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PSYCH.
ZUR MECHANIK DES GEISTES
VON
WALTHER RATHENAU
19 18
S. FISCHER • VERLAG • BERLIN
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PSYC .
Achte und neunte Auflage
Alle Rechte, besonders das dcr Obcrsetzung, vorbehalte
Was nach aufien als Individaum erscheint, das erscheint nach
innen als Assoziation. Und was zur Assoziation zusaramenfafit,
das ist, koUektir betrachtet, Ichgefuhl, elementar betrachtet,
^^^^®» Ungeschriebene Schriften L.
42375y
DEM JUNGEN GESCHLECHT
sei dies Buch gewidmet
EINLEITUNG UND RECHENSCHAFT
Jede Frage, die wir zu Ende denken, fiiihrt ins Uberirdi-
sche. Von jedem Punkt, auf dem wir stehen, ist nur
ein Schritt bis zum Mittelpunkt der Welt. Die Dinge
des Tages vergleichen sich dem Spiegelbild auf einer
Glaskugel: im engen Bezirk, dem Auge zunachst, scheinen
die Gegenstande deutlich und wirklich; im Umkreise lost
sich das Bild in verschwimmende Flachen.
Jeder Schritt unseres Handelns ist ein Doppelschritt :
halb irdisch, halb transzendent. Wir sorgen in einem
fur Gegenwart und Zukunft, fur Leben und Tod, fur
Wirklichkeit und Traum. Wahlen und erfiillen wir
Pflichten gegen Mitwelt und uns, Nachkommen und
Gemeinschaft, nicht blofi in dumpfer Folge ungepriiften
Herkommens, normaler Erziehung und mechanischer
Gewohnheit, so bekennen wir bewufit oder unbewufit
transzendente Uberzeugungen. Wir woUen das Gute,
wir glauben an das Kiinftige, wir verlangen Gerechtig-
keit, wir anerkennen das Allgemeingiiltige, wir verebren
das Ewige auch in der kleinsten unserer Handlungen,
soweit sie nicht tierisch ist; somit leben und wirken
wir unablassig im Gebiet des Transzendenten. ^^
Solange sie ihre Kraft bewahrten, konnten die dog-
matischen Religionen dutch Botschaften, OfFenbarungen
u
*i|nd' ^J'crktinlJiguQrgen den tatigen Menschen seiner uber-
irdischen Sorgen entheben. Sie verloren diese Kraft
durch Toleranz; denn dogmatische Wahrheit ist aus-
schliefilich, was ihr widerstreitet ist Irrtum und Liige.
Wird Irrtum und Liige geduldet, konkurrierende Lehre
gestattet oder gar durch Versohnung bekraftigt, so ist
die gottgegebene Gewifiheit zur Sache der Geburt, der
Geographie oder der freien Wahl geworden und hier-
durch vernichtet. WahreDogmatikverlangtAbschliefiung,
Glaubenskriege oder Ketzergerichte ; ist sie dieser Be-
hauptungsmittel nicht mehr fahig, so kann sie noch ein-
zelnen bedrangten Gemiitern Zufluchtsstatten bieten,
jedoch nicht mehr unantastbare Weltwerte und Lebens-
ziele statuieren. Schon dadurch, daJB sie Austritt, Uber-
tritt und somit Auswahl freistellt, zersplittert sie ihre
Kollektiv-Verantwortlichkeit; sich selbst, Gott und der
Welt verantwortlich wird nun der Einzelne, der zusehen
mag, wie er mit irdischen und gottlichen Dingen fertig
wird.
Bei diesem, nicht glaubenslosen aber glaubensschwan-
kenden Zustande der Kulturwelt sollte man annehmen,
dafi jeder Moment des Aufatmens von taglicher Arbeit
und Betaubung ergriiFen werde, um zu den Gestirnen
aufzublicken und fiir das unermefiliche Chaos der Tatig-
keiten und Willenskrafte Richtung und Rechtfertigung
zu suchen. Dafi es nicht geschieht, dafi vielmehr, ab-
gesehen von Romantizismen, aberglaubischen Bediirf-
nissen gesattigter Kreise und echter Sehnsucht einsamer
Geister die heutige Weltstimmung alles transzendente
Bestreben als unfruchtbare und zeitraubende Traumerei
verurteilt, dafiir scheinen zwei Umstande verantwortlich.
Zum ersten fiihlt unsere Zeit sich eingespannt in
12
einen Gespensterkampf: abgestorbene Dogmen morgen-
landisch-nomadischer Herkunft kampfen gegen die In-
toleranz einer auf klarerisch-materialistischen Epoche, die
im Sterben popular wurde. In diesem Kampf Stellung
nehmen, hiei2)e, furDogmatismus oder Nihilismus optieren.
Die Geisteskrafte unserer Zeit lehnen es ab, einer Partei
zum Siege zu verhelfen, von der nur das eine feststeht,
dafi sie, zur iViacht gelangt, tief reformbediirftig und
auiSerst insolent auftreten wurde. Uberdies sagt ein
dunkles Gefiihl, daii5 die Wahrheit nicht in der Mitte
liegt, sondern auli^erhalb der Axe dieser Polaritat. ^
Zum zweiten hat die philosophische Disziplin unseres
Zeitalters sich dem Leben versagt. Nachdem Philosophic
die messenden Wissenschaften aus ihrem Haupte abge-
spalten hatte, strebte sie selbst danach, exakte Wissen-
schaft zu werden. Daher verlor sie Naivitat, Uber-
zeugungskraft, Warme und Phantasie, und gewann Kritik.
Dem Leben wurde sie fremd; denn die Schritte der
Menschheit sind nicht bezeichnet durch die ausgebrannten
Schlacken negativer Wahrheiten, sondern durch dieMonu-
mente des schonen organischen Irrtums, der in der Tiefe
seiner Notwendigkeit lebendige Wahrheit birgt. Nun
ruht sie, gesattigt von der Erkenntnis, dal5 alles Ge-
scheite schon einmal gedacht worden ist, in historisch-
kritischer Betrachtung ihrer selbst, als Huterin und Ver-
walterin unerhorter Schatze, die der Welt nicht dienen.
Ein wissenschaftliches Altenteil hat sie sich vorbehalten:
das Studium der intellektualen Krafte, falschlich Seelen-
kunde genannt, das ihr uber lang oder kurz von den
messenden Tochtern abgenommen werden wird. Trotz
dieser aktuellen Beschaftigung kann man nicht verspiiren,
dafi die Konigin der geistigen Disziplinen dem Zeitalter
13
die Gesetze noch vorschreibt, die sie ihm schuldet:
Richtungen, Werte, Ziele.
So bleibt unsere Zeit seelisch indifferent, indem sie
weder aus ihren Kampfen noch aus ihren Besitztiimern
VerheiC>ungen erwachsen sieht, die ihr Leben und Streben
rechtfertigen. Wie konnte sie sich der IndifFerenz ent-
reifien? Von welcher Seite diirfte sie ihre frohe Bot-
schaft erwarten?
Alle Religionen wurzeln im dogmatisch-mythologischen.
Selbst die klaren und reinen Lehren der Evangelien be-
diirfen des Glaubens an Unumsto£>lichkeiten. Wenn
aber die AbschafFung einzelner Grundwahrheiten uner-
lafilich, der Zweifel an anderen duldbar erscheint: wo
soil der Glaube halt machen? 1st nicht jede Abgrenzung
doppelte Willkiir? Wer nicht fiir mich ist, der ist wider
mich; die Lauen will ich ausspeien aus meinem Munde.
Sind neue Religionsstifter zu erwarten? Bisher ist
keine uns bekannte Religion anders entstanden als dutch
sichtbare, unbezweifelte Wunder. Das Wunder aber
setzt die bessere Halfte des Glaubens bereits voraus;
Wunder geschehen vor Solchen, die sie wollen, nicht
vor IndifFerenten; sie dienen nicht zur Erweckung
sondern zur Rechtfertigung des Glaubens.
Kann eine philosophisch-intellektuale Wissenschaft uns
Uberzeugungen geben? Sie kann ein Gebaude subtiler
Argumente und Schliisse errichten, Undinge beseitigen,
die dem perpetuum mobile der Mechanik entsprechen,
sie kann mit leichter Hand iiber dem Fundament der
zeitlichen Erfahrung ein Gewolbe der Weltanschauung
runden, im Stillen besorgt, dal^ nicht eine Anderung
dieser Erfahrung den Bau gefahrde; sie kann vor allem
Denkformen lie fern, die dem Traumen der Zeit ab-
14
gelauscht, unbewuli)tenWillensformenSprache leihen; ein
edles Material fiir den Geist, der sich selbst seine Schale
baut.
Aber sie kann nicht, und wenn es fiir den Augenblick
ware, Uberzeugung schaiFen und Werte setzen, denn
sie arbeitet mit der Reservatio mentalis. Sie weii^, es
geht auch umgekehrt. SchluI5folgerungen konnen nicht
warmen und ziinden; der Funke steigt nur aus dem
Unbewiesenen, Unbeweisbaren , das solche Kraft der
Ahnung in sich tragt, dal5 unser wissendes Gemiit von
dem Geheimnis innerer Wahrheit langst ergrifFen und
iiberzeugt ist, bevor noch der miligelaunte Verstand
sein skeptisches: Wieso? und Warum? gesprochen hat.
Wenn Paulus die Worte ausspricht: „so ware ich nur",
so jauchzt das Herz lachend und glaubensvoll in den
Larm der klingenden Schelle und des tonenden Erzes.
Wissenschaft kann Tatsachen feststellen, Zusammen-
hange ermitteln, Gesetze erweisen; sie kann nicht
Glauben und innere Gewissheit zeugen; sie wirkt kausal,
nicht final. Der tiefste Irrtum des sozialen Denkens
unserer Zeit lag darin, dal^ man glaubte, von der
Wissenschaft Willensimpulse und Idealziele verlangen
zu diirfen. Was wir glauben, was wir erhofFen, wofiir
wir leben, wofiir wir uns opfern, das wird uns niemals
der Verstand verkiinden; Ahnung und Gefiihl, Erleuch-
rung und Intuition fiihren uns in das Reich der Machte
die den Sinn unserer Existenz beschliefien. Sinnlos, zu-
fallig und ungerechtfertigt bleibt jegliches Leben und
Lebenswerk, wenn es sich auf die Krafte des rechnen-
den und planenden Geistes stiitzt; und hierin liegt der
tiefe transzendente Trost des Daseins, dafi der selbst-
bewui^te Verstand seine letzte Aufgabe darin findet,
sich selbst zu beschranken und zugunsten tiefinnerer,
geheimnisv oiler Krafte zu entsagen, die wortlos unser
Gemut beriihren.
Dai5 unserer Zeit die Quellen wieder emporbrechen
soUen, die bestimmt sind, das Leben aus der Erstarrung
A^ mechanistischen Selbstzweckes zu losen, dafur sind Zei-
chen gegeben. Das erste, was geschieht und was ge-
schehen mufi, ist, daH) die Welt sich ihrer seelischen Ar-
mut bewufit wird, dafi sie aus der Benommenheit, dem
Larm und der Blendung ihrer Berechnungen, Produk-
tionen, Transporte und Schaustellungen aufatmet, um
innere Stimmen zu vernehmen; dal5 sie die Dinge der
Seele ernst nimmt, ernster als ihre Tageswiinsche, ernster
als ihr tagliches Brot.
Dann werden sich Stimmen erheben, schiichterne,
von Zweifel und Scham lange zuriickgedammte; zage
Hande werden die pressierte Geschaftigkeit am Armel
fassen und Gehor fiir die Angste des Herzens erbitten.
Ohne Scheu vor dem Bannstrahl orthodoxer Wissen-
schaft werden Menschen auf hellem Markte zusammen-
treten, um ihre Sehnsucht und Glaubensnot zu bekennen,
erleuchtete Geister werden das Wort ergreifen und der
Menge nicht alte Mythen, trockene Wunder, liisterne
Erweckungen und geile Ekstasen, sondern Zuversichten
des Geistes und Erlebnisse der Seele verkiinden.
Freilich entsteht Gefahr; denn wie die gleiche Speise,
vom Tier verschlungen oder vom Menschen verzehrt,
sich verschieden wandelt, so materialisiert sich der trans-
zendente Gedanke nach Art des menschlichen Gefafies,
dem er zuteil wird. Die reine Botschaft der Liebe und
hriosung konnte inmitten der Zivilisation so tief im StofF
versinken, dafi befreundete Mutter Gottes, festlich ge-
i6
Ideidet, Visiten abstatten, daC) heiligeSymbole in Kutschen
spazieren fahren, dal5 die Gottheit Biindnisse schliel^t
und Prozesse fiihrt. Auch diesmal wird das Erstarken
der Seelenkrafte durch Materialisationen fiihren; Wahr-
sagerei und Aberglauben, Konventikel und Muckereien,
Frdmmelei und Intoleranz, Puritanismus und Askese,
Reaktion und Mystizismus werden in neuen Formen
wuchern. So spriefit an verwiisreten Statten eine Un-
krautflora hervor, damit der Boden fiir edlere Pflanzun-
gen gelockert werde. Aber das Leben des geistigen
Mifiwachses wird zeitlich, ortlich sich enger beschranken
als in friiheren Epochen und der reinen Saat Raum zum
Wachstum und zur Ernte lassen.
Gleichviel; ist es uns beschieden, dafi wir nur durch
Sumpf und Dickicht den Gestirnen folgen diirfen, ist es
uns Gesetz, dafi wir, um verjiingt zu werden, stets von
neuem Herd und Dach verlassen, den Stiirmen des Irr-
tums und des Zweifels uns preisgeben miissen, so mag
auch dieser Weg der Welt durch Schmerz und Dunkel
fiihren; er wird beschritten, denn die Machte wollen
nicht, dai5 wir in feiger Ruhe und eitlem Frieden das
Geisteserbe der Jahrhunderte verzehren.
Diese Erwagung stellte ich der Befangenheit ent-
gegen, die jeden befallt, der sich gedrangt fiihlt, eigene
Bekenntnisse von seelischen und iiberirdischen Dingen
auszusprechen. Denn unsere Zeit hat ihre ungeistige
Neigung darin bekraftigt, daH) sie mit dem Schleier innerer
Scheu, der ehedem die Erfahrungen des Sinnenlebens be-
deckte, in gesteigerter Empfindlichkeit die Erfahrungen
der Seele umschlingt. Man will lieber Wiistling scheinen
als Kopfhanger, und so werden wir uberschiittet mit
Ausmalungen gleichformiger jugendlicher Libertinagen,
wahrend wir iiber die intuitivenErlebnisse unserer Lebens-
genossen kaum anderes erfahren, als etwa die herkomm-
lichen Kampfe des Geistlichen, der mit staatlichen Ver-
ordnungen in leicht vorauszusehenden Widerspruch ge-
rat. So war es ein groI5es und gliickliches Erlebnis des
^ deutschen Geistes, dal5 in Emanuel Quint, dem klassi-
schen Buche unseres Lebensalters, der Seelenlosigkeit
der Epoche ein Spiegel vorgehalten wurde.
Eine weitere Hemmung trat hinzu. Unser Arsenal
an fertigen Einzelgedanken ist unermefilich. Die Menge
der behaupteten, zuriickgestellten , bewiesenen oder
widerlegten Wahrheiten ist so grofi, daI5 jede Darlegung,
die nicht akzidentell Erlebtes widergibt, sondern, um
verstandlich zu sein, bei aller Bescheidenheit der Mei-
nung sich der stolzen Gangart der Systematik bedient,
in Gefahr gerat, abgetretene oder verbotene Straiten zu
durchlaufen, wenn sie den Landschaften zustrebt, die dem
Blick erschlossen werden sollen. Vermeidet sie das Ubel
dutch Wahl aphoristischer Formen, die im Sprung ihr
Terrain erobern, so mull> sie bei allem Vorteil leichterer
und unverantwortlicher Aussprache auf Vollstandigkeit,
Abrundung und Klarheit verzichten. Was hilft es, sich
vorzuhalten, dafi auf dem Schachbrett jeder mogliche
Zug schon tausendmal gezogen, jeder AngriiF und jedes
Endspiel registriert ist, und dennoch ein neues, mutig
gefiihrtes Spiel ein berechtigtes Abbild der Partnerschaft
und somit ein echtes Geschehnis bietet? Es bleibt ein
beklommenes Beginnen, das schlieMch ausgelost wird
durch die Erkenntnis : was kommt es auf mich an?
Auf dich, Leser, auf dich kommt es an, auf deine
Gedanken und deine Beschliisse. Konnen meine Ver-
suche dich aus den zweckhaften Banden des Tages auf
i8
Augenblicke losen, konnen meine Hande den Knauel der
Probleme greifbar gerundet in deine Hande legen, kon-
nen getreulich gesehen und beschrieben die Erlebnisse
eines suchenden Geistes deiner priifenden Empfindung
uberantwortet werden, so ist genug geschehen. Mich
trostet das einige Bewul5tsein, dafi die Dinge, die ich zu
sagen habe, mogen sie sich als alt oder neu, stark oder
anfechtbar erweisen, nicht Konstruktionen sind, sondern
gedeutete Empfindungen und Erlebnisse, die mir, einem
Menschen, den ich nicht als leichtglaubig und vermessen
kenne, wahrer und fester gefiigt erscheinen als die Be-
gebnisse und Bilder der Welt, an die wir zu glauben
gewohnt sind. So bleibt denn nichts als das Wort
Gestandnisse, die nun einmal jedes Treiben umfassen,
das nicht an Einzeldinge und Tatsachen gekettet ist.
Wir spahen unseren Schatten in der Sonne. Wir werfen
das Tau unserer VorsteJlungen in die Wolken, um unsere
Schwere aufzuheben; nicht aus Unkenntnis der Gefahr
und nicht aus Freude am Wagnis, sondern weil innere
Not uns treibt, in Sehnsucht und Zuversicht.
Eine knappe Rechenschaft des Handwerkszeuges mag
diese Rechtfertigung beschliefien.
Wer den Versuch gewagt hat, ein erschautes Bild un-
sichtbarer Weltzusammenhange in Gleichnisse und Denk-
formen des vereinbarten Lebens zu iibersetzen, der
kennt, wenn nicht eben der gottliche Genius ihm dik-
tierend liber die Schulter zu blicken pflegt, die Jahre
der Sorge und des Zweifels, wo keiner der stromen-
den BegrifFe, keines der wechselnden Zeichen und Sym-
bole das unzweifelhaft, aber unaussprechlich Erblickte
decken und erschdpfen will. Grundkontraste und Ur-
gestalten kehren wieder, aber sie verschmahen die alte
19
Benennung und Einordnung; neue Ausblicke erscheinen,
aber sie erweisen die Unzulanglichkeit des langst Er-
worbenen. Und scheint nun alles geordnet, benannt,
dargestellt, von fernster Feme dem Urbild nicht allzu
fremd, so kommt die Sorge der perspektivischen Tau-
schung: am Ende besteht die Ahnlichkeit nur fiir den
Urheber?, am Ende hat er sich in das Bild verguckt, so
dalb es ihm in alien Sonnenflecken erscheint, und des-
halb versaumt, es dem Unbeteiligten naherzubringen, es
zu gestalten. Und mag es gestaltet sein, so bleibt die
Frage : ist bei aller menschlichen Einseitigkeit nicht dieser
Ausschnitt allzu subjektiv gegrifFen? Ist nicht, in der
falschen Meinung, liber alles Umgebende habe man sich
verstandigt, die Umfassungslinie launisch, ja schruUen-
haft willkiirlich gewahlt worden?
In diesen Bedenken ist man geneigt, Priifwerkzeuge
zu schaffen, um von neuem die Objektivitat des Blickes
zu scharfen; einige, deren ich mich bediente, mochte
ich nennen, weil ich auch diese Rechenschaft im Wesen
des Gestandnisses erachte.
1. Ein Element scheint mir nur dann wirklich ge-
geben und zum Aufbau tauglich, wenn es in beiden
Reihen, der des Bewull>tseins und der der Erscheinung
reziprok gespiegelt sich aufweisen lafit. Ein BegrifF der
Erscheinungsreihe, wie zum Beispiel der des Todes oder
der Vererbung, kann erst dann in den Bau sich fiigen,
wenn sein deutliches Korrelat in der Sphare der inneren
Erfahrung zutage gefdrdert ist,
2. Indem wir die Gesetzmafi)igkeiten unseres Geistes
in das Chaos der Welt projizieren, ruhen wir nicht, bis
wir, um der Verstandigung mit uns selbst und mit an-
dern zu geniigen, die Zusammenhange so greif bar ge-
macht haben, dafi sie sinnlich erlebten Bildern gleichnis-
arrig entsprechen. Es genii gt nicht, die Welt in ein Ge-
setzbuch zu verwandeln; sie soil uns auch als Bilderbuch
dienen; ja ihre lUustrationen machen schliei^lich den
ganzen Reichtum unseres erworbenen Besitzes aus. 1st
doch auch die abstrakteste Sprache unserer Gedanken
nichts anderes als ein verblafiter Hieroglyphenkodex
greif barer Sinnlichkeiten. Gibt nun diese gewissermafien
physische Bildhaftigkeit unseres Erfassens dem Verstande
eine Sicherheit der Kontrolle, selbst da, wo das Modell-
bild nur vorschwebt, ohne dafi es sachlich aufgewiesen
werden konnte, so geniigt doch diese Anschaulichkeit
unserem letzten Empfinden noch nicht. Wir verlangen
eine weitere Bestatigung, namlich die des Gefiihls: so
etwa, wie bei einem Bilde die geometrische Ahnlichkeit
uns kalt lal5t, so lange nicht die empfindungsmafiig im
Unbewufiten gelagerte innere Illusion hinzutritt. Auch
im Gebiet des Gedankens entsteht die seelische Uber-
zeugungskraft eines Satzes unabhangig von der dialek-
tischen; sie zeigt sich aufierlich, wenn ein Satz sich auf
das aul5erste beweislos vereinfachen laI5t und hierdurch
an einleuchtender Kraft gewinnt. Die Gleichnisse des
Neuen Testamentes haben eine solche Macht, deren
Wesen, auf die Spitze getrieben, sich dergestalt aus-
sprechen liefie : was in sich widerspruchslos und innerlich
wahr ist, das ist so einfach, dafi ein Kind es versteht.
Was in letzter Linie kompliziert bleibt, enthalt Wider-
spriiche, ist zum mindesten schief und meistens falsch.
3. Die grofien Glaubensformen derMenschheit sind
nichts Zufalliges; ihre Zahl ist beschrankt und moglicher-
weise geschlossen. Sucht man diese Uberzeugungen von
den Zufalligkeiten ihrer Materialisationen zu befreien.
21
.-<
so erscheinen sie, mathematisch betrachtet, als Partial-
losungen; praktisch ahneln sie uralten, immer wieder
auftauchenden , scheinbar paradoxen Heilmitteln, die
schlieMch ihre Rechtfertigung finden, indem eine uner-
wartete Entdeckung die Anwendung des absurd erach-
teten StofFes wissenschaftlich begriindet. So scheint es
mir die kraftigste Bestatigung eines Zusammenhangs,
wenn aus der generellen Ldsung, durch Einsetzung be-
stimmter Konstanten, Weistiimer der Vergangenheit als
Partiallosungen sich ableiten lassen.
4. Wenn unsere Gedankenreihen sich den Zustanden
der Gegenwart soweit nahern, dafi) sie Zeitprobleme um-
schliefien, so liegt die Versuchung nahe, kiinftige Ent-
wicklungen aus diesem Spiegel hervorzulocken. Aber
alsbald fuhlen wir uns gewarnt: nur dann sind Zukunfts-
traume glaubwiirdig — und mit ihnen die Pramissen und
Ketten gebilligt — , wenn sichtbare Keime der vermute-
ten Evolutionen, sei es noch so tie f und verborgen, im
Kern unserer eigenen Zeiten ruhen. Denn mag man
noch so zuversichdich von der schopfenden und mit-
reifienden Wirkung des Gedankens auf ein Zeitalter
denken: es besteht eine Art prastabilierter Harmonic
zwischen dem unbewufit gestaltenden Traumen der Zeit
und der Einzelarbeit des Betrachters. Selbst da, wo unser
Empfinden dem innersten Wesen der Zeit aufs beharr-
lichste zu widersprechen scheint, deuten wir mehr, als
dafi wir bestimmen. Die Zeit, in ihrem Tun bedenklich
flach, ist in ihrem. Traumen tief; und mechanisch be-
trachtet verhalten wir uns bestenfalls zu ihr wie das
Auge zur Hand dessen, der vom Blatte spielt: das Auge
ist um einen Takt voraus, aber beide halten Schritt und
folgen der Komposition eines Dritten. Da nun das be-
wulke Wesen der Zeir, wie ein schlechter Spieler oder
Rezitator, nur in dem jeweils gegenwartigen Takt oder
Vers lebt, seine vermeinte Schonheit hervorschmettert
und des Zusammenhanges nicht gedenkt, so ist der ein-
sam Schreitende, dem nur um den Zusammenhang zu
tun ist, mit ihrem lauten Benehmen in hellem Konflikt,
und insofern unzeitgemafi. ZeitgemaI5 indessen erscheint
er sich selbst — und deshalb hat er Respekt und Ein-
fuhlung in die verborgensten Krafte der Epoche aufzu-
bringen — , weil er wissen mufi, daJ5 die Schopfung es
ist, die musiziert, und seit Ewigkeit her, und dafi in ihr
Komposition und Wiedergabe im Tiefsten harmonieren.
Mit einem Wort: man glaube an keine Prophezeiung
und keinen Propheten, wenn nicht sein Zukunftsbild,
wohlgemerkt, bei kiihner und freier Betrachtung, schon
aus dem Vorhandenen hervorleuchtet.
a3
Erstes Buch
DIE EVOLUTION DES ERLEBTEN
GEISTES
Geist nenne ich den Inbegriffallesinnerlich Erlebenden. Die Inyentur
^,r • 1 J- TT -1 • r^ ' • des Geistes
Wenn ich die Hauptstucke meiner ueistesmventur
aufnehme, so gehe ich von der Voraussetzung aus, dafi
meine Erinnerung, wenn auch stellenweis verdunkelt,
doch wesentlich im Sinne einer mathematischen Funktion
stetig sei. Zweifel an der Stetigkeit des Erinnerns oder
Denkens wiirden jede Gedankenarbeit hinfallig machen.
Als das wesentliche Besitztum meiner geistigen In-
ventur betrachte ich die durch Erinnerung festgelegte
Evolution meines inneren Erlebens, im Gegensatz zu
derjenigen Auffassung, welche die gleichzeitig vorhan-
denen Bestandteile des Intellekts fiir das wichtigsre er-
achtet.
Meine Erinnerungen reichen in die Kindheit hlmuL Inventor der Er-
Wenn fremde Erinnerungen und Beobachtungen herbei-
geholt werden, so bedeutet dies im gegenwartigen Zu-
sammenhange einen VorgrifF in die Erscheinungsreihe.
Diese Vorausnahme hat insofern kein Bedenken, als sie
nicht der Argumentation sondern der Erlauterung dient;
sie steht auf gleicher Stufe mit der Benutzung der
Sprachform und dem Akt der Niederschrift.
Man spricht von der Unschuld des Kindes. 'DiesQ KindiUhe Un-
Vorstellung ist berechtigt, solange man den BegrifF in
27
subjektiver Bedeutung fafit: das Kind ist sich keiner
permanenten oder temporaren Schuld bewul5t; was man
ihm als gut und bose, Schuld und Verdienst beibringt,
das betrachtet ein unerwachtes Gewissen bestenfalls als
eine Art von Spielregel mit strengen Konsequenzen,
nicht als innere Bindung. Selbst was man bei intelli-
genten Tieren als Schuldbewufitsein deuten mochte, ist
nichts als Angst, verbunden mit der Erinnerung an eine
ganz beliebige Drohung; sobald die Strafe hingenommen,
erlassen oder umschlichen ist, verschwindet das schein-
bare bose Gewissen spurlos.
Am tie fs ten geriihrt von der Vorstellung kindlicher
Unschuld sind sentimentale und im Siindenglauben be-
fangene Naturen; das okzidentale Altertum kannte keine
riihrungsvolle Betrachtung der Kindesnatur, es sah in
dem Menschenjungen den Gegenstand liebevoller Ziich-
tung, aber kein Ideal, kein Sehnsuchtsbild, keinen Ab-
glanz verlorener Paradiese. Das erste geriihrte Wort
in der Erinnerung der Welt hat Jesus zu Kindern ge-
sprochen, dessen Verhaltnis zu Tieren wiederum weniger
innig gewesen zu sein scheint als das der Griechen.
Irrtiimlich wird der Satz von der Unschuld des Kindes,
wenn man den BegrifF objektiv fafit: etwa gleichbedeu-
tend mit Sundlosigkeit, Tugendhaftigkeit, ethischem
Wert. Unbelehrt ist das normale Kind weder hingebend
noch giitig, weder standhaft noch zuverlassig, weder
mitleidsvoll noch opferwillig. Fehlte es ihm nicht an
Nachhaltigkeit des Willens undKomplikation desDenkens,
so wiirde iiber kindliche Untugend des Klagens kein
Ende sein.
Ursrimmung: Dgj Kindes Grundstimmung ist Begehren. Konnten
Begehrenund . . , . i. /- , , « t^ . i
Furcht wir ermnernd m die friiheste, unbewulate Periode unseres
28
Daseins hinaufsteigen , so wiirden wir in den ersten
Regungen des Nahrungsbediirfnisses das Mitklingen be-
gehrenden Geistes vernehmen. Jeder entschiedene Ein-
druck lost ein Begehren aus, das zunachst freilich nur
bis zum Tasten, Greifen, Kosten hinlangt; sparer richtet
es sich auf Besitz, zuletzt auf Geltung.
Scheinbar von den ersten schmerzlichen Erfahningen,
wahrscheinlich von ursprxinglichen, quellenlosen Regun-
gen, bleibt die Erinnerungsstimmung der Furcht zuriick.
Begehren und Furcht beherrschen nun den Urgrund des
kindlichen Geistes ; diese triiben AfFekte freilich gemil-
dert durch ungebrochene Genufi)fahigkeit und geringe
Nachhaltigkeit, so dafi in einem gliicklichen Verhaltnis
die Sinnenfreude des Augenblicks die qualenden Re-
gungen liberwiegt und stillt, und somit eine aul!>ere
Heiterkeit der Lebensstimmung zulafit, die der erwach-
sene Mensch gleichtemperierter Veranlagung nicht auf-
bringen wiirde,
Es eriibrigt zu sagen, dal5 die Bezeichnungen Begehren
und Furcht hier nicht im lediglichen Sinne positiver und
negativer Willensrichtung gebraucht sind; sie bedeuten
die Stimmungen, nicht die Impulse. Begehren ist die
langende Stimmung, die bei hoher entwickelten Geistern
ihren letzten Ausdruck in der Sehnsucht findet, also
nicht etwa d^r intellektuell-energetische Entschlul^ und
Impuls, etwas zu tun oder zu erleben. Furcht ist die
angstvoll beklommene Stimmung, die sich mit dem
Objekt einer Vorstellung verbinden kann, also nicht
etwa ein auf negative Ziele gerichteter Wiinsch. Die
Stimmungen sind weitaus tiefer, urspriinglicher und vom
Intellekt unabhangiger als analoge Willensregungen und
Wiinsche.
2f
Im Lebenshaushalt wirkt das Begehren dahin, alle
fordernden Krafte und Materien herbeizuziehen, wahrend
die Furcht Gefahren abwendet, Auswahl trifFt und der
Erfahrungsiibertragung der friihesten Erziehung Raum
schafFt. Fernzuhalten vom BegrifF der begehrenden und
fruchtenden Grundstimmung sind sekundare Erschei-
nungen, wie etwa angelernte und unverstandene Opfer-
willigkeit, Furchtlosigkeit im Einzelfalle, die auf Un-
kenntnis oder falscher Einschatzung der Gefahr beruht,
ablehnender Eigensinn als Ratlosigkeit zwischen zwei
Ubeln, die sich denn oft genug fiir das groliere ent-
scheidet, Gleichgultigkeit aus mangelndem Vorstellungs-
vermogen oder aus unzulanglichem Willensimpuls.
Menschendes An dieser Stelle mul5, zur Klarung und Vertiefung
undderFurcht ^^^ ^^^ ^^^ Schauplatz getretenen BegriiFe, vom Wege
der Darlegung eine Sonderbetrachtung abgezweigt wer-
den. Es handelt sich um die Kategorie der Menschen,
die auch im Alter vollendeter Entwicklung ganzlich oder
vorwiegend den Grundstimmungen der Kindheit, Be-
gehren und Furcht, unterliegen.
Zvjtekhaftizkeit Vor Jahren habe ich diese Gattung als die der Zweck-
menschen bezeichnet. Denn Furcht und Begehren gehen
im Stande geistiger Vorgeschrittenheit eine Verbindung
ein, die planend und vorsorglich ins Kiinftige gerichtet,
sich Zwecke schafFt und in diesen sich objektiviert. In-
dem ich auf den Zusammenhang des Furcht- und Zweck-
wesens mit bestimmten Volkerklassen hinwies, gab ich
der Erfahrung Ausdruck, dafi> unter den Vertretern ein-
zelner Stamme bisher wenige oder keine Individualitaten
nachweisbar aufgetreten sind, die dutch Leistungen,Ideen
oder Gesinnungen einen Fortschritt gegeniiber diesen
primitiven Grundstimmungen batten erkennen lassen. So
30
tief indessen eine solche Gebundenheit im physischen
und physiognomischen Wesen einer Blutsgemeinschaft
zu wurzeln schien, so wurden die Moglichkeiten , ihr
zu entrinnen, fiir jedes vernunftbegabte Geschopf fest-
gestellt. An anderer Stelle wiederum habe ich darzu-
legen versucht, dafi der Umschwung der westlichen
Kultur, der die gegenwartige mechanistische Epoche
emporgetragen hat, wesentlich auf eine Umlagerung der
Bevolkerungsschichten zuriickzufiihren ist, welche den
zweckhaften Elementen die Oberhand verschafFt hat.
Hiernach kann ich mich auf eine kurze Charakteristik
des Furcht- und Zweckwesens, das im Verlauf der Dar-
legung eine neue Bedeutung gewinnen wird, beschranken.
Die Eigenart des zweckhaften Menschen ist in dem Der Ztueck-
Gesetz beschlossen, dafi er in Vorsorge, Furcht "^^^ Oen und iVeun
HofFnung sein Leben aus der Gegenwart in die Zukunft
verlegt. Indem er es zu schiitzen, zu verlangern, zu
bereichern und zu bekraftigen sucht, handelt er denn
tatsachlich nicht nur zweckhaft, sondern hochst zweck-
entsprechend; da aber der Zweck ihn ganz hinnimmt,
so bleibt er bei aller Erfiillung arm und gliicklos; der
Zweck wird zum Selbstzweck imd hebt sich auf.
So ist der Unfrohe auf die Freuden der Sinnengeniisse
und der Willenserfiillung angewiesen. Aber dieser
Gliickswille geht seltsame Wege.
Denn da der Mensch sein Gleichgewicht aus der Seine AbbSngig-
Gegenwart in die Zukunft, aus seinem Inneren in die
Welt geriickt hat, so bedarf er in hochstem Mafie der
Welt, der Menschen und der Dinge; der Welt, um zu ^
scheinen; der Menschen, um zuherrschen und zu gelten; ^^
der Dinge, um zu besitzen. 1
Indem er nun scheinen und herrschen will, wird er
31
in Wahrheit abhangig; er ist angewiesen auf Meinung
und Zustimmung, und da es seiner Natur nicht ent-
spricht, sie zu erzwingen, so mufh er sie erschleichen und
erlisten. Weil er der Dinge bedarf, wird sein Handeln
abermals unfrei, denn er sieht sich an Verhaltnisse,
willkiirliche Gesetze und unfreiwillige Arbeit gekettet.
SetH Ittteiukt Sein berechnender Intellekt wird geschult, sein ur-
spriinglicher Geist gedampft. Sich selbst kann er nicht
achten; andere achten und verehren zu miissen wiirde
ihn vernichten, so sucht er sie zu sich herabzuziehen
durch Mij&gunst, Skepsis, Kritik und Verkleinerung. Als
Kluger, Unzufriedener, Schwacher ist er Menschenkenner
und Beobachter, geschult, auf die Schwachheiten anderer
zu achten, geiibt, sie zu enthiillen und zu benutzen.
Seine Ssttiichkeit Eine absolute Sittlichkeit kann er im zweckhaft materiell
und sein Glauben a^ i • t» o • • i »
gearteten Grunde seines Bewuiotsems nicht verankern.
Wo er sittlichen Gesetzen folgt, geschieht es aus Furcht
oder aberglaubischer HofFnung. Denn sein Glauben
wurzelt im Verstande und kann nicht anders als materiell,
somit aberglaubisch sein. Sieht der Zweckbefangene
sich liberhaupt veranlafit, gdttliche Machte anzuerkennen,
so sind ihm diese nicht transzendente Erfahrungen und
Notwendigkeiten, sondern niitzliche Protektoren, fur
die man angesichts ihrer Machtmittel gern ein iibriges
tut, indem man ihr Wohlwollen durch Konzessionen und
Komplimente sichert. Hat er sich der gottlichen Ge-
spenster entledigt, so schwelgt er, von Freiheitsgefiihlen
berauscht, an den Quellen materialistischer Erkenntnis.
Halt er alsdann Umschau nach Idealen, so erfindet er
Theorien schwelgenden Lebensgenusses, die angesichts
seiner schmerzenvollen, ans Aufiere gebundenen Existenz
wenig glaubhaft werden.
32t
Die Kunsc des Zweckhaften ist nicht gering. Es ist Seine Kurui
die Kunst des Intellekts, des Esprits, der Ekstase, des
Sinnenreizes, des Pomps und der Dekoration. Sein
Denken ist geistreich, scharf, kiihl und negierend; sein /
Naturempfinden sentimental und prezios; seine geistigen \J
Freuden sind Fakten, Enthiillungen, Neuigkeiten, Neu-
heiten, Kritiken und Erfolge.
Fremd ist ihm Sachlichkeit, Hingebung, Wahrheits-
liebe, Ehrfurcht und Transzeiidenz; denn er kommt von
seiner Person und seinen Wunschen nicht los, er bleibt
erdenschwer, unphantastisch und unfromm.
Betrachtet man die Gesamtheit dieser Eigenschaften/W/i^flT^-Zw^v/f-
praktisch, so ist zuzugeben, daJB sich mit der Zweck- ^^ ^
haftigkeit vollkommene ZweckmaI5igkeit im Sinne der
Lebenserhaltung des Einzelnen und des Geschlechtes ver-
bindet; betrachtet man sie kritisch, so erscheinen sie vor-
bereitend und verheiI5end, denn sie ordnen die Existenz
des Einzelnen unter die Existenz der Generationenreihe,
indem sie Sicherheit fiir Gluck eintauschen.
Entfernt man zur Probe diejenigen Ziige des Bildes,
die vorgeschrittener Intellektualitat angehoren, so stehen
wir wiederum vor dem Geistes- und Stimmungskomplex
des primitiven Farbigen und dos Kindes. Wir kehren somit
zum Ausgangspunkt zuriick: zurErinnerungan dieGeistes-
entwickelung, als Hauptinhalt unserer inneren Erfahrung.
Ist das Leben des Kindes auf Begehren und Furcht, Umschwung
auf Zweckhaftes und Zweckmafiiges gestellt, so beginnen
mit der einsetzenden Reife des Geistes und Leibes neue
und entscheidende Konflikte.
Die Liebe des Mannes ist nicht hingebend wie die
Liebe des Weibes, denn sie ist werbend; und doch geht
sie in einem Sinne iiber die Hingebung des Weibes
33
hinaus: sie ist bereir, sich zu opfern. Das Weib will
hinnehmen und vergehen, der Mann will besitzen, aber
zugleich sich opfern und verschenken: so ist im Augen-
blick des hochsten Lebenswillens der Lebenswille auf-
gehoben, der Zweck gebrochen. Man faf5t es so auf,
dafi dies im Interesse der neuen Generation geschieht:
gleichviel; die Wendung ist geschehen.
Zweckfreie Der Jiingling verzehrt sein Leben in Traumerei. Das
^s»^S'» Wesenlose wird ihm bedeutend; das Handgreif liche un-
wesentlich. Eine neue Natur umgibt ihn: nicht mehr
Stein, Pflanze, Luft und Wasser, sondern ein geheimnis-
voller Kosmos vol! Leben, Geist, Blut, Licht und Liebe.
Die Dinge reden nicht mehr die Sprache des Tags; es
rauscht aus ihnen Ungesprochenes, Unauflosliches. Eine
zweite Natur verbirgt sich hinter der sichtbarenund will her-
vorbrechen; es bedarf eines Wortes und alle Wirkllchkeit
ist aufgehoben. Der Welthauch atmet Majestat und Liebe,
und die jugendliche Seele begehrt nichts anderes, als sich
den Machten hinzugeben und in ihren Werken aufzu-
gehen. Die Welt der Menschen und Schicksale brandet von
feme, in ihren Kampfen fliegen und siegen die Banner
der Ideen; Freiheit, Wahrheit, Vaterland, Gottheit ver-
langen das hochste Opfer und sollen gerettet werden.
Solche Regungen gehen nicht vom Erhaltungstriebe
aus. Sie sind zweckfrei, mogen sie ungeklarten Stim-
mungen garender Epochen entspringen. So werden sie
denn auch im Leben des gebildeten Okzidentalen als-
bald fiir einige bedeutungsvolle Jahre wieder zum Schwei-
Reaktion und gen gebracht. Denn dutch unmai^ige Anspriiche an den
Eriebens Intellekt werden die Keime der Seele im Wachstum ge-
hemmt, und das anmaMch begehrende Kind steht wie-
derum auf dem Plan.
34
^\
Enttauscht steigt der Erdenbiirger in die Vielfaltig-
keit des Lebens hinab; und wirklich, die Fiille der Er-
scheinungen liberwaltigt ihn nicht. Heroen werden zu
Menschen, Paradiese zu Mechanismen, und erstaunlich
bleibt nur die Menge des GewuI5ten, der enthiillten Ge-
setze, der gelosten Ratsel. Von den Erfahrungen der
Jahrtausende nimmt er sein Erbe in Anspruch und denkt
es zu mehren, und je unermefilicher der Reichtum in
seinen Handen, desto armer die Welt. Was ist sie ? Ein
Verstandesspiel, ein Zirkus, eine Intrigenschule. Wo
sind Wunder? Wo sind Geheimnisse? Die Natur ist ent-
gottert, die Gottheit entlarvt, die Machte zerstoben.
So begniigt sich der Verwaiste, am Raube teilzuneh-
men. Gliick der Sinne, Geltung und Macht gehoren dem,
der sie nimmt. Er erwirbt, besitzt, geniel5t und ver-
zweifelt. Aber schon haben unter dem Lacheln der
Medusa die Krafte sich verjiingt. Uber dem verddetenDie Geburt
Weltbild steigt abermals der Himmel der Natur empor,
nun aber feierlich bewegt von der Gewalt der Gesetze,
ruhend in den Polen der Gottheit und des Herzens.
Das Spiel der Schwerter, Federn und Kronen ist ge-
stillt. Es bleibt das SchafFen: doch nicht mehr um der
Werte willen; das Sorgen: doch nicht mehr um der Ziele
willen. SchafFen heii2>t: Umsetzen die Seele in sichtbare
Form, Erschautes gestalten. Ein Naturvorgang, vergleich-
bar dem Weben der Muschel und der Spinne, die aus
den Saften ihres Lebens mit Freuden und Schmerzen ihr
Kleid, Riistzeug und Kunstwerk nach dem inneren Bilde
wirken.
Es bleibt die Liebe. Je reiner und heiil)er das Feuer
der Sinne sich erhielt, desto leuchtender umgibt es sich
mit der Aura xibersinnlicher Klarheit. „Es reget sich die
3^
Menschenliebe, die Liebe Gottes regt sich nun." Es er-
wacht die Liebe des Franziskus, die alle Kreatur mit-
samt den Gestirnen umspannt, die in die Spharen tont
und die Gottheit herabzwingt.
Dena diese Liebe ist transzendent. Sie ist Ahnen
und Begreifen des Sichtbaren und Unsichtbaren, sie ist
Hingabe und Opfer, sie ist aber auch Erfiillung und Ver-
klarung. Sie fafit die Welt nicht mit den Krallen des
Verstandes, sie lost sich auf, geht unter, vereinigt sich,
wird Eines, und begreift, indem sie Eines wird.
So wird aus Natur und SchafFen, Liebe und Trans-
zendenz im Menschen die Seele geboren, ja wesentlich
gesprochen: sie wird nur aus Liebe geboren, denn Liebe
umfafit die anderen drei Krafte insgesamt.
SeeUnkmde Lidcm ich dies wundervolle Wort Seele nieder-
schreil^, zum ofteren seit dem Beginn dieses Buches, will
es mir nicht in den Sinn, warum in so anderer Bedeutung
die Wissenschaft sich dieses reinen Klanges deutscher
Sprache bedient. Sie nennt es Seelenkunde, Psychologie,
wenn sie die Begriffe des Bewufitseins, des Denkens, der
Assoziation und andere Dinge des intellektualen Geistes
behandelt. Wenn die Jahrtausende von den geheimen
Kraften, der Gottlichkeit und der Unverganglichkeit der
Seele sprachen, so haben sie an eine Unsterblichkeit der
Bewufitseinsphanomene nicht in erster Linie gedacht. In
Ubereinstimmung, wie ich glaube, mit dem altenGeist der
Sprache, der sich der Worte seelisch, seelenhaft, seelen-
voll im Gegensatz zu geistig, geistreich und geistvoll
. bedient, der seelenlos und geistlos in richtigem Verstand-
nis gegeniiberstellt, der von Seelsorge, Seelenrettung,
nicht von Geistsorge und Geistesrettung spricht, der mit
Recht geisteskrank, nicht seelenkrank sagt, fasse ich den
16
Begriff der Seele als den Komplex der hochsten Geistes 7^-
krafte, die uns bekannt sind, und die, wie ich liberzeugt
bin und darzutun versuchen werde, aus den niederen
Geisteskraften sich nicht analytisch berleiten lassen.
Da ich nun mit den Distinktionen der Wissenschaft Begrife, Wortr,
in Widerspruch geraten bin und ein gleiches noch mehr-
fach geschehen wird, so sei dieser Schrift der Gestand-
nisse ein Wort gelegentlichen Bekenntnisses gestattet.
Ich» ehre und bewundere die philosophische Dis-
ziplin, der ich durch Erziehung und Beruf ein dankbarer,
aber nicht vorbildlicher Gast war. Ich erhebe keinen
Anspruch, ein philosophisches Buch zu schreiben; ich
versuche meine inneren Erlebnisse zu ordnen und zu
deuten. Ich bediene mich der deutschen Sprache, so wie
ich sie uberkommen babe und zu beherrschen glaube;
wenn ich bewul^t ein ungewohnliches Wort gebrauche,
so suche ich es zu erlautern. Verstofie ich damit gegen
Schulausdriicke , so ist mir das nicht von Wichtigkeit.
Betrachte ich als wahr, was die Wissenschaft widerlegt
zu haben glaubt, so troste • ich mich mit dem Gedanken,
dafi schon manche verstofiene Wahrheit wiedergekehrt
ist. Ich erwarte nicht und hofFe kaum, daH) philosophische
Schulen und Organe sich mit meiner Schrift befassen;
sie ist bestimmt fiir meinesgleichen, Menschen aller Be-
rufe, die sich mit sich und dem Leben geplagt haben. ^^^-d.
Bei aller Ehrfurcht vor der Wissenschaft konnte ich mir
von ihr keine Lebensweisung holen, so wenig wie der
Geschaftsmann aus Lehrbiichern der Okonomie und der
Staatsmann aus Werken der Staatskunst seine Entschliisse
Ziehen kann. Ich betrachte das Denken nicht als ein
Monopol, und glaube, dail> mehr fruchtbare Gedanken in
die Welt kamen, wenn nicht die Furcht vor Schulen und
37
Lexikographien manches gesunde Nachdenken und manche
berechtigte Aussprache im Keime erstickte.
Wir stehen an einem Wendepunkt der Betrachtung.
Wir haben in den Aufgang der Seele geblickt; und da
nach dem Laufe der Dinge das groI5e Ereignis Dunkel-
bilder, Zweifel, ja Abneigung hervorrufr, so miissen wir
eine kurze Zeit im Negativen bebarren.
Betrachtung Was ist es denn mit dieser kiihnlich benannten und be-
der Seelc
haupteten Seele? Ist sie nicht doch nur ein Beiwerk, ein
im Lebenskampf gewonnenesHilfszeug des erfinderischen
Intellekts?
Paradoxic der Die Secle ist kein Kampfmittel. Rationell betrachtet,
im Sinne des Kampfes um Nabrung, Lust und Nutzen
ist sie ein Hemmnis. Die Gestirne sattigen nicbt. Das
unzeitliche Werk bringt Martyrien. Liebe opfert sich.
Der seelenhafte Mensch erscheint der Zeit als Idiot,
dem sie nicht immer die Ehre des Kreuzes erweist.
Nicht in der Einode und nicht auf der StraII)e, nicht am
Altar und nicht im Gefangnis fande die reine Seele ihre
Zuflucht, und den hoffnungslosen Kampf gegen die Klug-
heit liefie man sie nicht erst beginnen. Die Klugheit des
Intellekts in seinen Formen der Kriegfiihrung, der Ge-
schafte, der Diplomatie, der Technik und des Verkehrs
beherrscht die Welt so vollkommen, dal5 im Sinne dessen,
was man Entwicklung nennt, die Seele den unerhortesten
Riickschritt bezeichnet. Die Dichtung, spottend, klagend,
sehnsiichtig, schildert nichts anderes als die Leiden,
welche die Seele bringt; und in ihrer gottlichen Ge-
rechtigkeit mufi sie der praktischen Dialektik mephisto-
phelischer Naturen den Sieg lassen.
Der Triumph des Intellektes ist der Zweck. Hierin
aufiert sich die gewaltige Identitat des gesamten nie-
38
XA'-'
deren Naturwillens; hierin ist der unfafibarste Kontrast
hohen und niederen Denkens zum blofien Grofienunter-
schiede zusammengeschmolzen, der Kontrast zwischen
der Urregung der Amobe und dem Spintisieren des Staats-
mannes; vom unbewufiten Dammerwillen bis zur ver-
feinerten Abstraktion umfai5t ein und dasselbe gleich-
artige Agens die lebendige Natur: der Intellekt, die Be-
wul^tseinsform desBegehrens, und ihr Emanat, der Zweck.
Leben, Nahning und Lust, und Mittel zu Lust, Nahrung
und Leben, dies ist der InbegrifF des sublunaren WoUens
und Denkens.
Die Seele aber will nichts. Sie tragt in sich Streben Fursichseh der
und Erfiillung, Dissonanz und Auf losung. Ihr Wesen ist
zweckfrei, und im Sinne der Erscheinungswelt zwecklos.
Aber mehr als das. Hat die Seele in ihrem Aufstieg ge-
lernt, mit ausgebreiteten Schwingen liber der Erschei-
nungswelt betrachtend, freudvoll sinnend zu ruhen, so
entfremdet sich der Blick dem bunten Wesen, und ihre
eigene Kraft hebt sie entsagend hinweg von der Welt,
jenem Licht entgegen, in welchem das Aufien und das
Innen verschmilzt. Die BegrifFe der Zweckfreiheit, der
Willenlosigkeit sagen nichts mehr; sie wird zum schlecht-
hin Absoluten.
Verlohnt es, durren und kaltsinnigen Einwendungen Einivendungen
jTT»i«« t t ' • !• des UtilitarismtLS
des Utilitarismus zu begegnen: als seien wenigstens die
aufiersten Fasern des Seelenwesens Ableger einer Niitz-
lichkeitsentwicklung? Etwa in dem Sinne: die ErgrifFen-
heit vor den Naturgewalten des Gewitters seien Erinne
rungen an landwirtschaftliche Vorteile, oder die Maje-
stat des gestirnten Himmels beruhe auf der unbewufiten
Vorstellung von Jagderfolgen, oder die Nachstenliebe sei
die ererbte Erkenntnis vom Nutzen friedlicher Nachbar-
39
schaft? Ware in diesem Zusammenhange des innerlicli
Erlebten ein erlauternder UbergriiF in die Erscheinungs-
reihe der Zuchtwahl oder Vererbung auch gestattet:
diese Argumente erfordern ihn nicht.
Wer die ersten stillen Regungen des Seelenlebens
erfahren hat, bedarf derBeweise nicht. Ihm besteht die
innere Gewi£>heit, lebendiger als alles andere Erleben,
dafi hier eine neue Qualitat des Geistes beginnt, die von
den intellektualen Qualitaten vollkommen gesondert,
neue Krafte, Freuden und Schmerzen und ein Leben
iiber dem Leben erschlie(5t.
Wir haben den hochsten Vorgang des irdischen Er-
lebens, das wahrhafte Erbe des inneren Besitzes in seiner
typischen Form betrachtet; so diirfen wir denn die Ab-
weichungen und Gegenbilder nicht xibergehen.
Von geringer Bedeutung ist die zeitliche Anomalie
der seelischen Geburt. Schon im friihen kindlichen
Leben, beschleunigt dutch vertiefende Einfliisse, Einsam-
keit, Naturnahe, Leiden, konnen die seelenhaften Triebe
zum Vorfriihling erwachen; wie denn junges Leben bis-
weilen von tiefer Weisheit erfiillt ist, die sich alsbald in
Larm und Blendung zur Vergessenheit verdunkelt. Um-
gekehrt bewahrt uns die objektive Erinnerung Falle spater,
ja verspateter Erweckung, die manches Leben noch in
seinen letzten Auftritten zur Peripetie gefiihrt hat.
Seelenlosig- Wichtiger ist der vergleichende Einblick in die Exi-
stenz der Seelenlosen ; denn als solche erkennen wir nun-
mehr die Menschen, die wir vordem nach Furcht und
Zweck benannt haben. Es bedarf keiner Erwahnung mehr,
dal5 diese Bezeichnung der Seelenlosigkeit nicht bildlich,
sondern in ihrem wortgetreuen Sinne zu verstehen ist;
das Urbild des organisch vollendeten, gleichwohl seelen-
40
keit
losen Menschen erblicken wir in denjenigen Primitiven,
deren Leben in Sinnenwerk, in materieller Furcht und
HofFnung, gleichviel ob irdischer oder liberirdischer Zen-
trierung, verlauft.
Uber den Zusammenhang des Blutes mit dem Schick-
sal werden wir zu sprechen haben, wenn wir nachpriifend
die Ergebnisse der inneren Betrachtung in die Erschei-
nungsreihe projizieren; vorschauend sei hier wiederholt,
dal5 eine Pradestination des Stammes nicht besteht. In
jedem Menschen, gleichviel welchen Blutes und Her-
kommens, schlummert die Seelenkraft. Was in der Welt
zu selbstloser Liebe taugt, das taugt zur Seele.
Das Gebiet des Seelenlosen tritt eng an uns heran. SeeienhseGebhu
Innerhalb und aufierhalb unseres Erdteils kennen wir
Landstriche zivilisierter Sprache und Sitte, die wir be-
treten mit demGefiihl : hier hausen nicht Lebensgenossen,
sondern Interessenten. Hier wird Arbeit zum Fron-
dienst, Mui5e zum Rausch, Freude zur Ausschreitung,
Kummer zur Verzweif lung, Glaube zum Fetischismus.
Die Verlassenheit, die uns befallt inmitten gieriger Man-
ner, getiinchter Frauen, angerichteter Kinder und Jung-
frauen, libernachtiger Jiinglinge, untreuer Diener und
ausgehohlter Sklaven, diese angstvolle Verlassenheit ent-
steigt dem unbewufitenBegreifen: hier leben keineSeelen.
Habsucht und Gotzendienst des flachen Landes, Waren-
hunger, Blendwerk, Streberei, Uppigkeit, Neugier und
Diebeslust der Stadte: das sind die Inseln der Seelen-
losigkeit in unserem Lande.
Taglich beriihren wir uns mit respektablen. Menschen SeeienioseZiviii
anstandiger Herkunft, gewahlter Sitte, lebhaften Geistes, ^^
denen die Seele mangelt. Sie erscheinen als besonnene,
durchaus tatige Menschen, von unablassigen Zweckge-
41
danken bewegt, die sie mit der Sorge um eigene und der
Nachkommen Existenz, mit dem Bewufitsein selbstge-
wahlter Pflichten, mit Gewohnheit und Beschaftigungs-
drang, ja gelegentlich mit Ehrgeiz, Habsucht und Samm-
lerwahn zu erklaren suchen. Die Zielbewegung ist ihnen
Selbstzweck geworden; theoretisch von der Notwendig-
keit endgiiltigeren Lebens liberzeugt, gonnen sie mit
Gewissenhaftigkeit sich kiinstlich zubereitete Erholungs-
zeiten, die sie in entfernten Gegenden, an Platzen mafi-
voller Unterhaltung oder unter Biichern verbringen. In-
dem sie aus anerzogener Bedenklichkeit iiber das Gebiet
des niederen Sinnengenusses hinausstreben, streifen sie
die Landschaft mit einem fliichtigen Blick, um eine ku-
riose Einzelheit zu erhaschen, betrachten ein Kunstwerk
in der Absicht, es kritisch zu bewaltigen und bildungs-
m'ifhig zu verwerten. Aber wahrend dieser Sparzeit ver-
lafit der gewohnheitsmafiige Zweckgedanke sie keinen
Augenblick; er treibt sie rasch indasjoch zuriick, dem
sie das Bewui5tsein ihres Lebenswertes verdanken.
Seeieniose Biidung Uber den Sinn ihres Lebens lassen diese mitunter
intellekiuell bedeutenden Menschen sich nicht befragen.
Es geniigt ihnen, dafi sie Wilienserfiillungen erlebt haben,
dafi sie das tatige Leben machtig, reich, geehrt verlassen,
mit dem Hinblick auf gesicherte Hinterbliebene und mit
der nicht betonten, doch auch nicht abzuweisenden Aus-
sicht, eine wohlverdiente Existenz unter jenseitigen Vor-
aussetzungen zu finden.
Auffallig ist ihre Hilf losigkeit, wenn sie antworten,
weshalb sie sich an gewisse ethische Normen binden.
„Aus Anstand" sagen die Einen. „Aus Niitzlichkeit" die
Anderen. „Aus Erziehung, Gewohnheit und Ererbung"
die Skeptischen. „Aus Religion" ist die tiichtigste Ant-
41
wort, iind bei wahrhaft Erbglaubigen zutreiFend. Viel-
fach hegt man Riicksicht auf uneingestandene, in stiller
Reserve gehaltene gottliche Machte, die in Zeiten der
Not — niitzt es nichts, so schadet es nichts — um hand-
greifliche Dienste angesprochen werden konnen, und
denen des Alltags durch Regungen spielerischen Aber-
glaubens ein gelegentliches Opfer im Dunkel des Be-
wufitseins gebracht wird.
Dieses iiberraschend vorzeitliche Inventar des inneren
Lebens erfiillt den Kern kluger, gebildeter und erfolg-
reicher Menschen unserer Zeit, sofern sie der Seele er-
mangeln.
Erschreckend sind die Orte der Seelenlosigkeit. DerSef/en/BseStitux
Wanderer, der aus den Tiefen des Landes im Abend-
schein der Grofistadt sich nahert, erlebt den Abstieg in
diese Gefilde. Hat er den Dunstkreis der Ausfliisse
durchschritten, so offnen sich die dunklen Zahnreihen C^^^lf '^
der Wohnkasten und sperren den Himmel. Griine Flam-
men saumen den Weg, erhellte EisenschifFe schleifen ihre
Menschenfrachten liber den geglatteten Pechboden. In
frechem Licht klingeln und donnern die Drehmaschinen
und Rutschbahnen eines Larmplatzes: das ist ein Ort der
Freude; und Tausende stehen, schwarz gedrangt, mit
flackernden Augen vor den Plakaten der umzaunten
Wiistenei. Aus den Hofen stromen iibermiidete Manner
und Frauen, es fiillen sich die Raume hinter den Glas-
scheiben, deren Aufschriften in weifiblauem Bogenlicht
zucken. „Grofidestillation", „Frisiersalon", „Bonbon-
quelle", „Stiefelparadies", „Lichtspiele", „Abzahlungs-
geschaft", „Weltbasar" : das sind Orte des Erwerbs. Die
Straiten verengern sich gegen die alte Mitte der Stadt,
der Verkehr wird eiliger, es haufen sich die Wagen,
41
Modegeschafre, Restaurationen, Carta und Theater lassen
ihre Transparente spielen. Pldtzlich ragt stumm und
dunkel ein Bauwerk der alten Zeit empor, ein stiller
Platz liegt zur Seite. Briicken und Fernsichten weiten
sich, die Massen werden klar, die Umrisse fest. Hier
bewegt sich der gemessene Luxus; er halt auf Bauart,
Baume, Abstand und Benehmen. Nun rasen die Ge-
spanne und Motoren nach Parkstrafi>en und Villenstadten
und kreuzen die Strome der Sorgenvollen und Lustbe-
gierigen, die von der Nacht leben.
Das ist das Nachtbild jener Stadte, die als Orte des
Gliicks, der Sehnsucht, des Rausches und des Geistes ge-
priesen und besungen werden, die das Land entvolkern,
die bis zum Verbrechen das Geliist des Ausgeschlossenen
entfachen; notwendig und wiirdig im Ernst der Arbeit
und des Gedankens, furchtbar und irrsinnig als Paradiese
der Seelenlosen.
Seeienioie Stammt Dennoch erweist sich in der Okonomie und Bilanz
des Weltgeschehens der Einflufi des seelenlosen Elemen-
tes nicht als gering, keineswegs als verachtlich. Es wurde
hervorgehoben, die Fahigkeit Seelenkrafte zu entbinden,
sei keiner Menschennatur von Grund aus versagt; den-
noch zeige die Erfahrung, dafi weite Gemeinschaften des
Blutes und Lebens bis zu dieser Zeit seelenhafte Phano-
mene kaum gezeitigt haben, so dafi man kurzgefaI5t von
seelenlosen Volkern und Stammen reden konne. Und
da die absoluten Gegenpunkte der Polaritaten bei Massen-
erscheinungen uns niemals entgegentreten, so miissen
wir die Abstufungen vom schwachsten Einschlag des
Seelenhaften bis zur denkbaren Uberwindung des Seelen-
losen als Grundordnung, wie im Leben des Einzelnen,
so in der Geschichte der Menschheit hinnehmen.
44
Es ist hier nicht der Ort der geschichtlichen Analyse.
Hervorzuheben sind lediglich die Indizien derPolaritiit, und
es bleibt spaterer Forschung iiberlassen, die Reagenzmittel
auf Zeiten und Volker wirken zu lassen, um Verbindungen
zuspalten, gleichartigeElemente auszusondern, undsomit,
riickwarts gewandt, das einstige Stromen der Elemente,
ihre Mischung, Umsetzung, Verdunstung und Erneuerung
zu ermitteln; welche Erscheinungen sich uns in auli5erem
Sinne als Historic darstellen. Aus solcher Betrachtung
wird kiinfriger Geschichtsschreibung eine empfindlichere
Beobachtungsmethode sich ergeben als die gegenwartige,
welche sich vorwiegend den Erlebnissen der jeweiligen
Oberschicht zuwendet und daher keine der grol5en Evo-
lutionserscheinungen restlos erklaren kann, die aus Wech-
selwirkung, Vermischung und Umschichtung herriihren.
Der seelenlosen Menschheit gemeinsam scheint vor Kriterien see-
allem die Materialisierung des Todes, begleitet von den meinschaften
Affekten der Furcht und des Entsetzens vor seinem Reich BegrifvomTod*
und seinen Untertanen. Der Gedanke, die marerielle
Welt ein fiir alle mal nach jenem Abschied aufzugeben,
ist unfafibar; der Tote dilettiert und vagabundiert noch ;x
immer diesseits, er muU) gefiittert, gekleidet, umschmei-
chelt, versohnt und gefeiert werden. Er spielt mit da-
monischen Kraften in alle Lebensverhaltnisse hinein und
sorgt neidisch fiir sein verbliebenes Kapital, den guten
Ruf. Seine Behausungen erdriicken die Bauten derLeben-
digen, seine Allgegenwart raubt ihnen die Freude am
Tage. Das Reich des Todes ist dunkel und sorgenvoll,
denn in ihm leben nicht freie Seelen, sondern Knechte der
zeitlichen Bediirfnisse und Geliiste, der Rache, Reue und
Leidenschaften. Der Seelenlose kann Unsterblichkeit nur
fiir seinen animalischen Geist begreifen und veriangen,
/
45
Sreieniose G/au- Ein wcitercs Indizium ist die Materialisierung der
Religion. Der seelenlose Mensch spiegelt sich in seelen-
loser Gottheit; wie denn das Brockengespenst der histo-
rischen Gottheit nichts anderes bedeutet als das makros-
kopische Geistesbild seines Schopfers, projiziert auf die
Nebelwand der Naturerscheinung; tiefstes, unbewuil)tes
Bekenntnis seines Fiihlens, Handelns und Leidens. Da-
her ist alle schreckenerregende, fratzenhafte Gottheit
seelenlos. Rachsiichtige, blutgierige, auf Ritualien er-
pichte Gotter und Damonen, die keinem ewigen Gesetz
gehorchen, wohl aber mitleidlos auf ihre Rechte pochen,
entstammen sklavisch furchthaftem und unbeseeltem
Geist. Unter ihrer Herrschaft wird Religion zur Ab-
rechnung, zum Tyrannendienst und Formelkram ; sie
sind die Beschiitzer der Sakralkollegien, der Auspizien,
der Speiseregeln, der aberglaubischen Kasuistik. Der
Schmeichelei und Bestechung zuganglich wie ihre irdi-
schenSohne, erfiillen sie deren Glaubensideal durchWill-
kiir, Grausamkeit, Genul5 und Unzucht.
Seelenlose Kunst- Die Kunst seelenloser Volker ist typische, nicht in-
^*'*^ dividuelle Kunst. Denn bei aller ausschliefienden Be-
deutung, die das Individuum, auf personlichsten GenulL
und Lebenszweck gestellt, sich selbst beimill)t, bleibt
seine Achtung vor fremder Individualitat gering. Der
Andere bedeutet ihmGegenstand,Typus,Mittel; er selbst
fiihlt, auch im Sklavenstande, nur das Ich als Selbst-
zweck. So interessiert es ihn nicht, inwieweit das Einzel-
objekt von der kanonischen Durchschnittsnorm abweicht,
die allein ihm als wichtiges Sinnenbild mit unbedingter
Deutlichkeit vor Augen steht; er prel5t das Phanomen
in die Form der Vereinfachung, des Typs, der Symmetrie
und des Ornaments. Und in dieser Schulung leistet er
46
doppelt Erstaunliches, ja UnfaiBbares: denn da er selbst
von seinen Mitmenschen als Typ, somit als unperson-
licher Bildner und Handwerker erachtet und behandelt
wird, sieht er sich gezwungen, von Jenen gebilligte Kon-
ventionsformen einzuhalten, der Tradition zu folgen,
und innerhalb dieser Grenzen manuell und sachlich in
jeder Generation dieSchranken desKonnens zu erweitern.
Die Kunst Agyptens und Ostasiens kann in ihrer Art
niemals ubertrofFen werden, indem sie als eine Kunst
des Typus, der Norm, der Uberlieferung und des Ge-
setzes wie ein Naturprodukt dasteht; die verschwindende
Zahl individualistischer Ausnahmen, mogen sie vonKiinst-
lerlaunen oder von Fremden geschaifen sein, andern an
diesem Gesamtbilde nichts.
So stehen wir vor der paradoxen Tatsache, dafi die
Kunst, die man jahrhundertelang als die ideale bezeichnet
hat, weil man den BegrifF des Ideals mit dem der kano-
nischen Norm verwechselte, den eigentlich ideallosen
Volkern und Epochen gehort, die denn tatsachlich fast
ausnahmslos diese Kunst als Mittel zum Zweck, als
Mittel der Beschreibung und Propaganda, des Gottes-
dienstes, der Illustration und Dekoration benutzt haben.
Die Welt verdankt der typischen Kunst, die sicher die*
urspriingliche war, unendlich viel; vor allem die Schu-
lung, den Begriff des technisch erreichbaren, den Blick
fiir Mal5 und Verhaltnis, das Ornament und die Bau-
yform. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt — was
eigentlich keines Experimentes bedurfte — , dal5 echte,
namlich wahrhaft organische Ornamente und Kunst-
formen sich nicht dutch Einzelarbeit erfinden lassen,
selbst wenn die Grundsatze der Abstraktion bewulit
studiert und gelaufig gehandhabt werden. Denn diese
^7
Elemente, erwachsen in jahrhundertlanger Wechsel-
wirkung gleichgearteter Verfertiger und Beschauer,
sie sind nicht, wie man glaubte, Menschenwerk, son-
dern Menschheitswerk, und somit natiirliche Schop-
fiing, wie etwa die Sprache. Deshalb konnte man
mit Recht die willkiirlich konstruierte Ornamental-
kunst der letzten Jahrhundertwende als Volapiikstil be-
zeichnen.
Seeieniose Ueaie Nimmt man den BegrifF'des Ideals in der bescheidenen
Bedeutung einer Grenzvorstellung des Wunschenswerten,
so kann mit diesem Vorbehalt von Idealen seelenloser
Volker gesprochen werden. Es bedarf keiner Erlaute-
rung, weshalb solche Ideale, soweit sie menschliche
Form tragen, sich gewissermafien als Berufsideale dar-
stellen miissen. Der niitzliche, somit gerechte und kluge
Konig, der niitzliche, somit ergebene und sachkundige
Sklave, der niitzliche, somit verschlagene und erfindungs-
reiche Kaufmann und Ziichter, der niitzliche, somit ge-
horsame und fromme Untertan geniigen dem Bediirfnis
ethischer Verschonerung und Verallgemeinerung. So-
weit ein allgemein menschlicher IdealbegrifF sich iiber
die Mannigfaltigkeit der Typen erheben soil, ergibt
# sich die gemeinniitzige Tugend der Barmherzigkeit. Die
praktische Ubung dieser Generaltugend aber verstrickt
sich in dieNetze, welche das Schwesternpaar, Religion
und Gesetz, iiber alle Handlungsmoglichkeiten flicht.
Eine standig verengerte Kasuistik kann, wie die romische
und spatjiidische, alle Lebensgebiete derart iiberspinnen,
dafi die EntschlielLung, zwanglaufig eingeengt, jeden
ethischen Wert verliert, und die letzten kiimmerlichen
Ideale als Niitzlichkeiten, kleinere Ubel oder gesell-
schaftliche Notigungen hinsterben.
4.8
Ein auGerer Zug, den farchthaften Gruppen gemein- Seeieniose Gesei-
sam und im Stande vorgeschrittener Zivilisation von
politischer Bedeutung, zeigt sich hierin: sie konnen nicht
einsam sein und nicht schweigen. Es ist, als ob sie nur
dichtgedriingt und in engstem Zusammenhang sich sicher
fuhlen, wobei ihr Interesse fur den Nachbarn weit
gr6fi)er ist als ihre Liebe. Eilfertiger Redeschwall,
tonend und von einfdrmigem Pathos, dient weniger der
Mitteilung als dem Erleichterungsbediirfnis und der
Uberredung. Daher im politischen Zustande die leicht-
bewegliche, gewalttatige offentliche Meinung, das Uber-
gewicht der Redner und Schreiber und die Herrschaft
der Phrase.
Wenden wir uns zu den entgegengesetzten Leitzeichen Kriterien see-
mut- und seelenhafter Volker, so tritt uns zuvorderst die meinschaften
heitere Freiheit des Lebens und der Hang zu transzen-
denter Erhebung entgegen. Unbelastet von Begehrlich-
keit schwebt der Geist iiber der Erscheinung und erhebt
sich zu der souveranen Anschauungsform des Humors,
die im aufiersten Gegensatz zum terrestrisch gearteten
Pathos, scheinbar sorglos und unbeteiligt und dennoch
vol! hochsten Verstehens sich der Geschopfe annimmt.
Die transzendente Liebe versenkt sich in die Natur und
verliert sich nicht, weil sie durch den farbigen Schleier
das Licht des Unbedingten erblickt; sie verklart ihrObjekt
uber irdische Erfahrung und Konzeption hinaus zum Ideal,
sie ahnt jenseits der fafi)baren Gottheit das Gesetz.
Kult und einfiihlende Empfindung der Natur, Achtung
vor der Einheit und Wiirde jedes Geschopfes, hinge-
gebenes Aufhorchen zu der Stimme der eigenen Seele
schafFen diesen Gemeinschaften intuitive Frommigkeit, >
individueile Kunst und reine Lyrik; wenn unter dem
49
BegrifF der Lyrik nicht gereimte Aufsaitze verstanden
werden diirfen, sondern jene unerklarlichen libergedank-
lichen Seelengebilde, deren die Zeiten uns einige Dutzend
hinterlassen haben.
Im Gegensatz zu der transzendenten Ethik, die im^
Stillen jede Lebensform durchdringt, bleibt die praktische
Ethik der Seelenvolker, als unwesentliche Zwecksache,
scheinbar primitiv und unausgebiidet. Im wesentlichen
beschrankt sie sich auf die Verteidigung der Gemein-
schaftscharaktere : Mut, Treue, Wahrheit. Die Kraft
dieser urspriinglichen Wertungen aber ist so groI5, dafi
sie, entgegen alien geschriebenenundgepredigtenLehren,
noch heute, da sie langst aufgehort haben, Gemeinschafts-
ausdruck zu sein, das praktische Empfinden aller west-
lichen Kulturen beherrschen.
Seelenhafte Entsc^ieden, wie uns der Gegensatz seelenhaft-mutiger
lose Epochen ^^^ unbeseelt-zweckhafter Volker entgegentritt, sondern
sich die geschichtlichen Epochen der Einzelvolker in|
Epochen der Seele und der Seelenlosigkeit.
Ursachen des Die mechanische Ursache ihres Wechsels besteht in
der gleichsam hydrostatischen Schichtung der Bevolke-
rungslagen auf der Erdoberflache , die sich mit jeder
Flutbewegung der Volksmassen andert. An jeder Stelle
der bewohnten Welt haben Invasionen und Erobe-
rungen in ungemessener Zahl stattgefunden; fast jedel
dieser Uberflutungen mul5te eine Oberschicht Herrschen-
der und eine Unterschicht Beherrschter hinterlassen.
Notwendig erfolgt nach bestimmter Zeit eine Durch-
dringung und Mischung dieser lebenden Fliissigkeiten, |
wobei in heftigster Reaktion und raschem Verlauf die |
Perioden der hdchsten jeweils moglichen Kultur empor-^ij
steigen. In friiheren Schriften habe ich darzulegen ver-l
so
sucht, dafi die Bliitezeiten westlicher Kultur denjenigen
Umlagerungen entsprangen, bei denen eine seelenhafte ,,
Oberschicht in die Mischung eintrat.
Je nachdem nun eine seelenhafte oder seelenlose Be-
volkerungsschicht der Gemeinschaft die Pragung auf-
driickt, entstehen im zeitlichen Wechsel seelenhafrere
und seelenlosere Epochen bei scheinbar unverandertem
Volkskdrper. Das friihe Griechentum und das germa-
nische Mittelalter auf der einen, das byzantinische
Mittelalter und die franzosische Aufklarung auf der
anderen Seite konnen als Lehrbeispiele dieses Kontrastes
hingestellt werden.
Herrschaft des Glaubens, der Treue, des Krieges, der Kritnien der
positiven Ideale, bezeichnen die Perioden der Seele,
Herrschaft des Mate ri ell en, der Staatsrason, des Frie-
dens, der Gelehrsamkeit und Analyse bezeichnen die
Perioden des Intellekts. Beirrend ist es, in herkomm-
lichem Sinne dieVolkerepochen mitmenschlichen Alters-
stufen zu vergleichen; denn der Vergleich bindet sich
an den Intellekt, der freilich, fiir sich genommen, im
Alter trocken und rasonnabel zu werden pflegt. Richtet
sich hingegen der Blick auf die Gesamterscheinung, die
Intellekt und Seele umspannt, so erhellt, daC) die Be-
gierde nach der Million und die Begierde nach der
Glasperle das Gleiche ist, und dafi die Erstellung der
Wildfalle und der Gul5 der Kanone nur im Grade der
Erfahrung und der Intelligenz sich unterscheiden. Des-
halb ist die scheinbar greisenhafte Periode des hartge-
kochten Rationalismus und Materialismus in Wahrheit
eine Periode der Jugend, ja der Kindlichkeit, zu der sich
das Aufsteigen zur Transzendenz wie ein Eintritt der
Reife verhalt. In richtiger Ausdeutung jenes beliebten
I-
SI
und unzulanglichen Bildes, das ich erwiihne, urn es ab-
zutun, erscheinen die dunklen Volker nicht als jugend-
frische Naturburschen, sondern als greisenhafte Kinder;
in Jahrtausenden hat sich ihre Seele nicht geregt, wahrend
ihr Intellekt ohne zu reifen gealtert ist. Deshalb ist es
ein flaches Schlagwort gedankenloser und koketter Mate-
rialistik, jene dunklen Genossen als Fiihrer einer kiinf-
tigen Kulturerhebung auszumfen. Auch sie werden der-
einst zur Seele gelangen, doch nicht als Fuhrer, sondern
als spate, miihsam gereifte Nachziigler.
cb^r ^"^ ^^°' ^^^"^^^^^ Schritts mit den Gezeiten seelenloser Epochen,
deren die Welt urn der animalischen Notwendigkeit
willen immer wieder bedurfte, treten Einzelfiihrer in-
tellektuell hoher, aber seelenloser Begabung hervor, die
den Sinn ihrer Zeit zusammenfassen, auf die Spitze
treiben und somit erledigen. Sie leisten notwendige,
aber negative Arbeit, im Gegensatz zu jener Reihe der
Vorwartsschauenden, die das kommende Reich verkiin-
deten und die in Wahrheit Propheten genannt werden
diirfen, weil weder ihre Sache, die unerschopflich ist,
noch ihr Geist dutch den Lauf der Zeit erledigt werden
kann. Mifit man jene voltairischen Intelligenzen nicht
gerade an Plato und Paulus, so erscheinen viele nicht
unbedeutend,indemsiealtgewordenesMeinungsgerumpel
fortraumen; ohne Illusion und ohne Scheu, die ihnen
fremd ist, weltlicher Macht gegeniibertreten, Gedanken
Grosserer kritisieren, popularisieren und propagandieren,
und somit teils vorbereitend, teils digestiv und erledigend
wirken. Mit ihren geringsten Genossen teilen sie die
Hilflosigkeit gegeniiber dem nicht zu Errechnenden,
nicht zu Konstruierenden. Um daher im Positiven nicht
ganzlich zu verstummen, erheben sie zuweilen einen
jra
4
Schrei nach Leben und Lebenslust, der um so bacchan-
tischer hervorgequalt wird, je triibseliger und sinnen-
fremder es im Inneren des Idealisten wider Willen aus-
sieht. Kiihnere und konsequentere Temperamente dieser
Art bekennen sich freimiitig zum Pessimismus , indem
sie entschlossen der Welt aberkennen, was die Natur
ihnen versagt hat.
Dail) nach ihrer Herkunft und Praxis die Periode, in Epoche dn Ge-
der wir leben, trotz aller hofFnungsvollen Krafte, die in
ihrem Schofie keimen, 2u den seelenlosen gezahlt werden >^^
mufi), habe ich in der Kritik der Zeit dargetan. Die
Schichtenmischung der Kulturlander ist bis auf Bruch-
teile vollendet; die Oberschichten sind nahezu verzehrt;
die Unterschichten tragen, wo nicht die sichtbare, doch
die geistige Herrschaft, und haben, vom Druck befreit,
ihre expansiven Krafte in beispiellose Volksvermehrung \
ausstromen lassen. Das Doppelphanomen der Mechani- Mechanhierung
sierung und Entgermanisierung erklart restlos alle Er-^^^
scheinungen der Zeit: die Mechanisierung als Folge und
Selbsthilfe der Volksverdichtung und als Ursache des
Dranges zur Wissenschaft, Technik, Organisation und
Produktion; die Entgermanisierung als Folge der Um-
schichtung und als Ursache des Mangels an Richtkraft,
Tiefe, Idealismus und absoluter Uberzeugung.
Die heutigeGemeinschaftgleichteinerungeheurenPro- Aufieres EUd den
duktivgenossenschaft; denn Ernahrung und Beschaftigung
zehnfach verdichteter Volksmassen ist ihr auferlegt;
Giiterproduktion ist der Inbegriff der Weltarbeit, und in
der Stimmung jedes Einzelnen spiegelt sich das Gesamt-
bild in der Gestalt seines Verhaltnisses zum Besitz und
zur Macht. Tausend libereinander gelagerteNetze zweck-
mall)iger Organisationen durchdringen den lebendigen
53
Korper der Zivilisation und schafFen ihn zu einem selbst-
tatigen und zwanglaufigen Mechanismus, aus dessen Ver-
strickung niemand entrinnt, er fliichte denn nach Tibet
oder Feuerland. Die kiinsdich begriinte und durchfurchte
Oberflache tragt die Spuren des Geisterbaus: Gewebe
aus Stein und Metall, die von den Kraften des Feuers
und Wassers erzittern.
[jtneres Biid dei Alle Machte des Denkeus und Fiihlens sind in den
Dienst des Gesamtorganismus eingespannt. Mittelbar
und unmittelbar geschieht fast jede Regung der belebten
Elemente im Dienst materieller Produktion. Selbst wo
die freiesten Kiinste abseitig ihr Wesen treiben, dringt
in die Werkstatt Larm und Atem des Marktes, und es
entstehen eilige, halbfertige Dinge, vom Augenblick fur
den Augenblick erzeugt, belastet von der Uberfulle der
Eindriicke und Vorbilder, bestimmt, im Massenhaften zu
versinken. Der Gedanke, geschult in der versteinerten
Methodik wissenschaftlicher Forschung, triumphiert, wenn
er benachbarte Tatbestande durch die dogmatischen Mit-
tel der Analogie, der Rechnung und der Entwicklung
verketten kann, und stutzt vor jeder Bewertung und
transzendenten Umfassung; er verliert den Boden, sobald
das Joch handgreiflicher Niitzlichkeit ihn nicht mehr
niederdriickt.
Die Zeit wagt nicht mehr, liber sich selbst nachzu-
denken. Sie fiirchtet, die Antwort auf die Fragen:
warum? wohin? wozu? mochte sie vernichten. Denn im
innersten fiihlt sie die Zwecklosigkeit ihrer Zwecke, die
Torheit ihres Gliicks, die Irrealitat ihres Handelns, die
Selbstvernichtung ihres Wissens, die Unnotwendigkeit
ihrer Kunst, die Willkiir ihrer herkommlichen Leben's-
formen und Sitten. Hielte das Bestehende sich nicht
i
durch die Tragheitsgewalt der schwingenden Massen, so
ware die Welt jedem Umsturz preisgegeben; denn es
gibt nicht einen in der Tiefe transzendenter Uberzeu-
gung gelagerten Ruhepunkt, in welchem das System dei
Krafte sich verankern konnte.
Vergeblich trachtet der verjagte Glauben sein Netz
an scheinbar gefestigte Stiitzen anzuspinnen ; mag er die
Wissenschaft, die Heimat, die Kunst oder den Mythus
wahlen: es bricht der Faden, denn die Pfosten schwan-
ken. Das hochste Gemeingut, die Uberzeugung vom
Ewigen, ist dem Geschmack, der Personlichkeit, der Mode
und der Willkiir ausgeliefert.
Taglich wachst die rotierende Kraft; zerschmettert ^/ziv^^ ««^
wird, wer in die Speichen greift, und alles praktische £poche
Handeln besteht darin, gutwillig der Bewegung zu fol-
gen, die den am starksten schiittelt, der sich stemmt.
Von triiber Komik ist es, wie wohlgesinnte Menschen,
des Glaubens, sie batten sich ins Historische, ins Abso-
lute gefliichtet, mit altertiimlichen Gebarden, unent-
schlossen und verlegen im Maschinenritt ihres Zeitalters
einhertraben. Und doch steht es jedem frei, den Schalthebel /
zu ergreifen, der die innerste Triebkraft des Systems
zerschneidet. Nicht die Einzelglieder der Mechanisierung
sind angreifbar, denn sie sind mit eisernen Klammern
objektiver Logik verschrankt; aber im tiefsten Innern
birgt sich der widerstandslose, vom Hauche des Gedan-
kens bewegbare Punkt: die Schwache der Seele.
Im Laufe der Darstellung wird der Sinn der mecha-
nistischen Priifung sich ergeben, die schwerer als Flut
und Eiszeit*auf der Menschheit lastet. Diese Not be-
driickt uns deswegen barter als alle fruheren Note, weil
sie selbstgeschaiFen ist; sie gleicht hierin den neuen
Lebenssorgen des erwachsenden Menschen, die als Enr-
gegnungen des Schicksals den Frager zum erstenmal aul
seine eigene Verantwortung verweisen. In uns liegt die
Schuld und in uns die Losung; von den Machten haben
wir nichts zu erwarten als die Hilfe, die sie gutem
Will en zollen.
Wir haben den Kreis des Seelengebietes umschritten
in der Absicht, den Anteil des Seelenhaften an der gei-
stigen Okonomik der Individuen und Volker in Ver-
gangenheit und Gegenwart zu ermitteln. Bevor wir zum
letztenmal den Kern dieses ersten Buches, die Geburt
der Seele beriihren, diirfen wir es unternehmen, den er-
weiterten und vertieften BegrifF der Seele dem des In-
tellekts kritisch gegeniiberzustellen.
Seele und In- Versuchen wir zunachst, mit einem Blick das Kon-
trastbild zu umspannen, so ist dies die Summe: das In-
tellektuelle erscheint niichtern, hastig, widersprechend,
absichtlich, kompliziert und miihsam, das Seelenhafte
klingend und farbig, selbstverstandlich und einfach. Man
fiihlt den Unterschied im Ausdruck Dessen, der Etwas
will, und Dessen, der Nichts will. Der Eine glaubt
nichts und verlangt Vieles, der Andere glaubt Vieles
und verlangt nichts. Dem Intellektuellen scheint der
Seelenhafte unklug, vertraumt und verstiegen, dem
Seelenhaften scheint der Intellektuelle angsterfuUt,
gierig und blind. Der Intellekt eilt kilometerdurstig
seine Schienenbahn entlang ins Leere, die Seele
schreitet unter Gestirnen in stiller Versunkenheit.
Dort die ruhelose Frage: weshalb? wozu? und keine
Antwort, hier die Fiille des Vernehmens und keine
Frage. Der Intellekt wirbt und streitet, die Seele emp-
fangt und schafft.
S6
Zum einzelnen. Die erste groGe Aufgabe des In- Seele und In-
tdlckt 3.1s hp
tellekts ist: Erkennen; denn um zu werten und zu wir- j-^.j^gj^^j^,
ken, mui5 er wissen, was ist. Zwei Gebiete des Den-^^^"**
kens hat er sich vorbehalten: das Rechnen mit Grol5en
und das Rechnen mit BegrifFen; Mathematik und Dia-
lektik. Im Sinne der Erkenntnis kommen beide iiber die
Gleichung nicht hinaus, das heill)t liber die mehr oder
minder komplizierte Identitat. Das produktive Den-
ken aber kann aus der Identitat und der Formel nichts
machen; es schreitet iiber Ahnlichkeiten, Analogien und
Gegensatze zum Gesetz, das der InbegriiF seines Wir-
kens ist.
Wo der Intellekt auI5erhalb statistischer Erfahrung Trren des hxteh
operiert, also sinnlich und dinglich denkt, ist er hilflos
dem Irrtum preisgegeben. Von logischen Fehlern frei-
lich droht ihm keine Gefahr, denn sie sind selten, so oft
man auch von ihnen sprechen hort: der normale Irrtum
besteht vielmehr darin, dafi das Wesentliche der Tat-
sachen und Zusammenhange unterschatzt oder verkannt
wird, wahrend Nebensachliches und Nebendinge sich auf-
drangen. Auswahl des Entscheidenden aus der Unzahl
der Tatsachen, richtige Abschatzung inkommensurabler
Krafte und Worte sind intellektuell nicht zu erringen.
Das Kriterium sachlichen Denkens ist Intuition. So er-
leben wir alle Tage, dal^ die unsinnigste Meinung mit
dem vollen Riistzeug des Intellekts verteidigt, ja erwiesen
wird. Die Dialektik braucht logische Verst6l5e nicht zu
begehen; es geniigt ihr, das Unwesentliche zu betonen,
das Wesentliche abzuschwachen oder zu unterdriicken,
und ihre Advokatur fiihrt zur Uberzeugung des scharf-
sinnigen und instinktlosen Intellekts.
Desgleichen begegnen uns Menschen von bedeuten-
57
dem Verstande, die sachlich, folgerichtig und unwider-
leglich argumentieren, und unrettbar das Falsche tun,
wenn sie ihren Argumenten folgen: der logische Bau ist
gut, aber das Material ist schlecht, weil nicht Intuition
es wahlte. Diese Menschen denken niemals falsch und
immer schief.
infaVibiiitat der Die Seele aber, welche nicht denkt, sondern schaut,
ist des Irrtums nicht fahig. Wie das ungeschulte, aber
gesunde Auge beim ersten Anblick eines Bildes den per-
spektivischen Fehler fiihlt, der dem konstruierenden
Zeichner entgangen ist, so empfindet die Seele in voll-
kommener Einfuhlung die Ubereinstimmung einer Denk-
folge mit dem Naturgesetz, und seine Verletzung emp-
findet sie als Dissonanz. Ohne zu argumentieren ist sie
ihres Glaubens sicher; sie schmeckt und wittert gleich-
sam die Wahrheit, den Irrtum und die Liige. Deshalb
duldet sie nichts Schiefes und nichts Kompliziertes; die
Erschaunisse, welche die Seele dem Intellekt zur For-
mung libergibt, sind klar wie der Tag und jedem Kind
begreiflich. Unter den grol5en Wahrheiten, die vom
Denken der Jahrhunderte libriggeblieben sind, ist nicht
eine, die sich nicht mit einfachen Worten leichtverstand-
lich aussprechen liefie. Dies bedeutet es, wenn der
Apostel sagt, die Liebe begreift alles.
Intuition Auf niederer, materieller Stufe nennen wir diese
Schaukraft, diese unbewufite, unerlernbare und unkon-
struierbare Sicherheit des Wahlens, gesunden Menschen-
verstand; auf hochster, vergeistigter Stufe heifit sie In-
tuition. Solche Fahigkeit ist nicht, wie kaltsinniger Ma-
terialismus wiinschen konnte, eine Art geronnener, un-
bewufit gewordener Erfahrung, wie etwa jene Sicherheit
des Auftretens und Benehmens, die von guter Herkunft
58
und Gewohnung ausgeht. Denn wo diese intuitive Kraft
mit ihrer eigenen unbeirrbaren Zuversicht auftritt, da
greift sie iiber alle Erfahrung und generationsweise Ge-
pflogenheit hinaus bis in die tiefsten Geheimnisse der
Empfindung, Kunst und Transzendenz. Ihr Wesen ist,
daI5 sie nicht auflost, sondern nachschafft; in ihr voll-
zieht sich mikrokosmisch das Warden und Geschehen der
Welt, das ein Geistiges ist, zum zweitenMale; sowie in
der Bliite das ganze Wesen der Pflanze, auf kurze Mo-
mente zusammengedrangt, sich in hochster Reinheit
wiederholt.
Bedarf der Verstand des intuitiven Einschlages, somit
seelenhafter Hilfe, um sein praktisches Geschaft* des
Denkens und EntschlieJ&ens iiber das alltagliche Mal5
hinaus zu besorgen, so ist er dennoch nicht fahig, das
Wesen des Seelenhaften zu erfassen, weil es Wider-
spriiche zu seiner Erfahrung auslost. Die Seele aber be-
greift den Intellekt vollkommen, sie empfindet ihn als
wichtiges, zwar nicht zulangliches, sondern der Richt-
kraft bediirftiges Organ; sie begreift die Notwendigkeit
seiner Fehler, die Eigenart seiner Irrungen, und erblickt
sie vornehmlich in ungestillten Wiinschen, die seit jeher
Vater falscher Gedanken waren.
Deshalb stehen Menschen unzweifelhafter aber seelen- Derinteiuktueitt
loser Klugheit den Reden und Entschlussen mtuitiver ^^^^^,^
Naturen in ratloser Verlegenheit gegeniiber. Sie wittern ^
Listen und Hinter gedanken, weil die Einfachheit der
Aufierung sie erschreckt; und haben sie sich endlich
uberzeugt, dal5 sie mit durchsichtigen, ja naiven Charak-
teren zu tun haben, so begreifen sie erst recht nicht,
woher diese Unschlauen und Unkomplizierten das
Schwierige durchschauen, das Unerwartete vollbringen.
59
Denn sie selbst kommen trotz Klugheit und Skeptik
immer bis nur zum gleichen Punkt; sie zehren sich auf im
nniiberblickten Dickicht der Widerstainde und bleiben
von komplizierten und schiefen Verhaltnissen umgeben.
Wie denn die Lebensfiihrung, die tagliche Gewohnheit,
der Dunstkreis, ja das scheinbar zufallige Lebensschicksal,
als Summe aller selbstgeschaiFenen Umstiinde, das un-
triigliche Bild des inneren Menschen spiegelt; zuver-
lassiger alsWorte,Handlungen undkorperlicher Ausdruck.
Der Kluge freilich hat den Vorteil, dall> ihm sein
Riistzeug nie abhanden kommt. Er weiH) auf jede Frage
Antwort, denn der geschaftige Dienst des Intellekts
setzt nicht aus. Die Seele aber liebt das Schweigen.
Ungefragt, in gliicklichen Stunden lafit sie sich ver-
nehmen; dann ofFnen sich unerblickte Tore; in voUem
Frieden wandelt sich das Bedriickende zur Klarheit, der
Wirbel des Einzelnen lost sich in der Reinheit des Ge-
setzes, und der Geisr kehrt zuriick zum Alltag, beladen
mit den Geschenken der Erinnerung.
iVechjeiivirkitng Alsbald aber wird der Intellekt zu seinem besten
Dienst aufgerufen. Er empfangt die erschauten Gebilde,
begrenzt und ordnet sie, kleidet sie in die Vorstellungen
und Worte des Lebensgebrauchs und reiht sie in den
Besitzstand der Erfahrung.
In ahnlichem Verhaltnis wie auf dem Gebiet des
reinen benkens stehen Intellekt und Seele vor den Auf-
gaben der Wertung.
Seele und In- So sehr der zweckhafte Intellekt zur Wertung neigt,
tende Krafte ^^^^ ^^^ ^^^ Antriebe, Ziele und Gliick verspricht: sie
Inteiiektueiie }q\q\\^x: Seine ungliickliche Liebe, denn er kommt iiber
Wertung ... .... • i i •
utilitarisches Denken nicht hinaus. Wenn er sich schembar
noch so weit vom irdisch Niitzlichen entfernt, um nach
60
ideellen Bestimmungen des Lebens und der Welt zu
greifen: das Erdgewicht seiner Zwecke reii^t ihn nieder
auf die utilitarische Flache, weil der Wert seiner Ideale
nicht anders als durch plausible Notwendlgkeiten inner-
halb der planetarischen Okonomie erwiesen werden
kann. Gleichviel, ob er den Genul5, die Entsagung, die
Leidesaufhebung, die Tat oder den Imperativ vom
Sinai herabholt, gottlich oder irdisch betrachtet und aus-
gesprochen bleibt jedes seiner Gesetze eine Niitzlichkeit.
„Du sollst, — auf dai5", „du sollst nicht, — auf dal^
nicht", lauten seine Gebote. Die Seele verheifit und
droht nicht; ihr einfaches Argument sagt: du kannst
nicht anders.
Die Seele schaiFt absolute Werte. Nicht als ob sie Seeiiscbe Wer-
das Absolute erkennte; auch sie ist noch an die Erschei- ""^
nung gebunden; doch beginnt sie in einem Punkte die
Erscheinung zu liberwinden, gleichsam als die erste einer
langen Reihe von Stufen, die vom Erschauten in das
Absolute hiniiberfiihren. Denn sie schaiFt ein zweites
Ich, den Urgrund eines hdheren BewuI5tseins, das, weil
es nicht mehr zweckhaft ist, von der Erscheinung sich
loszulosen beginnt. Dieses Bewufi)tsein will und ver-
langt von der Erscheinung nichts mehr, und fiihlt sich
dennoch bedingt, bestimmt, von Gesetzen getragen, mit
denen es nicht anders als in Ubereinstimmung existieren
kann. So werden diese Gesetze, von denen wir spater-
hin zu handeln haben, zu absoluten Wertungen, die im
Intuitiven Zustande schlechthin nicht mehr verletzt
werden konnen.
Ja, es darf gesagt werden, dafi) die Seele iiber 2\\q Paradnxie da
Wertungen und Idealitaten hinausfiihrt. Denn nian ^^^^^^^^.^
denke sich eine der rein intellektuelien Idealforde-
61
mngen als voilkommen erfiillt: was ware die Folge?
Eine um ein beliebiges verbesserte Welt, eine Welt, in
der die Idealforderung dutch Erfiillung ihre Bedeutung
verloren hat. Somit hat aber auch diese bequemere
Welt nicht an Sinn gewonnen, sondern an Sinn verloren.
Sie ist im Sinne des Zweckes gebessert, aber im Sinne
des gleichen Zweckes erledigt, wie eine geloste Auf-
gabe. Deshalb ist das intellektuale Paradies der Bankerott
des materiellen Denkens.
Indem nun die Seele sich selbst und eine neue Welt
zweckfrei schafFt, befreit sie von dem Widerspruch des
Zweckes und der Erfiillung; und indem sie ihre Erfiil-
lung, die mit kirchlichem Ausdruck Seligkeit genannt
werden darf, in sich triigt, hat sie dutch ihre Existenz
der Welt einen Sinn verliehen.
SeeiischeReiighn Aus seelenhaftem Gehalt erklart sich die ethische
Uberlegenheit der echten, das heiI5t transzendenten
Religionen im Vergleich zum intellektuellen Denken.
Sie freilich waren aller Beweise iiberhoben; sie durften
ihre Himmelslehren an Offenbarungen und Wunder
kniipfen, wodurch denn eben wieder im negativen Sinne
zugegeben war, dai5 der Verstand zum Werten nicht
hinlangt. Religiose Intuition hat die hochste uns be-
kannte ethische Lehre gezeitigt, die Lehre vom Gottes-
reich, die dem Intellekt voilkommen unfail)bar, in viel-
deutiger und unklarer Formulierung die Jahrhunderte
liberdauert hat und die in jeder kommenden intuitiven
Ethik als Sonderlosung enthalten sein wird.
Seele und In- Betrachten wir Intellekt und Seele in ihrer dritten
tellekt 3.1s
schaffende Hauptrelation, als schaffende Krafte, so ergibt sich beim
Krafre ersten Blick, dal5 jenem am Wirken, dieser am eigent-
lichen Schaffen gelegen sein muI5. Denn der Zweck
61
geht nicht auf die Sache, sondern hinter die Sache, Er
lost jede Unternehmung in eine Reihe von Teilhand-
lungen auf, die an sich vollkommen wertlos, erst durch
das Endziel, wo nicht geheiligt, so gerechtfertigt werden.
Uberdies ist, wie wir gesehen haben, auch dieses End-
ziel ein relatives, so dai5, von innen betrachtet, der
Intellekt in kreisender Bewegung ergebnislos seinem
eigenen Willen zuwiderlauft. Nach auC)en hinterlal5t
seine Arbeit bedeutende Spuren, aber auch sie tragen
nicht die Zeichen des Absoluten, sie sind bestenfalls
Mittel fiir einen nicht gewollten Zweck.
Intuitives SchaiFen aber ist zweckfrei, selbstlos, not- Intuidves und
wendig. Deshalb ist das GeschafFene auf jeder Stufe ^^^^V^-' ^''
seines Entstehens abgeschlossen und vollendet wie die
Schopfungen der Natur. Man denke an das Beispiel des
entstehenden meisterlichen Kunstwerks: Studie, Skizze,
Untermalung, Torso erleben in jedem Augenblick des
Heranreifens eine fertige, selbstberechtigte Existenz,
die vollgiiltig bleibt, auch wenn der Prozei5 des SchafFens
vorzeitig abbricht.
Zweckhaftes Schaffen ist Frondienst; seine Freude
liegt nicht in der Leistung sondern in der Erledigung;
das Produkt ist nicht Endziel, sondern neues Werkzeug
und Mittel. Intuitives Schaffen ist in Wahrheit bewull)t-
seinsvolle Fortsetzung des Schaffens der Natur, Schopfung
und Zeugung. Auch darin ahnelt der Vorgang dem
Akt natiirlicher Schopfung, dal5 er Werke schafft, die
aus eigenem Recht bestehen, die durch Wiirde und
VoUendung ihre Existenz in sich selbst rechtfertigen. Sie
sind einzige, nicht wiederholbare Abbilder des Erzeugers,
Bilder seiner Seele, und indem sie in hochstem Malbe indi-
viduell sind, sind sie dennoch Gesetz, und somit absoxUt.
63
Schafen der Deshalb kann liber das Wesen fits wahren Kunst-
werkes auf die Dauer keine Tauschung bestehen. Ge-
suchte Originalitat ist transzendenter Berrug, denn sie
unternimmt es, Seele zu erlisten. Niemals kann wahre
Individualitat dem Willen entspringen, weil der intellek-
tuelle Wille typisch und unpersonlich ist wie alles Ani-
malische. Die Kunst aller Intellektuellen ist die gleiche,
wie die Kunst aller Katzen die gleiche sein wiirde. Und
auch das Werk des Seelenvollen ist nur dann wahrhaft
individuell, wenn der Schopfer nicht der Neigung der
Selbstliebe und Laune sich schrankenlos hingibt, sondern
alle Krafte daran setzt, das Wahre, das Objektive, das
Absolute zu schaffen. Rembrandts Kunst ist deshalb
unsagbar personlich, weil er isich unsaglich miihte, ganz
unpersonlich im Objektiven aufzugehen und sich selbst zu
vergessen. Der junge Mensch, der eine individuelle Schrift
sich anqualt, wird albern und gekiinstelt schreiben; be-
gniigt er sich, mit gutem Willen den Buchstaben klar und
objektiv richtig zu formen, so wird zu seinem spaten
Erstaunen ein Eigenes in seiner Schrift erscheinen.
Denn die heimlichsten Krafte, vor allem der Seele,
konnen frei nur dann ausstromen, wenn der Wille,
durch Gegenkrafte gebandigt, seine Richtkraft verloren
hat. Alle Inspiration verlangt Ruhe und Gleichgewicht
des Geistes; wie siclji Gestirne nur auf klarer Flache
spiegeln. Der wiitende Hunger des Wollens muli^
schwinden, wenn die Seele vernehmen und erwidern
soil.
Triebkraft des Wiederum erscheint die Analogie mit dem Natur-
fens ^^" ^ vorgang, indem das intuitive SchafFen ungewollt und
unerzwingbar ist. Seine Triebkraft ist die Liebe, die
sich so riickhaltlos in ein Anderes versenkt, daI5 das
64
Gleichgewicht der Seele durch die einseitige Last ge^
fahrdet wird. Das UbermaI5 empfangender Liebe wird
durch gebende Liebe geheilt, alle SchafFenskrafte stromen
ins Innerste zuriick, und es entsteht aus zweifacher
Liebe geboren das Werk von solcher Eigenmacht des
Lebens, dafi es dem Schofi entfremdet und verfeindet
werden kann. Die Lust des SchafFens aber, die den
Schmerz liberwiegt, beruht im wiedergewonnenen Gleich-
gewicht der Seele, das um neue Kraftepaare bereichert ist.
Nicht helfend, eher hemmend und dennoch will- lnfe//ekt a/j
kommen ist die Mitwirkung des Intellekts., sofern sie '•^^'^''-''^
sich in Grenzen halt. Sie erweckt die Sorgen der Ver-
gleichung, der Verdeutlichung und Einreihung, die, ohne
Bedeutung, solange der schopferische Mensch im Trans-
zendenten verharrt, Realitat gewinnen, sobald er aus
eigener Freude die Menschheit zum Mitwirken und
Mitempfinden aufruft.
Was hier gesagt ist vom intuitiven Produkt, trifFt Schajfen des AU-
durchaus nicht allein das Kunstwerk, obzwar dieses das'''*^
wahihaft absolute Erzeugnis unseres Menschheitsstandes
ist. Der Handwerker alten Schlages, der ein Gerat um
seiner selbst willen und im Blick auf die Vollendung
fertigt, ist im vollen Sinne Schopfer. Daher die lebens-
warme, handfeste Kraft, die den Werken alter Ziinfte
entstromt, wenn sie mit den sparrigen, falsch geputzten
Artikeln derZweckproduktion in Vergleich treten. Schop- /
fer ist ein jeder, der das Werk um des Werkes willen ^
tut, und die Sache um der Sache willen liebt, mag er
Tagelohner, Kramer und Hausierer sein; Fronarbeiter
ist, wer um Besitz, Ehre, Anerkennung, kurz um Loh-
nung wirbt, sei er Dichter, Philosoph, Staatsmann oder
Feldherr.
6%
Intuition undGe- Auch fordert inmitive Schopfung an sich keineswegs
Genialitat; und wiederum besteht Genialitait keineswegs
allein aus Intuition. Genialitat, als hochste irdische Es-
senz, bedeutet vollkommenes Gleichgewicht intellek-
tueller und intuitiver Krafte. Wir kennen, was man
auch sagen mag, kein Beispiel wahrhafter Genialitat, die
nicht mit souveraner Meisterschaft den Intellekt gehand-
habt hatte, ohne ihn freilich zur Tragkraft des Lebens
zu erhohen. Reinste Intuition hingegen fiihrt zum trans-
zendenten, visionaren und losgelosten Dasein; die Person
Christi haben wir nicht das Recht als genial zu bezeich-
nen. WoUte man diese hochsten Erscheinungen ihrem
Wesen nach benennen, so konnte man nur die Bezeich-
nung der Gottlichkeit wahlen.
Kririk der SoUen wir zur zusammenfassenden Kritik der Seele
Seele schreiten, so wiederholen wir, daI5 ihre Krafte nicht Fort-
setzungen nochEntwicklungsstufen der Intellektualkrafte
bedeuten. Die Kraft der Seele ist die hohere, insofern
sie die Kraft des Geistes begreift, ohne von ihr begrifFen
zu werden. Sie ist irrational, insofern ihr an den Zwecken
und Erfiillungen des animalischen Daseins nichts liegt,
so daC> sie geradezu diesem Dasein verhangnisvoU wer-,
den kann. Sie ist liberirdisch, insofern sie ihre Erfiil-,
lung in sich selbst tragt, und in diesem Sinne ist sie von;
hochster Realitat und von eigenem Recht. Sie ist trans-
zendent, indem sie liber sinnliche Erfahrung hinaus das
Gesetz in sich erlebt und intuitiv erschaut. Indem sie,
aber das erschaute Gesetz in die Welt hinabtragt, stei-
gert sie das gemeine Dasein liber intellektuelles Mafi
und erringt iiber den zweckhaften Intellekt auch die
praktische Uberlegenheit. Sie weist auf ein seliges und
gottliches Leben und auf ein selbstvergessenes ruheno
66
4
ies Gk ck in sich selbst, indes der Intellekr, solange er
consequent und wahrhaft bleibt, nur Geniisse oder niich-
cern geordnete Idealzustande versprechen kann, die nicht
einmal Geniisse sind.
Noch stiitzt sie sich auf Sinne und Erscheinung. Aber ^^e^^ «»^ Trans-
xendcws,
>ie erlebt in ihrer starksten Existenz Augenblicke, welche
[hr die Erscheinung unwesendich, ja zweifelhaft werden
lassen und ihr die Gewifiheit innerer Sinne verleihen.
Die gleiche anschauende Gewil^heit, welche in Dingen
ler Welt die Geheimnisse entschleiert und den Intellekt
iur verstummenden Folge zwingt, weist hier apodiktisch
jber die Grenzen des Fafibaren hinaus, und die Gewalt
ier Sehnsucht zwingt den Blick in weltlose Tiefe und
Feme.
Deshalb ist die Seele eine Kraft, die sich dem Abso-
luten nahert, und der wir vertrauen diirfen. Beschran-
ien wir das Streben nach Erkenntnis auf die Krafte des
[ntellekts, so spielen wir ein edles, weil einheitliches
Gedankenspiel, das kritisch ende.a mufi, weil der Intellekt
liber keine Krafte verfugt, die liber ihn selbst hinaus-
w^eisen. Alles intellektuale Denken wird in letzter Linie
Eur Logik. Ist es uns um endgiiltiges, im hochsten Sinne
praktisches, sachlich-intelligibles Erfassen zu tun, so diir-
fen wir nicht, um pedantischer Einheitlichkeit will en, die
Krafte der Seele ausschliefien. Die Gefahr der Traumerei
and mystischen Zerflossenheit tritt nicht ein, wenn wir
uns davor hiiten, Erlebnisse der Seele zu materialisieren
and zu dogmatisieren. Solch krankliches Bediirfnis wiaer-
legt sich selbst, denn es ist kein seelenhaftes. Die Seele Seeu and Super-
lat keine Lust an Dogmen, Mythen, Symbolen und Wun-
dern, obwohl sie das Gleichnis liebt, als welches auch die
Welt ihr erscheint. Wundersucht ist hochste Zweck-
67
haftigkeit unJ somit intellektueller Materialismus. Der
Seele ist es nicht einmal um den Auf bau ihrer Ethik zu
tun, obgleich sie die Schliissel einer absoluten Ethik
regiert; denn sie fiihlt die eigene GewiU)heit ihres Han-
delns im Anblick des Gesetzes. Wohl aber hat der be-
diirftige Intellekt das hochste Recht, von der Seele die
ethische Lehre zu verlangen, die er mit wahrhaft eigenen
Mitteln aufzubauen nicht vermag.
Seeif und Reii- Ebensowenig ist es erforderlich und gerechtfertigt,
^ ^ der Religion das Gebiet der Seele zu iiberweisen. Reli-
gion sucht nicht Erkenntnis; weder intellektuale noch
intuitive ; sie sucht Trostung, Erbauung, Erhebung, Ver-
sohnung und Erlosung. Gleichviel ob sie sich der My then,
der Dogmen, der Riten, Symbole oder Lehren bedient,
bleibt sie Praxis, und nicht einmal immer seelische Praxis.
Die Seele mag noch lange sich reinster religioser Formeni
bedieneh, um gottliche Krafte aus- und einstromen zul
lassen; indessen will es nicht unmoglich scheinen, dafe
seelische Einsicht dereinst alle Religion in sich aufnimmt-
und somit aufhebt. Niemals mehr kann das Umgekehrte
geschehen, dafi Religion alle seelische Intuition in sich;
fafi>t und ersetzt; ja ich wage zu glauben, dafi in Wirk-j
lichkeit die religiose Sehnsucht unserer Zeit nichts an-l
deres bedeutet als intuitive Sehnsucht nach seelischerj
i
Gewifi)heit, die ihren wahren Ausdruck deshalb noch;
nicht gefiinden hat, weil man immer wieder alles see-
lische Sehnen an die Mythologie und Dogmatik verwies.
Daher die Ratlosigkeit tief empfindender Menschen, die
zwischen dem Skeptizismus intellektualer Wissenschaft
und dem immanenten Dogmatismus der Religion keine
Heimat fur die Erlebnisse ihrer Seele finden.
Wir haben, indem wir das wesentliche Inventarium
6Z
unseres inneren Erlebens aufzunehmen suchten, wiedeiv
holt und nachhaltig in das Gebiet der Erscheinung hin-
ubergegrifFen. Der Gang der Darlegung wurde durch
diese Exkurse aufgehalten, doch nicht beirrt. Denn nicht
um Argumente und Erklarungen war es zu tun, sondern
um das Ausklingen der gewonnenen Erfahrung in die
Welt des Gleichnisses. Im Echo der Erscheinung ver-
nahmen wir verdeutlicht die Erkenntnis, die in diesen ^
Satz gebunden werden soil: Kern unseres inneren Er- !. '
lebens ist die Geburt der Seele.
Aus geheimnisvoUem Urgrund, vom AnimalischenKritikderSee
losgelost, nicht vollendet, aber der Vollendung zustre-
bend, steigt eine Macht in uns empor und besitzt unser
ganzes Wesen. Sie reifi)t uns von der zweckhaften Schop-
fung los, um uns durch neue, gelauterte Bande mit ihr
zu verkniipfen. Sie binder uns jenseits alles aul^eren
Erlebens an feme Machte und schlieI5t uns in hohere
Gemeinschaft, die wir zu ahnen wagen.
Vor diesem Phanomen erstirbt alles friihere und
gleichzeitige Erleben. Intellektuelle Analysen verblassen
zu Spezialismen, wie akustische Experimente vor den Er-
schiitterungen einer Symphonie. Das Gebiet der Seele
wird das AUbeherrschende, und so lange wir es nicht
durchschritten und ermessen haben, bleibt alles Sinnen
Vorbereitung und Exegese.
Das Gebiet des inneren Erlebens bleibt vorlaufig mit
dieser Evolution erfiillt und erschopft. Vertiefung ist
moglich und notwendig, Hiniibersteigen undenkbar.
Deshalb ist es uns auferlegt, die innere Betrachtung
zu beschliell)en und uns der Spiegelung zuzuwenden.
Die Frage lautet: wie reiht sich das innere Ereignis der
Seelengeburt in das Phanomen der Erscheinung? Wie
69
entsteht und was bedeutet die Seele in der Welt des
Gleichnisses?
Nicht eine Erklarung des geistigen Wesens haben
wir von dieser neuen Betrachtung zu erwarten, denn ein
iibergeordneter BegrifF des Urphanomens ist nicht denk-
bar. Wohl aber diirfen wir hofFen, das Weltbild in ver-
anderten Reihen sich zusammenschliefien zu sehen, Ana-
logien und Parallelen anzutrefFen, die sich in mecha-
nischer Formulierung ausdriicken lassen, Ausblicke und
Riickwirkungen aufzuweisen, die dem praktischen Den-
ken Halt und Ziel geben.
Wie die Evolution des erlebten Geistes unser Emp-
finden bekraftigt, so soil die Evolution des erschauten
Geistes unser Denken undEntschliefien tiiihren und recht-
fertigen.
7^
Zweites Buch
DIE EVOLUTION DES ERSCHAUTEN
GEISTES
I
Wenn wir in dramaturgischer Betrachtung das Ver- Spiegelbild
haltnis Hamlets zu Claudius oder Horatio ermitteln, so ^ ^
haben wir das Drama als Wirklichkeit und seine Ge-
schehnisse als notorisch aufzufassen. Es gibt kein anderes
Danemark als das des Schauplatzes, es gibt keine andere
Historie als die der Exposition, unsere erlernte Kennt-
nis schlaft, wir leben in der Dichtung. Wenn wir die
Deutung einerTizianischenAllegorie versuchen,sostehen
wir nicht vor Leinewand, Olfarbe, Firnis und Rahmen,
sondern wir betrachten und deuten den Hain, die Burg
und den Reiter.
Anders wenn wir nach dem Dichter und seinen Quel-
len, nach dem Maler und seiner Technik fragen. Dann
ist Hamlets Geschick nicht mehr Begebenheit, sondern
Veranstaltung, das Bild ist nicht mehr Raum und Luft,
sondern farbige Kruste; die Betrachtung gilt nicht mehr
ier Spiegelung, sondern dem Spiegel.
Vor solcher Rahmen- und Spiegelfrage steht unsere Erkenntnis-
irdrterung, wenn wir das seelische Ereignis als Glied des ^°
)bjektiven Weltenbaus beanspruchen. Das Verhaltnis
les Subjekts zum Objekt ist beriihrt, der Kreuzungs-
)unkt der Doppelfrage: wie ist Welt in der Vorstellung
noglich? wie ist Vorstellung in der Welt moglich? zeigt
73
sich an, und wir diirfen keinen Schritt vorwarts tun, be
vor die Einheit des Denkens und die Einheit der Dar
stellung durch eineUberbriickung desErkenntnisproblem
gesichert ist. Mit dem BegrifF der Uberbruckung eine
an sich unlosbaren Problems mochte ich andeuten, dal
mir die Moglichkeit vorschwebt, ahnlich zu verfahren
wie es in der mathematischen Analyse mit dem Imagi
naren geschieht: die Willkiir des Irrationalen wird ge
heilt, wenn im Laufe der Entwicklung die komplexej
Grofien ausscheiden und die Darstellung in das Gebie
gemeingiiltiger Anschaulichkeit zuriickgefiihrt werdei
kann.
GesetT. der In einer Bekenntnisschrift darf ein personliches Mo
« tsg ett j^gj^^^ ^2.s zur Entscheidung des nachsten Schrittes bei
tragt, nicht verschwiegen werden.
Jedes Gedankensystem ist ein Abbild des Denkender
Seine Giiltigkeit liegt nicht in der Kraft der Logik un
der Beweise — , denn Denken ist nicht sowohl SchlieI5er
als Wahlen — , sondern in der Giiltigkeit des Mensche
und seiner Intuition. Der denkbar hochste Fall ware
daI5 ein Mensch kraft seiner allgemeingiiltigen Natur di
Gesetze der Menschheit und der Schopfung so vollkom
men in sich triige, dal5 sein Denken absolutgiiltig da
Gesetz der Welt vorschriebe. Je bedingter der Mikrc
kosmos, desto begrenzter die Giiltigkeit der Denknorm
und doch wird selbst ein Leidender, ein einseitig Be
sessener die Leiden und Besessenheiten einer Anzahl ode
einer Zeit giiltig aussprechen und zum mindesten dure
die Objektivierung eine Heilung vorbereiten; die Epoch
der Empfindsamkeit ist ein Beleg dieses Vorgangs. Zw:
schen der allgemeingiiltigen Norm des absoluten Der
kens und der pathologischen Einseitigkeit des monc
74
I
manen Deliriums liegen die Abstufungen der Gultigkeit,
die ihrerseits wiederum zu bemessen ist nach dem Grade
der inneren Geschlossenheit und, wenn ich so sagen darf,
tastbaren GesetzmaJ&igkeit der Gedankenkette. Auch bei
bescheidenster Einschatzung des subjektiven Faktors darf
daher der personlich-phantastische Teil des Denkgutes
nicht verhiillt werden.
Nun ist die Realitat des Traumens und erlebenden/^^-^/ww^/ ^//
Schauens fiir manche Menschen, zu denen ich mich zah-
len mu(5, grofi), ohne dafi darum das Getraumte und Er-
schaute als ein vom Schauenden ganzlich Unabhangiges
empfunden wird. Was dem gedankenvollen Traumen
an sachlicher Kontinuitat fehlt, das wird ihm iiberreich
durch innere Einsicht vergolten. An handgreiflicher
Sinnlichkeit und Kontinuitat erscheint die wache, Wirk-
lichkeit genannte Erscheinungswelt um einen Grad realer,
an Unmittelbarkeit dunkler, doch beides nicht mit ge-
niigender Starke, um mehr als einen graduellen Unter-
schied der beiden Welten glaubhaft zu machen.
Wer so empfindet, den wird allein die Realitat des
Geistigen liberzeugen. Ihm tritt das Lebendige, was es
auch sei, als ein unleugbar Empfindendes, die Natur in
allem GeschafPenen als ein Begeistetes befreundet ent-
gegen; ihm ist beschieden, nicht mehr allein sich selbst,
sondern einfiihlend und entauILert in der Kreatur zu
leben; ja es erscheint ihm vielmals dieses Gemeinschafts-
fiihlen wahrer und leibhaftiger als das Fiir-sich-sein. In
der Begegnung mit einem Menschen tritt ihm nicht ein
fremdes, gefahrliches und verhiilltes Wesen mit unbe-
kannten Ziigen und Gebarden entgegen, sondern es ge-
schieht ein Wiedersehen seiner selbst, ein Wiedererken-
nen nach einer Spaltimg des Schicksals. Wenn Francis-
75
cus die Geschdpfe Himmels und Erden Geschwister
nannte, so beschrieb er das hochste menschliche Mafi der
Einfiihlung, die den Schauder des Objekts iiberwunden
hat und sich geistig in aller Schopfang wiederfindet.
Solche Menschen werden ihr Welt- und Erkenntnis-
bild kaum anders als idealistisch gestalten konnen; ja es
wird das unvermeidliche eintreten, daf5 sie, bei allem
theoretischen Bewufitsein von der Relativitat des Denkens
und der Wahrheit, auch fiihlend in dieser Erkenntnis-
form aufgehen, die hierdurch gewissermassen Unterlage
eines Glaubens wird. Wie es denn liberhaupt den An-
schein hat, als wolle menschliche Einsicht — ich spreche
nicht vom Intellekt — in einen Teil der Positionen ein-
riicken, welche die Religion nach dem Verlust ihrer mytho-
logischen und dogmatischen Aufienwerke hat opfern
miissen.
Gefuhisphiioso- Hier sei eine allgemeine Anmerkung uber sogenannte
musundlmuition Gefuhlsphilosophie eingeschaltet. Wir kennen die Vor-
wiirfe, die gegen diese Denkart erhoben werd^, wir
kennen auch die Gefahren, die sie schwarmerischen, sen-
timentalen, wundersiichtigen und heimlich materiellen
Geistern bereitet. Dennoch geht es nicht an, das intui-
tive Element lediglich als eine zu duldende oder nicht
2u duldende Spielart des Denkens zu klassifizieren und
zu erledigen. Will die intellektuale Philosophie das Bild
der Welt in adaquater, fiir menschliche Einsicht nicht
zu iibertrefFender Weise beschreiben, so liegt ihr die
Beweislast ob, daI5 die intellektualen Krafte tatsachlich
die hochsten Krafte des menschlichen Geistes ausmachen.
Kann sie diesen Beweis nicht erbringen, gibt es viel-
mehr, wie ich darzutun versuche, geistige Krafte ober-
halb der intellektualen, so muC) sie sich begniigen, die
7^
I
Welt dialektisch-mechanisch zu beschreiben; ihre Welt-
formel wird sich, um ein iibertreibendes Bild zu gebrau-
chen, zur Weltwahrheit verhalten wie die geometrische,
physikalische und chemische Beschreibung eines Marmor-
werks zum vollen Wesen seiner kiinstlerischen GrolLe.
Mathematik redet nicht von Gegenstanden, sondern von
Grofijen, mathematische Physik redet nicht von Lebens-
vorgangen, sondern von Mechanismen, Physiologic redet
nicht von Lebensinhalten, sondern von Lebensvorgangen;
alle diese Disziplinen sind sich klar, dal5 sie nur den-
jenigen Weltquerschnitt beschreiben diirfen, auf den ihre
geistigen Instrumente eingestellt sind. Intellektuales
Denken hat das voile Recht, die Welt auf ihre dialek-
tische Durchlassigkeit zu priifen; ihre Werte und Wiir-
den kann sie intellektual nicht durchdringen. Sie hat
sich in neuerer Zeit stets zugute getan, Wissenschaft zu
sein und zu bleiben; das heifit, ihre Zugehorigkeit zu
den rechnenden und messenden Disziplinen des reinen
Intellekts zubetonen; selten hat sie an ihrer gelehrten-
haften Kiihle in Dingen der Kunst, der Seele, des Glau-
bens, der Weltherrlichkeit AnstoH) genommen, noch we-
niger es unternommen, diese Kiihle und Unzulanglichkeit
zum Gegenstand einer Fragestellung zu machen. Un-
zweifelhaft ist sie befugt, alles Schauen, das uber intel-
lektuelles Mali hiniibersteigt, von der Schwelle ihres
Tempels wegzuweisen, wenn sie ihn namlich als die Statte
rationaler Abgrenzung beansprucht. Ein volltonendes
Weltbild umschliefit dann dieser Tempel nicht mehr,
und es wird nicht geniigen, die Fordernden an die ver-
fallenden Glaubenskirchen zu verweisen. Eine neue
Kunst des Denkens und der seelischen Einsicht wird viel-
mehr entstehen miissen, die, ohne den rational en Besitz
I-
77
der Philosophic anzutasten, das Recht beanspruchen wird,
sich eigene Zugiinge zu den Werten des Lebens zu bah-
nen und iiber Abgrenzung und Benennung mit der in-
tellektualen Disziplin sich zu verstandigen.
Nottvendiges Je tiefcr ein idealistisches Weltbild in personlicher
Ubel diaiektischer
Methode Natur verankert ist, so zwar, dall> von ihm nur mit der
Schea, die wir Gottlichem schulden, gesprochen werden
kann; je fester die Uberzeugung wurzelt, daJl) fiirMen-
schen kommender Zeit diese Gesamtauffassung an die
Stelle der Mythologie, der Kosmogonie und Theogonie
zu treten bestimmt ist, desto beklemmender wird die
Aufgabe, mit intellektualen BegrifFen und Vergleichen
das Gebiet des uns noch nicht begreif lichen in der Sphare
der Tatsachlichkeit abzubilden. Wenn daher der Ver-
such gewagt wird, auf dialektischem Wege die unzu-'
langliche Skizze eines Erkenntnisbildes zu entwerfen, so
geschieht es im Bewufi)tsein nicht nur der Kleinlichkeit,
die der Methode anhaftet, sondern auch der geringen
Originalitat, der Anlehnung an alte Systeme und vor
allem der Relativitat des Ergebnisses, das nicht mehr
und nicht anderes als eine Partiallosung darstellen kann.
Die Moglichkeit dieser Partiallosung aufzuweisen und
einzureihen, fordert der einheitliche Gang der Darstel-
lung, die uns zu eigenartigeren Zusammenhangen, Kon-
trasten, Analogien und Ausblicken fiihren soil. Hiermit
sei die dialektische Etappe entschuldigt.
Die dreifache Die Erwagung geht von dreifacher innerer Erfahrung
innere Erfah- ^^1
rung. a«S- _ ... fl
Geist ist tell- Die erste Erfahrung lautet: Geist ist teilbar. Die I
Teilbarkeit erfahrt das Ich an sich selbst; Telle des Gei-
stes ruhen, wahrend andere wirken. Telle des Geistes
wirken starker oder schwacher, Telle des Geistes enc-
78
wickeln sich, die friiher nicht oder schwach wirksam
waren, Telle des Geistes konnen willkiirlich aufier Funk- •
tion gesetzt werden. Die Teilbarkeit ist keine raum-
liche; sie bedarf keiner Raumvorstellung, um empfunden
zu werden. Sie ist aber auch keine ideelle, wie die Teil-
barkeit eines BegrifFes, denn sie beruht auf unmittelbarer
Wirksamkeit, nicht auf abstrahierender Vorstellung.
Die Teilbarkeit des Geistes wird dem Ich auch an
der Grenze seiner selbst fuhlbar. Solipsismus ist nicht
nur deshalb unmoglich, weil er mit einer einmaligen,
willkiirlich begrenzten, analogielosen Ich-Leistung sich
begniigt und damit dem Satz vom Grunde widerspricht,
nicht nur, weil er alles praktische Denken verstiimmelt,
sondern vor allem, weil ein unmittelbares starkes Be-
ziehungsgefuhl, eines der originarsten Inventarstiicke des
inneren Bestandes, ihn widerlegt. Das Ich fiihlt, dal5 es
nicht allein steht, und erkennt somit zum zweitenmal
die Teilbarkeit des Geistes an dem Geiste, der nicht
Ich ist.
Die zweite Erfahrung lautet: Geist ist kombinierbar. Geist ist
Bestandteile des Geistes schmelzen im Ich zu einer Ein- ^''"'^'°'^^^^'
heit zusammen, die dem naiven Sinne so homogen scheint,
dal5 sie als das schlechthin Unteilbare, als das Individuum
bezeichnet werden konnte. Der Pflege und Erhaltung
dieser Einheit gilt alles primitive Leben, ihrer ewigen
Fortdauer gilt alles primitive Glauben und HofFen. Wir
haben an dieser Stelle mit der Kombinierbarkeit des Gei-
stes zum Ich uns zu begniigen, weil sie die einzige ist,
die wir innerlich erleben; sobald wir uns der Verwert-
barkeit auliberer Erfahrung vergewissert haben, werden
Geisteskombinationen grol5erer Mannigfaltigkeit uns ent-
gegentreten und a posteriori Erganzungen und Bestati-
79
gungen der inneren Erfahrung lie fern. Indessen ist schoif
^ die Kombination des Geistes zum Ich eine Erscheinunji
eigener und anschaulicher Mannigfaltigkeit. Indem wl:
unsere Geiste in wechselnder Zusammenstellung an de::
Arbeit fiihlen, verlafit uns das Ichgefiihl niemals; es gib I
somit nicht Eine Ich-Kombination, sondern viele. Da|
Phanomen erinnert an die optische Erscheinung der Kom-
bination zum weifien Licht: nicht blol5 die Gesamtheii
der Farbstrahlen, sondern jedes Einzelpaar komplemen-
tarer Schwingungen hat die Eigenschaft, sich zur gleicher
Totalitat des farblosen Lichts zu erganzen.
Geist wirkt Die dritte Erfahrung lautet: Geist wirkt auf Geist
Fremdgeist ^^^ ^^r Erkenntnis, daC) das Ich nicht solipsistisch au^
sich selbst gestellt ist, verbindet sich die erweiterte Ein-
sicht dessen. was wir vom Geist, der nicht Ich ist, emp-
fangen, und dessen, was wir ihm geben. Eine Reihe
durchaus urspriinglicher, intuitiver Empfindungen setzi
hier ein und bestarkt die Erkenntnis der Wechselwirkung
des Geistes, indem sie gleichzeitig von neuem die Exi-t
stenz des Nicht-Ich-Geistes versichert. Wir empfinden
spezifisch, welche Art der Geistesproduktion uns selbst
moglich, und welche wiederum als ein ganzlich Neues.
Fremdes, Unerwartetes und um so hoher Willkommenes
uns entgegentritt. Selbst im Traum bleibt bei aller Los-
gebundenheit unserer Phantasie die Handschrift unseres
Geistes die gleiche, aber beim Anblick eines Buches.
einer Partitur, eines Bildes fiihlen wir: dies hattest du
nicht gemacht, nicht machen konnen, anders gemacht,
anders machen miissen. Ja wir sind, bei einer gewissen
Sicherheit der Erfahrung und des Urteils, geneigt, den
Wert fremder Produktion um so hoher einzuschatzen,
je mehr spezifisch fremdes und dennoch innerlich wahres
80
Ich sie enthalt, woraus, wie in Parenthese bemerkt sei,
bei mangelndem intuitivem Urteil Uberschatzung und
falsche Erstrebung kiinstlerischer Originalitat hervor-
gehen kann.
Des ferneren stehen wir, sofern wahrhaftes Eigen- Gehtign AnteU
leben uns innewohnt, keiner Ichheit unbewegt gegen-
iiber. In alien Abstufungen, vom Anteil bis zur Liebe
ergreift uns ein Urgefiihl, das wir unserem Eigenwesen
Qicht entgegenbringen. Dieses Gefiihl ist so allgemein,
dall> selbst primitive Geister es als Genufi) empfinden,
durch eine Theaterrampe das Gewebe der personlichen
Zweckinteressen abzudammen und in stundenlanger Auf-
merksamkeit der Teilnahme am fremden Ich sich hinzu-
jeben.
Ein weiteres Moment der geistigen Wechselwirkung EinfUhiung
ist die Einfiihlung. Wir empfinden, das Andersgeartete
v^erwandelt uns, so dal5 wir in ihm und mit ihm ein
leues Leben mitfiihlen. Wir leben uns in die Mitseele
linein, wir erleben ihr Denken, Fiihlen und Wollen; wir
empfinden das gesprochene Wort zweimal, in unserer
>timme und im Gehor des Anderen. Sein Erstaunen,
>ein Lacheln und Verstehen geht in uns vor, und indem
^ir s^ine Seele lieben, lieben wir durch seine Seele uns
jelbst. Unausgesprochenes Begreifen, vorausahnendes
irfassen, stumme Zwiesprache, aufgelostes Einklingen
ier Seelen gibt uns das voile Empfinden des eigenen,
lie Sicherheit des anderen Wesens und die Gewif5heit
, hrer Beziehung.
! Aus die sen drei Grunderfahrungen des inneren Er- Moglichkeit
■' • cincr Mcclisi~
ebens: Teilbarkeit, Kombinierbarkeit und Wechselwir- j^-j^ ^^^ q^_
cung des Geistes geht hervor, dall) eine Mechanik des^tes
aeistes moglich ist, wenn namlich unter Mechanik im
I
8i
denkbar weitesten Sinne verstanden werden darf die B(
schreibung eines Ganzen, seiner Teile und ihrer Wechse
wirkung.
Prtifiing der Gehen wir einen Schritt weiter und betrachten di
Teilbarkeit des Geistes im Hinblick auf ihre Grenzei
GesetxderReihen Unser Geist ist nicht imstande, schlechthin EinmaligiJ
zu denken. Wir denken in Analogien; das heifit fbrmei
in Gesetzen, quantitativ in Reihen. Und da diese Chjj
rakteristik unseres Denkens eine ausschliefiende ist, v
verlangt unser Intellekt vom Gesetz die Ausnahmlosij
keit, von der Reihe die Endlosigkeit. Unter Endlosiii
keit ist nicht zu verstehen das in seiner Tbtalitat Ui|
endliche, das naturgemafe nicht umgreifbar und da^l
nicht vorstellbar ist, sondern die dauernde, ununte
brochene Giiltigkeit einer Analogie, die in jedem b|
liebig gewahlten und beliebig fecnen Punkt sich selbi
immer noch gleich bleibt.
Undenkbarkeit Sagtc uns jemand, die sichtbare Natur habe nur e:
des Einmaligen • . * i • i i * ^ ^
emziges Atom produziert, oder sechs Atome, und dar
halt gemacht; oder sie habe nur das StickstofFatom pr
duziert, zwar in beliebigen Mengen, aber nichts ander I
und dann halt gemacht; oder sie habe einen substa^j
tiellen Kubus geformt, weigere sich aber, eine Ku^i
oder einen Zylinder zu formen; oder sie habe ein ai
zehn Millionen Weltkorpern bestehendes Weltensyste'
geschafFen, und dies sei alles : so tritt zu der Unbegrei
lichkeit des materiellen SchafFens an sich eine zweit
peinigendere Unbegreiflichkeit hinzu: die derEinmali
keit und Einseitigkeit, der Willkiir, der Grundlosigker
der unfaC>baren, zufalligen Beschrankung. Es ist uns(
generelles Denkbediirfnis nach Analogie, Gesetz ur
Reihe verletzt, als dessen Spezialfall der Satz vom Grunci
81
sich erweist, iind jede weitere Syscematik des Denkens
horc auf.
Aus innerer intellekmaler Notwendigkeit konnen wir F.ndiose Teiibar
daher die Reihenhaftigkeit auch in der Betrachtung der
Objekte unserer Grunderfahrung nicht entbehren: wenn
Geist teilbar ist, »o mul5 er ins Endlose teilbar sein.
Hierbei wird der Vorstellung nicht etwa zugemutet,
im unendlichen Fortlauf der Teilung letzte geistige Ur-
demente zu denken; dies ware ein Widerspruch in sich,
iveil damit schliell)lich doch die endliche Teilbarkeit ge-
setzt ware. Es geniigt im Verlauf, wenn von geistigen
Elementen die Rede ist, die dem Beobachtungsfelde be-
machbarten Teilungsordnungen ins Auge zu fassen; ahn-
lich wie die Physik, wenn sie von raumlichen Atomen
redet, zunachst an die im engeren Sinne so benannten
5ubstanzaggregate denkt, wobei sie sich vorbehalt, falls
Betrachtung und Rechnung es erfordern, auf Atomitaten
loherer Ordnung zuriickzugreifen, was hinsichtlich der
Slektronen und Lichtatheratome bereits geschehen ist.
Wir finden uns nunmehr inmitten eines Systems, das,
Dhne raumliches und zeitliches Verhaltnis zu postulieren,
lus unendlich teilbaren geistigen Elementen besteht, die
combinierbar und wechselwirkend sind. Bevor wir auf
las Wesen der Kombination einsjehen, verweilen wir zu-
Iiachst bei dem Prinzip der Wirkung.
I Versucht man, die denkbar allgemeinste Form der Prinzip der
■ \Vecliselwir"
I iVirkung von Geist auf Geist zu benennen, so wird man k^ng
las BegrifFspaar des Ausdrucks und Eindrucks wahlen
iniissen, das in seinem Gegensinn das jeweils als aktiv
petrachtete dem jeweils als passiv betrachteten Element
i^egeniiberstellt. Tatsachlich ist eine Wirkung ohne
i jegenwirkung nicht denkbar: dem Ausdruck auf jeder
I
83
der beiden Seiten steht der Eindruck auf jeder der beidej
Seiten gegeniiber.
Ausdruch und Hier sci cinc weit vorgreifende, nur erlaiuternde Ab
EinJruck als . . ^ • j r^ i • i i n l •
Prin%iMen des schweitung in das uebiet der wahrgenommenen hrscheii
ErUbens nungswclt gcstattet. Wenn wir den gesamten Kreis d6{
Wahrnehmung umziehen, der unser geistiges Verhaltnii
zur Natur umfafit, so beruht selbst auf den hochstent
wickelten Stufen unsererExistenz alles zweckfrei menscb
liche Verstehen, Geniefien, Erfassen und Besitzen in de
Doppelwirkung des Ausdrucks und Eindrucks. Wenn ici
Steine klopfe, Akten kopiere oder diplomatische Norei
entwerfe, so begehe ich Zweckhandlungen, die einei:
spateren Zustand, ein endgiiltigeres Lebensverhaltnis vor
bereiten, vermitteln oder erzwingen sollen, an sich abe
nicht endgiiltig sind. Bei diesen Teilhandlungen ist de
Gegenstand nicht Objekt, sondern Mittel, Durchgangs
punkt, Medium, durch das ich das Vorgestellte erblickej
Mit dem Mittel aber verbindet mich, sofern es nur Mitt|
ist, kein menschliches Verhaltnis : dies ist die eigentlich''
Siindhaftigkeit des zivilisierten Handelns. Jedes endgiil
tige Verhaltnis dagegen: zu Ktuist und Natur, zu Kreatui
Menschheit und Gottheit ist seelische Wechselwirkung||
Einfiihlung, Zwiesprache, Anbetung, und ihre stumm<{
und tonende Rede ist Ausdruck und Eindruck. Jedej
Blatt, jedes Glied des menschlichen Korpers, jeder Kiesei;
stein und Wassertropfen redet; und nicht nur von sicbj
von seiner eigenen Schonheit und Kraft, sondern als Bot*|
und Abbild des Ganzen, dessen Wesen er mikrokosmiscll
vertritt und spiegelt. Die Hand, das Auge und das Oh
fiihren die Stimme und Sprache des Menschen, als Tei
sind sie das Ganze, und ein reiner Blick wird nicht ge
tauscht, wenn der Maler einem Bildnis fremde Hand"
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I
eines Modellstehers anfiigt. Der Laubbaum redet von
kraftigkiihler Luft, von weicher Erde, altem Leben, von
festem Stand, zartem Spriefien und schwellender Fiille,
>eine Sprache klingt anders als die des Nadelbaums, der
Palme, des Dornbuschs. Wir erleben nichts starkeres
lis den Eindruck menschlicher Schonheit, menschlicher
jeistigkeit, natiirlicher Phanomene des Belebten und
Jnbelebten. Ja, abgesehen vom materiellen GenuH) der
itummen Sinne ist das Wechselspiel zwischen der Schop-
'ung und uns, das Spiel des Ausdrucks und Eindrucks
las einzige und unermelMiche Gut, das die Erscheinung
ins beschert. Selbst das Gliick des Denkens liber die
)inge der Welt ware nichts, wenn nicht die Sprache der
)inge es rechtfertigte. Freilich bleibt alle Freude an
Lcr Erscheinung bedingt; der Kern von Trauer und Sehn-
ucht, den sie birgt, verrat es und mahnt an die Dinge
er Seele jenseits der Erscheinung. Aber auch jene
Velt, die unsere Intuition zu streifen wagt, kann, um
rfall)t zu werden, nur eine Welt der Wechselwirkung
ein. Dann aber muC> in erhohter Form die Sprache des
msdrucks und Eindrucks auch die Erscheinungsweltiiber-
leigen.
Nun ist es wohl die libliche Erklarung, zu sagen : was Unx.utangnchkeit
ler die bprache der Dmge, das primare Wirken des^^^
.usdrucks und Eindrucks genannt wird, das ist nichts
nderes als Urteile und Assoziationen eines Erinnerns;
rworbene und vor allem ererbte Erfahrung. Wer dieser
rklarung aus leiblicher Vererbung hohen Wahrschein-
chkeitswert beimifit, der hat das Recht, ihn als die
arkste Stiitze materieller Weltanschauung zu bean-
)ruchen; denn es ware dargetan, daC) Phanomene des
tneren Erlebens nicht nur geketiet an Phanomene der
i «5
Erscheinungsreihe, sondern auchanders als durch sie iiber-
haupt nicht erklairlich sind. Es wird in der Folge zu er-
ortern sein, ob und welche, vielleicht symbolische Be-
deutung fiir die Erklarung primarer innerer Erlebnisse
dem Erscheinungsvorgang zukommt, den wirVererbung
nennen. Fiir die Beurteilung des Eigentlichen der Aus-
drucks-undEindruckswirkungenbediirfenwir seiner nicht.
Denn wollte man selbst unbeschrankte Realitat ihm zu-
messen, so wiirde seine Aufgabe in der Fortpflanzung vital
niitzlicher Erfahrung begrenzt und beschlossen sein. Man
konnte mithin allenfalls, wenn keine innere Empfindung
sich dagegen auflehnte., argumentieren : die Freude an
einem klaren Bergsee beruht auf dem Wohlbehagen, das
eine gleichmafiig gefarbte spiegelnde Flache verbreitet.
Sie beruht auf der Erinnerung an kalte Bader, welche
die Vorfahren genossen haben, oder auf dem Schutz, der
den Pfahlbauern zuteil wurde. Sie beruht auf der An-
regung des Fischfangs oder der Kahnfahrt. Wir wollen
nicht die Frage stellen, warum dann nicht ein Stiick ge-
bratenen Fleisches starkere Vererbungs- und Erinnerungs-
freuden erregt als alle Wasserflachen, und uns damit be-
gniigen, dai5 die Herzenslockung des „tiefen Himmels,
des feuchtverklarten Blau" alle Niitzlichkeiten vergessen
macht. Wer wollte es wagen, den Klang des Nacht-
himmels und die Sehnsucht der Gestirne aus unter-
bewull)ter Hoifnung auf gates Wetter zu erklaren? Wer
sich dem Grui5 der Schopfung hingibt, empfindet, dafi
ein Unmittelbares ihm zuteil wird, das aus eigenem Recht
den Weg zur Seele durch die Sinne sucht.
ftrntvirkung Eine bedeutsamere Schwierigkeit scheint unserer Be-
trachtung zu erwachsen aus der sinnlichen Erfahrung,
die uns als physikalisches Gesetz entge gen tritt. Der
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Einwand lautet: vvie ist eine unmittelbare Wirkung der
Dinge auf uns moglich, da doch unsere edleren Sinne
Qur durch Fernwirkung erregbar sind? Nach den An-
schauungen der Physik, die wir im Kreise der Erschei-
Qung gelten lassen miissen, wirkt auf unsere Netzhaut
nicht die Sonne, sondern die Atherschwingung des
Strahls, auf unser Trommelfell nicht die Brandung, son-
dern die Luftverdichtung des Schalls. Wollen wir
pflichtgemafi unsere Denkweise im Leben verankern,
so diirfen wir dieser Frage nicht ausweichen. Wir werden
sie behandeln, wo von Symbolen und Botschaften die
Rede sein wird.
Nach dieser Abschweifung, die das Gultigkeitsgebiet Dimensionen
des Gesetzes vom Ausdruck und Eindruck auf alle ^jj-j^ung
Spharen des Erlebens zu erstrecken bestimmt war, kehren
wir zuriick zur Betrachtung der Geisteselemente. Wir
vergessen nicht, dafi wir Elemente nicht zwar von abso-
luter, doch von beliebiger Vereinfachung beleuchten;
dafi somit auch die Potenzen, die ihnen eignen, in denk-
barer Vereinfachung vorgestellt werden miissen. Soweit
wir aber eine Wirksamkeit unterteilen: zwei Koordi-
natenrichtungen werden nicht verschwinden, bevor unser
Vorstellungsbild ganzlich erloschen ist: Intensitat und
Qualitat. Miissen wir somit Oer Wirkung vereinfachter
Elemente die Richtungen dieser zweifachen Dimensio-
nierung beimessen, so wird es wahrscheinlich , dafi auf
dem Wege zu mannigfaltigerer, das heifi>t kombinierter
Geistigkeit, bedeutende Perspektiven in diesen beiden
Richtungen sich ofFnen. Verweilen wir auf beliebig
hoherer Stufe der geistigen Kombination, etwa auf der
animalischen , so wird evident, dafi die Qualitat einer
Wirkung nur durch Vergleich, also objektiv durch
L
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Wechsel, subjektiv durch Erinnerung wahrgenommen
werden kann. Die Koordinate der Qualitat entspricht
somit der Koordinate der Zeit; sie ist Unterlage der
zeitlichen Vorstellung. Auch die Wahrnehmung der
Intensitat bedarf zunachst des Vergleiches, somit gleich^
falls zunachst des zeitlichen Vectors. Sie ist jedoch
durch den Modus des Vergleiches noch nicht erschopft,
sie enthalt einen Einschlag ganzlich anderer Art, den wir
uns vergegenwartigen, indem wir auf eigener, mensch-
licher Kombinationsstufe den Eindruck beobachten, den
ein mit Farben erfiilltes Gesichtsfeld, oder die Inner-
vation eines sich streckenden Armes hervorruft: halten
wir beim ersten Beispiel uns vor Augen, daI5 auch die
mosaikma£)ige Verbreitung det Farbflecke einen Modus
der Intensitat bedeutet, so wird evident, dafi der er-
wahnte Einschlag das Element der Raumvorstellung
birgt. Es darf somit ausgesprochen werden, dal5 die
Koordination der Qualitat und Intensitat von Elementen
begleitet sind, die in den Gebieten hoherer Geistes-
kombination Zeit- und Raumvorstellungen konstituieren,
und zwar derart, dafi auf das Qualitatselement die Zeit-
vorstellung, auf das vorwiegende Intensitatselement die
Raumvorstellung zuriickgreift. Eine Beschrankung der
Wirkungsdimensionen auf diese beiden Koordinaten ist
weder notwendig noch statthaft; geniigt indessen die
Zweizahl dem Stande unserer Erkenntnis, so hat die
Darstellung sie nicht zu iiberschreiten.
Prinzip der Eine weitere Frage entsteht hinsichtlich der Wirkung
des Vbrzuges ^^^ Geist auf Geist. Ware diese Wirkung in jedem
Sinne symmetrisch und gleichartig, so dal5 jedes Element
tuiter gleicher Beziehung und Konstellation gehalten
bliebe, so ware alles Weltgeschehen unmoglich. Damit
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etwas erfolge, mufi> Ungleichheit der Belastung, Unsyni-
metrie der Beziehung, kurz, ein Faktor der Auswahl,
somit der Willkiir gegeben sein. Es wird uns nicht
schwer, diesen Faktor vorzustellen; denn wie weit wir
auch zur Hohe geistiger Kombination vorschreiten, stets
begegnen wir dem durch innere Erfahrung uns ver-
trauten Will en, den unser tiefstes Gefiihl, aller ratio-
nalen Argumentation widersprechend, als frei er-
achtet. Wir miissen daher das Geisteselement durch
ein Willenselement befahigt denken, Auswahl der Wir-
kung und der Kombination zu trefFen. Freilich ist aus
dem BegrifF der Auswahl das intellektuelle Moment
auszuschalten; und zwar kann der Denkweg, der zu
diesem scheinbaren Paradox der freien, aber intellekt-
losen Wahl fiihrt, in der Weise beschritten werden,
dafi man mit Menschen, die auf dem Markt einkaufen,
einen Schmetterlingsflug vergleicht, der leise wechseln-
den Reizen folgend Bliiten um Bliiten tauscht. Diesen
Analogieschritt bis zu beliebig vereinfachter Geisteskom-
bination wiederholend, nahert man sich dem GrenzbegrifF
des Willenselements oder der intellektlosen Urwahl.
Eine grundsatzliche Erorterung sei hier eingefiigt, die
als neuerlicher VorgriiF bezeichnet werden muI5, well
noch immer wir den Weg in die Erscheinung nicht be-
treten haben.
Bei unserer Betrachtungsweise kehrt die Frage sich Freiheit und
um: wie ist Willensfreiheit bei mechanischer Gesetz- ^^^^
mal^igkeit moglich? und lautet nun: wie ist mechanische
Gesetzmaifiigkeit bei vollkommener Freiheit des Willens
moglich?
Sie ist moglich durch das Gesetz der grofien Zahlen. Massen-
Alle Naturerscheinungen, die sich der Beobachtung dar-^
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bieten, sind Massenerscheinungen ungeheurer Multipli-
kation. Konnten wir das Atom genannte Massenkorn
der Physik mit iiberschiissiger Vergrosserung betrachten,
so wiirden wir ein Weltall erblicken. Aber dieser weit-
gehenden Unterreilung bedarf es nicht; die Beobachtung
des kleinsten uns zuganglichen Partikels enthalt eine
so groC)e Menge nachstuntergeordnerer Einheiten, urn
Gieichnis vom als Massenerschcinung zu gelten. Nehmen wir nun eine
schwarm ' organischc Massenerscheinung zuhilfe, deren Elemente
(wenigstens im Verbal tnis zu der zu beobachtenden Erschei-
nung) Willensfreiheit besitzen: etwa einen sehr grofien,
mit gegebener Geschwindigkeit von Norden nach Siiden
sich bewegenden Heuschreckenschwarm, so ergibt sich
zunachst, dal5 innerhalb dieses Schwarmes durchaus nicbt
jedes Element sich dauernd von Norden nach Siiden
bewegen mul5. Die Heuschrecken schwirren in jedem
Augenblick in jeder Richtung; freilich iiberwiegt in der
grofien Menge der Zahlen das Bewegungselement der
Siidrichtung, das in liberwiegenden Fallen sich zu den
vorhandenen willkiirlichen Bewegungselementen addiert
ujid daher den Haufen allmahlich nach Siiden vorriicken
lall)t. Die additionelle Richtkraft, die sich aus allgemein
wirkenden, sei es meteorologischen, sei es anderen Ge-
meingriinden ergibt, wirktzwar auf alle Schwarmgenossen,
doch bleibt es ihnen freigestellt, ob sie sich momentan,
dauernd oder iiberhaupt nicht dieser Wirkung hingeben
woUen. Nach dem Gesetz der groC)en Zahlen wird dies
der uberwiegenden Majoritat zu iiberwiegenden Zeitenj
genehm sein; immerhin pragt sich schon ein Moment
willkiirlichen Widerstandes darin aus, dai5 infolge der
verlorenen Bewegung der Schwarm durchaus nicht mit
der vollen Geschwindigkeit seiner Glieder stidwarts.
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wandert. Entscheidend aber ist, daI5 keineswegs alle
Elemente sich an den Gemeingrund kehren. Eine immer-
hin merkliche Zahl bricht allem Herdentrieb zum Trotz
nach Osten und Westen aus, und die eigensinnigsten
mogen gar nach Norden fliegen. Es lohnt, das Beispiel
weiterzufiihren und zu unterstellen: der Schwarm sei
senkrecht auf die Seekiiste geprallt, Mit vollem Recht
wiirde der Physiker konstatieren, dafi das Ufer auf die
bewegte Masse mit abstol^ender Kraft wirkt. Er darf
es vernachlassigen, dal5 abermals eigenwillige Elemente
das Abenteuer wagen und viele Seemeilen siidwarts den
Tod suchen.
Setzt man nun an Stelle des Heuschreckenschwarms
die Molekiile eines Gases, einer Fliissigkeit, oder eines
festen Korpers, so ist es klar, daI5 mechanische Gesetze Naturgesetze aU
Majoritatsgesetze bedeuten. Aus der Betrachtung aber ^^^^"^ "^
erhellt, daJB die Statistik der Erfahrung, die wir von
aufien betrachtet als Naturgesetz bezeichnen, von innen
betrachtet nichts anderes bedeutet als eine Anwendung
des Gesetzes der grolI)en Zahlen. Das Zwingende des
Gemeingrundes liegt nicht in einer immanenten Not-
wendigkeit, sondern in der Wahrscheinlichkeit, dal5 eine
Majoritat sich ihm nicht ganz verschliel^e. Die Freiheit
der Glieder bleibt gewahrt, wahrend die Gesamtheit
scheinbar einem Naturgesetz, in Wirklichkeit einem
Wahrscheinlichkeitsverhaltnis unterliegt.
ZweiEinwande, die in aufsteigenderund inabsteigender Ehtvendungen
Ordnung argumentieren, liegen nahe. Der aufsteigende
sagt: die Elemente konnen nicht, wie vorausgesetzt
wurde, frei sein, denn ein jedes von ihnen ist wiederum
ein Komplex und gehorcht somit eigenen Naturgesetzen*
Die Antwort lautet: wir befinden uns in der Betrach-
I
91
*ung einer Reihe, und sind berechtigt, von n auf n-i
lu schliefien. Im vorliegenden Falle sind die Elemente
zum mindesten im Verhaltnis zur Handlung der Ge-
samtheit frei; sie machen teilweise von dieser Freiheit
Gebrauch, indem sie ihr entgegengesetzt handeln. Be-
zweifelr man die Freiheit der Elemente in sich, so gilt
es, diese wiederum in ihre Elemente aufzulosen und die
Darlegung fiir den Fall n-i und so ins ungemessene
zu wiederholen.
Der Einwand in absteigender Reihe kann so gefalit
werden: mag fur die Gesamtheit das Naturgesetz ledig-
lich in der Wahrscheinlichkeit bestehen: der Zwang er-
folgt, und somit ist von dieser Grol^enordnung an die
Freiheit zu Ende und das aulLere Gesetz unverbriichlich.
Hierauf ist zu erwidern: sind tatsachlich die Elemente
in ihrem Verhaltnis zur Gesamtheit frei — und in diesem
Falle sind sie, wie wir gesehen haben, auch in sich selbst
frei — ; ist ferner der Wille der opponierenden Telle
geniigend stark, so ist kein Grund vorhanden, weshalb
nicht in einem gegebenen Falle entgegen aller zahlen-
mafi)igen Wahrscheinlichkeit der statistisch errechnete
Endeffekt sich in sein Gegenteil verkehren sollte. Wir
kennen Beispiele von Versammlungen, die unter dem
Druck eines starken Gemeingrundes stehen und dennoch
von einer Minoritat, die kraftig genug ist, in Form einer
Stimmung einen neuen, entgegengesetzten Gemeingrund
zu schafFen, entgegen allerBerechnung beherrschtwerden.
Trotz Freiheit Es darf somit zusammenfassend das Ergebnis der
esetze mog u ^wischenerorterung ausgesprochen werden: Bei Freiheit
des Willens ist aull)ere Gesetzmal^igkeit moglich, und
zwar auf Grund des Gesetzes der grolben Zahlen.
Mechanische Naturgesetze sind Wahrscheinlichkeitsver-
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hiiltnisse. Mechanische Gesetze mit absoluter, hundert-
prozentiger Giiltigkeit sind unmoglich, ebenso solche
mit unbegrenztem Giiltigkeitsgebiet. Die Giiltigkeit der
Gesetze ist um so grofier, je zahlreicher, gleichartiger
und im Verhaltnis zur Starke des Gemeingnindes in-
diiFerenter die Elemente des Betrachtungskomplexes
sich erweisen.
Uberblieken wir nun die Radikalien, die uns bei der Die drei Radi-
Betrachtung der Geist-auf-Geist-Wirkung entgegengetre-
ten sind, so erkennen wir im Doppelspiel des Ausdrucks
und Eindrucks das oberste Prinzip des Geschehens, die
Voraussetzung dafiir, dafi) liberhaupt Etwas moglich sei,
das Prinzip der objektiven Gegebenheit und der Be-
ziehung. Das Element des Willens bedeutet das Prinzip
des einseitig und einmalig Bestimmenden und Bestimm-
ten, des Ereignisses, der subjektiven Konsequenz. Die
Analogie mit unserer Erfahrung vom Harideln, von Selbst-
behauptung und Zweck stellt sich mit diesem Radikal
vorausahnend ein. Ein drittes Element, das uns noch
nicht beschaftigt hat und um so eingehender beschaf-
tigen soil, greift hiniiber von der Wirkung Geist auf
Geist zur Kombination Geist mit Geist. Wir woUen es
fur den Augenblick mit dem neutral mathematischen
Namen des Additionsfaktors belegen, im Hinblick dar- Additionsfaktor
auf, dafi) dieses Element iiber die Grundlage einer kiinf-
tigen Mechanik des Geistes entscheiden soil. Dal5 gleich-
sam ein Keim des Lebens, der Entwicklung und des
Transzendentalen in diesem Element gegeben ist, darf
vorschauend erwahnt werden.
Einer weiteren Auflosung des Geisteselements be-
diirfen wir fiir unseren Denkweg vorlaufig nicht. Damit
ist nicht gesagt, dal5 wir das Wesen des Geistes in seiner
93
■
dreifachen Modalitat als beschlossen zu erachten haben:
wir diirfen ihm vielmehr beliebig viele, ja unendliche
Qualitaten zusprechen. Indem ich ausdriicklich dieses
Recht betone, im Interesse widerspruchslosen Denkens
eine beschrankte und somit scheinbar einfachere Voraus-
setzung durch eine unbeschrankte und scheinbar kom-
plizierte Voraussetzung zu ersetzen, schulde ich eine
Anmerkung liber die hier vertretene Meinung vom plau-
siblen Denken iiberhaupt.
Anmerkung Geht man beim Denken von materieller Substanz aus,
len Denken ^^ ^^^ ^^^ ^^ Eigenschaften zuzusprechen. Eigenschaf-
Eigenschaft und ^q^ ^ber sind Beschrankungen. Te mehr Eigenschaft, je
mehr Beschrankung; und das Denken kommt niemals
liber den Widerspruch hinweg : warum gerade diese Be-
schrankung, warum keine andere? Warum Beschrankung,
Einseitigkeit, Spezialitat iiberhaupt? 1st schon Substanz
an sich nicht zu erklaren, so wachst die Unbegreiflich-
keit mit jeder Eigenschaft ins MaiI)lose. Geht man vom
Geist aus, der an sich ebenfalls unbegreiflich, indessen
wenigstens uns unmittelbar bewufit, und zwar als schop-
ferische Kraft bewufit ist, so sind ihm nicht Eigenschaften,
sondern Fahigkeiten zuzusprechen, und zwar produktive
Fahigkeiten. Diese aber sind nicht Beschrankungen, son-
dern Beschrankungsaufhebungen. Widerspruchsvoll ware
es hier, eine bemessene Zahl von Fahigkeiten anzuneh-
men; derBegrifF des Geistes runde tsich um so mehr zu
seinem eigenen Wesen, je unbeschranktere Fahigkeiten
wir ihm zuerkennen. Hierin liegt der grofiere Reichtum
und geringere Selbstwiderspruch idealistischer Betrach-
tung, dal5 sie mit der einmaligen Unbegreiflichkeit des
Geistes auskommt, die auch auf jeder anderen Anschau-
ung lastet; daH) sie nun aber die Freiheit gewinnt, Eigen-
94
schaften durch Fahigkeiten, Beschrankungen durch Mog-
lichkeiten zu ersetzen, und wahrend sie scheinbar ihr
Bild durch Mannigfaltigkeit kompliziert, in Wirklichkeit
es durch Auffiillung des Urbegriffs zu vereinfachen. So-
mit bedeutet das Verlangen nach unbegrenzter Erweite-
rung des GeistesbegrifFs nicht eine Willkiir, sondern eine
Notwendigkeit.
Unsere Beobachtung steht nun vor dem Moment derDie Integra-
Integration aller Geisteswirkung, der Integration, die
man als Weltschopfung bezeichnen kann. Es wurde in
der Wechselwirkung von Ausdruck und Eindruck die
Spaltung von Subjekt und Objekt erblickt; in diesem
i Augenblick wird es notig, das Phanomen der Wirkung
etwas naher zu betrachten.
Wirkt das Geisteselement A auf das Geisteselement Erscheinungs-
B, so wird allerdings B zum Subjekt einer Empfanglich-"'^^
keit, deren Objekt A ist. Indessen wird B keineswegs
befahigt sein, A in sich aufzunehmen; die ganze Vor-
aussetzung unserer inneren Erfahrung besagt, dal5 A
immer A und B immer B bleibt. Wohl aber ist B
durch A modifiziert; wenn man so sagen darf, be-
reichert, und in B selbst, nicht etwa sonstwo, ist das Re-
sultat dieser Bereicherung vorhanden. In Wahrheit ist
s somit B aktiv. B hat sich einen Zuwachs seines Inven-
tars geschafFen, und diesen Zuwachs nenne ich Erschei-
nungsobjekt. Man braucht hierbei im primitiven Zu-
stande des Geistesobjekts noch keineswegs an eine
objektivierte Vorstellung zu denken. Ein Beispiel aus
hochkomplizierter Geistigkeit, die sich im Stande der
Sinnesempfanglichkeit befindet, mag dies verdeutlichen.
Wenn ich „Grun" empfinde, so brauche ich zwar durch-
aus niciit soweit zu gehen, daI5 ich sage, „ich sehe etwas
95
Griines". Wohl aber muC) jch zugeben, dal5 die „Grun-
empfindung" bereits fiir mich Objekt ist; sie ist in star-
kerem Sinne Objekt, als wenn ich zu empfinden glaubte:
„mir ist griin zumute". Gehe ich jetzt einen Schritt
riickwarts zur Gefdhlssphare, etwa mit dem Ausspruch:
„mir ist beklommen, frostig, heiter oder tatig zumute",
so empfinde ich bereits das Beklommene, Frostige, Hei-
tere oder Tatige als Objekt. Und je weiter ich den In-
halt meines Inventars zerspalte, imnier wieder wird,
nicht etwa blolil) in der Betrachtung, sondern im unmittel-
baren Empfinden, jedes Element zum Objekt. Wollte
man aus dieser fortgesetzten Objektivierung folgern, dafi
schlieMch iiberhaupt kein Subjekt iibrig bliebe, so ware
dies erscheinungsmai^ig richtig; immerhin aber bleibt
dasjenige zuriick, was man als transzendente Moglichkeit
der Gesamterscheinung bezeichnen kann, die Moglich-
keit, dafi gerade hier, und nicht iiberall, gerade jetzt und
nicht immer, das Phanomen sich abspielt, und diese
Grundlage des Komplexes haben wir Geist genannt.
Der schajfende Der Geist schafFt somit das Erscheinungsobjekt. Und
zwar ist der affizierte Geist der SchafFende, er schafFt
unter dem Eindruck des affizierenden Geistes. Priift
man aber das GeschaiFene in seinem Verhaltnis zu den
schafFenden Elementen, so ergibt sich: es ist ein voU-
kommenes Gleichnis oder Symbol. Denn in dem Er-
scheinungsobjekt kann nichts Willkiirliches enthalten sein ;
jeder seiner Ziige ist bedingt durch die entsprechender
Modalitaten der schafFenden Elemente : so wie ein Spie-
gelbild nichts enthalten kann, als was durch das gespie-
gelte Objekt und die spiegelnde Flache bedingt ist, wah-
rend gleichzeitig jede optische Eigenheit dieser beider
Komponenten im Bilde adaquaten Ausdruck finden mu6
96
4
Das Wort: „alles Vergangliche isc nur ein Gleichnis**
erweist sich im wortlichen Sinne wahr.
Wie Geist dazu kommt, zu schafFen, oder vielmehr,
da Schaifen Geistes Wesen ist, wie Geist iiberhaupt mog-
lich ist, bleibt in unserem Stande der Erkenntnis unauf-
losbares Geheimnis. Aber den Zweifel dieses Geheim-
nisses teilt unsere Betrachtungsweise mit jeder anderen:
die Tatsache, dafi) ich fiihlend, vorstellend, denkend bin,
lost sich in keinem libergeordneten BegrifF; und loste sie
sich, so kame einmal der BegrifF, der sich nicht mehr loste
und Ratsel bliebe. Das letzte Geheimnis aber ist, wie
wir bemerkten, in dieser Form am wenigsten qualend,
denn jede andere Existenz als die des Geistes schlieI5t
die Willkiir beschrankender Eigenschaften in sich, wah-
rend der Geist, an sich iiberhaupt nicht wegdenkbar, in
sich jede Moglichkeit des Seins enthalt.
Spaltet man von dem BegrifF der Gottheit alle dimen-
iionalen, anthropomorphen, sozialen, zweckhaften und
>entimentalen Eigenschaften ab, so wird dieser BegrifF
dch dem des Geistes immer mehr nahern. Dafi) er nicht
/ollig mit ihm zusammentrifFt, vielmehr eine bestimmte
3etrachtungsseite des Geistes enthalt, aus der sich Fol-
Terungen von entschiedener Realitat ergeben, wird dar-
'.utun sein. Aber auch diese Anniiherung fiihrt zum be-
•uhigten Anbljck der letzten Unaufloslichkeit.
Ein Einwand hinsichtlich des GeistesschafFens ist zw Einwand der
irwagen. Wenn Element auf Element wirkt, also Glei-^^^^'^"'^-'''''^'
:hes auf Gleiches: wie ist eine unbegrenzte qualitative
\ Vlannigfaltigkeit der Wirkung neben der bereits erorter-
en Mannigfaltigkeit der Beziehung denkbar? Wollen
nr, um die Voraussetzungen nicht zu komplizieren, den
JegrifF von „Gleich und Gleich" gelten lassen, so reichen
97
schon die librigen Pramissen zur Beantwortung der Frag^
aus. Wir wissen von der Kombinationsfahigkeit dej
Geistes. Kombinierte Elemente in jedem Stadium de
Aufbaus werden anders wirken miissen als relativ eir
fache, und anders betroffen werden. Wirkungen werdej
ferner, wie die erwahnte Erorterung derBeziehungzeigt<
nicht die Totalitat, sondern einen begrenzten Umkre:
betrefFen. Wir stehen daher vor unabsehbaren Abwanc
lungen und Variationen in zweifacher Dimension, un
erblicken wiederum das Koordinatensystem der Qualiti
und Intensitat, das nunmehr in deutlicherer Begriindun
uns entgegentritt.
GesetzderEr- Gleichzeitig ergibt sich ein Axiom von weiter Be
deutung. Da das Erscheinungsobjekt ganz eigentlich voi
betroiFenen Geiste geschaifen wird, so kann es nicl
mehr enthalten, als dieser betrofFene Geist enthalt. li
daher der wirkende Geist von hoherem KombinationJ
grade als der affizierte, so wird die Wirkung ihm mi
in dem Mal5e adaquat sein, als das einfachere Elemeii
und seine Aufnahmefahigkeit es 2ulall>t. Mit anderdl
Worten: das einfachere Element wird das hohere mi
bis zu dem Punkt seiner eigenen Ordnung begreifenf
dariiber hinaus wird es ihm unbegreiflich, ja selbst ui|
erkennbar bleiben.
Das Integral Das Integral der Wirkung Geist auf Geist besteh
und Symbol somit in einer Ordnung, und zwar einer Ordnung, derej
Elemente man als Gleichnisse bezeichnen darf ; wie deiE
auch die Ordnung selbst in hoherem Sinne als Gleichnij
Gleichnisse vom erscheint. Ein sinnliches Bild grober Annaherung konntil
in einem Orchester gefunden werden, das fiir sich selbs
musiziert. Der Sinn des Musizierens ist nicht periodisch
Luftverdichtung, sondern eine Ordnung von Klangeij
98. 1
in welcher jedes Instrumentes Ausdnick jedem Ohre zu-
ceil wird. Der Inhalt der Symphonie liegt nicht in der
verdichteten Luft, nicht in Trompeten und Geigen und
nicht in Ohrmuscheln und Trommelfellen; er wird im
Bewuli5tsein jedes Spielers und Horers nach seiner Art
und nach seinem Verstandnis aufgebaut und ist in jedem
Bewulitsein verschieden. Dennoch besteht eine Identitat
des Gesamtwerkes, die sich etwa darin zu erkennen gibt,
daI5 jeder die Gesamtwirkung der Haydnschen Symphonie
von der der Beethovenschen vollkommen unterscheidet.
Besonders deutlich ist in Anwendung dieses Gleich-
nisses zu betonen, dalb das Symbol „Konzertstuck"
weder mit dem Subjekt noch mit dem Objekt der Wir-
kung — Horer und Spieler — identisch ist. Dies scheint
vollig selbstverstandlich, und dennoch konnte der Irr-
tum versuchen, etwa in der Erscheinungswelt ein Atom
beliebiger Ordnung mit einem Geisteselement beliebiger
Ordnung gleichzusetzen. Nach unserer Betrachtungs-
weise ware vielmehr das Atom beliebiger Ordnung Er-
scheinungsobjekt und gleichzeitig Symbol eines Geistes-
elementes; in ihm selbst und in anderen enthalten. Der
raum- und zeitlose Geist spiegelt seine Welt, indem er
sich selbst durchdringt.
Indem nun hier nochmals die Raum- und Zeitlosig- Methodhchn
keit des Geistes bekraftigt wird, gilt es, einen Wider-
ispruch dieser Darstellung ans Licht zu riicken und un-
schadlich zu machen. Wenn die Teilbarkeit des Geistes
m Elemente verlangt wurde, so konnte in der Folgerung
einer, wenn auch unbegrenzten Zahl, und in der An-
tiahme einer abgegrenzten Unterteilung, das Herein-
dehen zeitlich-raumlicher Vorstellungen geriigt werden.
Mit demselben vollen Recht aber kann man die Ver-
99
wendung der Sprache bei jeder geistigen Darstellung al
unzulassig erklaren. Denn jedes Wort der Sprache setz
den gesamten Denkinhalt schon voraus, und all unse
Denken, das nun einmal raiumlich-zeitlich orientier
ist, bedeutet eine hochst unvollkommene und ein
seitige Sprache des Absoluten. Stillschweigende Voraus
setzung alles Sprechens und Denkens ist nicht nur di
innere Konsequenz und Verstandlichkeit der Sprache un<
des Gedankens, sondern auch ihre Adaquatheit, das iheifi
ihre symbolische Eignung, den Kontrasten des Objekte
Ausdruck zu geben. Hier liegt die grundsatzliche Schwa
che alles Denkens, auch des kritischen; denn auch diese
mul5 mit gegebenenBegrifFen auskommen, ohne zu fragen
woher sie gegeben sind. Somit wird uns bei der Betrach
tung letzter Dinge stets widerfahren, was bei der Betrach
tung einer klar spiegelnden Flache geschieht: wir konnei
nicht hindern, dafi unser eigenes Spiegelbild die Harmoni
der gleichformigen Einheit stort. Wohl aber diirfen wi
schliefien, dal5 in dem spiegelnden Phanomen etwas vox
handen ist, das jeder anderen gespiegelten Eigenart eben
sogut gerecht wird wie der unseren. Und im Hinblick au
den erwahnten Widerspruch bleibt uns die Beruhigung
dafi nicht nuf unser Denken das eirizige uns yerliehen-
ist, innerhalb dessen es auf die Einheitlichkeit des Bilde
ankommt, sondern dal5 unser Denken, soweit es libei
haupt denkens wert ist, jenseits der Vorstellbarkeit Kor
relate verlangt, die seinen Kontrasten gerecht werden
und die der inneren Gewifiheit intuitiv vor Augen stehen
Deutung des Des Nachweises, dafi das Integral der geistigen Wir
^^^^^ kungen mit der Erscheinungswelt identisch ist, bedar
es nicht mehr. Denn abgesehen davon, daiS wir als Geis
am Wirkungsintegral beteiligt sein miissen und tatsacb
loo
ich an der Erscheinung bewuGt in hohem Mafee betei-k^t
jind; dalL es somit eine miili^ige Annahme ware, die
Iritte Welt zu supponieren: es ist eine erkenntnismalLige
deziprozitat der beiden Systeme evident. Denn jede
■heoretische Betrachtung der Erscheinung fiihrt uns zu
mmer weitergehender Teilung der Substanz und zu
mmer neuen Kampfesebenen der Wirkung von Element
Luf Element. Schon heute ist das physikalische Atom
ms eine astronomisch ziemlich bekannte Welt, und
ciinftige Beobachtungen konnen uns notigen, das Elektron
n Weltkdrper aufzuldsen. Die Erscheinungswelt ist
ms daher unter den gleichen Prinzipien begreiflich wie
lie Geisteswelt: der Teilung, der Elementarwirkung
md der Kombination. Fast mochte man weitergehen
md vermuten, so wie das registrierende Denken sich
les Zweisystems der Polaritat bedient, so sei dem
)raktischen Denken nur die Moglichkeit dieses Drei-
ystems beschieden, und so musse sich dieses in jeder
Jetrachtung spiegeln. Aber hiermit ware nur ein kriti-
istisches Prinzip gewonnen, wahrend es uns darum zu
un sein mul5, nicht beim Studium des Werkzeugs zu
rerharren, sondern vielmehr auf intuitivem Wege ein
[Verkstiick zu finden, das mit den gegebenen Mitteln
inwandfrei bearbeitet werden kann.
Wir sind mit unserem Ich an der Erscheinungswelt Einfuhmng
•eteiligt. Richten wir somit den Blick auf die Erschei- ^^^g
iimg, so finden wir uns selbst umbrandet, in Wechsel-
/irkung gezogen, auf gleicher Ebene mit ihr uns be-
/egend. Wir erkennen somit unser eigenes Symbol in
inem Erscheinungsich, das handelnd und leidend, von
ms selbst und von der Welt vorgestellt, in das Phanomen
er Erscheinung verwoben ist. Daft dieses Erscheinungs-
P
m^- I o I
V- • */ ** .'* ' ich;i?icltt 4^s..\Vesen unseres Daseins ausmacht, erkennen
wir in alien tiefen Augenblicken unseres Lebens. Dann
fiihlen wir, daI5 jedes zerreil^ende Verhaltnis zur Er-:
scheinung uns entlastet, unsSelbst uns wiedergibt; nichts
ist durch diese Entlastung uns genommen, vieles ge^
geben, und nur zogernd und halb abgewandt kehren wii
zum pflichrgemaI5en Anteil am Erscheinungswerk zuriickj
Gieicbnis vom So bedenklicH und haufig irrefuhrend es ist, in sinn-
lichen Bildern geistige Beziehungen abzuwandeln, so seij
um das Verhaltnis Geist zu Erscheinung, Ich zu Erschei-t
nungsich fal51ich zu erlautern, ein weiterer Versuch g&
wagt. Beim blinden Schachspiel hat der Spieler Brett
und Figuren nicht vor Augen; er mufi sie durch Vor^
stellungskraft sich gegenwartig halten. Angenommen
\ nun, das Spiel, das zweiunddreiI5ig Figuren enthalt
konnte statt von zwei Spielern von zweiunddreiI5ig ge^
spielt werden, von denen jeder fiir seine Figur verant^
wortlich ist, ja selbst sich ganz in die Rolle dieser Figui
hineindenkt, so dafi er sich eigentlich als Laufer, Springei
oder Konig fiihlt. Das Spiel beginnt und jeder Spieler
erblickt sich selbst und alle librigen auf dem unsicht^
baren, nicht existierenden Brett; es ist genau dasselbej'
als ob die Symbole sich wechselseitig in Kampf und
Verbiindung erblickten. Sie verstandigen sich durcli
ihre Position, marschieren und schlagen, wahrend di^
Realitat der Spieler zwar nicht unbeteiligt, doch unbe-j
wegt bleibt. i
Mechanische Es ist nicht die Aufgabe, eine umfassende Ableitung del
Ertclieinungs-^^^^^^^^^^S^P^^^^^pi^^? insbesondere der mechanischeni
vorgangs durch Ausdeutung der Geistesprinzipien hier zu verf
suchen. Da aber die Konstituierung der Erscheinungs-
welt ohne summarische Begriindung ihrer mechanischerjjj
Liauptelemente noch nianchen Zweifel ermoglicht, so
;ei die Ausdehnung der Untersuchung auf die Prinzipien
ier Lage, der Bewegung, der Masse und des Organischen
restattet. Einer weiteren Spezialisierung wird es nicht
)edurfen, da jede theoretische Naturbeschreibung letzten
indes mit diesen Elementen auskommt, wenn namlich
rorausgesetzt wird, dal5 alle Form in Elementenlage,
die Kraft in Bewegung und alle physische und chemische
^ualitat und Energie in Masse und Bewegung aufgelost
verden kann.
Betrachtet man ein System beliebig gelagerter, beliebig Lage
;ahlreicher Punkte, so ist ihre relative Lage bestimmt
lurch das System samtlicher moglichen Verbindungs-
inien, das heifit samtlicher moglichen Entfernungen.
^un wissen wir, dall) bei gegebenen Elementen die Wir-
:ungsintensitat eine Funktion der Entfernung, somit auch
lie Entfernung eIne Funktion der Wirkungsintensitat
ledeutet. Intensitat aber haben wir als eines der Radi-
alien der Geisteswirkung registriert. Wir diirfen daher
as System der Entfernungen, mit anderen Worten das
ystem der Lage als das Erscheinungssymbol des Radi-
;als Intensitat ansprechen, wie wir ja bereits auf den
: 'usammenhang des IntensitatsbegrifFs mit dem Raum-
egriiF hingewiesen haben.
Im Willensradikal wurde das Moment der Auswahl Be^wegung
rkannt, das aus der Gleichformigkeit ruhender Symme-
den das Einmalige, Einseitige, Determinierte loslost und
loglich macht. D^n gleichen Sinn tragt in der mecha-
■ ischen Welt das Prinzip der Bewegung. Sie andert
ie Lage, somit eine unendliche Zahl von relativen Ent-
ernungen und Wirkungsmafien. Sie verkleinert die
Virkung auf die verlassene Gegend und verstarkt die
I
103
1
Wirkung auf die erstrebce, sie wahlt bestandig neue
Wirkungshorizonte. Die Geradlinigkeit und die Unab-
lassigkeit der Bewegung sind, wie in allgemeiner Form
dargetan wurde, Spezialfalle des Gesetzes grower Zahlen,!
Wahrscheinlichkeits- und Durchschnittsergebnisse. Die
Bewegung ist das Erscheinungssymbol des Willensradi-
kals, sie ist, bildlich gesprochen, sichtbar gewordenei
Wille.
Masse Wir haben gesehen, daI5 im Radikal der Qualitat dasf
Zeitelement enthalten ist; somit auch das lediglich
dutch Zeitempfindung erkennbare und mefibare Prinzip
der Zahl. Die mechanische Naturbetrachtung sieht mil-
Recht in jeder unteilbaren Substanzmenge ein Unbe-
greifliches, sie findet die Aufgabe, sie aufzulosen w
Zahlenmengen von Elementen, und nach Bedarf und
Orientierung die Zahlenteilung der Elemente in belie-
bigen Ordnungen fortzusetzen. Lost sich somit alle
Masse in Zahl auf, also in Zeitmafi), so wird die Be-"
ziehung deutlich, welche zwischen dem Qualitatsradikal
und seiner Erscheinungsform, der Masse, besteht. Ej
darf daran erinnert werden, dafi alle mechanischen Er-
regungen unserer Sinnesqualitaten durch Massen ge-
geben sind, deren Bewegungsform in Periodizitat bestehti
Aufi)eres Korrelat unserer Empfindungsqualitaten ist so-
mit in zweifachem Sinne die Zahl, gleichviel ob es sich
um Schwingungen der Ladung, der Dichte oder der
Molekiile handelt.
Leben Noch immer konnen wir von dem vierten Radikal, ^
dem Additionsfaktor, dem ein Teil der spateren Dar-
legung gewidmet sein soil, nicht ausfiihrlicher sprechenj
Aus der Erorterung aber wird hervorgehen, dail> dieses
Geisteselement, in die Erscheinungswelt projiziert, das
104
II
Urprinzip dessen darstellt, was wir als organisierte und
lebende Natur ansprechen. Das Erscheinungssymbol des
Additions faktors ist das Leben.
Bevor wir den Versuch dieses Auf baus der Erschei- Botschaften
nungswelt beschlieI5en, darf auf eine fliichtig gestreifte
Frage zuriickgegrifFen werden, deren letzter Wider-
spruch sich nun auflost. Von der Erscheinungsseite
stellen alle Wirkungen, die uns trefFen, sich als Fern-
wirkungen dar. Wir empfangen keine unmittelbaren
Eindriicke von Objekten, sondern Ein wirkungen von
afhzierten Medien. Und diese Medien wiederum wirken
auf die Medien unseres Leibes, bevor die Zentren der
Empfindung beriihrt werden. Geschieht hierdurch der
Urspriinglichkeit des Wirkungsphiinomens ein Abbruch?
Priifen wir vom Stande der Erscheinung aus ein ein-
j^ches Beispiel: die Sonne bestrahlt ein menschliches
Auge, wobei wir, in bildlicher Annaherung, der Sonne
eine individualahnliche Einheit beimessen. Als wesent-
liche Ausdruckserscheinung sprechen wir die Strahlung
an: die benachbarte Kugelschale des Lichtmediums wird
in Schwingung versetzt; eine Unmittelbarkeit der Wir-
kung ist vorhanden. In rapidem Fortschreiten unmittel-
barer Wirkungen wird diejenige Schale erreicht, in deren
Bereich die Netzhaut sich befindet. Es ist irrelevant,
zu erwagen, dal5 eine physische Gegenwirkung durch
Spiegelung der Hornhaut, der Linse und anderer orga-
nischer Medien geschieht, dall> niedrigere Temperatur-
strahlungen zur Sonne zuriickgetragen werden, die beim
Vorhandensein liberaus grower, immerhin endlicher Emp-
findlichkeit wahrgenommen werden konnten. Bedeu-
tungsvoll aber ist, dal5 dem Trager der Netzhaut als
bewu&rem Wesen die quantitative und qualitative Ge-
I
I of
setzmaloigkeit des Reizes in ahnlicher Weise zum erlebten
Eindruck wird, wie dieWiederholungeinesMorsezelchens
auch den der Telegraphic Unkundigen zur beliebigen
Verarbeitung der Wahrnehmung zwingt. Die unmittel-
bare Wirkung des Mediums wird zur mittelbaren Wir-
kung einer Botschaft. Auf dem System der Botschaften
beruht der Bereich unserer Wahrnehmungen; die Sym-
bolik der bewul5ten Botschaft steigert sich im Stande
hoherer Geistigkeit zum Laut, zur Gebarde, zur Sprache, i
zur Schrift, zum Monument. Und wenn auch jede denk-
bare Wirkung sich schliel^lich dem Reihenprinzip zufolge j
in eine belieb'ge Reihe von botschaftlichen Zwischen-1
wirkungen auf losen lalLt, so bleibt doch als Element das
Prinzip der unmittelbaren Wirkung bestehen. Zu ihm
verhalten sich die durchschrittenen Medien als Samm-
lungsfaktoren, in ahnlichem Sinne, wie von einer Linse
ein divergierendes Strahlenbiindel aufgefangen und zen-
triert wird.
Strahlphano- Einen letzten, entscheidenden Zug dem Gesamtbild
der Erscheinungswelt einzufiigen miissen wir uns vor-|
behalten. Es wird sich um einen Faktor handeln, derj
fRvenn der Vergleich erlaubt ist, das ganze System ver-
fliissigt und in stromende Bewegung setzt, der ihm ge-i
wissermaf5en den letzten substantiellen und atomistischenj
Anschein entzieht, indem er alles Beharrende ausschaltet^
und das Geschehen an die im Wechsel gleichbleibendenj
Tendenzen bindet. Dieses Prinzip, das den Namen Strahl-
phanomen fiihren soil, wird im spateren Zusammenhang
zu erortern und anzuwenden sein.
System der Fiir den Zeitpunkt geniigt es, die Ordnung deSf
^ Erscheinungswesens, so wie sie sich uns darstellt, al$t'
System vollkommener Symbole zu iiberblicken. Wii|
io6
begehrten das Recht, in Grenzfragen, welche die Er-
scheinung umrahmen, von den Phanomenen des Inhalts
Gebrauch zu machen, ohne Bild und Spiegel zu verwech-
seln. Nun diirfen wir uns der Erscheinungssymbole be-
dienen, zwar in dem Bewufitsein, dafi es Bilder sind,
aber auch mit der Gewii5heit, daH) sie abbilden. Wir
erlangen die Doppelrichtung des Weges — , des auf-
steigenden, der durch die Gewifiheit des gefiihltenLebens,
und des absteigenden, der durch die Erfahrung des er-
schauten Bildes fuhrt.
Die Betrachtung der vereinbarten Erseheinungswelt Drei Welten
notigt uns, drei der Beobachrung unmittelbar benach-
barte Hauptgebiete der Schopfung herauszugreifen und
zu durchforschen: die voratomistische Welt, die ato-
mistische Welt und die organische Welt. Die erste um-
fafi)t alle Substanz mit Ausnahme der an physikalische
Atome gebundenen, die zweite umfafit alle an physika-
lische Atome gebundene Substanz mit Ausnahme der
organisierten, die dritte umfafit alle organisierte Sub-
stanz. Man darf in kurzer Rede diese drei Weltgebiete,
die sich wechselweise durchdringen, als Atherwelt,
Korperwelt und Lebenswelt bezeichnen. Ob wir fiir
das konstituierende Prinzip der drei Gebiete den Namen
Substanz, Materie oder Energie gebrauchen, bleibt fiir
I die Erwagung belanglos, da wir aus dem Wesen des
I konstituierenden Elements keine Folgerungen ziehen
und lediglich in der Erinnerung behalten, dal5 es sich
im Sinne des bisher Dargelegten um Symbole des teil-
baren und kombinierbaren Geistes handelt.
Ohne Bedeutung bleibt auch ein gewisses Mafi der
Willkiir, das bis auf weiteres in der Teilung selbst ge-
! geben scheint. Der Sinn der Dreiteilung, die wir im
107
Verlauf rechtfertigen werden, bestehtzunachstdarin, zwei
Ruhepunkte in der unendlichen Serie zu schaffen, die vom
primitivsten zum reifsten Erscheinungsgebiet iiberleitet.
Die Erschei-Die Reihe selbst tritt uns entgegen als eine Folge
jjej. K:ouiplj_ wachsender Komplikation, insofern wir jede Stufe durch
kation geeignete Teilung oder Zerstorung in die voraufgehende
iiberfiihrbar finden. Ein weiteres Zeichen zunehmender
Komplikation erblicken wir in der wachsenden Leichtig-
^bbau der Eie- keit der Zerstorung. Ein hoch organisiertes animalisches
Gebilde ist durch geringe Temperaturschwankung ver-
nichtet; ein chemisches Molekiil zerreisst bei energischem
AngrifF durch Elektrizitat oderWarme ; dieZertriimmerung
eines physikalischen Atoms konnen wir mit den Mitteln
der Wissenschaft seit kurzem erfassen; der Spaltbarkeit
des Atherteils bediirfen wir noch nicht als Hypothese.
Aufbau der Eie- Unsere Fahigkeit, in aufsteigender Reihe Kombinationen
herbeizufiihren, beschrankt sich auf gewisse Falle, die
man als Veranstaltung zahlenmaiLiger Gelegenheiten be-
zeichnen konnte. Wollen wir eine chemische Verbin-
dung erzwingen, so lall>t die Erfahrung es als erforder-
lich und ausreichend erscheinen, dafi einige Billionen
reaktionsfahiger Molekiile in geniigender Konzentratiou
der Gegenpartei durch Mischung genahert werden; das
Gesetz der grolI)en Zahlen fiigt es, dail> am Schlusse der
Reaktioneine liberwaltigendeMajoritatvonKombinations-
paaren sich gefunden hat. Der grundsatzlich gleiche
Vorgang ist es, wenn wir Saatgut dem Felde anvertrauen,
Truppen verpflegen, Zuchttiere paaren: wir schafFen
2ahlenmafi>ige Gelegenheit zur Entstehung von Getreide-j
halmen, menschlichen Muskeln, animalischenEmbryonenJ
Auf die Vorgange selbst bleibt unser Wollen und Ha^
deln ohne Einflufi). Am machtlosesten aber stehen
lo8
denjenigen beiden Grenzerscheinungen gegeniiber, die
wir als Trennungspfeiler dreier Naturreiche glaubten
hervorheben zu diirfen: noch niemals hat ein Mensch Urzeugung
der Urzeugung eines Atoms aus Atherteilen, einer Zelle
aus Molekiilen beigewohnt oder Vorschub geleistet.
Die Spontaneitat, das Willenhafte und Eigenwillige der
Kombinationsvorgainge leuchtet an diesen Wendepunkten
hervor; wir empfinden, noch ohne nahere Kenntnis vom
Additionsvorgang, das gleiche erschiitternde Ereignis des
Schopfungs will ens in beiden, durch eine Welt getrennten
Phanomenen, von denen das eine die Schopfung eines
Sonnensystems, der andere die Schopfung einer Lebens-
gemeinschaft im Kleinen wiederholt.
1st nun die Schopfungsserie der Symbole eine Serie Die Geistes-
wachsender Kombiniertheit, so konnen wir die Serie des Komplikation
schafFenden Geistes nicht anders als gleichermajBen eine
Serie wachsender Kombiniertheit denken.
Die Kombinationsstufe , auf der wir leben, ist die
organische Welt, die Welt der Zelle. Im Bilde der Er-
scheinung sind wir millionenfach bevolkerte Zellenstaaten
und unterscheiden uns, aufsteigend von der Alge bis
zum Tiefseeforscher, nach Zahl und Rasse unserer
inneren Staatsangehorigen. Unser BewuI5tsein ist das
Staats- und Gemeinschaftsbewul5tsein dieser gewaltigen
Symbiose oder doch ihres wesentlichen Teiles; es ist
geistige Summe, Resultat eines Additionsprozesses, den
wir kennen woUen.
Aber auch die Summanden sind nicht einfache Wesen. ^i^bau der Le^
Vielleicht in zarterem Aggregat als dem unseres Werk- ^"^^ ^^"^^
stofFes bergen sie Organisationen hochster beweglicher
Vollkommenheit, und erweisen auch sie wiederum sich
als Resultanten relativ einfacherer Geistessymbole.
109
Niemals vielleicht werden wir erfahren, wie oft ^
diese organischen Gebilde, von Klasse 2u Klasse niecj
steigend, unterteilen miissen, um zu denjenigen mn^
heiten zu gelangen, die wir als hoch konstituierte chemischi
Molekiile bezeichnen, indem wir ihnen nicht mehr dei
Namen des organisierten, sondern des organischen StoiFe
zubilligen. Jetzt erst befinden wir uns im Gebiet de
• chemischen Reaktion, das heif5t in dem Erscheinungs
gebiet, wo es uns gelingt, dutch die Massenwirkung diese
Namens, also mit Hilfe des Gesetzes grower Zahlen
den Aufbau der Substanz zu bewirken, so wie es un
gelingen kann, durch Umschiitteln ein Schock Hakei
und Osen einigermaJSen ineinander zu fugen; wahrenc
es niemals gelingen wird, durch Schiitteln einen Woll
faden in einen Stricks trump f zu verwandeln.
Lebensstim- An diese bezeichnende Stelle haben wir den Grenz
ganischen pfeiler zwischen Atomwelt und organischer Welt gesetzt
^^^^ in der Vorausahnung, dal5 es mechanischen Mitteln ni(
gelingen wird, Organisches in Organisiertes zu verwan
deln und somit Urzeugung zu begehen : es sei denn, dal
jemand vermochte, organische Molekeln einzeln einzu
fangen und anzuschirren. Von der chemischen Wei
zur Welt der Zelle herrscht das organische Geistesleben
das uns im Reiche der Pflanzen, der Tiere und Menschei
scheinbar so verschiedengestaltig entgegentritt, und da
dennoch im innersten Wesen das gleiche bleibt: da
Leben der Selbsterhaltung und Arterhaltung, das Leber
der Reizwirkung, der Lustpramie und Schmerzstrafe
des Wettkampfes, der Artveredlung, der Zwecke unc
des dunklen Vordrangs. Vom Tropismus der Pflanzen-
blatter bis zu den Abstraktionen des Gesetzgrebers unter
scheidet sich dies Leben nur quantitativ durch die In-
I lo
tensitat der Empfindung und Vorstellungskraft; die
Gattung des Erlebens andert sich nicht. Dafi jenseits
dieses vegetativ-begehrlichen Lebens das Reich der Seele
beginnt, haben wir in anderem Zusammenhang erkanntj
vermessener erscheint es, vom voraufgehenden primi-
tiveren Zustand, von demjenigen geistigen Leben, das
dem Symbol des chemischen Molekiils oder Atoms ent-
spricht, ein Bild zu beanspruchen.
Vielleicht konnte man dieser Aufgabe sich nahern, Lebensstim-
wenn man beachtet, dafi auf dem Grunde unseres Ich, organischen
wenn alles Geschehen und Erleben, alle Anderung und^^^^
Differenzierung abgezogen wird, noch etwasSubstantielles
liegen bleibt, das dem Erlebnis erst Korper und Greif-
barkeit verleiht. Es lebt in unserer Tiefe etwas Wesen-
and Halt-Gebendes, das sich in unserer Empfindung
wiederholt und verstarkt, wenn wir uns in das ereignislos
Existierende, leblos genannte einzuleben versuchen.
Manches liefie sich dafiir anfuhren, dafi) dieser Faktor
len bewegungslosen Geistesstand der Atomwelt aus-
Iriickt; und da man seine Qualitat sprachlich kaum
liiFerenzierter bezeichnen kann, als durch den BegrifF
ler substantiellen Existenz, so ergibt sich eine seltsame
irweckung des spinozistischen Ursatzes. Ausdehnung
md Denken, diese hochst disparaten Attribute der Sub-
tanz, riicken einander naher, indem (erscheinungsmali5ig
>etrachtet) der Stand des substantiellen Vorhandenseins
line Vorstufe der geistigen Regung bedeutet.
Dringen wir nun riickwarts, liber das Atom hinaus-
Teifend, zu weiteren Auflosungen vor, so haben wir
en zweiten unserer Grenzpfeiler, den der Atherwelt,
uriickzulassen. Das Atom enthiillt sich als ein Korper-
ystem hinlanglich kleiner, doch keineswegs unendlich
III
kleiner Ordnung, in welchem wir kaum etwas anderes
als ein Diminutiv unserer Weltkorpersysteme erbllcken
konnen. Hier jedoch versagt nicht sowohl unsere Vor-
stellung, wie unser Bediirfnis nach Vorstellung und Hypo-
these, und es geniigt uns die Erwagung, dal5 in der
Stammtafel der Geistesaddition ein neues Blatt zu be-
ginnen ware.
Summieruiig 2^e^gt somit das ganze, unserem Denken und Vor-
es eistes g^.g||gj^ nachstliegende Mittelgebiet der Erscheinungsserie
uns das Phanomen der Summierung und der Resultante
des Geistes, so konnen wir sagen, dal5 nirgends in der
Schopfung einfacher Geist uns entgegentritt, und dafi:
wir weder Veranlassung noch Berechtigung haben, ein
leiztes, absolut unteilbares Geisteselement anzunehmen
oder zu fordern. Aller Geist, der uns begegnet, aufuns
wirkt, von uns leidet oder von uns vorausgesetzt wird,
Kollektivgeistist kombinierter Geist, Kollektivgeist, geistiges Massen-
phanomen. Haben wir dieses entscheidende Prinzip er^
kannt, so muI5 es uns gelingen, die Grunderscheinungen
der Geisteskombination, vielleicht selbst gewisse Funda-
mente einer Geistesmechanik gleichsam im Laborato-
Moglichkeit riumsexperiment zu studieren, wenn wir diejenigen Kol-i
^^j^g "^£^" lektivgeister, sei es animalischer, sei es menschlichei
schung Zusammensetzung, betrachten, die uns in ihrem Aufbau
von innen zuganglich sind,
Hiiten wir uns vor spielerischer Verallgemeinerung
nebensachlicher und zufalliger Erscheinungen — und diej
wird gelingen, wenn wir das Gewissen der Wesentlich-
keit, den einzigen Ratgeber in alien Sorgen des Denkens
nicht betauben — , so durfen wir uns auf die Reihen-
haftigkeit unseres Denkens stiitzen, die, projiziert, al.*
Reihenhaftigkeit der Erscheinung zu uns zuriickkehrt
III
und die es gleichzeitig verlangt und rechtfertigt, aus
echten Analogien Erklarungen, Anregungen und Gleich-
nisse zu schopfen. In der Untersuchung kollektiven
Geistes werden wir vielleicht dereinst die wahre Schule
aller transzendenten Experimentation erblicken.
Wesentlich unterscheidet sich diese Aufgabe vonTranszen-
denjenigen bekannter Disziplinen: denn es handelt sich jj^g^-^jioQ
iweder um die psychologische Beschreibung von Arten,
fioch um Wechselwirkung, noch um gemeinsame Pro-
duktion dieser Arten: es handelt sich um nichts weniger
als um die Verschmelzung der Menge zum Kollektiv-
geschopf; nicht um die Summe der einzelnen Bewufi)t-
seinspotenzen, sondern um die Einheitspotenz des Ge-
samtbewuJ&tseins. Um ein Beispiel des taglichen Lebens
m gebrauchen: es handelt sich nicht um die Geschafte,
Lebensschicksale und Gepflogenheiten der Summe der
5ozien, sondern um das geistige Leben und Schicksal der
HIandelssozietat, falls diese mit einem wahrhaft leben-
len, denkenden und fuhlenden Gesamtorganismus ver-
jlichen werden diirfte.
Freilich herrschen in der grofi)en Zahl der Kollektiv- Summierungs-
^eister bedeutende Verschiedenheiten des inneren Zu-
sammenhanges und somit der Festigkeit des Individual-
/erbandes. Je nachdem die Summe der Intellekte oder
ier Intellekt der Summe das hervortretende Phanomen
larstellt, bilden sich Pluralitaten, Scharen, Horden, Ge-
neinschaften, Organismen, Gesamtindividuen. Es hat
ndessen den Anschein, als ob die Festigkeit der Indi-
ddualitatsbindung sich im Wesen des Kollektivorganis-
nus insofern ausdriickt, als die lockerer aufgebauten
ndividuen, bei denen das Verbandselement groC)ere Ver-
.ntwortlichkeit und Selbstandigkeit behalt, zu gesteiger-
113
ter passiver Lebensziihlgkeit neigen, wahrend die engster
Verbande, die das Teilleben mit Entschiedenheit deir
Einheitswillen unterwerfen, erhohte Aktivitat, Initiative
und Bewegungsfreiheit aufwelsen.
Summierufig des Auf den crsten Blick mag das Auge, das auf die
raumlkh Ge- _ _ • i • i r-i
trennten Masseneinheit der greirbaren Individuen eingestellt ist
sich scheuen, geistige Einheiten dort wahrzunehmen, wc
leibliche Beriihrung der Korperelemente nicht stattfindet
Das Auge tauscht sich. Eine leibliche Beriihrung unc
liickenlose Anlagerung von Korperteilen, Zellen, Mole
keln, Atomen, Atherteilen findet nirgends in der Wei
statt. Konnten wir das massivste Metall ausreichend ver
grofiern, so wiirde es uns als ein System frei im Raun
verstreuter Korner erscheinen; und konnten wir wieder
um diese Korner vergroII)ern, so enthiillten sie sich aber
mals als viel leerer Raum und wenig Atherstaub. Au:
so luftigen Bildungen setzt sich der luftigere Schaun
unserer Zellen zusammen; die kleinsten Massenteih
unseres Gehirnes schweben in Abstanden, die ein Viel
faches ihrer Durchmesser sind; und in einer Welt, ii
der die Sachen sich, wie der Dichter sagt, hart im Raum(
stofien, beriihrt sich tatsachlich nichts. In den Handei
des Polyphem rundet sich eine Schafherde oder ein(
SchifFsmannschaft zum korperfesten Gebilde, wahrend ii
imseren Augen diese Ansammlungen ohne starren Zu
sammenhang bestehen, und nur durch innere Krafte ii
sich gebunden, eine beliebige Beweglichkeit, ja vollkom
mene Loslosung ihren Teilen gestatten. gH
Ist der Einwand vom scheinbar starren, geschlossenei
und luckenlosen Aufbau der Individuen einmal beseitigt
so kann die Frage iiberhaupt nicht mehr erhoben werden
ob es gestattet sei oder nicht, Kollektiv gebilde
114
Ameisenhaufen, Bienensctiwarme, GrofistSdte, Volksver-
sammlungen als geistige Einhelten anzusprechen ; mit
hoherem Recht diirfte man die innere Einheit jedes frem-
den Geschopfes bezweifeln. Denn an dem inneren Leben
einer groJ&en Zahl solcher Kollektiveinheiten nehmen wir
teil; und wenn wir uns auch der hoheren Einheit nicht
dauernd bewuC)t sein konnen, so fuhlen wir doch gewisse
Riickwlrkungen des Gesamtintellekts auf unser Innen-
leben, die uns eine libergeordnete Bewufitseinssphare
ifiihlbar machen. Wer in einer gefahrdeten Menschen-
gruppe, in einer erregten Stadt, in einer stiirmlschen
Versammlung sich bewegt hat, der kennt die spezifische,
nicht vergleichbare Doppelwirkung in Gefiihl, Gedanken
und Handlung des kompakten, falLbaren Massengeistes
auf denEinzelgeist, und desEinzelgeistes auf den Massen-
geist.
Von alien Kollektivgebilden haben vielleicht die Gebilde des
menschlichen Siedelungen und unter ihnen die GroI5- Qejsteg
stadte am sichtbarsten den Charakter des animalischen
Einzelorganismus und der geistigen Individualeinheit an-
genommen. Der Planetenbewohner, der die nachtlichen
Blinkfeuer unserer Ortschaften und den jahreszeitlichen
Farbwechsel unserer Felder beobachtet, wird mit Recht
lie leuchtenden Organismen als lebendige Hauptein-
leiten unserer tellurischen Fauna fur das Wechselspiel
hrer Umgebung verantwortlich machen.
Im vegetativen Sinne liegt es nahe und ist es oft ge- Siedelungen
Jchehen, die Mechanik stadtischer Gebilde als Funktionen ^^'^^^^"^"^'^^
iines organischenLeibes undLebens aufzufassen. Lebens- A'ujieres Biid
itoiFe,BaustolFe und AustauschstofFe mineralischer,pflanz-
icher und tierischer Herkunft zieht das steinbekrustete
^eschopf durch fliissige und metallische Saugkanale
8^ Uy
herbei und vereinigt sie, nach Arten geordnet und zu
Verdauung hergerichtet. Der Kreislauf, der in dei
Strafienadern pulslert, erfaJ&t den NahrstofF und setz
ihn ab als Zellenkorper an der bauenden Peripherie, ode
als Zelleninhalt im arbeitenden und verzehrenden Innern
Zum Teil wird dieser Zelleninhalt als Verbrennungsstoi
vernichtet: Kohle entbindet auf den Rosten der Ofen un
Kessel Warme und Energle; Nahrung spendet mensch
lichen und tierischen Kraft- und Bewufitseinseinheitei
Leben, Arbeits- und Teilungsfahigkeit. Zum Teil wir<
der Zelleninhalt verwandelt und veredelt. Als Gerar
Werkzeug oder Schmuckwerk setzt er sich im Inner
und Aufiern der Steinzellen ab und wird zum feste;:
oder beweglichen Zubehor des Baus. Als Kleidungj
hiille begleitet er isolierend die bewegten mensct
lichen Einheiten. Als Tauschobjekt entstromt er der
Gesamtorganismus, umneueLebensstofFe herbeizulocker
Hilfsmaterialien und Hilfskrafte durchdringen den ste'
nernen Zellenleib. Sauerstoff leiht die Atmosphare
Bache und Quellen reinen Wassers durchspiilen die Ader
und Raume, Strome brennbarer Luft und elektrische
Energie schafFen den Ausgleich der Krafte, der Temp€
raturen und Lichtbestrahlungen. Erstorbene StofFe un
Gifte, in weitem Umkreis ausgespien, werden dure
Sonne, Luft und Erde gereinigt und gesanftigt.
Inneres Biid Im Innern, durch gemauerte V^n^n, Gefafie und Ar
terien rinnt bei Tag und Nacht der Umlauf belebter un
unbelebter Massen. Einzeln oder in schnell bewegte
Gefa{5en vereinigt gleiten Menschenkorper periodiso
durch die Kanale, stauen sich entziindungsahnlich b(
Storungen und Zvvischenfallen, beschleunigen und vei
zogern sich nach Tageszeit und Witterung. Viele diese
ii5
:VIensclienk6rper dienen dem Transport und der Ver-
irbeitung der Zelleninhalte, andere dienen der Uber-
yachung, dem Schutz, und der Ordnung, andere der Ver-
:eidigung, der Heilung, der Anleitung und Aufmunterung
hrer Genossen. Welche verrichten ihre Arbeit mit
\rmen und Beinen, andere mit Zungen und Handen.
^eben den Lebensstromen aber huschen die Nerven-
ignale der tonenden und leuchtenden Meldungs-
lymbole.
Dieser Korper wachst, wie jeder Organismus, nicht/^^w
)loii5 dutch Vermehrung, sondern zugleich durch Erneue-
ung seiner Zellen. Umlagerungen, Verschmelzungen,
feilungen finden statt, Partikel sterben ab, werden aus-
;eschieden, Wunden fiillen sich auf, vernarben. Der
jesamtkorper teilt sich, sendet Ableger in die Nahe
•der Feme, altert, stirbt, versinkt im Erdreich und nahrt
leue Lebenskrafte auf seinem Hiigel.
Eine Beweiskraft fiir das Vorhandensein kollektiven Geist
ieistes braucht diesen korperlichen Analogien nicht zu-
emutet noch zugesprochen zu werden, denn in unserer
igenen inneren Bewufitseinsaddition liegt die Evidenz
er geistigen Summierung. Umgekehrt lage ^ie Last des
iegenbeweises demjenigen ob, der behaupten woUte:
eistiger Konnex zwischen Zellen oder anderen Einheiten
si nur dann moglich, wenn diese Einheiten, die, wie
'ir wissen, sich geometrisch niemals beriihren konnen,
uf Millimeterbruchteile genahert sind; eine Behauptung,
ie ebenso willkiirlich ware, wie etwa die, dai5 jenseits
ines Lichtjahres die Gravitation aufhore. Nur deshalb
urften wir bei der Organismenahnlichkeit stadtischer
tebilde einen Augenblick verweilen, weil es sich ver-
)hnte, der ungewohnten Vorstellung vom kollektiv-
117
geisrigen Individuum einen bildhaft materiellen Riick-
halt zu geben.
Bevor wir nun den geistigen Mechanismus der Kol-
lektivgebilde beriihren, der nicht nur fiir unsere Er-
wagungen, sondern fur alle kiinfrige Geisteskunde ein
wichtiges, vielleicht das bedeutsamste Experimentations-
gebiet abzugeben bestimmt ist, haben wir die heutige
Orientierung der Wissenschaft in der Richtung dieser
Fragen zu revidieren.
Anmerkung Ein edler, fruchttragender Zweig des jungeren Wis-
psychologie" ^^"^ fiihrt einen Namen, der uns reichen Aufschlufi iiber
den Mechanismus des kollektiven Denkens, Fiihlens und
Wollens verspricht: den Namen der Volkerpsychologie.
Aber diese Wissenschaft ist bis heute vorwiegend eine
geschichtiiche und naturhistorische geblieben. Ihre be-
deutendsten Ergebnisse liegen in der Nachbarschaft der
Kulturgeschichte und der Volkerkunde; wir erfahren,
welche Vorstellungen, Gewohnheiten, Satzungen und
Organisationen, welche sprachlichen, mythischen, kiinst-
lerischen und religiosen Ausdrucksformen die Volks-
geister erzeugt haben, wir erhalten selbst einen Begriff!
wie auli^ere Bedingungen undEreignisse zu inneren Wand-
lungen und Entwicklungen beitragen, wie endlich diese
inneren Entwicklungen historisch fliefiend ineinandeii
iibergehen. Und wie iiberall, wo wir Kontinuitaten er-
blicken, und wo Ursachenphanomene an den Eingangs-
toren der Periodenabschnitte Wache halten, glauben wii
innerste Zusammenhange zu verstehen. In Wirklichkeii i
aber ist, was wir erblickt haben, psychologisch gestimmte
Entwicklungsgeschichte, und was wir zu verstehen glau-
ben, sind Motivationen, nicht Seelengesetze. Wenn icl
die Geschichte, die Freud en, Sorgen und Leistunger
Ii8
einer Menschenjugend erzahle und erlautere, so schafFe
ich Material fiir Seelenkunde, nicht Seelenkunde selbst,
und wenn ich feststelle, dafi zehntausend Menschen den
Trafalgarplatz verliell)en, weil Militar anriickte, so ist
das eine ausreichende Begriindung, aber nicht die Auf-
losung geistiger Massenerscheinung. Wenn endlich Spra-
chen, Kunst und Religion als Produkte einer Gemein-
schaft erkannt, gewiirdigt und durchforscht werden, so
ist noch immer das Eine nicht geschehen; beantwortet
namlich: wie kann eine Gemeinschaft schafFen? Wie
kann sie denken und fiihlen? Wohlgemerkt, die Ge-
meinschaft als Gesamtwesen, nicht als Summe der Ein-
zelwesen; denn eine beliebige Menschensumme schafFt
nichts, es sei denn mechanisch und auf Kommando.
Die Franzosen, von jeher mit feiner Witterung he- Franxosische
gabt fiir das, was in Technik, Wissenschaft und Mode^^^^^„
das nachste Bediirfnis sein wird, scheinen als erste mit
der Erforschung kollektiver Geister Ernst zu machen.
Das Grundgesetz geistiger Wirkung in additiven Gebil-
den glaubt man im Prinzip der Nachahmung gefunden
zu haben, und eine geistvolle Charakteristik der intel-
lektuellen Niveauanderung, die vorgeht, wenn Indi- .
viduen sich zu Menschenmassen summieren, ist ge-
schafFen.
Wir wollen bei diesem angeblichen Gesetz nicht
lange verweilen; doch sei bemerkt, daI5 die Verkiindung
des Imitationsprinzips einen Trugschlufi) nahelegt, der
aus der Doppelbedeutung des romanischen Wortes ein- Nachahmung u^Kf
i mal den BegriiF der „Nachfolge", ein andermal den der^ ^'/^^'
i „Nachahmung" herausliest. Wenn um sieben Uhr abends
f zuerst ein Mensch, dann ein zweiter, in kurzem Abstand
zehn, dann hundert einen Kirchhof verlassen, so kann
119
1
man franzosisch sagen: alle handelten in der ImitatiS
des ersten — denn sie folgten seiner Handlungsweise.
In Wirklichkeit wufiten sie vom ersten gar nichts; sie
wull)ten aber alle, dafi) um sieben Uhr geschlossen wird,
und handelten, jeder auf eigenen Antrieb, spontan und
originar. Wird somit hier das Wort Imitation im Sinne
der Nachfolge gebraucht, so erklart es nichts und be-
schreibt irrefuhrend; wird es im Sinne der Nach-
ahmung gebraucht, so sagt es falsches, indem es zu
viel sagt.
Denn eine eigentliche Neigung des erwachsenenMen-
schen zu gewohnheitlichem Kopieren besteht nicht; die
ofFenkundigen Faille bewu£)ter Nachahmung, die dem
Franzosen besonders vor Augen liegen, wie etwa des
Modemitmachens, sind komplizierte Zweckvorgange, bei
denen eine Klassenzugehorigkeit nicht anders dargetan
oder vorgetauscht werden kann, als durch die an sich
unbequeme Kopierung eines Vorbildes. Bedenkt man,
wie miihsam unsere Erziehung die Nachahmung eines un-
ablassig demonstrierten Vorbildes erzwingt, mit welchen
Schwierigkeiten eine bewahrte Denkform oder ein niitz-
licher Kunstgriff widerstrebender Gewohnheit aufge-
drangt werden mul5, so wird man als Haupterscheinung
weit eher die Gegenkrafte als den Hang zur Nachahmung
in Anspruch nehmen.
Soxhie GruHO- Schwerlich wird universell ein soziales Grundgesetz
gesf.T^ sich aufstellen lassen, das heifit ein solches, aus dem alle
Wirkungen sich als Einzelfalle ableiten: denn die Ein-'
fliisse von Mensch auf Mensch sind vielfaltig und wider-
sprechend; Suggestion und MiC)trauen, Abhangigkeit und
Revoke, Bewunderung und Ablehnung, Tauschung und
Vorsicht, Neuerungssucht und Gewohnheit halten sich
die Wage und lassen sich dennoch nicht mit gleichem
Kraftmal)5 messen. Eher diirfte man von Hauptgesetzen
reden, namlich solchen, die verhaltnismaC)ig grofie Wir-
kungsgebiete liberdecken, ohne AusschlieI51ichkeit zu be-
anspruchen. Am sichersten wiirde man nach Analogic
der Mechanik von der allgemeinen Eigenschaft der gei-
stigen Tragheit ausgehen, die sich in der Neigung zum
Gewohnten, in der Abneigung der Menschen gegen das
schmerzende Licht neuer Gedanken und Entschliisse aus-
spricht, und die vielleicht in ihrer Gesamtsumme das
starkste geistige Moment auf Erden bedeutet. Diese
Tragheit aber wird nur dutch Vorteile liberwunden, die
in ihrer eigensten Richtung liegen: dutch Vorteile der
Bequemlichkeit, das heill)t der Krafteersparnis. 1st das
Vorbild einer Neuerung gegeben, so tritt zunachst die
ganze Abneigung gewohnter Manier ihm entgegen. Hat
aber notgedrungen, oder aus abseitigem Zweckgrund,
der Eine oder der Andere das Beispiel aufgenommen;
ergibt sich aus seiner Handhabung eine Bequemlichkeit,
eine leichtere Routine, so schreitet die Ansteckung vor-
warts, wie ein Bazillenheer, das mit jedem neuen Opfer
auch eine neue Brutstatte gewinnt. Redensarten, die
eine neue Situation dutch Anklang an eine altbekannte
etledigen, Metkwotte, die ein eigenes Uiteil etspaten
and dennoch den Gegenstand abtun, Sptachveteinfachun-
gen und Wottvetbindungen, die fotsch und witzig klingen
und Umschteibungen etsetzen, Gebrauchsgegenstande,
die einen HandgrifF uberfliissig machen, Stichworte, Prin-
zipien undldeen, die vieldeutig und dennoch stark gefarbt
groiJ)e Gebiete ungeklarter Wiinsche programmatisch und
parteibildend zusammenfassen: alle diese Vehikel er-
obern die Erde, indem sie Tragheit durch Tragheit,
I
121
Geset% der Be-
quemiicbkeit
Grundfrage
des kollekti-
ven Phano-
mens
namlich durch Krafteersparnis und Bequemlichkeit
winden.
Die Annahme des Gesetzes der Tragheit und Bequem-
lichkeit erklart jenen Dreischritt ira Tempo der mensch-
lichen Kulturprozession, der das Gliick aller grolSen
Neuerer zerstampft hat: zogernd feindlicher Auftakt;
denn die neue Bequemlichkeit zeigt sich zuerst von
ilirer verhafiten neuen Seite, noch nicht von der be-
quemen. Der Neuerer wird verfolgt und verspottet,
langsam findet er ein Gefolge von originalsiichtigen, ver-
sehentlichen Aposteln, die ihff ausbreiten und ausbeuten.
Haupttempo der Bewegung: die Krafteersparnis ist an-
erkannt, die Neuerung schlagt ein. Dem Neuerer weist
man nach, um lastiger Abhangigkeit zu entrinnen, dal^
er sie entlehnt hat. Nachtakt: die Sache hat ihren Dienst
getan, sie ist zur Trivialitat geworden, man ist ihrer
uberdriissig; der inzwischen verstorbene Neuerer gilt
als liberwunden und wird historisch gewiirdigt.
Aber dies ganze Gebiet der franzosischen Forschung
mit seinem Ausblick auf ein soziales Grund- oder Haupt-
gesetz enthalt so wenig eine Antwort auf unsere Frage
wie die deutsche Volkerpsychologie. Denn wir wollen
nicht wissen, welchen mechanischen Weg der Ausbrei-
tung von einemGehirn zum anderen eineReizung nimmt,
noch wie eine Majoritat oder Grof5zahl von gleichmai5ig
gereizten Gehirnen statistisch zustande kommt: was wir
brauchen, ist vielmehr ein wenn auch noch so primitiver
Einblick in das Wesen des Kollektivgeistes. Wie kann
eine Gemeinschaft, ein Volk, eine Versammlung, eine
Stadt im Sinne und in der Art eines Einzelwesens den-
ken, fiihlen, wollen? Und wie geht es inneriich im Kol-
lektivwesen zu, wenn dies geschieht.''
12)
Sicherlich lassen sich am deutlichsten die hochsten
Erregungszustande beobachten. Nehmen wir als Beispiel
eine revolutionar bewegte Stadt.
Es ist zunachst durchaus nicht gesagt, dal5 die Summe Revoiutionare
der Einzelerregungen hier ein Maximum darstellen mufi.
Es ware zum Beispiel sehr wohl denkbar, dal5 eine Reihe
von Arbeitseinstellungen oder Fallissementen eine weit
gr6il)ere Anzahl von Individuen in eine durchschnittlich
hohere Zorneserregung versetzte als die revolutionare
Krisis, und dali5 dennoch nicht ein Mensch geopfert,
nicht eine Fensterscheibe zerschlagen wiirde, — wobei
Gegenmalbnahmen polizeilicher oder anderer Art selbst-
verstandlich auI5er Ansatz bleiben.
Dennoch wird das Fiebern des Kollektivgeistes, die
eigentliche revolutionare Stimmung, ganz andere Wir-
kungen ausiiben als jene Erregungssummen; auch wenn
diese Stimmung durchaus nicht alle Einwohner und die
meisten unter ihnen durchaus nicht sehr tie fgrei fend
gepackt hat. Alios wird in dieser Stadt verandert schei-
nen: jede Promenade kann sich momentan in eine
Volksversammlung verwandeln — was zu anderer Zeit
selbst dann nicht geschahe, wenn willkiirlich aller Ver-
kehr gesperrt wiirde — ; jede Versammlung wird uner-
wartete und meistens einhellige Beschliisse bringen;
die fremden StralLenganger werden sich begriifien und
befreunden; fleifiige und politisch indifferente Men-
schen werden ihren Geschaften fernbleiben und fiir
Ziele leben, die ihnen gleichgiiltig sind; Frauen werden
ihre Wirtschaft und ihre Kinder verlassen, um Reden
zu horen, die sie nicht verstehen; entschlossene Glieder
der Behorden, die nie einen Einwand gelten liefien,
werden, nicht aus Furcht, sondern aus ErgrifFenheit,
123
parlamentieren; Gewinnsucht, Geschaftssinn, Sparsam-
keit, Zuriickhaltung und Subordination sind beiseite ge-
setzt zugunsten kaum verstandener, hochst verschieden
aufgefall)ter Abstraktionen und Begriffe, die man noch
vor wenigen Wochen bei der Zeitungslektiire gewohn-
heitsmaI5ig iiberschlug.
Hier stehen wir nicht mehr vor einer Summe von
Einzelerscheinungen, sondern vor dem Phanomen eines
sichtbar gewordenen KoUektivempfindens. Was ist ge-
schehen?
Gesetz des Es soil sogleich das Gesetz ausgesprochen werden,
koUektiven , , . • t^ i . , . , .
Phanomens^^^ hier zu vertreten ist. Ls besagt: nichts ist hmzu-
getreten, aber es sind Hemmungen aufgehoben. Ge-
wohnte Hemmungen umschliefien fiir gewohnlich, gleich
kapillaren Hautchen, die Tropfen der Einzelempfindun-
gen und hindern sie am Zusammenflieften. Zerreifit die
Hemmung, so rinnen die Einzelempfindungen zu einem
Gesamtbewufitsein zusammen und bestimmen das Kol-
lektivphanomen. Mit anderen Worten: in jeder Gemein-
schaft ist jede Stimmung in beliebigen Exemplaren vor-
ratig, gleich trockenen Farbkornern, die in Sand gemischt
sind. Verschmelzen diese Elemente zur Losung, etwa
weil die Substanz befeuchtet wurde, so erscheint plotz-
lich die ganze Mischung gefarbt.
Chauvinismus Ein weiteres Beispiel soil diese Gesetzmafiigkeit er-
lautern und vertiefen. Wir alle kennen das Problem
einer chauvinistischen Nation. Worin besteht es? Sind
alleGlieder dieser Nation ein wenig Chauvinisten? Durch-
aus nicht. Weitaus die Mehrzahl ist friedlich, j a indif-
ferent. Sind zufallig alle Einflufireichen oder ihr groI5er
Teil chauvinistisch gestimmt? Noch weniger. Je grol^er
die Verantwortung, um so angstlicher die Vorsicht. Gibt
124
es chauvinistische Perioden, in denen Leute rabiat wer-
den, die es sonst nicht sind? Vielleicht, aber in ge-
ringem Umfapg. Die Stromung hat eher die Neigung,
allmahlich abzuflauen. Was also ist es, das die Rache-
erinnerung einer Nation ausmacht, und in jedem Augen-
blick ihr Kollektivbewufitsein bis zur Leidenschaft er-
greifen kann? Es gibt in jeder grofien Gemeinschaft und
zu jeder Zeit Vertreter jeder Idiosynkrasie. Es gibt
soundsoviel Tausend, die an Platzfurcht leiden, sound-
soviel, die Musik verabscheuen oder Briefmarken sam-
meln, oder vegetarisch leben, oder Luftzug fiirchten,
oder Freitags nicht reisen — : kurz, Menschen, die irgend
etwas Absonderliches lieben oder hassen, denken oder
treiben.
So gibt es denn auch in jeder Nation Monomznen Alonomanien
bestimmter Erinnerungen und bestimmterWiinsche; noch
heute leben in unserer Mitte Achtundvierziger, Bismarck-
feinde, Wei fen, Reichsgegner, wenn auch nicht mit der
Bewufitseinseinheit und Solidaritat der nachbarlichen
Chauvinisten. Nahert man sich diesen Naturen, so er-
gibt sich, dai5 in einer Art von monomaner Spannung
die Sonderidee den Hauptbestand ihrer geistigen Inventur
ausmacht.
Die latente Erinnerungsfahigkeit eines KoUektiv- Latentes Be-
geistes bedeutet somit, daI5 Elemente vorhanden sind, lektiven Gei-
die man verkorperte Einzel erinnerungen nennen kann;^^^^
Elemente, deren Aufgabe darin besteht, maniakalisch den
Funken des Erinnerns in sich wachzuhalten und dutch
die Einseitigkeit ihrer Besessenheit zur Arbeitsteilung
des kollektiven Denkens beizutragen. Das akute Erinne-
rungsphanomen des Kollektivgeistes kommt zustande,
wenn die Spezialkrafte einer bestimmten Gattung sich
125
ihrer Isolation entledigen, und durch ihren Zusammen-
klang das neutrale Gleichgewicht des Komplexes auf-
heben. Jedes mogliche Erinnern ist zu jeder Zeit latent
vorhanden: aber die Mannigfaltigkeit der Richtimgen
hebt sich zum liberwiegenden Teile nach dem Gesetz
der grofien Zahlen so lange auf, bis durch partiellen
Zusammenschlul5 die Uberschreitung der Bewui^tseins-
schwelle erzwungen wird.
Das Analoge ereignet sich auf dem Gebiet der Ge-
fiihle. Eine arbeitsam besonnene Stadt schaumt auf in
Karnevalsfreuden. Gewifi, auch der ruhige Burger wird
vom Taumel ergrifFen; doch angeblasen wurde die
Flamme von eigentlichen Karnevalsnaturen, die zwolf
Monate des Jahres von lustigen Streichen traumen. Nun
diirfen sie sich ihrer Isolierung entledigen und zwei Tage
lang herrschen: und das GesamtbewuStsein wird bis
Aschermittwoch friih so hoch gesteigert, daJ& alle Ent-
schliisse dieser sorgenlosen Zeit die Spuren ihrer Unge-
bundenheit verraten.
Gesetz vom Nochmals aufs kiirzeste formuliert: Veranlagung kol-
kollektiven ^^^^^^^^ Geister bedeutet das Vorhandensein pradispo-
Geisces nierter Elemente; Regung kollektiver Geister bedeutet
Pravalieren dieser Elemente. Dies Pravalieren tritt ein,
wenn infolge eines aulI)erenoder inneren Anlasses die
hemmende Isolation der monomanen Elemente durch-
brochen ist; sie wird durchbrochen, sobald der Erregungs-
zustand des Einzelelements ein bestimmtes Mafi) iiber-
schrltten hat, so dafi er die mehr oder minder schwierige
Verblndung mit seines Gleichen im Sinne einer geistigen
Addition erstrebt und erlangt.
Es sei bemerkt, dail) wir hier das ofter gesichtete Ad-
ditionsmoment des Geistes zum ersten Male in nachster
126
I
Nahe streifen; seine endgiiltige Priifung steht uns bevor
und soil dazu beitragen, das Wesen des kollektiven
Geistesphanomens endgultig zu klaren.
Wenn wir schwanken, ob wir die ausgesprochene Be-
obachtung als ein Fundamentalgesetz des kollektiven
Denkens bezeichnen diirfen, so kommt die entschiedene
Empfindung uns zu Hilfe: dalJb das Gesetz in unver-
anderter Form auch fur dasjenige Kollektivwesen gilt,
das wir als unser eigenes individuelles menschliches
Bewufitsein kennen.
Auch in unserem Geistesleben tritt nichts zutage, Analogic desEin
, . 1 • 1 rrn r' II xelbenuufitscins
was nicht zuvor schweigend in den Tieten geruht hatte.
Das Vergessene schlummert und ist dennoch gegen-
wartig; das scheinbar Neue ist ein UnbewuI5tes, das
plotzlich erwacht. In dunklem Grunde liegt jede Leiden-
schaft, jeder Wahnsinn, jede Ahnung und jede Erkenntnis;
sie steigen empor, und wir fuhlen, dal5 wir von jeher
mit diesen Damonen vertraut waren. Gefesselt oder
befreit sind sie <jenossen unseres inneren Reiches, und
das Spiel unseres BewuGtseins ist nichts als Bandigung
und Entbindung maniakalischer Elemente.
Die Arbeitsteilung durch idiosynkratische oder ein-Latente Wll-
. , T-i 1* • • n • 1 :i n lenselemeiite
seitig genchtete Elemente, die wir im Bereich des Be- j^QUej^jj^gQ
wul^tseins beobachtet haben, begegnet uns wieder beim ^^^^tes
kollektiven Willen. Es ist mehr als eine Fiktion, es ist
gewissermafien schon eine rohe Annaherung, wenn man
iieute den zivilisierten Volkswillen durch parlamentarische
\ Vertretung verkdrpert erachtet. Alle Parlamente unserer
Zeit sind Ausgleichsversuche zwischen idionsykratischen
Parteikraften, und politische Parteien wiederum sind
[nteressentenvereinigungen unter dem Anblick einsei-
iger Sammelprinzipien. Worin besteht das Wollen und
127
BeschiieJl)en dieser Organismen? Zuweilen sind wir noch
geneigt, im Sinne der platonischen Philosophenherrschaft
uns vorzustellen, dafi wahrheitsuchende Geister im
Wechselfeuer die Probleme des Volkerschicksals nieder-
schmelzen; wahrend in Wirklichkeit festgelegte Parteien,
und innerhalb der Parteien eintonig abgestimmte Einzel-
geister ilire Devisen wiederholen und zu dem Sonder-
falle in unbeholfene Beziehung setzen: ein KoUegium von
Arzten, von denen der eine nur den Aderlafi, der andere
nur die Purganz und der dritte nur die Wasserkur gelter
lal5t. Zum Schlufi entscheidet die Farbung, die nichi
von der Eigenart des Problems herriihrt, sondern die au;
der Mischung gegebener, unveranderlicher Farbpartike!
stammt, von denen gelegentlich die eine oder andere
Kategorie sich eigenwilliger der Oberflache nahert. Aucl
hier begegnet die Analogie zu personlichem Wollen unc
Entschliefien. Wir schwanken : indem die feststehenden
einseitigen Gewohnheitswollungen nacheinander hervor-
treten und ihren Merkspruch sagen; wir beschliel5en
indem das Nacheinander dieser Teilpersonen uns einer
positiv oder negativgefarbtenErinnerungseindruckhinter-
lafit; und nennen das Mosaik unserer feststehender
Willenspartikel unseren ethischen Charakter.
KoUektive Ar- Gewohnen wir uns an die Denkweise, die in mensch
hetutetiung Y\Q>CL^vi Gemeinschaften und Organisationen Kollektiv
geister wahrnimmt, so erscheint uns jede Institutioi
geistiger Arbeitsteilung unter diesem Bilde, und di(
ruckschlieftenden Einblicke in unser individuelles Geistes
leben gewinnen an Plastik und Farbe.
Staatsgehlxn Das Gehirn eines Staates: in den Tiefen der Hier
archie herrscht das unverbriichliche Gesetz der Tages
autgabe und der Vorschrift. Zweifelfreier Gehorsam
128
luanenlose Routine und Pflichterfiillung bewaltigen die
Gleichformigkeit der untersten Exekutive; nach oben
dringt ein Zahlenbericht, ein Ausnahmefall, eine Kon-
trollmeldung. Im Mittelgebiet beginnt das Denken. Von
oben driickt der dispositive Wille, von unten hemmt
die Unvollkommenheit der Dinge und Menschen, Ele-
mentarkrafte , Unvorhergesehenes. Es wird vermittelt,
aul^enstehende Faktoren werden anerkannt, die Aus-
nahmslosigkeiten sind durchbrochen. Nach oben dringen
Zusammenfassungen, Rasonnements, drtlich einseitig,
aber sachlich durchdacht. In der hdchsten Region sind
alle Zweifel erlaubt, gemildert freilich durch die Trag-
heitsmomente des Systems und der Tradition; den un-
teren Pflichtorganen wiirde grauen, wenn sie die Labilitiit
ihrer Dogmen erschauten. An die Stelle der sakralen
Phrase tritt die Verhandlung, die vorurteilsfreie Wiir-
digung gegnerischer Machte, summarische Beurteilung
von Charakteren und Schwachen, es entwickelt sich diplo-
mat! sche und politische Beweglichkeit. An der Ressort-
spitze desGeistesgebietes steht einMensch, umgeben von
kleiner und ebenbiirtigerGefolgschaft. 1st er durch Natur,
Pflichtgefiihl und Opferkraft zur Erfullung bestimmt, so
bedarf er mehr einer inneren Richtkraft und Urteilsklar-
heit als sachlicher Schulung und Routine. Deshalb sind
in vorgeschrittenen staatlichen Organisationen die Trager
letzter Verantwortungen nicht Spezialisten, sondern Per-
sdnlichkeiten. In ihnen soil nicht jede tatsachliche Kennt-
nis der unteren Tagesereignisse , sondern ein Gesamt-
gefiihl aus der Summe dieser Ereignisse leben, verbunden
mit einer Anschauung des zu Erstrebenden und mit einer
deutlichen Vorstellung notwendiger und mdglicher
Mittel, mit der objektiven Schatzung der Gegenkrafte,
129
mit der Einfiihlung in den Organismus der Gesamtheit
und in die Abbilder dieses Organismus, wie sie aus
Parlamenten, offentlicher Meinung und auswartigem
Urteil sich widerspiegeln. Wir sehen zwei Manner in
einer Besprechung: es ist tatsachlich der Handelsver-
kehr eines Landes, der mit der Kriegsmacht verhandelt,
oder die Hauptstadt, die mit dem Staate verhandelt,
oder der Staat, der mit einem Nachbarn verhandelt;
insofern namlich, als in jedem dieser Vertreter die
Strebungen, die Besorgnisse, die Krafte und die Mittel
des Organismus ihren summarischen Ausdruck finden.
Der Organismus hat in diesen Menschen Rede gewonnen,
er hat in ihnen Augen, Ohren, Fiihler und Taster, ei
dringt vor, weicht aus, streitet, kampft, gibt nach, er-
obert, siegt imd unterwirft sich. Im Augenblick dei
Belebtheit und des Handelns sind diese Menschen die
wirksamen Exponenten ihres Kollektivwesens; in ihnen
drangt sich Leben und Wille des Organon zusammen;
und dennoch sind sie nicht das Wesen selbst, nicht sein
Geist und nicht sein Leben. Sie sind nicht ein Abbild
dessen, was der grofie Philosoph des Zeitalters Lud-
wig XIV als Zentralkraft des menschlichen Organons
sich vorstellte, nicht die Seelenmonade, die da sprechen
durfte ,retat c'est moi'; sie sind wirksame und zeitliche
Exponenten des KollektivbegrifFs, aber nicht seine abso-
lute Essenz.
Denn wahrend sie sichtbar und wirksam denken und
tatig sind, bleiben tausend andere, im Augenblick un-
cheinbare und dennoch unentbehrliche Exponenten ims
Inneren und AuGeren gleichfalls fiihlend, wollend und
handelnd, und bleibt vor allem der gesamte Organismus
mit seinem kollektiven Geistesdasein wirksam und leben-
130
dig, gleichviel welche seiner Elemente in jedem Zeit-
punkt in das Licht des Bewuil)tscins treten, welche ruhen
und welche im Stillen wirken.
Abermals erkennen wir die gewaltige Analogie zu Analogic der
unserem eigenen, einzelmenschlichen Kollektivdasein : ^^^^z^^^^^" ^
so treten in uns selbst die Elemente unseres geistigen
Wesens abwechselnd, elnzeln und in Gruppen, an das
Licht der Rampe: jetzt spricht ein Glied, jetzt herrscht
ein Gedanke der Abwehr, jetzt blitzt ein Augenbild,
jetzt lautet ein Erinnerungsklang, dariiber breitet sich
ein Gemeingefiihl, eine Stimmung, im Zwielicht harrt ein
Wunsch, eine Unruhe klopft, ein Entschlul5 bricht durch:
und wahrenddessen, im Schweigen des Unbewufiten,
arbeiten tausend Sinnes- und Gedankenelemente an der
Verwaltung, Verteidigung und Bereicherung unseres
leiblich-geistigen Lebens. Wir selbst sind eine Stadt,
ein Land, eine Herde, eine Verwaltung, ein Staat; unsere
eingebiirgerten Geisteselemente begegnen sich, reden
miteinander, teilen ihre Arbeit, bekampfen sich, treten
hervor, um vor der Gesamtheit des Kollektivgeistes ihre
Sache zu fuhren, anzuklagen, zu berichten, zu raten; sie
schopfen Materie aus Vorraten und sorgen fur Trans-
port und Verarbeitung; sie schopfen Erfahrung aus den
Archiven und Bibliotheken der Erinnerung; sie organi-
sieren sich zu Einzelverbanden mit gesonderter Vei>
fassung, halten Haus, leben, zeugen und sterben. Was
Appius Claudius als eine Scherzfabel der romischen ^
Plebs vorhielt: die Ahnlichkeit des Staates und Leibes
an Haupt und Gliedern, war ein rohes Bild, solange
beide Korper aus undiiFerenzierten Sammelorganen, Kopf
und Magen bestanden; die Zerlegung in Geisteselemente
zeigt den wahren Umfang des Parallelismus ; und w^nn
i
I3i
an anderer Stelle seine Anwendung auf den Staatsaus-
ban dargelegt werden mag, so darf hier erneut und ein-
dringllch auf die Erkenntnisquelle hingewiesen werden
die im Studium der Kollektivgelster sich fur die Erfor-
schung unseres eigenen Innenlebens eroffnet.
Vbrbemer- Bevor wir nun aus dieser Quelle den Trank schopfen.
Additions- ^^ dessen willen sie uns erschlossen ward: die Erkennt-
pruizip j^jg^ ^[q ^3^5 Zentralphanomen unseres inneren Erlebens
die Geburt der Seele, im objektiven Weltbilde sich dar-
stellt und einreiht, bleiben einige, bedeutungsvolle Ziige
zu erortern, die wir vom Angesicht des Kollektivgeiste!
abzulesen und in die Zeichnung unseres Universal-
diagramms einzutragen haben, damit ihm seine end-
giiltige Belebung zuteil werde.
Es ist demnach zu handeln zunachst von dem, was ab
das Strahlphanomen bezeichnet werden soil, sodann vor
dem Additionsprinzip des Geistes, zwei mechanischen
Elementen unserer Betrachtung. Damit im Verlaufc
dieser nicht ganz kurzen Vorbereitung der Zusammen-
hang nicht verdunkelt werde, sei vorgreifend bemerkt
dafi der erstgenannte BegriiF, dessen schon friiher Er^
wahnung geschah, bestimmt ist, dem Bilde der Erschei-
nungswelt seine letzte Beweglichkeit zu geben, und zu-
gleich die Vorstellung der Vererbung zu durchleuchten
wahrend auf dem zweitgenannten BegriiF der Addition,
die in einem warmeren Licht als dem der Mathematik
erscheinen wird, das Ereignis derSeelenwerdung sict
aufbaut.
Vom Tode Wir haben bemerkt, daI5 von den Elementen de*
Kollektivgeistes jedes als Exponent, keines als Essen?
der Gesamtheit sich zu fiihlen berechtigt ist; der siind-
hafte Ausspruch, der Staat bin ich, kommt keinem zu.i
131
Noch mehr: jedes Element ist nur solange als Exponent
zu betrachten, als es gewissermall)en in Amtsfunktion
auftritt; ruht es, so ist es der Gemeinschaft verloren.
Aber es ruht nicht nur zeitweise; es gibt einen Mo-
ment, in dem es endgiiltig aus seiner Lebensgemein-
schaft ausscheidet; es stirbt. Es stirbtund wird geboren,
aber die Gemeinschaft lebt, sie uberlebt Tode und Ge-
burten, sie lebt aus Geburten und Toden. Nur nach
dem Gesetz der grolben Zahlen bleibt sie sich im Quer-
schnitt gleich, zum mindesten stetig, wenn auch in
keinem Augenblicke identisch; sie lebt zweifach, pinmal
das Leben ihres inneren und aulberen Ergehens, sodann
das Leben ihrer Wiedergeburten und ihrer Tode. In
der Standhaftigkeit der Erscheinung beim unablassigen
Wechsel des Substrats gleicht sie dem Wasserstrahl und
dem Lichtstrahl ; deshalb sei das formgebende Prinzip
dieses Stromens, das man schlechthin als das Prinzip des
Lebens zu deuten versucht hat, der Kiirze halber als Das Strahl-
Strahlphanomen bezeichnet. ^ anome
Tatsachlich beherrscht es alles Lebendige. Der Inbe- Seine universeiu
griiF aller Fauna und Flora stromt; die Menschenvolker
und Siedelungen, die tierischen Scharen, die Walder und
Wiesen, das lebende Kleid der Erde und der Welt ist
ein Strom und ein Strahl. Aber auch das Einzelwesen
stromt. In ihm erneuert sich Zelle um Zelle, Wachs-
tum, Teilung und Tod durchdringen seinen Leib von
der Wurzel zum Wipfel, vom Herzen zur Rinde. Und
wiederum stromt es dutch die Zellen im Wechsel der
Substanz; der Nahrung und Ausscheidung. Die chemische
Substanz freilich scheint stabil; und dennoch hat die
Wissenschaft begonnen^ sie in Bewegung aufzulosen;
daC) sie durchdrungen wird von ewigen Stromen immer
133
subtilerer Elemente, miissen wir heute schon zugestehen,
und dennoch sind die Fernwirkungen niclit erklairt; sie
werden uns zwingen, die Durchstromung als das korper-
liche Prinzip anzuerkennen und die Weltkorper, die wir
Atome nennen, in Strahlen oder Wirbel wehender Ur-i
einheiten zu zerlegen. Das Strahlphanomen wird zum^
unbegrenzten Weltprinzip unseres materiellen Denkens,
indem es alle Materie aufhebt und jedes Einzelphanomen
umfafit. Ein Prinzip aber von dieser Universalitat werden
wir nicht auf die Welt der Symbole beschranken diirfen;
wir haben nicht das Recht, eine Stabilitat des erzeugen-
den Geistes zu verlangen, wenn aller Ausdruck dieses
. Seine alfso/ute Geistes stromt; uud wir diirfen um so eher es wagen,
^" ^ ^ die Giiltigkeit des Strahlprinzips fiir die absolute Welt
des Geistes zu vindizieren, als uns in der Feme grenzen-
loser Unterteilung die Vorstellungsberuhigung eines
qualitatslosen IndifFerenzpunktes zu dammern scheint.
Es sollen aus diesen Analogiereihen generelle Schliisse
fiir den Fortgang der Betrachtung nicht gezogen werden.
Doch schien der Ausblick unvermeidlich, der unser Bild
der absoluten und der gespiegelten Welt aus seiner
Starrheit in unendlich stromende Bewegung lost und
die Einzelerscheinungen , die wir zu priifen haben, in
neue Bildlichkeiten unabsehbarer Gesetze verwandelt.
Vor allem aber fiihrt das Fluktuationsbild der Welt zu
einer beklemmenden Frage , der wir ins Auge blicken
miissen, be vor wir von neuem dem Endproblem der
Seelenwerdung zustreben.
Vbra Recht Alles fliefit. Der Strom des Lebendigen, der in un-
ermelMicher, kontinuierlicher Breite das Wei tall durch-
flutet und auf der Oberflache der Planeten sich zum
Teppich vegetativer und animalischerWebung verdichtet,
134
I
dieser Strom gewinnt seine zweite Richtung konrinuier-
licher Unendlichkeit in der Zeit, und seine dritte in der
substanzbildenden Strahlung, die ihn durchbraust, und
die jedes seiner Elemente erst in den Zustand der Er-
scheinungsexistenz versetzt. Nebeneinander leben und
sterben die Weltorganismen, in ihnen leben und sterben
die Generationsreihen , in den Generationsreihen leben
und sterben die Geschopfe, in ihnen die Zellen, in ihnen
die Substanzen niederer Ordnung, und so nach oben
und unten in endlosen Reihen. Vergeblich hat man ver-
sucht und wird man versuchen, in scheinbar lebloser
Substanz anthropomorphe Geistesregungen, wie Erinne-
rung und Willen, nachzuweisen : unser Begreifen des
Urgeistes umfal^t nur den Zellenbezirk; aber das Leben
reicht, soweit das Strahlprinzip reicht, und schliel^t,
wenn dieses allgemein gilt, nichts aus, von dem wir
Kunde haben. Die Frage aber entsteht, wieweit in
diesem wechselvveisen unendllchen Durchdringen der ^
Strome das Element, gleichviel ob hoherer oder niederer
Ordnung, fiir den Moment aufgerufen zur Reprasen-
tation, eingetaucht in bestehende Ordnung, die es ge-
bildet vorfindet imd alsbald verlafit, wieweit dies be-
schrankte und bedrangte Element, Mensch oder Atom,
den Anspruch hat auf eigene Lebenszumessung, Betati-
gung und Wertung. DaI5 dem Geisteselement eine
eigene Freiheit zusteht, haben wir erkannt; wieweit ist
sie entwertet durch die Bedingtheit der fliefienden
Reihen ?
Auch hier geniigt es, eine Reihenstufe zu bewaltigen, Experiraen-
womoglich die, welche uns zunachst liegt: unsere Ab- ^ ^
hangigkeit von der Generations- und Erbreihe; und um
ihr naherzutreten , bedarf es abermals der Aufstellung
i3S
unseres Experimentationsapparats , des kollektiven Ge-
bildes.
Koiiektive Fort- Was bedeutet es, dafi ein kollektives Wesen sich fort-
pjtanzung pflanzt? Es bedeutet nicht, dall> in seiner Mitte Ge-
schlechter kommen und gehen; das ist sein Leben. Es
bedeutet, dal5 ein dem Ver Sacrum ahnliches sich er-
eignet: Teilung und Erstehen neuerGemeinschaft, Volker-
wanderung, Stadtegriindung, Kolonisation.
Gesetze der Betrachten wir solches Phanomen in breitesten Ziigen,
gleichviel, ob antike Stadte, transatlantische Siedelungen
oder afrikanische Faktoreien uns vorschweben; voraus-
gesetzt nur, dafi heimatlicher Nachschub an Menschen
und Dingen nicht wesentlich sei; so erhellt, daH) kein
Baustein, kein Zimmerholz aus der alten Heimat in die
neue iibergeht: nur die menschlichen Elemente in spar-
licher Zahl mit ihren Gedanken und Uberlieferungen,
Gewohnheiten und Wiinschen sind libersiedelt, und auch
' von ihnen ist nach wenigen Dezennien der letzte Rest
geschwunden. Doch zugleich hat das neue Leben sich
seinen Leib selbst gebaut mit fremdlandischem Stein,
Mortel und Holz, ihn angeschmiegt an fremde Hiigel
und Buchten und ihn geformt nach den Gesetzen frem-
der Sonnen und Winde; neue Menschenleiber sind er-
schaffenaus firemderNahrung, fremderLuftund Klimatik.'
Gewachsen ist dieser Leib an Zahl seiner Elemente j;
seine Formen, reicher oder armer als die elterlichen,
verdanken vieles dem ersten AnstoI5, vieles der neuenj
Umwelt, das meiste dem Lebenswillen, der in ihner|
brennt. Nicht die Gestalt der Straiten und Gebaude*
bestimmt psychophysisch den Lebensgang und das Schick-
sal der Bewohner. Das Element wird freilich seine
Abstammung nicht verleugnen; eine Germanensiedelung
136
wird kein Negerdorf, eine Malaienkolonie keine goti-
schen Dome errichten; aber den neuen Zusammenschlul5,
der das Wesen des gezeugten Kollektivgeschopfes aus-
macht, hat es aus alter Lehre und neuer Natur dutch
eigene Kraft geschaiFen. Nicht das Gehause bestimmt
das Leben, sondern das Leben hat sich sein eigenes Ge-
hause gebaut. Flamme hat sich an Flamme entziindet;
aber die neue Flamme hat mit der alten nichts gemein
als die Entziindungstemperatur; und war sie zuerst dutch
die liberkommene Form des Brenners in ihrer Entfaltung
I gebunden, so hat sie bald die Kraft gewonnen, den
j Brenner selbst solange umzuschmelzen, bis er den ge-
wollten Feuerkorper ausstromt.
Versucht man von diesem kollektiven Erscheinungs- Anwendung auf
symbol der Erblichkeit auf das Phanomen des reinen ^' ^^ '*^^
Geistes riickzuschlielLen, so bleibt in der Gedankenkette,
der wir folgen, abermals das Bild des unbegrenzt teil-
baren und unbegrenzt kombinierbaren Geistes bestehen.
KeinTeil wirkt losgelost; er ist bedingt dutch alle librigen.
Und wie wir, auch ohne raumliche Vorstellung selektives,
vorzugsweises Wirken des einen auf ein anderes Element
erkannten, so daI5 im libertragenen Sinne dies Vorzugs-
wirken als eine unraumliche Nachbarschaft oder Ver-
ivandtschaft gedeutet werden konnte, so muH) auch fiir
den BegrifF der vorzugsweisen Bedingtheit der Vererbung
die analoge Bedingtheit solcher, im zeitlosen Strom
sich ablosenden Charakteristik sich ergeben, ohne da£>
iiierdurch die eigene Freiheit des Elementes geopfert
werde.
Bei der Beriihrung der Erblichkeit haben wir etwas Psychophysi-
ansanft ein gewaltiges, fast unbeschrankt das heutige ^^mfg ^™^^"
Denken beherrschendes Prinzip gestreift: das psycho-
137
physische, und sind ihm hierdurch eine Rechenschaft
schuldig geworden.
Fiir jede idealisrische Weltbetrachtung scheint es auf
den ersten Blick eine unverdauliche, ja unertraigliche Vor-
stellung, daH) unsere materiel! e Erfahrung nicht nur einen
Parallelismus des Physischen und Psychischen im Lebens-
organismus, sondern sogar eine schicksalentscheidende
auf^ere Einwirkung des Fremdkorperlichen auf das Gei-
stige unter Beweis stellt. Wie darf ich wagen, die Supre-
matie, die Alleinexistenz des Geistes zu behaupten, wenn
mir glaubhaft gemacht wird, dal5 ein Chemikal, eine
Bazillenzucht oder ein Ziegelstein jedes Geistesleben,
mein eigenes eingeschlossen, verktimmern oder vernich-
ten kann? Und welche Sinnlosigkelt liegt darin, dafi dem
rohen Ungeist oder Halbgeist solche Gewalt liber das
gottliche Element gegeben ist?
Generell und prinzipiell mulS entgegen diesem Ein-
wand an das erinnert werden, was liber die Beschran-
kung Geistes durch Geist gesagt wurde; auch Chemika-
lien, Bakterien und Steine sind Erscheinungssymbole des
Geistigen, und ihre Kampfe in der sichtbaren Welt sind
Schattenbilder eines Hoheren. Wir diirfen aber der
scheinbaren Kiihle dieser Erklarung ein weiteres Zuge-
standnis machen und den materiellen Gedanken bis in
seine Wurzeln verfolgen. Was sind Lebensverkiimme-
rungen und Tode? Soweit wir bisher unter der Erschei-
nungsform das Leben gepriift haben — und noch immer
bewegen wir uns auf der Zone des unterseeiischen,
sterbensfahigen Lebens — bedeuten sie: Lockerung und
Auflosung von Kollektivgemeinschaften. Mogen in ab-
steigender Reihe beliebig viele Gemeinschaften zertriim-
mert, beliebig viele Tode gestorben werden : einmal ist
138
I
sc' on hier des Sterbens ein Ende, und neue Verbindun-
gen schaffen neues Sammelleben. Der BegrifF des ani-
malischen Todes hort auf und geht in den BegrifF der Kritik des
kontinuierlichen Zellenerneuerung iiber, sobald wir als *
das wahre Lebensgeschopf das zweifach dimensioniertc :
die zeitliche Serie des Stammes und die raumliche Serie
des kollektiven Coexisteur betrachten. Das unbeseelte
Geschopf ist in diesem Sinne nicht Individuum, sondern
Element. Dies spielt sich in der Welt des Sterbens
ab; wir werden jedoch Gebiete streifen, von denen
auch diese Schatten zu weichen beginnen. Gleich-
zeitig werden wir dem Gefiihlseinwand der Sinnlosigkeit
des blinden Unfalls begegnen, sobald wir von der
Mehrdeutigkeit des Geschehens uns Rechenschaft ge-
geben haben.
So spaltet sich der psychophysische Zwang in zwei
iiberwindbare Gruppen : die organische, evolutionare Be-
stimmungsserie der Abstammung ergibt sich als direkte der Ver-
Spiegelung der geistigen Strahlkontinuitat ; die von aufien ^ ^'
eingreifende, akzidentell hemmende und fordernde Be-
timmungsserie des auI5eren Schicksals als wechselseitige
Eingrenzung der geistigen Mannigfaltigkeit.
Bevor wir jedoch diese erste Zwischenfrage verlassen,
jmpfiehlt es sich, teils rekapitulierend, teils exegetisch
twei bekannte Denkformen unseres zeitlichen Inventars
m beleuchten, die aus dem Dunkel gern den Weg des
dealistischen Wanderers beirren: die Modalitat der Rasse
ind der materialistischen, besser gesagt, physischen Ge-
ichichtsauffassung.
Von der Erblichkeit haben wir gesprochen. Sie ist der Rasse,
ins erschienen als Beschrankung eines geistigen Anfangs-
'.ustandes, welche die Freiheit des Handelns erschwert,
^9
1
aber nicht unmoglich macht. Denkbar und moglich ist
es durchaus, daf5 ein Australneger sich zum Gelehrten
oder Staatsmann seines Volkes aufschwingt; wahrschein-
lich ist es nicht, weil erfahrungsgemaU) das einer Men-
scheneinheit zugemessene Quantum an Evolutionskraft
im Kampf des Einzellebens aufgebraucht wird. Wenn
wir aber auf das vorhin erwahnte kollektivistische Experi-
mentationsbeispiel zuriickgreifen und nochmals das Bild
der Vererbung unter der Analogic einer Siedelungsgriin-
dung uns vergegenwartigen, so erhellt, dafi gelegentlich
eine HandvoU dorflicher Abkommlinge im Laufe einej
Dutzends Generationen, also einem fur das Leben dei
Kollektiveinheit recht kurzen Zeitraum, zur Starke und
Geistesmacht eines antiken Weltstaates heranwachsen
kann, und einzelmenschliche Beispiele ahnlicher Evolu-
tion lassen sich aufweisen.
Somit lost sich das Rassenproblem auf in eine An-
wendung des Gesetzes grower Zahlen : in ihrer Form erb-
licher Ausstattung erweist sich die Zugehorigkeit zu einei
animalischen Art oder menschlichen Rasse als Anfangs-
beschrankung, als Durchgangskonstellation im Zeitpunki
T; die Moglichkeit beliebigen Vorschreitens in jeglichei
Richtung ist dem Einzelnen und der Gesamtheit zu jedei
Zeit gegeben, und insofern herrscht Freiheit, ist jede
grundsatzliche Rassenbeschrankung ungiiltig ; dahingeger
zeigt die Erfahrung grolI)er Beobachtungszahlen, daI5 vor
der Freiheit durchschnittlich ein geringer Gebrauch ge-
macht wird, dafi die Erbreihe sich selbst ahnlich bleibt,
und insofern ist die Rassenbeschrankung als empirischei
Rechnungsfaktor' fiir ein gegebenes Zeitmal^ zulassig.
Aber selbst innerhalb dieser Empirie scheinen Gesetz-
mall)igkeiten zu wirken, deren Seltsamkeiten noch dei
140
[Beobachtung harren: vor allem die eine, welche ich als G^'/^/x der Um-
[Umkehrung des Massencharakters bezeichnen niochte. ^^^]^^^^ '^
Es hat den Anschein, als ob in den hochsten Indivi-
dualbildungen eines Stammes gerade diejenigen Krafte,
zur Genialitat gesteigert, sich emporringen, an denen
,die Masse arm ist; so dafi gleichsam die ganze Kraft
einer Gemeinschaft in einer einzigen Bliite hervor-
.bricht. Italien und Ungarn sind die klingendsten Saiten
auf Europas Harfe; vom nordlichen Deutschland gilt
der Spruch „Frisia non cantat"; dennoch haben jene
Lander den niederdeutschen Genien der Musik nichts
Ebenbiirtiges entgegengestellt. Das durchschnittliche
ifudentum war in alien historischen Zeiten eine Schule
des Realismus; dennoch ist sein Vermiichtnis an das
Denken der Welt die hochste Transzendenz seiner vier
einsamsten Geister. Eine letzte Verfliissigung des Rasse-
tvesens aber tritt insofern ein, als auch sie dem Stro-
mungsphanomen unterliegt; auch sie ist nur eine Wirbel-
srscheinung im Generationenstrom, die sich langsam und
stetig andert: auch die hochsten Rassen, die wir kennen,
sind in mefibaren Zeiten aus niederen Arten entstanden.
In den gleichen Zusammenhang gehort die Frage nach Kritik der
der physischen Auffassung der Historie. Wir konnen Q^g^l^^^^Jj^^"
tins gewissen, materiell erscheinenden Gesetzlichkeiten '^^^^ssung
Iceineswegs verschliefien: es tritt zutage, daI5 Kultur nur
moglich ist auf der Grundlage eines Wohlstandes, dafi
iulturelle Hochperioden zustande kommen im Augen-
blick bedeutsamer Blutmischungen, daii intellektuell zivi-
lisatorische Entwicklungen nur moglich sind unter giin-
Jtigen klimatischen und geographischen Vorbedingungen,
iaH), um den Zirkel zu schliefi)en, nationaler Wohlstand
von der BeschafFenheit der Erdkruste und Atmosphare
141
nicht unabhangig ist; ja es scheint zuweilen, daC) riick-
wirkend diese physischen Elemente den geistig-sittlicher
Faktor der Menschheit bis zu einem Grade beeinflussen
der auch diese letzte unabhangige Konstante dem Spiele
der Naturkrafte unterwirft. So wird scheinbar das Ge-
schick der Volker zur blinden Funktion der physischer
Machte; die Selbstbestimmung erstirbt, Gegenwart unc
Zukunft lassen sich aus materiellen MaC)en und Quali
taten errechnen. Das Verfiihrerische aber liegt daria
daJB diese Berechnung auf weiten Gebieten stimmt; dei
Wahrheitswert der Betrachtung erprobt sich von Tag zi
lag; er bildet die Grundlage des gesamten empirischer
Wesens der Politik und Regierung, und gewinnt, dej
Urkritik entzogen, so hohen Anteil unseres Denkens
dafi abermals eine der Schranken, vor denen der schiich-
terne idealistische Wille unserer Zeit stutzt, hier auf
gerichtet scheint.
Anivendung auf Eiue grundsatzliche Kritik der physischen Geschichts-
nienschlkhei Ein- , i •• r • i i i« i t— i r i
x^iscbicksai deutung Qurten wir der menschlichen Lmzelerrahruns
entnehmen. Wenn jede Lebensaulberung uns triiger
kann: Worte, Meinungen, Blick, Benehmen, zuweiler
selbst Gestalt und Ausdruck; ein Indizienpaar trotzt allei
Verstellung und tauscht uns niemals: Lebensfiihrung und
Werke. Sie sind das sichtbare Gehause, das jeder Men-
schengeist um sich zimmert, und zwar aus so unend-
lichem Aufbau grol^er und kleiner, bewul5ter und ge-
heimer Regungen, dai5 jedes Planwerk versagt und dei
Natur das Wort bleibt. Sehen wir einen Menschen
dauernd in schiefen Situationen, kleinlichen Kampfen,
von miJ&lichen Genossen und Werken umgeben, an fal-
schem Ort, in irrigem Beruf, so fehlt es an ihm, nicht
am Schicksal. Ein Tuchtiger kann in edlem Irrtum schei-
142
tern, in Leidenschaft vergehen, doch nicht gesunden
Leibes in Widerwarcigkeit verkommen, denn jeder Mo-
ment bietet ein Lebenslos, und keine Wahrscheinlich-
keit gewahrt einer reinen Hand in steter Reihe das Recht
luf tausend Nieten. Wirkt so im Sinne der Gerechtigkeit
das Gesetz der grofien Zahl auf das Einzelschicksal, so
wirkt es unendlich gesteigert auf das Geschick der Ge-
meinschaften und Volker. Fiir ein Volk gilt keine Ent-
>chuldigung, es erlebt, was es verdient. Ein edles Volk
luldet so wenig Sklaverei wie falschen Wohnsitz, torichte
wttensowenigwieungeeigneteVerfassungundRegierung.
Denn alle diese Verhaltnisse sind LebensauC>erungen, sie
;ind fiir einen Organismus, der sein Gesetz in sich selbst
ragt, Formen seines geistigen und kdrperlichen Leibes.
iin Volk kann im Kampfe gegen aufgezwungene falsche
Verhaltnisse untergehen, es kann durch Entartung ihrer
viirdig werden, es kann nicht einer edlen Natur zum
Frotz sie dauernd ertragen. Wenn Athener und Vene-
ianer, Hollander und Briten unendlich viel ihrer geo-
jraphischen Lage verdanken, so verdankten sie vor allem
liese Lage sich selbst. Sind Macht und Wohlstand Be-
lingungen der Kultur, so sind sie in ihrer Dauer nicht
jeschenke des Zufalls, sondern Kampfpreise des Volker-
dels.
Somit bedeutet physische Geschichtsbetrachtung eine
>ragmatische Breviloquenz, ebenso wie das Operieren
ait dem BegrifF der Rasse, sofern er richtig angewandt
/ird. Wir sprechen von der physischen Lage und den
»lutseigenschaften eines Volkes als von Dingen, die sich
u gegebenem Zeitpunkt einigermafien beobachten und
erwalten las sen, ohne daI5 wir zu verges sen, noch we-
iger aber standig zu betonen brauchen, dafi diese Be-
143
dingungen, dem Wechsel und der Wechselwirkung unter-
worfen, den Ausdruck urspriinglicher Geistesbedingtheit
bedeuten, die minder greif bar und mel5bar waiter. Wii
sprechen von diesen Dingen breviloquistisch, wie etwa
von der Kraft einer Maschine, von der wir wissen, dafi
sie gar keine Kraft hat, sondern nur in einem bestimmter
Augenblick der thermischen Energie der Kohle Gelegen-
heit gibt, sich in einem bestimmten Mafi zu entfalten
Einen seitsamen Zirkelschlui^ dagegen stellt eine neti
beliebte Betrachtungsweise dar, welche alle Rassenquali-
tat aus der Qualitat der Lebenslage ableitet, indem sie
beispielsweise die Charakteristik eines Stammes auf seineri
Nomadenberuf griindet. Man vergifit, dal5 Volker ihrer
Beruf nicht willkiirlich wahlen wie schwankende Abitu-
rienten, sondern nach den Gesetzen und Moglichkeiter
ihrer Natur. Es geht nicht wohl an, negerhaftes Wesen,
aus der Ubung negerhafter Beschaftigungen und Gewohn-j
heiten abzuleiten, die ein Volk im Widerspruch zu seinel
inneren Natur aus Zwang, aus Zufall oder aus Verseher
angenommen hatte.
Kollektives Von neuem betreten wir die vorgeschriebene Bahrj
der^Seden- ^^® ^^^ ^^^^ erschauten Phanomen der Seelenwerdund'
wertung entgegenfiihrt. Das Kollektivgebilde, das wir befragenj
Das Biid von der txigt diesmal die Zilge einer fernen Stadt; ein Dom er
hebt und verkiindet ihren UmriI5. Acht Jahrhunderti?
lang haben stille Geschlechter diesen Boden gelockert^
seine Giiter geformt und verteilt, fremde erworben unc
gehandelt, Feinde abgewehrt und Freunde verteidigtj
sie haben gepfliigt und gesat, gemahlen und gewobeni
geschmiedet und gezimmert, gekampft und gelitten, ge?
zeugt und begraben. Die strafiendurchfurchte Krust<
ihres Sammelieibes klebt am Boden; aber das erste md
144
letzte, was dem Wanderer aus dieser Hiille der Betrieb-
samkeit entgegenblickt, ist die steinerne Bliite der Kathe-
drale : eines siebenfach erhohten Hauses ; und dieses Haus
ist leer; in seinem Innern, unter den Wipfeln der Pfeiler-
schafte weht kiihle, farbendurchzogene Luft und Schwei-
gen. Zehn Menschengeschlechter haben diesem Bau
gefront und ihre Sorge und Sebnsucht, Freude und
Schonheit, Gut und Blut hineingewoben. Vater und
Enkel betreten dutch diesen Blumenbogen das schonste
Gebilde ihrer Augen und Herzen in Ehren und Schmach,
Verzweiflung und HofFnung; knien im Schatten seiner
Wolbung und verlassen das leere Gehause im Gefuhl
neuen Lebens. Sie haben vielmal mehr fiir dieses Denk-
mal aufgewendet als fur ihrLeben; sie haben ihr Leben
sichtbar hingebaut, sie haben gefiihlt, daf5 sie fur den
Bau lebten und starben, der sich als Abbild und Gleich-
nis ihrer gemeinsamen Seele langsam erhob. Auch wir
fiihlen, dafi ihre Stadt in dieser luftigen Knospe sich zur
Sichtbarkeit eriost; die Speicher undWerkstatten,Mauern
und Walle sind zerfallen, die Rechnungsblatter zerstoben,
die Festgewander verschlissen, aber von den Fialen und
Baldachinen lesen wir die verwehte Waldfreude und
Liebesseligkeit, die Leideshoffnung und den Himmels-
glauben, die Dinge, die lebendig sind. Diese Gemein-
schaft hat wirklich um ihres Werkes willen gelebt; dieses
Werk ist unsterblich; es ist unsterblich als ein Werk
der Liebe.
So tragt die kleinste altere Ortschaft, die wir be-
suchen, im Herzen ihres materiellen Organismus ein ver-
steinertes Seelenbildlein. Und ware es nur ein Rathaus-
erker oder ein schoner Brunnen, ein Torbogen oder ein
Kreuz; es sind Geschopfe eines hoheren Wbllens und
145
einer edleren Freude; gegen die Kleinlichkeit der Noil
durft sind es Heilquellen, die seit Menschengedenke
jedem, der noch so zerstreuten Auges zu ihnen auf blick'
einen Tropfen Erlosung spenden. Unvergleichlich in de
Gr6l5e seines Auf bans war bis vor zwanzig Jahren da
architektonische Bild der preuC>ischen Seele vom Bei
Daj bild -vom liner Friedrichs-Denkmal bis zum Lustgarten. Ein konig
liches Forum war eroiFnet von Akademie, Universita
und Bibliothek, den Statten der Kunstiibung, der Foi
schung und des Gedachtnisses; die Orte der Musik ua
des WaiFenglanzes, Oper, Arsenal und Wache stande:
sich gegeniiber; liber den Kanal des Handelsverkehi
leitete eine Marmorbriicke zu den Heiligtumern de'
Kunst und des Glaubens, Museum und Dom, die de
prachtvollen Front der Konigsburg Raum liell)en. So
lange diese Werke ehrwiirdig und notwendig, unzerstoi
und ihrer Bestimmung getreu in groC)artigem Abstau'
ihren Raum erfiillten, erblickte man hier, wie von einen
Gott geschafFen, das klassische Gehirn unseres ehemej
Staates.
Technische und Mechanik und Technik bleiben in stetigem Flufi
denn sie bedeuten das momentane Wehrverhaltnis de
mit der Natur kampfenden Menschheit. Zu keinen
Zeirpunkt sind technische Werke absolut und vollendet
sie konnen Schonheit haben, die der Techniker empfinde
und die der Asthet afFektiert und liberschatzt, aber diesi
Schonheit ist zur Halfte Verstandessache und dahe
ephemer. Ist eine Maschine recht griindlich veraltet
so mag sie noch etwas malerische Qualitat behalten nacl
der romantischen Art verfallener Hiitten und Miihlen
aber dem unbefangenen Auge wird sie zum Geriimpel
bestenfalls von der wiirdigen und imgefiigen Art aite
146
Postkutschen und Tschakos. Ein Gerat ist um so edler,
je unbedingter es ist; je mehr ihm Generationen liebe-
voller Schdpfer die Willkiir abgestreift und die Pragung
einfacher Handlichkeit, selbstverstandlicher Notwendig-
keit verliehen haben, je mehr es zum scheinbar beseelten
Genossen menschlicher Gemeinschaft geworden ist. Was
5ind uns die Transportmaschinen der Agypter, die Gieii5-
ofen der Chinesen, die Ballisten und Retorten des Mittel-
ilters? Was sind uns Bumerangs, Negerpfeile, Morgen-
>terne und Chassepots? Die Wasserleitungen der Cam-
pagna ziehen uns an, weil sie aus UnvoUkommenheit der
Technik auf gewaltigen Unterbauten verlegt wurden, die
ier Schonheit freier Architekturwerke sich nahern.
Sind nun die technischen Mittel der Vergangenheit,
in denen die halbe irdische Intelligenz jahrtausendlang
>ich abmiihte, fiir unser Dasein nichts anderes mehr als
ibgestorbene Glieder einer wissenschaftlich interessanten
(intwicklung, iiberwundene Aushilfsmittel iiberstandener
iSJ6te, und somit keines bleibenden Wertes gewiirdigt:
io erkennen wir von neuem die unveranderliche Grofie,
lie Unbedingtheit der Werke der Seele.
Welche paradoxen Opfer bringen wir ihnen! ^vaSeeienwerkt nnd
^ehnjahriger Junge lernt unter Tranen auswendig, wie
Ier Mann hiefi, der gewisse Bildverzierungen an einer
Hieidenkirche zur Zeit des peloponnesischen Krieges an-
jebracht hat. Die LebenshoiFnung eines sachsischen
3uchhalters, der zwanzig Jahre lang auf seinem Dreh-
:chemel Zahlen addiert hat, besteht darin, zu seiner
:ilbernen Hochzeit das Forum zu sehen. Ein junger
^atrizier, der Rennstalle und fiirstliche Jagdgebiete hal-
en konnte, zieht es vor, griechische Topferscherben zu
ortieren oder aus agyptischen Grabersclinitzeln eine
147
Stelle des Euripides 2u erganzen. Es mag in den Ex
tremen Mode und Ubertreibung stecken: im Grunde is
es tiefe Wahrheit. Diese Dinge gehen uns an. DaI5 eii
deutsches Minnelied oder ein griechisches Friihbild ge
funden werde, ist wichtiger, als daI5 eine Grenzfestunj
an Rumanien fallt oder eine neue Gerbmethode ent
deckt wird. Amerika bleibt ein Kinderland, solange e
den Kasetrust oder das Seifenmonopol ernster nimmt al
eine Musikschule oder eine Horazausgabe. Wiirden un
alia technischen Bequemlichkeiten der letzten andert
halb Jahrhunderte genommen, so ware auI5er der gutei
Gewohnung an viel Wasser und verbesserteBeforderungs
mittel so gut wie nichts zu vermissen; mui5ten wir abe
die Musik und Philosophie dieser Epoche entbehren, s(
waren wir unaussprechlich verarmt. Immer wird die
Bedeutung der Zivilisation eine quantitative sein, inden
sie den zur Gemeinschaftsarbeit aufgerufenen Kreis de:
Menschen erweitert; und insofern bleibt sie Mittel unc
Baugeriist. Kultur aber bedeutet eine Erfullung, somi
ein Absolutes, das unabhangig von raumlicher und zeit
licher Ausdehnung auf eigenem Recht beruht.
Wir empfinden es gleichsam mit Sinnen, wenn wi:
ein Land betreten, das die Ernte der Kultur noch nich
getragen hat; derBoden, der nichts birgt als Mineralien
die Berge und Buchten, die kein Lied bekranzt und keir
Mythos weiht, scheinen uns fremd und leblos wie un
bewohnte Gestirne. Wir verstehen die Menschen, die
im Kapland, in Argentinien und Mexiko forschen, werber
und bauen; aber wenn Sehnsucht uns in diese Ferner
zieht, so flieht sie das Lebendige und haftet an Weiter
und Hohen. Unsere Heimat bleibt das Land heimatliche]
Menschen, alten Gedenkens und verwandter Seelen.
148
Vergangene Volker haben ihr Lebensrecht durch Permanent seen-
gutes und boses Menschenschicksal erwiesen und sind,
wie alle Kreatur, zu achten um ihrer selbst willen. Ihr
Erdenwalten und Gedachtnis aber lebt in gleichem Mafie
wie ihr Anteil am Seelengut der Menschheit, so daC) die
Frage, was eigentlich unser Geschlecht mit seinem Empor-
tauchen aus der animalischen Schdpfung geleistet habe,
schlechthin derart beantwortet werden kann: es hat See-
lenwerte geschafFen. Die Stamme, die vorbereitend, also
cechnisch, an der Schulung der Menschheit teilgenommen
haben, sind gestorben, in den Fluten liberstromender
Volker aufgelost, auch wenn ihre Reichtiimer und
Wohnsitze, ihre Erfindungen und Verkehrsleistungen
noch so bedeutungsvoll ihre Zeit bewegten, wahrend
die kleine Zahl der wahrhaft schopferischen Nationen,
gleichviel ob arm oder reich, machtig oder bedriickt, aus
lUen Zonen in den Zusammenklang der Seelen einstro-
nend, nicht nur ihr wirksames Erbe der Welt erhalten,
jondern auch alien Fluktuationen der Geschichte zum
Trotz einen Kern ihres lebendigen Wesens noch in der
lichtesten Umhiillung sichtbar bewahren konnte. Wird
ji Gronland ein Kind getauft, so geschieht es in Er-
jinerung an ein Hirtenvolk in der Jordanebene, wird in
Cincinnati ein Haus gebaut, so tragt es einen Schmuck
lus Korinth, die Sonntagsruhe der Schotten stammt aus
iem Kreise der Chaldaer, ein deutscher Patentprozefi
vird nach dem Rechtsgefiihl eines romischen Prators
jntschieden, unsere Lieder folgen griechischen Rhyth-
nen, unsere Stadtgarten sind Abkommlinge germanischer
^ Hlaine. Das Gedachtnis der Welt ist nicht Erinnerung
ies Geistes, sondern Erinnerung der Seele; wie denn
luch die einzelmenschliche Erinnerung undUberlieferung
149
nicht das aufbewahrt, was grofie mechanische Wirkun-
gen gehabt hat, sondern das, was aus Seelen kommt und
Seelen bewegt. Aus unklar dialektischem Pflichtgefiihl
bewahren wir den Namen eines Erfinders im Gedachtnis;
aber die Gestalt eines Volkskonigs und Feldherrn wird
zum Heroen.
Die rasonnierte Urges chichte der Zivilisation und
Kultur, die wir Volkerpsychologie zu nennen gewohnt
sind, lafit in grol^artiger Entwicklung aus Noten, Ang-
sten und Freuden des animalischen Lebens die Gewalten
der Sprache, der Kunst, der Sitte und des Glaubens er-
wachsen; vom Instinktiven ausgehend, durch den Krei?
des Denkens und Erfindens geleitet, endet ihr Gang, be-
wufit oder unbewuI5t, bei Werten der Seele. Und indem
auf diesem Wege die empirische Integration kleinstei
Wirkungen bis zum endgiiltigen Bestande unseres Welt-
Seelenwerte besitzes gelingt, laJSt sich der Beweis entnehmen, daJC
schopfiingen tatsachlich das Gemeinschaftsbewufitsein Schopfer diesei
Werte ist; sie sind Produkte nicht einer Summe, sondern
eines Organismus.
Beispieivom Wie es moglich ist, dal5 eine hochbegabte Gemein-
schaft in ihrer Totalitat ideelle Werte, etwa asthetischei
Ordnung hervorbringt, lal5t sich an jedem Bau erlautern,
der in Jahrhunderten langsam emporgewachsen ist, nacb
Art des romischen Forums, des Markusplatzes, des Strafi-
burger Miinsters. Eine gliickliche Situation und die ersten
unverbundenen Elemente einer Anlage sind gegeben;
Zeit, Bediirfnis und Wohlstand fordern eine Erweiterung,
einen neuen Baukorper, seit Jahren geplant, in engerei
Gemeinschaft erwogen. Die Fundamente erheben sicb
und die Gemeinschaft wendet ihr gesamtes Interesse,
das noch nicht in hundert Stadtereignissen sich zersplit-
150
H
:ert, an das nationale Monument. Jede Bauschicht er-
^achst gleichsam als eine ofFentliche Sache, ein schon
pehauener Stein wird bewundert, ein edles Beute-
ijtiick an sorgsam erorterter Stelle eingefiigt. Ein Feld-
jiug, eine Reise des Staatshaupts, eine geldknappe Zeit
linterlai^t ihre Spuren; ein Kiinstlerstreit bricht aus und
erzeugt Parteien; Sieg und Niederlage, vom Willen der
Zeit entschieden, lenken das Wachstum in neue Rich-
ning. Schon arbeitet das dritte, das vierte Geschlecht^
angsam hat Urform und Umgebung sich geandert, aber
lie Plastizitat des langsam Entstehenden schmiegt wie
isine Naturmasse dem Vorhandenen sich an und er-
lartet zu jenen unbegreif lichen Gebilden, vor denen
msere projektierende und kalkulierende Epoche ratios
;tarrt. Denn wirklich sind solche Schopfungen — das
Hihlt, wer an der Piazzetta landet — nicht Menschen-
yerke, sondern W&rke einer Menschheit; hier stehen
licht Hauser und Tiirme, sondern die steingemeifielte
i>eele Venedigs, das farbige Muschelkleid eines namen-
osen Meergottes glanzt am Strande.
Wenn nun hier ein Volk, freilich ein hoheitvoWes^ Zerrbi/der ko/-
loch immerhin anonymer Gemeinschaft, als Kiinstler ^ ^'^"* ^ aj;euj
md Genius schafFt: wie reimt sich das zusammen mit
iler Talentlosigkeit der Kommissionen, mit der noto-
rischen geistigen Minderwertigkeit der Massen, der
yersammlungen, Reprasentationen und Kollegien? Die
Antwort ist einfach. Je grower und mannigfacher ein
Organismus, desto langsamer seine Evolution. Die
Sekunde des Menschen ist im Leben der Eintagsfliege
eine Stunde, der Tag des Menschen ist im Leben des
Volkes ein Augenblick. Will man vom Volk eine
Entscheidung, so bedeutet die Abstimmung nach einer
151
I
bewegten Tagung nichts anderes als einen Hauch
Zufalls; die Reden, Emporungen und Enthusiasmen einer
Versammlung vergleichen sich den irren Halbgedanken,
die einem Menschenhirn, das fiebernd nachdenkt, im
Bruchteil einer Sekunde voriiberrasen. Note des Augen-
blickes konnen dutch schnelle Vertreterbeschliisse wohl
oder libel beseitigt werden, so, wie ein unwillkiirliches
Wimpernzucken die Miicke abwehrt; Lebensentschliisse
eines Volkes sollten nie einem Referendum anheim-
gestellt werden. Die Gesetzgebung Englands ist gleich-
zeitig die imsystematischste und die organischste der
Welt, well die Gesetzgebung des Tages sich auf das
notwendigste beschrankt, und keine grundsatzliche Frage
gelost werden kann, bevor nicht mindestens einjahr-
zehnt ofFentlicher Diskussion verstrichen ist. Der Ge-
danke eines Volkes ist erst dann zur Reife voUendet,
wenn er in den iiberwiegenden Geistern zur unbewuC)ten
Selbstverstandlichkeit geworden ist.
Anteii der Gent- Hier, WO wir Gemeinschaften nicht auf dem bekannten
tiven Schafen Wege der Arbeitsteilung und Summierung , sondern als
Gesamtgeschdpf, nicht als Organisation, sondern als
Organismus, Geisteswerte schafFen sehen, diirfen wir an
der Frage nach dem Anteil der fuhrenden Geister, nach
der Okonomik der Genialitat nicht voriibergehen. Wir
haben die seltsame Erscheinung gestreift, wonach in
genialen Naturen die Geistessafte des Volkskorpers sich
dermafien verdichten, daH) ihr Reichtum, verglichen mit
der Verarmung des Stammes gleichsam als eine Um-
kehrung der Veranlagung erscheint. Hier ist hinzuzu-
fiigen, dal5 dieser potenzierten Lebenskraft auch die
potenzierte Lebenswirkung entspricht: im genialen
Geist ereignet sich das, was im Stammesgeist sich er-
IS^
eignen soil, vollkommener, deutlicher, unvermittelter,
und demnach vor allem, friiher. Eine ganz generelle
Klasse von Naturerscheinungen wird hier beriihrt,
die von den anorganischen Massenerscheinungen bis in
die organischen Phanomene der Artenentwicklung hin-
iiberreicht, und die mit dem Namen der Fnorit^t Prhriiat bevor-
, . 1 1 11 T^' zugter EUmente
bevorzugter Elemente bezeichnet werden soil. J^^^^^ Gieicimisvondei
moglichst einfachen Fall bietet das Beispiel einer stark P^nsurscheibe
betauten Fensterscheibe in feuchtigkeit - gesattigtem
Raum. Die Tropfen, zu betrachtlicher Gr6l5e ange-
wachsen , werden im Augenblick noch ausnahmslos durch
Kapillarkrafte an der vertikalen Flache schwebend fest-
gehalten; doch wissen wir, daI5 in wenigen Minuten das
Bild verandert sein wird: der grofiere Teil des Tau-
wassers wird, der Schwere gehorchend, sich auf dem
unteren Rahmen gesammelt haben, wahrend die Scheibe
gleichmafiig benetzt und wiederum durchsichtig erscheint.
Wo aber wird das Phanomen beginnen? Hier ist ein
Tropfen etwas langlicher geformt als die librigen und
etwas umfangreicher, somit starker unter der Schwer-
kraft leidend und schon merklich liberhangend; mit ihm
ereignet sich das bisher auf der Scheibe Unerhorte, das
doch in Kiirze das Schicksal aller sein wird: er gewinnt
Bewegung. Wir wissen, was folgt; mitzwei, drei Nach-
barn vereinigt, rollt er bergab, der Weg wird zum
Kanal, der sich verzweigt, andere mitreif5t, Seitenbache
aufnimmt, die Erscheinung gewinnt Nachfolge, Allge-
meinheit, und im Handumdrehen ist die Scheibe ent-
wassert.
Die Analyse sagt: notwendige Massenerscheinung*
In alien Teilen muC) sich das gleiche vollziehen. Irgend-
wo mul5 es beginnen. Es beginnt da, wo das virtuelle
in
Abbild der Kraftebilanz am pragnantesten sich ausdriickt,
das Leiden am tiefsten, die Spontaneitat am freiesten
wirkt. Das geschieht bei diesem bescheidenen Bilde
dem bevorzugten Iropfen, beim erstarrenden See ge-
schieht es dem ersten Eiskristall, bei der Bildung der
Arten der ersten der Trockenheit trotzenden Meeres-
fauna, und bei der Entwicklung menschlicher Gemein-
schaft der genialen Natur.
WiirdeundGren- Der inneren Wiirde des hochsten menschlichen Pha-
nomens geschieht kein Abbruch durch diese Betrachtungs-
weise, die sich auf das Wirken, nicht auf das Werden
des Genius bezieht. Das wahrhaft Wunderbare bleibt
der Entelechie erhalten; dal5 in der Bliite des Genius
das gesamte Wesen des gemeinsamen Organismus mikro-
kosmisch emporbricht, dal5 in diesem einen Geist und
Herzen der ganze Menschheitskampf gekampft, der vor-
bildliche Sieg errungen wird, ist die tragisch-trostliche
Apotheose des irdischen Bewufitseins. Niemals aber darf
der imbillige Gedanke geduldet werden, daI5 in dieser
Gesetzmai^igkeit Willkiir herrsche, dal5 es dem genialen
Geiste gestattet und beschieden sei, durch selbstherr-
liche Befehle eine Menschheit aus vorgeschriebenen
Bahnen zu lenken. Irdische Gotter folgen einem
Schicksal, und dies Schicksal ist der Wille iiberirdischen
Geistes.
Naturvor- Somit ist das seelische SchafFen der Gemeinschaft
UschenSchaf-^^^^ abgebildet und prophezeit, doch nicht bewirkt und
fens nicht gelenkt vom Vollbringen des Einzelnen. Die Ge-
meinschaft selbst, das grof5e Einheitsgeschopf, dessen
millionenfache Menschenzellen jede fiir sich im zweck-
haften Denken des Tages, in der rastlosen Intellektshast
der Selbsterhaltung fiebert: dieses koUektive Gebilde
154
schafft keine Werke des Tages; es ruht, indem es sich
selbst erneuert, unbewegt von der Woge der Einzel-
notionen, emporgehoben iiber die Sphare der Emsigkeit
und Betulichkeit, der Niitzlichkeit iind der Sorge; es
wirkt in gottlicher Mufie Werke und Werte der Seele
und lebt nur und ausschlieMch fur diese Werke und
Werte. Betrachten wir das vollendete Einheitswesen
intuitiv, namlich nicht von der zerkliifteten Auf5enseite
mechanischer Summierung — so wenig wie wir Menschen,
die wir lieben, als Zellstoifagglomerate oder Blutkreis-
laufe zu betrachten gewohnt sind — , betrachten wir es
einfiihlend als begeistete Existenz, so stehen wirvor einem
Wesen, das uns in Erfiillung entgegenbringt, was wir
als ein Werdendes in uns selbst empfanden: das Leben
der Seele.
Wir haben im ersten Telle dieser Darlegung als den Erkennbar-
Kernpunkt unseres inneren Inventars und als das '^^^' iQncrQhun
tralereignis unseres Geisteslebens das Sein und Werden
der Seele erkannt; uns wurde die Aufgabe gestellt, das
gleiche Phanomen in der Welt der Erscheinung aufzu-
suchen und auszudeuten, um den Inhalt dieser Erkennt-
nis den Gebieten des objektiven Denkens und Handelns
zu erschliefien. Jetzt endlich stehen wir einer Erschei-
nungsform gegeniiber, die uns den Vorgang der Seelen-
werdung von aufien spiegelt, und zwar in einem Geistes-
komplex, welcher der Beobachtung zuganglicher ist
als unsere Individualitat. Denn unser Ich erfassen
wir nur makroskopisch; wir uberblicken nur seine
Integrale und konnen mit seinen DifFerentialsumman-
den nicht verkehren. Den Gemeinschaftsgeist aber er-
fassen wir gleichzeitig in seinen Einheiten, zu denen
wir selbst uns zahlen, und in seiner Totalitat, die wir
iSS
synthetisch begreifen. Somit ist, indem wir den Kollektiv-
geist zum Experimentationskorper erheben, und zwar
nicht mehr allein fiir intellektuale Vorgange, sondern
auch fiir das Zentralphanomen der Seelenwerdung, der
Ausgang fiir eine neue, gleichsam laboratoriumsmafiige
Erforschung und Betrachtung der Geistesevolution ge-
schafFen. Von nun an sind die Ereignisse des Geistes
nicht mehr bloI5 ein Erlebtes oder ein in seinen mittel-
baren Wirkungen Erschautes: sie sind im lebendigen
Abbild faJSbar geworden, als gesetzmal5ig abrollende
Vorgange, auf einer Bxihne, auf der wir selbst uns be-
wegen; und in Anbetracht ihrer Gesetze diirfen wir von
ihnen als von den Elementen einer Mechanik des Geistes
reden.
EhtvanJ von Bevor wir nun den objektiven geistesmechanischen
' .^'l^ '^' Gesetzen der Seelenwerdung uns nahern, dem Wesen
der Addition, der Kritik der Liebe und dem Prinzip der
Enthiillung, eriibrigt es, einen letzten denkbaren Ein-
wand gegen die Seelenhaftigkeit kollektiver Wesen ab-
zutun: den Einwand ihrer scheinbaren Immoralitat. Man
konnte namlich auf den Gedanken kommen, dal5 Volker,
die sich libervorteilen und iiberfallen, bekriegen, iiber-
winden und toten, tief unter dem Sittlichkeitsvermogen
der Einzelwesen stehen, auch wenn man zum Vergleiche
nur minderbeseelte Individuen heranzieht, die immer-
hin durch Gewohnung, Sitte, Religion und Gesetz er-
heblich besser in Schranken gehalten werden.
Es ware leicht, durch zwei Hinweise den Einwand zu
entkraften: einmal darauf deutend, daI5 die Grenzen
der Kollektivgeister sich nicht in gleich konkreter Weise
abheben wie die Grenzen korperlicher Gebilde, daJB
vielmehr Ubergange, Verschmelzungen und hohere Ge-
IS6
meinschaften die Aufstellung aller interkollektiven Ge-
sellschaften und Verkehrsprobleme abweisen. £s ware
ferner gestattet, geltend zu machen, dal5 alle Hem-
mungen, die das Einzelwesen sittlich machen, Produkte
der Gemeinschaftsseele sind; dai5 der Einzelne ohne
diese Hemmungen jenen vorbildlichen Rang, den der
Einwand ihm zuweist, keineswegs behaupten wiirde,
und dall> die Sittlichkeit der Gemeinschaft, nach innen
wirkend, sich somit ausreichend betatigt.
Fiir die Vertiefiing des Problems kann es uns will- Zufav/igkcU
kommen sein, das Wesen des Kollektivgeistes noch ein- Regungen
mal innerlich zu fassen, und uns zu erinnern, daf5 seine
wahren Regungen relativ grower Zeitriiume bediirfen,
Alle plotzlichen Entflammungen des Tagesgeistes, den
man ofFentliche Meinung nennt, bedeuten in unserem
Gedankenkreise nicht WillensauI5erungen, sondern Re-
flexbewegungen; selbst das Pathos der Kriegsbegeiste-
rung kann passageren Anfallen entspringen, wenn niche
Druck und Aufschwung, wie vor hundert Jahren, alle
Fasern durchzittern und aus der Inbrunst aller Schmerzen
den Funken der Entscheidung iosen; dann aber spricht
die Stimme der Selbsterhaltung, nicht der Aggressivitat.
Hingegen lief das, was im Juli 1870 in Paris geschah,
auf unbewufiyte Regungen eines mechanischen Paroxys-
mus hinaus, und selbst die riihmliche Kriegslust unseres
eigenen Volkes entsprang in diesen Tagen nur insofern
kollektivem Willen, als die Nation zur Verschmelzung
strebte: der Umschwung zum AngrifF war rapides Er-
zeugnis einer genialen Politik. Daher sind die franzo-
sischen Dialektiker nicht ganz im Unrecht, wenn sie
mil!)liebige Kriegsabenteuer als Angelegenheiten nicht
der Nation, sondern ihrer Fiihrer auszurufen pflegen,
157
wahrend sie alien Erfolg dem Volke vindizieren, in der
stillschweigenden Voraussetzung, dal5 man mit einer
blinden Masse nicht siegen kann. Es hat zu jeder Zeit
kriegslustige Menschen einzeln und in Vereinigungen
gleichgesinnter Auswahl gegeben, auch kriegsstarke
und kriegsgeiibte Volker; niemals aber war der Krieg
eines Volkes Endzweck: Wasserstellen, Triften and
Acker wurden aus Not begehrt, und hinweggefegt die,
welche sich berechtigt glaubten, zu sperren, und zu
schwach waren, zu verteidigen. Selbsterhaltung eines
KoUektivwesens ist aber nicht nur nicht Immoralitat, son-
dern Voraussetzung jeder Moralitat; ihre Mittel sind nicht
gewaltsamer als die des Einzelnen, der mit jedem Schritt
seines Ful5es imgezahlte Existenzen vernichtet.
Grenx.enderVer' Noch weniger konnen politische Praktiken der Fiihrer,
snttuortung ^^^ .^ Namen und Interesse der Gesamtheit geiibt
werden, der sittlichen Gemeinschaftsrechnung zur Last
fallen. Der Kollektivgeist wirkte verantwortlich, indem
er sich eine politische Organisation erwachsen liel5; sie
ist einer der Leiber, deren der Geist sich unzahlige
schafFt. Nim wirkt der politische Organismus auto-
matisch, in seinen Einzelfunktionen dem Gesamtgeist
unbewufit; wie etwa unser Kreislauf einen Blutkorper
zum Wundersatz abordnet, so scheidet er Menschenein-
heiten zu beliebigen leistenden oder leitenden Berufen
aus. Der leitende Exponent fuhlt in sich das Abbild
aller Gemeinschaftsbediirfnisse einer gegebenen Kate-
gorie und hat sich fiir diese zu op fern. Sein Handeln
entspricht dem InbegrifF seiner geistigen Krafte ohne
Riicksicht auf eigene Wahl und eigenes Gliick; wohl
ihm, wenn seine Krafte stark genug sind, um den jeweils
wirksamsten Schachzug mit den Erfordernissen eigenen
158
Sittenempfindens zu vereinigen; sind sie cs nicht, so
bleibt ihm die Wahl, sich auszuschalten oder die Ver-
antwortung zweifelhafter Mittel zu rragen. Nur dann
belasten solche Mittel den Gemeinschaftsgeist, wenn die
Organisation, die er sich gegeben hat, so schlecht ist,
dafi iiberwiegend unfahige oder skrupellose Einheiten
zur Verantwortlichkeit aufgerufen werden; aber auch in
I diesem Falle ist das Vergehen des KoUektivwesens nicht
j Immoralitat, sondern Schwache.
I Wir kehren zuriick zu der Frage: welche Grundbe-
I dingungen miissen gegeben sein, damit in einer Gemein-
j schaft das Gesetz der Seelenwerdung erfiillt werde?
I Zunachst mul5 die Gemeinschaft lebendig sein. Es Bedingungen
• 1 1 rt • • • T^T 1 1 .. • 1 • . • der seelischen
[i genugt nicht, dalo sie wie eine Wohltatigkeitsveremigung £vQiutioii
oder eine Zweckgesellschaft dutch Erklarungen, Ver-
: pflichtungen und Leistungen eine beliebige Anzahl von Innne Lebens-
Menschen zusammenrafFe , die auI5erhalb menschlicher^''"'^'^
Beziehung auf irgend einem Sondergebiet ahnliche Ab-
sichten vertreten. Es genugt auch nicht die enge Nach-
barschaft etwa der Einwohner eines Gefangnisses oder
der Parteien eines Miethauses oder der Passagiere eines
Uberseedampfers: die erste Voraussetzung ist inneres
Leben des Gemeinwesens, und dieses Leben ist geistige
Beriihrung und geistiger Austausch.
Hieraus ergibt sich als zweite Notwendigkeit die innere Abgren-
innere Abgrenzung. Eine Volkerschaft , die aufgelost
und in der Welt zerstreut lebt, kann noch lange nach
ihrer Explosion in ihnen zerstuckten Gliedern gemein-
same Eigenschaften und Erinnerungen bewahren, aber
jie kann nicht mehr die Kraft schopferischer Seelen-
gemeinschaft entfalten. Ebensowenig kann der geistige
[nhalt eines willkiirlich abgemessenen geographischen
159
Wf^
BegrifFs, Siidamerikas oder Australiens, seelisch vi
schmelzen; das gleiche gilt von den ideellen Stammes-
komplexen, etwa des Panslawismus, Panmongolismus, Pan-
afrikanismus, Panmuhamedanismus. Sie bedeuten des-
wegen weder politische noch kulturelle Weltgefahren,
weil sie nicht seelische Einheiten, sondern agitatorische
BegrifFe bezeichnen. Im librigen ist immer wieder zu
bemerken, dal5 weder physische noch intellektuelle Ahn-
lichkeit der Glieder mit wirkender physischer Gemein-
schaft gleichgesetzt werden darf.
Es ergibt sich vielmehr die liberraschende Wahrneh-
mung, dal5 ebensowenig die entschiedenste Uberein-
stimmung der Eigenschaften wie die ofFenkundigste
Gleichrichtung der Interessen und Wiinsche an sich aus-
reicht, um die Verschmelzung zu seelischer Einheit zu
erzwingen, wahrend umgekehrt allzuhaufig aus Gemein-
schaften verschiedenartigster Abkunft und mannigfachster
Willensorientierung das Phanomen der Seelenwerdung
erwachsen ist. Wir kennen Stamme und Volker von
ausgesprochener physischer Gleichformigkeit, hoher in-
tellektueller Einsicht, ausreichendem Wohlstand, leb-
hafter innerer Bewegung, normaler politischer Einheit-
lichkeit, die keiner seelischen Kultur fahig sind und
waren; wir kennen tausendfache Gruppen von Partei-
gangern, Interessenten, Glaubigen, Fanatikern, Werks-
genossen, die in engster Benihrung des Verkehrs und
der Arbeit nichts anderes als mechanisch materielle Ge-
meinschaftswirkung gezeitigt haben.
Wohl aber sehen wir kleine, fast unscheinbare Volks-
gebilde gemischter Bevolkerung an seelischer Gewalt
die machtigsten Zivilisationskomplexe iiberstrahlen, so
unvergleichlich, wie die Vereinigten Staaten von Hellas
i6o
die der Union iibertreiFen; vvir sehen im engen Kreise
hcJischer und geselliger Gemeinschaft, ja selbst in haius-
lichen Schranken familiaren Lebens Keime und Triebe
schaffender Seeleneinheiten sprossen.
Wo aber immer wir solcher Krafte gewahr werden, Innere Binduni
in stammverwandten und gemischten, in nationalen und
hauslichen Gemeinschaften, immer sind sie begleitet von
einem und dem gleichen Gefiihlspaar: dem Gefiihl der
Verwobenheit und des Opfersinns. Niemals ist in einem
Volk oder einer Stadtgemeinschaft seelische Kultur er-
wacht, ohne dafi) ein leidenschaftliches Nationalgefiihl,
Stammesbewuf5tsein und Heimatsempfinden lebendig
war, niemals ist eine engere menschliche Vereinigung
seelisch produktiv geworden, ohne dafi ein Band der
Herzen sie zusammenhielt. Die staatenbildende und
nationale Kraft der Volker, ihre Fahigkeit, sich als eine
Einheit zu empfinden, diese Einheit hoher zu stellen als
alles individuelle Leben, in ihr aufzugehen, fiir sie sich
liinzugeben: dieses transzendente Gefiihl erhohter Ord-
nung ist schlechthin die Voraussetzung und der Mafi-
stab aller seelischen Gemeinschaft, gleichviel ob sinn-
bildlich die Ordnung gekettet sei an die Symbole des
Landes, des Stammes, des Staates, der Dynastie oder des
Gottes.
Diese Empfindungenwird man schwerlichverwechseln
mit den armlichen und transzendenzlosen Regungen
nationaler Eitelkeit, die nichts weiter als naive Verall-
gemeinerungen individueller Selbstgefalligkeit bedeuten.
Echtes Gemeinschaftsgefiihl halt sich in selbstbewul5tem
Gleichgewicht gleich fern von Hal5 und Uberhebung;
sein Mafi ist nicht Aggressivitat, sondern Opfermut.
Diirfen wir in diesem verbundenen und verbinden- Liebe
I
i^i
den Kraftepaar das eigentliche Moment der geistigen
Addition, den Faktor erblicken, der den Gemeinschafts-
geist zur Seelenentfaltung 2usammenfal5t, so erscheint '
die neue Erkenntnis uns bald als Selbstverstandlichkeit
vertraut: denn was soUte anderes den inneren Grundil
jener wunderbarenVerschmelzung ausmachen,wenn nichtl
das alte, allzu ratselhafte Band der Hingabe, der Ver-
webung, der Entaul^erung und des Opfers? Das Element
aber dieser Krafte, das aufzusuchen uns oblag, ist die^
Liebe.
Definition Hart und kalt ist die Definition Spinozas: Liebe sei
Freude, begleitet von der Vorstellung einer aul5eren Ur-
sache. Dann ware jedes Wohlgefallen Liebe, selbst die
Freude am schonen Wetter oder an einem tiichtigen
Verbrauchsgegenstande verdiente diesen hohen Namen.
Wahrhafter und gr6l5er ist der Spruch Augustins, der die
Liebe ein Leben nennt: vita quaedam, duo aliqua copu-
lans. Hier ist dem Gedanken der Vereinigung und Bin-
dung Gerechtigkeit geschehen, aber von der Art der Ver-
kettung ist nichts gesagt. Das hochste, was liber das
Wesen der Liebe geschrieben steht, enthalten die ewigen
Worte Pauli im dreizehnten Kapitel des erst en Korinther-
briefes.
Begehrenund In der begehrenden Leidenschaft der Geschlechter
^^ ^ erfahren wir den InbegrifF irdischer Liebe; deshalb wird
es uns schwer, Begehren und Liebe zu trennen. Be-
gehren ohne Liebe ist uns verachtlich, Liebe ohne Be-
gehren scheint uns kraftlos. Die Natur konnte die irdi-
sche Fortdauer ihrer Geschlechter nicht starker sichern
als durch die Verkniipfung des Triebes mit der Liebe;
so scheinen die beiden Gewalten uns untrennbar, fast
identisch, und wir erkennen kaum die ungeheure Para-
doxie ihrer Kuppelung. DerTriebverlangt zeitliche innige
Naherung, die Liebe verlangt ewigen Bestand. Der Trieb
will besitzen, Herr werden und genieI5en, die Liebe will
aufgehen, sich opfern, verschenken. Der Trieb bietet
die hochste Lust dem Eigenwillen, die Liebe findet ewiges
Gliick in der EntauGerung. Es ist ein niichterner Irr-
tum, zu glauben, dafi die Natur die Kraft der Liebe in
den Dienst des Triebes beschwor, um die Erziehung der
Kinder durch monogames Familienleben zu schiitzen; die
Familienerziehung, insbesondere in monogamer Ehe, ist
keine Naturnotwendigkeit, sondern eine Moglichkeit von
vielen, und es spricht manches dafiir, dafi mit dem Er-
starken neuer Staatsgedanken andere Formen ihr zur
Seite treten werden.
Auch der Instinkt der Mutterliebe ist kein Beweis Mutterliebe
fiir die immanente Zusammengehorigkeit von Liebe und
Trieb; die Mutter liebt im Kinde nicht ein Gegenwesen
ihrer mystischen Wahl, sondern den losgelosten Anteil
ihrer selbst, die irdische Unsterblichkeit ihres eigenen
Ich. Ihr heifies und heroisches Gefiihl tragt von aulben
die friihesten Zuge altruistischer Liebe; im Innern aber
beharrt es als edelste Form der Eigenliebe.
Eigenliebe aber fiihrt zu Unrecht den Namen des Eigenliebe
Gefiihls, dessen Begriff sie aufhebt. Sich selbst kann man
fiittern und pflegen, hatscheln und verwohnen; abernie-
mand kann sich mit sich selbst vereinigen, sich fiir sich
selbst entaul^ern, hingeben und opfern. Eigenliebe ist
Eigensucht, Selbsterhaltung, Betonung und Absonderung
des engsten Ich; sie vernichtet die Liebe, die darauf aus-
geht, die Grenze des Einzelwesens zu sprengen, das Ich
im Du aufzulosen und das Versprengte zu hoherer Ein-
heit zu binden.
163
Parodoxieder So bleibt die Liebe als das Ratsel und Wunder dei
Zweckwelt ganz auf sich selbst gestellt. Der Trieb rufi
ihre Hilfe an, und sie leiht ihm Macht, damit im Leber
eines jeden Menschen, selbst des materiell gebundenen
ein Augenblick der Transzendenz, der Zweckentrissen-
heit, der Unbegrenztheit aufleuchte. Aber der Trieli
kann die ihm fremde Gewalt nicht beherrschen; wm
iiber die engen Ziele seines Geschafts hinaus werden ihir
die Geschopfe enthoben, die er friedlich paaren woUte
und die er nun in die Flammen apotheotischer Opferungi
stiirmen sieht.
Kritik der Rund umher in dieser mittleren Welt dient alles sicti
selbst, seiner Art und seiner Zukunft. Auf der Trias:;;
Selbstbehauptung, Zweck und Mittel ist sie aufgebaut
Denken, Handeln und Geniel5en sind ihre Motoren, Ent-
wicklung ihr Weg. Das ist die Welt, die vom Granit hh
zum Menschenhirn der Intellekt beherrscht und kennt.
Nun tritt die Liebe hervor, zerstorend und verfliich-
tigend den Aufwand des materiell gesattigten Geschehens
Die Selbstbegrenzung schwindet, der Eigenzweck ist auf-
gehoben, mit ihnen sinken die Machte des Begehreni
als Mittel und Krafte ins Schattenhafte. Nicht als irdi-
sche Tauschung erstirbt das Ich, um einen Aschenrest
absoluteren Wesens zu hinterlassen, sondern es ent-
schmilzt verlorener Einsamkeit, um im Hoheren zu er-
stehen. '
Im intellektualen Denken gipfelt die sichtbare Schop-
fang, einschliel5end das irdische Menschentum. Die un-'
entrinnbare Orientierung des intellektualen Denkens abei
liegt im Ziel und im Zweck. Hier nun erhebt sich eine
paradoxe Kraft, die beide vernichtet, indem sie das indi-
viduelle WoUen aufhebt, xmd dennoch synthetisch wirkt,
164
i
indem sie das Einzelstrebige vereiiiigt. So steht die
Liebesgewalt an der Grenzscheide unserer Tageswelt,
und zugleich an der Pforte zu neuemLeben; die hoch-
sten Krafte des Diesseits half sie entfesseln, die stillen
Machte der Einkehr lehrt sie sammeln.
I Konnte die Kraft, die wir suchten, andere Ziige tragen Liebe als
als die, welche uns im Bilde der Liebe vertraut sind, die j^oment
Ziige der Selbstaufgabe und Verschmelzung, der Zweck-
auflosung und Wiedergeburt? So geartet vermag sie
allein unserem Empfinden das Phanomen der Seelen-
schopfang zu rechtfertigen; wir erkennen wiederum wie
zu Anfang unserer Betrachtung: Seele entsteht durch
Liebe.
I Diesmal jedoch erscheint die Wahrheit uns in ihrer
objektiven Form; nicht mehr als hinzunehmende Erfah-
ning inneren Erlebens, sondern als begreifliche Gesetz-
mai^igkeit der vereinbarten Welt. Im gleichen Licht des
erschauten Tages begegnet uns die zweckfreie Aul5er-
weltlichkeit der Seele, die sich vormals durch Einkehr
uns oiFenbarte.
j Wir stehen im Mittelpunkte unseres Denkens. WirRiickblick
wnrden uns bewull)t, daI5 der zentrale Vorgang unseres
inneren Erlebens in der Erweckung der Seele begriffen
sei. Wir stellten die Aufgabe, in der Welt der Vor-
stellung diesen beherrschendenMoment der inneren Evo-
lution symbolisiert zu finden. Die Welt der Vorstellung
ergab sich als ein Phanomen der Wirkung Geist auf Geist
und der Vereinigung Geist mit Geist. Das Element der
Addition blieb vorerst im Dimkel; doch erkannten wir
jbeim Vorwartsschreiten, dal5 ein Experimentationsgebiet
'ifiir die Vorgange des individuellen Geisteslebens uns ge-
Igeben sei: ein makroskopisches Bild entsteht uns in der
«<5f
Beobachtung des kollektiven Geistes, innerhalb dessei
WIT uns wissend und bewu^t bewegen. Es gelang uns
in diesem Bilde das Phanomen der Seelenwerdung zu er
kennen, und zugleich mufite das Additionselement, da
dieses Phanomen zuwege brachre, sich uns enthiillen. Ii
seiner Betrachtung verharren wir, indem wir dem Ge
setz der Reihen folgend fiir die niederen Phanomene ver
langen, was wir fiir das hochste der beobachtbaren er
kannt haben. Wir formulieren die Grundgesetze eine;
Mechanik des Geistes, indem wir aussprechen:
Gesetze der i. Geist hoherer Ordnung entsteht, wenn Geist mi
Mechanik des ^ . 11.. . . . .
Geistes Geist additiv sich veremigt.
2. Das Moment der additiven Vereinigung ist eii
wirkendes Element, das in seiner hochsten uns bekanntei
Form als Liebe sich darstellt.
Aufbau der Blicken wir nun ruckwarts liber das gesamte Gebie
des Gesetzes ^^^ vorgestellten Welt, so zeigt sich ihre gesamte Archi
tektur unter dem Bilde fortschreitender Addition. In
Vbrorgani- Nebel der Raume verlieren sich Urelemente beliebige;
sche Welt
Ordnung. Sei es als Impulse der Schwerkraft, sei es al
Trager des Lichts oder der Ladung treten hochkonsti
tuierte Additionskomplexe zum ersten Mai in den Bild
kreis menschlicher Vorstellungskraft. Abermals folger
Summierungen unbekannter, unabsehbarer Ordnungs
reihen, bis endlich, der Berechnung und Beschreibunf
zuganglich, der sinnlichen Beobachtung noch auf imme:
entriickt, der Weltkorper des Atoms mit seinen Traban
ten erscheint und sich zum komplexen Aufbau moleku
later Organismen fiigt. In mechanischer Haufung, die
keiae organische Addition in unserem Sinne, vielmehj
nur lockere Vervielfaltigung bedeutet, erwachsen au;
diesen Einheiten greifbare Korper, Gestirne, Sonnen
1 66
I
systeme, Milchstral5en, VVelten beliebiger geometrischer
Ordnung, wahrend die reine Addition abermals unbe-
kannte Reihen durchlauft, bis die organische Zelle in den
Brennpunkt sinnlicher Wahrnehmung und wissenschaft-
licher Beobachtung vordringt.
In diesem letzten Wege ist die Urzeugung beschlos- Organisierte
sen, deshalb darf erwahnt werden, welcher Art sie im
Geiste dieser Darlegung zu erfassen ist. Im transzen-
denten Sinne besteht kein Problem einer Generatio aequi-
voca, denn alles Seiende ist Phanomen des Geistes, so-
mit des Lebens. Das Leben kennt Abstufung, aber keinen
Gegensatz; Lebendes aus Nichtlebendem wird nicht er-
weckt. Im praktischen Sinne lautet die Frage: gelingt
es oder gelingt es nicht, Phanomene geringeren Lebens
in Phanomene hoheren Lebens, im bekanntesten Fall das,
was unorganisierte Substanz genannt wird, in das, was
organisierte Substanz genannt wird, liberzufuhren?
Wir beriihrten schon friiher die Tatsache, dafi alle Lebenskrafte
unsere Methoden der Substanzbehandlung auf Massen- ^g
wirkunghinauslaufen. Gleichviel ob wir heizen oder kiihlen,
elektrisieren, bewegen oder mengen, immer lassen wir
Gleiches auf Gleiches, Massen auf Massen wirken. Wir
behandeln gleichsam Haufen, Volker oder Herden, aber
unter dem Gesetz, daI5 wir niemals mit dem Individuum
in Verkehr treten diirfen; wir konnen nur im grofien und
ganzen auf ihre Summen wirken, und auch dies nur unter
Anwendung von Massenmitteln. Es ist, wie erwahnt, die
Analogie eines trivialen Bildes : man schiittelt Haken und
Osen, und kann nicht mehr erwarten, als daft bestenfalls
alle Paare sich verschranken. Ein Feldherr, der ohne
personliche Anweisung und Einwirkung auf einzelne sich
damit begniigt, WafFen, Ausriistungen und Nahrungs-
167
mittel in seine Armee zu schiitten, wird eine allgemeine
Verwendung dieser Mittel, aber nicht die gewollte Aus-i
bildung erreichen. Verlangt man hochsten Ausbau des^
Elements, stetes Durchlaufen zahlloser Entwicklungs-i
reihen, so miissen innere Krafte, personliches Wollen]
geweckt werden. Dies ist das Wesen der Lebenskraft:
sie ist nicht Massenwirkung, sondern Einzelwille; und so-'
lange wir nur anonym, nach dem Gesetze grower Zahlen.
Massenwahrscheinlichkeiten aufzurufen fahig sind, wer-l
den wir den lebenweckenden Spuren der Natur nichtl
folgen. Konnte der Chemiker zum Ziichter werden, so
ware die Urzeugung enthiillt.
Lebenswille, Fast unter unseren Augen vollzieht sich der additio-i
Kampf nelle Aufbau zum lebenden Organismus. In ihm er-l
scheint, unserer Wahrnehmung erkennbar, eine neuei
Welt des Geistes; der Bezirk des zustandlichen, ereignis-
losen, vorwillentlichen Lebens ist durchschritten, und mit
der Zerstorbarkeit und Gefahrdung der hochgebildeten
Form tritt der Erhaltungsdrang, der Lebenswille, das
Zweckstreben und der Kampf hervor. Durch alle Raume
gegossen erfiillt das Heervolk der organisierten Lebens-
elemente jede Existenzmoglichkeit; alles substantielle
Geistesabbild strebt diesem Wege zu und auf ihm der
hochstkonstituierten Form entgegen, weil sie die starkste
Verteidigungskraft gewahrt. Alle lebensreifen Gestirne
miissen von organisiertem Leben bedeckt sein, und auf
alien mul^ der Lebenskampf bestandig von physischen zu
intellektualen Formen schreiten. Wille, Zweck und
Kampf aber verwehren der organisierten Natur den Zu-
sammenklang. Sie wiirden die Schopfung in ein neues
Chaos zersprengen; der Intellekt wiirde zum weltver-
nichtenden Prinzip emporwachsen, wenn nicht in der
1 68
Schule des Intellekts der Geist zur neuen Synthese reifte,
die in der Verschmelzung des Menschen zu Menschheits-
ordnangen uns entgegentrat.
Wir werden im Verlauf der Darlegung auf die ein^ig- SeelischeWelt
artige Doppelstellung zuriickzugreifen haben, welche im
Gang der Erscheinungse volution der menschlichen Seele
beschieden ist. Wir haben im Experimentationsbilde
Seele entstehen sehen bei der Addition menschlicher
Individualitaten als Gemeinschaftsseele, durch die Bin-
dung der Liebe. In gleicher Gesetzmafi)igkeit entstand
zuvor Intellekt aus der Summierung lebendiger Elemente
zu Individualges chop fen. Menschliche Seele aber ent- Entstehung
steht nicht nur in der Vereinigung Mensch und Mensch, g^^j^
sondern zugleich und nochmals in der inneren Verschmel-
zung menschlicher Krafte zur Einzelseele. Es tritr so-
mit innerhalb des menschlichen Geistes ein der Liebes-
kraft analoges Streben auf, das mit der fails chlich be-
nannten Eigenliebe nichts gemein hat, eine fiir sich
stehende, namenlose Konzentrationskraft, die uns aus Tnnere Liebe
innerer Erfahrung vollkommen vertraut ist. Wir kennen
die innere, tragheitsartige Hemmung, die uns bis zur
Verzweif lung hindert, das geistige Auge zu ofFnen ; die
uns in den Staub des Alltags niederdriickt, da wir doch
gewii5 sind, nur ein diinner Vorhang verschliel^t uns das
Licht. Nicht Willensenergie ist es, die den Vorhang
hinwegblast, sondern ein inneres Sammeln, das ist Ver-
einigen der intuitiven Krafte; weder eine Kraft, noch
eine Tragheit, noch einSchmerz mui5 liberwunden werden,
sondern Erstarrung. So ist es erklarlich, dafi) der Mensch
vermeint, nur eine aull)ere Gnade konne die Lebensbache
vom Frost erlosen und die innere Liebe erwecken, die
se^lenschaiFend nach dem Bilde der aufieren Liebe wirkt.
X69
An diesem grofien Wendepunkte lost sich der Kampf.
Der Kreis der selbsterhaltenden intellektualen Natur ist
geschlossen, und auf welchem Gestirn auch immer hoch-
entwickelte Geschopfe der liberintellektualen Synthese
sich nahern: immer werden sie an der Grenze des mitt-
leren Lebens stehen, und immer wird das Reich, das sich
ihnen erschlief5t, das Reich der Seele sein. Diese aber
ist die dritte uns begreifliche Form des Geistes.
Absteigendes Der Gedankengang, der uns den Weg der Geisies-
addition im aufsteigenden Sinne verfolgen hiell), zwingt
uns, eine entgegengerichtete Bewegung, gewissermaI5en
einen zweiten Wellenzug in absteigender Richtung vor-
zustellen. Denn auch in dieser Orientierung mufi die
Reihe unendlich sein; und da das unendlichfach geteilte
Element nicht erreicht wird, somit aus ihm ein Auf bau
nicht erfolgt, so muI5 die Teilung ins Kleinste, ebenso
wie die Summierung zum Gr6l5ten, unablassig weiter
vorschreiten. Ein Abbild dieser progressivenUnterteilung
gibt uns die Denknotwendigkeit der Wissenschaft, die,
um ihre Phanomene mechanisch zu erklaren, gleichfalls
zu immer subtileren Athermedien ihre Zuflucht nehmen
mufi. Ein dunkles Gefiihl mochte ahnen machen, dafi
die beiden Wellenziige im Unendlichen sich wiederum
vereinigen, doch versagt die Vorstellung dieser nebel-
haften Feme und Subtilitat.
Kritik der Das unendliche Aufsteigen des Geistes, dessen zwei
nachst benachbarte Stufen uns bekannt und begreiflich
sind: durch Z week zum Intellekt, dutch Liebe zur Seele,
dieses Urphanomen miissen wir als ein Gegebenes, der
Kritik Entriicktes hinnehmen. Aber wie friiher erwahnt,
die Grunderscheinungen des Geistes haben nicht das
widerspruchsvoU Bedriickende fiir Denken und Empfin-
170
dung, das alien materiell-mechanischen Gnindgesetzen
anhafret und uns zum bestandigen Widerspruch zwingt:
warum gerade so? warum nicht anders? warum nicht mehr,
nicht weniger Mannigfaltigkeit? warum liberhaupt die
Willkiir, die in der Einseitigkeit eines jeden ErschafFenen
liegt?
Geist, als Trager jeder Moglichkeit, lost alle Ur-
sprungsfragen und Einseitigkeitszweifel hinweg, indem
er gleichzeitig das erfassende Denken in sich einordnet
und mit seiner eigenen Evolution die Evolution derKritik
mitreifit. Jede Welt schafFt ihr adaquates Erfassen, jedes
Erfassen schaiFt die ihm adaquate Welt. Gang und Stufen-
folge ist das Immanente unseres Erlebens, deshalb ist der
Geist, den wir erschauen, ein auf- und absteigender.
Hierin liegt keine beunruhigende Willkiir mehr: denn
alles wahrhaft Denkbare ist moglich und real, und alles
Reale und Mogliche ist denkbar.
Wollen wir aber das auf einer Stufe Erschaute in Gleichnisse
Denk- und Gebrauchsformeln fassen, so entsteht Dogma-
tik; denn wir konnen nichts anderes als die Alltagsbilder
unserer Vorstellungswelt verwenden, um Gesetze, die
weit iibergreifend dieses Leben beschatten, in unserem
Hohlglas aufzufangen. Soil es dennoch geschehen und
die Frage aufgeworfen werden, wie das Emporsteigen
von Geist iiber Geist moglich sei, so bieten sich uns die-
jenigen Bilder, die etwa bei hydraulischen, optischen und
magnetischen Phanomenen uns eine Vorstellung geben,
wie urspriinglich vorhandene, aber zur Wirkungslosigkeit
zerteilte Krafte sich sammeln, verstarken und hervor-
treten, sobald Triibungen, Vermengungen, Unordnungen
sich abgeklart und losgesondert und geschlichtet haben.
Wir diirfen uns vorstellen, daS Geist in unendlicher Zer-
171
spalrung der Klarheit ermangelt, dai5 alles Aufsteigen
ein Wiedersammeln des Gleichartigen, ein Gleichrichten
des Wirksamen bedeutet, und dafi die versprengten und
latent gewordenen Krafte zu ungemessen erhohter Rein-
Gesetz der heit und Macht sich lautern. Das Empordringen des
^Geistes entsprache somit nicht einem Gesetze der Er-
schaffung, sondern der Enthiillimg. Gleichzeitig ware
damit des zweiten Wellenzuges zu gedenken, der immer
fortwirkend das Element um Aberelement zermahlt
und als Prinzip des Abbaus die Materialien erneuten
Aufbaus schafFt.
Symbole der Ware es erlaubt und erfordert, diese dogmatische
Vorstellung in Bildern kindlicher Glaubensformen aus-
zudriicken, so wiirden die alten Gleichnisse jener gran-
diosen Weltbewegung zu wahlen sein, deren Auf- und
Abstieg im vorzeitlichen Abfall gottlicher Machte, im
Siindenfall des geschaffenen Menschen und in der Er-
losung durch opfernde Liebe symbolisiert ist.
Evolution Im Auge zu behalten bleibt, dafi nichts uns notigt,
der Konstanz ^^ Gesetz analog dem von der Erhaltung der Materie
fur den Geist zu postulieren. Mag dies Gesetz fur die
molekulare Welt mit beliebiger Annaherung gelten: es
verliert immer mehr von seinem Sinn, je weiter man sich
von der durch Krafte mefibaren Substanz entfernt und
je tiefer man die Reihen hinabsteigt, aus denen plane-
tarische Substanz sich entwickelt. Erinnern wir uns, daiS
physische Substrate Erscheinungsformen des Geistes sind,
womit keineswegs gesagt ist, daI5 Geist ausschlielMich nur
in diesen Substraten sich manifestiert, so scheint die Uber-
tragung des Gesetzes von der Erscheinung auf den Grund
noch weniger geboten, am wenigsten da, wo von auf- und
absteigender Entwicklungsform des Geistes die Rede ist.
17^
Hieraus ergibt sich, dafi der Additionsvorgang nicht
im arithmetischen Sinne betrachtet zu werden braucht,
demzufolge die Summe nichts enthalten diirfte, was nicht
bereits in den Komponenten nachweisbar ware; gleich-
viel ob bei der Bildung des Intellekts und der Seele
latent gewesene Potenzen befreit werden, oder ob sich
neue, frei hinzutretende Emanate bilden: es ist voU-
kommen denkbar, dafi die Komponenten in voller oder
fast unverminderter Virulenz erhalten bleiben, nachdem
sie den gewaltigen Akt der geistigen Zeugung durchlebt
haben, und nachdem das Emanat dieser Zeugung in stark-
ster Realitat als Drittes erstanden ist.
Nichts hindert somit, die Summe des Geistes in der Wachsen des
Welt als wachsend zu denken; ja dieser Vorgang findet
im Bilderbuch der planetaren Erscheinung sein Gleich-
nis, indem die Summe des Oberflachenlebens unserer
Kugel seit ihrem Erkalten zu unermefilichem Reichtum
sich gesteigert hat und taglich steigert.
Diese Zwischenbetrachtung des Additionswesens ge- Problem der
winnt an Bedeutung, wenn die Frage der Zerstorbarkeit n^chtun^
und Sterblichkeit hoherer Geistesstufen gestellt wird.
Sucht man die Antwort am makroskopischen Experi- Priifiing am
mentiertisch, so scheint sie nicht trostlich zu lauten. Ein ^^^^ tivge-
Kollektivgeist, Stadt, Stamm oder Staat, hat seine Seelen-
frucht getragen. Naturereignisse oder Kriege brechen
herein; die Einwohnerschaft wandert aus, geht unter, ver-
mischt sich, Stadt und Land veroden, Tempel und Bilder
zerfallen, Sprache, Literatur und Religion werden ver-
gessen: somit scheint die Seele, die Kollektiverscheinung
war, im Hinschwinden ihrer Elemente gestorben und ver-
nichteto Hier steigt schon ein Bedenken au£ Ist es nicht Vergangene
seltsam, daI5 keine Kultur uns verloren gegangen ist?
173
■
Berge unci Graber offnen iich, das Meer gibt seine Beui
wieder, Steine reden und Erze beleben sich, Urkunden
zeugen und vergessene Sprachen klingen. Wir wissen
von Griechenlands Urges chichte mehr als Herodot und
von Roms Anfiingen mehr als Livius und Tacitus. Mag
dies Schlummern und Erwachen alter Seelenwerte eine
ungesetzlich gliickliche Fiigung sein: so sind andere
Seelenkrafte der Vorzeit unverloren und noch heute
lebendig. Wir wohnen umgeben von griechischen Bau-
gedanken und Schmuckwerken, romische RechtsbegrifFe
und Kultformen leben in unseren Tribunalen und Kir-
chen, unsere Sprachen sind erfiillt von klassischen Ge-
danken und Philosophemen, unsere Kunst ist geschult an
alten Proportionen und Darstellungsweisen, unser reli-
gioser Besitz ist erwachsen aus morgenlandischen Ver-
kiindigungen. Wir waren nicht was wir sind, wir dach-
ten nicht unsere Gedanken, wir lebten am Ende in Wal-
dern und Einoden, ware nicht die Seele der Vergangen-|
heit in uns gefahren und unter uns lebendig. ''
Ein schwer zu erklarendes Gefiihlsmoment darf noch-
mals erwahnt werden. £s ist, als ob vergangene Kultur
am Boden haftet und eine traumhaft leuchtende Atmo-
sphare iiber ihn breitet. Das Land, das die Flamme der
Seele getragen hat, verdunkelt nicht. Wir horen von
den Urwaldern Brasiliens und den Naturwundern inner-
asiatischer und australischer Reiche und ahnen die Hoheit
unbenannter Berge und unerblickter Fliisse; aber diese
Lander reden nicht, und die Zierate ihrer armseligen
Volker sind uns Zeugen einer Sterilitat, die tiefer liegt
als im Menschenherzen. Der Kalkstaub, der auf der
Strafie nach Eleusis weht, bewegt unsere Seele starker
als Mangoduft imd Kolibriflugel.
174
Fast mochte man die umgekehrte Frage stellen: ist
iiberhaupt Natur und Menschenkraft imstande, den
Seelenbesitz eines Volkes aus der Welt zu schaiFen?
Wird nicht stets, erobernd oder geknechtet, die reichere
Seele im Geiste siegen und beharren?
Noch immer lafit sich erwidern: wenn diese schein- Materialisation
qar abgeschiedenen Volkerseelen lebten; nicht meta-
phorisch gesprochen, in Wirkung und Gedachtnis, son-
dern selbstempfindend, leidend-selig, abgegrenzt und
wahrhaft lebten; mufiten wir nicht deutlichere Zeugnisse
dieser abgeschlossenen Existenz aufzuweisen haben?
Und miifiten wir nicht, solange diese Zeugnisse mangeln,
den Gedanken dieser Fortexistenz abweisen?
Keines von beidem. Auf einem Gebiet, das nicht von
materieller Erfahrung bestimmt ist, haben wir nichts
von der Schwelle zu weisen, was ein reines Gefiihl uns
ankiindigt. Freilich haben wir auch nicht das Recht,
Ungepriiftes und Unbefragtes aus leichter Neigung in
den Hausstand unseres Geistes aufzunehmen. Gerad-
wegige Priifung aber bleibt uns versagt; denn wahrhaft
Seelenhaftes mul5 sich der Materialisation entziehen,
deren der Intellekt zur Wahrnehmung bedarf. Im
menschlichen Leben, im animalischen und vegetativen
Leben, im geistigen Leben schlechthin, erfal5t die Wahr- Geset^. der Er
nehmung nur das bereits Durchlaufene und Erlebtey^^ ^^ '*'
Aus dem Gewuhl der Erscheinung ergreift das Kind nur
das, was es im einzelnen gekostet und erfiihlt hat; fiir
reife Sinnlichkeit, fiir hochste Abstraktion des Intellektes>
fur Regungen der Seele in Liebe und Transzendenz ist
es so blind, daC) es von alien diesen Funktionen nur die
materiellen Schatten und vielleicht nicht einmal sie
wahrnehmen kann. Das Analoge gilt verstarkt im ganzen
175
Abstieg der Stufenleiter, und diirfte man dem Sauer-
stofFatom einen Hauch wahrnehmenden Intellekts bei-
legen, so ware zu behaupten, dafi die Vorstellung einer
freiwilligen Bewegung ihm vollkommen unfafi)bar bliebe.
Gesetzt jedoch, unsere Sinne waren von so subtiler
Kraft, dafi) sie hofFen diirften, den Schleier eines neuen
Lebens zu durchdringen, so ware doppelte Verlegenheit
geschaffen durch die Frage: in welchen Formen ist dies
neue Leben zu suchen? Wenn Liebe es ist, die Seele
zeugt: kann dann das Leben dieser Seele in seiner
reinsten Form als ein abgegrenztes, individuelles Leben
erachtet werden? Ist nicht alle Abgrenzung und Indi-
vidualitat der Ausdruck selbstwilliger Scheidung zwischen
Mein und Dein, und somit dem Willen der Liebe wider-
sprechend? Ist nicht gerade diese Scheidung das Merk-
mal unserer intellektualen Welt des Wetteifers und
Kampfes? Kann das Reich der Seele ein Reich der Tren-
nung sein? Mufh nicht in diesem Reich die Riickkehr
zur Individualitat als hartestes Inkarnationsopfer emp-
funden werden?
Und wiederum streift uns die friihere Ahnung: waren
diese Seelen alter Volker lebendig, wir diirften sie gerade
nur in jenen halbausgesprochenen Regungen verspiiren,
in denen sie als Teil eines unbekannten Ganzen ihre an-
noch irdischen Krafte ausstrahlen lassen.
Priifung am Gleichviel; die Antwort des Experimentationsobjekts
in e geis jg^^^-gt- pythisch: manches spricht dafiir, nichts dagegen;
ist jenes Leben Wahrheit, so darf es sich nicht mate-
rialisieren. Kaum um ein weniges erhellt kehren wii
vom KoUektivgeist zum Einzelgeist zuriick. Indem wii
aber den gewohnten Weg von neuem beschreiten, tritt
eine bisher unbeachtete Tatsache uns bedeutend ent-'
176
I regen. Auf alien fniheren Stufen war die Evolution dcs
jeistes ausschliefilich ein Ergebnis auGerer Vereinigung:
dditiv vereinigte Atome zeigen organischen Lebens-
v^illen, im Einzelatom bleibt er latent; additiv vereinigte
llellen losen Intellekt aus, der dem Einzelwesen nicht
;ukommt. Das Phanomen der Seele hingegen, das gleich- DoppehteUung
alls in additiver Vereinigung, und zwar der hochsten
ntellekte zum Kollektivgeist, sich kundgibt, dies Phano-
nen entspringt, wie wir bereits en\''ahnten, auch unab-
langig von aufierer Vereinigung dem Einzelgeist. 1st in
liesem Sinne die Stellung des Menschen innerhalb der
ichopfung eine eximierte, eine Grenzstellung an der
Frennungsschicht zweier Welten, so verlangt fiir dieses
jeschopf die Vernunft das Recht auf selbstandige Exi-
tenz innerhalb eines jeden der beiden Gebiete; es ware
villkiirlich zu denken, dal5 mit dem Gesetzablai^f im
\ linen die Vernichtung im anderen verbunden sein sollte.
iine entscheidendere Erwagung tritt hinzu. Das ereig- Die dreiKoordi-
lislose Leben, das wir als anorganische Existenz kennen,
St eindimensional. Dutch alle Zeiten stromen im Sinne
les Strahlphanomens konstituierende Elemente dutch
lie Raumeinheit, in der die Erscheinung des unver-
; inderlichen anorganischen Einheitswesens erfolgt. Zwei-
iiimensional ist der Aufbau des organischen Lebens:
licht mehr das einfach durchstromte Element ist Trager
ler Erscheinung, sondern gleichsam senkrecht zur ur-
priinglichen Bildung ergiel5t sich der Generationen-
trom; in analogem Sinne strahlartig gebildet dutch be-
tandig sich erneuernde Substanz, die ihrerseits dem
irsten Gesetz gehorcht. Gleichsam ein Regenfall, in
velchem jeder Tropfen wiederum aus einem Regenfall
loherer Ordnung und anderer Richtung gebildet ist.
177
Hier herrscht oberhalb der Kontinuitiit der Substanz di
Kontinuitat der erblichen Existenz; und so ist dies
subtilere Lebensform in ihrer Erhaltung geschiitzt un
verewigt durch den Wechsel und Bestand der Gene
rationen. Abermals senkrecht zu dieser Erscheinungj
reihe erhebt sich aus der menschlichen Einheit die Eve
lution der Seele. Legen wir ihr die elementare Bedei
tung bei, die unser Gedankengang verlangt, so kdnne*
wir nicht anders, als ihr eine neue Dimension der Ex:
stenz zuzusprechen, die als Ersatz generationsweisel
Erneuerung ihr die Kontinuitat des Daseins in drittei
neuer und unerforschter Richtung gewahrleistet.* :'
Irdischemduber' So stehen wir denn im wahrsten Sinne an der Grenz
tuns ' einer Welt, in die unsere Seele hineinragt. Ihr ist di
irdisch-materielleUnsterblichkeit nicht verliehen, die alle
Organische zu einem einzigen, ewig wachsenden, ewig sic
wandelnden, generationsweise sich erneuernden Kollet
tivgeschopf zusammenfal5t. Diese irdische Unsterblicl
keit der Kreatur ist nicht bildlich, sondern in vollkomme
realem Sinne zu verstehen, denn wir miissen bei ph)
sicher Betrachtung der Erscheinung annehmen, dafi) all
interplanetare Substanz den potentiellen Kern organische
Entwicklung enthalt, ja dafi in weit vorgeschrittenen
doch immer noch tief unter der Zellengrenze schlun
merndem Keimstand ein organischer Austausch der Ge
stirne sich vollzieht, so dall) das totale Einheitsgeschopf de
organischen Lebens unabhangig selbst von planetarische
Katastrophen ein wahrhaft universales Dasein fiihrt. A
♦) Dafi der Begrift' der Dimension hier nicht im raumliche
Sinne verstanden ist, mit dessen mystischer Aii»deutung manchc
Unfiig verbunden wurde, dafi er vielmehr die Koordinatenord
nung einer Erscheinungsform bedeutet, bedarf keiner Ervvahnun^^
178
solcher Ubiquitat und Perennitat ist die Seele nicht be-
teiligt, denn sie bewegt sich in einer Richtung, die sich
vom Organon der Erscheinung abkehrt; ihr wahrhaftes,
endgiiltiges und endloses Leben kann sich mit dieser
Erscheinung nicht zum zweitenmal beriihren; ihre Welt
schafFt sie sich selbst, wie der Intellekt sich die seine
schafFt, und innerhalb dieser Welt hat sie ebensowenig
Anlafi sterblich zu sein, wie das intellektuelle Organon
innerhalb der seinen.
Denn nunmehr ist es uns erlaubt, die Frage umzu-Ist Sterblich-
ikehren, und zu forschen: wo gibt es iiberhaupt inner- **
halb der physischen und organischen Welt eine Sterb-
ilichkeit? Die Wissenschaft verlangt die Unsterblichkeit
ides anorganischen Elements. DasorganischeTotalgeschopf
itmet und pulsiert unaufhorlich auf alien Gestirnen.
Der Tod erscheint uns nur dann, wenn wir das Auge Kritik der
irrtiimlich auf das died, nicht auf das Geschopf richten.
Die Alten haben das Absinken des Menschenlebens mit
;dem Fall des Laubes verglichen; das Blatt stirbt, aber
jler Baum lebt. Fallt der Baum, so lebt der Wald, und
! Jtirbt der Wald, so griint das Erdenkleid, das alle seine
;5chutzlinge nahrt, warmt und verzehrt. Erstarrt der
I Planet, so bliihen tausend Bruderzweige unter dem
i^trahl neuer Sonnen. Nichts organisches stirbt, alles
fjrneut sich, und der Gott, der aus der Feme betrachtet,
j indet in Jahrtausenden das gleiche Bild und das gleiche
I Leben.
In der gesamten sichtbaren Welt kennen wir nichts
iterbliches. Etwas, das sterblich ist, konnte nicht ge-
3oren werden. Freilich, alles was einem Ziel zustrebt,
A^as sich reibt und kampft, das nutzt sich ab, und somit
St eine materiell-organische Welt nur auf der Grund-
'79
lage ewigen Substanzwechsels denkbar, vom Mechanis
mus des Leibes bis zum Mechanismus des Atoms. Abe
dieser Wechsel sieht dem Sterben nicht ahnlicher al
das Wachstum der Einzelpflanze , das ohne Substanz
wechsel unmoglich ware. Der BegrifF des Sterbens ent
steht durch falsche Betrachtung, indem das Auge an'
Teil statt am Ganzen haftet.
Tod und See- Kann diese Auffassung den Menschen trosten, der ii
grauenhafter Angst auf das hinstarrt, was er sein Endc
nennt? Sie kann es, und sie kann es nicht, je nachden
der Mensch die Kraft hat, rein zu fiihlen und sein Ge
fiihl zu deuten, das heii5t, wahrhaft zu denken.
Vom Sonderfall des leiblichen Schmerzes, der dei
Ubergang begleiten kann, sei hier nicht die Rede; wi;
werden vom Schmerzproblem gemeinhin anderweit zi
handeln haben; hier priifen wir die Wandlung selbst
Freilich: diese Zunge wird nicht mehr schmecken unc
diese Hand nicht mehr tasten; dafiir werden millionen
fach sich frischere Glieder und Sinne regen, denn da:
Erdenleben ist um meinen Tod verjiingt. Geniigt mi]
das nicht; war animalische Lust nur deshalb mein Gliick
well sie meine, meine eigenste, meine abgesonderte
ausschliefiliche Lust war, so hat das Sterben fur micl
ebensoviel Realitat wie das Leben; sie mag ausreichenc
sein, mich zu schrecken, wie das Schattenleben aus-
reichte, mich zu begliicken, aber es bleibt eine gering
fiigige Realitat. Ich bin in der Lage eines Kindes, dai
verzweifelt, weil es auf ein Vergniigen verzichten mu6;
auch ist ein wenig Betrug im Spiel, denn ich habe alle
jene Geniisse mit Gelassenheit hingenommen, derer
Ende ich so turbulent beklage.
Dies ist der ausgesonderte und kaum denkbare FaU
l8o
ies Menschen, dem kein Hauch von Seele zuteil ge-
ivorden ist; er gehort zur organischen Gesamtschopfiing,
j2r ist in Wahrheit ein Teil und nicht ein Ganzes, er
raufi das Schicksal des Teiles hinnehmen, der keinen
iioheren Anspruch auf Ewigkeit hat als ein'Haar oder
ein Blatt; er hat seinen Anteil Gliick genossen und
reicht nun die Schale weiter. Ware er wahrhaften
Trostes bediirftig, so ware ihm alsbald die Seele und der
Trost der Seele beschieden. Die Versohnung seines Ge-
schickes aber ist darin zu suchen, dal5 seine Gliicksform
aicht erloschen ist, dal5 Kinder und Geschwisterkinder
sein Leben weitertragen. Leidet er, so ist es kindliche
Tauschung und getraumtes Leid, wie es ihm in jeder
Nacht widerfahren konnte.
Ist aber dem Menschen das Sonnenlicht mehr ge- Tod und Seele
vvesen als eine schone Warme und wohlfeile Beleuch-
tung, war sein Zusammenhang mit Schopfung und
Menschheit dutch Liebe und Geist gebunden, so kann
seine Seele ein Ende der Liebe nicht glauben noch fiirch-
ten. Es miifite denn die Seele vor sich selbst erschrecken,
vveil sie ahnt, daH) ihre Liebe zu groii5 sein wird, als dal5
sie fur sich selbst noch ein eigenes Gliick begehren kann.
Es konnte sein, daC> sie die gleiche Angst und Tragheit
empfindet, die uns taglich betort, so viel von unserem
Leben an die Welt, so wenig an die Uberwelt zu wenden.
Aber diese Tauschung bedarf weniger des Trostes als des
Gedankens; und der libersinnliche Gedanke wird um so
gewisser, als die Sorgenreste der Zeit vor gvofhen Augen-
blicken dahinsinken. So wie alle freien Menschen im
Leben, jeder in seiner Sprache, das Gleiche gesagt und
bekraftigt haben, so ist auch ihr zeitliches Sterben nicht
Trostes bediirftig gewesen, sondern Trost spendend.
i8i
Nichts wesenhaftes in der Welt ist sterblich. Wollen
wir dennoch die Macht, die in der Erscheinungsform
des Daseins die Welten abgrenzt, auch fernerhin mitj
dem Bilde des Todes bezeichnen, so erscheint der herr-l
liche Genius als Wachter des Lebens, als Herr der Ver-
klarung und Zeuge der Wahrheit.
Oberwelt- Durch die Betrachtung der Seele als eines uberwelt-j
lichen Geistes wird ihre gewaltige Paradoxie im Sinne"
des Naturtreibens begreiflich. Nun leuchtet ein, warura
sie auf alien Zweck, auf alles Streben, ja auf alle Ent^
wicklung der organischen Natur verzichten darf, warum'
sie, im Gegensatz zu allem Lebendigen, zu jenen auC^er-!
sten Entschliissen gelangen kann, die das animalische
Leben gefahrden. Das Opfer der personlichen Existenz,
unserem inneren Gefuhl der Gipfel heroischer Freiheit,]
bleibt jeder Betrachtung, sofern sie nicht hoher aufsteigtj
als bis zur organischen Lebensform, eine unauflosbarej
Torheit oder ein Akt der Verzweiflung: denn ein erd-
geschaiFenes Wesen miil^te wahnsinnig oder desperat
sein, wenn es seinen Willen vernichtete, um ihn zu er-
fiillen. Begreiflich wird auch jene erdenfliehende Sehn-
sucht, jene selige Trauer, jenes Heimweh des Gliicks,
jene Ewigkeitsahnung und mystische Verwandtschaft mit
ElementenundGestirnen, dasEmporstromen zum Sonnen-
tode und der erloste Aufblick des inneren Auges. Nie-
mals wird intellektualer Geist den Himmelszug der;
menschlichen Natur erklaren; fiir die Einsicht der trans- 1
zendenten Seele ist er ein Kleines, fiir ihre Evidenz ist
er der letzte und entscheidende Beweis.
Oberwelt- Unsere Denkkraft und sinnliche Erfahrung verlangt,
licne Reihen ^^^^ ^^j, ^^^ universale Reihengesetz auch auf die Evo-
lution der Seele anwenden. Somit stehen wir beim Ein-
i8i
ritt in die Seelensphare nicht vor einer endgiiltig abso-
uten Welt, sondern vor einer unendlichen und unab-
;eschlossenenWeltenreihe, derenlnbegrifF, einschlieMcii
ler durchlaufenen Welten, denn freilich als endgiiltig
md absolut angesehen werden mufi. Auch hier gilt der
Jatz, daI5 der Vorblick unmoglich, der Riickblick be-
ichrankt und proportional der Entwicklung vertieft ist.
])ie Unmoglichkeit des Vorblickes wird augenscheinlich,
Venn wir des subjektiven Ursprungs der Erscheinung
redenken und uns gegenwartig halten, dafi unsere Welt
lichts anderes als die Projektion aller bisher durch-
;chrittenenGeisteskrafte, einschliefilichder intellektualen,
)edeutet. Auf jeder neuen Stufe muI5 das Werk der
^eltschopfung mit neuen Kraften von neuem vollbracht
verden. Deshalb ist jeder Versuch, in das Geheimnis
cu dringen, verloren, sofern wir mehr als eine beschrankte
iahl durchweg negativer Vorstellungen heimzutragen
jedenken.
Indessen ist es seltsam, dalS gerade die Armut solcher NegativitUt
rr . ., .. 1 i« T transzenden-
verneinungen unser Ahnungsvermogen erweckt: die Im-^^j. vbrstel-
[naterialitat Gottes sagt uns mehr als die Seligkeit eines i^^g
Paradieses; und wenn wir gemeinhin das Riistzeug trans-
zendenter Vorstellungen betrachten, so finden wir, dafi
2S lediglich negative Inhalte enthalt, die in positive Na-
men gekleidet sind.
Die Negationen aus dem Bereich der Seelensphare Dreifache
besagen dreierlei: vom BegrifF der Individualitat miissen ub^sinn-
wir abstrahieren, sofern er die Abgrenzung des Mein bchen Vbr-
stellung
und Dein in sich tragt, denn in einem Reighe, an dessen
Eingang die Liebe steht, verschmelzen Krafte und Quali-
taten. In diesem Stande werden, zum zweiten, Stre-
bungen und Begierden, die Motoren des intellektualen
183
Kampf lebens , gegenstandslos und widersinnig. Endlid
kann das Bewaltigungsmittel der komplexen Erscheinung.
das intellektuale Denken seine Herrschaft nicht behaup-
ten, die schon beim Herannahen seelenhafter Instanzer.
im Gninde erschiittert wird; fast mochte man wagen
aus der Erfahrung intuitiver Anschauung eine positive
Vorstellung adaquater Einsicht herzuleiten.
Richtkraftder Wollte man somit das Reich der Seele mit Namen
ega one ^^^ BegrifFen unseres Vorstellungskreises kennzeichnen,
so wiirde es als das Reich der Enraufierung, des Friedens
und der gortlichen Einsicht zu benennen sein.
Kritik der Die Aufgabe, die uns gestellt wurde, ist erfullt. Von
evolutionaren i t- i • j • t- i i • • -u
Bctrachtung ^^^ Evolution des mneren Erlebens gmgen wir aus; ini
Zentralphanomen, die Geburt der Seele, soUte imSpiegel-
bild der Erscheinung nachgewiesen und angedeutet wer-
Rniproxitat der den. Die Elementc der inneren Erfahrung spiegelten
sich m ihren Reziprozitaten; diese rugten sich zusammen
2u den Anfangen einer Mechanik des Geistes. Die Er-
lebnisreihe kehrte sich um in eine Entwicklungsreihe ;
die subjekrive Bedingtheit fand ihr Abbild in AuC)en-
welt, erblicher Geburt und zeitlichem Tod. Als strenge
Konsequenz eines Gesetzes fortschreitender Enthiillung
trat im Erscheinungslauf von neuem die Verklarung des
Geistes zur Seele hervor, diesmal als Abschlufi der er-
kannten, als Aufschlufi der nachsthoheren Weir. Der
Gang der objektiven Evolution erschien nicht, wie bisher
bei aller friiheren Anschauung, als ein geradliniges
Fortschreiten bei gleichbleibendem Koordinatensystem,
sondern als ^in Entwicklungsgang des Koordinaten-
systems selbst, das standig neue Dimensionen gewinnt.
Indem der Reichtum der Weltheiten eine neue Un-
endlichkeit gewann, erhob sich die Seele iiber die,
184
Welt des intellektual erxeugren materiell-organischen
Kreises.
Wiederum stehen wir, da wir Bild und Spiegelung Kritik der er-
durchlaufen haben, an dem Beriihrungspunkte beider,
unserer eigenen Seele ins Antlitz blickend. Was Ahnung
war, ist Gewif5heit: an unserer Seele haben wir die Welt
zu messen. Sie scheidet alles Bestehende in eine Gott- Gottseite md
seite und eine Weltseite der Schopfung, ihr Spruch ent- ScLpfuL
scheidet iiber Aufstieg und Abstieg. Indem wir aber die
Seele in ihrem objektiven Bestande als ein Notwendiges
und Gesetzmafiiges erkannten, bleibt ihr Spruch nicht
willkurlich deutbares Gefiihlsorakel; er gestattet, wo er
dunkel scheint, dieAusdeutung durch intellektualeKrafte
auf Grund der Gesetze, welche die Seele vom Seelen-
losen sondern.
Solange das Wesen der Seele nicht erkannt und be- DXmonhn
grifFen war, solange ihr Name sich jegliche Deutung auf
geistige Krafte gefallen liefi, verschwebte eine jede auf
das Seelische gestellte Betrachtung ins Wesenlose. Nun
aber wird die Seele zur absoluten Gewalt, als ein zwar
nicht Unbedingtes, doch zum Unbedingten Hinweisen-
des; in Wahrheit als eine Stimme der Gottheit. Das
Damonion spricht sich aus, nicht mehr als dunkle Regung,
sondern als evidentes Gesetz.
Religionen, deren Verkiindigungswunder erschuttert, Religion
deren Entstehungen, Notwendigkeit en und Nil tzlichkeiten
historisch und gesetzmalbig erkannt sind, behalten den
Adel des Menschheitswerks, sie ergreifen und beglucken,
aber sie reilien nicht fort, weil sie relativ geworden sind.
Der InbegrifF aller menschlichen Religiositat, das trans-
zendente Bediirfnis schlechthin, beweist nur das Vor-
handensein ewiger Richtkrafte, lehrt aber nicht sie er-
185
kennen, denn es bleibt theoretisch. Die Erkenntnis der
Seele, ihrer zentrischen Macht und ihrer transzendenten
Fortwirkung erfiillt den Befehl des boq )Lioi ttoO Otuj,
indem sie den Schwerpunkt des Denkens, Fiihlens und
Wollens um ein Geringes aus dem Zentrum der Nieder-
menschlichen in die Sphare des menschlich Reinen, in
der Richtung des Gottlichen vorriickt.
Partial I osungen Von diesem Punkte aus betrachtet, erscheinen alle
wahrhaft religiosen Anschauungen als Partiallosungen,
als parabolische Bildlichkeiten des Unaussprechlichen,
dem der Seelenaufstieg uns in vollem Bewufitsein ent-
gegentragt. Uralter Animismus ist der Korperschatten,
der die transzendente Lichtseite des Seelenreiches nur
im Gegensatze ahnen laI5t. Gesetzesreligionen sind vor-
bereitende Versuche, Leib und Leben zu heiligen, damit
das reine Saatkorn geweihten Boden finde. Bis an die
Grenze des Seelengebietes gelangen die beiden groJ&en
und vollig undogmatischen Transzendentaldisziplinen des
ostlichen und westlichen Ariertums: die indische Lehre
vernichtet das Begehren, indem sie die Erschelnung auf-
hebt; die germanische Lebenspraxis vernichtet dieFurcht,
indem sie den Mannesmut erfindet und ihn ins Zentrum
aller Bewertung stellt. In passiver Form der indische
Kreis, in aktiver der germanische, erledigen beide das
animalische Leben im ahnenden Drange zur psychischen
Existenz; allein die passive Orientierung gelangt iiber
die Negation nicht hinaus, und der aktive Uberschufi,
der Spekulation abhold, begniigt sich mit der Veredlung
KritikderOfen-des Lebens. Ins Innerste des Seelengebietes dringt die
^**^^ Lehre von der Entsagung, der Liebe, der Erlosung und
dem Gottesreiche, aber diese Lehre lalLt ihr letztes Ziel
so unbestimmt, dail> tausend Jahre lang vorwiegend ein
i86
I
irdischer Idealstaat und vveitere tausend Jahre ein musi-
kalisch ritueller Himmelshof halt als letzte GlaubenshofF-
nung einherleuchtete. Selbst die vollkommen reine Ethik
der christlichen Lehre ruhte auf promissorischer Grund-
lage; ihre gewaltigen Forderungen haben im zeitlichen
und anschauenden Leben deshalb so unbegreiflich wenig
die menschliche Natur zu wandeln vermocht, weil eine
Ethik, die versprecheil mufi, um sich zu beweisen, den
Glauben lahmt, indem sie ihn zielstrebig macht.
Sie, die wir als Kern religioser Ahnung und trans- Absolut wmus da
zendenter Kraft erkennen, die Seele will nichts und ver- '
spricht nichts, und bleibt dennoch tatig. Sie sagt nicht:
„du mulLt, auf dafi", sie sagt nicht: „du sollst, weil",
sondern sie sagt: „du wirst, denn du kannst nicht anders".
Du magst wollen oder widerstreben, du magst den Weg
der Hohen oder den Weg der Tiefen schreiten: was in
der Seele ist, das findet Erlosung, so wie aller Geist die
Wandlung zur Seele erlebt. Zwischen dem, was wir
hoch und was wir tief bewerten, zwischen dem, was wir
lieben und hassen, preisen und verachten, ist der Unter-
schied sehr gering, und dieser Unterschied besagt nur
eines: ob das Werden der Seele gehemmt oder gefordert
wird. Im Angesicht des Seelenreiches ist das Gute, das
Schone und das Verstandige nur ein Schatten, ist Siinde,
Irrtum und Diisternis nur eine triibe Erinnerung an
durchmessene Welten. Dennoch verlangt das Uber-
wundene nach Priifung, weil wir in dies irdische Leben
gestellt sind, und weil der Geist uns treibt, es zu ver-
stehen; weil wir in dies irdische Leben gestellt sind und
weil der Seelenwille uns treibt, es recht zu leben; weil wir
in dies irdische Leben gestellt sind, und weil unsere Seele
in diesem rechten Leben geboren ist, besteht und wachst.
.87
Oberleitung Hiermit ist die dritte Aufgabe gestellt: der Evolution
ti^chen Auf- ^^^ praktischen Geistes zu folgen und das Mal5 der Seele
gabe an die Schatzungen der Ethik, Astlierik und Pragmatik
zu halten. In der ersten Betrachtung werden wir finden,
was das Wachstum der Seele hemmt und fordert, in der
zweiten, welchen Abglanz sie in die Erscheinung leuch-
tet; in der dritten, in welche Richtung sie das irdische
Gemeinschaftsleben treibt. Hiernach haben wir in der
Evolution des praktischpji Gei*te« von der Ethik, der
Asthetik und der Pragmatik der Seele zu handeln.
188
Urittes Buch
DIE EVOLUTION DES PRAKTISCHEN
GEISTES
I.
DIE ETHIK DER SEELE
Wir leben nicht um unseretwillen, sondern um der
Gottheit willen. Doch tragt ein jeder die Verantwortung
fiir die Welt und fiir die Gottheit. Denn jede unserer
Regungen erzeugt und vernichtetWelten; die Symphonie
des Alls schwebt auf den Stimmen unserer Geister.
Nichtig ist deshalb jede Sittenlehre, welche lockt und Ethos und
droht. Fiirchten und HoiFen ist Sache der intellektualen
Welt und unseres intellektualen Anteils; dieser aber
wird nicht regiert vom Ethos, sondern vom Gesetz.
Unser seelischer Anteil aber, der nicht fiirchtet und nicht
hofFt, sondern anschaut, bedarf des Gesetzes nicht; er
bediirfte, ware er voll bewufit und erstarkt, auch nicht
der Ethik, denn er tragt seine Richtkraft in sich selbst.
Der Ethik bediirfen wir Wesen des Uberganges, um Ethik als Er-
1 . ^T ^^' T^.. kenntnis
zu erkennen, was m uns Verdusterung, was Uammerung
ist; deshalb ist unsere Ethik nicht Vorschrift, sondern
Erkenntnis und Wertung. In den Augenblicken der Er-
hebung schwindet der Zweifel; wir sehen das Licht und
wir sehen den Weg; in Worte fassen wir die ethische
Erkenntnis deshalb, weil wir ihrer am meisten bediirfen,
wenn d?e innere Einsicht schwindet. Hier, wie in jedem
191
anderen schopferischen Kampfe gilt es, Getraurtites xu
denken und Gefuhltes zu formen.
Ethikals Ver- Das ethische Prinzip ist nicht Gesetz, nicht Rat und
ktindigung . t xr i ./-
nicht Vorschrift. Die Instanz, an die es sich wendet,
kann nicht bestehen, ohne ihm zu folgen; die Seele ist
nicht, wenn sie ihm nicht gehorcht. ,Bluhe* und ,Leuchte*
ist kein Sittengebot an Baum und Sonne; sie sind, weil
sie bliihen und leuchten, und sie bliihen und leuchten,
weil sie sind. Das ethische Prinzip, auf unserer Welt-
stufe das einzige und universale, lautet: Erweckung und
Aufstieg der Seele. Nicht der Seele rufen wir dieses
Wort zu, denn wenn sie es vernimmt, so ist sie erwacht,
und ihr Aufstieg hat begonnen. Reden wir davonzum
intellektualen Geist, so bedeutet es eine Verkiindung,
nicht einen Befehl; denn dieser kiihl denkende und
dennoch leidenschaftlich getriibte Geist kennt seine
Wonnen und Gefahren, und wird von ihnen nicht lassen,
bevor er zur Auflosung miide und zur Erlosung reif
ist. Wo jedoch Seele und Intellekt schon im Kampfe
liegen, wo die sehnsiichtige Seele um Bewul5tsein ringt,
wo der ungesprochene Schmerzenswunsch unerloster
Zeitlichkeit in unseren Herzen tont, da kann ethische
Erkenntnis die letzten Schleier der Befangenheit
losen. Erkennt aber die keimende Seele das Licht,
so hat sie schon ihm sich zugewandt; neue Wolken-
schatten werden immer wieder ihren Blick verdiistern,
doch in der tie fs ten Dammerung kann sie die Sonnen-
richtung nie mehr verlieren.
Imperative So ist das absolute Sittengesetz fur den unerlosten
Intellekt eine Verkiindigung und Erkenntnis, fiir die
erloste Seele ein identisches Lebensprinzip; scheinbar
imperative, in Wirklichkeit nur richtungweisende Form
192
kann es annehmen fiir den Zwischenstand des bald ent-
schiedenen Seelenkampfes. In dieser Form lautet es:
,achte auf deine Seele*.
Da die Denkarbeit Ubersetzung des Erschauten in
sprachliche Formeln intellektualer Dialekrik bedeutet,
so haben wir uns in erster Reihe mit der erkennenden
und wertenden Verfassung des ethischen Prinzips zu
beschaftigen; eine diatetische Ausdeutung des Imperativs
soil sich anschliel5en und ein eudamonistischer Ausblick
I erganzend zur Pragmatik liberleiten.
Liebe haben wir als die Kraft erkannt, die durch Richtkraft
Verschmelzung der Geisteselemente Seele befreit; im
I aufi)eren Verbande der Individuen als Kollektivseele, im
iinneren Verbande des Einzelwesens als Einzelseele.
Liebe steht daher auf dem Gipfelpunkte aller irdischen
Werte, sie ist zugleich das hochste Gut, die hochste
•Tugend und die hochste Kraft. Gleichviel ob sie nach
aufien zum Zusammenklang der Wesen drangt, ob sie
nach innen die Teilgeister des Einzellebens zur Ver-
schmelzung gliiht, sie bleibt, wie innere Erfahrung lehrt,
die gleiche Macht, unreduzierbar, nur durch sich selbst
begreiflich, ausschliefilich, und in sich selbst begriindet.
In eben dem Augenblick, wo Liebe uns ergreift, zum
Menschen, zur Gottheit oder zur Kreatur, lost sich jede
Spannung des eigenen WoUens, wir sind nicht wir selbst,
und sind doch zum ersten Male wahrhaft wir selbst,
wiv leuchten, und mit uns die Welt, in einem neuen
Lichte, dagegen ist alles Denken und Begehren ein ver-
gessener Schatten. Ein neues Bewul5tsein und ein neues
Begreifen oifnet die Augen; ist es ein Mensch, so leben
wir in ihm, ist es die Natur, so losen wir uns hin und
werden in ihr geboren.
13 193
Liebe in der Die intellektuale Welt ist der Liebe feindlich. Ihre
der intellek-g^^^^^^g^> materiell sich steigernde Mission der mecha-
tualen Welt nisch-geistigen Entwicklung vermag sie nur durch Ent-
fesselung aller irdischen Krafte zu erfiilleiij sie entfesselt
sie durch Kampf und Wettstreit. Sie umfangt ihre
Kreatur mit der Tauschung des individuellen Wesens
und Gliicks, mit der Tauschung, dafi mein nicht dein
sein kann, und peitscht das begehrende und fiirchtende
Geschopf in die Feindschaft, den Hal5 und die Vernich-
tung des Nachsten. Diese abgesonderte Stellung der
/;»<//v/V«/»/i//7V Verteidigung und des Angriifs hat man Individualitiit
^menschentum g^^^^^^^j ^^^ Meister dieser bosen Kunst hat man als
Ubermenschen gepriesen. Nur in den letzten, unlosbar
scheinenden Paradoxien ihres Arbeitsplanes , da wo die
intellektuale Natur das Unerhorte verlangt, dafi
selbstberauschte Kreatur freiwillig die Fackel des Lebens
weiterreiche, um ewigem Verzicht entgegenzuschreiten:
Liebe als Lockung2in diesen Wendepunkten Vi^t sie die Gewalt der Liebe
zu, um das Opfer zu erzwingen; sie schafft als hochste
irdische Belohnung, mit allem Feuer der Sinne umkranzt,
die Liebe der Geschlechter, sie schafFt, mit stillem
Gliick und Leiden verwoben, die Liebe der Mutter.
Liebe und Kampf Diesseits und jenseits dieser Pole aber herrscht die
Individualitat, das ist der Kampf. Und so geschieht das
Ungeheure, dafi das Ubel an sich, die echteste Siinde,
das satanische Prinzip der Unliebe und des Bosen die
Erde diingen muU), damit die Liebe wachse. So hoch
erhebt sich das Gesetz der Relativitat; und es wirdi
evident, daI5 es nicht einmal freisteht, den HaI5 zu
hassen.
Hafi Dieser, der Hal5, das Prinzip der Spaltung, des see-
lischen Todes, schreitet durch die Welt als Gliick
194
Leid der Holle. Keine stiirkere Probe gibt es, um die
grauenhafte Lust der Seelenlosigkeit zu verspiiren und
im aufiersten Kontrast die entgegengesetzten Krafte der
Seele fuhlbar zu machen als die Vorstellung gesattigten
Hasses, erfullter R.ache, wolliistiger Verachtung und
feig befriedigter Schadenfreude. Von der grenzenlosen
Verwirrung unseres Sittenempfindens zeugt es, dal5 im
Ernst und Scherz von denkfahigen Menschen das Wort
Tesprochen werden kann, es sei eine Kraft und Tugend,
riit ZU hassen, und die Schadenfreude sei die reinste
Freude.
Das unabsehbare Gebiet sittlicher Schattierung, d^is Sfibstsucbr
'.wischen den Extremen der Liebe und des Hasses ge-
)ettet liegt, ist der Kampfplatz des mehr oder minder
ndividuellen, das heil5t eigensiichtigen Wollens. Dutch
lie Polaritat der Liebe und des Hasses, welche in un-
erem Sinne nicht akzidentelle Handlungstendenzen und
/Villenselemente, sondern Lebensstimmungen sind, er-
lalt der BegriiF der Selbstsucht seinen ethischen Sinn.
Jekanntlich gelingt es leicht, dutch eine ttiviale Gtenz-
)eruhfung festzustellen, dall> alle Handlung aus Gliicks- Paradoxic vo^n
• 11 . . . , , , , Egoismus
\^ilJen entsprmgt, somit egoistisch genannt wetden kann,
ich dahet absoluter Wertung entzieht und nur noch
itilitarisch-aufierlich klassifiziert werden kann. Dieser
frugschlufi wird erledigt, wenn wir etkennen, dafi nicht
iie Handlung und nicht der Zweck Gegenstand der
ittlichen Wertung ist. Es gibt kein ethisches Handeln, -
ondern einen ethischen Zustand; derZustand der Liebe Ethischer Zu-
^nd der Seelenhaftigkeit, innerhalb dessen ein unsitt-
iches Tun und Sein nicht mehr moglich ist. Die kirch-
:che Lehre ahnte diese Wahrheit, indem sie den Stand
er Gnade als Ergebnis eines rein passiven Erfahrens
13* 195
dogmatisierte. Mag deshalb ein Leben der Liebe m
sprunglich der Gliickssuche entsprungen sein — wie j
alles seelische Leben intellektualem Leben entstammt —
so ist doch der fruhere BegriiFder Selbstsucht nicht meh
anwendbar. Selbstsucht in unserem Sinne bedeutet indi;
viduales Streben nach Sondergliick, den Zustand dej
Liebeleerheit; und eine erqualte Handlung, die nur der
theoretischen Willen der Entauil)erung entspringt, bleit
ethisch farblos, weil sie nicht aus dem Stande der Lieb
geboren ist. Das gramliche Verdienst der Tugend wide
Willen findet in der absoluten Ethik keinen Platz, den !
sie ist unbestechlich; sie schatzt die Heiligung, nicli
das Opfer; sie verkauft nicht, sondern sie schenki
Wie die Gottheit, so liegt die Sittlichkeit nicht ir
Aufiern, sondern im Innern des menschlichen Bereichei
sie geht im Menschen vor, aber sie geht nicht aus ihr
heraus. Sittlich sein hei(5t, in sich selber wirken.
IndilFerenz- Das Zwischengebiet des Wollens und Handelns ij
HandelD? bestimmt dutch Ziele. Je mehr im Menschen die mui
hafte, freudige, impulsive Tendenz iiberwiegt, die at
nachsten der Liebe benachbart ist, desto unmittelbare
geht sein Wollen und Tun auf die Sache; die Sache, di
er liebt und naturkraftig riickhaltlos betreibt, wie Atmei
Nahren und Schlafen. Dieser Mensch steht dem E]
wachen der Seele am nachsten und, gleichviel auf we
cher geistigen Stufe, der Qual des Intellekts am ferr
sten; er neigt zur Liebe, zur Entaufierung, zur Idee, zi
Intuition und vor allem zur furchtlosen Wahrheit. Sei
Beruf ist Selbstzweck, er schafFt um der Sache wil]
ohne aufiere Lockung. Sein Charakter ist Treue, Gr
mut, Unabhangigkeit, sein Benehmen Sicherheit, heid
Ruhe und Festigkeit.
196
ijberwiegt im Menschen die farchthafte, sorgen- Furcht, Be-
reiche, hemmimgsvoUe Tendenz, so wird sein Geist tief fj^ p^'^g ^^j.
in intellektuales Denken hineingezogen, er geht nicht^^^^s
auf die Sache, sondern hinter die Sache, sein Ziel wird
zum Zweck, Dinge und Menschen werden zum Mittel.
Er handelt nicht aus Freude, sondern aus Sorge und Be-
gierde, er will nicht, sondern er strebt. Sein Sinn wendet
sich vom Unbegehrbaren zum Realisablen; das Besitz-
bare, Beherrschbare und die Mittel zum Besitzen und
Herrschen erfiillen ihn. Sich hinzugeben und zu verlieren
erscheint ihm zwecklos; das Ideal ist ihm Torheit, die
Liebe, soweit sie nicht besitzen will, Unding. Die Wahr-
heit bedeutet ihm eine von vielen Eventualitaten, und
zwar zumeist die gefahrlich-torichte; einen sittlichen
Wert gonnt er ihr bestenfalls aus Griinden der Verkehrs-
sicherheit. Die Furcht, ausgeschlossen, mifiachtet, mif5-
handelt zu werden, qualt ihn, daher ist er anerkennungs-
bediirftig, leicht verletzlich, eitel und herrschsiichtig.
Als Herr erfreut er sich nicht an verantwortungsvoller
Fiirsorge und Leistung, sondern an Huldigung und
Schaustellung; zwischen Unterwiirfigkeit und SchrofFheit
findet er kein Mittel. Um zu glanzen wird er geschwatzig
and aufdringlich; ein sachliches und herzliches Verhaltnis
zu Menschen liegt ihm fern, denn sie sind ihm Mittel und
Ziel oder Masse. Die Sorge und Unsicherheit zwingt
ihn zur Selbstanalyse, die Furcht vor fremder Uberlegen-
heit zur Kritik, Verkleinerung und Schmahung. Begreif-
liche Tugenden sind ihm Mitleid und Barmherzigkeit,
die er halb aus Furcht vor eigenem Ungluck, halb aus
Genugtuung am fremden iibt.
Die Stellung der empirisch erkannten Polaritat von
Mut und Furcht im System der absoluten Ethik ist leicht
197
zu ermitteln. Der seelisch primitive, im Begehren unc i
Fiirchten irdischer Dinge befangene Mensch ist aus deii
intellektual gerichteten, entwicklungs- und zweckbediirfj
tigen Natur noch nicht losgelost; sein Leben ist, von deij
Hypertrophic der Intelligenz abgesehen, ein animalesi
Die Summe seiner Existenz ist die gleiche wie bei minder-'i
organisierten Wesen: Sicherheit, Genufi), Beute und Vor-
rat; freilich kann der letzte, dem hdheren intellektualen?
Stande entsprechend, die Form gewaltigen materielleni
und geistigen Besitzes annehmen. i
MutundFrei- Vorgeschrittener in der Richtung zum Seelenhaften
der Seele ^^^ ^^^ Mensch des inneren, muterfiillten Gleichgewidits.
Sorge und Gier beherrschen ihn in minderem Mafie, dei;;
qualende Stachel ist gesanftigt, der Geist hat Ruhe und
Sammlung gewonnen und atmet frei, heiterblickend und
sicher der Geburt des Uberirdischen entgegen. Es ist
Entstehung des nicht hier die naturgeschichtliche Aufgabe gestellt, die
biologischeEntstehungmuthaftenBlutes aus furchthaftem
darzulegen: es geniigt der Hinweis, daI5 die physiscb
kraftigsten Stamme, durch hartes, nicht kummerliche$
Leben gestahlt, der Furcht vor Unterdriickung enthobi
frei in der Auswahl des Landes und der Lebenswei
durch Horige entlastet, ein Dasein fuhren konnten,
welchem Krieg und Gefahr zum Mannerspiel, Not und
Arbeit zum Sklavenfron gestempelt wurde, Wetteifer
sich auf Starke und Schonheit, nicht auf die Selbstvi
standlichkeit des Besitzes richtete, lange MuI5e zum e
fanglichen GenieI5en und Beschauen und dennoch nii
zur Erschlaffung fiihrte. Trat die Mall)igkeit einer nicl
allzureichen Natur hinzu, die Einsamkeit, die sparli
bevolkerten, waldreichen Gelanden eigen ist, der
regende, Anpassung fordernde Jahreszeitwechsel
198
;he$
I
and
^ifer
tv^
nicnt
lerer Breiten und der Ausblick auf eine drohende und
verheifiende Meeresferne, so war eine Menschheitsschule
geschafFen, die aus animalischen Kraften nicht vorzugs-
weise intellektuelle Zweckhaftigkeit, sondern freie
Menschlichkeit loste. Freilich war auch hier alsbald eine
Grenze gegeben: das ruhende und betrachtende Gleich-
gewicht der Muthaften gibt sich leicht mit dem Dasein
zufrieden; und soviele Tausende im Laufe der Zeiten
an der Schwelle der Seele gestanden haben, nicht alle
dieser Begiinstigten haben sie liberschritten. Uberschrit- Uberwin-
ten wurde sie dagegen oftmals, wenn jene beidenMensch- te"llekts^^
heitsstrome sich nahe beriihrten oder mischten, liber-
schritten wurde sie von manchen jener zwiefaltig beweg-
ten Naturen, die den Schmerz der Bedrangten und das
Gliick der Befreiten gleichermal5en in sich fiihlten, und
die alles GroJ&e an Menschenwerken geschaffen haben,
iiberschritren wurde sie endlich von den einsamsten Gei-
stern der zweckhaften Welt, die aus Kraft der Mensch-
heit in sich selbst die Paradoxie des intellektualen Gei-
stes begrifFen und liberwanden.
Diese Uberwindung kann unabhangig von alien Be-
stimmungen des Blutes und Intellektes in jedem mensch-
lichen Wesen in jedem Augenblick geschehen, freilich
nicht dutch einen Akt intellektuellen Willens. Ihm
geschieht durch diese seine Impotenz kein Unrecht, denn
der reine Intellekt will aus eigenem Impulse niemals die
Seele, sondern seine seelenlosen Zwecke; und ware er
durch metaphysische Betrachtung dazu gelangt, mittel-
bar die Seele zu wollen, so wollte er in Wahrheit wie-
derum nicht sie, sondern ihre vermeintlichen Machte
und Konsequenzen. Wir werden weiterhin die Stim-
mungen und Lebenslagen betrachten, wel che die Ent-
199
stehung der Seek fordern; ihnen alien ist gemein,
sie den intellektuellen und individuellen Willen ersterben
lassen. In diesem Ersterben, das jeder Moment, und am
willigsten der leidenden Kreatur, bringen kann, und das
ebenso unerzwingbar ist wie der intuitive und visionaire
Gedanke, in diesem Ersterben liegt die unmittelbare und
versohnende Nachbarschaft derSeele, die gleichsamdurch
eine unendlich zarte Scheidewand vom niedergeistigen
Oas Opfer des Leben getrennt ist. Jede reine Regung dringt hindurch,
nur der Wille nicht, der nicht einmal die Kraft hat, sich
selbst zu toten. Auch diesen Zusammenhang ahnt das
kirchliche Dogma, welches vom Opfer des Intellekts sich
eine Kraft verspricht, die unter dem allzu intellektuellen
Bilde des faktischen Glaubens dargestellt wird.
Die empirische Polaritat der furchthaften Seelen-
Mut und feme und der muthaften Seelennahe ist von den wech-
Bilde histo- selnden ethischen Auffassungen der Zeiten und Zonen
Fischer Ethik \^ verschiedenartiger Annaherung aufgefall>t und aus-
gewertet worden.
Germanische Am klarsten hat der .germanische Geist den objek-
"'^^"'^^ tiven Sachverhalt sich angeeignet. Das ungeschriebene,
bis vor kurzem unausgesprochene und dennoch aller
Kirchenlehre zum Trotz die gesamte Kulturwelt beherr-
schende okzidentale Moralsystem sagt aus: Mut ist Tu-
gend, Furcht ist Laster. Alle Bewunderung wird dem
Helden zuteil, alle Verachtung dem Feigen. Die Exzesse
des Mutes werden geracht, aber sie schanden nicht. Die
Verbrechen derFeigheit und Heimlichkeit, Lug und Trug,
Hinterlist und Verrat sind ehrlos und werden schmah-
lich bestraft. Neutrale Eigenschaften : BarmherzigkdBj
Fleifi, Klugheit, Mal^igkeit liegen aul5erhalb empfundenff
Wertung, so sehr sie auch von geistlicher und weltlicher
aoo
Autoritat angepriesen werden. Hingenommene Belei-
digung dagegen entehrt, denn sie bringt den Makel der
Feigheit; ihn tilgt der Zweikampf als evidenter Gegen-
beweis des Mutes.
Dieses ritterliche Moralsystem bleibt, dem daseins- ATr/V/;-
erfiillten Wesen seiner Erfinder entsprechend, planeta-
risch. Es kront die Starken, bandigt oder vernichtet die
Schwachen und halt sich in den Erdenschranken mensch-
jicher Schichtung. Die Grenze wird nicht erreicht, die
Seele bleibt unberiihrt. Das System ist edel und sach-
lich, aber es ermangelt der Transzendenz. Ohne die
Reinheit und Klarheit des germanischen Paradigmas zu
erreichen, nahert sich der Mutkultus der Japaner und
Indianer dem durch geheimnisvolle Zusammenhange ver-
wandten Anschauungskreise.
Die indische Auffassung, tatsachenfeindlich und ab- Indische j4uf-
strakt, ignoriert die Empirie der menschlichen Zwiespal-
tigkeit. Sie schreitet voriiber an dem Phanomen der
Veranlagung, nicht ohne es zu erblicken, doch ohne es
der Folgerung zu wiirdigen, der Auf hebung des Leidens
entgegen, die mit kiihner Abstraktion im Abtun des Be-
gehrens und der Furcht erkannt wird. Von der Nega- /tTr/z/A?
tion ausgehend, bleibt jedoch auch im hochsten Aufblick
die Tendenz passiv: das Leiden ist vernichtet, aber an
die Stelle der weltschafFenden Tatigkeit der Seele tritt
die weiche Seligkeit derSelbsvergessenheitund erhabenen
Ruhe. Die Lehre ist von hoher Transzendenz, aber sie
verzichtet auf die Spannkraft, das Liebesfeuer imd die
Sonnenfreude, die edelsten Erbteile unserer Erdenbahn.
Trotzig und selbstgewiC) verfahrt die Moral der sq- Semitiiche Auf-
mitischen Stamme. Sie nimmt die Partei des Schwachen. "^"''^
Mut wird nicht verkannt, aber er bleibt ethisch unge-
xo\
wertet, wie Schonheit, Kraft und Begabung. Als univer-
selle Tugend gilt die Perle der Furcht: Barmherzigkeit.
Aber so grofi ist die transzendente Kraft edleren Men-
schengeistes, dal^ aus diesem materiell-utilitarischen Gut
ein iiberirdisches entkeimen kann: aus banaler Giite wird
zweckfreie Menschen-, Feindes- und Gottesliebe. Ein
zweiter Zug zur Transzendenz liegt in der riicksichts-
losen intellektualen Gewalt der GottschaiFung. Dutch
unablassige Lauterung im Feuer der reinen Vernunft
wandelt sich ein eifersiichtiger, polizeigewaltiger Berg-
gott in den Herrn des Geistes, dessen Gebote absolut
sind, und dem man dient nicht urn seiner selbst, sondern
Kritik um des Geistes willen. Hier fiihrte die Starke intellek-
tualen Denkens so nahe an die Grenze transzendenter
Wertung, dal5 die christliche Lehre nur noch die Fessel
materieller Deutung und Versprechung abzustreifen
brauchte, um den Kern der Liebe, der Entaul5erung und
des Gottesreiches zu losen.
Grakoromanische Die grakoromauische Kultur des Mittelmeeres, im
.tffasiung Indifferenzpunkt germanischer und semitischer Anschau-
ung gelagert, hat alle wertenden Krafte auf die Schop-
fiing der Staatsgesinnung gerichtet; eine eigene Ethik
ist ihr nicht erwachsen. Ein tiichtiges, muterfiilltes
Bauernideal blieb die Sehnsucht der juristisch-rituell ge-
sonnenen Romer; Hellas genoH) mit Herz und Sinnen
den Adel terrestrischer Begabung und spottete der|
denen sie versagt war; die homerische Gotti
kunde wiederholte das gleiche Spiel in der heiteren
gezogenheit ihrer olympischen Aristokratie. Waren Ld
und Geist zur Vollkommenheit gebildet, so fand he^
kleische Kraft und odysseeische Klugheit die gleic
Schatzung, doch . immerhin mit solchem Beigeschma
germanischer Mutbewertung, daft die Fiille der Verach-
nmg dem ewigen Vorbild schmahsiichtiger Feigheit, dem
unsterblichenThersites, gezollt wird. Aber auch aus dieser Kritik,
sinnlich-transzendenzlosen Welt steht hochstem Men-
schengeist der Aufschwung frei; nicht aus dialektischer
Scharfe, wie beim Judentum, sondern aus asthetischer
Anschauung erhebt sich hier die platonische Transzen-
denz, die den tellurisch bewegten Griechengeist zum
erstenmal an jenseitige Machte kettet.
So erscheinen die ethischen Ahnungen der Zeiten als D'c histori-
• 1A11. 10 101. 1 schen Wer-
partiale Ableitungen des Satzes von der Seele, je nach tungen als
der Einsetzung temporarer, ortlicher und physischer Kon- P^^'^l^ Ab-
o r 7 ^ r J leitungen
stanten. Alle streben dem ethischen Zustande entgegen,
durch Besonderheit der Natur gefordert oder gehemmt,
auf verschiedenen Wegen, getragen durch gleichviel
welche ihrer starksten menschlichen Potenzen.
In welchen Stimmungen und Handlungen der ethisch Objektive
seelenhafte Stand sich aufiert : diese Frage beantworten Handelns im
wir, nachdem die Charaktere des Zweckhaften und Z week- BildederSeele
freien wiederholt erortert wurden, fiir den Qualitats-
grad intellektuell hochstehender zeitgenossischer Men-
schen wie folgt.
Das Leben ist geleitet und bestimmt von Trans- Transzen-
zendenz und Liebe. Jedes Erlebnis und jedes HandelUj^^^g
erscheint nur insofern wichtig, als es nach diesemDoppel-
gestirn gerichtet ist, und das Leben selbst hat nur des-
halb Wert und Bedeutung, weil es diese Richtung ge-
stattet.
Die Transzendenz verliert ihren Begriff, wenn sie auf
irdische Zwecke zuriickgebeugt wird. Wenn die Er-
hebung zum Gottlichen die Form eines Gebets um leib- Verbaitnis »»r
liche Giiter und Vorteile annimmt, so ist sie nicht mehr
203
Gottesdienst, sondern Geisterbeschworung. Wer um
Strandgut oder Schlachtensieg bitter, der totet. Wer
durch Selbstbeschuldigung der Gottheit zu schmeicheln
glaubt, beleidigt Gott und erniedrigt seine Seele. Wer
erzwingen will, dal5 die Allseele ihn mehr und besser
liebe als andere Kreatur, treibt unlauteren Wettbewerb
und macht Glauben zum Geschaft. Wer ohne inneren
Drang und Glauben sich widerwillig zum Auf blick zwingt
oder uniiberzeugt Ritualien verrichtet, begeht Gotzen-
dienst und Fetischismus und verschliefit die Quellen
seines inneren Lebens.
Trans%endenx- Leidenschaftlichc Totentrauer und vielgeschaftiger
osig ttt Leichenkult haben im Leben der Volker und Menschen
seit Urzeiten die Gesinnung der Transzendenzlosigkeit
verraten und bewiesen. Begrabnisse sind die echtesten
Dokumente der geistigen und seelischen Verfassung ver-
Verhaitnis %um gangeuer Geschlechter. Furcht vor dem Gespenst, Fur-
sorge fiir den Exilierten, Verzweiflung liber endgiiltige
Vernichtung, HofFnung auf leibliche Wiedervereinigung
und Glaube an eine die Individualitat liberwolbende Syn-
these: diese fiinffache Stufenfolge der Gefiihlselemente
bestimmt noch heute unser Verhaltnis zum Tode und
lafit den Stand unserer Seele ermessen.
Ehrfurcht Wahre Erhebung, mag sie vom intuitiven Erlebeil
von der Vensenkung in die Natur, von der Liebe oder
selbst vom objektiven Denken ihren Ausgang nehmen:
sie wird jedesmal im Uberweltlichen ihren Ruhepunkt
finden und somit unendlichen Abstandes sich demutvoU
bewufit bleiben. Aber diese Demut ist nicht hiindisch,
sie ist hingebend und oiFenbarend, sie ist ehrfurchtsvoll,
und stolz in ihrer Ehrfurcht. Denn klein und grol5 si
nicht absolute, sondern intellektuale BegriiFe: in sein]
ao4
Unabhangigkeit ist das Kleinste das Grofite, und in seiner
Bedingtheit ist das Gr6l5te das Kleinste. Unentbehrlich
ist das Staubkorn, und daher hochst wiirdevoU. Nichts
in dieser Welt ist verloren, nichts ist verlierbar, nichts
ist unrein. Was unrein scheint, ist nur verworren; das
gottliche Auge entwirrt es, und es besteht. Selbst der
Abstand heiligt; denn je grower die Feme, desto gr6l5er
die Liebe; je grower die Ehrfurcht, desto erhabener der
Dienst. Der Adel der Kreatur ist die Ehre des Schopfers.
Weit liber dem Distanzbewufi)tsein aber schwebt das Ge-
fiihl der hochsten Einheit, und wenn die reine Stimme
der Demut in einem Herzen klingt, so umbraust sie der
Orgelton der gottlichen Allheit mit seinen Akkorden.
Ethisch indiiFerent ist die begehrende Liebe. Be-Transzen-
gehrend ist sie nicht nur, so lange sie Gegenliebe will,
sie ist es auch noch, wenn sie ausschliefiend und eifer-
siichtig ihr Gegenbild zu sich herabzieht. Hinan! und
Hinauf ! tdnt der Ruf der transzendenten Liebe, und wenn
sie das irdisch Niedrigste ergreift, so heiligt sie sich in
ihm dutch den Abglanz, der aus jeder Erdentiefe zur
Sonne emporreil5t. Begehrend aber ist die Liebe auch
dann noch, wenn sie um des Individuellen halber liebt.
Fast alle unsere Liebe ist dieser Art, und somit irdisch :
eine Bewegung, eine Form, ein Klang entziickt uns, wir
woUen sie unverganglich, und verewigen den Zufall und
die Unvollkommenheit. Doch selbst in diesem sinnlich
befangenen Gliick liegt ein jenseitiges: dutch das geliebte
Geschopf hindurch lieben wir einUnbedingtes, das Wesen,
das nicht im Tagesreiz seiner Einmaligkeit, sondern in
der Gottlichkeit seiner Seelenwiirde lebt. Nun konnte
man glauben, es sei die transzendente Liebe ein wesen-
loses Aufgehen und ein gegenstandsloses Zerschmelzen,
2 .5
ja sie sei vernichtet durch die Vereinigung selbst, wJ
sie die Grenzen der Individualitat hinweglost: aber
Blick auf unser eigenes Wesen weist uns zurecht, denn
die gesamte individuale Erscheinung unseres Ich ist das
Liebeswerk vereinter Geisteselemente, die, einzeln uns
unbekannt, zu diesem festen Kollektivbau von unermefi-
lich gesteigerter Qualitat eben durch diese eine Urkraft
verschmolzen sind.
Erhaitung des Deshalb wird transzendente Liebe nicht die Ver-
ewigung des Individuellen, weder des eigenen noch des
umfangenen verlangen; sie fiihlt die Unverbriichlichkeit
des Wesenhaften, nicht des Gleichnisses. Ein Leib, be-
stehend aus Anpassungsteilen, ein Intellekt, bedingt durch
planetare Notdurft, diese Objekte sind im Sinne abso-
luter Existenz undenkbar; soil eine Welt vereinbart und
geschafFen werden, die sich zur intellektualen Vorstel-
lung verhalt wie die intellektuale Erscheinungswelt zum
Vorstellungsvermogen des Atoms, so verliert das irdische
Werkzeug in diesem Schopfungsakt seinen Sinn.
Transzenden- Wichtig, nach dem BegriiF ethischen Lebens, ist
alles, was in der Richtung der Transzendenz und der
Liebe orientiert ist. Wichtig ist daher jedes echte innere
Erlebnis, jedes mitfiihlende Anschauen der Natur, jedes
empfundene menschliche Schicksal, jedes erkannte Ge-
setz. Auch in der Spiegelung der Kunst kann Lebens-
wichtiges uns noch zuteil werden, insofern Kunst gleich-
zeitig die Offenbarung der objektiven Gesetze der dar-
gestellten Natur und des darstellenden Menschen be-
deutet.
Die Umkehr In gleichem Maf5 jedoch, wie Tun und Fiihlen vom
Sorge Sonnenzentrum sich entlernt und intellektualem Zweck
entgegentreibt, schwindet die unmittelbare Lebenswich-
206
tigkeit dahin. Hier liegt der Punkt des Kontrastes
und der entscheidenden Umkehrung im Vergleich zu
jeder nicht absoluten Ethik: wahrend diese sich be-
miihen mufi>, entweder das animalisch-intellektuale Leben
durch Auswahl irgendeiner bevorzugren Notdurft auf
eine Hohe zu treiben, die seinem Wesen fremd und un-
geziemend ist, oder aber dies Leben asketisch zu ver-
dammen, urn an die Stelle natiirlicher Zweckhaftigkeiten
konstruierte, nicht minder anthropomorphe Zweckhaftig-
keiten zu setzen, bleibt es uns gestattet, das vor der
Seele erblassende niedere Leben glaubhaft zu machen
und innerhalb seiner Grenzen zu rechtfertigen. Unsere
Gefahr liegt nicht darin, es konnten Leidenschaft und
Gier und bose Lust und Angst so iiberhandnehmen, dal5
es einer ethischen Bandigung durch Lockung und Dro-
hung bediirfte; unsere Gefahr liegt in der Sorge, der heute
freilich noch recht entfernten, es konnte die Unwichtig-
keit und Uberwundenheit des Materiellen vorzeitige
Passiviriit und Erdenfremde der edelsten Geister bewir-
ken. Uns liegt ob, das Spiel des Lebens moglichst ernst
zu nehmen; wenn Lockung und Strafe zum Schemen
werden, mul5 im indirekten Sinne nochmals Liebe ein-
greifen und den Glauben bestarken, dal5 die Missionen
der Vorgeschrittenen auf Erden nicht beendet sind, so-
lange noch ein Tropfen unerlosten Blutes im Zwange der
Angst und Begierde kreist.
Von neuem, und in einem hoheren Sinne miissen wirRiickkehr
an Note und Begierden glauben lernen, nicht mehr aus ^^g q^^^^^^
primitiver Lust der Stillung, sondern in bewull)tem
Dienst, und lediglich um das irdische Leben zu erhalten
und seiner letzten Aufgabe entgegenzufiihren. Aber
dies Leben ist nicht mehr ein animalisch-intellek-
207
males, sondern ein spirituelles Leben; es verlauft nicht
mehr als ein verzweifeltes Ringen um Brot und Macht,
sondern als ein vergeisteter Kampf in den strengen
Formen, die das Ziel gebietet; dies Leben wird nicht
gefiihrt um unseretwillen, sondern um der Gottheit
willen. Wir sind nicht mehr Besitzer, sondern Ver-
walter unseres Sein und Haben; wir sind der erste
Diener im Staate unseres geistigen und leiblichen Ich,
berufen, um unsere und der Welt Seele zu hiiten und sie
unberiihrt und stark in die Hande der Allheit zu legen.
Harte Dieser Dienst ist schwer, denn er fordert Harte.
Wir behalten das Recht, uns zu opfern, aber nicht um
des Nichtigen willen. Ja, wir sind gezwungen, Opfer
zu empfangen; jeder unserer Schritte totet, unsere
Nahrung kostet Leben, und unser Besitz beraubt. Aber
die Opfer der Natur gehoren uns nur insofern, als wir
ihr reicheres Leben erstatten. Als Gliicksgiiter gehoren
sie uns nicht.
Seibsterhaitung Wir behalten das Recht, der Heimat unserer Seele
gedenkend, in Liebe der Kreatur und in Betrachtung
des Gottlichen uns von individuellem Gliick zu losen,
aber es liegt uns ob, die Sphare und Macht unserer
Personlichkeit solange zu schonen, bis das letzte Opfer
sich rechtfertigt. Das Gliick der vollkommenen Hin-
gabe diirfen wir nicht verschwenden, die Harte der
Selbstbehauptung miissen wir uns auferlegen, sofern
wirklich die eine unser Gliick, die andere unsere Be-
drangnis ist. Beliigen wir uns, sind wir hart aus Gier
und unfroh in der Entaul^erung, so ist es sittlich gleich-
giiltig, was wir tun und eine blol5e Frage des Gesetzes:
das Reich der Seele entbindet uns der Verantwortungj
ihm sind wir nicht miindig.
208
So gelangen wir zur rhythmischen und dynamischen Sporn, nkht
Jmkehrung der alteren ethischen Anschauung; die Poli-
teilist und Gesetzhaftigkeit des Sittlichen ist gebrochen.
SJicht mehr bedarf es, den Uberschwang der Animalital
'.u ziigeln oder gar a us Gelehrtenschwachheit aufzu-
3eitschen; nicht mehr bedarf es, durch Verbote und
3efehle aus Gebrechlichkeiten und Liisten ein notdiirftig
jesittetes Gehaben aufzustutzen: unsere Sendung ist
delmehr, solange die Seele nicht vollkommen erstarkt
n sich selber ruht, zum Leben um des Gottes willen
md zur Leistung um der Welt willen uns zu ermutigen.
Deshalb wird von auI5en betrachtet, ethisches Leben Gesetz der
,. t • i» 1 '1 • 1 • 1 zweitenNatur
om ammalisch-sittlichen sich nur wenig unterscheiden:
amlich darin, daI5 es nicht zur Grenze bin, sondern
on der Grenze hinweg strebt; es ist, wie alles edlere
lenschenwerk, wie Anmut, Leibesbildung, Lebenssitte
nd Kunst, aus Geist wiedergeborene Natiirlichkeit und
weite Natur. Denn es ruht nicht mehr auf primitivem
rieb und Willen, sondern auf erworbener Gesinnung
nd transzendentem Empfinden. So rechtfertigt sich
bermals als partielle Losung ein altes Symbol: nicht
/erke heiligen, sondern Glaube.
Hiermit sind wir wieder beim BegrifF des ethischen Forderung
ustandes angelangt, und es fragt sich nun, ob dieserjjju^g des
ustand, der sich durch WillenseingriiF so wenig er- ^^^schen Zu-
vingen lafit wie die Entfaltung einer Bliite, uberhaupt
irch Tun und Leiden gefordert oder gehemmt werden
inn.
Die grofie seelische Bedeutung des Leidens hat das Der Weg des
iristentum erkannt und gepriesen. Aber nicht alles ^^ ^^^
nden ist seelenspendend, denn Schmerz und Not,
ngst und Gier sind die Triebkrafte aller Schlechtigkeit
H ao9
und alien Frevels. Wie kann aus gleicher Quelle da
Tierische und das Gottliche fliel5en?
Primitive Reak- Der ursprungliche Mensch, der vom Leid betrofFe;
wird, fordert sogleich einen Schuldigen, an dem e
seinen Zorn auslassen kann, und WQnn es der harmlos
Bote des Ubels ware, der seinerseits sich nicht eine;
Augenblick dariiber wundert, dafi er geschlagen wire
Denn die giitige Natur hat der liberfallenen Kreatu
den Reflex des Zorns bestellt, damit sie ohne viel z
zaudern das Grobste abwehren lerne. Torheit, Tiicke
Zauber von Mensch, Tier, Gespenst und Gott sind di
Bringer des Ubels; Rache, Strafe, Gebet und Opfer di
Reaktionen der Abwehr.
Vorgeschrittene Der vorgeschrittene Mensch sucht die Quelle de
Lieaktion des ^ . -i . . ^t i i i • i i
Uides Leidens m einer Ursachenkette, una je abstrakter er z
denken fahig ist, desto weniger schreckt er zuriick, sei
eigenes Wesen und Handeln in diese Kette einzubezieher
In demjenigen Zustand hochintellektualer aber zwecl
befangener Verdiisterung, welcher dem Entstehen de
Seele vorausgeht, wird die Ursache des Ubels, gleichvi(
woher es mechanisch stamme, ganz und gar ins Inner
verlegt: der BegrifF der Verschuldung und Siinde erhel
sein Erinnyenhaupt. Die Reaktion ist nicht mehr Zor
sondern Zerknirschung, die Abwehr Bul5e. Mit dei
BegrifF der Schuld aber erscheint sein mildes Gegenbih
die Vorstellung der Erlosung. Siihne, Reinigung, Gotte:
spruch kann erlosen; ein gewaltiger Umschwung de
Empfindung hat sich vollzogen: indem der Mensch zui
Sunder wurde, ist der Gotze zum Gott geworden, un
Trannendente der erste ttanszendente Glanz dammert auf. Bald werde
l^jgf " die BegrifFe umgewertet: Erlosung ist Himmelsgab<
aber was ware sie ohne Siinde und Leid? Nun sind di
2lO
I
defsten Schatt'en des Lebens durch Transzendenz auf-
gehellt, die Seligkeit des Leidens ist gewonnen, Leid
und Gliick erscheinen nicht mehr als ein Absolutes,
sondern vereinigt in der Synthese des Ewigen, das Reich
der Seele bricht an.
Tausend Wege fiihren aus der Vertiefung des Lebens
zur Erhebung der Seele; den kiirzesten, leider schnell
verendenden, hat die indische Weisheit beschritten, die
[n kiihner Abstraktion das Ubel bei seiner Erscheinungs-
itvurzel ergrifF und es mitsamt der ganzen sichtbaren
Welt einem Hoheren zuliebe kurzerhand sakrifizierte.
So ist das Leid im Menschheitsdenken zur Erlosung
Teworden, so wird es im Einzelleben zur Erlosung, so-
r Pern dieses dem Aufjgang der Seele nicht allzufern steht.
Wbhl gibt es leidlose Menschen, solche die in ^lIIzm- LeiMoseNatttren
^liicklichen Landern und Hausern, mit allzugliicklichen
jaben erwachsen. Sie wandeln in olympischer Kinder-
xeude, keine Schuld wagt, ihren reinen Fu6 zu um-
tricken. Die leichten Schatten ihres Lebens kommen
^on den natiirlichsten Wandlungen, nicht aus den Tie fen
iindhafter Verflechtung; sie weichen mit dem Winter,
lem fernen Gewitter, dem fremden Schmerz; ein kurzer
Jnwille und edler Zorn treibt sie hinweg. Dem neid-
iaften Volk, das aus Scheu vor ihrem Gliick sie nicht
inmal zu schmahen wagt, erscheinen diese Menschen
ottlich, dem Gotte sind sie lebensahnliche Bilder, die
ei der ersten Regung ihrer Seele in die Tiefe gleiten,
m als Lebendige erst dann emporzutauchen, wenn sie
chuld, Schmerz und Angst gekostet imd liberwunden
aben.
Ihr Gegenbild sind jene ungliickseligen N^tnren, LeUer/eggnf
ie friiher Schwache, Siinde, Schmach und Hafilichkeit ^'*^"*
»4* an
erlegen sind und deten Leben der Rache ^ehort, die aus
Leiden erwachsen ist. Im Stande hohen Intellekts heifit
diese Rache Ehrgeiz; sie waren getreten, nun wollen
sie herrschen, sie waren ausgeschlossen, nun wollen sie
einsitzen, sie waren verachtet, nun wollen sie beugen.
Jedes fremde Gut und Verdienst ist ihnen Hemmung
und Beleidigung, jeder fremde Makel Rechtfertigung
und Forderung. Jedes Ding und jedes Wort, jeder
Mensch und jedes Ereignis hat nur Wert, soweit es ein
Nutzen oder ein Mittel ist; der Faden des Gedankens
schnellt rastlos zum Ich zuriick und vereitelt objektives
Versenken und SchafFen. Die Tatigkeit wird kritisch,
sie braucht gegebene Dinge und Menschen, um sich aui
ihnen zum Schaden des Wirts festzusetzen ; die Methode
wird advokatorisch und dialektisch, denn es kommt nichi
an auf Wahrheit, sondern auf den gewollten EiFekt. Da;
vernichtende Streben untergrabt alles naive Urteil, jede
instinktive Wertung; das verdrehte wird wahr, das zer
setzte gesund gescholten. Das Wort wird zur Liige, di(
Handlung zur Grimasse, das Gefiihl zur Sentimentalitat
der Gedanke zurFormel; und als erstarrte Erinnerungs
zeichen schiefer Empfindungen und Entschliisse umgebei
den Ungliicklichen schiefe Werke, Menschen und Situa
tionen. So lebt er teils in boser Einsamkeit, teils ver
angstet und verletzt im Kreise gleichgearteter Trabanten
Sein tiefster Schmerz ist, verachten zu mussen die
welche ihn schatzen, und lastern zu mussen die, welche e
ersehnt. Da er nun eigentlich nichts zu verlieren hai
so ist auch der Mut seiner Verzweiflung nicht Kraft
sondern Schwache. Menschen dieses Schlages werde
von der verwandten Menge als befreiende Geister be
griifit; im hoheren Sinne sind sie beklagenswerte selbst
vernichtete Existenzen. Dennoch sind sie der Seele
nicht entfremdet; sie sind ihr naher vielleicht als viele
jener iiberseligen Kreaturen: denn ihre verborgensten
Krafte sind durchSchmerz undZweifelgelockert, dererste
Aufblick, der erste Strahl det Liebe kann sie wecken.
So wie alles Grofie auf Erden von Menschen ge- Ziuiespaitige
schaifen worden ist, die schuldig oder siindlos die ^^^^^^^^
Schmerzen der Schuld und Siinde erlebcen, Himmel und
Abgnind im Herzen trugen, Verworfenes und Heiliges
mit gleicher Liebe begriifen, so ist das Reich der Seele
nicht den Schuldlosen am nachsten, sondern den Damo-
nischen, die aus der Tiefe ihrer Schmerzen die Wand- *
lung des Leides erfahren haben.
So ist das Leid der erste Weg zur Seele. Es ist der
Weg im Sinne des Ethos, und alle Menschheit im Laufe
der Generationen schreitet ihn. Der zweite Weg ist das
Schweigen.
Der zweckhafte Mensch ist nicht fahig hinzunehmen. Der Weg des
In seinem Geist und Herzen larmt es, denn die Begierde
schlaft nicht ein, und selbst im Traum verfolgt er, wie
der schlummernde Jagdhund, stohnend die Fahrte seines
Wollens und planenden Denkens. Jedes Ereignis zwingt Sciywatxender
ihn zur Parteinahme, jedes gesprochene Wort zur Er-
widerung und zum Urteil. Schwatzt seine Stimme nicht,
so schwatzt sein Geist, und alles Schwatzen hat nur den
einen Sinn der urteilenden Billigung und Verdammung.
Bietet sich keine anreizende Sinnennahrung, kein StofF
zum Zahlen, Rechnen, Abtun, Wundern, Tadeln und
: Mitteilen, so tritt Langeweile, Mill>behagen oder Schlaf
ein. Das letzte Hilfsmittel sind banale Verstandesspiele,
abwarts bis zum Abzahlen der Pflastersteine auf der
Straiie.
213
Unerstaunter Der schwatzende Geist kann sich wundem, aber nicht
erstaunen. Aber auch die Verwunderung ist kurz, denn
die Erscheinung geht ihm nicht nahe. Hat er sie not-
diirftig assimiliert, womoglich dutch ein Schlagwort, eine
Modeformel oder einen Gemeinplatz, so nennt er sie
iiberwunden; denn er weifi nicht, dafi man nur im Kampf
iiberwindet. Als die Suaheli sich vor dem ersten Kraft-
wagen entsetzten, der durch die Straiten von Daressalam
ratterte, sagte einer „Pinal5 an Land", und der Teufels-
kasten war als europaisches Zauberwerk klassifiziert und
erledigt. Die Mechanisierungsformen der Erscheinungs-
• aufnahme : Zeitungsnotiz, Illustration und Film, kommen
der seelenlosen Assimilation am weitesten entgegen; die
unabhangige Durchforschung des reinen Gesetzes und
des einheitlichen Aufbaus steht ihr am fernsten. Aus
dem Kreise der menschlichen Gefiihlswerte konnen nur
die grellsten, die Sensationen der Liisternheit und des
Grauens, im Larm der Sterilitat Gehor finden ; alle stil-
leren Reflexe gehen unter, denn wenn der Geist larmt,
schweigt die Natur.
Einsamkeii Einsamkeit ist die Schule des Schweigens. Die pro-
duktive Kraft des Geschehnisses liegt im Nachklang. In
der Stille der Abgewandtheit vom Wollen und Zweck
erheben Dinge und Werke ihre Stimme und sprechen
sich selber aus, das Ereignis wird zum Erlebnis. Die
Natur macht keine Ausrufungszeichen und Anfiihrungs-
striche ; ihre Ubergange sind unmerklich, das Grof^e und
das Kleine nennt sie im gleichen Tonfall. Der schwei-
gende Geist aber weckt das Echo des Wesentlichen; das,
was Rechnung nicht erweist, Uberlegung vergifit und
Dialektik verdunkelt, das wahrhaft Wichtige, die Seele
der Erscheinung steht da, zu Geistergrofie erhoben,
ai4
redend und erwidernd, mahnend und verheiSend. Un-
begreif lich personlich, menschenhaft und dennoch liber- Die Sprache der
menschlich ist die Sprache dieses Geistes der Dinge. *"^'
[ronie und Sarkasmus, Begeisterung und Ahnung, Weis-
sagung und Ratseldeutung sind seine Ausspriiche. Ge-
schichte, Natur, Menschheit und Tierheit werden zu-
traulich und erzahlen, deuten, erlautern sich selbst. In
dieser Stille wird das Geheimnisvolle moglich, dafi es
dem Menschen vergonnt ist, das Seiende und das Wer-
dende, das Vergangene und das Kommende zu erblicken:
denn es ist eine niemals durchdrungene Wahrheit, dal5
das Begreifen nicht vom Verstande abhangt. In jedem
iiohen oder niederen Stande der Intellektualitat ist es
1 moglich, das Wesentliche zu erfassen; denn geistig er-
fassen heil5t abbilden, und zum Abbilden bedarf es nur
eines|(einzigen kindlichen Strichs, wenn er das Essentielle
packt. Mythos und Gleichnis, Gedicht und Beschreibung,
Theorie und Weltsystem, ein jedes in seiner bildlich-
primitiveren oder abstrakt komplexeren Sprache und Vor-
stellung, bedeuten das gleiche ; sind sie mit echtem Blick
empfangen, in reinem Geist gereift, so sind sie ange-
jchaute Wahrheit. Es ist Schwachmut, zu glauben, daib
keine Wahrheit uns beschieden sei; auch die partiale Ab-
ieitung kennzeichnet die unendliche Funktion, und in
ihrem Abbild darf auch der partiale Geist das Totale er-
blicken. Der Krug fafit nicht den Quell, aber er fail>t
schtes, edles Wasser, und der Tropfen loscht nicht die
Sonne, aber er spiegelt die Gestirne.
Vom Weg des Schweigens, der durch das Gebiet der Der Weg der
Erkenntnis zur Intuition, von der Intuition zur Seele ^^^^ ^^^^
fiihrt, zweigt sich ab der Weg der Betrachtung, der die
Welt des Sinnlichen mit der Welt des Seelischen verbindet.
xiS
z-weckhafte Dem kindlichcn Geist des Intellektualmenschen ist
* die Erde ein Grundstiick, die Wiese ein Futterplatz, dei
Wald eine Forstwirtschaft, das Wasser eine Verkehrs-
bahn, der Stein ein Brennmaterial, das Tier ein Wild,
Vieh, Raubzeug oder Ungeziefer, die Sonne eine Kraft-
quelle und ein Beleuchtungsmittel, der Mensch ein Kon-
kurrent, Abnehmer, Vorgesetzter, Angestellter oder
Steuerzahler, die Gottheit eine Behorde. Wie man einen
Baum zerreifit, um seinen Leichnam in Papier, Ziind-
holzer oder Zahnstocher zu verwandeln, so zerrein)t er
das Bild des Kosmos, um ein wenig Nahrung, ein wenig
Flitter und ein wenig Aufsehen zu erwerben. Nun ist
die Welt tot ; nun hat der Arme sich gemiiht, gesattigt,
gewarmt und fortgepflanzt, sich begucken und benei-
den lassen, und es bleibt ihm nichts mehr iibrig, als
das Spiel zu wiederholen, bis er endlich mit tiefejji Be-
dauern das Zeitliche segnet, nachdem er das Ewige ver-
dammt hat.
Zweekfreie Dem rein und zweckfrei betrachtenden Auge aber
^H ^^1x6. die Natur nach unendlichen Richtungen hin unend-
lich und dennoch in zartester Beschrankung vertraut.
Das Heiligtum des Grashalms ist unaussprechliches Ge-
heimnis und doch nur ein Atom in der Lebensdecke des
einen Planeten. Eine HandvoU Waldboden birgt ein
Weltall an Lebensgleichgewicht und verkiindet den Ge-
meinschaftsbau des Lebendigen, das in unablassigem Aus-
tausch Krafte wirbt und spendet. Die Elemente damp-
fen, lasten, wogen und stromen in unerloster, tobender
und gesetzter Kraft und umschlingen schiitzend das
Kleinod des befreienden Samens; aus jedem Ruhepunkt
bricht Leben hervor und klammert sich noch an die Fels-
hange des erstarrenden Giirtels. Durch alle Weltraume
2l6
flechten sich die Adern des organischen Gesetzes, vom
Kristall bis zum Blutenstaub herrscht Einheit, Gleich-
klang, Recht und Norm. Das Sandkorn als Planet, der
Planet als Sandkorn folgen den gleichen Schicksalsge-
setzen; einmalig ist alles, nichts ist vereinzelt, jedes be-
dingt und keines begrenzt. Den Sinnen aber ist ver-
gonnt, diese Welt zu trinken, die im Rausche des Lichts
zu jeder Stunde ihre Wunder neu verklart und im Klang
und Duft ihres wehenden Atems erzittert. So unsag-
liches Gliick ware nicht moglich, wenn ein Totes zu
Lebendem sprache, wenn nicht im Brausen der Schop-
fung Geist sich dem Geist vernehmlich machte. Dieses
Vernehmen aber ist Betrachtung, und die Liebe, die in
der Stille der Selbstvergessenheit ihr entwachst, ist die
Richtkraft des dritten Weges, der zur Seele hinfiihrt.
In der Erorterung der Erlebnisse und Stimmungen, Der Weg des
die dem Werden der Seele vorhergehen, haben wir der
religiosen Empfindung nicht gedacht. Denn ihre echten
Elemente, soweit sie nicht vollkommen transzendent sind,
dem Reich der Seele somit schon angehoren, sind in den
Ubungen des Leidens, des Schweigens und der Betrach-
tung enthalten und in reiner, nicht mehr sinnbildlicher
Ausdrucksform erschopft.
Die erleuchtende Gewifiheit der Religion, die sicb
im Glauben, in der Gottesliebe und Erlosung symbolisiert,
lost sich in unserer Erkenntnis der Seele und ihres trans-
zendenten Lebens.
Die religiosen Einzelformen, Dogmen, Mythen, My- Reiighnen ais
sterien und Symbole erscheinen unserer Betrachtung als
zeitlich, ortlich und intellektuell bedingte Gleichnisse
und Partialableitungen mehr oder minder rein empfun-
dener transzendenter Wahrheit. Die Ehrfurcht, die wir
117
selbst matten und verzogenen Spiegelungen des G6tt-
lichen schulden, bleibt nicht durchaus eine theoretische
Satzung; nach der Auffassung von der partialen Wahr-
heit gewinnen die iiberlieferten Heiligtiimer die Bedeu-
tung von Abbreviaturen und Breviloquenzen, deren die
menschliche Geistigkeit der Mittelebene noch eine Zeit-
lang bedarf. Es ist besser, dafi ein durchschnittlicher
Europaer an die leibliche Auferstehung des Fleisches
glaube, sofern diese Formel ihm ein wirkliches inneres
Erleben auswirkt und nicht blol5 der vermeintlichen Star-
kung seiner Konkurrenzkraft dient, als dal5 er lebe und
sterbe in dem wahnsinnigen Gedanken, jede innere Er-
schiitterung sei wissenschaftlich nachgewiesener Zeitver-
lust, und das oberste Weltprinzip sei das Gesetz von der
Erhaltung der Kraft oder eine ahnliche gleichgiiltige
Intellektual formel. Das Philisterium Nicolaischer Auf-
klarung ist schaumende Phantasie im Vergleich zu jener
Nuchternheit, die einen Wirtschaftsgrundsatz, etwa die
Okonomik der Energie auf den Thron der Ethik setzt
und die Gotteswelt zur Sparbiichse macht. Dafi ein
Mensch glaubt, sofern es nicht eigenniitziger Zweck-
glaube ist, ist Sache seiner seelischen Anlage; was er
glaubt, ist Sache seines intellektuellen und intuitiven
BegrifFskreises. Erhebt sich das vorgeschrittene Erfassen
einer Zeit ein wenig liber das Mall>, das dem Durch-
schnitt erreichbar ist, so soil nicht esoterischer Diinkel
die Menge in den Vorhof verweisen, sondern es soil
jedem der Weg gebahnt sein, von bildlich - falMichen
Mythologismen zur reineren Anschauung vorzuschreiten. ;
SyrabolikderDeshalb sei auch hier versucht, eine Reihe ehrwiirdiger
Pogmea Dogmen und Riten in Beziehung zur Erkenntnis der Seele
zu setzen.
%iS
Vorausgeschickt sei die Bemerkung; wie alles intuitive Materiaiisierung
Denken sich auf dem Wege zur Sprache materialisiert,
indem es in die verschlissenen Kleider der Worte und
BildbegrifFe steigt, um objektiv sichtbar zu sein — mate-
rielle Sprachroutine freilich verwechselt die Erlernung
des Denkens mit seinem Wesen und vermutet, der Ge-
danke werde im Wortkleide geboren — , so leidet die
transzendente Vorstellung doppelt, wenn sie die Sachen
und Vorgange der Gebrauchswelt als Verkorperung
waihlen mull), um mittelbar und fall)bar zu werden. Wie
schwer hat das griechische Denken, dem keine Praxis
der sprachlichen Abstraktion zur Verfiigung stand, um
das Wortkleid seiner theoretischen Einsichten gekampft!
Wieviel miihsamer hat das erwachende Empfinden reli-
gioser Transzendenz gestrebt, durch handgreif liche Vor-
stellungen wie die des „Weges", des „Verwehens", des
„Hauches", des „Wortes", des „K6nigreichs", die innere
Erkenntnis zu materialisieren ! Der Dichtkraft Jesu war
es beschieden, in Bildern und Fabeln des volkstiimlichsten
Erfahrungskreises den Inhalt religioser und politischer
Intuition abzuformen; dem Zauber dieser Kunst ver-
danken wir, dafi aus der Tiefe der Verschiittung die
Urgestalt seiner Gedanken noch immer hervorleuchtet.
Das Jahrtausend abstrakten Denkens, das die Volker der
Erde seither durchschritten, hat unsere intuitiven Krafte
Icaum gefordert, wohl aber einen uniibersehbaren Kreis
>achlich-mechanischer Anschauung und theoretischer
Denkform geschaffen, die zu verkennen auf gekiinstelten
A^rchaismus und gewollte Stilisierung hinausliefe. Soziale,
3hysikalische und erkenntniskritische BegriiFe sind uns
/ertrauter als die Requisiten vorzeitlichen Landbaus.
u)er sprachliche, mechanische und bildliche Reichtum
219
hat nicht viel mehr zu bedeuren als gesteigerte Feinheit
der Einstellung, die manchen Vorteil und grdf^ere Gefahr
bringt; sie abzulehnen, hiefi)e, unserem Denken untreu
werden. Deshalb diirfen wir nicht erschrecken, wenn
altvertraute Formeln bei der Einreihung in unsere Denk-
weise die Farbigkeit ihres sinnlichen Kleides verlieren.
Kame heute ein Prophet zur Welt, so wiirden wir uns
gewohnen miissen, ihn ohne Scheu von Maschinen und
sozialen Gesetzen reden zu horen.
Siinde Den BegriiF der Silnde haben wir erortert. Auch uns
erscheint sie als ein Gemeinzustand, und auch uns als
ein Abzutuendes; jedoch sind wir nicht mehr an das
Bild einer Ubertretung, ihrer Folgen und ihrer Verall-
gemeinerung gebunden, wir bediirfen nicht des Korre-
lats eines Verbotes. Siinde ist nicht Verletzung eines
Gesetzes oder Gebotes, sondern ein Urzustand. Dieser
Urzustand, aus dem wir uns befreien, ist die natiirliche
Durchgangsepoche der animalisch-intellektualen Welt;
sie ist nicht durch Verderbnis eines goldenen Zeitalters
entstanden, sondern auch sie, so unvollkommen sie dem
Stande der Seele verglichen erscheinen mag, ist ein ge-
waltiger Fortschritt gegeniiber der intellektlosen Welt.
Deshalb ist das Lehrmittel des Abscheus und der Ver-
achtung uns nicht vonnoten; wir konnen das Uberwun-
dene so wenig hassen wie die Kindheit oder die Tier-
heit, und diirfen dennoch die Machte preisen, die uns
SUndenfaU s^mGv entheben. Die Erinnerung eines Siindenfalles
wird uns nicht bedrangen, und dennoch werden wir auch
seiner Symbolik eine metaphysische Ahnung gegeniiber-
stellen konnen: denn wenn wir den gewaltigen Vorgang
der geistigen Sammlung iiberschahen, dessen ephemeren
Einzelakt wir in der Evolution der Seele gepriift haben,
I
so liegt die Tendenz nahe, ihm eine kosmische AUge-
meinheit und Periodizitat zuzusprechen. Jeder univer-
salen Sammlung ware dann eine universale Zersplitterung
vorauszusetzen, deren mythische Deutung wo nicht dem
paradiesischen Milage Schick, so doch seinem gvofhen
Vorbild, dem Abfall der Geister, nahekame. In diesem
bildlichen Zusammenhang darf an jene Bemerkung er-
innert werden, die im zweiten Buch iiber das Prinzip
der Gegenstromung gemacht wurde.
Die religiose Vorstellung von personlicher Heiligkeit PersoniicbeGott
und personlicher Gottheit bleibt ein primitives Gleichnis,
solange und je mehr imBegriiFdesPersonlichen die anthro-
pomorphe Form des intellektualen und individuellen
Denkens und Wollens gesucht wird. Dennoch liegt auch
in diesem Symbol ein transzendenter Keim, dem die pan-
theistischeDenkweise nicht gerecht wird, wahrend die hier
niedergelegte Auffassung ihn generell auszudeuten sucht.
Dieser Keim wird sichtbar in der Empfindung eines
absoluten Wertkontrastes, der durch keine noch so voll-
kommene Einordnung des Einzelnen in die Allgottheit
ausgeglichen wird. Wenn der personlich gerichtete
Glaube um Ausdruck ringt, so sagt sein stammelndes
Gefiihl: ich bin schwach und schlecht, der Gott ist giitig
und wissend ; dabei ahnt er, daf5 er Gott vermenschlicht.
Der Pantheismus antwortet: du bist eingereiht in 6iq ScirwMe de*
Gottnatur, die alles umfafit; widerstrebe nicht, so bist ^ '^^*"
du als Teil nicht ungottlicher als das Ganze; und er
ahnt, indem er dieses spricht, dal5 er die Gottheit ver-
fliichtigt. Denn als reines Multiplikat gewinnt ein
Komplex auGer der belanglosen Quantitat keine neue
Eigenschaft; an sich ist der Finger nicht gottloser und
das Volk nicht gottlicher als der Mensch. Erst dadurch
I
221
dafi wir aus der Synthese des Geistes die Seek, und
aus der Reihe der hoheren Evolutionen die unendliche
Pyramide des Uberirdischen erwachsen lassen, werden
wir dem Elemente der Ehrfurcht, das die Natur in uns
gelegt hat, und dem Korrelat der Erhabenheit, das sie
vom Hcichsten fordert, gerecht; dann aber liegt das
Gottliche nicht mehr in der gesetzmafiigen Zusammen-
Richtungsbegrif fassung, sondern in der aufstrebenden Richtung. Die
Weltseite der Schopfung, das Durchlaufene , Erledigte
, bleibt hinter uns liegen und nimmt insofern am Gott-
lichen nur bedingten Anteil; die Gottseite der Schopfung
aber erhoht sich mit unserem Aufstiege wie das Firma-
ment liber unserem Haupte und bleibt somit transzen-
dent. Indem es aber nur mit der reinsten Kraft unseres
Inneren verwandt erscheint, kann die Vorstellung eines
Personlichen , ja eines Individuellen als partiale Gleich-
setzung dem einfacheren BewuC>tsein erhalten bleiben.
Fiir uns aber verschmilzt der BegrifF des Ungottlichen
mit dem des Durchlaufenen, hinter uns Liegenden, der
BegrifF des Sundhaften mit dem des erledigten Intellek-
tualen, das die ganze bisherige Schopfung umfafit; der
BegrifF des Gottlichen beginnt fur uns mit der Seele
und umfafit alle kommenden Reiche. Deshalb sollen
wir uns hiiten, die bessere Seite unseres Seins als etwas
halb Bewul^tes, ja UnbewulLtes der Gesellschaft niederer,
dunkel intellektualer Triebe anzureihen; das mechanische
Denken neigt zu dieser Gefahr, denn freilich ist die
intellektuale Geistigkeit, in welcher wir alt sind, uns
vertrauter; im Leben der Seele sind wir kindlich jung,
fast unerwacht, zaghaft und fremd.
Gemeinschaftder In diesem Gedankenkreise findet selbst das Bild von
"^^'^ der Gemeinschaft der Heiligen seinen symbolischen
Stand, denn die uns unmittelbar besctiiedene Teilnahme
am gottlichen Wesen, die Seelenhaftigkeit, bietet je
nach der Stelle der Betrachtung das Bild einer individu-
ellen Vergeistigung oder einer gottlichen Kollektivitat.
Der Aufstieg selbst aber kann durchaus mit einer Er-
losung verglichen werden, und zwar einer solchen, die Errosung
durch keinerlei Willenshandlung erzwingbar ist, sondern
vielmehr durch einen inneren Vorgang der Erleuchtung,
wenn man will, der Gnade, erfolgt. Hier kann das Vor- Gnade
bild, die Fiihrung, ja die ofFenbarende und erlosende
Gewalt erhabenster Geister gewiirdigt werden, detnn die
unabhangige Kraft des Aufschwungs ist nicht jedem
Geiste eingeboren, und viele konnen im Innern nur das
erleben, was ihnen von aufien gespendet ist. Selbst
theologische Streitfragen mogen in der Umdeutung all-
gemeiner Betrachtung sich von Widerspriichen losen;
wir wissen, dalL der ethisch-seelenhafte Zustand nicht
durch Einzelhandlungen erzeugt wird, dalb er jedoch
gewisse Handlungstendenzen ausschliefit und andere be-
wirkt, ja unter Umstanden in ihnen erkennbar ist: die
alte Antinomie des Problems vom Glauben und von den G/auben und
Werke
Werken ist in dieser Gesetzmafiigkeit aufgehoben.
In welch passiver Einseitigkeit die Lehre von der
Aufhebung des Leidens und der Weltflucht die Erkennt-
nis der Seele spiegelt, haben wir im Laufe der Erorte-
rung gestreift; die symbolische Wertung des Seelen-
wanderungsdogmas erfordert eine gesonderte Anmei- Metempsycbose
kung. Das Widerstrebende dieser Lehre liegt, abgesehen
von ihrem moralischen Rationalismus , in der mangel-
haften Identitat des Subjekts. Nicht an dieser Stelle
werden wir vom Prinzip der Strafe zu handeln haben;
erwahnt sei eine seiner Antinomien, die darin liegt, dal5
223
der Verbrecher und der Gestrafte nicht identisch sind.
Ein Mensch taucht mit tierischer Lust seine Hand in
geopfertes Blut, und vor dem Richter erscheint mit
nackter Seele und empfindender Haut ein weinendes
Geschopf, das vor der Schlachtbank zittert. Nach
Wochen steht die Kreatur einer geschlossenen Mensch-
heit gegeniiber, die in einem Hof, von Mauern umgeben,
sie nach Kommando zu sterben zwingt; und fiir die
Menge und ihre Beauftragten ist es der gleiche Mensch,
der Verbrecher, das Tier. Vor Gott ist er es nicht; was
ihn verwandelt hat, nennt die Kirche kurz und biindig
die Reue; wir nennen es die Vielfaltigkeit des mensch-
lichen Herzens und gedenken der unerwachten Seele.
Von dieser Spaltung der Identitat weiH) die Metem-
psy chose nichts; in ihrem Drange nach Vergeltung ver-
langt sie, dafi die schuldwiirdige Person erhalten bleibe,
auch wenn nur in einem hoheren BewuI5tsein die Briicke
der Wesenseinheit geschwungen ist. Aber gerade dieses
hohere Bewufitsein ist das unbeteiligte; so wird ein
Widerspruch durch den zweiten verdeckt.
Das Symbol gewinnt an Wahrheitswert, wenn die
Kette der Individualitat geopfert wird, und doppelt, weil
gleichzeitig die Kriminalistik des Ubersinnlichen hinfallt.
Ist es der Geist schlechthin, der um seine Existenzform
ringt, bis er die Verklarung zur Seele vollbracht hat, so
erscheint das Gleichnis losgelost von der Romantik des
Einzelerlebnisses und gelautert; freilich ist zugleich die
bildlich-erziehliche Fafibarkeit des Mythos zerstort.
Gottesrekh Weit hoher als ein Symbol, wahrhaft als eine Ent^
hiillung, soweit sie einfachen und iiberwiegend transzen-
denzlosen Geistern fal5bar war, ofFenbart sich die evan-
gelische Kunde vom Himmelskonigtum und vom Gottes-
224
reich. Der schillernde Kreis des Mifiverstandnisses, den
Niederschriften und Uberlieferungen um den Erkenntnis-
kern der christlichen Lehre geschlungen haben, lafit die
transzendente Reinheit des uniiberlieferten Mittelpnnkts
vermuten. Bald wird in der Uberlieferung das Reich als
irdisch-soziale Institution, bald als eine Gemeinschaft der
Gerechtfertigten, bald als messianische Theokratie, bald
lis Himmelsparadies gedeutet. In diesen Farben mufite
dn BegrifFsich spiegeln, der in seinem Ursprung mensch-
ich, in seiner wahren Existenz geistig, in seiner An-
Ijchauungsform transzendent gedacht war. Ohne die Ge-
:;etzmafiigkeit in den Widerspriichen einer Uberlieferung,
lie tausendfaltigEingescharftes so typisch umkreist, waren
vir in Versuchung, uns fiir eine der Versionen zu ent-
|;cheiden. So aber diirfen wir aus der verheil^ungsvoU-
ten Quelle die Gewifiheit einer Verkiindigung vom
vahren Reich der Seele schopfen.
ilpln diesem mythisch-theologischenBetrachtungskreise Gebet
St endlich einer geheiligten Ubung zu gedenken, des
jebetes. In ihr liegt der Inbegriff aller praktisch-trans-
endenten Symbolik, denn der Mensch tritt mit alien
einen irdischen Kraften, schauend und fiihlend, fordernd
md empfangend vor die Schranke der Gottheit.
Der symbolische Wert des eigentlichen, bittenden
iebetes liegt fur den zivilisierten Menschen nur in der
Lnerkennung, gleichviel ob frei oder erpreI5t, es sei
ine Instanz auf5erhalb des berechenbaren Geschehens;
:hon diese Anerkennung erschliefit eine metaphysische
)enkform, denn sie folgert, eine Handlung sei nicht
jdiglich aus ihrem Nutzen zu beurteilen.
Je mehr nun die Form der Bitte sich der Mitleids- 5///*
rweckung, der Schmeichelei, der Bettelei und Selbst-
■
22V
erniedrigung, kurz, irgendelner Art der Bestechun^
niihert, je mehr der Gegenstand der Bitte die Vorteilc
des aufieren Lebens, Forderung der eigenen Zwecke mil
oder ohne Schadigung des Nachsten betrifft, desto weitei
entfernt sich das Gebet von seinem transzendenten Sinne
um sich fetischistischer Zauberei und Geisterbeschworunj
anzugleichen.
Der Ausgleich zwischen zweckhaftem und transzen
dentem Streben beginnt in dem Punkte, wo die Bittt
das innere Erlebnis herabruft und die Herzensbewegunj
auf das allgemeine Verhaltnis des Gottlichen zum Mensch
lichen sich einstellt. Die vier spateren Bitten des Vater
unsers geben von diesem Stande Zeugnis, den man als di(
Symbolik des transzendenten Erkennens ansprechen darf
Meditation Der letzte Schritt ist getan, wenn das Gebet nich
mehr dem Willen dient und entspringt, sondern das in
tuitive Erwachen und Dasein des Menschen zweckfre
ofFenbart. Dann ist seine Form nicht mehr die Litanei
sondern die Meditation; die Bitte hebt sich selbst au
in der schauenden Hingabe: nicht mein Wille geschehe
sondern dein Wille; und das Symbol fallt mit seinen
Gegenstande, dem transzendenten Erlebnis, zusammen
Denn nun geschieht ein Zeichen vollkommener Realitat
die Willenswelt sinkt ins Schattenhafte, und die hohen
Beziehung wird zur wesensvollen Wirklichkeit. Di<
Wiinsche schweigen und die Liebe redet, und das, wo
von die Stimmung des irdisch Liebenden ein Abglan:
ist, das Einklingen der Natur in ein geheimes, leuchten
des Verstandnis, erfiillt die Seele. In diesem Erbliiheit
eines Wechselseitigen fiihlen wir, wie unbegreiflich ver
lassen wir im liebsten Leben waren, und wissen, dai
wir niemals wie der vereinsamen konnen. Geheimniss*
116
werden diesem Fiihlen ofFenbar, iind die unzulanglichen
Deutungen, die wir aus jenen Erlebnissen in die Welt
des Denkens herabtragen, bilden den Reichtum des den-
kenden Lebens. Niemand aber ware imstande, eine
Beute elender Wunscherfiillungen mit diesen Gescbenken
zu retten ; es entspricht dies der Symbolik des Marchens,
die das gescbenkte Blatt in ein Juwel, das geraubte Gold
in Moder verwandelt. Dal5 die Augenblicke der Ver-
sunkenheit schnell entschwinden, beklagen wir nicht,
denn sie sind Zeugnisse und Borschaften, nicht alltag-
liche Funktionen dieses Lebens, in das wir nicht gesetzt
sind, es zu verachten, sondern es zu erfiillen. Es ware
itranszendentaler Betrug und vergeblich, wollten wir
Schranken und Entwicklungen iiberfliegen, die zu iiber-
winden und in der Uberwindung zu erstarken uns be-
stimmt ist. Keine Vermengung des irdischen Werkes
mit dem Ubermachtigen frommt, toricht und schlecht
arbeitet der, welcher die Sache verleugnet, um falschen
Lohn zu erlisten.
Es ist verfanglich, davon zu reden, und unerlaubt, iVunder
davon zu schweigen, daf5 das Ereignis, welches wir ein
liWunderbares nennen, weil es der gewohnten Folge der
Kausalitat nicht entspricht, in diesem Gedankenkreise
iiberhaupt, und vornehmlich im gegenwartigen Zusam-
menhange, nicht als unmoglich und widersinnig ausge-
schlossen werden kann. Denn wir diirfen niemals ver-
gessen, dafi die Welt der Wahrnehmung in unserem Sinne
gleichsam als eine Vereinbarung zwischen alien Teilen
der Geistigkeit zu gelten hat; innerhalb dieser Verein-
barung ist jeder Teil fiir sich frei, und nur die Komplexe
folgen, gemafi) dem Gesetz der grofien Zahlen, erfah-
rungsma£)ig und annaherungsweise fixierten Formeln,
227
welche wir Naturgesetze nennen. An sich ist die Ver-
einbarung nicht unverbruchlich; eine schwer zu den-
kende, doch nicht unmogliche Revolution der Geistes-
elemente konnte sie brechen, indem sie dutch Umge-
staltung der Inhalte gleichsam die Orchestersymphonie
in andere Tonart und Spielweise iiberspringen liefie,
wobei die umgestaltete Eiinnerung selbst die Vetgangen-
heit verwandelte. Denkbar ware der partielle Eintritt
dieses unendlich Paradoxalen in einem Moment, wo eine
aufs hochste gesteigerte seelische Individualitat sicb
selbst, und mitreiI5end andere Teile des Gemeinschafts-
bildes erneut und umformt. Diese Vorstellung, wenn
man sie recht betrachtet, hat nichts von jener zaube-
rischen Willkiir, die das Wunderbare dem Aberglauben
genehm und uns suspekt macht; denn es ist durch keine
Bettelei und Kalkulation erzwingbar. Der krasse Intel-
lekt, der das Wunderbare nicht sieht, kann Wundei
weder wirken noch erblicken. Kinder und Neger ent-
setzen sich, aber sie erstaunen nicht; und das, wovor sie
sich entsetzen, ist das wahrhaft Alltagliche, sofern es nui
quantitativ und mechanisch vom Gewohnten abweicht.
Wir werden jedoch im unmittelbaren Anschlufi noch
andere Denkformen zu erwagen haben, welche die Gren-
zen der mechanischen Naturvorstellung durchbrechen.
Denn bevor wir den ersten Teil dieses dritten Buches.
die Ethik der Seele, beschlieI5en, liegt es uns ob, die
Eudamonistik eudamonistische Seite dieser Ethik zu beriihren. Ihre
sachliche Bedeutung innerhalb unseres Systems ist ge-
ring; wir bediirfen des irdischen Gliickes weder zum
Beweise noch zur Verfiihrung; und ware die einzige
Folge der Seelenevolution das Leiden, wie es ja untei
ihren Forderkraften eine der hauptsachlichen ist, sc
228
wiirde der Glaube und die Wahrheit uns dennoch zwin-
gen, fiir die Seele zu zeugen.
Um ihrer seltsamen Ausblicke willen betrachten wir
diese Gliickslehre, und kurz. Deshalb scheiden wir das
Gebiet leiblicher Lust und Schmerzen aus, von dem frei-
lich manches zu sagen ware: denn wir leiden und ge-
nielSen nur so viel, als unsere Seele will und zulal5t. Da
wir hier nur von den Leiden des Herzens handeln wollen,
so beginnen wir nochmals von ihrem Prinzip: der Siinde.
Alle Sunde ist Mangel an Liebe, und alles Leiden Leid unJ SUnJe
kommt aus der Siinde, eigener und fremder. Wut, Hafi,
Eifersucht, Miligunst, Neid, Scham, Gier, Furcht sind
Leiden aus eigener Siinde, Mitleid, Gram, Kummer,
Sorge, Zorn sind Leiden aus fremder und eigener Siinde.
Dafi die Siinde nicht zur Ruhe kommt, dal5 sie „fort-
zeugend Boses gebiert", ist eine so tief wurzelnde Vor-
stellung aller Theologien, dafi die verschiedenartige
Begriindung der anscheinenden Ausnahmen, des Hiobs-
problems, geradezu als die Festigkeitsprobe der dogma-
tischen Gefiige gelten kann. Wurde das erzeugte Bose
mit Mifigeschick und Ungemach gleichgesetzt, so mul^te
eine juridische Vergeltung eingreifen; kam diese hie-
aieden mit ihrer Aufgabe nicht zu Ende, so mulite ein
lenseitiges Nachsitzen das Urteil erfiillen. Eine subtilere
Vorstellung liefi Siinde aus Siinde entstehen und ver-
egte die Fortsetzung dieses Prozesses in den Erbgang;
2ine freiere Kiihnheit, die nicht davor scheute, das schuld-
lose Wesen zu belasten, um der empfundenen Wahrheit
zu zollen.
Die Gleichsetzung der Siinde mit dem Leiden und ErhsitMig der
lie Ausdehnung ihrer Wirkung weit iiber den Erbstamm l^i^J^""
Mnaus auf alles gleichgeartete Leben fiigt in das alte
Erfahrungsbild eiuen Zug ein, der es unserer Erkenntnis
anpafit iind der als das Gesetz von der Erhaltung der
Siinde oder des Leidens bezeichnet werden kann. Das
siindhafte, das heifit lieblose Denken und Handeln hat
ein Objekt — dafi dieses mit dem Subjekt zusammen-
fallen kann, ist zu beachten — , und dieses Objekt ist
nunmehr Gegenstand eines AngriiFs, einer Schadigung,
und Trager eines Leides geworden.
In dem willentlich zum Leiden gefiihrten Geschdpf
erwacht als Reaktion ein liebloses Gefiihl, eine Bitter-
keit, die als Kummer oder Rachsucht, als Arger, Ressen-
timent, Scheu oder Hafi so stark werden kann, daI5 sie
ein Leben, ein Geschlecht, einen Stamm beherrscht.
Dal5 auch die leisesten Regungen dieses Gefiihls den
Bestand an Liebe mindern, das empfindet jeder, der mit
einem mifihandelten Kind oder Tier gefuhlt hat; dieser
Verlust wird jede kiinftige Empfindung und Handlung
um ein Geringes aus der Richtung lenken. Deshalb ist
die Siinde konstant; jede Lieblosigkeit bringt ein Leiden
in die Welt, das in Ewigkeit fortwirken kann.
Leiden und Kann; denn schon dem intellektualen Menschen ist er-
moglicht, was dem seelenhaften an sich beschieden ist:
das Leiden zu mindern und die Liebe zu mehren. Die
niederen , weil unschweren Tugenden der Gerechtig-
keit, Barmherzigkeit und Dankbarkeit erfiillen das not-
diirftige; die erste, indem sie das als verdient erachtete
Leiden ohne Bitterkeit hinnimmt, die beiden anderen,
indem sie, gleichviel aus welchen Motiven, Keime der
Liebe ausstreuen oder bewahren. Die hohe Tugend der
Selbstverleugnung aber vollbringt das eine, wahre und
tatige Opfer der Liebe, dem Intellekt unendlich schwer,
der Seele selbstverstandlich: Freude fiir Leid der Welt
230
einzutauschen. In diesem Sinne wirkt das Seelenhafte und
Seelengerichtete irdisch-eudamonistisch, und in diesem
Sinne haben die Religionen, die das freiwillige Siihnopfer
preisen, recht: der Opfernde zieht das Leiden derWelt
an sich und saugt as auf ; der siindhafte Keim wird getotet,
bevor er ins Kraut schiefien und neue Frucht ttragen kann.
Bedeutungsvoll ist es, bei der Schwierigkeit desOpfers Gefuhiston des
einen Moment 2u verharren, denn ihre Betrachtung laibt
uns den Gefuhiston ahnen, der mit der Seelenwerdung
verbunden ist, die ja, wenn man den Akt der Evolution
vom banal -mechanischen Standpunkt betrachtet, als
fundamentale Schwierigkeit gelten kann. Das Vorbild
dieser Schwierigkeit ist nicht die Uberwindung einer
Kraftanstrengung oder eines Schmerzes, sondern viel-
mehr ein ahnliches ZusammenrafFen der inneren Krafte,
wie es uns aus der Konzentration des Denkens, aus der
Abschiittelung der zerstreuenden, tragen oder geliisten-
den Versuchung bekannt ist. Dieser freie Aufschwung,
der mit angstlichem Verzicht und Selbstzwang nichts
gemein hat, wird den Menschen schwerer als Dulden
und Placken, das beweist die Furcht vor eindringlichem
Denken; denn auch hier werden neue Krafte erfordert,
die zwar nicht schmerzen, jedoch so blendend schrecken
wie das Losreifien aus tiefem Schlaf. Hier spiiren wir Gefuhiston aiiei
etwas von der grenzenlosen Entfremdung und schnei-
denden Trennung, die jedem Entwicklungsschritt der
Schopfung vorangegangen sein mag, gleichviel ob ein
Menschenvorfahr den aufrechten Gang oder ein bahn-
brechender Denker die produktive Idee aus sich losrifi.
Hier ist die Lebenskraft, deren inneres Wesen wir be-
trachtet haben, als objektive Erscheinung am Werk, und
hier empfinden wir gleichsam ihren herben und gottlichen
23i
Geschmack. Dem Geschopf der langen Ruheperioden,
des generationenlangen Stillstandes im Gange der Ent-
wicklung sind diese katastrophalen Gefuhle erspart und
fremd, deshalb darf es sich den legitimen Versuchungen
der Tragheit, Zerstreuung und Lust hingeben; soil das
grofie Opfer gebracht werden, sei es der Selbstverleug-
nung, der Genialitat oder der Seelenwerdung, so bedarf
es eines Erweckens: dies ist ausgesprochen in der ratsel-
haften vorletzten Bitte des Vaterunsers. i
Problem des Manchem wird es nicht geniigen, erkannt 2u haben,
dafi das Selbstverleugnungsopfer das Leiden aus der
Siinde totet. Er wird bemerken, dal5 das blinde Ge-
schehen, der fallende Stein, Wind und Wetter, Feuer
und Wasser und manche andere tote und lebende Un-
bill Leiden schafFt, und er wird wiinschen, dafi ein etbi-
sches Dasein liber eine Instanz der Appellation und Ver-
sicherung verfiige.
Es ware eine harte Antwort, zu erinnern, welcher
seelenbildende Wert dem Leiden innewohnt, und aus der
Not das Rezept zur Tugend zu machen. Es ware eine
leichte Antwort, zu erklaren, dal5 jeder nur soweit des
Leidens fahig ist, als er an der Welt und an seinen
Sinnen hangt. Obwohl es nicht die Aufgabe ist, das
irdische Leiden wegzuloben, um einem empfohlenen Zu-
stand Platz zu machen, sei zum Beschlufi des ethischen
Kapitels auf einen Denkweg verwiesen, der zwischen
Sittlichkeit und Schicksal eine Verbindung gestattet, so
dal5 unsere Herzen, die im Drange zum Licht vor dem
Dunkel der Erdenbahn erschauern, eines Trostes imUber-
gang nicht ermangeln.
Gesetz der Man sagt: „kleine Ursachen, grol5e Wirkungen", und
us sung ^g^j.g^ damit unbewufit auf ein ernstes Naturgesetz, das
232
I
alles Geschehen beherrscht und das man als das Gesetz
der Auslosungen bezeichnen darf. Ein Erdbeben, ein
Gewitter, eine Kesselexplosion, ein Grubenunfall, ein
Krieg soil und wird kommen; die grofien und unaus-
weichlichen Vorbedingungen und Koinzidenzen sind ge-
geben. OfFen bleibt — im Sinne eines idealen Kenners
I aller grol^en Umstande — Stunde, Minute und Sekunde
des Beginnes, Millimeterfleck der Ziir dung oder Ent-
ladung: das heiI5t die Daten, die fiir das Einzelgeschick
, entscheidend sind. Diese Daten bleiben bis zum letzten
Augenblick in scheinbarer Fluktuation, ahnlich wie friiher
in ein fertiges Bild die Spitzlichter ganz spat und mit
leichter Hand eingesetzt wurden. Darin nun besteht das
Prinzip der Auslosung, dafi) das Wegraumen der letzten
Hemmung, und somit die entscheidende Bestimmung von
Ort und Zeit des Ausbruchs, mit ihnen aber auch die
I wichtigen Einzelheiten des Verlaufs, durch eine minimale
Leistung erfolgt, die mit den Grundbedingungen in kei-
nem Zusammenhang zu stehen braucht. Dieses DifFe-
irential der Leistung, und in erhohtem Mafie wiederum
seine eigene Auslosung — und so hinauf ins Ungemessene
— entzieht sich immer weiter der Beobachtung und Be-
rechnung: und schlieiLlich ergibt sich, dal5 alles Welt-
geschehen als Integral von Auslosungen aufzufassen ist,
dafi mithin alles Geschehen, sofern es auf Befreiung
potentieller Krafte hinauslauft, in jedem Zeitpunkt durch
relativ wenige, verschwindend kleine Krafte umgestaltet
wrerden kann.
Nun sind aber alle uns bekannten Naturgesetze em-
pirische Regeln, die sich auf Massenerscheinungen be-
dehen. Ihre Anwendbarkeit beruht, wie wir dargelegt
iaben, auf dem Prinzip der grofien Zahlen, das heifit
^U
aut emer mit der Massenhaftigkeit wachsenden Wahr-
scheinlichkeit. Von einer Gesetzhaftigkeit der Elemente
wissen wir nichts und die Erwagung hat gezeigt, dal5 sie
mit zunehmender Unterteilung sich der Freiheit nahern.
Somit ist an dieser Stelle die hypothetische Einsetzung I
eines Entscheidungsfaktors statthaft, der vom mechani- ;
schen Geschehen unabhangig gedacht werden darf. Dies j
ist das Ergebnis einer Betrachtung, die sich ganz und gar \
innerhalb der Erscheinungweihe bewegt. |
Vieldeutig- Uberschreiten wir diese Reihe und erinnern wir uns
schehens " ^^ ^^^ Vorstellung der Welt als einer Vereinbarung des :
Geistes, so gelangen wir zum zweitenmal an die Mog- j
lichkeit einer Beeinflussung ihres Bestandes dutch Wir- |
kungen, die aufierhalb empirischer Gesetze liegen. Ja, ji
es ist uns gestattet, in grundsatzlicher Erwagung nochJ
tiefer zu dringen und die Frage zu stellen, ob dennj
irgend eine Notwendigkeit verlange, die empirische Er-j
scheinung als eindeutige Funktion der geistigen Wirkung
zu statuieren. Diese Frage aber kann nicht kategorisch
bejaht werden, und somit ergibt sich die Moglichkeit
eines Gesetzes von der Vieldeutigkeit des Geschehens.
Es ist mithin von beiden Seiten der Betrachtung aus
gestattet, neben der voluntarisch-kausalen Ordnung des;i
Geschehens beliebige andere Ordnungen anzunehmen,
von denen die ethische Ordnung, beruhend auf den ab-j
soluten Werten des Guten und Bosen, die plausibelstej
sein wiirde. Lafit man sie zu, so gelangt man zu jenerj
dem Menschengeist vertrauten Verkniipfung zwischenj
Gesinnung und Geschick, die Vergeltung heiI5t, und es-l
greift: in das mechanische Geschehen ein Machtfaktorj
em, den man als den damonischen bezeichnen kann.
i34
fl.
DIE ASTHETIK DER SEELE
Die rezeptive Beziehung zur Natur, welche wir Natur- Naturempfin-
r ^ 1 J. J I • r» • 1 denundKunst
empnnden nennen, irnd die produktive Beziehung zur
Natur, welche wir Kunst nennen, sind in ihrer reinen
Form Funktionen der Seele. Sie sind es nicht immer
gewesen; so, wie die Sprache, das Denken, der Glaube,
sind sie zuerst aus nothaften, zweckhaften und spielen-
den Trieben geflossen. Aber in gleichem Schritt, wie
sie aus den Banden des Zweckes sich losten, traten sie
aus der Domane des Intellekts in den Bereich der Seele
iiber, und ihre Aufnahme in das Gebiet reiner, iiber-
(intellektualer Empfindung vollendete die Lauterung von
zweckhaften Schlacken. Im Stromen und Mischen der
Volkswellen konnte dieser Gang nicht stetig bleiben;
Kulturen und Uberlieferungen gingen vielmals verloren,
Kunst und Kunstempfinden sanken zuriick, dennoch zeigt
uns das Bild der Zeiten, im weitesten Umkreis betrachtet,
jeneBewegungsrichtung, die demSeelenwege derMensch-
[heit entspricht.
Wir kennen von der Vergangenheit zuviel; einJahr-Grenzen hi-
hundert gliicklicher Forschung und einseiriger Ausdeu- ^J^^^J^^^^ ^"
tung des niitzlichen, aber mechanischen Entwicklungs-
^35
das, wwm
prinzips hat unseren Blick so sehr gescharft fiir das,
war und was wurde, daJ& wir uns tauschen liber das,
was ist. Die Herleitung abwarts von der Steinkohlen-
formation belehrt uns iiber den Anpassungsmechanismus
der Pflanze, aber nicht iiber das Wesen der Rosenbliite;
die Herleitung der Kunst aus Schmuckbediirfnis , Spiel,
Nachahmungstrieb und Zauberei erschopft nicht ihren
nachgeborenen Seelenwert.
Gipfel und Hohepunkte und Bliitezeiten einzelner Kunstformen
mogen unwiederbringlich, ja den Nachgeborenen unfair-
bar sein, aber sie bedeuten nicht das letzte Gipfelziel
planetaren Naturbewui5tseins , von dem ein jeder Ab-
stieg geraden Wegs zum Verfalle fdhrt; sie sind Hoch-
wellen einer Stromung, die mit steileren oder weicheren
Kammen einer anderen Feme entgegen zieht. Niemals
wieder werden wir die Monumentalitat der Agypter
und das Formgefiihl der Griechen erleben; die grol5en
Gebiete der handwerklichen Halbkunst, einschlielMich
der Architektur, sind im Sinne echter schopferischer
Gestaltung unrettbar vernichtet durch 'die Mechanisie-
rung der Produktion; die edelsten Ausdrucksmittel :
Sprache, Schrift, Ornament, Melodie, haben ihre Bild-
samkeit und Keimkraft eingebiiJ&t, und dennoch ist das
freie, selbstbezweckte Verhaltnis zur Natur im Fiihlen
und SchaiFen niemals machtiger gewesen als in den
Jahrhunderten , die uns umgeben. Die Natur Michel-
angelos, Shakespeares, Rembrandts und Goethes ist von
tieferen und hei£)eren Kraften durchdrungen als die ein-
fachere und voUendetere Natur Homers und Polyklets. |
Wierke, die nicht mehr dem Kult, nicht mehr dem Ge- I
dachtnis, der Politik, Sitte, Reprasentation , Erbauung
und Unterhaltung dienen, die ganz auf sich selbst ge-
^^6
stellt, um ihrer selbst willen erschafFen werden, ver-
lieren manches von ihrem Halt, vom Halt der Tradition,
des Handwerks, des Verstandnisses ; aber in der gewaltigen
Abstraktion ihres Vertrauens auf ein Absolutes in Natur
und Abglanz gehorchen sie allein der Kiihnheit der Seele
und erheb.en sich iiber irdische Bediirftigkeit. Die wahre
Kunst unserer Zeit, die einzige vielleicht, die in Jahr-
tausenden nicht vergessen sein wird, Musik, verklart
sich, vorbildlos und selbsterzeugt, auf den Gipfeln ihres
SchaiFens zum reinen Werk der Seele. Ihr Dasein allein
geniigt, um uns eines Menschheitsweges zu versichern,
auf dem ein jeder Schritt uns liberirdischem Erleben
entgegenfuhrt.
So wenig der Wehrstand einer Epoche gemessen Zeitliche Zu-
werden kann an der Zahl und Bedeutung der gleich-
zeitig wahrnehmbaren strategischen Talente, oder der
technische Stand an der Menge der Erfinder, so wenig
diirfen wir die asthetische Hohe unserer Jahrzehnte
nach der Qualitat momentaner Potenzen beurteilen.
Wir leben nicht in einer Kulturepoche , sofern unter
diesem Namen eine Epoche jener grofien Schichten-
mischungen zu verstehen ist, welche die hochsten Krafte
einer Nation entfesseln und in neue Richtungen lenken,
wir sind umgeben von geschandeten Stadtbildern, rohen
Bauwerken, elendem Hausrat und albernen Monumenten;
wir erblicken jahrlich Hunderte von schiilerhaften Mal-
werken, lesen taglich einen Folianten Tagesgewasch und
horen die Katzenmusik der Klaviere und das Wimmern
der Grammophone ; und dennoch ist zu keiner Zeit ein
hoheres Kraftmai^ musischen Geistes in Bewegung ge-
wesen. Es lebt in uns das Fiihlen der Zeiten und
Volker, das Mitklingen und Erinnern unseres inneren
237
ItaS
Sinnes wird fast zur Qual, und die Naturliebe der Sta|
geborenen grenzt an Leidenschaft. Mag die Ku
unserer Tage gute oder schlechte Wege gehen, mag ihr
Handwerk verfeinert oder verdorben sein, mogen grofi)e
oder kleine Geister sie fiihren : die Ebene , auf der ihr
Fiihlen sich bewegt, ist im Laufe der Geschichte von
den hochsten Kulturen kaum Jahrzehnte lang behauptet
worden. Nicht um der Eigenliebe zu opfern, denn unser
Menschenalter erbte mehr als es erwarb, sondern um
das Auge auf GroiLen und Entfernungen ein-
zustellen, miissen und diirfen wir bekennen: im Sinne
der Menschheitsentwicklung sind wir Beethovens und
Goethes, ja Shakespeares und Rembrandts Zeitgenossen;
und in Wahrheit leben sie mit uns, denn das Leben
ihres Geistes hat eben erst in uns begonnen.
Absoluter Diese Orientierung mufite vorausgeschickt werden,
denn wenn es sich darum handelt, die beherrschende
Richtungsresultante eines Weltempfindens aufzusuchen,
so geniigt es nicht, der Kunst der Griechen und Floren-
tiner nachzutrauern. Wir miissen wissen, wo wir stehen,
wenn wir den durchlaufenen Weg (iberblicken wollen.
Wir wollen wissen, ob die Evolution der Seele sich im
Gang des Naturempfindens und KunstschaiFens wieder-
findet; wir wollen versuchen, das Wesen dieser Krafte
zum Wesen der Seele in ein Verhaltnis zu setzen, und
diirfen aus diesem Verhaltnis vertiefte Erkenntnis von
der irdischstenForm transzendenterErscheinung erhofFen.
Asthetisches In friiheren Schriften habe ich asthetisches Empfinden
^^"^ g®^^^ definiert als die unbewu&te Wahrnehmung einer natiir-
lichen und latenten Gesetzmal5igkeit. Diese Definition be-
schreibt das Wesen der ratselhaften Empfindung, aber sie
erklart das letzte nicht: das Gliick, das sie in uns auslost.
438
Aus der Erkenntnis der Seele wird dieses Gliick be-
! greiflich. In einer Wahrnehmung, die nicht bewul^t,
und dennoch im hochsten M^ihe sicher und untriiglich
ist — denn selbst eine primitive Empfindung, wie die
des vollkommenen Kreises, steht unantastbar und den-
: noch befreit von jedem messenden Wissen da — : in
\ solcher Wahrnehmung gewinnt der Geist die Zuversicht
eigener freier Krafte, die nicht an die Not des Intellekts,
1 des Zwecks und des Bedtirfnisses gebunden sind. In Psychische
1 dieser Zuversicht liegt die friiheste Ahnung des Seelen- ^ ^
[ haften, friiher als die aus Furcht und Leiden erwach-
i sende Religiositat, und friiher als die aus griibelndem
\ Sinn genahrte Spekulation. Das Gliick aus Natur und
Kunst ist Ahnung der Seele und daher irdisch-gottlich;
I aber iiber diese Ahnung hinaus, die in staunendemSchreck
schon der erste von Menschenhand gezogene geome-
i trische RiH) anklingen lieU), bringt es die Kunst auf der
hochsten StafFel ihres Parnasses nicht. Vom Tage ihrer
Geburt an war sie zweckfrei, auch wenn sie zu Zwecken
mil5braucht wurde : denn das Gliick, das sie spendet, hat
mit ihrer Verwendung nichts zu tun; und somit war sie
\\ iiberintellektual. Aber bis zum Tage ihres Verendens
bleibt sie an die Sinne gebunden und somit der organi-
schen Welt verfallen; das letzte Reich der Seele betritt
sie nicht.
Im Wesen der Freude an Kunst und Natur, das ist Kunst als Ver-
an mittelbar und unmittelbar erschauter Schopfung, ist ^^^ Seele
somit eine Verkiindung der Seele von Anfang an ge-
geben; und so mechanisch der Satz von der latenten Ge-
setzmal^igkeit anmutet: er bedeutet die sichtbare Seite
einer Evolution, deren inneres Geschehen transzendent
ist. Denn entsprechend dem iiberintellektualen Wesen
^39
der Seele liegt der Akzent des Satzes auf der Unbewulit-
Kunst, Wis- heit des Erkennens. Wird eine natiirliche Gesetzmafi)ig-
Rezept ^^1^ bewuI5t erkannt, so entsteht Wissenschaft; das Ver-
haltnis zum Angeschauten wird ein intellektuales ; wird
eine bewuf5t gewordene Gesetzmafiigkeit kiinstlerisch
verwertet, so entsteht ein Kunstrezept, das Verhaltnis
zur Produktion wird ein mechanisches. Deshalb ist die|
Flucht zum Flucht vom Erkannten zilm Unerkannten die Geschichte
Unerkannten j yr .... m* i i
der Kunst; was gestern mit intuitivem Blick erschaut,
mit ungewohnter Hand geformt wurde, ist heute Kunst-
auffassung und wird morgen zum erlernbaren Rezept,
zur toten Handfertigkeit. Und deshalb ist nach Goethes
Wort „das Gute stets das Neue", deshalb ist Kunst so
ewig jung wie Natur und der produktive Mensch ein
stets sich verjiingender.
Historischer Vor Jahren habe ich auf den alten, fliehenden Wef
^ der bildenden Kiinste hingewiesen, der damit begann,
dal5 der Mensch aus der Mannigfaltigkeit der Natur-
gebilde die einfachsten Gesetze der geraden Linie und
der regularen Kurve losloste, die angenahert iiberall, in
Vollkommenheit nirgends sich darboten, und nunmehr
kiinstlich hervorgebracht in idealer Abstraktion die erste
reine Kunstfreude gewahrten. Zahllos sind die Gesetze,
die im Verlaufe geahnt, erfal5t und erkannt wurden:
zuerst das Geheimnis der Umril51inie und des organischen
Korperbaus, der Reiz der Symmetrie, der Raumteilung,
der Raumausfiillung, des Gleichgewichts und Kontrastes,
das Gesetz der Bewegung, des Ausdrucks, des Rassen-
ideals, der Gruppierung. Es folgten Perspektive, Ver-
kiirzung, Uberschneidung, Schattierung, dann Gesetze
des Raumes und der Landschaft: Kompcsition, Beleuch-
tung, Luftperspektive, Stimmungsfaktoren, Lichtwerte;
24©
und zuletzt jene andeutenden, bewegten, hauchenden
und erregenden Klange des empfundenen Augenblicks,
die uns reizen, weil wir sie noch nicht ergriindet
ihaben.
I Die Frage nach der Zentralbewegung der Kunst und
iNatur verbietet uns, bei der geschichtlichen Einzelbe-
trachtung zu verweilen. Unser Blick bleibt zerstreut,
auch wenn wir den Parallelwegen folgen und darzu-
stellen suchen, wie neben der bildenden Kunst, welche
die Gesetze des Erschauens offenbart, die Kiinste der
; Dichtung und Musik die Gesetze des Erlebens und der
I inneren Bewegung Schritt fiir Schritt enthiillt haben und
s enthiillen. Wir miissen den Blick auf zusammenfassende
Fernen richten und zunachst Grundsatzliches sondern,
um kontrastierende Rhythmen zu empfinden.
So bieten denn drei grofie Gruppen von Gesetzmal5ig- Die drei
keiten sich dar: zunachst solche, die als objektive be- Qese^xniafiig-
zeichnet werden konnen, weil sie^mit einer im Sinne^^^^*
dieser Betrachtung ausreichenden Objektivitat in den
Dingen selbst liegen, wie etwa Symmetrie, Umrill>, Cha-
raktere, typische Lebensvorgange, Naturrhythmen. So-
dann Gesetzmafi)igkeiten des Mittels : Erscheinungen der
Oberflache und Masse von Stein, Holz, Erz und Ton,
von Figment, Gewebe und^Papier; Bedeutung, Klang und
Rhythmus von Worten und Redegefiigen; Tonwirkung
und Klangfarben von Stimmen und Instrumenten. End-
lich die subjektiven Gesetzmafiigkeiten des empfangen-
den und produzierenden Menschen: charakteristische und
personliche Vorlieben und Abneigungen, unerforschte
innere Zusammenhange, Willenswahlen und Erregbar-
keiten, Srimmungen, Leidenschaften, Sehnsiichte und
Ahnungen.
141
Typische, In jeder Kunst- und Naturbetrachtung vermiscl
und subjek-si^^ Elemente dieser drei Gruppen, jedoch so, da
rive Kunst einer der Komplexe vorherrscht; wir diirfen uns dahe
der Bezeichnungen vorwiegend objektiver oder typische
Kunst, technischer Kunst und subjektiver Kunst bci
dienen. mm
Typische Der altesten Kunst, gleichviel ob sie aus dem Bediirf
nis des Spiels, der Nachahmung, des Schmucks oder de:
Zauberei sich herleitete, war es um die erkennbare Nach
schaffung des Gegenstandes zu tun; die Freude bestanc
im Wiedererkennen des Dinges und Vorgangs: „so sieh
es aus, so trug es sich zu". Das Produkt wurde beurteili
wie der Gegenstand: hat es alle wesentlichen Teile? Isi
es wohlgestaltet, tuchtig und brauchbar? 1st der Vor
gang wahr und glaubhaft? Kunst war die eigentliche
Uberlieferung, und insofern war sie anonym, wie heutc
die Tatigkeit eines Druckers, eines Reporters oder einej
Ministerialbeamten; was keineswegs ausschlofi), dafi eir
in seinem Fach bewanderter oder gar erfinderischei
Handwerker-Kiinstler gesucht, bekannt und beriihmt wer-
den konnte wie ein tiichtiger Arzt oder WafFenschmied.
BeheifeundKon- Da aber keine Kunst der absoluten Nachahmung dej
in jedem Sinne unendlichen Natiirlichen fahig ist, so ist
sie an zahllose Notbehelfe, Auslassungen, Umschreibun-
gen und Fiktionen gebunden. An diese Behelfe ge-
wohnen sich Horer und Beschauer im Laufe der Zeit so
eindringlich, dal5 sie ihr Vorhandensein nicht mehr be-
merken, ihr Fehlen als Unnatiirlichkeit und Willkiir emp-
finden. Die Behelfe sind zur Konvention geworden, und
der Zauber dieser Konventionen ist so stark, dafi sie in
die Natur hineingesehen werden, die somit die Ziige des
konventionellen Erinnerungsbildes annimmt.
242
ventionen
Nun wird vom Volk und Machthaber das GGSchoip ( Konvenmn ah
des Kiinstlers, die Konvention, gegen den Kiinstler selbst
verteidigt; er wird gezwungen, im Rahmen der aner-
kannten Regeln sein echtes gesetzmafiig-kiinstlerisches
Schaffen auf Neutralitaten zu beschranken. Hochster
Autoritat wird es zeitweilig gelingen, einen freien Schritt
iim Sinne echter Entwicklung durchzusetzen, der unwillig
begriifit, spat anerkannt und zuletzt kanonisiert wird.
Indessen bleibt das Wesen typischer Kunst anonym und
konservativ; der Einzelne fiihrt aus, aber die Schule
,'schafFt, und durch die Schule schafFt das Volk, langsam
schreitend, wie die Natur, aber wie sie, unfehlbar; alles
Zufallige wird durch Massen und Zeitlaufte ausgeschal-
tet, und die Konvention selbst wird ein Gesetzmalbiges,
ein Geistesabdruck des schafFenden Volkes.
Solcher Zustand ist nur unter langatmiger Herrschaft Typische Kunst
kontrollierender Faktoren denkbar; Dynasrien, Adels-
klassen oder Priesterschaften miissen die Menge gegen-
satzlich regieren, der Handwerker-Kiinstler mul5 etwas
mehr als ein bevorzugter Sklave, aber weniger als ein Ge-
nosse des geborenen Herrn sein. Die Kunst selbst aber
gewinnt unrer dieser Verwaltung alle Starken eines Natur-
produkrs. Handfertigkeit und Technik steigen auf eine
anbegreifliche Hohe, die vertiefre Kenntnis des darge-
stellten Organismus und die erfahrene, aufs Wesenrliche
vereinfachte Darsrellung sreigern sich wechselseitig; die
Iciinstlerische Kraft, komprimiert und beschrankt auf den
2ngen Spielraum der Niiance und leichten Abwandlung,
ieistet in der Abwagung der Mittel, der Ausfiillung des Normnttve Kraft
gegebenen Rahmens, im Studium der Wirkung, m mal5- j^^^.^
roller Charakteristik und Sicherheit der Proportion das
demals zu Ubertreffende. Nur in solchen Kunstepochen
der Tradition und des natiirlichen Wachstums erbiiiheii
giiltige Formen des Ornaments, des Baugliedes, des orga-
nischen Kunstwerks, sie entstehen als natiirliche Schop-
fung, Verkorperung eines kollektiven Empfindens, wi^
Sprachen, Tonsysteme, Nahrungsbereitungen und Trach-
ten. Darum muSten bis in die jiingste Zeit alle Versuchc
klaglich scheitern, die darauf hinausliefen, mit Tinte unc
Papier Bauordnungen, Ornamentstile, Weltsprachen unc
Kunstformen zu erfinden oder zu konstruieren.
Kritsk der typi- In der Weltokonomie der Kunst fallt somit den typi
schen Kiinsten die Aufgabe zu, Vorlagen zu schafFen
das Mali) des manuell Erreichbaren festzulegen und ge
wissermaf5en ein Arsenal idealer Schopfungsbilder zi
vollenden, das einem irdischen Abbild der gottlichei
Vorratskammer des Plato nicht unahnlich ist. Es ist, al
seien diese Werke vorausschauend geschaffen worden
um in Museen geordnet einer spaten, leidenschaftlicherei
und unruhvolleren Zeit reine und befreiende Andach
zu erwecken. Deshalb ist jede Riickkehr zur klassischei
Kunst einer indirekten Riickkehr zur Natur gleichzu
setzen; eben deshalb ist aber auch jeder Versuch ver
geblich, mechanisch und didaktisch eineFortsetzung diese:
Kunst zu erzwingen. Erfrischung und Heilung vermaj
sie zu spenden, jedoch nicht Leben.
Technische Die Ordnung der Gesetzmal5igkeiten, die aus den
Kunstmittel abgezogen sind, hat, abgesehen von kunst
gewerblicher Technik, ein autonomes Leben nicht ge
fiihrt. So bedeutungsvoll die Durchforschung und Aus
schopfung des Mittels, seiner Geheimnisse und Gesetz*
sich dem Kiinstler erweist: Wort und Materie, Klani
und Farbe an sich sind tot; ihre Schonheit gewinnt Lebei
nur im Dienste eines Hoheren. Werden die Gesetz<
244
I
des Mittels verkannt oder verachtet, so entsteht Dilet-
tantismus, werden sie liberschatzt, so entsteht Virtuosen-
und Asthetentum. Es ist schlechte Kunst, die Marmor
wieTon behandelt, die mit Olfarbe tuscht und im Kanzlei-
stil dichtet, und es ist schlechte Kunst, die nur um Wbrt-
klang, Farbschmelz, Pinselstrich und Klangfarbe wirbt.
Wie das Mittel zum Werk, so verhalt sich die Kunst
des Mittels zur Kunst schlechthin: unentbehrlich im
Dienst, in der Anmafiung unertraglich.
Wir betrachten technische Kunst hier nicht langer,
da sie sich als Begleiterin, nicht als Erzeugerin der
Epochen erweist, und wenden uns zur dritten Reihe der
Gesetzmai^igkeiten, zur subjektiven Ordnung.
Stellt typische Kunst sich die Aufgabe, Gotter und Subjektive
Menschen, Tiere und Pflanzen so darzustellen, dafi sie
den Augen der Machthaber und Volksgenossen erkenn-
bar und vertraut erscheinen, so vermag sie dennoch das
Individuelle des Modells und das Persdnliche des Ge-
.staltenden nicht ganzlich zu verwischen. Wohl oder iibel Indhiduansie-
macht das Bildnis Anspruch auf individuelle Ziige, das ^^^ *"
lyrische Gedicht kniipft sich an ein personliches Erleb-
nis, gleichviel, ob der Wille ihm das Einmalige abzu-
streifen sucht, die Landschaft ist in ihren Ziigen so viel-
hc\x unendlich, daf5 allem Herkommen und Schulgesetz
i£um Trotz in der willkiirlichen Auswahl subjektive Nei-
^ung sich oiFenbart. Aber diese Menschlichkeiten gelten
lis Schwache vor dem Antlitz einer erbarmungslosen
fCunst, die eine zufallose gottliche Welt, geformt von
^ottlichen Handen, in Anspruch nimmt.
Ist diesem koniglichen Anspruch gegeniiber eine
lohereTranszendenz denkbar? Noch heute glauben viele,
ind wer den Zauber Griechenlands erlebt, glaubt es von
245
neuem: die Idealitat irdischer Vollendung sei durch
menschliche Vorstellungskraft nicht zu iibertreffen. Denn
was konnte idealer sein als das Ideal, auch wenn es ein
irdisches, ein Ideal des Ziichters ist?
Individuaiisie- Nicht Christentum und nicht Germanentum, sondern
7e7chfankunglnd^^^ Reifung des Menschengcschlechts^ die den germa-
Hingebung nischen Menschen emporhob und ihm in der Vermah-
lung mit orientalischem und mittellandischem Geist seine
transzendente und kulturelle Vollendung schenkte, diese
Reifung hat unser Empfinden so sehr gewandelt, dal5
wir uns getrauen, in der idealistischen Kunst ein ter-
restrisches Gebilde zu sehen, das iiberragt wird von trans-
zendenter Demut. Die Idealistik konnte nicht weiter
gelangen als bis zur Verherrlichung des gattungsmafiig
Gemeinsamen; die subjektive Kunst durchbricht die
Grenze, indem sie sich bescheidet; sie erbarmt sich des
Einzelnen, sie schamt sich nicht der personlichen Be-
schrankung und offnet still die Pforte des Seelenreiches.
Die klassische Kunst hat dem Werke Rembrandts, Bachs
und Goethes nichts zur Seite zu setzen. Sie kennt die
Grofie, die Erhabenheit, die Anmut, die Lieblichkeit und
selbst die Riihrung, aber sie kennt nicht die Seligkeit
der Liebe.
iViirde des Ob- Damit aus der Beschrankung die hdchste Macht der
^' ' Kunst erwachsen konnte, mufite die tiefste Ehrfurcht
vor der Wiirde jeglicher Kreatur erschlossen werden.
War im Osten der Mensch ein Sandkorn zu Fuf5en des
irdischen oder himmlischen Despoten, im Westen ein
leidlich freies Glied eines tatigen Organismus, so mul5te
endlich die Gottlichkeit seines innersten Kernes ihm jen-
seits irdischer Schranken Selbstzweck und eigenes Recht
verleihen. Mit dem Menschen geadelt, wurde die Schop-
246
fung in das eine Netz der Liebe einbezogen, die Gat-
tung sank zum Begriffherab, und Franziskanische Briider-
lichkeit trat an die Stelle des Platonischen Ideals.
Die seelenlose Seite des Respekts vor dem Einzel- Versenkung
wesen lebt in der abendlandischen Forschung; die seelen-
hafte Seite ward der Kunst zuteil. Versenkt sich diese
subjektive Kunst in das einzelne Geschopf, das besondere
Erlebnis, die zeitliche Stimmung, das einmalige Ereignis,
so vermag sie in ihrer Liebe so tief zu dringen, dafi un-
bekannte, ewige Gesetze mit ihr emporsteigen. Von
jedem Fufibreit Erde fiihrt ein gerader Weg zum Mittel-
punkt; wohl dem, der, unbekiimmert um den Zufall des
Standorts, kiihn sich hinabstampft.
Freilich ist nunmehr einem jeden sein Los geworfen Wehmut und De-
und sein Teil zugemessen; keinem ist das Ganze be-'""
schieden, keinem das Absolute. In diesem tiefen Ver-
zichtauf das Vollendete und Endgiiltige liegt jener Kern
von Wehmut, der an allem jiingeren Schaffen haftet,
den man friih empfand und als Sentimentalitat und
Romantik unzulanglich deutete; es liegt in ihm die
Demut der personlichen und dinglichen Begrenztheit,
die in ihrer Hingabe unendlich stark ist.
Dies ist das Geheimnis aller Personlichkeit: St2ivkQ Personiichkeit
aus Schwache. Als Beschrankung empfunden und um
so vollkommener ausgefiillt und dargebracht, ist Per-
sonlichkeit die edelste Opfergabe des menschlichen
Geistes; iiberheblich zugeschnitten, zum Eigenzweck
aufgebauscht, als willkiirliche Laune komodiantischer
Selbstschopfung, wird sie zur eitlen Gottvergessenheit
und Geifiel der Zeit.
Freilich werden universelle Naturen, deren W QSQn Universelle No-
sich einer absoluten Menschlichkeit nahert, vom Anblick
247
allzusubjektiver Beschrankung, zumal der selbstgefallig
gesteigerten, hart betrofFen werden. Deshalb mufite
Goethes Urteil die Erscheinung der Romantik als Krank-
heit und Besessenheit der Epoche ablehnen; mit gleicher
Harte, wie seine eigene Erscheinung von Friedrichs
klassischer Bildung als Bizarrerie abgelehnt worden war.
An dem grofien Beispiel dieser menschlichen Univer-
salitat finden wir eine notwendige Folgerung bestatigt:
dafi aus der Feme betrachtet solches Schaffen die Ziige
der Subjektivitat verliert, weil es mit dem allgerechten
SchafFen der Natur vollkommen iibereinzustimmen scheint.
Zu Unrecht hat man deshalb Goethes hochst subjektiven
Genius den antiken Schopfern beigesellt; die diametral
verschiedene Art des Erlebens und SchaiFens durchdringt
alle Fasern seiner Produktion, und diese Verschiedenheit
kann man nicht anders als durch den Richtungsgegensatz
von aufien nach innen und von innen nach auI5en be-
zeichnen. Die Welt Homers verhalt sich zur Welt
Shakespeares und Dostojewskys wie die voUkommene
Beobachtung zur vollkommenen Einfiihlung.
S-hJekuveGc- Versuchen wir nun, von den Gesetzmafiigkeiten uns
Kechenschaft zu geben, deren Erschliefiung das Prinzip
der subjektiven Kunst bedeutet, so begegnet uns eine
Schwierigkeit: es sind brauchbare Bezeichnungen fiir
diese Zusammenhange nicht durchweg gefunden; eben
deswegen, weil sie fiir den Stand unserer Erkenntnis
noch immer latent, somit fiir das Wirken der Kunst
noch immer verwendbar sind. Denn da es sich hier
nicht mehr um die Gesetze der Aufienwelt handelt,
sondern um die Gesetze der Spiegelung, und da der
Spiegel selbst, das menschliche Herz, das unerschdpf-
liche Spiel des zustromenden Lichtes in neue Unerschopf-K
248
lichkeiten spaltet, wird nicht wie im Gebiet des Objek-
tiven die nacheilende Wissenschaft alsbald das Erschaute
registrieren und das Geahnte nachrechnen.
Schon bei den Elementen versagt sie. Es wurde er- Charahere
wahnt, dal5 der subjektive Dichter nicht durch aufiere
Beobachtung und Erfahrung, sondern von innen heraus,
durch intuitive Einfiihlung seine Gestalten schafFt. Wir
wissen vielleicht, warum gewisse weifihaarige Tiervarie-
taten nur mit roten Augen moglich sind; weshalb aber
bestimmte menschliche Eigenheiten des Charakters, der
Leidenschaft, der Lebensansicht, der leiblichen und
geistigen Appetite sich nur in bestimmter Auswahl
paaren und erganzen; weshalb ein Mensch von ge-
gebenen Grundziigen in gegebener Lage nur so und
nicht anders reden, denken, empfinden und handeln
kann, das laJ&t sich nicht ergriibeln und konstruieren.
Charaktere werden aufgebaut und kontrollierend nach-
empfunden durch die ratselhafte Fahigkeit einer inneren
Angleichung; Chamaleonstrieb und Mimikry miissen in
dem Menschen wirken, der Antonius und Kleopatra
nicht erzeugt, sondern Antonius und Kleopatra in sich
fiihlt, und die Geheimnisse seines wandelbaren und ver-
wandelten Herzens preisgibt. Diese Erscheinung ist
Projektion eigener geheimnisvoller Gesetze, die durch
Einsetzung einer neuen Konstanten zu scheinbar objektiv
fremden Gesetzen geworden sind.
Die gleiche Umdeutung eigener innerer Gesetz- S«wot«»j
mafiigkeiten geschieht, wenn au^ der unbelebten Natur
die Empfindung einer Stimmung emporgehoben und
objektiviert wird. Nicht einfache Kausalitatsempfin-
dungen wie die antike Furcht vor der Unheimlichkeit
des unfruchtbaren Meeres und Freude an wohlbewasser-
249
tern Gefilde, sondern eine Neubildung des Spiels der
Elemente in unserem Herzen, eine seltsame Spiegelung,
in welcher Kindheitserinnerungen, Traumerei, HoiFnung
und Unruhe, Trauer und Vergessen zu ahnungsvoller
Einheit sich verweben: dies ist das subjektive Gesetz
des Erlebens, das Regen und Schneefall, Herbst und
Brandung, Wiese und Waldbach, Grofistadt und Hafen
durchgeistet.
Unausgespro- Die Stimmung vertieft sich zu dunkleren Gesetzen.
Das Tageserlebnis ist sinnlich klar, es entzieht sich nicht
der Auflosung in leuchtende und zart verwobene Ziige,
es widersteht nicht dem Wort und der Farbe. Aber jenes
tiefe Dammern, das Wogen ungesprochener Gedanken,
langstverlorenen Erinnerns, das grauenvolle Dunkeln
unirdischer Verlassenheit, das feme Licht und das halb-
erblickte Wort, gestaltlose Traume und rauschende
Fliige, fliehende Angst und aufquellende Erlosung, die
Sehnsucht nach dem nie verlorenen und die GewilLheit
des nie zu ergreifenden, diese nachtdunklen Machte
mischen sich in unset Leben und verlangen mit dem
Rechte der uns eingeborenen Gesetze ihren Ausdruck
in der Kunst. Freilich hat bisher nur germanische und
slawische Kunst, zumal in Dichtung und Muslk, diesen
Untertonen, die das Erwachen der Seele begleiten, ihr
Ohr geliehen; die Kunst der Romanen, rationalistisch
klar und klassisch hell, wie sie gern sich beriihmt, ist
(ibex den antiken Typismus hinaus nur bis zum Wesen
der Stimmung vorgedrungen, die ihr noch neu, ja un-
benannt ist. Versucht inan, ihr das schmerzensvollere
Ringen der Seele naherzubringen, so antwortet sie,
halb unschuldig, halb iiberlegen lachelnd, mit den Aus-
rufen: nebelhaft (brumeux), clair-obscur und sentimental.
250
Ein seltsames, doch alien Kiinsten gemeins3,m.es Mtk/ange und
Gebiet innerlich erlebter Gesetzmafiigkeiten ist das des
halbbewufiten Mitklingens und der Assoziationen. Das
alte Epos kannte mechanische und ziemlich naive Schall-
nachahmungen, die heute schulmeisterlich klingen und
zu ihrer Zeit doch wohl geheimnisvoU waren. Unser
Auge, das zu vielerlei gesehen hat, unser Ohr, das von
Erinnerungen und Anklangen umschwebt ist, vernimmt
nicht blofi den klaren Diskant des Ausgesprochenen,
sondern die Vielstimmigkeit des Angedeuteten, leise
Angeschlagenen, rhythmisch Unterflossenen. Vokale,
Tone, Worte, Farben, Satze, Tonfall, Linien sagen, was
der Sinn nicht zu auf5ern wagt, ihre Polyphonie fiihrt
uns in Fernen, Tie fen, Widerspriiche und Gleichnisse,
wahrend die redende Stimme harmlos vom Tage zu
sprechen scheint. Goethe lafit das Wort vom feucht- Lyriscbes Bet-
verklarten Blau erklingen, und alsbald leuchtet der
Himmel. Aber zugleich befiehlt er ihm mit diesem
Wort, sich im Wasser zu spiegeln, und noch mehr, das
kiihle Element tragt, nach seinem Willen, einen zweiten
Himmel in sich, der Sehnsucht weckt. Zugleich empfinden
wiv die feme Erinnerung an ein blaues Auge, das nach
Tranen sich verklart; wundervoll spiegelt sich in diesem
Bilde abermals der Himmel, nach Triibnis erstrahlend,
v^ermenschlicht, die Sehnsucht mehrend.
Es ist hier der Ort, um liber das Wesen der Lyrik Anmerkung uber
iin anmerkendes Wort einzuschalten , das uberfliissig
;ein sollte. Lyrik besteht nicht in rhythmischen und
^ereimten Aufsatzen, Anekdoten, Meinungsau{5erungen,
^hilosophemen, Betrachtungen, Exklamationen , Trink-
priichen, Landschaftsbildern und Apergus. Diese an
ich respektablen und bei einiger Begabung der Diktion
%Sl
erlernbaren Dichtungsgattungen gehoren unter die
Rubrik vermischte Verse und Reime. Damit wahre
Lyrik entstehe, mull) ein siebenfaches Wunder geschehen;
ein tiefes inneres Erlebnis mul^ einheitlich losgeldst,
vom Vergangenen und Kiinftigen befreit, eigenes Leben
und Objektivierbarkeit gewonnen haben. Die Sprache
mufi die Worte, und die Worte miissen die Vieldeutig-
keit besitzen, die das Unaussprechliche ausdriickt und
erschopft. Ein Gott mufi wollen, dafi der Klang und
Tonfall dieser Worte das Empfundene tragt, ja das Un-
glaubliche, da£> diese einzigen Worte sich ziim Gleich-
klang paaren und zum Rhythmus schlingen. Dali5 dieses
fast unglaubliche Wunder sich im Laufe eines Jahrhunderts
mehrmals erfiillt hat, dessen sind mehrere von Goethes
Dichtungen und einige von Holderlin, EichendoriF und
Morike Zeugen. In diesem Sinne hat es freilich, selbst
in altfrankischen Zeiten, niemals ein franzosisches lyri-
sches Lied gegeben.
Einftihiende und Aus dem unerschopflichen Bereich innerer Gesetz-
Naturmpfin- mafi)igkeiten seien zuletzt die gleichsam leidenschaftlichen
dung Naturbetrachtungen erwahnt, die uns in der jiingsten
Kunst begegnen und die nach einer anderen Richtung hin
iiber die Grenzen des Stimmungsmal5igen hinausstreben.
Die altere Naturbetrachtung belebte die Schopfung,
unbekiimmert um den Sinneseindruck, ehrfurchtig reli-
gios ; Dryade und FluI5gott waren nicht wesensverwandte
Abbilder der Eiche und des Stromes, sondern vom all-
gemeinen Beziehungsgefuhl geforderte uneigentliche Be-
lebungen. Ein weit jiingeres Empfinden schuf die Pea
sonifikation der Einfiihlung: das Wiiten des Sturmes, (
Lacheln des Sees, das Erschauern des Waldes. D2
Dichtung machte von dieser Vertauschung des innerel
252
mit dem auI5eren Gesetze den gliicklichsten Gebrauch;
ein Vers: „wenn Finsternis aus dem Gestrauche mit
hundert schwarzen Augen sah'* belebt die Vorsrellung
des nachtlichen Ritts mit einem unvergefi)lichen Bilde.
Die einfiihlende Kraft unserer naturbediirftigen Zeit
hat die Neigung, ganz in das Wesen des betrachteten
Gegenstandes, mit alien ausdeutenden, mitempfinden-
den, erlebenden Krafren einzudringen und iiberzu-
gehen, aufs hochste gesteigert. Der Stamm des Baumes
windet sich der Sonne entgegen, seine zerzauste Krone
ringt in aufsteigender, Licht und Wind erdiirsten-
der Brunst, das Kornfeld schaumt in stiirzender Woge
der Fnichtbarkeit, das baumende Pferd erzittert in ge-
spannter Federkraft und iiberzaumter Biegung. An diese
passionelle Empfindungsreihe hat die bildende Kunst ein
groiSes Kapital von Technik und objektivem Darstellungs-
vermogen verloren, das vielleicht nicht mehr einzu-
bringen ist; aber die Malerei hat leidenschaftliche
Vortragsweisen gewonnen, deren Verfiihrung alle sach-
lich besonnene Gestaltung kalt erscheinen lal5t. Wie
denn liberhaupt die Uberspannung des Objektes durch
hineinempfundene Krafte zu so intensiver Darstellung
gefuhrt hat, dafi einerseits die Leistungen in gewissem
Sinne hintergrundlos erscheinen, anderseits eine abge-
stumpfte Rezeptionsfahigkeit alle neutraleren und objek-
tiveren Partien der Ausfiihrung ablehnt. Niemals aber
kann die Zeit wiederkehren, in der eine, wenn auch noch
so vollendete Nachahmung der objektiven Natur an sich
als Kunst gelten wird; die Aufgabe der Tauschung, auch
wenn sie mit edlen Mitteln erzwungen wird, verbleibt
nicht einmal dem erlernbaren Kunstgewerbe ; die Traube
des Zeuxis verfallt dem Panoptikum.
^53
Subjehiivismuj Einer Riickwirkung der Subjektivitat auf das sctieiff
bar neurrale Gebiet der Gesetzmafiigkeit des Mittels ist
zu erwahnen, bevor wir das uniibersehbare Reich d^H|
inneren Gesetzmal5igkeiten verlassen.
Einer Kunst, die in jeder Beziehung, und mit Recht,
die mechanische Nachahmung verschmaht, weil diese
bereits ihre samtlicheri Geheimnisse enthiillt zu haben
scheint und somit Rezept geworden ist, einer Kunst,
welche durchaus auf Einfiihlung und Ausdruck hinaus-
lauft, mufi jedes Haften am geometrischen, physischen
und rationalen Objekt als deskriptive, chronistische,
photographische Kopie erscheinen. Diese Abneigung
iibertragt sie vom Dargestellten auf die Vortragsweise,
auf die technische Behandlung des Mittels; auch diese
gilt ihr, und abermals mit Recht, als befangen, kleinlich,
kunstgewerblich erqualt, wenn sie nicht vom gleichen
Feuer der Subjektivitat, des personlichen Einfalls, des
leidenschaftlichen Erfassens durchgliiht ist wie die Kon-
zeption. Es gibt Epochen und Meister, denen die breite
und freie Handschrift des Stiftes, Pinsels, Meiil)els und
Satzes, die weiteste Entfernung vom technisch Uber-
lieferbaren, vom Kunstgewerblichen und Gefeilten, so
entschieden als oberste Forderung der Kunst erscheint,
daI5 sie dieser Maestria des Vortrages Gegenstand und
Anschauung zu opfern bereit sind. Diese Neigung steht
im BegrifF, den Ahnlichkeitsanspruch des Bildnisses aus
der Reihe der Kunstaufgaben zu streichen und ihn an
die Instanz der mechanischen Abbildungsverfahren zu
verweisen, indem sie an die Stelle einer ihr kunstgewerb-
lich scheinenden Leistung die freie Variation liber einen
Menscheneindruck setzt. Da indessen die mechanischen
Verfahren zurzeit noch mi£)farbene, als Gegenstande un-
254
liebsame Ahnlichkeitsdokumente liefern, wiirde diese
extreme Kunstauffassung eine bedenkliche Liicke und
mithin den ernstlichen Zweifel an ihrem Rechte er-
ofFnen.
Uberblicken wir nun den Weg, den Kunst- und Natur- Der Seelen-
betrachtung von Anbeginn durchlaufen hat, von der ersten
Erfassung der aufieren Gesetzmal5igkeiten bis zur Ver-
tiefung in die Geheimnisse des Herzens, so scheint die
ungeheure Strecke dem Weg der Seele vergleichbar.
Ohne den Keim eines Seelenhaften ist die erste Kunst-
regung nicht zu denken; aber sie war tief gebettet zwi-
schen Sinnenreiz und Spiel, zweck- und furchthafte
Bestrebung des Schmucks, des Damonismus und der
Zauberei, des Aufbewahrungs- und Erinnerungstriebes,
der lehrliaften und handwerklichen Praxis. Wir sehen,
wie sie vom Handwerk und der Beobachtung, von der
Erfassung des Giiltigen und Typischen im objektiven Sein
und Geschehen, also von vorwiegend intellektualen Fak-
toren ausgehend, zur Belebung der Natur, zur Einfiih-
lung in das urspriinglich feindlichFremde, zurVersenkung
in das eigene Empfinden und somit durch Verwischung
der Grenzen zur lebendigen Einheit der Schopfung und
zu ihrem intuitiven Erleben gelangt. Sie mufi das schein-
bar absolute und ideale Gebiet des Typischen verlassen,
weil es keine letzte Vertiefung gestattet, und die
bescheidenen, unendlich verzweigten, anscheinend rich-
tungslosen und zufalligen Wege des Individuellen be-
schreiten, um tiefer dem Herzen der Schopfung ent-
gegenzudringen und das liebeumfafi)te Einzelne zur all-
spiegelnden Giiltigkeit zu erhohen. Sie mufi) ihre letzten,
liebsten und verborgensten Zwecke daran geben und
unbekiimmert um Anmut oderHerbheit losgeloste Werke
^SS
schaffen, unzuganglich allem vermittelnden Bestreben,
auf eigenerNotwendigkeit und eigenem Recht beruhend.
Geberin und Empfangerin so vergeisteter, dem In-
tellektualen entzogener Gestaltung bleibt nur die Seele.
Sie kiimmert sich nicht mehr um den Reiz der Sinne
noch um das Spiel der Tauschiing. Alles ErschafFene
gilt ihr gleich, denn in allem waltet Gesetz und Liebe.
Das Kleine ist ihr grofi, das Grofie klein, und heilig alles,
was sein innerstes Wesen, erschaut oder erschauend,
ojfFenbart.
Ethnische Stufen Verschieden weit auf dem Seelenwege der Kunst sind
die Volker der Erde vorgedrungen. Die ostlichen Kul-
turen verharren im Typischen. Weit hinaus liber den
Besitzstand des friihzeitlichen Ostens ist Ostasien, vor
China 2^\QV[i China gelangt. Das Land, in dem die Lehre
Buddhas eine Zeitlang unverdorben wurzeln und die
seelenhafte Gewalt des Laotse auf keimen konnte, ist in
den Jahrhunderten seiner Kunstbliite einer individuali-
stischen Malerei sehr nahe gewesen, und dennoch ist der
letzte Schritt nicht geschehen. Wie alle klassische Kunst,
die dutch libernaturliche Meisterschaft der Technik,
durch voUendete Beherrschung der Gesetze des Mit-
tels gleichsam zum Naturprodukt geworden ist, entzieht
sich dieses Meisterwirken der Kritik unserer groberen
Sinne. Dennoch empfinden wir eine blendende Kiihle,
wie vom Glanz eines Schneefeldes, und ein inneres Ge-
fiihl sagt uns, dai5 hier die letzte Liebe nicht dem Ge-
schopf, sondern der Gattung zugewandt ist. Es ist die
hochste Individualisierung des Gesamttyps in seiner Ab-
grenzung gegen Andersgeartetes, nicht die Versenkung
in das Einzige und seine Erhebung zum Absoluten, es
ist das profundeste Studium des auC)eren Gesetzes, nicht
256
I
die Einfuhlung einer Menschenseele in ein Bruderge-
schopf erstrebt und gewonnen. Wenn eine hochberiihmte
Schule dem Studium des Bambusstrauches und seiner
vollendet kalligraphischen Wiedergabe lebte, wenn eine
beliebte Anekdote den Kiinstler auf tausend Studien-
blattern Arm und Hand liben lai5t, damit das end-
giiltige Bild des absoluten Hahnes entstehe, so ist be-
statigt, was schon die Tradition der mechanischen Kunst-
erlernung dartut, die aus vorgeschriebenen Hieroglyphen
Korper und Organismen zusammensetzt. Denn auch die
staunenswerte Kunst der Mittel ist nicht subjektiv freie
Empfindungssprache , sondern erlerntes Konnen, so daf5
wir hier das scheinbar Unbegreifliche der klassisch-an-
tiken Materialbeherrschung als ein noch lebendiges, doch
leider mechanisch sich erklarendes Phanomen vor Augen
haben.
Durchaus typische Kunst entstand in Agypten,Vorder- Mitteimeer-
asien und Griechenland. Dai5 der souveranen Meister-
schaft der Agypter zuweilen, injahrhunderten, ein hochst
individuelles Bildnis beliebte und gluckte,bedeutetnichts;
die Abneigung der Griechen gegen das Einmalig-zufallige
war so grolI>, dal5 wir unter den tausendfaltigen, herrlichen
Pflanzendekorationen nicht einen Bliitenzweig, nicht eine
natiirliche Blume von ihrer Hand besitzen, geschweige
eine Landschaft. Wahrend in chinesischer Friihzeit iiber
Naturstimmung Traktate geschrieben wurden, war den
Hellenen die Landschaft ein fruchtbares oder unfrucht-
bares, bestenfalls bergiges, waldiges oder blumiges Ge-
lande. Gegen die verhal5te und verachtete Individuali-
sierung des Portraits kampften sie lebenslang; selbst dem
Sklavisch-Hail)lichen, Grotesken und Abscheuerregenden
liehen sie typisch abstrahierte, schulmaJ&ig feststehende
'7 25^7
Ziige. Dennoch ist die Eliitekunst der Griechen nichr
bloi5 in der tiefen Kenntnis des Natiirlichen, in der Un-
fehlbarkeit des Normsinnes, in der handwerklich traditio-
nellen Meisterschaft auf ewig uniibertrefFlich, sondern
auch in einem besonderen, freilich ungewollten, Sinne
personlich. Die Volker der bewul5ten, jahrhundertlangen
leiblich-geistigen Selbstveredelung, zu denen wir eigent-
lich nur Hellenen und Briten rechnen diirfen, erzeugen
zuletzt eine Auslese organisch so bevorzugter Individuen,
dafi) wie bei alien hochedlen Geschopfen die DiiFeren-
zierung sehr gering wird. Auch diese gliicklichenGestalten
nahern sich bisweilen dem Reich der Seele, zwar nicht
von der Seite des Leidens, sondern von der Seite ^ines
heroischen Idealismus. Dem bevorzugten Schlage der
Adelsschonheit wendeten Hellenen, wie heute ein Teil
der englischen Romanschreiber, ein leidenschaftliches
Interesse zu, und da sie ihre ziemlich genau libereinstim-
menden Eigenschaften kannten, kamen bildliche und
dichterische Schilderungen zustande, die uns trotz ihrer
haufigenWiederkehr deshalb personlich anmuten, weil wir
ihre Objekte aus der Erfahrung kaum kennen und dennoch
den inneren organischen Zusammenhang verspiiren. Es
scheinen somit auf einer bedeutenden Hohe des empirisch
Organischen die BegrifFe der Individualisierung sich zu
verfliichtigen , ahnlich wie diese Erscheinung aus der
komplementaren Betrachtung des allzu universellen sub-
jektiven Charakters uns entgegengetreten ist. Mit an-
deren Worten : infolge seiner Zuspitzung zu einzigartiger
Rassenvollkommenheit erscheint uns der griechische
Adelsmensch individuell, wahrend er in Wahrheit typisch
ist, ahnlich, wie etwa die Goethische Universalitat des
schafFenden Subjekts uns objektiv erscheint, wahrend sie
^58
I
in Wahrheit hochst personlich ist. Es lage somit der Ge-
danke nahe, in einer gedachten menschlichen Vollkom-
menheit die Synthese des Individuellen und Typischen,
des Subjektiven und Objektiven zu suchen: allein dieser
Gedanke bleibt ein Spiel, weil die Entwicklung der Seele
eine neue Dimension schaiFt, die wir gegenwartig nur
hinsichtlich ihres Ausgangspunktes behandeln.
Von einer spateren Romantik der Griechen zu
sprechen, bedeutet, dafi man unter Romantik eine
orientalisierende Sentimentalitat, gemischt mit Witz
und Sarkasmus, also etwa die Heinesche Romantik ver-
steht; ehrfiirchtig vor dem Einzelnen und Kreatiirlichen
war die Verfallzeit weniger als die Hochperiode.
Die Renaissancezeit zu Ende des Mittelalters gilt Renaissance
als die Epoche der Befreiung und Individualitat. Eine
Befreiung brachte sie in dem politischen Sinne, dafi) die
bindende Tradition der Heiligtiimer und dogmatischen
Gesetze durchbrochen ward, doch fiihrte die Befreiung
nur -scheinbar zur Individualitat, wenn namlich unter
dieser eine gewisse politische und polizeiliche Be-
wegungsfreiheit, verbunden mit einer Selbstandigkeit
der Modenwahl gemeint ist; in Wirklichkeit fiihrte sie
zum uniformen Rationalismus, aus dem eine kleine Zahl
leidenschaftlich Unzeitgemafier emporragt. Diese Grofien
waren briinstig mittelalterliche Naturen, die aus der
geometrisch hellen Klassik so rasch es ging in das Halb-
dunkel ihrer Subjektivitat zuriickstrebten; sie waren die
frommsten Menschen ihrer Zeit; wie denn die starkste
Gewalt der Renaissance in zwei religiosen Bewegungen:
Reformation und Gegenre formation zurErscheinung kam.
Das Vorbild neuzeitlich typischer Kunst hiettt Frankreich
Frankreich; deshalb ist der zahen handwerklichen Uber-
259
lieferung dieses scheinbar modernen, in tieferem Sinne
vo'rzeitlichen Volkes gelungen, bis in das vorletzte
Jahrhundert hinein giiltige und unveranderliche Bau-
formen und Formensprachen zu schaffen. Die klassische
Kunst der Franzosen bedeutet in Dramatik und Epos, in
Bildnerei und Naturkunst trotz Sonderlichkeiten und
Geschraubtheit die einzige geistesverwandte Fortsetzung
der spaten Antike; im vorigen Jahrhundert trat, wider-
spenstig und miC>verstandlich aufgenommen, von aulLen
die Romantik hinzu und fiihrte zu einer seltsamen,
hochst anregenden Vermischung typischer Empfindungs-
weise mit aufterlich moderner, wesentlich nervoser und
komplizierter Lebensgestaltung. Die Folge war ein-
dringlich vertiefte, bis zur Wissenschaft gesteigerte
Beobachtung. Lebendige Phantasie und Vorstellungs-
kraft fur mogliche, typische und dennoch verwickelte
Situationen und Vorgange bei volliger Abwesenheit von
Transzendenz, innerer Ehrfurcht und Humor, ent-
schiedener Hang zum mechanischen Pathos und zum
leichtfaiMichen Ziindwort, empfanglicher Sinn fiir das
Gefallige, Prachtige und Kokette waren von je das Erb-
teil dieser brillanten und rationalistisch hellen Nation,
die Erregbarkeit mit Leidenschaft gleichsetzt. So ent-
stand eine selbstsichere, kluge und bewegliche Kunst,
zugleich mit einer letzten typischen Formulierung der
Ausdrucksmittel, die der mechanistisch modernen Seite
des Lebens vollkommen sich anpa£>t.
Die gewaltige Erscheinung Balzacs ergrifF die tragi-
sche Seite der typischen Probleme Molieres und fand
im zentrisch oder peripher erblickten Leben von Paris
den Boden, den die spatere Kunst auch dann nicht
mehr verliefi, wenn sie abseits liegende Menschlichkeit
269
nach Art von provinziellen Exkursionen, Reiseerlebnissen
oder ethnologlschen Kuriositiiten behandelte. Die chroni-
stische Identitat des Pariser Kiinstlers mit seiner Um-
gebung und seine naturwissenschaftliche Beobachtungs-
gabe lal^t uns manche Herzlosigkeit und mangelhaft unter-
driickte Sentimentalitat, die Armut der Motive, die neben
der Erotik kaum andere Triebkrafre als Ehrgeiz kennt,
vergessen; liber den Mangel an Beseelung, an Ehrfurcht
und Phantasie des Herzens hilft weder Talent nocb
Meisterschaft hinweg. Indessen bleibt dem Deutschen
das Studium der letzten typischen, traditionellen und
somit Form und Norm schafFenden Kunst unschatzbar,
zumal in einer Zeit, welche durch Vielspaltigkeit und
suchende Hast der Lebensfiihrung die Bevvegtheit und
Sehnsucht des Inneren zur Unertraglichkeit steigert.
Vor allem aber ist das Verdienst der Franzosen um
die SchaiFung neuer Ausdrucksmittel in der Malerei zu
preisen. Auch hier war Beobachtung und handwerkliche
Unermiidlichkeit die treibende Kraft, die sich des
Geistes niederlandischer Landschaft und spanischer
Bildniskunst bemachtigte und zugleich mit der Uber-
tragung in aufierlich neuzeitliche Gewandung die
Diisternisse zu gallischer Klarheit aufhellte, indem sie
eine Technik des Lichtes, der Oberflachen und der Kom-
position erfand, die abermals als klassische Formen-
schopfung angesprochen werden muJ5. Der Sinn des
neunzehnten Jahrhunderts hat in seiner mechanistischen,
schnell erfassenden, geistvollen und verbliifFenden Seite
keine adaquatere Versinnlichung erfahren als durch die
franzosische Malerei; die Deutung seiner schmerzen-
vollen, sehnsiichtigen und ahnenden Tiefen verblieb der
deutschen Musik,
261
GemMmsihiT Dafi das Urbild wahrhaft persdnlicher und somit
cranszend enter Kunst nur vom germanischen Geiste aus-
ging, mul5 nach dem Gesagten nicht mehr erlatitert
werden. Nur sei des Phanomens gedacht, dafi) alle diese
Kunst auf ihren hochsten Gipfeln, gleichviel, ob sie
dutch leidenschaftliche , ja erschreckende Mittel aus-
gedriickt wird, lyrische und selbst tonende Stimmung
auslost. Hiermit ist freilich nicht die ungliickliche Vor-
stellung gemeint, dafi grofie kiinstlerische Momente
dutch eine zur Begleitung odet Illustration erniedrigte
Musik gesteigert werden konnen; es ist vielmehr einer-
seits auf eine liberirdische Verwandtschaft der Kunste
hingewiesen, die in ihren andachtigsten Stunden den
gleichen innersten Punkt unseres Wesens beriihren,
andererseits auf die iibersinnliche Tendenz unseres
geistigen Erlebens, die in einer vom Sinnenreiz und
vorganglichen Zufall sich losenden musikalischen Ge-
setzmal^igkeit ihre Sprache sucht. Noch irriger ware
die Auffassung, es konne durch Vermischung der Kunst
mit religiosen, ethischen oder ritualen Momenten eine
innere Steigerung erzwungen werden. Die hochste
Kunst ist keine Kunst des Requisits; die Mittel und
Vehikel der Andacht, an sich bedeutend und ehrwiirdig,
sind kiinstlerisch betrachtet Surrogate, Suggestionen und
Reizmittel, wie Kanonendonner, Feuerwerk, Massen-
auflauf, Prachtgegenstande, Kruditaten, Herzbrechereien
und Riihrungszwange. Innerliche Kunst ist der Gesetz-
mal5igkeit ihres Wesens nach unvermischt; aus den ein-
fachen Gegebenheiten und Vorgangen der Natur schdpft
sie einfache Wirkungen, die grofi sind, weil sie das
Absolute spiegeln, nicht weil sie blenden, tauben, ver-
bliifFen oder verwirren. Zeugen sind die vier Evan-
gelisten der germanischen Kunst, Shakespeare, Rem-
brandt, Bach und Goethe.
Versuchen wir den Weg der Kunst vort der Blute Kritik der
ihres typischen SchafFens bis zur Innerlichkeit der Seelen- ^^^.j^j^
nahe mit einem Blick zu liberschauen, so wird der Ein-
dnick ungeheurer Verluste in uns machtig, und wir be-
greifen das herkommliche Urteil, wonach dieser Weg
einem durch Mittelgipfel unterbrochenen Abstieg gleich-
zusetzen sei. Verloren sind alle Krafte und Fahigkeiten, Verluste der
die durch Geschlechterreihen der Schulung und Hand-
werksiiberlieferung hervorgerufen, gestarkt und bewahrt
werden: die kalligraphische Sicherheit der Hand, die Un-
beirrbarkeit des Auges und Urteils, die Kenntnis der
Gegenstande, die Berechnung der Abstufung und Wir-
kung, die Ubung schwer erkennbarer dispositiver Kunst-
regeln^or allem leider der gleichsam musikalisch sichere
Sinn fiir Teilung und Proportion. Verloren ist die Auf- Verluste der
sicht einer Machtinstanz, welche das Verfriihte, Uber-
hastete, Unfertige und Grillenhafte zuriickweist, welche
den Schritt ziigelt, das Hergebrachte verteidigt, und In-
halt, Gewicht und Wiirde verleiht und vorschreibt. Ver-
loren ist endlich, und diesem Verlust miissen wir nach-
gerade entsagend und kiihn ins Auge sehen, die formel- Verluste det
schafFende, gleichsam sprachbildende Kraft der Kunst,
die im langsamen Wachstum beruht und, unter der mild
korrigierenden Wirkung der Zeitlaufte, Ornamente und
Bauformen, K6rpernormen,Schriftzuge, Rhythmen,Melo-
dien, ja selbst die herkommlichen Abgrenzungen, Ord-
nungen und Gliederungcn der Gattungen und Werke
hervorbringt. Deshalb werden wir niemals aufhoren,
aus den Werken der vergangenen typischen Kunst Ur-
teil und Lehre zu schopfen, und wir diirfen uns dieser
26}
Gaben so wenig schamen, als wenn wir uns des Sprach-
gutes oder der Samenziichtungen unserer Vorfahren be-
dienen; denn kraft ihrer natiirlichen Entstehung als eines
Kollektivprodukts ist die klassische Kunst eine gleichsam
vermenschlichte , zum Gefiihlselement umgeschaffene
zweite Natur geworden, die nicht minder mit unserem
Leben verwachsen ist als das Kornfeld, die Gartenblume,
die veredelte Frucht und die Hausung. Fiir unser Auge
tragt ein ionisches Kapirell oder Gebalk gleichsam einen
Gesichtsausdruck; seinen Gebrauch in der Baukunst zu
verbieten und dafiir eine bei der Lampe asthetisch oder
technisch erkliigelte Straufienfeder- oder Nietnagel-Kon-
struktion zu empfehlen, bedeutet nicht viel anderes, als
in der Sprache die Worte Lacheln oder Anmut zu unter-
sagen und durch einen Volapiiklaut zu ersetzen.
Veriuste dei Nach ihrcn mil^gliickten Ausfliigen auf das Gebiet
der Reifibrett- und Broschiirenrevolution sieht gerade
die Architektur sich heute, und vielleicht fiir alle Zeiten,
in der Lage, am riihrigsten unter den alten Schatzen dei
typischen Formkunst sich umzutun. Freilich hat sie weit
schwerer als die reinen Kiinste unter der Entfernung
vom Handwerklichen gelitten; ihr als einer Schwester
der Technik ist liberdies die Mechanisierung auf den
Hals gekommen, und es ist mehr als fraglich, ob sie in
Zukunft als selbstandige Kunst wird bestehen konnen^
oder vielmehr mit dem Range einer Technik und eines
eklektischen Dekorationsgewerbes sich wird begniigen
miissen. Denn einmal baute sie vor Zeiten aus echtem
Material fiir die Ewigkeit, jetzt fiir ein Menschenalter aus
Ziegeln und Putz, kiinftig vielleicht fiir ein Jahrzehnt
aus Zement und Pappe. Sodann nahm sie sich Zeit: fiir
einen Tempel Jahrzehnte, fiir einen Dom Jahrhunderte,
^6^
fiir ein Wohnhaus Jahre, und selten schuf ein Kiinstler ein
zweites grofies Werk zur gleichen Zeit. Heute werden,
wenn es gut geht, von einem Architektenbiiro zwei
Kirchen, sieben Wohnhiiuser, eine Briicke, ein Kranken-
haus, ein Aussichtsturm, ein Bahnhof und mehrere Wohn-
geratschaften in einem Jahreslaufentworfen, submittiert
und hergestellt, ungeachtet der Sachvers t andigen-Juroren-
und Ausstellungsarbeiten. Endlich und schlimmstens
aber ist der Bedarf nach Bauren derartig ins Riesenbafte
gestiegen dail) StraJBenziige und Stadtviertel schneller
entstehen, als vordem Hauser; damit ist die Wichtig-
keit, der Ernst und die kiinstlerische Verantwortung des
Bauens, zugleich mit der Qualitat der Bauherren, so
rief gesunken, daI5 eine Kunst, eine Ausbildung und
eine Zunft nicht mehr die Verschiedenartigkeit der An-
spriiche zu tragen vermag und in ihrer Gesamtheit
entarten muC).
So beschlieil)t die Auflosung der Architektur die DerKampfpreU .
Liste der grolLen Opfer, die der Seelenweg der Kunst ^"^'^
erforderte. Sie fielen nicht vergeblich, denn das Ziel
der Innerlichkeit und Freiheit wurde erreicht; eine an-
dere als die Kunst germanischen Einschlages, die Kunst
der Seele, ist in der Welt nicht mehr moglich. Ob aber
diese Kunst eines zweiten Aufschwunges fahig ist, ob
sie berufen ist, den We g der Menschheit zu leiten oder
nur zu erleuchten, oder ob gar die erstarkende Seele
an ihr, wie an einer freundlichen Kindheitslandschaft
voriiberschreiten wird zu mannlicheren Zielen: dieser
ernsten Frage, die nicht gelost, wohl aber betrachtet
werden kann, diirfen wir uns nicht entziehen. Wir wer-
den versuchen, durch eine Erorterung der zeitlichen
Bedingungen, die den Schluss dieses Kapitels bilden soil.
I
*6j
uns ihr zu nahern; zunachst aber liegt uns ob, zu er-
wagen, ob der gewonnene Uberblick geeignet ist, uns
im Sinne einer/praktischen Kritik kiinstlerischer Produk-
tion zu fordern.
Anwendung Zunachst steht fest, dafi wir eine Reihe vielbeliebter
Kriuk^ ^^^ ^ Forderungen an die Kunst nicht mehr aufrecht erhalten
VerzicJjt aufdiir fen: Zwecke, gleichviel welcher Art, ob dekorative,
^^"^ reprasentative, belehrende, unterhaltende, sittlich erbau-
ende, erinnernde, oder sinnlich anreizende hat sie nicht
zu erfiillen. Wurde es schon manchem schwer, das
kiinstlerisch Dargestellte nicht mehr im Dienste sinn-
licher Gefalligkeit und zuchterischer Norm — die man
leider auch im wissenschaftlichen Sinne noch immer
Schonheit nennt — zu sehen, so haben wir uns der schwe-
Verxieht aufreven Bestimmung zu fiigen, nicht einmal mehr gef allige
eja tg et y^^^^^ ^^^ jgj, Kunst grundsatzlich zu verlangen. Das
Gemalde als Selbstzweck erfiillt seine Aufgabe in der
Darstellung; das alte Bild war gleichzeitig ein Dekora-
tionsstiick, ein schoner Gegenstand, eine kunstgewerb-
liche Lackarbeit, die architektonisch der Wand und dem
Raume diente, wahrend das neuere Werk eine neutrale
Wand als Hintergrund, ein en Schauraum als Umgebung
verlangt und auch in diesem Sinne nicht mehrZubehdr
und Inyentar, sondern bestimmendes Subjekt ist,
VerxAcht auf Dafi wir die Ergebnisse alter, sachlicher, gegenstand-
usju rung Y\c\\ev^ handwerklicher Meisterschaft nicht mehr erwarten
diirfen, ist uns bekannt. Hier wird am schwersten zu
ertragen sein der Verzicht auf jene innere Ergiebigke
welche der alten Kunst in der Ausfuhrung beschied
war. Ein zutrauliches Auge wiinscht in der Kunst
Genufi wiederholt, den die Unerschopflichkeit der Nal
bietet, indem sie bis an die Grenze der Wahrnehmun
%66
fahigkeit immer neue Wunder aus den Teilen und Unter-
teilen hervorbrechen lafit, nachdem die Ganzheit ihren
Akkord hat verklingen lassen. Die Subjektivitat neuerer
Kunst in Anschauung und AusfiiHrung lai^t aber eine so
vollkommene Uberdeckung und Analogic des Dargestell-
ten mit der Darstellung nicht zu, dafi auch das Kunst-
werk sich auf losen liefi)e ; das Eindringen wird auf die
gewollte Wirkung beschrankt, und dem naheren Zusehen
bietet der breite Pinselstrich Halt. Uberdies ist, je star-
ker und leidenschaftlicher das schafFende Erlebnis ver-
lauft, seine Dauer beschrankter, und so fiihrt subjektive
Produktion zur summarischen, unausfuhrlichen, schein-
bar skizzenhaften Darstellung, die abermals der mecha-
nisch suchenden Priifung widerstrebt.
Ist somit die auJSere Gefalligkeit, die handwerkliche Venh-ht auf
Geschliffenheit und Vollendung, die berechnete Gelassen-
heit, Harmonie und Ruhe dem subjektiven Werk ver-
sagt, so wird es dem nachhaltigen Werben des biirger-
lichen Liebhabers nicht mehr gerecht. Verallgemeinert
fiihrt diese Beobachtung zu der weiteren und entschei-
denden Folge, dafi wir auch Popularitat von dieser Kunst
nicht beanspruchen, kaum erhofFen diirfen, ganz abge-
sehen davon, dal5 die gr6fi)ten Werke einer jeden Zeit
ihrer Epoche vorausschreiten und daher bei ihren eigenen •
Zeitgenossen nur durch Mifiverstandnis oderAutoritats-
glauben popular sein konnen. Auch in jenen beriihmten
kleinen Adelsrepubliken, denen wir unsere kiinstlerische
Kultur verdanken, war die Kunst nur im engen Kreise
der Herrschenden zuhause, und durch ihre Autoritat
gestiitzt; zugleich mit diesen Herrschenden und ihrer
Autoritat ging sie zugrunde. Und diese Kunst war, wie
wir gesehen haben, nach Herrscherregeln von einer Ge-
I
%6'j
meinschaft und fiir eine Gemeinschafc gemacht, natiir-
lich gewachsen, normativ, sachlich, objektiv wie die
Natur, in ihren Hohen zwar liberragend, doch in Be-
wegung, Gegenstand und Ausdruck durchaus verstand-
lich. Aber bei verschiedener Geschwindigkeit zweier
Fortschreitenden wachst der Abstand des Zuriickbleiben-
den dauernd; vielleicht ist Geschmack und Verstand-
nis der mittleren Zivilisation dem Hohenmafi) jener alten
Gemeinschaften naher geriickt als wir glauben, aber dem
Weg zur Kunst des personlichen Erlebens sind die Massen
nicht gefolgt, und so entsteht das paradoxe Bild, dzS) in
Feindschaft der alien zivilisierten Landern die herrschenden Stande der
Stdnde Kunst feindlich sind. Daraus folgt nicht einmal im agi-
tatorischen Sinne, dafi etwa die Kunst in hoherem Mafie
wie vordem Sache des Volkes geworden sei, und dem-
gemaiJ5, um modern zu sein, demokratische oder soziale
Alliiren anzunehmen habe; sie ist weder Sache des oberen
noch des unteren Volkes, sondern Sache der Berufenen.
Daraus folgt aber auch nicht, dafi sie von Kiinstlern fur
Kiinstler gemacht werde, sondern sie wird von Kiinst-
lern fiir das Volk gemacht. Nicht fiir das Volk von
heute und nicht fiir das Volk von morgen, sondern fiir
das Volk; so wie ein Vater, der fiir seinen Sohn schafFt,
nicht fiir das Kind und nicht fiir den Jiingling schafFt,
sondern fiir sein unsterblichesBlut, das dieErfiillungtragt.
Wenn auch die Komplexitat des menschlichen Schaf-
fens eine zeitgenossische Popularitat des Guten nicht
vollig ausschliefijt, indem dieses namlich nebenher mit
indiiferenten Eigenschaften behaftet sein kann, die harm-
los gefallen, abgesehen vom Erfolge des Miftverstand-
nisses und Autoritatsglaubens, so darf nicht einmal post-
hume Popularitat der Kunst zur Bedingung gestellt wer-
268
den; vieimehr ist es als eine der menschlich hochsten
Kiihnheiten und Selbstverleugnungen zu betrachten, dail>
furchtloser Geist unablassig Dinge schafFt, die besten-
falls trotz ihrer Tugenden geachtet werden.
Was wir hingegen von der Kunst unserer Zeit ver- Forderung der
langen diirfen, ist zum ersten Meisterschaft. Freilich
nicht mehr die erlernbare und leicht kontrollierbare
Meisterschaft der Schule, die kalligraphische Gemein-
schaftsschrift der Ziinfte und Generationen ; wohl aber
personliche Kenntnis und Beherrschung des Handwerks
und seiner Mittel, gesteigert zu eigener Sprache und
Handschrift des Menschen. Schwer und unerlernbar wie
alle Beurteilung subjektiver Kunst ist die Kritik dieses
individuellen technischen Vermogens; denn sie darf nicht
erschrecken vor der Unausgeglichenheit eines lebens-
langen Ringens mit der Materie, vor dem Verzicht auf
alle Milde des Herkommens zugunsten einer leiden-
schaftlich ersehnten Ausdrucksform, noch darf sie sich
blenden lassen von wissenschaftlich oder reflexiv er-
kliigelten Kiihnheiten und von einer durch Vergleichung
und Kontraimitation erschlichenen Originalitat.
Eine kurze Einschaltung iiber neuerliche Mifiver- Zwei Anmer-
T . . -r>. 1 Tr • M • 1 • kungen: Kri-
standnisse in Dingen der Kritik sei hier gestattet. ^-j^ |^j. kritik
Solange die Kunst Sache der Gemeinschaften und
Schulen war, konnte der gebildete aber unproduktive
Liebhaber und Konnaisseur eine Anzahl der vereinbarten
Regeln und SchulbegrifFe erlernen und mit ihrer Hilfe
eine Art von kritischer Kunstgrammatik betreiben, die nicht
unbedingt wertlos war. Zuerst erkannte man in der Musik,
dafi) diese mechanischeBeckmesserei nicht weitfiihrt; man
verlangte vom Musikkritiker eine entschieden musika-
lische Begabung, ja selbst eine gewisse ausiibende Fahig-
I
26^
keit; das Gewasch eines eingestanden Unmusikalischen
iiber Musik ha^te man nicht angehort. Wahrend nun
auch die iibrigen Kiinste den Weg vom Typischen zum
Individuellen vollendeten, hat man leider und unbegreif-
licherweise unterlassen, den BegrifF des musischen und
amusischen Naturells auf alle Gebiete der Kritik auszu-
dehnen. Obwohl alle Kritik subjektiv kiinstlerischer
Leistungen ganz und gar auf nachschaiFende Einfiihlung
hinauslauft und somit nur mehr hochveranlagten Naturen
moglich und gestattet ist, glauben vielfach sensitiv er-
regbare und suggestible, ubrigens amusische Tempera-
mente an ihre eigene kritische Zulangllchkeit. Wie in der
Musik die Fahigkeit, eine gehorte Tonfolge wiederzu-
geben, so ist in der bildenden Kunst eine merkliche,
wenn auch unbeholfene Befahigung zu zeichnerischer
Reproduktion die niederste, unerlai51ichste Stufe musi-
scher Existenz. Es ist nun ein Zeichen wahrhaft grofi-
stadtischer Anpassungsfahigkeit und Versatilitat, wenn
Kritiker sich riihmen, auch ohne den Besitz dieses leich-
testen musischen Symptomes auf Grund innerer Erleuch-
tung und haufiger Atelierbesuche ihrer Verantwortung
gerecht zu werden.
Dtinne Ta- Zum zweiten erinnern wir uns des Wesens subjek-
tiver Kunst, das in der Enthiillung menschlicher Gesetz-
maI5igkeit beruht, und verlangen von dem, der diese
Kunst ausiibt, Menschlichkeit. Der Wohlstand der zivi-
lisierten Welt und ihre Mechanisierung, die Sattigung
der Atmosphare mit geistiger und artistischer Essenz
hat aber das Wachstum diinnstengeliger, locker sitzend
Talente verhundertfacht. Die ans Kunstgewerbe gre
zenden Industrien der Tapeziererei, der Schaufenst^
dekoration, der Provinzialfeuilletonistik und Hotelmus
X70
kurz der Massenbetrieb gewerbsmaf5iger Staffierung, ver-
langt die Uberzahl dieser asthetisch strebenden Naturen,
die vor Jahrhunderten im Klosterberuf , im Schneider-
und Haarkrauslerhandwerk eine Tatigkeit gefunden
batten. Indem nun die Scbulfreiheit und Zunftlosig-
keit der subjektiven Kunst, vor allem aber der Mangel
an objektiven Urteilsregeln und kritischen Anhalts-
punkten den zahlreichen Ubertritt der leichtgeriisteten
Talente, zumal der woblhabenden, zu ernster Kunst-
ubung begunstigt, wird nun erst offensichtlich, wie schwer
und selten der Natur die Verbindung wuchtiger Mensch-
lichkeit mit der Anmut gliicklicher Begabung gelingt,
Diese wahrhaft ergreifende Erscheinung einer ernsten,
denkenden, erdenstarken Mannlichkeit, verklart zu zar-
tem Empfinden, kindlicher Reinheit und traumendem
Gestalten erscheint uns heute seltener als je zuvor; kaum
konnen wir die VoUkraft anders als tatenhaft-kunstlos,
die Begabung anders als lax, nervos, hysterisch uns vor-
stellen. „Sul5es kommt vom Starken," heiJ&t es in der
Schrift, und nur unter diesem Wahrspruch ist subjektive
Kunst denkbar, denn ihr Gesetz ist das Erlebnis. Das
Erlebnis des Schaffenden wird zum Erlebnis des Betrach-
tenden und zur Enthiillung des absoluten Gesetzes; das
Erlebnis jedoch ist nur dann ein reines und gultiges,
wenn es einer giiltigen, das heiJ&t organisch-gesetzhaften
Natur widerfahren und oiFenbart, und mit der Kraft der
Wesentlichkeit gestaltet ist. Liegt die Gefahr der typi-
schen Kunst in der Trivialitat, der handwerklichen Kalte,
der Schxilmeisterei und Manier, so liegt die Gefabr des
subjektiven SchafFens in der Talentkunst, in der Halb-
heit und Schiefheit, der Spitzfindigkeit, Verstiegenheit
und Unwabrhaftigkeit des Asthetentums.
a7l
Fassen wir, zum Gang der Darlegung zuriickkehrend,
Forderung und Verzicht zum allgemeinen Leitsatz zu-
sammen, so diirfen wir bekennen:
Zusammen- Uneigentlkhe Kunst ist es, die Zwecken dient ; gleich-
tische Leit- ^^^^ ^^ edlen oder unedlen; Kunst ist Selbstzweck, ge-
satze schaffen aus Notwendigkeit, und zu betrachten gleichwie
ein Werk der Natur. Belehrung, Unterhaltung, Reprasen-
tation, Schmuck, Sinnenreiz, Reklame, Geschaft sind in
diesem Sinne gleichwertige Zwecke.
Lehrbar und erlernbar ist nicht die Kunst, sondern
der in ihr enthaltene handwerkliche Rest. Meisterschaft
ist nicht blofie Beherrschung dieses Handwerklichen,
sondern seine Durchdringung mit persdnlichem Gefiihl.
Ubung macht den Kalligraphen ; den Meister macht Er-
fahrung und Vorstellungskraft. Aber selbst Meister-
schaft ist nicht Selbstzweck, sondern unentbehrliches
Mittel, um, ungehindert von der Materie, derEmpfindung
Ausdruck zu geben.
Uneigentliche Kunst ist es, die der blofien Nach-
ahmung dient, und wenn es die Nachahmung der Arten-
schonheit ware; die nach Rezepten schaiFt, die den
Geist beschaftigt, die dutch Zufalligkeiten Tauschung'
erstrebt, die mit Sentimentalitat und mechanischem
Pathos das Schiefe und Falsche aufstutzt, die hand-
greiflich an Nerven und Sinnen riihrt.
Echte Kunst macht die Gesetze des Organischen, des
Schicksals, der Seele und des Gottlichen fiihlbar: sie
stammt aus dem Erlebnis echter Menschlichkeit, ist ge-
staltet in der Erkenntnis des Wesentlichen, ausgedriickt
in der Sprache der Personlichkeit und fiihrt zur Er-
schiitterung der Seele. Denn sie erfiillt uns mit der
Gewi&heit, dzib wir nicht im Chaos der Willkiir und
171
I
des Zufalls beruhen, sondern im gottlichen Kosmos; wir
verloschen im Selbstischen und erstehen im Gefiihl der
Wiirde und Gnade hochster Gemeinschaft.
Als letzte Aufgabe dieses Kapitels war uns be- Anwendung
T- 1 • TT- 1 1- 1 r 1 auf dieKunst
stimmt, unsere eigene lipoche im Hmblick aut das '^^^qxZqii
betrachten, was sie der Kunst bietet und verspricht.
Wirkungen der Mechanisierung auf die Kunst haben OOer/atiung und
wir beriihrt. Wenn vordem ungezahlte Leben abflossen, *
denen kaum an einzelnenhohen Tagen ein Werkder Kunst
begegnete, so konnen wir keinen Schritt tun, ohne von
kiinstlerischen Zeichen, mogen wir wollen oder nicht,
begleitet oder umgeben zu sein. Schmuck der Farbe
oder der Formung bekleidet jeden Gebrauchsgegenstand ;
die Schriften, die tagiiber zu uns reden, erheben
kiinstlerischen Anspruch; die Raume der Hauser, die
Laden und Hallen sind erfiillt von Darstellungen und
Wiedergaben; unsere Erinnerung birgt den Kunstgehalt
von Jahrtausenden. Es wird mehr gebaut und gemeili5elt,
gemalt und geatzt, erzahlt und gedichtet, gespielt und
geschmiickt als ehemals gesat und geerntet, gesponnen ^
und gewoben. Vielen erscheint Himmel und Erde,
Leben und Tod nur noch unter dem Bilde kunstlerischer
Darstellungsform. Die Welt schwitzt Kunst aus alien
Poren.
Dieser unerhorte Mifibrauch, der die Kunst in Staub Wettkampf der
und Larm der Alltaglichkeit hinabzieht, bedroht alles ^
ehrfdrchtige Verweilen und festliche Staunen. Mit
negerhaftem Selbstverstandlichkeitsbewufitsein schenkt
die Masse den hochsten Leistungen einen Blick und eine
Bemerkung; der Gebildete schliefit Auge und Ohr, um
aus dem Gewiihl das Verehrte und i lebgewonnene zu
retten. Die Kunst aber, vom Stamm der Kegel imd
t8 ^73
Tradition gelost, frei beweglich und alles wagend, liber-
bietet sich in EfFekten, um die erloschende Aufmerksam-
keit 2u beleben; gepeitscht von der Konkurrenz der
Ausstellungen und Auffiihrungen sucht sie die auC)erste
Steigerung des Erfolgreichen , den starksten Kontrast
gegen das Jiingstverbrauchte 2u verwirklichen, und be-
il/e^ftritt damit den Weg der Mode. Diese periodische
Krankheit, die den Namen des Launischen in keiner
Weise verdient, da sie in niichterner Mechanik des
Kontrastes verlauft und demgemafi von ihren gewerb-
lichen Erzeugern wissenschaftlich-empirisch hergestellt
wird, ist in ihrem Wesen dem kiinstlerischen zuwider
und gefahrlich; sie strebt die letzte Stetigkeit zu ver-
nichten, die der subjektiven Kunst geblieben ist, indem
sie den Kiinstler zu bestimmen sucht, auf sein eigenes
Inneres im Sinne des bewahrten Wechsels gewaltsam
einzuwirken.
Entivurze/ung De$ ferneren wurde angedeutet, dafi subjektive
Kunst gleichsam als Ferment das Publikum zerspaltet,
von dessen Willen und KontroUe sie sich befrelt hat;
der in eigener Natur kiinstlerisch veranlagte, zur Ein-
fiihlung und Nachempfindung befaihigte Teil wird mit-
gerissen, der andere Teil, an bewahrten typischen
Mustern gebildet, oder naiv, nach Regeln suchend, vor
allem aber an Augen und Geist mit dem Kunstblick der
letztverstandenen Epoche erfiilit, stellt sehie Forde-
rungen und fiihlt sich als Arbeitgeber, Brotherr und Be-
horde berechtigt, einleuchtende Wiinsche befriedigt zu
sehen, mogen sie nun auf Nachahmung, Deutlichkeit,
Gefalligkeit, Spanr ang, Riihrung, gliicklichen Ausgang
oder dergleichen I aiauslaufen. Die Kunst empfindet den
Zwiespalt als U' .iiberbruckbar und riickt ab; fiihlt
274
sich iiberdies im echten Streben miftverstanden, ver-
kannt und beleidigt, so laI5t sie sich auch wohl hinreiften,
zu verhohnen und 7,u verbliiffen, und die Spaltung wird
zur Feindschaft. Gelingt es ihr nicht, liber zeitliche
Meinungen hinweg dem gesundesten Teile des Volkes
die Hand zu reichen, so wird sie entwurzelt; die Er-
kenntnis, daft in Wahrheit nur der Kiinstler den Kiinstler
voll verstehe, fiihrt zum gefahrlichen Grundsatz des
Tart pour Tart, und die naturgemafte Urteilsweise des
Kiinstlers, der sich leicht iiber Unvollkommenheiten des
Werkes hinwegsetzt, wenn er dahinter den echten Trieb
und starken Menschen erblickt, ermutigt zu der be-
quemen Krafteersparnis des Angedeuteten und Skizzier-
ten, das sich immer weiter von natiirlicher Verstandlich-
keit entfernt.
Inzwischen aber hat sich im Publikum ein dritter Astbetentwn
Teil gebildet: die Suggerierten und AfFektierten. Kiinst-
lerverkehr, Zeitungslese und Kunstmarkt hat sie zu der
Meinung bekehrt, dafi) hinter dem, was ihnen eigentlich
zuwider ist, doch etwas stecke, was zu erkennen ein
Zeichen von Urteil, Talent und Bedeutung sei: sie
haben die beiden streitendon Parteien diplomatisch ge-
priift und mochten nicht zur banausischen der Angreifer,
sondern zur gewahlten und interessanten der Ange-
griffenen gehoren. Eine gewisse Art zu sehen und zu
empfinden haben sie schnell erlernt und erprobt, die
allgemeine Form und Farbung des Zeitgeschmacks ist
ihnen bildlich geworden, die Gewerbefreiheit des Kunst-
urteils, von der wir gesprochen haben, kommt ihnen zu-
statten; und wenn sie gar wohlhabend und gebildet sind,
durch Kaufe wirken, auf Reisen das Entlegene sammeln,
ein Urteil gegen das andere ausspielen und womoglich
I
^75
einen Kiinstler im Hintergrunde halten, der die wankende
Erkenntnis zeitweilig zurechtriickt, so werden sie in ihrer
Vielzahl oder einzeln zu einer Instanz, die vieles aus-
richtet und manchmal tauscht, solange man nicht den Ge-
schaftssinn, die Herzenskalte und Unfruchtbarkeit hinter
dem Geschwatz erblickt. Diese Klasse der Astheten hat
um ihrer eigenen Stellung willen ein Interesse, die Kunst
vom Volke fernzuhalten, sofern sie nicht etwa vorzieht,
die mgdernsten Produkte, die versriegensten zuerst,
dem Publikum in ihrer Koteriesprache zu verkiinden;
und da sie das Gerade vom Schiefen nicht unterscheiden
kann, da sie das Paradoxe und Extreme als Merkmal
bevorzugt, so wird sie der Kunst gefahrlicher als die
Zuriickgebliebenen und Kunstabgewandten.
Ein weltgeschichtliches Moment tritt hinzu, um die
Gefahren der Volksfremdheit und des Asthetentums zu
steigern.
fsminhmus Als um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts
die biirgerliche Gesellschaft, von der Mechanisierung
emporgerufen und bereichert, in den geistigen und leib-
lichen Besitzstand der europaischen Aristokratien ein-
trat, 'um an ihrer Statt die Zivilisation zu beherrschen,
wull)te sie ihren Frauen, die gleichzeitig der sorgen-
vollsten hauslichen Enge entwachsen waren, nichts zu
bieten, was den reprasentativen, landesmiitterlichen
Pflichten ihrer Vorgangerinnen und VorbiJder entsprach.
Die Frauen selbst, anpassungsfahiger als ihre Manner,
trafen schnell die eigene Wahl; bald war Tracht, Be-
nehmen und Lebensform aristokratisiert, uM sie grifFen
mit Leidenschaft nach einer neuen Distinktion, die von
den Adelsfrauen nebenher und lassig, aber doch ge-
niigend charakteristisch geiibt worden war: der Bildung.
a76
Die Frauen der Gelehrten und Kiinstler schritten voran,
in Berlin die Jiidinnen; sie leniten, horten, lasen, dilet-
tierten und reisten; Dinge, die den Grofimuttern wo
nicht den Hexentod, so doch tiefe biirgerliche Ver-
achtung gebracht hatten, fiihrten die Enkelinnen in die
Gesellschaft der fiirstlichen Hauser und leitenden
Manner. Um diese Zeit beginnt Urteil, Einflufi, ja
Mitwirkung der Frauen in Kunsc und Gewerbe merklich
zu werden.
Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts reifte,
in massenhafter Zahl, die erste in Bildung auferzogene
Generation biirgerlicher Damen. Je tiefer die Manner
in die wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftli-
chen Aufgaben des mechanischen Zeitalters verstrickt
wurden, desto mehr belebte sich der kiinstlerische und
geistige Anteil der Frauen. Sie waren zu Zeiten die
gelesensten Schriftsteller, die begehrtesten Maler und
Musiker aller Kulturlander. Da nun der weibliche Geist
auf Erhaltung gerichtet, dem Phantastischen und Kraft-
vollen fremd, dem Erlernbaren, Handarbeidichen geneigt
ist, so entstand jene seltsam beharrliche, fast fiinfzig-
jahrige Epoche verlangerter Romantik und versiifiter
Epigonik, an deren Auslaufer wir Alteren uns erinnern.
Ungerecht ist der Vorwurf, dai^ es an revolutionaren
Talenten fehlte, denn Balzac, Flaubert, Dostojewski,
Keller, Nietzsche, Manet, Menzel gehoren dieser Zeit
an; aber ein selbstbewufit zaher Zug des Publikums
vermochte die Kunst zur Familiensache zu machen, sie
sollte zwischen Klavieriibungen , Stickereien und Ge-
schichtsunterricht rangieren, und es ist be/eichnend, dal5
in den fiihrenden Kulturstaaten drei souverane Frauen
die Zahmung der Kunst betrieben. Der Einkauf des
277
I
Hausgeratf, selbst die Beratung des Bauplans ging
die Frauen iiber; das gab dem sterbenden Handwerk
den TodesstoG, denn es verlor unter der mangelnden
Kontrolle des Materials und der Arbeit, unter dem Ver-
langen nach Modischem und Imitiertem den letzten
Halt der Sachlichkeit.
RuchtvkkuHg Bei dieser weiblichen Kunstfursorge begann der tatige,
aufdie Zeit und . - , a r ^ i i n >r
Steigerung ^^^ neuartig wacnsenden Autgaben bedrangte Mann
sich als Barbaren zu fiihlen; Kiinstlerisches und Femi-
nines fiel fiir ihn zusammen, und sofern er es verschmahte,
mit halber, liberholter Sachkenntnis sich in das Salon-
geplauder zu mischen, hielt er sich an die Klassiker
seiner Schulzeit oder kehrte unerquickt zur Arbeit sei-
nes Berufes zuriick. Im Gegensatz zur Romantik wur-
den die blutigen und unblutigen Schlachten der neueren
Zeit von kunstfremden Mannern geschlagen; auf die
Bedeutung dieser Tatsache werden wir zuriickkommen.
Die konservative pseudoromantische Epoche fand
ihr Ende in dem mannlichen Aufschwung der achtziger
Jahre; das weibliche Forum erschrak, sammelte sich,
dank neubewahrter Anpassungsfahigkeit und fiihrte die
Revolution zum Siege. Denn es batten sich inzwischen
die Horsale und Kiinstlerwerkstatten dem Ansturm der
Frauen gedfFnet, an die Stelle des Kranzchens trat die
Kiinstlergesellschaft, an die Stelle des Familienblattes
die Tageszeitung und wissenschaftliche Rundschau, die
Verbindung mit den verborgensten, bisher verleugneten
Kraften und Regungen des Landes und der Fremde
war gewonnen. An die Stelle der Beharrung trat der
von der Mode her bekannte Drang nach dem Neuen
und Extremen, Kiinstler und Richtungen wurden ent-
deckt und entthront, der Dilettantismus iibte sich in
178
I
neuen Formen und Tanzen, die Mode wnrde ausdrucks-
voll und dramatisch, an die Stelle der gebildeten Frau
trat das kiinstlerische und vorgeschrittene Weib. In
dieser kiihnen Stellung nimmt die Weiblichkeit die Kunst Wirkung aufdh
unserer Zeit entgegen. Sie stellt die liberwaltigende
Mehrheit der Leser, Horer und Beschauer, und wenn
sie die publizistische Kritik noch nicht ausiibt, so lali5t
sie sich die Kritik dieser Kritik nicht nehmen, die wie-
derum vorwiegend Frauen und Astheten als Lektiire
dient und nach diesem Kraftfeld sich notgedrungen all-
mahlich orientieren muS.
An dieser Gesamtlage wird sich wenig andern,
wenn die Frau den neuen Interessenkreis politischer
und wirtschaftlichet Verantwortung sich erschliefit. So
verkehrt und unhaltbar es ist, intellektuellen und unab-
hangigen Frauen die biirgerlichen Rechte vorzuenthalten,
so toricht ist es, ein neues Verhaltnis der Geschlechter
aus dieser selbstverstandlichen Erfiillung zu erwarten.
Ein drolliger feministischer TrugschluI5 sei bei dieser
Gelegenheit ins Licht geriickt. Sie sagen: lal5t uns ein
paar Generationen lang der Knechtschaft entronnen sein,
und ihr werdet sehen — ! Das ware gut und schon, wenn
die Weiber nicht ein Geschlecht, sondern eine Art oder
Rasse waren. So aber sind auch wir die Sohne unserer
Mutter und miissten wie unsere Schwestern am Erb-
teil der weiblichen Knechtschaft leiden, wenn es ein
solches gabe; und wiederum sind sie nicht minder als
wir die Kinder unserer Vater und nehmen somit am
voUen Patrimonium der Uberlegenheit teil.
Wenn wir das Verdienstliche des weiblichen Anteils WWhung aufdh
an unserer Kunst freimiitig und dankbar anerkennen und
uns selbst einer wohltatig ausgleichenden Wirkung nicht
279
verschliefien, so liegt die dauernde Gefahr dieser Inge-
renz doch keineswegs allein in der Bekraftigung des
Modemafiigen. Der weibliche Geist ist erregbar, aber
nicht sachlich; wird ihm die Emotion geboten, deren er
bedarf, so ist er geneigt, die Mittel gelten zu lassen,
sofern sie nicht geradezu verletzen. Auf ahnliche Schwa-
chen wurden wir bei der Betrachtung der Astheten- und
Talentkiinste gewiesen, deren Bliiten, ohne Wurzel und
Stengel auf Draht gezogen, einen Tag duften, ohne zu
leben.
Freilich werden diese Surrogate, auch unter dem
starken Schutz des weiblichen Patronats, das Echte nie-
mals unterdrucken oder vernichten, aber sie verwirren
den Empfanglichen und rauben dem SchafFenden Licht
und Luft. Man klagt iiber rasches Absinken der Lei-
stung bei jugendlichen Talenten, deren Erscheinen man
begriifit hatte; fiir die ersten Landschaften, fur einen
Jiinglingsroman, fiir ein liebenswiirdiges Versspiel, fiir
eine Reihe rhetorischer oder erotischer Strophen hatten
die angesammelten Jugendkrafte hingereicht; nun erwar-
tet man die Vollendung des Mannes, und empfangt
schwachlich altliche Wiederholungen junger Leiden und
Freuden, leichte Freiheiten von ehedem zur kompakten
Manier verdichtet, gepflegte Selbstimitation des studier-
ten eigenen Typus. Die Schuld der unerfiillten Ver-
sprechen tragt die verworrene Meinung, die Talent mit
Schopfungskraft, Begabung mit Berufung verwechselt;
der Schaden aber widerfahrt der Kunst, die das Volk
mit angepriesenen und schnell verleugneten Halbpro-
dukten iiberschiittet und sich nicht wundern darf, wenn
sie Mifitrauen erntet.
Wir haben lange bei der Einwirkung des weiblichen
180
Geistes auf die Kunst unserer Zeit verweilt, well diese
grundsatzliche Erscheinung geradezu auf eine Anderung
der physischen Voraussetzungen hinauslauft. Wir diirfen
uns nicht scheuen, einen zweiten, nicht minder grund-
satzlichen Zusammenhang ans Licht zu ziehen, der zum
Nachdenken liber den kiinftigen Gang der Kunst auf
fordert und den man als das Gesetz des ersten Impul-
ses bezeichnen darf.
In der Geschichte, die wir kennen, hat sich stets der Gesetz^des ersten
folgende Grundvorgang wiederholt: Eine erobernde
Schicht iiberdeckt ein Land und Volk. Mag die Zahl
der Eroberer zur Zahl der Unterworfenen noch so klein
sein: von diesem Tage an datiert die Geschichte und
meist der Name des Volkes, seine Lebensform, Staats-
verfassung, Zivilisation , Kultur und Kunst, denn alle
diese Faktoren sind Willensprodukte der Oberschicht.
Ich habe dargelegt, dafi in einer Bildungsform, welche
man die archaische nennt, diese Lebensgiiter verharren,
bis die Vermischung erfolgt. Solche Umlagerung bleibt
niemals aus, denn es gibt kein Mittel, um Bevolkerungs-
schichten dauernd gegeneinander abzusperren.
Die Hochepoche, die nunmehr eintritt, riittelt die
Kunst auf und schafFt sie um fiir den Beharrungszustand,
den sie nun zeitlebens nicht mehr verlai5t. Es gibt so-
mit zwei Punkte im Leben jedes Volkes, die fiir seine
Kultur und Kunst die Linie bestimmen: Eroberung und
Umschichtung.
Nun tritt ein weiteres Gesetz in die Erscheinung.
Die SchalFung der endgiiltigen Kunstformen umfal5t
stets nur wenige Generationen. Wir kennen den Ver-
lauf solcher Schopfungen in grower Zahl: die Formen der
griechischen Tragodie, Geschichtschreibung und Plastik,
^^\
der romischen Literatur und Baukunst, der Gotik, der
Florentiner Kunst, des englischen Dramas, der deut-
schen Dichtung und Musik sehen wir aus heterogeneni
Keimzustanden im Laufe von einem, zwei, hochstens
drei Menschengeschlechtern zu ihrer weltgeschichtlich
giiltigen Fassung gelangen. Und hiermit verbindet sich
unabanderlich das Unerwartete : wahrend man annehmen
konnte, daI5 die Anspannung der Formenschopfung die
' Krafte dieser Geschlechter aufzehre und erst den Nach-
folgern die Aufgabe uberlasse, vollendete Einzelwerke
innerhalb der gefundenen Form zu schafFen, tritt das
Entgegengesetzte ein: der erste Impuls erzeugt sofort
die vollkommens ten Werke, und niemals wieder wird
die Hohe der Erfinderzeit erreicht. Denn es liegt nun
einmal etwas Naturahnliches in diesen Zeugungsvor-
gangen: nur der, welcher die Kraft hatte, die Kreatur
zu woUen, konnte sie bis zum Rande mit Geist erfiillen,
nur der, welcher den liberschieftenden Reichtum des
Geistes besafi, konnte erzwingen, daj& er sich in neuer
Form verkorperte. DaI5 aber in jenen grofi)en Zeiten
die gewaltigsten Menschen, niemals vereinzelt, stets in
gr6l5erer Zahl hervortraten, ist ein Gesetz, auf das wir
eingehen werden, sobald wir auf den Anteil der stark-
?ten Geister an der Kunst unserer Zeit zuriickkommen.
Keiner der Formenschopfer wurde durch Nachfor-
mende iibertroifen, kein Grofier hat Endgiiltiges geleistet,
er sei denn selber ein Formschdpfer gewesen ; und so lafit
jenes Gesetz sich in dem Sinne umkehren, dafi wir behaup-
ten : keine Kunstperiode mit feststehenden Formen konne
mehr erleben als hier und da eine verspatete Nachbiiite.
i^4chblUfpn So haben denn die Kunstformen der neuesten Zeit,
als welche man etwa, mit teilweise ungewohnten Namen,
das absolute Musikwerk, den Gesellschaft»roman, de&s
deutsche Liedgedicht, das subjektive Gemalde, vielleicht
noch das biirgerliche Sittenstiick nennen diirfte, fast im
Augenblick ihres Entstehens die hochstenVerkorperungen
gefunden. Vieles Hocherfreuliche ist ausfiihrend, er-
ganzend, nachholend seitdem geleistet; vielfach sind die
eigentlichen Erfolge erst den verstandlicheren zweiten
und dritten Aufgiissen zuteil geworden, dalb aber das
wahrhaft Unentbehrliche, die Epoche Erschopfende nicht
leicht wiederkehrt, das empfindet jeder Unvoreingenom-
mene in der Stille der Biicherei, wo denn allemal die
gleiche Dutzendzahl mittlerer und alterer Werke, und
diese immer wieder hervorgeholt werden, wenn der Geist
eine freie Feierstunde verlangt.
Dieser Zusammenhang auI5ert sich in manchen falsch
lokalisiertenEmpfindungen und mifideutetenSymptomen.
Die einen beklagen sich, daI5 die Farblosigkeit unserer
Sitten und Trachten, die Eintonigkeit des aufieren
Handelns und die Armut der Ereignisse dem Drama
nicht mehr giinstig sei. Sie mochten sich am liebsten
den Brokaten und Dolchen der Renaissance zuwenden.
Das bedeutet: dal5 sie das Drama Shakespeares im Her-
zen tragen, und dafi diese Kunstform von unserer Zeit
nicht mehr bis zum Rande erfuUt wird. Andere bedauern
die Erschopfung derStofFe; das Leben sei karg, typische
Charaktere, ergreifende Konflikte und leidenschaftliche
Situationen seien zu zahlen. Das bedeutet, dafi eine be-
sondere Art, das unendliche Leben zu fassen, zur Kunst-
form geworden ist, die ihrerseits nicht unendlich und
somit erschopfbar ist. Wiederum gibt es Optimisten,
die von jeder neuen Erfindung, Verkehrsart und Berufs-
gestaltung erhoffen, dafi sie neue kunstlerische Pragungen
»n
bewirken werde; sie fragen, warum nichl das Epos des
LuftschifFs oder das Drama der Kolonisation geschrieben
werde. Das bedeutet, dail> sie das Wesen der mechani-
stischen Welt nicht erfassen, das durch technische Lo-
sungen nicht umgeschafFen, sondern lediglich fortgefiihrt
wird. Dem mechanisierten Gesellschafcs- und Gefuhls-
leben ist aber bereits im Anfang durch Stendhal, Balzac
und Flaubert seine Epopoe geschaiFen worden; das Da-
monium der Unterschichten haben Dostojewski, Tolstoi
und Strindberg aufgedeckt, und das Philistertum hat
Ibsen besungen.
Rekapitula- Fassen wir dieses nicht sehr sonnenvolle Bild von der
Einwirkung unserer Epoche auf das Geschick der Kunst
zusammen, vergegenwartigen wir uns die Massenhaftig-
keit des Betriebes, die Unsicherheit der Beurteilung, den
raschen Wechsel der Moden, die Konkurrenz der Extra-
vaganzen, die Belastung mit Erinnerungen und Ein-
driicken, erwagen wir den wachsenden Einflufi) der Asthe-
ten und Frauen, die Volksfremdheit eines bedeutenden
Teiles der Produktion verbunden mit dem steigenden
Anspruch auf Internationalitat, endlich die Bewegung in
feststehenden Bahnen und Formen, die nur durch ge-
waltsamie Erschiitterung der Tie fen unserer Gesamt-
existenz umgelenkt werden kann; vergessen wir nicht
die Grundbedingung der subjektiven Kunst: dal5 sie auf
alle Zwecke, somit auf unmittelbare staatliche, gesell-
schaftliche und wirtschaftliche Niitzlichkeit zu verzich-
ten hat: und es wird uns verstandlicher, daI5 die tatigen,
leitenden und entscheidenden Manner unserer Zeit der
Kunst fremd bleiben.
Kunstflucht Begegnet man unter Militars, Staatsleuten, Gewerb-
^"^^^treibenden und Gelehrten einem Mann, der fiir bildende
284
und redende Kiinste ein mehr als konventionelles Inter-
esse zeigt, so ist leider mit einiger Wahrscheinlichkeit
zu befiirchten, dal5 man es mit einer weichlichen, leiden-
den, dem Beruf nicht geniigenden und von ihm nicht
ausgeftillten Natur zu tun habe. Eine geschmackvoUe
Neigung zu altem und neuem Hausrat, ein heimliches
Talent, eine zufallige Kiinstlerbekanntschaft oder weib-
licher Einflufi ruht zumeist im Hintergrunde. Auszu-
scheiden sind naturgemal^ die Falle reprasentativer oder
spekulativer Neigung und diplomatischer Anpassung.
Die aufrechten Naturen dieser Klassen liberlassen die
kiinstlerische Fiirsorge den Frauen; wenn diese nicht
ausreichen, Sachverstandigen; von der zeitgenossischen
Produktion sind sie so weit entfernt, dal5 ein Gedicht-
band oder ein Bild des mittleren Artistentums ihnen
so unverstandlich bleibt wie irgendeine Spezialforschung
oder abseitige Technik. Vor allem aber ist ihnen die
Menschlichkeit eines grofien Teiles der gegenwartig
Schaffenden fremd geworden; gewisse, mit der Kunst-
tendenz wechselnde Alliiren erscheinen ihnen seltsam,
mit den Worten der Koteriesprache : Tempo, Rhyth-
mus, Synthese und wie sie heifi)en mogen, finden sie
sich nicht zurecht, und handfeste, sachliche, ver,
stehende und verstandliche Menschen der Gegenseite-
die manchen Widerspruch entwirren konnten, treten
ihnen nur selten gegeniiber.
Halten wir mit dieser zeitlichen Erscheinung der Gesetz der
Kunstflucht die kiirzlich gestreifte geschichtliche Erfah- g^gg^^£^gjj^^'
rung zusammen, dal5 in groI5en Epochen ein gewaltiger ^^^g
Uberschufi produktivster Naturen zum gleichen Augen-
blick an eng benachbarten Orten sich einzustellen pflegt,
so mochten wir nicht gern diesen Reichtum mit der perio-
dischen Analogic fetter Jahre vergleichen, sondern viel-
mehr auf die gleichbleibende Schopfungskraft vertrauen
und annehmen, daI5 nicht die Zahl und Starke der gei-
stigen Potenzen einer Zeit und eines Landes schwankt,
sondern ihre Richtung. Wie die Masse der Meere un-
verandert bleibt, ihr Schwerpunkt aber von meteorischen
Kraften gezogen sich leise in Ebbe und Flut bewegt, so
scheinen die Geisteskrafte der Volker und mit ihnen die
jeweils starksten Exponenten nach wechselnden Wir-
kungsflachen hingetrieben. Diese Wirkungsflachen aber
wirdmandort suchen miissen, wo jederzeit der starkste
AngriiF gegen das innere Leben droht, oder wo das
reichste Wachstum moglich ist; so laI5t die Pflanze ihre
Safte zur Heilung einer Wunde oder zur sonnenbegiin-
stigten Bildung eines neuen Triebes der gefahrdeten oder
bevorzugten Stelle ihres Korpers zustromen.
Gibt es eine Flucht starker Personlichkeiten von der
Kunst hinweg, so miifite demnach ein Zudrang nach an-
deren Lebensgrenzen hin wahrnehmbar sein; und wir
tauschen uns vielleicht nicht, wenn wir heute, und gleich-
zeitig in all^n Kulturstaaten, die Tat, und zwar enc-
sprechend der Mechanisierung, die wirtschaftliche Tat
als das SchafFenselement der starksten Potenzen an-
sprechen.
tVenduns^utrTat Hier crblicken wir denn auch wirklich die gefahrde-
ten Regionen des nationalen Lebens, insofern, als heute
die Selbstandigkeit der Volker zum guten Teil auf dem
Erfolg des wirtschaftlichen Wettkampfes beruht; und eng
benachbart den bedrohten Positionen erkennen wir die
Ausbruchspforten einer neuen, nicht liberlieferbaren,
schrankenlos erscheinenden Expansion. Die menschlichen
Potenzen, die an diesen Grenzbezirken schaffen, sind dem
286
Namen nach vielen, dem Wesen nach wenigen bekannt,
well die geschichtliche Betrachtung sich nur dem Abge-
schlossenen und Erledigten gegeniiber sicher fiihlt; man
ist daher geneigt, jene Tatigkeit als eine unindividuelle,
auf Routine, Erfahning und allgemeiner Weltklugheit be-
ruhende gelten zu lassen,derenanonymesVerdienstdurch
materielle Ertrage liber Gebiihr belohnt ist, wahrend der
Aufwand an Phantasie, Intuition, schopferischer Erkennt-
nis, den die Nation an diese Peripherien zu entsenden hat
und die allein den Erfolg unerhorter Arbeit verbiirgen,
unbeachtet bleibt. Hier zeigt sich denn auch die Er-
scheinung jener Einsamkeit des Wirkens, die den Stark-
sten vorbehalten ist, weil sie nicht allein sich ihre Auf-
gaben, sondern auch ihre Gebiete schafFen. Niemals sehen
wir die Starksten in Konkurrenz, an liblichen Aufgaben
und auf betretenen Wegen. Es ist Irrtum der Epi-
gonen, nie geschaute Friichte zu erwarten, wenn sie die
von den Vorfahren gelockerte Scholle von neuem um-
wenden; das groi^e Werk ist kein Erbstiick wie Wiese und
W'ald, die sichimmer wieder diingen und durchforsten las-
sen; und kamen Shakespeare und Kleist heutezuriick, so
wiirden sie nicht die alte Arbeit aufnehmen und sich
selbst fortsetzen, sondern neue und ungeahnte Auf-
gaben suchen und finden.
So sind wir wiederum beim Gesetz des ersten Im-
pulses angelangt und bei der Stimmung, die uns die
gegenwartige Epoche als eine der Kunst nicht durchaus
forderliche zeigt. Zu untersuchen, ob und wie lange
diese Witterung anhalten mag, ist hier nicht geboten.
Die Erkenntnis des katastrophalen Charakters, den wir
den hochsten Kunstepochen zusprechen muBten, zwingt
uns zur resignierren HoiFnung, e^ mochten unseren
287
Nachkommen die Erschiitterungen erspart bleiben, die
so gefahrliche Zeiten emporfunrten.
Kunst als Ge- Niemals wird die Menschheit auf ihrem Gange, der
leiterm ^^j. ^qqIq fiihrt, der Kunst entbehren, noch ihr entsagen.
Sie hat uns dutch das Vehikel der iroh genieC)enden,
heftig begehtenden und unmittelbaren Sinnlichkeit zur
Natur, zum Weltgesetz und zur Transzendenz gefuhrt.
Nun sind auch wit auf diesem Wege hetangewachsen.
Hat vordem Natur zu begiinstigten Menschen und Stam-
men gesprochen, ihnen mit leiser Hand Begehren und
Fiirchten von den Augen gestrichen und auf das Ewige
gedeutet, so spricht sie heute zu vielen, und dereinst
wird sie zu alien sprechen. Vielleicht ist der Kiinst-
ler nur der Vorlaufer des Menschen, zu dem die Na-
tur spricht; vielleicht sind auch jene Halbgliicklichen,
die, auf ihr Talent pochend, die schone Gabe ihrer Sinne
umzumiinzen suchen, nur in der Richtung getauscht;
sie waren gliicklich, wenn sie horen woUten, ohne zu
reden, wie dereinst alle horen werden. Dann ware es
mdglich, dafi die Kunst schon jetzt beganne, ihren
Schritt zu zahmen, der weit der Menge vorausgeeilt ist,
und es diirfte uns selbst die Ungunst der Periode als '
ein gliickliches Vorzeichen erscheinen.
Da nun der denkende Geist iiber die Schranken der
Sinnlichkeit unaufhaltsam hinausstrebt, so wird auf einer
letzten Sttecke diejenige Kunst seinen Weg zu geleiten
haben, die heute abseits, von der Forschung bedrangt
und libertaubt, ein schlummerndes Dasein fiihrt, die
Kunst des Gedankens. Aber auch sie ist nicht ein ab-
solutes Gut, denn wie liber die Sinne, so schreitet auch
liber das Denken die Seele hinweg.
2S8
111.
DIE PRAGMATIK DER SEELE
Im Anfang dieser Schrift habe ich bekannt, dafi eine Wurzeln der
Wirkliclikcit
Meinung mir nur dann vertrauenswiirdig scheint, wenn
sie bei aller aufieren Festigkeit des Stammes und bei
aller freien Phantastik der organischen Verzwelgung mit
gesunden Wurzeln in derWirklichkeit desTages haftet; ja
noch mehr, wenn der Boden dieser Wirklichkeit sich mit
Trieben und Schdfilingen durchsetzt erweist, die richtig
erkannt und gedeutet die echte Bodenstandigkeit und
vegetative Kraft dieser Wahrheit bestatigen. Diese
Auffassung bedeutet nicht eine Uberschatzung der er-
scheinenden Wirklichkeit, sondern die Ehrfurcht vor der
Vieldeutigkeit und Kontinuitat des Natiirlichen, das all
2u reich und all zu schdpfungskraftig ist, als dafi es mit
gemeiner Tauschung, mit Sprunghaftigkeit, mit falschen
Bildern und briichiger Symbolik sich behelfen miifite.
Deshalb steht uns jetzt die Aufgabe bevor, im ofFen- Problem der
kundigen Leben die Wurzeln des Seelenreiches zu finden, Kontinuitat
ja noch mehr: wir miissen wissen, ob dies Reich in der
irdischenPorm seiner AusbreitungdemvereinbartenWirk-
lichkeitsleben ertraglich ist, aufdessen Boden es wachsen
soil, ob der bisherige Entwicklungslauf dutch die Er-
19 289
fiillung des Reiches seine vollkommene und verscihnende
Deutung findet.
Ausschaitungder Die Probe* Ware verdachtig, wenn sie uns eine zeit-
ilche Gliickseligkeit auf Erden vorspiegelte. Denn die
Seele sucht nicht das Gliick, sondern die Erfiillung.
Nicht fiir sich, nicht fiir die andern, nicht fiir die Ge-
meinschaft, nicht fiir Gott sucht sie Gliick, sondern
Miihsal ; freilich eine edlere Miihsal an Stelle einer kiim-
merlichen.
Nach dem Gange unserer Darlegung, die uns von
intellektualer Wercung befreit und zu absoluter Wer-
tung gefiihrt hat, ist nicht mehr zu befiirchten, dafi
dieser Satz paradox erscheine und dafi noch fernerhin ein
utiiitarisches Gut: Gliick, Gerechtigkeit, Dauer, Frieden,
als oberster Lohn und Zweck auch nur fiir irdisches Da-
sein gefordert werde. Dennoch sei in Kiirze von einer
bisher nicht beriihrten Seite der Gedanke nochmals
erlautert.
Giiiikspotentiai Wenn uns das Leben irgendeines Tieres als Inbe-
grifF einer vollkommenen Gliickseligkeit glaubhaft ge-
macht w^erden konnte, so wiirde ein hochgesinnter
Mensch, und ware er noch so bekiimmert, nicht wiin-
schen, unter Darangabe seiner menschlichen Einsicht in
dieses Tier verwandelt zu werden. Selbst unsere primi-
tiven Wiinsche werden somit nicht bestimmt von der
Gliickspramie allein, sondern von einem Potential, das
sich zu vergrdliern strebt und sich gegen Verringerung
wehrt. Dai5 dieses Potential mit der Seelennahe gleich-
zusetzen ist, lafit sich beweisen; denn jeder, der eines
Hauches von Seele teilhaftig geworden ist, wird jede
Riickversetzung in tiefere, ja tiefste menschliche Lebens-
lage dem Verluste dieses Hauches vorziehen, er wird
290
eher bereit sein, den Weg Buddhas zu wandeln als den
umgekehrten. Der seelenlose Mensch jedoch, dam das
gleiche durch alle Natur gegossene Potentialstreben ein-
gepflanzt ist, wird die Empfindung falsch lokalisieren, in
ihr eine Bekraftigung seines materiellen Strebens er-
blicken, ihr durch alle aufsteigenden Lebenslagen folgen
und auf jeder neuen Smfe erstaunen, „dass es auch
nichts ist". Das Streben nach dem Potential ist somit
selbst im primitivsten Leben realer als das Streben nach
dem Gliick, und dennoch nur eine getriibte und bewufit-
lose Form des Strebens nach Seele. Einen handlichen
Vergleich dleser Kraftefolge bietet das Tier, das mit
Zucker gezahmt wird, das Kind, das aus Ehrgeiz lernt
und nicht ahnt, wozu das Erlernte taugt, der Mann, der
wissend um Erkenntnis ringt, weil tieferkannte innere
Not ihn treibt.
Der Kampf um das Gliick ist die objektivierte ¥ or m See/e und Se/rg
der intellektualen Zweckhafrigkeit; im Sinne des Schop-
fungswillens aber wird nicht gespielt um des Einsatzes
willen, sondern der Einsatz wird geschaffen, weil gespielt
werden soil. Wir wissen, das Gliick ist ein intellektual
gedachtes Gut; wir folgen der Seele aus der Notwendig-
keit unseres Seins und um der Wiirde der Schopfung
willen, unbekiimmert, ob das neue Reich uns schwererc
Miihen auflegt als das alte, dankbar fur den Quell der
Liebe, den es erschlielSt.
Eine zeitliche Gliickseligkeit werden wir vom be-,Irdische In*-
, „ . , J p , . , , . stitution und
ginnenden Reiche der Seele so wenig verlangen als erne geelische For-
ewige. Aber da wir seine Wirklichkeitswurzeln suchen derung
und an die Kontinuitat der Erscheinung glauben, so haben
wir zu priifen, ob unsere Weltordnung mit seinen neuen
Voraussetzungen bestehen oder yeredelt werden kann;
19* 291
denn konnte sie es nicht, so ware eine Diskontinuitat
gegeben, die uns zwange, den Gedankenweg zu revi-
dieren.
Priifung der Da die Evolution der Seele den Menschen im In-
Motoren i ,. ^ /- , i i
nersten umgestaltet, so ware zunachst die Gefahr denk-
bar, dais die intellektualen Motoren, welche den sozio-
logischen Weltmechanismus treiben, geschwacht, ja ver-
nichtet werden, dafi somit die menschliche Belebung
der Erde verlosche oder in ungliicklichster Selektion
den Seelenlosen als den irdisch Starkeren verbleibe.
Gefahr: nicht zwar im Sinne des Geschehens, denn wenn
die Seele lebt, so mag das Animalische vergehen und
werden; Religionen, Sittenlehren und philosophische
Doktrinen haben diesen Untergang ohne HofFnung des
neuen Tages gepriesen und dutch Askese und Weltflucht
eingeleitet; Gefaht vielmeht im Sinne des Denkens,
denn es widetspricht dem Gange det Natut, der ptak-
tischen Etfahtung und det empirischen Voraussicht, dal5
dutch katasttophale Selbstvernichtung gleichsam ein
Vakuum im Sttom des Geschehens geschafFen werde.
Witd nicht dieset ungeheute Mechanismus vom Be-
gehren und vom Kampf, vom Denken und vom Zweck
getrieben? 1st nicht alles, was wit Fottschritt und Ent-
wicklung nennen, Ptodukt det hdchsten, eigensiichtigen,
erfindetischen Not? 1st nicht der Mangel, das Elend, die
Angst, die Sorge, selbst das Verbrechen ndtig, um die
Geschwindigkeit des Umlaufs bis zut Schwungktaft det
Mechanisietung zu steigetn? Was soil geschehen, wenn
die Mototen etlahmen, das Begehren schweigt, der
Kampf in Liebe endet, das Denken im Schauen aufgeht
und det Zweck erstirbt? Wenn Angst und Not, abet
auch Tagesfreuden, Eitelkeiten und Ttiumphe, Ehrgeiz,
;9i
rieiTSchergeliiste und Tatenstolz vergessene Geriichte
sind?
Mancher wird meinen, dafi ohne die lebendige Kraft
dieser Motoren die menschliche Welt nicht einen Tag
bestehen kann, und damit dieser Welt das Zeugnis aus-
stellen, dafi sie nicht verdiene, einen Tag zu leben, und
dafi> es besser sei, sie ware nicht geschaiFen worden.
Ich sage, es wird Zeiten geben, die von unseren Sorgen,
Noten, Kleinhelten, Freuden und Schlechtigkeiten nicht
anders sprechen werden, als wir von Kannibalismus,
Menschenopfern, Blutschande, Fetischismus , Hexerei,
Inquisition und Folter. DIese Jugendtorheiten des Men-
schengeschlechts wogen leicht, denn sie ermangelten des
Urteils; sie waren schwer abzutun, denn niemand kannte
Mittel und Weg.
Unsere Alterstorheiten wiegen schwerer, denn wir
sind ihrer bewufit, aber sie sind leichter abzutun, denn
das Denken, das sie geschafFen hat, steht uns zur Seite,
um sie zu verscheuchen.
Freilich wird man, wo von menschlichen Dingen Zeitikher Vw-
allgemein die Rede ist, niemals an hundertprozentlge
Wirkungen denken diirfen. Wie jede Untat vorzeitlich-
ster Art, jeder Greuel, den menschliche Phantastik aus-
zudenken fahig ist, noch heute, stiindlich, irgendwo in
der Welt begangen wird, und dennoch nichts bedeutet
als eine kiimmerliche Ausnahme, einen schrecklichen
Unfall, ein fliichtiges Erschauern des Menschheitskorpers,
weil eben aller gesunde Geist sich ausnahmslos gegen
den Giftstoff auflehnt: so mag in spatester Zeit, wenn
alle Freude am Besitzneid und am kauflichen Tand
langst vergessen ist, noch immer ein Negerweib sich
Kostbarkeiten um Hals und Schadel flechten, in der
293
HoiFnung und rielleicht mit dem Erfolge, eine andere
durch die Schaustellung zu kranken. Immer werden,
und jedem Menschen, im Traum und Wachen Diister-
nisse liber die Seele schleichen, immer werden wir
wanken und irren; was der Geist mifibilligt, werden die
Damonen des alten Blutes insgeheim vollenden; wir
werden wie heute schreckenvoU vor unseren eigenen
Handlungen stehen und nicht begreifen, wer und was
sie beging. Aber der Zauber des Bdsen und der Ver-
zweiflung ist gebrochen, wenn die Richtung gefunden
ist, wenn der Irrtum zur Ausnahme wird, wenn der
Wille feststeht. Eine Anschauung, die auf eine aus-
nahmlose VoUkommenheit des Menschlichen in noch so
spater Zeit hoffte, ware irreal; eine Anschauung, die
sicli der Gesamtentwicklung des sittlichen Geistes ver-
schlosse, ware niedrig.
So wird auch das Begehren niemals ganzlich ver-
stummen. Weder verlieren die Sinne ihre Macht, noch
wird die Menschheit ihren gewaltigen Haushalt zur
betteihaften Diirftigkeit dampfen. Behaglichkeit des
Lebens, Wechsel und Anregung darf und wird sie auch
kiln frig fordern, Mangel und Not bekampfen. Noch
weniger wird ein mechanischer Altruismus zu erstreben
sein, der nichts weiter bedeutet als die pedantische
Umlenkung des eigenen Begehrens auf ein fremdes
Ziel, eine Umsteuerung des Motors auf indirekte Wir-
kung.
Hauptmotsren: Denuoch, tauscheu wir uns nicht: auch bei realster
Macht **" Einschatzung der Prozentsatze und Wirkungsgrade ver-
kiindet jede Anderung des psychologischen Klimas, vor
allem aber die Abkiihlung der heute wirkenden leiden-
schaftlichen Triebkrafte, eine so ernstliche Umlagerung
294
des nmteriellen Wesens, dafi wir die gestellte Frage, ob
der Weltgang mit der Seelene volution zu vereinen sei,
gewissenhafc zu priifen haben. Wir diirfen die Priifung
beschranken auf die Einschatzung der beiden Haupt-
motoren: das Streben nach Besitz und das Streben nach
Macht, die uns im materiellen Leben vorzugsweise als
Warenhunger und als Ehrgeiz entgegentreten. Die
negativen Fakroren des Mangels und der Not diirfen Not und Mangel
ausgeschaltet werden, denn sie bedeuten Zeitfragen. * "^ "^J^^^"*
Die restlose Beseirigung aller wirklichen Not wiirde den
Kulturstaaten weit weniger kosten als ihre Rxistungen.
Zwei Milliard en, weniger als der dritte Teil der diFent-
lichen Budgets, in Deutschland jahrlich aufgebracht und
richtig verwendet, wiirden die letzte Spur von Not aus
dem Lande treiben. Die Unfahigkeit und Indolenz des
legislatorischen Geistes in den Kulturlandern ist verant-
wortlich fur die Blutschuld und Schande unserer
Epoche, die gesiihnt sein wird, bevor dieses Jahrhundert
sich neigt. Die Zeitlichkeit und relativ leichte Abstell-
barkeit der materiellen Not beweist, das sei in Pa-
renthese bemerkt, den akzidentellen und transzendenz-
losen Standpunkt jeder Anschauung, welche materielle
Lebensbesserungen in den Mittelpunkt ihrer Gedanken
stellt.
Denken wir uns nun zunachst alien dringenden 5«//». Ent^
Mangel beseitigt, sodann den allgemeinen Warenhunger ^l^*Jlchaft
so weit gestillt, als es bei den wahrhaft Gebildeten der
Kulturstaaten schon beute der Fall ist: insofern sie
grossenteils ein einfaches, ja diirftiges Leben frei-
willig fiihren, ein diirfrigeres aber zu fiihren be-
reit waren, wenn durch eine gemeinsame grofie Be-
wegung der Menschheit ein entscheidender Dienst ge-*
z^S
leistet werden kdnnte. Die ersteFolge ware, dafi einhochst
bedeutender Teil der materiellen Weltarbeit, der heute
vergeudet wird, seies erspart,seiesfurechte Verbesserung
und Verschdnerung der Lebensverhaltnisse verfiigbar
wiirde. Denn wenn man annimmt, dass fur die Herstellung
von Giften, von Mitteln zurBerauschung, Betaubung und
Reizung der Sinne, fiir Modetand und uberfliissige De-
koration, fur fiktiven Gebrauch, irrige Reprasentation
und Neiderregung ein gutes Drittel der menschlichen
Arbeit in Form von Bodenprodukten, Chemikalien, Mine-
ralien, Textilstoffen, Keramiken, Leder-, Papier-, Stein-
und Metallarbeiten aufgewendet wird; dafi die Mittel
und Einrichtungen zur Herstellung, zum Transport, zum
Grofi- und Kleinhandel und zur Applikation dieser Uber-
fliissigkeiten und Scheufilichkeiten nochmals die Halfre
dieses Betrages verschlingen; so darf man sagen, dafi
die halbe Arbeit der zivilisierten Welt der Erzeugung
von Unrat dient und dafi die Halfte ihres Einkommens
aufgewendet wird, um ihn zu bezahlen. Die Okonomie-
lehre des XVIII. Jahrhunderts wiirde dem entgegen-
halten, der Luxus bringe Geld unter die Leute, wenn
er aufhdrte, miifiten sie hungern. Dieser Einwand
ist heute nicht mehr zu erwarten, denn jeder Kenner
wirtschaftlicher Dinge weifi, dafi, sofern RohstofFe und
Betriebsmittel ausreichen, keine Hand dauernd zu feiern
braucht, gleichvlel welche konsumierbaren Warenkate-
gorien erzeugt werden.
Nun kdnnte die zweite Form des Hungers nach Be-
sitz zur Erhaltung des Weltgetriebes unentbehrlich
scheinen: die Begierde nach Vorrat, nach Wirtschafts-
mitteln, nach Kapital. Da sie in ihren Wirkungen mit
dem Streben nach Macht zusammenfallt, kdnnen wir sie
296
in die Betrachtung dieses bedeutungsvoUen Motors ein-
ordnen.
Man sagt, dafi der Wille nach Macht die Welt vor- Macbt
warts treibe. Schwiege er, so entbehrten wir der Fuh-
rung und Initiative, des wirkenden und organisierenden
Gedankens; die Welt miifite ermiiden, veralten, ver-
dummen, ja verhungern. Und wirklich sehen wir,
wie die Krafte des Kampfes und Wettkampfes die
Massen vereinigen und durch Organisation beleben,
wie sie die Mittel und Werkzeuge versammeln und in
ihrer Wirkung steigern, das Neue ersinnen und ergreifen,
das Alte und Uberlebte vernichten, Gleichstrebendes
im Biindnis mitreifien oder niederwerfen, Hilfskrafte
der Natur erschliefien, unbekannteFernen durchforschen;
wir sehen den gewaltigen Apparat der lebenden und
toten Maschinerie so durchgeistigt, dafi er mit seinen
sensibelsten Nerven dem leisen Impuls des fiihrenden
Willens gehorcht, wahrend die zyklopischen Glieder
den Erdball umspannen und Erz um seine Fianken
Schmieden.
Was auf Erden kame an damonischer Gewalt dem Ehrgeh.
Willen zur Macht, dem Ehrgeiz gleich, wenn wirklich er
dies Unerhorte vollfiihrt hat! Aber wir blicken ihm ins
Herz und finden, dalb er sich eitel briistet. Er ist nicht
schopferisch. Uralte Rache und Rankiine getretenen
Sklaventums hat ihn emporgetrieben. Nicht mehr ge-
horchen mussen, nicht mehr verachtet werden, nicht
mehr beiseite stehen, nicht mehr ausgeschlossen
sein, ist seine angsterfuUte Leidenschaft. Endlich
einmal selbst herrschen und angebetet werden, die
Menschheit erniedrigen um sich zu erhohen, alles
besitzen, um nach Willkiir zu verteilen und selbst die
297
Grofimut zur Fratzenkomodie zu machen ist sein Traum.
Er wird sich wegwerfen und beschmutzen, um zu er-
reichen; im Triumph glaubt er die Schande zu ersticken.
Sklavenblut im Desporengewand ; sein Wesen ist Furchr,
Gier, List und Zweck.
Sachiicbkeit Ehrgeiz hat in dieser Welt nie anderes gewirkt als
schlaue Frakriken, kleine Mittel und mittlere Zufalls-
erfolge. Seine Aufgabe ist, die schopferischen Naturen
zu afFen, ihnen als Werkzeug und Zubringer zu dienen
und in ihrem Schatten zu verzweifeln. Nahern wir uns
aber den wahrhaft Grofien, den Schopfern der Gedanken
und Werke, so erkennen wir Menschen, die der Sache
dienen. Ist ihre Sache Ordnen und Herrschen, so wer-
den sie ihr getreu sein, nicht anders, als wenn ihre
Sache Leisten und Gehorchen ware. Schein, Neben-
wirkung und Lohn bedeutet ihnen nichts; auf Besitz,
Macht und Leben verzichten sie, wenn ihrer Sache ge-
dient ist. Diese Liebe zur Sache ist transzendent, denn
sie ist zweckfrei und intuitiv; intuitiv, phantastisch und
divinatorisch sind auch die Geisteskrafte, die sie ent-
fesselt.
Vnantvjortung Solcher Art waren und sind die Menschen, die den
weltlichen Dingen ihre Formen gegeben haben. Die
Leidenschaft, die sie bewegt, ist die gleiche, die den
Kunstler, den Forscher, den Handwerker und Bauer be-
seelt; sie heifit Schaffensfreude. Ein weiteres Hoch-
gefiihl des tatigen Menschen mufi sich m ihnen zur
herrschenden Empfindung steigern, jenes Bewufttsein,
durch den Willen geisriger, ja gottlicher Krafte zu
einem Wirken berufen zu sein, das den ganzen Menschen
hinnimmt, das den rastlosen Kampf gegen die eigene
Unvollkommenheit verlangt, das nicht ohne weiteres
298
iibertragbar ist und daher die Wurde einer persdnlichen
Last und Notwendlgkeit verlelht. Dieses BewuC)tsein
bezeichnen wir mit dem Namen der Verantwortung,
der besagt, dafi vom Geiste vor Gott und Menschen
Rechenschaft gefordert wird; dieser Name ist schoner
und verstandlicher als der des Gottesgnadentums, dessen
Klang entschiedener von Rechten als von Pflichten die
Vorstellung wachruft.
Schaffensfreude und Verantwortung werden noch Neue Kr^e
lange die menschliche Betriebsgemeinschaft erhalten und
ftihren, wenn der Motor des Ehrgeizes langst erkaltet,
seine arme Mannschaft langst zu den Vatern versammelt
ist, und die Krafte werden urn so reicher und reiner
wirken, je weniger sie von Lohn, Uppigkeit und aufierer
Ehre versucht, bedrangt und beschamt werden.
Nicht um den Mechanismus der Erde zu retten,
sondern um zu zeigen, daI5 dieses an sich nicht gute
und nicht bdse We sen der Evolution der Seele willig
folgt, mufiten wir die Uberschatzung der intellektualen
Hauptmotoren, des Willens zum Besitz und des Willens
zur Macht, brechen. Wichtiger ist, dal5 wir die Keime
der neuen Krafte, die allenthalben schlummern, ans
Licht heben.
Wir alle wissen, dafi schon heute, in dieser Zeit des Erb/assen ^n- Be-
Begehrens, die erleuchtetsten und geistigsten Geister den ^^^ ^^" ^
Lebensweg wahlen, der sie am weitesten vom Besitz
hinwegfuhrt. Wir wissen, dafi es das vornehmste Merk-
mal der Staatentiichtigkeit ist, wenn die Trager hoher
Verantwortung mafiig, ja diirftig zu leben bereit sind.
Wir wissen, dai5 alle Besitzseligkeit, Genu^sucht und
Verschwendung die Sache mifiratener Sohne, zufalliger
oder diebischer Emporkommlinge ist, dafi schopferische
^99
Menschen von ihrer Lebensfiihrung unabhaiigig sind.
Wir wissen, dafi die Reichsten unserer Zeit im Besitz
eine Verantwortung zu sehen beginnen, dafi sie mehr
und mehr es wiirdig finden, sich dieser Biirde bei Leb-
zeiten zu entledigen, anstatt sie der Willkur des Erb-
ganges zu iiberantworten. Es gehdrt wenig Voraussicht
dazu, zu erkennen, dafi die Zeit naht, die, sofern sie die
Institution des Privateigentums beibehalt, das Erbrecht
aufs engste beschrankt und den liberwiegenden Teil des
personlichen Einkommens der Gemeinschaft zufuhrt.
Anderseits wissen wir, dafi der Stachel des Begehrens
zum Spiel, zum Schwindel und zur Prostitution treibt;
nicht zu guter Arbeit. Die denkbar schlechteste Arbeit
ist es, die aus Not oder blofi um des Lohns willen ge-
leistet wird. Wenn es noch irgendwo ein paar gut-
genahte Stiefel gibt, so stammen sie von einem Schuster,
der an seinem Handwerk Freude hat.
Erbiassen der Und was den Willen zur Macht betriiFt, so sehen
actsymoe^^^^ schon seit langem, dal5 ein Volk, je krattiger und
unversklavter es ist, in den Tragern der Macht und
Verantwortung das Bild seines kraftigsten Selbst, nicht
mehr Gotter, Despoten und Heilige verehrt. So treten
denn wiederum die Beauftragten der Macht ihren Volks-
briidern treuherzig, vertrauensvoll, nicht gonnerhaft,
ilberlegen und gnadig entgegen; ein tiichtiger preufii-
scher General, ein guter deutscher Fiirst und amerika-
nischer President lechzt nicht nach Strammstehen,
Posaunenstofi, Kniefall und Apotheose, sondern kiimmert
sich um sein Geschaft und seine Verantwortung, ent-
schlossen, unter Menschen zu wirken, nicht iiber Sklaven
zu herrschen. Wir sehen ohne innere Bewegung Advo-
katen an Ministeitischen. Minister an Redaktionstischen
300
Platz nehmen; ein Monarch aufier Diensten ist uns keine
traglsche Figur; wir erblinden nicht vor dem Glanze
des verherrlichten Mardochai in des Konigs Gewandern,
und frohlocken nicht uber den Sturz Hamans, des ab-
gedankten Prasidenten. Auch hier ist die Zeit nicht mehr
fern, die sich der Willkiir des personlichen Befehls und
Dienstes schamt und mit der Anordnung und Befolgung
dienstlicher und geschaftlicher Auftrage sich begniigt.
Freilich sehen wir leider gerade in Deutschland die
freundlichen Symptome abnehmender Machtverblendung
und zunehmender Mann haft igkeit zu Zeiten verdunkelt.
Es ist bisweilen, als miifiten kurz vor dem Hahnenschrei
der Dammerung die Nachtgeister der Sklaverei und
Streberei, des Lippendienstes und Schranzentums ihren
letzten Galgenreigen tanzen. Wenden wir getrost den
Blick zum germanischen Umland von Nord bis Sildwest
und bekennen: ein dstliches Erbteil hat uns die klag-
liche Doppelgabe des Bruderneides und der Herren-
fiircht beschert; ein Jahrhundert freier Arbeit und Ver-
antwortung wird den UbelstofF verfliichtigen.
So sehen wir denn bei kiihler, ja geschaftsmafiiger
Betrachtung den Boden auch des materiellen Lebens
fiir das Kommende bereitet. Doch wollen wir die
handgreifliche Priifung unserer Gedanken auf sachliche
und zeitliche Realitat nicht beenden, bevor wir versucht
haben, das Schattenbild des Seelenreiches auf der un-
ebenen Flache der wehlichen Verbal tnisse aufzufangen.
Wie kann, so lautet die Frage, ein im Seelenhaften
wesentlich vorgeschrittener Zustand im praktisch- Welt- Seele und
lichen vorgestellt werden? Auch hier ist es nicht die
Aufgabe, an menschliche Wandlungsfahigkeit irreale
Anspriiche zu stellen und willkiirliche physische Vor-
301
aussetzungen zu fordern. Wohl aber darf daran erinnert
werden, dafi noch jederzeit die Natur, um die grofien
Grundgedanken ihres Planes zu erfiillen, in der Schaf-
fung ihrer Werkzeuge alle Kiihnheit menschlicher Phan-
tastik iibertrofFen hat. Augustus hatte den pythischen
Gott von seinem Felsen gestiirzt, wenn er es wagte, als
Trost dem sterbenden Weltreich die nahende Wahrheit
zu verkiinden: die Wilden als Herren des Erdkreises;
ein judaischer Glaube als Heil der Welt; eine Wissen-
schaft, die den Blitz in Banden schlagt;' ein hundert-
faltig vermehrtes Geschlecht, das Feuer und Wasser
zu Sklavenarbeit knechtet und in den Liiften den Erd-
ball umkreist; und diese Wandiung in kiirzerer Zeit voll-
endet, als seit der Begriindung des Nilreichs verflossen.
EiMsicbt und Es gibt keine Form des auiSeren Lebens und keine
ungen ^^^^^ j^^ Wisseus, welchc der Souveranitat der Seele
unentbehrlich ware, und keine, die sie gefahrden konnte.
Deshalb ist die. Erorterung von Staats- und Verfassungs-
formen, von Macht- und Besitzverteilung, von Ent-
deckungen und Erfindungen fiir unsere Betrachtung
nicht wichtig. Sicherlich wird die Entwicklung der
Seele jede Institution und jede Erkenntnis durchdringen
und umgestalten; aber es ist der tiefste Irrtum poli-
tischer Meinung, dafi Einrichtungen dem Stande der
Menschheit vorauseilen oder ihn bestimmen kdnnen.
Einsicht und Einrichtungen gleichengekuppeltenZahn-
radern, von denen nur das eine dem aufieren AngrifF
gehorcht, die Einsicht: ihrer leisesten Verschiebung folgt
in gesteigerter Drehung das Rad der Dinge. Im Gei-
stigen ist der kiihnste Schritt erlaubt und moglich, im
Pragmatischen verwirklicht sich nur das, was als Gedanke
langst zur Trivialitat ge word en ist. Eine verfriihte Ein-
302
richtung, selbst wenn sie erzwungen werden konnte,
mufi zerbrechen, wie ein verfeinertes Spielzeug in
kindlichen Handen. Wagt es dagegen Willkiir oder
Tragheit, die Einrichtungen der Welt entgegen dem
Vorschritt der Einsicht gewaltsam zuriickzuhalten, so
steht elementare Selbstbefreiung der gefesselten Krafte
bevor. Die tobenden Revolution en der Volker sind in
der Einsamkeit des Denkens geboren.
Deshalb hat praktischer Sozialismus seine Bedeutung Sozia/itmiu
nur als Korrektiv, nicht als Weltanschauung; ein mecha-
nischer Auf bau von mathematischer Gerechtigkeit ware
nichts niitz, wenn er nicht von gerechter Menschlich-
keit getragen ware. Eine kiinftige Aufgabe soil sein,
die Einzelziele aufzuweisen, nach welchen unter der
Richtkraft der Seele die Entwicklung menschlicher Ein-
richtung nlnstrebt; hier soil der Nachweis einer Verein-
barkeit der Seele mit menschlicher Notdurft geniigen
Am wenigsten wird daher an dieser Stelle die wissen-
schaftlich-technische Evolution uns bekiimmern; selbst
wenn es ihr gelange, uns mit den Bewohnern anderer
Planeten zu verbinden, so wiirden wir nur nach dem
Seelenstande dieser Weltbriiderschaften fragen.
Gemeinhin diirfen wir annehmen, dafi die Dichtlg- See/e und Mecba
keit der irdischen Besiedelung ihre Grenze noch lange '*'^^*''^
nicht erreicht hat, sowie ferner, dafi> die zivilisatorischen
und materiellen Bediirfnisse der mittleren und zuriick-
gebliebenen Volker in schnellem Wachstum begrifFen
sind. Hieraus folgt, dal5 eine gewaltige Zunahme jener
Weltbewegung, die ich Mechanisierung genannt habe,
uns bevorsteht. Aufschliefiung der entlegensten mine
ralischen Vorkommen, Besiedelung jedes bewohnbaren
Striches, Bewasserung der verdorrten drei Vierteile des
I
303
gesamten Festlandes, Verarbeitung der unermeilUchen
Giiter dieser Erschliefiung, Organisation, Verteilung und
Transport der Arbeitskrafte, Energiequellen und Massen:
diese materiellen Aufgaben, im Vergleich zu denen die
bisherigen Werke der Mechanisierung ein Vorspiel sind,
werden die nachsten Geschlechter beschafrigen. Neue
Bevolkerungszentren von unbekannter Ausdehnung, ver-
tausendfachte Wege und Mittel des Verkehrs, verfeinerte
und gesteigerte Arbeitsmethoden, wachsende Konzen-
trationen der Betriebe und Aufwendungen, kurz, ein
ungeheures Schwellen des produzierenden Weltorganis-
mus nach auJBen und nach innen folgt aus diesen Be-
dingungen.
Es ist leicht, hieraus zu schlieiSen, dafi die intellek-
tuale, seelenlose Geistigkeit der Mechanisierung, die ich
in der Kritik der Zeit blofigelegt habe, ihren Zenith
noch lange nicht erreicht hat. Diese Folgerung beriihrt
uns nicht, denn wir wissen, dafi nicht zu gleicher Zeit
an alien Orten die Gegenkrafte der Mechanisierung er-
wachen. Noch lange werden am Kongo oder in Pata-
gonien Freuden und Leiden nach Art unserer Grofi-
stadtgreuel bliihen, wenn in England und Deutschland
langst ein veredeltes, ernst und froh geheiligtes Leben
diese Verirrungen als seltene Krankheitserscheinungen
und Perversionen zu erkennen und zu behandeln ge-
lernt hat.
Uns beriihrt nur die wachsende Komplikation und
Schwierigkeit des aufieren Lebens, die erhohte Anfor-
derung, die es an Verantwortung und Geisteskraft des
Einzelnen stellt, der Ernst der materiellen Aufgabe.
Dafi die inneren motorischen Krafte ausreichen werden,
um den Tageswerken gerecht zu werden, haben wir ge-
304
sehen, desgleichen, dafi das Hinsterben der Begehrlich-
keit dem objektiven und subjektiven Arbeitszwang mil-
dernd entgegenwirkt. Unter diesen Bedlngungen nimmt Zweite Na/w
die Arbeit eine neue Form an, deren Anfange wir schon
heute erkennen. Nicht dafi sie zum blofien athletischen
Spiel abslnkt, das stundenweis mit kiinstlich angefachter
Leiden schaftlichkeit geiibt wird; vielmehr tritt das grofie,
aller Veredelung zugrunde liegende Gesetz der wieder-
geborenen Natur in besonderer Erscheinung zutage: was
urspriinglich aus Gier und Furcht geschah, geschieht aus
innerlichem Bewufitsein. Arbeit wird nicht Selbstzweck,
aber Menschenpflicht; Lohn und Strafe, Gewinn und
Gefahr verblassen, die Aufgabe besteht.
Da nun die Aufgabe Sache der Gemeinschaft ist, so Soiidaritat
folgt die Soiidaritat des Werkes und der Ziele. Nicht
eine gesetzliche Zwangsanstalt, die den Starken und Be-
gabten zwingt, die Friichte seines Lebens widerwillig
auszuliefern, damit Schwache und Unbefahigte Mufie
finden, ihn dutch Majoritat zu beherrschen; nicht ein
falscher Altruismus, der paarweise den Gesunden fiir
den Kranken opfert; sondern das freie Bewulit-
sein, dafi es unedel ist, zu schwelgen, feige, aufzu-
speichern, gewalttatig, zu sequestrieren; dait> materielles
Gliick nur im SchaiFen und in der Verantwortung ge-
geben ist, dafi Arbeit Menschenrecht und Menschen-
dienst bedeutet, ist der Sinn unseres weltlichen Standes.
Bei echten Herrschern und Fiihrern finden sich in Aus-
spriichen und Taten schon zu unseren Zeiten Zeugnisse
dieser Gesinnung, von der man sagen kann, dafi sie
Menschen zu Konigen und Konige zu Menschen macht.
Auf die materiellste Kategorie des aulieren Lebens, den
Besitz, angewandt, begegnen uns ihre ersten Anfange
305
nicht blofi bei Stiftern und Donatoren, sondern in all^H'
Volksgemeinschafren, welche begreifen, dafi die Staats-
wirtschaft liber der Einzelwlrtschaft steht, und daCy
Giiter, die nur im Zusammenwirken gemeinschaftlicher
Krafte erworben werden konnten, niemals unbeschranktes
Eigentum des Einzelnen werden.
Sittengefiibi und Unubcrsehbar zahlreich sind die Mdglichkeiten, einem
eques rterung ^.^j^ bildenden ethisch-rechtlichen Bewuli^tsein mit den
mechanischen Mitteln der Gesetzgebung Folge und Aus-
druck zu geben; dieses Be wuC>tsein selbst aber schreitet vor
in dem Sinne, dafi das Unrecht, das wir heute naiver-
weise nur im ungesetzmafiigen Besitzwechsel erblicken,
ausgedehnt sein wird auf jede Art von iibertriebener
oder uberfliissiger Aneignung und Sequestration. Weder
eine Verstaatlichung der Arbeitsmittel noch eine andere
Art kommunistischer Gesetzgebung ist erforderlich, um
der wachsenden Empfindung zu ihrem Recht zu ver-
helfen, dafi jeder, wer es auch sei, sich versiindigt,
wdin er fiir sich und seine Nachkommen von den
materiellen Giitern der Welt mehr an sich zieht und
verwendet, als zu einer majSigen Lebensfuhrung erfor-
dert wird. Die Schmach, die heute dem Wucher und
der Ausbeutung anhaftet, wird sich auf unmafiigen Be-
sitz und Verbrauch erstrecken und somit die sklavenhaft
gemeine Schatzung, die heute vielfach personlichem
Reichtum zuteil wird, zum Rechte umkehren. Es wird
in spateren Arbeiten auszufiihren und nachzuweisen sein,
daiS diese Auffassung weder die Aufldsung unserer
Wirtschaftsformen, noch ihre Unterordnung unter ein
Massenregime verlangt; sie vertragt sich mit hoherVer-
antwortung und weitem Verfugungsbereich der zur
Fiihrung Berufenen, die im Vertrauen und in der Ver-
306
antwortung den Lohn ihrer Arbeit finden. Der Tendenz
kommender Besltzanschauung wird durch die mecha-
nistischen Mafinahmen unseres Besteuerungswesens aufs
wirksamste vorgearbeitet: wir sind geschult, den Zehnten
als Recht der Gemeinschaft darzubringen; schon nach
wenlgen Generationen wird, wenn keine sonstlge Ande-
ning des Wirtschaftswesens erfolgt, das Verhalrnis sich
umkehren und billig erachtet werden, wenn in Besitz-
lagen, die ein mafiiges Verbrauchsbediirfnis ubersteigen,
vom Erwerb, Vermogen und Erbe der Zehnte dem Be-
sitzer verbleibt.
Aus dem Bewufitsein menschlicher Wiirde und aus SUtengefnhi und
der Empfindung menschlicher Solidaritat entsteht die
weitere Scharfung des Gewissens im Hinblick auf per-
sdnliche Dienstleistung. Auch hier ebnet, dem denken-
den Erkennen zuvoreilend und unbewufit, mechanistische
Entwicklung mit ihren rohen Mitteln des Nutzens und
Schadens den Weg, den geistige Entwicklung mit Be-
wufitsein vollenden soil. Denken wir um vier, fiinf
Generationen zuruck, so sehen wir unsere Heimat be-
herrscht von hunderten kleiner, grofierer und souveraner
Territorialherren; in weitem, demiitigem Abstand ein
sparliches Burgertum in bescheidenen Stadten, im Suden
und Westen ein leidlicher Bauernstand. Tief unter
den Fiifien dieser zwar bedriickten, doch existenz-
bewufiten Schicht bewegte sich die Volksmasse der Leib-
eigenen, Knechte, Magde, Vagabunden, jene anonyme
Menge, Erbin der Unfreiheit, von der die Geschichte
ier Jahrhunderte schweigt, als ware sie nie geboren,
and deren Schicksal nur aus den Erlebnissen ihrer
Herren sich uns erschliefit. Demiitig und gehorsam
fien sie sich ziichten, beherrschen und verkaufen.
307
Entbldfiten Hauptes standen sie am Wege, wenn die
Herrschaft vorbeifuhr, kiifiten ihr den Rocksaum, wenn
sie zu halten geruhte. Geschlagen wurden sie als Land-
leute, als Soldaten, als Knechte und Diener; ihre Ant-
wort war Ersterben in Untertanigkeir. Von landes-
fremden Herrschaftsgasten wurden sie als ungefiige
Kanaille verspottet, als kaufliches Soldatenmaterial
waren sie im Ausland begehrt. Von ihrer Armut und
geisrigen Verlassenheit, die nicht, wie man vielfach an-
nimmt, wesentlich auf den dreifiigjahrigen Krieg zuriick-
zufiihren ist, macht man sich aus den Reise- und Lebens-
geschichten des XVIII. Jahrhunderts einen BegrifF.
Untertanigheit Bedenkt man, dafi die Mehrheit unserer tatigsten
ntat ' Bevolkerung aus Nachkommen dieses unbekannten
Standes besteht, so blickt man leichter hinweg iiber die
Mischung von Servilismus und Respektlosigkeit, der
man in unserem Lande allzuhaufig begegnet, und erfreuc
sich an dem fast unbegreif lichen Zuwachs an Mannhaftig-
keit, Selbstbewufitsein, Kenntnis und Ansicht, gleichviel
ob Hausherren oder Feudalherren unersetzliche Verluste
an Dienstwilligkeit und Gehorsam beklagen. Freilich ist
das Verhaltnis von unterwiirfiger Treue und verant-
wortungsloser Leistung zu herrschaftlicher Fiirsorge und
absoluter Autoritat, das man gern als das patriarchallsche
bezeichnet, im Grunde vernichtet und nur noch stellen-
weise durch bewuiSte oder unbewufite Irrefiihrung auf-
recht zu erhalten; denn wie einerseits eine verant-
wortungslose Tatigkeit und Leistung nicht mehr denkbar
ist, so kann anderseits eine andere schutzende Fiirsorge
und Gegenleistung als die der wohlgesinnten Arbeit-
geberschaft, besten Falls verbunden mit etwas unzulassiger
Protektion nicht mehr gewahrt werden.
308
IJns beriihrc bierbei das vorerst nicht ethisch, son-
dern mechanisch bewirkte rascbe Absterben personlicher
Untertanigkeit und Dienstbarkeit, das in den Vereinigten
Staaten und teilweise in England zu volliger Umwand-
lung des Dienstverhaltnisses in ein Arbeits- und Be-
amtenverhaltnis gefiihrt hat. Erniedrigende Vorhaltungen
und willkiirliche Freiheitsbeschrankungen, wiirdelose An-
reden und Unrerwiirfigkeitsfloskeln, Bezeigung vermeint-
licher Ehren durch Korperhaltung und Gliederverren-
kungen sind, um von Symptomen zu sprechen, in diesen
Landern alterer Emanzipation schon heute so unmdglich,
wie sie bei uns in funfzig Jahrensein werden; dieReste
alter Unterscheidungszeichen, bunte Dienerkleider und
andere Zeremonialien, werden von der Mechanisierung
mit derjenigen Strafe belegt, mit der sie das ihr Mifi-
liebige beseitigt: mit Steuer und Teuerung.
Es ist nicht hier unsere Aufgabe, die mannigfachen
Anwendungen zu verfolgen, die sich fiir die Gebiete
des sozialen und politischen Lebens ergeben, wenn die
Auf hebung unfreiwilliger Dienstbarkeit und Untertanig-
keit von Mensch zu Mensch, die heute mit materiellen
Mitteln von der Mechanisierung betrieben wird, Sache
der Uberzeugung und des ethischen Empfindens gewor-
den ist. Ich habe in friiheren Schriften gezeigt, daI5
schon die Mechanisierung, indem sie aus Arbeitern Be-
amte, aus Handlern Organisatoren, aus Unternehmern
Staatsleute zu machen strebt, bedeutende Umwalzungen
der labil gewordenen ofFentlichen und politischen Ver-
haltnisse vorbereitet. Das noch nicht Geschehene als
vollendet zu setzen und abermals neue Anschauungen
auf einen prasumtiven Zustand wirken zu lassen, wurde
Unklarheiten ergeben und fast herausfordernd erscheinen.
309
Es geniige daher hier der wiederholte Hinweis auf die
Vereinbarkeit der Seelenevolution mit jedem vernunf-
tlgen ofFentlichen Wesen, und die Aufzelgung haupt-
sachlicher Tendenzen, welche allesamt in der Richtung
auf eine Vermenschlichung dieses Wesens wirken mussen.
Sittengeftihi und Dafi cs den seelenlosen Kraften der Mechanisierung
tejung |3g5j,j^jgjgj^ jg^.^ kunftiger tieferer Entwicklung Vorarbeit
2u leisten, beweist, dafi unsere gegenwartigen Lebens-
einrichtungen schon vom Stande des Intellektualismus,
geschweige von seelenhafterem Stande, iiberholt sind.
Gerade in mechanistisch weit vorgeschrittenen Landern
bieten sich der eindringlicheren Betrachtung Keime, die
jenseits des mechanisierten Zeitalters aufzugehen be-
stimmt sind. Wenn auch der ersteBlickauf zunehmende
Plutokratisierung trifFt, so wissen wir, dafi diese zuerst
mit ihrem ganzen Bollwerk von Erblichkeit und selbst-
tatigem Anwachsen des personlichen Reichtums durch
innere Krafte gebrochen werden wird. Aber im Scharten
und Schutz der plutokratischen Gewaltsamkeit bemerken
wir die deurliche Tendenz, gemeinschaftliche Lebens-
erleichterungen, Annehmlichkeiten und Freuden durch
niitzliche, selbst grolbartige Einrichtungen zu fdrdern,
und dagegen abgesonderten, vorbehaltenen und aus-
schlielMichen Zuschnitt des Luxus zu erschweren und
durch Teuerung zu verponen. In diesem Sinne ist,
neben anderem, die wohlberechtigte Wertsteigerung
hochster Kunstwerke zu begriiiien, die dahin fuhren
mufi, dafi allmahlich diese Kostbarkeiten dem Gemein-
schaftsbesitz zufallen; ein Zeitalrer hdheren Solidaritats-
gefiihls wird liber unsere Indolenz erstaunen, die auf
Grund eines ungebrochenen und verbohrten Eigentum-
begriiFs jedem Monopolisten gestattet, ein Rembrandt-
310
sches Werk, ein Beethovensches Manuskript oder eine
Naturschonheit dauernd der OiFentlichke'it zu entziehen,
zu miiShandeln oder zu vernichten. In dem Mafie, wie
mit wachsender Solidaritat die Tendenz des gemein-
schaftlichen Besitzens, Beschauens und Erlebens fort-
schreitet, wird abermals der begehrlichen Elgenlust ein
Stachel genommen und das edlere Bediirfnis nach ein-
samer Betrachtung an die Vereinigung mit der Natur
verwiesen, die auch bei zehnfach bevolkertem Erdball
jedem ihrer Kinder stille Zuflucht schenken wird.
Der wachsenden Solidaritat der Einzelnen entspricht SUtengefuhi und
es, dafi auch die Solidaritat der Geschlechterreihen sich ^-^^^^
ankiindige. In der Unerbittlichkeit einer dreifachen
Erbfolge liegt das Trennungs moment, das die Stamm-
reihen gegeneinander isoliert; die dreifache Erblichkeit
des Besitzes, des Standesvorrechts und der Bildung, die
von gesunden und gerechten Naturen schon heute als
ein bitteres Unrecht an den Enterbten empfunden wird,
mul5 mit der Entfaltung des Seelischen schwinden. Denn
die Seele, die jedem, wer er auch sei und woher er
stamme, geschenkt wird, wirkt in ihrer Freihfeit der Vor-
herbestimmung entgegen; selbst die natiirliche Erblich-
keit des Physischen kann den neuen Krafren nicht wi-
derstehen, die jedem Menschenbilde eigenes Recht und
eigene Bestimmung gewahren. Lafit sich erblicher Be-
sitz mit menschlicher Tragheit der Gewohnung, erb-
liches Standesrecht mit dem Verdienst der Vorfahren
kiimmerlich entschuldigen, so lafit sich mit keinem
Worte, selbst im Zeitalrer der Mechanisierung nicht,
erblicher Anspruch und erblicher AusschlulS recht-
fertigen, wenn es sich um die Giiter derErziehung und
Bildung handelt. Bedenkt man, wie geringer Opfer der
311
Gesellschaft es bediirfte, um jedem jungen Geist, der
fahig und gewillt isr, sie zu empfangen, die einzige
wahre Wohltat zu gewahren, iiber die ein glaubens-
schwaches und idealloses Zeitalter noch verfiigt, die
Wohltat der Bildung, so lernt man den tiefen GroU
begreifen, der die Unterschichten der Kulturlander als
eine zu evviger Sklaverei verdammte Menge verschreit.
Sittengefiihi und Es blcibt ein letztes Hauptmoment kiinftig aufieren
^^l^jf Lebens zu erwahnen, dessen Vorbereitung wir gleich-
falls den blinden Kraften der Mechanisierung ver-
danken : die Vergeistigung der Arbeit. Die uranfangliche
komplexive Arbeit des Menschen, die nahezu alle Be-
rufe in einer Hand vereinigte und vom natiirlichen StofF
bis zum gebrauchsfertlgen Werk alle HandgrifFe und Pro-
zesse zu einem grolLen und langwierigen SchafFenskreis
verwob, war leiblich und geistig zugleich, derin sie forderte
Kraft und Geschicklichkeit, Erfahrung und Denken. Die
Arbeitsteilung der Mechanisierung zerrrifi das Werk wie
den Prozefi; den wachsenden geistigen Anspriichen der
Erfindung, Organisation und Uberwachung stellte sie die
geistlose Zw^ngsarbeit des unterteiiten HandgrifFs gegen-
iiber. Es war die Kindheit der Maschine, die ihren Be-
ruf noch nicht gelernt hatte, imd der zur Seite, in ent-
wiirdigender Gemeinschaft des Hundekarrens, der
Mensch sich einspannen liefi. Die Maschine erwuchs,
ihr Arbeitsgenosse wurde zum Pfleger und Aufseher,
und die Mechanisierungspraxis selbst, freilich nicht aus
Menschlichkeit, sondern aus dkonomischem Instinkt, be-
trachtet heute den Betrieb als unvoUkommen, der geist-
lose Arbeit fordert. Den Ausfall an Muskelleistung
mu6 die zweite Natur der freiwilligen Kdrperiibung
bekampfen; Jugendausbildung und reichliche Mufiezeit
31a
sind bestimmr, dem Geiste Spannkrafc und Verantwor-
tungsfahigkeit zu ervverben und zu erhalten. In dieser
Richtung sehen wir die Wirtschafrstendenzen in mecha-
nistisch vorgeschritrenen Landern sich bewegen; eine
Riickkehr zum patriarchalischen und sklavischen Ver-
halrnis iindet nirgends state; eine spatere Periode aber ^v
wird die Forderung wachsender Vergeistigung und Ver-
antwortung dcr Arbeit zum sittlichen Prinzip erheben
und lieber auf Arbeitsgiiter verzichten, als sie aus den
Handen menschlicher Maschinen empfangen.
Umfassen wir kritisch die Ziige aulieren Lebens, ttberwin-
die als vereinbar mit seelenhafter Entvvickelung sich uns chanisierun<^
ergeben haben, so diirfen wir zunachst uns versichern,
dali5 keine Voraussetzung neu geschaffen werden mulite,
dai5 alle Bedingungen im realen Leben unserer Zeit
wurzeln, dafi ungestorte Stetigkeit der Entwicklung er-
halten bleibt. Behalt man imAuge, dal^ weltumfassende
Umgestaltungen nur in langsamster Bewegung den Erd-
ball umkreisen, dafi selbst am gleichen Ort das Uber-
lebte noch lange sich erhalt, wenn das Neubelebte sich
langst eingebiirgert hat, ein Bild, das in der Verdrangung
der Vegetationen, der Volker, der Kulturen und Sprachen
uns gelaufig ist, so diirfen wir behaupten, es sei zur
Einleitung des neuen Zustandes nichts anderes erforder-
lich, als dafi diejenigen Leberisrechte Eigentum einer
Mehrheit werden, die ein ungetauschter, nicht auf Be-
sitz und Macht gerichteter Blick als wahrhafte, wenn
auch heute vereinzelte, der fortgeschrittensten Minder-
heit vorbehaltene Giirer erkennt. Gerade aus dieser
scheinbaren Nuchternheit und Uberraschungslosigkeit der
Voraussetzungen erwachst uns die Bekraftigung, dafi die
physisch unbezwingbare Mechanisierung der Welt iiber-
313
wunden werden kann und iiberwunden werden wird
ja, dai5 die Krafre dieser Uberwindung sich im eigenen
Schofie der Mechanisierung bilden. In der voUkommenen
Konsequenz der Mechanisierung, die dem heutigen in-
tellektualen Stande der Welt restlos entspricht und
in selbsterregender Steigerung mit ihm wetteifert,
liegt es begriindet, dafi diese Gegenkrafte nicht poli-
tische, nicht soziale, nicht wirtschaftliche, mit einem
Worti nicht mechanischer Art sein konnen. Selbst das
Emporkommen eines theoretisch voUendeten sozialen
Staatswesens, die Fiskalisierung der Produktionsmittel
und die Kontingentierung der Arbeitsgiiter wiirde nicht
die Mechanisierung brechen, sondern alienfalls in ihrem
Schatten eine im Sinne der Kultur unerhebliche Neu-
regelung von Besitz und Macht bewirken, und nicht
einmal fur ihren Bestand Gewahr leisten. Nur eine
innere Wiedergeburt, eine Umgestaltung des mensch-
lichen Wollens, freilich eine solche, deren Wurzeln dem
Boden der Mechanisierung entsprossen sind, vermag den
Zauberkreis zu sprengen, indem sie die tiefgegriindeten
Krafte der Furcht und Begierde lockert. Nicht Ein-
richtungen, Gesetze und Menschen schaiFen das neue
Leben, sondern Gesinnungen; den Gesinnungen des
neuen Lebens aber folgen widerst^ndslos Einrichtungen,
Gesetze und Menschen.
Realismus der Auch insofern mag die geschilderte Form des aufieren
Evoludon^^ Lebens erittauschen, als sie nichts Paradiesisches und Utopi-
sches hat. Sie verspricht keine neuen leiblichen Geniisse,
sie entbindet nicht von angestrengter Arbeit, ja, sie er-
hoht die Anspannung, indem sie Vergeistigung fordert,
und lohnt mit Verantwortung. Sie verlangt den Ver-
zicht auf die Sorglosigkeit und Eitelkeit des Unverdienten,
314
des Uberflusses und der Absperrung, auf die tagUche
Unterhaltung der Modenarrheit und der Modesensation,
auf Herrschaftsgeliiste, Menschendienst, Verherrlichung
und Neidfreude. Sie dient nicht einmal dem her-
gebrachten Ideal eines Altruismus, der paarweise den
Starken fiir den Schwachen, den Guten fiir den Bosen,
den Gesunden fiir den Kranken opfert, sondern sie
fordert Solidaritat der Gemeinschaft : einer fiir alle; alk
fiir einen. Nicht die Solidaritat entstellter Staats-
gesinnung, welche ewige Unterwerfung verdammter
Schichten fordert, damit die andern unter falschen
Seufzern unverzagt herrschen diirfen, sondern die Soli-
daritat der Empfindung, des Willens, der Arbeit, der
Geschafte, der Sorge und der Leiden. Was sie gewahrt,
ist Arbeit und MuJ&e, Menschenwiirde, Menschlichkeit
und Freiheit im tatigen Leben, Raum fiir die Menschen-
seele in Zeit und Ewigkeit.
Wie sollte ein Geschopf, befangen in Begierden und
Eitelkeiren des Besitzes, der Macht, der Wiirden, Moden
und Vergniigungen nicht lacheln iiber die Armseligkeit
dieser Verkiindung? Und dennoch werden diese Dinge
eine Realitat gewinnen, starker als Geschaft und Genufi,
Politik und Steuern. Denn die Macht ist nicht bei den
Vielen, sondern bei den Starken; die Starken aber sind
die, welche suchen, und die Machtigen die, welche
traumen. Aus dem Traum wird der Gedanke, aus dem
Gedanken die Erkenntnis; diese aber bedarf kaum mehr
der Tat, denn fiir die Menschheit ist, wie fiir die Gott-
heit, Erkennen und Vollenden eines.
Die Kriterien der Stimmung und des Lebensgefiihls Zusammen-
sind uns dutch voraufgegangene ethische Betrachtung^-g^^^^^^gg^
erschlossen; nun handelt es sich datum, das Bild durch
h.
315
einige Ztige zu ©rganzen, die den Zusammenhang mit
heutigen Zustanden und die Wechselwirkung mit kiinf-
tigen Lebensformen noch klarer erkennen lassen.
Erkenntnis Schon in aller Kiirze diirfen wir erwarten, dafi die
^Quliimm ^^2Lgliche Unsicherheit und Unwissenheit unserer Epoche
hinsichrlich der Erkennrnis und Bewertung menschlicher
Qualitaten und Charaktere einer Einsicht weicht, die
griindlicher sein wird als unser heutiges Wissen etwa
von physiologischen oder pathologischen Dingen. Wir
stol^en den uberfiihrten Schwindler aus der Gesellschaft
• aus und betrachten die Liige als eine gelegentliche Un»
vermeidlichkeit. Wir bewundern den herzlosen, hab-
gierigen und unzuverlassigen Rechner als bedeutenden
Realpolitiker, sofern er Erfolg hat und sich nicht fassen
\i&x,. Wir erklaren den neidischen, feigen und impo-
tenten Tadler und Sarkasten als geistvoUen Kopf, wenn
er Spursinn und Gedachtnis zeigt. Wir glauben, dafi
ein neugieriger und eitler Gesellschaftsmensch geistvoll
und tief sein kann. Wir halten Streberei und Weg-
werfung ftir berechtlgte Eigentiimlichkeiten; wir finden
es selbstverstandlich, daii jemand im Verkehr mit
Hoheren, Gleichen und Niederen als dreifach verschie-
dener Alensch aufrritt. Wir wissen nicht, ob wir Mut
oder Schlauheit, oder beide verehren soUen. Wr spre-
chen von neuen Idealen, indem wir die des Intellekts
und der praktischen Energie meinen. Wir halten den fiir
kiinstlerisch begabt, der ohne Phantasie, Empfindung
und Lebenskraft die Fahigkeit der Beobachtung, Nach-
ahmung und technischen Form besitzt. Wir stellen den
Menschen der Geduld neben den Menschen der Phan-
tasie, den Menschen des Intellekts neben den Menschen
der Intuition. Wir halten eine erf olgreiche Konstruktion
316
oder Erfindung fur eine Geistestat nach Art einer Dich-
tung oder eines grofien Gedankens. Wir verstehen,
dafi ein Mensch sich das Leben nimmt, weil er Geld
verloren hat. Wir wiinschen uns Gesundheit, verachten
denArmen, und halten den, der Einsamkeit ertragt, fiir
ein en Sonderling. Wir geben vor, die Furcht zu ver-
achten, und wissen nicht, dal5 Neugier, Liige, Eitelkeit,
Geschwatzigkeit, Schlauheit, Habgier, Sarkasmus,Zweifel-
sucht mit ihridentisch sind; Mut, Wahrheitsliebe, Treue,
Selbstlosigkeit, Phantasie lassen wir als harmlose, wenn
auch nicht nutzliche Tugenden gelten.
Die Zeit ist sehr nahe, welche die typischen Zu-
sammenhange der menschlichen Eigenschaften erkennen,
und mit scharfen Indizien aus dem einzelnen Symptom auf
den Komplex des Menschen schliefien lehrt. Bedenkt man,
welche ungeheuren Arbeitsmengen heute aufgewendet
werden, um Krankheiten zu bekampfen, um korperliche
Unvollkommenheiten zu beseitigen oder zu verdecken,
die deshalb gefiirchtet werden, weil sie bemerkbar sind,
so mag man ermessen, welch rastlose Arbeit der Schu-
lung und Selbsterziehung erfordert werden wird, sobald
die Scharfe des Blickes fiir innere Eigenschaften, die
heute wenigen Hunderten als Kassandragabe beschieden
ist, Gemeingut geworden ist. Kaum wagen diese
wenigen, deren Augen sehend wurden, — sehend nicht
allein fiir den Zusammenhang des geistigen Komplexes
in sich, sondern leider zugleich fiir den Zusammenhang
des Geistigen mit koiperlicher AuiSenform, — ihre be-
denklichen Erfahrungen auszutauschen. Dennoch wird
die Welt diese Dinge erlernen und mit der gleichen
Sicherheit handhaben, mit der sie etwa heute die primiti-
veren Unterscheidungszeichen der typischen Hauptrassen
317
wahrnimmt; denn vor der Entwicklung der Menschheit
bestehen keine konventionellen Geheimnisse.
Die Genesis erzahlt von der Erkenntnis und der
folgenden Verhiillung des Menschen; wem es schwer
fiillt, aus der invariabel gewordenen Bestandigkeit un-
seres Geisteszustandes hiniiberzudenken zu einer be-
ginnenden unaufhaltsamen Wandlung, der hake sich
umgekehrt den neuen Erkenntnisstand, verbunden mit
einer unverhiillbaren Nackrheit des Geistes vor Augen.
Dhge und Herrschaft der Dinge, Bandigung der Sachen; dieser
Wahlspruch umschreibt den Betrachtungskreis einer
reiferen Menschlichkeit. Wie mit dem Hunger nach
Gegenstanden, mit der Begierde^ nach Herstellbarem,
Kauflichem, Schatzbarem, mit dem Wechselspiel des
Neuheitskitzels und der Abstumpfung alsbaldPrunksucht
und Neidlust, Nachahmungswut, Modenarrheit, Gier
und Entbehrungsangst dahinsinken, so wird mit der Liebe
zu Menschen und Dingen Wesentlichkelt aufsteigen. In
einem seltsamen Konflikt befinden sich heute einzelne
unserer Dichter, die, von grofistadtischen Wirkungen be-
wegt, Kompromissen und Maskeraden ehrlich abgeneigt,
den Stier bei den Hornern zu packen glauben, wenn sie
die Mechanisierung besingen, mit scheinbar gleichem
naiven Recht, mit dem Homer seine Kampfe, Vergil seinen
Landbau besang. Gewifi, wir betreten Hotels, Bahnhdfe,
Kasernen, wir fahren mit motorischen Werkzeugen und
leben zwischenMaschinen ; warum es verschvveigen? Aber
diese Dinge sind nicht fiir unsere Zeit wesentlich, ge-
sch weige fiir eine kommende, so wenig wie fiir Shakespeares
Zeit die Halskrause und fiir Goerhes Zeit der Haarbeutel.
Dasbeginnende XVIII. Jahrhundert bedichtete Papageien
und Chinoiserien, Lockenperiicken und Tabatieren; das
518
sind kulturhistorische Kuriosa. Ein FlugschifFlied von 1 9 1 o
wird unseren Enkeln soviel bedeuten wie uns ein Dampf-
schifflied von 1830, aber ein Lied von Busch und Tal
bleibt jung. Gewifi ist die Nachtigall ein mill)b ranch ter
Vogel, aber der Mifistand liegt nicht im Veralten des
Natiirlichen, sondern in der Stagnation unseres Lebens-
gefuhls. Fiir neues Lebensgefiihl bieten neue Einrich-
tungen keinen Ersatz. Das junge Lebensgefuhl aber
wird damit beginnen, dai5 es sich von den Sachen be-
freit. Dem Grubenpferd hilft man nicht, indem man
mit ihm seine eigenartige Lage diskutiert, sondern indem
man es zur Weide und zum Licht hinanffiihrt, solan ge
es Zeit ist.
Gegen Ende des abgelaufenen Jahrhunderts klagte Intei-essen und
man viel iiber das Absterben der Ideale, in der stillen
HofFnung, es mochte wieder eine Zeit kommen, in der
sich Ideale und Interessen versohnen lieli5en. Vielleicht
dachte man an die Professoren und Phraseologen der
Paulskirche, die es leicht hatten, Idealisten zu sein, in-
dem sie die Interessen ihrer Mandatare nicht kannten
oder nicht verstanden. Interessen und Ideale lassen sich
nicht vereinigen; es sei denn, dafi man in niederer
Deutung unter Idealen Gemeinschaftsinteressen versteht.
Sollen die Ideale zur Herrschaft kommen, so miissen die
Interessen geradenwegs vernichtet werden; nicht weniger
als dieses schwere Werk wird von der Entwicklung der
Seele verlangt. Bismarck hat die Pairs von England als
Gesetzgeber gepriesen, denn sie seien saturierte Existen-
zen, somit teilnehmende, aber uninteressierte Naturen.
Die selbstlose Teilnahme, die heute das Vorrecht der
echten Kiinstler und Denker bildet, diese edle Kraft, die
den, der sie tragt, als eine Saule im Gevvimmel der Be-
319
gehrlichkeit aufragen lafit, wird Gemeinbesitz des Volkei
sein, das sich geniigen lafit.
DieStim- Herrlich ist es, zu wissen, dafi das geringe Ab-
schrittenerer ^"^ ^^^ triibsten Begierde, das keinem wahrhaft geistigen
Zeit Menschen unserer Zeit ein ernstliches Opfer bedeutet,
dafi dieses Abtun geniigt, um die Menschheit aus dem
irren Kreislauf der Mechanisierung zu reifien und ihr
freien Weg zu schafFen. Ein mannliches SelbstbewuJ&t-
sein, gleich entfernt von brutaler Herrensucht und
affischer Eitelkeit, ein kdnigliches Vertrauen zur eigenen
Kraft und zur Weisheit der Machte wIrd diesen Weg
geleiten, der nicht zu Wirtschaftssachen, sondern zu
transzendenten Giitern fuhrt. Der materielle Beruf
bleibt ernst, denn die Verantwortung schiitzt ihn vor
spielerischer Verflachung, aber er verliert seine Endgiiltig-
keit; die dumpfe Beherrschung jeder Lebensstuhde, die
leidenschaftliche Angst, die Versklavung des Geistes, die
Feindseligkeit des Kampfes, die Verblendung des Auges
wird ihm genommen. Der Mensch richtet sich auf und
blickt wieder zu den Gestirnen empor, er wird zum
Freund des Menschen, der Dinge und der Machte.
So gleicht die innerste Stimmung der beseelteren
Epoche einer franziskanischen Heiterkeit, einer Heiter-
keit vol! Ernst, Betrachtung und Liebe. Der Intellekt
ist nicht mehr Zepter und Stachel, sondern Werkzeug;
gestahlt und geschliiFen dutch vergeistigte Arbeit, Ver-
antwortung und gesteigerte Aufgaben. Nun sind die
inneren Menschheitskrafte so befreit, gesammelt und
gerichtet, der transzendente Gedanke so sehr zum
realsten, hinreiI5endsten Ereignis erstarkt, dalS der
hochste irdische Aufstieg nicht mehr gehemmt werden
kann.
320
Sind diese Dinge Phantasmen? Hat die Welt nicht Vbrbilder der
Wunderbareres unerstaunt erlebt? Wir brauchen nicht
Goethes und Kants Naturen mit denen des Menschen
vom Neandertal oder des lebenden Buschmanns zu ver-
gleichen; es geniigt, im eigenen Lande den Leibeigenen
des vorletzten Jahrhunderts an seinem Urenkel, sei er
Dichter oder Staatsmann, zu messen.
Das Schaffensphanomen des Genies bleibt unbegreif-
llch, aber sein SchafFensergebnis wird von der Zeit ein-
geholt; hinsichtlich seines inneren Besitzes ist das Genie
nur ein verfriihter Vorlaufer. Der Zeitpunkt des Ein-
holens bricht an in dem Augenblick, wo das erste Ver-
standnis beginnt; wir fangen an, Goethe zu begreifen,
und somit werden wir dereinst Erben seines geistigen
Besitzstandes sein, wenn auch niemals der Gotterkrafte,
die vorauseilend diesen Besitzstand schufen.
Was ist aber anderes zum Emporkommen jenes ge-
schilderten Zustandes erforderlich, als dafi wir be-
ginnen, Christus zu verstehen? Freilich nicht historisch,
kulturell und pragmatisch, sondern durch Einfiihlung in
sein geistiges Leben, durch seelisches Ergreifen seiner
Natur. Nichts ist in dieser Schilderung gesagt, was sich
nicht aus seinen Gedanken entnehmen liefie, und nichts
ist gefordert, was nicht in den geistigeren Menschen
unserer und friiherer Zeiten keimend sich findet. Des-
halb durfen wir glauben, dafi die Vereinbarkeit der be-
seelten Gemelnschaft mit den praktischen Voraus-
setzungen unserer Menschlichkeit dargetan sei.
Freilich arbeitet der vorauseilenden Kraft des Genies Stetigkeitund
die Stetigkeit der Natur entgegen. Sie will nicht ver- ^S^^^^S
friihte Ernten gefahrdet sehen, deshalb halt sie gewal-
tige Reserven unverbrauchter Saat zuriick, die sie erst
Ji»
dann belebt, wenn die friihe Frucht langst gesichea
scheint. Dem Techniker verglelchbar, der Zeichnungel
und Modelle eigensinnig aufbewahrt, wenn auch d|
Konstruktion geandert und liberholt sein mag, erhalt dfl
Natur abseits vom Wege das Langstvergangene JaliJl
tausende lang. Den Urmenschen finden wir, den Hirte
Abrahams, den Krieger Homers, wenn wir uns weit"
genug von der taglichen StrajSe, nach der provinziellen
Vergessenheit alter Kontinente bin, entfernen. Ur-
altestes ist eingestampft, der tertiare Mensch kehrt nicht
wieder, aber mindestens durch ein gutes Dutzend Jahr-
tausende reicht das konservierende Arsenal und Museum
der Natur.
Bei dieser Treue der Erhaltung diirfen wir nicht Qt»M
warten, dafi jene kiinftige Evolution des Lebens im Nu "
den Erdball umkreise. Vermutlich werden in den ger-
manischen und halbgermanischen Landern zuerst sich
die Zentren der Entwicklung bilden — wer heute mit
holsteinischen oder alemannischen Bauern spricht, mochte
meinen, solches Zentrum schon vor Augen zu haben —
und es wird gute Geduld erfordern, bis die altmodische
Provinz der Welt, etwa Siidamerika und Afrika, um ein
weniges nahegeriickt ist.
Riickblickder An diese Zuriickgebliebenen ihrer Zeit werden un-
ommen en ^^^^ Nachkommen sich erinnert fuhlen, wenn sie aus
alten Berichten unsere Lebenslage und Denkweise er-
mitteln. Die Halfte unserer Lebensarbeit fiir Tand ver-
ausgabt, Volkerschaften durch freiwillige Vergiftung ver-
nichtet, Milliard en fur durchsichtige Kiesel, bunte Me-
talle, Vogelfedern und glanzende Lappen geopfert,
Haushaltungen zerriittet, um durch torichtes Gehaben
und liberfliissige Cerate Neid zu ernten. Ersatz natiir-
312
licher Freuden durch Larm und Verrenkung in stinken-
den Lichtsalen, durch ofFentliches Essen unter lugen-
haften Zeremonlen, durch Rutschbahnen, Karusselle und
ostentative Reisen, Stadte angeftillt mit scheufilichem,
nutzlosem Modekram; Fronarbelt und Verzweiflungs-
kampf der Manner, um den Anteil an der Gutermenge
zu vergroi^ern, um Unterwiirfigkeit zu erzwingen, um
den Kindern Faulenzerei zu ermoglichen, um sich an
Hochstehenden zu reiben, um die Namen mit Zusaizen,
die Kleider mit Abzeichen zu schmiicken; Feindschaft
und Mifitrauen gegen den Unbekannten, Herablassung
gegen den Erfolglosen, Demut vor dem Machtigen, un-
ersattllche Neugier bei gefiihlloser Abstumpfung, Furcht
vor sich selbst, miihsam gestillt durch Geschwatz und
Zerstreuung, Leben der Angst, der Gier, des Schuftens
und der Streberei, und daneben ein so klaglicher Geiz
der Gemeinschaft, daI5 sie lieber zu ihren Fiifien Tau-
sende verkommen sieht, start von ihrem Kinderkram
den Zehnten zu opfern und das El end abzutun: soUte
dieses Bild unseren Nachkommen aus alten Urkunden
entgegentreten, so werden sie uns nicht hassen und nicht
verachten, schon um der Sorgen und Schmerzen wiilen,
die wir erlitren, und um der grofien geistigen und
mechanischen Dinge wiilen, die wir geleistet haben.
Aber sie werden fin den, dafi in unserer Stimmung und
Welt ein negerhaftes Element herrschte, dessen wir
noch nicht gewahr werden; sie werden uns nicht mit
dem wesensverwandten Blick betrachten, den wir auf
Griechen und Germanen richten, sondern sie werden
uns ansehen wie etwa heute der Brite den Malaien:
verstehend und iiberschauend..
Nachdem wir in pragmatischer Stetigkeit das Kom-
3^3
mende aus dem Gegenwartigen sich entwickeln sahen,
blelbt uber den Sinn des geschichtlich Vergangenen ein
beschliefiendes Wort zu sagen.
Historische Der freudige Menschheitsstolz, mit dem wir die Ge-
im Lichte schichte des Geistes auf Erden begleiten, beschwich-
praktischer tigt nicht ein traglsches Gefiihl in Ansehung des irdi-
Biutversdnven- ^^^^^ Blutcs. Vdlker auf Volker sehen wir liber die
dung Kontinente rollen, edelste Geschlechter, erzogen und
aufgespart in Einsamkeit und barter Zucht, brechen
hervor, iiberrennen bltihende Landereien und verweich-
lichte Bewohner, werden zu Herren, herrschen mit Kraft,
Harte, Gerechtigkeit und Frommheit, lassen den tiefsten
Segen des Landes und Blutes als Geistesernte empor-
steigen, erringen der Welt unermefiliche, unvergefilicbe
Kulturen, und miissen alsbald vergeben, aufgesogen von
der zahen, besiegbaren, aber nicht ausrottbaren Unter-
schicht, die sie ernahrt und zerstdrt, begrabt und ver-
zehrt, wie der Humusboden die Pflanze. Dieses Gesetz
wirkt unerbittlich, denn was die Eroberer zu Herren
machte, was die Wenigen befahigte, die Vielen zu ban-
digen, war Furchtlosigkeit, Abhartung und reinerer Geist ;
und diese Vorziige in langwierigerMufie zubewahren, das
edlere BJut gegen Vermischung zu schiitzen, gibt es kein
Mittel. Ein arithmetisches Gesetz tritt hinzu und be-
schleunigt die Wirkung. Meist wird die Unterschicht sich
schneller vermehren, denn sie kennt keine Verantwortung
fiir die Nachkommenschaft. Doch selbst wenn sie nur in
gleicher Vermehrung vorschreitet, mul^ sie in Kiirze
den Vorsprung des Zahlenverhaltnisses gewinnen: denn
der Adel erwirbt nicht; er bewahrt den Grundbesitz,
den er sich iiberreich zuteilte und der dennoch im
Laufe der Generationen fiir die jiingeren Sohne nicht
324
hinreicht. So werden sie Kolonen, Berufskrieger, Geist-
llche, Hagestolze oder Deklassierte, und der Rest der
Versorgten geniigt nicht, das Kommando iiber die Massen
zu sichern, das schon bei giinstigerem Zahlenverhaltnis
bedroht war.
So hat die Erde ihre edelsten Volkersaaten yer- Charaktetfd
schwendet, und wir stehen vor der erschreckenden
Frage : ist es wirklich das Ziel zehntausendjahrigen Auf-
wands, aus aller Farbigkeit und Eigenart menschlicher
Stamme eine graue marastische Mischung zu brauen?
Schon sehen wir unter dem Prefidruck der Mechanisie-
rung alle bunten Sonderheiten niederschmelzen,Trachten,
Gerate und Bauten, Verkehrsmittel und Form en, Speisen
und Unterhaltungen, Organisationen und Gewerbe,
selbst Kunstformen gleichen sich aus und werden uni-
versell, und es verzweifelt das gutgemeinte Bestreben,
entwurzelte Wesen durch Uberredung am Leben zu
erhalten. Widerstand leisten noch die Sprachen als ein-
deutige Auspragungen leiblich-geistiger Physiognomien,
obglelch auch sie die Neigung zeigen, zu grofien Ein-
heitskomplexen zu verschmelzen; den widerlichen
UbergriiFen mechanistischer Zudringlichkeit wird es
fiirs erste nicht gelingen, diese ehrwiirdigen Patrimonien
anzutasten.
Bestarkt wird die Sorge vor dem Charaktertod der
Menschheit durch die Erkenntnis, dafi jene jungfraulich
starken Erobererstamme auf unserer allzu genau durch-
forschten Erde nicht mehr gefunden werden, es sei
denn, dafi> man die Gesamtheit der Hellfarbigen den
Dunkelfarbigen entgegenstellt: aber diese letzte mdg-
liche Mischung wird in spatesten Zeiten anderen, durch
klimatische Faktoren bestimmten Gesetzen folgen, sofern
325
iiberhaupt die dunkle Bevolkerung innerhalb der Ge-
samtvermehrung einen zahlenmaC)ig beachtbaren Stand
behaupten kann.
Wertver- Es tritt ein weiteres schwerwiegendes Moment aus
' ' ^ * ^ dem Wesen der Mechanisierung hinzu. Der alte Wett-
kampf der Menschen und V^lker beruhte auf Korper-
kraft und Mut. Alle Bewertung menschlicher Eigen-
schaften, alle epische Verherrlichung bezog sich auf
diese Karegorien; der tatsachllche Inhalt des abendlan-
dischen Sittenempfindens setzt sie bis heute als oberstes
ethisches Prinzip. Eine anhaltende Selektion der Kraft
und Gesinnung, die noch immer in edlen Stammen und
Geschlechtern nachwirkt, war das schone Erbteil dieses
Selektion des weltlichen Glaubens. Die Mechanisierung brach an und
erhob den Erfolg an die Stelle des Sieges. Nicht mehr
wurden Naturkrafte und Menschen mit der Faust be-
kampft, sondern mit Gedanken iiberlistet. Zwischen
Begierde und Lohn schalteten die Gotter an Stelle des
Schweifies das Gewebe der Plane, Riistungen, Hilfs-
mittel, Vorkehrungen, Intrigen. Der Kluge iiberwand
den Starken, der Geduldige den Gewalttatigen, der Er-
fahrene den Selbstbewufiten; Schlauheit, Zahigkeit,
Fleifi, Geschicklichkeit, die Tugenden der Schwache,
wurden Ziichtungsziele der Selektion des Erfolges.
Jede Durchschnitts versammlung selbstgeschafFenerMacht-
haber fiihrt uns dies Bild vor Augen: wir begegnen den
wohlbekannten Ziigen sklavischer Geliiste und Ver-
schlagenheiten bei den Herren, und find en oft genug
das Zeugnis edleren Blutes in den schweigenden Ziigen
derer, die sie bedienen. Wie nun, wenn die fortschrei-
tende Mechanisierung die letzten Reste alter Adligkeit
vernichtet oder in Knechtschaft schliigt, und dafiir aus
3a<5
den unrersten Tiefen die Kreaturen erblicher Schwache
zur Herrschafc der Welt emportragt?
So steht der mechanistischen Unifizierung scheinbar
keine ethniscbe Gegenkraft im Wege, und es drohr die
Gefahr, dafi die Menschheitsentwicklung auf diesem
Planeten durch Ungunst derBlutsverhaltnisse aufgehalten,
ja vernichtet werde.
Ein Gefiihl fiir dasSinnvolle und der Natur Wurdige G<?^^»Ar4//*
sagt uns, dafi so kleinliche Folgerungen unwahr sind;
und in der Tat ist es leicht, den Trugschlui5 verstandes-
mafiig aufzulosen.
Niemals konnen, wie wir gesehen haben, absolute Fra- UnbestMntiigkeh
gen der Geistesentwicklung durch Rassenbetrachtung ge-
klart werden; denn im letzten Sinne bildet der Geist die
Rasse. Fiir das jeweils vorliegende ZeitdifFerential ist die
Betrachtung wertvoll und wichtig; fiir die Ausdeutung der
Gesamtfunktion mufi sie zu falschen Ergebnissen ftihren.
Im vorliegenden Fall haben wir uns zu vergegenwartigen,
dafi vor wenigen Jahrmyriaden die edelsten Menschen-
rassen so wenig bestanden als die unedelsten. Sie haben
sieh somit, gleichviel unter welchen Verhaltnissen, ge-
bildet, und zwar aus primitiverem Material, als wir es
irgend kennen» Unter unseren Augen bildet sich auch
heute, in den Vereinigten Staaten, eine kraftige Rasse,
und zwar ausschlieil)lich aus dem Material samtlicher
europiiischer Unrerschichten. Rassen sind nicht Ewig-
keitsbegrifFe, sondern Zeitbildungen, es mdgen abermals
Jahrmyriaden erforderlich sein, um die dunkelsten
Stamme zu veredeln, aber es geniigen drei Generationen,
um einen Sprofiling der tiefstendeutsch-slawiscljenSchich-
ten auf die Hohe unseres bestenBlutes zu heben. Die inne-
ren Bedirigungen des Aufsriegs sind geistige; die fordern-
3^7
den physischen Elemente, Stahlung, Korperiibung, Beseiti-
gungverweichlichenderEinflusse,bildeneinenBe(lingungs-
komplex, den ich vor Zeiten Vernordlichung genannt habe.
Doch wir bediirfen nicht dieser breiten Verallgemei-
nerung. Haben wir uns bisher bemiiht, die Menschheits-
frage nicht blofi im Spiegel der Ewigkeit, sondern als
eine reale Aufgabe der Zeitlichkeit zu betrachten, so
diirfen wir vor Volkernamen und namhafter Eigenart
nicht erschrecken. Be vor wir jedoch die innere Auf-
losung der Mechanisierung an die geschichtliche Auf-
gabe bestimmter Lander und Volker kniipfen, sei es ge-
stattet, die selbsterzeugten rein intellektualen Gegen-
krafte der falschen Selektion, medizinisch ausgedriickt,
ihre geistigen Antitoxine, kurz zu erwahnen.
V Als erste Voraussetzung diene die keimende, der^
einst rasch wachsende Kenntnismenschlicher Qualitaten,
ihres Zusammenhangs und ihres physichen Ausdrucks,
die bisher schuldhaft vernachlassigte Kunde des Cha-
rakters, Naturells und Physikums, von der wir gespro-
chen haben. Das idiosynkratische Wiihlen in sexuellen
Zusammenhangen ist ein ebenso einseitiger Beginn die-
ser Wissenschaft, wie die Schadelmesserei und Rassen-
kalkulation von ehedem, beide sind als Vorlaufer zu be-
achten, als Erkenntnisquellen jedoch schon insofern
hochst unvoUkommen, als sie nur einen verschwindenden
Teil dessen zu deuten verstehen, was heute jeder intui-
tiv Begreifende mit hellen Augen zu sehen und mit
klaren Worten auszusprechen vermag.
Korrektion dej^ Bedenkt man nun, daJ& alle mechanistische Macht-
u^i^ stellung, und in noch hoherem Mafie jeder Weg, der
2u solcher Machtstellung fiihrt, im letzten Sinne auf
Vertrauen, auf nichts als Vertrauen beruht und beruhen
328
kann, so wird man die ungeheure Wirkung einer ver-
tieften und verbrelteten Menschenkenntnis ermessen
konnen. Der Regierende besteht durch das Vertrauen
seiner Vorgesetzten, seiner beigeordnetenKorperschaften,
Untergebenen und Untertanen, der Kaufmann durch
das Vertrauen seiner Kundschaft und Krediroren, der
Industrielle durch das Vertrauen seiner Geldgeber und
Akrionare, der Volksvertreter durch das Vertrauen seiner
Wahlerschaft. Vom Vertrauen unabhangig sind einzig
und allein der Monopolist, der Spieler, der Gunstling
und der Erbe, absterbende Kategorien, deren Unsittlich-
keit und Widersinn wir zu begreifen beginnen. Wenn
nun dem menschlichen Sinne die Blindheit genommen
ist, die heute der Mehrzahl verwehrt, den geborenen
Liigner, Schwachling, Windbeutel, Schmarotzer, Treu-
losen und Schurken auf den ersten Blick zu erkennen,
so werden ungezahlte Scharen, die heute in alien Lan-
dern der Zivilisation mit Geschicklichkeit und gierigem
Eifer die Friichte der Mechanisierung benagen, an
Stellen festgehalten werden, wo sie unter KontroUe
brauchbare Arbeit leisten und zu echterem Wesen er-
zogen werden, wahrend ungezahlte andere, die durch
Gewissen, Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit am Auf-
stiege gehemmt sind — nicht zu verwechseln freilich
mit Unfahigen, die sich selbstgefallig dieser Tugenden
bezichtigen — zur Verantwortung und Aufsicht gelangen.
DaC> hier der angeborenen Eigenschaften so wenig wie
friiher im Sinne einm: Unentrinnbarkeit und Pradesti-
nation, sondern vielmehr nur im Sinne eines liber win d-
baren Widerstandes gedacht ist, dessen Besiegung sich
gleichfalls im Physischen spiegelt, bedarf kaum mehr
der Erwalinung.
;29
Da nun in fast hoherem MaI5e als die Stumpfheit
der Massen die Begehrlichkeit gevvissenloser Wirtschafts-
fiilirer es ist, welche die Mechanisierung aufpeitscht, in-
dem sie unnotige Bediirfnisse schaiFt und verstarkt und
gleichzeitig das beneidete Vorbild materiell gesteigerten
Lohnes aufstellt, so wird durch den hier angedeuteten
Umschwung nicht nur die Selektion der Nichts-als-
Klugheit gebrochen, sondern auch der Mechanisierung
selbst ein Teil ihrer Triebkraft gestillt.
Entwertuitg dtt Eine zweite selbst erregte Gegenkraft gesellt sich
Inteiitkts binzu. Wie alle intellektualen Methoden bei gleich-
bleibenden Voraussetzungen, werden die verstandes-
maC)igen Praktiken der Mechanisierung uniform, erlern-
bar, Gemeingut. Vor sechzig Jahren schien in Deutsch-
land der simple Gedanke, eine englische Lokomotive
zu kaufen und nachzubauen, von so unfafibarer Kiihn-
heit, dafi jahrzehntelange Millionenernten ihm folgten.
Heute konnen nicht drei Monate vergehen, bis jede
deutsche oder amerikanische Neuerung in alien Liindern
eingefiihrt, durchgeprobt, nachgeahmt oder gariiberholt
ist; der BegriiF des internationalen technischen Aus-
gleiches ist ein Gemeinplatz. Die Methoden der Or-
ganisation, der Finanzierung, der Priifung, der Verhand-
lung, des Fabrikbaus, der Konzentration, der Syndizie-
rung, der Verkehrsgestaltung sind heute Eigentum einer
kleinenMinderzahl; sie waren Gemeingut, wenn es eine
Geschaftswissenschaft gabe, wenn nicht welcfremde
Dozenten mit den Mitteln harmloser Statistik diese
lebendigen Dinge zu beherrschen glaubten; wenn nicht
an den wirtschaftlichen Hochschulen Kunstgeschichte ge-
lehrt wiirde, wenn vielmehr unter den Fiihrern der
Wirtschafr und des staatlichen Lebens eine Anzahl
330
gebildeter Menschen sich fainde, die in Gedanken und
Worte fassen woUten, was ihnen selbstverstandliche
Praxis ist. Damit ist nicht gesagt, dafi alle pragmatische
Kunst erlernbar sei; auch sie fordert fur ihre letzten
Aufgaben Genialitaten und Talente; aber die Ver-
breitung ihrer Disziplinen soil und wird eines der
letzten Monopole des Wissens beseitigen und hiermit
den Wettbewerb des Intellekts auf eine neue Grund-
lage stellen.
Denn alsbald wird ordinare Klugheit im Werte
sinken und der Erfolg der Schlauheit zur selrenen Aus-
nahme werden. Wie in den galizischen und polnischen
Stadten eine zuriickgebliebene, aber intellektuell ge-
scharfte jiidische Bevolkerung wirtschaftlich erfolglos
bleibt, weil die Einzelnen wecliselweise einander ge-
wachsen sind und sich daher gegenseitig neutralisleren
und beschranken, so wird allmahlich iiberall der un-
produktive Verstand zu seiner eigentlichen Verwendung
kommen, die nicht in der Fiihrung, sondern in der
Leistung und im Dienst besteht. So wird abermals die
Fiihrung und Verantwortung freigegeben fiir den in-
tuitiven und schopferischen Geist und abermals das Be-
wertungszentrum menschlicher Eigenschaften und somit
das Prinzip der Selektion verschoben von der Seite un-
produktiver und selbstsiichtiger Klugheit in der Richtung
zu menschlicher Reife und Einsicht. Diesen Weg hat
die Praxis der Welt bereits beschrltten; vergleicht man
die Erfolgreichen aus der Friihzeit der Mechanisierung,
die franzosischen Finanzritter des Wahlspruchs Enrichis-
sez-vous, mit den Organisatoren der Vereinigren Staaten,
so liegt mehr als der empirische Fortschritt zweier
Generation en zwischen diesen beiden Etappen.
331
Be'wertungintui' Es lasscn sich die Ausfuhrungen dieser Satze dahin
zusammenfassen, dafi schon heute, ohne aufieres und
inneres Zutun, ohne Erkenntnis neuer Welt- und Glaubens-
richtung, ohne Einkehr und Ausblick, dem Regiment
der Klugheit und Schlauheit aus seinem eigenen Ge-
fiige selbsttatige Gegenkrafte ervvachsen, welche nicht
nur die Gefahr einseitig intellektualer Selektion hem-
men, sondern den mechanistischen Aufbau selbst im
Kern angreifen. Freilich werden wir, da die Welt
niemals in vdlligem Kreislauf zum Ausgang zuriick-
kehrt, auch hier nicht erwarten diirfen, dafi die alte
Selektion der Kraft und des Mutes wieder einsetze:
denn dieses war der Sinn der Mechanisierung, dafi sie
den Menschen iiber die begrenzte Kraft des Armes
hinaushob, und ihn lehrte, der unbegrenzten Kraft des
Geistes zu vertrauen. Wohl aber werden Qualitaten,
die dem Mute nicht allzufern stehen, Phantasie, Intui-
tion, Innerlichkeit, verbunden mit den tiefer stehenden
Qualitaten der Energie, der Geduld und Zahigkeit, in
den Mittelpunkt der Krafte treten, deren die Mechani-
sierung im Zenith und Abstieg bedarf und die berufen
sind, dereinst zur VoUendung der Seele den Weg zu
weisen.
Berufene Vd/kfr Indem wir uun kritisch diese Qualitaten liberbllcken,
werden wir zu unserer Frage nach den berufenen und
herantretenden Volkern zuriickgefuhrt. Im Laufe des
letzten Jahrtausends haben die Unterschichten der euro-
paischen Kulturvolker unter der drxickenden Herrschaft
ihrer Aristokratien trotz Not und Seuchen bedeutende
Schritte getan, um sich dem geistigen Ziel zu nahern.
Lassen wir unseren Blick nicht triiben durch das Bild
der Letztgekommenen und Jiingstemanzipierten: des
33^
groCstadtischen Pobels und seiner Emporkdmmlinge, be-
trachten wir den Bauern, Kleinbiirger und ansasslgen
Arbeiter, so trefFen wir, unentwickelt, zuruckgedammt,
von seelenhaftem Leben freilich wait genug entfernt,
und dennoch guten Wachstums fahig, die Krafte, deren
die kommende Zeit bedarf. Fast ausnahmslos tragen
die Wenigen, die seit funfhundert Jahren den Geist
Europas gelenkt und verkdrpert haben, an Haupt und
Gliedern die deutlichen Zeichen der Unterschicht, in
seltenen Fallen der Mischung. Das geistige Leben der
Nationen beruht auf dem gleichen Fundament, des-
gleichen, mit Ausnahme PreuI5ens und Osterreichs, die
Verwaltung. Die Reste reiner Oberschichten haben die
Schdnheit und den Adel der Gestalt, zum grofien Tell
auch die Reinheit der autoritaren und vas alien treuen
Gesinnung sich erhalten; ihr schdpferiscber Geist ertragt
nur dann den Vergleich, wenn das Verdienst biirger-
lichen Halbblutes ihnen zugcmessen wird. England, das
einzige Gebiet anscheinender Adelskultur, ist es nur dem
Namen nach, denn sein Adelstum ist langst nicht mehr
Sache der Urabstammung, sondem jungerer Titulatur.
Die alten Oberschichten besafien in hdherem M^ihe Die Mission
als ihre Beherrschten die mutentsprossene Kraft derg^,j^^,jj^gj^'
Gesinnung, und haben sich, von dieser Starke aus-
gehend, dem Wesen der Seele genahert. Doch nur
die Wenigen und Grofien sind diesen Weg bis zur
Pforte geschritten; Stolz und Sorglosigkeit hielt die
meisten zuriick. Dafiir ist nunmehr den Demxitigen und
Geknechteten ein Weg erschlossen, freilich ein rauherer,
der Weg der Entsagung und Heiligung, den wir geschil-
dert haben; sie werden nicht von der Intuition zur Seele,
sondern durch die Seele zur Intuition gelangen. Diesen
333
Weg werden und miissen sie schreiten; gottselig und willig,
von den Gestirnen emporgezogen, oder widerstrebend
und schmerzensvoU, vom Leid der mechanistischen
Not gietrieben. Fiir den Leidensweg aber sind die ent-
erbten Stamme und Schichten mittlerenBlutes die wahrhaft
Auserwahlten; vielleicht findet sich, bei tiefstem geisti-
gen Stande, zu diesem Zeitpunkt keine grofiere Seelen-
nahe der Massen als in den geknechteten Bauernschaften
Rufilands. Nur eine kurze Zeit wird vergehen, bis bei
uns die Erkenntnis reifr, dafi nicht politische und soziale
Rezepte, nicht Einrichtungen und Gesetze den Menschen
befreien und beseligen; ist erst dieser mechanische Aber-
glaube gebrochen, so werden aus den Tiefen unserer
Volker starkere Lebenskeime derSeele als jene dumpfen
Ahnungen des Nachbarstammes sich emporringen. Die
alte Welt ziichtete in Vdlkereinsamkeit den Mut, um
durch gewaltsamen Uberfall verwohnte Massen in Wal-
lung zu bringen; die Mechanisierung bedarf des phy-
sischen Mutes nicht mehr, um ihren Volkerkessel im
Sieden zu erhalren; sie bedarf nicht mehr des edelsten
Blutes, uiji das unedle zu wiirzen; denn unfreiwillig
und unbewufit unternimmt sie den ktihnen Versuch, aus
Blut schlechthin die Seele zu destillieren, und durch
ihre Wunderkraft riickwirkend jene alt en primaren
Tugenden nebenher zu erwecken. So erfiillt es sich:
die Letzten werden die Ersten sein; der Weg des freien
Mutes war zu kurz, der Weg der Intuition war zu eng,
der breite Weg des LeFdens und der Einkehr ist fiir
Alle geebnet, und die Erkenntnis weist ihn. Die Not
der seelenlosen Zeit, in der wir leben, ist noch nicht am
hochsten, und dennoch erblicken wir ihr Ende; es naht,
herbeigefiihrt durch jene Massen, die heute dieMechani-
334
sierung emportreiben, ihr fronen una ihr erliegen; es
naht, nichr durch das Opfer der Edlen, nicht durch die
Aufwalzung der Niederen, sondern durch die innerste
Wiedergeburt der Volker aus heiliger Not und von
Grunde aus.
Wider Willen und Wissen ist unsere Epoche im
Innersten demokratisch, indem jeder Schritt zur Frei-
heit unwlderruflich, jeder Riickschritt zur Gebunden-
heit unmdglich, und somit der Lauf zum Gleichheitspunkt
unaufhaltsam wird, weil die Zeit in ihren Traumen
fuhit, dafi sie der Volker bedarf und nicht mehr der
Schichtung. Nicht Volksherrschaft erstrebt sie, sondern
Volksfreiheit; und wenn auch dieser Weg durch Irrtum
und Siinde, Not und Gefahr fiihrt, wenn auch manches
Gut und Gliick der Kulturen zertreten werden mag, er
ist gesichert durch den Willen ewiger Machte.
Niemals werden die gro&enKulturphanomene, welche
die vergangenen Umschichmngen begleiteten, sich wie-
derholen; neue Uberlagerungen sind nicht zu befiirchten
und nicht zu erhoiFen, denn die den Boden der Erde
bedeckenden Zivilisationsschichten sind geistig und nu-
merisch so .stark geworden, dafi sie jede neue Eroberer-
schicht abzuschiitteln oder aufzusaugen vermogen. Der
vermessene, oft und frivol ausgesprochene Gedanke
einer slawischen Uberflutung wiirde, verwirklicht, nicht
die deutsche, sondern die slawische Kultur vernichten.
Noch irrealer als der slawische Schrecken ist der ost-
asiatische, denn hierin vereinigt sich das geistige Ge-
setz mit dem politischen, dafi Selbstnadigkeit und Herr-
schaft nur ideenbildenden Machten beschieden ist. Ihre
leitenden Gedanken aber wird die Welt so lange von
den Vdlkern englisch-germanisch-slawischer Schulung
335
empfangen, als diese die Kraft haben, ihr Erbe festzu-
halten.
Sinn der hi- So sehen wir die ehemaligen Unterschichten der
Entwicklung Kulturvolker, und, in ihrer Folge und Erziehung lang-
sam emporruckend, die unabsehbare Stufenreihe der
Stamme als Trager kultureller Verantwortung und kiinf-
tiger seelischer Entwicklung emporwachsen. Und nur
unter dieser Anschauung erscheint die Historie orga-
nisch und mit den Weltgesetzen in Harmonie. Paradox,
ja unertraglich ware der Gedanke, es hatte die Evolution
des Geistes auf unserem Planeten nur dahin fuhren
sollen, ein paar glanzende Volkererscheinungen zu zeiti-
gen und diese nach kurzem Dasein unwiederbringlich in
marastisch neutralen Massen aufzulosen. Nun erst wird
dieSchicksalsrolle dieser friihgeborenen, fruhvergangenen
Edelvolker in schoner Tragik lebendig; sie siegten,
herrschten und starben dutch die gleiche Tugend; sie
mufiten vergehen, um mit ihrem Geiste Geist zu wecken,
mit ihrem Blute Blut zu erldsen; sie sind die Vorlaufer,
die Propheten, die Genien unter den Vdlkern.
Wir haben aus dem wirren Gewebe des zeitlichen
Wesens die Faden gewonnen, die das Gegenwartige mit
dem Kiinfrigen verbinden, und somit ist die pragmati-
sche Aufgabe erfiillt. Nun durfen wir es wagen, mit
einem Blick die gewaltige Erscheinung der Mechanisie-
rung zu umfassen, um sie in unser Bild vom histori-
schen Welrgeschehen wurdigend einzureihen.
Sinn der Me- Aus dem Druck einer unablassig sich verdichtenden
Volksmenge erwachsen, folgte diese Bewegung der Not-
wendigkeit, auf beschrankter Oberflache und gegebener
physischer Grundlage den Abertausenden Raum, Nah-
rung, Arbeit und Genufi zu schaffen. Sie vermochte es
336
mechanisch, indem sie die Entfernungen liberwand, die
Naturkrafte in Dienst zwang, die Menschheit zu gigan-
lischer Arbeitsgemeinschaft organisierte, die Oberflache
der Erde umgestaltete, die naturllchen Substanzen in
ihre Elemente zerrifi und zu neuen Verbindungen ver-
elnte. Sie vermochte es gelstig, indem sie eine welt-
umspannende sysrematische Forschung schuf, indem sie
lehrte den Naturvorgangen mit Messung und Rech-
nung zu folgen, indem sie den Menschen mit unge-
heuren Mengen von Notlonen und Zusammenhangen
belastete, und ihn zwang, seine Arbeit zu vergeistigen,
zu spintisleren, zu spekulieren, zu politisieren und
zu diplomatisieren. Sie vermochte es ethisch, indem
sie zwischen Not und Uberflufi eine scheinbar freie
Wahl stellte, indem sie dutch nahgeriickte Bei-
spiele, dutch Strome neuer Geniisse, Surrogate und
Besitzgegenstande die Begehrlichkeit stachelte, dutch
wechselnde Mode die Aufmerksamkeit wachhielt, durch
den Taumel der Neuigkeiten, des Verkehrs und der
Vergniigungen den arbeitsmiiden Geist vetwirrte und
zu etneuter Fiigung in die Monotonie des selbst-
bezweckten Getriebes beschwichtigte. So wurde mensch-
liche Sklaverei der Maschine auferlegt; der Arm fiihlte
sich befreit, allein zu Lasten des Hirns; der Mensch
selbst wufde zum Hirn seiner Maschinen und unbarm-
herziger als zuvor gebunden. Von der Zweckhaftigkeit
geboren, treibt Mechanisierung den Menschen aus der
lebendigen Gegenwart in wesenlose Zukunft; ihten
Giitern; Anerkennung und Besitz, verleiht sie Zwangs-
kurs; wer diese Miinze ausschlagt, bleibt unbelohnc
und dennoch verpflichtet. Sie erscheint als eine un-
geheure, nie endende,Vorbereitung; Geschlechter werden
337
erzeugt, ernahrt, vermehrt und ins Grab geworfen, ohne
Aufschauen, ohne Ausblick, und die Bewegung schreitet
weiter, zu vergrofierten Zahlen, erhoiiten Dimensionen
und gesteigerten Kraften.
Diese Not ist mit keiner zu vergleichen, die frxiher
war. Denn sie ist nicht von den Elementen gesendet,
wie Kalte, Diirre, Flut und Sterbe, sie ist vom eigenen
Willen der Menschheit entfacht und hochgetrieben.
Sie qualt nicht mit Schmerzen und Tod, sondern mit
Sorge, Leere und Verzweiflung. Sie verlangt nicht
Kuhnheit, Kraft und Todesverachtung, sondern Zahig-
keit und Denken.
Und dennoch bedeutet diese Not, in aller ihrer
feindlichen Gegensatzlichkeit zum Naturhaften, nicht
eine freche Verirrung des Menschengeschlechtes, son-
dern die Fortsetzung des ewigen organischen Kampfes
mit neuen Mitteln. Begierde, Feindschaft und Erfindung
haben die organische Welt zur Stufe des Menschen
emporgedrangt; diese Krafte haben die Molluske zum
Wirbeitier, den Fisch zum Vogel gemacht. Auch in
diesen tieferen Wesen war Furcht und HoiFnung, und
somit Intellekt. Freilich nicht die bewufite, BegriiFe
bildende, abstrahierende und schliefiende Form dieser
Kraft, wie sie uns heute gewartig ist, sondern ihr
dumpferes Element, halbbewufit, wie uns die Seele, und
dennoch im Finden von Mittel. Ausweg, Abwehr und
Gewinn ertoigreicn.
Nichts ist geschehen, als dal5 die Kraft und Wirk-
samkeit des Intellekts zwar nicht verstandlich, doch be-
wufit geworden ist. Unermefilich sind die Erinnerungen,
Gleichnisse und Formein, die der Menschheit zur Ver-
fiigung stehen, unermiidlich ist das Pulsieren des Den-
3J8
kens auf diesem Planeten, und die Mechanisierung be-
deutet letztens nichts anderes als den Uberspannungs-
schmerz dieser Kraft, die als Universalwerkzeug dem
Erdenvolk dienen mufi.
Daher das grenzenlose Vertrauen zum Intellekt, als
konne er unendlich viel mehr als ordnen, rechnen und
werben, als miisse es ihm ein leichtes sein, die Welt
unserem hungernden Geiste geniefibar zu machen, ja,
ihren und unseren Sinn nnd Urgrund uns zu erschliefien.
Verlangen wir von der Rechenmaschine Gedichte? For-
dern wir vom Wurme eine Weltanschauung auf Grund
des Benagbaren und nicht Benagbaren? So hat denn der
Intellekt auf alle letzten Fragen mit stummer Ver-
neinung geantwortet. Er hat, sobald er ein Gebiet der
Welt betrat, damit begonnen, Strafien zu sperren;
ofFnete er sie nachmals mit entschuldigender Geste,
so waren sogleich die nachsten Ubergange verschlossen.
Hatte nicht zu jeder Zeit menschliche Empfindung und
Intuition sich unbekiimmert iiber die Schranken ge-
schwungen, so betete die Welt zum heiligen Einmaleins.
Die hochste Leistung des Intellekts war seine Selbst-
vernichtung. In ihr ist die Mechanisierung, das Reich
des Intellekts, zum Tode getrofFen. Dieses Reich aber
ist wahrhaft und eigentlich das Reich des Antichrist,
denn es ruht auf Begierde und Feindschaft, wirbt um
Giiter und Ehren, zieht das Heilige zum Zweck herab,
verhartet die Herzen und entfremdet die Seelen.
Aus dieser Verlassenheit heimkehrend empfindet die Das Reich der
Seele
Seele bestarkte Ahnung ihres Bewufitseins und ewigen
Rechts. Jener gewalrige Druck war vonnoten, um die
Machte zu scheiden; nach dem Vorbild menschlicher
Leidenspriifung war er bestimmt, eine Geisteswelt zu
139
lautern und zu entfesseln. Die Seele kehrt heim und
verlangt nicht nach Paradiesen, nicht nach dem Reich
des Konig Messias, nicht nach dem Triumph der From-
men und flammenden Gerichten. Sie verlangt nach
neuen Kampfen und neuen Miihen, nach gottlicheren
Schmerzen und edleren Freuden, nach wahrerem Leben
und reinerer Verklarung. So stehen wir abermals vor
den Pforren jenes Reiches, das nicht von dieser Welt
ist, und doch von ihr seinen Anfang nimmt, des Reiches,
das von seinem Verkiinder benannt ist das Konigtum
des Himmels und das Reich Gottes, und das in diesem
armen und weltlichen Buche liber uns schwebte als das
Reich der Seele.
340
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG UND RECHENSCHAFT 9
Erstes Buch
DIE EVOLUTION DES ERLEBTEN GEISTES 25
Die Inventur des Geistes. — Inxmtar der Erinnerung. — Kind-
liche Unsckuld. — Urstimmung : Begehren und Furcht. — Men-
schen des Begehrens und der Furcht. — ZweMafiigkeit. —
Der Zweckmensch , sein Leben und IVesen. — Seine Abhangtgkeit. —
Sein Inteliekt. — Seine Sittlichkeit und .sein Glauhen, — Seine Kunst,
— Kritih der Ziveckhaftigkeit. — Umschwung des Erlebens. —
Ziveckfreie Regungen. — Reaktion und Riichschritt des Erlebens. — Die
Geburt der Seele. — Seelenkunde. — Begrijfe, Worte, Lehren. —
Betrachtung der Seele. — Paradoxie der Seele. — Fursichsein der
Seele. — Einivendungen des Vtilitarismus. — Seelenlosigkeit. —
Seelenlose Gebiete. — Seelenlose Zivilisation. — Seelenlose Bildung. —
Seelenlose Statten. — Seelenlose Stamme. — Kriterien seelenloser
Geraeinschaften. — Begriff vom Tode. — Seelenlose Glaubensform.
— Seelenlose Kunstform. — Seelenlose Ideale. — Seelenlose GeseUigkeit.
— Kriterien seelenhafter Gemeinschaften. — Seelenhafte und
seelenlose Epochen. — Ursachen des Wechsels. — Kriterien der
Epochen. — Fiihrer der Epochen. — Epoche der Gegenwart. — Mechani-
sierung und Entgermanisierung, — Aufieres Bild der Epoche. — Inneres
Bild der Epoche. — Starke und Schivache der Epoche. — Seele und In-
teliekt. — Seele und Inteliekt als begreifende Krafte. — Irren
des Intellekts. — Infallibilitat der Seele. — Intuition. — Der intellek-
tuelle und der intuitive Mensch. — IVechselnvirkung. — Seele und In-
teliekt als wertende Krafte. — Intellektuelle Wertung. — Seelische '
Wertung. — Paradoxie der utilitarischen Forderung. — Seelische Religion.
— Seele und Inteliekt als schaffende Krafte. — Intuitives und
343
VQjeckbaftes Schajfen. — Schaffen der Kunst, — Tr'tebkraft des intttithen
Si ha jf ens, — Intellekt als Hilfskraft. — Schajfen des All tags, — Intui-
tion md Genialitat. — Kritik der erlebenden Seele. — Seeie und
Transxendenx.. — See/e und Superstition. — See/e und Religion. — Kri-
tik der Seelenwerdung.
Zrvejtes Buch
DIE EVOLUTION DES ERSCHAUTEN' GEISTES 71
Spiegelbild und Spiegel. — Erkenntnisproblem. — Geset% der G'til-
tigkeit. — Idealismus als Naturbestimmung. — Gefiihlsphilosophie, Ra-
thnalismus und Intuit ton. — Notivendiges Ubel dialektischer Methode.
— Die dreifache innere Erfahrung. — Fremdgeist, — Geistiger
Anteil, — EtnfUhlung. — Moglichkeit einer Mechanik des Gei-
stes. — Priifung der Teilbarkeit. — Geset:(. der R§ihen. — Un-
denkbarkeit des Einmaligen, — Endlose Teilbarkeit. — Prinzip der
Wechselwirkung. — Ausdruck und Eindruck als Prinzipien des Er-
iebens. — Unzulanglichkeit rational er Erklarungen. — Fernivirkung, —
Dimensionen der Wechselwirkung. — Prinzip der Auswahl
und des Vbrzugs. — Freiheit and Gesetz. — Massenerscheimmgen.
— Gleichnis vom Heuschreckenschnvarm. — Naturgesetxe als Majoritats-
gesetze. — Einivendungen. — Trofx, Freiheit Gesetze moglich. — Die
drei Radikalien. — Additions faktor. — Anmerkung vom plau-
siblen Denken. — Eigenschaft und Fahigkeit. — Die Integration,
— Erscheinungsobjekt, — Der schaffende Geist. — Einivand der Mannig-
faltigkeit, — Gesetz der Erfafibarkeit. — Das Integral als Ord-
nung und Symbol. — Gleichnis vom Orchester. — Methodischer Ein-
nvand. — Deutung des Integrals. — Einfiihrung in die Er-
scheinung. — Gleichnis vom Schachspiel. — Mechanische Deu-
tung des Erscheinungsvorgangs. — Lage. — Be^egung. — Masse.
Leben. — Botschaften. — Strahlphanomen. — System der
Symbole. — Drei Welten. — Die Erscheinungsreihe der
Komplikation. — Abbau der Elemente. — Aufbau der Elemente. —
Urzeugung, — Die Geistesreihe der Komplikationen. — Abbau
der Lebenselejnente. — Lebensstimmung der organischen Welt,
— Lebensstimmung der anorganischen Welt. — Summierung
des Geistes. — Kollektivgeist. — Moglichkeit experimenteller
Erforschung. — Transzendente Experimentation. — Summie^
rungsstufen. — Summierung des raumlich Getrennten. — Gebilde des
koUektiven Geistes. — Siedelungen als Lebeivesen. — Aufieres Bild.
— Inneres Bild. — Leben, — Geist. — Anmerkung iiber Vdlkerpsycha
344
logic. — Franz'dsiscbe Tlteorle der Imitation. — Nachahmung und Nach-
folge. — Soziale Grundgcietx,e. — Gesetz. der Bequejnlichkeit. — Gmnd-
frage des kollektiven Phanomens. — Revolutionare Zustande. —
Gesetz des kollektiven Phanomens. — Chauvinismus. — Mono-
manien. — Latentes Bewufitsein kollektiven Geistes. — Ge-
setz vom Bewufitsein kollektiven Geistes. — Analogic des Ein-
xelbeivujltseins. — Latente Willenselemente kollektiven Gei-
stes. — KoUektive Arbeitsteilung. — Staatsgehirn. — Analogic
der Arbeitsteilung im Einzelgeist. — Vbrbemerkung zum Additions-
prinzip. — Vom Tode. — Das Strahlphanomen. — Univer-
seUe Bedeutung. — Absolute Bedeutmg. — Vom Recht des Elements.
Experimentelle Priifung. — KoUektive FortpfianT.ung. — Gesetz der
Kolonie. — Anivendung auf die Vererbung. — Psychophysische An-
merkung. — Kritik des Todes, — der Vererbung, — der
Rasse. — Gesetz der Umkehrung des Massencharakters. — Kritik der
physischen Geschichtsauffassung. — Anwendung auf menschliches
Einzelschicksal. — Kollektives Experiment der Seelenwerdung.
— Das Bild von der Kathedrale — Das Bild vom Lust gar ten. —
Technische und seelische IVerke. — Seelenruerke und Kultur. — Perma-
nenz seelischer Giiter. — Seelenwerte als Kollektivschopfungen.
— Beispiel vom Bauen. — Zerrbilder koUektiven S chaff ens. — Anteil
der Genialitat am koUektiven Schajfen. — Prioritat bevorzugter Elemente.
— Gleicbnis von der Fensterscheibe. — IViirde und Grenzc des Genialen.
— Naturvorgang des seelischen Schaffens. — Erkennbarkeit
der Seelengeburt. — Einivand von koUektiver Immoralttat. — Zu-
faUigkeit mojnentaner Regungen. — Grenzen der Verantwortung. — Be-
dingungen der seelischen Evolution. — Innere Lebensgemeinschaft.
— Innere Abgrenzung. — Innere Bindung. — Liebe. — Defin'ittonen.
— Begelrren und Liebe. — Mutter Hebe. — Eigenliebe. — Paradoxic der
Liebe. — Kritik der Liebe. — Liebe als Additionsmoment. —
Riickblick. — Gesetze der Mechanik des Geistes. — Auf-
bau der Welt im Sinne des Gesetzes. — Vororganische Welt.
Organische Welt. — Lebenskrafte und Urzeugung. — Le-
benswille, Zweck und Kampf. — Seelische Welt. — Innere
Liebe. — Absteigendes Phanomen. — Kritik der Evolution,
— Gleichnisse der Evolution. — Gesetz der Enthiillung. —
Symbole der Evolution. — Evolution und Gesetz der Kon-
stanz. — "Wachsen des Geistes. — Problem der geistigen Ver-
nichtung. — Priifung am KoUektivgebilde. — Vergangene Kul-
turen. — Materialisation des Vergangenen. — Gesetz der Erfa/^barkeit.
— Priifung am Einzelgeist. — DoppelsteUung der Seele. — Die drei
345
Koordinaten des Lebem. — Irdische und Uberirdische Erbaltung. — 1st
Sterblichkeit moglich? — Kritik der Sterblichkeit. — Tod
und Seelenlosigkeit. — Tod und Seele. — Uberweltlichei
Geist. — Uberweltliche Reihen. — Negativitat transzenden-
ter Vorstellung. — Dreifache Negation. — Richtkraft der
Negationen. — Kritik der evolutionaren Betrachtung. — Re-
%ipro%itat der Vorstellung. — Kritik der erschauten Seele. — Gott-
seite und Weltseite der Schopfung. — Damonion. — Religion. —
Partiailosungen, — Kritik der Ojfenbarung. — Absolutismus der Seele,
— Uberleitung zur praktischen Aufgabe.
Drittes Buch
DIE EVOLUTION DES PRAKTISCHEN GEISTES .... 189
I. DIE ETHIK DER SEELE 191
Ethos und Gesetz. — Ethik als Erkenntnis. — Ethik als Ver-
kiindigung. — Imperative FormeL — Richtkraft der Liebe.
Liebe in der Okonomik der intellektualen Welt. — Individua-
litdt und Ubermenschentum. — Liebe als Lockung. — Liebe und Karnpf.
Hajf. — Selbstsucht. — Paradoxic vom Egoismus. — Ethischer Zu-
stand. — IndifFerenzgebiet des Handelns. — Furcht, Begierde,
Zweck im Bilde der Seele. — Mut und Freiheit im Bilde der
Seele. — Entstehung des Mutes. — Uberwindung des Intellekts.
— Das Opfer des Intellekts. — Mut und Furcht im Bilde histo-
rischer Ethik. — Germanische Auf fas sung. — Kritik. — Indische
Auffassung. — Kritik. — Semittsche Auffassung. — Kritik. — Grdko-
romani^che Auffassung. — Kritik. — Die historischen Wertungen
als partiale Ableitungen. — Objektive Kritik des Han-
delns im Bilde der Seele. — Transzendente Gesinnung. —
Verhaltnis %ur Gottheit. — Trans-x^ndenUosigkeit. — Verba Itnis xum
Tode, — Ehrfurcht. — Transzendente Liebe. — Erbaltung des In-
dividuelkn. — Transzendentes Wirken. — Die Umkehr der
ethischen Sorge. — Riickkehr zum Leben aus Glauben. —
Hdrte. — Selbsterbaltung. — Spam, nicht Ziigel. — GesetZ der Zwei-
ten Natur. — Forderung und Hemmung des ethischen Zu-
standes. — Der Weg des Leidens. — Primitive Reaktion des Leides,
— Vorgeschrittene Reaktion des Leides. — Transx,endente Reaktion des
Leides. — Leidlose Natur en. — Leiderlegene Natur en — Ztviespaltige
und damoniscbe Naturen. — Der Weg des Schweigens. — Scbwatzen-
4er Geist. — Unerjtaunter Geist. — Einsamkeit. — Die Spracbe der
Dinge. — D^X Weg der Betrachtung. — Znveckbafte Betrachtung,
34<^
— Zivecfefreie Betrachtung, — Der Weg des Glaubens. — Reli-
gionen als partiale Losungen. — Symbolik der Doginen. —
Materially ierung dutch das Wort. — Siinde. — SundenfaU. — Person-
liche Gottheit. — Sclyivache des Pamheismus. — Richtungsbegriff des
Gbtt lichen — Gemeinschaft der Heiligen, — Erlosung. — Gnade. —
Glauben und Werke. — Metempsychose. — Gottesreich. — Gebet. —
Bitte, — Meditation. — Wmder, — Eudiimonistik. — Leid und
Siinde. — Erhaltung der Siinde und des Leidens. — Leiden und Opfer.
— Gefuhlston des Opfers. — Gefiihlston aller Evolution. — Pro-
blem des Mifigeschicks. — GesetTc der Ausldsung, — Vieldeutig-
keit des Geschehens.
II. DIE ASTHETIK DER SEELE 235
Naturempfinden und Kunst. — Grenzen historischer Betrach-
tung. — Gipfel und Fortschritt. — Zeitliche Zuversicht. —
Absoluter Weg der Kunst. — Asthetisches Grundgesetz. —
Psychische Ausdeutung. — Kunst als Verkiindigung der Seele.
Kunst, Wissenschaft und Rezept. — Flucht -mm Unerkannten. —
Historischer Weg der Kunst. — Die drei Gruppen der Ge-
setzmafiigkeit. — Typische, technische und subjektive Kunst.
Typische Kunst. — Behelfe und Konventionen. — Konvention als
Massenausdruch. — Typische Kunst als Naturprodukt. — Normative
Kraft der typischen Kunst. — Kritik der typischen Kunst, — Tech-
nische Kunst. — Subjektive Kunst. — Individualisierung und
Idealistik. — Individualisierung als Selbstbeschrankung und Hingebung,
— IVUrde des Objekts. — Versenkung. — Wehmut und Demut. — Per-
sdnlichkeit. — Universelle Naturen. — Subjektive Gesetx,maJ?igkeiten. —
Charaktere, — Stimmung. — Unauigesprochenes. — Mitklange und Unter
stimmen. — Lyrisches Beispiei — yimnerkung fiber Lyrik. — Einfiihlende
und passionelle Naturempfindung. — Subjektivismus des Mittfls. — Der
Seelenweg der Kunst. — Ethnische Stufen. — China. — Mittelmeer-
gruppe, — Renaissance. — Frankreich. — Germanischer Kreis. — Kri-
tik der Kunstevolution. — Verluste der Tradition. — Verluste der
StabiUtat, — Verluste der Formbildung. — Verluste der Architektur. —
Der Kampfpreis: Inner lichkeit und Freiheit. — Anwendung auf prak-
tische Kritik. — Verzicht auf Zivecke. — Vercicht auf GefaUigkeit.
— Verzicht auf Ausfiihrung. — Verzicht auf Popularitat. — Feind-
schaft der berrschenden Stande. — Forderung der Meisterschaft. — Zwei
Anmerkungen : Kritik der Kritik. DUnne Talente. — Zusammen-
fassung: Krirische Leitsatze. — Anwendung auf die Kunst
der Zeit. — Vberladung und Ubersatttgung, — Wettkainpf der Effekte.
347
— Mode, — Entivurze/ung. — Asthetentum. — Feminismus. — Ruck-
nu'trkung auf die Zeit und Steigeriing. — Wirkung auf die Kritik. —
Wirkung auf die Kttnst» — Gesefz. des ersten Impulses, — Nachbliiten, —
Rekapitulation. — Kunstfiucht der 1 atigen. — Gesetz der
starksten Geistesaufwendung. — Wendung %ur Tat. — Kunst
als Geleiterin.
III. DIE PRAGMATIK DER SEELE 289
Wurzeln der Wirklichkeit. — Problem der irdischen Konti-
nuitat, — Ausschaltung der Glucksprdmie. — Gluckspotential, — Seele
und Seligkeit. — Irdische Institution und seelische Forderung.
Priifung der Motoren. — Zeitlicher Vorbehalt. — Hauptmotoren:
BesitT. und Macht. — Not und Mangel als Zeitfragen. — Besit%. — Ent-
lastung der Welfwirtschaft. — Macht. — Ehrgeix.. — Sachlichkeit. —
Verantivortung. — Neue Krafte. — Erblassen der Besitxfreude. — Er-
blassen der Machtsymbole. — Seele und Praxis. — Einsicht und Ein-
richiungen. — Sozialismus. — Seele und Mechanisierung. — Ziveite
Natur der Arbeit. — Solidaritdt, — Sittengefiihl und Sequestrierung. —
Sittengefiihl und Dienstbarkeit. — Untertanigkeit und Patriarchalitdt. —
Sittengefiihl und Ausschliefiung. — Sittengefuhl und Erbfolge, — Sitten-
gefiihl und mechanische Arbeit. — Uberwindung der Mechanisie-
rung. — Realismus der praktischen Evolution. — Zusammen-
hang mit heutigen Dingen. — Erkenntnis menschlicher Qualitdten.
— Dinge und Sachen. — Interessen und Ideate. — Die Stimmung
vorgeschrittener Zeit. — Vbrbilder der Evolution. — Stetig-
keit und Zogerung. — Rtickblick der Kommenden. — Histo-
rische Entwicklung im Lichte praktischer Evrolution. — Blut-
verschivendung. — Charaktertod. — Wertverschtebung, — Selektion des
Erfolges. — Gegenkrafte, — Unbestandigkeit der Rassen, — Korrektion
des Erfolges. — EnPwertung des menschlichen InteUekts, — Bewertung
intuitiver Krafte, — Berufene V'dlker, — Die Aliiston der Unterschich-
ten. — Sinn der historischen Entwicklung. — Sinn der Me-
chanisierung. — Das Reich der Seele.
.^48
WERKE
VON
WALTHER RATHENAU
Druck der £. GundlachAktienj^esellschaft in Bielefeld.
WERKE VON WALTHER RATH EN AU
ZUR KRITIK DER ZEIT
FunfzehnteAuflage. Geheftet4M.50Pf., gebunden6M.50Pf.
Ein auBerordentlich knapp gefafites, iiberall von fundierter Lebensbeob-
achtung ausgehendes, iiberzeugend zusammengefafites Buch. Und fiir
den, der es recht zu lesen versteht, ein spannendes und erregendes, ja
geradezu unterhaltsames und anfeuerndes Buch. Man sitzt gleichsam
am Webstuhl der Zeit und sieht die Faden heriiber- und hiniiber-
schieBen. Und in allem offenbart sich das GesetzmaBige, das Mecha-
nisierende. Die absolute Unentrinnbarkeit der heutigen mechanistischen
Weltordnung, ihr Hiniibergreifen auf alle Gebiete der Produktion,
der Verwaltung, der Politik, der Intellektualitat, ja des familiaren
Lebens und der Ichkultur enthiillt sich uns wie ein eisern-klammern-
des Gefiige. (Leipziger Neueste Nachrichten)
DEUTSCHLANDS ROHSTOFFVERSORGUNG
Vortrag, gehalten in der ,,Deutschen Gesellschaft 1914"
Neununddreifiigste Auflage. Geheftet 75 Pfennig
PROBLEME DER FRIEDENSWIRTSCHAFT
Vortrag, gehalten in der ,,Deutschen Gesellschaft 1914"
Fiinfundzwanzigste Auflage. Geheftet 75 Pfennig
STREITSCHRIFT VOM GLAUBEN
Elfte Auflage. Geheftet 75 Pfennig
VOM AKTIENWESEN
/ Eine geschaftliche Betrachtung /
Zwanzigste Auflage. Geheftet 1 Mark
DIE NEUE WIRTSCHAFT
Vierzigste Auflage. Geheftet 1 Mark 50 Pfennig
REFLEXIONEN
(bei S. Hirzel, Leipzig)
Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark 50 Pfennig, gebunden 6 Mark
VON KOMMENDEN DINGEN
55 . Auf lage. Geheftet 6 Mark, gebunden 8 Mark.
Eine gebandigte Leidenschaftlichkeit spricht aus dem Buche. Mit mehr
Gerechtigkeit als andere Propheten sieht Rathenau auch die guten
Seiten der veralteten Einrichtungen, die er vom Erdboden vertilgen
mochte. Mit dem leidenschaftlichen Grimme, dessen Nachhall man
wie aus der Feme vernimmt, hatte Rathenau ein schriftstellerisches
Meisterstuck gestalten konnen, eine Satire auf die Gegenwart. Aber
er will nicht als ein Schriftsteller glanzen, er will iiberhaupt nicht
glanzen oder scbelnen. Er will sein und an dem Neubau mitarbeiten.
Als ein Baumeister. Waren die kommenden Dinge schon da, so
diirfte er unter den Baumeistern des neuen Reiches nicht fehlen.
(Fritz Mauthner im Berliner Tageblatt)
Ein prophetisches Buch, von der ersten bis zur letzten Zeile durch-
gliiht von der unerschutterlichen GewiBheit des Schauenden, der die
kommenden irdischen Zustande mit der Gewifiheit des geistigen Ge-
setzes durchdringt. Und dieses geistige Gesetz, die Grundthese aller
seiner Ausfiihrungen, lautet: „Ziele setzen heiOt glauben. Erst der
Glaube schafft Gesinnung, und ihr folgt willenlos das Geschehen."
Also auch ein innerliches, ein wahrhaft frommes Buch, nicht um der
vielen absichtlichen Anklange an die Bibelsprache willen, sondern weil
es uns verkiindigt: „Nicht Furcht und nicht Hoffnung sind die trei-
benden Gewalten, sondern Glaube, der aus Liebe entspringt; tlefste
Not und Gottes Wille." Fiir alle Erorterungen, die mit der kommenden
Neugestaltung, die wir als Frucht der Not des Krieges erhoffen, sich
beschaftigen, wird es grundlegend bleiben. (Die christliche Welt)
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