht jo groß als die zwilchen 
Meifter und Gehülfen. Von 1816 — 19 nehmen nur 
die Meifter zu, die Gehülfen ab; von 1819 — 25 ift die 
Dewegung jo ziemlich glei; von 25— 28 nehmen 
nochmals die Meifter zu und die Gehülfen ab; von 
28 — 31 überwiegt wenigftens Die Zunahme ber Meifter ; 


Die Reſultate von 1816 — 43. 69 


| erit von 1831 ab tritt dauernd und zwar in ganz über- 
wiegender Weife eine ftärfere Zunahme ver Gehülfen 
ein, fo daß als Gefammtergebniß von 1816 bis 43 Die 
Meifter von 100 auf circa 180, die Gehülfen von 
100 auf circa 220 fteigen. 
| Dieſe Verſchiedenheit der zwanziger und breißiger 
Jaͤhre entipricht dem Ergebniß der obigen Unterfuchung. 
In dem erſten Zeitabjchnitt fehlt Die Möglichkeit, die 
Geihäfte auszudehnen, mehr Gehülfen zu halten; bie 
Gewerbefreiheit ermöglicht Jedem, Teicht ſelbſt ein Ge⸗ 
ſchäft anzufangen, leer gebliebene Lücken füllen fich; der 
Handel, das Einkaufen in Magazinen, das Ladenhalten 
it noch wertiger entwidelt; das ladet zur Nieverlaffung 
überall ein, dem lokalen Bebürfniß zu dienen, wenn 
auch das zu machende Geichäft vorerſt Hein if. Im 
zweiten Abſchnitt Yiegen die Dinge ſchon wejentlich anders: 
die Lücken find beſetzt; troß der Gewerbefreiheit wird 
das Anfangen eines eigenen Betriebes in den größeren 
Städten, wo die Nachfrage wächſt, fehwieriger, und fo 
nehmen hier eher die vorhandenen Geichäfte zu, als 
daß neue gegründet würden. Dieſe Richtung zeigt fich 
Ipäter noch viel mehr. Es ift aber wichtig, daran zu 
erinnern, Daß fie ſchon vor 1845 und 1849 eintrat, weil 
man Später oft glaubte, die veränderte Gewerbegejeßgebung 
fi daran ſchuld, mas jedenfalls nur zum Theil ber 
dall war. " 


3. Die preußiichen Handwerlertabellen bon 
1846 — 61. 


Die Summen. Kritifche Prüfung derſelben und Geſchichte ver 
Aufnahmen. Die allgemeine wirtbichaftliche Lage und im 
Anſchluß daran das Ergebniß der reftifizirten Tabellen. 
Bergleih von 1843 und 46, Begiun ber Handiwerfernoth. 
Bergleih von 1846 und 49, Höhepunkt der Krifis durch Revo⸗ 
fution und Gefhäftsftodung. Die Gejetgebung von 1849 als 
Folge der Klagen; Beurtheilung dieſer Gejeßgebung und 
ihrer Wirkung. Bergleih von 1849 und 52, unbebeutenbe 
Beſſerung. Bergleih von 1852 und 55, abernalige Krifis. 
Die Aufnahmen von 1855 — 61; die Beflerung durch Die allge- 
meine wirthſchaftliche Lage. Die Zuflände 1861 — 65. 


Die Zeit nach 1843, reſp. von 1846 an, jcheivet 
fich von der früheren in Preußen materiell durch Die 
1845 und noch mehr durch die 1849 erlafjene Gewerbe- 
geſetzgebung; formell müßte fie fchon unſere Betrachtung 
‚trennen, da die ftatiftiichen Aufnahmen von 1846 an 
weſentlich andere find. Ehe ich aber auf die BVerfchie- 
denheit der Aufnahme eingehe, will ich die Zahlen jelbft 
porausichiden, wie fie hergebrachtermaßen in ver offi- 
ziellen Statiftif für 184658 mitgetheilt werden.‘ Ich 


1) „Die Hanptrefultate der Gemerbetabellen in ben 
Jahren 1846, 1849, 1853, 1855 und 1858" in ber Zeitjchrift 


Die Zahlen von 13-61. 71 


wiederhole Dabei die Zahlen für 1843 und ſetze für 
1861 die Hauptjummen der Handwerkertabelle bei, wie 
fie in der amtlichen Publilation lauten." Die gejammte 
Handwerkerbevölkerung ift wieder fo berechnet, daß bie 
Sehülfen als unverbeiratet, die Familien der Meiſter 
jede zu 4, Berjonen angenommen find. 














S , Sg 2 ey y: 

Iabee! Meifter | Genürfen | . Ir BE 5. EEE =: 
iommen |3.|°| S23 58 

"a8 238 ja 





' | 
18431408 825 |311458| 720283 
1846 1457 365 |384 783] 842 14816 
189491535 232407 141] 942 373 
1852558 107 | 447 502 | 1.000 609 
1855 1548 296 | 454 088 | 1.002 384 [17 
1858 1545 034 | 507 198 | 1.052 232117 
18611534 556 | 558 321 | 1.092 8771 


Sollen diefe Zahlen einer vergleichenden bijtorifchen 
detrachtung zur Grundlage dienen, jo muß man ihren 
Werth und ihre Entitehung kritiſch prüfen, ehe man 
Schlüffe Daraus zieht. 

Was die Nichtigfeit der Zahlen an fich betrifft, fo 
will ich num wenige Worte in Bezug auf andere Sum- 
men, welche man da und dort trifft, vorausichiden. 
dir 1846 und 49 giebt Dieterici? in den Mitthei— 


des ſtatiſtiſchen Bureaus Jahrg. I, 50—52. Viebahn, Statiſtik 
des zollvereinten und nördl. Deutſchlands III, 561. 

1) Preußiſche Statiſtik, in zwangloſen Heften. Berlin 
1864. V, S. 28. 

2) Mittheilungen V, 216: 

1846 453330 Meiſter und 8382161 Gehülfen. 

1849 469892 + 887150 ⸗ 


« 


72 Die preußifhen Aufnahmen. 


Yungen anvere Zahlen, als die obigen und zwar niebri- 
gere. Dies iſt für 1849 ſehr erflärlich, er will Die 
Aufnahmen mit 1846 vergleichbar machen und läßt jo 
alle erjt 1849 Kinzugefommenen Spalten weg. Warum 
aber 1846 circa 4000 Meifter und 2000 Gebülfen 
weniger gerechnet find, als in ver fpätern offiziellen Sta- 
tiftif, vermag ich nicht anzugeben; eine eigene Nach— 
rechnung ift mir gar nicht möglich, da die Tabellen 
pro 1846 nicht volljtändig publizgirt find.! Immerhin 
aber iſt Diefe Abweichung jo mäßig, Daß fie überfehen 
werben kann. 

Für das Jahr 1852 giebt Dieterict die Zahlen in 
den amtlichen Zabellen, wie in einer fpäteren Bearbei- 
tung ? etwas niebriger an, als fie Engel in den ſpä— 
tern offiziellen Angaben anführt. Da fpätere Angaben 
derart als die veftifizirten gelten müfjen, habe ich fie 
beibehalten. Der Grund der Differenz ift mir nicht 
erfichtlih, doch ift die Abweichung ebenfall® jo unbe- 
beutend, daß fie feine weitere Beachtung verdient. 


« 1) Die Mittheilungen I, 213 — 291; I, 1—32 geben 
nur einzelne ber wichtigern Handwerke, um fie mit ben 
Zahlen von 1822 zu vergleichen. Auch die Publikation im 
erften Bande des Jahrbuchs filr amtliche Statiſtik ift pro 1846 
nicht zu Grunde zu legen; die Handwerkertabelle iſt bort mit 
ber Fabriftabelle vereinigt, eine gefonderte Summirung ber 
Handwerker nicht vollzogen; eine Nachrechnung ift ebenfalls 
unmöglich, da Meifter und Gehülfen nicht gejonbert angegeben 
find. 

2) Amtlihe Tabellen V, S. 884, Mittheilungen VII, 
332 — 33 find die Zahlen folgende: 
552766 Meifter und 446035 Gehilfen. 





Kritik der Zahlen. 13 


Für 1858 Habe ich nad der amtlichen Publi- 
fation eine falfulatorifch genau geprüfte Nachrechnung 
angeftelft,; ich mußte die Hauptjummen getrennt haben 
nach Stadt und Land für die Unterjuchung dieſes Ge- 
genſatzes. Das genaue Ergebniß der Geſammtſumme 
it 1.042513, aljo etwa 10000 Perjonen weniger, als 
in der fpätern Publikation Engels. Die Differenz ver- 
mag ich ebenjowenig zu erflären. Tür dieſe Unter- 
fuhung muß ih Engel's Zahl ftehen laſſen; für bie 
ipätere Unterfuchung über den Gegenſatz von Stabt und 
Land Tann ich nur die won mir berechneten Zahlen 
benutzen, da andere fehlen. 

Für 1861 kenne ich noch zwei Summirungen, aller- 
dings nicht amtlicher Natur, die mit den vorftehenven 
Zahlen nicht übereinftunmen. Ad. Frank ! giebt in fei- 
nen gewerbeftatiftiichen Tabellen allerdings beinahe die⸗ 
felbe Hauptfumme von 1.092 368 Perfonen, aber bie 
ſelbe entjteht bei ihm aus circa 16100 mehr Meifter 
und weniger Gebülfen.. Das Tann nur ben Grund 
haben, daß er die Flidarbeiter bei den Maurern und 
Zimmerleuten, die gerade jo viel ausmachen, zu den 
Meiftern rechnet, während fie die offizielle Statiftif offen- 
bar zu den Gehülfen zählt. Mag Lebteres auch unrich- 
tiger jein, fofern die Flickarbeiter immerhin ſelbſt 
Unternehmer find, eigene Geichäfte haben, ich mußte 
bei den offiziellen Zahlen bleiben, fchon weil fie bie 
Vermuthung für fich haben, daß dieſe Frage bei ihnen 


1) Ad. Frans, Tabellen der Gewerbeſtatiſtik der Staaten 
de8 deutſchen Zollvereins. Brieg 1867. 


74 Die prenßifchen Aufnahmen. 


gleihmäßig wie bei den frühern Aufnahmen entichieven 
ft. Es ift aber von Intereſſe, fich deſſen eben bei 
diejen Zahlen bewußt zu bleiben. Die Abnahme ber 
Meifter im Ganzen kommt tbeilweife davon ber, daß 
Zeute, die früher als Heine Zimmer- und Maurer- 
meifter gezählt worden wären, jest als Flickarbeiter 
unter den Gehülfen fteden. 

Viebahn zählt in feiner Statifttl des Zollvereing ! 
für 1861 nur 523481 Meifter und 519412 Gehül- 
fen, zufammen 1.042893 Berfonen; auch feine Zahlen 
für die andern Staaten find etwas geringer als die mir 
fonft befannten Summirunger. Die Urſache der Dif- 
ferenz ift nicht erſichtlich. Viebahn muß wohl verichie- 
dene Kategorien der offiziellen Tabelle weggelafjen haben. 

Geben wir von der Falkulatorifchen zur fachlichen 
Prüfung, fo bleibt die Hauptjache zu wiſſen erftens, wie 
verichtenen die Aufnahmen von 1846 ab gegenüber den 
frühern find, und zweitens, ob fie wenigſtens unter fich 
vergleichbar find, wie fich aus ihrer Zuſammenſtellung 
in der amtlichen Statiſtik zu ergeben jcheint. 

Die Gewerbetabellen bis 1843 waren I. ©. Hoff- 
mann's Werk; noch die letten Aenderungen, die im 
Jahre 1837 eingeführt wurden, hatte er angeorbnet. 
Sein |päterer Nachfolger Dieterici war zwar feit 1835 
Hülfsarbeiter des ſtatiſtiſchen Bureau's; Die Direktion 
übernahm er aber erft 1844, als das ftatiftiiche Bureau 
dem Handelsamt unterjtellt wurde. Cine feiner erſten 
Aufgaben war die veränderte Einrichtung der Gewerbe 


1) II, 743. 


Kritit der Aufnahmen. 77 


tabelle, die durch die Entwickelung der gewerblichen 
Verhaͤltniſſe, durch die Spezialiſirung jo vieler Geſchäfte, 
durch Die Ausdehnung der Großinduſtrie geboten fchien. 
Ueberdies hatte die Zollvereinstonferenz ſchon am 11. No⸗ 
vember 1843 die Aufnahme einer Gewerbeſtatiſtik des 
Zollvereins beichloffen,t wobei die Abficht zunächit nur 
auf eine Statiftif der Großgewerbe gerichtet war. Eine 
neue Grundlage war zu ſchaffen. Langwierige Unterhand⸗ 
lungen fanden 1844 und 45 darüber mit dem Finanz: 
minifteriumt und ben Oberpräfidenten ftatt. Dieterici 
bemühte fich, gegenüber den ganz neuen Vorjchlägen die 
Tabelle der Handwerker wenigjtens jo zu erhalten, daß 
sicht alle Vergleichung mit früher ausgeichloffen war. 
Das endliche Rejultat war das, daß zunächſt die Auf- 
nahme in zwei Haupttabellen geſchah; Die eine war Die 
jog. Babriftabelle; vie andere erhielt folgende Abthei- 
lungen: 1) die mechanijchen Kimftler und Handwerker 
(110 ftatt bisher 72 Kolonnen, e8 waren mehrere Arten 
Binzugejetst und durchgehend die Zahlen für die jelbftän- 
digen Gewerbtreibenven und für die Gehülfen und Lehr— 
linge getrennt worben), 2) die Anstalten für den litera⸗ 
riichen Verlehr, 3) die Handelsgewerbe, 4) die Schiff- 
fahrt, das Fracht» und Lohnfuhrwerk, 5) die Gaft- und 
Schenkwirthicheft, 6) Das Gefinde, 7) die Handarbeiter. 
Die Regierungen wurden angewieſen, in allen bebeutenden 
Orten eine Prüfung ver Tabellen durch Gewerbtreibende 
eintreten zu laſſen. So fand die Aufnahme 1846 ftatt. 


1) Böckh, die gejchichtl. Entwidelung der amtl. Statiftik 
S. 534 ff, 78 ff. 


76 Die preußifchen Aufnahmen. 


Wie viel die Aufnahme der Gehülfen zu allen 
Handwerken ausmacht, läßt fich etwa darnach bemeffen, 
daß die Tabelle von 1843 etwa 40000 Meiſter ohne 
Gehülfen angab, und daß Dieteric, wo er für 1843 
die Gehülfenzahl voll vechnen will, ftatt 311458 — 
358 660 annimmt. Wie viel die bisher nicht gerech- 
neten Arten von Handwerkern ausmachen, Tann ich nicht 
jagen, da mir für 1846 feine volljtändige Spezialauf- 
nahme vorliegt und die von 1849 wieder weſentlich 
umfaſſender ift.? Es wurden 1849 abermals 16 neue 
Arten hinzugefügt. Die Geſammtzahl der Perjonen, welche 
in der Tabelle von 1849 der Art der Gewerbe nach neu 
find gegenüber der von 1843, wird circa 130 — 150000 
Perjonen ausmachen. Es find darunter die Leinenfpinner 
(57 981 mit 26305 Gebülfen), die Gärtner (6598 mit 
2853 Gehülfen), die Fiſcher (6430 mit 2633 Gehül- 
fen), die Barbiere (6033 mit 2431 Gehülfen), die 
Auftionatoren (4204 mit 270 Gehülfen) und noch 
manche Andere. 

Darnach ift, wenn die Zahlen von 1846 und 49 
mit den früheren verglichen werben folfen, für 1849 
ein Abzug von gegen 200000 zu machen (150000 
für andere bisher nicht gezählte Arten von Gewerb- 
treibenden, 50000 für bisher nicht gezählte Gehülfen), 
für 1846 wenigjtens einer von 100000. 


1) Statiftiiche Tabellen pro 1843 ©. 145. 

2) Das geht auch daraus hervor, daß Dieterici bei ber 
Bergleihung mit 1846 nicht 942373 Perjonen, jondern 848042 
zechnete, wobei er offenbar die Arten megläßt, bie 1846 nicht 
gezählt find. Mittheilungen V, 216. 


Kritit der Aufnahmen. 77 


Bon 1849 an ift an ven Tabellen relativ wertiger 
geänvert; befonvers die Aufnahmen für 1852 und 1855 
baben ganz denſelben Umfang, böchitens eine Unterjchei- 
dung dieſes oder jenes unbeveutenven Gewerbes in zwei 
Unterarten kommt vor, was für unjern Zwed gleich 
gültig ift. 

Die Hauptänderung bei der Aufnahme von 1858 
it die Trennung der Gehllfen in Geſellen und Lehr- 
linge bei jedem Gewerbe; doch ift Das wieber für unfere 
Zwecke ohne Bedeutung. Andere Aenderungen find nicht 
allzu wejentlih. Die letzten Rubriken find 1858 nicht 
ganz gleich gefaßt, doch handelt es ſich da hochſtens um 
einige hundert Perſonen; nur eine große Rubrik blieb 
1858 ganz weg, nämlich die ver Auftionatoren, welche 
1855 6188 Perfonen mit 310 Gehülfen umfaßte. 
Dagegen umfaßt die Rubrif „Kahnführer” 1855 nur 
93 Perjonen und 10 Gehülfen; 1858 ift fie zu „Kahn⸗ 
führer, Pferveverleiher, Vermiether möblirter Zimmer ” 
erweitert und hat nun 5551 Perfonen. Die ganze Diffe- 
renz der Aufnahme überjchreitet jomit einige Taufende nicht. 

Nicht ganz daſſelbe läßt fih von ver letten Auf- 
nahme, von ber für 1861 jagen; fie iſt nach ziemlich 
veränvertem Schema gemacht. Man wollte endlich mit 
einer gleichmäßigen Aufnahme im Zollverein Ernſt 
machen; denn 1846 war e8 nur dahin gelommen, daß 
einige Staaten fich in der Hauptſache der preußiſchen 
Zabellen bebient Hatten! Weitere Unterbandlungen mit 


1) Mittheilungen IV, 252—308: Statiftifche Ueberficht 
der Fabrikations⸗ und gewerblichen Zuflände in den verſchie⸗ 
denen Staaten bes beutfchen Zollvereins im Jahre 1846. 


78 Die preußiſchen Aufnahmen. 


den Zollvereinsftanten wurden jeit 1852 geführt. Be— 
jonder8 in München fanden 1854 Berathungen auf 
Grund eines Entwurfes von Viebahn ftatt, deren Re- 
jultate aber 1859 nochmal mobifizirt wurben.! Hier: 
nach geſchah 1861 die Aufnahme in den ſämmtlichen 
Zollvereinsftaaten.? 

Die Hauptänderung der Tabelle betrifft aber die 
äußerliche Anordnung. Dem Inhalt nach find Die wich- 
tigern Abtbeilungen viejelben wie 1858; baß einige 
Gewerbe in Unterabtheilungen zerlegt, einige unbedeu— 
tende Gewerbe Hinzu kamen (Inhaber von Badeanſtalten, 
Wafchanftalten, VBerfertiger von Streichriemen z.), Daß 
einige andere umbebeutende Gewerbe wegblieben (Blatt: 
gefehirrmacher, Berfertiger von Wachslichtern, Zünd⸗ 
waaren 20.) wird nicht viel ausmachen, wird höchſtens 
eine Differenz von einigen hundert Perjonen bevingen. 
Dagegen babe ih in Bezug auf die Leinenfpinner, 
welche 1849 noch 84286, 1858 noch 54054 Meifter 
und Gehülfen umfalien, einigen Zweifel, ob die Zahl 
von 14557 im Jahre 1861 der wirklichen Abnahme 
entfpricht oder nicht vielmehr auf einer veränderten Auf- 
nahme beruht; das ergäbe eine Differenz von circa 40 000 
Perfonen, davon 36000 Meiſter. Auch wenn bie 


1) Böch, geichichtliche Entwidelung ©. 81 und „For 
mulare für Gewerbeftatiftil des Zolloereins nach den Vorſchlägen 
der im Jahre 1854 zu München verfammelten Kommilflon und 
nad den Abänderungsvorichlägen Preußens.” Berlin, Oberhof- 
buchdruckerei. 

2) Ueber Preußen fiehe: Preußiſche Statiſtik Bd. V. ©. 49. 
Nr. 14. 


Die Lage der Mleingewerbe 1840 — 46. 79 


Abnahme von 1858 — 61 wirflich jo groß ift, jo muß 
man dieſe Zahl bei der Vergleichung im Auge behalten; 
denn es ift ein großer Unterfchien, ob die Spinner um 
40000 Berfonen oder ob die eigentlichen Handwerker 
zuſammen um 40000 Perjonen abnahmen. 

Nach dieſer Kritik der Zahlen Binnen wir erft 
zur Stage zurüdtebren, welches die Lage des Handwerker⸗ 
ſtandes von Anfang der vierziger Jahre bis zur Gegen- 
wart nach diefen Zahlen war. 

Erimern wir uns dabei der allgemeinen volfswirth- 
Ichaftlichen Lage. Die Fortfchritte der technischen Bildung 
in Deutfchland geben Hand in Hand mit dem Bau der 
Eifenbahnen; die internationalen Beziehungen vervielfäl- 
tigen fich; der Export nach Amerika, nach den Kolonien 
nimmt nie Dagewejene Dimenfionen an; vie großen 
Unternehmungen, vor Allem die, welche die Vortheile 
einer vollendeten Technik, eines großen Kapitals, einer 
weitfichtigen Taufmännifchen Xeitung in fich vereinigen, 
erlangen jetzt erjt eine Stellung, wie fie fie in England 
ſchon früher inne Hatten. Die Folgen für das Hand» 
wert mußten jehr verſchieden fein, bier Förderung, 
Abſatz, Arbeit in Fülle, dort Hemmung, Nücdgang, 
erprüdende Konkurrenz. Im Ganzen überwog entfchieven 
das Letztere. 

Seit ver Handelskriſis von 1839 hatte die Krifis 
der Kleingewerbe begonnen. Schon 1840 hatten ja bie 
Stadtverordneten in Berlin dem König eine Denkichrift 
überreicht mit der Bitte um Aenderung der Getverbe- 
geſetzgebung. Schon da batten fie geklagt, daß alles 
Handwerk überjegt jei, während bie Steuerfähigteit der⸗ 


80 Die preufifchen Aufnahmen. 

jelben ab-, vie Zahl der Banferotte unter ihnen 
erichredend zunehme; da hatten fie geffagt über um ſich 
greifende Entfittlichung, unzuverläifigere, jchlechtere Arbeit 
der Hanbiwerfer, über die Thatjache, daß Das Bedürfniß 
der Berliner Armentaife von 104137 Thlr. im Jahre 
1821 auf 373530 Thlr. im Jahre 1838 geftiegen fei." 
Und jolche Klagen waren nicht alleinftchend. Köln hatte 
eine ähnliche Bittichrift dem Könige überreicht. 

Statiftiich zeigt fich die Kriſis jprechend genug in 
dem Stillftand der Zahlen. Zichen wir für 1846 circa 
100000, für 1849 circa 200000 Perjonen von der 
preußiſchen Hanpwerfertabelle ab, jo bleiben die Haupt- 
jummen jo ziemlich auf vem Niveau von 1843, wäh— 
rend die Bevölferung zunimmt. 

Bergleicht man die einzelnen Handwerke in ihren 
Zahlen von 1843 und 46, jo nehmen wohl noch 
manche der wichtigern unbebeutend zu; eine wejertliche 
Zunahme zeigt nur die Zahl ver Maurergehülfen, was 
Folge der Eifenbahnbuuten und Fabrikanlagen ift. Viele 
bleiben ftabil; manche zeigen jchon eine Abnahme — 
theilweife von nicht geringer Bedeutung; es find folche, 
die unter der Konkurrenz der Fabrikwaaren leiden; ein- 
zelne von ihnen Haben ſpäter wieder zugenommen als 
Reparaturgewerbe oder durch andere Urfachen. Was fie 
zunächſt nieverbrüdt, iſt der erjte Gewaltftoß der neuen 
Zeit, der neuen Technik, dem fie nicht gewachlen find, 
vor allem damals noch nicht gewwachlen waren, da der 


1) Ueber das Innungsweſen und die Berhältnifie ber 
ſtädtiſchen Handwerke Überhaupt von M. M. Gießen 1848, 
©. 13. . 


Vergleich von 1843, 1846 und 1849. 8 


alte Schlendrian, die Unfähigkeit, der neuen Entwide- 
lung fih anzubequemen, damals noch in hohem Maße 
vorhanden war. Sp nehmen 3. B. die Schloſſermeiſter 
von 20769 auf 17933, ihre Gebülfen von 19788 
auf 18400 ab. Aehnlich die Drechsler und Glafer- 
meiſter. 

Nicht beſſer wurde es 1847 — 49; die Fehlernte 
kam hinzu, die Revolution, die allgemeine Geſchäfts⸗ 
ftodung und Unficherbet. Bei den Zähblungen im 
Dezember 1849 war es ſchon wieder etwas beifer; die 
gute Ernte von 1849 hatte günftig gewirkt, aber immer 
Iebte Handel und Wandel noch nicht wieder auf. 

Da uns die obigen Zahlen für Die genauere Ver⸗ 
glachung won 1846 und 1849 im Stiche Yaffen, fo muß 
ih auf die von Dieterict ſpeziell für dieſe Vergleichung 
mobifizirten zurückgehen.“ Es betrug nach ihm in ver- 
gleichbaren Ziffern: | 

die Zahl der die Zahl der die Zahl beiber 


Meifter Gehülfen zuſammen 
1846 453330 382 161 835491 
1849 469 892 378150 848 042 


Während die Bevölkerung ftieg im Verhältniß von 
100 :101,3,, ftieg die Gefammtzahl der handwerks⸗ 
mäßigen Bevölkerung im Verhältniß von 100:101,,,, 
die der Meifter in dem von 100:103,,,, bie ber Ge— 
bülfen nahm ab in dem von 100: 98,5,. 

Daß die Gefammtzahl überhaupt noch etwas wuchs, 
kann auf ven erften Blick überrafchen. Wenn man aber 
näher zufieht, fo findet diefe immer ſehr mäßige 


1) Mittheilungen V, 212 ff., befondere S. 216 — 17. 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 6 


82 Die preußiſchen Aufnahmen. 


Zunahme der Geſammtzahl, vie etwas ftärfere ber 
Meifter ihre einfache Erklärung Die Spezialtabellen 
zeigen beinahe durchgehend eine geringere Anzahl Gehülfen. 
Bon wichtigern Gewerben haben nur die Bäcker, Flei⸗ 
ſcher und Schuhmacher etwa dieſelbe Gehülfenzahl; die 
Niemer, Sattler, Schneider, Zimmerleute, Tiſchler, 
Böttcher, die Schmiede und Schloffer, ſowie noch viele 
unbedeutendere befchäftigen nicht mehr die alte Gehülfen- 
zahl. Die Tifchler zählen 4000, die Schneider 2000 
Gehülfen weniger als 1846, 

Der Abſatz ftodte, Jeder fchränkte fich ein; ein⸗ 
zelne Geichäfte nun, die längſt nur noch nothbürftig 
eriftirt hatten, brachen zufammen. Das war aber bie 
Minvderzahl; in der Hauptfache blieben die alten Ge— 
ſchäfte zunächſt, fie Hatten nur nicht genug zu thun; fie 
entlaſſen alfo Hunderte früher beichäftigter Gefellen. Don 
diefen wiffen viele feinen andern Ausweg, als fid 
jelbft zu etabliven und fo bie Konkurrenz zu vermehren. 
So erflären fich ſehr Har die obigen Zahlen; jo erklären 
fich die großen lagen des ganzen Handwerkerſtandes 
in jener Zeit. Es waren allerbingd die vorhandenen 
Geſchäfte nicht genügend beichäftigt, e8 waren zu viel 
Meifter, — aber nicht in erfter Linie in Folge der 
Gewerbefreibeit, nicht wegen mangelnder Prüfung, 
fondern wegen vorübergebenver Geſchäftsſtockung; es 
nahm aus diefem Grunde die Meijtergahl noch etwas 
zu, während die fchon vorhandenen Meifter täglich 
weitere Gejellen entlafjen mußten. 

Es wird pafjend fein, hier einige Worte über bie 
beränberte Gefegebung einzufügen, welche ja weſentlich 


Die Zuftände und Klagen 1848 und: 1849. 83 


hervorgerufen wurde durch die unklaren Klagen des 
Handwerkerſtandes. Die Gewerbeorbnung von 1845 
batte den beftehenden Zuſtand nach jahrelangen Vor—⸗ 
beratbungen im Wefentlichen nur fobifizirt, die Gewerbe- 
freiheit auf die Provinzen ausgedehnt, wo fie noch nicht 
beitand. Die Innungen follten, wo fie beitehen, erhalten 
bleiben, auch neue gebildet werben bürfen; doch wurde 
ihnen jeder Beitritts⸗ und Prüfungszwang unterjagt. 
Nur bei einigen wichtigeren Handwerken wurbe die 
Befugniß, Lehrlinge zu halten, ‘von der Mitgliepfchaft 
einer Innung oder dem Nachweis ver Befähigung durch 
Prüfung abhängig gemacht. Von einer Rückwirkung 
dieſes Geſetzes auf Gedeihen oder Nichtgeveihen des Hanb- 
werferftandes wird nicht die Rede fein Zönnen. Das 
Geſetz wurde nirgends als etwas Neues, Einſchneidendes 
betrachtet. Da kamen die fchlimmen Jahre, die Gährung 
und Unklarheit ‚ver Revolution. Nach der Theorie des 
Radikalismus follte jeder Einzelne, wie jeder Stand 
ſelbſt die beſte Einficht Haben, Mas ihm frommte, alio 
hielten auch die ehrbaren Handwerke Verſammlungen und 
Tage, und wie jeberzeit jede ülonomilche Klaſſe ihr 
nächſtliegendes egoiſtiſches Intereſſe als das Intereſſe Des 
Staats und der Geſellſchaft anſieht, ſo thaten es jetzt 
die Handwerker. 

Den Anfang der Zunftbewegung machte am 
22. April 1848 das offene Sendſchreiben der zweiund⸗ 
zwanzig Leipziger Innungen an ihre Handwerksgenoſſen 
mit einem Proteſt gegen das ganze „Weſen, wie es ſich 
jetzt in Frankreich breit macht, den letzten Reſt von 
Tüchtigkeit und Wohlſtand untergräbt und gleichſam 

6 * 





84 Die preußischen Aufnahmen. 


mit fliegenden Bahnen und klingendem Spiele über 
Preußen feinen Einzug in Deutichland Hält.” Damit 
war die ©ewerbefreibeit gemeint. Kurz darauf tagte 
ber Vorkongreß der deutichen Handwerker in Hamburg 
(2—6.Iuni). Es wurden Anträge auf Beibehaltung ver 
Bannmeile, auf ausjchließliche Befugniß der Städte zum 
Gewerbebetrieb, Aufhebung des Haufirhandel® und der 
faufinännijchen Neijenden, „viejer modernen Hauſirer,“ 
geſtellt. Endlich am 15. Juli trat das Handwerker⸗ 
parlament in Frankfurt zuſammen. Es tagte bis zum 
18. Auguſt in ſtürmiſchen Sitzungen. Man ging aus 
bon einem „feierlichen, von Millionen Unglücklicher 
bejiegelten Proteſt gegen die Gewerbefreiheit.“ Man 
verlangte neben dem politiichen ein bejonderes aus den 
Innungen hervorgehendes Handwerkerparlament als 
ſtehendes Organ; dieſes ſelbſt ſollte jährlich das Hand- 
werksminiſterium ernennen. In Bezug auf die Gewerbe⸗ 
geſetzgebung verlangen die von der „Freiheitsluft des 
Völkerfrühlings“ zuſammengeführten Meiſter Folgendes: 
eventuelle Beſchränkung der Meiſterzahl an Einem Orte, 
Verbot des Haufirhandeld, Verbot der Afioziation mit 
Nichtinnungsgenoſſen, Zugehörigkeit aller Handwerks⸗ 
arbeit der Fabriken an die zünftigen Meifter des Drteg, 
Beſchränkung auf Ein Gewerbe, Zuſcheidung des Klein- 
handels mit Handwerkswaaren an die Innungsmeifter, 
für die Negel ausjchließliche Berechtigung der Städte zum 
Gewerbebetrieb, Unzuläjfigfeit von Gemeinde⸗, Staats, 
Aktienwerkitätten, Verbot des Zuſchlags der öffentlichen 
Arbeiten an den Minveftfordernden und Bertheilung 
derſelben an die Meijter durch. den von dieſen bejetten 


Die Wünfche der Handwerker. 85 


Gewerberath, Verbot üffentlicher Verfteigerung noch 
neuer Waaren, Berbot der Haltung von mehr als zwei 
Lehrlingen, Beitenerung der Fabriken zu Gunften des 


"Handwerks, eine Geſchäftsgrenze für die Fabriken und 


den Handel mit Fabrikaten, endlich gleichmäßigen Lehr⸗ 
zwang, Wanderzwang, Zwang zur Erſtehung einer 
theoretifchen und einer praftiichen Prüfung. Ueberboten 
wurden dieſe Forderungen nur noch von dem befonbern 
Frankfurter Schneiderfongreß, der vor Allem Aufhebung 
der Magazine, Beichräntung ber Arbeit der Frauen- 
zimmer, Verbot auswärtiger Kleivereinfuhr verlangte.! 

Wunderliche Produkte der Kurzfichtigfeit — wie 
der damals allerdings berrichenden Noth! Nur hätten 
vie ehrbaren Meijter nicht vergeffen jollen, daß bie 
Noth des Handwerkeritandes da am größten war, wo 
man dem Ideal eines folchen Gewerberechts noch am 
nächiten ſtand. 

Vebrigens hätte die ganze Sturmflut von Petitionen, 
alle Agitation auch in Preußen nichts erreicht, wenn 
nicht zwei Parteien in einer gänzlich unklaren DVer- 
femmung des Zufammenhangs die Bewegung unterjtüßt 
bitten. Die Ionjervative, wie die ſchutzzöllneriſche Partei? 


1) Siehe Über die ganze Bewegung: Schäffle, gemeinfame 
Orduung ber Gewerbebefugniffe in Deutfchland, deutſche Biertel- 
jahrsfchrift. 1859. Heft 1. ©. 218 ff., und Böhmert, Freiheit 
der Arbeit, Beiträge zur Reform der Gewerbegeſetze. Bremen 
1858. S. 163 ff. 

2) Dean vergleiche darüber das Organ der ſchutzzöllne⸗ 
tiihen Partei, das deutſche Zollvereinsblatt 3. B. Jahrgang 1849. 
&.230: „Und fo begrüßen wir denn aud) eine der wichtigften 
Folgen der neuen preußichen Gewerbeordnung, tie Innungen 


86 Die preußifchen Aufnahmen. 


glaubten ihre Sache zu fördern, wenn die Zünfte her 
gejtelft würden. Ueberdies war die preußtiche Regierung, 
wie leicht jede Negierung, geneigt zu glauben, mar 
fönne der augenblidlichen Noth im Gewerbejtande Durch 
irgend welche Akte der Geſetzgebung abbelfen. Eine 
Kommilfion von betheiligten Sachverjtändigen wurde 
berufen und berieth den 17. bis 30. Januar 1849. 
Die Klagen fonzgentrirten fi) darin, man Tönne fich 
zu leicht nieberlaflen und ein Geichäft eröffnen. Die 
Verordnung vom 9. Februar 1849 gibt Diefem kurz⸗ 
fichtig egoiſtiſchen Klaſſenintereſſe nach, jchafft wieder 
fefte Arbeitsabgrenzung für die wichtigern Gewerbe und 
verlangt für die Ausübung derjelben Beitritt zur Innung 
nach vorangängigem Nachweife der Befähigung bei ver 
Zunft oder Nachweis der Befähigung vor einer befondern 
Prüfungstommiifion. Ein feiter Bildungsgang als 
Lehrling und Gefelle wird wieder vorgejchrieben; Hand- 
werfsmeijter dürfen zu technijchen Arbeiten fich nur ver 
Gefellen und Lehrlinge. des Handwerks bebienen; dieſe 
pürfen nur bei Meijtern ihres Handwerks oder bei 
Tabrifinhabern eintreten. Wo das Halten von Magazinen 
zum ‘Detailverfauf von Handwerkswaaren erhebliche Nach⸗ 


in Preußen, welde hie und da, als Anfänge einer neuen Aera 
des Handwerkerſtandes, bereits ins Leben getreten find, mit 
Freuden und wünſchen ihnen guten Fortgang und Nachahmung 
von allen Seiten.” ©. 233 folgt ein Artifel „Handwerk und 
Freihandel;“ in demſelben wird die Erklärung ber 27 Stettiner 
Gewerfe angeführt, welche dahin Tautet: daß fie in der neuen 
preußifchen Gewerbeordnung das Mittel erlennen, „der grenzen- 
loſen Gewerbewillfür und dadurch herbeigeführten Demoralifation 
und Berarmung ein Ziel zu ſetzen.“ 





Die Gewerbenpvelle von 1849. 87 


theile für Die gewerklichen Verhältniſſe des Drtes zur 
Folge Hat, kann durch Ortsftatuten die Haltung von 
Magazinen durch Sole, die nicht Meifter find, 
beichränft werben. 

Der Handiwerferftand war zunächſt durch Diefe neue 
Gewerbeordnung befriedigt; Die vorhandenen Meifter 
gewannen zumächit etwas durch Die Erfchwerung Des 
Meiſterwerdens, und die durch ganz andere Urfachen 
bewirkte Beſſerung des Abſatzes, der Geichäfte im fol- 
genden und nächjtfolgenden Jahre ſchob man ohne Wei- 
tere der neuen Geſetzgebung, beſonders den Prüfungen zu. 

Daß man damals jo dachte, ift natürlich. Mehr 
zu verwundern ift und bat mich bei vielen perjönlichen 
Rüdiprachen mit liberalen aufgeflärten Meiſtern oft über- 
raſcht, Daß vie Mehrzahl auch heute noch für bie 
Prüfungen eingenommen üt. Waltet dabei mancherlei 
Mißverſtand, mancherlei egoijtiiches Motiv vor, ein rich- 
tiger Kern ift mir in den Ausjagen von vielen Meiſtern 
entgegengetreten.. Das Leben der Gejellen und Lehrlinge 
außer dem Haufe des Meifters, in der heutigen &roß- 
ftobt, birgt in feiner Unabhängigkeit manche große Ge⸗ 
fahr. Bei dem einen wächst Damit ber Charakter und 
ber ſelbſtvertrauende vepliche Fleiß, bei jehr vielen nur 
die Genußſucht, die Unzufriedenheit, die Faulheit und 
Unzuverlaͤſſigkeit; Yeichtfinnige, zu frühe Ehen kommen 
zahlreicher vor. Brit vielen Uebelftänden hat der Meifter 
zu kämpfen; er wird fie, weil er darımter leidet, leicht 
überichägen; aber vorhanden find fie, und berechtigt ift 
es, anf moraliihe Mittel der Gegenwirkung zu benfen. 
Und weil ihm die andern Mittel ferner Tiegen, jo iſt 


88 Die preußiichen Aufnahmen. 


der Meifter für die Prüfungen eingenommen, die aller- 
dings für Viele als Sporn, als zu erreichendes Ziel von 
guter moraliicher Wirkung fein können. Wenn die Prü- 
fungen nicht zu leicht in egoiftiichen Mißbrauch aus- 
arteten, wenn fie nicht nothwendig fich verknüpften mit 
der heute ganz unleidlichen Abgrenzung der Arbeits- 
zweige, jo könnte man allerdings die Trage als eine 
offene behandeln. 

Was die allgemeine Wirkung der Gefeßgebung von 
1849 betrifft, jo möchte ich dabei die mehr pſychologiſche 
Wirfung von der realen, direlten Wirkung umter- 
ſcheiden. 

Die pſychologiſchen Wirkungen waren theils gün- 
ftige, theils ungünftige. Viebahn betont die erjteren 
beſonders, wenn er jagt: „Nach dem Ericheinen biefer 
Novelle, welche der Innung wieder beftimmtere echte 
und mehr Inhalt verlieh, entjtand im Handwerkerſtaud 
wieder ein lebhaftes Intereife an dieſen Korporationen : 
die Statuten der alten wurden revibirt, zahlreiche neue 
errichtet. Die Zufammenkünfte, die Prüfungen und 
Treifprechungen beförberten das Forporative Zuſammen⸗ 
halten und die Bildung unter den Gewerbögenoffen. 
Die Handwerker » Fortbildungsichulen find großentheils 
aus der Anregung oder unter Mitwirkung der Innungen 
hervorgegangen, und wenn fich der gewerbliche Stand⸗ 
punkt und die Leiftungen der preußiichen Handwerker 
gehoben haben, jo kann auch den Innungen ein gewiſſes 
Verdienſt dabei nicht abgelprochen werden.” Das ift 
bis auf einen gewifjen Grad wohl wahr. Das eigentlich 
Tyeibende aber, das Leben &ebende war die Noth, Die 


Die Folgen der Gewerbenovelle. 89 


Einficht fchlug durch, daß endlich auch der Handwerker 
borwärts fchreiten müſſe. Deswegen rührte man jich, 
ftrebte nach Bildung, war für die Pläne von Schulze - 
Delisich empfänglich, gründete man Schulen und Gewerbe: 
bereine, deswegen hatte man auch: lebendigeres Intereffe 
für die Innungen und für die Prüfungen. Aber nicht 
umgefehrt waren die Innungen das Erfte, das Anre- 
gende. Im Gegentheile vielfach wurden fie bald das 
Hemmende, einmal weil man fich durch die Eriftenz Der 
Imungen an fich nun geholfen glaubte, noch mehr 
aber, weil die perjünlichen Elemente, bie in ihnen an 
bie Spige kamen, feine folche waren, die Verſtaͤndniß 
für gewerblichen Fortichritt hatten. Das ift ja der Fluch 
jeder alten, einmal auf Abwege gerathenen Inftitution, 
daß bei Wieverbelebungsverjuchen nicht die tüchtigen, 
die jungen, bie aufopfernden Kräfte zuftrömen, ſondern 
bie alten, egoiftiichen. Den Srebitvereinen, ven Gewerbe⸗ 
vereinen, den Arbeiterbildungsvereinen widmeten fich die 
friihen, aufſtrebenden Kräfte; den Immungen mehr 
jolche, Die darin eine behagliche Eriftenz ohne Anjtren- 
gung erhofften. Für Viele und nicht die untüchtigften 
wurde die Sache durch bie unpaffende reaftionäre Ver⸗ 
quickung verdächtigt. Die perfönlichen Eigenjchaften Derer, 
welche in den Innungen obenan famen, waren der Krebs⸗ 
ſchaden der neuen Inftitution, waren ſchlimmer als der 
Inhalt der Novelle ſelbſt. Diefe Wahrnehmung ift mir 
überall, wo ich mich näher nach Berfonen und Dingen 
erhmdigte, entgegen getreten, und Negierungsrath 
Mülmann beftätigt das vollftändig, wenn er in Bezug 
auf die Rheinprovinz und die dortige Innungsbildung 


90 Die preußiſchen Aufnahmen. 


ſagt: „Nicht das Intereſſe des Handwerkerſtandes, feine 
technifehe und foziale Fortbildung und Vereinigung zu 
gegenfeitiger Unterftütung war die Triebfever des Zuſam⸗ 
mentrittes, ſondern wieder Das Anſtreben von Exflufio- 
rechten, ver Egoismus, wenn nichts Schlimmeres. Mit 
dem Durchbringen der Weberzeugung, daß auch bie 
Innungen zur Erfüllung biefer jelbitfüchtigen Wünſche 
nicht geeignet jeien, erlahmte auch mehr und mehr Die 
Teilnahme an dieſen Inſtituten. Ihre Berfammlungen 
wurden nicht mehr bejucht, die Beiträge nicht mehr 
geleiftet, und fie ſchrumpften zuerjt bis auf die Schatten- 
gerippge ber Innungs⸗Prüfungskommiſſionen ein und 
vegetirten, ſeitdem auch Dieje Durch Neuwahlen nicht mehr 
zu ergänzen find, als leere Organilationen fort.“ 

So viel von ben pfychologiſchen Wirkungen. Was 
die direkten, realen Wirkungen betrifft, jo laffen fie fich 
aus ben gewerbeitatiftiichen Zahlen nicht ganz ficher nach⸗ 
weifen, da hier der Streit immer offen bleibt, ob bie 
Zablen jo ſind wegen oder trok der Einrichtung. Immer⸗ 
Hin aber lehren bie Zahlen, wie ich gleich zeigen werde, 
daß jedenfalls eine auffallende Wirkung nicht vorhanden 
iſt. Eine ſolche ift aber much nicht wahrſcheinlich. Daß 
die Novelle weſentlich genutzt habe, glaubt Niemand 
heute mehr; daß fie geſchadet habe, wird eher noch 
behauptet werden könuen. Sie legte dem Handwerk einige 
Feſſeln auf, beſchränkte die verſchiedenen Kleingewerbe 
unter ſich, ohne es aber gu wagen, bie Großindufſtrie, 


1) Statiſtik des Regierungsbezirks Düſſeldorf. Iſerlohn 
1867. IP, 489, 


Die Folgen der Gewerbenovelle. 91 


bie Dlagazine, ven Handel irgenpivie zu Gunften ber 
Rleingewerbe zu beichränfen. Selbſt joweit die Novelle 
dazu etwa die Hand bot, wie durch die Beſtimmung 
über die Magazine, wurde fie nicht ausgeführt. Veber- 
haupt ift in folchen Dingen ja nicht der Wortlaut ent- 
ſcheidend, ſondern Die Art der Ausführung. Und dieſe 
war keine fchroffe, ſelbſt m Bezug auf die Prüfungen. 
Wohl Haben viefe manche Nieberlaffung erjchwert, am 
meisten noch in der Baugewerken; dad Anwachſen der 
bloßen Flickarbeiter gegenüber den Meiftern hängt bamtit 
zuſammen. Aber abgejehen hiervon wurbe die größte 
Milde beobachtet; fchon Durch das Geiek vom 15. Mai 
1854 wurden, was dem Gejellen die Hauptſache war, 
vie Prüfungsgebühren rednzirt. Kontraventionen, abficht- 
liche Täuſchungen, Namensleihungen wurden jelten ver- 
folgt. Die Strafen waren praftifch jo niever, daß jelbft 
eine gerichtliche Verurtheilung feine Aenderung zur Folge 
batte.! Somit find in ber Hauptiache die ſtatiſtiſchen 
Zahlen von 1852 — 61 nicht aus ber veränberten Geſetz⸗ 
gebung, fonbern aus andern Urfachen zu erffären. 

Dies zeigt fich gleich bei denen für 1852. “Die 
Hauptnoth ift vorbei; wenn fie in einigen Gewerben 
noch fortdauert, jo haben Die übrigen um fo mehr fich 
erholt. Es waren? 


1849: 535 232 Meifter mit 407 141 Gehülfen. 
1852: 553107» - M5R = 


1) Vergl. darüber die praftiichen Bemerkungen von Miül- 
mann daf. ©. 493. 

2) Siehe die fpezielle Bergleichung ber beiden Jahre, Mit- 
tbeilungen VII, 328 - 52. 


92 Die preußifchen Aufnahmen. 


Die Zunahme von Meiftern und Gehülfen zufam- 
men beträgt 5,99 No, die der Bevölkerung nur 3,,%; 
die Zunahme mußte natürlich ftärker fein als Die ber 
Bevölkerung, wenn man nur halbwegs wieder auf 
leibliche Zuftände kommen wollte, da die Zahlen für 1849 
einen Nothitand repräfentiren. 

Die Zahl der Meijter allein nahm um 3,35% Zu, 
alſo nicht ganz jo ftark wie die Benölferung; in den 
meijten einzelnen Gewerben zeigen aber die abjoluten 
Zahlen einige hundert Meifter mehr als 1849. Abge- 
jeben von denen, welche dauernd wegen Konkurrenz der 
Großinduftrie zurüdgeben, bat die Meifterzahl von wich- 
tigen Gewerben nur bei den Zimmterleuten auch abjolut 
etwas abgenommen; das wird den Prüfungen zuzu⸗ 
jchreiben fein. Bet ven Maurern ift die abfolute Dieifter- 
zahl trotz ber Prüfungen geſtiegen. 

Die Meifter zeigen nur eine abſolute, feine relative 
Zunahme, die weſentliche relative Zunahme der Geſammt⸗ 
zahl Tiegt in den Gehülfen. Sie nahmen um 9,,,% 
zu; in ben bebeutenden Gewerbszweigen handelt es fich 
in jedem um einige taufend Gehülfen mehr, gegenüber 
von 1849. Der Ablat ift wieder ein. beiferer, bie 
1849 entlaffenen Gefellen find meiſt wieder eingeftellt. 

Die Befferung der Zuftände war aber roch Feine 
nachhaltige; war Die politifche Lage eine ruhigere, ja 
warfen fich viele Kräfte, enttäufcht im politifchen Leben, 
um fo mehr auf das Gebiet materieller Thätigfeit, fo 
wirkte das doch mehr nur belebend in ven höheren 
Regionen des gewerblichen Lebens. Mehrere ſchlechte 
Ernten folgten fich, fie wirkten Durch Die Theurung 


Die Kleingewerbe 1849 — 1855. 93 


der Lebensmittel lähmend auf den Abjat der ohnedies 
geprückten Kleingewerbe. 

Die Gefammtzahl von Meiftern und Gehülfen ift 
1855 zwar um circa 1700 Berjonen höher als 1852 
(1.002 384 gegen 1.000 609), verglichen mit der Bevöl⸗ 
ferung hat aber eine Abnahme ftattgefunden; die ſämmt⸗ 
lien Gewerbetreibenden machen 1852 — 5,5 % 
1855 — 5,;, , aus. Im vielen wichtigen Gewerben 
haben fogar die abjoluten Zahlen der Meijter, wie der 
Sehülfen, abgenommen. Es gibt 1855 abjolut weniger 
Meifter bei den Fleiſchern, Seifenſiedern, Gerbern 
Schuhmachern, Handſchuhmachern, Seilern, Spritzen⸗ 
wachern, Schneivern (um 2000), Pofamentieren, Hut- 
machern, Quchicheerern, Färbern, Zimmterleuten, Zim⸗ 
merflickern, Brunnenmachern, Wagenbauern, Böttchern, 
Drechslern, Haarkammmachern, Bürſtenbindern, Mau- 
rern, Mauerflickern, Steinſetzern und noch manchen unbe⸗ 
deutendern. Viel wirkt dabei der Prüfungszwang nicht. 
Die allgemeinen Urſachen und die Theurung find wich- 
tiger, denn wäre jener die Haupturjache, jo müßten 
die Gehülfen ftärfer zugenommen haben. Aber auch 
fie zeigen vielfach nicht nur relativ, ſondern abſolut 
niedrigere Zahlen als 1852. So bei folgenden Gewerben: 
bei den Fleiſchern, Seifenfievern, Gerbern, Schub- 
macern (2000 weniger), Handſchuhmachern, Seilern, 
Schneiden, Pofamentieren, Tuchſcheerern, Färbern, 
Drunnenmachern, Tiſchlern, Wagenbauern, Böttchern, 
Drechslern, Töpfern, Glaſern. 

Wieder etwas beſſer geſtaltet ſich die Lage in der 
zweiten Hälfte des Jahrzehntes. Die allgemeinen Vorbe⸗ 


94 Die preufiichen Aufnahmen. 


Dingumgen der gewerblichen Entwidelung waren wieder 
andere geworben; vie Ernten find beilere, die Grof- 
induftrie und der Welthandel nehmen ftärfer zu, als je. 
Die größeren Städte wachien in ihrer Benölferung 
mehr und mehr, die Eiſenbahnbauten vollenden fich in 
den meiften Provinzen. Das wirkt auch auf die Klein⸗ 
gewerbe, wenigſtens auf einen Theil verjelben zurüd. 
Auch die Krevitvereine von Schulze - Deligich beginnen 
ihren fegensvollen Einfluß zu üben. Beſonders ein- 
zelne Geichäfte dehnen fih aus, beichäftigen mehr 
Gehülfen. Die Gejammtzahl ift 1858 um circa 50000 
Perjonen höher ald 1855, 1861 ift fie abermals um 
40000 Perfonen gejtiegen, und fie würde fich noch 
wejentlich höher baritellen, wenn bie Zahl der Leinen- 
ſpinner von 1858 — 61 nicht um circa 40000 abge 
nommen hätte. Will man biervon abfeben und ſetzt 
deshalb für 1861 noch 40000 Perjonen zu, fo ift 
auch die relative Zunahme 1858 — 61 größer als bie 
von 1855—58. Die Handwerker würden danach 
1855 — 5,55%, 1858 — 54,%, und 1861 — 6,1% 
der ganzen Bevölkerung 

Die Zunahme von 185561 liegt in ver Gehülfen⸗ 
zahl und domentrirt fich much Hier auf einige Haupthand⸗ 
werte, auf foldde, die einen fabrikartigen Betrieb ein- 
zuführen anfangen, und folde, bie jeberzeit mit 
wachſendem Wohlſtand fich ausdehnen; dahin gehören 
bie Schuhmocher, Seiler, Schreiber, Puhmacher, Riemer, 
Ziichler, Rade- und Stellmacher, Schmiede, Schloffer, 
Zimmerlente und Maurer. Sie find es Bauptlächlich, 
deren Gehülfenzahl von 18556 —61 wefentfich wuchs. 


Die Kleingewerbe 1855 — 1861. 96 


Immer iſt die Zunahme aber nicht allzubebeutend, 
und die Zunahme der Gehülfen bat die Kehrjeite einer 
abnehmenden Meiſterzahl. Daraus erflärt fich much, daß 
wir von 1849 ab den Prozentantheil der handwerks⸗ 
mäßigen Bevölkerung mit ihren Familien an der Geſammt⸗ 
kesölferung als einen abnehmenden berechneten. Dieſer 
Prozentantheil war: 


149 2.2.2.0. 16 50 %- 
152.2... 16,08 % 
18553 2.22. 15,40 % 
158.2... 155% 
1861 ....7 14a 


Natürlich, wenn man die abnehmende Meiſterzahl 
mit 4, Berjonen multiplizirt, dazu auch die etwas 
zumehmerven Geblilfen addirt, jo müſſen bie ganzen 
Summen gegenüber einer raſch wachſenden Bevölkerung 
fintenve fein. 

Die Lage der meiften Meinen Gefhäfte ift 
übrigens auch gegen 1861, auch 1861 — 65, in welchen 
‚uhren beſonders bie Löne ftlegen, bie Lebensmittel 
Biffig waren, in welchen ber Abſatz alfermärts flott ging, 
feine ſonderlich günſtige. Ein mehr oder weniger trau⸗ 
riges Bild gibt die Zufammenftellung des einſchlägigen 
Materials aus den landräthlichen Kreisbeſchreibungen 
(1858 — 66) im Jahrbuch für die amtliche Statiſtik des 
preußiſchen Staates. Sieht man manchem der Berichte 
de landräthlich konſervative Tendenz an, bie Ver⸗ 
gangenheit auf Koſten ver Gegenwart, das Zumftmfen 
auf Koſten der heutigen Geſetze zu erheben; in ben 


1) Jahrg. IE. Berlin 1867. ©. 265 — 348, 


96 Die preußifchen Aufnahmen, 


meijten leuchtet doch eine wahrheitsgetreue Bericht 
erjtattung durch, und fie lautet mehr oder weniger 
dahin, daß der Abſatz der Handwerker abnimmt, fich 
immer mehr auf die untern Klaſſen bejchränft, daß ihre 
Zahl dagegen vielfach noch wächlt, daß nur, wo Haus: 
oder Grundbeſitz vorhanden, ihre Lage behaglich ift, 
daß ohne venjelben die Lage des Heinen Meifters fich 
nicht über Die des einfachen Tagelöhners erhebt, daß 
die Heinen Meifter auf Iahrmärkten berumziehen over 
auf Tagelohn neben der Gewerbsarbeit geben müſſen. 
Ich will nur einige im-Jahrbuch nicht wörtlich, aber 
dem Sinne nach treu wiedergegebene Mittheilungen ver 
Landräthe anführen. 

Aus Frauſtadt (Meg. Bez. Polen) wird 1860 
geichrieben: „Nur die größte Betriebſamkeit und Ein- 
ichränfung vermag den ftäbtiichen Handwerkern eine 
forgenfreie Exiſtenz zu fichern. Aus Schroda (Pofen) 
1863: „Weil die Handwerker vielfach ihren Betrieb mit 
Schulden beginnen und mit den Induftriellen der großen 
Städte nicht konkurriren können, jo müſſen fie nicht 
jelten tagelöhnern oder Erwerb durch Transport von 
Vagabunden oder durch Pachtung von Objtgärten ſuchen.“ 
Aus Kröben (Pofen) 1863: „Die Heinen Stäbte 
werben meiſtens von bürftigen, jchlecht ausgebildeten und 
ungeſchickten, mit mangelhaften Arbeitszeug verjebenen 
Handwerkern bewohnt, deren Zahl das Bedürfniß über- 
ſteigt.“ Aus Habelſchwerdt (Schlefien) 1860: „Die 
Mehrzahl der Handwerker arbeitet ohne Gefellen und 
Lehrling bei wenig fchwunghaftem Betrieb; ebenfo über- 
Ichreitet die große Anzahl der Viktualienhändler, welche 


Die Iandräthlichen Berichte Über das Handwerk. 97 


ihre Erifterz auf möglichft bequeme Weile friften wollen, 
weitaus das Bedürfniß.“ Aus Weißenfels und Weißenfee 
Sachſen) 1860: „Je ſchlechter Die Lage bes Heinen 
Handwerks in den Städten durch theure Wohnungen, 
hohe Gemeindeftenern, Konkurrenz des Kapitals wird, 
deſto mehr überfiedelt das Handwerk auf das platte 
Land, und zwar ohne dabei zu gewinnen; denn jelten 
bringen e8 die Handwerker, wenigſtens Schuhmacher und 
Schneider, zu eigenem ſchuldenfreien Beſitz. Vielen ſonſt 
fleißigen Handwerkern wird es durch die zu zahlreichen 
Konkurrenten unmöglich gemacht, ſich zu behaupten.“ 
Aus Dichersleben (Sachien) 1863: „Das Handwerk ift 
von geringem Umfang und geht, abgejeben von den 
Bauhandwerkern, eher rüd- als vorwärts.” Aus 
Münſter (Weftfalen) 1863: „Das Handwerk hat geringe 
Bedeutung; die meiften Handwerker treiben nebenher 
Aderbau. Viele Schneider, Schreiner, Wagenmacher 
und ſelbſt Schuhmacher arbeiten bei ihren Kunden gegen 
Koſt und Tagelohn. Geſellen verbienen oft faum fo 
viel wie Knechte.“ Aus Bonn (Rheinprovinz) 1859: 
„Die Auswanderung bat abgenommen; jetzt wandern 
faft nur noch junge und allein ftehende Handwerker aus, 
welche in Amerifa oder Auftralien eine Exiſtenz zu 
gründen beabfichtigen. Aus Bergheim (NRheinprovinz) 
1863: „Die Heinern Handwerker, Weber und vergl. 
ftehen mit den Tagelöhnern, denen Wege- und andere 
Öffentliche Bauten eine lohnende Beichäftigung gewähren, 
anf einer Erwerbsſtufe.“ Aus Warendorf (Weitfalen) 
1865; „Mit den Kauptjächlichiten Handwerkern ift jede 
Gemeinde fait mehr als genügend verſehen; dem ver- 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 7 





98 Die preußischen Aufnahmen. 


mögenslojen jungen Manne bleibt alfo, will er nicht 
Zeitlebend Tagelöhner fein, nur übrig, in induſtrie⸗ 
reichen Gegenden einen Hausſtand zu gründen.“ 

Dan könnte dieſen traurigen Ausiprüchen gegenüber 
die Frage aufwerfen, ob ed jemals früher in bieen 
Kreiſen beifer beftellt war? Mean könnte daran erin⸗ 
nern, daß jede jtarfe Benölferungszunahme, man mag 
fie im Allgemeinen als noch fo günstig betrachten, m 
einzelnen SKreifen, für Stellungen, vie leicht zugänglich 
find, einen ftärferen Andrang und damit ein gewiſſes 
Unbehagen erzeugen muß, daß aus dieſem Unbehagen 
heraus ja aller Fortjchritt ftattfindet. Beide Einwen⸗ 
dungen jchwächen die Klagen über vie gegenwärtige 
Lage der Handwerker ab; aber fie machen fie micht ver- 
ſtummen. Die Haupturfachen des Druckes Tiegen in ver 
volkswirthſchaftlichen Umbilvung aller unjerer Verhält 
niffe feit 20 Jahren. 

Wenn man das bei den eigentlichen Handwerkern 
leugnen wollte, jedenfalls müßte man e8 zugeben in 
Dezug auf die Hausinduftrie der Weber, Die von unferer 
bisherigen Unterfuchung ausgefchloffen war. War ihre 
Lage 1850 — 60 vielfach wieder eine beſſere als 
1840— 50, im Ganzen war fie Doch jammervoll genug, 
wie die Mittheilungen aus ven landräthlichen Kreisbe- 
ſchreibungen ebenfall8 zeigen. Es gilt wenigiteng für 
den größern Theil der Handweberei, was ber Landrath 
des Kreiſes Landeshut in Schlefien (1860) jagt: „Die 
Beichäftigung fo vieler Menjchen mit einem hinterge- 
benden Gewerbe läßt kaum einer Hoffnung des Beſſer⸗ 
werdens Kaum.‘ 


Die landräthlichen Berichte Über das Handwerk. 99 


Sch werde bierauf in den folgenden Unterfuchungen 
zurückkommen. Es handelte jich bier nur um die Kon- 
ftatirung der Lage der Handwerker überhaupt. Und um 
das Bild zu vervollſtändigen, gehe ich nunmehr auf bie 
Handwerksftatiftif einiger "der wichtigern Kleinſtaaten 
über. Es ift das zur Beitätigung der bisherigen Reſul⸗ 
tate um jo pafjender, als die preußiſchen Zahlen eigentlich 
geograpbilch zu groß find, d. 5. Länder mit zu ver- 
ſchiedenen Zuftänden umfaſſen. Eine zunehmende und 
abnebmenvde Gefammtzahl kann bier aus zu verichie- 
denen Faktoren zuſammengeſetzt fein; es Tann in einer 
Provinz ein Gewerbe von der Großinduſtrie ſchon voll⸗ 
ftändig verbrängt fein, während e8 in einer andern noch 
\o zunimmt, daß die Zahlen der ganzen Monarchie 
als fteigende erſcheinen. Aus dieſem Grunde find bie 
Reſultate Hleinerer Länder, die wejentlich nur eine gleiche 
Kultur umfaſſen, belehrender. 

Es wird ſich bei der Betrachtung der Handwerks⸗ 
zuſtände in den Kleinſtaaten nicht vermeiden laſſen, 
einige Worte über die allgemeinen Kultur- und Wirth- 
ſchaftsverhältniſſe einzuflechten, obwohl ich zunächft nur 
die Veränderung der Zahlen in jevem einzelnen Lande 
für fich unterjuchen und nicht die verjchtedenen Staaten 
vergleichen will. Auf die lofalen Verſchiedenheiten ber 
eimelnen Staaten und ver einzelnen preußiichen Pro- 
bien unter einander werbe ich erft in einem fpätern 
Abſchnitte eingehen. 


Die 
 Sanptrefultate der Aufnahmen 


Baden, Württemberg, Baiern und Sachſen 


im 19. Jahrhundert. 


1. Die badifche Handwerksftatiftik von 
1829 — 1861. 


Land und Kulturverhältnifie. Zunahme der Handwerker von 
1829— 43. Die Krifis 1847 —61. Die Gewerbefreiheit: 
fit 15. Oftober 1862. 





Wer je auch nur flüchtig mit dem Dampfivagen 
durch das badiſche Land von Heivelberg bis Bafel 
gefahren ift, ver Hat ein anfchaufiches Bild von dem 
Innggeftredtten Lande. Eine fleißige aufgewedte Bevöl⸗ 
ferung bebaut den nicht Tärglichen, meijt in Eleine Befit- 
ſtellen zertheilten Boden. Schon im Jahre 1834 lebten 
4421, 1845 4845, jpäter wieder etwas weniger 
Menfchen auf der Quadratmeile. Das Land war bis 
zum Anfchluß an den Zollverein ein vorzugsweile ader- 
bauendes. Denn von der alten gewerblichen Blüthe 
mancher Städte, bejonders Freiburg's, war längſt nichts 
mehr übrig; und die in der zweiten Hälfte des vorigen 
Jahrhunderts von Markgraf Karl Frieverich ins Leben 
gerufenen Induſtriezweige, die Bijouteriefabrifation 
pPforzheims, die Baumwolleninduſtrie des Wiejenthals 
hatten bis da nicht allzuviel zu bedeuten, Eher Bedeu⸗ 


104 Die Aufnahmen ber Heinern Staaten. 


tung hatte die hausmäßige Induftrie von Uhren, Bürſten 
und Holzwaaren auf dem Schwarziwalbe. ! 

Die Heinen Handwerke aller Art waren in ven 
behaglichen Dörfern und Heinen Städten, in den Reſi⸗ 
benzen und Univerfitäten zahlreich verbreitet. Günſtig 
auf fie wirkte auch zunächit der Anjchluß an den Zoll- 
verein, die guten Sabre von 1830 — 1840. Nach den 
Aufnahmen der Steuerverwaltung eriftirten ? 


1829: 87131 Handwerfsmeifter mit 28769 Gebillfen, 
1843: 104998 ⸗ ⸗39879 = 


während die Zahl der Fabrikanten ſich von 161 auf 405, 
die ihres gefammten Perſonals von 2756 auf 8 745 in 
diefer Zeit gehoben hatte. Es war zunächit ein Yort- 
Schritt im alten Stile, ein Fortichritt viel mehr ver 
Klein- als der Öroßgewerbe. Von. der neuen Zeit, von 
ver neuen Technik, von der neuen Konkurrenz wirkte 
man noch wenig. “Die beiden folgenden Jahrzehnte aber 
brachten das um jo reichlicher. Und die Wirkung auf 
die Kleingewerbe iſt um jo ftärfer. 

Leider liegen mir? für die Vergleichung von 1847 
und 1861 nur die Meijterzahlen der Hauptgewerbe vor, 
die der Gejellen fehlen für 1847; dadurch erſcheint bie 
Krifis noch jchlimmer, als fie iſt; denn wahrſcheinlich 
würde der Abnahme der Meifter eine Zunahme ver 
Gehülfen gegenüberftiehen. Wie dem aber auch ei, 


1) Siehe darüber, wie über das Folgende: Die, bie 
Gewerbe im Großherzogthbum Baden, ihre Statiftif, ihre Pflege, 
ihre Erzeugniffe ©. 330 fi. 

2) Dieß ©. 17. 

3) Diet ©. 17— 28. 


Die Zahlenrefultate in Baden. 105 


J jedenfalls zeigt die folgende Tabelle, wie viele kleine 


Handwerksmeiſter in dieſer Zeit zu Grunde gegangen 
find. Es exiſtirten in Baden 1847 und 61, während 
vie Bevölkerung jo ziemlich dieſelbe blieb: 


1847 | 1861 name I 
Namen der Gewerbe me 
der Meifter 


| Meifter || Meifter Gehüulfen um | um 





Shuhmaher . . .| 9449 || 8545 | 6119 | — |! 904 
Sähneder . - . .|5649 || 4729 | 3849 — | 920 
Rare . . ...14524 || 3711 | 4192 — | 813 
Shreiner . . . .18734 || 3404 | 3138 — | 330 
Shmide - . . .| 3300 || 2968 | 2307 — 332 
Bäcer....32352598 | 1955 — | 637 
Groß⸗ und Kleinbött- 

U. 0202002 .15832%03 || 2496 | 1271 — | 707 
Rade- und Stellmadher | 2675 || 2446 | 1146 — | 229 
Yimmerleute . . .1 8167 || 2355 | 2152 — 812 
Shlofer . . . .1 2421 | 2052 | 1952 | — | 369 
Netzger . 2470 || 1850 | 1226 — | 620 
Uhrmacher 17871713 | 2312 — 74 

laſer 1008 868 438 — 140 
Sattler 934 798 446 — | 146 
Dreher 869 | 695 | 3391 — | 174 
Seiler 762 640 557 — | 122 
Barbiere 554 584 300 30 — 

fuer 682 579 511 — | 103 
Fiſchee 202.1 848 561 104 | — | 282 
Berfertiger grob. Holz⸗ 

mren . 2. 2. .1 363 432 166 69 — 
Gerber...3325 429 504 — 96 
Stinfauerr . . .| 579 429 964 — | 150 

enmer . . 367 408 415 41 — 
Zinmermaler 323 407 408 84 — 
Vuchbinder . 273 277 275 4 — 
Pusmaher . . 157 249 154 | 92 — 
Seifenſieder 315 | 249 114 — | 66 

der. . 325 247 164 | — 78 
Korbmacher 245 240 53 | — 5 


106 Die Aufnahmen dee Heinera Staaten. 


Dagegen betrug Die Zahl der Fabrilarbeiter mit 
Einfluß der Weber im Jahre 1861 50147 Berjonen; 
noch 1849 waren es 17105 geweſen. Nicht weniger 
als 15649 Handwerker find in den 10 Jahren von 
1852 —62 aus Baden ausgewandert, meiit nach 
Amerika, um bort jenfeit des Ozeans fich den Heerd 
zu gründen, für den fie in ber Heimath feinen Platz 
mehr fanden. Viele frühere Meifter find auch als 
Arbeiter in Fabriken eingetreten. Diet verfichert, daß 
nunmehr durch diefe Aenverung Die Lage der übrig- 
gebliebenen Handwerker im Lande fich wejentlich gebefjert 


Dis zum 15. Oktober 1862 hatte in Baden ver 
Zumftzwang gedauert, jeither exiſtirt Gewerbefreiheit; 
war die Ausübung des Zunftzwangs ſowie des obrig- 
feitlichen Konzeſſionsweſens auch nicht allzuſtrenge gewefen, 
immer fühlte man fich beengt; und vor Allem war etwas 
erichwert, was in folchen Zeiten allgemeiner Umbildung 
der Technik und der Gliederung der Arbeitskräfte erleich⸗ 
tert werben follte, ver Vebergang zu anbern Gejchäften 
und Betrieben, die Veberfieplung nach andern Orten. 
Das ift jest Leichter, und infofern war Die Gewerbe— 
freiheit auch eine momentane Erleichterung für das 
Kleingewerbe.t Abgejeben aber hiervon, vrüdt die Kon- 
kurrenz der Großinduftrie jet noch mehr als vorher. ? 
Der Zunftzwang war für manchen Heinen unvollkom⸗ 
menen Betrieb noch eine Art Schugmauer, vie jebt 


1) Diek ©. 145, 
2) ©. Biehahn TIL, 548, 


Die badiſchen Kleingewerbe feit 1861. 107 


wegfält. Das ift natürlich kein Argument gegen bie 
Gewerbefreibeit; denn es handelt fi da nur um ein 
Früher over Später der Bejeitigung doch unhaltbarer 
Eriftenzen. Aber das zeigt fich hier wie überall, daß 
bie Noth ver Testen Jahrzehnte nicht Folge des Zunft- 
zwanges war, daß mit der Gewerbefreiheit nicht fogleich 
goldene Zage für den Handwerker kommen. Die Haupt- 
urſache der Krifis iſt von Sao und Gewerbefreiheit 
unabhängig. 


2. Die württembergifche Handmwerferftatiftif bon 
1835 61 und die Folgen der Gewerbefreiheit 
bon 1862 — 67. 


Wirthſchaftliche Zuftände und Gewerbegefeßgebung. Die Meifter- 
zahlen 1835, 1852 und 1861, Abnahme derjelben. Die 
Zahlen der Meifter und Gehülfen zufammen in denſelben 
Jahren. Bergleihung von 26 wichtigen Handwerken 1852 
und 62. Beendigung der Krifts 1861. Die Hantelslammer- 
berichte von 1862 — 67 über Gewerbefreiheit; die Klein» 
gewerbe in unveränberter Lage. 





Weiter ab von ber großen Heerſtraße, weniger 
berührt von fremden Einflüffen als Baden, liegt pas 
Wiürttemberger Land; zäher, langſamer ift der Charakter 
des Stammes. Aber font find Lebensbebingungen, wie 
wirtbichaftliche Entwicklung ähnliche. Auf engem Raume 
eine dichte Bevölkerung; zahlreiche Heine Städte und 
Tleden; ein zertbeilter Grundbeſitz; bis in die neuere 
Zeit eine mehr landwirthſchaftliche als gewerbliche Thätig⸗ 
feit; wenigſtens die Großinduſtrie hat erft in den letzten 
Jahrzehnten fich entwidelt, in biefen allerdings große 
Vortichritte gemacht. 

Die Gewerbegefeßgebung wurde ſchon 1828 und 
1836 in liberalem Sinne reformirt; das Geſetz vom 


Wirthſchaftliche Zuftände und Geſetzgebung. 109 


22. April 1828 hebt für 13 Gewerbe die Zünftigkeit 
auf, für etwa 50 behält ſie ſie bei, aber ſo, daß mit 
Beſeitigung aller läſtigen Vorrechte die Zünftigkeit nur 
zu zweierlei zwingt: zum Erwerb des Gemeindebürger⸗ 
rechts am Orte der Niederlaſſung und zu einem ziemlich 
leichten Nachweis der Befähigung. Eine weitere Erleich⸗ 
terung war bie 1854 erfolgte Zuſammenlegung von 
28 bisher in einzelne Zünfte getheilten Gewerben in 7 
Zunftgruppen. Bon da war der Vebergang zu der 1862 
(1. Mai) eingeführten Gewerbefreiheit fein allzugroßer 
Schritt. 

Die vorzugsweife in dem Kleingewerbe fonzentrirte 
gewerbliche Thätigfeit ging in den zwanziger Jahren die 
alten bergebrachten Bahnen. Der bairiiche Zollverein 
brachte 1828 feine gefährliche Konkurrenz ; erſt mit dem 
Eintritt in den großen Zollverein entſtand eine folche, 
aber damit auch Leben und Fortſchritt. Es batirt von 
diefer Zeit der Viebergang zur Großinduſtrie, die ver- 
mehrte Berührung mit dem Ausland, die Verbefjerung 
der Technik, — aber zugleich die theils verjchulbete, 
tbeil8 unverſchuldete Krifis der Kleingewerbe,“ beren 
ſprechendes Bild in der folgenden Tabelle Tiegt, welche 
die Zahlen ver Meifter in den wichtigen Gewerben 
1835 — 36, 1852 ımb 1861 verzeichnet. 





— 


1) Zu vergl.: Württ. Jahrblicher 1862. Heft2. S.161— 
2%: Schmoller, die Refultate der Gewerbeftatiftif von 1861, 
und Konigreich Württemberg ©. 551 fj.: Der Entwidlungs- 
gang des Gewerbslebens in ven letzten 40 Jahren, 


110 Die Aufnahmen der kleinern Staaten. 





Gewerbe | * e i ſt e r 


Bäder. . 
Konditoren .. 
Metzger 
Barbiere . ... 
Gerber. . 
Kürjchner, Riemer, Sattler x. 
Schuhmader . . 
utmacher 

chneider. 
Putzmacher 
Färber .. 
Tapgiere . 
Dreißler . . . - 
Tiſchler » - 
Mar...» 
Glaſer. 
Uhrmache. 
Gold⸗ und Silberarbeiter 
Schloſſer und Schmiede 
Rade⸗ und Stelmaqher 
Böttder . . 
Töpfer, Hofner . 
Seifenfiever .. 
Steinhauer 
Maurer . . 
Bimmerlante . 


Pflaſterer. 








| 73990 | 73634 | 71151 


Während die Bevölferung wenigftens 1835 — 52 
zunimmt, finft die Zahl ver Meifter in den meifterr Ge⸗ 
werben, und dabei find einzelne, die am meiften Yitten, 
wie das Tuchmachergewerbe, in dieſer Tabelle gar nicht 
begriffen. Einzelne finten nur bis 1852 und erholen 
fih von da an wieder; fie haben die Krifis fchon Hinter 


2 


u 


Die Zahlenreiultate in Württemberg. 111 


fh. Die Gefammtzahlen würden viel ftärker finfen, 
wenn nicht doch manche fteigende Gewerbe dazwiſchen 
wären, folche, vie erft fich ausbilden, wie Putzmacher, 
Tapeziere, ober folche, bei denen ver Heine handwerks⸗ 
mäßige Betrieb wenig oder Teine Konkurrenz zu leiden 
Bat, die alfo mit dem fteigenden Wohlftand fich auch 
der Meifterzahl nach heben. 

Daß der Wohlftand im Ganzen fteigt, daß er ver 
Kriſis entgegen wirkt, iſt Har; die Meinen Geſchäfte 
machen Bankerott; neue in geringerer Zahl, aber umfang- 
reicher betrieben, proßperiren; daher ganz dieſelben Ge- 
werbe meift fteigende Zahlen zeigen, wenn man die 
Geſammtheit ver Beichäftigten infl. Geſellen und Lehr⸗ 
lingen vergleicht. Nur die am jtärkiten leidenden zeigen 
auch Hier einen Rückgang. Die Geſammtzahl der Meifter, 
Sejellen un Schrlinge betrug: 





Latus: | 54 362 | 61373 | 12.055 


112 Die Aufnahmen der Heinern Staaten. 


nun, 
Gewerbe 11835 —86. | 1852. | 1861. 


Transport: 54 362 61373) 72055 


Slaer . 2 2 2 2. 1532 1750| 2087 
Uhrmader .. 486 871] 1239 
Golb- und Silherarbeiter. . . 684 466 682 
Schloſſer und Schmiede. . . 9 832 11314| 12608 
Rade⸗ und Stellmader . .. 4 283 4692| 5405 
Böttcher . . . .. 5325 5309| 5710 
Töpfer, Hafner ren 1516 1 627 1791 
Seifenfieber nen 654 682 629 
Steinfuer . . . 2: 2... 1649 1827| 3286 
Maurer . - 2 2 2 20. 9156 12497| 12196 
Zimmerleute . ». "2... 7002 7394| 8413 
Pilafererr . » 2 00 283 | 339 609 


| 96 764 | 110 11! 126 710 


Nach einer Vergleichung, welche Brofeffor Mährlen! 
anftelit, haben in den 26 wichtigjten Handwerken die 
Meifter 1852 — 62 um 4,, %,, die Gehülfen und Lebr- 
Iinge um 76°, zugenommen. Faßt man aber bie 
jenigen zujammen, bei welchen weniger günftige Verhält- 
niffe vorhanden find, nämlich die Bäder, Fleiſcher, 
Maurer, Zimmerleute, Töpfer, Schmiede, Kupfer: 
ſchmiede, Gerber, Sattler, Küfer, Färber, Poſamen⸗ 
tiere, Nadler, Gürtler, Zinngießer, Hutmacher, Fri- 
jeure ımd Barbiere, fo haben bei ihnen zujammen von 
1852 — 62 die Meifter um 8,, %/, abgenommen, die 
Gehülfen um 34,, °, zugenommen. | 

Nach der größern Tabelle über Meiſter und Ge 
bülfen zujammen könnte man verjucht fein, die Krifis 
ganz zu Yeugnen, nach ven letztern Prozentverhältnifien 


1) Wurtt. Jahrb. Jahrg. 1868. ©. 39 — 40, 


Die Refultate in Württemberg. 113 


fiebt man ihr Vorhandenſein, aber auch die Befjerung. 
Die Krifis ift fo ziemlich überwunden, nachdem die Zahl 
der Meifter abgenommen, ihre Gefchieflichleit und Bil⸗ 
dung fich wejentlich gehoben hat. Freilich darf man 
dabei nicht vergeffen, daß dem Sahre 1861 eben fo 
glückliche Ernte- als Gefchäftsjahre vorausgingen, wäh- 
rend 1830 — 40 der erſte Stoß ver’ fremden Konkurrenz, 
in den vierziger Iahren die Hanbelöfrijen, die Hungers- 


noth und die Revolution, zu Anfang der funfziger Sabre 


wieder die Mißjahre die Kriſis ſehr verftärkt hatten, 
daß aljo die Beſſerung 1861 ebenſo oder noch mehr 
accidentellen Urſachen zuzufchreiben iſt als einer bleibenden 
Veränderung. 

Für die Zeit nach 1861 fehlt e8 an einer ftati- 
itichen Aufnahme der württembergiichen Gewerbe, wie 
in den andern Zollvereinsſtaaten. Wohl aber erfieht 
mm aus ben zuverläjfigen württembergiichen Hanbel8- 
fnmmerberichten! wie die am 1. Mai 1862 eingeführte 
Gewerbefreibeit gewirkt Bat. 

Im erjten Iahre, beißt e8, habe ein ungeheurer 
Zudrang von Gewerbtreibenven nad) den größern Stäbten, 
Stuttgart ausgenommen, oder von Gebülfen in felb- 
fändige Unternehmungen in dem Umfang, wie er 
befürchtet wurde, nicht ftattgefunden, wohl aber fei Der 
Zubrang zu den Detailgeichäften und zum Haufichandel 
ein ſehr ftarfer. Die Lage der Meingewerbe wird als 


1) Yabresberichte der Handels- und Gewerbefammern in 
Württemberg, Stuttgart, Blum und Vogel; für 1862 ©. 28. 
6.63. ©. 119; für 1863 ©. 23. ©. 34. ©. 46—49; für 1865 
&.118; für 1866 S. 45; fir 1867 ©. 7—11. 

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 8 


114 Die Aufnahmen der kleinern Staaten. 


günftig, aber von der Gewerbefreiheit kaum berührt 
bezeichnet. 

Im Jahre 1863 wird bejonders die immer ftärfer 
wachjende Zunahme des Haufirhandels erwähnt. Sehr 
viele Kleine Gewerbetreibende, welche fich früher ohne 
Haufiren durchzubringen fuchten, beißt es, laſſen fich 
Haufiricheine geben. Hauptfächlich Tommt e8 auch vor, 
daß Haufirer an einzelnen Orten wochenlang ein Lokal 
mietben, ihre Waaren zum Verkauf bieten und dann 
weiter zieben. Ueber die neue Gewerbeordnung über- 
haupt fchreibt die Heilbronner Handelskammer: „Biel 
fache Erkundigungen, welche wir von Gemeindebehörben, 
Gewerbevereinen und Einzelnen über die Wirkungen ber 
neuen Gewerbeordnung eingezogen haben, fprechen fich 
ziemlich übereinftimmend dahin aus, daß fie bis jetzt, 
abgefehen vom Haufirhandel, fich weder als merflich 
wohlthätig noch als merklich nachtheilig erwieſen habe. 
Wie vorauszujeben war, jo hatte fie namentlich durch 
die Befeitigung des Erforderniffes des Ortsbürgerrechts 
zur Folge, daß eine Menge Leute fich zur ſelbſtändigen 
Ausübung von ©ewerben meldete, namentlich in den 
Städten, und daß der Wegfall der Konzeffionen bei Krä- 
mereien und des Beweiſes der Vorbildung beim Detail- 
Handel gleichfall8 ſehr viele Leute veranlaßte, dem Handel 
als Haupt» oder Neben» Erwerbszweig zu ergreifen. 
Uebergänge von einem Handwerk auf ein anderes find 
jelten, von einem Handwerk oder von einer fonftigen 
Deichäftigung auf den Handel aber fehr häufig, häu- 
figer als wünſchenswerth. Klagen über Ueberſetzung 
find und nur bezüglich von Schneidern, Schubmachern 


Die Gewerbefreiheit in Württemberg. 115 


und Händlern von einigen Orten aus bekannt gewor⸗ 
den.“ 

Ganz ähnlich fpricht fich die Ulmer Handels⸗ 
kammer aus. Bon 87 in der Stabt Ulm 1863 neu 
angemeldeten Handelsgeſchäften find 10, von 173 neu 
angemelveten Kleingewerben 14 ſchon im gleichen Jahre 
wieder eingegangen. Die zahlloſen Heinen Handels⸗ 
geichäfte, heißt es, fünnen unmöglich prosperiven. Der 
Zudrang der Handwerker befteht nur für Gewerbe, die 
fein Kapital erfordern; es find Schufter und Schneider, 
Tiſchler und Maler, die daneben fortfahren, für andere 
Meifter zu arbeiten. Dann fommt e8 vor im Maurer⸗ 
und Zimmtergewerbe; alte Gefellen, Bolire verfuchen 
ein eigenes kleines Gejchäft zu beginnen, Reparaturen 
zu übernehmen. Auch von ihnen ift bereits eine ziem- 
liche Zahl wieder zu ihren Meiftern zurücdgefehrt. „Bei 
den übrigen Gewerben bat dagegen die Freigebung bei- 
nahe gar Feine Aenverung hervorgebracht.“ 

Der Bericht fir 1865 berichtet eher ungünftig 
als günftig über die Folgen; er betont, daß nicht ſowohl 
durch Das Syſtem ver Gewerbefreiheit als durch Die 
beutigen Verkehrsverhältniſſe die Neberlegenheit der großen 
Geichäfte immer fteigt. „Der Einfluß der Gewerbe 
freiheit“ — ſchreibt er — „zeigte fich theild im ber 
vermehrten Zahl der Ehen, theil® in ver Vermehrung 
der Gewerböftellen. Arbeiter, welche bisher in größern 
fabrifmäßig betriebenen Gefchäften arbeiteten, errichten 
im Vertrauen auf ihre Geſchicklichkeit, aber leider häufig 
ohne die gehörigen Mittel und die für den Unternehmer 
erforberliche Geſchäfts- und Marktkenntniß, eigene Ge⸗ 

* 8* 


i 


116 Die Aufnahmen der Heinern Staaten. 


ichäfte, mit denen fie fich in einen Wettkampf mit 
Gegnern einlafjen, deren Ueberlegenbeit fie zu ſpät fühlen, 
wenn das Heine Kapital aufgezehrt ift und noch oben- 
drein Schulden gemacht find. Man fieht fich genöthigt, 
um Spottpreife für Groſſiſten zu arbeiten und jchließlich 
doch wieder zum Fabrikanten zurüdzufehren. Je ſchwie⸗ 
riger e8 für ven bloßen Arbeiter in feiner Stellung ift, 
eine genaue Kenntniß der ftatiftiichen Verhältniſſe feines 
Fabrikationszweigs ſich zu verichaffen, deſto mehr thut 
Borficht bei Gründung neuer Unternehmungen Noth, wo 
bei dem Bortichritt der Handelsfreiheit die Beurtheilung 
des Umfangs der Konjumtion eines Artifeld und feiner 
Produktion immer jchwieriger wird.” 

Die Geſchäftsſtockung im Yahre 1866 und 67 
drückte nach den Berichten wejentlich auch auf die Lokal⸗ 
und SKleingewerbe; das bat mit der Gewerbefreiheit 
nichts zu ſchaffen. Nicht umnintereffant aber it, daß 
die in den Kleingewerben herrichende Geſchäftsſtockung 
hauptſächlich den Hauſirhandel, theilmeife mehr den 
Bettel in der Form des Hauſirhandels angeichwellt bat. 
In einzelnen Gegenden des Landes wird die Zunahme 
als eine wahre Lanvesfalamität betrachtet. Beſonders 
das Ausgebot ganzer Waarenlager im Umberzieben von 
Stadt zu Stabt unter dem Titel und der Form von 
Waarenausverfäufen wird injofern beflagt, als ſolche 
Leute ſich den Steuern vollitändig oder ganz zu ent- 
zieben willen. „Allen Berichten gemeinjchaftlich ift Die 
Klage, daß dieſe Leute den Abfa der ortsanfäffigen 
und bochbefteuerten Handel- und Gewerbetreibenpen 
beeinträchtigen, und daß ihr berumziehendes Leben 





Die Gewerbefreibeit in Württemberg. 117 


meiltend ihren fittlichen und öfonomifchen Ruin herbei: 
führe. 

Das mag übertrieben fein, wie jederzeit Die Klagen 
ber ſtehenden Gewerbe über den Haufirhandel; aber es 
zeigt, wer e8 auch nur theilweife wahr ift, — eine 
Wahrheit, welche von den Schwärmern für volfswirth- 
ſchaftliche Freiheit fo oft überfehen wird. Se tiefer 
man in den. gefellichaftlichen Klaſſen herabfteigt, beito 
häufiger vegulirt nicht mehr die Einficht in das wirth- 
Ihaftlich für das Individuum Beſte feine Hanblungen, 
ſondern kurzſichtige Genußſucht, augenblidliche Neigung 
zur Unthätigkeit; unſittliche Nebenmotive verſchiedener 
Art bilden die pſychologiſchen Faktoren, mit denen der 
Nationalöfonom hier rechnen muß. 


4 


3. Die bairiſche Handwertferftatiftif von 1810 — 61. 


Bolkscharafter und Kulturwerhäftniffe.e Die Geſetzgebung und 
ihre Bedeutung gegenüber andern Urfachen. Vergleich ber 
Gewerbsmeifter 1810 und 1847 in den unmittelbaren Städten 
biesfeit des Rhein's; bie Urjachen ber Stabilität. Vergleich 
ber Gejammtergebniffe 1847 und 1861 im Staate und nad 
Kreifen. Vergleich der wichtigern einzelnen Gewerbe 1847 und 
1861. Die bairifche Weberei. Das Handwerk in den unmittel- 
baren Städten und in ben übrigen Gemeinden viesfeit bes 
Rhein's 1847 und 1861. Die Zuftände in der Pfalz, 
Zunahme von 1847 — 61, als Folge der vor 1847 erfolgten 
Abnahme und Auswanderung; die Zahl der Handwerker 1861 
in der Pfalz noch weſentlich unter der von Altbaiern, 


Manche Theile Baierns ftchen in ihrer induftriellen 
Entwidelung dem übrigen Sübbeutfchland gleich, vor 
allen die Pfalz, die Gegend von Nürnberg und Fürth, 
Augsburg; aber in der Hauptjache ift Baiern doch 
gewerblich weniger entwidelt. Es ift vom großen Ber: 
kehr weniger berührt, theilweiſe geftattet die Boden⸗ 
und Gebirgsformation nur eine parjamere Bevölkerung, 
Religion und Gefchichte haben ven eigentlichen Baiern 
ſpröde gemacht gegen die Einflülfe der entwickelteren 


Boltscharakter und Kulturverhäftnifie. 119 


Rachbarſtämme. Es ift vor Allem ein tüchtiger, geſunder, 
wohlbabender Bauernſtand, der zähe feithält am Alten 
in Sitte und Tracht, in Lebensanſchauung und wirtb- 
ſchaftlichem Betriebe. 

Wohl dringt auch das Neue da und dort ein, 
aber eher ſchafft es fich ganz neue Formen, als daß 
es zunächſt beitehende Verhältniſſe umwandelt. Der 
Bauer iſt reicher geworden mit den ſteigenden Getreide⸗ 
preiſen; aber wenn er mehr kauft, ſo ſind es mehr 
Induſtrie- als Handwerksprodukte. Die Großinduſtrie 
füngt an die Naturſchätze, die Waſſerkräfte, den billigen 
Arbeitslohn in Baiern zu benugen, fie dehnt fich ſogar 
in rein landwirthſchaftlichen Dijtrikten aus. Daran ift 
tbeilweife Die den Fabriken günftigere Geſetzgebung ſchuld; 
aber ebenjo ſehr wirken vie allgemeinen Verhältniſſe. 
Wo vorher jede lebendige, induſtrielle Thätigkeit fehlt, 
wo heute erſt die Gejchäfte neu eingerichtet werden, ba 
werden fie viel mehr nach moderniter Art mit umfallen- 
berem Betriebe angelegt, als wo fich der neue Aufichwung 
an altes, gewerbliches Leben anfchließt. Auch in ber 
preußifchen Rheinprovinz iſt Heute noch Manches in 
der Hand Kleiner Geſchäfte, wofür die päter entwidelten 
altpreußifchen Provinzen nur große Geichäfte Tennen. 

Die landläufige Auffaffung ſchiebt die Schuld ber 
langſamen Entwicelung Baierns vornehmlich auf Die 
bisherige Geſetzgebung. Und e8 iſt wahr, bie Nieber- 
laſſungs⸗, Gemeinde⸗ und Berehelichungsgejeßgebung 
war engherzig; fie bat weſentlich Dazu beigetragen, eine 
wenig dichte Bevölkerung zu erhalten (Oberbaiern 2452 
Menichen auf die DMeile, ganz Barien 3327 im Jahre 


4 


120 Die Aufnahmen der Heinern Staaten. 


1858). Aber ebenſo weittg läßt fich leugnen, daß 
Sitte und Charakter des Volks ebenfo daran Theil 
haben. Die Handhabung der Geſetze liegt in der Hand 
der Gemeinden. Wo moderner Sinn, Regſamkeit und 
Betriebfamfeit ift, da machen die Gemeinden feinen fo 
engberzigen Gebrauch von ihren Vetorecht bei neu zu 
gründenden Heimweſen. Oberfranken hatte bei derjelben 
GSefeßgebung 1858 ſchon über 4000 Menjchen auf ver 
Quadratmeile. Mit der größten Leichtigkeit erfolgte da 
aber auch die Niederlaffung, beſonders in einzelnen 
Induſtriedörfern, wie in den Korbflechtergemeinven.! 
Mehr jedenfalls als durch die Nieverlaffungs- und 
Ehegeſetzgebung war bas gewerbliche Leben durch Die 
Realgewerberechte und die beſtehende Zunftgefeßgebung 
gehemmt. Schon zu Anfang des Jahrhunderts batte 
man die Einficht, daß dieſe Monopole, dieſe Ausjchlie- 
_ Rungsrechte der Zünfte durchbrochen werben müßten. 
Eine Verordnung vom 1. Dezember 1804 und das Geſetz 
vom 11. September 1825, welches prinzipiell auf dem 
Boden der Gewerbefreiheit fteht, fuchte dieſen Zweck 
dadurch zu erreichen, daß den Behörden die Befugniß 
zu Konzeſſionsertheilungen eingeräumt wurde. Das 
Konzeſſionsſyſtem Hat ja feine großen Nachtbeile; aber 
two die Gewerbefreibeit noch nicht möglich ift, ſchafft es 
doch einige Konkurrenz. Es war auch den ehrbaren bai- 
riihen Meiftern jo unbequem, daß fie fich fehr Mühe 
gaben, e8 zu bejeitigen. Schon 1834 wurde das Recht 


1) Bergl. Bavaria, Landes» und Vollkskunde des König- 
reichs Baiern. II. Erfte Abtheilung. München 1865. ©. 445. 


Die bairijche Gewerbegefeßgebung. 121 


ver Behörden wejentlich zu Gunſten der Meifter und 
Nealberechtigten beichranft. Die allgemeinen Klagen, 
bie feit 1840 durch ganz Deutichland wieberflingen, 
daß das Handwerk überjett fei, trugen nicht Dazu bei, 
die Gelee milder zu banphaben. ‘Die Inftruftion von 
1853 fteht unter dem Hochdruck der Reaktion. Die 
Praris war eine wejentlich härtere, als in Würtemberg, 
Sachſen, Baden, die ja damals auch noch Zunftverfaf- 
jung hatten. 

Erit 1862 trat infolge der um fich greifenven 
Agitation für Gewerbefreiheit eine Tiberalere Behand⸗ 
lung durch die veränderte Gewerbeinjtruftion dieſes Jah— 
res ein, Die volle Gewerbefreiheit erreichte ihre gejeß- 
liche Einführung endlich den 30. Januar 1868.! Im 
ver Pfalz war die durch die franzöfiiche Herrichaft ein⸗ 
geführte Gewerbefreiheit nie angetajtet worden. 

AS Beweis, daß nur die einfchränfenve Geſetz— 
gebung an ber gewerblichen Stagnation Baierns Schuld 
ji, liebt man anzuführen, daß die Pfalz in beijerer 
Lage fei, daß feit 1862 ein großer Aufſchwung einge- 
treten fei, daß Fürth die Grundlage feiner gewerblichen 
Dlüthe der Zeit verbanfe, in ver e8 als anfpach’icher 
dleden volle Gewerbefreiheit beſaß. Sicher ift daran 
viel Wahres. Ebenſo ficher aber haben jederzeit andere 
Umſtände wejentlich mitgewirkt, und ebenfo ficher wird 
die Vergleichung der Pfalz mit Altbaiern fehr häufig 
unter falſchen Gefichtspunften vorgenommen, wie ich 
unten zeigen werde. 

1) Schöller, das Gefet vom 30. Januar 1868, das Gewerb- 
weien betreffend, erläutert. Erlangen 1869. 


122 Die Aufnahmen ber kleinern Staateıt. 


Hauptſächlich eine wichtige Thatjache, auf welche ich 
in einem der folgenden Abjchnitte über vergleichende deut⸗ 
ſche Gewerbeftatiftif noch näher kommen werde, möchte ich 
der Unterjuchung der Zahlen voraus ſchicken, um durch 
fie einen richtigern Standpunkt zu gewinnen; es ift die, 
daß Baiern trotz feines vorwiegend aderbauenden Cha- 
rakters, troß der Stabilität der Meiſterzahl von 1810— 61 
noch 1861 unter den deutichen Ländern fteht, welche bie 
größte Zahl Handwerfer haben. Das wirft jedenfalls 
auf die gewöhnliche Anficht, die Zahl der Meifter fei 
nur der beſchränkenden Geſetzgebung wegen nicht gervach- 
fen, ein fonverbares Licht. " 

Für die Zeit vor 1847 ift mir nur die Unterju- 
hung Dr. Mayr's über die Entwidelung des Handwer⸗ 
fe8 in den Städten des Königreichs Bayern diesſeit Des 
Rhein's befannt.! 

In den Jahren 1809 — 12 wurde eine umfaſſende 
bairifche „Reichsſtatiſtik“ erhoben. Im Sabre 1847 
wurde die Gewerbeftatiftif in Baiern nach dem Zollver- 
einsichema ausgeführt. Mayr ftellt nun bie vergleich 
baren Zahlen der Gewerbsmeifter in den unmittelbaren 
28 Städten Diesfeit des Rhein's zufammen; die Gehül- 
fen waren 1810 gar nicht gezählt. Das Verhältniß 
iſt folgendes: 

Bevölkerung. Zahl der Gewerbsmeifter. 


1810 335 344 Seelen. 15 761 
1847 45396 ⸗ 16 730 
+ 35 Yu + 6% 


1) Hildebrandts Jahrbücher für Nationalölonomie und 
Statiftil. VI. ©. 113 — 129. 


Das Handwerk in den Stäbten 1810 und 1847. 123 


Sp weit bleibt das Anwachſen der Meifter binter 
dem der Bevölkerung zurück. Aber dürfen wir darin, 
wie Mayr, nur eine Folge der Erichwerung des Mei- 
ſterwerdens fehen? Die Erjchwerung tritt erft feit 
1834 ein; von 1810 — 34 herrſchen Tiberale Grundſätze; 
von dem ganzen Zuwachs ber Bevölkerung um 118 642 
Seelen kommen 90494 auf die vier großen Stäbte, 
Münden, Nürnberg, Augsburg und Würzburg; bie 
andern Städte bleiben ftabil, nehmen vielfach fogar ab; 
hier in ven kleinen Städten ift man am engberzigften mit 
neuen Nieverlaffungen. In den vier großen Städten, 
die allein beveutend zunehmen, iſt man es wohl auch, 
aber zugleich wirken hier alle die neuen Faktoren ſchon, 
welche dem Heinen Meiſter Konkurrenz machen. Da 
entftehen fchon vie größer und beſſer eingerichteten Unter- 
nebmungen, welche mit Heinerer Perjonenzahl die glei- 
en, ja die vielfach gefteigerten Bedürfniſſe befriedigen. 
Zieht man alles das mit in Erwägung, fo wird man 
die Haupturjache der Stabilität in allgemeineren Zuftän- 
den finden müſſen, bauptjächlich darin, daß die Mehr⸗ 
zahl dev Mittel- und Kleinſtädte nicht vorwärts fchrei- 
tet, daß befonvers für die Langſamkeit der allgemeinen 
wirthichaftlichen Entwidelung die Zahl der vorhandenen 
Meiſter ſchon zu Anfang ver Periode eher zu groß ift. 
Verichlimmernd mußten allerdings darauf die engher- 
gen Grundſätze von 1834 an wirken. Statt durch 
freie Konfurrenz haltloſe Gefchäfte zu befeitigen und fie 
da, wo fie am Platze find, neu entitehen zu Yaffen, 
Inht man überall nur das Meifterwerden zu erſchwe⸗ 
ten, hindert leichte Ueberfievelungen und jteigert dadurch 


124 Die Aufnahmen der Heinern Stasten. 


die Klagen, das Mißbehagen, bejonvers da in ver Mehr- 
zahl der Städte die Bureaufratie und die Zünfte doch 
nicht fo burchgreifen, Daß bie beſtehenden Geſchäfte ent- 
Iprechend abnehmen. Gerade in Baiern wird gegen 1850 
mit am meijten von Ueberjegung der Handwerker geipro- 
chen. Und das ift nicht bloße Phrafe, ſondern geht zu 
einem Theile auf einen wahren Vebelftand, auf eine 
Iofal und zeitlich zu große Zahl von Meiftern zurüd. 

Tür den Vergleich von 1847 und 1861 ijt die 
offizielle Bearbeitung der beiden Aufnahmen von Staats- 
rath Hermann! zu Grunde zu legen. Ich ſchicke bie 
Betrachtung der Geſammtſummen voraus, um erjt nadh- 
ber auf einzelne Gewerbe, auf die Handwerke in ven 
Städten, jowie auf Die befondern Zuftände in der Pfalz 
zurüdfommen. Die VBergleichung umfaßt nicht die 
fümmtlichen 1847 und 1861 aufgenommenen Gewerbe, 
ſondern nur die in beiden Jahren gleichartig gezählten. 

Die Meifter und Gehülfen mit Einfchluß der Hand- 
weber betrugen 

1847 . . . 860692 Perfonen 
1861 . . . 37006 „ 

alfo um 9364 oder 2,, %, mehr, während die Bevöl⸗ 
ferung um 4, %, die Zahl der Wabrifarbeiter um 
9 9%, geitiegen war. In Altbaiern fiel die Zahl von 
333466 auf 330640, aljo um 2826 Perjonen ober 
O5 %. Laſſen wir die Weber bei Seite, jo fommen, 


1) Die Bevölkerung und die Gewerbe bes Königreichs 
Baiern nah der Aufnahme von 1861, die Gewerbe in Ber- 
gleihung mit deren Stande im Jahre 1847; herausgegeben 
von Tönigl. ftatiftiichen Bureau. München 1862. 


Bergleih von 1847 und 1861. 125 


Meifter und Gehülfen zuſammen gerechnet, je auf einen 
Sewerbtreibenden Einwohner: 


1847 1861 
in Oberbaien . . » 2 20. 13 13 
in Nieberbaiern . » . 2 20. 15 16 
inder BE ». » 2 2 2 20. 27 17 
in der Oberpfalz und Regensburg . 16, 17 
in Oberfranfn . » 2 2 0. 15 15 
in Mittelfranfen . . . : 2... 12 12 
in Unterfranten und Alchaffenturg . 15 13 
in Schwaben und Nürnberg . . . 14 13 


Gegenüber der Bevölkerung alſo hauptſächlich ein 
Rüdgang in Nieverbaiern, Dagegen in der Oberpfalz, in 
Oberbaiern, Oberfranfen und Mittelfranfen Stabilität, 
eine Meine Zunahme in Unterfranfen und Schwaben, 
eine wejentliche Zunahme nur in ver Pfalz 

Läßt man die Gehülfen bet Seite und rechnet nur 
bie Meifter, fo betrugen fie in ganz Baiern (ohne die 
Weber): 

1847 . . . 151006 

1861 . . . 152976 
alſo 1,,%%, mehr bei einem Zuwachs ver DBenölferung 
um 4,.°%,; bleibt die Pfalz weg, jo nimmt die Zahl 
der Meijter um 1 %, ab; mit ven Webern finft bie 
Geſammtzahl der Meifter in ganz Baiern um 3 9, in 
Altbaiern um 5, %- 

Ueberall macht e8 einen wejentlichen Unterjchied, 
ob die Pfalz in den Durchichnitt einbezogen oder aus- 
gelaffen wird. Aber nicht die Pfalz allein trägt dazu 
bei, den relativen Gejammtrüdgang Heiner erjcheinen 
zu laſſen. Auch die Gegend von Nürnberg und Fürth 
wirkt in ähnlichem Sinne. Im den genannten Städten 


126 Die Aufnahmen der kleinern Staaten. 


haben, abgeſehen von der Blüthe beſonders der Groß⸗ 
inbuftrie, gerade auch eine Anzahl Handwerker, die fonft 
überall zurückgehen, z. B. die Gold- und Silberichläger, 
die Roth- und Gelbgießer, die Gürtler und Nabler 
bebeutend zugenommen; geſchickt al8 Hausinduftrie orga- 
nifirt, vereinigen fie die Vortheile des Heinen Betriebs 
mit einem Abſatz im Großen.! Auch in andern Gegen- 
den haben einzelne Gewerbzweige, die für weitern Abſatz 
thätig find, zugenommen, wie 3. B. die Holzichniterei 
und die Korbflechterei. In um fo grellerem Lichte erjcheint 
der Rüdgang im Uebrigen. 

Auf die wichtigern einzelnen Lokalgewerbe überge- 
hend, tbeile ich die abfoluten Zahlen verjelben 1847 
und 1861 mit; die Benölferung hat fih (1847 4,0 
Mill., 1861: 4,,,, ein Plus von 4,,%,) ſehr wenig 
geändert, fo daß, Ähnlich wie in Württemberg und 
Baden, für dieſe Zeit die abjoluten Zahlen ziemlich 
Har Tortichritt oder Rückgang zeigen. Es gab: 

















1847 1861 
Namen der Gewerbe — IE . 
Meiſter |Sehülfen|| Meifter Gehülfen 
Bäcker .. ... 8887 | 6385 | 8880 | 7419 
Seilher. > = = =. 18880 | 5447 | 9489 | 5275 
Gärtner. . 2. 2.2. 1997 997 913 439 
Gerber . . . 2.2. 2462 | 2101 | 2115 | 1964 
Seifenider. . . . -» 1124 532 986 453 
Steinmetn. . . . » 815 | 2153 1150 | 3159 


Topf . . 2 200. 2257 | 2349 | 2201 | 2381 


1) Bavaria III, zweite Abtheilung. S. 1059 ff.: der Nürn- 
berg » Fürther Induſtrie-Diſtrikt von Dr. Beeg. 


Die einzelnen Gewerbe 1847 und 1861. 127 

















17 | 186 
Kamen der Gewerbe 

Meifter Gehulfen Meifter — 
Glaſer.. 2... 1876 | 1074 | 1000| 1085 
Mur. . 2. 2. 3982 | 24936 | 3905 | 27325 

Rauerflider en 343 3409 
Simmerleute . » » | 2655 | 19884 | 28351 | 19.679 

Zimmerflider . . - - 417 2210 
Stellmaher- - - = » | 5668 | 3356 | 6021| 3739 
Schmide -. - » +» :10610 | 9330 | 10220 | 8706 
Shloflr > > 2 . | 4208 | 4608 | 4541| 5653 
Rdler . . 2 200. 520 382 600 312 
Bürtler. . 2 2.0. 470 493 437 417 
Rupferichmiede. . - 386 412 369 482 
Kemmer . 2. 745 776 987! 1195 
UÜbrmader . . . . - 766 524 866 719 
Silr . 2220. 11365 | 1130| 1445| 1121 
Tuhiherrer. - » - - 406 | 268 | 419 | 260 
Bürder . 000. [1085 | 879 | 1055 | 900 
Shuhmaher . -. » . 125019 | 18978 | 24 160 | 20 141 
Kemer. . 2 2020. 12664 | 2109 | 2679 | 2295 
Shneter . . » . . 117366 | 12054 \ 25 527 | 15 251 
Bolamentire . -» . - 712 511 | 562 287 
Cl 2 2 2222 1.7880 | 7408 8549 | 9361 
Bötther. . ... 6738 | 3766 ı 6328| 3550 
Solmantenverfertiger . 316 60 ı 2004 365 
oßflehter. . . 141788 | 401 | 2710| 678 
Dreher . . 2... 2 306 1387 2175 1494 
Haarlammmader . . . 521 484 | 608 , 508 
124 


Vuchbinder. . . . . 817 1018 | 1097 


Einzelne Gewerbe, welche anderwärts am meiften 
litten, wie die Tuchſcheerer und Färber, haben bier fo- 
gar noch etwas zugenommen; eine ftarfe Zunahme an 
Meiftern wie an Gehülfen zeigen nur die Schneiver, 
die Buchbinder und die ländlichen Gewerbe der Korb- 
flechter und Holzwaarenverfertiger; fonft Rückgang oder 
Stabilität, aber nicht bloß bei ven Meiftern, fondern 


4 


128 Die Aufnahmen der Heinern Staaten. 


auch bei den Gehülfen; die Fleiſcher, die Gärtner, die 
Gerber, die Seifenfiever, die Zimmerleute, die Schmiede, 
die Nadler, die Gürtler, die Seiler, die Pofamentiere, 
die Böttcher Haben 1861 weniger Hülfsperjonal als 
1847. Das beweist, daß der Hauptübeljtand nicht in 
ver Erichwerung des Meiſterwerdens lag, fonjt hätten 
‚die Gehülfen doch eher wachſen müſſen; aber es beweist, 
daß die Zunftverfaffung viele halbbejchäftigte Handwerker 
halt, die allerdings beifer unter dem Sturmwind freier. 
Konfurrenz vollends ganz bejeitigt würden. 

Mehr als alle erwähnten Gewerbe haben die Weber 
gelitten. Man hat e8 in Baiern weniger als anderswo 
verstanden, ben modernen Fortfchritten foweit zu folgen, 
daß, wenn auch mit geringen Löhnen, wenigſtens Die 
Eriftenz der‘ Handweber gerettet wurde. Tuchmacherei 
und Wollweberei war von Alters ber im ganzen Lande 
zu Haufe, bauptfächlich aber in Schwaben, in Mittel - 
und Oberfranken, in ver Oberpfalz und Nieberbaiern, 
an der böhmifchen Grenze. Bon letterer Gegend ſagt 
der Berichterjtatter in der Bavaria, Alois Schels:;! 
„die Zuchfabrifation beichäftigte vor Jahren im Vils - 
und Rottthale viele fleißige Hände; Doch gegenwärtig 
liegen mehrere Nealrechte brach und ift der frühere 
Smduftriebetrieb zum Kleingewerbe herabgeſunken; ehe 
noch die mächtige Konkurrenz der andern zollvereinten 
Staaten eintrat, gab Präſident von Rudhart, der die 
Zuſtände und Bedürfniſſe der ihm anvertrauten Pro- 
vinz wohl erfannte, den Tuchmachern Die entiprechend- 


1) I, zweite Abtheilung ©. 1050. 


Die bairiſche Weberei. 129 


ſten Andeutungen zu gemeinſamem Zuſammenwirken und 
gegenſeitiger Hilfeleiſtung; leider vergebens.“ Die Zahl 
der Webſtühle für wollene Stoffe ſank von 2797 auf 
2480 in dem Zeitramm von 1847 —61. 

Am ſtärkſten ging die Linmeninduftrie zurüd; von 
29499 Stühlen auf 22740. Im bairiſchen Wald 
wurde fie theilmeife von der Holzinduftrie erjett, gedeiht 
aber dort daneben roch leivlich." Der frühere Haupt- 
fig diefet Imbuftrie war Schwaben. Ein Hanvelsfam- 
merbericht des Kreiſes fpricht ſich Darüber (1863) fo 
aus:? „Die früher jchwunghaft betriebene Leinenfabri- 
fation bat ſowohl durch den allgemeiner gewordenen 
Gebrauch von Baumwollfabrikaten als durch Die An- 
wendung mechaniſcher Spinn- und Webftühle, wozu 
noch der Mangel an einbeimiichem Rohmaterial und 
zweckmäßigen Röſtanſtalten fich gefellte, fast gänzlich auf- 
gehört, und es iſt Feine Ausficht vorhanden, felbjt mit 
namhaften Opfern fie wieder zu einiger Bedeutung zu 
bringen.” Nur die Augsburger Weber jcheinen eine 
Ausnahme zu machen. Dort gelang e8 nach und nach, 
wie der Verfaſſer von „Augsburgs Induftrie” ® nach⸗ 
weist, „durch Vereinigung zu gemeinfamen Werken, durch 
zwedmäßige Verwendung des Innungsvermögens und 
anberweitiger Zufchüffe zur Anfchaffung von Material 
und der zur Gebild- und Buntweberei erforderlichen 
Stühle und Mafchinen, dann durch die Beftrebungen 


1) Bavaria I, zweite Abtheilung S. 1048. 
2) Daj. U, zweite Abtheilung ©. 926. 
3) Die Induftrie Augsburgs mit Rüdficht auf die poly⸗ 
techniſche Schule 1862. 
Sqchmoller, Geſch. d. Kleingewerke, 9 


4 


130 Die Aufnahmen der Heinern Staaten. 


einzelner intelligenter und bemittelter Meijter, die Hand⸗ 
weberei auf den rechten Weg zu führen umb wieder zu 
heben.‘ 

Die Baumwollweberei hat ehren Hauptfig in Ober- 
franfen, im Voigtlande, wo eine zührige fleißige Bevöl⸗ 
ferung mit erjchöpfenver Thätigkeit und Arbeitsluft ihr 
vührend genügſames Daſein friftet.! Der 30fte Menjch 
ift in Oberfranfen ein Weber, in ganz Baiern der Y6fte. 
Im Bezirke Müncheberg fommen auf 24000 Seelen 
etwa 2000 Webermeifter mit ungefähr 1000 Gefellen, 
alſo eine Weberbevöllerung von gegen 10 000 — 12000 
Menſchen. Die Baumwollweberei entwidelte fich hier ale 
freieres Gewerbe gegenüber der ftvengern zunftmäßigen 
Leinenweberei feit dem 15. Jahrhundert. Noch gegen 
Ende des vorigen Jahrhunderts war es ein blühender 
Zuftand. Einige wenige Fabrikanten beichäftigten jchon 
140 — 150 Stühle, die meijten nur wenige Stühle; 


1) Siehe Bavaria III, erfte Abtheilung ©. 336. Fentſch, 
der lokalkundige unparteiiihe Verfaſſer dieſes Abſchnitts jagt: 
„Der Oberfranke iſt im Allgemeinen rührig und fleißig. In 
ben Bezirken, wo’ eine induſtrielle Beſchäftignug vorwiegend iſt, 
bei den Paterlmachern, den Verfertigern von Holzſchuhen und 
den Schwingenmachern im Gebirge, den Korbflechtern am Main 
und au der Rodach, den Tafelmachern im Thüringer Wald, 
in den Weberdiſtrikten des Voigtlandes und des Wunſiedler 
Kreiſes, dann um Berneck, wo das Plauiſch⸗Nähen (die Sticke⸗ 
tei) in einem großen Theil der Hütten und Bürgerhäuſer alle 
Hände beihäftigt, ift bie Arbeit nahebei zur Mühſal geworben. 
Der geringe Berbienft geftattet nur wenig Ruhepunlte, unb auf 
dem Werktagsleben laftet eine unerquickliche Monstonte, beren 
Wirkung fi in einem Mangel an Friſche und Freudigkeit kund⸗ 
giebt. *' 


Die bairifche Weberei. 131 


bie Heinern verkauften ihr Produft an die großen, ‚waren 
aber als befigende Leute von dieſen nicht abhängig. Im 
diejem Jahrhundert nahm die Verarmung mit den fin- 
fenden Preifen der Baumwolle und ber Baummwollpro- 
bufte zu. Viele hatten bald feine eigenen Stühle, feine 
eigenen Spulen mehr; Spullobn und Miethe für ven 
Stuhl wurde ihnen vorweg am Verdienſt abgezogen. 
Kapital zu Anlauf eigener Twiſte war nicht mehr da. 
So wurden die Weber reine Lohnarbeiter; Die Auswahl, 
für diejen oder jenen Fabrifanten zu arbeiten, wurde im- 
mer Heiner, da die Heinen Fabrikanten ſelbſt Bankerott 
machten. Der Höhepunkt des Elends war in ven vier- 
ziger Sahren. Seither ift e8 eher wieder beffer gewor⸗ 
ben, bejonvers jeit jächfiiche Fabrikanten, durch die Bil- 
ligfeit des Lohnes angezogen, viel im Voigtlande arbei⸗ 
ten laſſen und fo ben. wenigen inländifchen Großgeſchäf⸗ 
ten, die den Weber ganz. in den Händen hatten, Kon- 
kurrenz machten. ‘Die. Zahl der Baumwollſtühle hat 
in Oberfranken ſogar von 11 301 ‚auf 13378 von 1847 
bis 61 zugenommen. , 

Die Geſammtzohl der Webermeiſter i in Baiern aber 
hat nach ber Berechnung ‚bon ‚Hermann! von 38323 
im Jahre 1847 auf 30935 abgenommen, d. h. um 
23,9 %o., während, Die. ‚Beböfferung. um, 4,9, wuchs; 
auch in der Pfalz nahmen. ‚die Webermeifter um 13,,%), 
‚ab. ...Welche Kämpfe, welches Elend, ie viel zerrüttetes 
Semitienglüt Beam wwiſchen del. Folgen Soden! 


y2 Die Seiten und die Gewerke x 2c. im Jahre 1861. 
S. 182.. J u nn 
. g* 


132 Die Aufnahmen ver Heinern Staaten. 


- Nach diefer Abſchweifung über die Weber kehre ich 
zu den. Öefammtrefultaten zurüd, wie fie fih unter 
beſondern lokalen Verhältniſſen geftalten. 

Die unmittelbaren Städte diesſeit des Rhein's 
haben ſich ſtark vergrößert, von 463 986 auf 544 067 
Einwohner; fie find um 19%, reicher an Menſchen, von 
welchen freilich wieder der Haupttheil auf München, 
Nürnberg, Augsburg und Würzburg fällt, die ganze 
Zunahme tft 90081 Seelen, auf die vier Städte Tom- 
men 79863. Die Zahl der Haudwerker inkl. ver Weber 
und mit den Gehülfen fiel in den unmittelbaren Städ⸗ 
ten von 58850 auf 57694, d. h. um 2%, ; die Zahl 
der Meifter mit den Webern um 2,,%, ; ohne Die Weber 
jtieg Die. Meiftergahl: um. 8%,. Die Meifterzahl ohne 
die Weber bat aljo wenigitens abjolut noch etwas zuge- 
nommen, die der Gehülfen bagegen hat. auch abjolut 
abgenommen. Wieder ein Argument gegen die Zurüd- 
führung aller Mißftände auf erſchwertes Meifterwerden. 

In den -fümmtlichen übrigen Gemeinden nach Abzug 
ber unmittelbaren Städte nahm die gefammte Handwer⸗ 
Terbevölferung nur um O,,%/%, ab, während die Bevölke⸗ 
rung nicht fo ftieg, wie tn den Städten. Und Doc 
galten da die gleichen Gefeke, und e8 wird in ben 
Dörfern und Heinen’ Städten die Handhabung eher noch 
engherziger gewefen fein. ‘Die Städte Titten mehr ale 
‘das Land, weil auf dem Lande noch die alten Zuſtände 
fortdauern, in den Stäbten die Umbildungen beginnen. 

Daß in der gewerbefreien Pfalz die Reſultate beifer 
find, d. h. daß da die Gefammtzahl der Handwerker 
bon 1847 — 61 ftieg, ift ſchon erwähnt, es tft aber 





Die Zuflände in ber Pfalz. 133 


nöthig, dabei noch einen Moment zu verweilen. Um 
feine falſchen Schlüfje aus dem Gegenfag zu ziehen, muß 
man fich der Vergangenheit und der anderweitigen Zu⸗ 
ftände in der Pfalz erinnern. 

Das fchöne, von der Natur reich gefegnete Land 
hatte mit der franzöfifchen Herrichaft bie freiheitliche 
Sejeßgebung erhalten; der beweglich rührige Sinn der 
Bewohner war dem Neuen ohnebieß zugänglich; bie 
Aenderungen, welche andere Länder erft nach Jahrzehn⸗ 
ten erfuhren, vollzogen fich jchon jet; die zahlreichen 
indolenten bisher nur durch die Zunft gefchügten Meifter 
begannen fchon damals abzunehmen. ALS die Verwü- 
ftungen der Kriege überwunden waren, als vollends mit 
dem Zollverein die Segnungen bes freien Verkehrs und 
der günftigen Lage, die Segnungen ver Eifenerzlager, 
des vorzüglichen Weinbodens mehr und mehr zu Tage 
traten, da wuchs die dichte Bevölkerung immer mehr; 
die Kultur des Lartdes, der Bau von Tabak und Wein 
drängte zu immer weiter gehender Parcellirung; die 
Parcelle ift im Durchſchnitt noch nicht ein halbes Tag⸗ 
wert! groß; jever Grumdbefiger hat feinen Heinen Beſitz 
durchſchnittlich in nicht weniger als 9 Parcellen. Die 
Bevöfferung hatte 1818 4124 Menfchen pro Quadrat⸗ 
meile betragen, 1849 betrug fie 5697. 

Aber fucceffiv war die Zunahme eine langſamere 
geworden, der Lohn war gejunten, die Noth geſtiegen. 
Die Auswanderung nach Amerika nahm bebeutende Di- 
menfionen an, nannte man doch häufig den deutichen 


1) 1 Tagwert = 1, preuß. Morgen. 





184 Die Aufnahmen ber kleinern Staaten. 


Auswanderer fchlechthin einen Pfälzer. Von 1849 bis 
1856 wanderten nicht weniger al8.64 852 Köpfe aus, 
ganz abgeſehen von der heimlichen Emigration, — Das 
find etwa 10%, ver Benölferung des Landes. Die 
Bevölkerung nahm troß des immer ftarken natürlichen 
Zuwachſes um etwa 5%, in dieſer Periode ab. 

Die nächftliegenden Urfachen waren bie theuren 
Jahre, die Revolution; die ferner liegenden aber waren 
bie allgemeinen Veränderungen der industriellen Pro⸗ 
buftion, die Dichtigfeit der Bevölkerung, die Parcel- 
rung. Ein großer Theil der Leute lebt Halb vom 
Boden, halb von gewerblicher Arbeit. „Wenn Pflug 
und Hade, Senfe und Dreichflegel ihre Arbeit gethan 
haben, nehmen Cigarrenfabrifation, die Strobflechteret, 
die Bürftenbinderet, der Hauſirhandel ihren Anfang.“ 
Auch in diefen Branchen drückte die Konkurrenz mit vor- 
angeſchrittenen Gegenden bie Preife; das Auskommen 
wurde immer kärglicher. Aehnlich war es in den Klein⸗ 
gewerben, deren Betrieb trotz ber Gewerbefreiheit tech- 
niſch zurück war. Sie waren längſt zurückgegangen; 
1845 — 50 wanderten noch ‚mehr Handwerker aus. Es 
gab in der Pfalz im Jahre 1847, Meiſter und Gehülfen 
zuſammengerechnet, noch nicht halb ſo viel Handwerker, 
als z. B. in dem gewerbeloſen Oberbaiern; ein Hand⸗ 
werker kam in Oberbaiern ſchon auf 13 Menſchen, in 
ver Pfalz erſt einer auf 27%. Das Verdienſt ber 
Gewerbefreiheit war fomit Das gewefen, mit dem Klein⸗ 
gewerbe in ver Pfalz fehr viel früher aufgeräumt zu 


1) Die Bevölkerung und die Gewerbe ©. 31. 





Die Handwerker in ber Pfalz 1847 und 1861. 135 


haben als anderswo. Der Zuftand damals war fein 
erfreuliche; immer weniger konnte fich ber Heine Mei⸗ 
fter halten, und doch entſtanden zunächit Teine größeren 
Seichäfte, weil der Trieb nach Selbſtändigkeit überwog 
und Die Cewerbefreiheit Jedem bie Selbitändigfeit ge- 
ftattete. Auf 17756 Meifter kommen 1847 nur 4717 
Gehülfen; das beißt, die ‚vorhandenen Gefchäfte find 
Heiner und elender als irgendwo anders; im übrigen 
Baiern kommen damals 30. Einwohner auf einen Gehül⸗ 
fen, in der Pfalz fommt erſt auf 129 Einwohner ein 
ſolcher. 

Nach Mitte der. 80er Jahre beſſern fich nun, wie 
allerwärts, jo auch in der. Pfalz die Zuſtände; die Pro⸗ 
buttenpreife fteigen, die Großinduſtrie erhebt ſich in 
glänzenofter Weife, die. Eiſenwerke, die-Mafchinenfabri- 
fen, Die großen Spinmereien und Webereien in Kai⸗ 
jer8fautern und Zweibrüden, die chemiſchen Fabriken, bie 
großen Glas- und Steingutfabrifen . geben mit ber 
Bollendung der Eiſenbahnen dem - Lande einen andern 
Eharafter; auch. die Bevölkerung wächſt wieder und 
überfchreitet jelbjt Die 1849 erreichte Höhe, fie fteigt auf 
5779 Menſchen pro Quabratmeile im Jahre 1864. 

Das wirkt auch auf Die Kleingewerbe zurück; ihre 
Geſammtzahl inkl. ver Weber und Gehülfen iſt 

1847.... 27226 

1861.... 390416, 
alſo eine Zunahme von 44, %,; die Fabrilarbeiter 
hatten 1847 8501, 1861 12348 Perfonen betragen, 
fie find alſo auch um 45%), geftiegen. Die Zahl der 
Meifter allein (inkl. Weber) betrug 


136 Die Aufnahmen ver Heinern Staaten. 


1847... ... 2078 

1861 . 2... 3702, 
alfo eine Zunahme von 14%. Die Hauptzunahme 
bei den leingewerben erfolgte fomit in ver Gehülfenzahl. 

Dabei darf man aber nicht vergeffen, daß dieſe 
Zunahme eine Zunahme iſt ‚nach Jahren der Noth und 
der Decimirung; ſelbſt mit dieſer großen Zunahme ift 
die Gefammtzahl der im Handwerk beichäftigten Perjo- 
nen in der Pfalz immer noch, nicht jo ſtark, wie im 
Durchichnitt des Königreichs Baiern; es fommen im 
Durchſchnitt des Königreichs 1861 auf 14 Menfchen 
1 Handwerker, in der Pfalz auf 17. Die Zahl der 
Meifter ift jet wieder ftärfer in der Pfalz als im 
Durchſchnitt des Konigreichs. Die Zahl ver Gehülfen 
ift troß ber Zumahme noch wejentlich geringer. “Die 
einzelnen Geſchäfte find auch jest noch Heiner als in 
Althaiern. Der Trieb, fich felbftändig zu machen, über- 
wiegt die Tendenz der Zeit auf größere Gejchäfte. 

Die Hauptzunahme der Kleingewerbe bis 1861 trifft 
übrigens in der Pfalz wohl nicht jo jehr Die für lokalen 
Bedarf arbeitenden Meifter aller Art, fondern vornehm⸗ 
lich einzelne Hausinduſtrien, die in techniſch vervoll⸗ 
kommneter Weiſe für den Großhandel thätig ſind, ſo 
die Schuhfabrikation in Pirmaſens, die Strohflechterei, 
die Bürſtenfabrikation. 

Seit 1861, beſonders von 1861 — 685 bat ſich 
der Zuſtand der Pfalz noch mehr gehoben; bei der im⸗ 
mer noch geringen Zahl der vorhandenen Handwerker 
im Jahre 1861 iſt das begreiflich. Wenn beſonders 
in einzelnen raſch wachſenden Städten, wie Kaiſerslau⸗ 


Die Handwerker in der Pfalz 1861 — 1865. 137 


tern, die Zunahme groß ift, wenn die Meifter dort 
1861 410, 1863 542 Perſonen, die Gehülfen berjel- 
ben 1861 526, 1864 die Geſellen allein 889 Perfo- 
nen ausmachen, wenn bei der Zunahme alle Arten von 
Meiftern betbeiligt find, wenn 3. B. die Schmiede von 
10 auf 23, die Schneiver von 47 auf 76, die Schuh- 
macher von 69 auf 90, die Bäder von 27 auf 34, 
bie Glaſer von 9 auf 14, die Mebger von 20 auf 28, 
die Buchbinder von 6 auf 8, die Sattler von 6 auf 
7 ſtiegen, fo beweist das allerdings, daß ein techniſch 
vollendetere8 Handwerk auch heute immer noch feinen 
Platz hat; aber e8 beweist noch nichts über Das Ge⸗ 
ſammtverhältniß von großer und Heiner Inbuftrie, nichts 
über die gejunde und ungeſunde Vermögens - und Ein- 
fommenvertheilung der heutigen Zeit überhaupt. 

Die Gewerbefreibeit ver Pfalz hat unbaltbare Zu⸗ 
fände früher befeitigt, den Webergang beförvert, bie 
Technik allerwärts verbeflert, aber die Kleingewerbe Hat 
fie nicht erhalten, fondern früher vernichtet, — freilich 
um fie ſpäter auf gejunverer Grundlage mit befjerer 
Technik wenigftens zu einem Theile wieder erftehen zu 
laſſen. Vor Allem aber und hauptſächlich hat fie bie 
Örofgewerbe geftärkt. Auch von 1861 bis zum Gegen- 
wart fällt auf fie die Hauptentwickelung. 


1) Bavaria, IV, 2. Abth. 1867. ©. 472 ff, 


4. Die fächfiiche Hnndwerferftatiftif von 1830 — 61, 
die Gewerbefreiheit von 1862 — 66. 


Die Altern gewerblichen Zuſtände, zablreiches Haudwerk, große 
Hansinduftrie 1846. Die Geſetzgebung. Beginn ber Krifis 
ſchon zwilchen 1836 und 49; Vergleihung ber Meifterzahlen 
dieſer Jahre; Zunahme ver Hausinduftrie, Abnahme der übri- 
gen Meifter. Bergleihung der Handwerker in ben 30 größ- 
ten Städten bes Laubes 1830 und 1856. Die Beichäfti- 
gungsftatiftit 1849 und 61, Wachsthum aller übrigen Kate- 

gorien von Perfonen, Rückgang ver Handwerker. Die Hand- 
werkerliften 1849 und 61 und die wichtigern einzelnen Hand⸗ 
werke. Die Gewerbefreiheit im Handelskammerbezirk Dresben 
1862 — 65, im Hanbelsfammerbezirt Leipzig 1862 — 66. 





Das Königreich Sachfen ift das dichtbevölkertſte 
Land des Zollvereing ; ſchon im Jahre 1834 Yebten 5868, 
1858 7805 Menfchen auf ver Quabratmeile. Handel 
und Gewerbe, feit alter Zeit dort heimiſch, find die 
wejentlichen Faktoren dieſer Benölferungsentwidelung. Der 
Boden ift theilweile karg; im Erzgebirge bietet er jelbft 
dem hartnäckigſten Fleiße große Schwierigkeiten. Der 
Beſitz aber ift meiſt ziemlich getheilt. Große und klei⸗ 
nere Stäbte bilden überall gewerbliche Mittelpunkte. 
Die vielfach verbreitete Hausinduſtrie der Weberei, ber 





Die gewerblichen Zuſtände 1846. 139 


Strumpfiwirkerei, der Polamentierarbeiten erſtreckt fich 
ebenfo über die Dörfer als über Die Städte, jo bejon- 
ders in der Laufig, im Erzgebirge, in den jogenannten 
Schönburgifchen Rezeßherrſchaften. 

In den Iahren 1790 — 1806 hatte der fächfiiche 
Handel durch die Leipziger Meſſen einen großen Auf 
ſchwung genommen. Während der Kontinentalfperre ent- 
wickelte fich beſonders bie Gewebeinvuftrie raſch und 
erhob fich felbft u einem beveutenden Export nach dem 
Anslande. Die Aufhebung der Kontinentaliperre, Die 
Konlurrenz mit England brachte manche Schwierigkeit, 
aber fie hielt den Tortfchritt micht auf; hinderlicher 
waren Die 1818 errichteten preußiichen Zollſchranken, 
bie erft 1833 durch den Eintritt Sachſens in den 
Zollverein fielen. 

Die größte relative Zunahme erfuhren jchon damals 
bie großen Betriebe, ver Bergbau, das Hüttenweſen, 
die Spinnereien; aber der Perſonenzahl nach ſtanden 
Hausinduftrie und Handwerk bis. Ende der vierziger 
Jahre im Vordergrunde. Mechaniiche Webftühle waren 
1846 noch Feine vorhanden. Außer für Eifenbahnen 
und Bergbau, Spinnereien und Maſchinenfabriken gab 
es 1846 mir einige Dampfmaſchinen im ganzen Lanbe.! 
Die Zahl: der Handwerker (fogar ohne bie Weber) 
war 1846 in Sachſen am Böchften von allen ven 
Staaten, in denen eine Gewerbeftatiftif Damals aufge 
nommen wurde. Es kam damals fchon auf 13,, Ein- 
wohner ein Handwerker (Meifter und Gehülfen zufam- 


1) Mittheilungen d. ſtatiſt. Bureaus in Berlin. II, 255. 


140 Die Aufnahmen der Heinern Staaten. 


mengenommen), in Baden erft auf 15,,, in Bayern auf 
16,, , in Preußen auf 20, Einwohner.! 

Und doch galt damals in Sachjen die alte Zunft- 
verfaffung mit Innungszwang, Lehr- und Wanderzwang 
für alle älteren Gewerbe; bis 1840 noch mit weient- 
licher Erichwerung des Gemwerbebetriebes auf dem plat- 
ten Lande. Die Hausinbuftriezweige freilich, die Webe- 
rei, Strumpfwirkerei, Holzwaaren⸗ und Inftrumenten- 
fabrifation,. ferner die Gewerbe der Bürftermacher, 
Nagelichmiede, Blechichmieve, Bandmacher und Pofa- 
mentiere hatten fich wenigſtens in vielen Gegenden unter 
Beibehaltung der Innungsverfaffung auf dem Lande aus- 
gebreitet. Viele Landgemeinden hatten übervieß beion- 
dere Privilegien für Gewerbebetrieb. Außerdem waren 
auf dem Lande die unzünftigen Gewerbe frei, die zünf- 
tigen waren nur unter gewiſſen Beſchränkungen zugelaj- 
jen. Das Gefeß vom 9. Oft. 1840 brachte wenigftens 
einige Erleichterung: Fabrikgewerbe, Maurer, Zimmer- 
leute, Eſſenkehrer und Schwarzbrodbäcker ſollten wie 
bisher ſchon frei fein; außerdem ſoll von der Obrigkeit 
für jede Landgemeinde wenigſtens ein Schneider, Schuh⸗ 
macher, Weißbäcker, Fleiſcher, Schmied, Stellmacher, 
Sattler, Tiſchler, Glafer, Seiler und Böttcher ohne 
Weiteres zugelaffen werben. . Weitere zünftige Handwer⸗ 
fer bebürfen der Negierungserlaubniß: Vor wie nach 
1840 waren für einzelne wenige Innungen und ein- 
zelne Städte Realrechte vorhanden, welche Traft befon- 
derer Privilegien allein in dem Orte Metjterrecht gaben, 


1) Mittheilungen des ftatift. Bur. in Berlin IV, 292. 





Die ſächfiſche Gewerbegeiehgebung. 141 


eine gefchloffene Zahl repräfentirten. Manche Viebelftände 
ergaben fich aus dieſer Geſetzgebung. Die gewerbliche 
Entwidelung im Ganzen aber wurde dadurch bis im Die 
vierziger Jahre nicht gehemmt. ‘Das fächfiiche ftatiftiiche 
Bureau jagt hieran anjchließend: ! „Die Gewerbeverfaj- 
fung Hat auf die Zahl der Mleifter lange nicht den Ein- 
fluß, als man anzunehmen geneigt if. Wenn die übri- 
gen Bedingungen nicht gegeben find, vermehren ſich auch 
in gewerbefreien Ländern die Meijter nicht rafch, und wo 
ſich dieſe Bedingungen vorfinden, hindert auch Die 
Zunftverfaffung ein raſches Anwachien der Meifterzapl 
jelbjt über das reelle Bedürfniß Hinaus (d. h. unter 
gleichzeitiger Abnahme des Hülfsperfonals) nicht.“ 

So viel ift richtig, Jo viel beweiſen die ſächſiſchen 
Zahlen vor 1846, daß die anderen Urjachen wichtiger 
find, als die Gewerbeverfaffung. Die praftiiche Hand⸗ 
babung der Gewerbegejege war Feine allzuichroffe. Die 
induftrielle Entwicklung Sachſens war eine günftige; 
der Zuwachs au Handwerkern war natürlih, folange 
in dieſen Bahnen fih die gewerbliche Thätigkeit über- 
haupt bewegte. Die große Verbreitung ver Kleinge- 
werbe hatte ihre einfache Urfache darin, daß die gewerb- 
liche Blüthe Sachjens fchon lange vor 1840 beginnt. 

Mit den vierziger Iahren freilich und noch mehr 
mit den fünfziger wird Vieles anders. Mehr und mehr 
wächſt nur der große Betrieb. Die Eifenbahnen und 
der große Verkehr vollenden bie Leichtigkeit des Abſatzes, 


1) Zeitichrift für 1860. Nr. 9 — 12. Zur Statiſtik der 
Handwerfe in Sachſen. ©. 109. 


142 Die Aufnahmen ber kleinern Staaten. 


verlangen billigere und vollendetere Produkte, wie ſie 
nur ſpezialiſirte Betriebe mit ausgezeichneten Maſchinen 
liefern können. Es ſteigert fich der Bedarf an Kohlen, 
es wachſen hauptſächlich die großen Berg⸗ und Hütten⸗ 
werte, daneben Die Spinnereien, die großen Appretur⸗ 
anftalten, die mechaniichen Webereien. 

Die erfte Wirkung diefes Umſchwungs zeigt fich 
uns ſchon in einer Vergleichung der Meiftergablen des 
ganzen Königreich® von 1836 und 1849 ,! wobei zu 
bebauern ift, daß die Zahl der Gehülfen für Die Ver- 
gleichung dieſer beiden Sabre fehlt; nur wenn man 
beide zujammenfaßt, ift ja erfichtlih, ob das Hand⸗ 
werk im Ganzen zu⸗ oder abgenommen, ob nicht Die tbeil- 
weije Abnahme der Meifter durch Zunahme ver Gehül- 
fen fich ausgleicht. Letzteres jcheint aber bier nicht ber 
Hall zu fein, wenigftens fpricht fich das ftatiftiiche Bu⸗ 
reau über bieje Epoche dahin aus, daß die Zahl ber 
Gefellen und Lehrlinge nicht bloß relativ, ſondern ſogar 
in vielen Gewerben abfolut in denglicher Abnahme 
begriffen fet.? - 

Was den Fritifchen Werth der Zahlen betrifft, fo 
jei nach dem: Gewährsmam des ftatiftifchen . Bureaus 
bemerkt, daß Die Zahlen für 1836 dem Gewerbefteuer- 
fatafter entnommen find, daß Die Weber und Strumpf- 
wirfer für dieſes Sahr zu niebrig erfcheinen, weil 
die Lohnmeiſter nicht einbegriffen find, daß die Schnei- 
derzahl damals zu Hoch ift, weil die Flickſchneider und 


1) Zeitfprift d. flat. Bur. 1860. S. 106. Tab. 3°. 
2) Zeitjchrift d. flat. Bur. 1860. ©. 100. 





Die ſachſiſchen Meiſter 1836 und 1849. 


Schneiderinnen mitgezählt find. 


148 


Für 1849 find bie 


Zahlen der Meifter durchaus etwas zu hoch, ba bei 
der Aufnahme vom 1849 auf die Trage, ob ein Innungs⸗ 
meifter. auch wirklich noch fein Gewerbe ausübe, gar Tein 
Gewicht gelegt wurbe.! Darnach ift die Zahl der Mei- 
fter und ihr Verhältniß zur Bevölkerung zu beurtheilen. 


& waren: 


Biden, 


„genbitoren 





GSürtler, Sporer . . . . 
Sraveure, Hormenfteher 
getmadet 


gummmadher 





1) Zeitfprift d. flat. Bnr. 

















3631 | 21,. | 3334 
7 | 1 | 373 
2415| Is | 529 
e9| °” 1198 
465 566 
50 119 
108 149 
129 145 
568 680 
360 588. 
39 61 
155 129 

5158 3569 

7 75 
824 1035 
& 54 
587 787 
183 210 
215 286 
99 248 
319 374 
260 152 
373 695 
88 98 
806 1108 
1860. ©. 102— 3. 





144 Die Aufnahmen ber Heinern Staaten, 


Süchgner 22 +] 378] 2 668 a 
Rupferihmiebe . . 2. - 128) Or 169| 0,0 
Maurer . . .. 768 Aa 7I8| I 
Mefferigmieee . . . . | 1088| 0m] 11) 04 — 
Medaniter . . | 189) 00 | 197) Im 
Verfertiger muſiai vnfiru · 

mente . 529| Io 9| Has 
Nagelihmiede . . . . | 46] sn S6L| 2 
Bofamentiere . 2...) 1246| 7 | 3191] 165 
Riemer 22220 7 Ian 
Sattler . nee 733 “|| 1063| Bon 
Shlofler. © 2.22.) 69] 2 1012] Bis 
Schmiede 22:2] 8244| 1 0 | 3856) 20,80 
Sander . . .. . .|10410|€ c | 9a] 18. — 
Schuhmader . 2 2.» 10085] € 05 11994] 6Bunn 
Schormfeinfeger . .. -| UM | 185] Om 
Seifenfieber . ne 461 ". 506| Zar 
©Siler 22200. 770 ss | 1006 20 
Steinmegen. © 2 2. | 87] || 188] Oo 
Strumpfwirter. . . . .| 8315] 5 0, 114763] 77,7 
Täfcner und Tapggiere . .| 1890| | 1 m 
Tilhler © 2 2 2 002.1 2886| 1 46 | 3717| 199: 
Tier 2. 222.001 | 590] Ir 
Zugmager . . . . | 1602| „| 8687| 19145 
Zuhfheerer . . . . . 273| 1 386 4 
Uhrmacher | 2836| 1. | 422] 2 


Zagner m und Stellmaher .| 1577| 95 | 2077| 10,5 


Zeug- und Birkatämiche . 54| Os 124| Os 
———— re 
jinngießer -'. 























Ich habe in ber vierten Spalte ba, wo ſich eine 
Abnahme gegerüber der Bevölkerung findet, ein Minus⸗ 
zeichen beigefügt; bie Geſammtzahl aber. hat nicht ab, 
fondern zugenommen; es kamen auf 10000 Einw. 





Die ſächſiſchen Meiſter 1836 und 1849, 145 


1836 -415, 1849 - 645 Meifter; die Zunahme trifft 
aber ausjchließlich die Hausinduftrie der Gewebe, die 
überdied 1836 zu nievrig angegeben ift, womit frei- 
lich nicht geleugnet werden fol, daß fie zugenommen 
babe. Zrennt man die Pojamentiere, Strumpfwirker, 
Zuchmacher und Weber von den übrigen Handwerkern, 
ſo kommen von erjteren auf 10000 Eimvohner 1836 - 
97,54, 1849 - 336,855 Meifter, von den ſämmtlichen 
übrigen aber 1836 - 317,,,, 1849 - 308,2. 

Die Zahlen für 1849 find nicht ganz maßgebend, 
jofern diefes Jahr ein beſonders gevrüdtes war. Doc 
würde von dieſem Drud die Zahl der Gejellen viel 
mehr affizirt jein, al8 die der Meifter. Nehmen wir 
dazu, Daß die Aufnahme 1849 viele Meifter mitzählte, 
welche ihr Gewerbe nicht mehr ausübten, jo kommen 
wir allerdings zu dem Schluffe, daß in einer Zeit, in 
der die Bevölkerung, die Lanbwirtbichaft, die große 
Industrie Sachſens die größten Fortichritte machte, bie 
Zahl der Handwerker nicht ebenfo gewachſen, gegen- 
über der Bevölkerung eher zurüclgegangen tft. Es tft Das 
um fo fprechenver, als gerade ber ſonſtige Fortſchritt 
der vandwirthſchaft und der Bevölkerungsdichtigkeit doch 
für viele einzelne Gewerbe Vortheile, weitern Spiel- 
raum und auch wirkliche Zunahme brachte. 

Die Arbeit, der die vorftehenden Zahlen entnom- 
men find,! bejichäftigt fich außer: ven allgemeinen Fragen 
ſpezieller mit der Handwerksſtatiſtik der 30 größern 


1) Zur Statiftil der Handwerke in Sachſen. Zeitjchrift 
1860. Nr. 9— 12. 


Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 10 


146 Die Aufnahmen ber Heinern Staaten. 


jächfiichen Städte, indem fie die Zahlen der Meifter, 
Geſellen und Lehrlinge für die Jahre 1830 und 1856 
vergleicht; die Zahlen jtüten ſich auf eine beſondere 
durch die Innungen gemachte Aufnahme. Es fan fich 
bier nicht darım Handeln, aus den umfangreichen 
- Zabellen der einzelnen Städte das Detail mitzutheilen, 
um jo weniger, al8 wir auf den Gegenfaß von Stabt 
und Land noch bejonders werben zu jprechen kommen; 
nur das Gefammtrefultat, foweit e8 eine Beftätigung 
der bisherigen Unterfuchung enthält, ift zu erwähnen. 
Und das geht nach den Worten der Zeitjchrift dahin: 
„Geben wir” — fagt fie — „auf die BVergleichung 
der Zuftände von 1830 und 56 ein, fo tft auffallend, 
daß bie meiften Gewerbe (auch abgejehen von den mit 
Bankgerechtigfeiten in geichloffener Zahl verjebenen, 
welche fich freilich gar nicht oder nur wenig mehren 
fonnten) in ven meiften Stäbten in ihrer Meiſterzahl 
hinter dem Wachsthum ver Bevölkerung zum Theil fehr 
erheblich zurüdgeblieben find, ja zum Theil fich abjo- 
lut vermindert haben. Nur bei wenigen ift diefe Ver⸗ 
minderung der Meifterzahl pofitiv durch eine Vermeh⸗ 
rung des Hülfsperjonal® ausgeglichen ober ſelbſt in eine 
relative Vermehrung des Gewerbes verwandelt; bei eini- 
gen ift fogar eine relative Vermehrung der Meiſterzahl 
durch Verminderung des Hülfsperfonal negativ auöge- 
glichen. Ein Theil des Zurückbleibens hinter dem Wache- 
thum der Bevölkerung rührt gewiß von der zum Theil 
in Folge des Geſetzes vom 9. Okt. 1840 entjtandenen 
gleihmäßigern Verbreitung gewiffer Handwerke über das 
platte Land ber. Indeſſen wird fich Doch zeigen, daß 


Das Handwerk in den fächflichen Stäbten 1830 u. 1856. 147 


diefer Einfluß auf die Geftaltung des ſtädtiſchen Hand- 
werfsbetrieb8 überichäßt worden ift, und daß viele Fleine 
Städte noch immer die Mittelpimkte des Handwerks 
auch fir das Land geblieben find, foweit man dies nach 
den Perjonalverhältnifien beurtbeilen Tann. Je größer 
eine Stadt wird, deſto mehr tritt von jelbit der Antbeil 
in den Hintergrund, welchen das umgebende platte Land 
von der Beichäftigung der ſtädtiſchen Handwerker Bat. 
Solche Städte dürften auch von völliger Freigebung des 
Gewerbebetrieb auf dem Lande nur wenig oder gar 
nicht berührt werben.“ 

Wenn in Xeipig, in Dresden, in Chemnitz die 
Zabl der Meifter, Gejellen und Lehrlinge nur in 2 — 3 
Handwerken zugenpmmen, in vielen aber um 20 — 50, 
ja bis 70 %, gegenüber ver Bevölkerung abgenommen 
hat, wenn das in den kleinen Stäbten nicht ganz fo, 
aber ähnlich iſt, jo ift neben ber veränderten Geſetzge⸗ 
bung Die Haupturfache die, daB in den großen: Städten 
die neue Richtung, die nach ipezialifirter Produktion 
und nach dem Magazinſyſtem brängt, am gewaltigſten 
ſich jet jchon geltend gemacht hat. 

Die Ergebniffe der Beichäftigungs- und Gewerbe⸗ 
ſtatiſtik von 1849 und 1861? beitätigen im Allgemeinen 


1) Die prozentuale Abnahme ift berechnet in Tabelle 35 
©. 12 —124 a. a. O. 

2) Zeitfehrift des ftat. Bureaus für 1865. Nr. 3 u. 4: 
„Beiträge zur Statiftit der in geichloffenen Etabliffements mit 
mechaniſchen Mitteln betriebenen Induftriezweige Sachſens im 
Sahre 1861.” Nr. 5—8.: „Die Bevölkerung des Königreichs 
Sachſen nach ihrer Beihäftigung und ihrem Erwerbe 1861.“ 

10 * 


148 Die Aufnahmen der kleinern Staaten. 


die Richtigfeit der vorſtehenden Folgerungen. Es handelt 
fih um zwei einander entgegen wirkende Strömungen: 
auf der einen Seite eine vajch zunehmende Bevölferung, 
ein vajcher Zuwachs bejonders der Städte, eine glän- 
zende Entwidelung der großen Induſtrie, beſonders ber 
Gewebeinduftrie; das muß nothwendig auch auf einzelne 
Heine Gejchäfte und Betriebe günftig zurüchwirken; — auf 
der andern Seite die Unmöglichkeit für viele Handwerke, 
mit dieſer Entwidelung gleichen Schritt zu halten; tbeil- 
weifer Rüdgang, Abnahme ver Meijter, zum Theil auch 
des Hülfsperſonals. 

Was die pofitiven Zahlen betrifft, fo geſchah bie 
Aufnahme in folgender Weile. Im Jahre 1849 hatte 
Dr. Engel in direktem Anjchluß an. die Bevölkerungs⸗ 
zählung eine Beichäftigungsitatiftif erheben laffen, wobei 
nicht die Fabriken, die einzelnen Unternehmungen über 
ihre Gejchäfte und Arbeiter Angaben machten, jondern in 
den Hauslijten den Individualangaben Bemerkungen über 
die Art des Unterhalts beigefügt wurden. An dieſe Art 
ver Zählung fchloß man fich auch 1861 an und fügte 
nur auf den Rückſeiten der Haushaltungsliften die Sche- 
mata der Gewerbeſtatiſtik des Zollvereins bei, welche 
von andern Gefichtspunften ausgeht, nach Gefchäften, 
Unternehmungen zählt. So entitand eine Doppelte Auf- 
nahme, die aber, was die Handwerker betrifft, ziemlich 
identiich ift. An Unrichtigfeit leidet die Aufnahme in fo 
fern, als viele Heine Meiſter, welche für größere arbei- 


Nr. 9 — 10.: „Zur Statiftit ver Handwerke im Königreich Sad 
fen 1849 und 1861.” 


Die ſächſiſche Inbuftrie 1849 und 1861. 149 


ten, fich als felbftändige Gejchäfte angegeben haben, und 
noch mebr in jofern, als viele frühere Gefellen, bejon- 
vers Schmiede=, Schloffergefellen, die in Fabriken arbei- 
ten, die oft nicht am Orte felbft, fondern in den nächſt⸗ 
liegenden Dörfern wohnen, fich nach ihrer innungsmäßig 
erworbenen Qualififation als „Geſellen“ angaben, und 
dadurch in der Handwerker- ftatt in der Fabriktabelle 
verzeichnet find. Sowohl Meifter als Gehülfen erjchei- 
nen daher 1861 in größerer Zahl, als fie wirklich 
vorhanden, reſp. dem Kleingewerbe angebörig find. 

Nach ver Beichäftigungsftatiftif betrugen nun die 
Selbftthätigen 1849 und 1861 in den folgenden Abthei- 
lungen: 


1849 
Bargbu . . 2... 19 744 männl. 43 weibl. Berjonen 
Sabrifinnuftrie . - . 20123 ⸗ 1116 - ⸗ 
Hausinduſtrie... 105825 ⸗ 59558 > ⸗ 
Handwerkobetrieb.. 129492 - 1803 ⸗ ⸗ 
freie Gewerbe . . . 16713 - 1148⸗ 
bandarbeitende Klaſſe, 
Näherinnen c. . . 21886 - 35527 = ⸗ 
1861 
Bagbau . . 2... 28 297 männt. 205 weibl. Berjonen 
Gabrifinpuftrie . . . 41970 » 26580 ⸗ ⸗ 
Hausinduftrie . . . 128305 - 89661 ⸗ ⸗ 
Hanbwerfsbetrieb . . 152608 ⸗3043 ⸗ ⸗ 
freie Gewerbe . . . 23980 - 2248 = ⸗ 


handarbeitende Klaſſe, 
Näherinnen x. . . 42393 - 578211 > ⸗ 
Faßt man dieſe mit den ſämmtlichen übrigen Selbit- 
thätigen zufammen und fragt, wie viele Prozente der 
Vänmtlichen Selbftthätigen jede diefer Mlaffen 1849 und 


150 Die Aufnahmen der Heinern Staaten. 


1861 ausmachte, jo fteigen die Selbitthätigen im Berg⸗ 
bau von 2, % auf 2,55 90, Pie in der Fabrifin- 
buftrie von. 3,5, auf 6,07 0 , Pie in der Hausinbuftrie 
von 17,97 auf 19,91 0, Die in freien Gewerben von 
Log auf 2,95 0, die Handarbeiter von 6,5 auf ago, 
— nur die Hanbwerfer ſinken von 14,,5 auf 13,79 90 
der ſämmtlichen Selbftthätigen des Königreichs herab. 

Die Hanpiwerfertabelle, nach der Zollvereinsauf- 
nahme im Jahre 1861 geordnet ift, nicht direkt mit 
der Beichäftigungsftatiftif von 1849 vergleichbar; doch 
iſt die Mehrzahl der Hanpwerfer mit. Ausichluß der 
Handelögewerbe und Hausinduſtrie in. einer bejondern 
Zabelle nach den abjoluten Zahlen von 1849 und 61 
verzeichnet, * deren Reſultat ich fummirt habe. “Die 
dort verzeichneten Meifter find von 54 859 auf 56 257, 
die Gehülfen von 73403 auf 95359, die Summe 
beider ift von 128 262 auf 151 610 geftiegen. Das 
ift eine Zunahme-von 11,5 %,, während die Zunahme 
der Benölferung 17,95 °/, beträgt. 

Diefe Rechnung beftätigt, was bie Zeitjchrift ver⸗ 
fihert, ohne die Zahlen zu fummiren. Nachdem fie 
vorausgeſchickt, daß ſich die Meiſterzahlen in ſehr vie- 
len Gewerben und Stäbten ſogar abjolut vermindert 
haben, daß in vielen andern Gewerben die Meifterzah- 
len zwar abjolut gewachlen find, aber felten im Ver—⸗ 
hältniß der Bevölkerung zunahmen, fügt fie über bie 
Geſammtzahlen von Meiftern und Gehülfen noch Hinzu, 
daß auch fie meift Hinter dem Wachsthum der Bevölkerung 


1) Zeitſchrift des ftatift. Bur. 1868. ©. 102. 


Die ſächſiſchen Kleingewerbe 1849 und 1861. 151 


zurüdgeblieben ſeien; Doch jeien die Ausnahmen des 
Segentheils zahlreicher, als wenn man die Meifter allein 
in Betracht ziehe. 

Was die einzelnen Gewerbe betrifft, jo haben fich 
ausnahmslos weniger vermehrt als die Bevölkerung bie 
Schneider, Schuhmacher und Nagelichmieve, faſt aus- 
nahmslos die Gerber, Seifenfiever, Rammmacher und 
Gürtler. Der Bevölkerung fo ziemlich parallel blieben, 
eher ihr etwas voraus eilten die Bäder, Barbiere, 
Dlrftenmacher, Buchbinder, Friſeure, Glaſer, Hut- 
macher, Korbmacher, Kürfchner, Klempner, Tiſchler; 
ausnahmslos vermehrt haben fi nur die Maurer, 
Zimmerleute und Schloffer. ‘Die Zeitjchrift knüpft daran 
die richtige Bemerkung, daß die für perſönliche Dienſte 
und Nahrungszwecke arbeitenden Gewerbe, bejonders da 
fie bi8 jet der Maſchinenhülfe fat noch ganz entbehren, 
nothwendig fich in einem gewiſſen Gleichgewicht mit der 
Bevölferung halten, daß Dagegen alle mit dem Ma- 
ſchinen- und Baumefen verknüpften Gewerbe einen 
größern Spielraum für Zu- oder Abnahme bieten, daR 
wenn fie der Bevölferung voraus eilen, dieß wohl als ein 
Beweis des wachjenden Wohlftandes im Allgemeinen anzu- 
ſehen ſei. Es wird auch Niemand leugnen innen, daß 
der Wohlitand im Allgemeinen in Sachſen trog des Miß⸗ 
behagens fo vieler Kleingewerbe von 1849 — 61 geftiegen ift. 

Durch das Geſetz vom 15. Oftober 1861 wurden 
in Sachjen die Realgewerberechte aufgehoben und entjchä- 
digt, die Gewerbefreiheit vom 1. Januar 1862 an 
eingeführt, Die Innungen aber als freiwillige Vereinigun- 
gen beibehalten. 


152 ' Die Aufnahmen ber kleinern Staaten. 


Eine volljtändige ftatiftiiche Erhebung, wie das 
Geſetz gewirkt Hat, ift auch für Sachlen nicht vorhan⸗ 
den. Immer aber mögen einige Mittbeilungen über 
die Wirkung auch bier ihre Stelle finden. Für ben 
Dresdener Handelskammerbezirk bat Dr. Rentzſch eine 
Anzahl ftatiftiicher Angaben in Bezug auf die Stübte 
des Handelskammerbezirks Dresden durch befondere Erhe⸗ 
bungen gejammelt und publizirt, die einiges Licht auf 

die Folgen werfen. ! 
| Er unterfucht, wie viele neue gewerbliche Nieverlaf- 
jungen in den 33 Städten de8 Dresdener Handelskam⸗ 
merbezirtd 1862 — 65 vorfamen. Auf 1000 Einwoh- 
ner kamen durchichnittlich jährlich 6,,, Neuetablirungen ; 
der Hauptandrang erfolgte 1862; man war feit Ende 
1860 der Erlaffung des Geſetzes ficher geweien, ſehr 
viele hatten der Koften wegen gewartet, fo wurde bie 
Zahl 1862 ziemlich groß. Im ven beiven folgenden 
Jahren fanden aber wieder um fo weniger ftatt; ber 
Ausfall gegen 1862 beträgt faft überall 33 %,, nicht 
jelten bis 50 %,. Im ven Heinen Aderbauftäbten ift 
der Bortichritt ein geringer; die Hauptanziehungsfraft 
haben die größern Städte Dresven, Freiberg, Meißen. 
Eine weientlihe Zunahme mußte beſonders da erfolgen, 
wo vorher Verbietungsrechte waren. Daß aber Die 
Grundverhältnifie des Handwerksbetriebs Dadurch Feine 
andern geworden find, geht aus zweierlei hervor. Ein⸗ 


1) Dr. 9. Rentzſch, gewerbeftatiftiiche Meittheilungen zur 
Berathung der Minifterial- Vorlage über das Gewerbegeſetz. 
Drespen 1866. 


Die Folgen ber Gewerbefreibeit. 153 


mal Bat nach Rentzſch der Zuwachs der Gefellen und 
Lehrlinge mindeſtens gleichen Schritt gehalten mit der 
Vermehrung der Niederlaffungen. Und dann bat der 
geſammte Perfonalbeftand fowohl an fich als gegenüber 
der Bevölkerung fich nicht weientlich geändert. „Bon 
302 Gewerben“ — fagt Rentzſch — „bat eine Steige- 
rung des Perſonalbeſtandes nur bei 92 der aufgezählten 
Gewerbe ſtattgefunden und darunter in Bezug auf bie 
Arbeitgeber nur bei 56, in Bezug auf Das geſammte 
beihäftigte Perfonal nur bei 57 über das Wachsthum 
der Bevölkerung hinaus.” 

In der Stadt Leipzig erfolgte ebenfalls — nad) 
den Handelöfammerberichten! — der Hauptanbrang 
1862; es ergaben fich 986 Anmeldungen, im Jahre 
1863 finten fie jchon auf 568. In der Hauptſache 
erfolgt der Andrang nicht auf das eigentliche Handwerk; 
von den 986 Anmeldungen bezweden 163 die Eröff- 
nung von Schanfwirthichaften, gegen 100 Detailhändler⸗ 
geichäfte aller Art; außerdem find Die Schneider (35), 
Schuhmacher (46) und Tiſchler (40) noch etwas ftärfer 
vertreten. Geklagt wird nur über alu ftarfen Andrang 
im Kleinhandel. Sonft wird Fonftatirt, daß die große 
Umgeftaltung,, die‘ ver eine gefürchtet, der andere gehofft 
babe, in der Hauptfache bis jetzt noch nicht eingetreten 
fi. „Die gefürchteten und gehofften Erfcheinungen” — 


1) Zahresberiht der Handeld- und Gewerbelammer zu 
Leipzig für 1863. Leipzig, Hirzel. S.4—8; für 1865 u. 66. 
Leipzig, Hirzel 1867. ©. 10 u. 157. Der Bericht pro 1864 
iM mir nur im Abdruck des preuß. Handelsardhivs 1866. I. 
hauptſächl. S. 620. zur Hand. 


154 Die Aufnahmen ber Heinern Staaten. 


jagt der Bericht — „waren wohl auch meiltens ber 
Art, daß fie erjt im Verlaufe eines längeren Zeitraumes 
eintreten können; weder ein. Verluſt an Selbftänbigfeit 
jeiten® ver Fleinern Meiſter gegenüber dem Kapitale, 
noch die wegen Wegfalles des Lehrzwangs gefürchtete 
Berichlechterung oder die von anderer Seite gehoffte Ver- 
beſſerung der techntichen Fertigkeiten und Kenntuiſſe, 
und enblich größere Billigfeit der Arbeit vermöge grö- 
Berer Theilung der Arbeit und bäufigerer Verwendung 
von Mafchinen ift bis jet im Großen und Ganzen 
auffällig bemerkbar geworden. Und wenn auch manche 
Erſcheinungen dieſer Art allerdings bereits vorliegen, 
wie z. B. der überall wahrgenommene Uebergang des 
Schneidergewerbes zur Magazinſchneiderei und damit 
verbundene Unſelbſtändigkeit kleinerer Meiſter, fabrikmä⸗ 
ßiger Betrieb des Zimmergewerbes, der Schloſſerei, der 
Klempnerei, der Böttcherei, der Schuhmacherei, ſo iſt 
hierin wohl mehr die Entwickelung der Gewerbe über- 
haupt, als gerate eine Folge der Geiverbefreiheit zu 
erbliden, wie denn auch einige dieſer Ericheinungen 
bereit8 weit hinter Einführung der Gewerbefreiheit zu- 
rüdreichen.” 

Aehnlich lauten auch die ſpätern Berichte. Der 
Gewerbefteiheit wird nachgerühmt, daß fie jchärfere 
Konkurrenz bringe, die Intelligenz anjpanne, aber mehr 
in ven höhern gewerblichen Kreifen, als im eigentlichen 
Handwerk. 

Die Gewerbefreibeit ift heut zutage unentbehrlich, 
weil die alte Abgrenzung der Arbeitözweige zur Unmög- 
Tichfeit geworden ift. Das aber, was bie Maffe, an 


Die Folgen ber Gewerbefteibeit. 155 


ihr lobt und tadelt ift für das Gemeinwohl gleichgültig ; 
benn ber eine tadelt fie, weil unbequeme Konkurrenz für 
ihn entjteht, der andere lobt fie, weil einige Unbequem- 
fihfeiten und Förmlichkeiten ihm eripart find. Das, 
was an Segen für das Gemeinwohl ver Weiterblidenve 
von der Gewerbefreiheit erwartet, ift etwas anderes, 
es kann eintreten, aber e8 muß nicht immer eintreten. 
Man erwartet, daß die wirtbichaftliche Freiheit 
andere Sitten, andere Eigenfchaften, andere Menſchen 
Ihaffe, daß, wenn zunächit nur Einzelne jich mehr an- 
ftrengen, Die andern durch die Konfurrenz gezwungen 
werden, ihren zu folgen. Das geht jedenfalls lang- 
am; nur von Generation zu Generation ändern fich 
Sitten und Menjchen. Mögen die Folgen aber etwas 
früher over ſpäter kommen, nur und ausſchließlich günftige 
Wirkungen könnten dann eintreten, wenn alle Gewerb- 
treibende rührig und dem Bortichritt geneigt wären, wie 
ſo Häufig Nationalöfornomen und Politiker glauben, bie 
mv höher ftehende Fabrifanten und Kaufleute perfönlich 
kennen. Da daß nicht immer der Fall ift, jo Tann bie 
Gewerbefreiheit in einzelnen Kreifen ziemlich wirkungs⸗ 
[08 bleiben, ja fie kann umgefehrt durch den Konkurrenz⸗ 
kampf einen großen Theil der Hanpwerfer tiefer herab- 
drüden, fie wird es Yeicht thun, wenn nicht zugleich 
andere Mittel und Einwirkungen piüchologifcher und - 
realer Art diefelben faffen und vorwärts bringen. 
Wenn der radicale Volkswirth gerne bereit ift, zu 
erflären, alle welche Durch bie Gewerbefreibeit nicht 
vorwärts kommen, feien werth zu Grunde zu geben, fo 
zieht er in feinem Urtheil eine ſchroffe Scheibelinie, die 


156 Die Aufnahmen der Heinern Staaten. 


den Thatfachen des Lebens gegenüber als unwahr erjcheint, 
jo überfieht er neben zwei Ertremen, welche wenige 
Perjonen zählen, die große Zahl derer, welche zwiſchen 
beiden in der Mitte ftehen. 

Die Gewerbefreiheit fchafft einen leeren Raum; 
aber fie garantirt nicht, daß alles, was in dieſem Raume 
wächst, gefund ſei. Will mar das gewiß behaupten, fo 
muß man den Boden, die Pflanzen, alle witwirfenden 
Urſachen noch genau unterfuchen; dann erft hat man ein 
ficheres Urtheil über das wahrfcheinliche Refultat. 

Diefe mitwirfenden Urfachen find gar mannigfaltig ; 
Iofale Sitten und Zuſtände, wie allgemeine Thatjachen 
fommen in Betradht. Die Technik, die Produktion 
bildet fich um, der Verkehr ändert fih. Die Bevölke⸗ 
rung wächst in einer früher nie erlebten Weile. Und 
wenn die heranwachſenden Veberjchüffe derſelben bis in 
die dreißiger und vierziger Jahre Pla fanden in dem 
ſchon feit alter Zeit reichlich befeßten Handwerk, fo 
änderte ſich das fpäter um fo mehr. Es trat die Stockung, 
die Stabilität, ja tbeilweife eine Abnahme ein. Das 
Mißbehagen einer Mebergangszeit drückt ſich allerwärts 
aus. Eine veränderte gefchäftliche und ſociale Schiehtung 
der Gejellichaft vollzieht fich, Die vorerft zum minbeften 
nicht nach allen Seiten bin als eine erfreuliche betrachtet 
werden barf. 


Die 


‚Umgehaltung von Produktion uud Verkehr 


im 19. Jahrhundert. 


1. Die Urſachen. 


Fabrik und Handwerf. Die Vortheile des Großbetriebs und 
der Fortſchritt des Großbetriebs im Zollverein. Die eigent- 
ide Großinduſtrie nur theilweife in Konkurrenz mit dem 
Handwerk. Die BVerlehrsänderungen und der Zeitpunkt ihrer 
Wirkung in Deutſchland. Kanäle und Chauffeen. Die Poften, 
die Dampfſchiffahrt, Die Eifenbahnen, die Telegraphen und 
ter Welthandel. Der ftäbtifche Verkehr der Droſchken, Omni⸗ 
bufle und Stadteifenbahnen. Die Lolalifirung der gewerb- 
lichen Thätigkeit vor dieſen Berfehrsänderungen, die Umwäl- 
zung mit denſelben. Die veränderte Wirthſchaft der Familie, 
der moraliſche und der wirthſchaftliche Erfolg derſelben. Die 
veränderte Vertheilung der Bevölkerung. Amerikaniſche Ver⸗ 
hältnifſe. Die deutſchen Dörfer, Mittel» und Landſtädte; die 
Decentralifation der Inbuftrie; das moderne Anwachſen ber 
Großſtädte durch Induftrie, Handel und andere Urſachen. Die 
ſtädtiſche Bevölkerung in Preußen und die Aenderungen der- 
jelben son 1831 — 64. 


Wenn ich in den bisherigen Betrachtungen ver- 
ſuchte, die äußerlichen Gefammtrefultate der Gefchichte 
des Handwerks zu verzeichnen, die Zu⸗ und Abnahme, die 
wirthichaftliche Blüthe oder den wirthichaftlichen Verfall 
ber deutſchen Kleingewerbe in den einzelnen Epochen ver 
eriten Hälfte des 19. Jahrhunderts feitzuftellen, fo habe 
ich dabei die mancherlei Urfachen, ven Einfluß ver 
Geſetzgebung, die Rückwirkung ver allgemeinen wirth- 





160 Die Umgeflaltung von Produktion und Berlehr. 


ichaftlichen Zuftände auf das Handwerk da und dort 
berührt, «ber ich habe es abfichtlich vermieden, prinzipiell 
die Hauptfrage zu erörtern, nämlich die, welche won ben 
verſchiedenen Urjachen Des Umſchwungs die wichtigfte ſei. 
Darauf fomme ich nunmehr. 
| Die Antwort jcheint einfach, jever Laie hat fie auf 
der Zunge, fie ift in diejer befannten Faſſung von mir 
auch in ven bisherigen Unterfuchungen gleichlam als 
ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Die Fabrik, jagt man, 
bat das Handwerk verdrängt; die große Induſtrie fiegt 
allerwärts über die Heine. Nur die großen Betriebe 
entiprechen ven heutigen Anforderungen, können vor der 
jtärferen Ronfurrenz der Gegenwart Stand halten. 

Es ift das bis auf einen gewillen Grad ja richtig. 
Aber der Satz ift zu allgemein, rüdt zu verichievene 
Dinge unter einen Gefichtswinfel, als daß man na 
dabei befriedigen könnte. 

Fragen wir, woran man in eriter Linie denkt, wenn 
man von ber Großinbuftrie ſpricht. Mean denkt an vie 
Maſſenproduktion, an die größere Zahl von Arbeitern, 
bie in einem Unternehmen, meift in denſelben großen 
Gebäuden vereinigt find, am die Arbeitstheilung, Die 
mit der Zahl der Perjonen einer und derſelben Unter⸗ 
nehmung wählt. Dean denkt vor Allem an die neuen 
Kraft- und Arbeitsmafchinen. 

Die Dampfmafchine und die Zurbine arbeiten bilfi- 
ger als jede thierijche und menjchliche Arbeitöfraft. Man 
bat berechnet, daß nach engliichen Preiſen die Arbeit 
von Pferden 10mal, die von Menjchen 90 mal, nach 
deutſchen Preiſen die von Pferben 2, mal, die von 


Die Bortheile des Großbetriebe. - 161 


Menſchen 36 mal fo theuer fei, al8 die der Dampf- 
malchine. Mag die Berechnung ganz genau fein over 
nicht, fie giebt ver Phantafie ein Bild der Aenderung. 
Und wichtiger vielleicht noch als die techniichen Fort- 
ihritte in den Motoren find die Fortſchritte in den 
Arbeitsmafchtnen, in den Spinn> und Webjtühlen, in 
ven Walzwerfen und Dampfhämmern, m ven Mafchinen 
aller Art. Sie fparen an Arbeit und Stoff, fie voll- 
enden in Sekunden, zu was man früher Stunden und 
Tage brauchte. Mit ihnen fam in die technifche Seite 
der Produktion jene wunderbare Ausnußung aller Natur: 
fräfte, jene fcharffinnige Weberlegtheit, welche — die 
großen Fortſchritte der Wiſſenſchaft benutzend — Die 
Natur- und Menfchenkraft zu komplizirten Geſammtlei⸗ 
ftungen auf die finnveichjte, koſtenſparendſte Art verbindet. 

Außerdem aber denkt man, wenn man von ber 
Großinduſtrie Spricht, an die Verkehrsvortheile großer 
Geſchäfte, an die Leichtigkeit, fich überall, auch in der Ferne, 
Abſatz zu verichaffen, an die Vortheile fozialer und 
geichäftlicher Verbindungen. Je großartiger die Gejchäfte 
find, deſto größer ift der Kredit, mit dem das große 
Kapital noch zu vergrößern, die großen Leitungen noch 
ju verboppeln find. Je größer bie Geichäfte find, deſto 
leichter ventirt es, in der Preſſe und in ver Oeffent- 
lichkeit für die Intereffen der peziellen Induſtrie zu 
wirken, bochbefoldete Literaten in Dienjt zu nehmen, . 
die Regierung für das Gebeihen der Induſtrie zu 
interefliren. 


1) Annalen der Landwirthſchaft Bd. 38. ©. 175. 
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 11 


162 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Ich will mich bei dieſer Schilderung nicht aufhalten ; 
fie ift fchon oft! von Meifterhband ausgeführt worden; 
ih könnte nur Bekanntes wiederholen. Es handelt fich 
bier nicht darum, dieſe Aenderung zu ſchildern, ſondern 
konkreter die Frage zu jtellen dahin, ob und in wie 
weit auch bei uns im Zollverein dieſe Nichtung auf 
größere Betriebe fich geltend gemacht bat. 

Man wird e8 nicht leugnen können. Jede techniſche 
Befjerung des Betriebs muß fich bei freier Konkurrenz 
auf die Dauer Geltung verichaffen, und es ift gut, daß 
fie e8 thut, denn jede technische Befferung ift ein wahrer 
Bortjchritt der Kultur. Wir jehen auch deshalb den 
Großbetrieb unerbittlich bei ung wachen. Das burdh- 
jchnittliche Anlagefapital jeder Spindel in der Baum⸗ 
woll- und Flachsipinnerei nimmt ab, je größer bie 
Spindelzahl ift; jährlich wächſt Die Durchichnittszahl der 
Spindeln.einer Spinnerei; fie war in Preußen 1837-828, 
1846-1126, 1858-2627, 1861-5783 Spinveln 


1) Ich erinnere 3. B. an Roſcher, Anfichten der Vollks⸗ 
wirtbihaft S. 117: „über Iubuftrie im Großen und Kleinen; 
S. 173: „über die vollswirtbichaftliche Bedeutung der Maſchinen⸗ 
induſtrie.“ Frederic Passy, les machines et leur influence 
sur le developpement de l’humanite. Paris. Hachette 1866. 
Michel Chevalier, die Weltinduftrie, über. von Horn. Stuttg. 
1869. — Uebrigens ift es für ben Nationaldlonomen ſchwer, allen 
Fortſchritten der Technik und des Mafchinenwejens zu folgen und 
die hiernach fich bemeſſende größere Billigfeit und Leiftungsfähig- 
teit ber Induſtrie im Detail zu überſehen, da auch die ſpezifiſch 
technifhen Werke darüber oft nicht einmal Auskunft geben. 
Biel Gutes gerade nad) technifcher Seite enthält auch Viebahn's 
Sewerbeftatiftif. 


Der Fortſchritt des Großbetriebs im Zollverein. ' 163 


in der Baumwollſpinnerei. Die Etabliffements fteigen 
1837 bi8 55 von 152 auf 209, finten 1858 auf 127, 
1861 auf 69. Aehnlich gebt es in vielen Branchen ver 
Gemwebeinbuftrie, beſonders auch in den Hülfsgemwerben, 
ven Särbereien, DBleichen, Appreturanitalten. Für fie 
find techniiche Kräfte ausgezeichneter Art ein Bedürfniß. 
Sole können nur in großen Stablifjements angeftellt, 
voll beichäftigt und bezahlt werben. 

Bon immer größerer Wichtigkeit werden die Unter- 
nehmungen, welche uns die Brennftoffe und Die Metalle 
liefern. Auch fie zeigen dieſelbe Tendenz. Die Heinen 
Zorfitiche ventiren faum; immer mehr bilden fich große 
Anftalten, die den Torf als Brennmaterial, Leucht- 
material, als Düngemittel zu chemilchen Zwecken in 
Ihftematifcher Weile ausnutzen.“ Die Leiftung jeves Ar- 
beiter8 in den Steintoblenbauten der Ruhr war 1855 
noch 700, 1864 986 Tonnen; die Zahl der Werte 
dat nicht zugenommen, aber ihre Größe. Mit ihr haben 
fih die technijchen Einrichtungen, die Maſchinen ver- 
beffert, und dadurch wird Die größere Leiftungsfähig- 
feit jedes Arbeiter erreicht. ? Die Jahresproduktion 
eines zollvereinsländiſchen Steintohlenweris war 1848 - 
148 344 Zentner, 1857 - 354 694 Zentner.? Aehnlich 
geht es mit allen Bergwerken. Die in Spelulations- 
zeiten in großer Zahl auftauchenden kleinen Gruben, 





1) Zeitjchrift des ſächſ. flatiftiichen Bureaus II, ©. 9 fi. 
2) Hoder, die Großinbuftrie Rheinlands und effalene 
6. 217, verglichen mit 227 —28. 
3) Viebahn II, 366. 
11* 


164 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


fagt die Zeitjchrift des ſächſiſchen ftatiftiichen Bureaus ‚1 
verſchwinden immer bald wieder, theils durch Konjoli- 
dation, theils durch Auflaffung; aber die größern ſtärken 
fich und dehnen fich aus, jo daß — mit Ausnahme des 
Kobaltbergbaues, welcher die frühere Höhe nicht wieder 
erreichen dürfte — ſowohl nach Arbeiterzahl, ald nach 
Produktion alle Hauptzweige des Bergbaues thatjächlich 
trotz der Verminderung der Grubenzahl im Steigen 
begriffen find. Und nicht viel Anderes als von ben 
Dergwerfen wird von den Hütten- und Eijenwerfen 
berichtet. Ein Heiner Hochofen nach Dem andern wird 
ausgeblajen, nur die großen halten fich. ‘Die Leiftungs- 
fähigfeit der großen Eifengießereien und Dlafchinenfabrifen 
wächft mit dem Umfang. Bei Krupp in Eſſen, erzählt 
ein Augenzeuge, find zur Erzeugung des Gußftahl 240 
Schmelzöfen in einer Gußhütte aufgeftellt; beim Guß 
wirkt eine eigens dazu bejtimmte gut eingefchulte Bri⸗ 
gade von 800 Mann nach dem Kommando mit einer 
Itaunenswerthen Präzifion zufammen, wobei bis auf Die 
Sekunde jeder Handgriff, jede Leiftung in den Zufammen- 
bang des Ganzen paflen muß.? 

Die feinen Ziegeleien können nicht mehr konkur⸗ 
riren mit ben beſſer eingerichteten großen. „Ein Hof- 
mann’jcher Ringofen veranlagt manche Feldziegelei zum 
Eingehen.” Die Steingutfabrifation und die Glasinbuftrie 
leiden unter der Holztheuerung; fie können nur durch 
ganz große, technijch vollendete Heizeimrichtungen und 


1) VI. Jahrg. 1860. ©. 79. 
2) Hoder, ©. 373. 


Die Großinduftrie und das Handwerk. 165 


Uebergang zur Steinkohle billig genug prodigiren.! Die 
Zahl der Branntweinbrennereien im Zollverein hat von 
11225 im Sabre 1851 auf 7711 im Jahre 1865 
abgenommen, die Produktion ift auf Das Anderthalb⸗ 
fache geitiegen. Bon den Zuckerfabriken machen bie 
großen Die beiten Gejchäfte Die alten einen Mahl- 
mühlen, welche für Kunden um Lohn arbeiten, ver- 
ſchwinden wenigftens in den Städten, große Dampf- 
müblen, technijch vollendet eingerichtet, treten an bie 
Stelle und fie arbeiten nicht mehr um Lohn; der 
Dampfmüller macht eigene Gejchäfte, um zugleich alle 
Bortheile des Preiswechjeld und der großen Spefula- 
tion auszunugen.? Die Zahl der ſämmtlichen Dampf- 
maſchinen nimmt nicht jo zu, wie ihr Umfang; die Zahl 
berjelben jtieg im Königreich Sachlen von 1856 bis 
1861 um 82 Prozent, die der Pferbefräfte um 119 
Prozent. 3 

Ich Habe Diele zahlreichen Beifpiele der immer groß- 
artiger fich entwidelnden Großinbuftrie abfichtlich ange- 
führt, um dadurch von felbft ven Einwand hervorzu- 
rufen, den ich machen muß; nämlich den, — was hat 
biefe ganze Entwidelung mit dem Handwerk zu thun? 
Was fchadet e8 dem Bäder und Fleifcher, dem Schub- 
macher und Schneider, dem Tiſchler und Schloffer, wenn 
bie Spinnereien und Färbereien, die Gruben und Hütten, 


1) Viebahn III, 866. 
2) Zeitjchrift des ſächſ. ſtatiſtiſchen Bureaus II, 126, 
3) Daſelbſt VIII, 105. 


166 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


die Brennereien und Mühlen immer größer werben? 
Das ift eine Sache für fich. 

Diejer Einwand ift richtig; er zeigt uns wenigfteng, 
daß die landläufige Phraſe, die Großinduſtrie habe das 
Handwerk verdrängt, die Sache nicht erichöpft. Diele, 
man könnte fagen die meiſten, Großinpujtrien berühren 
das Handwerk nicht direkt; fie beziehen ſich auf neue 
Detriebe, auf folche, welche nie dem Handwerk ange- 
hörten; daß fie felbft in immer größere Etabliffements 
ſich konzentriren, kann dem Handwerk nicht ſchaden. 
Ihr Wachsthum muß im Gegentheil, wie das Wachſen 
der DVerfehrsanftalten, der Eifenbahnen, der Bolten, 
mehr Handwerker bejchäftigen. 

Es gilt dieß freilich nicht von allen den heutigen 
großen Fabriken und Etabliffements; die Spinnereien 
haben allerdings die profeffionsmäßigen Spinner ver- 
drängt; die ganze Gewebeinbuftrie ift heute noch mitten 
im Kampf zwilchen Handwerk und Fabrik begriffen; 
ähnlich ein Theil der Metallinpuftrie und der Holz 
waareninduſtrie. 

Aber immer find das nur einzelne beſtimmte Ge⸗ 
werbszweige, die fo direkt mit den Fabriken zu kämpfen 
haben. Und doch fehen wir in der Geſammtheit ver 
" Kleingewerbe Aenderungen, deren Urfachen wir uns klar 
zu machen haben. Um diejen näher zu treten, müſſen 
wir etwas weiter ausbolen. 

Die tiefer liegende Urjache, die auch ver Mechanik 
und Technik der Neuzeit erft die Möglichfeit einer allge 
meinen Anwendung verichaffte, ift die Aenderumg des 
Verkehrs, aller Verkehrsformen. Ich will nır an 


Die Berfehrsänderungen. 167 


einige Thatfachen und Iahreszahlen flüchtig erinnern.! 
Sie werden fchlagend zeigen, in welch engem Zufammen- 
bang fie gerade auch mit der Gefchichte der Klein⸗ 
gewerbe fteben. 

Alle unfere beutigen Verkehrsmittel find neuejten 
Datums, wenigftens ihre allgemeine Anwendung. ‘Der 
engliihe Kanalbau nimmt erft feit 1755 eine größere 
Bedeutung an; Großbritannien hat 1824 fchon 528 
deutiche Meilen Kanäle, Altpreußen 1866 erjt 94,. 
Der englifche und franzöfiiche Straßenbau beginnt eben- 
falls erſt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 
In Preußen baut Friedrich der Große 1757 die erfte 
Chauffee. Erft 1812 lernt Mac Adam ? die heute all- 
gemein übliche Methode des Chauſſeebaues in China 
fennen; erft gegen 1820 verbreitet fie fich in Europa, 
erft nun beginnt der größere Srachtverfehr mit ſchweren 
Laſtwagen ftatt der Heinen Karren. Im Sabre 1816 erifti- 
ten in Preußen 3 694 Frachtfuhrleute mit 8440 Pferben, 


1) Zu vergleihen: Behm, bie modernen Verkehrsmittel, 
19te8 Ergänzungsheft der Petermann'ſchen Diittbeilungen. 1867. 
Die Bertehrsmittel auf der Weltausftellung zu Paris im Jahre 
1867, offizieller öftr. Ausftellungsberidht , 2te Lieferung. Perrot 
zur Geſchichte des Verkehrsweſens in Faucher's Bierteljahrs- 
ihrift XXI, 27 ff. XXI, 62 ff. Berlin 1867. Baxter, Railway 
Extension and its Results in dem Journal of the statistical 
society 1866, S. 549 — 595. 


2) Ueber die Wirkungen der Mac Adam’ichen Chauffeebau- 
methode bis in alle Einzelheiten des Dorflebens fiehe die hübſche 
Skizze von 3. ©. Kohl „alte und neue Zeit im Dorfe Lehr- 
bach“ in der Bierteljahrsichrift für Volkswirthſchaft VII, 1— 7. 


168 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


im Jahre 1861 9642 mit 27464 Pferden. Straßen 
(Shauffeen) zählte man in Preußen: 
vom 
Staat unterhaltene anbere zufammen 
1816 4198), Meilen 1023), Meilen 5921), Meilen 
1831 848%, » 298%, > 11471, = 
184 — . — . 1383,» 
1862 1926 . 1865, + 379lı > 
Die Hauptthätigfeit im Chauffeebau fällt erft in bie 
Zeit von 1844 — 1861. 

Die erjten modernen Poften waren von Franz von 
Taxis zwilchen Wien und Brüffel 1516 eingerichtet 
worden. Im Brandenburg richtete der große Kurfürft 
etne Yandespoftanjtalt ein, „weil zuvörderſt dem Kauf - 
und Handelsmanne hoch und viel daran gelegen fei.“ 
Es waren Reitpoften, fpäter auch Poltivagen, welche 
die Poſt von Berlin nach Königsberg in 4, von Amiter- 
dam nad) Königsberg in 12 Tagen brachten. Das war 
eine außergewöhnliche Schnelligfeit, die allgemeines Auf- 
jeben erregte. Den Perjonenverfehr übernahmen die 
Poiten in England ımd Frankreich früher; in Deutſch⸗ 
land mußte man im 18. Jahrhundert eigene Fuhrwerk 
faufen, Extrapoſt nehmen oder mit den konzeſſionirten 
Zandfutichen fahren. Sie vermittelten den Perjonenver- 
fehr, aber entjeglich langſam. „Won Dresden nach 
Berlin ging die Landkutſche alle 14 Tage, nad) Alten- 
burg, Chemnig, Freiberg, Zwidau ein Mal wöchent- 
lich; nach Bauten und Görlitz war die Zahl der Bal- 
jagiere nicht jo ficher, daß der Kutſcher jeve Woche an 
beitimmten Jagen abgehen konnte; nach Meißen gingen 
das grüne und rothe Marktichiff, jedes ein Mal wöchent- 


mr — 


Das Poſtweſen. 169 


ih Hin und zurüd. Man reifte auch mit der beiten 
Fuhre fehr Yanglam. Fünf Meilen der Tag, zwei 
Stunden die Meile, feheint der gewöhnliche Fortſchritt 
geweien zu fein. Eine Entfernung von 20 Meilen war 
zu Wagen nicht unter 3 Tagen zu durchmeifen, in ver 
Regel wurden 4 dazır gebraucht.” 

In England hatte man für die Briefbeförberung 
ſchon länger die fogenannten Schnellpoften. Der preußtiche 
Seneralpoftmeifter von Nagler führt fie 1824 auf deutſchem 
Boden ein. Es erregt große Bewunderung, daß der Poft- 
wagen von Berlin nach Magdeburg, der vorher 2 Tage 
und eine Nacht gebraucht, nunmehr den Weg in 15 
Stunden zurüdlegt. ‘Die Perjonenpoften zum Verkehr von 
Perfonen, Briefen und Paketen zujammen datiren in 
Preußen erſt von 1838. Landbriefträger gab e8 1846 
erit 571 in Preußen, 1856 jchon 3868. Das Land⸗ 
briefträger - Inftitut beförderte 1850 etwa 74], Millionen 
Briefe, 1856 ſchon 15 Millionen.“ 

Die Briefportoreform ging von England aus; Row⸗ 
land Hill ſetzt 1840 die einſtufige Taxe durch; 1839 
wurden in England 79, 1840-186, 1854 - 400, 
1862-605, 1865-720 Millionen Briefe befördert. 
In Breußen fonnte noch 1844 ein Brief bis 19 Sgr. 
boiten. Bon Frankfurt a / M. bis Berlin foftete er 
8 Sgr., von Frankfurt a/M. bis Danzig 15 Sgr. Im 
Jahre 1844 tritt die Ermäßigung auf höchjtens 6 Ser. 


1) Vergl. darüber Jahrb. für Die amtliche Statiftit I, 516 ff. 
Schmidt, zur Geſchichte der Briefportoreform in Deutichland 
in Hildebr. Jahrb. IT, S.1 fi. 


170 Die Umgeftaltung von Produftion und Verkehr. 


ein. Die Dresdener Poſtkonferenzen von 1847 — 48 und 
der Poftvereinstag von 1851 bringen die breiftufige 
Brieftare, der norddeutſche Bund 1867 die einjtufige. 
Die preußiiche Poft beförderte 1840 - 36, 1854-90, 
1861 - 140, 1862 - 148 Millionen Briefpoftgegen- 
ftände. Die Hauptentwidelung fällt wieder nach 1850. 

Die erjte regelmäßige Dampfſchiffahrt zwilchen 
Amerifa und England wird 1838 eingerichtet; 1848 
beſaß England 1100, 1866 3165 Dampfer; bie 
norddeutiche Handelsflotte zählt 1866 erit 249 ‘Dampfer. 
Die großen regelmäßigen Dampferlinien des Weltver- 
kehrs find meift erſt in ven letten Jahren eingerichtet 
worden. 

Die erſte Eiſenbahn wurde 1825 von Darlington 
nach Stockton, mehr nur für den Kohlenverkehr eröffnet. 
Die erſte wichtige Eiſenbahn war die 1830 zwiſchen 
Mancheſter und Liverpool vollendete. Das preußiſche 
Eiſenbahngeſetz ſtammt von 1838; erſt im Jahre 18421 
kam dadurch Leben in die Sache, daß die Regierung 
Zinſengarantien übernahm; im Jahre 1847 entſchloß 
fie ſich ſelbſt Hand and Werk zu legen. Im Jahre 1840 
exiſtirten in Preußen 17 Meilen Bahn, 1845 - 138, 
1850-356, 1855-467, 1860-713, 1866 - 874 Mei- 
Ien. Eine Meile Bahn fommt 1866 in Preußen auf 
5,, D Meilen, in Frankreich auf 5,,, in Großbritannien 
und Irland auf 2,,, in Belgien auf 1,,.? 


1) Bluntſchli, Staatswörterbuch Art. Eifenbahnen IH, 379. 
2) Jahrbuch für bie amtl. Statiftit I, 607 — 9 u. preuf. 
Handelsarchiv 1867. II, 710. 


Die Eiſenbahnen und Telegraphen. 171 


Die Telegraphenlinien find noch jünger. Die 
Telegraphie wurde 1840 zuerft an engliichen Bahnen 
angewandt. Erſt 1843 ließ die ‘Direktion der rheini- 
ſchen Eifenbahn bei Aachen die erfte kurze Leitung aus- 
führen. Der beutfch-öfterreichifche Telegraphenverein hat 
1856 Linien von 2317, 1865 von 5623 Meilen Länge 
im Betrieb. Die Anzahl! ver in ganz Preußen beför- 
verten Depefchen betrug: 

18550 . 


22.858317 
18555 . . . . 152820 
1860... .... 8384335 
1862 2... .. 660297 
1866 . . . . 1.544400.2 


Damit im Einklang fteht die Weltbandelsentiwide- 
lung, die ganz ähnlich in allen europäiſchen Staaten erſt 
etwa won 1850 an ihren großen Aufichwung nimmt. 
Ich belege dieſe Thatjache nur mit einigen englijchen ‚3 
franzöſiſchen‘ und deutſchen * Zahlen. 

Werth der großbrit. Aus⸗ und Einfuhr. Werth der franz. Aus⸗ und Einfuhr. 
1833 85 Mil. Pf. St. 


1840 119 - ss. . 1840 82 Mill. Pf. St. 
1845 135 -» ss» 1845 GT an 

. 1850 1 = = e 1350 192 +» = 
1855 KO = 55 1855 173 = =» » 
160° 8905 =» - = 1860 232 » = » 
1865 40 =: ss =: 165 293 = => »- 


1) Jahrbuch für die amtliche Statiftil I, 537. 

2) Handelsarchiv 1867 I, 574. 

8) Baxter a. a. DO. ©. 564. 

4) Daſelbſt S. 575. 

5) Hamburgs Schiffahrt und Handel 1867, offiziell tabella- 
riſche Ueberfichten. 


172 Die Umgeftaltung von Probuftion und Verkehr. 


Werth von Hamburgs Einfuhr. 
Zollpflichtige Einfuhr. 
1821 — 30 69 Mil. Mark Banco. 
1831 —40 8 + ⸗ ⸗ 
1841 —50 104 ». 
1851 —60 152 + 
1861 —65 169 +» 
1865 1838 > 
Totale Einfuhr. 
1846 — 50 295 Mil. Mark Banco. 
1851 —55 453 — . . 
1856—60 605 » 
1861—65 707 = 
1865 771 ⸗ 
1866 779 = 
1867 819 =» 


Aber nicht Bloß auf die großen Welthandelsitraßen 
muß man bliden, wenn man das heutige Wachien des 
Verkehrs ermeſſen will; eben fo jehr muß man fich 
erinnern, daß auch ver beveutende Iofale Verkehr, bie 
meiften Vicinalwege, die Landpoſtſtellen, die Landfahr⸗ 
gelegenheiten, die Drofchlen und Omnibuffe in ven Städten 
erit Kinder der legten Sabre und Jahrzehnte find. 

Das Inftitut der Fiaker entitand 1630 in Paris. 
In Berlin! wurden 1739 durch Friedrich Wilhelm I. 
15 Fiaker eingerichtet, die regelmäßig auf einigen ver 
größeren Plätze bereit jtehen follten. Im Jahre 1780 


1) Dieterici jr., geſchichtliche und ſtatiſtiſche Mittheilungen 
über das öffentliche Fuhrweſen in Berlin, Zeitfchrift bes ftat. 
Bär. V. S. 155— 164, 179—189. Bruch, der Straßen- 
verfehr in Berlin im Berliner Gemeinbelalender für 1868, 
©. 65 —. 121. 


Der Welthandel und der ſtädtiſche Verkehr. 173 


gab e8 deren 20. Erſt 1815 wurde das Berliner 
Drofchlenwefen orventlich polizeilich geregelt. Im Jahre 
1836 eriftirten etwa 300 bis 400 einſpännige Drojchten, 
1848 - 839, 1860-999, 1865 bagegen fchon 2077. 

Die Ommibuffe für den ftädtiichen Verkehr kommen 
in Paris und London in den zwanziger Iahren auf. Im 
Berlin werben fie 1846 eingeführt; es find 1848 erft 
19 Wagen, 1855-43, 1860-47, 1862-110, 1864 
dagegen fchon 393, die diefem wichtigen Verkehrszwecke 
dienen. Noch neuer find die Straßeneifenbahnen; in 
Berlin exiſtirt erſt jeit wenigen Jahren die einzige Berlin- 
Charlottenburger Linie, während bauptjächlich in Ame- 
rika e8 deren in allen großen Stäbten feit 10 — 15 
Jahren giebt, und fie dort einen Hauptfaktor des enormen 
Anwachſens der Städte bilden.“ Der Höhepunkt ftäbti- 
ſchen Verkehrs wird freilich erjt erreicht durch die 
Stabteifenbahnen mit Dampfbetrieb, wie fie vollſtändig 
wohl erft in London organifirt find. ‘Der Metro- 
politan Railway? transportiert jährlih 111 Millionen 
Perjonen. Jeder ſoll dabei nur eine Stunde Arbeitszeit 
gewinnen, To giebt das in dem einen Jahr ein Plus 
von Arbeitszeit für die Londoner Bevölkerung von 
111 Millionen Stumden oder, wenn man das Jahr 
zu 300 Arbeitstagen und den Tag zu 10 Arbeitsitunden 
rechnet, von 38 000 Yahren. 

Nicht um ftatiftiiche Notizen zu häufen, babe ich 
alle dieſe Zahlen mitgetbeilt, ſondern um durch fie 

1) Wiß, das Gejet der Bevölkerung und die Eifenbahnen. 


Berlin, Herbig 1867. ©. 55. 
2) Passy, les machines ©. 38. 


174 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Maß und Zeit der großen Aenderungen einigermaßen 
feitzuftellen, um durch fie zu erklären, warum bie 
Krifis der Handwerker in den vierziger Iahren beginnt, 
um durch fie anfchaulich zu machen, daß wir, in 
Deutichland wenigftens, nur einen Theil der ganzen 
Umwälzung hinter uns haben. | 

Die frühere Zeit, der vie Verkehrsmittel fehlten, 
mußte alle gewerbliche Thätigkeit Iofalifiren. Produktion 
im eigenen Haufe, im eigenen Dorfe, in ber eigenen 
Stadt, wenigſtens im eigenen Kreije, Das war Die Folge 
davon, daß man Anderes nicht geſehen, nicht Tennen 
gelernt, daß man e8, jelbit wenn man es kannte, nur 
jchwer beziehen Tonnte. “Der perjönliche Reiſeverkehr, 
der Brief- und Zeitungsverfehr, ver uns jeßt leicht und 
ſchnell Nachricht und Kenntniß des Volllommenern überall 
her bringt, ift ebento wichtig -für die Aenderung aller 
Produktions - und Konſumtionsverhältniſſe, wie ver 
fachliche Verkehr, der ung die Waaren felbft bringt. 

Alle größere, alle ſpezialiſirte Produktion, alle 
weiter gehende Arbeitstheilung ift erſt mit diefem Ver⸗ 
febr möglich geworden. Die Art der Produktion, wie 
fie früher mm für wenige leicht transportable Lurus- 
gegenftänvde üblich war, ift jest erjt auf die Maffe, auf 
die Mehrzahl der gewöhnlichen Waaren anwendbar. 
Deshalb Hat diefer neue Verkehr das Größte wie das 
Kleinſte geändert. Ueberall und in allen Beziehungen 
bat er die Fäden des wirtbichaftlichen Lebens ausein- 
andergezogen, künſtlicher und komplizirter gefnüpft, er 
bat geichäftlich und lokal — dem Wohnorte nach — die 
Menichen anders gruppirt, er Bat den Handel wie bie 


Die Folgen der Berlehrsänberungen. 175 


Produktion, die Anfchauungen und Bebürfniffe der 
Menſchen, wie ihre Sitten und Lebensgewohnheiten 
umgeftaltet.. Durch dieſen Verkehr vor Allem ift es 
anders geworden in der Welt, feit ver Großvater bie 
Sroßmutter nahm, ift es anders geworben in Haus 
und Hof, am Familientiſch wie in der Geſindeſtube, 
auf dem SIahr- und Wochenmarkt wie im Laden bes 
Städtchens, auf den großen Börjen wie auf den rie 
figen Stapelplägen, wo zwei Welten ihre Schäße 
tauchen. 

Die totale Aenderung der Verfehrsverhältnifie und 
die hieraus folgende Revolution in der ganzen PBro- 
duftion und in ber Iofalen und geichäftlichen Gruppirung 
der Menſchen hat auch die Unzufriedenheit mit der früher 
beſtehenden Gewerbe- und Nieverlaffungsgejetgebung erft 
jo geiteigert, daß fie mit Necht Beachtung verlangte. 
Solange die Zuftände fich nicht weientlich änderten, bie 
großen und Fleinen Städte, Städte und plattes Land in 
denfelben Verhältniſſen blieben, da war zwiſchen Gewerbe⸗ 
freiheit und einem Zunft- und Konzeſſionsſyſtem, Das 


liberal gehandhabt wurde, fein fo großer Unterſchied. 


Als aber alles in Fluß kam, als alle Zuſtände andere 
wurden, als die Technik, die Arbeitstbeilung, die Ge⸗ 
häftsorganifation total andere wurden, ohne baß bie 
Bureaukratie oder irgend Jemand anders die Tragweite 
der nothwendigen Aenderungen und Ueberſiedlungen auch 
nur entfernt ermeſſen konnte, da erſt hörte jede Mög—⸗ 
lichkeit, ein ftantliches Zunft» und Konzeſſionsweſen, 
einen in alter Weiſe polizeilich kontrolirten Detail- und 
Hauſirhandel der realen Umbildung entjprechend zu Yeiten, 


176 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


auf. Da mußte man freien Spielraum geben, wenn 
man auch manchen Mißſtänden, manchem modernen 
Schwindel dadurch ebenfalls freie Bahn gab. Durch 
eine bureaufratifche Leitung ſchadete man zu viel, hemmte 
man bie nothwendbige, den Wohlitand im Ganzen jeben- 
falls außerordentlich befördernde gewerbliche und Verkehrs 
revolution zu ſehr. 

Bleiben wir zunächſt beim Kleinſten und Größten, 
bei der Umbildung der Familienwirthſchaft und der 
veränderten lokalen Vertheilung der ganzen Bevölkerung 
ſtehen. 

Wenn ich davon ſpreche, was in der Familie ſeit 
drei Generationen anders geworden iſt, ſo bleibe ich 
nicht dabei ſtehen, was der Verkehr geändert hat. Es 
iſt mir gleichgültig, ob der ſich ändernde Verkehr die 
erſte, die Umbildung der Produktion die zweite Urſache 
iſt; ich kann nicht genau ausſcheiden, wie viel auf die 
erwähnten Urſachen, wie viel auf Rechnung des größern 
Wohlſtandes und Kapitalbeſitzes kommt. Weſentlich iſt 
mir ja nur, zuſammenfaſſend zu zeigen, wie alle dieſe 
Urſachen in Verbindung mit der ganzen Lebensrichtung 
der neuen Zeit dem wirthſchaftlichen Leben der Familie 
und damit dem Handwerke eine andere Stellung gegeben 
haben. 

Roſcher erzählt nach Eden, daß noch zu Ende des 
vorigen Jahrhunderts der Bauer in Hochſchottland Weber, 
Walker, Färber, Gerber, Schuſter in eigener Perſon 
war; es galt noch das alte Wort „every man Jack 
of all trades.“ Das ijt theilweife bet uns noch fo in 
den rein agrariichen Gegenden. Noch 1861 kommen in 





Die frühere Wirthſchaft der Familie. 177 


der Provinz Preußen auf 765 gewerbsmäßige Linnen- 
webitühle 114 550, die in den Bauerhäufern ftehen und 
dort weſentlich mit für den eigenen Bedarf arbeiten. 
Hoffmann berichtet 1837, daß die Landbevölkerung 
Preußens meiſt das jelbitgewebte fogenannte Wand, ein 
tuchartiges ftarfes wollenes Gewebe, zu Oberröden und 
Mänteln trägt. Noch jchlachtet in vielen Gegenven ber 
Bauer zu Anfang des Winters jeine Kuh und ein ober 
zwei Schweine für den Winter, von dem eigenen Baden 
des Brotes gar nicht zu reden. Noch foll in Oberbaiern 
in manchen Dörfern, wenn ein Haus gebaut wird, Die 
ganze Gemeinde zujammen helfen. „Am mittleren Inn” 
— heißt e8 in der Bavaria! — „beiteht noch die Sitte, 
daß die Bauern mit ihren Leuten unter Beihilfe weniger 
Handwerker die Häufer ſelbſt bauen; jogar die Ziegel 
zu ben Masern werben nicht felten von den Landleuten 
jelbft bereitet; alle Arbeiten der Handwerker, felbft der 
Tiſchler und Maler, werden auf der fogenannten „Stör” 
beforgt; der Bauherr Tiefert Die Rohſtoffe, beföitigt bie 
Arbeiter und zahlt gewöhnlich noch einen Tagelohn.“ 
Noch ift es der Polizei nicht ganz gelungen, die Spinn- 
ituben Oberbaterns zu fchließen, wo die Frauen und 
Mädchen ſpinnen, die Burſchen Späne ſchneiden und 
allerhand Schnitzwerk fertigen. 

So wie es auf dem Lande noch heute zugeht, ſo 
und ähnlich ging es im ſtädtiſchen Bürger⸗ oder Beamten⸗ 
hauſe noch vor 60, noch vor 30 Jahren zu. Weſſen 
Erinnerung zurückreicht in das großelterliche Haus, das 


1) I, erſte Abtheilung ©. 283. 
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 12 


178 Die Umgeftaftung von Produktion und Verkehr. 


noch vor dem Anfang dieſes Jahrhunderts begründet 
wurde, ber kann fich eine Vorjtellung Davon machen, 
was wir meinen. Wem dieſe Erinnerung fehlt, ver 
möge einen Blick in Kießelbach's reizende Skizze über bie 
„drei Generationen”! werfen. Ich will nur mit einigen 
Worten an jene Zeit erinnern. 

Die Spindel war noch immter das Symbol der 
Hausfrau; ſelbſtgeſponnenes Linnen zu tragen, war 
Ehre und Stolz; eine heilfame Sitte war ed, daß in 
allen Rreifen die Jungfrau nicht für eigentlich berechtigt 
galt zur Ehe zu fchreiten, ehe fie die Ausftener aus 
ſelbſtgeſponnenerLeinwand beichaffen fonnte. Dem Weber 
des Haufes wurde das Garn überliefert, er Hatte die 
Leinwand zu fertigen; für die Bleiche ſorgte wieder bie 
Hausfrau. Aber nicht nur an Leinwand, auch an ‘Tuch, 
ſelbſt an Leber hielt man eigene, forgfältig bereitete oder 
gewählte Vorräthe; die Schränfe mußten wohlgefüllt fein. 
Das Weißzeug, die Kleider, die Beſchuhung ſelbſt wurden 
im Haufe gefertigt; der Schneider, der Schufter kam 
dazu als technijcher Gehülfe. 

Auch Polſterwaaren und Betten entſtanden in ähn⸗ 
licher Weiſe. Von ſelbſt geſchlachtetem Geflügel wurden 
die Federn durch eine Schaar eigens ſich hiezu ver- 
miethenver Weiber ausgelejen; Das Roßhaar wurde forg- 
fältig gereinigt; ber Poljterarbeiter mehr als jever andere 
mußte unter dem Auge der Hausfrau arbeiten, bamit 
die Füllung der Bettjtüde, der Matragen, der Sophas 
ficher mit dem gewählten Material und in der gewünfchten 


1) Deutſche BVierteljahrsfchrift 1860. Ites Heft S. 1— 57. 


Die frühere Wirthſchaft der Familie, 179 


Menge erfolgte. Bei Gründung der Haushaltung, wie 
bei Erweiterungen verjelben wurde der Tiſchler beauftragt, 
bieje beftimmten Stühle und Tiſche, Bettftellen und 
Schränke nach Maß und Vorfchrift zu fertigen. Altjähr- 
lich erfchien er wenigftend eimmal bei der großen min- 
deſtens eine Woche dauernden Reinigung, um zu helfen, 
auszubeſſern, aufzirpoliren. 

Diefer NReinigungszeit ähnlich an Unruhe und 
Mühſal war die große Wäſche, die alle zwei oder Drei 
Monate gehalten wurde, welche wieder verſchiedene Ge⸗ 
werbe beichäftigte, von dem Kübler oder Böttcher, ber 
die Gefäße berrichtete, und den Wajchfrauen, Die am 
erften Zag Morgens um 2 oder 3 Uhr in bellen Haufen 
vor Das Haus rüdten, bi8 zu den Plättfrauen, die am 
letsten Tag die häusliche Ruheſtörung abfchloffen. 

Wichtiger als All das war die Thätigfeit für Küche 
und Keller. Das Gemüje, das Obſt zog man möglichft 
im eigenen arten; man batte feinen Gärtner, der an 
beitimmten Jagen erichten, wie jeinen Nebmann oder 
Weingärtner, der ben eigenen Weinberg bejtellte, vie 
Rebengelände am Haufe aufband. Das Holz wurde in 
großen Klaftern gekauft; eine Reihe von Tagen arbeitete 
der Holzfpalter mit feinen Jungen und Gehülfen im 
Haufe. Die Hauptforge der Hausfrau aber bezog fich 
auf die Winternorräthe, Die man theils jelbft probu- 


zirte, theils einfaufte; bis Alles in Ordnung war, batten 


aber mancherfei Handwerker dabei zu thun. Zum Ein- 

jchneiden und Einlegen des Sauerfrauts fam eine bejon- 

dere Frau mit ihrer Mafchine, ven felbitgefauften Weizen 

oder Roggen ließ man in der Mühle mahlen, das 
12 * 


180 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Drot wurde ſelbſt gefertigt; wenn man feinen eigenen 
Badofen hatte, wurden die Laibe in ven Gemeinde— 
badofen oder in ven Dfen des Bäders gebracht und da 
fertig gebaden. Die Sorge für den Keller und jeine 
Weinichäge, die Sorge für Inſtandhaltung der zahl- 
reichen Fäffer, die Beobachtung der Gährung des neuen 
Weins, die Nachfüllung ver Fäſſer, in denen ver alte 
Wein fich befand, das war dem Küfer anvertraut, ber 
jeve Woche einmal kam, bie Kelferichlüffel erhielt und 
ein paar Stunden fich im Keller zu thun machte. “Der 
Hauptfefttag aber war der des Schlachtend. Der Flei- 
ſcher mit feinen Gefellen hatte ein oder mehrere Tage 
zu tbun, bi8 die einzelnen Stücke in ber richtig Tompo- 
nirten Salzlauge lagen, bi8 die Würfte dutzend- und 
hundertweife im Nauche hingen. 

Kam endlich noch Landwirthſchaft Hinzu, hielt man 
Pferde, dann wurde auch. der Sattler, der Stellmacher 
oder Wagner, der Schmied in ähnlicher Weiſe beichäftigt. 
Sie famen ind Haus, zu beftimmten Zeiten oder herbei- 
gerufen, erhielten einen bejtintmten Tage- oder Stücklohn, 
theilweiſe Averſalſummen fürs ganze Jahr, daneben meift 
auch Koft, Brot, jedenfalls einen Trunk Wein, Bier 
oder wenigſtens Apfelmoft. | 

Das Handwerkszeug und einige Hülfsitoffe Hatte 
der Meifter zu liefern, fonjt brauchte er für Diefe Art 
ver Geichäfte kaum Vorräthe an Rohitoffen zu halten, 
noch weniger an fertigen Waaren. Er hatte daneben wohl 
auch Vorräthe und Waaren zum Berfauf, aber felten in 
ausgedehnten Maße; dazu fehlte der fichere Abſatz, wie 
das Kapital. Die Hausfrau mußte aljo die Vorräthe 


mm — — ——— — — — 
* 


Die heutige Wirthſchaft der Familie. 181 


halten. Waaren im Vorrath zu arbeiten, Möbel, Ge- 
räthichaften, Kleider, Schuhe auf Lager zu halten, war 
auch deswegen richt jo Yeicht wie heute, weil mit dem 
mangelnden Verkehr Die indivibuelle Liebhaberei, die 
Eigenart jedes Individuums mehr im Vordergrund ftand, 
weil entiprechend bem geringern Wohlitand die Kaufenven 
over Beitellenden damals viel mehr als heute ausichließ- 
ich der Klaſſe angehörten, die das nicht befiten will, 
was taufend Andere in gleicher Form haben. 

Heute iſt Das Alles, beinahe Alles anders geworben 
in jeder halbwegs mobernifirten Stadt. Vorräthe hält 
man nicht mehr, — Handlungen aller Art find ja in 
der Nähe, die Jahr aus Jahr ein biete, was man 
braucht. Man kauft fertige Hemden, fertige Kleider und 
Schuhe, fertige Möbel, auf Flaſchen abgezogenen Wein; 
Brot und Fleiſch wird ind Haus gebracht, theilweiſe gar 
das Eſſen; die amerifanifche Sitte, welche auch für 
ganze Familien das Leben im Boardinghauſe, im Gaft- 
bofe geftattet, beginnt auch bei und Nachahmer, Ber: 
theidiger zu finden. In großen Etabliffements läßt 
man wachen. Man bat in den größern Städten weder 
zum Halten der früheren Vorräthe, noch zur Vornahme 
aller jener früheren Verrichtungen die Räume. 

Der Laudator temporis acti fieht nur mit Weh- 
muth diefe Aenderungen. Und es tft wahr, baß in ver 
Art und Weile, wie früher die Wirtbichaft einer Familie 
geführt wurde, viele Motive und Veranlaffungen zu 
einem georoneten Leben lagen. Borficht und Sparjamfeit 
vor der Ehe, Umficht und Fleiß, haushälterifcher Sinn 
und angeftvengte Thätigkeit in ver Ehe hingen damit 


182 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


zuſammen. Aber follten dieſe moraliichen Eigenjchaften fo 
ausſchließlich mit einer einzigen Art äußerlichen Wirth- 
ichaftens verfnüpft jein? Sollten die Menjchen nothwen- 
dig wichtige Eigenfchaften verlieren, wenn einige äußere 
Beranlaffungen zu Fleiß und Sparſamkeit nicht ſowohl 
ganz wegfallen, als andere Form gewinnen. Die Aende- 
rungen find Bolgen wahrer techniicher Tortichritte, und 
jomit muß man fich ihrer bedienen, immer muß es 
möglich bleiben, auch mit der neuen Art des Wirth- 
ſchaftens das Leben fo zu geftalten, daß die alten wirth- 
ſchaftlichen Tugenden bielelben bleiben. 

Und das wird jelbjt der eifrigfte Freund des Alten 
zugefteben, daß in ven höhern Kreiſen die Tugenden 
des Fleißes, der Thätigkeit nicht verſchwunden find, Daß 
fie nur eine andere Richtung erhalten Haben. Es wurde 
früher für geringen Effeft viel geiftige und Törperliche 
Arbeitsfraft mit viel Geräufch und viel Unruhe ver- 
jchwendet. Die Arbeitskraft der helfenden Heinen Meiſter 
war nicht ausgenutzt; mit Qaufereien, mit Warten und 
Herumichlendern wurde viel Zeit verſäumt. Die Leiftun- 
gen nach techniſcher Seite konnten nur unvolllommen fein. 
Eine befjere Zeiteintheilung und Arbeitstheilung gibt jett 
beijere Leiftungen und Produkte mit geringerem Aufwand. 
Das Familienleben hat an Ruhe und an Möglichkeit 
- geiftiger und gemüthlicher Vertiefung gewonnen. 

Weniger freilich wird man das von den untern 
Klaſſen jagen köͤnnen. Da bat vie Leichtigkeit, Alles 
fertig im Laden zu Taufen, ftatt es durch die Thätigkeit 
der Hausfrau entſtehen zu laſſen, bis jet moraliſch eher 
ungünſtig gewirkt. Indolenz, Unluft zu weiblichen Ar- 


Bergleich der alten und neuen Zeit. 183 


beiten, ſelbſt Ungeſchicklichkeit zu baden und zu Tochen 
einerjeitd, Wrauenarbeit außer dem Haufe andererjeits 
find zujammenhängende traurige Beigaben der neuen 
Entwicklung. Aber auch bier find dieſe Folgen feine 
nothwendigen; überdies ift gerade in dieſen Kreijen, 
bejonders auf dem Lande, die alte Art der Wirthichafts- 
führung noch überwiegend und wird es noch lange bleiben. 

Aber ich vergeffe, daß ich Hier nicht von ‚den 
moralüchen Folgen dieſer Aenderung für das Familien- 
leben, ſondern von den Folgen für den Handwerkerſtand 
zu fprechen babe. Der Handwerker war früher ein 
techniicher Arbeiter, thätig für eine Anzahl ibm perjönlich 
nahe ftehenvder Familien. Jetzt dagegen tritt das Ver⸗ 
laufen fertiger Waaren immer mehr in Vordergrund; 
der Handwerker muß die Stoffe einfaufen, Lager halten, 
mit Borräthen fpefuliven; dazu gehört Kapital, Tauf- 
männiſche Bildung, eine höhere foziale Stellung. Eine 
viel Heinere Zahl größerer Geſchäfte wird übernehmen, 
was früher eine größere Zahl einzelner technifcher Ar- 
beiter d. h. Heiner Meifter mit den Hausfrauen zuſammen 
bejorgte. 

Sch werde davon im folgenden Abjchnitt noch weiter 
zu jprechen haben; vorher ijt es nöthig, noch von ber 
wichtigften Vorbedingung der ganzen Umwandlung zu 
ſprechen. AU das Erwähnte vollzieht fich hauptſächlich 
in den großen Städten. Die veränderte Vertheilung Der 
Devölferung ift mit die wichtigfte Folge der neuen Ver⸗ 
kehrsmittel. | 

Am Harjten hat man die Wirkung der Eifenbahnen 
auf die Benölferungsvertheilung in ven Vereinigten 


184 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Staaten von Nordamerika vor fich, und zwar besivegen 
klarer als irgend wo anders, weil bier die ganze Kultur 
erft mit den Eifenbahnen entjteht. Keine zahlreichen 
Dörfer und Marktflecken, Teine Meinen überall zerftreuten 
Städte, fondern einzelne Farmen und Rieſenſtädte, in 
denen fich Handel und Induſtrie Tonzentriven, die in 
wenigen Jahren um Hunderttaufende zunehmen, das ift 
das Bild, das fich ung dort bietet." Das riefige Anwachſen 
der Städte fpiegelt fich am ficherjten in den Boden - 
und Miethpreifen. „Eine Wohnung, welche in Leipzig, 
Dresden oder Berlin 100 Thaler foften würbe, koſtet 
in den beſſern XTheilen von Newyork und Bofton 
5— 800 Thlr. jährlich.” ? Auch der Aderboven fteht in 
der Nähe dieſer Rieſenſtädte ja höher im Preife als in 
Europa. ® 

Im alten Europa ift die Wirkung Yangjamer; bie 
beſtehenden Verhältniffe ftammen aus einer andern Zeit, 
und fie bleiben zunächſt maßgebend. Wo ver eine 
Beſitz vorherricht, da exiſtiren jeit dem Mittelalter vie 
großen Dörfer, Die Heinen Landſtädte. Bis zur Zeit 
der Eijenbahnen hat der fteigenve Verkehr in der Form 
ver Poften und der Frachtfuhrwagen dieſe Heinen Ver⸗ 


1) Bergl. Hauptfächlih Wiß, das Gefeß der Bevölkerung 
und die Eifenbahnen, eine volfswirtbichaftlihe und flatiftifche 
Unterſuchung geführt auf dem Terrain ber Vereinigten Staaten 
von Nordamerika. 

2) Douai, Land und Leute in ber Union. Berlin, Janke 
1864. ©. 224. 

3) Pflaume, Einleitung zur Kenntniß der nordamerikani⸗ 
ſchen Landwirthſchaft. Leipzig, Wigand 1866. ©. 57. 


Die Vertheilung der Bevölkerung in alter Zeit. 185 


kehrsmittelpunkte noch begünftigt. ‘Die Klagen aus dem 
vorigen Jahrhundert über den Verfall der Landſtädte 
find mehr auf die allgemeinen Urfachen gewerblichen Still- 
ſtands zurüdzuführen; theilweije find fie nur Ausorüde 
egoiftifcher Unzufriedenheit darüber, daß aufgeflärte 
Regierungen einige Handwerker mehr auf dem Lande 
zulaſſen; theilweife beruhen fie auf einem Irrthum. Sie 
beziehen fich auf Orte, die niemald größer waren, Orte, 
welche erſt in der Zeit des Heinftaatlichen Despotismus 
— der Märkte und ver unbeichränften Aufnahme von 
Gewerbtreibenden wegen — die Verleihung des Stabt- 
rechts an fie durchſetzten, und die num gegenüber ftäbtifchen 
Begriffen und Anfprüchen doch zu Hein waren. Ein 
Rückgang ver Heinen Städte als folcher ift ficher im 
vorigen Jahrhundert nicht eingetreten. Die Tleinen 
Territorien Deutjchlands beförderten ebenfalls eine gleich- 
mäßige Vertheilung ver Bevölkerung; da war eine Feine 
Refidenz, dort eine Univerfität, da war Garnifon, dort 
eine Kriegs- und Domänenfammer, ein Oberlanves- 
gericht. 

Diefe beftebenden Verhältniſſe ändern fich nur jchwer 
und langſam, aber immer find fchon weientliche Umbil- 
dungen eingetreten. Die vollöwirthichaftlichen Aenderun⸗ 
gen machen fich nach und nach umerbittlich geltend. Im 
Bezug auf die gewerbliche Entwiclung möchte ich vor 
Allem an die Rejultate von Roſcher's Unterfuchung über 
den Standort der Induſtriezweige erinnern. ! Er führt 
aus, wie im Mittelalter, überhaupt in Zeiten geringen 


1) Deutſche Bierteljahbrs- Schrift 1865. Heft 2. S. 139—201. 


186 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Verkehrs, in Zeiten, in welchen beinahe nur die Luxus— 
induſtrien ftärfer fich entwideln, die Gewerbe ven Markt⸗ 
mittelpunkt aufjuchen, da produziren, wo fie auch gleich 
verkaufen können. Mit der Zeit, fo zeigt er weiter, 
wird Das andere. Der Verkehr bat fich gehoben, ver 
Waarentransport ift jchon leichter, in den Hauptftänten 
ift das Leben und der Boden jchon jehr theuer geworben; 
die Maſſeninduſtrien fangen an fich zu entwideln, fie 
bebürfen der ſchweren Rohſtoffe, der Erze, der Kohlen, 
ſowie ver zahlreichen Arbeiter. Die Induftrie decentralifirt 
ſich, fie zieht. dem Uriprungsort der Rohitoffe, fie zieht 
ver Wafferkraft, dem billigen Arbeitslohn nach. Erft 
mit der Vollendung der Eijenbahnen wird das wieder 
anders. Die Lebensmittel innen nun viel leichter aus 
weiter. Ferne zur Stadt geführt werden. Das Wachien 
ift möglich ohne Steigerung der Lebensmittelpreife und 
der Löhne; und nicht nur Fleiſch und Getreide, auch 
Kohlen, Eijen, Wolle, Baumwolle fönnen jetzt billig 
Hunderte von Meilen weit her bezogen werben. Der 
billige und leichte Kredit in den Städten, die Leichtigkeit 
des Abſatzes, die mannigfaltige Förderung Durch perjün- 
liche Berührung und perjönliche Bekanntſchaft, die Hülfe 
ineinander greifender Induſtrien, die größere Möglichkeit, 
Abfälle zu verwerthen, die technifchen und Fünftlerifchen 
Bildungsmittel der Großſtädte werben jet das Ent- 
ſcheidende. 

Und wie die Induſtrie, ſo konzentrirt ſich auch der 
Handel; ein Mittelglied nach dem andern fällt aus, 
weil der Verkehr ſo viel leichter geworden iſt. Der 
Getreidehandel von Poſen und Breslau geht jetzt direkt 





Die Anziehungskraft der Stäbte. 187 


am den Rhein; er braucht die vermittelnden Handels⸗ 
haäuſer in Mittelveutfchland nicht mehr. “Der große Holz- 
handel von Süddeutſchland nach Holland ging früher 
durch mehrere Hände; der Holzhändler auf dem Schiwarz- 
wald, in Heilbronn, in Mannheim verkaufte an ben 
Kölner, der Kölner an ven Holländer, ießt fauft ber 
Commis voyageur des Hollänvers direkt in den Wäldern 
bei den Auktionen. Der Kolonialwaarenhandel bat fid) 
weſentlich umgebildet; ver Heinite Krämer fängt am, 
bireft von dem Antwerpener und Hamburger Großhändler 
zu faufen, um die Spejen zweiter und dritter Hand zu 
erſparen. Weftfälifche Hütten laſſen die Provinz Preu- 
fen bereifen und führen felbft die Hleinften Aufträge 
direft aus.“ Die großen Pläbe nehmen zu, die Fleinen 
ab. Auf den großen Pläßen ift jeder Käufer ficher, 
durch feine Zufälligkeiten getrübte, durch lebendige Kon- 
kurrenz feftgeftellte Stapelpreife zu erhalten, der Bezug 
bon den großen Plägen wird durch die billigen Trachten 
auf weite Entfermingen erleichtert. 

Und das find noch nicht die einzigen Urſachen, welche 
heute immer größere Menfchenmengen nach den großen 
Städten ziehen. Soziale und fittliche, reſp. unfittliche 
Motive aller Art wirken da mit; Bildungs- und Erzie- 
hungsintereſſen, die Anziehung, welche vie geiftig boch- 
geipannte Atmofphäre jeder Großſtadt übt, das Intereffe 
am Mittelpunkt von Politik und Literatur zu fein, dann 
wieder die Ausficht auf erlaubte und unerlaubte Genüffe 


1) Jahresberichte der Handelsfammern des preuß. Staates 
für 1865. Beilage des Handelsarchivs S. 102. 





188 Die Umgeflaltung von Produktion und Verkehr. 


aller Art, die Eitelfeit, welche dem Gefellen und Bauer⸗ 
jungen, der in der Großſtadt diente, die Bedientenlivree 
mit ihren Reizen verführeriicher macht, als eine jelbitän- 
dige Stellung auf dem Lande, — auch die Hoffnung 
auf eine befjere Armenverpflegung, hauptſächlich aber der 
Gedanke zahlloſer Halb und ganz verlorener Eriftenzen, 
dort in dem großen Getriebe irgend eine Chance zu 
finden, ehrlich oder mit Betrug und Schwindel in dem 
wechſelvollen Hazardſpiel des großftäbtiichen Lebens einen 
Treffer zu ziehen, — all das wirkt zufammen. Wie 
einfache Zeiten einen Abichen vor den engen Mauern 
der Stadt haben, fo ftürzen fich hoch⸗ und überkultivirte 
in den Strudel des‘ ftäptifchen Lebens Im fpätern 
römifchen Reich war das platte Land verödet, Alles 
wollte an den Genüffen der Städte theilnehmen. 

Sch brauche dieje allgemeine Richtung unferer Zeit 
nicht weiter zu jchildern; fie iſt Jedem befannt; es 
handelt fich bier vielmehr wieder, wie bei ben obigen 
Fragen darum, feitzuftellen, wie weit fie bei uns in 
Deutfchland und peziell in Preußen bis jett fich durch⸗ 
gejet bat, in wie weit ihr andere Thatſachen, die ein⸗ 
mal becentralifirte Inbuftrie, die beftehende Bodenver⸗ 
theilung, die Anhänglichfeit an bie engere und engite 
Heimat und manches Andere bis jet das Gleichgewicht 
gehalten Haben. ! 


1) Zu vergl. Dieterici, flatift. Unter. der Bevölkerung 
der Städte der Kurmark Brandenburg von 1736 — 1846, Mit- 
tbeilungen DI, 265 — 277; Dieterici, über die Anzahl und 
Dichtigkeit der Bevölkerung von Frankreich, England und Preußen 
m Allgemeinen und nad) den einzelnen Lanvestheilen, fowie über 


Städtiſche nnd ländliche Bevölkerung. 189 


Berechnet man zunächit die ganze ftäbtijche und bie 
ganze Ländliche Bevölkerung verſchiedener Staaten nach 
ben Ausweifen ver amtlichen Statistik, jo ift der Begriff 
ber „‚ftäbtifchen Bevölkerung” ja nicht überall und nicht 
jeverzeit gleich, aber ungefähr laſſen ſich die Zahlen 
boch vergleichen, wie e8 auch Wappäus, deſſen Reſultate 
ih anführe, gethan Hat. Im Preußen zählen befannt- 
lich bei den ftatiftiichen Aufnahmen diejenigen Drte als 
Städte, denen dieſes Prädikat nach dem beſtehenden Ver- 
waltungsrecht zukömmt. Es waren fchon 1816-935 
Orte, 1861 find e8 gerade 1000, von welchen etwa 3, 
über 1500, nur wenige unter 600 Einwohner haben. 
Die Ausdehnung der Bezeichnung „Stadt“ auf eine 
Anzahl früher nicht jo bezeichneter Orte ift von feiner 
jo großen Bedeutung, daß nicht zeitlich Die verſchiedenen 
Zablen verglichen werben könnten. 

Die ſtädtiſche Bevölkerung betrug nach Wappäus in 
ben beigefügten Jahren folgende Prozente der Gefammt- 


bevölterung: 
in Großbritannien 1851 50, % 
in Preufen . . 1855 28,08 ꝰ/0 
in Strand . . 1856 27,91 % 
in Belgien. -. . 1856 26,8 %- 


bie Vermehrung ihrer Bevölkerung in ben Teßten Jahrzehnten, 
Mittheilungen VI, 142 — 205. Dieterici, über bie Zunahme 
ber Bevölkerung im preuß. Staate in Bezug auf die Bertheilung 
terjelben nad Stadt und Land, aus den Abhandlungen ber Ala- 
bemie von 1857. Horn, bevölkerungswiſſenſchaftliche Studien 
aus Belgien 1854, ©. 47 —61; Wappäus, allg. Bevölferungs- 
ftatiftit 1861. II, 476— 546. Viebahn, Statiftif des Zollver- 
eins II, 138— 164. Schwabe, Statiftit des preußiſchen Stäbte- 
weiens, in Hildebrand's Jahrbüchern, VII, ©. 1— 32. 


190 Die Umgeflaltung von Produktion und Verkehr. 


Bon den englifchen Zuftänden ift man auf dem 
Kontinent noch jehr weit entfernt. Im einzelnen kleineren 
Diſtrikten freilich zeigen fich- Ichon andere Verhältniſſe. 
Es beträgt die ftädtiiche Bevölkerung: 

im Königreich Sadfen . . . 1855 35, % 

im Regierungsbezivt Düffelborf! 1851 39, % 

im ⸗ Potsdam . 1851 53, % 

im ⸗ Magdeburg 1851 35, %- 

In den andern NRegierungsbezirken ſchwankt fie zwiſchen 
9,, (Gumbinnen) und 31, %, (Erfurt). 

Iſt fo zunächit gegenüber andern Ländern die An- 
bäufung der Bevölkerung in den Städten immer noch 
eine mäßige, jo fommt die weitere Frage: iſt das ein 
ftabiler Zuftand, oder beginnen auch bei uns die Ver⸗ 
hältniffe fich zu ändern? 

Horn? fucht zu zeigen, Daß man Die Zunahme ber 
ſtädtiſchen Bevölkerung in Preußen ſehr übertreibe; er 
fagt, in ven 19 Jahren von 1831 — 49 babe in Preu⸗ 
Ben dieſe ſtädtiſche Bevölkerung nur zugenommen von 
27, auf 28,5%; Das fer feine wejentliche Aenve- 
rung. Die biervon etwas abweichenden Zahlen Legoyt's 
ergeben für Preußen allerdings eine geringere Aende- 
rung als für Frankreich. Die Prozente der ſtädtiſchen 
Bevölkerung waren nach ihm: 

1846 1851 1856 
in Sranfrih 2477 25. 27 
in Preußen . 26, 27,8 28,5 


1) Mittheilungen VI, 174. 
2) Bevölkerungswiſſenſchaftliche Studien ans Belgien. S. 25. 


Die preußifche ftädtifche Bevölkerung. 191 


Doch tft das auch für Preußen feine ganz unbedeutende 
Zunahme und wenn vollends 1858 die Städte 29,,, 1861 
30,4, 1864 31,57%, ! ausmachten, fo fieht man, daß der 
Zug nach den Städten immer nicht fo Hein ift, daß er von 
1831 - 51 vielleicht unbedeutend, dagegen 1851 - 64 
ſehr wirffam auftritt. Uno dabei ift nicht zu überfehen, 
daß in dem Geſammtdurchſchnitte der Städte die vielen 
ftabilen ganz Heinen Lanbftädte fteden; ohne fie würde 
ver ftäbtifche Zuwachs bebeutend größer ſich barftellen. 
Das erklärt ja auch allein, daß nach den Berechnungen 
des amtlichen Jahrbuchs die gefammte Ländliche Bevölfe- 
rung von 1816 bis 1858 nicht viel weniger zunahm 
al8 die ftäbtifche, von 100: 167, während bie ftäbtifche 
von 100 :181 ftieg. 

Was num aber das Verhältniß der verichiedenen 
Städte unter fich betrifft, jo ift Har, daß Die Zeit bis 
gegen 1850 eine andere war, als die von 1850 bis 
1869, und ebenfo unzweifelhaft ift, daß, abgejehen von 
den Großſtädten, die Mittelftädte von den Verkehrs⸗ 
änderungen anders berührt werben, als die ganz Heinen 
Ader- und Beamtenſtädte. Vollſtändige Unterfuchungen, 
die dieſe Frage nach allen Seiten hin abſchließend lösten, 
befigen wir Yeiver nicht. Won den vorhandenen hebe ich 
die von Dieterici und Schwabe hervor. 

Dieterici's Unterfuhung gebt auf Die Zeit von 
1840 -55. Er fucht zu beweiien, daß im dieſer Zeit 
nicht bloß und nicht am meiften Die großen, jondern 

3) Die Zahlen für 1858 und 61 nad Kolb, 4te Aufl, 


S. 171, bie für 1864 berechnet nach d. Zeitichr. bes flat. Bureaus 
1865. V. ©. 286. 


192 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


auch die Mittelftänte zugenommen haben; daß nicht bloß 
die hauptſtädtiſche Induſtrie, ſondern auch andere Ele- 
mente, Bergbau, ländliche Gewerbe, Landwirthſchaft 
am Wachsthum theilhaben. 

Ich führe nur einige Zahlen an. Im Regierung: 
bezirf Düffeldorf find an mittleren Städten von 1840-55 
ſtark gewachſen: Dülfen von 100 auf 157, Duisburg 
auf 165, Eſſen auf 203, Gladbach auf 157, Greven 
broich auf 134, Hüdeswagen auf 296, Kaiſerswerth auf 
135, Langenberg auf 133, Mülheim an ber Ruhr 
auf 133, Orſoy auf 133, Rheydt auf 153, Ruhrort 
auf 178, Solingen auf 154, Süchteln auf 169, 
Belbert auf 155, Vierſen auf 162. Aehnliches zeigt 
fih in der Mark: Angermünde ftieg in derſelben Zeit 
(1840-55) von 100 auf 136, Bernau auf 141, Die 
jenthal auf 132, Brandenburg auf 134, Charlottenburg 
auf 144, Köpnik auf 132, Friefad auf 132, Kremmen 
auf 142, Ludenwalde auf 141, Rhinow auf 151, 
Saarmund auf 158, Spandau auf 143, Werber auf 
130, Wittenberge auf 201; das find meift gegen ober 
über 3%, jährliche Zunahme. Von den großen Stäbten 
(über 30 000 Einw.) ftieg Breslau in derſelben Zeit von 
100 auf 131, Köln auf 142, Königsberg auf 118, 
Magdeburg auf 129, Danzig auf 109, Aachen auf 
123, Stettin auf 147, Krefeld auf 174, Barmen auf 
134, Elberfeld auf 130, Poſen auf 128, Halle auf 
126, Potsdam auf 120, Frankfurt auf 124; fie find 
alfo meist nicht fo ſtark gewachſen, wie bie Meitteljtäbte. 
Bon den fämmtlichen Hleinern Städten tft nur durch 
jchnittlich eine won 11 in dieſer Zeit zurüdgegangen; 


Die preußiichen Stäbte 1840 — 55. 193 


in der Provinz Sachſen z. B. nur Ditterfelo, Düben, 
Stolberg, Burg, Dardesheim, Hornburg, Kroppenitebt, 
Oſterwieck, Salzwedel, Wanzleben, Ellrich, Tennſtedt, 
Thamsbrück, Treffurt, alſo 14 von 138 kleinern Städten. 
Die ganze Zeit von 1840—55 Hat noch mehr die Rich⸗ 
tung auf Decentraliation der Induſtrie; noch iſt die 
Wirkung der Eiſenbahnen feine jo beberrichende wie jpäter. 

Auch jpäter aber nehmen nicht alle Heinen, noch 
weniger alle Mittelſtädte ab. Auf diefe Zeit und auf 
die Wirkung der Eiſenbahnen erftredt fi) Schwabe's 
Unterfuhung. Er faßt feine Refultate in folgenden 
drei Sätzen zuſammen: „1) Unter ven mittleren und 
Heinen Städten wirken die Eijenbahnen hauptfächlich 
auf diejenigen, welche fich Durch einen vorherrſchend gewerb⸗ 
lichen oder inbuftriellen Charakter auszeichnen. 2) Der 
Vermehrung der übrigen mittleren und feinen Städte 
entziehen die Eijenbahnen vielfach Zerrain, namentlich 
wird die Bevölferungszunahme der kleinen Städte fichtlich 
abgefchwächt. 3) Bloß die großen Städte, jo zu jagen 
die Knotenpunkte des Verkehrs, nehmen durch die Eifen- 
bahnen zu.” Schwabe tlluftrirt diefe Behauptungen durch 
folgende Tabelle. Es betrug in Prozenten der gefammten 


Bevölkerung die Einwohnerzahl 1834 1864 
ber Städte von Über 50 000 Einwohner . . . .» Bo Tas 

« von 10001—50000 Einwohner . . . Zus Tas 
⸗ . unter 10000 Einwohner... 18,58 15,18 


⸗ ⸗unter 10000 Einw. u. des platten Landes 91ao 84,08- 
Ich füge diejen Zahlen die von mir gemachte Berech- 
mmg? bei, wie fich die ganze ſtädtiſche Bevölkerung im 


1) Berechnet nach den abjoluten Zahlen, Preußifche Statiftit, 
bie Ergebnifle ver Boltszählung von 1864. Berlin 1867. ©. 284. 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 13 


194 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Jahre 1864 auf die verjchievenen Größenklaffen ver: 
theilt. Bon den 5,, in Städten lebenden Meillionen 
Menſchen, welche ſelbſt 31,07 90 der ganzen Bevölkerung 
ausmachen, kommen auf 
die Städte unter . . 4000 Einwohner 24,54 %0 
- von 4— 1000 = Aus % 
. = von 10— 40000 ⸗ 22,08 °lo 

- von 40-1000 = las % 

» über 100 000 ⸗ 17,04 0 0- 
Beinahe die Hälfte der ftäbtiichen Benölferung kommt 
alſo noch auf die Heinen Städte, welche bis 10 000 Ein- 
wohner haben, ein Drittel beinahe freilich auf bie 
großen und ganz großen Stäbte! 

Die letzte Tabelle ift geeignet, die Behauptungen 
Schwabe’8 nicht abzujchwächen, aber doch fie auf ihr 
richtiges Maß zurüdführen. Eine große Aenderung ift 
im Begriff fich zu vollziehen, aber noch find die frühern 
beſtehenden Verhältniſſe dadurch nicht weſentlich umge 
jtaltet. Auch jest noch wachjen viele Heine Städte, auch 
jegt noch nehmen viele Mittelftädte ftärker zu, als die 
ganz großen. ‘Die Inpuftrie ift einmal in vielen Theilen 
Deutſchlands mehr becentralifirt, und jo erfolgt das 
weitere Wachsthum an den Punkten ver bejtehenven 
gewerblichen Zhätigfeit. Im Königreich Sachfen Haben 
viele der Weber» und Bergbaubörfer, der Vorſtadt⸗ 
und Gärtnerbörfer bis in Die neueſte Zeit fo ftarf 
zugenommen wie irgend eine Stadt.! Chemnik nahm 
1861—64 um 18,,,%, aljo jährlih um 6%,, Glau⸗ 
hau in derfelben Zeit um 16,,%, Oelsnitz um 


1) Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſt. Bureaus 1865. ©. 64. 


Die preußiſchen und ſächſiſchen Städte 1864. 195 


15,790, alſo beide jährlich auch über 5%, zu. Berlin 
hatte, wührend Die ganze preußiiche Bevölkerung jähr- 
ih um ', — 1, % zunimmt, 1736 — 85 jährlich um 
2,5%, 1786—1802 jährlich um 1,5%, 1802—46 
um 2,95%, ! zugenommen, erit in leßter Zeit ftieg bie 
Zunahme uf 3— 49%, ? jährlich. Das ift eine unge- 
beure Zunahme, aber immer ift fie noch nicht fo groß, 


als die der mittleren fächfifchen Induſtrieſtädte. 


AU das ift jehr wichtig für das Handwerk. Der 
Zug nach den Großſtädten vernichtet das Heine Hand- 
werk; bie entgegenftehende Erhaltung ver fleinern und 
der Mittelſtädte friftet das Daſein des Heinern ein- 
fachern Handwerksbetriebs. 


1) Dieterici Mittheilungen II, 272 — 77. 
2) Engel, die Induſtrie der großen Städte, im Berliner 
Gemeindekalender II, 134. 


13* 


2. Die neuere Art der Produktion. 


Die verfchiedenen Arten des heutigen Handwerks. Das Klein- 
gewerbe im Dienfte der großen Inbuftrie. Die Reparatur- 
gewerbe. Das Ausarbeiten heutzutage. Der Charakter bes 
neuen fpezialifirten Handwerks und feine Vorausſetzungen. 
'Beifpiele deſſelben. Uebergang mandyer Handwerke zur Haus- 
induftrie. Die Organifation der Hausinduftrie; die Verhältniſſe, 
welche ihren Uebergang zur Fabrik wünſchenswerth machen; bie 
Berhältniffe welche die Hausinbuftrie erhalten. Das Genofien- 
ſchaftsweſen. Die Nürnberger Hausinbuftrie. 


— — — — 


Die letzten Bemerkungen über die Zunahme auch 
der kleinern Städte deuteten ſchon darauf hin, daß der 
Umſchwung im Handwerksbetrieb immer bis jetzt nur ein 
partieller iſt. Mancherlei Umbildungen ſind erſt in ihren 
Anfängen vorhanden; ſie werden für manche Verhältniſſe, 
beſonders für das platte Land niemals erreichbar ſein, 
weil eben hier die Bedürfniſſe, die Verkehrseinrichtungen 
andere ſind. Die Eigenart mancher Gewerbe und der 
von ihnen produzirten Waaren ſchließen theilweiſe die 
modernen Veränderungen aus. Vorerſt aber möchte ich von 
diejen letztern Ausnahmen abſehen und verfuchen, die 
Aenderungen im Allgemeinen zu fchildern. Ich will 
dabei Die zwei Seiten alles Gejchäftslebens, die Produktion 
und den Vertrieb der Waaren, in der Beiprechung aus- 





Die verfchiebenen Arten des Handwerks. 197 


einanderhalten; im Ganzen gebt ja auch bie reale 
Richtung des Gefchäftslebens auf eine Trennung beider 
Seiten, werm auch einzelne Neubildungen, wie das Ma⸗ 
gazinſyſtem, nicht fowohl eine vollſtändige Trennung als 
eine andere Art der Verbindung von Probuftion und 
Vertrieb bezweden. 

Auch da übrigens, wo der Boden für moderne Ein- 
richtungen vollftändig vorhanden ift, bleiben noch viele 
Handwerksgeſchäfte alter Art, ja es bilden fich gerade 
wieder durch Die große Induſtrie Verhältniffe, welche 
neben den neuern Geichäften dieſen und jenen Meifter 
in alter Weiſe beichäftigen. 

Wie früher als technifche Gehülfen in den Familien, 
jo arbeiten jett noch viele Heine Meifter für große Unter- 
nehmungen. Auf großen Gütern ift ein eigener Schmied, 
ein Stellmacher nothwendig; mancher Ziichler und Bött⸗ 
cher liefert ausfchließlich Kiften und Fäſſer zur Verpadung 
in eine große Fabrik. Jedes größere mduftrielle Etablif- 
jement bat feine Schloffer -, feine Reparaturwerlſtätte. 
Mancher Buchbinver ift ausſchließlich für dieſe oder jene 
große Verlagsfirma befchäftigt. Dazu fommen nicht bloß 
für die großen, ſondern ebenfo für die Heinen Gejchäfte 
und die Wirthfchaften ver Familien die Reparaturgewerbe. 
Mancher Schloffer, Schmied, Stellmacher hat in ma⸗ 
ſchinen⸗ und induftriereichen Gegenden heute fo viel mit 
Reparaturen zu thun, als früher mit Neuanfertigungen. 
Wo jeder Junge von 10 Yahren eine Tafchenuhr trägt, 
wird ein Uhrmacher‘ mit Reparaturen mehr verdienen, 
al8 mancher mit Ubhrenanfertigung in einer Zeit, in welcher 
auf Zaufende von Menſchen erſt ein Uhrenbefiger kam. 


198 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Kleine Gefchäfte diefer Art, die ihren Dann nähren, 
find auch heute noch möglich. Dagegen iſt e8 meift nur 
ein Zeichen verarınter überzähliger Meiſter, wern heute 
wieder das Ausarbeiten in den Häufern der Kunden 
zunimmt, wenn 3. B. im Regierungsbezirt Arnsberg 
1855 — 57 noch Schneider, Schufter, Tifchler und ähn⸗ 
liche Handwerker bei ſolchem „Ausarbeiten” mit 3 Ser. 
täglich und freier Koſt zufrieden find, 5 Sgr. ſchon als 
einen guten Verdienſt ſchätzen.“ Dazu wird heute in 
der Regel nur die Berarmung ven Heinen Meifter 
bewegen. Unter Umſtänden freilich, auf dem Lande, Tann 
auch dieſe Art des Gejchäfts noch ganz am Plage jein. 

Meiſt aber verjchwinvet fie, eine andere Art ver 
Geſchäftsführung ift üblich geworben. : Der tüchtige 
Meifter fucht auf Vorrath zu arbeiten, fucht vor Allem 
einen mehr als Iofalen Abfa; er verſucht alle techniſchen 
Fortfchritte zu benutzen; er kauft einzelne ‘Theile, bie 
andere Gejchäfte beffer liefern, von ihnen, bejchränkt fich 
mehr noch in der Anfertigung als im Verfauf auf 
beſtimmte Spezialitäten, den veränderten Bebürfniffen 
dienend, vielfach ganz neue Artikel anfertigend, braucht 
er verichievene Arbeitskräfte, bat er nur zwei bis drei 
Arbeiter , jo gehören fie doch Häufig verſchiedenen früher 
getrennten Gewerben an. 

Es iſt damit ſozial ein ganz anderer Stand von 
fleinen Unternehmern entftanden, die nicht jowohl durch 
die Größe des Gejchäfts und Kapital als durch die 


1) Jakobi, das Berg-, Hütten- und Gemerbeweien des 
Regierungsbezirts Arnsberg. S. 531. 


Der moderne Hanbwerkäbetrieb. 199 


Art des Betriebs vom alten Handwerk und zwar zu 
ihrem Vortheil fich unterfcheiden. Viele waren urjprüng- 
lich tüchtige Gefellen, oft einfache Arbeiter, manche find 
urſprünglich Kaufleute, — alle nennen fich aber jet 
mit Vorliebe Fabrilanten, auch wenn fie nur einen 
einzigen oder zwei Arbeiter beichäftigen. Ihre andere 
ſoziale Stellung beruht wejentlich mit auf ihren Stennt- 
niffen und ihren Verbindungen. Es find Leute, die auf 
Fortbildungs⸗, auf Gewerbe⸗ und polntechnifchen Schulen 
etwas gelernt haben, Leute, die auf Reifen, auf Jahr⸗ 
markts⸗ und Meßbeſuchen fich Bezugsquellen und Abjag 
verihafft Haben. Dieſe perjönlichen und gejchäftlichen 
Verbindungen find in den großen Städten leichter zu 
erwerben, fie find es oft am meiften, was dem unge- 
wandten Kleinen Manne in abgelegenern Orten fehlt. 
Immer gehört zu diefer Art von Gefchäften einiges 
Kapital, zu einzelnen ſchon ein bedeutendes. Vielfach 
aber find es Geſchäfte, bie in fehr verichienener Aus- 
dehnung betrieben werben fünnen. Technische Geſchicklich⸗ 
feit und Marktkenntniß find meist wichtiger als ein großes 
Kapital. So wenig ich leugnen will, daß das große 
Kapital in manchen Beziehungen durch die Gewalt feiner 
Ueberlegenheit heute unberechtigte Gewinne macht, eine 
zu ungleiche Bermögensvertheilung noch ungleicher macht, 
jo darf man auf der andern Seite da, wo gerade nicht 
ſowohl das Kapital als yperjönliche Eigenjchaften den 
Ausichlag geben, das nicht verjchweigen. Unfähigkeit, 
ih in Neues zu finden, Unfäbigfeit, fich einer ganz 
regelmäßigen Thätigfeit zu unterwerfen, Unfähigkeit zu 
Iparen, wenn der Erwerb einmal flotter gebt, niebrige 


200 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Leidenschaften, Trunk und Spiel, häusliche Mißverhält⸗ 
niffe find in den tiefern ſozialen Schichten häufiger, als 
in den höhern. Mag andere moraliche Fäulniß in 
den höhern Schichten weit größer fein, für den wirtb- 
ichaftlichen Erwerb fteben fie höher, für den wirthichaft- 
Tichen Erwerb neuerer Art fehlen gerade dem Hand⸗ 
werfer oft die moralifchen Qualitäten, die Erziehung, 
wie Schulge-Delitich das auch immer und immer wieder 
betont. 

Als Beweis, daß zu biefer neuen Art des Hand- 
werföbetrieb8 nicht ſowohl großes Kapital, als perjön- 
liche Eigenfchaften gehören, führe ich nur einige bekannte 
Beiſpiele an. 

Die Gerberei hat ſich weſentlich umgebildet; es 
giebt große, aber auch noch mittlere und kleinere gute 
Geſchäfte. Die lederverarbeitenden Gewerbe ſind ſehr 
vielfältig geworden. Einzelne Geſchäfte fertigen nur 
Sattelzeug, andere nur Reiſezeug und Aehnliches. Hier⸗ 
mit verwandt ſind eine Reihe von Buchbinderarbeiten, 
die zu ſelbſtändigen Geſchäften geworden ſind: die Anfer⸗ 
tigung von Etuis, Futteralen, Mappen, Albums, Karten, 
Portefeuilles. Die Fabrikation von künſtlichen Blumen, 
von Papiermachéewaaren; von Spielkarten, von Horn⸗ 
und andern Doſen, von Kämmen, von Düten, Fir⸗ 
niſſen, Schmieren, Wichſen liegt meiſt in der Hand 
kleiner, aber für größern Abſatz arbeitender Geſchäfte. 
Von den Klempnern ſpezialiſirt ſich heute der eine auf 
Lampen, der andere auf Wagenlaternen, der dritte auf 
lackirte Waaren; auch im kleinſten Geſchäfte werden dabei 
die neuen Maſchinen, die Abkantmaſchine, Die Biege⸗ 


Die Specialifirung der Gejchäfte. 201 


maſchine, die Rundſchneidemaſchine angewandt. Gefchäfte, 
welche eiferne Möbel liefern, Haben einzelne Arbeiter 
in Berlin und in Frankfurt aD. zu gleicher Zeit. “Die 
Zuſammenſetzung, die leßte Austattung erfolgt an irgend 
einem andern Orte. Aehnlich ift e8 in vielen Branchen 
der Metallwaareninduſtrie. 

Die Tiſchlerei hat fich in die verſchiedenſten Zweige 
aufgelöst, da find die Hauptbranchen Bautifchlerei und 
Möbeltifchlerei; jede Branche Kat verſchiedene Hülfs⸗ 
gewverbe, welche einzelne Theile, Fourniere, Schniteret 
liefern. Aber jede Hat in fich noch eine weiter gehende 
Arbeitstheilung. Es giebt Meiſter, die nur Tenfter,. die 
nur Thüren, nur Stücke zu Parfetböpen fertigen. Thüren⸗ 
brüder und vergleichen aus Horn verfertigen für ein 
weites Abſatzgebiet zwei biefige Drechslermeifter, fagt 
der Leipziger Handelöfantmerbericht von 1866. Einzelne 
Meifter Tegen fich nur auf Tiſche, andere auf Stühle, 
wieder andere auf Buffets. Verwandt mit dieſen ver- 
ſchiedenen Zifchlergeichäften, theilweife in den eigentlichen 
Holzhandel übergehend, find Geichäfte, die Nadfelgen, 
Speichen, Stäbe, Mauerlatten, Eifenbahnfchwellen, Tele- 
grapbenftangen Tiefern, ſolche welche Hauptfächlich Die 
Imprägnation der letztern bejorgen. 

Der ſtädtiſche Wagenbau, der Eiſenbahnwagen⸗ 
bon, das Tapezier⸗ und Polſtergewerbe braucht eine 
Reihe von einzelnen Hlülfsgewerben, welche die maſſen⸗ 
bafte Anfertigung einzelner Theile übernehmen. 


1) Siehe z. B. Die Schilderung der Berliner Möbelinduftrie 
in ben preuß. Handelsfammerberidhten für 1866. ©. 281. 


202 Die Umgeflaltung von Probultion und Verkehr. 


Die Organifation ift in all diefen Branchen jehr 
wechielvoll und verſchieden. Es giebt ba meiſt große 
gejchloffene Etabliffements, aber eben fo oft Eleine fich 
gegenfeitig in die Hände arbeitende Geſchäfte. Beſon⸗ 
ders wo größere perjönliche Geſchicklichkeit und Kunſt⸗ 
fertigkeit gefordert wird, ba blühen die Heinen neben ven 
größeren Geſchäften; die einen übernehmen das, bie 
andern jenes. So in der Waffenfabrifation, in der Ver⸗ 
fertigung von Beinwaaren, plattirten Waaren, Kupfer: 
waaren, Zinnapparaten, pharmazeutiſchen Apparaten, 
hirurgiichen und mufifalifchen Inftrumenten. In Silber: 
waarenartifeln haben Meijter und Fabrikanten in Berlin 
zufammen 1864 112 Werfftätten mit nur 475 Gehülfen 
oder Arbeitern.! Der ftäbtiiche Wagenbau wird in ſehr 
verjchiedener Ausdehnung betrieben, nur in den ganz 
großen Städten bat er fich zu Gelchäften Eonzentrirt, 
welche die ganze umliegende Gegend verjehen. Am 
wenigſten find die Nahrungs, die Bau⸗ und die perjön- 
lichen Gewerbe von der ganzen Umbildung ergriffen, fie 
bleiben ihrer Natur nach mehr lofal. Beinahe voll⸗ 
jtandig dagegen zur Großinduſtrie übergegangen iſt die 
Zapeten-, Hut-, Knopf⸗, Schirm-⸗, Stod-, Eeifen- 
und Lichterfabrifation. 

Wenn das Arbeiten für größeren und entfernteren 
Abſatz in den Vordergrund tritt, fo macht fi bald 
geltend, daß bie Geſchäfte am beften prosperiven, wo fie 
in größerer Zahl find, wo fich Fachſchulen für Das 
Gewerbe errichten lafjen, wo die Traditionen im Arbeiter- 


1) Preußifche Hanbelstammerberichte für 1864. ©. 68. 


Alte und neue Hausinduftrien. 203 


itand die gleiche Richtung haben, wo bie Kinder ſchon 
mit den Handgriffen und technifchen Vortheilen vertraut 
werden. Für einzelne Gejchäftsbranchen ift das nichts 
Neues; die ſchwarzwälder Ubreninbuftrie, die Bürſten⸗ 
binderei in der Pfalz, die Anfertigung mufifaliicher 
Inftrumente und verjchiedener Blechwaaren in den ſächſi⸗ 
ſchen Gebirgögegenven, die Kleineifeninduftrie am Rhein 
ud in Weftfalen, die Holzichniterei vieler Gebirgs⸗ 
gegenden, die Strohmanufaktur, die Weberei aller Orten 
find Beifpiele dafür. Neu tft es, daß fich für eine 
Reihe anderer Gewerbe, die früher nicht in dieſer Kon- 
zentration vorfamen, dieſelbe Tendenz zeigt. Die Ber- 
fertigung von Handſchuhen, von Schuhen und Stiefeln, 
die Verfertigung von fertigen Weißwaaren, Hemden, 
Hembfragen, von fertigen Kleidern, vie Korbflechterei, 
die Anfertigung von Spielmaaren, Gürtlerwaaren, Bein: 
waaren — alle diefe Gewerbe find mehr und mehr zu 
Hausinduftrien in einzelnen Gegenden geworden. 

Die gejchäftliche Organiſation dieſer Hausinduftrien 
iſt ſehr verfchieden, je nach dem erforderlichen Bildungs⸗ 
grad, dem Verdienſt, ven techniichen Hülfsmitteln, die 
nothwendig find. Je Höher nach allen vielen Merk: 
malen eine Geichäftsbranche fteht, deſto mehr werben 
bie Meinen Meifter ſelbſtändige Unternehmer, Eigen- 
tbümer von Robftoff und Mafchinen fein, nur ven Ver⸗ 
ff und etwa bie Igkte Vollendung und Verpackung 
dem Verleger überlaffen. Bei der Uhreninduſtrie, bei 
manchen Produktionen von Metallwaaren übernimmt der 
einzelne Meifter nur die Anfertigung bejtimmter Theile; 
da ift die Zufammenfegung und Adjuftirung der Waare 


204 Die Umgeftaltung von Probuftion und Verkehr. 


das Hauptgefchäft des Verleger. Je tiefer Bildungs- 
grad, Geſchicklichkeit und Verdienſt der betreffenden Ar- 
beiter fteht, deſto Teichter kann der fchlimme Fall ein- 
treten, daß mit einem zu großen Angebot von Arbeits- 
fräften der Lohn gedrückt ift, der jelbftändige Befik ver 
Arbeitsmittel aufhört, wie der felbjtändige Einfauf des 
Rohmaterials, daß eine große Zahl verarmter Familien 
von wenigen Fabrikanten abhängig wird, in der Notb 
fich durch betrügeriiche Waarenlieferung zu helfen fucht, 
zum verfommtenen Proletariat herabfinft. 

Solche Zuftände find es, wo der Webergang zur 
Arbeit in gejchloffenen Etabliffements nur eine Beſſerung 
enthält, den Arbeiter unter Aufficht und Kontrole ſtellt, ihn 
in geſündere Räume fett, ihm von feiner Selbjtändigfeit 
nichts mehr nimmt, weil fie Doch nicht mehr vorhanden ift.! 

Außerdem ift der Uebergang von der Hausinduftrie 
zum Tabrifbetrieb in großen Etabliſſements dann ange- 
zeigt, wenn große Maſchinen nöthig find, die fich der 
fleine Meiſter nicht wohl halten Fan. Die Mafchinen- 
weberei wird nur ſchwer in die Hütte des Fleinen Mannes 
einfehren. Die Hausinpuftrie der Nagelichmieve, ver 
Bürftenbinver, theilweife auch ver Stickerei gewährt ein zu 
elendes Auskommen, als daß man nicht ihr Aufbören, 
ihren Erſatz durch Fabriken wünſchen müßte. 

Abgeſehen aber von folchen Fällen, kann fich bie 
Hausinduftrie, Die jo viele moraliſche und ſoziale Vor⸗ 
züge Hat, jehr gut halten, und es geht viel zu weit, 

1) Siehe die ausgezeichnete Heine Schrift von Dr. med. 


Michaelis: Ueber den Einfluß einiger Gemwerbezweige auf den 
Gefundheitszuftand. Leipzig 1866. 


Die mögliche Erhaltung ber Hausinbuftrie. 205 


ihren Untergang allgemein zu prophezeihen. Für eine 
ganze Reihe von Xhätigfeiten hat fie mit der Näh- 
maschine einen neuen Boden erhalten. Aus den fächli- 
ſchen Gegenven der Stid-, Näh- und Konfeltionswanren- 
induftrie wird berichtet, daß zwar einerfeits die Zahl der 
Stidmafchinen in den Fabrifen zunimmt und ein bisher 
noch der Handſtickerei gehöriges Gebiet fich zu eigen 
macht, daß dagegen für alle Arbeit, in ber die gewöhn- 
lihe Nähmaſchine ausreicht, die Hausinduftrie wieder 
zunimmt. Der Hauptablag der Nähmafchinen gebt nicht 
on Fabriken, fonvdern an Familien, an Heine Gewerb- 
treibende. Die Nähmafchine, fagt der Bericht von 
Plauen für 1865, wird einestheild im Haufe bes 
Arbeiter längere Zeit als in gefchloffenen Etabliffements 
und befjen regelmäßigen Arbeitsſtunden ausgebeutet und 
anderſeits dort als eigener Beſitz des Arbeiters vor⸗ 
fichtiger und pfleglicher behandelt. ‘Der Arbeitgeber ift 
frei von eigener Verantwortlichkeit für Verderb und Ver- 
ichlechterung; die für Reparaturen erforverliche Zeit wird 
wejentlich abgefürzt. Meanchfach haben die Verleger oder 
Raufleute den Arbeitern die Nähmajchine vorſchußweiſe 
angeichafft. Kleine Abzüge am Lohn Yafjen fie ſukzeſſiv 
ind Eigenthum der arbeitenden Familie übergehen. Sicher 
ein erfreuliches Zeichen. Schon der eigene Beſitz eines 
jolchen Kapitals, die dadurch dem Arbeitgeber gegenüber 
erreichte Selbftänbigfeit ift ein Gewinn. 

Aber auch fonft jehen wir viele blühende Haus- 
induftrien noch heut zu Tage. Ihre Erhaltung gegen- 


1) Preuß. Handelsarchiv Yahrg. 1867. I, ©. 278. 


206 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


über dem Fabrikſyſtem hängt ab freilich in eriter Linie 
von der Technik, von der Thatſache, ob für eine Pro- 
buftion ganz große Mafchinen nothwendig werden, Dann 
aber auch von der Geſchicklichkeit, der Nührigfeit, ven 
moralifchen Eigenjchaften im Kreife der Heinen Meiſter. 
Und AU das binwieverum jteht im Zuſammenhang mit 
der gejchäftlichen Organijntion, mit der Thätigkeit von 
Gemeinde und Staat für Schulen und gemeinjame 
Inſtitute,mit der Entwickelung des Genofjenichaftswefens 
unter den Leuten ſelbſt. Oft hat nur das letztere den 
hausinduſtriellen Betrieb, überhaupt die kleinern Ge—⸗ 
ſchäfte gegenüber den Fabriken erhalten. Beſonders 
ſchwer iſt es häufig für den kleinen Meiſter guten und 
billigen Rohſtoff, Leder, Garn, Tuch und Aehnliches 
zu kaufen. Es iſt nicht zu beſchreiben, wie der kleine 
Mann, der um jeden Preis Arbeit ſucht, da von 
gewiſſenloſen Händlern betrügeriſch übertheuert, durch 
abſichtlichen Lotterkredit in Abhängigkeit gebracht wird. 
Da wirken die Kreditvereine, die Rohſtoffgenoſſenſchaften 
Wunder. Ebenjo wichtig freilich find die gemeinſamen 
Verfaufsmagazine und beſonders gemeinfame Waffer - 
oder Dampffräfte mit den entiprechenden Einrichtungen, 
gemeinfame Walfen und Appreturanftalten für die Weber. 
Gemeinſame Unternehmungen der letztern Art find heut- 
zutage ſchon eher zu Stande zu bringen, auch iſt bei ihnen 
eine Intervention von Gemeinde und Staat weniger 
gefährlich als bei den eigentlichen Produftivaffociationen. 
Da aber, wo für dieſe die moralifchen und gejchäftlichen 
Eigenfchaften bei den kleinen Meiftern vorhanden find, 
liegt in ihnen ficher das beſte Mittel, das Handwerk 


Das Genoſſenſchaftsweſen. 207 


zu retten, ihm einen Abjag im Großen zu verichaffen, 
ven Heinen Meiſter der Hausinpuftrie zum Unternehmer 
zu erheben. Wo fie gelingen und wo fie mißlingen, ba 
wiederholen fie Die Lehre, daß meiſt perjönliche Eigen- 
ſchaften wichtiger find oder gleich wichtig, wie die Kapital- 
beihaffung. Uhrmacher, Zifchler, Weber, Schneider, 
Schuhmacher, Buchoruder, Mafchinenbauer, Stellmacher, 
Metallarbeiter und Klempner find es, die bis jegt auf 
dem Wege der Produktivaſſociation fich zu belfen fuchten. 
Der Bericht! Schulge’s für 1867 zählt bereits 36 folcher 
Unternebmungen auf und er umfaßt nicht alle, welche 
eriitiren. Vieles Tieße fich noch über dieſes Thema jagen. 
Da e8 aber fonft fo vielfach beiprochen wird, fo beichränfe 
ih mich darauf, nur im Allgemeinen noch einige DBei- 
ipiele der fich erhaltenden Hausinduftrie zu erwähnen. 
Die Korbflechterei ift heute noch in manchen Ge⸗ 
genden, wo auch für den Ablat im Großen gearbeitet 
wird, ganz Sache Heiner Meifter, 3. B. in Frank—⸗ 
furt a. O., mo 30 handwerksmäßige Gefchäfte einen 
ſchwunghaften Abſatz an Tiſchen, Stühlen, Blumen- 
ſtändern, Wafchlörben, Körben zum Verpaden baben.? 


1) Schulze⸗-Delitzſch, Jahresbericht für 1867 tiber die auf 
Selbfthillfe gegründeten deutſchen Erwerbs - und Wirthichafts- 
genofienichaften. Leipzig, Mayer 1868 ©. 59. Der Bericht 
für 1865 ©. 13 enthält befonders Ichrreiche Mittheilungen Über 
die zwei Produktivgenoſſenſchaften der Berliner Ehalesweber und 
der Freiburger Uhrmacher. Die Übrige Literatur über dieſen 
Gegenſtand von Schulze, Huber und Anderen ift zu befannt, als 
baß fie hier fpeciell angeführt zu werden brauchte. 

2) Preußiiche Handelsfammerberichte für 1865. ©. 724. 


208 Die Umgeftaltung von Produktion und Berfehr. 


Dagegen ift 3. B. die große bairiiche Korbflechterinpu- 
ftrie in Oberfranfen ! neuerdings mehr und mehr in 
die Hände großer Kapitalbefiger übergegangen. ‘Die 
Korbflechter erhalten das Rohmaterial vom Fabrikanten 
entweber zum Kaufe oder gegen Abzug am Lohn, fie 
find ganz in feinen Händen. Die eine wie Die andere 
Geſchäftsform ift möglich; es handelt fich für die Heinen 
Geichäfte nur um eine richtige Organifation in Bezug 
des Rohſtoffs und Vermittlung des Abſatzes. In Berlin 
eriftirt feit einigen Iahren mit Erfolg eine Genoſſenſchaft 
non Korbmachern zum gemeinjamen Bezug des Nobftoffes. 
Die beveutende Achatinpuftrie im Fürſtenthum Bir⸗ 
kenfeld und im Regierungsbezirk Trier? ift heute noch ganz 
Sache der Heinen Achatjchleifmeifter, Bohrer, Gold⸗ 
ſchmiede, Graveure, Tombakſchmiede. Man zählte 


1866. 1867. 
Meifter und Prinzipale. 1297 1405 
Geſellen und Commis. 466 510 
Lehrlinge.... 278 8307 


Ein ſchönes Bild ſich erhaltender Hausinduftrie 
gewährt vor Allem die früher fchon erwähnte Nürn- 
berger und Fürther Induftrie. Ich will nur Einiges nach 
der anziehenden Bejchreibung Dr. Beeg's anführen.? 

Die Segenjtände der Fabrikation find Spielwaaren, 
Meſſingwaaren und andere Metallwaaren, als Waagen, 
Gewichte, Schellen, Rollen, Hahnen, Zapfen, Teuer- 


1) Bavaria III, erfte Abtheilung, 462 — 65. 

2) Preußiſche Handelskammerberichte für 1867. ©. 810. 

3) Inder Bavaria III, zweite Abtheilung, S. 1059 — 
1079. 


Die Nürnberger Hausinduſtrie. 209 


Ipriten, phhfifalifche Apparate, Nechenpfennige, Spiel- 
marfen, Blattgold, Draht aller Art, Neißzeuge, Zirkel, 
Ahlen und Feilen, Ringe, Brochen, Hafen, dann Kämme, 
Brillengläſer, -Brillengeftelle, optiſche Inſtrumente, 
Drechslerwaaren, Pfeifen, Zigarrenſpitzen, Papparbeiten, 
Buntpapier, Bilderbogen. Ein Lager Nürnberger Waaren 
zählt über 14000 Nummern, wobei die Größenver⸗ 
ihiedenheiten roch umgerechnet find. In dem Padlofal 
des Nürnberger Kaufmanns ftehen Kiſten, welche nach 
Madras und Hongkong beftimmt find, neben folchen, ° 
die nach Newport, Mexiko oder Südamerifa gehen 
werden. Der Kundige erfennt an dem Waarenmufter, 
an ber Verpadung den Beitimmungsort: der Horn- 
fomm mit dieſen Verzierungen gebört nach Texas; 
diele jchlanfen Hafen und Dejen aus dünnem Draht 
finden mr in Südamerika Käufer. 

Die Produktion, fagt Beeg, geichieht in der Regel 
fabrifartig, aber doch zugleich handwerfsmäßig, indem fich 
das Handwerk ebenjowohl für die einzelnen Artifel, als 
jogar für manche Manipulationen in vielfacher Weife 
wergliedert „hat. Die Werkftätten find daher feltener 
in großen Tabrifpaläften, fonvern meiften® in ven 
Heinen Wohnungen der arbeitiamen Gewerbtreibenden. 
Eine Hauptftüge der Heinen Geſchäfte find bie verſchie— 
denen Mühlen, bejonvers die vom Magiftrat 1854 ange: 
fünfte, umgebaute und hiefür eingerichtete Schwaben: 
mühle, e8 werden dort Lofale und Kraftbenugung an 
Gewerbtreibende vermiethet. In der Schwabenmühle 
find 48 folcher Werkftätten; man zahlt für 1 DI’ Boben- 
raum des Lokals 9 Kr., für die Benukung einer ganzen 

Sämoller, Gef. d. Kleingewerbe. 14 " 


210 . Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Pferbefraft 300 Fl. einer halben 160 Fl. einer Viertels- 
fraft 90 TI. jährlich. Erſt neuerdings haben auch Tabrif- 
befiger angefangen, ihre überjchülfige Dampffraft jo an 
Heine Leute zu vermiethen. 

Die Heinen Produzenten vermitteln theilmeife Den 
Abſatz felbft, beſonders den in der Nähe, fie befuchen die 
Meſſen in Frankfurt a / M., Leipzig und Dlünchen. Mehr 
aber noch überlaffen fie den Vertrieb dem Nürnberger 
Kaufmann, vefjen Lager mit den meilten Nürnberger 
Waaren affortirt ift. Der Kaufmann empfängt die aus- 
wärtigen Aufträge und beitellt nach denjelben die mannig- 
fachen Artikel bei den verſchiedenen Werkſtätten gewöhn⸗ 
lich vermittelft Zettel mit beftimmter Lieferzeit. Er 
ift aber nicht bloß Kommiſſionär; er verjorgt Die Ge- 
werbsleute gelegentlich mit neuen Muftern, hält Häufig 
Lager, läßt Vieles auf Spekulation arbeiten, ſendet 
Neijende aus. Die für ihm arbeitenven Gejchäfte find 
aber völlig unabhängig. Es darf — fo fchließt Beeg 
jeine Erzählung — die glüdliche Organifation Diefer 
Induſtrie nicht überjehen werden, welche den unabhän- 
gigen bürgerlichen Handwerksitand zur Produktion für 
ben großen Welthandel herangebilvet und Ne Gefahren 
des Entjtehens eines Proletarintes auf ein Kleinftes 
ermäßigt bat. 


3. Das Berlaufsgeichäft des Heinen Handwerkers. 


Das Ladengeſchäft als Aushülfe, wenn die Produktion nicht geht. 
Die Schattenfeiten dieſer Tadengefchäfte neben ihrer Nothwen— 
digkeit. Der ftarfe Zubrang zu ihnen und die Folgen für dieſe 
Geſchäfte. Der Wochenmarkt, foweit er von Handwerkern 
befucht wird. Der Jahrmarkts- und Meßverkehr früher und 
jet. Der traditionelle Verkehr auf venfelben und feine Ab- 
nahme. Nachweis diefer abnehmenden Bedeutung. Die Meilen. 
Die Jahrmärkte, zugleich abhängig von Gefekgebung, Ber- 
waltung und lokalen Nebeninterefien. Die Berbindung ber 
Sahrmärkte mit Vieh- und Spezialmärkten, die eine ganz 
andere wirtbfchaftliche Bedeutung haben. Statiftif der preufi- 
ſchen und ſächſiſchen Jahrmärkte. 


Gehen wir nach dieſen Betrachtungen über die 
Aenderung in der Produktion auf die Aenderung im 
Vertrieb der produzirten Waaren über. Es handelt 
ſich dabei um die kleinen Detailverkaufsgeſchäfte, um den 
Markt- und Meßverkehr derſelben, dann um die grö— 
ßeren Magazine, die in der Regel zugleich irgendwie 
an der Produktion betheiligt find, und um den Haufir- 
bandel mit Hanbwerfs- und andern Waaren. 

Der Iofale Berfauf bleibt unentbehrlich, wenn die - 
Iofale Produktion auch aufhört. Man will, man muß 
Läden aller Art in ver Nähe Haben. Je umbeveutenver 

14* 


212 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


die eigentlich gewerbliche Thätigkeit des Handwerkers 
meift wurde, deſto mehr trat das Ladengejchäft in den 
- Vordergrund; man fing an, neben den eigenen frembe 
Produkte, zufammen pafjenve sind nicht zufammen paſſende 
Artikel zu führen, wenn man nur Etwas wenigſtens 
verdiente. Der Buchbinder handelt mit Dinte, Federn 
und Papier, der Klempner mit Petroleum, der Friſeur 
und der Bürſtenbinder mit Delen, Seifen, Barfümerien, 
alle verſuchen es mit Zigarren. Ein folder Detailbandel 
war mit einzelnen Gewerben längft verbunden. Gefeb- 
gebung und Theorie hatten fich fehon im vorigen Jahr⸗ 
hundert viel damit beichäftigt. Bergius meint,! das 
Handwerk verliere jet dadurch jo viel, daß der Meiſter 
im Laden ſtehe, daß ihm die Krämerei immer wichtiger 
werde; die Arbeit gejchehe durch nicht beauffichtigte Ge— 
jellen und Lehrlinge, Krämerei und Handwerk ſei nicht 
verträglich. | 

Es Tiegt in diefem Vorwurf ficher ein Keim von 
Wahrheit; der Handwerfer mochte häufig jo viel an 
technifcher Gefchicflichkeit verlieren, al8 er an faufmän- 
niicher Gewandtheit und Spefulationsfinn gewann. Aber 
gleichviel, war der Detailverfauf Bedürfniß, gewann 
man dabei, jo nahm er zu. Mochte der alte Zunft- 
meifter bevenflich ven Kopf dazu jchütteln, mochten ein- 
zelne reaktionäre Gelee, wie das bannöverjche ? vom 
15. Juni 1848, nochmals den Berjuch machen, bem 


1) Bergius, Polizeimagazin (neue Auflage 1786) IV, 392 - 
93; vergl. auch Miöfer, Patriot. PBhant. I, 21fl. II, 303. 
2) Bening, zur Gewerbeorbuung. Hannover 1857. S. 44. 


Lu 00. - 


Das Keine Ladengeſchäft. 213 


Handwerker zu verbieten, erfaufte Waaren im Laden 
auszuftellen und Handel damit zu treiben, ed war zu 
wiverfinnig. Selbſt Vertheidiger der ſonſtigen alten Zunft⸗ 
vorſchriften gejteben jetzt das wenigſtens, daß jeder Unter- 
ſchied zwifchen Handwerker und Kaufmann aufhören 
müſſe. Das Bedürfniß war da. Wo volle Gewerbe- 
freiheit eintritt, da zeigt fich als Hauptfolge die ftarfe 
Zunahme dieſer Fleinen Läden, wie ich oben bei Betrach- 
tung der einzelnen Staaten mehrfach hervorhob. 

So ſehr das aber mit dem wirklichen Bedürfniß 
des Iofalen Bedarfs zufammenhängt, fo wenig läßt fich 
verkennen, daß dem Bedürfniß eine noch viel ftärfere 
Neigung der Anbietenden entgegenfommt. ‘Der Hannd- 
verihe Handelsfammerbericht von 1867 bezeichnet es 
als eine förmliche Verirrung, daß das Handwerf, unfähig 
jeine Produftion zu vervollkommnen, fich fo ausjchließlich 
auf den bloßen Handel gelegt habe; es habe da erft 
recht die Macht des großen Kapitals Tennen lernen 
müſſen, und jegt erft durch die vielen Mißerfolge Hug 
gemacht, werde es fich wieder mebr der Probuftion 
zuwenden. 

Der ſtarle Zudrang iſt pſychologiſch leicht erklär⸗ 
lich. Es iſt, wenn es gelingt von dem kleinen Laden 
zu leben, das bequemſte Geſchäft; ohne beſondern Fleiß, 
ohne Arbeit ſitzt der Mann hinter dem Ladentiſch, oft 
ſtundenlang Zigarren rauchend und Romane leſend. Liegt 


1) Schübler, Gewerbefreiheit und Gewerbeordnung. Stutt⸗ 
gart 1860. S. 29. 
2) Preußiſche Handelskammerberichte für 1867. ©. 839. 


216 Die Umgefaltung von Produktion und Verkehr. 


diefer Viktualienhandel in den großen Städten fich um- 
bildet zu ftehenden Verkaufshallen, großen Ladengejchäften, 
iſt eine Sache für fich, die uns hier nicht weiter beichäftigt. 

Je Heiner aber eine Stabt ift, deſto mehr trifft 
- man auf den Wochenmärften noch Handwerkerprodukte 
daneben aufgeftellt. Die preußiiche Verwaltung läßt 
überall grobe Korbwaaren und Zöpferrwaaren ! zu. Da— 
neben bejtunmt vie Gewerbeordnung von 1845 ($ 78), 
daß in jedem NRegierungsbezirt nach Ortsgewohnheit und 
Bedürfniß weitere Artikel zum Wochenmarftsverfehr 
gerechnret werden Türmen. In diefem alle Dürfen auch 
andere als Ortseinwohner fie auf den Markt bringen. 
Die Gewerbetreibenden des Ortes ſelbſt dürfen natür- 
lih auf dem Markt zur Wochenmarktszeit alle Propufte, 
alle Handwerkerwaaren verkaufen, wenn fie nach ber 
Marktordnung eine Bude oder einen Stand haben, reip. 
bezahlen. Der Entwurf einer Gewerbeordnung des 
norddeutſchen Bundes läßt es den Gemeinden offen, die— 
jen Rechtszuftand zu erhalten.? Die betreffenden Artikel 
fanden auch in der Berathung des Reichstages Feine 
wejentliche Beanſtandung. Es liegt auch Fein Bebürfniß 
vor, die Beitimmungen zu ändern, z.B. unbebingt alle 
fremden Handwerker auch mit Waaren, die nicht 
Wochenmarftsartifel find, zuzulaffen. Denn nicht fremde 
Handwerker, die durch Erklärung eimer Waare als 


1) Röune, Gewerbepolizei II, 256. 

2) Druchkſachen des Reichstags I. Legislatur - Periode, 
Situngsperiode 1869. Nr. 19 Entwurf 88 65— 72. Motive 
S. 79. Im Geſetze jetzt $. 64, Abſatz 2. 


Der Wochenmarkt. 217 


Wochenmarktsartikel erſt zugelaffen werden, ſondern dig 
fädtiichen armen Handwerker ftellen das Hauptfontin- 
gent zu dem Verkauf von Handwerkswaaren auf dem 
Wochenmarkte. 


Es iſt ein zeitraubendes, ſchlechtes Geſchäft. Der 
tüchtige Handwerksmann, der ſeine Kunden, ſeinen Abſatz 
bat, läßt ſich in feinem Laden, in feiner Werkſtatt auf- 
ſuchen. Es fuchen fich mit dem Beziehen des Wochen- 
marftes die zu helfen, welche die Miethe für einen gut 
gelegenen Laden nicht erichwingen können. Es iſt häufig 
das letzte Ausfunftsmittel; deswegen kann gerade eine 
große Zahl dem Bankerott nahe ſtehender Kleingewerbe 
ven Andrang zum Wochenmarftöverfehr zunächſt fteigern. 


Auch der Jahrmarktsverkehr ift zu einem großen 
Theil auf Diefes Niveau herabgeſunken. 

Die Iahrmärkte und Meſſen hatten früher einen 
andern Sinn. Läden, Magazine mit reicher glänzender 
Auswahl gab es nicht, nach den großen Stäbten Fam 
man nicht. Man war dem AZumftmeilter des Ortes 
preiögegeben, der mancherlei Waaren gar nicht, andere 
nur unvollfommen batte. Dem gegenüber fchufen Märkte 
und Meſſen Tage und Wochen freier Konfurrenz, eine 
örtliche und zeitliche Konzentrirung von Angebot und 
Nachfrage... Der Konfument fand hier alle feltenern 
Artikel, eine reiche Auswahl, billige Preife. Der Pro- 
buzent, der Handwerker fand bier allein bie Gelegen- 
keit, feinem Vorrathshandel Schwung zu geben. Die 


1) 3. G. Hoffmann, die Befugnig zum Gewerbebetrieb 
©. 344 fi 


218 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Bauern und Gutsbefiger der ländlichen Diftrifte, Die 
Hauptbejucher des Marktes, richteten ihre Einkäufe an 
Kleidern und Stoffen, Haus» und Wirthichaftsgeräth, 
an Spielmaaren für die Kinder ohnedieß gerne auf 
beftimmte Zage und Zeiten, auf die, im welchen fie 
jelbft verfauft hatten. ‘Die traditionell fich anfchließenven 
Volksfeſte, die Schauftellungen und ZThierbuden, bie 
englifchen Reiter und die Seiltänger lockten Menſchen 
und Käufer von fern und nahe an. So waren bie 
Meilen und Märkte, ebe bie Zeit der Eifenbahnen Fam, 
ein wichtiges Glied unſers Verkehrslebens, wichtig nicht 
nur für die Heinen und großen Händler, für ven Abſatz 
von Fabrikwaaren, fondern vor Allem auch für einen 
großen Theil der Handwerksinduſtrie. 

Beſonders einzelne Gewerbetreibende, wie die Leb- 
füchler, die Heinen Weber, vor allen die Schuhmacher, 
dann auch die DVerfertiger mancher Metallivaaren, bie 
Gürtler, Inftrumentenmacher, Meſſerſchmiede Tebten zu 
einem großen Theile vom Jahrmarktsbeſuch. I. ©. Hoff: 
mann! meint 1839, die höhere Zahl der Schuhmacher 
gegenüber den Schneivern gebe wejentlich auf den viel- 
fach üblichen Jahrmarktsbeſuch der Schufter, ver jo viel 
Zeit koſte, zurück. Freilich fügt er ſchon damals hinzu: 
„die Schuhmacher beziehen bie Sahrmärfte in dem Maße 
mehr, worin ihr Gewerbebetrieb armieliger wird.‘ 

Das iſt jedenfall heute noch mehr der Fall als 
damals. Manche zwar brauchen die Märkte und Meffen 
zugleich als Berührungspunfte mit Abnehmern und Liefe- 


1) Die Bevölkerung bes preußifchen Staates S. 120. 





Die Jahrmärkte und Meilen früher und jekt. 219 


vanten, die fie nur fo feben, nur fo Tennen lernen. 
Aber abgefehen hiervon, beginnt man einzufehen, daß 
bei dem Jahrmarktsbeſuch nicht viel herausfommt. Der 
tüchtige Gefchäftsmann ift fparfamer mit feiner Zeit 
geworden; ex widmet fich ausschließlich der Produktion 
oder dem ſtehenden Ladengeſchäft. Das Publikum findet 
beinahe überall auch ohne Märkte Alles, was es braucht. 
Immer weniger juchen tüchtige Handwerker ihre Eriftenz 
auf den Jahrmarkts⸗- und Meßbeſuch zu gründen. — 
Auch hierdurch ift dem Heinen Handwerk eine Pofition 
entzogen, auf die e8 bisher theilweile geftügt war. Und 
fie würde ihm längſt fchon noch weiter entzogen fein, 
wenn in dieſem Verkehr mehr wirkliches Verſtändniß und 
klares Intereſſe berrichten, wenn nicht traditionelle An- 
fihten der Hausfrauen und Dienftboten, ſowie der ganzen 
Imblichen Benölferung, Merzogene und ſchwer ausrott- 
bare Irrthümer noch überiviegen würden. 

So unzweifelhaft der Beginn Ddiefer veränderten . 
Stellung der Mefjen und Jahrmärkte ift, jo ſchwer läßt 
er fich ftatiftifch oder Durch anderweite fichere Berichte 
nachweiſen. | 

Das große Meßgeſchäft berührt unfere Unterfuchung 
nicht direkt; doch fei beiläufig bemerkt, daß auch e8 beinahe 
überall in Rückgang iſt. Das frühere Großmeßgeichäft 
berubte auf Privilegien, auf Ermäßigung der fonft über- 
mäßigen Zölle, Geleite, Stapel-, Wage-, Pflaftergelver. 
Für die Meffen trat der Nachlaß ein, die Großhändler 
und Fabrikanten ftrömten herbei, um‘, dieſer Gunft ſich 
erfreuend, an ben Handwerker und Detailhändler nach 
Pfund und Elle zu verkaufen. Seitvem biefe Verkehrs: 


220 Die Umgeftaltung von Produktion und Berlehr. _ 


erichwerungen zum großen Theil wegfielen, bat Die Meſſe 
nicht mehr die alte Beveutung.! Seitdem überdieß Der 
Zelegraph, Die Boft und die Eifenbahn zufammenwirfen, 
um Angebot und Beftellung, Probe und Waare, Wechjel 
und Baarzahlung raſch, billig und ficher zu vermitteln, 
feitvem Handelsgeſetz und vechtlihe Ordnung überhaupt 
dem Handelsverkehr eine größere Solibität geben, bleibt 
die Meſſe nur nothwendig für Waaren wie z. DB. Die 
Pelzwaaren, die nicht nach Probe zu verkaufen fin, 
für Firmen, von denen man nicht gerne nach bloßer 
Probe kauft. Man will überhaupt mande Waare am 
Stücke jehen. Und das ift auch heute noch richtig, Daß 
die große Auswahl und die Konkurrenz auf der Meſſe 
die Preife häufig noch erniedrigen. Für Leipzig, deſſen 
Meßgeichäft allein nicht pofitiv abgenommen hat, fommt 
noch binzu, daß fich hier dad ganze Großmeßgeſchäft 
des Zollvereing fonzentrirt bat. Selbft der Großmeßver⸗ 
. fehr Leipzig's aber, ber ja bejonters in Produften der 
Bollvereinsinduftrie immer noch bisher zunahm, ift nicht 
jo gewachſen, wie der übrige Verkehr des ganzen Zoll- 
vereind. „Man Tönnte behaupten, daß der gefammte 
Meßverkehr Leipzig's troß jeiner quantitativen Steige: 
rung gegenüber dem Gelammtverfehr und ver Ge— 
fammtproduftion des Zollvereins eine relativ niedrigere 
Stellung einnimmt, als kurz nach Gründung des Zoll⸗ 


1) Emminghaus, Mefjen und Märkte, Bierteljahrfchrift 
für Volkswirthſchaft. XVII. ©. 65 ff., beſonders ©. 78 — 84. 
Leipzig’8 Handel und Meſſen feit Eintritt Sachfen’8 in den Zoll- 
verein, Zeitſchr. d. fächf. flat. Bür. 1861. S. 1— 16. 


Die Jahrmärkte und Meffen früher und jekt. 221 


vereins.“ Darüber aber find alle Kenner einig, daß 
nit bloß in Folge des ſinkenden Großmeßgeſchäfts, 
fondern auch aus den andern angeführten Urfachen 
ver leinverfauf von Handwerkswaaren auf dieſen 
Meilen in Braunfchweig, in Franffurt a/M., in 
Frankfurt a/D., in Leipzig nicht mebr die alte Bedeu⸗ 
tung bat. 

In Bezug auf die eigentlichen Jahrmärkte ift Die 
Benrtheilung der abnehmenden Bedeutung Dadurch ſchwie⸗ 
rig, daß fie meist nicht bloß Märkte für Krammaaren 
und Handwerksprodukte find, ſondern fich verbinden mit 
Vieh- und andern Spezialproduftenmärften. Dieje let- 
tere Marftart hat heute noch ihre wolle Berechtigung. 
Voll, Leder -, Flachs⸗, Vieh-, Leinwandmärkte, Spezial- 
märkte, auf welchen 3. B. Tifchlerwaaren im Großen 
verfauft werben, ? jind auch beute noch am Plab. 
Derartige Märkte bilden fich ſogar täglich neue und 
erhalten jo theilweife mit ven alten Krammarkt. 

Außerdem fommt in Betracht, daß die Zahl ver 
Märkte nicht bloß von dem wirklichen wirthichaftlichen 
Bedürfniß abhängt, von der Frage, ob in dem ftehenvden 
Läden die Waaren billiger und reeller zu kaufen find, 
auch nicht bloß von Gewohnheit und Einbildung, von 
der hergebrachten Neigung, fich auf dem Jahrmarkt an- 
ſchwindeln zu laffen, ſondern daneben vornehmlich von 
ber Tendenz ver Kommunalbehörven, durch Märkte den 


1) Zeitfehrift d. ſächſ. fiat. Bär. 1861. ©. 14. 
2) Bergl. Jahresberichte d. württ. Handelskammern 1865 
6.77. 1866 ©. 32—33.. über die Stuttgarter Möbelmeffen. _ 


222 Die Umgeftaltung von Probultion und Verkehr. 


Berfehr am Orte zu beleben. Dieje Tendenz felbft ift 
wieder abhängig von den beftehenven Geſetzen und der 
bejtehenden Verwaltungspraris über SIahrmärkte In 
Preußen gelten über die Jahrmärkte noch die Beitimmun- 
gen des Lanbrechtes, welche durch die Gewerbeordnung 
von 1845 nur näher beitimmt worben find. Das Meß⸗ 
und Marftrecht wird vom Landesheren ertheilt, in ber 
Negel nur an Städte. Die Feltitellung der einzelnen 
Märkte erfolgt jährlich durch die Regierung im Einver- 
ſtändniß mit den betreffenden Ortsbehörden. Je mehr 
in früherer Zeit durch die Regierungen und Grund—⸗ 
herrichaften Marftprivilegien ertheilt worden waren, nur 
um eine Cinnabmequelle zu Gunſten der berechtigten 
Ortſchaften zu fchaffen, um jo berechtigter erjcheint Die 
Abſicht der preußiichen Verwaltung, die Zahl der Jahr— 
märfte wenigftens einigermaßen zu beichränfen. Dieje 
Tendenz zeigt ſich Har- in den zahlreichen Reſkripten, 
welche Rönne mitteilt. Aber fie ſcheint nicht vecht zum 
Ziele zu gelangen. Im Pofen hatte mar ſchon 1805 und 
1817 vie fämmtlichen Märkte auf dem platten Lande 
aufgehoben. ? Und doch heißt e8 noch 1830 in der 


1) Rönne, Gemwerbepolizei II, 514. Staatsrecht, zweite 
Aufl. I, b, S. 376. Auch darin ändern der Entwurf der neuen 
Gewerbeordnung , fowie bie Beſchlüſſe Des Neichstages nichts. Die 
Beftimmung der Gewerbeorbnung 8.65 lautet: „Die Zahl, Zeit 
und Dauer der Meſſen, Iahr- und Wochenmärkte wird von 
der zuftändigen Verwaltungsbehörde feftgefeßt. Den Martberech- 
tigten fteht gegen eine jolche Anordnung fein Widerſpruch zu.” 

2) Herzog, bie Entwicklung der gewerblichen Verhältniſſe 

im Regierungsbezirk Poſen feit 1815. Pofen 1867. ©. 65 ff. 


Die Berwaltungspraris über Jahrmärkte. | 223 


Kabinetsordre vom 21. Auguft 1830, die Majorität des 
poienichen Landtags jet mit den Staats- und Provinzial- 
behörben darin einveritanden geweſen, daß Die große Zahl 
der Jahrmärkte in bortiger Provinz auf die Sittlichkeit 
der Einwohner ebenjo nachtheilig wirke als auf Das Auf- 
fommen des bortigen Verkehrs, und es follen daher in 
feiner Stadt jährlih mehr als vier Märkte gehalten 
werden. 


In Sachſen hat das Gewerbegefeß vom 15. Oktober 
1861 die Tendenz, die Jahrmärkte zu beſchränken. Es 
follen von 1872 an in feinem Orte unter 10000 Ein- 
wohnern mehr ald zwei, in feinem größern mehr als 
drei Jahrmärkte jährlich gehalten werden. „Mar fcheint 
aber — fagt die Zeitichrift des ftat. Bureaus! — „in 
den meilten Fällen dieſe Zeit bi8 1872 für den Fortbe⸗ 
ftand der alten Einrichtung voll ausnugen zu wollen. 
Wenigſtens ift bis jeßt, nachdem die Hälfte jener Frift 
veritrichen ift, erjt an jehr wenigen Orten eine Reduktion 
eingetreten und befteht noch an fehr vielen Orten eine 
über das vom 1. Ianuar 1872 ab zuläflige Maß 
hinausgehende Zahl von Jahrmärkten.“ 

Da überall die Intereffen der Wirthe, der Schau- 
und Vergrügungsfuftigen, Nebenintereffen noch ſchlim⸗ 
merer Art mit dem allgemeinen lokalen Intereffe zu- 
ſammenfallen, die Märkte zu erhalten, jo ift Har, daß 
zunächſt mehr ihre Bedeutung als ihre Zahl abnehmen 
muß. Immer aber zeigt eine nähere Betrachtung jelbft 


1) Jahrgang 1866. ©. 165. 


224 Die Umgeftaltung von Probuftion und Verkehr. 


ver bloßen Zahl der Märkte, ! daß meine Behauptung 
im Allgemeinen richtig tft. 

Die Zahl der ſämmtlichen Jahr-, Vieh- und Pro- 
duktenmärkte war 1858 und 1867 folgende in Preußen: 


In der Provinz 1858 1867 
Preußen. . 1173 an 224 Drten, 1206 an. 226 Orten, 


Polen. . . 587 - 145 — 608 - 14 ⸗ 
Brandenburg 961 -» 163 = 10388 - 167 - 
Pommern . 5A - %0 ⸗ 5338» 0% = 
Schlefien. . 1043 - 160 - 1113 -» 14 - 
Sadjfjen . . 896 -» 1899 — 895 » 18 = 
Weftfalen . 890 - 348 ⸗ 977 - 352 + 
Rheinland . 1678 -» 562 >» 1671 » 525 = 


im Königreih . 7769 an 1881 Orten, 8042 an 1886 Orten. 

Beſonders da die Vieh- und Produftenmärfte mit- 
begriffen find, ift es begreiflich, daß in den öſtlichen 
Provinzen noch eine Zunahme der Jahrmärkte ſtattfindet. 
In den verfehrsarmen Streden des platten Landes im 
Oſten find fie heute noch am Pla, um Handwerks⸗ 
waaren, wie Fabrikreſte und Labenhüter, Die in ber 
"Stadt nicht mehr geben, die nicht mehr in der Mode 
find, aber ganz gut noch dem einfachen Bedürfniß ent- 
iprechen, abzuſetzen. Dagegen fehen wir, daß in Bom- 


1) Mir ift an ſtatiſt. Nachweiſen nur befannt: Statiftifche 
“ Nachrichten über die Jahl der Jahrmärkte, welche im Preußifchen 
Staate im Laufe des Jahres 1858 werden abgehalten werben, 
Mittheilungen bes ftat. Bur. in Berlin XI. S. 87 — 96. Der 
Marktverkehr, im Jahrbuch für die amtliche Stariftil des Preuß. 
Staates I, 465, enthaltend ein Berzeichniß der Märkte von 1863. 
Die Jahr- und Biehmärkte im Königreid Sachſen und in 
Preußen, Zeitſchrift d. ſächſ. ftatift. Bnreaus 1866. S. 165 — 173. 
Märkte und Börjen, Königreich Württemberg 1863. S. 651 — 54. 


Die preußifchen Jahrmärkte. 295 


mern, in Sachlen und am Rhein die Zahl der Jahr⸗ 
märfte fchon etwas, wer auch wertig, abnimmt; in Pom⸗ 
mern allerdings wohl nicht in Folge hochentwidelten Ver⸗ 
kehrs, ſondern eher in Folge eines gewiſſen Stillitandes. 

Nach dem Stande von 1858 war die Bedeutung 
ber preußifchen Marktorte und Märkte folgenpe: 











Ein Auf einen | Auf 100 Auf 
Brovi „| Markiort | Marktort | Marktorte | 100 Märkte 
ovinzen: tommt auf| Tommen | kommen | kommen 
DI Meilen | Einwohner Jahrmärkte Markttage 
Rheanland . 0,87 5 308 299 130 
Beftfalen. - 1,08 4 389 256 112 
Sachſen . . 2,44 9849 416 150 
Bon. - »| - Io 9 604 405 137 
Brandenburg. 4,50 13215 590 111 
Schleſien .. 4,4 19 891 652 127 
Breußen . . D,28 11771 524 132 
Bommen . 6,41 14 322 601 114 


Die dicht bewölferte Aheinprovinz bat die meilten 
Marktorte der Fläche, Weitfalen der Bevölkerung nach. 
Je mehr eine Provinz Marktorte bat, deſto weniger 
bedarf fie ver Märkte. An einem und demjelben Drte 
wurden burchfchnittlich im Jahre in Weitfalen am wertig- 
ſten Märkte gehalten, nämlih 2"/,, in den öftlichen 
Provinzen noch 5—6; die Sahrmärfte Haben aljo hier 
noch eine viel größere Bebeutung. In der Rheinprovinz 
md Weftfalen hat der Landbewohner durchſchnittlich bis 
zum nächften Marktorte eine ober nicht einmal eine 
Meile zurüchulegen; er wird öfter, zu jeder Zeit in 
bie Stadt kommen; damit tritt die Bedeutung des 
Jahrmarkts zurück. In Preußen und Pommern hat der 
Landbewohner 5— 6 Meilen bis zum Marktorte zurüd- 

Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 15 


226 Die Umgeftaltung von Probuftion und Verkehr. 


zulegen; da wird er viel jeltner Tommen, aber wenn er 
fommt, viel zu faufen haben, und je weniger die Xüben 
der Stadt bieten, deſto wichtiger wirb ihm noch die 
Konzentration des Angebots auf einem Marfte fein. 
Schlefien bat im Verhältniß zur Bevölkerung die wenig- 
ften Marktorte, erft einen auf ungefähr 20000 Men- 
fchen, dafür aber an einem Marktort jährlih 6 — 7 
Märkte. Die Dauer der Märkte (zwifchen 1, und 1, 
Tage auf einen Markt) vermag ich nicht auf allgemeine 
Urfachen zurückzuführen; es fcheinen da mehr zufällige 
Momente zu walten. 

Im Königreih Sachen müßten nach dem hoben 
Rulturgrad, nach der Dichtigfeit der Bevölkerung, nach 
den zahlreichen Städten und Tleden mit Läden und 
Magazinen die Iahrmärkte entichieven an Bedeutung 
und Zahl verlieren. Daß dies auch bis auf einen 
gewiffen Grab der Fall ift, beweilen die Ausjprüche 
der SHandelöfanmerberichte, wie 3. B. der Chemniker 
von 1863 jagt: „Auf den Jahrmärkten hat fich das 
Groſſogeſchäft bis auf ein Minimum reduzirt; ebenjo ift 
auch im Detailhandel für reelle Gejchäfte nur noch 
wenig zu erzielen, ba burch ben fich immer mehr ver- 
breitenden Handel in den Städten und auf dem Lande 
für die Befriedigung der Bebürfniffe vollkommen geforgt 
wird. Dagegen haben die Jahrmärkte jedenfalls ven 
großen Nachtheil, daß auf venfelben Tieverliche und un- 
ſolide Gejchäftsleute immer noch Gelegenheit finden, ihr 

1) Jahresbericht der Handels- und Gewerbelammer in 


Chemnit 1863. Chemnitz, Fode 1864. ©. 10. Aud die bor- 
tigen Ausſprüche Über das Meßgeſchäft find interefiant. 


Die ſachfiſchen Jahrmärkte. 227 


Spiel zu treiben und dem ſoliden Verkäufer das Ge- 
haft zu erichweren, wenn nicht unmöglich zu machen. 
Die Bedeutung der Iahrmärkte hat fich überlebt. Die- 
jelben untergraben die Solidität des Kleinhandels, 
erichweren an einzelnen Orten die naturgemäße Ent- 
wickelung deſſelben und erzeugen und friften das Dajein 
eines handeltreibenden Proletariatse. Die Verminderung 
und jchließlich gänzliche Befeitigung der Jahrmärkte wir 
deshalb ven veränderten fozialen Berhältnifien der Jetzt⸗ 
zeit entſprechen.“ 

Wir fahen jchon, daß dennoch die Gefammtzahl 
der fächfiichen Märkte zunächft feine Neigung zur Ab- 
nahme hat. Aber innerhalb ver Geſammtzahl Tiegen 
weientliche Aenderungen, indem die Vieh⸗ und Produkten⸗ 
märfte zu, die Krammärkte abnehmen. Es waren nämlich:* 


gemifchte Bieh- und Märkte 

Krammärkte Märke Produftenmärfte überh. 

im Jahre 1856 373 141 207 721 
« 1867 339 165 253 757. 


Diele e Zahlen beftätigen ebenfall® die Richtung auf eine 
finfende Bedeutung der Krammärkte. 

Wo und joweit Die Sahrmärfte noch blühen, find 
die ausbietenden Verkäufer, wie auch der Chemniter 
Deriht andeutet, mehr reine Händler und Hauſirer, 
als Handwerker, es find Leute, welche den Handels⸗ 
vertrieb ausjchlieglich treiben und deswegen wieder eher 
dazu paſſen, als die produzirenden Handwerker, welche 
durch den Jahrmarktsbeſuch Zeit und Arbeitsluſt verlieren. 


2) Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus für 1866. 
S. 170. 


15 * 


4. Die Magazine und der Hanfirhandel. 


"Die ſtädtiſchen Magazine, ihr Charakter, ihre Konkurrenz für 
das feine Handwerk. Ihre Schattenjeiten, Humbug und Be- 
trug. Daneben ihre voltswirthichaftliche Berechtigung. Das 
verichiedene Verhältnig der Magazine zur Probuftion, zu ben 
Arbeitern oder Heinen Meiftern. Die Uebelftände und ihre 

Erklärung. Die Wirkung der großen Magazine über das ganze 
Land. Die Wanderlager ober umberziehenden Magazine. Der 
Haufirhandel. Die verjhiedenen Thätigkeiten, die zu ihm 
gerechnet werben. Zur Gefchichte beffelben. Die Haufirer 
der ältern Zeit. Die Tendenz der Verwaltung, fie zu be- 
ſchränken. Die von felbft erfolgende Abnahme des alten 
Hauſirhandels. Die Wendung der neueften Zeit auf Wieber- 
zunahme. Die Arten der Haufirer, welche wieder zunehmen. 
Die Berechtigung diefer Zunahme, neben ber theilweije un⸗ 
fittlihen und proletariihen Zunahme Württembergifche Ber- 
bältniffe in dieſer Beziehung. Die Beftimmungen ber Ge- 
werbeorbnung des norbteutichen Bundes. 





Wie der tüchtige vorwärtsichreitende Handwerker 
den Bezug des Iahrmarkts aufgiebt, um feine Toftbare 
Arbeitszeit zu verlieren, jo weiß auch der Händler mit 
Handwerksprodukten, daß er befier fährt, wenn er fein 
Ladengeſchäft in der Stadt fo jteigern kann, Daß es ihn 
ausichlieglich zu nähren, zu beichäftigen vermag. 

Mir Iprechen von einem Magazinſyſtem da, wo ber 
faufmännifche Vertrieb den Schwerpunkt des Gejchäftes 
bildet. Der Bezug, die Anfertigung der Waaren ijt 


Der Charakter des ſtädtiſchen Magazins. 229 


mannigfach ; die Stellung des Unternehmers ebenjo: er 
it bald nur Kaufmann, bald Zechnifer, immer ein 
Mann etwas höherer Bildung und fozialer Stellung. 
Größeres Kapital ift die Vorausſetzung, große Vorräthe 
zur Auswahl bilden die Grundlage des Gefchäfts. Eine 
vom Geift moderner Spekulation geleitete Reklame, glän- 
gende Ausftattung, koloſſale Schaufenfter, gewandtes Ein- 
geben auf alle Bedürfniſſe des Publikums bilden bie 
Mittel anzuziehen und einen großen Abfat zu erhalten. 

Die Magazine bilden die Hauptflage des Heinen 
Meifters, ihre Konkurrenz nimmt ibm die Arbeit und 
würde ihm häufig noch gefährlicher werden, wenn Das 
Magazin nicht meift Baarzahlung verlangte, während 
bie Schneider und Schufter oft erft in einem Jahre, 
oft noch fpäter bezahlt werden und dieſen ruinirenden 
Kredit nicht weigern können, da in ver That ein großer 
Theil derer, die zu ihnen noch fommen, e8 nur thut, - 
weil hergebrachter Maßen dieſer überlange Krebit im 
Verkehr mit dem Heinen Meifter üblich ift. 

Aber nicht bloß der Heine Meifter, auch mancher 
folive Gefchäftsmann warnt bedenklich vor dem Magazin, 
md e8 unterliegt feinem Zweifel, — das Magazinſyſtem 
it ſehr wielfach der eigentliche Tummelplatz des modernen 
Schwindel8 und Humbugs, ja der eigentlichen Betrügeret. 
Der Großhandel ift reeller und ſolider geworden, weil 
fih bei ihm in ver Negel zwei Sachverftändige gegen- 
über ftehen. Im Laden und Magazin ftehen fich meift 
em Sachverftändiger und ein Late, ein mit ben 
Falſchungen, mit ver beftimmten Waare überhaupt 
wenig oder gar nicht Vertrauter gegemüber, 


230 Die Umgeftaltung von Probuftion und Verkehr. 


Der rechte Spefulant geht aus von dem Grundſatz: 
mundus vult deeipi, ergo deeipiatur. Die glänzende 
Außenfeite der Produkte ift ihm die Hauptſache, viel 
weniger die Haltbarkeit, die Solibität. Doch darf man 
nicht vergeffen, daß die Waare, die er liefert, meiſt 
fabrifmäßig hergeftellt if. Sie fann nicht die Voll 
endung und Haltbarkeit haben, wie ein Probuft, das 
nach Angabe des Beſtellers gearbeitet, in allem Detail 
von der Hand des Meifterd jelbft geprüft iſt. Iſt Die 
Waare nur entiprechend billig, jo ijt das fein Vorwurf 
gegen fie. Freilich gebt oft die Unfolivität viel weiter, 
wenn e8 auch nicht oft worgefommen fein mag, daß 
Kleidermagazine geleimte ftatt genäbter Hofen verkauften, 
die im Regen bevenkliche Refultate geliefert haben follen. 

Aber nicht bloß durch glänzend ausfehende Waare 
wirkt der Spefulant, der fein Magazin in die Höbe 
treiben will. Alle erlaubten und unerlaubten Mittel 
der Täuſchung und der Neflame werden von gewiſſen⸗ 
loſen Menjchen in Szene gejekt; und, was das jchlumme 
it, der eine fann nicht Hinter dem andern zurückbleiben, 
jo Häuft ſich Täuſchung auf Täuſchung, Betrug auf 
Detrug.! Sind wir von amerifaniichem, engliichem 


1) Ein fehr intereffanter Beleg hiefür ift der zunächft auf 
englijche Berhältniffe fich beziebende Artikel in ber Westminster 
Review 1859, Vol. XV New Series ©, 357: „the morals of 
trade.“ Ein anderer nit unmwichtiger Beitrag findet fich in den 
„Hausblättern‘‘ für 1866, Heft 21 ©. 227: zur Geſchichte Der 
Reklame, eine tulturhiftoriihe Skizze von Hugo Schramm. 
Serner: The humbugs of the world, by P.T. Barnum. 
London, Hotten 1865. 


Die Schattenfeiten der Magazine. 231 


und franzöfifchem Humbug noch weit entfernt, fo find 
dieſe Dinge bei uns Doch auch ſchon fo entwidelt wie 
irgend wünſchenswerth. Der gewandte Nechtsanmwalt 
und Handelsrichter weiß davon zu erzählen. Wie 
manchmal ift der Tall jchon durch ärgerliche Prozeſſe, 
bie unter den Helferäbelfern ausbrechen, ans Licht gekom⸗ 
men, daß der fpottbillige Verkauf guter Kleider in dieſem 
und jenem Magazin darauf berubte, daß ver Inhaber . 
für 2000 Thaler einen Tuchvorrath Taufte und baar 
bezahlte, der 4000— 5000 Thaler werth war. ‘Der 
Verläufer des Vorraths fteht vor dem Banferott und . 
will noch etwas auf die Seite fchaffen. Er verkauft, 
betrügt feine Gläubiger, Käufer und Verkäufer verpflichten 
fich zu fchweigen; in den Büchern wird die Sache irgend- 
wie vertufcht, und Niemand erfährt etwas, wenn bie 
ſaubern Gefchäftsfreunde nicht Händel befommen. Andere 
Magazine helfen fich wenigſtens dadurch, daß fie feine 
andern Waaren als Konkurswaaren laufen. Und in 
bewegter Spekulationszeit machen ficher immer fo viele 
Magazine Bankferott, daß aus ihren Zwangsauktionen 
bilfig zu kaufen ift. 

Ich will nicht befaupten, daß auch nur bie Hälfte, 
auch nur ein SDrittheil unferer deutſchen Magazine an 
ſolchen Unlauterkeiten theilnehmen; aber immer märe 
das Bild des Magazinſyſtems einfeitig, wenn mar dieſe 
Auswüchſe nicht erwähnte. Sie find um fo mehr zu 
erwähnten, als Polizei und üffentliche Meinung bei uns 
weniger als in entwideltern Ländern Diefe ‘Dinge ver- 
pönen, verfolgen, überhaupt Tennen; um jo mehr zu 
betonen, als doch trotz aller diefer möglichen Uebelſtände 


232 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


zuzugeben it, daß das Magazinſyſtem heute eine volfs- 
wirtbichaftliche Nothwendigkeit ijt. 

Der beite Beweis hiefür ift, daß fie troß aller 
Klagen über fchlechte Waaren ein immer größeres Publi- 
fum finden, immer mehr zunehmen. Und das hat ein- 
jache volkswirthſchaftliche Urſachen. ‘Die Arbeitstheilung 
zwiichen Produktion und Vertrieb ermöglicht beilere Pro⸗ 
duftion und beſſern Dertrieb. Die Magazine ent- 
Iprechen dem heutigen Stande der Rapitalanjammlung, 
der Zechnif, der Geichäftsorganijation. Die Magazine 
haben Kapital und Kredit, die Konjunfturen zu benutzen, 
fie bilden, wo fie nicht jelbit produziren, für die Fabriken 
over Kleinen Produzenten fichere, zahlungsfähige Abneb- 
mer; fie faufen, wenn fie ſelbſt produziren laſſen, Die 
Roh- und Hülfsitoffe billig im Großen ein. Sie Tiefern 
billigere Waaren als früher, fie bieten dem Publikum 
die große Auswahl zwifchen fertigen Produkten, Die es 
wünſcht. Die Waarenvorräthe, welche fie halten, können 
als eine Art Reſervefonds für das ganze Volk betrachtet 
werden. Sind nur die Verhältniffe richtig geordnet, fo 
werden Preiſe und Betrieb durch die Magazine eher 
gleichmäßiger, Krifen feltener. Das Magazin hält eine 
Mißgunſt der Konjunktur eber aus, als ver Tleine 
Meifter,; es wird auf Vorrath arbeiten laſſen, gerade 
wenn die Löhne gedrückt ſind. 

Das Verhältniß der Magazine zu den Arbeitern 
iſt ſehr verſchieden. Einzelne haben eigene Arbeits⸗ 
räume, wo ſie Arbeiter und Arbeiterinnen beſchäftigen; 
ſie ſind ganz auf dem Fuß einer Fabrik eingerichtet; 
der Arbeiter hier unterſcheidet ſich nur darin vom 





Das Verhältniß der Magazine zur Probuftion. 233 


gewöhnlichen Fabrikarbeiter, daß er ein gelernter Hand⸗ 
werfer ift, dem entiprechend eine andere Stellung und 
andern Lohn beaniprucht. 

Andere Magazine find ganz oder faſt ausſchließlich 
auf Einkauf fertiger Produkte, fertiger Lederwaaren, fertiger 
Kleider eingerichtet. Sie beziehen dieſelben von Fabriken 
oder von verſchiedenen Handwerksgeſchäften, welche ſelb⸗ 
ſtändig die Rohſtoffe einkaufen und verarbeiten, welche 
fich ausſchließlich auf einzelne Spezialitäten, z. B. auf 
die ausſchließliche Anfertigung von Damenmänteln werfen. 
Solche Handwerker arbeiten dann für eine Reihe von 
Magazinen, oft für Magazine an verſchiedenen Orten. 
Ihre Geſchäfte vervollkommnen ſich techniſch, ſind durch 
ihren Abſatz an verſchiedene Magazine unabhängig; ſie 
machen häufig gute Geſchäfte; es iſt kein allzugroßes 
Kapital zum Beginne nöthig. In dieſer Weiſe hat ſich 
in Thüringen und ganz Mitteldeutſchland vielfach die 
Schuhmacherei geſtaltet. Die kleinen Meiſter kaufen 
ſelbſt das Leder — beſonders da, wo Rohſtoffgenoſſen⸗ 
ſchaften ihnen das erleichtern — und verkaufen die fer⸗ 
tige Waare an die Magazine. 

Häufig aber beichäftigen die Magazine die kleinen 
Meifter und Arbeiter fo, daß fie den Rohſtoff Tiefern, 
ben Arbeiter in feiner eignen Wohnung arbeiten lafien, 
ihm nur die Arbeit bezahlen. Don ſolchen Verhält⸗ 
niſſen hauptjächlich geht Die vielfach verbreitete Meinung 
ans, als ob das Magazinſyſtem an fich identiſch ſei mit 
Lohnherabdrückung, mit blutiger Ausſaugung des Arbeiter- 
ſtandes. Diefe Meinung irrt in ihrer Allgemeinheit 
ſchon deshalb, weil das Magazinſyſtem ganz verſchiedene 


234 Die Umgeftaltung von Produktion nıd Verkehr. 


geichäftliche Organifationen zuläßt, Die gerade Die Be⸗— 
ziehungen zwilchen dem Arbeiter und dem Magazin 
ganz verſchieden geftalten. | 

Nur jo viel läßt fich im Allgemeinen jagen, daß 
dem Magazininhaber meift der Vertrieb, der Verkauf 
die Hauptjache ift, daß ihm vie Probuftion erft in 
zweiter Linie fteht, daß er aljo deswegen weniger Ir- 
terejfe an feinen Arbeitern bat, als ver eigentliche Fa⸗ 
brifant und als ver Verleger der Hausinduftrie, deren 
eigenes Gedeihen mit dem Wohle der Arbeiter näher 
zufammenhängt. 

Ein Theil der Mißbräuche in dieſen Geſchäfts— 
verhältniffen hängt mit dieſem Umſtande zufammen; ver 
größere Theil aber bat andere Urfachen, Tiegt in ber 
allgemeinen Krifis der Handwerfsinpuftrie, in dem zu 
großen Angebot von Arbeitskräften, beſonders in Tolchen 
Gewerben, die leicht zu erlernen find, in denen ber Zu- 
drang groß ift, weil fie bisher ohne bedeutendes Kapital 
leicht die Gründung eines eignen Geſchäfts erlaubten. 
Auch die früher mangelnde Freizügigfeit, die Schwer: 
fälligfeit in Meberfievelungen bat viel mitgewirkt; Die 
Eifenbahnen Haben die Schwerpunkte des gewerblichen 
Lebens total verrüdt; an einem Orte ift ver größte 
Arbeitermangel, am anbern haben bie Leute nichts mehr 
zu thun. 

Wo jo das Angebot an Arbeitern überwog, wo 
zahlreiche Kleine Meiſter unbejchäftigt waren, da haben 
die Magazine arbeiten laſſen. Sicher haben fie bie 
Unfenntnig und die Noth der armen Leute oftmals 
blutig und entjeglich ausgenutzt. Aber meiſt geichah es 





Das Arbeiten für die Magazine. 235 


da, wo ohne die Magazine die Arbeiter gar Teine Arbeit 
gefunden hätten, die Noth aljo noch größer gewejen 


wäre. Oft auch haben fi die Schuhmacher und 





Schneider, welche für Magazine arbeiten, jelbft dadurch 
geichadet, daß fie das Magazin im Stiche Tießen, wenn 
biejes ihre Arbeit am nothivendigften brauchte. Sie halten 
es häufig noch für eine Schande, für „pie Juden“ zu 
arbeiten, fie wollen eine eigene Kundſchaft erwerben und 
len, fobald in einem günftigen Geſchäftsjahr die Nach- 
frage fteigt, ihren Zujfammenbang mit dem Magazin. 
Nun kommt wieder eine Geichäftsitille; der Verfuch, ein 
eigenes Gefchäft zu gründen, zeigt fich als mißlungen; 
die Erfparniffe find verbraucht. Der Magazininhaber 
wie der Meifter find gegenfeitig erbittert; jeder ſchiebt 
ben flauen Abfag dem andern in die Schuhe. Und jetzt 
gerade muß ber Fleine Meifter um jeden Preis Arbeit 
juchen ! 

So kann das BVerbältniß fein, jo muß es nicht 
fein. Hat fich nach Umwandlung der Verhältniſſe vie 
Zahl der Arbeitenden in ein richtiges Verhältniß zur 
Nachfrage geftellt, ift die Lage der Leute eine behag- 
lichere, beſſere, befigen fie wenigſtens Das nothwendige 
Handwerkszeug jelbft, find fie nicht durch Vorfchüffe von 
einzelnen großen Unternehmern abhängig, fo ift ihre 
Lage nicht ſchlimm. Es fehlt ihnen die alte Selbitän- 
digkeit des Handwerks, es fehlt ihnen die Möglichkeit, 
am Unternehmergewinn theilgunehmen; aber fie haben 
ihr gefichertes Verbienft, und wenn fie ſehr geſchickt find, 
wenn fie etwas erfparen, können fie immter in die Reihe 
ter Unternehmer felbft wieder eintreten. 


236 Die Umgeftaltung von Produktion und Berkehr. 


Die Wirkung der ſtädtiſchen Magazine beichränft 
fich nicht auf die Städte; die ganze Umgegend der Stadt 
fängt an, bei ihnen zu Taufen; ber jchöne Laden beginnt 
auch dem Bauern zu imponiren, der ftaunend vor den gro- 
Ben Spiegelfenftern und ihrer Schauftellung ſtehen bleibt. 
Die Eitelfeit |pielt mit: mancher will hinter der Mode 
nicht zurückbleiben; die neuejte Mode, die neuefte Façon 
findet man in den großen jchönen Läden. Die Eiſenbahn 
erleichtert den Beſuch felbft für den ferner Wohnenden. 
Wie der Bauer gern in die Stadt, jo geht ver Be⸗ 
twohner des Städtchen gerne auf einen Tag in bie 
Hauptftadt der Provinz; der wohlhabende Bewohner der 
Provinzialhauptitadt aber würde es unter feiner Würde 
finden, wenn er nicht Möbel und Kleider von Berlin 
. bezöge; die vornehme Berlinerin bat ihre Pusmacherin 
in Paris, nur dort kann fie die neuen feivenen Roben 
einkaufen und erträglich machen laffen. Berliner Möbel 
find nächitens in den Magazinen aller deutjchen Städte ; 
es ift daſſelbe Holz, dieſelbe Arbeit, dieſelben Modelle ; 
aber der „Gebildete“ reist doch nach Berlin, um dort 
einzufaufen, und ficher findet er auch ba eine noch 
größere Auswahl, die ſchönſten Stüde, vie billigften 
Engros- Preife, oftmals freilich auch noch mehr 
Täuſchung und Betrug, ald zu Haufe. 

Aber auch für Denjenigen, der nicht Die Reifen nach 
der Provinzial- oder Landeshauptftadt machen kann, bat 
die wachjende Spekulation Gelegenheit gefchaffen, vie 
Magazinwaaren zu faufen, durch die wandernden Maga⸗ 
zine, welche den Uebergang zu dem eigentlichen Hauſir⸗ 
handel bilden. 





Die Wanderlager. 237 


Man wird dieſen Wandermagazinen nicht voll- 
ftändig die volfswirthichaftliche Berechtigung abiprechen 
birfen. Wenn an einem Orte ein Geſchäft nicht das 
ganze Fahr zu thun findet, fo Tann der Wechſel des 
Ortes von Monat zu Monat am Plate fein. Die 
dunktion, neue Bedürfniſſe in abgelegenen Drten zu 
weder, ift ebenfalls eine berechtigte, wenn fie nicht zu 
weit gebt. 

Auf der andern Seite aber ift ebenjo unzweifelhaft, 
daß ſolche Wanvermagazine mehr al8 jeder andere Ge- 
werbebetrieb e8 auf Täuſchung des Publikums, auf 
Umgebung der Gewerbefteuer anlegen. Die Reklame, 
das Aushängeſchild des Ausverfaufs, die verführeriiche 
vorm der Auftionen muß helfen einen fchnellen Abjat 
zu bewerfitelligen, und bis Die Käufer den Schaden 
merfen, ift das Magazin längſt an einem andern Drte. 
Was ich oben von den Schattenjeiten der ſtehenden 
Magazine fagte, gilt Doppelt und dreifach von den 
wandernden. 

Die großen Klagen in Württemberg über der⸗ 
artige Wandermagazine erwähnte ich ſchon oben. 
Seit die Gewerbeſteuer dieſer Art von Geſchäften 
geregelt ijt (1865), hat aber das wandernde Ausbieten 
von ganzen Waarenlagern in Wirths⸗ und Privat- 
bäufern wieder weſentlich abgenommen. Das neue 
Bairiſche Gewerbegeſetz hat troß feiner ſonſt durchaus 
liberalen Richtung die Beitimmung, daß die. fogenannten 
Wanderlager von der ortöpolizeilichen Bewilligung ab- 


1) Württ. Handelsfammerberichte für 1865. ©. 119, 





233 Die Umgeftaltung von Probuftion und Verkehr. 


hängen und einer bejonvdern Abgabe für die Gemeinde- 
faffe des betreffenden Ortes unterliegen.! Der große 
Erguß von Berliner Spekulanten über Thüringen und 
ganz Mittelveutichland in der Form von Wanderlagern, 
über den jett allerwärts geklagt ift, ſcheint auch mit 
einer mangelhaften Negelung der Steuerverhältniffe zu- 
fammenzuhängen; vielfach find natürlich die Klagen über- 
trieben, fie zeigen theilweife nur, daß Konkurrenz kommt, 
und daß fie ungeſchickten Meijtern und uncoulanten 
fenntnißlofen Kleinen Händlern unbequem iſt. Wandernde 
wie jtehende Magazine, welche Fabrikwaaren verkaufen, 
hätten ja überhaupt unenblich weniger zu thun, wenn 
die Runden bei den Heinen Meiftern etwas befjere und 
funftgerechtere Produkte im Falle der Beftellung erhielten. 
| Wenden wir und endlich zum eigentlichen Haufir- 

handel, ver. freilich nur theilweife Hierher gehört, nur 
theilweife dem. Heinen Handwerker und feinem Laden: 
geichäft Konkurrenz macht. 

Es werden zum Haufirhandel im weitern Sinne 
ziemlich verfchievene Handels- und Gewerbebetriebe 
gerechnet: Leute, welche ihre ‘Dienfte anbieten, wie 
Scheerenichleifer, Keifelflider, Zopfbinver, Kaſtrirer, die 
in weiter Ferne herumkommen, und Glafer, die mit 
Glasſcheiben und Werkzeug nur in der nächften Umgegend 
Nachfrage Halten, ob irgendwo eine Reparatur notb- 
wendig ſei; Händler, welche alle Arten von Kramwaaren 
vertreiben, und folche, die von einzelnen Induſtrien aus- 


1) Art. 21. ſ. die angeführten Erläuterungen von Schöller 
S. 79 — 80. 


Der Haufirhanbel. 239 


gefendet, ihre Produkte in die weitelte Yerne bringen, 
diefen Induſtrien vielfach erſt Abſatz fchaffen; dann wie- 
ber Sammler von Abfällen, Auffäufer von Obft, ®e- 
flügel, Eier, Garnfammler und wandernde Flachsver⸗ 
fäufer, vie Yeßtgenannten alles Leute, die mit feſtem 
Wohnſitz den Verkehr höchſtens auf einige Meilen ver- 
mitteln, in kurzen Zeiträumen immer wieder erfcheinen. 

Dieje Verjchievenheit derjenigen, die man unter dem 
Degriff ver Haufirer umfaßt, und die bisher nach den 
meiften Gefeßgebungen ziemlich gleichmäßig unter den gejetz- 
lichen Beftimmungen über den Gewerbebetrieb im Umher⸗ 
ziehen ftanden, erflärt auch die Verjchtevenheit der An- 
fiohten über Werth und Berechtigung des Hauſirhandels. 
Je nachdem die eine oder andere Art vorwiegt, je nachdem 
die fonftigen begleitenden KRulturzuftände find, muß das 
Urteil anders ausfallen. Ich will nur flüchtig anzu⸗ 
deuten fuchen, wie je nach den verfchievenen Branchen, 
je nach den Zeitverhältniffen der Haufirhandel zu- oder 
abnehmen mußte, günftiger oder ungünftiger beurtheilt 
wurde. 

Bei ganz rohen Zuſtänden, wie heute noch in 
vielen Gegenden Nordamerika's, iſt der Hauſirer der 
einzige Vermittler mit der übrigen Kulturwelt, der ein⸗ 
zige, der Kunſtprodukte, Gewebe, Nadel und Faden, 
Geräthe und Inſtrumente dem abgelegen wohnenden 
Landmanne bringt. Der römiſche Hauſirer durchzog die 
germaniſchen Lande; ähnliche Dienſte leiſtete im Mittel- 
alter der Jude, der Lombarde, der Zigeuner, ſpäter 
auch viele Deutſche ſelbſt. In armen gebirgigen Gegen⸗ 
den warfen ſich ganze Ortſchaften auf dieſen mühevollen 


240 Die Umgeftaltung von Probultion und Verkehr. 


Erwerb und haben fich bis in Die neuere Zeit fo erhalten. 
Ich erwähne aus Süddeutſchland Die naſſauiſchen Töpfer- 
händler, die ſchwarzwälder Uhrenhändler, aus Nord⸗ 
deutſchland vor Allem die Hauſirer Weſtfalens, die 
Winterberger und Weſtfälinger, die Händler aus dem 
Hückengrunde, die mit Holz⸗, Töpfer- und Eiſenwaaren, 
mit Hopfen und andern Waaren durch die Welt zogen, 
die früher vorzüglich nach Dänemark, nach Schweden 
und Norwegen bis in die einſamſten Thäler vordrangen, 
deutſche Waaren abſetzten und dafür den Feuerſchwamm 
mitbrachten. In Weſtfalen gibt es noch bis in die neuere 
Zeit Städtchen und Dörfer von 1000 — 6000 Ein- 
wohnern mit mehreren Hundert Haufirern.! Zu Tauſen⸗ 
den zogen fie aus jenen Gegenden jedes Frühjahr aus.? 

Waren immer fchon viele jchlimme Elemente unter 
einer berartigen Benölferung, war bas noch mehr ver 
Tall an der polniichen Grenze, wo unter Juden und 
Polen noch mehr nomadenhafte Gewohnheiten und Hang 
zu Betrug und Diebftahl exiftirten, immer gab e8 unter 
ihnen ſehr viele ehrliche, tüchtige Leute. Aber neben 
ihnen finden wir früh ganz andere Elemente, die mit 
Recht die ftrengfte polizeiliche Weberwachung heraus⸗ 
forderten. Aus den fahrenden Leuten des Mittelalters 
wird nach der Neformationgzeit, noch mehr nach dem 
dreißigjährigen Kriege eine wahre Landeskalamität; die 
Verwilderung hatte alle fittlichen Bande zerftört. Die 


1) Jacobi, das Berg-, Hütten- und Gewerbeweſen bes 
Regbz. Arnsberg, S. 488 ff. 

2) Ulmenftein, über den Haufirhandel, Archiv d. pol. Del. 
von Rau I, S. 213 und. passim. 





Die vagabınbirendeu Hauſirer. 241 


Arbeitsjchen jchmellte damals den Haufirhandel unnatür- 
ih an. Die Bevölkerung ganzer Dörfer, ganzer Gegen- 
ben hatte fich in fahrende Diebs- und Räuberbanden 
verwandelt. Mißbräuche aller Art nahmen zu. Schleich- 
handel, Kundfchafterei für Diebsbanden, Diebshehlerei, 
wenn nicht Schlimmeres, Quadjalberei, ſyſtematiſcher 
Betrug, Verkauf unfittlicher Bilder und verbotener 
Schriften galten für identiſch mit Haufirhandel, und bis 
in die neuere Zeit trifft man nur allzureiche Spuren 
hiervon. 

Eine gewaltthätige Gefeßgebung fuchte dieſes Geſindel 
wieder zu ſeßhaftem Leben zu bringen, ſuchte mit allen 
Mitteln dieſem unfteten Leben entgegen zu wirfen; und 
als längst ſchon in andern Gebieten die abftrafte Theorie 
bon der Yreiheit alles wirthichaftlichen Verkehrs als 
unbedingtes Dogma galt, war in Bezug auf den Haufir- 
handel Theorie und Praxis einig, war bemüht, den 
Haufirhandel möglichit zu beichränfen, das ſtehende G&e- 
werbe vor jeiner Konkurrenz zu ſchützen. Von biejem 
Seifte find die Haufirgefege bis in bie neuere Zeit 
beherrſcht. Auf dieſem Standpunkt fteht z.B. noch 1841 
Hoffmann, * dem Rönne? dieſelben Worte noch 1851 
unbedingt nachipricht, wenn er jagt: „Die Fortdauer 
des Gemerbebetriebs im Umberzieben auf der Bildungs⸗ 
itufe, worauf fich Deutichland und Preußen insbejonvere 
befindet, ift eine nierkwürdige Erſcheinung. Cine Noth- 
wendigkeit berfelben ift durchaus unerweislich.” 


1) Die Befugniß zum Gewerbebetrieb ©. 240. 
2) Gewerbepoligei II. 224. 
Schmoller, Geſch. d. Mleingewerbe. 16 


242 Die Umgeftaltung von Probuftion und Berlehr. 


Das preußifche Negulativ vom 28. April 1824, 
das bis jet gegolten bat, war übrigens in relativ 
liberalem Geifte gehalten. Hoffmann findet, daß es viel 
zu fehr Die Dinge fich ſelbſt überlafje, wenn es auch) 
auf ber andern Seite durch die hohe Gewerbeſteuer 
für den Gewerbebetrieb im Umberziehen an einzelnen 
Punkten wieder einjchränfend wirke. Für Denjenigen, 
dem die Verwaltungspraris in den verjchiedenen Yandes- 
teilen nicht genau bekannt ift, ift e8 ſchwer, ein ſelb— 
jtändiges Urtheil darüber zu fällen, in wie weit bie 
Geſetzgebung, in wie weit die andern Urjachen, die 
realen wirthichaftlichen Bebürfnifie auf Zunahme oder 
Abnahme des Haufirhanveld gewirkt haben. ebenfalls 
it anzunehmen, daß die Verwaltungspraris in Preußen 
von 1824 bis zur Gegenwart ungefähr viejelbe blieb, 
daß aljo die Stabilität des Haufirhandels früher und 
die Zunahme, die neuerbings eingetreten ift, auf andere 
Urjachen zurüdzuführen find. | 

Im Ganzen wird man behaupten dürfen, daß Die 
wirthichaftlichen Verhältnifje, die ſteigende Deffentlichfeit 
und Moralität bis in die neuere Zeit in Ähnlichen 
Sinne wirkten, wie die Haufirgefege. Der Haufirban- 
del, der nur dem Vagabundenleben zum Schilde dient, 
hat entichteven abgenommen. Und nicht bloß der unjolive, 
auch der folide Hauſirhandel ift theilweife nicht mehr 
jo nothwendig wie früher. Seit ver neuen Zunahme 
des Verkehrs Hängen nicht mehr, wie früher, ganze 
Induftriezweige vom Abjak der Haufirer ab. Die 
Nürnberger und Fürther Induſtrie, die ſchwarzwälder 
Uhreninduſtrie, Die rheinbairiſche Bürften- und Befen- 


Die Abnahme des ältern Haufirhandels. 243 


industrie jegen ihre Produkte jet mehr auf andere 
Weile ab. Der Tyroler Haufirer mit feinen Lederwaaren 
und Handſchuhen bejucht jet die Meffen und Märkte, 
vielfach hat er fich feit angefievelt, als Haufirer trifft 
man ihn jelten mehr. Die Gegenden und Ortichaften, 
bie beinahe ausſchließlich vom Hauſirhandel Yebten, gehen 
weientlich zurüd oder nehmen die Betriebsweiſen eines 
georneten ftebenden Handels an. Wenn der weſt⸗ 
fäliſche Haufirer — fo erzählt Jacobi — früher oft 
1000 Fl. von einer Jahrestour aus Holland zurüd- 
brachte, fo ift er jet mit 100 Thlr. durchſchnittlich zu- 
frieven. In immer weitere Kreife muß er ziehen, um 
ih zu nähren. Bon ven füdbentichen Haufirern der 
Ehninger Gegend, die in aller Welt befannt find, . 
berichtet Mährlen:! „Der Hauſirhandel, wie er bisher 
von den Krämern in Ehningen mit einem Sahresum- 
ſchlag von einigen Millionen Gulden betrieben wurde, 
it in ftarfer Abnahme begriffen, und es haben manche 
der zahlreichen Firmen dieſes Orts bereit angefangen, 
ihren Uebergang zur Seßhaftigfeit durch Kommanditen 
in In und Auslande anzubahnen.” Während aber 
jo auf der einen Seite von jelbft und durch die Be- 
mühung der Verwaltung einzelne Arten des Hanfir- 
handels abnahmen, mußten die neuejten Verkehrs⸗ 
änderungen wieder anvere zur Auspehnung veran- 
laſſen. 

Ladengeſchäfte und Handwerk nahmen ſeit der Zeit 
der Eiſenbahnen auf dem Lande nicht mehr ſo zu wie 


1) Königreich Württemberg ©. 623. 
16 * 


244 Die Umgeftaltung von Probuftion und Berfehr. 


früher, der Iahr- und Wochenmarktsbeſuch ift nicht 
mehr derſelbe. Der Bauer hat nicht mehr Zeit, jo 
oft zu Martte zu fahren und ganze Tage mit Verkaufen 
und Einkaufen zu verlieren. Der Haufirer Tann billigere 
und -beffere Waaren liefern, ald der Laden im Dorfe. 
Der Haufirer mit Krammaaren, mit Weißwaaren, mit 
Küchengeſchirr, gewinnt dadurch eher wieder. Mancherlei 
Neues wird heute produzirt; Bedürfniſſe und Anſprüche 
ändern ſich; im abgelegenere Gegenden kommt dieſes 
Neue nur durch den Hauſirer. Vor Allem aber mußte 
der einkaufende Hauſirhandel zunehmen. Der Viktualien⸗ 
handel iſt meiſt jetzt in den Händen ſolcher kleinen 
Kommiſſionäre, welche bisher in Preußen einen Hauſir⸗ 
ſchein brauchten. Sie kaufen für den Müller die kleinen 
Getreidepoſten zuſammen, fie liefern dem Geflügel—⸗ 
händler, dem Eier⸗, Butter- und Milchhändler der 
Stadt ihre Waaren. Aber faſt immer verbindet ſich 
damit ein Vertrieb von Waaren, welche der Landmann 
braucht; ſie beſorgen dem Bauern dies und jenes in 
der Stadt, kaufen dort für ihn ein. Außerdem iſt man 
heute bemüht, die Abfälle beſſer zu nützen als früher. 
Altes Eiſen, Lumpen laſſen ſich ſchwer anders ſammeln 
als durch den Hauſirer, ſie würden nicht benutzt, wenn 
der Hauſirer ſie nicht holte. Die meiſten derartigen 
Geſchäfte ſind in den Händen nicht ganz unbemittelter 
Leute; fie müſſen baar zahlen und gegen Kredit wer- 
faufen, wenigſtens die an die Viktualienhändler ver 
Stadt verfaufenden. Dazu gehört einiges Kapital. 
Das erklärt, warum in neuerer Zeit die Zahl Der 
jogenannten Haufirer rejp. der Haufirpatente auch bei 


Die nenefle Zunahme des Haufirhandels. 245 - 


gleichbleibenver Geſetzgebung zunahm, erflärt, warum 
bei einer Erleichterung des Hauſirhandels durch eine 
Iiberalere Gefeßgebung der Zudrang ein fo großer ift, 
obwohl damit nicht geleugnet werden foll, daß, wenn 
eine folche Geſetzesänderung eintritt, auch eine Reihe 
unlauterer Motive, fowie die fteigende Zahl der Bevöl⸗ 
ferung an fich zur Ausdehnung mitwirken. 

Die Zahl der jährlih in Preußen nachgefuchten 
und ertheilten Haufiricheine ift mir leider nur für ein- 
zelne Jahre befannt. Die Zahlen der in der amtlichen 
Statistik feit 1837 angeführten Gewerbetreibenven vieler 
Art find mir zu einem ftrengen Beweis nicht ganz un- 
verdächtig; denn einmal ftimmen fie nicht überein mit 
der Zahl ber aus eimelnen Jahren mir belannten 
Haufiricheine; das hat wohl feinen Grund darin, daß 
nur die ausjchlieglich als Haufirer lebenden Perfonen in 
ber Gewerbetabelfe unter dieſer Rubrik gezählt werben. 
Damm iſt die aufzunehmende Kategorie aber auch nicht 
immer gleich gefaßt geweſen. Immerhin will ich die 
Zahlen mittheilen und verjuchen, zu folgern, was fie 
ungefähr enthalten. 

Die aufzunehmende Kategorie Tautete zuerft* 
„herumziehende Krämer,” fpäter „herumziehende Krämer 


und Lumpenſammler;“ die Pferde- und Viehhändler 


waren nicht darunter; fie machen 1858 noch eine bejon- 
dere Kategorie aus (12112 Perſonen zufammen mit 
Kohlen⸗, Pech⸗, Theerhänvlern und Trödlern). Im 


1) Dieterici,, flatift. Ueberficht. 2te Fortſ. ©. 617. 


. 246 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Jahre 1861 find die NRategorien etwas andere. Die 
Rubrik „Pferdes, Vieh⸗, Pech, Theer-, Kohlenhändler 
und Trödler“ fehlt ganz. Die Hauſirer ſind ſo gefaßt: 
„herumziehende Krämer, Lumpenſammler und andere 
herumziehende Händler.“ Darnach iſt ein Theil der 
1858 unter den 12112 Perſonen ſteckenden Händler 
jet bier mitwerzeichnet, aber auch nur ein Theil, 3.2. 
die Trödler nicht, wonach die Zahl für 1861 aljo, um 
mit den früheren Zahlen vergleichbar zu werben, um 
einige Tauſend veduzirt werden müßte. 


Die Zahlen jelbit Ib folgende: 


1837 15 753 
1840 . 16237 
1843 . 18146 
1846 . 21049 
1849 . 16724 
1852 . 20404 
1855 . 21214 
1858 . 22497 
1861 44411. 


Nach dieſer Tabelle würde die Zahl der daufner 
von' 1837 bis 58 ſich kaum, nur etwa der Bevölkerungs 
bewegung entſprechend, vermehrt haben. Die vorüber- 
gehende Steigerung 1846 erklärt fich aus der damaligen 
Roth und Stodung der Kleingewerbe, welche Manche 
nöthigte, auf dem Wege des Hauſirens fich durchzu⸗ 
bringen. Tür 1858— 61 bleibt eine bedeutende Zu— 
nahme, man mag auch taufende von der Zahl wegen 
anderer Faſſung der Rubrik abziehen. Und diefe Zu- 
nahme halte ich gerade von 1858 ab nicht für un⸗ 
wahricheinlich. 


Die Preußiſche Statiftit des Haufirhandels. 247 


Es iſt daneben nicht ohne Intereffe auf die Ver: 
tbeilung der Haufirer nad) Provinzen 1837 und 1861 
einen Blick zu werfen: 


m 1861 














En 
Provinzen 88 EL auf ae | geht Sumhare 
ln | 4 Saufkeer —— _ Haufen | kommen 
Breußen .. 3. 2689 3 
Boien. . | 1890 197 
Brandenburg 1 9 1 5263 213 
Pommern . 1106 112 2509 180 
Schleſien. | 4150 155 | 9006 265 
Sadien . . 2 050 131 7515 383 
Weſifalen. | 2573 194 5256 324 
Rheinland . | 2503 101 9437 293 


Wo am. meiften Verkehr und Induftrie, wo ber 
Kleinbefig vertreten, wo die wirtbichaftliche Kultur am 
böchiten ift, da finden wir Die größte Zahl verfelben. 
Der relative Zuwachs, wenn wir ihn überhaupt nach 
diefen Zahlen glauben ſchätzen zu dürfen, iſt nächit 
Preußen am ftärkiten in Sachen und am Rhein, am 
Ihwächlten in Pommern, Brandenburg, Poſen. Das 
deutet darauf, daB es nicht jowohl die vagabundiren- 
den, nomadenbaften, auf Diebſtahl und Nichtsthun 
ſpekulirenden Haufirer, jondern die Heinen, reellen, 
wahren wirthſchaftlichen Bebürfniffen dienenden Auf > 
und Verfäufer find, die zunehmen. 

Daß trotzdem auch Heute noch der Hauſirhandel 
feine wirthichaftlichen und fittlichen Gefahren hat, zeigt 
fih am beften, wie ich vorhin fchon erwähnte, wenn 
irgendwo die Verwaltung das Löjen der Gewerbejcheine 
erleichtert, die Steuern herabiegt, over bie Umgehung 


248 Die Umgeftaltung von Produktion und Berkehr. 


derſelben erleichtert. Der Andrang und die Mißbräuche, 
bie da entjtehen, find nicht unbebeutend, es fragt fi) 
nur, ob fie nicht theilweiſe vorübergehend find, ob nicht 
durch die bisherige einjchränfende Verwaltungspraxis 
neben manchem Unfug jehr viele berechtigte Geſchäfte 
abgefchnitten wurden. 

Ich möchte in diefer Beziehung noch Einiges aus 
den unpartetifchen, fchon oben erwähnten Berichten ver 
. württembergiichen Handelskammern hervorheben. 

Die Berichte erkennen volljtändig an, daß bie 
größere Auspehnung des Hauſirhandels feit dem liberalen 
Gemwerbegefeß von 1862 ihre volfswirtbichaftliche Be⸗ 
rechtigung habe, daß der Haufirbanvel Konkurrenz und 
Preisermäßigung jchaffe, daß er Geichäfte, Einkäufe und 
Verkäufe veranlaffe, die ohne ihn vielfach ganz unter- 
blieben wären. Aber ebenſo betonen fie die Mißſtände. 
Die unreellen Geichäfte, der Schwindel, Täuſchung und 
Detrug, die unverichämte Zubringlichkeit, welche fich 
nicht vermindert, wern dem SHaufirer verboten wird, 
die Häuſer zu betreten, haben ebenfallS zugenommen. 
Einzelne ganz fchlimme Auswüchfe werden erzählt. In 
einem der Berichte heißt e8: „Es kommen Leute ins 
Land, welche als Entrepreneurs eine Anzahl von Rin- 
bern und Halberwachſenen mit fich führen, in Wirthe- 
häuſern fich feftfegen und dieſe Leute mit Mausfallen, 
ordinären DBlechwaaren und dergleichen ins Haufiren 
ſchicken, mit der Auflage, täglich eine Summe Geldes 
einzubringen, in deren Ermangelung Mißhandlungen 
eintreten. Der Entrepreneur lebt gut, feine Unter- 
gebenen deſto fchlechter und kaum anders als in andern 








Württembergifches Hauſirweſen. 249 


VWelttheilen die SHaven. Dieß ift ein Mißftand, 
welcher durch Die &ewerbefreibeit nicht gedeckt werben 
ſollte.“ 

Sehen wir aber von ſolchen einzelnen Mißbräuchen 
ab, die theilweiſe wenigſtens durch eine richtige, ſonſt 
freiefte Bewegung geſtattende Geſetzgebung und Verwal⸗ 
tung verhindert werden können, ſo geht das Haupt⸗ 
reſultat dahin: Die Zahl der Hauſirer hat ſich 1862 
und 63 außerordentlich vermehrt, ſchon 1864 und 65 
aber wieder abgenommen; erſt die Geſchäftsſtockung 
von 1866 hat ſie wieder ſehr vermehrt. Weitaus die 
Mehrzahl der Hauſirausweiſe aber wird von Leuten 
benutzt, über welche die ſtehenden Gewerbe nicht klagen, 
und welchen man keine Arbeitsſcheu vorwerfen kann; es 
ſind Frauen, ältere, ſchwächliche Leute, die Knochen, 
Lumpen, Landesprodukte aufkaufen, mit Beeren, Beſen, 
Schindeln handeln. Die kräftigen, zur Arbeit tauglichen 
Hauſirer ſind meiſt Ausländer oder Iſraeliten. Allerdings 
wird mit der Zunahme dieſer Handelszweige die Neigung 
zu Diebſtahl und Nichtsthun etwas befoördert; aber 
allgemein iſt dieſe Folge nicht. Und bis jetzt haben in 
Württemberg die Verbrechen gegen Perſon und Eigen⸗ 
thum, die Vergeben gegen die Sittlichfeit nirgends 
weientlich zugenpmmen. Es wirb zugegeben, baß bei 
einer richtigen Handhabung der Steuergejege die wirth- 
ſchaftlichen Mißſtände keinenfalls überwiegen und theil- 
weife ganz vorübergehend find, Daß der Anbrang in 
mäßigen Schranken gehalten werden Tann. 

Die Berichte zeigen, Daß jedenfalls eine berechtigte 
Tendenz zur Ausdehnung vorhanden tft, daß mehr an- 


250 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


ſtändige Motive und wirthichaftliche Bedürfniſſe ven 
Haufirhandel dort zunehmen laſſen als betrügeriiche und 
unlautere Abfichten. 

Es kommt auf Land und Yeute, auf Volfscharafter 
und fittliche Bildung im fonfreten Falle an. Jedenfalls 
aber find dieje Faktoren auch in Preußen und im ganzen 
norddeutſchen Bunde joldhe, daß eine Erleichterung 
gegenüber ver früheren Verwaltungspraris nothwendig 
und angezeigt it, wie fie in der neuen Gewerbeorbnung 
des norbdeutichen Bundes angeftrebt wird. Es gehört 
eine Betrachtung dieſer neuen Gefeßgebung eigentlich 
nicht hierher; doch mögen einige Worte geftattet fein. 

Der Entwurf! jchon geht von der Abficht aus, 
bie ſtehenden Gewerbe als folche nicht mehr zu bevor- 
zugen, den Gewerbebetrieb im Umberziehen als gleich- 
berechtigt anzuerkennen, nur da Beichränfungen eintreten 
zu Yaffen, wo es fich um ungeſunde und gefährliche Efe- 
mente handelt, um Gefchäftszweige, welche in ungleich 
höherem Grade unlautern Zweden als vem redlichen Er- 
werbe zu dienen pflegen. Die im Allgemeinen beibebaltene 
Zegitimationspflicht ſoll, abgejehen von ihrer ficherheits- 
polizeilichen Unentbehrlichkeit, dem Publikum wenigſtens 
einigermaßen die Garantie, wie ſie der ſtehende Betrieb 
von ſelbſt bietet, erſetzen. Zum Viktualienhandel im 
Umherziehen ſoll kein Gewerbeſchein mehr nothwendig 


1) Druckſachen des Reichſstags Nro. 13. 8 53 — 64. Die 
Motive find enthalten S. 13 — 29. Die Anlage C. ©. 113 ff. 
gibt eine Ueberſicht Über die beftehende Geſetzgebung der Bundes- 
ſtaaten in Betreff des Gewerbebetriebs im Umherziehen. 


Das Haufiriweien in ber neuen Gewerbeordnung. 251 


ſein. Während bisher Gewerbefcheine in Preußen nur 
ertheilt wurden für eine beftimmte Anzahl von Waaren- 
gattungen, ſollen jett folche für alle nicht beſonders 
ansgenommenen Waaren ertbeilt werben. Ausgenommen 
jolften nur fein: Verzehrungsgegenjtände, ſoweit fie 
nicht zu den Gegenftänden des Wochenmarktverkehrs 
gehören, geiftige Getränke, gebrauchte Kleider und 
Betten, Garnabfälle, Enden ober Dräumen von Seide, 
Bolfe, Leinen und Baumwolle, Bruchgold und Bruc)- 
fiber, Spielfarten, Lotterieloſe, Staats- und fonftige 
Bertbpapiere, Schießpulver, Feuerwerkskörper und an- 
dere erplofive Stoffe, Arzneimittel, Gifte und giftige 
Stoffe. Nur für Gaufler, Marktichreier, Bänkelſänger 
md ähnliche Perjonen, welche fich produziren wollen, 
joll der Gewerbeſchein auf einen oder mehrere Regie— 
rungsbezirke bejchränft und foll die Ertheilung abhängig 
gemacht werben von dem Bedürfniß. Abgejeben bier- 
von jollte nach dem Entwurfe die Ertheilung nur ver- 
jagt werben, wenn der Nachjuchende mit efelhaften 
Krankheiten behaftet fei oder ihm die Zuverläffigfeit in 
Bezug auf ven beabfichtigten Gewerbebetrieb fehle. 
Die Beftenerung der Haufirer fol Sache der einzelnen 
Staaten bleiben und durch die neue Gewerbeordnung 
gar nicht berührt werben, obwohl der Gewerbeichein für 
das ganze Bundesgebiet legitimirt. 

Die Motive gehen Davon aus, daß Diefe Grund⸗ 
fübe gegenüber den beſtehenden Vorfchriften ein wefent- 
lich befreiende Wirkſamkeit üben werden. ‘Der Com- 
miffar der Bundesregierungen hob in ver Debatte her⸗ 
vor, daß ſchon die Negierungsvorlage einen koloſſalen 


252 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Schritt vorwärts im Sinne der Befreiung der gemwerb- 
lichen Thätigkeit enthalte und warnte dringend, nicht 
viel meiter zu geben, micht viel über dieſes Ziel 
Hinauszufchießen, Da eine weitergehende Befreiung gar 
nicht einmal im Einklang mit ber öffentlichen Mei- 
nung ftebe. 

Die Majorität des Reichstages ftand auch prinzipiell 
auf gleichem Boden der Anfchauung, aber fie ging im 
Detail doch wejentlich weiter, glaubte eine Reihe von 
Sautelen fallen laſſen zu können, welche der Entwurf 
beibehalten hatte, um Betrügerei und unlautere @le- 
mente leichter auszuſchließen. 

Der Entwurf verweigerte dem den Haufirfchein, 
der nicht zuverläffig je. Das kann und wirb die Ver: 
waltungsbehörve Leicht mißbrauchen, wenigftens ungleich: 
mäßig und willführlich auslegen. Setzt ift feſtgeſetzt, daß 
der nicht mehr Gewerbe- ſondern XLegitimationsjchein 
genannte Ausweis nur dem verweigert werden darf, ber 
beftimmte Strafen erlitten hat, unter Bolizeiaufficht fteht, 
als notorifcher Bettler und Landſtreicher befannt ift. 
Sicher gerechter; aber bie Zunahme unreeller Geſchäfte ift 
fo auch viel jchwerer zu hemmen. Der Entwurf ver- 
langte Meldung bei ver Polizet an jedem Orte, ver- 
bot ohne Aufforderung die Häufer zu betreten. Beides 
wurde befeitigt, letztere Beſtimmung, weil das gewöhnliche 
Hausrecht ausreiche. Bon Waaren, welche der Entwurf 
noch ausichließen wollte und die jet doch zugelafien 
werben, find nur zu nennen die Verzehrungsgegen- 
jtände, welche nicht zum Wochenmarktsverkehr gehören, 
alſo Hauptjächlich Colonialwaaren. Sie follten ausge⸗ 


Das Haufirweien in der neuen Gewerbeorvnung. 253 


ihloffen werden, weil bei ihnen Fäljchungen zu leicht 
und häufig vorkommen. Die Kommilfion des Reiche- 
tages wollte auch den Handel mit Staatöpapieren, 
Atien und andern Wertbpapieren den Haufirern zuge- 
ftehen, worauf aber der Reichstag in Anbetracht der 
großen Gefahren des Aftienjchwindels, in Anbetracht 
ver großen Leichtgläubigfeit des Publikums in dieſer 
Beziehung nicht einging. 

Die Folge wird erft Iehren Können, ob man damit 
nicht theilweile zu weit ging. Daran aber zweifle ich 
feinen Dioment, daß der Hauſirhandel von dem Inkraft- 
treten Des Geſetzes an außerordentlich zunehmen wird, 
aber auch zugenommen bätte, wenn nur die Beitim- 
mungen des Entwurfed angenommen worden wären. 
Es iſt eine Richtung, die fich vollzieht, ob die gejeß- 
lichen Beftimmungen etwas enger oder weiter gefaßt 
find, eine Richtung, welche mancherlei Schmutz aufrührt 
und mit fich bringt, aber in der Hauptſache berechtigt 
und nothwendig iſt. 

Manch kleiner Laden, manch kleiner Handwerker 
wird darunter leiden, vielleicht gar zu Grunde gehen. 
Das läßt ſich nicht ändern. Das ſteht in nothwendigem 
Zufammenbang mit der ganzen Umbildung der Pro- 
duftion und des Verkehrs in unferer Zeit. | 


Eine Produktion durch Fabriken oder größere Hand- 
mwerfergeichäfte, eine Probuftion, die nicht mehr am 
Orte des Konjumenten zu fein braucht, Die nicht mehr 
fih verbindet mit dem direkten Verkauf an den Konfu- 
menten, daneben die felbftänpigere Entwidlung des 





254 Die Umgeftaltung von Produktion und Verkehr. 


Handel — als Großgeichäft, als Magazin in ven 
größern Städten, theilweiſe als Detailbanvel und Fleines 
Ladengeſchäft in ven kleinen Städten und Dörfern, 
theilweife als Wandermagazin und Haufirhandel auf 
den Sande, das find Glieder einer und derſelben 
Kette. | 


Die lokale und gefchäftfiche 


Vertheilung der Gewerbetreibenden. 





1. Das Handwerk in Stadt und Land. 


Der Gegenfab von Stadt und Land, volkswirthſchaftlich und 
hiſtoriſch. Die fpezifiich Ländlichen Gewerbe. Ihr Vorkommen 
Ihon zur Zeit des gewerblichen Städtezwangs. Kornweſtheim 
17857. Die preußifhen ländlichen Gewerbe nah Krug 
1795/1803 , Diefelben in Schlefien und in ber Marf 1810 
nah Hoffmann. Das ftatiftifche Material für die ſpätere Zeit. 
Die volkswirthſchaftlichen Borbedingungen für das Landgewerbe 
von 1815— 55. Das preußiihe Handwerk nad Stabt und 
Land 1828, 1849 und 1858. Die veränderten Berbältniffe 
in neuefter Zeit. Die wichtigften einzelnen Gewerbe in Stabt 
und Land 1828 u. 1858. — Der Unterſchied zwijchen ben grö- 
Bern und Heinern Städten 1828 und 1837. Das Handwerk 
der größern preußifchen Städte 1861. — Das bairiſche Hand⸗ 
wert in den ummittelbaren Städten nnd im Übrigen Lande 
1847 und 1861. Die ſächſiſchen Kleingewerbe in den Städten 
1830 und 1856; der Vergleich der großen, der Heinen Städte 
und des platten Landes 1849 unb 1861. 


In einem mehr ſyſtematiſchen Ueberblick die Haupt- 
beränderungen, welche das Handwerk im 19. Jahrhundert 
erfahren Kat, Darzuftellen, war der Zweck ver letzten 
Betrachtungen. Mancherlei ftatiftiiches Material habe 
ich zum Beweis für dieſes und jenes herangezogen, nicht 
ober die ftatiftifchen Aufnahmen ver Meingemerbe felbft. 
Zu ihnen kehre ich jetzt zurück, um zu peifen, ob das, 
Shmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 


258 Die Bertheilung der Gewerbetreibenden. 


was ich im Allgemeinen behauptete, fich hier im Spe- 
ziellen beftätigt. 

Die Hauptpunkte freilich, um die es fich dabei 
handelt, entziehen fich aller ftatiftiichen Erfaßbarkeit. 
Aber immer läßt fich die Prüfung wenigftend nach ein- 
zelnen Seiten bin vollziehen und zugleich ſchließen ſich 
daran Unterfuchungen, die auch ein jelbjtändiges Intereffe 
für fih in Anfpruch nehmen. 

Wir beginnen mit der Frage nach der Iofalen Ber- 
theilung des Handwerks. Dieſe Bertheilung kann bei 
der Art der jtatiftiichen Aufnahmen, die wir befigen, 
nach zwei Richtungen unterfucht werden. Man Tann 
fragen, wie verhält fich Stadt und Land im Durch: 
fchnitt von ganz Preußen, Sachſen, Baiern, und man 
farın fragen, wie vertheilt fich das Handwerk nach ven 
einzelnen beutichen Staaten und nach den Provinzen des 
preußiichen Staats? 


Bleiben wir zunächſt bei dem Verhältniſſe von 
Stadt und Land, fo liegen die wejentlichen Urfachen 
ber verſchiedenen Vertheilung des Handwerks natur- 
gemäß in dem volfswirtbichaftlichen Gegenfag von 
Stadt und Land jelbit, in der verſchiedenen wirthſchaft⸗ 
lichen Bebeutung, welche die Städte und das platte 
Land früher gehabt haben und gegenwärtig haben. Nur 
in zweiter Linie fommt die Geſetzgebung in Betracht, 
bie von jeweiligen Theorien, von anderweiten Geſichts⸗ 
punkten aus die Vertheilung des Handwerks beherrichen 
wollte, aber gegenüber ven realen Bevürfniffen das doch 
immer nur bis auf einen gewiſſen Grad vermochte. 


Der Gegenfag von Stadt und Land. 259 


Die Städte find entjtanvden durch die nach einem 
gemeinfamen Mittelpunkt drängenden politiichen, kirch⸗ 
lichen, wirthſchaftlichen Bedürfniſſe der einzelnen Landes⸗ 
theile. Jede Gegend, jeder Kreis hat das Bedürfniß, 
die Verwaltung, das Gericht, den Handel, die Feſte 
der Kirche und des Volkes an einem Punkte zu kon⸗ 
zentriren; im Mittelalter bot der Schug ber Mauern 
und der ftäbtifchen Rechte dem Handelsmann und bem 
Handwerker allein die Garantie einer geficherten Eriftenz. 
Handel und Gewerbe blühten ausichließlich in ven 
Städten, weil bier ausfchlieglich Die Bedingungen ihrer 
Dlüthe vorhanden waren. 

Mit einer gewilfen Entwidlung des platten Landes 
entftand aber auch in ven Dürfern, auf den Gütern 
das Bedürfniß, für einzelne Thätigkeiten Gewerbetreibende 
am Orte jelbit zu haben; das theure Leben in ben 
Städten Tieß dem armen Handwerksmann die Anfiedlung 
auf dem Lande mit etivaigem Vertrieb der Waaren nach) 
der Stadt wünfchenswerth ericheinen. Das war ſchon 
im Mittelalter fo und erjt mit der Ausartung Des 
Zunftwejens, mit dem Sinfen der deutjchen Volkswirth⸗ 
Ichaft ftrebten die Städte Danach, das Handwerk mög⸗ 
lichſt ausichließlich auf ihre Mauern zu beichränten,* 


1) In Nürnberg wird erft im 15. Jahrhundert gegen das 
Landhandwerk eingejchritten: |. Baader, Nlirnberger Polizei - 
ordnungen. Stuttgart, liter. Verein 1861. S.170. Im Lübeck 
beginnen die Klagen über das Landhandwerk erft im 16. Jahr⸗ 
hundert, wie auch das fyftematifche Jagen ver Bönhafen erft 
um dieſe Zeit beginnt: |. Wehrmann, Die ältern lübedifchen 
Zunftrollen, Lübeck 1864, ©. 96 u. 98. 

17* 


260 Die Bertheilung ver Gewerbetreibenben. 


juchte die Fürftenpolitif, welche die Städte als Stüßen 
ihrer Macht und ihrer Steuerkraft betrachteten und 
pflegten, fie dadurch zu halten. 

Die Kriege des 17. Jahrhunderts Hatten viele 
deutſche Gegenden in ihrer ganzen wirthichaftlichen Kultur 
wieder um Jahrhunderte zurücgebracht. Alles lag bar- 
nieder. Um fo mehr hielt man fih an alte Rechte; 
auch die Städte ftrebten jet mehr als je, das Hand- 
werk für fich allein in Anfpruch zu nehmen, und erreich- 
ten da ihren Zweck, wo nicht eine aufgeflärte Fürften- 
politif dazwiſchen griff. 

Sp fommt es, daß im 18. Jahrhundert Stabt 
und Land fich noch ziemlich in alter Weiſe fchroff gegen- 
über ſtehen. Aber zugleich Haben die mannigfaltigiten 
Schickſale dafür geforgt, daß ein großer Theil ber 
Drte, welche den ftäbtiichen Namen tragen und damit 
die Vorrechte einer Stadt genießen, dafür mehr hiſto— 
rifche und zufällige, als wirthichaftliche Gründe anzu- 
führen haben. 

Es find alte Reichsſtädte, alte und neue Fürften - 
und Bilchofsfige, einige Beamten- und Militärftäpte ; 
da und dort jchon einige neu aufblühende Handels⸗ 
und Induſtrieſtädte; unter den leßteren wie unter denen, 
bie mehr nur einem Dorfe gleichen, find manche, welche 
das Stadtrecht fich erft jet vom Landesherrn erfauft 
haben, um auch einen Jahrmarkt zu halten, um ihre 
Gewerbſamkeit etwas weniger durch die fteifen landes⸗ 
herrlichen Beamten geniven zu laffen, um auf freis- 
oder Landtagen eine Stimme zu haben. Die über- 
wiegende Mehrzahl füllt auf jene mittleren Land- und 


Stadt und Land in alter und neuer Zeit. 261 


Kleinftädte, die allerdings den gewerblichen und DBer- 
waltungsmittelpunft für eine Anzahl Dörfer und Herr- 
ichaften bilden, die aber feinen durchaus gewerblichen 
Charakter haben, manchen Bauern in ihren Mauern 
bergen, wenn fie nicht gar faft ausichließliche Adlerftäbte 
find. Manche früher ftolzge Stabt war ganz zum “Dorfe 
herabgeſunken, führte aber die ftolzen ſtädtiſchen Titel 
gleichmäßig fort. 

Diefe Verhältniſſe erftredden ihre Wirkung bis auf 
den heutigen Tag. ‘Der Begriff einer Stabt in Preußen 
ift auch heute noch, wie ich oben fchon erwähnte, Teiner, 
ber eine gewiſſe Größe, einen ausſchließlich gewerblichen 
Charafter bezeichnete; es Täßt fich nur ſoviel fagen, daß 
von den 1000 gegenwärtig in Altpreußen eriftirenden 
Städten °/, etwa über 1500, mir wenige unter 600 
Einwohner haben, daß e8 dagegen nicht ſehr viele Dörfer 
geben wird, bie über 600— 800 Einwohner haben. 

Sch mußte dieſe theilweiſe ſchon oben gemachten 
Bemerkungen wiederholen, um zu zeigen, daß eine Auf- 
nahme des Handwerks nach Stabt und Land die wirth- 
ichaftlichen Gegenſätze, an die man dabei denkt, nur 
ungefähr trifft. Unter ven Stäbten find manche 
Drte rein landwirthichaftlichen Charakters, unter deu 
Dörfern manche gemwerbetreibende Orte. Und bis auf 
einen gewilfen Grab war das ſchon im vorigen Jahr⸗ 
hundert fo, bejonvers wo Bergbau, Weberei, Spinnerei 
und andere Inbuftrien fich übers platte Land ausdehnten. 
Privilegien, Konzeffionen aller Art hatten den Stäbte- 
zwang durchlöchert. Da und dort hatte fich ſchon da⸗ 
mals das platte Land als vorzugsweife geeignet zu 


262 Die Vertheilung der Gewerbetreibenden. 


einzelnen Gewerben gezeigt. Und überall bevurfte auch 
damals jchon die rein bäuerliche Wirthichaft der Hülfe 
wenigitend einiger Handwerker. Diele mußte man 
zulaffen. Es ift vielleicht gut, zunächit von dieſen heute 
wie damals auch für die rein landwirthſchaftlichen 
Gegenden nothwendigen Handwerkern uns ein Bild zu 
machen. | 

Die Schmiede und Stellmacher oder Wagner fteben 
in erfter Linie. Der Schmied ijt unentbehrlich für den 
Deichlag der Pferde, des Fuhrwerks, ver Aderwerkzeuge, 
für alle Eifenreparaturen. Der Stellmacher ift beute 
mehr auf dem Lande zu Haufe als in der Stabt, wo 
der Wagenfabrifant theilweife an feine Stelle getreten: ift. 
Die einfachen Wagengeftelle, die Räder, die Holztbeile 
an Pflug und Egge kann er leicht fertigen. Wo mehr 
lanowirthichaftliche Mafchinen angewandt werden, da 
bat er auch vielfach mit ihnen zu thun. ‘Die Arbeiten 
beider Handwerke find fo umfaſſend, daß jelbft ein 
mäßige8 Dorf ſchon mehrere Meeifter von jedem ber 
beiven Gewerbe beichäftigt, daß größere Güter je einen 
Meifter für fich in Anfpruch nehmen. Schon weniger 
Arbeit findet der Riemer oder Sattler auf dem Lande, 
und doch ift er für Sattelzeug und Pferdegeſchirr ein 
nothwendiger Gehülfe; die Produkte feines Handwerks 
Tauft der Bauer freilich mit Vorliebe auf dem Jahr⸗ 
markt, dem Dorfmeifter bleiben mehr die Reparaturen, 
wenn er nicht jelbit ven Jahrmarkt bezieht. ‘Die Fäſſer, 
die Kübel, die Geräthichaften des Böttchers fehlen in 
feiner ländlichen Wirthichaft ganz; das Produkt ift ein 
jo einfaches, daß der Heinfte Betrieb möglich ift. ‘Die 


Die nothwendigen ländlichen Handwerker. 263 


amerikaniſche Faßmaſchine, welche auf der letzten Pariſer 
Ausſtellung zu ſehen war und nach der Verſicherung 
des Ausftellers täglich 1100 Fäſſer aus rohem Hol 
bis zum Binden fertig macht, pürfte kaum in Deutſch⸗ 
land eriftiren und wenn fie eingeführt wird, dem Bött- 
her in der Stadt wohl, aber kaum dem auf dem 
Lande Konkurrenz; machen. - 


Neben den Bebürfnifien des Tandiwirthichaftlichen 
Betriebes kommen die Bau- und Wohnungsbedürfniſſe. 
Den Maurer und Zimmermann, den Schloffer und 
Tiſchler kann das größere Dorf. ſchwer entbehren. Da- 
gegen ift ver Müller von den Nahrungsgewerben ver 
einzig nothwendige. Die Zahl der Brauer, der Bäder, 
der Fleiſcher und der Wirthe hängt von dem Grabe ver 
Arbeitstbeilung und dem Verkehr, bon Sitten und 
Wohlſtand ab. 


Die meiſten der ländlichen Handwerker find Daneben 
Bauern oder Tagelöhner und je nachdem in jehr ver- 
ſchiedener Lage. Da fie vielfach ohne alle Gehülfen 
arbeiten, find ihre Leiftungen technijch gering, aber Doch 
dem Zweck entiprechenb. 


Weniger ob vie erwähnten, als ob auch noch 
andere Arten des Handwerks fich auf dem Lande, befon- 
ders in den großen Dörfern befanden, hing, fo lange 
die Städte ausfchließliche Gewerberechte hatten ‚ von ber 
Verwaltung ab. 


1) Siehe die beutjche Ausftellungegeitung. Baris 1867. 
Nro. 15. 


264 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


Da man fich Häufig über das Fehlen der Hand⸗ 
werker auf dem Lande in früherer Zeit falſche Vor⸗ 
jtellungen macht, will ih nur Einiges über diefen Punkt 
anführen, ebe ich zu ven Verhältniffen ver Gegenwart 
übergebe. . 

Das altwürttembergijche Dorf Kornmweitheim, ? einige 
Stunden von Stuttgart, an einigen größern Straßen 
Tiegend, Hatte im Jahre 1787 eine Bevölkerung von 
838 Perjonen; bi8 1850 war diefe Bevölkerung geſtiegen 
auf 1465 Perjonen; das Dorf ift heute noch ausfchließ- 
lich mit Aderbau beichäftigt. Die große Aenderung, 
die eintrat, ift nur die, daß die alte Straße fi in 
eine Eifenbahn verwandelt hat. ‘Die Gewerbetreibenven 
waren: 


1787 1852 1787 1852 
Bäder... 6 2 Maurer 4 2 
Metzger.. .),_ 3 Schmite. . . 5 3 
Wirte. . ie a Schafer. 1 1 
Seifenfieder . — 1 Fruchthändler.. — 1 
Schuhmader . 12 13 Krämer. 1 1 
Sattler . . 8 4 Weber . . . } 14 20 
Seiler . 3 1 Strumpfweber 2 
Schneider. . 8 7 Dil. . .. 2 5 
Zimmerleute . 1 1 Bierbrauer. . . — 1 
Schreiner . . 3 3 Branntweinbrenner— 2 
Wagner . . 8 4 Eiſenwerkbeſitzer. — 1 
Kübler, Küfer — 2 


Die Zahl der Gewerbetreibenden ift 1787 nicht 
unbebeutend, ja fie ift in ben wichtigften Gewerben 


1) (Rümelin), Statiftil eines altwürttembergifchen Dorfes 
vor 70 Jahren und jet. Wiürttembergifche Jahrbücher 1860. 
1. Heft. S. 95 ff. beſonders ©. 122 — 128. 


Das Dorf Kornweftbeim 1787 und 1852. 265 


böher als 1852, trogdem, daß die Bevölkerung beinahe 
auf die doppelte Zahl gewachſen tft. ‘Die Verminderung 
der Wirthshäuſer, der Bäcker⸗ und Metzgerladen hängt 
damit zufammen, daß die früher ſehr frequente Land⸗ 
ftraße Durch die Eiſenbahn jo ziemlich verödet ift. Die 
Nichtzunahme der übrigen läßt darauf fchließen, daß die 
damaligen Handwerker jebr wenig zu thun hatten. Es 
waren Damals wohl nicht viele Gehülfen bei den Dorf- 
meiftern bejchäftigt, 1852 find deren eine nicht unbe- 
beutende Zahl vorhanden. Weber vie für die damalige 
Zeit große Zahl Gewerbetreibender bemerkt der Verfaſſer 
dieſer Dorfitatiftif aus dem Jahre 1787, NRegierungs- 
rath Kerner, es könne auffallen, daß Kornweitheim fo 
viele Gewerbetreibende babe troß der Nähe der drei 
Städte Stuttgart, Ludwigsburg und Cannſtadt, aber e8 
jet fo in den mehrjten Dörfern; freilich werbe dadurch 
der alte Grundfag, in den Städten folle das Handwerk, 
in den Dörfern der Feldbau getrieben werden, aus dem 
Gleichgewicht gebracht; aber das fei nicht zu ändern. 
„Daß die Anzahl der Handwerker in den Dörfern” — 
jo führt er fort — „gegenwärtig ftärfer ift, als in ehe— 
maliger Zeit, bat feinen Grund in der gegenwärtigen 
ſtärkern Bevölkerung und ver daraus fließenden mehreren 
Verjtücdelung der Bauerngüter, durch welche die Land⸗ 
leute außer Stand gejegt werben, einzig von den Gütern 
zu leben und dahero Handwerfe erlernen. Dieſe Hand- 
wertsleute aber zu zwingen, ihre Arbeit nieverzulegen 
oder in die Städte zu. zieben, würde umſonſt fein.“ 
Die Verhältniffe waren ftärker als die veralteten 
Berwaltungsporichriften. „Auch wo der ſtrengſte Städte- 


Pr | 


266 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


zwang herrſchte“ — fagt Hoffmann! — „wohnten 
Yängft viele Handwerker, zum Theil im VBerborgenen 
auf dem Lande, wenn daſſelbe volkreich und wohl- 
babend war.” 

Ich erwähnte bei ver Beiprechung der preußifchen 
Gewerbepolizet de8 18. Jahrhunderts, daß man im 
Preußen wohl prinzipiell an dem alten Grundſatz feit- 
alten wollte, aber daneben einzelne Gewerbe, wie bie 
Spinner und Weber, unbedingt, andere wentigitens 
bedingungsweiſe zuließ. Der Grundſatz Friedrich Wil- 
helm's J., ſo viele Handwerker überall zuzulaſſen, als 
1624 Handwerksſtellen vorhanden geweſen waren, gab 
ziemlich großen Spielraum. Beſonders in einzelnen 
Landestheilen, die eine höhere Kultur beſaßen, oder 
die vor ihrer Einverleibung in den preußiſchen Staat 
in dieſer Beziehung nach noch liberaleren Grundſätzen 
regiert worden waren, wie Schleſien, hatte man die 
Zulaſſung auf dem Lande ziemlich wenig erſchwert. 

Den beſten Beweis hiefür giebt Krug. Er führt 
in feiner Handwerksſtatiſtik? (aus der Zeit 1795/1803) 
bei jeder einzelnen Gewerbsart an, ob Die Meijter aus- 
ichließlih in Den Städten, oder auch auf dem Lande, 
und in welcher Zahl fie da und dort zu treffen feien. 

Die ausjchließlich in den Städten Vorkommenden 
find nicht die der Zahl nach beveutenderen; es find Die 
Apotheker, Bildhauer, Buchbinder, Buchdrucker, Bürften- 


1) J. G. Hoffmann, Nachlaß kl. Schriften S. 407. 
2) Nationalreichthum des preuß. Staates II, 173— 205. 


Die ländlichen Handwerker in Preußen 1800. 267 


binder, Roth- und Gelbgießer, Goldſchmiede, Gürtler, 
Handſchuhmacher, Hutmacher, Klempner, Knopfmacher, 
Kürfchner, Kupferjchmieve, Maler, Perüdenmacher, 
Schornfteinfeger, Seifenfiever, Seiler, Tuchmacher, 
Uhrmacher, Weißgerber und Zinngießer. Sehr ſparſam 
find auf dem Lande vertreten die Fleiicher (mit Aus- 
nahme Schlefiens, wo Stadt- und Lanpfleifcher nicht 
unterſchieden find), fchon etwas ftärfer die Olaſer, Die 
Kaufleute und Krämer, die aber in den rheiniichen Pro- 
vinzen auch fchon zahlreicher auf dem Lande vorlommen, 
dort fogar auf dem Lande theilweije ſchon ftärfer find, 
al8 in den Städten, ähnlich die Korbmacher und 
Mufitanten, die "Riemer und Schloffer, die Färber 
Branntweinbrenner und Barbiere; Lohgerber find nur 
in der Mark länpliche vorhanden. Die übrigen Gewerbe 
find auf dem Lande fchon ziemlich allgemein und zahl- 
reich vertreten. Lanbbäder Tommen in Pommern 10 
auf 571 Stabtbäder, dagegen in ver Grafſchaft Mark 
113 Landbäcker auf 289 Stabtbäder, in Magpeburg 
229 Landbäcker auf 316 Stadtbäder, in Oftfriesland 
247 Landbäcker auf 197 Stabtbäder. Auch bei den 
Böttchern, Schneivern, Stell- und Rademachern, Tiſch⸗ 
lern, Schuhmachern und Maurern halten Stadt und 
Land fich etwa die Wange. Und bei den Zimmerleuten, 
den Schmieden, Müllern und Leinewebern find die 
Landmeifter weitaus überwiegend. 

Bei diefen Zahlen müßte man, um fie recht zu 
würdigen, noch genau willen, wie in ben einzelnen 
Zanvestheilen die ftäptifche fich zur ländlichen Bevölke⸗ 
rung ftellt. Das zieht Hoffmann in Betracht, wenn 


268 Die Bertbeilung der Gewerbetreibenben. 


er bie Aufnahme von 1810 für die Rur- und Neu- 
mark einer=, für Schleſien andererſeits vergleicht ,! Dabei 
ſtillſchweigend vorausjegend, daß die Zuſtände 1810 
noch ganz als Folge der früheren Gefeßgebung aufzu- 
fafien feien. In der Kur- und Neumark kommen auf 
3 Städter 4 Landleute, in Schlefien auf 2 Stäbter 
9 Landbewohner; d. h. in der Mark find neben zahl- 
reichen Städten nur Heine ‘Dörfer, ift das platte Land 
weniger bewohnt, in Schlefien find zahlreiche ſchon 
etwas größere inpuftrielle Dörfer; Orte, die in ber 
Mark vielleicht ſchon ſtädtiſche echte haben, zählen 
hier als Dörfer. Diefer Gegenfag wohl mehr als 
ber von Hoffmann betonte Gegenjag ber Verwaltung, 
d. 5. die Nachwirkung der größern Xiberalität, mit ver 
die öftreichiiche Aegierung das Landhandwerk zuließ, iſt 
als Urſache anzufehen, daß die ländliche Bevölkerung 
Schlefiend zwar gleich viel Schneider, Schmiede und 
Stellmacher bat wie die der Kur- und Neumark, aber 
11, mal fo viel Tiſchler, 2mal fo viel Böttcher, 4 mal 
jo viel Schuhmacher, 7 mal jo viel Fleiſcher und 8 mal 
ſo viel Bäder. 

In der Zeit nach den reibeitäfriegen, nach der 
Feſtſtellung des preußifchen Zollſyſtems, nach der Grün- 
dung des Zollvereind war für den größern Theil Der 
preußtichen Monarchie Die Gejekgebung eine andere 
geworden, wurden für die Zollvereinsitaaten die alige- 
meinen volföwirthichaftlichen Verhältniffe andere. Wir 


1) 3 ©. Hoffmann, Befugniß zum Gewerbebetrieb 
S. 17 — 20. 





Das preußifche Landhandwerk feit 1815. 269 


baben zu prüfen, wie fich num unter Einwirkung diefer 
beiden Faktoren das Handwerk in Stadt und Land zu 
einander jtellt. 

Leider ift das ftatiftiiche Material für diefe Prü- 
fung ein ziemlich unvollſtändiges. Die Unterſcheidung 
von Stadt und Land ift in Preußen nicht bei allen 
Aufnahmen oder Publikationen fejtgehalten. Eine weſent⸗ 
liche Beachtung Hauptfächlich auch mit weiterer Unter- 
ſcheiding großer, mittlerer und Heiner Stäbte hat der 
Gegenfag nur bei Hoffmann gefunden! Was die 
Ipätern Aufnahmen betrifft, jo unterjcheidet Dieterict 
1849 das Gejammtrefultat nach Stabt und Land,? und 
die Zahlen für 1858 find wenigjtens getrennt nach 
Stadt und Land veröffentlicht. - Die Aufnahme von 
1861 fennt diefen Unterſchied gar nicht, führt aber die 
Handwerker für alle einzelnen Städte über 20 000 Ein- 
wohner befonders an. Von andern beutichen Yänvern 
bat man nur in Sachlen diefer Trage nähere Aufmerk⸗ 
famfeit bei ben ftatiftifchen Arbeiten gefchentt.? 

Nach Einführımg der Gewerbefreiheit in Preußen 
logen die Dinge folgendermaßen. Es konnte fih auf 
dem Lande jeder Meiſter nieverlaffen; e8 war auch zu 
erwarten, daß mit fteigender Wohlhabenheit theil- 
weile die Arbeitstheilung, die in der Stadt vor fich 


1) Nachlaß Heiner Schriften ©. 398, Bevölkerung des 
preuß. Staates S 114, Befugniß zum Gewerbetrieb passim. 

2) Band V. der Tabellen u. amtlichen Nachrichten S. 825. 

3) Hauptſächlich Fir die Aufnahme von 1861, Zeitjchrift 
des ſächſ. ſtat Bureaus für 1863. S. 102 und 108. 





270 Die Vertbeilung ber Gewerbetreibenben. 


gegangen, auf dem Lande fich vollziehe. Aber zunächit 
famen ungünjtige Sabre; die Zahl der Landhandwerker 
war immer fchon beveutend geweſen. Mancherlei Arbeits- 
theilung auch, welche für ven Städter geboten, iſt es 
nicht auf dem Lande. Wo ein Gemeindebackhaus gebaut 
wird, werben tbeilweife heute noch Die Bäder des 
Dorfes überflülfig. Die Neigung gelernter Handwerker 
zieht fie immer zunächit mehr nach den Städten. 

Sp — glaube ih — war die Zunahme des Land- 
handwerks zuerit feine allzugroße; wo fie ftattfand, 
berußte fie wohl darauf, daß Bauernjühne, um fich zu 
halten, um ven Beſitz des Vaters theilen zu können, 
anfingen, nebenher ein Handwerk zu treiben. 

Als aber ſpäter die Bevölkerung noch weiter zunahm, 
als die Stellen in den Städten mehr und mehr beſetzt 
waren, als auch Die größere Imbuftrie tbeilweife auf 
das platte Land fich zurückzog, als 1830 — 55 bie 
Bodenpreiſe und die ländliche Wohlhabenheit bedeutend 
ſtiegen, da mußte auch das Landhandwerk an Zahl zu- 
nehmen. Uebrigens glaube ich immerhin, daß die 
wejentlihe Zunahme erjt mit der eigentlichen Hand- 
werferfrifis beginnt, d. 5. von 1838 — 40 ar. 

Die Mittheilungen von Hoffmann zeigen für 1828 
wenigftend ungefähr die damalige Bedeutung des länd- 
lichen Gewerbebetriebe. Er faßt die Meifter von 13 der 
wichtigjten Gewerbe zuſammen, die gegen 5/, aller vamals 
gezählten Handwerker ausmachen. Es find 268023 Mei- 
fter, während die Gefammtzahl ſich auf 323 538 beläuft. 
Obwohl Dabei Die vielfach auf dem Lande wohnenven 
Weber und Spinner nicht find, fo machen die Land- 


Das preußifche Landhandwerk 1828 und 1849. 271 


meilter hiervon 140112 oder 52%, aus. Dabei ift 
aber zuzugeben, daß Hoffmann zu den 13 Gewerben 
diejenigen wählte (außer ven Webern und Spinnern), 
die am meilten auf dem Lande vertreten find. Auch 
erhält die Eintbeilung fogleich ein etwas anderes Aus- 
jeben, wenn man neben bie Meifter die Gehülfen 
tell. Es waren 1828 von den gleichen 13 Haupt- 


gewerben ; 
Meifter Gehülfen 


in den 39 größern Städten . . 31687 37177 
in allen übrigen Städten . . . 96224 55959 
auf dem Land in Fleden u. Dörfern 140112 36756 

Alſo 221047 beichäftigte Perfonen in den Städten, 
176 868 auf dem Lande; 55,,,°/, jtäbtiiche gegen 44,,,, 
ländliche Handwerker; die in den Städten würden ficher 
noh etwas mehr überwiegen, wenn die Zahlen alle 
Handwerker umfaßten. Es könnten dann wohl 60%, 
ftäbtiiche gegen 40%, ländliche Handwerker fein. 

Im Jahre 1849 zählt Dieterict in den Städten 
535 232 Perſonen, auf dem Lande 407141 Perjonen 
als dem Handwerkerſtand angehörig; fie machen in ven 
Städten bei einer Benölferung von 4,,, Dil. Menjchen 
10,95%, , anf dem Lande bei einer jolchen von 11,,, Mill. 
35, au. Mit den Zahlen Hoffmanns von 1828 
find fie nicht direkt zu vergleichen, da fie nicht dieſelben 
Kategorien umfafjen. Die 1828 bei Hoffmann fehlen- 
den find theilweiſe folche, welche 1849 die Zahlen des 
platten Landes fteigern, wie bie Leinenſpinner, theilweiſe 
und noch mehr aber folche, welche ausſchließlich in den 
Städten wohnen. Wenn daher 1849 von ben gefamm- 


272 Die Bertbeilung der Gewerbetreibenben. 


ten Handwerkern 56,,,°/, auf die Städte, 43,,,%, auf 
das Land kommen, fo glaube ich Liegt darin immer noch 
ein Beweis, daß das Landhandwerk von 1828 — 49 
jtärfer zunahm, als die ſtädtiſchen Handwerker. 


Bolltommen vergleichbar find Aufnahmen von 1849 
und 58. Nach ver von mir angeftellten Berechnung 
fommen 1858 


564 845 Meifter und Gehülfen auf die Stäbte, 

477668 ⸗ ⸗ ⸗ - das Land, 
d. 5. 54,15 0 der Handwerker find ftäbtifche, 45,85 % 
ländliche ; die Ländlichen find 2 — 3%, ftärfer ald 1849. 
Im Verhältniß zur Bevölkerung erjcheint dieſe Zunahme 
etwas geringer. Die ganze ſtädtiſche Bevölkerung macht 
1858 5,, Millionen aus, davon nehmen die Hand— 
werfer 10,,,%, ein (gegen 10,, im Jahre 1849), die 
ganze ländliche Benölferung macht 12,,, Millionen, da⸗ 
von die Handwerker 3,55 °/, (gegen 3,5, im Jahre 1849). 
Alſo im Verhältniß zur Benölferung nur eine jehr un- 
beveutende Zunahme des Landhandwerks. 


Man darf bei folchen großen ftatiftiichen Durch- 
jehnitten, bei ven großen Zahlenergebnifjen eines ganzen 
Landes nie vergeilen, Daß gerade dieſes beitimmte Ge⸗ 
fammtrefultat durch ſehr verjchievene, oftmals entgegen- 
geſetzte lokale Zuſtände bedingt ijt, daß die verſchieden⸗ 
ſten Urſachen und Bewegungen, neben und gegen 
einander wirkend, dieſe gemeinſamen Reſultate ergeben. 
Deßwegen kann meine obige Behauptung, daß von 
1830 — 55 eine ziemliche Zunahme des laändlichen 
Handwerts nach allgemeinen Urſachen anzunehmen jei, 


Das preußiiche Landhandwerk 1858 und fpäterr. 273 


mit dieſem Zahlenergebniß ganz wohl Kufammen 
beſtehen. 

Aber je nach den Provinzen iſt das verſchieden; 
es iſt mehr der Fall in Provinzen wie Sachſen, Schle— 
ſien und der Rheinprovinz, viel weniger in Pommern, 
Poſen. Es nehmen überall die Meiſter mehr auf dem 
Lande zu, die Gehülfen mehr in den Städten und oft 
ſtärker, als dort die Meiſter. Auch wo die Zunahme 
des Landhandwerks eintrat, da erreichte ſie wohl bald 
eine gewiſſe Grenze, über die ſie nicht mehr hinauskam. 


Ich erinnere an das Beiſpiel des Dorfes Kornweſtheim, 


das ich oben anführte. Es begannen vor Allem ſeit 
den fünfziger Jahren die Wirkungen der großen Pro— 
duktion, des großen Verkehrs, der ſtädtiſchen Maga— 
zine, es begann der Zug vom Lande ab nach den 
Städten, ſo daß es mir fraglich erſcheint, ob nicht 


jest im Durchſchnitt des ganzen preußiſchen Staates 


bereit8 wieder ein Rückgang des Landhandwerks ein: 
getreten ift. 


Einzelne Gewerbe werben trotzdem auf dem Lande 
wachen, während Die andern zurüdgeben. Ich will in 
diefer Beziehung nur einige der wichtigern, Haupt- 
ſächlich der ländlichen Gewerbe nach dem Stand der 
Meifter von 1828 und 1858 mittheilen, ich füge 
für 1858 noch einige weitere Gewerbe bei, für bie 
ih feine Vergleichung anjtellen kann. Man fieht 
bei ihnen wenigſtens, wie ſich 1858 die Xand- 
meifter zu den Stabtmeiftern verhalten. Es betrug 
die Zahl: 


Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 18 


274 Die Bertbeilung ber Gewerbetreibenben. 


1828 | 1858 


bieländl.| ver 
9% aller || ftädtifch. 
Meifter | Meifter 


bie LänbE. 
%, aller 
Meifter 


ber 
ländlich. 
Meiſter 


Gewerbe: der 
ländlich. 


Meifter 


ui 





























Grobjchmiede . 4969124 964| 83 | 6700131566) 82 
Stellmader. . 3244| 9904 75 | 3923115272) -79 
Schneiber. ... . 121814131 977| 59 130229140849| 57 
Schloffer.... | 7258] 7810| 52 116379] 5838| 26 
Böttcher... .. 5949| 5766| 49 | 7242| 7876| 52 
Ziihler... .. 11961/11105) 48 12158224 924| 52 
Bäder ..... ‚11324110384| 48 113636112049] 46 
Sleiiher ....ı 9173| 6481| 41 1122313] 8687| 41 
Schuſter. .... 8 864 26 555 41 51521 39 463 43 
Riemer u. Sattler 3964| 2012) 34 | 5951| 3785| 34 
öpfer. ..... 3615| 1366| 27 | 3755| 1335| 26 
Gerber ..... 4080| 1249| 23 | 3604| 1266| 25 
Geiler... .. . |! 2696| 539| 17 3103| 863| 21 
Zimmermeifter . — — — | 2197| 2%3| — 
Zimmerflider.. | — — — 448| 2495| — 
Maurermeifter. | — — — 2547 25591 — 
Maurerflider . — — I - | 8%] 2717| — 
Ziegel⸗ und | 
Schieferdeder | — — — 1 1354| 1207| — 
Steinmeken . . — — — 568| 1320 — 
Glaſer ..... — 3521| 1547| — 





Die Aenderungen von 1828 —58 find belebrend. 
Ziemlich bedeutender iſt das Landhandwerk geworden 
bei den Stellmachern, Böttchern, Tiſchlern und Seilern, 
etwas ftieg es bei den Schuftern und Gerbern, gleich 
im Verbältnig zum Stadthandwerk blieb e8 bei Den 
Fleiſchern und Riemern; zurüd ging e8 bet den Schmieden, 
Schneidern, Bädern, Töpfern, ganz außerordentlich bei 
den Schloffern, die auf dem Lande fogar der abfoluten 
Zahl nach abgenommen Haben, von 7810 auf 5838, 
Das Heißt: e8 nahmen einige Gewerbe, welche aus—⸗ 
ſchließlich der bäuerlichen Wirthichaft oder den einfachſten 


Einzelne Gewerbe nah Stadt und Land. "275 


häuslichen Bedürfniſſen dienen und Leicht auf dem Lande 
betrieben werden fönnen, auf dem Lande ftärfer zu wie 
in der Stadt. Solche Dagegen, deren Produfte jest 
mehr in Maſſe erzeugt werben, für welche in den 
Städten große Handlungen find, folche, welche ‚unter 
dem veränverten Verkehr leiden, nahmen ab. Wären 
bie Beifptele zahlreicher, fo würde fi) das wahrjcheinlich 
noch mehr zeigen. 

In engem Zuſammenhang mit der Vertheilung Des 
Handwerks nach Stadt und Land fteht die Verbreitung 
der großen Induſtrie. Eine bezentralifirte Imbuftrie 
wird eher das ländliche Handwerk, eine zentralifirte 
mehr das ſtädtiſche Handwerk heben. 

Eine abſchließende Unterſuchung darüber ift an dieſer 
Stelle nicht möglich; aber einige Bemerkungen darüber 
will ich nicht unterlaffen einzufchieben. Auch für bie 
größere Inbuftrie wurde 1849 und 1858 eine Trennung 
der preußiichen Tabellen nach Stadt und Rand vollgogen ; e8 
it hiernach ein einigermaßen begründetes Urtheil möglich, 
obwohl ver große Zug nach den Städten wahrſcheinlich 
bei einer DVergleihung von 1858 und 1868 viel mebr 
hervortreten würde. 

Eine Reihe von Inbuftrien zeigen von 1849 bis 
1858 feine wejentlichen Aenderungen. Die Runit-, die 
Luxusinduſtrien, die feineve Mechanik und ähnliche Ge- 
werbe find damals wie fpäter vornehmlich in den Städten, 
Die Eifen- und Hütteniwerfe, die Braun- und Steinkohlen⸗ 
werfe, die Glashütten, die Rupferhämmer, die Ziegeleien, 
die Theeröfen, die Zuderfabrifen befinden fich damals 
wie fpäter überwiegend auf dem Lande. ‘Dagegen zeigen 

18 * . 


276 Die Vertheilung der Gewerbetreibenben. 


andere Induſtrien doch nicht unbedeutende Aenderungen. 
Blicken wir z.B. auf Die folgende Heberficht der Dampf- 
majchinen und ihrer Pferdefräfte: 





m 
































1849 1858 
Maſchinen — 
Stadt Land Stadt | on. 

ü ferde⸗ ⸗ 

tür Baht | Feife | Baht 30 | fr ähte El: ee Bart |rihe 
Spinnerei. ıa3lı833 | 53| 924 |a23lö5eal 76] 219 
Weberei 34 486 „ 6 79 | 98/1823) 11 
Walkerei . . 28| 261 | 10, 108 | 62| 6483| 10 
Mafchinenfabrifen 56 771 351 583 [| 186/1869| 93! 110% 
Getreivemüßfen. | 50| 715 | 15 396 | 176/2586| 8345| 3609 
Schneidemühlen . 19) 181 | 10) 1562| 84 1051 ER 
Sonftige Mühlen | 40, 390 | 23 208 | 82 
Bergbau . . . | 52/2264 | 28011431 | 29 6.027 1096 89 893 
Metaltjabriten . [103121213 89) 3177 | 2977683 | 541119046 





Die Getreivevampfmühlen, Die Bergiverfe und bie 
Metallfabriken haben auf dem Lande, alle übrigen Gewerbe 
in der Stadt mehr zugenommen; und das letstere theil- 
weile in ſehr wiel ftärferer Proportion, als hier erfichtlich 
it. Die Arbeiter der ftäbtiihen Meafchinenfabrifen 
3. B. nahmen von 3980 auf 16 697, die der ländlichen 
nur von 2218 auf 5729 zu. Als weiterer Beleg 
mögen nod) die Zahlen der Feinfpindeln und der Web: 
jtühle nach Stadt und Land folgen. Man zählte: 


— — — 











Spindelin 1849 | 1858 
für Stadt Land | Stabt | Land 














Wolle, Streihgarn 128 867134528 445 392 | 166 417° 

- SKammgarı. . ı 29553) 7153 ! 42556] 5660 
Slahs. . . . | 14230 24448 | 41872| 33031 
Werg .406000 2206 | 5192! 9380 


Baumwolle . . . . | 70241124046 | 177 029| 156 648 





Die große Induftrie nah Stadt und Land. 277 


gewerbsmäßig gehende 1849 1858 
Bebftühle Me Stadt La Land Stadt Bi Land 




















Seide nenn u 922 9 190. 21 866 14 338 
Baumwolle. . . . 17381 | 53312 19127 | 57142 
feinen . 2.2... 12886 | 35498 11861 | 33 798 
Role. . . . . 19504 | 7220 || 24197 | 5822 
Strumpfwaaren . . 1459 647 1657 646 
Bandwaaren . . -» 1370 | 3587 2266 | 1369 





Auch Hier zeigt fich eine ziemlich ftärfere Zunahme 
ber ftäptifchen wie der ländlichen Inbuftrie: ein Beweis 
wohl, daß im Allgemeinen meine jchon oben ausge- 
iprochene Behauptung, die Inbuftrie habe im neuefter 
Zeit eine mehr zentralifirende Richtung, der Wahrheit 
entipricht und Daß wahrfcheinlich demgemäß auch in der 
frühern Zunahme des Landhandwerks fchon ein Still: 
ftand, wenn nicht gar ein Rückgang eingetreten ift. 


Vebrigens ift man bei diefer ganzen Unterjuchung 
immer wieder verjucht, daran zu denken, daß die ftatifti- 
ihen Begriffe „ Stadt” und „Land“ fo wenig feite find. 
Man müßte, um ganz ficher zu geben, die verſchiedenen 
Arten der Städte wie der Dörfer trennen können; man 
müßte große und Heine Dörfer, rein landwirthſchaftliche 


"und induftrielle Dörfer auseinander halten. Dazır fehlt 


aber leider das ftatiftiiche Material. 


Wenigitend in Bezug auf die Städte können wir 
den entiprechenden Unterſchied etwas verfolgen, ich meine 
den Unterſchied, ver zwilchen größern und kleinern 
Städten, d. b. der Zahl und Art ver Handwerker, die 
ſie zählen, ſein muß. 


278 Die Bertbeilung der Gewerbetreibenden. 


Hoffmann ! trennt in der mehr erwähnten Unter- 
juchung über die 13 wichtigften Arten der Handwerker 
im Jahre 1828 die 39 größern preußifchen Städte von 
den ſämmtlichen übrigen kleinern Städten und dem platten 
Lande. Es kommen nach ihm auf je 10 000 Einwohner: 


zuf. Gewerbe 
Meifter Gehülfen treibenbe 


in 39 größern Städten 270 317 587 
in allen übrigen Städten 438 255 693 
auf vem Lande . . . 150 39 189 


Die 13 Arten von Gewerbetreibenven machen in ben 
größern Städten 5,5,°/,, in ven kleinern 6,95%, , auf 
dem Lande 1,55), aus. Im den Fleinern Städten iſt 
ver Hauptfit des alter Handwerks. Da find bie Heinen 
Meiſter am zablveichiten. In den größern Städten ift 
die Zahl der Meifter kaum viel mehr als Halb fo groß, 
dafür ift die Zahl der Gehülfen weientlich höher. Die 
Geſammtzahl der Geiwerbetreibenden aber tft geringer. Im 
den großen Städten haben 10000 Menichen 587, in 
den kleinen 693 Gewerbetreibende nöthig. Und die der 
größern Städte haben ohne Zweifel einen wohlhabendern 
Kundenfreis, der fie mehr in Anfpruch nimmt, haben 
auch auf das Land hinaus einen größern Abſatz, als bie 
Heinftäbtifchen Meifter. Der Zahlengegenfag zeigt alſo 
recht Har die Unvollkommenheit des kleinſtädtiſchen Hand: 
werfs, die großen Zeitverlufte, die vom Wochen» und 
Jahrmarktsverkehr Herrühren, die Nothwendigkeit für 
das Fleinjtädtifche Handwerk, auf Nebenbeichäftigungen 
ſich zu legen. 





1) Nachlaß kleiner Schriften ©. 395 ff. 


Das Hantwerk der Heinern Städte. 279 


In den Mittheilungen über die Aufnahme von 
1837 unterjcheivet Hoffmann! in Bezug auf die wich 
tigern einzelnen &ewerbe die 10 Städte erfter Gewerbe- 
fteuerflaffe, die 30 anjehnlichiten Städte zweiter Gewerbe⸗ 
jtenerffaffe, die fümmtlichen übrigen Städte und das 
platte Land. Es zeigt fich da derſelbe Gegenſatz. Außer 
bei den ländlichen Gewerben ift die Hauptmafje der 
Heinen Dieifter in ven fleinen Städten, die Mehrzahl 
arbeitet ohne Gehülfen. Bei einzelnen Gewerben zeigt 
fih fchon damals, daß fie in den größern Städten einer 
neuen Produftionsmethode Plag machen, Dagegen fich 
noch in ben Fleinen Städten halten. Es find 5.82. 
Meifter und Gehülfen zufammen 1837 an 

Töpfern Gerbern 
in den 10 Städten erfter Gewerbeſteuer⸗ 
Halle - » - 20.77 816 
in den 30 anjehnlichiten Städten zweiter 
Gewerfteuerflaffe. . . 476 1127 
in allen andern Städten . . . .6178 6640 
auf dem Lande . . 2 2 2. ..2218 1899 

Beides find Handwerke, die größern Gejchäften 
weichen; in ven Heinern Städten aber geht die Entwid- 
lung langſamer. Da find noch feine Leverfabrifen, da 
verfauft der Zöpfermeijter noch feine Waaren. In den 
größern Städten wird das Leder beim Lederhändler, der 
nicht ſelbſt produzirt, gefauft; da treten das Steingut, 
die Fayencewaaren der Fabriken, das Kochgeichirr aus 


1) Bevölkerung des preuß. Staates, S. 117 ff.; bie Be- 
fugnißg zum Gewerbebetrieb ©. 126. 


280 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


Sufeifen, Eifen- und Kupferblech an die Stelle bes 
irdenen einfachen Geſchirres, da tritt der eiferne Dfen, 
der berliner Fabrifofen an die Stelle des alten 
ivdenen vom Töpfer gelieferten. 

Die fpätern preußiichen Aufnahmen und ihre Be- 
arbeitung Yaffen dieſen Unterjchied zwiſchen den werjchie- 
denen „Städten ganz außer Acht. Nur die Aufnahme 
bon 1861 gibt, wie erwähnt, bie Gewerbetabellen - in 
Dezug auf alle größern preußifchen Städte; Danach iſt 
bie folgende Tabelle berechnet. Um den Charakter ber 
einzelnen Städte noch etwas näher zu kennzeichnen, 
habe ich in ven beiden legten Spalten die Prozent: 
zahlen ver Fabrik- und der Hanvelstabelle Hinzirgefügt. 
Sie zeigen, welchen Antheil an der Bevölkerung einer 
Stadt die Fabrikvirigenten und Fabrifarbeiter incl. der 
Weber, Müller ꝛc. einerjeits, die ſämmtlichen in Han- 
dels⸗, Transport=, Wirthichafts- und Yiterariichen Ge 
“werben bejchäftigten Perjonen andererjeits haben. Daß 
bie -Prozentzahlen der Handwerker mit den Hoffmann: 
jhen von 1828, welche nur 13 Handiverfe umfaßten, 
nicht zu vergleichen find, brauche ich wohl kaum zu 
bemerfen. 


Das Hantmerk ber gröfern Stäbte 1861. 281 














este | 94579 | 9788 | 105 | 2 | Am 
“1 25539 | 3186| 19 | 5 | Bi 

— 82765 | 6039| 7. 08 | Boa 
Boien . . 51232 | 5172| 1040 | Les | ds 
Bromberg 22474 | 2674| 3 
Berlin 547571 |69186 | 12, Tas) Ira 
Botsdam 41824 | 4602 | Ile | Ges | Im 
Brandenburg .| 23727 | 2701 | Ilas | 12 23 
Kranffurt . .ı 36557 4197 | 11, 8343 
Stettin . 64431 6492 | 10, 5 | Tran 
Stralfund 214 | 2711| Mne | Aso | Dise 
Breslau. | 145589 118750 | 12 | Au | Bm; 
Grt Fi 27983 | 3015 | 10m a5 | Bias 
Magdeburg .| 67607 | 8658 | 12, 86 | ro 
tabt. >| 22810 | 2685| Ian | Tan | Im 
01 42976 | 5070| 1lno | Ban 53 
Erfurt »| 37012 | 4648 | 1 | 5 | 2m 
Wünfer . .) 27332 | 3149| Ile | 2 | 3m 
Dortmund. | 23372 | 2362| 101 | 9 | 3m 
Köln ...1.120568 |11858 | ds | 50 ı Am 
.| 50584 | 3432| 6a | 1606 | Aus 

Düffeldorf 41292 | 4055, 9 sa | Ana 
en...) MO8ll | 1558| Tas | 18 | An 
Elberfeld . .| 56307 | 4414| Tr 10 | Asa 
Barmen . .| 49787 | 3735| To | Mo | oo 
Koblenz. . 28525 | 2678| da | Bo | Ims 
ir...) 21215 | 2419| 1 | Ass | Is 
Anhen . | 59941 | 5462| 9 | 1500 | 4m 











Das Handwert im Sinne der Tabelle von 1861 
beichäftigt in dieſen Stäbten 6— 12%, der Bevölkerung, 
d. h. wenn wir die erwachſenen Männer zu etwa 25%, 
ber. Benölferung annehmen, den vierten Theil bis zur. 


282 Die Vertheilung ber Gewerbetreibenben. 


Hälfte verjelben. Die Rangordnung gejtaltet fich fo, 
daß die rheiniichen Städte nur 6— 9%, Handwerker, 
die Städte der mittleren und öftlichen Provinzen 10 — 
12%, Handwerker beißen, wobei nur Trier unter ben 
rheiniſchen, Danzig unter den öftlichen Städten eine 
Ausnahme macht. Daß an ver größern oder geringern 
Zahl der Handwerker die große Induſtrie direkt ſchuld 
ſei, läßt fich nicht behaupten. Koblenz mit 3%/,, Köln 
mit 5°%,, Aachen mit 15%, Elberfeld mit 26°, 
Fabrikperſonal ftehen fich in Bezug auf das Handwerk 
faft gleih. Ebenſowenig läßt fich behaupten, daß Die 
Größe der Städte einen Einfluß auf die Prozentzahl 
der Handwerker habe. Alle diefe Städte haben mehr 
oder weniger den Charakter einer größern Stadt. 
Der vorhin beiprochene Gegenſatz von Kleinſtädten und 
größeren Stäbten füllt vollftändig aus dieſer Tabelle 
hinaus. Theilweiſe Tiegt der Grund des weniger zahl: 
reichen Handwerks der rheiniichen Stäbte in ber höhern 
wirthichaftlichen Kultur, die für dieſelben Zwecke weniger 
Arbeitskräfte braucht. Es kommt das gegenüber ven 
jächfifchen Städten in Betracht. Theilweiſe aber liegt 
der Grund darin, daß bei der Art, wie die Bevölkerung 
am Rhein vertheilt ift, die dortigen Städte viel weniger 
als im Oſten die geiverblichen Mittelpunkte ganzer 
Gegenden bilden. Das ganze Land hat dort mehr 
Handwerker, darum können die Städte etwas weniger 
haben. Wenn fich Die ſächſiſchen und weftfältichen Städte 
einer=, die preußiichen, pofenjchen, märkiſchen anderer: 
ſeits fo ziemlich gleich in der Progentzahl ihrer Hand- 
werfer ſtehen, jo bat das nicht ganz biefelben Urſachen. 


Das Handwerk ber größern Städte 1861. 283 


In Magdeburg, Erfurt, Halle, Münſter iſt die Hand⸗ 
werferzahl groß, weil hier eine gleichmäßigere Vermögens⸗ 
vertheilung auch die Heinen Handwerksgeſchäfte hält. Im 
Often ift man überhaupt weiter zurück; deßwegen tft 
die Zahl bier nicht unbeträchtlich; und dann ſpielen hier 
die größern Städte eine ganz andere Rolle gegenüber 
dem platten Lande, als in Sachſen und Weitfalen. 

Wir ſehen, wie auch bier wieder die verſchiedenſten 
Urſachen neben= und gegeneinander wirken. 

- Bergleicht man die Prozente der Handwerkertabelle 
mit denen der Fabrik- und ber Handelstabelle, fo ift ber- 
vorzubeben, daß die Handelstabelle vielfach höhere Prozente 
zeigt, als die Tabriftabelle, daß meift beide zufammen 
noch nicht jo hoch find, wie die Prozente der Hand- 
werfertabelle. Nur in wenigen Tabrifftänten fommt 
die Fabriftabelle der Handwerkertabelle nahe, nur in 
Brandenburg, Krefeld, Eſſen, Elberfeld, Barmen 
und Aachen überwiegt fie. Das Handwerk zeigt 
gegenüber ven beiden andern Branchen feinen immer 
noch vorhandenen elementaren Charakter, feine aller- 
wärts fich zeigende Nothwendigfeit dadurch, daß e8 nur 
zwiſchen 6 und 12 °), der Bevölkerung ſchwankt; vie 
die Tabriftabelle ſchwankt zwiſchen O, und 27%, , bie 
Handelstabelle zwiſchen 2 und 9%, der Bevölkerung. 

Als Ergänzung der bisherigen Unterfuchung über 
bie preußischen Verhältniffe will ich nunmehr noch Einiges 
aus der bairifchen und fächfiichen Statiftif anführen, ſchicke 
jedoch wieder voraus, daß die abjoluten und die Prozent- 
zahlen mit ven preußijchen nirgends direkt vergleichbar 
find, da die Kategorien der Handwerker, bie in ben 


284 Die Bertbeilung ber Gewerbetreibenben. 


einzelnen drei Staaten zu Gefammtrefultaten vereinigt 
find, nicht ganz übereinftimmen, tbeilweife weſentlich 
differiven. 

Die bairiſche Handwerksſtatiſtik Liefert nur einen 
fleinen Beitrag über ven Gegenfak von Stadt ımd 
Land; * fie unterjcheivet nicht Stadt und Land über 
haupt, fondern nur Die größern fog. unmittelbaren 
Städte und das gefammte übrige Land, welches alſo das 
platte Land mit feinen wenigen, wie bie Fleinen Stäbte 
mit ihren zahlreichen Handwerkern umfaßt. ‘Die Meifter 
und Gehülfen find mit Einjchluß der Weber zufammen- 
gerechnet. Es kamen in den größern Städten 

alfo Tetztere %/, 


auf Seelen Handwerker der erftern 

1847 . 453986 58850 . 12,95% 

1861 . 544067 57694 10,96 * 
in dem übrigen ande ! 

1847 4.050 888 274.616 Je 

1861 4.145770 2729406 6558 ⸗ 


Alſo die Hauptabnahme eben auch da, wo die Um— 
bildung in neue Zuſtände ſich vollzieht, d. h. in den 
größern Städten. 

In Bezug auf Sachſen erwähnte ich in anderem 
Zuſammenhang fchon,? daß nach einem Vergleich von 


— — 





| . 1) Die Bendlferung und Gewerbe Baierns ©. 163; id 
babe die Zahlen b) dort zu Grunde gelegt und darnach die 
Prozente berechnet. Die Pfalz ift nicht einbegriffen. 
2) Siehe oben S.146—147; vergl. Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. 
Bür. 1860. S. 12 — 24. 


Stabt und Sand in Baiern und Sachſen. 285 


1830 und 1856 das Handwerk in den größern Stäbten 
jehr bedeutend, einzelne Gewerbe um 20 — 70 %,, in 
ven fleinern Städten dagegen nicht ebenjo abgenommen 
babe; an fie follte die Reihe erſt fpäter kommen. 

Für die Spätere Zeit, d. 5. für den Vergleich von 
1849 und 1861 benüte ich eine Xabelle,! welche die 
36 wichtigften Handwerke, mit Ausichluß aller Haus- 
invuftrie, befonvers der Weberei, von 1849 und 1861 
getrennt nach den größern, den Fleinern Städten und 
vem ‚platten Lande umfaßt. Nach ihr ijt die folgende 
Ueberficht berechnet. Es waren 

1) in den Städten über 10000 Einwohner 

Meifter und alſo ji, ber 


Einwohner Gehülfen Bevölkerung 
1849 . „279574 26 340 —F 
1861 . . 381595 34.492 9,05 
2) in den Mittel- und Heinen Städten 
149 . . 383466 42976 11,0 
1861 . . 438086 46 574 10,93 
3) auf dem platten Lande 
1849 . . 1.231391 58 946 Ana 
1861 . . 1.405619 708560 450 


Sollte der Leſer trotz meiner Warnung an einen 
Vergleich dieſer Zahlen mit den preußiſchen denken, ſo 
iſt zu erwähnen, daß in den preußiſchen Tabellen etwa 
80, hier 36 Arten von Handwerkern zuſammengefaßt 
ſind. Sind das auch weitaus die zahlreichern, dennoch 
bleibt eine direkte Vergleichung mißlich. Einige Prozente 





1) Tab. 13, Zeitſchr. des flat. Bür. 1863. ©. 102. 


286 Die Vertheilung ber Gewerbetreibenden. 


müßte man jedenfalls zuſetzen, fo daß vie größern füchft- 
ſchen Städte auf 10— 11°, , die Heinern auf 12—13 %, 
kaämen. Das ift jevenfall3 den preußischen Verhältniſſen 
analog, daß die Fleineren Städte das zahlreichite Hand⸗ 
werf haben. Das gegenüber Preußen viel ftärfere länd—⸗ 
liche Handwerk hat feine Urfache in dem ſtädtiſch⸗ in⸗ 
duſtriellen Charakter eines großen Theiles des platten 
Landes in Sachſen, außerdem in ven zahlreichen Vor⸗ 
jtabtdörfern, in welchen für die Stadt arbeitende Hand⸗ 
werfer wohnen. 1 Zugleich erhellt aus den jächfiichen 
und preußifchen Zahlen, welche pas platte Land betreffen, 
iwieder, wie viel wichtiger die realen Zuſtände und Be⸗ 
dürfniffe gegenüber der Gewerbegejfeßgebung find. In 
Sachſen bis 1862 gewiſſe Beichränfungen des Land—⸗ 
banbwerfs, in Preußen feine Spur hiervon mehr feit 
langer Zeit; und doch ift das jüchfiiche Landhandwerk 
zahlreicher. ' 

Was nun aber die Veränderungen zwifchen 1849 
und 1861 in Sachlen betrifft, jo find fie ſehr Iprechend. 
In den größern Städten bat das Handwerk nicht viel mehr 
abgenommen, weil es bier jchon früher ſehr zurüdging ; 
die Hauptabnahme trifft die Fleinen Städte; in ihnen 
vollzieht ſich der Umſchwung erft jet. Auf dem Lande 
haben die Handwerker etwas, aber fehr unbedeutend zu⸗ 
genommen. | 

Unterfcheidet man die einzelnen Gewerbe in dieſer 
Beziehung, jo trifft die Zunahme auf dem Lande gegen- 
über der Bevölkerung außer den hausinduſtriellen Be⸗ 


1) Zeitſchrift des fächl. ſtatiſt. Büreaus 1860. ©. 122. 


Stabt und Fand in Sadıfen. 287 


trieben bauptjächlich Die Tiichler, Glaſer, Stellmacher, 
Seiler, Riemer, Kürfchner, Bäder und Buchbinder, ſowie 
bie Jimmerleute und Maurer, letztere wahrjcheinlich nur 
ſcheinbar, durch Zählung ftäbtifcher Arbeiter an ihrem 
lindfihen Wohnort in der ftäbtifchen Umgebung, wie 
auch aus dieſem Grunde allein die ländlichen Buch⸗ 
bruder Sachſens zunabmen. Dagegen haben auf dem 
dande abgenommen die Schneider, die Schuhmacher, 
vie Fleiſcher, die Hufſchmiede, die Gürtler, die Kupfer⸗ 
ſchmiede, die Seifenfieder, die Gerber, die Töpfer, die 
Kammmacher, die Drechsler. Mancherlei bezieht ver 
ländliche Konſument jet von der Stabt, was er früher 
beim Meifter im Dorfe beitellte. 

Ob das feit 1862, feit das Landhandwerk in 
Sachen ganz frei wurde, wieder fich geändert bat, ob 
die Gewerbefreibeit dem ländlichen Meifter den Abjak 
wieder brachte, ven er fchon 1861 verloren hatte, 
möchte ich beziveifeln. 


n | 


2. Das Handwerk nad) Provinzen und Stanten. 


Die preußiſchen Provinzen 1822, 1846 und 1861. Die preufi- 
ſchen Regierungsbezirfe 1861 mit ihrer Handwerker-, Fabril- 
und Hanbelsbevölferung. Die Bäder, Fleiſcher, Schneider 
und Schuhmacher nach Provinzen 1849 und 1861. Einzelne 
Gewerbe im Regierungsbezirt Pojen 1822, 1846 und 1861. 
Das Handwerk in den wichtigern Zollvereinsftanten 1846 und 
1861. Die fpezielleren Ergebniffe von 1861 in ſämmtlichen 
Staaten des Zollvereins. — Die Urſachen der Gegenfäke: 
Der verſchiedene Wohlftand. Die Dichtigkeit der Bevölkerung. 
Lanbwirtbichaftliche und inbuftrielle Gegenden. Der Einfluß 
ber Großinduſtrie. Das Alter der wirthſchaftlichen Kultur in 
den verſchiedenen Gegenden. Die frühere ober ſpätere Befei- 
tigung des Zunftwejens. Die ganze Einlommens- und Ber- 
mögenevertheilung, die Art und Größe ber MWohnfite ber 
Bevölkerung, die Vertheilung des Grund und Bodens. Die 
daraus folgenden wirtbichaftlichen Sitten, der Volkscharalter, 
bie Thätigfeit der Regierungen für das Kleinere Handwerk. 


Dem Gegenfaß zwiſchen Stadt und Land folgt ber 
zwilchen Landichaften und Provinzen, Provinzen und 
Staaten. Er ijt tbeilweife ein ähnlicher, ein Haupt 
moment des Gegenſatzes ift daſſelbe. Da mehr agra- 
riſche, dort mehr gewerbliche Zuftände. Aber Dazu kom⸗ 
men eine Reihe andere Momente; es wechſeln alte und 
junge Kultur, reiche und arme Gegenden. Andere 


j 


Die preußiſchen Provinzen 1822 — 61. 289 


! Befig- und andere Benölferungsvertheilung, verſchie⸗ 
dene Verwaltung und verjchiedened echt, verſchiedene 


* 
gr 





Geichichte und verjchievener Volkscharakter Tprechen mit. 

Ehe ich auf die Urfachen aber näher eingebe, will 
ih die ftatiftifchen Grundlagen vorlegen. Ich bleibe 
werft bei den alten preußiichen Provinzen ftehen, da 
für fie das reichhaltigfte Unterfuchungsmaterial vorliegt ; 
erft nachher will ich die übrigen Zollvereinsftaaten und 
die neuen preußiichen Provinzen in den Vergleich ber- 
eimiehen. 

Wie ſtark war der Handwerkerſtand gegenüber der 
Bevölkerung in ben einzelnen preußiſchen Provinzen 
1822, 1846 und 1861? Im Bezug auf die erften 
beiden Jahre gibt die Unterfuchung Dieterici's Ant- 
wort. In Bezug auf 1861 bat Viebahn? Berechnun- 
gen gemacht. Ich ftelle daneben eine eigene Berechnung, 
die nach den offiziellen Zahlen angeftellt ift, und noth- 
wendig etwas höhere Procentzahlen ergiebt, da Viebahn's 
abſolute Handwerkerzahlen für 1861, wie ich fchon er- 
wähnte, — wie ich bier noch beſonders bemerfen will, 
wahrſcheinlich durch Ausicheivung der Kunftgewerbe — 
etwas niedriger find, als die der offiziellen Tabelle. 
Was den Vergleich der Zahlen für dieſe drei Sabre 
unter fich betrifft, fo iit der zwilchen 1822 und 1846 
ganz der Wirklichkeit entiprechend,, da Dieterict nur Die 


gleichen Kategorien von Handwerkern in ven Vergleich 


bereinzieht, vagegen umfaflen die Zahlen von 1861 


1) NMittheilungen II, 13. 
2) DI, ©. 745. 
Schmoller, Geh. d. Kleingewerbe. ‘19 





290 Die Vertheilung der Gewerbetreibenden. 


einige weitere Kategorien von Handwerkern; die Zu: 
nahme erjcheint daher etwas zu groß, wenigjtens nad) 
ben von mir berechneten Zahlen. Der Vergleich, wie 
ſich in den einzelnen Provinzen die Procentzahl in ben 
drei verfchiedenen "Zeitpunkten ftellt, ift hier aber auch 
nicht die Hauptſache; wichtiger ift hier die Frage, wie 
fich das Rangverhältniß der Provinzen unter einander 
in den genannten Epochen umgeitaltet hat, und zur 
Beantwortung diefer Trage iſt die Tabelle vollitändig 
brauchbar. 

Ich gebe die Zahlen in ver boppelten möglichen 
Berechnung; die ſämmtlichen Gewerbetreibenden machten 
Procente der Bevölkerung aus: 

1861 nad 1861 


1822 1846 Viebahn's nach meiner 
Berehnung Berechnung 


in Preußen . . . os 3,02 3,0 4,11 

- Polen. . 0,88 57 d,6 ‚78 
⸗ Brandenburg Asa 5,88 6,8 Csı 
-e Pommern. . . ao As 4,8 5. 
= Schleſien 3,45 4,35 5,6 9,81 
⸗ Sachſen ... 4,16 5,s [pP T,sı 
. We falen. 4,18 5,97 6,4 6,40 
am Rhein . 4,ss D,55 6,8 18 


Ober, was daffelbe iſt, e8 kamen auf einen 
Gewerbetreibenden Einwohner: . 


1861 

1822 1846 nach Viebahn's 

Berechnung 
in Preußen - . ..2..83 31 25 
- Bofen . 20.88 28 27 
- Brandenburg. 2. 22 17 14 
«e Bommm. . ... 27 24 20 
-» Schlefien . . . ...29 23 17 
: Sohn . .... 21 18 13 
- MWeflfallen . -. . ... 24 19 15 
am Rhein. . 23 18 16 


® 


Die preußiſchen Provinzen und Regierungsbezirke. 291 


Die Zahlen für 1861 will ich verjuchen gleich 
dadurch noch etwas weiter zu illuftviren, daß ich eine 
Prozentberechnung des Handwerkerſtandes nach den ein- 
zelnen Negierungsbezirken beifüge. Denn welche Gegen- 
füge birgt 3. B. Schleſien; im Regierungsbezixt Breslau 
zählt man 6,5 %, Handwerker, im Regierungsbezirk 
Oppeln nur 3,95 %. Zugleich will ich, wie oben bei 
den größern Städten, bie Brozentzahlen der Fabrif- und 
der Handelsbevölferung daneben ftellen, d. h. die Pro- 
jente, welche die gefammten 1861 in ber Fabrik- und 
in der Hanbelstabelle nach dem befannten Inhalt der- 
jelben verzeichneten Perfonen gegenüber der ganzen Be— 
bölferung ausmachen. Man erfieht daraus Die unge- 
führe Bedeutung des Handwerks in den einzelnen Re— 
gierungsbezirken gegenüber den Fabrik- und Hanbels- 
geſchäften. 

Neben dem ſpeziellen Reſultat dieſer Tabelle, das 
uns hier zunächſt intereſſirt, möchte ich den Leſer darauf 
aufmerkſam machen, welche Reſultate vergleichender 


Betrachtung ſich ergeben, wenn er die folgende Tabelle 


über die Regierungsbezirke vergleicht mit der obigen 
entſprechenden tiber die größern Städte. 

Am Rhein ſind die Prozente der Handwerker in 
den Städten und Regierungsbezirken nahezu gleich, im 
Nordoſten haben die Regierungsbezirke theilweiſe nur 
ein Drittel oder Viertel der ſtädtiſchen Prozentzahlen. 
In der ſtädtiſchen Tabelle ift die Fabrik- und Hanbels- 
bevöfferung der Handwerkerzahl fchon viel näher gerüct, 
als in der Tabelle der Negierungsbezirt. Doch das 
nebenbei. — Die Zabelle ift folgende: 

19* 


292 Die Vertheilung ber Gewerbetreibenben. 
Bevölke⸗ Meifter | Diele Sabrit- —8* 
Regierungs rung 1861 und — tabelle | tabelle 
bezirke inch. Gehürfen |. Fa — 
Militär zuſammen zung öfte-| Benölle- 
nn 7 rung rung 

gonigeberg | 982896 | 46592 | 1. 
Sumbinnen . | 69571) 5260 | Zn | On | Lyon 
Dan ig. 475 570 20 358 4,28 „18 1,1 
Marienwerber. 712831 | 26769 3,05 so ı Iwo 
Poſen 963441 | 36677 331 se | 136 
Bromberg . . 522109 | 19140 de | Lis | 1 

otsdam | 947034 58958 6,98 3,50 2.21 

(ohne Berlin) 
Frankfurt . 973 154 | 52 335 D,3R 4,10 1,7 
Stettin. ı 65493, 35946 5,0 | Leo ‚34 
Köslin . 524 108 22 899 A,sı La⸗ 0,81 
Stralfund . 210668 | 13931 6,81 | Le ı 3a 
Breslau 1,295 959 84.706 6,55 | des | I1es 
Oppeln. 1.137844 | 44725 | 33 Zar Im 
Liegnitz. 956892 | 67408 704 | de | La 
Magbeburg. 779 754 98301 7,48 ‚ss, 2,48 
Merieburg . 831968 | 61527 Tao | Seas La 
Erfurt . 364 695 28 556 7 83 720 1 4 
Miünfter 442 397 27197 6,15 ze! In 
Minden. 472145 | 27283 ‚18 s' Le 
Arnsberg .. 708523 | 50609 T 10 ‚17 ‚8 
Köln 567 475 38 100 6,71 ‚35 2,88 
Düffetborf. | 1,115 365 80 200 T ıe ‚ss | wa 
Koblenz. | 529929 | 33987 ‚di s | 2,02 
Trier 544269 | 30172 ‚54 RX 1,77 
Aachen . 458745 | 25907 | 55 | 1000 | so 





Die lokalen Gegenfäte der Fabrif> und der Handels: 
entwiclung find hier, wie in den großen Städten, viel 
bedeutender als die des Handwerks. Es giebt Regierungs- 
bezirfe und Provinzen, die noch einmal fo viel Hand- 
werker haben als andere, im Hanvel und Fabrikweſen 
ſolche, die &— 11 mal fo viel Berjonen bejchäftigen. Das 
Handwerk zeigt auch hier wieder feine elementare Natur. 


. Die Beränderungen von 1822 — 61. 293 


Es dient nothiwendigen lofalen Bebürfniifen, die einer: 
jeit8 auch Heute noch überall vorhanden find und ande- 
verjeitd nirgends über ein gewiſſes Maß hinausgehen. 

Freilich find die Differenzen noch ftarf genug: im 
Oſten befhäftigt eg 3— 4, , im Weiten 6 und 7%, 
der Bevölkerung. Am tiefiten ftebt der Regierungsbezirk 
Sumbinnen 1861 mit 3,53, dann Bromberg mit 3,56, 
Polen mit 3,9,%0; über 7%, baben die Regierungs- 
bezirke Liegnitz, Magdeburg, Merfeburg, Erfurt, Arne- 
berg, Düffelvorf; am höchjten fteht Erfurt mit 7,95%. 

Um aber zunächjt zurüdzufehren zu ver Provinzial- 
tabelle und dem Unterfchied zwiſchen den verfchtevenen 
Jahren der Aufnahme, jo ift das Rangverhältniß der 
Provinzen unter ſich 1822 und 1861 fo ziemlich dafjelbe. 
Poſen 3. B. hat damals wie jegt etwa halb jo viel Hand- 
werfer als Sachen. Dieß Rejultat hat mich vollitändig 
überraſcht; ich hatte, ehe ich die Unterjuchung anftellte, 
erwartet, daß in ben weſtlichen umd mittleren Provinzen 
die Prozentzahl fich weniger geändert zeigen werde; ich 
dachte mir hier gleichfam. das Bedürfniß gefättigt; ich 
dachte, daß wenn hier Neubildungen jtattfinven, fie eher 
die Form der Fabriken und großen Unternehmungen an- 
nehmen werden. In den Söjtlichen Provinzen Dagegen, 
dachte ich, war die Zahl felbjt der nothwendigften Hand- 
werfer, wie der Bäder, Fleiſcher, Schneider, Schuh— 
macher, Tiſchler 1822 noch jo gering, daß fie mit der 
Kulturentwiclung, mit der ſteigenden Arbeitstheilung hier 
bedeutend fteigen müfje, ich Dachte, daß 1822 — 61 dieſe 
Provinzen ſich den Zuftänven in Mittel- und Weft- 
beutichland müßten genähert haben. 


294 Die Bertheilung der Gewerbetreibenden. 


Und ganz unrichtig war diefe Vermuthung auch 
nicht. Bon 1822 —46 iſt der Zuwachs in Preußen, 
Pofen, Brandenburg, Pommern und Schlefien im Ganzen 
relativ faft größer al8 in Sachſen, Weitfalen und ver 
Rheinprovinz; erſt von 1846 — 61 bleiben Preußen, 
Bofen, Bommern fo ziemlich ftabil, während die andern 
Provinzen wieder fchneller voranichreiten. 


Es wird nun nicht zu leugnen fein, daß einzelne 
Hauptgewerbe auch 1846 — 61 im Oſten noch zuneh- 
men; die wichtigfte Urfache ver geringen Gefammtzunahme 
Tiegt nicht fowohl in den einfachen Haupthandwerken, als 
in der größern Zahl der Handwerker, welche feinern DBe- 
pürfniffen dienen — in den Gürtlern, Hutmachern, Hand- 
Ihuhmachern, Gold- und Silberarbeitern, Klempner, 
Pojamentieren, Tapezierern und ähnlichen. Derartige, 
wenn ich jo fagen foll, höhere Handwerke fehlten vorher 
falt noch ganz; da fie erjt nad) 1846 hätten fich bilden 
müffen, blieben fie faft ganz aus, ‚weil nunmehr ver 
Handel und Verkehr fich ſchon umgeftaltete, die lokale 
Produftion nicht mehr wie früher nothwendig war. 


Freilich bleiben auch die wichtigern Handwerke von 
1846 an im Often zurück; theilweife twirfen Die ange- 
führten Urfachen auch auf fie. ch will nur für 
einige Hauptgewerbe, die Bäder, Fleiſcher, Schneiber 
und Schuhmacher eine fpezielle Berechnung anjtellen, 
wie fie in den eimzelnen Provinzen 1849 — 61 zuge 
nommen haben. Die folgende Tabelle beantwortet bie 
Frage, auf wie viele Einwohner ein Gewerbetreibenver 

je des betreffenden Gewerbes fam: 


Der Gegenſatz der weftlihen und öfllichen Provinzen. 295 


—— — er 








Ein | ein ein | Ein 
. Bäder | Fleiſcher Schneider | Schuhmacher 
Provinzen. tım auf lam auf kam auf tam auf 


1849 | 1861 || 1849 | 1861 || 1849 | 1861 | 1849 | 1861 





! 


153 | 156 











Preußen . . | 749| 784 | 832 | 673 | 217| 181 

Bofen . . . | 552] 587 641| 569 | 196| 199 | 137 | 138 
Brandenburg . | 423| 395 | 550 | 502 | 121| 104 109, 107 
Bommern . . | 489| 482 | 874 | 758 | 161| 147 124 | 129 
Schlefien . . | 511) 508 470 | 419 | 185) 151 121 | 114 
Sadfen. . . | 341) 331) 445 | 451} 126) 118) 90| 92 
Beilalen . | 339| 2901| 762 | 675 | 124) 109| 131 134 
Rheinproving . | 259) 242 | 564 515 | 139) 126] 113| 118 





Die Tabelle zeigt, daß von 1849 — 61 faft nur 
die Bleifcher in Preußen und Bofen bedeutend zunahmen, 
die anberen Gewerbe aber in ben mittlern und weitlichen 
Provinzen mehr ftiegen als im Oſten. Und auch bei 
ven Fleiſchern erfcheint hauptſächlich deßwegen eine Zu⸗ 
nahme in Preußen und Poſen, weil die Zahl der 
Fleiſcher hier 1849 ausnahmsweiſe niedrig, viel 
niedriger als 1816 iſt. Es iſt, als ob das Handwerk, 
weil es hier jünger war, der neuen Zeit, ihrer Technik 
und ihrem Betrieb noch weniger Widerſtandskraft ent⸗ 
gegenzufegen gehabt hätte. 

Einen weitern fchlagenden Beweis hierfür Tiefern 
die Zahlen, welche Herzog ! aus dem Negierungsbezirf 
Polen mittheilt. Ich erwähne nur einige Hauptgewerbe 
nah ven abjoluten Zahlen der Jahre 1822, 1846 
und 1861: 


— — — 





1) Die Entwicklung der gewerblichen Verhältniſſe im Re—⸗ 
gierungsbezirk Poſen feit 1815. ©. 108 — 133. 


296 Die Vertheilung ber Gewerbetreibenden. 


























1822 | 
* | 2 A = . 
Gewerbe: 53 s)2 8; a ||; 
[& |8 BILHE Bı&8|8 |» 

Seien 1241| — | 4848 2880 — |4815 19786 
Schneiber. . 11969 | 562| — | 3514 1448 — | 3111 |1535| — 
Bäder... | 961 | 146| — | 1094| 5838| — |1000 | 776! — 
Fieiſcher . * 210 — | 1214) 472! — |1130| 588| — 
Maurer .. | 245 | 254 — 86 1426| 891 87 |1508'325 
Zimmerlente | 387 | 257 — | 153111131142) 88| 917|340 
Schmiede. . 11419 | 302) — | 2066| 1199| — \2023 1282| — 
Stellmader. | 516 | 112) — | 942| 8399| — 1003 | 389! — 
— 51422/1181! — 1400 1041 — 


Tiſchler. .. | 547, 249 ' Ä 
| 


Eine große Zunahme bis 1846; von da ab 
vollitändiger Stillftand oder Rückgang, während doch 
fonjt die Verhältniffe gerade von 1846 ab erit weſentlich 
jich beifern, die Straßen, der Verkehr, der Bodenwerth 
jteigen. Gerade das muß nach den dortigen Verbält- 
niffen eben dem Heinen Handwerkerſtand nicht günftig 
geweſen fein. Er blieb bejonbers in den kleinen Stäbten 
zurüd, während die wohlhabenvern Konſumenten nicht 
zurüchbleiben wollten, ſich Hier wohl mehr als ander 
wärts nach der Hauptitabt ver Provinz oder nach Berlin 
wandten. „Wohlhabendere machen ihre Einfäufe und 
Beſtellungen meiftentbeils in der Stadt Pofen,” fagt 
ein Bericht im Jahrbuch für amtliche Statiſtik,“ welcher 
hauptjächlich die Noth der Handwerker in den. Heinen 
Städten der Provinz Pofen betont. 

Daß Die gewerbliche Thätigfeit in der Provinz 
Pojen wie in der Provinz Preußen vor Allem durch 


1) Jahrgang TI, 288. 


Die Zuftände in Poſen 1822 — 61. 297 


bie ruffiiche Zolllinie gehemmt und gelähmt wird, tft 
richtig, kann aber hier nicht als hauptſächliche Urfache 
angeführt werden. Es trifft das mehr Die größere 
Induſtrie; überdieß war biefer Umstand jchon 1822 — 
1846 vorhanden. Der Stillftand von 1846 an muß 
alſo mehr andere Urſachen haben. 

Ehe ich aber Hierauf noch näher eingebe, theile ich 
die Zahlen über die andern Theile des Zollvereins, fo- 
weit folche vorliegen, mit. Sie zeigen theilweiſe dieſelben 
Gegenſätze; theilweife aber ift Das Nefultat auch ein 
weientlic) anderes; gerade da, wo das der Fall ift, 
find wir aufgefordert nachzuforfchen, warım es ein 
anderes ift. 

Für 1846 bat ſchon Dieterici eine Bergleichung ber- 
jenigen Zoffvereinsftanten angeftellt, die Damals brauch- 
bare Aufnahmen machten. Die Summen der Hand- 
werfer aber, die er biebei für Preußen 3. B. zu Grunde 
legt, find ziemlich niedriger, als die der fonftigen 
offiziellen Statiftif, ? wohl weil er ſolche Kategorien, in 
denen die Aufnahme nicht überall gleich gemacht wurde, 
weg ließ. Deshalb find die aus den Hauptſummen abge- 
leiteten Brogentzahlen eigentlich nicht direkt vergleichbar mit 
ven Progentzahlen nach ver Aufnahme von 1861. Fir 
1861 eriftiren offizielle Summirungen nur von ben 


1) Mittheilungen IV, 252 ff. Statiftifche Ueberficht ber 
Fabrikations⸗ und gewerblichen Zuſtände in ben verſchiedenen 
Staaten des dentſchen Zollvereins im Jahre 1846. 


2) Er zählt 803658 Meifter und Gehülfen in Preußen, 


lonft werben 842148 gezählt. 


298 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 


Staaten, die ihre Gewerbeaufnahme beſonders publizirt 
haben. Außerdem bat man die Summirungen in der 
Privatarbeit von Srang,! bie mit ben offiziellen Summen, 
joweit fie exiſtiren, theilweife faft ganz, theilweiſe wenig: 
jtend ungefähr übereinjtimmen, und die Summen bei 
Biebahn,? die, ähnlich wie feine preußifchen Zahlen, etwas 
niedriger als die offiziellen Sınnmen find. Da fie aus 
eben dem Grunde den von Dieterici für 1846 berechneten 
Zahlen am nächiten ſtehen werden, am eheſten mit ihnen 
vergleichbar jein werden, To ftelle ich fie zunächſt mit 
denen Dieterict’8 von 1846 zufammen. Ganz korrekt iſt 
die Tabelle freilich nicht; einzelne Staaten zeigen eine 
Heine Zunahme, welche fie nach unjern obigen Unter: 
juchungen nicht haben; die größern Veränderungen aber 
find ficherlich wahrheitsgetreu; jedenfalls bleibt Der Ta: 
belle, wie ver obigen Tabelle über die preußiſchen Pro- 
vinzen, ver Werth, daß fie zeigt, wie die Proportionen 
der Zahlen von 1846 und der Zahlen von 1861 je unter 
einander fich änderten, wie das Rangverhältniß der Staaten 
unter fich gewechlelt hat. Es betrug die Zahl der Meifter 
und Gehülfen in Prozenten der gefammten Bevölkerung: 


1) A. Frank, Tabellen der Gewerbeftatiftif der Staaten bes 
deutſchen Zollvereius. Brieg 1867. Die Differenz der Frang’fchen 
und ber offiziellen Summe für Preußen erwähnte ich ſchon oben 
©. 73. Für Württemberg führt Frantz 80775 Meifter und 
64468 Gebälfen an, in ben wärttembergiihen Jahrblichern für 
1862 Heft 2, S. 245 werben 79912 Meifter mit 64147 Ge- 
billfen gezählt. Für Baiern meichen feine Zahlen von ben offi- 
ziellen etwas weiter ab. 

2) Statiftil des Zollvereing I, 745. 


Bergleihung einiger Staaten 1846 und 1861. 299 


1846 1861 
in Sadien . . „2 . . 7a 8,0 
in Baden... . 64 6,3 
in Baier -» » 2.2.64 6» 
im Großh. Heflen. . . Dr 7 
im Kurf. Helen . . . ds 6,0 
in Breußen. . .. 4 d,8 
in Naſſau... .. An d,6 
in Thliringen . . . 31 8,8 


Die Zuftände haben ſich von 1846—61 im 
Sanzen nicht unwefentlich geändert. Thüringen hatte 
1846 am wenigſten Handwerker, 1861 am meijten. 
Das Großherzogthum Heffen fteht in der Reihe ter 
Staaten mit zahlveichem Handwerk jet oben an; Baden 
it zurücigeblieben. Die äußerſten Differenzen find 1861 
geringer, weil die Staaten, welche 1846 das ftärkite 
Handwerk hatten, Sachjen, Baden und Baiern, ziemlich 
ftabil blieben, dagegen die Staaten, welche 1846 zurüd 
waren, an Handwerkern zunabmen, namentlich Thü— 
ringen und beide Heilen, ſelbſt Naſſau. Wie fommt 
8, daß fie, welche bis 1846 auf ähnlichem Standpunkt 
wie die öftlichen preußifchen Provinzen ftanden, noch an 
Handwerkern zunahmen, während in jenen das Hand- 
wert fich nicht weiter entwidelte? Ich werbe darauf 
zurückkommen. 

Zunächſt möchte ich noch eine ſpeziellere Vergleichung 
ſämmtlicher Zollvereinsſtaaten und preußiſchen Provinzen 
pro 1861 als weiteres Material für die Unterſuchung an- 
führen, Die Tabelle iftBiebahn!entlehnt. Sie beantwortet 


1) Statiftit des Zollvereins III, 745. 


300 Die Vertheilung ber Getwerbetreibenben. 


in der letzten Spalte die Trage, wie viele Meifter je 
auf 1000 Familien famen, in der vorlegten die Trage, 
wie viele Meifter und Gehülfen je auf 1000 Eimvohner 
Tamen; die vorhergehenden Cpalten geben Darüber 
Auskunft, wie ſtark die einzelnen Hauptabtheilungen der 
Gewerbe im Verhältniß der Bevölkerung waren. 


































































| Auf 1000 Einwohner find Handwerker | = 
R f und Gehälfen IS 
Provinzen — — * 
z33 .'&E 
15558583 8:|E8iss 
Staaten Ip. EE ej3: s|88 HE 
355 382|3|78|38 5 
_ 8 aöl8la Als |asir 
I 5 ws J 
Vreußen 3) 1ı)911|6) 5|3] 
Bolen . 14, 1ı|7118|5, 4|36, 
Bemmen. .. | 4 118 m !7| ol 
Brandenburg. 5| 216/25 |9| 11 | 68 
Sölefien. . . |, 5| 1,1412 | 7) 7, 56 
Sachen... 0 2/2 5|8| 9 
Weffalen. . . | 5) 2:21 38|9|11 [64° 
Rpeinpreving. » | 6) 2118120 11) 10 | e2| 
Hohenzollern. . |_ 7 2'321 96 9 | 13 1 89 
At-Preußen | 5| 2 13 20 |8T 81561187 
game. 334333 62 | 
uchefien . . . 5/ 2/17, 18|9| 9| 60, 
Homburg 9| 712113019 9| 8) 
Naflan . Ieı 3/m|ı5 | 7i 8| 56 
Srantfunt. . . [181 14 41! lıs6 i 
Zuf. ganz Preußen | 5) 2 14120 | 8 9|58 | 141 
Baiem. ... | al ajwi23|8i ale; 
Württemberg. . | 9| 3 |21) 27|9|12 | 81! 
Baden... . 161 2116120 181 10 | 62 
Sübbentfgland | 8] 3 |19] 28 | 8] 10 | zı jıeı 


Das Handwerk in ſämmtlichen Zollvereinsftaaten 1861. 301 








































Auf 1000 Einwohner find Handwerker 3 
Provinzen |___ "? Gebllifen = 
3 le » |&]is]_.|&E 
und 8/53 818,8 88152085 
181.818 5%|283l23,8& 
Staaten. 8 || 8 58 3 82182 
55|5|38 23,28]|325 
8 aölsl& (81351258 
Linige. Sacfen. | 7| 24 20 9! 9 | so 
Thüringen. . . \ 6 27127)9 13 | 8 
Anhalt... 2. 17 2818 9% 
Oberſachſen 7 8 su 155 
Sraunſchweig. . | 9 8|12 
Obendurg. . - | 5 6| 8 
Ps ur 6|_8 
Nieberfagen | 7 79 159 
| ! 
Großgerz. Heffen | 10 | 8 
Fa ir 9 
Lurmburg 2 8 
Rheinftanten | 8 194 
Zolerin. . - | 6 8| 149 





























AS Ergänzung führe ich noch die Prozentzahlen 
einiger ſpeziellen Gewerbe nad) Viebahn an. Bei einzelnen 
hat er Meifter und Gehülfen, bei andern nur die Meifter 
in Rechnung gezogen. An Meiſtern und Gehülfen kamen 
1861 auf 10000 Einwohner bei folgenden Gewerben: 


bei ben bei ben bei ben Malern, 
Maurern Bimn gleuten Studateuren xc. 


in Preußen. . . 30 4 
in Bon . . „20 14 2 
in Pommern . . 42 a 6 
in Brandenburg . 65 42 12 
in Schlefien . . 62 40 4 
in Sen. . . 98 © 5 
in Weſiſalen . 46 32 8 
am Rhein. . . 48 21 12 


302 
bei ben 
Mauren 
in Hannover . . 56 
in Kurbeſſen . . 62 
in Naffau . . . 74 


in Sachſen, Kar. 
in Thüringen . 
in Heflen-Darmft. 46 
in Württemberg . 71 
in Baden . . 58 
in Bien . . . 74 





Die BVertheilung ber Gewerbetreibenben. 


bei ben bei den Malern, 

Zimmerlenten Studateuren ıc. 
5. 10 
28 22 
27 1 
74 5 
72 13 
23 19 
47 9 
33 6 
52 8 


Bon den folgenden Gewerben Tamen 1861 auf 
10000 Einwohner je die folgende Zahl Meijter: 









































Provinzen ® 
:\e|® 
Pe les 

3 
aaten. 5/88 
Breufen. . :. | 6 41% 
Bon 2.2... 9 0, 423 
Bommen . . . . |1010%1 819714712, 0.11.14 21 
Brandenburg. . . |1011,.11014815114,104 2. 5 |15 
Schieften . . . . J11l1,|15137|55|24 10412, | 6 123 
Sagen. 18/1,,|14/47/66|7,1 0, 13 | 9 |20 
BVeftfalen 21|1,110146/48 3/50, 13,5) 4 18 
NRheinprobing . . . 12311,114143|5616, 10414415 21 
Hannover... . . 17/0,119/45154 3,0, [2,15 [20 
Rurheffen . . . . 11510,]14139155 25 [0,146 51% 
Rafan. . . - . 26/10117/3415714,108125| 4124 
Sachſen, Rgr. . . |15)1,/16140|59|1,./0, [3,18 118 
Zhilringen. . . . |16114[22)48/63|3,, 0,17,| 7128 
Heffen-Darmftat . |27)1,137/41|63 9, [0,12% | 6 127 
Württemberg . . . 13612, 126)38173|4, [0,1619 133 
Baden... - . |1911,|1432|63|4, 0,18, | 612 
Baiern. . - » . 191,20) 34|51)5,8 10, 14,51 6 [2 
































Die provinzielle Stärke einzelner Gewerbe. 803 
































IT f 
Provinzen „| © 8 1 ri 
und eEss8 seele 
Sam 3 333333 
38 6s 6 
denen.Ii | 
Polen. . | 51a 
Pommern . . | 712% 
Brandenburg . (10/1, 
Schleſien . 7/3, 
Sad... . 2. 111% 
Belfden . . . . 11712, 
Rheinprovinz. .. 31 2a 
Hannover . 0 0. | 7 
Kurbeflen . » - . 12124 
Rfau.... 0. 116144 
| 
Sadfen, Kg. . - 110,3,12 
Thlringen. . - - 113125 
Heffen- Darf. . . 11313, 
Vürttemberg. - » 116124 
Ban... . 11815, 1 
Baiem. . 2... 110,2 ]18[14140 1051424224100 


























Daß einzelne Differenzen, welche fich in dieſen 
jpeziellen Zahlen zeigen, nicht bloß und nicht vollſtändig 
von der wirklichen Verſchiedenheit der Zuftände, fonbern 
da und dort auch theilweije von einer Verſchiedenheit 
der Aufnahme herrühren, wird nicht zu leugnen fein. 
Aber wir brauchen uns in dieſer Beziehung hier mit 
feiner Detailfritif abzugeben, da es fich ja zund chſt nehr 
um das allgemeine Refultat, um die allgemeinen Gegen- 
füge, die zu Tage treten, handelt. 

Diefe allgemeinen Gegenfäge nun, welche ji) ung 
in den ſämmtlichen Tabellen erfichtlich machen, find 


304 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 


etwas größer als die, welche wir bei Vergleich der alt- 
preußijchen Provinzen und Negierungsbezirfe erſahen. 
In den altpreußifchen Provinzen ſchwankt der Hand- 
werferftand zwiſchen 3,, und 7,,%, der Bevölkerung, in 
den altpreußiichen Regierungsbezirken zwiſchen 3,, und 
7,8%, in den von Viebahn verglichenen Gegenden 
zwiſchen 3,, und 8,,°/,, wobei ich Frankfurt mit 16,,% 
als einzelne Stadt außer Acht laſſe. Hohenzollern, 
Württemberg, Sachien, Thüringen haben alle über 8%, 
Handwerker, alſo mehr als irgend eine altpreußtiche 
Provinz, über 7 9, baben Anhalt, Braunjchweig, Groß- 
herzogthum Helfen, ihnen fteht nur die Provinz Sachſen 

mit 7,,%, gleich; zwiſchen 6 und 7 %, haben — ähnlich 
wie Brandenburg, Wejtfalen und die Rheinprovinz — 
Hannover, Kurbeffen, Baiern, Baden, Olvenburg, 
Waldeck, Luxemburg. Naffau allein von den weit- und 
jüddeutfchen Bezirken fteht mit 5,, %, den öftlichen 

preußiſchen Provinzen gleich oder nahe; Schlefien hat 
d,g, Pommern 4,;, Preußen 3,9, Polen 3,5 %o. 

Die einzelnen Hauptgruppen von Handwerken find 
theilweije gleichmäßiger, theilwetfe aber auch um fo un- 
gleichmäßiger vertbeilt. Ziemlich gleich ftarf find überall 
die Metallarbeiter. Aehnlich die Bekleivungsgewerbe und 
Holzwanrenarbeiter; in den Belleivungsgewerben 3. B. 
jtehen die mittleren preußtichen Provinzen den ſüddeutſchen 
und rheiniſchen Staaten fo ziemlich gleich, während fie 
in den Gefammtzahlen wejentlich zurüchleiben ; ſelbſt 
Poſen umd Preußen ftehen bier nicht fo ſehr zurüd; 
fie haben 1,, 9, in den Bekleidungsgewerben, Hohen⸗ 
sollen nur 2,;, Württemberg 2,, alfo noch nicht 


Die provinzielle Stärke einzelner Gewerbe. 805 


doppelt jo viel; Dagegen wird in den Baugewerben bie 
Zahl Polens von Hohenzollern um mehr als das 4 fache, 
von Sübveutichland, Oberſachſen und ven rheinijchen 
Staaten um das 2 — 3 fache übertroffen. In Pofen 
kommen auf 10000 Menichen 20, in Preußen 30, in 
Bommern 42 Maurer, in Thüringen dagegen 110, in 
Wirttemberg 71, in Baiern 74. Eine ftarfe PVer- 


ſchiedenheit zeigen auch Die Gewerbe für perfönliche Dienft- 


leiftungen und für Stoffbereitung, fowie die Nahrungs- 
gewerbe. Im Südweſten Deutſchlands etwa die brei- 
fache Zahl wie im Nordoſten. 

Dieje Differenzen, wie überhaupt die Differenzen 
in den meiften Gewerben, werden noch ftärfer, wenn 
man nur die Meifterzahlen anfiebt. Da wo die 
Zuftinde noch ein zahlreiches Handwerk erlauben, gibt 
es auch noch mehr Feine Gelchäfte, alfo um jo mehr 
Meifter, während in den Ländern mit entgegengelegten 
Zuftänden die Gehülfenzahl relativ jtärfer fein wird. 

In Hefjen » Darmjtadt gibt es 4 — 5mal fo viel 
Bleiichermeifter als in Preußen im e. ©., in Württemberg 
gibt e8 6mal ſo viel Bäckermeiſter als in Preußen, in 
Helfen 6 mal fo viel Barbiere als in Preußen, in Thü: 
ringen 7mal jo viel Gerbermeifter als in Polen, in 
Württemberg 60 mal fo viel Steinhauermeifter als in 
Poſen, Smal jo viel Olafermeifter als in Schlefien. 

Einige andere Gewerbe freilich zeigen auch, wenn 


man nur die Meifterzahlen vergleicht, ‚feinen größern 


Unterfchied. Die fpezifiih ländlichen Gewerbe der 

Schinieve, der Sattler, dann die Gewerbe der Tiſchler, 

auch der Schneider und Schuhmacher fine A in den 
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 





306 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


verfchiedenen Gegenden ihrer Meifterzahl nach ziemlich 
abe. In einigen Gewerben fteben ſich Württemberg, 
Baden, Baiern einerfeits, Preußen und Poſen anderer: 
feit8 fogar fehr nahe. In der norbötlichen, wie in 
ber fübweftlichen Ede find 3. B. noch am meiften 
ZTöpfermeifter, in dem ganzen Gebiete dazwiſchen find 
fie von den größern Gefchäften und dem Handel ver- 
drängt. Dort ift e8 die Unentwiceltheit ver wirthichaft- 
lichen Verhältniſſe überhaupt, bier find es die Heinen 
Städte und großen Dörfer, welche fie Halten. 

Diefe letzte Bemerkung zeigt, wie mannigfaltig umd 
verichieden die Urjachen fein können, tie eine hohe oder 
niedrige Prozentzahl von Handwerkern hervorrufen, wie 
vorjichtig man in allgemeinen Schlüffen fein muß. 

Um daher, che ich die Urſachen, welche Die Gegen- 
fäte beherrichen, genauer beipreche, nod) weiteres Licht auf 
den Gegenftand zu werfen, will ich noch eifige DBered- 
nungen über das Verhältniß der Handwerker zur Fabrik⸗ 
bevölferung in den einzelnen Staaten nad) dem Stande 
von 1861 mittbeilen. Die abjoluten Zahlen find Frank! 
entnommen. Der Inhalt der Handwerker - und der Fabrik⸗ 
tabelle ift befannt. Die Bergleichung gibt wenigftene 
ungefähr ein Bild davon, wie in ven einzelnen Staaten 


1) Die geringen Abweichungen feiner Zahlen von ben 
offiziellen, foweit diefe überhaupt eriftiven, find für dieſe Berech⸗ 
tungen gleichgültig. Ich habe abfichtlich hiezu nicht die Viebahn⸗ 
hen Zahlen genommen, weil fie in Bezug auf die Fabriken 
viel mehr als in Bezug auf das Handwerk unter den offigiefen 
Zahlen bleiben. 


Fabrik und Handwerk in den einzelnen Staaten. 307 


Fabrik und Handwerk ſich in Wirklichkeit verhalten. 
Die erſte Tabelle gibt die abſoluten Zahlen und den 
Prozentantheil von Fabrik und Handwerk an der 
Geſammtſumme. 


Ä Die Die 

| Perfonen | Perfonen | Sans Perjonen 

| and⸗ er 

| , der Hande der | Fabrik⸗ 
Staaten: tZuſammen werker tabelle 


werfer- | Fabril- 





tabelle tabelle 











machen °/, ber 

| | Sefammtjumme 
| 
. Wpreugen . | 1,092 368 |764352 | 1,856 720 | 58,5 | Als 
' Hannover. . 122465 | 49805 | 172270 | Tkboe 28,91 
Kurheſſen . . 47 718 | 25.033 72 751 | 65,80 | 34,0 
Sachſen . . 189 120 1223775 | 41289 | 45,0 | 54.0 
Baden. . . 91498 | 64862 | 156360 | 58 : Ale 
Württemberg. | 145243 | 90592 | 23858355 | 6. | 38a 
Bien. . . | 343706 |171927 | 515633 | 66,6 | 33,54 


In Hannover, wo die rein Tandwirtbichaftlichen 
Gegenden voriviegen, ift das Handwerk am ftärfiten, es 
folgen Baiern, Kurheffen, Württemberg; dann Preußen 
und Baden; zulest Sachjen, wo allein die Fabriftabelle 
ftärker ift, als die Handwerkertabelle. Diefe Zahlen 
find aber nur relativ. Hannover bat gegemüber feinen 
Fabriken das ftärfite Handwerk; mit der Bevölkerung 
verglichen, hat e8 ein ſchwächeres Handwerk als Sachien, 
Baden, Württemberg und Baiern. Diefen Vergleich 
ber Fabrif- und ver Handwerkertabellen mit ver Bevöl—⸗ 
ferung führt die folgende Tabelle noch aus, wobei ich 
für die Handwerkerzahlen neben die. Frantz'ſchen bie 

20 * 





808 Die Bertheilung der Gewwerbetreibenden. 


oben fchon angeführten von Viebahn ſtelle. Sie zeigen, 
daß der Unterfchied Fein, allzugroßer ift. 












Die Ber- 







































Die Die Die 
fonen der | Perfonen | Perfonen p 
Provinzen Fabrik⸗ u. der Hand⸗ erſonen 
Handwerker⸗werker⸗ der 
und tabelletabelle nach | tabelle nach Fabriltabelle 
zufammen | Biebahn machen % 
. Staaten: | machen %/, machen ° der 
der Bevdl- |der Bevölke⸗ 
ferung ‚rung rung |Qebölferung 
Altpreußen . 10,04 d,8 D,00 4,14 
Hannover . . 9,12 6, 6,48 2,64 
Kurhefien . - 9,85 6,0 6,46 3,59 
Sadjen ... 18,58 8,0 8,40 0,08 
Baden... . Ilas 6,2 6,68 4,4 
Württemberg 13,70 81 8,08 5 
Baiern — 0,90 6,0 T se 3,57 


Das Handwerk ift hiernach am ftärfiten in Württem- 
berg, wo die Fabrifen beveutend, aber nicht am ftärkiten 
find; dann folgt Sachien, mit 8 reſp. 8,4 % Hand⸗ 
werfern neben 10,5, Fabrikperſonal. Alſo vertragen 
fich zahlreiche Handwerker wohl mit zahlreichen Fabriken; 
freilich nur unter Umftänden. Nach Sachjen folgt Baiern 
mit der nächſthöchſten Handiverferzahl, während fein 
Fabrikperſonal mit an letter Stelle fteht. Hannover 
und Altpreußen find an Handwerkern fajt gleich, wenig: 
ſtens jehr nahe, an Fabrikperfonal bat Preußen nahezu 
die doppelte Zahl. Die Bemerkungen beweijen aufs 
Ichlagenbfte, daß das Handwerk weder im gerader 
Proportion wächſt mit den Fabriken, wie man oft 


Die Urfachen der Handwerkerzahl. 309 


behauptet bat, noch daß es umgelehrt in gerader 
Proportion mit ihnen abnimmt, wie anvere oftmals 
borgaben. ch werde darauf im Zufammenbang mit - 
den andern Urſachen, um vie es fich handelt, zurüd- 
Iommen. 

Gehen wir nun endlich nach langen, beinahe ermüden⸗ 
den Zahlenmittheilungen auf die einzelnen Urfachen näher 
ein, welche ein ſchwächeres oder ftärferes Handwerk in ven 
einzelnen Provinzen und Staaten bevingen, welche das 
Plus oder Minus an Handwerfern beeinfluflen und 
beherrſchen, fo wird man zunächt beim Allgemeinften 
jtehen bleiben müſſen. Man könnte zuerft geneigt fein, 
an die Verſchiedenheit des Wohlitands überhaupt zu 
denken, man Zönnte geneigt fein zu glauben, daß veichere 
Segenden mehr, ärmere weniger Handwerker im Ber: 
hältniß zur Bevölkerung beſitzen. Gewiß ift das auch 
bis auf einen gewiſſen Grad der Fall; aber entfernt 
nicht burchaus. Bei größerm Reichthum und bober 
Kultur kann die Art umd die Richtung der Volfswirth- 
ihaft fo fein, daß doch die Zahl der Handwerker nicht 
jo groß ift, als in andern minder wohlhabenden Gegen- 
ben. Schlefien und Naffau Haben diejelbe Prozentzahl 
Handwerker, und Schlefien ift viel reicher; Hohenzollern 
hat 8,,%/, Handwerker, die Nheinprovinz 6,;, und Doc) 
ift letztere gewiß viel veicher; Baden hat 6,,°/, , Baiern 
65 %,, und letzteres ift weit hinter dem erjten an allge 
meiner wirtbichaftlicher Entwidelung zurüd. 

Nächſt dem Wohlitand im Allgemeinen wird es 
gerechtfertigt fein, die Dichtigfeit der Bevölkerung ins 
Ange zu faſſen. Und man wird wieder jagen Tönen, 


310 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


daß im Allgemeinen allerdings mit ver größern Zahl 
Menjchen, die auf der Quadratmeile leben, die Prozent- 
zahl der Handwerker gegenüber der DBenölferung wächſt, 
daß aber im Einzelnen fehr grelle Ausnahmen von dieſer 
Regel vorfommen, die auf das Mitwirken anderer Ur: 
jachen binveuten. Nehmen wir die Hauptgruppen, ſo 
hatten: 


Menichen Prozente an 
pro Meile! Handwerkern 
Altpreußen . . . . 3476 5, 
die ſüddeutſchen Staaten . 3783 7 1 
⸗rheiniſchen = „4929 71 
= oberfählühen -» . 6030 8,5 


Diefe beiden Zahlenreihen entiprechen fich ungefäbe; 

aber es hatten dagegen 

die Provinz Sachen . . 4147 Ta 

⸗ = Brandenburg. 3174 6,85 
die Benölferung ver lettern Provinz um 25 %, geringer, 
die Zahl der Handwerker nur um 5—6 %, ; e8 hatten 

die Rheinprovin . . . 68357 6 

Hohenzollern. . . . . 3081 8,9 
im Hohenzollern aljo bei der halb fo ftarfen Benätfecung 
viel mehr Handwerker; man zählt in 

Thiringen . » .» . . 4291 8,5 

Sadin . . .» ...... 7805 8,0; 
das letztere Land hat, bei toppelt fo ſtarker Bevölke— 
rung, Doch etwas weniger Handwerker. 


1) Nah Viebahn II, 171 ff. Die Zahlen find von 1858; 
ih wähle fie, weil fie nad) denfelben Hauptgruppen zufammen- 
gefaßt find, wie die Handwerkerzahlen. 





Die Bevölkerungsdichtigkeit und bie Großinduſtrie. 311 


Alfo werer der Wohlitand im Allgemeinen, noch 
die Dichtigfeit der Bevölkerung beberrichen allein die 
Handwerkerziffer. 

Aber die Richtung der Produktion, wird man ent- 


gegnen; in ben vein agrarifchen Gegenden fönnen nicht 


ſo giele Handwerker ſein, wie in den induſtriellen. 
Ber Poſen 3,590, die Provinz Sachſen 7,°/, Hand: 
werker hat, fo it daran ſchuld, daß die eine Provinz 
eine Iandwirthichaftliche, die andere eine inbuftrielle ift. 
Aber wieder laſſen fich andere Länder vejp. Provinzen 
neben einander ftellen, bei denen die Gleichheit oder die 
Differenz daraus nicht zu erffären if. Das induftrie- 
reihe Schlefien hat 5,.°/, , das rein landwirtbichaftliche 
Hannover hat 6,00; das vorwiegend agrariiche Baiern 
hat 6, 9%, Handwerker, das gewerbfame Baden zählt 
65 %,, Die faft nur aus Bauerngemeinden beftebende 
Provinz Kurheſſen hat ebenfalls 6,,0/, Gewerbetreibende. 
Und es ift natürlich. Auch das platte Land ımd bie 
Heinen Aderftädte können zahlreiche Handwerker haben. 
Der induftrielle Charakter eines Landes als folcher 
jteigert nicht überall das fleine Handwerk. 

Ich Habe dafür fchon oben die Belege mitgetheilt, 
wo ich die Prozentzahlen der Handwerker» und ver 
Fabriktabelle verglich. Es gibt allerdings Gegenden, 
wo mit der Großinduſtrie nicht ſowohl die Kleingewerbe 
zunehmen, wo fie aber von früher ber zahlreich, ſpäter 
leivend und abnehmend, durch den Aufichiwung der 
Großinduſtrie cher wieder in beffere Tage Tamen. 
Württemberg, einzelne Theile Sachjens und der Rhein— 
provinz beweilen das. Aber ganz falich iſt es, das all- 


‚312 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 


gemein zu behaupten, allgemein es auszufprechen, Die 
Sroßinduftrie an fich fürdere und hebe nothwendig das 
Handwerk. Offizielle und halboffizielle Schönfärberei, 
von der ſelbſt Viebahır nicht ganz frei ift,* haben pas 
eben fo oft zuverfichtlich ausgejprochen - als der Optimis- 
mus der radifalen Volkswirthe, die den Beruf fühlen, 
die Großinduftrie und die große Spekulation gegen jeden 
Vorwurf zu vertbeidigen, alles fchön und vollkommen 
zu finden, was. wirklich oder ſcheinbar durch freie Kon⸗ 
kurrenz entſtanden ift. Beide Richtungen baben es 
behauptet, aber nicht bewiejen. 


Sobald man näher zufieht, wie die Konfurrenz von 
Handwerk und Großinduftrie ift, jo befommt man eine 
flare Anfchauung, wo die lettere dem Handwerke 
ſchadet, wo fie e8 fürvert. Im den wenigen Branchen, 
in welchen die Fabrik dieſelben Waaren Liefert wie 
„der Handwerker, vornehmlich, wo fie jelbft die lokalen 
Dedürfniffe befriedigt, da drüdt fie auf das Hanbiverf, 
verdrängt e8. Der überwiegende Theil aber Der größern 
Unternehmungen liefert nicht Waaren für lokalen Bedarf, 
fondern für ganze Yänder. ‘Dadurch entfteht auch ein 
Drud auf das Handwerk, aber es ift ein Drud, 
ver fich dann auch über ganze Länder verbreitet, der in 
diefer Vergleichung nach Provinzen gar nicht erfichtlich 
fein fann. Die Förderung, welche die Großinduftrie 
dem Handwerk geben kann, iſt nur indirekt, wenn wir 
von einigen Neparatur- und Hülfsgewerben abfehen. 


1) Statiſtik des Zollvereins IIT, 744. 


Das Alter der gewerblichen Kultur. 313 


Sie fchafft eine Dichtere, unter Umftänden wohlhabendere 
Bevölkerung. Ob dieſe aber viele Hanpwerfer beichäftigt, 
hängt ab von dem Grade der Wohlbabenheit der Ar- 
beiter, von der Art des Zufammenwohnens, von einer 
Reihe weiterer Umftände. Beſonders in ven Groß— 
ftädten bejchäftigt die größte Zahl Babrifarbeiter nicht 
jowohl Handwerker, als zahlreiche Detailhändler und 
Magazine, große und kleine Speifchäufer und Schanf- 
wirtbichaften. 

Biel hängt in dieſer Beziehung ab von ven 
bergebrachten Sitten und ven häuslichen Gewohn- 
beiten einer Gegend. An allem SHergebrachten hängt 
bie Mehrzahl viel zäher feit, als die National- 
öfonomen meift glauben. Das verſchiedene Alter 
der gewerblichen Kultur, Das den ganzen Weiten 
Deutichlands von dem Oſten unterjcheivet, kommt Da 
in Betracht. Wo ein zahlreicher kleiner Handwerker⸗ 
ftand ift, da erhält er fich wenigitens theilweife Durch 
die zähe Feſtigkeit beftehender Lebensgewohnheiten und 
Gejchäftsfitten,; wo eine gewerbliche Entwickelung erſt 
mit der Zeit der Dampfmafchinen und Cijenbahnen 
eintritt, da wird, worauf ich fchon in anderem Zu- 
ſammenhang aufmerkſam machte, das nun neu Anzu- 
fangende nicht im alten, fondern in neuem großen 
Style begonnen. Die größere Zahl Handwerker am 
Rhein, im Südweſten Deutfchlands hängt hiermit zu- 
jummen. Aber wieder wäre e8 falſch, wenn man dieſe 
Wahrheit zu fehr erweiterte, zu allgemein ausſpräche. 
Zhüringen hatte 1846 noch 3,,%), Handwerker, 1861 
8,5%; feine gewerbliche Entwidelung ift alſo ſehr jung, 


314 Die Bertbeilung ber Gewerbetreibenben. 


und doch zählt es jett mehr Handwerker als Sachien, 
Baden, Baiern und Württemberg. 

Mit ven zuletzt beiprochenen Punkten hängt ein 
anderer enge zujammen; ich meine ben Einfluß ber 
Zunftverfaſſung. Cs ift em entjchievener Unterſchied 
zwijchen ven Rändern, wo fie früber befeitigt wurde und 
denen, wo fie länger beſtand. Die Gewerbefreiheit hat 
mit ihrer größern Konfurrenz das fleine, technifch weniger 
vollkommene Handwerk früher befeitigt. Wo die alten 
Zunftoorfchriften beibehalten oder auch nur vermittelnde 
Gewerbegejege erlaſſen wurden, da Hatte der Groß—⸗ 
betrieb, das Magazinſyſtem, da hatte alles Neue doch 
mit mancherlei Schwierigfeiten zu kämpfen; da erhielten 
fich die bejtehenden Gewohnheiten des Verkehrs und 
Geſchäftslebens mehr im alten Geleiſe. War man 
zu engberzig, jo beichränfte das wohl wieder die Zahlen 
der Hanpwerfer, aber abgejehen hiervon erhielt eine 
gemäßigte Zunftverfaifung entjchieven eine größere Zahl 
fleiner Geichäfte. Das ift wehl die Urfache, auf die es 
neben andern zurüdzuführen ift, daß die entwideltern 
altpreußifchen Provinzen hinter fonft ähnlichen Gegenden 
in der Zahl der Handwerker zurückſtehen; Die Provinz 
Sachen hat 7,,, das Königreich 8,,, Thüringen 8,,; 9, ; 
Schlefien hat 5,, und Hannover 6,,°/,, die Rheinprovinz 
bat 6,,%,, die Rheinſtaaten haben 7,,°% Handwerker. 
Man fieht daraus wenigſtens, daß die beftehenden Hand⸗ 
werfe von einem eng egoiftiichen Standpunkte nicht ganz 
unrecht hatten mit ihrer Abneigung gegen Die Gewerbe- 
freiheit. Von einem höhern Standpunft aus wird man 
anders urtheilen, da wird man es nicht an fich als 


Der Einfluß der Gewerbegefehgebung 315 


ein Glück betrachten, wenn die Handwerker etwas zahl 
reicher, dafür aber um fo ungeſchickter und indolenter 
find und viele halbbeichäftigte Exiſtenzen in fich bergen. 
Da wird man, felbft wenn man die mit ber Gewerbe- 
freiheit und den Fortichritten der Technik fich ergebende 
ungleichere Qermögensvertbeilung, das theilweije Ver⸗ 
ſchwinden eines Mittelftandes tief beflagt, die ander- 
weitigen Fortſchritte immer dagegen balten. 

Mebrigens darf man den ganzen Einfluß der &e- 
werbegefetgebung nicht überichägen. Er beichränft fich, 
\o wie unfere deutſchen Geſetze alle waren und gehand- 
habt wurden, darauf, daß große durch andere Urfachen 
beruorgerufene Bewegungen etwas verlangfamt over 
etwas verftärft wurden. Auch die Rheinprovinz hat 
troß der längſt beftehenden Gewerbefreibeit noch immer 
en nicht unbedeutende Handwerk; das Königreich 
Sachſen bat troß der Zunftgefege und Realberechtigungen 
jeinen Uebergang zur Großinduftrie, da two er angezeigt 
war, vollzogen. | 

Alle bisher bejprochenen Urjachen treffen nicht in 
das Herz der Sache; theilweiſe ſelbſt nicht einfacher 
Natur, wirken fie. vollends unter fehr verjchievenen Ver⸗ 
hältniffen ſehr verſchieden. Mehr und weniger wird 
man freilich fo von den meiften Urjachen fozialer und 
volfiwirthfchaftlicher Dinge urtheilen müſſen, wein 
man genauer zufiebt. Aber Doch nur mehr oder 
weniger. Es gibt burchgreifendere Urfachen mit ein: 
fachern Wirkungen. Und eine folche, wie mir fcheint 
die wichtigfte in diefer ganzen Trage, babe ich noch 
hervorzuheben. 


316 Die Bertheilung dev Gewerbetreibenben. 


Ich erwähnte jchon, wie wichtig bie häuslichen 
Sitten, die Art der Familienwirthſchaft fe. Der 
Stammescharafter und die wirthichaftliche Gefchichte 
eines Volkes find die allgemeinen Urfachen, von denen 
biefe Sitten abhängen... Spezieller aber läßt fich 
behaupten, daß die Gefammtheit dieſer Verhältniſſe 
bauptjächlich wieder bedingt ift von ver Vermögens⸗ 
und Einfonmensvertheilung einerjeits, der VBertheilung 
ber Bevölferung in großen oder Heinen Städten, großen 
oder kleinen Dörfern anverfeite. | 

Die Kleingewerbe find da am ftärfiten, wo ver 
Heine Grundbeſitz und ver feine landwirthſchaftliche 
Betrieb vorwaltet, wo zahlreiche große Dörfer ftatt der 
anjehnlichen Nittergüter mit wenigen Tagelöhnerhütten 
find, wo viele Heinere und mittlere Städte ftatt weniger 
ganz großer Städte neben einem wenig bevölferten platten 
Lande exijtiren. Ich glaube Lorenz Stein pricht es 
einmal aus, — „vie Vertheilung des Grundbefites 
gibt der ganzen Volfswirthichaft ihre Signatur.” Das 
zeigt fich gerade bier ſehr deutlich. 

Wo der Feine Beſitz vorberricht, da fteht ſich Arm 
und Reich anders gegenüber, da bilden fich Anſchauungen 
und Sitten durch alle Schichten der Geſellſchaft hin- 
Durch, welche die Gegenfäße nicht jo hervortreten laſſen. 
Selbft die höheren Klaffen ver Gefellfchaft, der Adel, 
die hohen Beamten, die Offiziere ftehen in folchen Rändern 
mit ihren Gewohnheiten, Anſchauungen und Bebürf- 
nifjen nicht fo über der Maſſe des Mittelſtandes. Die 
maßgebenden Perſonen in der Regierung wie in den 


politifchen Parteien ftehen dem Heinen Mittelftande 


Wohnfite und Grunbbefitzvertheilung. 317 


näher. Der Wohlhabende lebt in Süddeutſchland ein- 
facher, der Aermere beſſer als in Norddeutſchland. Es 
wiegt mehr ein mittleres Niveau von Bedürfniſſen und 
Lebensanſchauungen vor. Und die Art der Bedürfniſſe, 
die Art der Konſumtion beftimmt, ob größere oder 
ffeineve Gefchäfte, ob der Hanpwerfermeifter over das 
Magazin fie befriedigen. Das Land der. Eleinen Leute, 
des vorwiegenden Mitteljtandes gibt auch der kleinen 
Induftrie noch mehr Beichäftigung. | 

Wo der bäuerliche Mittelftand fehlt, fehlt ver 
übrige Meittelftand Teicht auch. Da find feine Heinen 
Städte und BVerfehrsmittelpunfte, da wird heute nur 
noch im Großmagazin ber Hauptſtadt — oder vom Hau- 
firer gefauft. Und das iſt die weſentlichſte Urſache, 
warum die djtlichen preußifchen Provinzen auf die gleiche 
Devölferung nie Die gleiche Zahl Handwerker wie in 
Sid- und Mitteldeutſchland befommen hätten, auch wenn 
die Zechnif, Die Arbeitstheilung dieſelbe geblieben wäre, 
auch wenn der neue Verkehr nicht Alles geändert hätte. 
Das ift die wejentlichite Urfache, warum fieefie jest noch 
weniger bekommen werben, warum fie, wie wir beim 
Regierungsbezirk Polen jahen, feit 1846 einen folchen 
Stillſtand ihrer Handwerkerzahl zeigen. 

Nur mit ein paar ftatiftischen Zahlen will ich Diele 
Behauptung noch zu illuſtriren fuchen. ‘Die Durchſchnitts⸗ 
größe der einzelnen Grundbeſitzung ift nach Hausner 
in der Rheinprovinz, Württemberg, Baden, Naffau, 
Hefiendarmftadt 3 — 5,, Heftaren; in den Königreichen 
Sachſen und Baiern, ſowie der Provinz Weftfalen ift der 
durchichnittliche Befig 6,— 7, Heltaren, in Preußiſch 








818 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


Sachſen 9,,, Hannover und Schlefien 11, , Branben- 
burg, Poſen, Preußen, Pommern 21—28,, Heltaren;' 
das ift, wenn man einige entgegengefeßt wirkende Ur- 
jachen wegdenkt, in der SHauptlache dieſelbe Rang— 
ordnung, welche fich nach dem Prozentantheil der Hand- 
werfer an der Bevölkerung ergiebt. 

Ueber die Größe der Dörfer in ven einzelnen 
preußifchen Provinzen fehlen mir neuere Zahlen. Ich 
muß daher auf einige ältere zurüdgreifen, welche theil- 
weile wielleicht nicht mehr ganz richtig, doch immer noch 
ein ungeführes Bild der Sache geben. Im Jahre 1849? 
hatten von 36588 ländlichen Gemeinden in Preußen 
8355 weniger al8 100, nur 5292 hatten über 500 
Seelen. In den Provinzen Preußen, Pojen und Pom— 
mern fommen 20--30, am Rhein 60— 70 Wob- 
nungen auf ein Dorf. Genauere Zahlen gibt Hart: 
haufen 1839. Nach ihm hatte ein Dorf durch— 
fchnittlich in den folgenden Negierungsbezirfen Ein: 
wohner: Königsberg 104, Danzig 108, Marienmwerver 
. © 


1) Bergleihende Statiftif von Europa, Lemberg 1865, 
II, 211. Die Zahlen von Hausner flimmen mit Biebahn’s 
(II, 563) preuß. Zahlen vollfländig, den Heltar zu 4 preuß. 
Morgen gerechnet. 
- ,2) Kries, Betrachtungen über Armenpflege und Heimath- 
recht, Zeitſchrift für die gefammte Staatswiſſenſchaft IX, 22. 
Die Zahlen find theils den Regierungsmotiven der Damals vor- 
gelegten Gemeinbeorbnung, theils ber offiziellen Statiftil ent- 
nommen. 

3) Die ländliche Serfafung in OR und Befpreußen 
Königsberg 1839. ©. 66. 


Die Größe der Dörfer und Städte. 319 


94, Polen 134, Bromberg 196, Köslin 227, Stettin 
293, Stralfund 262, Potsdam 321, Franffurt 309, 
iegnig 323, Oppeln 330, Magdeburg 351, Mertje- 
burg 243, Erfurt 442. In Württemberg dagegen 
bat ein Dorf nach Hausner ! gegenwärtig 857, in 
Hannover 209 Einwohner. Es iſt Far, von wel- 
her Bedeutung das für das Fleine Handwerk ift; 
ebenſo wie das Vorkommen vieler Kleiner Städte, 
bie nachgewiejenermaßen den größten Handwerkerſtand 
haben. Es kam, wieder nach Hausner, ? in Württem- 
berg ſchon auf eine DMeile eine Stadt (incl. ver 
Marktfleden), in Nafjau eine auf 1,,,, in Heffendarm- 
ftadt auf 1,,, in Zhüringen auf 1,,, in Baden und 
Sachſen auf 1,,, in Heſſen-Kaſſel auf 1,,, in Baiern 
uf 2,55, in ganz Preußen auf 3,,, in Hannover auf 
3, D Meilen. Je größer die Zahl ver Städte, Defto 
Heiner find fie. Die Reihenfolge entipricht wieder un⸗ 
gefähr dem prozentualen Vorkommen des Handwerks. 

Im Anſchluß hieran möchte ich noch auf zwei 
Punkte aufmerkjam machen, die in gewiſſem Sinne nur 
eine Wiederholung des eben Gefagten enthalten, da⸗ 
neben aber doc, auch jelbftändige Geſichtspunkte zur 
Erflärung beibringen. 


Von der Art des Familienleben , der Vertheilung 
des Grundbeſitzes, der Art der menfchlichen Wohnftätten 
(freilich auch won manchem Andern), ift Das bedingt, 


— 





1) I, 102. 
2) I, 190. 





320 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 


was man im Allgemeinen ven Volkscharakter nennt. 
Jeder deutſche Stamnt hat feine Cigenthümlichkeit; ver 
höfliche emfige Sachje, der bejcheidene gutmüthige Thü— 
ringer, der leichtlebige Rheinländer, der derbe Baier, 
jever hat feinen eigenen Charakter, bat Züge, bie das 
ganze wirthichaftliche Leben der Provinz, der Gegend 
influiren, die bejonders won Einfluß find auf die Art, 
wie man die nächjtliegenden täglichen Bedürfniſſe befrie- 
digt. Viel größere Unterjchieve aber al8 Die eben ermähn- 
ten bietet ganz Weſt- und Mittel-Deutfchland mit 
feiner rein deutichen Bevölkerung einerſeits und ver Oſten 
mit feinen ſlaviſchen, emigrirt-franzöfifchen, auch ftär- 
feren jüdischen Beimifchungen andererſeits. Schon im 
Mittelalter war der Handiverfer in den ehemals ſlaviſchen 
Ländern ein Deuticher. Zu einen gefunden ftäbtiichen 
Mitteljtande haben e8 die mehr ſlaviſchen, die polnifchen 
Gegenden nie recht bringen fünnen. Ob e8 mehr der 
Verlauf der polnifchen Gejchichte mit fich gebracht Haben 
mag oder der urjprünglicde Stammescharafter, die 
großen Dörfer und die Städte find germanijcher Ab- 
funft. In den feinen Städten der Provinz Poſen da 
bilden den wichtigsten Theil des Mitteljtandes die Juden. 
Der Iſraelit beginnt mit dem Schnapsladen, er gebt 
dann zu einem Materialladen, zum Handel mit Landes⸗ 
probuften und mit allem Möglichen über, und wenn er 
reich geworben ift, zieht er nach Pojen oder gar nad) 
Berlin. Der dortige Mittelftand überhaupt neigt mehr 
zum Handel, als zum Handwerk. Es iſt charakteriftijch, 
daß der deutſche Tagelöhner auf ven großen Gütern 
ver Mark und Pommerns im Winter am Webftuhl 


Der Volkscharalter und bie Verwaltung. 321 


fist, alfe mögliche Handwerksarbeit lernt und verrichtet, 
während dazu ver ſlaviſche Tagelöhner in Pofen nicht 
zu brauchen if. Aus einem jolchen Arbeiterftand geben 
feine Handwerker in Dorf und Stadt hervor. 

Der andere Punkt, den ich noch hervorheben möchte, 
ift folgender. In ven Ländern des Kleinbeſitzes, der 
gleichen Vermögensvertheilung, die freilich zugleich Klein⸗ 
ftaaten find, bat fih in Zuſammenhang mit den bor- 
tigen fozialen Sitten und Anſchauungen nicht Die Geſetz⸗ 
gebung, aber die Verwaltung dem Handwerke gegenüber 
anders gejtellt als in Preußen. 

Man wird nicht behaupten können, daß man in 
Preußen an fich weniger thue oder gethan babe fir In- 
buftrie und Verkehr; im Gegentheile, aber das wird 
man fagen dürfen, daß das, was geichieht, ar eine 
andere Adreſſe geht. Im den größern Verhältniſſen 
macht ſich das Bedürfniß ver Heinen Leute weniger 
geltend. Große Fabrifanten und Unternehmer, große 
Ingenieure und Spekulanten mit ihren jpezifiichen In⸗ 
tereifen stehen in Berlin mehr im Vordergrund als in 
den Regierungsſitzen ver Kleinftaaten, führen mehr das 
Wort in den öffentlichen Verſammlungen, in ven Ge— 
werbefammern, im Parfnment, in ber Preffe. Großes 
bat Preußen im gewerblichen Bildungsweſen geleiftet ; das 
Gewerbeinftitut und die Bauafademie find Zeuge dafür; 
Staatstechnifer, die in Privatvienfte übertraten, haben 
die großen Privatbergwerfe und - Hüttenwerfe twefent- 
lich gehoben; die Seehandlung, die Bank haben taujend- 
fach da und dort eingegriffen, geholfen, Kredit gegeben ; 
Staatsgarantien baben dem Eifenbahnbau Schwung ver- 

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 21 


322 Die Bertbeilung der Gewerbetreibenden. 


lieben. Alle viele Beitrebungen kommen indirekt dem 
Ganzen, direft und zunächit aber der großen Induſtrie, 
dem großen Kapital zu Gute. 

Was für die Meine Inbuftrie geſchehen ift, ift unbe- 
deutend; ! die wenigen Provinzialgewerbeichulen erftreden 
ihre Wirkung nur auf die Elite des höhern Hand- 
werferitandes; der Zeichenunterricht, das niedere gewerb⸗ 
liche Schulweſen Tiegt bis in Die neuere Zeit mit weni- 
gen Ausnahmen ganz darnieder, ift nur an denjenigen 
Orten entwidelt, wo Privat, Handwerkerbildungs⸗ und 
Gemwerbevereine die Sache in die Hand nahmen. 

Dean blide dem gegenüber auf Das gewerbliche 
Bildungswelen Süddeutſchlands, auf Das, was man 
dort für die Kleingewerbe überhaupt thut. Ich will 
von der Thätigfeit Badens und Baierns nach dieſer 
Richtung nicht weiter fprechen. Von Baiern wäre haupt⸗ 
ſachlich der wohlthätige Einfluß der ausgezeichneten 
Nürnberger Runftgewerbeichule zu erwähnen. Nur an 
die mir am meiften befannte Thätigfeit der württem- 
bergifchen Zentraljtelle für Handel und Gewerbe 2 will 


1) Schwabe, die Förderung der Kunftinduftrie in England, 
Berlin 1866 , gibt einen Weberblid über die deutſchen Beſtrebungen 
nach dieſer Richtung und fpricht ſich ganz in gleihem Sinne 
aus S. 188 — 191. 

2) Siehe: Steinbeis, die Elemente der Gewerbebeför- 
derung, nachgewieſen an ber belgifchen Induſtrie. 1851. 
Mirus, Über Gemwerbebeförberung und Gewerbsthätigleit im 
Königreih Württemberg. Leipzig 1861. Württembergiſche Han⸗ 
delsfammerberichte filr 1864, Anhang. Dora, Pflege und För- 
derung bes gewerblichen Fortſchritts durch bie Regierung in 
Württemberg. Wien 1868. 


Die Förberung der Kleingewerbe in Württemberg. 323 


ich erinnern. Ste hat unter ihrem tüchtigen ‘Direktor 
Steinbeis jich worzugsweile bemüht, in vie Kreife Des 
eigentlichen Hanbwerfs Anregung und Törberung zu 
bringen. Sie bat neue lohnendere Induſtriezweige ein- 
geführt, Die beftehenden Hausinduftrien auf die Tunft- 
volferen Branchen, die dem Handwerk bleiben, überge- 
leitet, fie bat tüchtige Gewerbetreibende im Auslande 
lernen laſſen, fremde Gewerbetreibende zur Einführung 
und Hebung einzelner Gewerbe ins Land gezogen. Sie 
hat einen dauerden Fonds zu Reifeunterftügungen für 
Heine Gewerbetreibende. Sie bat in jeder Weile ben 
Abſatz nach Außen zu fördern geſucht; fie bat in dem ſtutt⸗ 
garter Meufterlager dem Heinen Manne, ber nicht reifen 
kann, Gelegenheit gejchafft, alles Neue, Muſter, Ma- 
ihinen und Werkzeuge zu ſehen; fie überläßt zeitweife neue 
Maſchinen den Einzelnen zur Probe. Zwei Webjchulen 
und verfchievene Lehrwerkjtätten für Weber hat fie in’s 
Leben gerufen, fie zahlt Prämien für Anfchaffung neuer 
muſterhafter Webſtühle. In hunderte von Werkſtätten 
famen fo im Laufe weniger Jahre verbeſſerte Werkzeuge 
und Methoden. Auch Titerariich fucht fie zu wirken 
durch das billige tüchtig redigirte Gewerbeblatt, durch 
Verbreitung leicht verftändlicher technischer Schriften. 
Das wichtigfte aber ift das gefammte gewerbliche 
Fortbildungsweſen, das die Lehrlinge und Gefellen all- 
abenplich und des Sonntags wieder zur Schule ver- 
ſammelt. Die Anregung ging auch von ver Zentral- 
ftelle aus, die Gemeinden wirkten mit, indem fie 
einen Theil der Koften übernahmen. Beſonders ber 
ertbeilte Zeichen- und Modellirunterricht, ver in den 
21 * 


324 Die Vertheilung ver Gewerbetreibenben. 


größern Schulen, wie in Stuttgart, getrennt für einzelne 
Gewerbe, wie für Bauhandwerker, Schreiner, Schlofler, 
Sattler ertbeilt wird, bat jchon unendlichen Segen 
geftiftet. Mag der Unterricht einzelner norddeutſcher 
Mufteranftalten, wie der des Berliner Handwerkervereins, 
diefen Schulen kühn an die Seite treten, mögen Da, wo 
Solche freiwillige Schulen fich dauernd erhalten haben, bie 
felben noch größern Segen ftiften, wie jede rein auf 
Selbithülfe bafirte Einrichtung einen größern Werth hat, 
— für alle Heinern Verhältniſſe reichen die freiwilligen 
Lehrer, reichen zufällige Privatmittel und Anregungen 
nicht aus. ! Der Unterricht bloßer Privatvereine ift zu 
oft fchlecht, ungenügend, geht zu häufig wieder ganz 
ein. Eine fyftematifche Ordnung durch den Staat, ein 
fuftematifches Heranziehen der Gemeinden iſt nothwendig, 
um Beitand und Erfolg in dieſes gewerbliche Fortbil- 
dungsweſen zu bringen, um es allgemeiner zu verbreiten. 

Der große Vorzug der württembergifchen Schulen ift 
eben ihre große Verbreitung. Von den 101 im Sabre 
1864 fchon beftehenvden gewerblichen Fortbildungsjchulen 


1) Es fol damit das geſammte norddeutſche Hand⸗ 
werker⸗ und Arbeiterbildungsvereinswejen fein Vorwurf treffen. 
Es bat daſſelbe feine volle Berechtigung; es Bat viel geleiftet, 
aber e8 reicht für ben gewerblichen und Fünftleriichen Unterricht 
nicht aus. Vergleiche Über dieſe Vereine den Arbeiterfreund 
1866: Die Handwerler-, Arbeiter» und ähnlichen Bereine in 
Preußen, bearbeitet von Hermann Brämer, S.48 ff, S. 222 fi. 
und S. 293 ff.; daneben in bemf. Jahrg. S. 338: Kletke, über 
die wiſſenſchaftliche Erziehung unferer Handwerler. Kerner über 
diefen Punkt: Dr. Schwabe, Staatshllfe und Selbſthülfe auf 
dem Gebiete der Kunftinbuftrie. Berlin 1868. 


Das gewerbliche Bildungsweſen. 325 


find 86 in Orten von weniger als 6000 Einwohnern; 
die Schulfrequenz ift eine außerorventliche. 

Es bezeichnet ven Gegenſatz zum Norden, daß man 
jet endlich in Preußen anfängt, von Seiten des Kultus- 
minifteriums die großen Städte von gegen 50000 Ein- 
wohnern aufzuforbern, ähnliche Zeichenfchulen zu errichten, 
daß der "Staat fich bereit erflärt, für dieſen Fall einen 
Beitrag zu geben, daß das neu gegründete Berliner 
Gemwerbemujeum baran denkt, nach Art des engliichen 
Kensington - Mujeums feine Wirkſamkeit auch anfer- 
halb Berlins auszudehnen. 

Es iſt dieſer Unterricht mit der wichtigſte Faktor, 
das kleine Handwerk zu erhalten, es produktionsfähig 
für den weiteren Abſatz zu machen, ihm Bildung, Kennt⸗ 
niffe, Unternehmungsgeift zu geben. ‘Denn die Heinen 
Geſchäfte erhalten fich für direkten Abjag oder als Haus- 
induftrie organifirt in allen den Branchen, in welchen 
die perfönliche Arbeitskraft und Geſchicklichkeit, der künſt⸗ 
lerifche Geſchmack im Vorvergrund ſteht, ohne daß Doch 
eine Maſſenproduktion möglich wäre, welche fich des vom 
großen Fabrikanten beſoldeten Künſtlers bedienen könnte. 
Das Tiſchler⸗, das Drechsler⸗, das Klempner⸗, das Stein⸗ 
hauer⸗, Maurer⸗- und Zimmergewerbe und noch viele 
Andere haben als Kleingewerbe einen ganz andern Boden, 
wo ein tüchtiger gewerblicher Unterricht exiſtirt. 

Das gewerbliche Bildungsweſen tft vielleicht noch 
wichtiger als Das ganze Aſſoziationsweſen; blühende Ge⸗ 
noſſenſchaften nüßen Doch zunächjt nur Einzelnen; das 
gewerbliche Bildungsweſen wendet ſich an Alle, 


— — — — 


3. Das Verhältnik der Sehülfen zu den Meiftern 
im Allgemeinen. 


Die Stellung bes Lehrlinge und des Gefellen in alter Zeit; 
Mißſtände ſchon damals. Die Gehülfenzahl im vorigen Jahr- 
hundert. Die Zahl der preußiichen Gehülfen von 1816 43. 
Die Aufnahmen von 1846— 61, das Gleichgewicht der 
Meifter- und Gehlilfenzahl 1861. Der Fortſchritt, der in 
ber fteigenden Gehülfenzahl liegt; daneben bie immer geringere 
Ausfiht für alle, ſelbſt Meeifter zu werben. Die Urjachen, 
warum bie Zunahme ber Gehülfenzahl leicht die Bevölkerungs⸗ 
zuuahme überfteigt, nicht im Verhälmiß mit dem wirklichen 
dauernden Bedürfniß der Volkswirthſchaft ſteht. Die Auf 
löſung der alten Handwerkszuftände. Der Uebergang älterer 
Gefellen zu anderen Berufen und die Auswanberung. Die 
Nothwendigkeit eines verbeiratheten Gefellenftandes. Die Mif- 
fände und Schwierigkeiten, welche aus dem Uebergang biezu 
entfliehen. Die Bernichtung der alten Rangordnung im Hanb- 
wert; die Nothwendigkeit ber verfchiedenften Arbeitskräfte 
nebeneinander. Die Stellung des Lehrlinge in Folge ber 
wegfallenden Prüfung und der ganz anderen Einrichtung ber 
heutigen Gefchäfte. 


In dem Verhältniß bes Meifters und der Meifters- 
familie zu dem Gefellen und Lehrlinge Tiegt eigentlich 
der halb poetiſche Halb patriarchaliihe Duft, ver 
heute noch auf dem Handwerk der alten Zeit, wie eine 


Der Lehrling und Gefelle in alter Zeit. 327 


ſchöne Erinnerung, liegt. Und es ift wahr. Im dem 
Berbande der verſchiedenen wirthichaftlichen Kräfte nicht 
bloß zu Einer Arbeit, ſondern auch zu Einem Familien- 
leben lag eine große fittigende Kraft. ‘Der Lehrling 
wurde wicht bloß technisch unterrichtet, er wurde durch 
Anweifung und Vorbild zu Fleiß und Ehrbarteit vom 
Meifter erzogen, zu Sparlamfeit, Ordnung und Rein- 
Tichfeit vom ſorgenden Auge der Meifterin angehalten. 
Der Gejelle, der in der Werkſtatt des Meifters arbeitete, 
an feinem Tiſche aß und unter feinem ‘Dache jchlief, 
war in einen für feine Jahre engen Kreis gebannt, er 
opferte jeine beiten Jahre der Hoffnung, fpäter jelbft 
Meifter zu werden; aber in biefem engen Kreife um- 
ſchloß ihn zugleich eine heilfame bürgerliche Zucht und 
Sittenftrenge; eine Reihe finniger Gebräuche und Zere- 
monien glieverten feinen Lebensgang, der in feſte Sta- 
tionen gebannt war, aber auch ein ficheres Ziel vor 
fih hatte, eine fchöne einheitliche Ordnung darftellte. 
Die fozinle Gleichheit von Arbeitgeber und Arbeiter, Die 
Berbindung von Arbeit und Erziehung, von technischer 
und menfchlicher Erziehung, das waren die großen Bor: 
züge jener ältern Gewerbeverfaſſung. | 
Freilich bafteten ihr auch zu ihrer Blüthezeit, auch 
jo lange noch nicht die finnigen Bräuche in ein bem 
graſſeſten Egoismus dienendes ſchwerfälliges Zeremoniell 
ausgeartet waren, nicht unbedeutende Mißſtände an. 
Das Ideal war niemals ein dauernd baltbares. Wo 
Die Beodlferung wächlt, wo das Handwerk Hlüht, da 
wählt die Lehrlings⸗ und Gefellenzahl, der überſchüſſige 
Nachwuchs der Bevölkerung drängt fich beſonders gerne 


328 Die Vertheilung der Gewerbetreibenden. 


in dieſe Bahnen; das blühende Handwerk ſelbſt braucht eine 
größere Gebülfenzahl. Aber für dieſe ſteigende Gehülfen- 
zahl wird die Zahl ver Meijterjtellen bald zu Hein. 
Die alte Ordnung läßt fich nicht oder nur gewaltſam 
aufrecht erhalten. Die zunehmende Bevölkerung zer 
iprengt bier, wie in andern Verhältniffen, immer wie- 
der die beſtehenden volfswirthichaftlichen Formen. 

Die deutſche Zunftverfaffung Half fich in ihrer 
jpätern Zeit damit, fowohl die Lehrlings⸗ als Die &e- 
jellenzabl zu beichränfen ! und Das Meeifterwerden immer 
mehr zu erſchweren. Das batte wieder die Kebrjeite, 
daß in diefer fpätern Epoche der Gefellenftand als folcher 
fih zufammenjchloß gegen die Meifter, in ſyſtematiſche 
Dppofition und Feindfchaft zu dem Meifterftanpe fam.? 

In Sranfreich drängte die frühere induftrielle Ent- 
wicelung auch früher zu einem Verlaſſen ver alten 
Tormen. Auf dem Höhepunkt der mittclalterlichen 
Entwidelung im 13. Iahrhundert lebte in den gräßern 
Städten wohl der Lehrling aber nicht der Geſelle im 
Haufe des Meifters; die Zahl ver zu haltenden 
Lehrlinge war beichräntt, Die Zahl ver Geſellen unbe- 
ſchränkt; vielfach waren bie Geſellen verheivathet und 
ließen ihre Frauen mit arbeiten.® Später, im 14ten 


1) Schönberg, zur wirtbichaftlichen Bedeutung bes deut⸗ 
hen Zunftwejens im Mittelalter. Hildebrand's Sahrbücher IX, 
©. 105. 

2) ©. Wadernagel, Werkftattfehden in alter Zeit, in ber 
Vierteljahrsſchrift für Volkswirthſchaft XX, ©. 81 — 92. 

3) Siehe bie Beweiſe Levasseur, histoire des classes 
ouvrieres en France. Paris 1859. I, 235, 236, 238. 


mr 0. 


Die alten Mißſtände ber Zunftverfuffung. 329 


und 15ten Jahrhundert waren bie Gefellen damit nicht - 
mehr zufrieden. Das erichwerte Meifterwerden führte 
noch viel mehr als in Deutichland zu einer ſelbſtändigen 
gegen die Meifter gerichten Organijation, zu beftigen 
Kämpfen und Mißbräuchen aller Art.’ 


Bon der Zeit der ſtehenden Heere an beruhte die 
Erhaltung der Zunftverfaſſung mit darauf, daß der große 
Ueberſchuß alternder Geſellen, die nicht Meiſter werden 
konnten, ſich anwerben ließ. “Die ſtehenden Soldheere 
bes 17 ten und 18 ten Jahrhunderts beſtanden hauptſäch⸗ 
lich aus früheren Handwerksgeſellen.“ Erſt mit ber 
Konſtription und noch mehr mit der allgemeinen Wehr⸗ 
pflicht hörte das auf. 

In wie weit freilich das vorige Jahrhundert dieſes 
Abfluſſes noch bedurfte, um die Zunftverfaſſung in 
alter Weiſe zu erhalten, darüber ließe ſich ſtreiten. In 
der Hauptſache lagen jetzt die Dinge wieder total anders, 
als zur Blüthezeit der mittelalterlichen Gewerbe. Das 
Handwerk befand ſich mit wenigen Ausnahmen ja auf 
ſo tiefem Standpunkt, daß es zahlreiche Lehrlinge und 
Geſellen gar nicht beſchäftigte. Die ſtatiſtiſchen Zahlen 
ſind in dieſer Beziehung geradezu erſchreckend. Sie 
zeigen, wie wenig die Meiſter zu thun hatten, wie viel⸗ 
fach fie ſelbſt nebenher auf Tagelohn geben mußten, 
um nur das ganze Jahr beichäftigt zu fein. Die Zahl 
der Meijterftellen war feit langeher troß der Zunftver⸗ 


1) Levasseur I, 496 — 516. 
2) 3. ©. Hoffmann, Nachlaß Heiner Schriften &. 402. 


330 Die Vertheilung der Gewerbetreibenden. 


faffung zu groß, die der Lehrlinge und Gefellen war zu 
Hein für einen halbwegs blühenden Geſchäftszuſtand. 

Nach den im erften Abjchnitt angeführten Hand: 
werkerzahlen kamen 1783 in ver Nievergrafichaft Katzen⸗ 
elinbogen auf 100 Meifter vurchichnittlich 5,,, Gehülfen; 
1784 auf 100 Meijter im Herzogthum Magdeburg 
15,9, Gebülfen, ungefähr zur felben Zeit im Fürften- 
thum Würzburg 15,5, Gehülfen; d. h. von 100 Meiftern 
batten 95 reſp. 85 gar feine Gebülfen, weder Gefellen 
noch Lehrlinge. Da ergab es fich aus den Verhältniſſen 
von jelbft, daß der Gejelle nicht verheiratbet war. Und 
wenn Die Handwerksgewohnheit e8 erichwerte, fo war 
fie nicht im Widerfpruh mit den thatjächlichen Be- 
bürfniffen. ! 

In Preußen mag die Zahl der Gehülfen ſchon 
1795 — 1803, der Zeit der Krug'ſchen Aufnahmen, 
ziemlich höher gewejen fein. Für einzelne Provinzen 
führt Krug? fogar eine fehr Hohe Zahl von Gefellen 
und Lehrlingen an, 3. B. für Schleften 60 860, während 
1861 erſt 102679 Geſellen und Lehrlinge gezählt 
werden. Die Krug'ſche Zahl faßt ohne Zweifel alle 
Spinner = und Webergehülfen mit in ſich, von welchen 1861 
nur die erftern in der Handwerkertabelle ftehen. Ein all- 
gemeiner Schluß läßt fich jedenfall aus den unvollitän- 


1) Siehe Maſcher, S. 404. Abi. 42. Das NReichsgefeh v. 
16. Aug. 1731, das bie wejentlichften Mißbräuche abichaffen 
will, jpricht fi Übrigens Art. XII. Abſ. 6 auch Dagegen aus, 
daß man an einzelnen Orten verheirathete Geſellen nicht mehr 
zum Meifterwerden zulaffen wolle. 
2) I, S. 205. 











Die Zahl der Gehülfen in Preußen 1783—1843. 381 


digen Angaben vor Krug nicht ziehen. Wohl aber geftattet 
Einzelnes eine Vergleichung. Cr führt z. B. für Das 
Herzogthum Magveburg 1802 - 3135 Geſellen an; 
1784 waren es nach den vorhin erwähnten Angaben 
2297 Gefellen gewejen; aljo immerhin eine Zunahme, 
aber keine große für die Zahl von etwa 27000 Meiftern. 

Feftern Boden für die Unterfuchung befommen wir 
von 1816 ab durch die Zahlen der preußiichen Gewerbe⸗ 
ftatiftif. Ich lege dabei die von mir im erſten Abfchnitte 
berechneten Hauptzahlen zu Grunde, wobei freilich nicht 
zu vergeffen ift, daß zunächſt mur die Aufnahmen von 
1816 — 43 unter fich vergleichbar find, und daß in 
biefem Zeitraum die Gehülfenzahl gleichmäßig etwas zu 
niedrig erfcheint, weil bei einigen Gewerben die Gehül⸗ 
fen nicht mit aufgenommen wurden. Die Berechmung 
ftellt fich nun dahin, daß auf 100 Meifter im Durch 
ſchnitt der gefammten gezählten Handwerke in Preußen 
famen: 


1816 . . . 56, Gefellen und Lehrlinge 
1819 000. 5l,ss ® * s 
1822 0.000 54,08 * ⸗ ⸗ 
1825 59,80 ® s ® 
1828 . . 56,14 ⸗ * ⸗ 
1831... Bin “oe . 
1834 . . 60,48 ” s a 
1887 . . 65,88 ⸗ ⸗ ⸗ 
1840 70,78 ⸗ s ® 
1843 76 18 ⸗ ⸗ s 


Wir haben es, wie ich darauf fchon bei Beiprechung 
der Grundzahlen aufmerkſam machte, mit zwei ziemlich 
verichiedenen Perioden zu thun; 1816 — 31 eine Zeit der 


332 Die Bertbeilung ber Gewerbetreibenben. 


Stabilität; theilweife gedrückte, theilweiſe erſt langſam 
ſich beſſernde Zuſtände; ſpäter eine Zeit des Fortſchritts, 
der Blüthe. In der erſten Periode beträgt die Gehülfen⸗ 
zahl mit nicht allzugroßen Schwankungen etwas über 
die Hälfte der Meiſterzahl. Es iſt das Verhältniß, 
wobei jeder Gehülfe noch ſichere Ausſicht hat, bald 
ſelbſt Meiſter zu werden, eine Ausſicht, die durch die 
Gewerbefreiheit noch erhöht wurde. Jedem war ja jetzt 
geſtattet, ſelbſt ein Geſchäft anzufangen. Und vie tech 
niſchen Anforderungen waren noch ſo gering, daß die 
kleinen Geſchäfte wohl noch beſtehen konnten. 

Der Wechſel der Gehülfenzahl unter ſich in den 
Jahren 1816 — 31 iſt darnach auch ſehr begreiflich. 
Mehren ſich die Beſtellungen, die Geſchäfte etwas, ſo 
nehmen die Meiſter zunächſt etwas mehr Lehrlinge an, 
die bald zu Geſellen werden. Dauert das nur einige 
Zeit, das Meiſterwerden iſt aber nach den Erforder⸗ 
niſſen, die an den Kapitalbeſitz, an die techniſche Fertig⸗ 
keit der Betreffenden vom Publikum geſtellt werden, 
noch leicht, ſo wird der Wunſch aller ältern Geſellen, 
ſelbſtändig zu werden, ſich geltend machen. Dadurch 
muß bei der nächſten Aufnahme die Meiſterzahl wieder 
etwas höher, die Gehülfenzahl wieder etwas niedriger 
ſich ſtellen, wenn nicht unterdeſſen die Geſammtnachfrage 
ſo geſtiegen iſt, daß die vom Geſellen zum Meiſter 
Uebergehenden ſchon wieder mehr als erſetzt ſind durch 
Neueintretende. So, glaube ich, Haben wir ben zwei⸗ 
maligen Anlauf zu einer etwas ftärferen Gehülfenzahl 
1816 und 1825 zu erflären, ber beivesmal wieder 

einem Rückgang Platz macht. 


Der Wechſel in der Gehülfenzahl 1816 — 43. 833 


Bon 1834 an tritt dieſer Rückgang zunächſt nicht 
mehr ein. Die Meifter fteigen langſam und gleich 
mäßig, viel ftärker aber die Gebülfen. Sie, die 1828 
noch 56 9), der Meilter ausgemacht, machen 1843 jchon 
76 %, aus. Im den guten Jahren 1833 — 40 batten 
bie Meifter den fteigenden Bebürfniffen dadurch genügt, 
baß fie eine größere Zahl Lehrlinge angenommen und 
biefelben fpäter als Geſellen beichäftigt hatten. Das 
ergab blühende Zuftände, gute Gejchäfte für die Meifter, 
fo lange die neu dem Gewerbe Zutretenvden jung waren, 
noch nicht felbft Meiſter werden wollten. 

Als aber gegen 1840 — 43 die zahlreich feit 1828 
Eingetretenen älter wurden, das dreißigite Lebensjahr meift 
binter fich Hatten, da begann Die kritiſche Zeit; entweder 
mußte der Stand der Meifter die großen Weberichüffe 
aufnehmen, oder man mußte zu einem Shitem verhei⸗ 
ratheter Gefellen übergehen, ober e8 mußten Handwerks⸗ 
gejellen in größerer Zahl in Fabriken eintreten, zu an⸗ 
dern Berufsarten übergehen. 

Die Mehrzahl ver Gefellen war in den Städten, 
hatte bisher da gearbeitet; fie verjuchten eigene Gefchäfte 
anzufangen; e8 wurde immer jchivieriger, e8 war bei der 
Umbildung der Technik immer mehr Kapital dazu nöthig. 
Diele Bankerotte folcher Anfänger und Klagen, daß 
das Handwerk überjegt fei, mußten nun nebeneinander vor⸗ 
kommen. Theilweiſe alſerdings trat nun die Ueberſiedlung 
aͤlterer Geſellen auf das Land, nach kleinern Städten 
ein. Aber immer fällt dem Geſellen, der in der Stadt 
gelebt, die Rückkehr in das ſtille Dorf der Heimath 
ſchwer. Jeder fängt nur da gerne ein jelbftänpiges 





334 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


Geſchäft an, wo er als Gefelle bekannt geworben ift, 
wo er fich eingelebt bat. 

Was mun die Zeit von 1846 an betrifft, jo find 
die Aufnahmen von 1846 ab etwas andere. Eine 
Derechnung von Dieterici, Die fih auf den Vergleich 
einer Anzahl Gewerbe nach dem Stande von 1822 md 
1846 bezieht, ergiebt zwar, daß die Ausdehnung ber 
Aufnahmen von 1846 auf einige weitere Kategorien 
von Gewerben das Verhältnig der Meifter zu der Ge⸗ 
bülfen nicht allzuſehr berührt. Aber das macht jeben- 
falls einen Unterjchied, der. die ganz direfte Vergleichung 
ausichließt, daß von da ab für alle Gewerbe die Ge 
jellen und Lehrlinge aufgenommen find. Wenn jonad 
a. auf 100 Meiſter 76 Gehülfen famen, 1846 aber 

, jo ift dieſe Zunahme in Wirlichkeit nicht ganz ſo 
* geweſen. 
| Das Umgekehrte gilt für den Vergleich von 1846 
und 1849. In letzterm Jahre find eine Reihe von Ge- 
werben Hinzugefommen, bie überwiegend mehr Meifter 
als Gehülfen haben; dadurch erjcheint das Verhältnik 
ver Gehülfen zu den Meiftern al8 ein zu gedrücktes. 

Nach der Totalaufnahme Tamen 1849 auf 100 
Meifter 76,006 Gehülfen; darnach hätten die Gchülfen 
von 1846 — 49 (auf je 100 Meiſter) von 84 auf 76 
abgenommen. Nach einer nur bie gleichen Kategorien 
umfafjenden Bergleichung Dieteric’8 ? Dagegen ſtellt ſich 
das Verhältnig jo; es Tommen 


1) Mittheilungen I, S.8—9. 
2) Mittheilungen V, 216. 


Die Krifis 1843— 55, Die Zunahme ber Gehülfen bis 1861. 835 


1846 . . . 84,0, Gebülfen 
1849... 80: 
auf 100 Meifter. Vier Gehülfen weniger auf 100 
Meifter deutet ſchon eine wejentliche Kriſis an. Er⸗ 
wägt man dabei, daß bie jchlimmfte Geſchäftsſtockung 
im Dezember 1849 bei den Aufnahmen jchon worüber 
war, daß der Rüdgang wohl ausſchließlich durch ent- 
laſſene Geſellen, nicht durch eine Minderzahl am Lehr⸗ 
lingen hervorgerufen war, daß einzelne Gewerbe, wie 
DB. die Nahrungsgewerbe 1849 ſogar mehr Geſellen 
batten, daß ver Rückgang hauptjächlich die Kunſt⸗, Bau -, 
Holz⸗ und Metallgewerbe traf, — dann erjcheint die 
oben näher beiprochene Krifis Har genug in diefen Zahlen. 
Wenn der Durchichnitt der Zotalaufnahme von 
1849 mit dem von 1846 nicht vergleichbar ift, jo it 
er e8 Doch mit den folgenden. Sch theile Daher zunächſt 
das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiftern von 1849 
an, nach den früher mitgetheilten Grundzahlen berechnet, 
mit. Es kamen auf 100 Meifter in ganz Preußen nach 
dem Durchichnitt der ganzen Handwerkertabelle: 
1849 . . . 76,06 Gehülfen, 
1852... 80 + 
1855... 82 
1858 5. . os 
1861 . . . 104 
Die Aenderung von 1849 — 52 zeigt nur, daß 
die früher fchon vorhandene Zahl Gehülfen wieder BVe- 
Ihäftigung findet. Abgefeben davon bleiben die Dinge 
ziemfich ftabil; auch von 1852 — 55 zeigt fich feine 
große Zımahme der Gehülfenzahl. Die ganze Zeit von 


% N N 





836 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 


1850 — 55 ijt eine für das Handwerk ftabile, gedrückte, 
und der Drud gebt Hauptjächlich hervor aus dem Ver⸗ 
hältniß der Zahl der Gehülfen zu dem der Meijter. 
Die Lage wird feine beſſere, weil man in der Hauptfache 
noch zu Feiner andern Organifation der Gejchäfte über: 
geht, weil die technijchen Fortichritte nicht Plat greifen; 
die Zahl der Gehülfen nimmt nicht mehr bedeutend zu, 
weil viele auswandern und in Fabriken eintreten, weil die 
allgemeine Noth unter den Meiftern doch manche jungen 
Leute von dem Erlernen eines Handwerks abſchreckt. 

Erft mit der Mitte der fünfziger Jahre wird das 
anders, Die technifche Bildung und der Verkehr fteigen; 
alle Verhältniffe werben andere. Auch im Handwerk 
vollzieht fih mehr und mehr die oben eingehender 
befprochene Revolution. Neue Kräfte ſtrömen zu, Lehr- 
linge find wieder gejucht. Das Verhältniß der Ge 
hülfen zu ben Meiftern, das lange 80: 100 gewejen 
war, gebt auf 104 :100 im Jahre 1861 empor. Auch 
wenn man die Maurer- und Zimmerflidarbeiter nicht 
zu den Gebülfen, fondern zu den Meiſtern vechnete, ift 
das Verhältniß 98,,, : 100. 

Unwiberleglich liegt in der großen Veränderung 
fett 1830 der Beweis, daß auch das Handwerk, wenig- 
jtens ein Theil veifelben, mehr und mehr zu etwas 
größern Betrieben übergeht. 

Ib will nun zunächſt abfichtlich davon abjehen, 
daß ber Landmeiſter wie der Meifter in Heinern Städten 
vielfach auch heute noch ohne Gejellen und Lehrlinge 
arbeitet, daß die Gehülfenzahl in einigen Gewerben viel 
größer ift als in andern, ich will auch das außer Acht 








Das Gleichgewicht der Meiſter⸗ und Gehäffenzahl. 337 


Infien, daß felbft in großen Städten häufig nur wenige 
Meifter eine größere Zahl, die andern gar feine Gehülfen 
baben, ich will zunächit nur Die allgemeine Frage noch 
etwas eingehender erörtern, welche Folgen fich aus der 
Zhatjache ergeben, daß die Gehülfenzahl die Meijter- 
zahl im Durchichnitt erreicht hat. 

Dft Hat man darauf aufmerkffam gemacht, daß in 
diefer Veränderung ein Bortichritt Tiege; man bat die 
fteigende Gehülfenzahl an fich als einen Beweis gefunder 
Handwerkszuſtände angeſehen.“ Man bat e8 als das 
ſoziale und wirthichaftliche Ideal Hingeitellt, daß jedes 
Gewerk ungefähr eben jo viele Lehrlinge und dreimal fo 
viele Geſellen als Meifter habe. Ich ſelbſt Habe mich 
früher faft unbebingt dahin ausgeiprochen, wenn ich 
jngte:? „Sowohl in ſozialer als in technifch ökonomiſcher 
Beziehung Tiegt in der fteigenden Gehülfenzahl ein unbe- 
vechenbarer Fortichritt. Die Veränderung, die wir vor 
ung haben, ift nicht eine Verminderung der ökonomiſch 
geſunden felbftändigen Handwerksmeiſter, jondern ein 
Wachsthum dieſer neben dem Verſchwinden der abjolut ' 
unjelbftändigen proletarierartigen Heinen Meiſter, welche 
ohne Sefellen und Lehrlinge nur ein kümmerliches Da⸗ 
fein friften, und an deren Stelle mehr und mehr folche 
Arbeiter treten, welche es vorziehen, ftatt mit geringen 
Mitteln ein eigenes Geſchäft zu eröffnen, bei Meijtern, 
welche fie ımunterbrochen beichäftigen, als Geſellen zu 
arbeiten. Nicht ein Verſchwinden des bürgerlichen 


1) Zeitſchrift d. fächl. ftat. Bureaus 1860. ©. 110. 
2) Württ. Jahrb. 1862. Heft 2. ©. 247. 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 22 


338 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


Mitteljtandes, wie man jchon gemeint bat, erkennen 
wir in dieſen Nefultaten, ſondern gerade die Bildung 
einer gefunden ökonomiſchen Mittelflaffe.‘ 

Sicher ift daran viel Richtiges. Es iſt beſonders 
in den größern Städten eine neue Art bürgerlichen 
Mittelftandes in den legten Sahrzehnten groß geworben, 
die über dem früheren Meifter ſtehend dem größern 
Unternehmer fich nähern, mehrere, ja viele Gejellen over 
Arbeiter beichäftigen, großentheils perſönlich durch Fleiß 
und Thatkraft fich auszeichnen, technifch alle Fortichritte 
der Neuzeit verfolgen. 

Wenn wir das aber einerfeit8 freudig begrüßen, 
wenn wir zugeben, daß dieſe Entwidelung eine in 
gewiffen Sinne nothwendige ift, jo Dürfen wir anderer- 
ſeits nicht vergeſſen, daß das eine Kehrjeite bat, welche 
wenigſtens zunächit für Die Gejellen und Lehrlinge 
traurig iſt. Es vermindert fich für fie die Möglichkeit, 
je jelbitändig zu. werben, immer mebr. Ich babe darauf 
ſchon Bingeveutet, ich muß dabei noch etwas verweilen. 

Es ift ein einfaches Rechenerempel, um das es ſich 
handelt, auf das I. ©. Hoffmann! zuerft aufmerk- 
fam machte. „Der einzelne Menſch“ — fagt er — 
„welcher vom 14. Jahre ab 16 Jahre Yang als Lehrling 
und Gejelle dient, will doch mit dem 30. Iahre endlich 
einen eigenen Hausitand anfangen, um nun 30 — 40 
Sabre lang als Meifter zu leben. Er ift alfo wenig 
jtend doppelt jo lange Meifter, al8 er vormals Gehülfe 
var, und e8 wird demnach nur Halb jo viel Gehülfen, 


1) Die Bevölkerung des preuß. Staats ©. 118. 


” 


| 


| Licht- und Schattenfeiten ber großen Gehülfenzahl. 339 


ala es überhaupt Meifter giebt, wirklich bie Ausficht 
| auf die Meifterjtelle eröffnet werben können.“ Wenn 
marı die Rechnung nur auf die Lehrlinge beichränft, fo 
wird fie noch Flarer. „Ein Meifter” — fagt Hoffmann 
an anderer Stelle — „unterhalte nur einen Lehrling 
gleichzeitig, jo wird er Doch von jeinem dreißigften bis 
zu feinem fechzigfterr Lebensjahre bei vierjähriger Lehrzeit 
fieben auslernen können, wovon endlich doch nur einer 
ihn dereinſt al8 Meiſter erjegen Tan. Nechnet man 
auch darauf, daß während eines Zeitraums von dreißig 
Jahren die Bevölkerung ungeführ um fünfzig auf bun- 
dert wächſt, daß alfo in demſelben Verhältniſſe auch 
ftatt zwei jeßigen Meiſtern nach dreißig Jahren drei 
zur Befriedigung der Bedürfniſſe des Volkes nöthig fein 
werden, und daß auch in ven Gefellenjahren einige zum 
Handwerke Angelernte fterben, jo wird man doch immer 
für Fünfe von jenen Sieben feine Ausficht auf anftän- 
digen. Erwerb als Meifter eröffnen können. In Dbie- 
jem felten Har genug erkannten Verhältniſſe liegt die 
Unbaltbarfeit der Zunftverfaffung und der jeit Jahr⸗ 
hunderten fortdauernden Beſchwerden über unverbeffer- 
liche Mißbräuche der zünftigen Handwerker.“ 

Je nachdem man eine Zunahme der Meifter für 
möglich oder wahricheinlih Hält, je nachdem man 
die mittlere Lebensdauer der Meiſter jeßt und eine 
Sterblichkeit unter den Lehrlingen und Gejellen annimmt, 
wird die Rechnung etwas anders, aber in der Haupt⸗ 
ſache bleibt die Frage biefelbe. 








1) Die Befugnig zum Gewerbebetrieb ©. 131. 
22* 


840 Die Bertheilung der Gewerbetreibenden. 


Der Berfaifer der Unterfuchungen über Tächfiiche 
Handwerkerſtatiſtik in der Zeitjchrift des ſächſiſchen ſtatiſti⸗ 
ichen Büreaus hat den Hoffmann'ſchen Gedanken etwas 
genauer ausgeführt und kommt da zu folgendem Rejul- 
tat. „Nimmt man‘ — fagt er — „an, daß im Mittel 
der Handwerker nicht vor dem breißigiten Jahre Meiſter 
wird, und daß bie mittlere Lebensdauer des Handwerks⸗ 
meifters 55 Jahre fei (ftatt 60— 70, wie Hoffmann), 
jo ift in jedem Jahre nur ver 25 fte Theil der Meifter 
zu ergänzen, um bie abiolute Zahl zu erhalten. Neb- 
men wir aber, da auch ein Zuwachs der Bevölkerung 
zu beachten iſt, und mancher Meifter aus andern 
Gründen in Abgang kommt, den zwanzigiten Theil an. 
Iſt ferner die durchſchnittliche Lehrzeit 4 Jahre und 
wird auch die Sterblichkeit zwiichen dem 14ten und 
30 ſten Lebenjahre beachtet, fo kann die Zahl der Lehr⸗ 
linge in einem Gewerbe, welche berangebildet werben 
muß, um ben Perfonalbeftand im Verbältniß zur Be 
völferung auf gleicher Höhe zu erhalten, nur zwiſchen 
%, und höchtens "/, der Meiſterzahl betragen; d. 5. nur 
je der dritte oder vierte Meifter darf einen Lehrling 
halten, wenn nicht ein Ueberſchuß herangebildet werben 
foll, der. feine Ausficht auf Selbitändigfeit Hat. Die 
mittlere Gefellenzeit nehmen wir Goch zu 12 Jahren 
an. Die Zahl der Gefellen wird alſo unter gleicher 
Borausjegung zur Erhaltung des Gleichgewichts nur 
2%, — *, ver Meifter betragen, Die Summe ber Geſellen 
und Lehrlinge fich alſo zu den Meijtern zwilchen 1:1 
und 1,5 :1 verhalten dürfen. Bei Gewerben mit 
kurzer Lehrzeit wird dieſes Verhältniß Heiner, bei Yanger 


Die finkende Möglichkeit des Meifterwerbens. 841 


Kehrzeit größer werden, und einen ähnlichen Einfluß 
müßte eine etwaige Verfchievenheit der mittleren Lebens- 
bauer der Meifter äußern. Gewerbe, bei. denen Diele 
Normalverbältniffe nicht erreicht werden, geben entweder 
zurück oder vefrutiven fich vorzugsweile aus dem Aus- 
lande; Gewerbe Dagegen, welche ein größeres Verhältniß 
barbieten,, find entweber in ber Vermehrung begriffen 
oder überhaupt nicht geeignet, allen Gejellen Ausficht 
auf Selbitändigfeit zu gewähren.” 

Die bier angenommene Sterblichkeit wird ungefähr 
ven realen Verhältniffen entfprechen. Soweit exakte 
Unterfuchungen über Sterblichkeit dieſer Berufsklaſſen 
vorliegen, ° beitätigen fie ungefähre vie hier ange 
nommenen Zahlen. Es find vie befannten von 
Neufoille, Engel und Neumann. Näher auf fie 
einzugehen, ift bier nicht der Ort. Nur ein paar 
Worte find zu bemerken. Die beiben Testen Unter- 
juhungen bejchäftigen ſich mit den Meiftern und Ge⸗ 
hülfen zufammen, mit den 15 — 7O jährigen; wenn 
Engel aljo für die verſchiedenen bauptjächlichen Hand⸗ 
werfe ein Durchichnittöalter von 33 — 48 Jahre berech- 
net, jo widerfpricht das der obigen Annahme nicht; 


1) Dr. A. Neufville, Lebensdauer und Todesurſachen 22 
verſchiedener Stände und Gewerbe, Frankfurt 1855. Die 
Beobachtung umfaßt die Stadt, Frankfurt und bie Zeit von 
1820 — 55. Engel in der Zeitjchr. des ſtatiſt. Bür. 1862. ©. 242. 
Es find Berliner Ergebniffe von 1855 —60. Neumann, das 
Sterblichkeitsverhältniß der BerlinerArbeiterbevölferung. Arbeiter- 
fteund 1866. S. 113 ff. Siche auch Frautz, Handbuch ber 
Statiſtik, 1864. S. 117 fi. 


342 Die Bertheilung der Gemwerbetreibenden. 


denn fie gebt nur dabin, daß der 30 Jahre alt Gewor⸗ 
dene durchſchnittlich das 55 ſte Jahr erreiche, nicht daß 
bie Gefammtheit der 15 — 70 jährigen durchſchnittlich 
55 Jahre erlebe. Die Unterfuchung von Neufrille 
beichränft fi nun aber auf folche, vie ſchon Meifter 
geworben find, und da jchwankt das Durchſchnittsalter 
eben um diefe Grenze; e8 betrug für die Bäcker 51,, 
die Bildhauer 43, , die Brauer 50,,, die Fiicher 55,,, 
die Gärtner 56,3, die Gerber 56,,, die Kürfchner 56,,, 
die Maler 47,,, die Maurer 48,, , die Schlächter 56,,, 
die Schmiede 46,,, die Schneider 45,, die Schub: 
macher 47,,, die Tiſchler 46,,, die Zimmerleute 49, 
Jahre. Der Durchichnitt würde wohl etwas, aber nicht 
jehr viel unter 55 Jahren fein. 

Nimmt man biernach die Möglichkeit, Meifter zu 
werben, auch noch für etwas mehr Lehrlinge und Geſellen 
an, als das fächfiiche ftatiftifche Büreau es thut, im 
Ganzen bleibt das Verhältniß daſſelbe. Von ver Zeit 
an, in welcher die Gehülfenzahl die Meiſterzahl weſent⸗ 
lich überfchreitet, hört Die Möglichkeit, Meifter zu 
werben, je ein felbftändiges Gefchäft anzufangen, für 
eine Anzahl von Gehülfen auf. Selbit abgefehen von 
der Umbildung der Zechnif und der Arbeitstheilung, 
von den. Einflüffen des Verkehrs und des Kapitals, 
liegt in dieſem Zahlenverhältniß an fich Die voll- 
ftandige und nothwendige Auflöfung der alten hand⸗ 
werfsmäßigen Zuſtände. Das Hinzukommen dieſer 
erwähnten Einflüſſe verſtärkt aber die Auflöſung. Xäg- 
lich wird es wegen ihrer ſchwerer, ein eigenes Ge— 
ſchäft anzufangen Die Zahl der preußiſchen Meiſter 





Die Urfahen des Zudrangs zum Handwerk. 343 


ift 1861 noch nicht wieder jo hoch wie 1849, troßbem 
daß 1861 mahrfcheinlich unter den Meiftern ehr viele 
mehr gezählt find, die feine felbjtändigen Unternehmungen 
mehr haben, als 1849. 

Ehe ich von den Folgen dieſer allgemeinen Aufs 
löfung der alten Handwerkszuſtände fpreche, will ich roch 
bemerfen, daß der Zudrang zum Handwerk, der zunächft 
die Gehülfenzahl jteigen läßt, nicht nothiwenbig ein den 
wirflichen dauernden wirthichaftlichen Bedürfniſſen, fei 
ed des alten oder des neuen Handwerks, entiprechender 
if. Mit raſch wachſender Bevölkerung kommt Yeicht ein 
Zufluß, Der feine Urfache nicht in dem dauernden Bedürf⸗ 
niß der Gewerbe hat, fonvdern in andern. Umftänven 
piychologiicher und moraliiher Natur, jowie vorüber- 
gehender wirtbichaftlicher Art. 

Man bat in Bezug auf eine jtarfe Zunahme ver 
Bevölkerung kurz nach einander gleich extremen und un⸗ 
richtigen Theorien gehuldigt. Man bat, angeftedt vom 
erften Schreden der Malthus'ſchen Theorie, eine Zeit 
lang jede Zunahme für ſchlimm und unheilvoll gehalten, 
man hat dann wieder in: optimiftiicher Uebertreibung der 
wirtbichaftlichen Fortichritte unferer Zeit jede Zunahme 
an fich als ein Glück gepriefen. Sie tft es, aber nur 
in gewiffen Sinne. Alle höhern Güter der Kultur find 
mir erreichbar in dichtbevölkerten Gegenden. Aber jede 
ſtarke Bevoölkerungszunahme ſetzt Sortfehritte, Aende— 
rungen in der ganzen Vollkswirthſchaft voraus, muß in 
ber Regel verbunden fein mit einer ganz anderen Drga- 
miſation aller Geſchäfte, aller Verfehrsverhältniffe, mit 
einer andern lokalen Vertheilung ver Benölferung, mit 


344 Die Bertbeilung der Gewerbetreibenben. 


einer andern Vertheilung derſelben nach Berufszweigen. 
Das ſetzt fich langſam durch, will erkämpft fein, braucht 
Yahre und Jahrzehnte. Die beranwachienden Gene- 
rationen ergreifen felten fogleih und in vichtigem Ber- 
hältniß die Bahnen, in denen der Ueberſchuß fpäter 
definitiv Pla findet. Die Bodenvertbeilung ändert fi 
meist ſchwer, die Lanpwirthichaft fenvet zunächſt ihre 
jüngern Söhne den Gewerben zu. Se tiefer ein Ce 
werbe fteht, je leichter e8 zu erlernen ift, je weniger es 
Kapital erfordert, deſto größer leicht der Zudrang ohne 
Rückſicht auf das Bedürfniß. 

In den Kreifen, um die es fi) da vorzugsweiſe 
handelt, wird der 14 jährige Junge, der aus der Schule 
entlaffen ift, durchaus nicht immer mit klarer Erfenntniß 
für einen der Berufe bejtimmt, in denen im Augen 
blicke die größte Nachfrage iſt. Das häufige traditionelle 
Feſthalten am Gewerbe des Vaters ift noch nicht das 
ſchlimmſte; Zufall, Rüdficht auf die geringften Koften, 
auf die größte Bequemlichkeit für die Eltern und ähnliche 
Motive wirken theilweife noch fchlimmer. Die alther- 
gebrachte Meberjeßung einzelner Gewerbe, die heutzutage 
meift Doppelt fich geltend macht, hängt damit zu: 
jammen. 

Trifft in diefer Beziehung die Väter der betreffen: 
den Kinder. oder vielmehr die Unkenntniß dieſer Kreiſe 
in derartigen Fragen die Schuld, fo wirfen von der 
andern Seite zeitweife auch die Meiſter und Arbeitgeber 
auf partiellen und zeitweifen zu großen Andrang Wem 
mit den ſtark wechfelnden Konjunkturen des Beutigen 
Marktes die Geichäfte zeitweilig wachſen, fo fuchen ſich 


Die Berufswahl des Lehrlinge. 345 


die Betreffenven haufig, weil e8 zunächſt das Billigſte ift, 
durch Annahme weiterer Lehrlinge zu helfen, ohne Rück⸗ 
ficht auf die dauernde Bedürfnißfrage.! Es giebt zeit- 
weife Gewerbszweige, in welchen in Folge hiervon Die 
Lehrlingszahl die Gefellenzahl erreicht, während bei vier- 
jähriger Lehr- und zwölfjähriger Gefellenzeit die Zahl 
der Lehrlinge doch immer höchſtens Y/, ver Gejellen 
ausmachen follte. Daraus erklärt fich, daß die frühere 
Beſchränkung der Lehrlingszahl nicht jo ganz ſinnlos 
war, wie man oft meinte. Noch neueftens fpricht fich 
Richard Härtel? in Beziehung auf die Buchdruckerei 
aufs Entjchiedenite dahin aus, daß auf die Dauer ein 
orventlicher Stand von Buchdrudergehülfen und = Arbei- 
tern nur dann fich erhalten laſſe, wenn bie Druderei- 
befiger der Verſuchung einer zu ftarfen Anwendung joge- 
nannter Lehrlinge, d. b. uneriwachjener Arbeiter wider- 
ftünden, wenn fie ver alten Geichäftsfitte treu bleiben, 
auf drei Gebülfen einen, auf neun Gehülfen erſt zwet 
Lehrlinge zu halten. 

Welches aber auch die Urfachen ver anſchwellenden 
Gehülfen- und Lehrlingszahl im Einzelnen fein mögen, 
jo viel ift ficher, die alten Handwerkszuſtände müſſen 


1) Siehe ein ſchlagendes Beiſpiel derart bei Degenkolb, 
Arbeitsverhältniffe, 2te Aufl. Frankfurt 1849, A» 70 ff. Es 
bezieht fich auf die Kattundruder; eine übermäßige Annahme von 
Lehrlingen 1833— 40, der drückendſte Ueberflug an Gefellen 
von 1840 — 46. 

2) Bergl. den auch fonft intereffanten Artikel ‚zur Lehrlings- 
frage” im Correſpondent, Wochenfchrift für Deutſchlands Buch⸗ 
bruder, Exrtrabeilage zu Nro. 11 vom 12. März 1869. 


846 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 


ſich damit auflöſen; d. h. e8 muß einerjeitS eine Anzahl 
gelernter Gejellen fpäter wieder zu andern Berufen 
übergeben, es muß andererſeits ein verheiratheter Gefellen- 
ftand fich bilden, die ganzen Rangverhältnifje im Hand⸗ 
werf müffen andere werben. 

Defter wurde e8 fchon erwähnt, wie viele Gefelfen 
heute in eigentliche Fabriken eintreten; das war ihnen 
auch nach der Verordnung vom 9. Februar 1849 nicht 
verboten. Selbit für Arbeiten, die nicht einen gelernten 
Handwerker gerade diefer Art erfordern, nehmen viele 
Fabrikanten gerne Geſellen; fie find gejchidter, haben 
mebr gelernt und gejehen, al8 einfache Fabrikarbeiter. 

Aber das reicht nicht aus, den Ueberichuß aufzu- 
nehmen. Im den verfchiedenften anderweitigen Berufen 
finden wir frühere gelernte Handwerfögefellen. Mag es 
an Zahl verichwinden, daß auf den Brettern, die bie 
Welt beveuten, jo manche Schneider- und andere Ge⸗ 
fellen eine Zuflucht gefunden, daß der Stiefelpuger ver 
deutfchen Univerfitätsftäbte faft ausjchlieplich ein alter Ge⸗ 
felle ift, der nicht Meifter werben fonnte, daß die vielen 
Diener von Mufeen, Lefegejellichaften, Vereinen, haupt⸗ 
ſächlich aus verunglücten Meiſtern und Gefellen bejteben; 
ichon nach Hunderten und Tauſenden zählen andere 
Zufluchtsorte ihre aus dem Handwerkerſtand refrutirten 
Mitgliever. Höderei und Schanfwirthichaft find da in 
erfter Linie zu nennen. Die zahllofen Dienjtmänner, Die 
in jeder größern Stadt jett fich anbieten, babe ich bei 
vieffacher perjönlicher Frage fat immer als gelernte 
Handwerksgeſellen erfannt, denen es mißlungen ift, ein 
eigenes Geſchäft zu begründen, und die boch nicht zeit- 


Die Schickſale alternder Geſellen. 847 


lebens Gefellen bleiben wollten. “Die Hunderte und 
Zaufende von preußifchen Zivilverforgungsberechtigten, 
bie durch längere Militärzeit fich einen Anfpruch auf 
eine fubalterne Anftellung im Stants-, Gemeinde⸗ oder 
Eifenbahnbienft erwerben, haben zu einem großen Theil 
früher dem Handwerk angehört. Vor Allem aber find 
die ältern Gefellen und Meifter, die nicht vorwärts 
fommen, unter den Auswanderern vertreten. Zur 
Zeit der ftärfiten Auswanderung gegen 1854 wanderten 
jährlich etwa 250 000 Perſonen! aus Deutichland aus, 
ein jehr großer Theil hiervon gehörte dem Handwerker⸗ 
ftande an.? Und noch jebt zeigt jeder Ausweis .über ben 
Beruf von Auswandern daſſelbe. Im Jahre 1866 
fnmen 3. B. in Württemberg? auf 1275 einwandernde 
6995 ausmwandernde Berjonen; von lektern ſind 3576 
erwachjene Perjonen männlichen Geichlechts; und von 
ihnen wieber fällt weitaus der Haupttheil auf bas 
Handwerk, nämlich 2110 Perfonen; ver Reſt theilt fich 
in 24 Fahrifarbeiter, 153 Tagelöhner, 694 Bauern, 


1) Hübner, Jahrb. f. Vollswirthichaft u. Statiftil V, 285. 

2) Hübner II, ©. 293 bringt darüber Nadweife für 
Preußen, Braunſchweig, Mellenburg, Oldenburg pro 1853; 
V, ©. 288 für Baden pro 1840— 55; daſelbſt für Mellenburg 
und Braunſchweig pro 1855; VII, ©. 146 für Sadien pro 
1853—58; VII, ©. 229 für Sachſen pro 1859 — 61. Nur 
wo ein verfommenes bäuerliches Zwergproletariat ift, wirb ber 
bäuerlihe Antheil an der Auswanderung ebenfalls bebeutend; 
jonft überwiegt durchaus das Handwerk nach den Zahlen Hübner's; 
mit am ſtärkſten in Sachfen. 

3) Württembergiſche Jahrbücher 1866, S. 9—13. 


848 Die Vertheilung ber Gewerbetreibenben. 


353 Handelsleute und etliche andere Kategorien von 
geringer Bedeutung. Die einzelnen Haupthandwerke 
zeigen Poften von nicht unbedeutendem Umfang. Es 
jind verzeichnet 232 Schmiede und Schlofjer, 193 Tiſchler, 
176 Maurer, 95 Zimmerleute, 197 Schuhmacher, 
150 Weber, 110 Schneider, 151 Bäder, 134 Mekger, 
85 BDierbrauer, 96 ‘Drechsler und Wagner, 78 Gerber, 
62 Küfer, 53 Mechanifer, 50 Gießer, 42 Goldarbeiter. 
Die andern Gewerbe find etwas geringer vertreten. 

Und troß aller diefer Abflüffe der verichtedenften 
Art bleibt die Zahl 27 — 36 jähriger Gefellen, Die 
jelbjtändig werden möchten, doch noch immer jo groß, 
daß jede Erleichterung der Gefeßgebung im Sinne ber 
Gewerbefreiheit und der Nieverlaifungsmöglichkeit Den 
Anstoß zu zahlreichen Verſuchen felbftändiger Heiner Ge— 
Ichäfte gibt, aus denen einzelne tüchtige Leute fich empor 
arbeiten, von denen die Mehrzahl aber wieder eingeht. 

Zu einem verheiratheten Geſellenſtande überzugehen, 
batte fchon Hoffmann 1841 als das Hauptmittel em- 
pfohlen, um die Mißbräuche und Mipftände des Zunft- 
weſens, die Erfchwerung des Meifterwervens, die Wander- 
pflicht und ähnliches zu befeitigen. In Gewerben mit 
größerer Gejellenzahl, wie in den Baugewerben, ift das 
auch Yängit ver Fall; Lohn- und Kontraktsverhältniſſe 
haben fich da jo geordnet, daß fie einent verhelratheten 
Geſellenſtand entſprechen. 

‚In andern Gewerben fängt das erſt an und iſt 
zunächſt mit mancherlei Schwierigfeiten und Uebeln ver- 


1) Die Befugniß zum Gewerbebetrieb S. 141— 150. 





Ein Stand verheiratheter Gefellen. 349 


bunden. Das alte Verhältnig, den Lehrling und bie 
Gefellen im Haufe zu Haben, wird verlafjen, nicht aus 
der theoretijchen Einficht heraus, daß man zur reinen 
Geldwirthſchaft übergeben, daß man nach ver heutigen 
Gehülfenzahl einen verbeiratheten Gefellenftand erhalten 
müffe, fonvern weil es zumächlt bequemer oder fchein- 
bar bilfiger ift, weil die Stüd- und Alkordarbeit das 
Zufammenfein überhaupt, felbit während ber Arbeit 
überflüffig macht. Der Meifter, der in guter Verkehrs⸗ 
Inge miethet, hat nicht Raum, die Leute zu beber- 
bergen, oftmals nicht Raum zum Arbeiten in feinem 
Lokale. Er part, wenn er die Leute zu Haufe arbeiten 
läßt, Licht und Heizung, oft auch das Handwerkszeug. 
Der Gefelle hat zu Haufe ohnedieß ein geheiztes Rämmer- 
chen, beſonders wenn er verheirathet ift; rau und 
Kinder können mithelfen. Es iſt Dieß unvermeidlich, 
bat auch feine guten Seiten, aber vorerjt hört man 
darüber Klagen aller Art, wie z. B. Negierungsrath 
Müman ! in feinem Bericht über die rheinifchen Ver— 
hältniſſe hauptſächlich die Schattenfeiten betont. „Die 
alte patriarchalifche Sitte” — jagt er — „die Gewerbs- 
gehülfen als zum Hausſtande des Meifters gehörig zu 
betrachten, herricht faſt nirgendwo mehr, vielmehr wird 
ber Lohn nur in baarem Gelde gegeben. ‘Die Gefellen 
fteben fich Hierbei nicht beſſer, da fie für Koft und 
Wohnung überall mehr ausgeben müſſen, als ihnen ver 
Meifter anvechnen Tonnte. Aber das Streben nach un- 


1) Mülmann, Statiftif des Regierungsbezirks Düffelborf, 
I, zweite Hälfte. ©. 4931 — 3. 





850 Die Vertheilung der Gewerbetreibenben. 


abhängigem Leben läßt fie dieſe Vertheuerung überſehen. 
Noch mehr entfernt das immer mehr und leider oft in 
hierzu jehr ungeeigneten Arbeitöverhältnifien einreißende 
Affordarbeiten Die Gejellen von dem Meifter, indem es 
fie auch Hinfichtlih der Arbeitszeit unabhängig macht. 
Im Allgemeinen ift durch dieſe Geftaltung der Verhält- 
niffe der Meifterftand in ſehr übler Lage wegen feines 
Hülfsperjonals, denn er hat weit größere Intereffen zu 
vertreten, al8 der mit feiner Arbeitskraft Teicht wieder 
unterfommende Geſelle. Es ift hierdurch fo weit gefom- 
men, daß in manchen Handwerken viel mehr die Furcht 
vor Mangel an treu aushaltendem Perjonale, als vor 
Mangel an Kundichaft von Erweiterung des Gejchäfts 
abhält, und daß im Allgemeinen die Meifter die freie 
und geficherte Stellung der Gejellen beneiven, weshalb 
denn auch eine verhältnißmäßig große Zahl von Gejellen 
in zwar beſcheidenen, aber geficherten Verhältniſſen einen 
ehelichen Hausjtand führt.” - 

Es ift zuzugeben, daß nicht bloß ältere verheirathete 
Leute, fondern ebenfo junge kaum 18 — 25 jährige, 
denen eine gewiſſe Zucht und Aufficht jehr heilſam wäre, 
dadurch ſelbſtändig werben, dadurch Gefahren aller Art 
ausgeſetzt find, körperlich, moraliih und geiftig zu 
Grunde gehen. Dem Verhältniß zu ihrem Meiſter 
feblen die früheren Bande, die aus dem Zufammenfein 
am häuslichen Heerbe entfprangen. Die Tohnfrage muß 
überbieß Meifter und Gejellen mehr als je entziveien. 
Die früheren Gejellenlöhne waren relativ fehr niedrig; 
der Geſelle wurde früher neben Geld und Verpflegung 
gleichſam mit der fichern Ausficht bezahlt, Meeifter zu 








Die reine Gelbablohnung der Gehülfen. 351 


werden ımb da von feinen Gefellen ven Vortheil zu 
haben, den er jest feinem Meifter bot. Dieſe Ausficht 
ift verfchiwunden, darum jchon muß der Lohn höher 
fein. Außerdem muß die Naturalverpflegung erjegt werben. 
Die Löhne müſſen noch mehr jteigen, je mehr die Ge⸗ 
jellen verheirathet find, je mehr fie in Fabriken Gelegen- 
beit haben, als geſchickte, technijch gebildete Arbeiter fo 
viel zu verdienen, daß fie leicht eine Familie ernähren 
fönmen.? 

Alles Das will der ehrkare alte Meifter, ver feine 
Anſchauungen aus eimer andern Zeit mitgebracht hat, 
nicht ſehen, nicht anerfennen. Und darum fteht er viel- 
fach auf Kriegsfuß mit feinen Arbeitern. Dem Meifter 
an Bildung gleichſtehend, empfinden die Altern Gejellen 
den drüdenden Unterſchied zwiſchen Unternehmer und 
Arbeiter Doppelt. Viele unter ihnen haben vergeblich 
verjucht, ein eigenes Geichäft anzufangen. Oft find das 
mit die gejchigtejten, begabtejten, die in dem Bewußt⸗ 
jein ihrer Talente nicht begreifen wollen, daß fehlende 
moraliihe und Charaftereigenjchaften fie in dem Ver⸗ 
juche einer eigenen Unternehmung jcheitern laſſen mußten. 
Sie find Heute mit die unzufrievenften Elemente ber 


1) Es würde zu weit führen, wollte ich hier dieſes Steigen 
der Löhne Durch Eingehen auf. das vorhandene Beweismaterial 
nachweiſen; ich hebe nur zwei ausgezeichnete Arbeiten hervor: 
„Statiftit ber Arbeitslöhne in Fabriken und Handwerken von 
1830 — 65,” im flatiftiihen Anhang zu den württembergiſchen 
Hanbelstammerberichten für 1865. S. 30—40. „Die Arbeits- 
löhne in Niederſchleſien“ von Regierungsrat Jacobi, Zeit» 
ſchrift des preuß. ſtatiſt Burenus 1868. S. 326 — 351. 





352 Die Vertheilung der Gewerbetreibenben. 


Geſellſchaft. Aus ihnen vor Allem vefrutirt fich bie 
ſozialdemokratiſche Partei. 

Theilweiſe Tiegt die gegenfeitige Unzufriedenheit an 
der Neuheit des ganzen Verhältniſſes. Someit in. ver 
neuen Art des Lebens der Gebülfen wirkliche Gefahren 
Tiegen, beſonders für jüngere Leute, fo weit müfjen 
eben alle die übrigen Mittel geiftiger und moraliſcher 
Hebung ftärker herangezogen werben. Bolfsjchule und 
Kirche, Vereinsleben und genofjenichaftliche Ehre, vor 
Allen ein richtiges georbneted gewerbliches Bildungs⸗ 
wejen müſſen erjegen, was an moraliicher Wirkung 
neben allen Mißbräuchen mit dem alten Xehrlings- und 
Gejellenverhältniß gegeben war. Dann werben bie 
Klagen über Zunahme wilder Ehen, über Sittenlofigkeit, 
über Zunahme des Luxus ohne Zunahme ver Sparjam- 
feit, die Klagen über leichtſinnige und zu frühe. Ehen 
‚in dieſen Kreifen — Klagen, mit denen man gegen: 
über den untern Klaſſen ohnedieß zu Jeicht bei ber 
Hand ift — nicht mehr zunehmen; Dann werben fich 
- bei den verbeiratheten Gejellen die möglichen ſegensvollen 
Wirkungen ver Ehe, Sparjamfeit, Fleiß und An- 
ftrengung, mehr und mehr einstellen. Sie jtehen dann 
ven fleinen Meiftern, die für Magazine oder andere 
Meiſter arbeiten, gleich; fie jtehen immer noch wejentlich 
über dem Tabrifarbeiter, Können bei Geſchicklichkeit und 
Sparſamkeit immer jelbft in die Reihe der Unternehmer 
eintreten, fei es allein, fei es im Wege der Aſſoziation. 

Die alte Rangoronung im Handwerk, ver fefte 
Stufengang ift allerdings damit unwiederbringlich ver- 
nichtet, wie fie zugleich Durch Die neuere Technik, durch Die 


Die Auflöfung ber alten Handwerkszuſtände. 353 


verſchiedenen Arbeitskräfte, die man heute nebeneinander 
in einem Geſchäfte braucht, unhaltbar geworben find. 
Für leichtere Arbeit verwendet man jest vielfach Frauen⸗ 
hände, für gemeine Arbeit Tagelöhner. Lebtere auch im 
Handwerk anzuwenden iſt ganz pafjend, ermäßigt die Zahl 
berer, die Meifter werben wollen, vermeidet Vergeudung 
höherer Kräfte zu nieverer Arbeit. Das hat ja auch Die 
Verordnung von 1849 zugelafien. Sie wollte aber hin⸗ 
bern, daß ver gelernte Zifchlergefelle bei einem Zimmer- 
meifter arbeite, fie wollte alle Meifter zwingen fich nicht 
an Gefellen, jondern an Meifter der andern Gewerbe zu 
wenden, wenn fie deren Hülfe brauchten” Es war ein 
lächerlicher Verſuch, den Lauf der Dinge zu feifeln, e8 war 
überdieß ein erbärmlicher unmoralicher Verjuch, weil man 
dem Fabrikanten erlaubte, was man dem Meifter verbot. 

Mit ver andern Technik, mit der veränderten Ab- 
grenzung der Geſchäfte gegeneinander, mit der größern 
Spezinlifirung aller Produktion ift, um Hierauf noch zu 
kommen, auch die Stellung des Lehrlings, foweit es ſich 
gerade um das Erlernen des Gewerbes handelt, eine total 
andere geworden. Wurde er früher oft ein Jahr lang und 
länger als Laufburjche verwendet, von ver Frau Mei⸗ 
fterin zu allen möglichen bäuslichen Dienftleiftungen 
gebraucht und mißbraucht, jo lernte und ſah er doch 
fpäter Alles, was in der Werfitatt gemacht wurbe, und 
alle Die verſchiedene Arbeiten jeines Gewerbes famen in 
der Werkſtatt vor. Die Prüfungen nöthigten ihn zu 
einer gewiſſen Ausbildung nach allen Seiten. 

Der Mißbrauch eriterer Art ift nicht verſchwunden; 
wo heute, um Taglöhner oder Dienjtboten zu ſparen, 

Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 23 


354 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 


allzu zablveich Lehrlinge angenommen werden, da Lernen 
fie in der erften Zeit jo wenig wie früher. Aber 
auch ſpäter lernen fie theilweife heute nicht mehr fo viel 
wie früher, weil die einzelnen Geſchäfte nur einfeitig 
auf wenige Artifel ſich werfen. Und innerhalb ves 
ipezialifirten Geſchäfts wird der Lehrling zu einer ein- 
zelnen bejtimmten Art der Arbeit gebraucht. Wie foll 
er ba viel lernen? Die Prüfung tft weggefallen und 
damit jedenfalls auch ein gewilfer Sporn. Die zu große 
Unabhängigkeit vom 14. Jahre ab fteigert bei der Maſſe 
nicht den Trieb, etwas zu lernen. Die allgemeine Aus- 
bildung bleibt jo leicht zurüd.ı Böhmert, der eifrigfte 
Vertheidiger ver Gewerbefreiheit, muß zugeben, daß bie 
ſchweizer Gewerbetreibenden jehr gerne beutiche Gefellen 
aus Ländern, wo noch Prüfungen eriftiven, haben, weil 
fie Diefelben für fleißiger, geſchickter und anftelliger 
halten. Und aus ähnlichem Grunde find deutſche Ge- 
fellen in Franfreich und England beliebt. 

Daraus will ich entfernt feinen Schluß ziehen, ver 
auf Wieverberitellung des Zunftwejend und der Zunft- 
prüfungen ginge. Dieſe Wieverherftellung wäre aus 
andern Gründen ſchädlich, ja unmöglich. Aber das 
glaube ich mit dem Angeführten bewielen zu haben, 
daß die Beibehaltung der alten vwierjährigen Lebrling- 
ichaft, ohne die Prüfungen und ohne die alte viel- 
feitige Werfftatt, die aufwachſende gewerbliche Gene- 


1) Biel Wahres über diefe und Ähnliche Punkte in ben 
amtlichen Protofollen, welche über die „Verhandlungen ber 
1865 zur Berathung ber Koalitionsfrage berufenen Kommiſſion“ 
publizirt wurben. Berlin, Deder 1865. 


Die Bildung bes Lehrlinge. 355 


ration noch tiefer berabdrüdt, noch mehr bazır beiträgt, 
alle Gejchäfte in die Hände der höhern Unternehmer- 
faffe zu bringen. Dem ift nur abzuhelfen, wenn man 
in den Kreifen der Handwerker den gewerblichen Schulen 
die Aufmerkſamkeit ſchenkt, die fie verdienen, wenn man 
die jungen Leute zu ihrem Beſuche anhält, wern man 
diefelben je kürzere Zeit in verſchiedene Etabliffements 
als Volontaire oder Arbeiter unterbringt, wobei fie 
praktiſch alles in ihr Geſchäft Einfchlägige lernen und 
jehen, wenn man enblic möglichft durch freimilfige 
Prüfungen den Ehrgeiz zu weden, ven Bemühungen ein 
feſtes Ziel zu ſetzen fucht. 

Das ift die neue Art, wie man die gewerbliche 
Sugend heranbilden muß. Die Jugend foll arbeiten 
fernen; aber die Jugendjahre jollen daneben vor Allem 
eine Bildungs-, nicht bloß eine Arbeitszeit fein. 
Und das Gefährliche aller in neuerem Style eingerichteten 
Geſchäfte ift es, fchon den 14 jährigen als reinen Ar- 
beiter zu gebrauchen, ohne ihn etwas lernen zu laſſen, 
ohne ihm einen Ueberblick über die ſämmtlichen Fauf- 
männiichen und technifchen Spezialitäten feiner Geſchäfts⸗ 
branche zu geben. 


23° 


4. Das Verhältni der Gehülfen zu den Meiftern 
im Speziellen. 


Die Gehülfenzahl nah den preußiſchen Provinzen 1822, 1846 
und 1861, fowie nach den preußijchen Regierungsbezirten und 
einigen andern Zollvereinsftaaten 1861. Die preußiiche Ge— 
bülfenzahl in Stadt und Land 1828, 1849 und 1858. Die 
Gehülfenzahl in den großen preußifchen Stäbten 1861. Die 
Gehülfenzahl in Sachen nah Stadt und Land 1849 und 
1861. — Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben; jächftiche 
Zahlen von 1849, preußifche von 1822 — 61, württembergijche 
von 1835 — 61, berliner von 1861. Die Refultate vieler 
Tabellen. Die Gewerbe, in welchen bie Gehülfenzahl ſelbſt 
in neuerer Zeit niebrig bleibt. Die Gewerbe mit höherer 
Gehülfenzabl. Die Baugewerbe. Die Meifter und Flid«- 
arbeiter. Die Zahlen der preußifchen Baugewerbe von 1816 — 
61. Die provinziellen Gegenfäge in der Organifation der 
Geſchäfte: die größern Banunternehmnngen im Often, ver 
Bau für eigne Rechnung durch bie Heinen Meifter im Weften. 


An die Thatfache, daß in Preußen im Jahre 1861 
die Gehülfenzahl im Durchchnitt des ganzen Staates 
und der fänmtlichen Handwerke die Meifterzahl erreicht 
bat, Tnüpfte ich die allgemeinen Betrachtungen an, 
welche fich aus der Umbilbung der Handwerksgeſchäfte 
nach diefer Richtung. hin ergeben. Ich kehre jet zu 
den Rejultaten der Statiftif zurüd. 


Die Verſchiedenheit ver Gehülfenzahl. 357 


Sp unbeftreitbar das allgemeine Reſultat ift, das 
ih aus den Durchfchnittözahlen des ganzen preußifchen 
Staates und feiner gefammten Kleingewerbe folgerte, 
jo nothwendig ijt es andererjeits, hier wieder, wie jchon 
oft, Daran zu erinnern, daß jede folche Durchſchnittszahl 
in gewiſſem Sinne faljch ift, ein faliches Bild giebt, 
jofern fie den Schein erweckt, als ob dieſer Durchſchnitts⸗ 
zahl entfprechende Zuftände nun, gleichmäßig verbreitet, in 
den verſchiedenen Gegenden und Geichäften vorhanden 
wären. Die Wahrheit ift, daß jehr verſchiedene Zu⸗ 
ftände, verſchieden nach Gegenden wie nach Gejchäfts- 
Branchen, dieſes Durchichnittsrefultat ergeben haben. 
Soll unfere Betrachtung alfo nicht einfeitig fein, jo 
müſſen wir neben dem allgemeinen Rejultat diefe Ver⸗ 
ſchiedenheiten noch in Betracht ziehen. Sie bieten an 
fich felbft und in Bezug auf die hier beiprochene Frage - 
der Meifter- und Gehülfenzahl ein Interejje; außerdem 
aber wird ihre Unterfuchung manche frühere Ausfüh- 
rungen, 3. B. die über die lokalen Gegenſätze, noch in 
helleres Licht rüden. Einige Wiederholungen find dabei 
leider nicht zu vermeiden. 

Dieterict hat fehon früher ! auf den großen Unter- 
Ihied aufmerkſam gemacht, der zwifchen ben einzelnen 
preußiichen Provinzen herrſcht. Bei der Vergleichung 
von 1822 und 1846 hat er die Tüden der Aufnahme 
von 1822 duch Schäßungen ergänzt. Sch ftelle neben 
feine Zahlen die für 1861 von mir nach der offiziellen 
Aufnahme berechneten. Daß die Aufnahme von 1861 


nn 


U NMittheilungen I, ©. 9, 





358 Die BVertheilung ber Gewerbetreibenden. 


einige Kategorien von Handwerkern mehr umfaßt, iſt 
für diefe Durchichnitte ganz gleichgültig. Das Refultat 
ift folgendes: e8 famen auf 100 Meiſter 

1822 1846 1861 


in Preußen . . . . 46 81 103 Sehüffen 
. Bon. » ... 36 60 78 = 
-» Brandenburg. . . 87 128 146 = 
» Bommen. . . . 65 95 103 ⸗ 
. Shleien . . . . 50 88 115 = 
- Sadfn -. . .. 64 119 120 = 
. MWeftfalen. . . . 48 61 2 = 
« ber Rheinprovinz . 59 60 716 = 
- Hohenzollern . . . — — 58 =» 


Die Marf Branvenburg erjcheint in ihren Zahlen 
ausichließlih von der Hauptftadt, von dem Charakter 
der hauptſtädtiſchen Geſchäfte beeinflußt. in Drittel 
‚ ihrer Meifter und Gehülfen gehören Berlin an. Daher 
laffe ich diefe Provinz außer Betracht. 

In den Zahlen der andern Provinzen zeigt fich vor 
Allem wieder der große Unterſchied zwiſchen dem Weften 
und Oſten des preußiichen Staates, hauptſächlich aber 
der Unterjchied in ‚ver Entwidlung beider Theile. Die 
Gegenſätze find 1822 total andere al8 1861. Im Yahre 
1822 jteben die Aheinprovinz, Sachen und Bommern 
voran in der Gehülfenzahl, e8 folgen Weſtfalen und Schle- 
fien; Preußen und Poſen haben die geringfte Gehülfen- 
zahl. Schon 1846 Liegen die Dinge andere. Poſen z. B. 
bat jet fchon die gleiche Gehülfenzahl wie Weftfalen 
und die Rheinprovinz. Vollends bis 1861 dreht ſich das 
Verhältniß volljtändig um. Am Rhein, in Weitfalen, 
in Sachjen wächlt die Gehülfenzahl wohl auch noch etwas, 


Die‘ Gehülfenzahl nach den preußiichen Provinzen. 359 


aber unbebeutend. In der Rheinprovinz find 1861 noch 
Berhältniffe, die auf ein Ueberwiegen Kleiner Geſchäfte, 
auf die Möglichkeit für jeden Geſellen, felbft Meifter zu 
werden, deuten. Im Oſten dagegen tft die Gehülfen- 
zahl auf das 2— 3fache gegen 1822 geitiegen, obwohl 
anzunehmen tft, daß das Landhandwerk hier, ſoweit es 
erijtirt, auch heute noch weniger Gehülfen hat, als das 
Landhandwerk am Rhein. - Die Zahlen zeigen, daß bier 
bie Gehülfen nicht bloß gewachſen find, wie es im All⸗ 
gemeinen einem etwas geſtiegenen Wohlftand entipricht, 
fie zeigen, daß hier ganz andere Zuftände fich gebildet 
haben, fie zeigen, vaß bier mehr und mehr das 
Handwerk der großen Städte, daß in den bedeutendern 
Städten mehr und mehr die größern Hanbwerfögejchäfte 
und die Magazine überwiegen. 


Aehnliche Gedanken ergeben fi) und, wenn wir 
noch etwas weiter ins “Detail gehen, und die Ergebniffe 
nach den einzelnen preußifchen Negierungsbezirfen georbnet 
anjehen. Ich Yaffe ihnen als weitere Ergänzung gleich 
die Zahlen für einige der neuen preußiichen Provinzen 
und Heinern deutſchen Staaten, berechnet nach den 
Frantz'ſchen Summen, ! folgen. Es famen auf die: 


1) Die Zahlen weichen, wie mehr erwähnt, von ben 
offiziellen, foweit fie exiftiren, theilweife etwas ab; aber ich 
fonnte bier feine anderen zu Grunde legen; Viebahn bat llber- 
haupt feine Summen ber Meifter und Gehülfen getrennt, und 
offizielle Summirungen eriftiren nur von ein paar Staaten. 
Die Frantz'ſchen Zahlen haben wentgftens die Wahrfcheinlichkeit 
für fi), nach derjeiben Methode gewonnen zu fein. 





360 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 





— 





Alſo auf 
Regierungsbezirke: Meifter | Gebülfen 100 Meiſter 

Gehülfen 
Königeberg. . . . . | 21731 | 24861 114 
Oumbinnen. . - . . 12 932 12 328 94 
Damig - . 2... 9140 11 218 123 
Marienwerber . 0. 14812 11 957 81 
Poſen.. 20617 16 060 78 
Bromberg . . 10 672 8468 79 
Potsdam ohne Berti . 25 783 83175 129 
Frankfurt . . . 24 997 27 338 109 
Stettin -. - - ».. 16790 | .19156 114 
Kirn . » - 2... 12 364 10 535 . 8 
Stelfnd . . .» . . 6 627 7304 110 
Breslau. . » 2... 38 101 46 605 122 
Oppeln. . - . . . 22.079 22 646 103 
Liegnib -. . » ... 31309 | 36099 115 
Magdeburg. . » . . 26 139 32 212 123 
Merfeburg - . » . -» 28 359 33 168 117 
Erfurt . . 2 200. . 12 993 15 563 112 
Münflerr. -. » - . . 15 133 12 064 80 
Minden. -. 2... 13 656 13 627 100 
Arnsberg. - . 2... 25 928 24. 681 9 
Kin. . 2» 220. 20 201 17 899 89 
Düflhof . . . . » 43 954 36 246 82 
Koblen . - -» .. 21046 12 941 61 
Tel. - > 2 200. 17 663 12 509 71 
Aahen » . 2 2 0. 15151 10 756 71 

Es kamen nach drang af: 

Hannover . . . 154 54311 79 
Kuchefien . » » . . 58 772 18 944 65 
Naflau . . .. 16 598 9 656 58 
Hefien » Hemburg . .. 1121 1348 120 
An air gen. 0. 4.672 11 742 251 
achſen, 8 en 11250 | 117870 165 
Ofbenburg en 9580 73530 | 8 

Braunfhmweig . - - . 10 346 12 816 123 
Andalt . - - .. 6610 8417 127 
Sachſen⸗ Weimar. .. 12016 12 342 115 
Provinz Oberheflen . . 13 999 7 904 56 
Uebriges Heſſen⸗ Darmft. 22271 25 034 112 
Baden . . . . 50 033 41 465 82 
Württemberg . - - -» 80 775 64 468 79 


Bin . - - - . . 1172773 | 170933 98 


Die Gehülfenzahl in verſchiedenen Gegenden. 361 


Die niedrigfte Gehülfenzahl haben bie armen vor- 
wiegend Yandwirthichaftlichen Gegenden, wie Naffau und 
Oberbeffen. Wo der Wohlitand fteigt, der rein land» 
wirtbichaftliche Charakter zurüdtritt, ift die Gehülfenzahl 
etwas größer. Aber dieſes Steigen der Gehülfenzahl 
gebt nun nicht weiter dieſen beiden Urſachen entiprechend. 
Wohlhabende gewerbliche Gegenden wie Württemberg, 
Baden, Die NRegierungsbezirke Koblenz, Zrier, Aachen 
behalten ihre mittlere Gehülfenzahl ; der Regierungsbezirk 
Erfurt bat eine niedrigere Gebülfenzahl als die Regie⸗ 
rungsbezirfe Merjeburg und Magdeburg und ift jo wohl- 
babend als fie, bat auch wohl fo ziemlich gleichen geiverb- 
lichen Charakter. Die größte Gehülfenzahl außer den 
leßtgenannten haben die Regierungsbezirke Königsberg, 
Danzig, Potsdam, Breslau, Liegnig, alſo der Oſten, 
der weder amt reichiten iſt, noch überall durch ſpezifiſch 
gewerblichen Charakter fich auszeichnet. Da zeigt es fich 
wieder, daß die ganze Vermögens- und Cinkommen- 
vertheilung, das Wohnen in großen oder Heinen Städten, 
die Grundbeſitzvertheilung e8 bejtimmt, ob fich heute die 
Heinern Handwerksgeſchäfte noch halten. 

Bei einzelnen Staaten, wie Baiern und Sachen, 
hängt die größere Gehülfenzahl vielleicht etwas mit ber 
früheren Erjchwerung des Meifterwerbens zufammen. 
Biel wohl nicht. Auf die Dauer wirft die freie Kon- 
kurrenz — allerdings an anderer Stelle und mit andern 
jonftigen Wirkungen — noch mehr auf größere Gefchäfte 
als die Zunftverfaſſung. 

In den Gegenden und Bezirken, in welchen die 
Gehülfenzahl am niedrigſten iſt, in welchen gegen 60 


362 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 


bis 80 Gehülfen auf 100 Meifter fommen, wird immter- 
hin dieſe Zahl ausreichen, um die Meifterftellen wieder 
zu bejegen. in regelmäßiger Zufluß aus Gegenden 
mit größerer Gebülfenzahl ift faum anzunehmen. Be- 
jonders zwiſchen ben verjchtedenen Staaten war eine 
berartige Beweglichkeit der Arbeitskräfte früher fehr 
erichwert. it ja jett erit im norddeutſchen Bunde die 
Freizügigkeit geſchaffen. 

Dagegen iſt allerdings zwiſchen Stadt und Land 
einer und derſelben Gegend und Provinz eine ſolche 
Fluktuation der Arbeitskräfte anzunehmen. Wünſcht 
auch der Lehrling, der in der Stadt gelernt, der Ge—⸗ 
jelle, der dort gearbeitet hat, wo möglich dort zu bleiben, 
der Mittellofe muß auf’8 Land zurüd, wenn er jelb- 
jtändig werden will; andere werben dur) Yamilien- 
verhältniffe, durch Land = und Hausbefig dazu gezivungen. 
Das ift bei ven Gehülfenzahlen nad) Stadt und Land, 
zu welchen wir ung jet wenben, nicht zu überjehen. 

Nah der Aufnahme von 1828 berechnet Hoff- 
mann, die 13 wichtigften Arten der Handwerker zu- 
ſammenfaſſend, im Durchichnitte auf 100 Meiiter 

in den anjehnlichften 39 Städten 117 Gehülfen, 
in allen übrigen Städten. . . 58 ⸗ 
auf dem Lande . 2 2 2... 26 ⸗ 


1) Nachlaß kl. Schriften S. 399. Der Durchſchnitt für 
das ganze Land ftellt fi) dort zu 48 Gehülfen (auf 100 Meifter), 
während ich oben 56 berechnet habe. Das hat feine Urjache 
darin, daß Hoffmann feiner Berechnung nicht die gefammten 
Handwerker, fondern nur die 13 wichtigften Arten zu Grunde 
legt. 


Die preußiichen Gehülfen in Stabt und Land. 863 


Nach den einzelnen Provinzen vertbeilen fich 1828 
die Gehülfen der Landmeifter folgendermaßen; auf 100 
Sandmeifter Tamen 
in Weftfalen und der Rheinprovinz 36 Gehülfen, 
in Brandenburg und Pommern . 24 ⸗ 


in Sachſen.. 222.33 ⸗ 
in Schlefien . . . 0. 21 ⸗ 
in Oſt⸗ und Weſtpreußen fl ⸗ 
in der Provinz Polen . ... 1 ⸗ 


Im Weſten hat wenigſtens jeder dritte Land⸗ 
meifter einen Geſellen over Lehrling, im Norboiten 
arbeiten von 100 Lanbmeiftern 89 ohne jede geiwerb- 
liche Hülfe. 

Im Jahre 1849 haben Gehülfen und Meifter in 
den preußilchen Städten etwa das Gleichgewicht erreicht, 
8 kamen auf 100 Meifter va 98, auf dem Lande 
56 Gehülfen. Neun Jahre fpäter, im Jahre 1858, 
haben 100 jtäbtiiche Meifter 115,,, 100 Landmeiſter 
71,; Sehülfen. Das Landhandwerk hat 1858 beinahe 
jo viel Gehülfen, daß es feine Meifterjtellen allein 
bejegen fünnte. Die Zahl ver Lehrlinge, gegenüber ven 
Geſellen, erjcheint im Ganzen 1858 als normal: 125202 
Lehrlinge auf 377093 Geſellen; alſo jene etwa Y/, 
diefer; in den Städten freilich nähert fich die Zahl ver 
Lehrlinge nahezu der Hälfte der Gefellen, auf dem Lande 
beträgt fie etwa ein Viertel derſelben. 

Nach der Aufnahme von 1861 ftellt fich das Ver- 
bältniß der Meifter und Gehülfen in den größern preu- 
Biichen Städten folgendermaßen ; 





364 Die Bertbeilung ber Gewerbetreibenben. 











Städte über 20000 Ein- j Auf 
Meifter | Gebülfen |100 Deeifter 
wohner. ſt Gehülfen 

Königsberg . -» . . 2638 7145 270 
Elbing -. - : 2... 914 2272 249 
Danig- . 2470 3569 145 
Polen . . 2. 2.2. 1 836 3336 182 
Brombearg . . . - . 941 1733 184 
Belin. - 2 2... 22 553 46 633 207 
Potsdam . » . .. 1 769 2833 160 
Brandenburg. . . . 871 1830 209 

vanffut . . 2... 1881 . 2316 123 
Stettin. . . 2»... 2180 4312 198 
Stralſund. . . .. 917 1794 196 
Drelau . . 2... 5431 13 319 245 
Shi. . . >... 1149 1 866 165 
Magdeburg. . » . . 3437 5221 152 
Salberfladt. . . . . 1012 1 673 162 
Sale . . 2 2.0. 2 263 2807 124 
Erfut . 2.2». 1 640 3 008 183 
Münfr -. . .-.. 1353 1796 133 
Dortmund. . - - . 973 1389 143 
Köln. . : 2 2 0. 4841 7012 145 
Krefb . . 2. >... 2065 1367 65 
Düffelborf. . . » . 2025 2.030 100 
een -. 2.2 .. 681 877 129 
Elberfeld -. . » . - 2099 2315 110 
Barmen . . 2. 1646 2 089 : 121 
Koblm. - . 2... 1 456 1222 84 
Trier . 2. 2 200. 1241 1178 95 
Acdden. . . 2 253 3209 142 


Die mehr beiprochenen provinziellen Gegenſätze 
zeigen fich auch Hier. Die größte Gehülfenzahl Hat 
nicht Berlin, fondern Königsberg, Elbing und Breslau. 
In Berlin! kamen ſchon 1822 auf 100 Meifter 185, 
1846 - 210 Gebülfen, 1861 dagegen 207. Daraus 


1) Mittheilungen I, ©. 9. 


Die Gehülfen in den größern Städten 1861. 365 


ließe fih ein Schluß ziehen, ven ich freilich nur mit 
einer gewiſſen Vorficht ausfprechen möchte, — nämlich 
der, daß für die Mehrzahl der Handwerke der Veber- 
gang zu einem größern Betriebe, auch Heute noch eine 
gewilfe Grenze bat, wenigftens 1861 noch hatte. Ich 
ſuchte oben zu zeigen, daß das heutige Handwerk nicht 
zu dem wird, was man fpezififch Großinduſtrie nennt, 
fondern nur zu etwas umfaſſenderen und anders orga- 
nifirten Gejchäften übergeht. Erwägt man überbieß, daß 
gerade in den großen Städten doch noch viele Heine 
Meifter, Anfänger, Flickarbeiter ohne alle Gehülfen 
arbeiten, jo könnte man allerdings den Schluß für 
berechtigt Halten, 2—3 Gehülfen auf einen Meijter 
im Durchichnitt fei das Marimum. Immer aber bleibt 
biejer Schluß problematiſch; er ift richtig für einzelne, 
für viele Gewerbszweige, daneben unrichtig für andere, 
welche auch in der Handwerkertabelle verzeichnet find 
und bi8 zu 10 und mehr Gehülen auf einen Meifter 
baben fünnen, wie das Zimmer» und Maurergewerbe, 
einzelne Metall» und Holzgewerbe, Glodengießereien, 
große Möbelanitalten. 

Daß im Königreih Sachen die Zahl der Gehülfen 
im Dirchichnitt des ganzen Staates weientlich höher 
it, als die in Preußen, fahen wir ſchon; fie iſt höher 
al8 Die irgend eines preußiichen Regierungsbezirks. 
Stadt und Land haben gleichmäßig blühende Gewerbe 
aller Art; die dortige Hanpwerfertabelle umfaßt mehr 
wahrſcheinlich als Die irgend eines andern größern 
deutſchen Landes jolche Geſchäfte, die für den Abſatz 
im Großen thätig find. 


866 Die Vertheilung der Gewerbetreibenben. 


Schon im Jahre 1849 kamen im Durchichnitt des 
ganzen Landes bei ven 50 wichtigften Handwerken! auf 
100 Meifter 111 Gehülfen, in den Städten allein nur 
112, alſo kaum mehr als im Durchichnitt Des ganzen 
Landes. Trennt man Gelellen und Lehrlinge, fo fommen 
nach diefer Rechnung auf 100 Meifter 

Gefellen in den Städten . . . 84 
:» tin Stadt und Yan . . 87 
Lehrlinge in den Städten . . . 28 
⸗ in Stadt und Land.. 24. 

Dabei find aber die bejonvers auf dem Lande als 
Hausinduſtrie betriebenen Gewerke einbegriffen, von 
einem Theil berjelben rührt die hohe Zahl Gehülfen 
des platten Landes ber, jo von den Bürjtenmachern, 
den Landflempnern und Nagelichmieden; andere wieder, 
wie die Weber, haben feine beſonders hohe Gehülfen- 
zahl. Daneben ift nicht zu vergeflen, was ich oben 
ſchon erwähnte, daß die Gehülfenzahl auf dem Lane 
viel zu hoch ericheint‘ Durch Die Art ver Zählung. 
Zaufende von Maurern, Zimmerleuten, Buchdrudern 
und andern Gejellen und Arbeitern, die in der Stadt 
arbeiten, wohnen auf dem Sande und werben ba 
gezählt. 

Für die Vergleichung von 1849 und 1861 find 
andere Zahlen zu Grunde zu legen; nämlich Die ber 
öfter fchon angeführten Tabelle, ? welche die Meifter und 
Gehülfen in 36 Handwerken, getrennt nach größern, 


1) Zeitſchrift des ſächſ. ftatift. Büreaus 1860. ©. 105. 
2) Zeitfchrift des ſächſ. ftatift. Büreaus 1863. S. 102. 


Die Gehülfenzahl in Sachſen. 367 


Heinen Stäbten und plattem Lande, aufführt. Die 
Tabelle beſchränkt fich auf die ſpezifiſch lokalen Gewerbe 
und jchließt alle Hausinduftrien und fabrifmäßigen Hand- 
werte, wie Die Weber, Tuchmacher, Tuchſcheerer, 
Strumpfwirker, Bofamentiere, Imftrumentenmacher, 
Faärber, Nadler und Aehnliche aus. Nach ven dortigen 
abfoluten Zahlen Habe ich die folgenden Verhältniſſe 
berechnet. Es famen auf 100 Meiſter: 
in den größern Städten 1849 . 167 Gehülfen 


= = ⸗ 1861 . 238 ⸗ 
in den Hleinern Städten 1849 . 91 ⸗ 
ee: ⸗ ⸗ 1861 . 109 ⸗ 
auf dem Lande. . . 1849 . 161 ⸗ 
⸗ ⸗ =... ...1861 195 ⸗ 


Das Verhältniß der drei verſchiedenen Arten des 
Handwerks unter ſich iſt ebenſo ſchlagend, wie Die Um- 
bildung jeder einzelnen Art von 1849 — 61. Das An- 
wachlen der Gehülferzahl auf dem Lande tft am über- 
raſchendſten. Es entzieht fich aber jeder weitern Erörte- 
rung, da man nicht abfieht, wie weit e8 aus den vorhin 
angeführten Gründen der Wirklichkeit, d. h. dem thatjäch- 
lichen Umfang der Geſchäfte auf dem Lande entipricht. 
Keine wefentliche Aenderung zeigt fich in den kleinern 
Städten, wie das nach den obigen Unterjuchungen über 
das Heinjtäbtiiche Handwerf zu erwarten war. Die 
ftärffte Zunahme der Gehülfenzahl fand in den großen 
Städten ftatt. Es ift ein totaler Umſchwung der Ver⸗ 
bältniffe, der zwilchen dieſen beiden Zahlen liegt. Vor⸗ 
ber noch 1!/,, jet im Gefammtdurchichnitt 2— 3 Ge 
bülfen auf einen Meiſter. Damit ift in den ſämmt⸗ 


368 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenben. 


lichen ſächſiſchen Stäbten über 10000 Einwohner die 
Grenze erreicht, die wir vorhin als eine Art Marimum 
binftellten, die Grenze, die jelbft in der Großftabt Berlin 
und den andern größten preußifchen Städten 1861 nicht 
überfchritten iſt. 


Diefes Marimum aber, wie alle die vorſtehenden 
Verhältnißzahlen find berechnet als Durchichnitte verjchie- 
dener Gewerbe. ine wirklich konkrete Anfchauung der 
Berhältniffe gewinnen wir erjt, wenn wir bie einzelnen 
Gewerbe unterjcheiven. Jedes ift in feiner Technik, 
in feiner Organtjation, in feinem Verhältniß zum 
Publikum wieder ein anderes, iwie ein Blid auf bie 
folgenden Tabellen lehrt. Um das ftatiftiiche Material 
nicht zu ſehr zu häufen, beichränfe ich mich auf bie 
Mittheilung von vier Tabellen. Die ſächſiſche umfaßt 
50 Gewerbe nach dem Stande von 1849. Die preu- 
fifche für die Jahre 1822 und 1846 fiammt von 
Dieterici; ? die Jahre 1858 und 1861 Habe ich nad) 
den Quellen nachgerechnet. Die württembergifche Tabelle 
ift von mir in meiner württembergifchen Geiwerbeftatiftif? 
berechnet. Als Gegenſatz zu diefen Drei ganze Länder 
umfaſſenden Ueberfichten füge ich noch den Stand einiger 
der wichtigern Berliner Handwerfe im Jahre 1861 bei, 
berechnet nach den Zahlen der offiziellen Publikation. ! 


1) Zeitjchrift des ſächſ. flatift. Büreaus 1860. ©. 108. 
2) Mittheilungen II, ©. 8, 

3) Wiürttembergifche Jahrbücher 1862, 2te8 Heft, ©. 248. 
4) Preußiſche Statiftil in zwanglofen Heften V, 172— 182. 


Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben. 


369 


Es kamen 1849 in Sachjen auf 100 Meiiter: 


Gehülfen 
Seifenfieber . 4 
Graveure . 48 
Zinngießer. 47 
Seilr.. -. . 65 
dandſchuhmacher. 65 
Kammmacher. 73 
Böttcher 61 
Riemer. 75 
Sattler. 75 
Gerber. oo. 67 
Bürftenmader . . 181 
Friſeure. 78 
Fleiſcher. 74 
Glaſer. 77 
Gürtler. 83 
Uhrmacher. 76 
Strumpfwirker . 81 
Stellmader . . 61 
Zeug=- u. Birtelfmiebe 120 
Suffhmiede . 97 
Gelb⸗ u. Siodengie 140 
Särber . . 106 
Schneider . 87 
Buchbinder . 140 
Tiſchler. 122 


Gehülfen 
Sählofferr . . - . . 170 
Kürſchner 81 
Drechsler. 68 
Feilenhauer 117 
Knopfmacher. 94 
Poſamentierer. 96 
Kupferſchmiede 110 
Reber . . . 63 
Büchſenmacher 90 
Gold⸗ u. Silberarbeiter 96 
Hutmacher. . 113 
Korbmacher. 43 
Schuhmader . 94 
Bäder und Konbitoren 112 
Klempner . . » 169 
Tuchſcheerer . 105 
Zäfchner u. Tapezierer 136 
Tuchmacher . 106 
Töpfer. . . 159 
Nagelſchmiede. 139 
Meſſerſchmiede 149 
Steinmetzen. 578 
Müller. 160 
Zimmerleute . 1804 
Maurer. . . 2574 


Die preußtichen Zahlen find, wie wir das fchon 
aus den allgemeinen Ergebniffen willen, geringer; es 
famen da auf 100 Meifter Gehülfen: 


Bider. . 
Fleilcher . 
Schneider. 


Scähmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 


1822 
35 
33 
38 


1846 1858 1861 
Sn. 7; 
6. 66 61 
5 6 

24 


370 Die Bertheilung ber Gemwerbetreibenden. 
1822 1846 1858 1861 


Schuhmader. . . 49 56 60 63 
Tiihlr . » » . 67 17 80 84 
Töpfer. . - 2» — 111 119 124 
NRademader. . . 32 42 55 55 
Siiler. .... 5 68 74 88 
Sattler . » . . 50 64 73 75 
Gerber... ..68 94 99 128 
HSutmaderr . . . 59 62 98 145 
Zimmerleute. . . 179 387 653 440 
Steinhauer . . . — — 269 220 
Maurer -. » . „210 446 927 566 
Grobfhmiede . . 48 62 76 79 
Schlfier. . . . 72 103 112 124 
Sürtler . . . . 74 104 154 146 
Klempner. „a. . 80 104 131 116 
Ölafer. . . .29 42 45 49 


Und nochmal geringer ald die preußiichen find vie 
württembergijchen Gehülfenzahlen; e8 famen dort Ge: 
hülfen auf 100 Meifter: 

1835 1852 1861 


Bidr . 2 2.20.20. 188 33,9 45,8 
Sleilher . . .o 2... 186 28,5 43,7 
Schneider . . 220. 295 394 65,7 
Schubmaderr . . . . 31. 42.9 66,5 
Ziihler . 2 2202,88 40, 76,0 
zöpfr . . 2.2020. 27 38,0 62,1 
Rademader. . . „29 29, 56 1 
Sclr 2 220 Wu 31,5 52,8 
Sattler . 2 2 202.0 3a 38,9 594 
Gerber . 2 2020202608 69,0 109,, 
Sutmader . . 2.2... 37 101, 
Zimmerlute . . x... 839 113, 169, 
Steinhauer. . . . . 114 134,s 209 ı 


Mauer. . 2.2.0. Us 128, 168, 





Die Gehlilfenzahl in einzelnen Gewerben. am 


1835 1852 1861 


Golb- u. Silberarbeiter 63,5 6la 119, 
Bäder... . 2 6A 654 92, 
Pofamentierer . » » » 40 Lim 52 


Ganz anders natürlich Tauten die Verhältnißzahlen 
Berlins; ich theile zugleich die abfoluten Zahlen der 
Meifter, Gehülfen und Lehrlinge mit; man zählte 1861: 


























—J 

——— 

—— 

wu eleıe|® En 

— 5357 

s|i2|3|%|s8 

&)5|8)8 |&s 

dr. 2.202020... | 4138/1079 ).359 11438) 348 
Rombitoren. . ©... | 218| 340| 148| 488| 224 
leilher © 2 2 00. . | 615) 7657| 227) 984) 160 
arte. oo 20 nn 188 — — | 497| 130 
Barbiere. 2 2200. | 476 — | — | 5938| 124 
Seieure. ven. | 106] 70) 23) 93) 88 
err 94| 391 37 428 455 
Steinmegen 20. = 18| 125) 21| 146) 811 
pfet. . “nn. | 1251 8397| 84| 481) 385 
Safer . .. . 277| 210) 69| 279) 101 
Maurer . ven. | 209| — | — [3524| 1686 
Zimmermaler . . . . . | 706] 956| 210|1166| 165 
Fimmerleute  - - . . | 141/2037| 58|2095| 1468 
Baflerer 0 22000. 29) — | — .| 178) 614 
Stellmaher. . . - - . . | 118| 382| 104| 486) 412 
Bagendaur . .....| 181 - | | 65] 500 
hie. » “22. | 207] 877) 18411061) 518 
Shloffr » » . - . . . | 771/2910| 583 [3493| 458 
Nele. oe 55] 60) 16) 76| 138 
Gitter, nn. | 244| 434| 160 | 594) 225 
Subferfämiee. - > =» | 48| 1928| 48| 176] 367 
Roth und Gelögieper / Dr 57| 1422| 41| 183| 321 
Klempner . 1438| 686) 274| 960| 219 
Sofd- und” Sifberarbeiter. . 1292| 3781| 961 474| 162 


372 . Die Vertheilung ber Gewerbetreibenden. 


Meganiter für mathem. Inf. | 147] — | — | 3872| 208 




















- Air. + 42| — | — | e2| 148 

- mufitel. = 1863| — | — | 474| 291 
uhrniacher, uhrgehuſemaqher 217| 187| 90| 277| 126 
Schuhniacher . . 3115339711045 4442|) 143 
Sandihuhmader. . . . . | 1791 211) 55| 266) 149 
Kürfhner . 2 2.0... | 212] 321] 64| 385| 182 
Riemer. on nn.» ),888) 4741 200) 674| 199 
Säneider . . 2 +.» . |3839140881121515298| 138 
Bolamentierer. . - . . . | 2811 257| 60| 317) 113 
Sumader nn. 1297| — | — | 674| 227 
utmaher. ee . |.141| 3756| 67) 442) 313 
Tifhler. © 2 22.2. . |194814507|1219|5726) 294 
Böttder . . 2...) 202] 380) 91] 471| 233 
Seröttarenmacer “2... | 179) 235| 102| 337) 188 
Tapegierer © 2.2.2 2 =. | 3861| 334) 126| 460] 127 
Dreher . 0 2 2.2.0. | 388] 641] 225| 866| 223 
Kaminmacher . . . . 72) 66| 12| 78] 108 
en der DEE 85) 108) 31| 139| 164 
ZYucbinder. - on. |) 494| 674| 224| 898| 182 
Deingraphiften - . . | 882| — | — | 353) 92 
[1 * 103) 204| 45) 249| 242 


Wir fehen große Gegenfäge in dieſen Zahlen und 
Gegenfäte verſchiedener Art. Von den provinziellen 
Gegenfägen will ich weiter nicht reden; es find bie ſchon 
mehr beiprochenen. Auch die ſukzeſſive Aenderung von 
1822, vejp. 1835 bis 1861 bietet nach den obigen 
Ausführungen zunächit nichts Neues. Was uns hier 
intereffirt, ift der Unterſchied der einzelnen Gewerbe 
unter fi. Die äußerten Differenzen, die ſich da zeigen, 
Tiegen ziemlich weit auseinander. Bei den Glaſern 


Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben. 373 


famen 1861 in Preußen auf 100 Meifter 49, bei ven 
Maurern 566 Gehülfen; in Sachfen ift 1849 ver 
äußerste Gegenſatz 47 und 2574, in Württemberg 1861 
43 und 209, in Berlin 1861 - 92 und 1686. 

Je ärmlicher und einfacher ein Gewerbe in der 
Negel ift, je mehr es Landmeiſter unter fich begreift, 
je weniger e8 großes Kapital zum Anfang des Geichäfts 
fordert, je mehr e8 ausſchließlich auf perſönlichen Dienſt⸗ 
leiitungen des Meifters beruht, deſto niedriger ift Die 
Gehülfenzahl. Man fieht befonders an der württem⸗ 
bergijchen, aber auch an ver preußiichern Tabelle, daß wo 
und fofern die Verhältniffe fo einfach bleiben, die Ge— 
hülfenzahl, welche auf 100 Meifter fommt, 43 — 80 
micht überſchreitet. Jede zeitweilig höhere Zahl finkt 
wieber, da die Gefellen, in ein gewiſſes Alter gekommen, 
feine Urſache haben, nicht ein eigenes Geſchäft anzu— 
fangen. 

Anders wieder in den Gewerben, welche größeres 
Rapital erfordern, welche für größern Abſatz anfangen 
zu arbeiten; vie hausinduftriellen Betriebe bilden zwar 
gerade einen gewiljen Gegenjat zu den großen Geichäften, 
aber wo fie blühen, bat der Meiſter, welcher für ben 
Raufınann oder Verleger arbeitet, doch Häufig einige 
Geſellen oder einen Lehrling, wie fich das bei ven 
ſächſiſchen Nagelichmieven, Klempnermeiftern, Polamen- 
tieren zeigt. Die Gewerbe, welche durchgängig die höchſte 
Zahl von Gehülfen zeigen, find bie Gerber, Töpfer, 
Hutmacher und vor allem die Baugewerbe. Alle die 
genannten neigen mehr oder weniger zu größern Gefchäften. 
Ihnen am nächiten ftehen die Gürtler, Klempner, 


374 Die Bertheilung der Gewerbetreibenden. 


Schloffer und Buchbinder, Gewerbe, welche ſchwung— 
haft betrieben zur. Maſchinenanwendung und zur 
Spezialifirung auf einzelne Artifel übergegangen find. 
In allen dieſen Gewerben kann nicht mehr davon die 
Rede fein, daß die Gejellen ſämmtlich felbftändig werden 
fünnen. o 

Wenn in den Gewerben, welche außer dem Haufe 
arbeiten laffen, die jämmtlichen fo Beichäftigten als 
Gehülfen, und nicht, wie vielfach, als Meifter gezählt 
wären, jo würde die Gehülfenzahl in werjchiedenen Ge⸗ 
werben noch wejentlich höher fein. 

Diejenigen Gewerbe, welche eine gleich hohe Gehülfen- 
zahl im Durchichnitt haben, werden fich an technifcher 
Entwidelung, Kapitalbevürfniß, Einkommen und jozialer 
Stellung ungefähr auch gleich ſtehen. Aber doch nicht 
vollſtändig. Das eine Gewerbe bedarf mehr des Kapi- 
tals, das andere mehr der perjönlichen Arbeitöfräfte. 
Die Fleifcher, Schneider und Schujter 3. B. haben 
1861 in Preußen diejelbe Gehülfenzabl. Und doch 
jteht im Durchichnitt der Schneivermeilter etwas unter 
dem Schuhmachermeiiter, jedenfalls überragt der Fleiſcher⸗ 
meifter beide durchichnittlih an Einfommen und fozialer 
Stellung. Der Schufter hat in ver Regel ſchon etwas 
mehr Kapital in feinem Gejchäft ſtecken, er treibt eher 
als der Schneider Vorrathshandel. Eine andere Stellung 
al8 beide Hat der Fleiicher, der Geld zum Vieheinkauf 
braucht, der meiſt ein Pferb hält, um auf ven Einkauf 
zu fahren, ver eines eigenen Haufes, .einer Schlacht- 
ftätte fchwer entbehren fanı. Im Iahre 1822 haben 
die Fleiſcher ein Drittel weniger Gehülfen als vie 








Die Gewerbe mit gleicher Gehülfenzahl. 375 


Scuiter und doch ift Damals fchon der Tleifchermeifter 
durchichnittlich wohlhabender als der Schuhmacher. 

Vebrigend haben die Nahrungsgewerbe in Wirklich: 
feit einen größern Umfang; fie beichäftigen mehr Hände, 
als Hier erfichtlich iſt; aber e8 find nicht ſowohl technifch 
gebildete Gehülfen, Lehrlinge und Gejellen, als Knechte 
und Mägde. Wenn 1864 in den thüringijchen Staaten! 
auf 100 Selbitändige in den Nahrungsgewerben 71 
Dienjtboten, in den Bekleivungsgewerben aber mur 5, 
bei den Bauhandwerfen 21, bei den Gewerben, welche 
ih mit Einrichtung der Wohnungen und Herjtellung 
von ©eräthichaften abgeben, 11, bei allen übrigen Ge— 
werben endlich 6 Dienftboten fommen, fo. find das Ver- 
hältnißzahlen, wie fie fih ähnlich auch wohl anderwärts 
ergeben wirden, fofern Aufnahmen nach der Richtung 
eriftirten. Sie zeigen einen ſprechenden Unterſchied der 
einzelnen &ewerbearten in der Wohlbabenheit und in 
dem Bedürfniß an helfenden Händen für das Gejchäft. 
Sie zeigen, daß die Zahlen der techntichen Gehülfen 
nicht allein maßgebend find. 

Don bejonderem Einfluß auf die Gehülfenzahl ift 
die Thatſache, ob das betreffende Gewerbe auf dem 
Lande mit vorfommt. Zahlreiche Landmeiſter ohne Ge- 
bülfen neben ftädtiichen Meiftern mit 2 — 3 Gehülfen 
geben für den Durchichnitt des ganzen Gewerbes doch 
nur 60— 80 Gehülfen auf 100 Meifter. Die Rade— 
macher haben in Preußen 1861 - 55, die Glaſer 49 


1) Kollmann, Geſchichte und Statiftil des Geſindeweſens, 
in Hildebrand's Jahrbücher X, ©. 298, 


376 Die Bertheilung der Gewerbetreibenden. - 


Gehülfen; die Tiichler, Schloffer und ähnliche Gewerbe 
jehr viel mehr. Und doch wird zwilchen den ſtädtiſchen 
Geſchäften fein fehr großer Unterſchied fein. 

In Berlin ift die Gehülfenzahl fehr viel größer, 
als im Durchichnitt des ganzen Landes. Einzelne Arten 
von Gewerben werben in der Grofftabt zu etwas ganz 
Anderem. Aber in der Hauptiache ift doch Die Ab- 
ftufung zwifchen den einzelnen Arten der Gewerbe die— 
jelbe, und bei der überwiegenden Mehrzahl kommen 
auf einen Dieifter doch nicht über 1—3 Gehülfen 
durchichnittlih. Nur wenige Gewerbe haben eine noch 
größere Gehülfenzahl und auch das find fast Tauter folche 
Gewerbszweige, bei welchen große und Fleine Geſchäfte 
neben einander vorfommen. Von den in der Tabrif- 
tabelle Berlins verzeichneten Geſchäften find fie faft alle 
noch weit entfernt. Es famen durchichnittlich auf einen 
Arbeitgeber 1861 in Berlin: * bei ven Spinnereien 15,,, 
den Webereien 7,,, den Fabriken für Metallpropuftion 
21,,, denen für Metallwaaren 22,, denen für mine- 
raliiche Stoffe 16,,, denen für Pflanzenftoffe 7,,, denen 
für Holgwaaren 12,3, denen für VBerzehrungsgegenjtände 
8,9 Arbeiter. Diejen Fabriken ftehen von ven oben 
angeführten Gewerbözweigen nur die Baugewerbe gleich. 
Jeder Pflafterermeifter in Berlin hatte 1861 durch— 
ichnittlich 6, jeder Steinhauermeilter 8, jeder Zimmer: 
meifter 14, jeder Maurermeilter 16 Gejellen uno 
Lehrlinge. 


1) Engel, die Induſtrie der großen Städte, Berliner 
Gemeindefalender II, ©. 143. 





Die Baugewerbe. 377 


Zahlreiche Arbeitskräfte find in den Baugewerben 
für den Meifter nothwendig; vielfach ift er in ben 
größern Städten überhaupt ein großer Spefulant und 
Unternehmer geworden, der über taufende von Thalern 
muß verfügen können. Immer aber zeigt fich auch 
hierin noch eine große Verſchiedenheit der Verhältniffe. 
Darüber möchte ich noch einige Worte bemerken, auch 
einige weitere Betrachtungen über die Baugewerbe, auf 
die ich nicht mehr im Speziellen komme, beifügen. 

Zuerft eine Bemerfung über die obigen Zahlen. Wenn 
nach den Zabellen 1861 ein Maurer- oder Zimmer: 
meifter in Württemberg 1 — 2, in Preußen 4— 5, in 
Sachſen 18 — 25, in Berlin 14 — 16 Gehülfen beichäf- 
tigt, jo find das nicht durchaus vergleichbare Zahlen. 
Die polizeilichen Beitimmungen über das Meifterwerpen 
find verjchieden, und in Folge davon ift theilmeife eine 
beiondere Meittelflaffe zwiichen den Meiftern und ven 
Gebülfen ausgejchieven, theilweiſe ift dieß nicht ver 
Tall. In Württemberg 3. B. fehlt dieſer Unterſchied. 
Die Meifterprüfung war überdieß niemals allzufchwer; 
die Zahl der Geſellen ift daher nicht fo jehr viel ſtärker 
als die der Meifter, ein Verhältniß, das noch Durch Die 
übrigen Urjachen, die dort überhaupt auf Fleinern Be- 
trieb hinwirken, unterjtüßt wurde. 

In Preußen hatte das Gewerbepolizeiedift von 1811 
die Beibehaltung der Prüfungen für die Bauhand- 
werker ausgeiprochen, die Inftruftionen von 1821 und 
1833 Hatten diefelben georonet.” Die Anforderungen 


1) Rönne, Gewerbepofizei II, 99. 


378 Die PVertheilung der Gewerbetreibenben. 


waren mäßige, aber immerhin mußte man bejonvers 
auf dem Lande eine Reihe von Heinen Arbeiten auch 
Leute felbitändig ausführen laſſen, welche die Prüfung 
nicht beftanden hatten. Dieje fogenannten Flickarbeiter 
wurden aber erſt 1837 als bejonvere Rubrik bei der 
ſtatiſtiſchen Aufnahme gezählt. Bei der Vergleichung 
von 1822 und 46, welche Dieterici anftellte, rechnet 
er die Flickarbeiter zu den Meiftern, und demgemäß habe 
ih in den Berechnungen für 1858 und 61 Daffelbe 
gethban. Dagegen zeigen die Zahlen für Berlin mur 
das Verhältniß der eigentlichen Meifter zu den Gebülfen. 
Läßt man für die Zahlen des ganzen Staates die Flid- 
arbeiter weg, jo ftellt fich das Verhältniß ganz anders, 
als die obigen Zahlen es varftellen; es kommen dann 
auf 100 Meiiter 


bei den Zimmerleuten 1858 ... 1025 Gehülfen 
2 2 2 1861 ... 1076 * 
= = Mamern 1858... 1582 ⸗ 

⸗ ⸗ 1861 1623 ⸗ 


Dieſe Zahlen beweiſen zugleich, daß die nach den 
obigen Zahlen ſich ergebende Abnahme ver Gehülfenzahl 
von 1858 bis 1861 (von 653 auf 440 Gehülfen bei 
den Zimmerlenten, von 927 auf 566 bei ben 
Maurern pro 100 Meiſter) nur eine Icheinbare, 
von der Zunahme der Wlidarbeiter herrührende iſt. 
Die Zunahme der Flickarbeiter war felbft wieder nicht 
Folge einer volfswirthichaftlichen, ſondern einer polizei- 
lichen Anordnung. Eine ſolche war durch Die Gewerbe- 
ordnung von 1845 und die ©ewerbenovelle von 1849 
eigentlich nicht Hervorgerufen worben; man war wohl 


Die Baugewerbe in Preußen. 379 


von 1849 an etwas ftrenger; aber die alten Prüfunge- 
inftruftionen waren bi8 1856 in Geltung geweſen. Erit 
die neue Inftruftion vom 24. Sanuar 1856 hatte die 
Meifterprüfungen wejentlich zu erjchweren, die Arbeiten, 
welche zur felbftännigen Ausführung ältern Gefellen als 
Flickarbeitern überlaffen bleiben, ziemlich enge einzu— 
Ichränfen gefucht. Darauf hin Hatten die Meifter zuerjt 
abgenommen; nach wenigen Jahren mußten die Flick— 
arbeiter, die nun troß ihres engen Wirkungskreiſes um 
jo nothwendiger wurden, um jo mehr zunehmen. 

Um jedoch über die ganzen bier in Betracht fom- 
menden Gewerbe eine Earere Weberficht zu geben, laſſe 
ich zunächſt die zwei folgenden hiſtoriſchen Tabellen folgen. 
Sie enthalten eine ziemlich vollftändige Ueberficht über die 
geſammten preußiichen Baugewerbe von 1816--61. Ich 
fage eine ziemlich vollftändige, denn zu einer ganz vollftän- 
digen würde gehören, daß fie auch die Kalkbrennereien und 
Ziegeleien, die Gyps- und Traßmühlen, die großen 
Zementfabrifen, die jest Grabdenfmale, Bauornamente, 
Alurplatten, Zreppenlehnen liefern, daß fie alle die 
Arbeiter, die in Stein», Marmor - und Schieferbrüchen 
thätig find, mitzählten. Auch die Maurer- und Zimmer- 
meijter felbft beichäftigen noch außer ihren gelernten 
bier gezählten Gehülfen viele bloße Tagelöhner. Die 
Zählung der Gehülfen felbjt ift bei ven Maurern wenig- 
ftens Deswegen unficherer als bei einem andern Gewerbe, 
weil die Diaurergejellen in den ftrengen Wintermonaten, 
in welden die Zählung ftattfindet, meist nicht in ihrem 
Gewerbe bejchäftigt find, dann auf dem Lande wohnen 
und anberweitigen Arbeiten obliegen. 


380 Die Bertheilung der Gewerbetreibenben. 





Maurer Steinmeken Ziegel 


















































Jahre Side | Bei deder⸗ 
Mei | Beide G Meiſter Gehülf, meiſte 
eiſter acener auf, ehülfen Meiſter Gehülf. meiſt 
1816 ‚| 8048| — | 8048 | 14124 | 1816—34 find bie 
1822 9294| — 9294 | 19542 |1 Gewerbe unter ba 
1831 10 196 — 10 196 24 771 \{ Maurern mit inbe 
1834 10 728 — 10 728 | 28988 griffen. 
1837 6096 ! 3550 9646 | 31351 | 599 | 1675 |1887 
1840 5812 | 3814 9628 | 37011 |1 167 |2494 |2173 
1843 5790 | 3970 9760 | 43380 11387 12530 |2419 
1846 — — 13 753 | 60260 mit unter den Maurers 
1849 5966 | 4504 | 10470 | 54046 |1640 |3308 |2338 
1852 6019 | 4352 | 10371 | 60462 |1741 |3 846 |2 
1855 5936 | 3894 | 9830 | 65832 1835 |4 334 249 
1858 5106 ! 3612 ! 8718 | 80792 | 1888 |5 095 |2561 
1861 | 5087 | 9405 | 13442 | 81739 |2415 |5 782 1301 
i8si6:1861 | — | — | =" 77T 1-1] - 
Bimmerleute Brunnenmach 
dehre Stid- | Bei 
Meifter| 9° erde Gehülfen |Meifter | Gehäl 
iſte arbeiter | zuſammen ehüif eiſter bu 
1816 1816 —46 
1822 ie 
Die Brunna 
1831 
1834 macher umt 
1837 ben Zimme 
nt leuten 
1846 begriffen. 
1849 543 456 
1852 559 506 
1855 548 453 
1858 564 585 
1861 743 727 


1816:1861| — | — [100:1174|100:325.1| — | — 


Statiſtik der preußifhen Baugewerbe. 381 


Ein 




































ienel-]) Maurer >, i 
Siegel Steinmeß- | Gehülfen Meiſter auf Gewerbe⸗ 
deder-| 7; und 100 Meifter 
Ziegel= ıc. treibender 
Gehil-) " neder- aller Sehütfen | kommen | tommt auf 
fen Meifter zufammen | Gebütlfen | Einwohner 
— | 8048 14 124 22 172 
— 9294 19 542 28 836 
— 10 196 24771 34 967 
— 10 728 28 988 39 716 
— 12 532 33 026 45 558 
— 12 968 39 505 52473 
— 13 566 45 910 59 476 
— 13 753 60 260 74 013 
2916 14 448 60 270 74 718 
8489 14 598 67 787 82 385 
3875 | 14162 74.041 88 203 523 195 
4439 13 167 90 326 103 493 686 171 
4977 18 872 92 498 111 370 490 166 
— | 100:234,, |100::654,, |100:502,, |100: 278, | 100: 282, 
Zimmerlente, Meifter Ein 
3 Gehülfen N Gewerbe- 
Brunnen- und krei 
reibender . 
macher ꝛc. aller Gehülfen kommt auf 
Meiſter zuſammen Einwohner 
9 646 
10 201 
9901 
9820 
10 129 
10 038 
10 221 
10 423 
10 734 
10 310 
9 506 
8 667 
12071 


100:125,, | 100:329,. | 100:250, | 100:268, | 100: 141, 


382 Die Bertheilung ber Gewerbetreibenden. 


Aus diefen Tabellen erhellt zuerit, wie bedeutend 
die Baugewerbe zunahmen. Die Zimmerleute wuchjen 
41, die Maurer 182%, ftärfer als die Bevölkerung. 

Dan zeigt ſich, wie troß der Juziehung der Flick⸗ 
arbeiter zu den Meiftern die einzelnen Geſchäfte an Um— 
fang zunahmen; fie haben vurchichnittfih 1861 etwa 
bie dreifache Gehülfenzahl gegen 1816. Die Abnahme 
des Umfangs von 1858 bi8 1861 Tiegt wieder in Der 
jtarfen Zunahme der Flickarbeiter, welche Hier als 
Meiſter gerechnet find. 

Drittens fehen wir, daß 1816 die Bimmerleute 
und Maurer, je nebft den einjchlägigen Geſchäften, fich 
beinabe die Wange halten, daß fogar die Zimmerleute 
noch etwas überwiegen. Das ändert fih. ‘Die Maurer 
nehmen ſehr viel ftärker zu; 1861 find fie beinahe 
doppelt jo ftarf vertreten. Es hängt gewiß damit 
zufammen, daß mit wachlendem Wohljtand und fteigen- 
ben Holzpreijen der Fachbau und die Holzkonſtruktionen 
zurücdtreten gegenüber dem Steinbau, neuerdings auch 
gegenüber der Anwendung von Eiſenkonſtruktionen. 

Einen tiefern Einblick in die Art der geſchäftlichen 
Drganifation der Baugewerbe geben die vorſtehenden 
Tabellen noch nicht. Um ihn zu gewinnen, will ich 
eine Tabelle mittheilen, in der die Zimmerleute und 
Maurer nach Provinzen geordnet erjcheinen, in der nur 
die Meifter und Gehülfen, nicht aber die Flickarbeiter 
in Betracht gezogen find. Die Zahlen für 1837! find 
Hoffmann entlehnt, die für 1861 find von mir nach 


1) Die Bevöllerung des preuß. Staats ©. 131. 








Die Baugewerbe in den einzelnen Provinzen. 383 


ben offiziellen Zahlen ! berechnet. In der letter Spalte 
füge ich die oben fchon angeführten Prozentzahlen bet, 
mit denen die Baugewerbe 1861 an der ganzen Bevöl⸗ 
ferung theilnehmen. Es kommen Gebülfen auf 100 


Meiſter: 
| Bimmerteute Baurer | Auf 100 
Zimmerleute | Maurer Einwohner 


Provinzen Baugewerbe- 
1837 | 1861 | 1837 | 1861 | "angeverbe 





Preußen . . | 633 | 1250 |! 740 | 1936 0, 
Boien - - . | 8364 | 1086 | 748 | 1530, 0, 
Brandenburg . | 1377 | 2161 | 1892 | 2696 ls 
Pommern . . | 834 | 1523 | 1150 | 2597 ls 
Shiefien . . | 1336 | 3482 | 2106 | 3800 14 
Sadien. . . | 798 | 2482 | 999 | 3908 22 
Veftfalen . . | 123 | 269 | 220 | 1549 le 
Rheinprovinz - 98 261 | 166 | 557 1,3 


Die großen provinziellen Gegenſätze, die wir hier 
vor ung jehen, die 1861 etwas geringer geworden aber 
nicht verſchwunden find, entjprechen zugleich der hiftori- 
ſchen Entwicklung ver gefchäftlichen Organtifation. 

Der mittelalterliche Maurer - und Zimmermeifter 
war ein Handiverfer ohne großes Kapital; er durfte wohl 
mehr Gefellen und Lehrlinge halten als andere Meifter, 
oft 4 Gefelfen und noch mehr, während andern nur 
einer oder zwei erlaubt waren; aber ein großer Unter- 
nehmer wurde er dadurch nicht. Die Vieferung ver 
Materialien, des Kalks, der Steine, des Holzes, ver 
Ziegel, war Sache deffen, der bauen ließ; der Rapital- 
befi des Meifters reichte dazu nicht, Sitte und Bor- 


1) Preußiſche Statiftil in zwanglofen Heften V, ©. 23. 


384 Die Bertheilung der Gewerbetreibenden. 


ichrift wollte e8 auch nicht, um die Geichäfte nicht zu 
groß werden zu laſſen. Oft war ja auch den Meijtern 
verboten mehr als ein oder zwei Werfe zugleich zu über- 
nehmen. Größere Bauten lagen in der Hand eines 
Rathsherrn, eined Domkapitulars, dem die Rechnungs: 
führung übertragen war; an jolchen arbeiteten viele 
Meilter. Für Meifter und Gefellen waren fefte Tage—⸗ 
lohnſätze hergebracht, die des Meifters etwas Höher, 
weil er die Geräthe auch für feine Gefellen zu ftellen 
hatte. Im der Dlüthezeit des mittelalterlichen Bau- 
weſens gaben die Baubütten, 3 die als Baubütten ein- 
zelner großer Städte wie ganzer Länder auftraten, ber 
Geſammtheit der Meeifter eine fefte Organifation, bie 
bei großen Bauten auch wohl geichäftlich verwandt 
wurde. 

Die in Polizei-, Landes- und Taxordnungen feit- 
geitellten Kühne geben ung heute noch eine klare Anfchamumng 
von dieſer Stellung der Meifter. * Selbſt in großen 


1) Schönberg, deutſches Zunftweſen, Hilvebr.- Jahrb. IX, 

106 ff. Baader, Nürnb. Polizeiordnungen, S. 286, Abf. 1. 

2) Bergl. hauptſächlich die intereflanten Details über ven 
. Rathhausban in Bremen von 1407 — 10 im II. Jahrgang bes 
brem. Jahrbuchs, fowie Entres Tuchers Baumeifterbuch ver 
Stadt Nürnberg (1464 — 1475), herausgegeben von Dr. Lexer, 
Stuttgart, literar. Berein 1862. 

3) Viebahn II, 627 — 28. 

4) So 3. B. in den ausführlichen Beflimmungen ver 
bairifchen Landesordnung, Die in der mir vorliegenden Ausgabe 
von 1553 ©. 163 — 164 davon handelt. ' 





Der Maurer- und Zimmermeifter alter Zeit. 385 


Städten wie Wien ift e8 nach der Polizeiordnung von 
1527 die Regel, daß die Meifter nicht Unternehmer 
find, fondern für Tagelohn arbeiten; nur als Ausnahme 
wird ihnen erlaubt, daß fie „Beſtännd und geding an- 
nemmen müge;“ doch follen fie ſich dann nicht übereilen, 
und es follen ihnen die in der Polizeiordnung fejtge- 
jtellten Zagelohnfäge dabei al8 Norm dienen. 

Dei dem tiefern Stand der Volkswirthſchaft im 
17ten und 18ten Jahrhundert treten felbft dieſe An- 
fange von Afforbarbeit und eigentlicher Bauunterneh⸗ 
mung durch die Meifter wieder zurüd. Die churfäch- 
ſiſche Taxordnung von 1623? fennt in ihrer unendlich 
breiten Ausführlichfeit nur Tagelohnſätze für Meifter, 
wie für Geſellen; die Sätze des Meifters find etwas 
höher dafür, „daß er den Werkzeug belt.“ Für das 
18te Iahrhundert führe ich an, daß Bergius? zwar 
die Akfordarbeit bei Bauten unter Erwähnung preußiicher 
Neglements empfiehlt, aber Doch die Bezahlung felbft 
der Meifter im Tagelohn als das Gewöhnliche betrachtet, 
ven Meiftergrofchen genau befpricht, den der Geſelle 
dem Meifter für die Benützung der Werkzeuge gibt. Im 
Gegenſatz zu den Zimmerleuten, Maurern und Stein- 
metzen bemerkt er, die Glaſer, Schloffer ımd Klempner 
pflegten bei den Bauten nicht auf Tagelohn, ſondern 


1) Wiener Polizeiordnung von 1527. Originaldruck 
S. R—X um ©. XXXII. 

2) Muntz⸗Mandat und Tartorbnung, nachdem fi) män- 
nigliden in biefem Churfürftentyumb achten und richten fol. 
Leipzig 1623. ©. 265 — 69. 

3) Bolizei- und Kameralmagazin. Wien 1786, I, 217 fi. 

Säuoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 25 


386 Die Bertheilung der Gewerbetreibenden. 


nach dem Verdinge oder ftüchweife zu arbeiten. Daß 
auf dem Lande in Baiern noch heute jo gebaut wird, 
erwähnte ich oben. Aber nicht bloß bier, auch ander 
wärts gebt e8 noch fo zu, wenigſtens theilweiſe, wenig⸗ 
ſtens auf dem Lande und in Hleinen Städten; ba 
arbeitet der Meiſter ſelbſt mit, Hat nur wenige Gefellen; 
der Privatmann, welcher bauen läßt, muß es auf 
eigene Rechnung thun. 

In den ſchon vor 1815 zu Preußen gehörigen 
Landestheilen hatten die Dinge ſchon früher fich geändert. 
Eine ftrenge Baupolizei hatte höhere Anforberungen an 
den einzelnen Meijter gejtellt. Alle größern, beſonders 
die ftaatlichen Bauten, wurden zwar ven höhern, vom 
Staate geprüften und von ibm angeftellten Bau- 
technifern zur Zeitung übergeben. Und bis in Die neuere 
Zeit läßt ja jelbft der reichere Privatmann die Pläne 
und Riſſe von folchen entwerfen. Aber für Die Aus: 
führung derſelben brauchte man größere Werkmeifter 
und eigentliche Unternehmer. Und je mehr es früher 
an großen Baufpelulanten fehlte, die bloß als Fauf- 
männifches Geichäft, als Spekulation gegen fefte Averjal- 
jummen Bauten übernahmen und fich felbjt wieder 
der einzelnen Meijter für die Ausführung bevienten, 
um jo mehr begünftigte man es, wenn bie Meeifter 
jelbft al8 Unternehmer auftraten. Die Rechnungslegung 
wurde einfacher; man hatte Einen verantwortlichen 
Unternehmer, einen Dann von größerer Zuverläffigfeit, 
bon einigem Vermögen, an den man fich halten konnte; 
jolhe größere Zimmer- und Maurermeifter Hatten 
jelbft Die nöthigen Nammen, Pumpen, Rüſtungen, 


Die großen Bauunternehmer der öſtlichen Provinzen. 387 


Hebezeuge, die zu umfafenden Bauten nothwendig find ; 
ſchon deßwegen gab man ihren gerne den Vorzug. ! 
Wie die fünftleriiche Seite des Bauhandwerks 
reformirt wurde in erjter Linie durch den Einfluß der 
böbern vom Stante gebildeten Baubeamten, durch den 
Einfluß der vom Staate in’8 Leben gerufenen Schulen, 
beſonders der 1799 gegründeten Baualabemie, fo find 
e8 auch in erfter Linie ftantliche Einflüffe, welche bie 
gejchäftliche Organtijation umgebilvet haben. Und da 
diefe Einflüffe iu den altpreußiichen Provinzen älter und 
tiefgreifender find, da bier die ungleichere Vermögens- 
vertheilung ohnebieß, wie wir oben fahen, auf größere 
Geichäfte hinwirkt, jo tft e8 begreiflich, daß die einzelnen 
Meifter in den öſtlichen Provinzen fo viel mehr Ge- 
büffen bejchäftigen, al8 am Rhein und in Weitfalen. 


Die Maurer- und Zimmermeijter find da mehr und 


mehr große Unternehmer geworden, die nach Entwürfen 
eines Baumeiſters die Generalentreprife großer Bauten 
übernehmen, aber auch ſelbſt Pläne entwerfen, Häufer 
auf Beftellung und auf Spekulation bauen, häufig eine 
ganze Reihe von Bauten zu gleicher Zeit ausführen, auf 
dem einzelnen Bau die Aufficht einem Poliv übertragen, 
in ihrer Wohnung ein bejonderes Zeichen» und Gejchäfts- 
bureau Halten müſſen. It dieſe Richtung einmal im 
Geſchäftsleben vorhanden, fo müfjen da, wo am meiften 
gebaut wird, wo der größte Wohlitand ift, wo die In⸗ 
buftrie viele größere Bauten erfordert, Die Geſchäfte 


1) 3.©. Hoffmann, die Bevölkerung des preußiſchen Staat®. 
S. 131— 133. 
25 * 


388 Die Vertheilung der Gewerbetreibenden. 


feicht noch größer werben. Sie find in Sachſen und 
Schlefien am größten, wo die Baugewerbetreibenvden am 
ftärkften find. Es find dort über 2%, der Bevölkerung 
in den Baugewerben beichäftigt, der einzelne Meiſter hat 
24— 39 Gehülfen. Dann folgt Brandenburg. Es hat 
1,5%, Bauhandwerker, 21—26 Gehülfen auf einen 
Meifter. Pommern ſteht nicht viel nach. Preußen und 
Poſen Haben dieſelbe allgemeine Richtung, aber ber 
geringere Wohlftand, die geringere Bauthätigfeit (O,, — 
0,9 %, der Bevölkerung find Bauhandwerker) bewirken 
e8, daß auf den Meifter nur 10 — 19 Gebülfen 
fommen. 

Biel mehr Bauhandwerker wieder haben Weitfalen 
und die Rheinprovinz ; aber diejelben find in Heine Gejchäfte 
zertheilt, befonvers am Rhein. Dort fommen auch 1861 
auf einen Zimmermeifter erſt 2—3, auf einen Maurer: 
meifter 5 Gehülfen. Dort war, wie Hoffmann jagt, 
bie Vielberrichaft fein Förderungsmittel einer ftrengen 
Baupolizei. Das Meijterrecht konnte leicht erlangt 
werben; das Gewerbe der Bauhandwerker zeriplitterte 
ih, wie Das Yand, worin es getrieben wurde. Die 
feinen Landwirthe, wie die Handwerker und Fabrikan⸗ 
ten, nahmen. die einfachen Bauten gerne jelbft in die 
Hand. Und jo haben fich die Sitten erhalten mehr 
oder weniger bi8 auf den heutigen Tag, troßbem daß 
die Fabrik⸗ und Eifenbahnbauten, die Bauten von ſchönen 
Privathäufern, entiprechend dem großen Wohlſtand ber 
Provinz, dort fo zahlreich und großartig find, ale in 
irgend einem anbern Theile der Monarchie. Im den 
größeren Fabrikſtädten haben fich natürlich Die Verhält- 


Die Baugewerbe am Rhein. 389 


niffe ſchon etwas anders geftaltet; die Durchichnittszahlen 
ber Provinz find beeinflußt von den zahlreichen Meiftern 
in den vielen Dörfern. Aber felbit in Köln bat ver 
Maurermeifter wie der Zimmermeifter vurchichnittlich 1861 
nr etwa 6 Gehülfen; ähnliche Zahlen zeigen fich in 
Krefeld, Düffeldorf, Eſſen, Elberfeld, Barmen und 
Aachen; in Koblenz und Trier find die Geſchäfte noch 
jehr viel Eleiner. Die allgemeinen Verhältniffe begün- 
ftigen dort auch heute noch mehr die Heinen Gejchäfte. 
Der Bau auf eigene Rechnung ift überhaupt auch heute 
noch bei richtiger Beauffichtigung das billigſte. Große 
Bauten werben dort, wie anderwärts, nicht von den Werk⸗ 
meistern, ſondern von Königlichen Baumeiftern entworfen 
und geleitet und es handelt fich dann bei der Ausführung 
nur darum, ftatt einem oder wenigen Werfmeiftern ums 
fangreiche Theile des Baues in Verding zu geben, eine 
größere Zahl Fleinerer Meifter fir die einzelnen Theile 
heran zu ziehen. 

Die Aufhebung der Prüfungen für die Bauhand- 
werfer wird Manches beſonders in den alten dftlichen 
Provinzen ändern. Tür die Bauten auf dem Lande, 
für die Bauten der Heinen Xeute wird fie entjchieden 
als eine Wohlthat zu begrüßen fein; Kleine Wohnun- 
gen, Wohnungen für die arbeitenden Klaffen werben 
leichter entftehen, weil kleine Meijter, die vom einfachen 
Sejellen fich durch Fleiß und Sparfamfeit empor arbei- 
ten, zahlreicher als vorher fich zu folchen Bauten an- 
bieten werden. Es kann da auch ver Bau auf eigene 
Rechnung durch Feine Meiſter wieder etwas häufiger 
werben. 


390 Die Bertheilung der Gemwerbetreibenden. 


Aber verwifchen wird fich dadurch Der Gegenſatz 
nicht; wo nach den beſtehenden Sitten und Traditionen 
bie großen Werfmeifter herfömmlich die Bauten über: 
nehmen, da wird es in der Hauptſache dabei bleiben; 
Sitten diefer Art find mit taufend Wurzeln feſt⸗ 
gewachſen, Hängen überdieß mit fonjtigen Urſachen, 
Klaſſen- und Befitverhältniffen jo zuſammen, daß fie 
nicht Teicht fich ändern. 

Und Manches wirkt den fleinen Bauunternehmungen 
in neuejter Zeit noch mehr als andern kleinen Unter⸗ 
nehmungen entgegen: eine immer Tomplizirtere Technil, 
große Auslagen; für Baumaterialien, Mafchinen und 
Vorrichtungen, erhebliche Vorjchüffe an Löhnen, welche 
nothwendig find, endlich die Neigung der Beſtellenden, 
lange Kredite vom Unternehmer zu fordern, erlauben 
nur Leuten von einigem Vermögen, folche Gejchäfte zu 
. beginnen. 





Der 


Kampf des großen und kleinen Betriebs 


in einzelnen Gewerbszweigen. 


1. Die Nahrungsgewerbe im Allgemeinen und die 
in der Fabriftabelle verzeichneten im Speziellen. 


Einfeitung. Bedeutung der Nahrungsgewerbe. Zahl der Per- 
fonen. Die großen Betriebe. Die Zuderinduftrie. Der Um- 
fang der antern hierher gehörenden Fabrifen. Das Mühlen⸗ 
weien. Seine Fortfchritte, Mehlhaudel und Dampfmüllerei. 
Trotzdem daneben der Fortbeſtand ter Heinen Mühlen. Die 
Spiritusbrennerei, der frühere Kleinbetrieb, ber jetige aus- 
ſchließliche Großbetrieb. Die Brauerei, der theilweife Leber: 
gang zu größern Gejchäften. Der Gegenjat zwiſchen dem 
Südweſten des Zollvereins und dem Norboften. 





Die letzten Betrachtungen über die Baugewerbe 
haben uns eigentlich fchon von der allgemeinen auf vie 
ſpeziellere Unterjuchung einzelner Gewerbe übergeführt, 
die al8 letzter Abſchnitt fich anfchließen ſoll. 

Den Mittelpunkt der Betrachtung wird daſſelbe 
Thema bilden wie bisher — Die Umbildung der Klein⸗ 
gewerbe, die Trage, in wie weit Das einzelne Gewerbe 


durch die veränderte Technik, durch die Aenverung der 


Berfehrsverhältniffe und Geichäftsgebräuche, burch Die 
Anſammlung großer Kapitale, durch die großjtäbtiichen 
Berhältniffe ein anderes geworden ift. Ich werde mich 
dabei aber nicht wie bisher auf die in der Handwerker⸗ 


894 Die Umbildung einzelner Gemerbszweige. 


tabelle verzeichneten Gewerbe bejchränfen fönnen. Auch 
in der Fabriktabelle jtehen viele Heineren Gefchäfte; auch 
einzelne eigentliche Großgewerbe, fomweit fie mit den 
Kleingewerben konkurriren oder fachlich ihnen nahe ſtehen, 
werde ich, wenigſtens flüchtig, berühren müſſen. Nüd- 
blide auf frühere Aufnahmen, hauptſächlich aber Die 
Ergebniffe von 1861 werben bie ftatiftiiche Grundlage 
bilden. Um die Unterfuchungen nicht allzufehr an Um— 
fang anjchwellen zu laffen, werben es vorzugsweiſe Die 
altpreußiichen Provinzen fein, auf deren Betrachtung ich 
mich bejchränfe. — Wenden wir uns zunächit ven 
Nabrungsgewerben zu. | 

Nach den Unterfuchungen von Ducpetiaur, Ye Play 
und Engel fommen bei einer wohlhabenden Familie 
burchichnittlich 50 Prozent, bei einer Familie des Mittel- 
ſtandes 55 Prozent, bei weniger bemittelten Familien 
bi8 zu 65 und 70 Prozent der Ausgaben auf die 
Nahrung. Die Nahrung ift bei weitem der größte 
Poiten in den meiften häuslichen Budgets, in allen, 
die ven gewöhnlichen mittleren Kreiſen angehören. 

Dem entiprechend umfafjen auch die Nahrungs- 
gewerbe in ihrem weitelten Sinne den größten Bruch- 
theil der arbeitenden Bevölkerung; e8 gehört neben ben 
ſpezifiſch fogenannten Nahrungsgewerben beinahe bie 
gefammte Ianvwirthichaftliche Bevölkerung hierher, welche 
in Preußen 1849 noch 51, %,, 1861 - 45, °/, der 
Bevölkerung betrug, in Sachen 1849 - 33,55, 1861 


1) Engel, in der Zeitfchrift des ſächſ. ftatiftifchen Bureaus 
1857. ©. 168— 171. 


Die Bedeutung der Nahrungsgewerbe. 395 


26,78%, der Selbftthätigen ausmachte. Die landwirth— 
ſchaftliche Bevölkerung intereffirt uns bier allerdings 
nicht, wir haben es nur mit den Gewerben im engern 
Sinne zu thun. Aber auch ohne die Lanpwirthichaft 
find die Nahrungsgewerbe noch umfangreich genug. 
Engel rechnet für die gefammten Nahrungsgewerbe 1849 
45,41 9/0 der Selbitthätigen, wovon 33,5, %/, auf Die 
Landwirtbichaft kommen, alſo 11,,, %/, für Fabriken, 
Handwerfe, Wirthe und Händler übrig bleiben. ‘Die 
Handwerfer allein, vie hierher gehören, nämlich Die 
Bäder, Tleifcher und Kuchenbäcker, nebit Fiichern, Gärt- 
nern und DVerfertigern von Getreiveprobuften, machen 
allerdings 1861 nach Viebahn in den verjchtevenen 
Zollvereinsſtaaten nur 0,,— 0,,%/, der Bevölkerung aus, 
das wären etwa 2-—3%, ver männlichen erwachjenen 
Perjonen, der Reſt fällt auf die Tabrifen, Mühlen, 
Wirthfchaften und Händler. 

Die Fabriken für Verzehrungsgegenjtände haben 
1861 in Preußen ein Perjonal von 168963 Perſonen, 
die Handwerke für Nahrungsmittel ein folches von 
107 092, alfo zulammen von 276055 Perfonen. Hiezu 
kämen noch etwa 80 000 — 90000 Berfonen in ven Wirth- 
ichaftsgewerben, 50000 Perjonen, welche Biktualien- 
handel treiben, eine Anzahl Weinhandlungen und Ge— 
treivehandlungen, fo daß zufammen mindeftens 450 000 
Perjonen oder 2,,9/, der ganzen Bevölferung, 9I—10 9, 
der erwachlenen männlichen Bevölkerung berausfommen. 

Wie viele von diefen Perſonen gehören nun wirklich 
großen Gefchäften an? Darauf gibt die Statiftif von 1861 
in jo fern eine Antwort, als fie alle Fabriken, welche 


396 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


über 50 Berfonen beichäftigen, beſonders ausgeſchieden bat. 
Bon den 50319 hierher gehörigen Fabriken, Mühlen und 
Anstalten haben nur 338 je über 50 Perfonen bejchäftigt; 
die auf die 338 großen Fabriken fallende Perſonenzahl 
it 50245, alſo 11,,%, der gefammten vorhin gezählten, 
29,,°/, der in der Fabriktabelle aufgeführten Perjonen. 

Es find das Hauptfächlic die Rübenzucerfabrifen 
und KRaffinerien, deren eine durchichnittlich nach ver 
preußiichen Aufnahme 1861 - 159 Perſonen beichäftigt. 
Die Anfänge dieſer Induftrie waren ſehr viel Fleinere; 
aber jchon 1849 Tamen in Preußen 130 Perjonen auf 
eine einzige Fabrik. Die technifche Durchichnittsleiftung 
jeder Rübenzuckerfabrik ift 1840 — 65 auf das fünffache 
gejtiegen. + Hat hierzu die Art ver Beſteuerung, welche 
in jever Weife auf technifche Vervolllommnung, ja Togar 
auf eine Vervollkommnung jelbjt mit einer übermäßigen 
Steigerung der Produktionskoſten hinwirkt, etwas bei- 
getragen, hat fie die Induſtrie wejentlic) an die großen 
Güter gefnüpft, auch mit einer Beiteuerung ähnlich ver 
franzöfifchen hätte der Umfang ver einzelnen Geſchäfte 
wachen müſſen, hätten fich die ganz Kleinen Fabriken 
nicht gehalten. 

Biel weniger umfangreich find die übrigen hierher 
gehörigen Gejchäfte nach der Aufnahme von 1861. Eine 
Chocoladenfabrif zählt Durchichnittlich 15 Perjonen, eine 
Schaumweinfabrif 9, eine Stärkefabrik — obwohl Dabei 
die Heinften Produzenten nicht find, fie ftehen mit in 
der Handwerfertabelle — 6; eine Bierbrauerei und 


1) Biebahn IH, 775. 





Der Großbetrieb in den Nahrungsgewerben. 397 


eine Branntweinbrennerei haben je nur gegen 3, eine 
Eifigfabrif, eine Fabrik für eingedickte Pflanzenfäfte, eine 
Sleiichpöfelei durchichnittlich mur gegen 2 Perjonen zur 
Verfügung; auf eine preußifche Mühle kommen noch 
nicht 2 Perjonen nach der Aufnahme von 1861. Wenn 
wir nur auf den Durchichnitt ſehen, alfo lauter Ge- 
Ihäfte, die den Grenzen des kleinern Betriebs noch nicht 
oder kaum entwachlen find. 

In gewiſſem Sinne fan jede folche Durchichnitts- 
zahl freilich trügen; fie fann das Probuft einer großen 
Zahl mittlerer Gefchäfte, wie das Probuft ganz großer 
und ganz fleiner Unternehmungen fein. Mebr oder 
weniger iſt das lettere der Tall bei den Mühlen, ven 
Brauereien und Brennereien. 

Im Meühlenwejen drängen zwei Urfachen auf 
größere technifch verbeflerte Einrichtungen. Der Mehl- 
handel im Großen gewinnt eine immer fteigende Bedeu⸗ 
tung gegenüber dem Getreidehandel. Nicht bloß Die 
große amerifanijche und deutjche Einfuhr nach England 
zeigt mehr und mehr jtatt bes Getreides Mehl, auch 
der deutiche Provinzialhandel gebt ſchon vielfach auf 
Mehl über. Bedeutende Mafjen Weizenmehl werben in 
der Marf aus jchlefiichen, pojenichen und preußiichen 
Mühlen bezogen. In Berlin wurden 1866 - 438 949 
Zentner Weizenmehl und 545 204 Zentner Roggenmehl 
eingeführt, in Berlin ſelbſt gemahlen nur 118 465 Zentner 
Weizenkörner und 215718 Zentner Roggenkörner.“ Zu 





1) Meyer, Bericht über den Getreide⸗ 2c. Handel in 
Berlin int Iahre 1866. Berlin 1867. ©. 11. 


398 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige- 


diefem Mehlhandel ift aber das in ven alten Heinen 
Mühlen gemahlene Getreide wenig brauchbar. Die Art 
der Befeuchtung beim alten Mahlverfahren macht das 
Mehl unhaltbar. Die neueren Mahleinrichtungen erfor: 
dern das Befeuchten gar nicht und liefern ein haltbares 
Mehl, wie e8 der Großhandel erfordert. 1 

Wichtiger noch iſt die billige und beſſere Produktion 
an fich durch die neueren Mühleinrichtungen. Paſſy 
verfichert, die gleiche Ouantität Korn, die in früherer 
Zeit 100 Pfund Mehl geliefert babe, könne nach ven 
verbefjerten Einrichtungen über 190 Pfund geben.” Die 
neue Sichtmafchine von Henri Cabanet aus Bordeaux 
allein will, va fie 10— 75%, fremde Theile vorber 
ausjcheivet, den Steinen eine unnüge Arbeit von 10 — 
75°%/, abnehmen und jtellt außerdem eine Vermehrung 
des Mehles in Ausficht, die bei allgemeiner Anwendung 
gleich 5 — Yso Per ganzen Ernte fein würde.? Wie 
dem aber genauer im Detail ſei, die Leiftungsfähigfeit 
ift jedenfall eine außerordentlich viel größere. Der 
Gang einer Wind- oder Roßmühle macht in 24 
Stunden 8— 12 Scheffel, ein Wafjergang 24 Scheffel, 
ein Dampfgang 48 Scheffel bei unausgeſetztem Betriebe. * 

1) Stobmann, theoretische, praftifche und analytijche Chemie 
D2te Aufl. I. Braunſchweig 1865. Sp. 1191. 

2) Bafiy, Dictionnaire d’&conomie politique II, 515 
nah Schüß, Über die Renten, Tübinger Zeitichr. für Staats- 
wiſſenſchaft XI, ©. 203. 

3) Offizieller Katalog der internationalen Ausftellung von 
Maſchinen, Produkten und Spezialitäten der Müllerei 2c. im 
Mai und Juni in Leipzig 1869. ©. 41 — 46. 

4) Viebahn III, 759. 





Die Kortfchritte der Müller. 399 


Die beffern Einrichtungen find nichts Neues. ‘Das 
amerifanifche Mahlverfahren wurde fchon Anfang der 
breißiger Jahre in größern ſtädtiſchen Mühlen einge 
führt. In den großen Seeftäbten, auch theilweiſe in den 
bedeutenvern Binnenſtädten exiftiren heute große Altien- 
unternehmungen fowie veiche Unternehmer, vie nicht mehr 
mit ver Lohnmüllerei fich abgeben, fonvern die Müllerei 
und die Mehlſpekulation auf eigene Rechnung im Gro⸗ 
Ben betreiben. Die Dampfmühlen haben bedeutend zu- 
genommen; jede ganz große Mühle beinahe muß, wegen 
der Ungleichheit des Wafjerzufluffes, wenigftens eine Re- 
fervevampfmajchine haben. Es gab deren in Preußen 


1837... 27 mit 64 Gängen, 
1846 . . 115 =» 88 = 
18552 . . 339 - 604 ⸗ 
1861 °. . 664 -1727 ⸗ 


Das find die großen Geichäfte, deren einzelne bie 
zu 60 umd 70 Arbeiter beichäftigen. Sie haben beion- 
der8 von 1861 bis zur Gegenwart noch große Fort- 
Ichritte gemacht, aber fie werfen fich auch mehr und 
mehr auf den Export. Der Stettiner Handelsfammer- 
bericht von 1865 1 ſchildert in glänzenden Farben die 
Sortjchritte der großen Dampfmühlen, beſonders ver 
Stettiner Dampfmühlenaktiengefellichaft, aber als Haupt- 
erfolg hebt er hervor, daß die Probufte nunmehr auf 
englijchen und franzöfiichen Märkten konkurriren können. 


Das kann e8 ung erflären, daß die Konkurrenz der 
großen Dampfmühlen den zahlreichen Kleinen Mühlen 


1) Preußiſche Hanbelsfammerberichte für 1865, ©. 234. 


400 Die Umbildung einzelner Gewerbszmweige. 


noch nicht allzu gefährlich war. ‘Die letzteren beftreiten 
noch immer den größten Theil des Bedürfniſſes. Der 
Mehlhandel im Großen ift verſchwindend gegen ven Iofe- 
len Mehlbevarf. Alle technifche Vollendung und bilfige 
Produktion großer Unternehmungen kann nicht auffom: 
men gegen die Transportkoſten, die aus einer größern 
Konzentration des Mühlenweſens entjtehen würden. Und 
theilweife find ja die Verbefferungen auch im Tleinen 
Betrieb anzubringen. 


Die ländlichen Mühlen find auch jet noch die Haupt- 
jache; 1861 find von den preußiſchen Waſſermühlen 
88%, ländliche, von ven Windmühlen wohl noch mehr. 
In Sachien eriftiren 1855 - 512 ftäbtifche, 3 543 länd⸗ 
liche Mühlen; von 5328 gewöhnlichen beutjchen Gängen 
find 2979 noch nicht über 4 Monate im Gange.? Der 
Heine Müller ift nebenher Bauer, Wirth, er bat eine 
fleine Säge- oder Delmühle mit feiner Waſſerkraft ver- 
bunden und ift troß unvollfommener Zechnif ein wohl- 
habender Bürger und Handwerker, der nicht unter ber 
Konfurrenz der großen Mühlen Teivet. Als Beweis, 
daß felbjt die Heinen Windmühlen die neuern Tortichritte 
der Technik theilweije adoptiren können, führe ich die 
Bemerkungen der Greifswalder "Handelsfammer von 
1865 an;3 es wird, nachdem der ſchwunghafte Betrieb 
der einzigen Dampfmühle erwähnt ift, berichtet, vie 
bortigen 20 Windmühlen hätten ungefähr die gleiche 








1) Viebahn III, 756. 
2) Zeitfchrift d. fächl. fiat. Bur. 1857. ©. 53. 
3) Preußiſche Handelsfammerberichte pro 1865. ©. 316. 





Der Fortbeftand der Heinen Mühlen. 401 


Quantität Roggen und Weizen, aber ausjchließlich für 
den Platzkonſum vermahlen. Dann heißt es: „Danf 
der jpornenden Konkurrenz der Dampfmühlen muß an- 
erfannt werben, daß die Windmühlen ihr Mahlſyſtem 
jet bier ſämmtlich verbeifert und nach dem Muſter 
der Dampfmühlen eingerichtet haben. Sie haben des- 
halb es auch dabin gebracht, in Roggenmehl ein fo 
gutes Produkt zu liefern, daß fie wohl von dieſer Sorte 


‚bier die Platverforgung der Hauptſache nach behaupten 


innen, Da gerade auch Roggen fich für kleinere Mühlen⸗ 
betriebe geeigneter zeigt als Weizen.” Auch auf ver 
bießjährigen Austellung von Miüllereimafchinen und 
- Produkten in Leipzig hatte man den Eindruck, daß die 
meiften Bortichritte und Verbeſſerungen in Heinen 
Mühlen durchzuführen feien. ‘Die theilweife ganz neuen 
Hülfsmafchinen find nicht allzutheuer. Die vorhin 
erwähnte Sichtmafchine 3. B. war zu 1200 France 
notirt. Aehnlich manche der andern Maichinen. Bei 
einzelnen bejjern Hülfsporrichtungen am Mablgang 
handelt es fich ſogar nur um ein paar Thaler. 

So fommt es, daß und die Statiftif neben ver 
Zunahme der Dampfmühlen feine Abnahme der andern 
zeigt. Man verzeichnete in Preußen früher Waffer - und 
Windmühlen zufammen, erft jpäter getrennt. Von ven 
Windmühlen haben in der Regel die alten Bockmühlen, 
welche noch 1861-88 9/, der gefammten Winpmühlen aus⸗ 
machen, einen, die holländischen Mühlen zwei Gänge. Die 
Zahl der Gänge wird bei ven Winpmühlen nicht aufge- 
nommen. Abgejehen nun von ven nicht zahlreichen durch 
thierifche Kräfte getriebenen Mühlen gab es in Preußen; 

Schmoller, Geſchichte d. Klein gewerbe. 26 


402 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Wind- Waſſer⸗ Mahl⸗ Waſſer⸗ und 
mühblen müblen gänge Windmühlen 
berießteren zuſammen 


1819 . . — — — 23 962 
1825... — — — 25 099 
1831 . . 10451 13 949 22 693 24 400 
1843 . . 11446 14 220 24 250 25 666 
1849 . . 13150 14 475 25 122 27 625 
1861 14 866 14 712 28 096 29 578 


Nach Aufhebung des Mühlenzwangs 1810 in 
Preußen waren viele Windmühlen raſch entftanven; 
1825 wurde der Bau einer Windmühle an eine Kom 
zeiftonsertheilung geknüpft, welche erfolgen follte je nad 
dem Bepürfniß; feit 1845 ift das befeitigt; in Folge 
biervon trat die bedeutende Zunahme der Windmühlen 
ein, die aber nicht ftattgefunden hätte, wenn Die Ron 
kurrenz der großen Etabliffements auch auf dem Lande 
und in den Heinen Städten wirkte. 


Im Süden und Weften Deutjchlands ift Die Zahl 
der Mühlen größer, ſchon weil der Mebllonfum viel 
ſtärker if. Selbſt die größern Gefchäfte aber find 
Heiner als im Norden; auf eine badiſche Dampfmühle 
fommen nad) Viebahn 14, auf eine pommerfche 40 
Gänge. Es gibt im Süden noch viel mehr Lohn- oder 
Kundenmühlen, man hat dort auch viele Kundenmühlen 
mit verbefjerten amterifantjchen Einrichtungen. Dagegen 
fehlen dort die Heinen ländlichen Winpmühlen. Es 
überwiegt die mittlere Waffermühle, während man in 
Norpveutichland mehr ganz große und ganz kleine Ge- 
ichäfte findet. 


Die Branntweinbrennerei. 403 


Die Branntweinbrennerei gehört nach der jozialen 
Stellung der Unternehmer weniger dem gewerblichen 
als dem landwirthſchaftlichen Leben an. Aber ein paar 
Worte mögen doch erlaubt fein. 

Die preußiiche Branntweinbrennerei empfing ihren 
Hauptimpuls durch die landwirthſchaftliche Ueberproduk⸗ 
tion der zwanziger Jahre. Im jener verfehrsarmen Zeit 
war fie Doppelt am Platz, um die untransportablen 
Kartoffeln, auch das Getreide zu verwerthen. Es ent- 
itanden die vielen Heinen und vielfach unvollfommenen 
Drennereien. Von 1831 ab nimmt, wohl auch in 
Folge der verjchärften Steuer, die Zahl der Brennereien 
ſchon ab, die Geſammtproduktion jteigt aber noch bis 
1839; da erreicht die preußiiche Produktion den Höbe- 
punkt von 197 Millionen Quart Branntwein ober 13,, 
Quart pro Kopf der Benölferung. ! Im den vierziger 
Jahren kamen die jchlechten Kartoffelernten Hinzu; 1854 
ift die Produktion gejunfen bi8 auf 109 Mill. Duart.? 
Die Robftoffe find theilweiſe fchon einträglicher anders 
zu verwerthen, bie Branntweinpreife find in. Folge der 
Ueberproduktion außerordentlich gefallen. Das Ouart 
foftete in Yeichten Pfennigen: ® 


1) Dieterici, flatift. Weberf., erfte Folge, 1842. ©. 298. 

2) Bienengräber, Statiftif des Verkehrs und Verbrauchs 
im Zollverein für die Jahre 1842 — 64. Berlin 1868. ©. 1883. 

3) J. ©. Hoffmann, Darftellung des Zuftandes, worin fich Die 
Bereitung und der Verbrauch des Branntweins in Bezug auf 
ſtaatswirthſchaftliche und fittliche Verhältniſſe dermalen im preußi- 
den Staate befindet, Sammlung Meiner Schriften. Berlin 
1843, ©. 448. 

26 * 


404 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


1820 1830 1840 
Königsberg. . 93 58 42 


nl 
a 








» Danig - . . 102 63 60 
. Don ... 3 60 3% 
. Belin . . . 50 3 30 
» Stettin. . . 78 55 43 
«e Breslau. . . 68 59 48 
- Magteburg. . 62 57 60 
. Münfer. . . 69 8l 72 
: Köln. . .. 6 66 53 


Den tiefiten Stand erreichen die Preije 1849 um 
50; da ftehen fie auf 24 Pf. pro Quart in Berlin! 
Man hatte in Heinen Gefchäften überall fortproduzitt 
ohne jede NRüdficht auf den Abſatz des Branntweins, 
nur um die Schlempe als Viehfutter zu haben. Sie 
bat ihrer Zufammtenfegung wegen einen beſondern 
Werth, braucht weniger Zufäge an Proteinjtoffen, als 
wenn man bie Kartoffeln direkt verfütterte; Das fü 
ja unter Verhältniffen fo weit gehen, daß die Schlempe, 
die als Viehfutter nebenher abfüllt, jo viel Werth bat, 
als der uriprüngliche Rohitoff im Ganzen.? | 

Das war auch bauptjächlich die Urfache, warum die 
Fabrikation trog der Ueberprobuftion und den geſunkenen 
Preifen nicht ganz aufhörte. Ia fie nimmt von 1854 
an ſogar einen neuen Aufichwung; fie jteigt von 109 
Mill. Quart 1854 bis auf 208 Mill. Quart 1864. 


1) Jahrbuch für die amtliche Statiftit IT, 152. 


2) Siehe die Koftenberechnungen für die Zeit von 1840 
bis 1850 bei Engel, fühl. Jahrb. ©. 382. Ferner: Settegaft, 
bie Thierzuct, Breslau 1868. S. 444 — 448, 


Der Sieg des Großbetriebs in der Brennerei. 405 


Aber möglich war das nur durch das vollftändige 
Berlaffen des Kleinbetriebs. Die Zunahme ift rein 
auf Rechnung der vollendeten Technik, des Großbetriebs, 
der Brennereien auf ganz großen Gütern zu feken. 
' Schon in den breißiger Jahren Hatten die Fortſchritte 
in den Fabrifen, welche ven Betrieb fortfeßten, begonnen, 
vollendet haben fie fich erft von 1854 ab. Die Zahl 
der Geſchäfte hat bedeutend abgenommen; es gab: 

ve. 181 . 22988 preuß. Brennereien, davon im Betrieb 13819 
1839 . 15953 - ⸗ —1118628 
1854 . 10114 ⸗ ⸗ er 6611 
1865. 7711 = ⸗ — 2 6209 

‚g Schon 1831 freilich zablten von den 13819 betriebenen 
‚d Sefchäften 2795 je über 500 Thlr. jährliche Brannt- 
Ä weinfteuer, aber 1865 zahlen von 7 711 nicht weniger als 
‚33682, alfo beinahe die Hälfte, über 500 Thlr. Der 
‚4 Umfang ver Geichäfte nimmt auf der Linie nad) Norboft 
wieder zu. Im Jahre 1864 Haben 533 Brennereien 
über 5 000 Thlr. Steuern gezahlt, 115 hiervon fallen auf 
Polen, 51 auf Pommern, 74 auf Schlefien, 124 auf 
4 die Mark, 90 auf Sachſen; das find zujammen 454. 
1 Die 466 Brenmereien Polens produziren das dreifache 
Quantum ver 2422 rheiniichen Brenmereien. Es Tiegt in 
F alledem ver Hare Beweis, daß der Großbetrieb zur 
1 Herrichaft gelangt ift. Wenn 1861 auf eine Brennerei 
durchichnittlich 3 Perfonen kommen, jo beweift Das nur, 
daß neben den großen Etabliffements im Often eine 
gewiſſe Zahl ganz unbedeutender Brennereien noch 
exiſtirt, ſowie daß Die Erhebung ber Perfonenzahl nicht 
genau fein kann bei einem Nebengewerbe, Das nur 





406 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


einen Theil des Jahres Perfonen befchäftigt, die fonft 
rein der Landwirtbichaft fich widmen. 

Etwas anderes ift es mit der Brauerei, wen 
gleich auch fie vielfach in den Großbetrieb übergeht. 
Die Brauerei tritt auch theilweiſe als ländliches Neben- 
gewerbe auf, aber viel weniger, als die Branntwein- 
brennerei; fte flüchtete fich Hauptfächlich zu einer Zeit 
aufs Land, als die Zunftmißbräuche in den Städten 
gerade bier, gerade in biefem Gewerbe den höchiten 
Grad erreicht hatten. ! 

Die alte weitberühmte Brauerei der deutſchen 
Städte, welche bis in das 17te Jahrhundert fich erhal- 
ten hatte, zerfiel im 18ten mehr und mehr. Thee und 
Kaffee, Wein und Branntwein verbrängten das Bier 
bei Vornehm und Gering Die ftäbtifche Brauzunft 
beitand aus einer Anzahl Hausbefikern, die das aus- 
jchließliche Recht zu brauen als eine Pfründe betrachteten, 
es häufig nur verpachteten, jedenfalls wenig von ber 
Brauerei verjtanden, da fie nicht, wie andere Real⸗ 
berechtigte, gezwungen waren, durch eine techniſche 
Bildung fich das Meifterrecht zu erwerben. Bei finfen- 
dem Abſatz wurde das Reihebrauen eingeführt, oft mit 
einem gemeinfamen Malzhaus und in einem gemein- 
ſamen Brauhaus, welche jever nach der Neihe bemukte, 
weil ed nicht lohnte, mehrere ſtehende Einrichtungen 
derart zu baben.? 


1) Engel, ſächſiſches Jahrbuch S. 376. 


2) I. ©. Hoffmann, Befugniß zum Gewerbetrieb S. 188 
bis 197. 


Die Bierbraierei. 407 


Erſt mit einer veränderten Gemerbegefeßgebung, 
welche dieſe Mißbräuche befeitigte oder zu befeitigen 
erlaubte, nahm die Brauerei einen neuen Auffchwung, 
zeigte fich aber auch bald die Neigung zu größern Ge- 
ſchäften. Die Möglichkeit eines bedeutenden Abjates in 


die Ferne iſt vorhanden, die technilchen Anfprüche an 


die gute Leitung einer Brauerei, wie an die Vollfommen- 
beit der Einrichtung haben fich immer mehr geiteigert. 
„Eine den heutigen Anforderungen entjprechende Kunft- 
brauerei” — jagt Viebahn — „bedarf nächit ausgevehn- 
ten Gebäuden eines umfaſſenden Syitems von Apparaten 
und Maſchinen zum Darren und zur Zerfleinerung des 
Malzes, zur Bortichaffung und zum Kochen des Malz- 
ſchrotes, eiferner Kühler in Verbindung mit Ventilatoren 
und Eisfühlung, welche eine für längere Dauer geeignete 
Untergäbrung auch bei wärmerer Witterung ermöglichen, 
Sacharometer zur genauen Beobachtung des Gährungs- 
laufes, ausgedehnter Eis- und Bierfeller. ‘Die alten 
profeffionsmäßigen Brauereien find der Konkurrenz mit 
diefen neuen planmäßig eingerichteten Fabrifen im Bier- 
handel felten gewachſen, fie beichränfen fich deshalb, ba 
fie meiftens auch Schenken haben, auf die Probuftion 
für den eigenen Bedarf.‘ 

Lestere find im Süden Deutſchlands, am Rhein 
und in Weſtfalen noch zahlreicher; auch da vergrößern 
ſich die einzelnen Geſchäfte; * beifere, theuerere Einrich— 
tungen werden gemacht; aber vielfach auch in kleinern 
mit Schank⸗ und Gaſtwirthſchaft verbundenen Geſchäften. 


1) Siehe württemberg. Jahrb. 1862 Heft 2. S. 230. 


408 Die Umbildung einzelner Gemerbszweige. 


Jedes Dorf beinahe, jedes Heine Städtchen hat eine 
oder einige Brauereien. Die ſoziale Stellung des 
Brauers ift dort überwiegend noch die eines wohlhaben- 
den Handwerfers, während im Norden der Brauer ein 
vornehmer Fabrikherr geworben: ilt. 

Die bairiichen Brauereien, von welchen bie Impulſe 
des Fortſchrittes ja weſentlich ausgingen, ſind theilweiſe 
ſehr groß, im Durchſchnitt aber auch noch mäßigen Um- 
fange. Der jährliche Durchſchnittsverbrauch an Mal; 
für eine Brauerei wird auf 247 bairiſche (etwa 1000 
preußiiche) Scheffel gerechnet, die entiprechende Pro—⸗ 
duktion auf 1730 bairiiche Eimer Bier.! In München 
waren 1857 zwei Brauereien, welche jährlich über 100 000 
Eimer (100 = 93 preuß.), 10 welche zwijchen 34000 
und 77000 Eimer produzirten, und 14 Hleinere, auf 
welche durchichnittlich 14000 Eimer kamen. Das 
find große Geſchäfte. Aehnliche gibt es in Erlangen, 
Nürnberg, Kisingen, Kulmbach, Landshut, Regensburg, 
Windsheim, Bayreuth, Hof und Tölz; die übrigen 
Brauereien im Lande find dagegen viel Kleiner. 

In Preußen werben die nicht gewerblichen 
. Drauereien, die nur für den Hausbedarf Arbeiten, 
unterjchieden von den gewerblichen; die Zahl ver 
nicht gewerblichen hat ſich wenig geändert, Dagegen 
bat die Zahl ver gewerblichen bedeutend abgenommen, 
während die Produktion allein von 1854 — 64 von 9 
auf 14 Quart pro Kopf ftieg; es waren: ? 


I) Bavaria I, erfte Abtheilung , 501. 
2) Bienengräber, Statiftil des Verlehrs S. 159. 


Die Abnahme der Heinen Bierbrauereien. 409 


in den Städten auf dem Lande zufammen 
1839 . . 5201 6890 12091 
148 . . 449 5659 10152 
18566 . . 394 4509 8443 
1864 . . 3730 3683 7413 


Die Abnahme erfolgte in den verfchiedenen Pro- 
binzen wieder in verfelben Ordnung von Südweſt roch 
Nordoſt; fie betrug 1839 — 64 in Prozenten: 


in den Städten auf dem Lanbe 
ein Oftpreußen .. 454 % 70, % 
» Weftpreußen . 22, >» 76,, ⸗ 
- Bofen - '. . 21° - 80, - 
« Pommern . . 524 - 754 * 
. Schlefen . +4 = . 41, ⸗ 
- Brandenburg . „35, - 525° 
-» Sadien. . . 27, + 39, - 
» Weflfalen . . 36, ⸗ 44. « 
» ber Rheinprovinz 14, - 33,5 - 
im Staate. . . 28, + 46,5 = 


Aus diefen Zahlen tft erfichtlich, wie viel ſtärker 
ber Rückgang der ländlichen al8 ber ſtädtiſchen Gefchäfte, 
banptfächlich aber, wie viel ftärfer der Rückgang in 
den öftlichen Provinzen ift. Die ſtädtiſchen Brauereien 
der Rheinprovinz haben am wenigſten abgenommen, bie 
ſchleſiſchen ſogar etwas zugenommen. Deutlicher nod) 
zeigt fich Die Größenvertheilung ber Unternehmungen in 
folgender Tabelle, welche zufammengezogen nach ven 
Zahlen von Bienengräber mittheilt, wie groß die Zahl 
der Brauereien ift, welche 1864 eine bejtimmte Quan- 
tität Braumalz verarbeiten. Ich füge in der letzten 
Spalte nach Viebahn ven Betrag bei, den 1865 burch- 
Ichnittlich eine Brauerei an Steuer zahlte. 


410 Die Umbildung einzelner Gewerbözweige. 








Provinzen 


Oftpreufßen . 
MWeftpreußen. 
Poſen .... 
Pommern .. 
Schleſien .. 
Brandenburg 
Sachſen ... 
Weſtfalen .. 
Rheinprovinz 


Zuſammen 3 264 
Prozente der 
Geſammtzahl 3,01 dr 44,51 47 14 


Die Heinen Gefchäfte, welche unter 100 Centner 
Braumalz verbrauchen, find der Zahl nach nur in ben 
beiden wejtlichen Provinzen noch überwiegend ; Dagegen 
find der Zahl nach überall noch die mittleren Geſchäfte 
vorberrichend, welche zwifchen 100 und 1000 Eentner ver- 
arbeiten. Die Aenderung aber ſeit 1853 im dieſer 
Beziehung tft groß; damals machten aus 

die über 2000 Etr. verarbeitenden . 1,o5°/ 1864 3 % 
die 1000 — 2000 Er. verarbeitenden 295 + + Am’ 


bie 100--1000 = verarbeitenden 34,05 » = Hs: 
bie unter 100 Etr. verarbeitenden. . 62,54 + = Als 


Wenn vorerft noch die Mittelgeichäfte überwiegen, 
fo ift die Frage, wie Yange das noch anhält. Wir find 
auch bier mitten inne in dem Umbildungsprozeß. 


324 | 3043 











. 2. Die Bäder und die Fleilcher. 





Die techniichen Fortſchritte in der Bäderei. Die Brodfabrifen. 
Die Urfachen ihrer geringen Zunahme. Die preußiichen Bäder 
1816— 61. Ihre Stabilität. Die Brodkonſumtion und die 
Hausbäderei. Die Kuchenbäder und die Konfiturenfabrifen. 
Das Fleiichergewerbe. Seine großftäbtiiche Organifation. Die 
Schlachthausfrage. Die preußifchen Fleifher 1816 — 61. 
Kleine Gefchäfte und geringe Zunahme. Die Fleiſchproduktion 
und Konfumtion. Ihre theilweife Abnahme. Hausfchlächterei 
und gewerbliche Schlächterei. 





Sieht man nur auf die Technif und ihre Fort- 
Ihritte, fo könnte man erwarten, taß die Brobfabri- 
fation der Brauerei in ihrer Umbildung nicht nach- 
ftünde. Nicht bloß die alte Art der Brobbereitung 
bat große techniiche Verbeſſerungen aufzumweifen, auch 
ganz neue Methoden find in den großen englifchen 
Brodfabrifen in Anwendung. 

Ich erwähne als Beiſpiel die in einigen englifchen 
Dampfbrodfabrifen eingeführte Methode von Dauglifch.! 
Sie beiteht darin, daß das Mehl unter Zugabe ber 
erforderlichen Menge Salz unter jehr hohem Drude 
in einer Athmoſphäre von Kohlenſäure mit an Kohlen- 


1) Stohmann, Chemie I, 1224— 29. 


| 


412 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


ſäure gejättigtem Wafjer angerührt wird, Der Teig 
enthält dann Tohlenjaures Gas in Waſſer unter hohem 
Drud vertbeilt. Sobald dieſer Drud aufgehoben wird, 
Itrebt das fomprimirte Gas zu entweichen und lockert 
dabei den Teig. Das Baden erfolgt in einem 40 Fuß 
langen Ofen, deſſen Sohle aus Eifenplatten befteht uf 
von unten gebeizt wird; über der Sohle läuft ein enb- 
Ioje8 Rollenpaar, das die Badplatten trägt und all 
mäblig nach dem andern Ende des Ofens bringt. Das 
Brod iſt ausgezeichnet; die Ausgaben für Hefe und 
mancherlei. Berlufte fallen weg; Arbeit ift beinahe feine 
nöthig, da Alles durch Mafchinen gefchieht. Das Mehl 
it in 1Y, Stunden in fertiges Brod verwandelt, wäh- 
vend ſonſt eine 3 — 4fache Zeit nothwendig iſt. 

Auch in England, ſpeziell in London, aber ſind 
ſolche Etabliſſements nach der ausdrücklichen Verſicherung 
eines kompetenten Beurtheilers! 1861 noch ſehr ſelten 
gegenüber der Maſſe gewöhnlicher Bäcker. 

Außerordentliches läßt ſich unter Beibehaltung 
der alten Art der Zubereitung ſchon leiſten durch 
die verbeſſerten, vornehmlich durch die ganz großen 
Backöfen. Engel hat ſchon 1857 über die Er— 
ſparung an Heizkoſten und Heizmaterial intereſſante 
Berechnungen gemacht.“ Im den gewöhnlichen land— 


1) Des Halles et marches et du Commerce des 
objects de consommation à Londres et a Paris. Rapport 
a s. Exc. le ministre de l’agriculture du commerce et des 
travaux publics par S. Robert de Massy. Paris Impr. imper. 
1861. 1, 75. 

2) Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bür. 1857. S. 54— 55. 





Die Brodfabrifen und die verbeflerten Badöfen. 413 


wirtbichaftlichen Baddfen, — jagt er — in welchen nur 
zeitweilig Brod gebaden wird, braucht man für je 
100 Pfund Brod 60— 70 Pfund Ho; in Defen, 
worin täglich 2- bis 3mal gebaden wird, 30 — 36 
Pfund; in Defen, in welchen Tag und Nacht ununter- 
brochen gebacken wird, 17 — 18 Pfund; das macht das 
Pfund Holz zu 1 Pfennig gerechnet 70, 36 oder 
18 Pfennige; bei konſtanter Steinfohlenheizung braucht 
man 10— 12 Pfund Steinkohlen, die 7 —— 8 Pfennige 
foiten, womit die wirklichen ‚Rechnungen ber großen 
Däderei im Holpital St. Jean in Brüſſel überein- 
jtimmen. Engel nimmt an, daß in Sachſen jährlich 
800 Millionen Pfund Brod fonfumirt werden, und daß 
demnach durch Konzentration der ganzen Brodbäderei 
eine Erſparniß von nahezu einer Million Thaler zu 
erzielen wäre. Die jett viel genannten Wochenmeher- 
ſchen Dampfbacköfen Leiften bei gleichen Koſten minveftens 
das 21/, fache gewöhnlicher Backöfen. 

Zu derartigen großen Einrichtungen gehört aber ein 
großes Kapital. Reiche Unternehmer nur over Aktien 
gejellichaften, Spitäler, große militärifche Verpflegungs- 
anftalten, ſowie Genofjenjchaften können fie in die Hand 
nehmen. . In Stuttgart ift Ende 1865 eine DBrob- 
fabrik entſtanden, welche einen großen. Zulauf bat und 
eine gute Qualität Brod unter dem Preife der übrigen 
Bäder Liefert. Die Berliner Aktienbäderei bat nad) 
Viebahn einen jährlichen Abſatz von 15 Millionen Pfund. 
In Trier und ln find große Gejchäfte, die ihre Pro- 
dukte meilenmweit in die Umgegend abfeken. Die Bäcke⸗ 
reien von Hameln follen in ven letzten Sahren für etwa 


414 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


42000 Thaler jährlih Brod nad) Weftfalen abgeſetzt 
haben. In Berlin und Chemnig eriftiren große Ge⸗ 
nofjenichaftsbädereien, der St. Johann » Saarbrüder 
Konjumverein hat eine eigene Brodbäckerei. 

Die zweite Vorausiegung folcher großer Bäckereien . 
ift die Organifation des Abſatzes, des Brodhandels. 
Nun ift der Brodhandel ja beſonders in Nord- 
deutichland jehr entwickelt, ver Brodverkauf auf ben 
Wochenmärkten durch die umliegenden Landmeiſter ift 
ziemlich bedeutend. Häufig Haben die Landmeiſter 
beitimmte Kunden in der Stadt, denen fie täglich oder 
alle paar Tage die nothwendige Brodquantität in's 
Haus bringen. In Berlin wurden 1864 - 184400 
Zentner Brod eingeführt. Aber das ift mehr ein Brob- 
handel im Kleinen; die Frau und die Kinder des Land⸗ 
meijter8 bejorgen ihn, ohne Daß es dazu Toftipieliger 
Drgane beburfte. Auch die genoffenjchaftliche Bäckerei 
fommt obne große Koften für den Abſatz weg. Die 
Mitglieder holen e8 in der Regel in den ohnedieß 
gehaltenen KRaufftellen. 

Nicht fo die Privatbrodfabrif. Bei ihr entitehen 
bedeutende Koſten für Verkaufsftellen, für den Transport, 
welche tbeilweife die Erſparniſſe der Mafjenproduftion 
aufwiegen können. Die Einrichtung befonverer Brod⸗ 
wagen, welche herumfahren, ven Familien den täglichen 
Bedarf in's Haus zu Tiefen, lohnt nur in großen 
Städten. Und dann koſtet eine jolche Organiſation nicht 
bloß viel, fie wiberftreitet auch vielfach den Gewohn⸗ 
beiten und Bedürfniſſen. Diele wollen nicht fo feft 
beftellen, ſondern ſelbſt einkaufen, in ver Nähe ein- 


Die Erhaltung ber profeffionsmäßigen Bäckerei. 415 


faufen. Jede Hausfrau wünfcht einen Bäder in nächiter 
Nähe zu haben, beſonders um friiches Gebäck jederzeit 
zu befommen. Dieſes lofale Bebürfniß tft neben ber 
Zähigkeit aller Gewohnheiten, neben dem meift noch 
mangelnden Kapital und ben früher und bis in bie 
neuere Zeit mangelnden Kenntniſſen in den Kreiſen ver 
gewerbsmäßigen Bäder die Haupturſache davon, daß 
bis jeßt die Brodfabriken fo wenig Terrain erobert 
baben, daß bis jeßt die altbergebrachte profelfionsmäßige 
Bäckerei in der Hauptfache noch unbejtritten berricht. 

Dazu kommt freilich noch ein wichtiger Umstand. 
Die erwähnten ganz neuen Shiteme laſſen fich nur 
in großen Fabrifen durchführen, die höchſte Feuer⸗ 
materialerjparniß tritt nur ein bei Etagenbadöfen, welche 
in 3—4 Stockwerken zugleich zu baden erlauben, aber 
eine Reihe anderer Heinerer Verbefferungen und Erfin- 
dungen, die das Geſchäft ſchon ziemlich ventabler machen, 
find fo, daß felbft der Heinfte Bäder fie anwenden 
kann. Sie gerade haben fi) mannigfach in letzter 
Zeit verbreitet, haben. fich leichter verbreitet, weil fie 
ih an das beftehende Syſtem kleiner Gefchäfte 
anfchließen. 

Die Knetmafchinen find einfach, billig, durch die 
Hand in Dewegung zu jeßen. . Dampfbadöfern Heinjten 
Umfangs und jehr billig werden heute neben den großen 
gebaut. Mit Horsford -Liebig’ichem Backpulver, Das 
man in Heinen Probepadeten von 5 Pfund, dann in 
Kiften von 50 Pfund für ein paar Thaler erhält, Tann 
jever beute verfuchen zu baden; jeder, der e8 anwendet, 
wird 10—12 %, mehr Brod, wird innerhalb 2 Stunden 


416 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


aus dem Mehl fertiges Brod erhalten, wenn bie 
Angaben, durch welche dieſes Pulver empfohlen wird, 
richtig find. Alle folche technifchen Aenberungen ſtützen 
wieder den Kleinbetrieb. 

Daß jedenfalls bis 1861 in Preußen ſich im All⸗ 
gemeinen der Kleinbetrieb vollſtändig erhalten hat, das 
lehrt die folgende Tabelle, welche eine Ueberſicht über 

bie preußiſchen Bäder von 1816 — 61 gibt:* 


Gewerbe⸗ 


| I und treibenden 
Jahre | Meifter | Gehülfen Gehülfen en formen 
Ein- 


zufammen| Gehütfen | wohner 


Meifter Auf Auf einen 
100 





1816 | 18133 7118 | 25251 39 412 


1822 | 19651 6853 | 26504 35 442 
1825 |. 20223 1287 | 27510 36 447 
1828 | 21708 1559. | 29267 35 437 
1831 | 21217 8049 | 29266 38 441 
1834 | 22175 9118 | 31293 41 434 
1837 | 23437 | 10452 | 33889 44 418 
1840 | 23458 | 11460 | 34918 49 429 
1843 | 24257 | 12385 | 36642 51 424 
1846 | 24601 | 14047 | 38648 57 419 
1849 | 24391 | 15266 | 39657 62 412 - 
1852 | 25067 | 16503 | 41570 66 407 
1855 | 25229 | 17559 | 42788 69 402 
1858 | 25685 | 19077 | 44762 14 396 
1861 | 26186 | 20801 | 46987 79 393 


1816 : 61 |100:144,,| 100: 292,100 : 186. | 100::203 100: 104, 


1) Zu vergleichen über bie preußifche Bäderei: Mit 
theilungen I, S. 224. Tabellen und amtliche Nachrichten V, 
©. 826. 


Die preufiichen Bäder 1816 — 61. 417 


Die Zahl der Gehülfen ift ziemlich geftiegen, aber 
noch hat fie 1861 die der Meifter nicht erreicht; 
noch können nach dieſer Durchſchnittszahl nur wenige 
größere Geſchäfte vorhanden ſein; noch hat nach dem 
Zahlenverhältniß an ſich jeder Gehülfe die Ausſicht, ſelbſt 
Meiſter zu werden. 

Das Verhältniß ſämmtlicher Gewerbetreibenden 
eines Handwerks zur Bevölkerung gibt da, wo die 
Technik ſich ſchon vollſtändig geändert hat, kein Bild der 
Produktion, aber bei der Bäckerei, wo das bis 1861 noch 
ſo wenig der Fall iſt, da belehrt uns das Verhältniß der 
Zahl der Gewerbetreibenden zur Bevölkerung über die 
Größe der Produktion; denn bedeutend kann der Umfang 
der Geichäfte in ſolchem Falle bei gleichbleibender Meifter - 
und Gehülfenzahl nicht wachſen. Die Zahl ver Bäder 
nun ſchwankt von 1816 —49 etwas, bleibt mehr ober 
weniger hinter der Bevölferung zurück; 1849 tft die Zahl 
diefelbe wie 1816 und erſt von da überholt fie vie Be⸗ 
vöfferung, aber nur um 4, %,. Wie viel jpricht man 
von den Fortichritten der Konjumtion, von der Ver⸗ 
beiferung der Lage aller Klaſſen, von ber beijern Er- 
nährung, welche heutzutage ftattfinde, und wir jeben 
bier das ganze 19te Jahrhundert hindurch faft unver» 
änderte Verhältniſſe, kaum eine etwas größere Zahl 
Bäder! "Und man denke nur, wie 3. B. die ftäbtilche 
Bevölkerung zugenommen hat, welche nach der gewöhn⸗ 
lichen Annahme doch ihr Brod und Gebäd nom Bäder 
bezieht. . . | 
Jedenfalls beweift die geringe Aenderung von 1816 
bis 1861 wieder die elementare, ftabile Natur der ein- 

Sämoller, Geſch. d. Aeingewerbe. 27 ' 


418 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


fachen Handwerke, beweift, wie langſam die Gewohn⸗ 
beiten des häuslichen und wirtbichaftlichen Lebens ganzer 
Völker fich ändern. 

Uebrigens bängt die Zahl der Bäder von zwei 
ganz verjchiedenen Urfachen ab, 1) davon, wie viel Brod 
gegeifen wird gegenüber Breiarten, gegenüber der Kar- 
toffelfonfinntion und 2) davon, wie viel Brod vom 
Bäder gefauft, wie viel von den Hausfrauen jelbit 
bereitet wird. Die erfte Urjache kommt bejonders für das 
platte Land’ und für die öftlichen preußiichen Provinzen 
in Betracht. Werig bat fich da in den Lebensgewohn- 
heiten des ländlichen Arbeiters, des Landvolls noch 
geändert. ‘Die Zahl. der Landbäcker ift beinahe diejelbe 
1849 und 1858. In Preußen im engern Sinne 
fommen auf 10000 Einwohner, wie oben jchon erwähnt . 
tit, 6, in Weftfalen 21, in Württemberg 36 Bäder- 
meifter. | 

Ebenjo freilich it an dieſen Zahlen Die Haus- 
bäckerei ſchuld. Viebahn nimmt an, daß in Frankreich 
die Hälfte, in ganz Deutichland nur 1/, des gebadkenen 
Brodes vom Bäder gefauft wird. Hauptfächlich im 
Nordoſten Dentichlands ift auf dem Lande das Haus- 
baden noch üblich. Das Leben ift in dieſer Beziehung 
da faft daffelbe, wie vor 50 und 100 Jahren. Wenn 
auch z. B. im Regierungsbezirk Köslin, der Die wenig⸗ 
ſten Bäcker überhaupt hat, die Landmeiſter von 17 
im Jahre 1849 auf 41 im Jahre 1861 gewachſen 
ſind, ſo will das nicht viel ſagen. Aber auch auf 
dem Lande in Mittel- und Weſtdeutſchland hat ſich 
noch nicht. wiel geändert. Viebahn berichtet von Sachien 








Der Broblonfum und die Hausbäckerei. 419 


ausprüdlih, daß man mehr zu dem Shiteme ber 
häuslichen Brodbäckerei auf dem Lande zurückkehre,“ 
wie das mit dem Bau von Gemeindebadöfen ja auch 
anderwärts geſchieht. Was die Städte betrifft, jo hat 
in den höhern Kreifen das Hausbaden bedeutend abge- 
nommen; in ben untern aber verhält es fich, theil- 
weile wenigſtens, umgekehrt. Selbft der Aermſte wird 
dem Bäder etwas durch Einkauf friiher Semmeln zu 
verbienen geben. Das Selbitbaden des Brodes aber 
bat in dieſen SKreifen mit der fteigenven Theuerung des 
jtäbtifchen Lebens, mit ven Nothſtänden des ftätilchen 
fleinen Mannes wieder zugenommen. Von verſchiedenen 
Orten böre ich pas; hier in Halle ift e8 entjchieben ber 
Fol. Es hängt das in den preußifchen Städten theil- 
weile mit der Mablfteuer zufammen. Beim Bäder 
muß fie mit bezahlt werben; zum Hausbaden bringt 
man das Mehl in fo Fleinen Ouantitäten durch bie 
Kinder in die Stadt, daß Die Steuer vermieden wird. 
Zugleich aber rechnet die Hausfrau ihre Arbeit nicht, 
weil fie fie Häufig doch nicht anders verwerthen kann, 
während fie die des Bäckers theuer bezahlen muß. 


1) Die Ergebniffe der ſächſiſchen Statiftif find ſehr zweifel⸗ 
baft. Nach der Zeitjchrift 1857, S.44 — 55 zählte man länd⸗ 
liche Bädereien 1846 - 1460, 1855 - 2046; alſo eine wejentliche 
Zunahme; nach Zeitfchrift 1863, S. 102 gab es ländliche Bäcke⸗ 
reien 1849 - 1147, 1861 - 1318, alſo eine Zunahme, welche 
etwa der Bevölkerungszunahme entſpricht. Mag das platte Land 
1846/55 und 1849/61 anders gefaßt, und jo theilweife bie 
Differenz zu erklären fein; immer bleibt es unmöglich, daß alle 
Zahlen richtig find; das reale Refultat ift zu verſchieden. 

27* 


420 Die umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Es iſt aus dieſen Bemerkungen erſichtlich, daß die 
Stabilität der Bäckerzahl im Ganzen ſich aus verjchie- 
denen Verhältniffen zufammen jest. Zugleich zeigt eine 
verartige konkrete Betrachtung, von wie vielen Umijtän- 
den eine allgemeine Bewegung wie die fortichreitende 
Arbeitstheilung, welche die abjtrafte Nationaldfonomie 
gerne ohne weiteres annimmt, im Einzelnen ab- 
hängig iſt. | 

Ein Hauptnebengewerbe der Büder in Süddeutſch— 
land, das ihre Zahl wejentlich Dort vermehrt, ift der 
Weinſchank; im Norden ift das weniger Sitte, wohl 
aber find hier die Konditoreien fehr viel mit dem Aus- 
ſchank von Kaffee, Thee und Punfch oder mit Zeitungs⸗ 
fabinetten verbunden. Daraus und aus dem fteigenvden 
Wohlftand überhaupt ift die Zunahme dieſer Gewerbe- 
treibenden, welche beinahe nur in den Städten vor: 
fommen, zu erklären. Dieterici hat jchon früher darauf 
aufmerkſam gemacht, daß die Hauptzunahme in den 
dftlichen Provinzen erfolgt je." Das liegt theilweije 
in den Lebensgewohnheiten. Der Nheinländer gebt in 
die Kneipe, im Norden gebt man in die Konbitorei. 
Zheilweije hängt e8 auch mit der ungleichern Vermögens- 
vertheilung zufammen. 

Die preußifchen Zahlen der Konditoren und Kuchen: 
bäder, die ich Leider nur feit 1831, vollftändig nur feit 
1849 mittheilen Tann, find folgende: 


1) Mittheilungen I, 225. 


Die Konditoren und Kuchenbäder. 421 








Mei Auf | Auf einen 

Jah Meifter Gehülf un Hei —* 
re eiſter Gehülfen eifter | treibenden 

i Gehülfen | fommen | kommen 

zufammen | Gehllfen Einwohner 





1849—61 |100::117,,|100: 147,3] 100:132,, |100:125,,1100:117,. 


Der Umfang ver einzelnen Geſchäfte ift größer als 
bei der Bäckerei; die Zeit von 1849 — 61 zeigt in 
diefer Beziehung eine nicht unmejentliche Aenderung. 
Es hat fich neben den Heinen Gefchäften mehr und mehr 
eine fabrifartige Produftion entwidelt, die nur theil- 
weile in der Fabriktabelle vorgetragen, theilweile noch 
in der Handwerkertabelle verzeichnet ift. Chofoladen>, 


Konfituren⸗, Eſſenzen-, Liqueurfabrifen entftehen da und 


dort. Zuckerbackwaaren bilden fogar einen nicht unbe- 
deutenden Erportartifel des Zollvereins. Viebahn hebt 
eine Reihe von Orten hervor, wo die Fabrikation blüht.! 
Königsberg, fagt er, liefert feinen Marzipan, Thorn 


1) DI, 591. 


422 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


ſeinen Pfefferkuchen maſſenhaft in den Handel; letzteres 
fabrikmäßig jährlich gegen 2000 Centner. In Halle 
und Eilenburg werden Zuckerwaaren und Konfituren 
fabrikmäßig hergeſtellt, bis Süddeutſchland und in die 
Oſtſeeprovinzen abgeſetzt. In Sachſen hat ſich die 
Großinduſtrie der Fabrikation von Bonbons, Dragees, 
engliſchem Biskuit und dergleichen mit Erfolg bemächtigt, 
namentlich ſeit zweckmäßige Maſchinen für einzelne 
Zweige in Anwendung kamen. 


Das Fleiſchergewerbe gehört wie die Bäckerei zu 
den Gewerben, in welchen zu einer ſelbſtändigen Unter⸗ 
nehmung, abgeſehen vom Hausſchlächter auf dem Lande, 
von jeher ein gewiſſer Beſitz, ein gewiſſes Kapital gehört 
hat. Die Technik des Gewerbes hat vielleicht noch 
weniger als bei dem Bäckergewerbe ſich bis jetzt geändert. 
Wohl exiſtiren in großen Städten, beſonders in den 
Seeſtädten, große Pökel- und Räucherungsanſtalten 
mit mehr fabrikmäßigem Betrieb, wohl ſetzen auch 
größere Wurſtfabriken ihre Schneide- und Hackapparate 
mit Dampf in Bewegung; aber die Hauptoperationen, 
das Tödten des Vieh's, das Abziehen, das Zerlegen, 
bleiben Sache des Arbeiters. Allerdings werden in den 
Städten die ſtehenden Einrichtungen einer Schlächterei 
theurer und koſtſpieliger und für die meiſten Geſchäfte 
wächſt die Bedeutung des Kredits und des Betriebs⸗ 
kapitals; ein gutes Geſchäft hängt weſentlich ab von 
geſchickeem auf genauer Kenntniß des Vieh's geſtütztem 
Vieheinkauf; dabei hat das größere Geſchäft, das 
größere Kapital mancherlei voraus. 





Das Fleifchergeierbe. 423 


Uebrigens ift die Arbeitstheilung zwiſchen dem 
eigentlichen Viehhandel und dem Wleifchergeiwerbe, eine . 
ſehr verichtevene. Die großftädtiiche Entwicklung ſcheint 
theilweife dem Tleichergewerbe den fojtipieligen, Vor⸗ 
ſchuß erfordernden Viehhandel wieder abzunehmen. 
Hartftein! bejchreibt die Londoner Verhältniſſe der 
Gegenwart in folgender Weile. Die Viehhänpler ver- 
faufen auf dem zweimal wöchentlich gehaltenen Metro- 
politan Cattle Market durch ihren Kommijfionär , ben 
salesman, an den Großichlächter, der in ber Regel 
baar bezahlt. Wenn der salesman Kredit gibt, thut 
er e8 auf feine Gefahr. ‘Der Großichlächter ift ein 
großer Unternehmer, der wöchentlid 80 — 100 Stüd 
Großvieh und 500— 800 Stück Schafe in eigenen 
großen Etablifjements, Schlachtbaus und Stallungen 
enthaltend, fchlachtet und in großen Stüden verkauft. 
Seine Käufer find verſchiedene Leute. Einmal die großen 
Fleifchlieferanten, welche die Tleilchlieferungen an bie 
Armee, an öffentliche Injtitute, an Schulen übernommen 
haben. Theilweiſe führen dieſe Lieferanten das Geſchäft 
nicht felbjt aus, fondern bilden nur die kaufmänniſche 
Bermittelung, übergeben einzelnen Schlächtern Die Liefe- 
rungen im Detail, haften aber dafür im Ganzen. Da- 
neben verkaufen Die Gropichlächter an die Kleinfchlächter, 


1) Hartflein, der Londoner Viehmarkt, Bonn 1867. Da- 
neben das erwähnte Werk von R. de Mafiy Über ben Lebens⸗ 
mittelverfehr von London und Paris, und Dr, H. Yanle, der 
internationale Fleiſchverbrauch in feiner neueften Geftalt, Viertel- 
jahrsichrift für Bollswirthichaft XIXIV, 1— 45. 


424 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


bie theilweife auch ſelbſt fchlachten, aber nur eine 
geringe Zahl Vieh, und an die reinen Detailhändler, 
bie das Fleiſch in größern Stüden übernehmen, vie 
verfchiedenen Sorten trennen, die einzelnen Stüde hübſch 
zurecht machen, bei denen das Ladengeichäft die Haupt⸗ 
fache ift. Beide letztere Arten von Schlächtern verkaufen 
ihre Abfälle an den Eingeweivehändler (tripe - shop), 
oder an den Kochladen (cock-shop), wo vornehmlich 
die unterjten Volksklaſſen dieſe Abfälle faufen oder ver- 
zebren. | 

Eine ähnliche, wenn auch nicht jo weit gehende 
Arbeitstheilung findet in andern großen Städten jtatt. 
Der Berliner Adreßkalender unterjcheivet wenigftens 
Schlächter und Fleiichwaarenhandlungen. Im Sabre 
1860 kommen auf 80 Fleiſchwaarenhandlungen 557 
Schlächter, 1868 auf 101 Handlungen 976 Schlächter.! 
Die Kleinjchlächter und Detailhändler brauchen troß 
dieſer Arbeitstheilung noch ein nicht unbeträchtliches 
Kapital. 

Wichtig auch für den Groß- und Kleinbetrieb 
des Tleifchergewerbes ift Die jet aus fanitätspolizei- 
lichen Standpunft viel beiprochene Schlachthausfrage.? 


1) Engel, die Induſtrie der großen Städte, Berliner 
Gemeindefalender II, 144. 

2) Siehe Riſch, Bericht Über Schlachthäufer und Vieh⸗ 
märkte, Berlin 1866. Ueber die preuß. Gefehgebung und bie 
Unmöglichkeit mit ihr bie einzelnen wiberftrebenben Fleiſcher 
zur ausſchließlichen Benutung öffentlicher Schladhthäufer zu 
zwingen. Viebahn II, 593 — 94. 


Der Bieh- und Fleiſchhaudel, die Schlachthausfrage. 425 


Zunächſt ift jeve große Aenderung derart für Die 
beitebenven Verhältniſſe, Hauptfächlich für den beiteben- 
den Befig, unangenehm. Auf Die Dauer aber wür— 
ben burch gemeiniame Schlachtbäufer, deren Bau 
Alfoziationen oder die Gemeinden übernähmen, deren 
Bau der Staat ganz mit Necht auf verſchiedene Weile 
fördern könnte, die Heinen Geſchäfte wahrfcheinlich mehr 
gewinnen als die großen; fie würden baburch mit billigen 
Koften die VBortheile gut eingerichteter Anftalten erhalten, 
während ver Großjchlächter nichts Dort fünde, was er 
nicht in feinem eigenen Schlachthaus auch anorbnen 
kann. Die allgemeinen Vortheile folcher Anftalten Tiegen 
in den niebrigen Generalfoften überhaupt, fpeziell in 
verichiedenen Einrichtungen, die nur in größern Etabliffe- 
ments möglich find, 3. B. in der Nugung bes meiſt 
bisher ungenutzt abfließenden Blutes zur Gewinnung 
bon Eiweißitoffen. 


Kehren wir nach dieſen allgemeinern Bemerkungen 
über das Fleiſchergewerbe zu ven konkreten Verhältniffen 
Preußens ! umd den ftatiftifchen Ergebniffen von 1816 — 
1861 zurüd, jo iſt im Durchichnitt des ganzen Staates 
der Sortichritt zu größern Geichäften wohl vorhanden; 
aber noch überwiegen die Heinen Meifter weitaus, noch 
it eine Schlächterei durchichnittfich Heiner als ein 
Bäckergeſchäft. Man zählte: 


1) Zu vergleichen: Hoffmann, die Bevölkerung bes preuß. 
States, S. 120 ff. Mittheilungen I, 226. Tabellen n. amt- 
fie Nachrichten V, 827 — 828. 


426 Die Umbilbung einzefner Gewerbszweige. 





























Auf | Auf einen 

Maſer 100 | Gewerbes 

. Meifter | Gehülfen Meifter | treibenten 

Gehülfen fommen | kommen 
13 367 36 574 
1822 14 871 19 716 33 594 
1825 15 163 20 420 35 603 
1823 15 654 20 998 34 609 
1831 15 367 20 717 35 632 
1834 16 095 22 116 37 613 
1837 16 853 23 840 41 594 
1840 17 754 25 550 44 587 
1843 18 399 26 572 44 585 
1846 19 396 28 486 46 568 
1849 18 372 9 397 27 7169 51 588 
1852 19970 | 10040 30 919 55 548 
1855 19318 | 10255 29 573 53 581 
1858 | 20900 | 11892 | 32792 | 57 595 
1861 21566 13 387 34 953 62 5929 









Zunahme 
1846—61100:161,, 100:281,,1100:192,,)1100:172,2| 100:108, 


Selbſt in Berlin hat 1861 ein Fleiſcher durch— 
fchnittlih nur 1%, G©ehülfen, während ver bortige 
Bäder 3 — 4 Gehülfen beichäftigt. Der Fleiſcher ift 
in der Regel ähnlich wie der Bäder auf einen Abjak 
in den nächften Straßen und Häufern angewiefen; vie 
Hausfrau will nicht zu viel Zeit verlieren, wenn fie zu 
ihm geht, noch weniger, wenn fie das Dienſtmädchen 
ſchickt. Das vielfach übliche Bringen des Fleifches in 
die Wohnungen der Kunden ift nur möglich, wenn ber 
Sleifcher in der Nähe wohnt. Der Fleifchhandel ift 
noch jchwieriger zu organifiren als der Brodhandel, wenn 
er nicht zu dem gefalzenen und getrockneten Fleiſche über: 


Die preußiichen Fleiſcher 1816 — 61. 427 


gehen ſoll, das weniger ſchmackhaft, weniger beliebt ift. 
Wenn man neueftens Verfuche macht, auch frifches 
Fleiſch nach beſondern Methopden zu Eonjerviren und auf 
weite Entfernungen zu transportiren, jo Tann das jpäter 
vielleicht einmal die bisherige Art des Betriebes ändern. 
Dis jett haben dieſe Verfuche feine allgemeine praftiiche 
Bedeutung. 

Die Geſammtzahl der preußifchen Fleiſcher, welche 
um etwa !/, geringer tft, als die ver Bäder, hat eben- 
falls kaum ftärfer zugenommen, als die Bevölkerung; 
e8 fommen 1861 auf die gleiche Zahl Einwohner nur 
8, /, mehr Fleiſcher als 1816. Bis 1843 bat die 
Bevölkerung ftärfer zugenommen; 1849 jowie 1855 fteht 
wieder die Fleiſcherzahl binter ver von 1816 zurüd. 
Trotz der großen fonjtigen Aenderungen des 19. Iahr- 
hundert eine folche Stabilität! 

Die erjte Urfache der Fleiſcherzahl ift die Fleiſch⸗ 
fonfumtion. Wenn in Hefjen- Darmitadt, Braunſchweig 
37 — 38 Fleiſchermeiſter, in Baden, Sachlen, Hannover 
14—19, in den öſtlichen preußiichen Provinzen nur 
8 — 12 Fletjchermeifter auf 10000 Einwohner fommen,! 
fo Yäßt fih ver Zuſammenhang nicht verfennen mit der 
andern Thatſache, daß die Fleiſchproduktion (incl. Aus- 
fuhr) in Altpreußen pro Kopf der Bevölkerung nur auf 
46 — 47 Pfund, in Naffau- Frankfurt, Baden, ben 
rheinischen und thüringiichen Staaten auf 48— 56 Pfund, 
in den nieberjächfiichen Staaten, beſonders in den Elb— 
berzogthümern, auf 74 Pfund pro Kopf fteigt. Freilich 


1) Biebahn IH, 594— 95, verglichen mit 606. 


428 . Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


zeigt die DBergleichung auch Ausnahmen, da hohe und 
niedrige Produktion und Konfumtion nicht nothwendig 
zufammen fallen, va Aus- und Einfuhr, die Haus- 
ichlächterei und Anderes mitiprechen. Gerade in ben 
öftlichen preußiichen Provinzen iſt die Fleiſchproduktion 
wieder größer als im Durchſchnitt Preußens, die Kon- 
jumtion aber auf dem Lande und in den ımtern Klaffen 
jehr gering. 

Unzweifelhafter ift der Zuſammenhang zwiſchen der 
hiſtoriſchen Veränderung der Fleiſcherzahl und ver Fleiſch⸗ 
fonjumtion in Preußen. Der geringen Zunahme jener 
entjpricht diefe. Die Pleifchfonfumtion betrug ja nad 


Dieterict und Engel! pro Kopf der Bevölkerung 


1806 . . . 830,4 Pfund, 
1831... 32 ° 
1842... 2m = 
1849 . .„. . Ta * 
1863... Bd 


Die fteigenden Fleiſchpreiſe erſchweren trotz aller 
Fortſchritte des Wohlſtandes eine ſteigende Fleiſchkon⸗ 
ſumtion ſehr. Für, die 30 Pfund 1806 gab ver Ein- 
zelne 2 Thlr. 6 Sgr. aus, für die 35 Pfund 1863 
gibt er 4 Thlr. 4 Ser. aus. In Berlin zahlte man 
1835 fiir das Rindfleisch befonderer Güte 2 Sgr. 6 Pf., 
jest 10 und mehr Sgr. Und je größer die Vermögens- 
ungleichheit in einem Lande ift, je mehr Sitten umd 
Bedürfniſſe der verſchiedenen Geſellſchaftsklaſſen ausein- 
ander liegen, deſto ungleicher wird ſich die Abnahme 
der Fleiſchkonſumtion vertheilen. Beſonders in den 


1) Zeitſchrift des ſtatiſt. Bureaus IV, 129. 


Der Fleifchlonfum und die Hausſchlächterei. 429 


Städten Hat ver Fleifchkonfum der Wohlbabenven, ja 
des ganzen Mittelftandes unzweifelhaft zugenommen; 
aber in den untern Klaſſen muß er abgenommen haben, 
jonft könnten ſich die Gefammtzahlen der Konfumtion 
nicht gleich bleiben. Theilweiſe freilich finden dieſe Klaſſen 
Erfab in dem Webergang zu Pfervefleifch, zur Kon⸗ 
jumtion von bloßen Abfällen. Es heißt aber die opti- 
miftiiche Schönfärberei weit treiben, wenn man in biefer 
Thatfache, wie Saucher, nur ein „feiner ausgebilvetes 
Schlächtergewerbe“ findet. Die genauen Unterfuchungen, 
welche Aſher und Spetbeer über Fleiſchkonſumtion ver- 
öffentlicht Haben, ! reichen allerdings nur bis 1852 und 
ſchließen alfo mit ungünftigen Iahren ab, aber fie 
zeigen, auch wenn man das berüdjichtigt, eine in den 
größern Städten faft ausnahmslos abnehmende Fleiſch⸗ 
konſumtion. Ich führe nur die Hamburger Zahlen an; da 
bat der Verbrauch pro Haushaltung betragen an Fleiſch: 

Vergleich mit 1821 — 25 


1821 —25 . . . 538 Pfund, 100 
1826 —0 . . . 53 - 97 
1831 —35 . . 452 ⸗ 84 
1836 — 40 . 448 ⸗ 83 
1841 - 45... 49 > | 80 
1846-50 . .. 39 ⸗ 63 
1851 ..... 379 ⸗ 70 
18532.... 372 ⸗ 69 


Daneben iſt der Fiſchkonſum nicht geſtiegen, die 
Butter⸗ und Kaͤſekonſumtion hat auch abgenommen, der 


1) Beiträge zur Statiſtik Hamburg's, mit beſonderer Rück⸗ 
ſicht auf die Jahre 1821— 52, Hamburg 1854. ©. 146 - 149, 


430 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Cerealienverbrauch iſt fo ziemlich verjelbe geblieben. 
Ohne Zweifel Hat ſich Das in neuerer Zeit wieder etwas 
gebeffert; aber wie dem auch fet, die obigen Zahlen 
jagen genug. 

Neben dem Fleifchlonfum hängt die Fleiſcherzahl 
davon ab, wie weit die Hausjchlächterei noch verbreitet 
tft, welche den gewerbsmäßigen Schlächter in der Form 
des Hausfchlächters zwar nicht durchaus, aber Doch theil- 
weife entbehren kann. Die hohe Zahl der Fleiſcher in 
Württemberg, in Hohenzollern (26 — 28 Meijter auf 
10000 Einwohner) ift theilweife Folge davon, daß bie 
Hausfchlächterei dort wenig mehr vorkommt. Die Fleiſch⸗ 
fonfumtion ift dort nicht um fo viel ftärker als in 
Schlefien, um allein e8 zu erklären, daß bier mur 
15 Meijter, dort 26— 28 auf 10000 Einwohner 
fommen. In den öftlichen preußiichen Provinzen, aber 
auch in Baiern, wie überhaupt in den vein landwirth⸗ 
ſchaftlichen Gegenden, ift Hausfchlächterei noch vielfach 
vorhanden. Theilweiſe wird fie gegenüber ver gewerb⸗ 
lichen Schlächterei wieder durch Die fteigenden “Preije 
begünftigt. Zäglich frifches Fleiſch zu genießen, iſt 
theurer, als eingepöfeltes und geräuchertes Fleiſch im 
Vorrath zu halten. 





d. Die Wirthſchafts⸗- und verwandten Gewerbe. 


Die gewerbliche Thätigkeit des Landwirths; die Weinbauern, 
Gärtner und Filcher. Der Handel mit Lebensmitteln. Die 
Biltualiengefhäfte in Preußen von 1837 — 58. Die Wirth- 
Ihaftsgewerbe, meift als Nebenbeichäftigung. Die preußifche 
Statiftit 1822 —61. Die Gaftböfe und Ausipannungen. 
Die Speifewirtbfchaften. Die Schanlwirthſchaften, ihre Ab- 
nahme. Die möglichen Urſachen einer von ſelbſt eintreten- 
den Abnahme. Das Konzeſſionsſyſtem. Seine allgemeine 
Würdigung Die Ausführung in Preußen. Die frühere 
und Die neuefle Geſetzgebung. Allgemeine Betrachtungen 
über Groß⸗ und Kleinbetrieb in ben Nahrungsgewerben. 
Die Bollsküchen, die Konfumvereine und Aehnliches. 





Der Kreis der dem Nahrungsbedürfniß dienenden 
Gewerbe ift mit den Bädern, Konditoren und Fleiſchern 
noch nicht abgeſchloſſen. 

Der Heine und große Landwirth übernimmt vielfach 
gewerbliche Thätigkeit, abgejeben ganz von der Rohpro⸗ 
duktion. Er fabrizirt Butter und Käfe, verkauft getrod- 
netes Obſt und fünftlich wie unkünſtlich zubereiteten 
Wein. Eine zahlreiche Klaſſe von Perſonen ſind die 
kleinen Weinbauern und die Blumen- und Gemüfe- 
gärtner, Die zwilchen Landwirthſchaft und Gewerbe in ver 
Mitte ftehen, einen. gefunden Mittelſtand vepräfentiren, 


482 Die Umbildung einzelner Gewerbezweige. 


Dur die Art ihres Betriebs, durch Die vorzugsweiſe 
geforverte forgfältige Arbeit niemals von großen Ge— 
ſchäften verbrängt werben können. Außer ven 4224 
preußifchen Gärtnern mit 3310 Gebülfen (1861) find 
auch die 7197 Fiſcher mit 3822 Gehülfen zu nennen; 
auch dieſes Gewerbe bleibt, der perjönlichen Thätigfeit, 
des mäßigen Gewinnes wegen, im Binnenlande dem 
Kleinbetriebe. 

Dann gehören hieher mannigfache Handelsgeſchäfte, 
welche ihrer Natur nach gewiffe gewerbliche Umformungen 
vornehmen. Der Weinhandel, der Getreivehandel thut 
das, vor allem aber der Heine Detailbanvel, ver Kaffee 
röftet und Zuder fchlägt, alle möglichen Waaren färbt, 
vielfach auch verbirbt und fäljcht. Noch mehr gibt fich 
der Heine Viktualienhandel damit ab. Im Butterladen 
wird gefochter Kaffee ausgejchenft; die Garküche ift 
häufig hiermit verbunden. Die Zahl ver faft durchaus 
Heinen Viktualiengeſchäfte ift etwa jo groß in Preußen, 
als die ver Bäder und leifcher zufammen. Im Sabre 
1861 find fie nicht aufgenommen. Früher zählte man: 


1837 . . . 46789 1852 . . .„ 47412 
1840 . . . 54156 1855 . . . 49852 
1843 . . . 58586 1858 . . . 50514 
1849 „. . . 43741 


Es gehört zu dieſen Gejchäften geringe Bildung 
und geringes Kapital. Die Art des Betriebes, des 
Auffaufs, des Verkaufs auf dem Wochenmarkt oder in 
ven Heinen Kellerläden, übt auf Leute, welche etwas 
befjeres ergreifen Eönnen, Teinen Reiz aus; daher wenden 
fich ihnen mehr nur Leute der untersten Klaſſen zu. 
Größere Gefchäfte mit fchönen Läden beginnen höchftens 


pe 7 m en 


Die Biltualiengefchäfte und Wirtbfchaftsgewerbe. 433 


in einigen größern Städten, aber auch da nur für bie 
Kebensmittel und Biktualien der höhern Gefellfchafts- 
Hafen. Abgeſehen von dieſen, fowie von den Gejchäften, 
welche bauptfächlich den Wochenmarft beziehen, ſucht der . 
Heine Viktualienhandel ähnlih wie der Bäder und 
Fleiſcher einen lokalen Abſatz in den nächtliegenden 
Häuſern und Straßen. 


Die eigentlichen Wirthichaftsgemwerbe enblich, melche 
in der Umformung und Bereitung der Nahrungsmittel 
am weiteften geben, find, wie ich das fchon mehr 
erwähnte, fehr vielfach in den Händen von Perfonen, 
welche nebenbei mit ber Produktion oder dem Handel 
von Nahrungsmitteln beichäftigt find, oder vielmehr 
von folchen, welche das Wirthichaftsgewerbe nur neben- 
bei betreiben. Es ift ebenfalls das lokale Bedürfniß, 
das darauf hinwirkt. Die Brauerei verbindet fich mit 
der Gaftwirthfchaft, die Mühle mit einer Ausfpannung, 
bie Bäckerei mit dem Weinausichant, die Höferei mit 
dem Bier- und Raffefchanf, der Miaterialladen mit dem 
Schnapsverfauf — je eines allein würde feinen Mann 
nicht nähren, beides zufammen aber reicht aus, eine 
leivfiche Erxiftenz für eine Familie zu ſchaffen. 


Diefe Häufige Verbindung der Wirthichaftägetverbe 
mit andern tft für das richtige Verftändniß des ganzen 
Gewerbes, wie ſchon für die richtige Beurtheilung der 
Zahlen wichtig. Das Hülfsperfonal wird in ben 
Tabellen etwas nieverer erfcheinen, als es in Wirklich 
keit ift. Zu> und Abnahme Haben eine etwas andere 
Bedentung. 

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 28 


434 Die Umbildung einzelner Gemwerbszmeige. 


Die Zahlen, um die e8 fich handelt, find folgende; 
es gab in Preußen ;! 
Gafthöfe, Krüge, Speiſewirth⸗ Schankwirth⸗ 


Ausſpannungen ſchaften ſchaften 
— — — 
1822 . . . 20312 50 833 
1831 . . . 21682 2077 51123 
1843 . . .„ 25018 2182 53 706 
1849 . . . 27520 1928 43 670 
1861 . . . 31520 2221 37 917 


Die Zahl der Geſchäfte bat in feiner der drei Ab- 
thetlungen fo zugenommen, wie die Bevölkerung, welche 
von 11 auf 18 Millionen in dieſer Zeit ftieg; in einer 
Abtheilung hat die Zahl der Geichäfte fogar abgenommen. 
Wären die Wirtbichaften alle voll beichäftigt geweſen, 
lebten bie betreffenden Gewerbetreibenden nur biervon, 
fo wäre vorauszuiegen, daß die Geſchäfte mindeſtens der 
Bevölkerung entiprechend zugenommen hätten. 

Bon der erjten Kategorie, den Gaftwirthichaften, 
fallt nur ein kleiner Theil unter den Begriff eines 
Gaſthofs; 1861 find Die eigentlichen Gaſthöfe nicht 
befonders unterjchieden; 1849 machen von den 27520 
Saftwirthichaften nım 4447 Gaſthöfe für Die gebildeten 
Stände aus, wovon 2833 auf die Städte Tommen. 
Nur diefe find zu einem Theile als größere Etablifie- 
ments aufzufaffen. Im Iahre 1861 zählen die 31 520 
Gaſtwirthſchaften ein Hülfsperjonal von 7 919 Perjonen, 
alſo find ®/, der fämmtlichen Gaftwirthe wenigftens 


1) Nach Ferber’s, Dieterici's u. Engel’8 amtlichen Zahlen, 
vergl. hauptjächlich für 1849 Tabellen u. amtliche Nachrichten V, 
©. 994 ff. 


Die preußifchen Wirthſchaftsgewerbe 1822 —61. 435 


ohne gewerbliches Hülfsperfonal; fie können nur ganz 
kleine Geſchäfte haben. 

Die Speiſewirthſchaften gehören faſt ganz den 
Städten an; von 1928 im Jahre 1849 verzeichneten 
find 1461 ſtädtiſche. Die Zahl iſt eine beinahe ſtabile. 
Der durchnittliche Umfang der Gefchäfte ift ein fehr 
geringer, benm e8 werden 1861 auf 2221 Speifewirthe 
nur 885 Diener, Kellner und Kellnerinnen gerechnet. 

Achnliches gilt von den Schankwirthen; auf 37 917 
Geichäfte kommen 1861 nur 6290 Hülfsperfonen, was 
einen fichern Schluß auf den troß ber gefunfenen Ge⸗ 
ſammtzahl immer noch geringen Umfang der meiften 
Schankwirtbichaften geftattet. Mögen auch manche 
Hülfsperjonen aus den vorhin angeführten Gründen gar 
nicht in den Tabellen ericheinen, viel kann das nicht 
ausmachen. Die Abnahme der Schankwirthichaften 
von 1843 ab bis 1861 ift eine ſehr bebeutende. 
Damals kam jchon auf 289, 1849 auf 343, 1861 
erft auf 487 Einwohner eine Schenfe. ‘Die Marimal- 
grenze, auf welche herab die Verwaltung * in Gegen- 
den eines allzugroßen Reichthums vorn Schenken die 
Zahl derſelben zu bringen fuchte, ift eine auf 250 
Einwohner. Zunächſt iſt man verſucht zu zweifeln, ob 
die Aufnahmen überhaupt richtig find, denn jedermann 
ift geneigt, heute eher an eine Zunahme, als an eine 
Abnahme der Schenken zu glauben. Ich Ferne faſt 
feine größere Stadt näher, in ber ich nicht Klagen über 
eine allzugroße Zunahme ver Schenken gehört hätte. 


1) Vergl. Arbeiterfreund V, 185. 
. 28 * 


436 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Da ich jedoch feinen Anhalt dafür habe, die Aufnahmen 
für falfch zu Halten, jo muß ich fie bis zum Gegen— 
beweis als richtig annehmen. Nur das will ich noch 
bemerken, daß nicht bloß die Gaſthöfe und Speiſewirth⸗ 
ichaften zugleich geiftige Getränke ausjchenken, fondern 
daß auch fehr viele Spezereiläden Branntwein ftehend 
verabreichen. Und dieſe find, wie ich annehme, nicht 
unter den Schankwirthichaften der amtlichen preußiſchen 
Statiftif mitgezählt. Selbſt wenn aber die Branntwein 
verfaufenden Materialläden ebenfo zugenommen hätten, 
als die eigentlichen Schanfjtätten abnahmen, wäre es 
ohne Zweifel eine Beflerung. Die Trunfjucht wird 
durch dieſe mehr geförvert, als durch den Verkauf in 
dem Spezereilavden, wo der Arbeiter ftehend, ohne 
langen Aufenthalt, ohne Geſellſchaft fein Gläschen 
Schnaps trinft. So wie fo bleibt Die Abnahme ver 
eigentlichen Schanfwirthichaften als eine bemerfenswerthe 
Thatſache fteben, und es wirft fich die Trage auf, ob 
fie eine von ſelbſt erfolgende war, oder nur durch bie 
Handhabung des polizeilichen Konzeſſionsweſen eintrat. 

Eine Abnahme von felbft ließe fich immerhin 
denken; die Schaufwirthichaft ift bei Vielen nicht bie 
uriprüngliche Thätigfeit; fie werfen fich darauf, wenn 
nichts anderes mehr geht. In den Weinländern ift der 
Ausſchank noch mehr bloßes Nebengewerbe des Heinen 
Weinprodizenten. In Zeiten der Noth ſchwillt bie 
Zahl der Schanfftätten, dann much in Zeiten politiicher 
Aufregung. Es wäre Hiernach wohl denkbar, daß die 
Zahl der Schankftätten zu Anfang der AOer Jahre 
Durch die Krifis der meiften Handwerke, 1848 — 50 


Die Abnahme der Schankwirtbichaften 1843 — 61. 437 


durch die Revolution ftärfer war, al8 fie ohnedem geweſen 
wäre, daß die bejjeren Zeiten nach 1856 nicht mehr fo 
viele Leute nötbigten, zu diefem Nothbebelf zu greifen. 
Nah den Provinzen Stellt ſich der Unterſchied der 
Schanfjtätten 1849 und 61 folgendermaßen; e8 gab in: 














849 861 
Provinzen 1849 | 186 1849 | 1861 
Schanfwirtbichaften |je eine auf Einwohner 
Preußen . . | 4373 8 637 569 788 
Poien . - . | 3309 2875 408 517 
Brandenburg. | 4769 5 103 446 484 
Bommern . . | 1391 1119 861 1242 
Schlefien . . | 6274 6175 488 549 
Sadien. . . ! 3509 2814 508 702 
Weftfalen . . | 4812 4 439 304 364 
der Aheinproß. | 15 233 11 650 185 276 
| 


Am meiften haben fie aljo in der Rheinprovinz 
abgenommen, und das ift großentheils ficher auf die beſſere 
wirthichaftliche Lage zurüczuführen, die nicht zu einem 
geringern Ronfum an Speifen und ©etränfen, wohl 
aber zu einem etwas geringeren Sneipenbefuch und einem 
geringeren Angebot von Perſonen führt, die fich als 
Schanfwirthe zu nähren ſuchen. 

Dennoch, glaube ich, wäre es im Allgemeinen 
falich, anzunehmen, daß die Abnahme der Schanfftätten 
ganz von feldft erfolgt wäre. Der Andrang zu dieſem 
mühelofen Gewerbe iſt in den untern Klaſſen immer 
fehr groß; es übt einen beſondern Reiz durch die Unter- 
haltung, ven Verkehr, ven es gewährt, durch umfittliche 
und verwerfliche Genüffe, die fich Teicht Damit verbinden. 
Wo keine Konzeffionspflicht mehr exiftirt, wie bie jett 
allein in Bremen, erfolgt leicht eine rapide, verwerfliche 


438 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


und gefährliche Zunahme. Bor Erlaß der Konzeffions- 
pflicht im Jahre 1862 gab e8 in Bremen 512 Lokale, 
in welchen fpiritudfe Getränfe feil gehalten wurden, im 
Jahre 1867 - 829, damals eines auf 192, jett eines 
auf 132 Einwohner. 

Dieß ift der Grund, der mich veranlaßt anzuneh: 
men, daß auch in Preußen die Abnahme nicht ganz von 
jelbit erfolgt wäre, wenn man nicht auch durch das 
Konzeſſionsſyſtem darauf hingewirkt hätte. 

Dei der Trage der vollitändigen Treigebung ber 
Schanfgewerbe muß man die allgemeinen Geſichtspunkte 
und die Art der Ausführung aus auseinander halten. 

Der abftrafte Theoretifer verlangt auch hier umbe- 
dingte Freiheit, weil er das Xeben nicht kennt. Er über: 
jieht die Gefahren, die befonderd mit dem Branntwein- 
Ihanf, vollends in Fabrikviftrikten, verbunden find; er 
überfieht, daß die proletariiche Konkurrenz die Schant- 
wirthe nötbigt, in jeder Weile anzuloden, zu verführen, 
einen korrumpirenden Kredit zu geben; er überfieht, daß 
die ganze Lebenshaltung, das Familienleben, Die Sittlich- 
feit der arbeitenden Klaffen hiermit zuſammenhängen; 
er weiß es nicht, wie ſegensreich es in großen Tabrik- 
diftrikten wirft, wenn den Arbeitern Eontraftlich verboten 
wird, eine Schanfwirthichaft anzufangen. Alle Diefe 
Gründe fprechen für eine Beichränfung ber Zahl der 
Schanfwirthichaften, für eine Beibehaltung des Kon- 
zeſſionsſyſtems. 


1) Des Freiherrn von Diergardt Maßregeln zur Förde⸗ 
rung ber arbeitenden Klaſſen, Arbeiterfreund V, 1867. S. 115. 


Die Konzeffionirung der Wirthſchaftsgewerbe. 439 


Es handelt ſich nur darum, es richtig und gerecht 
zu handhaben. Daß immer Mißgriffe vorkommen, tft 
natürlih. Nur können fie joweit geben, daß die Trei- 
gebung dagegen wieder al8 das Kleinere Uebel erjcheint. 

Immer follte man vermeiden, politiiche Bartei- 
geſichtspunkte einzumiſchen. Schwer hat in diefer Be⸗ 
ziehung ein reaktionäres Regiment in Preußen gejündigt. 
Ganz übertrieben aber hat das verlegte Intereife Ein- 
zelner diefe nicht zu leugnenden Mißbräuche dargeſtellt. 
Adgefehen Hiervon famen Mißgriffe da vor, wo unfähige 
Landräthe oder vielmehr willfürliche Kreisjefretäre fich 
Sehler zu Schulden Tommen Tießen. Soweit die Regie- 
rungen eingriffen, war die Praxis eine fait durchaus 
gerechte. Ueber die Vorjchriften der Kabinetsordre vom 
7. Februar 1835, welche nur etwas durch die DVer- 
ordnung vom 21. Juni 1844 verjchärft wurbe, ſei 
nur ſoviel bemerft, daß die Konzeſſionen je auf ein 
Sahr ertbeilt wurden, in den Städten von der Orts- 
polizeibehörde, auf dem Lande buch ven Xanbratb 
nah Anhörung der Kommunalbehörde, wobei die Lage 
des Lokals und die Perfon des Wirthes immer, 
die Nüßlichfeit und das Bebürfniß aber nur geprüft 
werden jollte, wenn es ſich um Gaftwirthichaften 
in den Ortichaften vierter Gewerbeſteuerklaſſen, um 
Schankwirthichaften, in welchen geiftige Getränfe zum 
Genuß auf der Stelle feilgeboten werben follten, um 


1) Rönne, Staatsrecht zweite Aufl. II, b ©. 318. Der- 
jelbe Gewerbepolizei II, 151. Döhl, das Konzeifionswejen des 
preußifhen Staates, Berlin 1862, ©. 149 ff. 


440 Die Umbildung einzeluer Gewerbszweige.) 


Kleinhandlungen mit geiftigen Getränken handelte. In 
eriter Linie jollte dem Kleinhandel mit Branntwein 
oder vielmehr dem übermäßigen Genuſſe dieſes gefähr- 
fihen und durch feine zunehmende Billigfeit immer 
leichter erreichbaren Reizmittels in ven untern Klaſſen 
entgegen gewirkt werden. 

Die neue Gewerbeordnung des norddeutſchen Bun⸗ 
des behält nach dem Antrage Miquel's das Konzeffiond- 
weien für die Gaft- und Schankwirthſchaft, fowie für 
den Detailhandel mit geiftigen Getränfen bei; bie &r- 
laubniß wird nicht auf eine bejtimmte Zeit ertheilt, fie 
fann Perjonen nicht mehr verfagt werden, denen nur 
der vage leicht zu Willfür führende Begriff der joge 
nannten Zuverläſſigkeit fehlt, wie der Entwurf wollte, 
fondern nur folchen, gegen die beſondere gravirende 
Thatſachen vorliegen, oder welche fein geeignetes Lokal 
haben. Es bleibt aber ver Landesgeſetzgebung vorbe⸗ 
halten, in Bezug auf ven Branntweinausſchank auch die 
Bedürfnißfrage zu prüfen. Darnach werben in Preußen 
einige bisher beroortretenden Mißſtände und Wilffürlich- 
feiten Der Konzeſſionspraxis verſchwinden, in der Haupt 
jache aber wird das Shitem daſſelbe bleiben. 

Wem wir im Vorſtehenden fahen, daß bet ben 
Wirthichaftsgewerben noch durchaus die Heinen Gejchäfte 
borwalten, jo find die Urjachen ähnliche, wie bei allen 
Nabrungsgewerben, wie beim ‘Detailbandel mit Lebens- 
mitteln und Kolonialwaaren; ich habe fie theilweife fchon 
berührt, aber ich muß nochmals auf fie zurückkommen. 
| Ich betonte als Haupturfache der Heinen Gefchäfte 

das lokale Bedürfniß; das allein aber würbe nicht 


Der proletarifche Kleinbetrieb in ben Nahrungsgewerben. 441 


genügen, die große Zahl allzufleiner Betriebe hervor zu 
rufen. ‘Denn dem ftehen immer wieder die Vortheile 
größerer Geſchäfte entgegen; wie viel billiger läßt fich 
im Großen kochen und boch herrichen bie Heinen elenden 
Sarküchen vor; wie viel bilfiger läßt fich im Großen 
einfaufen, und Doch überwiegen die Heinen Kramläden, 
bie Heinen Gewürz - und Raffeefrämer. 

Das hängt eben mit dem übermäßigen Andrang 
zu allen vielen leicht betreibbaren Gejchäften zuſammen, 
welcher dann beſonders erfolgt, wenn bei raſch wachien- 
der Bevölkerung die Erziehung der untern Klaffen zur 
Arbeit, die Gelegenheit zu Ausbildung und zu VBerbienft 
nach andern Richtungen zeitweile nicht ebenjo wächſt. 
Die übermäßige Konkurrenz. vrüdt dann auf alle dieſen 
Thätigkeiten Angehörenden; Mißbräuche und Unreellität 
ſteigern ſich; das ganze Standesbewußtſein und Ehr- 
gefühl der Betreffenden wird dadurch herabgedrückt; 
Lotterkredit wird gegeben, nur um Kunden anzuzieben.! 


1) Bergl. oben ©. 113 fi, ©. 153, ©. 213 ff. — 
Huber, deſſen eben erfolgten Tod die Wiffenfchaft ebenfo zu 
beffagen hat, wie der Arbeiterftand und alle Freunde ber 
Arbeiterfache, ſpricht ſich noch neulich in dem Artikel über bie 
Arbeiterfrage in Deutſchland (deutſche Vierteljahrsichrift Juli — 
Septemberheft 1869. ©. 173 ff.) über den verderblichen Ein- 
fluß dieſer Elemente aus, er betont die Vertheuerung und 
Adulteratton aller Lebensbedürfniſſe, die Weberfüllung konkur⸗ 
tivender Berkaufsftätten, die Weberreizung von Produktion und 
Konfumtion. Wo 3— 4 einfache oder kooperative Gefchäfte mit 
einem Perfonal von 2 — 8 Dutzend Perfonen ausreichten, — fagt 
er, — wird Die 4—5fache Zahl beichäftigt, die Koften werben ver- 
theuert, Schwindel aller Axt, trügeriſcher Krebit als Reizmittel 


442 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


- Man wird mir entgegnen, dieſe Behmuptungen 
feien übertrieben und ich gebe e8 auch zu, daß fie eg, 
jo allgemein ausgeiprochen, find. Ich muß mein Urtheil 
noch etwas begrenzen. Es ift ganz wahr nur jo weit, 
als diefe ©eichäfte mehr dem Dienjte der untern Klaſſen 
jich zuwenden. 

Die Reftaurants, in welchen der Gebildete ikt, 
die feinen Weinjtuben, die Detailläden mit guter Kund- 
Ichaft find etwas für fich; fie erfordern größeres Kapital, 
einen anftändigen Geichäftsführer. Je weiter man aber 
berabfteigt, deſto fchlimmer wird es. Und da ift die 
eigentbümtliche Urfache, welche Die vielfach Forrupten 
feinen theuren Gejchäfte erhält, eben die, daß der wohl- 
habendere anjtändigere Geſchäftsmann, der ihnen allein 
mit Erfolg Konkurrenz machen, fie, was wünſchenswerth 
wäre, ganz befeitigen könnte, dazu feine Luft bat wegen 
ber Perjonen, mit denen er dadurch zu thun befäme. 
Mehr als man glauben follte, jucht jever Gewerbe⸗ 
treibende in feinem Gejchäfte neben ven Gewinn ven 
fozialen Zufammenbang; jeder will möglichjt vornehme, 
wohlhabende Kunden. 


find Die Folge. — Der Altenaer Handelskammerbericht pro 1867 
(preuß. H.⸗K.⸗B. ©. 1182) fagt: „Das Kapital trägt eine 
ſchwer wiegende Schuld, fo lange man zugeben muß, daß ber 
Arbeiter feine Lebensbebilrfniffe am theuerften bezahlt, obgleich 
feine Mittel die Heinften find. Niemand kann fi auch mit 
Unwiſſenheit entſchuldigen gegenüber dem fchreienden Mißſtande, 
daß ein großer Theil der Arbeiter noch in der traurigſten Ab⸗ 
hängigkeit in Folge der leichtſinnigen Borgſchulden lebt.“ — 
Segensyoll wird in dieſer Beziehung Das geſetzliche Verbot der 
Beſchlagnahme nicht verbienter Kühne wirken, 


Die Schattenfeiten des proletarifchen Kleinbetriebs. 443 


Hiervon giebt es in großen Städten einige wenige 
Ausnahmen, befonder8 was große Vergnügungslokale 
betrifft; aber in ver Hauptfache ift der Feine Mann 
auch in der größten Stabt auf die Heine elende Gar- 
fühe, auf die erbärmlichite Schnapsfchente, auf ben 
forrupteften Spezereiladen angewielen; fie allein nehmen 
ihn als Kunden an, weil fie Teine beſſern erhalten. 
Selbft die Höferfrauen auf dem Gemüfe-, dem 
Butter-, dem Fiſchmarkt machen ftrenge Unterjchieve 
ver Art. 

So leiden die Heinen Leute nicht bloß als Produ⸗ 


“zenten, jondern vor Allem auch als Konſumenten. Die 


Bortheile der großen Gefchäfte fommen ihnen nicht ein- 
mal da zu Gute. Die Fapitalbeftgende Privatſpekulation 
arbeitet nicht für fie, weil ſie fich nicht mit ihnen 
beſchmutzen will, weil fie fi) vor ihrer Zahlungsunfähig- 
fett fürchtet. Es iſt dieſelbe Urfache, welche in ben 
großen Städten die Miethpreife für ärmliche Wohnungen 
unnatürlich anjchwellen läßt, während die Privatipefulation 
noch fortfährt elegante Quartiere zu bauen, felbjt wenn 
jofche ſchon in übergroßer Zahl angeboten find. 

Ein Beweis, daß dieſe Mißitände vorhanden find, 
liegt darin, daß längſt humane Fabrifanten, Vereine, 
Gemeinden, der Staat, wo er Privatunternehmungen 
bat, vor Allem aber Genoffenfchaften von Arbeitern jelbft 
ih entjchloffen Haben, einzugreifen, das zu über- 
nehmen, was die Privatipefulation für die armen Leute 
nicht leiſtet. 

Man jtreitet fih in Paris, ob die neuen eleganten 
ungeheuren Arbeitercafss, in denen die Arbeiter und 


444 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


ihre Familien jo billig ejfen und trinken, geheime kaiſer⸗ 
liche Subvention haben oder gehabt haben. Die cafes 
und restaurants fraternelles, die associations pour 
la vie & bon march6, die société de l'humanité in 
Lille, von welchen Huber erzählt, find Sache von Ar- 
beitervereinen. Wenn jekt in Paris ähnliche Aiefen- 
füchenanftalten auch vereinzelt durch Privatthätigfeit ent- 
jtanden find, wie die Duval'ſchen Etabliffements, die 
maisons de bouillon, fo find das doch mehr Ausnab- 
men. In Berlin iſt erjt durch gemeinnügige Thätigkeit 
in den letzten Jahren der Verein für Volfsfüchen ent- 
ftanden, der durch den Betrieb im Großen im Stande 
it, für 13), Sgr. eine ganze für einen Fräftigen Mann 
ausreichende Portion Tompaltes in Bouillon gekochtes 
Gemüfe und Fleiſch zu verabreichen. 2 In Sachien? 
werben ſchon 1849 —56 eine Reihe von Volfsküchen 
erwähnt; 1855 fogar 74 an der Zahl; 1856 find fie 
ſchon wieder auf 44 geſunken; die bloß als Wohlthätig⸗ 
feitsinftitute fungivenvden find wieder eingeftellt. Engel 
lobt ihren Erfolg außerordentlich in rein wirthichaftlicher, 
aber auch in hygieniſcher und moraliſcher. Beziehung; 
er fügt Hinzu: gedachte Volksfüchen find zum Xheil 
eine Maßregel ver Wohlthätigkeit und der Geſundheits⸗ 
pflege, zum Theil der Sparfamfeit, am wenigſten aber 
wohl ein Gegenftand ver Spekulation. 


1) Huber, Neifebriefe, Hamburg 1854, I, 298. 

2) Siehe den Bericht im Arbeiterfreund V, 1867. S. 375 fi. 

3) Zeitichrift des ſächſiſchen ftatiftifchen Bureaus 1857. 
©. 55 — 57, 


Die Volksküchen und Konjumbereine. 445 


Mit vielen Fabriken und Etabliffements find folche 
Küchengeichäfte im Großen jegt verbunden; wie auch Holz>, 
Mehl-, KRartoffellieferungen im Großen und zu Engros- 
preifen vielfach von edel- und humandenkenden Fabrik⸗ 
herren und großen Grunbbefigern übernommen werben. 
Typiſch befannt bierfür ift ja die cite ouvriere in 
Mühldaufen mit ihrem Wajchhaus, ihrem Badehaus, 
mit der großen Bäderei, vem Schlachthbaus, Koſthaus und 
Materialwanrendepot. Aehnliches Aufſehen haben neuer- 
dings die Einrichtungen von Staub in Kuchen im König- 
reich Württemberg gemacht. Es ift überall Daffelbe 
Brinzip des Betriebes im Großen, das durch die Privat- 
ipefulation nicht zur Geltung fommend, für den Konfum 
ver Heinen Leute thätig gemacht werden fol. 

Am beiten freilich wird der Arbeiter dem Xotter- 
fredit, der Abhängigkeit vom Eleinen Detailfaden ent- 
riffen durch den Konſumverein, der ihm alle Vortheile 
des Bezugs der Waaren im Großen bietet, theilmweile 
auch die Vortheile der Produktion im Großen. Ir 
England wenigſtens find die Konſumvereine längſt ver- 
bunden mit großen Aljoziationsmühlen, großen Bäcke⸗ 
reien, theilweiſe auch eigenen Schlächtereien. Auch in 
Deutichland Haben fich die Konſumvereine jett raſch 
entiwidelt. Im Iahre 1868 zählt ver Schultze'ſche Be⸗ 
richt deren fchon 555. Die meijten find bis jet nur 
Kauf⸗- und Verkaufsgeſchäfte. Aber fchon find auch ein- 
zelne zur jelbftändigen Produktion im Großen über- 
gegangen. In Berlin haben die dortigen Konſumvereine 
eine gemeinjame große Brodbäckerei gegründet; in Saar- 
brüden, in Chemnig eriftirt eine Affoziationsbäderei; 





446 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


der Züricher Konjumverein hat eine große fünf Defen 
umfaflende Bäckerei, Die 1863 über eine Million 
Pfund Brod abfekte. 1 

Man wird fich über dieſe Beſtrebungen auf der 
einen Seite nur freuen dürfen. Sie liefern dem Ar- 
beiter bilfigere und beſſere Waaren, fie verbrängen einen 
korrupten betrügeriichen Kleinhandel. Aber auf der 
andern Seite zeigen fie wieber, daß das Gebiet, das 
den Heinen Geſchäften bleibt, theilweiſe durch ihre eigenen 
Schuld fich einengt, daß, der große Betrieb felbit da, 
wo foziale Verhältniffe und das lokale Bedürfniß ihm 
entgegenjteben, vorbringt, daß, wenn die großen Unter- 
: nehmer und das große Kapital ihn nicht einführen, bie 
Humanität und die Arbeiter felbft ihn einführen müffen, 
weil er techniſch zu große Vortheile bietet, weil ſoweit 
e8 fih um den Sleinverfauf im Detail handelt, eine 
übermäßige Vertheuerung durch die Kleinen Gejchäfte 
leicht eintritt, zu leicht unreelle Geſchäftsverhältniſſe 
den Konjumenten benachtbeiligen. 


1) Pfeiffer, die Konſumvereine. Stuttgart 1865. ©. 38. 





4. Die Baumwoll- und Leinenipinnerei. 


Die Bedeutung der Belleivungsgewerbe überhaupt. Der allge- 
meine Umjhwung in ihnen. Die Handfpinnerei und bie 
Gefchichte der Spinnmaſchine. Die deutſche Baumwollfpinnerei 
des vorigen Jahrhunderts. Die Heinen deutſchen Mafchinen- 
ipinnereien bi8 1840. Die großen Spinuereien ber Neuzeit. 
Die dentſche profeifionsmäßige Flachsipinnerei des vorigen 
Jahrhunderts. Die Anfänge der großbritannifhen Mafchinen- - 
jpinnerei. Die Abfabftodung des deutſchen Handgarns. Die 
Berfchlechterung der Produktion. Die Noth der Spinner, die 
Veränderung ber gejhäftlichen Organifation. Die Zuftänte 
1820 — 40; die finfenden Garnpreije; bie Verfuche ter Hand⸗ 
jpinnerei wieder aufzubelfen. Die Abnahme ber profeifions- 
mäßigen Spinnerei von 1849 — 61. Die nur zu langſame 
Entwidelung der deutfchen Mafchinenipinnerei. Die Tage der 
Handipinnerei von 1860 bis zur Gegenwart. Die Entftehung 
der befondern Flachsbereitungsanftalten und ihr Umfang. 


Den Nahrungsgewerben am nächiten an Bebeutung 
“stehen die Befleivungsgewerbe, ja fie überragen fie, 
jofern man an bie gewerbliche Thätigkeit im engern 
Sinne denkt. Die Ausgaben einer Familie für die 
Kleidung betragen nach den oben fchon erwähnten Be- 
rechnungen von Ducpetiaur, Le Play und Engel 14 bis 
20%, je nach der böhern ober geringern Stellung der 
Betreffenden, alſo zufammen mit den Ausgaben für 








448 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Nahrung 64 — 90 /, des Geſammteinkommens. Nur 
eine Ausgabe kommt ver für Kleidung noch nabe, die 
für Wohnung mit durchſchnittlich 5 — 18 °%, der Ge⸗ 
fammtausgaben, je nach Stand und Einkommen. Die 
Zahl der Perjonen, welche fich ausſchließlich mit der 
Herftellung von Bekleidungsſtücken irgend welcher Art 
abgeben, umfaßte (1849) in Sachſen nach Engel! 30,4% 
der ſämmtlichen Selbjtthätigen, während auf Die gefamm- 
ten Nahrungsgewerbe incl. Landwirthichaft 45,,,%, auf 
bie Gewerbe, welche fich mit Herftellung ver Wohnung 
im weitern Sinne abgeben 12,,; %,, auf alle andern 
Thätigfeiten zufammen nur 12,,,°/, fielen. Sprechenver 
läßt fich Die Bedeutung der Bekleidungsgewerbe nicht 
hervorheben. 

Im Gegenſatz zu den Nahrungsgewerben haben 
die Befleivungsgewerbe viel weniger das Bedürfniß, in 
der Nähe der Konjumenten zu fein. Cine ganz andere 
Wirkung mußten die modernen Verfehrserleichterungen 
und Die moderne Technik da haben. 

Das Leder an unferen Schuhen ift aus der Haut 
eines füdamerifanischen Büffels geichnitten, die Wolle 
unferes Tuchrodes kommt aus Auftralien, der Rohſtoff 
unferer feidenen Weite jtammt aus China oder Indien, 
aus Italien oder Südfrankreich, die Baummollfajer unferes 
Hemdes kommt aus Amerika oder Aegypten. Trans⸗ 
portabler noch als die Rohſtoffe find die werthvollen 
Halb- und Ganzfabrikate. Garne und Zwirne, Leinwand 
und Rattun, Tuche und Teppiche gehen durch Die ganze 


1) Zeitfchrift des ſächſ. ftatiftifchen Bilreaus 1857. ©. 173, 








Der Charakter ber Gewebeinbuftrie. 449 


Welt. Mehr als in irgend einer anbern gewerb⸗ 
lihen Branche haben ſich hier die Eigenthümlichkeiten 
der modernen Produktion ausgebilbet: eine weit gehenve 
Anwendung von Rapital, die böchite Ausbildung des 
Maſchinenweſens, bie möglichite Erjekung aller menich- 
lichen Kräfte durch Dampffraft, Die möglichite Spezialifi- 
rung der Imduftrie nach Städten und Gegenden, wie 
nach einzelnen Geſchäften, alles gefteigert durch die leben- 
digite Konkurrenz und durch die Ausbilvung der weit- 
gehendſten Handelöbeziehungen. Es iſt bekannt, daß 
gerade in das Gebiet der Gewebeinduſtrie die größten 
Sortichritte, die ſchönſten praktiſchen Anwendungen der 
Naturwiſſenſchaften fallen. Auch das drängte vor Allem 
auf den Betrieb in großen geſchloſſenen Etabliſſements. 

Es iſt eine ungeheure volkswirthſchaftliche und 
ſoziale Umwälzung, die ich hier, freilich nur in ihren 
Hauptumriſſen und nur ſoweit ſie Deutſchland und 
ſpeziell Preußen berührt, zu ffizziren babe. Ich werde 
nachzuweiſen haben, in wie weit bie häusliche Thätigkeit 
der Familie, vie lofale Zhätigfeit des Heinen Meifters 
zurückgetreten ijt, in wie weit fie fich auch fpäter, auch 
heute noch erhalten. Es wird fich darum handeln zu 
zeigen, wo Der Uebergang mit harten volfswirthichaft- 
lihen Rrifen, mit dem Ruin ganzer Gegenden und 
wirtbichaftlichen Klaffen verbunden war, und wo er — 
im Gegenfag hierzu — nicht nur leichter fich vollzog, 
\ondern theilweije neben dem technijchen Tortichritte von 
Anfong an zugleich eine ſoziale Beſſerung für die 
arbeitende Klaſſe, eine Bejeitigung ungejunder Der- 
bältniffe in fich ſchloß. — 


Sähmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 29 





450 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Wir haben zuerft von der Herftellung der Garne, 
von der Verſpinnung des Flachjes, der Baumwolle und 
der Wolle zu reden. , 

Das einfachite Werkgeug zum Spinnen, das man 
bi8 in die neuere Zeit noch findet, ift Kunkel und 
Spindel. Das 1530 erfundene Spinnrad war billig 
genug, um gleichfalls einzubringen bis in die unterjten 
Klaſſen. Die Fürftin wie die Tagelöhnerfrau ſaß in 
früherer Zeit am Spinnrad oder arbeitete mit der 
Spindel; auh Männer füllten ihre Zeit damit aus. 
Und noch heute ift beſonders auf dem Lande die 
Sitte noch nicht verſchwunden. Das alte Mütterchen, 
wie die fränflichen Schweitern, die halberwachenen 
Mädchen können nur fo fich nüßlich machen; Abend: 
jtunden und Wintertage, welche fonft ganz verloren 
wären, werden nur fo mit emfiger Arbeit ausgefüllt. 

Was jo als Nebenbeichäftigung geſponnen wurde, 
fonnte da nicht reichen, wo eine blühende Weberei ert- 
itirte, veichte alfo auch in Deutichland, beſonders in 
Preußen und Sachlen, nicht mehr bin, als im vorigen 
Sahrhundert die Weberei zunahm, fich zu einem blühen: 
den Exportgewerbe emporfchwang. Um einen Weber 
voll zu beichäftigen, braucht man das Gefpinnft von 
10 und noch mehr Spinnern. Ich erzählte oben jeher, 
wie man in Preußen das Spinnen zu fördern fuchte' | 
Dan ließ die Soldaten fpinnen; man führte in allen 
Strafanftalten das Spinnen als Hauptbeichäftigung ein; 
e8 reichte nicht; man gründete ganze Spinnerkolonien ; 


1) &. 26 nd ©. 9 — 30. 





Die Hanbipinnerei. | 451 


die Devölferung mancher ländlichen Diftrifte wuchs raſch 
unter dem Sporn der fteigenden Garnpreiſe. Der 
Unterhalt, den diefe Beichäftigung gab, mochte Teidlich 
jein, fo lange die Nachfrage entfernt durch die fteigenve 
Produktion nicht befriedigt wurde; aber immer war es 
ſchon damals eine elende Zhätigfeit. Sie erforderte 
weder Kunſt, noch Kraft, noch Kenntnifje; ver ſchwäch— 
lichfte Theil des Arbeiterſtandes floß ihr zu. Eine 
ganze Bevölkerung, die fich ihr Durch Generationen hin— 
buch ergab, mußte geijtig und körperlich berunter- 
Iommen. „Es war immer” — wie Hoffmann jagt! — 
„eine Vergeudung menjchlicher Kraft, weder hinreichend 
fruchtbar in wirtbichaftlicher Beziehung, noch würdig 
genug in fittlicher.” 

Auch in England hatte der Aufichwung beſonders 
der Baumwollenweberei eine immer. größere Nachfrage 
nad Sarnen, nach Handipinnern erzeugt. John Watt? 
hatte ſchon 1730 — 38 DVerjuche gemacht, eine Spinn- 
majchine mit einer Reihe von Spindeln zu Tonftruiren. 


Im Jahre 1738 hatte John Kay die wichtigfte Ver- 


beiferung des Webſtuhls, die Schnellichüge, erfunden. 
Wo fie angewandt wurde, war die boppelte und mehr- 


1) 3.6. Hoffmann, Nachlaß Heiner Schriften S. 5 in ber 
klaſſiſchen „‚Ueberfiht der Wirkungen ter Spinnmaſchinen.“ 

2) Vergl. über die Gefchichte diefer Erfindungen ben amt- 
lihen Bericht der Zollvereinsregierungen über die Induſtrie⸗ 
ausftellung von 1851, Berlin, Deder 1852, Bd. I, ©. 1 ff. 
Elliſon, Handbuch der Baumwollkultur, deutſch, Bremen 1860; 
Grothe, Gefchichte der Baumwolle und Baumwollenmanufaktur 
in der deutjchen Vierteljahrsfchrift 1864, Heft 2, ©. 77— 121. 

29 * 


452 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


fache Produktion möglich, großer Garnmangel war um 


ausbleiblich. Der weitere Bortichritt in der Spinnmaſchine 
ſchließt fih an den Namen von James Hargreaves, 


eines armen Webers, der im Jahre 1767 feine Spim- 
mafchine erfand und nach feiner Tochter Jenny nannte. 
Schon im folgenden Jahre trat Arkwright mit feiner 
Spinnmaſchine hervor, die zum erftenmale. mit Pferde: 
oder Waflerkraft in Bewegung gejett war. Bis 1785 
mit einem ausfchließlichen Patente verjehen, baute er 
bereit8 viele Spinmereiapparate. Der Hauptaufſchwung 
der mechanischen Spinnerei batirt aber erft von dem Er- 
Iöichen feines Patents; Samuel Crompton Hatte 1775 
(oder 79) die Erfindungen Hargreaves’ und Arkvright? 
fombinirt, die ſogenannte mulejenny fonftruirt. Die legte 
Vollendung erreichte die Spinnmafchine erft 1825, in 
welchem Jahre Roberts zu Manchefter ven felbjtthätigen 
Muleſtuhl erfand. Erinnern wir und daneben, daß 


James Watt 1769 — 85 die Dampfmafchine, Cartwright 


1787 den mechantfchen Kraftwebituhl, daß 1793 Eli 


Whitney in Connecticut den Saw-gine zur Trennung 


der Baumwolle von der Kapfel, d.h. die Mafchine, welce 
die nothiwendige Bedingung der Ausdehnung der Baum 
wollfultur war, daß 1785 der Franzoſe Bertholfet die 
Kunftbleiche mit Chlor erfunden hatte, daß 1798 Mac 
Intoſh fie verbejjert in England einführte, jo haben 
wir Damit das merkwürdige Zujammentreffen außer: 
ordentlicher Männer und Erfindungen, die alle ineinander: 
greifend den ungeheuren Aufichwung der Gewebeinduſtrie 
bedingten, ven Webergang zur Großinduſtrie von jelbit 
nach fich zogen. 





Die Spinnmafchine und ihre Kolgen. 458 


Der Umſchwung, der fich zuerft in England und 
ipeziell in der Baummwollinduftrie vollzogen hatte, mußte 
fih nach und nad auch anderwärts geltend machen. 
England Tonnte durch ihn Billiger und beſſer produziren. 
Die Konkurrenz mit England wurde zur Eriftenzfrage 
für alle kontinentale Gewebeinduſtrie. Es fragte fich, 
welche Stellung, welchen Umfang bie einzelne Induſtrie, 
zunächjt bier die einzelne Art der Spinnerei hatte. 

Baumwolle wurde im vorigen Jahrhundert in 
Deutjchland noch wenig getragen. ‘Der Stoff war ſchon 
viel zu theuer; koſtete doch der Centner hundert und 
mehr Thaler. Die, am meijten getragenen Gewebearten, 
die Zige und Nankings, wurden eingeführt. Gegen 
Ende des Jahrhunderts Hatte die Baummollweberei 
zwar wefentlich zugenommen; immer hatte man zu 
%chtern und Lampendocht Baumwollgarn gebraucht; zu 
ven Stoffen, welche die Zumft ver Züchner webte, war 
es ebenfalls nothwendig. Aber in der Hauptjache hatte 
e8 doch gereicht, die Baummolle von Frauen und Kindern 
um Lohn verfpinnen zu laſſen. Eine profeffionsmäßige 
Spinnerbenölferung gab es wenigftens nicht in allzu- 
großem Umfang. Als fih daher 1738 — 79 Die 
mechaniihe Baumwollſpinnerei in England entwidelte, 


als von 1783 an auch in Deutfchland die Mafchinen- 


ſpinnerei begann, verdrängte fie langjam die Beichäftigung 
einiger alten Frauen, aber fie traf nicht eine ganze 
Benölferungsklaffe in ihrem Haupterwerbszweig. Und als 
vollends das Sinken ver Baumwollpreiſe und der Twifte 
im 19. Jahrhundert eintrat, als der Centner vobe 


Baumwolle, der 1817 noch 70 Thaler in Berlin 


454 Die Pmbildung einzelner Gewerbszweige. 


gefoftet batte, bis auf 19 und 20, Thaler gegen 1829 
dis 1832 ſank, als damit die ungeheure Zunahme des 
Baummollverbrauchs erfolgte, da dachte man längſt 
nicht mehr an die Möglichkeit einer Handipinnerei ver 
Baumwolle. Die Twiſtpreiſe ftanden jo, daß damals 
ſchon eine Spinnerin jelbft beim höchſten Fleiße noch 
1 Sgr. mit den gröbften Garnnummern, höchſtens 
einige Pfennige bei höbern Nummern hätte verbienen 
fönnen.* Und das Minimum des Verdienftes, mit dem 
fih damals eine Berfon begnügte, wäre doch etwa 2 Sur. 
geweſen. Man verarbeitete daher fchon damals nur 
Mafchinengarn. 

Innerhalb der Mafchinenjpinnerei ſelbſt aber trat der 
große Konfurrenzfampf zwilchen England und Deutid- 
land, zwifchen ven großen Etabliſſements und jenen 
Heinen Spinnereien ein, welche dem Handwerke noch 
nahe jtanden. Den Hauptanftoß erhielten die deutſchen 
Spinnereien durch die Kontinentaliperre. Am Rhein, 
an der Wupper, Ruhr, Erft und Steg, im Sachſen, 
Schlefien und Baiern entftanden zahlreiche, meiſt Heine, 
aber bei den damaligen Preiſen fehr gewinnbringende 
Geichäfte.? Nach 1815 trat unter dem Druck ber .eng: 
Tiichen Konkurrenz ein Stilljtand ein, manche der Heinen 
Spinnereien gingen wieder ein. Das Schlimmifte waren 
von da an Die Rüdjchläge des ſchwankenden englijchen 
Marktes; nach Jahren fteigender Nachfrage und fteigen- 


1) J. ©. Hoffmann a. a.O. S. 4— 9. 
2) Wiek, induftrielle Zuftände Sachiens, das Gefammigebiet 


des ſächſ. Manufaktur u. Fabritweiens, Chemnitz 1840, ©. 56. 


— — 





Die deutſche Baummollipinnerei. 455 


ver Preije, welche wieder zahlreiche Anfangsgeichäfte 
hervorgerufen hatten, trat mit den Handelskriſen (jo 
von 1825 — 26) wieber eine längere Zeit des gedrückteſten 
Ablages ein, welche in England wie bei ung den Heinen 
Seichäften ein Ende machte. Die Zeit von 1826 — 32 
war feine glänzende. Bon 1833 —36 waren wieder 
fteigende Konjunkturen; Berichte aus dieſer Zeit jagen: 
wenn ein Bauer oder Müller ich zu wohl fühlte, baute 
er eine Spinnerei. Nach den Handelsfrifen von 1836 und 
39 traten wieder die Rückſchläge und mit ihnen wieder 
die zahlreichen Banferotte der Heinen Spinner ein. So 
308 fih unter wechielnden Verhältniſſen die deutjche 
Baumwollfpinnerei bin, mehr und mehr auch auf ganz 
große Etabliſſements fich beſchränkend, was ja in bieler 
Geſchäftsbranche mehr als irgendwo angezeigt iſt, da 
nicht leicht in einem Zweige ſo ſehr wie hier das größere 
Geſchäft immer billiger zu arbeiten erlaubt. Wenn 
die deutſche Baumwollſpinnerei in den letzten 20 Jahren 
endlich in Folge der ſteigenden Kapitalanſammlung und 
der Ausbildung unſerer Maſchinenfabriken zu vollſtändiger 
Ebenbürtigkeit mit den engliſchen Spinnereien herange⸗ 
wachſen iſt, ſo hat darunter nicht das eigentliche Handwerk, 
ſondern nur ein Theil der Heinen Fabrikanten gelitten; ! 
der Haupterfolg aber war die wenigſtens theilweiſe Ver- 
brängung der engliichen Twiſte vom deutſchen Marfte. 


1) Bergl. oben Die Zahlen Über den Umfang der preuf. 
Spinnereien S.162 —63; fonft: Mährlen, die Darſtellung und 
Verarbeitung ber Gefpinnfte, Stuttgart 1861, ©. 102 ff. 
Zollgereinsfändifcher Nusftellungsberiht von 1851. Bd. II, 
S. 10 ff. Oeſtr. Ausftellungsbericht von 1867, Bd. IV, ©.3 ff. 


456 Die Umbildung einzelner Gewerbözweige. 


Ganz anders Yagen die Dinge in ber Flachs⸗ 
jpinnerei. Leinwand war jeit Jahrhunderten der Hauptitoff 
für Ober- und Unterfleiver, für Bett- und Tiſchzeng 
aller Stände. Dieterici rechnet, daß 1806 im Durch⸗ 
fchnitt der ganzen preußiichen Bevölkerung jede einzelne 
Perſon jährlich Y/;, Elle Wollgewebe, 3/, Ellen Baumwoll⸗ 
ftoffe, — aber 4 Ellen Leinwand verbraucht habe. Und 
zu diefem Bedarf für den eigenen Verbrauch kam ber 
Export. Seit alter Zeit hatte man aus Deutfchland 
viel Leinen exportirt; im 18ten Jahrhundert Hatte die 
Ausfuhr befonders ſchleſiſcher und meitfälticher Leinwand 
fih wieder außerordentlich geſteiger. Und mit ber 
Ausfuhr der Leinwand hatte fich auch die Ausfuhr von 
Leinengarn gehoben. Allein aus ven preußtichen Staaten 
erreichte der Werth der jährlichen Ausfuhr gegen Ende 
des Jahrhunderts einen Betrag von etwa 3 Millionen 
Thaler. ? 

In ganz Norpveutichland, beſonders aber in 
Schlefien, in Osnabrüd, in Ravensberg, im Hannöver⸗ 
fchen und Braunſchweigiſchen hatte ſich das Spinnen 
verbreitet.” Man Spann in allen Familien des Mittel- 


1) Der Volkswohlſtand im preuß. Staat, ©. 142 — 46. 

2) Dieterici, daſelbſt ©. 24. 

3) Vergl. Gülich II, 318. Die Hauptquelle für die Gefchichte 
der preuß. Leindwandinduſtrie ift Schneer, über die Noth ber 
Leinenarbeiter in Schlefien, Berlin 1844. Bergl. auch Volz, Bei- 
träge zur Gefchichte Der Leinwanbfabrifation und des Leinwand- 
handels in Württemberg von den älteften bis auf Die neueften 
Zeiten. Württembergijche Jahrbücher 1854. Heft 1. S. 143 — 
184, Heft 2, S. 1— 62. 





Die deutſche Flachsſpinnerei vor 1800. 457 


ftandes, man fpann in den Bauern- und Tagelöhner- 
bütten; man baute ven Flachs jelbjt, bereitete ibn felbit; 
der Verdienſt einer ſpinnenden Perjon von etwa 21% 
Groſchen täglich war ein hübſcher Zuſatz zu dem Ein- 
fommen aus der bäuerlichen Stelle. Daneben waren 
aber auch zahlreiche Spinnerkolonien, wie ich vorhin 
ſchon erwähnte, entſtanden, welche fait ausſchließlich 
vom Spinnen lebten; man hatte ihre Zunahme in jeber 
Weiſe begünftigt. Ihre Exiſtenz war immer prefär 
geweien; doch Fonnte eine Bamilie, zu 3 — 4 Köpfen 
gerechnet, deren jeder täglih 2 — 2/, Groſchen ver: 
diente, noch bebaglich ausfommen, jo lange die 
Lebensmittelpreife niedrig waren, fo lange in tbeuren 
Jahren die Frievericianifchen großen Getreidemagazine 
fih ihrer angenommen hatten. Mit dem außerorbent- 
lichen Steigen aller Tebensmittelpreije gegen Ende des 
Jahrhunderts freilich wurde ihre Lage, troß der nod) 
immer dauernden Zunahme der Spinnerei, jchon viel 
weniger günjtiger, kamen Nothzuſtände ſchon ba und 
dort vor.! \ 

Die Spinner, welche ven Flachs nicht ſelbſt bereite- 
ten, kauften denjelben von den Detailhändlern, wie fie 
in den Spinnerbörfern vorhanden waren. Das fertige 
Garn wurde auf dem Gangmarft over an ven baufiren- 
ben Garnjammler verfauft. Die bloße Lohnſpinnerei war 





1) Vergl. Sacobi, die Arbeitslöhne in Nieberfchlefien, Zeit- 
ſchrift d. flat. Bür. VIII, ©. 330, Anm, und Gemählde des gefell- 
Ihaftlichen Zuftandes im Königreich Preußen bis 1806, Berlin 
1808, I, 90; es werben bafelbft bie Folgen der Lebensmittel- 
vertbeuerung für die Handwerker überhaupt beichrieben. 


458 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


jelten. Der Spinner war felbftändiger Unternehmer, Eigen- 
thiimer des von ihm verarbeiteten Rohſtoffs. Strenge 
gehandhabte Vorichriften über den Flachshandel, über 
die Garnmaße und Benennungen, über Die Zahl ber 
Fäden, welche eine Strähne, ein Gebinde enthalten 
mußte, über getrennten Verkauf von Kette und Schuß: 
garn erhielten die Geſchäfte reell, jchafften den Probuften 
Bertrauen im Ausland. 

Während jo in Deutichland die Spinnerei neben 
der Weberei fich entwidelt hatte, mußten andere Känder 
ihre Leinengarn für Die Weberei aus dem Ausland 
beziehen. So beionders Irland, das ſchon damals eine 
nicht unbebeutende Leinenmweberei hatte. Irland allein 
bezog jährlich etwa 16 Millionen Pfund deutſches und 
holländiiches Xeinengarn. 2? Da mußte, nach der Erfin- 
dung der Baummwollipinnmajchine, ver Gedanke nahe 
liegen, dieſe Majchine auch für die Flachsipinnerei zu 
verwenden. Aber es ftellten fich diefem Verſuche bie 
größten Schwierigkeiten entgegen. Der Flachs erträgt 
das gleichmäßige Ziehen der Maſchine viel weniger als 
die Baumwolle, die Anfechtung des ausgezogenen 
Flachſes durch die Spinner wußte man lange nicht zu 
erjegen. ‘Die Herftellung der Maſchinen war fehr koſt⸗ 
jpielig ; die erjten mechaniſches Flachsſpinnereien arbeite 
ten unvollfommen und tbeuer. Weber die feinen, noch 
die ganz groben Nummern fonnte man vworerft auf ber 
Maſchine ſpinnen. 


1) Zollvereinsblatt, Jahrg. 1843, ©. 969 ff. Ueber bie 
deutfche Leineninduftrie und den bentfchen Leinwandhandel. 


Die Flachsipinnerei 1800 — 1820. 459 


Sp wäre auch die Entwidelung der englischen 
Maſchinenſpinnerei zunächit eine jehr langſame geblieben, 
wenn nicht durch die napoleoniichen Kriege, ſpäter haupt: 
fachlich durch die Kontinentaliperre ver Bezug der 
deutichen Garne wie der deutfchen Leinwand erſchwert 
worden wäre. Die Breife ftiegen; auch in den fpani- 
ichen Kolonien blieb die deutſche Leinwand aus; da warf 
ih das engliiche Kapital mit Macht auf die Flachs⸗ 
Ipinnerei. Prämien für Flachsbau, halbjährig fteigende 
Importzölle ! auf fremdes Leinengarı, Rückzölle für aus- 
geführte Leinwand Tamen Hinzu, jchnell und ficher Die 
Blüthe der englischen Mafchinenfpinnerei herbeizuführen. 

Unterdefjen begann in Deutjchland die Noth ver 
Spinner, übertäubt vom Lärm des Krieges, erjt vecht 
Har fich zeigend, als 1815 der Frieden wieberfehrte. 

Theilweiſe zwar bob ſich der Garnbebarf und bie 
Sarnausfuhr wieder etwas, aber nicht genügend; bie 
Baumwolle verdrängte die Leinwand mehr und mehr; 
der Abjat erhielt fih nur, mern man das Handgarn 
immer billiger lieferte. Die Vorurtbeile gegen das 
Mafchinengarn ſchwanden überall nach und nach, nur 
in Deutſchland nicht. ebenfalls zeigte das Mafchinen- 
garn einen VBortheil, den das Handgarn nie in bem 
Maße gehabt, jest vollends durch jchlechte Produktion 
verlor, eine reelle Gleichmäßigfeit des Gejpinnftes. 

Diejer letztere Umftand der abnehmenden Güte des 
deutjchen Handgarnd wurde verhängnißvoll. Noch war 


1) Ueber die Gefchichte der engl. Mafchinenfpinnerei vergl, 
den zollver. Ausftellungsbericht von 1851, II, 155. 


460 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


ber Erport und der innere Bedarf ein folcher, noch war 
innerhalb Deutjchlands der Mebergang zur Maſchinen⸗ 
Ipinneret jo ſchwierig, theuer und unbeliebt, ! daß ber 


Handipinneret immer noch ein großes Feld geblieben 


wäre, wenn fie fich nicht ſelbſt durch die Verjchlechterung 
des Produftes Disfreditirt hätte. 

Gerade als die. Garnpreife zu finfen begannen, 
fing man in Schlefien an, das ſächſiſche Spinnrad ein 
zuführen, das mehr und fchnelfer, aber auch viel 
jchlechter zu ſpinnen erlaubte. Bei dem täglich ſinken⸗ 
den Lohn juchten fich Die Leute durch eine immer fehnellere 
und jchlechtere Produktion zu helfen. ine ftrenge poli- 
zeiliche Beauffichtigung der Produkte wäre doppelt am 
Plage geweſen und gerade jett fiel fie faft ganz weg. 
Dian hatte in Preußen mit ver freibeitlichen &ewerbe- 
gejeßgebung die Spinner- und Weberreglements nicht 
vollitändig aufgehoben, man hatte aber aufgehört, fie 
jtreng durchzuführen. Mehr und mehr fchlichen ſich 
betrügerifche Verjchlechterungen ein, Die deutſche Waare 
kam im Ausland in Verruf. Das Mafchinendgarn 
gewann damals an Beliebtheit nur, weil man ficher 
war, ein gleichmäßiges beſtimmtes Produkt vor fich zu 
haben, während das Handgarn die Publica fides, 
deren es früher. genoß, verloren hatte. Im Jahre 1828 


1) Die preußifche Regierung hatte zuerſt 1810 eine unvoll- 
fommene Spinnmaſchine gelauft und dem Kaufmann Alberti 
im ſchleſiſchen Gebirge überlaffen; aber erft nach Jahren war fie 
leiblih in Gang gekommen. ©. Hoffmann, Ueberfiht der Wir 
fungen der Spinnmafdinen a. a. O. ©. 149. 

2) Schneer, Über Die Noth der Leinenarbeiter ©. 11. 


- —— — — — — —. 





Die Verſchlechterung des deutjchen Handgarne. 461 


erklärten bie britiichen Kaufleute das beutiche Garn, 
das früher jo beliebt war, fer aus diefem Grunde fast 
unverfäuflich, ! 

Mit der unreellen Behandlung des ganzen Geichäfte 
und der fich fteigernden Noth gejtaltete fich auch Die 
ganze bisherige Organijation des Gejchäfts zur Geißel 
für die Spinner. Sie hatten früher durch den Selbit- 
bau oder Baarkauf des Flachſes und den Verlauf Des 
Sarnes eine gewiſſe Selbftändigfeit behauptet. Mit der 
Noth wurde das anders. Tür ven Selbitbau des 
Flachſes fehlten die Mittel; e8 wurde ven Leuten immer 
ichwerer ein Stüdchen Land zu pachten; fie mußten ven 
Flachs vom Flachshändler nehmen. Dieſer machte obne- 
dieß ſchlechte Geſchäfte durch die ſinkenden Konjunkturen, 
ſuchte ſich dadurch zu helfen, daß er immer ſchlechtern 
und billigern Flachs kaufte, den die von ihm abhängigen, 
an ihn ſchon verſchuldeten Spinner doch zu den alten 
Preiſen nehmen mußten. Der Verfall der Flachs⸗ 
bereitung hängt hiermit zuſammen. 

Gegenüber dem Garnhändler war der Spinner 
nicht in beſſerer Lage; konnte er gar keinen Flachs mehr 
kaufen, ſo mußte er froh ſein, dem Garnhändler welchen 
um Lohn zu verſpinnen; hatte er noch eigenes Garn 
zu verkaufen, ſo war er doch beim Handel immer der, 
den die Noth drängte zu verkaufen, der ſich jeden Preis 
gefallen laſſen mußte. Vom Händler und Faktor oft—⸗ 
mals gewiſſenlos gedrückt, hielt er ſich nun ſeinerſeits 
zu jedem Betrug berechtigt. Es entſtand ein Syſtem 


1) Gülich II, 467. 


462 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


ber Gejchäftsorganifation, das nach allen Seiten ver- 
giftet und verdorben, die wirthichaftliche Noth nur noch 
fteigerte, die Bevölkerung ganzer Dörfer und Gegenden 
moraliſch jo tief herabdrüdte, daß von da an das 
Syſtem einer in den Hütten der Heinen Leute zerftreuten 
Hausinduftrie in manchen Kreiſen für identisch galt 
mit der Zulaſſung von Betrug und Diebftahl aller Art. 

Man Eönnte glauben, die billigen Lebensmittel der 
zwanziger Jahre hätten die Eriftenz der Spinner erleich 
tert; aber in Wahrheit war dieſe Billigfeit für fie eher 
verhängnißvoll. Sie liegen fich leichter die finfenven 
Löhne gefallen, und ald von 1828 an die Preije wieder 
ftiegen, da war die Lage um fo jchlimmer. Der Ber: 
bienft eines weftfäliichen Spinner betrug 1828 jelten 
mehr als 2 Grofchen täglich." Und daneben trieb bie 
Landbaukriſis viele Kleine Bauern, welche früher nicht 
geiponnen hatten, zu diejem Nebenerwerb. Es war ein 
zunehmendes Angebot bei ſinkender Nachfrage und über: 
dieß lieferten die Bauern oft noch fchlechteres Garn, 
als die profeſſionsmäßigen Spinner. - 

Da die Garne der deutjchen Länder, wo bie 
ftrengfte Leggeordnung ftets aufrecht erhalten worden 
war, wie 3. B. die Hannover’ichen, entſchieden beffer 
blieben, ihren Ruf im Ausland behaupteten, jo fuchte 
auch Die preußiſche Regierung den täglich finfenden Auf 
des preußiichen bejonvers jchlefiichen Handgarns durch 
theilweife Wiederherftellung der Neglementd noch zu 
retten, dem unreellen Gejchäftsbetrieb entgegen zu arbei- 


nme 


1) Gülich IT, 489. 





Die zunehmende Noth ber Hanbipinner. 463 


tem. Befonders für Schlefien und die Grafihaft Glatz 
wurde die Verordnung vom 2. Juni 1827,1 betreffend 
bie polizeilichen Verhältniſſe des Leinengewerbes, erlaffen, 
welche wieder einigermaßen Ordnung fehaffen ſollte. 
Aber fie genügte nicht. Daß fie nicht tagte mit 
der notwendigen Schärfe und Strenge gegen die armen 
Leute durchzugreifen, war begreiflich, aber es wäre noch 
das einzige Hülfsmittel damals gewejen. Der Provinzial: 
landtag Hatte ſchon 1825 es ausgefprochen und beiviefen, 
daß nur eine jchärfere polizeiliche Regelung des Flache» 
handels bie Geſchäfte wieder auf reelle Baſis zurüd- 
führen fünne. * 

Wenn man übrigens die Preife betrachtet, fieht 
man, daß alles auf die Dauer nicht Helfen Tonnte, ber 
Handarbeit ihr immer ſchon fürgliches Verdienft zu 
erhalten. Hoffmann berechnet, daß der Flachs für 
das Schod Garn von 60 Stüden rein gehechelt, das 
Verbienft des Händlers eingerechnet, auf durchſchnittlich 
etwa 18 Thaler zu ftehen kam. Der Preis des 
Garne ? war nun: 


für beſtes für geringes 
“+ 88 Thlr. 31 Thlr. 

0 « 4 = 

Pr 35 = 

32 — 30 - 

2 >» 21 — 

23» 18 — 

24» —— 





1) Rönne, Gewerbepolizei I, 41 f. 

2) Schneer, ©. 155 ff., befonbers ©. 157. 

3) Vergl. auch die Preistabelle in bem zollvereinsländ. 
Ansftellungsberiht für 1851. IL, ©. 157. 


464 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Darnach blieb dem Spinner früher an dem Schod 
ein Verdienſt von 28— 32 Thlr., 1833 noch von 
5 Thlr. bei dem beijern Garn, während das fchlechtere, 
das Einſchußgarn, bei dem auch viel früher die Ma— 
ichine konkurrirte, kaum mehr einen Verdienft gab. So 
kam e8, „daß zu Anfang der vierziger Jahre eine ganze 
Spinnerfamilie, Mann, Frau und Kinder, bei allem 
Fleiße, wenn fie fait Tag und Naht am Spinnrate 
jaßen, nicht über 2 Groſchen täglichen Verdienſtes hatte.” 

Schon waren damals die Bemühungen für Ber 
bejferung ver TlachSbereitung tım Gang. Gut einge: 
richtete Stantöflachsanftalten, wie in Belgien, wurden 
porgejchlagen und eingerichtet, um den Spinner aus der 
Hand des Flachshändlers zu befreien; in ähnlicher Weiſe 
forgte man für direkten Abja des Garns, um ven 
wucheriſchen Druck des Sarnfammlers von ihm zu neh 
men. Durch zahlreiche Spinnjchulen fuchte man auf 
eine befjere Produktion Binzuarbeiten. In Weftfalen 
exiftirten 1845 - 75 berartige Schulen, * in Schlefien 
wurden ebenfall8 zahlreiche errichtet. Das waren 
Zinderungsmittel der Noth; in der Hauptiache Fonnten 
fie nicht Helfen, um jo weniger, al8 bie mechaniſche 
Flachsſpinnerei fih nunmehr in England großartig ent- 
widelt hatte, im Stande war, größere Mengen guten 
Maſchinengarns auch nach tem Zollverein zu liefern. 
Die Flachsſpindel in der Fabrik hatte jchon 1818 etiva 
120 mal jo viel geliefert, als ein Handſpinnrad; in 


2) Zollvereinsblatt, Jahrg. 1845. ©. 605. (aus der Enquöte, 
welche das Berliner Handelsamt anftellte). Gülih IV, 447. 


Krifis der beutichen Hanbfpinnerei. 465 


Jahren nahm man an, daß ein Arbeiter 
Spinnmaſchine 500 mal fo viel liefern 
Handſpinner. Auch das konnte nicht ohne 
em, daß ſich Heraus ſtellte, der Weber 
iſchinengarn täglich "/, mehr zu Stande 


te Noth der Spinner fällt in die vierziger 
de find dem Hungertyphus erlegen. Die 
wen da am größten, wo das Spinnen 
Befchäftigung der Leute, ja ausichliehlicher 
Dörfer war, welche, erft im 18. Jahr⸗ 
ibet, oft Faum einigen Grumbbefig Hatten. 
ar dieß in Schlefien und der Laufig ber 
in Weftfalen. Schwer entfchloß fich die 
rch Öenerationen herabgefommene Spinner- 
anderer Thätigfeit überzugehen. Es gab 
noch nicht jo viele Aushülfswege, ‚noch 
neu aufblühende Inbuftrien, die Arbeiter 
Lohn war allerwärts noch gedrückt, erſt 
agen bie Eifenbahnbauten ar, ihn zu Heben. 
ziſchen Gewerbetabelfen verzeichnen erſt von 
noch mit Handipinnerei von Leinengarn 
erfonen. Ihre Zahl betrug: 


Rehnung Gehütfen zuſammen 
itenbe 


56308 22417 78725 
52787 22912 75.699 
36818 17236 54.054 

5906 8651 14557 


olb, Arbeitsverhältniſſe, ©. 35 und 69. 
eſch. d. Kleingewerbe. 30 


466 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Die lapidare Sprache diefer Zahlen ift i 
und entfeglich, wenn man das Elend bedenlt, das z 
den Zeilen liegt. Der Sprung von 1858 — 61 
größte. Selbft wenn man annehmen wollte, daß 
Folge von Fehlern der Aufnahme größer fei, q 
Veränderung in Wirklichfeit war, das legte 9 
bleibt daſſelbe. Die Handſpinnerei als ſelbſtändi 
ſchäftigung hat beinahe überall feit den legten - 
aufgehört. Ueber 6 Pfennige täglich läßt fich 
mehr damit verdienen." Soweit die Spinner 
förperlich und geiftig zu tief gefunfen, dem Elen 
und nach erlegen find, haben fie in Feld- und 
arbeit, bei Straßen- und Eifenbahnbauten eine ge 
und beſſer bezahlte Beichäftigung gefunden. 

Die Mafchinenfpinnereien, welche das profi 
mäßige Handfpinnen zur Unmöglichfeit gemacht, 
in der Hauptfache Feine zollvereinsländifchen, | 

fremde, befonbers engliſche. Für die Handſpinner a 
darin Feine Erleichterung, daß die deutſche Mai 
fpinnerei ſich ſo langſam entwickelte.“ Und d 
hatte dieſe langſame Entwickelung große Nachthe 
die Weberei; der verſpätete Uebergang zum Mai 
garn war die Haupturfache, welche ihren alten 
vernichtete, 

Freilich war der Mebergang in Deutſchland 
rig; es fehlte das große Kapital, es fehlten Di 
ſchinenfabrilen; vor Allem mußte e8 in einem 

1) Jacobi, Arbeitsfäpne in Niederſchleſien, a. a. O. 

2) Gulich IV, ©. 442 fi. 


nafchinenfpinnereien. 467 


inſt jo bilfig und fo über den Be— 
Iten, zur Mafchinenjpinnerei über- 
llneriſche Partei verlangte Längft 
unften dev Mafchinenfpinnerei, fie 
und die engliſchen Schußzölle für 
hte darauf, daß Belgien, in ähn- 
‚ollverein, fih durch Einführung 
1838 auferorbentlich raſch eine 
sinnerei geſchaffen und dadurch 
nufaltur wieder aufgeholfen habe. 

Rückſicht auf die Spinner, man 
18 Garn nicht vertheuern, man 
nicht jo leicht zu Erhöhung und 
zöllen, obwohl ein Schutzzoll Hier 
ke war, als für mande andere 


deutſchen Garnes hörte mehr und 
de Mafchinengarn wurde immer 
1833 hatte die Mehrausfuhr an 
'67 Zentner betragen; ſchon 1840 
fuhr auf 10939,? 1842—46 
tner. Da entichloß man ſich 1847 
Zolls von 5 Sgr. auf 2 Thlr. 
blieb auch jegt die Entwickelung 
Maſchinenſpinnerei eine ſehr lang⸗ 


igsbericht von 1851 IL, 160. Hanſe⸗ 

n Berhäftniffe des Zollvereins, Berlin 

ifch tenbenzids, aber fehr gut in fadh- 

zführungen). 

icht ©. 412, zweite Fortſetzung ©. 521. 
30* 


468 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


jame. Im Jahre 1843 Hatten 20 Spinnereien cı 
im Jahre 1861 betrug ihre Zahl erjt 38, von w 
21 auf die ältern preußiichen Provinzen famen. Di 
der Feinſpindeln ift in dieſer Zeit im Zollvereit 
36000 auf 136492 gejtiegen; auch 1865 zäßfte 
erft 219000 Spindeln. Die Mehreinfuhr an 
Leinengarn war burchichnittlich 1860 — 64 noch 9 
Zentner. Deftreich zählte 1865 - 340000, Fra 
600000, Großbritannien 1.781000 Spindeln, fi 
aljo dem Zollverein weit voraus. 

Ganz hat die Handſpinnerei noch nicht auf 
und wird nicht fo Teicht aufhören, da einzelne 
forten nur mit der Hand zu fpinnen find. A 
wird nur noch als Nebenbeichäftigung auf dem 
gefponnen, und auch das ſchränkt fich von Ya 
Jahr ein. Immer weniger findet Diefes Garn Antve 


1) Biebahn II, 893. Die Zunahme der Ma 
Spinnerei hat in Deutſchland mehr noch als in Englaı 
Schwierigkeit: bie Konftruftion von Flachemaſchinen 
viel feltener, als bie von Baumwollmaſchinen, ba 
ſchwerer Gtabliffements bilden, bie ausſchließlich ſich 
abgeben; nur in Irland und in Yorkſhire gibt es einige 
Firmen; in Belgien egiftirt ein einziges Haus von Bed 
in Gent. In Deutihland baut Hartmann in Chemnig, 
Überhaupt Alles macht,” auch Flachsmaſchinen. Einig 
deutſche und ſchweizer Mafcyinenfabriten Haben ſich darauf 
es aber wieder aufgegeben, weil ſich bie Unmöglichkeit E 
ſtellte, ftet3 genug Arbeit in dem Fache zu finden. Se 
paar engliſchen großen Fabriken fangen an, neben ben { 
maſchinen fih auf Werlzeugmaſchinen zu werfen, um be 
tretenber Ebbe nicht ganz feiern zu müſſen. Oeſtreich. 
ftellungsbericht Bo. II, ©. 517—18, 


Die neuefte Lage ber Hanbfpinnerei. 469 


fir die gewöhnlichen Gewebe, welche in den Welthandel 
lommen; aus Bielefeld, aus dem Ravensberg'ſchen, aus 
Schlefien erzählen die Handelskammerberichte Jahr für 
Jahr, daß die Produktion ans Handgeſpinnſt abnehme. 
Der Herforver Verein für Leinen aus veinem Hand⸗ 
gefpinnft ift der Auflöfung nahe, ſchreibt der Bericht 
ı Einzelne Theile unferes Bezirks, ſchreibt 
hielefelver Berichteritatter 1865, Halten vor⸗ 
am Handgeſpinnſt feft, aber ohne dabei zu 
1. Sm abgelegenen Gegenden Hält fie ſich 
So kamen z. B. 1867 in den hannbverſchen 

en von den geleggten Linnen 


auf auf 
Handgarne Mafchinengarne 
bezirk Adelebſen. . 100 % _% 
- Münden, 670 ai * 
= Einbed.-. Hnr En 
Pa ı 17 > Pa Tuer 
 Cnbebed . . Ion - Inı - 
. Martolbendorf. 72,55 » Mer 
+ Göttingen . . 1yn « 86,5 * 


auf den Leggen, auf welchen die Handgarne 
ıtend überwiegen, find die abſoluten Sum- 
ährlich produzirten Leinens fehr geringe und 
nmer mehr ab. Der Bericht für die Stabt 
fchreibt in demfelben Jahre: „Die Darftellung 
zeipinnft findet zwar immer roch ftatt, läßt 
ventend nach. Mit der Spinnerei genau 


ceußiſche Hanbelsfammerberichte pro 1864. ©. 152. 
@.D. pro 1865, ©. 144; zu vergl. pro 1866, ©. 209. 
&.D, pro 1867, ©. 668, 


470 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


befannte Perjonen Halten es im Intereſſe des $ 
gefpinnft Tiefernden Publikums, wie des Hanbele 
wünſchenswerth, daß die Hanbfpinnerei ganz au! 
Die Anficht, daß Leinen von Handgeſpinnſt beſſe— 
als das aus Majchinengarn, hat mehr dazu beigetr 
die deutſchen Leinen zu verbrängen, als Englands 
kantiliſche Lage. Das Nohmaterial wird ebenfo t 
bezahlt, wie das Handgefpinnft. So erzielten 5. & 
Tegten Winter Handgefpinnfte von etwa 7 Pfund 1 
15 &r. für das Bund, und find zu derſelben 
7 Bund Flache mit 1 Thlr. 12 Gr. bis 1 
15 Gr. bezahlt.“ 

Daß felbft der Bauer und Tagelöhner in G 
den, wo das Spinnen bisher üblich war, es nun 
aufgibt und feinen Flachs verfauft, hängt mit der 
bildung der Flachsbereitung zu eigenen felbftän 
Geſchäften zufammen. Das alte Röſten, Brechen 
Schwingen des Flachſes durch den Bauern felbft fi 
ein zu fchlechtes Produkt. „Seit den 40 er % 
haben die Schenk'ſche Warmwaſſerröſte, die Wa 
Dampfröfte, die Brech- und Schwingemafchinen vor 
Durand, Lowder, Chriftian, Kuthe, Bücklers, Kafelo 
Friedländer die weitere fabrifmäßige Zubereitung 
Flachſes angebahnt, welche zu ihrer Ausführung m 
niſche Kraft und Fabrifationsräume erfordert.” 
Regierungen, wie patriotijchen Vereine fuchten jolche 
ſtalten ins Leben zu rufen, um dem Flachsbau in De 
land jeine alte Bedeutung wieder zu geben, bie € 
Mehreinfuhr von Flachs überflüffig zu machen. T 
weiſe verbanden fich ſolche Anftalten mit den gr 





Die Flachsbereitungsauſtalten. 471 


Maſchinenſpinnereien, theilweiſe traten fie ſelbſtändig auf; 
zuerſt mehr in Hleinern Umfang und mehr um Lohn 
den Flachs für die Eigenthümer zubereitend, die ihn 
dann jelbft veripannen ober verkauften; jpäter mehr als 
große Fabrifgeichäfte, die nicht um Lohn arbeiten, jon- 
dern den rohen Flachs einfaufer, den geſchwungenen 
fertigen Flachs verfaufen. Die Gewerbetabelfen für 
1861 zählen zum erftenmale ſolche Anftalten und zwar 
in Schlefien ſolche mit über 30 Arbeitern auf eine Anz 
ſtalt, ähnlich große in Pofen, im Königreich Sachfen, 
in Braunſchweig; dagegen find es in Weftfalen und 
Süddeutſchland mehr handwerksmaͤßige Geichäfte; denn 
die Zahl der Geſchäfte ſteht der Zahl der Arbeiter ſo 
ziemlich gleich. Es handelt ſich theilweiſe um Maſchinen, 
welche durch einen Pferdegöpel in Betrieb geſetzt werden, 
um Maſchinen, deren Preis einige hundert Thaler nicht 
überſchreitet, jo daß die Meinen Gefchäfte much wohl 
beſtehen und profperiven Können. ’ 

1) Oeſtreich. Ausftellungsbericht Ob. II, S. 520. if 3.8. 


eine ausgezeichnete Brech · und Schwingemafchine von Bictor Rad 
in Erbmannsborf erwähnt, welche 200 Thlr. koſtet. 


5. Die Wollipinnerei, die Zwirn-, Strid=-, ( 
und Nähgarnfabrifen, die Garnbleiche un 
»Fürberei und die Seilerei. 


Der Verbrauch an Wolle und bie Technik ber Wollipi 
Die Handfpinnerei und Kämmerei in früherer Zeit. Di 
Entwidelung ber Meinen deutſchen Streichgarnfpinn 
Die theilweiſe Erhaltung der Hanbipinnerei. Der Kar 
großen unb ber Meinen Streihgarnpinnereien; die S 
berjelben 1837 —61. Die Lage ber Streichgarnipin 
feit 1861. Die Kammgarnfpinnerei. Die Hanblämme 
Lohnarbeit, die Maſchinenkämmerei erſt ſeit neuefter 
Der geringe Umfang ber deutſchen Kammgarninduftrie 
Aufhören der beutihen Hanblämmerei. Die Zwirn-, € 
Stid» und Nähgarnfabriten. Die Garnbleichen. Die Fä 
bie Abnahme der hanbwerksmäßigen Geſchäfte, die B 
großer fabrilmäßiger Geſchäfte. Die Seilerei und bie ga 
für Seilerwaaren. 





Die Handfpinnerei und Kämmerei von Schal 
befchäftigte, als Die neuen Spinnmafchinen entdeckt wı 
auch zahlreiche Perfonen; aber ihre Zahl und 
Stellung war doch eine andere, als bie ber Leinen 
jpinner, und das geht auf Urfachen zurüc, die bis 
neuefte Zeit auch die mechaniichen Wolffpinnereien | 
flußt Haben, Die ich daher zuerft erwähnen will, 








Der Verbrauch an Wollgarn. 473 


Die Technik des Wollſpinnens ift eine ambere, 
weniger Arbeit erfordernde; der Verbrauch an Woll⸗ 
waaren iſt ein fehr viel geringerer, als der von Baum⸗ 
wolle und Leinen. 

Ueber ven Verbrauch an Wollwaaren in früherer 
Zeit fagt-Dieteric, indem er den Verbrauch pro Kopf ber 
preußifchen Bevölkerung auf Elle gegen 1800 an- 
ſchlägt: „es ift notoriſch, wie arm in Bezug auf tuchne 
Reffoivung das Landvolk, d. h. die Maſſe der Nation, 

"6 gewefen. Der Tuchrock des Bauern mußte 

jve aushalten und oft erichienen Knechte und 

er im ftrengften Winter bei dem Gutsherrn 
Gerichtstermin im leinenen Kittel.“ 

ve Tuche und andere Wollwaaren werden jetzt 

gemacht, aber immer kann man noch rechnen, 

ie drei⸗ und mehrfache Zeit von Baumwoll⸗ 

halten, wodurch fich der jährliche Bedarf natür 

ger ftellt. Der Wollverbrauch wird jegt in 

id auf etwa 2, in England auf 5 Pfund! 

berechnet, der Baumwollverbrauch in Deutſch⸗ 

auf 4, in England auf 30— 40 Pfund. Dieterici 

ingel rechnen pro Kopf in Preußen einen jährlichen 

auch (nach freilich ganz ungefähren Schägungen) : 


I) Für Frankreich berechnet Moreau de Jonnds, Sta- 
o de l’industrie de la France (Paris 1856) &.22 nur 
ogr., alfo 1 Pfund pro Kopf und fügt bem bei: c'est 
nurie extreme pour le temps oü nous vivons. On 
ire meme que c'est une calamit6 publique, car le 
» est priv6 des vötements de leine qu’exige la rigueur 
mat. 








414 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


1849 1863 
an Zud- und Wollwaaren von 1 Ellen 210 Ell 
an Leinwand . . . . » „5 -* 5 . 
an Baummwollwaaren . . „ 16 » 230 - 


Was die Technik betrifft, jo iſt Die Urfache 
geringern Arbeit die viel geringere Feinheit aller X 
gefpinnfte. Das gröbfte Baumwollzeug beginnt mi 
Kettenfäden auf den Zoll, das grobe Tuch beginnt 
27 Kettenfäden, das mittlere hat 40—50, nur 
feinfte Tuch fteigt bis zu 70.1 Die durchfchnittliche A 
bei der Baumwollſpinnerei ift nach Hoffmann minde 
die 24 fache gegenüber der Wolffpinnerei. Der Wertt 
Wolle wird felbft durch die legte Verarbeitung zu fi 
Geweben durchſchnittlich nur verboppelt, der Wertt 
Flachſes verbreifacht, der Werth der Baummolle | 
auf das 10, 30 und mehrfache durch die Verarbei 
bis zu beffern Geweben. Die Vortheile der Maf 
und bes Großbetriebs find damit ſelbſiverſtändlich fü 
Wollinduſtrie fleinere. Spinnereien als felbftändige 
ſchäfte waren und find auch dadurch für Wolle ſchwie 
zu etabliven, daß die Wolfe pro Zentner 40 — 100% 
foftet, während die Baumwolle von ähnlichen Preife 
Anfang des Jahrhunderts His auf wenige Thaler he 
geſunlen ift. 

Aus diefen Gründen war aud die Wollſpim— 
früherer Zeit, welche das Garn für die wollenen Ger 
wie zum Striden und zu Strumpfwaaren mit ber £ 


1) 3.6. Hoffmann, Ueberficht ber Wirkungen der ©} 
maſchine a. 0. D. ©. 127. 


Ne Wollſpinnerei in früßerer Zeit. 475 


innrad zu Tiefern Hatte, niemals ein jo 
dewerbe, wie die Flachsſpinnerei; fie war 
ftändiges Gewerbe wie jene. 
Mittelalter bildeten nur in den größten und 
Städten der damaligen Tuchinduſtrie die 
die Wollkämmer und die Wolfipinner 
Meift wurde das Schlagen der Wolle 
nachern ſelbſt beforgt; das Kämmen wurde 
aus von Frauen um Lohn betrieben und 
innen war mehr Nebenbeichäftigung ber 
überhaupt; vielfach hielten fich die Weber 
und Mägde zu diefem Gefchäfte.t Das 
ndert, deffen Wollinduftrie die der früheren 
archſchnitt keinenfalls erreichte, fannte zwar 
jausfpinmerei profeffionsmäßige Spinner, 
zu großer Zahl; die armen Leute in ben 
Bolfinduftrie, in nächfter Nähe der Zuch- 
Raſchmacher gaben ſich damit ab. Sie 
wie die Leinenſpinner ganze Kolonien auf 
Sie waren nicht Unternehmer, wie jene; 
ı Einfauf des Rohmaterials viel zu arm. 
w zu theuer, der Wollhandel war fchon 
sit Die Webermeifter waren theilmeife ja 
e felöft zu kaufen. Das Bild, das uns 
(reichen Reglements des vorigen Jahr⸗ 


rand) zur Geſchichte der deutſchen Wollinbuftrie, 
Jahrblicher VII, ©. 90. 

Abhandlung von denen Manufaltur- und 
18 zur Ergänzung feines Wertes von benen 
id Fabriken, Berfin und Leipzig 1762. ©. 48. 


476 Die Umbilbung einzelner Gewerbsziweige. 


hunderts entgegen tritt, ift folgendes. Der Weber 
feinen Gefellen ımd Jungen fortirte, ſchlug und rein 
die Wolle, gab fie dann dem Spinner und Känm 
der für ihm um Lohn arbeitete, dann erft wurde gen 

. gewalft, appretirt, und wenn ber Weber nicht Ei 
thümer des Rohſtoffes war, erhielt num der Verl 
das fertige Produkt gegen den Lohn zurüd. , 

Das erklärt es, daß die Stodung des Abi 
von Wollwaaren zur Zeit der napoleoniſchen Kriege 
der Uebergang zu der Heinen Spinnmafchine, ber 
ſchon zu Anfang des Jahrhunderts vollzog, nirgends 
ein allgemeiner Nothſtand, als der Auin eines blü 
den Handwerks empfunden wurde. 

Für das fogenannte Streichgarn, d. h. für 
Garn zu gemwalften Waaren, Flanellen und eir 
andern Stoffen, bedurfte e8 damals nur ſehr einf 
Mafchinen. Das Garn darf nicht ſcharf gedreht 
muß einen ziemlichen Durchmeffer haben, um ben 
fluß des Walfens nicht zu widerſtehen. Mafchinen Bi 
waren leicht zu bauen, leicht zu bezahlen. Wohlhab 
Quchmacher, deren e8, wie ich unten noch zeigen w 
befonder8 in Preußen und Sachſen damals zier 
viele gab, erwarben ſchnell und zahfreich ſolche f 
Maſchinen; auch Meine handwerksmäßige Lohnipi 
veien entjtanden. „Schon vor 1800 bauten in Bi 
die Mechaniker Hoppe und Tappert Mafchinen 
Schrobbeln, Streichen und Spinnen der Wolle, 
welchen Yegtern dreißig Spindeln gleichzeitig gingen 
welche man zur Produftion orbinärer Garne mit Er 
verwendete.” Der engliihe Mafchinenbauer Cock 


Die Heinen Streichgarnftühle und die Hanbipinnerei. 477 


} machte bald darauf feine ſchon viel vollendetere Woll⸗ 
ſpinnmaſchine nach Verviers, führte ſie dann auch in 
Aachen ein, und feine Söhne errichteten ſchon 1815 
aus Veranlaffung der preußiſchen Regierung eine hierzu 
eingerichtete Mafchinenfabrif in Berlin. 

Neben diefen Heinen raſch ſich verbreitenden Streich- 
garnfpinnmafchinen erhielt ſich bis in die neuejte Zeit 
in abgelegenen Gegenden als Nebenbeihäftigung die 

} Handfpinmerei. Wo der Bauer fein eigenes Tuch fich 
noch webt, da fpinnt er auch die Wolle dazu. Mehr 
noch wird zu Strid- und Strumpfwaaren das Garn 
mit der Hand gefponnen. In Thüringen, Weftfalen 
und Württemberg gibt e8 bis in die neuere Zeit noch 
Spinnerfamilien, doch bringen auch auf dem Lande die 
Mafchinenftridgarne täglich weiter vor. Die preußtiche 
Statiftif verzeichnet die Wollfpinner zufammen mit den 
gewerbsmäßigen Wollftriefern ; das erſchwert eine fichere 
Beurtheilung der Verhältniffe nach den Zahlen; auch 
die Grenze ziwifchen gewerblicher und Hausarbeit iſt 
natürlich ſchwankend. Man zählte in Preußen: 


1849 . . 2826 Meifter mit 1970 Gehülfen 
1852... 2721 » ..3352 » 
1861 . . 1684 » - 428» 


So viel fieht man aus ben Zahlen, daß es ſich 
um fein beveutendes Gewerbe mehr Handelt, auch nicht 
um ein plögliches Zurückgehen. 

Wohl galt es noch einen Kampf zwiſchen dem 

" Heinen und dem großen Betrieb; aber bie Lofung war 
bier nicht mehr: Handarbeit oder Mafchine, fondern: 
Heine oder große Mafchinel Es Hatte fih der Kampf 


478 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


zu vollziehen zwifchen den handwerksmäßigen € 
ftülen von 30 — 40 Spinveln und den großen Eta 
ments. Es ift der Kampf zwiſchen ben profe 
mäßigen Quchmachern und ven Quchfabrifen, au 
ich weiter unten nochmals komme. 

Es ift befannt, wie raſch und Fräftig fich die 
deutſche Tuchinduftrie ſchon in den dreißiger und 
ziger Jahren entwidelte; es iſt befannt, daß b 
eine Konzentration ſich vollzog, weiter gehend ſoge 
in England. Damit war aber zugleich die Unha 
keit der kleinen Streichgarnſpinnereien von 30 
Spindeln gegeben. 

Es ſpricht ſich das deutlich und klar in der fol 
Ueberficht der preußiichen Streichgarnfpinnereien, | 
erſt von 1837 an aufgenommen wurben, aus: 

Auf ein 


‚Zahl der ahl der rl 
Spinnereien pindeln im 





1837 2... 335 345894 103,4 
1840... . 3561 380889 106% 
1848... . 3800 405608 122, 
1846 . al 41958 192, 
1849... 17987 MM 25 
1852... . 169 509758 801. 
1855... 13 59 39 
1858 . 1261 611809 485, 





1861 1109 651145 587,.. 
Bis Anfang der vierziger Jahre deuten bie 2 
noch überwiegend auf Heine Geſchäfte; es find © 
zeien in ber Hand ber Tuchmacher; dieſelben hatte 
oder zwei Stühle mit je 40 Spinveln in ihrer ei 
Wohnung und beforgten das Spinmen darauf felbf 


Die Krifis der Heinen Streichgarnfpinnereien. . 479 


Hülfe der Familienmitgliever und Hausgenofien. Noch 
1843 hatten von den 3300 Mafchinen 2894 zufammen 
163211 Spindeln, alfo eine 56; in Preußen, Poſen, 
und Pommern kamen 1843 auf ein Geſchäft mır 45 
Spindeln; e8 ſcheint, jagt Hoffmann, daß es in biefen 
nzen feines gab mit über 80 Spindeln. In ber 
hatten die Tuchmacher noch faſt ausichließlich 
Heine Spinnereien; im Regierungsbezirk Frankfurt 
150 Spindeln auf eine Spinnerei. Nur in 
fien und am Rhein war e8 Damals ſchon wejentlich 
3. Im Schlefien Hatten ſich ſchon damals größere 
pinnereien gebilvet, welche für die Tuchmacher wie 
ie Tuchfabrifanten arbeiteten. Im der Gegend von 
n hatten die Tuchfabrifanten meift ſchon ihre 
n größern Spinnereien; im Regierungsbezirk 
n famen damals ſchon auf ein Gejchäft etton 

’ Spindeln. 
Im die Zeit von 1843 — 55 fällt die Hauptkriſis; 
die kritiſche Zeit für die Heinen Tuchmacher; ihr 
8 Garn, wie ihre eigene Walferei, Färberei und 
tur Können nicht Schritt halten mit den Verbefje- 
n, und bamit verſchwinden auch bie Meinen 
ıereien nach einander. Von 1855 — 61 fest fich 
Richtung fort, etwas weniger akut, weil diejenigen, 
: amt wenigften Tonfurriven konnten, ſchon gefallen 
Die Zahl der Gefchäfte finkt von 1843 — 61 
en dritten Theil herab, der Umfang der einzelnen 
tereien fteigt auf das dreifache bis ſechsfache. Doch 
= Verlauf der Krifis ſehr verichieden nach ven 
nen. Im Preußen, Poſen, Pommern gibt es 


480 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


1861 noch 84 Spinnereien mit durchſchnittlich 10 
186 Spindeln; in der Provinz Sachſen hat ein Ge 
1861 durchſchnittlich 288, in Brandenburg und € 
fin 524, am Rhein 1246 Spindeln. In den üb 
Theilen des Zollvereins find bie Verkäftniffe äfı 
die Krifis fällt auch meift in die vierziger Jahre. 
Umbildung zu größeren Geichäften geſchieht in den b 
legten Jahrzehnten. Im Jahre 1861 zählte man 
ganzen Zollverein 1797 Streichgarnfpinnereien 
1.117870 Feinſpindeln, auf eine Spinnerei db 
ſchnittlich 16 Perfonen und 629 Spinbeln. 

In der Zeit nach 1861 Hat fich noch Maı 
geändert; bie Arbeitötheilung, die Spezialifirung, 
Anwendung von weitern Mafchinen hat zugenom 
aber mehr in andern Ländern, bejonders in Eng 
und Trankreih,* ohne daß fich jagen ließe, daß 
zollvereinsländijche Induftrie zurüctgeblieben wäre. 
fommt wefentlich auf die einzelnen Spezialitäten 
Auch in England gab es noch 1850 neben den gr 
Streihgarnfpinnereien viele mit nicht mehr als 
Spindeln. * Theilweife ift das dort jetzt noch fo. 
können ſich auch Fleinere Geichäfte noch Halten für 
zelne Artiel, für gröbere Waaren, für den Lokalbe 
der mittleren und untern Klaſſen. Die ganze 2 
induftrie, befonders die Produktion gröberer Tuche, 
fie der Zolfverein hauptſächlich Tiefert, ſtellt bei 

1) Oeſtreich. Ausflellungsbericht Bd. IV, ©. 86. 

2) Mährlen, die Darftellung nnd Verarbeitung ber 
ſpinnſte, ©. 187. 


Die jetzige Lage der Streihgarnfpinnerei. 481 


denere Anforberungen an bie Spinnerei, hat etwas 
Stabileres, Einfacheres, als die Produftion der Mode-, 
der Phantafienrtifel, der nouveaut6s und hautes 
nouveautes, wie fie vor allem bie Franzoſen erzeugen, 
oder die Produktion der ganz feinen Mobetücher, wie 
fie von Aachen aus Abfag auf allen Weltmärkten finden. 
Je feiner die Artitel find, für welche das Garn 
beſtimmt ift, deſto mehr werben alle die neuen 
tomplizirten Maſchinen nothwendig, deſto mehr wächft 
der Umfang der Spinnereien. Die Krämpel- oder 
Krazmaſchinen, die Vorfpinn- und die Feinſpinn⸗ 
mafchinen fehlen in feiner großen Fabrik mehr. 
Dagegen find Selfactors noch felten. Erſt jeit Anfang 
ber ſechsziger Jahre wurden biefelben auf die Streich 
garnfpinnerei angewandt. Erſt in neuerer Zeit gewinnen 
die Wollwaſch⸗ und Trodnungsmafcinen an Ausdeh⸗ 
nung. Auf der parifer Ausftelung von 1867 machte 
eine Wollwaſchmaſchine aus Rouen großes Aufiehen, 
welche mit einer Frau umd einem Arbeiter leiſtet, was 
früher 28 Leute thaten, wodurch ſich der dortige Fabri- 
Iant eine tägliche Exfparniß von 60 France berechnet.! 
Das Täßt fich nicht leugnen, daß bie neugegrün⸗ 
beten Gefchäfte meift auf breitefter Grundlage beginnen; 
befonders in ganz neuen Branchen ift das erfichtlich, 
32. in der Kunftwollfabrifation, d. h. der Herftellung 
von neuem Garn aus alten Tuchreſten. Eine Reihe 
großer Altiengeſellſchaften Hat fich auch in der Streich 
1 gebildet. 
ie. Ansfellungsberiht Bb. II, ©. 536. 
„Geſch. d. Mleingewerbe. 31 


482 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Allerdings erfolgt damit wieder eine thei 
Trennung bisher in einheitlichen Etabliffements 
bundener Gefchäfte. Das Wafchen und NReiniger 
Wolle fängt an, ein felbftänbiger Induſtriezwei 
werben.” Die neuen großen Spinnereien find 
mehr fo häufig wie früher mit Tuchfabrifen verbu 
fondern befchränten fih auf das Spinnen und F 
der Wolfe um Lohn oder auf eigene Rechnung, 
freifich nur beweiſt, daß im den bisher beſteh 
Etabliffements zu Verjchievenartiges zuſammenge 
war, nicht daß wieder Heine Gejchäfte entftehen. 

Im Ganzen aber ift die Streichgarnipinnerei 
entfernt nicht fo fonzentrirt, wie die Baumwollſpin— 
ſelbſt die größten Gefchäfte Haben nicht über 
taufend Feinfpindeln. Die Iofale Verbreitung ift 
gleichmäßigere. 

Weniger läßt fich das von der andern Ar 
Wolfipinnerei, der Kammgarnfpinnerei jagen. 

Man bezeichnet die Kammgarne (worsted } 
gewöhnlich dadurch, daß man hervorhebt, fie feier 
bie ungetvaltten Gewebe beftimmt; das ift in 
nicht ganz richtig, als es auch eine Neihe ungen 
Gewebe aus Streichgarn gibt. Das Kammgarn ifi 
jenige, welches für Thibets, Orleans, für Hı 
Weften-, Möbelftoffe, für. gemifchte Gewebe beft 
ift; e8 wird meift aus der Ianghaarigen Wolle 
engliſchen Landſchafes, oder aus Alpala- und Me 
wolle gefertigt; nur ein kleiner Theil des L 


1) Berg. öfte. Ausftellungsbericht Bh.IV, ©. 14. At 


nmgarnfpinnerei, 483 


le. Die Wolle wird nach der 
dann burchichnittlich viel feiner 
teichgarn und ftärfer gedreht. 
ımplizirter und ſchwieriger, und 
hier Tange fich behauptet. Die 
figer zu konſtruiren. 
nmen geſchah bis in bie neuere 
er viel weniger in felbftänbigen 
Lohn von einzelnen Arbeitern, 
htlingen für bie betreffenden 
8 war fein felbftändiges, geſun⸗ 
ch ber Lohn zeitweiſe, wie in 
Aufſchwung der Worſtedfabriken, 
5b. bie Woche)‘ „Die Hand⸗ 
1840,? „ift der große Hemm- 
efümmte Wolle ift nicht immer 
men Hände fümmen ungleich; 
te Umtaufchung der Wolle ift 
zekämmte Wolle (der Zug) wird 
Doch wollte es Tange nicht 
nd bilfiger arbeitende Kämm- 
Erſt in den fünfziger Jahren, 
vat der Umſchwung ein. Ein 
5 etwa 1%, Pfund Zug und 
(die Kämmlinge) Viefern fönnen; 
iſchine Tieferte num mit wenigen 


von 1851, IT, 64: man zählte in 
ıf 423 Fabriten und 118433 Arbeiter 
00 Handlämmer. 
ide Sachſens ©. 221. 

31* 


484 Die Umbildung einzelner Gewer 


Händen 50—60 Pfund Zug per T 
befferungen brachte das Heilmann’ic 
Nobeligftem, die Morel⸗Kammmaſch 
gröbere Wolle und ohne viel Abfall 
Morel ſche Mafchine Toftet 8000 Fr 
7, Pferdekraft, liefert mit einem Arbı 
den 350 Kilo, d. h. 700 Pfund. 

Für Deutſchland war der Ueberga 
Tümmerei zur Mafchine, wie von der 
Machine, nicht von ſehr großem Ein 
fang diefer Induſtrie früher nicht bed 

Die Raſchmacher Yatten das | 
ein ziemlich grobes Gewebe, welches 
befierer Kleider verwendet wurde, gi 
feinern Stoffen derart, beſonders für 
der höhern Stände verwendet wurbe, 
Frankreich und England. Aber der 
diefer Stoffe nahm eher noch ab, als 
Jahrhunderts die feinern, mannigfaltig 
fi mehr und mehr verbreiteten. 

Die Produktion folcher Stoffe 
beinahe verſchwunden. Erſt von da bi 
Wohlhabenheit, die Unzufriedenheit ı 
ſchlechten Baumwollwaaren wieder eine 
für derartige Gewebe hervor. Es er 
eine Anzahl fat durchaus Heiner € 
ihre Bedeutung war nicht groß; 1840 


1) Oeſtr. Ausſtellungsbericht von 186' 
2) Daſelbſt II, 555. 


deutſcher Kammgarnfpinnereien. 485 


garnſpindeln nur 56258 Kamm⸗ 
ihre Zahl nahm ſogar mit dem 
mehr ab, weil bie Heinen Spinne⸗ 
he viel weniger die Konkurrenz bes 
konnten. Im Jahre 1846 war bie 
in Preußen auf 32470 geſunken; 
’3, bie fich aber jet auf einige 
e (auf 49 in ganz Preußen, 1846 
1. Im ganzen Zoltverein zählte 
ummgarnfpinnereien mit 251887 
it befteht ber überiwiegenbe Theil 
von einfachen Wollgarn des Zoll- 
r. im Jahre 1864) aus Kamm: 
ber exiftiggn jegt eine Anzahl großer 
in Schlefien, Brandenburg, am 
Königreich Sachen und in Baiern. 
emlich jungen Urfprungs und haben 
g an einen den englifchen Gefchäften 
angenommen, jenen Charakter ver 
r bier aus der Natur der Sache 
an dieſe Garne gegenwärtig fo hohe 
g auf Anfeen, Weichheit, Farbe, 
t md Gefchmeibigteit, daß nur bie 
ng und Anwendung aller techniſchen 
tarkte beſtehen kann. Was Durch 
bei und verbrängt wird, ift bie 
2 einheimifchen Heinen Gefchäfte. 
m man das Aufhören der Hand⸗ 
n den legten zwanzig Jahren voll- 
Theilmeife verſchwinden damit, 





486 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


wie ſchon erwähnt, gar feine ſelbſtändigen Gel 
fondern nur Lohnarbeiter der Weber und Tab 
theilweife wurde das Kämmen allerdings auch als 
ftänbige Unternehmung auf eigene Rechnung bett 
Es gab ſolche Gefchäfte in Sachen, in Thüringer 
Württemberg, in Brandenburg, in Schlefien, am 9 
Die preußiſche Statiftit gibt inſofern feine klare A 
über fie, als fie fie mit der Leijten- (Kuhh 
fpinnerei, Haarſpinnerei und früher mit der $ 
fpinnerei zufammen auffüßrte, auch wahrſcheinlich 
beiter mit aufzählt, bie nicht für diefe Geſchäfte, jo 
direkt für Fabriken arbeiteten. Die Zahlen find fol; 
Anfatten Pelhäftigte 


Perſonen 
18416. W 28 3914 
19... 68 7048 
1852... 18 4387 
1855... 200 3655 
1858... . 1897 2791 
1861 . 50 1915 


- Eine Zunahme der Anftalten bis 1855, ber 
fonen 6i8 1849; von da an raſche Abnahme. Es 
jegt bald nur noch in den großen Rammgarnfpinn 
felöft mit den peigneuses gefämmt werben. 

Im Anihluß an die Spinnerei noch einige 2 
über die Herftellung von Zwirn, Strid-, Stick⸗ 
Nähgarn, einfchließlich der Garnbleiche und r*- 
und über die Geilerei. 

Was die Zivirne und mehrfachen Garne 
fo ift Har, daß mit der Mafchinenfpinnerei 
ver mafchinenmäßigen Anfertigung im Großen 


e Zwirn⸗ und Garnfabriten. 487 
Heinen hanbwerksmäßigen Geſchäfte in 
» traten. Im. Preußen find fie 1846 
aufgenommen. Man zählte: 
39 Anftalten mit 1446 Perfonen, 
3% . . 248 « 
Bor 30M - 
dung fällt in bie Zeit von 1855 — 61. 
Hichen Staaten fehen wir auch 1861 
e Geichäfte, die immerhin auch nicht 
Halen Bedarf arbeiten; z. B. werben 
24 Geichäfte mit 395 Perjonen, in 
ſchäfte mit 472 Berfonen gezählt. Das 
och mehr handwerlsmaßige Feine Unter- 
er es ift fraglich, ob fie ſich auf bie 
zerven. Wenn es fich darum Banbelt, 
je die englifche Konkurrenz zu befeitigen, 
mer noch ſehr ftarke Einfuhr von Leinen- 
zu machen, fo werben dazu nur größere 
ande fein. 
rhält e8 ſich mit den Garnbleichen und 
aller Art, die nur theilweiſe als felb- 
e, theilmeife verbunden mit andern Be 
eichen, Appreturanftalten, Stidgarn- 
amen. 
n eriftiren viele Garnbleichen für Leinen 
2; feit alter Zeit ift Elberfeld und 
befannt; fie Hatten ſchon 1790 - 150 
Der Verbrauch gebleichter Garne für die 
Zunehmen. Im Jahre 1846 wurden 
6 Garnbleichen mit 989 Arbeitern, 


488 Die Umbilbung einzelner Gewwerbszweige. 


1861 230 mit 1124 männlichen und 226 weiblic 
Arbeitern, im ganzen Zollverein 403 Anftalten 
1623 männlichen und 420 weiblichen Arbeitern gezä 
Die Garnfärberei Iag früher mit in der Hand 
profeffionsmäßigen Färber, welche in der Regel 
Zweige der Garn- und Stücfärberei, des Wieder 
färbens, Häufig auch noch die Druckerei zugleich betrie 
Derartige Gejchäfte eriftiren immer noch für ven Le 
bebarf, fie arbeiten für Meine Spinnereien und Webere 
Aber fie Haben doch ſchon bebeutend abgenommen ; 
fabrifmäßigen Garnfärbereien, welche fich auf einz 
Spezialitäten legen, die Kattundruckereien, die Fä 
veien, welche mit den Wollſpinnereien und Tuchfabr 
vereinigt find, erjegen fie. Bis 1837 wurben fie 
Preußen mit den Kattundruckern zufammengezähft, Di 
die Abnahme von 1837 — 40 viel zu groß erfche 
aber auch von 1840 —61 bleibt fie beveutend. J 
zählte in Preußen: 
1831 . 3470 Schwarz « u. Schönfärbermftr. mit 4045 Gehi 


1834 . 3791 - . . -479 
1837. 4358 — . . -804 : 
1840 . 3519 5 . - ·4293 - 
1843 .3741 »- . -4562 - 
1846... .. 9126 Teifer und Gefelfen zufammen 
1849 . 4355 Schwarz- u. Schönfärbermftr. mit 3787 Gehi 
1852 . 4350 . - . 30 - 
1855 .410 + - . « 3506 -» 
1858 . 3717 . . . „2567 - 
1861 .3360  »- . . - 248 >» 


Der Rückgang des Gewerbes wurde bon 
Meiftern wohl als Kalamität empfunden, aber bie ( 
jellen Tamen Yeicht in den Tabrifgefchäften unter. 





Die Färberei, 489 


brifmäßigen Garnfärbereien haben befon- 
vothfärbereien Fortſchritte gemacht. Bon 
men, wo fie jeit 1780 blühten, haben 
Sachſen und Süddeutſchland verbreitet; 
zreußen 1849 erſt 22 mit-831, 1861 
:beitern. Die andern Garnfärbereien in 
mwolle wurden früher in Preußen mit 
iberhaupt zufammen gezählt; 1861 erft 
ers aufgenommen; man zählte in Preußen 
mit 2526 Arbeitern. Sie kommen 
eich vor; im ganzen Zollverein betrug 
mit 3826 Arbeitern. Doch find alle 
ig zuverläffig, da fo viele dieſer Geichäfte 
‚ fondern mit andern großen Etabliffe: 
vorfommen. Bon bejonderer Bebeutung 
en von wollenen Stickgarnen, ven foge- 
‚armen, deren Hauptfig Berlin ift. 


ilerei Handelt es fi) um zwei große 
Der Hanf wird nicht mehr it ber 
auch Hier hat die Mafchinenfpinnerei 
Das ift aber nicht das Schlimmfte 
Seilermeiſter; theilweife hat er dadurch 
erhalten, indem er ſelbſt hanfenes 
yerivendet.! Der weitere Schritt aber 
für die Herftellung der Seilerwaaren 
rate und Majchinen erfunden wurben. 
ftelfungsbericht won 1851 fehreibt ſchon: 


m Bericht aus Chemnitz im Preuß. Handels- 
16. 


400 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


„Die mechaniſche Arbeit iſt bereits in alle Zweige 
Gewerbes eingedrungen, von der Herſtellung des 
fadens und der Taue an, bis zu den Spritzenſchlä— 
Maſchinenband, ja felbft bis zur Anfertigung von 
negen. Allerdings findet bei vielen Waaren 
Gattung feine nenmenswerthe internationale Konk 
ſtatt; allein trotzdem ift vorauszufehen, daß das Ge 
überall in die brücfendfte Lage gerathen wird, wo 
es verfäumt, rechtzeitig die Handarbeit zu verlaffer 
auf den Mafchinenbetrieb überzugehen.“ Schon 
zählte die preußiſche Babriktabelle 7 Seilerwanrenfa 
mit 222 Arbeitern, aljo Geſchäfte mit durchſchn 
31 — 32 Arbeitern. Beſonders wo der Abſatz ein € 
ift, in Fabrik⸗ und Seeſtädten, ober in Den Geg 
eines ausgezeichneten Rohprobuftes, einer BLUE 
Hanffultur Haben die großen Geichäfte zugenomme 

Immer aber Handelt es fich in der Hau 
nicht um einen vollftändigen Uebergang zu ganz € 
Etabliffements, fondern nur zu etwas größern, 
Mafchigen arbeitenden Handwerksgeſchäften. Die 
ſchinen, welche zur Anwendung kommen, find ſeh 
ſchieden; von einer Art ber mechanifchen Seilerei 
e8 in dem Berichte über fie: die Maſchine ift fo 
daß jeder fie anwenden kann; fie ift im Innern 
Wohnung, im Heinften Raume, wenn man will 
dem Ofen aufzuftellen. Andere jind allerdings 
viel komplizirter und theurer. ? 


1) Bergl. öſtreich. Ausftellungsbericht von 1867. | 
©. 570 fi. 


Die Seilerei. 491 


Die preußifchen Zahlen über das Seilergewerbe 
zeigen jebenfall®, daß der Uebergang zum Mafchinen- 
betrieb umd zu den großen Gefchäften 1861 noch nicht 
allgemein fich vollzogen haben konnte; man zählte: 


1834 . . . 3413 Seilermeifter mit 1845 Gehülfen 
18438... 3841 5 . 2461 5 
1861... 3951 . 347 - 


Freilich darf man dabei nicht außer Acht laſſen, 

1 daß fehr viele der fogenannten Seilermeifter Heute nur 

noch Detailhändler find; fie verkaufen Seilerwaaren in 

der Regel zuſammen mit Schnaps, mit Salzgurken, 
theilweiſe auch mit Kolonialwaaren. 





6. Die Weberei überhaupt und die Weberei 
häusliche Nebenbeichäftigung im Speziellen 


Zur techniſchen Geſchichte der Weberei. Die Leiftungen 
Preife ber verſchiedenen Stühle. Die verſchiedene geſchä 
Drganifation ber Weberei und ihre Beachtung in ben fl 
ſchen Aufnahmen. Kritik der preußiſchen und zollver 
ländiſchen Weberſtatiſtit Überhaupt. Die Hausweberei 
ihre ſelbſtändige Stellung gegenüber der Konkurrenz. 
Wollweberei in Preußen als Nebenbefhäftigung. Die 
manbmeberei als Nebenbefäftigung. Die preußifce St 
von 1816—61, Zunahme bis 1843, Stabilität von 18 
1861. Die Stühle nach ben einzelnen Provinzen. - Schä 
der Produltion der hänslichen Weberei gegenüber ber gew 
mäßigen. 





Im der Spinnerei haben die großen Fabriken 
mechanifcher Arbeit Heute definitiv gefiegt, die We 
fteht noch mitten inne in dem Kampfe zwiſchen He 
und großem Betrieb, zwiſchen Handarbeit und Mafch 
arbeit. Die Aenderungen in der Techni 
find mehr DVerbefferungen als totale V 
die wichtigften und folgenreichiten waren a 
ſtuhl anzubringen, ja theilweife waren 
neuefte Zeit nur von ihm auszunügen; d 
ſtuhl hat in der Hauptfache dieſelbe Kor 
der Handſtuhl, er wird nur von ber mechaniſchen. 





Zur techniſchen Geſchichte der Weberei. 493 


von ber menjchlichen Kraft bewegt; die Maſchine arbeitete 
lange kaum oder gar nicht bilfiger, als der meift genüg- 
fame Handweber; für einzelne Branchen ift die Mafchinen- 
arbeit heute noch nicht anwendbar. Die techniſchen Ope- 
rationen, denen bie Gewebe vor und nad) dem Weben 
zu unterwerfen find, waren es früher mehr, als bie 
Maſchinenweberei, welche ver Grofinbuftrie das Ueber- 
gewicht verfchafften. Und aus eben dem Grunde erijti- 
ven bis heute blühende Branchen der Tertilgewerbe als 
Hausinduftrie, mit technifcher Vollendung der Gewebe 
durch Fabrifanten und Kauffeute. 

Der alte einfache Webſtuhl, wie er bis zu Anfang 
dieſes Jahrhunderts fo ziemlich überall üblich war, ift 
beinahe Sahrtaufende alt. Wir finden ihn in ben Ger 
mächern der Penelope, wie in den Frauenhäufern auf 
den großen Königshöfen und Domänen Karls des Großen. 
Es ift derjelbe Webſtuhl, an dem fpäter die zahlreichen 
nieberländifchen Tuchmacher figen; den die Niederländer 
don da über ganz Norddeutſchland verbreiten; es iſt 
derſelbe Webſtuhl, der im 15tem Jahrhundert der 
ſchwãbiſchen Linneninduftrie zu ihrem Weltrufe verhilft, 
der fpäter die große weftfäliiche oder ravensbergiſche 
Exportinduſtrie, bie ſchleſiſche Linneninduſtrie, bie füchfiiche 
und preußiſche Tuchmacherei des 18 ten Yahrhunderts 
in Flor bringt. Nur eine etwas andere verbeſſerte 
Einrichtung durch eine Mehrzahl von Tritten und 
Schäften brauchte es, um bie im 17ten Jahrhundert 
aus den Nieberlanden nach Deutſchland gebrachte 
Weberei der künſtleriſch gemufterten Gewebe, der Drelle 
und Damafte zu ermöglichen. 


49 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Die tägliche Leiftung eines folchen einfachen Han 
ſtuhles ift natürlich ſehr verſchieden je nad) der Brei 
je nach dem Stoffe, fowie je nach der Feinheit d 
Garnes. Die Durchſchnittsangaben, welche darüb 
früher und fpäter gemacht wurden, ziehen zugleich häu 
noch in Rechnung, daß ein großer Theil der Webſtül 
nur einen Theil des Tages im Gange ift; es hä 
davon ab, ob ver Weber noch andere Arbeit werricht 
ob er die Hülfsoperationen ſelbſt vornehmen muß ot 
nicht. Man wird bei 12 ftündiger Arbeit und mittler 
Gewebe zu Anfang des Jahrhunderts nicht über 3 — 
Ellen als tägliche Leiftung annehmen Können. Vieba 
rechnet noch 1846 bei 14 ftündiger Arbeit 3— 6 preufif 
Ellen Leinwand, Dieterici etwa zur felben Zeit 5 Ell 
als tägliche Leiftung. 

Die Hauptverbefferung des gewöhnlichen Webftuf 
ift die ſchon 1738 von John Kay erfundene Schne 
ſchütze, die mechanifche Bewegung des Weberichifichen 
fie erlaubt viel breitere Zeuge zu weben und fteigert i 
tägliche Ellenzahl wenigſtens auf das Doppelte. { 
Deutſchland fand die Schnellſchütze erft in den zwanzig 
Jahren dieſes Jahrhunderts allgemeinere Verbreitur 
Noch neuer iſt die Verbeſſerung des gewöhnlichen We 
ſtuhls durch einen Mechanismus, welcher das ferti 
Zeug von ſelbſt aufwickelt und die Kette von ſelbſt weit 
abwicelt. 

Schon 1750 hatte Vaucanſon einen Webſtuhl geba 
deſſen einzelne Thätigfeiten mittelft Kurbeldrehung bewir 
wurben; aber die Einrichtung war nicht praftiich. J 
Jahre 1785 ließ der Theologe Dr. Karlwright fein 


Die Berbefferung des Handſtuhls und ber Kraftwebſtuhl. 495 


mechanischen Webſtuhl patentiren; aber die Anwendung 
jcheiterte immer noch daran, daß die baumwollenen 
Faden nicht feſt genug waren, ben Fräftigen mechanifchen 
Gang des Geichirres auszuhalten. Man Half durch 
Beſtreichen der Kette mit der fogenannten Schlichte; 
das koſtete zu viel Zeit, bis 1802 die Schlichtmaſchine 
erfunden wurde. Aber felbft 1813 waren noch kaum 
4000 folcher Webftühle in England, als fie in dieſem 
Jahre durch den Aufitand der Weber beinahe alle zer- 
ftört wurden. Bon da an aber fanden fie weitere Ber- 
breitung. Horrock in Stodport hatte die Stühle bebeu- 
tend verbefiert, noch mehr gelang das Roberts in 
Manchefter, deſſen Stühle von 1822 an auch nad 
Deutſchland kamen. Lange blieb ihre Anwendung auf 
Baumwolle beſchränkt, dehnte fi dann auf Kammgarn 
und Leinengarn, nur langſam und ſehr beſchränkt auf 
Streichgarn und Seide aus. Die neueren Erfindungen 
beziehen ſich auf die Hülfsmaſchinen: Schuß⸗, Spulen⸗ 
und Aufwindmaſchinen, Zettel- und Schlichtmaſchinen, 
Meß-⸗ und Faltmafchinen, Majchinen zur Reinigung 
der Gewebe vollenden in den großen Fabriken die Prä- 
ziſion, Schnelligfeit und Billigkeit der Arbeit. 

Die Iacquarbmafchine, welche die Hebung der 
Kettenfäden in beliebiger Weife nad) beſtimmten Muftern 
regulirt und dadurch gemufterte Gewebe leichter herzu⸗ 
ſtellen erlaubt, ftammt aus dem Jahre 1808; fie ver- 
breitete fich ziemlich ſchnell auch in Deutichland. Der 
Jacquardſtuhl, wie alle die anbern komplizirteren 
Stühle, der Korjettftuhl, die Stühle mit einer Mehr: 
zahl von Schäften und Tritten, die Stühle mit 


496 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Wechſellade find bis in bie neuere Zeit überw 
Hanpftühle. . 

Die Leiftungen der verfchiedenen Stühle nun 1 
durchſchnittlich in neuerer Zeit fo angenommen wer 
der verbefferte Handſtuhl mit Schnellſchütze zc. 
etwa 8 Ellen feine, 20 Elfen ſtarle Leinwand, 25 - 
unter Umftänden noch mehr Ellen Calico, der Jacq 
ſtuhl 5 — 6 Ellen, der Korſettſtuhl 3 Ellen; ver | 
ſtuhl dagegen 40 und mehr Ellen; er Kat danebe 
Vorzug des immer gfeichen Schlages, des gleichmäß 
Gewebes. Bei Wollgeweben Tiefert ver Han 
5—10 Ellen, der Maſchinenſtuhl durchſchnittlich 
nicht viel mehr als 10 Ellen. 

Die Preife auch der einfachen Stühle find je 
der Stärke verſchieden; für Baumwolle und Leine 
man leichtere, für Wolle fchwerere. In ben 
Jahren rechnete man als Preis des einfachen Lein 
ſtuhls 6 Thlr.? Jetzt werden in Schlefien die gefan 
Koften für Webſtuhl, Geſchirr u. ſ. w. zwifchen 1 
30 Thlr. gerechnet; ein guter Webſtuhl für %/, 
Waare allein Toftet 15 Thlr.“ Ein guter Han 


1) Bauptſächlich nach ben genauen Unterfuchunge 
Mägrlen, bie Darftellung und Verarbeitung ber Gef 
passim. Die Angaben bort find in württemb. Ellen; 100 
— 108,5 wirttemb. Ellen. Einzelne verbefierte Han 
liefern noch mehr; z. B. der Schwarzihe Doppelmebf 
12 Stunden 55 Ellen 11, breite Neſſel; ber Stuhl 
65 Fl. fübb. Zollvereinsblatt 1849. II, ©. 55. 

2) Säner, ©. 3. 

3) Jalobi, Zeitſchrift d. preuß. flat. Bur. 1868. € 


eiſtungen ber MWebftühfe. 497 


gebaut fein muß, als ber Lein- 
r Hauptjache von Holz ift, wirb 
30 Thlr. angefchlagen. Mäprlen! 
daummollftuhl zu 20 ST. ſüdd. 
dſtuhl zu 75 Fl., einen breiten 
jettftußl zu 50, einen Kraftſtuhl 
ſchinenſtuhl wird nicht bloß da⸗ 
daß die Haupttheile von Eifen 
ıpligirter und muß viel exakter 
h entfoheibet ber Preis des Stuhls 
entabilität des einen oder andern 
der bewegenben Kraft, bie An- 
er an der Mafchine, die General: 
verſchiedenen Preife für Hand» 
fommen mit in Betracht. 
Vorbemerkungen enthalten ſchon 
rblick über den Gang der Ver⸗ 
halbwegs befriedigende Kenntniß 
‘halten, wenn wir konkreter auf 
m. Wir müffen uns dabei ſchon 
ganzen Unterfuchungen vor Allem 
zollvereinsländiſchen, Kauptjächlich 
jeftatiftit halten. Die erfte auf- 
mnach, welche Arten der Weberei 
en und wie ift biefer Unterſchei⸗ 
Statiftit Rechnung getragen? 

n, welche wir für unfere Unter- 
aben, find folgende: 1) die Pro- 


Berarbeitung ber Gefpinnfte, ©. 145. 
leingewerbe. 32 


498 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


duftion als Nebenbefäftigung für den häuslichen Be 
2) bie Lohnweberei für einzelne Kunden, welche 
Weber das Garn liefern und für ihren eigenen 2 
verweben laſſen; dieſes Geſchäft verbindet ſich mei 
ver handwerlsmäßigen Weberei auf eigene Gefaf 
ben lolalen Abſatz, für den Vertrieb auf Wochen 
Iahrmärkten; 3) die Weberei für den Abſatz im Gh 
fie Tann ſelbſt wieder Weberei in geſchloſſenen Eta 
ments vorzüglich auf mechaniichen Stühlen ober ı 
ſtens künſtlicheren Hanbftühlen fein, oder e8 übern 
ver Babrifant nur die kaufmänniſche Vermittelun 
gewiſſe ſchwierigere techniſche Prozeſſe, läßt dageg 
Weberei durch kleine Meiſter im Haufe ausfi 
letzteres kann wieder Kauf» oder Lohnweberei fein 

Was zuerit die Nebenbeichäftigung für den 
lichen Bedarf betrifft, jo haben bie preußiſchen Ta 
feit 1816 eine beſondere Rubrik Hierfür, und bie a 
Zollvereinsſtaaten find dem gefolgt; es Bleibt mu 
Trage, welche Stühle dahin gerechnet werben, w 


Werth die Zahlen Haben. 


Die Angaben über die Stühle find durchſchr 
immer zu niebrig, ba fie fehr ſchwer zu ermitteln 
in abgelegenen Dörfern ſich der Beobachtung entzi 
Das Kriterium für die Aufnahme im dieſe Rubrif 
nicht ber Umſtand fein, ob neben ber Probuttic 


1) 3. 8. wurden 1861 in Sachſen nur noch 
gezählt; es wird aber bemerkt, es ſeien noch manche vorh 
fie ſeien nur ſchwer zu ermitteln; Zeitſchrift bes ſãchſ. 
Bllreaus 1863. ©, 69. 


eſchäftlichen Arten ber Weberei 499 


xf auch ab umd zu einige Stüde Lein- 
verben, ſondern ob der Beſitzer des 
Hauptfache Bauer, Handwerker ober 
nd nebenher feine freie Zeit zum Weben 
dagegen, welche einem Weber gehören, 
8 ganze Jahr am Webſtuhl figt, der 
t ganzen Sommer auf Tagelohn.geht, 
dieſe Kategorie. Die preußifchen Ta- 
e Hauptjache jo aufgefaßt und behandelt 
die Grenze zwiſchen Hausarbeit und 
At natürlich immer etwas ſchwankend 
veis hierfür liegt darin, daß die Web- 
inter biefer Kategorie verzeichnet find, 
heil auf die Weberbiftrifte, faſt aus- 
ie rein agrarifchen Gegenben fallen. 
der Fall in Süddeutſchland. Das 
als Häusliche Nebenbeichäftigung über- 
[ weniger verbreitet als im Norben. 
chon allgemein ausgeſprochen, in den 
Jeinbaues fehle diefe Nebenbefchäftigung 
der Heinen Leute ift mehr durch andere 
Üt. Die dort unter dieſer Rubrik ver- 
gehören mehr jedenfalls als im Norden 
m, welche nur einen Theil des Jahres 
abgeben. 


tüpelen ©. 168 und 169; Mährlen hat eine 

veranftaltet, welche für Württemberg erhebt, 

ze jeber Webſtuhl durchſchnittlich geht; (fiehe 

Stuhl auf Baumwolle geht durchſchnittlich 255, 
32* 


500 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Neben diefen Stühlen wurben in Preußen 18 
1843 die jämmtlichen gewerbsweile gehenden Web 
für jede Art der Tertilinduftrie in einer © 
erhoben. Die lokale Weberei um Lohn und für 
Rechnung, wie die Weberei für Verleger und Fa 
ſtecken gleichmäßig in biefen Zahlen. Cine Unte 
dung war auch früher kaum notwendig, da e8 Ta 
nur wenige gab, der profeffionsmäßige Weber eine 
liche Stellung hatte, ob er für Kunden, für 
Rechnung over für Verleger arbeitete. 

Von 1846 an follte mit der Aenderung de 
werbeaufnahmen überhaupt auch eine genauere Erf 
der Gewebeinbuftrie eintreten. Zuerſt follten wie 
die ſämmtlichen überhaupt vorhandenen Webſtühle 
werden. Dann die Webermeifter jeder Branch 
ihren Gehülfen und Lehrlingen. In biefer folfter 
alte nicht techniichen Hülfskräfte, Kinder, Frauer 
häufig beim Spulen, Rettenfcheeren, Aufbäumen, D 
machen helfen, ausdrücklich tweggelafien werben. 
durch find dieſe Zahlen ftets etwas zu niedrig. 
ift aber auch nicht volfftänbig Mar, ob unter ven 2 
und ihren Gehülfen außer denen, welche in jelbftäi 
Handwerksgeſchäften und in der Hausinbuftrie befe 


einer auf Wolle 296, einer auf gemifchte Stoffe 251, eir 
Leinwand nur 115 Tage; barnad wären faft alle wi 
bergifchen Leinwandſtühle ſolche, bie nur als Nebenbeſchä 
betrieben werben; Mährlen vechnet auch 86,, %, der Stühfe 
während die amtlichen Aufnahmen 1852 - 45, %,, 1861- 
(Königreich Württemberg S. 576) ber Leinwandſtühle ale 
bezeichnen, welche nur nebenbei betrieben werben. 


amtliche Statiftit ber Weberei, 501 


ämmtlichen in gefchloffenen Etabliffements 
jer mitgerechnet find ober nicht. Neben 
aufnahme der Weberei wurben nun die 
beſonders gezählt. Nur die Zahlen der 
rilen gezählten Maſchinenſtühle können 
betrachtet werden. Die Zahlen der 
und bes Direltionsperſonals find unzu⸗ 
ı nicht Mar ift, ob bei ben verſchiedenen 
» felbft bei berjelben Aufnahme in den 
egenden nur bie eigentlichen Fabrilen, 
Raufleute, welche fertige Gewebe kaufen 
bleichen und appretiven laſſen, als ſolche 
ıch die Faktoren als Inhaber felbftändiger 
zählt find. Noch viel werthloſer aber 
n der Arbeiter und der Hanbftühle, 
Fabriken aufgenommen find. Bei den 
auch all Das umtergeorbnete Hülfs- 
bei der Geſammtzählung weggelaſſen 
net werben. Die Hauptfrage ift aber 
ie in den Sabrifen felbft arbeitenden 
fgeſtellten Handſtühle oder ſämmtliche 
n arbeitenden gerechnet werben. Als 
en Male die Fabrilen beſonders gezählt 
h mehr das letztere. Dieterici fpricht 
n und für Sabrifen arbeitenden Web- 
er geichah mehr und mehr das erftere — 
Haus. Durch biefe Unficherheiten von 
ich die vollends fich ändernde Praxis 
aus biefen Zahlen vollſtändig werthlos; 
ex leider fait ganz von ihnen abfehen. 


502 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Die Zolfvereinsfonferenz, welche in München 
über die Tabellen berieth, ging nicht von einer bera 
Doppelzählung 1) der gejammten und 2) ber | 
mäßigen Weberei aus; fie ftellte als Kriterium 
daß alle Unternehmer, welche mechaniſche Stühle ode 
10 Stühle beichäftigen, unter die Babrifen, alle « 
zu ber handwerksmäßigen Weberei gehören. Darnaı 
die württembergijchen * — ohne Zweifel auch bie ı 
andern zolvereinsfänbifchen Aufnahmen 1861 ge 
In Sachſen 3. 2. find ausbrüdlich unter ven 
(Rubrik 50) verzeichneten Webſtühlen nicht alle € 
fondern nur diejenigen begriffen, „welche nicht um 
bar zu den unter B angegebenen gefchloffenen Et: 
ments und Gefchäften gehöven.”? Viebahn felbi 
hervor, daß bie vierzehnte Generalfonferenz feine D 
zählung, wie fie früher in Preußen üblich mar 
orbnen wollte.“ Und bei einzelnen Poſten ver p 
ſchen Tabelle ift man verfucht zu glauben, es fe 
in Preußen 1861 fo gezählt worben, die Rubrik II 
umfaffe nicht mehr die Gefammtheit der Stühle. 

Selbſt wenn aber theilweife jo gezählt wor! 
bei den Regierungen, das preußifche ftatiftiiche & 
geht davon aus, es habe wie früher eine Doppelii 


1) Bergl. wütt. Jahrb. 1862, Heft 2, ©. 126 u 

2) Zeitjhrift des fächl. ſtat Bureaus für 1863. 
Anmerkung zu ITA. 

3) Biebahn III, 982— 38. 

4) 3.8. könnte die Abnahme ber Seidewebſtüh 
1858—61, bie gewiß ber Wirklichkeit nicht entfpri 
erklärt twerben. 


Kritit der amtlichen Webereiftatiftik. 508 


2,? bie Rubrit IT A 50 umfafje alfo ftets 
theit aller Webftühle. Das Zollvereinsbureau 
it für der Mühe werth gehalten, irgend 
lärungen über die Art der Aufnahme in ben 
ı Staaten zu publiziven, es ftellt einfach die 
und die andern Zahlen, die demnach unver- 
nd, untereinander, und Viebahn benußt in 
rbeftatiftit diefe Webſtuhlzahlen faft unbean- 
bwohl fie nach unfern Auseinanverjegungen 
den Betrag der Stühle, welche die Zoll- 
m außer Preußen bei den Fabriken zählen, 
find, 

fih aus den vorfteßenden Bemerkungen 
} die preußifche und Zolfvereinsftatiftif für 
einmal ganz fichere Summen über die Ge- 
der Webftühle einer Gattung liefert, daß 
je Statiftif auch in ihren früßern Aufnahmen 
janz zutreffendes Bild von ber Iofalen hand⸗ 
on Weberei, noch von der Hausweberei für 
Abjag, noch von ber Weberei in gefchloffenen 
its gibt, — ganz werthlos ift darum ein 
jahlen doch nicht, wenn man fie nur wiſſen⸗ 
vbud für die amtl. Statifit I, 451. Preußiſche 
jwanglofen Heften V, 48. 

933 fügt er bie Summe der Baummollftühfe des 
weaus in Rubrik 50 noch die Fabrilſtühle Hanno- 
8 und Heffens bei, ohne bag man erfieht, warum 
iefe- Bei den andern Arten ber Weberei nimmt 

Summen bes Zollvereinsbureaus unter II A 50 
ſumme ber ganzen Weberei. 


504 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


ſchaftlich gebraucht und gruppirt, andere fichere N 
richten heranzieht, um die Schlüffe und Konjekt 
zu ftügen. 

Gehen wir. nun aber zur Sache felbft über 
zunächſt zur Frage, in wie weit ſich bie häus 
Weberei als Nebenbeichäftigung bis jegt erhalten ho 

Die Häusliche Weberei fteht eigentlich Bis in 
neuefte Zeit nicht in divefter Konkurrenz mit der gewe 
mäßigen. Wo ber Bauer, ber ländliche Handwe 
und Tagelöhner die paar Thaler für einen S 
erſchwingen kann, wo die Beichäftigung traditionell 
Sahrhunberten befteht, ſich naturgemäß anſchließt 
die eigene Produktion von Wolle und Flache, da m 
man feine Ansprüche an eine technifch vollendete Wa 
Da wird das Bedürfniß der Kleidung am bilfigften 
paffenpften auf biefe Weife befriedigt, jo lange bie, 
und die Arbeitöfräfte dazu vorhanden find, im Wi 
unbenugt blieben ohne dieſe Nebenbeichäftigung. 
mangelnde Berker und Handel in früherer Zeit me 
die Thätigfeit nothwenbiger; aber fie dauert auch 
fort, ange nachdem ber Bauer in den Läden ber r 
ſten Stadt, auf Wochen- und Yahrmärkten einka 
Könnte. 

In Preußen, Pofen, Pommern werden auch f 
noch die Wollgewebe, welche das Landvolk trägt, t 
weiſe fo gefertigt.“ Wollſtühle als Nebenbeichäftig 
gehend gab es im ganzen Staate 1831 - 2693, 1 





1) Vergl. oben ©. 177 und I. ©. Hoffmann, Bevölle 
bes preuß. Staates ©, 159. 


ie Weberei als Häusliche Mebenbefhäftigung. 505 


846 - 4519, 1861 - 4447. Alſo bis 1840 
: große Zunahme, von da Abnahme bis 1846; 
r laum eine Aenderung.. Dieje Stühle machen 
‚so, 1861 12, % aller Wollwebftühle aus. 
zahlreicher find bie Leinwandſtühle, welche 
beichäftigung gehen. Die Leinenweberei ift feit 
erten Sache des deutſchen Landmannes; in 
infacher Weiſe Hat fie ſich erhalten bis in bie 
eit; ihre jüngere Schwefter, die Baummoll- 
hat fie in dieſem Jahrhundert zwar aus ber 
der untern Vollsklaſſen theilweife verdrängt, 
: in ber Stadt als auf dem Lande; die Her- 
aummollener Gewebe ift — fo viel fpäter ent- 
nd ſchnell zur Großinbuftrie entwidelt — nie- 
ähnlicher Weife eine trauliche Nebenbeichäftigung 
n Mannes geworben. 
Zahlen der als Nebenbeihäftigung gehenden 
tühle im Preußen kann ich theilweiſe nicht 
eben; ich muß theilweiſe dafür die ſämmtlichen 
nöefhäftigung gefenben Stüßle jegen; doch 
‚ftere immer den weitaus größten Theil der 
z. B. 1861 - 96 % derfelben, aus. Man 
Preußen als Nebenbeichäftigung betriebene 


Überhaupt davon für 


Leinwand 
18316 . . . 164870 
1819 . . . 148826 
1822 . . . 191026 
1825 . . . 202404 
1828... . 215415 


1831... 223181 216780 


506 Die Umbilbung einzelner Gewerbsziweige. 
Webſtühle als 


Reben Yemen 
1834 . . . 229134 220343 
1837... 245968 246294 
1840 .. . 266011 254441 
1843 . . . 291426 276071 
1846 . . . 291129 27812 
18499 . . . 287729 274.096 
1852 . . . 292041 282982 
1855 . . . 299027 288031 
1858 . . . 300206 288483 
1861 276 266 264135 


Es iſt eine ftarfe Zunahme von 1816 bis 18 
Während die Bevölferung etwa auf das 1/,fache ft 
nahm die Zahl diefer Stühle beinahe um's Dopp 
zu. Und nicht etwa nur ſcheinbar, indem früher gewer 
mäßig betriebene Stüßle in bieje Kategorie übertre 
Die Zahl diejer ift ſchon viel zu Hein, um bie Zunaf 
fo zu erflären. Die vorhin angegebenen Urfachen wir 
auf eine wirkliche Zunahme bis 1843, d. h. bis zu 
kritiſchen Zeitpunkt, der ja auch nach anderer Nicht 
die Grenzſcheide einer andern volkswirthichaftlichen ; 
bezeichnet. 

Bon da an nimmt bie Geſammtzahl nicht ab, 
bleibt nur ſtabil; die häuslichen Stühle machen 18 
86, %, 1861 - 86,, % aller auf Leinwand gehen 
Stühle aus. Schuld hieran ift nicht ſowohl die dir 
Konkurrenz, Das Angebot billiger Fabrifwanren, | 
überall Hin bringt, der etwa zunehmende Luxus, 
mit dem einfachen eigenen Produkt nicht mehr fo 
frieben wäre. Etwas wirken dieſe Faktoren ja ı 


Die Statiſtit der Hausweberei. 507 


aber nicht allzuviel. Dem Bauer kommt fein Hand- 
gewebe immer noch billiger als das Bilfigfte Mafchinen- 
probuft, das er im dieſer Form nicht einmal liebt, fo 
lange er Zeit und Arbeitskräfte zur eigenen Weberei 
hat. Aber gerade das Hört auf. Man Kat mit ber 
intenfiven Kultur, mit andern Nebenarbeiten fo viel 
mehr zu thun. Und während bie Arbeit in Haus und 
Hof, in Flur und Feld gewachſen ift, hat man weniger 
Leute. Die jüngern Söhne und Töchter haben nicht 
mehr Luft, unverheirathet auf dem Hofe zu bleiben, 
man bat bejonders in Weſt- und Mittelveutichland 
ſehr viel weniger Gefinde als früher.“ Das eben jo 
ſehr, als die geftiegenen Flachspreiſe veranlaffen ben 
weftfälifchen Bauern, Heute mehr und mehr feinen 
Flachs zu Markte zu tragen und die fertige Leinwand 
zu kaufen. 

Während aber im Weſten die Stühle abnehmen, 
nehmen fie im Often bis 1861 noch zu. Die Stabilität 
der preußiichen Zahlen wird 1843— 61 durch dieſe 
entgegengejegte Bewegung erreicht. Um bie provinziellen 


“Zahlen auch noch mit dem Stande von 1816 zu ver 


gleichen, führe ich zuerſt bie ſämmtlichen als Neben- 
befchäftigung gehenden Stühle an.” — Man zählte: 


1) Kollmann, Geſchichte und Statiftit des Geſindeweſens 
in Hildebrand's Jahrbücher X, 237 ff.; Jahrbuch für die amtl. 
Statiſtik des preuß. Staates II, 234— 37. 

2) Die Zahlen für 1816 nad; Dieterici, Vollswohlſtand 
©. 186, die für 1831 nah Hoffmann, Bevölkerung ©. 156 
die für 1861 nach ber offiziellen Publifation, preuß. Statiſtik 
V, ©. 30. 


508 Die Umbildung einzelner Gewerbszu 


in Preußen . . 

» Bolen . . .. 

» Brandenburg. . 

« Pommern. . . 
Schleſien. . . 

- Sadin ... 
Weſtfalen. . . 

* Rheinland. . . 
Die ausſchließlich für Leinwand gel 
find kaum etwas geringer; fie machen au 


in 


1816 
64831 
5098 
22838 
24105 
11529 
9364 
20541 
6564 





1831 
91647 
12388 
23817 

" 31229 
14094 
12043 
24165 
13904 


1837 

Preußen . . . 98849 
Polen... . 22245 
Brandenburg. . 24877 
Pommern. : . 35326 
Schleſien . . . 11620 
Sachſen . . . 13508 
Beftfaln . . „ 26900 
Rheinland. . . 12974 

246294 


1 


E 


Achnliche Ergebniſſe, wie bie öſtlich 
Provinzen, zeigen einige andere nordder 
ähnliche Ergebniffe wie Sachen, Schlefi 
und die Rheinprovinz zeigen Die ſüddeutſc 

Viebahn ? giebt in der Gefammtüberfü 
des Zolfvereind, die allerdings nach mein 
führungen zu niedrige Zahlen enthält, ba: 


gemeine Reſultat. 


Auf 39554 Maici 


394865 gewerbsmäßige Hanbftühle alleı 


ym 


‚ 952. 





Vergleich ber häuslichen u. gerverbsmäßigen Linnenprobuftion. 509 


noch 387969 als Nebenbeihäftigung gehende Hanb- 
ſtühle. In der Linneninduftrie allein zählt er 350 
Maſchinenſtühle, 119 9281 gemerbsmäßig gehende Hand- 
ftühle, 370970 als Nebenbeichäftigung gehende Hand- 
ftühle. Wollen wir die Produktion vergleichen, fo 
bürfen wir flr die Ietern Stühfe als tägliche Leiftung 
nicht über 3 Elfen annehmen, auch feine Thätigfeit, 
die über 1—2 Monate, alſo etwa auf 45 Tage fi 
erſtreckte. Die Leiftung wäre etwas über 50 Millionen 
Ellen. Bei der gewerblichen Produktion kämen 350 
Mafchinenftühle mit täglich etwa 40 Ellen und 300 
jährlichen Arbeitstagen in Betracht; das gäbe etwas 
über 4 Millionen Ellen. Die 119 928 Hanpftühle ſollen 
hoch yerechnet täglich je 10 Ellen liefern, über 250 
Arbeitstage find auf fie nicht zu vechnen. Das ergäbe 
zufammen etwa 300 Millionen Elfen. ? 

So wenig ficher diefe Zahlen find, jo geben fie 
doch eine Harc Anſchauung davon, von welcher Bedeutung 
die Häusliche Weberei much Heute noch ift. Denjenigen 


1) Diefe Zahl it höchſtens um einige Hundert Stühfe zu 
niedrig; mehr Haben die andern Zollvereinsſtaaten (außer Preußen) 
nicht bei ihren Fabrifen verzeichnet. 

2) Hiernach kommen etwa 10 Ellen jährlich auf ben Kopf 
der Bevöllerung des Zollvereins, von Aus» und Einfuhr abge- 
feben; bie oben angeführte Berechnung Engel’ (Zeitſchrift IV, 
130), mit 5 Ellen pro Kopf nad; Abzug ber Mehrausfuhr, ift 
zu niebrig; er rechnet auch fr ben gewerblichen Handſtuhl täg · 
lich nur 5 Ellen. Die gewerbsmäßige Probuktion betrüge in 
Preußen 1861 nach Engels Rechnung 70 Millionen Ellen, bie 
häusliche 36 Millionen Ellen, 


510 Die Umbilbung einzelner Gewerbsjweige. 


aber, ber hieran noch zweifelte, den möchte ich bar 
erinnern, daß nach ben Berechnungen von Moreau 
Ionnds! in Frankreich die gewerbliche Leinenprodukt 
allerdings nach Abzug des Wertes des Rohſtoffes ei 
Werth von jährlich 62 Millionen Fres., die häusl 
ländliche Linnenprobuftion, unter Hinzufügung | 
Werthes des gefammten Rohſtoffes, einen jährlid 
Werth von 288 Millionen Fres. erzeugt; auf j 
fommen 18, auf diefe 82%, des Geſammtwerthes. 


1) Statistique de lindustrie de la France. ©. 1 
Die Zahlenergebniffe beziehen fih am biefer Stelle wohl 
durchaus auf das Jahr 1850. 


7. Die handwerlsmäßige Iofale Weberei. 


Die Gejhäfte des hanbiverfsmäßigen Webers, bie Lohnweberei 
für Kunden, die Probuftion für ben Lokalen Bebarf, für 
Wochen- und Jahrmärkte. Die Konkurrenz mit ber für den 
Abſatz im Großen arbeitenden Hausinduftrie. Die ſtatiſtiſche 
Ermittlung ber lokalen Probuftion. Ihre Bedeutung in 
Preußen 1795/1803 nach Krug. Ihre Lage 1816— 1831. Die 
lotale Baumwollweberei 1834 — 1861. Die profelfionsmäßige 
Linnenweberei 1834— 1861. Die Zunahme ber Heinen 
preußiſchen Tuchmacher bis gegen 1840. Die Lage in andern 
Zollvereinsftaaten. Die Krifis der Heinen Gefhäfte und ibre 
Urſachen 1840 — 1861. — Rüdblick auf die lofale Weberei 
überhaupt. Die Urſachen, melche fie theilweiſe nod halten. 
Die Tofalen Unterfiebe in dieſer Beziehung. Berichte aus 
Württemberg. Die Berbrängung ber lokalen Weberei aus 
den größern Städten duch ben Detailhandel. Halle und 
Berlin. Der Gegenfag eines Mittelftandes, der auf dem 
Handwerk, und eines ſolchen, ver auf dem Detailhandel baſirt. 





Schon eine Stufe weiterer Arbeitstheilung zeigt es 
an, wenn das Weben nicht mehr in der Familie, fon- 
dern im Haufe des Lokalen handwerksmäßigen Webers 
geſchieht. Das in der Familie gefponnene Garn wurde 
dem Weber ausgehändigt, er hatte das rohe Gewebe 
zurüdzufiefern, das die Hausfrau dan vollends bleichen, 
färben, fertig machen ließ. Die armen Leute, die feinen 





512 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige, 


eigenen Webſtuhl erſchwingen konnten, wie der m 
habendere Mittelftand, die Bürger - und Beamtenfra 
welche zum Selbſtweben ſchon zu vornehm fich füßl 
verfußren fo. Im den Gegenden einer ſchwungha 
Weberei arbeiteten die Weber faft immer neben i 
Thätigfeit für die Kaufleute und Verleger nebenbei 
Kunden. Im anderen Gegenden fuchte der Lohnwe 
wenn er etwas erjpart Hatte, womöglich auch auf e 
Rechnung zu arbeiten, um entweder felbjt einen & 
zu eröffnen, ober an einen ber Meifter des Orts 
verfaufen, welche fehon in der etwas glücklicheren! 
waren. Sole hießen Kaufweber; fie bezogen 
Wochen - und Jahrmärkte; aus ihnen gingen fpäter | 
fach die größern Fabrikanten und Kaufleute hervor. 

Diefe lokale Produktion Tieferte die landesübli 
althergebrachten Stoffe; vor allem einfache Leinw 
höchſtens etwas Drelf, ſpäter auch Jacquardgewebe, 
nicht viel (im Jahre 1820 fommen in Württemberg 
28 fog. Bildweber 17492 einfache Leineweber); dann, 
im viel geringerem Umfange, bie einfachen Kattune, 
halbbaumwollenen Gewebe, das alte Parchend, das 
Züchner fertigten, jene farbigen Kotonette, in Sübbeu 
Iand „Zeugle“ genannt, buntftreifige Gewebe, die t 
weife zu Bettzeug, theilweife zur weiblichen und Kin 
kleidung in den untern umd mittleren Klaſſen dier 
endlich die ungemwalften Raſche und die einfad 
gröberen Tucharten. 

Eine größere an einzelnen Orten als Hausindu 
konzentrirte Weberei exiftirte wohl ſchon in verjchieb 
Gegenden Deutjchlands im vorigen Sahrhundert; 


Die lokale Weberei früherer Zeit. 618 


ihre Konkurrenz übte feinen Druck auf die falt aller- 
wärts vorhandene lokale Produktion. Dene lieferte die 
feinern beſſern Stoffe für die höhern Klaffen, für die 
großen Städte, für die Höfe; theilweife lieferte fie auch 
diefelben Produkte wie die lokale Weberei, war in ihrer 
Technik gleich einfach wie fie; aber fie arbeitete dann 
bauptfächlich für den Export; es waren Weberpiftrifte, 
welche durch den wachſenden Export groß geworben 
waren. Nach dem damaligen Zuftande des Verkehrs, 
der Handelsorganijation war e8 faſt leichter, daß die 
ichlefiiche Leinwand über Hamburg nach Amerifa und 
Indien ging, als daß fie den Weg im alle abgelegenen 
Landftädtchen Deutichlands gefunden hätte Doch war 
natürlich zwiichen den verichievenen Arten der Weberei 
in dieſer Beziehung ein ziemlicher Unterfchied. Die 
Zuchmacheret war fchon nicht jo allgemein verbreitet 
wie bie Leineweberei; und beiden gegemüber traten bie 
jüngern Inbuftrien, die Baumwoll⸗ und Seidenmweberei, 
von Anfang an weniger als’ Xofalgewerbe auf. 

Nach dem Charakter der amtlichen ftatiftiichen Er- 
hebungen, wie ich ihn oben fchilverte, läßt fich aus 
ihnen Tein direkter Schluß ziehen, wie früher die lokale 
handwerksmäßige Weberei fich zur großen Hausinduſtrie, 
ipäter zur fabrifmäßigen Weberei ftellte. ‘Die einzige 
Methode, welche uns offen bleibt, invirelt das Ver⸗ 
hältniß der Tofalen zur großen Weberei zu unterjuchen, 
fiegt darin, nach den Spezialtabellen zu prüfen, ob 
die eine oder andere Art der Weberei eine allgemeine 
lofale Verbreitung bat oder auſchließlich an einzelnen 
Orten konzentrirt vorkommt. 

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 33 





514° Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Im diefer Beziehung geben ſchon die Krug 
Tabellen! (1795 — 1803) ein ziemlich klares 
Seiven- und Baumwollweber verzeichnet Krug nu 
wenigen Orten, aber dann in größern Poften. J 
Wolfweberei zählt Krug 305 einzelne Orte auf, 
Anzahl Hiervon mit über 100 Stühlen, die überwie 
Mehrzahl aber mit je nur ein paar Arbeitern 
Stühlen. Die an gleicher Stelle von Krug ges 
Ueberficht über die Leineweberei reſp. Die Leineweb 
ift weniger Har, fofern fie theilweife nach ganzen 
vingen, theilweife nad) Stäbten die Stühle und Ar 
aufführt. Dagegen gibt die Tabelle der Leineweber 
den Handwerkern ? eine Anſchauung davon, wie 
der lonzentrirten Produktion Schleſiens und e 
anderer Theile der Monarchie doch überall Die 
Weberei blühte. Die Zahl der Leineweber betrug 
nad in den folgenden einzelnen Lanvestheilen: 


Name der Provinz in ben Stäbten auf ben 
DOftpreußifces Departement . . — 4 
Littauer — 11 
Marienwerder — 3 
Bromberger - . — 6 
Bialyftoder . B _ 10 
Blozter . . _ 6 
Bofener . B 1023 on 


1) Betrachtungen über den Nationalwohlfland b 
Staates I, 220— 315; Dieterici gibt Vollswohlſtan 
eine Tabelle nach biefen Krug'ſchen Zahlen, welde a 
falſch ift, indem fie nur diejenigen Stühle reproduzir 
Krug je am Schluffe einer Abtheilung, ale an ben w 
inbuftriellen Punkten konzentrirt, nochmals wiederholt. 

2) I, 189, 


e lolale Weberei gegen 1800. 515 





30846: 

ie fpätere Zeit ift ftatiftifch ein anderer 
' Vorkommen biefer Iofalen handwerks⸗ 
i zu führen, als durch eine Prüfung 
en nach der erwähnten Richtung. Am 
zu Tabellen nach Regierungsbezirten; 
ıber für die frühere Zeit fehlen, muß 
6— 31 darauf beſchränken, eine Tabelle 
mitzutheilen; ? man zählte Webftühle: 


U ber Leineweber fegt natürlich eine fehr viel 
vebftühle voraus; hatte doch Hergberg (huits 
254) fchon 1785 - 51000 Webſtühle gezählt, 
jenbefchäftigung gehenden kaum mit erhoben 
ick zählt im ber erwähnten unvollſtändigen 
imwanbftühle. Im Departement ber Breslauer 
nad Schneer ©. 2 allein 19000 Leinwand- 


t 
terici, Vollswohlſtand ©. 186. 
33* 








Totale Weberei 1816 — 31. 517 


nmen. Die Leinewweberei in Schlejien, 
ſtfalen geht ſchon bedeutend zurück; 
jen iſt ber Sit der großen Weberei, 
em Ausland ſtockte, wie wir weiter 
ſehen werben. Im ven Provinzen 
r Weberei ift der Nüdgang ent⸗ 
Heiner, ober fogar eine Zunahme 
mie in Weftpreußen, Brandenburg, 
Wolfweberei zeigt 1816 — 31 theil- 
Rücjchritte, am ſtärkſten in Schlefien 
Provinzen verlieren ihren großen: Ab- 
; die Totale Tuchmacherei aber. nimmt 
8 zu, wie wir z. B. am ben pommer- 
i. 
tere Zeit ſtelle ich die Webſtühle nach 

zufammen, laſſe dabei aber die 
: Band» und Strumpfweberei zunächft 
Ich komme auf fie weiter unten zurüd, 
: folgenden Seite abgebrudte Tabelle 
rei zeigt in Bezug auf die lokale Ver- 
‚indes Ergebniß: 1834 gibt es in ben 
— außer ben Weberbiftriften — faft 
ichner ,“ wohl aber in ben mittleren und 
n; fie nehmen bis 1840 und von 1840 
egierungsbezirlen, wo fie vorher fehlten, 
t zeigt fich von 1849 — 61 ſchon wieder 
ahme — aber auch nur theilweife —, 
irken, Gumbinnen, Danzig, Poſen, 
‚men fie noch zu. Dabei ift nicht zu 
Zunahme ber Fleinen, wie ber großen 





518 Die Umbilbuug einzelner Gewerbezweige. 





. —— Pr DZ Sl 7 
®. 





Königsberg. - — 11 46 ı) 74 9 3 
Gumbimmen. . 1 13 21 7| 19 53 31 
Danzig... 8 63 93 16| 78 128| | ı 
Marienwerber . 3 1 3 | — 182 7 
PBoien . . . 12 1361 2083 64| 213 244 3 
Bromberg . — — 68 | 6 41 9 
Potsdam. . . 11923] 2062| 2135| 1347| 9354 1888| 1 163 
Berlin (Stadt) [2861| 2858| 2113| 5862 1424 572) 236 
Sranffurt . .| 415] 620| 291 148 2001 2732) 1512| I 
Stettin . 7 14 57 9| 4 1944| 31 
Köslin . . 1 7 11 8 5 3701 3 
\ Straffmb . — 5 2 2) — — — 
Breslau. .19648 15 741118807 |10 901 | 9 2761 19 4753 615 10 
0 | Oppeln. . .I 276I 7881 8811 526| 37a] 1126| 704 
. Liegnig . . . 7501| 5372| 6905| 354114807 | 9972! 8179| 6 
Magdeburg. .| 2291 359] 5083| 292| g7ı 497) 177 
Merieburg . . 12155] 1495] 1923) 8saT/ıısal 1706| 983 
Erfurt . . .]1509] 3084| 8391| 5 203|4 0384| 8623| 5396| 3 
; Münfter «I 9041| 3250|11494| 4 2935| 7 31011223524 7135| 7 
Minden 192] 420] 193 71) 2238| 424| 168 
Arnsberg .11022I1 9971 1580| 1679] 260] 467! 212 
4 Köln. . . »I 293] 374] 59| ı190| 5350| 9771 107 
» Düffeldorf . 8398 10 097112520| 8980 4534 13 785 9 1001 4 
Koblenz... 89 711 207 ı7) sl 18 6 
Trier... » . 24 11 79 18) 123 1271 43 
Aachen 2881 691] 1572| 1860| 245] 1400| 107% 


Baumwollweberei meift mit dem Webergang von be 
Firmen = zur Baumwollweberei zulammenhängt, und daß 
die Ronjunkturen von 1849 — 61 für die Baummwol 
weberei jelten günftige, Die Handweberei durch gut 
exzeptionelle Preife wieder frijtende waren. Ohne das 
würbe vie lokale Weberei nicht einmal jo ſtark zugenom- 
men baben. Im jchroffen Gegenſatz aber zu der immer 
bin Meinen Zunahme der Stühle und Gejchäfte im den 





Die lokale Baumwoll- und Linnenweberei 1834 — 61. 519 


beiprochenen Bezirken jteht bie ſtarle Zunahme beſonders 
von 1840 an in ben Hauptgegenden ber großen In—⸗ 
duftrie, im ben Regierungsbezirlen Breslau, Liegnitz, 
Erfurt, Münfter. Der Schwerpunkt ver jet erft 
alänend fich entwidelnden Induſtrie muRte naturaemäß 





520 Die Umbilbung einzelner 


Im Gegenſatze zur. Tabelle 
ſehen wir hier 1834 eine zien 
breitung ber gewerbömäßig bei 
Orten find Heine handwerlsmäß 
bis 1840 nehmen die Kleinen 3 
großen. Das heißt: die lota 
handwerksmaßige Kaufweberei, d 
leinwand auf Jahr⸗ und Wod 
zu, während die Weberei für 
nur theilweife noch etwas zumi 
bleibt oder ſchon abnimmt. V 
die Heinen Zahlen noch etwas z 
ſich ähnlich wie 1834 — 40. 
gehen weſentlich auch die Fein 
alfo von 1849 — 61 ſchränkt fic 
betriebs, von welchem wir hier z 
lich ein; denn jegt erjt nimmt 
zu, daß die Iofale Probuftion 
flüffig wird. Doch ift fie 186 
lokalen Weberei noch am ausge 

Während bei der Linnenint 
für den Abfag im Großen eine 
machen hatte, als die lokalen p 
nehmer, gilt das Gegentheil 
Einem faft vollftändigen Unterge 
in neuefter Zeit fteht der glär 
großen gegenüber. Deßwegen 
folgenden Tabelle auch nicht fo 1 
ſchicken will ich noch, daß hie 
Raſchmacher (im Süddeutſchland 


Die Iokale Wollweberei 1834 — 61. 


verzeichnet find, daß aber die erfteren weitaus über- 
wiegen. Die Zahlen find folgende: 





Regierun 
bezirle 








Königsberg . .| 258] 2741 145 





. 12] 15 12 
338] 412] 516 
.. 178] 187 150 
1036] 1329| 3 782 
201) 218] 124 





..[_142| 132| 86 
Anden... . .12602128861 6302 








2172 
85 
72 
1391 


Das Tuchmachergeiwerbe war 
Ende des vorigen Jahrhunderts wieder vielfach aufge- 
blüht; der vafche Uebergang zu Meinen Streichgarn- 
fpinneveien war auch von den Heinen Geichäften vollzogen 
worden; mit fteigendem Wohlftand hob fich die innere 
Nachfrage; große Tuchfabriten Hatten ſich daneben ſchon 








sa1 





1a] 8| 80] 3» 
6 30| 21 14 
9 8 5 4 
5s| 70| 71) 33 
ıss| 199) 97| 147 
s| 6] ss| 7 
1513[2961| 8672170 
2154|3166| ı 000 |2 616 
3561| 6488| ı 165 |6 692 
51 65) | 44 
229] 485| a08| 95 
ı 2 2 — 
1953| 2067| 5361568 
154] 181] 115| 76 
1321) 1972] 55211651 
1117|1021|) ss] 944 
s44| 467| 247| 268 
1930| 1272] 5sse| 775 
a9] 154| 701 73 
18] 108 4| 107 
710] 381) 9s| 300 
2a8| 325| 112] 208 
1851|5460|3 560|3 639 
72| 1389| 72| 156 
51] 110) 6e 101 
64881 5979| 93015349 
in Deutſchland feit 


322 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


bis 1831 zahlreich entwidelt; fie Hatten ſich ftart a 
den Erport geworfen und brüdten jo zunächſt nicht 
ſehr auf die feinen Geſchäfte; im Gegentheil, t 
fteigende Ausfuhr kam auch dieſen zu Gute; fie machte 
wie die obigen Zahlen Iehren, jedenfalls noch vi 
1834— 40 Fortſchritte. Die Heinen Zahlen nehm 
in ver Tabelle fo jtarf zu wie bie großen. 

Gegen 1840 freilich beginnt ſchon der Umſchwur 
In den andern Ländern des Zolfvereind hatte fich ch 
mit dem Anſchluß an den preußifchen Zollverein i 
Schivierigfeit für bie Heinen Tuchmacher gezeigt mit d 
vorzüglichen Produkten ber vheiniichen, ſächſiſchen ot 
branbenburgifchen Babrifen zu konkurriren. Die 
Württemberg fo zahlreich 1825—33 entftandenen H 
nen Tuchmachergejchäfte* zeigten jegt, daß fie zu vieler 
probizirten, daß ihren Waaren die Ausrüftung, | 
Legart, die Appretur fehlte; der Detailverichluß « 
Wohnort, der Verkauf auf Iahrmärkten wolfte, je me 
der Handel fich ausbilvete, micht mehr gehen. Ai 
der Mebergang zu Mobe- und. Sommerftoffen all 
konnte ben Meinen Meifter nicht retten. Vom Königre 
Sachſen meldet Wiet? ſchon 1840 "ähnliches: 1 
Heinen Tuchmacher verbienen trog großer Anftrengu 
Taum mehr jo viel, daß fie ſich halten Tönnen; jel 
wenn fie fich anftrengen, Tönnen fie das Tuch ti 
Fabrilen nicht Tiefern, ihre Waare ift eine total anbe 


1) Mährlen beſchreibt bie Krifis fehr gut a.a.D. © 2 
bis 214. 


2) Induſtrielle Zufände Sachſens S. 40-48. 


Die Krifis der Heinen Tuchmacher. 523 


fie ift durch den Drud der Konkurrenz billiger geworben, 
aber damit auch um fo viel unbichter, leichter gewalkt 
und nicht mehr gut gerauht. Es ift mit ziemlicher 
Gewißheit vorauszuſehen, fagt er, daß nad und nach 
wie in England und ben Nieberlanden, jo auch 
bier der Meifterbetrieb aufgehen muß in den Fabrik⸗ 
betrieb. 

Do eine Mehrzapl von Tuchmachern beftand, da 
Hätten fich biefelben durch Affoziation Helfen Tönnen, 
wenn nicht bei den meiften ber Hang an Vorurtheilen, 
an Zunft- und Innungsfagungen, die Bevenflichfeit des 
Mebergangs vom Alten zum Neuen ben Schritt erſchwert 
Hätte. Der einzelne Heine Meifter aber war unvettbar 
verloren. Die eigentlich kritiſche Zeit fällt in bie 
Jahre 1840 — 55. 

Nicht aber der Maſchinenwebſtuhl war es, was 
den Tuchmacher ruinirte; e8 gab in Preußen, deſſen 
Fabrilken im Zollverein an der Spike ftanden, 1846 
erſt 4,7, jelbft 1861 erft 11,, % Mafchinenftügle unter 
den fümmtlichen Wollwebſtühlen. Die Hauptſache war 
die Vereinigung aller bisher getrennten. Ziveige des &e- 
ſchäfts in einheitliche konſequent geleitete Etabliffements;t 
es war die Vervolllommnung ber Spinnerei einerjeits, 
der Wale, des Rauhens und Scheerens anbererfeits. 
Beſonders bie in den vierziger Jahren fich verbreitenden 
Zylinderwalken wirkten epochemachend, fie erlaubten die 


1) Bergl. die ausgezeichneten techuiſchen unb nationafe 
ðlonomiſchen Ausführungen im Ansftellungsbericte von 1851. 
U, beſonders ©. 86. 





524 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Filzung der Zeuge genauer zu überwachen; es Tame: 
ferner die Wäſch⸗, Rauh⸗, Borft- und Scheermafchinen 
die Transverfal-, Longitubinaf- und Diagonalzylinder 
ſcheermaſchinen, die Dampflüftrirapparate, die hydrau 
liſchen Preſſen. Alles zugleich theure Mafchinen, welch 
dem Heinen Marne nicht erreichbar find. 

Wir ſprachen ſchon in anderem Zuſammenhan 
von dem Rückgang der baieriſchen Tuchmacherei.! Bo, 
Württemberg will ich noch erwähnen, daß 1840 —4' 
jeder 6 te Tuchmacher banferott machte? Und doc 
fagt Mährlen: die meiften Fallimente unter ven Heine 
Zuchmachern fallen in die Jahre 1847 bis 1853. De 
Nücgang in Preußen ift erfichtlich aus der früher che 
angeführten Tabelle der Streichgarnfpinnereien und au 
der Thatfache, daß von 1840 an die Wollwebftühle i 
den Negierungsbezirfen mit großer Imbuftrie, wi 
Aachen, Düffeldorf, Erfurt, Liegnig und Frankfur 
außerorventlich "zunehmen, während die Stühle in ve 
Regierungsbezirken mit Kleiner Tofaler Produktion, befon 
ders in den öftfichen, meift bebeutend abnehmen. 
Außerdem zeigt ſich der Verfall der Heinen Tuchmache 
noch vecht Mar in dem Nüdgang der Hülfsgeierb 
Man zählte in Preußen: 


1) Bergl. oben ©. 128— 29. 

2) Württ. Jahrb. 1862. Heft 2. ©. 190. 

3) Die Kreisbeſchreibung von Ratibor jepreibt: im Hultſchi 
gibt es dem Namen nad) viele Tuchmacher, von denen ab 
mangels Beftellungen nur wenige ba8 Gewerbe betreiben. Yahı 
buch für die amtl. Statiftit II, 274 


Der Rüdgang ber Tuchlcheerer und Wallmühlen. 525 


Zuchicheerer u. Bereiter Wallmuͤhlen 
Meier  Gehülfen Mnfialten Winde 


1831 . . . 139 3651 913 — 
1834.. 1814 3943 910 — 
1837 . . . 1364 2116 927 — 
1840... 1321 2851 904 — 
1343 . . . 1256 2 888 300 — 
1846.. — — 796 1193 
1849 . . . 1146 1912 740 1047 
1852 . . 7 109 1909 695 1102 
185... 948 1270 627 995 
1858 . . . 108 I, 564 972 
161 . ... 8 119 573 1413 


Nach diefen Zahlen begimmt die Krifis bei den 
Zuchicheerern fchon zwijchen 1834 — 37, bei ven Walf- 
müblen nicht viel fpäter. Beide Gewerbe hören als 
jelbitändig nach und nach ganz auf, da die große Tud)- 
industrie eigene Walken, eigene Scheermafchinen befitt. 

Bliden wir jo im Ganzen zurüd auf die Heine 
handwerfsmäßige Produftion, jo läßt fich nicht Teugnen, 
daß fie allerwärts im Rückgang begriffen, theilweiſe 
ſchon vollitändig verſchwunden iſt. 

Aber immerhin iſt der Uebergang noch nicht überall 
vollzogen; in einzelnen Branchen wird er noch Jahre 
und Jahrzehnte ſich hinziehen. Mancherlei Urſachen 
tragen dazu bei. Althergebrachte Gewohnheiten wirken 
den Fabrikprodukten entgegen; in abgelegenen Gegenden 
iſt der Handel mit ihnen nicht entwickelt. Die untern 
Klaſſen, die Hausfrauen in dieſen Kreiſen wünſchen nach 
wie vor bei dem ihnen perſönlich bekannten Weber auf 
dem Jahrmarkte zu kaufen. Auch jetzt noch haben 





526 Die Umbildung eingeltter Gewerbszweige. 


manche Weber ausſchließlich damit zu thun, altes Garı 
Das von anfgezogenen Strümpfen, alten Stoffen un 
Reſten ftammt, für ärmere Leute zu verweben. Theil 
weife Tiefert die Großinduftrie gar nicht das herkömmlic 
von den untern Klaſſen Gemünfchte und Getragen 
Am meiften wohl noch in Tuchen; gerade die groß 
deutſche Tuchinduftrie der öftlichen Provinzen liefert ein 
fache, bilfige Stoffe. Daneben freilich werden auch nor 
rohe Tuche ohne Appretur gefauft; die ungewalfte 
Gewebe, wie fie vor 100 Jahren ſchon die Zeug- um 
Raſchmacher Tieferten, die einfachen Flanelle, welch 
jeber Weber Teicht liefern Tann, find Heute noch au 
jedem Jahrmarkt zu jehen neben den mobernern Hofen- 
Weften- und Damenfleiverftoffen, die auch der Hein 
Kaufweber, der Heine Händler vom Fabrifanten erfauf 
bat. Das Fabritprobuft wird theilweile Durch zwei 
bis dreifache Spejen vertheuert und jo, wenn auc 
urjprünglich billiger, doch zuletzt dem Probufte De 
Tofalen Webers im Preife gleih. Eine plögliche Aende 
rung ift ſchon dadurch ausgeichloffen, daß die Fabrike 
nicht auf einmal ihre Produktion jo ausbehnen Könner 
um den ganzen Lolalbedarf mit zu befriebigen. 

Was das Linnenzeug betrifft, fo Haben auch mand 
der lokalen Weber ſich die beffern Trittſtühle, ſoga 
Jacquardſtühle angeichafft, und liefern Tiſchzeug, Sei 
vietten für einfachen Bedarf. Die gewöhnliche Leit 
wand; welche in ben Großhandel kommt, foll vor Aller 
durch ſchöne Bleiche, durch gute Appretur, durch ſchöne 
Ausſehen fich auszeichnen. Für den lokalen Kleinhande 
iſt das nicht nöthig. Schwere, dauerhafte, theilweiſe um 





Die theilweile Erhaltung ber Solalen Weberei. 527 


gehleichte Leinwand ohne Appretur wird auf den Jahr⸗ 
mörften verlangt; die mißtrauifche Hausfrau des Heinen 
Mannes traut den fünftlichen Bleichmitteln nicht. Sie 
zieht die alte Art des Ausiehens vor. Gebleichte 
Leinwand Tiefert ver Heine Weber, indem er gebleichtes 
Garn Fauft. 

Theilweiſe allerbings erhält fich vie Iofale Pro- 
duktion nur dadurch, daß fie fich Die niedrigeren Preiſe, 


den geringern Gewinn gefallen läßt. Der Heine Mann, 


der ein eigenes Haus, einen eigenen Garten bat, kann 
immer noch beiteben, wenn auch fchlechter als früher; 
man rechnet in dieſen Kreilen nicht jo, wie bet ber 
großen Imduftrie und dem großen Handel. Die Aende⸗ 
rungen vollziehen fich erſt nach Generationen. 

Ein großer Unterſchied findet auch in Dieler 
Beziehung noch zwifchen den verjchiedenen Theilen des 
Zollvereing Statt. Die allgemeinen Urfachen, welche ven 
Kleinbetrieb erhalten, eine gleichmäßige Vermögens - und 
Einfommensvertheilung, ein zahlreicher, aber in feinen 
Sitten einfacher Mittelſtand werden auch in der Weberei 
die Fleine lokale Produktion eher erhalten. Dem Heinen 
Weber find die BVerhältniffe in ver Provinz Sachien, 
im Thüringen, am Rhein, in Süddeutſchland günftiger, 
als die im Norboften. Ueberrafchend ift in dieſer 
Beziehung die genaue öfter erwähnte Aufnahme von 
Mährlen in Bezug auf Württemberg. Ste bezieht fich 
zwar auf Das Jahr 1858; ſeitdem wird dort auch Vieles 
jchon wieder anders geworden fein. Aber für den ba- 
maligen Zeitpunkt gibt fie genauen Anhalt dafür, daß 
damals noch die lokale Kundenweberei und die hand 








38 Die Umbübung einzelner SGewverbägmeige. 


wertömäßtge Yolalprobuftion ziemlich bedeutend wor. v 
will mir Einiges anführen. 

Bon Kalw heißt es: Die Lein⸗ und Baumwol— 
weberei wird nur von etwa 5 Meiſtern fin eigme 
Rechunmg betrieben, alle übrigen Weber find Lohr 
arbeiter, welche für Kunden weben. Bon Gmünv: & 
werben jährlich 277 750 Elfen Leinwand erzeugt, var 
unter 55 — 60000 Elfen Handelswaare, bie jedoch mr 
im Bezirke und deſſen Nachbarichaft" auf Wochen- un , 
Jahrmärkten vertrieben wird. Beſonders die Leine 
weberei wird faſt überall als ausſchließlich für ven 
Haus- und Lolalbedarf beitimmt bezeichnet. Auch von 
den jelbjtändigen Unternehmern, die um Lohn weben Iafien 
oder Leinwand kaufen, — fagt Mährlen — gehört ein 
großer Theil noch den profelfionsmäßigen Webern jelbft an. 
Er berechnet, daß von ber geſammten württembergiichen 
Zinmenproduftion der Ellenzahl nach 78,, %/, auf gemeine 
Hausleinwand, 4, %, auf feinere Hanbelsleinwand, 
0% Auf Jacquardgewebe, 16,, %, auf Pad- md 
Sadleinewand fallen. 

Allerdings hebt Mährlen daneben hervor, daß 
vie lokale handwerksmäßige Produktion alferwärts in 
Abnahme, die große Probuftion und ber Handel mit 
Fabrikwaaren aber im Zunehmen begriffen feier. 

Anderwärts bat fi das ſchon volkogen, am 
melften in ven größern Stäbten. AS fchlngenden Be: 
weis dafür möchte ich nur noch einige Zahlen anführen. 

Halle ift gegenwärtig eine Stadt von etwa 50 000 
Einwohnern, die aber in Allem, was großftäbtifche Ent⸗ 
wickelung betrifft, noch wefentlich zurüd ift, mehr noch 














RN tue > ze 


Der lokale Handel mit Geweben. 529 


den Charafter einer fleinen Stadt an fich trägt, einen 
zahlreichen Handwerkerſtand, erjt neuerdings etwas 
glänzendere Magazine bat. In dem Aoreßbuch für 
1869 zählt man noch 12 Webermeifter, 9 Strumpf- 
wirfermeifter, auch 3 Zuchicheerer und 4 Zuchfabrifen, 
jowie 4 Schnürleibfabrifen und 1 Wattenfabrif; Dagegen 
folgende Handlungen: 13 Garn- und Bandhandlungen, 
9 Leinwandhandlungen, 17 Weißwaarenhanplungen, 
6 Tapiſſeriehandlungen, 17 Modewaarenhandlungen, 
19 Put - und Modewaarenhandlungen, 15 Pofamentier- 
waarenhandlungen, 21 Schnittwaarenhandlungen, 6 Tuch: 
bandlungen, 24 Wollwaarenhandlungent. 

Die Statiftif, welche Engel! nach den Berliner 
Adrepbüchern von 1811 — 68 zujammenftellen ließ, zeigt 
ebenfall®, wie ver lokale Handel zu-, die Heine lokale 
Produktion abnimmt. Die Kategorien der Adreßbücher 
faſſen freilich theilweie gerade das, was wir trennen 
wollen, die Probuftionsgejchäfte, die Yabrifen und die 
Handlungen einer Art zufammen. Ich laſſe daher noch 
die Zahl der Fabrifen und der Webermeilter nach ven 
offiziellen Aufnahmen von 1849 und 1861 folgen, 
wodurch ein fichereres Urtheil möglich wird. Zieht man 


nunmehr 3. DB. die Zahl der ZTuchfabrifen von ver 


Sefammtzahl ver Tuchfabrifen und Tuchhandlungen ab, 
jo ergiebt fich genau das Verhältniß der Produftions- 
geichäfte zu den Handlungen. Die angeführten Weber 
haben natürlich nur zum wenigften Theil eigene Gefchäfte, 
jondern arbeiten für Fabriken. 
1) Berliner Gemeindefalender fir 1868, ©. 145. 
Shmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 34 





n 


. ——— — 


530 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Das Reſultat der Wreßbücher iſt felgenbes: 















































1811 )1816| 1885 | 1842 | 1850 
Banbfabrifanten und dandiungen 28| 18| 19| 43 52 
Baumw. und Schnittw. » Handl. . |198|344| 168| 296 | 235 
Damengarberobeartifel » »Hanblung. — — — 12 
Damen mäntelhandlungen . . — — — 24 % 
Fußteppichfabrifanten u. Händier. 6 6 9| 12| 22 
Sarnfabrifanten und Händler. . | 50] 38] 14| 108| 128 
Derzengarberobeattifel-anblungen — — 56 62| 98 
feinewanb«, Leinenwaaren» und 
Wälgefändter. . . 46 100 73| 126 | 133 
Ranufaktur= u. Viodewaarenhandl. — — | 118) 169| 241 
Petinet- und Weißwaarenfabriten 
und Sanblungen . 11) 14| 26) 46 
Bofamentiere und Pofamentier- 
waarenhandlungen . . [1621210] 281| 393 | 517 
Buße u. Modewvanrenhandlungen 21) 7; 34| 160 | 162 
Rafhmaher. . 2.2.2.0. — | 57| 186) 264 | 196 
Schneider — 665 596 | 1576 2629 | 3329 
Strumpfroaarenfabrifen a 42 66| 25) 42 49 
Fapifferie=, Gaze⸗ ı. Sticinuder 
Hanblungen. . . — — 12 26 58 
kuchhaudlungen. 232 32 56 58) 91 
Euhmager. . 2.20... | 72] 117) 1983| 144 
Beber. — | — | 571'1165 | 983 
Bollwanrenfabrifen und Händfer 54| 21| SL; 108| 163 
Dagegen zählen die offiziellen Aufnahmen: 
, 19 186 
Fabriten für Zmirn . 21 18 
Seidezwirnereien . B . 9 5 
ZTucfabriten. . . 20 3 
Wollwaarenfabriten . . . . . % 44 
Fabrifen für Banmmollene Waren . 55 15 
. - feinene Waaren . 1 _ 
== feibene Sie. 7] 2 
Shawffabriten . . 3 50 
Bandfabrilen. . . . . 5 35 
Teppicfabrilen. . . . . ı 3 


Gewebeproduktion und Gewebehandel in Berlin. 531 


1849 1861 

Poſamentierwaarenfabriken . . . 27 en 
Strumpfwaarenfabrilen . . . . . 3l 15 
Spiten- und Tüllfabriten . . . . — — 
Weißzeugfabriken.. 2 2... — 5 
Webermeiſter in Seite . . . . . 559 273 
⸗ s Baumwolle. . . 862 236 
⸗ .e keinen... .. 26 2 
⸗ ⸗Wolle... 336 1000 
⸗ ⸗Strumpfwaaren.. 44 46 
⸗ » Bandwaaren. . . 29 11 
Handwerlsmäßige PBojamentire . . 210 261 
Putzmachergeſchäfte. . 2... 211 297 


Man muß die beiden Tabellen genau ftubiren und 
unter fich vergleichen, um nach fo verfchiedenen Auf: 
nahmen ein Eares Bild des Inhalts zu befommen. 
Und doch ift das eine Reſultat jchon für einen ober- 
flächlichen Blick Har. Es Hört die Tofale Produktion 
auf; einzelne immer größer werdende Fabriken, die nicht 
ſowohl für Berlin, als für den Abſatz im Großen 
arbeiten, bilden fich, daneben vollzieht ſich die ſelbſtändige 
Entwidelung des Detailverlaufs und = Handeld. Auf 
3 Teppichfabrifen ver offiziellen Tabelle fommen (1860 
bis 1861) 27 Teppichhändler und Fabrikanten des 
Adreßbuchs; auf 18 Zwirnereien der offiziellen Auf- 
nahme fommen 182 Garnhändler und Garnfabrikanten 
des Adreßbuchs. Das darf man daneben nicht über- 
jeben, daß faft alle dieſe zahlreichen Handlungen, vie 
durch das lokale Bebürfniß jeder Straße, jedes Stadt- 
theils heroorgerufen werben, fich in irgend welcher Weife 
an der Produftion betheiligen, dies und jenes vollenden, 
näben, zuſammenſtellen, ausſchmücken laſſen. 

34* 





"| 


— ul 


532 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Einzelne diefer Verkaufsgeſchäfte Haben wohl aı 
einen großen Umfang, die Mehrzahl aber ift Fle 
bafirt auf dem alfernächften lokalen Bebürfniß. 
fommt das in foziafer Beziehung in Betracht. Bi 
Heine Leute, welche hier wie allerwärts früher « 
Produzenten, als Handwerksmeiſter ihr Geichäft trieb 
leben jegt als Händler; und Häufig find es biefelt 
Perſonen, wie z. B. ein Bericht aus Bunzlau jchreibi 
„Zuchmacher und Weber faufen von größern Zabril 
die Waare und leben faft nur noch vom Handel.“ V 
den fächfiichen Meinen Tuchmachern jagt ein kompeten 
Berichterſtatter: „Das Handwerk hat auch hier 
reinen Handelögewerbe geendet. Gleiches haben wir | 
ben Pofamentieren geſehen, es findet auch bei d 
Strumpfwirkern ftatt und wird für bie Weber ba 
nachgewieſen werben.” 

Es ift das, wie gejagt, für den Sozialpolitik 
den nur bie Erhaltung eines gejunden Mittelſtand 
intereffirt, von Bedeutung. Er wird auf der ein 
Seite fich freuen, wenn wenigftens ein Theil der Mein 
Geſchäfte fich fo Hält, aber er wird auf der ande 
Seite zugleich betonen, daß ber fich jo erhaltende Mitt 
itand jedenfalls ein anderer ift, andere Menichen, ande 
oziale Kräfte, andere Anfchauungen und Sitten in fi 
chließt. Der Meine Händler ift etwas Anderes, a 
ver feine Meifter. Dieſer lebt von feiner Arbeit, jen 


1) Zeitſchrift des preuß. fat. Bilreans 1864. Wh. I 
5. 127; vergl. aud oben ©. 211 ff. 
2) Zeitjchriſt des fächf. Ratift. Bilreaus 1860, ©. 135. 


Der Gegenfat des Handwerkers und Detailhändfers. 533 


von feiner Klugheit, feinem Nechentalent; diefer hat fich 
von früh bis jpät anzuftrengen, thätig zu fein, jener 
jucht Gewinn, nicht ohne zu arbeiten, aber doch ent- 
ipricht der Gewinn nicht ſowohl der Arbeit, als der rich- 
tigen Reklame, der Mode, den Zufällen der Konjunktur. 

Aehnliche Mißbildungen aus ähnlichen Wrfachen, 
wie der. oben befprochene Kleinhandel mit Lebensmitteln, 
birgt auch der Kleinhandel mit Geweben, Garnen, 
Bändern und derartigen Artifeln. Flagrante Beiſpiele 
haben fich neueſtens in den größern Städten gehäuft. 
Eine proletarische Konfurrenz, Die fich nicht genirt mit 
geftohlenen Waaren zu handeln, iſt nichts Unerhörtes. 
Zeigte fich doch neulich in Berlin, bei Aufhebung der 
großen jeit Jahren thätigen ‘Diebesbande, welch’ 
erjchredend große Zahl für achtbar gehaltener Firmen 
mit geftohlenen Waaren gehandelt hatte. Man darf 
aus folchen einzelnen Beiſpielen freilich nicht zu viel 
folgen; aber eben jo wenig darf man fie in einem 
Sefammtbild unjerer gegenwärtigen Zuſtände überjehen. 
Es fommt darauf an, ob die vorhandenen moraliſchen 
Kräfte, eine fteigende Deffentlichkeit, eine geſunde kauf. 
männifche Preffe, im Stande find, dem unreellen 
Treiben die Wange zu halten und es in die Grenzen 
zurüdzudrängen, wie e8 immer als Folge einzelner Per- 
\önlichfeiten vorfommen muß. 





8. Die Leinen» umd Baumwollenweberei für 
Abſatz im Großen nebft ihren Hülfsgewerben 


Die große Weberei des Mittelalters und ihre Organiſa 
Die Weberei bes 18. Jahrhunterts. Der wachſende bei 
Erport von Leinwand und Tuch. Die Organifation 
Hausinduſtrie. Die Vortheile und Nachtheile berfelben. 
Napoleoniſchen Kriege. Die Leinenindufrie von 1806 
Die Lage von 1816— 49. Die Verſchlechterung ber 
dultion, bie Noth der Weber, bie geichäftliche Organifa 
die Bermittlung durch ben Falter. Die Zufänbe 
1846 — 61, Beginn ber Maſchinenweberei. Die Verhält 
in welchen das Fabriffgftem fiegt; die, in welchen bie £ 
induftrie bleibt. — Der Aufſchwung ber Baumwollenwe 
Statiſtik derſelben 1816— 61. Der Charakter der u 
nehmungen: Fabriken neben Erhaltung ter Hause 
Die Noth der Weber; bie durch beſondere Preisverhäl 
eintretenbe Wieberbelebung ber Handweberei 1850 — 60. 
Sieg der Maſchinenweberei auch in Deutſchland. Die | 
Bertheilung von Hand» und Maſchinenweberei in Deutſch 
Die theilweis mögliche Erhaltung ber Hausinbuftrie. — 
banbwerksmäßigen Bleicher und bie fabrifmäßigen K 
bfeigen und Appreturanftalten. Die Färkereien und Ka 
drudereien. 


Der lokalen handwerlsmäßigen Weberei habe 
in ben bisherigen Ausführungen die Weberei für 


Die Gewebeinbuftrie bes Mittelalters. 535 


Abjag im Großen entgegengefeßt. Es war unter Ieg- 
terer dabei fowohl die Hausinduftrie, welche für den 
großen Markt arbeitet, als die fabrifmäßige Weberei 
verftanden. Wir Haben jet noch zu unterfuchen, wie 
ſich der Konkurrenzkampf zwifchen diefen beiden Faltoren 
geftaltet Kat, wo das Fabrifjgftem und der Mafchinen- 
ſtuhl die Hausinduftrie verbrängt haben. Das Schwierige 
ift dabei, daß auch der flüchtigfte Ueberblick über die 
Geſchichte der betreffenden Induſtrien ſich micht geben 
läßt, ohne eine Reihe von mitwirkenden, aber unjerer 
Unterfuchung ferner liegenden Urfachen hereinzuziehen. 
Die allgemeine Handelsgeſchichte, die Rückwirkung poli> 
tifcher Creigniffe, das Zollweſen des eignen und ber 
benachbarten Staaten und ähnliche Dinge find theil- 
weiſe beveutungsvoller für Aenderung oder Erhaltung 
diefer und jener Form der Induftrie geworden, als bie 
direften Vortheile und Nachtheile diefer und jener Art 
bes Betriebs felbit. 

Zahlreiche handwerksmäßige Gefchäfte an demſelben 
Orte vereinigt mit theilweife gemeinfamen Einvichtun- 
gen, mit einem fehr bedeutenden Abſatz nach fremden 
Märkten kannte ſchon das Mittelalter — und zwar 
Hauptfächlich in der Gemebeinduftrie. Im Gent folfen 
feiner Zeit 40000 Webſtühle geftanden haben, in 
Brügge follen zur Zeit der höchſten Blüthe 50000 Men- 
ſchen von der Verarbeitung der Wolfe gelebt haben. 
In Köln wurden nach einem Aufftande der Weber auf 
einmal 1800 Tuchmacher verbannt. Noch 1610 gab 
es in Augsburg 6000 Leineweber. Von 1415 bis gegen 
1564, bis die englijche Konkurrenz durch bie vertriebenen 


536 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige 


Nieverländer fo bedeutend zunahm, Yebten die märkiſch 
Städte faft ausfchließlich von der Wolfweberei.! 

Es war eine Maffeninduftrie, aber feine Gre 
induftrie. Die einzelnen Weber waren theilweiſe rei 
Leute und traten als ſolche in die höhern Klaffen t 
Geſellſchaft über, aber in der Hauptſache blieben | 
fo lauge fie das Gefchäft betrieben, Handwerker, Meift 
die feldft Hand anlegten. Ob dieſe glückliche ſozi— 
Organifation der mittelalterlichen Gemwebeinduftrie me 
Bolge der allgemeinen damaligen wirthſchaftlichen 2 
ftände, der einfachen Technif, der mäßigen Kapitalvı 
räthe war ober vielmehr Folge einer naiven fozialif 
ſchen Gefeßgebung, die im Einflang mit ben Sit 
und den moralifchen Anfchauungen jener Zeit abfichtl 
eine gewiffe foziale und wirthfchaftliche Gleichheit un 
fämmtlichen Produzenten erhalten wollte, will ih h 
nicht entſcheiden. Es würde zu weit abführen, wol 
ich Hier das Entftehen, die Vorausfegungen, die Urſach 
der Blüthe jener Gewebeinduftrie ſchildern. Nur d 
möchte ich betonen, daß auch damals, wie bei ein 

1) Bergl. über die Ältere Gefchichte ber deutſchen Gewe 
induſtrie: (Hildebrand), zur Gejchichte der deutſchen We 
induſtrie in feinen Jahrbüchern VI, 186 — 254, VO, 81— 1: 
Berner, Urfunbliche Geſchichte der Iglauer Tuchmacherzu— 
Leipzig 1861; Hiſtoriſche Nachricht von den Hauptmanufaktır 
der Tücher ꝛe. in ber Ehurmark, in ben „hiftoriihen Beiträ— 
bie fgl. preuß. Staaten betreffend,’ Deffau 1781; ferner Me 
Zeitfeprift d. Geſch. des Oberrheins passim unb bie erwäf 
Gefchichte der Linneninduftrie von Bol. 

2) Das behauptet hauptſächlich Schönberg in feinen Uni 
ſuchungen über das Zunftweſen. 





Die Organifation ber mittelalterlichen Weberei. 587 


handwerksmãßigen Maffeninbuftrie immer, das einzefne 
feine Geſchäft nicht auf fich allein ftehen konnte. Die 
große Fabrik der Gegenwart ijt eine Einheit für fich, 
geleitet von einem Manne höherer Bildung und weiten 
Blickes. Bei der Hausinduftrie handelt e8 fich immer 
um eine Reihe von Gefchäften, die theils in einander 
greifen, theils fich parallel entwideln müffen, um einen 
gemeinfamen Cffeft zu erreichen, die in der Mehrzahl 
von Leuten mittlerer und geringer technijcher und kauf⸗ 
männifcher Bildung geleitet werben. 

Großes Hat in den blühenpften Zeiten des Fräf- 
tigen Stübtelebens das Genofjenichaftswejen fr gleich- 
mäßige Probuftion, für gemeinfame Einrichtungen und 
gemeinfam organifirten Abſatz geleiftet. Aber angelehnt 
wären biefe genoffenichaftlichen Inftitute immer an bie 
Zunft, und die Zunft war in ihrer beften Zeit keine 
den ftäbtifchen oder ftantlichen Behörden entgegengejegte 
Genoffenichaft, fie war Genoffenjchaft und ftäbtifche 
Behörde zugleich, vom Rathe Fontrolirt, vom Nathe 
gehindert, egoiſtiſche kurzſichtige Beſchränkungen eintreten 
zu laſſen, durch ſchlechte Waarenlieferung den Kredit 
der Stadt · zu kompromittiren, vom Rathe unterſtützt und 
nach Außen vertreten. Die Zünfte „errichteten oder 
brachten an ſich Woltfüchen, in welchen die rohe Wolle 
gereinigt, Kämmhäuſer, in welchen diejelbe gekämmt 
wurde, Walfmühlen, Schleifereien, um die Scheeren 
der Tuchicheerer zu ſchleifen, Tuchrollen, Mange- und 
Värbehäufer ; fie befaßen oder mietheten gemeinfam große 
Räume, wo die Tuchrahmen zum Trocknen aufgeſtellt 
wurden, Gärten, wo gebleicht, endlich Gewandhäuſer, 





538 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


in welchen die Tuche verkauft wurden.“ Ebenſo oft 
die Zunft übernahm die Stadt ſelbſt ſolche Infti 
Der Name und das Siegel der Stadt garantirt 
weiter Verne die Güte der Waare. Im jever V 
bemüßten ſich die ftäbtiichen Behörden für das Gebe 
folcher Gewerbe, auf welchen der Wohlſtand der ga 
Stadt ruhte. 

Die territoriale Fürſtenmacht trat im 17. 
18. Jahrhundert, als der Zunft» und Gemeinde 
tief gefunfen, einer ſelbſtändigen gefunden Aktion | 
mehr fähig war, nur das Erbe des früheren ſtädtif 
Regiments an, wenn fie nun diefe Funktionen übern 
wenn fie durch ihre Gewerbereglements, durch Le 
ſtellen und Schandmter für die nothwendige gleichmi 
Produktion der einzelnen Heinen Meifter, wenn fie 
ftantlichen Mitteln für mancherlei gemeinfame Ein 
tungen und Anftalten forgte. Nach dem Stande 
Technik, mach der Bildung des damaligen beut| 
Handwerkerſtandes, nad den vorhandenen Kapitalmi 
war in vielen Zweigen eine blühende Induftvie nu 
oder gar nicht möglich. Ohne diefe Vermittlung, ı 
dieſe einheitliche Organifation war es nicht mög 
damals in Deutihland Taufende von Heinen Ur 
nehmern zur Wohlhabenheit und zur Thätigfeit für 
Welthandel zu erziehen! Die Prohibitivmaßree 
die Aus- und Einfußrverbote, welche in merfantil 
ſchem Sinne in Preußen und amberwärts erlo 


1) Bergl. oben ©. 23—46; über bie Hausindı 
hauptfählih ©. 4—45. 


Die große Weberei des 18. Jahrhunderts. 539 


wurben, mag man verurtheilen; für die wichtigite Ge— 
webeinduſtrie, für bie Leineweberei, waren fie gleich» 
gültig; ihre Blüthe berußte auf dem großen Export; 
in freier Konkurrenz Hatte fie ſich ihre Stellung auf 
dem Weltmarkt erfämpft, nnd die Wollinduſtrie, die 
Strumpfivaareninduftrie, auch Anfänge andrer Gewebe 
induftrien waren gefolgt, hatten ebenfall® begonnen zu 
exportiren. 

Die deutſche Linnenweberei des vorigen Jahrhun⸗ 
derts Hatte in Schlefien, in der Lauſitz, in Weftfalen, 
in Osnabrüd, im NRavensbergifchen ihre Hauptfige. 
In Bielefeld hatte fich ſchon jeit Anfang des Yahr- 
hunderte die Damaſtweberei entwidelt. Mehr und mehr 
bezahlte Deutichland feine Colonialwanren mit Leinwand; 
in den bolländifchen und fpanijchen Eolonien war deutſche 
Leinwand zu Haufe, vor Allem der Abfak über Spa- 
nien und nach Spanien war ſehr bebeutend; nach der 
Schweiz, nad) Italien und Frankreich kam ebenfalls viel 
deutſche Leinwand, nach diefen Ländern mehr aus Süd⸗ 
deutſchland; die vereinigten Staaten eröffneten nad) ihrem 
Abfall vom Mutterfande einen neuen großen Markt. 
Beſonders feit 1776 fteigerte ſich die deutſche Linnen- 
ausfuhr von Jahr zu Jahr. Die Bevölkerung nahın in 
den Webergegenden raſch zu, die Bodenpreiſe ftanden 
dort noch einmal fo Hoch als anderwärts.! Die Kon— 

ı waren immer fteigende, dev Begehr regelmäßig 
(8 die Produktion. Allein aus Schlefien wurden 
ir 3—4 Mil. Thaler Leinwand direft nach 


Sürih II, 226, 


540 Die Umbilbung einzelner Gewerbezweige. 


Spanien gefandt.” Gegen 1800 hatte bie jährl 
Ausfuhr aus Schlefien an Leinwand einen Werth 
gegen 13 Mill. Thaler. Der Werth ver jährlich 

der fächfifchen Oberlaufig ausgeführten Leinewwarid errei 
im legten Viertel des 18. Jahrhunderts durchjchnit 
mehr als zwei Mill. Thaler.? 

Die große. märkifhe Tuchinduftrie war durch 
dreißigjährigen Krieg und ſchon vorher verfallen; ı 
Tuchmacher hatten ſich nach Sachſen gezogen, wo 
Tuchmacherei fortdauernd blühte, gegen - = 
Jahrhunderts durch die Wolle der 17 
vom Churfürften eingeführten Merinoheer 
Glanz des jächfiichen Hofes umd durc 
Meſſe einen neuen Aufihwung nahm. 
den preußiichen Staaten erblühte die Wol 
alte möglichen Regierungsmaßregeln beför 
die franzöfiichen Refugies, fpeziell hiefi 
Tuchmacher aus Jülich und Holand, die 
ments hoben die Technik; die ftehenden | 
hier wie anderwärts bebeutend die Na 
auch nach dem Auslande nahm der Abſ 
denburgiſche und ſchleſiſche Tücher wurde 
ſachſen und Weftfalen gebracht; ber Hr 
ging über Hamburg und dann biveft n 
Rußland. Während für die legten Io 
des Großen Mirabeau eine Gejammtpro' 





1) Schlötzer's Briefwegfel Th. II, 69- 
2) Wiek, induftrielle Zuftände Sachfens 
3) Siehe oben S. 38, 


Die große Weberei des 18. Jahrhunderts. 541 


preußiichen Staate von 5,, Mill. Thlr. Wollwaaren 
und einen Export von 1 Mil. Thlr. annimmt, wird 
die Gefammtprobuftion von Krug für 1802 auf 13 Mill. 
berechnet, wovon über 7 Mill. ausgeführt wurden (neben 
einer Einfuhr von etwa 2 Mill.).* 

Die Seiden- und Baummollenweberei arbeitete 
mehr für den innern Bedarf, war aber in einzelnen 
Gegenden auch ſchon ziemlich beveutend. Erftere am 
Rhein und in Berlin, letztere befonders im ſächſiſchen 
Boigtlande, wohin ſchweizer Spinner und Weber bieje 
Induftrie ſchon im 17. Jahrhundert gebracht Hatten. 
Auch die Erzgebirgiiche Spigen- und Strumpffabrifation 
eriftirte ſchon als blühende Hausinduftrie mit einem 
nicht unbeträchtfichen Abſatz nach außen. 

Die Organifation der Weberei war faft überall 
diefelbe, wie bie ſtaatliche Beauffichtigung durch Regle— 
ments und Schauämter. Die Weber waren beſonders 
in der Linnen- und Strumpfivaareninduftrie faft durch: 
aus felbftändige Unternehmer, Häufig zugleich Heine 
Haus - und Grundbefiger, Eigentümer der Webſiühle; 
die wohlhabendern beichäftigten ein oder ein paar Ge- 
hülfen. Sie verlauften meift direlt, d. h. ohne bie 
Zwiſchenhand eines Factors, eines Kommiſſionärs, 
in der Regel auf beſondern Märkten an die Kaufleute, 
welche die Waare bleichen, färben und zurichten ließen, 
dieſelbe in den Welthandel brachten. Die Kaufleute 
waren ſelbſt zu einem großen Theil wohlhabend gewor⸗ 
dene Weber. Sie erhielten die Aufträge auf die beſtimmt 


1) Dieterich, Vollswohlſtand ©. 20 — 21. 


542 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


hergebrachten Arten von Geweben aus Hamburg, Bre- 
men, aus den Abfaglänvern felbft. 

Der -Bortheil der Drganifation lag eben darin, 
daß die großen Gewinne ſich auf jo viele Heine Unter- 
nehmer vertheilten, daß die große Induftrie auf die 
Weiſe herabſtieg in die Hütte des Meinen Hanbiverfers, 
fih auf dem Lande anfievelte, jene glüdliche Verbin⸗ 
dung mit der Bewirthichaftung eines Heinen Grundſtücks 
erlaubte, welche 3. B. Bowring noch im Jahre 1839 
zu den begeifterten Lobreden auf die beutjche Gewebe⸗ 
induftrie im Gegenfag zur engliſchen veranlaßte.! 

Dagegen ließen Nachtheile auch ſchon damals ſich 
nicht verfennen. Die überwiegende Mehrzahl der Pro- 
duzenten waren weber techniſch noch Taufmännifch gebil- 
dete Handwerker; ſchwerfällig hielten fie am Hergebrach⸗ 
ten feit. Wollte je Einer Etwas Neues einführen, jo 
Bing er 3.2. in der Wollinduftrie vom Spinner und 
Kämmer ober Streicher, von der Ortswalke, vom 
Tuchſcheerer ab. Der Kaufmann, ber einen neuen 
Artikel verlangte, Hatte die verſchiedenſten Leute und 
Geſchäfte dazu anzulernen, mußte ihnen die neuen Muſter, 
den neuen Robftoff liefern. Bon einem Anjchmiegen an 
den wechielnden Geſchmack des Publikums, von vajcher 
Einführung neuer Methoden konnte nicht die Rede fein. 
Nur langſam, mit Verluften, durch veränderte Regle— 


1) John Bowring's Bericht Über den deutſchen Zollver- 
band, überf. von Dr. Bued, Berlin 1840, ©. 85. 

2) Bgl. Rocher, Anfihten der Volkswirthſchaft ©. 147 
bis 148. 


Vortheile und Nachtheile der Hausinduſtrie 543 


ment war dies möglich. Ganz beftimmte Arten von 
Geweben mit feften Namen, bejtimmter Breite und 
Stücklänge fonnten in der Negel nur gefertigt werben. 
Bei ihnen mußte man ſchon bleiben, weil nur über 
ſolche feſtſtehende ſtereotype Produkte eine Kontrole durch 
Schauämter, eine Stempelung möglich war; und dieſe 
Kontrole wieder war unentbehrlich, weil ohne fie die 
Waaren, welche der einzelne Kaufmann Tieferte, welche 
aber Dutende von Webern gefertigt hatten, zu ungleich 
mäßig ausgefallen wären, weil unter den Heinen Webern 
immer viele waren, die nicht jo weitfichtig fein konnten, 
wie heute jede große Fabril es ift oder fein follte, 
einzufehen, daß Heine Fäljchungen und Nachläffigfeiten 
den ganzen Abſatz gefährden. 

Große politiihe Stürme, große anhaltende Stockun⸗ 
gen des Abſatzes, beveutende Fortichritte in der Technik, 
veränderte Anfchauungen über Recht und Pflicht des 
Staates, ſich der Induftrie des Landes anzunehmen, 
das waren Cchläge, welche eine berartig organifirte 
Hausinduftrie Doppelt treffen mußten, zumal wenn fie 
fich fast alfe zu gleicher Zeit vereinigten. 

Die napoleonifchen Kriege, die Kontinentalſperre, 
die Vernichtung des auswärtigen deutſchen Handels, vie 
großen Veränderungen innerer und äußerer Zolflinien 

> Bolljäge haben je nach den einzelnen Imbuftrien 
Deutſchland fehr verſchieden gewirkt; einzelne, wenig 
widelt umd jegt von der englifchen Konkurrenz befreit, 
ven große Fortſchritte in diefer Zeit gemacht; andere, - 
en Abſatz Bisher über England, überhaupt nad) 
aaten und Ländern gegangen war, mit denen der 


544 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Handel damals unmöglich war, mußten um fo empfind- 
licher leiden; da die Stodung eine Iahrelang audauernde 
war, mußten vie bisher von Deutjchland aus verjorgten 
Zander entweder ihre Induſtrie ſelbſt entwickeln over 
mit andern Bezugsquellen fich in Verbindung jeten. 

Das war zunächjt ver Hauptichlag, der die deutſche 
Linneninduftrie traf! und zugleich die englifche bob, 
wie ich oben ſchon bei Beiprechung der Flachsſpinnerei 
zu zeigen juchte. Englands Marine, fein auswärtiger 
Handel nahm zu, ihm allein ſtanden die Märkte ver 
Kolonien noch offen, die Linnenpreije ſtanden dort hoch; 
es warf fih mit Macht auf dieſe Induftrie, in der 
Spinnerei die Maſchine, in der Dleiche und Appretur 
die neuen Methovden, in der Weberei aber auch noch 
faft durchaus den Handſtuhl benutzend. 

In Deutſchland war vie Noth in den Weber: 
diſtrikten in jener Zeit groß, freilich verſchieden je nach: 
dem die Weberei ausfchließliche Erwerbsquelle der Leute 
war over nicht. Der Abſatz jtocte, Die Preife waren 
gedrückt und doch jchränfte fich die Produktion nicht ein. 
Die fleinen Meifter fuhren fort zu arbeiten, ja die 
eben erlaſſene Gewerbefreiheit in Preußen und die Noth 
auch in andern Gewerbszweigen veranlaßte da und dort 
jogar noch einen weitern Zudrang, beſonders in Schlefien. 
Während die Leinwandfaufleute und die wohlhabenven 
Weber fich eher aus dem Gejchäft zurüczogen, um nicht 
auch, wie jo manche ihrer Kollegen, Bankerott zu 
‚ machen, vermehrte fich das Angebot der Heinen unvoll- 


1) Gülich II, 337 — 376. 


Die preußifche Leineweberei 1806— 15. 545 


Tommenen Weber. Hätte das Geichäft geblüht, jo wären 
jene, die fich jegt mit ihrem Vermögen zurüchogen, 
vie berufenen Leute geweſen, die Fortfchritte des eng- 
liſchen Maſchinenweſens nachzuahmen. Bei der Ucber- 
produktion aber war feine Veranlaffung hiezu. Und 
die, welche bei der Weberei blieben und neu fich zubräng- 
ten, waren bie mittelfojen und ungeichidtern Weber. 
Sie fingen im Gegentheil mehr und mehr, freilich durch 
die Noth getrieben, an, zu verfuchen, ob fie durch ſchnelle, 
ſchlechte und gefälichte Produktion nicht erfegen könnten, 
was fie an den gedrückten Preiſen verloren. 

Es kann in diejer Beziehung nach den übereinftim- 
menden Ausſagen der Sachverftändigen ! nicht zweifel- 
baft fein, daß die Gewerbefreiheit und die in Folge 
bievon eingetretene laxere Handhabung oder vollftändige 
Nichtachtung der Reglements verhängnißvoll befonders 
für die ſchleſiſche Linnenweberei geworden ift. Stände, 
Regierung und Kaufleute fahen das nach Jahren ja 
auch ein. Man verfuchte in Schlefien 1827 die 
Kontrolen theilweife wieder herzuftellen, wie ich jchon 


1) Ich verweiſe hauptſächlich auf Schneer und das große 
dort angeführte Material. Auch in Frankreich fanden in ben 
vierziger Jahren vielfache Verhandlungen ſtatt, ob nicht der 
fintenden Hausinduftrie durch Wiederherſtellung der alten Kon- 
trofen aufzubelfen fei: Zollvereinsblatt 1845, S. 922; noch 
1856 erflärt Moreau be Ionnds ben Zuſtand ber Heinen Leine 
weber für einen folchen, dem nur durch verſchiedene Staats- 
und Gemeinbeanftalten ꝛc. zu helfen fei, Statistique de l'in- 
dustrie ©. 184— 185. Aehnliche Berathungen in Sachſen, 
bie aber auch zu feinem Refultate führten, Wiek S. 241 

Sqmoller, Geſchichte d. Rleingewerbe. 35 





546 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


bei Betrachtung ber Spinnerei erzählte. Aber es war 
ſchwierig; man fand Widerftand aller Art; für einzelne 
größere ſolide Geſchäfte war jede derartige Kontrole 
überflüffig, daneben Täftig und hemmend. ine jehr 
große Zahl anderer Kaufleute und Weber, vie jet 
Jahren jchlechte und gefäljchte Wanren- lieferten, hatten 
alle Urfache, aus dieſem Grunde Oppofition zu machen. 
Sp wagte man nicht die Schau und Stempelung obli- 
gatorijch zu machen; e8 wurde nur angeordnet, daß bie 
Weber gefternpelte Weberblätter benugen jollten, worin, 
wenn fie fie anwendeten, allerdings eine Kontrole ver 
Breite des Gewebes und der Fädenzahl der Kette gele 
gen bätte. 

Ich Habe übrigens Damit der Erzählung weit vor- 
gegriffen. Zunächſt hatten fich die Verhältniſſe nad 
1815 wieber etwas gebefjert, wenigſtens ein ‘Theil des 
Abſatzes nach Außen war, wenn man billig genug ver: 


faufte, wieder zu gewinnen.! Der Abſatz in Deutſch⸗ 


land ſelbſt hob fich mit rüdfehrendem Frieden; das 
preußilche Zollſyſtem, Tpäter der Abjchluß des Zollvereins 
wirkten günftig. Wo man jtreng an der Naturbleiche 
fefthielt, Hauptfächlich feines Garn, das die Mafchine 
noch nicht liefern konnte, verwebte, wie in WBielefelb,? 
wo ftrengere Rontrolen die Solivität des Gejchäfts auf⸗ 
recht erhalten hatten, wie in Hannover, da nahm ber 
Abſatz ſogar theilmweife einen neuen Auffchwung. Sm 


1) Gülich I, 412. 

2) Berhandblungen vor dem Berliner Handelsamt, Zoll 
vereinsblatt von 1845, ©. 601. Ausjage, daß der Leinen- 
handel Weftfalens feine glücklichſte Zeit 1833 — 39 gehabt habe. 


ı ber Leineweberei 1815 — 40. 547 
h die Linnenprobuftion noch von 1826 
ı 


nen wurbe bie Lage nicht befjer, fon- 
mer. Die Konkurrenz der Baumwolle 
engliſchen und iriſchen Linnenprobufte 
% immer ſchwerer. Das Sinfen der 
te beſonders in den zwanziger Jahren 
Hefien — Tagt Gülich — ſanken vom 
328 die Preife der meiften Leinen- 
Verhältniffe von 7 zu 5, im Osna⸗ 
eng in einem eben fo großen; eine. 
gefertigten Löwentlinnens, welche mar 
nit etwa 100 Pfennigen bezahlt hatte, 
1828 nicht die Häffte, in Münden 
tern Jahre ein Stüd der in der Um- 
groben Leinwand, deren Preis im 
4 Thlr. war, für 2%, Thlr. 

n Schlefien beantwortete man das 
2 — mit Ausnahme weniger großer 
vie Kramfta — durch eine immer 
ion und fehäbigte dadurch den Ruf 
vond immer mehr. Die neue Schnell⸗ 
ifweife ‚eingeführt, ohne daß man fie 
Verbrannte Waare, die beinahe im 
uſammenhielt, wurde nochmals geftärkt 
n Export verpadt. Die betrügerifche 
Baumwolle nahm von Jahr zu Jahr 


Bericht Über den deutſchen Zollverband 


35*+ P 


548 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


zu,! weil viele Häufer num fo die tief gejunfenen Preiſe 
glaubten aushalten zu können. Der einzige techniſche 
Fortichritt war der, die beigemengte Baumwolle jo zu 
verſtecken, daß kaum das geübtefte Auge dieſe Stoffe 
bon unvermengtem Linnen zu unterjcheiden vermochte. 
Veber die engliſche resp. irifche Konkurrenz will 
ih nım einige Worte bemerken. Durch was fie bi 
1840 wirfte, war weder der Maſchinenſtuhl noch em 
Herabprüden des Handlohns, fondern das billige Ma- 
ichinengarn und die Lieferung ſolider gleichmäßiger reeller 
Waare. Im Iahre 1835 eriftirten in ganz Großbri- 
tannien erft 309 Mafchinenftühle für Leinwand, während 
für Baumwollwaare 109626, für Wollwaare 5127, 
für Seidenwaare, 1714 gingen.? Und die Ausfuhr 
war von 1800 bis zu Diefer Zeit bedeutend gejtiegen, 
wenn auch die Hauptzunahme erſt jpäter fällt? “Der 


1) Vergl. Gülich IV, 487. Zollvereinsblatt 1844, ©. %28 
ichreibt eine Korreiponbenz aus Mexico: „Den größten Fehler 
begingen die Deutjchen durch ein jchmales Gewebe und fchlechtes 
Maß. Ein anderer Fehler ber bentichen Waare ift bie jehr 
große Berichievenbeit von Faden, Gewebe, Farbe, Appretur, 
Etiquette umd bie unendliche Maſſe Nummern, welche die Käufer 
verwirrt. Nur ein Freiburger Haus hat von allen beutichen 
Fabrilanten ſich gut gehalten, es führt wenige allgemein befannte 
Nummern, welche immer biefelben bleiben und an Qualität fih 
gar nicht ändern. 

2) Porter, progress of the nation, new edition. Lon- 
don 1851. S. 200. 

3) Porter, ©. 225 fi. Hanſemann, bie wirtbichaftlichen 
Verhältniſſe des Zollvereins, berechnet S. 35, daß die großkrit. 
Ausfuhr betrug 1836/40 jährlich 78 Mil. Yards Linnengerebe, 
1846/50 - 99, 1856/60 - 136 Mill. Yards. 


Statiftif der Leinewebftühle 1816 — 49. 549 


Preis deijelben Stüdes Kanvas war nach Porter von 
1813 — 33 von 30 auf 16 — 18 sh, gefallen, der Web- 
lohn eines jolchen Stüdes nur von 2 sh. 8 p. auf 
2 sh.6 p. 

Wie gejtalten fih dem gegenüber die beutfchen 
Berhältniffe bis zum Höhepunkt der Krifis zu Anfang 
und Mitte der vierziger Jahre, bis zu jener Zeit, in 
welcher das Sinfen der Preiſe und der Rückgang der 
deutichen Ausfuhr am ftärkiten war?! Die Zahl ver 
gewerbsmäßig in Preußen gehenden Webftühle war nach 
der Aufnahme folgende: 

im ganzen State in Schlefien ?) 


1816 . . . 43045 16 245 
1831 . . . 835668 12 344 
184 .. . 86879 12 799 
1837... 85877 12 347 
140°... 837971 13 524 
1843 . . . 34451 — 

1846 . . . 45029 — 

1849 . .„ . 48384 10 667 


1) Die Ausfuhr über Bremen und Hamburg hatte 
1839 — 44 etwa um 50 9, abgenommen, Zollvereinsblatt 1845, 
©. 1021. An rober Leinwand hatte der Zollverein noch 1834 
eine Mehrausfuhr von 9440 Etur., von da eine Mebreinfuhr, 
1842 —46 3.3. von jährlih 12331 Ctnur. Die Mehrausfuhr 
gebleichter Leinwand war 1842 noch 57499, 1860 - 18693 Er. 

2) Die offiziellen Zahlen Schlefiene find nah Schneer 
viel zu niebrig; man zählte 1846 - 12 347 gewerbsweife, 8 820 ale 
Nebenbeihhäftigung gehende Webftühle, zuf. 21167; die Zahl 
der Spinner war nach ihm jedenfalls noch die vierfache Damals, 
hierzu kommen die Spuler und Bleicher, fo daß die Zahl ber 
nothleidenden Arbeiter ohne ihre Kinder minbeftens auf 120 000 
anzufchlagen ſei. Schneer S. 56. 


550 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Bon 1816 — 31 eine bedeutende Abnahme; fie ift 
aber in Wirklichkeit. nicht von großem Einfluß, da in 
diefer Zeit die als Nebenbeichäftigung gehenden Stühle 
um jo mehr zunahmen. Von 1831 —49 trog ber 
furchtbaren Krifis im ganzen Staate eine Zunahme, in 
Schlefien erft gegen 1849 eine Abnahme. Sehr viele 
Weber zwar gingen in diefer Zeit jchon zur Baumwoll⸗ 
weberei über, bafür aber refrutirte fich Die Zahl ber 
Leineweber immer wieder aus den Reihen der Spimer, 
die in noch fchlimmerer Lage fich durch den Webergang 
zum Webjtuhl zu helfen fuchten.! 

Diefe Stabilität der Zahl hängt zuſammen mit 
dem ſchlimmſten Uebelſtand der Leineweberei: alle Un 
gunft einer langſam durch Jahrzehnte hindurch ſinkenden 
Preiskonjunktur wurde ertragen durch den langſam aber 
ficher immer tiefer finkenden Lohn, durch die ſukzeſſive 
Einfchränfung der Bedürfniſſe, welche eine genügjame 
Arbeiterbevölferung fich gefallen Tief. „Die Löhne” — 
ruft Schneer — „wurden immer mehr herabgefett, vie 
Indolenz, der Eigenfinn und das Kleben am Alten, 
welche die eigenthümlichen Charafterzüge des ſchleſiſchen 
Arbeiters Hilden, Tieß die Weber und Spinner bei ber 
großen Zahl der Bewerber um Arbeit, mit dem Noth: 
dürftigen und endlich mit dem Nothoürftigiten des 
Zebensunterhaltes ſich begnügen. ? Und jelbft wenn 


1) Bgl. 3.8. Zollvereinsblatt 1845, ©. 520, über bie 
Spinner im Eichsfelde, welche zur Weberei übergingen. 

2) Ueber die fohlechte Ernährung in den ſchleſiſchen und ſächſi⸗ 
ſchen Weberbiftriften: Michaelis, über ven Einfluß einiger Ju⸗ 
duſtriezweige ꝛc. Noch 1863 ſchreibt die amtliche reisbejchreibung 


Schilderung ber ſchleſiſchen Nothſtände. 551 


die Weber andere Erwerbszweige hätten ergreifen können 
und wollen, es gab deren vor 1846 kaum welche. 
Der tägliche Lohn für die mühevolle 14 — 16 ſtündige 
Arbeit eines Webers, zugleich für Abnutzung der Ge- 
räthſchaften, Benutzung der Wohnräume, Heitung und 
Beleuchtung, für Beihülfe von Frau und Kindern wird 
im Durchſchnitt nicht über 2 — 3 Ser. damals betra- 
gen baben.! | 

Mit den Bedürfniffen und ven Anfprüchen an's 
Leben ſank die geiftige und moralifche Spannkraft der 
Devölferung noch mehr; eine dumpfe, apathilche Re- 
fignation lagerte fich über ganze Gegenden; von Gene: 
ration zu Generation wuchs ein jchwächlicheres Gejchlecht. 
Die Lente waren rührend fleißig, auch Trunfenheit und 
andere hervorſtechende Lafter waren in den Webergegen⸗ 
den nicht zu Haufe; aber e8 mangelte an jeder höhern 
technischen und fonjtigen Bildung und an allen Bildungs- 
elementen in den abgelegenen Gebirgskreiſen. Ueberfrühe 
Chen und ein großer KRinderreichthum bildeten wie 
gewöhnlich die Folge eines fozialen Zuftandes, von dem 
ed ſchien, daß er fich nicht mehr verichlechtern könne. 


von Neurode in Schlefien (Jahrbuch für die amtliche Statiftil II, 
306): Die Lohnweber haben fo geringen Berbienft,, daß fie mit den 
ſchlechteſten Nahrungsmitteln — Kartoffeln ohne Butter, Klößen 
oder Suppen von fog. Schwarzmehl u. ſ. w. — ſich begnügen 
müffen; dabei arbeiten die Lohnweber oft Die ganze Nacht hin- 
durch, Arbeiter in den Spinn- und Appreturanftalten 18 Stun- 
den täglich. 
1) Süli II, 489. Schneer gibt 1844 den Lohn bes 

Leinewebers auf 10— 20 Groſchen für die Woche an. 


552 ° Die Umbilpung einzelner Gewverböziveige. 


Noch weniger als früher waren die Leute fähig zur irgend 
welchem Fortichritt, zu neuen Methoden, Muftern und 
Berbefferungen. Die Verjchuldung ftieg. Marche griffen 
wieder zum Spinnen und Striden, weil fie in ber 
Noth den Webſtuhl verkauft hatten. Viele zahlten eine 
jährliche Miethe bis zu 4 Thaler für einen Stuhl, 
welcher höchftens 6 Thaler werth far. 

Wer alles gewerbliche Leben immer nur fich jelbit 
überlaffen will, wird über dieſe Zuftände Niemand einen 
Vorwurf machen dürfen. Wer aber auf dem humanen 
Standpunkt fteht, die Befigenden und Gebilveten einer 
Gegend einerjeits, die Lehrer, Geiftlichen und Beamten 
andererjeitd ſtets mit für verantwortlich zu halten für 
die Bildung, für die Lage ihrer Nachbarn, ihrer Ge: 
meindegenoffen, ihrer Arbeiter, der wird allerdings bie 
Regierung! und die größern Induſtriellen, die Kauf 


1) Bergl. oben die Schilderung der bairifchen Weber 
diſtrikte ©. 128 — 131. 

2) Die Klagen bei Schneer Tonzentriren ſich auf Die Hand⸗ 
babung der ländlichen Polizei, auf die Unthätigfeit unfähiger 
Landräthe und auf den ganzen Standpunkt ber Regierung. 
Nach feiner Anficht hätte die Regierung, wenn fie die Weberei 
halten wollte, die Reglements fireng wieberherftellen, bie Ber- 
mittlung des Abfates in großartiger Weile durch die Ser 
handlung und konſulariſche Thätigkeit übernehmen müſſen; ſtatt 
dem wurde ſehr viel Geld ausgegeben, hauptſächlich in der Form 
von zinsloſen Darlehen (je bis zu Poſten von 8000 Thalern) an 
einzelne Leinwandkaufleute, damit fie die Weber beichäftigten; 
viel befier, meint Schneer, wäre biefes Gelb zur Grünbung 
von Weberfompagnien (Affoziationen) verwendet worben, beren 


erſte Leitung man natürlich hätte in der Hand behalten müſſen. 


Schilderung der fchlefifchen Nothſtände. 553 


leute der dortigen Gegenden großer Unterlaffungs- 
ſünden zeiben. 

Abgejeben aber Hiervon find die maßloſen Vor—⸗ 
würfe, mit welchen man die Kaufleute überbäufte, fie 
nußten die Noth der Weber aus, meiftentheild über- 
trieben; es geichah lokal und individuell; aber im 
Ganzen bandelten fie nicht anders, als die heutigen 
Unternehmer in der Regel handeln; die einzelnen als 
ſolche waren nicht fchlimmer, als andere Geichäftsleute. 
Sie drüdten möglichit die Preife, weil fie ſelbſt kaum 
beitehen konnten. Sie fuchten, ohne aus dem alten 
Geleiſe des bisherigen Geichäftsganges herauszukommen, 
ohne die Mühe und die Gefahr auf fich zu laden, neue 
Methoden und Maſchinen einzuführen, noch möglichſt zu 
bejtehen, noch möglichit Gewinne zu machen, und Ras 
ging nicht anders, al8 durch möglichite Herabbrüdung 
des Lohnes; es gelang immer, weil das Angebot vor 
Arbeitern zu groß war. 

Härter als über die Kaufleute, wird fich auch vie 
gerechtefte. Beurtheilung über die Faktoren, Mäkler, 
Kommilfionäre ausiprechen müſſen, welche ſich mit ver 
jteigenven Noth mehr und mehr zwilcher Weber und 
Kaufmann einjchoben, obwohl auch dieſes Verhältniß 
nicht nothwendig, nicht an ſich ſchlimm ift, unter Um— 
ſtänden heilſam und unentbehrlich jein kann und einzelne 
achtbare Perfönlichkeiten in fich bergen mag. Speziell 
bier aber gaben und konnten fich nur harte ungebilbete 
Menſchen mit dieſem Gejchäft abgeben; vie Verhältnifie 
waren wie zu Mißbrauch und Betrug einladend; es 
wurde ein ähnliches Verhältnig, wie das des Middleman, 


554 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


der zwiſchen dem iriſchen Jwergpächter und dem Grunb- 
befiger ſteht.“ 

Der Faktor fteht zum Weber in verjchievenem Ber- 
hältniß; bald ift er nur Käufer feines Gewebes, bald 
ift er Gläubiger oder Eigenthümer des Stuhls, der kei 
ihm für Lohn arbeiten läßt. Der Weber ift fo wie fo 
vom Faktor abhängig. Der Geſchäftsgang iſt meift jo. 
Der Taltor läßt fih vom Kaufmann das Garn zu 
einem beitimmten Auftrag gegen bejtimmten Preis zu- 
meffen. Wo er arbeiten läßt, was er dem Weber 
zahlt, darum fümmert fich der Kaufmann nicht. Der 
Weber erhält mit ver Zeugprobe den fogenannten 
Scheerzettel, auf dem vom Kaufmann nach Gut: 
bünfen die Strafen feftgefeßt find, welche für zu 
furzes Maß, zu wenig Schuß, unreines Ablefen und 


1) Die verſchiedenſten Zeugnifje Iaffen fich hierfür anfüh- 
ren, von Webern, von Kaufleuten, von amtlicher Seite; außer 
Schneer und Michaelis ftehe die Notizen aus ben Kreishefchrei- 
bungen, Zeitſchrift des flat. Bür. IV, 126. Degentolb, ſelbſt 
ein großer Weber, jagt Arbeitsverhältniffe ©. 36: „Können 
die Weber nicht in großen Werkflätten vereinigt arbeiten, fo 
jollte wenigftens die Unmittelbarleit zwiſchen Arbeiter und 
Arbeitgeber hergeſtellt und alle läſtigen Mittelsperſonen, als 
Garnhändler, Faktor und Aufkäufer 2c., entfernt werben.” In 
Frankreich find vielfach ähnliche Zuftände in der Gewebeinbuftrie; 
und baber ift der Ausſpruch eines franzöftichen Arbeiters: les 
commissionaires c’est la l&pre de notre industrie, begreiflidh; 
ſiehe Sarajfin in Gelzer's Monateblätter Bo. 33. Heft 2. 
S. 117. Bergl. Roſcher, Anfichten der Bolkswirthichaft S. 144 
bis 145 u. S.165, wo er von ben Mittelsperfonen ber engli- 
ſchen Metalldausinpuftrie erzählt und die verurtheilenden Aus 
ſprüche Leon Faucher's über fie anführt. 





Die Stellung der fogenannten Yaltoren. 555 


Aehnliches vom Lohne abgezogen werden. Die Ab- 
züge werben mit Recht oder Unrecht vom Kaufmann 
dann dem Faktor gemacht, der fih an den Weber 
hält. NRemonftrirt der Weber beim Faktor, jo zeigt 
dieſer ihm das Lieferbuch, in dem der Abzug verzeichnet 
ift, vemonftrirt er beim Kaufmann, jo erhält er bie 
Antwort, er folle fih an ven Faktor halten, der Kauf- 
mann wiſſe ja nicht, wer dieſes oder jenes Stüd gemacht 
habe. Zur Klage kommt e8 nicht, Das risfirt der arme 
Weber nicht. Sehr oft kann er e8 auch nicht riöfiren; 
oftmals Liegen wirkliche Defelte vor. Die Notb, das 
Unrecht, das der Weber glaubt erbulden zu müfjen, 
bat e8 dahin gebracht, daß ſelbſt früher orbentliche 
Leute faſt immer etwas Garn auf die Seite bringen. 
In fait jevem Weberborfe gibt es Leute, von welchen 
jever weiß, daß fie mit geftohlenem Garn handeln. 
Alle Parteien befinden ſich in einer Art Kriegszuftand 
und jeder jucht den andern zu übervortbeilen, zu täufchen, 
zu betrügen. | 

Der Hauptübeljtand der Faktorenwirthſchaft ift der, 
daß dadurch jeder fittliche Zuſammenhang zwiſchen Arbeit- 
geber und Arbeiter aufgehoben ift. Der Fabrikant kennt 
feine Arbeiter nicht, er weiß nicht, wen und wie viele 
Leute er beichäftigt, er hat nicht das Gefühl der DVer- 
antwortlichfeit, dieſe beftimmte Zahl Leute zu dieſem 
Gewerbe veranlaßt zu haben, fie daher möglichſt in 
gleicher Zahl dauernd bejchäftigen zu follen. Haupt— 
lählih aus dieſem Grunde laſten auf dem Gewerbe 
die drüdenden Wechjel der Konjunktur läftiger, als auf 
irgend einem andern. 


556 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Nachdem in den vierziger Jahren die Zuſtände 
hauptfächlich in Schlefien, bis auf einen gewilfen Grad 
auch anderwärts, ſich bis zu dieſer Entſetzlichkeit ent- 
widelt hatten, nachdem jelbjt die Zeit der höchſten 
Noth wohl Hunderte dem langjamen Hungertode über: 
Yiefert, aber die Maſſe ver Weber, wie Die ganze Ge: 
Ichäftsorgantjation doch in alter Weiſe erhalten Hatte, 
nachdem ber wichtigfte Theil des auswärtigen Abjakes 
einmal verloren war, mußte e8 in den folgenden Jahren 
eber wieder etwas beifer werden. Die Produktion Hatte 
fich Doch jedenfalls etwas eingeichränft, e8 handelt fich 
jest hauptſächlich nur noch um den innern, von Zöllen 
geichütten Bedarf. Daraus erklären fich die preußiſchen 
Zahlen von 1846 —61, die ich bier einfchiebe: 

Webftühle Meifter und Fabriken Mechaniſche 


Gehülfen Webſtühle 
1846 . . 45 029 50 770 217 15 
1349 . . 48384 56.037 274 46 
1852 . . 49791 56 428 235 33 
1855 . . 46397 52155 204 30 
1858 . . 45659 45941 18 78 
1861 42 860 42621 69 244 


Der ganze Zollverein zählte nach dem Zollvereins⸗ 
burean 1861 - 120278! Webjtühle mit 87812 Mei- 
jtern und 39833 Gehülfen, neben 301 fogenanten 
Sabrifen mit nur 350 Mafjchinenftühlen. 

Diefe Zahlen find feine erfreulichen, nicht ſowohl 
weil jie von 1852 —61 cine fleine Abnahme ver 

1) Die Webftühle find nach meiner obigen Ausführung 
wohl auch etwas, Aber nicht viel zu niebrig, ba mit ben 
Habrilen nur 2678 Hanpftühle aufgeführt find. 


Die Leineweberei von 1846 — 61. 567 


Stühle, der Weber, auch der Fabrifgeichäfte, deren 
Zählung übrigens wenig zuverläffig ericheint, zeigen, 
fondern weil aus ihnen erfichtlih ift, daß bis 1861 
io ziemlih die alten ungejunden Verhältniſſe ſich 
erhalten haben. 

Mancherlei Verbefferungen waren zwar da und 
dort eingetreten. Die Bleiche und Appretur einzelner 
größerer Geſchäfte hatte fich vervollfommnet, die Mufter- 
weberei war da und bort mit beſſern Stühlen einge: 
führt worden. Wo folche Tortichritte gemacht wurden, 
ftieg auch der Lohn; aber die Mehrzahl blieb unberührt 
hiervon und begnügte fich mit einem Lohn, der etwas 
beffer als in den vierziger Jahren, aber immer noch 
ichlecht genug war. Zu Anfang ver fechBziger Jahre 
war ber tägliche Verdienſt eines Hirſchberger Damaft- 
webers wohl 10— 12 Gr., eines Bolfenhainer Webers 
ganz feiner Leinwand jogar 10—15 Gr., aber ver 
gewöhnliche Weber fam täglich noch nicht über 3 — 4, 
wöchentlich über 20 — 25 Grofchen. ! | 

Jetzt erit hatte die Maſchinenkonkurrenz begonnen 
und brüdte den Lohn für einfache Gewebe, nachdem er 
faum etwas zu fteigen begonnen, wieder berab. Man 
hatte gelernt, das Meafchinengarn jo zu fpinnen, baß 
es auch den Majchinenwebituhl aushielt; die große Rein⸗ 


1) Zeitichrift des preuß. flat. Bür. IV, 126— 128 „über 
die Lage ber Weberbevölkerung in Schleſien;“ Jahrbuch für Die 
amtliche Statiftit IL, 264 — 348, die zahlreichen Angaben aus ven 
amtlichen Kreisbejchreibungen; aus Ratibor wird gelchrieben: 
Der Lumpenjammler verdient täglich 10 Sgr., der Leineweber 
4—5 Ögr. 


558 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


beit, bie vollkommene &fleichheit, das gefälfige Ausfehen 
des engliichen. Mafchinengewebes gewannen mehr und 
mehr Beifall. Für den Weltmarkt werden bauptjächlich 
jolhe Gewebe gewünjcht. Man erkannte den Vortheil 
der englichen mechanifchen Webereien, welcher darin 
liegt, je nah den Konjunkturen die Produktion zu 
jteigern oder zu mindern, ohne eine ganze große Weber: 
bevölferung zeitweile heranzuziehen und wieber in Un- 
thätigfeit zu verfeßen. 

Dennoch war es lange fraglich, ob ber deutſche 
Fabrikant nicht noch immer billiger probuzire, wenn er 
die Noth des armen Handwebers ausnutze, ſtatt fich 
theure Deafchinen anzujchaffen. Die Zahl der Mafchinen- 
jtüble war 1858 noch verſchwindend, 1861 ift fie etwas 
gewachſen, dann erſt ftieg fie raſch; 1867 wurde fie 
auf 1800 im Zollverein geichätt; in Frankreich Dagegen 
jolfen ſchon 4000, in Belgien 3000 Maſchinenſtühle 
geben, in England zählte man 20000. ! 

Dean ging in Weitfalen, in Schlefien und andern 
deutſchen Gegenden zur Mafchinenweberei über, als end⸗ 
lich mit der großen Nachfrage nach Arbeitern von 1862 
an bie Handweber anfingen, maſſenweis zu einfacher 
Zagelohnarbeit überzugehen.? Es kann fich jet Die Hand⸗ 


1) Oeſtr. Ausſtellungsbericht Band IV, ©. 50. 

2) Preußiiche Hanvelstammerberichte pro 1865, ©. 144 
Abnahme in Bielefeld; S.258 in Gladbach; ©. 325: in Hirſch⸗ 
berg wollen frühere Leineweber jelbft gegen eine Erhöhung ber 
Löhne um 25%, nicht mehr zu ber alten Beichäftigung zurüd- 
kehren; ©.633: im Eichsfelde ſogar wird bie mechanilche Weberei 
wegen Mangel an Arbeitskräften nothwendig. 


Die Konkurrenz der Mafchinenweberei. 559 


weberei für einfache Sorten nur unter bejonvern Verhält—⸗ 
niſſen noch erhalten; 3. B. da, wo die Männer an Tritt⸗ 
und Jacquardſtühlen arbeiten, Frau und Kinder ba- 
neben an ein over zwei gewöhnlichen Stühlen, die jo 
viel weniger Kraft erforbern, oder wo die Weberei zur 
bloßen Nebenbeichäftigung geworben ift. „Diele, in 
einigen Gegenden bie meiften Weber” — jagt Sakobi? 
von Niederichlefien — „haben vom Frühjahr" bis Herbft 
mancherlei in eigener Garten- und Feldwirthſchaft zu 
thun, oder find ſelbſt als Dlaurer, Zimmerleute, Eijen- 
bahnarbeiter, Feldarbeiter, Holzbauer außer dem Haufe 
beichäftigt und betreiben daher in Sommerszeiten Die 
Weberei nur bei ungünftiger Witterung, ober beim 
Fehlen von fonjtiger Arbeit.‘ 

Abgeſehen von ſolchen Verbältniifen, kann fich die 
Handarbeit und damit die Hausinduftrie auf die Dauer 
nur für ganz feine und gemufterte Artifel halten. Ein 
rascher entſchloſſener Mebergang zum Fabrikſyſtem kann 
nur erwünjcht fein. Seitweile und Iofal nimmt bie 
Noth der Handweber dadurch nochmals zu. Aber im 
Sanzen trifft die Maſchinenkonkurrenz ven Handweber 
jest nicht jo jchwer, weil die Löhne fait überall fteigen. 
Das Verſchwinden der Hausindnſtrie, welche bejeitigt 
wird, ift nicht zu beflagen; es verichiwindet eine ärm- 
liche, fchlecht bezahlte Art ver Beichäftigung, es ver- 
ſchwinden forrupte, betrügerijche Geſchäftsverhältniſſe. 


1) Zeitichrift des prenß. flat. Bureans VIII, 328. 

2) Jahrbuch für die amtl. Stat. I, 303 (Bollenhain 
1863): „durch die Mafchinenmweberei werben die Löhne der 
Handweber immer mehr gebrüdt.” 


560 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Es find meist Leute, welche wegen mangelnder morali- 
ſcher, geiftiger und technijcher Bildung auch für das 
Aſſoziationsweſen, welches ihnen ihre frühere Selbftänbig- 
feit erhalten Könnte, wenig oder gar nicht brauchbar 
und empfänglich find. Sch komme auf dieſen Punkt 
zurüd und gebe zumächit zur Baumwollweberei über. 


Diefelbe bat im Allgemeinen total andere Schicjale 
aufzumweilen; wie die Xeineweberei im Ganzen zurüdging, 
ging fie vorwärts; fie verbrängte jene ja vielfach; eine 
rapid wachlende Ausfuhr gab ihr von Jahr zu Jahr 
größern Spielraum; — und doch iſt die Gejchichte ver 
deutichen Baumwollweber, d. b. der Arbeiter, eine fait 
eben fo traurige, als Die ber Leineiweber. 

Zu Ende des vorigen Jahrhunderts war bie 
Weberei von Baumwollitoffen noch nicht ſehr bedeutend. 
Sie hatte ſich von den Niederlanden ber am Niever: 
rbein, in Kurſachſen, in Oberfranken, auch in Branden- 
burg und Schlefien verbreitet. Im Augsburg blühte 
neben der Weberei ſchon die Kattunprudere. Es wur: 
den auch jchon deutſche Waaren erportirt, aber ver 
Import überwog. Und daraus ift erflärlich, Daß die 
Kontinentalfperre dem Gelchäfte einen großen Impuls 
gab; der täglich fteigende Bedarf des innern Marktes 
war zu deden, Frankreich, Italien und Deftreich boten 
einen großen jest den Engländern veriperrten Markt. 
Die Entwiclung war befonders im Königreich Sachſen, 
aber auch anderwärts, außerordentlih. Es handelte 
fich damals überwiegend um Heine Gefchäfte, e8 waren 
ja meift junge Anfänger. 


Die Baumwollweberei. 561 


Nah 1815 trat ein heftiger Rückſchlag durch die 
engliihe Konkurrenz ein; aber als fich Preußen 1818 
abſchloß, als Preußen wie fpäter der Zollverein die 
ſämmtlichen Baumtmollgewebe mit einem hoben, für 
gröbere Waaren fast prohibirenden Schutzoll verjah, 
nahm die Weberei nicht bloß für den innern Bedarf, 
jondern bald auch zum Export wieder einen glänzenden 
Aufſchwung. Bienengräber ! berechnet die inlänbijche 
jährliche Produktion an Baumwollwaaren und Die 
Mehrausfuhr an folchen (über die Einfuhr) im Zolf- 
verein folgendermaßen: 


im Durchſchnitt gollvereinsländ, Mehrausfuhr bes 
von Probuftion Zollvereins 
1836 — 40 . . . 357964 Zentner 72791 Zentner 
1841 —45 . . . 489617 = 66 942 ⸗ 
1846—50 . . . 547 503 = 83826 ⸗ 
1851 —55 . .„ . 699263 ⸗ 155 444 ⸗ 
1856 — 61 999749 = 172426 = 


Diefen Zahlen entiprechend find Die Zahlen ber 
gewerbömäßig in Preußen gehenden Webjtühle (ohne 
Band -, Pojamentier- x. Stühle), der Webermeijter 
und Gebülfen; man zählte in Preußen Webftühle: 


1816 . . 126% 1837. . 39324 
1831 . . 25464 1840 . . 48540 
1834 . . 831759 1843 . . 47747 


1) Statifil des Verkehrs S. 214. Der zollvereins- 
ländiſche Expert erreicht freilich noch entfernt nicht ben engli- 
ſchen, der pro Kopf der Benälferung nah Hanfemann ©, 71 
über 8 Thlr. 1856— 60 betrug, während er im Zollverein 
0, , in Belgien O,.,, in Frankreich O,so Thlr. erreicht. 

Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 36 


562 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Webſtuhle en Fabrilen ae 
1846 . . 71166 8118 61623 2628 
1849 . . 7068 7670 608 2583 
1852 . . 71267 76339 682 1350 
1855 2. 60568 79 TOLL. 2061 
1858... 76269 76110 716 4747 
1861 78210 77818 316 7177 


Im ganzen Zollverein zählte das Zollvereinsbureau 
1861 - 151451 Handftühle,? 77915 Webermeiſter 
mit 80387 Gehülfen, 940 Fabrifen und 23491 
Mafchinenftühle. Baiern, Sachſen, Württemberg, 
Baden und Thüringen find außer Preußen Haupt: 
ſächlich betheiligt. 

Die Geſchäftsorganiſation war von Anfang an 
eine andere, als bei der Linneninduſtrie. Es war kein 
althergebrachtes überall verbreitetes Gewerbe; es han⸗ 
delte ſich um Schaffung einer ganz neuen Induſtrie, 
einer Induſtrie, deren Produkte ſich einer ſteigenden 
Beliebtheit erfreuten, da ſie durch ihre Billigkeit den 
ärmern Klaſſen erlaubten, ſich beſſer und reichlicher zu 
kleiden und daneben durch die Mannigfaltigkeit der 
Verarbeitung dem Luxus der höhern Klaſſen dienten. 
Die Baumwolle war der Stoff, auf den ſich alle die 
neuen Maſchinen und Verfahrungsweiſen am leichteſten 


1) Die Zahlen der Fabriken erſcheinen wie bei der Linnen⸗ 
induſtrie werthlos; Die Abnahme von 1858 — 61 zeigt, daß 
nicht immer nach gleichen Grundſätzen gezählt wurde. 

2) Diefe Zahl iſt wieder zu niedrig, aber höchſtens um 
13008 Stühle, denn fo viel zählt das Zollvereinsbureau unter 
ben Fabriken Handſtühle. 


Statiftit und Organifation der Baummollweberei. 5683 


anwenden Tiefen; die Ausbeutung aller der Möglich⸗ 
keiten, welche dieſer Stoff — ſchon Tange der Proteus 
der modernen Imduftrie genannt — bot, mußte den 
Scharffinn der Ingenieure, der Fabrikanten, ver Kauf- 
leute in beſonderer Weiſe reizen. 

Der bloße Kaufmann, ver das fertige Probuft 
vom Weber faufte, wie im der Linneninbuftrie, reichte 
nicht aus. Auch wo zumächit die Weberei dem Hand- 
weber blieb, mußte ver Kaufmann für Das Garn forgen, 
es aus dem Auslande beziehen oder jelbft ſpinnen laſſen, 
die Vollendung der Waare, die Bleiche, die Appretur, 
die Tärberet und ‘Druderei übernehmen. Selbſt die 
einfachen Hemdenkattune, die Shirtings, finb nur ver- 
fauflich mit fabrifmäßiger fchöner Appretur. Gin großer 
Theil der Stoffe wird bevrudt verkauft. Die bunten 
Baumwollgewebe, die geföperten und kroiſirten Stoffe, 
bie Piqués, Trikots, Jakonets, die locker gewebten 
Mouffeline, die Vorbangftoffe, vielfach durch Stickerei 
verziert, die faconmirten Hofen= und Weſtenſtoffe, vie 
gemifchten halbbaumwollenen und halbwollenen Stoffe, 
die Jacquardgewebe, Möbelftoffe, Tiſchdecken, Bettveden 
und Aehnliches, die Baummwolllammte und Plüfche — 
AL das find mehr oder weniger Modeartikel, erfordern 
einen gebildeten Unternehmerjtand. 

Während jo die Natur des Gewerbes, freilich 
unter manchen harten Rückſchlägen, einen tüchtigen, dem 
Fortſchritt geneigten Fabrikantenſtand heranzog, blieb 
derſelbe in einer Beziehung doch überwiegend im alt- 
bergebrachten Geleiſe; die Weberei wurde nicht mit den 
übrigen Prozeduren in großen Etablifjements vereinigt, 

36 * 


564 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


ſondern blieb Hausweberei; fat nirgends jo, Daß die 
Weber als felbftändige Unternehmer Garn gefauft und 
das Gewebe an die Fabrifanten verfouft hätten, fondern 
fo, daß fie die Garne nebſt Mufter und Anweifung 
erhielten, um beftimmten Lohn webten. Die Vermitt⸗ 
Yung des Faktors wurde dadurch in der Baumwoll⸗ 
weberei noch viel häufiger, als in ber Leineweberei; alle 
Mißſtände dieſer Geſchäftsorganiſation zeigten fich bier in 
faft noch grellerem Lichte, als bei ber Linneninbuftrie. 

In England Hatte fich für alle einfachern Gewebe 
der Uebergang zum Maſchinenſtuhl ſchon in den zwanziger 
und dreißiger Jahren vollzogen, in Verbindung freilich 
mit entſetzlicher Noth unter den Handwebern. Im 
Deutfchland hatte man faum Kapital genug, für bie 
fonftigen Einrichtungen; die direkte Konkurrenz der eng- 
liſchen Mafchinenjtühle war durch die Schußzölle abge- 
halten. ‘Der Ueberfluß der ſich anbietenden Hand— 
weber war jo groß, der Preis zu dem fie fich anboten 
fo niebrig, Daß von einem Webergang zu Maſchinen⸗ 
jtühlen nicht die Rebe fein konnte. Die zahllofen ver- 
armten Leineweber in Schlefien, in Sachien, am Rhein 
waren froh, bier wenigſtens wieder Beichäftigung zu 
finden. Die raſche Bevölkerungszunahme in den Weber: 
piftriften hielt das Angebot Arbeitjuchenvder auf einer 
ſtets bebenflichen Höhe. 

Der Lohn eines Baumwollwebers war in ven 
zwanziger Jahren im Boigtlande und im fächfifchen 
Erzgebirge nicht über 2 Gr. täglich." In Schlefien 


1) Gülich DI, 489, 





Die fchlechte Lage des Handwebers. 565 


fonnte der Lohn nicht höher fein, als im der Leine: 
weberei, auch alle die übrigen traurigen Folgen, bie 
betrügerifchen Geſchäftsgewohnheiten, das niedrige geiftige 
Niveau, der Volkscharakter diefer Bevölkerung, wenn 
ich fo jagen darf, übertrug fich von der Leine- auf vie 
Daummollweberei. | 

Bon Anfang der dreißiger Jahre bis 1836 und 37 
erfolgte die große Zunahme der Baummwollinvuftrie, bie 
Löhne bejierten jich etwas. Dann folgte der Rückſchlag 
von 1837— 41; in Mancheiter jtanden damals ja 1000 
Häufer Teer, über 10000 Familien waren brotlos, in 
ganz Lancafhire etwa 400000 Menfchen ohne Beichäf- 
tigung. * ‘Der jächfiiche und ſchleſiſche Kattunweber war 
1840 zufrieden, wenn fich ſein Wochenverdienft einem 
Thaler näherte, und Wief, der dies mittheilt, meint 
Damals, die Majchinenmweberei werde wohl nie in 
Deutjchland fich ausbreiten, denn die Dinge lägen in 
England, wo die Majchinen jet zumähmen, total 
anders, der einfache Handweber erhalte dort min- 
deſtens wöchentlich 4 Thaler. ? 

In Chemnig,? einem ber Hauptſitze der deutſchen 
Baummollmeberei, hatte man bisher faft nur einfache 
Kattune gefertigt. AS ver Lohn Hierfür immer ſpär⸗ 
liher wurde, ging man zu den Ginghams, den Bunt- 
waaren über. Die Ginghams — jagt der Bericht- 


1) Grothe a.a.D. D. V. T. Sch. 1864. Heft 2. ©. 111. 

2) Wiek, induftrielle Zuftände Sachſens ©. 29. 

3) Siehe die eingehende Geſchichte ver Chemniter Gewebe: 
induſtrie im Handelskammerbericht für 1863, S. 91 ff. 


566 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


erftatter der Chemniter Handelskammer — gaben in 
Chemnig und der Umgegend lange Zeit vielen Hänven 
Beichäftigung, bis in Folge brüdender Konkurrenz die 
ohne auf ein Minimum berabjanfen, kaum ausreichend, 
zur Beltreitung der bringlichiten Lebensbedürfniſſe. 
Dann ging man zu den gemijchten Stoffen, Meubles—⸗ 
itoffen, SIacquardgeweben über, in welchen Gebieten 
man wieder etwas höhere Löhne zahlen konnte; in 
neuejter Zeit (von 1860 an) hat aber auch das mehr 
und mehr (al8 Handarbeit und Hausinbuftrie) aufge: 
bört; „der Grund der Abnahme ift darin zur fuchen, 
daß bei ven verhältnißmäßig niedrigen Löhnen (von 
1, Thlr. wöchentlich bis 4 Thlr.) und bei ver bebeu- 
tenden Vertheuerung aller Lebensbedürfniſſe die jungen 
Arbeitskräfte fich denjenigen Induſtriezweigen zugewendet 
baben, bei welchen höhere Löhne zu erreichen find.“ 

Ein Hauptübelftand für die moraliichen BVerhält- 
niffe, für Die ganze Lebenshaltung der Handweber 
liegt in den oben jchon erwähnten wechielnden Kon 
junfturen; eine Zeit lang glänzender Verdienſt, dann 
Monate und Jahre Yang wieder eine Noth, welche 
zwingt, mit dem erbärmlichiten zufrieden zu jein. 
Solcher Wechjel führt dahin, Daß auch in den befjern 
Zeiten nicht geipart, ſondern nur gejchlemmt wird, 
er depravirt die Weberbevölferung. Solcher Wechiel 
trägt außerdem vor allem dazu bei, die Handarbeit 
zeitweilig wieder unnatürlich zu halten und auszu— 
dehnen. 

Nach ver Noth der vierziger Jahre mußte man 
die Handweberei für alle einfachen Gewebe jchon für 


Die zu lange Erhaltung der Handweberei. 567 


ganz verloren halten, zumal in der Baumwollweberei. 
Da gab die außerorbentliche Nachfrage, die glänzende 
Steigerung des Erports nach Amerifa von 1851 — 57 
und wieder von 1858 — 61 den Preifen und Löhnen 
eine jolche Wendung, daß der Handweber wieder 
exijtiren zu können glaubte; ftatt ausſchließlicher Aus⸗ 
dehnung der Maſchinenweberei, die theilweile ja auch 
erfolgte, beichäftigte man wieder zahlreich Die mit dent 
geringſten Lohn zufriedenen Handweber und veranlaßte die 
Eltern, ihre Kinder wieder dem Gewerbe zu widmen; viele 
Leineweber gingen auch jet wieder zur Baumwollweberei 
über. Man Tieß Artifel aufs Neue bei Handwebern 
fertigen, die längjt der Mafchine verfallen waren. Selbit 
der einfachlte Kattunweber Fam damals in Württemberg 
wieder auf etwa 34 Fr. täglich (d. h. beinahe 10 Gr.), 
der Jacquardweber auf 50, der Korfettweber auf 60 Kr.! 
Auch in Sachſen nahmen in Folge hiervon die Hand⸗ 
ftühle (theilweite freilich waren e8 Zritt- und Jacquard⸗ 
ftühle) von 1846 — 61 fo fehr zu: von 17739 auf 
31508, die Majchinenftühle von 150 auf 1418, 
Schon damals warnte der Einfichtige, es könne das 
nicht auf Die Dauer jo bleiben. „Beſondere Konjunkturen 
bes Marktes,” ruft Mährlen 1858, „exempte Betriebs - 
und ökonomiſche Verhältniffe der Unternehmer und Lohn⸗ 
weber mögen es eine Zeit lang der Handarbeit möglich 
machen, mit der Mafchinenarbeit auf dem gleichen Pro- 
duftionsgebiet zu konkurriren — von Dauer ift ein jolcher 


1) Mährlen, Darftellung und Berarbeitung der Gejpinnfte 
©. 142. 


568 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Zuftand nie, da er gegen die Natur der Dinge 
ftyeitet. Weber kurz oder lang macht die Maſchine 
ihr Mebergewicht geltend und reißt ihr natürliches 
Recht an ſich.“ 

Und fo war e8 natürlich, der Rückſchlag beganın 
ſchon etwas 1858, vollends 1862 mit der Baumwoll⸗ 
kriſis und dem geftörten Export nach Amerifa. Die 
Anfang der ſechsziger Jahre in den amtlichen Kreis- 
beichreibungen erhobenen Xöhne,? waren täglich 4 — 5 ©r. 
in Hirſchberg, 3— 4 Gr. in Glatz (Regierungsbezirk 
Breslau), 5, — 6 Gr. in Kösfeld (Weſtfalen). Zahl⸗ 
reich gingen nun auch die Kattun- und Neffelmweber 
zu andern Gewerben, zur gemeinen Tagelohnarbeit 
über. 2? Die Konkurrenz ver Mafchinenarbeit zeigte 
fich jeßt natürlich mehr als je, fowohl in andern Län- 
dern, als im Zollverein ſelbſt. Berechnete Meährlen 
‚doch ſchon 1858, daß durchſchnittlich der Mafchinenftuhl 
von den in Württemberg fabrizirten Geweben Die Eile 
zu 9 Kr., ver Handſtuhl aber die Elle zu 14 Mr. 
liefert.ꝰ 

In Großbritannien hatte man ſchon 1835-109 626 
Powerlooms für Baummollartifel gezählt, 1856 betrug 
ihre Zahl gegen 300000. Die Weberei hat fich Eon- 
zentrirt wie Die Spinnerei; meift ift dort Spinnerei und 
Weberei nicht ohne Vortheil in denjelben Etabliffements 


1) Zeitichrift des preuß. flat. Bür. IV, 128. 

2) Jahrb. für die amtl. Stat. II, 346. Biebahn III, 926. 

3) Mährlen, Darftellung und Verarbeitung der Geſpinnſte 
©. 87. 





Die Konkurrenz ber Mafchinenweberei. 569 


verbunden. In Sranfreich exiftirten 1855 etwa 50 000 
mechaniiche Webftühle, 1867 aber ſchon 80000. ? 

Selbſt die große Schweizer Baumwollweberei, deren 
Vebergang zur Maſchine lange auch durch die billigen 
Löhne aufgehalten war, ift jet in rapidem Uebergang 
hierzu begriffen. Man zählte. 1867 gegen 13000 
Maſchinenſtühle. Die daneben noch zahlreichen Hand- 
weber (hauptſächlich in St. Gallen noch vorherrichend) 
arbeiten vor Allem die bunten Stoffe, die Ginghams. 
Aber ſelbſt diefer Artikel fängt wie in Sachlen an, auf 
den Mafchinenftuhl überzugeben. 

In Preußen hatten die Majchinenftühle 1846 erjt 
3,17 0) betragen. Bon 1855 — 61 fand, wie Die obige 
Zabelle ausweift, eine nicht unbedeutende Zunahme ſtatt; 
die Pomwerlooms machen 1861 - 9, %, der Gefammtzahl 
aus. Die Zunahme ift aber jehr verjchieden je nach 
den Provinzen; fie war auch in andern Ländern ftärker 
als in Preußen, wie die folgende Tabelle zeigt, welche 
je die Gefammtzahl ? der Stühle mit den Mafchinen- 
ftühlen vergleicht. Von den andern beutichen Ländern 
führe ich nur die an, in welchen die Baumwollweberei 
bon größerer Bedeutung ift. 


1) Oeſtr. Ausftellungsberiht Band IV, 25. 

2) Bei den preußifchen Provinzen ift als Geſammtzahl 
die Summe der gehenden Webftühle (Spalte 50 der Aufnahme- 
tabelle), bei den andern Staaten die Summe dieſer, nebit ber 
bei den Fabriken gezählten Hand» und Mafchinenftühlen (Spalte 
50, 87 u. 88) angenommen, wie das nad meinen obigen Aus⸗ 
führungen nothwendig ift, 


572 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


fhritte gemacht haben, wo fie den Sinn dafür und 
Geld oder Krevit Hatten, fich beifere Stühle, Tritt-, 
Jacquard⸗ und Korfjettftühle anzufchaffen, wo fich weitere 
Arbeiten, wie die Vorbangftielerei, mit der Weberei 
verbunden haben, wo Alles das durch einen noch vor- 
bandenen feinen Haus- und Landbeſitz ver Weber 
begünftigt wurde, da hat fich die Hausweberei bis jekt 
erhalten und wird fi auch in Zukunft in ziemlicher 
Ausdehnung noch halten. 

Leider ift das nicht überall, in den meiften deutſchen 
Weberdiſtrikten ſogar nicht der Tall. Leider trat in 
Schlefien, in der Lauſitz, im bairiſchen Voigtlande zu 
einem großen Theile der umgekehrte Fall ein. Man fing 
an, — weil man ven Webern das foftbare Material 
nicht anvertrauen wollte, von ihnen nicht die gehörige 
Sorgfalt der Ausführung erwartete, fie die Stühle 
nicht bejaßen, — alle feinern und beflern Gewebe in ver 
Fabrik, nur die gemeinern orten noch außer dem 
Haufe weben zu laſſen. Wo das geichah, war e8 auch 
natürlih, daß man die tüchtigern Leute mit höherem 
Lohne in die Fabrik nahm. Die ungeſchickten, unfähigen 
blieben Hausmweber — aber Hausweber für Artifel, die 
nur allzubald ver Mafchinenmweberei anheimfielen. ine 
jolde Hausinduftrie mußte bald einer noch größern 
Zohnherabfegung und endlich ihrem völligen Ruin ent- 
gegen gehen. 


1) Vergl. Zeitfehrift des ſächſ. ftat. Büreaus 1863, ©. 36. 
Dort wird die ganze Entflehung geichloffener Etabliffements vor 
ber Zeit der Mafchinenmweberei jo erklärt. 


Die mögliche Erhaltung der Hausinduftrie. 573 


In einzelnen Zweigen der Baumwoll⸗ wie anderer 
Sewebeinduftrien mag die fpezielle Technik diefen Weg 
vorgezeichnet haben, in der Hauptjache aber wurde ber 
eine ober der andere Weg der Entwiclung vorgezeichnet 
durch Die technifche und fittlihe Bildung der Weber, 
durch die rechtzeitige Anbahnung von technifchen Tort- 
ichritten, durch eine Erziehung der Weber zu einer Zeit, 
da die Noth fie noch nicht auf bie tiefite Stufe Des 
Proletariats herabgebrüdt hatte Ganz die gleichen 
Momente fommen bei der Möglichkeit einer Ausdehnung 
des Aſſoziationsweſens in Betracht, vor der ich lieber 
erft unten im Zuſammenhang ſpreche. 

Zunächſt will ich nur wenige Worte noch über die 
Bleichereien, Appreturanftalten, Tärbereien und Kattun- 
druckereien anhängen. 

Eine genaue Statiftif über dieſe Hülfsgewerbe der 
Weberei gibt e8 freilich nicht. Ein Blid auf die amt- 
lichen Tabellen zeigt, wie werthlos fie im Ganzen find; 
die Abgrenzung von Handwerk und Fabrik, die Ver: 
bindung mit andern Geſchäften macht die Zählung bier 
jo Ichwierig, führt bei jeder Aufnahıne wieder zu anderer 
Behandlung, fo daß die Zahlen kaum irgend brauchbar 
zu einer DVergleichung find. Ich hebe auch nur die all- 
gemeinſten Rejultate hervor. 

Die Handwerfsmäßigen Bleicher, Kalanderer ꝛc. 
haben in Preußen von 1849 — 61 von 979 Meiftern 
auf 732, von 1051 Gehülfen auf 873 abgenommeı. 
Die Runftbleichen und Appreturen haben technifch große 
Fortſchritte gemacht, die großen Gefchäfte haben alle 
die neuen chemischen Hülfsmittel, die Kalander⸗ und 


574 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Walzenmaſchinen eingeführt; ihre Zahl, wie die beichäf- 
tigten Perjonen baben aber abgenommen; man zählte 
in Preußen 1849 - 385 mit 1990, 1861 - 251 mit 
1792 Arbeitern. 

Bon den handwerksmäßigen Tärbern und ihrer 
Abnahme habe ich fchon oben geiprochen. Die fabrik- 
mäßigen Stüdfärbereien wurden in Preußen bis 1858 
mit den Garnfärbereien zufammen erhoben; erft 1861 
find fie befonders gezählt und umfaffen 1077 Anstalten 
mit 9429 Arbeitern. 

Die Rattundrudereien, jowie die Drudereien aller 
Art, waren mehr noch als handwerksmäßiges Gewerbe 
beſonders während der Stontinentaliperre aufgeblüht, 
waren dann aber ver engliichen Konkurrenz wieber 
. faft erlegen." Die Handdrucktiſche und vie bölzer- 
nen Druckmodel berrichten noch durchaus vor. Im 
ven Sahren bi8 1839 fand mit dem Aufſchwung ver 
Baumwollinduftrte nochmal eine Zunahme hauptſächlich 
von Heinen Geichäften ftatt. Unterdeſſen Hatten fich in 
England und Frankreich die Walzendruckmaſchinen, die 
Perrotinen, die Majchinen zur Herjtellung der Druck 
walzen verbreitet. Die ftarfe englifche Konkurrenz 
erbrüdte in ben vierziger Jahren die Eleinen unvoll⸗ 
fommenen Geſchäfte; die größern Geſchäfte, die ſich 
hielten, machten die Fortjchritte mit, und gegenwärtig 
jteht die zolfvereinländifche Druderei mit dem Auslande 
auf ziemlich gleicher Höhe, nachdem fie fich weſentlich 


1) Biel, ©. 161 ff.; Degentolb, ©. 48. 


Die Färbereien und Kattundrudereien. 575 


fonzentrirt bat, wie man aus ben folgenden Zahlen 
ſieht; mar zählte in Preußen: 


1340 . . . 1115 Drudereien mit 5.656 Arbeitern 
1843 . . . 1015 ⸗ 4826 ⸗ 
1846... 520 ⸗ 53528 ⸗ 
18349 ... 552 „ . 4856 ⸗ 
1852 . . „ 552 ⸗ 4704 ⸗ 
1855... 479 ⸗ 4705 ⸗ 
1858 ... 432 ⸗ 24508 ⸗ 
1861 369 ⸗ s  4%08 ⸗ 


Der ganze Zollverein zählte 1861-640 Anſtalten mit. 
362 Druckmaſchinen, einfchließlich der Perrotinen, mit 
3309 Drudtifchen, welche hauptfächlich noch in Sachfen 
und Thüringen zahlreich find, und mit 9 264 Arbeitern. 
Auch hier haben fich wenige große Fabriken an Stelle 
der zahlreichen früheren Heinen Gejchäfte gejekt. 


9. Die Wollweberei im Großen, die Seiden-, die 
Band- und die Strumpfweberei. 


Die Zunahme der deutſchen Wollinduſtrie und des deutſchen 
Erports. Preußiſche Statifiil von 1816 — 61; zollvereins- 
ländifche von 1861. Die Organifation der Tuh- und Kamm⸗ 
garnwaareninduftrie. Die großen geichlofjenen Etabliffemente. 
Die Möglichkeit für Heine Geſchäfte, bei richtiger Organifation 
für den Abſatz im Großen zu arbeiten. Die genoffenfchaft- 
lihen Spinnereien, Walken und Webereien. Beifpiele aus 
England und Deutſchland. Die Bedingungen des Entftehens 
und ber Blüthe der Genoflenichaften. — Die deutiche Seiden⸗ 
indnfirie. Preußiſche Statiſtik von 1816 — 61; zollvereins⸗ 
ländifhe von 1861. Das Ueberwiegen bes Handſtuhls und 
der Hausinduftrie. Ein Wort über Shawl- und Teppid- 
weberei. — Die Bandweberei und die Pofamentierarbeiten. Zur 
Geihichte der Technik. Die preußiihen Pofamentiergefchäfte 
1816 — 61. Die unfidern ftatiftifchen Ergebnifie über Die Band⸗ 
weberei. Das ſächſiſche Polamentiergewerbe. — Die Strumpf- 
wirferei. Die preußifche Statifti. Die Apoldaer Strumpf- 
wirkerei. Die ſächſiſche Strumpfwirkerei. Ihre Zunahme und 
Blüthe der Hausinduftrie; ihre Schattenfeiten. Die Krifis feit 
1862 unb die neuen Mafchinen. Die theilmeife Beflerung 
1865 — 66. 


Nachdem die große Linnen- und Baumwollweberei 
im letzten Abſchnitt ziemlich ausführlich beſprochen ift, 
bleibt mir für dieſen Abjchnitt übrig, zuerſt über bie 
Wollweberei im Großen und im Zuſammenhang hiermit 


Die Wollweberei. 577 


über genoffenichaftliche Weberei einige Worte zu fagen, 
um dann noch auf einige Zweige der Weberei einzu- 
geben, beren handwerksmäßiges Vorkommen ich oben 
noch nicht näher beiprochen babe, weil ich über fie an 
ſich fürzer fein wollte; ich meine die Seivenweberei , die 
Bandfabrikation ımd die Strumpfwirkerei. 

In der obigen Beiprechung der Wollfpinnerei ſowie 
der handwerksmäßigen Wollweberei ift der Gang, den 
die große Weberei genommen bat, im Allgemeinen ſchon 
bezeichnet. Sch muß hier aber nochmals von dem Stand- 
punft der Induftrie zu Anfang des Jahrhunderts aus- 
geben. Es gab damals in Preußen, in Sachſen, am 
Rhein zahlreiche Heine Gefchäfte, welche, ähnlich wie bei 
der Linneninduftrie, durch Vermittlung von Kaufleuten 
für den Erport arbeiteten. Ihre Zahl war bejonders in 
Schlefien, Pojen und Brandenburg groß, der Abjag 
ging nach Rußland. Der härtefte Schlag der fie traf, 
war die Einführung der prohibitivartigen Zölle in Ruß—⸗ 
land. Bon 1818 — 28 follen gegen 250000 Deutſche 
nach Polen ausgewandert fein, welche nur durch das 
ruſſiſche Zollſyſtem dazu gendthigt wurden, und von 
welchen die Zuchmacher einen bedeutenden Theil aus- 
machten? Trotzdem ftieg die jährliche Produktion von 
Wollwaaren in Preußen von 1806 —31 nach Dieterici 
von 13%, auf 25. — 27 Mill. Thlr. Noch glänzenver 
ift der fpätere Aufichwung der großen Induftrie. Die 
Einfuhr blieb fich jo ziemlich gleich; es iſt darunter aber 
durchſchnittlich nur 1%, Tuche, der Reſt füllt auf Kamm⸗ 


1) Gülich DI, 470. 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 37 


578 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


garnartifel. Dagegen. hat ſich Die zollvereinsländiſche 
Ausfuhr von Anfang der vierziger Jahre bis Anfang 
der ſechziger Jahre auf den 4 — dfachen Betrag dem 
Gewicht nach geboben. Im Durchichnitt der Jahre 
1860 — 64 hatte ver Zollverein eine jährliche Mehrein⸗ 
fuhr von roher Wolle und Wollgarn im Werth von 
31 Mil. Thlr., dagegen eine Mehrausfuhr von Woll- 
geweben im Werth von 44 Mill. Thalern ! (bei einer 
jährlichen Totalausfuhr von 50— 60 Mill. Thalern). 
Dem entſprechend iſt auch die Bunabme in ver 
Gejammtzahl der preußiſchen Webftühle, der Ruin ver 
hanpiwerfsmäßigen Gefchäfte von 1840 — 55 ift barın, 
wegen der fie mehr als erjeßenden Zunahme der großen 
Etabliffements, gar nicht erfichtlih. Man zählte: 





; Fabriken f. andere 
Tuchfabriken wolle Stoffe. 





Geihäfte| Stükie Seite] — 





1858 | 30019 34 170 


716 

751 

892 

652 

1052 

1861 | 33273 36 867 1826 


208 301 
798 295 
1852 | 28643 35597 | 819 388 286 
796 297 
650 316 
505 | 1877 136 


1) Bienengräber ©. 227 — 231. Nah Hanfemann, bie 
wirthſch. Verhältniffe des Zollvereins, S. 77 und 84, beträgt 


Die Zunahme der Wollweberei im Großen. 579 


Das Zollvereinsburenu zählt 1861 für den ganzen 
: Zollverein 67 343 gehende Webftühle mit 31 310 Mei- 
ſtern und 51645 Gehülfen, 1067 Quchfabrifen mit 
2592 Majchinenftühlen und 11818 Handftühlen, 622 
dabrifen fir andere Wollwaaren mit 3655 Mafchinen - 
und 9068 Hanbftühlen. Die Gefammtzahl der Stühle 
würbe fich auf etwa 78000 ftelfen, wenn wir bei den 
nichtpreußifchen Staaten die mit den Fabriken gezählten 
Stühle der Hauptſumme zufeßen. 

Wenn in Preußen 1861 auf 33273 gewerbsmäßig 
gehende Stühle überhaupt noch 10771 Webermeifter 
und 26096 Gehülfen, zujammen 36 868 Perſonen, 
gerechnet werden, jo könnte man verfucht fein zu glau- 
ben, dieſe große Zahl Meifter und Gehülfen beveute, 
da es jelbitändige Keine Tuchmachergeſchäfte in ver 
Hauptfache nicht fein Finnen, eine blühende Hausinduftrie; 
aber dem ift micht fo, es find das überwiegend Ber- 
jonen, welche in Sabrifen arbeiten, wie man durch einen 
Blick auf die Spezialtabellen fieht. Im NRegierungs- 
bezirk Aachen kommen auf 930 Webermeifter 5 349 Ge- 
hülfen, im Regierungsbezirk Frankfurt auf 1163 Meijter 
6 602 Gehülfen. Es find dieſelben Perfonen, welche 
unter den Zuchfabrifen nochmals gezählt find. Im 
Sadjen freilich und den andern Staaten, wo die mehr 
befprochene Doppelzählung nicht ftattfand, iſt es etwas 


der jährliche Export pro Kopf der Bevölkerung von 1856 — 60 
an Tuh aus dem Zollverein. 0, Thlr., aus England O,ss, 
aus Belgien 1,53, aus Franfreih O,,, am ſämmtlichen Woll- 
waaren bagegen aus dem Zollverein 1,97 Thlr., aus England 
2,55, aus Belgien 1,o;, aus Franukreich 1,0, Thlr. 

37* 


680 Die Umbildung einzelner Gemwerbszweige. 


anderes. Da deutet eine beveutende Zahl Wollweb- 
meifter, welche sub. II. A. Rubrik 57 — 58 der amt- 
lichen Zabellen aufgeführt find, auf Iofale Gefchäfte 
oder Hausinduftrie. Bon Bedeutung find folche außer⸗ 
halb ver Fabriken arbeitende Wollwebmeifter aber auch 
nur in Sachſen und Thüringen; da iſt alfo 1861 auch 
die Wollweberei noch vielfach Hausinbuftrie. 

Im Ganzen ift aber in der Wollweberei die Haus- 
industrie mehr verdrängt, als in irgend einer andern 
Spezialität der Weberei. Die Anfertigung von Kamm⸗ 
garnartifeln iſt überdieß ziemlich jung im Zollverein, 
die zur Tiefernden Artikel‘ erfordern einen hohen Grab 
von technifcher Vollendung, das englifche Vorbild zeigte 
faft nur ganz große Gefchäfte.! Die Mafchinenftühle 
des Zollvereins find in diefer Branche auch ſchon zahl⸗ 
reicher (3655, davon 1391 auf Sachen) als in ber 
Zuchfabrifation (2592, davon nur 506 auf Sachien). 

In der Tuchweberei wurde die Aufftellung dev Web⸗ 
jtühle in ven geichloffenen Etabliſſements ſelbſt auch 
ichon frühe üblich. Viele große heute wohlhabende Tuch⸗ 
fabrifanten ? haben fich vom Heinen Meifter ſelbſt herauf⸗ 


1) In der Kammtwollinduftrie (worsted -Artifel) Liegt ber 
Schwerpunkt der engliſchen Wollwaarenfabrifation; in ihr hat 
auch der Majchinenftuhl und das Fabriffuftem ſeit 1836 —40 
vollſtändig geſiegt; die Ausfuhr dieſer Artikel hat außerordentlich 
zugenommen in England, ungefähr in eben dem Maße, als bie 
Ausfuhr von Tüchern zurädging; vergl. Ausftellungsbericht von 
1851 II, S. 4— 617. 

2) Bon Sachſen jagt die Zeitichrift des flat. Bureaus 1860 
©. 135: „Die Inhaber faft aller großen Tuchfabrifen find 
urſprünglich Tuchmachermeifter und Innungsmitglieder.” 


Der frübe Sieg der großen Etabliffemente. 581 


gearbeitet, Haben nach und nach einen Stuhl nach dem 
andern aufgeftellt. Der Sig der großen Tuchinduſtrie 
ijt nicht oder nicht vorwiegend, wie der Sitz der großen 
Linneninduſtrie, an den Orten, wo von altersher zahl- 
reiche Weber waren, die man hätte beichäftigen können. 
Die Zabl der Stühle it überhaupt geringer, als in der 
Linnen- und Baummwollinduftrie. Wer die Fortichritte 
mitmachte in ver Tuchinduſtrie, erzielte veichliche Gewinne, 
welche die Ausdehnung der Etablifjements erlaubten, 
und es galt in ven Geſchäftskreiſen für ganz unzweifel- 
haft, daß die Blüthe der deutſchen Tuchinduftrie von 
dem Uebergang zu größeren geichlofienen Etabliffements, 
von der Verbindung des Färbens, Spinnens, Webens, 
Walkens, Scheerend und Appretireng in einem und 
demſelben Lokale abhänge.! Viel umwejentlicher war 
dem gegenüber die ſukzeſſiv eintretende Ausdehnung des 
Maſchinenſtuhls. Die Maſchine machte ja auch bier 
FSortichritte, aber langſame; noch heute arbeiten viele 
Tuchfabriken erjten Rangs mit Handſtühlen. Die Leiftung 
des Mafchinenftuhls tft gleichmäßiger und kann ſich täg- 
lich auf eine längere Zeit erſtrecken; aber abgejehen hier- 
von ift fie kaum größer. Nach Mährlen’s Aufnahme 
von 1858 35.3. ijt die tägliche Durchſchnittsleiſtung der 
württembergiichen Dafchinenjtühle 10,, Ellen, während 
er als Durchichnittsleiftung der Handſtühle im Ulmer 
Kammerbezirk 10, Ellen, im Durchichnitt des ganzen 
Landes allerdings 8, Ellen anführt. Wenn die Ma- 
fchinenftühle von 1861 bis zur Gegenwart noch ziemlich 


1) Siehe oben S. 523; Hanſemann, ©. 73 ff. 


582 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


zugenommen haben, jo Haben fie doch Dadurch Die Hand⸗ 
arbeit in den Zabrifen jelbft kaum beeinträchtigt. Ich 
fenne Zuchfabrifen, in welchen neben den Mafchinen- 
jtühlen Handftühle geben, auf welchen ver Arbeiter mit 
Leichtigfeit täglich einen Thaler verbient. 

Das Charakteriftiiche der großen Betriebe ift fo, wie 
gejagt, nicht der Maſchinenſtuhl, fondern Die Vereini⸗ 
gung aller Hülfsgewerbe, die böchite Ausbildung biefer 
in einheitlichen gefchlojjenen Etablifjements. Aber es 
ift hiegegen doch ſchon eine Art Reaktion eingetreten, 
wie Staatsratb Hermann bereit8 1851 bemerkt, wenn 
er jagt: „Es waren die ganz großen Geſchäfte, welche 
bie Tuchmanufaktur Deutichlands auf ihre jekige Höhe 
gehoben haben. Aber gerade bei der Bereinigung aller 
Zweige der Fabrikation und des Abſatzes in einer Hand 
fommt der Unternehmer endlich am einen Punkt, imo 
die Beauffichtigung der vielen verichievenen techniſchen 
Arbeiten und die Belorgung des Abjates jo umfangreich 
und Tomplizirt wird und jo viele Koften verurfacht, daß 
der Gelammtertrag der Fabrik Leicht Heiner ausfällt, 
als bei mäßigerem Umfang der Hauptgejchäfte ver Tall 
gewejen. Damit ift dann die Theilung der Geſchäfte 
durch Das eigene Intereſſe der Fabrikanten geboten.“ 

. Diefe Theilung kann darin befteben, daß die Fa⸗ 
brikanten ihr Garn wieder außer dem Haufe weben 
lafien, wie das in Sachjen niemals ganz aufgehört 
bat, auch in Aachen! noch theilweiſe üblich if. Oder 
kann fie darin beftehen, daß das Spinnen und die Her- 


1) Jahrbuch für bie amtl. Statift. II, 328. 


Die Heinen engliſchen Zuchmacher. 583 


ftellung vober Gewebe Sache des kleinen Tuchmachers 
bleibt, das Scheeren und Appretiren jowie der Vertrieb 
der Waare dem Fabrifanten bleibt. 

Das ift die in England, bejonvers in Leeds und Um⸗ 
gegend noch Heute allgemein übliche Geichäftsorgani- 
fation. Baines erzählt 1859 von ihr: „Vor einigen 
Jahren glaubte man, die großen Tabrifen würden durch 
die Macht des Kapitals, durch die Macht der Mafchinen 
und die Zeiterfpamiß das alte Syſtem ver häuslichen 
und ländlichen Manufaktur volljtändig zerftören. Aber 
fie haben das Syſtem nicht wejentlich alterirt. Der 
Hauptgrund wurde jchon erwähnt, er liegt in der Eigen- 
thünmlichleit der Wollinduftrie, dem Powerloom feinen 
beveutenden Bortheil über den Handſtuhl zu geben. 
Dennoch hätte die Häusliche Manufaktur unterliegen 
müfjen, hätten nicht die Tuchmacher die Mafchine für 
diejenigen Prozejje zu Hülfe gerufen, in welchen fie eine 
unzweifelbafte Weberlegenheit über die Handarbeit bat, 
d. h. für die Vorbereitung ver Wolle und das Spinnen. 
Sie vereinigten fih, Altienfabrifen zu errichten, wohin 
jever Theilbaber jeine eigene Wolle bringt und fie rei- 
nigen, färben, ftreichen und fpinnen läßt; dann wird 
Kette und Einſchlag wieder in das eigene Haus oder 
die eigene Werfitatt gebracht und auf dem Handſtuhl 
verwebt, oft durch die Mitgliever ver Familie; das 


1) Siehe Beichreibungen: Zollvereinsblatt 1844, ©. 33 
bis 36; Journal of the stastical Society 1859, &. 1— 34: 
Baines on the woollen manufacture of England, fpeiell 
©. 29 — 30; Oeſtr. Ausftellungsbericht von 1867, Band IV, 
S. 94. 


584. Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Tuh wird bierauf in ver Fabrik gewalkt, gewaſchen 
und geſtreckt und enbfich in fog. rohem Zuftande (balk 
state) nach Leeds gebracht und verkauft; vollendet wird 
e8 burch die QTuchbereiter (Dressers) nach der Beftel- 
lung der Kaufleute. Diele diefer gemeinjamen Fabriken 
find gut verwaltet und zahlen ven Theilnehmern Hobe 
Dividenden. Sie arbeiten nach Auftrag auch für andere 
als für die Aktionäre. Die Zuchmacher finden fo durch 
Fleiß und Sparſamkeit fich in der Lage, mit ven großen 
Fabrikbeſitzern zu konkurriren, deren große Werke und 
komplizirte Maſchinen große Ausgaben mit ſich bringen.“ 
Es iſt eine glückliche Berbindung von ſelbſtändigem 
Kleingewerbe, Aſſoziation und fabrikmäßigem Abſatze. 
Zu einem kleinen Theile haben wir auch in Deutſch⸗ 
land ähnliche Verhältniſſe. Schon in den vierziger 
Jahren bildeten ſich an Orten mit einer großen Anzahl 
Zuchmachern größere Spinnereien, welche für fie um 
Lohn arbeiteten und fie jo zumächit hielten.! Auch voll- 
ftändig modern eingerichtete Appreturanftalten mit Walk⸗, 
Rauh⸗, Zylinderſcheer⸗ und Bürſtmaſchinen als eigene 
Geſchäfte bildeten ſich, wo eine Reihe Tuchmacher und 
kleiner Fabrikanten fie um Lohn beichäftigten.? Der 
Ankauf roher Tuche von den Hleinern Zuchmachern durch 
größere Fabrifanten, um die Waare zu vollenden und 
in den Handel zu bringen, ift in Schlefien, in ber 


1) Siehe die Beichreibung der Hersfelder Tuchmanufaktur 
in dieſer Zeit, Zollvereinsblatt 1845, ©. 91. 

2) So 3.8. in Kalw (Württemberg), Dörtenbach, 
tbeilungen über Gewerbe und Handel in Kalw. Kalw 1862. Fr 6. 


er — TTS - — —— on 


Die Erhaltung der Tuchmacher durch Affoziationen. 585 


Mark, auch in Sachſen nicht ungewöhnlich; beſonders 
für Militärtuche ift Diefe Art der Arbeitsteilung im 
Preußen üblich.“ Aber auch eigentliche Aſſoziationen 
find vorhanden; am zablreichiten wohl in Sachſen. 
Schon 1860 wird berichtet: *.,, An manchen Orten, wie 
Roßhain, Großenhain, Leisnig, Kamenz bat fich neben 
größern Etabliſſements der genoffenfchaftliche Betrieb 
entwickelt, indem, abgejehen von den fait überall vor- 


handenen Innungswalken, fich (mit der Innung nicht 


identifche) Genoffenfchaften von Meiftern zu gemein- 
ſchaftlichem Betrieb der Spinnerei und Appretur ver- 
einigt haben.” Doch haben auch die Innungen tbeil- 
weile die Anregung gegeben; die Tuchmacher und Weber: 
innungen find diejenigen, welche nach der Aufnahme von 
1860 von allen Innungen das beveutendite Vermögen 


beſitzen, und Die außer den Tleifchern (zu Schlachthäufern) 


allein dieſes Vermögen zu gewerblichen. Probuftions- 
zwecken verwendet haben. Vierzig jächfiiche Weberin- 
nungen batten damals ein Vermögen von 149000, 
19 Zuchmacherinnungen ein folches vor 59 000 Thlr.? 
Genaueres theilt ein Leipziger Bericht 1863 mit: 
„Die älteften hieher gehörigen Aſſoziationen“ — fagt 
er — „find wohl die in den Wollmanufakturſtädten 
aus den Tuchmacherinmungen hervorgegangenen, theil- 
weije über einen Zeitraum von 50 — 60 Jahren und 


1) Ausftellungsbericht von 1851, II, ©. 9. 

2) Zeitichrift des fächl. flat. Bureans 1860, ©. 135. 

3) Daſelbſt ©. 140. 

4) Jahresbericht der Handels- und Gewerbelammer au 
Leipzig 1863. ©. AL ff. 


586, Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


noch weiter zurückgreifenden Genoſſenſchaften, welche bie 
einen fabrifmäßigen Betrieb erfordernden Arbeiten bei 
der Zuchweberei, als Walfe, Tärberei, Spinnen ber 
erforberlichen Garne und die Appretur auf gemeinichaft- 
liche Rechnung betreiben, und auf diefe Weije den Hei- 
nern Zuchmachermeiftern Selbjtändigfeit und Konkurrenz⸗ 
fähigfeit verleiben. ‘Derartige Afjoziationen finden wir 
in Leisnig, wo neben ver Innungswalfe eine Alfoziation 
von 9 Genofjen zur Appretur und eine folche zur Woll- 
ipinnerei mit 3 Affortimenten beſteht. Ebenſo Hat bie 
Tuchmacherinmung zu Großenhain eine Wollipinnerei von 
3 Allortimenten, womit fie den Bedarf von 15 für fich 
arbeitenden Genofjen ſpinnt und mit 13 direkt betbeilig- 
ter Genoſſen eine Appretur, welche mit -2 Rauhma⸗ 
ichinen und den nöthigen Scheerzylindern Das Bedürfniß 
ber Betreffenden an Appretur auf ihre Erzeugniffe dedt. 
In gleicher Weile bat Roßwein mehrere Derartige 
Affoztationen zur Spinnerei mit zufammen 10 Afforti- 
menten und Dobeln eine Innungswalke.“ Im Leipziger 
Berichte für 1865 — 66 ! wird betont, Daß die mecha⸗ 
niſche Weberei immer mehr Terrain gewinne, daß aber 
auch bereits eine Genofienichaft in Großenhain eine An- 
zahl mechanifcher Stühle in einem dgzu errichteten Saale 
des der Tuchmacherinnung gehörigen neuen Hauſes auf 
geftellt Habe. Wo der mechanifche Stuhl abjolut noth- 
wendig wird, da laßt fich auch die in England ſchon 
ab und zu vorlommende Einrichtung treffen, daß von 
einer gemeinfam betriebenen Dampfmafchine die Kraft 


1) Handelsfammerberiht ©. 104. 


Deutiche Webergenoſſenſchaften. 687 


durch Transmiſſionen ganze Straßenzüge entlang in die 
Wohnungen der Heinen Weber geleitet wird.! 

Bereinzelt finden fich ähnliche Einrichtungen wie 
die füchjifchen auch anderwärts. “Die Göttinger Tuch⸗ 
macherinnung bildet eine Gewerlichaft, befitt ein grö- 
ßeres Tabrifetabliffement.? Bor Allen: find die Tuch 
macher von Sagan zu erwähnen, welche jchon 1810 
eine Walfe, 1841, nachbem die Wale abgebrannt war, 
eine vollitändige Babrif, d. h. Spinnerei, Walke und 
Appreturanftalt für 48362 Thaler, damals in ver 
Hauptfache auf Schulden bauten; 1863 waren 85 Mei- 
ſter fabrifberechtigt, die Activa der Fabrik betrugen 
288129, die Passiva 58312, das freie Vermögen 
- alio 229 817 Thlr.; in ben legten 10 Jahren hatten 
die Meifter fir 121520 Thlr. neue Maſchinen ange- 
Ihafft. ° 

Dieſe Beifpiele beweijen wenigftens, daß das, was 
jo ſehr wünſchenswerth wäre, im Bereiche der Möglich- 
feit Yiegt. Da die Frage eine ähnliche für die ganze 
Gewebeinduſtrie ift, möchte ich hier noch einige Worte 
über die Webergenofienichaften im Allgemeinen anfügen. 
Boransichiden will ich thatſächlich nur, Daß Schulze - 
Delisich in feinem Berichte von 1867 resp. 1868 
5 Webergenoflenichaften zu gemeinichaftlichen Ankauf 
bes Rohſtoffs und 9 resp. 10 eigentliche Produftiv⸗ 


1) Sar, Die Wohnungszuftände der arbeitenden Klaffen. 
Wien 1869. ©. 102. 

2) Preußiiche Hanbelsfammerberichte pro 1867, ©. 666. 

3) Jacobi, die Fabrik der Tuchmacherinnung zu Sagan, 
Zeitjchrift des preuß. flat. Bureau’s 1864, S. 205 — 208. 


588 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


genofjenichaften anführt; es find Baummoll- und Leine 
weber, Zuchmacher und Shawlweber darunter. Ein 
wejentlicher Fortichritt findet nicht ftatt; chen in Dem 
Bericht von 1863 zählt er 10 Weberafioziationen für 
gemeinsamen Einkauf oder gemeinfame Produktion auf. 
Außerdem find mie nur noch eine Anzahl ſächſiſcher 
Genofjenjchaften bekannt, welche den einzigen Zweck ver- 
folgen, den Faktor und deſſen drückendes Zwiſchengeſchäft 
entbehrlich zu machen.“ Aber was will das heißen 
gegen die Hunderte und Tauſende von Heinen Meeiftern, 
die im Laufe der legten 30 Jahre zu Grunde gegangen 
find, die heute noch im ‘Dienfte der Großinduftrie, wie 
für eigene Rechnung arbeitend eriftiren? 

Gewiſſe Arten der Gewebeinbuftrie freilich entziehen - 
fich dem genofjenjchaftlichen Betrieb von felbit, theils 
wegen der perjönlichen Eigenjchaften außerorbentlicher 
Art, welche vom Dirigenten, von ven Technifern des 
Geſchäfts gefordert werben, theils wegen der zu großen 
Rapitalten, die Das gut betrieberre Gefchäft bevarf. Die 
Mafchinenweberei gehört, wie wir jaben, nicht nothwen⸗ 
dig bieber, wohl aber die Kattundruckerei, die Anfer- 
tigung von Modeartikeln und Aehnliches. In Bezug 
auf die Perſonen ift der genofienichaftliche Betrieb da 
unmöglich, wo eine feit Jahrzehnten verarmte halb ver- 
Hungerte Weberbevölferung, an Geiſt und Körper ver- 
fommen, alle Kraft zu jelbftändigen dortjchritten ver⸗ 
loren hat. 


1) Vgl. die genauere Beſchreibung dieſer Geſchäfte, Leip⸗ 
ziger Handelskammerbericht für 1868, ©. 42, Chemnitzer für 
1863, ©. 99. 


Die Bedingungen der genofjenjchaftlichen Weberei. 589 


Aber wie viele Heine Webermeifter jtehen doch 
noch über diefem Niveau; wie manche Bortichritte der 
Technik, der Bildung, welche andere tüchtigere Menſchen 
porausfeßen, find wenigftens in einzelnen Gegenden zu 
fonftatiren. Und doch fehlt e8 an jever erheblichen 
Zunahme, während doch der genofjenjchaftliche Betrieb 
gerade in ber. Weberei am angezeigtefter wäre, während 
es fein zahlreicheres, älteres, ver Erhaltung würbigeres 
Gewerbe in Deutichland gibt. Das taufenbmal geprie- 
jene Syſtem der Hausinduftrie drückt, an große Fabriken 
angelehnt, die Arbeiter doch leicht zum Proletariat herab, 
genofjenfchaftlich aber organijirt würde e8 taujende und 
aber taujende Heiner gejunder Geichäfte erhalten. Im 
der ganzen volfswirtbichaftlichen Geſchichte des 19. Jahr⸗ 
hundert wäre neben der Konjervirung unferes deutſchen 
Bauernſtandes eine Erhaltung der Heinen Webermeifter 
die wichtigſte Maßregel, wenn man überhaupt auf eine 
fozial- und politifch ſegensvolle größere Gleichheit ver 
Beſitz⸗ und Einkommensverhältniffe Werth legt. 

Aber es geht bier wie in andern Geſchäftsbranchen. 
So lange der Heine Meifter. noch zur Noth von dem 
Iofalen Abjat leben kann, jo lange der Hausweber noch 
mit halbwegs leiblichen Lohn vom Fabrikanten beichäf- 
tigt wird, jo denkt er nicht an folche radikale Reformen. 
Auch in diejen Kreifen überwiegt das träge Kleben am 
Althergebrachten, zu was Mühe, Sorge, Gefahr auf 
fih nehmen, wenn es im alten Geleiſe noch gebt? 
Wenn die Noth dann eintritt und einige Zeit, einige 
Sabre und noch länger gedauert bat, ja dann fehlt e8 
an Kapital, dann find die Tüchtigern unter den Leuten 


590 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige- 


ausgewandert, zu andern Berufen übergegangen, dann 
ift das ganze geiftige und moraliiche Niveau ver Leute 
zu tief berabgedrüdt. Es fehlt in eriter Linie an ber 
Initiative zur rechten Zeit, an den rechten Führern. 

In der ganzen genoffenjchaftlichen Bewegung Ban; 
delt e8 ſich darum, die Heinen Meifter und Arbeiter 
zu erziehen zu ben Geichäftsfitten, zu der kaufmänniſchen 
Umficht, der reellen Zuverläffigfeit der bürgerlichen Mit⸗ 
telklaſſen. Wer die Vorjchußvereine und die andern 
Genofjenichaften in der Nähe kennt, muß das zugeben; 
die Perjönlichfeiten entſcheiden; Schulze» Delitich wird 
genannt, hunderte von Andern mit ähnlicher höherer 
Bildung halten die Sache, erziehen den Handwerkerſtand, 
indem fie an die Spite treten. Nur fie überwinden 
das Mißtrauen, ven Neid der Meifter unter einander. 
In der größern Stadt nun findet man leichter die Per- 
jönfichfeiten hiezu, viel weniger aber oder gar nicht find 
fie aufzutreiben in den einfamen Gebirgsthälern, auf 
dem platten Lande, wo die Hütte des Webers fteht. 
Die eimig Gebildeten, von welchen bier die Imitintive 
ausgeben könnte, find neben den Geiftlichen, die fich 
leiver ja beute um folche Dinge gar wenig kümmern, 
die Faktoren, die Kaufleute, die Fabrikanten, d. 5. die⸗ 
jenigen, welche gerade das gleiche Intereſſe haben Weber: 
aſſoziationen zu ftiften, wie etwa bie Detailhändler, 
Konfumvereine ins Leben zu rufen. 

Es ift das einer der Punkte, wo die Frage ent- 
jteht, ob der Staat nicht im irgend welcher Zorm — 
nicht jowohl das Kapital beichaffen, als die Orge- 
nilation anregen, zur Erziehung ver Meinen Meifter für 


Die Bedingungen ber genoflenihaftlicyen Weberei. 591 


ben genoffenichaftlichen Betrieb mitwirken ſollte, ob er 
es nicht in den vierziger Iahren hätte thun jollen, da 
es heute vielfach ſchon zu fpät iſt. Das Kapital allein 
vom Staate bargereicht, wäre nur ſchädlich; es würde 
in nußlofen Verfuchen vergeudet, wenn nicht Die Erzie⸗ 
bung, die Organifation, die geiftige und technifche För— 
derung ber Leute hinzukommt.“ Ich werde auf die 
Berechtigung folcher ftaatlichen Eingriffe nochmals zurüd- - 
fommen. 

Kehren wir aber nach dieſer Abjchweifung über 
Webergenoſſenſchaften zurüd zu der Schilderung der 
thatfächlichen Verhältniffe in Preußen und im Zoll- 
verein, und zwar zunächit zur Seide» und Seibenband- 
weberei. 

Die deutiche Seiveninduftrie iſt ein Produkt der 
franzöfifchen Proteftanten und der preußifchen Gewerbe⸗ 
politif.? Im Laufe dieſes Jahrhunderts bat fie fich 
aber auch in andern deutſchen Staaten entwickelt. 
Bayern und beſonders Baden befiten eine nicht unbe- 
deutende Seidenwebere. Die Hauptfige der Induſtrie 
find aber auch jett noch Elberfeld, Krefeld, ver ganze 
Regierumgsbezirf Düffeldorf, Aachen, Berlin und Pots⸗ 


1) Die mehrerwähnte Schrift des Dr. Michaelis, eines 
Arztes, Über die Zuftände in den fchlef. u. jächl. Baummwoll- und 
Leinenweberbiftriften, forbert unter Hinweiſung auf bie ftaatlichen 
Kräfte, welche in Belgien bie verarmten Diftrikte wieder zu 
einer beſſern Flachsbereitung erzogen haben, bie Hülfe des 
Staates, Kapital, das in feften kurzen Terminen zurüczuzahlen 
wäre — noch mehr aber die geiftige Initiative, die Erziehung 
der Weber fiir gemeinfame befjere Produktion. 

2) Bgl. oben S. 29 u. 37, 





592 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


dam. Theilweiſe unter ſchwerem Kampf mit der fran- 
zöfiichen und englilchen Konkurrenz haben fich bie beut- 
ihen Gejchäfte ernporgearbeitet, mehr und mehr haben 
fie den inländifchen Markt fich erobert und einen bedeu⸗ 
tenden Export gewonnen, jo daß jett Die deutſche 
Seidenimduftrie die erfte nach der franzöftichen ift, vie 
deutſche Stadt Krefeld nächſt Lyon als der erſte Seiden⸗ 


manufakturort der Welt gilt. Die Einfuhr fremder, 


hauptfächlich franzöſiſcher Seidenwaaren bat in Artikeln, 
welche in Deutichland wenig oder gar nicht gemacht 
werden, noch bis in die neuelte Zeit zugenommen, aber 
jehr viel ftärfer jtieg die Ausfuhr, ſowohl in ſeidenen 
als in halbſeidenen Waaren.! 

Die folgende Meberficht zeigt die Zunahme ver 
preußischen Seidenweberei, wobei ich jedoch bemerfe, daß 
der Rückgang in der Zahl der Webftühle und noch mehr 
in der Zahl der Zabrifgeichäfte von 1858 — 61 mehr 
von einer veränderten Art der Zählung, als von einer 
wirklichen Abnahme herrühren muß. Im Ganzen zeigt 
die Tabelle klar die glänzende Entwidlung der preußi- 
ſchen Seidenweberei: 

Webſtühle Meier N gabriten Meran 
1816 . . . 6876 — 
1831 . . . 883856 
1834 . . . 12044 
1837... 14111 
1840... 1575 


III 
III | 
II | 


1) Bienengräber ©. 237 fj.: 1842 eine Mehrausfuhr von 
2736 Ztnr. feidnen und 1075 Ztnr. halbjeipnen, 1864 von 
13 676 feionen und 10276 Ztnr. halbſeidnen Waaren. 


Die Seidenweberei. 593 


Webſtühle Geriin gabriten Meihunide 


Gehülfen 
1843 . . . 1691 — — — 
1846 . . . 16013 24 394 281 420 
1849 . . . 24042 30 528 328 580 
152 ... 5772 31 128 311 361 
1855 . . .:29140 32 562 378 626 , 
158 . .. .. 36204 40 366 418 224 
1861 30 499 33 217 272 573 


Die auch bier wieder nicht ganz zuverläſſige Zäh— 
lung des Zollvereinsbureaus ergiebt für den ganzen 
Zollverein 1861 - 32882 gehende Webftühle mit 
18806 Webermeiftern und 17432 Gehülfen; da— 
neben als Fabriken aufgeführt 314 Gejchäfte mit 
1270 Maichinenftühlen (689 auf Baden) und 5392 
Handſtühlen. 

Kleine profeſſionsmäßige Geſchäfte mit lokalem 
Abſatz, mit einem Vertrieb auf Jahrmärkten gab es 
früher wohl auch welche, aber ihre Zahl war nie groß. 
Der Verbrauch der Seidenwaaren iſt Sache der höhern 
Klaſſen; der Einkauf geſchieht und geſchah auch früher 
mehr in den Läden der großen Städte, welche ihre 
Waaren von den Fabriken beziehen; die Fabrikation war 
von jeher mehr eine für den Abſatz im Großen. Die 
Leitung der Geſchäfte war keine leichte, der Bezug des 
theuren Rohſtoffes, die Herrichtung der Garne, die 
künſtleriſche Seite des Gewerbes, das Färben der Garne, 
die Sorge für ſchöne geſchmackvolle Muſter erforderte 
wohlhabende, techniſch und künſtlexiſch gebildete Unter— 
nehmer. Dabei blieb aber das Weben bis jetzt über: 
wiegend Sache der Hausinduſtrie. 

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 38 

























694 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Der merhanijche Webftußl bat wohl im Kemer nen 
Branche der Weberei mit fo viel technifcher Schwenk 
feit zu kämpfen als hier. Trotzdem ift er in em 
auch zur Herrichaft gelangt; aber er Bat vum 
Hausinduftrie nicht verdrängt, indem gerade ber! 
erwähnten Einrichtungen vorkommen, welche von # 
ichinenftuhl in den Wohnungen der Weber felbit m 
jtelfen erlauben. Man zählte dort nach Grothe 1% 
auf 7217 Hanpftühle 10 709 mechanifche Stühle W 
Seidenweberei.t Es Hat das Uebertwiegen ver M 
Ichinenftühle in England feinen Grund in der Sm 
tät der englifchen Seidengewebe; es find einfache m 
der Mobe unterivorfene Artikel. Ueberall fonft Ti 
wiegt theils der technifchen Schwierigkeiten, theils A 
wechfelnven Move, theild der tüchtigen Handwebk 

wegen noch Die Handarbeit, hauptſächlich auch in Frank 
reih. Sowohl in Lyon und Umgegend, wo die Stof 
weberei, als in St. Etienne, wo die Seidenbaneweherd 
zu Haufe ift, werden bie Weber, die jog. contremaitres 
welche auf dem Lande zerftreut wohnen, von dem Unter 
nehmer entweder dur Komiſſionäre, welche | 
Faktoren gleichiteben, ober direkt durch die reitenden 
Kommis des Hauſes beichhftigt. : Dieſe contremaitres 
befigen meift einige Stühle, faft durchaus Tritt- um 
Jacquardſtühle, deren Inftanöhaltung, Veränderung umd 
Berbeiferung fie mit Intelligenz und Sachkenntniß befer- 


1) Grothe, Gefchichte der Seidenzudt und Seidenmanu⸗ 


faltur S. 99, in der deutſchen Bierteljahrichrift, -1864, 4. Heft 
©. 4. — 120. 


Die glückliche Organijation der Seibenweberi. 595 


ger „Wohl wird” — fagt Harple? — „durch dieſes 
Spitem der Arbeitslohn vertbeuert, Doch genießt Der 
Fabrikant ven Vortbeil, für ganz Feine Gruppen von 
Stühlen verantwortliche Werkführer zu befiten, welche 
die Ausführung der Arbeit mit der größten Sorgfalt 
überwachen, wovon in vielen Fällen die Löfung mancher 
jchwierigen Aufgabe abhängt.‘ 

. In Deutfchland find die Verhältniſſe verfchieben; 
neben Mafchinenftählen für glatte Gewebe trifft man 
auch Handſtühle in geichloffenen Etablijfements, aber 
im ganzen überwiegt auch im Zollverein bis jekt ver 
Hamdftuhl und Die Hausintuftrie. Auf 30699 Web⸗ 
ftühle zählt man in Preußen 1861 erſt einige hundert 
Mofchinenjtühle, 4 533 Hanpftähle find bei den Fabri⸗ 
ten gezählt; und jelbft von dieſen ift ja nach ber 
mwollfonnmenen Art der Aufnahme fraglich, ob fie alle 
in den Fabriken jelbjt ftehen. In Krefeld und Elber- 
feld wohnen die Weber mehr in der Stadt und nähern 
fich damit mehr der gewähnlichen Arbeiterbevölferung. 
Die großen Gefchäfte in Vierſen und Gladbach beichäf- 
tigen mehr auf dem Lande zerfiveut wohnende Weber; 
ach Hier wird. die Verbindung einer Heinen Yandivirth- 
ſchaft mit: ver Weberei als der größte Segen empfunden. 
Dem Bericht des erſt fürglich verftorbenen Herr von 
Diergardt,“ welcher das bauptjächlich auch betont, über 
fein enormes Seivengeichäft entnehme ich folgendes: Die 


. 2) Oeſtr. Ausſtellungsbericht Band IV, 136. 
» + 2) Der Treibern von Diergardt Maßregeln zur Förberung 
der arbeitenden Klaſſen, Arbeiterfreund V, 1867. S. 181—189. 
98% 


56 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Hauptiorge des Geſchäfts geht auf dauernde gleichmäßige 
Beichäftigung der Weber; „es giebt eine Menge von 
Arbeiterfamilten, woron ver Großvater, Bater, Sohn 
und Enkel fortwährend für mich beichäftigt geweſen find, 
trotzdem daß jolche alle entfernt von der Fabrik wohnen 
und in ihren eigenen Häufern arbeiten; eine große Zahl 
der Arbeiter bat ziemlich erhebliche Erſparniſſe gemacht; 
viele befigen ein eigenes Haus, Darunter find manche 
im Wertbe von 2000 Zhalern und Darüber.” Zu dem 
Haufe geſellen ſich Häufig Garten, Ackerland, Wieſe 
oder Holzung. Für gelungene Waare und ſchnelle An⸗ 
fertigung werden außer dem Lohn angemeſſene Prämien 
bezahlt. — 
Der Lohn der Seidenweber iſt ſeit lange, trotz der 
ab und zu ſchwer auf Fabrikanten und Arbeitern laſten⸗ 
den Krijen und Geichäftsftodungen, ein guter geweſen; 
die fteigende Entwicklung der deutſchen Seideninbuftrie 
ſowie die Thatjache, Daß die meiſten Gewebe nicht mit 
der Majchine Herzuftellen find, wirkten günftig, man 
fonnte nur tüchtige Leute brauchen, nur joliven zuver- 
läffigen Leuten die theuern Stoffe anvertrauen. Das 
ganze geiftige und moralifche Niveau ift damit ein höheres 
geblieben. Gegenwärtig wird ber Tagesverdienſt eines 
Seidenmwebers auf etwa einen Thaler geichätt." Mehr 
und mehr find die früher den Tabrifanten gehörigen 
Stühle in das Eigenthum der Weber übergegangen.? 


1) Zeitjchrift des flat. Bureaus IV, 128, nach der mehr- 
erwähnten Lohnzuſammenſtellung aus den Kreishefchreibungen. 
2) Biebahn III, 938, 


Der hobe Lohn in der Seiben-, Shaw!» u. Teppichweberei. 597 


Aeußere Umstände waren für diele glückliche Ent- 
wicklung allerdings von Bedeutung; von größerem Ein⸗ 
fluß aber noch waren die moraliichen und geiftigen Eigen- 
ſchaften ſowohl der Unternehmer, al8 der Arbeiter. 

Bon der garen Shawl- und Teppichweberei, auf 
die ich hier des Maumes wegen nicht näber eingeben 
wit, läßt ich Achnliches jagen, wie von der Seiven- 
induſtrie. Theilweiſe iſt die Fabrikation ganz auf bie 
großen geichloffenen Etabliſſements übergegangen ; tbeil- 
weile aber Hält fich Die Hausweberei noch; fie fett aber 
dann geſchickte, gebildete, zuwerläffige Leute im Beſitz guter 
Sacguarbftühle vorm, deren Lage daher micht jchlecht 
il. Die Berliner Shmolmweberet ift faft durchaus noch 
Hausarbeit; ein tüchtiger Weber verbient leicht einen 
Thaler täglich," ſein Gehülfe 15 Sgr., mitbelfenve 
Kinder 6—-71. Sgr. 


Einer der wichtigſten Zweige der Bandweberei, 
der der Seidenbandweberei, iſt ſchon unter den ſtatiſti⸗ 
ſchen Ergebniſſen der Seideninduſtrie begriffen. Wir 
haben es nunmehr nur noch mit der Anfertigung von 
leinenen, baumwollenen und wollenen Bändern zu thun, 
mit einem Gewerbe, das ſo vielfach mit dem Poſa— 
mentiergewerbe, mit der Anfertigung von Litzen, Kor⸗ 
deln, Treſſen, Borten, Gimpen, Schnüren, Trangen und 
Zeugfnöpfen zufammenfällt, daß eine getrennte Aufnahme 
leider immer dadurch Yeiven und unflar werden muß. 





1) Näheres in Oeſtr. Ausftellungsberiht Band IV, 


598 - Die Umbilbung einzelner Gewerbsziweige. 


Ehe ich jedoch Die Zahlen mittheile, will ich 
bemerken, daß auf den ganz alten Handſtühlen jedes 
Band einzeln gewebt wurde Auch die fogenannten 
Schubftühle find noch ziemlich unvollfommen. “Daneben 
kam jchon frühe die Bandmühle auf,! ein Tünftlicher 
Webituhl, der 8 — 40 Bänder zu gleicher Zeit zu weben 
erlaubt; eine folche foll fchon 1586 in Danzig erfun- 
ven, aber vom Rathe verboten worben fein, weil fie 
eine Menge Arbeiter zu DBettlern mache. Vebrigens 
fonnte dieſe Bandmühle von der Hand getrieben werben 
und war fonach auch im Heinen handwerksmäßigen Ge⸗ 
ichäft anwendbar. Erjt der neuejten Zeit gehören vie 
eigentlichen Bandmaſchinenſtühle, Die Anwendung von 
Jacquardmaſchinen für Pojamentierartifel, die Klöppel- 
mafchinen an. Auf einem Mafjchinenftuhle kann ein 
einziger Arbeiter täglich, je nad) der Breite des Bandes 
und der Zahl der Läufe, von 50 bis gegen 700 Ellen 
Band weben. 

Dem entfprechend haben auch die Heinen hand⸗ 
werfsmäßigen lokalen Gefchäfte abgenommen. Nur ein- 
zelne Arten lokal vorkommender Bauernbänder, , einfache 
Borten, Schnüre und Gurte für's Landvolk werden von 
ihnen noch geliefert — und dann Poſamentierartilkel, 
welche auch heute deßwegen der Fabrik⸗ und Hausinduſtrie 
nicht ganz anheim fallen, weil ſie theilweiſe doch immer 
noch nach Beſtellung des einzelnen Kunden gearbeitet 
werden müſſen. Doch iſt auch hierin ein großer Um— 


1) Biebahn III, 668 und 929, Beckmann, Beiträge zur 
Geſchichte der Erfindungen, Leipzig 1786, I, 122. 


Die Banbweberei und das Pofamentiergewerbe. 599 


ſchwung durch die Berfehrserleichterungen vingetreten. 
Jedes Feine Ladengejchäft kann Heute eine Beſtellung, 
itatt fie jelbit auszuführen, einer entfernt liegenden 
Vabrif übertragen. Die Pofamentiere halten fich heute 
mehr als Lavengeichäfte und Detailhändler. Die Zu: 
nahme des Bedarfs fällt auf die Fabrifiwaaren, auf 
jene zahlreichen Artikel für Kleider, Möbel, Zimmer: 
deforationen, für Eijenbahn- und andere Wagen. 

Die preußiſche Statiftif zählt nun die handiverfs- 
mäßigen Polamentiere in der Handiverfer-, die Band— 
ſtühle in der Sabriktabelle, Das Ergebniß ift folgendes. 
Dion zählte Pofamentiere: 

Deifer Gehülfen 


1816... 
18831... 1178 — 
1834 . . . 1234 — 
1837310066 — 
180 .. . 1119 — 
1843 . . . 113 — 
1849 1295 1044 
1852 1288 1.089 
1855 1194 841 
1858 1196 836 
1861 1.089 700 


mentiere neuerdings ftatt; Doch ift fie in fo fern nicht 


ganz ficher, als die Grenze gegenüber der in ver Fabril- 
tabelfe gezählten Bandweberei unficher if. Was die 
Bandſtühle betrifft, fo zählte man früher ausſchließlich 
die Zahl der Gänge; e8 gab: ! 

. 1 Bergl. oben ©. 516 die Vertheilung nad) Provinzen, 
welche zeigt, daß ſchon 1816 und 1831 die Baubftühle nicht 


gleihmäßig Überall, fondern mehr Lonzentrirt vornehmlich in 
der Rheinprovinz als Hausinduſttie vorlamen. 


600 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


1816 . . ; 27062 
1831 . . . 32642 
1834 .. . 49679 


Bon da an zählte man die Stühle, wobei aber 
die Zahlen von 1852 und 1855 offenbar falſch find; 
e8 werben erwähnt: 


1837... . 4340 152 . . . 9685 
140 .. . 4112 1855 . . . 12600 
18453 . . . 3918 1858 . . . 3635 
1846 . . . 4070 1861 . . . 4246 
1849 . . . .4957 


Die Weber und Gehülfen, ſowie die Fabrilken 
nebſt Stühlen ergaben daneben ſeit 1846 folgendes 
Reſultat: 

Mechaniſche Einfache 


Meiſter Stühle un 

un Fabriken — Hand⸗ und 

Schiffen mit  Folamentier- 
Handbetrieb ſtuhle 
1846 . . 8 222 211 238 2988 
1849 . . 7759 212 320 2240 
1852 . . 11634 227 2070 2870 
185 . . 14789 302 1708 3138 
1858 . . 4.579 209 280 .2 377 
1861 5 920 182 _ 2405 1105 


Auch dieſe Zahlen zeigen theilweiſe durch ihren 
ſchroffen Wechſel, daß ſie falſch ſein müſſen; die bei 
den Fabriken daneben noch gezählten Arbeiter betrugen 
ebenfalls 1852 und 1855 circa 10000, ſonſt gegen 
7000 ®Perjonen. Sicher fcheint nur die Abnahme ver 
Handftühle und die Zunahme ver Mafchinenftühle. 

Das Zollvereinsburenu zählte 1861 bei der Band- 
weberei in ben andern Staaten nur verſchwindend Beine 


— — — — 


Die Banbweberei als Hausinduſtrie. 601 


unbebeutende Zahlen. Die Mehrzahl ver bierber gehö⸗ 
rigen Perjonen ift in der Handwerkertabelle verzeichnet. 
Dieß gilt bejonders von Sachlen, wo das Pojamentier- 
gewerbe bisher als ſchwunghaft betriebene Hausinduſtrie 
blübte, jetzt theilweile auch zum Fabrikſyſteme übergeht. 
Im Jahre 1836 zählte man 1246 Meifter in Sachlen, 
im Sahre 1849 aber 3191; 1861 werben 2741 
Meiſter mit 3782 Gebülfen als Polamentiere in der 
Hanbwerfertabelle, 316 handwerksmäßige Bandweber 
mit 450 Stühlen und 236 Gehülfen, 115 Fabriken (in 
ganz Preußen nur 182) mit 284 Maſchinenſtühlen, 
197 einfachen Pojamentierjtühlen und 1420 Klöppel- 
majchinen in der Fabriktabelle gezählt. Die Stühle der 
profejfionsmäßigen Bolamentiere find ſonach in den 
Zabellen gar nicht gezählt. Viebahn ſchätzt die betheilig- 
ten Perjonen in Sachen 1861 auf wenigftens 1700 
Faktore und 20000 arbeitende Männer, rauen und 
Kinder, die einen guten Verdienſt haben. Er jagt: 
„Sachſen bat jeit alter Zeit in Annaberg, Buchholz, 
Geyer, Thum und Scheibenberg eine wichtige Poja- 
menteriefabrifation, welche gegen 5000 Bolamentier - 
und Bandftühle beichäftigt und ganz SDeutichland mit 
wohlfeilen Borden, Bändern, Frangen, Gürteln, Gorls 
(Agrements), Chenille und Zeugfnöpfen verficht. Auch 
Soutachen und die für Beſätze erforverlichen Seiden— 
fchmuren werden feit einiger Zeit in Annaberg und 
Buchholz fabrizirt. Gedrehte und geflochtene Kleider⸗ 
ichnuren in Wolfe und Baumwolle, ſowie Schnuren 
für induftrielle ZIwede werben in einem mit Dampf: 
fraft . ausgeftatteten Ctabliffement zu Chemnitz, außer⸗ 


602 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


dem in Hainichen und andern Orten fabrizirt; nament⸗ 
lich Haben vie geflochtenen Spindelſchnuren wegen ihrer 
Haltbarkeit beveutenden Abſatz gefunden. Die Ber- 
fertigung leinener und baummollener Bänder, Schnür- 
ſenkel, Hofenträger und Gurten befchäftigt in der Laufit 
und un Dresdener Bezirk namentlich zu Pulsnitz, Groß⸗ 
röhrsdorf und Brettnich zu Zeiten bis zu 1200 Stühle: 
die urjprünglichen mangelbaften Schubftühle weichen 
den Müplftühlen, auch zahlreiche Maſchinenſtühle find 
ihon im Gange und die nöthigen Baunmwollfärbereien 
fommen zu Hülfe ‘Die bekannte Jacquardhoſenträger⸗ 
gurtfabrifation ſteht bier allein und unterliegt Teiner 
Konkurrenz.” 

Die Gejchäfte gingen bis in die neuere Zeit fo 
ſchwunghaft, daß Fabrik- und Meafchinenftühle die Hand- 
arbeit und Hausinduftrie nicht verdrängt haben; e8 fand 
mehr eine Arbeitstheilung zwiſchen beiden Syſtemen 
jtatt; der Lohn war ein fteigender. rauen, welche 
früher die Woche nicht über 1Y/,. Thaler gekommen 
waren, verdienten ſeit Anfang der jechsziger Jahre oft 
bis 3 Thaler die Woche. Der Chemniter Handels—⸗ 
fammerbericht gibt für 1863 folgende Neberficht über 
die Stühle im Kammerbezirk. Man zählte: 


überhaupt im Thätigkeit 


Pofamentierhanpfähle. . . . 2771 1162 
Bofamentierfchubftühle . .. . . 83 73 
Pojamentiermühlftühle. . . . 69 50 
Shenillemafhinen . -. » . .» 26 25 
Klöppelmaſchinen zu Krinolinen. 1498 1421 


Kloppelmaſchinen zu Gummiborden 254 171 


Der neuefte Stanb der Pojantentierinbuftrie. 603 


Er fügt bei: „Nur die Klöppelmafchinen, worauf 
Schnüre und Bänder zu Krinolinen fabrizirt werden, 
gehören den Fabrikanten, Die andern Stühle, auch Die 
Chenilleftühle, gehören ven Faktoren oder den Arbeitern 
ſelbſt. Der Fabrifant kauft vom Faktor und liefert ihm 
die neuen Diufter.” Der Umfchwung der Technik: und 
ver Gefchäftsorganifation zeigt fich aber doch darin, daß 
von den einfachen Pofamentierftühlen etwa nur bie 
Hälfte, die andern Stühle faft alle voll bejchäftigt find, 


An die Bemerkungen über das Pofantentiergemwerbe 
ſchließen fich endlich die über Strumpfwirkerei; fie ift 
theilmweife auch lokal mit jenem Gewerbe vereinigt. 

Strumpfipaaren werben feit alter Zeit neben der 
Handſtrickerei auf dem hölzernen Strumpfwirfftuhl gefer- 
tigt, welcher fchon 1589 von dem Magijter William 
Lee zu Kambridge erfunden worden war und bis zur 
Mitte dieſes Jahrhunderts unverbrängt blieb. Ein 
ſolcher Stuhl foftete in den zwanziger nnd breißiger 


Jahren faum einige Thaler, war aljo auch dem ärm- 


lichften Handwerker erreichbar. Zahlreiche Iofale Ge— 
Ichäfte entwicelten fich jchon im vorigen Jahrhundert, 
neben der befonders in Sachjen und Thüringen blühen—⸗ 
den Hausinduſtrie. 

Die preußiſchen Strumpfwirkerſtühle führte ich für 
1816 und 1831 ſchon oben nach Provinzen an; wir 
ſahen, daß fie überall vorkamen. Die Geſammtſumme 
ver Stühle hatte 1816 - 2085, 1831- 2110 betragen. 
Auch die folgende MWeberficht nach Negierungsbezirfen 
zeigt für die fpätere Zeit einen ähnlichen Charakter, 


604 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 






Regierungs- 
bezirke 

Königsberg. 1 2 18 31 15 
Gumbinnen. 3 3 5 4 — 
Danzig .... 7 8 5 2 4 3 1 3 
Martenwerder. 4 5 3 3 1 6 4 4 
vien..... 2 3 5 4 1 10 6 6 
Bromberg. 41 — — I | — — — — 
Berlin (Stadt) 173] 212] 106 44 so] 149 46| 136 
Potsdam ...| -88| 93 77 37| 49 42 18) 3 
Frankfurt . 47) 465 38] 31) 1358| 83| 27) 10 
Stettin... . 13 11 5 4 1 3 3 _ 
Köslin.....| —I — — | — — — 
Stralſund ... 1 5 4 3 1 1 1 1 
Breslau... .I 123] 119 83 59 42 74 62 17 
Oppeln... .] 837 74 54 43 27 97 58 43 


Liegnitz. .. 96 96 80 65, "834 61. 551 24 
Magdeburg . .| 167] 125 133 13| — — —| — 


Merfeburg. . .| 181| 213] 1138| 69 631 1129| 5a! 102 
Erfurt... .. 107} 118] 118| ı12| 10 91 85| 18 
Münfter,, 129| 122] 114) 97 301 107 67 50 
Minden 1 10 3 | — 1 1 
aunsbeig. . 142| 1022| 9} 63 5of .127| 65) 7o 
re. 58] 276] 314) 285| 52| 332| 1824| 176 
Diet. 3511 4871 637| 3211 3771 849| 482 359 
oblenz ... 155] 1741 119| 99) 241 ..88| 70). 40 
Trier ..... 60 591 6 HB 121 Bl HM 3 
Aachen. .... 14] 20 37 sl 2 301 ıs| 2» 


d. h. einzelne Sitze einer nicht gerade bedeutenden Haus⸗ 
induſtrie, daneben keine durchgängige große Abnahme in 
den Bezirken, welche nur kleine handwerksmäßige Ge: 
Ichäfte haben. Die Geſammtſumme ver Stühle im 
preußiichen Staate war 1834 - 2181, 1840 - 2398, 
1849 - 2106, 1861 - 2336. Die Meifter fielen 
1849 — 61 von 1438 auf 1369, die Gehülfen jtiegen 
von 971 auf 1137. Es trat bis 1861 weder eine 


Die Strumpfwirlerei. 605 


wejentliche Aenderung der Technik, noch der Geichäfts- 
organtjation ein. 

Die daneben in Preußen bejonders gezäblten Tabri- 
fen find wohl Hauptfächlich mur Geichäfte, welche die 
Produkte der Hausinduftrie vollenden und vertreiben ; 
ihre Zählung ift demgemäß unficher; — man findet 
1846 - 165, 1861 - 64 Fabrifen mit damals 92, [päter 
94 Mafchinenftühlen, einigen hundert Handftühlen und 
gegen 1000 Arbeitern. 

Das Zollvereinsbureau zählt unter IL A. 39 944 
Strumpfwirkerftühle, 17962 Meifter und 16093 &e- 
bülfen, von welchen die Hauptpoſten auf Sachen, 
Thüringen und Baiern fallen, daneben unter II. B. 
279 Fabriken mit 4236 Mafchinenftühlen, 1739 Hand- 
jtühlen, 2535 männlichen und 3369 weiblichen Arbei- 
tern. Bon den 4236 Mafchinenftühlen fallen wieder 
3965 auf Sadien; es find zu einem großen Theil 
engliiche Rundftühle, welche mit der Hand betrieben 
werden. ch fomme darauf zurüd; vorher will ich nur 
ein Wort über den Hauptfik der thüringiichen Strumpf- 
wirferei, über Apolda bemerken, ! 

Ein einfacher Strumpfwirker, Chrijtian Zimmer- 
mann, ber zu Ende des vorigen Sahrhunderts "feine 
Waaren auf dem Rüden nach Leipzig trug, bat bie 
große dortige Strumpfwirferinduftrie, welche die ganze 
Gegend beichäftigt, welche die werjchiedenften Artifel — 
über 4000 Nummern zählen die Waarenlager — nach) 


1) Die Wolleninbuftrie Apolda's, Hildebrand's Jahrbücher 
DO, ©. 310— 312. 


606 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


allen Weltgegenden TYiefert, veranlaßt und ins Leben 
gerufen. Was die Organifation betrifft, fo berricht fait 
durchaus noch Die Hausinduſtrie. Die Wirfermeifter, 
welche bis 1. Januar 1863 eine Hanbwerferzunft bil- 
beten, haben ihre eigenen Wirkerftühle m ihren eigenen 
Wohnungen, erhalten Mufter und Garne von dem 
Fabrifanten zugewogen und fertigen mit ihren @efellen 
und Lehrlingen die beftellten Waaren flir die afforbirten 
Preiſe in ihrem Haufe an, fo ‚daß dem Fabrikanten 
nur die Anfertigung der Muſter und die Arbeit Der 
Prüfung, Sorttrung, Etifettirung und Verpackung der 
fertigen Waaren bleibt. Um dem Bedürfniß der Detail⸗ 
händler, welche von ihnen die Waaren erhalten, voll⸗ 
ftändig zu genügen, laſſen fie auch, häuptſächlich aus- 
wärts auf Meilen weit bi8 Halle und Kaffel ftricen 
und andere Handarbeit von Frauen, von Wittwen und 
Waiſen fertigen. Bon 941 Wirfermeiftern im Grof- 
herzogthum Weimar famen 1861 - 534 auf Apolda; fie 
hatten 449 männliche und etwa 400 weibliche Gchülfen ; 
daneben zählte man 39 Fabrifanten, die innerhalb ihrer 
Lokale 73 Buchhalter und Kommis, 77 männliche und 191 
weibliche Arbeiter bejchäftigten. Mechaniſche Wirkftühle 
gab e8 erſt 62; man ging 1861 eben erjt daran, fie 
zum eritenmal mit Dampf in Bewegung zu fegen. Die 
Aufnahme von 1864 zeigt im Großherzogthum Weimar 
nur 748 ſelbſtändige Strumpfiwirfergejchäfte.! Die Ab- 
nahme von 1861 — 64 hat dieſelbe Urfache, Die ich gleich 
bei ber fächfilchen Induſtrie werde zu beiprechen haben. 


1) Statiftit Thüringens von Hildebrand I, S. 249, 


Die apolbaer und die ſächſiſche Strumpfwixkerei. 607 


Die fächftiche Strumpfwirkerei,“ ſchon ans dem 
vorigen Jahrhundert jtammend, nahm hauptfächlich feit 
Anfang der zwanziger Jahre ihren großen Aufſchwung. 
Damals regten beutiche Importeure aus den Vereinigten 
Staaten Die Anfertigung von Strümpfen nach englifchen 
Muſtern an; „die Nachahmung führte auf wefentliche 
Berbefferungen in Tocon, Nabt, Herftellung, Bleiche 
und Induftrie; die nun von Spinnmaſchinen gelieferten 
Garne ermöglichten auch feinere Qualitäten als bisher, 
und jo bildete fich ziemlich rajch ein Erporigeichäft aus, 
das zwar auch jeine Krijen Hatte, aber doch mächtig 
zur Ausdehnung des Induftriegweiges beitrug.” Bowring 
gibt die Zahl der. fächfiichen Strumpfwebemajchinen in 
beinahe übertrieben demenden Zahlen ſo an: 


1815 .. . . 82000 
1821 . . . 14000 
1834 . . . 18000 
1836 . . . 20000 


Die Zahl der Meifter gibt ev 1831 zu 7165 an, 
während eine offizielle Angabe 1836 nur 3315 zählt. 
Den Wochenwerbienft von einem Rahmen jchägt Bowring 
auf 1 Thlr. 4 Gr. „Dieſer Induſtriezweig“ — jagt 
er — „erfordert nur eine Heine Auslage an Kapital 
für den Strumpfwirfer; fein hölzerner Rahmen ift nicht 
foitipielig, die Ausgabe für den Vorrath an Baum- 
wollengarn ift Hein; er Tann das Leben des Landmanns 


2) John Bowring's Bericht über den deutſchen Zollver- 
band. ©. 63 — 54. Zeitichrift des ſächſ. flat. Bıireans 1860, 
S. 106; 1863, S. 27 u. S. 38 ff. Chemniter Handelskammer⸗ 

bericht für 1863 S. 101 - 111. 


608 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


mit dem des Handarbeiters vereinigen. Dean Tann 
jagen, daß die ſächſiſchen Strumpfwirker fich in einem 
Zuftande fortfchreitend wachſenden Wohlſtandes befinden, 
und daß ihre Lage eine Art häuslichen Glückes ift. 
Biele von ihnen find unabhängige Arbeiter, Taufen aus 
eigener Hand das rohe Material und verfaufen die fer- 
tigen Strümpfe an Auffäufer, welche die Märkte in 
Chemnit und Leipzig verforgen.” 

Daneben zeigten fich freilich auch Schon Damals Die 
Mipftände jeder Hausinduftrie, die ihre Impulſe nicht 
von oben berab, durch Einmiſchung der Regierung oder 
durch jehr intelligente, um die ganze Bildung der Lente 
ſich kümmernde Fabrifanten bekömmt. Schon von den 
dreißiger Jahren fagt ein anderer Bericht: „Leider ging 
mit dieſem allgemeinen Wohlbefinden der Arbeiter das 
Streben uach Berbefjerung nicht Hand in Hand. Se 
befjer der Verdienſt war, defto nachläffiger wurde gear- 
beitet und man war taub gegen jede Mahnung, auf 
tavellofe Qualität zu balten und neue Erfindungen ein⸗ 
zuführen. Alles Neue, Ungewohnte fand bei der Mehr- 
zahl der Arbeiter Widerjtand, den nur die Noth befiegen 
konnte.“ | 

Und fie trat ein; ver Abſatz ſtockte gewaltig zu 
Anfang der vierziger Sabre mit der allgemeinen Ueber: 
produktion an Baummollmaaren; erſt gegen Ende bes 
Sahrzehntes wurde e8 wieder beſſer, man zählte in 
Sachſen 1846 - 19611 Handwirkerſtühle, 1849 - 90 
Sabrifanten oder Unternehmer, 136 Faktore, 14763 
Strumpfmirfermeifter ımb 18189 Gehülfen, von einer - 
Aenderung der Technik, von Maſchinenſtühlen, von einer 


Die ſächſiſche Strumpfwirkerei. 609 


_ Produktion in Fabrifen war noch nicht die Rede. Dazu 


kam es erft in dem funfziger Jahren; zuerjt wohl, weil 
der Abſatz wieder ftodte und man verfischen mußte, 
billiger zu produziren. Von 1855 an freilich konnte 
wieder für den amerikaniſchen Abſatz nicht genug pro- 
duzirt werden, die technijchen Fortſchritte waren nicht 
mehr notbwendig, um Arbeit zu erhalten, fie waren 
mir angezeigt, um mehr Waare zu Kiefern. Im Jahre 
1861 werben 21179 Handſtühle, 12854 Strumpf- 
wirfermeifter und 12185 Gebülfen (leßtere wohl nicht 
mit der Zahl von 1849 vergleichbar, da nach der preuß. 
Vorſchrift alle helfenden Perfonen für Spulen, Nähen ıc. 
wegblieben) gezählt; daneben 151 Yabrifen mit 3965 
Maſchinen-, 775 Handftühlen, 893 männlichen und 
1208 weiblichen Arbeitern. Neben der jo lautenden 
offizielfen Aufnahme ! hat eine genauere durch Sach- 
verjtändige für alle größeren Geſchäfte im Laufe des 
Jahres 1862 ftattgefunden; dieſe ergiebt, daß 124 
größere Geichäfte den Abjag der Strumpfwirkerwaaren 
in Sachen vermittelten, daß aber auch von diefen damals 
nur 46 gejchloffene Etabliffements bejaßen, wovon 8 
mit Dampf, 3 mit Waffer, 1 mit Waffer und Dampf 
betrieben wurden. Man fchätte die Gelammtzahl der 
Perfonen, welche in Sadjen (1861— 62) von der 
Strumpfwirferei lebten, auf 45 000, nämlich auf 30000 
Männer und 15000 Frauen. 

Was die Aenderung der Technik betrifft, die eigent- 
ih erft mit der Abſatzſtockung von 1862 an jehr 


1) Vergl. Zeitichrift des ſächſ. flat. Bür. 1863, ©. 21. 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 39 





610 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


empfindlih wirkſam für die Hausinduftrie wurde, 9 
will ich Darüber nur noch einige Worte bemerken. 

Die alten ganz einfachen und billigen Holzitühle 
lieferten nur ein einziges geradliniges Stück, die ſpäter 
verbeijerten mebrere, hauptfächlih 6 und 12 Stüde auf 
einmal. Dieſe einfachen Stühle aber machen alle jog. 
gejchnitterre Waare, welche zufammengenäht werden muß. 
Die breiten Handſtühle, ſowie die Theilung der Arbeit, 
auf einzelnen Stühlen je Beine, Ferſen, Füße für fich 
zu machen, wie das in England länger ſchon üblich iſt, 
haben fich erſt zu Ende der funfziger Jahre verbreitet. 
Daneben war aber ein ganz anderer Stuhl, der Kreis- 
wirkſtuhl, in den vierziger Jahren erfunden worben. 
Der englifche Rundjtuhl wird in ver Negel mit meh- 
reren (6 — 8) Köpfen gebaut, d. b. fo, daß mehrere 
robrartige Gewebe zugleich gefertigt werben können. Der 
gewöhnliche englifche Rundſtuhl Tiefert 96 000 Mafchen 
in der Minute, in der Woche das Maſchenwerk für 
1200 Paar Strümpfe, er foftet pro Kopf 30 bis 
50 Thaler. Der franzöfiiche Rundſtuhl ift etwas anders 
gebaut und ift ziemlich theurer (Preisangaben zwifchen 150 
und 500 Thlr.); er Tiefert Trikots, Iaden, Unterbofen. 
Eijerne Handjtühle fommen auch jchen auf 130 bis 
200 Thlr. Auf beionderen Kettenjtühlen (zu 150 bis 
250 Thlr.) werben Handſchuhe, auf den ſog. Ränder- 
ftühlen (zu 50— 80 Thlr.) die elaftifchen Ränder für 
Strümpfe, Aermel und Hofen, auf den jtärfen Conlir- 
jtühlen beſonders ftarfe Strümpfe und Hofen gefertigt. 
Eine bejondere Art von Nähmajchinen (a4 20 Thlr.) 
wird zum Zufammennähen der einzelnen Stüde gebraucht. 


Die technischen Fortichritte in der Strumpfmwirferei. 611 


Endlich eriftiren jest auch breite mechanifche Stühle, 
deren einer etwa 1000 Thaler koſtet. ‘Die anderen 
Stühle können alle auch mit der Hand bewegt werben. 

Die erjten engliichen und franzöſiſchen Rundſtühle 
wurden in Sachfen 1851 (nach einer anderen Angabe 
1852) eingeführt. Die Tortichritte gingen aber langſam. 
Im Jahre 1861 batten erſt 12 Etabliffements folche 
verbeiferte Stühle durch mechaniiche Kraft betrieben, 
34 Hatten jolche, aber von Arbeitern bewegt. Man 


zählte damals in ganz Sachlen: | 
von med. Kraft von Menſchenhand 


bewegt bewegt 
Engliſche Rundflüfle . 366 175 
Köpfe verfelben . * . 2761 1037 
Franzöfiiche Rundftühle . 76 ‚61 
Breite Stühle . . . 26 4 
Nähmajhinen . - all 84 


Das größte Etabliffement Hatte allein 1600 eng- 
liſche Köpfe und 60 franzöfiihe Rundſtühle. Die 
Heinen Strumpfwirfer waren faft alle bei ihren alten 
Stühlen geblieben und hatten zu thun, bis 1862 der 
Abſatz nach Amerika in's Stoden fam. ‘Der Lohn 
wurde gebrüdt; ein gewöhnlicher Strumpfwirker ver- 
diente nicht mehr als 25— 30 Sgr. in der Woche, 
wobei die Hülfe von Frau und Kindern zum Nähen 
und Spulen noch eingerechnet werden mußte. Selbſt 
auf breiten Stühlen und mit beſſer lohnenden Artikeln 
fonnte es ein fleißiger Wirfer faum auf 2 Thlr. die 
Woche bringen, während beim Eifenbahnbau 15 Gr. 
täglich bezahlt wurden. Die folgenbe Weberficht der 
Stühle des Kammerbeziris Chemnit zeigt die Stodung, 

39 * 


612 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


am beiten, daneben gibt fie die Zahl und die Art ver 
Stühle, wobei zugleich erfichtlich, Daß die Aufnahme 
der Handftühle für ganz Sachſen 1861 unvolljtändig 
war. Man zählte im Herbft 1863 nach ber befonderen 


Aufnahme: 
Geſammtzahl im Betrieb 


Hölzerne Handflühle -. . . . . 268781 11211 
⸗ Ränderſtühle... 424 218 
Eiſerne Coulirſtühle.... 99 79 
Kettenftühle.. - . - 0. 495 413 
Franzöſiſche Rundſtühle ... 303 131 
Köpfe, engl. Rundftähle, Hanbbetr. 1774 1066 
⸗ ⸗ ⸗ mech. Betr. 2484 1037 
Breite mechaniſche Minderftühle . 21 10 
⸗ Nänberftühle . 28 20 

Nih⸗ und Steppmaſchinen.. 1325 881 


Der Chemniter Berichterftatter erklärt die Noth 
neben der Abfagftodung aus dem geringen Fortſchritt 
im Maſchinenweſen, aus dem Zurückbleiben gegemüber 
den engliichen Konkurrenten, Cr beflagt vom fittlichen 
Standpunkt aus den Verfall der Hausinduftrie, aber 


1) Etwa 3000 dieſer Stühle — wird hinzugefügt — 
gehören Maurern, Zimmerleuten, Feldarbeitern, fie find immer 
nur im Winter im Gange. Der Gejammtwertb der obigen 
Handſtühle (wozu Hand-, Ketten» und Ränderſtühle gerechnet 
find) wird von dem Berichterſtatter zu 929510 Thlr., ter 
Geſammtwerth der fog. Maſchinenſtühle (von welchen aber auch 
viele mit ber Hand betrieben werben) : zu 278990 XThlr. 
berechnet, wobei alle Hülfsmaſchinen, Spulräder, Spulmafchinen, 
Appreturutenfilien, die Motoren 2c. noch nicht gerechnet find. 
Bei vollem Gange erfordern dieſe Stühle jährlich 10 Mill. 
Pfund Garn. 


5 — —— 


Die Krifis der Heinen Strumpfwirker 1862— 65. 613 


er findet in ihr die Haupturfache der Stabilität. „Das 
Uebel“ — jagt er — „liegt in unjerem Shftem ver 
Hausinduftrie, nach welchem fait jeder Arbeiter fein 
eigener Herr und DBefiger ſeines Stuhles tft, mit 
welchem er, zübe am Alten bängend, lieber das Ge- 
wohnte zu Billigerem Lohne macht, als fich auf neue 
Betriebsarten einzurichten. Meiſt fehlen ven Leuten 
auch die Mittel dazu, denn da fie feine Amortifation 
und feine Reparaturen rechnen, jo verarmen fie jchließ- 
ih und drüden mit ihrem billigen, freilich oft auch 
ſehr jchlechten Fabrikat ven Markt, daß es ſchwer ift, 
ſelbſt mit verbefjerten, aber beijeren Lohn erheiſchenden 
Stühlen im Welthandel dagegen zu Tonfurriren.” 
Hunderte von Strumpfwirfern haben allerdings 
damals ihr Geſchäft aufgegeben, haben ihre Stühle 
verfauft und find zu dem damals flott gehenden Anna- 
berger Pofamentiergejchäft oder zu anderem Beruf, auch 
zur reinen Tagelöhnerarbeit übergegangen. Aber als 
1865 der Abfa wieder beſſer wurde, da fanden alle 
noch nicht verkauften Stühle wieder Beichäftigung, der 
Lohnt ftieg wieder. Es bilvete fih, woran es vorher 
bauptfächlich gefehlt, in Sachjen jelbjt der Bau von 
Rundftühlen und verbefjerten eijernen Stühlen überhaupt 
aus. ‘Der Chemniter Bericht von 1866 ! meldet, daß 
auch die Hausinduftrie ſich mehr und mehr in den 
Beſitz ſolcher verbeflerter Arbeitsmittel geſetzt habe. 
Die 1863 oft gehörte Propbezeihung, nur das voll- 
ftändige Verlaſſen der Hausinduftrie könne die jächftiche 


1) Preußifches Handelsarchiv 1868, II, S. 93 - 94. 


614 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Strumpfwirkerei retten, hat ich erfreulicher Weiſe wenig⸗ 
ſtens nicht vollſtändig beftätigt. 

Die Hausinduftrie ift hauptfächlih da und Dann 
nicht haltbar, wo und wenn ihr der geiftige Impuls, 
die Bildung fehlt. Der Taufmännifche Standpunkt 
ratjormirt gerne auf die Hausinduftrie, weil fie an Die 
Kaufleute und Fabrikanten das Verlangen ftellt, mit 
Mühe und mancherlei Schwierigkeiten für die technifche 
Bildung der Arbeiter zu forgen. Die große Fabrik iſt 
bequemer; da bezahlt man einen tüchtigen Ingenieur 
und einen tüchtigen Zeichner; dann ijt die Bildung des 
Reſtes der Arbeiter nicht mehr von jolcher Bedeutung. 


10. Die Schuhmacher, Schneider und verwandten 
Gewerbe. 


Der Charakter diefer Gewerbe. Die Nabel», Kamm, Knopf, 
Stod- und Schirmfabrifation. Die Gerberei; ihr Aufſchwung 
und ihre Organiſation. Statiftit der Gerberei von 1816 
bis 67. Die preußiihen Schuhmacher 1816 —61l. Das 

Schuhmachergewerbe bis 1846. Die Aenberungen ber Organi⸗ 
ſation und Technik feithber. Die Genofjenihaften von Schuh- 
machern. Die Kürſchner, Rauchwaarenhändler und Mützen⸗ 

macher. Die produzirenden und bie Handelsgeſchäfte dieſer 
Branche; die provinzielle Vertheilung. Die Handſchuh⸗ 
macherei; der Uebergang zu großen Geſchäften. Die Kravatten⸗ 
macherei. Die Strohhutfabrikation. Die Hutmacherei, ihre 
Konzentration in großen Fabrilen. Die weibliche Kopfbe⸗ 
bedung und die Anfertigung fünftlicher Blumen. Das Putz⸗ 
machergeſchäft. Das Schneidergewerbe. Der Inhalt ber 
Tabellen, die Zunahme des Gewerbes. Die veränderte Or⸗ 
ganifation bes Gewerbes. Die glänzenden großen Gejchäfte, 
die Noth der Heinen Meifter. Die Anwendung von Frauen 
arbeit. Die Weißwaarenfabriken. Die Stiderei und Spiten- 
inbuftrie. Die Stickmaſchine. 


Wollen wir nach den Ausführungen über die wich- 
tigften Arten der Herftellung von Bekleidungsſtoffen 
unjern Bli noch auf die weitere Verarbeitung verjelben, 
überhaupt auf die Gewerbe werfen, welche mit ber 
Vollendung der menſchlichen Befleivung und Beichuhung 


616 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


zu thun haben, jo tft bier von einer Großinduftrie, wie 
bei der Spinnerei und Weberei nicht Die Rede. Aber 
jehr Vieles hat fi auch bier geändert oder ift nabe 
daran, fich zu ändern. 

Die frühere faſt ausjchließlich lokale Probuftion, 
fowie die Herjtellung von Kleidern innerhalb der Familie 
hat einen beveutenden Stoß erhalten; die Fortichritte 
des Verkehrs, die Arbeitstheilung, die Mechanik haben 
auch hier eingegriffen. Aber die Aenderungen ver Technif 
find faft alle fo, daß die volljtändige Durchführung der- 
jelben doch nicht zu ganz großen Etablifjements führt, 
daß, mo folche eriftiren, dieſelben doch nur dieſelben 
Apparate zehn- und mehrfach neben einanderftellen, daß 
fie in den perjönlichen Leiftungen der Arbeiter vielleicht 
eine noch etwas weiter gehende Theilung und Speziali- 
firung eintreten laſſen, aber doch feine jolche Ueberlegen⸗ 
heit über die Kleinen Geſchäfte befizen, wie 3. B. die 
großen Baummollipinnereten über die Heinen, der mecha- 
niiche Webftuhl über den Handjtuhl. Außerdem aber 
wirkt der Konzentration in dieſem Gebiete, der Pro⸗ 
duktion für andere Orte, Gegenden und Länder ver 
Umftand entgegen, daß ver perfönliche Geſchmack fich 
doch nie volljtändig mit Schablonenarbeit zufrieden gibt, 
daß eine große Zahl von Perſonen alle Kleider und 
Schuhe, Hüte und Handſchuhe. nach beftimmten Vor⸗ 
ichriften gearbeitet haben will. Das erhält bis auf 
einen gewiſſen Grad die Iofalen und damit auch Kleinere 
Geichäfte neben den großen. 

Das moderne Magazin hat fich gerade der bier in 
Detracht fommenden Gewerbe am meiſten bemächtigt. 


Der Charakter diefer Bekleidungsgewerbe. 617 


Das Magazin iſt ein glänzendes Verkaufsgejchäft, ein 
Laden mit großer Auswahl, aber ein folcher, ver in 
der Regel doch auch auf Beitellung, auf Maß arbeiten 
läßt, weil das in diejen Artikeln vom Publifum ge- 
wünjcht wird. Die Produktion des Magazins ift eine 
andere, als die des Fleinen Handwerkers, aber in ber 
Regel doch auch nicht die einer großen Fabrik; das 
Magazin bezieht die einzelnen Theile, die halb fertigen 
Waaren da und dort ber, läßt da und dort arbeiten, 
wentet Majchinen an, wenn es nothwendig iſt, aber 
der Iofale Abjat bleibt die Hauptjache. Uebrigens will 
ich hier nicht wiederholen, was ich oben von dem Ma— 
gazinſyſtem ſagte; es genügt, daran zu erinnern. 

Am weiteften ift wohl das Fabrikſyſtem vorgedrun- 
gen in der Produftion jener Heinen Theile und Hülfe- 
mittel menjchlicher Bekleidung, welche am leichteſten 
verjendbar, zu Hunderten und Tauſenden nach gleichen 
Mustern angefertigt werden können. Doch ift auch hier 
der Umſchwung noch fein vollftändiger. 

Die Nähnadeln werben jett durchaus in Fabriken, 
die Stednabeln, Haarnadeln, Hafen, Dejen auch noch 
mannigfach von Handmwerfern gemacht. Der alte Horn- 
komm ift theilweile von den Waaren aus vulfanifirtem 
Kautſchuk verbrängt, und dieſe werben von Fabriken 
geliefert; aber noch eriftiren viele Kammmacher, Horn- 
dreher, Elfenbeinarbeiter, eine Kammſchneidemaſchine 
ift nicht ganz billig, aber fie wird auch von Profelfio- 
niſten angeichafft. Die überjponnenen Knöpfe Liefert das 
Pojamentiergewerbe, die Knöpfe aus Horn und Holz, 
jowie die Metalffnöpfe find fehon mehr auf große &e- 


4 


618 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


ſchäfte übergegangen, ähnlich wie die Anfertigung von 
Stöden, Sonnen⸗ und Negenjichirmen, Fächern und 
ähnlichen Dingen. Doch iſt in allen dieſen Gewerben 
der Großbetrieb nicht abjolut nothwendig Wir jeben 
neben den Fabriken Iofale Geichäfte, freilich vielfach mit 
Läden und Reparaturgeichäften verbunden, wir jeben 
außerdem, daß diefe Waaren theilweife auch durch Die 
Hausinduſtrie, alfo durch die Thätigkeit Fleiner Meijter 
entſtehen können. Ich erinnere nur an pas Tabletterie⸗ 
gewerbe in der Umgegend von Paris,! an die Thatjache, 
daß die große Londoner Sonnen» und Regenſchirm⸗ 
fabrifation mit ihrem ungeheuren Erport durchaus Haus- 
induftrie ift. „Die Fabrikation der Geftelle für Regen - 
und Sonnenſchirme“ — ſagt Profeffor Hofmann in 
London? — „wird bauptjächlich von Heinen Meijtern 
betrieben, die gewöhnlich einige Knaben als Gebülfen 
beichäftigen; das Meberziehen der Schirme hingegen wird 
von Frauen und Mädchen bejorgt, die in ihren Wob- 
nungen arbeiten. England verbanft den Vorrang in 
diefer Induſtrie nicht ſowohl der Einführung neuer 
foftbarer Majchinen — denn die Werkgeuge ver Sonnen 
und Regenſchirmmacher find noch fait eben fo einfach, 
als fie e8 vor 100 Jahren waren — ſondern vielmehr 
einer verftändigen Anwendung des Prinzips der Arbeits- 
theilung.“ 

Gehen wir aber nun zu den eigentlichen Hand⸗ 
werken, welche hierher gehören, über. Ich beginne als 


1) Roſcher, Anſichten der Volkswirthſchaft. S. 149. 
2) Zollv. Ausſtellungsbericht 1861. III, S. 549 — 50. 





Die Gerberei. 619 


Einleitung für die Betrachtung der Schuhmacherei mit 
der Lederbereitung, mit der Gerberei. 

Der Bedarf am Leder ift außerorventlich geitiegen ; 
der Gebrauch lederner Fußbekleidung ift fehr viel all- 
gemeiner geworben als früher; auch für andere Zwecke, 
für Fuhrwerke, Pferdegefchirr, Mafchinenriemen wird 
heute ſehr viel mehr Leber erforbert. Die eigene Pro- 
buftion von Häuten im Zollverein ift mit der Viehzahl 
geftiegen, 1816 zählte man in Preußen 4,, Mill. Stüd 
Rindvieh, 1864 - 5, Mil. Die Mehreinfuhr von 
rohen Häuten zur Lederbereitung in Preußen betrug 
1822 - 45 334 Ztnr., die Mebreinfuhr in ven 3oll- 
verein 1842 - 183 980 Ztnr., 1861 — 64 - 470000 
bis 500 000 Ztnr. Fertiges Leder wird wenig eingeführt; 
die Verarbeitung dieſer eingeführten wie der im Zoll- 
verein produzirten Häute erfolgt im Lande jelbit; ebenjo 
aber auch der Verbrauch des fertigen Leders; die Mehr- 
ausfuhr von fertigem Leber (Hauptfächlich nach Deftreich 
und der Schweiz) ift nicht bebeutend.! Die Leberpro- 
duktion des Sollvereind wurde ſchon 1844 zu 1 Mill. 
Zentner im Werthe von 47 Mill. Thalern geſchätzt; fie 
ſoll fich von 1850 — 62 etwa verdoppelt haben. Die 
deutſche Lederinduſtrie fteht mit an erjter Stelle.? 

Schon früher war das Gewerbe neben einzelnen 
Iofalen Geichäften mehr in denjenigen Gegenden und 
Drten zu Haufe, welche ihm die günftigften Vorbedingun⸗ 
gen, hauptjächlich gute Eichenrinde zur Rohe boten. Es 


1) Bienengräber, Statiftit des Verkehrs. S. 391 — 402. 
2) Viebahn III, 613. 


618 Die Umbilbung einzelner Gewerbozweige. 


ſchafte übergegangen, ähnlich wie die Anfertigung von 
Stöden, Sonnen- und Regenſchirmen, Fachern und 
ähnlichen Dingen. Doch ift in allen dieſen Gewerben 
der Großbetrieb nicht abſolut nothwendig. Wir jeher 
neben den Fabriken Iofale Gefchäfte, freilich vielfach mit 
Läden und Neparaturgefchäften verbunden, wir ſehen 
außerdem, daß biefe Waaren theilweiſe auch durch bie 
Hausinduſtrie, alſo durch die Thätigkeit kleiner Meiſter 
entſtehen können. Ich erinnere nur an das Zabletterie= 
gewerbe in der Umgegenb von Paris,t an bie Zhatfachye, 
daß die große Londoner Sonnen- und Regenſchirm⸗ 
fabrifation mit ihrem ungeheuren Erport durchaus Hand 
induftrie ift. „Die Fabrifation der Geſtelle fiir Regen“ 
und Sonnenjhieme" — fagt Profeffer Hofmane in 
London? — „wird hauptſächlich von kleinen Meiſtern 
Betrieben, bie gewöhnlich einige Kneben als Sehülfen 
befchäftigen; br Yaknmninfen har Schirme bingedaen wird 
von Frauen ı 
nungen arbeib 
diefer Induſt 
toftbarer Mafc 
und Regenfchiı 
als fie e8 vor 
einer verftändi 
theilung.“ 

Gehen ı 
werfen, welche 





1) Roſcher 
2) Zoll. 


—ſ 


\ 


TR erten, 


Einleitung für tie Berroeung der Stumm 
der Seberbereitung, mit der Gerdevel 
Der Bedarf am veder iſt außerordennh An iih 
ber Gebrauch lederner Rußbefleitug If ſehy ln ı 
gemeiner geworben als früher; auch für andeye AN 
für Fuhrwerke, Pferdegeſchirr, Wioſchlnenrlemen I 
Heute ſehr viel mehr Leber erfordert. Ole ehgene Wr 
buftion von Käuten im Zollvereln iſt at ver Vſehn 
geftiegen; 1816 zählte man in Preufen 4, WIM Sl 
Rindvieh, 1864-5, Mill. Die Mehrrhuſuhr m 
rohen Häuten zur Leberbereitung in Preußen hrin 
1822 - 45334 Ztnr., die Mehreinſuhr bi on Hl 
verein 1842 - 183 980 Zinr, und Hi Hl 
bis 500.000 Zur. Zertiges veder wirt wen, — — 


620 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


erfordert von jeher ein gewiljes Kapital zum Einkaufe 
der Häute und der Hülfsftoffe, dann umfaſſende Gebäude, 
Gruben, Vorrathshäuſer. Die Einrichtungen find meift 
jo, daß, wenn nur das größere Kapital zum Einkauf 
ver Häute da ift, die Ausdehnung des Gejchäfts feine 
Schwierigkeiten hat, und dieſes nicht entiprechend mehr 
Arbeit erfordert. Große Aenderungen in der Technik 
find kaum zu Eonftatiren, abgejehen von ven Methoden, 
welche die Abkürzung ver Zeit, die fogenannten Schnell- 
gerberei anftveben, und ven Manipulationen, welche 
die mehr mechantfche Zurichtung des Leders nach dem 
eigentlichen Gerbeprozeſſe bezweden.! ine vollendete 
Produftion freilich fett einen ziemlichen Grad chemiſcher 
Kenntnifje, eine geſchickte Leitung und eine fehr exafte 
Arbeit voraus. Noch mehr ift das ver Tall bei ber 
Dereitung der Yadirten und gefärbten Leder, welche 
daher auch am frübeften auf eigentliche Fabriken über- 
gegangen ift. 

Die Zahl der Sefchäfte hat in Preußen feit neuerer 
Zeit nicht zu= fondern fogar etwas abgenommen; man 
zählte: 


1) Bergl. Preuß. Handelefammerberichte 1866, &. 150; 
e8 heißt da: von den 3 großen Leberfabrifen Krefeld’s arbeiten 
zwei nach ber alten Gerbemethobe faft ausſchließlich Lederſorten, 
die zu Schuhmacherwaaren in Stadt und Umgegend Abjak 
finden. Eine dagegen läßt mit den neueften Mafchinen ihres 
Faches, mit Dampf, unter theilweifer Anwendung ber Prin⸗ 
zipien der Schnellgerberei bauptfächlich ſolche Artikel fertigen, 
welde in Wagenfabrilen, zu feinen Sattlerarbeiten, zu Militär 
effekten Abſatz finden. 


Die GSerberei. 621 


18316 . - . 493 Gerbermeifter mit 4064 Gehülfen 
18311 . . . 5362 ⸗ . 4338 ⸗ 
1843 . . . 5639 ⸗ :s 5474 ⸗ 
1849 5 243 ⸗ .s 4772 ⸗ 


Im Jahre 1849 hatte man die großen fabrif- 
mäßigen Gerbereien mit ven Fabriken, in welchen ladir- 
tes und gefürbtes Leder bereitet wird, zufammen gezählt; 
e8 ergaben fich folche Leverfabrifen 505 mit 3361 Ar- 
beitern,* von welchen etwa die Hälfte auf Weitfalen 
und die Rheinprovinz famen. In Malmeby, einem 
der Hauptorte der Gerberei, zählte man jchon 1849 
6 Meifter mit 9 Gehülfen, 39 Fabrikherrn mit 208 Ar- 
beitern,, in Berlin 30 große Gerbereien mit 303 Arbei- 
tern neben 74 Meijtern mit 252 Gehülfen. Im Iahre 
1861 find wieder die großen Gerbereien in der Hand- 
werfertabelle mit gezählt; daher das Reſultat: 4907 
Meifter mit 6292 Gehülfen. Manche Fabriken find 
Darunter, die große Steigerung der Produktion kommt 
bauptjächlich auf ihre Rechnung. Aber auch die großen 
Geſchäfte find gegenüber anderen Großinduſtrien noch 
mäßigen Umfangs und daneben hat fich eine große 
Zahl Heiner Gejchäfte erhalten. Die außerpreußifchen 
Hauptfige der Gerberei des Zollvereins find Bayern, 
Württemberg, Sachſen und Zihüringen, in welchen 
die Gehülfenzahl die Meifter entweder nicht ganz 
erreicht oder Doch kaum überfteigt. Im ganzen Zoll- 
verein zählte man 1861 - 11992 Weiter mit 14 309 


Gehülfen. 


1) Tabellen und amtliche Nachrichten V, ©. 832, 


622 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Don 1861 bis zur Gegenwart jehen wir äbnliche 
Rejultate; die 1353 Gejchäfte, welche 1861 in ver 
Rheinprovinz waren, find bis 1867 auf 1155 gejunfen,! 
während die Produktion noch zunabm; aber auch 1867 
ijt die durchſchnittliche Duantität verarbeiteter Häute, 
welche dort auf eine Gerberei fommt, nicht über 
656 Ztnr. mit einem Durchichnittswerth des fertigen 
Produktes von 5939 Thlr. für je eine Gerberei. Das 
beutet immer noch auf ©efchäfte hin, welche im Durch- 
fchnitt zwifchen großem und fleinem Betrieb in der 
Mitte fteben. | 


Das wichtigjte Gewerbe in der Verarbeitung des 
Leders find die Schuhmacher; fie find überhaupt fait 
überall das zahlreichite Gewerbe; ? ſelbſt Preußen, Bofen, 
Pommern baben im Verhältniß zur Bevölkerung nicht 
jehr viel weniger Schuhmacher als Weitfalen und bie 
Rheinprovinz; die größte Zahl Schubmachermeifter Kat 
Württemberg (73 auf 10000 Einw., 52 in Altpreußen), 
während nach Viebahn in Frankreich 52, in Deftreich 
20 Meifter auf diefelde Einwohnerzahl fommen. Was 
die hiſtoriſche Entwicklung betrifft, jo wirken man- 
-herlei Urjachen neben und gegen einander. Sch theile 
zunächit das Reſultat der preußifchen Aufnahmen mit, 
um daran die weiteren Bemerfungen zu knüpfen. 
Man zählte: 


1) Bienengräber, Statiſtik des Verlehrs, ©. 397. 
2) Bgl. oben S. 302; ferner Mittheilungen I, 234; 
Tabellen und amtliche Nachrichten V, 833. ®Biebahn II, 680. 





Die Schuhmacher. 623 





Meifter Auf Auf 1 
und 100 Mſtr. Gewerbe⸗ 
treibenden 

Gehülfen kamenfamen 


zuſ. Gehülfen Einw. 


Jahre | Meifter Gehülfen 








1816 | 50157 | 27970 | 78127 56 138 


1822 | 56728 | 27976 | 84704 49 138 
1825 | 61775 | 32986 | 94761 53 129 
1828 | 64419 | 32968 | 97387 51 131 
1831 | 65870 | 32630 | 98500 | . 49 133 
1834 | 69993 | 35656 | 105649 61 128 
1837 | 73708 | 39616 | 113 324 54 125 
1840 | 77380 | 42826 | 120 206 55 125 
1843 | 81126 | 45455 | 126581 56 123 
1846 | 86163 | 48363 | 134526 56 120 
1849 | 87964 | 48493 | 136 457 55 119 
1852 | 90841 | 53583 | 144424 59 117 
1855 | 90328 | 51179 | 141507 56 121 
1858 | 90984 | 54851 | 145 835 60 122 
1861 | 94849 | 59342 ı 154191 63 120 


Zunahme 
1816—61|100:189,,1100:212,,| 100:197,, | 100:112,, |100:110,, 


Im ganzen Zollvereine zählte man 1861 - 189 006 
Meifter mit 127 875 Gehülfen; auf 100 Meifter fom- 
men 60 Gehülfen. 

Die Zunahme des Gewerbes von 1816 —46 (um 
10 %, ſtärker als die Bevölkerung) darf theilweiſe 
wenigftend als Folge des ſteigenden Wohlitanves 
betrachtet werden. Es hatte ſich bis dahin in der 
Zechnif und in der Organijation des Gewerbes nichts 
geändert. Freilich wäre eine Zunahme des Schuhver- 
brauche auch denkbar ohne Zunahme ver Geiwerbe- 
treibenden, da die Schuhmacher von jeher zugleich 
eind der Gewerbe waren, welches am meiften über 
eine zu große Zahl von Meiftern klagte. Beſonders 


624 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


ſo Yange faſt nur auf Beitellung, faft gar nicht auf 
Lager gearbeitet wurde, war es eines der am leich- 
teften und mit den wenigiten Mitteln zu evgreifenden 
Gewerbe. Das Bedürfniß an Schubmachern war von 
jeher groß, es ftieg mit jeder allgemeinen Beſſerung 
der wirtbichaftlichen Verhältniſſe; der Zudrang war 
daber immer groß; die halbbeichäftigten Eriftenzen waren 
immer zahlveih, der Jahrmarkts⸗ und Wochenmarfts- 
bejuch war die Folge Davon. Diele Lage ver überwie- 
genden Zahl der Meiſter erflärt zugleich ven koloſſal 
jteigenden Xeberverbrauch neben der mäßigen Zunahme 
der Schuhmacher. Bis 1849 (vorübergehend jogar noch 
einmal 1855) bleibt auch die Zahl ver Gebülfen jo 
niedrig als fie 1816 war: auf 100 Meifter nur 56 Ge 
hülfen; d.h. jeder Gefelle, der in ein gewiſſes Alter 
fommt, und dann nicht zu einer andern Beſchäftigung 
übergeht oder auswandert, verjucht als Meijter fein Glück. 

Bon da bis 1861, noch mehr von 1861 bis zur 
Gegenwart ändern ſich vie Dinge; und es zeigt fich das 
auch in den Zahlen. Die Gejammtzahl der Schub- 
macher bleibt 1846 — 61 gegenüber der Bevölkerung fo 
ziemlich Stabil, während ver Lederkonſum noch viel ftärker 
wächſt; die Gehülfenzahl fteigt wenigftens etwas umd 
deutet darauf hin, daß neben.den zahlreichen Kleinen 
Meijtern, deren Klagen in diefer Zeit lauter als je 
ertönen, einzelne größere Geſchäfte fich bilden. Es 
beginnt der Umſchwung in ver Zechnif, wie in ber 
Geſchäftsorganiſation. 

In den Städten bilden ſich die Magazine; die 
verarmten Meiſter, welche die Mittel Leder zu kaufen, 


Die Schuhmacherei im Großen. 625 


nicht mehr befigen, müſſen für fie arbeiten. Es beginnt 
mehr umd allgemeiner das Arbeiten auf Lager; die kauf— 
männijche Spekulation bemächtigte fich der Sache. Der 
Zollverein, der 1842 — 46 erſt eine Mehrausfuhr 
von jährlich 1559 Ztnr. groben und 1068 Zinr. feinen 
Lederwaaren hatte, bringt e8 1860 — 61 auf eine Mehr- 
ausfuhr von 16781 Ztnr. groben und 10532 Zinr. 
feinen Lederwaaren. Damit befamen die Schufter als 
Hausinduftrie eine andere Stellung. Interhalb tes 
Zollvereins freilich hatten längſt einzelne Orte Schuhe, 
Stiefeln und Pantoffeln auch für weiteren Abſatz ange- 
fertigt. Schon 1822 ift der 10te Kahlauer ein Schub- 
macher, ebenjo der 34 fte Erfurter; 1846 der Ste Kahlauer 
und der 30 fte Erfurter. Aber eine folche Produktion war 
doch mehr vereinzelt. Mit dem heutigen Verkehr Tonnte 
diefe Art des Betriebes einen neuen Aufichwung nehmen, 
um fo mehr als an folden Orten größere Gejchäfte 
entjtanden und alle Fortfchritte der Technik ſchnell ein- 
geführt wurden. Im Erfurt: waren jchon 1849 neben 
410 Meijtern mit 411 Gebülfen 5 Schubfabrifen mit 
148 Arbeitern. In Mainz bat jest ein Gejchäft 
allein 160 männliche und weibliche Arbeiter. In 
Württemberg geht der Schuherport von Zuttlingen und 
Balingen aus. In Thüringen kommen bejonders noch 
Gotha, in der Provinz Sachen Naumburg und Müpl- 
haufen in Betracht. Im Königreich Sachjen Tiefen bie 
Groitz'ſchen Schuhmacher mit 339 Gefellen und Lehr- 
Iingen, 1200 anderen Perfonen und 44 Steppmajchinen 
jährlich 72000 Dugend Paar Schuhe. In der Rhein- 
pfalz ift neben Worms vor Allem das Fleine Städtchen 
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 40 


626 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


Pirmajenz als Schubmacherort befannt. Die Entftehung 
des Gewerbes an diefem Ort ift komiſch genug. Land⸗ 
graf Ludwig IX von Helfen Hatte feine Nefidenz dahin 
verlegt und wollte daſelbſt möglichht viel Soldaten, 
zugleich aber eine zunehmende Bevölkerung haben; er 
machte feinen Soldaten das Heirathen zur Pflicht, 
erlaubte ihnen aber nebenher ein Gewerbe zu treiben; 
fie warfen fich hauptfächlich auf die Schuhmacheret, bie 
Birmafenzer Schuhmänchen gingen damit haufiren; jetzt 
zählt der Ort von 8000 Einwohnern 13 größere und 
63 kleinere Gefchäfte mit 17 Buchhaltern, 54 Zuſchnei⸗ 
dern, 1154 Arbeitern und 466 Arbeiterinnen mit 60 
bis 90 Näh-, Sohlichneive- und andern Majchinen.' 
Sie Tiefern jährlih 130000 Dugend Paar Stiefeln 
oder Schuhe im Werthe von etwa 2 Mil. fl.; ber 
Export geht nach Oſt⸗ und Weftindien, Auftralien und 
Südamerika. 


Die erſte wichtigere Aenderung der Technik, war 
die in den vierziger Jahren aus Amerika importirte 
Methode, die Sohlen mit Holzſtiften aufzunageln ſtatt 
zu nähen; die Arbeit geht raſcher und iſt beſſer; auch 
iſt die Arbeitsart freier, der Konſtitution des Körpers 
angemeſſener. Später kam die Nähmaſchine, welche 
beſonders mit ver zunehmenden Verwendung von Ge 
weben für das. Schuhwerk von Damen die Anfertigung 
der oberen Theile der Schuhe ſehr erleichterte. Be 


1) Deutſche Ausftellungszeitung v. 20. Mai 1867, Rr. 20 
verglichen mit Viebahn III, 682. 


Die techniſchen Kortfchritte in der Schuhmacherei. 627 


ſondere größere Geſchäfte bildeten fich, welche einzelne 
Theile en gros produziren und liefern — wie Abfüße, 
Schubverzierungen, Gummizüge u. |. w. Cine Majchine 
zum Anſchrauben ver Sohlen befand fich jchon 1851 
auf der Londoner Ausftellung; im neuerer Zeit kom⸗ 
men ſolche Mafchinen in den preußifchen Militärſchuh⸗ 
machereien zur Anwendung; eine Berliner Fabrik Yiefert 
fie das Stüd zu 200 Thlr. Der vollftänvige Ueber: 
gang zur Maſchinenanwendung aber Datirt erft aus neueſter 
Zeit. Er bat fich — jagt der Ausitellungsbericht von 
1867 — feit faum zwei Iahren und fo zu jagen plöß- 
lich vollzogen. Den Anftoß gab das induftrielle Amerika. 
Mehr als drei Jahrtauſende, feit der Zeit ver Pharao- 
nen, bat man die Schube in gleicher Weije einfach mit 
der Hand gearbeitet, jest ift Die rein mechaniſche An- 
fertigung gelungen. Man konnte den Beweis hierfür 
auf der Ausitellung jelbit jehen. Im einer ver aus- 
geftellten Werkſtätten konnte man fich ein Paar Leber- 
gamajchenichuhe nach Maaß unter feinen Augen binnen 
45 Minuten anfertigen laſſen. Die Mafchinen von 
Silvan Depuis et Comp. waren darauf eingerichtet nur 
durch Frauenhände bedient zu werben; eine Majchine 
lieferte mit einem Arbeiter täglich 23 — 27 Paar Schube, 
eine andere die doppelte Zahl, während jetzt ein Geſelle 
allein 4 Stunden zum Annageln eines Paares mit Holz- 
ftiften braucht. Die Mafchinen, um welche es fich 
handelt, find abgefehen von der Schraubenmajchine, die 
Leiſtenſchneidemaſchine, die Stanzmaſchine, welche die 
Sohlen nach beitimmten Nummern herausſticht, Die 
Walzmafchine, die Sohlenpreffe, die Abſatzpreſſe und 
| 40 * 


[7 


628 Die Umbildung einzelner Gewerbtzweige. 


bie Hobel- und Glättmaſchine, beide letztere zur Her- 
jtellung der Abjäe.! 

Die meiften diefer Mafchinen find in Deutjchland 
noch kaum bekannt. Mit ihrer Verbreitung werben fie 
noch mehr das Vebergewicht der großen Gejchäfte ver- 
jtärfen und bem Eleinen Meifter die Konkurrenz erſchwe⸗ 
ven;. defto mehr kann aber auch eine fteigende Bro- 
buftion mit abnehmender Perfonenzahl ftattfinden. ‘Den 
feinen, Meiftern bleibt auch dem gegenüber nur ber 
Weg der Genoffenichaft übrig, den fie gerade in ber 
Schuhmacherei auch fchon mit einigem Erfolg betreten 
haben; zunächſt allerdings nur, um fich die Robftoffe 
befjer und billiger zu bejchaffen.? 

Schulze erzählte jelbit auf dem volfswirtbichaftlichen 
Kongreß zu Gotha 1858 darüber Folgendes: „Man 
macht ſich kaum Borftellungen davon, wie jehr bie 
ärmeren Handwerker von den Zwiſchenhändlern in ben 
Preifen beraufgefett werden. Ein einziges Baar Stiefel- 
ſohlen kam in der Alfoziation 25 %, billiger und dazu 
war das Material beſſer. Als nun gar in den lesten 
Sahren die hoben Leberpreife, "welche im Jahre 1857 
bi8 auf 100 %/, gegen früher geftiegen waren, eintraten, 
war für viele Mitglieder jene die einzige Rettung. Der 
Aufihwung des Schuhmachergewerkes in Delitzſch, wel- 
ches fich zuerft affoziirte, war bald jo bebeutend, daß 


1) Oeſterr. Ausftellungsberit, IV, 240; Ausfellungs- 
zeitung Nr. 31 u. 32. 
2) Bergl. oben ©. 233, 


Die Schuhmachergenoffenſchaften. 629 


die Schuhmacher aus den Nachbarftäbten, welche mit 
den Deligich’en die Märkte bezogen, zu mir famen und 
fagten: wir können mit den Schuhmachern in Delitzſch 
nicht mehr konkurriren, fie haben ihren Markt nad 
Magdeburg Hin ausgedehnt, wir wünfchen ung auch zu 
affoziiren.” Die Bewegung fam in Gang; im Jahre 
1863 zählte Schulze bereits 33 preußifche, 18 fächfiiche 
und 30 andere deutſche Schuhmacherrohftoffgenoffen- 
ſchaften; 1866 find e8 22 preußiiche, 15 ſächſiſche und 
25 andere deutſche Robftoffvereine, neben einigen Ma⸗ 
gazin= und Produftivgenoffenichaften, die Zahl Hat aljo 
feither nicht zugenommen, wohl aber haben einzelne 40, 
60 ja bis 140 Mitglieder; der Berliner Verein hat 
1868 für 39016 Thaler, ver Wolfenbütteler für 
31104 Thlr. Leder an die Mitgliever verkauft. 
Gegenüber ver Geſammtzahl der 189006 zoll: 
vereinsländiichen Meifter ift e8 allerdings immer noch 
unbedeutend, wenn einige Hundert durch die Rohſtoff⸗ 
vereine in beiferer Lage find. Und dann reichen die 
Robftoffvereine nicht aus, Die Lage der Betreffenden 
von Grund aus zu beffern; die Produktion bleibt unvoll- 
fommen, der Abſatz prefür. Die Geichäftsführung ver- 
Yeitet Teicht die Vorjtände, den Verein für fich auszunugen. 
Biele dieſer Genofjenichaften ſind dadurch wieder zu 
Grunde gegangen, daß die an der Spike ftehenben 
Meifter. immer das beite Leder für fich ausjchnitten. 
Das was num für die Hleineren und ärıneren Mitglieder 
übrig blieb, war nicht befler, als fie es ſonſt erhalten 
fonnten. Und fo löſten fich die Vereine wieder auf. 
Es fehlt Hier, wie in andern Gewerben, an ben Leuten, 


s 


630 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


welche die Genoſſenſchaft richtig Yeiten und zuſammen⸗ 
balten können. Die Maſſe der Meeifter ift im fchlechter, 
elender Lage. Jedem, der praftiich in umfern großen 
Städten ſich um das Armenweien befümmert hat, vem 
ift der hungernde verarınte Schuhmacher mit zahlreicher 
Kinderſchaar als typiſche Erſcheinung befannt. Und ein 
neuer Stoß bereitet fich vor, wenn die Mafchinen fieg- 
reich weiter vordringen und doch zunächit nur Einzelne, 
feien e8 einzelne Meifter oder einzelne Genoſſenſchaften, 
fie einführen. 


Während wir bei den Schuhmachern mit einem 
einfachen Gewerbe zu thun batten, kommen wir bei ven 
Kürſchnern zu einem Handwerke, das in der Regel mit 
einem Handelsbetriebe werthvoller Wanren, mit bem 
Pelzhandel, verbunden ift. Die Anfertigung von Mützen 
ift ein einfaches Gewerbe, der Pelzhandel dagegen ſetzt 
ein bedeutenderes Kapital voraus. “Die Inhaber größerer 
Pelzwaarenmagazine in den Städten gehören in ver 
Regel zu den wohlhabendften Mitgliedern des Bürger: 
ſtandes. Es Handelt fich eigentlich um zwei zwar 
häufig verbundene, aber doch ſehr verichtevene Gewerbe; 
in beiden iſt die Iofale Produktion zurückgetreten gegen: 
über der Mafjenanfertigung; aber das eine Tann. als 
Handelsgewerbe noch gut eriftiven, während Das andere 
hierfür zn ärmlich if. Danach tft die folgende Tabelle 
zu beurtbeilen, welche die preußiichen Kürfchner, Rauch⸗ 
waarenhändler und Mütenmacher umfaßt. Im ganzen 
Zollverein zählte man 1861 - 8045 Kürjchner mit 
15 992 Gehülfen, 


Die Kürſchner uud Mützenmacher. 631 


Meifter Auf 


Auf 
1&ewerbe- 
Jahre Meifter | Gehülfen und |100 Mſtr. .ipenben 


Gehflfen kamen kamen 
zuſ. Gehülfen Einw. 


1816 3040 — — — — 
1822 2753 — — — — 

1831 2929 — — — — 

1834 2 800 — — — — 

1837 2871 1764 4625 61 3 060 
1840 3121 2321 5442 74 2 754 
1843 3 446 2 664 6110 77 2019 
1846 4229 8 009 17238 71 2235 
1849 4444 3102 7546 69 2164 
1852 4763 3488 8251 73 2052 
1855 4816 3499 8315 72 2.068 
1858 4965 3590. 8565 72 2078 
1861 5.065 3774 8849 74 2090 

Zunahme 


1816— 61 10: 166 
1837 —61 |100:176,, 1100: 215, 100: :190, 100: :121, 100: :146, 


Der Verbrauch an Pelzwaaren ift in fälteren Ge⸗ 
genden nicht bloß ein Luxusbedürfniß, jondern eine Noth⸗ 
wendigfeit; mit jteigendem Wohlſtand wird er in 
den höhern Klaſſen bebeutend zunehmen, wie auch bie 
Mehreinfuhr von Fellen zur Pelzbereitung im Zollverein 
beweiſt; ſie betrug jährlih 1842 — 46 - 8064 Ztnr., 
1860 — 64 - 11564 Ztne.;* die Einfuhr Hat fich faft 
auf das Doppelte in diefer Zeit gehoben, aber auch bie 
Ausfuhr ftieg. Leipzig mit feiner Meſſe ift ja überhaupt 
ber größte Marft für Pelzwaaren; die jährlich dahin 
gebrachten Pelze werben auf über 6 Millionen Thaler 


1) Bienengräber, Statiftil bes Verkehrs, S. 394. 


632 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


gefchägt: etwa ber dritte Theil der Gefammtprobuftion 
der Erbe. 

An diefes große Geſchäft Haben fich bejonvers in 
Leipzig und Berlin größere Kürfchneretabliffements an- 
geichloffen, welche das Reinigen und erben der Telle, 
das Umarbeiten derfelben zu Röden, Mänteln, ‚Kragen, 
Müten, Handichuhen, Müffen und Halswärmern im 
Großen betreiben und ihre Produkte ind Ausland wie 
an die inländiſchen Lokalgeſchäfte abſetzen. Die größere 
Leiſtungsfähigkeit folcher Geſchäfte erlaubt eine Aus- 
dehnung der Geichäfte ohne ſtark wachſende Perfonen- 
zahl. Dagegen wachlen neben ihnen auch die Iofalen 
Geſchäfte, mehr ald Magazine, vom Handel und Re 
paraturen lebend, als jelbjt das Kürjchnergeichäft noch 
ausübend. Je mehr dieſe Lokalgefchäfte aber bloße 
Handelsgeichäfte find, deſto weniger werben fie eine 
fteigende Gehülfenzahl beichäftigen. 

Aus ähnlichem Grunde Hat die Zahl ver aus: 
ſchließlich Müten verfertigenden Meifter wahrſcheinlich 
nur bis in die vierziger Sabre zugenommen. Wenn 
fih auch die Technik der Mütenanfertigung feither kaum 
fehr geändert hat, jo hat fich doch die Produktion umter 
Zuhülfenahme von Nähmafchinen und Arbeitstheilung 
fonzentrirt, der Geſchmack fpielt eine größere Rolle ale 
früher. Cine Reihe von Magazinen verkaufen nebenbei 
Müten, welche fie in größeren Quantitäten aus ben 
Hauptfiken der tonangebenden Mode beziehen. ‘Der 
Heine bloße Mütenmacher oder Mützenhändler ift jetzt 
einer der ärmlichſten Handwerker. Ich glaube, daß 
dieſe Art von feinen Gefchäften jogar eher abgenommen 


Der Pelz- und Mütenhanbel. 633 


hat; die obigen Geſammtzahlen der hierher gehörenden 
Gewerbetreibenven zeigen auch gegenüber der Bevölkerung 
von 1852 an eine Abnahme, was ich auf die abneb- 
menden Mübenmacher zurücführen möchte, neben welchen 
der Belzbanvel wahrſcheinlich noch zugenommten bat. 
Daß ver Pelzhanvel den Schwerpunkt ver Geſchäfte 
diefer Rubrik bildet, fiehbt man auch Har aus der pro- 
vinziellen Vertheilung; man zählte: 


1837 1861 
Meifter Gehülfen Meifter Gehülfen 
in Preußen. . . 502 365 849 335 
s» Bien . . . 737 807 873 253 
» Brandenburg . 331 305 719 565 
s Bommern . . 100 107 258 108 
» Shlefen . . 796 456 1019 436 
» Sedien. . . 285 145 582 252 
: Weffallen . . 4 21 278 128 
am Rhein . . . 77 48 479 236 


In den öftlichen Fälteren Provinzen ift die Mehr- 
zahl der Geſchäfte; am Rhein und in Weitfalen fehlten 
fie früher faft ganz, daher hier 1837 — 61 eine beträcht- 
liche Zunahme. 

Gehen wir von der Mütenmacherei zu der Hand: 
jchuhmacheret über, jo find die gewebten Handſchuhe zu 
unterfcheiven von den zugefchnittenen und genähten. 
Jene werden von den Strumpfwirfern geliefert, viele 
von den Handſchuhmachern. Die frühere deutſche 
Handſchuhmacherei lieferte Hauptjächlich ſchwere lederne, 
leinene und wollene Handſchuhe. Die moderne Glagçé⸗ 
handſchuhfabrikation kam durch vertriebene Hugenotten 
im 17. Jahrhundert nach einigen großen Städten, nach 


634 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Erlangen, Dresden, Prag und Berlin; vie beutiche 
Gerberei hatte früher das Leber nicht jo weich, zart 
und elaftiich berzuftellen vermocht. Später entwickelte 
fich dieſe Glaçéhandſchuhmacherei in allen halbwegs 
bedeutenden Städten, Daneben wurden aber noch ziemlich 
viel franzöfiiche Waaren eingeführt. Bis Mitte der 
funfzjiger Iahre Hatte der Zollverein eine Mehreinfuhr 
von ledernen Handſchuhen, erſt von da Bat ich bie 
Fabrikation fo gehoben, daß fich eine Mehrausfuhr heraus- 
ftellte. Zollvereinsländiiche Handſchuhe konkurriren jekt 
mit engliſcheu, franzöfiichen,, öfterreichiichen im Auslande. 
"Die Zunahme der Produktion bat aber wieder 
zwei verſchiedene Epochen, wie die folgende Tabelle ver 
preußifchen Handſchuhmacher zeigt: 










Meifter Au Auf 
nd 100 Dh. 1 Gewerbe: 
Jahre MeiſterGehülfen treibenden 


Gehülfen kamen faınen 
zul. Sehülfen Einw. 








1822 1343 597 1940 44 6 038 
1831 366 872 2238 64 5850 
1834 1408 2 2285 63 5937 
1837 1442 994 2436 68 5811 
1840 1498 1153 2651 17 5655 
1843 1 502 1116 2618 74 5934 
1846 1 238 1 2247 81 7201 
1849 1 300 1101 2401 84 6801 
1852 1 277 1 245 2522 97 6711 
1855 1278 1222 2500 95 6 881 
1858 1 277 1 252 2539 98 7014 
1861 1 336 2091 3427 156 5687 
Geſ.⸗Aend 


erg. 
1816—61 | 100:95, |100:368,,1100:174,,1109:380,,| 100:93, 


Die Handſchuhmacher. 635 


Die Zahl der Meifter, d. 5. ver Heinen mehr 
Iofalen Geichäfte, nimmt zu bis 1843; von da gebt 
fie zurüd, während nun von 1840—61 bie Gehülfen- 
zahl fich verboppelt und die Gefammtzahl der Gewerbe⸗ 
treibenden gegenüber der Bevölkerung jo ziemlich jtabil 
bleibt. Letzteres wäre ohne Zweifel nicht ver Tall, 
wenn bie ſämmtlichen Frauen und Mädchen, welche für 
größere Geichäfte zu Haufe vandſchuhe nähen, mit ver⸗ 
zeichnet wären. 

In dieſer Weiſe hat ſich nämlich bie große Induſtrie 
geftaltet, daß der Fabrikant nur das Leder einfauft, die 
Handichuhe — theilweife mit der von Jouvin erfunvdenen 
Machine — zufchneivet, das Nähen aber als Haus- 
inbuftrie und meiſt noch mit der Hand bejorgen läßt. 
Die Berliner Geichäfte haben fich vielfach — der 
Theurung in Berlin wegen — wach Potsdam gezogen 
und laſſen dort in der Umgegend auf dem Lande nähen. 
Außerdem find die größten Handſchuhfabriken des Zoll- 
vereind in Luxemburg, wo jährlich etwa eine Million 
Zidel- und Lammfelle von 5 Fabriken mit 1576 Arbei- 
tern verarbeitet werben, in den Städten Aachen, Kaffel, 
Magdeburg, Halberftadt, Erlangen, im Königreich 
Sachſen und in Schlefien.! Auch in Deftreich blüht 
die Handſchuhmacherei und hat ſich dort faft noch mehr 
als im Zollverein Tonzentrirt. „In Wien allein‘ 
berichtet Rehlen ? „find mehr als 250 Geſchäfte etablirt, 





1) Preuß. Handelslammerberichte pro 1865, ©. 481. 
2) Gedichte ber Hanbwerke und Gewerbe, zweite Ausgabe, 
Leipzig 1856. ©. 148. 


636 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


welche einjchließlich der Nätherinnen über 4000 Arbeiter 
beichäftigen und an 18000 Dutzend Glaçohandſchuhe 
verfertigen, im Werth von mehr als einer Million 
Gulden. Prag befist etwa 50 Etabliffements, welche 
über 25000 Dutzend im Werthe von 200 000 Gulden 
prodiziren.” Der ganze Zollverein zählte 1861 - 1854 
Meifter mit 6520 Gehülfen, an welcher Zahl ſich 
deutlich erkennen läßt, daß der Uebergang zu größern 
Geſchäften meift fich vollzogen bat. In Sachen fommen 
auf 85 Meijter 792 Gehülfen, in Thüringen auf 33 
Meifter 815 Gehilfen. 

Der Iofale Vertrieb tjt zu einem großen Theile 
auf Modewaarenhandlungen und Magazine verjchiedener 
Art übergegangen. Doch profperiren auch immer noch 
Iofale Geſchafte in allen größern Städten. Manche 
Leute wünfchen doch *Handichuhe nach Maß und die 
Produktion iſt techniſch immer noch einfach; felbft bie 
Zuſchneidemaſchine tft nicht allzutheuer und ihre Vor: 
theile find mäßig. Ich kenne Geichäfte, wo fie vor: 
handen ift, aber nicht regelmäßig benutt wird. 

Die Anfertigung von Halsbinden, Halstüchern, 
Kravatten, Schlipfen und ähnlichen Artifeln, welche 
früher dem Iofalen Hanvichuh> oder Mützenmacher zu: 
fiel, ift in neuerer Zeit auch auf wenige große Gejchäfte 
iibergegangen, welche durch Direftricen Die einzelnen 
Beftandtheile zufchneiven und fie von Arbeiterinnen in 
ihren Wohnungen nähen lafjen.! 


— — —— — 


1) Ausſtellungsbericht von 1851, I, 666 - 68. 





Die Kravattenmacherei und die Strobhutmanufaltur. 637 


Unter den Gewerben, welche jich mit der Bebedung 
des Kopfes beichäftigen, war die Strohhutmanufaktur 
niemals eigentlich ein lokales Gewerbe; urjprünglich in 
Toskana zu Haufe, kam fie als Hausinduftrie nach der 
Schweiz, nach dem Schwarzwalde, dann auch nach Sachlen, 
Schlefien, in's Eichsfeld und jo ift die Strohhutfabri: 
fation und Strobflechterei heute noch mehr eine Neben- 
beichäftigung in ländlichen Kreijen, Hat durch beſondere 
Schulen eingeführt theilweife das Spinnen und Weben 
erjegt. Die aufgenommenen Zahlen von Arbeitern find 
daber auch wenig zuverläffig; man zählte in Preußen 
1861 auf 99 Tabrifen 964 männliche und 1245 weib- 
fiche Arbeiter, im Zolfverein auf 496 Fabriten (Baden 
allein 239, wobei wohl die Faktore mitgerechrtet 
find) mit 2068 männlichen und 3850 weiblichen 
Arbeitern. 

Dagegen war die Anfertigung von Filzhüten, forte 
von Seidenhüten, früher Sache Iofaler Handwerker; 
hierin ift ein großer Umſchwung eingetreten; ber leichte 
Verkehr und die Herrichaft ver Mode nicht bloß, fon- 
dern auch eine ganz veränderte Technik begünftigte den 
Uebergang zu einigen wenigen großen Fabrifen. Die 
Enthaarung der Felle und Zurichtung der Haare für 
die Hutmacherei ift anderwärts jchon ein eigenes Gewerbe 
geworben; fie iſt in Deutſchland meift noch mit der Hut- 
macherei verbunden, doch erijtiren auch fchon einige größere 
Etabliffements in Hanau, Darmftadt, Offenbach und 
Berlin. Auch die früher mit der Hutmacherei ver- 
bundene Anfertigung von Filzſchuhen und anderen Filz 
waaren bat fich zu befonbern größeren Gefchäften abge- 


638 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


ſchieden.“ Einzelne ver großen Hutfabriten haben jekt 
mebrere hundert Arbeiter. Auf der Pariſer Ausstellung 
von 1867 befand fich eine vollftändige Dampfhutfabrit,* 
in welcher jo ziemlich alle Stadien der Zabrikation, vom 
Abwiegen der zu einem Hut erforberlichen Quantität 
Kaninchenhaare bis zur letzten Garnirung, dem mecha⸗ 
niſchen Betriebe anheimgegeben waren. Darnach kann 
die folgende Tabelle der preußiſchen Hutmacher uns nicht 
in Erſtaunen ſetzen; man zählte: 









Meifter 
und 
Gehülfen 


1816 2166 1554 3 720 12 27% 
1822 2299 1349 3 648 59 321 
1831 2128 834 2 962 39 44% 
1834 2048 833 2831 41 4709 
1837 1917 898 2815 47 029 
1840 1792 946 2 738 53 5475 
1843 1654 907 : | 2561 55 6 066 
1846 1596 992 2 588 62 6 252 
1849 1475 939 2414 63 6 765 
1852 1379 967 2 346 70 7219 
1855 1285 1058 2 343 82 7342 
1858 1284 1 263 2547 98 6 965 
1861 1329 1933 3262 145 5.669 
Aenderung 


1816 —61 | 100: 61, |100:123, | 100: 87,, | 100:201,,] 100: 49, 
Noch nicht ganz die halbe Zahl der 1816 beichäf- 
tigten Perfonen reicht 1861 aus, einem gewiß größern 


1) Viehbahn III, 666. j 
2) Deutſche Ausftellungszeitung Nro. 32. 


Die Hutmadherei und die Blumenfabrile. 639 


Bevürfniß zu genügen. Im Zollverein fommen 1861 
auf 3117 Meijter 5362 Gehülfen oder Arbeiter. An 
Heinen Orten halten fich wohl noch die Heinen Meifter, 
aber mehr als Händler; in den großen Städten eröffnen 
die Fabriken ſelbſt große Magazine und verlaufen da= 
neben an die Handlungen, welche bie jämmtlichen 
Herrengarberobeartifel führen. 

Während die männliche Kopfbevedung im Laufe 
ber Zeit immer einfacher, ftereotyper wird, läßt fich 
das von der weiblichen nicht jagen. Phantaſie und 
Diode find bejtrebt, in mannigfaltigjter, immer wechjeln- 
der Weije den weiblichen Kopf mit allen möglichen Arten 
von Kopfbedeckungen zu zieren, babet in der raffinirteften 
Weiſe den Strob- oder Filzhut, die Spitzen⸗ over Tüll- 
haube mit Bändern, Schleifen, Blumen und Federn zu 
deforiren. Die Band» und Pofamentiergewerbe liefern, 
abgejehen von ven Hüten und breiten Geweben, Dazu 
die Robftoffe; auch hierfür find beſondere große Geichäfte 
in Berlin, Leipzig und Frankfurt thätig, ſoweit Diele 
Waaren nicht vom Ausland bezogen werden. Daneben 
fonımen die Gewerbe der Buntftider, Blumen-, Feder⸗ 
und Federbuſchmacher und Strohhutnäher in Betracht, 
welche in den Zabellen als eigene Kategorie zuſammen⸗ 
gefaßt, in Preußen 1861 - 437 Meifter mit 1148 Ge⸗ 
hülfen, im Zollverein 1936 Meifter mit 7 811 Gehülfen 
zäblen. Schon die Zahlen zeigen, daß es vielfach 
größere Geichäfte find. Die wichtigjte Abtheilung ift 
die fünjtliche Blumenfabrifation, die auch im Zollverein 
rajche Fortſchritte macht, ihr Vorbild aber immer noch 
in Frankreich und fpeziell in Paris bat, woher noch 








640 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


ein großer Theil der im Zollverein verbrauchten Blumen 
bezogen wird. Die bortige Induſtrie Hat eine .jeltene 
Bollendung und einen feltenen Umfang erreicht; der 
Werth der probiszirten Waaren war 1847 - 11, 1858 
16, 1867 - 25 Mill. Fres., wovon etwa die Hälfte 
der Handarbeit, zu dem größten Theil Frauen und 
Mädchen, welche zu Haufe arbeiten, zu Gute kommt. 
Bejondere Graveure und Werkeugfabrifanten Tiefern die 
Matrizen, Preffen und Modelle für die Tünftlichen 
Blumen; darunter find wirkliche Künſtler; je treuer und 
ſchöner fie die Natur nachzuahmen verſtehen, deſto voll- 
endeter find die Produkte. Dann fommen die Fabri— 
Tanten, welche mit ftrenger Sonderung der einzelnen 
Beitandtheile, Kelche, Samenkapſeln, Knoſpen, Gräfer, 
Körner liefern. Cine dritte Gruppe färbt und preßt die 
Stoffe und ftellt Zweige ber. Dann erit kommen die 
eigentlichen Blumenmacher, welche die meilten Frauen 
beichäftigen, wobei auch wieder ftrenge Arbeitstbeilung 
zwilchen Trauerblumen, Roſenfabrikanten ꝛc. ſtatt⸗ 
findet. Endlich kommen die Blumenmodiſten, welche 
die verſchiedenen Blumen zuſammenſetzen, Bouquets 
und Kränze fertigen, hauptſächlich aber in den Ma—⸗ 
gazinen die Waaren verkaufen, die Mode beherr⸗ 
ſchen, die Verwendung für die einzelne Toilette 
beſtimmen. 

In annähernder Weiſe bat ſich auch das Geſchäft 
in Deutſchland geſtaltet. Die Herſtellung der Materialien 


1) Ausſtellungsbericht von 1851, III, 594. Oeſtr. Aus⸗ 
ſtellungsbericht 1867, Bd. IV, 232. 


Die Putzmiachergeſchäfte. 641 


ift Sache beſonderer größerer Geſchäfte; im Putzmacher⸗ 
laden findet nur die Zuſammenſtellung und Anpafjung, 
das Zufammennähen ftatt. ‘Der perjönliche Gejchmad 
der Dirigentin ijt die Hauptſache; das lokale Bedürfniß 
macht überall Geſchäfte nothwendig; bis auf die Yand- 
jtädte und Dörfer dringen die neuen Moden jett, und 
jo ſehen wir, daß bei den Pukmachergeichäften mehr 
die Zahl der Gejchäfte als ihr Umfang zunimmt. Man 
zählte in Preußen (im Zollverein 1861 - 12 832 Ge— 
Ichäfte mit 13348 Gehülfen): 








Meifter | Gehülfen | geide 
Jahre und Mei-| und Ge⸗ famen j 
zufammen amen 
Rerinnen | billfinnen | Gehülfen Einwohner 


A Auf 
100 Dar 1 Gewerbe- 





69 2172 
73 2.052 
12 1876 
70 1877 
93 1489 





Zunahme 
1816 — 1861 |100:1387 , 
Zunahme 
1849 — 1861 [100 :144,,j100: 195, 100:165,1|100:134,,| 100: 145, 


Die bebeutende Zunahme hat übrigens neben der 
ſteigenden Wohlhabenheit und dem größern Luxus noch 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 41 


642 Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. 


eine weitere Urſache. Es findet ein großer Zudrang 
zu dieſem Gewerbe ftatt. Die Mehrzahl der Gefchäfte 
ift in weiblichen Händen, wie die Mehrzahl der Ge- 
hülfinnen junge Mädchen find, welche theilweiſe nur 
das Gewerbe erlernen wollen, jedenfalls fich ibm gerne 
zuwenden, da es immer noch etwas bejjern Verdienſt 
giebt, als die bloße Nätherei. Von ven preußijchen 
6424 Geichäften haben 6177 weibliche Vorjteber, von 
den 5989 Gehülfen gehören 5819 dem fchönern Ge- 
ihlechte an. Die Geichäftsinhaberinnen find meift 
Wittwen, ältere unverheirathete Fräuleins, vor Allem 
rauen von Heinen Geichäftsleuten, von Angeftellten, 
deren Einkommen nicht ausreicht. Die Frau verfucht 
durch ein Putzgeſchäft das Fehlende zu erjegen; fie iſt 
mit mäßigem Verbienft zufrieven, die Konkurrenz iſt 
groß; zahlreiche Bankerotte zeigen Die Schiwierigfeit und 


den großen Andrang. Daneben gibt e8 in ven größern- 


Städten freilich immer auch eine Anzahl fehr großer 
wohlrenommirter Gefchäfte, welche entiprechend theurer 
arbeiten und das können, weil fie die wohlhabendften 
Klaffen zu ihren Kunden haben. 


Umfaffender und bedeutender als alle dieſe Heinern 
Gewerbe ift das Schneivergewerbe; es ſteht an Zahl 
faft dem Schuhmachergewerbe nahe. Ich theile zuerit 
die Ueberficht der preußiichen Schneider von 1816 — 61 
mit. Daneben will ich gleih als Ausgangspunft 
unferer Betrachtung vorausichidlen, daß 1861 von den 
76823 Gejchäftsinhabern 13741, von den 49291 


Gebülfen 8677 weibliche Perfonen find. Im ganzen 


DEE u On —— 





Die Schneider und Kleidermacher. 643 





| Meifter Gehülfen 
Sabre und Mei- | und Ge- 


zufammen| famen | famen 
fterinnen | hülfinnen Sehilfen |Einwohner 


_ 


4 Auf 
Beide 100 Tr. 1 Gewerbe» 


—— — — — - oo nn — — 
— I II I 10 — nn I — TI = 





1816 428738 | 19115 61 993 45 168 
1822 49298 | 18959 68 257 38 172 
1825 52676 | 21670 14 346 41 165 
1828 53 791 | 22022 75 813 41 168 
1831 53919 | 21290 75 209 39 174 
1834 57121 | 24623 81 744 43 166 
1837 59205 | 27913 87 118 47 162 
1840 62254 | 32357 94 611 52 | 158 
1843 65946 | 36411 | 102 357 55 152 
1846 69051 | 37738 | 106789 55 152 
1849 70428 | 35700 | 106 128 51 154 
1852 12325 | 38535 | 110 860 53 153 
1855 70 MT | 37647 | 108554 63 158 
1858 11078 | 41195 | 112273 58 158 
1861 76823 | 49291 | 126114 64 146 


“ Zunahme 
1816— 1861 |100:179,,|100:257,.1100 :208,.1100:142,, 100:115,, 


Zollverein zählte man 1861 - 169 824 Gefchäfte, Davon 
34191 in weiblichen Händen, und 98772 Gehülfen, 
Davon 16102 weibliche. Mebrigens fcheint die Auf- 
nahme in der Heranziehung der Frauen zu berjelben 
jehr verichievene Grundſätze befolgt zu haben; in Baiern 
und, Hannover find über ein Drittel der Gejchäfte in 
Frauenhänden, in andern Staaten find auf mehrere tau- 
jend männliche Schneider nur wenige weibliche Gejchäfte 
notirt, ohne daß doch eine folche reale DVerjchiedenheit 
wahrjcheinlich wäre. Diefer Umftand zeigt aber über- 
haupt, welchen Bedenken die ganze Aufnahme des 


Schneivergewerbes unterliegt. Der Uebergang von ber 
41* 


treibenden 








644 Die Umbildung einzelner Gewerhözweige 


bloßen Nätberin zum Schneivergefchäft ift ein unmerf- 
licher. Früher wurden in Preußen die Nätherinnen und 
Wäjcherinnen mit den ‚weiblichen Tagelöhnern zuſammen 
aufgenommen (z. B. 1849: 679719, wovon 149610 
in den Städten), wobei aber nicht feftzuftellen ift, wie 
viele von ven hier gezählten Frauen Nätheriunnen find. 
Die häusliche Weißnäherei ift ja wohl jedenfalls nicht 
unter der Kategorie der „Schneider mitbegriffen; aber 
fraglich erſcheint mir, ob Die theilweife mit Kleider⸗ 
geichäften verbundenen Konfeftionsgeichäfte, die Magazine 
für Weißwaaren und Damenartifel bier mitgerechnet 
find oder nicht; Dadurch erjcheint mir der Zweifel nicht 
gehoben, daß der ganze Zollverein 1861 - 4 preußiſche 
Weißzeugfabrifen mit einigen hundert Arbeitern bejon- 
ders in der Fabriktabelle aufführt. 


Trotz Diejer Unflarheit des Inhalts der Tabelle 


müffen wir verjuchen, Die Rejultate aus derjelben zu fol- 
gern. Das erfte wäre, daß die Gejammtzahl der preußi⸗ 
fchen Schneider um 15,,°/, ſtärker zunahm, als Die Be⸗ 
völferung. Nimmt mar dazu, daß die Leiltungsfähig- 
feit des einzelnen Arbeiters in größern Geſchäften fchon 
lange, auch in allen kleinern feit Einführung ver Näh— 
mafchinen, jehr gewachſen ift, nehmen wir ferner dazu, 
daß die Mehrausfuhr an fertigen Kleivern aus dem 
Zollverein feit 20 Jahren fih verzehnfacht Bat 
(1860 — 64 jährlich 11365 Ztnr. im Wertb von 
3—4 Mill. Thlr.), jo wird man einen ortfchritt 
des Gewerbes nicht leugnen Eönnen, wie man wohl auch 
mit Recht annehmen Tann, daß gerade die Bekleidung 
faft in allen Klaſſen der Bevölkerung eine beifere gewor- 


Die Zunahme ber Schneider. 645 


den ijt. Freilich bleiben daneben manche Zweifel: Die 
Zunahme des Perjonalbeftandes ließe fich auch darauf 
zurüdführen, daß jett gefaufte ober beftelite Kleider in 
vielen Kreifen getragen werben, welche früher Kleider 
trugen, die von der Familie jelbjt gemacht waren. Die 
Poefie der Nattonaltracht, der befonderen ländlichen Be- 
kleidung verjchwindet; ſelbſt der deutſche Bauer fängt 
an, fertige ftäbtifche Kleider zu kaufen. Auch Frauen- 
Heider werden gegenwärtig vielfach fertig in den Maga⸗ 
zinen gefauft, wenn gleich noch entfernt nicht fo fehr wie 
die Männerfleiver. Doch glaube ich num, daß die Zahl 
der Nätherinnen, welche im Haufe der Kunden Frauen- 
kleider fertigen, gegen früher abgenommen hat. 

In der Organifation des Gefchäfts find große 
Aenderungen eingetreten, welche aber nicht. aus der 
obigen Zabelle zu erjehen find. Ob unfere großen 
Städte ſchon Geichäfte haben, wie die Barifer, ‚welche 
nur Modelle anfertigen, ift mir zweifelhaft, 1 wohl aber 
bat fih in den größern Städten die Arbeitstheilung 
vollzogen,? welche in Paris mit den Namen „Tailleurs 


1) Oeſtr. Ausftellungsberiht Bd. IV, 230: „da gibt es 
Häufer, welche nur Modelle anfertigen, welche Zeichner, Maler, 
Literaten und Sachverſtändige aller Art bejchäftigen, mit den 
Fabriken in regem Verkehr fliehen, bie Modefarbe beftimmen 
ober wenigftens alle Stoffe diefer Art für eine gewiſſe Zeit, 
gewöhnlich drei Monate, auflaufen. Im dieſen Häufern kaufen 
die erſten Schneiber und Konfeltionsfabrilanten die Modelle und 
propagiven jene, welche Sufzeh haben.“ 

2) Bergl. bie ausgezeichnete Unterſuchung von Laspeyres, 
die Gruppirung der Induftrie in den großen Städten, Berliner 
Gemeindekalender IH, 65 — 67. 


846 Die Umbifbung einzelner Gewerbszweige. 


fabricants“ und „Tailleurs apiéceurs“ bezeichnet 
wird. In beiden Arten von Geſchäften feben wir große 
Etabliffements, welche 50 — 60, ja bis 300 Geſellen 
in ihren Räumen befchäftigen, baneben auch außer dem 
Haufe nähen Yafjen. Beide beziehen vie Tuche und 
anderen Stoffe mehr und mehr direkt vom Fabrikanten, 
um dadurch die vertheuernde Zwiſchenhand des Tuch⸗ 
händlers zu ſparen. Häufig ſind frühere Tuchmagazine 
durch Annahme eines Zuſchneiders und einer Anzahl 
Schneidergeſellen zu Kleidermagazinen geworden. Der 
Umfang der Geſchäfte, welche nach Maß und Beſtellung 
arbeiten, bleibt ſelbſt in den größten Städten in der 
Regel ein etwas geringerer. Dagegen wächſt der Um⸗ 
fang der eigentlichen Kleiderfabriken theilweiſe in's Un- 
glaublihe.r Von dem Gerfon’igen Geſchäft in Berlin, 
das hauptſächlich Damenmäntel, Mantillen, Mode- 
waaren aller Art führt und nach allen Staaten um 
Himmelsgegenden erportirt,, jchreibt Viebahn fchon 1852: 
„das Gejchäft Hat im vergangenen Jahre etwa 16000 
bi8 20000 fertige Mäntel, Mantillen ac. geliefert. In 
zwei Geſchäftshäuſern werben unter Leitung von 5 Hand⸗ 
werfsmeiftern und 3 Direktrizen 120 —140 Arbeiterinnen, 


außerdem aber in ven Wohnungen etwa 150 Meifter _ 


mit Durchichnittlich 10 Geſellen, welche nur für dies 
Haus arbeiten, und im Ganzen in folchen fertigen 
Artikeln, das Weißwaarenfach mitgerechnet, 1600 — 
2000 Perjonen, je nachdem es ftille oder lebhafte Zeit 
it, beichäftigt; in dem Verkaufslokal ſelbſt arbeiten 
gegen 100 Kommis, Aufſeher, Ladenjungfern und 
Diener,” 


Die großen Kleiderfabrifen und vie Heinen Schneider. 647 


Wenn in dieſer Weile die Kleiverfabrikation fich 
fonzentrivt, fo muß e8 Wunder nehmen, daß im Ganzen 
in Preußen auf 100 Meifter erft 64 Gehülfen, auch 
in Berlin nur 138 kommen. Selbft wenn man berüd- 
fichtigt,, daß manche als Meifter gezählte für Magazine 
und größere Meifter arbeiten, fo bleibt das Reſultat 
überrafchend. Es hat ähnliche Urfachen, wie die große 
Zahl Kleiner Schuhmacher. Dem Glanz und der Ent- 
wichlung der großen Geichäfte und Magazine fteht bie 
um jo größere Notb ver Heinen Meifter gegenüber. Der 
Verſuch, ein eigenes Gejchäft zu beginnen, kann fait 
ohne Kapital gemacht werben, der Zubrang iſt bedeutend. 
Selbjt auf dem Lande ift die Zahl ver Meiſter ſehr 
groß; 1858 famen in Preußen auf 30229 ftädtijche, 
40 849 ländliche Meifter; jchon 1849 ! fam auf dem 
platten Lande im Regierungsbezirk Arnsberg auf 131, 
im Regierungsbezirk Münfter auf 133, im Regierungs- 
bezirt Magdeburg auf 144, im Regierungsbezirk Köslın 
anf 220 Einwohner ein Schneider (Meifter und Ge- 
hülfen zuſammen). ‘Die meiften dieſer Kleinen Schneiver 
leben in den ärmlichiten Verhältuiffen, viele nur ale 
Flickſchneider und als Hansarbeiter in den Häufern 
der Kumven. Auch Viebahn? nimmt an, daß zwar 
das Durchichnittseinfommen, das ein großftäntiiches 
Schneivergeichäft gewähre, etwa 400 Thaler betrage, : 
daß daſſelbe aber in fleinen Städten von 400 auf 
200 Thaler finfe, auf dem Lande wohl noch tiefer 


1) Tabellen und amtliche Nachrichten V, 837. 
2) II, 676. 


648 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


berabgehe, wofür dann freilich einige Naturaleinnahmen 
Hinzufämen. 

Die Genofjenichaften Haben hierin wohl Einiges 
gebeſſert; jchon 1863 eriftirten 20 preußiſche und 16 
andere deutſche Rohftoffvereine von Schneidern; 1868 
zählt Schulze 23 Nohftoffvereine, 11 Magazingenoffen- 
ichaften und 10 wirkliche Produftivvereine (einige hier- 
von find in Böhmen) auf; die Stuttgarter Produktiv⸗ 
genoffenfchaft, durch Dr. Pfeifer beſonders in Gang 
gebracht, erfreut fich eines blühenden Geſchäfts, wie 
denn nicht zu bezweifeln, daß bie Schneider fich auf 
fooperativem Wege helfen fönnen. Aber was bedeuten 
bis jeßt diefe paar Vereine gegenüber ven 169 924 zoll 
vereinsländiichen Geichäften! 

Je mehr das Magazinſyſtem fiegt, defto mehr findet 
die Beichäftigung weiblicher Hände in der Schneiderei 
ſtatt; in allen Geſchäften, welche fertige Kleider Tiefern, 
feien e8 Herren= oder Frauenkleiver, wendet man mehr 
und mehr Mädchen an, was fchon aus den täglichen 
Annoncen der Zeitungen zu fehen ift, welche Mädchen 
juchen, „die auf Herrenarbeit geübt find." Und nicht 
bloß aus den untern Ständen refrutirt fich die Zahl 


dieſer weiblichen Hände; ver ganze Ueberfchuß von Töch- 


tern and dem Krämer-, Handwerker» und Beamten- 
itand, die nicht fo glüdlich find in ven Hafen einer 
ausfömmlichen Ehe einzulaufen, jehr viele Wittwen find 
froh, ſolche Beichäftigung zu finden; Hat ja doch erft 
in neuerer Zeit die ‚Bewegung begommen, ihnen auch 
andere und Iohnenvere Stellungen zu eröffnen. An 
manchen Orten Hagen die Schneiver, fie Fünmten mit 


Die Frauenarbeit in der Schneiperein. d. Weißwaarengeſchäft. 649 


den Berliner Geheimrathstöchtern nicht mehr konkurriren, 
jo billig, wie jene, können fie nicht arbeiten. Das alles 
drückt auf die Heinen Gejchäfte, während Die großen 
den Vortheil billiger und guter Arbeit dadurch haben. 


Daß es nicht ganz Har fei, ob unter den obigen 
Zahlen auch die Weißwaarengeſchäfte begriffen find, 
erwähnte ich ſchon. Ich will über fie nur noch ein 
paar Worte hinzufügen. Die Anfertigung der Leib. 
und Bettwäſche war früher ausſchließlich Sache ver 
Hausfrau; doch entftanden ſchon in den vierziger Jahren 
große Sejchäfte, welche auf Lager arbeiten ließen, bie 
eigentliche Ausbildung des Gejchäfts, vor Allem die 
Ausdehnung des Exrports, fand erjt in letter Zeit ftatt. 
Den Iofalen Markt verforgen überall die lokalen Lein- 
wandhandlungen, die fat durchaus jetzt auch fertige 
Wäſche verlaufen; das Hauptgeichäft aber Tonzentrirt 
fich in den Gegenden der Gewebeinpuftrie, jowie in ven 
Hauptjtädten, in Berlin, Dresden, Wien ꝛc. Von Sachen 
erzählte ich jchon oben, daß mit der Nähmafchine bie 
Geſchäfte diefer Art einen neuen Impuls befommen, 
daß dadurch die Hausinduftrie wieder eine Kräftigung. 
- erhalten babe. Anderwärts freilich fiegt der Fabrik— 
-betrieb. Bon Bielefeld wird 1867 in Bezug auf die 

Babrifation fertiger Wäſche gefchrieben: ! „Eine weitere 


1) Preuß. Handelsfammerbericht pro 1867, ©. 964. Sehr 
groß ift dieſes Geſchäft in Frankreich; der öſtr. Ausftellungs- 
bericht IV, 193 fchätst den Werth der jährlichen Produktion auf 
100 Mill. Fres. Der Hauptfik des Geichäfts iſt in Paris; Die 
großen Lingerie -gejchäfte laſſen aber nicht jelbft arbeiten, fon- 


650 Die Umbilbung einzelner Gewerbszweige. 


Zunahme des Umſatzes und der Zahl ber befchäftigten 
Nähmaschinen iſt zu Tonftatiren; ihre Zahl beläuft fich 
jest Hier auf 504, wobei 1500 Arbeiterinnen fajt un- 
ausgeſetzte Beichäftigung finden. Diefer Gefchäftszweig 
bat immer mehr an Boden gewonnen; doch haben fich 
die Hoffnungen auf den durch den Handelövertrag mit 
Frankreich ermöglichten größern Abſatz in diefem Lande 
bis jeßt nur noch in geringem Maße verwirklicht, Da 
man unter Anderem auch noch der Handarbeit zu ſehr 
den Vorzug gibt, die zu billigeren Breifen in den Klöftern 
des Eljaffes angefertigt wird. ALS eigenthümlich hervor⸗ 
gehoben wird es, daß hierbei in Folge der Beitrebungen 
der hieſigen Fabrifanten die Einzelarbeit immer mehr 
abnimmt, um durch Vereinigung der dabei beichäftigten 
Kräfte unter den größern Fabrilanten, den handwerks⸗ 
mäßigen Betrieb immer mehr zu verlaffen. Die Aus: 
dehnung der Dampfnähereien ift nur durch techniſche 
Schwierigfeiten verzögert, aber in Ausficht genommen.“ 
Mit der Weißnäherei fteht die Stideret und 
Spiteninduftrie auf einer Linie. Neben der Thaͤtigkeit 
aller Frauen der gebildeten Stände arbeiten überall 
arme Frauen un Lohn; zu einem eigentlichen Induftrie- 
zweige wurde Die Stiderei innerhalb des Zollvereins 
eigentlich nur in Schlefien, Weitfalen und Württemberg, 
dann im fächfiichen Erzgebirge und im BVoigtlande. In 
Sachſen jollen 15000 Perjonen 1861 in ver Haus- 


"dern die techniſche Ausführung Liegt in den Händen ber 
sousentrepreneuses (vergl. Laspeyres a. a. D. ©. 65 — 67), 
oder gar einzelner zu Haufe arbeitender Nätheriunen. 


Die Stiderei und Spiteninbuftrie. 651 
induſtrie der Spibkenflöppelet und Stiderei beichäftigt 
geweſen ſein; der Vorzug ver deutſchen Induftrie liegt 
wieder — ſozial betrachtet — in einem traurigen Grunde, 
in ber außerordentlichen Billigleit der Löhne. 

Die eigentlichen Spitzen werben entweder geflöppelt, 


oder mit der Nabel gefertigt; beides blieb bis in die 


neuere Zeit Handarbeit für Frauen und Kinder, wäh- 
rend die ihnen nahe ftehenven Tüllgewebe, vie Gaze, 
die Pettinet und Bobbinets auf Fünftlichen Mafchiuen 
gewebt werben. 

Erſt 1840 wurde eine mechaniiche Stickmaſchine 
von Heilmamı im Elſaß erfunden; aber erit 1850 
gelangte fie in St. Gallen und Appenzell zur praftiichen 


Anwendung. Erit 1857 führte ein Haus in Plauen 


die erſten Stidmafchtnen aus der Schweiz ein. Bald 
darauf bemächtigte ſich ein ſächſiſcher Mafchinenbauer 
der Herftellung und verbefferte fie fogar wefentlich, 
indem er an dem 14— 15 Fuß langen Stuhl ftatt 
einer Reihe zwei bis brei Reiben Nadeln aubrachte. 
Ende 1861 zählte man in Sachſen 7 Etabliffements 
mit 52 Maschinen, März 1863 fchon 16 mit 97 Ma- 
ſchinen. Ste werden übrigens mit der Hand getrieben. 
Die fogertannten doppelten Majchinen foften 800 Thlr., 
die dreifachen 1100 Thlr. mit allem Zubehör. 

Auch für die Stickerei alio bat der Kampf mit ber 
Mafchine begonnen; vorerſt freilich nur mit der Folge, 
den Lohn der armen Frauen und Rinder berabzudrüden. 
Im Jahre 1863 zählte man im Chemmiter Handels⸗ 
kammerbezirk noch 14695 Klöppelfiffen für Erwachſene, 
von denen 12773 im Betrieb waren, 7296 für Kinder, 


652 Die Umbilpung einzelner Gewerbszweige. 


wovon 6851 in Thätigkeit waren. Der öſtreichiſche 
Ausftellungsbericht beginnt zwar jeine Betrachtungen 
über die Spitzenmanufaktur mit den Worten: „vie 
Parifer Univerjalausftellung vom Jahre 1867 fällt in 
die Zeit, wo die Hanbipige über die Maſchinenſpitze 
nach einem Yängern Kampfe den Steg davon trug und 
die Ausftelfung ſelbſt brachte dieſen Sieg erft zur alfge- 
meinen Anſchauung; fie wird Daher in der Geichichte 
der Spibenarbeit fortan als ein wichtiger Wendepunkt 
merkwürdig bleiben. Die durch Nadel und Klöppel 
erzeugten Handſpitzen erlangten dieſen Sieg über vie 
Maſchinenſpitzen zumeift durch die jchöne und geſchmack⸗ 
volle Heritellung der Zeichnung oder der Muſterung, 
alſo durch vie forgfame Pflege des Tünftleriichen An- 
theiles.“ Das ift aber gerade für bie deutichen Bezirke, 
welche bisher mehr einfache und bilfige Produfte Tiefer- 
ten, fein Troſt. Die belgifche und franzöſiſche Spiken- 
manufaltur erjter Qualität wird bei der Handarbeit 
bleiben, bie beutjche wird der Majchine in dem Maße 
erliegen, als man verfäumt, auf beffere Qualitäten 
überzugeben; die Handarbeit wird ſich nur da behaupten, 
wo bei höherem Lohn und befferen fozialen Verhältnifien 
die Stiderinmen nicht nach Bildung und Herfonmen-auf 
bie traurige Konkurrenz mit den einfachern Mafchinen- 
produkten angewieſen find. | 


Schluß und Reſultate. 


Roh ein Wort Über die Metall- und Maſchineninduſtrie. Die 
großen Fabrifen und die Hansinbuftrie. Wo und wie lettere 
fich halten läßt. — Die Krifis des Handwerks und ihre 
allgemeinen Urjachen. Die Gewerbefreiheit und die Abnahme 

| ber Heinen Gejchäfte. Die Arten der Meifler: Die vorwärts- 

| fommenbe Elite und bie verarımende Mafle.- Der Handwerfer- 
| hund. Die Muthlofigkeit. Die Stellenjägerei. "Die Aus- 
wanberung. Die Sozialdemofraten. Die Banlerottirer und 

„Mader Die Meifter der Hausinduftrie. Sind alle dieſe 

Leute Schuld an ihrem wirtbfchaftlihen Ruin? Der Zufam- 

menhang zwiſchen perjönlichen Tugenden und ber Beſitz⸗ und 

Eintommensvertheilung überhaupt. Prüfung unferer Zeit 

nah dieſer Richtung: Die Lohn- und Fabrikarbeiter, ber 

Bauernftand, ber höhere Gewerbeftand, ber Haus- und 

Grundbefit, die Börje, das Aktienweſen, die Staatsjchulden. 

Die letzten Folgen jeder übermäßigen Bermögensungleichheit. 

— Die pofitiven Aufgaben und der Standpunft dafür. - Die 

wirthfchaftliche Freiheit und die Deffentlichleit. Staatliche 

Maßregeln; die Bureaufratie und der Egoismus der bürger- 

lichen Mittelllaffen. Was verdient den Vorwurf einer fozialifti» 

ſchen Maßregel? Unfere negative Geſetzgebung reicht nicht 
aus. Die Benöflerungsfrage. Die Vorſchläge in Bezug auf 

Fabrikweſen. Die Vorſchläge in Bezug auf das Handwerk 

und die Hausinbuftrie. 


In ähnlicher Weife, wie im Vorſtehenden die Ge- 
webeinpuftrie und Bekleidungsgewerbe, noch die Metall: 


654 Schluß und Reſultate. 


und Majchineninduftrie, die Inftrumenten-, Geräthe- 
und Holzwaarengewerbe nach ihrer hiſtoriſchen Umbil- 
dnng in Deutſchland zu unterfuchen, war meine Abficht. 
Aber der diefem Buche urjprünglich zugemefiene Raum 
iſt bereit3 ziemlich überjchritten und eine ähnliche Bear⸗ 
beitung, wie die der Gewebeinduftrie würde das Er- 
ſcheinen des Buches noch um längere Zeit verzögern. 
Die numeriche Bedeutung ber Metallgewerbe erreicht 
. auch die der bisher beiprochenen Gewerbe entfernt nicht; 
berechnet doch auch Viebahn! nach dem Geſammtinhalte 
der Handwerfer-, Handels- und Fabriktabelle des Zoll- 
vereind im Jahre 1861, daß AO, der Arbeitenben 
auf die Textilgruppe, "21%, auf die baulichen Arbeiten, 
17 9/, auf die Nährgewerbe, 12%, auf die Deforationg-, 
artiftifchen und literariſchen Gewerbe und nur 109%, 
auf die Meetallurgie kommen. Sachlich freilich ift bie 
Beveutung der Metallgewerbe um jo größer. Es it 
die Imbuftriebranche, von welcher Die Übrigen vielfach 
in ihren Fortjchritten abhängen, die auch in Denutſch— 
land in ben legten 30 Jahren die glänzendite Ent- 
wickelung hatte, welche die tüchtigjten Unternehmer, die 
fräftigften und am beften bezahlten Arbeiter zählt. Co 
mögen benn wenigftens einige flüchtige Worte über fie 
bier noch als Eimleitung ber Schlußbetrachtungen ihre 
Stelle finden. 
Die Werke und Hütten, welche die Metalle zu 
Tage fördern und ausſchmelzen, find nicht bloß ſelbſt 
zu immer größerem Umfang angewachſen, fie haben 


1) IH, 1138, 





Die Metall» und Maſchineninduſtrie 655 


vielfach auch Die erite Verarbeitung der Metalle mit 
übernommen; eijerne Defen, jowie einfachere Eifengeräthe 
und Majchinentheile werden auf ven Hütten ſelbſt gegoffen; 
Stahl⸗, Eiienwalz- und Eiſendrahtwerke find mit ben 
Hütten verbunden; häufig find die großen Gewerfichaften 
ſogar im Beſitz von Mafchinenfabrifen. Aber auch wo 
die weitere Verarbeitung ber Metalle, bejonders Des 
Eiſens und Stable, jelbftändigen Geichäften anbeimfällt, 
fönnen wenigjtens für eine Reihe von Spezialitäten nur 
noch Die größten Etabliffements Tonfurriren, da die noth- 
wendigen Ingenieure, Zeichner und Modelleure nur in 
jolchen voll ausgenugt und demgemäß bezahlt werben 
können, da die Gebäube, die jonftigen Anlagen, die großen 
Summen zum Einfauf der Rohitoffe und zur monate- 
lang vorher erfolgenvden Auszahlung. hoher Löhne nur 
dem großen Kapital die Betheiligung erlauben. So für 
Lokomotiven, Damfichiffe, Dampfmaſchinen, mechaniiche 
Spinnereien, Eijenbahnwagen, berginännifche Mafchinen 
und Geſchütze. Krupp in Eſſen bat gegen 8000, Borfig 
in Berlin gegen 3000, Hartmann in Chemnik 2000, 
Kramer» Klett in Nürnberg gegen 1000 Arbeiter. 
Auf eine Wagen- und Bahneniwagenfabrif im Zollverein 
fommen 1861 - 70, auf eine Maſchinenbauanſtalt 54, 
in Berlin allein 80 Arbeiter. Um die große Maichinen- 
induftrie gruppiren fich nach und nach wieder eine Reihe 
mittlerer Geichäfte, welche maſſenhaft einzelne Theile, 
Keſſelarmaturen und Aehnliches übernehmen; das ift in 
entmidelteren Ländern, wie in England, noch mehr ver 
Tall; eigentlich Eleine Gefchäfte find das aber auch noch) 
nicht. Neben den Maichinenfabrifen Tommen eine Reihe 


656 Schluß und Refultate. 


von Anftalten, deren Ausdehnung ziemlich verſchieden ift: 
Dampffefjel-, Ketten, Anker⸗, Schrauben-, Nägel- 
und Drabtftiftfabrifen, Senjenhämmer , Hleinere Gieße⸗ 
reien, Kragenfabrifen, Anftalten für Hecheln, Kämme, 
Jacquardmaſchinenkarden, hölzerne Web- und Strumpf- 
jtühle und Aehnliches. ‘Die für Webereibedürfniſſe arbei- 
tenden Werfitätten zählten 1861 noch (entfprechend der 
noch überwiegenden Handweberei) auf eine Anftalt nur 
3 Perſonen; doch ändern fich auch bier die Dinge von 
Zag zu Tag. 

Die fleinen Geräthe und Inftrumente aus Eifen 
und andern Metallen, die Produfte der Feinmechanik, 
die Blechwaaren, Schiniedewaaren, die Waffen und 
Uhren, die mufifalifchen, optiichen, chirurgiſchen Inſtru⸗ 
mente werben theilweife auch noch vom Handwerk, viel- 
fach noch von der Hausinduftrie, aber auch ſchon man- 
nigfah und mit täglich fteigendem Erfolg von großen 
Fabriken geliefert. Was früher mit der Hand, aus 
gejchnittenen Blechen, durch getriebene Arbeit hergeſtellt 
wurde, wird jet mehr gegofjen oder durch Drud-, 
durch Ball» und Walzwerfe geftanzt und gewahrt; die 
einfachen Adergeräthe, welche der Schmied lieferte, gin- 
gen auf Eifenwerfe und Yandwirthichaftliche Majchinen- 
fabrifen über. Alle Baubedürfniſſe, Schlöffer, Thür - 
und Fenjterbeichläge macht die Fabrik billiger, die Aus⸗ 
führung von Dach- und andern Eijenkonftruftionen beim 
Häuferbau, welche fich nach der Dertlichfeit richten, 
bleiben eher dem lokalen Handwerker. Die Nagel- 
ſchmiede find theilweife fehon ganz verſchwunden, im 
Erzgebirge und Oberfranfen aber hämmern fie fich ben 


Die Kleinmetallgewerbe. | 657 


Drahtftiftfabrifen zum Trotze noch müde, unter deren 


Konkurrenz fie verfümmern, und denken nicht daran, 
ihrer Arbeit eine andere Richtung zu geben, ihren jpär- 
lichen Gewinn durch ein geſuchteres Fabrifat zu erſetzen. 
In ähnlicher, theilweiſe auch noch in bejjerer Yage find 
eine Menge von Metall und Holz verarbeitenden Haus- 
induftrien Mitteldeutichlands, in Sachlen, in Thürin- 
gen, im nördlichen Batern bis nach Naſſau und ver 
Rheinpfalz. Die Heinen Nadler in Pappenheim, bie 
„Heimarbeiter der Nähnadel- und ähnlicher Sabrifen 
in Schwabach, vie erzgebirgiichen Dlecharbeiter, die 
fichtelgebirgifchen Tafelmacher und Schieferarbeiter, die 
Eonneberger Holzichniger und Spielmaarenverfertiger, 
die Krugmacher des Wefterwaldes, die pfülzer Bürften- 
binder, alle dieje Hausinduſtrien haben zu kämpfen mit 
dem beginnenden Fabrikſyſtem und halten fich vorerſt 
durch die ftaumenswerthe Bedürfniglofigfeit und Genüg- 
jamfeit der Arbeiter. Manche find in jammervoller 
Noth und drückender Abhängigkeit von den Kaufleuten 
und Faktoren, "welche ihnen die Rohitoffe Kiefern. Wo 
durch technische Schulen und andere Mittel die Bildung 
und Leiftungsfähigkeit fich gehoben hat, da iſt die Lage 
beſſer, wie 3. DB. die der Spielmaarenverfertigung in 
Sonneberg, die nod) kaum Fabrikkonkurrenz bat. Aehnlich 
ging es je auch mit der großen Schwarzwälder Uhren: 
inbuftrie, deren Krifis ſchon in den Anfang der vierziger 
Sabre fällt. Die Furtivanger Uhrmacherſchule, eine Reihe 
tüchtiger Werkzeugmacher genügten, die Heinen Leute jo 
zu heben, daß fie jetzt wieder mit jeder Großinduftrie 
der Welt konkurriren. 
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 42 


658 Schluß und Refultate. 


Die vheinifche Kleineifen- und Metallinduſtrie in 
Solingen, Remſcheid, Lindenſcheid, Hagen, Altena, 
Iſerlohn war bis in die neuere Zeit auch überwiegend 
Hausinduſtrie und Sache kleiner ſelbſtändiger Meiſter. 
Die großen kaufmänniſchen Geſchäfte (hier Kommiſſionäre 
genannt) geben dem Meiſter (hier Fabrikant genannt) 
die Beſtellungen; den Rohſtoff erhält er theilweiſe, theil⸗ 
weiſe liefert er ihn ſelbſt. Die erſte Arbeit fällt dem 
Schmiede zu; man unterſcheidet die verſchiedenſten Arten 
(20 — 30) von Schmieden; dann gehen die Stücke an 
ben Schleifer, der in der Schleiffotte polirt, endlich an 
den Reider, der das Heft aufichlägt.* Aehnlich ift 
ein großer Theil der Waffeninduftrie organifirt. Aber 
überall zeigen fich auch bier die Aenderungen, überall 
dieſelben Klagen: die Kleinen Meifter wohnen zu zer- 
ftreut,, fönnen größere Maſchinen nicht anwenden, machen 
pie technischen Fortfchritte nicht mit. Jacobi fagt (1855): 
„Es drängt auch hier der Zug der modernen Inbuftrie 
die Fabrikation unmwiderftehlich mehr und mehr aus den 
vereinzelten Werkftätten und dem noch Halb handwerks⸗ 
mäßigen Betriebe in bie großen gewerblichen Anlagen 
und den geichlojjenen Fabrikbetrieb hinüber. Schon find 
die Nabler, die Sporenmacher, die Gelbgießer, die Gürtler 
und Andere den großen Fabrikanftalten meiftens gewichen 
und gleichartige Entwiclungen bereiten fich nach’ allen Sei⸗ 
ten vor. Die Walzen treten an die Stelle der Hämmer, 


1) Siehe die ausgezeichneten Schilderungen bei Jacobi, 
das Berg-, Hütten- und Gewerbewejen des Regbez. Arnsberg, 
befonderd ©. ©. 77, 365, 375 — 390. 





Bm en —ñ — —  — 


Die rheinischen Hausinduftrien für Metallwaaren. 659 


die Puddelöfen an die Stelle der Frifchöfen.” Doch 
muß Jacobi zugeben, daß die meiſten Uebelſtände auch 
ohne Mebergang zur. großen Fabrik ſich vermeiden Yaffen, 
wenn nur die richtigen Mittel ergriffen werben. Da 
und dort haben fich einige tüchtige Meifter vereinigt ; 
mancher Schloßſchmied arbeitet mit Durchfchnittmafchinen, 
Prejien, Kreisfcheeren zum Ausichneiven und Formen der 
Schloßfajten, mancher Schüppenjchmied mit ver Schlag- 
maſchine zum Stampfen der Schaufeln. Bet richtiger 
Bildung der Heinen Meifter, bei richtiger Iofaler Ver⸗ 
einigung, bei Benutzung gemeinfamer mechanijcher Kräfte 
ließen fich auch hier. die Heinen Gejchäfte Halten, jo gut 
wie in Birmingham.! Die Fabrik fiegt nicht ſowohl, 


‚weil fie dauernd abſolut befjere Produkte liefert, fon- 


bern weil die einen Meifter ven Uebergang zu manchem 
Neuen nicht zu machen verftehen. Die oben befprochene 


1) Zollo. Ausftellungsber. 1851 IN, 168, es heißt da von 
der Meffingwaarenfabrilation und Schmiederei Birmingham’s: 
Die Stabt hatte 1820 - 100000, jest 240000 Einw. Die 
Geſchäfte werden nicht bloß mit großen Kapitalien betrieben, «8 
giebt deren Biele, in melden nicht. über 3 000 — 5 000 Thlr. 
fieden. Die kleineren Geſchäfte find im Zunehmen, feit fich 
einzelne Unternehmer dazu hergeben, Dampfkräfte von beliebiger 
Stärke mit, entiprechenden Räumlichkeiten miethweiſe abzugeben, 
jo daß der Heine Fabrifant ober Handwerker fih nur die Arbeits- 
mafchine und Werkzeuge, nicht aber bie theuren Triebwerke 
anzujhaffen braucht. ' Daneben ift das entwidelte Bankſyſtem 
von Bedeutung für die Heinen Leute. Durch die Zunahme ber 
Heinen Unternefmer find die Preiſe der Fabrifate weit billiger 
geworden, weil der Arbeiter, ber für eigene Rechnung fabrizirt, 
viel mehr raffinirt als der LXohnarbeiter. 


660 Schluß und Rejultate. 


Nürnberger und Zürther Hausinbuftrie ift ein Beweis 
ierfür. 

Ne handelt fich bier, ähnlich wie bei vielen Bran- 
chen ber Textilinduſtrie jowie vieler anderer Gewerbe, ' 
um Arbeiten, um Prozeduren und Vorgänge, die nicht 
nothwendig ein großes Fabrikſyſtem erfordern, um 
Thätigfeiten, für welche das große Gejchäft diefe, das 
Fleine jene Vorzüge bat. Den Ausichlag nach der einen 
oder "andern Richtung geben die verichiebenartigften, 
haufig gar nicht Tpezifiich volfswirthichaftlichen Urfachen. 
Neben Klaſſen- und Krevitverhältniffen kommen Volks⸗ 
fitten und Charakter, hergebrachte Gewohnheiten und 
zufällige Anregungen durch einzelne Perjonen, Die Ein- 
flüffe der Beamten, die Schulverhältniffe, die Sorge 
für technifche Bildung, die erſte Organifation des für 
die Hausinduftrie immer ſchwierigeren Abſatzes, Die zeit- 
weiſe Unterſtützung zur Ueberleitung in neue technifche 
und kaufmänniſche Verhältniffe in Betracht. 

Mit dieſem Ergebniß, das den flüchtigen Ueber— 
blid über die Metallindustrie abjchlieft, aber zugleich 
auh ein allgemeines Reſultat unferer Unterfuchungen 
ausfpricht, komme ich zurüd auf den eigentlichen Zweck 
dieſes letzten Abjchnittes, auf die Endergebniffe und . 
Schlußrefultate, die ich bier theilweife erjt zu ziehen, 
theilweiſe in Kürze zu vejumiren habe. 


Die Krijis des Handwerks iſt Feine Sache für fich, 
fie ift nur eine Folge ver allgemeinen Aenderungen 
unferer geſammten wirthichaftlichen Verhältniffe Ein 
totaler Umſchwung der Technik und des Verkehrsweſens, 


Die Krifis des Handwerks. 661 


eine außerordentlich vajch zunehmende Bevölkerung, eine 
vollſtändige Verlegung faſt aller Standorte der Inbuftrie 
wie der Landwirthſchaft, eine ganz andere Organilation 
der bei der Produktion zuſammenwirkenden Kräfte, total 
veränderte Klaſſen- und Beſitzverhältniſſe, eine ganz 
andere volfswirthichaftliche Geſetzgebung, alle dieſe Mo— 
mente zufammen haben die moderne foziale Trage 
geichaffen.. Einzelne diefer tief eingreifenden Urfachen 
jtehen an fich in engem Zuſammenhang, andere fallen 
gleihfam nur zufällig in Diefelbe Zeit. Die Gejammt- 
wirkung Tann feine einfache fein. Viele Errungenjchaften 
der neuen Zeit fommen allen Klaſſen gleichmäßig zu gute, 
andere nur einzelnen. Die vollftändige Neugeftaltung ver 
Vermögens- und Einktommensverhältniffe, als Tolge 
nicht bloß pezififch wirthichaftlicher, ſondern auch anderer 
Urjachen bat einzelne Stänve, einzelne Klaſſen in ebenjo 
bebagliche, wie andere in traurige ärmliche Lage verſetzt. 
Die Streiflichter, welche unfere Unterfuchungen auf die 
Konfumtion warfen, deuteten an, welch große Zunahme 
des Verbrauchs in einzelnen Artifein, welche Stabilität 
oder gar Abnahme in anderen ftattfand, wie ungleich 
nach den verjchievenen gefellichaftlichen Klaſſen fich Die 
Fortſchritte des Wohlſtandes vertheilen. Da Licht, dort 
Schatten, da die größten Fortichritte, dort Stabilität 
und Mißbehagen — das ift das Bild unferer Zeit. 
Ein optimiftifcher „Ziviliſationshochmuth“ ſieht mur, 
wie herrlich weit wir e8 gebracht, und e8 wird fich gar 
nicht Teugnen laſſen, daß Großes geichehen und erreicht 
it. Nur wird' man bei unbefangener Beachtung zugeben, 
daß wir noch mitten inne in einem Gährungsprozeſſe fteben, 


662 Schluß und Reſultate. 


in einem Kampfe gejunder und ungejunder Elemente, in 
einem Kampfe neuer Tugenden und neuer Lafter; man 
wird zugeben, daß in dem neuen Wohnhaufe, Das die 
Menichheit bezogen, gleichlam die Hausoronung noch 
nicht oder noch nicht definitiv feſtgeſtellt iſt. Das 
ichönere größere Wohnhaus wird der Menichheit zum 
Heile bleiben, aber vielleicht werben erſt Tünftige 
Generationen zu den Regeln des Zuſammenlebens, zu 
den Sitten und Anſchauungen ſich durcharbeiten, Die 
das Wohnen in dem neuen Gebäude für Alle oder 
wenigftens für die Mehrzahl zum Segen machen.. Wer 
freilich daran glaubt, daß die Vollswirtbichaft in ihrer 
hiftoriichen Entwiclung eine automatifch und immer har⸗ 
moniſch von jelbft fich drehende Maſchine fer, der wird, 
nur die technifchen und andern Tortichritte ſehend, nicht 
. zugeben, daß troß derſelben und theilweile durch die- 
jelben zunächft viele und ſchwere Mißſtände fich ergeben, 
Hauptjächlich Die täglich fteigende Ungleichheit der Ver— 
mögend- und Einfommensvertheilung; der wird nicht 
einfeben, daß zur Ergänzung des totalen Umfchwungs 
in unjerem äußeren wirtbfchaftlichen Leben ein gleicher 
Umſchwung unjerer Sitten und Gewohnheiten, unferes 
Rechts⸗ und Sittlichfeitsbewußtjeins gehörte, daß ein 
folcher, bis er durchgeſetzt und erfämpft ift, längere Zeit, 
vielfeicht Jahrzehnte und Jahrhunderte braucht, jeden⸗ 
falls gegenwärtig noch nicht erfolgt if. Wer auf dem 
entgegengejegten Standpunkte jtebt, wer den Zujam- 
menhang zwiichen dem innern geiftigen und fittlichen 
Leben ver Völker und den äußern Geftaltungen von 
Recht und Wirthichaft erfennt, wer weiß, daß das eine 


Die einfeitigen Kortfchritte unferer Zeit. 668 


wie das andere Element allein in Bewegung kommen 
kann, daß das Pflichtgefühl der höhern Klaſſen ebenio 
schwer Neuem zugänglich ift, wie die techniiche Durch— 
ſchnittsbildung der untern Klaffen, ver wird es fehr 
begreiflich ja nothwendig finden, daß wir und zunächit 
in einem Chaos, in einem Kampfe der ſozialen Klaffen 
befinden, ver wird nicht erivarten, daß die Folge jo 
großer theilweife unter fich gar nicht zufammenhängenver 
Urfachen eine vollitändig harmonijche Entwidelung ſei, 
daß wir für alle die Aenderungen unferes äußeren wirth- 
ſchaftlichen Lebens auch jchon die abjolut richtigen fitt- 
fihen und rechtlichen Kulturformen gefunden haben. 
. Die reine Wiffenjchaft wird fich daher nicht jcheuen, 
von dieſem Standpunkte aus alle Grundlagen unferes 
fozialen Lebens in Trage zu ftellen; denn nur, was vor 
erneuter Prüfung Stich Hält, ſoll bleiben. Aber fie 
wird ſich nicht der jonderbaren Inkonſequenz unjeref | 
radikalen Volföwirthe jchuldig machen, die fo leicht und 
vielfach mit Recht das beftehende Privat- und Staats- 
recht als ein unhaltbares hiſtoriſch überlebtes an⸗ 
greifen, Dagegen vor dem zufällig heute jo fetgeftellten 
Recht des Privateigentbums, vor dem beute zufällig 
beftehenden Obligationsrecht der Arbeitmiethe als einem 
unantaftbaren Noli me tangere ftehen bleiben und 
in Dielen Punkten nicht bloß Fonjervativ, ſondern reak⸗ 
tionär und altgläubig bis zum Mebermaß werden. Nicht 
als wollten wir ohne Weitere8 dieſe Rechtsformen an 
fih angreifen, aber das geben wir zu: auch fie find in 
ihrer augenblidlichen Geftaltung doch nur hiſtoriſch 
gewordene, Durch bejtimmte Zuftände und Sitten bedingte 


> 


664 Schluß und Refultate. 


Inftitutionen, Die nicht immer gerade jo waren und 
nicht nothwendig in Zukunft immer jo jein werben, die 
nur dann ihre innere Berechtigung fich erhalten, wenn 
fie unter den beftimmt gegebenen äußern und innern 
Berbältniffen die befte Rechtsform für Die Geſell— 
Schaft find. 

Doch zunächſt nicht dieſe allgemeine Frage haben 
wir zu beiprechen, ſondern die Tonfretere, wie nach ben 
vorſtehenden Unterfuchungen fich die Lage des Deutjchen 
Hanpdwerferftandes im 19. Jahrhundert geftaltet bat. 

Wir fehen, daß die Gewerbefreiheit, nothwendig 
nach dem heutigen Stande der Technik, mancherlei Hem- 
mungen, mancherlei veraltete Vorfchriften bejettigt, daß 
fie, foweit fie innerhalb fittlcher Schranfen oder, wie der 
Kaufmann zu jagen Yiebt, innerhalb des reellen Ge— 
chäftslebens auftritt, ven einzelnen und beionvers ven 

ähigen, den an fich ſchon Höherſtehenden zu früher nicht 
gefannter Anjtrengung und Arbeit treibt, daß fie aber 
an ſich dem Fleinen Handwerk feine Rettung, dem 
großen Gewerbe viel eher al8 ven kleinen Meiſtern 
Förderung bringt, Die Karbinalpunfte, um die es ſich 
handelt, wenn das Handwerk d. h. ein zahlreicher jtäbti- 
jcher Mittelſtand erhalten werden ſoll, faum berührt. 
In der neuen freieren Stellung der Innungen, in dem 
Wegfall jedes Zwanges zum Beitritt wird man eber 
eine direfte Förderung fehen. Man kann das z.B. in 
Sachſen erfennen. Die Innungen, welche fich balten 
wollen, an deren Spike tüchtige Leute ftehen, müſſen, 
um anzuloden, etwas bieten, irgend wie pofitiv das Ge— 
werbe fördern, und dann werden fie auch an Mitglieder⸗ 





Die Gewerbefreiheit und die Zahl der Meifter. 665 


zahl zunehmen, während fie bisher Daran nicht dachten, 
nur eiferfüchtig auf ihre Nechte pochten, ohne damit - 
ihrem Ruin irgend wie Einhalt zu gebieten. Zunächit 
wird aber auch das nicht zu viel wirken. | 
Es wird die allgemeine Richtung nicht aufhalten, 
die, wie wir an ben vielen Beijpielen fahen, dahin geht, 
faft in allen Zweigen der Induftrie die Heinen Gefchäfte 
zu verdrängen, eine geringe Zahl von großen Unter: 
nehmungen mit Xohnarbeitern an deren Stelle zu fegen. 
Man mag fich dem gegenüber darauf berufen, daß nach 
meinen eigenen Berechnungen die Handwerkertabelle fait 
überall noch die Fabriktabelle überwiegt,! man mag ' 
daran erinnern, daß Viebahn für den ganzen Zollverein 
folgendes Verhältniß im Jahre 1861 berechnet: 


auf Das auf die auf Die 
Handwerk Fabriten Kunftinbuftrie 
Seihälte. . . . 82% 14% 4%, 
Perfonen. . . . 58% 38% 4% 


Solche Zahlen aber beweilen als Durchichnitt eines 
einzigen Momentes nicht fehr viel. Nicht auf die Lage 
in biejem oder jenem Zeitpunkt fommt e8 an; Die Frage 
it, ob eine große Aenderung fich vollzieht und Diele 
kann fich nie in den Zahlen eines Jahres allein zeigen, 
fie fann fich vollends nicht in den Zahlen von 1861 
Har zeigen, da die Wirkung der dem Handwerk feind- 
lichen Faktoren theilweife wohl ſchon feit 1838 — 40, 
theilweife aber auch erjt von 1850— 55, ja von 1861 
an beginnt. Um einen Weberblid über die wirkliche 


1) ©. 307, dann auch ©. 281 u. 299, 


666 Schluß und Refultate. 


äußere und innere Lage der Handwerker zu geben, 
möchte ich fie folgerdermaßen Haffifiziven. | 

Die tüchtigften Meeifter, die choleriichen, geiſtig und 
törperlich Fräftigiten Naturen baben ſich durch den Drud 
ver Verhältniſſe eher gehoben; es find vie self made 
men, e8 find die Stützen der Schulze - Delitich’ichen 
Bereine, es find die Parteigänger der Gewerbefreiheit 
unter den Meiſtern felbft, es find politifch faft durchaus 
liberale Leute; es find Diejenigen, aus denen immer 
einzelne zum Beſitze großer Fabriken ſich emporarbeiten. 
Aber ihre Zahl ijt gering, fehr gering. Man darf ſich 
durch die Mitgliederzahl ver Vorichußvereine nicht täu⸗ 
ſchen laſſen; die Mitglieverzahl ver Rohftoff-, Magazin - 
und Probuftivvereine iſt ohnedies Flein genug, wie wir 
da und bort ſahen. In den VBorfchußvereinen gehört 
die Hälfte bis zwei Drittel Leuten an, die nicht in der 
Handwerfertabelle gezählt werden; es find gar viele 
Heine Kaufleute, Kleinere und größere Fabrifanten, Rentiers 
und andere Berjonen dabei, und unter den Handwerkern 
ſelbſt ift nicht jedem an fich fchon geholfen, ver Mit⸗ 
glied eines Vorfchußvereins ift. Viebahn zählt 1861 im 
ganzen Zollverein 1101 714 jelbftändige Handwerler 
und 47575 auch zum großen Theil Heine kunſtinduſtrielle 
Geſchäfte; Schulze zählt 1868 auf Die ihm gemamer 
befannten 666 Borichußvereine 256337 Mitgliever, 
von denen aber, wie gejagt, ſehr viele feine Handwerler 
find. Immer ift der Segen ver Genoſſenſchaftsbewegung 
und fpeziell der Vorſchußvereine ein großer, der Erfolg 
ein glänzender; es iſt, möchte ich jagen, fajt vie einzige 
Lichtſeite des heutigen Handwerks; aber es iſt eime 








Die vorwärtsfommenden und bie verarmenden Meifter. 667 


Förderung, bie nur einer verhältnißmäßig Kleinen Elite 
zu Gute fommt. 

Ihnen gegenüber fteht die Hauptmaſſe der Heinen 
Meifter, die über die herfömmlichen Anjchauungen, wie 
über die Noth des Tages nicht hinausfommen. Es find 
nicht bloß die faulen, phlegmatifchen, es ift der Mittel- 
Ihlag der Menjchen, der. überall überwiegt. Es find. 
darunter auch manche Wohlhabende nit ererbtein, feltener 
mit erworbenem Beſitz. Sie juchen ihr Handwerk zu 
treiben, wie es der Vater und der Großvater getrieben; 
die neue Zeit veritehen fie nicht, fie fehen nur, daß fie 
troß aller Arbeit ärmer und ärmer werben, fie haben 
die dumpfe Erinnerung, Daß e8 früher um das Hand- 
wert beffer geftanden habe. Das fittlich Berechtigte 
ihrer Beitrebungen Tiegt in einem gewillen fpießbürger- 
lichen Feſthalten an althergebrachter Zucht und Sitte, 
dag freilich nicht gepaart ift mit dem Verſtändniß für 
bie neue technifche Bildung, die fie ihren Lehrlingen 
geben müßten. Ausſchließlich fehen fie das Heil ver 
Handwerkerfache in Zunftrechten und Innungen, welche 
doch nichts für das Handwerk leifteten. Sie ließen fich 
von der Reaktion ind Schlepptau nehmen, welche ihnen 
mit Wiederherftellung der Zunft beſſere Zeiten vor- 
Ipiegelte. Wenn Leute, wie der Geh. Rath Wagener, 
welche den Bund zwiſchen den alten Handwerksmeiſtern 
und der konſervativen Partei zu knüpfen fuchten, nicht 
ausſchließlich politiiche Parteizwede verfolgt hätten, 
wenn fie mit Energie und den großen Geldmitteln, 
über welche fie verfügen konnten, die ſyſtematiſche Or 
gantjation von techniichen Schulen, von Genoffenjchaften 


668 Schluß und Reſultate. 


und hauptjächlich von Produftivafioziationen in die Hand 
genommen, fie inftruirt und geleitet hätten, ftatt mit 
der Fata Morgana einer neuen Zunftepoche die Leute 
zu täufchen., fo wäre auch mit dieſer Klaſſe der Meifter 
Manches zu erreichen geweſen. So aber hat der Bund 
zwiichen ven ehrbaren Meiftern und unfern Hochtory's 
dieſen mehr gejchadet als genütt, wie das Huber feinen 
ehemaligen konſervativen Freunden immer gepredigt bat.! 
Auch der Handwerkerbund und die Handwerfertage, wo 
der Berliner Schuhmachermeifter Banje im Verein mit 
ultrawelfifchen Zeitungsredakteuren das große Wort führt, 
haben fih nur in’ lagen über Gewerbefreiheit und 
in der Hoffnung einer Wieverherjtellung der Zunftrechte 
ergangen, als ob mit diefen Rechten der innere Fort- 
Ichritt, der allein helfen Tann, irgend wie angebabnt 
würde. Auf dem neuejten Handwerkertage, ber eben 
jest bier in Halle berathet, wird zwar Die Gewerbe— 
freiheit als fait accompli anerkannt, man befchließt, 
nicht mehr dagegen zu petitioniren, e8 wird im Detail 
mandyes Wahre und Gute von einzelnen Meiftern 
bemerft; aber die Wortführer, Panſe und Genofien, 
verweilen doch in der Hauptfache nur auf eine Konjer- 
pirung der Innungen, die einftens, nachdem allgemeine 
Unordnung und allgemeines Elend aus ber Gewerbe 
freiheit entftanden fein werde, wieder zu Ehren und 
Rechten fommen müßten. Die Maffe der Meiſter glaubt 
das nicht mehr, Die Theilnabme für folche Verheißungen 


1) Bergl. B.X. Huber, Hanpwerkerbund und Handwerker⸗ 
noth, Norbhaujen 1867. 


Die Muthlofigleit der Heinen Meifter. 669 


finft ganz entichieven; aber eben damit fteigt die Rath— 
Iofigfeit und die Muthlofigfeit. 

Eben für diefe Muthloſigkeit möchte ich einige perjön- 
liche Erfahrungen als Beitätigung anführen. Ich habe 
feit längerer Zeit, auf Reifen und zu Hauſe, verjucht, 
das Alter der Meifter zu beobachten; ich fand Talt 
immer mehr alte als junge Meifter: viele der 1861 
noch vorhandenen Meifter werden nicht mehr durch 
neue erjegt werden. Die Xelteren ftechen vollends 
bin, weil fie nichts anderes zu ergreifen willen. Als 
ich neulich den Vorjtand der hiefigen an fich blühenden 
Beberaffoziation fragte, wie e8 gehe, meinte er, ver 
Abfat gehe, feine 9 Weber ſeien immer voll beichäftigt; 
aber einer feiner alten Freunde nad) dem andern jterbe 
weg, junge treten nicht zu, e8 jeßten fich gar Feine jungen 
Webermeijter mehr bier. Lind ähnlich geht es mit einer 
Reihe von Gewerbszweigen, die beute noch als. Fleine 
Geſchäfte exiftiren, in die aber fein junger Nachwuchs 
eintritt. Unter den jüngern Meiftern, Die in anderen 
Branchen noch ‚verjuchen, ein Gejchäft anzufangen, bat 
mich bei mannigfachen Geſprächen da und dort ein 
Symptom um jo mehr erfchredt, je öfter ich darauf ftieß: 
die GStellenjägerei von Leuten, deren Stolz und Ehre 
das eigene Gejchäft doch fein follte. Sie wollen ihr 
Geſchäft aufgeben, wenn man ihnen nur die Stelle 
eines Hausmanns, eines Schliefers mit freier Woh- 
nung oder ein paar Thalern in Ausficht ftellt, wenn 
jie bei einer Eifenbahn nur Wagenfchieber mit jährlich 
100 Thlr. werben Tönnen. Eifenbahnen und Altien⸗ 
gejellichaften willen davon zu erzählen. Die zahlreichen 


670 Schluß und Refultate. 


Auswanderungen von Handwerkern find Folge des⸗ 
jelben Zufammenhangse Nur ein anderes Symptom 
der Mutblofigkeit ift e8, wenn vie leidenjchaftlichen, 
die fanguinifchen, die verbiffenen Naturen der Sozial: 
demofratie fich in die Arme werfen. Kleine Meijter 
und ältere Gefellen, die e8 zu feinem orbentlichen Ge⸗ 
Ichäft bringen können, ftellen ein ztemliches Kontingent 
zu diefer Partei. 

Freilich gibt e8 auch welche, die ven Muth nicht 
ganz finfen laſſen; e8 find die pfiffigen, die verſchmitz⸗ 
ten, geriebenen; für fie ift das Banferottmachen ein 
gutes Geſchäft; urjprünglih Handwerker, werben fie 
ipäter ausſchließlich Krämer, Unterbändler, Kommiſ—⸗ 
ſionäre, Winkeladvokaten, Hauſirer; ihnen iſt fein Ge— 
ſchäft zu ſchlecht; man nennt ſie hier zu Lande die 
„Macher,“ weil ſie Alles und in Allem machen. Der 
ſchlimmſte Theil bildet die Rekruten für das Zuchthaus; 
viele aber waren urſprünglich ehrliche Leute, welche nur 
die Noth zu „Machern“ gemacht hat. 

Unter alle die vorſtehenden Kategorien paßt eine 
Klaſſe der kleinen Meiſter nicht recht und zwar eine 
der zahlreichſten; ich meine die Weber, die Schmiede, 
die Blecharbeiter, die Holzſchnitzer und andere in Haus⸗ 
induſtrien beſchäſtigte Meiſter und Arbeiter, welche über⸗ 
wiegend auf dem Lande wohnen. Von Schleſien bis 
an und über den Rhein zieht ſich beſonders durch ganz 
Mitteldeutſchland zu Tauſenden dieſe Art kleiner Unter⸗ 
nehmungen. Meiſt ſchon lokal abgeſchnitten von für- 
dernden Anregungen, bleiben ſie trotz immer ſinkenden 
Lohnes ihrer Arbeit treu. In einzelnen Branchen, wie 


Die Hausinbnfirien. 671 


in der Spinnerei, find fie vernichtet, in anderen nabt 
der Untergang. Sie haben ber beutichen Induſtrie 
zu dem traurigen Weltruf verholfen, in erjter Linie 
durch Billigfeit der Arbeit fich auszeichnen. Site haben 
der Beoölferumg ganzer Gegenden jenen Typus der 
äußerften Genügſamkeit verliehen, die fich jede Lohn- 
reduftion gefallen läßt. Wenn man jett fo oft verfichert, 
die Löhne fteigen allgemein (was oft nur mit ein paar 
zufälligen engliichen Zahlen bewiejen wird), jo bilden fie 
einen lebendigen Proteft gegen dieſe Behauptung in ihrer 
Allgemeinheit. Und wenn man diefe Leute einfach mit 
der Anweifung auf den fteigenvden Lohn in der Fabrik 
tröftet, jo gibt man damit menigftens zu, daß der 
jelbftändige induftrielle Mittelftand in bedeutender Ab- 
nahme begriffen if. 

Gegenüber der Mehrzahl der fo verarmenden und 
abnehmenven Heinen Meifter kann man ohne große 
Ungerechtigfeit nicht den Sat aufitelfen, fie feien ſelbſt 
an ihrem Untergange ſchuld. Wohl find manche Ein- 
zelne perjönlich .fchlechte faule indolente Menfchen, wohl 
tit jedem hervorragend Begabten der Weg nach Oben 
offen, wohl trägt der ganze Stand die Schuld Jahr⸗ 


hunderte langer Lethargie und Heinlicher Spießbürgeret; . 


aber ſchon dieſes letztere Moment iſt feine Schuld, Die 
den Stand allein, ſondern eine Schuld, welche bie 
Nation und ihre Gejchichte trifft. Und vollends allen 
den neuern Fortſchritten der Technik gegenüber befindet 
fich Die Maffe der Meifter faft vollftändig in der Un- 
möglichleit, fie nach ihrer herkömmlichen, ſeit Jahr⸗ 
hunderten ausreichenden Bildung zu verfteben, in ber 


4 


672 Schluß und Relultate. 


Unmöglichkeit, fie nach ihrem Kapitalbeſitz anzuwenden. 
Tas hauptjächlich erzeugt den Mißmuth und die dumpfe 
Unzufriedenheit der Meifter, wie ver vollends zum Lohn - 
und Fabrifarbeiter Herabgerüdten. Sie verarmen ohne 
oder ohne entjprechende Schuld, während fie auf ver 
andern Seite fih Vermögen bilden, einen übermütbhigen 
materialiftiichen Luxus entftehen ſehen, ohne oder jchein- 
bar ohne perjönliches Verdienſt. 

Das Volksbewußtſein wird jede beitebende Un- 
gleichheit des Vermögens und Einkommens als erträg- 
lich anjehen, welche wenigftens ungefähr den perjönlichen 
Eigenjchaften, dem fittlichen und geiltigen Verdienſt Der 
Betreffenden, der gejellfchaftlichen Klaſſe entipricht. 
Ich fage — ungefähr. Denn ganz wird und Tann das 
nie der Fall fein. Die beftehende Vermögensvertheilung 
geht tbeilweife immer zurüd auf Sahrhunderte alte Ge: 
walt, auf Zufälle mancher Art, auf Gefege und Ereig- 
nijfe, die nicht wirthichaftlicher Natur find. Aber im 
Ganzen wird doch im gewöhnlichen Yaufe der Dinge der 
Züchtige erwerben, ver Untüchtige verarmen. Auf dieſen 
nur unklar gefaßten fittlichen Gedanken gründet fich ja 
auch die in ihrer Mebertreibung freilich nicht mehr wahre 
‚Behauptung: aller Werth entjpreche der Arbeit. Wenn 
dem immer jo wäre, ſo gäbe es Feine fehwierigen 
ſozialen Probleme. Sie entjtehen eben, wenn übermächtige 
große Ereigniſſe politiicher, rechtlicher, volkswirthſchaft⸗ 
licher und technifcher Natur die Harmonie zwiſchen Befit 
und Einfommen einerjeit8 und dem perjünlichen Verdienſt 
andererſeits entweder völlig aufheben oder wenigſtens 
mehr oder weniger trüben und verdecken. Unfere Zeit 


Die Parallele zwiſchen Verdienſt und Beſitz. 673 


zeigt in dieſer Beziehung mancherlei widerſprechende 
Thatſachen. Ich wiererhole dabei nicht, was ich eben 
vom Handwerk und den Hausinduftrien fagte. 

Der Lohn der Yänblichen Tagelöhner und Fabrik— 
arbeiter ift bis in die fünfziger Sabre in Deutich- 
land überhaupt faum gejtiegen, von da an wohl nicht 
mehr, als die Lebensbedürfniſſe theurer wurden, Teinen- 
fall8 aber in dem Maße, als das Einfommen anderer 
Klaſſen ſtieg. Selbſt in neuerer Zeit ift er nicht überall 
geſtiegen. Das Steigen hängt ab von der Benölferungs- 
bewegung , Diefe von der ganzen fittlichen und wirthichaft- 
lichen Xebenshaltung der untern Klaſſen. So wie bie 
Dinge — mit rühmenswertben Ausnahmen — liegen, ift 
aber eben die Stellung, die äußere Lage der Lohn- und 
Vabrifarbeiter dem geiftigen und wirthichaftlichen Fort—⸗ 
Ihritt der Betreffenden jo wenig, fo ſehr viel weniger 
günstig, als ein eigenes Geſchäft; jenes leichtſinnige Leben 
in ven Tag hinein, wodurch felbjt bei hohem Lohn die 
ganze Klaffe der Arbeiter ſinkt, ift leicht Folge der Verhält- 
niffe, nicht Folge der Perjonen, und kann aljo den Betreffen- 
den nicht rein als ihre Schuld angerechnet werben. 

Unjer Kleiner Bauernftand ift vorwärts gekommen, 
vielfach wohlhabend ja reich geivorden, — aber mehr 
durch andere Verbältniffe und Einwirkungen als durch 
fich felbft. Die Separationen, die Gemeinheitötheilungen 
und die Ablöfungen, alſo vor Allem ftaatliche Thätigfeit 
und ftaatliche Eingriffe Haben ihn wohlhabend und land» 
wirtbichaftlichen Fortjchritten zugänglich gemacht. 

In Bezug auf den höhern Gewerbeſtand läßt fich 
nicht Teugnen, daß ſehr viele unferer heutigen mwohl- 

Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 45 





674 Schluß und Relultate. 


babenden Fabrikanten vom einfachen Arbeiter oder Hand⸗ 
werfsmeifter emporgeftiegen find zum größten Beſitz, 
zu den höchiten Ehren in Staat und Gejellichaft. Die 
Standesunterſchiede, welche früher dem Talente oft fich 
in den Weg jtellten, find gefallen. Aber dieſes Empor- 
jteigen wird von Tag zu Tag ſchwerer. Im den Jahren 
1830 —40 gab es noch kaum große Tuch- oder Ma⸗ 
ichinenfabrifen; gerade weil es damals faſt noch Teine 
Konkurrenz, faft noch feine großen Geſchäfte gab, kamen 
die ZTüchtigften unter den Tuchmachern und Keſſel⸗ 
ſchmieden empor. Das ift heute total anders geworben. 
Jedenfalls ift ein ſolches Emporiteigen immer mur 
Einzelnen, beſonders Talentvollen und von glücklichen 
Zufällen Begünftigten möglid. Daneben iſt unbeftreit- 
bar, daß die große Induftrie in ihrer Gelammtheit Yange 
Zeit das Schopfind der Regierungen war. Die früber 
gegründeten polptechnijchen Schulen haben unfere In— 
genieure und Fabrikanten großgezogen, Schutzölle haben 
unfere Baumwollipinner, unſere Zuderfabrifanten und 
andere Fabriken reich gemacht; zahlreiche Direfte Staats⸗ 
unterftügungen in Preußen, die Thätigfeit von Bank⸗ 
und Seehandlung famen in erſter Linie den. großen Ge- 
Ichäften, wenn auch in weiterer Linie dem Ganzen 
ebenfalls zu Gute. 

"In Bezug auf das große Kapital bat Laſalle von 
einem blinden Werthwechſel geſprochen, der Die Beſitzen⸗ 
den noch reicher, die Nichtbefigenven täglich ärmer madk. 
Dieſe Anſchauung gebört in das Land der Träume. 
Aber Ein großer Werthwechſel hat allerdings Itatt- 
gefunden, am dem nur Die Befitenden und zwar bie 





Die wirthſchaftlichen Klaffen ber Gegenwart. 675 


Einzelnen obne jede entiprechende Arbeit theilgenommen 
haben, an dem die Nichtbefigenden nur negativ durch 
die höheren Mieths⸗ und Lebensmittelpreife partizipi- 
ven. Die Werthfteigerung des Haus- und Grund⸗ 
befiges ift im legten Jahrhundert, fpeziell in ben letzten 
30 Jahren, ftärfer geweſen als je, weil nicht leicht 
jemals die Benölferung in fo Turzer Zeit und befonders 
in den großen Städten fo gewachlen ift. Sie gleicht 
einer Neuvertheilung des Vermögens, von der man nie 
der Maſſe oder der Wiffenfchaft weiß machen kann, fie 
gehe irgend welcher entiprechenvden Arbeit der Gewin- 
nenden parallel. Welche Vermögen find entſtanden durch 
die zufällige Thatjache, daß eine Parzelle in den Bereich 
einer Bahnlinie oder gar eines Bahnhofes fiel. Wie 
find die Häufer der großen Städte, welche immer 
daneben bewohnt waren, alfo ihre Rente abwarfen, im 
Preije geftiegen. Das Haus, in welchem Aler. v. Hum- 
bold geboren wurbe, fojtete 1746 - 4350 Thlr., 1761 
8000, 1796-21000, 1803- 35.200, 1824 -40000, 
1863 - 92000, 1865 - 140000 Thlr.; damals erft 
wurde es wejentlich umgebaut. Und ähnlich gewann 
ein großer Theil des ländlichen Beſitzes. Wenn heute 
ver ftäbtifche und ländliche Grundbeſitz fo vielfach über 
Verſchuldung Elagt, jo kommt es hauptſächlich daher, 
daß die reich Gewordenen verkauft, fich als reiche Ren- 
tiers zurückgezogen haben, und ver Spekulant, der mit 
Schulden gefauft hat, der in Fürzefter Zeit wieder auf 
ein weiteres Steigen der. Preife rechnet, dies nicht 
abwarten kann. In vielen Familien unſeres Adels 
freilich Hat die Verſchuldung die Urfache, daß Luxus 
43 * 


676 Schluß und Refultate. 


und Verſchwendung, theilweiſe auch die Zahl der Fa⸗ 
miltenmitglieder, welche obne Arbeit leben wollen, noch 
bedeutender ftieg, als der Güterwerth. 

Am ungerechteften wielleicht find die Anſchauungen 
des Laien gewöhnlich über das unberechtigte Reichwerden 
an der Börſe. Die Spekulation an fich ift ein noth- 
wendiges und heilfames Glied unferes Verkehrs; 
wer bier ober als Bankier dauernd gewinnt, ven 
zeichnen meist außerordentliche Eigenjchaften aus. Aber 
ein richtiger Keim Tiegt Doch in der oft ausgelprochenen 
Mißachtung des Börſengewinnes. An der Börfe und 
in den Börſengeſchäften iſt die faufmänntiche Moral am 
Yareften geworben; Geſchäfte werben bier vertheibigt, 
die ein Reft von Anftanosgefühl verurtheilt. Täuſchun⸗ 
gen, Fälichungen von Nachrichten, Beitechungen von. 
Zeitungen und Beamten und Aehnliches gelten beinabe 
als erlaubt; die Grenze der reellen und unveellen &e- 
ihäfte bat fich bis auf vollftändige Unkenntlichkeit ver- 
wijcht. Und dieſe Entfittlichung des Geſchäftslebens Hat 
fih von der Börſe vielfadh auf Das ganze Aktienweſen 
verbreitet. Betrügeriiche Ausnutzung des Publitums zu 
Gunſten von Gründern und Verwaltungsräthen bat den 
Schein erweckt, als ob alles hier gewonnene Geld unrecht 
erivorben wäre. In Bezug auf das ganze Staats- 
ſchuldenweſen will ich wenigftens daran erinnern, daß 
die Unterfuchungen von Soetbeer! das unmwiderleglich 


1) Betrachtungen über das Staatsichuldenweien und beffen 
Einfluß auf die Berjbeilung bes Volksvermögens, Bierteljahrs- 
jchrift für Volkswirthſchaft X, 1— 35. 


Die Gefahren der zu großen Vermögensungleichheit. 677 


bewiefen Haben, daß unſer modernes Staatsſchuldenweſen 
die Beſitzvertheilung wefentlich zu Gunſten der Befien- 
den und zu Ungunften der Nichtbefigenden beeinflußt. 
Veber jeden einzelnen der angeführten Punkte wird 
fich ftreiten Yaffen, aber über den Geſammterfolg, über 
die fteigende Ungleichheit ver Befig- und Einfommens- 
verbältniffe nicht. Und mag der faktiiche Zufammenhang 
zwiichen wirtbichaftlichen Tugenden und perjönlichen 
Fähigkeiten einerjeit8 und der Vermögensvertheilung 
andererſeits heutzutage fein, welcher er will,. der weitere 
Erfolg tft jedenfalls ein fchlimmer: das Verſchwinden 
des Mittelftandes untergräbt unfere politiiche wie unſere 
foziale Zukunft. Vollends in einem Lande, das den 
Beſitzenden bis jest noch kaum die Pflicht freiwilligen 
‚ Ehrendienftes für den Staat und die Gemeinde auferlegt, 
wird eine fteigende DVermögensungleichheit Die Folgen 
haben, die fie immer gehabt bat, und es wäre thörichte 
Selbſttäuſchung, wenn wir leugnen wollten, daß wir An- 
fänge hierzu bei uns nur allzu zahlveich finden; auf der 
einen Seite den Untergang der Befikenden in Genuß— 
fucht und Materialismus, Maitreffenwirtbichaft und 
Geldheirathen, kinderloſe Chen, welche die großen Ver⸗ 
mögen noch mehr zujfammenbhäufen, Mißbrauch des 
Regiments für die Zwecke der Befitenden, hartherzige 
Frivolität gegenüber ven nothleivenvden Klaſſen; — 
auf der anderen Seite die Maffe ver Beſitzloſen ohne 
anderes Vorbild als dieſe Vermögensariftofratie, ohne 
Bildungselemente und geiltige Anregung in fidf, ver- 
zehrt von dumpfem gebäffigem Neid, vie Arbeit ver: 
fluchend, ergeben einem leichtfinnigen Leben in den Tag, 


678 Schluß und Reſultate. 


angeftedt von ben Laftern der Befitenven, fich proleta- 
riſch vermehrend, bis in Folge der Lajter auch dieß auf- 
. hört; — als letztes Ergebniß Soziale und kommuniſtiſche 
Revolutionen von oben oder unten, allgemeinen Umſturz 
oder eine Tyrannys, welche die Befigenven beraubt, um 
den Befiglofen panem et ceircenses ohne Arbeit zu 
reichen. 

Noch find wir weit hiervon entfernt, noch find bie 
guten Elemente zahlveich,. noch ift die Ungleichheit des 
Beſitzes nicht fo groß, noch Haben wir einen nicht 
unbedeutenden Mittelſtand; aber Turzfichtig wäre es, 
zu verneinen, daß unfere gegenwärtige induſtrielle Ent- 
wiclung dahin neigt. Mit allen Mitteln ift deßhalb 
der fteigenden Vermögensungleichheit entgegenzuarbeiten, 
und eine der wichtigften praftiichen. Tragen ift eben bie 
möglichfte Erhaltung des noch vorhandenen Handwerker⸗ 
ſtandes. 

Manche Anfänge dazu ſind auch vorhanden, ich 
habe ſie da und dort erwähnt. Am wichtigſten iſt die 
genoſſenſchaftliche Bewegung. Aber viel bleibt daneben 
zu thun. Der ganze Standpunkt, von dem aus dieſe 
Frage meiſt beurtheilt worden, iſt ein ungenügender. 
Ich meine damit die Uebertragung des ſchönen Wortes 
wirthſchaftlicher Freiheit von der Beſeitigung veralteter 
mittelalterlicher Geſetze, die vom Liberalismus mit Recht 
gefordert und durchgeführt wurde, — auf die Negation 
poſitiver Aufgaben, die, wo es an freiwilligen Organen 
der Geſellſchaft fehlt, der Staat wenigſtens theilweiſe 
in die Hand nehmen muß, die theilweiſe ohne ein neues 
Recht, ohne poſitive Geſetze gegenüber dem Schlendrian 


Das Prinzip ber wirthſchaftlichen Freiheit. 679 


und dem ſtets Furrzfichtigen, immer nur an den nächit- 


liegenden Erwerb denkenden Egoismus der Maffe nicht 


durchzufegen find. Je mehr der Radikalismus das Alles 
nur negirt, die ftarre Reaktion ſich feitflammert an ben 
Trümmern und Privilegien einer untergegangenen Zeit, 
defto mehr ift e8 Sauce der Mittelparteien, ſollte 
e8 gerade auch Sache eines weitſehenden bochfinnigen 
Tiberalismus fein, dieſe pofitiven Aufgaben durchzu⸗ 
führen, wenn er dadurch auch feinen eigenen Partei- 
mitglievern wirtbichaftliche Opfer auferlegt. | 
Immer wird man nnter dem Baniere politifcher 
und wirtbichaftlicher Freiheit alle edel und idealiſtiſch 
Dentenden fich vereinigen jehen. Aber die Tonfrete 
Durchführung der einzelnen Freiheiten darf ven praf- 
tiichen Boden der Wirklichkeit nicht verlaflen, muß 
immer darauf fehen, mit welchen Menjchen und Ver⸗ 
hältniffen man e8 zu thun hat. Die wirthichaftliche 
Freiheit, welche die Gegenwart fordert, ift Fein Unrecht 
in abstracto, ift feine Schablone, Die immer und 
überall paßt; fie ift nur ſoweit berechtigt, als fie bie 
wirthichaftlichen Tugenden des Fleißes, der Anjtrengung, 
der Selbftverantwortlichfeit förbert; fie wird um fo 
jegenspoller wirken, wenn es fich um Erleichterungen 
handelt, welche Allen ‚over den Meiften zu Gute Tom- 
- men. Aber vielfach wird auch ganz anveres im Namen 
ver wirthichaftlichen Freiheit verlangt. Einige verlangen 
von dem egotjtiichen Standpunkte ihres jpeziellen Er- 
werbes und Geſchäftes die Bejeitigung fittlicher und 
rechtlicher Schranken und Kontrolen, die der Geſammt⸗ 
beit zum Segen, nur der ungezügelten Gewinnjucht der 


680 Schluß und Refultate. 


Einzelnen zum Schaben gereichen. Sie wollen Die Maſſe 
rückſichtslos ausbeuten und fuchen, oft unterftüßt durch 
eine feile bezahlte kaufmänniſche Preſſe, der öffentlichen 
Meinung weißzumachen, es gejchehe das im allgemeinen 
Intereſſe. Nirgends freilih bin ich auch über folche 
Mikitände ängjtlich, wo e8 eine wahrhafte Deffentlich- 
feit giebt. Sie wendet alle wirthichaftliche, wie alle 
politiiche Freiheit bei gejundem Volksgeiſte zum Segen. 
Aber die Deffentlichfeit eriftirt und bejteht nicht von’ 
jelbit, nicht überall; fie braucht Organe; fie wirkt nur 
‚günftig und Fräftig, wen fie gefunde und fachverjtänbige 
Organe bat; bie gewöhnliche Breffe reicht nicht überall, ift 
nicht überall fachverftändig, nicht immer unbeftechlich genug. 

Nah unten, in den Kreiſen des Kleinverkehrs, des 
Trödels, Hauſirhandels, der Schankwirtbichaft, ver 
fleinen Zwiſchenhändler find andere Verhältniſſe, als 
im großen Taufmänniichen Verkehr. ‘Der Einkaufende 
iſt jelten Sachverftändiger,; der Verkaufende weiß, daß 
feine öffentliche Meinung ihn ausfindig macht und brand⸗ 
markt, wie der große Kaufmann over Fabrifant fürchten 
muß, der feine Käufer täufcht und betrügt. ‘Die wirth- 
ſchaftliche Freiheit kann hier die Untugenvden und Miß⸗ 
jtände mehr fteigern, als fie den Fleiß fürbert. Eine 
proletariiche Konkurrenz kann bier zugleich Kontrolen 
nothwendig machen, nicht in erjter Linie der Käufer 
wegen, die geprellt werben könnten, ſondern der Leute jelbft 
wegen, bie ohne das moraliih und wirthichaftlich noch 
tiefer jinfen.! In diefen Streifen ift auch entfernt nicht 


1) Bgl. oben S. 114 ff., 153, 218 ff. 237 ff., 487 — 446. 


Die Kontrole wahrer Defferitlichkeit. 681 


jedes neue Zwiſchenglied, das ber Verkehr einjchiebt, 
berechtigt, wie man jo oft jagt. Das ift nur im 
höheren faufmännifchen Verkehr der Tall. 

Auch in höheren Kreifen kann nur die fittliche 
Kontrole der Deffentlichfeit verhindern, daß die unbe- 
dingt freie Konkurrenz nicht bie unreellen Geſchäfte 
fteigert. Wenn auf dem diesjährigen Genoffenfchaftstage 
der Antrag, „den verbundenen Vereinen die gegenfeitige 
Informationsertbeilung‘ über Krebitverhältniffe nach 
bejtem Gewiſſen zur Pflicht zu machen und nach Be⸗ 
finden die Organtjation fürmlicher Schutgenofjenichaften 
entweder ganz allgemein over in einzelnen Verbänden 
und Bezirken vorzubereiten,” troß Schulze's Bemühun- 
gen vollitändig durchfiel, wenn die gern im Dunkeln 
und Zrüben Wirthichaftenden alles ‘Derartige für einen 
neuen Polizeiftaat erklärten, fo. iſt das ein jehr trau- 
rige8 Zeichen. Sie wollen die Freiheit ohne Die fittliche 
Kontrole der Deffentlichkeitt, — fie wollen unveelle Ge⸗ 
ichäfte machen, unreellen Kredit haben, und wer das 
ans Licht zieht, den erklären fie für „eine neue Art von 
ſchlimmem Polizeiagenten.“ Das ift Die abichüffige 
Bahn, die von der Gewerbefreiheit zur Spielfreiheit, zur 
Sreiheit, betrügeriichen Banferott zu machen, endlich zur 
Verbrechensfreiheit führt, von der man dann auch ver- 
fihern Tann, fie werde am volljtändigiten die Ver⸗ 
brechen bejeitigen. 


1) Bergl. oben ©. 554 ff; baneben über ven Heinen 
Biehhändler und feine Die Heinen Bauern ruinirenden Geſchäfte: 
Held, die ländlichen Dahrlehnskaſſenvereine in der Rheinprov., 
in Hifbebrand’s Zahrb., XI, ©. 38. 


682 Schluß und Reſultate. 


Eine Reihe von Verhältniſſen entziehen ſich der 
Oeffentlichkeit in ihrer wahren Geſtalt immer, wenn es 
nicht amtliche Behörden gibt, die ohne jeden ſonſtigen 
Eingriff einen ſichern Befund aufnehmen und ihn publt- 
ziren. Sp im Berficherungsweien, theilweile im Bank⸗, 
Berg⸗ und Fabrikweſen. Welche günftigen Folgen haben 
die Publikationen der fchweizer Fabrifinfpeftoren für 
die Behandlung der Arbeiter gehabt! 


Ein Punkt aber ift es vor Allem, der bisher ftets 


überjeben wurde. Freie Konkurrenz zwiſchen deutſchen 
und engliſchen Spinnern, deutſchem und engliſchem 
Eiſen, freie Konkurrenz zwiſchen dem Rübenzuckerfabri⸗ 
kanten und dem Hamburger Importeur, freie Konkur⸗ 
renz zwiſchen den Gewerben von Stadt und Land, freie 
Konkurrenz zwiſchen Fabrik⸗ und Hausinduſtrie, zwiſchen 
den verſchiedenen Geſchäften derſelben Geſchäftsbranche, 
— das Alles iſt ein total anderes Ding, als freie Kon⸗ 
kurrenz zwiſchen Herrn und Knecht, zwiſchen dem iriſchen 
Lord und ſeinem Pachter, zwiſchen dem Fabrikanten und 
ſeinem Arbeiter. Wo die wirthſchaftlichen Kontrahenten 
als zwei ſoziale Klaſſen einander gegenüber ſtehen, die 
eine ausgerüftet mit der ganzen Uebermacht, welche Reich- 
thum und Bildung gibt, die andere ohne alle dieſe Hülfe- 
mittel, — ba fann bei fehr guten fittlichen und wirth⸗ 
ſchaftlichen Verhältniffen auch die abjolute Freiheit das 
befte fein; aber jehr oft wird bie wirtbichaftliche Frei⸗ 
beit bier auch nur jo wiel bebveuten, als vollſtändige 
Unterbrüdung und blutige Ausnutzung. Da bilft auch 
die Deffentlichkeit felten allein, weil Die Organe ber: 
jelben im Beſitze der höhern Klaſſen find, weil bie 


Die theilweile Berechtigung flaatlicher Eingriffe. 683 


etwaigen Organe der. untern Klaſſen durch einzelne Roh⸗ 
heiten und Böhelhaftigfeiten unehrlicher und ehrgeiziger 
Führer entjtellt werben, übers Ziel hinausſchießen, eine 
jonft gute Sache zu oft Disfreditiven. Deßwegen Tönnen 
die Zuftände Yeicht fo Tiegen, daß der Staat im Inter- 
ejfe der Allgemeinheit, als Zräger der fittlichen Zukunft 
der ganzen Nation irgendivie eingreifen muß. 

Die Gegner jeder folchen Maßregel juchen fie 
dadurch lächerlich zu ‚machen, daß ſie es darſtellen, als 
ob ein ſolcher Eingriff nur ftattfinden könne in der 
Form plumber Lohriregulirung, die in Widerjpruch mit 
Angebot und Nachfrage ftehe, oder in der Form roher 
joztaliftiicher Eigenthumsverlegungen, daß fie jede derartige 
Thätigkeit zufammenwerfen mit jenem „furor bureau- 
kraticus ‚* der ohne Verſtändniß für bürgerliche Freiheit 
und Selbftändigfeit alles durch Beamte regeln Yäßt. 

Gewiß haben wir in ‘Deutichland bisher an einen 
Uebermaß von Beamtenmaßregelimg gelitten, gewiß gilt 
es vor Allem, die Bureaufratie zu beichränfen, ihr 
durch entiprechende Reformen Gegengewichte zu ſchaffen; 
aber einer fomplizirten Geſetzgebung können wir damit 
für unfere fomplizirten Rulturverhältniffe nicht entbehren. 
Dir Haben nur bafür zu forgen, daß ein möglichit großer 
Theil vieler Geſetze durch die Organe der Selbftver- 
waltung, durch Ehrenämter, durch Bürger jelbjt und 
nicht durch Beamte ausgeführt werden. Für andere 
Dinge, beſonders für folche, in welchen die Klaffen- 
intereffen der Beſitzenden engagirt find, fünnen wir 
dagegen ver ftaatlichen Drgane nicht .entbehren. Haben 
wir aber erft eine richtige Selbftverwaltung in ber 


684 Schluß und Refultate. 


Gemeinde und im Kreife, fo ift jehr gut Platz für ein 
nothwendiges ftaatliches Fabrik⸗ und Gewerbeinfpeftorat. 
Ich Habe wiel über Gensdarmen, über Landräthe und 
Regierungen Hagen hören; aber nie habe ich von ver- 
nünftigen Leuten gehört, unfere Speziallommiljare und 
Generalfommiffionen feien ein überflüjfiges ſchädliches 
Reis am Baume der Bureaufratie; und ihnen wären 
etwaige neue Behörden derart gleichzuftellen. 

Man mag zweifeln, ob unjere gegenwärtige preu- 
ßiſche Bureaufratie zu folchen Aemtern, zu folcher Thä⸗ 
tigfeit fühig fei. Huber felbit Ipricht e8 aus, nur weil 
er bie gegenwärtige Generation gewöhnlicher preußifcher 
Deamten hierfür nicht für qualifizirt Halte, fer er nicht 
dafür, daß die Regierung fich irgendwie in das Ge- 
noſſenſchaftsweſen miſche. Uber das ift zu ändern; 
wenn es bie rechten Leute nicht gibt, find fie zu ziehen. 

Ein großer Theil unferer Liberalen widerſtrebt allen 
ſolchen Maßregeln nur, weil fie die im Augenblid an 
der Regierung befindliche Partei nicht ftärfen wollen; fie 
würden, wie e8 jeber liberalen Partei, die zur Regie- 
rung fommt, gegangen ift, — jpäter ſelbſt Maßregeln 
durchführen müfjen, vie fie heute befämpfen. 

Aber foztaliftiich tft jeder ſolche Eingriff in die 
freie Volkswirthſchaft, das ift jet Das beliebte Schlag: 
wort, mit dem eine abitrafte Theorie, wie der bebag- 
liche Beſitz der Mittelflaffen zugleich die unfinnigften 
Umſturzideen, wie die beiljamften fozialen Reformpläne, 
welche den befitennen Mittelflafien einige Opfer ober 
Unbequemlichkeiten, einige Rontrole ihrer Geichäftsbetriebe 
auferlegen, befämpft und brandmarkt. Sch billige nicht 





Was iſt ſozialiſtiſch? 685 


die übertriebene Verachtung, die täglich von gewiſſer 
Seite über ven Egoismus diefer bürgerlichen Mittelklafjen, 
über diefe „gelbfüchtige Bourgeoiſie,“ über diefe „Man 
cheſterſchule,“ über dieſe Doktrin der Geldſäcke, welche 
nur deßwegen Freiheit verlange, um ohne jede Schranke 
durch ihr Geld allein zu herrſchen, ausgegoſſen wird. 
Aber wer möchte unſere Fabrikanten und Bankiers, unſere 
Ingenieure und Unternehmer, wenn er gerecht iſt, ganz 
freiſprechen? Sie ſind allerdings andere Leute als die 
engliſchen Mancheſterleute und als die franzöſiſche Bour⸗ 
geoiſie von 1830 — 48. Aber hat fie nicht auch Mohl 
die Non Donnants genannt? haben fie nicht ihr ſpezi⸗ 
fiſches Rlafjenintereffe, und tritt das nicht nur allzu oft 
und grell in ihren politiichen Maßnahmen und Doftrinen 
hervor? Masfiren fie nicht oft mit dem fchönen Worte 
der wirtbichaftlichen Freiheit nur, was ihrem Gelb: 
beutel und ihren Spekulationen ausichließlih Gewinn 
bringt? Unſere Konfervativen dürfen nichts jagen. Der 
Großgrundbefig trägt in allen Steuerfragen, in ver 
ländlichen Arbeiterfrage feinen wirthfchaftlichen Egoismus 
noch nadter und naiver zur Schau. Unſere bürger- 
lichen Mittelklaffen erheben fich durch den Einfluß von 
Gelehrten, Beamten, Iuriften immer noch eber zu 
höheren idealen Geſichtspunkten. Aber gelündigt wird 
auf beiden Seiten, und die Rückwirkung davon trifft 
beivesmal Die arbeitenden, die unteren Klaſſen. 

Was ift denn nun aber eigentlich) ber von ben 
radikalen Volkswirthen fo ſehr gebrandmarkte Sozialis⸗ 
mus? Die vollſtändige Negation des Eigenthums⸗ und 
Erbrechts wird ſo genannt, aber auch jede Thätigkeit der 


686 Schluß und Reſultate. 


Regierung für bie unteren Rlafien, die ganze Armen: 
pflege, die ſtaatlichen Unterftügungs- und Sparfaffen, 
die geſetzmäßige Drganifation des Knappſchaftsweſens, 
bie Yabrifgefetgebung, vollends das Inftitut der Fabrik⸗ 
inipeftoren, der Staatsfrebit für Wohnungen ber arbei- 
tenden Klaſſen, wie er in England fange gegeben wird; 
das alles wird ohne Weiteres in einen Topf geworfen. 
Wer noch auf ſolch' überwundenem Standpunkte ſteht, ver 
wird als Sozialift oder als pfeuboreaktionärer Schleicher 
verurtheilt. Er Tann den Eid auf die alleinjeligmachende 
Lehre von der wirthichaftlichen Freiheit ja nicht leiften ; 
er wird ausgejtoßen. 

Auch ich verurtheile jede Maßregel, die aus unehr⸗ 
lichen oder Nebenabfichten willfürlich in das beitehenve 
Eigenthum eingreift, die von materialiftifcher Gleich⸗ 
macherei diftirt, von brutaler Leidenſchaft und neidiſchem 
Haß geihürt, frivol die Kontinuität unferer Rechts⸗ 
inftitutionen entzwei veißen, eine neue willfürliche Ord⸗ 
nung des Beſitzes vornehmen will, ohne die Garantie 
zu bieten, daß die, welche nun mehr erhalten, dadurch 
befiere und glüdliche Bürger werden. Aber ich Habe 
nicht jene Heinliche Furcht vor jeder Maßregel, vie 
irgendwie das beſtehende Eigenthum und feinen Werth 
berührt. Das Eigenthum iſt fein abjolutes; der Werth 
des Eigenthums tft immer mehr Folge der Gejellichaft 
als Verdienſt des Einzelnen; jeder Einzelne ift der ®e- 
ſellſchaft und dem Staate jo taufendfach verpflichtet, 
daß fein Eigentum nur denkbar iſt mit weitgehenben 
Pflichten und Laften gegen das Ganze. Für gewöhnlich 
werben bieje in mäßigen Grenzen fich halten. In großen 


Die berechtigten Eingriffe ins Privateigentbum. 687 


außerorventlichen Zeiten können auch große Opfer gefor- 
dert werben. Im einem Staate der allgemeinen Wehr- 
pflicht, - in einem Staate, welcher das Recht hat, das 
Xeben feiner Bürger jeven Augenblid fürs Game zu 
fordern, wie lächerlich iſt da eine Eigenthumstbeorie, 
welche das kleinſte Opfer für das Ganze als unfinnigen 
Sozialismus bezeichnet. Sind irgendwo die Klafjen- und 
Befigverbältniffe durch wirtbichaftliche oder andere Ur- 
ſachen jo abnorm geworden, daß dadurch die ganze 
Zufunft des Staates und der Gejellichaft bedroht ift, 
und greift dann eine hochherzige Regierung auf gejek- 
lichem Wege ein, Stellt die Maßregeln nach genauen 
Prüfungen feit, läßt fie georpnet ausführen, jo werben 
immer Privatinterefjen verlegt werden, fo werben die 
Berletten über Vergewaltigung immer Hagen, jo werden 
einzelne darüber zu runde gehen, aber ver unbefangene 
Hiftorifer eimer jpüteren Zeit wird die Mafregel nicht 
als unheilvoll jozialiftifch verdammen. Iſt nicht heute 
noch Das Herz jedes Edeldenkenden auf Seite Solon's, 
wenn er die Schulpverhältniffe der untern Klaſſen 
Athens oronet, ihre Schulden reduzirt; find wir nicht 
heute noch alle auf Seite der landfordernden Pfebejer 
in Rom, auf Seite jener jpäteren Taijerlichen Geſetze, 
welche verboten, dem Kolonen den Pachtzins weiter zu 
erhöhen? Billigen wir nicht die mittelalterlichen und 
Ipäteren Säfularifationen, die eben auch nichts waren 
als Eigentbumsperlekungen, um eine ungejunde An- 
häufung des Bejites aufzuheben, wieder eine gefun- 
dere Grundbeſitzvertheilung herbeizuführen. Was ift 
unfere ganze moderne Agrargefetgebung, Separation 


688 Schluß und Reſultate. 


und Ablöfung, durch welche Die Berechtigten oft mehr 
als die Hälfte ihres Vermögens verloren, anders als 
eine jener gewaltfamen, aber unendlich ſegensvollen 
Neuvertheilungen des Eigenthums? Gerade ald man 
in Preußen überall, wo e8 ging, wirthichaftliche Freiheit 
und freien Verkehr proffamirte, fette man Staats: 
behörvden ein, um da zu interveniren. Warum überließ 
man das nicht auch dem DVoluntarismus, wenn er 
Altes leiſten kann? Warum verbot man die alten 
. Zuftände durch Privatverträge neu zu gründen, wenn 
der freie Privatvertrag das fürs Ganze Zuträglichite 
immer von jelbjt findet? Warum jchuf man Durch 
gewaltthätig ins Eigenthum eingreifende Gejeße unjern 
deutichen Bauernitand, ven Stolz; und die Zierde unferer 
Voltswirthichaft, wenn durch den freien Verkehr Die 
richtige Vermögens, Boden- und Einfommensverthei- 
Yung: jtet8 von ſelbſt erfolgt? Halt — wird man jagen 
— da galt e8 verrottete, veraltete, durch Gewalt ent⸗ 
ſtandene Zuftände zu befeitigen. Ja, ift denn beute 
jede Gewalt abweſend? Iſt die Lage, ift die Bildung 
unferer unteren Klaſſen nicht auch eine Nachwirkung 
Sahrhunderte alter Mißbräuche? Werben die heutigen 
Zuſtände unſeres Proletariats fpäteren Zeiten nicht 
ebenjo evjcheinen, wie uns bie Lage der Bauern im 
vorigen Iahrhundert? Wird das Privat- und Bolizei- 
recht unſerer Zeit fpäter nicht vielleicht für ebenfo Hart 
und gewaltjam gehalten werden, als es der Gegenwart 
geläufig und natürlid) vorkommt? 

Doch will ich feine direkten Folgerungen aus ber 
Agrargefetgebung von 1808— 50 auf unfere heutige 


Die Klafiengegenfäte als Bildungsunterſchiede. 689 


Gewerbegejeßgebung ziehen. Wären die Zuftände fo 
ſchlimm, daß eine ſolch' radikale Reform nothwendig wäre, 
die Ausficht, fie Durchzufegen, würde gering fein. Nur 
einer großen tiefbeiwegten Zeit, nur politiichen Zuftänden, 
welche zu einer kürzern oder längern Diktatur führen, 
find folche Tolofiale Neformen eigen. Freie parlamen- 
tariſche Berfaffungen find, wie das Gneiſt immer betont, 
nicht für den Austrag jolcher tiefen. fozialen Kämpfe 
geichaffen, da der Barteifampf in vielem Falle zum 
erbitterten Klaſſenkampf ausarten würde. 

Es handelt fich aber auch, wie gejagt, um fo tief 
greifende Reformen noch nicht. Mildere Mittel reichen, 
an Beſtehendes kann angefnüpft werden. Immer ift 
es befier, wenn ein äußerer Eingriff in Die beſtehende 
Defigvertheilung vermieden werben Tann, da feine 
pſychologiſche Wirkung ſtets problematijch bleibt. Für 
das gewerbliche Leben, von deſſen Reform wir hier 
ſprechen, ift auch ver Beſitz nie fo wichtig, wie Die per- 
jönlichen Eigenichaften. Gelingt die geiftige und tech: 
nifche Hebung des Handwerkerſtandes, wie des Arbeiter- 
ftandes, jo ift damit das Wichtigfte erreicht. Es han- 
delt ſich in erjter Linie um eine Erziehung der Leute 
zu andern gefellichaftlichen Gewohnheiten, zu andern 
häuslichen Sitten, zu einem weitern Blick, zu einer 
höhern techniichen Bildung. Wenn wir das woranftellen, 
können wir auch eber hoffen, die verſchiedenen politiichen 
Parteien für unfere Vorſchläge zu gewinnen. Aber das 
ift zu betonen, daß die bloßen Privatkräfte nicht aus⸗ 
reichen. Man darf ſich nicht einbilven, Alles Nothwendige 
jei geſchehen, wenn Gewerbe⸗ und Bankfreiheit, Ehe⸗ und 

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 44 


J 


6% Schluß und Reiultate. 


Niederlaffungsfreibeit errungen if. Man darf nicht 
glauben, alles Webrige finde fich von ſelbſt. Ueberall 
muß dieſer negativen Thätigfeit eine pofitive zur Seite 
geben, wobei Private und Vereine, Schule und Kirche, 
Gemeinden und Staatsregierung mitzuwirken, zu fürbern 
haben, wobei theilweife auch neue Beamtenorgane und 
neue Geſetze unentbehrlich find. 

Die wichtigfte Grundlage der Arbeiter- und Hand⸗ 
werferfrage ijt die Bevölkerungsbewegung. Ich will nur 
andeuten, wie auch bier die bloß negative Beſeitigung 
bisher beichränfender Geſetze allein die Uebelſtände unſerer 
Zeit nicht heilt. 

Der außerordentliche starte Bevölkerungszuwachs 
kann immer leicht zu einem übermäßigen Angebot von 
Arbeit und damit zum Druck und zur Noth der arbei⸗ 
tenden Klaſſen führen. Die optimiftiiche Freihandels⸗ 
ichule glaubt das nicht. Sie hält die ſtärkſte Bevölle⸗ 
rungszunahme für das Beſte. Das Kapital wachſe 
immer von jelbit noch jchneller. Iſt Das aber jo ficher 
und fommt es nicht auf Die Vertheilung des Belites, - 
des Kapitals an? Ich babe oben ſchon auszuführen ver- 
ſucht, daß allervings eine immer dichtere Bevölkerung 
die Vorausfekung jeder höhern Kulturſtufe fei, Daß 
unfere gegenwärtigen deutſchen Verhältniſſe noch lange 
einen großen Zuwachs brauchen können, daß aber bie 
Bedingungen, den Zuwachs zum Segen zu wenden, 
nicht jo einfach feier. Sie Tiegen in einer totalen 
Aenderung der volfswirthichaftlichen Organifatton, wo 
möglich in einer andern gleichmäßigern Vertheilung des 
Grundbeſitzes, in dem Aufblühen neuer Induftrien, in 





Die Bevblkerungsfrage. 691 


einer andern lokalen und berufsmäßigen Vertheilung 
der Bevölkerung. Alle dieſe Aenderungen haben wieder 
ſo mannigfache Vorbedingungen, vollziehen ſich nur nach 
ſo ſchweren Kämpfen, Irrungen, Geſetzesänderungen, 
daß man ſich nicht wundern darf, wenn ſie häufig 
zunächſt hinter dem Zuwachs der Bevölkerung zurüd- 
bleiben. Und das iſt, nicht allgemein, aber doch 
jedenfalls in einzelnen Gegenden und Verhältniſſen bei 
uns der Fall. Die neueſten Reſultate der Bevölkerungs⸗ 
ſtatiſtik ſind keine durchaus erfreulichen. Ich will nur 
einige Punkte nach Engel, Wappäus und Horn anführen. 
Obwohl die Zahl der überhaupt Verheiratheten, wie 
die jährliche Trauungsziffer in Preußen ziemlich abge⸗ 
nommen, bat die verhältnißmäßige Zahl der Geburten 
faum etwas fich vermindert. Ein übermäßig großer Theil 
der Neugebornen ftirbt wieder in den erften Iahren. 
Preußen und einige andere deutſche Staaten haben 
überhaupt die größte Kinderſterblichkeit; beſonders trifft 
diefer Vorwurf die industrielle Bevölferung. Der Ader- 
bau erzeugt weniger, aber lebensfähigere Geburten. 
Die Urjache ift naheliegend; ein übergroßer Theil ver 
Eltern iſt nicht in der Lage, die große Zahl Kinder fo 
zu nähren und zu pflegen, daß fie das Höhere Alter 
erreichen, der Nation das wieder erjeken, was fie in 
ihrer Jugend gefoftet. Es iſt eine der jchiweriten 
wirtbichaftlichen Laſten für eine Nation, wenn fie 
einen beitimmten Bevölkerungszuwachs, ven fie mit 
viel weniger Geburten und Todesfällen haben Fünnte, 
jo d. 5. mit einer Weberzahl Geburten und einer 
übergroßen SRinverfterblichkeit fich erwirbt. Es deutet 
44. * 


692 Schluß und Refultate. 


das immer mebr ober weniger auf proletariiche 
Zuſtände. 

Daneben hat die Mortalität zugenommen. Die 
Behauptung einer Verlängerung der mittleren Lebens⸗ 
dauer iſt von der Wiſſenſchaft längſt in's Reich der 
Mährchen verwieſen. Die einzige wiſſenſchaftliche Be⸗ 
rechnung für Preußen, welche ſich auf das Durchſchnitts 
alter ver jährlich Geftorbenen bezieht, zeigt, Daß dieſes 
jufzeifiv von Anfang des Jahrhunderts bis zur Gegen- 
wart abgenommen bat. Das Leben iſt eine burch- 
ſchnittlich kürzere Erjcheinung geworden. Arbeit und 
Genuß reiben e8 auf. Wechjelvollere Kämpfe und Schid- 
ſale treffen das Leben der Meeiften und laſſen dieſes 
Reſultat natürlich erfcheinen. 

Und dem gegenüber follte e8 ausreichen, wenn 
man nur unbebingt die Feſſeln abjtreift, die da und 
bort der Cheichließung entgegenftehen? Erzählen uns 
die Berichte bejonderd aus den Gegenden der Haus⸗ 
inpuftrien, der Weber- und Fabrildiſtrikte nicht, daß 
übermäßig junge und lYeichtfinnige Ehen im Alter von 
20 und 21 Jahren, übermäßige Kinderzahlen nicht bie 
erite Quelle des Elends find, aber nachdem es vor⸗ 
handen, vie wichtigfte Urfache der Steigerung bilden? 
Sch gebe zu, daß jede polizeiliche Eheerſchwerung unge- 
recht und fchablonenbaft ift, daß fie, wo in ver prole- 
tariſchen Gefinnung jedes Verantwortlichkeitsgefühl auf- 
gehört bat, wo der Arme, im Gefühl, ſchlimmer könne 
es nicht mehr werben, fich dem einzigen Genuſſe, ver 
ihm geblieben, ohne jeven Rückhalt ergibt, Teicht nur 
zu einer Mehrzahl won unehelichen Geburten führt. Aber 


Die Reformen in Bezug auf das Fabrifigfiem. 693 


das beweift nicht, daß nicht andere pofitive Bemühungen 
ber verichiedeniten Art der Ehefreiheit zur Seite zu 
treten haben, um das leichtſinnige überfrühe Heirathen 
zu erichiweren, das Verantwortlichkeitsgefühl nach diejer 
Richtung wieder zu fteigern. 

In Bezug auf Das gewerbliche Leben jelbft num 
ift zu fcheiden zwiſchen ven Gefchäften, die einmal noth- 
wendig dem großen Fabrifbetrieb anheimfallen, und denen, 
welche dent Handwerk und der Hausinduftrie bleiben. 

Den eriteren Kreis der Gewerböthätigfeit etwa 
fünjtlich auch ven Fleinen Geſchäften erhalten zu wollen, 
wäre Durchaus verwerflih. Da iſt das Fabrikſyſtem zu 
akzeptiren, aber jo auszubilden, daß der Arbeiteritand 
feiner jeßigen meift elenden Lage entriffen wird. Die 
äußern Verhältniſſe, in denen er bier lebt, find jo zu 
gejtalten, daß fie nicht mehr nothwendig an fich zu 
pſychologiſchen Urjachen von Inmoralität, von unglüd- 
lichen Ehen und leichtfinniger Xebenshaltung werden. Die 
Mittel dazu find mannigfach, ich habe fie hier nicht näher 
zu beiprechen; es handelt fi) um die Schul- und bie 
technifche Bildung, um Spar- und Krankenkaſſen, um 
die richtige Organifation von Arbeitseinjtellungen, um 
die Wohnungsfrage, um die Bezahlung nach dem Stüd, 
um die Hinzufügung von Prämien, um die Haftung 
der Unternehmer fir Unglüdsfälle, um bie Betheiligung 
am Gewinn, um das Shitem ver Industrialpartnership,, 
um das Genofienichaftsweien, die Konfumvereine, Die 
Produktivaffoziation. Nur eines möchte ich Hier noch 
betonen: die Ausbildung einer Haren konſequenten fpe- 
zialifirten Fabrikgeſetzgebung und die Schaffung ſelbſtän⸗ 


694 Schluß und Hefultate. 


diger Organe, welche diefelbe Hanbhaben. “Die neue &e- 
werbeordnung bat nur die fchüchternften Anfänge hierzu; 
ihre Beitimmungen über Inipeftionen, gejundheitliche Vor⸗ 
richtungen u. ſ. w. find meiſt jo vag, daß fie entweder gar 
nichtö oder Alles jagen. Im den Händen unjerer gewöhn- 
lichen lokalen Polizeibehörden find fie nicht viel mehr als 
ein todtes Stüd Papier. Allerdings kann eine jolche Geſetz⸗ 
gebung nur auf Orundlage umfaſſender Enquöten richtig 
fih aufbauen und in jofern mußten die weitergehenden 
Anträge der Sozialiſten und Konſervativen zunächit ab- 
gelehnt werden. Aber die meilten gegnerilchen Neben 
im Reichstag zeigten den vollftändigften Mangel an Ber- 
ftändniß Für die ideale und weitgreifende Bedeutung 
einer derartigen Fabrikgeſetzgebung, brachten nur einen 
furzfichtigen Doftrinarismus und die egoiftiichen nächft- 
liegenden Intereffen der Unternehmerflaffe zum Ausdruck. 
Die Bedeutung einer eingehenden fpezialifirten 
Fabrikgeſetzgebung, wie der englifchen, Tiegt nicht ſowohl 
in den zunächit ergehenden Geboten und Verboten (dieſe 
müſſen oft plumb eingreifen, «auch berechtigte Inter⸗ 
eſſen verlegen, können allein nie helfen, wenn fie nicht 
dauernd auf die innern Urjachen der Schäden wirken); 
fie liegt in dem erziehenven, die fittlichen Anſchauungen 
von Tabrifanten und Arbeiter ſukzeſſiv ändernden Ein- 
fluß, wie er für die englifche Geſetzgebung neuerdings 
von Ludlow und Jones fo fchön nachgewiejen wurde. 
Nachdruck hat eine folche Geſetzgebung aber nur in 
der Hand eigener veifender Beamten, wie e8 Die eng- 
liichen Fabrifinfpeftoren find. Selbſt die freie Schweiz 
bat fich dieſer Injtitution bemächtigt; bei uns wird 


} 


2. * I Be u % . . 
Da Sue U u. 


Rudel 


Die Reformen in Bezug auf Das Handwerk. 695 


man als Sozialift und Pieudoreaktionär bezeichnet, wenn 
man fie verlangt. Eine geringe Zahl folcher Beamter 
mit je großen Bezirken würde gerügen. Ihnen wäre 
auch das großentheild in die Hand zu geben, was für 
das eigentliche Handwerf und die Hausinbuftrie von 
Regterungsfeite gejcheben könnte. 

Was Tann aber geicheben? Es konzentrirt fich in 
zwei Punkten; 1) Erziehung der arbeitenden Klaffen, 
d. h. Schulbildung und eine möglichit überall zugänglich 
zu machende technifche Erziehung und 2) Ueberleitung in 
neue Zuftände und Verhältniffe, ſoweit eine zurücgeblie- 
bene Bildung der Handwerfer das nicht jelbft vermag. 

Aber follen wir babei den fegensvollen Weg ver 
Selbſthülfe verlafien? Was heißt Selbfthülfe? Kein 
Gegenſatz ift falicher und unklarer, als die hergebrachte 
Gegenüberftellung von Staatshülfe und Selbſthülfe. 
Ob Schulge-Delikich, ob ein Fabrikinſpektor Genoffen- 
Ichaften organifirt, fie ordentlich Buch führen, fparen 
und fammeln lehrt; in beiden Fällen wirkt bie höhere 
Bildung, getrieben von fittlichen Motiven, auf die 
untern Klaſſen, erzieht fie und hebt fi. Die national- 
öfongmifche Schule, welche nur den platten Egoismus 
anerkennt, muß jede Genoffenjchaft, im der immer bie 
ZTüchtigften und Beſten für die Gelammtheit arbeiten, 
perbammen. Auch Schulze's und aller feiner tüchtigen 
Anhänger Einfluß ift, wie ich jchon oben bemerkte, in 
eriter Linie ein erzichenvder. Es ift eine Thätigfeit, bie 
ſtets in einzelnen Fällen eben fo ſchlimm, oder vielmehr 
eben fo erfolglos wirken kann, wie etwaige Staatsthätig- 
feit, nämlich dann, wenn bie Aufopferung, die Thätigfeit 


696 Schluß und Refultate. 


ber Leiter ımb Stifter die Mitgenofien nicht erzieht und 
emporziebt, wenn diefe nur den Vortheil der Genoffen- 
ſchaft ausnugen, ohne felbft dadurch andere Menfchen 
zu werden. Jede Staatshülfe ift dann verwerflich, wenn 
fie bloß äußerlich eingreift, wenn fie Leuten, die e8 nicht 
verdienen, Die dadurch innerlich richt anders werben, 
Geld und Rapital bietet. Sie iſt van berechtigt und 
jteht mit der gamzen Schulge’ichen Bewegung vollftändig 
auf einer Linie, wenn fie die erziehende Thätigkeit, die 
geiftige Hebung voranftellt und erreicht. Sie ift dann 
notbwendig, wenn der Voluntarismus nicht ausreicht 
wie hier; wenn er, um vecht zu wirken, einer über den 
ganzen Staat fich erſtreckenden feſtgegliederten Organt- 
fatton bedarf. Und das tft ver Fall. In Tleinern 
Stäbten, in den abgelegenen Gegenden der Hausinduftrie 
fehlen die freiwilligen Kräfte, welche Die großen Städte 
bieten; eine feitgeglieverte allgemeine Organifation ftrebt 
ja Schulze felbft an; wo eine folche aber einmal noth⸗ 
wendig ft, da wird für die Negel der Staat, d. h. bie 
organifirte Gefammtperfönlichkeit aller berufen fein, fie 
in die Hand zu nehmen. So lange Schulze Tebt und 
feine Anwaltſchaft fo tüchtig wirkt, ift fie gewiß beſſer, 
als ‚jede Stantsthätigfeit. Später werden die Dinge 
anders Tiegen. ebenfalls ift für jest die Iofale Thätig⸗ 
feit von unten herauf das wichtigere. Da gilt es nicht 
Schulze zu verbrängen, ſondern ihm nachzueifern umd, 
wo e8 an Organen dazu fehlt, fie zu Ichaffen. 

Der erite Punkt ift die Schulfrage. Bei unferer 
heutigen fonjtigen Rechts - und Staatsverfaffung find alle 
ſozialen Gegenfäte in eriter Linie Bilpungsgegenfäke. 


Die Schuffrage. . 697 


Längft Hat man in Preußen — im fchroffen Gegenſatz 
gegen die Theorie, Alles müfje fih in Leiftung und 
Gegenleiſtung auflöſen — fich auf den erhabenen, ſoziali⸗ 
ſtiſchen“ Standpunkt geftellt, die Schulbildung für eine 
nationale Angelegenheit zu erklären. Der Schulzwang 
eriftirte jchon vor dem Landrecht; das Landrecht fügt 
ihm den Sat bei, daß die Schulen auf Steuern zu 
bafiren feien, ftatt auf die direfte Gegenleiftung, auf das 
Schulgeld. Bis in die neuefte Zeit hat fich der Streit 
über Die Yettere Frage bingezogen. Es war Lorenz 
Stein und Gneift vorbehalten, die eminent foziale Be⸗ 
deutung ber Frage ins Licht zu ftellen: Die Gefellichaft 
ift verpflichtet, die aufwachlende unmündige Generation 
auszurüften mit dem Maße der Bildung, welche bie 
arbeitende Kraft über die bloß mechanifche Leiftung und 
damit über das Maß des Mafchinenlohns, über das 
Niveau des Proletariats erhebt. Dieſer Pflicht fommt 
die Geſellſchaft nur nach, wenn fie den unbebingten 
Schulzwang ausſpricht, die wirtbichaftliche Laſt der 
Schule auf Steuern, d. b. in erjter Linie auf die 
Schultern der Befitenden überträgt, die Forderungen an 
den Elementarunterricht fteigert, die ganze Schulorgani- 
jation befonders auf dem Lande ändert und dadurch das 
ganze geiftige Niveau der untern Klaſſen emporhebt. 
Der zweite Punkt ift die technifche Bildung. Die 
beſitzenden Klaſſen baben Yängit dafür gejorgt, daR fie 
auf Staatshoften (denn die Schul=, Kolleggelder ꝛc. find 
faft verſchwindend) Univerfitäten, Tanbwirthichaftliche und 
andere Fachichulen, Polytechniken haben, fich eine über- 
legene Bildung auf ihnen jchaffen. Dieſen höhern 


698 Schluß und Reſultate. 


Schulen folgten die Mittelſchulen, Provinzialgewerbe⸗ 
ſchulen, Baugewerkſchulen und ähnliche Inſtitute, die 
aber, wie ich ſchon oben hervorhob, auch mehr 
der höhern beſitzenden Klaſſe, den größern Werk⸗ 
meiſtern, als den kleinen Handwerkern zu gute 
kommen.! Einzelne Fachſchulen für die Meiſter und 
Arbeiter der Hausinbuftrie bat die Noth da und dort 
hervorgerufen: Spinnjchulen, Webichulen, Pojamentier- 
ſchulen, Uhrmacherſchulen, Strohflechtichulen, Klöppel- 
ichulen, Näh- und Strickſchulen. Anverwärts fehlt 
es noch ſehr an ſolchen. Manches haben dann in 
jpäterer, meift erft in allerneuefter Zeit, freiwillige 
Sonntagsſchulen, der Unterricht in Arbeiter- und Ge 
werbevereinen geleiftet. - Dennoch muß ich die oben aus: 
geiprochene Behauptung aufrecht erhalten, daß Diele 
Bemühungen nicht reichen, dem kleinen Meifter, dem 
Gefellen und Lehrling in Dörfern und Heinen Städten 
unzugänglich find. Nur eine ſyſtematiſche Orbnung des 
Zeichen= und gewerblichen Yortbildungsunterrichtd, wie 
fie in Württemberg erfolgt ift und dieſe Wohlthaten 
bis in Die Fleinften Städte und größern Dörfer Hinaus- 
trägt, genügt. Ob nicht den Unternehmern ein Zwang 
zur Freilaffung gewilfer Stunden für ven Beſuch der 
Schulen, den Arbeitern ein gewifler Zwang des Beſuchs 
aufzuerlegen fei, wirb neuerdings jogar in vielen. Handels⸗ 
Tammerberichten als eine offene Trage behandelt. Ich 


1) Bergl. oben ©. 321; Viebahn III, 1144 gibt eine 
Ueberfiht über die fämmtlichen zollvereinsländiſchen gewerb⸗ 
lichen Schulen. 


Die techniſchen Schulen. 699 


fehe in dieſem Unterricht faſt das einzige Gegengewicht 
gegen die durchaus einjeitige, feine techniiche und menſch⸗ 
liche Erziehung gewährende Beichäftigung unferer 14— 
18jährigen jungen Leute in den großen Gelchäften. 
Die Prüfungsattefte folcher Schulen haben die Lehrlinge, 
Geſellen⸗ und Meifterprüfungen zu erſetzen. 

Außerdem handelt es fich darum, an folchen 
Stellen, wo der Vebergang zu neuen VBerbältnifien dem 
Handwerkerſtande allein nicht möglich, wo die entjtehende 
große Konkurrenz zu plößlich gleichlam ihn überfältt, 
- auch pofitiv einzugreifen. Und dazu bebarf es der Or- 
gane. Die Berliner Innungen haben vworgefchlagen im 
Gegenſatz zu ven Hanbelsfammern Gewerbelummern, 
in welchen das Heine Handwerk zu Worte fomme und 
feine Intereffen vertrete, zu gründen. Damit wäre 
aber nichts erreicht. Was beifern ſolche Kammern? 
Selbſt die Thätigkeit der bejtehenden Handelskammern 
fonzentriet fich in ihren Jahresberichten. Daß dieſe, ver- 
faßt meift von bejolveten Literaten, welche ber großen 
Induſtrie immer näher fteben, als dem Heinen Handwerk, 
alle Dinge mehr nur vom Standpunkt der großen Indu⸗ 
ftrie und des Handels betrachten, ift wahr. Man hat vie 
Berichte Ipöttifch oft ſchon die Wunfchzettel unferer großen 
Unternehmer genannt. Ob das zu ändern wäre, Durch 
andere Zuſammenſetzung, will ich bier nicht erörtern, 

fo viel aber ift unzweifelhaft, paß Gewerbefammern, in 
welchen nur Heine Meifter ihre Interefjen berathen, bie 
Handwerferfache wieder mit dem fogenannten Handwerker⸗ 
recht zuſammenwerfen und nicht viel Erſprießliches 
leiſten würden. 


700 Schluß und Refultate. 


Auf der andern Seite find Die beitehenden Staats- 
organe für die in Trage kommenden Aufgaben durchaus 
unfähig. ‘Der Landrath verfteht nichts davon, ift mit 
andern Gejchäften und Schreibereien überhäuft, von ben 
mannigfach noch vorhandenen Herren gar nicht zu 
ſprechen, welche jeven gewerblichen Fortichritt in ihrem 
Kreije überhaupt als ein Unglück, als eine Neuerung, 
als eine Gefahr für den alten befeftigten Grunbbefig 
beklagen. In den Regierungen und ftäptifchen Magi- 
jtraten bat irgend ein älterer wohlwollender Rath 
nebenher auch ein Dezernat in Gewerbefachen, gewerb- - 
lichen Unterjtügungsfaffen und Aehnlichem. Aber was 
außer dem bergebrachten Abarbeiten ver Nummern Tiegt, 
wäre in der Regel zu viel von ihm verlangt, wenn 
auch rühmenswerthe Ausnahmen vorkommen. 

Es bedarf einzelner nur hiermit bejchäftigter hoch⸗ 
gebilveter und gutbezahlter Beamter, gewählt nicht noth⸗ 
wendig ans dem reife der Burenufraten, fondern und 
wielleicht noch eher aus dem Kreije tüchtiger Technifer 
over Kaufleute, die an der Spike eines großen Bezirks 
gleichſam die Anwälte der arbeitenden Klaffen würden. 
Sch meine damit etwa eine Kombination der württember- 
giichen Zentralftelle und des englifchen Fabrikinſpektorats. 
Die Imipeftoren hätten neben ver Aufficht über bie 
Fabriken, neben der Aufgabe, die Berichte hierüber zu 
publiziven, Die Verpflichtung, ven kleinern Leuten mit 
Rath und Anweijung, unter Umständen auch mit pofi- 
tiver Hülfe beizuftehen. Ein gewiſſer Fonds, angemiejen 
auf ftaatliche over Tommunale Mittel, müßte ihnen zur 
Seite ftehen. Ihre Hanptjorge hätte ſich zu beziehen 








Das Gewerbe» und Fabrikinipeltorat. 701 


auf die technifchen Fortfchritte der Heinen Gefchäfte; 
Iofale Ausstellungen von Seräthen, Werkgeugen und Ma⸗ 
ichinen aus dem Kreiſe der Kleinen Gewerbe, Prämien 
für Anfchaffung folcher, einzelne Reifeunterjtügungen, 
unter Umftänden Ueberlaffung von Werkzeugen auf Probe 
Könnten hinzukommen. Hauptjächlich aber hätten fie Ge— 
noffenfchaften anzuregen, wo es an der Initiative fehlte, 
die Leute zur Theilnahme zu bewegen, bie Buchführung, 
einzurichten. Es fehlt fo vielfach nur am einer ber- 
artigen gebildeten und jachverftändigen Initiative. Dabei 
hätten fie fich jedes Eingriffs gegenüber beſtehenden Ge⸗ 
noffenfchaften, die nichts von ihnen willen wollen, zu 
enthalten. 

Bor Mlem in Bezug auf die noch beſtehenden 
Hausinduftrien wäre e8 Pflicht, nicht unthätig ihrem 
Untergange zugujehen. ‘Die ſchwerſten Vorwürfe treffen 
in diefer Richtung die Regierungen und Die befißenden 
Klaffen, wie ich oben bei ber eingehenden Schilderung 
der Spinnerei und Weberei zeigte. Manches geſchah 
ja auch in Folge entjetlicher Notbzuftände, aber meiſt 
geichah es zu ſpät und häufig am unrechten Platze. 

Um nicht Fünftlich eine Hausinduftrie da zu erhal- 
ten, wo nothwendig zulett doch das Fabrikſyſtem fiegt, 
wäre als Grundlage ſolcher Maßregeln eine umfafjenve 
Enquöte dieſer Verhältniſſe zu empfehlen. Erſt auf 
Grundlage einer derartigen Detailinformation könen auch 
bie Detailvorſchläge gemacht werden. Manches aber läßt 
ſich auch vom allgemeinen Standpunkt aus ſagen. Alle die 
erwähnten Maßregeln, die für das Handwerk überhaupt 
nothwendig ſind, müſſen für dieſe meiſt auf dem Land 


702 Schluß und Refultate. 


zeritreuten und damit der Bildungselemente ohnedieß 
mehr entbehrenden Induſtrien doppelt am Platze ſein. 
Die wichtigſte Maßregel, die Gründung von Etabliſſe⸗ 
ments, in welchen Dampf⸗ oder Waſſerkraft an die 
einzelnen kleinen Meiſter vermiethet wird, könnte ohne 
irgend welchen Verluſt, werm es an andern Mitteln 
fehlt, vom Staat oder von Gemeinden (wie in Nürn- 
berg) in die Hand genommen werben.! Wo nır 
ftaatliche Auffichtöbehörven in vie zerjtreute Probuftion 
Einbeit bringen, wo nur fie der Waare Auf und Abjak 
verichaffen, hätte man fie einzurichten und zu erhalten. 
Die Solinger Schufwaffenfabrifation durch Kleine Meiſter 
bat fich erft jet recht entwidelt, nachdem man dem 
Drängen ver Leute nachgegeben, eine Tönigliche Probir- 
anftalt unter Leitung eines Offiziers eingerichtet hat, 
welche jedem Stüde, das fich tüchtig erweift, ven 
preußifchen heraldiſchen Aoler und die Buchſtaben S.P. 
einprägt. ? Unter Umſtänden find auch heute noch Regle⸗ 
ments aufzuftellen, andere find aufzuheben over zu verbef- 
jern. Auch Staatsfredit kann bier unter Umftänden noth- 
wendig fein, einzelnen ®enofjenjchaften gegeben werden, 
heilfam da und dort wirfen, er darf aber nie als das 
wejentliche ericheinen. Eher wären ftaatliche Gejchäfte zu 


1I) Ueber ein derartiges auf Altien gegründetes Etabfiffe- 
ment in Dresden und die Geichäfte, die es macht, vergl. Dres 
bener SHanbelsfammerbericht für 1867, ©. 102; «es ift für 
Drechsler und Reifendreher; ber Einzelne zahlt 12 — 36 Thlr. 
jährliche Miethe; es find 150 Stellen; im erften Jahre 1867 
waren nur 50 vermiethet; im zweiten ſchon über 100. 

2) Handelskammerberichte pro 1867, ©. 687. 


8* 


Die Mittel zur Erhaltung der Hausinduſtrien. 703 


empfehlen, wenn e8 fich darum handelt, einen betrüge- 
riichen die Noth der armen Meifter ausbeutenden Zwi⸗ 
ſchenhandel baburch zu verbrängen, daß man ihm durch 
Gefchäfte auf reeller anftändiger Baſis Konkurrenz macht. 
Man hat ja auch in Preußen aus dieſem Grunde Staats⸗ 
flachsanftalten errichtet, gewilfe Beitimmungen über den 
Garnhandel getroffen. 

Durch folhe Mittel Yafjen fich hunderte und tau- 
ſende von Heinen Geſchäften noch halten und nicht bloß 
vorübergehend roch ‚halten, ſondern auf die ‘Dauer. 
Geſchieht nichts, jo geben fie Krifen entgegen, wie bie 
Weber und Spinner Schlefiens feiner Zeit. reift 
man bei Zeiten ein, jo werben wohl die Intereifen der 
Faktore, der Kaufleute und Fabrifanten ab und zu ver⸗ 
legt, aber man erhält einen gefunden Mittelftand und 
vermeidet Nothitände, die zulegt den Befikenden mehr 
foften, auch ihre Intereffen tiefer ſchädigen, ganz anders 
die Staatshülfe nothivendig machen, ala wir es bier 
empfehlen. 

Damit bin ich zum Ende meiner Schlußbetrach⸗ 
tungen gelangt. — 

Wenn es wahr iſt, daß ein Staat nur durch die 
Grundſätze ſich erhalten kann, durch die er groß gewor⸗ 
den, ſo hat der preußiſche Staat vor allen die Pflicht, 
einerſeits an der Spitze zu bleiben jedes geiſtigen und 
ſittlichen Fortſchritts, jeder geſunden politiſchen Frei⸗ 
heit, aber andererſeits die ſchönſte Pflicht jeder Re⸗ 
gierung, die Initiative für das Wohl der untern 
Klaſſen nicht aus ſeiner Hand zu geben. Er hat 
die beſitzenden Klaſſen durch Heranziehung zu einer