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Full text of "Zur Mechanik des Geistes"

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PSYCH. 


ZUR  MECHANIK  DES  GEISTES 


VON 


WALTHER    RATHENAU 


19     18 
S.  FISCHER  •  VERLAG  •  BERLIN 

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TTbraryi 

PSYC   . 


Achte    und     neunte    Auflage 
Alle  Rechte,  besonders  das  dcr  Obcrsetzung,  vorbehalte 


Was  nach  aufien  als  Individaum  erscheint,  das  erscheint  nach 
innen  als  Assoziation.  Und  was  zur  Assoziation  zusaramenfafit, 
das  ist,  koUektir  betrachtet,  Ichgefuhl,  elementar  betrachtet, 
^^^^®»  Ungeschriebene  Schriften  L. 


42375y 


DEM  JUNGEN   GESCHLECHT 
sei  dies  Buch  gewidmet 


EINLEITUNG  UND   RECHENSCHAFT 


Jede  Frage,  die  wir  zu  Ende  denken,  fiiihrt  ins  Uberirdi- 
sche.  Von  jedem  Punkt,  auf  dem  wir  stehen,  ist  nur 
ein  Schritt  bis  zum  Mittelpunkt  der  Welt.  Die  Dinge 
des  Tages  vergleichen  sich  dem  Spiegelbild  auf  einer 
Glaskugel:  im  engen  Bezirk,  dem  Auge  zunachst,  scheinen 
die  Gegenstande  deutlich  und  wirklich;  im  Umkreise  lost 
sich  das  Bild  in  verschwimmende  Flachen. 

Jeder  Schritt  unseres  Handelns  ist  ein  Doppelschritt : 
halb  irdisch,  halb  transzendent.  Wir  sorgen  in  einem 
fur  Gegenwart  und  Zukunft,  fur  Leben  und  Tod,  fur 
Wirklichkeit  und  Traum.  Wahlen  und  erfiillen  wir 
Pflichten  gegen  Mitwelt  und  uns,  Nachkommen  und 
Gemeinschaft,  nicht  blofi  in  dumpfer  Folge  ungepriiften 
Herkommens,  normaler  Erziehung  und  mechanischer 
Gewohnheit,  so  bekennen  wir  bewufit  oder  unbewufit 
transzendente  Uberzeugungen.  Wir  woUen  das  Gute, 
wir  glauben  an  das  Kiinftige,  wir  verlangen  Gerechtig- 
keit,  wir  anerkennen  das  Allgemeingiiltige,  wir  verebren 
das  Ewige  auch  in  der  kleinsten  unserer  Handlungen, 
soweit  sie  nicht  tierisch  ist;  somit  leben  und  wirken 
wir  unablassig  im  Gebiet  des  Transzendenten.  ^^ 

Solange  sie  ihre  Kraft  bewahrten,  konnten  die  dog- 
matischen  Religionen  dutch  Botschaften,  OfFenbarungen 


u 


*i|nd'  ^J'crktinlJiguQrgen  den  tatigen  Menschen  seiner  uber- 
irdischen  Sorgen  entheben.  Sie  verloren  diese  Kraft 
durch  Toleranz;  denn  dogmatische  Wahrheit  ist  aus- 
schliefilich,  was  ihr  widerstreitet  ist  Irrtum  und  Liige. 
Wird  Irrtum  und  Liige  geduldet,  konkurrierende  Lehre 
gestattet  oder  gar  durch  Versohnung  bekraftigt,  so  ist 
die  gottgegebene  Gewifiheit  zur  Sache  der  Geburt,  der 
Geographie  oder  der  freien  Wahl  geworden  und  hier- 
durch vernichtet.  WahreDogmatikverlangtAbschliefiung, 
Glaubenskriege  oder  Ketzergerichte ;  ist  sie  dieser  Be- 
hauptungsmittel  nicht  mehr  fahig,  so  kann  sie  noch  ein- 
zelnen  bedrangten  Gemiitern  Zufluchtsstatten  bieten, 
jedoch  nicht  mehr  unantastbare  Weltwerte  und  Lebens- 
ziele  statuieren.  Schon  dadurch,  daJB  sie  Austritt,  Uber- 
tritt  und  somit  Auswahl  freistellt,  zersplittert  sie  ihre 
Kollektiv-Verantwortlichkeit;  sich  selbst,  Gott  und  der 
Welt  verantwortlich  wird  nun  der  Einzelne,  der  zusehen 
mag,  wie  er  mit  irdischen  und  gottlichen  Dingen  fertig 
wird. 

Bei  diesem,  nicht  glaubenslosen  aber  glaubensschwan- 
kenden  Zustande  der  Kulturwelt  sollte  man  annehmen, 
dafi  jeder  Moment  des  Aufatmens  von  taglicher  Arbeit 
und  Betaubung  ergriiFen  werde,  um  zu  den  Gestirnen 
aufzublicken  und  fiir  das  unermefiliche  Chaos  der  Tatig- 
keiten  und  Willenskrafte  Richtung  und  Rechtfertigung 
zu  suchen.  Dafi  es  nicht  geschieht,  dafi  vielmehr,  ab- 
gesehen  von  Romantizismen,  aberglaubischen  Bediirf- 
nissen  gesattigter  Kreise  und  echter  Sehnsucht  einsamer 
Geister  die  heutige  Weltstimmung  alles  transzendente 
Bestreben  als  unfruchtbare  und  zeitraubende  Traumerei 
verurteilt,  dafiir  scheinen  zwei  Umstande  verantwortlich. 

Zum   ersten   fiihlt  unsere  Zeit    sich   eingespannt  in 


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einen  Gespensterkampf:  abgestorbene  Dogmen  morgen- 
landisch-nomadischer  Herkunft  kampfen  gegen  die  In- 
toleranz  einer  auf  klarerisch-materialistischen  Epoche,  die 
im  Sterben  popular  wurde.  In  diesem  Kampf  Stellung 
nehmen,  hiei2)e,  furDogmatismus  oder Nihilismus  optieren. 
Die  Geisteskrafte  unserer  Zeit  lehnen  es  ab,  einer  Partei 
zum  Siege  zu  verhelfen,  von  der  nur  das  eine  feststeht, 
dafi  sie,  zur  iViacht  gelangt,  tief  reformbediirftig  und 
auiSerst  insolent  auftreten  wurde.  Uberdies  sagt  ein 
dunkles  Gefiihl,  daii5  die  Wahrheit  nicht  in  der  Mitte 
liegt,  sondern  auli^erhalb  der  Axe  dieser  Polaritat.  ^ 

Zum  zweiten  hat  die  philosophische  Disziplin  unseres 
Zeitalters  sich  dem  Leben  versagt.  Nachdem  Philosophic 
die  messenden  Wissenschaften  aus  ihrem  Haupte  abge- 
spalten  hatte,  strebte  sie  selbst  danach,  exakte  Wissen- 
schaft  zu  werden.  Daher  verlor  sie  Naivitat,  Uber- 
zeugungskraft,  Warme  und  Phantasie,  und  gewann  Kritik. 
Dem  Leben  wurde  sie  fremd;  denn  die  Schritte  der 
Menschheit  sind  nicht  bezeichnet  durch  die  ausgebrannten 
Schlacken  negativer  Wahrheiten,  sondern  durch  dieMonu- 
mente  des  schonen  organischen  Irrtums,  der  in  der  Tiefe 
seiner  Notwendigkeit  lebendige  Wahrheit  birgt.  Nun 
ruht  sie,  gesattigt  von  der  Erkenntnis,  dal5  alles  Ge- 
scheite  schon  einmal  gedacht  worden  ist,  in  historisch- 
kritischer  Betrachtung  ihrer  selbst,  als  Huterin  und  Ver- 
walterin  unerhorter  Schatze,  die  der  Welt  nicht  dienen. 
Ein  wissenschaftliches  Altenteil  hat  sie  sich  vorbehalten: 
das  Studium  der  intellektualen  Krafte,  falschlich  Seelen- 
kunde  genannt,  das  ihr  uber  lang  oder  kurz  von  den 
messenden  Tochtern  abgenommen  werden  wird.  Trotz 
dieser  aktuellen  Beschaftigung  kann  man  nicht  verspiiren, 
dafi  die  Konigin  der  geistigen  Disziplinen  dem  Zeitalter 


13 


die  Gesetze  noch  vorschreibt,  die  sie  ihm  schuldet: 
Richtungen,  Werte,  Ziele. 

So  bleibt  unsere  Zeit  seelisch  indifferent,  indem  sie 
weder  aus  ihren  Kampfen  noch  aus  ihren  Besitztiimern 
VerheiC>ungen  erwachsen  sieht,  die  ihr  Leben  und  Streben 
rechtfertigen.  Wie  konnte  sie  sich  der  IndifFerenz  ent- 
reifien?  Von  welcher  Seite  diirfte  sie  ihre  frohe  Bot- 
schaft  erwarten? 

Alle  Religionen  wurzeln  im  dogmatisch-mythologischen. 
Selbst  die  klaren  und  reinen  Lehren  der  Evangelien  be- 
diirfen  des  Glaubens  an  Unumsto£>lichkeiten.  Wenn 
aber  die  AbschafFung  einzelner  Grundwahrheiten  uner- 
lafilich,  der  Zweifel  an  anderen  duldbar  erscheint:  wo 
soil  der  Glaube  halt  machen?  1st  nicht  jede  Abgrenzung 
doppelte  Willkiir?  Wer  nicht  fiir  mich  ist,  der  ist  wider 
mich;  die  Lauen  will  ich  ausspeien  aus  meinem  Munde. 

Sind  neue  Religionsstifter  zu  erwarten?  Bisher  ist 
keine  uns  bekannte  Religion  anders  entstanden  als  dutch 
sichtbare,  unbezweifelte  Wunder.  Das  Wunder  aber 
setzt  die  bessere  Halfte  des  Glaubens  bereits  voraus; 
Wunder  geschehen  vor  Solchen,  die  sie  wollen,  nicht 
vor  IndifFerenten;  sie  dienen  nicht  zur  Erweckung 
sondern  zur  Rechtfertigung  des  Glaubens. 

Kann  eine  philosophisch-intellektuale  Wissenschaft  uns 
Uberzeugungen  geben?  Sie  kann  ein  Gebaude  subtiler 
Argumente  und  Schliisse  errichten,  Undinge  beseitigen, 
die  dem  perpetuum  mobile  der  Mechanik  entsprechen, 
sie  kann  mit  leichter  Hand  iiber  dem  Fundament  der 
zeitlichen  Erfahrung  ein  Gewolbe  der  Weltanschauung 
runden,  im  Stillen  besorgt,  dal^  nicht  eine  Anderung 
dieser  Erfahrung  den  Bau  gefahrde;  sie  kann  vor  allem 
Denkformen  lie  fern,   die   dem  Traumen  der  Zeit  ab- 


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gelauscht,  unbewuli)tenWillensformenSprache  leihen;  ein 
edles  Material  fiir  den  Geist,  der  sich  selbst  seine  Schale 
baut. 

Aber  sie  kann  nicht,  und  wenn  es  fiir  den  Augenblick 
ware,  Uberzeugung  schaiFen  und  Werte  setzen,  denn 
sie  arbeitet  mit  der  Reservatio  mentalis.  Sie  weii^,  es 
geht  auch  umgekehrt.  SchluI5folgerungen  konnen  nicht 
warmen  und  ziinden;  der  Funke  steigt  nur  aus  dem 
Unbewiesenen,  Unbeweisbaren ,  das  solche  Kraft  der 
Ahnung  in  sich  tragt,  dal5  unser  wissendes  Gemiit  von 
dem  Geheimnis  innerer  Wahrheit  langst  ergrifFen  und 
iiberzeugt  ist,  bevor  noch  der  miligelaunte  Verstand 
sein  skeptisches:  Wieso?  und  Warum?  gesprochen  hat. 
Wenn  Paulus  die  Worte  ausspricht:  „so  ware  ich  nur", 
so  jauchzt  das  Herz  lachend  und  glaubensvoll  in  den 
Larm  der  klingenden  Schelle  und  des  tonenden  Erzes. 

Wissenschaft  kann  Tatsachen  feststellen,  Zusammen- 
hange  ermitteln,  Gesetze  erweisen;  sie  kann  nicht 
Glauben  und  innere  Gewissheit  zeugen;  sie  wirkt  kausal, 
nicht  final.  Der  tiefste  Irrtum  des  sozialen  Denkens 
unserer  Zeit  lag  darin,  dal^  man  glaubte,  von  der 
Wissenschaft  Willensimpulse  und  Idealziele  verlangen 
zu  diirfen.  Was  wir  glauben,  was  wir  erhofFen,  wofiir 
wir  leben,  wofiir  wir  uns  opfern,  das  wird  uns  niemals 
der  Verstand  verkiinden;  Ahnung  und  Gefiihl,  Erleuch- 
rung  und  Intuition  fiihren  uns  in  das  Reich  der  Machte 
die  den  Sinn  unserer  Existenz  beschliefien.  Sinnlos,  zu- 
fallig  und  ungerechtfertigt  bleibt  jegliches  Leben  und 
Lebenswerk,  wenn  es  sich  auf  die  Krafte  des  rechnen- 
den  und  planenden  Geistes  stiitzt;  und  hierin  liegt  der 
tiefe  transzendente  Trost  des  Daseins,  dafi  der  selbst- 
bewui^te  Verstand   seine   letzte  Aufgabe   darin   findet, 


sich  selbst  zu  beschranken  und  zugunsten  tiefinnerer, 
geheimnisv oiler  Krafte  zu  entsagen,  die  wortlos  unser 
Gemut  beriihren. 

Dai5  unserer  Zeit  die  Quellen  wieder  emporbrechen 
soUen,  die  bestimmt  sind,  das  Leben  aus  der  Erstarrung 
A^  mechanistischen  Selbstzweckes  zu  losen,  dafur  sind  Zei- 

chen  gegeben.  Das  erste,  was  geschieht  und  was  ge- 
schehen  mufi,  ist,  daH)  die  Welt  sich  ihrer  seelischen  Ar- 
mut  bewufit  wird,  dafi  sie  aus  der  Benommenheit,  dem 
Larm  und  der  Blendung  ihrer  Berechnungen,  Produk- 
tionen,  Transporte  und  Schaustellungen  aufatmet,  um 
innere  Stimmen  zu  vernehmen;  dal5  sie  die  Dinge  der 
Seele  ernst  nimmt,  ernster  als  ihre  Tageswiinsche,  ernster 
als  ihr  tagliches  Brot. 

Dann  werden  sich  Stimmen  erheben,  schiichterne, 
von  Zweifel  und  Scham  lange  zuriickgedammte;  zage 
Hande  werden  die  pressierte  Geschaftigkeit  am  Armel 
fassen  und  Gehor  fiir  die  Angste  des  Herzens  erbitten. 
Ohne  Scheu  vor  dem  Bannstrahl  orthodoxer  Wissen- 
schaft  werden  Menschen  auf  hellem  Markte  zusammen- 
treten,  um  ihre  Sehnsucht  und  Glaubensnot  zu  bekennen, 
erleuchtete  Geister  werden  das  Wort  ergreifen  und  der 
Menge  nicht  alte  Mythen,  trockene  Wunder,  liisterne 
Erweckungen  und  geile  Ekstasen,  sondern  Zuversichten 
des  Geistes  und  Erlebnisse  der  Seele  verkiinden. 

Freilich  entsteht  Gefahr;  denn  wie  die  gleiche  Speise, 
vom  Tier  verschlungen  oder  vom  Menschen  verzehrt, 
sich  verschieden  wandelt,  so  materialisiert  sich  der  trans- 
zendente  Gedanke  nach  Art  des  menschlichen  Gefafies, 
dem  er  zuteil  wird.  Die  reine  Botschaft  der  Liebe  und 
hriosung  konnte  inmitten  der  Zivilisation  so  tief  im  StofF 
versinken,  dafi  befreundete  Mutter  Gottes,  festlich  ge- 

i6 


Ideidet,  Visiten  abstatten,  daC)  heiligeSymbole  in  Kutschen 
spazieren  fahren,  dal5  die  Gottheit  Biindnisse  schliel^t 
und  Prozesse  fiihrt.  Auch  diesmal  wird  das  Erstarken 
der  Seelenkrafte  durch  Materialisationen  fiihren;  Wahr- 
sagerei  und  Aberglauben,  Konventikel  und  Muckereien, 
Frdmmelei  und  Intoleranz,  Puritanismus  und  Askese, 
Reaktion  und  Mystizismus  werden  in  neuen  Formen 
wuchern.  So  spriefit  an  verwiisreten  Statten  eine  Un- 
krautflora  hervor,  damit  der  Boden  fiir  edlere  Pflanzun- 
gen  gelockert  werde.  Aber  das  Leben  des  geistigen 
Mifiwachses  wird  zeitlich,  ortlich  sich  enger  beschranken 
als  in  friiheren  Epochen  und  der  reinen  Saat  Raum  zum 
Wachstum  und  zur  Ernte  lassen. 

Gleichviel;  ist  es  uns  beschieden,  dafi  wir  nur  durch 
Sumpf  und  Dickicht  den  Gestirnen  folgen  diirfen,  ist  es 
uns  Gesetz,  dafi  wir,  um  verjiingt  zu  werden,  stets  von 
neuem  Herd  und  Dach  verlassen,  den  Stiirmen  des  Irr- 
tums  und  des  Zweifels  uns  preisgeben  miissen,  so  mag 
auch  dieser  Weg  der  Welt  durch  Schmerz  und  Dunkel 
fiihren;  er  wird  beschritten,  denn  die  Machte  wollen 
nicht,  dai5  wir  in  feiger  Ruhe  und  eitlem  Frieden  das 
Geisteserbe  der  Jahrhunderte  verzehren. 

Diese  Erwagung  stellte  ich  der  Befangenheit  ent- 
gegen,  die  jeden  befallt,  der  sich  gedrangt  fiihlt,  eigene 
Bekenntnisse  von  seelischen  und  iiberirdischen  Dingen 
auszusprechen.  Denn  unsere  Zeit  hat  ihre  ungeistige 
Neigung  darin  bekraftigt,  daH)  sie  mit  dem  Schleier  innerer 
Scheu,  der  ehedem  die  Erfahrungen  des  Sinnenlebens  be- 
deckte,  in  gesteigerter  Empfindlichkeit  die  Erfahrungen 
der  Seele  umschlingt.  Man  will  lieber  Wiistling  scheinen 
als  Kopfhanger,  und  so  werden  wir  uberschiittet  mit 
Ausmalungen  gleichformiger  jugendlicher  Libertinagen, 


wahrend  wir  iiber  die  intuitivenErlebnisse  unserer  Lebens- 
genossen  kaum  anderes  erfahren,  als  etwa  die  herkomm- 
lichen  Kampfe  des  Geistlichen,  der  mit  staatlichen  Ver- 
ordnungen  in  leicht  vorauszusehenden  Widerspruch  ge- 
rat.  So  war  es  ein  groI5es  und  gliickliches  Erlebnis  des 
^  deutschen  Geistes,  dal5  in  Emanuel  Quint,  dem  klassi- 

schen  Buche  unseres  Lebensalters,  der  Seelenlosigkeit 
der  Epoche  ein  Spiegel  vorgehalten  wurde. 

Eine  weitere  Hemmung  trat  hinzu.  Unser  Arsenal 
an  fertigen  Einzelgedanken  ist  unermefilich.  Die  Menge 
der  behaupteten,  zuriickgestellten ,  bewiesenen  oder 
widerlegten  Wahrheiten  ist  so  grofi,  daI5  jede  Darlegung, 
die  nicht  akzidentell  Erlebtes  widergibt,  sondern,  um 
verstandlich  zu  sein,  bei  aller  Bescheidenheit  der  Mei- 
nung  sich  der  stolzen  Gangart  der  Systematik  bedient, 
in  Gefahr  gerat,  abgetretene  oder  verbotene  Straiten  zu 
durchlaufen,  wenn  sie  den  Landschaften  zustrebt,  die  dem 
Blick  erschlossen  werden  sollen.  Vermeidet  sie  das  Ubel 
dutch  Wahl  aphoristischer  Formen,  die  im  Sprung  ihr 
Terrain  erobern,  so  mull>  sie  bei  allem  Vorteil  leichterer 
und  unverantwortlicher  Aussprache  auf  Vollstandigkeit, 
Abrundung  und  Klarheit  verzichten.  Was  hilft  es,  sich 
vorzuhalten,  dafi  auf  dem  Schachbrett  jeder  mogliche 
Zug  schon  tausendmal  gezogen,  jeder  AngriiF  und  jedes 
Endspiel  registriert  ist,  und  dennoch  ein  neues,  mutig 
gefiihrtes  Spiel  ein  berechtigtes  Abbild  der  Partnerschaft 
und  somit  ein  echtes  Geschehnis  bietet?  Es  bleibt  ein 
beklommenes  Beginnen,  das  schlieMch  ausgelost  wird 
durch  die  Erkenntnis :  was  kommt  es  auf  mich  an? 

Auf  dich,  Leser,  auf  dich  kommt  es  an,  auf  deine 
Gedanken  und  deine  Beschliisse.  Konnen  meine  Ver- 
suche  dich  aus  den  zweckhaften  Banden  des  Tages  auf 


i8 


Augenblicke  losen,  konnen  meine  Hande  den  Knauel  der 
Probleme  greifbar  gerundet  in  deine  Hande  legen,  kon- 
nen getreulich  gesehen  und  beschrieben  die  Erlebnisse 
eines  suchenden  Geistes  deiner  priifenden  Empfindung 
uberantwortet  werden,  so  ist  genug  geschehen.  Mich 
trostet  das  einige  Bewul5tsein,  dafi  die  Dinge,  die  ich  zu 
sagen  habe,  mogen  sie  sich  als  alt  oder  neu,  stark  oder 
anfechtbar  erweisen,  nicht  Konstruktionen  sind,  sondern 
gedeutete  Empfindungen  und  Erlebnisse,  die  mir,  einem 
Menschen,  den  ich  nicht  als  leichtglaubig  und  vermessen 
kenne,  wahrer  und  fester  gefiigt  erscheinen  als  die  Be- 
gebnisse  und  Bilder  der  Welt,  an  die  wir  zu  glauben 
gewohnt  sind.  So  bleibt  denn  nichts  als  das  Wort 
Gestandnisse,  die  nun  einmal  jedes  Treiben  umfassen, 
das  nicht  an  Einzeldinge  und  Tatsachen  gekettet  ist. 
Wir  spahen  unseren  Schatten  in  der  Sonne.  Wir  werfen 
das  Tau  unserer  VorsteJlungen  in  die  Wolken,  um  unsere 
Schwere  aufzuheben;  nicht  aus  Unkenntnis  der  Gefahr 
und  nicht  aus  Freude  am  Wagnis,  sondern  weil  innere 
Not  uns  treibt,  in  Sehnsucht  und  Zuversicht. 

Eine  knappe  Rechenschaft  des  Handwerkszeuges  mag 
diese  Rechtfertigung  beschliefien. 

Wer  den  Versuch  gewagt  hat,  ein  erschautes  Bild  un- 
sichtbarer  Weltzusammenhange  in  Gleichnisse  und  Denk- 
formen  des  vereinbarten  Lebens  zu  iibersetzen,  der 
kennt,  wenn  nicht  eben  der  gottliche  Genius  ihm  dik- 
tierend  liber  die  Schulter  zu  blicken  pflegt,  die  Jahre 
der  Sorge  und  des  Zweifels,  wo  keiner  der  stromen- 
den  BegrifFe,  keines  der  wechselnden  Zeichen  und  Sym- 
bole  das  unzweifelhaft,  aber  unaussprechlich  Erblickte 
decken  und  erschdpfen  will.  Grundkontraste  und  Ur- 
gestalten  kehren  wieder,  aber  sie  verschmahen  die  alte 


19 


Benennung  und  Einordnung;  neue  Ausblicke  erscheinen, 
aber  sie  erweisen  die  Unzulanglichkeit  des  langst  Er- 
worbenen.  Und  scheint  nun  alles  geordnet,  benannt, 
dargestellt,  von  fernster  Feme  dem  Urbild  nicht  allzu 
fremd,  so  kommt  die  Sorge  der  perspektivischen  Tau- 
schung:  am  Ende  besteht  die  Ahnlichkeit  nur  fiir  den 
Urheber?,  am  Ende  hat  er  sich  in  das  Bild  verguckt,  so 
dalb  es  ihm  in  alien  Sonnenflecken  erscheint,  und  des- 
halb  versaumt,  es  dem  Unbeteiligten  naherzubringen,  es 
zu  gestalten.  Und  mag  es  gestaltet  sein,  so  bleibt  die 
Frage :  ist  bei  aller  menschlichen  Einseitigkeit  nicht  dieser 
Ausschnitt  allzu  subjektiv  gegrifFen?  Ist  nicht,  in  der 
falschen  Meinung,  liber  alles  Umgebende  habe  man  sich 
verstandigt,  die  Umfassungslinie  launisch,  ja  schruUen- 
haft  willkiirlich  gewahlt  worden? 

In  diesen  Bedenken  ist  man  geneigt,  Priifwerkzeuge 
zu  schaffen,  um  von  neuem  die  Objektivitat  des  Blickes 
zu  scharfen;  einige,  deren  ich  mich  bediente,  mochte 
ich  nennen,  weil  ich  auch  diese  Rechenschaft  im  Wesen 
des  Gestandnisses  erachte. 

1.  Ein  Element  scheint  mir  nur  dann  wirklich  ge- 
geben  und  zum  Aufbau  tauglich,  wenn  es  in  beiden 
Reihen,  der  des  Bewull>tseins  und  der  der  Erscheinung 
reziprok  gespiegelt  sich  aufweisen  lafit.  Ein  BegrifF  der 
Erscheinungsreihe,  wie  zum  Beispiel  der  des  Todes  oder 
der  Vererbung,  kann  erst  dann  in  den  Bau  sich  fiigen, 
wenn  sein  deutliches  Korrelat  in  der  Sphare  der  inneren 
Erfahrung  zutage  gefdrdert  ist, 

2.  Indem  wir  die  Gesetzmafi)igkeiten  unseres  Geistes 
in  das  Chaos  der  Welt  projizieren,  ruhen  wir  nicht,  bis 
wir,  um  der  Verstandigung  mit  uns  selbst  und  mit  an- 
dern  zu  geniigen,   die  Zusammenhange  so  greif  bar  ge- 


macht  haben,  dafi  sie  sinnlich  erlebten  Bildern  gleichnis- 
arrig  entsprechen.  Es  genii gt  nicht,  die  Welt  in  ein  Ge- 
setzbuch  zu  verwandeln;  sie  soil  uns  auch  als  Bilderbuch 
dienen;  ja  ihre  lUustrationen  machen  schliei^lich  den 
ganzen  Reichtum  unseres  erworbenen  Besitzes  aus.  1st 
doch  auch  die  abstrakteste  Sprache  unserer  Gedanken 
nichts  anderes  als  ein  verblafiter  Hieroglyphenkodex 
greif barer  Sinnlichkeiten.  Gibt  nun  diese  gewissermafien 
physische  Bildhaftigkeit  unseres  Erfassens  dem  Verstande 
eine  Sicherheit  der  Kontrolle,  selbst  da,  wo  das  Modell- 
bild  nur  vorschwebt,  ohne  dafi  es  sachlich  aufgewiesen 
werden  konnte,  so  geniigt  doch  diese  Anschaulichkeit 
unserem  letzten  Empfinden  noch  nicht.  Wir  verlangen 
eine  weitere  Bestatigung,  namlich  die  des  Gefiihls:  so 
etwa,  wie  bei  einem  Bilde  die  geometrische  Ahnlichkeit 
uns  kalt  lal5t,  so  lange  nicht  die  empfindungsmafiig  im 
Unbewufiten  gelagerte  innere  Illusion  hinzutritt.  Auch 
im  Gebiet  des  Gedankens  entsteht  die  seelische  Uber- 
zeugungskraft  eines  Satzes  unabhangig  von  der  dialek- 
tischen;  sie  zeigt  sich  aufierlich,  wenn  ein  Satz  sich  auf 
das  aul5erste  beweislos  vereinfachen  laI5t  und  hierdurch 
an  einleuchtender  Kraft  gewinnt.  Die  Gleichnisse  des 
Neuen  Testamentes  haben  eine  solche  Macht,  deren 
Wesen,  auf  die  Spitze  getrieben,  sich  dergestalt  aus- 
sprechen  liefie :  was  in  sich  widerspruchslos  und  innerlich 
wahr  ist,  das  ist  so  einfach,  dafi  ein  Kind  es  versteht. 
Was  in  letzter  Linie  kompliziert  bleibt,  enthalt  Wider- 
spriiche,  ist  zum  mindesten  schief  und  meistens  falsch. 
3.  Die  grofien  Glaubensformen  derMenschheit  sind 
nichts  Zufalliges;  ihre  Zahl  ist  beschrankt  und  moglicher- 
weise  geschlossen.  Sucht  man  diese  Uberzeugungen  von 
den  Zufalligkeiten  ihrer  Materialisationen  zu  befreien. 


21 


.-< 


so  erscheinen  sie,  mathematisch  betrachtet,  als  Partial- 
losungen;  praktisch  ahneln  sie  uralten,  immer  wieder 
auftauchenden ,  scheinbar  paradoxen  Heilmitteln,  die 
schlieMch  ihre  Rechtfertigung  finden,  indem  eine  uner- 
wartete  Entdeckung  die  Anwendung  des  absurd  erach- 
teten  StofFes  wissenschaftlich  begriindet.  So  scheint  es 
mir  die  kraftigste  Bestatigung  eines  Zusammenhangs, 
wenn  aus  der  generellen  Ldsung,  durch  Einsetzung  be- 
stimmter  Konstanten,  Weistiimer  der  Vergangenheit  als 
Partiallosungen  sich  ableiten  lassen. 

4.  Wenn  unsere  Gedankenreihen  sich  den  Zustanden 
der  Gegenwart  soweit  nahern,  dafi)  sie  Zeitprobleme  um- 
schliefien,  so  liegt  die  Versuchung  nahe,  kiinftige  Ent- 
wicklungen  aus  diesem  Spiegel  hervorzulocken.  Aber 
alsbald  fuhlen  wir  uns  gewarnt:  nur  dann  sind  Zukunfts- 
traume  glaubwiirdig  —  und  mit  ihnen  die  Pramissen  und 
Ketten  gebilligt  — ,  wenn  sichtbare  Keime  der  vermute- 
ten  Evolutionen,  sei  es  noch  so  tie f  und  verborgen,  im 
Kern  unserer  eigenen  Zeiten  ruhen.  Denn  mag  man 
noch  so  zuversichdich  von  der  schopfenden  und  mit- 
reifienden  Wirkung  des  Gedankens  auf  ein  Zeitalter 
denken:  es  besteht  eine  Art  prastabilierter  Harmonic 
zwischen  dem  unbewufit  gestaltenden  Traumen  der  Zeit 
und  der  Einzelarbeit  des  Betrachters.  Selbst  da,  wo  unser 
Empfinden  dem  innersten  Wesen  der  Zeit  aufs  beharr- 
lichste  zu  widersprechen  scheint,  deuten  wir  mehr,  als 
dafi  wir  bestimmen.  Die  Zeit,  in  ihrem  Tun  bedenklich 
flach,  ist  in  ihrem.  Traumen  tief;  und  mechanisch  be- 
trachtet verhalten  wir  uns  bestenfalls  zu  ihr  wie  das 
Auge  zur  Hand  dessen,  der  vom  Blatte  spielt:  das  Auge 
ist  um  einen  Takt  voraus,  aber  beide  halten  Schritt  und 
folgen  der  Komposition  eines  Dritten.    Da  nun  das  be- 


wulke  Wesen  der  Zeir,  wie  ein  schlechter  Spieler  oder 
Rezitator,  nur  in  dem  jeweils  gegenwartigen  Takt  oder 
Vers  lebt,  seine  vermeinte  Schonheit  hervorschmettert 
und  des  Zusammenhanges  nicht  gedenkt,  so  ist  der  ein- 
sam  Schreitende,  dem  nur  um  den  Zusammenhang  zu 
tun  ist,  mit  ihrem  lauten  Benehmen  in  hellem  Konflikt, 
und  insofern  unzeitgemafi.  ZeitgemaI5  indessen  erscheint 
er  sich  selbst  —  und  deshalb  hat  er  Respekt  und  Ein- 
fuhlung  in  die  verborgensten  Krafte  der  Epoche  aufzu- 
bringen  — ,  weil  er  wissen  mufi,  daJ5  die  Schopfung  es 
ist,  die  musiziert,  und  seit  Ewigkeit  her,  und  dafi  in  ihr 
Komposition  und  Wiedergabe  im  Tiefsten  harmonieren. 
Mit  einem  Wort:  man  glaube  an  keine  Prophezeiung 
und  keinen  Propheten,  wenn  nicht  sein  Zukunftsbild, 
wohlgemerkt,  bei  kiihner  und  freier  Betrachtung,  schon 
aus  dem  Vorhandenen  hervorleuchtet. 


a3 


Erstes  Buch 

DIE  EVOLUTION  DES   ERLEBTEN 
GEISTES 


Geist  nenne  ich  den  Inbegriffallesinnerlich  Erlebenden.  Die  Inyentur 
^,r  •  1    J-     TT  -1  •         r^   '        •  des  Geistes 

Wenn  ich  die  Hauptstucke  meiner  ueistesmventur 

aufnehme,  so  gehe  ich  von  der  Voraussetzung  aus,  dafi 

meine  Erinnerung,   wenn  auch  stellenweis  verdunkelt, 

doch  wesentlich  im  Sinne  einer  mathematischen  Funktion 

stetig  sei.    Zweifel  an  der  Stetigkeit  des  Erinnerns  oder 

Denkens  wiirden  jede  Gedankenarbeit  hinfallig  machen. 

Als  das  wesentliche  Besitztum  meiner  geistigen  In- 
ventur  betrachte  ich  die  durch  Erinnerung  festgelegte 
Evolution  meines  inneren  Erlebens,  im  Gegensatz  zu 
derjenigen  Auffassung,  welche  die  gleichzeitig  vorhan- 
denen  Bestandteile  des  Intellekts  fiir  das  wichtigsre  er- 
achtet. 

Meine  Erinnerungen  reichen  in  die  Kindheit  hlmuL  Inventor  der  Er- 
Wenn  fremde  Erinnerungen  und  Beobachtungen  herbei- 
geholt  werden,  so  bedeutet  dies  im  gegenwartigen  Zu- 
sammenhange  einen  VorgrifF  in  die  Erscheinungsreihe. 
Diese  Vorausnahme  hat  insofern  kein  Bedenken,  als  sie 
nicht  der  Argumentation  sondern  der  Erlauterung  dient; 
sie  steht  auf  gleicher  Stufe  mit  der  Benutzung  der 
Sprachform  und  dem  Akt  der  Niederschrift. 

Man  spricht  von   der  Unschuld  des  Kindes.     'DiesQ  KindiUhe  Un- 
Vorstellung  ist  berechtigt,  solange  man  den  BegrifF  in 


27 


subjektiver  Bedeutung  fafit:  das  Kind  ist  sich  keiner 
permanenten  oder  temporaren  Schuld  bewul5t;  was  man 
ihm  als  gut  und  bose,  Schuld  und  Verdienst  beibringt, 
das  betrachtet  ein  unerwachtes  Gewissen  bestenfalls  als 
eine  Art  von  Spielregel  mit  strengen  Konsequenzen, 
nicht  als  innere  Bindung.  Selbst  was  man  bei  intelli- 
genten  Tieren  als  Schuldbewufitsein  deuten  mochte,  ist 
nichts  als  Angst,  verbunden  mit  der  Erinnerung  an  eine 
ganz  beliebige  Drohung;  sobald  die  Strafe  hingenommen, 
erlassen  oder  umschlichen  ist,  verschwindet  das  schein- 
bare  bose  Gewissen  spurlos. 

Am  tie fs ten  geriihrt  von  der  Vorstellung  kindlicher 
Unschuld  sind  sentimentale  und  im  Siindenglauben  be- 
fangene  Naturen;  das  okzidentale  Altertum  kannte  keine 
riihrungsvolle  Betrachtung  der  Kindesnatur,  es  sah  in 
dem  Menschenjungen  den  Gegenstand  liebevoller  Ziich- 
tung,  aber  kein  Ideal,  kein  Sehnsuchtsbild,  keinen  Ab- 
glanz  verlorener  Paradiese.  Das  erste  geriihrte  Wort 
in  der  Erinnerung  der  Welt  hat  Jesus  zu  Kindern  ge- 
sprochen,  dessen  Verhaltnis  zu  Tieren  wiederum  weniger 
innig  gewesen  zu  sein  scheint  als  das  der  Griechen. 

Irrtiimlich  wird  der  Satz  von  der  Unschuld  des  Kindes, 

wenn  man  den  BegrifF  objektiv  fafit:  etwa  gleichbedeu- 

tend    mit   Sundlosigkeit,    Tugendhaftigkeit,    ethischem 

Wert.    Unbelehrt  ist  das  normale  Kind  weder  hingebend 

noch   giitig,   weder  standhaft  noch  zuverlassig,    weder 

mitleidsvoll  noch  opferwillig.     Fehlte  es  ihm  nicht  an 

Nachhaltigkeit  des  Willens  undKomplikation  desDenkens, 

so   wiirde   iiber  kindliche  Untugend   des   Klagens   kein 

Ende  sein. 

Ursrimmung:      Dgj  Kindes  Grundstimmung  ist  Begehren.     Konnten 

Begehrenund     .        .  ,  .      i.     /-    ,  ,  «      t^     .    i 

Furcht  wir  ermnernd  m  die  friiheste,  unbewulate  Periode  unseres 


28 


Daseins  hinaufsteigen ,  so  wiirden  wir  in  den  ersten 
Regungen  des  Nahrungsbediirfnisses  das  Mitklingen  be- 
gehrenden  Geistes  vernehmen.  Jeder  entschiedene  Ein- 
druck  lost  ein  Begehren  aus,  das  zunachst  freilich  nur 
bis  zum  Tasten,  Greifen,  Kosten  hinlangt;  sparer  richtet 
es  sich  auf  Besitz,  zuletzt  auf  Geltung. 

Scheinbar  von  den  ersten  schmerzlichen  Erfahningen, 
wahrscheinlich  von  ursprxinglichen,  quellenlosen  Regun- 
gen, bleibt  die  Erinnerungsstimmung  der  Furcht  zuriick. 
Begehren  und  Furcht  beherrschen  nun  den  Urgrund  des 
kindlichen  Geistes ;  diese  triiben  AfFekte  freilich  gemil- 
dert  durch  ungebrochene  Genufi)fahigkeit  und  geringe 
Nachhaltigkeit,  so  dafi  in  einem  gliicklichen  Verhaltnis 
die  Sinnenfreude  des  Augenblicks  die  qualenden  Re- 
gungen liberwiegt  und  stillt,  und  somit  eine  aul!>ere 
Heiterkeit  der  Lebensstimmung  zulafit,  die  der  erwach- 
sene  Mensch  gleichtemperierter  Veranlagung  nicht  auf- 
bringen  wiirde, 

Es  eriibrigt  zu  sagen,  dal5  die  Bezeichnungen  Begehren 
und  Furcht  hier  nicht  im  lediglichen  Sinne  positiver  und 
negativer  Willensrichtung  gebraucht  sind;  sie  bedeuten 
die  Stimmungen,  nicht  die  Impulse.  Begehren  ist  die 
langende  Stimmung,  die  bei  hoher  entwickelten  Geistern 
ihren  letzten  Ausdruck  in  der  Sehnsucht  findet,  also 
nicht  etwa  d^r  intellektuell-energetische  Entschlul^  und 
Impuls,  etwas  zu  tun  oder  zu  erleben.  Furcht  ist  die 
angstvoll  beklommene  Stimmung,  die  sich  mit  dem 
Objekt  einer  Vorstellung  verbinden  kann,  also  nicht 
etwa  ein  auf  negative  Ziele  gerichteter  Wiinsch.  Die 
Stimmungen  sind  weitaus  tiefer,  urspriinglicher  und  vom 
Intellekt  unabhangiger  als  analoge  Willensregungen  und 
Wiinsche. 


2f 


Im  Lebenshaushalt  wirkt  das  Begehren  dahin,  alle 
fordernden  Krafte  und  Materien  herbeizuziehen,  wahrend 
die  Furcht  Gefahren  abwendet,  Auswahl  trifFt  und  der 
Erfahrungsiibertragung  der  friihesten  Erziehung  Raum 
schafFt.  Fernzuhalten  vom  BegrifF  der  begehrenden  und 
fruchtenden  Grundstimmung  sind  sekundare  Erschei- 
nungen,  wie  etwa  angelernte  und  unverstandene  Opfer- 
willigkeit,  Furchtlosigkeit  im  Einzelfalle,  die  auf  Un- 
kenntnis  oder  falscher  Einschatzung  der  Gefahr  beruht, 
ablehnender  Eigensinn  als  Ratlosigkeit  zwischen  zwei 
Ubeln,  die  sich  denn  oft  genug  fiir  das  groliere  ent- 
scheidet,  Gleichgultigkeit  aus  mangelndem  Vorstellungs- 
vermogen  oder  aus  unzulanglichem  Willensimpuls. 
Menschendes  An  dieser  Stelle  mul5,  zur  Klarung  und  Vertiefung 
undderFurcht  ^^^  ^^^  ^^^  Schauplatz  getretenen  BegriiFe,  vom  Wege 
der  Darlegung  eine  Sonderbetrachtung  abgezweigt  wer- 
den.  Es  handelt  sich  um  die  Kategorie  der  Menschen, 
die  auch  im  Alter  vollendeter  Entwicklung  ganzlich  oder 
vorwiegend  den  Grundstimmungen  der  Kindheit,  Be- 
gehren und  Furcht,  unterliegen. 
Zvjtekhaftizkeit  Vor  Jahren  habe  ich  diese  Gattung  als  die  der  Zweck- 
menschen  bezeichnet.  Denn  Furcht  und  Begehren  gehen 
im  Stande  geistiger  Vorgeschrittenheit  eine  Verbindung 
ein,  die  planend  und  vorsorglich  ins  Kiinftige  gerichtet, 
sich  Zwecke  schafFt  und  in  diesen  sich  objektiviert.  In- 
dem  ich  auf  den  Zusammenhang  des  Furcht-  und  Zweck- 
wesens  mit  bestimmten  Volkerklassen  hinwies,  gab  ich 
der  Erfahrung  Ausdruck,  dafi>  unter  den  Vertretern  ein- 
zelner  Stamme  bisher  wenige  oder  keine  Individualitaten 
nachweisbar  aufgetreten  sind,  die  dutch Leistungen,Ideen 
oder  Gesinnungen  einen  Fortschritt  gegeniiber  diesen 
primitiven  Grundstimmungen  batten  erkennen  lassen.  So 


30 


tief  indessen  eine  solche  Gebundenheit  im  physischen 
und  physiognomischen  Wesen  einer  Blutsgemeinschaft 
zu  wurzeln  schien,  so  wurden  die  Moglichkeiten ,  ihr 
zu  entrinnen,  fiir  jedes  vernunftbegabte  Geschopf  fest- 
gestellt.  An  anderer  Stelle  wiederum  habe  ich  darzu- 
legen  versucht,  dafi  der  Umschwung  der  westlichen 
Kultur,  der  die  gegenwartige  mechanistische  Epoche 
emporgetragen  hat,  wesentlich  auf  eine  Umlagerung  der 
Bevolkerungsschichten  zuriickzufiihren  ist,  welche  den 
zweckhaften  Elementen  die  Oberhand  verschafFt  hat. 
Hiernach  kann  ich  mich  auf  eine  kurze  Charakteristik 
des  Furcht-  und  Zweckwesens,  das  im  Verlauf  der  Dar- 
legung  eine  neue  Bedeutung  gewinnen  wird,  beschranken. 

Die  Eigenart  des  zweckhaften  Menschen  ist  in  dem  Der  Ztueck- 
Gesetz  beschlossen,  dafi  er  in  Vorsorge,  Furcht  "^^^  Oen  und  iVeun 
HofFnung  sein  Leben  aus  der  Gegenwart  in  die  Zukunft 
verlegt.  Indem  er  es  zu  schiitzen,  zu  verlangern,  zu 
bereichern  und  zu  bekraftigen  sucht,  handelt  er  denn 
tatsachlich  nicht  nur  zweckhaft,  sondern  hochst  zweck- 
entsprechend;  da  aber  der  Zweck  ihn  ganz  hinnimmt, 
so  bleibt  er  bei  aller  Erfiillung  arm  und  gliicklos;  der 
Zweck  wird  zum  Selbstzweck  imd  hebt  sich  auf. 

So  ist  der  Unfrohe  auf  die  Freuden  der  Sinnengeniisse 
und  der  Willenserfiillung  angewiesen.  Aber  dieser 
Gliickswille  geht  seltsame  Wege. 

Denn  da   der   Mensch   sein   Gleichgewicht   aus    der  Seine  AbbSngig- 
Gegenwart  in  die  Zukunft,  aus  seinem  Inneren  in  die 
Welt  geriickt  hat,  so  bedarf  er  in  hochstem  Mafie  der 
Welt,  der  Menschen  und  der  Dinge;  der  Welt,  um  zu  ^ 

scheinen;  der  Menschen,  um  zuherrschen  und  zu  gelten;  ^^ 

der  Dinge,  um  zu  besitzen.  1 

Indem  er  nun  scheinen  und  herrschen  will,  wird  er 


31 


in  Wahrheit  abhangig;  er  ist  angewiesen  auf  Meinung 
und  Zustimmung,  und  da  es  seiner  Natur  nicht  ent- 
spricht,  sie  zu  erzwingen,  so  mufh  er  sie  erschleichen  und 
erlisten.  Weil  er  der  Dinge  bedarf,  wird  sein  Handeln 
abermals  unfrei,  denn  er  sieht  sich  an  Verhaltnisse, 
willkiirliche  Gesetze  und  unfreiwillige  Arbeit  gekettet. 
SetH  Ittteiukt  Sein  berechnender  Intellekt  wird  geschult,  sein  ur- 
spriinglicher  Geist  gedampft.  Sich  selbst  kann  er  nicht 
achten;  andere  achten  und  verehren  zu  miissen  wiirde 
ihn  vernichten,  so  sucht  er  sie  zu  sich  herabzuziehen 
durch  Mij&gunst,  Skepsis,  Kritik  und  Verkleinerung.  Als 
Kluger,  Unzufriedener,  Schwacher  ist  er  Menschenkenner 
und  Beobachter,  geschult,  auf  die  Schwachheiten  anderer 
zu  achten,  geiibt,  sie  zu  enthiillen  und  zu  benutzen. 
Seine  Ssttiichkeit      Eine  absolute  Sittlichkeit  kann  er  im  zweckhaft  materiell 

und  sein  Glauben  a^  i  •  t»  o         •  •    i  » 

gearteten  Grunde  seines  Bewuiotsems  nicht  verankern. 
Wo  er  sittlichen  Gesetzen  folgt,  geschieht  es  aus  Furcht 
oder  aberglaubischer  HofFnung.  Denn  sein  Glauben 
wurzelt  im  Verstande  und  kann  nicht  anders  als  materiell, 
somit  aberglaubisch  sein.  Sieht  der  Zweckbefangene 
sich  liberhaupt  veranlafit,  gdttliche  Machte  anzuerkennen, 
so  sind  ihm  diese  nicht  transzendente  Erfahrungen  und 
Notwendigkeiten,  sondern  niitzliche  Protektoren,  fur 
die  man  angesichts  ihrer  Machtmittel  gern  ein  iibriges 
tut,  indem  man  ihr  Wohlwollen  durch  Konzessionen  und 
Komplimente  sichert.  Hat  er  sich  der  gottlichen  Ge- 
spenster  entledigt,  so  schwelgt  er,  von  Freiheitsgefiihlen 
berauscht,  an  den  Quellen  materialistischer  Erkenntnis. 
Halt  er  alsdann  Umschau  nach  Idealen,  so  erfindet  er 
Theorien  schwelgenden  Lebensgenusses,  die  angesichts 
seiner  schmerzenvollen,  ans  Aufiere  gebundenen  Existenz 
wenig  glaubhaft  werden. 


32t 


Die  Kunsc  des  Zweckhaften  ist  nicht  gering.     Es  ist  Seine  Kurui 
die  Kunst  des  Intellekts,  des  Esprits,  der  Ekstase,  des 
Sinnenreizes,    des   Pomps    und   der   Dekoration.     Sein 
Denken  ist  geistreich,  scharf,  kiihl  und  negierend;  sein  / 

Naturempfinden  sentimental  und  prezios;  seine  geistigen  \J 

Freuden  sind  Fakten,  Enthiillungen,  Neuigkeiten,  Neu- 
heiten,  Kritiken  und  Erfolge. 

Fremd  ist  ihm  Sachlichkeit,  Hingebung,  Wahrheits- 
liebe,  Ehrfurcht  und  Transzeiidenz;  denn  er  kommt  von 
seiner  Person  und  seinen  Wunschen  nicht  los,  er  bleibt 
erdenschwer,  unphantastisch  und  unfromm. 

Betrachtet  man  die  Gesamtheit  dieser  Eigenschaften/W/i^flT^-Zw^v/f- 
praktisch,  so  ist  zuzugeben,  daJB  sich  mit  der  Zweck-  ^^  ^ 
haftigkeit  vollkommene  ZweckmaI5igkeit  im  Sinne  der 
Lebenserhaltung  des  Einzelnen  und  des  Geschlechtes  ver- 
bindet;  betrachtet  man  sie  kritisch,  so  erscheinen  sie  vor- 
bereitend  und  verheiI5end,  denn  sie  ordnen  die  Existenz 
des  Einzelnen  unter  die  Existenz  der  Generationenreihe, 
indem  sie  Sicherheit  fiir  Gluck  eintauschen. 

Entfernt  man  zur  Probe  diejenigen  Ziige  des  Bildes, 
die  vorgeschrittener  Intellektualitat  angehoren,  so  stehen 
wir  wiederum  vor  dem  Geistes-  und  Stimmungskomplex 
des  primitiven  Farbigen  und  dos  Kindes.  Wir  kehren  somit 
zum  Ausgangspunkt  zuriick:  zurErinnerungan  dieGeistes- 
entwickelung,  als  Hauptinhalt  unserer  inneren  Erfahrung. 

Ist  das  Leben  des  Kindes  auf  Begehren  und  Furcht,  Umschwung 
auf  Zweckhaftes  und  Zweckmafiiges  gestellt,  so  beginnen 
mit  der  einsetzenden  Reife  des  Geistes  und  Leibes  neue 
und  entscheidende  Konflikte. 

Die  Liebe  des  Mannes  ist  nicht  hingebend  wie  die 
Liebe  des  Weibes,  denn  sie  ist  werbend;  und  doch  geht 
sie  in  einem   Sinne   iiber  die   Hingebung  des  Weibes 


33 


hinaus:  sie  ist  bereir,  sich  zu  opfern.  Das  Weib  will 
hinnehmen  und  vergehen,  der  Mann  will  besitzen,  aber 
zugleich  sich  opfern  und  verschenken:  so  ist  im  Augen- 
blick  des  hochsten  Lebenswillens  der  Lebenswille  auf- 
gehoben,  der  Zweck  gebrochen.  Man  faf5t  es  so  auf, 
dafi  dies  im  Interesse  der  neuen  Generation  geschieht: 
gleichviel;  die  Wendung  ist  geschehen. 
Zweckfreie  Der  Jiingling  verzehrt  sein  Leben  in  Traumerei.  Das 
^s»^S'»  Wesenlose  wird  ihm  bedeutend;  das  Handgreif  liche  un- 
wesentlich.  Eine  neue  Natur  umgibt  ihn:  nicht  mehr 
Stein,  Pflanze,  Luft  und  Wasser,  sondern  ein  geheimnis- 
voller  Kosmos  vol!  Leben,  Geist,  Blut,  Licht  und  Liebe. 
Die  Dinge  reden  nicht  mehr  die  Sprache  des  Tags;  es 
rauscht  aus  ihnen  Ungesprochenes,  Unauflosliches.  Eine 
zweite  Natur  verbirgt  sich  hinter  der  sichtbarenund  will  her- 
vorbrechen;  es  bedarf  eines  Wortes  und  alle  Wirkllchkeit 
ist  aufgehoben.  Der  Welthauch  atmet  Majestat  und  Liebe, 
und  die  jugendliche  Seele  begehrt  nichts  anderes,  als  sich 
den  Machten  hinzugeben  und  in  ihren  Werken  aufzu- 
gehen.  Die  Welt  der  Menschen  und  Schicksale  brandet  von 
feme,  in  ihren  Kampfen  fliegen  und  siegen  die  Banner 
der  Ideen;  Freiheit,  Wahrheit,  Vaterland,  Gottheit  ver- 
langen  das  hochste  Opfer  und  sollen  gerettet  werden. 
Solche  Regungen  gehen  nicht  vom  Erhaltungstriebe 
aus.  Sie  sind  zweckfrei,  mogen  sie  ungeklarten  Stim- 
mungen  garender  Epochen  entspringen.  So  werden  sie 
denn  auch  im  Leben  des  gebildeten  Okzidentalen  als- 
bald  fiir  einige  bedeutungsvolle  Jahre  wieder  zum  Schwei- 
Reaktion  und  gen  gebracht.  Denn  dutch  unmai^ige  Anspriiche  an  den 
Eriebens  Intellekt  werden  die  Keime  der  Seele  im  Wachstum  ge- 
hemmt,  und  das  anmaMch  begehrende  Kind  steht  wie- 
derum  auf  dem  Plan. 


34 


^\ 


Enttauscht  steigt  der  Erdenbiirger  in  die  Vielfaltig- 
keit  des  Lebens  hinab;  und  wirklich,  die  Fiille  der  Er- 
scheinungen  liberwaltigt  ihn  nicht.  Heroen  werden  zu 
Menschen,  Paradiese  zu  Mechanismen,  und  erstaunlich 
bleibt  nur  die  Menge  des  GewuI5ten,  der  enthiillten  Ge- 
setze,  der  gelosten  Ratsel.  Von  den  Erfahrungen  der 
Jahrtausende  nimmt  er  sein  Erbe  in  Anspruch  und  denkt 
es  zu  mehren,  und  je  unermefilicher  der  Reichtum  in 
seinen  Handen,  desto  armer  die  Welt.  Was  ist  sie  ?  Ein 
Verstandesspiel,  ein  Zirkus,  eine  Intrigenschule.  Wo 
sind  Wunder?  Wo  sind  Geheimnisse?  Die  Natur  ist  ent- 
gottert,  die  Gottheit  entlarvt,  die  Machte  zerstoben. 

So  begniigt  sich  der  Verwaiste,  am  Raube  teilzuneh- 
men.  Gliick  der  Sinne,  Geltung  und  Macht  gehoren  dem, 
der  sie  nimmt.  Er  erwirbt,  besitzt,  geniel5t  und  ver- 
zweifelt.  Aber  schon  haben  unter  dem  Lacheln  der 
Medusa  die  Krafte  sich  verjiingt.  Uber  dem  verddetenDie  Geburt 
Weltbild  steigt  abermals  der  Himmel  der  Natur  empor, 
nun  aber  feierlich  bewegt  von  der  Gewalt  der  Gesetze, 
ruhend  in  den  Polen  der  Gottheit  und  des  Herzens. 

Das  Spiel  der  Schwerter,  Federn  und  Kronen  ist  ge- 
stillt.  Es  bleibt  das  SchafFen:  doch  nicht  mehr  um  der 
Werte  willen;  das  Sorgen:  doch  nicht  mehr  um  der  Ziele 
willen.  SchafFen  heii2>t:  Umsetzen  die  Seele  in  sichtbare 
Form,  Erschautes  gestalten.  Ein  Naturvorgang,  vergleich- 
bar  dem  Weben  der  Muschel  und  der  Spinne,  die  aus 
den  Saften  ihres  Lebens  mit  Freuden  und  Schmerzen  ihr 
Kleid,  Riistzeug  und  Kunstwerk  nach  dem  inneren  Bilde 
wirken. 

Es  bleibt  die  Liebe.  Je  reiner  und  heiil)er  das  Feuer 
der  Sinne  sich  erhielt,  desto  leuchtender  umgibt  es  sich 
mit  der  Aura  xibersinnlicher  Klarheit.    „Es  reget  sich  die 


3^ 


Menschenliebe,  die  Liebe  Gottes  regt  sich  nun."  Es  er- 
wacht  die  Liebe  des  Franziskus,  die  alle  Kreatur  mit- 
samt  den  Gestirnen  umspannt,  die  in  die  Spharen  tont 
und  die  Gottheit  herabzwingt. 

Dena  diese  Liebe  ist  transzendent.  Sie  ist  Ahnen 
und  Begreifen  des  Sichtbaren  und  Unsichtbaren,  sie  ist 
Hingabe  und  Opfer,  sie  ist  aber  auch  Erfiillung  und  Ver- 
klarung.  Sie  fafit  die  Welt  nicht  mit  den  Krallen  des 
Verstandes,  sie  lost  sich  auf,  geht  unter,  vereinigt  sich, 
wird  Eines,  und  begreift,  indem  sie  Eines  wird. 

So  wird  aus  Natur  und  SchafFen,  Liebe  und  Trans- 
zendenz  im  Menschen  die  Seele  geboren,  ja  wesentlich 
gesprochen:  sie  wird  nur  aus  Liebe  geboren,  denn  Liebe 
umfafit  die  anderen  drei  Krafte  insgesamt. 
SeeUnkmde  Lidcm  ich  dies  wundervolle  Wort  Seele  nieder- 
schreil^,  zum  ofteren  seit  dem  Beginn  dieses  Buches,  will 
es  mir  nicht  in  den  Sinn,  warum  in  so  anderer  Bedeutung 
die  Wissenschaft  sich  dieses  reinen  Klanges  deutscher 
Sprache  bedient.  Sie  nennt  es  Seelenkunde,  Psychologie, 
wenn  sie  die  Begriffe  des  Bewufitseins,  des  Denkens,  der 
Assoziation  und  andere  Dinge  des  intellektualen  Geistes 
behandelt.  Wenn  die  Jahrtausende  von  den  geheimen 
Kraften,  der  Gottlichkeit  und  der  Unverganglichkeit  der 
Seele  sprachen,  so  haben  sie  an  eine  Unsterblichkeit  der 
Bewufitseinsphanomene  nicht  in  erster  Linie  gedacht.  In 
Ubereinstimmung,  wie  ich  glaube,  mit  dem  altenGeist  der 
Sprache,  der  sich  der  Worte  seelisch,  seelenhaft,  seelen- 
voll  im  Gegensatz  zu  geistig,  geistreich  und  geistvoll 
.  bedient,  der  seelenlos  und  geistlos  in  richtigem  Verstand- 
nis  gegeniiberstellt,  der  von  Seelsorge,  Seelenrettung, 
nicht  von  Geistsorge  und  Geistesrettung  spricht,  der  mit 
Recht  geisteskrank,  nicht  seelenkrank  sagt,  fasse  ich  den 

16 


Begriff  der  Seele  als  den  Komplex  der  hochsten  Geistes  7^- 

krafte,  die  uns  bekannt  sind,  und  die,  wie  ich  liberzeugt 
bin  und  darzutun  versuchen  werde,  aus  den  niederen 
Geisteskraften  sich  nicht  analytisch  berleiten  lassen. 

Da  ich  nun  mit  den  Distinktionen  der  Wissenschaft  Begrife,  Wortr, 
in  Widerspruch  geraten  bin  und  ein  gleiches  noch  mehr- 
fach  geschehen  wird,  so  sei  dieser  Schrift  der  Gestand- 
nisse   ein  Wort  gelegentlichen  Bekenntnisses  gestattet. 

Ich»  ehre  und  bewundere  die  philosophische  Dis- 
ziplin,  der  ich  durch  Erziehung  und  Beruf  ein  dankbarer, 
aber  nicht  vorbildlicher  Gast  war.  Ich  erhebe  keinen 
Anspruch,  ein  philosophisches  Buch  zu  schreiben;  ich 
versuche  meine  inneren  Erlebnisse  zu  ordnen  und  zu 
deuten.  Ich  bediene  mich  der  deutschen  Sprache,  so  wie 
ich  sie  uberkommen  babe  und  zu  beherrschen  glaube; 
wenn  ich  bewul^t  ein  ungewohnliches  Wort  gebrauche, 
so  suche  ich  es  zu  erlautern.  Verstofie  ich  damit  gegen 
Schulausdriicke ,  so  ist  mir  das  nicht  von  Wichtigkeit. 
Betrachte  ich  als  wahr,  was  die  Wissenschaft  widerlegt 
zu  haben  glaubt,  so  troste  •  ich  mich  mit  dem  Gedanken, 
dafi  schon  manche  verstofiene  Wahrheit  wiedergekehrt 
ist.  Ich  erwarte  nicht  und  hofFe  kaum,  daH)  philosophische 
Schulen  und  Organe  sich  mit  meiner  Schrift  befassen; 
sie  ist  bestimmt  fiir  meinesgleichen,  Menschen  aller  Be- 
rufe,  die   sich  mit  sich  und  dem  Leben  geplagt  haben.  ^^^-d. 

Bei  aller  Ehrfurcht  vor  der  Wissenschaft  konnte  ich  mir 
von  ihr  keine  Lebensweisung  holen,  so  wenig  wie  der 
Geschaftsmann  aus  Lehrbiichern  der  Okonomie  und  der 
Staatsmann  aus  Werken  der  Staatskunst  seine  Entschliisse 
Ziehen  kann.  Ich  betrachte  das  Denken  nicht  als  ein 
Monopol,  und  glaube,  dail>  mehr  fruchtbare  Gedanken  in 
die  Welt  kamen,  wenn  nicht  die  Furcht  vor  Schulen  und 


37 


Lexikographien  manches  gesunde  Nachdenken  und  manche 

berechtigte  Aussprache  im  Keime  erstickte. 

Wir  stehen  an  einem  Wendepunkt  der  Betrachtung. 

Wir  haben  in  den  Aufgang  der  Seele  geblickt;  und  da 

nach  dem  Laufe  der  Dinge  das  groI5e  Ereignis  Dunkel- 

bilder,  Zweifel,  ja  Abneigung  hervorrufr,  so  miissen  wir 

eine  kurze  Zeit  im  Negativen  bebarren. 

Betrachtung         Was  ist  es  denn  mit  dieser  kiihnlich  benannten  und  be- 
der  Seelc 

haupteten  Seele?    Ist  sie  nicht  doch  nur  ein  Beiwerk,  ein 

im  Lebenskampf  gewonnenesHilfszeug  des  erfinderischen 

Intellekts? 

Paradoxic  der        Die  Secle  ist  kein  Kampfmittel.   Rationell  betrachtet, 

im  Sinne   des  Kampfes  um  Nabrung,  Lust  und  Nutzen 

ist  sie  ein  Hemmnis.    Die  Gestirne  sattigen  nicbt.    Das 

unzeitliche  Werk  bringt  Martyrien.    Liebe  opfert  sich. 

Der  seelenhafte  Mensch   erscheint  der  Zeit  als  Idiot, 

dem  sie   nicht  immer  die  Ehre   des  Kreuzes   erweist. 

Nicht  in  der  Einode  und  nicht  auf  der  StraII)e,  nicht  am 

Altar  und  nicht  im  Gefangnis  fande  die  reine  Seele  ihre 

Zuflucht,  und  den  hoffnungslosen  Kampf  gegen  die  Klug- 

heit  liefie  man  sie  nicht  erst  beginnen.    Die  Klugheit  des 

Intellekts  in  seinen  Formen  der  Kriegfiihrung,  der  Ge- 

schafte,  der  Diplomatie,  der  Technik  und  des  Verkehrs 

beherrscht  die  Welt  so  vollkommen,  dal5  im  Sinne  dessen, 

was  man  Entwicklung  nennt,  die  Seele  den  unerhortesten 

Riickschritt  bezeichnet.  Die  Dichtung,  spottend,  klagend, 

sehnsiichtig,    schildert   nichts   anderes   als    die   Leiden, 

welche  die  Seele  bringt;   und  in  ihrer  gottlichen  Ge- 

rechtigkeit  mufi  sie  der  praktischen  Dialektik  mephisto- 

phelischer  Naturen  den  Sieg  lassen. 

Der  Triumph  des  Intellektes  ist  der  Zweck.    Hierin 

aufiert   sich  die   gewaltige  Identitat  des  gesamten  nie- 

38 


XA'-' 


deren  Naturwillens;  hierin  ist  der  unfafibarste  Kontrast 
hohen  und  niederen  Denkens  zum  blofien  Grofienunter- 
schiede  zusammengeschmolzen,  der  Kontrast  zwischen 
der  Urregung  der  Amobe  und  dem  Spintisieren  des  Staats- 
mannes;  vom  unbewufiten  Dammerwillen  bis  zur  ver- 
feinerten  Abstraktion  umfai5t  ein  und  dasselbe  gleich- 
artige  Agens  die  lebendige  Natur:  der  Intellekt,  die  Be- 
wul^tseinsform  desBegehrens,  und  ihr  Emanat,  der  Zweck. 
Leben,  Nahning  und  Lust,  und  Mittel  zu  Lust,  Nahrung 
und  Leben,  dies  ist  der  InbegrifF  des  sublunaren  WoUens 
und  Denkens. 

Die  Seele  aber  will  nichts.  Sie  tragt  in  sich  Streben  Fursichseh  der 
und  Erfiillung,  Dissonanz  und  Auf losung.  Ihr  Wesen  ist 
zweckfrei,  und  im  Sinne  der  Erscheinungswelt  zwecklos. 
Aber  mehr  als  das.  Hat  die  Seele  in  ihrem  Aufstieg  ge- 
lernt,  mit  ausgebreiteten  Schwingen  liber  der  Erschei- 
nungswelt betrachtend,  freudvoll  sinnend  zu  ruhen,  so 
entfremdet  sich  der  Blick  dem  bunten  Wesen,  und  ihre 
eigene  Kraft  hebt  sie  entsagend  hinweg  von  der  Welt, 
jenem  Licht  entgegen,  in  welchem  das  Aufien  und  das 
Innen  verschmilzt.  Die  BegrifFe  der  Zweckfreiheit,  der 
Willenlosigkeit  sagen  nichts  mehr;  sie  wird  zum  schlecht- 
hin  Absoluten. 

Verlohnt  es,  durren  und  kaltsinnigen  Einwendungen  Einivendungen 

jTT»i««  t  t  '  •  !•     des  UtilitarismtLS 

des  Utilitarismus  zu  begegnen:  als  seien  wenigstens  die 
aufiersten  Fasern  des  Seelenwesens  Ableger  einer  Niitz- 
lichkeitsentwicklung?  Etwa  in  dem  Sinne:  die  ErgrifFen- 
heit  vor  den  Naturgewalten  des  Gewitters  seien  Erinne 
rungen  an  landwirtschaftliche  Vorteile,  oder  die  Maje- 
stat  des  gestirnten  Himmels  beruhe  auf  der  unbewufiten 
Vorstellung  von  Jagderfolgen,  oder  die  Nachstenliebe  sei 
die  ererbte  Erkenntnis  vom  Nutzen  friedlicher  Nachbar- 


39 


schaft?  Ware  in  diesem  Zusammenhange  des  innerlicli 
Erlebten  ein  erlauternder  UbergriiF  in  die  Erscheinungs- 
reihe  der  Zuchtwahl  oder  Vererbung  auch  gestattet: 
diese  Argumente  erfordern  ihn  nicht. 

Wer  die  ersten  stillen  Regungen  des  Seelenlebens 
erfahren  hat,  bedarf  derBeweise  nicht.  Ihm  besteht  die 
innere  Gewi£>heit,  lebendiger  als  alles  andere  Erleben, 
dafi  hier  eine  neue  Qualitat  des  Geistes  beginnt,  die  von 
den  intellektualen  Qualitaten  vollkommen  gesondert, 
neue  Krafte,  Freuden  und  Schmerzen  und  ein  Leben 
iiber  dem  Leben  erschlie(5t. 

Wir  haben  den  hochsten  Vorgang  des  irdischen  Er- 
lebens,  das  wahrhafte  Erbe  des  inneren  Besitzes  in  seiner 
typischen  Form  betrachtet;  so  diirfen  wir  denn  die  Ab- 
weichungen  und  Gegenbilder  nicht  xibergehen. 

Von  geringer  Bedeutung  ist  die  zeitliche  Anomalie 
der  seelischen  Geburt.  Schon  im  friihen  kindlichen 
Leben,  beschleunigt  dutch  vertiefende  Einfliisse,  Einsam- 
keit,  Naturnahe,  Leiden,  konnen  die  seelenhaften  Triebe 
zum  Vorfriihling  erwachen;  wie  denn  junges  Leben  bis- 
weilen  von  tiefer  Weisheit  erfiillt  ist,  die  sich  alsbald  in 
Larm  und  Blendung  zur  Vergessenheit  verdunkelt.  Um- 
gekehrt  bewahrt  uns  die  objektive  Erinnerung  Falle  spater, 
ja  verspateter  Erweckung,  die  manches  Leben  noch  in 
seinen  letzten  Auftritten  zur  Peripetie  gefiihrt  hat. 
Seelenlosig-  Wichtiger  ist  der  vergleichende  Einblick  in  die  Exi- 
stenz  der  Seelenlosen ;  denn  als  solche  erkennen  wir  nun- 
mehr  die  Menschen,  die  wir  vordem  nach  Furcht  und 
Zweck  benannt  haben.  Es  bedarf  keiner  Erwahnung  mehr, 
dal5  diese  Bezeichnung  der  Seelenlosigkeit  nicht  bildlich, 
sondern  in  ihrem  wortgetreuen  Sinne  zu  verstehen  ist; 
das  Urbild  des  organisch  vollendeten,  gleichwohl  seelen- 


40 


keit 


losen  Menschen  erblicken  wir  in  denjenigen  Primitiven, 
deren  Leben  in  Sinnenwerk,  in  materieller  Furcht  und 
HofFnung,  gleichviel  ob  irdischer  oder  liberirdischer  Zen- 
trierung,  verlauft. 

Uber  den  Zusammenhang  des  Blutes  mit  dem  Schick- 
sal  werden  wir  zu  sprechen  haben,  wenn  wir  nachpriifend 
die  Ergebnisse  der  inneren  Betrachtung  in  die  Erschei- 
nungsreihe  projizieren;  vorschauend  sei  hier  wiederholt, 
dal5  eine  Pradestination  des  Stammes  nicht  besteht.  In 
jedem  Menschen,  gleichviel  welchen  Blutes  und  Her- 
kommens,  schlummert  die  Seelenkraft.  Was  in  der  Welt 
zu  selbstloser  Liebe  taugt,  das  taugt  zur  Seele. 

Das  Gebiet  des  Seelenlosen  tritt  eng  an  uns  heran.  SeeienhseGebhu 
Innerhalb  und  aufierhalb  unseres  Erdteils  kennen  wir 
Landstriche  zivilisierter  Sprache  und  Sitte,  die  wir  be- 
treten  mit  demGefiihl :  hier  hausen  nicht Lebensgenossen, 
sondern  Interessenten.  Hier  wird  Arbeit  zum  Fron- 
dienst,  Mui5e  zum  Rausch,  Freude  zur  Ausschreitung, 
Kummer  zur  Verzweif lung,  Glaube  zum  Fetischismus. 
Die  Verlassenheit,  die  uns  befallt  inmitten  gieriger  Man- 
ner, getiinchter  Frauen,  angerichteter  Kinder  und  Jung- 
frauen,  libernachtiger  Jiinglinge,  untreuer  Diener  und 
ausgehohlter  Sklaven,  diese  angstvolle  Verlassenheit  ent- 
steigt  dem  unbewufitenBegreifen:  hier  leben  keineSeelen. 

Habsucht  und  Gotzendienst  des  flachen  Landes,  Waren- 
hunger,  Blendwerk,  Streberei,  Uppigkeit,  Neugier  und 
Diebeslust  der  Stadte:  das  sind  die  Inseln  der  Seelen- 
losigkeit  in  unserem  Lande. 

Taglich  beriihren  wir  uns  mit  respektablen. Menschen  SeeienioseZiviii 
anstandiger  Herkunft,  gewahlter  Sitte,  lebhaften  Geistes,  ^^ 
denen  die  Seele  mangelt.    Sie  erscheinen  als  besonnene, 
durchaus  tatige  Menschen,  von  unablassigen  Zweckge- 


41 


danken  bewegt,  die  sie  mit  der  Sorge  um  eigene  und  der 
Nachkommen  Existenz,  mit  dem  Bewufitsein  selbstge- 
wahlter  Pflichten,  mit  Gewohnheit  und  Beschaftigungs- 
drang,  ja  gelegentlich  mit  Ehrgeiz,  Habsucht  und  Samm- 
lerwahn  zu  erklaren  suchen.  Die  Zielbewegung  ist  ihnen 
Selbstzweck  geworden;  theoretisch  von  der  Notwendig- 
keit  endgiiltigeren  Lebens  liberzeugt,  gonnen  sie  mit 
Gewissenhaftigkeit  sich  kiinstlich  zubereitete  Erholungs- 
zeiten,  die  sie  in  entfernten  Gegenden,  an  Platzen  mafi- 
voller  Unterhaltung  oder  unter  Biichern  verbringen.  In- 
dem  sie  aus  anerzogener  Bedenklichkeit  iiber  das  Gebiet 
des  niederen  Sinnengenusses  hinausstreben,  streifen  sie 
die  Landschaft  mit  einem  fliichtigen  Blick,  um  eine  ku- 
riose  Einzelheit  zu  erhaschen,  betrachten  ein  Kunstwerk 
in  der  Absicht,  es  kritisch  zu  bewaltigen  und  bildungs- 
m'ifhig  zu  verwerten.  Aber  wahrend  dieser  Sparzeit  ver- 
lafit  der  gewohnheitsmafiige  Zweckgedanke  sie  keinen 
Augenblick;  er  treibt  sie  rasch  indasjoch  zuriick,  dem 
sie  das  Bewui5tsein  ihres  Lebenswertes  verdanken. 
Seeieniose  Biidung  Uber  den  Sinn  ihres  Lebens  lassen  diese  mitunter 
intellekiuell  bedeutenden  Menschen  sich  nicht  befragen. 
Es  geniigt  ihnen,  dafi  sie  Wilienserfiillungen  erlebt  haben, 
dafi  sie  das  tatige  Leben  machtig,  reich,  geehrt  verlassen, 
mit  dem  Hinblick  auf  gesicherte  Hinterbliebene  und  mit 
der  nicht  betonten,  doch  auch  nicht  abzuweisenden  Aus- 
sicht,  eine  wohlverdiente  Existenz  unter  jenseitigen  Vor- 
aussetzungen  zu  finden. 

Auffallig  ist  ihre  Hilf  losigkeit,  wenn  sie  antworten, 
weshalb  sie  sich  an  gewisse  ethische  Normen  binden. 
„Aus  Anstand"  sagen  die  Einen.  „Aus  Niitzlichkeit"  die 
Anderen.  „Aus  Erziehung,  Gewohnheit  und  Ererbung" 
die  Skeptischen.    „Aus  Religion"  ist  die  tiichtigste  Ant- 

41 


wort,  iind  bei  wahrhaft  Erbglaubigen  zutreiFend.  Viel- 
fach  hegt  man  Riicksicht  auf  uneingestandene,  in  stiller 
Reserve  gehaltene  gottliche  Machte,  die  in  Zeiten  der 
Not  —  niitzt  es  nichts,  so  schadet  es  nichts  —  um  hand- 
greifliche  Dienste  angesprochen  werden  konnen,  und 
denen  des  Alltags  durch  Regungen  spielerischen  Aber- 
glaubens  ein  gelegentliches  Opfer  im  Dunkel  des  Be- 
wufitseins  gebracht  wird. 

Dieses  iiberraschend  vorzeitliche  Inventar  des  inneren 
Lebens  erfiillt  den  Kern  kluger,  gebildeter  und  erfolg- 
reicher  Menschen  unserer  Zeit,  sofern  sie  der  Seele  er- 
mangeln. 

Erschreckend  sind  die  Orte  der  Seelenlosigkeit.  DerSef/en/BseStitux 
Wanderer,  der  aus  den  Tiefen  des  Landes  im  Abend- 
schein  der  Grofistadt  sich  nahert,  erlebt  den  Abstieg  in 
diese  Gefilde.  Hat  er  den  Dunstkreis  der  Ausfliisse 
durchschritten,  so  offnen  sich  die  dunklen  Zahnreihen  C^^^lf '^ 
der  Wohnkasten  und  sperren  den  Himmel.  Griine  Flam- 
men  saumen  den  Weg,  erhellte  EisenschifFe  schleifen  ihre 
Menschenfrachten  liber  den  geglatteten  Pechboden.  In 
frechem  Licht  klingeln  und  donnern  die  Drehmaschinen 
und  Rutschbahnen  eines  Larmplatzes:  das  ist  ein  Ort  der 
Freude;  und  Tausende  stehen,  schwarz  gedrangt,  mit 
flackernden  Augen  vor  den  Plakaten  der  umzaunten 
Wiistenei.  Aus  den  Hofen  stromen  iibermiidete  Manner 
und  Frauen,  es  fiillen  sich  die  Raume  hinter  den  Glas- 
scheiben,  deren  Aufschriften  in  weifiblauem  Bogenlicht 
zucken.  „Grofidestillation",  „Frisiersalon",  „Bonbon- 
quelle",  „Stiefelparadies",  „Lichtspiele",  „Abzahlungs- 
geschaft",  „Weltbasar" :  das  sind  Orte  des  Erwerbs.  Die 
Straiten  verengern  sich  gegen  die  alte  Mitte  der  Stadt, 
der  Verkehr  wird   eiliger,   es  haufen  sich  die  Wagen, 


41 


Modegeschafre,  Restaurationen,  Carta  und  Theater  lassen 
ihre  Transparente  spielen.  Pldtzlich  ragt  stumm  und 
dunkel  ein  Bauwerk  der  alten  Zeit  empor,  ein  stiller 
Platz  liegt  zur  Seite.  Briicken  und  Fernsichten  weiten 
sich,  die  Massen  werden  klar,  die  Umrisse  fest.  Hier 
bewegt  sich  der  gemessene  Luxus;  er  halt  auf  Bauart, 
Baume,  Abstand  und  Benehmen.  Nun  rasen  die  Ge- 
spanne  und  Motoren  nach  Parkstrafi>en  und  Villenstadten 
und  kreuzen  die  Strome  der  Sorgenvollen  und  Lustbe- 
gierigen,  die  von  der  Nacht  leben. 

Das  ist  das  Nachtbild  jener  Stadte,  die  als  Orte  des 
Gliicks,  der  Sehnsucht,  des  Rausches  und  des  Geistes  ge- 
priesen  und  besungen  werden,  die  das  Land  entvolkern, 
die  bis  zum  Verbrechen  das  Geliist  des  Ausgeschlossenen 
entfachen;  notwendig  und  wiirdig  im  Ernst  der  Arbeit 
und  des  Gedankens,  furchtbar  und  irrsinnig  als  Paradiese 
der  Seelenlosen. 
Seeienioie  Stammt  Dennoch  erweist  sich  in  der  Okonomie  und  Bilanz 
des  Weltgeschehens  der  Einflufi  des  seelenlosen  Elemen- 
tes  nicht  als  gering,  keineswegs  als  verachtlich.  Es  wurde 
hervorgehoben,  die  Fahigkeit  Seelenkrafte  zu  entbinden, 
sei  keiner  Menschennatur  von  Grund  aus  versagt;  den- 
noch zeige  die  Erfahrung,  dafi  weite  Gemeinschaften  des 
Blutes  und  Lebens  bis  zu  dieser  Zeit  seelenhafte  Phano- 
mene  kaum  gezeitigt  haben,  so  dafi  man  kurzgefaI5t  von 
seelenlosen  Volkern  und  Stammen  reden  konne.  Und 
da  die  absoluten  Gegenpunkte  der  Polaritaten  bei  Massen- 
erscheinungen  uns  niemals  entgegentreten,  so  miissen 
wir  die  Abstufungen  vom  schwachsten  Einschlag  des 
Seelenhaften  bis  zur  denkbaren  Uberwindung  des  Seelen- 
losen als  Grundordnung,  wie  im  Leben  des  Einzelnen, 
so  in  der  Geschichte  der  Menschheit  hinnehmen. 


44 


Es  ist  hier  nicht  der  Ort  der  geschichtlichen  Analyse. 
Hervorzuheben  sind  lediglich  die  Indizien  derPolaritiit,  und 
es  bleibt  spaterer  Forschung  iiberlassen,  die  Reagenzmittel 
auf  Zeiten  und  Volker  wirken  zu  lassen,  um  Verbindungen 
zuspalten,  gleichartigeElemente  auszusondern,  undsomit, 
riickwarts  gewandt,  das  einstige  Stromen  der  Elemente, 
ihre  Mischung,  Umsetzung,  Verdunstung  und  Erneuerung 
zu  ermitteln;  welche  Erscheinungen  sich  uns  in  auli5erem 
Sinne  als  Historic  darstellen.  Aus  solcher  Betrachtung 
wird  kiinfriger  Geschichtsschreibung  eine  empfindlichere 
Beobachtungsmethode  sich  ergeben  als  die  gegenwartige, 
welche  sich  vorwiegend  den  Erlebnissen  der  jeweiligen 
Oberschicht  zuwendet  und  daher  keine  der  grol5en  Evo- 
lutionserscheinungen  restlos  erklaren  kann,  die  aus  Wech- 
selwirkung,  Vermischung  und  Umschichtung  herriihren. 

Der  seelenlosen  Menschheit  gemeinsam  scheint  vor  Kriterien  see- 
allem  die  Materialisierung  des  Todes,  begleitet  von  den  meinschaften 
Affekten  der  Furcht  und  des  Entsetzens  vor  seinem  Reich  BegrifvomTod* 
und   seinen  Untertanen.    Der  Gedanke,    die  marerielle 
Welt  ein  fiir  alle  mal  nach  jenem  Abschied  aufzugeben, 
ist  unfafibar;  der  Tote  dilettiert  und  vagabundiert  noch  ;x 

immer  diesseits,  er  muU)  gefiittert,  gekleidet,  umschmei- 
chelt,  versohnt  und  gefeiert  werden.  Er  spielt  mit  da- 
monischen  Kraften  in  alle  Lebensverhaltnisse  hinein  und 
sorgt  neidisch  fiir  sein  verbliebenes  Kapital,  den  guten 
Ruf.  Seine  Behausungen  erdriicken  die  Bauten  derLeben- 
digen,  seine  Allgegenwart  raubt  ihnen  die  Freude  am 
Tage.  Das  Reich  des  Todes  ist  dunkel  und  sorgenvoll, 
denn  in  ihm  leben  nicht  freie  Seelen,  sondern  Knechte  der 
zeitlichen  Bediirfnisse  und  Geliiste,  der  Rache,  Reue  und 
Leidenschaften.  Der  Seelenlose  kann  Unsterblichkeit  nur 
fiir  seinen  animalischen  Geist  begreifen  und  veriangen, 

/ 

45 


Sreieniose  G/au-  Ein  wcitercs  Indizium  ist  die  Materialisierung  der 
Religion.  Der  seelenlose  Mensch  spiegelt  sich  in  seelen- 
loser  Gottheit;  wie  denn  das  Brockengespenst  der  histo- 
rischen  Gottheit  nichts  anderes  bedeutet  als  das  makros- 
kopische  Geistesbild  seines  Schopfers,  projiziert  auf  die 
Nebelwand  der  Naturerscheinung;  tiefstes,  unbewuil)tes 
Bekenntnis  seines  Fiihlens,  Handelns  und  Leidens.  Da- 
her  ist  alle  schreckenerregende,  fratzenhafte  Gottheit 
seelenlos.  Rachsiichtige,  blutgierige,  auf  Ritualien  er- 
pichte  Gotter  und  Damonen,  die  keinem  ewigen  Gesetz 
gehorchen,  wohl  aber  mitleidlos  auf  ihre  Rechte  pochen, 
entstammen  sklavisch  furchthaftem  und  unbeseeltem 
Geist.  Unter  ihrer  Herrschaft  wird  Religion  zur  Ab- 
rechnung,  zum  Tyrannendienst  und  Formelkram ;  sie 
sind  die  Beschiitzer  der  Sakralkollegien,  der  Auspizien, 
der  Speiseregeln,  der  aberglaubischen  Kasuistik.  Der 
Schmeichelei  und  Bestechung  zuganglich  wie  ihre  irdi- 
schenSohne,  erfiillen  sie  deren  Glaubensideal  durchWill- 
kiir,  Grausamkeit,  Genul5  und  Unzucht. 
Seelenlose Kunst-  Die  Kunst  seelenloser  Volker  ist  typische,  nicht  in- 
^*'*^  dividuelle  Kunst.    Denn  bei  aller  ausschliefienden  Be- 

deutung,  die  das  Individuum,  auf  personlichsten  GenulL 
und  Lebenszweck  gestellt,  sich  selbst  beimill)t,  bleibt 
seine  Achtung  vor  fremder  Individualitat  gering.  Der 
Andere  bedeutet  ihmGegenstand,Typus,Mittel;  er  selbst 
fiihlt,  auch  im  Sklavenstande,  nur  das  Ich  als  Selbst- 
zweck.  So  interessiert  es  ihn  nicht,  inwieweit  das  Einzel- 
objekt  von  der  kanonischen  Durchschnittsnorm  abweicht, 
die  allein  ihm  als  wichtiges  Sinnenbild  mit  unbedingter 
Deutlichkeit  vor  Augen  steht;  er  prel5t  das  Phanomen 
in  die  Form  der  Vereinfachung,  des  Typs,  der  Symmetrie 
und  des  Ornaments.    Und  in  dieser  Schulung  leistet  er 

46 


doppelt  Erstaunliches,  ja  UnfaiBbares:  denn  da  er  selbst 
von  seinen  Mitmenschen  als  Typ,  somit  als  unperson- 
licher  Bildner  und  Handwerker  erachtet  und  behandelt 
wird,  sieht  er  sich  gezwungen,  von  Jenen  gebilligte  Kon- 
ventionsformen  einzuhalten,  der  Tradition  zu  folgen, 
und  innerhalb  dieser  Grenzen  manuell  und  sachlich  in 
jeder Generation  dieSchranken  desKonnens  zu  erweitern. 
Die  Kunst  Agyptens  und  Ostasiens  kann  in  ihrer  Art 
niemals  ubertrofFen  werden,  indem  sie  als  eine  Kunst 
des  Typus,  der  Norm,  der  Uberlieferung  und  des  Ge- 
setzes  wie  ein  Naturprodukt  dasteht;  die  verschwindende 
Zahl  individualistischer  Ausnahmen,  mogen  sie  vonKiinst- 
lerlaunen  oder  von  Fremden  geschaifen  sein,  andern  an 
diesem  Gesamtbilde  nichts. 

So  stehen  wir  vor  der  paradoxen  Tatsache,  dafi  die 
Kunst,  die  man  jahrhundertelang  als  die  ideale  bezeichnet 
hat,  weil  man  den  BegrifF  des  Ideals  mit  dem  der  kano- 
nischen  Norm  verwechselte,  den  eigentlich  ideallosen 
Volkern  und  Epochen  gehort,  die  denn  tatsachlich  fast 
ausnahmslos  diese  Kunst  als  Mittel  zum  Zweck,  als 
Mittel  der  Beschreibung  und  Propaganda,  des  Gottes- 
dienstes,  der  Illustration  und  Dekoration  benutzt  haben. 
Die  Welt  verdankt  der  typischen  Kunst,  die  sicher  die* 
urspriingliche  war,  unendlich  viel;  vor  allem  die  Schu- 
lung,  den  Begriff  des  technisch  erreichbaren,  den  Blick 
fiir  Mal5  und  Verhaltnis,  das  Ornament  und  die  Bau- 
yform.  Die  letzten  Jahrzehnte  haben  gezeigt  —  was 
eigentlich  keines  Experimentes  bedurfte  — ,  dal5  echte, 
namlich  wahrhaft  organische  Ornamente  und  Kunst- 
formen  sich  nicht  dutch  Einzelarbeit  erfinden  lassen, 
selbst  wenn  die  Grundsatze  der  Abstraktion  bewulit 
studiert  und  gelaufig  gehandhabt  werden.    Denn  diese 


^7 


Elemente,  erwachsen  in  jahrhundertlanger  Wechsel- 
wirkung  gleichgearteter  Verfertiger  und  Beschauer, 
sie  sind  nicht,  wie  man  glaubte,  Menschenwerk,  son- 
dern  Menschheitswerk,  und  somit  natiirliche  Schop- 
fiing,  wie  etwa  die  Sprache.  Deshalb  konnte  man 
mit  Recht  die  willkiirlich  konstruierte  Ornamental- 
kunst  der  letzten  Jahrhundertwende  als  Volapiikstil  be- 
zeichnen. 
Seeieniose  Ueaie  Nimmt  man  den  BegrifF'des  Ideals  in  der  bescheidenen 
Bedeutung  einer  Grenzvorstellung  des  Wunschenswerten, 
so  kann  mit  diesem  Vorbehalt  von  Idealen  seelenloser 
Volker  gesprochen  werden.  Es  bedarf  keiner  Erlaute- 
rung,  weshalb  solche  Ideale,  soweit  sie  menschliche 
Form  tragen,  sich  gewissermafien  als  Berufsideale  dar- 
stellen  miissen.  Der  niitzliche,  somit  gerechte  und  kluge 
Konig,  der  niitzliche,  somit  ergebene  und  sachkundige 
Sklave,  der  niitzliche,  somit  verschlagene  und  erfindungs- 
reiche  Kaufmann  und  Ziichter,  der  niitzliche,  somit  ge- 
horsame  und  fromme  Untertan  geniigen  dem  Bediirfnis 
ethischer  Verschonerung  und  Verallgemeinerung.  So- 
weit ein  allgemein  menschlicher  IdealbegrifF  sich  iiber 
die  Mannigfaltigkeit  der  Typen  erheben  soil,  ergibt 
#  sich  die  gemeinniitzige  Tugend  der  Barmherzigkeit.  Die 
praktische  Ubung  dieser  Generaltugend  aber  verstrickt 
sich  in  dieNetze,  welche  das  Schwesternpaar,  Religion 
und  Gesetz,  iiber  alle  Handlungsmoglichkeiten  flicht. 
Eine  standig  verengerte  Kasuistik  kann,  wie  die  romische 
und  spatjiidische,  alle  Lebensgebiete  derart  iiberspinnen, 
dafi  die  EntschlielLung,  zwanglaufig  eingeengt,  jeden 
ethischen  Wert  verliert,  und  die  letzten  kiimmerlichen 
Ideale  als  Niitzlichkeiten,  kleinere  Ubel  oder  gesell- 
schaftliche  Notigungen  hinsterben. 

4.8 


Ein  auGerer  Zug,  den  farchthaften  Gruppen  gemein-  Seeieniose  Gesei- 
sam  und  im  Stande  vorgeschrittener  Zivilisation  von 
politischer  Bedeutung,  zeigt  sich  hierin:  sie  konnen  nicht 
einsam  sein  und  nicht  schweigen.  Es  ist,  als  ob  sie  nur 
dichtgedriingt  und  in  engstem  Zusammenhang  sich  sicher 
fuhlen,  wobei  ihr  Interesse  fur  den  Nachbarn  weit 
gr6fi)er  ist  als  ihre  Liebe.  Eilfertiger  Redeschwall, 
tonend  und  von  einfdrmigem  Pathos,  dient  weniger  der 
Mitteilung  als  dem  Erleichterungsbediirfnis  und  der 
Uberredung.  Daher  im  politischen  Zustande  die  leicht- 
bewegliche,  gewalttatige  offentliche  Meinung,  das  Uber- 
gewicht  der  Redner  und  Schreiber  und  die  Herrschaft 
der  Phrase. 

Wenden  wir  uns  zu  den  entgegengesetzten  Leitzeichen  Kriterien  see- 
mut-  und  seelenhafter  Volker,  so  tritt  uns  zuvorderst  die  meinschaften 
heitere  Freiheit  des  Lebens  und  der  Hang  zu  transzen- 
denter  Erhebung  entgegen.  Unbelastet  von  Begehrlich- 
keit  schwebt  der  Geist  iiber  der  Erscheinung  und  erhebt 
sich  zu  der  souveranen  Anschauungsform  des  Humors, 
die  im  aufiersten  Gegensatz  zum  terrestrisch  gearteten 
Pathos,  scheinbar  sorglos  und  unbeteiligt  und  dennoch 
vol!  hochsten  Verstehens  sich  der  Geschopfe  annimmt. 
Die  transzendente  Liebe  versenkt  sich  in  die  Natur  und 
verliert  sich  nicht,  weil  sie  durch  den  farbigen  Schleier 
das  Licht  des  Unbedingten  erblickt;  sie  verklart  ihrObjekt 
uber  irdische  Erfahrung  und  Konzeption  hinaus  zum  Ideal, 
sie  ahnt  jenseits  der  fafi)baren  Gottheit  das  Gesetz. 

Kult  und  einfiihlende  Empfindung  der  Natur,  Achtung 
vor  der  Einheit  und  Wiirde  jedes  Geschopfes,  hinge- 
gebenes  Aufhorchen  zu  der  Stimme  der  eigenen  Seele 
schafFen  diesen  Gemeinschaften  intuitive   Frommigkeit,  > 

individueile  Kunst   und  reine  Lyrik;    wenn  unter  dem 


49 


BegrifF  der  Lyrik  nicht  gereimte  Aufsaitze  verstanden 
werden  diirfen,  sondern  jene  unerklarlichen  libergedank- 
lichen  Seelengebilde,  deren  die  Zeiten  uns  einige  Dutzend 
hinterlassen  haben. 

Im  Gegensatz  zu  der  transzendenten  Ethik,  die  im^ 
Stillen  jede  Lebensform  durchdringt,  bleibt  die  praktische 
Ethik  der  Seelenvolker,  als  unwesentliche  Zwecksache, 
scheinbar  primitiv  und  unausgebiidet.  Im  wesentlichen 
beschrankt  sie  sich  auf  die  Verteidigung  der  Gemein- 
schaftscharaktere :  Mut,  Treue,  Wahrheit.  Die  Kraft 
dieser  urspriinglichen  Wertungen  aber  ist  so  groI5,  dafi 
sie,  entgegen  alien  geschriebenenundgepredigtenLehren, 
noch  heute,  da  sie  langst  aufgehort  haben,  Gemeinschafts- 
ausdruck  zu  sein,  das  praktische  Empfinden  aller  west- 
lichen  Kulturen  beherrschen. 
Seelenhafte  Entsc^ieden,  wie  uns  der  Gegensatz  seelenhaft-mutiger 
lose  Epochen  ^^^  unbeseelt-zweckhafter  Volker  entgegentritt,  sondern 
sich  die  geschichtlichen  Epochen  der  Einzelvolker  in| 
Epochen  der  Seele  und  der  Seelenlosigkeit. 
Ursachen  des  Die  mechanische  Ursache  ihres  Wechsels  besteht  in 
der  gleichsam  hydrostatischen  Schichtung  der  Bevolke- 
rungslagen  auf  der  Erdoberflache ,  die  sich  mit  jeder 
Flutbewegung  der  Volksmassen  andert.  An  jeder  Stelle 
der  bewohnten  Welt  haben  Invasionen  und  Erobe- 
rungen  in  ungemessener  Zahl  stattgefunden;  fast  jedel 
dieser  Uberflutungen  mul5te  eine  Oberschicht  Herrschen- 
der  und  eine  Unterschicht  Beherrschter  hinterlassen. 
Notwendig  erfolgt  nach  bestimmter  Zeit  eine  Durch- 
dringung  und  Mischung  dieser  lebenden  Fliissigkeiten,  | 
wobei  in  heftigster  Reaktion  und  raschem  Verlauf  die  | 
Perioden  der  hdchsten  jeweils  moglichen  Kultur  empor-^ij 
steigen.    In  friiheren  Schriften  habe  ich  darzulegen  ver-l 


so 


sucht,  dafi  die  Bliitezeiten  westlicher  Kultur  denjenigen 
Umlagerungen  entsprangen,  bei  denen  eine  seelenhafte  ,, 

Oberschicht  in  die  Mischung  eintrat. 

Je  nachdem  nun  eine  seelenhafte  oder  seelenlose  Be- 
volkerungsschicht  der  Gemeinschaft  die  Pragung  auf- 
driickt,  entstehen  im  zeitlichen  Wechsel  seelenhafrere 
und  seelenlosere  Epochen  bei  scheinbar  unverandertem 
Volkskdrper.  Das  friihe  Griechentum  und  das  germa- 
nische  Mittelalter  auf  der  einen,  das  byzantinische 
Mittelalter  und  die  franzosische  Aufklarung  auf  der 
anderen  Seite  konnen  als  Lehrbeispiele  dieses  Kontrastes 
hingestellt  werden. 

Herrschaft  des  Glaubens,  der  Treue,  des  Krieges,  der  Kritnien  der 
positiven  Ideale,  bezeichnen  die  Perioden  der  Seele, 
Herrschaft  des  Mate  ri  ell  en,  der  Staatsrason,  des  Frie- 
dens,  der  Gelehrsamkeit  und  Analyse  bezeichnen  die 
Perioden  des  Intellekts.  Beirrend  ist  es,  in  herkomm- 
lichem  Sinne  dieVolkerepochen  mitmenschlichen  Alters- 
stufen  zu  vergleichen;  denn  der  Vergleich  bindet  sich 
an  den  Intellekt,  der  freilich,  fiir  sich  genommen,  im 
Alter  trocken  und  rasonnabel  zu  werden  pflegt.  Richtet 
sich  hingegen  der  Blick  auf  die  Gesamterscheinung,  die 
Intellekt  und  Seele  umspannt,  so  erhellt,  daC)  die  Be- 
gierde  nach  der  Million  und  die  Begierde  nach  der 
Glasperle  das  Gleiche  ist,  und  dafi  die  Erstellung  der 
Wildfalle  und  der  Gul5  der  Kanone  nur  im  Grade  der 
Erfahrung  und  der  Intelligenz  sich  unterscheiden.  Des- 
halb  ist  die  scheinbar  greisenhafte  Periode  des  hartge- 
kochten  Rationalismus  und  Materialismus  in  Wahrheit 
eine  Periode  der  Jugend,  ja  der  Kindlichkeit,  zu  der  sich 
das  Aufsteigen  zur  Transzendenz  wie  ein  Eintritt  der 
Reife  verhalt.    In  richtiger  Ausdeutung  jenes  beliebten 


I- 


SI 


und  unzulanglichen  Bildes,  das  ich  erwiihne,  urn  es  ab- 
zutun,  erscheinen  die  dunklen  Volker  nicht  als  jugend- 
frische  Naturburschen,  sondern  als  greisenhafte  Kinder; 
in  Jahrtausenden  hat  sich  ihre  Seele  nicht  geregt,  wahrend 
ihr  Intellekt  ohne  zu  reifen  gealtert  ist.    Deshalb  ist  es 
ein  flaches  Schlagwort  gedankenloser  und  koketter  Mate- 
rialistik,  jene  dunklen  Genossen  als  Fiihrer  einer  kiinf- 
tigen  Kulturerhebung  auszumfen.   Auch  sie  werden  der- 
einst  zur  Seele  gelangen,  doch  nicht  als  Fuhrer,  sondern 
als  spate,  miihsam  gereifte  Nachziigler. 
cb^r  ^"^  ^^°'      ^^^"^^^^^  Schritts  mit  den  Gezeiten  seelenloser Epochen, 
deren   die   Welt   urn    der   animalischen   Notwendigkeit 
willen  immer  wieder  bedurfte,  treten  Einzelfiihrer  in- 
tellektuell  hoher,  aber  seelenloser  Begabung  hervor,  die 
den   Sinn   ihrer   Zeit   zusammenfassen,    auf  die   Spitze 
treiben   und   somit  erledigen.     Sie  leisten  notwendige, 
aber  negative  Arbeit,  im  Gegensatz  zu  jener  Reihe  der 
Vorwartsschauenden,  die  das  kommende  Reich  verkiin- 
deten  und  die  in  Wahrheit  Propheten  genannt  werden 
diirfen,  weil  weder  ihre  Sache,  die  unerschopflich  ist, 
noch  ihr  Geist  dutch  den  Lauf  der  Zeit  erledigt  werden 
kann.    Mifit  man  jene  voltairischen  Intelligenzen  nicht 
gerade  an  Plato  und  Paulus,  so  erscheinen  viele  nicht 
unbedeutend,indemsiealtgewordenesMeinungsgerumpel 
fortraumen;  ohne  Illusion  und   ohne  Scheu,  die  ihnen 
fremd  ist,  weltlicher  Macht  gegeniibertreten,  Gedanken 
Grosserer  kritisieren,  popularisieren  und  propagandieren, 
und  somit  teils  vorbereitend,  teils  digestiv  und  erledigend 
wirken.     Mit  ihren  geringsten  Genossen  teilen  sie  die 
Hilflosigkeit   gegeniiber   dem   nicht    zu   Errechnenden, 
nicht  zu  Konstruierenden.    Um  daher  im  Positiven  nicht 
ganzlich  zu  verstummen,    erheben   sie  zuweilen  einen 


jra 


4 


Schrei  nach  Leben  und  Lebenslust,  der  um  so  bacchan- 
tischer  hervorgequalt  wird,  je  triibseliger  und  sinnen- 
fremder  es  im  Inneren  des  Idealisten  wider  Willen  aus- 
sieht.  Kiihnere  und  konsequentere  Temperamente  dieser 
Art  bekennen  sich  freimiitig  zum  Pessimismus ,  indem 
sie  entschlossen  der  Welt  aberkennen,  was  die  Natur 
ihnen  versagt  hat. 

Dail)  nach  ihrer  Herkunft  und  Praxis  die  Periode,  in  Epoche  dn  Ge- 
der  wir  leben,  trotz  aller  hofFnungsvollen  Krafte,  die  in 
ihrem  Schofie  keimen,  2u  den  seelenlosen  gezahlt  werden  >^^ 

mufi),  habe  ich  in  der  Kritik  der  Zeit  dargetan.  Die 
Schichtenmischung  der  Kulturlander  ist  bis  auf  Bruch- 
teile  vollendet;  die  Oberschichten  sind  nahezu  verzehrt; 
die  Unterschichten  tragen,  wo  nicht  die  sichtbare,  doch 
die  geistige  Herrschaft,  und  haben,  vom  Druck  befreit, 
ihre  expansiven  Krafte  in  beispiellose  Volksvermehrung  \ 

ausstromen  lassen.  Das  Doppelphanomen  der  Mechani-  Mechanhierung 
sierung  und  Entgermanisierung  erklart  restlos  alle  Er-^^^ 
scheinungen  der  Zeit:  die  Mechanisierung  als  Folge  und 
Selbsthilfe  der  Volksverdichtung  und  als  Ursache  des 
Dranges  zur  Wissenschaft,  Technik,  Organisation  und 
Produktion;  die  Entgermanisierung  als  Folge  der  Um- 
schichtung  und  als  Ursache  des  Mangels  an  Richtkraft, 
Tiefe,  Idealismus  und  absoluter  Uberzeugung. 

Die  heutigeGemeinschaftgleichteinerungeheurenPro-  Aufieres  EUd  den 
duktivgenossenschaft;  denn  Ernahrung  und  Beschaftigung 
zehnfach  verdichteter  Volksmassen  ist  ihr  auferlegt; 
Giiterproduktion  ist  der  Inbegriff  der  Weltarbeit,  und  in 
der  Stimmung  jedes  Einzelnen  spiegelt  sich  das  Gesamt- 
bild  in  der  Gestalt  seines  Verhaltnisses  zum  Besitz  und 
zur  Macht.  Tausend  libereinander  gelagerteNetze  zweck- 
mall)iger   Organisationen   durchdringen   den   lebendigen 


53 


Korper  der  Zivilisation  und  schafFen  ihn  zu  einem  selbst- 
tatigen  und  zwanglaufigen  Mechanismus,  aus  dessen  Ver- 
strickung  niemand  entrinnt,  er  fliichte  denn  nach  Tibet 
oder  Feuerland.  Die  kiinsdich  begriinte  und  durchfurchte 
Oberflache  tragt  die  Spuren  des  Geisterbaus:  Gewebe 
aus  Stein  und  Metall,  die  von  den  Kraften  des  Feuers 
und  Wassers  erzittern. 
[jtneres  Biid  dei  Alle  Machte  des  Denkeus  und  Fiihlens  sind  in  den 
Dienst  des  Gesamtorganismus  eingespannt.  Mittelbar 
und  unmittelbar  geschieht  fast  jede  Regung  der  belebten 
Elemente  im  Dienst  materieller  Produktion.  Selbst  wo 
die  freiesten  Kiinste  abseitig  ihr  Wesen  treiben,  dringt 
in  die  Werkstatt  Larm  und  Atem  des  Marktes,  und  es 
entstehen  eilige,  halbfertige  Dinge,  vom  Augenblick  fur 
den  Augenblick  erzeugt,  belastet  von  der  Uberfulle  der 
Eindriicke  und  Vorbilder,  bestimmt,  im  Massenhaften  zu 
versinken.  Der  Gedanke,  geschult  in  der  versteinerten 
Methodik  wissenschaftlicher Forschung,  triumphiert,  wenn 
er  benachbarte  Tatbestande  durch  die  dogmatischen  Mit- 
tel  der  Analogie,  der  Rechnung  und  der  Entwicklung 
verketten  kann,  und  stutzt  vor  jeder  Bewertung  und 
transzendenten  Umfassung;  er  verliert  den  Boden,  sobald 
das  Joch  handgreiflicher  Niitzlichkeit  ihn  nicht  mehr 
niederdriickt. 

Die  Zeit  wagt  nicht  mehr,  liber  sich  selbst  nachzu- 
denken.  Sie  fiirchtet,  die  Antwort  auf  die  Fragen: 
warum?  wohin?  wozu?  mochte  sie  vernichten.  Denn  im 
innersten  fiihlt  sie  die  Zwecklosigkeit  ihrer  Zwecke,  die 
Torheit  ihres  Gliicks,  die  Irrealitat  ihres  Handelns,  die 
Selbstvernichtung  ihres  Wissens,  die  Unnotwendigkeit 
ihrer  Kunst,  die  Willkiir  ihrer  herkommlichen  Leben's- 
formen  und  Sitten.    Hielte   das  Bestehende  sich  nicht 

i 


durch  die  Tragheitsgewalt  der  schwingenden  Massen,  so 
ware  die  Welt  jedem  Umsturz  preisgegeben;  denn  es 
gibt  nicht  einen  in  der  Tiefe  transzendenter  Uberzeu- 
gung  gelagerten  Ruhepunkt,  in  welchem  das  System  dei 
Krafte  sich  verankern  konnte. 

Vergeblich  trachtet  der  verjagte  Glauben  sein  Netz 
an  scheinbar  gefestigte  Stiitzen  anzuspinnen ;  mag  er  die 
Wissenschaft,  die  Heimat,  die  Kunst  oder  den  Mythus 
wahlen:  es  bricht  der  Faden,  denn  die  Pfosten  schwan- 
ken.  Das  hochste  Gemeingut,  die  Uberzeugung  vom 
Ewigen,  ist  dem  Geschmack,  der  Personlichkeit,  der  Mode 
und  der  Willkiir  ausgeliefert. 

Taglich  wachst  die  rotierende  Kraft;  zerschmettert  ^/ziv^^  ««^ 
wird,  wer  in  die  Speichen  greift,  und  alles  praktische  £poche 
Handeln  besteht  darin,  gutwillig  der  Bewegung  zu  fol- 
gen,  die  den  am  starksten  schiittelt,  der  sich  stemmt. 
Von  triiber  Komik  ist  es,  wie  wohlgesinnte  Menschen, 
des  Glaubens,  sie  batten  sich  ins  Historische,  ins  Abso- 
lute gefliichtet,  mit  altertiimlichen  Gebarden,  unent- 
schlossen  und  verlegen  im  Maschinenritt  ihres  Zeitalters 
einhertraben.  Und  doch  steht  es  jedem  frei,  den Schalthebel  / 

zu  ergreifen,  der  die  innerste  Triebkraft  des  Systems 
zerschneidet.  Nicht  die  Einzelglieder  der  Mechanisierung 
sind  angreifbar,  denn  sie  sind  mit  eisernen  Klammern 
objektiver  Logik  verschrankt;  aber  im  tiefsten  Innern 
birgt  sich  der  widerstandslose,  vom  Hauche  des  Gedan- 
kens  bewegbare  Punkt:  die  Schwache  der  Seele. 

Im  Laufe  der  Darstellung  wird  der  Sinn  der  mecha- 
nistischen  Priifung  sich  ergeben,  die  schwerer  als  Flut 
und  Eiszeit*auf  der  Menschheit  lastet.  Diese  Not  be- 
driickt  uns  deswegen  barter  als  alle  fruheren  Note,  weil 
sie   selbstgeschaiFen  ist;    sie   gleicht  hierin  den  neuen 


Lebenssorgen  des  erwachsenden  Menschen,  die  als  Enr- 
gegnungen  des  Schicksals  den  Frager  zum  erstenmal  aul 
seine  eigene  Verantwortung  verweisen.  In  uns  liegt  die 
Schuld  und  in  uns  die  Losung;  von  den  Machten  haben 
wir  nichts  zu  erwarten  als  die  Hilfe,  die  sie  gutem 
Will  en  zollen. 

Wir  haben  den  Kreis  des  Seelengebietes  umschritten 
in  der  Absicht,  den  Anteil  des  Seelenhaften  an  der  gei- 
stigen  Okonomik  der  Individuen  und  Volker  in  Ver- 
gangenheit  und  Gegenwart  zu  ermitteln.  Bevor  wir  zum 
letztenmal  den  Kern  dieses  ersten  Buches,  die  Geburt 
der  Seele  beriihren,  diirfen  wir  es  unternehmen,  den  er- 
weiterten  und  vertieften  BegrifF  der  Seele  dem  des  In- 
tellekts  kritisch  gegeniiberzustellen. 
Seele  und  In-  Versuchen  wir  zunachst,  mit  einem  Blick  das  Kon- 
trastbild  zu  umspannen,  so  ist  dies  die  Summe:  das  In- 
tellektuelle  erscheint  niichtern,  hastig,  widersprechend, 
absichtlich,  kompliziert  und  miihsam,  das  Seelenhafte 
klingend  und  farbig,  selbstverstandlich  und  einfach.  Man 
fiihlt  den  Unterschied  im  Ausdruck  Dessen,  der  Etwas 
will,  und  Dessen,  der  Nichts  will.  Der  Eine  glaubt 
nichts  und  verlangt  Vieles,  der  Andere  glaubt  Vieles 
und  verlangt  nichts.  Dem  Intellektuellen  scheint  der 
Seelenhafte  unklug,  vertraumt  und  verstiegen,  dem 
Seelenhaften  scheint  der  Intellektuelle  angsterfuUt, 
gierig  und  blind.  Der  Intellekt  eilt  kilometerdurstig 
seine  Schienenbahn  entlang  ins  Leere,  die  Seele 
schreitet  unter  Gestirnen  in  stiller  Versunkenheit. 
Dort  die  ruhelose  Frage:  weshalb?  wozu?  und  keine 
Antwort,  hier  die  Fiille  des  Vernehmens  und  keine 
Frage.  Der  Intellekt  wirbt  und  streitet,  die  Seele  emp- 
fangt  und  schafft. 

S6 


Zum   einzelnen.    Die  erste  groGe  Aufgabe  des  In-  Seele  und  In- 

tdlckt  3.1s  hp 
tellekts  ist:  Erkennen;  denn  um  zu  werten  und  zu  wir-   j-^.j^gj^^j^, 

ken,  mui5  er  wissen,  was  ist.  Zwei  Gebiete  des  Den-^^^"** 
kens  hat  er  sich  vorbehalten:  das  Rechnen  mit  Grol5en 
und  das  Rechnen  mit  BegrifFen;  Mathematik  und  Dia- 
lektik.  Im  Sinne  der  Erkenntnis  kommen  beide  iiber  die 
Gleichung  nicht  hinaus,  das  heill)t  liber  die  mehr  oder 
minder  komplizierte  Identitat.  Das  produktive  Den- 
ken  aber  kann  aus  der  Identitat  und  der  Formel  nichts 
machen;  es  schreitet  iiber  Ahnlichkeiten,  Analogien  und 
Gegensatze  zum  Gesetz,  das  der  InbegriiF  seines  Wir- 
kens  ist. 

Wo  der  Intellekt  auI5erhalb  statistischer  Erfahrung  Trren  des  hxteh 
operiert,  also  sinnlich  und  dinglich  denkt,  ist  er  hilflos 
dem  Irrtum  preisgegeben.  Von  logischen  Fehlern  frei- 
lich  droht  ihm  keine  Gefahr,  denn  sie  sind  selten,  so  oft 
man  auch  von  ihnen  sprechen  hort:  der  normale  Irrtum 
besteht  vielmehr  darin,  dafi  das  Wesentliche  der  Tat- 
sachen  und  Zusammenhange  unterschatzt  oder  verkannt 
wird,  wahrend  Nebensachliches  und  Nebendinge  sich  auf- 
drangen.  Auswahl  des  Entscheidenden  aus  der  Unzahl 
der  Tatsachen,  richtige  Abschatzung  inkommensurabler 
Krafte  und  Worte  sind  intellektuell  nicht  zu  erringen. 
Das  Kriterium  sachlichen  Denkens  ist  Intuition.  So  er- 
leben  wir  alle  Tage,  dal^  die  unsinnigste  Meinung  mit 
dem  vollen  Riistzeug  des  Intellekts  verteidigt,  ja  erwiesen 
wird.  Die  Dialektik  braucht  logische  Verst6l5e  nicht  zu 
begehen;  es  geniigt  ihr,  das  Unwesentliche  zu  betonen, 
das  Wesentliche  abzuschwachen  oder  zu  unterdriicken, 
und  ihre  Advokatur  fiihrt  zur  Uberzeugung  des  scharf- 
sinnigen  und  instinktlosen  Intellekts. 

Desgleichen  begegnen  uns  Menschen  von  bedeuten- 

57 


dem  Verstande,  die  sachlich,  folgerichtig  und  unwider- 
leglich  argumentieren,  und  unrettbar  das  Falsche  tun, 
wenn  sie  ihren  Argumenten  folgen:  der  logische  Bau  ist 
gut,  aber  das  Material  ist  schlecht,  weil  nicht  Intuition 
es  wahlte.  Diese  Menschen  denken  niemals  falsch  und 
immer  schief. 
infaVibiiitat  der  Die  Seele  aber,  welche  nicht  denkt,  sondern  schaut, 
ist  des  Irrtums  nicht  fahig.  Wie  das  ungeschulte,  aber 
gesunde  Auge  beim  ersten  Anblick  eines  Bildes  den  per- 
spektivischen  Fehler  fiihlt,  der  dem  konstruierenden 
Zeichner  entgangen  ist,  so  empfindet  die  Seele  in  voll- 
kommener  Einfuhlung  die  Ubereinstimmung  einer  Denk- 
folge  mit  dem  Naturgesetz,  und  seine  Verletzung  emp- 
findet sie  als  Dissonanz.  Ohne  zu  argumentieren  ist  sie 
ihres  Glaubens  sicher;  sie  schmeckt  und  wittert  gleich- 
sam  die  Wahrheit,  den  Irrtum  und  die  Liige.  Deshalb 
duldet  sie  nichts  Schiefes  und  nichts  Kompliziertes;  die 
Erschaunisse,  welche  die  Seele  dem  Intellekt  zur  For- 
mung  libergibt,  sind  klar  wie  der  Tag  und  jedem  Kind 
begreiflich.  Unter  den  grol5en  Wahrheiten,  die  vom 
Denken  der  Jahrhunderte  libriggeblieben  sind,  ist  nicht 
eine,  die  sich  nicht  mit  einfachen  Worten  leichtverstand- 
lich  aussprechen  liefie.  Dies  bedeutet  es,  wenn  der 
Apostel  sagt,  die  Liebe  begreift  alles. 
Intuition  Auf  niederer,  materieller  Stufe  nennen  wir  diese 
Schaukraft,  diese  unbewufite,  unerlernbare  und  unkon- 
struierbare  Sicherheit  des  Wahlens,  gesunden  Menschen- 
verstand;  auf  hochster,  vergeistigter  Stufe  heifit  sie  In- 
tuition. Solche  Fahigkeit  ist  nicht,  wie  kaltsinniger  Ma- 
terialismus  wiinschen  konnte,  eine  Art  geronnener,  un- 
bewufit  gewordener  Erfahrung,  wie  etwa  jene  Sicherheit 
des  Auftretens  und  Benehmens,  die  von  guter  Herkunft 

58 


und  Gewohnung  ausgeht.  Denn  wo  diese  intuitive  Kraft 
mit  ihrer  eigenen  unbeirrbaren  Zuversicht  auftritt,  da 
greift  sie  iiber  alle  Erfahrung  und  generationsweise  Ge- 
pflogenheit  hinaus  bis  in  die  tiefsten  Geheimnisse  der 
Empfindung,  Kunst  und  Transzendenz.  Ihr  Wesen  ist, 
daI5  sie  nicht  auflost,  sondern  nachschafft;  in  ihr  voll- 
zieht  sich  mikrokosmisch  das  Warden  und  Geschehen  der 
Welt,  das  ein  Geistiges  ist,  zum  zweitenMale;  sowie  in 
der  Bliite  das  ganze  Wesen  der  Pflanze,  auf  kurze  Mo- 
mente  zusammengedrangt,  sich  in  hochster  Reinheit 
wiederholt. 

Bedarf  der  Verstand  des  intuitiven  Einschlages,  somit 
seelenhafter  Hilfe,  um  sein  praktisches  Geschaft*  des 
Denkens  und  EntschlieJ&ens  iiber  das  alltagliche  Mal5 
hinaus  zu  besorgen,  so  ist  er  dennoch  nicht  fahig,  das 
Wesen  des  Seelenhaften  zu  erfassen,  weil  es  Wider- 
spriiche  zu  seiner  Erfahrung  auslost.  Die  Seele  aber  be- 
greift  den  Intellekt  vollkommen,  sie  empfindet  ihn  als 
wichtiges,  zwar  nicht  zulangliches,  sondern  der  Richt- 
kraft  bediirftiges  Organ;  sie  begreift  die  Notwendigkeit 
seiner  Fehler,  die  Eigenart  seiner  Irrungen,  und  erblickt 
sie  vornehmlich  in  ungestillten  Wiinschen,  die  seit  jeher 
Vater  falscher  Gedanken  waren. 

Deshalb  stehen  Menschen  unzweifelhafter  aber  seelen-  Derinteiuktueitt 
loser  Klugheit  den  Reden  und  Entschlussen  mtuitiver  ^^^^^,^ 
Naturen  in  ratloser  Verlegenheit  gegeniiber.    Sie  wittern  ^ 

Listen  und  Hinter gedanken,  weil  die  Einfachheit  der 
Aufierung  sie  erschreckt;  und  haben  sie  sich  endlich 
uberzeugt,  dal5  sie  mit  durchsichtigen,  ja  naiven  Charak- 
teren  zu  tun  haben,  so  begreifen  sie  erst  recht  nicht, 
woher  diese  Unschlauen  und  Unkomplizierten  das 
Schwierige  durchschauen,  das  Unerwartete  vollbringen. 


59 


Denn  sie  selbst  kommen  trotz  Klugheit  und  Skeptik 
immer  bis  nur  zum  gleichen  Punkt;  sie  zehren  sich  auf  im 
nniiberblickten  Dickicht  der  Widerstainde  und  bleiben 
von  komplizierten  und  schiefen  Verhaltnissen  umgeben. 
Wie  denn  die  Lebensfiihrung,  die  tagliche  Gewohnheit, 
der  Dunstkreis,  ja  das  scheinbar  zufallige  Lebensschicksal, 
als  Summe  aller  selbstgeschaiFenen  Umstiinde,  das  un- 
triigliche  Bild  des  inneren  Menschen  spiegelt;  zuver- 
lassiger  alsWorte,Handlungen  undkorperlicher  Ausdruck. 
Der  Kluge  freilich  hat  den  Vorteil,  dall>  ihm  sein 
Riistzeug  nie  abhanden  kommt.  Er  weiH)  auf  jede  Frage 
Antwort,  denn  der  geschaftige  Dienst  des  Intellekts 
setzt  nicht  aus.  Die  Seele  aber  liebt  das  Schweigen. 
Ungefragt,  in  gliicklichen  Stunden  lafit  sie  sich  ver- 
nehmen;  dann  ofFnen  sich  unerblickte  Tore;  in  voUem 
Frieden  wandelt  sich  das  Bedriickende  zur  Klarheit,  der 
Wirbel  des  Einzelnen  lost  sich  in  der  Reinheit  des  Ge- 
setzes,  und  der  Geisr  kehrt  zuriick  zum  Alltag,  beladen 
mit  den  Geschenken  der  Erinnerung. 
iVechjeiivirkitng  Alsbald  aber  wird  der  Intellekt  zu  seinem  besten 
Dienst  aufgerufen.  Er  empfangt  die  erschauten  Gebilde, 
begrenzt  und  ordnet  sie,  kleidet  sie  in  die  Vorstellungen 
und  Worte  des  Lebensgebrauchs  und  reiht  sie  in  den 
Besitzstand  der  Erfahrung. 

In    ahnlichem  Verhaltnis    wie   auf  dem   Gebiet    des 

reinen  benkens  stehen  Intellekt  und  Seele  vor  den  Auf- 

gaben  der  Wertung. 

Seele  und  In-      So  sehr  der  zweckhafte  Intellekt  zur  Wertung  neigt, 

tende  Krafte  ^^^^  ^^^  ^^^  Antriebe,  Ziele  und  Gliick  verspricht:  sie 

Inteiiektueiie  }q\q\\^x:  Seine  ungliickliche  Liebe,  denn  er  kommt  iiber 

Wertung  ...  ....  •    i        i     • 

utilitarisches  Denken  nicht  hinaus.  Wenn  er  sich  schembar 
noch  so  weit  vom  irdisch  Niitzlichen  entfernt,  um  nach 

60 


ideellen  Bestimmungen  des  Lebens  und  der  Welt  zu 
greifen:  das  Erdgewicht  seiner  Zwecke  reii^t  ihn  nieder 
auf  die  utilitarische  Flache,  weil  der  Wert  seiner  Ideale 
nicht  anders  als  durch  plausible  Notwendlgkeiten  inner- 
halb  der  planetarischen  Okonomie  erwiesen  werden 
kann.  Gleichviel,  ob  er  den  Genul5,  die  Entsagung,  die 
Leidesaufhebung,  die  Tat  oder  den  Imperativ  vom 
Sinai  herabholt,  gottlich  oder  irdisch  betrachtet  und  aus- 
gesprochen  bleibt  jedes  seiner  Gesetze  eine  Niitzlichkeit. 
„Du  sollst,  —  auf  dai5",  „du  sollst  nicht,  —  auf  dal^ 
nicht",  lauten  seine  Gebote.  Die  Seele  verheifit  und 
droht  nicht;  ihr  einfaches  Argument  sagt:  du  kannst 
nicht  anders. 

Die  Seele  schaiFt  absolute  Werte.  Nicht  als  ob  sie  Seeiiscbe  Wer- 
das  Absolute  erkennte;  auch  sie  ist  noch  an  die  Erschei-  ""^ 
nung  gebunden;  doch  beginnt  sie  in  einem  Punkte  die 
Erscheinung  zu  liberwinden,  gleichsam  als  die  erste  einer 
langen  Reihe  von  Stufen,  die  vom  Erschauten  in  das 
Absolute  hiniiberfiihren.  Denn  sie  schaiFt  ein  zweites 
Ich,  den  Urgrund  eines  hdheren  BewuI5tseins,  das,  weil 
es  nicht  mehr  zweckhaft  ist,  von  der  Erscheinung  sich 
loszulosen  beginnt.  Dieses  Bewufi)tsein  will  und  ver- 
langt  von  der  Erscheinung  nichts  mehr,  und  fiihlt  sich 
dennoch  bedingt,  bestimmt,  von  Gesetzen  getragen,  mit 
denen  es  nicht  anders  als  in  Ubereinstimmung  existieren 
kann.  So  werden  diese  Gesetze,  von  denen  wir  spater- 
hin  zu  handeln  haben,  zu  absoluten  Wertungen,  die  im 
Intuitiven  Zustande  schlechthin  nicht  mehr  verletzt 
werden  konnen. 

Ja,   es  darf  gesagt  werden,   dafi)  die  Seele  iiber  2\\q  Paradnxie  da 
Wertungen   und    Idealitaten    hinausfiihrt.      Denn    nian  ^^^^^^^^.^ 
denke    sich   eine    der    rein    intellektuelien    Idealforde- 

61 


mngen  als  voilkommen  erfiillt:  was  ware  die  Folge? 
Eine  um  ein  beliebiges  verbesserte  Welt,  eine  Welt,  in 
der  die  Idealforderung  dutch  Erfiillung  ihre  Bedeutung 
verloren  hat.  Somit  hat  aber  auch  diese  bequemere 
Welt  nicht  an  Sinn  gewonnen,  sondern  an  Sinn  verloren. 
Sie  ist  im  Sinne  des  Zweckes  gebessert,  aber  im  Sinne 
des  gleichen  Zweckes  erledigt,  wie  eine  geloste  Auf- 
gabe.  Deshalb  ist  das  intellektuale  Paradies  der  Bankerott 
des  materiellen  Denkens. 

Indem  nun  die  Seele  sich  selbst  und  eine  neue  Welt 
zweckfrei  schafFt,  befreit  sie  von  dem  Widerspruch  des 
Zweckes  und  der  Erfiillung;  und  indem  sie  ihre  Erfiil- 
lung, die  mit  kirchlichem  Ausdruck  Seligkeit  genannt 
werden  darf,  in  sich  triigt,  hat  sie  dutch  ihre  Existenz 
der  Welt  einen  Sinn  verliehen. 
SeeiischeReiighn  Aus  seelenhaftem  Gehalt  erklart  sich  die  ethische 
Uberlegenheit  der  echten,  das  heiI5t  transzendenten 
Religionen  im  Vergleich  zum  intellektuellen  Denken. 
Sie  freilich  waren  aller  Beweise  iiberhoben;  sie  durften 
ihre  Himmelslehren  an  Offenbarungen  und  Wunder 
kniipfen,  wodurch  denn  eben  wieder  im  negativen  Sinne 
zugegeben  war,  dai5  der  Verstand  zum  Werten  nicht 
hinlangt.  Religiose  Intuition  hat  die  hochste  uns  be- 
kannte  ethische  Lehre  gezeitigt,  die  Lehre  vom  Gottes- 
reich,  die  dem  Intellekt  voilkommen  unfail)bar,  in  viel- 
deutiger  und  unklarer  Formulierung  die  Jahrhunderte 
liberdauert  hat  und  die  in  jeder  kommenden  intuitiven 
Ethik  als  Sonderlosung  enthalten  sein  wird. 

Seele  und  In-      Betrachten  wir  Intellekt  und  Seele   in  ihrer   dritten 

tellekt  3.1s 

schaffende      Hauptrelation,  als  schaffende  Krafte,  so  ergibt  sich  beim 

Krafre  ersten  Blick,  dal5  jenem  am  Wirken,  dieser  am  eigent- 

lichen  Schaffen   gelegen   sein   muI5.     Denn  der  Zweck 

61 


geht  nicht  auf  die  Sache,  sondern  hinter  die  Sache,  Er 
lost  jede  Unternehmung  in  eine  Reihe  von  Teilhand- 
lungen  auf,  die  an  sich  vollkommen  wertlos,  erst  durch 
das  Endziel,  wo  nicht  geheiligt,  so  gerechtfertigt  werden. 
Uberdies  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  auch  dieses  End- 
ziel ein  relatives,  so  dai5,  von  innen  betrachtet,  der 
Intellekt  in  kreisender  Bewegung  ergebnislos  seinem 
eigenen  Willen  zuwiderlauft.  Nach  auC)en  hinterlal5t 
seine  Arbeit  bedeutende  Spuren,  aber  auch  sie  tragen 
nicht  die  Zeichen  des  Absoluten,  sie  sind  bestenfalls 
Mittel  fiir  einen  nicht  gewollten  Zweck. 

Intuitives  SchaiFen  aber  ist  zweckfrei,  selbstlos,  not- Intuidves  und 
wendig.  Deshalb  ist  das  GeschafFene  auf  jeder  Stufe  ^^^^V^-' ^'' 
seines  Entstehens  abgeschlossen  und  vollendet  wie  die 
Schopfungen  der  Natur.  Man  denke  an  das  Beispiel  des 
entstehenden  meisterlichen  Kunstwerks:  Studie,  Skizze, 
Untermalung,  Torso  erleben  in  jedem  Augenblick  des 
Heranreifens  eine  fertige,  selbstberechtigte  Existenz, 
die  vollgiiltig  bleibt,  auch  wenn  der  Prozei5  des  SchafFens 
vorzeitig  abbricht. 

Zweckhaftes  Schaffen  ist  Frondienst;  seine  Freude 
liegt  nicht  in  der  Leistung  sondern  in  der  Erledigung; 
das  Produkt  ist  nicht  Endziel,  sondern  neues  Werkzeug 
und  Mittel.  Intuitives  Schaffen  ist  in  Wahrheit  bewull)t- 
seinsvolle  Fortsetzung  des  Schaffens  der  Natur,  Schopfung 
und  Zeugung.  Auch  darin  ahnelt  der  Vorgang  dem 
Akt  natiirlicher  Schopfung,  dal5  er  Werke  schafft,  die 
aus  eigenem  Recht  bestehen,  die  durch  Wiirde  und 
VoUendung  ihre  Existenz  in  sich  selbst  rechtfertigen.  Sie 
sind  einzige,  nicht  wiederholbare  Abbilder  des  Erzeugers, 
Bilder  seiner  Seele,  und  indem  sie  in  hochstem  Malbe  indi- 
viduell  sind,  sind  sie  dennoch  Gesetz,  und  somit  absoxUt. 


63 


Schafen  der  Deshalb  kann  liber  das  Wesen  fits  wahren  Kunst- 
werkes  auf  die  Dauer  keine  Tauschung  bestehen.  Ge- 
suchte  Originalitat  ist  transzendenter  Berrug,  denn  sie 
unternimmt  es,  Seele  zu  erlisten.  Niemals  kann  wahre 
Individualitat  dem  Willen  entspringen,  weil  der  intellek- 
tuelle  Wille  typisch  und  unpersonlich  ist  wie  alles  Ani- 
malische.  Die  Kunst  aller  Intellektuellen  ist  die  gleiche, 
wie  die  Kunst  aller  Katzen  die  gleiche  sein  wiirde.  Und 
auch  das  Werk  des  Seelenvollen  ist  nur  dann  wahrhaft 
individuell,  wenn  der  Schopfer  nicht  der  Neigung  der 
Selbstliebe  und  Laune  sich  schrankenlos  hingibt,  sondern 
alle  Krafte  daran  setzt,  das  Wahre,  das  Objektive,  das 
Absolute  zu  schaffen.  Rembrandts  Kunst  ist  deshalb 
unsagbar  personlich,  weil  er  isich  unsaglich  miihte,  ganz 
unpersonlich  im  Objektiven  aufzugehen  und  sich  selbst  zu 
vergessen.  Der  junge  Mensch,  der  eine  individuelle  Schrift 
sich  anqualt,  wird  albern  und  gekiinstelt  schreiben;  be- 
gniigt  er  sich,  mit  gutem  Willen  den  Buchstaben  klar  und 
objektiv  richtig  zu  formen,  so  wird  zu  seinem  spaten 
Erstaunen  ein  Eigenes  in  seiner  Schrift  erscheinen. 
Denn  die  heimlichsten  Krafte,  vor  allem  der  Seele, 
konnen  frei  nur  dann  ausstromen,  wenn  der  Wille, 
durch  Gegenkrafte  gebandigt,  seine  Richtkraft  verloren 
hat.  Alle  Inspiration  verlangt  Ruhe  und  Gleichgewicht 
des  Geistes;  wie  siclji  Gestirne  nur  auf  klarer  Flache 
spiegeln.  Der  wiitende  Hunger  des  Wollens  muli^ 
schwinden,  wenn  die  Seele  vernehmen  und  erwidern 
soil. 
Triebkraft  des  Wiederum  erscheint  die  Analogie  mit  dem  Natur- 
fens  ^^"  ^  vorgang,  indem  das  intuitive  SchafFen  ungewollt  und 
unerzwingbar  ist.  Seine  Triebkraft  ist  die  Liebe,  die 
sich   so   riickhaltlos   in   ein  Anderes  versenkt,   daI5  das 

64 


Gleichgewicht  der  Seele  durch  die  einseitige  Last  ge^ 
fahrdet  wird.  Das  UbermaI5  empfangender  Liebe  wird 
durch  gebende  Liebe  geheilt,  alle  SchafFenskrafte  stromen 
ins  Innerste  zuriick,  und  es  entsteht  aus  zweifacher 
Liebe  geboren  das  Werk  von  solcher  Eigenmacht  des 
Lebens,  dafi  es  dem  Schofi  entfremdet  und  verfeindet 
werden  kann.  Die  Lust  des  SchafFens  aber,  die  den 
Schmerz  liberwiegt,  beruht  im  wiedergewonnenen  Gleich- 
gewicht der  Seele,  das  um  neue  Kraftepaare  bereichert  ist. 

Nicht  helfend,  eher  hemmend  und  dennoch  will- lnfe//ekt  a/j 
kommen  ist  die  Mitwirkung  des  Intellekts.,  sofern  sie  '•^^'^''-''^ 
sich  in  Grenzen  halt.  Sie  erweckt  die  Sorgen  der  Ver- 
gleichung,  der  Verdeutlichung  und  Einreihung,  die,  ohne 
Bedeutung,  solange  der  schopferische  Mensch  im  Trans- 
zendenten  verharrt,  Realitat  gewinnen,  sobald  er  aus 
eigener  Freude  die  Menschheit  zum  Mitwirken  und 
Mitempfinden  aufruft. 

Was  hier  gesagt  ist  vom  intuitiven  Produkt,  trifFt  Schajfen  des  AU- 
durchaus  nicht  allein  das  Kunstwerk,  obzwar  dieses  das'''*^ 
wahihaft  absolute  Erzeugnis  unseres  Menschheitsstandes 
ist.  Der  Handwerker  alten  Schlages,  der  ein  Gerat  um 
seiner  selbst  willen  und  im  Blick  auf  die  Vollendung 
fertigt,  ist  im  vollen  Sinne  Schopfer.  Daher  die  lebens- 
warme,  handfeste  Kraft,  die  den  Werken  alter  Ziinfte 
entstromt,  wenn  sie  mit  den  sparrigen,  falsch  geputzten 
Artikeln  derZweckproduktion  in  Vergleich  treten.  Schop-  / 

fer  ist  ein  jeder,  der  das  Werk  um  des  Werkes  willen  ^ 

tut,  und  die  Sache  um  der  Sache  willen  liebt,  mag  er 
Tagelohner,  Kramer  und  Hausierer  sein;  Fronarbeiter 
ist,  wer  um  Besitz,  Ehre,  Anerkennung,  kurz  um  Loh- 
nung  wirbt,  sei  er  Dichter,  Philosoph,  Staatsmann  oder 
Feldherr. 


6% 


Intuition  undGe-  Auch  fordert  inmitive  Schopfung  an  sich  keineswegs 
Genialitat;  und  wiederum  besteht  Genialitait  keineswegs 
allein  aus  Intuition.  Genialitat,  als  hochste  irdische  Es- 
senz,  bedeutet  vollkommenes  Gleichgewicht  intellek- 
tueller  und  intuitiver  Krafte.  Wir  kennen,  was  man 
auch  sagen  mag,  kein  Beispiel  wahrhafter  Genialitat,  die 
nicht  mit  souveraner  Meisterschaft  den  Intellekt  gehand- 
habt  hatte,  ohne  ihn  freilich  zur  Tragkraft  des  Lebens 
zu  erhohen.  Reinste  Intuition  hingegen  fiihrt  zum  trans- 
zendenten,  visionaren  und  losgelosten  Dasein;  die  Person 
Christi  haben  wir  nicht  das  Recht  als  genial  zu  bezeich- 
nen.  WoUte  man  diese  hochsten  Erscheinungen  ihrem 
Wesen  nach  benennen,  so  konnte  man  nur  die  Bezeich- 
nung  der  Gottlichkeit  wahlen. 
Kririk  der  SoUen  wir  zur  zusammenfassenden  Kritik  der  Seele 

Seele  schreiten,  so  wiederholen  wir,  daI5  ihre  Krafte  nicht  Fort- 

setzungen  nochEntwicklungsstufen  der  Intellektualkrafte 
bedeuten.  Die  Kraft  der  Seele  ist  die  hohere,  insofern 
sie  die  Kraft  des  Geistes  begreift,  ohne  von  ihr  begrifFen 
zu  werden.  Sie  ist  irrational,  insofern  ihr  an  den  Zwecken 
und  Erfiillungen  des  animalischen  Daseins  nichts  liegt, 
so  daC>  sie  geradezu  diesem  Dasein  verhangnisvoU  wer-, 
den  kann.  Sie  ist  liberirdisch,  insofern  sie  ihre  Erfiil-, 
lung  in  sich  selbst  tragt,  und  in  diesem  Sinne  ist  sie  von; 
hochster  Realitat  und  von  eigenem  Recht.  Sie  ist  trans- 
zendent,  indem  sie  liber  sinnliche  Erfahrung  hinaus  das 
Gesetz  in  sich  erlebt  und  intuitiv  erschaut.  Indem  sie, 
aber  das  erschaute  Gesetz  in  die  Welt  hinabtragt,  stei- 
gert  sie  das  gemeine  Dasein  liber  intellektuelles  Mafi 
und  erringt  iiber  den  zweckhaften  Intellekt  auch  die 
praktische  Uberlegenheit.  Sie  weist  auf  ein  seliges  und 
gottliches  Leben  und  auf  ein  selbstvergessenes   ruheno 


66 


4 


ies  Gk  ck  in  sich  selbst,  indes  der  Intellekr,  solange  er 
consequent  und  wahrhaft  bleibt,  nur  Geniisse  oder  niich- 
cern  geordnete  Idealzustande  versprechen  kann,  die  nicht 
einmal  Geniisse  sind. 

Noch  stiitzt  sie  sich  auf  Sinne  und  Erscheinung.  Aber  ^^e^^  «»^  Trans- 

xendcws, 

>ie  erlebt  in  ihrer  starksten  Existenz  Augenblicke,  welche 
[hr  die  Erscheinung  unwesendich,  ja  zweifelhaft  werden 
lassen  und  ihr  die  Gewifiheit  innerer  Sinne  verleihen. 
Die  gleiche  anschauende  Gewil^heit,  welche  in  Dingen 
ler  Welt  die  Geheimnisse  entschleiert  und  den  Intellekt 
iur  verstummenden  Folge  zwingt,  weist  hier  apodiktisch 
jber  die  Grenzen  des  Fafibaren  hinaus,  und  die  Gewalt 
ier  Sehnsucht  zwingt  den  Blick  in  weltlose  Tiefe  und 
Feme. 

Deshalb  ist  die  Seele  eine  Kraft,  die  sich  dem  Abso- 
luten  nahert,  und  der  wir  vertrauen  diirfen.  Beschran- 
ien  wir  das  Streben  nach  Erkenntnis  auf  die  Krafte  des 
[ntellekts,  so  spielen  wir  ein  edles,  weil  einheitliches 
Gedankenspiel,  das  kritisch  ende.a  mufi,  weil  der  Intellekt 
liber  keine  Krafte  verfugt,  die  liber  ihn  selbst  hinaus- 
w^eisen.  Alles  intellektuale  Denken  wird  in  letzter  Linie 
Eur  Logik.  Ist  es  uns  um  endgiiltiges,  im  hochsten  Sinne 
praktisches,  sachlich-intelligibles  Erfassen  zu  tun,  so  diir- 
fen wir  nicht,  um  pedantischer  Einheitlichkeit  will  en,  die 
Krafte  der  Seele  ausschliefien.  Die  Gefahr  der  Traumerei 
and  mystischen  Zerflossenheit  tritt  nicht  ein,  wenn  wir 
uns  davor  hiiten,  Erlebnisse  der  Seele  zu  materialisieren 
and  zu  dogmatisieren.  Solch  krankliches  Bediirfnis  wiaer- 
legt  sich  selbst,  denn  es  ist  kein  seelenhaftes.  Die  Seele  Seeu  and  Super- 
lat  keine  Lust  an  Dogmen,  Mythen,  Symbolen  und  Wun- 
dern,  obwohl  sie  das  Gleichnis  liebt,  als  welches  auch  die 
Welt  ihr   erscheint.    Wundersucht   ist  hochste  Zweck- 


67 


haftigkeit  unJ  somit  intellektueller  Materialismus.  Der 
Seele  ist  es  nicht  einmal  um  den  Auf  bau  ihrer  Ethik  zu 
tun,  obgleich  sie  die  Schliissel  einer  absoluten  Ethik 
regiert;  denn  sie  fiihlt  die  eigene  GewiU)heit  ihres  Han- 
delns  im  Anblick  des  Gesetzes.  Wohl  aber  hat  der  be- 
diirftige  Intellekt  das  hochste  Recht,  von  der  Seele  die 
ethische  Lehre  zu  verlangen,  die  er  mit  wahrhaft  eigenen 
Mitteln  aufzubauen  nicht  vermag. 
Seeif  und  Reii-  Ebensowenig  ist  es  erforderlich  und  gerechtfertigt, 
^  ^  der  Religion  das  Gebiet  der  Seele  zu  iiberweisen.  Reli- 

gion sucht  nicht  Erkenntnis;  weder  intellektuale  noch 
intuitive ;  sie  sucht  Trostung,  Erbauung,  Erhebung,  Ver- 
sohnung  und  Erlosung.  Gleichviel  ob  sie  sich  der  My  then, 
der  Dogmen,  der  Riten,  Symbole  oder  Lehren  bedient, 
bleibt  sie  Praxis,  und  nicht  einmal  immer  seelische  Praxis. 
Die  Seele  mag  noch  lange  sich  reinster  religioser  Formeni 
bedieneh,  um  gottliche  Krafte  aus-  und  einstromen  zul 
lassen;  indessen  will  es  nicht  unmoglich  scheinen,  dafe 
seelische  Einsicht  dereinst  alle  Religion  in  sich  aufnimmt- 
und  somit  aufhebt.  Niemals  mehr  kann  das  Umgekehrte 
geschehen,  dafi  Religion  alle  seelische  Intuition  in  sich; 
fafi>t  und  ersetzt;  ja  ich  wage  zu  glauben,  dafi  in  Wirk-j 
lichkeit  die  religiose  Sehnsucht  unserer  Zeit  nichts  an-l 

deres   bedeutet  als  intuitive  Sehnsucht  nach  seelischerj 

i 
Gewifi)heit,   die  ihren  wahren   Ausdruck   deshalb    noch; 

nicht  gefiinden  hat,  weil  man  immer  wieder  alles  see- 
lische Sehnen  an  die  Mythologie  und  Dogmatik  verwies. 
Daher  die  Ratlosigkeit  tief  empfindender  Menschen,  die 
zwischen  dem  Skeptizismus  intellektualer  Wissenschaft 
und  dem  immanenten  Dogmatismus  der  Religion  keine 
Heimat  fur  die  Erlebnisse  ihrer  Seele  finden. 

Wir  haben,  indem  wir  das  wesentliche  Inventarium 


6Z 


unseres  inneren  Erlebens  aufzunehmen  suchten,  wiedeiv 
holt  und  nachhaltig  in  das  Gebiet  der  Erscheinung  hin- 
ubergegrifFen.  Der  Gang  der  Darlegung  wurde  durch 
diese  Exkurse  aufgehalten,  doch  nicht  beirrt.  Denn  nicht 
um  Argumente  und  Erklarungen  war  es  zu  tun,  sondern 
um  das  Ausklingen  der  gewonnenen  Erfahrung  in  die 
Welt  des  Gleichnisses.  Im  Echo  der  Erscheinung  ver- 
nahmen  wir  verdeutlicht  die  Erkenntnis,  die  in  diesen  ^ 

Satz  gebunden  werden  soil:   Kern  unseres  inneren  Er-  !.   ' 

lebens  ist  die  Geburt  der  Seele. 

Aus  geheimnisvoUem  Urgrund,  vom  AnimalischenKritikderSee 
losgelost,  nicht  vollendet,  aber  der  Vollendung  zustre- 
bend,  steigt  eine  Macht  in  uns  empor  und  besitzt  unser 
ganzes  Wesen.  Sie  reifi)t  uns  von  der  zweckhaften  Schop- 
fung  los,  um  uns  durch  neue,  gelauterte  Bande  mit  ihr 
zu  verkniipfen.  Sie  binder  uns  jenseits  alles  aul^eren 
Erlebens  an  feme  Machte  und  schlieI5t  uns  in  hohere 
Gemeinschaft,  die  wir  zu  ahnen  wagen. 

Vor  diesem  Phanomen  erstirbt  alles  friihere  und 
gleichzeitige  Erleben.  Intellektuelle  Analysen  verblassen 
zu  Spezialismen,  wie  akustische  Experimente  vor  den  Er- 
schiitterungen  einer  Symphonie.  Das  Gebiet  der  Seele 
wird  das  AUbeherrschende,  und  so  lange  wir  es  nicht 
durchschritten  und  ermessen  haben,  bleibt  alles  Sinnen 
Vorbereitung  und  Exegese. 

Das  Gebiet  des  inneren  Erlebens  bleibt  vorlaufig  mit 
dieser  Evolution  erfiillt  und  erschopft.  Vertiefung  ist 
moglich  und  notwendig,  Hiniibersteigen  undenkbar. 

Deshalb  ist  es  uns  auferlegt,  die  innere  Betrachtung 
zu  beschliell)en  und  uns  der  Spiegelung  zuzuwenden. 
Die  Frage  lautet:  wie  reiht  sich  das  innere  Ereignis  der 
Seelengeburt  in  das  Phanomen  der  Erscheinung?    Wie 

69 


entsteht  und  was  bedeutet  die  Seele  in  der  Welt  des 
Gleichnisses? 

Nicht  eine  Erklarung  des  geistigen  Wesens  haben 
wir  von  dieser  neuen  Betrachtung  zu  erwarten,  denn  ein 
iibergeordneter  BegrifF  des  Urphanomens  ist  nicht  denk- 
bar.  Wohl  aber  diirfen  wir  hofFen,  das  Weltbild  in  ver- 
anderten  Reihen  sich  zusammenschliefien  zu  sehen,  Ana- 
logien  und  Parallelen  anzutrefFen,  die  sich  in  mecha- 
nischer  Formulierung  ausdriicken  lassen,  Ausblicke  und 
Riickwirkungen  aufzuweisen,  die  dem  praktischen  Den- 
ken  Halt  und  Ziel  geben. 

Wie  die  Evolution  des  erlebten  Geistes  unser  Emp- 
finden  bekraftigt,  so  soil  die  Evolution  des  erschauten 
Geistes  unser  Denken  undEntschliefien  tiiihren  und  recht- 
fertigen. 


7^ 


Zweites  Buch 


DIE     EVOLUTION    DES    ERSCHAUTEN 
GEISTES 


I 


Wenn  wir  in  dramaturgischer  Betrachtung  das  Ver- Spiegelbild 
haltnis  Hamlets  zu  Claudius  oder  Horatio  ermitteln,  so  ^   ^ 

haben  wir  das  Drama  als  Wirklichkeit  und  seine  Ge- 
schehnisse  als  notorisch  aufzufassen.  Es  gibt  kein  anderes 
Danemark  als  das  des  Schauplatzes,  es  gibt  keine  andere 
Historie  als  die  der  Exposition,  unsere  erlernte  Kennt- 
nis  schlaft,  wir  leben  in  der  Dichtung.  Wenn  wir  die 
Deutung  einerTizianischenAllegorie  versuchen,sostehen 
wir  nicht  vor  Leinewand,  Olfarbe,  Firnis  und  Rahmen, 
sondern  wir  betrachten  und  deuten  den  Hain,  die  Burg 
und  den  Reiter. 

Anders  wenn  wir  nach  dem  Dichter  und  seinen  Quel- 
len,  nach  dem  Maler  und  seiner  Technik  fragen.  Dann 
ist  Hamlets  Geschick  nicht  mehr  Begebenheit,  sondern 
Veranstaltung,  das  Bild  ist  nicht  mehr  Raum  und  Luft, 
sondern  farbige  Kruste;  die  Betrachtung  gilt  nicht  mehr 
ier  Spiegelung,  sondern  dem  Spiegel. 

Vor  solcher  Rahmen-  und  Spiegelfrage  steht  unsere  Erkenntnis- 
irdrterung,  wenn  wir  das  seelische  Ereignis  als  Glied  des  ^° 
)bjektiven   Weltenbaus    beanspruchen.     Das   Verhaltnis 
les  Subjekts   zum  Objekt  ist  beriihrt,  der  Kreuzungs- 
)unkt  der  Doppelfrage:  wie  ist  Welt  in  der  Vorstellung 
noglich?  wie  ist  Vorstellung  in  der  Welt  moglich?  zeigt 


73 


sich  an,  und  wir  diirfen  keinen  Schritt  vorwarts  tun,  be 
vor  die  Einheit  des  Denkens  und  die  Einheit  der  Dar 
stellung  durch  eineUberbriickung  desErkenntnisproblem 
gesichert  ist.  Mit  dem  BegrifF  der  Uberbruckung  eine 
an  sich  unlosbaren  Problems  mochte  ich  andeuten,  dal 
mir  die  Moglichkeit  vorschwebt,  ahnlich  zu  verfahren 
wie  es  in  der  mathematischen  Analyse  mit  dem  Imagi 
naren  geschieht:  die  Willkiir  des  Irrationalen  wird  ge 
heilt,  wenn  im  Laufe  der  Entwicklung  die  komplexej 
Grofien  ausscheiden  und  die  Darstellung  in  das  Gebie 
gemeingiiltiger  Anschaulichkeit  zuriickgefiihrt  werdei 
kann. 
GesetT.  der  In  einer  Bekenntnisschrift  darf  ein  personliches  Mo 
« tsg  ett  j^gj^^^  ^2.s  zur  Entscheidung  des  nachsten  Schrittes  bei 
tragt,  nicht  verschwiegen  werden. 

Jedes  Gedankensystem  ist  ein  Abbild  des  Denkender 
Seine  Giiltigkeit  liegt  nicht  in  der  Kraft  der  Logik  un 
der  Beweise  — ,  denn  Denken  ist  nicht  sowohl  SchlieI5er 
als  Wahlen  — ,  sondern  in  der  Giiltigkeit  des  Mensche 
und  seiner  Intuition.  Der  denkbar  hochste  Fall  ware 
daI5  ein  Mensch  kraft  seiner  allgemeingiiltigen  Natur  di 
Gesetze  der  Menschheit  und  der  Schopfung  so  vollkom 
men  in  sich  triige,  dal5  sein  Denken  absolutgiiltig  da 
Gesetz  der  Welt  vorschriebe.  Je  bedingter  der  Mikrc 
kosmos,  desto  begrenzter  die  Giiltigkeit  der  Denknorm 
und  doch  wird  selbst  ein  Leidender,  ein  einseitig  Be 
sessener  die  Leiden  und  Besessenheiten  einer  Anzahl  ode 
einer  Zeit  giiltig  aussprechen  und  zum  mindesten  dure 
die  Objektivierung  eine  Heilung  vorbereiten;  die  Epoch 
der  Empfindsamkeit  ist  ein  Beleg  dieses  Vorgangs.  Zw: 
schen  der  allgemeingiiltigen  Norm  des  absoluten  Der 
kens  und   der  pathologischen  Einseitigkeit  des  monc 


74 


I 


manen  Deliriums  liegen  die  Abstufungen  der  Gultigkeit, 
die  ihrerseits  wiederum  zu  bemessen  ist  nach  dem  Grade 
der  inneren  Geschlossenheit  und,  wenn  ich  so  sagen  darf, 
tastbaren  GesetzmaJ&igkeit  der  Gedankenkette.  Auch  bei 
bescheidenster  Einschatzung  des  subjektiven  Faktors  darf 
daher  der  personlich-phantastische  Teil  des  Denkgutes 
nicht  verhiillt  werden. 

Nun  ist  die  Realitat  des  Traumens  und  erlebenden/^^-^/ww^/ ^// 
Schauens  fiir  manche  Menschen,  zu  denen  ich  mich  zah- 
len  mu(5,  grofi),  ohne  dafi  darum  das  Getraumte  und  Er- 
schaute  als  ein  vom  Schauenden  ganzlich  Unabhangiges 
empfunden  wird.  Was  dem  gedankenvollen  Traumen 
an  sachlicher  Kontinuitat  fehlt,  das  wird  ihm  iiberreich 
durch  innere  Einsicht  vergolten.  An  handgreiflicher 
Sinnlichkeit  und  Kontinuitat  erscheint  die  wache,  Wirk- 
lichkeit  genannte  Erscheinungswelt  um  einen  Grad  realer, 
an  Unmittelbarkeit  dunkler,  doch  beides  nicht  mit  ge- 
niigender  Starke,  um  mehr  als  einen  graduellen  Unter- 
schied  der  beiden  Welten  glaubhaft  zu  machen. 

Wer  so  empfindet,  den  wird  allein  die  Realitat  des 
Geistigen  liberzeugen.  Ihm  tritt  das  Lebendige,  was  es 
auch  sei,  als  ein  unleugbar  Empfindendes,  die  Natur  in 
allem  GeschafPenen  als  ein  Begeistetes  befreundet  ent- 
gegen;  ihm  ist  beschieden,  nicht  mehr  allein  sich  selbst, 
sondern  einfiihlend  und  entauILert  in  der  Kreatur  zu 
leben;  ja  es  erscheint  ihm  vielmals  dieses  Gemeinschafts- 
fiihlen  wahrer  und  leibhaftiger  als  das  Fiir-sich-sein.  In 
der  Begegnung  mit  einem  Menschen  tritt  ihm  nicht  ein 
fremdes,  gefahrliches  und  verhiilltes  Wesen  mit  unbe- 
kannten  Ziigen  und  Gebarden  entgegen,  sondern  es  ge- 
schieht  ein  Wiedersehen  seiner  selbst,  ein  Wiedererken- 
nen  nach  einer  Spaltimg  des  Schicksals.   Wenn  Francis- 


75 


cus  die  Geschdpfe  Himmels  und  Erden  Geschwister 
nannte,  so  beschrieb  er  das  hochste  menschliche  Mafi  der 
Einfiihlung,  die  den  Schauder  des  Objekts  iiberwunden 
hat  und  sich  geistig  in  aller  Schopfang  wiederfindet. 

Solche  Menschen  werden  ihr  Welt-  und  Erkenntnis- 
bild  kaum  anders  als  idealistisch  gestalten  konnen;  ja  es 
wird  das  unvermeidliche  eintreten,  daf5  sie,  bei  allem 
theoretischen  Bewufitsein  von  der  Relativitat  des  Denkens 
und  der  Wahrheit,  auch  fiihlend  in  dieser  Erkenntnis- 
form  aufgehen,  die  hierdurch  gewissermassen  Unterlage 
eines  Glaubens  wird.  Wie  es  denn  liberhaupt  den  An- 
schein  hat,  als  wolle  menschliche  Einsicht  —  ich  spreche 
nicht  vom  Intellekt  —  in  einen  Teil  der  Positionen  ein- 
riicken,  welche  die  Religion  nach  dem  Verlust  ihrer  mytho- 
logischen  und  dogmatischen  Aufienwerke  hat  opfern 
miissen. 
Gefuhisphiioso-  Hier  sei  eine  allgemeine  Anmerkung  uber  sogenannte 
musundlmuition  Gefuhlsphilosophie  eingeschaltet.  Wir  kennen  die  Vor- 
wiirfe,  die  gegen  diese  Denkart  erhoben  werd^,  wir 
kennen  auch  die  Gefahren,  die  sie  schwarmerischen,  sen- 
timentalen,  wundersiichtigen  und  heimlich  materiellen 
Geistern  bereitet.  Dennoch  geht  es  nicht  an,  das  intui- 
tive Element  lediglich  als  eine  zu  duldende  oder  nicht 
2u  duldende  Spielart  des  Denkens  zu  klassifizieren  und 
zu  erledigen.  Will  die  intellektuale  Philosophie  das  Bild 
der  Welt  in  adaquater,  fiir  menschliche  Einsicht  nicht 
zu  iibertrefFender  Weise  beschreiben,  so  liegt  ihr  die 
Beweislast  ob,  daI5  die  intellektualen  Krafte  tatsachlich 
die  hochsten  Krafte  des  menschlichen  Geistes  ausmachen. 
Kann  sie  diesen  Beweis  nicht  erbringen,  gibt  es  viel- 
mehr,  wie  ich  darzutun  versuche,  geistige  Krafte  ober- 
halb  der  intellektualen,  so  muC)  sie  sich  begniigen,  die 


7^ 


I 


Welt  dialektisch-mechanisch  zu  beschreiben;  ihre  Welt- 
formel  wird  sich,  um  ein  iibertreibendes  Bild  zu  gebrau- 
chen,  zur  Weltwahrheit  verhalten  wie  die  geometrische, 
physikalische  und  chemische  Beschreibung  eines  Marmor- 
werks  zum  vollen  Wesen  seiner  kiinstlerischen  GrolLe. 
Mathematik  redet  nicht  von  Gegenstanden,  sondern  von 
Grofijen,  mathematische  Physik  redet  nicht  von  Lebens- 
vorgangen,  sondern  von  Mechanismen,  Physiologic  redet 
nicht  von  Lebensinhalten,  sondern  von  Lebensvorgangen; 
alle  diese  Disziplinen  sind  sich  klar,  dal5  sie  nur  den- 
jenigen  Weltquerschnitt  beschreiben  diirfen,  auf  den  ihre 
geistigen  Instrumente  eingestellt  sind.  Intellektuales 
Denken  hat  das  voile  Recht,  die  Welt  auf  ihre  dialek- 
tische  Durchlassigkeit  zu  priifen;  ihre  Werte  und  Wiir- 
den  kann  sie  intellektual  nicht  durchdringen.  Sie  hat 
sich  in  neuerer  Zeit  stets  zugute  getan,  Wissenschaft  zu 
sein  und  zu  bleiben;  das  heifit,  ihre  Zugehorigkeit  zu 
den  rechnenden  und  messenden  Disziplinen  des  reinen 
Intellekts  zubetonen;  selten  hat  sie  an  ihrer  gelehrten- 
haften  Kiihle  in  Dingen  der  Kunst,  der  Seele,  des  Glau- 
bens,  der  Weltherrlichkeit  AnstoH)  genommen,  noch  we- 
niger  es  unternommen,  diese  Kiihle  und  Unzulanglichkeit 
zum  Gegenstand  einer  Fragestellung  zu  machen.  Un- 
zweifelhaft  ist  sie  befugt,  alles  Schauen,  das  uber  intel- 
lektuelles  Mali  hiniibersteigt,  von  der  Schwelle  ihres 
Tempels  wegzuweisen,  wenn  sie  ihn  namlich  als  die  Statte 
rationaler  Abgrenzung  beansprucht.  Ein  volltonendes 
Weltbild  umschliefit  dann  dieser  Tempel  nicht  mehr, 
und  es  wird  nicht  geniigen,  die  Fordernden  an  die  ver- 
fallenden  Glaubenskirchen  zu  verweisen.  Eine  neue 
Kunst  des  Denkens  und  der  seelischen  Einsicht  wird  viel- 
mehr  entstehen  miissen,  die,  ohne  den  rational  en  Besitz 


I- 


77 


der  Philosophic  anzutasten,  das  Recht  beanspruchen  wird, 
sich  eigene  Zugiinge  zu  den  Werten  des  Lebens  zu  bah- 
nen  und  iiber  Abgrenzung  und  Benennung  mit  der  in- 
tellektualen  Disziplin  sich  zu  verstandigen. 
Nottvendiges  Je  tiefcr  ein  idealistisches  Weltbild  in  personlicher 

Ubel  diaiektischer 

Methode  Natur  verankert  ist,  so  zwar,  dall>  von  ihm  nur  mit  der 

Schea,  die  wir  Gottlichem  schulden,  gesprochen  werden 

kann;  je  fester  die  Uberzeugung  wurzelt,  daJl)  fiirMen- 

schen  kommender  Zeit  diese  Gesamtauffassung  an  die 

Stelle  der  Mythologie,  der  Kosmogonie  und  Theogonie 

zu  treten  bestimmt  ist,   desto  beklemmender  wird  die 

Aufgabe,  mit  intellektualen  BegrifFen  und  Vergleichen 

das  Gebiet  des  uns  noch  nicht  begreif  lichen  in  der  Sphare 

der  Tatsachlichkeit  abzubilden.    Wenn  daher  der  Ver- 

such  gewagt  wird,  auf  dialektischem  Wege   die  unzu-' 

langliche  Skizze  eines  Erkenntnisbildes  zu  entwerfen,  so 

geschieht  es  im  Bewufi)tsein  nicht  nur  der  Kleinlichkeit, 

die  der  Methode  anhaftet,  sondern  auch  der  geringen 

Originalitat,    der  Anlehnung   an  alte   Systeme  und  vor 

allem  der  Relativitat  des  Ergebnisses,  das   nicht  mehr 

und  nicht  anderes  als  eine  Partiallosung  darstellen  kann. 

Die  Moglichkeit  dieser  Partiallosung   aufzuweisen  und 

einzureihen,  fordert  der  einheitliche  Gang  der  Darstel- 

lung,  die  uns  zu  eigenartigeren  Zusammenhangen,  Kon- 

trasten,  Analogien  und  Ausblicken  fiihren  soil.    Hiermit 

sei  die  dialektische  Etappe  entschuldigt. 

Die  dreifache        Die  Erwagung  geht  von  dreifacher  innerer  Erfahrung 
innere  Erfah-  ^^1 

rung.  a«S-    _  ...  fl 

Geist  ist  tell-        Die   erste  Erfahrung  lautet:   Geist  ist  teilbar.    Die  I 

Teilbarkeit  erfahrt  das  Ich  an  sich  selbst;  Telle  des  Gei- 

stes  ruhen,  wahrend  andere  wirken.  Telle  des  Geistes 

wirken  starker  oder  schwacher,  Telle  des  Geistes  enc- 

78 


wickeln  sich,  die  friiher  nicht  oder  schwach  wirksam 
waren,  Telle  des  Geistes  konnen  willkiirlich  aufier  Funk-  • 

tion  gesetzt  werden.  Die  Teilbarkeit  ist  keine  raum- 
liche;  sie  bedarf  keiner  Raumvorstellung,  um  empfunden 
zu  werden.  Sie  ist  aber  auch  keine  ideelle,  wie  die  Teil- 
barkeit eines  BegrifFes,  denn  sie  beruht  auf  unmittelbarer 
Wirksamkeit,  nicht  auf  abstrahierender  Vorstellung. 

Die  Teilbarkeit  des  Geistes  wird  dem  Ich  auch  an 
der  Grenze  seiner  selbst  fuhlbar.  Solipsismus  ist  nicht 
nur  deshalb  unmoglich,  weil  er  mit  einer  einmaligen, 
willkiirlich  begrenzten,  analogielosen  Ich-Leistung  sich 
begniigt  und  damit  dem  Satz  vom  Grunde  widerspricht, 
nicht  nur,  weil  er  alles  praktische  Denken  verstiimmelt, 
sondern  vor  allem,  weil  ein  unmittelbares  starkes  Be- 
ziehungsgefuhl,  eines  der  originarsten  Inventarstiicke  des 
inneren  Bestandes,  ihn  widerlegt.  Das  Ich  fiihlt,  dal5  es 
nicht  allein  steht,  und  erkennt  somit  zum  zweitenmal 
die  Teilbarkeit  des  Geistes  an  dem  Geiste,  der  nicht 
Ich  ist. 

Die  zweite  Erfahrung  lautet:  Geist  ist  kombinierbar.  Geist  ist 
Bestandteile  des  Geistes  schmelzen  im  Ich  zu  einer  Ein- ^''"'^'°'^^^^' 
heit  zusammen,  die  dem  naiven  Sinne  so  homogen  scheint, 
dal5  sie  als  das  schlechthin  Unteilbare,  als  das  Individuum 
bezeichnet  werden  konnte.  Der  Pflege  und  Erhaltung 
dieser  Einheit  gilt  alles  primitive  Leben,  ihrer  ewigen 
Fortdauer  gilt  alles  primitive  Glauben  und  HofFen.  Wir 
haben  an  dieser  Stelle  mit  der  Kombinierbarkeit  des  Gei- 
stes zum  Ich  uns  zu  begniigen,  weil  sie  die  einzige  ist, 
die  wir  innerlich  erleben;  sobald  wir  uns  der  Verwert- 
barkeit  auliberer  Erfahrung  vergewissert  haben,  werden 
Geisteskombinationen  grol5erer  Mannigfaltigkeit  uns  ent- 
gegentreten  und  a  posteriori  Erganzungen  und  Bestati- 


79 


gungen  der  inneren  Erfahrung  lie  fern.   Indessen  ist  schoif 
^  die  Kombination  des  Geistes  zum  Ich  eine  Erscheinunji 

eigener  und  anschaulicher  Mannigfaltigkeit.  Indem  wl: 
unsere  Geiste  in  wechselnder  Zusammenstellung  an  de:: 
Arbeit  fiihlen,  verlafit  uns  das  Ichgefiihl  niemals;  es  gib  I 
somit  nicht  Eine  Ich-Kombination,  sondern  viele.  Da| 
Phanomen  erinnert  an  die  optische  Erscheinung  der  Kom- 
bination zum  weifien  Licht:  nicht  blol5  die  Gesamtheii 
der  Farbstrahlen,  sondern  jedes  Einzelpaar  komplemen- 
tarer  Schwingungen  hat  die  Eigenschaft,  sich  zur  gleicher 
Totalitat  des  farblosen  Lichts  zu  erganzen. 
Geist  wirkt  Die  dritte  Erfahrung  lautet:  Geist  wirkt  auf  Geist 
Fremdgeist  ^^^  ^^r  Erkenntnis,  daC)  das  Ich  nicht  solipsistisch  au^ 
sich  selbst  gestellt  ist,  verbindet  sich  die  erweiterte  Ein- 
sicht  dessen.  was  wir  vom  Geist,  der  nicht  Ich  ist,  emp- 
fangen,  und  dessen,  was  wir  ihm  geben.  Eine  Reihe 
durchaus  urspriinglicher,  intuitiver  Empfindungen  setzi 
hier  ein  und  bestarkt  die  Erkenntnis  der  Wechselwirkung 
des  Geistes,  indem  sie  gleichzeitig  von  neuem  die  Exi-t 
stenz  des  Nicht-Ich-Geistes  versichert.  Wir  empfinden 
spezifisch,  welche  Art  der  Geistesproduktion  uns  selbst 
moglich,  und  welche  wiederum  als  ein  ganzlich  Neues. 
Fremdes,  Unerwartetes  und  um  so  hoher  Willkommenes 
uns  entgegentritt.  Selbst  im  Traum  bleibt  bei  aller  Los- 
gebundenheit  unserer  Phantasie  die  Handschrift  unseres 
Geistes  die  gleiche,  aber  beim  Anblick  eines  Buches. 
einer  Partitur,  eines  Bildes  fiihlen  wir:  dies  hattest  du 
nicht  gemacht,  nicht  machen  konnen,  anders  gemacht, 
anders  machen  miissen.  Ja  wir  sind,  bei  einer  gewissen 
Sicherheit  der  Erfahrung  und  des  Urteils,  geneigt,  den 
Wert  fremder  Produktion  um  so  hoher  einzuschatzen, 
je  mehr  spezifisch  fremdes  und  dennoch  innerlich  wahres 

80 


Ich  sie  enthalt,  woraus,  wie  in  Parenthese  bemerkt  sei, 
bei  mangelndem  intuitivem  Urteil  Uberschatzung  und 
falsche  Erstrebung  kiinstlerischer  Originalitat  hervor- 
gehen  kann. 

Des  ferneren  stehen  wir,  sofern  wahrhaftes  Eigen- Gehtign  AnteU 
leben  uns  innewohnt,  keiner  Ichheit  unbewegt  gegen- 
iiber.  In  alien  Abstufungen,  vom  Anteil  bis  zur  Liebe 
ergreift  uns  ein  Urgefiihl,  das  wir  unserem  Eigenwesen 
Qicht  entgegenbringen.  Dieses  Gefiihl  ist  so  allgemein, 
dall>  selbst  primitive  Geister  es  als  Genufi)  empfinden, 
durch  eine  Theaterrampe  das  Gewebe  der  personlichen 
Zweckinteressen  abzudammen  und  in  stundenlanger  Auf- 
merksamkeit  der  Teilnahme  am  fremden  Ich  sich  hinzu- 
jeben. 

Ein  weiteres  Moment  der  geistigen  Wechselwirkung  EinfUhiung 

ist  die  Einfiihlung.    Wir  empfinden,  das  Andersgeartete 

v^erwandelt  uns,    so  dal5  wir  in  ihm  und   mit  ihm  ein 

leues  Leben  mitfiihlen.    Wir  leben  uns  in  die  Mitseele 

linein,  wir  erleben  ihr  Denken,  Fiihlen  und  Wollen;  wir 

empfinden  das  gesprochene  Wort  zweimal,  in  unserer 

>timme  und  im  Gehor  des  Anderen.    Sein  Erstaunen, 

>ein  Lacheln  und  Verstehen  geht  in  uns  vor,  und  indem 

^ir  s^ine  Seele  lieben,  lieben  wir  durch  seine  Seele  uns 

jelbst.     Unausgesprochenes   Begreifen,    vorausahnendes 

irfassen,  stumme  Zwiesprache,  aufgelostes   Einklingen 

ier  Seelen  gibt  uns  das  voile  Empfinden  des  eigenen, 

lie  Sicherheit  des  anderen  Wesens  und  die  Gewif5heit 

,  hrer  Beziehung. 

!       Aus  die  sen  drei  Grunderfahrungen  des  inneren  Er-  Moglichkeit 
■'  •      cincr  Mcclisi~ 

ebens:  Teilbarkeit,  Kombinierbarkeit  und  Wechselwir- j^-j^  ^^^  q^_ 

cung  des  Geistes  geht  hervor,    dall)  eine  Mechanik  des^tes 

aeistes  moglich  ist,  wenn  namlich  unter  Mechanik  im 


I 


8i 


denkbar  weitesten  Sinne  verstanden  werden  darf  die  B( 
schreibung  eines  Ganzen,  seiner  Teile  und  ihrer  Wechse 
wirkung. 
Prtifiing  der        Gehen  wir  einen  Schritt  weiter  und  betrachten  di 
Teilbarkeit  des  Geistes  im  Hinblick  auf  ihre  Grenzei 


GesetxderReihen  Unser  Geist  ist  nicht  imstande,  schlechthin  EinmaligiJ 
zu  denken.  Wir  denken  in  Analogien;  das  heifit  fbrmei 
in  Gesetzen,  quantitativ  in  Reihen.  Und  da  diese  Chjj 
rakteristik  unseres  Denkens  eine  ausschliefiende  ist,  v 
verlangt  unser  Intellekt  vom  Gesetz  die  Ausnahmlosij 
keit,  von  der  Reihe  die  Endlosigkeit.  Unter  Endlosiii 
keit  ist  nicht  zu  verstehen  das  in  seiner  Tbtalitat  Ui| 
endliche,  das  naturgemafe  nicht  umgreifbar  und  da^l 
nicht  vorstellbar  ist,  sondern  die  dauernde,  ununte 
brochene  Giiltigkeit  einer  Analogie,  die  in  jedem  b| 
liebig  gewahlten  und  beliebig  fecnen  Punkt  sich  selbi 
immer  noch  gleich  bleibt. 
Undenkbarkeit         Sagtc  uns  jemand,  die  sichtbare  Natur  habe  nur  e: 

des  Einmaligen     •       .  *  i       •  i  i        *  ^     ^ 

emziges  Atom  produziert,  oder  sechs  Atome,  und  dar 
halt  gemacht;  oder  sie  habe  nur  das  StickstofFatom  pr 
duziert,  zwar  in  beliebigen  Mengen,  aber  nichts  ander  I 
und  dann  halt  gemacht;  oder  sie  habe  einen  substa^j 
tiellen  Kubus  geformt,  weigere  sich  aber,  eine  Ku^i 
oder  einen  Zylinder  zu  formen;  oder  sie  habe  ein  ai 
zehn  Millionen  Weltkorpern  bestehendes  Weltensyste' 
geschafFen,  und  dies  sei  alles :  so  tritt  zu  der  Unbegrei 
lichkeit  des  materiellen  SchafFens  an  sich  eine  zweit 
peinigendere  Unbegreiflichkeit  hinzu:  die  derEinmali 
keit  und  Einseitigkeit,  der  Willkiir,  der  Grundlosigker 
der  unfaC>baren,  zufalligen  Beschrankung.  Es  ist  uns( 
generelles  Denkbediirfnis  nach  Analogie,  Gesetz  ur 
Reihe  verletzt,  als  dessen  Spezialfall  der  Satz  vom  Grunci 

81 


sich  erweist,  iind  jede  weitere  Syscematik  des  Denkens 
horc  auf. 

Aus  innerer  intellekmaler  Notwendigkeit  konnen  wir  F.ndiose  Teiibar 
daher  die  Reihenhaftigkeit  auch  in  der  Betrachtung  der 
Objekte  unserer  Grunderfahrung  nicht  entbehren:  wenn 
Geist  teilbar  ist,  »o  mul5  er  ins  Endlose  teilbar  sein. 

Hierbei  wird  der  Vorstellung  nicht  etwa  zugemutet, 
im  unendlichen  Fortlauf  der  Teilung  letzte  geistige  Ur- 
demente  zu  denken;  dies  ware  ein  Widerspruch  in  sich, 
iveil  damit  schliell)lich  doch  die  endliche  Teilbarkeit  ge- 
setzt  ware.  Es  geniigt  im  Verlauf,  wenn  von  geistigen 
Elementen  die  Rede  ist,  die  dem  Beobachtungsfelde  be- 
machbarten  Teilungsordnungen  ins  Auge  zu  fassen;  ahn- 
lich  wie  die  Physik,  wenn  sie  von  raumlichen  Atomen 
redet,  zunachst  an  die  im  engeren  Sinne  so  benannten 
5ubstanzaggregate  denkt,  wobei  sie  sich  vorbehalt,  falls 
Betrachtung  und  Rechnung  es  erfordern,  auf  Atomitaten 
loherer  Ordnung  zuriickzugreifen,  was  hinsichtlich  der 
Slektronen  und  Lichtatheratome  bereits  geschehen  ist. 

Wir  finden  uns  nunmehr  inmitten  eines  Systems,  das, 

Dhne  raumliches  und  zeitliches  Verhaltnis  zu  postulieren, 

lus  unendlich  teilbaren  geistigen  Elementen  besteht,  die 

combinierbar  und  wechselwirkend  sind.    Bevor  wir  auf 

las  Wesen  der  Kombination  einsjehen,  verweilen  wir  zu- 

Iiachst  bei  dem  Prinzip  der  Wirkung. 

I       Versucht  man,  die  denkbar  allgemeinste  Form  der  Prinzip  der 
■  \Vecliselwir" 

I  iVirkung  von  Geist  auf  Geist  zu  benennen,  so  wird  man  k^ng 

las  BegrifFspaar  des  Ausdrucks  und  Eindrucks  wahlen 

iniissen,  das  in  seinem  Gegensinn  das  jeweils  als  aktiv 

petrachtete  dem  jeweils  als  passiv  betrachteten  Element 

i^egeniiberstellt.     Tatsachlich   ist    eine   Wirkung    ohne 

i jegenwirkung  nicht  denkbar:  dem  Ausdruck  auf  jeder 


I 


83 


der  beiden  Seiten  steht  der  Eindruck  auf  jeder  der  beidej 
Seiten  gegeniiber. 
Ausdruch  und         Hier  sci  cinc  weit  vorgreifende,  nur  erlaiuternde  Ab 

EinJruck  als  .  .  ^  •       j        r^    i  •  i  i  n        l    • 

Prin%iMen  des  schweitung  in  das  uebiet  der  wahrgenommenen  hrscheii 
ErUbens  nungswclt  gcstattet.  Wenn  wir  den  gesamten  Kreis  d6{ 
Wahrnehmung  umziehen,  der  unser  geistiges  Verhaltnii 
zur  Natur  umfafit,  so  beruht  selbst  auf  den  hochstent 
wickelten  Stufen  unsererExistenz  alles  zweckfrei  menscb 
liche  Verstehen,  Geniefien,  Erfassen  und  Besitzen  in  de 
Doppelwirkung  des  Ausdrucks  und  Eindrucks.  Wenn  ici 
Steine  klopfe,  Akten  kopiere  oder  diplomatische  Norei 
entwerfe,  so  begehe  ich  Zweckhandlungen,  die  einei: 
spateren  Zustand,  ein  endgiiltigeres  Lebensverhaltnis  vor 
bereiten,  vermitteln  oder  erzwingen  sollen,  an  sich  abe 
nicht  endgiiltig  sind.  Bei  diesen  Teilhandlungen  ist  de 
Gegenstand  nicht  Objekt,  sondern  Mittel,  Durchgangs 
punkt,  Medium,  durch  das  ich  das  Vorgestellte  erblickej 
Mit  dem  Mittel  aber  verbindet  mich,  sofern  es  nur  Mitt| 
ist,  kein  menschliches  Verhaltnis :  dies  ist  die  eigentlich'' 
Siindhaftigkeit  des  zivilisierten  Handelns.  Jedes  endgiil 
tige  Verhaltnis  dagegen:  zu  Ktuist  und  Natur,  zu  Kreatui 
Menschheit  und  Gottheit  ist  seelische  Wechselwirkung|| 
Einfiihlung,  Zwiesprache,  Anbetung,  und  ihre  stumm<{ 
und  tonende  Rede  ist  Ausdruck  und  Eindruck.  Jedej 
Blatt,  jedes  Glied  des  menschlichen  Korpers,  jeder  Kiesei; 
stein  und  Wassertropfen  redet;  und  nicht  nur  von  sicbj 
von  seiner  eigenen  Schonheit  und  Kraft,  sondern  als  Bot*| 
und  Abbild  des  Ganzen,  dessen  Wesen  er  mikrokosmiscll 
vertritt  und  spiegelt.  Die  Hand,  das  Auge  und  das  Oh 
fiihren  die  Stimme  und  Sprache  des  Menschen,  als  Tei 
sind  sie  das  Ganze,  und  ein  reiner  Blick  wird  nicht  ge 
tauscht,  wenn  der  Maler  einem  Bildnis    fremde  Hand" 


84 


I 


eines  Modellstehers  anfiigt.    Der  Laubbaum  redet  von 

kraftigkiihler  Luft,  von  weicher  Erde,  altem  Leben,  von 

festem  Stand,  zartem  Spriefien  und  schwellender  Fiille, 

>eine  Sprache  klingt  anders  als  die  des  Nadelbaums,  der 

Palme,  des  Dornbuschs.    Wir  erleben   nichts  starkeres 

lis  den  Eindruck  menschlicher  Schonheit,  menschlicher 

jeistigkeit,  natiirlicher   Phanomene    des   Belebten   und 

Jnbelebten.  Ja,  abgesehen  vom  materiellen  GenuH)  der 

itummen  Sinne  ist  das  Wechselspiel  zwischen  der  Schop- 

'ung  und   uns,  das  Spiel  des  Ausdrucks  und  Eindrucks 

las  einzige  und  unermelMiche  Gut,  das  die  Erscheinung 

ins   beschert.    Selbst  das  Gliick  des  Denkens  liber  die 

)inge  der  Welt  ware  nichts,  wenn  nicht  die  Sprache  der 

)inge  es  rechtfertigte.    Freilich  bleibt  alle  Freude  an 

Lcr  Erscheinung  bedingt;  der  Kern  von  Trauer  und  Sehn- 

ucht,  den  sie  birgt,  verrat  es  und  mahnt  an  die  Dinge 

er  Seele   jenseits   der  Erscheinung.     Aber   auch   jene 

Velt,  die  unsere  Intuition  zu  streifen  wagt,  kann,  um 

rfall)t  zu  werden,  nur  eine  Welt  der  Wechselwirkung 

ein.    Dann  aber  muC>  in  erhohter  Form  die  Sprache  des 

msdrucks  und  Eindrucks  auch  die  Erscheinungsweltiiber- 

leigen. 

Nun  ist  es  wohl  die  libliche  Erklarung,  zu  sagen :  was  Unx.utangnchkeit 
ler  die  bprache  der  Dmge,  das  primare  Wirken  des^^^ 
.usdrucks  und  Eindrucks  genannt  wird,  das  ist  nichts 
nderes  als  Urteile  und  Assoziationen  eines  Erinnerns; 
rworbene  und  vor  allem  ererbte  Erfahrung.  Wer  dieser 
rklarung  aus  leiblicher  Vererbung  hohen  Wahrschein- 
chkeitswert  beimifit,  der  hat  das  Recht,  ihn  als  die 
arkste  Stiitze  materieller  Weltanschauung  zu  bean- 
)ruchen;  denn  es  ware  dargetan,  daC)  Phanomene  des 
tneren  Erlebens  nicht  nur  geketiet  an  Phanomene  der 

i  «5 


Erscheinungsreihe,  sondern  auchanders  als  durch  sie  iiber- 
haupt  nicht  erklairlich  sind.  Es  wird  in  der  Folge  zu  er- 
ortern  sein,  ob  und  welche,  vielleicht  symbolische  Be- 
deutung  fiir  die  Erklarung  primarer  innerer  Erlebnisse 
dem  Erscheinungsvorgang  zukommt,  den  wirVererbung 
nennen.  Fiir  die  Beurteilung  des  Eigentlichen  der  Aus- 
drucks-undEindruckswirkungenbediirfenwir  seiner  nicht. 
Denn  wollte  man  selbst  unbeschrankte  Realitat  ihm  zu- 
messen,  so  wiirde  seine  Aufgabe  in  der  Fortpflanzung  vital 
niitzlicher  Erfahrung  begrenzt  und  beschlossen  sein.  Man 
konnte  mithin  allenfalls,  wenn  keine  innere  Empfindung 
sich  dagegen  auflehnte.,  argumentieren :  die  Freude  an 
einem  klaren  Bergsee  beruht  auf  dem  Wohlbehagen,  das 
eine  gleichmafiig  gefarbte  spiegelnde  Flache  verbreitet. 
Sie  beruht  auf  der  Erinnerung  an  kalte  Bader,  welche 
die  Vorfahren  genossen  haben,  oder  auf  dem  Schutz,  der 
den  Pfahlbauern  zuteil  wurde.  Sie  beruht  auf  der  An- 
regung  des  Fischfangs  oder  der  Kahnfahrt.  Wir  wollen 
nicht  die  Frage  stellen,  warum  dann  nicht  ein  Stiick  ge- 
bratenen  Fleisches  starkere  Vererbungs-  und  Erinnerungs- 
freuden  erregt  als  alle  Wasserflachen,  und  uns  damit  be- 
gniigen,  dai5  die  Herzenslockung  des  „tiefen  Himmels, 
des  feuchtverklarten  Blau"  alle  Niitzlichkeiten  vergessen 
macht.  Wer  wollte  es  wagen,  den  Klang  des  Nacht- 
himmels  und  die  Sehnsucht  der  Gestirne  aus  unter- 
bewull)ter  Hoifnung  auf  gates  Wetter  zu  erklaren?  Wer 
sich  dem  Grui5  der  Schopfung  hingibt,  empfindet,  dafi 
ein  Unmittelbares  ihm  zuteil  wird,  das  aus  eigenem  Recht 
den  Weg  zur  Seele  durch  die  Sinne  sucht. 
ftrntvirkung  Eine  bedeutsamere  Schwierigkeit  scheint  unserer  Be- 
trachtung  zu  erwachsen  aus  der  sinnlichen  Erfahrung, 
die  uns  als  physikalisches   Gesetz   entge gen tritt.     Der 

86 


Einwand  lautet:  vvie  ist  eine  unmittelbare  Wirkung  der 
Dinge  auf  uns  moglich,  da  doch  unsere  edleren  Sinne 
Qur  durch  Fernwirkung  erregbar  sind?  Nach  den  An- 
schauungen  der  Physik,  die  wir  im  Kreise  der  Erschei- 
Qung  gelten  lassen  miissen,  wirkt  auf  unsere  Netzhaut 
nicht  die  Sonne,  sondern  die  Atherschwingung  des 
Strahls,  auf  unser  Trommelfell  nicht  die  Brandung,  son- 
dern die  Luftverdichtung  des  Schalls.  Wollen  wir 
pflichtgemafi  unsere  Denkweise  im  Leben  verankern, 
so  diirfen  wir  dieser  Frage  nicht  ausweichen.  Wir  werden 
sie  behandeln,  wo  von  Symbolen  und  Botschaften  die 
Rede  sein  wird. 

Nach  dieser  Abschweifung,  die  das  Gultigkeitsgebiet  Dimensionen 
des  Gesetzes  vom  Ausdruck  und  Eindruck  auf  alle  ^jj-j^ung 
Spharen  des  Erlebens  zu  erstrecken  bestimmt  war,  kehren 
wir  zuriick  zur  Betrachtung  der  Geisteselemente.  Wir 
vergessen  nicht,  dafi  wir  Elemente  nicht  zwar  von  abso- 
luter,  doch  von  beliebiger  Vereinfachung  beleuchten; 
dafi  somit  auch  die  Potenzen,  die  ihnen  eignen,  in  denk- 
barer  Vereinfachung  vorgestellt  werden  miissen.  Soweit 
wir  aber  eine  Wirksamkeit  unterteilen:  zwei  Koordi- 
natenrichtungen  werden  nicht  verschwinden,  bevor  unser 
Vorstellungsbild  ganzlich  erloschen  ist:  Intensitat  und 
Qualitat.  Miissen  wir  somit  Oer  Wirkung  vereinfachter 
Elemente  die  Richtungen  dieser  zweifachen  Dimensio- 
nierung  beimessen,  so  wird  es  wahrscheinlich ,  dafi  auf 
dem  Wege  zu  mannigfaltigerer,  das  heifi>t  kombinierter 
Geistigkeit,  bedeutende  Perspektiven  in  diesen  beiden 
Richtungen  sich  ofFnen.  Verweilen  wir  auf  beliebig 
hoherer  Stufe  der  geistigen  Kombination,  etwa  auf  der 
animalischen ,  so  wird  evident,  dafi  die  Qualitat  einer 
Wirkung    nur   durch   Vergleich,    also    objektiv    durch 


L 


87 


Wechsel,  subjektiv  durch  Erinnerung  wahrgenommen 
werden  kann.  Die  Koordinate  der  Qualitat  entspricht 
somit  der  Koordinate  der  Zeit;  sie  ist  Unterlage  der 
zeitlichen  Vorstellung.  Auch  die  Wahrnehmung  der 
Intensitat  bedarf  zunachst  des  Vergleiches,  somit  gleich^ 
falls  zunachst  des  zeitlichen  Vectors.  Sie  ist  jedoch 
durch  den  Modus  des  Vergleiches  noch  nicht  erschopft, 
sie  enthalt  einen  Einschlag  ganzlich  anderer  Art,  den  wir 
uns  vergegenwartigen,  indem  wir  auf  eigener,  mensch- 
licher  Kombinationsstufe  den  Eindruck  beobachten,  den 
ein  mit  Farben  erfiilltes  Gesichtsfeld,  oder  die  Inner- 
vation eines  sich  streckenden  Armes  hervorruft:  halten 
wir  beim  ersten  Beispiel  uns  vor  Augen,  daI5  auch  die 
mosaikma£)ige  Verbreitung  det  Farbflecke  einen  Modus 
der  Intensitat  bedeutet,  so  wird  evident,  dafi  der  er- 
wahnte  Einschlag  das  Element  der  Raumvorstellung 
birgt.  Es  darf  somit  ausgesprochen  werden,  dal5  die 
Koordination  der  Qualitat  und  Intensitat  von  Elementen 
begleitet  sind,  die  in  den  Gebieten  hoherer  Geistes- 
kombination  Zeit-  und  Raumvorstellungen  konstituieren, 
und  zwar  derart,  dafi  auf  das  Qualitatselement  die  Zeit- 
vorstellung,  auf  das  vorwiegende  Intensitatselement  die 
Raumvorstellung  zuriickgreift.  Eine  Beschrankung  der 
Wirkungsdimensionen  auf  diese  beiden  Koordinaten  ist 
weder  notwendig  noch  statthaft;  geniigt  indessen  die 
Zweizahl  dem  Stande  unserer  Erkenntnis,  so  hat  die 
Darstellung  sie  nicht  zu  iiberschreiten. 
Prinzip  der  Eine  weitere  Frage  entsteht  hinsichtlich  der  Wirkung 
des  Vbrzuges  ^^^  Geist  auf  Geist.  Ware  diese  Wirkung  in  jedem 
Sinne  symmetrisch  und  gleichartig,  so  dal5  jedes  Element 
tuiter  gleicher  Beziehung  und  Konstellation  gehalten 
bliebe,  so  ware  alles  Weltgeschehen  unmoglich.   Damit 

88 


etwas  erfolge,  mufi>  Ungleichheit  der  Belastung,  Unsyni- 
metrie  der  Beziehung,  kurz,  ein  Faktor  der  Auswahl, 
somit  der  Willkiir  gegeben  sein.  Es  wird  uns  nicht 
schwer,  diesen  Faktor  vorzustellen;  denn  wie  weit  wir 
auch  zur  Hohe  geistiger  Kombination  vorschreiten,  stets 
begegnen  wir  dem  durch  innere  Erfahrung  uns  ver- 
trauten  Will  en,  den  unser  tiefstes  Gefiihl,  aller  ratio- 
nalen  Argumentation  widersprechend,  als  frei  er- 
achtet.  Wir  miissen  daher  das  Geisteselement  durch 
ein  Willenselement  befahigt  denken,  Auswahl  der  Wir- 
kung  und  der  Kombination  zu  trefFen.  Freilich  ist  aus 
dem  BegrifF  der  Auswahl  das  intellektuelle  Moment 
auszuschalten;  und  zwar  kann  der  Denkweg,  der  zu 
diesem  scheinbaren  Paradox  der  freien,  aber  intellekt- 
losen  Wahl  fiihrt,  in  der  Weise  beschritten  werden, 
dafi  man  mit  Menschen,  die  auf  dem  Markt  einkaufen, 
einen  Schmetterlingsflug  vergleicht,  der  leise  wechseln- 
den  Reizen  folgend  Bliiten  um  Bliiten  tauscht.  Diesen 
Analogieschritt  bis  zu  beliebig  vereinfachter  Geisteskom- 
bination  wiederholend,  nahert  man  sich  dem  GrenzbegrifF 
des  Willenselements  oder  der  intellektlosen  Urwahl. 

Eine  grundsatzliche  Erorterung  sei  hier  eingefiigt,  die 
als  neuerlicher  VorgriiF  bezeichnet  werden  muI5,  well 
noch  immer  wir  den  Weg  in  die  Erscheinung  nicht  be- 
treten  haben. 

Bei  unserer  Betrachtungsweise   kehrt  die  Frage  sich  Freiheit  und 
um:   wie   ist  Willensfreiheit  bei  mechanischer  Gesetz-    ^^^^ 
mal^igkeit  moglich?  und  lautet  nun:  wie  ist  mechanische 
Gesetzmaifiigkeit  bei  vollkommener  Freiheit  des  Willens 
moglich? 

Sie  ist  moglich  durch  das  Gesetz  der  grofien  Zahlen.  Massen- 
Alle  Naturerscheinungen,  die  sich  der  Beobachtung  dar-^ 

89 


bieten,  sind  Massenerscheinungen  ungeheurer  Multipli- 
kation.  Konnten  wir  das  Atom  genannte  Massenkorn 
der  Physik  mit  iiberschiissiger  Vergrosserung  betrachten, 
so  wiirden  wir  ein  Weltall  erblicken.  Aber  dieser  weit- 
gehenden  Unterreilung  bedarf  es  nicht;  die  Beobachtung 
des  kleinsten  uns  zuganglichen  Partikels  enthalt  eine 
so  groC)e  Menge  nachstuntergeordnerer  Einheiten,  urn 
Gieichnis  vom  als  Massenerschcinung  zu  gelten.  Nehmen  wir  nun  eine 
schwarm  '  organischc  Massenerscheinung  zuhilfe,  deren  Elemente 
(wenigstens  im  Verbal tnis  zu  der  zu  beobachtenden  Erschei- 
nung)  Willensfreiheit  besitzen:  etwa  einen  sehr  grofien, 
mit  gegebener  Geschwindigkeit  von  Norden  nach  Siiden 
sich  bewegenden  Heuschreckenschwarm,  so  ergibt  sich 
zunachst,  dal5  innerhalb  dieses  Schwarmes  durchaus  nicbt 
jedes  Element  sich  dauernd  von  Norden  nach  Siiden 
bewegen  mul5.  Die  Heuschrecken  schwirren  in  jedem 
Augenblick  in  jeder  Richtung;  freilich  iiberwiegt  in  der 
grofien  Menge  der  Zahlen  das  Bewegungselement  der 
Siidrichtung,  das  in  liberwiegenden  Fallen  sich  zu  den 
vorhandenen  willkiirlichen  Bewegungselementen  addiert 
ujid  daher  den  Haufen  allmahlich  nach  Siiden  vorriicken 
lall)t.  Die  additionelle  Richtkraft,  die  sich  aus  allgemein 
wirkenden,  sei  es  meteorologischen,  sei  es  anderen  Ge- 
meingriinden  ergibt,  wirktzwar  auf  alle Schwarmgenossen, 
doch  bleibt  es  ihnen  freigestellt,  ob  sie  sich  momentan, 
dauernd  oder  iiberhaupt  nicht  dieser  Wirkung  hingeben 
woUen.  Nach  dem  Gesetz  der  groC)en  Zahlen  wird  dies 
der  uberwiegenden  Majoritat  zu  iiberwiegenden  Zeitenj 
genehm  sein;  immerhin  pragt  sich  schon  ein  Moment 
willkiirlichen  Widerstandes  darin  aus,  dai5  infolge  der 
verlorenen  Bewegung  der  Schwarm  durchaus  nicht  mit 
der    vollen    Geschwindigkeit    seiner    Glieder    stidwarts. 


90 


wandert.  Entscheidend  aber  ist,  daI5  keineswegs  alle 
Elemente  sich  an  den  Gemeingrund  kehren.  Eine  immer- 
hin  merkliche  Zahl  bricht  allem  Herdentrieb  zum  Trotz 
nach  Osten  und  Westen  aus,  und  die  eigensinnigsten 
mogen  gar  nach  Norden  fliegen.  Es  lohnt,  das  Beispiel 
weiterzufiihren  und  zu  unterstellen:  der  Schwarm  sei 
senkrecht  auf  die  Seekiiste  geprallt,  Mit  vollem  Recht 
wiirde  der  Physiker  konstatieren,  dafi  das  Ufer  auf  die 
bewegte  Masse  mit  abstol^ender  Kraft  wirkt.  Er  darf 
es  vernachlassigen,  dal5  abermals  eigenwillige  Elemente 
das  Abenteuer  wagen  und  viele  Seemeilen  siidwarts  den 
Tod  suchen. 

Setzt  man  nun  an  Stelle  des  Heuschreckenschwarms 
die  Molekiile  eines  Gases,  einer  Fliissigkeit,  oder  eines 
festen  Korpers,  so  ist  es  klar,  daI5  mechanische  Gesetze  Naturgesetze  aU 
Majoritatsgesetze  bedeuten.  Aus  der  Betrachtung  aber  ^^^^"^  "^ 
erhellt,  daJB  die  Statistik  der  Erfahrung,  die  wir  von 
aufien  betrachtet  als  Naturgesetz  bezeichnen,  von  innen 
betrachtet  nichts  anderes  bedeutet  als  eine  Anwendung 
des  Gesetzes  der  grolI)en  Zahlen.  Das  Zwingende  des 
Gemeingrundes  liegt  nicht  in  einer  immanenten  Not- 
wendigkeit,  sondern  in  der  Wahrscheinlichkeit,  dal5  eine 
Majoritat  sich  ihm  nicht  ganz  verschliel^e.  Die  Freiheit 
der  Glieder  bleibt  gewahrt,  wahrend  die  Gesamtheit 
scheinbar  einem  Naturgesetz,  in  Wirklichkeit  einem 
Wahrscheinlichkeitsverhaltnis  unterliegt. 

ZweiEinwande,  die  in  aufsteigenderund  inabsteigender  Ehtvendungen 
Ordnung  argumentieren,  liegen  nahe.  Der  aufsteigende 
sagt:  die  Elemente  konnen  nicht,  wie  vorausgesetzt 
wurde,  frei  sein,  denn  ein  jedes  von  ihnen  ist  wiederum 
ein  Komplex  und  gehorcht  somit  eigenen  Naturgesetzen* 
Die  Antwort  lautet:   wir  befinden  uns  in  der  Betrach- 


I 


91 


*ung  einer  Reihe,  und  sind  berechtigt,  von  n  auf  n-i 
lu  schliefien.  Im  vorliegenden  Falle  sind  die  Elemente 
zum  mindesten  im  Verhaltnis  zur  Handlung  der  Ge- 
samtheit  frei;  sie  machen  teilweise  von  dieser  Freiheit 
Gebrauch,  indem  sie  ihr  entgegengesetzt  handeln.  Be- 
zweifelr  man  die  Freiheit  der  Elemente  in  sich,  so  gilt 
es,  diese  wiederum  in  ihre  Elemente  aufzulosen  und  die 
Darlegung  fiir  den  Fall  n-i  und  so  ins  ungemessene 
zu  wiederholen. 

Der  Einwand  in  absteigender  Reihe  kann  so  gefalit 
werden:  mag  fur  die  Gesamtheit  das  Naturgesetz  ledig- 
lich  in  der  Wahrscheinlichkeit  bestehen:  der  Zwang  er- 
folgt,  und  somit  ist  von  dieser  Grol^enordnung  an  die 
Freiheit  zu  Ende  und  das  aulLere  Gesetz  unverbriichlich. 
Hierauf  ist  zu  erwidern:  sind  tatsachlich  die  Elemente 
in  ihrem  Verhaltnis  zur  Gesamtheit  frei  —  und  in  diesem 
Falle  sind  sie,  wie  wir  gesehen  haben,  auch  in  sich  selbst 
frei  — ;  ist  ferner  der  Wille  der  opponierenden  Telle 
geniigend  stark,  so  ist  kein  Grund  vorhanden,  weshalb 
nicht  in  einem  gegebenen  Falle  entgegen  aller  zahlen- 
mafi)igen  Wahrscheinlichkeit  der  statistisch  errechnete 
Endeffekt  sich  in  sein  Gegenteil  verkehren  sollte.  Wir 
kennen  Beispiele  von  Versammlungen,  die  unter  dem 
Druck  eines  starken  Gemeingrundes  stehen  und  dennoch 
von  einer  Minoritat,  die  kraftig  genug  ist,  in  Form  einer 
Stimmung  einen  neuen,  entgegengesetzten  Gemeingrund 
zu  schafFen,  entgegen  allerBerechnung  beherrschtwerden. 
Trotz  Freiheit  Es  darf  somit  zusammenfassend  das  Ergebnis  der 
esetze  mog  u  ^wischenerorterung  ausgesprochen  werden:  Bei  Freiheit 
des  Willens  ist  aull)ere  Gesetzmal^igkeit  moglich,  und 
zwar  auf  Grund  des  Gesetzes  der  grolben  Zahlen. 
Mechanische  Naturgesetze  sind  Wahrscheinlichkeitsver- 


92 


hiiltnisse.  Mechanische  Gesetze  mit  absoluter,  hundert- 
prozentiger  Giiltigkeit  sind  unmoglich,  ebenso  solche 
mit  unbegrenztem  Giiltigkeitsgebiet.  Die  Giiltigkeit  der 
Gesetze  ist  um  so  grofier,  je  zahlreicher,  gleichartiger 
und  im  Verhaltnis  zur  Starke  des  Gemeingnindes  in- 
diiFerenter  die  Elemente  des  Betrachtungskomplexes 
sich  erweisen. 

Uberblieken  wir  nun  die  Radikalien,  die  uns  bei  der  Die  drei  Radi- 
Betrachtung  der  Geist-auf-Geist-Wirkung  entgegengetre- 
ten  sind,  so  erkennen  wir  im  Doppelspiel  des  Ausdrucks 
und  Eindrucks  das  oberste  Prinzip  des  Geschehens,  die 
Voraussetzung  dafiir,  dafi)  liberhaupt  Etwas  moglich  sei, 
das  Prinzip  der  objektiven  Gegebenheit  und  der  Be- 
ziehung.  Das  Element  des  Willens  bedeutet  das  Prinzip 
des  einseitig  und  einmalig  Bestimmenden  und  Bestimm- 
ten,  des  Ereignisses,  der  subjektiven  Konsequenz.  Die 
Analogie  mit  unserer  Erfahrung  vom  Harideln,  von  Selbst- 
behauptung  und  Zweck  stellt  sich  mit  diesem  Radikal 
vorausahnend  ein.  Ein  drittes  Element,  das  uns  noch 
nicht  beschaftigt  hat  und  um  so  eingehender  beschaf- 
tigen  soil,  greift  hiniiber  von  der  Wirkung  Geist  auf 
Geist  zur  Kombination  Geist  mit  Geist.  Wir  woUen  es 
fur  den  Augenblick  mit  dem  neutral  mathematischen 
Namen  des  Additionsfaktors  belegen,  im  Hinblick  dar-  Additionsfaktor 
auf,  dafi)  dieses  Element  iiber  die  Grundlage  einer  kiinf- 
tigen  Mechanik  des  Geistes  entscheiden  soil.  Dal5  gleich- 
sam  ein  Keim  des  Lebens,  der  Entwicklung  und  des 
Transzendentalen  in  diesem  Element  gegeben  ist,  darf 
vorschauend  erwahnt  werden. 

Einer  weiteren  Auflosung  des  Geisteselements  be- 
diirfen  wir  fiir  unseren  Denkweg  vorlaufig  nicht.  Damit 
ist  nicht  gesagt,  dal5  wir  das  Wesen  des  Geistes  in  seiner 


93 


■ 


dreifachen  Modalitat  als  beschlossen  zu  erachten  haben: 
wir  diirfen  ihm  vielmehr  beliebig  viele,  ja  unendliche 
Qualitaten  zusprechen.  Indem  ich  ausdriicklich  dieses 
Recht  betone,  im  Interesse  widerspruchslosen  Denkens 
eine  beschrankte  und  somit  scheinbar  einfachere  Voraus- 
setzung  durch  eine  unbeschrankte  und  scheinbar  kom- 
plizierte  Voraussetzung  zu  ersetzen,  schulde  ich  eine 
Anmerkung  liber  die  hier  vertretene  Meinung  vom  plau- 
siblen  Denken  iiberhaupt. 
Anmerkung  Geht  man  beim  Denken  von  materieller  Substanz  aus, 

len  Denken  ^^  ^^^  ^^^  ^^  Eigenschaften  zuzusprechen.  Eigenschaf- 
Eigenschaft  und  ^q^  ^ber  sind  Beschrankungen.  Te  mehr  Eigenschaft,  je 
mehr  Beschrankung;  und  das  Denken  kommt  niemals 
liber  den  Widerspruch  hinweg :  warum  gerade  diese  Be- 
schrankung, warum  keine  andere?  Warum  Beschrankung, 
Einseitigkeit,  Spezialitat  iiberhaupt?  1st  schon  Substanz 
an  sich  nicht  zu  erklaren,  so  wachst  die  Unbegreiflich- 
keit  mit  jeder  Eigenschaft  ins  MaiI)lose.  Geht  man  vom 
Geist  aus,  der  an  sich  ebenfalls  unbegreiflich,  indessen 
wenigstens  uns  unmittelbar  bewufit,  und  zwar  als  schop- 
ferische  Kraft  bewufit  ist,  so  sind  ihm  nicht  Eigenschaften, 
sondern  Fahigkeiten  zuzusprechen,  und  zwar  produktive 
Fahigkeiten.  Diese  aber  sind  nicht  Beschrankungen,  son- 
dern Beschrankungsaufhebungen.  Widerspruchsvoll  ware 
es  hier,  eine  bemessene  Zahl  von  Fahigkeiten  anzuneh- 
men;  derBegrifF  des  Geistes  runde  tsich  um  so  mehr  zu 
seinem  eigenen  Wesen,  je  unbeschranktere  Fahigkeiten 
wir  ihm  zuerkennen.  Hierin  liegt  der  grofiere  Reichtum 
und  geringere  Selbstwiderspruch  idealistischer  Betrach- 
tung,  dal5  sie  mit  der  einmaligen  Unbegreiflichkeit  des 
Geistes  auskommt,  die  auch  auf  jeder  anderen  Anschau- 
ung  lastet;  daH)  sie  nun  aber  die  Freiheit  gewinnt,  Eigen- 


94 


schaften  durch  Fahigkeiten,  Beschrankungen  durch  Mog- 
lichkeiten  zu  ersetzen,  und  wahrend  sie  scheinbar  ihr 
Bild  durch  Mannigfaltigkeit  kompliziert,  in  Wirklichkeit 
es  durch  Auffiillung  des  Urbegriffs  zu  vereinfachen.  So- 
mit  bedeutet  das  Verlangen  nach  unbegrenzter  Erweite- 
rung  des  GeistesbegrifFs  nicht  eine  Willkiir,  sondern  eine 
Notwendigkeit. 

Unsere  Beobachtung  steht  nun  vor  dem  Moment  derDie  Integra- 
Integration  aller  Geisteswirkung,   der  Integration,   die 
man  als  Weltschopfung  bezeichnen  kann.    Es  wurde  in 
der  Wechselwirkung  von  Ausdruck  und  Eindruck  die 
Spaltung  von  Subjekt  und  Objekt  erblickt;   in  diesem 

i  Augenblick  wird  es  notig,  das  Phanomen  der  Wirkung 
etwas  naher  zu  betrachten. 

Wirkt  das  Geisteselement  A  auf  das  Geisteselement  Erscheinungs- 
B,  so  wird  allerdings  B  zum  Subjekt  einer  Empfanglich-"'^^ 
keit,  deren  Objekt  A  ist.  Indessen  wird  B  keineswegs 
befahigt  sein,  A  in  sich  aufzunehmen;  die  ganze  Vor- 
aussetzung  unserer  inneren  Erfahrung  besagt,  dal5  A 
immer  A  und  B  immer  B  bleibt.  Wohl  aber  ist  B 
durch  A  modifiziert;  wenn  man  so  sagen  darf,  be- 
reichert,  und  in  B  selbst,  nicht  etwa  sonstwo,  ist  das  Re- 
sultat  dieser  Bereicherung  vorhanden.    In  Wahrheit  ist 

s  somit  B  aktiv.  B  hat  sich  einen  Zuwachs  seines  Inven- 
tars  geschafFen,  und  diesen  Zuwachs  nenne  ich  Erschei- 
nungsobjekt.  Man  braucht  hierbei  im  primitiven  Zu- 
stande  des  Geistesobjekts  noch  keineswegs  an  eine 
objektivierte  Vorstellung  zu  denken.  Ein  Beispiel  aus 
hochkomplizierter  Geistigkeit,  die  sich  im  Stande  der 
Sinnesempfanglichkeit  befindet,  mag  dies  verdeutlichen. 
Wenn  ich  „Grun"  empfinde,  so  brauche  ich  zwar  durch- 
aus  niciit  soweit  zu  gehen,  daI5  ich  sage,  „ich  sehe  etwas 


95 


Griines".  Wohl  aber  muC)  jch  zugeben,  dal5  die  „Grun- 
empfindung"  bereits  fiir  mich  Objekt  ist;  sie  ist  in  star- 
kerem  Sinne  Objekt,  als  wenn  ich  zu  empfinden  glaubte: 
„mir  ist  griin  zumute".  Gehe  ich  jetzt  einen  Schritt 
riickwarts  zur  Gefdhlssphare,  etwa  mit  dem  Ausspruch: 
„mir  ist  beklommen,  frostig,  heiter  oder  tatig  zumute", 
so  empfinde  ich  bereits  das  Beklommene,  Frostige,  Hei- 
tere  oder  Tatige  als  Objekt.  Und  je  weiter  ich  den  In- 
halt  meines  Inventars  zerspalte,  imnier  wieder  wird, 
nicht  etwa  blolil)  in  der  Betrachtung,  sondern  im  unmittel- 
baren  Empfinden,  jedes  Element  zum  Objekt.  Wollte 
man  aus  dieser  fortgesetzten  Objektivierung  folgern,  dafi 
schlieMch  iiberhaupt  kein  Subjekt  iibrig  bliebe,  so  ware 
dies  erscheinungsmai^ig  richtig;  immerhin  aber  bleibt 
dasjenige  zuriick,  was  man  als  transzendente  Moglichkeit 
der  Gesamterscheinung  bezeichnen  kann,  die  Moglich- 
keit, dafi  gerade  hier,  und  nicht  iiberall,  gerade  jetzt  und 
nicht  immer,  das  Phanomen  sich  abspielt,  und  diese 
Grundlage  des  Komplexes  haben  wir  Geist  genannt. 
Der  schajfende  Der  Geist  schafFt  somit  das  Erscheinungsobjekt.  Und 
zwar  ist  der  affizierte  Geist  der  SchafFende,  er  schafFt 
unter  dem  Eindruck  des  affizierenden  Geistes.  Priift 
man  aber  das  GeschaiFene  in  seinem  Verhaltnis  zu  den 
schafFenden  Elementen,  so  ergibt  sich:  es  ist  ein  voU- 
kommenes  Gleichnis  oder  Symbol.  Denn  in  dem  Er- 
scheinungsobjekt kann  nichts  Willkiirliches  enthalten  sein ; 
jeder  seiner  Ziige  ist  bedingt  durch  die  entsprechender 
Modalitaten  der  schafFenden  Elemente :  so  wie  ein  Spie- 
gelbild  nichts  enthalten  kann,  als  was  durch  das  gespie- 
gelte  Objekt  und  die  spiegelnde  Flache  bedingt  ist,  wah- 
rend  gleichzeitig  jede  optische  Eigenheit  dieser  beider 
Komponenten  im  Bilde  adaquaten  Ausdruck  finden  mu6 


96 


4 


Das  Wort:    „alles  Vergangliche  isc  nur  ein  Gleichnis** 
erweist  sich  im  wortlichen  Sinne  wahr. 

Wie  Geist  dazu  kommt,  zu  schafFen,  oder  vielmehr, 
da  Schaifen  Geistes  Wesen  ist,  wie  Geist  iiberhaupt  mog- 
lich  ist,  bleibt  in  unserem  Stande  der  Erkenntnis  unauf- 
losbares  Geheimnis.  Aber  den  Zweifel  dieses  Geheim- 
nisses  teilt  unsere  Betrachtungsweise  mit  jeder  anderen: 
die  Tatsache,  dafi)  ich  fiihlend,  vorstellend,  denkend  bin, 
lost  sich  in  keinem  libergeordneten  BegrifF;  und  loste  sie 
sich,  so  kame  einmal  der  BegrifF,  der  sich  nicht  mehr  loste 
und  Ratsel  bliebe.  Das  letzte  Geheimnis  aber  ist,  wie 
wir  bemerkten,  in  dieser  Form  am  wenigsten  qualend, 
denn  jede  andere  Existenz  als  die  des  Geistes  schlieI5t 
die  Willkiir  beschrankender  Eigenschaften  in  sich,  wah- 
rend  der  Geist,  an  sich  iiberhaupt  nicht  wegdenkbar,  in 
sich  jede  Moglichkeit  des  Seins  enthalt. 

Spaltet  man  von  dem  BegrifF  der  Gottheit  alle  dimen- 
iionalen,  anthropomorphen,  sozialen,  zweckhaften  und 
>entimentalen  Eigenschaften  ab,  so  wird  dieser  BegrifF 
dch  dem  des  Geistes  immer  mehr  nahern.  Dafi)  er  nicht 
/ollig  mit  ihm  zusammentrifFt,  vielmehr  eine  bestimmte 
3etrachtungsseite  des  Geistes  enthalt,  aus  der  sich  Fol- 
Terungen  von  entschiedener  Realitat  ergeben,  wird  dar- 
'.utun  sein.  Aber  auch  diese  Anniiherung  fiihrt  zum  be- 
•uhigten  Anbljck  der  letzten  Unaufloslichkeit. 

Ein  Einwand  hinsichtlich  des  GeistesschafFens  ist  zw  Einwand  der 
irwagen.  Wenn  Element  auf  Element  wirkt,  also  Glei-^^^^'^"'^-'''''^' 
:hes  auf  Gleiches:  wie  ist  eine  unbegrenzte  qualitative 
\  Vlannigfaltigkeit  der  Wirkung  neben  der  bereits  erorter- 
en  Mannigfaltigkeit  der  Beziehung  denkbar?  Wollen 
nr,  um  die  Voraussetzungen  nicht  zu  komplizieren,  den 
JegrifF  von  „Gleich  und  Gleich"  gelten  lassen,  so  reichen 


97 


schon  die  librigen  Pramissen  zur  Beantwortung  der  Frag^ 
aus.  Wir  wissen  von  der  Kombinationsfahigkeit  dej 
Geistes.  Kombinierte  Elemente  in  jedem  Stadium  de 
Aufbaus  werden  anders  wirken  miissen  als  relativ  eir 
fache,  und  anders  betroffen  werden.  Wirkungen  werdej 
ferner,  wie  die  erwahnte  Erorterung  derBeziehungzeigt< 
nicht  die  Totalitat,  sondern  einen  begrenzten  Umkre: 
betrefFen.  Wir  stehen  daher  vor  unabsehbaren  Abwanc 
lungen  und  Variationen  in  zweifacher  Dimension,  un 
erblicken  wiederum  das  Koordinatensystem  der  Qualiti 
und  Intensitat,  das  nunmehr  in  deutlicherer  Begriindun 
uns  entgegentritt. 

GesetzderEr-  Gleichzeitig  ergibt  sich  ein  Axiom  von  weiter  Be 
deutung.  Da  das  Erscheinungsobjekt  ganz  eigentlich  voi 
betroiFenen  Geiste  geschaifen  wird,  so  kann  es  nicl 
mehr  enthalten,  als  dieser  betrofFene  Geist  enthalt.  li 
daher  der  wirkende  Geist  von  hoherem  KombinationJ 
grade  als  der  affizierte,  so  wird  die  Wirkung  ihm  mi 
in  dem  Mal5e  adaquat  sein,  als  das  einfachere  Elemeii 
und  seine  Aufnahmefahigkeit  es  2ulall>t.  Mit  anderdl 
Worten:  das  einfachere  Element  wird  das  hohere  mi 
bis  zu  dem  Punkt  seiner  eigenen  Ordnung  begreifenf 
dariiber  hinaus  wird  es  ihm  unbegreiflich,  ja  selbst  ui| 
erkennbar  bleiben. 
Das  Integral  Das  Integral  der  Wirkung  Geist  auf  Geist  besteh 
und  Symbol  somit  in  einer  Ordnung,  und  zwar  einer  Ordnung,  derej 
Elemente  man  als  Gleichnisse  bezeichnen  darf ;  wie  deiE 
auch  die  Ordnung  selbst  in  hoherem  Sinne  als  Gleichnij 

Gleichnisse  vom  erscheint.  Ein  sinnliches  Bild  grober  Annaherung  konntil 
in  einem  Orchester  gefunden  werden,  das  fiir  sich  selbs 
musiziert.  Der  Sinn  des  Musizierens  ist  nicht  periodisch 
Luftverdichtung,   sondern   eine  Ordnung  von  Klangeij 

98.  1 


in  welcher  jedes  Instrumentes  Ausdnick  jedem  Ohre  zu- 
ceil  wird.  Der  Inhalt  der  Symphonie  liegt  nicht  in  der 
verdichteten  Luft,  nicht  in  Trompeten  und  Geigen  und 
nicht  in  Ohrmuscheln  und  Trommelfellen;  er  wird  im 
Bewuli5tsein  jedes  Spielers  und  Horers  nach  seiner  Art 
und  nach  seinem  Verstandnis  aufgebaut  und  ist  in  jedem 
Bewulitsein  verschieden.  Dennoch  besteht  eine  Identitat 
des  Gesamtwerkes,  die  sich  etwa  darin  zu  erkennen  gibt, 
daI5  jeder  die  Gesamtwirkung  der  Haydnschen  Symphonie 
von  der  der  Beethovenschen  vollkommen  unterscheidet. 

Besonders  deutlich  ist  in  Anwendung  dieses  Gleich- 
nisses  zu  betonen,  dalb  das  Symbol  „Konzertstuck" 
weder  mit  dem  Subjekt  noch  mit  dem  Objekt  der  Wir- 
kung  —  Horer  und  Spieler  —  identisch  ist.  Dies  scheint 
vollig  selbstverstandlich,  und  dennoch  konnte  der  Irr- 
tum  versuchen,  etwa  in  der  Erscheinungswelt  ein  Atom 
beliebiger  Ordnung  mit  einem  Geisteselement  beliebiger 
Ordnung  gleichzusetzen.  Nach  unserer  Betrachtungs- 
weise  ware  vielmehr  das  Atom  beliebiger  Ordnung  Er- 
scheinungsobjekt  und  gleichzeitig  Symbol  eines  Geistes- 
elementes;  in  ihm  selbst  und  in  anderen  enthalten.  Der 
raum-  und  zeitlose  Geist  spiegelt  seine  Welt,  indem  er 
sich  selbst  durchdringt. 

Indem  nun  hier  nochmals  die  Raum-  und  Zeitlosig- Methodhchn 
keit  des  Geistes  bekraftigt  wird,  gilt  es,  einen  Wider- 
ispruch  dieser  Darstellung  ans  Licht  zu  riicken  und  un- 
schadlich  zu  machen.  Wenn  die  Teilbarkeit  des  Geistes 
m  Elemente  verlangt  wurde,  so  konnte  in  der  Folgerung 
einer,  wenn  auch  unbegrenzten  Zahl,  und  in  der  An- 
tiahme  einer  abgegrenzten  Unterteilung,  das  Herein- 
dehen  zeitlich-raumlicher  Vorstellungen  geriigt  werden. 
Mit  demselben  vollen  Recht  aber  kann  man  die  Ver- 


99 


wendung  der  Sprache  bei  jeder  geistigen  Darstellung  al 
unzulassig  erklaren.  Denn  jedes  Wort  der  Sprache  setz 
den  gesamten  Denkinhalt  schon  voraus,  und  all  unse 
Denken,  das  nun  einmal  raiumlich-zeitlich  orientier 
ist,  bedeutet  eine  hochst  unvollkommene  und  ein 
seitige  Sprache  des  Absoluten.  Stillschweigende  Voraus 
setzung  alles  Sprechens  und  Denkens  ist  nicht  nur  di 
innere  Konsequenz  und  Verstandlichkeit  der  Sprache  un< 
des  Gedankens,  sondern  auch  ihre  Adaquatheit,  das  iheifi 
ihre  symbolische  Eignung,  den  Kontrasten  des  Objekte 
Ausdruck  zu  geben.  Hier  liegt  die  grundsatzliche  Schwa 
che  alles  Denkens,  auch  des  kritischen;  denn  auch  diese 
mul5  mit  gegebenenBegrifFen  auskommen,  ohne  zu  fragen 
woher  sie  gegeben  sind.  Somit  wird  uns  bei  der  Betrach 
tung  letzter  Dinge  stets  widerfahren,  was  bei  der  Betrach 
tung  einer  klar  spiegelnden  Flache  geschieht:  wir  konnei 
nicht  hindern,  dafi  unser  eigenes  Spiegelbild  die  Harmoni 
der  gleichformigen  Einheit  stort.  Wohl  aber  diirfen  wi 
schliefien,  dal5  in  dem  spiegelnden  Phanomen  etwas  vox 
handen  ist,  das  jeder  anderen  gespiegelten  Eigenart  eben 
sogut  gerecht  wird  wie  der  unseren.  Und  im  Hinblick  au 
den  erwahnten  Widerspruch  bleibt  uns  die  Beruhigung 
dafi  nicht  nuf  unser  Denken  das  eirizige  uns  yerliehen- 
ist,  innerhalb  dessen  es  auf  die  Einheitlichkeit  des  Bilde 
ankommt,  sondern  dal5  unser  Denken,  soweit  es  libei 
haupt  denkens wert  ist,  jenseits  der  Vorstellbarkeit  Kor 
relate  verlangt,  die  seinen  Kontrasten  gerecht  werden 
und  die  der  inneren  Gewifiheit  intuitiv  vor  Augen  stehen 
Deutung  des  Des  Nachweises,  dafi  das  Integral  der  geistigen  Wir 
^^^^^  kungen  mit  der  Erscheinungswelt  identisch  ist,  bedar 

es  nicht  mehr.  Denn  abgesehen  davon,  daiS  wir  als  Geis 
am  Wirkungsintegral  beteiligt  sein  miissen  und  tatsacb 


loo 


ich  an  der  Erscheinung  bewuGt  in  hohem  Mafee  betei-k^t 
jind;  dalL  es  somit  eine  miili^ige  Annahme  ware,  die 
Iritte  Welt  zu  supponieren:  es  ist  eine  erkenntnismalLige 
deziprozitat  der  beiden  Systeme  evident.  Denn  jede 
■heoretische  Betrachtung  der  Erscheinung  fiihrt  uns  zu 
mmer  weitergehender  Teilung  der  Substanz  und  zu 
mmer  neuen  Kampfesebenen  der  Wirkung  von  Element 
Luf  Element.  Schon  heute  ist  das  physikalische  Atom 
ms  eine  astronomisch  ziemlich  bekannte  Welt,  und 
ciinftige  Beobachtungen  konnen  uns  notigen,  das  Elektron 
n  Weltkdrper  aufzuldsen.  Die  Erscheinungswelt  ist 
ms  daher  unter  den  gleichen  Prinzipien  begreiflich  wie 
lie  Geisteswelt:  der  Teilung,  der  Elementarwirkung 
md  der  Kombination.  Fast  mochte  man  weitergehen 
md  vermuten,  so  wie  das  registrierende  Denken  sich 
les  Zweisystems  der  Polaritat  bedient,  so  sei  dem 
)raktischen  Denken  nur  die  Moglichkeit  dieses  Drei- 
ystems  beschieden,  und  so  musse  sich  dieses  in  jeder 
Jetrachtung  spiegeln.  Aber  hiermit  ware  nur  ein  kriti- 
istisches  Prinzip  gewonnen,  wahrend  es  uns  darum  zu 
un  sein  mul5,  nicht  beim  Studium  des  Werkzeugs  zu 
rerharren,  sondern  vielmehr  auf  intuitivem  Wege  ein 
[Verkstiick  zu  finden,  das  mit  den  gegebenen  Mitteln 
inwandfrei  bearbeitet  werden  kann. 

Wir  sind  mit  unserem  Ich  an  der  Erscheinungswelt  Einfuhmng 
•eteiligt.  Richten  wir  somit  den  Blick  auf  die  Erschei-  ^^^g 
iimg,  so  finden  wir  uns  selbst  umbrandet,  in  Wechsel- 
/irkung  gezogen,  auf  gleicher  Ebene  mit  ihr  uns  be- 
/egend.  Wir  erkennen  somit  unser  eigenes  Symbol  in 
inem  Erscheinungsich,  das  handelnd  und  leidend,  von 
ms  selbst  und  von  der  Welt  vorgestellt,  in  das  Phanomen 
er  Erscheinung  verwoben  ist.  Daft  dieses  Erscheinungs- 

P 

m^-  I  o  I 


V-  •  */ **  .'* '  ich;i?icltt  4^s..\Vesen  unseres  Daseins  ausmacht,  erkennen 
wir  in  alien  tiefen  Augenblicken  unseres  Lebens.  Dann 
fiihlen  wir,  daI5  jedes  zerreil^ende  Verhaltnis  zur  Er-: 
scheinung  uns  entlastet,  unsSelbst  uns  wiedergibt;  nichts 
ist  durch  diese  Entlastung  uns  genommen,  vieles  ge^ 
geben,  und  nur  zogernd  und  halb  abgewandt  kehren  wii 
zum  pflichrgemaI5en  Anteil  am  Erscheinungswerk  zuriickj 
Gieicbnis  vom  So  bedenklicH  und  haufig  irrefuhrend  es  ist,  in  sinn- 
lichen  Bildern  geistige  Beziehungen  abzuwandeln,  so  seij 
um  das  Verhaltnis  Geist  zu  Erscheinung,  Ich  zu  Erschei-t 
nungsich  fal51ich  zu  erlautern,  ein  weiterer  Versuch  g& 
wagt.  Beim  blinden  Schachspiel  hat  der  Spieler  Brett 
und  Figuren  nicht  vor  Augen;  er  mufi  sie  durch  Vor^ 
stellungskraft  sich  gegenwartig  halten.  Angenommen 
\  nun,  das  Spiel,  das  zweiunddreiI5ig  Figuren  enthalt 
konnte  statt  von  zwei  Spielern  von  zweiunddreiI5ig  ge^ 
spielt  werden,  von  denen  jeder  fiir  seine  Figur  verant^ 
wortlich  ist,  ja  selbst  sich  ganz  in  die  Rolle  dieser  Figui 
hineindenkt,  so  dafi  er  sich  eigentlich  als  Laufer,  Springei 
oder  Konig  fiihlt.  Das  Spiel  beginnt  und  jeder  Spieler 
erblickt  sich  selbst  und  alle  librigen  auf  dem  unsicht^ 
baren,  nicht  existierenden  Brett;  es  ist  genau  dasselbej' 
als  ob  die  Symbole  sich  wechselseitig  in  Kampf  und 
Verbiindung  erblickten.  Sie  verstandigen  sich  durcli 
ihre  Position,  marschieren  und  schlagen,  wahrend  di^ 
Realitat  der  Spieler  zwar  nicht  unbeteiligt,  doch  unbe-j 
wegt  bleibt.  i 

Mechanische       Es  ist  nicht  die  Aufgabe,  eine  umfassende  Ableitung  del 
Ertclieinungs-^^^^^^^^^^S^P^^^^^pi^^?  insbesondere  der  mechanischeni 
vorgangs        durch  Ausdeutung   der   Geistesprinzipien  hier  zu  verf 
suchen.    Da  aber  die  Konstituierung  der  Erscheinungs- 
welt  ohne  summarische  Begriindung  ihrer  mechanischerjjj 


Liauptelemente  noch  nianchen  Zweifel  ermoglicht,  so 
;ei  die  Ausdehnung  der  Untersuchung  auf  die  Prinzipien 
ier  Lage,  der  Bewegung,  der  Masse  und  des  Organischen 
restattet.  Einer  weiteren  Spezialisierung  wird  es  nicht 
)edurfen,  da  jede  theoretische  Naturbeschreibung  letzten 
indes  mit  diesen  Elementen  auskommt,  wenn  namlich 
rorausgesetzt  wird,  dal5  alle  Form  in  Elementenlage, 
die  Kraft  in  Bewegung  und  alle  physische  und  chemische 
^ualitat  und  Energie  in  Masse  und  Bewegung  aufgelost 
verden  kann. 

Betrachtet  man  ein  System  beliebig  gelagerter,  beliebig  Lage 
;ahlreicher  Punkte,  so  ist  ihre  relative  Lage  bestimmt 
lurch  das  System  samtlicher  moglichen  Verbindungs- 
inien,  das  heifit  samtlicher  moglichen  Entfernungen. 
^un  wissen  wir,  dall)  bei  gegebenen  Elementen  die  Wir- 
:ungsintensitat  eine  Funktion  der  Entfernung,  somit  auch 
lie  Entfernung  eIne  Funktion  der  Wirkungsintensitat 
ledeutet.  Intensitat  aber  haben  wir  als  eines  der  Radi- 
alien  der  Geisteswirkung  registriert.  Wir  diirfen  daher 
as  System  der  Entfernungen,  mit  anderen  Worten  das 
ystem  der  Lage  als  das  Erscheinungssymbol  des  Radi- 
;als  Intensitat  ansprechen,  wie  wir  ja  bereits  auf  den 
: 'usammenhang  des  IntensitatsbegrifFs  mit  dem  Raum- 
egriiF  hingewiesen  haben. 

Im  Willensradikal  wurde  das  Moment  der  Auswahl  Be^wegung 
rkannt,  das  aus  der  Gleichformigkeit  ruhender  Symme- 
den  das  Einmalige,  Einseitige,  Determinierte  loslost  und 
loglich  macht.  D^n  gleichen  Sinn  tragt  in  der  mecha- 
■  ischen  Welt  das  Prinzip  der  Bewegung.  Sie  andert 
ie  Lage,  somit  eine  unendliche  Zahl  von  relativen  Ent- 
ernungen  und  Wirkungsmafien.  Sie  verkleinert  die 
Virkung  auf  die  verlassene  Gegend  und  verstarkt  die 


I 


103 


1 


Wirkung  auf  die  erstrebce,  sie  wahlt  bestandig  neue 
Wirkungshorizonte.  Die  Geradlinigkeit  und  die  Unab- 
lassigkeit  der  Bewegung  sind,  wie  in  allgemeiner  Form 
dargetan  wurde,  Spezialfalle  des  Gesetzes  grower  Zahlen,! 
Wahrscheinlichkeits-  und  Durchschnittsergebnisse.  Die 
Bewegung  ist  das  Erscheinungssymbol  des  Willensradi- 
kals,  sie  ist,  bildlich  gesprochen,  sichtbar  gewordenei 
Wille. 

Masse  Wir  haben  gesehen,  daI5  im  Radikal  der  Qualitat  dasf 
Zeitelement  enthalten  ist;  somit  auch  das  lediglich 
dutch  Zeitempfindung  erkennbare  und  mefibare  Prinzip 
der  Zahl.  Die  mechanische  Naturbetrachtung  sieht  mil- 
Recht  in  jeder  unteilbaren  Substanzmenge  ein  Unbe- 
greifliches,  sie  findet  die  Aufgabe,  sie  aufzulosen  w 
Zahlenmengen  von  Elementen,  und  nach  Bedarf  und 
Orientierung  die  Zahlenteilung  der  Elemente  in  belie- 
bigen  Ordnungen  fortzusetzen.  Lost  sich  somit  alle 
Masse  in  Zahl  auf,  also  in  Zeitmafi),  so  wird  die  Be-" 
ziehung  deutlich,  welche  zwischen  dem  Qualitatsradikal 
und  seiner  Erscheinungsform,  der  Masse,  besteht.  Ej 
darf  daran  erinnert  werden,  dafi  alle  mechanischen  Er- 
regungen  unserer  Sinnesqualitaten  durch  Massen  ge- 
geben  sind,  deren  Bewegungsform  in  Periodizitat  bestehti 
Aufi)eres  Korrelat  unserer  Empfindungsqualitaten  ist  so- 
mit in  zweifachem  Sinne  die  Zahl,  gleichviel  ob  es  sich 
um  Schwingungen  der  Ladung,  der  Dichte  oder  der 
Molekiile  handelt. 

Leben  Noch  immer  konnen  wir  von  dem  vierten  Radikal,  ^ 
dem  Additionsfaktor,  dem  ein  Teil  der  spateren  Dar- 
legung  gewidmet  sein  soil,  nicht  ausfiihrlicher  sprechenj 
Aus  der  Erorterung  aber  wird  hervorgehen,  dail>  dieses 
Geisteselement,  in  die  Erscheinungswelt  projiziert,  das 


104 


II 


Urprinzip  dessen  darstellt,  was  wir  als  organisierte  und 
lebende  Natur  ansprechen.  Das  Erscheinungssymbol  des 
Additions faktors  ist  das  Leben. 

Bevor  wir  den  Versuch  dieses  Auf baus  der  Erschei-  Botschaften 
nungswelt  beschlieI5en,  darf  auf  eine  fliichtig  gestreifte 
Frage  zuriickgegrifFen  werden,  deren  letzter  Wider- 
spruch  sich  nun  auflost.  Von  der  Erscheinungsseite 
stellen  alle  Wirkungen,  die  uns  trefFen,  sich  als  Fern- 
wirkungen  dar.  Wir  empfangen  keine  unmittelbaren 
Eindriicke  von  Objekten,  sondern  Ein wirkungen  von 
afhzierten  Medien.  Und  diese  Medien  wiederum  wirken 
auf  die  Medien  unseres  Leibes,  bevor  die  Zentren  der 
Empfindung  beriihrt  werden.  Geschieht  hierdurch  der 
Urspriinglichkeit  des  Wirkungsphiinomens  ein  Abbruch? 

Priifen  wir  vom  Stande  der  Erscheinung  aus  ein  ein- 
j^ches  Beispiel:  die  Sonne  bestrahlt  ein  menschliches 
Auge,  wobei  wir,  in  bildlicher  Annaherung,  der  Sonne 
eine  individualahnliche  Einheit  beimessen.  Als  wesent- 
liche  Ausdruckserscheinung  sprechen  wir  die  Strahlung 
an:  die  benachbarte  Kugelschale  des  Lichtmediums  wird 
in  Schwingung  versetzt;  eine  Unmittelbarkeit  der  Wir- 
kung  ist  vorhanden.  In  rapidem  Fortschreiten  unmittel- 
barer  Wirkungen  wird  diejenige  Schale  erreicht,  in  deren 
Bereich  die  Netzhaut  sich  befindet.  Es  ist  irrelevant, 
zu  erwagen,  dal5  eine  physische  Gegenwirkung  durch 
Spiegelung  der  Hornhaut,  der  Linse  und  anderer  orga- 
nischer  Medien  geschieht,  dall>  niedrigere  Temperatur- 
strahlungen  zur  Sonne  zuriickgetragen  werden,  die  beim 
Vorhandensein  liberaus  grower,  immerhin  endlicher  Emp- 
findlichkeit  wahrgenommen  werden  konnten.  Bedeu- 
tungsvoll  aber  ist,  dal5  dem  Trager  der  Netzhaut  als 
bewu&rem  Wesen  die  quantitative  und  qualitative  Ge- 


I 


I  of 


setzmaloigkeit  des  Reizes  in  ahnlicher  Weise  zum  erlebten 
Eindruck  wird,  wie  dieWiederholungeinesMorsezelchens 
auch  den  der  Telegraphic  Unkundigen  zur  beliebigen 
Verarbeitung  der  Wahrnehmung  zwingt.  Die  unmittel- 
bare  Wirkung  des  Mediums  wird  zur  mittelbaren  Wir- 
kung  einer  Botschaft.  Auf  dem  System  der  Botschaften 
beruht  der  Bereich  unserer  Wahrnehmungen;  die  Sym- 
bolik  der  bewul5ten  Botschaft  steigert  sich  im  Stande 
hoherer  Geistigkeit  zum  Laut,  zur  Gebarde,  zur  Sprache,  i 
zur  Schrift,  zum  Monument.  Und  wenn  auch  jede  denk- 
bare  Wirkung  sich  schliel^lich  dem  Reihenprinzip  zufolge  j 
in  eine  belieb'ge  Reihe  von  botschaftlichen  Zwischen-1 
wirkungen  auf  losen  lalLt,  so  bleibt  doch  als  Element  das 
Prinzip  der  unmittelbaren  Wirkung  bestehen.  Zu  ihm 
verhalten  sich  die  durchschrittenen  Medien  als  Samm- 
lungsfaktoren,  in  ahnlichem  Sinne,  wie  von  einer  Linse 
ein  divergierendes  Strahlenbiindel  aufgefangen  und  zen- 
triert  wird. 
Strahlphano-  Einen  letzten,  entscheidenden  Zug  dem  Gesamtbild 
der  Erscheinungswelt  einzufiigen  miissen  wir  uns  vor-| 
behalten.  Es  wird  sich  um  einen  Faktor  handeln,  derj 
fRvenn  der  Vergleich  erlaubt  ist,  das  ganze  System  ver- 
fliissigt  und  in  stromende  Bewegung  setzt,  der  ihm  ge-i 
wissermaf5en  den  letzten  substantiellen  und  atomistischenj 
Anschein  entzieht,  indem  er  alles  Beharrende  ausschaltet^ 
und  das  Geschehen  an  die  im  Wechsel  gleichbleibendenj 
Tendenzen  bindet.  Dieses  Prinzip,  das  den  Namen  Strahl- 
phanomen  fiihren  soil,  wird  im  spateren  Zusammenhang 
zu  erortern  und  anzuwenden  sein. 
System  der  Fiir  den  Zeitpunkt  geniigt  es,  die  Ordnung  deSf 
^  Erscheinungswesens,    so  wie  sie  sich  uns  darstellt,    al$t' 

System  vollkommener   Symbole    zu   iiberblicken.      Wii| 

io6 


begehrten  das  Recht,  in  Grenzfragen,  welche  die  Er- 
scheinung  umrahmen,  von  den  Phanomenen  des  Inhalts 
Gebrauch  zu  machen,  ohne  Bild  und  Spiegel  zu  verwech- 
seln.  Nun  diirfen  wir  uns  der  Erscheinungssymbole  be- 
dienen,  zwar  in  dem  Bewufitsein,  dafi  es  Bilder  sind, 
aber  auch  mit  der  Gewii5heit,  daH)  sie  abbilden.  Wir 
erlangen  die  Doppelrichtung  des  Weges  — ,  des  auf- 
steigenden,  der  durch  die  Gewifiheit  des  gefiihltenLebens, 
und  des  absteigenden,  der  durch  die  Erfahrung  des  er- 
schauten  Bildes  fuhrt. 

Die  Betrachtung  der  vereinbarten  Erseheinungswelt  Drei  Welten 
notigt  uns,  drei  der  Beobachrung  unmittelbar  benach- 
barte  Hauptgebiete  der  Schopfung  herauszugreifen  und 
zu  durchforschen:  die  voratomistische  Welt,  die  ato- 
mistische  Welt  und  die  organische  Welt.  Die  erste  um- 
fafi)t  alle  Substanz  mit  Ausnahme  der  an  physikalische 
Atome  gebundenen,  die  zweite  umfafit  alle  an  physika- 
lische Atome  gebundene  Substanz  mit  Ausnahme  der 
organisierten,  die  dritte  umfafit  alle  organisierte  Sub- 
stanz. Man  darf  in  kurzer  Rede  diese  drei  Weltgebiete, 
die  sich  wechselweise  durchdringen,  als  Atherwelt, 
Korperwelt  und  Lebenswelt  bezeichnen.  Ob  wir  fiir 
das  konstituierende  Prinzip  der  drei  Gebiete  den  Namen 
Substanz,  Materie  oder  Energie  gebrauchen,  bleibt  fiir 
I  die  Erwagung  belanglos,  da  wir  aus  dem  Wesen  des 
I  konstituierenden  Elements  keine  Folgerungen  ziehen 
und  lediglich  in  der  Erinnerung  behalten,  dal5  es  sich 
im  Sinne  des  bisher  Dargelegten  um  Symbole  des  teil- 
baren  und  kombinierbaren  Geistes  handelt. 

Ohne  Bedeutung  bleibt  auch   ein  gewisses  Mafi  der 

Willkiir,  das  bis  auf  weiteres  in  der  Teilung  selbst  ge- 

!  geben   scheint.     Der  Sinn  der  Dreiteilung,  die  wir  im 


107 


Verlauf  rechtfertigen  werden,  bestehtzunachstdarin,  zwei 
Ruhepunkte  in  der  unendlichen  Serie  zu  schaffen,  die  vom 
primitivsten  zum  reifsten  Erscheinungsgebiet  iiberleitet. 
Die   Erschei-Die    Reihe    selbst    tritt    uns    entgegen    als    eine    Folge 
jjej.    K:ouiplj_  wachsender  Komplikation,  insofern  wir  jede  Stufe  durch 
kation  geeignete  Teilung  oder  Zerstorung  in  die  voraufgehende 

iiberfiihrbar  finden.  Ein  weiteres  Zeichen  zunehmender 
Komplikation  erblicken  wir  in  der  wachsenden  Leichtig- 
^bbau  der  Eie-  keit  der  Zerstorung.  Ein  hoch  organisiertes  animalisches 
Gebilde  ist  durch  geringe  Temperaturschwankung  ver- 
nichtet;  ein  chemisches  Molekiil  zerreisst  bei  energischem 
AngrifF  durch  Elektrizitat  oderWarme ;  dieZertriimmerung 
eines  physikalischen  Atoms  konnen  wir  mit  den  Mitteln 
der  Wissenschaft  seit  kurzem  erfassen;  der  Spaltbarkeit 
des  Atherteils  bediirfen  wir  noch  nicht  als  Hypothese. 
Aufbau  der  Eie-  Unsere Fahigkeit,  in  aufsteigender Reihe Kombinationen 
herbeizufiihren,  beschrankt  sich  auf  gewisse  Falle,  die 
man  als  Veranstaltung  zahlenmaiLiger  Gelegenheiten  be- 
zeichnen  konnte.  Wollen  wir  eine  chemische  Verbin- 
dung  erzwingen,  so  lall>t  die  Erfahrung  es  als  erforder- 
lich  und  ausreichend  erscheinen,  dafi  einige  Billionen 
reaktionsfahiger  Molekiile  in  geniigender  Konzentratiou 
der  Gegenpartei  durch  Mischung  genahert  werden;  das 
Gesetz  der  grolI)en  Zahlen  fiigt  es,  dail>  am  Schlusse  der 
Reaktioneine  liberwaltigendeMajoritatvonKombinations- 
paaren  sich  gefunden  hat.  Der  grundsatzlich  gleiche 
Vorgang  ist  es,  wenn  wir  Saatgut  dem  Felde  anvertrauen, 
Truppen  verpflegen,  Zuchttiere  paaren:  wir  schafFen 
2ahlenmafi>ige  Gelegenheit  zur  Entstehung  von  Getreide-j 
halmen,  menschlichen  Muskeln,  animalischenEmbryonenJ 
Auf  die  Vorgange  selbst  bleibt  unser  Wollen  und  Ha^ 
deln  ohne  Einflufi).    Am  machtlosesten  aber  stehen 


lo8 


denjenigen  beiden  Grenzerscheinungen  gegeniiber,  die 
wir  als  Trennungspfeiler  dreier  Naturreiche  glaubten 
hervorheben  zu  diirfen:  noch  niemals  hat  ein  Mensch  Urzeugung 
der  Urzeugung  eines  Atoms  aus  Atherteilen,  einer  Zelle 
aus  Molekiilen  beigewohnt  oder  Vorschub  geleistet. 
Die  Spontaneitat,  das  Willenhafte  und  Eigenwillige  der 
Kombinationsvorgainge  leuchtet  an  diesen  Wendepunkten 
hervor;  wir  empfinden,  noch  ohne  nahere  Kenntnis  vom 
Additionsvorgang,  das  gleiche  erschiitternde  Ereignis  des 
Schopfungs  will  ens  in  beiden,  durch  eine  Welt  getrennten 
Phanomenen,  von  denen  das  eine  die  Schopfung  eines 
Sonnensystems,  der  andere  die  Schopfung  einer  Lebens- 
gemeinschaft  im  Kleinen  wiederholt. 

1st  nun  die  Schopfungsserie  der  Symbole  eine  Serie  Die    Geistes- 
wachsender  Kombiniertheit,  so  konnen  wir  die  Serie  des  Komplikation 
schafFenden  Geistes  nicht  anders  als  gleichermajBen  eine 
Serie  wachsender  Kombiniertheit  denken. 

Die  Kombinationsstufe ,  auf  der  wir  leben,  ist  die 
organische  Welt,  die  Welt  der  Zelle.  Im  Bilde  der  Er- 
scheinung  sind  wir  millionenfach  bevolkerte  Zellenstaaten 
und  unterscheiden  uns,  aufsteigend  von  der  Alge  bis 
zum  Tiefseeforscher,  nach  Zahl  und  Rasse  unserer 
inneren  Staatsangehorigen.  Unser  BewuI5tsein  ist  das 
Staats-  und  Gemeinschaftsbewul5tsein  dieser  gewaltigen 
Symbiose  oder  doch  ihres  wesentlichen  Teiles;  es  ist 
geistige  Summe,  Resultat  eines  Additionsprozesses,  den 
wir  kennen  woUen. 

Aber  auch  die  Summanden  sind  nicht  einfache  Wesen.  ^i^bau  der  Le^ 
Vielleicht  in  zarterem  Aggregat  als  dem  unseres  Werk-  ^"^^  ^^"^^ 
stofFes  bergen  sie  Organisationen  hochster  beweglicher 
Vollkommenheit,  und  erweisen  auch  sie  wiederum  sich 
als  Resultanten  relativ  einfacherer  Geistessymbole. 


109 


Niemals  vielleicht  werden  wir  erfahren,  wie  oft  ^ 
diese  organischen  Gebilde,  von  Klasse  2u  Klasse  niecj 
steigend,   unterteilen   miissen,   um   zu  denjenigen  mn^ 
heiten  zu  gelangen,  die  wir  als  hoch  konstituierte  chemischi 
Molekiile  bezeichnen,  indem  wir  ihnen  nicht  mehr  dei 
Namen  des  organisierten,  sondern  des  organischen  StoiFe 
zubilligen.     Jetzt  erst  befinden  wir  uns  im  Gebiet  de 
•     chemischen  Reaktion,   das   heif5t  in  dem  Erscheinungs 
gebiet,  wo  es  uns  gelingt,  dutch  die  Massenwirkung  diese 
Namens,   also  mit  Hilfe   des  Gesetzes   grower  Zahlen 
den  Aufbau  der  Substanz  zu  bewirken,  so  wie  es  un 
gelingen   kann,   durch  Umschiitteln   ein   Schock  Hakei 
und  Osen  einigermaJSen  ineinander  zu  fugen;  wahrenc 
es  niemals  gelingen  wird,  durch  Schiitteln  einen  Woll 
faden  in  einen  Stricks trump f  zu  verwandeln. 
Lebensstim-        An  diese  bezeichnende  Stelle  haben  wir  den  Grenz 
ganischen       pfeiler  zwischen  Atomwelt  und  organischer  Welt  gesetzt 
^^^^  in  der  Vorausahnung,  dal5  es  mechanischen  Mitteln  ni( 

gelingen  wird,  Organisches  in  Organisiertes  zu  verwan 
deln  und  somit  Urzeugung  zu  begehen :  es  sei  denn,  dal 
jemand  vermochte,  organische  Molekeln  einzeln  einzu 
fangen  und  anzuschirren.  Von  der  chemischen  Wei 
zur  Welt  der  Zelle  herrscht  das  organische  Geistesleben 
das  uns  im  Reiche  der  Pflanzen,  der  Tiere  und  Menschei 
scheinbar  so  verschiedengestaltig  entgegentritt,  und  da 
dennoch  im  innersten  Wesen  das  gleiche  bleibt:  da 
Leben  der  Selbsterhaltung  und  Arterhaltung,  das  Leber 
der  Reizwirkung,  der  Lustpramie  und  Schmerzstrafe 
des  Wettkampfes,  der  Artveredlung,  der  Zwecke  unc 
des  dunklen  Vordrangs.  Vom  Tropismus  der  Pflanzen- 
blatter  bis  zu  den  Abstraktionen  des  Gesetzgrebers  unter 
scheidet  sich  dies  Leben  nur  quantitativ  durch  die  In- 


I  lo 


tensitat  der  Empfindung  und  Vorstellungskraft;  die 
Gattung  des  Erlebens  andert  sich  nicht.  Dafi  jenseits 
dieses  vegetativ-begehrlichen  Lebens  das  Reich  der  Seele 
beginnt,  haben  wir  in  anderem  Zusammenhang  erkanntj 
vermessener  erscheint  es,  vom  voraufgehenden  primi- 
tiveren  Zustand,  von  demjenigen  geistigen  Leben,  das 
dem  Symbol  des  chemischen  Molekiils  oder  Atoms  ent- 
spricht,  ein  Bild  zu  beanspruchen. 

Vielleicht   konnte   man  dieser  Aufgabe    sich   nahern,  Lebensstim- 
wenn  man  beachtet,  dafi  auf  dem  Grunde  unseres  Ich,  organischen 
wenn  alles  Geschehen  und  Erleben,  alle  Anderung  und^^^^ 
Differenzierung  abgezogen  wird,  noch  etwasSubstantielles 
liegen  bleibt,  das  dem  Erlebnis  erst  Korper  und  Greif- 
barkeit  verleiht.  Es  lebt  in  unserer  Tiefe  etwas  Wesen- 
and   Halt-Gebendes,    das    sich   in   unserer  Empfindung 
wiederholt  und  verstarkt,  wenn  wir  uns  in  das  ereignislos 
Existierende,    leblos    genannte    einzuleben    versuchen. 
Manches  liefie   sich  dafiir  anfuhren,  dafi)  dieser  Faktor 
len   bewegungslosen   Geistesstand    der   Atomwelt   aus- 
Iriickt;    und   da    man    seine    Qualitat    sprachlich    kaum 
liiFerenzierter  bezeichnen  kann,   als  durch  den  BegrifF 
ler  substantiellen  Existenz,  so  ergibt  sich  eine  seltsame 
irweckung   des   spinozistischen  Ursatzes.     Ausdehnung 
md  Denken,  diese  hochst  disparaten  Attribute  der  Sub- 
tanz,  riicken  einander  naher,  indem  (erscheinungsmali5ig 
>etrachtet)  der  Stand  des  substantiellen  Vorhandenseins 
line  Vorstufe  der  geistigen  Regung  bedeutet. 

Dringen  wir  nun  riickwarts,  liber  das  Atom  hinaus- 
Teifend,  zu  weiteren  Auflosungen  vor,  so  haben  wir 
en  zweiten  unserer  Grenzpfeiler,  den  der  Atherwelt, 
uriickzulassen.  Das  Atom  enthiillt  sich  als  ein  Korper- 
ystem  hinlanglich  kleiner,  doch  keineswegs  unendlich 


III 


kleiner  Ordnung,  in  welchem  wir  kaum  etwas  anderes 

als  ein  Diminutiv  unserer  Weltkorpersysteme  erbllcken 

konnen.    Hier  jedoch  versagt  nicht  sowohl  unsere  Vor- 

stellung,  wie  unser  Bediirfnis  nach  Vorstellung  und  Hypo- 

these,   und   es  geniigt  uns   die  Erwagung,    dal5   in   der 

Stammtafel  der  Geistesaddition  ein  neues  Blatt  zu  be- 

ginnen  ware. 

Summieruiig        2^e^gt  somit  das  ganze,  unserem  Denken  und  Vor- 

es     eistes     g^.g||gj^  nachstliegende  Mittelgebiet  der  Erscheinungsserie 

uns  das  Phanomen  der  Summierung  und  der  Resultante 

des  Geistes,  so  konnen  wir  sagen,  dal5  nirgends  in  der 

Schopfung  einfacher  Geist  uns  entgegentritt,   und  dafi: 

wir  weder  Veranlassung  noch  Berechtigung  haben,  ein 

leiztes,  absolut  unteilbares  Geisteselement  anzunehmen 

oder  zu  fordern.    Aller  Geist,  der  uns  begegnet,  aufuns 

wirkt,  von  uns  leidet  oder  von  uns  vorausgesetzt  wird, 

Kollektivgeistist  kombinierter  Geist,  Kollektivgeist,  geistiges  Massen- 

phanomen.    Haben  wir  dieses  entscheidende  Prinzip  er^ 

kannt,  so  muI5  es  uns  gelingen,  die  Grunderscheinungen 

der  Geisteskombination,  vielleicht  selbst  gewisse  Funda- 

mente    einer  Geistesmechanik  gleichsam  im  Laborato- 

Moglichkeit  riumsexperiment  zu  studieren,  wenn  wir  diejenigen  Kol-i 

^^j^g  "^£^"  lektivgeister,   sei   es   animalischer,   sei   es  menschlichei 

schung         Zusammensetzung,  betrachten,  die  uns  in  ihrem  Aufbau 

von  innen  zuganglich  sind, 

Hiiten  wir  uns  vor  spielerischer  Verallgemeinerung 
nebensachlicher  und  zufalliger  Erscheinungen  —  und  diej 
wird  gelingen,  wenn  wir  das  Gewissen  der  Wesentlich- 
keit,  den  einzigen  Ratgeber  in  alien  Sorgen  des  Denkens 
nicht  betauben  — ,  so  durfen  wir  uns  auf  die  Reihen- 
haftigkeit  unseres  Denkens  stiitzen,  die,  projiziert,  al.* 
Reihenhaftigkeit   der  Erscheinung   zu  uns  zuriickkehrt 


III 


und  die  es  gleichzeitig  verlangt  und  rechtfertigt,  aus 
echten  Analogien  Erklarungen,  Anregungen  und  Gleich- 
nisse  zu  schopfen.  In  der  Untersuchung  kollektiven 
Geistes  werden  wir  vielleicht  dereinst  die  wahre  Schule 
aller  transzendenten  Experimentation  erblicken. 

Wesentlich  unterscheidet  sich  diese  Aufgabe  vonTranszen- 
denjenigen  bekannter  Disziplinen:  denn  es  handelt  sich  jj^g^-^jioQ 
iweder  um  die  psychologische  Beschreibung  von  Arten, 
fioch  um  Wechselwirkung,  noch  um  gemeinsame  Pro- 
duktion  dieser  Arten:  es  handelt  sich  um  nichts  weniger 
als  um  die  Verschmelzung  der  Menge  zum  Kollektiv- 
geschopf;  nicht  um  die  Summe  der  einzelnen  Bewufi)t- 
seinspotenzen,  sondern  um  die  Einheitspotenz  des  Ge- 
samtbewuJ&tseins.  Um  ein  Beispiel  des  taglichen  Lebens 
m  gebrauchen:  es  handelt  sich  nicht  um  die  Geschafte, 
Lebensschicksale  und  Gepflogenheiten  der  Summe  der 
5ozien,  sondern  um  das  geistige  Leben  und  Schicksal  der 
HIandelssozietat,  falls  diese  mit  einem  wahrhaft  leben- 
len,  denkenden  und  fuhlenden  Gesamtorganismus  ver- 
jlichen  werden  diirfte. 

Freilich  herrschen  in  der  grofi)en  Zahl  der  Kollektiv-  Summierungs- 
^eister  bedeutende  Verschiedenheiten  des  inneren  Zu- 
sammenhanges  und  somit  der  Festigkeit  des  Individual- 
/erbandes.  Je  nachdem  die  Summe  der  Intellekte  oder 
ier  Intellekt  der  Summe  das  hervortretende  Phanomen 
larstellt,  bilden  sich  Pluralitaten,  Scharen,  Horden,  Ge- 
neinschaften,  Organismen,  Gesamtindividuen.  Es  hat 
ndessen  den  Anschein,  als  ob  die  Festigkeit  der  Indi- 
ddualitatsbindung  sich  im  Wesen  des  Kollektivorganis- 
nus  insofern  ausdriickt,  als  die  lockerer  aufgebauten 
ndividuen,  bei  denen  das  Verbandselement  groC)ere  Ver- 
.ntwortlichkeit  und  Selbstandigkeit  behalt,  zu  gesteiger- 


113 


ter  passiver  Lebensziihlgkeit  neigen,  wahrend  die  engster 
Verbande,  die  das  Teilleben  mit  Entschiedenheit   deir 
Einheitswillen  unterwerfen,  erhohte  Aktivitat,  Initiative 
und  Bewegungsfreiheit  aufwelsen. 
Summierufig  des        Auf  den  crsten  Blick   mag  das  Auge,    das   auf  die 

raumlkh  Ge-         _  _  •    i      •       i  r-i 

trennten  Masseneinheit  der  greirbaren  Individuen  eingestellt  ist 

sich  scheuen,  geistige  Einheiten  dort  wahrzunehmen,  wc 
leibliche  Beriihrung  der  Korperelemente  nicht  stattfindet 
Das  Auge  tauscht  sich.  Eine  leibliche  Beriihrung  unc 
liickenlose  Anlagerung  von  Korperteilen,  Zellen,  Mole 
keln,  Atomen,  Atherteilen  findet  nirgends  in  der  Wei 
statt.  Konnten  wir  das  massivste  Metall  ausreichend  ver 
grofiern,  so  wiirde  es  uns  als  ein  System  frei  im  Raun 
verstreuter  Korner  erscheinen;  und  konnten  wir  wieder 
um  diese  Korner  vergroII)ern,  so  enthiillten  sie  sich  aber 
mals  als  viel  leerer  Raum  und  wenig  Atherstaub.  Au: 
so  luftigen  Bildungen  setzt  sich  der  luftigere  Schaun 
unserer  Zellen  zusammen;  die  kleinsten  Massenteih 
unseres  Gehirnes  schweben  in  Abstanden,  die  ein  Viel 
faches  ihrer  Durchmesser  sind;  und  in  einer  Welt,  ii 
der  die  Sachen  sich,  wie  der  Dichter  sagt,  hart  im  Raum( 
stofien,  beriihrt  sich  tatsachlich  nichts.  In  den  Handei 
des  Polyphem  rundet  sich  eine  Schafherde  oder  ein( 
SchifFsmannschaft  zum  korperfesten  Gebilde,  wahrend  ii 
imseren  Augen  diese  Ansammlungen  ohne  starren  Zu 
sammenhang  bestehen,  und  nur  durch  innere  Krafte  ii 
sich  gebunden,  eine  beliebige  Beweglichkeit,  ja  vollkom 
mene  Loslosung  ihren  Teilen  gestatten.  gH 

Ist  der  Einwand  vom  scheinbar  starren,  geschlossenei 
und  luckenlosen  Aufbau  der  Individuen  einmal  beseitigt 
so  kann  die  Frage  iiberhaupt  nicht  mehr  erhoben  werden 
ob   es  gestattet   sei     oder   nicht,    Kollektiv gebilde 


114 


Ameisenhaufen,  Bienensctiwarme,  GrofistSdte,  Volksver- 
sammlungen  als  geistige  Einhelten  anzusprechen ;  mit 
hoherem  Recht  diirfte  man  die  innere  Einheit  jedes  frem- 
den  Geschopfes  bezweifeln.  Denn  an  dem  inneren  Leben 
einer  groJ&en  Zahl  solcher  Kollektiveinheiten  nehmen  wir 
teil;  und  wenn  wir  uns  auch  der  hoheren  Einheit  nicht 
dauernd  bewuC)t  sein  konnen,  so  fuhlen  wir  doch  gewisse 
Riickwlrkungen  des  Gesamtintellekts  auf  unser  Innen- 
leben,  die  uns  eine  libergeordnete  Bewufitseinssphare 
ifiihlbar  machen.  Wer  in  einer  gefahrdeten  Menschen- 
gruppe,  in  einer  erregten  Stadt,  in  einer  stiirmlschen 
Versammlung  sich  bewegt  hat,  der  kennt  die  spezifische, 
nicht  vergleichbare  Doppelwirkung  in  Gefiihl,  Gedanken 
und  Handlung  des  kompakten,  falLbaren  Massengeistes 
auf  denEinzelgeist,  und  desEinzelgeistes  auf  den  Massen- 
geist. 

Von  alien  Kollektivgebilden  haben  vielleicht  die  Gebilde  des 
menschlichen  Siedelungen  und  unter  ihnen  die  GroI5-  Qejsteg 
stadte  am  sichtbarsten  den  Charakter  des  animalischen 
Einzelorganismus  und  der  geistigen  Individualeinheit  an- 
genommen.  Der  Planetenbewohner,  der  die  nachtlichen 
Blinkfeuer  unserer  Ortschaften  und  den  jahreszeitlichen 
Farbwechsel  unserer  Felder  beobachtet,  wird  mit  Recht 
lie  leuchtenden  Organismen  als  lebendige  Hauptein- 
leiten  unserer  tellurischen  Fauna  fur  das  Wechselspiel 
hrer  Umgebung  verantwortlich  machen. 

Im  vegetativen  Sinne  liegt  es  nahe  und  ist  es  oft  ge-  Siedelungen 
Jchehen,  die  Mechanik  stadtischer  Gebilde  als  Funktionen  ^^'^^^^"^"^'^^ 
iines  organischenLeibes  undLebens  aufzufassen.  Lebens-  A'ujieres  Biid 
itoiFe,BaustolFe  und  AustauschstofFe  mineralischer,pflanz- 
icher  und  tierischer  Herkunft  zieht  das  steinbekrustete 
^eschopf   durch    fliissige    und    metallische    Saugkanale 

8^  Uy 


herbei  und  vereinigt  sie,  nach  Arten  geordnet  und  zu 
Verdauung  hergerichtet.  Der  Kreislauf,  der  in  dei 
Strafienadern  pulslert,  erfaJ&t  den  NahrstofF  und  setz 
ihn  ab  als  Zellenkorper  an  der  bauenden  Peripherie,  ode 
als  Zelleninhalt  im  arbeitenden  und  verzehrenden  Innern 
Zum  Teil  wird  dieser  Zelleninhalt  als  Verbrennungsstoi 
vernichtet:  Kohle  entbindet  auf  den  Rosten  der  Ofen  un 
Kessel  Warme  und  Energle;  Nahrung  spendet  mensch 
lichen  und  tierischen  Kraft-  und  Bewufitseinseinheitei 
Leben,  Arbeits-  und  Teilungsfahigkeit.  Zum  Teil  wir< 
der  Zelleninhalt  verwandelt  und  veredelt.  Als  Gerar 
Werkzeug  oder  Schmuckwerk  setzt  er  sich  im  Inner 
und  Aufiern  der  Steinzellen  ab  und  wird  zum  feste;: 
oder  beweglichen  Zubehor  des  Baus.  Als  Kleidungj 
hiille  begleitet  er  isolierend  die  bewegten  mensct 
lichen  Einheiten.  Als  Tauschobjekt  entstromt  er  der 
Gesamtorganismus,  umneueLebensstofFe  herbeizulocker 
Hilfsmaterialien  und  Hilfskrafte  durchdringen  den  ste' 
nernen  Zellenleib.  Sauerstoff  leiht  die  Atmosphare 
Bache  und  Quellen  reinen  Wassers  durchspiilen  die  Ader 
und  Raume,  Strome  brennbarer  Luft  und  elektrische 
Energie  schafFen  den  Ausgleich  der  Krafte,  der  Temp€ 
raturen  und  Lichtbestrahlungen.  Erstorbene  StofFe  un 
Gifte,  in  weitem  Umkreis  ausgespien,  werden  dure 
Sonne,  Luft  und  Erde  gereinigt  und  gesanftigt. 
Inneres  Biid  Im  Innern,  durch  gemauerte  V^n^n,  Gefafie  und  Ar 
terien  rinnt  bei  Tag  und  Nacht  der  Umlauf  belebter  un 
unbelebter  Massen.  Einzeln  oder  in  schnell  bewegte 
Gefa{5en  vereinigt  gleiten  Menschenkorper  periodiso 
durch  die  Kanale,  stauen  sich  entziindungsahnlich  b( 
Storungen  und  Zvvischenfallen,  beschleunigen  und  vei 
zogern  sich  nach  Tageszeit  und  Witterung.   Viele  diese 

ii5 


:VIensclienk6rper  dienen  dem  Transport  und  der  Ver- 
irbeitung  der  Zelleninhalte,  andere  dienen  der  Uber- 
yachung,  dem  Schutz,  und  der  Ordnung,  andere  der  Ver- 
:eidigung,  der  Heilung,  der  Anleitung  und  Aufmunterung 
hrer  Genossen.  Welche  verrichten  ihre  Arbeit  mit 
\rmen  und  Beinen,  andere  mit  Zungen  und  Handen. 
^eben  den  Lebensstromen  aber  huschen  die  Nerven- 
ignale  der  tonenden  und  leuchtenden  Meldungs- 
lymbole. 

Dieser  Korper  wachst,  wie  jeder  Organismus,  nicht/^^w 
)loii5  dutch  Vermehrung,  sondern  zugleich  durch  Erneue- 
ung  seiner  Zellen.  Umlagerungen,  Verschmelzungen, 
feilungen  finden  statt,  Partikel  sterben  ab,  werden  aus- 
;eschieden,  Wunden  fiillen  sich  auf,  vernarben.  Der 
jesamtkorper  teilt  sich,  sendet  Ableger  in  die  Nahe 
•der  Feme,  altert,  stirbt,  versinkt  im  Erdreich  und  nahrt 
leue  Lebenskrafte  auf  seinem  Hiigel. 

Eine  Beweiskraft  fiir  das  Vorhandensein  kollektiven  Geist 
ieistes  braucht  diesen  korperlichen  Analogien  nicht  zu- 
emutet  noch  zugesprochen  zu  werden,  denn  in  unserer 
igenen  inneren  Bewufitseinsaddition  liegt  die  Evidenz 
er  geistigen  Summierung.  Umgekehrt  lage  ^ie  Last  des 
iegenbeweises  demjenigen  ob,  der  behaupten  woUte: 
eistiger  Konnex  zwischen  Zellen  oder  anderen  Einheiten 
si  nur  dann  moglich,  wenn  diese  Einheiten,  die,  wie 
'ir  wissen,  sich  geometrisch  niemals  beriihren  konnen, 
uf  Millimeterbruchteile  genahert  sind;  eine  Behauptung, 
ie  ebenso  willkiirlich  ware,  wie  etwa  die,  dai5  jenseits 
ines  Lichtjahres  die  Gravitation  aufhore.  Nur  deshalb 
urften  wir  bei  der  Organismenahnlichkeit  stadtischer 
tebilde  einen  Augenblick  verweilen,  weil  es  sich  ver- 
)hnte,    der   ungewohnten  Vorstellung  vom   kollektiv- 


117 


geisrigen  Individuum  einen  bildhaft  materiellen  Riick- 
halt  zu  geben. 

Bevor  wir  nun  den  geistigen  Mechanismus  der  Kol- 
lektivgebilde  beriihren,  der  nicht  nur  fiir  unsere  Er- 
wagungen,  sondern  fur  alle  kiinfrige  Geisteskunde  ein 
wichtiges,  vielleicht  das  bedeutsamste  Experimentations- 
gebiet  abzugeben  bestimmt  ist,  haben  wir  die  heutige 
Orientierung  der  Wissenschaft  in  der  Richtung  dieser 
Fragen  zu  revidieren. 
Anmerkung  Ein  edler,  fruchttragender  Zweig  des  jungeren  Wis- 
psychologie"  ^^"^  fiihrt  einen  Namen,  der  uns  reichen  Aufschlufi  iiber 
den  Mechanismus  des  kollektiven  Denkens,  Fiihlens  und 
Wollens  verspricht:  den  Namen  der  Volkerpsychologie. 
Aber  diese  Wissenschaft  ist  bis  heute  vorwiegend  eine 
geschichtiiche  und  naturhistorische  geblieben.  Ihre  be- 
deutendsten  Ergebnisse  liegen  in  der  Nachbarschaft  der 
Kulturgeschichte  und  der  Volkerkunde;  wir  erfahren, 
welche  Vorstellungen,  Gewohnheiten,  Satzungen  und 
Organisationen,  welche  sprachlichen,  mythischen,  kiinst- 
lerischen  und  religiosen  Ausdrucksformen  die  Volks- 
geister  erzeugt  haben,  wir  erhalten  selbst  einen  Begriff! 
wie  auli^ere  Bedingungen  undEreignisse  zu  inneren  Wand- 
lungen  und  Entwicklungen  beitragen,  wie  endlich  diese 
inneren  Entwicklungen  historisch  fliefiend  ineinandeii 
iibergehen.  Und  wie  iiberall,  wo  wir  Kontinuitaten  er- 
blicken,  und  wo  Ursachenphanomene  an  den  Eingangs- 
toren  der  Periodenabschnitte  Wache  halten,  glauben  wii 
innerste  Zusammenhange  zu  verstehen.  In  Wirklichkeii  i 
aber  ist,  was  wir  erblickt  haben,  psychologisch  gestimmte 
Entwicklungsgeschichte,  und  was  wir  zu  verstehen  glau- 
ben, sind  Motivationen,  nicht  Seelengesetze.  Wenn  icl 
die   Geschichte,   die   Freud  en,   Sorgen  und   Leistunger 

Ii8 


einer  Menschenjugend  erzahle  und  erlautere,  so  schafFe 
ich  Material  fiir  Seelenkunde,  nicht  Seelenkunde  selbst, 
und  wenn  ich  feststelle,  dafi  zehntausend  Menschen  den 
Trafalgarplatz  verliell)en,  weil  Militar  anriickte,  so  ist 
das  eine  ausreichende  Begriindung,  aber  nicht  die  Auf- 
losung  geistiger  Massenerscheinung.  Wenn  endlich  Spra- 
chen,  Kunst  und  Religion  als  Produkte  einer  Gemein- 
schaft  erkannt,  gewiirdigt  und  durchforscht  werden,  so 
ist  noch  immer  das  Eine  nicht  geschehen;  beantwortet 
namlich:  wie  kann  eine  Gemeinschaft  schafFen?  Wie 
kann  sie  denken  und  fiihlen?  Wohlgemerkt,  die  Ge- 
meinschaft als  Gesamtwesen,  nicht  als  Summe  der  Ein- 
zelwesen;  denn  eine  beliebige  Menschensumme  schafFt 
nichts,  es  sei  denn  mechanisch  und  auf  Kommando. 

Die  Franzosen,  von  jeher  mit  feiner  Witterung  he- Franxosische 
gabt  fiir  das,  was  in  Technik,  Wissenschaft  und  Mode^^^^^„ 
das  nachste  Bediirfnis  sein  wird,  scheinen  als  erste  mit 
der  Erforschung   kollektiver  Geister  Ernst  zu  machen. 
Das  Grundgesetz  geistiger  Wirkung  in  additiven  Gebil- 
den  glaubt  man  im  Prinzip  der  Nachahmung  gefunden 
zu  haben,  und  eine  geistvolle  Charakteristik  der  intel- 
lektuellen    Niveauanderung,   die    vorgeht,    wenn  Indi-       . 
viduen   sich   zu   Menschenmassen   summieren,   ist   ge- 
schafFen. 

Wir  wollen  bei   diesem  angeblichen   Gesetz  nicht 

lange  verweilen;  doch  sei  bemerkt,  daI5  die  Verkiindung 

des  Imitationsprinzips  einen  Trugschlufi)  nahelegt,    der 

aus  der  Doppelbedeutung  des  romanischen  Wortes  ein- Nachahmung  u^Kf 

i  mal  den  BegriiF  der  „Nachfolge",  ein  andermal  den  der^  ^'/^^' 

i  „Nachahmung"  herausliest.  Wenn  um  sieben  Uhr  abends 

f  zuerst  ein  Mensch,  dann  ein  zweiter,  in  kurzem  Abstand 

zehn,  dann  hundert  einen  Kirchhof  verlassen,  so  kann 


119 


1 


man  franzosisch  sagen:  alle  handelten  in  der  ImitatiS 
des  ersten  —  denn  sie  folgten  seiner  Handlungsweise. 
In  Wirklichkeit  wufiten  sie  vom  ersten  gar  nichts;  sie 
wull)ten  aber  alle,  dafi)  um  sieben  Uhr  geschlossen  wird, 
und  handelten,  jeder  auf  eigenen  Antrieb,  spontan  und 
originar.  Wird  somit  hier  das  Wort  Imitation  im  Sinne 
der  Nachfolge  gebraucht,  so  erklart  es  nichts  und  be- 
schreibt  irrefuhrend;  wird  es  im  Sinne  der  Nach- 
ahmung  gebraucht,  so  sagt  es  falsches,  indem  es  zu 
viel  sagt. 

Denn  eine  eigentliche  Neigung  des  erwachsenenMen- 
schen  zu  gewohnheitlichem  Kopieren  besteht  nicht;  die 
ofFenkundigen  Faille  bewu£)ter  Nachahmung,  die  dem 
Franzosen  besonders  vor  Augen  liegen,  wie  etwa  des 
Modemitmachens,  sind  komplizierte  Zweckvorgange,  bei 
denen  eine  Klassenzugehorigkeit  nicht  anders  dargetan 
oder  vorgetauscht  werden  kann,  als  durch  die  an  sich 
unbequeme  Kopierung  eines  Vorbildes.  Bedenkt  man, 
wie  miihsam  unsere  Erziehung  die  Nachahmung  eines  un- 
ablassig  demonstrierten  Vorbildes  erzwingt,  mit  welchen 
Schwierigkeiten  eine  bewahrte  Denkform  oder  ein  niitz- 
licher  Kunstgriff  widerstrebender  Gewohnheit  aufge- 
drangt  werden  mul5,  so  wird  man  als  Haupterscheinung 
weit  eher  die  Gegenkrafte  als  den  Hang  zur  Nachahmung 
in  Anspruch  nehmen. 
Soxhie  GruHO-  Schwerlich  wird  universell  ein  soziales  Grundgesetz 
gesf.T^  sich  aufstellen  lassen,  das  heifit  ein  solches,  aus  dem  alle 

Wirkungen  sich  als  Einzelfalle  ableiten:  denn  die  Ein-' 
fliisse  von  Mensch  auf  Mensch  sind  vielfaltig  und  wider- 
sprechend;  Suggestion  und  MiC)trauen,  Abhangigkeit  und 
Revoke,  Bewunderung  und  Ablehnung,  Tauschung  und 
Vorsicht,  Neuerungssucht  und  Gewohnheit  halten  sich 


die  Wage  und  lassen  sich  dennoch  nicht  mit  gleichem 
Kraftmal)5  messen.  Eher  diirfte  man  von  Hauptgesetzen 
reden,  namlich  solchen,  die  verhaltnismaC)ig  grofie  Wir- 
kungsgebiete  liberdecken,  ohne  AusschlieI51ichkeit  zu  be- 
anspruchen.  Am  sichersten  wiirde  man  nach  Analogic 
der  Mechanik  von  der  allgemeinen  Eigenschaft  der  gei- 
stigen  Tragheit  ausgehen,  die  sich  in  der  Neigung  zum 
Gewohnten,  in  der  Abneigung  der  Menschen  gegen  das 
schmerzende  Licht  neuer  Gedanken  und  Entschliisse  aus- 
spricht,  und  die  vielleicht  in  ihrer  Gesamtsumme  das 
starkste  geistige  Moment  auf  Erden  bedeutet.  Diese 
Tragheit  aber  wird  nur  dutch  Vorteile  liberwunden,  die 
in  ihrer  eigensten  Richtung  liegen:  dutch  Vorteile  der 
Bequemlichkeit,  das  heill)t  der  Krafteersparnis.  1st  das 
Vorbild  einer  Neuerung  gegeben,  so  tritt  zunachst  die 
ganze  Abneigung  gewohnter  Manier  ihm  entgegen.  Hat 
aber  notgedrungen,  oder  aus  abseitigem  Zweckgrund, 
der  Eine  oder  der  Andere  das  Beispiel  aufgenommen; 
ergibt  sich  aus  seiner  Handhabung  eine  Bequemlichkeit, 
eine  leichtere  Routine,  so  schreitet  die  Ansteckung  vor- 
warts,  wie  ein  Bazillenheer,  das  mit  jedem  neuen  Opfer 
auch  eine  neue  Brutstatte  gewinnt.  Redensarten,  die 
eine  neue  Situation  dutch  Anklang  an  eine  altbekannte 
etledigen,  Metkwotte,  die  ein  eigenes  Uiteil  etspaten 
and  dennoch  den  Gegenstand  abtun,  Sptachveteinfachun- 
gen  und  Wottvetbindungen,  die  fotsch  und  witzig  klingen 
und  Umschteibungen  etsetzen,  Gebrauchsgegenstande, 
die  einen  HandgrifF  uberfliissig  machen,  Stichworte,  Prin- 
zipien  undldeen,  die  vieldeutig  und  dennoch  stark  gefarbt 
groiJ)e  Gebiete  ungeklarter  Wiinsche  programmatisch  und 
parteibildend  zusammenfassen:  alle  diese  Vehikel  er- 
obern   die   Erde,   indem   sie    Tragheit  durch   Tragheit, 


I 


121 


Geset%  der  Be- 

quemiicbkeit 


Grundfrage 
des  kollekti- 
ven  Phano- 
mens 


namlich  durch  Krafteersparnis  und  Bequemlichkeit 
winden. 

Die  Annahme  des  Gesetzes  der  Tragheit  und  Bequem- 
lichkeit erklart  jenen  Dreischritt  ira  Tempo  der  mensch- 
lichen  Kulturprozession,  der  das  Gliick  aller  grolSen 
Neuerer  zerstampft  hat:  zogernd  feindlicher  Auftakt; 
denn  die  neue  Bequemlichkeit  zeigt  sich  zuerst  von 
ilirer  verhafiten  neuen  Seite,  noch  nicht  von  der  be- 
quemen.  Der  Neuerer  wird  verfolgt  und  verspottet, 
langsam  findet  er  ein  Gefolge  von  originalsiichtigen,  ver- 
sehentlichen  Aposteln,  die  ihff  ausbreiten  und  ausbeuten. 
Haupttempo  der  Bewegung:  die  Krafteersparnis  ist  an- 
erkannt,  die  Neuerung  schlagt  ein.  Dem  Neuerer  weist 
man  nach,  um  lastiger  Abhangigkeit  zu  entrinnen,  dal^ 
er  sie  entlehnt  hat.  Nachtakt:  die  Sache  hat  ihren  Dienst 
getan,  sie  ist  zur  Trivialitat  geworden,  man  ist  ihrer 
uberdriissig;  der  inzwischen  verstorbene  Neuerer  gilt 
als  liberwunden  und  wird  historisch  gewiirdigt. 

Aber  dies  ganze  Gebiet  der  franzosischen  Forschung 
mit  seinem  Ausblick  auf  ein  soziales  Grund-  oder  Haupt- 
gesetz  enthalt  so  wenig  eine  Antwort  auf  unsere  Frage 
wie  die  deutsche  Volkerpsychologie.  Denn  wir  wollen 
nicht  wissen,  welchen  mechanischen  Weg  der  Ausbrei- 
tung  von  einemGehirn  zum  anderen  eineReizung  nimmt, 
noch  wie  eine  Majoritat  oder  Grof5zahl  von  gleichmai5ig 
gereizten  Gehirnen  statistisch  zustande  kommt:  was  wir 
brauchen,  ist  vielmehr  ein  wenn  auch  noch  so  primitiver 
Einblick  in  das  Wesen  des  Kollektivgeistes.  Wie  kann 
eine  Gemeinschaft,  ein  Volk,  eine  Versammlung,  eine 
Stadt  im  Sinne  und  in  der  Art  eines  Einzelwesens  den- 
ken,  fiihlen,  wollen?  Und  wie  geht  es  inneriich  im  Kol- 
lektivwesen  zu,  wenn  dies  geschieht.'' 


12) 


Sicherlich  lassen  sich  am  deutlichsten  die  hochsten 
Erregungszustande  beobachten.  Nehmen  wir  als  Beispiel 
eine  revolutionar  bewegte  Stadt. 

Es  ist  zunachst  durchaus  nicht  gesagt,  dal5  die  Summe  Revoiutionare 
der  Einzelerregungen  hier  ein  Maximum  darstellen  mufi. 
Es  ware  zum  Beispiel  sehr  wohl  denkbar,  dal5  eine  Reihe 
von  Arbeitseinstellungen  oder  Fallissementen  eine  weit 
gr6il)ere  Anzahl  von  Individuen  in  eine  durchschnittlich 
hohere  Zorneserregung  versetzte  als  die  revolutionare 
Krisis,  und  dali5  dennoch  nicht  ein  Mensch  geopfert, 
nicht  eine  Fensterscheibe  zerschlagen  wiirde,  —  wobei 
Gegenmalbnahmen  polizeilicher  oder  anderer  Art  selbst- 
verstandlich  auI5er  Ansatz  bleiben. 

Dennoch  wird  das  Fiebern  des  Kollektivgeistes,  die 
eigentliche  revolutionare  Stimmung,  ganz  andere  Wir- 
kungen  ausiiben  als  jene  Erregungssummen;  auch  wenn 
diese  Stimmung  durchaus  nicht  alle  Einwohner  und  die 
meisten  unter  ihnen  durchaus  nicht  sehr  tie fgrei fend 
gepackt  hat.  Alios  wird  in  dieser  Stadt  verandert  schei- 
nen:  jede  Promenade  kann  sich  momentan  in  eine 
Volksversammlung  verwandeln  —  was  zu  anderer  Zeit 
selbst  dann  nicht  geschahe,  wenn  willkiirlich  aller  Ver- 
kehr  gesperrt  wiirde  — ;  jede  Versammlung  wird  uner- 
wartete  und  meistens  einhellige  Beschliisse  bringen; 
die  fremden  StralLenganger  werden  sich  begriifien  und 
befreunden;  fleifiige  und  politisch  indifferente  Men- 
schen  werden  ihren  Geschaften  fernbleiben  und  fiir 
Ziele  leben,  die  ihnen  gleichgiiltig  sind;  Frauen  werden 
ihre  Wirtschaft  und  ihre  Kinder  verlassen,  um  Reden 
zu  horen,  die  sie  nicht  verstehen;  entschlossene  Glieder 
der  Behorden,  die  nie  einen  Einwand  gelten  liefien, 
werden,   nicht  aus   Furcht,   sondern  aus   ErgrifFenheit, 


123 


parlamentieren;   Gewinnsucht,    Geschaftssinn,  Sparsam- 

keit,  Zuriickhaltung  und  Subordination  sind  beiseite  ge- 

setzt  zugunsten  kaum  verstandener,  hochst  verschieden 

aufgefall)ter  Abstraktionen  und  Begriffe,   die  man  noch 

vor  wenigen  Wochen  bei  der  Zeitungslektiire  gewohn- 

heitsmaI5ig  iiberschlug. 

Hier  stehen  wir  nicht  mehr  vor  einer  Summe  von 

Einzelerscheinungen,  sondern  vor  dem  Phanomen  eines 

sichtbar  gewordenen  KoUektivempfindens.    Was  ist  ge- 

schehen? 

Gesetz  des         Es  soil  sogleich  das  Gesetz  ausgesprochen  werden, 
koUektiven  ,        ,  .  •  t^    i  .   ,        .      ,  . 

Phanomens^^^   hier  zu  vertreten  ist.    Ls  besagt:  nichts  ist  hmzu- 

getreten,  aber  es  sind  Hemmungen  aufgehoben.  Ge- 
wohnte  Hemmungen  umschliefien  fiir  gewohnlich,  gleich 
kapillaren  Hautchen,  die  Tropfen  der  Einzelempfindun- 
gen  und  hindern  sie  am  Zusammenflieften.  Zerreifit  die 
Hemmung,  so  rinnen  die  Einzelempfindungen  zu  einem 
Gesamtbewufitsein  zusammen  und  bestimmen  das  Kol- 
lektivphanomen.  Mit  anderen  Worten:  in  jeder  Gemein- 
schaft  ist  jede  Stimmung  in  beliebigen  Exemplaren  vor- 
ratig,  gleich  trockenen  Farbkornern,  die  in  Sand  gemischt 
sind.  Verschmelzen  diese  Elemente  zur  Losung,  etwa 
weil  die  Substanz  befeuchtet  wurde,  so  erscheint  plotz- 
lich  die  ganze  Mischung  gefarbt. 
Chauvinismus  Ein  weiteres  Beispiel  soil  diese  Gesetzmafiigkeit  er- 
lautern  und  vertiefen.  Wir  alle  kennen  das  Problem 
einer  chauvinistischen  Nation.  Worin  besteht  es?  Sind 
alleGlieder  dieser  Nation  ein  wenig  Chauvinisten?  Durch- 
aus  nicht.  Weitaus  die  Mehrzahl  ist  friedlich,  j a  indif- 
ferent. Sind  zufallig  alle  Einflufireichen  oder  ihr  groI5er 
Teil  chauvinistisch  gestimmt?  Noch  weniger.  Je  grol^er 
die  Verantwortung,  um  so  angstlicher  die  Vorsicht.    Gibt 


124 


es  chauvinistische  Perioden,  in  denen  Leute  rabiat  wer- 
den,  die  es  sonst  nicht  sind?  Vielleicht,  aber  in  ge- 
ringem  Umfapg.  Die  Stromung  hat  eher  die  Neigung, 
allmahlich  abzuflauen.  Was  also  ist  es,  das  die  Rache- 
erinnerung  einer  Nation  ausmacht,  und  in  jedem  Augen- 
blick  ihr  Kollektivbewufitsein  bis  zur  Leidenschaft  er- 
greifen  kann?  Es  gibt  in  jeder  grofien  Gemeinschaft  und 
zu  jeder  Zeit  Vertreter  jeder  Idiosynkrasie.  Es  gibt 
soundsoviel  Tausend,  die  an  Platzfurcht  leiden,  sound- 
soviel,  die  Musik  verabscheuen  oder  Briefmarken  sam- 
meln,  oder  vegetarisch  leben,  oder  Luftzug  fiirchten, 
oder  Freitags  nicht  reisen  — :  kurz,  Menschen,  die  irgend 
etwas  Absonderliches  lieben  oder  hassen,  denken  oder 
treiben. 

So  gibt  es  denn  auch  in  jeder  Nation  Monomznen  Alonomanien 
bestimmter  Erinnerungen  und  bestimmterWiinsche;  noch 
heute  leben  in  unserer  Mitte  Achtundvierziger,  Bismarck- 
feinde,  Wei  fen,  Reichsgegner,  wenn  auch  nicht  mit  der 
Bewufitseinseinheit  und  Solidaritat  der  nachbarlichen 
Chauvinisten.  Nahert  man  sich  diesen  Naturen,  so  er- 
gibt  sich,  dai5  in  einer  Art  von  monomaner  Spannung 
die  Sonderidee  den  Hauptbestand  ihrer  geistigen  Inventur 
ausmacht. 

Die    latente   Erinnerungsfahigkeit    eines    KoUektiv- Latentes   Be- 
geistes  bedeutet   somit,  daI5  Elemente  vorhanden  sind,  lektiven  Gei- 
die  man  verkorperte  Einzel erinnerungen  nennen  kann;^^^^ 
Elemente,  deren  Aufgabe  darin  besteht,  maniakalisch  den 
Funken  des  Erinnerns  in  sich  wachzuhalten  und  dutch 
die  Einseitigkeit  ihrer  Besessenheit  zur  Arbeitsteilung 
des  kollektiven  Denkens  beizutragen.    Das  akute  Erinne- 
rungsphanomen   des   Kollektivgeistes   kommt  zustande, 
wenn  die  Spezialkrafte  einer  bestimmten  Gattung  sich 


125 


ihrer  Isolation  entledigen,  und  durch  ihren  Zusammen- 
klang  das  neutrale  Gleichgewicht  des  Komplexes  auf- 
heben.  Jedes  mogliche  Erinnern  ist  zu  jeder  Zeit  latent 
vorhanden:  aber  die  Mannigfaltigkeit  der  Richtimgen 
hebt  sich  zum  liberwiegenden  Teile  nach  dem  Gesetz 
der  grofien  Zahlen  so  lange  auf,  bis  durch  partiellen 
Zusammenschlul5  die  Uberschreitung  der  Bewui^tseins- 
schwelle  erzwungen  wird. 

Das  Analoge  ereignet  sich  auf  dem  Gebiet  der  Ge- 
fiihle.  Eine  arbeitsam  besonnene  Stadt  schaumt  auf  in 
Karnevalsfreuden.  Gewifi,  auch  der  ruhige  Burger  wird 
vom  Taumel  ergrifFen;  doch  angeblasen  wurde  die 
Flamme  von  eigentlichen  Karnevalsnaturen,  die  zwolf 
Monate  des  Jahres  von  lustigen  Streichen  traumen.  Nun 
diirfen  sie  sich  ihrer  Isolierung  entledigen  und  zwei  Tage 
lang  herrschen:  und  das  GesamtbewuStsein  wird  bis 
Aschermittwoch  friih  so  hoch  gesteigert,  daJ&  alle  Ent- 
schliisse  dieser  sorgenlosen  Zeit  die  Spuren  ihrer  Unge- 
bundenheit  verraten. 
Gesetz  vom  Nochmals  aufs  kiirzeste  formuliert:  Veranlagung  kol- 
kollektiven  ^^^^^^^^  Geister  bedeutet  das  Vorhandensein  pradispo- 
Geisces  nierter  Elemente;  Regung  kollektiver  Geister  bedeutet 
Pravalieren  dieser  Elemente.  Dies  Pravalieren  tritt  ein, 
wenn  infolge  eines  aulI)erenoder  inneren  Anlasses  die 
hemmende  Isolation  der  monomanen  Elemente  durch- 
brochen  ist;  sie  wird  durchbrochen,  sobald  der  Erregungs- 
zustand  des  Einzelelements  ein  bestimmtes  Mafi)  iiber- 
schrltten  hat,  so  dafi  er  die  mehr  oder  minder  schwierige 
Verblndung  mit  seines  Gleichen  im  Sinne  einer  geistigen 
Addition  erstrebt  und  erlangt. 

Es  sei  bemerkt,  dail)  wir  hier  das  ofter  gesichtete  Ad- 
ditionsmoment  des  Geistes  zum  ersten  Male  in  nachster 


126 


I 


Nahe  streifen;  seine  endgiiltige  Priifung  steht  uns  bevor 
und  soil  dazu  beitragen,  das  Wesen  des  kollektiven 
Geistesphanomens  endgultig  zu  klaren. 

Wenn  wir  schwanken,  ob  wir  die  ausgesprochene  Be- 
obachtung  als  ein  Fundamentalgesetz  des  kollektiven 
Denkens  bezeichnen  diirfen,  so  kommt  die  entschiedene 
Empfindung  uns  zu  Hilfe:  dalJb  das  Gesetz  in  unver- 
anderter  Form  auch  fur  dasjenige  Kollektivwesen  gilt, 
das  wir  als  unser  eigenes  individuelles  menschliches 
Bewufitsein  kennen. 

Auch  in  unserem  Geistesleben  tritt  nichts  zutage,  Analogic desEin 

,  .  1    •        1         rrn     r'  II  xelbenuufitscins 

was  nicht  zuvor  schweigend  in  den  Tieten  geruht  hatte. 
Das  Vergessene  schlummert  und  ist  dennoch  gegen- 
wartig;  das  scheinbar  Neue  ist  ein  UnbewuI5tes,  das 
plotzlich  erwacht.  In  dunklem  Grunde  liegt  jede  Leiden- 
schaft,  jeder  Wahnsinn,  jede  Ahnung  und  jede  Erkenntnis; 
sie  steigen  empor,  und  wir  fuhlen,  dal5  wir  von  jeher 
mit  diesen  Damonen  vertraut  waren.  Gefesselt  oder 
befreit  sind  sie  <jenossen  unseres  inneren  Reiches,  und 
das  Spiel  unseres  BewuGtseins  ist  nichts  als  Bandigung 
und  Entbindung  maniakalischer  Elemente. 

Die  Arbeitsteilung  durch  idiosynkratische  oder  ein-Latente  Wll- 

.   ,  T-i  1*         •      •       n        •   1     :i       n      lenselemeiite 

seitig  genchtete  Elemente,  die  wir  im  Bereich  des  Be- j^QUej^jj^gQ 

wul^tseins  beobachtet  haben,  begegnet  uns  wieder  beim  ^^^^tes 

kollektiven  Willen.    Es  ist  mehr  als  eine  Fiktion,  es  ist 

gewissermafien  schon  eine  rohe  Annaherung,  wenn  man 

iieute  den  zivilisierten  Volkswillen  durch  parlamentarische 

\  Vertretung  verkdrpert  erachtet.  Alle  Parlamente  unserer 

Zeit  sind  Ausgleichsversuche  zwischen  idionsykratischen 

Parteikraften,   und    politische   Parteien   wiederum    sind 

[nteressentenvereinigungen  unter    dem  Anblick  einsei- 

iger  Sammelprinzipien.    Worin  besteht  das  Wollen  und 


127 


BeschiieJl)en  dieser  Organismen?  Zuweilen  sind  wir  noch 
geneigt,  im  Sinne  der  platonischen  Philosophenherrschaft 
uns  vorzustellen,  dafi  wahrheitsuchende  Geister  im 
Wechselfeuer  die  Probleme  des  Volkerschicksals  nieder- 
schmelzen;  wahrend  in  Wirklichkeit  festgelegte  Parteien, 
und  innerhalb  der  Parteien  eintonig  abgestimmte  Einzel- 
geister  ilire  Devisen  wiederholen  und  zu  dem  Sonder- 
falle  in  unbeholfene  Beziehung  setzen:  ein  KoUegium  von 
Arzten,  von  denen  der  eine  nur  den  Aderlafi,  der  andere 
nur  die  Purganz  und  der  dritte  nur  die  Wasserkur  gelter 
lal5t.  Zum  Schlufi  entscheidet  die  Farbung,  die  nichi 
von  der  Eigenart  des  Problems  herriihrt,  sondern  die  au; 
der  Mischung  gegebener,  unveranderlicher  Farbpartike! 
stammt,  von  denen  gelegentlich  die  eine  oder  andere 
Kategorie  sich  eigenwilliger  der  Oberflache  nahert.  Aucl 
hier  begegnet  die  Analogie  zu  personlichem  Wollen  unc 
Entschliefien.  Wir  schwanken :  indem  die  feststehenden 
einseitigen  Gewohnheitswollungen  nacheinander  hervor- 
treten  und  ihren  Merkspruch  sagen;  wir  beschliel5en 
indem  das  Nacheinander  dieser  Teilpersonen  uns  einer 
positiv  oder  negativgefarbtenErinnerungseindruckhinter- 
lafit;  und  nennen  das  Mosaik  unserer  feststehender 
Willenspartikel  unseren  ethischen  Charakter. 
KoUektive  Ar-  Gewohnen  wir  uns  an  die  Denkweise,  die  in  mensch 
hetutetiung  Y\Q>CL^vi  Gemeinschaften  und  Organisationen  Kollektiv 
geister  wahrnimmt,  so  erscheint  uns  jede  Institutioi 
geistiger  Arbeitsteilung  unter  diesem  Bilde,  und  di( 
ruckschlieftenden  Einblicke  in  unser  individuelles  Geistes 
leben  gewinnen  an  Plastik  und  Farbe. 
Staatsgehlxn  Das  Gehirn  eines  Staates:  in  den  Tiefen  der  Hier 
archie  herrscht  das  unverbriichliche  Gesetz  der  Tages 
autgabe   und   der  Vorschrift.     Zweifelfreier  Gehorsam 

128 


luanenlose  Routine  und  Pflichterfiillung  bewaltigen  die 
Gleichformigkeit  der  untersten  Exekutive;  nach  oben 
dringt  ein  Zahlenbericht,  ein  Ausnahmefall,  eine  Kon- 
trollmeldung.  Im  Mittelgebiet  beginnt  das  Denken.  Von 
oben  driickt  der  dispositive  Wille,  von  unten  hemmt 
die  Unvollkommenheit  der  Dinge  und  Menschen,  Ele- 
mentarkrafte ,  Unvorhergesehenes.  Es  wird  vermittelt, 
aul^enstehende  Faktoren  werden  anerkannt,  die  Aus- 
nahmslosigkeiten  sind  durchbrochen.  Nach  oben  dringen 
Zusammenfassungen,  Rasonnements,  drtlich  einseitig, 
aber  sachlich  durchdacht.  In  der  hdchsten  Region  sind 
alle  Zweifel  erlaubt,  gemildert  freilich  durch  die  Trag- 
heitsmomente  des  Systems  und  der  Tradition;  den  un- 
teren  Pflichtorganen  wiirde  grauen,  wenn  sie  die  Labilitiit 
ihrer  Dogmen  erschauten.  An  die  Stelle  der  sakralen 
Phrase  tritt  die  Verhandlung,  die  vorurteilsfreie  Wiir- 
digung  gegnerischer  Machte,  summarische  Beurteilung 
von  Charakteren  und  Schwachen,  es  entwickelt  sich  diplo- 
mat! sche  und  politische  Beweglichkeit.  An  der  Ressort- 
spitze  desGeistesgebietes  steht  einMensch,  umgeben  von 
kleiner  und  ebenbiirtigerGefolgschaft.  1st  er  durch  Natur, 
Pflichtgefiihl  und  Opferkraft  zur  Erfullung  bestimmt,  so 
bedarf  er  mehr  einer  inneren  Richtkraft  und  Urteilsklar- 
heit  als  sachlicher  Schulung  und  Routine.  Deshalb  sind 
in  vorgeschrittenen  staatlichen  Organisationen  die  Trager 
letzter  Verantwortungen  nicht  Spezialisten,  sondern  Per- 
sdnlichkeiten.  In  ihnen  soil  nicht  jede  tatsachliche  Kennt- 
nis  der  unteren  Tagesereignisse ,  sondern  ein  Gesamt- 
gefiihl  aus  der  Summe  dieser  Ereignisse  leben,  verbunden 
mit  einer  Anschauung  des  zu  Erstrebenden  und  mit  einer 
deutlichen  Vorstellung  notwendiger  und  mdglicher 
Mittel,  mit  der  objektiven  Schatzung  der  Gegenkrafte, 


129 


mit  der  Einfiihlung  in  den  Organismus  der  Gesamtheit 
und  in  die  Abbilder  dieses  Organismus,  wie  sie  aus 
Parlamenten,  offentlicher  Meinung  und  auswartigem 
Urteil  sich  widerspiegeln.  Wir  sehen  zwei  Manner  in 
einer  Besprechung:  es  ist  tatsachlich  der  Handelsver- 
kehr  eines  Landes,  der  mit  der  Kriegsmacht  verhandelt, 
oder  die  Hauptstadt,  die  mit  dem  Staate  verhandelt, 
oder  der  Staat,  der  mit  einem  Nachbarn  verhandelt; 
insofern  namlich,  als  in  jedem  dieser  Vertreter  die 
Strebungen,  die  Besorgnisse,  die  Krafte  und  die  Mittel 
des  Organismus  ihren  summarischen  Ausdruck  finden. 
Der  Organismus  hat  in  diesen  Menschen  Rede  gewonnen, 
er  hat  in  ihnen  Augen,  Ohren,  Fiihler  und  Taster,  ei 
dringt  vor,  weicht  aus,  streitet,  kampft,  gibt  nach,  er- 
obert,  siegt  imd  unterwirft  sich.  Im  Augenblick  dei 
Belebtheit  und  des  Handelns  sind  diese  Menschen  die 
wirksamen  Exponenten  ihres  Kollektivwesens;  in  ihnen 
drangt  sich  Leben  und  Wille  des  Organon  zusammen; 
und  dennoch  sind  sie  nicht  das  Wesen  selbst,  nicht  sein 
Geist  und  nicht  sein  Leben.  Sie  sind  nicht  ein  Abbild 
dessen,  was  der  grofie  Philosoph  des  Zeitalters  Lud- 
wig  XIV  als  Zentralkraft  des  menschlichen  Organons 
sich  vorstellte,  nicht  die  Seelenmonade,  die  da  sprechen 
durfte  ,retat  c'est  moi';  sie  sind  wirksame  und  zeitliche 
Exponenten  des  KollektivbegrifFs,  aber  nicht  seine  abso- 
lute Essenz. 

Denn  wahrend  sie  sichtbar  und  wirksam  denken  und 
tatig  sind,  bleiben  tausend  andere,  im  Augenblick  un- 
cheinbare  und  dennoch  unentbehrliche  Exponenten  ims 
Inneren  und  AuGeren  gleichfalls  fiihlend,  wollend  und 
handelnd,  und  bleibt  vor  allem  der  gesamte  Organismus 
mit  seinem  kollektiven  Geistesdasein  wirksam  und  leben- 


130 


dig,  gleichviel  welche  seiner  Elemente  in  jedem  Zeit- 
punkt  in  das  Licht  des  Bewuil)tscins  treten,  welche  ruhen 
und  welche  im  Stillen  wirken. 

Abermals  erkennen  wir  die  gewaltige  Analogie  zu  Analogic  der 
unserem  eigenen,  einzelmenschlichen  Kollektivdasein :  ^^^^z^^^^^"  ^ 
so  treten  in  uns  selbst  die  Elemente  unseres  geistigen 
Wesens  abwechselnd,  elnzeln  und  in  Gruppen,  an  das 
Licht  der  Rampe:  jetzt  spricht  ein  Glied,  jetzt  herrscht 
ein  Gedanke  der  Abwehr,  jetzt  blitzt  ein  Augenbild, 
jetzt  lautet  ein  Erinnerungsklang,  dariiber  breitet  sich 
ein  Gemeingefiihl,  eine  Stimmung,  im  Zwielicht  harrt  ein 
Wunsch,  eine  Unruhe  klopft,  ein  Entschlul5  bricht  durch: 
und  wahrenddessen,  im  Schweigen  des  Unbewufiten, 
arbeiten  tausend  Sinnes-  und  Gedankenelemente  an  der 
Verwaltung,  Verteidigung  und  Bereicherung  unseres 
leiblich-geistigen  Lebens.  Wir  selbst  sind  eine  Stadt, 
ein  Land,  eine  Herde,  eine  Verwaltung,  ein  Staat;  unsere 
eingebiirgerten  Geisteselemente  begegnen  sich,  reden 
miteinander,  teilen  ihre  Arbeit,  bekampfen  sich,  treten 
hervor,  um  vor  der  Gesamtheit  des  Kollektivgeistes  ihre 
Sache  zu  fuhren,  anzuklagen,  zu  berichten,  zu  raten;  sie 
schopfen  Materie  aus  Vorraten  und  sorgen  fur  Trans- 
port und  Verarbeitung;  sie  schopfen  Erfahrung  aus  den 
Archiven  und  Bibliotheken  der  Erinnerung;  sie  organi- 
sieren  sich  zu  Einzelverbanden  mit  gesonderter  Vei> 
fassung,  halten  Haus,  leben,  zeugen  und  sterben.  Was 
Appius    Claudius    als    eine    Scherzfabel    der   romischen  ^ 

Plebs  vorhielt:  die  Ahnlichkeit  des  Staates  und  Leibes 
an  Haupt  und  Gliedern,  war  ein  rohes  Bild,  solange 
beide  Korper  aus  undiiFerenzierten  Sammelorganen,  Kopf 
und  Magen  bestanden;  die  Zerlegung  in  Geisteselemente 
zeigt  den  wahren  Umfang  des  Parallelismus ;  und  w^nn 


i 


I3i 


an  anderer  Stelle  seine  Anwendung  auf  den  Staatsaus- 
ban  dargelegt  werden  mag,  so  darf  hier  erneut  und  ein- 
dringllch  auf  die  Erkenntnisquelle  hingewiesen  werden 
die  im  Studium  der  Kollektivgelster  sich  fur  die  Erfor- 
schung  unseres  eigenen  Innenlebens  eroffnet. 

Vbrbemer-        Bevor  wir  nun  aus  dieser  Quelle  den  Trank  schopfen. 

Additions-  ^^  dessen  willen  sie  uns  erschlossen  ward:  die  Erkennt- 

pruizip  j^jg^  ^[q  ^3^5  Zentralphanomen  unseres  inneren  Erlebens 
die  Geburt  der  Seele,  im  objektiven  Weltbilde  sich  dar- 
stellt  und  einreiht,  bleiben  einige,  bedeutungsvolle  Ziige 
zu  erortern,  die  wir  vom  Angesicht  des  Kollektivgeiste! 
abzulesen  und  in  die  Zeichnung  unseres  Universal- 
diagramms  einzutragen  haben,  damit  ihm  seine  end- 
giiltige  Belebung  zuteil  werde. 

Es  ist  demnach  zu  handeln  zunachst  von  dem,  was  ab 
das  Strahlphanomen  bezeichnet  werden  soil,  sodann  vor 
dem  Additionsprinzip  des  Geistes,  zwei  mechanischen 
Elementen  unserer  Betrachtung.  Damit  im  Verlaufc 
dieser  nicht  ganz  kurzen  Vorbereitung  der  Zusammen- 
hang  nicht  verdunkelt  werde,  sei  vorgreifend  bemerkt 
dafi  der  erstgenannte  BegriiF,  dessen  schon  friiher  Er^ 
wahnung  geschah,  bestimmt  ist,  dem  Bilde  der  Erschei- 
nungswelt  seine  letzte  Beweglichkeit  zu  geben,  und  zu- 
gleich  die  Vorstellung  der  Vererbung  zu  durchleuchten 
wahrend  auf  dem  zweitgenannten  BegriiF  der  Addition, 
die  in  einem  warmeren  Licht  als  dem  der  Mathematik 
erscheinen  wird,  das  Ereignis  derSeelenwerdung  sict 
aufbaut. 

Vom  Tode  Wir  haben  bemerkt,  daI5  von  den  Elementen  de* 
Kollektivgeistes  jedes  als  Exponent,  keines  als  Essen? 
der  Gesamtheit  sich  zu  fiihlen  berechtigt  ist;  der  siind- 
hafte  Ausspruch,   der  Staat  bin  ich,  kommt  keinem  zu.i 


131 


Noch  mehr:  jedes  Element  ist  nur  solange  als  Exponent 
zu  betrachten,  als  es  gewissermall)en  in  Amtsfunktion 
auftritt;  ruht  es,  so  ist  es  der  Gemeinschaft  verloren. 
Aber  es  ruht  nicht  nur  zeitweise;  es  gibt  einen  Mo- 
ment, in  dem  es  endgiiltig  aus  seiner  Lebensgemein- 
schaft  ausscheidet;  es  stirbt.  Es  stirbtund  wird  geboren, 
aber  die  Gemeinschaft  lebt,  sie  uberlebt  Tode  und  Ge- 
burten,  sie  lebt  aus  Geburten  und  Toden.  Nur  nach 
dem  Gesetz  der  grolben  Zahlen  bleibt  sie  sich  im  Quer- 
schnitt  gleich,  zum  mindesten  stetig,  wenn  auch  in 
keinem  Augenblicke  identisch;  sie  lebt  zweifach,  pinmal 
das  Leben  ihres  inneren  und  aulberen  Ergehens,  sodann 
das  Leben  ihrer  Wiedergeburten  und  ihrer  Tode.  In 
der  Standhaftigkeit  der  Erscheinung  beim  unablassigen 
Wechsel  des  Substrats  gleicht  sie  dem  Wasserstrahl  und 
dem  Lichtstrahl ;  deshalb  sei  das  formgebende  Prinzip 
dieses  Stromens,  das  man  schlechthin  als  das  Prinzip  des 
Lebens  zu  deuten  versucht  hat,  der  Kiirze  halber  als  Das  Strahl- 
Strahlphanomen  bezeichnet.  ^  anome 

Tatsachlich  beherrscht  es  alles  Lebendige.  Der  Inbe-  Seine  universeiu 
griiF  aller  Fauna  und  Flora  stromt;  die  Menschenvolker 
und  Siedelungen,  die  tierischen  Scharen,  die  Walder  und 
Wiesen,  das  lebende  Kleid  der  Erde  und  der  Welt  ist 
ein  Strom  und  ein  Strahl.  Aber  auch  das  Einzelwesen 
stromt.  In  ihm  erneuert  sich  Zelle  um  Zelle,  Wachs- 
tum,  Teilung  und  Tod  durchdringen  seinen  Leib  von 
der  Wurzel  zum  Wipfel,  vom  Herzen  zur  Rinde.  Und 
wiederum  stromt  es  dutch  die  Zellen  im  Wechsel  der 
Substanz;  der  Nahrung  und  Ausscheidung.  Die  chemische 
Substanz  freilich  scheint  stabil;  und  dennoch  hat  die 
Wissenschaft  begonnen^  sie  in  Bewegung  aufzulosen; 
daC)  sie  durchdrungen  wird  von  ewigen  Stromen  immer 

133 


subtilerer  Elemente,  miissen  wir  heute  schon  zugestehen, 
und  dennoch  sind  die  Fernwirkungen  niclit  erklairt;  sie 
werden  uns  zwingen,  die  Durchstromung  als  das  korper- 
liche  Prinzip  anzuerkennen  und  die  Weltkorper,  die  wir 
Atome  nennen,  in  Strahlen  oder  Wirbel  wehender  Ur-i 
einheiten  zu  zerlegen.  Das  Strahlphanomen  wird  zum^ 
unbegrenzten  Weltprinzip  unseres  materiellen  Denkens, 
indem  es  alle  Materie  aufhebt  und  jedes  Einzelphanomen 
umfafit.  Ein  Prinzip  aber  von  dieser  Universalitat  werden 
wir  nicht  auf  die  Welt  der  Symbole  beschranken  diirfen; 
wir  haben  nicht  das  Recht,  eine  Stabilitat  des  erzeugen- 
den  Geistes  zu  verlangen,  wenn  aller  Ausdruck  dieses 

.  Seine  alfso/ute  Geistes  stromt;  uud  wir  diirfen  um  so  eher  es  wagen, 
^"  ^  ^  die  Giiltigkeit  des  Strahlprinzips  fiir  die  absolute  Welt 
des  Geistes  zu  vindizieren,  als  uns  in  der  Feme  grenzen- 
loser  Unterteilung  die  Vorstellungsberuhigung  eines 
qualitatslosen  IndifFerenzpunktes  zu  dammern  scheint. 
Es  sollen  aus  diesen  Analogiereihen  generelle  Schliisse 
fiir  den  Fortgang  der  Betrachtung  nicht  gezogen  werden. 
Doch  schien  der  Ausblick  unvermeidlich,  der  unser  Bild 
der  absoluten  und  der  gespiegelten  Welt  aus  seiner 
Starrheit  in  unendlich  stromende  Bewegung  lost  und 
die  Einzelerscheinungen ,  die  wir  zu  priifen  haben,  in 
neue  Bildlichkeiten  unabsehbarer  Gesetze  verwandelt. 
Vor  allem  aber  fiihrt  das  Fluktuationsbild  der  Welt  zu 
einer  beklemmenden  Frage ,  der  wir  ins  Auge  blicken 
miissen,  be  vor  wir  von  neuem  dem  Endproblem  der 
Seelenwerdung  zustreben. 

Vbra  Recht  Alles  fliefit.    Der  Strom  des  Lebendigen,  der  in  un- 

ermelMicher,  kontinuierlicher  Breite  das  Wei  tall  durch- 
flutet  und  auf  der  Oberflache  der  Planeten  sich  zum 
Teppich  vegetativer  und  animalischerWebung  verdichtet, 


134 


I 


dieser  Strom  gewinnt  seine  zweite  Richtung  konrinuier- 
licher  Unendlichkeit  in  der  Zeit,  und  seine  dritte  in  der 
substanzbildenden  Strahlung,  die  ihn  durchbraust,  und 
die  jedes  seiner  Elemente  erst  in  den  Zustand  der  Er- 
scheinungsexistenz  versetzt.  Nebeneinander  leben  und 
sterben  die  Weltorganismen,  in  ihnen  leben  und  sterben 
die  Generationsreihen ,  in  den  Generationsreihen  leben 
und  sterben  die  Geschopfe,  in  ihnen  die  Zellen,  in  ihnen 
die  Substanzen  niederer  Ordnung,  und  so  nach  oben 
und  unten  in  endlosen  Reihen.  Vergeblich  hat  man  ver- 
sucht  und  wird  man  versuchen,  in  scheinbar  lebloser 
Substanz  anthropomorphe  Geistesregungen,  wie  Erinne- 
rung  und  Willen,  nachzuweisen :  unser  Begreifen  des 
Urgeistes  umfal^t  nur  den  Zellenbezirk;  aber  das  Leben 
reicht,  soweit  das  Strahlprinzip  reicht,  und  schliel^t, 
wenn  dieses  allgemein  gilt,  nichts  aus,  von  dem  wir 
Kunde  haben.  Die  Frage  aber  entsteht,  wieweit  in 
diesem  wechselvveisen  unendllchen  Durchdringen  der  ^ 
Strome  das  Element,  gleichviel  ob  hoherer  oder  niederer 
Ordnung,  fiir  den  Moment  aufgerufen  zur  Reprasen- 
tation,  eingetaucht  in  bestehende  Ordnung,  die  es  ge- 
bildet  vorfindet  imd  alsbald  verlafit,  wieweit  dies  be- 
schrankte  und  bedrangte  Element,  Mensch  oder  Atom, 
den  Anspruch  hat  auf  eigene  Lebenszumessung,  Betati- 
gung  und  Wertung.  DaI5  dem  Geisteselement  eine 
eigene  Freiheit  zusteht,  haben  wir  erkannt;  wieweit  ist 
sie  entwertet  durch  die  Bedingtheit  der  fliefienden 
Reihen  ? 

Auch  hier  geniigt  es,  eine  Reihenstufe  zu  bewaltigen,  Experiraen- 
womoglich  die,  welche  uns  zunachst  liegt:   unsere  Ab-  ^       ^ 

hangigkeit  von  der  Generations-  und  Erbreihe;  und  um 
ihr  naherzutreten ,   bedarf  es  abermals  der  Aufstellung 


i3S 


unseres  Experimentationsapparats ,  des  kollektiven  Ge- 
bildes. 
Koiiektive  Fort-  Was  bedeutet  es,  dafi  ein  kollektives  Wesen  sich  fort- 
pjtanzung  pflanzt?  Es  bedeutet  nicht,  dall>  in  seiner  Mitte  Ge- 
schlechter  kommen  und  gehen;  das  ist  sein  Leben.  Es 
bedeutet,  dal5  ein  dem  Ver  Sacrum  ahnliches  sich  er- 
eignet:  Teilung  und  Erstehen  neuerGemeinschaft,  Volker- 
wanderung,  Stadtegriindung,  Kolonisation. 
Gesetze  der  Betrachten  wir  solches  Phanomen  in  breitesten  Ziigen, 
gleichviel,  ob  antike  Stadte,  transatlantische  Siedelungen 
oder  afrikanische  Faktoreien  uns  vorschweben;  voraus- 
gesetzt  nur,  dafi  heimatlicher  Nachschub  an  Menschen 
und  Dingen  nicht  wesentlich  sei;  so  erhellt,  daH)  kein 
Baustein,  kein  Zimmerholz  aus  der  alten  Heimat  in  die 
neue  iibergeht:  nur  die  menschlichen  Elemente  in  spar- 
licher  Zahl  mit  ihren  Gedanken  und  Uberlieferungen, 
Gewohnheiten  und  Wiinschen  sind  libersiedelt,  und  auch 
'  von  ihnen  ist  nach  wenigen  Dezennien  der  letzte  Rest 
geschwunden.  Doch  zugleich  hat  das  neue  Leben  sich 
seinen  Leib  selbst  gebaut  mit  fremdlandischem  Stein, 
Mortel  und  Holz,  ihn  angeschmiegt  an  fremde  Hiigel 
und  Buchten  und  ihn  geformt  nach  den  Gesetzen  frem- 
der  Sonnen  und  Winde;  neue  Menschenleiber  sind  er- 
schaffenaus  firemderNahrung,  fremderLuftund  Klimatik.' 
Gewachsen  ist  dieser  Leib  an  Zahl  seiner  Elemente  j; 
seine  Formen,  reicher  oder  armer  als  die  elterlichen, 
verdanken  vieles  dem  ersten  AnstoI5,  vieles  der  neuenj 
Umwelt,  das  meiste  dem  Lebenswillen,  der  in  ihner| 
brennt.  Nicht  die  Gestalt  der  Straiten  und  Gebaude* 
bestimmt  psychophysisch  den  Lebensgang  und  das  Schick- 
sal  der  Bewohner.  Das  Element  wird  freilich  seine 
Abstammung  nicht  verleugnen;  eine  Germanensiedelung 

136 


wird  kein  Negerdorf,  eine  Malaienkolonie  keine  goti- 
schen  Dome  errichten;  aber  den  neuen  Zusammenschlul5, 
der  das  Wesen  des  gezeugten  Kollektivgeschopfes  aus- 
macht,  hat  es  aus  alter  Lehre  und  neuer  Natur  dutch 
eigene  Kraft  geschaiFen.  Nicht  das  Gehause  bestimmt 
das  Leben,  sondern  das  Leben  hat  sich  sein  eigenes  Ge- 
hause gebaut.  Flamme  hat  sich  an  Flamme  entziindet; 
aber  die  neue  Flamme  hat  mit  der  alten  nichts  gemein 
als  die  Entziindungstemperatur;  und  war  sie  zuerst  dutch 
die  liberkommene  Form  des  Brenners  in  ihrer  Entfaltung 
I  gebunden,  so  hat  sie  bald  die  Kraft  gewonnen,  den 
j  Brenner  selbst  solange  umzuschmelzen,  bis  er  den  ge- 
wollten  Feuerkorper  ausstromt. 

Versucht  man  von  diesem  kollektiven  Erscheinungs-  Anwendung  auf 
symbol  der  Erblichkeit  auf  das  Phanomen  des  reinen  ^'  ^^  '*^^ 
Geistes  riickzuschlielLen,  so  bleibt  in  der  Gedankenkette, 
der  wir  folgen,  abermals  das  Bild  des  unbegrenzt  teil- 
baren  und  unbegrenzt  kombinierbaren  Geistes  bestehen. 
KeinTeil  wirkt  losgelost;  er  ist  bedingt  dutch  alle  librigen. 
Und  wie  wir,  auch  ohne  raumliche  Vorstellung  selektives, 
vorzugsweises  Wirken  des  einen  auf  ein  anderes  Element 
erkannten,  so  daI5  im  libertragenen  Sinne  dies  Vorzugs- 
wirken  als  eine  unraumliche  Nachbarschaft  oder  Ver- 
ivandtschaft  gedeutet  werden  konnte,  so  muH)  auch  fiir 
den  BegrifF  der  vorzugsweisen  Bedingtheit  der  Vererbung 
die  analoge  Bedingtheit  solcher,  im  zeitlosen  Strom 
sich  ablosenden  Charakteristik  sich  ergeben,  ohne  da£> 
iiierdurch  die  eigene  Freiheit  des  Elementes  geopfert 
werde. 

Bei  der  Beriihrung  der  Erblichkeit  haben  wir  etwas  Psychophysi- 
ansanft  ein  gewaltiges,  fast  unbeschrankt  das  heutige  ^^mfg  ^™^^" 
Denken   beherrschendes  Prinzip   gestreift:    das  psycho- 


137 


physische,  und  sind  ihm  hierdurch  eine  Rechenschaft 
schuldig  geworden. 

Fiir  jede  idealisrische  Weltbetrachtung  scheint  es  auf 
den  ersten  Blick  eine  unverdauliche,  ja  unertraigliche  Vor- 
stellung,  daH)  unsere  materiel!  e  Erfahrung  nicht  nur  einen 
Parallelismus  des  Physischen  und  Psychischen  im  Lebens- 
organismus,  sondern  sogar  eine  schicksalentscheidende 
auf^ere  Einwirkung  des  Fremdkorperlichen  auf  das  Gei- 
stige  unter  Beweis  stellt.  Wie  darf  ich  wagen,  die  Supre- 
matie,  die  Alleinexistenz  des  Geistes  zu  behaupten,  wenn 
mir  glaubhaft  gemacht  wird,  dal5  ein  Chemikal,  eine 
Bazillenzucht  oder  ein  Ziegelstein  jedes  Geistesleben, 
mein  eigenes  eingeschlossen,  verktimmern  oder  vernich- 
ten  kann?  Und  welche  Sinnlosigkelt  liegt  darin,  dafi  dem 
rohen  Ungeist  oder  Halbgeist  solche  Gewalt  liber  das 
gottliche  Element  gegeben  ist? 

Generell  und  prinzipiell  mulS  entgegen  diesem  Ein- 
wand  an  das  erinnert  werden,  was  liber  die  Beschran- 
kung  Geistes  durch  Geist  gesagt  wurde;  auch  Chemika- 
lien,  Bakterien  und  Steine  sind  Erscheinungssymbole  des 
Geistigen,  und  ihre  Kampfe  in  der  sichtbaren  Welt  sind 
Schattenbilder  eines  Hoheren.  Wir  diirfen  aber  der 
scheinbaren  Kiihle  dieser  Erklarung  ein  weiteres  Zuge- 
standnis  machen  und  den  materiellen  Gedanken  bis  in 
seine  Wurzeln  verfolgen.  Was  sind  Lebensverkiimme- 
rungen  und  Tode?  Soweit  wir  bisher  unter  der  Erschei- 
nungsform  das  Leben  gepriift  haben  —  und  noch  immer 
bewegen  wir  uns  auf  der  Zone  des  unterseeiischen, 
sterbensfahigen  Lebens  —  bedeuten  sie:  Lockerung  und 
Auflosung  von  Kollektivgemeinschaften.  Mogen  in  ab- 
steigender  Reihe  beliebig  viele  Gemeinschaften  zertriim- 
mert,  beliebig  viele  Tode  gestorben  werden :  einmal  ist 


138 


I 


sc' on  hier  des  Sterbens  ein  Ende,  und  neue  Verbindun- 
gen  schaffen  neues  Sammelleben.    Der  BegrifF  des  ani- 
malischen  Todes  hort  auf  und  geht  in  den  BegrifF  der  Kritik  des 
kontinuierlichen  Zellenerneuerung  iiber,  sobald  wir  als  * 

das  wahre  Lebensgeschopf  das  zweifach  dimensioniertc : 
die  zeitliche  Serie  des  Stammes  und  die  raumliche  Serie 
des  kollektiven  Coexisteur  betrachten.  Das  unbeseelte 
Geschopf  ist  in  diesem  Sinne  nicht  Individuum,  sondern 
Element.  Dies  spielt  sich  in  der  Welt  des  Sterbens 
ab;  wir  werden  jedoch  Gebiete  streifen,  von  denen 
auch  diese  Schatten  zu  weichen  beginnen.  Gleich- 
zeitig  werden  wir  dem  Gefiihlseinwand  der  Sinnlosigkeit 
des  blinden  Unfalls  begegnen,  sobald  wir  von  der 
Mehrdeutigkeit  des  Geschehens  uns  Rechenschaft  ge- 
geben  haben. 

So  spaltet  sich  der  psychophysische  Zwang  in  zwei 
iiberwindbare  Gruppen :  die  organische,  evolutionare  Be- 
stimmungsserie  der  Abstammung  ergibt  sich  als  direkte  der  Ver- 
Spiegelung  der  geistigen  Strahlkontinuitat ;  die  von  aufien  ^  ^' 
eingreifende,  akzidentell  hemmende  und  fordernde  Be- 
timmungsserie  des  auI5eren  Schicksals  als  wechselseitige 
Eingrenzung  der  geistigen  Mannigfaltigkeit. 

Bevor  wir  jedoch  diese  erste  Zwischenfrage  verlassen, 
jmpfiehlt  es  sich,  teils  rekapitulierend,  teils  exegetisch 
twei  bekannte  Denkformen  unseres  zeitlichen  Inventars 
m  beleuchten,  die  aus  dem  Dunkel  gern  den  Weg  des 
dealistischen  Wanderers  beirren:  die  Modalitat  der  Rasse 
ind  der  materialistischen,  besser  gesagt,  physischen  Ge- 
ichichtsauffassung. 

Von  der  Erblichkeit  haben  wir  gesprochen.    Sie  ist  der  Rasse, 
ins  erschienen  als  Beschrankung  eines  geistigen  Anfangs- 
'.ustandes,  welche  die  Freiheit  des  Handelns  erschwert, 


^9 


1 


aber  nicht  unmoglich  macht.  Denkbar  und  moglich  ist 
es  durchaus,  daf5  ein  Australneger  sich  zum  Gelehrten 
oder  Staatsmann  seines  Volkes  aufschwingt;  wahrschein- 
lich  ist  es  nicht,  weil  erfahrungsgemaU)  das  einer  Men- 
scheneinheit  zugemessene  Quantum  an  Evolutionskraft 
im  Kampf  des  Einzellebens  aufgebraucht  wird.  Wenn 
wir  aber  auf  das  vorhin  erwahnte  kollektivistische  Experi- 
mentationsbeispiel  zuriickgreifen  und  nochmals  das  Bild 
der  Vererbung  unter  der  Analogic  einer  Siedelungsgriin- 
dung  uns  vergegenwartigen,  so  erhellt,  dafi  gelegentlich 
eine  HandvoU  dorflicher  Abkommlinge  im  Laufe  einej 
Dutzends  Generationen,  also  einem  fur  das  Leben  dei 
Kollektiveinheit  recht  kurzen  Zeitraum,  zur  Starke  und 
Geistesmacht  eines  antiken  Weltstaates  heranwachsen 
kann,  und  einzelmenschliche  Beispiele  ahnlicher  Evolu- 
tion lassen  sich  aufweisen. 

Somit  lost  sich  das  Rassenproblem  auf  in  eine  An- 
wendung  des  Gesetzes  grower  Zahlen :  in  ihrer  Form  erb- 
licher  Ausstattung  erweist  sich  die  Zugehorigkeit  zu  einei 
animalischen  Art  oder  menschlichen  Rasse  als  Anfangs- 
beschrankung,  als  Durchgangskonstellation  im  Zeitpunki 
T;  die  Moglichkeit  beliebigen  Vorschreitens  in  jeglichei 
Richtung  ist  dem  Einzelnen  und  der  Gesamtheit  zu  jedei 
Zeit  gegeben,  und  insofern  herrscht  Freiheit,  ist  jede 
grundsatzliche  Rassenbeschrankung  ungiiltig ;  dahingeger 
zeigt  die  Erfahrung  grolI)er  Beobachtungszahlen,  daI5  vor 
der  Freiheit  durchschnittlich  ein  geringer  Gebrauch  ge- 
macht  wird,  dafi  die  Erbreihe  sich  selbst  ahnlich  bleibt, 
und  insofern  ist  die  Rassenbeschrankung  als  empirischei 
Rechnungsfaktor'  fiir  ein  gegebenes  Zeitmal^  zulassig. 
Aber  selbst  innerhalb  dieser  Empirie  scheinen  Gesetz- 
mall)igkeiten  zu  wirken,   deren  Seltsamkeiten  noch  dei 


140 


[Beobachtung  harren:  vor  allem  die  eine,  welche  ich  als  G^'/^/x  der  Um- 
[Umkehrung  des  Massencharakters  bezeichnen  niochte.  ^^^]^^^^ '^ 
Es  hat  den  Anschein,  als  ob  in  den  hochsten  Indivi- 
dualbildungen  eines  Stammes  gerade  diejenigen  Krafte, 
zur  Genialitat  gesteigert,  sich  emporringen,  an  denen 
,die  Masse  arm  ist;  so  dafi  gleichsam  die  ganze  Kraft 
einer  Gemeinschaft  in  einer  einzigen  Bliite  hervor- 
.bricht.  Italien  und  Ungarn  sind  die  klingendsten  Saiten 
auf  Europas  Harfe;  vom  nordlichen  Deutschland  gilt 
der  Spruch  „Frisia  non  cantat";  dennoch  haben  jene 
Lander  den  niederdeutschen  Genien  der  Musik  nichts 
Ebenbiirtiges  entgegengestellt.  Das  durchschnittliche 
ifudentum  war  in  alien  historischen  Zeiten  eine  Schule 
des  Realismus;  dennoch  ist  sein  Vermiichtnis  an  das 
Denken  der  Welt  die  hochste  Transzendenz  seiner  vier 
einsamsten  Geister.  Eine  letzte  Verfliissigung  des  Rasse- 
tvesens  aber  tritt  insofern  ein,  als  auch  sie  dem  Stro- 
mungsphanomen  unterliegt;  auch  sie  ist  nur  eine  Wirbel- 
srscheinung  im  Generationenstrom,  die  sich  langsam  und 
stetig  andert:  auch  die  hochsten  Rassen,  die  wir  kennen, 
sind  in  mefibaren  Zeiten  aus  niederen  Arten  entstanden. 

In  den  gleichen  Zusammenhang  gehort  die  Frage  nach  Kritik  der 
der  physischen  Auffassung   der  Historie.    Wir  konnen  Q^g^l^^^^Jj^^" 
tins  gewissen,  materiell  erscheinenden  Gesetzlichkeiten '^^^^ssung 
Iceineswegs  verschliefien:  es  tritt  zutage,  daI5  Kultur  nur 
moglich  ist  auf  der  Grundlage  eines  Wohlstandes,  dafi 
iulturelle  Hochperioden  zustande  kommen  im  Augen- 
blick  bedeutsamer  Blutmischungen,  daii  intellektuell  zivi- 
lisatorische  Entwicklungen  nur  moglich  sind  unter  giin- 
Jtigen  klimatischen  und  geographischen  Vorbedingungen, 
iaH),  um  den  Zirkel  zu  schliefi)en,  nationaler  Wohlstand 
von  der  BeschafFenheit  der  Erdkruste  und  Atmosphare 


141 


nicht  unabhangig  ist;  ja  es  scheint  zuweilen,  daC)  riick- 
wirkend  diese  physischen  Elemente  den  geistig-sittlicher 
Faktor  der  Menschheit  bis  zu  einem  Grade  beeinflussen 
der  auch  diese  letzte  unabhangige  Konstante  dem  Spiele 
der  Naturkrafte  unterwirft.  So  wird  scheinbar  das  Ge- 
schick  der  Volker  zur  blinden  Funktion  der  physischer 
Machte;  die  Selbstbestimmung  erstirbt,  Gegenwart  unc 
Zukunft  lassen  sich  aus  materiellen  MaC)en  und  Quali 
taten  errechnen.  Das  Verfiihrerische  aber  liegt  daria 
daJB  diese  Berechnung  auf  weiten  Gebieten  stimmt;  dei 
Wahrheitswert  der  Betrachtung  erprobt  sich  von  Tag  zi 
lag;  er  bildet  die  Grundlage  des  gesamten  empirischer 
Wesens  der  Politik  und  Regierung,  und  gewinnt,  dej 
Urkritik  entzogen,  so  hohen  Anteil  unseres  Denkens 
dafi  abermals  eine  der  Schranken,  vor  denen  der  schiich- 
terne  idealistische  Wille  unserer  Zeit  stutzt,  hier  auf 
gerichtet  scheint. 
Anivendung  auf       Eiue  grundsatzliche  Kritik  der  physischen  Geschichts- 

nienschlkhei  Ein-   ,  i  ••    r  •        i  i  i«    i  t—  i       r  i 

x^iscbicksai  deutung  Qurten  wir  der  menschlichen  Lmzelerrahruns 
entnehmen.  Wenn  jede  Lebensaulberung  uns  triiger 
kann:  Worte,  Meinungen,  Blick,  Benehmen,  zuweiler 
selbst  Gestalt  und  Ausdruck;  ein  Indizienpaar  trotzt  allei 
Verstellung  und  tauscht  uns  niemals:  Lebensfiihrung  und 
Werke.  Sie  sind  das  sichtbare  Gehause,  das  jeder  Men- 
schengeist  um  sich  zimmert,  und  zwar  aus  so  unend- 
lichem  Aufbau  grol^er  und  kleiner,  bewul5ter  und  ge- 
heimer  Regungen,  dai5  jedes  Planwerk  versagt  und  dei 
Natur  das  Wort  bleibt.  Sehen  wir  einen  Menschen 
dauernd  in  schiefen  Situationen,  kleinlichen  Kampfen, 
von  miJ&lichen  Genossen  und  Werken  umgeben,  an  fal- 
schem  Ort,  in  irrigem  Beruf,  so  fehlt  es  an  ihm,  nicht 
am  Schicksal.   Ein  Tuchtiger  kann  in  edlem  Irrtum  schei- 


142 


tern,  in  Leidenschaft  vergehen,  doch  nicht  gesunden 
Leibes  in  Widerwarcigkeit  verkommen,  denn  jeder  Mo- 
ment bietet  ein  Lebenslos,  und  keine  Wahrscheinlich- 
keit  gewahrt  einer  reinen  Hand  in  steter  Reihe  das  Recht 
luf  tausend  Nieten.  Wirkt  so  im  Sinne  der  Gerechtigkeit 
das  Gesetz  der  grofien  Zahl  auf  das  Einzelschicksal,  so 
wirkt  es  unendlich  gesteigert  auf  das  Geschick  der  Ge- 
meinschaften  und  Volker.  Fiir  ein  Volk  gilt  keine  Ent- 
>chuldigung,  es  erlebt,  was  es  verdient.  Ein  edles  Volk 
luldet  so  wenig  Sklaverei  wie  falschen  Wohnsitz,  torichte 
wttensowenigwieungeeigneteVerfassungundRegierung. 
Denn  alle  diese  Verhaltnisse  sind  LebensauC>erungen,  sie 
;ind  fiir  einen  Organismus,  der  sein  Gesetz  in  sich  selbst 
ragt,  Formen  seines  geistigen  und  kdrperlichen  Leibes. 
iin  Volk  kann  im  Kampfe  gegen  aufgezwungene  falsche 
Verhaltnisse  untergehen,  es  kann  durch  Entartung  ihrer 
viirdig  werden,  es  kann  nicht  einer  edlen  Natur  zum 
Frotz  sie  dauernd  ertragen.  Wenn  Athener  und  Vene- 
ianer,  Hollander  und  Briten  unendlich  viel  ihrer  geo- 
jraphischen  Lage  verdanken,  so  verdankten  sie  vor  allem 
liese  Lage  sich  selbst.  Sind  Macht  und  Wohlstand  Be- 
lingungen  der  Kultur,  so  sind  sie  in  ihrer  Dauer  nicht 
jeschenke  des  Zufalls,  sondern  Kampfpreise  des  Volker- 
dels. 

Somit  bedeutet  physische  Geschichtsbetrachtung  eine 
>ragmatische  Breviloquenz,  ebenso  wie  das  Operieren 
ait  dem  BegrifF  der  Rasse,  sofern  er  richtig  angewandt 
/ird.  Wir  sprechen  von  der  physischen  Lage  und  den 
»lutseigenschaften  eines  Volkes  als  von  Dingen,  die  sich 
u  gegebenem  Zeitpunkt  einigermafien  beobachten  und 
erwalten  las  sen,  ohne  daI5  wir  zu  verges  sen,  noch  we- 
iger  aber  standig  zu  betonen  brauchen,  dafi  diese  Be- 


143 


dingungen,  dem  Wechsel  und  der  Wechselwirkung  unter- 
worfen,  den  Ausdruck  urspriinglicher  Geistesbedingtheit 
bedeuten,  die  minder  greif  bar  und  mel5bar  waiter.  Wii 
sprechen  von  diesen  Dingen  breviloquistisch,  wie  etwa 
von  der  Kraft  einer  Maschine,  von  der  wir  wissen,  dafi 
sie  gar  keine  Kraft  hat,  sondern  nur  in  einem  bestimmter 
Augenblick  der  thermischen  Energie  der  Kohle  Gelegen- 
heit  gibt,  sich  in  einem  bestimmten  Mafi  zu  entfalten 
Einen  seitsamen  Zirkelschlui^  dagegen  stellt  eine  neti 
beliebte  Betrachtungsweise  dar,  welche  alle  Rassenquali- 
tat  aus  der  Qualitat  der  Lebenslage  ableitet,  indem  sie 
beispielsweise  die  Charakteristik  eines  Stammes  auf  seineri 
Nomadenberuf  griindet.  Man  vergifit,  dal5  Volker  ihrer 
Beruf  nicht  willkiirlich  wahlen  wie  schwankende  Abitu- 
rienten,  sondern  nach  den  Gesetzen  und  Moglichkeiter 
ihrer  Natur.  Es  geht  nicht  wohl  an,  negerhaftes  Wesen, 
aus  der  Ubung  negerhafter  Beschaftigungen  und  Gewohn-j 
heiten  abzuleiten,  die  ein  Volk  im  Widerspruch  zu  seinel 
inneren  Natur  aus  Zwang,  aus  Zufall  oder  aus  Verseher 
angenommen  hatte. 
Kollektives  Von  neuem  betreten  wir  die  vorgeschriebene  Bahrj 
der^Seden-  ^^®  ^^^  ^^^^  erschauten  Phanomen  der  Seelenwerdund' 
wertung  entgegenfiihrt.  Das  Kollektivgebilde,  das  wir  befragenj 
Das  Biid von  der  txigt  diesmal  die  Zilge  einer  fernen  Stadt;  ein  Dom  er 
hebt  und  verkiindet  ihren  UmriI5.  Acht  Jahrhunderti? 
lang  haben  stille  Geschlechter  diesen  Boden  gelockert^ 
seine  Giiter  geformt  und  verteilt,  fremde  erworben  unc 
gehandelt,  Feinde  abgewehrt  und  Freunde  verteidigtj 
sie  haben  gepfliigt  und  gesat,  gemahlen  und  gewobeni 
geschmiedet  und  gezimmert,  gekampft  und  gelitten,  ge? 
zeugt  und  begraben.  Die  strafiendurchfurchte  Krust< 
ihres  Sammelieibes  klebt  am  Boden;  aber  das  erste  md 


144 


letzte,  was  dem  Wanderer  aus  dieser  Hiille  der  Betrieb- 
samkeit  entgegenblickt,  ist  die  steinerne  Bliite  der  Kathe- 
drale :  eines  siebenfach  erhohten  Hauses ;  und  dieses  Haus 
ist  leer;  in  seinem  Innern,  unter  den  Wipfeln  der  Pfeiler- 
schafte  weht  kiihle,  farbendurchzogene  Luft  und  Schwei- 
gen.  Zehn  Menschengeschlechter  haben  diesem  Bau 
gefront  und  ihre  Sorge  und  Sebnsucht,  Freude  und 
Schonheit,  Gut  und  Blut  hineingewoben.  Vater  und 
Enkel  betreten  dutch  diesen  Blumenbogen  das  schonste 
Gebilde  ihrer  Augen  und  Herzen  in  Ehren  und  Schmach, 
Verzweiflung  und  HofFnung;  knien  im  Schatten  seiner 
Wolbung  und  verlassen  das  leere  Gehause  im  Gefuhl 
neuen  Lebens.  Sie  haben  vielmal  mehr  fiir  dieses  Denk- 
mal  aufgewendet  als  fur  ihrLeben;  sie  haben  ihr  Leben 
sichtbar  hingebaut,  sie  haben  gefiihlt,  daf5  sie  fur  den 
Bau  lebten  und  starben,  der  sich  als  Abbild  und  Gleich- 
nis  ihrer  gemeinsamen  Seele  langsam  erhob.  Auch  wir 
fiihlen,  dafi  ihre  Stadt  in  dieser  luftigen  Knospe  sich  zur 
Sichtbarkeit  eriost;  die  Speicher  undWerkstatten,Mauern 
und  Walle  sind  zerfallen,  die  Rechnungsblatter  zerstoben, 
die  Festgewander  verschlissen,  aber  von  den  Fialen  und 
Baldachinen  lesen  wir  die  verwehte  Waldfreude  und 
Liebesseligkeit,  die  Leideshoffnung  und  den  Himmels- 
glauben,  die  Dinge,  die  lebendig  sind.  Diese  Gemein- 
schaft  hat  wirklich  um  ihres  Werkes  willen  gelebt;  dieses 
Werk  ist  unsterblich;  es  ist  unsterblich  als  ein  Werk 
der  Liebe. 

So  tragt  die  kleinste  altere  Ortschaft,  die  wir  be- 
suchen,  im  Herzen  ihres  materiellen  Organismus  ein  ver- 
steinertes  Seelenbildlein.  Und  ware  es  nur  ein  Rathaus- 
erker  oder  ein  schoner  Brunnen,  ein  Torbogen  oder  ein 
Kreuz;  es  sind  Geschopfe  eines  hoheren  Wbllens  und 


145 


einer  edleren  Freude;  gegen  die  Kleinlichkeit  der  Noil 
durft  sind  es  Heilquellen,  die  seit  Menschengedenke 
jedem,  der  noch  so  zerstreuten  Auges  zu  ihnen  auf  blick' 
einen  Tropfen  Erlosung  spenden.  Unvergleichlich  in  de 
Gr6l5e  seines  Auf  bans  war  bis  vor  zwanzig  Jahren  da 
architektonische  Bild   der  preuC>ischen  Seele   vom  Bei 

Daj  bild  -vom  liner  Friedrichs-Denkmal  bis  zum  Lustgarten.  Ein  konig 
liches  Forum  war  eroiFnet  von  Akademie,  Universita 
und  Bibliothek,  den  Statten  der  Kunstiibung,  der  Foi 
schung  und  des  Gedachtnisses;  die  Orte  der  Musik  ua 
des  WaiFenglanzes,  Oper,  Arsenal  und  Wache  stande: 
sich  gegeniiber;  liber  den  Kanal  des  Handelsverkehi 
leitete  eine  Marmorbriicke  zu  den  Heiligtumern  de' 
Kunst  und  des  Glaubens,  Museum  und  Dom,  die  de 
prachtvollen  Front  der  Konigsburg  Raum  liell)en.  So 
lange  diese  Werke  ehrwiirdig  und  notwendig,  unzerstoi 
und  ihrer  Bestimmung  getreu  in  groC)artigem  Abstau' 
ihren  Raum  erfiillten,  erblickte  man  hier,  wie  von  einen 
Gott  geschafFen,  das  klassische  Gehirn  unseres  ehemej 
Staates. 

Technische  und  Mechanik  und  Technik  bleiben  in  stetigem  Flufi 
denn  sie  bedeuten  das  momentane  Wehrverhaltnis  de 
mit  der  Natur  kampfenden  Menschheit.  Zu  keinen 
Zeirpunkt  sind  technische  Werke  absolut  und  vollendet 
sie  konnen  Schonheit  haben,  die  der  Techniker  empfinde 
und  die  der  Asthet  afFektiert  und  liberschatzt,  aber  diesi 
Schonheit  ist  zur  Halfte  Verstandessache  und  dahe 
ephemer.  Ist  eine  Maschine  recht  griindlich  veraltet 
so  mag  sie  noch  etwas  malerische  Qualitat  behalten  nacl 
der  romantischen  Art  verfallener  Hiitten  und  Miihlen 
aber  dem  unbefangenen  Auge  wird  sie  zum  Geriimpel 
bestenfalls  von  der  wiirdigen  und  imgefiigen  Art  aite 

146 


Postkutschen  und  Tschakos.  Ein  Gerat  ist  um  so  edler, 
je  unbedingter  es  ist;  je  mehr  ihm  Generationen  liebe- 
voller  Schdpfer  die  Willkiir  abgestreift  und  die  Pragung 
einfacher  Handlichkeit,  selbstverstandlicher  Notwendig- 
keit  verliehen  haben,  je  mehr  es  zum  scheinbar  beseelten 
Genossen  menschlicher  Gemeinschaft  geworden  ist.  Was 
5ind  uns  die  Transportmaschinen  der  Agypter,  die  Gieii5- 
ofen  der  Chinesen,  die  Ballisten  und  Retorten  des  Mittel- 
ilters?  Was  sind  uns  Bumerangs,  Negerpfeile,  Morgen- 
>terne  und  Chassepots?  Die  Wasserleitungen  der  Cam- 
pagna  ziehen  uns  an,  weil  sie  aus  UnvoUkommenheit  der 
Technik  auf  gewaltigen  Unterbauten  verlegt  wurden,  die 
ier  Schonheit  freier  Architekturwerke  sich  nahern. 

Sind  nun  die  technischen  Mittel  der  Vergangenheit, 
in  denen  die  halbe  irdische  Intelligenz  jahrtausendlang 
>ich  abmiihte,  fiir  unser  Dasein  nichts  anderes  mehr  als 
ibgestorbene  Glieder  einer  wissenschaftlich  interessanten 
(intwicklung,  iiberwundene  Aushilfsmittel  iiberstandener 
iSJ6te,  und  somit  keines  bleibenden  Wertes  gewiirdigt: 
io  erkennen  wir  von  neuem  die  unveranderliche  Grofie, 
lie  Unbedingtheit  der  Werke  der  Seele. 

Welche  paradoxen  Opfer  bringen  wir  ihnen!  ^vaSeeienwerkt  nnd 
^ehnjahriger  Junge  lernt  unter  Tranen  auswendig,  wie 
Ier  Mann  hiefi,  der  gewisse  Bildverzierungen  an  einer 
Hieidenkirche  zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  an- 
jebracht  hat.  Die  LebenshoiFnung  eines  sachsischen 
3uchhalters,  der  zwanzig  Jahre  lang  auf  seinem  Dreh- 
:chemel  Zahlen  addiert  hat,  besteht  darin,  zu  seiner 
:ilbernen  Hochzeit  das  Forum  zu  sehen.  Ein  junger 
^atrizier,  der  Rennstalle  und  fiirstliche  Jagdgebiete  hal- 
en  konnte,  zieht  es  vor,  griechische  Topferscherben  zu 
ortieren   oder  aus    agyptischen  Grabersclinitzeln   eine 


147 


Stelle  des  Euripides  2u  erganzen.  Es  mag  in  den  Ex 
tremen  Mode  und  Ubertreibung  stecken:  im  Grunde  is 
es  tiefe  Wahrheit.  Diese  Dinge  gehen  uns  an.  DaI5  eii 
deutsches  Minnelied  oder  ein  griechisches  Friihbild  ge 
funden  werde,  ist  wichtiger,  als  daI5  eine  Grenzfestunj 
an  Rumanien  fallt  oder  eine  neue  Gerbmethode  ent 
deckt  wird.  Amerika  bleibt  ein  Kinderland,  solange  e 
den  Kasetrust  oder  das  Seifenmonopol  ernster  nimmt  al 
eine  Musikschule  oder  eine  Horazausgabe.  Wiirden  un 
alia  technischen  Bequemlichkeiten  der  letzten  andert 
halb  Jahrhunderte  genommen,  so  ware  auI5er  der  gutei 
Gewohnung  an  viel  Wasser  und  verbesserteBeforderungs 
mittel  so  gut  wie  nichts  zu  vermissen;  mui5ten  wir  abe 
die  Musik  und  Philosophie  dieser  Epoche  entbehren,  s( 
waren  wir  unaussprechlich  verarmt.  Immer  wird  die 
Bedeutung  der  Zivilisation  eine  quantitative  sein,  inden 
sie  den  zur  Gemeinschaftsarbeit  aufgerufenen  Kreis  de: 
Menschen  erweitert;  und  insofern  bleibt  sie  Mittel  unc 
Baugeriist.  Kultur  aber  bedeutet  eine  Erfullung,  somi 
ein  Absolutes,  das  unabhangig  von  raumlicher  und  zeit 
licher  Ausdehnung  auf  eigenem  Recht  beruht. 

Wir  empfinden  es  gleichsam  mit  Sinnen,  wenn  wi: 
ein  Land  betreten,  das  die  Ernte  der  Kultur  noch  nich 
getragen  hat;  derBoden,  der  nichts  birgt  als  Mineralien 
die  Berge  und  Buchten,  die  kein  Lied  bekranzt  und  keir 
Mythos  weiht,  scheinen  uns  fremd  und  leblos  wie  un 
bewohnte  Gestirne.  Wir  verstehen  die  Menschen,  die 
im  Kapland,  in  Argentinien  und  Mexiko  forschen,  werber 
und  bauen;  aber  wenn  Sehnsucht  uns  in  diese  Ferner 
zieht,  so  flieht  sie  das  Lebendige  und  haftet  an  Weiter 
und  Hohen.  Unsere  Heimat  bleibt  das  Land  heimatliche] 
Menschen,  alten  Gedenkens  und  verwandter  Seelen. 


148 


Vergangene  Volker  haben  ihr  Lebensrecht  durch  Permanent  seen- 
gutes  und  boses  Menschenschicksal  erwiesen  und  sind, 
wie  alle  Kreatur,  zu  achten  um  ihrer  selbst  willen.  Ihr 
Erdenwalten  und  Gedachtnis  aber  lebt  in  gleichem  Mafie 
wie  ihr  Anteil  am  Seelengut  der  Menschheit,  so  daC)  die 
Frage,  was  eigentlich  unser  Geschlecht  mit  seinem  Empor- 
tauchen  aus  der  animalischen  Schdpfung  geleistet  habe, 
schlechthin  derart  beantwortet  werden  kann:  es  hat  See- 
lenwerte  geschafFen.  Die  Stamme,  die  vorbereitend,  also 
cechnisch,  an  der  Schulung  der  Menschheit  teilgenommen 
haben,  sind  gestorben,  in  den  Fluten  liberstromender 
Volker  aufgelost,  auch  wenn  ihre  Reichtiimer  und 
Wohnsitze,  ihre  Erfindungen  und  Verkehrsleistungen 
noch  so  bedeutungsvoll  ihre  Zeit  bewegten,  wahrend 
die  kleine  Zahl  der  wahrhaft  schopferischen  Nationen, 
gleichviel  ob  arm  oder  reich,  machtig  oder  bedriickt,  aus 
lUen  Zonen  in  den  Zusammenklang  der  Seelen  einstro- 
nend,  nicht  nur  ihr  wirksames  Erbe  der  Welt  erhalten, 
jondern  auch  alien  Fluktuationen  der  Geschichte  zum 
Trotz  einen  Kern  ihres  lebendigen  Wesens  noch  in  der 
lichtesten  Umhiillung  sichtbar  bewahren  konnte.  Wird 
ji  Gronland  ein  Kind  getauft,  so  geschieht  es  in  Er- 
jinerung  an  ein  Hirtenvolk  in  der  Jordanebene,  wird  in 
Cincinnati  ein  Haus  gebaut,  so  tragt  es  einen  Schmuck 
lus  Korinth,  die  Sonntagsruhe  der  Schotten  stammt  aus 
iem  Kreise  der  Chaldaer,  ein  deutscher  Patentprozefi 
vird  nach  dem  Rechtsgefiihl  eines  romischen  Prators 
jntschieden,  unsere  Lieder  folgen  griechischen  Rhyth- 
nen,  unsere  Stadtgarten  sind  Abkommlinge  germanischer 
^  Hlaine.  Das  Gedachtnis  der  Welt  ist  nicht  Erinnerung 
ies  Geistes,  sondern  Erinnerung  der  Seele;  wie  denn 
luch  die  einzelmenschliche  Erinnerung  undUberlieferung 


149 


nicht  das  aufbewahrt,  was  grofie  mechanische  Wirkun- 
gen  gehabt  hat,  sondern  das,  was  aus  Seelen  kommt  und 
Seelen  bewegt.  Aus  unklar  dialektischem  Pflichtgefiihl 
bewahren  wir  den  Namen  eines  Erfinders  im  Gedachtnis; 
aber  die  Gestalt  eines  Volkskonigs  und  Feldherrn  wird 
zum  Heroen. 

Die   rasonnierte  Urges chichte   der  Zivilisation  und 
Kultur,  die  wir  Volkerpsychologie  zu  nennen  gewohnt 
sind,  lafit  in  grol^artiger  Entwicklung  aus  Noten,  Ang- 
sten  und  Freuden  des  animalischen  Lebens  die  Gewalten 
der  Sprache,  der  Kunst,  der  Sitte  und  des  Glaubens  er- 
wachsen;  vom  Instinktiven  ausgehend,  durch  den  Krei? 
des  Denkens  und  Erfindens  geleitet,  endet  ihr  Gang,  be- 
wufit  oder  unbewuI5t,  bei  Werten  der  Seele.    Und  indem 
auf  diesem  Wege  die   empirische  Integration  kleinstei 
Wirkungen  bis  zum  endgiiltigen  Bestande  unseres  Welt- 
Seelenwerte    besitzes  gelingt,  laJSt  sich  der  Beweis  entnehmen,  daJC 
schopfiingen  tatsachlich  das  Gemeinschaftsbewufitsein  Schopfer  diesei 
Werte  ist;  sie  sind  Produkte  nicht  einer  Summe,  sondern 
eines  Organismus. 
Beispieivom  Wie  es  moglich  ist,  dal5  eine  hochbegabte  Gemein- 

schaft  in  ihrer  Totalitat  ideelle  Werte,  etwa  asthetischei 
Ordnung  hervorbringt,  lal5t  sich  an  jedem  Bau  erlautern, 
der  in  Jahrhunderten  langsam  emporgewachsen  ist,  nacb 
Art  des  romischen  Forums,  des  Markusplatzes,  des  Strafi- 
burger  Miinsters.  Eine  gliickliche  Situation  und  die  ersten 
unverbundenen  Elemente  einer  Anlage  sind  gegeben; 
Zeit,  Bediirfnis  und  Wohlstand  fordern  eine  Erweiterung, 
einen  neuen  Baukorper,  seit  Jahren  geplant,  in  engerei 
Gemeinschaft  erwogen.  Die  Fundamente  erheben  sicb 
und  die  Gemeinschaft  wendet  ihr  gesamtes  Interesse, 
das  noch  nicht  in  hundert  Stadtereignissen  sich  zersplit- 


150 


H 


:ert,  an  das  nationale  Monument.  Jede  Bauschicht  er- 
^achst  gleichsam  als  eine  ofFentliche  Sache,  ein  schon 
pehauener  Stein  wird  bewundert,  ein  edles  Beute- 
ijtiick  an  sorgsam  erorterter  Stelle  eingefiigt.  Ein  Feld- 
jiug,  eine  Reise  des  Staatshaupts,  eine  geldknappe  Zeit 
linterlai^t  ihre  Spuren;  ein  Kiinstlerstreit  bricht  aus  und 
erzeugt  Parteien;  Sieg  und  Niederlage,  vom  Willen  der 
Zeit  entschieden,  lenken  das  Wachstum  in  neue  Rich- 
ning.  Schon  arbeitet  das  dritte,  das  vierte  Geschlecht^ 
angsam  hat  Urform  und  Umgebung  sich  geandert,  aber 
lie  Plastizitat  des  langsam  Entstehenden  schmiegt  wie 
isine  Naturmasse  dem  Vorhandenen  sich  an  und  er- 
lartet  zu  jenen  unbegreif lichen  Gebilden,  vor  denen 
msere  projektierende  und  kalkulierende  Epoche  ratios 
;tarrt.  Denn  wirklich  sind  solche  Schopfungen  —  das 
Hihlt,  wer  an  der  Piazzetta  landet  —  nicht  Menschen- 
yerke,  sondern  W&rke  einer  Menschheit;  hier  stehen 
licht  Hauser  und  Tiirme,  sondern  die  steingemeifielte 
i>eele  Venedigs,  das  farbige  Muschelkleid  eines  namen- 
osen  Meergottes  glanzt  am  Strande. 

Wenn  nun  hier  ein  Volk,  freilich  ein  hoheitvoWes^  Zerrbi/der  ko/- 
loch  immerhin  anonymer  Gemeinschaft,  als  Kiinstler  ^  ^'^"*  ^  aj;euj 
md  Genius  schafFt:  wie  reimt  sich  das  zusammen  mit 
iler  Talentlosigkeit  der  Kommissionen,  mit  der  noto- 
rischen  geistigen  Minderwertigkeit  der  Massen,  der 
yersammlungen,  Reprasentationen  und  Kollegien?  Die 
Antwort  ist  einfach.  Je  grower  und  mannigfacher  ein 
Organismus,  desto  langsamer  seine  Evolution.  Die 
Sekunde  des  Menschen  ist  im  Leben  der  Eintagsfliege 
eine  Stunde,  der  Tag  des  Menschen  ist  im  Leben  des 
Volkes  ein  Augenblick.  Will  man  vom  Volk  eine 
Entscheidung,  so  bedeutet  die  Abstimmung  nach  einer 

151 


I 


bewegten  Tagung  nichts  anderes  als  einen  Hauch 
Zufalls;  die  Reden,  Emporungen  und  Enthusiasmen  einer 
Versammlung  vergleichen  sich  den  irren  Halbgedanken, 
die  einem  Menschenhirn,  das  fiebernd  nachdenkt,  im 
Bruchteil  einer  Sekunde  voriiberrasen.  Note  des  Augen- 
blickes  konnen  dutch  schnelle  Vertreterbeschliisse  wohl 
oder  libel  beseitigt  werden,  so,  wie  ein  unwillkiirliches 
Wimpernzucken  die  Miicke  abwehrt;  Lebensentschliisse 
eines  Volkes  sollten  nie  einem  Referendum  anheim- 
gestellt  werden.  Die  Gesetzgebung  Englands  ist  gleich- 
zeitig  die  imsystematischste  und  die  organischste  der 
Welt,  well  die  Gesetzgebung  des  Tages  sich  auf  das 
notwendigste  beschrankt,  und  keine  grundsatzliche  Frage 
gelost  werden  kann,  bevor  nicht  mindestens  einjahr- 
zehnt  ofFentlicher  Diskussion  verstrichen  ist.  Der  Ge- 
danke  eines  Volkes  ist  erst  dann  zur  Reife  voUendet, 
wenn  er  in  den  iiberwiegenden  Geistern  zur  unbewuC)ten 
Selbstverstandlichkeit  geworden  ist. 
Anteii  der  Gent-  Hier,  WO  wir  Gemeinschaften  nicht  auf  dem  bekannten 
tiven  Schafen  Wege  der  Arbeitsteilung  und  Summierung ,  sondern  als 
Gesamtgeschdpf,  nicht  als  Organisation,  sondern  als 
Organismus,  Geisteswerte  schafFen  sehen,  diirfen  wir  an 
der  Frage  nach  dem  Anteil  der  fuhrenden  Geister,  nach 
der  Okonomik  der  Genialitat  nicht  voriibergehen.  Wir 
haben  die  seltsame  Erscheinung  gestreift,  wonach  in 
genialen  Naturen  die  Geistessafte  des  Volkskorpers  sich 
dermafien  verdichten,  daH)  ihr  Reichtum,  verglichen  mit 
der  Verarmung  des  Stammes  gleichsam  als  eine  Um- 
kehrung  der  Veranlagung  erscheint.  Hier  ist  hinzuzu- 
fiigen,  dal5  dieser  potenzierten  Lebenskraft  auch  die 
potenzierte  Lebenswirkung  entspricht:  im  genialen 
Geist  ereignet  sich  das,  was  im  Stammesgeist   sich   er- 


IS^ 


eignen  soil,  vollkommener,  deutlicher,  unvermittelter, 
und  demnach  vor  allem,  friiher.  Eine  ganz  generelle 
Klasse  von  Naturerscheinungen  wird  hier  beriihrt, 
die  von  den  anorganischen  Massenerscheinungen  bis  in 
die  organischen  Phanomene  der  Artenentwicklung  hin- 
iiberreicht,    und    die    mit    dem  Namen    der   Fnorit^t  Prhriiat  bevor- 

,  .    1  1  11         T^'  zugter  EUmente 

bevorzugter  Elemente  bezeichnet  werden  soil.  J^^^^^  Gieicimisvondei 
moglichst  einfachen  Fall  bietet  das  Beispiel  einer  stark  P^nsurscheibe 
betauten  Fensterscheibe  in  feuchtigkeit  -  gesattigtem 
Raum.  Die  Tropfen,  zu  betrachtlicher  Gr6l5e  ange- 
wachsen ,  werden  im  Augenblick  noch  ausnahmslos  durch 
Kapillarkrafte  an  der  vertikalen  Flache  schwebend  fest- 
gehalten;  doch  wissen  wir,  daI5  in  wenigen  Minuten  das 
Bild  verandert  sein  wird:  der  grofiere  Teil  des  Tau- 
wassers  wird,  der  Schwere  gehorchend,  sich  auf  dem 
unteren  Rahmen  gesammelt  haben,  wahrend  die  Scheibe 
gleichmafiig  benetzt  und  wiederum  durchsichtig  erscheint. 
Wo  aber  wird  das  Phanomen  beginnen?  Hier  ist  ein 
Tropfen  etwas  langlicher  geformt  als  die  librigen  und 
etwas  umfangreicher,  somit  starker  unter  der  Schwer- 
kraft  leidend  und  schon  merklich  liberhangend;  mit  ihm 
ereignet  sich  das  bisher  auf  der  Scheibe  Unerhorte,  das 
doch  in  Kiirze  das  Schicksal  aller  sein  wird:  er  gewinnt 
Bewegung.  Wir  wissen,  was  folgt;  mitzwei,  drei  Nach- 
barn  vereinigt,  rollt  er  bergab,  der  Weg  wird  zum 
Kanal,  der  sich  verzweigt,  andere  mitreif5t,  Seitenbache 
aufnimmt,  die  Erscheinung  gewinnt  Nachfolge,  Allge- 
meinheit,  und  im  Handumdrehen  ist  die  Scheibe  ent- 
wassert. 

Die  Analyse  sagt:  notwendige  Massenerscheinung* 
In  alien  Teilen  muC)  sich  das  gleiche  vollziehen.  Irgend- 
wo  mul5  es  beginnen.    Es  beginnt  da,  wo  das  virtuelle 


in 


Abbild  der  Kraftebilanz  am  pragnantesten  sich  ausdriickt, 
das  Leiden  am  tiefsten,  die  Spontaneitat  am  freiesten 
wirkt.  Das  geschieht  bei  diesem  bescheidenen  Bilde 
dem  bevorzugten  Iropfen,  beim  erstarrenden  See  ge- 
schieht es  dem  ersten  Eiskristall,  bei  der  Bildung  der 
Arten  der  ersten  der  Trockenheit  trotzenden  Meeres- 
fauna,  und  bei  der  Entwicklung  menschlicher  Gemein- 
schaft  der  genialen  Natur. 
WiirdeundGren-  Der  inneren  Wiirde  des  hochsten  menschlichen  Pha- 
nomens  geschieht  kein  Abbruch  durch  diese  Betrachtungs- 
weise,  die  sich  auf  das  Wirken,  nicht  auf  das  Werden 
des  Genius  bezieht.  Das  wahrhaft  Wunderbare  bleibt 
der  Entelechie  erhalten;  dal5  in  der  Bliite  des  Genius 
das  gesamte  Wesen  des  gemeinsamen  Organismus  mikro- 
kosmisch  emporbricht,  dal5  in  diesem  einen  Geist  und 
Herzen  der  ganze  Menschheitskampf  gekampft,  der  vor- 
bildliche  Sieg  errungen  wird,  ist  die  tragisch-trostliche 
Apotheose  des  irdischen  Bewufitseins.  Niemals  aber  darf 
der  imbillige  Gedanke  geduldet  werden,  daI5  in  dieser 
Gesetzmai^igkeit  Willkiir  herrsche,  dal5  es  dem  genialen 
Geiste  gestattet  und  beschieden  sei,  durch  selbstherr- 
liche  Befehle  eine  Menschheit  aus  vorgeschriebenen 
Bahnen  zu  lenken.  Irdische  Gotter  folgen  einem 
Schicksal,  und  dies  Schicksal  ist  der  Wille  iiberirdischen 
Geistes. 
Naturvor-  Somit  ist  das   seelische   SchafFen    der   Gemeinschaft 

UschenSchaf-^^^^  abgebildet  und  prophezeit,  doch  nicht  bewirkt  und 
fens  nicht  gelenkt  vom  Vollbringen  des  Einzelnen.    Die  Ge- 

meinschaft selbst,  das  grof5e  Einheitsgeschopf,  dessen 
millionenfache  Menschenzellen  jede  fiir  sich  im  zweck- 
haften  Denken  des  Tages,  in  der  rastlosen  Intellektshast 
der  Selbsterhaltung   fiebert:    dieses   koUektive   Gebilde 


154 


schafft  keine  Werke  des  Tages;  es  ruht,  indem  es  sich 
selbst  erneuert,  unbewegt  von  der  Woge  der  Einzel- 
notionen,  emporgehoben  iiber  die  Sphare  der  Emsigkeit 
und  Betulichkeit,  der  Niitzlichkeit  iind  der  Sorge;  es 
wirkt  in  gottlicher  Mufie  Werke  und  Werte  der  Seele 
und  lebt  nur  und  ausschlieMch  fur  diese  Werke  und 
Werte.  Betrachten  wir  das  vollendete  Einheitswesen 
intuitiv,  namlich  nicht  von  der  zerkliifteten  Auf5enseite 
mechanischer  Summierung  —  so  wenig  wie  wir  Menschen, 
die  wir  lieben,  als  Zellstoifagglomerate  oder  Blutkreis- 
laufe  zu  betrachten  gewohnt  sind  — ,  betrachten  wir  es 
einfiihlend  als  begeistete  Existenz,  so  stehen  wirvor  einem 
Wesen,  das  uns  in  Erfiillung  entgegenbringt,  was  wir 
als  ein  Werdendes  in  uns  selbst  empfanden:  das  Leben 
der  Seele. 

Wir  haben  im  ersten  Telle  dieser  Darlegung  als  den  Erkennbar- 
Kernpunkt  unseres  inneren  Inventars  und  als  das  '^^^' iQncrQhun 
tralereignis  unseres  Geisteslebens  das  Sein  und  Werden 
der  Seele  erkannt;  uns  wurde  die  Aufgabe  gestellt,  das 
gleiche  Phanomen  in  der  Welt  der  Erscheinung  aufzu- 
suchen  und  auszudeuten,  um  den  Inhalt  dieser  Erkennt- 
nis  den  Gebieten  des  objektiven  Denkens  und  Handelns 
zu  erschliefien.  Jetzt  endlich  stehen  wir  einer  Erschei- 
nungsform  gegeniiber,  die  uns  den  Vorgang  der  Seelen- 
werdung  von  aufien  spiegelt,  und  zwar  in  einem  Geistes- 
komplex,  welcher  der  Beobachtung  zuganglicher  ist 
als  unsere  Individualitat.  Denn  unser  Ich  erfassen 
wir  nur  makroskopisch;  wir  uberblicken  nur  seine 
Integrale  und  konnen  mit  seinen  DifFerentialsumman- 
den  nicht  verkehren.  Den  Gemeinschaftsgeist  aber  er- 
fassen wir  gleichzeitig  in  seinen  Einheiten,  zu  denen 
wir  selbst  uns  zahlen,  und  in  seiner  Totalitat,  die  wir 


iSS 


synthetisch  begreifen.  Somit  ist,  indem  wir  den  Kollektiv- 
geist  zum  Experimentationskorper  erheben,  und  zwar 
nicht  mehr  allein  fiir  intellektuale  Vorgange,  sondern 
auch  fiir  das  Zentralphanomen  der  Seelenwerdung,  der 
Ausgang  fiir  eine  neue,  gleichsam  laboratoriumsmafiige 
Erforschung  und  Betrachtung  der  Geistesevolution  ge- 
schafFen.  Von  nun  an  sind  die  Ereignisse  des  Geistes 
nicht  mehr  bloI5  ein  Erlebtes  oder  ein  in  seinen  mittel- 
baren  Wirkungen  Erschautes:  sie  sind  im  lebendigen 
Abbild  faJSbar  geworden,  als  gesetzmal5ig  abrollende 
Vorgange,  auf  einer  Bxihne,  auf  der  wir  selbst  uns  be- 
wegen;  und  in  Anbetracht  ihrer  Gesetze  diirfen  wir  von 
ihnen  als  von  den  Elementen  einer  Mechanik  des  Geistes 
reden. 
EhtvanJ  von  Bevor  wir  nun  den  objektiven  geistesmechanischen 
'  .^'l^  '^' Gesetzen  der  Seelenwerdung  uns  nahern,  dem  Wesen 
der  Addition,  der  Kritik  der  Liebe  und  dem  Prinzip  der 
Enthiillung,  eriibrigt  es,  einen  letzten  denkbaren  Ein- 
wand  gegen  die  Seelenhaftigkeit  kollektiver  Wesen  ab- 
zutun:  den  Einwand  ihrer  scheinbaren  Immoralitat.  Man 
konnte  namlich  auf  den  Gedanken  kommen,  dal5  Volker, 
die  sich  libervorteilen  und  iiberfallen,  bekriegen,  iiber- 
winden  und  toten,  tief  unter  dem  Sittlichkeitsvermogen 
der  Einzelwesen  stehen,  auch  wenn  man  zum  Vergleiche 
nur  minderbeseelte  Individuen  heranzieht,  die  immer- 
hin  durch  Gewohnung,  Sitte,  Religion  und  Gesetz  er- 
heblich  besser  in  Schranken  gehalten  werden. 

Es  ware  leicht,  durch  zwei  Hinweise  den  Einwand  zu 
entkraften:  einmal  darauf  deutend,  daI5  die  Grenzen 
der  Kollektivgeister  sich  nicht  in  gleich  konkreter  Weise 
abheben  wie  die  Grenzen  korperlicher  Gebilde,  daJB 
vielmehr  Ubergange,  Verschmelzungen  und  hohere  Ge- 

IS6 


meinschaften  die  Aufstellung  aller  interkollektiven  Ge- 
sellschaften  und  Verkehrsprobleme  abweisen.  £s  ware 
ferner  gestattet,  geltend  zu  machen,  dal5  alle  Hem- 
mungen,  die  das  Einzelwesen  sittlich  machen,  Produkte 
der  Gemeinschaftsseele  sind;  dai5  der  Einzelne  ohne 
diese  Hemmungen  jenen  vorbildlichen  Rang,  den  der 
Einwand  ihm  zuweist,  keineswegs  behaupten  wiirde, 
und  dall>  die  Sittlichkeit  der  Gemeinschaft,  nach  innen 
wirkend,  sich  somit  ausreichend  betatigt. 

Fiir  die  Vertiefiing  des  Problems  kann  es  uns  will- Zufav/igkcU 
kommen  sein,  das  Wesen  des  Kollektivgeistes  noch  ein-  Regungen 
mal  innerlich  zu  fassen,  und  uns  zu  erinnern,  daf5  seine 
wahren  Regungen  relativ  grower  Zeitriiume  bediirfen, 
Alle  plotzlichen  Entflammungen  des  Tagesgeistes,  den 
man  ofFentliche  Meinung  nennt,  bedeuten  in  unserem 
Gedankenkreise  nicht  WillensauI5erungen,  sondern  Re- 
flexbewegungen;  selbst  das  Pathos  der  Kriegsbegeiste- 
rung  kann  passageren  Anfallen  entspringen,  wenn  niche 
Druck  und  Aufschwung,  wie  vor  hundert  Jahren,  alle 
Fasern  durchzittern  und  aus  der  Inbrunst  aller  Schmerzen 
den  Funken  der  Entscheidung  iosen;  dann  aber  spricht 
die  Stimme  der  Selbsterhaltung,  nicht  der  Aggressivitat. 
Hingegen  lief  das,  was  im  Juli  1870  in  Paris  geschah, 
auf  unbewufiyte  Regungen  eines  mechanischen  Paroxys- 
mus  hinaus,  und  selbst  die  riihmliche  Kriegslust  unseres 
eigenen  Volkes  entsprang  in  diesen  Tagen  nur  insofern 
kollektivem  Willen,  als  die  Nation  zur  Verschmelzung 
strebte:  der  Umschwung  zum  AngrifF  war  rapides  Er- 
zeugnis  einer  genialen  Politik.  Daher  sind  die  franzo- 
sischen  Dialektiker  nicht  ganz  im  Unrecht,  wenn  sie 
mil!)liebige  Kriegsabenteuer  als  Angelegenheiten  nicht 
der  Nation,  sondern   ihrer  Fiihrer  auszurufen  pflegen, 


157 


wahrend  sie  alien  Erfolg  dem  Volke  vindizieren,  in  der 
stillschweigenden  Voraussetzung,  dal5  man  mit  einer 
blinden  Masse  nicht  siegen  kann.  Es  hat  zu  jeder  Zeit 
kriegslustige  Menschen  einzeln  und  in  Vereinigungen 
gleichgesinnter  Auswahl  gegeben,  auch  kriegsstarke 
und  kriegsgeiibte  Volker;  niemals  aber  war  der  Krieg 
eines  Volkes  Endzweck:  Wasserstellen,  Triften  and 
Acker  wurden  aus  Not  begehrt,  und  hinweggefegt  die, 
welche  sich  berechtigt  glaubten,  zu  sperren,  und  zu 
schwach  waren,  zu  verteidigen.  Selbsterhaltung  eines 
KoUektivwesens  ist  aber  nicht  nur  nicht  Immoralitat,  son- 
dern  Voraussetzung  jeder  Moralitat;  ihre  Mittel  sind  nicht 
gewaltsamer  als  die  des  Einzelnen,  der  mit  jedem  Schritt 
seines  Ful5es  imgezahlte  Existenzen  vernichtet. 
Grenx.enderVer'  Noch  weniger  konnen  politische  Praktiken  der  Fiihrer, 
snttuortung  ^^^  .^  Namen  und  Interesse  der  Gesamtheit  geiibt 
werden,  der  sittlichen  Gemeinschaftsrechnung  zur  Last 
fallen.  Der  Kollektivgeist  wirkte  verantwortlich,  indem 
er  sich  eine  politische  Organisation  erwachsen  liel5;  sie 
ist  einer  der  Leiber,  deren  der  Geist  sich  unzahlige 
schafFt.  Nim  wirkt  der  politische  Organismus  auto- 
matisch,  in  seinen  Einzelfunktionen  dem  Gesamtgeist 
unbewufit;  wie  etwa  unser  Kreislauf  einen  Blutkorper 
zum  Wundersatz  abordnet,  so  scheidet  er  Menschenein- 
heiten  zu  beliebigen  leistenden  oder  leitenden  Berufen 
aus.  Der  leitende  Exponent  fuhlt  in  sich  das  Abbild 
aller  Gemeinschaftsbediirfnisse  einer  gegebenen  Kate- 
gorie  und  hat  sich  fiir  diese  zu  op  fern.  Sein  Handeln 
entspricht  dem  InbegrifF  seiner  geistigen  Krafte  ohne 
Riicksicht  auf  eigene  Wahl  und  eigenes  Gliick;  wohl 
ihm,  wenn  seine  Krafte  stark  genug  sind,  um  den  jeweils 
wirksamsten  Schachzug  mit  den  Erfordernissen  eigenen 

158 


Sittenempfindens  zu  vereinigen;   sind  sie   cs  nicht,   so 

bleibt  ihm  die  Wahl,  sich  auszuschalten  oder  die  Ver- 

antwortung  zweifelhafter  Mittel  zu  rragen.     Nur  dann 

belasten  solche  Mittel  den  Gemeinschaftsgeist,  wenn  die 

Organisation,    die   er  sich  gegeben  hat,  so  schlecht  ist, 

dafi  iiberwiegend   unfahige   oder   skrupellose  Einheiten 

zur  Verantwortlichkeit  aufgerufen  werden;  aber  auch  in 

I  diesem  Falle  ist  das  Vergehen  des  KoUektivwesens  nicht 

j  Immoralitat,  sondern  Schwache. 

I        Wir  kehren  zuriick  zu  der  Frage:  welche  Grundbe- 

I  dingungen  miissen  gegeben  sein,  damit  in  einer  Gemein- 

j  schaft  das  Gesetz  der  Seelenwerdung  erfiillt  werde? 

I        Zunachst  mul5  die  Gemeinschaft   lebendig   sein.    Es  Bedingungen 
•   1        1    rt    •        •       •        T^T   1  1  ..  •   1     •  .    •  der seelischen 

[i  genugt  nicht,  dalo  sie  wie  eine  Wohltatigkeitsveremigung  £vQiutioii 

oder   eine  Zweckgesellschaft   dutch  Erklarungen,   Ver- 

:  pflichtungen  und  Leistungen  eine  beliebige  Anzahl  von  Innne  Lebens- 

Menschen  zusammenrafFe ,   die  auI5erhalb  menschlicher^''"'^'^ 

Beziehung  auf  irgend  einem  Sondergebiet  ahnliche  Ab- 

sichten  vertreten.    Es  genugt  auch  nicht  die  enge  Nach- 

barschaft  etwa  der  Einwohner  eines  Gefangnisses  oder 

der  Parteien  eines  Miethauses  oder  der  Passagiere  eines 

Uberseedampfers:    die    erste  Voraussetzung  ist  inneres 

Leben  des  Gemeinwesens,  und  dieses  Leben  ist  geistige 

Beriihrung  und  geistiger  Austausch. 

Hieraus   ergibt  sich  als  zweite   Notwendigkeit   die  innere  Abgren- 

innere   Abgrenzung.     Eine  Volkerschaft ,   die   aufgelost 

und  in  der  Welt  zerstreut  lebt,  kann  noch  lange  nach 

ihrer  Explosion  in  ihnen  zerstuckten  Gliedern   gemein- 

same  Eigenschaften  und  Erinnerungen  bewahren,   aber 

jie   kann  nicht  mehr   die  Kraft   schopferischer  Seelen- 

gemeinschaft  entfalten.    Ebensowenig  kann  der  geistige 

[nhalt   eines   willkiirlich   abgemessenen    geographischen 

159 


Wf^ 


BegrifFs,  Siidamerikas  oder  Australiens,  seelisch  vi 
schmelzen;  das  gleiche  gilt  von  den  ideellen  Stammes- 
komplexen,  etwa  des  Panslawismus,  Panmongolismus,  Pan- 
afrikanismus,  Panmuhamedanismus.  Sie  bedeuten  des- 
wegen  weder  politische  noch  kulturelle  Weltgefahren, 
weil  sie  nicht  seelische  Einheiten,  sondern  agitatorische 
BegrifFe  bezeichnen.  Im  librigen  ist  immer  wieder  zu 
bemerken,  dal5  weder  physische  noch  intellektuelle  Ahn- 
lichkeit  der  Glieder  mit  wirkender  physischer  Gemein- 
schaft  gleichgesetzt  werden  darf. 

Es  ergibt  sich  vielmehr  die  liberraschende  Wahrneh- 
mung,  dal5  ebensowenig  die  entschiedenste  Uberein- 
stimmung  der  Eigenschaften  wie  die  ofFenkundigste 
Gleichrichtung  der  Interessen  und  Wiinsche  an  sich  aus- 
reicht,  um  die  Verschmelzung  zu  seelischer  Einheit  zu 
erzwingen,  wahrend  umgekehrt  allzuhaufig  aus  Gemein- 
schaften  verschiedenartigster  Abkunft  und  mannigfachster 
Willensorientierung  das  Phanomen  der  Seelenwerdung 
erwachsen  ist.  Wir  kennen  Stamme  und  Volker  von 
ausgesprochener  physischer  Gleichformigkeit,  hoher  in- 
tellektueller  Einsicht,  ausreichendem  Wohlstand,  leb- 
hafter  innerer  Bewegung,  normaler  politischer  Einheit- 
lichkeit,  die  keiner  seelischen  Kultur  fahig  sind  und 
waren;  wir  kennen  tausendfache  Gruppen  von  Partei- 
gangern,  Interessenten,  Glaubigen,  Fanatikern,  Werks- 
genossen,  die  in  engster  Benihrung  des  Verkehrs  und 
der  Arbeit  nichts  anderes  als  mechanisch  materielle  Ge- 
meinschaftswirkung  gezeitigt  haben. 

Wohl  aber  sehen  wir  kleine,  fast  unscheinbare  Volks- 
gebilde  gemischter  Bevolkerung  an  seelischer  Gewalt 
die  machtigsten  Zivilisationskomplexe  iiberstrahlen,  so 
unvergleichlich,  wie  die  Vereinigten  Staaten  von  Hellas 


i6o 


die  der  Union  iibertreiFen;  vvir  sehen  im  engen  Kreise 
hcJischer  und  geselliger  Gemeinschaft,  ja  selbst  in  haius- 
lichen  Schranken  familiaren  Lebens  Keime  und  Triebe 
schaffender  Seeleneinheiten  sprossen. 

Wo  aber  immer  wir  solcher  Krafte  gewahr  werden,  Innere  Binduni 
in  stammverwandten  und  gemischten,  in  nationalen  und 
hauslichen  Gemeinschaften,  immer  sind  sie  begleitet  von 
einem  und  dem  gleichen  Gefiihlspaar:  dem  Gefiihl  der 
Verwobenheit  und  des  Opfersinns.  Niemals  ist  in  einem 
Volk  oder  einer  Stadtgemeinschaft  seelische  Kultur  er- 
wacht,  ohne  dafi)  ein  leidenschaftliches  Nationalgefiihl, 
Stammesbewuf5tsein  und  Heimatsempfinden  lebendig 
war,  niemals  ist  eine  engere  menschliche  Vereinigung 
seelisch  produktiv  geworden,  ohne  dafi  ein  Band  der 
Herzen  sie  zusammenhielt.  Die  staatenbildende  und 
nationale  Kraft  der  Volker,  ihre  Fahigkeit,  sich  als  eine 
Einheit  zu  empfinden,  diese  Einheit  hoher  zu  stellen  als 
alles  individuelle  Leben,  in  ihr  aufzugehen,  fiir  sie  sich 
liinzugeben:  dieses  transzendente  Gefiihl  erhohter  Ord- 
nung  ist  schlechthin  die  Voraussetzung  und  der  Mafi- 
stab  aller  seelischen  Gemeinschaft,  gleichviel  ob  sinn- 
bildlich  die  Ordnung  gekettet  sei  an  die  Symbole  des 
Landes,  des  Stammes,  des  Staates,  der  Dynastie  oder  des 
Gottes. 

Diese  Empfindungenwird  man  schwerlichverwechseln 
mit  den  armlichen  und  transzendenzlosen  Regungen 
nationaler  Eitelkeit,  die  nichts  weiter  als  naive  Verall- 
gemeinerungen  individueller  Selbstgefalligkeit  bedeuten. 
Echtes  Gemeinschaftsgefiihl  halt  sich  in  selbstbewul5tem 
Gleichgewicht  gleich  fern  von  Hal5  und  Uberhebung; 
sein  Mafi  ist  nicht  Aggressivitat,  sondern  Opfermut. 

Diirfen  wir  in  diesem  verbundenen  und  verbinden- Liebe 


I 


i^i 


den  Kraftepaar  das   eigentliche  Moment  der  geistigen 
Addition,  den  Faktor  erblicken,  der  den  Gemeinschafts- 
geist  zur  Seelenentfaltung  2usammenfal5t,   so  erscheint ' 
die  neue  Erkenntnis  uns  bald  als  Selbstverstandlichkeit 
vertraut:  denn  was   soUte  anderes  den  inneren  Grundil 
jener  wunderbarenVerschmelzung  ausmachen,wenn  nichtl 
das  alte,  allzu  ratselhafte  Band  der  Hingabe,  der  Ver- 
webung,  der  Entaul^erung  und  des  Opfers?   Das  Element 
aber  dieser  Krafte,  das  aufzusuchen  uns  oblag,  ist  die^ 
Liebe. 
Definition        Hart  und  kalt  ist  die  Definition  Spinozas:  Liebe  sei 
Freude,  begleitet  von  der  Vorstellung  einer  aul5eren  Ur- 
sache.    Dann  ware  jedes  Wohlgefallen  Liebe,  selbst  die 
Freude   am  schonen  Wetter  oder   an  einem  tiichtigen 
Verbrauchsgegenstande  verdiente  diesen  hohen  Namen. 
Wahrhafter  und  gr6l5er  ist  der  Spruch  Augustins,  der  die 
Liebe  ein  Leben  nennt:  vita  quaedam,  duo  aliqua  copu- 
lans.    Hier  ist  dem  Gedanken  der  Vereinigung  und  Bin- 
dung  Gerechtigkeit  geschehen,  aber  von  der  Art  der  Ver- 
kettung  ist  nichts   gesagt.    Das   hochste,   was  liber  das 
Wesen  der  Liebe  geschrieben  steht,  enthalten  die  ewigen 
Worte  Pauli  im  dreizehnten  Kapitel  des  erst  en  Korinther- 
briefes. 
Begehrenund        In  der  begehrenden  Leidenschaft  der  Geschlechter 
^^  ^  erfahren  wir  den  InbegrifF  irdischer  Liebe;  deshalb  wird 

es  uns  schwer,  Begehren  und  Liebe  zu  trennen.  Be- 
gehren  ohne  Liebe  ist  uns  verachtlich,  Liebe  ohne  Be- 
gehren scheint  uns  kraftlos.  Die  Natur  konnte  die  irdi- 
sche  Fortdauer  ihrer  Geschlechter  nicht  starker  sichern 
als  durch  die  Verkniipfung  des  Triebes  mit  der  Liebe; 
so  scheinen  die  beiden  Gewalten  uns  untrennbar,  fast 
identisch,  und  wir  erkennen  kaum  die  ungeheure  Para- 


doxie  ihrer  Kuppelung.  DerTriebverlangt  zeitliche  innige 
Naherung,  die  Liebe  verlangt  ewigen  Bestand.  Der  Trieb 
will  besitzen,  Herr  werden  und  genieI5en,  die  Liebe  will 
aufgehen,  sich  opfern,  verschenken.  Der  Trieb  bietet 
die  hochste  Lust  dem  Eigenwillen,  die  Liebe  findet  ewiges 
Gliick  in  der  EntauGerung.  Es  ist  ein  niichterner  Irr- 
tum,  zu  glauben,  dafi  die  Natur  die  Kraft  der  Liebe  in 
den  Dienst  des  Triebes  beschwor,  um  die  Erziehung  der 
Kinder  durch  monogames  Familienleben  zu  schiitzen;  die 
Familienerziehung,  insbesondere  in  monogamer  Ehe,  ist 
keine  Naturnotwendigkeit,  sondern  eine  Moglichkeit  von 
vielen,  und  es  spricht  manches  dafiir,  dafi  mit  dem  Er- 
starken  neuer  Staatsgedanken  andere  Formen  ihr  zur 
Seite  treten  werden. 

Auch  der  Instinkt  der  Mutterliebe  ist  kein  Beweis  Mutterliebe 
fiir  die  immanente  Zusammengehorigkeit  von  Liebe  und 
Trieb;  die  Mutter  liebt  im  Kinde  nicht  ein  Gegenwesen 
ihrer  mystischen  Wahl,  sondern  den  losgelosten  Anteil 
ihrer  selbst,  die  irdische  Unsterblichkeit  ihres  eigenen 
Ich.  Ihr  heifies  und  heroisches  Gefiihl  tragt  von  aulben 
die  friihesten  Zuge  altruistischer  Liebe;  im  Innern  aber 
beharrt  es  als  edelste  Form  der  Eigenliebe. 

Eigenliebe  aber  fiihrt  zu  Unrecht  den  Namen  des  Eigenliebe 
Gefiihls,  dessen  Begriff  sie  aufhebt.  Sich  selbst  kann  man 
fiittern  und  pflegen,  hatscheln  und  verwohnen;  abernie- 
mand  kann  sich  mit  sich  selbst  vereinigen,  sich  fiir  sich 
selbst  entaul^ern,  hingeben  und  opfern.  Eigenliebe  ist 
Eigensucht,  Selbsterhaltung,  Betonung  und  Absonderung 
des  engsten  Ich;  sie  vernichtet  die  Liebe,  die  darauf  aus- 
geht,  die  Grenze  des  Einzelwesens  zu  sprengen,  das  Ich 
im  Du  aufzulosen  und  das  Versprengte  zu  hoherer  Ein- 
heit  zu  binden. 


163 


Parodoxieder  So  bleibt  die  Liebe  als  das  Ratsel  und  Wunder  dei 
Zweckwelt  ganz  auf  sich  selbst  gestellt.  Der  Trieb  rufi 
ihre  Hilfe  an,  und  sie  leiht  ihm  Macht,  damit  im  Leber 
eines  jeden  Menschen,  selbst  des  materiell  gebundenen 
ein  Augenblick  der  Transzendenz,  der  Zweckentrissen- 
heit,  der  Unbegrenztheit  aufleuchte.  Aber  der  Trieli 
kann  die  ihm  fremde  Gewalt  nicht  beherrschen;  wm 
iiber  die  engen  Ziele  seines  Geschafts  hinaus  werden  ihir 
die  Geschopfe  enthoben,  die  er  friedlich  paaren  woUte 
und  die  er  nun  in  die  Flammen  apotheotischer  Opferungi 
stiirmen  sieht. 
Kritik  der  Rund  umher  in  dieser  mittleren  Welt  dient  alles  sicti 
selbst,  seiner  Art  und  seiner  Zukunft.  Auf  der  Trias:;; 
Selbstbehauptung,  Zweck  und  Mittel  ist  sie  aufgebaut 
Denken,  Handeln  und  Geniel5en  sind  ihre  Motoren,  Ent- 
wicklung  ihr  Weg.  Das  ist  die  Welt,  die  vom  Granit  hh 
zum  Menschenhirn  der  Intellekt  beherrscht  und  kennt. 

Nun  tritt  die  Liebe  hervor,  zerstorend  und  verfliich- 
tigend  den  Aufwand  des  materiell  gesattigten  Geschehens 
Die  Selbstbegrenzung  schwindet,  der  Eigenzweck  ist  auf- 
gehoben,  mit  ihnen  sinken  die  Machte  des  Begehreni 
als  Mittel  und  Krafte  ins  Schattenhafte.  Nicht  als  irdi- 
sche  Tauschung  erstirbt  das  Ich,  um  einen  Aschenrest 
absoluteren  Wesens  zu  hinterlassen,  sondern  es  ent- 
schmilzt  verlorener  Einsamkeit,  um  im  Hoheren  zu  er- 
stehen.  ' 

Im  intellektualen  Denken  gipfelt  die  sichtbare  Schop- 
fang,  einschliel5end  das  irdische  Menschentum.  Die  un-' 
entrinnbare  Orientierung  des  intellektualen  Denkens  abei 
liegt  im  Ziel  und  im  Zweck.  Hier  nun  erhebt  sich  eine 
paradoxe  Kraft,  die  beide  vernichtet,  indem  sie  das  indi- 
viduelle  WoUen  aufhebt,  xmd  dennoch  synthetisch  wirkt, 


164 


i 


indem  sie  das  Einzelstrebige  vereiiiigt.  So  steht  die 
Liebesgewalt  an  der  Grenzscheide  unserer  Tageswelt, 
und  zugleich  an  der  Pforte  zu  neuemLeben;  die  hoch- 
sten  Krafte  des  Diesseits  half  sie  entfesseln,  die  stillen 
Machte  der  Einkehr  lehrt  sie  sammeln. 

I  Konnte  die  Kraft,  die  wir  suchten,  andere  Ziige  tragen  Liebe  als 
als  die,  welche  uns  im  Bilde  der  Liebe  vertraut  sind,  die  j^oment 
Ziige  der  Selbstaufgabe  und  Verschmelzung,  der  Zweck- 
auflosung  und  Wiedergeburt?  So  geartet  vermag  sie 
allein  unserem  Empfinden  das  Phanomen  der  Seelen- 
schopfang  zu  rechtfertigen;  wir  erkennen  wiederum  wie 
zu  Anfang  unserer  Betrachtung:  Seele  entsteht  durch 
Liebe. 

I  Diesmal  jedoch  erscheint  die  Wahrheit  uns  in  ihrer 
objektiven  Form;  nicht  mehr  als  hinzunehmende  Erfah- 
ning  inneren  Erlebens,  sondern  als  begreifliche  Gesetz- 
mai^igkeit  der  vereinbarten  Welt.  Im  gleichen  Licht  des 
erschauten  Tages  begegnet  uns  die  zweckfreie  Aul5er- 
weltlichkeit  der  Seele,  die  sich  vormals  durch  Einkehr 
uns  oiFenbarte. 

j  Wir  stehen  im  Mittelpunkte  unseres  Denkens.  WirRiickblick 
wnrden  uns  bewull)t,  daI5  der  zentrale  Vorgang  unseres 
inneren  Erlebens  in  der  Erweckung  der  Seele  begriffen 
sei.  Wir  stellten  die  Aufgabe,  in  der  Welt  der  Vor- 
stellung  diesen  beherrschendenMoment  der  inneren  Evo- 
lution symbolisiert  zu  finden.  Die  Welt  der  Vorstellung 
ergab  sich  als  ein  Phanomen  der  Wirkung  Geist  auf  Geist 
und  der  Vereinigung  Geist  mit  Geist.  Das  Element  der 
Addition  blieb  vorerst  im  Dimkel;  doch  erkannten  wir 
jbeim  Vorwartsschreiten,  dal5  ein  Experimentationsgebiet 
'ifiir  die  Vorgange  des  individuellen  Geisteslebens  uns  ge- 
Igeben  sei:  ein  makroskopisches  Bild  entsteht  uns  in  der 

«<5f 


Beobachtung  des  kollektiven  Geistes,  innerhalb  dessei 

WIT  uns  wissend  und  bewu^t  bewegen.    Es  gelang  uns 

in  diesem  Bilde  das  Phanomen  der  Seelenwerdung  zu  er 

kennen,  und  zugleich  mufite  das  Additionselement,  da 

dieses  Phanomen  zuwege  brachre,  sich  uns  enthiillen.  Ii 

seiner  Betrachtung  verharren  wir,  indem  wir  dem  Ge 

setz  der  Reihen  folgend  fiir  die  niederen  Phanomene  ver 

langen,  was  wir  fiir  das  hochste  der  beobachtbaren  er 

kannt  haben.    Wir  formulieren  die  Grundgesetze  eine; 

Mechanik  des  Geistes,  indem  wir  aussprechen: 

Gesetze  der  i.  Geist  hoherer  Ordnung  entsteht,  wenn  Geist  mi 

Mechanik  des  ^   .         11..       .   .  .    . 

Geistes  Geist  additiv  sich  veremigt. 

2.  Das  Moment   der  additiven  Vereinigung  ist  eii 

wirkendes  Element,  das  in  seiner  hochsten  uns  bekanntei 

Form  als  Liebe  sich  darstellt. 

Aufbau  der  Blicken  wir  nun  ruckwarts  liber  das  gesamte  Gebie 

des  Gesetzes  ^^^  vorgestellten  Welt,  so  zeigt  sich  ihre  gesamte  Archi 

tektur  unter  dem  Bilde  fortschreitender  Addition.    In 

Vbrorgani-  Nebel  der  Raume  verlieren  sich  Urelemente  beliebige; 
sche  Welt 

Ordnung.    Sei  es  als  Impulse  der  Schwerkraft,  sei  es  al 

Trager  des  Lichts  oder  der  Ladung  treten  hochkonsti 

tuierte  Additionskomplexe  zum  ersten  Mai  in  den  Bild 

kreis  menschlicher  Vorstellungskraft.    Abermals  folger 

Summierungen   unbekannter,    unabsehbarer   Ordnungs 

reihen,  bis  endlich,  der  Berechnung  und  Beschreibunf 

zuganglich,  der  sinnlichen  Beobachtung  noch  auf  imme: 

entriickt,  der  Weltkorper  des  Atoms  mit  seinen  Traban 

ten  erscheint  und  sich  zum  komplexen  Aufbau  moleku 

later  Organismen  fiigt.    In  mechanischer  Haufung,  die 

keiae  organische  Addition  in  unserem  Sinne,  vielmehj 

nur  lockere  Vervielfaltigung  bedeutet,   erwachsen  au; 

diesen  Einheiten   greifbare   Korper,   Gestirne,   Sonnen 


1 66 


I 


systeme,  Milchstral5en,  VVelten  beliebiger  geometrischer 
Ordnung,  wahrend  die  reine  Addition  abermals  unbe- 
kannte  Reihen  durchlauft,  bis  die  organische  Zelle  in  den 
Brennpunkt  sinnlicher  Wahrnehmung  und  wissenschaft- 
licher  Beobachtung  vordringt. 

In  diesem  letzten  Wege  ist  die  Urzeugung  beschlos-  Organisierte 
sen,  deshalb  darf  erwahnt  werden,  welcher  Art  sie  im 
Geiste  dieser  Darlegung  zu  erfassen  ist.  Im  transzen- 
denten  Sinne  besteht  kein  Problem  einer  Generatio  aequi- 
voca,  denn  alles  Seiende  ist  Phanomen  des  Geistes,  so- 
mit  des  Lebens.  Das  Leben  kennt  Abstufung,  aber  keinen 
Gegensatz;  Lebendes  aus  Nichtlebendem  wird  nicht  er- 
weckt.  Im  praktischen  Sinne  lautet  die  Frage:  gelingt 
es  oder  gelingt  es  nicht,  Phanomene  geringeren  Lebens 
in  Phanomene  hoheren  Lebens,  im  bekanntesten  Fall  das, 
was  unorganisierte  Substanz  genannt  wird,  in  das,  was 
organisierte  Substanz  genannt  wird,  liberzufuhren? 

Wir  beriihrten  schon  friiher  die  Tatsache,  dafi  alle  Lebenskrafte 
unsere  Methoden  der  Substanzbehandlung  auf  Massen-  ^g 
wirkunghinauslaufen.  Gleichviel  ob  wir  heizen  oder  kiihlen, 
elektrisieren,  bewegen  oder  mengen,  immer  lassen  wir 
Gleiches  auf  Gleiches,  Massen  auf  Massen  wirken.  Wir 
behandeln  gleichsam  Haufen,  Volker  oder  Herden,  aber 
unter  dem  Gesetz,  daI5  wir  niemals  mit  dem  Individuum 
in  Verkehr  treten  diirfen;  wir  konnen  nur  im  grofien  und 
ganzen  auf  ihre  Summen  wirken,  und  auch  dies  nur  unter 
Anwendung  von  Massenmitteln.  Es  ist,  wie  erwahnt,  die 
Analogie  eines  trivialen  Bildes :  man  schiittelt  Haken  und 
Osen,  und  kann  nicht  mehr  erwarten,  als  daft  bestenfalls 
alle  Paare  sich  verschranken.  Ein  Feldherr,  der  ohne 
personliche  Anweisung  und  Einwirkung  auf  einzelne  sich 
damit  begniigt,  WafFen,  Ausriistungen  und  Nahrungs- 

167 


mittel  in  seine  Armee  zu  schiitten,  wird  eine  allgemeine 
Verwendung  dieser  Mittel,  aber  nicht  die  gewollte  Aus-i 
bildung  erreichen.  Verlangt  man  hochsten  Ausbau  des^ 
Elements,  stetes  Durchlaufen  zahlloser  Entwicklungs-i 
reihen,  so  miissen  innere  Krafte,  personliches  Wollen] 
geweckt  werden.  Dies  ist  das  Wesen  der  Lebenskraft: 
sie  ist  nicht  Massenwirkung,  sondern  Einzelwille;  und  so-' 
lange  wir  nur  anonym,  nach  dem  Gesetze  grower  Zahlen. 
Massenwahrscheinlichkeiten  aufzurufen  fahig  sind,  wer-l 
den  wir  den  lebenweckenden  Spuren  der  Natur  nichtl 
folgen.  Konnte  der  Chemiker  zum  Ziichter  werden,  so 
ware  die  Urzeugung  enthiillt. 
Lebenswille,  Fast  unter  unseren  Augen  vollzieht  sich  der  additio-i 
Kampf  nelle  Aufbau  zum  lebenden  Organismus.    In  ihm  er-l 

scheint,  unserer  Wahrnehmung  erkennbar,  eine  neuei 
Welt  des  Geistes;  der  Bezirk  des  zustandlichen,  ereignis- 
losen,  vorwillentlichen  Lebens  ist  durchschritten,  und  mit 
der  Zerstorbarkeit  und  Gefahrdung  der  hochgebildeten 
Form  tritt  der  Erhaltungsdrang,  der  Lebenswille,  das 
Zweckstreben  und  der  Kampf  hervor.  Durch  alle  Raume 
gegossen  erfiillt  das  Heervolk  der  organisierten  Lebens- 
elemente  jede  Existenzmoglichkeit;  alles  substantielle 
Geistesabbild  strebt  diesem  Wege  zu  und  auf  ihm  der 
hochstkonstituierten  Form  entgegen,  weil  sie  die  starkste 
Verteidigungskraft  gewahrt.  Alle  lebensreifen  Gestirne 
miissen  von  organisiertem  Leben  bedeckt  sein,  und  auf 
alien  mul^  der  Lebenskampf  bestandig  von  physischen  zu 
intellektualen  Formen  schreiten.  Wille,  Zweck  und 
Kampf  aber  verwehren  der  organisierten  Natur  den  Zu- 
sammenklang.  Sie  wiirden  die  Schopfung  in  ein  neues 
Chaos  zersprengen;  der  Intellekt  wiirde  zum  weltver- 
nichtenden  Prinzip   emporwachsen,   wenn  nicht  in  der 

1 68 


Schule  des  Intellekts  der  Geist  zur  neuen  Synthese  reifte, 
die  in  der  Verschmelzung  des  Menschen  zu  Menschheits- 
ordnangen  uns  entgegentrat. 

Wir  werden  im  Verlauf  der  Darlegung  auf  die  ein^ig- SeelischeWelt 
artige  Doppelstellung  zuriickzugreifen  haben,  welche  im 
Gang  der  Erscheinungse volution  der  menschlichen  Seele 
beschieden  ist.  Wir  haben  im  Experimentationsbilde 
Seele  entstehen  sehen  bei  der  Addition  menschlicher 
Individualitaten  als  Gemeinschaftsseele,  durch  die  Bin- 
dung  der  Liebe.  In  gleicher  Gesetzmafi)igkeit  entstand 
zuvor  Intellekt  aus  der  Summierung  lebendiger  Elemente 
zu  Individualges  chop  fen.  Menschliche  Seele  aber  ent- Entstehung 
steht  nicht  nur  in  der  Vereinigung  Mensch  und  Mensch,  g^^j^ 
sondern  zugleich  und  nochmals  in  der  inneren  Verschmel- 
zung menschlicher  Krafte  zur  Einzelseele.  Es  tritr  so- 
mit  innerhalb  des  menschlichen  Geistes  ein  der  Liebes- 
kraft  analoges  Streben  auf,  das  mit  der  fails  chlich  be- 
nannten  Eigenliebe  nichts  gemein  hat,  eine  fiir  sich 
stehende,  namenlose  Konzentrationskraft,  die  uns  aus  Tnnere  Liebe 
innerer  Erfahrung  vollkommen  vertraut  ist.  Wir  kennen 
die  innere,  tragheitsartige  Hemmung,  die  uns  bis  zur 
Verzweif lung  hindert,  das  geistige  Auge  zu  ofFnen ;  die 
uns  in  den  Staub  des  Alltags  niederdriickt,  da  wir  doch 
gewii5  sind,  nur  ein  diinner  Vorhang  verschliel^t  uns  das 
Licht.  Nicht  Willensenergie  ist  es,  die  den  Vorhang 
hinwegblast,  sondern  ein  inneres  Sammeln,  das  ist  Ver- 
einigen  der  intuitiven  Krafte;  weder  eine  Kraft,  noch 
eine Tragheit,  noch  einSchmerz  mui5  liberwunden  werden, 
sondern  Erstarrung.  So  ist  es  erklarlich,  dafi)  der  Mensch 
vermeint,  nur  eine  aull)ere  Gnade  konne  die  Lebensbache 
vom  Frost  erlosen  und  die  innere  Liebe  erwecken,  die 
se^lenschaiFend  nach  dem  Bilde  der  aufieren  Liebe  wirkt. 


X69 


An  diesem  grofien  Wendepunkte  lost  sich  der  Kampf. 
Der  Kreis  der  selbsterhaltenden  intellektualen  Natur  ist 
geschlossen,  und  auf  welchem  Gestirn  auch  immer  hoch- 
entwickelte  Geschopfe  der  liberintellektualen  Synthese 
sich  nahern:  immer  werden  sie  an  der  Grenze  des  mitt- 
leren  Lebens  stehen,  und  immer  wird  das  Reich,  das  sich 
ihnen  erschlief5t,  das  Reich  der  Seele  sein.  Diese  aber 
ist  die  dritte  uns  begreifliche  Form  des  Geistes. 
Absteigendes  Der  Gedankengang,  der  uns  den  Weg  der  Geisies- 
addition  im  aufsteigenden  Sinne  verfolgen  hiell),  zwingt 
uns,  eine  entgegengerichtete  Bewegung,  gewissermaI5en 
einen  zweiten  Wellenzug  in  absteigender  Richtung  vor- 
zustellen.  Denn  auch  in  dieser  Orientierung  mufi  die 
Reihe  unendlich  sein;  und  da  das  unendlichfach  geteilte 
Element  nicht  erreicht  wird,  somit  aus  ihm  ein  Auf  bau 
nicht  erfolgt,  so  muI5  die  Teilung  ins  Kleinste,  ebenso 
wie  die  Summierung  zum  Gr6l5ten,  unablassig  weiter 
vorschreiten.  Ein  Abbild  dieser  progressivenUnterteilung 
gibt  uns  die  Denknotwendigkeit  der  Wissenschaft,  die, 
um  ihre  Phanomene  mechanisch  zu  erklaren,  gleichfalls 
zu  immer  subtileren  Athermedien  ihre  Zuflucht  nehmen 
mufi.  Ein  dunkles  Gefiihl  mochte  ahnen  machen,  dafi 
die  beiden  Wellenziige  im  Unendlichen  sich  wiederum 
vereinigen,  doch  versagt  die  Vorstellung  dieser  nebel- 
haften  Feme  und  Subtilitat. 
Kritik  der  Das  unendliche  Aufsteigen  des  Geistes,  dessen  zwei 
nachst  benachbarte  Stufen  uns  bekannt  und  begreiflich 
sind:  durch  Z week  zum  Intellekt,  dutch  Liebe  zur  Seele, 
dieses  Urphanomen  miissen  wir  als  ein  Gegebenes,  der 
Kritik  Entriicktes  hinnehmen.  Aber  wie  friiher  erwahnt, 
die  Grunderscheinungen  des  Geistes  haben  nicht  das 
widerspruchsvoU  Bedriickende  fiir  Denken  und  Empfin- 


170 


dung,  das  alien  materiell-mechanischen  Gnindgesetzen 
anhafret  und  uns  zum  bestandigen  Widerspruch  zwingt: 
warum  gerade  so?  warum  nicht  anders?  warum  nicht  mehr, 
nicht  weniger  Mannigfaltigkeit?  warum  liberhaupt  die 
Willkiir,  die  in  der  Einseitigkeit  eines  jeden  ErschafFenen 
liegt? 

Geist,  als  Trager  jeder  Moglichkeit,  lost  alle  Ur- 
sprungsfragen  und  Einseitigkeitszweifel  hinweg,  indem 
er  gleichzeitig  das  erfassende  Denken  in  sich  einordnet 
und  mit  seiner  eigenen  Evolution  die  Evolution  derKritik 
mitreifit.  Jede  Welt  schafFt  ihr  adaquates  Erfassen,  jedes 
Erfassen  schaiFt  die  ihm  adaquate  Welt.  Gang  und  Stufen- 
folge  ist  das  Immanente  unseres  Erlebens,  deshalb  ist  der 
Geist,  den  wir  erschauen,  ein  auf-  und  absteigender. 
Hierin  liegt  keine  beunruhigende  Willkiir  mehr:  denn 
alles  wahrhaft  Denkbare  ist  moglich  und  real,  und  alles 
Reale  und  Mogliche  ist  denkbar. 

Wollen  wir  aber  das  auf  einer  Stufe  Erschaute  in  Gleichnisse 
Denk-  und  Gebrauchsformeln  fassen,  so  entsteht  Dogma- 
tik;  denn  wir  konnen  nichts  anderes  als  die  Alltagsbilder 
unserer  Vorstellungswelt  verwenden,  um  Gesetze,  die 
weit  iibergreifend  dieses  Leben  beschatten,  in  unserem 
Hohlglas  aufzufangen.  Soil  es  dennoch  geschehen  und 
die  Frage  aufgeworfen  werden,  wie  das  Emporsteigen 
von  Geist  iiber  Geist  moglich  sei,  so  bieten  sich  uns  die- 
jenigen  Bilder,  die  etwa  bei  hydraulischen,  optischen  und 
magnetischen  Phanomenen  uns  eine  Vorstellung  geben, 
wie  urspriinglich  vorhandene,  aber  zur  Wirkungslosigkeit 
zerteilte  Krafte  sich  sammeln,  verstarken  und  hervor- 
treten,  sobald  Triibungen,  Vermengungen,  Unordnungen 
sich  abgeklart  und  losgesondert  und  geschlichtet  haben. 
Wir  diirfen  uns  vorstellen,  daS  Geist  in  unendlicher  Zer- 


171 


spalrung  der  Klarheit  ermangelt,  dai5  alles  Aufsteigen 
ein  Wiedersammeln  des  Gleichartigen,  ein  Gleichrichten 
des  Wirksamen  bedeutet,  und  dafi  die  versprengten  und 
latent  gewordenen  Krafte  zu  ungemessen  erhohter  Rein- 
Gesetz  der  heit  und  Macht   sich   lautern.     Das  Empordringen  des 
^Geistes  entsprache  somit  nicht  einem  Gesetze   der  Er- 
schaffung,   sondern  der  Enthiillimg.     Gleichzeitig  ware 
damit  des  zweiten  Wellenzuges  zu  gedenken,  der  immer 
fortwirkend    das    Element    um    Aberelement    zermahlt 
und  als  Prinzip   des  Abbaus   die  Materialien   erneuten 
Aufbaus  schafFt. 
Symbole  der        Ware  es  erlaubt  und  erfordert,  diese  dogmatische 
Vorstellung  in  Bildern  kindlicher  Glaubensformen  aus- 
zudriicken,  so  wiirden  die  alten  Gleichnisse  jener  gran- 
diosen  Weltbewegung  zu  wahlen  sein,  deren  Auf-  und 
Abstieg  im  vorzeitlichen  Abfall  gottlicher  Machte,  im 
Siindenfall  des  geschaffenen  Menschen  und  in  der  Er- 
losung  durch  opfernde  Liebe  symbolisiert  ist. 
Evolution  Im  Auge  zu  behalten  bleibt,  dafi  nichts  uns  notigt, 

der  Konstanz  ^^  Gesetz  analog  dem  von  der  Erhaltung  der  Materie 
fur  den  Geist  zu  postulieren.  Mag  dies  Gesetz  fur  die 
molekulare  Welt  mit  beliebiger  Annaherung  gelten:  es 
verliert  immer  mehr  von  seinem  Sinn,  je  weiter  man  sich 
von  der  durch  Krafte  mefibaren  Substanz  entfernt  und 
je  tiefer  man  die  Reihen  hinabsteigt,  aus  denen  plane- 
tarische  Substanz  sich  entwickelt.  Erinnern  wir  uns,  daiS 
physische  Substrate  Erscheinungsformen  des  Geistes  sind, 
womit  keineswegs  gesagt  ist,  daI5  Geist  ausschlielMich  nur 
in  diesen  Substraten  sich  manifestiert,  so  scheint  die  Uber- 
tragung  des  Gesetzes  von  der  Erscheinung  auf  den  Grund 
noch  weniger  geboten,  am  wenigsten  da,  wo  von  auf-  und 
absteigender  Entwicklungsform  des  Geistes  die  Rede  ist. 


17^ 


Hieraus  ergibt  sich,  dafi  der  Additionsvorgang  nicht 
im  arithmetischen  Sinne  betrachtet  zu  werden  braucht, 
demzufolge  die  Summe  nichts  enthalten  diirfte,  was  nicht 
bereits  in  den  Komponenten  nachweisbar  ware;  gleich- 
viel  ob  bei  der  Bildung  des  Intellekts  und  der  Seele 
latent  gewesene  Potenzen  befreit  werden,  oder  ob  sich 
neue,  frei  hinzutretende  Emanate  bilden:  es  ist  voU- 
kommen  denkbar,  dafi  die  Komponenten  in  voller  oder 
fast  unverminderter  Virulenz  erhalten  bleiben,  nachdem 
sie  den  gewaltigen  Akt  der  geistigen  Zeugung  durchlebt 
haben,  und  nachdem  das  Emanat  dieser  Zeugung  in  stark- 
ster  Realitat  als  Drittes  erstanden  ist. 

Nichts  hindert  somit,  die  Summe  des  Geistes  in  der  Wachsen  des 
Welt  als  wachsend  zu  denken;  ja  dieser  Vorgang  findet 
im  Bilderbuch  der  planetaren  Erscheinung  sein  Gleich- 
nis,  indem  die  Summe  des  Oberflachenlebens  unserer 
Kugel  seit  ihrem  Erkalten  zu  unermefilichem  Reichtum 
sich  gesteigert  hat  und  taglich  steigert. 

Diese  Zwischenbetrachtung  des  Additionswesens  ge-  Problem  der 
winnt  an  Bedeutung,  wenn  die  Frage  der  Zerstorbarkeit  n^chtun^ 
und  Sterblichkeit  hoherer  Geistesstufen  gestellt  wird. 

Sucht  man  die  Antwort  am  makroskopischen  Experi-  Priifiing  am 
mentiertisch,  so  scheint  sie  nicht  trostlich  zu  lauten.    Ein  ^^^^  tivge- 
Kollektivgeist,  Stadt,  Stamm  oder  Staat,  hat  seine  Seelen- 
frucht  getragen.    Naturereignisse  oder  Kriege  brechen 
herein;  die  Einwohnerschaft  wandert  aus,  geht  unter,  ver- 
mischt  sich,  Stadt  und  Land  veroden,  Tempel  und  Bilder 
zerfallen,  Sprache,  Literatur  und  Religion  werden  ver- 
gessen:  somit  scheint  die  Seele,  die  Kollektiverscheinung 
war,  im  Hinschwinden  ihrer  Elemente  gestorben  und  ver- 
nichteto   Hier  steigt  schon  ein  Bedenken  au£    Ist  es  nicht  Vergangene 
seltsam,  daI5  keine  Kultur  uns   verloren  gegangen  ist? 


173 


■ 


Berge  unci  Graber  offnen  iich,  das  Meer  gibt  seine  Beui 
wieder,  Steine  reden  und  Erze  beleben  sich,  Urkunden 
zeugen  und  vergessene  Sprachen  klingen.  Wir  wissen 
von  Griechenlands  Urges chichte  mehr  als  Herodot  und 
von  Roms  Anfiingen  mehr  als  Livius  und  Tacitus.  Mag 
dies  Schlummern  und  Erwachen  alter  Seelenwerte  eine 
ungesetzlich  gliickliche  Fiigung  sein:  so  sind  andere 
Seelenkrafte  der  Vorzeit  unverloren  und  noch  heute 
lebendig.  Wir  wohnen  umgeben  von  griechischen  Bau- 
gedanken  und  Schmuckwerken,  romische  RechtsbegrifFe 
und  Kultformen  leben  in  unseren  Tribunalen  und  Kir- 
chen,  unsere  Sprachen  sind  erfiillt  von  klassischen  Ge- 
danken  und  Philosophemen,  unsere  Kunst  ist  geschult  an 
alten  Proportionen  und  Darstellungsweisen,  unser  reli- 
gioser  Besitz  ist  erwachsen  aus  morgenlandischen  Ver- 
kiindigungen.  Wir  waren  nicht  was  wir  sind,  wir  dach- 
ten  nicht  unsere  Gedanken,  wir  lebten  am  Ende  in  Wal- 
dern  und  Einoden,  ware  nicht  die  Seele  der  Vergangen-| 
heit  in  uns  gefahren  und  unter  uns  lebendig.  '' 

Ein  schwer  zu  erklarendes  Gefiihlsmoment  darf  noch- 
mals  erwahnt  werden.  £s  ist,  als  ob  vergangene  Kultur 
am  Boden  haftet  und  eine  traumhaft  leuchtende  Atmo- 
sphare  iiber  ihn  breitet.  Das  Land,  das  die  Flamme  der 
Seele  getragen  hat,  verdunkelt  nicht.  Wir  horen  von 
den  Urwaldern  Brasiliens  und  den  Naturwundern  inner- 
asiatischer  und  australischer  Reiche  und  ahnen  die  Hoheit 
unbenannter  Berge  und  unerblickter  Fliisse;  aber  diese 
Lander  reden  nicht,  und  die  Zierate  ihrer  armseligen 
Volker  sind  uns  Zeugen  einer  Sterilitat,  die  tiefer  liegt 
als  im  Menschenherzen.  Der  Kalkstaub,  der  auf  der 
Strafie  nach  Eleusis  weht,  bewegt  unsere  Seele  starker 
als  Mangoduft  imd  Kolibriflugel. 


174 


Fast  mochte  man  die  umgekehrte  Frage  stellen:  ist 
iiberhaupt  Natur  und  Menschenkraft  imstande,  den 
Seelenbesitz  eines  Volkes  aus  der  Welt  zu  schaiFen? 
Wird  nicht  stets,  erobernd  oder  geknechtet,  die  reichere 
Seele  im  Geiste  siegen  und  beharren? 

Noch  immer  lafit  sich  erwidern:  wenn  diese  schein- Materialisation 
qar  abgeschiedenen  Volkerseelen  lebten;  nicht  meta- 
phorisch  gesprochen,  in  Wirkung  und  Gedachtnis,  son- 
dern  selbstempfindend,  leidend-selig,  abgegrenzt  und 
wahrhaft  lebten;  mufiten  wir  nicht  deutlichere  Zeugnisse 
dieser  abgeschlossenen  Existenz  aufzuweisen  haben? 
Und  miifiten  wir  nicht,  solange  diese  Zeugnisse  mangeln, 
den  Gedanken  dieser  Fortexistenz  abweisen? 

Keines  von  beidem.  Auf  einem  Gebiet,  das  nicht  von 
materieller  Erfahrung  bestimmt  ist,  haben  wir  nichts 
von  der  Schwelle  zu  weisen,  was  ein  reines  Gefiihl  uns 
ankiindigt.  Freilich  haben  wir  auch  nicht  das  Recht, 
Ungepriiftes  und  Unbefragtes  aus  leichter  Neigung  in 
den  Hausstand  unseres  Geistes  aufzunehmen.  Gerad- 
wegige  Priifung  aber  bleibt  uns  versagt;  denn  wahrhaft 
Seelenhaftes  mul5  sich  der  Materialisation  entziehen, 
deren  der  Intellekt  zur  Wahrnehmung  bedarf.  Im 
menschlichen  Leben,  im  animalischen  und  vegetativen 
Leben,  im  geistigen  Leben  schlechthin,  erfal5t  die  Wahr-  Geset^.  der  Er 
nehmung  nur  das  bereits  Durchlaufene  und  Erlebtey^^  ^^ '*' 
Aus  dem  Gewuhl  der  Erscheinung  ergreift  das  Kind  nur 
das,  was  es  im  einzelnen  gekostet  und  erfiihlt  hat;  fiir 
reife  Sinnlichkeit,  fiir  hochste  Abstraktion  des  Intellektes> 
fur  Regungen  der  Seele  in  Liebe  und  Transzendenz  ist 
es  so  blind,  daC)  es  von  alien  diesen  Funktionen  nur  die 
materiellen  Schatten  und  vielleicht  nicht  einmal  sie 
wahrnehmen  kann.  Das  Analoge  gilt  verstarkt  im  ganzen 


175 


Abstieg  der  Stufenleiter,  und  diirfte  man  dem  Sauer- 
stofFatom  einen  Hauch  wahrnehmenden  Intellekts  bei- 
legen,  so  ware  zu  behaupten,  dafi  die  Vorstellung  einer 
freiwilligen  Bewegung  ihm  vollkommen  unfafi)bar  bliebe. 

Gesetzt  jedoch,  unsere  Sinne  waren  von  so  subtiler 
Kraft,  dafi)  sie  hofFen  diirften,  den  Schleier  eines  neuen 
Lebens  zu  durchdringen,  so  ware  doppelte  Verlegenheit 
geschaffen  durch  die  Frage:  in  welchen  Formen  ist  dies 
neue  Leben  zu  suchen?  Wenn  Liebe  es  ist,  die  Seele 
zeugt:  kann  dann  das  Leben  dieser  Seele  in  seiner 
reinsten  Form  als  ein  abgegrenztes,  individuelles  Leben 
erachtet  werden?  Ist  nicht  alle  Abgrenzung  und  Indi- 
vidualitat  der  Ausdruck  selbstwilliger  Scheidung  zwischen 
Mein  und  Dein,  und  somit  dem  Willen  der  Liebe  wider- 
sprechend?  Ist  nicht  gerade  diese  Scheidung  das  Merk- 
mal  unserer  intellektualen  Welt  des  Wetteifers  und 
Kampfes?  Kann  das  Reich  der  Seele  ein  Reich  der  Tren- 
nung  sein?  Mufh  nicht  in  diesem  Reich  die  Riickkehr 
zur  Individualitat  als  hartestes  Inkarnationsopfer  emp- 
funden  werden? 

Und  wiederum  streift  uns  die  friihere  Ahnung:  waren 
diese  Seelen  alter  Volker  lebendig,  wir  diirften  sie  gerade 
nur  in  jenen  halbausgesprochenen  Regungen  verspiiren, 
in  denen  sie  als  Teil  eines  unbekannten  Ganzen  ihre  an- 
noch  irdischen  Krafte  ausstrahlen  lassen. 
Priifung  am  Gleichviel;  die  Antwort  des  Experimentationsobjekts 

in  e  geis  jg^^^-gt-  pythisch:  manches  spricht  dafiir,  nichts  dagegen; 
ist  jenes  Leben  Wahrheit,  so  darf  es  sich  nicht  mate- 
rialisieren.  Kaum  um  ein  weniges  erhellt  kehren  wii 
vom  KoUektivgeist  zum  Einzelgeist  zuriick.  Indem  wii 
aber  den  gewohnten  Weg  von  neuem  beschreiten,  tritt 
eine   bisher  unbeachtete  Tatsache  uns  bedeutend  ent-' 


176 


I  regen.  Auf  alien  fniheren  Stufen  war  die  Evolution  dcs 
jeistes  ausschliefilich  ein  Ergebnis  auGerer  Vereinigung: 
dditiv  vereinigte  Atome  zeigen  organischen  Lebens- 
v^illen,  im  Einzelatom  bleibt  er  latent;  additiv  vereinigte 
llellen  losen  Intellekt  aus,  der  dem  Einzelwesen  nicht 
;ukommt.  Das  Phanomen  der  Seele  hingegen,  das  gleich-  DoppehteUung 
alls  in  additiver  Vereinigung,  und  zwar  der  hochsten 
ntellekte  zum  Kollektivgeist,  sich  kundgibt,  dies  Phano- 
nen  entspringt,  wie  wir  bereits  en\''ahnten,  auch  unab- 
langig  von  aufierer  Vereinigung  dem  Einzelgeist.  1st  in 
liesem  Sinne  die  Stellung  des  Menschen  innerhalb  der 
ichopfung  eine  eximierte,  eine  Grenzstellung  an  der 
Frennungsschicht  zweier  Welten,  so  verlangt  fiir  dieses 
jeschopf  die  Vernunft  das  Recht  auf  selbstandige  Exi- 
tenz  innerhalb  eines  jeden  der  beiden  Gebiete;  es  ware 
villkiirlich  zu  denken,  dal5  mit  dem  Gesetzablai^f  im 
\  linen  die  Vernichtung  im  anderen  verbunden  sein  sollte. 
iine  entscheidendere  Erwagung  tritt  hinzu.  Das  ereig-  Die  dreiKoordi- 
lislose  Leben,  das  wir  als  anorganische  Existenz  kennen, 
St  eindimensional.  Dutch  alle  Zeiten  stromen  im  Sinne 
les  Strahlphanomens  konstituierende  Elemente  dutch 
lie  Raumeinheit,  in  der  die  Erscheinung  des  unver- 
;  inderlichen  anorganischen  Einheitswesens  erfolgt.  Zwei- 
iiimensional  ist  der  Aufbau  des  organischen  Lebens: 
licht  mehr  das  einfach  durchstromte  Element  ist  Trager 
ler  Erscheinung,  sondern  gleichsam  senkrecht  zur  ur- 
priinglichen  Bildung  ergiel5t  sich  der  Generationen- 
trom;  in  analogem  Sinne  strahlartig  gebildet  dutch  be- 
tandig  sich  erneuernde  Substanz,  die  ihrerseits  dem 
irsten  Gesetz  gehorcht.  Gleichsam  ein  Regenfall,  in 
velchem  jeder  Tropfen  wiederum  aus  einem  Regenfall 
loherer   Ordnung   und   anderer  Richtung   gebildet  ist. 


177 


Hier  herrscht  oberhalb  der  Kontinuitiit  der  Substanz  di 
Kontinuitat  der  erblichen  Existenz;  und  so  ist  dies 
subtilere  Lebensform  in  ihrer  Erhaltung  geschiitzt  un 
verewigt  durch  den  Wechsel  und  Bestand  der  Gene 
rationen.  Abermals  senkrecht  zu  dieser  Erscheinungj 
reihe  erhebt  sich  aus  der  menschlichen  Einheit  die  Eve 
lution  der  Seele.  Legen  wir  ihr  die  elementare  Bedei 
tung  bei,  die  unser  Gedankengang  verlangt,  so  kdnne* 
wir  nicht  anders,  als  ihr  eine  neue  Dimension  der  Ex: 
stenz  zuzusprechen,  die  als  Ersatz  generationsweisel 
Erneuerung  ihr  die  Kontinuitat  des  Daseins  in  drittei 
neuer  und  unerforschter  Richtung  gewahrleistet.*  :' 
Irdischemduber'  So  stehen  wir  denn  im  wahrsten  Sinne  an  der  Grenz 
tuns  '  einer  Welt,  in  die  unsere  Seele  hineinragt.    Ihr  ist  di 

irdisch-materielleUnsterblichkeit  nicht  verliehen,  die  alle 
Organische  zu  einem  einzigen,  ewig  wachsenden,  ewig  sic 
wandelnden,  generationsweise  sich  erneuernden  Kollet 
tivgeschopf  zusammenfal5t.  Diese  irdische  Unsterblicl 
keit  der  Kreatur  ist  nicht  bildlich,  sondern  in  vollkomme 
realem  Sinne  zu  verstehen,  denn  wir  miissen  bei  ph) 
sicher  Betrachtung  der  Erscheinung  annehmen,  dafi)  all 
interplanetare  Substanz  den  potentiellen  Kern  organische 
Entwicklung  enthalt,  ja  dafi  in  weit  vorgeschrittenen 
doch  immer  noch  tief  unter  der  Zellengrenze  schlun 
merndem  Keimstand  ein  organischer  Austausch  der  Ge 
stirne  sich  vollzieht,  so  dall)  das  totale  Einheitsgeschopf  de 
organischen  Lebens  unabhangig  selbst  von  planetarische 
Katastrophen  ein  wahrhaft  universales  Dasein  fiihrt.    A 


♦)  Dafi  der  Begrift'  der  Dimension  hier  nicht  im  raumliche 
Sinne  verstanden  ist,  mit  dessen  mystischer  Aii»deutung  manchc 
Unfiig  verbunden  wurde,  dafi  er  vielmehr  die  Koordinatenord 
nung  einer  Erscheinungsform  bedeutet,  bedarf  keiner  Ervvahnun^^ 


178 


solcher  Ubiquitat  und  Perennitat  ist  die  Seele  nicht  be- 
teiligt,  denn  sie  bewegt  sich  in  einer  Richtung,  die  sich 
vom  Organon  der  Erscheinung  abkehrt;  ihr  wahrhaftes, 
endgiiltiges  und  endloses  Leben  kann  sich  mit  dieser 
Erscheinung  nicht  zum  zweitenmal  beriihren;  ihre  Welt 
schafFt  sie  sich  selbst,  wie  der  Intellekt  sich  die  seine 
schafFt,  und  innerhalb  dieser  Welt  hat  sie  ebensowenig 
Anlafi  sterblich  zu  sein,  wie  das  intellektuelle  Organon 
innerhalb  der  seinen. 

Denn  nunmehr  ist  es  uns  erlaubt,  die  Frage  umzu-Ist  Sterblich- 
ikehren,  und  zu  forschen:  wo  gibt  es  iiberhaupt  inner-  ** 

halb  der  physischen  und  organischen  Welt  eine  Sterb- 
ilichkeit?  Die  Wissenschaft  verlangt  die  Unsterblichkeit 
ides  anorganischen Elements.  DasorganischeTotalgeschopf 
itmet  und  pulsiert  unaufhorlich  auf  alien  Gestirnen. 
Der  Tod  erscheint  uns  nur  dann,  wenn  wir  das  Auge  Kritik  der 
irrtiimlich  auf  das  died,  nicht  auf  das  Geschopf  richten. 
Die  Alten  haben  das  Absinken  des  Menschenlebens  mit 
;dem  Fall  des  Laubes  verglichen;  das  Blatt  stirbt,  aber 
jler  Baum  lebt.  Fallt  der  Baum,  so  lebt  der  Wald,  und 
!  Jtirbt  der  Wald,  so  griint  das  Erdenkleid,  das  alle  seine 
;5chutzlinge  nahrt,  warmt  und  verzehrt.  Erstarrt  der 
I  Planet,  so  bliihen  tausend  Bruderzweige  unter  dem 
i^trahl  neuer  Sonnen.  Nichts  organisches  stirbt,  alles 
fjrneut  sich,  und  der  Gott,  der  aus  der  Feme  betrachtet, 
j  indet  in  Jahrtausenden  das  gleiche  Bild  und  das  gleiche 
I  Leben. 

In  der  gesamten  sichtbaren  Welt  kennen  wir  nichts 
iterbliches.  Etwas,  das  sterblich  ist,  konnte  nicht  ge- 
3oren  werden.  Freilich,  alles  was  einem  Ziel  zustrebt, 
A^as  sich  reibt  und  kampft,  das  nutzt  sich  ab,  und  somit 
St  eine  materiell-organische  Welt  nur  auf  der  Grund- 


'79 


lage  ewigen  Substanzwechsels  denkbar,  vom  Mechanis 
mus  des  Leibes  bis  zum  Mechanismus  des  Atoms.  Abe 
dieser  Wechsel  sieht  dem  Sterben  nicht  ahnlicher  al 
das  Wachstum  der  Einzelpflanze ,  das  ohne  Substanz 
wechsel  unmoglich  ware.  Der  BegrifF  des  Sterbens  ent 
steht  durch  falsche  Betrachtung,  indem  das  Auge  an' 
Teil  statt  am  Ganzen  haftet. 
Tod  und  See-  Kann  diese  Auffassung  den  Menschen  trosten,  der  ii 
grauenhafter  Angst  auf  das  hinstarrt,  was  er  sein  Endc 
nennt?  Sie  kann  es,  und  sie  kann  es  nicht,  je  nachden 
der  Mensch  die  Kraft  hat,  rein  zu  fiihlen  und  sein  Ge 
fiihl  zu  deuten,  das  heii5t,  wahrhaft  zu  denken. 

Vom  Sonderfall  des  leiblichen  Schmerzes,  der  dei 
Ubergang  begleiten  kann,  sei  hier  nicht  die  Rede;  wi; 
werden  vom  Schmerzproblem  gemeinhin  anderweit  zi 
handeln  haben;  hier  priifen  wir  die  Wandlung  selbst 
Freilich:  diese  Zunge  wird  nicht  mehr  schmecken  unc 
diese  Hand  nicht  mehr  tasten;  dafiir  werden  millionen 
fach  sich  frischere  Glieder  und  Sinne  regen,  denn  da: 
Erdenleben  ist  um  meinen  Tod  verjiingt.  Geniigt  mi] 
das  nicht;  war  animalische  Lust  nur  deshalb  mein  Gliick 
well  sie  meine,  meine  eigenste,  meine  abgesonderte 
ausschliefiliche  Lust  war,  so  hat  das  Sterben  fur  micl 
ebensoviel  Realitat  wie  das  Leben;  sie  mag  ausreichenc 
sein,  mich  zu  schrecken,  wie  das  Schattenleben  aus- 
reichte,  mich  zu  begliicken,  aber  es  bleibt  eine  gering 
fiigige  Realitat.  Ich  bin  in  der  Lage  eines  Kindes,  dai 
verzweifelt,  weil  es  auf  ein  Vergniigen  verzichten  mu6; 
auch  ist  ein  wenig  Betrug  im  Spiel,  denn  ich  habe  alle 
jene  Geniisse  mit  Gelassenheit  hingenommen,  derer 
Ende  ich  so  turbulent  beklage. 

Dies  ist  der  ausgesonderte  und  kaum  denkbare  FaU 


l8o 


ies  Menschen,  dem  kein  Hauch  von  Seele  zuteil  ge- 
ivorden  ist;  er  gehort  zur  organischen  Gesamtschopfiing, 
j2r  ist  in  Wahrheit  ein  Teil  und  nicht  ein  Ganzes,  er 
raufi  das  Schicksal  des  Teiles  hinnehmen,  der  keinen 
iioheren  Anspruch  auf  Ewigkeit  hat  als  ein'Haar  oder 
ein  Blatt;  er  hat  seinen  Anteil  Gliick  genossen  und 
reicht  nun  die  Schale  weiter.  Ware  er  wahrhaften 
Trostes  bediirftig,  so  ware  ihm  alsbald  die  Seele  und  der 
Trost  der  Seele  beschieden.  Die  Versohnung  seines  Ge- 
schickes  aber  ist  darin  zu  suchen,  dal5  seine  Gliicksform 
aicht  erloschen  ist,  dal5  Kinder  und  Geschwisterkinder 
sein  Leben  weitertragen.  Leidet  er,  so  ist  es  kindliche 
Tauschung  und  getraumtes  Leid,  wie  es  ihm  in  jeder 
Nacht  widerfahren  konnte. 

Ist  aber  dem  Menschen  das  Sonnenlicht  mehr  ge- Tod  und  Seele 
vvesen  als  eine  schone  Warme  und  wohlfeile  Beleuch- 
tung,  war  sein  Zusammenhang  mit  Schopfung  und 
Menschheit  dutch  Liebe  und  Geist  gebunden,  so  kann 
seine  Seele  ein  Ende  der  Liebe  nicht  glauben  noch  fiirch- 
ten.  Es  miifite  denn  die  Seele  vor  sich  selbst  erschrecken, 
vveil  sie  ahnt,  daH)  ihre  Liebe  zu  groii5  sein  wird,  als  dal5 
sie  fur  sich  selbst  noch  ein  eigenes  Gliick  begehren  kann. 
Es  konnte  sein,  daC>  sie  die  gleiche  Angst  und  Tragheit 
empfindet,  die  uns  taglich  betort,  so  viel  von  unserem 
Leben  an  die  Welt,  so  wenig  an  die  Uberwelt  zu  wenden. 
Aber  diese  Tauschung  bedarf  weniger  des  Trostes  als  des 
Gedankens;  und  der  libersinnliche  Gedanke  wird  um  so 
gewisser,  als  die  Sorgenreste  der  Zeit  vor  gvofhen  Augen- 
blicken  dahinsinken.  So  wie  alle  freien  Menschen  im 
Leben,  jeder  in  seiner  Sprache,  das  Gleiche  gesagt  und 
bekraftigt  haben,  so  ist  auch  ihr  zeitliches  Sterben  nicht 
Trostes  bediirftig  gewesen,  sondern  Trost  spendend. 

i8i 


Nichts  wesenhaftes  in  der  Welt  ist  sterblich.  Wollen 
wir  dennoch  die  Macht,  die  in  der  Erscheinungsform 
des  Daseins  die  Welten  abgrenzt,  auch  fernerhin  mitj 
dem  Bilde  des  Todes  bezeichnen,  so  erscheint  der  herr-l 
liche  Genius  als  Wachter  des  Lebens,  als  Herr  der  Ver- 
klarung  und  Zeuge  der  Wahrheit. 
Oberwelt-  Durch  die  Betrachtung  der  Seele  als  eines  uberwelt-j 

lichen  Geistes  wird  ihre  gewaltige  Paradoxie  im  Sinne" 
des  Naturtreibens  begreiflich.  Nun  leuchtet  ein,  warura 
sie  auf  alien  Zweck,  auf  alles  Streben,  ja  auf  alle  Ent^ 
wicklung  der  organischen  Natur  verzichten  darf,  warum' 
sie,  im  Gegensatz  zu  allem  Lebendigen,  zu  jenen  auC^er-! 
sten  Entschliissen  gelangen  kann,  die  das  animalische 
Leben  gefahrden.  Das  Opfer  der  personlichen  Existenz, 
unserem  inneren  Gefuhl  der  Gipfel  heroischer  Freiheit,] 
bleibt  jeder  Betrachtung,  sofern  sie  nicht  hoher  aufsteigtj 
als  bis  zur  organischen  Lebensform,  eine  unauflosbarej 
Torheit  oder  ein  Akt  der  Verzweiflung:  denn  ein  erd- 
geschaiFenes  Wesen  miil^te  wahnsinnig  oder  desperat 
sein,  wenn  es  seinen  Willen  vernichtete,  um  ihn  zu  er- 
fiillen.  Begreiflich  wird  auch  jene  erdenfliehende  Sehn- 
sucht,  jene  selige  Trauer,  jenes  Heimweh  des  Gliicks, 
jene  Ewigkeitsahnung  und  mystische  Verwandtschaft  mit 
ElementenundGestirnen,  dasEmporstromen  zum  Sonnen- 
tode  und  der  erloste  Aufblick  des  inneren  Auges.  Nie- 
mals  wird  intellektualer  Geist  den  Himmelszug  der; 
menschlichen  Natur  erklaren;  fiir  die  Einsicht  der  trans- 1 
zendenten  Seele  ist  er  ein  Kleines,  fiir  ihre  Evidenz  ist 
er  der  letzte  und  entscheidende  Beweis. 
Oberwelt-  Unsere  Denkkraft  und  sinnliche  Erfahrung  verlangt, 

licne  Reihen  ^^^^  ^^j,  ^^^  universale  Reihengesetz  auch  auf  die  Evo- 
lution der  Seele  anwenden.  Somit  stehen  wir  beim  Ein- 

i8i 


ritt  in  die  Seelensphare  nicht  vor  einer  endgiiltig  abso- 

uten  Welt,  sondern  vor  einer  unendlichen  und  unab- 

;eschlossenenWeltenreihe,  derenlnbegrifF,  einschlieMcii 

ler  durchlaufenen  Welten,  denn  freilich  als  endgiiltig 

md  absolut  angesehen  werden  mufi.  Auch  hier  gilt  der 

Jatz,   daI5   der  Vorblick  unmoglich,    der  Riickblick  be- 

ichrankt  und  proportional  der  Entwicklung  vertieft  ist. 

])ie  Unmoglichkeit  des  Vorblickes  wird  augenscheinlich, 

Venn  wir   des   subjektiven  Ursprungs   der  Erscheinung 

redenken  und  uns  gegenwartig  halten,  dafi  unsere  Welt 

lichts   anderes   als    die   Projektion   aller   bisher   durch- 

;chrittenenGeisteskrafte,  einschliefilichder  intellektualen, 

)edeutet.    Auf  jeder  neuen  Stufe  muI5  das  Werk  der 

^eltschopfung  mit  neuen  Kraften  von  neuem  vollbracht 

verden.    Deshalb  ist  jeder  Versuch,  in  das  Geheimnis 

cu  dringen,  verloren,  sofern  wir  mehr  als  eine  beschrankte 

iahl   durchweg  negativer  Vorstellungen   heimzutragen 

jedenken. 

Indessen  ist  es  seltsam,  dalS  gerade  die  Armut  solcher  NegativitUt 
rr  .  .,  ..  1        i«     T       transzenden- 

verneinungen  unser  Ahnungsvermogen  erweckt:  die  Im-^^j.  vbrstel- 

[naterialitat  Gottes  sagt  uns  mehr  als  die  Seligkeit  eines  i^^g 

Paradieses;  und  wenn  wir  gemeinhin  das  Riistzeug  trans- 

zendenter  Vorstellungen  betrachten,  so  finden  wir,  dafi 

2S  lediglich  negative  Inhalte  enthalt,  die  in  positive  Na- 

men  gekleidet  sind. 

Die  Negationen  aus  dem  Bereich  der  Seelensphare  Dreifache 

besagen  dreierlei:  vom  BegrifF  der  Individualitat  miissen  ub^sinn- 

wir  abstrahieren,    sofern  er  die  Abgrenzung  des  Mein  bchen  Vbr- 

stellung 
und  Dein  in  sich  tragt,  denn  in  einem  Reighe,  an  dessen 

Eingang  die  Liebe  steht,  verschmelzen  Krafte  und  Quali- 

taten.    In  diesem   Stande   werden,  zum  zweiten,  Stre- 

bungen  und  Begierden,  die  Motoren  des  intellektualen 


183 


Kampf lebens ,  gegenstandslos  und  widersinnig.  Endlid 
kann  das  Bewaltigungsmittel  der  komplexen  Erscheinung. 
das  intellektuale  Denken  seine  Herrschaft  nicht  behaup- 
ten,  die  schon  beim  Herannahen  seelenhafter  Instanzer. 
im  Gninde  erschiittert  wird;  fast  mochte  man  wagen 
aus  der  Erfahrung  intuitiver  Anschauung  eine  positive 
Vorstellung  adaquater  Einsicht  herzuleiten. 
Richtkraftder  Wollte  man  somit  das  Reich  der  Seele  mit  Namen 
ega  one  ^^^  BegrifFen  unseres  Vorstellungskreises  kennzeichnen, 
so  wiirde  es  als  das  Reich  der  Enraufierung,  des  Friedens 
und  der  gortlichen  Einsicht  zu  benennen  sein. 

Kritik  der  Die  Aufgabe,  die  uns  gestellt  wurde,  ist  erfullt.   Von 

evolutionaren  i       t-      i     •         j       •  t-  i   i  •  •  -u 

Bctrachtung    ^^^  Evolution  des  mneren  Erlebens  gmgen  wir  aus;  ini 

Zentralphanomen,  die  Geburt  der  Seele,  soUte  imSpiegel- 

bild  der  Erscheinung  nachgewiesen  und  angedeutet  wer- 

Rniproxitat  der  den.    Die  Elementc  der  inneren  Erfahrung   spiegelten 

sich  m  ihren  Reziprozitaten;  diese  rugten  sich  zusammen 

2u  den  Anfangen  einer  Mechanik  des  Geistes.    Die  Er- 

lebnisreihe  kehrte  sich  um  in  eine  Entwicklungsreihe ; 

die  subjekrive  Bedingtheit  fand  ihr  Abbild   in  AuC)en- 

welt,  erblicher  Geburt  und  zeitlichem  Tod.    Als  strenge 

Konsequenz  eines  Gesetzes  fortschreitender  Enthiillung 

trat  im  Erscheinungslauf  von  neuem  die  Verklarung  des 

Geistes  zur  Seele  hervor,  diesmal  als  Abschlufi  der  er- 

kannten,  als  Aufschlufi  der  nachsthoheren  Weir.     Der 

Gang  der  objektiven  Evolution  erschien  nicht,  wie  bisher 

bei    aller    friiheren   Anschauung,    als    ein    geradliniges 

Fortschreiten   bei  gleichbleibendem  Koordinatensystem, 

sondern    als    ^in    Entwicklungsgang    des    Koordinaten- 

systems  selbst,  das   standig  neue  Dimensionen  gewinnt. 

Indem   der   Reichtum   der  Weltheiten    eine   neue  Un- 

endlichkeit    gewann,    erhob    sich    die    Seele    iiber    die, 

184 


Welt   des  intellektual   erxeugren  materiell-organischen 
Kreises. 

Wiederum  stehen  wir,  da  wir  Bild  und  Spiegelung  Kritik  der  er- 
durchlaufen   haben,   an  dem  Beriihrungspunkte   beider, 
unserer  eigenen  Seele  ins  Antlitz  blickend.    Was  Ahnung 
war,  ist  Gewif5heit:  an  unserer  Seele  haben  wir  die  Welt 
zu  messen.    Sie  scheidet  alles  Bestehende  in  eine  Gott-  Gottseite  md 
seite  und  eine  Weltseite  der  Schopfung,  ihr  Spruch  ent-  ScLpfuL 
scheidet  iiber  Aufstieg  und  Abstieg.    Indem  wir  aber  die 
Seele  in  ihrem  objektiven  Bestande  als  ein  Notwendiges 
und  Gesetzmafiiges  erkannten,   bleibt  ihr  Spruch  nicht 
willkurlich  deutbares  Gefiihlsorakel;  er  gestattet,  wo  er 
dunkel  scheint,  dieAusdeutung  durch  intellektualeKrafte 
auf  Grund  der  Gesetze,  welche  die  Seele  vom  Seelen- 
losen  sondern. 

Solange  das  Wesen  der  Seele  nicht  erkannt  und  be-  DXmonhn 
grifFen  war,  solange  ihr  Name  sich  jegliche  Deutung  auf 
geistige  Krafte  gefallen  liefi,  verschwebte  eine  jede  auf 
das  Seelische  gestellte  Betrachtung  ins  Wesenlose.  Nun 
aber  wird  die  Seele  zur  absoluten  Gewalt,  als  ein  zwar 
nicht  Unbedingtes,  doch  zum  Unbedingten  Hinweisen- 
des;  in  Wahrheit  als  eine  Stimme  der  Gottheit.  Das 
Damonion  spricht  sich  aus,  nicht  mehr  als  dunkle  Regung, 
sondern  als  evidentes  Gesetz. 

Religionen,  deren  Verkiindigungswunder  erschuttert,  Religion 
deren  Entstehungen,  Notwendigkeit  en  und  Nil  tzlichkeiten 
historisch  und  gesetzmalbig  erkannt  sind,  behalten  den 
Adel  des  Menschheitswerks,  sie  ergreifen  und  beglucken, 
aber  sie  reilien  nicht  fort,  weil  sie  relativ  geworden  sind. 
Der  InbegrifF  aller  menschlichen  Religiositat,  das  trans- 
zendente  Bediirfnis  schlechthin,  beweist  nur  das  Vor- 
handensein  ewiger  Richtkrafte,  lehrt  aber  nicht  sie  er- 


185 


kennen,  denn  es  bleibt  theoretisch.  Die  Erkenntnis  der 
Seele,  ihrer  zentrischen  Macht  und  ihrer  transzendenten 
Fortwirkung  erfiillt  den  Befehl  des  boq  )Lioi  ttoO  Otuj, 
indem  sie  den  Schwerpunkt  des  Denkens,  Fiihlens  und 
Wollens  um  ein  Geringes  aus  dem  Zentrum  der  Nieder- 
menschlichen  in  die  Sphare  des  menschlich  Reinen,  in 
der  Richtung  des  Gottlichen  vorriickt. 
Partial  I  osungen  Von  diesem  Punkte  aus  betrachtet,  erscheinen  alle 
wahrhaft  religiosen  Anschauungen  als  Partiallosungen, 
als  parabolische  Bildlichkeiten  des  Unaussprechlichen, 
dem  der  Seelenaufstieg  uns  in  vollem  Bewufitsein  ent- 
gegentragt.  Uralter  Animismus  ist  der  Korperschatten, 
der  die  transzendente  Lichtseite  des  Seelenreiches  nur 
im  Gegensatze  ahnen  laI5t.  Gesetzesreligionen  sind  vor- 
bereitende  Versuche,  Leib  und  Leben  zu  heiligen,  damit 
das  reine  Saatkorn  geweihten  Boden  finde.  Bis  an  die 
Grenze  des  Seelengebietes  gelangen  die  beiden  groJ&en 
und  vollig  undogmatischen  Transzendentaldisziplinen  des 
ostlichen  und  westlichen  Ariertums:  die  indische  Lehre 
vernichtet  das  Begehren,  indem  sie  die  Erschelnung  auf- 
hebt;  die  germanische  Lebenspraxis  vernichtet  dieFurcht, 
indem  sie  den  Mannesmut  erfindet  und  ihn  ins  Zentrum 
aller  Bewertung  stellt.  In  passiver  Form  der  indische 
Kreis,  in  aktiver  der  germanische,  erledigen  beide  das 
animalische  Leben  im  ahnenden  Drange  zur  psychischen 
Existenz;  allein  die  passive  Orientierung  gelangt  iiber 
die  Negation  nicht  hinaus,  und  der  aktive  Uberschufi, 
der  Spekulation  abhold,  begniigt  sich  mit  der  Veredlung 
KritikderOfen-des  Lebens.  Ins  Innerste  des  Seelengebietes  dringt  die 
^**^^  Lehre  von  der  Entsagung,  der  Liebe,  der  Erlosung  und 

dem  Gottesreiche,  aber  diese  Lehre  lalLt  ihr  letztes  Ziel 
so  unbestimmt,  dail>  tausend  Jahre  lang  vorwiegend  ein 


i86 


I 


irdischer  Idealstaat  und  vveitere  tausend  Jahre  ein  musi- 
kalisch  ritueller  Himmelshof  halt  als  letzte  GlaubenshofF- 
nung  einherleuchtete.  Selbst  die  vollkommen  reine  Ethik 
der  christlichen  Lehre  ruhte  auf  promissorischer  Grund- 
lage;  ihre  gewaltigen  Forderungen  haben  im  zeitlichen 
und  anschauenden  Leben  deshalb  so  unbegreiflich  wenig 
die  menschliche  Natur  zu  wandeln  vermocht,  weil  eine 
Ethik,  die  versprecheil  mufi,  um  sich  zu  beweisen,  den 
Glauben  lahmt,  indem  sie  ihn  zielstrebig  macht. 

Sie,  die  wir  als  Kern  religioser  Ahnung  und  trans-  Absolut wmus  da 
zendenter  Kraft  erkennen,  die  Seele  will  nichts  und  ver- ' 
spricht  nichts,  und  bleibt  dennoch  tatig.  Sie  sagt  nicht: 
„du  mulLt,  auf  dafi",  sie  sagt  nicht:  „du  sollst,  weil", 
sondern  sie  sagt:  „du  wirst,  denn  du  kannst  nicht  anders". 
Du  magst  wollen  oder  widerstreben,  du  magst  den  Weg 
der  Hohen  oder  den  Weg  der  Tiefen  schreiten:  was  in 
der  Seele  ist,  das  findet  Erlosung,  so  wie  aller  Geist  die 
Wandlung  zur  Seele  erlebt.  Zwischen  dem,  was  wir 
hoch  und  was  wir  tief  bewerten,  zwischen  dem,  was  wir 
lieben  und  hassen,  preisen  und  verachten,  ist  der  Unter- 
schied  sehr  gering,  und  dieser  Unterschied  besagt  nur 
eines:  ob  das  Werden  der  Seele  gehemmt  oder  gefordert 
wird.  Im  Angesicht  des  Seelenreiches  ist  das  Gute,  das 
Schone  und  das  Verstandige  nur  ein  Schatten,  ist  Siinde, 
Irrtum  und  Diisternis  nur  eine  triibe  Erinnerung  an 
durchmessene  Welten.  Dennoch  verlangt  das  Uber- 
wundene  nach  Priifung,  weil  wir  in  dies  irdische  Leben 
gestellt  sind,  und  weil  der  Geist  uns  treibt,  es  zu  ver- 
stehen;  weil  wir  in  dies  irdische  Leben  gestellt  sind  und 
weil  der  Seelenwille  uns  treibt,  es  recht  zu  leben;  weil  wir 
in  dies  irdische  Leben  gestellt  sind,  und  weil  unsere  Seele 
in  diesem  rechten  Leben  geboren  ist,  besteht  und  wachst. 

.87 


Oberleitung  Hiermit  ist  die  dritte  Aufgabe  gestellt:  der  Evolution 

ti^chen  Auf-  ^^^  praktischen  Geistes  zu  folgen  und  das  Mal5  der  Seele 
gabe  an  die  Schatzungen  der  Ethik,    Astlierik  und  Pragmatik 

zu  halten.  In  der  ersten  Betrachtung  werden  wir  finden, 
was  das  Wachstum  der  Seele  hemmt  und  fordert,  in  der 
zweiten,  welchen  Abglanz  sie  in  die  Erscheinung  leuch- 
tet;  in  der  dritten,  in  welche  Richtung  sie  das  irdische 
Gemeinschaftsleben  treibt.  Hiernach  haben  wir  in  der 
Evolution  des  praktischpji  Gei*te«  von  der  Ethik,  der 
Asthetik  und  der  Pragmatik  der  Seele  zu  handeln. 


188 


Urittes    Buch 


DIE  EVOLUTION  DES  PRAKTISCHEN 
GEISTES 


I. 

DIE  ETHIK   DER  SEELE 

Wir  leben  nicht  um  unseretwillen,  sondern  um  der 
Gottheit  willen.  Doch  tragt  ein  jeder  die  Verantwortung 
fiir  die  Welt  und  fiir  die  Gottheit.  Denn  jede  unserer 
Regungen  erzeugt  und  vernichtetWelten;  die  Symphonie 
des   Alls    schwebt   auf  den    Stimmen    unserer  Geister. 

Nichtig  ist  deshalb  jede  Sittenlehre,  welche  lockt  und  Ethos  und 
droht.  Fiirchten  und  HoiFen  ist  Sache  der  intellektualen 
Welt  und  unseres  intellektualen  Anteils;  dieser  aber 
wird  nicht  regiert  vom  Ethos,  sondern  vom  Gesetz. 
Unser  seelischer  Anteil  aber,  der  nicht  fiirchtet  und  nicht 
hofFt,  sondern  anschaut,  bedarf  des  Gesetzes  nicht;  er 
bediirfte,  ware  er  voll  bewufit  und  erstarkt,  auch  nicht 
der  Ethik,  denn  er  tragt  seine  Richtkraft  in  sich  selbst. 

Der  Ethik  bediirfen  wir  Wesen  des  Uberganges,  um  Ethik  als  Er- 

1  .  ^T      ^^'  T^..  kenntnis 

zu  erkennen,  was  m  uns  Verdusterung,  was  Uammerung 

ist;    deshalb  ist  unsere  Ethik  nicht  Vorschrift,  sondern 

Erkenntnis  und  Wertung.    In  den  Augenblicken  der  Er- 

hebung  schwindet  der  Zweifel;  wir  sehen  das  Licht  und 

wir  sehen  den  Weg;  in  Worte  fassen  wir  die  ethische 

Erkenntnis  deshalb,  weil  wir  ihrer  am  meisten  bediirfen, 

wenn  d?e  innere  Einsicht  schwindet.  Hier,  wie  in  jedem 


191 


anderen  schopferischen  Kampfe  gilt  es,  Getraurtites  xu 

denken  und  Gefuhltes  zu  formen. 

Ethikals  Ver-        Das  ethische  Prinzip  ist  nicht  Gesetz,  nicht  Rat  und 
ktindigung         .  t      xr        i    ./- 

nicht  Vorschrift.     Die  Instanz,   an  die  es  sich  wendet, 

kann  nicht  bestehen,  ohne  ihm  zu  folgen;  die  Seele  ist 

nicht,  wenn  sie  ihm  nicht  gehorcht.  ,Bluhe*  und  ,Leuchte* 

ist  kein  Sittengebot  an  Baum  und  Sonne;  sie  sind,  weil 

sie  bliihen  und  leuchten,  und  sie  bliihen  und  leuchten, 

weil  sie  sind.    Das  ethische  Prinzip,  auf  unserer  Welt- 

stufe  das  einzige  und  universale,  lautet:  Erweckung  und 

Aufstieg  der  Seele.     Nicht  der  Seele  rufen  wir  dieses 

Wort  zu,  denn  wenn  sie  es  vernimmt,  so  ist  sie  erwacht, 

und  ihr  Aufstieg  hat  begonnen.    Reden  wir  davonzum 

intellektualen  Geist,  so  bedeutet  es  eine  Verkiindung, 

nicht  einen  Befehl;    denn   dieser   kiihl   denkende   und 

dennoch   leidenschaftlich    getriibte    Geist    kennt    seine 

Wonnen  und  Gefahren,  und  wird  von  ihnen  nicht  lassen, 

bevor   er  zur  Auflosung  miide   und  zur  Erlosung  reif 

ist.    Wo  jedoch  Seele  und  Intellekt  schon  im  Kampfe 

liegen,  wo  die  sehnsiichtige  Seele  um  Bewul5tsein  ringt, 

wo    der    ungesprochene   Schmerzenswunsch   unerloster 

Zeitlichkeit  in  unseren  Herzen  tont,  da  kann  ethische 

Erkenntnis     die     letzten    Schleier     der    Befangenheit 

losen.   Erkennt    aber    die    keimende    Seele    das    Licht, 

so   hat  sie   schon   ihm  sich  zugewandt;   neue  Wolken- 

schatten  werden  immer  wieder  ihren  Blick  verdiistern, 

doch  in  der  tie  fs ten  Dammerung  kann  sie  die  Sonnen- 

richtung  nie  mehr  verlieren. 

Imperative        So  ist  das  absolute  Sittengesetz  fur  den  unerlosten 

Intellekt   eine  Verkiindigung  und   Erkenntnis,   fiir   die 

erloste  Seele   ein   identisches  Lebensprinzip;   scheinbar 

imperative,  in  Wirklichkeit  nur  richtungweisende  Form 


192 


kann  es  annehmen  fiir  den  Zwischenstand  des  bald  ent- 
schiedenen  Seelenkampfes.  In  dieser  Form  lautet  es: 
,achte  auf  deine  Seele*. 

Da  die  Denkarbeit  Ubersetzung  des  Erschauten  in 
sprachliche  Formeln  intellektualer  Dialekrik  bedeutet, 
so  haben  wir  uns  in  erster  Reihe  mit  der  erkennenden 
und  wertenden  Verfassung  des  ethischen  Prinzips  zu 
beschaftigen;  eine  diatetische  Ausdeutung  des  Imperativs 
soil  sich  anschliel5en  und  ein  eudamonistischer  Ausblick 

I  erganzend  zur  Pragmatik  liberleiten. 

Liebe   haben   wir  als  die  Kraft  erkannt,    die  durch  Richtkraft 
Verschmelzung  der  Geisteselemente  Seele  befreit;  im 

I  aufi)eren  Verbande  der  Individuen  als  Kollektivseele,  im 

iinneren  Verbande  des  Einzelwesens  als  Einzelseele. 
Liebe  steht  daher  auf  dem  Gipfelpunkte  aller  irdischen 
Werte,   sie   ist  zugleich   das   hochste   Gut,   die  hochste 

•Tugend  und  die  hochste  Kraft.  Gleichviel  ob  sie  nach 
aufien  zum  Zusammenklang  der  Wesen  drangt,  ob  sie 
nach  innen  die  Teilgeister  des  Einzellebens  zur  Ver- 
schmelzung gliiht,  sie  bleibt,  wie  innere  Erfahrung  lehrt, 
die  gleiche  Macht,  unreduzierbar,  nur  durch  sich  selbst 
begreiflich,  ausschliefilich,  und  in  sich  selbst  begriindet. 
In  eben  dem  Augenblick,  wo  Liebe  uns  ergreift,  zum 
Menschen,  zur  Gottheit  oder  zur  Kreatur,  lost  sich  jede 
Spannung  des  eigenen  WoUens,  wir  sind  nicht  wir  selbst, 
und  sind  doch  zum  ersten  Male  wahrhaft  wir  selbst, 
wiv  leuchten,  und  mit  uns  die  Welt,  in  einem  neuen 
Lichte,  dagegen  ist  alles  Denken  und  Begehren  ein  ver- 
gessener  Schatten.  Ein  neues  Bewul5tsein  und  ein  neues 
Begreifen  oifnet  die  Augen;  ist  es  ein  Mensch,  so  leben 
wir  in  ihm,  ist  es  die  Natur,  so  losen  wir  uns  hin  und 
werden  in  ihr  geboren. 

13  193 


Liebe  in  der        Die  intellektuale  Welt  ist  der  Liebe  feindlich.    Ihre 

der  intellek-g^^^^^^g^>  materiell  sich  steigernde  Mission  der  mecha- 

tualen  Welt  nisch-geistigen  Entwicklung  vermag  sie  nur  durch  Ent- 

fesselung  aller  irdischen  Krafte  zu  erfiilleiij  sie  entfesselt 

sie    durch   Kampf  und   Wettstreit.      Sie  umfangt    ihre 

Kreatur  mit  der  Tauschung  des  individuellen  Wesens 

und  Gliicks,    mit  der  Tauschung,   dafi  mein  nicht  dein 

sein  kann,  und  peitscht  das  begehrende  und  fiirchtende 

Geschopf  in  die  Feindschaft,  den  Hal5  und  die  Vernich- 

tung   des  Nachsten.     Diese   abgesonderte  Stellung   der 

/;»<//v/V«/»/i//7V  Verteidigung  und  des  Angriifs   hat  man  Individualitiit 

^menschentum   g^^^^^^^j   ^^^  Meister  dieser  bosen  Kunst  hat  man  als 

Ubermenschen  gepriesen.    Nur  in  den  letzten,  unlosbar 

scheinenden  Paradoxien  ihres  Arbeitsplanes ,  da  wo  die 

intellektuale     Natur     das     Unerhorte     verlangt,     dafi 

selbstberauschte  Kreatur  freiwillig  die  Fackel  des  Lebens 

weiterreiche,  um  ewigem  Verzicht  entgegenzuschreiten: 

Liebe  als  Lockung2in  diesen  Wendepunkten  Vi^t  sie  die  Gewalt  der  Liebe 
zu,  um  das  Opfer  zu  erzwingen;  sie  schafft  als  hochste 
irdische  Belohnung,  mit  allem  Feuer  der  Sinne  umkranzt, 
die  Liebe  der  Geschlechter,  sie  schafFt,  mit  stillem 
Gliick  und  Leiden  verwoben,  die  Liebe  der  Mutter. 

Liebe  und  Kampf  Diesseits  und  jenseits  dieser  Pole  aber  herrscht  die 
Individualitat,  das  ist  der  Kampf.  Und  so  geschieht  das 
Ungeheure,  dafi  das  Ubel  an  sich,  die  echteste  Siinde, 
das  satanische  Prinzip  der  Unliebe  und  des  Bosen  die 
Erde  diingen  muU),  damit  die  Liebe  wachse.  So  hoch 
erhebt  sich  das  Gesetz  der  Relativitat;  und  es  wirdi 
evident,  daI5  es  nicht  einmal  freisteht,  den  HaI5  zu 
hassen. 
Hafi  Dieser,  der  Hal5,  das  Prinzip  der  Spaltung,  des  see- 
lischen  Todes,   schreitet  durch  die  Welt  als  Gliick 


194 


Leid  der  Holle.  Keine  stiirkere  Probe  gibt  es,  um  die 
grauenhafte  Lust  der  Seelenlosigkeit  zu  verspiiren  und 
im  aufiersten  Kontrast  die  entgegengesetzten  Krafte  der 
Seele  fuhlbar  zu  machen  als  die  Vorstellung  gesattigten 
Hasses,  erfullter  R.ache,  wolliistiger  Verachtung  und 
feig  befriedigter  Schadenfreude.  Von  der  grenzenlosen 
Verwirrung  unseres  Sittenempfindens  zeugt  es,  dal5  im 
Ernst  und  Scherz  von  denkfahigen  Menschen  das  Wort 
Tesprochen  werden  kann,  es  sei  eine  Kraft  und  Tugend, 
riit  ZU  hassen,  und  die  Schadenfreude  sei  die  reinste 
Freude. 

Das  unabsehbare  Gebiet  sittlicher  Schattierung,  d^is  Sfibstsucbr 
'.wischen  den  Extremen  der  Liebe  und  des  Hasses  ge- 
)ettet  liegt,  ist  der  Kampfplatz  des  mehr  oder  minder 
ndividuellen,  das  heil5t  eigensiichtigen  Wollens.  Dutch 
lie  Polaritat  der  Liebe  und  des  Hasses,  welche  in  un- 
erem  Sinne  nicht  akzidentelle  Handlungstendenzen  und 
/Villenselemente,  sondern  Lebensstimmungen  sind,  er- 
lalt  der  BegriiF  der  Selbstsucht  seinen  ethischen  Sinn. 
Jekanntlich  gelingt  es  leicht,  dutch  eine  ttiviale  Gtenz- 
)eruhfung  festzustellen,  dall>  alle  Handlung  aus  Gliicks-  Paradoxic  vo^n 

•  11  .  .  .     ,      ,  ,         ,  Egoismus 

\^ilJen  entsprmgt,  somit  egoistisch  genannt  wetden  kann, 

ich   dahet   absoluter  Wertung   entzieht  und   nur  noch 

itilitarisch-aufierlich  klassifiziert  werden  kann.     Dieser 

frugschlufi  wird  erledigt,  wenn  wir  etkennen,  dafi  nicht 

iie   Handlung  und   nicht   der  Zweck   Gegenstand   der 

ittlichen  Wertung  ist.    Es  gibt  kein  ethisches  Handeln,  - 

ondern  einen  ethischen  Zustand;  derZustand  der  Liebe  Ethischer  Zu- 

^nd  der  Seelenhaftigkeit,   innerhalb   dessen   ein  unsitt- 

iches  Tun  und  Sein  nicht  mehr  moglich  ist.  Die  kirch- 

:che  Lehre  ahnte  diese  Wahrheit,  indem  sie  den  Stand 

er  Gnade   als  Ergebnis   eines    rein   passiven  Erfahrens 

13*  195 


dogmatisierte.     Mag   deshalb    ein  Leben  der  Liebe  m 
sprunglich  der  Gliickssuche  entsprungen  sein  —  wie  j 
alles  seelische  Leben  intellektualem  Leben  entstammt  — 
so  ist  doch  der  fruhere  BegriiFder  Selbstsucht  nicht  meh 
anwendbar.    Selbstsucht  in  unserem  Sinne  bedeutet  indi; 
viduales  Streben  nach   Sondergliick,   den   Zustand   dej 
Liebeleerheit;  und  eine  erqualte  Handlung,  die  nur  der 
theoretischen  Willen  der  Entauil)erung  entspringt,  bleit 
ethisch  farblos,  weil  sie  nicht  aus  dem  Stande  der  Lieb 
geboren  ist.   Das  gramliche  Verdienst  der  Tugend  wide 
Willen  findet  in  der  absoluten  Ethik  keinen  Platz,  den ! 
sie   ist  unbestechlich;    sie   schatzt  die  Heiligung,  nicli 
das    Opfer;    sie    verkauft   nicht,    sondern   sie    schenki 
Wie   die   Gottheit,    so   liegt    die   Sittlichkeit   nicht   ir 
Aufiern,  sondern  im  Innern  des  menschlichen  Bereichei 
sie  geht  im  Menschen  vor,  aber  sie  geht  nicht  aus  ihr 
heraus.    Sittlich  sein  hei(5t,  in  sich  selber  wirken. 
IndilFerenz-        Das  Zwischengebiet  des  Wollens  und  Handelns  ij 
HandelD?     bestimmt  dutch  Ziele.    Je  mehr  im  Menschen  die  mui 
hafte,  freudige,  impulsive  Tendenz  iiberwiegt,  die  at 
nachsten  der  Liebe  benachbart  ist,  desto  unmittelbare 
geht  sein  Wollen  und  Tun  auf  die  Sache;  die  Sache,  di 
er  liebt  und  naturkraftig  riickhaltlos  betreibt,  wie  Atmei 
Nahren  und  Schlafen.    Dieser  Mensch   steht   dem  E] 
wachen  der  Seele  am  nachsten  und,  gleichviel  auf  we 
cher  geistigen  Stufe,  der  Qual  des  Intellekts  am  ferr 
sten;  er  neigt  zur  Liebe,  zur  Entaufierung,  zur  Idee,  zi 
Intuition  und  vor  allem  zur  furchtlosen  Wahrheit.    Sei 
Beruf  ist  Selbstzweck,  er  schafFt  um  der  Sache  wil] 
ohne  aufiere  Lockung.    Sein  Charakter  ist  Treue,  Gr 
mut,  Unabhangigkeit,  sein  Benehmen  Sicherheit,  heid 
Ruhe  und  Festigkeit. 

196 


ijberwiegt  im  Menschen  die  farchthafte,  sorgen-  Furcht,  Be- 
reiche,  hemmimgsvoUe  Tendenz,  so  wird  sein  Geist  tief  fj^  p^'^g  ^^j. 
in  intellektuales  Denken  hineingezogen,  er  geht  nicht^^^^s 
auf  die  Sache,  sondern  hinter  die  Sache,  sein  Ziel  wird 
zum  Zweck,  Dinge  und  Menschen  werden  zum  Mittel. 
Er  handelt  nicht  aus  Freude,  sondern  aus  Sorge  und  Be- 
gierde,  er  will  nicht,  sondern  er  strebt.  Sein  Sinn  wendet 
sich  vom  Unbegehrbaren  zum  Realisablen;  das  Besitz- 
bare,  Beherrschbare  und  die  Mittel  zum  Besitzen  und 
Herrschen  erfiillen  ihn.  Sich  hinzugeben  und  zu  verlieren 
erscheint  ihm  zwecklos;  das  Ideal  ist  ihm  Torheit,  die 
Liebe,  soweit  sie  nicht  besitzen  will,  Unding.  Die  Wahr- 
heit  bedeutet  ihm  eine  von  vielen  Eventualitaten,  und 
zwar  zumeist  die  gefahrlich-torichte;  einen  sittlichen 
Wert  gonnt  er  ihr  bestenfalls  aus  Griinden  der  Verkehrs- 
sicherheit.  Die  Furcht,  ausgeschlossen,  mifiachtet,  mif5- 
handelt  zu  werden,  qualt  ihn,  daher  ist  er  anerkennungs- 
bediirftig,  leicht  verletzlich,  eitel  und  herrschsiichtig. 
Als  Herr  erfreut  er  sich  nicht  an  verantwortungsvoller 
Fiirsorge  und  Leistung,  sondern  an  Huldigung  und 
Schaustellung;  zwischen  Unterwiirfigkeit  und  SchrofFheit 
findet  er  kein  Mittel.  Um  zu  glanzen  wird  er  geschwatzig 
and  aufdringlich;  ein  sachliches  und  herzliches  Verhaltnis 
zu  Menschen  liegt  ihm  fern,  denn  sie  sind  ihm  Mittel  und 
Ziel  oder  Masse.  Die  Sorge  und  Unsicherheit  zwingt 
ihn  zur  Selbstanalyse,  die  Furcht  vor  fremder  Uberlegen- 
heit  zur  Kritik,  Verkleinerung  und  Schmahung.  Begreif- 
liche  Tugenden  sind  ihm  Mitleid  und  Barmherzigkeit, 
die  er  halb  aus  Furcht  vor  eigenem  Ungluck,  halb  aus 
Genugtuung  am  fremden  iibt. 

Die  Stellung  der  empirisch  erkannten  Polaritat  von 
Mut  und  Furcht  im  System  der  absoluten  Ethik  ist  leicht 

197 


zu  ermitteln.  Der  seelisch  primitive,  im  Begehren  unc  i 
Fiirchten  irdischer  Dinge  befangene  Mensch  ist  aus  deii 
intellektual  gerichteten,  entwicklungs- und  zweckbediirfj 
tigen  Natur  noch  nicht  losgelost;  sein  Leben  ist,  von  deij 
Hypertrophic  der  Intelligenz  abgesehen,  ein  animalesi 
Die  Summe  seiner Existenz  ist  die  gleiche  wie  bei  minder-'i 
organisierten  Wesen:  Sicherheit,  Genufi),  Beute  und  Vor- 
rat;  freilich  kann  der  letzte,  dem  hdheren  intellektualen? 
Stande  entsprechend,  die  Form  gewaltigen  materielleni 
und  geistigen  Besitzes  annehmen.  i 

MutundFrei-  Vorgeschrittener  in  der  Richtung  zum  Seelenhaften 
der  Seele  ^^^  ^^^  Mensch  des  inneren,  muterfiillten  Gleichgewidits. 
Sorge  und  Gier  beherrschen  ihn  in  minderem  Mafie,  dei;; 
qualende  Stachel  ist  gesanftigt,  der  Geist  hat  Ruhe  und 
Sammlung  gewonnen  und  atmet  frei,  heiterblickend  und 
sicher  der  Geburt  des  Uberirdischen  entgegen.  Es  ist 
Entstehung  des  nicht  hier  die  naturgeschichtliche  Aufgabe  gestellt,  die 
biologischeEntstehungmuthaftenBlutes  aus  furchthaftem 
darzulegen:  es  geniigt  der  Hinweis,  daI5  die  physiscb 
kraftigsten  Stamme,  durch  hartes,  nicht  kummerliche$ 
Leben  gestahlt,  der  Furcht  vor  Unterdriickung  enthobi 
frei  in  der  Auswahl  des  Landes  und  der  Lebenswei 
durch  Horige  entlastet,  ein  Dasein  fuhren  konnten, 
welchem  Krieg  und  Gefahr  zum  Mannerspiel,  Not  und 
Arbeit  zum  Sklavenfron  gestempelt  wurde,  Wetteifer 
sich  auf  Starke  und  Schonheit,  nicht  auf  die  Selbstvi 
standlichkeit  des  Besitzes  richtete,  lange  MuI5e  zum  e 
fanglichen  GenieI5en  und  Beschauen  und  dennoch  nii 
zur  Erschlaffung  fiihrte.  Trat  die  Mall)igkeit  einer  nicl 
allzureichen  Natur  hinzu,  die  Einsamkeit,  die  sparli 
bevolkerten,  waldreichen  Gelanden  eigen  ist,  der 
regende,    Anpassung  fordernde  Jahreszeitwechsel 

198 


;he$ 

I 

and 
^ifer 

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nicnt 


lerer  Breiten  und  der  Ausblick  auf  eine  drohende  und 
verheifiende  Meeresferne,  so  war  eine  Menschheitsschule 
geschafFen,  die  aus  animalischen  Kraften  nicht  vorzugs- 
weise  intellektuelle  Zweckhaftigkeit,  sondern  freie 
Menschlichkeit  loste.  Freilich  war  auch  hier  alsbald  eine 
Grenze  gegeben:  das  ruhende  und  betrachtende  Gleich- 
gewicht  der  Muthaften  gibt  sich  leicht  mit  dem  Dasein 
zufrieden;  und  soviele  Tausende  im  Laufe  der  Zeiten 
an  der  Schwelle  der  Seele  gestanden  haben,  nicht  alle 
dieser  Begiinstigten  haben  sie  liberschritten.  Uberschrit-  Uberwin- 
ten  wurde  sie  dagegen  oftmals,  wenn  jene  beidenMensch-  te"llekts^^ 
heitsstrome  sich  nahe  beriihrten  oder  mischten,  liber- 
schritten wurde  sie  von  manchen  jener  zwiefaltig  beweg- 
ten  Naturen,  die  den  Schmerz  der  Bedrangten  und  das 
Gliick  der  Befreiten  gleichermal5en  in  sich  fiihlten,  und 
die  alles  GroJ&e  an  Menschenwerken  geschaffen  haben, 
iiberschritren  wurde  sie  endlich  von  den  einsamsten  Gei- 
stern  der  zweckhaften  Welt,  die  aus  Kraft  der  Mensch- 
heit  in  sich  selbst  die  Paradoxie  des  intellektualen  Gei- 
stes  begrifFen  und  liberwanden. 

Diese  Uberwindung  kann  unabhangig  von  alien  Be- 
stimmungen  des  Blutes  und  Intellektes  in  jedem  mensch- 
lichen  Wesen  in  jedem  Augenblick  geschehen,  freilich 
nicht  dutch  einen  Akt  intellektuellen  Willens.  Ihm 
geschieht  durch  diese  seine  Impotenz  kein  Unrecht,  denn 
der  reine  Intellekt  will  aus  eigenem  Impulse  niemals  die 
Seele,  sondern  seine  seelenlosen  Zwecke;  und  ware  er 
durch  metaphysische  Betrachtung  dazu  gelangt,  mittel- 
bar  die  Seele  zu  wollen,  so  wollte  er  in  Wahrheit  wie- 
derum  nicht  sie,  sondern  ihre  vermeintlichen  Machte 
und  Konsequenzen.  Wir  werden  weiterhin  die  Stim- 
mungen  und  Lebenslagen   betrachten,  wel  che  die  Ent- 


199 


stehung  der  Seek  fordern;  ihnen  alien  ist  gemein, 
sie  den  intellektuellen  und  individuellen  Willen  ersterben 
lassen.  In  diesem  Ersterben,  das  jeder  Moment,  und  am 
willigsten  der  leidenden  Kreatur,  bringen  kann,  und  das 
ebenso  unerzwingbar  ist  wie  der  intuitive  und  visionaire 
Gedanke,  in  diesem  Ersterben  liegt  die  unmittelbare  und 
versohnende  Nachbarschaft  derSeele,  die  gleichsamdurch 
eine  unendlich  zarte  Scheidewand  vom  niedergeistigen 
Oas  Opfer  des  Leben  getrennt  ist.  Jede  reine  Regung  dringt  hindurch, 
nur  der  Wille  nicht,  der  nicht  einmal  die  Kraft  hat,  sich 
selbst  zu  toten.  Auch  diesen  Zusammenhang  ahnt  das 
kirchliche  Dogma,  welches  vom  Opfer  des  Intellekts  sich 
eine  Kraft  verspricht,  die  unter  dem  allzu  intellektuellen 
Bilde  des  faktischen  Glaubens  dargestellt  wird. 

Die   empirische   Polaritat   der   furchthaften  Seelen- 

Mut  und        feme  und  der  muthaften  Seelennahe  ist  von  den  wech- 

Bilde  histo-    selnden  ethischen  Auffassungen  der  Zeiten  und  Zonen 

Fischer  Ethik  \^   verschiedenartiger  Annaherung   aufgefall>t  und  aus- 

gewertet  worden. 

Germanische        Am  klarsten  hat  der  .germanische  Geist  den  objek- 

"'^^"'^^  tiven  Sachverhalt  sich  angeeignet.    Das  ungeschriebene, 

bis   vor  kurzem   unausgesprochene   und   dennoch  aller 

Kirchenlehre  zum  Trotz  die  gesamte  Kulturwelt  beherr- 

schende  okzidentale  Moralsystem  sagt  aus:  Mut  ist  Tu- 

gend,  Furcht  ist  Laster.    Alle  Bewunderung  wird   dem 

Helden  zuteil,  alle  Verachtung  dem  Feigen.   Die  Exzesse 

des  Mutes  werden  geracht,  aber  sie  schanden  nicht.    Die 

Verbrechen  derFeigheit  und  Heimlichkeit,  Lug  und  Trug, 

Hinterlist  und  Verrat  sind  ehrlos  und  werden  schmah- 

lich  bestraft.    Neutrale  Eigenschaften :   BarmherzigkdBj 

Fleifi,  Klugheit,  Mal^igkeit  liegen  aul5erhalb  empfundenff 

Wertung,  so  sehr  sie  auch  von  geistlicher  und  weltlicher 


aoo 


Autoritat  angepriesen  werden.  Hingenommene  Belei- 
digung  dagegen  entehrt,  denn  sie  bringt  den  Makel  der 
Feigheit;  ihn  tilgt  der  Zweikampf  als  evidenter  Gegen- 
beweis  des  Mutes. 

Dieses  ritterliche  Moralsystem  bleibt,  dem  daseins- ATr/V/;- 
erfiillten  Wesen  seiner  Erfinder  entsprechend,  planeta- 
risch.  Es  kront  die  Starken,  bandigt  oder  vernichtet  die 
Schwachen  und  halt  sich  in  den  Erdenschranken  mensch- 
jicher  Schichtung.  Die  Grenze  wird  nicht  erreicht,  die 
Seele  bleibt  unberiihrt.  Das  System  ist  edel  und  sach- 
lich,  aber  es  ermangelt  der  Transzendenz.  Ohne  die 
Reinheit  und  Klarheit  des  germanischen  Paradigmas  zu 
erreichen,  nahert  sich  der  Mutkultus  der  Japaner  und 
Indianer  dem  durch  geheimnisvolle  Zusammenhange  ver- 
wandten  Anschauungskreise. 

Die  indische  Auffassung,  tatsachenfeindlich  und  ab-  Indische  j4uf- 
strakt,  ignoriert  die  Empirie  der  menschlichen  Zwiespal- 
tigkeit.  Sie  schreitet  voriiber  an  dem  Phanomen  der 
Veranlagung,  nicht  ohne  es  zu  erblicken,  doch  ohne  es 
der  Folgerung  zu  wiirdigen,  der  Auf  hebung  des  Leidens 
entgegen,  die  mit  kiihner  Abstraktion  im  Abtun  des  Be- 
gehrens  und  der  Furcht  erkannt  wird.  Von  der  Nega- /tTr/z/A? 
tion  ausgehend,  bleibt  jedoch  auch  im  hochsten  Aufblick 
die  Tendenz  passiv:  das  Leiden  ist  vernichtet,  aber  an 
die  Stelle  der  weltschafFenden  Tatigkeit  der  Seele  tritt 
die  weiche  Seligkeit  derSelbsvergessenheitund  erhabenen 
Ruhe.  Die  Lehre  ist  von  hoher  Transzendenz,  aber  sie 
verzichtet  auf  die  Spannkraft,  das  Liebesfeuer  imd  die 
Sonnenfreude,  die  edelsten  Erbteile  unserer  Erdenbahn. 

Trotzig  und  selbstgewiC)  verfahrt  die  Moral  der  sq- Semitiiche  Auf- 
mitischen  Stamme.    Sie  nimmt  die  Partei  des  Schwachen.     "^"''^ 
Mut  wird  nicht  verkannt,  aber  er  bleibt  ethisch  unge- 


xo\ 


wertet,  wie  Schonheit,  Kraft  und  Begabung.  Als  univer- 
selle  Tugend  gilt  die  Perle  der  Furcht:  Barmherzigkeit. 
Aber  so  grofi  ist  die  transzendente  Kraft  edleren  Men- 
schengeistes,  dal^  aus  diesem  materiell-utilitarischen  Gut 
ein  iiberirdisches  entkeimen  kann:  aus  banaler  Giite  wird 
zweckfreie  Menschen-,  Feindes-  und  Gottesliebe.  Ein 
zweiter  Zug  zur  Transzendenz  liegt  in  der  riicksichts- 
losen  intellektualen  Gewalt  der  GottschaiFung.  Dutch 
unablassige  Lauterung  im  Feuer  der  reinen  Vernunft 
wandelt  sich  ein  eifersiichtiger,  polizeigewaltiger  Berg- 
gott  in  den  Herrn  des  Geistes,  dessen  Gebote  absolut 
sind,  und  dem  man  dient  nicht  urn  seiner  selbst,  sondern 
Kritik  um  des  Geistes  willen.  Hier  fiihrte  die  Starke  intellek- 
tualen Denkens  so  nahe  an  die  Grenze  transzendenter 
Wertung,  dal5  die  christliche  Lehre  nur  noch  die  Fessel 
materieller  Deutung  und  Versprechung  abzustreifen 
brauchte,  um  den  Kern  der  Liebe,  der  Entaul5erung  und 
des  Gottesreiches  zu  losen. 
Grakoromanische  Die  grakoromauische  Kultur  des  Mittelmeeres,  im 
.tffasiung  Indifferenzpunkt  germanischer  und  semitischer  Anschau- 
ung  gelagert,  hat  alle  wertenden  Krafte  auf  die  Schop- 
fiing  der  Staatsgesinnung  gerichtet;  eine  eigene  Ethik 
ist  ihr  nicht  erwachsen.  Ein  tiichtiges,  muterfiilltes 
Bauernideal  blieb  die  Sehnsucht  der  juristisch-rituell  ge- 
sonnenen  Romer;  Hellas  genoH)  mit  Herz  und  Sinnen 
den  Adel  terrestrischer  Begabung  und  spottete  der| 
denen  sie  versagt  war;  die  homerische  Gotti 
kunde  wiederholte  das  gleiche  Spiel  in  der  heiteren 
gezogenheit  ihrer  olympischen  Aristokratie.  Waren  Ld 
und  Geist  zur  Vollkommenheit  gebildet,  so  fand  he^ 
kleische  Kraft  und  odysseeische  Klugheit  die  gleic 
Schatzung,    doch .  immerhin  mit   solchem  Beigeschma 


germanischer  Mutbewertung,  daft  die  Fiille  der  Verach- 

nmg  dem  ewigen  Vorbild  schmahsiichtiger  Feigheit,  dem 

unsterblichenThersites,  gezollt  wird.  Aber  auch  aus  dieser  Kritik, 

sinnlich-transzendenzlosen   Welt   steht   hochstem  Men- 

schengeist  der  Aufschwung  frei;  nicht  aus  dialektischer 

Scharfe,  wie  beim  Judentum,  sondern  aus  asthetischer 

Anschauung  erhebt  sich  hier  die  platonische  Transzen- 

denz,  die   den  tellurisch   bewegten  Griechengeist   zum 

erstenmal  an  jenseitige  Machte  kettet. 

So  erscheinen  die  ethischen  Ahnungen  der  Zeiten  als  D'c  histori- 
•  1A11.  10  101.  1  schen  Wer- 

partiale  Ableitungen  des  Satzes  von  der  Seele,  je  nach  tungen  als 

der  Einsetzung  temporarer,  ortlicher  und  physischer  Kon-  P^^'^l^  Ab- 
o  r  7        ^  r    J  leitungen 

stanten.  Alle  streben  dem  ethischen  Zustande  entgegen, 
durch  Besonderheit  der  Natur  gefordert  oder  gehemmt, 
auf  verschiedenen  Wegen,  getragen  durch  gleichviel 
welche  ihrer  starksten  menschlichen  Potenzen. 

In  welchen  Stimmungen  und  Handlungen  der  ethisch  Objektive 
seelenhafte  Stand  sich  aufiert :  diese  Frage  beantworten  Handelns  im 
wir,  nachdem  die  Charaktere  des  Zweckhaften  und  Z week-  BildederSeele 
freien  wiederholt   erortert  wurden,   fiir  den  Qualitats- 
grad  intellektuell  hochstehender  zeitgenossischer  Men- 
schen  wie  folgt. 

Das   Leben  ist   geleitet  und  bestimmt   von  Trans- Transzen- 
zendenz  und  Liebe.    Jedes  Erlebnis  und  jedes  HandelUj^^^g 
erscheint  nur  insofern  wichtig,  als  es  nach  diesemDoppel- 
gestirn  gerichtet  ist,  und  das  Leben  selbst  hat  nur  des- 
halb  Wert  und  Bedeutung,   weil  es  diese  Richtung  ge- 
stattet. 

Die  Transzendenz  verliert  ihren  Begriff,  wenn  sie  auf 
irdische  Zwecke   zuriickgebeugt   wird.     Wenn   die   Er- 
hebung  zum  Gottlichen  die  Form  eines  Gebets  um  leib-  Verbaitnis  »»r 
liche  Giiter  und  Vorteile  annimmt,  so  ist  sie  nicht  mehr 


203 


Gottesdienst,  sondern  Geisterbeschworung.  Wer  um 
Strandgut  oder  Schlachtensieg  bitter,  der  totet.  Wer 
durch  Selbstbeschuldigung  der  Gottheit  zu  schmeicheln 
glaubt,  beleidigt  Gott  und  erniedrigt  seine  Seele.  Wer 
erzwingen  will,  dal5  die  Allseele  ihn  mehr  und  besser 
liebe  als  andere  Kreatur,  treibt  unlauteren  Wettbewerb 
und  macht  Glauben  zum  Geschaft.  Wer  ohne  inneren 
Drang  und  Glauben  sich  widerwillig  zum  Auf  blick  zwingt 
oder  uniiberzeugt  Ritualien  verrichtet,  begeht  Gotzen- 
dienst  und  Fetischismus  und  verschliefit  die  Quellen 
seines  inneren  Lebens. 
Trans%endenx-  Leidenschaftlichc  Totentrauer  und  vielgeschaftiger 
osig  ttt  Leichenkult  haben  im  Leben  der  Volker  und  Menschen 

seit  Urzeiten  die  Gesinnung  der  Transzendenzlosigkeit 
verraten  und  bewiesen.  Begrabnisse  sind  die  echtesten 
Dokumente  der  geistigen  und  seelischen  Verfassung  ver- 
Verhaitnis  %um  gangeuer  Geschlechter.  Furcht  vor  dem  Gespenst,  Fur- 
sorge  fiir  den  Exilierten,  Verzweiflung  liber  endgiiltige 
Vernichtung,  HofFnung  auf  leibliche  Wiedervereinigung 
und  Glaube  an  eine  die  Individualitat  liberwolbende  Syn- 
these:  diese  fiinffache  Stufenfolge  der  Gefiihlselemente 
bestimmt  noch  heute  unser  Verhaltnis  zum  Tode  und 
lafit  den  Stand  unserer  Seele  ermessen. 
Ehrfurcht  Wahre  Erhebung,  mag  sie  vom  intuitiven  Erlebeil 
von  der  Vensenkung  in  die  Natur,  von  der  Liebe  oder 
selbst  vom  objektiven  Denken  ihren  Ausgang  nehmen: 
sie  wird  jedesmal  im  Uberweltlichen  ihren  Ruhepunkt 
finden  und  somit  unendlichen  Abstandes  sich  demutvoU 
bewufit  bleiben.  Aber  diese  Demut  ist  nicht  hiindisch, 
sie  ist  hingebend  und  oiFenbarend,  sie  ist  ehrfurchtsvoll, 
und  stolz  in  ihrer  Ehrfurcht.  Denn  klein  und  grol5  si 
nicht  absolute,  sondern  intellektuale  BegriiFe:  in  sein] 


ao4 


Unabhangigkeit  ist  das  Kleinste  das  Grofite,  und  in  seiner 
Bedingtheit  ist  das  Gr6l5te  das  Kleinste.  Unentbehrlich 
ist  das  Staubkorn,  und  daher  hochst  wiirdevoU.  Nichts 
in  dieser  Welt  ist  verloren,  nichts  ist  verlierbar,  nichts 
ist  unrein.  Was  unrein  scheint,  ist  nur  verworren;  das 
gottliche  Auge  entwirrt  es,  und  es  besteht.  Selbst  der 
Abstand  heiligt;  denn  je  grower  die  Feme,  desto  gr6l5er 
die  Liebe;  je  grower  die  Ehrfurcht,  desto  erhabener  der 
Dienst.  Der  Adel  der  Kreatur  ist  die  Ehre  des  Schopfers. 
Weit  liber  dem  Distanzbewufi)tsein  aber  schwebt  das  Ge- 
fiihl  der  hochsten  Einheit,  und  wenn  die  reine  Stimme 
der  Demut  in  einem  Herzen  klingt,  so  umbraust  sie  der 
Orgelton   der  gottlichen  Allheit  mit  seinen  Akkorden. 

Ethisch  indiiFerent  ist  die  begehrende  Liebe.  Be-Transzen- 
gehrend  ist  sie  nicht  nur,  so  lange  sie  Gegenliebe  will, 
sie  ist  es  auch  noch,  wenn  sie  ausschliefiend  und  eifer- 
siichtig  ihr  Gegenbild  zu  sich  herabzieht.  Hinan!  und 
Hinauf !  tdnt  der  Ruf  der  transzendenten  Liebe,  und  wenn 
sie  das  irdisch  Niedrigste  ergreift,  so  heiligt  sie  sich  in 
ihm  dutch  den  Abglanz,  der  aus  jeder  Erdentiefe  zur 
Sonne  emporreil5t.  Begehrend  aber  ist  die  Liebe  auch 
dann  noch,  wenn  sie  um  des  Individuellen  halber  liebt. 
Fast  alle  unsere  Liebe  ist  dieser  Art,  und  somit  irdisch : 
eine  Bewegung,  eine  Form,  ein  Klang  entziickt  uns,  wir 
woUen  sie  unverganglich,  und  verewigen  den  Zufall  und 
die  Unvollkommenheit.  Doch  selbst  in  diesem  sinnlich 
befangenen  Gliick  liegt  ein  jenseitiges:  dutch  das  geliebte 
Geschopf  hindurch  lieben  wir  einUnbedingtes,  das  Wesen, 
das  nicht  im  Tagesreiz  seiner  Einmaligkeit,  sondern  in 
der  Gottlichkeit  seiner  Seelenwiirde  lebt.  Nun  konnte 
man  glauben,  es  sei  die  transzendente  Liebe  ein  wesen- 
loses  Aufgehen  und  ein  gegenstandsloses  Zerschmelzen, 


2  .5 


ja  sie  sei  vernichtet  durch  die  Vereinigung  selbst,  wJ 
sie  die  Grenzen  der  Individualitat  hinweglost:  aber 
Blick  auf  unser  eigenes  Wesen  weist  uns  zurecht,  denn 
die  gesamte  individuale  Erscheinung  unseres  Ich  ist  das 
Liebeswerk  vereinter  Geisteselemente,  die,  einzeln  uns 
unbekannt,  zu  diesem  festen  Kollektivbau  von  unermefi- 
lich  gesteigerter  Qualitat  eben  durch  diese  eine  Urkraft 
verschmolzen  sind. 
Erhaitung  des  Deshalb  wird  transzendente  Liebe  nicht  die  Ver- 
ewigung  des  Individuellen,  weder  des  eigenen  noch  des 
umfangenen  verlangen;  sie  fiihlt  die  Unverbriichlichkeit 
des  Wesenhaften,  nicht  des  Gleichnisses.  Ein  Leib,  be- 
stehend  aus  Anpassungsteilen,  ein  Intellekt,  bedingt  durch 
planetare  Notdurft,  diese  Objekte  sind  im  Sinne  abso- 
luter  Existenz  undenkbar;  soil  eine  Welt  vereinbart  und 
geschafFen  werden,  die  sich  zur  intellektualen  Vorstel- 
lung  verhalt  wie  die  intellektuale  Erscheinungswelt  zum 
Vorstellungsvermogen  des  Atoms,  so  verliert  das  irdische 
Werkzeug  in  diesem  Schopfungsakt  seinen  Sinn. 
Transzenden-  Wichtig,  nach  dem  BegriiF  ethischen  Lebens,  ist 
alles,  was  in  der  Richtung  der  Transzendenz  und  der 
Liebe  orientiert  ist.  Wichtig  ist  daher  jedes  echte  innere 
Erlebnis,  jedes  mitfiihlende  Anschauen  der  Natur,  jedes 
empfundene  menschliche  Schicksal,  jedes  erkannte  Ge- 
setz.  Auch  in  der  Spiegelung  der  Kunst  kann  Lebens- 
wichtiges  uns  noch  zuteil  werden,  insofern  Kunst  gleich- 
zeitig  die  Offenbarung  der  objektiven  Gesetze  der  dar- 
gestellten  Natur  und  des  darstellenden  Menschen  be- 
deutet. 
Die  Umkehr  In  gleichem  Maf5  jedoch,  wie  Tun  und  Fiihlen  vom 
Sorge  Sonnenzentrum  sich  entlernt  und  intellektualem  Zweck 

entgegentreibt,  schwindet  die  unmittelbare  Lebenswich- 

206 


tigkeit  dahin.  Hier  liegt  der  Punkt  des  Kontrastes 
und  der  entscheidenden  Umkehrung  im  Vergleich  zu 
jeder  nicht  absoluten  Ethik:  wahrend  diese  sich  be- 
miihen  mufi>,  entweder  das  animalisch-intellektuale  Leben 
durch  Auswahl  irgendeiner  bevorzugren  Notdurft  auf 
eine  Hohe  zu  treiben,  die  seinem  Wesen  fremd  und  un- 
geziemend  ist,  oder  aber  dies  Leben  asketisch  zu  ver- 
dammen,  urn  an  die  Stelle  natiirlicher  Zweckhaftigkeiten 
konstruierte,  nicht  minder  anthropomorphe  Zweckhaftig- 
keiten zu  setzen,  bleibt  es  uns  gestattet,  das  vor  der 
Seele  erblassende  niedere  Leben  glaubhaft  zu  machen 
und  innerhalb  seiner  Grenzen  zu  rechtfertigen.  Unsere 
Gefahr  liegt  nicht  darin,  es  konnten  Leidenschaft  und 
Gier  und  bose  Lust  und  Angst  so  iiberhandnehmen,  dal5 
es  einer  ethischen  Bandigung  durch  Lockung  und  Dro- 
hung  bediirfte;  unsere  Gefahr  liegt  in  der  Sorge,  der  heute 
freilich  noch  recht  entfernten,  es  konnte  die  Unwichtig- 
keit  und  Uberwundenheit  des  Materiellen  vorzeitige 
Passiviriit  und  Erdenfremde  der  edelsten  Geister  bewir- 
ken.  Uns  liegt  ob,  das  Spiel  des  Lebens  moglichst  ernst 
zu  nehmen;  wenn  Lockung  und  Strafe  zum  Schemen 
werden,  mul5  im  indirekten  Sinne  nochmals  Liebe  ein- 
greifen  und  den  Glauben  bestarken,  dal5  die  Missionen 
der  Vorgeschrittenen  auf  Erden  nicht  beendet  sind,  so- 
lange  noch  ein  Tropfen  unerlosten  Blutes  im  Zwange  der 
Angst  und  Begierde  kreist. 

Von  neuem,  und  in  einem  hoheren  Sinne  miissen  wirRiickkehr 
an  Note  und  Begierden  glauben  lernen,  nicht  mehr  aus  ^^g  q^^^^^^ 
primitiver    Lust    der    Stillung,    sondern    in    bewull)tem 
Dienst,  und  lediglich  um  das  irdische  Leben  zu  erhalten 
und   seiner  letzten  Aufgabe    entgegenzufiihren.     Aber 
dies   Leben    ist    nicht    mehr    ein    animalisch-intellek- 


207 


males,  sondern  ein  spirituelles  Leben;  es  verlauft  nicht 
mehr  als  ein  verzweifeltes  Ringen  um  Brot  und  Macht, 
sondern  als  ein  vergeisteter  Kampf  in  den  strengen 
Formen,  die  das  Ziel  gebietet;  dies  Leben  wird  nicht 
gefiihrt  um  unseretwillen,  sondern  um  der  Gottheit 
willen.  Wir  sind  nicht  mehr  Besitzer,  sondern  Ver- 
walter  unseres  Sein  und  Haben;  wir  sind  der  erste 
Diener  im  Staate  unseres  geistigen  und  leiblichen  Ich, 
berufen,  um  unsere  und  der  Welt  Seele  zu  hiiten  und  sie 
unberiihrt  und  stark  in  die  Hande  der  Allheit  zu  legen. 
Harte  Dieser  Dienst  ist  schwer,  denn  er  fordert  Harte. 
Wir  behalten  das  Recht,  uns  zu  opfern,  aber  nicht  um 
des  Nichtigen  willen.  Ja,  wir  sind  gezwungen,  Opfer 
zu  empfangen;  jeder  unserer  Schritte  totet,  unsere 
Nahrung  kostet  Leben,  und  unser  Besitz  beraubt.  Aber 
die  Opfer  der  Natur  gehoren  uns  nur  insofern,  als  wir 
ihr  reicheres  Leben  erstatten.  Als  Gliicksgiiter  gehoren 
sie  uns  nicht. 
Seibsterhaitung  Wir  behalten  das  Recht,  der  Heimat  unserer  Seele 
gedenkend,  in  Liebe  der  Kreatur  und  in  Betrachtung 
des  Gottlichen  uns  von  individuellem  Gliick  zu  losen, 
aber  es  liegt  uns  ob,  die  Sphare  und  Macht  unserer 
Personlichkeit  solange  zu  schonen,  bis  das  letzte  Opfer 
sich  rechtfertigt.  Das  Gliick  der  vollkommenen  Hin- 
gabe  diirfen  wir  nicht  verschwenden,  die  Harte  der 
Selbstbehauptung  miissen  wir  uns  auferlegen,  sofern 
wirklich  die  eine  unser  Gliick,  die  andere  unsere  Be- 
drangnis  ist.  Beliigen  wir  uns,  sind  wir  hart  aus  Gier 
und  unfroh  in  der  Entaul^erung,  so  ist  es  sittlich  gleich- 
giiltig,  was  wir  tun  und  eine  blol5e  Frage  des  Gesetzes: 
das  Reich  der  Seele  entbindet  uns  der  Verantwortungj 
ihm  sind  wir  nicht  miindig. 

208 


So  gelangen  wir  zur  rhythmischen  und  dynamischen  Sporn,  nkht 
Jmkehrung  der  alteren  ethischen  Anschauung;  die  Poli- 
teilist  und  Gesetzhaftigkeit  des  Sittlichen  ist  gebrochen. 
SJicht  mehr  bedarf  es,  den  Uberschwang  der  Animalital 
'.u  ziigeln  oder  gar  a  us  Gelehrtenschwachheit  aufzu- 
3eitschen;  nicht  mehr  bedarf  es,  durch  Verbote  und 
3efehle  aus  Gebrechlichkeiten  und  Liisten  ein  notdiirftig 
jesittetes  Gehaben  aufzustutzen:  unsere  Sendung  ist 
delmehr,  solange  die  Seele  nicht  vollkommen  erstarkt 
n  sich  selber  ruht,  zum  Leben  um  des  Gottes  willen 
md  zur  Leistung  um  der  Welt  willen  uns  zu  ermutigen. 

Deshalb  wird  von  auI5en  betrachtet,  ethisches  Leben  Gesetz  der 

,.     t     •    i»  1  '1  •  1    •  1        zweitenNatur 

om  ammalisch-sittlichen  sich  nur  wenig  unterscheiden: 

amlich   darin,   daI5   es   nicht  zur  Grenze  bin,  sondern 

on  der  Grenze  hinweg  strebt;  es  ist,  wie  alles  edlere 

lenschenwerk,  wie  Anmut,  Leibesbildung,  Lebenssitte 

nd  Kunst,  aus  Geist  wiedergeborene  Natiirlichkeit  und 

weite  Natur.    Denn  es  ruht  nicht  mehr  auf  primitivem 

rieb  und  Willen,   sondern  auf  erworbener  Gesinnung 

nd  transzendentem  Empfinden.     So   rechtfertigt   sich 

bermals   als   partielle  Losung   ein  altes  Symbol:  nicht 

/erke  heiligen,  sondern  Glaube. 

Hiermit  sind  wir  wieder  beim  BegrifF  des  ethischen  Forderung 
ustandes  angelangt,  und  es  fragt  sich  nun,  ob  dieserjjju^g  des 
ustand,    der   sich   durch  WillenseingriiF  so   wenig  er- ^^^schen  Zu- 
vingen  lafit  wie  die  Entfaltung  einer  Bliite,  uberhaupt 
irch  Tun  und  Leiden  gefordert  oder  gehemmt  werden 
inn. 

Die  grofie  seelische  Bedeutung  des  Leidens  hat  das  Der  Weg  des 
iristentum  erkannt  und   gepriesen.     Aber  nicht  alles    ^^  ^^^ 
nden   ist    seelenspendend,    denn   Schmerz  und   Not, 
ngst  und  Gier  sind  die  Triebkrafte  aller  Schlechtigkeit 

H  ao9 


und  alien  Frevels.  Wie  kann  aus  gleicher  Quelle  da 
Tierische  und  das  Gottliche  fliel5en? 
Primitive  Reak-  Der  ursprungliche  Mensch,  der  vom  Leid  betrofFe; 
wird,  fordert  sogleich  einen  Schuldigen,  an  dem  e 
seinen  Zorn  auslassen  kann,  und  WQnn  es  der  harmlos 
Bote  des  Ubels  ware,  der  seinerseits  sich  nicht  eine; 
Augenblick  dariiber  wundert,  dafi  er  geschlagen  wire 
Denn  die  giitige  Natur  hat  der  liberfallenen  Kreatu 
den  Reflex  des  Zorns  bestellt,  damit  sie  ohne  viel  z 
zaudern  das  Grobste  abwehren  lerne.  Torheit,  Tiicke 
Zauber  von  Mensch,  Tier,  Gespenst  und  Gott  sind  di 
Bringer  des  Ubels;  Rache,  Strafe,  Gebet  und  Opfer  di 
Reaktionen  der  Abwehr. 
Vorgeschrittene        Der  vorgeschrittene  Mensch  sucht  die   Quelle    de 

Lieaktion  des       ^     .  -i  .  .  ^t  i        i  i    •        i  i 

Uides  Leidens  m  einer  Ursachenkette,  una  je  abstrakter  er  z 

denken  fahig  ist,  desto  weniger  schreckt  er  zuriick,  sei 
eigenes  Wesen  und  Handeln  in  diese  Kette  einzubezieher 
In  demjenigen  Zustand  hochintellektualer  aber  zwecl 
befangener  Verdiisterung,  welcher  dem  Entstehen  de 
Seele  vorausgeht,  wird  die  Ursache  des  Ubels,  gleichvi( 
woher  es  mechanisch  stamme,  ganz  und  gar  ins  Inner 
verlegt:  der  BegrifF  der  Verschuldung  und  Siinde  erhel 
sein  Erinnyenhaupt.  Die  Reaktion  ist  nicht  mehr  Zor 
sondern  Zerknirschung,  die  Abwehr  Bul5e.  Mit  dei 
BegrifF  der  Schuld  aber  erscheint  sein  mildes  Gegenbih 
die  Vorstellung  der  Erlosung.  Siihne,  Reinigung,  Gotte: 
spruch  kann  erlosen;  ein  gewaltiger  Umschwung  de 
Empfindung  hat  sich  vollzogen:  indem  der  Mensch  zui 
Sunder  wurde,  ist  der  Gotze  zum  Gott  geworden,  un 
Trannendente  der  erste  ttanszendente  Glanz  dammert  auf.  Bald  werde 
l^jgf  "  die  BegrifFe  umgewertet:  Erlosung  ist  Himmelsgab< 
aber  was  ware  sie  ohne  Siinde  und  Leid?  Nun  sind  di 


2lO 


I 


defsten  Schatt'en  des  Lebens  durch  Transzendenz  auf- 
gehellt,  die  Seligkeit  des  Leidens  ist  gewonnen,  Leid 
und  Gliick  erscheinen  nicht  mehr  als  ein  Absolutes, 
sondern  vereinigt  in  der  Synthese  des  Ewigen,  das  Reich 
der  Seele  bricht  an. 

Tausend  Wege  fiihren  aus  der  Vertiefung  des  Lebens 

zur  Erhebung  der  Seele;  den  kiirzesten,  leider  schnell 

verendenden,  hat  die  indische  Weisheit  beschritten,  die 

[n  kiihner  Abstraktion  das  Ubel  bei  seiner  Erscheinungs- 

itvurzel   ergrifF  und   es   mitsamt   der   ganzen  sichtbaren 

Welt   einem  Hoheren   zuliebe  kurzerhand  sakrifizierte. 

So  ist  das  Leid  im  Menschheitsdenken  zur  Erlosung 

Teworden,  so  wird  es  im  Einzelleben  zur  Erlosung,  so- 

r  Pern  dieses  dem  Aufjgang  der  Seele  nicht  allzufern  steht. 

Wbhl  gibt  es  leidlose  Menschen,   solche   die  in  ^lIIzm-  LeiMoseNatttren 

^liicklichen  Landern  und  Hausern,  mit  allzugliicklichen 

jaben  erwachsen.    Sie  wandeln  in  olympischer  Kinder- 

xeude,   keine  Schuld  wagt,   ihren  reinen  Fu6  zu  um- 

tricken.     Die  leichten  Schatten  ihres  Lebens  kommen 

^on  den  natiirlichsten  Wandlungen,  nicht  aus  den  Tie  fen 

iindhafter  Verflechtung;  sie  weichen  mit  dem  Winter, 

lem  fernen  Gewitter,  dem  fremden  Schmerz;  ein  kurzer 

Jnwille  und  edler  Zorn  treibt  sie  hinweg.    Dem  neid- 

iaften  Volk,  das  aus  Scheu  vor  ihrem  Gliick  sie  nicht 

inmal  zu  schmahen  wagt,  erscheinen  diese  Menschen 

ottlich,  dem  Gotte  sind  sie  lebensahnliche  Bilder,   die 

ei  der  ersten  Regung  ihrer  Seele  in  die  Tiefe  gleiten, 

m  als  Lebendige  erst  dann  emporzutauchen,  wenn  sie 

chuld,  Schmerz  und  Angst  gekostet  imd  liberwunden 

aben. 

Ihr   Gegenbild    sind   jene    ungliickseligen   N^tnren,  LeUer/eggnf 
ie  friiher  Schwache,  Siinde,  Schmach  und  Hafilichkeit    ^'*^"* 

»4*  an 


erlegen  sind  und  deten  Leben  der  Rache  ^ehort,  die  aus 

Leiden  erwachsen  ist.  Im  Stande  hohen  Intellekts  heifit 

diese  Rache  Ehrgeiz;   sie  waren  getreten,  nun  wollen 

sie  herrschen,  sie  waren  ausgeschlossen,  nun  wollen  sie 

einsitzen,  sie  waren  verachtet,  nun  wollen  sie  beugen. 

Jedes  fremde  Gut  und  Verdienst  ist  ihnen  Hemmung 

und  Beleidigung,  jeder   fremde  Makel  Rechtfertigung 

und   Forderung.    Jedes   Ding   und   jedes   Wort,   jeder 

Mensch  und  jedes  Ereignis  hat  nur  Wert,  soweit  es  ein 

Nutzen  oder  ein  Mittel  ist;  der  Faden  des  Gedankens 

schnellt  rastlos  zum  Ich  zuriick  und  vereitelt  objektives 

Versenken  und  SchafFen.     Die  Tatigkeit  wird  kritisch, 

sie  braucht  gegebene  Dinge  und  Menschen,  um  sich  aui 

ihnen  zum  Schaden  des  Wirts  festzusetzen ;  die  Methode 

wird  advokatorisch  und  dialektisch,  denn  es  kommt  nichi 

an  auf  Wahrheit,  sondern  auf  den  gewollten  EiFekt.   Da; 

vernichtende  Streben  untergrabt  alles  naive  Urteil,  jede 

instinktive  Wertung;  das  verdrehte  wird  wahr,  das  zer 

setzte  gesund  gescholten.   Das  Wort  wird  zur  Liige,  di( 

Handlung  zur  Grimasse,  das  Gefiihl  zur  Sentimentalitat 

der  Gedanke  zurFormel;  und  als  erstarrte  Erinnerungs 

zeichen  schiefer  Empfindungen  und  Entschliisse  umgebei 

den  Ungliicklichen  schiefe  Werke,  Menschen  und  Situa 

tionen.    So  lebt  er  teils  in  boser  Einsamkeit,  teils  ver 

angstet  und  verletzt  im  Kreise  gleichgearteter  Trabanten 

Sein   tiefster  Schmerz  ist,    verachten    zu   mussen   die 

welche  ihn  schatzen,  und  lastern  zu  mussen  die,  welche  e 

ersehnt.     Da  er  nun  eigentlich  nichts  zu  verlieren  hai 

so  ist  auch   der  Mut  seiner  Verzweiflung  nicht  Kraft 

sondern  Schwache.     Menschen   dieses  Schlages  werde 

von  der  verwandten  Menge  als  befreiende  Geister  be 

griifit;  im  hoheren  Sinne  sind  sie  beklagenswerte  selbst 


vernichtete  Existenzen.  Dennoch  sind  sie  der  Seele 
nicht  entfremdet;  sie  sind  ihr  naher  vielleicht  als  viele 
jener  iiberseligen  Kreaturen:  denn  ihre  verborgensten 
Krafte  sind  durchSchmerz  undZweifelgelockert,  dererste 
Aufblick,  der  erste  Strahl  det  Liebe  kann  sie  wecken. 

So   wie   alles   Grofie  auf  Erden   von  Menschen   ge-  Ziuiespaitige 
schaifen    worden    ist,    die    schuldig    oder    siindlos    die  ^^^^^^^^ 
Schmerzen  der  Schuld  und  Siinde  erlebcen,  Himmel  und 
Abgnind  im  Herzen  trugen,  Verworfenes  und  Heiliges 
mit  gleicher  Liebe  begriifen,  so  ist  das  Reich  der  Seele 
nicht  den  Schuldlosen  am  nachsten,  sondern  den  Damo- 
nischen,   die  aus  der  Tiefe  ihrer  Schmerzen  die  Wand-    * 
lung  des  Leides  erfahren  haben. 

So  ist  das  Leid  der  erste  Weg  zur  Seele.  Es  ist  der 
Weg  im  Sinne  des  Ethos,  und  alle  Menschheit  im  Laufe 
der  Generationen  schreitet  ihn.  Der  zweite  Weg  ist  das 
Schweigen. 

Der  zweckhafte  Mensch  ist  nicht  fahig  hinzunehmen.  Der  Weg  des 
In  seinem  Geist  und  Herzen  larmt  es,  denn  die  Begierde 
schlaft  nicht  ein,  und  selbst  im  Traum  verfolgt  er,  wie 
der  schlummernde  Jagdhund,  stohnend  die  Fahrte  seines 
Wollens  und  planenden  Denkens.  Jedes  Ereignis  zwingt  Sciywatxender 
ihn  zur  Parteinahme,  jedes  gesprochene  Wort  zur  Er- 
widerung  und  zum  Urteil.  Schwatzt  seine  Stimme  nicht, 
so  schwatzt  sein  Geist,  und  alles  Schwatzen  hat  nur  den 
einen  Sinn  der  urteilenden  Billigung  und  Verdammung. 
Bietet  sich  keine  anreizende  Sinnennahrung,  kein  StofF 
zum  Zahlen,  Rechnen,  Abtun,  Wundern,  Tadeln  und 
:  Mitteilen,  so  tritt  Langeweile,  Mill>behagen  oder  Schlaf 
ein.  Das  letzte  Hilfsmittel  sind  banale  Verstandesspiele, 
abwarts  bis  zum  Abzahlen  der  Pflastersteine  auf  der 
Straiie. 


213 


Unerstaunter  Der  schwatzende  Geist  kann  sich  wundem,  aber  nicht 
erstaunen.  Aber  auch  die  Verwunderung  ist  kurz,  denn 
die  Erscheinung  geht  ihm  nicht  nahe.  Hat  er  sie  not- 
diirftig  assimiliert,  womoglich  dutch  ein  Schlagwort,  eine 
Modeformel  oder  einen  Gemeinplatz,  so  nennt  er  sie 
iiberwunden;  denn  er  weifi  nicht,  dafi  man  nur  im  Kampf 
iiberwindet.  Als  die  Suaheli  sich  vor  dem  ersten  Kraft- 
wagen  entsetzten,  der  durch  die  Straiten  von  Daressalam 
ratterte,  sagte  einer  „Pinal5  an  Land",  und  der  Teufels- 
kasten  war  als  europaisches  Zauberwerk  klassifiziert  und 
erledigt.  Die  Mechanisierungsformen  der  Erscheinungs- 
•  aufnahme :  Zeitungsnotiz,  Illustration  und  Film,  kommen 
der  seelenlosen  Assimilation  am  weitesten  entgegen;  die 
unabhangige  Durchforschung  des  reinen  Gesetzes  und 
des  einheitlichen  Aufbaus  steht  ihr  am  fernsten.  Aus 
dem  Kreise  der  menschlichen  Gefiihlswerte  konnen  nur 
die  grellsten,  die  Sensationen  der  Liisternheit  und  des 
Grauens,  im  Larm  der  Sterilitat  Gehor  finden ;  alle  stil- 
leren  Reflexe  gehen  unter,  denn  wenn  der  Geist  larmt, 
schweigt  die  Natur. 
Einsamkeii  Einsamkeit  ist  die  Schule  des  Schweigens.  Die  pro- 
duktive  Kraft  des  Geschehnisses  liegt  im  Nachklang.  In 
der  Stille  der  Abgewandtheit  vom  Wollen  und  Zweck 
erheben  Dinge  und  Werke  ihre  Stimme  und  sprechen 
sich  selber  aus,  das  Ereignis  wird  zum  Erlebnis.  Die 
Natur  macht  keine  Ausrufungszeichen  und  Anfiihrungs- 
striche ;  ihre  Ubergange  sind  unmerklich,  das  Grof^e  und 
das  Kleine  nennt  sie  im  gleichen  Tonfall.  Der  schwei- 
gende  Geist  aber  weckt  das  Echo  des  Wesentlichen;  das, 
was  Rechnung  nicht  erweist,  Uberlegung  vergifit  und 
Dialektik  verdunkelt,  das  wahrhaft  Wichtige,  die  Seele 
der  Erscheinung   steht   da,   zu   Geistergrofie   erhoben, 


ai4 


redend  und  erwidernd,  mahnend  und  verheiSend.  Un- 
begreif  lich  personlich,  menschenhaft  und  dennoch  liber-  Die  Sprache  der 
menschlich  ist  die  Sprache  dieses  Geistes  der  Dinge.  *"^' 
[ronie  und  Sarkasmus,  Begeisterung  und  Ahnung,  Weis- 
sagung  und  Ratseldeutung  sind  seine  Ausspriiche.  Ge- 
schichte,  Natur,  Menschheit  und  Tierheit  werden  zu- 
traulich  und  erzahlen,  deuten,  erlautern  sich  selbst.  In 
dieser  Stille  wird  das  Geheimnisvolle  moglich,  dafi  es 
dem  Menschen  vergonnt  ist,  das  Seiende  und  das  Wer- 
dende,  das  Vergangene  und  das  Kommende  zu  erblicken: 
denn  es  ist  eine  niemals  durchdrungene  Wahrheit,  dal5 
das  Begreifen  nicht  vom  Verstande  abhangt.  In  jedem 
iiohen  oder  niederen  Stande  der  Intellektualitat  ist  es 
1  moglich,  das  Wesentliche  zu  erfassen;  denn  geistig  er- 
fassen  heil5t  abbilden,  und  zum  Abbilden  bedarf  es  nur 
eines|(einzigen  kindlichen  Strichs,  wenn  er  das  Essentielle 
packt.  Mythos  und  Gleichnis,  Gedicht  und  Beschreibung, 
Theorie  und  Weltsystem,  ein  jedes  in  seiner  bildlich- 
primitiveren  oder  abstrakt  komplexeren  Sprache  und  Vor- 
stellung,  bedeuten  das  gleiche ;  sind  sie  mit  echtem  Blick 
empfangen,  in  reinem  Geist  gereift,  so  sind  sie  ange- 
jchaute  Wahrheit.  Es  ist  Schwachmut,  zu  glauben,  daib 
keine  Wahrheit  uns  beschieden  sei;  auch  die  partiale  Ab- 
ieitung  kennzeichnet  die  unendliche  Funktion,  und  in 
ihrem  Abbild  darf  auch  der  partiale  Geist  das  Totale  er- 
blicken. Der  Krug  fafit  nicht  den  Quell,  aber  er  fail>t 
schtes,  edles  Wasser,  und  der  Tropfen  loscht  nicht  die 
Sonne,  aber  er  spiegelt  die  Gestirne. 

Vom  Weg  des  Schweigens,  der  durch  das  Gebiet  der  Der  Weg  der 
Erkenntnis   zur  Intuition,   von   der  Intuition  zur  Seele    ^^^^  ^^^^ 
fiihrt,  zweigt  sich  ab  der  Weg  der  Betrachtung,  der  die 
Welt  des  Sinnlichen  mit  der  Welt  des  Seelischen  verbindet. 


xiS 


z-weckhafte  Dem  kindlichcn  Geist  des  Intellektualmenschen  ist 
*  die  Erde  ein  Grundstiick,  die  Wiese  ein  Futterplatz,  dei 
Wald  eine  Forstwirtschaft,  das  Wasser  eine  Verkehrs- 
bahn,  der  Stein  ein  Brennmaterial,  das  Tier  ein  Wild, 
Vieh,  Raubzeug  oder  Ungeziefer,  die  Sonne  eine  Kraft- 
quelle  und  ein  Beleuchtungsmittel,  der  Mensch  ein  Kon- 
kurrent,  Abnehmer,  Vorgesetzter,  Angestellter  oder 
Steuerzahler,  die  Gottheit  eine  Behorde.  Wie  man  einen 
Baum  zerreifit,  um  seinen  Leichnam  in  Papier,  Ziind- 
holzer  oder  Zahnstocher  zu  verwandeln,  so  zerrein)t  er 
das  Bild  des  Kosmos,  um  ein  wenig  Nahrung,  ein  wenig 
Flitter  und  ein  wenig  Aufsehen  zu  erwerben.  Nun  ist 
die  Welt  tot ;  nun  hat  der  Arme  sich  gemiiht,  gesattigt, 
gewarmt  und  fortgepflanzt,  sich  begucken  und  benei- 
den  lassen,  und  es  bleibt  ihm  nichts  mehr  iibrig,  als 
das  Spiel  zu  wiederholen,  bis  er  endlich  mit  tiefejji  Be- 
dauern  das  Zeitliche  segnet,  nachdem  er  das  Ewige  ver- 
dammt  hat. 

Zweekfreie  Dem  rein  und  zweckfrei  betrachtenden  Auge  aber 
^H  ^^1x6.  die  Natur  nach  unendlichen  Richtungen  hin  unend- 
lich  und  dennoch  in  zartester  Beschrankung  vertraut. 
Das  Heiligtum  des  Grashalms  ist  unaussprechliches  Ge- 
heimnis  und  doch  nur  ein  Atom  in  der  Lebensdecke  des 
einen  Planeten.  Eine  HandvoU  Waldboden  birgt  ein 
Weltall  an  Lebensgleichgewicht  und  verkiindet  den  Ge- 
meinschaftsbau  des  Lebendigen,  das  in  unablassigem  Aus- 
tausch  Krafte  wirbt  und  spendet.  Die  Elemente  damp- 
fen,  lasten,  wogen  und  stromen  in  unerloster,  tobender 
und  gesetzter  Kraft  und  umschlingen  schiitzend  das 
Kleinod  des  befreienden  Samens;  aus  jedem  Ruhepunkt 
bricht  Leben  hervor  und  klammert  sich  noch  an  die  Fels- 
hange  des  erstarrenden  Giirtels.    Durch  alle  Weltraume 

2l6 


flechten  sich  die  Adern  des  organischen  Gesetzes,  vom 
Kristall  bis  zum  Blutenstaub  herrscht  Einheit,  Gleich- 
klang,  Recht  und  Norm.  Das  Sandkorn  als  Planet,  der 
Planet  als  Sandkorn  folgen  den  gleichen  Schicksalsge- 
setzen;  einmalig  ist  alles,  nichts  ist  vereinzelt,  jedes  be- 
dingt  und  keines  begrenzt.  Den  Sinnen  aber  ist  ver- 
gonnt,  diese  Welt  zu  trinken,  die  im  Rausche  des  Lichts 
zu  jeder  Stunde  ihre  Wunder  neu  verklart  und  im  Klang 
und  Duft  ihres  wehenden  Atems  erzittert.  So  unsag- 
liches  Gliick  ware  nicht  moglich,  wenn  ein  Totes  zu 
Lebendem  sprache,  wenn  nicht  im  Brausen  der  Schop- 
fung  Geist  sich  dem  Geist  vernehmlich  machte.  Dieses 
Vernehmen  aber  ist  Betrachtung,  und  die  Liebe,  die  in 
der  Stille  der  Selbstvergessenheit  ihr  entwachst,  ist  die 
Richtkraft  des  dritten  Weges,  der  zur  Seele  hinfiihrt. 

In  der  Erorterung  der  Erlebnisse  und  Stimmungen,  Der  Weg  des 
die  dem  Werden  der  Seele  vorhergehen,  haben  wir  der 
religiosen  Empfindung  nicht  gedacht.  Denn  ihre  echten 
Elemente,  soweit  sie  nicht  vollkommen  transzendent  sind, 
dem  Reich  der  Seele  somit  schon  angehoren,  sind  in  den 
Ubungen  des  Leidens,  des  Schweigens  und  der  Betrach- 
tung enthalten  und  in  reiner,  nicht  mehr  sinnbildlicher 
Ausdrucksform  erschopft. 

Die  erleuchtende  Gewifiheit  der  Religion,  die  sicb 
im  Glauben,  in  der  Gottesliebe  und  Erlosung  symbolisiert, 
lost  sich  in  unserer  Erkenntnis  der  Seele  und  ihres  trans- 
zendenten  Lebens. 

Die  religiosen  Einzelformen,  Dogmen,  Mythen,  My-  Reiighnen  ais 
sterien  und  Symbole  erscheinen  unserer  Betrachtung  als 
zeitlich,  ortlich   und   intellektuell  bedingte  Gleichnisse 
und  Partialableitungen  mehr  oder  minder  rein  empfun- 
dener  transzendenter  Wahrheit.    Die  Ehrfurcht,  die  wir 


117 


selbst  matten  und  verzogenen  Spiegelungen  des  G6tt- 
lichen  schulden,  bleibt  nicht  durchaus  eine  theoretische 
Satzung;  nach  der  Auffassung  von  der  partialen  Wahr- 
heit  gewinnen  die  iiberlieferten  Heiligtiimer  die  Bedeu- 
tung  von  Abbreviaturen  und  Breviloquenzen,  deren  die 
menschliche  Geistigkeit  der  Mittelebene  noch  eine  Zeit- 
lang  bedarf.  Es  ist  besser,  dafi  ein  durchschnittlicher 
Europaer  an  die  leibliche  Auferstehung  des  Fleisches 
glaube,  sofern  diese  Formel  ihm  ein  wirkliches  inneres 
Erleben  auswirkt  und  nicht  blol5  der  vermeintlichen  Star- 
kung  seiner  Konkurrenzkraft  dient,  als  dal5  er  lebe  und 
sterbe  in  dem  wahnsinnigen  Gedanken,  jede  innere  Er- 
schiitterung  sei  wissenschaftlich  nachgewiesener  Zeitver- 
lust,  und  das  oberste  Weltprinzip  sei  das  Gesetz  von  der 
Erhaltung  der  Kraft  oder  eine  ahnliche  gleichgiiltige 
Intellektual formel.  Das  Philisterium  Nicolaischer  Auf- 
klarung  ist  schaumende  Phantasie  im  Vergleich  zu  jener 
Nuchternheit,  die  einen  Wirtschaftsgrundsatz,  etwa  die 
Okonomik  der  Energie  auf  den  Thron  der  Ethik  setzt 
und  die  Gotteswelt  zur  Sparbiichse  macht.  Dafi  ein 
Mensch  glaubt,  sofern  es  nicht  eigenniitziger  Zweck- 
glaube  ist,  ist  Sache  seiner  seelischen  Anlage;  was  er 
glaubt,  ist  Sache  seines  intellektuellen  und  intuitiven 
BegrifFskreises.  Erhebt  sich  das  vorgeschrittene  Erfassen 
einer  Zeit  ein  wenig  liber  das  Mall>,  das  dem  Durch- 
schnitt  erreichbar  ist,  so  soil  nicht  esoterischer  Diinkel 
die  Menge  in  den  Vorhof  verweisen,  sondern  es  soil 
jedem  der  Weg  gebahnt  sein,  von  bildlich  -  falMichen 
Mythologismen  zur  reineren  Anschauung  vorzuschreiten. ; 
SyrabolikderDeshalb  sei  auch  hier  versucht,  eine  Reihe  ehrwiirdiger 
Pogmea  Dogmen  und  Riten  in  Beziehung  zur  Erkenntnis  der  Seele 
zu  setzen. 


%iS 


Vorausgeschickt  sei  die  Bemerkung;  wie  alles  intuitive  Materiaiisierung 
Denken  sich  auf  dem  Wege  zur  Sprache  materialisiert, 
indem  es  in  die  verschlissenen  Kleider  der  Worte  und 
BildbegrifFe  steigt,  um  objektiv  sichtbar  zu  sein  —  mate- 
rielle  Sprachroutine  freilich  verwechselt  die  Erlernung 
des  Denkens  mit  seinem  Wesen  und  vermutet,  der  Ge- 
danke  werde  im  Wortkleide  geboren  — ,  so  leidet  die 
transzendente  Vorstellung  doppelt,  wenn  sie  die  Sachen 
und  Vorgange  der  Gebrauchswelt  als  Verkorperung 
waihlen  mull),  um  mittelbar  und  fall)bar  zu  werden.  Wie 
schwer  hat  das  griechische  Denken,  dem  keine  Praxis 
der  sprachlichen  Abstraktion  zur  Verfiigung  stand,  um 
das  Wortkleid  seiner  theoretischen  Einsichten  gekampft! 
Wieviel  miihsamer  hat  das  erwachende  Empfinden  reli- 
gioser  Transzendenz  gestrebt,  durch  handgreif  liche  Vor- 
stellungen  wie  die  des  „Weges",  des  „Verwehens",  des 
„Hauches",  des  „Wortes",  des  „K6nigreichs",  die  innere 
Erkenntnis  zu  materialisieren !  Der  Dichtkraft  Jesu  war 
es  beschieden,  in  Bildern  und  Fabeln  des  volkstiimlichsten 
Erfahrungskreises  den  Inhalt  religioser  und  politischer 
Intuition  abzuformen;  dem  Zauber  dieser  Kunst  ver- 
danken  wir,  dafi  aus  der  Tiefe  der  Verschiittung  die 
Urgestalt  seiner  Gedanken  noch  immer  hervorleuchtet. 
Das  Jahrtausend  abstrakten  Denkens,  das  die  Volker  der 
Erde  seither  durchschritten,  hat  unsere  intuitiven  Krafte 
Icaum  gefordert,  wohl  aber  einen  uniibersehbaren  Kreis 
>achlich-mechanischer  Anschauung  und  theoretischer 
Denkform  geschaffen,  die  zu  verkennen  auf  gekiinstelten 
A^rchaismus  und  gewollte  Stilisierung  hinausliefe.  Soziale, 
3hysikalische  und  erkenntniskritische  BegriiFe  sind  uns 
/ertrauter  als  die  Requisiten  vorzeitlichen  Landbaus. 
u)er  sprachliche,   mechanische   und  bildliche   Reichtum 


219 


hat  nicht  viel  mehr  zu  bedeuren  als  gesteigerte  Feinheit 
der  Einstellung,  die  manchen  Vorteil  und  grdf^ere  Gefahr 
bringt;  sie  abzulehnen,  hiefi)e,  unserem  Denken  untreu 
werden.  Deshalb  diirfen  wir  nicht  erschrecken,  wenn 
altvertraute  Formeln  bei  der  Einreihung  in  unsere  Denk- 
weise  die  Farbigkeit  ihres  sinnlichen  Kleides  verlieren. 
Kame  heute  ein  Prophet  zur  Welt,  so  wiirden  wir  uns 
gewohnen  miissen,  ihn  ohne  Scheu  von  Maschinen  und 
sozialen  Gesetzen  reden  zu  horen. 
Siinde  Den  BegriiF  der  Silnde  haben  wir  erortert.  Auch  uns 
erscheint  sie  als  ein  Gemeinzustand,  und  auch  uns  als 
ein  Abzutuendes;  jedoch  sind  wir  nicht  mehr  an  das 
Bild  einer  Ubertretung,  ihrer  Folgen  und  ihrer  Verall- 
gemeinerung  gebunden,  wir  bediirfen  nicht  des  Korre- 
lats  eines  Verbotes.  Siinde  ist  nicht  Verletzung  eines 
Gesetzes  oder  Gebotes,  sondern  ein  Urzustand.  Dieser 
Urzustand,  aus  dem  wir  uns  befreien,  ist  die  natiirliche 
Durchgangsepoche  der  animalisch-intellektualen  Welt; 
sie  ist  nicht  durch  Verderbnis  eines  goldenen  Zeitalters 
entstanden,  sondern  auch  sie,  so  unvollkommen  sie  dem 
Stande  der  Seele  verglichen  erscheinen  mag,  ist  ein  ge- 
waltiger  Fortschritt  gegeniiber  der  intellektlosen  Welt. 
Deshalb  ist  das  Lehrmittel  des  Abscheus  und  der  Ver- 
achtung  uns  nicht  vonnoten;  wir  konnen  das  Uberwun- 
dene  so  wenig  hassen  wie  die  Kindheit  oder  die  Tier- 
heit,  und  diirfen  dennoch  die  Machte  preisen,  die  uns 
SUndenfaU  s^mGv  entheben.  Die  Erinnerung  eines  Siindenfalles 
wird  uns  nicht  bedrangen,  und  dennoch  werden  wir  auch 
seiner  Symbolik  eine  metaphysische  Ahnung  gegeniiber- 
stellen  konnen:  denn  wenn  wir  den  gewaltigen  Vorgang 
der  geistigen  Sammlung  iiberschahen,  dessen  ephemeren 
Einzelakt  wir  in  der  Evolution  der  Seele  gepriift  haben, 


I 


so  liegt  die  Tendenz  nahe,  ihm  eine  kosmische  AUge- 
meinheit  und  Periodizitat  zuzusprechen.  Jeder  univer- 
salen  Sammlung  ware  dann  eine  universale  Zersplitterung 
vorauszusetzen,  deren  mythische  Deutung  wo  nicht  dem 
paradiesischen  Milage  Schick,  so  doch  seinem  gvofhen 
Vorbild,  dem  Abfall  der  Geister,  nahekame.  In  diesem 
bildlichen  Zusammenhang  darf  an  jene  Bemerkung  er- 
innert  werden,  die  im  zweiten  Buch  iiber  das  Prinzip 
der  Gegenstromung  gemacht  wurde. 

Die  religiose  Vorstellung  von  personlicher  Heiligkeit  PersoniicbeGott 
und  personlicher  Gottheit  bleibt  ein  primitives  Gleichnis, 
solange  und  je  mehr  imBegriiFdesPersonlichen  die  anthro- 
pomorphe  Form  des  intellektualen  und  individuellen 
Denkens  und  Wollens  gesucht  wird.  Dennoch  liegt  auch 
in  diesem  Symbol  ein  transzendenter  Keim,  dem  die  pan- 
theistischeDenkweise  nicht  gerecht  wird,  wahrend  die  hier 
niedergelegte  Auffassung  ihn  generell  auszudeuten  sucht. 

Dieser  Keim  wird  sichtbar  in  der  Empfindung  eines 
absoluten  Wertkontrastes,  der  durch  keine  noch  so  voll- 
kommene  Einordnung  des  Einzelnen  in  die  Allgottheit 
ausgeglichen  wird.  Wenn  der  personlich  gerichtete 
Glaube  um  Ausdruck  ringt,  so  sagt  sein  stammelndes 
Gefiihl:  ich  bin  schwach  und  schlecht,  der  Gott  ist  giitig 
und  wissend ;  dabei  ahnt  er,  daf5  er  Gott  vermenschlicht. 
Der  Pantheismus  antwortet:  du  bist  eingereiht  in  6iq  ScirwMe  de* 
Gottnatur,  die  alles  umfafit;  widerstrebe  nicht,  so  bist  ^  '^^*" 
du  als  Teil  nicht  ungottlicher  als  das  Ganze;  und  er 
ahnt,  indem  er  dieses  spricht,  dal5  er  die  Gottheit  ver- 
fliichtigt.  Denn  als  reines  Multiplikat  gewinnt  ein 
Komplex  auGer  der  belanglosen  Quantitat  keine  neue 
Eigenschaft;  an  sich  ist  der  Finger  nicht  gottloser  und 
das  Volk  nicht  gottlicher  als  der  Mensch.  Erst  dadurch 


I 


221 


dafi  wir  aus  der  Synthese  des  Geistes  die  Seek,  und 
aus  der  Reihe  der  hoheren  Evolutionen  die  unendliche 
Pyramide  des  Uberirdischen  erwachsen  lassen,  werden 
wir  dem  Elemente  der  Ehrfurcht,  das  die  Natur  in  uns 
gelegt  hat,  und  dem  Korrelat  der  Erhabenheit,  das  sie 
vom  Hcichsten  fordert,  gerecht;  dann  aber  liegt  das 
Gottliche  nicht  mehr  in  der  gesetzmafiigen  Zusammen- 

Richtungsbegrif  fassung,  sondern  in  der  aufstrebenden  Richtung.  Die 
Weltseite  der  Schopfung,  das  Durchlaufene ,  Erledigte 
,  bleibt  hinter  uns  liegen  und  nimmt  insofern  am  Gott- 
lichen  nur  bedingten  Anteil;  die  Gottseite  der  Schopfung 
aber  erhoht  sich  mit  unserem  Aufstiege  wie  das  Firma- 
ment liber  unserem  Haupte  und  bleibt  somit  transzen- 
dent.  Indem  es  aber  nur  mit  der  reinsten  Kraft  unseres 
Inneren  verwandt  erscheint,  kann  die  Vorstellung  eines 
Personlichen ,  ja  eines  Individuellen  als  partiale  Gleich- 
setzung  dem  einfacheren  BewuC>tsein  erhalten  bleiben. 
Fiir  uns  aber  verschmilzt  der  BegrifF  des  Ungottlichen 
mit  dem  des  Durchlaufenen,  hinter  uns  Liegenden,  der 
BegrifF  des  Sundhaften  mit  dem  des  erledigten  Intellek- 
tualen,  das  die  ganze  bisherige  Schopfung  umfafit;  der 
BegrifF  des  Gottlichen  beginnt  fur  uns  mit  der  Seele 
und  umfafit  alle  kommenden  Reiche.  Deshalb  sollen 
wir  uns  hiiten,  die  bessere  Seite  unseres  Seins  als  etwas 
halb  Bewul^tes,  ja  UnbewulLtes  der  Gesellschaft  niederer, 
dunkel  intellektualer  Triebe  anzureihen;  das  mechanische 
Denken  neigt  zu  dieser  Gefahr,  denn  freilich  ist  die 
intellektuale  Geistigkeit,  in  welcher  wir  alt  sind,  uns 
vertrauter;  im  Leben  der  Seele  sind  wir  kindlich  jung, 
fast  unerwacht,  zaghaft  und  fremd. 

Gemeinschaftder  In  diesem  Gedankenkreise  findet  selbst  das  Bild  von 
"^^'^  der    Gemeinschaft    der    Heiligen    seinen    symbolischen 


Stand,  denn  die  uns  unmittelbar  besctiiedene  Teilnahme 
am  gottlichen  Wesen,  die  Seelenhaftigkeit,  bietet  je 
nach  der  Stelle  der  Betrachtung  das  Bild  einer  individu- 
ellen  Vergeistigung  oder  einer  gottlichen  Kollektivitat. 
Der  Aufstieg  selbst  aber  kann  durchaus  mit  einer  Er- 
losung  verglichen  werden,  und  zwar  einer  solchen,  die  Errosung 
durch  keinerlei  Willenshandlung  erzwingbar  ist,  sondern 
vielmehr  durch  einen  inneren  Vorgang  der  Erleuchtung, 
wenn  man  will,  der  Gnade,  erfolgt.  Hier  kann  das  Vor-  Gnade 
bild,  die  Fiihrung,  ja  die  ofFenbarende  und  erlosende 
Gewalt  erhabenster  Geister  gewiirdigt  werden,  detnn  die 
unabhangige  Kraft  des  Aufschwungs  ist  nicht  jedem 
Geiste  eingeboren,  und  viele  konnen  im  Innern  nur  das 
erleben,  was  ihnen  von  aufien  gespendet  ist.  Selbst 
theologische  Streitfragen  mogen  in  der  Umdeutung  all- 
gemeiner  Betrachtung  sich  von  Widerspriichen  losen; 
wir  wissen,  dalL  der  ethisch-seelenhafte  Zustand  nicht 
durch  Einzelhandlungen  erzeugt  wird,  dalb  er  jedoch 
gewisse  Handlungstendenzen  ausschliefit  und  andere  be- 
wirkt,  ja  unter  Umstanden  in  ihnen  erkennbar  ist:  die 
alte  Antinomie  des  Problems  vom  Glauben  und  von  den  G/auben  und 

Werke 

Werken  ist  in  dieser  Gesetzmafiigkeit  aufgehoben. 

In  welch  passiver  Einseitigkeit  die  Lehre  von  der 
Aufhebung  des  Leidens  und  der  Weltflucht  die  Erkennt- 
nis  der  Seele  spiegelt,  haben  wir  im  Laufe  der  Erorte- 
rung  gestreift;  die  symbolische  Wertung  des  Seelen- 
wanderungsdogmas  erfordert  eine  gesonderte  Anmei- Metempsycbose 
kung.  Das  Widerstrebende  dieser  Lehre  liegt,  abgesehen 
von  ihrem  moralischen  Rationalismus ,  in  der  mangel- 
haften  Identitat  des  Subjekts.  Nicht  an  dieser  Stelle 
werden  wir  vom  Prinzip  der  Strafe  zu  handeln  haben; 
erwahnt  sei  eine  seiner  Antinomien,  die  darin  liegt,  dal5 


223 


der  Verbrecher  und  der  Gestrafte  nicht  identisch  sind. 
Ein  Mensch  taucht  mit  tierischer  Lust  seine  Hand  in 
geopfertes  Blut,  und  vor  dem  Richter  erscheint  mit 
nackter  Seele  und  empfindender  Haut  ein  weinendes 
Geschopf,  das  vor  der  Schlachtbank  zittert.  Nach 
Wochen  steht  die  Kreatur  einer  geschlossenen  Mensch- 
heit  gegeniiber,  die  in  einem  Hof,  von  Mauern  umgeben, 
sie  nach  Kommando  zu  sterben  zwingt;  und  fiir  die 
Menge  und  ihre  Beauftragten  ist  es  der  gleiche  Mensch, 
der  Verbrecher,  das  Tier.  Vor  Gott  ist  er  es  nicht;  was 
ihn  verwandelt  hat,  nennt  die  Kirche  kurz  und  biindig 
die  Reue;  wir  nennen  es  die  Vielfaltigkeit  des  mensch- 
lichen  Herzens  und  gedenken  der  unerwachten  Seele. 

Von  dieser  Spaltung  der  Identitat  weiH)  die  Metem- 
psy chose  nichts;  in  ihrem  Drange  nach  Vergeltung  ver- 
langt  sie,  dafi  die  schuldwiirdige  Person  erhalten  bleibe, 
auch  wenn  nur  in  einem  hoheren  BewuI5tsein  die  Briicke 
der  Wesenseinheit  geschwungen  ist.  Aber  gerade  dieses 
hohere  Bewufitsein  ist  das  unbeteiligte;  so  wird  ein 
Widerspruch  durch  den  zweiten  verdeckt. 

Das  Symbol  gewinnt  an  Wahrheitswert,  wenn  die 
Kette  der  Individualitat  geopfert  wird,  und  doppelt,  weil 
gleichzeitig  die  Kriminalistik  des  Ubersinnlichen  hinfallt. 
Ist  es  der  Geist  schlechthin,  der  um  seine  Existenzform 
ringt,  bis  er  die  Verklarung  zur  Seele  vollbracht  hat,  so 
erscheint  das  Gleichnis  losgelost  von  der  Romantik  des 
Einzelerlebnisses  und  gelautert;  freilich  ist  zugleich  die 
bildlich-erziehliche  Fafibarkeit  des  Mythos  zerstort. 
Gottesrekh  Weit  hoher  als  ein  Symbol,  wahrhaft  als  eine  Ent^ 
hiillung,  soweit  sie  einfachen  und  iiberwiegend  transzen- 
denzlosen  Geistern  fal5bar  war,  ofFenbart  sich  die  evan- 
gelische  Kunde  vom  Himmelskonigtum  und  vom  Gottes- 


224 


reich.  Der  schillernde  Kreis  des  Mifiverstandnisses,  den 
Niederschriften  und  Uberlieferungen  um  den  Erkenntnis- 
kern  der  christlichen  Lehre  geschlungen  haben,  lafit  die 
transzendente  Reinheit  des  uniiberlieferten  Mittelpnnkts 
vermuten.  Bald  wird  in  der  Uberlieferung  das  Reich  als 
irdisch-soziale  Institution,  bald  als  eine  Gemeinschaft  der 
Gerechtfertigten,  bald  als  messianische  Theokratie,  bald 
lis  Himmelsparadies  gedeutet.  In  diesen  Farben  mufite 
dn  BegrifFsich  spiegeln,  der  in  seinem  Ursprung  mensch- 
ich,  in  seiner  wahren  Existenz  geistig,  in  seiner  An- 
Ijchauungsform  transzendent  gedacht  war.  Ohne  die  Ge- 
:;etzmafiigkeit  in  den  Widerspriichen  einer  Uberlieferung, 
lie  tausendfaltigEingescharftes  so  typisch  umkreist,  waren 
vir  in  Versuchung,  uns  fiir  eine  der  Versionen  zu  ent- 
|;cheiden.  So  aber  diirfen  wir  aus  der  verheil^ungsvoU- 
ten  Quelle  die  Gewifiheit  einer  Verkiindigung  vom 
vahren  Reich  der  Seele  schopfen. 

ilpln  diesem  mythisch-theologischenBetrachtungskreise  Gebet 
St  endlich  einer  geheiligten  Ubung  zu  gedenken,  des 
jebetes.  In  ihr  liegt  der  Inbegriff  aller  praktisch-trans- 
endenten  Symbolik,  denn  der  Mensch  tritt  mit  alien 
einen  irdischen  Kraften,  schauend  und  fiihlend,  fordernd 
md  empfangend  vor  die  Schranke  der  Gottheit. 

Der  symbolische  Wert  des  eigentlichen,  bittenden 
iebetes  liegt  fur  den  zivilisierten  Menschen  nur  in  der 
Lnerkennung,  gleichviel  ob  frei  oder  erpreI5t,  es  sei 
ine  Instanz  auf5erhalb  des  berechenbaren  Geschehens; 
:hon  diese  Anerkennung  erschliefit  eine  metaphysische 
)enkform,  denn  sie  folgert,  eine  Handlung  sei  nicht 
jdiglich  aus  ihrem  Nutzen  zu  beurteilen. 

Je  mehr  nun  die  Form  der  Bitte  sich  der  Mitleids- 5///* 
rweckung,   der  Schmeichelei,  der  Bettelei  und  Selbst- 


■ 


22V 


erniedrigung,  kurz,  irgendelner  Art  der  Bestechun^ 
niihert,  je  mehr  der  Gegenstand  der  Bitte  die  Vorteilc 
des  aufieren  Lebens,  Forderung  der  eigenen  Zwecke  mil 
oder  ohne  Schadigung  des  Nachsten  betrifft,  desto  weitei 
entfernt  sich  das  Gebet  von  seinem  transzendenten  Sinne 
um  sich  fetischistischer  Zauberei  und  Geisterbeschworunj 
anzugleichen. 

Der  Ausgleich  zwischen  zweckhaftem  und  transzen 
dentem  Streben  beginnt  in  dem  Punkte,  wo  die  Bittt 
das  innere  Erlebnis  herabruft  und  die  Herzensbewegunj 
auf  das  allgemeine  Verhaltnis  des  Gottlichen  zum  Mensch 
lichen  sich  einstellt.  Die  vier  spateren  Bitten  des  Vater 
unsers  geben  von  diesem  Stande  Zeugnis,  den  man  als  di( 
Symbolik  des  transzendenten  Erkennens  ansprechen  darf 
Meditation  Der  letzte  Schritt  ist  getan,  wenn  das  Gebet  nich 
mehr  dem  Willen  dient  und  entspringt,  sondern  das  in 
tuitive  Erwachen  und  Dasein  des  Menschen  zweckfre 
ofFenbart.  Dann  ist  seine  Form  nicht  mehr  die  Litanei 
sondern  die  Meditation;  die  Bitte  hebt  sich  selbst  au 
in  der  schauenden  Hingabe:  nicht  mein  Wille  geschehe 
sondern  dein  Wille;  und  das  Symbol  fallt  mit  seinen 
Gegenstande,  dem  transzendenten  Erlebnis,  zusammen 
Denn  nun  geschieht  ein  Zeichen  vollkommener  Realitat 
die  Willenswelt  sinkt  ins  Schattenhafte,  und  die  hohen 
Beziehung  wird  zur  wesensvollen  Wirklichkeit.  Di< 
Wiinsche  schweigen  und  die  Liebe  redet,  und  das,  wo 
von  die  Stimmung  des  irdisch  Liebenden  ein  Abglan: 
ist,  das  Einklingen  der  Natur  in  ein  geheimes,  leuchten 
des  Verstandnis,  erfiillt  die  Seele.  In  diesem  Erbliiheit 
eines  Wechselseitigen  fiihlen  wir,  wie  unbegreiflich  ver 
lassen  wir  im  liebsten  Leben  waren,  und  wissen,  dai 
wir  niemals  wie  der  vereinsamen  konnen.    Geheimniss* 


116 


werden  diesem  Fiihlen  ofFenbar,  iind  die  unzulanglichen 
Deutungen,  die  wir  aus  jenen  Erlebnissen  in  die  Welt 
des  Denkens  herabtragen,  bilden  den  Reichtum  des  den- 
kenden  Lebens.  Niemand  aber  ware  imstande,  eine 
Beute  elender  Wunscherfiillungen  mit  diesen  Gescbenken 
zu  retten ;  es  entspricht  dies  der  Symbolik  des  Marchens, 
die  das  gescbenkte  Blatt  in  ein  Juwel,  das  geraubte  Gold 
in  Moder  verwandelt.  Dal5  die  Augenblicke  der  Ver- 
sunkenheit  schnell  entschwinden,  beklagen  wir  nicht, 
denn  sie  sind  Zeugnisse  und  Borschaften,  nicht  alltag- 
liche  Funktionen  dieses  Lebens,  in  das  wir  nicht  gesetzt 
sind,  es  zu  verachten,  sondern  es  zu  erfiillen.  Es  ware 
itranszendentaler  Betrug  und  vergeblich,  wollten  wir 
Schranken  und  Entwicklungen  iiberfliegen,  die  zu  iiber- 
winden  und  in  der  Uberwindung  zu  erstarken  uns  be- 
stimmt  ist.  Keine  Vermengung  des  irdischen  Werkes 
mit  dem  Ubermachtigen  frommt,  toricht  und  schlecht 
arbeitet  der,  welcher  die  Sache  verleugnet,  um  falschen 
Lohn  zu  erlisten. 

Es  ist  verfanglich,  davon  zu  reden,  und  unerlaubt,  iVunder 
davon  zu  schweigen,  daf5  das  Ereignis,  welches  wir  ein 
liWunderbares  nennen,  weil  es  der  gewohnten  Folge  der 
Kausalitat  nicht  entspricht,  in  diesem  Gedankenkreise 
iiberhaupt,  und  vornehmlich  im  gegenwartigen  Zusam- 
menhange,  nicht  als  unmoglich  und  widersinnig  ausge- 
schlossen  werden  kann.  Denn  wir  diirfen  niemals  ver- 
gessen,  dafi  die  Welt  der  Wahrnehmung  in  unserem  Sinne 
gleichsam  als  eine  Vereinbarung  zwischen  alien  Teilen 
der  Geistigkeit  zu  gelten  hat;  innerhalb  dieser  Verein- 
barung ist  jeder  Teil  fiir  sich  frei,  und  nur  die  Komplexe 
folgen,  gemafi)  dem  Gesetz  der  grofien  Zahlen,  erfah- 
rungsma£)ig   und   annaherungsweise   fixierten   Formeln, 


227 


welche  wir  Naturgesetze  nennen.  An  sich  ist  die  Ver- 
einbarung  nicht  unverbruchlich;  eine  schwer  zu  den- 
kende,  doch  nicht  unmogliche  Revolution  der  Geistes- 
elemente  konnte  sie  brechen,  indem  sie  dutch  Umge- 
staltung  der  Inhalte  gleichsam  die  Orchestersymphonie 
in  andere  Tonart  und  Spielweise  iiberspringen  liefie, 
wobei  die  umgestaltete  Eiinnerung  selbst  die  Vetgangen- 
heit  verwandelte.  Denkbar  ware  der  partielle  Eintritt 
dieses  unendlich  Paradoxalen  in  einem  Moment,  wo  eine 
aufs  hochste  gesteigerte  seelische  Individualitat  sicb 
selbst,  und  mitreiI5end  andere  Teile  des  Gemeinschafts- 
bildes  erneut  und  umformt.  Diese  Vorstellung,  wenn 
man  sie  recht  betrachtet,  hat  nichts  von  jener  zaube- 
rischen  Willkiir,  die  das  Wunderbare  dem  Aberglauben 
genehm  und  uns  suspekt  macht;  denn  es  ist  durch  keine 
Bettelei  und  Kalkulation  erzwingbar.  Der  krasse  Intel- 
lekt,  der  das  Wunderbare  nicht  sieht,  kann  Wundei 
weder  wirken  noch  erblicken.  Kinder  und  Neger  ent- 
setzen  sich,  aber  sie  erstaunen  nicht;  und  das,  wovor  sie 
sich  entsetzen,  ist  das  wahrhaft  Alltagliche,  sofern  es  nui 
quantitativ  und  mechanisch  vom  Gewohnten  abweicht. 
Wir  werden  jedoch  im  unmittelbaren  Anschlufi  noch 
andere  Denkformen  zu  erwagen  haben,  welche  die  Gren- 
zen  der  mechanischen  Naturvorstellung  durchbrechen. 
Denn  bevor  wir  den  ersten  Teil  dieses  dritten  Buches. 
die  Ethik  der  Seele,  beschlieI5en,  liegt  es  uns  ob,  die 
Eudamonistik  eudamonistische  Seite  dieser  Ethik  zu  beriihren.  Ihre 
sachliche  Bedeutung  innerhalb  unseres  Systems  ist  ge- 
ring;  wir  bediirfen  des  irdischen  Gliickes  weder  zum 
Beweise  noch  zur  Verfiihrung;  und  ware  die  einzige 
Folge  der  Seelenevolution  das  Leiden,  wie  es  ja  untei 
ihren   Forderkraften    eine    der   hauptsachlichen  ist,    sc 


228 


wiirde  der  Glaube  und  die  Wahrheit  uns  dennoch  zwin- 
gen,  fiir  die  Seele  zu  zeugen. 

Um  ihrer  seltsamen  Ausblicke  willen  betrachten  wir 
diese  Gliickslehre,  und  kurz.  Deshalb  scheiden  wir  das 
Gebiet  leiblicher  Lust  und  Schmerzen  aus,  von  dem  frei- 
lich  manches  zu  sagen  ware:  denn  wir  leiden  und  ge- 
nielSen  nur  so  viel,  als  unsere  Seele  will  und  zulal5t.  Da 
wir  hier  nur  von  den  Leiden  des  Herzens  handeln  wollen, 
so  beginnen  wir  nochmals  von  ihrem  Prinzip:  der  Siinde. 

Alle  Sunde   ist  Mangel  an  Liebe,  und  alles  Leiden  Leid  unJ  SUnJe 
kommt  aus  der  Siinde,  eigener  und  fremder.    Wut,  Hafi, 
Eifersucht,  Miligunst,   Neid,  Scham,  Gier,  Furcht  sind 
Leiden   aus   eigener   Siinde,    Mitleid,   Gram,    Kummer, 
Sorge,  Zorn  sind  Leiden  aus  fremder  und  eigener  Siinde. 

Dafi  die  Siinde  nicht  zur  Ruhe  kommt,  dal5  sie  „fort- 
zeugend  Boses  gebiert",  ist  eine  so  tief  wurzelnde  Vor- 
stellung  aller  Theologien,  dafi  die  verschiedenartige 
Begriindung  der  anscheinenden  Ausnahmen,  des  Hiobs- 
problems,  geradezu  als  die  Festigkeitsprobe  der  dogma- 
tischen  Gefiige  gelten  kann.  Wurde  das  erzeugte  Bose 
mit  Mifigeschick  und  Ungemach  gleichgesetzt,  so  mul^te 
eine  juridische  Vergeltung  eingreifen;  kam  diese  hie- 
aieden  mit  ihrer  Aufgabe  nicht  zu  Ende,  so  mulite  ein 
lenseitiges  Nachsitzen  das  Urteil  erfiillen.  Eine  subtilere 
Vorstellung  liefi  Siinde  aus  Siinde  entstehen  und  ver- 
egte  die  Fortsetzung  dieses  Prozesses  in  den  Erbgang; 
2ine  freiere  Kiihnheit,  die  nicht  davor  scheute,  das  schuld- 
lose  Wesen  zu  belasten,  um  der  empfundenen  Wahrheit 
zu  zollen. 

Die  Gleichsetzung  der  Siinde  mit  dem  Leiden  und  ErhsitMig  der 
lie  Ausdehnung  ihrer  Wirkung  weit  iiber  den  Erbstamm  l^i^J^"" 
Mnaus  auf  alles  gleichgeartete  Leben  fiigt  in  das  alte 


Erfahrungsbild  eiuen  Zug  ein,  der  es  unserer  Erkenntnis 
anpafit  iind  der  als  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der 
Siinde  oder  des  Leidens  bezeichnet  werden  kann.  Das 
siindhafte,  das  heifit  lieblose  Denken  und  Handeln  hat 
ein  Objekt  —  dafi  dieses  mit  dem  Subjekt  zusammen- 
fallen  kann,  ist  zu  beachten  — ,  und  dieses  Objekt  ist 
nunmehr  Gegenstand  eines  AngriiFs,  einer  Schadigung, 
und  Trager  eines  Leides  geworden. 

In  dem  willentlich  zum  Leiden  gefiihrten  Geschdpf 
erwacht  als  Reaktion  ein  liebloses  Gefiihl,  eine  Bitter- 
keit,  die  als  Kummer  oder  Rachsucht,  als  Arger,  Ressen- 
timent,  Scheu  oder  Hafi  so  stark  werden  kann,  daI5  sie 
ein  Leben,  ein  Geschlecht,  einen  Stamm  beherrscht. 
Dal5  auch  die  leisesten  Regungen  dieses  Gefiihls  den 
Bestand  an  Liebe  mindern,  das  empfindet  jeder,  der  mit 
einem  mifihandelten  Kind  oder  Tier  gefuhlt  hat;  dieser 
Verlust  wird  jede  kiinftige  Empfindung  und  Handlung 
um  ein  Geringes  aus  der  Richtung  lenken.  Deshalb  ist 
die  Siinde  konstant;  jede  Lieblosigkeit  bringt  ein  Leiden 
in  die  Welt,  das  in  Ewigkeit  fortwirken  kann. 
Leiden  und  Kann;  denn  schon  dem  intellektualen  Menschen  ist  er- 
moglicht,  was  dem  seelenhaften  an  sich  beschieden  ist: 
das  Leiden  zu  mindern  und  die  Liebe  zu  mehren.  Die 
niederen ,  weil  unschweren  Tugenden  der  Gerechtig- 
keit,  Barmherzigkeit  und  Dankbarkeit  erfiillen  das  not- 
diirftige;  die  erste,  indem  sie  das  als  verdient  erachtete 
Leiden  ohne  Bitterkeit  hinnimmt,  die  beiden  anderen, 
indem  sie,  gleichviel  aus  welchen  Motiven,  Keime  der 
Liebe  ausstreuen  oder  bewahren.  Die  hohe  Tugend  der 
Selbstverleugnung  aber  vollbringt  das  eine,  wahre  und 
tatige  Opfer  der  Liebe,  dem  Intellekt  unendlich  schwer, 
der  Seele  selbstverstandlich:  Freude  fiir  Leid  der  Welt 


230 


einzutauschen.  In  diesem  Sinne  wirkt  das  Seelenhafte  und 
Seelengerichtete  irdisch-eudamonistisch,  und  in  diesem 
Sinne  haben  die  Religionen,  die  das  freiwillige  Siihnopfer 
preisen,  recht:  der  Opfernde  zieht  das  Leiden  derWelt 
an  sich  und  saugt  as  auf ;  der  siindhafte  Keim  wird  getotet, 
bevor  er  ins  Kraut  schiefien  und  neue  Frucht  ttragen  kann. 

Bedeutungsvoll  ist  es,  bei  der  Schwierigkeit  desOpfers  Gefuhiston  des 
einen  Moment  2u  verharren,  denn  ihre  Betrachtung  laibt 
uns  den  Gefuhiston  ahnen,  der  mit  der  Seelenwerdung 
verbunden  ist,  die  ja,  wenn  man  den  Akt  der  Evolution 
vom  banal -mechanischen  Standpunkt  betrachtet,  als 
fundamentale  Schwierigkeit  gelten  kann.  Das  Vorbild 
dieser  Schwierigkeit  ist  nicht  die  Uberwindung  einer 
Kraftanstrengung  oder  eines  Schmerzes,  sondern  viel- 
mehr  ein  ahnliches  ZusammenrafFen  der  inneren  Krafte, 
wie  es  uns  aus  der  Konzentration  des  Denkens,  aus  der 
Abschiittelung  der  zerstreuenden,  tragen  oder  geliisten- 
den  Versuchung  bekannt  ist.  Dieser  freie  Aufschwung, 
der  mit  angstlichem  Verzicht  und  Selbstzwang  nichts 
gemein  hat,  wird  den  Menschen  schwerer  als  Dulden 
und  Placken,  das  beweist  die  Furcht  vor  eindringlichem 
Denken;  denn  auch  hier  werden  neue  Krafte  erfordert, 
die  zwar  nicht  schmerzen,  jedoch  so  blendend  schrecken 
wie  das  Losreifien  aus  tiefem  Schlaf.  Hier  spiiren  wir  Gefuhiston  aiiei 
etwas  von  der  grenzenlosen  Entfremdung  und  schnei- 
denden  Trennung,  die  jedem  Entwicklungsschritt  der 
Schopfung  vorangegangen  sein  mag,  gleichviel  ob  ein 
Menschenvorfahr  den  aufrechten  Gang  oder  ein  bahn- 
brechender  Denker  die  produktive  Idee  aus  sich  losrifi. 
Hier  ist  die  Lebenskraft,  deren  inneres  Wesen  wir  be- 
trachtet haben,  als  objektive  Erscheinung  am  Werk,  und 
hier  empfinden  wir  gleichsam  ihren  herben  und  gottlichen 


23i 


Geschmack.  Dem  Geschopf  der  langen  Ruheperioden, 
des  generationenlangen  Stillstandes  im  Gange  der  Ent- 
wicklung  sind  diese  katastrophalen  Gefuhle  erspart  und 
fremd,  deshalb  darf  es  sich  den  legitimen  Versuchungen 
der  Tragheit,  Zerstreuung  und  Lust  hingeben;  soil  das 
grofie  Opfer  gebracht  werden,  sei  es  der  Selbstverleug- 
nung,  der  Genialitat  oder  der  Seelenwerdung,  so  bedarf 
es  eines  Erweckens:  dies  ist  ausgesprochen  in  der  ratsel- 
haften  vorletzten  Bitte  des  Vaterunsers.  i 

Problem  des  Manchem  wird  es  nicht  geniigen,  erkannt  2u  haben, 

dafi  das  Selbstverleugnungsopfer  das  Leiden  aus  der 
Siinde  totet.  Er  wird  bemerken,  dal5  das  blinde  Ge- 
schehen,  der  fallende  Stein,  Wind  und  Wetter,  Feuer 
und  Wasser  und  manche  andere  tote  und  lebende  Un- 
bill  Leiden  schafFt,  und  er  wird  wiinschen,  dafi  ein  etbi- 
sches  Dasein  liber  eine  Instanz  der  Appellation  und  Ver- 
sicherung  verfiige. 

Es  ware  eine  harte  Antwort,  zu  erinnern,  welcher 
seelenbildende  Wert  dem  Leiden  innewohnt,  und  aus  der 
Not  das  Rezept  zur  Tugend  zu  machen.  Es  ware  eine 
leichte  Antwort,  zu  erklaren,  dal5  jeder  nur  soweit  des 
Leidens  fahig  ist,  als  er  an  der  Welt  und  an  seinen 
Sinnen  hangt.  Obwohl  es  nicht  die  Aufgabe  ist,  das 
irdische  Leiden  wegzuloben,  um  einem  empfohlenen  Zu- 
stand  Platz  zu  machen,  sei  zum  Beschlufi  des  ethischen 
Kapitels  auf  einen  Denkweg  verwiesen,  der  zwischen 
Sittlichkeit  und  Schicksal  eine  Verbindung  gestattet,  so 
dal5  unsere  Herzen,  die  im  Drange  zum  Licht  vor  dem 
Dunkel  der  Erdenbahn  erschauern,  eines  Trostes  imUber- 
gang  nicht  ermangeln. 
Gesetz  der  Man  sagt:  „kleine  Ursachen,  grol5e  Wirkungen",  und 
us   sung  ^g^j.g^  damit  unbewufit  auf  ein  ernstes  Naturgesetz,  das 


232 


I 


alles  Geschehen  beherrscht  und  das  man  als  das  Gesetz 
der  Auslosungen  bezeichnen  darf.  Ein  Erdbeben,  ein 
Gewitter,  eine  Kesselexplosion,  ein  Grubenunfall,  ein 
Krieg  soil  und  wird  kommen;  die  grofien  und  unaus- 
weichlichen  Vorbedingungen  und  Koinzidenzen  sind  ge- 
geben.    OfFen  bleibt  —  im  Sinne  eines  idealen  Kenners 

I  aller  grol^en  Umstande  —  Stunde,  Minute  und  Sekunde 
des  Beginnes,  Millimeterfleck  der  Ziir dung  oder  Ent- 
ladung:  das  heiI5t  die  Daten,  die  fiir  das  Einzelgeschick 

,  entscheidend  sind.  Diese  Daten  bleiben  bis  zum  letzten 
Augenblick  in  scheinbarer  Fluktuation,  ahnlich  wie  friiher 
in  ein  fertiges  Bild  die  Spitzlichter  ganz  spat  und  mit 
leichter  Hand  eingesetzt  wurden.  Darin  nun  besteht  das 
Prinzip  der  Auslosung,  dafi)  das  Wegraumen  der  letzten 
Hemmung,  und  somit  die  entscheidende  Bestimmung  von 
Ort  und  Zeit   des  Ausbruchs,  mit  ihnen  aber  auch  die 

I  wichtigen  Einzelheiten  des  Verlaufs,  durch  eine  minimale 
Leistung  erfolgt,  die  mit  den  Grundbedingungen  in  kei- 
nem  Zusammenhang  zu  stehen  braucht.    Dieses  DifFe- 

irential  der  Leistung,  und  in  erhohtem  Mafie  wiederum 
seine  eigene  Auslosung  —  und  so  hinauf  ins  Ungemessene 
—  entzieht  sich  immer  weiter  der  Beobachtung  und  Be- 
rechnung:  und  schlieiLlich  ergibt  sich,  dal5  alles  Welt- 
geschehen  als  Integral  von  Auslosungen  aufzufassen  ist, 
dafi  mithin  alles  Geschehen,  sofern  es  auf  Befreiung 
potentieller  Krafte  hinauslauft,  in  jedem  Zeitpunkt  durch 
relativ  wenige,  verschwindend  kleine  Krafte  umgestaltet 
wrerden  kann. 

Nun  sind  aber  alle  uns  bekannten  Naturgesetze  em- 
pirische  Regeln,  die  sich  auf  Massenerscheinungen  be- 
dehen.  Ihre  Anwendbarkeit  beruht,  wie  wir  dargelegt 
iaben,  auf  dem  Prinzip   der  grofien  Zahlen,  das  heifit 


^U 


aut  emer  mit  der  Massenhaftigkeit  wachsenden  Wahr- 
scheinlichkeit.  Von  einer  Gesetzhaftigkeit  der  Elemente 
wissen  wir  nichts  und  die  Erwagung  hat  gezeigt,  dal5  sie 
mit  zunehmender  Unterteilung  sich  der  Freiheit  nahern. 

Somit  ist  an  dieser  Stelle  die  hypothetische  Einsetzung  I 
eines  Entscheidungsfaktors  statthaft,  der  vom  mechani-  ; 
schen  Geschehen  unabhangig  gedacht  werden  darf.  Dies  j 
ist  das  Ergebnis  einer  Betrachtung,  die  sich  ganz  und  gar  \ 
innerhalb  der  Erscheinungweihe  bewegt.  | 

Vieldeutig-  Uberschreiten  wir  diese  Reihe  und  erinnern  wir  uns 

schehens      "  ^^  ^^^  Vorstellung  der  Welt  als  einer  Vereinbarung  des  : 
Geistes,  so  gelangen  wir  zum  zweitenmal  an  die  Mog-  j 
lichkeit  einer  Beeinflussung  ihres  Bestandes  dutch  Wir-  | 
kungen,  die  aufierhalb  empirischer  Gesetze  liegen.    Ja,  ji 
es  ist  uns  gestattet,  in  grundsatzlicher  Erwagung  nochJ 
tiefer  zu   dringen  und   die  Frage   zu  stellen,  ob  dennj 
irgend  eine  Notwendigkeit  verlange,  die  empirische  Er-j 
scheinung  als  eindeutige  Funktion  der  geistigen  Wirkung 
zu  statuieren.    Diese  Frage  aber  kann  nicht  kategorisch 
bejaht  werden,  und   somit  ergibt   sich  die  Moglichkeit 
eines  Gesetzes  von  der  Vieldeutigkeit  des  Geschehens. 
Es  ist  mithin  von  beiden  Seiten  der  Betrachtung  aus 
gestattet,  neben  der  voluntarisch-kausalen  Ordnung  des;i 
Geschehens   beliebige  andere  Ordnungen  anzunehmen, 
von  denen  die  ethische  Ordnung,  beruhend  auf  den  ab-j 
soluten  Werten  des  Guten  und  Bosen,  die  plausibelstej 
sein  wiirde.    Lafit  man  sie  zu,  so  gelangt  man  zu  jenerj 
dem  Menschengeist  vertrauten  Verkniipfung  zwischenj 
Gesinnung  und  Geschick,  die  Vergeltung  heiI5t,  und  es-l 
greift:  in    das   mechanische  Geschehen  ein  Machtfaktorj 
em,  den  man  als  den  damonischen  bezeichnen  kann. 


i34 


fl. 

DIE  ASTHETIK  DER  SEELE 

Die  rezeptive  Beziehung  zur  Natur,  welche  wir  Natur-  Naturempfin- 

r    ^  1    J.  J    I    •        r»     •   1  denundKunst 

empnnden  nennen,  irnd  die  produktive  Beziehung  zur 

Natur,  welche  wir  Kunst  nennen,  sind  in  ihrer  reinen 

Form  Funktionen  der  Seele.     Sie  sind  es  nicht  immer 

gewesen;  so,  wie  die  Sprache,  das  Denken,  der  Glaube, 

sind  sie  zuerst  aus  nothaften,  zweckhaften  und  spielen- 

den  Trieben  geflossen.     Aber  in  gleichem  Schritt,  wie 

sie  aus  den  Banden  des  Zweckes  sich  losten,  traten  sie 

aus  der  Domane  des  Intellekts  in  den  Bereich  der  Seele 

iiber,   und  ihre  Aufnahme   in  das  Gebiet  reiner,  iiber- 

(intellektualer  Empfindung  vollendete  die  Lauterung  von 

zweckhaften  Schlacken.    Im  Stromen  und  Mischen  der 

Volkswellen   konnte    dieser  Gang  nicht  stetig  bleiben; 

Kulturen  und  Uberlieferungen  gingen  vielmals  verloren, 

Kunst  und  Kunstempfinden  sanken  zuriick,  dennoch  zeigt 

uns  das  Bild  der  Zeiten,  im  weitesten  Umkreis  betrachtet, 

jeneBewegungsrichtung,  die  demSeelenwege  derMensch- 

[heit  entspricht. 

Wir  kennen  von  der  Vergangenheit  zuviel;  einJahr-Grenzen  hi- 

hundert  gliicklicher  Forschung  und  einseiriger  Ausdeu- ^J^^^J^^^^   ^" 

tung  des  niitzlichen,  aber  mechanischen  Entwicklungs- 


^35 


das,  wwm 


prinzips  hat  unseren  Blick  so  sehr  gescharft  fiir  das, 
war  und  was  wurde,  daJ&  wir  uns  tauschen  liber  das, 
was  ist.  Die  Herleitung  abwarts  von  der  Steinkohlen- 
formation  belehrt  uns  iiber  den  Anpassungsmechanismus 
der  Pflanze,  aber  nicht  iiber  das  Wesen  der  Rosenbliite; 
die  Herleitung  der  Kunst  aus  Schmuckbediirfnis ,  Spiel, 
Nachahmungstrieb  und  Zauberei  erschopft  nicht  ihren 
nachgeborenen  Seelenwert. 
Gipfel  und  Hohepunkte  und  Bliitezeiten  einzelner  Kunstformen 
mogen  unwiederbringlich,  ja  den  Nachgeborenen  unfair- 
bar  sein,  aber  sie  bedeuten  nicht  das  letzte  Gipfelziel 
planetaren  Naturbewui5tseins ,  von  dem  ein  jeder  Ab- 
stieg  geraden  Wegs  zum  Verfalle  fdhrt;  sie  sind  Hoch- 
wellen  einer  Stromung,  die  mit  steileren  oder  weicheren 
Kammen  einer  anderen  Feme  entgegen  zieht.  Niemals 
wieder  werden  wir  die  Monumentalitat  der  Agypter 
und  das  Formgefiihl  der  Griechen  erleben;  die  grol5en 
Gebiete  der  handwerklichen  Halbkunst,  einschlielMich 
der  Architektur,  sind  im  Sinne  echter  schopferischer 
Gestaltung  unrettbar  vernichtet  durch  'die  Mechanisie- 
rung  der  Produktion;  die  edelsten  Ausdrucksmittel : 
Sprache,  Schrift,  Ornament,  Melodie,  haben  ihre  Bild- 
samkeit  und  Keimkraft  eingebiiJ&t,  und  dennoch  ist  das 
freie,  selbstbezweckte  Verhaltnis  zur  Natur  im  Fiihlen 
und  SchaiFen  niemals  machtiger  gewesen  als  in  den 
Jahrhunderten ,  die  uns  umgeben.  Die  Natur  Michel- 
angelos,  Shakespeares,  Rembrandts  und  Goethes  ist  von 
tieferen  und  hei£)eren  Kraften  durchdrungen  als  die  ein- 
fachere  und  voUendetere  Natur  Homers  und  Polyklets.  | 
Wierke,  die  nicht  mehr  dem  Kult,  nicht  mehr  dem  Ge- I 
dachtnis,  der  Politik,  Sitte,  Reprasentation ,  Erbauung 
und  Unterhaltung  dienen,  die  ganz  auf  sich  selbst  ge- 

^^6 


stellt,  um  ihrer  selbst  willen  erschafFen  werden,  ver- 
lieren  manches  von  ihrem  Halt,  vom  Halt  der  Tradition, 
des  Handwerks,  des  Verstandnisses ;  aber  in  der  gewaltigen 
Abstraktion  ihres  Vertrauens  auf  ein  Absolutes  in  Natur 
und  Abglanz  gehorchen  sie  allein  der  Kiihnheit  der  Seele 
und  erheb.en  sich  iiber  irdische  Bediirftigkeit.  Die  wahre 
Kunst  unserer  Zeit,  die  einzige  vielleicht,  die  in  Jahr- 
tausenden  nicht  vergessen  sein  wird,  Musik,  verklart 
sich,  vorbildlos  und  selbsterzeugt,  auf  den  Gipfeln  ihres 
SchaiFens  zum  reinen  Werk  der  Seele.  Ihr  Dasein  allein 
geniigt,  um  uns  eines  Menschheitsweges  zu  versichern, 
auf  dem  ein  jeder  Schritt  uns  liberirdischem  Erleben 
entgegenfuhrt. 

So  wenig  der  Wehrstand  einer  Epoche  gemessen  Zeitliche  Zu- 
werden  kann  an  der  Zahl  und  Bedeutung  der  gleich- 
zeitig  wahrnehmbaren  strategischen  Talente,  oder  der 
technische  Stand  an  der  Menge  der  Erfinder,  so  wenig 
diirfen  wir  die  asthetische  Hohe  unserer  Jahrzehnte 
nach  der  Qualitat  momentaner  Potenzen  beurteilen. 
Wir  leben  nicht  in  einer  Kulturepoche ,  sofern  unter 
diesem  Namen  eine  Epoche  jener  grofien  Schichten- 
mischungen  zu  verstehen  ist,  welche  die  hochsten  Krafte 
einer  Nation  entfesseln  und  in  neue  Richtungen  lenken, 
wir  sind  umgeben  von  geschandeten  Stadtbildern,  rohen 
Bauwerken,  elendem  Hausrat  und  albernen  Monumenten; 
wir  erblicken  jahrlich  Hunderte  von  schiilerhaften  Mal- 
werken,  lesen  taglich  einen  Folianten  Tagesgewasch  und 
horen  die  Katzenmusik  der  Klaviere  und  das  Wimmern 
der  Grammophone ;  und  dennoch  ist  zu  keiner  Zeit  ein 
hoheres  Kraftmai^  musischen  Geistes  in  Bewegung  ge- 
wesen.  Es  lebt  in  uns  das  Fiihlen  der  Zeiten  und 
Volker,   das  Mitklingen  und  Erinnern  unseres  inneren 


237 


ItaS 


Sinnes  wird  fast  zur  Qual,  und  die  Naturliebe  der  Sta| 
geborenen  grenzt  an  Leidenschaft.  Mag  die  Ku 
unserer  Tage  gute  oder  schlechte  Wege  gehen,  mag  ihr 
Handwerk  verfeinert  oder  verdorben  sein,  mogen  grofi)e 
oder  kleine  Geister  sie  fiihren :  die  Ebene ,  auf  der  ihr 
Fiihlen  sich  bewegt,  ist  im  Laufe  der  Geschichte  von 
den  hochsten  Kulturen  kaum  Jahrzehnte  lang  behauptet 
worden.  Nicht  um  der  Eigenliebe  zu  opfern,  denn  unser 
Menschenalter  erbte  mehr  als  es  erwarb,  sondern  um 
das  Auge  auf  GroiLen  und  Entfernungen  ein- 
zustellen,  miissen  und  diirfen  wir  bekennen:  im  Sinne 
der  Menschheitsentwicklung  sind  wir  Beethovens  und 
Goethes,  ja  Shakespeares  und  Rembrandts  Zeitgenossen; 
und  in  Wahrheit  leben  sie  mit  uns,  denn  das  Leben 
ihres  Geistes  hat  eben  erst  in  uns  begonnen. 
Absoluter  Diese  Orientierung  mufite  vorausgeschickt  werden, 

denn  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  beherrschende 
Richtungsresultante  eines  Weltempfindens  aufzusuchen, 
so  geniigt  es  nicht,  der  Kunst  der  Griechen  und  Floren- 
tiner  nachzutrauern.  Wir  miissen  wissen,  wo  wir  stehen, 
wenn  wir  den  durchlaufenen  Weg  (iberblicken  wollen. 
Wir  wollen  wissen,  ob  die  Evolution  der  Seele  sich  im 
Gang  des  Naturempfindens  und  KunstschaiFens  wieder- 
findet;  wir  wollen  versuchen,  das  Wesen  dieser  Krafte 
zum  Wesen  der  Seele  in  ein  Verhaltnis  zu  setzen,  und 
diirfen  aus  diesem  Verhaltnis  vertiefte  Erkenntnis  von 
der  irdischstenForm  transzendenterErscheinung  erhofFen. 
Asthetisches  In  friiheren  Schriften  habe  ich  asthetisches  Empfinden 
^^"^  g®^^^  definiert  als  die  unbewu&te  Wahrnehmung  einer  natiir- 
lichen  und  latenten  Gesetzmal5igkeit.  Diese  Definition  be- 
schreibt  das  Wesen  der  ratselhaften  Empfindung,  aber  sie 
erklart  das  letzte  nicht:  das  Gliick,  das  sie  in  uns  auslost. 


438 


Aus  der  Erkenntnis  der  Seele  wird  dieses  Gliick  be- 

!  greiflich.    In    einer   Wahrnehmung,    die   nicht  bewul^t, 

und  dennoch  im  hochsten  M^ihe   sicher  und  untriiglich 

ist  —  denn  selbst  eine  primitive  Empfindung,  wie   die 

des  vollkommenen  Kreises,  steht  unantastbar  und  den- 

:  noch   befreit   von   jedem  messenden  Wissen   da  — :  in 

\  solcher  Wahrnehmung  gewinnt  der  Geist  die  Zuversicht 

eigener  freier  Krafte,  die  nicht  an  die  Not  des  Intellekts, 

1  des  Zwecks   und  des   Bedtirfnisses    gebunden  sind.    In  Psychische 

1  dieser  Zuversicht  liegt  die  friiheste  Ahnung  des  Seelen-  ^      ^ 

[  haften,   friiher  als  die  aus  Furcht  und  Leiden  erwach- 

i  sende  Religiositat,  und  friiher  als  die  aus   griibelndem 

\  Sinn  genahrte  Spekulation.    Das  Gliick   aus  Natur  und 

Kunst  ist  Ahnung  der  Seele  und  daher  irdisch-gottlich; 

I  aber  iiber  diese  Ahnung  hinaus,  die  in  staunendemSchreck 

schon   der  erste   von  Menschenhand   gezogene  geome- 

i  trische  RiH)  anklingen  lieU),  bringt  es  die  Kunst  auf  der 

hochsten  StafFel  ihres  Parnasses  nicht.    Vom  Tage  ihrer 

Geburt  an  war  sie  zweckfrei,  auch  wenn  sie  zu  Zwecken 

mil5braucht  wurde :  denn  das  Gliick,  das  sie  spendet,  hat 

mit  ihrer  Verwendung  nichts  zu  tun;  und  somit  war  sie 

\\  iiberintellektual.    Aber  bis  zum  Tage  ihres  Verendens 

bleibt  sie  an  die  Sinne  gebunden  und  somit  der  organi- 

schen  Welt  verfallen;  das  letzte  Reich  der  Seele  betritt 

sie  nicht. 

Im  Wesen  der  Freude  an  Kunst  und  Natur,  das  ist  Kunst  als  Ver- 
an  mittelbar  und  unmittelbar  erschauter  Schopfung,  ist  ^^^  Seele 
somit  eine  Verkiindung  der  Seele  von  Anfang  an  ge- 
geben;  und  so  mechanisch  der  Satz  von  der  latenten  Ge- 
setzmal^igkeit  anmutet:  er  bedeutet  die  sichtbare  Seite 
einer  Evolution,  deren  inneres  Geschehen  transzendent 
ist.    Denn  entsprechend  dem  iiberintellektualen  Wesen 

^39 


der  Seele  liegt  der  Akzent  des  Satzes  auf  der  Unbewulit- 
Kunst,  Wis-  heit  des  Erkennens.  Wird  eine  natiirliche  Gesetzmafi)ig- 
Rezept  ^^1^  bewuI5t  erkannt,  so  entsteht  Wissenschaft;  das  Ver- 

haltnis  zum  Angeschauten  wird  ein  intellektuales ;  wird 
eine  bewuf5t  gewordene  Gesetzmafiigkeit  kiinstlerisch 
verwertet,  so  entsteht  ein  Kunstrezept,  das  Verhaltnis 
zur  Produktion  wird  ein  mechanisches.    Deshalb  ist  die| 

Flucht  zum    Flucht  vom  Erkannten  zilm  Unerkannten  die  Geschichte 

Unerkannten  j       yr  ....  m*  i  i 

der  Kunst;   was  gestern  mit  intuitivem  Blick  erschaut, 

mit  ungewohnter  Hand  geformt  wurde,  ist  heute  Kunst- 

auffassung  und  wird  morgen  zum  erlernbaren  Rezept, 

zur  toten  Handfertigkeit.    Und  deshalb  ist  nach  Goethes 

Wort  „das  Gute  stets  das  Neue",  deshalb  ist  Kunst  so 

ewig  jung  wie  Natur  und  der  produktive  Mensch  ein 

stets  sich  verjiingender. 

Historischer  Vor  Jahren  habe  ich  auf  den  alten,  fliehenden  Wef 

^  der  bildenden  Kiinste  hingewiesen,    der  damit  begann, 

dal5  der  Mensch   aus   der  Mannigfaltigkeit  der  Natur- 

gebilde  die  einfachsten  Gesetze  der  geraden  Linie  und 

der  regularen  Kurve  losloste,  die  angenahert  iiberall,  in 

Vollkommenheit  nirgends  sich  darboten,  und  nunmehr 

kiinstlich  hervorgebracht  in  idealer  Abstraktion  die  erste 

reine  Kunstfreude  gewahrten.    Zahllos  sind  die  Gesetze, 

die   im  Verlaufe  geahnt,   erfal5t  und   erkannt  wurden: 

zuerst  das  Geheimnis  der  Umril51inie  und  des  organischen 

Korperbaus,  der  Reiz  der  Symmetrie,  der  Raumteilung, 

der  Raumausfiillung,  des  Gleichgewichts  und  Kontrastes, 

das  Gesetz  der  Bewegung,  des  Ausdrucks,  des  Rassen- 

ideals,  der  Gruppierung.    Es  folgten  Perspektive,  Ver- 

kiirzung,   Uberschneidung,   Schattierung,   dann  Gesetze 

des  Raumes  und  der  Landschaft:  Kompcsition,  Beleuch- 

tung,  Luftperspektive,  Stimmungsfaktoren,  Lichtwerte; 


24© 


und  zuletzt  jene  andeutenden,  bewegten,  hauchenden 
und  erregenden  Klange  des  empfundenen  Augenblicks, 
die  uns  reizen,  weil  wir  sie  noch  nicht  ergriindet 
ihaben. 

I        Die  Frage  nach  der  Zentralbewegung  der  Kunst  und 

iNatur  verbietet  uns,  bei  der  geschichtlichen  Einzelbe- 

trachtung  zu   verweilen.    Unser  Blick  bleibt  zerstreut, 

auch   wenn   wir   den   Parallelwegen   folgen  und  darzu- 

stellen  suchen,  wie  neben  der  bildenden  Kunst,  welche 

die  Gesetze  des  Erschauens   offenbart,    die  Kiinste  der 

;  Dichtung  und  Musik  die  Gesetze  des  Erlebens  und  der 

I  inneren  Bewegung  Schritt  fiir  Schritt  enthiillt  haben  und 

s  enthiillen.    Wir  miissen  den  Blick  auf  zusammenfassende 

Fernen  richten  und  zunachst  Grundsatzliches  sondern, 

um  kontrastierende  Rhythmen  zu  empfinden. 

So  bieten  denn  drei  grofie  Gruppen  von  Gesetzmal5ig-  Die  drei 
keiten  sich  dar:  zunachst  solche,  die  als  objektive  be- Qese^xniafiig- 
zeichnet  werden  konnen,  weil  sie^mit  einer  im  Sinne^^^^* 
dieser  Betrachtung  ausreichenden  Objektivitat  in  den 
Dingen  selbst  liegen,  wie  etwa  Symmetrie,  Umrill>,  Cha- 
raktere,  typische  Lebensvorgange,  Naturrhythmen.  So- 
dann  Gesetzmafi)igkeiten  des  Mittels :  Erscheinungen  der 
Oberflache  und  Masse  von  Stein,  Holz,  Erz  und  Ton, 
von  Figment,  Gewebe  und^Papier;  Bedeutung,  Klang  und 
Rhythmus  von  Worten  und  Redegefiigen;  Tonwirkung 
und  Klangfarben  von  Stimmen  und  Instrumenten.  End- 
lich  die  subjektiven  Gesetzmafiigkeiten  des  empfangen- 
den  und  produzierenden  Menschen:  charakteristische  und 
personliche  Vorlieben  und  Abneigungen,  unerforschte 
innere  Zusammenhange,  Willenswahlen  und  Erregbar- 
keiten,  Srimmungen,  Leidenschaften,  Sehnsiichte  und 
Ahnungen. 


141 


Typische,  In  jeder  Kunst-   und  Naturbetrachtung  vermiscl 

und  subjek-si^^  Elemente  dieser  drei  Gruppen,  jedoch  so,  da 
rive  Kunst     einer  der  Komplexe  vorherrscht;  wir  diirfen  uns  dahe 
der  Bezeichnungen  vorwiegend  objektiver  oder  typische 
Kunst,    technischer    Kunst   und    subjektiver  Kunst  bci 
dienen.  mm 

Typische  Der  altesten  Kunst,  gleichviel  ob  sie  aus  dem  Bediirf 
nis  des  Spiels,  der  Nachahmung,  des  Schmucks  oder  de: 
Zauberei  sich  herleitete,  war  es  um  die  erkennbare  Nach 
schaffung  des  Gegenstandes  zu  tun;  die  Freude  bestanc 
im  Wiedererkennen  des  Dinges  und  Vorgangs:  „so  sieh 
es  aus,  so  trug  es  sich  zu".  Das  Produkt  wurde  beurteili 
wie  der  Gegenstand:  hat  es  alle  wesentlichen  Teile?  Isi 
es  wohlgestaltet,  tuchtig  und  brauchbar?  1st  der  Vor 
gang  wahr  und  glaubhaft?  Kunst  war  die  eigentliche 
Uberlieferung,  und  insofern  war  sie  anonym,  wie  heutc 
die  Tatigkeit  eines  Druckers,  eines  Reporters  oder  einej 
Ministerialbeamten;  was  keineswegs  ausschlofi),  dafi  eir 
in  seinem  Fach  bewanderter  oder  gar  erfinderischei 
Handwerker-Kiinstler  gesucht,  bekannt  und  beriihmt  wer- 
den  konnte  wie  ein  tiichtiger  Arzt  oder  WafFenschmied. 
BeheifeundKon-  Da  aber  keine  Kunst  der  absoluten  Nachahmung  dej 
in  jedem  Sinne  unendlichen  Natiirlichen  fahig  ist,  so  ist 
sie  an  zahllose  Notbehelfe,  Auslassungen,  Umschreibun- 
gen  und  Fiktionen  gebunden.  An  diese  Behelfe  ge- 
wohnen  sich  Horer  und  Beschauer  im  Laufe  der  Zeit  so 
eindringlich,  dal5  sie  ihr  Vorhandensein  nicht  mehr  be- 
merken,  ihr  Fehlen  als  Unnatiirlichkeit  und  Willkiir  emp- 
finden.  Die  Behelfe  sind  zur  Konvention  geworden,  und 
der  Zauber  dieser  Konventionen  ist  so  stark,  dafi  sie  in 
die  Natur  hineingesehen  werden,  die  somit  die  Ziige  des 
konventionellen  Erinnerungsbildes  annimmt. 


242 


ventionen 


Nun  wird  vom  Volk  und  Machthaber  das  GGSchoip ( Konvenmn  ah 
des  Kiinstlers,  die  Konvention,  gegen  den  Kiinstler  selbst 
verteidigt;  er  wird  gezwungen,  im  Rahmen  der  aner- 
kannten  Regeln  sein  echtes  gesetzmafiig-kiinstlerisches 
Schaffen  auf  Neutralitaten  zu  beschranken.  Hochster 
Autoritat  wird  es  zeitweilig  gelingen,  einen  freien  Schritt 
iim  Sinne  echter  Entwicklung  durchzusetzen,  der  unwillig 
begriifit,  spat  anerkannt  und  zuletzt  kanonisiert  wird. 
Indessen  bleibt  das  Wesen  typischer  Kunst  anonym  und 
konservativ;  der  Einzelne  fiihrt  aus,  aber  die  Schule 
,'schafFt,  und  durch  die  Schule  schafFt  das  Volk,  langsam 
schreitend,  wie  die  Natur,  aber  wie  sie,  unfehlbar;  alles 
Zufallige  wird  durch  Massen  und  Zeitlaufte  ausgeschal- 
tet,  und  die  Konvention  selbst  wird  ein  Gesetzmalbiges, 
ein  Geistesabdruck  des  schafFenden  Volkes. 

Solcher  Zustand  ist  nur  unter  langatmiger  Herrschaft  Typische  Kunst 
kontrollierender  Faktoren  denkbar;  Dynasrien,  Adels- 
klassen  oder  Priesterschaften  miissen  die  Menge  gegen- 
satzlich  regieren,  der  Handwerker-Kiinstler  mul5  etwas 
mehr  als  ein  bevorzugter  Sklave,  aber  weniger  als  ein  Ge- 
nosse  des  geborenen  Herrn  sein.  Die  Kunst  selbst  aber 
gewinnt  unrer  dieser  Verwaltung  alle  Starken  eines  Natur- 
produkrs.  Handfertigkeit  und  Technik  steigen  auf  eine 
anbegreifliche  Hohe,  die  vertiefre  Kenntnis  des  darge- 
stellten  Organismus  und  die  erfahrene,  aufs  Wesenrliche 
vereinfachte  Darsrellung  sreigern  sich  wechselseitig;  die 
Iciinstlerische  Kraft,  komprimiert  und  beschrankt  auf  den 
2ngen  Spielraum  der  Niiance  und  leichten  Abwandlung, 
ieistet  in  der  Abwagung  der  Mittel,  der  Ausfiillung  des  Normnttve Kraft 
gegebenen  Rahmens,  im  Studium  der  Wirkung,  m  mal5-  j^^^.^ 
roller  Charakteristik  und  Sicherheit  der  Proportion  das 
demals  zu  Ubertreffende.  Nur  in  solchen  Kunstepochen 


der  Tradition  und  des  natiirlichen  Wachstums  erbiiiheii 
giiltige  Formen  des  Ornaments,  des  Baugliedes,  des  orga- 
nischen  Kunstwerks,  sie  entstehen  als  natiirliche  Schop- 
fung,  Verkorperung  eines  kollektiven  Empfindens,  wi^ 
Sprachen,  Tonsysteme,  Nahrungsbereitungen  und  Trach- 
ten.  Darum  muSten  bis  in  die  jiingste  Zeit  alle  Versuchc 
klaglich  scheitern,  die  darauf  hinausliefen,  mit  Tinte  unc 
Papier  Bauordnungen,  Ornamentstile,  Weltsprachen  unc 
Kunstformen  zu  erfinden  oder  zu  konstruieren. 
Kritsk  der  typi-  In  der  Weltokonomie  der  Kunst  fallt  somit  den  typi 
schen  Kiinsten  die  Aufgabe  zu,  Vorlagen  zu  schafFen 
das  Mali)  des  manuell  Erreichbaren  festzulegen  und  ge 
wissermaf5en  ein  Arsenal  idealer  Schopfungsbilder  zi 
vollenden,  das  einem  irdischen  Abbild  der  gottlichei 
Vorratskammer  des  Plato  nicht  unahnlich  ist.  Es  ist,  al 
seien  diese  Werke  vorausschauend  geschaffen  worden 
um  in  Museen  geordnet  einer  spaten,  leidenschaftlicherei 
und  unruhvolleren  Zeit  reine  und  befreiende  Andach 
zu  erwecken.  Deshalb  ist  jede  Riickkehr  zur  klassischei 
Kunst  einer  indirekten  Riickkehr  zur  Natur  gleichzu 
setzen;  eben  deshalb  ist  aber  auch  jeder  Versuch  ver 
geblich,  mechanisch  und  didaktisch  eineFortsetzung  diese: 
Kunst  zu  erzwingen.  Erfrischung  und  Heilung  vermaj 
sie  zu  spenden,  jedoch  nicht  Leben. 
Technische  Die  Ordnung  der  Gesetzmal5igkeiten,  die  aus  den 
Kunstmittel  abgezogen  sind,  hat,  abgesehen  von  kunst 
gewerblicher  Technik,  ein  autonomes  Leben  nicht  ge 
fiihrt.  So  bedeutungsvoll  die  Durchforschung  und  Aus 
schopfung  des  Mittels,  seiner  Geheimnisse  und  Gesetz* 
sich  dem  Kiinstler  erweist:  Wort  und  Materie,  Klani 
und  Farbe  an  sich  sind  tot;  ihre  Schonheit  gewinnt  Lebei 
nur  im  Dienste   eines  Hoheren.    Werden  die  Gesetz< 


244 


I 


des  Mittels  verkannt  oder  verachtet,  so  entsteht  Dilet- 
tantismus,  werden  sie  liberschatzt,  so  entsteht  Virtuosen- 
und  Asthetentum.  Es  ist  schlechte  Kunst,  die  Marmor 
wieTon  behandelt,  die  mit  Olfarbe  tuscht  und  im  Kanzlei- 
stil  dichtet,  und  es  ist  schlechte  Kunst,  die  nur  um  Wbrt- 
klang,  Farbschmelz,  Pinselstrich  und  Klangfarbe  wirbt. 
Wie  das  Mittel  zum  Werk,  so  verhalt  sich  die  Kunst 
des  Mittels  zur  Kunst  schlechthin:  unentbehrlich  im 
Dienst,  in  der  Anmafiung  unertraglich. 

Wir  betrachten  technische  Kunst  hier  nicht  langer, 
da  sie  sich  als  Begleiterin,  nicht  als  Erzeugerin  der 
Epochen  erweist,  und  wenden  uns  zur  dritten  Reihe  der 
Gesetzmai^igkeiten,  zur  subjektiven  Ordnung. 

Stellt  typische  Kunst  sich  die  Aufgabe,  Gotter  und  Subjektive 
Menschen,  Tiere  und  Pflanzen  so  darzustellen,  dafi  sie 
den  Augen  der  Machthaber  und  Volksgenossen  erkenn- 
bar  und  vertraut  erscheinen,  so  vermag  sie  dennoch  das 
Individuelle  des  Modells  und  das  Persdnliche  des  Ge- 
.staltenden  nicht  ganzlich  zu  verwischen.  Wohl  oder  iibel  Indhiduansie- 
macht  das  Bildnis  Anspruch  auf  individuelle  Ziige,  das  ^^^  *" 
lyrische  Gedicht  kniipft  sich  an  ein  personliches  Erleb- 
nis,  gleichviel,  ob  der  Wille  ihm  das  Einmalige  abzu- 
streifen  sucht,  die  Landschaft  ist  in  ihren  Ziigen  so  viel- 
hc\x  unendlich,  daf5  allem  Herkommen  und  Schulgesetz 
i£um  Trotz  in  der  willkiirlichen  Auswahl  subjektive  Nei- 
^ung  sich  oiFenbart.  Aber  diese  Menschlichkeiten  gelten 
lis  Schwache  vor  dem  Antlitz  einer  erbarmungslosen 
fCunst,  die  eine  zufallose  gottliche  Welt,  geformt  von 
^ottlichen  Handen,  in  Anspruch  nimmt. 

Ist  diesem  koniglichen  Anspruch  gegeniiber  eine 
lohereTranszendenz  denkbar?  Noch  heute  glauben  viele, 
ind  wer  den  Zauber  Griechenlands  erlebt,  glaubt  es  von 


245 


neuem:    die    Idealitat   irdischer   Vollendung   sei   durch 
menschliche  Vorstellungskraft  nicht  zu  iibertreffen.  Denn 
was  konnte  idealer  sein  als  das  Ideal,  auch  wenn  es  ein 
irdisches,  ein  Ideal  des  Ziichters  ist? 
Individuaiisie-  Nicht  Christentum  und  nicht  Germanentum,  sondern 

7e7chfankunglnd^^^  Reifung  des  Menschengcschlechts^  die  den  germa- 
Hingebung  nischen  Menschen  emporhob  und  ihm  in  der  Vermah- 
lung  mit  orientalischem  und  mittellandischem  Geist  seine 
transzendente  und  kulturelle  Vollendung  schenkte,  diese 
Reifung  hat  unser  Empfinden  so  sehr  gewandelt,  dal5 
wir  uns  getrauen,  in  der  idealistischen  Kunst  ein  ter- 
restrisches  Gebilde  zu  sehen,  das  iiberragt  wird  von  trans- 
zendenter  Demut.  Die  Idealistik  konnte  nicht  weiter 
gelangen  als  bis  zur  Verherrlichung  des  gattungsmafiig 
Gemeinsamen;  die  subjektive  Kunst  durchbricht  die 
Grenze,  indem  sie  sich  bescheidet;  sie  erbarmt  sich  des 
Einzelnen,  sie  schamt  sich  nicht  der  personlichen  Be- 
schrankung  und  offnet  still  die  Pforte  des  Seelenreiches. 
Die  klassische  Kunst  hat  dem  Werke  Rembrandts,  Bachs 
und  Goethes  nichts  zur  Seite  zu  setzen.  Sie  kennt  die 
Grofie,  die  Erhabenheit,  die  Anmut,  die  Lieblichkeit  und 
selbst  die  Riihrung,  aber  sie  kennt  nicht  die  Seligkeit 
der  Liebe. 
iViirde  des  Ob-  Damit  aus  der  Beschrankung  die  hdchste  Macht  der 
^'  '  Kunst  erwachsen  konnte,   mufite   die  tiefste  Ehrfurcht 

vor  der  Wiirde  jeglicher  Kreatur  erschlossen  werden. 
War  im  Osten  der  Mensch  ein  Sandkorn  zu  Fuf5en  des 
irdischen  oder  himmlischen  Despoten,  im  Westen  ein 
leidlich  freies  Glied  eines  tatigen  Organismus,  so  mul5te 
endlich  die  Gottlichkeit  seines  innersten  Kernes  ihm  jen- 
seits  irdischer  Schranken  Selbstzweck  und  eigenes  Recht 
verleihen.    Mit  dem  Menschen  geadelt,  wurde  die  Schop- 

246 


fung  in  das  eine  Netz  der  Liebe  einbezogen,  die  Gat- 
tung  sank  zum  Begriffherab,  und  Franziskanische  Briider- 
lichkeit  trat  an  die  Stelle  des  Platonischen  Ideals. 

Die  seelenlose  Seite  des  Respekts  vor  dem  Einzel-  Versenkung 
wesen  lebt  in  der  abendlandischen  Forschung;  die  seelen- 
hafte  Seite  ward  der  Kunst  zuteil.  Versenkt  sich  diese 
subjektive  Kunst  in  das  einzelne  Geschopf,  das  besondere 
Erlebnis,  die  zeitliche  Stimmung,  das  einmalige  Ereignis, 
so  vermag  sie  in  ihrer  Liebe  so  tief  zu  dringen,  dafi  un- 
bekannte,  ewige  Gesetze  mit  ihr  emporsteigen.  Von 
jedem  Fufibreit  Erde  fiihrt  ein  gerader  Weg  zum  Mittel- 
punkt;  wohl  dem,  der,  unbekiimmert  um  den  Zufall  des 
Standorts,  kiihn  sich  hinabstampft. 

Freilich  ist  nunmehr  einem  jeden  sein  Los  geworfen  Wehmut  und De- 
und  sein  Teil  zugemessen;  keinem  ist  das  Ganze  be-'"" 
schieden,  keinem  das  Absolute.  In  diesem  tiefen  Ver- 
zichtauf  das  Vollendete  und  Endgiiltige  liegt  jener  Kern 
von  Wehmut,  der  an  allem  jiingeren  Schaffen  haftet, 
den  man  friih  empfand  und  als  Sentimentalitat  und 
Romantik  unzulanglich  deutete;  es  liegt  in  ihm  die 
Demut  der  personlichen  und  dinglichen  Begrenztheit, 
die  in  ihrer  Hingabe  unendlich  stark  ist. 

Dies  ist  das  Geheimnis  aller  Personlichkeit:  St2ivkQ  Personiichkeit 
aus  Schwache.  Als  Beschrankung  empfunden  und  um 
so  vollkommener  ausgefiillt  und  dargebracht,  ist  Per- 
sonlichkeit die  edelste  Opfergabe  des  menschlichen 
Geistes;  iiberheblich  zugeschnitten,  zum  Eigenzweck 
aufgebauscht,  als  willkiirliche  Laune  komodiantischer 
Selbstschopfung,  wird  sie  zur  eitlen  Gottvergessenheit 
und  Geifiel  der  Zeit. 

Freilich  werden  universelle  Naturen,  deren  W QSQn  Universelle  No- 
sich  einer  absoluten  Menschlichkeit  nahert,  vom  Anblick 


247 


allzusubjektiver  Beschrankung,  zumal  der  selbstgefallig 
gesteigerten,  hart  betrofFen    werden.      Deshalb    mufite 
Goethes  Urteil  die  Erscheinung  der  Romantik  als  Krank- 
heit  und  Besessenheit  der  Epoche  ablehnen;  mit  gleicher 
Harte,    wie    seine    eigene   Erscheinung   von  Friedrichs 
klassischer  Bildung  als  Bizarrerie  abgelehnt  worden  war. 
An  dem  grofien  Beispiel    dieser   menschlichen  Univer- 
salitat  finden  wir  eine  notwendige  Folgerung  bestatigt: 
dafi  aus  der  Feme  betrachtet  solches  Schaffen  die  Ziige 
der  Subjektivitat  verliert,  weil  es  mit  dem  allgerechten 
SchafFen  der  Natur  vollkommen  iibereinzustimmen  scheint. 
Zu  Unrecht  hat  man  deshalb  Goethes  hochst  subjektiven 
Genius  den  antiken  Schopfern  beigesellt;  die  diametral 
verschiedene  Art  des  Erlebens  und  SchaiFens  durchdringt 
alle  Fasern  seiner  Produktion,  und  diese  Verschiedenheit 
kann  man  nicht  anders  als  durch  den  Richtungsgegensatz 
von  aufien  nach  innen  und  von  innen  nach  auI5en  be- 
zeichnen.     Die    Welt  Homers   verhalt   sich   zur   Welt 
Shakespeares   und  Dostojewskys   wie   die   voUkommene 
Beobachtung  zur  vollkommenen  Einfiihlung. 
S-hJekuveGc-         Versuchen  wir  nun,  von  den  Gesetzmafiigkeiten  uns 
Kechenschaft  zu  geben,  deren  Erschliefiung  das  Prinzip 
der  subjektiven  Kunst  bedeutet,  so  begegnet  uns  eine 
Schwierigkeit:    es   sind   brauchbare   Bezeichnungen   fiir 
diese  Zusammenhange  nicht  durchweg  gefunden;  eben 
deswegen,   weil  sie   fiir  den  Stand   unserer  Erkenntnis 
noch  immer   latent,   somit   fiir  das  Wirken  der  Kunst 
noch   immer   verwendbar   sind.     Denn   da  es  sich  hier 
nicht   mehr  um   die    Gesetze   der  Aufienwelt  handelt, 
sondern   um  die  Gesetze   der  Spiegelung,  und  da   der 
Spiegel  selbst,    das  menschliche  Herz,   das  unerschdpf- 
liche  Spiel  des  zustromenden  Lichtes  in  neue  Unerschopf-K 

248 


lichkeiten  spaltet,  wird  nicht  wie  im  Gebiet  des  Objek- 
tiven  die  nacheilende  Wissenschaft  alsbald  das  Erschaute 
registrieren  und  das  Geahnte  nachrechnen. 

Schon  bei  den  Elementen  versagt  sie.  Es  wurde  er-  Charahere 
wahnt,  dal5  der  subjektive  Dichter  nicht  durch  aufiere 
Beobachtung  und  Erfahrung,  sondern  von  innen  heraus, 
durch  intuitive  Einfiihlung  seine  Gestalten  schafFt.  Wir 
wissen  vielleicht,  warum  gewisse  weifihaarige  Tiervarie- 
taten  nur  mit  roten  Augen  moglich  sind;  weshalb  aber 
bestimmte  menschliche  Eigenheiten  des  Charakters,  der 
Leidenschaft,  der  Lebensansicht,  der  leiblichen  und 
geistigen  Appetite  sich  nur  in  bestimmter  Auswahl 
paaren  und  erganzen;  weshalb  ein  Mensch  von  ge- 
gebenen  Grundziigen  in  gegebener  Lage  nur  so  und 
nicht  anders  reden,  denken,  empfinden  und  handeln 
kann,  das  laJ&t  sich  nicht  ergriibeln  und  konstruieren. 
Charaktere  werden  aufgebaut  und  kontrollierend  nach- 
empfunden  durch  die  ratselhafte  Fahigkeit  einer  inneren 
Angleichung;  Chamaleonstrieb  und  Mimikry  miissen  in 
dem  Menschen  wirken,  der  Antonius  und  Kleopatra 
nicht  erzeugt,  sondern  Antonius  und  Kleopatra  in  sich 
fiihlt,  und  die  Geheimnisse  seines  wandelbaren  und  ver- 
wandelten  Herzens  preisgibt.  Diese  Erscheinung  ist 
Projektion  eigener  geheimnisvoller  Gesetze,  die  durch 
Einsetzung  einer  neuen  Konstanten  zu  scheinbar  objektiv 
fremden  Gesetzen  geworden  sind. 

Die  gleiche  Umdeutung  eigener  innerer  Gesetz- S«wot«»j 
mafiigkeiten  geschieht,  wenn  au^  der  unbelebten  Natur 
die  Empfindung  einer  Stimmung  emporgehoben  und 
objektiviert  wird.  Nicht  einfache  Kausalitatsempfin- 
dungen  wie  die  antike  Furcht  vor  der  Unheimlichkeit 
des  unfruchtbaren  Meeres  und  Freude  an  wohlbewasser- 


249 


tern  Gefilde,  sondern  eine  Neubildung  des  Spiels  der 
Elemente  in  unserem  Herzen,  eine  seltsame  Spiegelung, 
in  welcher  Kindheitserinnerungen,  Traumerei,  HoiFnung 
und  Unruhe,  Trauer  und  Vergessen  zu  ahnungsvoller 
Einheit  sich  verweben:  dies  ist  das  subjektive  Gesetz 
des  Erlebens,  das  Regen  und  Schneefall,  Herbst  und 
Brandung,  Wiese  und  Waldbach,  Grofistadt  und  Hafen 
durchgeistet. 
Unausgespro-  Die  Stimmung  vertieft  sich  zu  dunkleren  Gesetzen. 
Das  Tageserlebnis  ist  sinnlich  klar,  es  entzieht  sich  nicht 
der  Auflosung  in  leuchtende  und  zart  verwobene  Ziige, 
es  widersteht  nicht  dem  Wort  und  der  Farbe.  Aber  jenes 
tiefe  Dammern,  das  Wogen  ungesprochener  Gedanken, 
langstverlorenen  Erinnerns,  das  grauenvolle  Dunkeln 
unirdischer  Verlassenheit,  das  feme  Licht  und  das  halb- 
erblickte  Wort,  gestaltlose  Traume  und  rauschende 
Fliige,  fliehende  Angst  und  aufquellende  Erlosung,  die 
Sehnsucht  nach  dem  nie  verlorenen  und  die  GewilLheit 
des  nie  zu  ergreifenden,  diese  nachtdunklen  Machte 
mischen  sich  in  unset  Leben  und  verlangen  mit  dem 
Rechte  der  uns  eingeborenen  Gesetze  ihren  Ausdruck 
in  der  Kunst.  Freilich  hat  bisher  nur  germanische  und 
slawische  Kunst,  zumal  in  Dichtung  und  Muslk,  diesen 
Untertonen,  die  das  Erwachen  der  Seele  begleiten,  ihr 
Ohr  geliehen;  die  Kunst  der  Romanen,  rationalistisch 
klar  und  klassisch  hell,  wie  sie  gern  sich  beriihmt,  ist 
(ibex  den  antiken  Typismus  hinaus  nur  bis  zum  Wesen 
der  Stimmung  vorgedrungen,  die  ihr  noch  neu,  ja  un- 
benannt  ist.  Versucht  inan,  ihr  das  schmerzensvollere 
Ringen  der  Seele  naherzubringen,  so  antwortet  sie, 
halb  unschuldig,  halb  iiberlegen  lachelnd,  mit  den  Aus- 
rufen:  nebelhaft  (brumeux),  clair-obscur  und  sentimental. 


250 


Ein  seltsames,  doch  alien  Kiinsten  gemeins3,m.es  Mtk/ange  und 
Gebiet  innerlich  erlebter  Gesetzmafiigkeiten  ist  das  des 
halbbewufiten  Mitklingens  und  der  Assoziationen.  Das 
alte  Epos  kannte  mechanische  und  ziemlich  naive  Schall- 
nachahmungen,  die  heute  schulmeisterlich  klingen  und 
zu  ihrer  Zeit  doch  wohl  geheimnisvoU  waren.  Unser 
Auge,  das  zu  vielerlei  gesehen  hat,  unser  Ohr,  das  von 
Erinnerungen  und  Anklangen  umschwebt  ist,  vernimmt 
nicht  blofi  den  klaren  Diskant  des  Ausgesprochenen, 
sondern  die  Vielstimmigkeit  des  Angedeuteten,  leise 
Angeschlagenen,  rhythmisch  Unterflossenen.  Vokale, 
Tone,  Worte,  Farben,  Satze,  Tonfall,  Linien  sagen,  was 
der  Sinn  nicht  zu  auf5ern  wagt,  ihre  Polyphonie  fiihrt 
uns  in  Fernen,  Tie  fen,  Widerspriiche  und  Gleichnisse, 
wahrend  die  redende  Stimme  harmlos  vom  Tage  zu 
sprechen  scheint.  Goethe  lafit  das  Wort  vom  feucht-  Lyriscbes  Bet- 
verklarten  Blau  erklingen,  und  alsbald  leuchtet  der 
Himmel.  Aber  zugleich  befiehlt  er  ihm  mit  diesem 
Wort,  sich  im  Wasser  zu  spiegeln,  und  noch  mehr,  das 
kiihle  Element  tragt,  nach  seinem  Willen,  einen  zweiten 
Himmel  in  sich,  der  Sehnsucht  weckt.  Zugleich  empfinden 
wiv  die  feme  Erinnerung  an  ein  blaues  Auge,  das  nach 
Tranen  sich  verklart;  wundervoll  spiegelt  sich  in  diesem 
Bilde  abermals  der  Himmel,  nach  Triibnis  erstrahlend, 
v^ermenschlicht,  die  Sehnsucht  mehrend. 

Es  ist  hier  der  Ort,  um  liber  das  Wesen  der  Lyrik  Anmerkung  uber 
iin  anmerkendes  Wort  einzuschalten ,  das  uberfliissig 
;ein  sollte.  Lyrik  besteht  nicht  in  rhythmischen  und 
^ereimten  Aufsatzen,  Anekdoten,  Meinungsau{5erungen, 
^hilosophemen,  Betrachtungen,  Exklamationen ,  Trink- 
priichen,  Landschaftsbildern  und  Apergus.  Diese  an 
ich  respektablen  und  bei  einiger  Begabung  der  Diktion 


%Sl 


erlernbaren  Dichtungsgattungen  gehoren  unter  die 
Rubrik  vermischte  Verse  und  Reime.  Damit  wahre 
Lyrik  entstehe,  mull)  ein  siebenfaches  Wunder  geschehen; 
ein  tiefes  inneres  Erlebnis  mul^  einheitlich  losgeldst, 
vom  Vergangenen  und  Kiinftigen  befreit,  eigenes  Leben 
und  Objektivierbarkeit  gewonnen  haben.  Die  Sprache 
mufi  die  Worte,  und  die  Worte  miissen  die  Vieldeutig- 
keit  besitzen,  die  das  Unaussprechliche  ausdriickt  und 
erschopft.  Ein  Gott  mufi  wollen,  dafi  der  Klang  und 
Tonfall  dieser  Worte  das  Empfundene  tragt,  ja  das  Un- 
glaubliche,  da£>  diese  einzigen  Worte  sich  ziim  Gleich- 
klang  paaren  und  zum  Rhythmus  schlingen.  Dali5  dieses 
fast  unglaubliche  Wunder  sich  im  Laufe  eines  Jahrhunderts 
mehrmals  erfiillt  hat,  dessen  sind  mehrere  von  Goethes 
Dichtungen  und  einige  von  Holderlin,  EichendoriF  und 
Morike  Zeugen.  In  diesem  Sinne  hat  es  freilich,  selbst 
in  altfrankischen  Zeiten,  niemals  ein  franzosisches  lyri- 
sches  Lied  gegeben. 
Einftihiende  und  Aus  dem  unerschopflichen  Bereich  innerer  Gesetz- 
Naturmpfin-  mafi)igkeiten  seien  zuletzt  die  gleichsam  leidenschaftlichen 
dung  Naturbetrachtungen  erwahnt,  die  uns   in   der  jiingsten 

Kunst  begegnen  und  die  nach  einer  anderen  Richtung  hin 
iiber  die  Grenzen  des  Stimmungsmal5igen  hinausstreben. 
Die  altere  Naturbetrachtung  belebte  die  Schopfung, 
unbekiimmert  um  den  Sinneseindruck,  ehrfurchtig  reli- 
gios ;  Dryade  und  FluI5gott  waren  nicht  wesensverwandte 
Abbilder  der  Eiche  und  des  Stromes,  sondern  vom  all- 
gemeinen  Beziehungsgefuhl  geforderte  uneigentliche  Be- 
lebungen.  Ein  weit  jiingeres  Empfinden  schuf  die  Pea 
sonifikation  der  Einfiihlung:  das  Wiiten  des  Sturmes,  ( 
Lacheln  des  Sees,  das  Erschauern  des  Waldes.  D2 
Dichtung  machte  von  dieser  Vertauschung  des  innerel 


252 


mit  dem  auI5eren  Gesetze  den  gliicklichsten  Gebrauch; 
ein  Vers:  „wenn  Finsternis  aus  dem  Gestrauche  mit 
hundert  schwarzen  Augen  sah'*  belebt  die  Vorsrellung 
des  nachtlichen  Ritts  mit  einem  unvergefi)lichen  Bilde. 
Die  einfiihlende  Kraft  unserer  naturbediirftigen  Zeit 
hat  die  Neigung,  ganz  in  das  Wesen  des  betrachteten 
Gegenstandes,  mit  alien  ausdeutenden,  mitempfinden- 
den,  erlebenden  Krafren  einzudringen  und  iiberzu- 
gehen,  aufs  hochste  gesteigert.  Der  Stamm  des  Baumes 
windet  sich  der  Sonne  entgegen,  seine  zerzauste  Krone 
ringt  in  aufsteigender,  Licht  und  Wind  erdiirsten- 
der  Brunst,  das  Kornfeld  schaumt  in  stiirzender  Woge 
der  Fnichtbarkeit,  das  baumende  Pferd  erzittert  in  ge- 
spannter  Federkraft  und  iiberzaumter  Biegung.  An  diese 
passionelle  Empfindungsreihe  hat  die  bildende  Kunst  ein 
groiSes  Kapital  von  Technik  und  objektivem  Darstellungs- 
vermogen  verloren,  das  vielleicht  nicht  mehr  einzu- 
bringen  ist;  aber  die  Malerei  hat  leidenschaftliche 
Vortragsweisen  gewonnen,  deren  Verfiihrung  alle  sach- 
lich  besonnene  Gestaltung  kalt  erscheinen  lal5t.  Wie 
denn  liberhaupt  die  Uberspannung  des  Objektes  durch 
hineinempfundene  Krafte  zu  so  intensiver  Darstellung 
gefuhrt  hat,  dafi  einerseits  die  Leistungen  in  gewissem 
Sinne  hintergrundlos  erscheinen,  anderseits  eine  abge- 
stumpfte  Rezeptionsfahigkeit  alle  neutraleren  und  objek- 
tiveren  Partien  der  Ausfiihrung  ablehnt.  Niemals  aber 
kann  die  Zeit  wiederkehren,  in  der  eine,  wenn  auch  noch 
so  vollendete  Nachahmung  der  objektiven  Natur  an  sich 
als  Kunst  gelten  wird;  die  Aufgabe  der  Tauschung,  auch 
wenn  sie  mit  edlen  Mitteln  erzwungen  wird,  verbleibt 
nicht  einmal  dem  erlernbaren  Kunstgewerbe ;  die  Traube 
des  Zeuxis  verfallt  dem  Panoptikum. 


^53 


Subjehiivismuj        Einer  Riickwirkung  der  Subjektivitat  auf  das  sctieiff 
bar  neurrale  Gebiet  der  Gesetzmafiigkeit  des  Mittels  ist 
zu  erwahnen,   bevor  wir  das  uniibersehbare  Reich  d^H| 
inneren  Gesetzmal5igkeiten  verlassen. 

Einer  Kunst,  die  in  jeder  Beziehung,  und  mit  Recht, 
die  mechanische  Nachahmung  verschmaht,  weil  diese 
bereits  ihre  samtlicheri  Geheimnisse  enthiillt  zu  haben 
scheint  und  somit  Rezept  geworden  ist,  einer  Kunst, 
welche  durchaus  auf  Einfiihlung  und  Ausdruck  hinaus- 
lauft,  mufi  jedes  Haften  am  geometrischen,  physischen 
und  rationalen  Objekt  als  deskriptive,  chronistische, 
photographische  Kopie  erscheinen.  Diese  Abneigung 
iibertragt  sie  vom  Dargestellten  auf  die  Vortragsweise, 
auf  die  technische  Behandlung  des  Mittels;  auch  diese 
gilt  ihr,  und  abermals  mit  Recht,  als  befangen,  kleinlich, 
kunstgewerblich  erqualt,  wenn  sie  nicht  vom  gleichen 
Feuer  der  Subjektivitat,  des  personlichen  Einfalls,  des 
leidenschaftlichen  Erfassens  durchgliiht  ist  wie  die  Kon- 
zeption.  Es  gibt  Epochen  und  Meister,  denen  die  breite 
und  freie  Handschrift  des  Stiftes,  Pinsels,  Meiil)els  und 
Satzes,  die  weiteste  Entfernung  vom  technisch  Uber- 
lieferbaren,  vom  Kunstgewerblichen  und  Gefeilten,  so 
entschieden  als  oberste  Forderung  der  Kunst  erscheint, 
daI5  sie  dieser  Maestria  des  Vortrages  Gegenstand  und 
Anschauung  zu  opfern  bereit  sind.  Diese  Neigung  steht 
im  BegrifF,  den  Ahnlichkeitsanspruch  des  Bildnisses  aus 
der  Reihe  der  Kunstaufgaben  zu  streichen  und  ihn  an 
die  Instanz  der  mechanischen  Abbildungsverfahren  zu 
verweisen,  indem  sie  an  die  Stelle  einer  ihr  kunstgewerb- 
lich scheinenden  Leistung  die  freie  Variation  liber  einen 
Menscheneindruck  setzt.  Da  indessen  die  mechanischen 
Verfahren  zurzeit  noch  mi£)farbene,  als  Gegenstande  un- 


254 


liebsame  Ahnlichkeitsdokumente  liefern,  wiirde  diese 
extreme  Kunstauffassung  eine  bedenkliche  Liicke  und 
mithin  den  ernstlichen  Zweifel  an  ihrem  Rechte  er- 
ofFnen. 

Uberblicken  wir  nun  den  Weg,  den  Kunst-  und  Natur-  Der  Seelen- 
betrachtung  von  Anbeginn  durchlaufen  hat,  von  der  ersten 
Erfassung  der  aufieren  Gesetzmal5igkeiten  bis  zur  Ver- 
tiefung  in  die  Geheimnisse  des  Herzens,  so  scheint  die 
ungeheure  Strecke  dem  Weg  der  Seele  vergleichbar. 

Ohne  den  Keim  eines  Seelenhaften  ist  die  erste  Kunst- 
regung  nicht  zu  denken;  aber  sie  war  tief  gebettet  zwi- 
schen  Sinnenreiz  und  Spiel,  zweck-  und  furchthafte 
Bestrebung  des  Schmucks,  des  Damonismus  und  der 
Zauberei,  des  Aufbewahrungs-  und  Erinnerungstriebes, 
der  lehrliaften  und  handwerklichen  Praxis.  Wir  sehen, 
wie  sie  vom  Handwerk  und  der  Beobachtung,  von  der 
Erfassung  des  Giiltigen  und  Typischen  im  objektiven  Sein 
und  Geschehen,  also  von  vorwiegend  intellektualen  Fak- 
toren  ausgehend,  zur  Belebung  der  Natur,  zur  Einfiih- 
lung  in  das  urspriinglich  feindlichFremde,  zurVersenkung 
in  das  eigene  Empfinden  und  somit  durch  Verwischung 
der  Grenzen  zur  lebendigen  Einheit  der  Schopfung  und 
zu  ihrem  intuitiven  Erleben  gelangt.  Sie  mufi  das  schein- 
bar  absolute  und  ideale  Gebiet  des  Typischen  verlassen, 
weil  es  keine  letzte  Vertiefung  gestattet,  und  die 
bescheidenen,  unendlich  verzweigten,  anscheinend  rich- 
tungslosen  und  zufalligen  Wege  des  Individuellen  be- 
schreiten,  um  tiefer  dem  Herzen  der  Schopfung  ent- 
gegenzudringen  und  das  liebeumfafi)te  Einzelne  zur  all- 
spiegelnden  Giiltigkeit  zu  erhohen.  Sie  mufi)  ihre  letzten, 
liebsten  und  verborgensten  Zwecke  daran  geben  und 
unbekiimmert  um  Anmut  oderHerbheit  losgeloste  Werke 


^SS 


schaffen,  unzuganglich  allem  vermittelnden  Bestreben, 
auf  eigenerNotwendigkeit  und  eigenem  Recht  beruhend. 
Geberin  und  Empfangerin  so  vergeisteter,  dem  In- 
tellektualen  entzogener  Gestaltung  bleibt  nur  die  Seele. 
Sie  kiimmert  sich  nicht  mehr  um  den  Reiz  der  Sinne 
noch  um  das  Spiel  der  Tauschiing.  Alles  ErschafFene 
gilt  ihr  gleich,  denn  in  allem  waltet  Gesetz  und  Liebe. 
Das  Kleine  ist  ihr  grofi,  das  Grofie  klein,  und  heilig  alles, 
was  sein  innerstes  Wesen,  erschaut  oder  erschauend, 
ojfFenbart. 
Ethnische  Stufen  Verschieden  weit  auf  dem  Seelenwege  der  Kunst  sind 
die  Volker  der  Erde  vorgedrungen.  Die  ostlichen  Kul- 
turen  verharren  im  Typischen.  Weit  hinaus  liber  den 
Besitzstand  des  friihzeitlichen  Ostens  ist  Ostasien,  vor 
China  2^\QV[i  China  gelangt.  Das  Land,  in  dem  die  Lehre 
Buddhas  eine  Zeitlang  unverdorben  wurzeln  und  die 
seelenhafte  Gewalt  des  Laotse  auf keimen  konnte,  ist  in 
den  Jahrhunderten  seiner  Kunstbliite  einer  individuali- 
stischen  Malerei  sehr  nahe  gewesen,  und  dennoch  ist  der 
letzte  Schritt  nicht  geschehen.  Wie  alle  klassische  Kunst, 
die  dutch  libernaturliche  Meisterschaft  der  Technik, 
durch  voUendete  Beherrschung  der  Gesetze  des  Mit- 
tels  gleichsam  zum  Naturprodukt  geworden  ist,  entzieht 
sich  dieses  Meisterwirken  der  Kritik  unserer  groberen 
Sinne.  Dennoch  empfinden  wir  eine  blendende  Kiihle, 
wie  vom  Glanz  eines  Schneefeldes,  und  ein  inneres  Ge- 
fiihl  sagt  uns,  dai5  hier  die  letzte  Liebe  nicht  dem  Ge- 
schopf,  sondern  der  Gattung  zugewandt  ist.  Es  ist  die 
hochste  Individualisierung  des  Gesamttyps  in  seiner  Ab- 
grenzung  gegen  Andersgeartetes,  nicht  die  Versenkung 
in  das  Einzige  und  seine  Erhebung  zum  Absoluten,  es 
ist  das  profundeste  Studium  des  auC)eren  Gesetzes,  nicht 


256 


I 


die  Einfuhlung  einer  Menschenseele  in  ein  Bruderge- 
schopf  erstrebt  und  gewonnen.  Wenn  eine  hochberiihmte 
Schule  dem  Studium  des  Bambusstrauches  und  seiner 
vollendet  kalligraphischen  Wiedergabe  lebte,  wenn  eine 
beliebte  Anekdote  den  Kiinstler  auf  tausend  Studien- 
blattern  Arm  und  Hand  liben  lai5t,  damit  das  end- 
giiltige  Bild  des  absoluten  Hahnes  entstehe,  so  ist  be- 
statigt,  was  schon  die  Tradition  der  mechanischen  Kunst- 
erlernung  dartut,  die  aus  vorgeschriebenen  Hieroglyphen 
Korper  und  Organismen  zusammensetzt.  Denn  auch  die 
staunenswerte  Kunst  der  Mittel  ist  nicht  subjektiv  freie 
Empfindungssprache ,  sondern  erlerntes  Konnen,  so  daf5 
wir  hier  das  scheinbar  Unbegreifliche  der  klassisch-an- 
tiken  Materialbeherrschung  als  ein  noch  lebendiges,  doch 
leider  mechanisch  sich  erklarendes  Phanomen  vor  Augen 
haben. 

Durchaus  typische  Kunst  entstand  in  Agypten,Vorder-  Mitteimeer- 
asien  und  Griechenland.  Dai5  der  souveranen  Meister- 
schaft  der  Agypter  zuweilen,  injahrhunderten,  ein  hochst 
individuelles  Bildnis  beliebte  und  gluckte,bedeutetnichts; 
die  Abneigung  der  Griechen  gegen  das  Einmalig-zufallige 
war  so  grolI>,  dal5  wir  unter  den  tausendfaltigen,  herrlichen 
Pflanzendekorationen  nicht  einen  Bliitenzweig,  nicht  eine 
natiirliche  Blume  von  ihrer  Hand  besitzen,  geschweige 
eine  Landschaft.  Wahrend  in  chinesischer  Friihzeit  iiber 
Naturstimmung  Traktate  geschrieben  wurden,  war  den 
Hellenen  die  Landschaft  ein  fruchtbares  oder  unfrucht- 
bares,  bestenfalls  bergiges,  waldiges  oder  blumiges  Ge- 
lande.  Gegen  die  verhal5te  und  verachtete  Individuali- 
sierung  des  Portraits  kampften  sie  lebenslang;  selbst  dem 
Sklavisch-Hail)lichen,  Grotesken  und  Abscheuerregenden 
liehen  sie  typisch  abstrahierte,  schulmaJ&ig  feststehende 

'7  25^7 


Ziige.  Dennoch  ist  die  Eliitekunst  der  Griechen  nichr 
bloi5  in  der  tiefen  Kenntnis  des  Natiirlichen,  in  der  Un- 
fehlbarkeit  des  Normsinnes,  in  der  handwerklich  traditio- 
nellen  Meisterschaft  auf  ewig  uniibertrefFlich,  sondern 
auch  in  einem  besonderen,  freilich  ungewollten,  Sinne 
personlich.  Die  Volker  der  bewul5ten,  jahrhundertlangen 
leiblich-geistigen  Selbstveredelung,  zu  denen  wir  eigent- 
lich  nur  Hellenen  und  Briten  rechnen  diirfen,  erzeugen 
zuletzt  eine  Auslese  organisch  so  bevorzugter  Individuen, 
dafi)  wie  bei  alien  hochedlen  Geschopfen  die  DiiFeren- 
zierung  sehr  gering  wird.  Auch  diese  gliicklichenGestalten 
nahern  sich  bisweilen  dem  Reich  der  Seele,  zwar  nicht 
von  der  Seite  des  Leidens,  sondern  von  der  Seite  ^ines 
heroischen  Idealismus.  Dem  bevorzugten  Schlage  der 
Adelsschonheit  wendeten  Hellenen,  wie  heute  ein  Teil 
der  englischen  Romanschreiber,  ein  leidenschaftliches 
Interesse  zu,  und  da  sie  ihre  ziemlich  genau  libereinstim- 
menden  Eigenschaften  kannten,  kamen  bildliche  und 
dichterische  Schilderungen  zustande,  die  uns  trotz  ihrer 
haufigenWiederkehr  deshalb  personlich  anmuten,  weil  wir 
ihre  Objekte  aus  der  Erfahrung  kaum  kennen  und  dennoch 
den  inneren  organischen  Zusammenhang  verspiiren.  Es 
scheinen  somit  auf  einer  bedeutenden  Hohe  des  empirisch 
Organischen  die  BegrifFe  der  Individualisierung  sich  zu 
verfliichtigen ,  ahnlich  wie  diese  Erscheinung  aus  der 
komplementaren  Betrachtung  des  allzu  universellen  sub- 
jektiven  Charakters  uns  entgegengetreten  ist.  Mit  an- 
deren  Worten :  infolge  seiner  Zuspitzung  zu  einzigartiger 
Rassenvollkommenheit  erscheint  uns  der  griechische 
Adelsmensch  individuell,  wahrend  er  in  Wahrheit  typisch 
ist,  ahnlich,  wie  etwa  die  Goethische  Universalitat  des 
schafFenden  Subjekts  uns  objektiv  erscheint,  wahrend  sie 


^58 


I 


in  Wahrheit  hochst  personlich  ist.  Es  lage  somit  der  Ge- 
danke  nahe,  in  einer  gedachten  menschlichen  Vollkom- 
menheit  die  Synthese  des  Individuellen  und  Typischen, 
des  Subjektiven  und  Objektiven  zu  suchen:  allein  dieser 
Gedanke  bleibt  ein  Spiel,  weil  die  Entwicklung  der  Seele 
eine  neue  Dimension  schaiFt,  die  wir  gegenwartig  nur 
hinsichtlich  ihres  Ausgangspunktes  behandeln. 

Von  einer  spateren  Romantik  der  Griechen  zu 
sprechen,  bedeutet,  dafi  man  unter  Romantik  eine 
orientalisierende  Sentimentalitat,  gemischt  mit  Witz 
und  Sarkasmus,  also  etwa  die  Heinesche  Romantik  ver- 
steht;  ehrfiirchtig  vor  dem  Einzelnen  und  Kreatiirlichen 
war  die  Verfallzeit  weniger  als  die  Hochperiode. 

Die  Renaissancezeit  zu  Ende  des  Mittelalters  gilt  Renaissance 
als  die  Epoche  der  Befreiung  und  Individualitat.  Eine 
Befreiung  brachte  sie  in  dem  politischen  Sinne,  dafi)  die 
bindende  Tradition  der  Heiligtiimer  und  dogmatischen 
Gesetze  durchbrochen  ward,  doch  fiihrte  die  Befreiung 
nur  -scheinbar  zur  Individualitat,  wenn  namlich  unter 
dieser  eine  gewisse  politische  und  polizeiliche  Be- 
wegungsfreiheit,  verbunden  mit  einer  Selbstandigkeit 
der  Modenwahl  gemeint  ist;  in  Wirklichkeit  fiihrte  sie 
zum  uniformen  Rationalismus,  aus  dem  eine  kleine  Zahl 
leidenschaftlich  Unzeitgemafier  emporragt.  Diese  Grofien 
waren  briinstig  mittelalterliche  Naturen,  die  aus  der 
geometrisch  hellen  Klassik  so  rasch  es  ging  in  das  Halb- 
dunkel  ihrer  Subjektivitat  zuriickstrebten;  sie  waren  die 
frommsten  Menschen  ihrer  Zeit;  wie  denn  die  starkste 
Gewalt  der  Renaissance  in  zwei  religiosen  Bewegungen: 
Reformation  und Gegenre formation  zurErscheinung  kam. 

Das    Vorbild    neuzeitlich     typischer    Kunst    hiettt  Frankreich 
Frankreich;  deshalb  ist  der  zahen  handwerklichen  Uber- 


259 


lieferung  dieses  scheinbar  modernen,  in  tieferem  Sinne 
vo'rzeitlichen  Volkes  gelungen,  bis  in  das  vorletzte 
Jahrhundert  hinein  giiltige  und  unveranderliche  Bau- 
formen  und  Formensprachen  zu  schaffen.  Die  klassische 
Kunst  der  Franzosen  bedeutet  in  Dramatik  und  Epos,  in 
Bildnerei  und  Naturkunst  trotz  Sonderlichkeiten  und 
Geschraubtheit  die  einzige  geistesverwandte  Fortsetzung 
der  spaten  Antike;  im  vorigen  Jahrhundert  trat,  wider- 
spenstig  und  miC>verstandlich  aufgenommen,  von  aulLen 
die  Romantik  hinzu  und  fiihrte  zu  einer  seltsamen, 
hochst  anregenden  Vermischung  typischer  Empfindungs- 
weise  mit  aufterlich  moderner,  wesentlich  nervoser  und 
komplizierter  Lebensgestaltung.  Die  Folge  war  ein- 
dringlich  vertiefte,  bis  zur  Wissenschaft  gesteigerte 
Beobachtung.  Lebendige  Phantasie  und  Vorstellungs- 
kraft  fur  mogliche,  typische  und  dennoch  verwickelte 
Situationen  und  Vorgange  bei  volliger  Abwesenheit  von 
Transzendenz,  innerer  Ehrfurcht  und  Humor,  ent- 
schiedener  Hang  zum  mechanischen  Pathos  und  zum 
leichtfaiMichen  Ziindwort,  empfanglicher  Sinn  fiir  das 
Gefallige,  Prachtige  und  Kokette  waren  von  je  das  Erb- 
teil  dieser  brillanten  und  rationalistisch  hellen  Nation, 
die  Erregbarkeit  mit  Leidenschaft  gleichsetzt.  So  ent- 
stand  eine  selbstsichere,  kluge  und  bewegliche  Kunst, 
zugleich  mit  einer  letzten  typischen  Formulierung  der 
Ausdrucksmittel,  die  der  mechanistisch  modernen  Seite 
des  Lebens  vollkommen  sich  anpa£>t. 

Die  gewaltige  Erscheinung  Balzacs  ergrifF  die  tragi- 
sche  Seite  der  typischen  Probleme  Molieres  und  fand 
im  zentrisch  oder  peripher  erblickten  Leben  von  Paris 
den  Boden,  den  die  spatere  Kunst  auch  dann  nicht 
mehr  verliefi,  wenn  sie  abseits  liegende  Menschlichkeit 

269 


nach  Art  von  provinziellen  Exkursionen,  Reiseerlebnissen 
oder  ethnologlschen  Kuriositiiten  behandelte.  Die  chroni- 
stische  Identitat  des  Pariser  Kiinstlers  mit  seiner  Um- 
gebung  und  seine  naturwissenschaftliche  Beobachtungs- 
gabe  lal^t  uns  manche  Herzlosigkeit  und  mangelhaft  unter- 
driickte  Sentimentalitat,  die  Armut  der  Motive,  die  neben 
der  Erotik  kaum  andere  Triebkrafre  als  Ehrgeiz  kennt, 
vergessen;  liber  den  Mangel  an  Beseelung,  an  Ehrfurcht 
und  Phantasie  des  Herzens  hilft  weder  Talent  nocb 
Meisterschaft  hinweg.  Indessen  bleibt  dem  Deutschen 
das  Studium  der  letzten  typischen,  traditionellen  und 
somit  Form  und  Norm  schafFenden  Kunst  unschatzbar, 
zumal  in  einer  Zeit,  welche  durch  Vielspaltigkeit  und 
suchende  Hast  der  Lebensfiihrung  die  Bevvegtheit  und 
Sehnsucht  des  Inneren  zur  Unertraglichkeit  steigert. 

Vor  allem  aber  ist  das  Verdienst  der  Franzosen  um 
die  SchaiFung  neuer  Ausdrucksmittel  in  der  Malerei  zu 
preisen.  Auch  hier  war  Beobachtung  und  handwerkliche 
Unermiidlichkeit  die  treibende  Kraft,  die  sich  des 
Geistes  niederlandischer  Landschaft  und  spanischer 
Bildniskunst  bemachtigte  und  zugleich  mit  der  Uber- 
tragung  in  aufierlich  neuzeitliche  Gewandung  die 
Diisternisse  zu  gallischer  Klarheit  aufhellte,  indem  sie 
eine  Technik  des  Lichtes,  der  Oberflachen  und  der  Kom- 
position  erfand,  die  abermals  als  klassische  Formen- 
schopfung  angesprochen  werden  muJ5.  Der  Sinn  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  hat  in  seiner  mechanistischen, 
schnell  erfassenden,  geistvollen  und  verbliifFenden  Seite 
keine  adaquatere  Versinnlichung  erfahren  als  durch  die 
franzosische  Malerei;  die  Deutung  seiner  schmerzen- 
vollen,  sehnsiichtigen  und  ahnenden  Tiefen  verblieb  der 
deutschen  Musik, 


261 


GemMmsihiT  Dafi  das  Urbild  wahrhaft  persdnlicher  und  somit 
cranszend enter  Kunst  nur  vom  germanischen  Geiste  aus- 
ging,  mul5  nach  dem  Gesagten  nicht  mehr  erlatitert 
werden.  Nur  sei  des  Phanomens  gedacht,  dafi)  alle  diese 
Kunst  auf  ihren  hochsten  Gipfeln,  gleichviel,  ob  sie 
dutch  leidenschaftliche ,  ja  erschreckende  Mittel  aus- 
gedriickt  wird,  lyrische  und  selbst  tonende  Stimmung 
auslost.  Hiermit  ist  freilich  nicht  die  ungliickliche  Vor- 
stellung  gemeint,  dafi  grofie  kiinstlerische  Momente 
dutch  eine  zur  Begleitung  odet  Illustration  erniedrigte 
Musik  gesteigert  werden  konnen;  es  ist  vielmehr  einer- 
seits  auf  eine  liberirdische  Verwandtschaft  der  Kunste 
hingewiesen,  die  in  ihren  andachtigsten  Stunden  den 
gleichen  innersten  Punkt  unseres  Wesens  beriihren, 
andererseits  auf  die  iibersinnliche  Tendenz  unseres 
geistigen  Erlebens,  die  in  einer  vom  Sinnenreiz  und 
vorganglichen  Zufall  sich  losenden  musikalischen  Ge- 
setzmal^igkeit  ihre  Sprache  sucht.  Noch  irriger  ware 
die  Auffassung,  es  konne  durch  Vermischung  der  Kunst 
mit  religiosen,  ethischen  oder  ritualen  Momenten  eine 
innere  Steigerung  erzwungen  werden.  Die  hochste 
Kunst  ist  keine  Kunst  des  Requisits;  die  Mittel  und 
Vehikel  der  Andacht,  an  sich  bedeutend  und  ehrwiirdig, 
sind  kiinstlerisch  betrachtet  Surrogate,  Suggestionen  und 
Reizmittel,  wie  Kanonendonner,  Feuerwerk,  Massen- 
auflauf,  Prachtgegenstande,  Kruditaten,  Herzbrechereien 
und  Riihrungszwange.  Innerliche  Kunst  ist  der  Gesetz- 
mal5igkeit  ihres  Wesens  nach  unvermischt;  aus  den  ein- 
fachen  Gegebenheiten  und  Vorgangen  der  Natur  schdpft 
sie  einfache  Wirkungen,  die  grofi  sind,  weil  sie  das 
Absolute  spiegeln,  nicht  weil  sie  blenden,  tauben,  ver- 
bliifFen  oder  verwirren.     Zeugen  sind   die  vier  Evan- 


gelisten   der   germanischen   Kunst,   Shakespeare,    Rem- 
brandt, Bach  und  Goethe. 

Versuchen  wir  den  Weg  der  Kunst  vort  der  Blute  Kritik  der 
ihres  typischen  SchafFens  bis  zur  Innerlichkeit  der  Seelen- ^^^.j^j^ 
nahe  mit  einem  Blick  zu  liberschauen,  so  wird  der  Ein- 
dnick  ungeheurer  Verluste  in  uns  machtig,  und  wir  be- 
greifen  das  herkommliche  Urteil,  wonach  dieser  Weg 
einem  durch  Mittelgipfel  unterbrochenen  Abstieg  gleich- 
zusetzen  sei.  Verloren  sind  alle  Krafte  und  Fahigkeiten,  Verluste  der 
die  durch  Geschlechterreihen  der  Schulung  und  Hand- 
werksiiberlieferung  hervorgerufen,  gestarkt  und  bewahrt 
werden:  die  kalligraphische  Sicherheit  der  Hand,  die  Un- 
beirrbarkeit  des  Auges  und  Urteils,  die  Kenntnis  der 
Gegenstande,  die  Berechnung  der  Abstufung  und  Wir- 
kung,  die  Ubung  schwer  erkennbarer  dispositiver  Kunst- 
regeln^or  allem  leider  der  gleichsam  musikalisch  sichere 
Sinn  fiir  Teilung  und  Proportion.  Verloren  ist  die  Auf-  Verluste  der 
sicht  einer  Machtinstanz,  welche  das  Verfriihte,  Uber- 
hastete,  Unfertige  und  Grillenhafte  zuriickweist,  welche 
den  Schritt  ziigelt,  das  Hergebrachte  verteidigt,  und  In- 
halt,  Gewicht  und  Wiirde  verleiht  und  vorschreibt.  Ver- 
loren ist  endlich,  und  diesem  Verlust  miissen  wir  nach- 
gerade  entsagend  und  kiihn  ins  Auge  sehen,  die  formel-  Verluste  det 
schafFende,  gleichsam  sprachbildende  Kraft  der  Kunst, 
die  im  langsamen  Wachstum  beruht  und,  unter  der  mild 
korrigierenden  Wirkung  der  Zeitlaufte,  Ornamente  und 
Bauformen,  K6rpernormen,Schriftzuge,  Rhythmen,Melo- 
dien,  ja  selbst  die  herkommlichen  Abgrenzungen,  Ord- 
nungen  und  Gliederungcn  der  Gattungen  und  Werke 
hervorbringt.  Deshalb  werden  wir  niemals  aufhoren, 
aus  den  Werken  der  vergangenen  typischen  Kunst  Ur- 
teil und  Lehre  zu  schopfen,  und  wir  diirfen  uns  dieser 

26} 


Gaben  so  wenig  schamen,  als  wenn  wir  uns  des  Sprach- 
gutes  oder  der  Samenziichtungen  unserer  Vorfahren  be- 
dienen;  denn  kraft  ihrer  natiirlichen  Entstehung  als  eines 
Kollektivprodukts  ist  die  klassische  Kunst  eine  gleichsam 
vermenschlichte ,  zum  Gefiihlselement  umgeschaffene 
zweite  Natur  geworden,  die  nicht  minder  mit  unserem 
Leben  verwachsen  ist  als  das  Kornfeld,  die  Gartenblume, 
die  veredelte  Frucht  und  die  Hausung.  Fiir  unser  Auge 
tragt  ein  ionisches  Kapirell  oder  Gebalk  gleichsam  einen 
Gesichtsausdruck;  seinen  Gebrauch  in  der  Baukunst  zu 
verbieten  und  dafiir  eine  bei  der  Lampe  asthetisch  oder 
technisch  erkliigelte  Straufienfeder-  oder  Nietnagel-Kon- 
struktion  zu  empfehlen,  bedeutet  nicht  viel  anderes,  als 
in  der  Sprache  die  Worte  Lacheln  oder  Anmut  zu  unter- 
sagen  und  durch  einen  Volapiiklaut  zu  ersetzen. 
Veriuste  dei  Nach  ihrcn  mil^gliickten  Ausfliigen  auf  das  Gebiet 
der  Reifibrett-  und  Broschiirenrevolution  sieht  gerade 
die  Architektur  sich  heute,  und  vielleicht  fiir  alle  Zeiten, 
in  der  Lage,  am  riihrigsten  unter  den  alten  Schatzen  dei 
typischen  Formkunst  sich  umzutun.  Freilich  hat  sie  weit 
schwerer  als  die  reinen  Kiinste  unter  der  Entfernung 
vom  Handwerklichen  gelitten;  ihr  als  einer  Schwester 
der  Technik  ist  liberdies  die  Mechanisierung  auf  den 
Hals  gekommen,  und  es  ist  mehr  als  fraglich,  ob  sie  in 
Zukunft  als  selbstandige  Kunst  wird  bestehen  konnen^ 
oder  vielmehr  mit  dem  Range  einer  Technik  und  eines 
eklektischen  Dekorationsgewerbes  sich  wird  begniigen 
miissen.  Denn  einmal  baute  sie  vor  Zeiten  aus  echtem 
Material  fiir  die  Ewigkeit,  jetzt  fiir  ein  Menschenalter  aus 
Ziegeln  und  Putz,  kiinftig  vielleicht  fiir  ein  Jahrzehnt 
aus  Zement  und  Pappe.  Sodann  nahm  sie  sich  Zeit:  fiir 
einen  Tempel  Jahrzehnte,  fiir  einen  Dom  Jahrhunderte, 

^6^ 


fiir  ein  Wohnhaus  Jahre,  und  selten  schuf  ein  Kiinstler  ein 
zweites  grofies  Werk  zur  gleichen  Zeit.  Heute  werden, 
wenn  es  gut  geht,  von  einem  Architektenbiiro  zwei 
Kirchen,  sieben  Wohnhiiuser,  eine  Briicke,  ein  Kranken- 
haus,  ein  Aussichtsturm,  ein  Bahnhof  und  mehrere  Wohn- 
geratschaften  in  einem  Jahreslaufentworfen,  submittiert 
und  hergestellt,  ungeachtet  der  Sachvers  t  andigen-Juroren- 
und  Ausstellungsarbeiten.  Endlich  und  schlimmstens 
aber  ist  der  Bedarf  nach  Bauren  derartig  ins  Riesenbafte 
gestiegen  dail)  StraJBenziige  und  Stadtviertel  schneller 
entstehen,  als  vordem  Hauser;  damit  ist  die  Wichtig- 
keit,  der  Ernst  und  die  kiinstlerische  Verantwortung  des 
Bauens,  zugleich  mit  der  Qualitat  der  Bauherren,  so 
rief  gesunken,  daI5  eine  Kunst,  eine  Ausbildung  und 
eine  Zunft  nicht  mehr  die  Verschiedenartigkeit  der  An- 
spriiche  zu  tragen  vermag  und  in  ihrer  Gesamtheit 
entarten  muC). 

So  beschlieil)t  die  Auflosung  der  Architektur  die  DerKampfpreU . 
Liste  der  grolLen  Opfer,  die  der  Seelenweg  der  Kunst  ^"^'^ 
erforderte.  Sie  fielen  nicht  vergeblich,  denn  das  Ziel 
der  Innerlichkeit  und  Freiheit  wurde  erreicht;  eine  an- 
dere  als  die  Kunst  germanischen  Einschlages,  die  Kunst 
der  Seele,  ist  in  der  Welt  nicht  mehr  moglich.  Ob  aber 
diese  Kunst  eines  zweiten  Aufschwunges  fahig  ist,  ob 
sie  berufen  ist,  den  We g  der  Menschheit  zu  leiten  oder 
nur  zu  erleuchten,  oder  ob  gar  die  erstarkende  Seele 
an  ihr,  wie  an  einer  freundlichen  Kindheitslandschaft 
voriiberschreiten  wird  zu  mannlicheren  Zielen:  dieser 
ernsten  Frage,  die  nicht  gelost,  wohl  aber  betrachtet 
werden  kann,  diirfen  wir  uns  nicht  entziehen.  Wir  wer- 
den versuchen,  durch  eine  Erorterung  der  zeitlichen 
Bedingungen,  die  den  Schluss  dieses  Kapitels  bilden  soil. 


I 


*6j 


uns  ihr  zu  nahern;  zunachst  aber  liegt  uns  ob,  zu  er- 

wagen,  ob  der  gewonnene  Uberblick  geeignet  ist,  uns 

im  Sinne  einer/praktischen  Kritik  kiinstlerischer  Produk- 

tion  zu  fordern. 

Anwendung  Zunachst  steht  fest,  dafi  wir  eine  Reihe  vielbeliebter 

Kriuk^    ^^^  ^  Forderungen  an  die  Kunst  nicht  mehr  aufrecht  erhalten 

VerzicJjt  aufdiir fen:  Zwecke,  gleichviel  welcher  Art,  ob  dekorative, 

^^"^  reprasentative,  belehrende,  unterhaltende,  sittlich  erbau- 

ende,  erinnernde,  oder  sinnlich  anreizende  hat  sie  nicht 
zu  erfiillen.  Wurde  es  schon  manchem  schwer,  das 
kiinstlerisch  Dargestellte  nicht  mehr  im  Dienste  sinn- 
licher  Gefalligkeit  und  zuchterischer  Norm  —  die  man 
leider  auch  im  wissenschaftlichen  Sinne  noch  immer 
Schonheit  nennt  —  zu  sehen,  so  haben  wir  uns  der  schwe- 
Verxieht  aufreven  Bestimmung  zu  fiigen,  nicht  einmal  mehr  gef  allige 

eja  tg  et  y^^^^^  ^^^  jgj,  Kunst  grundsatzlich  zu  verlangen.  Das 
Gemalde  als  Selbstzweck  erfiillt  seine  Aufgabe  in  der 
Darstellung;  das  alte  Bild  war  gleichzeitig  ein  Dekora- 
tionsstiick,  ein  schoner  Gegenstand,  eine  kunstgewerb- 
liche  Lackarbeit,  die  architektonisch  der  Wand  und  dem 
Raume  diente,  wahrend  das  neuere  Werk  eine  neutrale 
Wand  als  Hintergrund,  ein  en  Schauraum  als  Umgebung 
verlangt  und  auch  in  diesem  Sinne  nicht  mehrZubehdr 
und  Inyentar,  sondern  bestimmendes  Subjekt  ist, 
VerxAcht  auf       Dafi  wir  die  Ergebnisse  alter,  sachlicher,  gegenstand- 

usju  rung  Y\c\\ev^  handwerklicher  Meisterschaft  nicht  mehr  erwarten 
diirfen,  ist  uns  bekannt.  Hier  wird  am  schwersten  zu 
ertragen  sein  der  Verzicht  auf  jene  innere  Ergiebigke 
welche  der  alten  Kunst  in  der  Ausfuhrung  beschied 
war.  Ein  zutrauliches  Auge  wiinscht  in  der  Kunst 
Genufi  wiederholt,  den  die  Unerschopflichkeit  der  Nal 
bietet,  indem  sie  bis  an  die  Grenze  der  Wahrnehmun 

%66 


fahigkeit  immer  neue  Wunder  aus  den  Teilen  und  Unter- 
teilen  hervorbrechen  lafit,  nachdem  die  Ganzheit  ihren 
Akkord  hat  verklingen  lassen.  Die  Subjektivitat  neuerer 
Kunst  in  Anschauung  und  AusfiiHrung  lai^t  aber  eine  so 
vollkommene  Uberdeckung  und  Analogic  des  Dargestell- 
ten  mit  der  Darstellung  nicht  zu,  dafi  auch  das  Kunst- 
werk  sich  auf  losen  liefi)e ;  das  Eindringen  wird  auf  die 
gewollte  Wirkung  beschrankt,  und  dem  naheren  Zusehen 
bietet  der  breite  Pinselstrich  Halt.  Uberdies  ist,  je  star- 
ker und  leidenschaftlicher  das  schafFende  Erlebnis  ver- 
lauft,  seine  Dauer  beschrankter,  und  so  fiihrt  subjektive 
Produktion  zur  summarischen,  unausfuhrlichen,  schein- 
bar  skizzenhaften  Darstellung,  die  abermals  der  mecha- 
nisch  suchenden  Priifung  widerstrebt. 

Ist  somit  die  auJSere  Gefalligkeit,  die  handwerkliche  Venh-ht  auf 
Geschliffenheit  und  Vollendung,  die  berechnete  Gelassen- 
heit,  Harmonie  und  Ruhe  dem  subjektiven  Werk  ver- 
sagt,  so  wird  es  dem  nachhaltigen  Werben  des  biirger- 
lichen  Liebhabers  nicht  mehr  gerecht.  Verallgemeinert 
fiihrt  diese  Beobachtung  zu  der  weiteren  und  entschei- 
denden  Folge,  dafi  wir  auch  Popularitat  von  dieser  Kunst 
nicht  beanspruchen,  kaum  erhofFen  diirfen,  ganz  abge- 
sehen  davon,  dal5  die  gr6fi)ten  Werke  einer  jeden  Zeit 
ihrer  Epoche  vorausschreiten  und  daher  bei  ihren  eigenen  • 
Zeitgenossen  nur  durch  Mifiverstandnis  oderAutoritats- 
glauben  popular  sein  konnen.  Auch  in  jenen  beriihmten 
kleinen  Adelsrepubliken,  denen  wir  unsere  kiinstlerische 
Kultur  verdanken,  war  die  Kunst  nur  im  engen  Kreise 
der  Herrschenden  zuhause,  und  durch  ihre  Autoritat 
gestiitzt;  zugleich  mit  diesen  Herrschenden  und  ihrer 
Autoritat  ging  sie  zugrunde.  Und  diese  Kunst  war,  wie 
wir  gesehen  haben,  nach  Herrscherregeln  von  einer  Ge- 


I 


%6'j 


meinschaft  und  fiir  eine  Gemeinschafc  gemacht,  natiir- 
lich  gewachsen,  normativ,  sachlich,  objektiv  wie  die 
Natur,  in  ihren  Hohen  zwar  liberragend,  doch  in  Be- 
wegung,  Gegenstand  und  Ausdruck  durchaus  verstand- 
lich.  Aber  bei  verschiedener  Geschwindigkeit  zweier 
Fortschreitenden  wachst  der  Abstand  des  Zuriickbleiben- 
den  dauernd;  vielleicht  ist  Geschmack  und  Verstand- 
nis  der  mittleren  Zivilisation  dem  Hohenmafi)  jener  alten 
Gemeinschaften  naher  geriickt  als  wir  glauben,  aber  dem 
Weg  zur  Kunst  des  personlichen  Erlebens  sind  die  Massen 
nicht  gefolgt,  und  so  entsteht  das  paradoxe  Bild,  dzS)  in 
Feindschaft  der  alien  zivilisierten  Landern  die  herrschenden  Stande  der 
Stdnde  Kunst  feindlich  sind.    Daraus  folgt  nicht  einmal  im  agi- 

tatorischen  Sinne,  dafi  etwa  die  Kunst  in  hoherem  Mafie 
wie  vordem  Sache  des  Volkes  geworden  sei,  und  dem- 
gemaiJ5,  um  modern  zu  sein,  demokratische  oder  soziale 
Alliiren  anzunehmen  habe;  sie  ist  weder  Sache  des  oberen 
noch  des  unteren  Volkes,  sondern  Sache  der  Berufenen. 
Daraus  folgt  aber  auch  nicht,  dafi  sie  von  Kiinstlern  fur 
Kiinstler  gemacht  werde,  sondern  sie  wird  von  Kiinst- 
lern fiir  das  Volk  gemacht.  Nicht  fiir  das  Volk  von 
heute  und  nicht  fiir  das  Volk  von  morgen,  sondern  fiir 
das  Volk;  so  wie  ein  Vater,  der  fiir  seinen  Sohn  schafFt, 
nicht  fiir  das  Kind  und  nicht  fiir  den  Jiingling  schafFt, 
sondern  fiir  sein  unsterblichesBlut,  das  dieErfiillungtragt. 
Wenn  auch  die  Komplexitat  des  menschlichen  Schaf- 
fens  eine  zeitgenossische  Popularitat  des  Guten  nicht 
vollig  ausschliefijt,  indem  dieses  namlich  nebenher  mit 
indiiferenten  Eigenschaften  behaftet  sein  kann,  die  harm- 
los  gefallen,  abgesehen  vom  Erfolge  des  Miftverstand- 
nisses  und  Autoritatsglaubens,  so  darf  nicht  einmal  post- 
hume  Popularitat  der  Kunst  zur  Bedingung  gestellt  wer- 

268 


den;  vieimehr  ist  es  als  eine  der  menschlich  hochsten 

Kiihnheiten  und  Selbstverleugnungen  zu  betrachten,  dail> 

furchtloser  Geist  unablassig  Dinge  schafFt,   die  besten- 

falls  trotz  ihrer  Tugenden  geachtet  werden. 

Was  wir  hingegen  von  der  Kunst  unserer  Zeit  ver-  Forderung  der 

langen  diirfen,   ist  zum  ersten  Meisterschaft.    Freilich 

nicht   mehr    die    erlernbare   und    leicht    kontrollierbare 

Meisterschaft   der  Schule,   die  kalligraphische  Gemein- 

schaftsschrift  der  Ziinfte  und  Generationen ;  wohl  aber 

personliche  Kenntnis  und  Beherrschung  des  Handwerks 

und  seiner  Mittel,    gesteigert  zu  eigener  Sprache   und 

Handschrift  des  Menschen.    Schwer  und  unerlernbar  wie 

alle  Beurteilung  subjektiver  Kunst  ist  die  Kritik  dieses 

individuellen  technischen  Vermogens;  denn  sie  darf  nicht 

erschrecken  vor   der  Unausgeglichenheit   eines   lebens- 

langen  Ringens  mit  der  Materie,  vor  dem  Verzicht  auf 

alle   Milde    des   Herkommens   zugunsten  einer  leiden- 

schaftlich  ersehnten  Ausdrucksform,  noch  darf  sie  sich 

blenden  lassen    von  wissenschaftlich   oder  reflexiv   er- 

kliigelten  Kiihnheiten  und  von  einer  durch  Vergleichung 

und  Kontraimitation  erschlichenen  Originalitat. 

Eine   kurze   Einschaltung  iiber  neuerliche   Mifiver-  Zwei  Anmer- 

T    .         .     -r>.  1       Tr  •  M        •  1  •  kungen:  Kri- 

standnisse  in  Dingen  der  Kritik  sei  hier  gestattet.  ^-j^  |^j.  kritik 

Solange  die   Kunst  Sache   der  Gemeinschaften   und 

Schulen  war,  konnte    der   gebildete  aber  unproduktive 

Liebhaber  und  Konnaisseur  eine  Anzahl  der  vereinbarten 

Regeln  und  SchulbegrifFe  erlernen  und  mit  ihrer  Hilfe 

eine  Art  von  kritischer  Kunstgrammatik  betreiben,  die  nicht 

unbedingt  wertlos  war.  Zuerst  erkannte  man  in  der  Musik, 

dafi)  diese  mechanischeBeckmesserei nicht  weitfiihrt;  man 

verlangte  vom  Musikkritiker   eine    entschieden  musika- 

lische  Begabung,  ja  selbst  eine  gewisse  ausiibende  Fahig- 


I 


26^ 


keit;  das  Gewasch  eines  eingestanden  Unmusikalischen 
iiber  Musik  ha^te  man  nicht  angehort.  Wahrend  nun 
auch  die  iibrigen  Kiinste  den  Weg  vom  Typischen  zum 
Individuellen  vollendeten,  hat  man  leider  und  unbegreif- 
licherweise  unterlassen,  den  BegrifF  des  musischen  und 
amusischen  Naturells  auf  alle  Gebiete  der  Kritik  auszu- 
dehnen.  Obwohl  alle  Kritik  subjektiv  kiinstlerischer 
Leistungen  ganz  und  gar  auf  nachschaiFende  Einfiihlung 
hinauslauft  und  somit  nur  mehr  hochveranlagten  Naturen 
moglich  und  gestattet  ist,  glauben  vielfach  sensitiv  er- 
regbare  und  suggestible,  ubrigens  amusische  Tempera- 
mente  an  ihre  eigene  kritische  Zulangllchkeit.  Wie  in  der 
Musik  die  Fahigkeit,  eine  gehorte  Tonfolge  wiederzu- 
geben,  so  ist  in  der  bildenden  Kunst  eine  merkliche, 
wenn  auch  unbeholfene  Befahigung  zu  zeichnerischer 
Reproduktion  die  niederste,  unerlai51ichste  Stufe  musi- 
scher  Existenz.  Es  ist  nun  ein  Zeichen  wahrhaft  grofi- 
stadtischer  Anpassungsfahigkeit  und  Versatilitat,  wenn 
Kritiker  sich  riihmen,  auch  ohne  den  Besitz  dieses  leich- 
testen  musischen  Symptomes  auf  Grund  innerer  Erleuch- 
tung  und  haufiger  Atelierbesuche  ihrer  Verantwortung 
gerecht  zu  werden. 
Dtinne  Ta-  Zum  zweiten  erinnern  wir  uns  des  Wesens  subjek- 
tiver  Kunst,  das  in  der  Enthiillung  menschlicher  Gesetz- 
maI5igkeit  beruht,  und  verlangen  von  dem,  der  diese 
Kunst  ausiibt,  Menschlichkeit.  Der  Wohlstand  der  zivi- 
lisierten  Welt  und  ihre  Mechanisierung,  die  Sattigung 
der  Atmosphare  mit  geistiger  und  artistischer  Essenz 
hat  aber  das  Wachstum  diinnstengeliger,  locker  sitzend 
Talente  verhundertfacht.  Die  ans  Kunstgewerbe  gre 
zenden  Industrien  der  Tapeziererei,  der  Schaufenst^ 
dekoration,  der  Provinzialfeuilletonistik  und  Hotelmus 


X70 


kurz  der  Massenbetrieb  gewerbsmaf5iger  Staffierung,  ver- 
langt  die  Uberzahl  dieser  asthetisch  strebenden  Naturen, 
die  vor  Jahrhunderten  im  Klosterberuf ,  im  Schneider- 
und  Haarkrauslerhandwerk  eine  Tatigkeit  gefunden 
batten.  Indem  nun  die  Scbulfreiheit  und  Zunftlosig- 
keit  der  subjektiven  Kunst,  vor  allem  aber  der  Mangel 
an  objektiven  Urteilsregeln  und  kritischen  Anhalts- 
punkten  den  zahlreichen  Ubertritt  der  leichtgeriisteten 
Talente,  zumal  der  woblhabenden,  zu  ernster  Kunst- 
ubung  begunstigt,  wird  nun  erst  offensichtlich,  wie  schwer 
und  selten  der  Natur  die  Verbindung  wuchtiger  Mensch- 
lichkeit  mit  der  Anmut  gliicklicher  Begabung  gelingt, 
Diese  wahrhaft  ergreifende  Erscheinung  einer  ernsten, 
denkenden,  erdenstarken  Mannlichkeit,  verklart  zu  zar- 
tem  Empfinden,  kindlicher  Reinheit  und  traumendem 
Gestalten  erscheint  uns  heute  seltener  als  je  zuvor;  kaum 
konnen  wir  die  VoUkraft  anders  als  tatenhaft-kunstlos, 
die  Begabung  anders  als  lax,  nervos,  hysterisch  uns  vor- 
stellen.  „Sul5es  kommt  vom  Starken,"  heiJ&t  es  in  der 
Schrift,  und  nur  unter  diesem  Wahrspruch  ist  subjektive 
Kunst  denkbar,  denn  ihr  Gesetz  ist  das  Erlebnis.  Das 
Erlebnis  des  Schaffenden  wird  zum  Erlebnis  des  Betrach- 
tenden  und  zur  Enthiillung  des  absoluten  Gesetzes;  das 
Erlebnis  jedoch  ist  nur  dann  ein  reines  und  gultiges, 
wenn  es  einer  giiltigen,  das  heiJ&t  organisch-gesetzhaften 
Natur  widerfahren  und  oiFenbart,  und  mit  der  Kraft  der 
Wesentlichkeit  gestaltet  ist.  Liegt  die  Gefahr  der  typi- 
schen  Kunst  in  der  Trivialitat,  der  handwerklichen  Kalte, 
der  Schxilmeisterei  und  Manier,  so  liegt  die  Gefabr  des 
subjektiven  SchafFens  in  der  Talentkunst,  in  der  Halb- 
heit  und  Schiefheit,  der  Spitzfindigkeit,  Verstiegenheit 
und  Unwabrhaftigkeit  des  Asthetentums. 


a7l 


Fassen  wir,  zum  Gang  der  Darlegung  zuriickkehrend, 

Forderung  und  Verzicht  zum  allgemeinen  Leitsatz  zu- 

sammen,  so  diirfen  wir  bekennen: 

Zusammen-  Uneigentlkhe  Kunst  ist  es,  die  Zwecken  dient ;  gleich- 

tische  Leit-     ^^^^  ^^  edlen  oder  unedlen;  Kunst  ist  Selbstzweck,  ge- 

satze  schaffen  aus  Notwendigkeit,  und  zu  betrachten  gleichwie 

ein  Werk  der  Natur.  Belehrung,  Unterhaltung,  Reprasen- 

tation,  Schmuck,  Sinnenreiz,  Reklame,  Geschaft  sind  in 

diesem  Sinne  gleichwertige  Zwecke. 

Lehrbar  und  erlernbar  ist  nicht  die  Kunst,  sondern 
der  in  ihr  enthaltene  handwerkliche  Rest.  Meisterschaft 
ist  nicht  blofie  Beherrschung  dieses  Handwerklichen, 
sondern  seine  Durchdringung  mit  persdnlichem  Gefiihl. 
Ubung  macht  den  Kalligraphen ;  den  Meister  macht  Er- 
fahrung  und  Vorstellungskraft.  Aber  selbst  Meister- 
schaft ist  nicht  Selbstzweck,  sondern  unentbehrliches 
Mittel,  um,  ungehindert  von  der Materie,  derEmpfindung 
Ausdruck  zu  geben. 

Uneigentliche  Kunst  ist  es,  die  der  blofien  Nach- 
ahmung  dient,  und  wenn  es  die  Nachahmung  der  Arten- 
schonheit  ware;  die  nach  Rezepten  schaiFt,  die  den 
Geist  beschaftigt,  die  dutch  Zufalligkeiten  Tauschung' 
erstrebt,  die  mit  Sentimentalitat  und  mechanischem 
Pathos  das  Schiefe  und  Falsche  aufstutzt,  die  hand- 
greiflich  an  Nerven  und  Sinnen  riihrt. 

Echte  Kunst  macht  die  Gesetze  des  Organischen,  des 
Schicksals,  der  Seele  und  des  Gottlichen  fiihlbar:  sie 
stammt  aus  dem  Erlebnis  echter  Menschlichkeit,  ist  ge- 
staltet  in  der  Erkenntnis  des  Wesentlichen,  ausgedriickt 
in  der  Sprache  der  Personlichkeit  und  fiihrt  zur  Er- 
schiitterung  der  Seele.  Denn  sie  erfiillt  uns  mit  der 
Gewi&heit,   dzib   wir  nicht  im  Chaos  der  Willkiir  und 


171 


I 


des  Zufalls  beruhen,  sondern  im  gottlichen  Kosmos;  wir 

verloschen  im  Selbstischen  und  erstehen  im  Gefiihl  der 

Wiirde  und  Gnade  hochster  Gemeinschaft. 

Als    letzte    Aufgabe    dieses    Kapitels   war   uns    be- Anwendung 
T-        1       •       TT-    1  1-  1  r  1  auf  dieKunst 

stimmt,  unsere  eigene  lipoche  im  Hmblick  aut  das  '^^^qxZqii 

betrachten,  was  sie  der  Kunst  bietet  und  verspricht. 

Wirkungen  der  Mechanisierung  auf  die  Kunst  haben  OOer/atiung  und 
wir  beriihrt.   Wenn  vordem  ungezahlte  Leben  abflossen,  * 

denen  kaum  an  einzelnenhohen  Tagen  ein  Werkder  Kunst 
begegnete,  so  konnen  wir  keinen  Schritt  tun,  ohne  von 
kiinstlerischen  Zeichen,  mogen  wir  wollen  oder  nicht, 
begleitet  oder  umgeben  zu  sein.  Schmuck  der  Farbe 
oder  der  Formung  bekleidet  jeden  Gebrauchsgegenstand ; 
die  Schriften,  die  tagiiber  zu  uns  reden,  erheben 
kiinstlerischen  Anspruch;  die  Raume  der  Hauser,  die 
Laden  und  Hallen  sind  erfiillt  von  Darstellungen  und 
Wiedergaben;  unsere  Erinnerung  birgt  den  Kunstgehalt 
von  Jahrtausenden.  Es  wird  mehr  gebaut  und  gemeili5elt, 
gemalt  und  geatzt,  erzahlt  und  gedichtet,  gespielt  und 
geschmiickt  als  ehemals  gesat  und  geerntet,  gesponnen  ^ 
und  gewoben.  Vielen  erscheint  Himmel  und  Erde, 
Leben  und  Tod  nur  noch  unter  dem  Bilde  kunstlerischer 
Darstellungsform.  Die  Welt  schwitzt  Kunst  aus  alien 
Poren. 

Dieser  unerhorte  Mifibrauch,  der  die  Kunst  in  Staub  Wettkampf  der 
und  Larm  der  Alltaglichkeit  hinabzieht,  bedroht  alles  ^ 
ehrfdrchtige  Verweilen  und  festliche  Staunen.  Mit 
negerhaftem  Selbstverstandlichkeitsbewufitsein  schenkt 
die  Masse  den  hochsten  Leistungen  einen  Blick  und  eine 
Bemerkung;  der  Gebildete  schliefit  Auge  und  Ohr,  um 
aus  dem  Gewiihl  das  Verehrte  und  i  lebgewonnene  zu 
retten.     Die   Kunst  aber,  vom   Stamm  der  Kegel  imd 

t8  ^73 


Tradition  gelost,  frei  beweglich  und  alles  wagend,  liber- 
bietet  sich  in  EfFekten,  um  die  erloschende  Aufmerksam- 
keit  2u  beleben;  gepeitscht  von  der  Konkurrenz  der 
Ausstellungen  und  Auffiihrungen  sucht  sie  die  auC)erste 
Steigerung  des  Erfolgreichen ,  den  starksten  Kontrast 
gegen  das  Jiingstverbrauchte  2u  verwirklichen,  und  be- 
il/e^ftritt  damit  den  Weg  der  Mode.  Diese  periodische 
Krankheit,  die  den  Namen  des  Launischen  in  keiner 
Weise  verdient,  da  sie  in  niichterner  Mechanik  des 
Kontrastes  verlauft  und  demgemafi  von  ihren  gewerb- 
lichen  Erzeugern  wissenschaftlich-empirisch  hergestellt 
wird,  ist  in  ihrem  Wesen  dem  kiinstlerischen  zuwider 
und  gefahrlich;  sie  strebt  die  letzte  Stetigkeit  zu  ver- 
nichten,  die  der  subjektiven  Kunst  geblieben  ist,  indem 
sie  den  Kiinstler  zu  bestimmen  sucht,  auf  sein  eigenes 
Inneres  im  Sinne  des  bewahrten  Wechsels  gewaltsam 
einzuwirken. 
Entivurze/ung  De$  ferneren  wurde  angedeutet,  dafi  subjektive 
Kunst  gleichsam  als  Ferment  das  Publikum  zerspaltet, 
von  dessen  Willen  und  KontroUe  sie  sich  befrelt  hat; 
der  in  eigener  Natur  kiinstlerisch  veranlagte,  zur  Ein- 
fiihlung  und  Nachempfindung  befaihigte  Teil  wird  mit- 
gerissen,  der  andere  Teil,  an  bewahrten  typischen 
Mustern  gebildet,  oder  naiv,  nach  Regeln  suchend,  vor 
allem  aber  an  Augen  und  Geist  mit  dem  Kunstblick  der 
letztverstandenen  Epoche  erfiilit,  stellt  sehie  Forde- 
rungen  und  fiihlt  sich  als  Arbeitgeber,  Brotherr  und  Be- 
horde  berechtigt,  einleuchtende  Wiinsche  befriedigt  zu 
sehen,  mogen  sie  nun  auf  Nachahmung,  Deutlichkeit, 
Gefalligkeit,  Spanr  ang,  Riihrung,  gliicklichen  Ausgang 
oder  dergleichen  I  aiauslaufen.  Die  Kunst  empfindet  den 
Zwiespalt   als   U' .iiberbruckbar   und   riickt  ab;  fiihlt 


274 


sich  iiberdies  im  echten  Streben  miftverstanden,  ver- 
kannt  und  beleidigt,  so  laI5t  sie  sich  auch  wohl  hinreiften, 
zu  verhohnen  und  7,u  verbliiffen,  und  die  Spaltung  wird 
zur  Feindschaft.  Gelingt  es  ihr  nicht,  liber  zeitliche 
Meinungen  hinweg  dem  gesundesten  Teile  des  Volkes 
die  Hand  zu  reichen,  so  wird  sie  entwurzelt;  die  Er- 
kenntnis,  daft  in  Wahrheit  nur  der  Kiinstler  den  Kiinstler 
voll  verstehe,  fiihrt  zum  gefahrlichen  Grundsatz  des 
Tart  pour  Tart,  und  die  naturgemafte  Urteilsweise  des 
Kiinstlers,  der  sich  leicht  iiber  Unvollkommenheiten  des 
Werkes  hinwegsetzt,  wenn  er  dahinter  den  echten  Trieb 
und  starken  Menschen  erblickt,  ermutigt  zu  der  be- 
quemen  Krafteersparnis  des  Angedeuteten  und  Skizzier- 
ten,  das  sich  immer  weiter  von  natiirlicher  Verstandlich- 
keit  entfernt. 

Inzwischen  aber  hat  sich  im  Publikum  ein  dritter  Astbetentwn 
Teil  gebildet:  die  Suggerierten  und  AfFektierten.  Kiinst- 
lerverkehr,  Zeitungslese  und  Kunstmarkt  hat  sie  zu  der 
Meinung  bekehrt,  dafi)  hinter  dem,  was  ihnen  eigentlich 
zuwider  ist,  doch  etwas  stecke,  was  zu  erkennen  ein 
Zeichen  von  Urteil,  Talent  und  Bedeutung  sei:  sie 
haben  die  beiden  streitendon  Parteien  diplomatisch  ge- 
priift  und  mochten  nicht  zur  banausischen  der  Angreifer, 
sondern  zur  gewahlten  und  interessanten  der  Ange- 
griffenen  gehoren.  Eine  gewisse  Art  zu  sehen  und  zu 
empfinden  haben  sie  schnell  erlernt  und  erprobt,  die 
allgemeine  Form  und  Farbung  des  Zeitgeschmacks  ist 
ihnen  bildlich  geworden,  die  Gewerbefreiheit  des  Kunst- 
urteils,  von  der  wir  gesprochen  haben,  kommt  ihnen  zu- 
statten;  und  wenn  sie  gar  wohlhabend  und  gebildet  sind, 
durch  Kaufe  wirken,  auf  Reisen  das  Entlegene  sammeln, 
ein  Urteil  gegen  das  andere  ausspielen  und  womoglich 


I 


^75 


einen  Kiinstler  im  Hintergrunde  halten,  der  die  wankende 
Erkenntnis  zeitweilig  zurechtriickt,  so  werden  sie  in  ihrer 
Vielzahl  oder  einzeln  zu  einer  Instanz,  die  vieles  aus- 
richtet  und  manchmal  tauscht,  solange  man  nicht  den  Ge- 
schaftssinn,  die  Herzenskalte  und  Unfruchtbarkeit  hinter 
dem  Geschwatz  erblickt.  Diese  Klasse  der  Astheten  hat 
um  ihrer  eigenen  Stellung  willen  ein  Interesse,  die  Kunst 
vom  Volke  fernzuhalten,  sofern  sie  nicht  etwa  vorzieht, 
die  mgdernsten  Produkte,  die  versriegensten  zuerst, 
dem  Publikum  in  ihrer  Koteriesprache  zu  verkiinden; 
und  da  sie  das  Gerade  vom  Schiefen  nicht  unterscheiden 
kann,  da  sie  das  Paradoxe  und  Extreme  als  Merkmal 
bevorzugt,  so  wird  sie  der  Kunst  gefahrlicher  als  die 
Zuriickgebliebenen  und  Kunstabgewandten. 

Ein  weltgeschichtliches  Moment  tritt  hinzu,  um  die 
Gefahren  der  Volksfremdheit  und  des  Asthetentums  zu 
steigern. 
fsminhmus  Als  um  die  Wende  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
die  biirgerliche  Gesellschaft,  von  der  Mechanisierung 
emporgerufen  und  bereichert,  in  den  geistigen  und  leib- 
lichen  Besitzstand  der  europaischen  Aristokratien  ein- 
trat,  'um  an  ihrer  Statt  die  Zivilisation  zu  beherrschen, 
wull)te  sie  ihren  Frauen,  die  gleichzeitig  der  sorgen- 
vollsten  hauslichen  Enge  entwachsen  waren,  nichts  zu 
bieten,  was  den  reprasentativen,  landesmiitterlichen 
Pflichten  ihrer  Vorgangerinnen  und  VorbiJder  entsprach. 
Die  Frauen  selbst,  anpassungsfahiger  als  ihre  Manner, 
trafen  schnell  die  eigene  Wahl;  bald  war  Tracht,  Be- 
nehmen  und  Lebensform  aristokratisiert,  uM  sie  grifFen 
mit  Leidenschaft  nach  einer  neuen  Distinktion,  die  von 
den  Adelsfrauen  nebenher  und  lassig,  aber  doch  ge- 
niigend  charakteristisch  geiibt  worden  war:  der  Bildung. 

a76 


Die  Frauen  der  Gelehrten  und  Kiinstler  schritten  voran, 
in  Berlin  die  Jiidinnen;  sie  leniten,  horten,  lasen,  dilet- 
tierten  und  reisten;  Dinge,  die  den  Grofimuttern  wo 
nicht  den  Hexentod,  so  doch  tiefe  biirgerliche  Ver- 
achtung  gebracht  hatten,  fiihrten  die  Enkelinnen  in  die 
Gesellschaft  der  fiirstlichen  Hauser  und  leitenden 
Manner.  Um  diese  Zeit  beginnt  Urteil,  Einflufi,  ja 
Mitwirkung  der  Frauen  in  Kunsc  und  Gewerbe  merklich 
zu  werden. 

Um  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  reifte, 
in  massenhafter  Zahl,  die  erste  in  Bildung  auferzogene 
Generation  biirgerlicher  Damen.  Je  tiefer  die  Manner 
in  die  wissenschaftlichen,  technischen  und  wirtschaftli- 
chen  Aufgaben  des  mechanischen  Zeitalters  verstrickt 
wurden,  desto  mehr  belebte  sich  der  kiinstlerische  und 
geistige  Anteil  der  Frauen.  Sie  waren  zu  Zeiten  die 
gelesensten  Schriftsteller,  die  begehrtesten  Maler  und 
Musiker  aller  Kulturlander.  Da  nun  der  weibliche  Geist 
auf  Erhaltung  gerichtet,  dem  Phantastischen  und  Kraft- 
vollen  fremd,  dem  Erlernbaren,  Handarbeidichen  geneigt 
ist,  so  entstand  jene  seltsam  beharrliche,  fast  fiinfzig- 
jahrige  Epoche  verlangerter  Romantik  und  versiifiter 
Epigonik,  an  deren  Auslaufer  wir  Alteren  uns  erinnern. 
Ungerecht  ist  der  Vorwurf,  dai^  es  an  revolutionaren 
Talenten  fehlte,  denn  Balzac,  Flaubert,  Dostojewski, 
Keller,  Nietzsche,  Manet,  Menzel  gehoren  dieser  Zeit 
an;  aber  ein  selbstbewufit  zaher  Zug  des  Publikums 
vermochte  die  Kunst  zur  Familiensache  zu  machen,  sie 
sollte  zwischen  Klavieriibungen ,  Stickereien  und  Ge- 
schichtsunterricht  rangieren,  und  es  ist  be/eichnend,  dal5 
in  den  fiihrenden  Kulturstaaten  drei  souverane  Frauen 
die   Zahmung   der  Kunst  betrieben.     Der  Einkauf  des 


277 


I 


Hausgeratf,  selbst  die  Beratung  des  Bauplans  ging 
die  Frauen  iiber;  das  gab  dem  sterbenden  Handwerk 
den  TodesstoG,  denn  es  verlor  unter  der  mangelnden 
Kontrolle  des  Materials  und  der  Arbeit,  unter  dem  Ver- 
langen  nach  Modischem  und  Imitiertem  den  letzten 
Halt  der  Sachlichkeit. 
RuchtvkkuHg  Bei  dieser  weiblichen  Kunstfursorge  begann  der  tatige, 

aufdie  Zeit  und  .  -  ,  a     r     ^  i      i  n  >r 

Steigerung  ^^^    neuartig   wacnsenden  Autgaben   bedrangte   Mann 

sich  als  Barbaren  zu  fiihlen;  Kiinstlerisches  und  Femi- 
nines  fiel  fiir  ihn  zusammen,  und  sofern  er  es  verschmahte, 
mit  halber,  liberholter  Sachkenntnis  sich  in  das  Salon- 
geplauder  zu  mischen,  hielt  er  sich  an  die  Klassiker 
seiner  Schulzeit  oder  kehrte  unerquickt  zur  Arbeit  sei- 
nes Berufes  zuriick.  Im  Gegensatz  zur  Romantik  wur- 
den  die  blutigen  und  unblutigen  Schlachten  der  neueren 
Zeit  von  kunstfremden  Mannern  geschlagen;  auf  die 
Bedeutung  dieser  Tatsache  werden  wir  zuriickkommen. 
Die  konservative  pseudoromantische  Epoche  fand 
ihr  Ende  in  dem  mannlichen  Aufschwung  der  achtziger 
Jahre;  das  weibliche  Forum  erschrak,  sammelte  sich, 
dank  neubewahrter  Anpassungsfahigkeit  und  fiihrte  die 
Revolution  zum  Siege.  Denn  es  batten  sich  inzwischen 
die  Horsale  und  Kiinstlerwerkstatten  dem  Ansturm  der 
Frauen  gedfFnet,  an  die  Stelle  des  Kranzchens  trat  die 
Kiinstlergesellschaft,  an  die  Stelle  des  Familienblattes 
die  Tageszeitung  und  wissenschaftliche  Rundschau,  die 
Verbindung  mit  den  verborgensten,  bisher  verleugneten 
Kraften  und  Regungen  des  Landes  und  der  Fremde 
war  gewonnen.  An  die  Stelle  der  Beharrung  trat  der 
von  der  Mode  her  bekannte  Drang  nach  dem  Neuen 
und  Extremen,  Kiinstler  und  Richtungen  wurden  ent- 
deckt  und   entthront,  der  Dilettantismus  iibte  sich  in 


178 


I 


neuen  Formen  und  Tanzen,  die  Mode  wnrde  ausdrucks- 

voll  und  dramatisch,  an  die  Stelle  der  gebildeten  Frau 

trat  das  kiinstlerische   und   vorgeschrittene   Weib.     In 

dieser  kiihnen  Stellung  nimmt  die  Weiblichkeit  die  Kunst  Wirkung  aufdh 

unserer  Zeit   entgegen.     Sie   stellt  die  liberwaltigende 

Mehrheit  der  Leser,  Horer  und  Beschauer,  und  wenn 

sie  die  publizistische  Kritik  noch  nicht  ausiibt,  so  lali5t 

sie  sich  die  Kritik  dieser  Kritik  nicht  nehmen,  die  wie- 

derum  vorwiegend    Frauen  und  Astheten  als  Lektiire 

dient  und  nach  diesem  Kraftfeld  sich  notgedrungen  all- 

mahlich  orientieren  muS. 

An  dieser  Gesamtlage  wird  sich  wenig  andern, 
wenn  die  Frau  den  neuen  Interessenkreis  politischer 
und  wirtschaftlichet  Verantwortung  sich  erschliefit.  So 
verkehrt  und  unhaltbar  es  ist,  intellektuellen  und  unab- 
hangigen  Frauen  die  biirgerlichen  Rechte  vorzuenthalten, 
so  toricht  ist  es,  ein  neues  Verhaltnis  der  Geschlechter 
aus  dieser  selbstverstandlichen  Erfiillung  zu  erwarten. 
Ein  drolliger  feministischer  TrugschluI5  sei  bei  dieser 
Gelegenheit  ins  Licht  geriickt.  Sie  sagen:  lal5t  uns  ein 
paar  Generationen  lang  der  Knechtschaft  entronnen  sein, 
und  ihr  werdet  sehen  — !  Das  ware  gut  und  schon,  wenn 
die  Weiber  nicht  ein  Geschlecht,  sondern  eine  Art  oder 
Rasse  waren.  So  aber  sind  auch  wir  die  Sohne  unserer 
Mutter  und  miissten  wie  unsere  Schwestern  am  Erb- 
teil  der  weiblichen  Knechtschaft  leiden,  wenn  es  ein 
solches  gabe;  und  wiederum  sind  sie  nicht  minder  als 
wir  die  Kinder  unserer  Vater  und  nehmen  somit  am 
voUen  Patrimonium  der  Uberlegenheit  teil. 

Wenn  wir  das  Verdienstliche  des  weiblichen  Anteils  WWhung  aufdh 
an  unserer  Kunst  freimiitig  und  dankbar  anerkennen  und 
uns  selbst  einer  wohltatig  ausgleichenden  Wirkung  nicht 

279 


verschliefien,  so  liegt  die  dauernde  Gefahr  dieser  Inge- 
renz  doch  keineswegs  allein  in  der  Bekraftigung  des 
Modemafiigen.  Der  weibliche  Geist  ist  erregbar,  aber 
nicht  sachlich;  wird  ihm  die  Emotion  geboten,  deren  er 
bedarf,  so  ist  er  geneigt,  die  Mittel  gelten  zu  lassen, 
sofern  sie  nicht  geradezu  verletzen.  Auf  ahnliche  Schwa- 
chen  wurden  wir  bei  der  Betrachtung  der  Astheten-  und 
Talentkiinste  gewiesen,  deren  Bliiten,  ohne  Wurzel  und 
Stengel  auf  Draht  gezogen,  einen  Tag  duften,  ohne  zu 
leben. 

Freilich   werden  diese  Surrogate,  auch  unter  dem 
starken  Schutz  des  weiblichen  Patronats,  das  Echte  nie- 
mals  unterdrucken  oder  vernichten,  aber  sie  verwirren 
den  Empfanglichen  und  rauben  dem  SchafFenden  Licht 
und  Luft.    Man  klagt  iiber  rasches  Absinken  der  Lei- 
stung  bei  jugendlichen  Talenten,  deren  Erscheinen  man 
begriifit  hatte;  fiir  die  ersten  Landschaften,  fur  einen 
Jiinglingsroman,  fiir  ein  liebenswiirdiges  Versspiel,  fiir 
eine  Reihe  rhetorischer  oder  erotischer  Strophen  hatten 
die  angesammelten  Jugendkrafte  hingereicht;  nun  erwar- 
tet  man   die  Vollendung  des  Mannes,  und  empfangt 
schwachlich  altliche  Wiederholungen  junger  Leiden  und 
Freuden,  leichte  Freiheiten  von  ehedem  zur  kompakten 
Manier  verdichtet,  gepflegte  Selbstimitation  des  studier- 
ten  eigenen   Typus.    Die  Schuld  der  unerfiillten  Ver- 
sprechen  tragt  die  verworrene  Meinung,  die  Talent  mit 
Schopfungskraft,  Begabung  mit  Berufung  verwechselt; 
der  Schaden  aber  widerfahrt  der  Kunst,  die  das  Volk 
mit  angepriesenen  und  schnell  verleugneten  Halbpro- 
dukten  iiberschiittet  und  sich  nicht  wundern  darf,  wenn 
sie  Mifitrauen  erntet. 

Wir  haben  lange  bei  der  Einwirkung  des  weiblichen 

180 


Geistes  auf  die  Kunst  unserer  Zeit  verweilt,  well  diese 
grundsatzliche  Erscheinung  geradezu  auf  eine  Anderung 
der  physischen  Voraussetzungen  hinauslauft.  Wir  diirfen 
uns  nicht  scheuen,  einen  zweiten,  nicht  minder  grund- 
satzlichen  Zusammenhang  ans  Licht  zu  ziehen,  der  zum 
Nachdenken  liber  den  kiinftigen  Gang  der  Kunst  auf 
fordert  und  den  man  als  das  Gesetz  des  ersten  Impul- 
ses bezeichnen  darf. 

In  der  Geschichte,  die  wir  kennen,  hat  sich  stets  der  Gesetz^des  ersten 
folgende  Grundvorgang  wiederholt:  Eine  erobernde 
Schicht  iiberdeckt  ein  Land  und  Volk.  Mag  die  Zahl 
der  Eroberer  zur  Zahl  der  Unterworfenen  noch  so  klein 
sein:  von  diesem  Tage  an  datiert  die  Geschichte  und 
meist  der  Name  des  Volkes,  seine  Lebensform,  Staats- 
verfassung,  Zivilisation ,  Kultur  und  Kunst,  denn  alle 
diese  Faktoren  sind  Willensprodukte  der  Oberschicht. 
Ich  habe  dargelegt,  dafi  in  einer  Bildungsform,  welche 
man  die  archaische  nennt,  diese  Lebensgiiter  verharren, 
bis  die  Vermischung  erfolgt.  Solche  Umlagerung  bleibt 
niemals  aus,  denn  es  gibt  kein  Mittel,  um  Bevolkerungs- 
schichten  dauernd  gegeneinander  abzusperren. 

Die  Hochepoche,  die  nunmehr  eintritt,  riittelt  die 
Kunst  auf  und  schafFt  sie  um  fiir  den  Beharrungszustand, 
den  sie  nun  zeitlebens  nicht  mehr  verlai5t.  Es  gibt  so- 
mit  zwei  Punkte  im  Leben  jedes  Volkes,  die  fiir  seine 
Kultur  und  Kunst  die  Linie  bestimmen:  Eroberung  und 
Umschichtung. 

Nun  tritt  ein  weiteres  Gesetz  in  die  Erscheinung. 
Die  SchalFung  der  endgiiltigen  Kunstformen  umfal5t 
stets  nur  wenige  Generationen.  Wir  kennen  den  Ver- 
lauf  solcher  Schopfungen  in  grower  Zahl:  die  Formen  der 
griechischen  Tragodie,  Geschichtschreibung  und  Plastik, 


^^\ 


der  romischen  Literatur  und  Baukunst,  der  Gotik,  der 
Florentiner  Kunst,  des  englischen  Dramas,  der  deut- 
schen  Dichtung  und  Musik  sehen  wir  aus  heterogeneni 
Keimzustanden  im  Laufe  von  einem,  zwei,  hochstens 
drei  Menschengeschlechtern  zu  ihrer  weltgeschichtlich 
giiltigen  Fassung  gelangen.  Und  hiermit  verbindet  sich 
unabanderlich  das  Unerwartete :  wahrend  man  annehmen 
konnte,  daI5  die  Anspannung  der  Formenschopfung  die 
'  Krafte  dieser  Geschlechter  aufzehre  und  erst  den  Nach- 
folgern  die  Aufgabe  uberlasse,  vollendete  Einzelwerke 
innerhalb  der  gefundenen  Form  zu  schafFen,  tritt  das 
Entgegengesetzte  ein:  der  erste  Impuls  erzeugt  sofort 
die  vollkommens ten  Werke,  und  niemals  wieder  wird 
die  Hohe  der  Erfinderzeit  erreicht.  Denn  es  liegt  nun 
einmal  etwas  Naturahnliches  in  diesen  Zeugungsvor- 
gangen:  nur  der,  welcher  die  Kraft  hatte,  die  Kreatur 
zu  woUen,  konnte  sie  bis  zum  Rande  mit  Geist  erfiillen, 
nur  der,  welcher  den  liberschieftenden  Reichtum  des 
Geistes  besafi,  konnte  erzwingen,  daj&  er  sich  in  neuer 
Form  verkorperte.  DaI5  aber  in  jenen  grofi)en  Zeiten 
die  gewaltigsten  Menschen,  niemals  vereinzelt,  stets  in 
gr6l5erer  Zahl  hervortraten,  ist  ein  Gesetz,  auf  das  wir 
eingehen  werden,  sobald  wir  auf  den  Anteil  der  stark- 
?ten  Geister  an  der  Kunst  unserer  Zeit  zuriickkommen. 
Keiner  der  Formenschopfer  wurde  durch  Nachfor- 
mende  iibertroifen,  kein  Grofier  hat  Endgiiltiges  geleistet, 
er  sei  denn  selber  ein  Formschdpfer  gewesen ;  und  so  lafit 
jenes  Gesetz  sich  in  dem  Sinne  umkehren,  dafi  wir  behaup- 
ten :  keine  Kunstperiode  mit  feststehenden  Formen  konne 
mehr  erleben  als  hier  und  da  eine  verspatete  Nachbiiite. 
i^4chblUfpn  So  haben  denn  die  Kunstformen  der  neuesten  Zeit, 
als  welche  man  etwa,  mit  teilweise  ungewohnten  Namen, 


das  absolute  Musikwerk,  den  Gesellschaft»roman,  de&s 
deutsche  Liedgedicht,  das  subjektive  Gemalde,  vielleicht 
noch  das  biirgerliche  Sittenstiick  nennen  diirfte,  fast  im 
Augenblick  ihres  Entstehens  die  hochstenVerkorperungen 
gefunden.  Vieles  Hocherfreuliche  ist  ausfiihrend,  er- 
ganzend,  nachholend  seitdem  geleistet;  vielfach  sind  die 
eigentlichen  Erfolge  erst  den  verstandlicheren  zweiten 
und  dritten  Aufgiissen  zuteil  geworden,  dalb  aber  das 
wahrhaft  Unentbehrliche,  die  Epoche  Erschopfende  nicht 
leicht  wiederkehrt,  das  empfindet  jeder  Unvoreingenom- 
mene  in  der  Stille  der  Biicherei,  wo  denn  allemal  die 
gleiche  Dutzendzahl  mittlerer  und  alterer  Werke,  und 
diese  immer  wieder  hervorgeholt  werden,  wenn  der  Geist 
eine  freie  Feierstunde  verlangt. 

Dieser  Zusammenhang  auI5ert  sich  in  manchen  falsch 
lokalisiertenEmpfindungen  und  mifideutetenSymptomen. 
Die  einen  beklagen  sich,  daI5  die  Farblosigkeit  unserer 
Sitten  und  Trachten,  die  Eintonigkeit  des  aufieren 
Handelns  und  die  Armut  der  Ereignisse  dem  Drama 
nicht  mehr  giinstig  sei.  Sie  mochten  sich  am  liebsten 
den  Brokaten  und  Dolchen  der  Renaissance  zuwenden. 
Das  bedeutet:  dal5  sie  das  Drama  Shakespeares  im  Her- 
zen  tragen,  und  dafi  diese  Kunstform  von  unserer  Zeit 
nicht  mehr  bis  zum  Rande  erfuUt  wird.  Andere  bedauern 
die  Erschopfung  derStofFe;  das  Leben  sei  karg,  typische 
Charaktere,  ergreifende  Konflikte  und  leidenschaftliche 
Situationen  seien  zu  zahlen.  Das  bedeutet,  dafi  eine  be- 
sondere  Art,  das  unendliche  Leben  zu  fassen,  zur  Kunst- 
form geworden  ist,  die  ihrerseits  nicht  unendlich  und 
somit  erschopfbar  ist.  Wiederum  gibt  es  Optimisten, 
die  von  jeder  neuen  Erfindung,  Verkehrsart  und  Berufs- 
gestaltung  erhoffen,  dafi  sie  neue  kunstlerische  Pragungen 


»n 


bewirken  werde;  sie  fragen,  warum  nichl  das  Epos  des 
LuftschifFs  oder  das  Drama  der  Kolonisation  geschrieben 
werde.  Das  bedeutet,  dail>  sie  das  Wesen  der  mechani- 
stischen  Welt  nicht  erfassen,  das  durch  technische  Lo- 
sungen  nicht  umgeschafFen,  sondern  lediglich  fortgefiihrt 
wird.  Dem  mechanisierten  Gesellschafcs-  und  Gefuhls- 
leben  ist  aber  bereits  im  Anfang  durch  Stendhal,  Balzac 
und  Flaubert  seine  Epopoe  geschaiFen  worden;  das  Da- 
monium  der  Unterschichten  haben  Dostojewski,  Tolstoi 
und  Strindberg  aufgedeckt,  und  das  Philistertum  hat 
Ibsen  besungen. 

Rekapitula-  Fassen  wir  dieses  nicht  sehr  sonnenvolle  Bild  von  der 
Einwirkung  unserer  Epoche  auf  das  Geschick  der  Kunst 
zusammen,  vergegenwartigen  wir  uns  die  Massenhaftig- 
keit  des  Betriebes,  die  Unsicherheit  der  Beurteilung,  den 
raschen  Wechsel  der  Moden,  die  Konkurrenz  der  Extra- 
vaganzen,  die  Belastung  mit  Erinnerungen  und  Ein- 
driicken,  erwagen  wir  den  wachsenden  Einflufi)  der  Asthe- 
ten  und  Frauen,  die  Volksfremdheit  eines  bedeutenden 
Teiles  der  Produktion  verbunden  mit  dem  steigenden 
Anspruch  auf  Internationalitat,  endlich  die  Bewegung  in 
feststehenden  Bahnen  und  Formen,  die  nur  durch  ge- 
waltsamie  Erschiitterung  der  Tie  fen  unserer  Gesamt- 
existenz  umgelenkt  werden  kann;  vergessen  wir  nicht 
die  Grundbedingung  der  subjektiven  Kunst:  dal5  sie  auf 
alle  Zwecke,  somit  auf  unmittelbare  staatliche,  gesell- 
schaftliche  und  wirtschaftliche  Niitzlichkeit  zu  verzich- 
ten  hat:  und  es  wird  uns  verstandlicher,  daI5  die  tatigen, 
leitenden  und  entscheidenden  Manner  unserer  Zeit  der 
Kunst  fremd  bleiben. 

Kunstflucht  Begegnet  man  unter  Militars,  Staatsleuten,  Gewerb- 
^"^^^treibenden  und  Gelehrten  einem  Mann,  der  fiir  bildende 

284 


und  redende  Kiinste  ein  mehr  als  konventionelles  Inter- 
esse  zeigt,  so  ist  leider  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit 
zu  befiirchten,  dal5  man  es  mit  einer  weichlichen,  leiden- 
den,  dem  Beruf  nicht  geniigenden  und  von  ihm  nicht 
ausgeftillten  Natur  zu  tun  habe.  Eine  geschmackvoUe 
Neigung  zu  altem  und  neuem  Hausrat,  ein  heimliches 
Talent,  eine  zufallige  Kiinstlerbekanntschaft  oder  weib- 
licher  Einflufi  ruht  zumeist  im  Hintergrunde.  Auszu- 
scheiden  sind  naturgemal^  die  Falle  reprasentativer  oder 
spekulativer  Neigung  und  diplomatischer  Anpassung. 
Die  aufrechten  Naturen  dieser  Klassen  liberlassen  die 
kiinstlerische  Fiirsorge  den  Frauen;  wenn  diese  nicht 
ausreichen,  Sachverstandigen;  von  der  zeitgenossischen 
Produktion  sind  sie  so  weit  entfernt,  dal5  ein  Gedicht- 
band  oder  ein  Bild  des  mittleren  Artistentums  ihnen 
so  unverstandlich  bleibt  wie  irgendeine  Spezialforschung 
oder  abseitige  Technik.  Vor  allem  aber  ist  ihnen  die 
Menschlichkeit  eines  grofien  Teiles  der  gegenwartig 
Schaffenden  fremd  geworden;  gewisse,  mit  der  Kunst- 
tendenz  wechselnde  Alliiren  erscheinen  ihnen  seltsam, 
mit  den  Worten  der  Koteriesprache :  Tempo,  Rhyth- 
mus,  Synthese  und  wie  sie  heifi)en  mogen,  finden  sie 
sich  nicht  zurecht,  und  handfeste,  sachliche,  ver, 
stehende  und  verstandliche  Menschen  der  Gegenseite- 
die  manchen  Widerspruch  entwirren  konnten,  treten 
ihnen  nur  selten  gegeniiber. 

Halten   wir  mit   dieser  zeitlichen  Erscheinung   der  Gesetz  der 
Kunstflucht  die  kiirzlich  gestreifte  geschichtliche  Erfah- g^gg^^£^gjj^^' 
rung  zusammen,  dal5  in  groI5en  Epochen  ein  gewaltiger  ^^^g 
Uberschufi  produktivster  Naturen  zum  gleichen  Augen- 
blick  an  eng  benachbarten  Orten  sich  einzustellen  pflegt, 
so  mochten  wir  nicht  gern  diesen  Reichtum  mit  der  perio- 


dischen  Analogic  fetter  Jahre  vergleichen,  sondern  viel- 
mehr  auf  die  gleichbleibende  Schopfungskraft  vertrauen 
und  annehmen,  daI5  nicht  die  Zahl  und  Starke  der  gei- 
stigen  Potenzen  einer  Zeit  und  eines  Landes  schwankt, 
sondern  ihre  Richtung.  Wie  die  Masse  der  Meere  un- 
verandert  bleibt,  ihr  Schwerpunkt  aber  von  meteorischen 
Kraften  gezogen  sich  leise  in  Ebbe  und  Flut  bewegt,  so 
scheinen  die  Geisteskrafte  der  Volker  und  mit  ihnen  die 
jeweils  starksten  Exponenten  nach  wechselnden  Wir- 
kungsflachen  hingetrieben.  Diese  Wirkungsflachen  aber 
wirdmandort  suchen  miissen,  wo  jederzeit  der  starkste 
AngriiF  gegen  das  innere  Leben  droht,  oder  wo  das 
reichste  Wachstum  moglich  ist;  so  laI5t  die  Pflanze  ihre 
Safte  zur  Heilung  einer  Wunde  oder  zur  sonnenbegiin- 
stigten  Bildung  eines  neuen  Triebes  der  gefahrdeten  oder 
bevorzugten  Stelle  ihres  Korpers  zustromen. 

Gibt  es  eine  Flucht  starker  Personlichkeiten  von  der 
Kunst  hinweg,  so  miifite  demnach  ein  Zudrang  nach  an- 
deren  Lebensgrenzen  hin  wahrnehmbar  sein;  und  wir 
tauschen  uns  vielleicht  nicht,  wenn  wir  heute,  und  gleich- 
zeitig  in  all^n  Kulturstaaten,  die  Tat,  und  zwar  enc- 
sprechend  der  Mechanisierung,  die  wirtschaftliche  Tat 
als  das  SchafFenselement  der  starksten  Potenzen  an- 
sprechen. 
tVenduns^utrTat  Hier  crblicken  wir  denn  auch  wirklich  die  gefahrde- 
ten Regionen  des  nationalen  Lebens,  insofern,  als  heute 
die  Selbstandigkeit  der  Volker  zum  guten  Teil  auf  dem 
Erfolg  des  wirtschaftlichen  Wettkampfes  beruht;  und  eng 
benachbart  den  bedrohten  Positionen  erkennen  wir  die 
Ausbruchspforten  einer  neuen,  nicht  liberlieferbaren, 
schrankenlos  erscheinenden  Expansion.  Die  menschlichen 
Potenzen,  die  an  diesen  Grenzbezirken  schaffen,  sind  dem 

286 


Namen  nach  vielen,  dem  Wesen  nach  wenigen  bekannt, 
well  die  geschichtliche  Betrachtung  sich  nur  dem  Abge- 
schlossenen  und  Erledigten  gegeniiber  sicher  fiihlt;  man 
ist  daher  geneigt,  jene  Tatigkeit  als  eine  unindividuelle, 
auf  Routine,  Erfahning  und  allgemeiner  Weltklugheit  be- 
ruhende  gelten  zu  lassen,derenanonymesVerdienstdurch 
materielle  Ertrage  liber  Gebiihr  belohnt  ist,  wahrend  der 
Aufwand  an  Phantasie,  Intuition,  schopferischer  Erkennt- 
nis,  den  die  Nation  an  diese  Peripherien  zu  entsenden  hat 
und  die  allein  den  Erfolg  unerhorter  Arbeit  verbiirgen, 
unbeachtet  bleibt.  Hier  zeigt  sich  denn  auch  die  Er- 
scheinung  jener  Einsamkeit  des  Wirkens,  die  den  Stark- 
sten  vorbehalten  ist,  weil  sie  nicht  allein  sich  ihre  Auf- 
gaben,  sondern  auch  ihre  Gebiete  schafFen.  Niemals  sehen 
wir  die  Starksten  in  Konkurrenz,  an  liblichen  Aufgaben 
und  auf  betretenen  Wegen.  Es  ist  Irrtum  der  Epi- 
gonen,  nie  geschaute  Friichte  zu  erwarten,  wenn  sie  die 
von  den  Vorfahren  gelockerte  Scholle  von  neuem  um- 
wenden;  das  groi^e  Werk  ist  kein  Erbstiick  wie  Wiese  und 
W'ald,  die  sichimmer  wieder  diingen  und  durchforsten  las- 
sen;  und  kamen  Shakespeare  und  Kleist  heutezuriick,  so 
wiirden  sie  nicht  die  alte  Arbeit  aufnehmen  und  sich 
selbst  fortsetzen,  sondern  neue  und  ungeahnte  Auf- 
gaben suchen  und  finden. 

So  sind  wir  wiederum  beim  Gesetz  des  ersten  Im- 
pulses angelangt  und  bei  der  Stimmung,  die  uns  die 
gegenwartige  Epoche  als  eine  der  Kunst  nicht  durchaus 
forderliche  zeigt.  Zu  untersuchen,  ob  und  wie  lange 
diese  Witterung  anhalten  mag,  ist  hier  nicht  geboten. 
Die  Erkenntnis  des  katastrophalen  Charakters,  den  wir 
den  hochsten  Kunstepochen  zusprechen  muBten,  zwingt 
uns    zur    resignierren   HoiFnung,   e^    mochten    unseren 


287 


Nachkommen  die  Erschiitterungen  erspart  bleiben,  die 
so  gefahrliche  Zeiten  emporfunrten. 
Kunst  als  Ge-        Niemals  wird  die  Menschheit  auf  ihrem  Gange,  der 
leiterm  ^^j.  ^qqIq  fiihrt,  der  Kunst  entbehren,  noch  ihr  entsagen. 

Sie  hat  uns  dutch  das  Vehikel  der  iroh  genieC)enden, 
heftig  begehtenden  und  unmittelbaren  Sinnlichkeit  zur 
Natur,  zum  Weltgesetz  und  zur  Transzendenz  gefuhrt. 
Nun  sind  auch  wit  auf  diesem  Wege  hetangewachsen. 
Hat  vordem  Natur  zu  begiinstigten  Menschen  und  Stam- 
men  gesprochen,  ihnen  mit  leiser  Hand  Begehren  und 
Fiirchten  von  den  Augen  gestrichen  und  auf  das  Ewige 
gedeutet,  so  spricht  sie  heute  zu  vielen,  und  dereinst 
wird  sie  zu  alien  sprechen.  Vielleicht  ist  der  Kiinst- 
ler  nur  der  Vorlaufer  des  Menschen,  zu  dem  die  Na- 
tur spricht;  vielleicht  sind  auch  jene  Halbgliicklichen, 
die,  auf  ihr  Talent  pochend,  die  schone  Gabe  ihrer  Sinne 
umzumiinzen  suchen,  nur  in  der  Richtung  getauscht; 
sie  waren  gliicklich,  wenn  sie  horen  woUten,  ohne  zu 
reden,  wie  dereinst  alle  horen  werden.  Dann  ware  es 
mdglich,  dafi  die  Kunst  schon  jetzt  beganne,  ihren 
Schritt  zu  zahmen,  der  weit  der  Menge  vorausgeeilt  ist, 
und  es  diirfte  uns  selbst  die  Ungunst  der  Periode  als  ' 
ein  gliickliches  Vorzeichen  erscheinen. 

Da  nun  der  denkende  Geist  iiber  die  Schranken  der 
Sinnlichkeit  unaufhaltsam  hinausstrebt,  so  wird  auf  einer 
letzten  Sttecke  diejenige  Kunst  seinen  Weg  zu  geleiten 
haben,  die  heute  abseits,  von  der  Forschung  bedrangt 
und  libertaubt,  ein  schlummerndes  Dasein  fiihrt,  die 
Kunst  des  Gedankens.  Aber  auch  sie  ist  nicht  ein  ab- 
solutes Gut,  denn  wie  liber  die  Sinne,  so  schreitet  auch 
liber  das  Denken  die  Seele  hinweg. 


2S8 


111. 

DIE  PRAGMATIK  DER  SEELE 

Im  Anfang  dieser  Schrift  habe  ich  bekannt,  dafi  eine  Wurzeln  der 

Wirkliclikcit 
Meinung  mir  nur  dann  vertrauenswiirdig  scheint,  wenn 

sie  bei  aller  aufieren  Festigkeit  des   Stammes  und  bei 

aller  freien  Phantastik  der  organischen  Verzwelgung  mit 

gesunden  Wurzeln  in  derWirklichkeit  desTages  haftet;  ja 

noch  mehr,  wenn  der  Boden  dieser  Wirklichkeit  sich  mit 

Trieben  und  Schdfilingen  durchsetzt  erweist,  die  richtig 

erkannt  und  gedeutet  die    echte  Bodenstandigkeit  und 

vegetative    Kraft    dieser    Wahrheit    bestatigen.     Diese 

Auffassung  bedeutet  nicht  eine  Uberschatzung  der  er- 

scheinenden  Wirklichkeit,  sondern  die  Ehrfurcht  vor  der 

Vieldeutigkeit  und  Kontinuitat  des  Natiirlichen,  das  all 

2u  reich  und  all  zu  schdpfungskraftig  ist,  als  dafi  es  mit 

gemeiner  Tauschung,  mit  Sprunghaftigkeit,  mit  falschen 

Bildern  und  briichiger  Symbolik  sich  behelfen  miifite. 

Deshalb  steht  uns  jetzt  die  Aufgabe  bevor,  im  ofFen-  Problem  der 

kundigen  Leben  die  Wurzeln  des  Seelenreiches  zu  finden,  Kontinuitat 

ja  noch  mehr:  wir  miissen  wissen,  ob  dies  Reich  in  der 

irdischenPorm  seiner  AusbreitungdemvereinbartenWirk- 

lichkeitsleben  ertraglich  ist,  aufdessen  Boden  es  wachsen 

soil,   ob  der  bisherige  Entwicklungslauf  dutch   die   Er- 

19  289 


fiillung  des  Reiches  seine  vollkommene  und  verscihnende 
Deutung  findet. 
Ausschaitungder  Die  Probe*  Ware  verdachtig,  wenn  sie  uns  eine  zeit- 
ilche  Gliickseligkeit  auf  Erden  vorspiegelte.  Denn  die 
Seele  sucht  nicht  das  Gliick,  sondern  die  Erfiillung. 
Nicht  fiir  sich,  nicht  fiir  die  andern,  nicht  fiir  die  Ge- 
meinschaft,  nicht  fiir  Gott  sucht  sie  Gliick,  sondern 
Miihsal ;  freilich  eine  edlere  Miihsal  an  Stelle  einer  kiim- 
merlichen. 

Nach  dem  Gange  unserer  Darlegung,  die  uns  von 
intellektualer  Wercung  befreit  und  zu  absoluter  Wer- 
tung  gefiihrt  hat,  ist  nicht  mehr  zu  befiirchten,  dafi 
dieser  Satz  paradox  erscheine  und  dafi  noch  fernerhin  ein 
utiiitarisches  Gut:  Gliick,  Gerechtigkeit,  Dauer,  Frieden, 
als  oberster  Lohn  und  Zweck  auch  nur  fiir  irdisches  Da- 
sein  gefordert  werde.  Dennoch  sei  in  Kiirze  von  einer 
bisher  nicht  beriihrten  Seite  der  Gedanke  nochmals 
erlautert. 
Giiiikspotentiai  Wenn  uns  das  Leben  irgendeines  Tieres  als  Inbe- 
grifF  einer  vollkommenen  Gliickseligkeit  glaubhaft  ge- 
macht  w^erden  konnte,  so  wiirde  ein  hochgesinnter 
Mensch,  und  ware  er  noch  so  bekiimmert,  nicht  wiin- 
schen,  unter  Darangabe  seiner  menschlichen  Einsicht  in 
dieses  Tier  verwandelt  zu  werden.  Selbst  unsere  primi- 
tiven  Wiinsche  werden  somit  nicht  bestimmt  von  der 
Gliickspramie  allein,  sondern  von  einem  Potential,  das 
sich  zu  vergrdliern  strebt  und  sich  gegen  Verringerung 
wehrt.  Dai5  dieses  Potential  mit  der  Seelennahe  gleich- 
zusetzen  ist,  lafit  sich  beweisen;  denn  jeder,  der  eines 
Hauches  von  Seele  teilhaftig  geworden  ist,  wird  jede 
Riickversetzung  in  tiefere,  ja  tiefste  menschliche  Lebens- 
lage   dem  Verluste  dieses  Hauches  vorziehen,  er   wird 


290 


eher  bereit  sein,  den  Weg  Buddhas  zu  wandeln  als  den 

umgekehrten.    Der  seelenlose  Mensch  jedoch,  dam  das 

gleiche  durch  alle  Natur  gegossene  Potentialstreben  ein- 

gepflanzt  ist,  wird  die  Empfindung  falsch  lokalisieren,  in 

ihr   eine   Bekraftigung   seines  materiellen   Strebens    er- 

blicken,  ihr  durch  alle  aufsteigenden  Lebenslagen  folgen 

und  auf  jeder  neuen   Smfe    erstaunen,    „dass    es    auch 

nichts  ist".    Das  Streben  nach  dem  Potential  ist  somit 

selbst  im  primitivsten  Leben  realer  als  das  Streben  nach 

dem  Gliick,  und  dennoch  nur  eine  getriibte  und  bewufit- 

lose  Form   des  Strebens  nach  Seele.    Einen  handlichen 

Vergleich   dleser   Kraftefolge  bietet   das  Tier,    das   mit 

Zucker  gezahmt  wird,  das  Kind,  das  aus  Ehrgeiz  lernt 

und  nicht  ahnt,  wozu  das  Erlernte  taugt,  der  Mann,  der 

wissend  um  Erkenntnis  ringt,   weil  tieferkannte  innere 

Not  ihn  treibt. 

Der  Kampf  um  das  Gliick  ist  die  objektivierte  ¥  or  m  See/e  und  Se/rg 

der  intellektualen  Zweckhafrigkeit;  im  Sinne  des  Schop- 

fungswillens  aber  wird  nicht  gespielt  um  des  Einsatzes 

willen,  sondern  der  Einsatz  wird  geschaffen,  weil  gespielt 

werden  soil.    Wir  wissen,  das  Gliick  ist  ein  intellektual 

gedachtes  Gut;  wir  folgen  der  Seele  aus  der  Notwendig- 

keit  unseres  Seins  und  um   der  Wiirde   der  Schopfung 

willen,  unbekiimmert,  ob  das  neue  Reich  uns  schwererc 

Miihen  auflegt  als  das  alte,  dankbar  fur  den  Quell  der 

Liebe,  den  es  erschlielSt. 

Eine  zeitliche    Gliickseligkeit   werden  wir  vom  be-,Irdische  In*- 
,        „    .  ,       J      p     ,  .  ,  ,       .       stitution  und 

ginnenden  Reiche  der  Seele  so  wenig  verlangen  als  erne  geelische  For- 

ewige.    Aber  da  wir  seine  Wirklichkeitswurzeln  suchen  derung 

und  an  die  Kontinuitat  der  Erscheinung  glauben,  so  haben 

wir  zu  priifen,  ob  unsere  Weltordnung  mit  seinen  neuen 

Voraussetzungen  bestehen  oder  yeredelt  werden  kann; 

19*  291 


denn  konnte  sie  es  nicht,  so  ware  eine  Diskontinuitat 

gegeben,   die  uns   zwange,  den  Gedankenweg  zu  revi- 

dieren. 

Priifung  der        Da  die  Evolution  der   Seele  den  Menschen  im  In- 
Motoren  i        ,.     ^    /-  ,       i      i 

nersten  umgestaltet,  so  ware  zunachst  die  Gefahr  denk- 

bar,  dais  die  intellektualen  Motoren,  welche  den  sozio- 

logischen  Weltmechanismus  treiben,  geschwacht,  ja  ver- 

nichtet  werden,    dafi    somit    die    menschliche   Belebung 

der  Erde    verlosche   oder   in   ungliicklichster    Selektion 

den   Seelenlosen    als    den   irdisch    Starkeren    verbleibe. 

Gefahr:  nicht  zwar  im  Sinne  des  Geschehens,  denn  wenn 

die  Seele   lebt,  so  mag  das  Animalische  vergehen  und 

werden;    Religionen,    Sittenlehren    und    philosophische 

Doktrinen  haben  diesen  Untergang  ohne  HofFnung  des 

neuen  Tages  gepriesen  und  dutch  Askese  und  Weltflucht 

eingeleitet;    Gefaht  vielmeht    im   Sinne    des   Denkens, 

denn  es  widetspricht  dem  Gange  det  Natut,  der  ptak- 

tischen  Etfahtung  und  det  empirischen  Voraussicht,  dal5 

dutch    katasttophale    Selbstvernichtung    gleichsam    ein 

Vakuum  im  Sttom  des  Geschehens  geschafFen  werde. 

Witd  nicht  dieset  ungeheute  Mechanismus  vom  Be- 

gehren  und  vom  Kampf,  vom  Denken  und  vom  Zweck 

getrieben?  1st  nicht  alles,   was  wit  Fottschritt  und  Ent- 

wicklung  nennen,  Ptodukt  det  hdchsten,  eigensiichtigen, 

erfindetischen  Not?  1st  nicht  der  Mangel,  das  Elend,  die 

Angst,  die  Sorge,  selbst  das  Verbrechen  ndtig,  um   die 

Geschwindigkeit  des  Umlaufs  bis  zut  Schwungktaft  det 

Mechanisietung  zu  steigetn?   Was  soil  geschehen,  wenn 

die    Mototen    etlahmen,    das   Begehren   schweigt,    der 

Kampf  in  Liebe  endet,  das  Denken  im  Schauen  aufgeht 

und   det  Zweck   erstirbt?    Wenn  Angst  und  Not,   abet 

auch  Tagesfreuden,  Eitelkeiten  und  Ttiumphe,  Ehrgeiz, 


;9i 


rieiTSchergeliiste   und   Tatenstolz    vergessene    Geriichte 
sind? 

Mancher  wird  meinen,  dafi  ohne  die  lebendige  Kraft 
dieser  Motoren  die  menschliche  Welt  nicht  einen  Tag 
bestehen  kann,  und  damit  dieser  Welt  das  Zeugnis  aus- 
stellen,  dafi  sie  nicht  verdiene,  einen  Tag  zu  leben,  und 
dafi>  es  besser  sei,  sie  ware  nicht  geschaiFen  worden. 
Ich  sage,  es  wird  Zeiten  geben,  die  von  unseren  Sorgen, 
Noten,  Kleinhelten,  Freuden  und  Schlechtigkeiten  nicht 
anders  sprechen  werden,  als  wir  von  Kannibalismus, 
Menschenopfern,  Blutschande,  Fetischismus ,  Hexerei, 
Inquisition  und  Folter.  DIese  Jugendtorheiten  des  Men- 
schengeschlechts  wogen  leicht,  denn  sie  ermangelten  des 
Urteils;  sie  waren  schwer  abzutun,  denn  niemand  kannte 
Mittel  und  Weg. 

Unsere  Alterstorheiten  wiegen  schwerer,  denn  wir 
sind  ihrer  bewufit,  aber  sie  sind  leichter  abzutun,  denn 
das  Denken,  das  sie  geschafFen  hat,  steht  uns  zur  Seite, 
um  sie  zu  verscheuchen. 

Freilich  wird  man,  wo  von  menschlichen  Dingen  Zeitikher  Vw- 
allgemein  die  Rede  ist,  niemals  an  hundertprozentlge 
Wirkungen  denken  diirfen.  Wie  jede  Untat  vorzeitlich- 
ster  Art,  jeder  Greuel,  den  menschliche  Phantastik  aus- 
zudenken  fahig  ist,  noch  heute,  stiindlich,  irgendwo  in 
der  Welt  begangen  wird,  und  dennoch  nichts  bedeutet 
als  eine  kiimmerliche  Ausnahme,  einen  schrecklichen 
Unfall,  ein  fliichtiges  Erschauern  des  Menschheitskorpers, 
weil  eben  aller  gesunde  Geist  sich  ausnahmslos  gegen 
den  Giftstoff  auflehnt:  so  mag  in  spatester  Zeit,  wenn 
alle  Freude  am  Besitzneid  und  am  kauflichen  Tand 
langst  vergessen  ist,  noch  immer  ein  Negerweib  sich 
Kostbarkeiten   um   Hals  und   Schadel   flechten,   in   der 


293 


HoiFnung  und  rielleicht  mit  dem  Erfolge,  eine  andere 
durch  die  Schaustellung  zu  kranken.  Immer  werden, 
und  jedem  Menschen,  im  Traum  und  Wachen  Diister- 
nisse  liber  die  Seele  schleichen,  immer  werden  wir 
wanken  und  irren;  was  der  Geist  mifibilligt,  werden  die 
Damonen  des  alten  Blutes  insgeheim  vollenden;  wir 
werden  wie  heute  schreckenvoU  vor  unseren  eigenen 
Handlungen  stehen  und  nicht  begreifen,  wer  und  was 
sie  beging.  Aber  der  Zauber  des  Bdsen  und  der  Ver- 
zweiflung  ist  gebrochen,  wenn  die  Richtung  gefunden 
ist,  wenn  der  Irrtum  zur  Ausnahme  wird,  wenn  der 
Wille  feststeht.  Eine  Anschauung,  die  auf  eine  aus- 
nahmlose  VoUkommenheit  des  Menschlichen  in  noch  so 
spater  Zeit  hoffte,  ware  irreal;  eine  Anschauung,  die 
sicli  der  Gesamtentwicklung  des  sittlichen  Geistes  ver- 
schlosse,  ware  niedrig. 

So  wird  auch  das  Begehren  niemals  ganzlich  ver- 
stummen.  Weder  verlieren  die  Sinne  ihre  Macht,  noch 
wird  die  Menschheit  ihren  gewaltigen  Haushalt  zur 
betteihaften  Diirftigkeit  dampfen.  Behaglichkeit  des 
Lebens,  Wechsel  und  Anregung  darf  und  wird  sie  auch 
kiln  frig  fordern,  Mangel  und  Not  bekampfen.  Noch 
weniger  wird  ein  mechanischer  Altruismus  zu  erstreben 
sein,  der  nichts  weiter  bedeutet  als  die  pedantische 
Umlenkung  des  eigenen  Begehrens  auf  ein  fremdes 
Ziel,  eine  Umsteuerung  des  Motors  auf  indirekte  Wir- 
kung. 
Hauptmotsren:  Denuoch,  tauscheu  wir  uns  nicht:  auch  bei  realster 
Macht  **"  Einschatzung  der  Prozentsatze  und  Wirkungsgrade  ver- 
kiindet  jede  Anderung  des  psychologischen  Klimas,  vor 
allem  aber  die  Abkiihlung  der  heute  wirkenden  leiden- 
schaftlichen  Triebkrafte,  eine  so  ernstliche  Umlagerung 


294 


des  nmteriellen  Wesens,  dafi  wir  die  gestellte  Frage,  ob 

der  Weltgang  mit  der  Seelene volution  zu  vereinen  sei, 

gewissenhafc  zu  priifen  haben.   Wir  diirfen  die  Priifung 

beschranken    auf  die  Einschatzung   der   beiden  Haupt- 

motoren:  das  Streben  nach  Besitz  und  das  Streben  nach 

Macht,  die  uns  im  materiellen  Leben  vorzugsweise  als 

Warenhunger    und    als    Ehrgeiz    entgegentreten.     Die 

negativen   Fakroren   des  Mangels  und  der  Not   diirfen  Not  und  Mangel 

ausgeschaltet   werden,    denn    sie   bedeuten   Zeitfragen.  * "^    "^J^^^"* 

Die  restlose  Beseirigung  aller  wirklichen  Not  wiirde  den 

Kulturstaaten  weit  weniger  kosten  als  ihre  Rxistungen. 

Zwei  Milliard  en,  weniger  als  der  dritte  Teil  der  diFent- 

lichen  Budgets,  in  Deutschland  jahrlich  aufgebracht  und 

richtig  verwendet,  wiirden  die  letzte  Spur  von  Not  aus 

dem  Lande  treiben.    Die  Unfahigkeit  und  Indolenz  des 

legislatorischen  Geistes  in  den  Kulturlandern  ist  verant- 

wortlich     fur     die    Blutschuld     und    Schande    unserer 

Epoche,  die  gesiihnt  sein  wird,  bevor  dieses  Jahrhundert 

sich  neigt.    Die  Zeitlichkeit  und  relativ  leichte  Abstell- 

barkeit   der   materiellen  Not   beweist,   das    sei  in  Pa- 

renthese  bemerkt,  den  akzidentellen  und  transzendenz- 

losen  Standpunkt  jeder  Anschauung,  welche  materielle 

Lebensbesserungen  in  den  Mittelpunkt  ihrer  Gedanken 

stellt. 

Denken  wir  uns  nun  zunachst  alien  dringenden  5«//».  Ent^ 
Mangel  beseitigt,  sodann  den  allgemeinen  Warenhunger  ^l^*Jlchaft 
so  weit  gestillt,  als  es  bei  den  wahrhaft  Gebildeten  der 
Kulturstaaten  schon  beute  der  Fall  ist:  insofern  sie 
grossenteils  ein  einfaches,  ja  diirftiges  Leben  frei- 
willig  fiihren,  ein  diirfrigeres  aber  zu  fiihren  be- 
reit  waren,  wenn  durch  eine  gemeinsame  grofie  Be- 
wegung  der  Menschheit  ein  entscheidender  Dienst  ge-* 


z^S 


leistet  werden  kdnnte.  Die  ersteFolge  ware,  dafi  einhochst 
bedeutender  Teil  der  materiellen  Weltarbeit,  der  heute 
vergeudet  wird,  seies  erspart,seiesfurechte  Verbesserung 
und  Verschdnerung  der  Lebensverhaltnisse  verfiigbar 
wiirde.  Denn  wenn  man  annimmt,  dass  fur  die  Herstellung 
von  Giften,  von  Mitteln  zurBerauschung,  Betaubung  und 
Reizung  der  Sinne,  fiir  Modetand  und  uberfliissige  De- 
koration,  fur  fiktiven  Gebrauch,  irrige  Reprasentation 
und  Neiderregung  ein  gutes  Drittel  der  menschlichen 
Arbeit  in  Form  von  Bodenprodukten,  Chemikalien,  Mine- 
ralien,  Textilstoffen,  Keramiken,  Leder-,  Papier-,  Stein- 
und  Metallarbeiten  aufgewendet  wird;  dafi  die  Mittel 
und  Einrichtungen  zur  Herstellung,  zum  Transport,  zum 
Grofi-  und  Kleinhandel  und  zur  Applikation  dieser  Uber- 
fliissigkeiten  und  Scheufilichkeiten  nochmals  die  Halfre 
dieses  Betrages  verschlingen;  so  darf  man  sagen,  dafi 
die  halbe  Arbeit  der  zivilisierten  Welt  der  Erzeugung 
von  Unrat  dient  und  dafi  die  Halfte  ihres  Einkommens 
aufgewendet  wird,  um  ihn  zu  bezahlen.  Die  Okonomie- 
lehre  des  XVIII.  Jahrhunderts  wiirde  dem  entgegen- 
halten,  der  Luxus  bringe  Geld  unter  die  Leute,  wenn 
er  aufhdrte,  miifiten  sie  hungern.  Dieser  Einwand 
ist  heute  nicht  mehr  zu  erwarten,  denn  jeder  Kenner 
wirtschaftlicher  Dinge  weifi,  dafi,  sofern  RohstofFe  und 
Betriebsmittel  ausreichen,  keine  Hand  dauernd  zu  feiern 
braucht,  gleichvlel  welche  konsumierbaren  Warenkate- 
gorien  erzeugt  werden. 

Nun  kdnnte  die  zweite  Form  des  Hungers  nach  Be- 
sitz  zur  Erhaltung  des  Weltgetriebes  unentbehrlich 
scheinen:  die  Begierde  nach  Vorrat,  nach  Wirtschafts- 
mitteln,  nach  Kapital.  Da  sie  in  ihren  Wirkungen  mit 
dem  Streben  nach  Macht  zusammenfallt,  kdnnen  wir  sie 


296 


in  die  Betrachtung  dieses  bedeutungsvoUen  Motors  ein- 
ordnen. 

Man  sagt,  dafi  der  Wille  nach  Macht  die  Welt  vor- Macbt 
warts  treibe.  Schwiege  er,  so  entbehrten  wir  der  Fuh- 
rung  und  Initiative,  des  wirkenden  und  organisierenden 
Gedankens;  die  Welt  miifite  ermiiden,  veralten,  ver- 
dummen,  ja  verhungern.  Und  wirklich  sehen  wir, 
wie  die  Krafte  des  Kampfes  und  Wettkampfes  die 
Massen  vereinigen  und  durch  Organisation  beleben, 
wie  sie  die  Mittel  und  Werkzeuge  versammeln  und  in 
ihrer  Wirkung  steigern,  das  Neue  ersinnen  und  ergreifen, 
das  Alte  und  Uberlebte  vernichten,  Gleichstrebendes 
im  Biindnis  mitreifien  oder  niederwerfen,  Hilfskrafte 
der  Natur  erschliefien,  unbekannteFernen  durchforschen; 
wir  sehen  den  gewaltigen  Apparat  der  lebenden  und 
toten  Maschinerie  so  durchgeistigt,  dafi  er  mit  seinen 
sensibelsten  Nerven  dem  leisen  Impuls  des  fiihrenden 
Willens  gehorcht,  wahrend  die  zyklopischen  Glieder 
den  Erdball  umspannen  und  Erz  um  seine  Fianken 
Schmieden. 

Was  auf  Erden  kame  an  damonischer  Gewalt  dem  Ehrgeh. 
Willen  zur  Macht,  dem  Ehrgeiz  gleich,  wenn  wirklich  er 
dies  Unerhorte  vollfiihrt  hat!  Aber  wir  blicken  ihm  ins 
Herz  und  finden,  dalb  er  sich  eitel  briistet.  Er  ist  nicht 
schopferisch.  Uralte  Rache  und  Rankiine  getretenen 
Sklaventums  hat  ihn  emporgetrieben.  Nicht  mehr  ge- 
horchen  mussen,  nicht  mehr  verachtet  werden,  nicht 
mehr  beiseite  stehen,  nicht  mehr  ausgeschlossen 
sein,  ist  seine  angsterfuUte  Leidenschaft.  Endlich 
einmal  selbst  herrschen  und  angebetet  werden,  die 
Menschheit  erniedrigen  um  sich  zu  erhohen,  alles 
besitzen,  um  nach  Willkiir  zu  verteilen   und  selbst   die 


297 


Grofimut  zur  Fratzenkomodie  zu  machen  ist  sein  Traum. 
Er  wird  sich  wegwerfen  und  beschmutzen,  um  zu  er- 
reichen;  im  Triumph  glaubt  er  die  Schande  zu  ersticken. 
Sklavenblut  im  Desporengewand ;  sein  Wesen  ist  Furchr, 
Gier,  List  und  Zweck. 
Sachiicbkeit  Ehrgeiz  hat  in  dieser  Welt  nie  anderes  gewirkt  als 
schlaue  Frakriken,  kleine  Mittel  und  mittlere  Zufalls- 
erfolge.  Seine  Aufgabe  ist,  die  schopferischen  Naturen 
zu  afFen,  ihnen  als  Werkzeug  und  Zubringer  zu  dienen 
und  in  ihrem  Schatten  zu  verzweifeln.  Nahern  wir  uns 
aber  den  wahrhaft  Grofien,  den  Schopfern  der  Gedanken 
und  Werke,  so  erkennen  wir  Menschen,  die  der  Sache 
dienen.  Ist  ihre  Sache  Ordnen  und  Herrschen,  so  wer- 
den  sie  ihr  getreu  sein,  nicht  anders,  als  wenn  ihre 
Sache  Leisten  und  Gehorchen  ware.  Schein,  Neben- 
wirkung  und  Lohn  bedeutet  ihnen  nichts;  auf  Besitz, 
Macht  und  Leben  verzichten  sie,  wenn  ihrer  Sache  ge- 
dient  ist.  Diese  Liebe  zur  Sache  ist  transzendent,  denn 
sie  ist  zweckfrei  und  intuitiv;  intuitiv,  phantastisch  und 
divinatorisch  sind  auch  die  Geisteskrafte,  die  sie  ent- 
fesselt. 
Vnantvjortung  Solcher  Art  waren  und  sind  die  Menschen,  die  den 
weltlichen  Dingen  ihre  Formen  gegeben  haben.  Die 
Leidenschaft,  die  sie  bewegt,  ist  die  gleiche,  die  den 
Kunstler,  den  Forscher,  den  Handwerker  und  Bauer  be- 
seelt;  sie  heifit  Schaffensfreude.  Ein  weiteres  Hoch- 
gefiihl  des  tatigen  Menschen  mufi  sich  m  ihnen  zur 
herrschenden  Empfindung  steigern,  jenes  Bewufttsein, 
durch  den  Willen  geisriger,  ja  gottlicher  Krafte  zu 
einem  Wirken  berufen  zu  sein,  das  den  ganzen  Menschen 
hinnimmt,  das  den  rastlosen  Kampf  gegen  die  eigene 
Unvollkommenheit   verlangt,    das    nicht   ohne   weiteres 

298 


iibertragbar  ist  und  daher  die  Wurde  einer  persdnlichen 
Last  und  Notwendlgkeit  verlelht.  Dieses  BewuC)tsein 
bezeichnen  wir  mit  dem  Namen  der  Verantwortung, 
der  besagt,  dafi  vom  Geiste  vor  Gott  und  Menschen 
Rechenschaft  gefordert  wird;  dieser  Name  ist  schoner 
und  verstandlicher  als  der  des  Gottesgnadentums,  dessen 
Klang  entschiedener  von  Rechten  als  von  Pflichten  die 
Vorstellung  wachruft. 

Schaffensfreude  und  Verantwortung  werden  noch  Neue  Kr^e 
lange  die  menschliche  Betriebsgemeinschaft  erhalten  und 
ftihren,  wenn  der  Motor  des  Ehrgeizes  langst  erkaltet, 
seine  arme  Mannschaft  langst  zu  den  Vatern  versammelt 
ist,  und  die  Krafte  werden  urn  so  reicher  und  reiner 
wirken,  je  weniger  sie  von  Lohn,  Uppigkeit  und  aufierer 
Ehre  versucht,  bedrangt  und  beschamt  werden. 

Nicht  um  den  Mechanismus  der  Erde  zu  retten, 
sondern  um  zu  zeigen,  daI5  dieses  an  sich  nicht  gute 
und  nicht  bdse  We  sen  der  Evolution  der  Seele  willig 
folgt,  mufiten  wir  die  Uberschatzung  der  intellektualen 
Hauptmotoren,  des  Willens  zum  Besitz  und  des  Willens 
zur  Macht,  brechen.  Wichtiger  ist,  dal5  wir  die  Keime 
der  neuen  Krafte,  die  allenthalben  schlummern,  ans 
Licht  heben. 

Wir  alle  wissen,  dafi  schon  heute,  in  dieser  Zeit  des  Erb/assen  ^n- Be- 
Begehrens,  die  erleuchtetsten  und  geistigsten  Geister  den  ^^^  ^^"  ^ 
Lebensweg  wahlen,  der  sie  am  weitesten  vom  Besitz 
hinwegfuhrt.  Wir  wissen,  dafi  es  das  vornehmste  Merk- 
mal  der  Staatentiichtigkeit  ist,  wenn  die  Trager  hoher 
Verantwortung  mafiig,  ja  diirftig  zu  leben  bereit  sind. 
Wir  wissen,  dai5  alle  Besitzseligkeit,  Genu^sucht  und 
Verschwendung  die  Sache  mifiratener  Sohne,  zufalliger 
oder  diebischer  Emporkommlinge  ist,  dafi  schopferische 


^99 


Menschen  von  ihrer  Lebensfiihrung  unabhaiigig  sind. 
Wir  wissen,  dafi  die  Reichsten  unserer  Zeit  im  Besitz 
eine  Verantwortung  zu  sehen  beginnen,  dafi  sie  mehr 
und  mehr  es  wiirdig  finden,  sich  dieser  Biirde  bei  Leb- 
zeiten  zu  entledigen,  anstatt  sie  der  Willkur  des  Erb- 
ganges  zu  iiberantworten.  Es  gehdrt  wenig  Voraussicht 
dazu,  zu  erkennen,  dafi  die  Zeit  naht,  die,  sofern  sie  die 
Institution  des  Privateigentums  beibehalt,  das  Erbrecht 
aufs  engste  beschrankt  und  den  liberwiegenden  Teil  des 
personlichen  Einkommens  der  Gemeinschaft  zufuhrt. 
Anderseits  wissen  wir,  dafi  der  Stachel  des  Begehrens 
zum  Spiel,  zum  Schwindel  und  zur  Prostitution  treibt; 
nicht  zu  guter  Arbeit.  Die  denkbar  schlechteste  Arbeit 
ist  es,  die  aus  Not  oder  blofi  um  des  Lohns  willen  ge- 
leistet  wird.  Wenn  es  noch  irgendwo  ein  paar  gut- 
genahte  Stiefel  gibt,  so  stammen  sie  von  einem  Schuster, 
der  an  seinem  Handwerk  Freude  hat. 
Erbiassen  der  Und  was  den  Willen  zur  Macht  betriiFt,  so  sehen 
actsymoe^^^^  schon  seit  langem,  dal5  ein  Volk,  je  krattiger  und 
unversklavter  es  ist,  in  den  Tragern  der  Macht  und 
Verantwortung  das  Bild  seines  kraftigsten  Selbst,  nicht 
mehr  Gotter,  Despoten  und  Heilige  verehrt.  So  treten 
denn  wiederum  die  Beauftragten  der  Macht  ihren  Volks- 
briidern  treuherzig,  vertrauensvoll,  nicht  gonnerhaft, 
ilberlegen  und  gnadig  entgegen;  ein  tiichtiger  preufii- 
scher  General,  ein  guter  deutscher  Fiirst  und  amerika- 
nischer  President  lechzt  nicht  nach  Strammstehen, 
Posaunenstofi,  Kniefall  und  Apotheose,  sondern  kiimmert 
sich  um  sein  Geschaft  und  seine  Verantwortung,  ent- 
schlossen,  unter  Menschen  zu  wirken,  nicht  iiber  Sklaven 
zu  herrschen.  Wir  sehen  ohne  innere  Bewegung  Advo- 
katen  an  Ministeitischen.  Minister  an  Redaktionstischen 


300 


Platz  nehmen;  ein  Monarch  aufier  Diensten  ist  uns  keine 
traglsche  Figur;  wir  erblinden  nicht  vor  dem  Glanze 
des  verherrlichten  Mardochai  in  des  Konigs  Gewandern, 
und  frohlocken  nicht  uber  den  Sturz  Hamans,  des  ab- 
gedankten  Prasidenten.  Auch  hier  ist  die  Zeit  nicht  mehr 
fern,  die  sich  der  Willkiir  des  personlichen  Befehls  und 
Dienstes  schamt  und  mit  der  Anordnung  und  Befolgung 
dienstlicher  und  geschaftlicher  Auftrage  sich  begniigt. 

Freilich  sehen  wir  leider  gerade  in  Deutschland  die 
freundlichen  Symptome  abnehmender  Machtverblendung 
und  zunehmender  Mann  haft  igkeit  zu  Zeiten  verdunkelt. 
Es  ist  bisweilen,  als  miifiten  kurz  vor  dem  Hahnenschrei 
der  Dammerung  die  Nachtgeister  der  Sklaverei  und 
Streberei,  des  Lippendienstes  und  Schranzentums  ihren 
letzten  Galgenreigen  tanzen.  Wenden  wir  getrost  den 
Blick  zum  germanischen  Umland  von  Nord  bis  Sildwest 
und  bekennen:  ein  dstliches  Erbteil  hat  uns  die  klag- 
liche  Doppelgabe  des  Bruderneides  und  der  Herren- 
fiircht  beschert;  ein  Jahrhundert  freier  Arbeit  und  Ver- 
antwortung  wird  den  UbelstofF  verfliichtigen. 

So  sehen  wir  denn  bei  kiihler,  ja  geschaftsmafiiger 
Betrachtung  den  Boden  auch  des  materiellen  Lebens 
fiir  das  Kommende  bereitet.  Doch  wollen  wir  die 
handgreifliche  Priifung  unserer  Gedanken  auf  sachliche 
und  zeitliche  Realitat  nicht  beenden,  bevor  wir  versucht 
haben,  das  Schattenbild  des  Seelenreiches  auf  der  un- 
ebenen  Flache  der  wehlichen  Verbal tnisse  aufzufangen. 
Wie  kann,  so  lautet  die  Frage,  ein  im  Seelenhaften 
wesentlich  vorgeschrittener  Zustand  im  praktisch- Welt- Seele  und 
lichen  vorgestellt  werden?  Auch  hier  ist  es  nicht  die 
Aufgabe,  an  menschliche  Wandlungsfahigkeit  irreale 
Anspriiche   zu  stellen  und  willkiirliche  physische  Vor- 


301 


aussetzungen  zu  fordern.  Wohl  aber  darf  daran  erinnert 
werden,  dafi  noch  jederzeit  die  Natur,  um  die  grofien 
Grundgedanken  ihres  Planes  zu  erfiillen,  in  der  Schaf- 
fung  ihrer  Werkzeuge  alle  Kiihnheit  menschlicher  Phan- 
tastik  iibertrofFen  hat.  Augustus  hatte  den  pythischen 
Gott  von  seinem  Felsen  gestiirzt,  wenn  er  es  wagte,  als 
Trost  dem  sterbenden  Weltreich  die  nahende  Wahrheit 
zu  verkiinden:  die  Wilden  als  Herren  des  Erdkreises; 
ein  judaischer  Glaube  als  Heil  der  Welt;  eine  Wissen- 
schaft,  die  den  Blitz  in  Banden  schlagt;'  ein  hundert- 
faltig  vermehrtes  Geschlecht,  das  Feuer  und  Wasser 
zu  Sklavenarbeit  knechtet  und  in  den  Liiften  den  Erd- 
ball  umkreist;  und  diese  Wandiung  in  kiirzerer  Zeit  voll- 
endet,  als  seit  der  Begriindung  des  Nilreichs  verflossen. 
EiMsicbt  und  Es  gibt  keine  Form  des  auiSeren  Lebens  und  keine 
ungen  ^^^^^  j^^  Wisseus,  welchc  der  Souveranitat  der  Seele 
unentbehrlich  ware,  und  keine,  die  sie  gefahrden  konnte. 
Deshalb  ist  die.  Erorterung  von  Staats-  und  Verfassungs- 
formen,  von  Macht-  und  Besitzverteilung,  von  Ent- 
deckungen  und  Erfindungen  fiir  unsere  Betrachtung 
nicht  wichtig.  Sicherlich  wird  die  Entwicklung  der 
Seele  jede  Institution  und  jede  Erkenntnis  durchdringen 
und  umgestalten;  aber  es  ist  der  tiefste  Irrtum  poli- 
tischer  Meinung,  dafi  Einrichtungen  dem  Stande  der 
Menschheit  vorauseilen  oder  ihn  bestimmen  kdnnen. 
Einsicht  und  Einrichtungen  gleichengekuppeltenZahn- 
radern,  von  denen  nur  das  eine  dem  aufieren  AngrifF 
gehorcht,  die  Einsicht:  ihrer  leisesten  Verschiebung  folgt 
in  gesteigerter  Drehung  das  Rad  der  Dinge.  Im  Gei- 
stigen  ist  der  kiihnste  Schritt  erlaubt  und  moglich,  im 
Pragmatischen  verwirklicht  sich  nur  das,  was  als  Gedanke 
langst  zur  Trivialitat  ge  word  en  ist.    Eine  verfriihte  Ein- 


302 


richtung,  selbst  wenn  sie  erzwungen  werden  konnte, 
mufi  zerbrechen,  wie  ein  verfeinertes  Spielzeug  in 
kindlichen  Handen.  Wagt  es  dagegen  Willkiir  oder 
Tragheit,  die  Einrichtungen  der  Welt  entgegen  dem 
Vorschritt  der  Einsicht  gewaltsam  zuriickzuhalten,  so 
steht  elementare  Selbstbefreiung  der  gefesselten  Krafte 
bevor.  Die  tobenden  Revolution  en  der  Volker  sind  in 
der  Einsamkeit  des  Denkens  geboren. 

Deshalb  hat  praktischer  Sozialismus  seine  Bedeutung  Sozia/itmiu 
nur  als  Korrektiv,  nicht  als  Weltanschauung;  ein  mecha- 
nischer  Auf  bau  von  mathematischer  Gerechtigkeit  ware 
nichts  niitz,  wenn  er  nicht  von  gerechter  Menschlich- 
keit  getragen  ware.  Eine  kiinftige  Aufgabe  soil  sein, 
die  Einzelziele  aufzuweisen,  nach  welchen  unter  der 
Richtkraft  der  Seele  die  Entwicklung  menschlicher  Ein- 
richtung  nlnstrebt;  hier  soil  der  Nachweis  einer  Verein- 
barkeit  der  Seele  mit  menschlicher  Notdurft  geniigen 
Am  wenigsten  wird  daher  an  dieser  Stelle  die  wissen- 
schaftlich-technische  Evolution  uns  bekiimmern;  selbst 
wenn  es  ihr  gelange,  uns  mit  den  Bewohnern  anderer 
Planeten  zu  verbinden,  so  wiirden  wir  nur  nach  dem 
Seelenstande  dieser  Weltbriiderschaften  fragen. 

Gemeinhin  diirfen  wir  annehmen,  dafi  die  Dichtlg- See/e  und Mecba 
keit  der  irdischen  Besiedelung  ihre  Grenze  noch  lange '*'^^*''^ 
nicht  erreicht  hat,  sowie  ferner,  dafi>  die  zivilisatorischen 
und  materiellen  Bediirfnisse  der  mittleren  und  zuriick- 
gebliebenen  Volker   in   schnellem   Wachstum  begrifFen 
sind.    Hieraus  folgt,  dal5  eine  gewaltige  Zunahme  jener 
Weltbewegung,   die   ich  Mechanisierung  genannt  habe, 
uns  bevorsteht.    Aufschliefiung  der  entlegensten  mine 
ralischen  Vorkommen,  Besiedelung  jedes  bewohnbaren 
Striches,  Bewasserung  der  verdorrten  drei  Vierteile  des 


I 


303 


gesamten  Festlandes,  Verarbeitung  der  unermeilUchen 
Giiter  dieser  Erschliefiung,  Organisation,  Verteilung  und 
Transport  der  Arbeitskrafte,  Energiequellen  und  Massen: 
diese  materiellen  Aufgaben,  im  Vergleich  zu  denen  die 
bisherigen  Werke  der  Mechanisierung  ein  Vorspiel  sind, 
werden  die  nachsten  Geschlechter  beschafrigen.  Neue 
Bevolkerungszentren  von  unbekannter  Ausdehnung,  ver- 
tausendfachte  Wege  und  Mittel  des  Verkehrs,  verfeinerte 
und  gesteigerte  Arbeitsmethoden,  wachsende  Konzen- 
trationen  der  Betriebe  und  Aufwendungen,  kurz,  ein 
ungeheures  Schwellen  des  produzierenden  Weltorganis- 
mus  nach  auJBen  und  nach  innen  folgt  aus  diesen  Be- 
dingungen. 

Es  ist  leicht,  hieraus  zu  schlieiSen,  dafi  die  intellek- 
tuale,  seelenlose  Geistigkeit  der  Mechanisierung,  die  ich 
in  der  Kritik  der  Zeit  blofigelegt  habe,  ihren  Zenith 
noch  lange  nicht  erreicht  hat.  Diese  Folgerung  beriihrt 
uns  nicht,  denn  wir  wissen,  dafi  nicht  zu  gleicher  Zeit 
an  alien  Orten  die  Gegenkrafte  der  Mechanisierung  er- 
wachen.  Noch  lange  werden  am  Kongo  oder  in  Pata- 
gonien  Freuden  und  Leiden  nach  Art  unserer  Grofi- 
stadtgreuel  bliihen,  wenn  in  England  und  Deutschland 
langst  ein  veredeltes,  ernst  und  froh  geheiligtes  Leben 
diese  Verirrungen  als  seltene  Krankheitserscheinungen 
und  Perversionen  zu  erkennen  und  zu  behandeln  ge- 
lernt  hat. 

Uns  beriihrt  nur  die  wachsende  Komplikation  und 
Schwierigkeit  des  aufieren  Lebens,  die  erhohte  Anfor- 
derung,  die  es  an  Verantwortung  und  Geisteskraft  des 
Einzelnen  stellt,  der  Ernst  der  materiellen  Aufgabe. 
Dafi  die  inneren  motorischen  Krafte  ausreichen  werden, 
um  den  Tageswerken  gerecht  zu  werden,  haben  wir  ge- 


304 


sehen,   desgleichen,  dafi  das  Hinsterben  der  Begehrlich- 

keit  dem  objektiven  und  subjektiven  Arbeitszwang  mil- 

dernd  entgegenwirkt.    Unter  diesen  Bedlngungen  nimmt  Zweite  Na/w 

die  Arbeit  eine  neue  Form  an,  deren  Anfange  wir  schon 

heute  erkennen.    Nicht  dafi  sie  zum  blofien  athletischen 

Spiel  abslnkt,  das  stundenweis  mit  kiinstlich  angefachter 

Leiden schaftlichkeit  geiibt  wird;  vielmehr  tritt  das  grofie, 

aller  Veredelung  zugrunde  liegende  Gesetz  der  wieder- 

geborenen  Natur  in  besonderer  Erscheinung  zutage:  was 

urspriinglich  aus  Gier  und  Furcht  geschah,  geschieht  aus 

innerlichem  Bewufitsein.    Arbeit  wird  nicht  Selbstzweck, 

aber  Menschenpflicht;    Lohn  und  Strafe,    Gewinn  und 

Gefahr  verblassen,  die  Aufgabe  besteht. 

Da  nun  die  Aufgabe  Sache  der  Gemeinschaft  ist,  so  Soiidaritat 
folgt  die  Soiidaritat  des  Werkes  und  der  Ziele.  Nicht 
eine  gesetzliche  Zwangsanstalt,  die  den  Starken  und  Be- 
gabten  zwingt,  die  Friichte  seines  Lebens  widerwillig 
auszuliefern,  damit  Schwache  und  Unbefahigte  Mufie 
finden,  ihn  dutch  Majoritat  zu  beherrschen;  nicht  ein 
falscher  Altruismus,  der  paarweise  den  Gesunden  fiir 
den  Kranken  opfert;  sondern  das  freie  Bewulit- 
sein,  dafi  es  unedel  ist,  zu  schwelgen,  feige,  aufzu- 
speichern,  gewalttatig,  zu  sequestrieren;  dait>  materielles 
Gliick  nur  im  SchaiFen  und  in  der  Verantwortung  ge- 
geben  ist,  dafi  Arbeit  Menschenrecht  und  Menschen- 
dienst  bedeutet,  ist  der  Sinn  unseres  weltlichen  Standes. 
Bei  echten  Herrschern  und  Fiihrern  finden  sich  in  Aus- 
spriichen  und  Taten  schon  zu  unseren  Zeiten  Zeugnisse 
dieser  Gesinnung,  von  der  man  sagen  kann,  dafi  sie 
Menschen  zu  Konigen  und  Konige  zu  Menschen  macht. 
Auf  die  materiellste  Kategorie  des  aulieren  Lebens,  den 
Besitz,   angewandt,   begegnen  uns  ihre  ersten  Anfange 


305 


nicht  blofi  bei  Stiftern  und  Donatoren,  sondern  in  all^H' 
Volksgemeinschafren,  welche  begreifen,  dafi  die  Staats- 
wirtschaft  liber  der  Einzelwlrtschaft  steht,  und  daCy 
Giiter,  die  nur  im  Zusammenwirken  gemeinschaftlicher 
Krafte  erworben  werden  konnten,  niemals  unbeschranktes 
Eigentum  des  Einzelnen  werden. 
Sittengefiibi  und  Unubcrsehbar  zahlreich  sind  die  Mdglichkeiten,  einem 
eques  rterung  ^.^j^  bildenden  ethisch-rechtlichen  Bewuli^tsein  mit  den 
mechanischen  Mitteln  der  Gesetzgebung  Folge  und  Aus- 
druck  zu  geben;  dieses  Be wuC>tsein  selbst  aber  schreitet  vor 
in  dem  Sinne,  dafi  das  Unrecht,  das  wir  heute  naiver- 
weise  nur  im  ungesetzmafiigen  Besitzwechsel  erblicken, 
ausgedehnt  sein  wird  auf  jede  Art  von  iibertriebener 
oder  uberfliissiger  Aneignung  und  Sequestration.  Weder 
eine  Verstaatlichung  der  Arbeitsmittel  noch  eine  andere 
Art  kommunistischer  Gesetzgebung  ist  erforderlich,  um 
der  wachsenden  Empfindung  zu  ihrem  Recht  zu  ver- 
helfen,  dafi  jeder,  wer  es  auch  sei,  sich  versiindigt, 
wdin  er  fiir  sich  und  seine  Nachkommen  von  den 
materiellen  Giitern  der  Welt  mehr  an  sich  zieht  und 
verwendet,  als  zu  einer  majSigen  Lebensfuhrung  erfor- 
dert  wird.  Die  Schmach,  die  heute  dem  Wucher  und 
der  Ausbeutung  anhaftet,  wird  sich  auf  unmafiigen  Be- 
sitz  und  Verbrauch  erstrecken  und  somit  die  sklavenhaft 
gemeine  Schatzung,  die  heute  vielfach  personlichem 
Reichtum  zuteil  wird,  zum  Rechte  umkehren.  Es  wird 
in  spateren  Arbeiten  auszufiihren  und  nachzuweisen  sein, 
daiS  diese  Auffassung  weder  die  Aufldsung  unserer 
Wirtschaftsformen,  noch  ihre  Unterordnung  unter  ein 
Massenregime  verlangt;  sie  vertragt  sich  mit  hoherVer- 
antwortung  und  weitem  Verfugungsbereich  der  zur 
Fiihrung  Berufenen,   die  im  Vertrauen  und  in  der  Ver- 

306 


antwortung  den  Lohn  ihrer  Arbeit  finden.  Der  Tendenz 
kommender  Besltzanschauung  wird  durch  die  mecha- 
nistischen  Mafinahmen  unseres  Besteuerungswesens  aufs 
wirksamste  vorgearbeitet:  wir  sind  geschult,  den  Zehnten 
als  Recht  der  Gemeinschaft  darzubringen;  schon  nach 
wenlgen  Generationen  wird,  wenn  keine  sonstlge  Ande- 
ning  des  Wirtschaftswesens  erfolgt,  das  Verhalrnis  sich 
umkehren  und  billig  erachtet  werden,  wenn  in  Besitz- 
lagen,  die  ein  mafiiges  Verbrauchsbediirfnis  ubersteigen, 
vom  Erwerb,  Vermogen  und  Erbe  der  Zehnte  dem  Be- 
sitzer  verbleibt. 

Aus  dem  Bewufitsein  menschlicher  Wiirde  und  aus  SUtengefnhi  und 
der  Empfindung  menschlicher  Solidaritat  entsteht  die 
weitere  Scharfung  des  Gewissens  im  Hinblick  auf  per- 
sdnliche  Dienstleistung.  Auch  hier  ebnet,  dem  denken- 
den  Erkennen  zuvoreilend  und  unbewufit,  mechanistische 
Entwicklung  mit  ihren  rohen  Mitteln  des  Nutzens  und 
Schadens  den  Weg,  den  geistige  Entwicklung  mit  Be- 
wufitsein  vollenden  soil.  Denken  wir  um  vier,  fiinf 
Generationen  zuruck,  so  sehen  wir  unsere  Heimat  be- 
herrscht  von  hunderten  kleiner,  grofierer  und  souveraner 
Territorialherren;  in  weitem,  demiitigem  Abstand  ein 
sparliches  Burgertum  in  bescheidenen  Stadten,  im  Suden 
und  Westen  ein  leidlicher  Bauernstand.  Tief  unter 
den  Fiifien  dieser  zwar  bedriickten,  doch  existenz- 
bewufiten  Schicht  bewegte  sich  die  Volksmasse  der  Leib- 
eigenen,  Knechte,  Magde,  Vagabunden,  jene  anonyme 
Menge,  Erbin  der  Unfreiheit,  von  der  die  Geschichte 
ier  Jahrhunderte  schweigt,  als  ware  sie  nie  geboren, 
and  deren  Schicksal  nur  aus  den  Erlebnissen  ihrer 
Herren  sich  uns  erschliefit.  Demiitig  und  gehorsam 
fien   sie    sich   ziichten,   beherrschen   und    verkaufen. 


307 


Entbldfiten  Hauptes  standen  sie  am  Wege,  wenn  die 
Herrschaft  vorbeifuhr,  kiifiten  ihr  den  Rocksaum,  wenn 
sie  zu  halten  geruhte.  Geschlagen  wurden  sie  als  Land- 
leute,  als  Soldaten,  als  Knechte  und  Diener;  ihre  Ant- 
wort  war  Ersterben  in  Untertanigkeir.  Von  landes- 
fremden  Herrschaftsgasten  wurden  sie  als  ungefiige 
Kanaille  verspottet,  als  kaufliches  Soldatenmaterial 
waren  sie  im  Ausland  begehrt.  Von  ihrer  Armut  und 
geisrigen  Verlassenheit,  die  nicht,  wie  man  vielfach  an- 
nimmt,  wesentlich  auf  den  dreifiigjahrigen  Krieg  zuriick- 
zufiihren  ist,  macht  man  sich  aus  den  Reise-  und  Lebens- 
geschichten  des  XVIII.  Jahrhunderts  einen  BegrifF. 
Untertanigheit  Bedenkt   man,    dafi    die  Mehrheit  unserer  tatigsten 

ntat  '    Bevolkerung     aus     Nachkommen     dieses     unbekannten 

Standes  besteht,  so  blickt  man  leichter  hinweg  iiber  die 
Mischung  von  Servilismus  und  Respektlosigkeit,  der 
man  in  unserem  Lande  allzuhaufig  begegnet,  und  erfreuc 
sich  an  dem  fast  unbegreif  lichen  Zuwachs  an  Mannhaftig- 
keit,  Selbstbewufitsein,  Kenntnis  und  Ansicht,  gleichviel 
ob  Hausherren  oder  Feudalherren  unersetzliche  Verluste 
an  Dienstwilligkeit  und  Gehorsam  beklagen.  Freilich  ist 
das  Verhaltnis  von  unterwiirfiger  Treue  und  verant- 
wortungsloser  Leistung  zu  herrschaftlicher  Fiirsorge  und 
absoluter  Autoritat,  das  man  gern  als  das  patriarchallsche 
bezeichnet,  im  Grunde  vernichtet  und  nur  noch  stellen- 
weise  durch  bewuiSte  oder  unbewufite  Irrefiihrung  auf- 
recht  zu  erhalten;  denn  wie  einerseits  eine  verant- 
wortungslose  Tatigkeit  und  Leistung  nicht  mehr  denkbar 
ist,  so  kann  anderseits  eine  andere  schutzende  Fiirsorge 
und  Gegenleistung  als  die  der  wohlgesinnten  Arbeit- 
geberschaft,  besten Falls  verbunden  mit  etwas  unzulassiger 
Protektion  nicht  mehr  gewahrt  werden. 


308 


IJns  beriihrc  bierbei  das  vorerst  nicht  ethisch,  son- 
dern  mechanisch  bewirkte  rascbe  Absterben  personlicher 
Untertanigkeit  und  Dienstbarkeit,  das  in  den  Vereinigten 
Staaten  und  teilweise  in  England  zu  volliger  Umwand- 
lung  des  Dienstverhaltnisses  in  ein  Arbeits-  und  Be- 
amtenverhaltnis  gefiihrt  hat.  Erniedrigende  Vorhaltungen 
und  willkiirliche  Freiheitsbeschrankungen,  wiirdelose  An- 
reden  und  Unrerwiirfigkeitsfloskeln,  Bezeigung  vermeint- 
licher  Ehren  durch  Korperhaltung  und  Gliederverren- 
kungen  sind,  um  von  Symptomen  zu  sprechen,  in  diesen 
Landern  alterer  Emanzipation  schon  heute  so  unmdglich, 
wie  sie  bei  uns  in  funfzig  Jahrensein  werden;  dieReste 
alter  Unterscheidungszeichen,  bunte  Dienerkleider  und 
andere  Zeremonialien,  werden  von  der  Mechanisierung 
mit  derjenigen  Strafe  belegt,  mit  der  sie  das  ihr  Mifi- 
liebige  beseitigt:  mit  Steuer  und  Teuerung. 

Es  ist  nicht  hier  unsere  Aufgabe,  die  mannigfachen 
Anwendungen  zu  verfolgen,  die  sich  fiir  die  Gebiete 
des  sozialen  und  politischen  Lebens  ergeben,  wenn  die 
Auf  hebung  unfreiwilliger  Dienstbarkeit  und  Untertanig- 
keit von  Mensch  zu  Mensch,  die  heute  mit  materiellen 
Mitteln  von  der  Mechanisierung  betrieben  wird,  Sache 
der  Uberzeugung  und  des  ethischen  Empfindens  gewor- 
den  ist.  Ich  habe  in  friiheren  Schriften  gezeigt,  daI5 
schon  die  Mechanisierung,  indem  sie  aus  Arbeitern  Be- 
amte,  aus  Handlern  Organisatoren,  aus  Unternehmern 
Staatsleute  zu  machen  strebt,  bedeutende  Umwalzungen 
der  labil  gewordenen  ofFentlichen  und  politischen  Ver- 
haltnisse  vorbereitet.  Das  noch  nicht  Geschehene  als 
vollendet  zu  setzen  und  abermals  neue  Anschauungen 
auf  einen  prasumtiven  Zustand  wirken  zu  lassen,  wurde 
Unklarheiten  ergeben  und  fast  herausfordernd  erscheinen. 


309 


Es  geniige  daher  hier  der  wiederholte  Hinweis  auf  die 
Vereinbarkeit  der  Seelenevolution  mit  jedem  vernunf- 
tlgen  ofFentlichen  Wesen,  und  die  Aufzelgung  haupt- 
sachlicher  Tendenzen,  welche  allesamt  in  der  Richtung 
auf  eine  Vermenschlichung  dieses  Wesens  wirken  mussen. 
Sittengeftihi  und  Dafi  cs  den  seelenlosen  Kraften  der  Mechanisierung 
tejung  |3g5j,j^jgjgj^  jg^.^  kunftiger  tieferer  Entwicklung  Vorarbeit 
2u  leisten,  beweist,  dafi  unsere  gegenwartigen  Lebens- 
einrichtungen  schon  vom  Stande  des  Intellektualismus, 
geschweige  von  seelenhafterem  Stande,  iiberholt  sind. 
Gerade  in  mechanistisch  weit  vorgeschrittenen  Landern 
bieten  sich  der  eindringlicheren  Betrachtung  Keime,  die 
jenseits  des  mechanisierten  Zeitalters  aufzugehen  be- 
stimmt  sind.  Wenn  auch  der  ersteBlickauf  zunehmende 
Plutokratisierung  trifFt,  so  wissen  wir,  dafi  diese  zuerst 
mit  ihrem  ganzen  Bollwerk  von  Erblichkeit  und  selbst- 
tatigem  Anwachsen  des  personlichen  Reichtums  durch 
innere  Krafte  gebrochen  werden  wird.  Aber  im  Scharten 
und  Schutz  der  plutokratischen  Gewaltsamkeit  bemerken 
wir  die  deurliche  Tendenz,  gemeinschaftliche  Lebens- 
erleichterungen,  Annehmlichkeiten  und  Freuden  durch 
niitzliche,  selbst  grolbartige  Einrichtungen  zu  fdrdern, 
und  dagegen  abgesonderten,  vorbehaltenen  und  aus- 
schlielMichen  Zuschnitt  des  Luxus  zu  erschweren  und 
durch  Teuerung  zu  verponen.  In  diesem  Sinne  ist, 
neben  anderem,  die  wohlberechtigte  Wertsteigerung 
hochster  Kunstwerke  zu  begriiiien,  die  dahin  fuhren 
mufi,  dafi  allmahlich  diese  Kostbarkeiten  dem  Gemein- 
schaftsbesitz  zufallen;  ein  Zeitalrer  hdheren  Solidaritats- 
gefiihls  wird  liber  unsere  Indolenz  erstaunen,  die  auf 
Grund  eines  ungebrochenen  und  verbohrten  Eigentum- 
begriiFs  jedem  Monopolisten  gestattet,  ein  Rembrandt- 


310 


sches  Werk,  ein  Beethovensches  Manuskript  oder  eine 
Naturschonheit  dauernd  der  OiFentlichke'it  zu  entziehen, 
zu  miiShandeln  oder  zu  vernichten.  In  dem  Mafie,  wie 
mit  wachsender  Solidaritat  die  Tendenz  des  gemein- 
schaftlichen  Besitzens,  Beschauens  und  Erlebens  fort- 
schreitet,  wird  abermals  der  begehrlichen  Elgenlust  ein 
Stachel  genommen  und  das  edlere  Bediirfnis  nach  ein- 
samer  Betrachtung  an  die  Vereinigung  mit  der  Natur 
verwiesen,  die  auch  bei  zehnfach  bevolkertem  Erdball 
jedem  ihrer  Kinder  stille  Zuflucht  schenken  wird. 

Der  wachsenden  Solidaritat  der  Einzelnen  entspricht  SUtengefuhi  und 
es,  dafi  auch  die  Solidaritat  der  Geschlechterreihen  sich  ^-^^^^ 
ankiindige.  In  der  Unerbittlichkeit  einer  dreifachen 
Erbfolge  liegt  das  Trennungs moment,  das  die  Stamm- 
reihen  gegeneinander  isoliert;  die  dreifache  Erblichkeit 
des  Besitzes,  des  Standesvorrechts  und  der  Bildung,  die 
von  gesunden  und  gerechten  Naturen  schon  heute  als 
ein  bitteres  Unrecht  an  den  Enterbten  empfunden  wird, 
mul5  mit  der  Entfaltung  des  Seelischen  schwinden.  Denn 
die  Seele,  die  jedem,  wer  er  auch  sei  und  woher  er 
stamme,  geschenkt  wird,  wirkt  in  ihrer  Freihfeit  der  Vor- 
herbestimmung  entgegen;  selbst  die  natiirliche  Erblich- 
keit des  Physischen  kann  den  neuen  Krafren  nicht  wi- 
derstehen,  die  jedem  Menschenbilde  eigenes  Recht  und 
eigene  Bestimmung  gewahren.  Lafit  sich  erblicher  Be- 
sitz  mit  menschlicher  Tragheit  der  Gewohnung,  erb- 
liches  Standesrecht  mit  dem  Verdienst  der  Vorfahren 
kiimmerlich  entschuldigen,  so  lafit  sich  mit  keinem 
Worte,  selbst  im  Zeitalrer  der  Mechanisierung  nicht, 
erblicher  Anspruch  und  erblicher  AusschlulS  recht- 
fertigen,  wenn  es  sich  um  die  Giiter  derErziehung  und 
Bildung  handelt.    Bedenkt  man,  wie  geringer  Opfer  der 

311 


Gesellschaft  es  bediirfte,  um  jedem  jungen  Geist,  der 
fahig  und  gewillt  isr,  sie  zu  empfangen,  die  einzige 
wahre  Wohltat  zu  gewahren,  iiber  die  ein  glaubens- 
schwaches  und  idealloses  Zeitalter  noch  verfiigt,  die 
Wohltat  der  Bildung,  so  lernt  man  den  tiefen  GroU 
begreifen,  der  die  Unterschichten  der  Kulturlander  als 
eine  zu  evviger  Sklaverei  verdammte  Menge  verschreit. 
Sittengefiihi  und  Es  blcibt  ein  letztes  Hauptmoment  kiinftig  aufieren 
^^l^jf  Lebens   zu  erwahnen,    dessen  Vorbereitung  wir  gleich- 

falls  den  blinden  Kraften  der  Mechanisierung  ver- 
danken :  die  Vergeistigung  der  Arbeit.  Die  uranfangliche 
komplexive  Arbeit  des  Menschen,  die  nahezu  alle  Be- 
rufe  in  einer  Hand  vereinigte  und  vom  natiirlichen  StofF 
bis  zum  gebrauchsfertlgen  Werk  alle  HandgrifFe  und  Pro- 
zesse  zu  einem  grolLen  und  langwierigen  SchafFenskreis 
verwob,  war leiblich  und  geistig  zugleich,  derin  sie  forderte 
Kraft  und  Geschicklichkeit,  Erfahrung  und  Denken.  Die 
Arbeitsteilung  der  Mechanisierung  zerrrifi  das  Werk  wie 
den  Prozefi;  den  wachsenden  geistigen  Anspriichen  der 
Erfindung,  Organisation  und  Uberwachung  stellte  sie  die 
geistlose  Zw^ngsarbeit  des  unterteiiten  HandgrifFs  gegen- 
iiber.  Es  war  die  Kindheit  der  Maschine,  die  ihren  Be- 
ruf  noch  nicht  gelernt  hatte,  imd  der  zur  Seite,  in  ent- 
wiirdigender  Gemeinschaft  des  Hundekarrens,  der 
Mensch  sich  einspannen  liefi.  Die  Maschine  erwuchs, 
ihr  Arbeitsgenosse  wurde  zum  Pfleger  und  Aufseher, 
und  die  Mechanisierungspraxis  selbst,  freilich  nicht  aus 
Menschlichkeit,  sondern  aus  dkonomischem  Instinkt,  be- 
trachtet  heute  den  Betrieb  als  unvoUkommen,  der  geist- 
lose Arbeit  fordert.  Den  Ausfall  an  Muskelleistung 
mu6  die  zweite  Natur  der  freiwilligen  Kdrperiibung 
bekampfen;  Jugendausbildung  und  reichliche  Mufiezeit 


31a 


sind  bestimmr,  dem  Geiste  Spannkrafc  und  Verantwor- 
tungsfahigkeit  zu  ervverben  und  zu  erhalten.  In  dieser 
Richtung  sehen  wir  die  Wirtschafrstendenzen  in  mecha- 
nistisch  vorgeschritrenen  Landern  sich  bewegen;  eine 
Riickkehr  zum  patriarchalischen  und  sklavischen  Ver- 
halrnis  iindet  nirgends  state;    eine   spatere  Periode  aber  ^v 

wird  die  Forderung  wachsender  Vergeistigung  und  Ver- 
antwortung  dcr  Arbeit  zum  sittlichen  Prinzip  erheben 
und  lieber  auf  Arbeitsgiiter  verzichten,  als  sie  aus  den 
Handen  menschlicher  Maschinen  empfangen. 

Umfassen  wir  kritisch  die  Ziige  aulieren  Lebens,  ttberwin- 
die  als  vereinbar  mit  seelenhafter  Entvvickelung  sich  uns  chanisierun<^ 
ergeben  haben,  so  diirfen  wir  zunachst  uns  versichern, 
dali5  keine  Voraussetzung  neu  geschaffen  werden  mulite, 
dai5  alle  Bedingungen  im  realen  Leben  unserer  Zeit 
wurzeln,  dafi  ungestorte  Stetigkeit  der  Entwicklung  er- 
halten bleibt.  Behalt  man  imAuge,  dal^  weltumfassende 
Umgestaltungen  nur  in  langsamster  Bewegung  den  Erd- 
ball  umkreisen,  dafi  selbst  am  gleichen  Ort  das  Uber- 
lebte  noch  lange  sich  erhalt,  wenn  das  Neubelebte  sich 
langst  eingebiirgert  hat,  ein  Bild,  das  in  der  Verdrangung 
der  Vegetationen,  der  Volker,  der  Kulturen  und  Sprachen 
uns  gelaufig  ist,  so  diirfen  wir  behaupten,  es  sei  zur 
Einleitung  des  neuen  Zustandes  nichts  anderes  erforder- 
lich,  als  dafi  diejenigen  Leberisrechte  Eigentum  einer 
Mehrheit  werden,  die  ein  ungetauschter,  nicht  auf  Be- 
sitz  und  Macht  gerichteter  Blick  als  wahrhafte,  wenn 
auch  heute  vereinzelte,  der  fortgeschrittensten  Minder- 
heit  vorbehaltene  Giirer  erkennt.  Gerade  aus  dieser 
scheinbaren  Nuchternheit  und  Uberraschungslosigkeit  der 
Voraussetzungen  erwachst  uns  die  Bekraftigung,  dafi  die 
physisch  unbezwingbare  Mechanisierung  der  Welt  iiber- 

313 


wunden  werden  kann  und  iiberwunden  werden  wird 
ja,  dai5  die  Krafre  dieser  Uberwindung  sich  im  eigenen 
Schofie  der  Mechanisierung  bilden.  In  der  voUkommenen 
Konsequenz  der  Mechanisierung,  die  dem  heutigen  in- 
tellektualen  Stande  der  Welt  restlos  entspricht  und 
in  selbsterregender  Steigerung  mit  ihm  wetteifert, 
liegt  es  begriindet,  dafi  diese  Gegenkrafte  nicht  poli- 
tische,  nicht  soziale,  nicht  wirtschaftliche,  mit  einem 
Worti  nicht  mechanischer  Art  sein  konnen.  Selbst  das 
Emporkommen  eines  theoretisch  voUendeten  sozialen 
Staatswesens,  die  Fiskalisierung  der  Produktionsmittel 
und  die  Kontingentierung  der  Arbeitsgiiter  wiirde  nicht 
die  Mechanisierung  brechen,  sondern  alienfalls  in  ihrem 
Schatten  eine  im  Sinne  der  Kultur  unerhebliche  Neu- 
regelung  von  Besitz  und  Macht  bewirken,  und  nicht 
einmal  fur  ihren  Bestand  Gewahr  leisten.  Nur  eine 
innere  Wiedergeburt,  eine  Umgestaltung  des  mensch- 
lichen  Wollens,  freilich  eine  solche,  deren  Wurzeln  dem 
Boden  der  Mechanisierung  entsprossen  sind,  vermag  den 
Zauberkreis  zu  sprengen,  indem  sie  die  tiefgegriindeten 
Krafte  der  Furcht  und  Begierde  lockert.  Nicht  Ein- 
richtungen,  Gesetze  und  Menschen  schaiFen  das  neue 
Leben,  sondern  Gesinnungen;  den  Gesinnungen  des 
neuen  Lebens  aber  folgen  widerst^ndslos  Einrichtungen, 
Gesetze  und  Menschen. 
Realismus  der  Auch  insofern  mag  die  geschilderte  Form  des  aufieren 
Evoludon^^  Lebens  erittauschen,  als  sie  nichts  Paradiesisches  und  Utopi- 
sches  hat.  Sie  verspricht  keine  neuen  leiblichen  Geniisse, 
sie  entbindet  nicht  von  angestrengter  Arbeit,  ja,  sie  er- 
hoht  die  Anspannung,  indem  sie  Vergeistigung  fordert, 
und  lohnt  mit  Verantwortung.  Sie  verlangt  den  Ver- 
zicht  auf  die  Sorglosigkeit  und  Eitelkeit  des  Unverdienten, 


314 


des  Uberflusses  und  der  Absperrung,  auf  die  tagUche 
Unterhaltung  der  Modenarrheit  und  der  Modesensation, 
auf  Herrschaftsgeliiste,  Menschendienst,  Verherrlichung 
und  Neidfreude.  Sie  dient  nicht  einmal  dem  her- 
gebrachten  Ideal  eines  Altruismus,  der  paarweise  den 
Starken  fiir  den  Schwachen,  den  Guten  fiir  den  Bosen, 
den  Gesunden  fiir  den  Kranken  opfert,  sondern  sie 
fordert  Solidaritat  der  Gemeinschaft :  einer  fiir  alle;  alk 
fiir  einen.  Nicht  die  Solidaritat  entstellter  Staats- 
gesinnung,  welche  ewige  Unterwerfung  verdammter 
Schichten  fordert,  damit  die  andern  unter  falschen 
Seufzern  unverzagt  herrschen  diirfen,  sondern  die  Soli- 
daritat der  Empfindung,  des  Willens,  der  Arbeit,  der 
Geschafte,  der  Sorge  und  der  Leiden.  Was  sie  gewahrt, 
ist  Arbeit  und  MuJ&e,  Menschenwiirde,  Menschlichkeit 
und  Freiheit  im  tatigen  Leben,  Raum  fiir  die  Menschen- 
seele  in  Zeit  und  Ewigkeit. 

Wie  sollte  ein  Geschopf,  befangen  in  Begierden  und 
Eitelkeiren  des  Besitzes,  der  Macht,  der  Wiirden,  Moden 
und  Vergniigungen  nicht  lacheln  iiber  die  Armseligkeit 
dieser  Verkiindung?  Und  dennoch  werden  diese  Dinge 
eine  Realitat  gewinnen,  starker  als  Geschaft  und  Genufi, 
Politik  und  Steuern.  Denn  die  Macht  ist  nicht  bei  den 
Vielen,  sondern  bei  den  Starken;  die  Starken  aber  sind 
die,  welche  suchen,  und  die  Machtigen  die,  welche 
traumen.  Aus  dem  Traum  wird  der  Gedanke,  aus  dem 
Gedanken  die  Erkenntnis;  diese  aber  bedarf  kaum  mehr 
der  Tat,  denn  fiir  die  Menschheit  ist,  wie  fiir  die  Gott- 
heit,  Erkennen  und  Vollenden  eines. 

Die  Kriterien  der  Stimmung  und  des  Lebensgefiihls  Zusammen- 
sind  uns   dutch   voraufgegangene  ethische  Betrachtung^-g^^^^^^gg^ 
erschlossen;  nun  handelt  es  sich  datum,   das  Bild  durch 


h. 


315 


einige  Ztige  zu  ©rganzen,   die   den  Zusammenhang  mit 
heutigen  Zustanden  und  die  Wechselwirkung  mit  kiinf- 
tigen  Lebensformen  noch  klarer  erkennen  lassen. 
Erkenntnis  Schon  in  aller  Kiirze  diirfen  wir  erwarten,  dafi  die 

^Quliimm  ^^2Lgliche  Unsicherheit  und  Unwissenheit  unserer  Epoche 
hinsichrlich  der  Erkennrnis  und  Bewertung  menschlicher 
Qualitaten  und  Charaktere  einer  Einsicht  weicht,  die 
griindlicher  sein  wird  als  unser  heutiges  Wissen  etwa 
von  physiologischen  oder  pathologischen  Dingen.  Wir 
stol^en  den  uberfiihrten  Schwindler  aus  der  Gesellschaft 
•  aus  und  betrachten  die  Liige  als  eine  gelegentliche  Un» 
vermeidlichkeit.  Wir  bewundern  den  herzlosen,  hab- 
gierigen  und  unzuverlassigen  Rechner  als  bedeutenden 
Realpolitiker,  sofern  er  Erfolg  hat  und  sich  nicht  fassen 
\i&x,.  Wir  erklaren  den  neidischen,  feigen  und  impo- 
tenten  Tadler  und  Sarkasten  als  geistvoUen  Kopf,  wenn 
er  Spursinn  und  Gedachtnis  zeigt.  Wir  glauben,  dafi 
ein  neugieriger  und  eitler  Gesellschaftsmensch  geistvoll 
und  tief  sein  kann.  Wir  halten  Streberei  und  Weg- 
werfung  ftir  berechtlgte  Eigentiimlichkeiten;  wir  finden 
es  selbstverstandlich,  daii  jemand  im  Verkehr  mit 
Hoheren,  Gleichen  und  Niederen  als  dreifach  verschie- 
dener  Alensch  aufrritt.  Wir  wissen  nicht,  ob  wir  Mut 
oder  Schlauheit,  oder  beide  verehren  soUen.  Wr  spre- 
chen  von  neuen  Idealen,  indem  wir  die  des  Intellekts 
und  der  praktischen  Energie  meinen.  Wir  halten  den  fiir 
kiinstlerisch  begabt,  der  ohne  Phantasie,  Empfindung 
und  Lebenskraft  die  Fahigkeit  der  Beobachtung,  Nach- 
ahmung  und  technischen  Form  besitzt.  Wir  stellen  den 
Menschen  der  Geduld  neben  den  Menschen  der  Phan- 
tasie, den  Menschen  des  Intellekts  neben  den  Menschen 
der  Intuition.    Wir  halten  eine  erf olgreiche  Konstruktion 

316 


oder  Erfindung  fur  eine  Geistestat  nach  Art  einer  Dich- 
tung  oder  eines  grofien  Gedankens.  Wir  verstehen, 
dafi  ein  Mensch  sich  das  Leben  nimmt,  weil  er  Geld 
verloren  hat.  Wir  wiinschen  uns  Gesundheit,  verachten 
denArmen,  und  halten  den,  der  Einsamkeit  ertragt,  fiir 
ein  en  Sonderling.  Wir  geben  vor,  die  Furcht  zu  ver- 
achten, und  wissen  nicht,  dal5  Neugier,  Liige,  Eitelkeit, 
Geschwatzigkeit,  Schlauheit,  Habgier,  Sarkasmus,Zweifel- 
sucht  mit  ihridentisch  sind;  Mut,  Wahrheitsliebe,  Treue, 
Selbstlosigkeit,  Phantasie  lassen  wir  als  harmlose,  wenn 
auch  nicht  nutzliche  Tugenden  gelten. 

Die  Zeit  ist  sehr  nahe,  welche  die  typischen  Zu- 
sammenhange  der  menschlichen  Eigenschaften  erkennen, 
und  mit  scharfen  Indizien  aus  dem  einzelnen  Symptom  auf 
den  Komplex  des  Menschen  schliefien  lehrt.  Bedenkt  man, 
welche  ungeheuren  Arbeitsmengen  heute  aufgewendet 
werden,  um  Krankheiten  zu  bekampfen,  um  korperliche 
Unvollkommenheiten  zu  beseitigen  oder  zu  verdecken, 
die  deshalb  gefiirchtet  werden,  weil  sie  bemerkbar  sind, 
so  mag  man  ermessen,  welch  rastlose  Arbeit  der  Schu- 
lung  und  Selbsterziehung  erfordert  werden  wird,  sobald 
die  Scharfe  des  Blickes  fiir  innere  Eigenschaften,  die 
heute  wenigen  Hunderten  als  Kassandragabe  beschieden 
ist,  Gemeingut  geworden  ist.  Kaum  wagen  diese 
wenigen,  deren  Augen  sehend  wurden,  —  sehend  nicht 
allein  fiir  den  Zusammenhang  des  geistigen  Komplexes 
in  sich,  sondern  leider  zugleich  fiir  den  Zusammenhang 
des  Geistigen  mit  koiperlicher  AuiSenform,  —  ihre  be- 
denklichen  Erfahrungen  auszutauschen.  Dennoch  wird 
die  Welt  diese  Dinge  erlernen  und  mit  der  gleichen 
Sicherheit  handhaben,  mit  der  sie  etwa  heute  die  primiti- 
veren  Unterscheidungszeichen  der  typischen  Hauptrassen 


317 


wahrnimmt;  denn  vor  der  Entwicklung  der  Menschheit 
bestehen  keine  konventionellen  Geheimnisse. 

Die  Genesis  erzahlt  von  der  Erkenntnis  und  der 
folgenden  Verhiillung  des  Menschen;  wem  es  schwer 
fiillt,  aus  der  invariabel  gewordenen  Bestandigkeit  un- 
seres  Geisteszustandes  hiniiberzudenken  zu  einer  be- 
ginnenden  unaufhaltsamen  Wandlung,  der  hake  sich 
umgekehrt  den  neuen  Erkenntnisstand,  verbunden  mit 
einer  unverhiillbaren  Nackrheit  des  Geistes  vor  Augen. 
Dhge  und  Herrschaft  der  Dinge,  Bandigung  der  Sachen;  dieser 
Wahlspruch  umschreibt  den  Betrachtungskreis  einer 
reiferen  Menschlichkeit.  Wie  mit  dem  Hunger  nach 
Gegenstanden,  mit  der  Begierde^  nach  Herstellbarem, 
Kauflichem,  Schatzbarem,  mit  dem  Wechselspiel  des 
Neuheitskitzels  und  der  Abstumpfung  alsbaldPrunksucht 
und  Neidlust,  Nachahmungswut,  Modenarrheit,  Gier 
und  Entbehrungsangst  dahinsinken,  so  wird  mit  der  Liebe 
zu  Menschen  und  Dingen  Wesentlichkelt  aufsteigen.  In 
einem  seltsamen  Konflikt  befinden  sich  heute  einzelne 
unserer  Dichter,  die,  von  grofistadtischen  Wirkungen  be- 
wegt,  Kompromissen  und  Maskeraden  ehrlich  abgeneigt, 
den  Stier  bei  den  Hornern  zu  packen  glauben,  wenn  sie 
die  Mechanisierung  besingen,  mit  scheinbar  gleichem 
naiven  Recht,  mit  dem  Homer  seine  Kampfe,  Vergil  seinen 
Landbau  besang.  Gewifi,  wir  betreten  Hotels,  Bahnhdfe, 
Kasernen,  wir  fahren  mit  motorischen  Werkzeugen  und 
leben  zwischenMaschinen ;  warum  es  verschvveigen?  Aber 
diese  Dinge  sind  nicht  fiir  unsere  Zeit  wesentlich,  ge- 
sch  weige  fiir  eine  kommende,  so  wenig  wie  fiir  Shakespeares 
Zeit  die  Halskrause  und  fiir  Goerhes  Zeit  der  Haarbeutel. 
Dasbeginnende  XVIII.  Jahrhundert  bedichtete  Papageien 
und  Chinoiserien,  Lockenperiicken  und  Tabatieren;    das 

518 


sind  kulturhistorische  Kuriosa.  Ein  FlugschifFlied  von  1 9 1  o 
wird  unseren  Enkeln  soviel  bedeuten  wie  uns  ein  Dampf- 
schifflied  von  1830,  aber  ein  Lied  von  Busch  und  Tal 
bleibt  jung.  Gewifi  ist  die  Nachtigall  ein  mill)b ranch ter 
Vogel,  aber  der  Mifistand  liegt  nicht  im  Veralten  des 
Natiirlichen,  sondern  in  der  Stagnation  unseres  Lebens- 
gefuhls.  Fiir  neues  Lebensgefiihl  bieten  neue  Einrich- 
tungen  keinen  Ersatz.  Das  junge  Lebensgefuhl  aber 
wird  damit  beginnen,  dai5  es  sich  von  den  Sachen  be- 
freit.  Dem  Grubenpferd  hilft  man  nicht,  indem  man 
mit  ihm  seine  eigenartige  Lage  diskutiert,  sondern  indem 
man  es  zur  Weide  und  zum  Licht  hinanffiihrt,  solan ge 
es  Zeit  ist. 

Gegen  Ende  des  abgelaufenen  Jahrhunderts  klagte  Intei-essen  und 
man  viel  iiber  das  Absterben  der  Ideale,  in  der  stillen 
HofFnung,  es  mochte  wieder  eine  Zeit  kommen,  in  der 
sich  Ideale  und  Interessen  versohnen  lieli5en.  Vielleicht 
dachte  man  an  die  Professoren  und  Phraseologen  der 
Paulskirche,  die  es  leicht  hatten,  Idealisten  zu  sein,  in- 
dem sie  die  Interessen  ihrer  Mandatare  nicht  kannten 
oder  nicht  verstanden.  Interessen  und  Ideale  lassen  sich 
nicht  vereinigen;  es  sei  denn,  dafi  man  in  niederer 
Deutung  unter  Idealen  Gemeinschaftsinteressen  versteht. 
Sollen  die  Ideale  zur  Herrschaft  kommen,  so  miissen  die 
Interessen  geradenwegs  vernichtet  werden;  nicht  weniger 
als  dieses  schwere  Werk  wird  von  der  Entwicklung  der 
Seele  verlangt.  Bismarck  hat  die  Pairs  von  England  als 
Gesetzgeber  gepriesen,  denn  sie  seien  saturierte  Existen- 
zen,  somit  teilnehmende,  aber  uninteressierte  Naturen. 
Die  selbstlose  Teilnahme,  die  heute  das  Vorrecht  der 
echten  Kiinstler  und  Denker  bildet,  diese  edle  Kraft,  die 
den,  der  sie  tragt,  als  eine  Saule  im  Gevvimmel  der  Be- 


319 


gehrlichkeit  aufragen  lafit,  wird  Gemeinbesitz  des  Volkei 
sein,  das  sich  geniigen  lafit. 
DieStim-  Herrlich  ist    es,    zu   wissen,    dafi    das   geringe   Ab- 

schrittenerer  ^"^  ^^^  triibsten  Begierde,  das  keinem  wahrhaft  geistigen 
Zeit  Menschen  unserer  Zeit  ein  ernstliches  Opfer  bedeutet, 

dafi  dieses  Abtun  geniigt,  um  die  Menschheit  aus  dem 
irren  Kreislauf  der  Mechanisierung  zu  reifien  und  ihr 
freien  Weg  zu  schafFen.  Ein  mannliches  SelbstbewuJ&t- 
sein,  gleich  entfernt  von  brutaler  Herrensucht  und 
affischer  Eitelkeit,  ein  kdnigliches  Vertrauen  zur  eigenen 
Kraft  und  zur  Weisheit  der  Machte  wIrd  diesen  Weg 
geleiten,  der  nicht  zu  Wirtschaftssachen,  sondern  zu 
transzendenten  Giitern  fuhrt.  Der  materielle  Beruf 
bleibt  ernst,  denn  die  Verantwortung  schiitzt  ihn  vor 
spielerischer  Verflachung,  aber  er  verliert  seine  Endgiiltig- 
keit;  die  dumpfe  Beherrschung  jeder  Lebensstuhde,  die 
leidenschaftliche  Angst,  die  Versklavung  des  Geistes,  die 
Feindseligkeit  des  Kampfes,  die  Verblendung  des  Auges 
wird  ihm  genommen.  Der  Mensch  richtet  sich  auf  und 
blickt  wieder  zu  den  Gestirnen  empor,  er  wird  zum 
Freund  des  Menschen,  der  Dinge  und  der  Machte. 

So  gleicht  die  innerste  Stimmung  der  beseelteren 
Epoche  einer  franziskanischen  Heiterkeit,  einer  Heiter- 
keit  vol!  Ernst,  Betrachtung  und  Liebe.  Der  Intellekt 
ist  nicht  mehr  Zepter  und  Stachel,  sondern  Werkzeug; 
gestahlt  und  geschliiFen  dutch  vergeistigte  Arbeit,  Ver- 
antwortung und  gesteigerte  Aufgaben.  Nun  sind  die 
inneren  Menschheitskrafte  so  befreit,  gesammelt  und 
gerichtet,  der  transzendente  Gedanke  so  sehr  zum 
realsten,  hinreiI5endsten  Ereignis  erstarkt,  dalS  der 
hochste  irdische  Aufstieg  nicht  mehr  gehemmt  werden 
kann. 


320 


Sind  diese  Dinge  Phantasmen?  Hat  die  Welt  nicht  Vbrbilder  der 
Wunderbareres  unerstaunt  erlebt?  Wir  brauchen  nicht 
Goethes  und  Kants  Naturen  mit  denen  des  Menschen 
vom  Neandertal  oder  des  lebenden  Buschmanns  zu  ver- 
gleichen;  es  geniigt,  im  eigenen  Lande  den  Leibeigenen 
des  vorletzten  Jahrhunderts  an  seinem  Urenkel,  sei  er 
Dichter  oder  Staatsmann,  zu  messen. 

Das  Schaffensphanomen  des  Genies  bleibt  unbegreif- 
llch,  aber  sein  SchafFensergebnis  wird  von  der  Zeit  ein- 
geholt;  hinsichtlich  seines  inneren  Besitzes  ist  das  Genie 
nur  ein  verfriihter  Vorlaufer.  Der  Zeitpunkt  des  Ein- 
holens  bricht  an  in  dem  Augenblick,  wo  das  erste  Ver- 
standnis  beginnt;  wir  fangen  an,  Goethe  zu  begreifen, 
und  somit  werden  wir  dereinst  Erben  seines  geistigen 
Besitzstandes  sein,  wenn  auch  niemals  der  Gotterkrafte, 
die  vorauseilend  diesen  Besitzstand  schufen. 

Was  ist  aber  anderes  zum  Emporkommen  jenes  ge- 
schilderten  Zustandes  erforderlich,  als  dafi  wir  be- 
ginnen,  Christus  zu  verstehen?  Freilich  nicht  historisch, 
kulturell  und  pragmatisch,  sondern  durch  Einfiihlung  in 
sein  geistiges  Leben,  durch  seelisches  Ergreifen  seiner 
Natur.  Nichts  ist  in  dieser  Schilderung  gesagt,  was  sich 
nicht  aus  seinen  Gedanken  entnehmen  liefie,  und  nichts 
ist  gefordert,  was  nicht  in  den  geistigeren  Menschen 
unserer  und  friiherer  Zeiten  keimend  sich  findet.  Des- 
halb  durfen  wir  glauben,  dafi  die  Vereinbarkeit  der  be- 
seelten  Gemelnschaft  mit  den  praktischen  Voraus- 
setzungen  unserer  Menschlichkeit  dargetan  sei. 

Freilich  arbeitet  der  vorauseilenden  Kraft  des  Genies  Stetigkeitund 
die  Stetigkeit  der  Natur  entgegen.    Sie  will  nicht  ver-    ^S^^^^S 
friihte  Ernten   gefahrdet  sehen,    deshalb  halt  sie  gewal- 
tige  Reserven  unverbrauchter  Saat  zuriick,  die  sie  erst 


Ji» 


dann  belebt,  wenn  die  friihe  Frucht  langst  gesichea 
scheint.  Dem  Techniker  verglelchbar,  der  Zeichnungel 
und  Modelle  eigensinnig  aufbewahrt,  wenn  auch  d| 
Konstruktion  geandert  und  liberholt  sein  mag,  erhalt  dfl 
Natur  abseits  vom  Wege  das  Langstvergangene  JaliJl 
tausende  lang.  Den  Urmenschen  finden  wir,  den  Hirte 
Abrahams,  den  Krieger  Homers,  wenn  wir  uns  weit" 
genug  von  der  taglichen  StrajSe,  nach  der  provinziellen 
Vergessenheit  alter  Kontinente  bin,  entfernen.  Ur- 
altestes  ist  eingestampft,  der  tertiare  Mensch  kehrt  nicht 
wieder,  aber  mindestens  durch  ein  gutes  Dutzend  Jahr- 
tausende  reicht  das  konservierende  Arsenal  und  Museum 
der  Natur. 

Bei  dieser  Treue  der  Erhaltung  diirfen  wir  nicht  Qt»M 
warten,  dafi  jene  kiinftige  Evolution  des  Lebens  im  Nu  " 
den  Erdball  umkreise.  Vermutlich  werden  in  den  ger- 
manischen  und  halbgermanischen  Landern  zuerst  sich 
die  Zentren  der  Entwicklung  bilden  —  wer  heute  mit 
holsteinischen  oder  alemannischen  Bauern  spricht,  mochte 
meinen,  solches  Zentrum  schon  vor  Augen  zu  haben  — 
und  es  wird  gute  Geduld  erfordern,  bis  die  altmodische 
Provinz  der  Welt,  etwa  Siidamerika  und  Afrika,  um  ein 
weniges  nahegeriickt  ist. 
Riickblickder  An  diese  Zuriickgebliebenen  ihrer  Zeit  werden  un- 
ommen  en  ^^^^  Nachkommen  sich  erinnert  fuhlen,  wenn  sie  aus 
alten  Berichten  unsere  Lebenslage  und  Denkweise  er- 
mitteln.  Die  Halfte  unserer  Lebensarbeit  fiir  Tand  ver- 
ausgabt,  Volkerschaften  durch  freiwillige  Vergiftung  ver- 
nichtet,  Milliard  en  fur  durchsichtige  Kiesel,  bunte  Me- 
talle,  Vogelfedern  und  glanzende  Lappen  geopfert, 
Haushaltungen  zerriittet,  um  durch  torichtes  Gehaben 
und  liberfliissige  Cerate  Neid  zu  ernten.  Ersatz  natiir- 


312 


licher  Freuden  durch  Larm  und  Verrenkung  in  stinken- 
den  Lichtsalen,  durch  ofFentliches  Essen  unter  lugen- 
haften  Zeremonlen,  durch  Rutschbahnen,  Karusselle  und 
ostentative  Reisen,  Stadte  angeftillt  mit  scheufilichem, 
nutzlosem  Modekram;  Fronarbelt  und  Verzweiflungs- 
kampf  der  Manner,  um  den  Anteil  an  der  Gutermenge 
zu  vergroi^ern,  um  Unterwiirfigkeit  zu  erzwingen,  um 
den  Kindern  Faulenzerei  zu  ermoglichen,  um  sich  an 
Hochstehenden  zu  reiben,  um  die  Namen  mit  Zusaizen, 
die  Kleider  mit  Abzeichen  zu  schmiicken;  Feindschaft 
und  Mifitrauen  gegen  den  Unbekannten,  Herablassung 
gegen  den  Erfolglosen,  Demut  vor  dem  Machtigen,  un- 
ersattllche  Neugier  bei  gefiihlloser  Abstumpfung,  Furcht 
vor  sich  selbst,  miihsam  gestillt  durch  Geschwatz  und 
Zerstreuung,  Leben  der  Angst,  der  Gier,  des  Schuftens 
und  der  Streberei,  und  daneben  ein  so  klaglicher  Geiz 
der  Gemeinschaft,  daI5  sie  lieber  zu  ihren  Fiifien  Tau- 
sende  verkommen  sieht,  start  von  ihrem  Kinderkram 
den  Zehnten  zu  opfern  und  das  El  end  abzutun:  soUte 
dieses  Bild  unseren  Nachkommen  aus  alten  Urkunden 
entgegentreten,  so  werden  sie  uns  nicht  hassen  und  nicht 
verachten,  schon  um  der  Sorgen  und  Schmerzen  wiilen, 
die  wir  erlitren,  und  um  der  grofien  geistigen  und 
mechanischen  Dinge  wiilen,  die  wir  geleistet  haben. 
Aber  sie  werden  fin  den,  dafi  in  unserer  Stimmung  und 
Welt  ein  negerhaftes  Element  herrschte,  dessen  wir 
noch  nicht  gewahr  werden;  sie  werden  uns  nicht  mit 
dem  wesensverwandten  Blick  betrachten,  den  wir  auf 
Griechen  und  Germanen  richten,  sondern  sie  werden 
uns  ansehen  wie  etwa  heute  der  Brite  den  Malaien: 
verstehend  und  iiberschauend.. 

Nachdem  wir  in  pragmatischer  Stetigkeit  das  Kom- 


3^3 


mende  aus  dem  Gegenwartigen   sich  entwickeln  sahen, 
blelbt  uber  den  Sinn  des  geschichtlich  Vergangenen  ein 
beschliefiendes  Wort  zu  sagen. 
Historische  Der  freudige  Menschheitsstolz,  mit  dem  wir  die  Ge- 

im  Lichte  schichte  des  Geistes  auf  Erden  begleiten,  beschwich- 
praktischer  tigt  nicht  ein  traglsches  Gefiihl  in  Ansehung  des  irdi- 
Biutversdnven-  ^^^^^  Blutcs.  Vdlker  auf  Volker  sehen  wir  liber  die 
dung  Kontinente   rollen,   edelste   Geschlechter,   erzogen  und 

aufgespart  in  Einsamkeit  und  barter  Zucht,  brechen 
hervor,  iiberrennen  bltihende  Landereien  und  verweich- 
lichte  Bewohner,  werden  zu  Herren,  herrschen  mit  Kraft, 
Harte,  Gerechtigkeit  und  Frommheit,  lassen  den  tiefsten 
Segen  des  Landes  und  Blutes  als  Geistesernte  empor- 
steigen,  erringen  der  Welt  unermefiliche,  unvergefilicbe 
Kulturen,  und  miissen  alsbald  vergeben,  aufgesogen  von 
der  zahen,  besiegbaren,  aber  nicht  ausrottbaren  Unter- 
schicht,  die  sie  ernahrt  und  zerstdrt,  begrabt  und  ver- 
zehrt,  wie  der  Humusboden  die  Pflanze.  Dieses  Gesetz 
wirkt  unerbittlich,  denn  was  die  Eroberer  zu  Herren 
machte,  was  die  Wenigen  befahigte,  die  Vielen  zu  ban- 
digen,  war  Furchtlosigkeit,  Abhartung  und  reinerer  Geist ; 
und  diese  Vorziige  in  langwierigerMufie  zubewahren,  das 
edlere  BJut  gegen  Vermischung  zu  schiitzen,  gibt  es  kein 
Mittel.  Ein  arithmetisches  Gesetz  tritt  hinzu  und  be- 
schleunigt  die  Wirkung.  Meist  wird  die  Unterschicht  sich 
schneller  vermehren,  denn  sie  kennt  keine  Verantwortung 
fiir  die  Nachkommenschaft.  Doch  selbst  wenn  sie  nur  in 
gleicher  Vermehrung  vorschreitet,  mul^  sie  in  Kiirze 
den  Vorsprung  des  Zahlenverhaltnisses  gewinnen:  denn 
der  Adel  erwirbt  nicht;  er  bewahrt  den  Grundbesitz, 
den  er  sich  iiberreich  zuteilte  und  der  dennoch  im 
Laufe  der  Generationen   fiir  die  jiingeren  Sohne  nicht 


324 


hinreicht.  So  werden  sie  Kolonen,  Berufskrieger,  Geist- 
llche,  Hagestolze  oder  Deklassierte,  und  der  Rest  der 
Versorgten  geniigt  nicht,  das  Kommando  iiber  die  Massen 
zu  sichern,  das  schon  bei  giinstigerem  Zahlenverhaltnis 
bedroht  war. 

So  hat  die  Erde  ihre  edelsten  Volkersaaten  yer-  Charaktetfd 
schwendet,  und  wir  stehen  vor  der  erschreckenden 
Frage :  ist  es  wirklich  das  Ziel  zehntausendjahrigen  Auf- 
wands,  aus  aller  Farbigkeit  und  Eigenart  menschlicher 
Stamme  eine  graue  marastische  Mischung  zu  brauen? 
Schon  sehen  wir  unter  dem  Prefidruck  der  Mechanisie- 
rung  alle  bunten  Sonderheiten  niederschmelzen,Trachten, 
Gerate  und  Bauten,  Verkehrsmittel  und  Form  en,  Speisen 
und  Unterhaltungen,  Organisationen  und  Gewerbe, 
selbst  Kunstformen  gleichen  sich  aus  und  werden  uni- 
versell,  und  es  verzweifelt  das  gutgemeinte  Bestreben, 
entwurzelte  Wesen  durch  Uberredung  am  Leben  zu 
erhalten.  Widerstand  leisten  noch  die  Sprachen  als  ein- 
deutige  Auspragungen  leiblich-geistiger  Physiognomien, 
obglelch  auch  sie  die  Neigung  zeigen,  zu  grofien  Ein- 
heitskomplexen  zu  verschmelzen;  den  widerlichen 
UbergriiFen  mechanistischer  Zudringlichkeit  wird  es 
fiirs  erste  nicht  gelingen,  diese  ehrwiirdigen  Patrimonien 
anzutasten. 

Bestarkt  wird  die  Sorge  vor  dem  Charaktertod  der 
Menschheit  durch  die  Erkenntnis,  dafi  jene  jungfraulich 
starken  Erobererstamme  auf  unserer  allzu  genau  durch- 
forschten  Erde  nicht  mehr  gefunden  werden,  es  sei 
denn,  dafi>  man  die  Gesamtheit  der  Hellfarbigen  den 
Dunkelfarbigen  entgegenstellt:  aber  diese  letzte  mdg- 
liche  Mischung  wird  in  spatesten  Zeiten  anderen,  durch 
klimatische  Faktoren  bestimmten  Gesetzen  folgen,  sofern 


325 


iiberhaupt  die  dunkle  Bevolkerung  innerhalb  der  Ge- 
samtvermehrung  einen  zahlenmaC)ig  beachtbaren  Stand 
behaupten  kann. 
Wertver-  Es  tritt  ein  weiteres  schwerwiegendes  Moment  aus 
'  '  ^  *  ^  dem  Wesen  der  Mechanisierung  hinzu.  Der  alte  Wett- 
kampf  der  Menschen  und  V^lker  beruhte  auf  Korper- 
kraft  und  Mut.  Alle  Bewertung  menschlicher  Eigen- 
schaften,  alle  epische  Verherrlichung  bezog  sich  auf 
diese  Karegorien;  der  tatsachllche  Inhalt  des  abendlan- 
dischen  Sittenempfindens  setzt  sie  bis  heute  als  oberstes 
ethisches  Prinzip.  Eine  anhaltende  Selektion  der  Kraft 
und  Gesinnung,  die  noch  immer  in  edlen  Stammen  und 
Geschlechtern  nachwirkt,  war  das  schone  Erbteil  dieses 
Selektion  des  weltlichen  Glaubens.  Die  Mechanisierung  brach  an  und 
erhob  den  Erfolg  an  die  Stelle  des  Sieges.  Nicht  mehr 
wurden  Naturkrafte  und  Menschen  mit  der  Faust  be- 
kampft,  sondern  mit  Gedanken  iiberlistet.  Zwischen 
Begierde  und  Lohn  schalteten  die  Gotter  an  Stelle  des 
Schweifies  das  Gewebe  der  Plane,  Riistungen,  Hilfs- 
mittel,  Vorkehrungen,  Intrigen.  Der  Kluge  iiberwand 
den  Starken,  der  Geduldige  den  Gewalttatigen,  der  Er- 
fahrene  den  Selbstbewufiten;  Schlauheit,  Zahigkeit, 
Fleifi,  Geschicklichkeit,  die  Tugenden  der  Schwache, 
wurden  Ziichtungsziele  der  Selektion  des  Erfolges. 
Jede  Durchschnitts  versammlung  selbstgeschafFenerMacht- 
haber  fiihrt  uns  dies  Bild  vor  Augen:  wir  begegnen  den 
wohlbekannten  Ziigen  sklavischer  Geliiste  und  Ver- 
schlagenheiten  bei  den  Herren,  und  find  en  oft  genug 
das  Zeugnis  edleren  Blutes  in  den  schweigenden  Ziigen 
derer,  die  sie  bedienen.  Wie  nun,  wenn  die  fortschrei- 
tende  Mechanisierung  die  letzten  Reste  alter  Adligkeit 
vernichtet  oder  in  Knechtschaft  schliigt,  und  dafiir  aus 

3a<5 


den  unrersten  Tiefen  die  Kreaturen  erblicher  Schwache 
zur  Herrschafc  der  Welt  emportragt? 

So  steht  der  mechanistischen  Unifizierung  scheinbar 
keine  ethniscbe  Gegenkraft  im  Wege,  und  es  drohr  die 
Gefahr,  dafi  die  Menschheitsentwicklung  auf  diesem 
Planeten  durch  Ungunst  derBlutsverhaltnisse  aufgehalten, 
ja  vernichtet  werde. 

Ein  Gefiihl  fiir  dasSinnvolle  und  der  Natur  Wurdige  G<?^^»Ar4//* 
sagt  uns,    dafi    so   kleinliche  Folgerungen  unwahr  sind; 
und  in  der  Tat  ist  es  leicht,  den  Trugschlui5  verstandes- 
mafiig  aufzulosen. 

Niemals  konnen,  wie  wir  gesehen  haben,  absolute  Fra-  UnbestMntiigkeh 
gen  der  Geistesentwicklung  durch  Rassenbetrachtung  ge- 
klart  werden;  denn  im  letzten  Sinne  bildet  der  Geist  die 
Rasse.  Fiir  das  jeweils  vorliegende  ZeitdifFerential  ist  die 
Betrachtung  wertvoll  und  wichtig;  fiir  die  Ausdeutung  der 
Gesamtfunktion  mufi  sie  zu  falschen  Ergebnissen  ftihren. 
Im  vorliegenden  Fall  haben  wir  uns  zu  vergegenwartigen, 
dafi  vor  wenigen  Jahrmyriaden  die  edelsten  Menschen- 
rassen  so  wenig  bestanden  als  die  unedelsten.  Sie  haben 
sieh  somit,  gleichviel  unter  welchen  Verhaltnissen,  ge- 
bildet,  und  zwar  aus  primitiverem  Material,  als  wir  es 
irgend  kennen»  Unter  unseren  Augen  bildet  sich  auch 
heute,  in  den  Vereinigten  Staaten,  eine  kraftige  Rasse, 
und  zwar  ausschlieil)lich  aus  dem  Material  samtlicher 
europiiischer  Unrerschichten.  Rassen  sind  nicht  Ewig- 
keitsbegrifFe,  sondern  Zeitbildungen,  es  mdgen  abermals 
Jahrmyriaden  erforderlich  sein,  um  die  dunkelsten 
Stamme  zu  veredeln,  aber  es  geniigen  drei  Generationen, 
um  einen  Sprofiling  der  tiefstendeutsch-slawiscljenSchich- 
ten  auf  die  Hohe  unseres  bestenBlutes  zu  heben.  Die  inne- 
ren  Bedirigungen  des  Aufsriegs  sind  geistige;  die  fordern- 


3^7 


den  physischen  Elemente,  Stahlung,  Korperiibung,  Beseiti- 
gungverweichlichenderEinflusse,bildeneinenBe(lingungs- 
komplex,  den  ich  vor  Zeiten  Vernordlichung  genannt  habe. 
Doch  wir  bediirfen  nicht  dieser  breiten  Verallgemei- 
nerung.  Haben  wir  uns  bisher  bemiiht,  die  Menschheits- 
frage  nicht  blofi  im  Spiegel  der  Ewigkeit,  sondern  als 
eine  reale  Aufgabe  der  Zeitlichkeit  zu  betrachten,  so 
diirfen  wir  vor  Volkernamen  und  namhafter  Eigenart 
nicht  erschrecken.  Be  vor  wir  jedoch  die  innere  Auf- 
losung  der  Mechanisierung  an  die  geschichtliche  Auf- 
gabe bestimmter  Lander  und  Volker  kniipfen,  sei  es  ge- 
stattet,  die  selbsterzeugten  rein  intellektualen  Gegen- 
krafte  der  falschen  Selektion,  medizinisch  ausgedriickt, 
ihre  geistigen  Antitoxine,  kurz  zu  erwahnen. 

V  Als  erste  Voraussetzung  diene  die  keimende,  der^ 
einst  rasch  wachsende  Kenntnismenschlicher  Qualitaten, 
ihres  Zusammenhangs  und  ihres  physichen  Ausdrucks, 
die  bisher  schuldhaft  vernachlassigte  Kunde  des  Cha- 
rakters,  Naturells  und  Physikums,  von  der  wir  gespro- 
chen  haben.  Das  idiosynkratische  Wiihlen  in  sexuellen 
Zusammenhangen  ist  ein  ebenso  einseitiger  Beginn  die- 
ser Wissenschaft,  wie  die  Schadelmesserei  und  Rassen- 
kalkulation  von  ehedem,  beide  sind  als  Vorlaufer  zu  be- 
achten,  als  Erkenntnisquellen  jedoch  schon  insofern 
hochst  unvoUkommen,  als  sie  nur  einen  verschwindenden 
Teil  dessen  zu  deuten  verstehen,  was  heute  jeder  intui- 
tiv  Begreifende  mit  hellen  Augen  zu  sehen  und  mit 
klaren  Worten  auszusprechen  vermag. 
Korrektion  dej^  Bedenkt  man  nun,  daJ&  alle  mechanistische  Macht- 
u^i^  stellung,  und  in  noch  hoherem  Mafie  jeder  Weg,  der 
2u  solcher  Machtstellung  fiihrt,  im  letzten  Sinne  auf 
Vertrauen,  auf  nichts  als  Vertrauen  beruht  und  beruhen 


328 


kann,  so  wird  man  die  ungeheure  Wirkung  einer  ver- 
tieften  und  verbrelteten  Menschenkenntnis  ermessen 
konnen.  Der  Regierende  besteht  durch  das  Vertrauen 
seiner  Vorgesetzten,  seiner  beigeordnetenKorperschaften, 
Untergebenen  und  Untertanen,  der  Kaufmann  durch 
das  Vertrauen  seiner  Kundschaft  und  Krediroren,  der 
Industrielle  durch  das  Vertrauen  seiner  Geldgeber  und 
Akrionare,  der  Volksvertreter  durch  das  Vertrauen  seiner 
Wahlerschaft.  Vom  Vertrauen  unabhangig  sind  einzig 
und  allein  der  Monopolist,  der  Spieler,  der  Gunstling 
und  der  Erbe,  absterbende  Kategorien,  deren  Unsittlich- 
keit  und  Widersinn  wir  zu  begreifen  beginnen.  Wenn 
nun  dem  menschlichen  Sinne  die  Blindheit  genommen 
ist,  die  heute  der  Mehrzahl  verwehrt,  den  geborenen 
Liigner,  Schwachling,  Windbeutel,  Schmarotzer,  Treu- 
losen  und  Schurken  auf  den  ersten  Blick  zu  erkennen, 
so  werden  ungezahlte  Scharen,  die  heute  in  alien  Lan- 
dern  der  Zivilisation  mit  Geschicklichkeit  und  gierigem 
Eifer  die  Friichte  der  Mechanisierung  benagen,  an 
Stellen  festgehalten  werden,  wo  sie  unter  KontroUe 
brauchbare  Arbeit  leisten  und  zu  echterem  Wesen  er- 
zogen  werden,  wahrend  ungezahlte  andere,  die  durch 
Gewissen,  Wahrheitsliebe  und  Gerechtigkeit  am  Auf- 
stiege  gehemmt  sind  —  nicht  zu  verwechseln  freilich 
mit  Unfahigen,  die  sich  selbstgefallig  dieser  Tugenden 
bezichtigen  —  zur  Verantwortung  und  Aufsicht  gelangen. 
DaC>  hier  der  angeborenen  Eigenschaften  so  wenig  wie 
friiher  im  Sinne  einm:  Unentrinnbarkeit  und  Pradesti- 
nation,  sondern  vielmehr  nur  im  Sinne  eines  liber  win  d- 
baren  Widerstandes  gedacht  ist,  dessen  Besiegung  sich 
gleichfalls  im  Physischen  spiegelt,  bedarf  kaum  mehr 
der  Erwalinung. 


;29 


Da  nun  in  fast  hoherem  MaI5e  als  die  Stumpfheit 
der  Massen  die  Begehrlichkeit  gevvissenloser  Wirtschafts- 
fiilirer  es  ist,  welche  die  Mechanisierung  aufpeitscht,  in- 
dem  sie  unnotige  Bediirfnisse  schaiFt  und  verstarkt  und 
gleichzeitig  das  beneidete  Vorbild  materiell  gesteigerten 
Lohnes  aufstellt,  so  wird  durch  den  hier  angedeuteten 
Umschwung  nicht  nur  die  Selektion  der  Nichts-als- 
Klugheit  gebrochen,  sondern  auch  der  Mechanisierung 
selbst  ein  Teil  ihrer  Triebkraft  gestillt. 
Entwertuitg  dtt  Eine  zweite  selbst erregte  Gegenkraft  gesellt  sich 
Inteiitkts  binzu.  Wie  alle  intellektualen  Methoden  bei  gleich- 
bleibenden  Voraussetzungen,  werden  die  verstandes- 
maC)igen  Praktiken  der  Mechanisierung  uniform,  erlern- 
bar,  Gemeingut.  Vor  sechzig  Jahren  schien  in  Deutsch- 
land  der  simple  Gedanke,  eine  englische  Lokomotive 
zu  kaufen  und  nachzubauen,  von  so  unfafibarer  Kiihn- 
heit,  dafi  jahrzehntelange  Millionenernten  ihm  folgten. 
Heute  konnen  nicht  drei  Monate  vergehen,  bis  jede 
deutsche  oder  amerikanische  Neuerung  in  alien  Liindern 
eingefiihrt,  durchgeprobt,  nachgeahmt  oder  gariiberholt 
ist;  der  BegriiF  des  internationalen  technischen  Aus- 
gleiches  ist  ein  Gemeinplatz.  Die  Methoden  der  Or- 
ganisation, der  Finanzierung,  der  Priifung,  der  Verhand- 
lung,  des  Fabrikbaus,  der  Konzentration,  der  Syndizie- 
rung,  der  Verkehrsgestaltung  sind  heute  Eigentum  einer 
kleinenMinderzahl;  sie  waren  Gemeingut,  wenn  es  eine 
Geschaftswissenschaft  gabe,  wenn  nicht  welcfremde 
Dozenten  mit  den  Mitteln  harmloser  Statistik  diese 
lebendigen  Dinge  zu  beherrschen  glaubten;  wenn  nicht 
an  den  wirtschaftlichen  Hochschulen  Kunstgeschichte  ge- 
lehrt  wiirde,  wenn  vielmehr  unter  den  Fiihrern  der 
Wirtschafr  und    des    staatlichen    Lebens    eine    Anzahl 


330 


gebildeter  Menschen  sich  fainde,  die  in  Gedanken  und 
Worte  fassen  woUten,  was  ihnen  selbstverstandliche 
Praxis  ist.  Damit  ist  nicht  gesagt,  dafi  alle  pragmatische 
Kunst  erlernbar  sei;  auch  sie  fordert  fur  ihre  letzten 
Aufgaben  Genialitaten  und  Talente;  aber  die  Ver- 
breitung  ihrer  Disziplinen  soil  und  wird  eines  der 
letzten  Monopole  des  Wissens  beseitigen  und  hiermit 
den  Wettbewerb  des  Intellekts  auf  eine  neue  Grund- 
lage  stellen. 

Denn  alsbald  wird  ordinare  Klugheit  im  Werte 
sinken  und  der  Erfolg  der  Schlauheit  zur  selrenen  Aus- 
nahme  werden.  Wie  in  den  galizischen  und  polnischen 
Stadten  eine  zuriickgebliebene,  aber  intellektuell  ge- 
scharfte  jiidische  Bevolkerung  wirtschaftlich  erfolglos 
bleibt,  weil  die  Einzelnen  wecliselweise  einander  ge- 
wachsen  sind  und  sich  daher  gegenseitig  neutralisleren 
und  beschranken,  so  wird  allmahlich  iiberall  der  un- 
produktive  Verstand  zu  seiner  eigentlichen  Verwendung 
kommen,  die  nicht  in  der  Fiihrung,  sondern  in  der 
Leistung  und  im  Dienst  besteht.  So  wird  abermals  die 
Fiihrung  und  Verantwortung  freigegeben  fiir  den  in- 
tuitiven  und  schopferischen  Geist  und  abermals  das  Be- 
wertungszentrum  menschlicher  Eigenschaften  und  somit 
das  Prinzip  der  Selektion  verschoben  von  der  Seite  un- 
produktiver  und  selbstsiichtiger  Klugheit  in  der  Richtung 
zu  menschlicher  Reife  und  Einsicht.  Diesen  Weg  hat 
die  Praxis  der  Welt  bereits  beschrltten;  vergleicht  man 
die  Erfolgreichen  aus  der  Friihzeit  der  Mechanisierung, 
die  franzosischen  Finanzritter  des  Wahlspruchs  Enrichis- 
sez-vous,  mit  den  Organisatoren  der  Vereinigren  Staaten, 
so  liegt  mehr  als  der  empirische  Fortschritt  zweier 
Generation  en  zwischen  diesen  beiden  Etappen. 


331 


Be'wertungintui'  Es  lasscn  sich  die  Ausfuhrungen  dieser  Satze  dahin 
zusammenfassen,  dafi  schon  heute,  ohne  aufieres  und 
inneres  Zutun,  ohne  Erkenntnis  neuer  Welt- und  Glaubens- 
richtung,  ohne  Einkehr  und  Ausblick,  dem  Regiment 
der  Klugheit  und  Schlauheit  aus  seinem  eigenen  Ge- 
fiige  selbsttatige  Gegenkrafte  ervvachsen,  welche  nicht 
nur  die  Gefahr  einseitig  intellektualer  Selektion  hem- 
men,  sondern  den  mechanistischen  Aufbau  selbst  im 
Kern  angreifen.  Freilich  werden  wir,  da  die  Welt 
niemals  in  vdlligem  Kreislauf  zum  Ausgang  zuriick- 
kehrt,  auch  hier  nicht  erwarten  diirfen,  dafi  die  alte 
Selektion  der  Kraft  und  des  Mutes  wieder  einsetze: 
denn  dieses  war  der  Sinn  der  Mechanisierung,  dafi  sie 
den  Menschen  iiber  die  begrenzte  Kraft  des  Armes 
hinaushob,  und  ihn  lehrte,  der  unbegrenzten  Kraft  des 
Geistes  zu  vertrauen.  Wohl  aber  werden  Qualitaten, 
die  dem  Mute  nicht  allzufern  stehen,  Phantasie,  Intui- 
tion, Innerlichkeit,  verbunden  mit  den  tiefer  stehenden 
Qualitaten  der  Energie,  der  Geduld  und  Zahigkeit,  in 
den  Mittelpunkt  der  Krafte  treten,  deren  die  Mechani- 
sierung im  Zenith  und  Abstieg  bedarf  und  die  berufen 
sind,  dereinst  zur  VoUendung  der  Seele  den  Weg  zu 
weisen. 

Berufene  Vd/kfr  Indem  wir  uun  kritisch  diese  Qualitaten  liberbllcken, 
werden  wir  zu  unserer  Frage  nach  den  berufenen  und 
herantretenden  Volkern  zuriickgefuhrt.  Im  Laufe  des 
letzten  Jahrtausends  haben  die  Unterschichten  der  euro- 
paischen  Kulturvolker  unter  der  drxickenden  Herrschaft 
ihrer  Aristokratien  trotz  Not  und  Seuchen  bedeutende 
Schritte  getan,  um  sich  dem  geistigen  Ziel  zu  nahern. 
Lassen  wir  unseren  Blick  nicht  triiben  durch  das  Bild 
der    Letztgekommenen   und  Jiingstemanzipierten:    des 


33^ 


groCstadtischen  Pobels  und  seiner  Emporkdmmlinge,  be- 
trachten  wir  den  Bauern,  Kleinbiirger  und  ansasslgen 
Arbeiter,  so  trefFen  wir,  unentwickelt,  zuruckgedammt, 
von  seelenhaftem  Leben  freilich  wait  genug  entfernt, 
und  dennoch  guten  Wachstums  fahig,  die  Krafte,  deren 
die  kommende  Zeit  bedarf.  Fast  ausnahmslos  tragen 
die  Wenigen,  die  seit  funfhundert  Jahren  den  Geist 
Europas  gelenkt  und  verkdrpert  haben,  an  Haupt  und 
Gliedern  die  deutlichen  Zeichen  der  Unterschicht,  in 
seltenen  Fallen  der  Mischung.  Das  geistige  Leben  der 
Nationen  beruht  auf  dem  gleichen  Fundament,  des- 
gleichen,  mit  Ausnahme  PreuI5ens  und  Osterreichs,  die 
Verwaltung.  Die  Reste  reiner  Oberschichten  haben  die 
Schdnheit  und  den  Adel  der  Gestalt,  zum  grofien  Tell 
auch  die  Reinheit  der  autoritaren  und  vas alien treuen 
Gesinnung  sich  erhalten;  ihr  schdpferiscber  Geist  ertragt 
nur  dann  den  Vergleich,  wenn  das  Verdienst  biirger- 
lichen  Halbblutes  ihnen  zugcmessen  wird.  England,  das 
einzige  Gebiet  anscheinender  Adelskultur,  ist  es  nur  dem 
Namen  nach,  denn  sein  Adelstum  ist  langst  nicht  mehr 
Sache  der  Urabstammung,  sondem  jungerer  Titulatur. 

Die  alten  Oberschichten  besafien  in  hdherem  M^ihe  Die  Mission 
als  ihre  Beherrschten  die  mutentsprossene  Kraft  derg^,j^^,jj^gj^' 
Gesinnung,  und  haben  sich,  von  dieser  Starke  aus- 
gehend,  dem  Wesen  der  Seele  genahert.  Doch  nur 
die  Wenigen  und  Grofien  sind  diesen  Weg  bis  zur 
Pforte  geschritten;  Stolz  und  Sorglosigkeit  hielt  die 
meisten  zuriick.  Dafiir  ist  nunmehr  den  Demxitigen  und 
Geknechteten  ein  Weg  erschlossen,  freilich  ein  rauherer, 
der  Weg  der  Entsagung  und  Heiligung,  den  wir  geschil- 
dert  haben;  sie  werden  nicht  von  der  Intuition  zur  Seele, 
sondern  durch  die  Seele  zur  Intuition  gelangen.    Diesen 


333 


Weg  werden  und  miissen  sie  schreiten;  gottselig  und  willig, 
von  den  Gestirnen  emporgezogen,  oder  widerstrebend 
und  schmerzensvoU,  vom  Leid  der  mechanistischen 
Not  gietrieben.  Fiir  den  Leidensweg  aber  sind  die  ent- 
erbten  Stamme  und  Schichten  mittlerenBlutes  die  wahrhaft 
Auserwahlten;  vielleicht  findet  sich,  bei  tiefstem  geisti- 
gen  Stande,  zu  diesem  Zeitpunkt  keine  grofiere  Seelen- 
nahe  der  Massen  als  in  den  geknechteten  Bauernschaften 
Rufilands.  Nur  eine  kurze  Zeit  wird  vergehen,  bis  bei 
uns  die  Erkenntnis  reifr,  dafi  nicht  politische  und  soziale 
Rezepte,  nicht  Einrichtungen  und  Gesetze  den  Menschen 
befreien  und  beseligen;  ist  erst  dieser  mechanische  Aber- 
glaube  gebrochen,  so  werden  aus  den  Tiefen  unserer 
Volker  starkere  Lebenskeime  derSeele  als  jene  dumpfen 
Ahnungen  des  Nachbarstammes  sich  emporringen.  Die 
alte  Welt  ziichtete  in  Vdlkereinsamkeit  den  Mut,  um 
durch  gewaltsamen  Uberfall  verwohnte  Massen  in  Wal- 
lung  zu  bringen;  die  Mechanisierung  bedarf  des  phy- 
sischen  Mutes  nicht  mehr,  um  ihren  Volkerkessel  im 
Sieden  zu  erhalren;  sie  bedarf  nicht  mehr  des  edelsten 
Blutes,  uiji  das  unedle  zu  wiirzen;  denn  unfreiwillig 
und  unbewufit  unternimmt  sie  den  ktihnen  Versuch,  aus 
Blut  schlechthin  die  Seele  zu  destillieren,  und  durch 
ihre  Wunderkraft  riickwirkend  jene  alt  en  primaren 
Tugenden  nebenher  zu  erwecken.  So  erfiillt  es  sich: 
die  Letzten  werden  die  Ersten  sein;  der  Weg  des  freien 
Mutes  war  zu  kurz,  der  Weg  der  Intuition  war  zu  eng, 
der  breite  Weg  des  LeFdens  und  der  Einkehr  ist  fiir 
Alle  geebnet,  und  die  Erkenntnis  weist  ihn.  Die  Not 
der  seelenlosen  Zeit,  in  der  wir  leben,  ist  noch  nicht  am 
hochsten,  und  dennoch  erblicken  wir  ihr  Ende;  es  naht, 
herbeigefiihrt  durch  jene  Massen,  die  heute  dieMechani- 


334 


sierung  emportreiben,  ihr  fronen  una  ihr  erliegen;  es 
naht,  nichr  durch  das  Opfer  der  Edlen,  nicht  durch  die 
Aufwalzung  der  Niederen,  sondern  durch  die  innerste 
Wiedergeburt  der  Volker  aus  heiliger  Not  und  von 
Grunde  aus. 

Wider  Willen  und  Wissen  ist  unsere  Epoche  im 
Innersten  demokratisch,  indem  jeder  Schritt  zur  Frei- 
heit  unwlderruflich,  jeder  Riickschritt  zur  Gebunden- 
heit  unmdglich,  und  somit  der  Lauf  zum  Gleichheitspunkt 
unaufhaltsam  wird,  weil  die  Zeit  in  ihren  Traumen 
fuhit,  dafi  sie  der  Volker  bedarf  und  nicht  mehr  der 
Schichtung.  Nicht  Volksherrschaft  erstrebt  sie,  sondern 
Volksfreiheit;  und  wenn  auch  dieser  Weg  durch  Irrtum 
und  Siinde,  Not  und  Gefahr  fiihrt,  wenn  auch  manches 
Gut  und  Gliick  der  Kulturen  zertreten  werden  mag,  er 
ist  gesichert  durch  den  Willen  ewiger  Machte. 

Niemals  werden  die  gro&enKulturphanomene,  welche 
die  vergangenen  Umschichmngen  begleiteten,  sich  wie- 
derholen;  neue  Uberlagerungen  sind  nicht  zu  befiirchten 
und  nicht  zu  erhoiFen,  denn  die  den  Boden  der  Erde 
bedeckenden  Zivilisationsschichten  sind  geistig  und  nu- 
merisch  so  .stark  geworden,  dafi  sie  jede  neue  Eroberer- 
schicht  abzuschiitteln  oder  aufzusaugen  vermogen.  Der 
vermessene,  oft  und  frivol  ausgesprochene  Gedanke 
einer  slawischen  Uberflutung  wiirde,  verwirklicht,  nicht 
die  deutsche,  sondern  die  slawische  Kultur  vernichten. 
Noch  irrealer  als  der  slawische  Schrecken  ist  der  ost- 
asiatische,  denn  hierin  vereinigt  sich  das  geistige  Ge- 
setz  mit  dem  politischen,  dafi  Selbstnadigkeit  und  Herr- 
schaft  nur  ideenbildenden  Machten  beschieden  ist.  Ihre 
leitenden  Gedanken  aber  wird  die  Welt  so  lange  von 
den   Vdlkern    englisch-germanisch-slawischer    Schulung 


335 


empfangen,  als  diese  die  Kraft  haben,  ihr  Erbe  festzu- 
halten. 
Sinn  der  hi-  So  sehen  wir  die  ehemaligen  Unterschichten  der 
Entwicklung  Kulturvolker,  und,  in  ihrer  Folge  und  Erziehung  lang- 
sam  emporruckend,  die  unabsehbare  Stufenreihe  der 
Stamme  als  Trager  kultureller  Verantwortung  und  kiinf- 
tiger  seelischer  Entwicklung  emporwachsen.  Und  nur 
unter  dieser  Anschauung  erscheint  die  Historie  orga- 
nisch  und  mit  den  Weltgesetzen  in  Harmonie.  Paradox, 
ja  unertraglich  ware  der  Gedanke,  es  hatte  die  Evolution 
des  Geistes  auf  unserem  Planeten  nur  dahin  fuhren 
sollen,  ein  paar  glanzende  Volkererscheinungen  zu  zeiti- 
gen  und  diese  nach  kurzem  Dasein  unwiederbringlich  in 
marastisch  neutralen  Massen  aufzulosen.  Nun  erst  wird 
dieSchicksalsrolle  dieser  friihgeborenen,  fruhvergangenen 
Edelvolker  in  schoner  Tragik  lebendig;  sie  siegten, 
herrschten  und  starben  dutch  die  gleiche  Tugend;  sie 
mufiten  vergehen,  um  mit  ihrem  Geiste  Geist  zu  wecken, 
mit  ihrem  Blute  Blut  zu  erldsen;  sie  sind  die  Vorlaufer, 
die  Propheten,  die  Genien  unter  den  Vdlkern. 

Wir  haben  aus  dem  wirren  Gewebe  des  zeitlichen 
Wesens  die  Faden  gewonnen,  die  das  Gegenwartige  mit 
dem  Kiinfrigen  verbinden,  und  somit  ist  die  pragmati- 
sche  Aufgabe  erfiillt.  Nun  durfen  wir  es  wagen,  mit 
einem  Blick  die  gewaltige  Erscheinung  der  Mechanisie- 
rung  zu  umfassen,  um  sie  in  unser  Bild  vom  histori- 
schen  Welrgeschehen  wurdigend  einzureihen. 
Sinn  der  Me-  Aus  dem  Druck  einer  unablassig  sich  verdichtenden 
Volksmenge  erwachsen,  folgte  diese  Bewegung  der  Not- 
wendigkeit,  auf  beschrankter  Oberflache  und  gegebener 
physischer  Grundlage  den  Abertausenden  Raum,  Nah- 
rung,  Arbeit  und  Genufi  zu  schaffen.    Sie  vermochte  es 

336 


mechanisch,  indem  sie  die  Entfernungen  liberwand,  die 
Naturkrafte  in  Dienst  zwang,  die  Menschheit  zu  gigan- 
lischer  Arbeitsgemeinschaft  organisierte,  die  Oberflache 
der  Erde  umgestaltete,  die  naturllchen  Substanzen  in 
ihre  Elemente  zerrifi  und  zu  neuen  Verbindungen  ver- 
elnte.  Sie  vermochte  es  gelstig,  indem  sie  eine  welt- 
umspannende  sysrematische  Forschung  schuf,  indem  sie 
lehrte  den  Naturvorgangen  mit  Messung  und  Rech- 
nung  zu  folgen,  indem  sie  den  Menschen  mit  unge- 
heuren  Mengen  von  Notlonen  und  Zusammenhangen 
belastete,  und  ihn  zwang,  seine  Arbeit  zu  vergeistigen, 
zu  spintisleren,  zu  spekulieren,  zu  politisieren  und 
zu  diplomatisieren.  Sie  vermochte  es  ethisch,  indem 
sie  zwischen  Not  und  Uberflufi  eine  scheinbar  freie 
Wahl  stellte,  indem  sie  dutch  nahgeriickte  Bei- 
spiele,  dutch  Strome  neuer  Geniisse,  Surrogate  und 
Besitzgegenstande  die  Begehrlichkeit  stachelte,  dutch 
wechselnde  Mode  die  Aufmerksamkeit  wachhielt,  durch 
den  Taumel  der  Neuigkeiten,  des  Verkehrs  und  der 
Vergniigungen  den  arbeitsmiiden  Geist  vetwirrte  und 
zu  etneuter  Fiigung  in  die  Monotonie  des  selbst- 
bezweckten  Getriebes  beschwichtigte.  So  wurde  mensch- 
liche  Sklaverei  der  Maschine  auferlegt;  der  Arm  fiihlte 
sich  befreit,  allein  zu  Lasten  des  Hirns;  der  Mensch 
selbst  wufde  zum  Hirn  seiner  Maschinen  und  unbarm- 
herziger  als  zuvor  gebunden.  Von  der  Zweckhaftigkeit 
geboren,  treibt  Mechanisierung  den  Menschen  aus  der 
lebendigen  Gegenwart  in  wesenlose  Zukunft;  ihten 
Giitern;  Anerkennung  und  Besitz,  verleiht  sie  Zwangs- 
kurs;  wer  diese  Miinze  ausschlagt,  bleibt  unbelohnc 
und  dennoch  verpflichtet.  Sie  erscheint  als  eine  un- 
geheure,  nie  endende,Vorbereitung;  Geschlechter  werden 


337 


erzeugt,  ernahrt,  vermehrt  und  ins  Grab  geworfen,  ohne 
Aufschauen,  ohne  Ausblick,  und  die  Bewegung  schreitet 
weiter,  zu  vergrofierten  Zahlen,  erhoiiten  Dimensionen 
und  gesteigerten  Kraften. 

Diese  Not  ist  mit  keiner  zu  vergleichen,  die  frxiher 
war.  Denn  sie  ist  nicht  von  den  Elementen  gesendet, 
wie  Kalte,  Diirre,  Flut  und  Sterbe,  sie  ist  vom  eigenen 
Willen  der  Menschheit  entfacht  und  hochgetrieben. 
Sie  qualt  nicht  mit  Schmerzen  und  Tod,  sondern  mit 
Sorge,  Leere  und  Verzweiflung.  Sie  verlangt  nicht 
Kuhnheit,  Kraft  und  Todesverachtung,  sondern  Zahig- 
keit  und  Denken. 

Und  dennoch  bedeutet  diese  Not,  in  aller  ihrer 
feindlichen  Gegensatzlichkeit  zum  Naturhaften,  nicht 
eine  freche  Verirrung  des  Menschengeschlechtes,  son- 
dern die  Fortsetzung  des  ewigen  organischen  Kampfes 
mit  neuen  Mitteln.  Begierde,  Feindschaft  und  Erfindung 
haben  die  organische  Welt  zur  Stufe  des  Menschen 
emporgedrangt;  diese  Krafte  haben  die  Molluske  zum 
Wirbeitier,  den  Fisch  zum  Vogel  gemacht.  Auch  in 
diesen  tieferen  Wesen  war  Furcht  und  HoiFnung,  und 
somit  Intellekt.  Freilich  nicht  die  bewufite,  BegriiFe 
bildende,  abstrahierende  und  schliefiende  Form  dieser 
Kraft,  wie  sie  uns  heute  gewartig  ist,  sondern  ihr 
dumpferes  Element,  halbbewufit,  wie  uns  die  Seele,  und 
dennoch  im  Finden  von  Mittel.  Ausweg,  Abwehr  und 
Gewinn  ertoigreicn. 

Nichts  ist  geschehen,  als  dal5  die  Kraft  und  Wirk- 
samkeit  des  Intellekts  zwar  nicht  verstandlich,  doch  be- 
wufit  geworden  ist.  Unermefilich  sind  die  Erinnerungen, 
Gleichnisse  und  Formein,  die  der  Menschheit  zur  Ver- 
fiigung  stehen,  unermiidlich  ist  das  Pulsieren  des  Den- 


3J8 


kens  auf  diesem  Planeten,  und  die  Mechanisierung  be- 
deutet  letztens  nichts  anderes  als  den  Uberspannungs- 
schmerz  dieser  Kraft,  die  als  Universalwerkzeug  dem 
Erdenvolk  dienen  mufi. 

Daher  das  grenzenlose  Vertrauen  zum  Intellekt,  als 
konne  er  unendlich  viel  mehr  als  ordnen,  rechnen  und 
werben,  als  miisse  es  ihm  ein  leichtes  sein,  die  Welt 
unserem  hungernden  Geiste  geniefibar  zu  machen,  ja, 
ihren  und  unseren  Sinn  nnd  Urgrund  uns  zu  erschliefien. 
Verlangen  wir  von  der  Rechenmaschine  Gedichte?  For- 
dern  wir  vom  Wurme  eine  Weltanschauung  auf  Grund 
des  Benagbaren  und  nicht  Benagbaren?  So  hat  denn  der 
Intellekt  auf  alle  letzten  Fragen  mit  stummer  Ver- 
neinung  geantwortet.  Er  hat,  sobald  er  ein  Gebiet  der 
Welt  betrat,  damit  begonnen,  Strafien  zu  sperren; 
ofFnete  er  sie  nachmals  mit  entschuldigender  Geste, 
so  waren  sogleich  die  nachsten  Ubergange  verschlossen. 
Hatte  nicht  zu  jeder  Zeit  menschliche  Empfindung  und 
Intuition  sich  unbekiimmert  iiber  die  Schranken  ge- 
schwungen,  so  betete  die  Welt  zum  heiligen  Einmaleins. 

Die  hochste  Leistung  des  Intellekts  war  seine  Selbst- 
vernichtung.  In  ihr  ist  die  Mechanisierung,  das  Reich 
des  Intellekts,  zum  Tode  getrofFen.  Dieses  Reich  aber 
ist  wahrhaft  und  eigentlich  das  Reich  des  Antichrist, 
denn  es  ruht  auf  Begierde  und  Feindschaft,  wirbt  um 
Giiter  und  Ehren,  zieht  das  Heilige  zum  Zweck  herab, 
verhartet  die  Herzen  und  entfremdet  die  Seelen. 

Aus  dieser  Verlassenheit  heimkehrend  empfindet  die  Das  Reich  der 

Seele 

Seele  bestarkte  Ahnung  ihres  Bewufitseins  und  ewigen 
Rechts.  Jener  gewalrige  Druck  war  vonnoten,  um  die 
Machte  zu  scheiden;  nach  dem  Vorbild  menschlicher 
Leidenspriifung  war  er  bestimmt,    eine  Geisteswelt  zu 


139 


lautern  und  zu  entfesseln.  Die  Seele  kehrt  heim  und 
verlangt  nicht  nach  Paradiesen,  nicht  nach  dem  Reich 
des  Konig  Messias,  nicht  nach  dem  Triumph  der  From- 
men  und  flammenden  Gerichten.  Sie  verlangt  nach 
neuen  Kampfen  und  neuen  Miihen,  nach  gottlicheren 
Schmerzen  und  edleren  Freuden,  nach  wahrerem  Leben 
und  reinerer  Verklarung.  So  stehen  wir  abermals  vor 
den  Pforren  jenes  Reiches,  das  nicht  von  dieser  Welt 
ist,  und  doch  von  ihr  seinen  Anfang  nimmt,  des  Reiches, 
das  von  seinem  Verkiinder  benannt  ist  das  Konigtum 
des  Himmels  und  das  Reich  Gottes,  und  das  in  diesem 
armen  und  weltlichen  Buche  liber  uns  schwebte  als  das 
Reich  der  Seele. 


340 


INHALTSVERZEICHNIS 


EINLEITUNG  UND  RECHENSCHAFT 9 

Erstes  Buch 

DIE  EVOLUTION  DES  ERLEBTEN  GEISTES 25 

Die  Inventur  des  Geistes.  —  Inxmtar  der  Erinnerung.  —  Kind- 
liche  Unsckuld.  —  Urstimmung :  Begehren  und  Furcht.  —  Men- 
schen  des  Begehrens  und  der  Furcht.  —  ZweMafiigkeit.  — 
Der  Zweckmensch ,  sein  Leben  und  IVesen.  —  Seine  Abhangtgkeit.  — 
Sein  Inteliekt.  —  Seine  Sittlichkeit  und  .sein  Glauhen,  —  Seine  Kunst, 

—  Kritih  der  Ziveckhaftigkeit.  —  Umschwung  des  Erlebens.  — 
Ziveckfreie  Regungen.  —  Reaktion  und  Riichschritt  des  Erlebens.  —  Die 
Geburt  der  Seele.  —  Seelenkunde.  —  Begrijfe,  Worte,  Lehren.  — 
Betrachtung  der  Seele.  —  Paradoxie  der  Seele.  —  Fursichsein  der 
Seele.  —  Einivendungen  des  Vtilitarismus.  —  Seelenlosigkeit.  — 
Seelenlose  Gebiete.  —  Seelenlose  Zivilisation.  —  Seelenlose  Bildung.  — 
Seelenlose  Statten.  —  Seelenlose  Stamme.  —  Kriterien  seelenloser 
Geraeinschaften.  —  Begriff  vom  Tode.  —  Seelenlose  Glaubensform. 

—  Seelenlose  Kunstform.  —  Seelenlose  Ideale.  —  Seelenlose  GeseUigkeit. 

—  Kriterien  seelenhafter  Gemeinschaften.  —  Seelenhafte  und 
seelenlose  Epochen.  —  Ursachen  des  Wechsels.  —  Kriterien  der 
Epochen.  —  Fiihrer  der  Epochen.  —  Epoche  der  Gegenwart.  —  Mechani- 
sierung  und  Entgermanisierung,  —  Aufieres  Bild  der  Epoche.  —  Inneres 
Bild  der  Epoche.  —  Starke  und  Schivache  der  Epoche.  —  Seele  und  In- 
teliekt. —  Seele  und  Inteliekt  als  begreifende  Krafte.  —  Irren 
des  Intellekts.  —  Infallibilitat  der  Seele.  —  Intuition.  —  Der  intellek- 
tuelle  und  der  intuitive  Mensch.  —  IVechselnvirkung.  —  Seele  und  In- 
teliekt als  wertende  Krafte.  —  Intellektuelle  Wertung.  —  Seelische  ' 
Wertung.  —  Paradoxie  der  utilitarischen  Forderung.  —  Seelische  Religion. 

—  Seele  und  Inteliekt  als  schaffende  Krafte.  —  Intuitives  und 


343 


VQjeckbaftes  Schajfen.  —  Schaffen  der  Kunst,  —  Tr'tebkraft  des  intttithen 
Si  ha jf ens,  —  Intellekt  als  Hilfskraft.  —  Schajfen  des  All  tags,  —  Intui- 
tion md  Genialitat.  —  Kritik  der  erlebenden  Seele.  —  Seeie  und 
Transxendenx..  —  See/e  und  Superstition.  —  See/e  und  Religion.  —  Kri- 
tik der  Seelenwerdung. 

Zrvejtes  Buch 

DIE  EVOLUTION  DES  ERSCHAUTEN'  GEISTES 71 

Spiegelbild  und  Spiegel.  —  Erkenntnisproblem.  —  Geset%  der  G'til- 
tigkeit.  —  Idealismus  als  Naturbestimmung.  —  Gefiihlsphilosophie,  Ra- 
thnalismus  und  Intuit  ton.    —    Notivendiges   Ubel  dialektischer  Methode. 

—  Die  dreifache  innere  Erfahrung.  —  Fremdgeist,  —  Geistiger 
Anteil,  —  EtnfUhlung.  —  Moglichkeit  einer  Mechanik  des  Gei- 
stes.  —  Priifung  der  Teilbarkeit.  —  Geset:(.  der  R§ihen.  —  Un- 
denkbarkeit  des  Einmaligen,  —  Endlose  Teilbarkeit.  —  Prinzip  der 
Wechselwirkung.  —  Ausdruck  und  Eindruck  als  Prinzipien  des  Er- 
iebens.  —  Unzulanglichkeit  rational er  Erklarungen.  —  Fernivirkung,  — 
Dimensionen  der  Wechselwirkung.  —  Prinzip  der  Auswahl 
und  des  Vbrzugs.  —  Freiheit  and  Gesetz.  —  Massenerscheimmgen. 

—  Gleichnis  vom  Heuschreckenschnvarm.  —  Naturgesetxe  als  Majoritats- 
gesetze.  —  Einivendungen.  —  Trofx,  Freiheit  Gesetze  moglich.  —  Die 
drei  Radikalien.  —  Additions faktor.  —  Anmerkung  vom  plau- 
siblen  Denken.  —  Eigenschaft  und  Fahigkeit.  —  Die  Integration, 

—  Erscheinungsobjekt,  —  Der  schaffende  Geist.  —  Einivand  der  Mannig- 
faltigkeit,  —  Gesetz  der  Erfafibarkeit.  —  Das  Integral  als  Ord- 
nung  und  Symbol.  —  Gleichnis  vom  Orchester.  —  Methodischer  Ein- 
nvand.  —  Deutung  des  Integrals.  —  Einfiihrung  in  die  Er- 
scheinung.  —  Gleichnis  vom  Schachspiel.  —  Mechanische  Deu- 
tung des  Erscheinungsvorgangs.  —  Lage.  —  Be^egung.  —  Masse. 
Leben.  —  Botschaften.  —  Strahlphanomen.  —  System  der 
Symbole.  —  Drei  Welten.  —  Die  Erscheinungsreihe  der 
Komplikation.  —  Abbau  der  Elemente.  —  Aufbau  der  Elemente.  — 
Urzeugung,  —  Die  Geistesreihe  der  Komplikationen.  —  Abbau 
der  Lebenselejnente.  —  Lebensstimmung  der  organischen  Welt, 

—  Lebensstimmung  der  anorganischen  Welt.  —  Summierung 
des  Geistes.  —  Kollektivgeist.  —  Moglichkeit  experimenteller 
Erforschung.  —  Transzendente  Experimentation.  —  Summie^ 
rungsstufen.  —  Summierung  des  raumlich  Getrennten.  —  Gebilde  des 
koUektiven  Geistes.  —  Siedelungen  als  Lebeivesen.  —  Aufieres  Bild. 

—  Inneres  Bild.  —  Leben,  —  Geist.  —  Anmerkung  iiber  Vdlkerpsycha 


344 


logic.  —  Franz'dsiscbe  Tlteorle  der  Imitation.  —  Nachahmung  und  Nach- 
folge.  —  Soziale  Grundgcietx,e.  —  Gesetz.  der  Bequejnlichkeit.  —  Gmnd- 
frage  des  kollektiven  Phanomens.  —  Revolutionare  Zustande.  — 
Gesetz  des  kollektiven  Phanomens.  —  Chauvinismus.  —  Mono- 
manien.  —  Latentes  Bewufitsein  kollektiven  Geistes.  —  Ge- 
setz vom  Bewufitsein  kollektiven  Geistes.  —  Analogic  des  Ein- 
xelbeivujltseins.  —  Latente  Willenselemente  kollektiven  Gei- 
stes. —  KoUektive  Arbeitsteilung.  —  Staatsgehirn.  —  Analogic 
der  Arbeitsteilung  im  Einzelgeist.  —  Vbrbemerkung  zum  Additions- 
prinzip.  —  Vom  Tode.  —  Das  Strahlphanomen.  —  Univer- 
seUe  Bedeutung.  —  Absolute  Bedeutmg.  —  Vom  Recht  des  Elements. 
Experimentelle  Priifung.  —  KoUektive  FortpfianT.ung.  —  Gesetz  der 
Kolonie.  —  Anivendung  auf  die  Vererbung.  —  Psychophysische  An- 
merkung.  —  Kritik  des  Todes,  —  der  Vererbung,  —  der 
Rasse.  —  Gesetz  der  Umkehrung  des  Massencharakters.  —  Kritik  der 
physischen  Geschichtsauffassung.  —  Anwendung  auf  menschliches 
Einzelschicksal.  —  Kollektives  Experiment  der  Seelenwerdung. 

—  Das  Bild  von  der  Kathedrale  —  Das  Bild  vom  Lust  gar  ten.  — 
Technische  und  seelische  IVerke.  —  Seelenruerke  und  Kultur.  —  Perma- 
nenz  seelischer  Giiter.  —  Seelenwerte  als  Kollektivschopfungen. 

—  Beispiel  vom  Bauen.  —  Zerrbilder  koUektiven  S chaff  ens.  —  Anteil 
der  Genialitat  am  koUektiven  Schajfen.  —  Prioritat  bevorzugter  Elemente. 

—  Gleicbnis  von  der  Fensterscheibe.  —  IViirde  und  Grenzc  des  Genialen. 

—  Naturvorgang  des  seelischen  Schaffens.  —  Erkennbarkeit 
der  Seelengeburt.  —  Einivand  von  koUektiver  Immoralttat.  —  Zu- 
faUigkeit  mojnentaner  Regungen.  —  Grenzen  der  Verantwortung.  —  Be- 
dingungen  der  seelischen  Evolution.  —  Innere  Lebensgemeinschaft. 

—  Innere  Abgrenzung.  —  Innere  Bindung.  —  Liebe.  —  Defin'ittonen. 

—  Begelrren  und  Liebe.  —  Mutter  Hebe.  —  Eigenliebe.  —  Paradoxic  der 
Liebe.  —  Kritik  der  Liebe.  —  Liebe  als  Additionsmoment.  — 
Riickblick.  —  Gesetze  der  Mechanik  des  Geistes.  —  Auf- 
bau  der  Welt  im  Sinne  des  Gesetzes.  —  Vororganische  Welt. 
Organische  Welt.  —  Lebenskrafte  und  Urzeugung.  —  Le- 
benswille,  Zweck  und  Kampf.  —  Seelische  Welt.  —  Innere 
Liebe.  —  Absteigendes  Phanomen.  —  Kritik  der  Evolution, 

—  Gleichnisse  der  Evolution.  —  Gesetz  der  Enthiillung.  — 
Symbole  der  Evolution.  —  Evolution  und  Gesetz  der  Kon- 
stanz.  —  "Wachsen  des  Geistes.  —  Problem  der  geistigen  Ver- 
nichtung.  —  Priifung  am  KoUektivgebilde.  —  Vergangene  Kul- 
turen.  —  Materialisation  des  Vergangenen.  —  Gesetz  der  Erfa/^barkeit. 

—  Priifung  am  Einzelgeist.  —  DoppelsteUung  der  Seele.  —  Die  drei 


345 


Koordinaten  des  Lebem.  —  Irdische  und  Uberirdische  Erbaltung.  —  1st 
Sterblichkeit  moglich?  —  Kritik  der  Sterblichkeit.  —  Tod 
und  Seelenlosigkeit.  —  Tod  und  Seele.  —  Uberweltlichei 
Geist.  —  Uberweltliche  Reihen.  —  Negativitat  transzenden- 
ter  Vorstellung.  —  Dreifache  Negation.  —  Richtkraft  der 
Negationen.  —  Kritik  der  evolutionaren  Betrachtung.  —  Re- 
%ipro%itat  der  Vorstellung.  —  Kritik  der  erschauten  Seele.  —  Gott- 
seite  und  Weltseite  der  Schopfung.  —  Damonion.  —  Religion.  — 
Partiailosungen,  —  Kritik  der  Ojfenbarung.  —  Absolutismus  der  Seele, 

—  Uberleitung  zur  praktischen  Aufgabe. 

Drittes  Buch 

DIE  EVOLUTION  DES  PRAKTISCHEN  GEISTES    ....  189 

I.  DIE  ETHIK  DER  SEELE 191 

Ethos  und  Gesetz.  —  Ethik  als  Erkenntnis.  —  Ethik  als  Ver- 
kiindigung.  —  Imperative  FormeL  —  Richtkraft  der  Liebe. 
Liebe  in  der  Okonomik  der  intellektualen  Welt.  —  Individua- 
litdt  und  Ubermenschentum.  —  Liebe  als  Lockung.  —  Liebe  und  Karnpf. 
Hajf.  —  Selbstsucht.  —  Paradoxic  vom  Egoismus.  —  Ethischer  Zu- 
stand.  —  IndifFerenzgebiet  des  Handelns.  —  Furcht,  Begierde, 
Zweck  im  Bilde  der  Seele.  —  Mut  und  Freiheit  im  Bilde  der 
Seele.  —  Entstehung  des  Mutes.  —  Uberwindung  des  Intellekts. 

—  Das  Opfer  des  Intellekts.  —  Mut  und  Furcht  im  Bilde  histo- 
rischer  Ethik.  —  Germanische  Auf fas  sung.  —  Kritik.  —  Indische 
Auffassung.  —  Kritik.  —  Semittsche  Auffassung.  —  Kritik.  —  Grdko- 
romani^che  Auffassung.  —  Kritik.  —  Die  historischen  Wertungen 
als  partiale  Ableitungen.  —  Objektive  Kritik  des  Han- 
delns im  Bilde  der  Seele.  —  Transzendente  Gesinnung.  — 
Verhaltnis  %ur  Gottheit.  —  Trans-x^ndenUosigkeit.  —  Verba Itnis  xum 
Tode,  —  Ehrfurcht.  —  Transzendente  Liebe.  —  Erbaltung  des  In- 
dividuelkn.  —  Transzendentes  Wirken.  —  Die  Umkehr  der 
ethischen  Sorge.  —  Riickkehr  zum  Leben  aus  Glauben.  — 
Hdrte.  —  Selbsterbaltung.  —  Spam,  nicht  Ziigel.  —  GesetZ  der  Zwei- 
ten  Natur.  —  Forderung  und  Hemmung  des  ethischen  Zu- 
standes.  —  Der  Weg  des  Leidens.  —  Primitive  Reaktion  des  Leides, 

—  Vorgeschrittene  Reaktion  des  Leides.  —  Transx,endente  Reaktion  des 
Leides.  —  Leidlose  Natur  en.  —  Leiderlegene  Natur  en  —  Ztviespaltige 
und  damoniscbe  Naturen.  —  Der  Weg  des  Schweigens.  —  Scbwatzen- 
4er  Geist.  —  Unerjtaunter  Geist.  —  Einsamkeit.  —  Die  Spracbe  der 
Dinge.  —  D^X  Weg  der  Betrachtung.  —  Znveckbafte  Betrachtung, 


34<^ 


—  Zivecfefreie  Betrachtung,  —  Der  Weg  des  Glaubens.  —  Reli- 
gionen  als  partiale  Losungen.  —  Symbolik  der  Doginen.  — 
Materially ierung  dutch  das  Wort.  —  Siinde.  —  SundenfaU.  —  Person- 
liche  Gottheit.  —  Sclyivache  des  Pamheismus.  —  Richtungsbegriff  des 
Gbtt lichen  —  Gemeinschaft  der  Heiligen,  —  Erlosung.  —  Gnade.  — 
Glauben  und  Werke.  —  Metempsychose.  —  Gottesreich.  —  Gebet.  — 
Bitte,  —  Meditation.  —  Wmder,  —  Eudiimonistik.  —  Leid  und 
Siinde.  —  Erhaltung  der  Siinde  und  des  Leidens.  —  Leiden  und  Opfer. 

—  Gefuhlston  des  Opfers.  —  Gefiihlston  aller  Evolution.  —  Pro- 
blem des  Mifigeschicks.  —  GesetTc  der  Ausldsung,  —  Vieldeutig- 
keit  des  Geschehens. 

II.  DIE  ASTHETIK  DER  SEELE 235 

Naturempfinden  und  Kunst.  —  Grenzen  historischer  Betrach- 
tung. —  Gipfel  und  Fortschritt.  —  Zeitliche  Zuversicht.  — 
Absoluter  Weg  der  Kunst.  —  Asthetisches  Grundgesetz.  — 
Psychische  Ausdeutung.  —  Kunst  als  Verkiindigung  der  Seele. 
Kunst,  Wissenschaft  und  Rezept.  —  Flucht  -mm  Unerkannten.  — 
Historischer  Weg  der  Kunst.  —  Die  drei  Gruppen  der  Ge- 
setzmafiigkeit.  —  Typische,  technische  und  subjektive  Kunst. 
Typische  Kunst.  —  Behelfe  und  Konventionen.  —  Konvention  als 
Massenausdruch.  —  Typische  Kunst  als  Naturprodukt.  —  Normative 
Kraft  der  typischen  Kunst.  —  Kritik  der  typischen  Kunst,  —  Tech- 
nische  Kunst.  —  Subjektive  Kunst.  —  Individualisierung  und 
Idealistik.  —  Individualisierung  als  Selbstbeschrankung  und  Hingebung, 

—  IVUrde  des  Objekts.  —  Versenkung.  —  Wehmut  und  Demut.  —  Per- 
sdnlichkeit.  —  Universelle  Naturen.  —  Subjektive  Gesetx,maJ?igkeiten.  — 
Charaktere,  —  Stimmung.  —  Unauigesprochenes.  —  Mitklange  und  Unter 
stimmen.  —  Lyrisches  Beispiei  —  yimnerkung  fiber  Lyrik.  —  Einfiihlende 
und  passionelle  Naturempfindung.  —  Subjektivismus  des  Mittfls.  —  Der 
Seelenweg  der  Kunst.  —  Ethnische  Stufen.  —  China.  —  Mittelmeer- 
gruppe,  —  Renaissance.  —  Frankreich.  —  Germanischer  Kreis.  —  Kri- 
tik der  Kunstevolution.  —  Verluste  der  Tradition.  —  Verluste  der 
StabiUtat,  —  Verluste  der  Formbildung.  —  Verluste  der  Architektur.  — 
Der  Kampfpreis:  Inner lichkeit  und  Freiheit.  —  Anwendung  auf  prak- 
tische  Kritik.  —  Verzicht  auf  Zivecke.  —  Vercicht  auf  GefaUigkeit. 

—  Verzicht  auf  Ausfiihrung.  —  Verzicht  auf  Popularitat.  —  Feind- 
schaft  der  berrschenden  Stande.  —  Forderung  der  Meisterschaft.  —  Zwei 
Anmerkungen :  Kritik  der  Kritik.  DUnne  Talente.  —  Zusammen- 
fassung:  Krirische  Leitsatze.  —  Anwendung  auf  die  Kunst 
der  Zeit.  —  Vberladung  und  Ubersatttgung,  —  Wettkainpf  der  Effekte. 


347 


—  Mode,  —  Entivurze/ung.  —  Asthetentum.  —  Feminismus.  —  Ruck- 
nu'trkung  auf  die  Zeit  und  Steigeriing.  —  Wirkung  auf  die  Kritik.  — 
Wirkung  auf  die  Kttnst»  —  Gesefz.  des  ersten  Impulses,  —  Nachbliiten,  — 
Rekapitulation.  —  Kunstfiucht  der  1  atigen.  —  Gesetz  der 
starksten  Geistesaufwendung.  —  Wendung  %ur  Tat.  —  Kunst 
als  Geleiterin. 

III.  DIE  PRAGMATIK  DER  SEELE 289 

Wurzeln  der  Wirklichkeit.  —  Problem  der  irdischen  Konti- 
nuitat,  —  Ausschaltung  der  Glucksprdmie.  —  Gluckspotential,  —  Seele 
und  Seligkeit.  —  Irdische  Institution  und  seelische  Forderung. 
Priifung  der  Motoren.  —  Zeitlicher  Vorbehalt.  —  Hauptmotoren: 
BesitT.  und  Macht.  —  Not  und  Mangel  als  Zeitfragen.  —  Besit%.  —  Ent- 
lastung  der  Welfwirtschaft.  —  Macht.  —  Ehrgeix..  —  Sachlichkeit.  — 
Verantivortung.  —  Neue  Krafte.  —  Erblassen  der  Besitxfreude.  —  Er- 
blassen  der  Machtsymbole.  —  Seele  und  Praxis.  —  Einsicht  und  Ein- 
richiungen.  —  Sozialismus.  —  Seele  und  Mechanisierung.  —  Ziveite 
Natur  der  Arbeit.  —  Solidaritdt,  —  Sittengefiihl  und  Sequestrierung.  — 
Sittengefiihl  und  Dienstbarkeit.  —  Untertanigkeit  und  Patriarchalitdt.  — 
Sittengefiihl  und  Ausschliefiung.  —  Sittengefuhl  und  Erbfolge,  —  Sitten- 
gefiihl und  mechanische  Arbeit.  —  Uberwindung  der  Mechanisie- 
rung. —  Realismus  der  praktischen  Evolution.  —  Zusammen- 
hang  mit  heutigen  Dingen.  —  Erkenntnis  menschlicher  Qualitdten. 

—  Dinge  und  Sachen.  —  Interessen  und  Ideate.  —  Die  Stimmung 
vorgeschrittener  Zeit.  —  Vbrbilder  der  Evolution.  —  Stetig- 
keit  und  Zogerung.  —  Rtickblick  der  Kommenden.  —  Histo- 
rische  Entwicklung  im  Lichte  praktischer  Evrolution.  —  Blut- 
verschivendung.  —  Charaktertod.  —  Wertverschtebung,  —  Selektion  des 
Erfolges.  —  Gegenkrafte,  —  Unbestandigkeit  der  Rassen,  —  Korrektion 
des  Erfolges.  —  EnPwertung  des  menschlichen  InteUekts,  —  Bewertung 
intuitiver  Krafte,  —  Berufene  V'dlker,  —  Die  Aliiston  der  Unterschich- 
ten.  —  Sinn  der  historischen  Entwicklung.  —  Sinn  der  Me- 
chanisierung. —  Das  Reich  der  Seele. 


.^48 


WERKE 

VON 

WALTHER  RATHENAU 


Druck    der    £.  GundlachAktienj^esellschaft    in  Bielefeld. 


WERKE  VON  WALTHER  RATH  EN  AU 

ZUR  KRITIK  DER  ZEIT 

FunfzehnteAuflage.  Geheftet4M.50Pf.,  gebunden6M.50Pf. 

Ein  auBerordentlich  knapp  gefafites,  iiberall  von  fundierter  Lebensbeob- 
achtung  ausgehendes,  iiberzeugend  zusammengefafites  Buch.  Und  fiir 
den,  der  es  recht  zu  lesen  versteht,  ein  spannendes  und  erregendes,  ja 
geradezu  unterhaltsames  und  anfeuerndes  Buch.  Man  sitzt  gleichsam 
am  Webstuhl  der  Zeit  und  sieht  die  Faden  heriiber-  und  hiniiber- 
schieBen.  Und  in  allem  offenbart  sich  das  GesetzmaBige,  das  Mecha- 
nisierende.  Die  absolute  Unentrinnbarkeit  der  heutigen  mechanistischen 
Weltordnung,  ihr  Hiniibergreifen  auf  alle  Gebiete  der  Produktion, 
der  Verwaltung,  der  Politik,  der  Intellektualitat,  ja  des  familiaren 
Lebens  und  der  Ichkultur  enthiillt  sich  uns  wie  ein  eisern-klammern- 
des  Gefiige.  (Leipziger  Neueste  Nachrichten) 

DEUTSCHLANDS  ROHSTOFFVERSORGUNG 

Vortrag,  gehalten  in  der  ,,Deutschen  Gesellschaft   1914" 
Neununddreifiigste  Auflage.  Geheftet  75  Pfennig 

PROBLEME  DER  FRIEDENSWIRTSCHAFT 

Vortrag,  gehalten    in  der  ,,Deutschen  Gesellschaft   1914" 
Fiinfundzwanzigste  Auflage.  Geheftet  75  Pfennig 

STREITSCHRIFT    VOM    GLAUBEN 

Elfte  Auflage.      Geheftet  75  Pfennig 

VOM  AKTIENWESEN 

/   Eine    geschaftliche   Betrachtung  / 
Zwanzigste  Auflage.    Geheftet  1  Mark 

DIE   NEUE   WIRTSCHAFT 

Vierzigste  Auflage.  Geheftet  1  Mark  50  Pfennig 

REFLEXIONEN 

(bei  S.  Hirzel,  Leipzig) 
Vierte  Auflage.  Geheftet   4  Mark  50  Pfennig,      gebunden  6  Mark 


VON  KOMMENDEN  DINGEN 
55 .  Auf lage.    Geheftet  6  Mark,  gebunden  8  Mark. 

Eine  gebandigte  Leidenschaftlichkeit  spricht  aus  dem  Buche.  Mit  mehr 
Gerechtigkeit  als  andere  Propheten  sieht  Rathenau  auch  die  guten 
Seiten  der  veralteten  Einrichtungen,  die  er  vom  Erdboden  vertilgen 
mochte.  Mit  dem  leidenschaftlichen  Grimme,  dessen  Nachhall  man 
wie  aus  der  Feme  vernimmt,  hatte  Rathenau  ein  schriftstellerisches 
Meisterstuck  gestalten  konnen,  eine  Satire  auf  die  Gegenwart.  Aber 
er  will  nicht  als  ein  Schriftsteller  glanzen,  er  will  iiberhaupt  nicht 
glanzen  oder  scbelnen.  Er  will  sein  und  an  dem  Neubau  mitarbeiten. 
Als  ein  Baumeister.  Waren  die  kommenden  Dinge  schon  da,  so 
diirfte  er  unter  den  Baumeistern  des  neuen  Reiches  nicht  fehlen. 

(Fritz  Mauthner  im  Berliner  Tageblatt) 

Ein  prophetisches  Buch,  von  der  ersten  bis  zur  letzten  Zeile  durch- 
gliiht  von  der  unerschutterlichen  GewiBheit  des  Schauenden,  der  die 
kommenden  irdischen  Zustande  mit  der  Gewifiheit  des  geistigen  Ge- 
setzes  durchdringt.  Und  dieses  geistige  Gesetz,  die  Grundthese  aller 
seiner  Ausfiihrungen,  lautet:  „Ziele  setzen  heiOt  glauben.  Erst  der 
Glaube  schafft  Gesinnung,  und  ihr  folgt  willenlos  das  Geschehen." 
Also  auch  ein  innerliches,  ein  wahrhaft  frommes  Buch,  nicht  um  der 
vielen  absichtlichen  Anklange  an  die  Bibelsprache  willen,  sondern  weil 
es  uns  verkiindigt:  „Nicht  Furcht  und  nicht  Hoffnung  sind  die  trei- 
benden  Gewalten,  sondern  Glaube,  der  aus  Liebe  entspringt;  tlefste 
Not  und  Gottes  Wille."  Fiir  alle  Erorterungen,  die  mit  der  kommenden 
Neugestaltung,  die  wir  als  Frucht  der  Not  des  Krieges  erhoffen,  sich 
beschaftigen,  wird  es  grundlegend  bleiben.  (Die  christliche  Welt) 


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